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Full text of "Psychiatrisch Neurologische Wochenschrift 6.1904 05"

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8 The Fenway. 


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Psychiatrisch-Neurologische 
Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 

Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte. 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des ln- und Auslandes 

herausgegeben von 

Direktor Dr. K. Alt, Uchtspringe (Altmark). Prof. Dr. 6. Anton, Graz. Prof. Dr. Bleuler, Zürich. Direktor 
Dr. van Deventer, Meerenberg (Holland). Prof. Dr. L. Edinger, Frankfurt a. M. Prof. Dr. A. Guttstadt, Geh. 
Med.-Rath, Berlin. Prof. Dr. E. Mendel, Berlin. Prof. Dr. Mingazzinl, Rom. Dr. P. J. Möbius, Leipzig. Direktor 
Dr. Morel, Mons (Belgien.) Direktor Dr. Olah, Budapest. Direktor Dr. Ritti, St. Maurice (Seine). Direktor 
Dr. H. SchlÖ88, Kierling-Gugging (Österreich). Prof. Dr. Ernst Schultze, Greifswald. Prof. Dr. med. et phil. 
Sommer, Giessen. Direktor Dr. Urquhart, Perth (Schottland). Professor Dr. med. et phil. W. Weygandt, Würzburg. 

Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

Oberarzt Dr. Job. Bresler 

Lublinitz (Schlesien). 


Sechster Jahrgang 1904/1905. 



Verlag von CARL MARHOLD in Halle a S 


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bammelblatt zur Besprechung aller FrägWrtreS^Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte. 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes 

berausgegebe 

Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. Q. Anton, Prof. Dr. Bleuler, 

Uchtspringe (Altcnark). Graz. Zürich. 

Prof. Dr. A. Guttatadt, Prof. Dr. E. Mendel 
Geh. Med.-Rath, Berlin. Berlin, 

Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Ritti, 

Budapest. St. Maurice (Seine). 

Direktor Dr. Urquhart, 

Perth (Schottland). 


Direktor Dr. van Deventer, F 

Meerenberg (Holland). 

Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius 

R° m . Leipzig. 

Direktor Dr. Heinrich Schloss, Professor D 

Kierling-Gugging (Österreich). , 

Dr. med. et phil. W. Weygandt, 

Privatdocent, Würzburg. 

Unter Benützung amtlichen Materials 
r^digirt von 

Oberarzt Bi?; Jbbu Bresier, 

Lublmnz (Schlesien). 

Vertag von CARIi MAR'HOLD'in Hallte a. S.- 

Tel»gi.-Adre»e: Marho Id Ver lae, Hal letaalc; FertMpredler 


in Stärke von 1^—2 Bogen und kostet pro Quartal 4 Mk; 


Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie dierVerlagsbuchhandlung von Carl’Mafhbld in Halle a. S 
Inserate werden für die jspaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein 
___ Zuschriften «r «Me-Redaction sind ah Gberarft' Dr. Joh. Br es ler, Lublihitz (Schlesien), zu richten. 

Inhalt: Die Kgl. Heilanstalt Weinsberg. Von Obermedicinalrath Dr. Dietz in Stuttgart {S. i). _ Wichtig. 

auf dem Gebiete der gerichtlichen Psychiatrie. III. Aus der Litteratur des Jahres "1903 zusammengestellt 

Schul tze (S. 5). — Progressive Paralyse und berühmte Leute. Von P; J. Möbius (S o) _ Mittl 

— Referate (S, 10).-Pcr«onalnacbriclHei>-(S. ifi-). -----— -—— 


Die Kgl. Heilanstalt Weinsberg. 

Von Obermedicinalrath Dr. Dietz in Stuttgart , 


Mattes vom i. Stättengebäude, Eiskeller und Gewächshaus. Ausserderti 
1 ge meinen wurden die Heizcanäld mit den Dampfleitungsröhreri, 
Mit dem Bau welche die einzelnen Gebäude mit ihre Heizcentreri 
lern schon im verbinden, fertiggestellt. Nahezu beendet wurde die 
estellt worden Canalisations- und diejKläranlage. Begonnen wurde 
1 19 Gebäude noch im Jahre 1902 mit der Chaussirung der Strassen. 
211 Pavillons“, Die innere Einrichtung der offenen Pavillons wurde 
chaftsgebäude i m Sommer 1903 so weit gefördert, dass am 
leamtenwohn- 23. November 1903 die ersten Kranken 
J endlich die aufgenommen und die Pavillons No. 7 a und“ 5 a 
für ruhige (vergl. Plan) belegt werden konnten, denen im Laufe 
Verpflegungs- des Winters andere offene Pavillons folgten. Die 
e 1902, im ganze Anstalt sollte im Frühjahre 1904 in Betrieb ge- 
§$}j/plS£ r * ür kommen werden. Dieser Termin muss jetzt wieder 
und auf Herbst veischoben werden, weil die technische 
fr*. das Ausstattung und Möblirung der Innenräume erst bis 
\ dahin vollendet sein werden. Zum ersten Director 

wurde der. seitherige Oberarzt Dr. Kemmler berufen 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. i. 



Die Oberleitung des Baues lag in den Händen des 
Bauraths Gebhardt, des Oberbauraths Gsell und von der 
K. Domänendirection hier, die unmittelbare Bauleitung 
in denen des Bauinspectors Schmöger in Heilbronn. 

Die Anstalt ist für 500 Kranke bestimmt. 
Die Ansicht (Abbildung 1) zeigt sie von Süden ge-? 
sehen, nach einer von der Strasse nach Weinsberg . 
aufgenom menen Photographie. Im Vordergründe 
liegen die Gebäude.' des Gutshofs, der seitherigen 
Domäne „Weissenh'of“, kenntlich, durch ihre Um¬ 
fassungsmauern.; Die Geschichte des NVeisscnhofs 
reicht ziemlich weit zurück, wovon verschiedene noch 


förmig angeordnete Gesammtanlage mit den die 
Anstalt gegen Norden schützenden Höhenzügen. 
Ebenso tritt die Anordnung der Krankenpavillons 
mit der Hauptfront gegen Süden ohne weiteres 
hervor. Am Waldessaum im Hintergrund ist das 
Wasserreservoir sichtbar. Vor dem Gutshof sich 
hinziehend ist noch die Strasse nach Weinsberg zu 
bemerken (Entfernung bis zum Bahnhof etwas über 
2 km). 

Das Areal der ca. 200 m ii. d. M. gelegenen 
Anstalt beträgt, wie schon früher gesagt, 88 ha, 

von denen 14 ha überbaut sind, 74 ha, wohl 


Al)b. J. Ansicht von Süden. 


erhaltene Baudenkmalc zeugen; eines der Gebäude 
führt jetzt noch den Namen „Schlösschen“. Solange 
der bauliche Zustand der Gebäude dies erlaubt, soll 
der Gutshol als Colonie Weiter benützt werden. 
Hinter diesem sind die etwa 100 111 weiter nördlich 
beginnenden Anstaltsgebäudc sichtbar, und zwar der 
Gesammtanlage entsprechend hauptsächlich die im 
südlichen Theile gelegenen offenen Pavillons, westlich 
mit dem offenen Pavillon No. 5 b (vergl. Plan) be¬ 
ginnend, östlich mit dem Wirtschaftsgebäude (No. 10 
des Plans) endigend. Das weiter östlich, ausserhalb 
des Gebiets der Krankenhäuser gelegene Maschinen- 
und Kesselhaus (No. 28 des Plans) ist auf der Ansicht 
nicht mehr zu sehen. Leicht kenntlich ist ipv 
Centrum das Verwaltungsgebäude durch sein Uhr- 
thürmchen. Die Gebäude des nördlichen, geschlossenen 
Theils der Anstalt treten von dem ziemlich tiefer 
gelegenen Standpunkt der photographischen Aufnahme 
aus nur z. Th. mit ihren Giebeln und Dächern 
hervor. Dagegen zeigt die Aufnahme sehr deutlich 
die von Süd nach Nord leicht ansteigende, terrassen¬ 


arrondirt, zu landwirthschaftlichem Betriebe zur Ver¬ 
fügung stehen. In der Umgebung der Anstalt be¬ 
finden sich, von einer ca. 1 ' 2 km entfernten, an der 
Sülm liegenden Mühle abgesehen, keine fremden 
Betriebe und Niederlassungen. Die grösste Aus¬ 
dehnung der Anstalt beträgt von Süd nach Nord 
ca. 500, von < >st nach West ca. 400 m. Die 
Eintheilung und Anlage der einzelnen Gebäude ist 
aus dem Situationsplan ersichtlich. 

In der nördlichen (oberen) Hälfte liegen die 
„geschlossenen“, in der südlichen (unteren) die 
„offenen Häuser“, und zwar so, dass sich westlich 
die Männer-, östlich die Frauenabtheilung befindet. 
Die Geschlechtsaxe bildet die von Süd nach Nord 
ziehende Hauptstrasse, welche, das Centrum der 
Anstalt ringförmig umziehend, sich nördlich bis zum 
Scctionshaus, No. 25, fortsetzt. Im Centrum liegen 
die gemeinsamen Zwecken dienenden Gebäude: das 
Verwaltungsgebäude, No. 9, das Gesellschaftshaus, 
No. 11, mit dem davorliegenden Festplatz und die 
zur Zeit noch nicht erbaute Kirche, No. 13; ausserdem 


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Abb. 2. Lagcplan. — i. VVohuhaus d.^Directors. \2. Wohuh. d. Oberarztes u. Verwalters. 3. Portierhaus. 4. Offener Pavillon 
I. u. II. CI. t. Männer. 5. a, b, c, Offene Pavillons III. CI. f. Männer. 0. Offener Pavillon I. u. 11 . CI. f. Frauen. 7. a, b, c. 
Offene Pavillons III. CI. f. Frauen. 8. Werkstätte. 9. Verwaltungsgebäude. 10. Wirthschaftsgebäude. 11. Gesellschaftshaus. 12. Eis¬ 
haus. 13. Betsaal. 14. Haus f. halbruhige Männer. 15. Aufn.- u. Ueberw.-Haus III. CI. f. Männer. 16. Aufn.-u. Ueberw.-Haus 
I. u. II. CI. f. Männer. 17. Ueberw.-Haus f. unruhige Männer. 18. Lazarett f. körperl, kranke Männer. 19. Haus f. halbruhige 
Frauen. 20. Aufn.- u. Ueberw.-Haus III. Kl. f. Frauen. 21. Aufn. u. Ueberw.-Haus I. u. II. CI. f. Frauen. 22. Ueberw.-Haus 




körperl, kranke Frauen. 24. Dcsinfections- u. Trockenhaus. 25. Sce^pnsh^u^.jp^.Leichenhalle. 
■*28. Kessel- u. Maschinenhaus. 29. Metzgerei. 30. Bäckerei. X 1. Gewächshaus. \2. Kläranlagen. 

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4 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. r 


ein offener Frauenpavillon, No. 7 c (s. u.). Um das 
Centrum gruppiren sich in ungefähr kreisförmiger 
Anlage die Krankenhäuser in der Art, dass von Nord 
nach Süd ein allmählicher Uebergang von Wach¬ 
abtheilungen zu freier Behandlung stattfindet. Atn 
weitesten gegen Nordost bezw. Nordwest liegen in 


und sodann die offenen Pavillons No. 5 a—5 c und 
7 a—7 c für Kranke der III. und No. 4 und 6 für 
solche der I. und II. Classe. Diese Anordnung und 
Zahl der Krankenpavillons ermöglicht eine weit¬ 
gehende individualisirende Behandlung und Gruppirung 
der Pfleglinge. Die Entfernung der einzelnen Häuser 


ziemlich excentrischer Lage und über 60 m von den von einander beträgt im Mittel *50 m; jedes Haus 

nächstgelegenen Pavillons entfernt — so dass etwaiger liegt in dem dazu gehörigen Garten. Die gärtnerische 

Lärm mehr nach aussen verhallt — die Wach- Anlage der Anstalt, welche der Firma Lilienfein & Sohn 

abtheilungen für Unruhige, No. 17 und 22. Ihnen in Stuttgart übertragen wurde, ist zur Zeit in Aus¬ 
reihen sich in südlicher Richtung an die ruhigen führung begriffen. 

Wachabtheilungen für Kranke der III. Verpflegungs- Zwischen die geschlossenen und die offenen Ab- 

classe, No. 15 und 20, und ebenso für solche der theilungen der Frauenseite schiebt sich das Wirth- 

I. und II. Classe, No. 16 und 21. Diesen folgen schaftsgebäude, No. 10, ein. Diese Anordnung er- 

die Pavillons No. 14 und 19 für halbruhige Kranke möglicht es, ebensowohl Pfleglinge der offenen 


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Abb. 3b. Aussicht von der Austal! gegen Södosten. 


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Abb. 3a. Ansicht der Anstalt vonjSiidwcstenaus gesehen. 


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PSYCHIATRISCH-NUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


5 


Pavillons als solche der geschlossenen Anstalt und 
besonders des Halbruhigenhauses, sobald diese sich 
hierzu eignen, in der Koch- und Waschküche be¬ 
schäftigen zu können, ohne dass die Entfernung und 
der Weg dahin hinderlich wären.' Um vom Kessel¬ 
haus auf möglichst kurzem Wege Dampf für das 
Wirthschaftsgebäude zu erhalten, ist für letzteres der 
im Situationsplan ersichtliche Platz gewählt und der 
offene Pavillon No. 7 c, welcher dem Haus No. 5 c 
auf der Männerabtheilung entspricht, in den inneren 
Ring verlegt worden. Das Maschinen- und Kesselhaus, 
No. 28, liegt, wenn auch in nächster Nähe des 
Wirtschaftsgebäudes, doch abseits der Krankenhäuser, 
so dass eine Störung und Belästigung der Pfleglinge 
durch Kohlenzufuhr, Russ und Rauch ausgeschlossen 
ist. Die excentrische Anordnung desselben tritt am 
besten hervor auf der südwestlichen Ansicht der 
Anstalt (in welcher die obengenannte Mühle an der 
Sulm im Vordergrund liegt, vergl. Abbildung 3 a). 

Hier ist auch die Lage der Kläranlage, No. 32, 
der Metzgerei, No. 29, und Bäckerei, No. 30, des 
Situationsplans ersichtlich. 

Aehnlich wie bei dem Wirthschaftsgebäude wurde 
auch die Lage des Gesellschaftshauses und der noch 
auszuführenden Kirche so gewählt, dass dieselben von 
allen Seiten ohne zu langen Weg erreichbar sind. 
Das Werkstättengebäude, No. 8, liegt zwar im Gebiet 
der offenen Pavillons, aber doch so, dass es ebenfalls 
vom Halbruhigenhaus aus ohne Schwierigkeit benützt 
werden kann. 

Endlich sind noch die beiden, dem Desinfections- 
und Trockenhaus nächstgelegenen Lazarethe, No. 18 
und 23, das in der Nähe der Küche gelegene 
Eishaus, No. 12, weiter das inmitten von Früh¬ 
beeten und Gartenland gelegene Gewächshaus, 
No. 31, sowie die Beamtenwohnhäuser, No. 1 und 2, 
zu erwähnen. 

Sämmtliche Gebäude sind, wie früher schon 
erwähnt, Backsteinbauten mit Falzziegelbedachung 
auf Betonfundament, mit sparsamer Hausteinver¬ 
wendung für Fenstereinfassungen etc. und in einfachem 
ländlichem Stil gehalten. Eine für das Auge an¬ 
genehme Abwechslung wurde dadurch erzielt, dass 


für verschiedene Häusergruppen verschiedenfarbige 
Backsteine gewählt wurden. 

Von besonderem Werthe ist es, dass infolge der 
Ansteigung des Bauplatzes von Süd nach Nord den 
Kranken sowohl von den Zimmern als insbesondere 
auch von den Gärten aus ein freier Blick in die 
malerische Umgegend der Anstalt gesichert ist. Die 
unmittelbar nördlich von den Ueberwachungshäusern 
aufgenommene Aussicht gegen Südosten (Abbildung 3 b) 
zeigt im Hintergrund die Löwensteiner Berge. Direct 
südlich (auf der Photographie nicht mehr sichtbar) liegt 



Abb. 4. 2 offene Pavillons und ein Theil des Gesellschaftsbauses 

von der Rückseite mit Blick auf Weibertreu und Weinsberg. 


im Vordergrund des Blickfeldes Weinsberg mit der 
Weibertreu (vergl. Abbildung 4), westlich das Sulm- 
thal mit den Heilbronner Bergen. 

Die Wasserversorgung der Anstalt erfolgt 
von verschiedenen Quellen, welche auf eigenem 
Gebiet, etwa 800 m nordöstlich der Anstalt, neben¬ 
einander entspringen, insbesondere der alten, sogen. 
„Herzogsquelle“. Sie sind gemeinsam gefasst und 
liefern ein frisches, reines Trinkwasser von 8 e C. 
Temperatur. Das Wasser wird einer Pumpstation, 
zu welcher die frühere „Weissenhofmühle“ umgebaut 
wurde, zugeleitet und mittelst Pumpwerk, das in der 
Regel durch die vorhandene Wasserkraft, in wasser¬ 
armen Zeiten durch electrischen Antrieb in Bewegung 
gesetzt wird, auf das Hochreservoir (s. o.) gehoben. 
Bei der Berechnung des Wasserbedarfs wurde die 
Forderung von 500 1 pro Kopf und Tag bei einer 
Gesammtzahl von 500 Kranken zu Grunde gelegt; 
hiernach waren 2,9 Secundenliter Wasser erforderlich. 
Die Quellen liefern im Minimum 3,0 Secundenliter. 

(Fortsetzung folgt.) 


Wichtige Entscheidungen auf dem Gebiete der gerichtlichen Psychiatrie, III.*) 


Aus der Literatur 


de s J ahres 


1903 zusammengestellt 


von Ernst Schultze. 


I. Strafgesetzbuch 

§ 5 1 - 

|~^urch die Zusammenfassung verso}^ ^ 
handlungen zu einer Delicti^; L 


jjinzel- 

ir 


v 


Gericht nicht der Pflicht enthoben, bezüglich jeder 
Einzelhandlung zu prüfen, ob zur Zeit ihrer Begehung 
der Strafausschliessungsgrund des § 51 vorhanden war, 
da jede der Einzelhandlungen, aus denen sich die 


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6 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. i. 


i 


Delictseinheit zusammensetzt, für sich allein alle 
Merkmale eines selbständigen Delicts an sich tragen 
muss und deshalb auch als Bestandtheil einer Delicts¬ 
einheit dem Angeklagten nicht zugerechnet werden 
darf, wenn zur Zeit der Begehung es an der wesent¬ 
lichen Voraussetzung für die Strafbarkeit, der Zu¬ 
rechnungsfähigkeit, fehlt. (R.-G. IV, Urteil vom 6. 
März 1903.) 

D. R.**) pag. 216, Entscheid. No. 1210. 

§§ 50, 176 No. 3. 

§ 56 Abs. 2 setzt voraus, dass gegen einen An¬ 
geschuldigten, der zu einer Zeit, als er das zwölfte, 
nicht aber das achtzehnte Lebensjahr vollendet hatte, 
eine strafbare Handlung begangen hat, der Thatbestand 
der betreffenden strafbaren Handlung in objektiver wie 
in subjectiver Richtung erwiesen ist, eine Verurtheilung 
aber nicht erfolgen kann, weil der Angeschuldigte 
bei Begehung der strafbaren Handlung nach der 
Ueberzeugung des Gerichts die zur Erkenntniss ihrer 
Strafbarkeit erforderliche Einsicht nicht besessen hat. 
Der Thatbestand des §176 No. 3 erfordert in sub¬ 
jectiver Hinsicht das Bewusstsein des Thäters von 
dem objectiv unzüchtigen Charakter seiner Hand¬ 
lung, und dieses Bewusstsein ist 11 i c h t gleichbe¬ 
deutend mit dem Handeln aus wollüstiger Erregung, 
deren Trieb nur instinktiv, mithin unbewusst 
gefolgt wird. (R.-G. IV, Urteil vom 12. Mai 1903.) 

D. R. pag. 319, Entscheid. No. 1784. 

■ § 120. 

Nach den Feststellungen wurde Sch. nach Antritt 
der ihm zuerkannten dreijährigen Zuchthausstrafe aus 
der Strafanstalt auf Veranlassung des Anstalts¬ 
arztes unter einstweiliger Gewährung von Straf¬ 
unterbrechung als Geisteskranker nach der 
staatlichen Irrenanstalt verbracht und dort bis auf Weiteres 
internirt. Hieraus folgt, dass Sch. während der Zeit, 
in welche die Begünstigung seiner Flucht durch M. 
fällt, nicht mehr Strafgefangener war, und kann 
hieran auch der Umstand nichts ändern, dass Sch. 
in der sogenannten Zellenabtheilung, in der sich 
hauptsächlich die aus der Untersuchungshaft oder 
Strafhaft der Irrenanstalt überwiesenen Personen be¬ 
finden, untergebracht und hier einer besonders auf¬ 
merksamen Bewachung und Beaufsichtigung durch 
das Wärterpersonal unterstellt war. Zwar ist damit 
nicht ausgeschlossen, dass er gleichwohl auch in dieser 
Zeit ein Gefangener war, da unter einem solchen 

*) Vergleiche hierzu diese Zeitschrift Jahrgang IV 1902 03 
No. 1 und 2; Jahrgang V 1903 04 No. 1—4. 

**) Das Recht. 


im Sinne der 120 und ff. des Str.-G.-B. Jeder 
zu verstehen ist, welchem durch ein Organ der Staats¬ 
gewalt in formell gesetzlich gebilligter Weise aus 
Gründen des öffentlichen Interesses die persönliche 
Freiheit entzogen wurde und welcher sich in Folge 
dessen während der Dauer der Freiheitsentziehung 
in der Gewalt der zuständigen Behörde befindet 
(Rechtsprechung des R.-G. in Strafsachen Bd. IV 
S. 356, Bd. VII S. 273. Entsch. des R.-G. in Straf¬ 
sachen Bd. XII S. 420, Bd. XV S. 39, Bd. XIX 
S. 330). Das erste Urtheil lässt aber in dieser Hin¬ 
sicht jegliche nähere Feststellung vermissen, wer die 
Unterbringung des Sch. als Geisteskranker in der 
Irrenanstalt angeordnet hat, ob diese namentlich 
durch eine staatliche Behörde geschah, ob dieselbe 
zu einer derartigen Anordnung gesetzlich zuständig 
war, ob die Anordnung aus Gründen des öffentlichen 
Interesses geschah und Sch. auch während seiner De- 
tention in der Gewalt der dieselbe anordnenden Be¬ 
hörde verblieb. Das vorige Urtheil spricht auch hier 
nur ganz im Allgemeinen davon, dass Sch. zur Zeit 
seiner Flucht auf Anordnung der zuständigen Be¬ 
hörde sich dortselbst befand und aus Gründen des 
öffentlichen Interesses als Geisteskranker und gemein¬ 
gefährlicher Verbrecher hier seiner persönlichen 
Freiheit beraubt war. Irgend eine nähere Begrün¬ 
dung hat aber auch diese erstrichterliche Annahme 
nicht gefunden und bleibt insbesondere völlig unauf¬ 
geklärt, welche Behörde der Vorderrichter hierbei 
im Auge hatte, die Strafvollstreckungsbehörde, welche 
in Folge der gewährten Strafunterbrechung mit dem 
einstweilen aus der Strafhaft entlassenen Sch. zunächst 
nicht weiter befasst war, den Gefängnissarzt, welcher 
ersichtlich nur die Ueberführung des Sch. aus der 
Strafanstalt in die Irrenanstalt anregte, aber nicht 
anordnete und füglich auch nicht wohl anordnen 
konnte, die Polizeibehörde oder irgend eine andere 
Behörde. (Urth. des III. Sen. des R.-G. vom 
IQ. October 1902.) 

J. W.*) pag. 74. 

£ 1 75 - 

Es ist nur festgestellt, dass die Angeklagten sich 
aufeinandergelegt und beide in dieser Lage mit ihren 
Unterleibern beischlafsähnliche stossende Bewegungen 
gemacht haben. Die zur Annahme eines beischlafs- 
ähnlichen Actes erforderliche unmittelbare Berührung 
des activen Gliedes mit dem gemissbrauchten Körper 
ist jedoch hierin nur dann zu finden, wenn eine 
Entblössung d es erste ren stattgefunden hat. (Urth. 
des IV. Sen. vom 19. December 1902.) 

J. W. pag. 211. 


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1904.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 7 


§ 185- 

Bei der durch unzüchtige, nicht in wollüstiger 
Absicht erfolgte Betastung eines Kindes verübten 
Beleidigung desselben ist es für deren Thatbestand 
ohne Bedeutung, ob das Kind die Beleidigung als 
solche empfindet Aber auch einem etwaigen Ein- 
verständniss des Kindes kann eine rechtliche Be¬ 
deutung nicht beigelegt werden, weil ihm die freie 
Verfügung über das verletzte Recht der Geschlechts¬ 
ehre nicht zusteht. (R>G. III, Urtheil vom 5. Fe¬ 
bruar 1903.) 

D. R. pag. 133, Entsch. No. 713. 

§ 223. 

Im vorliegenden Falle hat durch das Ausreissen 
der Haare und das Anstreifen der Revolverkugel 
eine Einwirkung auf den Körper des Mädchens statt¬ 
gefunden , die durch plötzliche heftige Reizung der 
Empfindungsnerven sie in Schreck versetzt und ihr 
körperliches Missbehagen erzeugt hat. Es hat aber 
nicht bloss eine davon unabhängige Erschütterung 
des seelischen Zustandes, bedingt durch die nachträg¬ 
liche Vorstellung der durch den Schuss hervorgerufenen 
Gefahr, Vorgelegen. 

Damit ist aber das Thatbestandsmerkmal der 
köqDerlichen Misshandlung erfüllt. (R.-G. IV. Str. 
S. 2. V. 1902.) 

Goltdammers Archiv. Jahrg. 49, pag. 268. 

§ 230. 

Der körperliche und geistige Zustand der Frau 
S. ist dadurch verschlimmert worden, dass sie unge¬ 
heure Mengen der zur Hälfte aus Opiumtinktur be¬ 
stehenden Arznei eingenommen hat. Sie hat diese 
Arznei durch den angeklagten Apotheker erhalten. 
Der Wille der Frau S., ihre Gesundheit zu beschädigen, 
ist verneint, weil sie sich der bösen Folgen des 
Opiumgenusses nicht mehr bewusst war. Sie hat 
also durch den Verbrauch der Arznei keine vorsätz¬ 
liche Selbstbeschädigung vorgenommen und dies be¬ 
gründet den Schluss, dass die Abgabe des Opiums 
die durch den Genuss herbeigeführte Gesundheits¬ 
beschädigung der Frau S. trotz deren eigener Mit¬ 
wirkung verursacht hat. (Urth. des III. Sen. des 
R.-G. vom 12. Juli 1902.) 

J. W. pag. 78. 

§ 230. 

Verfehlt ist der Ein wand, dass der Angeklagte 
die Erfolge nicht verursacht habe. Er habe — 
so wird ausgeführt — den Kranken nur einen Rath 
ertheilt, dessen Befolgung ihnen völlig freigestanden 

*) juristische Wochenschrift. 

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habe. Indem diese freiwillig und selbständig die 
empfohlenen Mittel am eigenen Körper angewendet 
hätten, hätten sie, wenn überhaupt von Gesundheits¬ 
beschädigung zu sprechen wäre, solche selbst ver¬ 
ursacht. Gewiss kann nicht allgemein und ohne 
Weiteres von demjenigen, welcher einem An¬ 
deren Rath ertheilt, gesagt werden, er habe den 
durch Befolgung des Raths von dem Anderen her¬ 
beigeführten Erfolg verursacht. Allein wenn die 
Strafkammer auf Grund der Verhältnisse des vor¬ 
liegenden Falles eine entsprechende Feststellung ge¬ 
troffen hat, so ist sie vom Vorwurfe eines Rechts¬ 
irrthums frei. Wer im Mangel eigener Sachkunde, 
aber im Vertrauen darauf, dass ein Anderer, besser 
Kundiger, ihn von Leiden zu befreien im Stande sei, 
sich dessen Behandlung unterwirft, begiebt sich frei¬ 
willig in dessen Botmässigkeit insoweit, als er bei 
Anwendung der ihm verordneten Kurmittel, deren 
Wirksamkeit er nicht übersieht, nicht Kraft eigenen 
Urtheils und auf Grund selbständiger, die Folgen 
abwägender Willensentschliessung zu handeln pflegt. 
Unter solchen Umständen kann er bei Befolgung der 
Anordnungen Jenes recht wohl als allein von d e s s e n 
Willen abhängiges Werkzeug dergestalt betrachtet 
werden, dass betreffs der Verantwortlichkeit für die 
Folgen ein rechtlicher Unterschied zwischen dem 
Falle, wo der Behandelnde in eigener Person die 
Curmittel am Leibe des Kranken in Wirksamkeit 
setzt, und dem Falle, wo es der Kranke dem Willen 
Jenes entsprechend thut, nichts zu machen ist. (Urth. 
des IV. Sen. des R.-G. vom 24. October 1902.)* 

J. W. pag. 79. 

§ 2 39 - 

Hat jemand, wenn auch ohne jedes Verschulden, 
den Anlass dazu gegeben, dass ein anderer des Ge¬ 
brauchs der persönlichen Freiheit beraubt wird, so 
erwächst ihm hieraus die rechtliche Verpflichtung, so¬ 
bald er den Ungrund der Freiheitsberaubung erkennt, 
für deren Aufhebung thätig zu werden. (R.-G. IV. 
Urth. vom iö. December IQ02.) 

D. R. pag. 47, Entsch. No. 270. 

II. Strafprocessordnung. 

§ 66. 

Der von einem Zeugen oder Sachverständigen in 
der Hauptverhandlung vor seiner Vernehmung ge¬ 
leistete Eid bleibt, so lange die Verhandlung, wenn 
auch mit einer die Grenzen des § 228 Str.-P.-O. 
innehaltenden Unterbrechung, fortdauert, auch für 
spätere Erklärungen desselben, selbst wenn sie ein 
neues Beweisthema betreffen, wirksam, aber nur so 
lange, als die Vernehmung des Zeugen oder Sach- 

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8 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. i. 


verständigen nicht in erkennbarer Weise abgeschlossen 
ist. (Entsch. des R.-G. Bd. 19, S. 27. Orth, des 

II. Sen. 6. V. 1903.) J. W. pag. 216. 

§ 73 - 

Nach § 73 Str.-P.-O. ist zwar das Gericht befugt, 
die Vernehmung von Sachverständigen abzulehnen, 
wenn es sich auf Grund eigener bereits vorhandener 
oder erlangter Sachkunde für befähigt erachtet, selbst¬ 
ständig eine Entscheidung zu treffen (vergl. Entsch. 
des R.-G. in Strafsachen Bd. 25, S. 336), allein noth- 
wendige Voraussetzung dafür, dass der Richter dies 
gethan, ist, dass dies in seiner Begründung zum un¬ 
zweifelhaften Ausdruck gelangt. Dies ist vorliegend 
nicht der Fall. Sowohl die aus dem Sitzungsprotocoll 
ersichtliche Rechtfertigung der Ablehnung als die 
Urtheilsbegründung giebt dem Zweifel Raum, dass 
die Strafkammer nicht, weil sie selbst als Sachver¬ 
ständige sich für geeignet erachtet hat, die Frage zu 
beurtheilen, sondern deshalb den Beweisantrag abge¬ 
lehnt hat, weil sie die bereits erhaltenen Beweisergeb¬ 
nisse für genügend und nicht mehr zu erschütternde 
erachtet hat. Dieses Verfahren verstiess aber, wie 
Angeklagter mit Recht rügt, gegen die Vorschrift des 
§ 3 77 No. 8 Str.-P.-O., denn das Gericht hat hier¬ 
durch über das Ergebniss der beantragten Beweis¬ 
aufnahme im voraus abgeurtheilt und ein solches Vor¬ 
gehen ist, wie das Reichsgericht in ständiger Recht¬ 
sprechung festgehalten hat, unzulässig. (Urth. des 

III. Sen. vom 5. I. 03.) J. W. pag. 216. 

§§ 73 > 83. 

Die Vorschrift der §§ 73 und 83, nach welcher 
die Auswahl und Anzahl der zuzuziehenden Sachver¬ 
ständigen in das richterliche Ermessen gestellt ist, 
das auch darüber zu entscheiden hat, ob eine neue 
Begutachtung durch andere Sachverständige statt¬ 
finden soll, gilt auch für das schwurgerichtliche Ver¬ 
fahren. (R.-G. IV, Urth. vom 28. Januar 1903.) 

D. R. pag. 134, Entsch. No. 719. 

§ 79 - 

Die Beeidigung der Angaben eines Sachverständigen 
auf die ihm vorgelegten General- und Personal fragen 
ist in der Strafprocessordnung nicht vorgeschrieben. 
(R.-G. IV, Urth. vom 3. November 1903.) 

D. R. pag. 558, Entsch. No. 2895. 

§ 2 43 * 

Die Strafkammer hatte die beantragte Vernehmung 
von Zeugen über den Verlauf der Krankheit, die 
bekunden würden, dass bei den Kranken kein Fieber, 
keine Vergrössenmg der Milzdämpfung vorhanden 
gewesen sei und dass die Krankheit sich ohne Unter¬ 
brechung entwickelt habe, abgelehnt. 


Das Reichsgericht findet hierin keine unzulässige 
Beschränkung der Vertheidigung; denn es handelt sich 
um Thatsachen, welche nur vermöge ärztlicher Sach¬ 
kunde wahrgenommen werden können. Wie das 
Vorhandensein der Glaubwürdigkeit der Zeugen, so 
unterliegt auch das der persönlichen Befähigung zur 
Wahrnehmung der freien Beurtheilung des Instanz¬ 
gerichts. (R.-G. II. Str. S. 18. IV. 1902.) 

Goltdammers Archiv Jahrg. 49 pag. 264. 

§ 2 43 * 

Unbegründet erscheint die Processbesch werde, 
durch welche die Ablehnung des Antrages auf Ver¬ 
nehmung der Mutter und Schwester des Angeklagten 
gerügt wird. Die Zeugen sollten Thatsachen be¬ 
kunden, aus welchen die Vertheidigung die Unzu¬ 
rechnungsfähigkeit des Angeklagten herleiten wollte. 
Abgelehnt ist der Antrag, da dem Gerichte auch bei 
Zugrundelegung dieser Thatsachen als wahr ein be¬ 
gründeter Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des 
Angeklagten im Sinne des § 51 des Str.-G.-B. bei 
Begehung der That nicht beigehe und es demnach 
die Vernehmung der Zeugen für unerheblich halte. 
Die Zurückweisung des Antrages ist somit lediglich 
aus thatsächlichen Gründen erfolgt Indem die 
Wahrheit der behaupteten Thatsachen unterstellt 
wurde, musste die Erhebung des Beweises sich als 
zwecklos darsteilen und konnte deshalb ohne Ver¬ 
letzung eines Processgrundsatzes abgelehnt werden. 
Das würde unzweifelhaft für das regelmässige Ver¬ 
fahren anzuerkennen sein. Der Umstand, dass es 
sich vorliegend um ein schwurgerichtliches Verfahren 
handelt, vermag an dieser Auffassung nichts zu ändern. 
Die Geschworenen sind aber an die Auffassung des 
Gerichts nicht gebunden, sie können die Aufnahme 
des abgelehnten Beweises ihrerseits anregen oder auch, 
wenn sie die unter Beweis gestellten Thatsachen ohne 
Weiteres für wahr halten, daraus abweichende 
Schlüsse ziehen. (Urth. des III. Sen. des R.-G. vom 
22. September 1902.) J. W. pag. 93. 

§ 243 Abs. 2. 

Das Gericht hat den Antrag auf Vernehmung 
eines Sachverständigen ohne Begründung abgelehnt 
Dies war unzulässig. Das Gericht kann zwar die 
Erhebung eines Gutachtens ablehnen, wenn es sich 
genügende Sachkenntniss beimisst, um der Hülfe des 
vorgeschlagenen Sachverständigen zu entbehren. Aber 
diese Selbstprüfung ist durchaus verschieden von dem 
freien Ermessen, es bildet vielmehr ihr Ergebniss den 
für die Ablehnung massgebenden Grund, welcher ge¬ 
mäss § 34 der Str.-P.-O. dem nach § 243 daselbst 
auch bezüglich der seitens der Betheiligten in der 
Hauptverhandlung benannten Sachverständigen er- 


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Original fram 

HARVARD UNiVERSITY 



I 9°4-] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


9 


forderlichen Beschluss beizufügen ist. So liegt es 
beispielsweise im besonderen Interesse der Verthei- 
digung, rechtzeitig zu erfahren, ob die Ablehnung 
des Antrages aus jenem Grunde, oder vielmehr aus 
Gründen, welche in der Person des vorgeschlagenen 
Sachverständigen liegen, erfolgt ist. (Urth. des itl. 
Sen. des R.-G. vom 3. November 1902.) 

J. W. pag. 93. 

§§ 249- 255- 

Abgesehen von der Angabe des bei der ärztlichen 
Untersuchung festgestellten öbjectiven Befundes und 
der Erklärung der Untersuchten über die bei ihr vor¬ 
handen gewesenen und noch vorhandenen Krankheits¬ 


erscheinungen enthält das verlesene Attest eingehende 
Mittheikmgen der Verletzten über den Hergang bei 
dem von ihr erlittenen Unfall und über ihr und des 
Angeklagten Verhalten nach demselben, ferner auf Mit¬ 
theilungen einer dritten Person über das Verhalten der 
Verletzten nach dem Unfälle. Insoweit überschritt das 
Schriftstück in sehr erheblicher Weise den Rahmen eines 
näch § "255 Str.-P.-O. veriesbaren ärztlichen Attestes 
und verstiess seine, ausweislich des Sitzung9protocolles 
erfolgte Verlesung gegen § 249 der Strr-P.-O. (Urtli. 
des R.-G. IV. vom 9. I. 1903.) 

Ztsch. für Medicinalb. Beil. No. 18, pag. 222. 

(Fortsetzung folgt.) 


Progressive Paralyse 

Von P. 

Jat 19. Jahrhundert sind nicht wenige berühmte Leute 

durch progressive Paralyse zu Grunde gegangen. 
Ich nenne nur Lenau, R. Schumann, Donizetti, 
A. Rethel, Makart, Fr. Nietzsche. Die Diagnose 
ist in der Regel auch ohne die Angaben von Sach¬ 
verständigen leicht: liest man in einer Biographie, 
dass ein Mann in den mittleren Jahren geisteskrank 
geworden und nach einigen Jahren verblödet ge¬ 
storben sei, so ergiebt fast immer die genauere Nach¬ 
forschung die Paralyse. Nun fällt mir auf, dass aus 
dem 18. Jahrhundert kein solcher Fall bekannt zu 
sein scheint; wenigstens habe ich noch keinen 
gefunden.*) Beschäftigt man sich z. B. mit Goethes 
Leben, so lernt man eine sehr grosse Zahl von 
Personen kennen. Unter ihnen sind Leute mit den 
verschiedensten Gehimkrankheiten: Dementia praecox 
(Lenz, Hölderlin), Paranoia (Rousseau), senile Geistes¬ 
störung (Haller, Zimmermann, Merck), Arteriosklerose 
des Gehirns (Lessing), Epilepsie (Napoleon), 
Alkoholismus (Amadeus Hoffmann) u. s. w. Aber 
vergeblich sucht man nach progressiver Paralyse. 
Der Einwand, man habe sie nicht erkannt, weil sie 
erst 1822 von Bayle beschrieben worden ist, gilt 
nicht, denn es kommt ja garnicht darauf an, ob 
damals eine richtige Diagnose gemacht worden ist; 
wir müssten die Diagnose aus der einfachen Er¬ 
zählung. machen können, so gut wie wir sie nach 
modernen Laienmittheilungen machen können. Dabei 
ist auch* noch Folgendes zu bemerken. Man lernt 

*) Einer der Generäle Napoleons ist an progressiver 
Paralyse gestorben: Andoche Junot, geb. 1771, gest. am 
29. Juli 1813.. 

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und berühmte Leute. 

t. Möbius. 

aus den Memoiren und Correspondenzen des 

18. Jahrhunderts ausser den berühmten Leuten noch 
eine Menge Anderer kennen, aber auch bei ihnen 
deutet nichts auf Paralyse. Wer heute einen irgendwie 
beträchtlichen Bekanntenkreis hat, kommt so und so 
oft mit der Paralyse in Berührung, und wollte er 
seine Memoiren schreiben, so käme er ohne ihre 
Erwähnung garnicht aus. 

Solche litterarische Studien sprechen doch mit 
Bestimmtheit dafür, dass früher die progressive 
Paralyse viel seltener gewesen ist als jetzt, und dass 
sie von den Aerzten eben deshalb erst im 19. Jahr¬ 
hundert bemerkt worden ist, weil sie vorher nur 
ausnahmsweise vorkam. 

Wie sind diese Dinge zu erklären? Natürlich 
denkt man zunächst an die Ausbreitung der Syphilis, 
und ist es wohl nicht zu bezweifeln, dass heute die 
Gesellschaft sehr viel stärker von der Syphilis durch¬ 
seucht ist als vor hundert Jahren. Die Frage ist nur 
die, ob es damit allein gethan ist. Wenn auch 
weniger als jetzt, so gab es doch im 18. Jahrhundert 
immerhin ziemlich viel Syphilis. Kommen noch 
Nebenumstäncle in Betracht, die die Gehirne vom 

19. Jahrhundert an weniger widerstandsfähig gegen 
das syphilitische Gift gemacht haben? — 

Noch die Bemerkung soll hinzugefügt werden, 
dass bei den Erörterungen über die Beziehungen 
zwischen Genie und Geistesstörung die berühmten 
Leute, die paralytisch geworden sind, nicht als Bei¬ 
spiele benutzt werden dürfen. Es mag ja sein, dass 
unter Umständen die auf Entartung beruhende geistige 
Disharmonie die Entwickelung der Paralyse be- 


Original from 

HARVARD UNIVERSUM 




rö 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


günstigt (obwohl wir darüber garnichts Sicheres 
wissen), aber es steht fest, dass sehr viele nach dem 
Sprachgebrauche ganz normale Leute paralytisch 
werden, und dass man aus dem Auftreten der 


[Nr. i. 


progressiven Paralyse gar keinen andern Schluss 
ziehen kann, als dass der Erkrankte vorher au 
Syphilis gelitten hat. 


M i t t h e i 

—- Geheimer Medicinalrath Prof. Dr. Eduard 
Hitzig in Halle a. S. feierte am 17. März das 
25 jährige Jubiläum als ordentlicher Professor an der 
Universität Halle. Hitzig hat die Hallesche Irren¬ 
klinik als die erste selbständige psychiatrische und 
Nervenklinik an den Universitäten Preussens im Jahre 
1885 begründet. 

— Düsseldorf. Unter dem Vorsitz des Cominer- 
zienraths Dr, Wittenstein und [in Anwesenheit des 
Oberpräsidenten der Rheinprovinz hielt die Gesell¬ 
schaft „Rheinische Volksheilstätten für Ner¬ 
venkranke, G. m. b. H.“ am 20. März d. Js. 
ihre Jahresversammlung ab. Nach dem vom Geschäfts¬ 
führer Geh. Regierungsrath Klausener erstatteten Bericht 
betrug das Gesellschaftsvermögen am Ende des Jahres 
1903 145326 M. Durch die hochherzige Schenkung 
des Geh. Commerzienraths Böddinghaus in Elber¬ 
feld ist der Gesellschaft ein 100 Morgen grosses, 
allseitig von Waldungen umfasstes, bei Leichlingen 
im Kreise Solingen gelegenes Gelände zur Errichtung 
einer Heilstätte für weniger bemittelte nervenkranke 
Personen weiblichen Geschlechts zur Verfügung ge¬ 
stellt worden. Der Bau wird in kürzester Zeit be¬ 
gonnen und die Anstalt voraussichtlich im Frühjahr 
1906 eröffnet werden. Der Bauunternehmer, Archi¬ 
tekt Gerhardt aus Elberfeld erklärte an der Hand, von 
Zeichnungen die Bauausführung. Hiernach soll die 
Anstalt nach dem sogenannten Pavillon-System er¬ 
richtet werden und Raum für etwa 120 Kranke 
bieten. Sämmtliche Mittheilungen wurden mit grossem 
Interesse entgegengenommen. Der Vorsitzende schloss 
die Sitzung mit Dankesworten an die Erschienenen 
und besonders an den Oberpräsidenten für das leb¬ 
hafte Interesse, dass er dem Unternehmen und den 
Bestrebungen des Vereins entgegenbringe. 


Referate. 

— Ueber Psychosen bei Militärgefange- 
ncn. Nebst Reform Vorschlägen. Eine klinische Studie. 
Von Prof. Dr. Ernst Schultze. Jena, Gustav Fischer. 
276 S. 6 M. 

Es liegt in der Natur der Sache, dass bei der 
Ausmusterung die ärztliche Untersuchung sich nicht 
in jedem einzelnen Falle eingehend mit dem Geistes¬ 
zustände des Rekruten beschäftigen kann. Selbst 
wenn der betr. Militärarzt psychiatrisch geschult wäre, 
was wohl nur in seltenen Fällen zutreffen dürfte, 
würde doch die für den Einzelnen verfügbare Zeit in 
der Regel absolut unzureichend sein. Es wird somit 
a priori zu erwarten sein, dass geringe psychische 
Anomalien bei dieser Untersuchung übersehen und 

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1 u n g e n. 

dass somit eine nicht ganz kleine Anzahl psycho¬ 
pathischer Individuen in den Heeresdienst einge¬ 
stellt werden. Naturgemäss gerathen solche mit der 
militärischen Disciplin leicht in Conflict, und es liegt 
nahe zu vermuthen, dass in der Schar der militäri¬ 
schen Delinquenten diese Psychopathen einen nicht 
geringen Procentsatz ausmachen. 

Das sind theoretische Erwägungen, thatsächlich 
wussten wir bisher recht wenig über diese Dinge. 
Es hat wohl jede Anstalt gelegentlich einmal einen 
vereinzelten solchen Fall zu beobachten, aber daraus 
lässt sich natürlich nicht viel schliessen. Ein gründ¬ 
liches klinisches Studium des Gegenstandes auf Grund 
eines grossen Materials darf daher auf allscitiges Inter¬ 
esse rechnen. Und das bietet uns S c h u 1 1 z e in dem 
vorliegenden Werke. 

Nach der preussischen Statistik sind in den Jahren 
1898—1900 insgesammt 67 Personen aus Militär¬ 
lazaretten und 7 aus Militärgefängnissen preussischen 
Irrenanstalten zugeführt worden. Wenn also Schultze 
im Laufe von 4 Jahren 32 Militärgefangene beob¬ 
achtet hat, und später, nach Abschluss seiner Unter¬ 
suchungen, in kurzer Zeit noch weitere 20 beobachten 
konnte, so dürfte wohl kaum ein zweiter über eine 
so reiche Erfahrung auf diesem Gebiete verfügen. 

Die klinische Analyse jener 32 Fälle giebt An¬ 
lass zu mannigfachen theoretischen wie practischen 
Erörterungen. Hier mögen nur einige kurze Andeut¬ 
ungen Platz finden; wer sich für die Sache inter- 
essirt, wird doch zu dem Werke selbst greifen. 

Fast durchweg boten die Fälle keine klassischen, 
handgreiflichen Krankhcitsbilder; das ist verständlich, 
sonst wären sie wohl nicht beim Militär eingestellt 
oder doch bald wieder entlassen worden. Die mei¬ 
sten machten sogar recht erhebliche diagnostische 
Schwierigkeiten. — 4 der Fälle rechnet S. zum 
Krankheitsbilde des manisch-depressiven Irreseins; sie 
boten der Beobachtung charakteristische Depressions¬ 
zustände; bei einem musste die Differentialdiagnose 
gegen Epilepsie unentschieden bleiben. — 5 weitere 
Kranke litten an Imbecillität, und zwar überwogen 
bei den meisten die ethischen Defecte; die Unter¬ 
suchung und Beurtheilung Schwachsinniger wird aus¬ 
führlich dargestellt und im Anschluss daran 2 eigen¬ 
artige Fälle von simulirtein Schwachsinn mitgetheilt. 

Eins der umfangreichsten Kapitel ist das über 
Dementia praecox, welcher 5 der Beobachteten an¬ 
gehören und zw f ar 2 mal Hebephrenie, 2 mal Dementia 
paranoides und 1 mal Katatonie. In diesem Kapitel 
findet auch die Simulationsfrage eingehende Erörter¬ 
ung; mit Recht, denn gerade die Symptome der 
Dementia praecox erwecken ja so oft den Eindruck 

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HARVARD UNIVERSITY 




1904.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT n 


des gemachten und werden häufig als simulirte be¬ 
trachtet. Besonders lehrreich ist in dieser Hinsicht 
der mitgetheilte Fall von Katatonie. Einer der Fälle 
giebt Anlass, die ätiologische Bedeutung des Traumas 
zu erörtern. Endlich werden die körperlichen Symp¬ 
tome der Dementia praecox genau beschrieben und 
ihre grosse diagnostische Bedeutung klargestellt 

Epilepsie wurde 7 mal diagnostidrt; die Kranken 
hatten meist keine ausgebildeten Krampfanfälle, doch 
wurde durch Schwindelanfälle, periodische Depressi¬ 
onen, Angstanfälle, periodische Kopfschmerzen u. s. w. 
die Diagnose hinreichend gesichert. Die Fälle boten 
vieles eigenthümliche; besonders bei einem war das 
Bild so ungewöhnlich, dass die Diagnose erst nach 
langer Zeit klar wurde. — Bei weiteren 7 Fällen lag 
Hysterie vor. Die körperlichen Grundlagen der Diag¬ 
nose waren charakteristische Sensibilitätsstörungen und 
Einengung des Gesichtsfeldes. Psychisch wurden 
Hemmungszustände, Tobsuchtsanfälle und höchst 
eigenartige Dämmerzustände beobachtet. 

Endlich handelte es sich in einem Falle um de- 
generatives Irresein, in einem blieb die Diagnose 
zweifelhaft, in einem wurde Simulation nachgewiesen, 
und der letzte, bei dem Alkoholintoleranz vorlag, 
giebt Anlass zu beachtenswerthen Erörterungen über 
den atypischen Rauschzustand, und die Unfähigkeit 
der Laien, Richter sowohl wie Zeugen, einen solchen 
zu beurtheilen. 

Die Zahl der Geisteskranken im Heere hat in 
den letzten Jahren absolut erheblich zugenommen; 
besonders macht sich diese Zunahme geltend bei den 
Insassen der Militärgefängnisse. Manche erkranken 
erst während der Haft, andere durch die Schädlich¬ 
keiten des Militärdienstes; aber ein Theil ist auch 
sic her schon bei der Einstellung in die Armee krank 
gewesen. 

Um die Einstellung kranker Individuen nach Mög¬ 
lichkeit zu verhüten, bringt S. schliesslich durch¬ 
greifende Reformvorschläge. Sie gehen nach ver¬ 
schiedenen Richtungen. Vor allem muss dafür ge¬ 
sorgt werden, dass die Anamnese der Einzustellenden 
(z. B. frühere Krankheit, schlechter Schulerfolg) genau 
bekannt wird und dass gegebenen Falls eine psychia¬ 
trische Begutachtung stattfindet. Den Militärärzten 
muss Gelegenheit zu gründlicher psychiatrischer Aus¬ 
bildung und des öfteren zur Ergänzung ihrer Kennt¬ 
nisse gegeben werden. Auch Officiere sollten einige 
elementare psychiatrische Kenntnisse haben. Wie 
die Erfüllung solcher Forderungen anzustreben ist, 
wird im einzelnen ausgeführt. 

Die ausführliche Mittheilung der interessanten 
Krankengeschichten ist in den Anhang verwiesen. 
Das hat den Vortheil, dass die Lectüre des Haupt- 
textes nicht in unliebsamer Weise unterbrochen wird. 

In unserem Bestreben, eine psychologische Be¬ 
trachtungsweise in möglichst vielen Bezirken unseres 
öffentlichen Lebens zur Geltung zu bringen, bezeichnet 
Schultzes Buch einen erheblichen Fortschritt. Es er- 
schliesst der Psychiatrie ein Gebiet, in dem sie bisher 
nur ein recht kümmerliches Dasein fristen konnte, 
und in dem sie sicher berufen ist, in Zukunft recht 
viel Gutes zu wirken. Deiters. 


— Archiv fürCriminal-Anthropologie 
und Criminalistik. 14. Bd. 

1. und 2. Heft: 

Dr. E. A. Spitzka in New York: Auftreten 
von Epidemien des religiösen Fanatismus 
im zwanzigstenJahrhundert. Ein frappantes 
Beispiel von Suggestionswirkung auf das Religions¬ 
wesen eines in der Cultur primitiven Volkes, bieten die 
neuerdings ausgebrochenen Unruhen der fanatisirten 
Duchoborzen in Kanada. Durch mehrere „Propheten“ 
veranlasst, zogen ungefähr 1500 Männer, Frauen und 
Kinder in der grössten Winterkälte, nur dürftig be¬ 
kleidet, ohne Lebensmittel aus, um Jesum zu suchen. 
Da alle Vorstellungen der Behörden und benachbar¬ 
ten Einwohner erfolglos blieben, mussten die Fana¬ 
tiker, von denen viele den Strapazen erlegen waren, 
zwangsweise in ihre Heimath zurückgebracht werden. 

Medicinalrath Dr. P. Näcke in Hubertusburg: 
Einiges zur Frauenfrage und zursexuellen 
Abstinenz. Verf. bespricht das vom Verlage 
der „Frauen-Rundschau“ in Leipzig verschickte „Vera“- 
Buch und knüpft an die in der Schrift ausgesprochenen 
Ansichten über die Frauen frage folgende social-psy¬ 
chologische Bemerkungen. 

Die bisherige Form der Ehe ist der freien Ehe 
vorzuziehen, aber sie ist zu reformiren, indem 1. bei 
unerträglicher Ehe die Scheidung zu erleichtern, 

2. die getrennte Gütergemeinschaft einzuführen wäre. 
Ferner soll der Frau jeder Beruf offenstehen. Weiter 
ist eine weise Beschränkung der Kinderzahl zu em¬ 
pfehlen. Die Gefahren der Prostitution, welche ein 
nothwendiges Uebel ist, müssen möglichst herabge- 
drtickt werden. Im Prineip besteht vor der Ehe 
Geschlechtsfreiheit für beide Geschlechter. Doch ist 
dem Weibe wegen der eventuellen Folgen Enthalt¬ 
samkeit mehr zu rathen als dem jungen Manne, dem 
massiger Geschlechtsgenuss nicht schadet. Der Fall 
eines Mädchens darf nicht strenger angesehen werden 
als der des Mannes. Die Keuschheit des Mannes 
vor der Ehe ist dadurch erschwert, dass der Ge¬ 
schlechtstrieb beim Manne gewöhnlich stärker ist als 
bei dem Weibe, dass der Mann ferner von Natur 
meist polygam angelegt und Versuchungen mehr 
ausgesetzt ist als das Weib. Die jungen Leute müssen 
schon als Kinder das Nötnigste über den Geschlechts¬ 
verkehr durch Eltern und Lehrer erfahren, später be¬ 
aufsichtigt und vor den Geschlechtskrankheiten ge¬ 
warnt werden. 

3. Heft: 

Hans Gross. Zur Fragedes Berufsge¬ 
heimnisses. Verfasser schlägt vor, dass man der 
Verantwortung und dem Gewissen des Arztes die 
Wahrung von Geheimnissen und die Entscheidung 
darüber überlassen soll, ob er in bestimmten Fällen 
vielleicht Unheil verhütet, wenn er von dem ihm 
Gesagten klugen Gebrauch macht. 

4. Heft: 

Medicinalrath Dr. P. Näcke in Hubertusburg: 
Fore n's isch-psychiatrisch- psycho logische 


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12 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. f 


Randglossen zum Prozesse Dippold, ins¬ 
besondere über Sadismus. Aus den Zeitungs¬ 
berichten über den Prozess Dippold geht nicht ge¬ 
nügend klar hervor, ob D. Sudist, Homosexueller, 
Entarteter oder nur geistig Minderwerthiger ist. Da 
die Entscheidung darüber sehr schwierig ist, hätte 
hier ein specieller Sachverständiger wie Moll oder 
v. Schrenck-Notzing gehört werden müssen .Verf. hat 
den Eindruck gewonnen, dass D. wahrscheinlich ein 
echter Entarteter ist, und dass daher das Urtheil 
einer verminderten Zurechnungsfähigkeit vielleicht ge¬ 
rechtfertigt gewesen wäre. Für derartig verminderte 
Zurechnungsfähige mit stark depravirtem Charakter 
und ausgesprochener Gemeingefährlichkeit käme In- 
ternirung in ein Gefängniss oder dessen Irrenstation 
in Frage und zwar für so lange Zeit, als die Gemein¬ 
gefährlichkeit des Betreffenden anhält. Das Urtheil 
über die Zurechnungsfähigkeit hat der Richter dem 
Sachverständigen allein zu überlassen und dem Gut¬ 
achten desselben sich zu fügen oder ein Obergutachten 
einzuholen. Verf. charakterisirt ferner das Verhalten 
des als Zeugen auftretenden Brüdern des Opfers, der 
Eltern desselben, des von den Eltern gesandten 
Berliner Sachverständigen, des Publikums und der 
Presse. D ost-Hub er t u sbu rg. 

— Otto M arburg. Mikroscopisch-tvpographi- 
scher Atlas des menschlichen Zentralnervensystems 
mit begleitendem Texte. Mit einem Geleitwort von 
Prof. Obersteiner. Mit 5 Abbildungen im Text und 
30 Tafeln. Leipzig und Wien, Deutiehe 1004. 

Von wannherzigen Geleitsworten Prof. Obersteinei.s 
empfohlen tritt ein kleines Werk vor uns, durch das 
uns in vollständigerer Weise als bisher eine zeichne- 
lische Uebersicht über den feineren Bau des Ccntral- 
nei vensvslcms geboten wird. Die Weigert-Barschen 
Präparate sind mit Cochenille-Alaun nach Osokor 
nachgefärbt und dann unter 2- bis 1 o-facher Lupen- 
vergrösscrung von Maler Iviss gezeichnet worden. 
Dem vorwiegend didaktischen Zweck entsprechend ist 
es begreiflich, dass die wichtigsten Zellgruppen in etwas 
stärkerer Vergrösscrung eingetragen sind. 

Die ersten 4 Tafeln zeigen uns in 16 klaren 
Figuren Rüekenmarkschnittc, sodann erhalten wir auf 
12 Tafeln nicht weniger als 25 schöne Querschnitte 
des Himstammcs. Besonders dankenswerth ist die 
Darstellung von Horizontalschnitten des Himstammcs, 
die in anderen Werken meist zu sehr vernachlässigt 
sind. Den 5 Tafeln mit 9 Horizontalschnitten folgen 
noch 2 mit Sagittalschnitten, darauf zur Schilderung 
der Verhältnisse der Hemisphären 3 Tafeln mit 
Frontal-, 2 mit Horizontal- und 2 mit Sagittalschnitten 
des Grosshirns. Zur bequemeren Benützung während 
der Laboratoriumsarbeit wäre vielleicht eine Neben¬ 
einanderstellung jeder Tafel und des entsprechenden 
Textes empfehlenswerth gewesen. Doch wird auf 
alle Fälle das Buch, das in dem angesehenen Ober¬ 
steinersehen Laboratorium entstanden ist, überall, wo 
neurologisch gearbeitet wird, mit bestem Erfolg be- 
nutzt werden. Weygandt-Würzburg. 


— Zur Liquidation der Vorbesuche im 
Entmündigungsverfahren von Privatdocent Dr. 
Ernst Schultze-Andernach. (Aerztl. Sachverständigen- 
Zeitung 1902 No. 15. 

Die Liquidation des Gutachters über Vorbesuche 
kann von Seiten des Gerichts beanstandet werden, 
je nachdem Zahl, Ort, Zweck der Vorbesuche 
in Betracht kommt. 

Der Zahl nach sind 3 zu liquidiren gestattet, 
sind mehr nöthig, empfiehlt Verf., sich vom Gericht 
die Genehmigung, weitere Vorbesuche machen zu 
dürfen, einzüholen. 

Ist der Ort von Belang, so kommt es darauf an, 
ob die Untersuchung in der Wohnung des Arztes 
oder ausserhalb derselben stattfindet. Bei letzterem 
Fall werden je nach den Voraussetzungen entweder 
Tagesgelder und Reisekosten oder Gebühr von 3 M. 
pro Besuch berechnet Besuche von Anstaltsärzten 
in der Anstalt haben, nach Ansicht des Verfs 
als ausserhalb derWohnung gemacht zu gelten. 

Die Frage, ob die Vorbesuche, die in der Wohnung 
der Aerzte erfolgen, liquidirt werden dürfen, ist noch 
nicht erörtert worden, weil sie eng mit der Frage 
nach dem Zweck des Vorbesuches verbunden Ist. 
Erfolgt die Untersuchung vor dem Termin, so 
muss der Sachverständige entschädigt werden, auch 
dann, wenn die Untersuchung in seiner Behausung statt- 
gefunden hat (3 M. Maximum pro Besuch). Die Gebühr 
für derartige Vorbesuche steht dem Gutachter auch 
zu, wenn er nach dem Termin ein schrift¬ 
liches Gutachten zu erstatten hat. Waren die Vor- 
bcsuchc aber nur zur Gutachtenerstattung nöthig, 
so sind sie im Allgemeinen nicht zu berechnen (Gut¬ 
achtengebühren ö — 24 M.); nur dann, wenn vom 
Gericht eine längere Beobachtung der zu begutach¬ 
tenden Person aufgegeben ist. 

H e i n i c k e - G r o s s s c h w e i d n i t z. 


Personalnachrichten. 

— Der Director der Rheinischen Provinzial-Irren- 
Heil- und Pflegeanstalt und der psychiatrischen Klinik, 
ordentlicher Professor der Psychiatrie an der Bonner 
Universität, Geh. Medicinalrath Dr. Karl Pelinan, 
Mitglcid des Medicinal-Collegiums der Rheinprovinz, 
tritt mit Schluss des Sommersemesters 1904 in den 
Ruhestand. 

— Privatdozent Dr. Ernst Meyer, Oberarzt an 
der psychiatrischen Universitätsklinik in Kiel, ist als 
ausserordentlicher Professor auf den durch Professor 
Bonhöffers Berufung nach Heidelberg freigewordenen 
Lehrstuhl für Irrenheilkunde und als Direktor der 
psychiatrischen Klinik nach Königsberg berufen worden. 
Professor Meyer hat den Ruf angenommen. 


Dieser Nummer liegt das Programm des 
„Ko ngresscs für experimentelle Psychologie“ 
in Giessen bei. 


Für den redactionellen Theil verantwortlich : Oberarzt Dr. J . lJresicr , Luhlinitz (Schlesien). 

Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inscratenan nähme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag Von Carl Marhold in Halle a. S 

Iievnetuaon’sche Buchdruckerei (Ciebr. Woill) in Halle a. S. 


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HARVARD UNIVERSITY 



Psychiatrisch-Neurologische 
Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte. 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes 

heraasgegeben von 

Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. O. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. Ij. Edinger, 

Uchupringe l Altmarki. Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M. 

Prof. Dr. A. Guttstadt, Prof. Dr. E. Mendel, Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel. 
Geh. Med.-Rath. Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien* 

Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Bitti, Direktor Dr. Heinrich Schloss, Professor Dr. Ernst Schultze, 

Budapest St. Maurice (Seine). Kierling-Gugging (Österreich). Andernach 

Direktor Dr. Urquhart, Dr. med. et phil. W. Weygandt, 

Perth (Schottland). Privatdocent, Würzburg. 

Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

1 )berarzt Dr. Joh. Bresier. 

Lublinitz (Schlesiern. 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Haliesaale. Fernsprecher 2834. 

Nr. 2. — " 9 . Apni. 1904. 

Die Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend in Stärke von 1—2 Bogen und kostet pro Quartal 4 Mk. 
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 

Inserate werden für die jspaltige Petitteile injt 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung' Äfft'. ' 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresier, Lublinitz (Schlesien), zu richten. 

Inhalt: Die Kgl. Heilanstalt Weinsberg. Von Obermedicinalrath Dr. Dietz in Stuttgart (Fortsetzung) (S. 13). — Wichtige 
Entscheidungen auf dem Gebiete der gerichtlichen Psychiatrie, III. Aus der Literatur des Jahres 1903 zusammengestellt 
von Prof. Ernst Schultze (Fortsetzung) (S. 16). — Das experimental-psychologische Laboratorium der psychiatrischen Klinik 
zu Giessen. Von Prof. Sommer (S. 19). — Mittheilungen (S. 22). — Personalnachricht (S. 24). 


Die Kgl. Heilanstalt Weinsberg. 

Von Obermedicinalrath Dr. Dietz in Stuttgart. 
(Fortsetzung.) 


Die Anstalt besitzt Centra 1 - G ruppen- 
Heizung. Die ursprüngliche Absicht, die ganze 
Anstalt von einer Centrale aus zu heizen, wie dies 
in verschiedenen neueren Anstalten mit gutem 
Erfolg durchgeführt ist, scheiterte an der Kostenfrage. 
Bei der jetzt eingeführten Gruppenheizung erfolgt 
die Dampferzeugung in 3 Centralen, und zwar einer 
Hochdruck- und zwei Niederdruckanlagen, erstere 
im Kesselhaus, letztere in den Häusern der ruhigen 
Wachabtheilungen, No. 15 und 20, befindlich. Die 
Anordnung ist aus dem Plan (Abb. 5) ersichtlich. 

Von der Hochdruckcentrale aus werden sämmtliche 
offenen und die halbruhigen Pavillons, das Wirth- 
schafts- und Verwaltungsgebäude, Gesellschaftshaus 
und Werkstätten, im ganzen 15 Gebäude, mit 
Wärme versehen, von den beiden Niederdruckcentralen 
aus die geschlossenen Häuser, das Desinfections- und 


Sectionshaus, im ganzen 10 Gebäude. Die Ver- 
theilung des Dampfes erfolgt in unter Terrain liegenden 
Canälen von insgesammt 1450 m Länge. Diese sind, 
soweit sie von Hochdruckröhren durchzogen werden, 
begehbar, im übrigen schlupfbar eingerichtet. Die 
Dampfröhren sind mit Wärmeschutzmassen umhüllt; 
geeignete Vorkehrungen sind für die Ausdehnung 
und Längsverschiebung der Röhren getroffen. Für 
die Reduction des Dampfes von Kessel- auf 
Betriebsspannung sind in jedem Gebäude zwei 
Reducirapparate angebracht Die Heizung der 
Räume selbst erfolgt mittelst Niederdruck von 
0,09 Atm. Spannung unter Verwendung von Radiatoren 
mit Regulirventil, welche in den Tag- und Schlaf¬ 
räumen in den Fensternischen angebracht sind. 

Für die geschlossene Anstalt wird auch im 
Sommer und während der Nacht dauernd Dampf 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 2. 


J 4 

gehalten, so dass für Dauerbäder stets warmes Heizung versorgt die Kesselanlage die Koch- und 
Wasser vorhanden ist. Die Dampfhaltung während Waschküche, die Warmwasserapparate und die 
der Nacht erfolgt in automatischer Weise unter Maschinenanlage mit Dampf. 

Benützung von Schüttfeuerungskesseln mit Präcisions- Das Wirthschaftsgebäude, No. io, enthält die 
regulirung. Koch- und Waschküche. 

Das Kesselhaus, No. 28, ist verbunden Die Kochküche ist für den Bedarf von 800 


S*fciioirUi»u! 



Erklärung: 

Horhörufkd^rpflmung für Winter 
* ' ‘ » Sommer 

Nrederdr ilj [k3»npfie tupg für vVmtir 
* * . \ • • Sommer 

Conoense'fung. 

einerseits mit dem Maschinensaal sammt zugehöriger Personen eingerichtet und enthält 6 Kochkessel von 

Werkstätte und darüber befindlichem Accumulatoren- insgesammt 1500 1 Inhalt; vier davon haben Nickel¬ 
raum, auf der andern Seite mit den Räumen für einsätze, zwei solche aus verzinntem Kupfer; die 

das Personal. An Kesselheizfläche sind 340 qm in Deckel laufen ausbalancirt in Chamiergelenken und 

Form von 4 Stück Grosswasserraumkesseln mit sind nach Art der Papin’schen Töpfe verschliessbar. 

Tenbrinkfeuerung für einen Betriebsdruck von 8,5 Die Heizung erfolgt mit Dampf von 0,3 Atm. 

Atm. vorhanden — ein Kessel dient als Reserve —, Spannung. Ausserdem sind noch 5 kleinere Kipp- 

ausserdem in den beiden Niederdruckanlagen je kochkessel von zusammen 100 1 Inhalt für Bereitung 

75 qm in Form von je 3 Kesseln für eine Betriebs- besonderer Speisen in kleineren Portionen vorhanden. 

Spannung von 0,4 Atm. Insgesammt stehen also Zur KafTeebereitung dient eine Kaffeemaschine von 

490 qm Kesselheizfläche zur Verfügung. Neben der 300 1 Inhalt. Im „Kartoffelsieder“ werden die Kar- 

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Abb. 5. Heizun^splan. 


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• 9 ° 4 -] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 


15 


toffeln mit Dampf, ohne mit Wasser in Berührung in den I. Stock zum Mangeln und Bügeln (Dampf- 
zu kommen, zubereitet; es können gleichzeitig 6 Ctr. calander) und sodann wieder zur Wäscheausgabe 
Kartoffeln innerhalb 45 Minuten gesotten werden, oder ins Magazin. 

Zum Braten und Backen ist ein Kochherd von Wäsche, welche nicht im Coulissenapparat ge- 
4 > 5 X I >5 Plattengrösse mit vier Feuerungen vor- trocknet werden will, wird mittelst des bis auf die 
handen. Bühne führenden Aufzugs direct auf den Trocken- 

Die Speisen werden auf beiden Seiten des Speise- boden verbracht, 
abgaberaums (s. Plan) von zwei mit Wärmeplatten Das Wirtschaftsgebäude ist ca. 54 m lang und 

versehenen Abgabestellen aus vertheilt; die vor ca. 18 m tief. Es ist doppelt unterkellert, enthält 
diesen angebrachten Rampen ermöglichen es, mit dem im Untergeschoss sämmtliche Rohrleitungen für die 
Speisewagen unmittelbar vor die Abgabestellen heran- Koch- und Waschküche, sowie Magazine, Gemüse-, 
zufahren. Kartoffel- und sonstige Vorrathsräume, im Keller- 

Neben der Küche befinden sich die Nebenräume: geschoss die Getränkekeller. 

Speisekammer, Milchkammer, Gemüseputzraum, Spül- Koch- und Waschküche haben je eine Grund¬ 



abgabe. 8. Waschküche. 9. Raum zum Sortiren und Lüften. 10. Wäscheannahme. 11. Trockenraum. 12. Flickstube. 


küche und Esszimmer für das Gesinde und die hier 
beschäftigten Kranken, deren Zahl auf etwa 10 an¬ 
genommen ist. Die Schlafräume für diese Kranken 
und das Gesinde, sowie die Zimmer für die Ober¬ 
köchin und Weisszeugverwalterin sind im I. Stock 
vorgesehen. 

Die Waschküche enthält drei Einweichtröge 
aus Monierconstruction hergestellt, eine grössere Wasch¬ 
maschine für eine tägliche Wäscheproduction von 
1000 kg und eine kleinere für einen täglichen 
Wäscheanfall von 400 kg; ferner eine Centrifuge von 
1000 mm Trommeldurchmesser, Laugen- und Seifen¬ 
kocher und 3 kupferne Handwaschtröge. 

Der Betrieb ist folgender: Die schwarze Wäsche 
wird im Wäscheannahmezimmer (vergl. Plan) ab¬ 
gegeben, gelangt von da durch den Sortirraum in die 
Waschküche, sodann in den Trockenraum (Coulissen¬ 
apparat) und die Flickstube, von hier mittelst Aufzug 


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Gck gle 


fläche von 130 qm bei einer Höhe von 6 m und 
sind von beiden Seiten belichtet und ventilirbar, 
ausserdem mit über Dach führenden Ventilations¬ 
sehlöten versehen. 

Sämmtliche maschinellen Einrichtungen sind von 
der Firma E. M ö h r 1 i n in Stuttgart ausgeführt. 

Die electrische Beleuchtung der Anstalt 
erfolgt mittelst Gleichstrom von 220 Volt Spannung. 

Das Verwaltungsgebäude enthält im Erd¬ 
geschoss die ärztlichen und Verwaltungsbureaux, 
Warte- u. Aufnahmezimmer, Laboratorium, Mikroskopir- 
zimmer, Bibliothek, Casse und einige Zimmer für 
ledige Angestellte. Im I. Stock befinden sich 3 
Familienwohnungen (für einen Oberarzt und 2 Ober- 
wäiter) und Zimmer für Assistenzärzte, Volontäre, 
Practikanten etc. 

In den Krankenhäusern wurde besondere 
Werth darauf gelegt, nicht zu viel Pfleglinge in einem 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 2. 


io 


Gebäude zu vereinigen, um gegenseitige Reibereien 
möglichst zu vermeiden. Zu diesem Zwecke sind 
auch die Tagräume so angeordnet, dass die Kranken 
einander ausweichen und sich beliebig gruppiren 
können. Die höchste Krankenzahl in einem Ge¬ 
bäude beträgt 33. 

Die Zahl der für die einzelnen Krankenkategorien 
(Unruhige, ruhige Ueberwachungsbedürftige, Halb¬ 
ruhige, Ruhige) erforderlichen Plätze wurde auf Grund 
bisheriger statistischer Erfahrungen berechnet, ebenso 
die Krankenzahl der verschiedenen Verpflegungsclassen 
und der beiden Geschlechter. Die Ziffern der männ¬ 
lichen und weiblichen Kranken konnten annähernd 
als gleich angenommen werden; es fielen also auf 
jede Geschlechtsseite 250 Plätze. Für Kranke der 
III. Classe waren ca. 85 u / 0 , für solche der I. lind II. 
Classe zusammen ca. 15 u / 0 ^ es Krankenstandes zu 
rechnen. Hieraus ergab sich nachstehende Belegung 
der Krankenhäuser: 

3 Pavillons für Kranke der III. Classe 
mit je 30—32 Betten, zus. ca. . . . 

1 Pavillon für Kranke der I. u. II. CI. 

Im Wirthschaftsgebäude (Frauen) bezw. 
im seitherigen Gutsgebäude (Männer) 

« .. füeberwachungshaus für unruhige Kranke 
I „ f. ruhige Kranke III. CI. 

III „ „ „I.u.II.Cl. 

O ** (Halbruhigenhaus ........ 

Lazareth. 


II 

°3 


95 Plätze 
20 „ 


10 

30 

2 5 

20 

3 o 


25 


j IW :> 


auf jeder Geschlechtsseite: 250 
in der ganzen Anstalt : 500 


Die Ueberwachungshäuser sind, mit Aus¬ 
nahme deijenigen für ruhige Kranke der I. u. II. 
Classe, bei denen eine einstöckige Anlage eine un- 
verhältnissmässig grosse räumliche Ausdehnung er¬ 
fordert hätte, sämmtlich einstöckig gebaut, ebenso 
die Lazarethe. Kleine Flügelaufbauten dienen zur 
Unterkunft für das Pflegpersonal. Die Pavillons für 
ruhige und halbruhige Kranke sind durchweg zwei¬ 
stöckig in der Art, dass im Erdgeschoss die Tagräume, 
im I. Stock die Schlaf räume sich befinden. 

Die Grundrisse der Pavillons der einen Anstalts¬ 
hälfte stellen jeweils das Spiegelbild der correspon- 
direnden Gebäude der anderen Hälfte dar. 

Grössere Corridoranlagen sind sowohl aus prak¬ 
tischen wäe aus finanziellen Gründen vermieden; die 
Grundrisse sind im allgemeinen nach dem System 
der Diele angeordnet (nur die halböflenen Häuser 
machen hiervon eine Ausnahme). Wenn dieses 
System auch den, bei den mässigen Raumverhältnissen 
der Pavillons übrigens nicht allzuhoch anzuschlagenden, 
Nachtheil hat, dass einzelne Zimmer nicht direct vom 
Gang aus, sondern erst durch ein anderes Zimmer 
betreten werden können, so wird dies mehr als auf¬ 
gewogen durch die Gewinnung heller und gut ventilir- 
barer Räume, und insbesondere durch die gute Ueber- 
sichtlichkeit derselben und die Möglichkeit leichter 
Ueberwaehung der Kranken. 

(Schlus6 folgt.) 


Wichtige Entscheidungen auf dem Gebiete der gerichtlichen Psychiatrie, III. 

Aus der Literatur des Jahres 1903 zusammengestellt von Ernst Schnitze. 

(Fortsetzung.) 


§ 255 - 

§ 255 der Str.-P.-O. gestattet ohne jede Ein¬ 
schränkung die Verlesung ärztlicher Atteste über 
Körperverletzungen, welche nicht zu den schweren 
gehören. Sie ist daher auch dann unbedenklich zu¬ 
lässig, wenn der Aussteller des Attestes in der Haupt¬ 
verhandlung als Zeuge erschienen ist. (Urth. des 
R.-G. vom 6. II. 1903.) 

Ztsch. für Medicinalb. Beil. No. 13, pag. 221. 

§ 2 55 - 

Aerztliche Atteste, welche Mittheilungen des atte¬ 
stierenden Arztes über Angaben anderer Personen, 
insbesondere des Verletzten über die Entstehung der 
von ihm begutachteten Körperverletzung enthalten so¬ 
wie die Verhütung weiterer Körperverletzungen, dürfen 
bezüglich dieser Punkte nicht verlesen werden, son¬ 


dern es bedarf, w-enn der Inhalt dieser Mittheilungen 
beweiskräftig gemacht werden soll, der zeugschaft- 
lichen Vernehmung des attestierenden Arztes. (R.- 
G. IV, Urth. vom 10. März 1903.) 

D. R. pag. 216. Entsch. No. 1218. 

§ 267. 

Wenn auch davon auszugehen ist, dass Beweis¬ 
erheblichkeit nach den Grundsätzen des Civil- und 
Strafrechts den gutachtlichen Aeusserungen von 
privaten Sachverständigen und ebenso den Aussagen 
von Zeugen im Allgemeinen nur unter der Vor¬ 
aussetzung zuzugestehen ist, dass diese Auslassungen 
und Aussagen unter Beobachtung der Formen erfolgt 
sind, welche die C.-P.-O. und die Str.-P.-O. für die 
Erhebung des Zeugen- und Sachverständigenbeweises 
vorschreiben, so kann doch dann die Beweiserheb- 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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lichkeit eines nicht in diesen Formen abgegebenen 
privaten Gutachtens oder Zeugnisses nicht in Zweifel 
gezogen werden, wenn vereinbarungsgemäss 
von dessen Inhalt das Weiterbestehen oder die Auf¬ 
hebung eines vertraglichen Verhältnisses abhängig 
gemacht, dem privaten Gutachten oder Zeugniss also 
nach dem ausgesprochenen Willen der Betheiligten 
selbst Beweiserheblichkeit beigemessen wird. (R.-G. 
III. Urth. vom 2. XI.) 

D. R. pag. 583, Entsch. No. 3049. 

III. Bürgerliches Gesetzbuch. 

§ 6, Z. 1. 

Es kommt nicht sowohl darauf an, dass der 
Geistesschwache einem einzelnen Geschäftszweig, den 
er sich zu seinem Berufe ausersehen hat, mit einer 
gewissen Gewandtheit und Einsicht obzuliegen ver¬ 
steht, als vielmehr darauf, dass er in der Fähigkeit, 
die Gesammtheit seiner Rechtsangelegenheiten in 
einer vernünftigen und zweckentsprechenden Weise 
zu besorgen, beeinträchtigt ist. (O.-L.-G. Karlsruhe, 
27. Februar 1902.) 

D. R. pag. 101, Entsch. No. 429. 

§ 6, Z. 1. 

Wegen Geisteskrankheit kann eine Person nur 
entmündigt werden, wenn durch sie deren freie 
Willensbestimmung in einer solchen Weise gänzlich 
aufgehoben oder doch beeinträchtigt wird, dass die 
Person nach Art eines Kindes unter 7 Jahren 
gänzlich an der Besorgung aller ihrer Angelegen¬ 
heiten gehindert wird; wegen Geistesschwäche da¬ 
gegen ist die Entmündigung dann gerechtfertigt, wenn 
durch sie die freie Willensbestimmung in solcher 
Weise beeinträchtigt wird, dass der zu Entmündigende 
in erheblichem Maasse, gleich einem Minder¬ 
jährigen, der das 7. Lebensjahr vollendet hat, an der 
Besorgung aller seiner Angelegenheiten gehindert 
wird. (O.-L.-G. Karlsruhe, 22. April 1903.) 

D. R. pag. 482, Entsch. No. 2418. 

$ 6, Z. 1 . 

Geisteskrankheit und Geistesschwäche können zur 
Entmündigung nur dann führen, wenn sie die Un¬ 
fähigkeit des davon Betroffenen zur Besorgung aller 
seiner Angelegenheiten im Gefolge haben; andern¬ 
falls ist nur die Einleitung einer Pflegschaft i. S. des 
§ 19io, Abs. 2 B. G. B. gerechtfertigt. (O.-L.-G. 
Karlsruhe, 4. IV. 1903.) 

D. R. pag. 504, Entsch. No. 2528. 

§ 6, Z. 1. 

Wenn ein nach altem Recht Entmündigter auf 
Wiederaufhebung der Entmündigung klagt, so darf 

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der Richter erkennen, dass die Entmündigung wegen 
Geistesschwäche aufrecht zu erhalten sei. (R.-G. 
IV 23. X. 1903.) 

D. R. pag. 603, Entsch. No. 3051. 

§ 104, Z. 2. (§18 G. B. O.) 

. . . Als wesentliches Erforderniss der Rechts¬ 
wirksamkeit des Rechtsgeschäfts unterliegt der Prüfung 
des Hypothekenamts insbesondere die Geschäfts¬ 
fähigkeit desjenigen, der das Rechtsgeschäft vorge¬ 
nommen hat (Regelsberger, Bayer. Hypoth.-Recht 
§ 25 zu Note 1, § 26 zu Note 3, Samml. XIV No. 
124, S. 491). Bei notariell beurkundeten Rechts¬ 
geschäften ist sie im allgemeinen vorauszusetzen; das 
Hypothekenamt hat aber die Eintragung abzulehnen, 
wenn ihm Thatsachen bekannt sind, die einen ernsten 
Grund bilden, sie zu bezweifeln. (Bayr. Oberstes 
Landesgericht, 13. Februar 1903.) 

D. R. pag. 151, Entsch. No. 737. 

§ 104, Z. 2. 

Eine geistige Erkrankung des Erblassers steht der 
Gültigkeit seiner letztwilligen Verfügung nicht ent¬ 
gegen, wenn diese von der Erkrankung nicht beein¬ 
flusst ist. (Bayr. Oberstes Landesgericht, 27. No¬ 
vember 1902.) D. R. pag. 41, Entsch. No. 158. 

§ 104, Z. 2. 

Eine die Geschäftsfähigkeit ausschliessende krank¬ 
hafte Störung der Geistesthätigkeit ist dann anzu¬ 
nehmen, wenn die Störungen des Vorstellungslebens, 
des Empfindungslebens und des Trieblebens derartige 
sind, dass dadurch die Zurechnungsfähigkeit aufge¬ 
hoben wird. 

(R.-G. in Seufferts Arch. Bd. 55 No. 129.) Nicht 
erforderlich ist gerade die Feststellung, dass der 
Betreffende ausser stände gewesen sei, die Bedeutung 
der Verpflichtung, die er — vorliegend durch Accep- 
tation eines Wechsels — einging, zu erkennen und 
demnach seine Entschließung zu fassen. (O.-L.-G. 
Frankfurt a. M., b. X. IQ02.1 

D. R. pag. 127, Entsch. No. 605. 

$ 104, Z. 2. 

Geschäftsunfähigkeit kann auch durch Säuferwahn 
herbeigeführt weiden. (Bayr. Oberstes Landesgericht, 
6. Juni 1903.) D. R. pag. 359, Entsch. No. 1903. 

§ i*3- 

Der vom gesetzlichen Vertreter zum Eintritt in 
ein Dienst- oder Arbeitsverhältniss ermächtigte Min¬ 
derjährige ist befugt, das von ihm angetretene Dienst- 
verhältniss zu lösen und ein anderes gleichartiges 
einzugehen, auch für den Fall der Uebertretung 
eines Concurrenzverbots sich einer Conventionalstrafe 
zu unterwerfen. Selbst ein im Auslande zu erfüllendes 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 2. 


Dienstverhältniss darf er dann eingehen, wenn er 
schon vorher mit Genehmigung seines gesetzlichen 
Vertreters in ähnlicher Stellung im Auslande thätig 
war. (O.-L.-G. Colmar, 24. Januar 1903.) 

D. R. pag. 102, Entsch. No. 440. 

§ 114. 

Die Rechtsfolge des § 114 B. G. B. tritt erst 
mit dem Zeitpunkte ein, in dem die Entmündigung 
in Wirksamkeit tritt. 

Eine bereits vorher vorhandene Geistesschwäche 
macht den, der damit behaftet Jst, nicht beschränkt 
geschäftsfähig. (O.-L.-G. Frankfurt a. M., o. Oct. 1002.) 

D. R. pag. 127, Entsch. No. 607. 

§ 157 - 

Die Nichterfüllung der formellen Versicherungs¬ 
bedingungen hat die an sie geknüpfte Verwirkung 
des Versicherungsanspruchs nur dann zur Folge, 
wenn sie eine schuldhafte ist, es sei denn, dass die 
Versicherungsbedingungen das Gegentheil bestimmen. 
(R. G. VII, 9. Juli 1901.) 

D. R. pag. 77, Entsch. No. 293. 

§ 1 57 - 

Eine Vertragsbestimmung, der zufolge der Ver¬ 
sicherte bei Nichtbefolgung der von dem Arzt des 
Versicherten zur Beförderung des Heilprozesses ge¬ 
troffenen Anordnungen seinen Entschädigungsanspruch 
verlieren soll, wird nur wirksam, wenn die ärztliche 
Anordnung durch die Sachlage wirklich gerechtfertigt 
war und dem Versicherten mit Rücksicht auf seine 
persönlichen, Familien- und sonstigen Verhältnisse 
billigerweise zugemuthet werden dürfte. (R. G. VII, 
22. October 1901.) 

D. R. pag. 77, Entsch. No. 294. 

§ 612. 

(cf. § 2 der Gebührenordnung vom 15. V. 96.) 

Wer sich in die Behandlung eines ausserordentlich 
hervorragenden namhaften Arztes begiebt, ohne dass 
besondere Honorarabreden getroffen werden, kann 
daher wohl stillschweigend der Willensmeinung sein, 
in Ermanglung solcher Abreden werde die bestehende 
Taxe in Anwendung kommen müssen. . . .“ 
(O. L. G. Naumburg. 23. III. 1903.) 

Zeitsch. f. Med.-Beamte, pag. 691. 

§ 618. 

Der Dienstmiether haftet für den Schaden, der 
dem Bediensteten infolge der aufgetragenen Besorgung 
von Leben und Gesundheit gefährdenden Dienst¬ 
leistungen erwächst, wenn die Besorgung besondere 
sachverständige Anweisung oder Beaufsichtigung er¬ 
forderte, diese aber schuldhaft unterlassen wurde. 
(Bayr. Oberstes Landesgericht, 19. April 1902.) 

D. R. pag. 103, Entscheidung No. 475. 


§ «23. 

Die Schadenersatzpflicht trifft nicht denjenigen, 
der möglicherweise einen Schaden verursacht hat, 
sondern nur denjenigen, dessen schuldhaftes Ver¬ 
halten vernünftigerweise als Ursache des Schadens 
anzusehen ist. 

Nach dem Gutachten des Medicinalcomitees ist 
es „höchstens“ möglich, aber nicht wahrscheinlich 
und keinenfalls erweislich, dass die Misshandlung 
die der Beklagte dem Kläger zugefügt hat, den 
Eintritt des Leidens des Klägers beschleunigt hat, 
ausserdem hat das Berufungsgericht auf Grund des 
Gutachtens festgestellt, dass ein früherer Eintritt des 
Leidens als Folge der Misshandlung sich nicht habe 
ermitteln lassen. Bei dieser Sachlage kann der Klage 
auch insoweit, als der Beklagte nur für eine Be¬ 
schleunigung des Eintritts des Leidens des Klägers 
verantwortlich gemacht werden soll, nicht stattgegeben 
werden; denn die Schadenersatzpflicht trifft nicht 
denjenigen, der möglicherweise den Schaden ver¬ 
ursacht hat, wahrscheinlich aber nicht der Urheber 
ist, sondern nur denjenigen, dessen schuldhaftes Ver¬ 
halten vernünftigerweise als die Ursache des Schadens 
anzusehen ist. (Bayr. Oberstes Landesgericht, 
17. September 1003.) 

D. R. pag. 483, Entsch. No. 2437. 

§ 823 Abs. 2. 

Jedenfalls ist die Möglichkeit, den durch fahr¬ 
lässige Abgabe eines falschen Gutachtens ent¬ 
standenen Schaden von dem Sachverständigen zu 
erlangen, damit gegeben, dass Abs. 2 des § 823 auch 
denjenigen, der gegen „ein den Schutz eines Andern 
bezweckendes Gesetz“ verstösst, dem Anderen zum 
Ersätze des ihm daraus entstandenen Schadens ver¬ 
pflichtet. Denn der Sachverständige, der aus Fahr¬ 
lässigkeit vor einer zur Abnahme von Eiden zu¬ 
ständigen Behörde ein falsches Gutachten mit seinem 
Eide bekräftigt, verstösst gegen das in den §§ 154, 
163 St.-G.-B. gegebene Verbot des Falscheides. Die 
Bestimmungen des Strafgesetzbuches über Meineid 
und Falscheid sind aber „den Schutz eines anderen 
bezweckende Gesetze“, sie sollen dem Schutze des 
Einzelnen nicht weniger dienen wie dem Schutze 
der Gesammtheit.“ (Kammergerichts - Entscheidung 
vom 27. III. 1903.) 

Viertelj. f. gerichtl. Medic. 1903, Band XXVI, pag. 201. 

§ 828. 

Die Bestimmung des § 828 Abs. 2 des Bürger¬ 
lichen Gesetzbuchs ist entstanden in offenbarer An¬ 
lehnung an die §§ 56, 57 des Reichsstrafgesetzbuchs; 
an die Stelle der zur Erkenntniss der Strafbarkeit 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


19 


erforderlichen Einsicht dort ist im Bürgerlichen Ge¬ 
setzbuch die zur Erkenntniss der Verantwort¬ 
lichkeit erforderliche Einsicht getreten. Die Er¬ 
kenntniss der Verantwortlichkeit erschöpft sich nicht 
in dem Bewusstsein des Unrechts, des widerrechtlichen 
Eingreifens in eine fremde Rechtsphäre (Planck No. 2a 
zu § 828 des B. G. B.), sie erfordert vielmehr auch 
ein Verständnis der Pflicht, für die Folgen der 
Handlung einzustehen. Die Erkenntniss der Ver¬ 
antwortlichkeit deckt sich nicht mit der Erkenntniss 
der Gefährlichkeit der Handlung, aber auch nicht 
mit der Erkenntniss des dem Mitmenschen zu¬ 
gefügten Unrechts; sie geht vielmehr über beide hinaus. 

Die in dem Begriffe der Erkenntniss der Ver¬ 
antwortlichkeit enthaltene Erkenntniss des Unrechts 
setzt in vielen Fällen die Erkenntniss der Gefährlichkeit 
der Handlung voraus. Insbesondere ist bei Fahr¬ 
lässigkeitsdelikten die erstere Erkenntniss ohne die 
letztere nicht denkbar. Denn die Fahrlässigkeit 


beruht stets auf einem verschuldeten Irrthum über 
die schädlichen Folgen der Handlung (s. Rehbein, 
Bürgerliches Gesetzbuch, Bd. 2, S. 101); sie besteht 
darin, dass der Handelnde die Gefährlichkeit der 
Handlung, die er erkennen konnte, schuldhafter Weise 
sich nicht vorgestellt hat. Die zur Erkenntniss der 
Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht des § 828 
Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs ist daher in 
Erweiterung der in dem Urtheile des erkennenden 
Senats vom 3. Februar 1902 (Entscheidungen des 
Reichsgerichts Bd. 51, S. 30) gegebenen Aus¬ 
führungen zu bestimmen als diejenige geistige Ent¬ 
wickelung, die den Handelnden in den Stand setzt, 
das Unrecht seiner Handlung gegenüber dem Mit¬ 
menschen und zugleich die Verpflichtung zu erkennen, 
in irgend einer Weise für die Folgen seiner Handlung 
selbst einstehen müssen. (Urtheil des R.-G., VI C. S., 
5. XII. 1902.) J. W., Beilage No. 3, pag. 25. 

(Fortsetzung folgt.) 


♦ 


Das experimental-psychologische Laboratorium der psychiatrischen Klinik 

zu Giessen. 


Von Professor Dr. 

uf Anregung der Redaction der psychiatrisch¬ 
neurologischen Woschenschrifl gebe ich an¬ 
lässlich des Congresses für experimentelle 
Psychologie, der in Giessen vom 18.— 21. April 
1904 stattfindet, eine kurze Beschreibung des 
experimental - psychologischen Laboratoriums der 
psychiatrischen Klinik daselbst. 



Abb. 1. 


Dasselbe befindet sich im Hauptgebäude dieser 
und liegt in der Nähe des Hörsaals, des mikroskopisch¬ 
anatomischen und des chemischen Laboratoriums. 

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•Spiiimir-Giessen. 

Es vertheilt sich auf 3 von einander getrennte Zimmer, 
(s. Abb. 1) an welche sich die mechanische Werkstätte 
zur Construction von Apparaten etc. anschliesst. 
In jedem der 3 Zimmer ist ein Schaltbrett an der 
Wand befestigt, welches unter Verwendung von 
Stöpseln die Entnahme von Schwachstrom aus einer 
gemeinschaftlichen Batteriecentrale gestattet. Diese 
Centrale besteht aus einer Batterie von 6 Mcidinger- 
Elementen für den Hauptstrom und 2 Batterien von 
je 2 Krügerelementen für 2 Nebenströme. Ausserdem 
steht ein electrischer Strom von 110 Volt Spannung 
zur Verfügung, der durch Vorschalteinrichtungen be¬ 
liebig geschwächt und für Licht und electromotorische 
Zwecke verwendet werden kann. Die vorhandenen 
Methoden zerfallen in 3 Gruppen, die gesondert in 
den genannten Zimmern untergebracht sind. 

Zimmer No. 1 ist ausschliesslich für Zeit¬ 
messungen und Reactionsversuche bestimmt. 
Die Einrichtung ist folgende: Unterhalb und seitwärts 
des oben erwähnten Schaltbretts sind eiserne, horizontal 
und vertikal bewegliche Arme an der Wand befestigt, 
welche zur Aufnahme von Apparaten dienen, die 
Erschütterungen verursachen oder von solchen un¬ 
günstig beeinflusst werden können. An der gleichen 
Wand steht ein schwerer Tisch mit 14 Stöpsel¬ 
klemmen, die auf der unteren Seite der Tischplatte 
durch Leitungen mit einander verbunden sind. Die 

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20 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 2. 


Enden dieser Leitungen können mit Stöpselschnüren 
an das Schaltbrett angeschlossen werden. An 
Apparaten sind vorhanden: i Voltmeter, i Ampere¬ 
meter, beide an der Wand befestigt, i Hipp’sches 
Chronoskop mit 6 Minuten Laufzeit, auf einer 
festen Wandkonsole ruhend, i Secundenpendel mit 
Relais und localer Batterie nebst Umschalter zur 
Zeitcontrolle am Chronoskop nach Sommer, l Hipp’scher 
Fallapparat, i stationärer optischer Reizapparat nach 
Alber, (s. Abb. 2) 1 Diopter, 1 optischer Reizapparat 



Abb 2. 


nach Roemer, 2 Schallschlüssel nach Roemer für 
sprachlichen Reiz und Reaction, 1 Lippenschlüssel, 
mehrere Morsetaster. Jeder dieser Apparate kann 
durch Leitungsschnüre an eine der auf dem Tisch 
vertheilten Stöpselklemmen angeschlossen werden. Nach 
Entfernung des Stöpsels aus der betreffenden Klemme 
ist er in den Stromkreis eingeschaltet. 

Das 2. Zimmer dient hauptsächlich der Unter¬ 
suchung von Ausdrucksbewegungen und weist 
folgende Einrichtung auf: 2 schwere Experimentir- 
tische, 1 kleiner Tisch für Vorbereitungen (Berussen 
von Kymographiontrommeln etc.), 1 Apparatenschrank, 
eine Wasserzapfstelle mit Becken. An Apparaten 
sind vorhanden: 1 grosses Basler Stativ, 1 kleines 

Stativ, 1 grosses Kvmographion, 1 kleines Kymo- 
graphion, ferner folgende von Sommer angegebene 
und grösstentheils in der Klinik von dem Mechaniker 
Hempel gebaute Apparate: Reflexmultiplikator nebst 
Apparat zur zeitlichen Messung des Kniephänomens, 
1 Apparat zur dreidimensionalen Analyse von Bein¬ 
bewegungen (in duplo auf der Krankenabtheilung), 
1 Apparat zur dreidimensionalen Analyse von Beweg¬ 
ungen der Hände (s. Abb. 3) (in duplo auf der Kranken¬ 
abtheilung), 1 Apparat zur Analyse von Bewegungen 
der Stimmuskulatur, 1 Pupillenmessapparat mit 
Messung von Reiz und Wirkung für electrisches 
Licht (s.Abb. 4), 1 desgl. für Petroleumlicht, 1 Pulsophon, 
1 Apparat zur graphischen Darstellung der Athem- 
bewegungen, 2 Handelectroden mit 1 Spiegel¬ 
galvanometer zur Untersuchung der electromotorischen 


Wirkungen der Finger, 1 Anordnung zur Umsetzung 
von Ausdrucksbewegungen in Licht- und Farben¬ 
erscheinungen, 1 Anordnung zur Untersuchung 
vasomotorischer Vorgänge an der Haut. Ferner 
sind vorhanden: 1 Sphygmograph nach Ziehen, 

1 desgl. nach Marey, 1 Unterbrechungsrad, 3 electro- 



magnetische Signalfedern, 1 electrisches Signal nach 
Edelmann, 1 Chronograph nach Jaquet, 1 Phonograph, 

1 Kinematograph, 1 electromagnetische Stimmgabel, 

2 Bourdonsche Federn mit Schreibhebel, 2 Marey’sche 
Trommeln u. s. w. 

Im 3. Zimmer werden vorzugsweise Unter¬ 
suchungen nach rein psychologischen Methoden 
vorgenommen (Orientirtheit, Schulkenntnisse, Rechnen, 
Associationen) etc. und zwar in vergleichender 
Weise an Normalen, Uebergangsfällen und Geistes¬ 
kranken. Als Hilfsapparate dienen ein Metronom 



Abb. 4. 


und ein optischer Reizapparat nach Alber. Das 
Princip des gleichen Reizes wird in Form be¬ 
stimmter Reihen von Fragen, Aufgaben, 
Reizworten etc. angewendet. Es dienen zur 
Untersuchung: I. der Orientirtheit etc. speciell 
bei Geisteskranken auch in den Krankenabtheilungen 
folgende Fragen: 

1. Wie heissen Sie? 2. Was sind Sie? 3. Wie 
alt sind Sie? 4. Welches Jahr haben wir jetzt? 


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I9°4-] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


21 


5. Wo sind Sie zu Hause ? 6. Welchen Monat 

haben wir jetzt ? 7. Welches Datum haben wir ? 

8. Welchen Wochentag haben wir heute? 9. Wie 
lange sind Sie hier? 10. In welcher Stadt sind Sie? 
11. In was für einem Hause sind Sie? 12. Wer hat 
Sie hierher gebracht? 13. Wer sind die Leute 
Ihrer Umgebung? 14. Wer bin ich? 15. Wo waren 
Sie vor acht Tagen? 16. Wo waren Sie vor einem 
Monat? Wo waren Sic vorige Weihnachten? 
18. Sind Sie traurig? 19. Sind Sie krank? 
20. Werden Sie verfolgt? 21. Werden Sie ver¬ 
spottet? 22. Hören Sie schimpfende Stimmen? 
23. Sehen Sie schreckhafte Gestalten? 24. Warum 
frage ich Sie dies Alles? 

II. zur Prüfung der Schulkenntnisse: 

1. Alphabet. 2. Zahlenreihe. 3. Monatsnamen. 
4. Wochentage. 5. Vaterunser. 6. Zehn Gebote. 
7. Deutschland, Deutschland über alles. 8. Wie 
heissen die grössten Flüsse Deutschlands? 9. Wie 
heisst die Hauptstadt von a) Deutschland ? 
b) Preussen? c) Sachsen? d) Bayern? e) Württem¬ 
berg? f) Hessen? 10. Wer führte 1870 Krieg? 
11. Wer führte 1860 Krieg? 12. Wie heisst der 
Landesfürst? 13. Wie heisst der jetzige Deutsche 
Kaiser? 14. Wann starb Kaiser Wilhelm I.? 


III. Zur Prüfung des Rechenvermögens 
folgende Aufgaben: 

1. Multiplikationen: 

5 X 7 = ? 


IX 3 -? 
2X4=? 
3 X 5 = ? 

4 X 6 = ? 


2 + 2 = ? 

3 + 4 = ? 

4 + 6 = ? 

5 + 8 = ? 


3 — 1 = ? 

8 - 3 = ? 

13 — 5 — ? 

18—7 = ? 

2:1 = ? 
8:2 = ? 

18:3 = ? 

32 : 4 = ? 

X — 3 = 14. 

X + 5= 11. 


6 X 8 = ? 
7X9 = ? 

2. Additionen: 

8 + 14 = ? 

11 + 20 = ? 
14 + 26 = ? 

3. Subtractionen: 
29 — 10 = ? 
40—13 = ? 
51 —16=? 

4. Divisionen : 

50 : 5 = ? 
18:6 = ? 

35 : 7 = ? 

5. Gleichungen: 


8 X 10 = ? 
9 Xn=? 

12 X 13 — ? 


17 + 32 = ? 
20 38 = ? 

23 + 44 == ? 


62 — 19 = ? 
73 — 22 = ? 
84 — 25 = ? 


56 : 8 = ? 

81 : 9 = ? 
110 : 10 = ? 


X = ? X x 7 = 35. X = ? 

X = ? X : 9 = 5. X = ? 


IV. Zur Untersuchung der Associationen 
und des Vorstellungsmaterials. 

A. Wortgruppen aus dem Gebiet der Sinne: 

I. Licht und Farben: i. hell, 2. dunkel, 3. weiss, 

4. schwarz, 5. roth, 6. gelb, 7. grün, 8. blau. 

II. Ausdehnung und Form: 1. breit, 2. hoch, 
3. tief, 4. dick, 5. dünn, 6. rund, 7. eckig, 8. spitz. 

III. Bewegung: 1. ruhig, 2. langsam, 3. schnell. 

IV. Tastsinn: 1. rauh. 2. glatt, 3. fest, 4. hart, 

5. weich. 

V. Temperatur: 1. kalt, 2. lau, 3. warm, 4. heiss. 

VI. Gehör: 1. leise, 2. laut, 3. kreischend, 4. gellend. 

VII. Geruch: 1. duftig, 2. stinkend, 3. modrig. 

VIII. Geschmack: i.süss, 2.sauer, 3. bitter,4. salzig. 

IX. Schmerz- und Gemeingefühl: 1. schmerzhaft, 

2. kitzlich, 3. hungrig, 4. durstig, 5. ekelerregend. 

X. Aesthetischc Gefühle: 1. schön, 2. hässlich. 

B. ObjectVorstellungen: 

XI. : 1. Kopf, 2. Hand, 3. Fuss, 4. Gehirn, 5. 
Lunge, (>. Magen. 

XII. : 1. Tisch, 2. Stuhl, 3. Spiegel, 4. Lampe, 
5. Sofa, 6. Bett. 

XIII. : 1. Treppe, 2. Zimmer, 3. Haus, 4. Palast, 

3. Stadt, 6. Strasse. 

XIV. : 1. Berg, 2. Fluss, 3. Thal, 4. Meer, 5. 
Sterne, 6. Sonne. 

XV. : 1. Wurzel, 2. Blatt, 3. Stengel, 4. Blume, 
5. Knospe, 6. Blüte. 

XVI. : 1. Spinne, 2. Schmetterling, 3. Adler, 4. 
Schaf, 5. Löwe, 6. Mensch. 

XVII. : 1. Mann, 2. Frau, 3. Mädchen, 4. Knabe, 

5. Kinder, 6. Enkel. 

XVIII.: 1. Bauer, 2. Bürger, 3. Soldat, 4. Pfarrer, 
3. Arzt, 6. König. 

C. Affectauslösende Worte, psychische Zustände, 
psychologische und sociale Begriffe. 

XIX.: 1. Krankheit, 2. Unglück, 3. Verbrechen, 

4. Not, 5. Verfolgung, 6. Elend. 

XX.: 1. Glück, 2. Belohnung, 3. Wohlthat, 4. 
Gesundheit, 3. Friede, 6. Reichthum. 

XXI. : 1. Ach! 2. Oh! 3. Pfui! 4. Ha! 5. Ilalloh! 

6. Au! 

XXII. : 1. Zorn, 2. Liebe, 3. Hass, 4. Begeiste¬ 
rung, 5. Furcht, 6. Freude. 

XXIII.: 1. Trieb, 2. Wille, 3. Befehl, 4. Wunsch, 

5. Thätigkeit, 6. Entschluss. 

XXIV. : 1. Verstand, 2. Einsicht, 3. Klugheit, 

4. Absicht, 5, Erkenntniss, 6. Dummheit. 

XXV. : 1. Bewusstsein, 2. Schlaf, 3. Traum, 4. 
Erinnerung, 5. Gedächtniss, 6. Denken« 

XXVI. : 1. Gesetz, 2. Ordnung, 3. Sitte, 4. Recht, 

5. Gericht, 6. Staat. 


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22 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 2. 


Die Aufgaben zu III und IV sind, abgesehen 
von der tabellarischen Zusammenstellung in Bögen, 
einzeln auf Karten verzeichnet, welche mittels des 
Alber’sehen Reizapparates exponirt werden. 

Es ist somit versucht worden, das P1 i n c i p des 
gleichen Reizes aus dem physiologischen 
Gebiet der Reflex-Untersuchungen in das 
psychologische bezw. psycho pathologische 
zu übertragen, woraus sich eine leichte Vergleich¬ 
barkeit der Resultate ergiebt. 

Literatur: 

Sommer: i. Lehrbuch der psychopathologischen 
Untersuchungsmethoden, i 899. 

2. Diagnostik der Geisteskrankheiten. II. Anfl. iqoi. 

3. Beitrüge zur psychiatrischen Klinik. 

4. Ergebnisse der Physiologie 1903. Seite 673. 
Die Messung der Zeit bei psychophysischen Ver¬ 
suchen. 

5. Berliner klin. Wochenschrift 1903 Nr. 51. Die 
Umsetzung des Pulses in Töne. 

6. Deutsche med. Wochenschrift 1904, Nr. 8 Seite 
279: Darstellung von Ausdrucksbewegungen in Licht 
und Farbenerscheinungen. 

Mendelsohn: Der Ausbau im diagnostischen 
Apparat der klinischen Medicin, Seite 217. Liepmann: 
Apparate als Hilfsmittel der Diagnostik in der Psycho¬ 
pathologie. 

Die zu der Ausstellung bei dem Congress 
für experimentelle Psychologie angemeldeten 
Apparate, Methoden, tabellarischen U ebersichten 
u. s. f. haben sich mit diesem Grundstock zu folgen¬ 
den Gruppen vereinigen lassen. I. P s y c h op h v s io- 
logie der Sinne, II. Ausdrucksbewegungen 
und graphische Registrirm e t Hoden, III. Unter¬ 
suchung psychischer Funk ti o u e n (Gedüchtniss, 
Auffassungsfühigkeit etc.), besonders für Zwecke der 
Pädagogik und Psychopathologie, IV. Labo¬ 
rator i um sei n rieh tu n g, Zeitmessung, Reaktions¬ 
versuch c. 

Es ist untergebracht Gruppe I in dem Gmidor 
vor dem Hörsaal, Gruppe II im Zimmer 2, Gruppe III 
im Zimmer 3 und im Hörsaal, Gruppe IV. im 
Zimmer 1. Die vorhandene Einrichtung und Instal¬ 
lation giebt somit die Möglichkeit, die ausgestellten 
Apparate in der Art der Anwendung zu demon- 
stiiren. Andererseits zeigt die Ausstellung, in welcher 
Weise das vorhandene weiterentwickelt werden kann 


und bietet vieles für die Zwecke der methodischen 
Psychopathologie verwerthbare. 

Ich greife hier nur folgendes heraus: aus Gruppe I 
die verschiedenen Methoden der optischen Exposi¬ 
tion (Tachistoskope nach Erdmann und Dodge, nach 
Schumann und von Zinimermann, den Licht¬ 
unterbrechungsapparat von Martius, das Mnemo- 
meter von Ranschburg und den Gedüchtnissapparat 
nach Wirth, sowie den Rotationsapparat für Com- 
plicationsversuche nach W undt von Zimmermann. 
Fenier hebe ich hervor die Stereoskope mit Messein¬ 
richtung von Zeiss, an die sich die stereoskopische 
Portraitsammlung der Klinik anschliesst; — aus 

Gruppe II die Sphygmographen nach von Frev 
und Jaquet, den Turgographen und das Turgoskop 
von 0 eh m kc, womit das Problem der Messung vaso¬ 
motorischer Bewegungen behandelt wird; — aus 
Gruppe III die zunächst für die Pädagogik wichtigen 
Untersuchungen von L ay - Karlsruhe über Recht¬ 
schreiben, Zahlvorstellungen, Bewegungsempfindungen, 
Sprachbewegungsvor Stellungen, Anschauungstypen, 

Schwankungen der psychischen Energie, ferner die 
Untersuchungen von Ranschburg-Budapest über 
das Gedüchtniss, Auffassungsvermögen, Rechenver¬ 
mögen, Reproduktion etc., die bei der Prüfung schwach¬ 
befähigter Kinder unmittelbar Fühlung mit den oben 
erwähnten Methoden nach dem Princip des 
gleichen Reizes gewinnen, schliesslich die Studien 
von Stern über die Sprachentwicklung eines Kindes; 
aus Gruppe IV die Apparate und Methoden zur 
Zeitmessung und Zeitcontrolle von Ach, Erdmann 
und Dodge, Jaquet, Oehmke, welche die exacte 
Voraussetzung zur Untersuchung von Reactionszeiten 
schaffen wollen, ferner die Stromregulirungs - und 
Messapparate von Ruhstrat, die eine Verbesse¬ 
rung der elektrotechnischen Installation psychophy¬ 
sischer Laboratorien anstreben, schliesslich das für 
den Unteirieht bestimmte Studenten-Instrumentarium 
von P e t z o I d. 

Diese Hervorhebung allein des für psycho- 
p a t h o l o g i s c h e Zwecke Verwerthbaren lässt schon 
die Reichhaltigkeit der Ausstellung *) erkennen und 
zeigt, wie sehr die Psychopathologie mit der 
Exp e rim ental- Psychologie in Bezug auf 
Methoden und Probleme zusammenhängt. 

*) Eine ausführliche Beschreibung derselben erscheint im 
Verlage von Ambrosius Barth-Leipzig. 


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1004-] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE VV OCHENSCHR1ET. 


23 


M i t t h e i 

— Die Ausstellung von Apparaten und 
Methoden, welche bei dem Congress für ex¬ 
perimentelle Psychologie in Giessen vom 18. bis 

21. April daselbst in der psychiatrischen Klinik 
stattfindet, umfasst 4 Gruppen: I. Psychophysio¬ 
logie der Sinne, II. Ausdrucksbewegungen 
und Registrirmethoden, III. Untersuchung 
geistiger Funktionen speciell im Gebiet 
der Paedagogik und Psychopathologie, 
IV. Laboratoriumseinrichtung, Zeitmessung, 
Reactionsmethoden. Bei dieser inhaltlichen 
Ordnung ergiebt sich ein vergleichender Ueberblick 
über die verschiedenen Methoden, die zum Theil 
nicht nur in Form von Instrumenten, sondern 
von Versuchsanordnungen bestehen. Die Ausstellung 
bleibt nach Schluss des Congresses noch bis Sonntag, 
den 24. April früh für Interessenten zugänglich. Prof. 
S o in in e r in Giessen hat sich in dem Programm 
der Jahresversammlung des deutschen Ver¬ 
eines für Psychiatrie bereit erklärt, denjenigen 
Herrn Kollegen, die bei der Fahrt nach Göttingen 
am 24. IV. Giessen passiren, die Ausstellung an 
diesem Tage früh b 2 11 Uhr zu demonstriren. Eine 
Beschreibung der Ausstellung erscheint im Verlage 
von J. A. Barth-Lei pzig. 

— Die Regelung der Fürsorge für gemein¬ 
gefährliche Geisteskranke bildete den Gegenstand 
der Erörterung bei dem Bericht über den Haushaltsplan 
für das Landarmenwesen in der Provinz Westfalen 
1904/05 im diesjährigen westfälischen Provinzial- 
Landtag (3. Vollsitzung 8. III. 04). Dem gedruckten 
Verhandlungsbericht *) entnehmen wir darüber nach¬ 
stehende für die provinzielle und communale Irren¬ 
fürsorge wichtige Ausführungen: 

Der Abgordnete Worpenberg macht hierbei auf 
eine in der Gesetzgebung bestehende Lücke auf¬ 
merksam, wonach es nicht möglich sei, gemeingefähr¬ 
liche, nicht unterstützungsbedürftige Geisteskranke in 
Provinzialanstalten unterzubringen, sondern dass diese 
Kranken den Ortsarmenverbänden zur Last fielen. 
Er weist an zwei Beispielen nach, in welcher Weise 
der Ortsannen verband Lengerich durch Ueberweisung 
solcher Kranken unberechtigterWeise belastet worden 
sei und ersucht die Provinzialverwaltung, in der 
Sache Wandel zu schaffen. 

Der Landesrath Schmedding dankt dem Vor¬ 
redner für den Hinweis auf die in der Gesetzgeb¬ 
ung vorhandene Lücke. Er weist darauf hin, dass 
durch die Einrichtung einer besonderen Abtheilung 
für geisteskranke entlassene Verbrecher in der Stadt 
Münster für die Provinz Westfalen grosse Uebel- 
stände hervorgerufen seien. Die Anstalt sei nicht 
nur für Westfalen, sondern für Hannover, Schleswig- 
Holstein, Nassau und einen Teil der Rheinprovinz ein¬ 
gerichtet; werde nun ein Geisteskranker aus dieser 


*) Der Redaktion auf Ersuchen vom Herrn Landeshaupt¬ 
mann von Westfalen. tieh. Obencjderungsrath Dr. Holle gütigst 
übermittelt, wolür hiermit bester Dank gesagt wird. 

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1 u n g e n. 

Anstalt entlassen, so werde er zunächst der Polizei¬ 
behörde Münster überwiesen, welche ihrerseits die 
Unterbringung beim Landarmen verbände beantrage. 
Habe dieser die Unterbringung veranlasst, so würde 
der Ortsarmenverband in Anspruch genommen, wo 
der Untergebrachte seinen Unterstützungsw’ohnsitz 
habe. Lehne dieser Verband die Uebernahme ab, so 
sei der Landarmenverband gezwungen, den betreffen¬ 
den Geisteskranken der Polizeibehörde zu überweisen. 
In den von dem Abgeordneten Worpenberg erwähn¬ 
ten Fällen sei das die Polizeibehörde Lengerich 
gewesen, weil die Betreffenden in der Provinzialheil¬ 
anstalt Lengerich untergebracht gewesen seien. Die 
Ablehnung der Uebernahme durch die sonst unter¬ 
stützungspflichtigen Verbände stütze sich auf eine 
Entscheidung des Bundesamts für das Heimathwesen, 
wonach die Verpflichtung der Armenverbände zur 
Gew'ährung der Anstaltspflege dann nicht eintritt, wenn 
nur der Schutz dritter Personen gegen Ausschreitungen 
des Geisteskranken seine Unterbringung erfordert, 
dann aber habe die landespolizeiliche Fürsorge ein¬ 
zutreten und diese liege dem Staate ob. Es sei daher 
wünschenswert!», wenn der Provinziallandtag Stellung 
in dieser Sache nehme und bei der Königlichen 
Staatsregierung dahin vorstellig werde, dass diese Lücke 
in der Gesetzgebung beseitigt werde. 

Der Abgeordnete Dr. Jungeblodt tritt dem Vor¬ 
redner bei und weist darauf hin, dass ähnliche Zu¬ 
stände nur noch in Breslau vorhanden seien. Er sei 
ebenfalls der Meinung, dass wenn eine Verpflichtung 
des Provinzialverbandes nicht vorliege, dieser auch 
nicht in der Lage sei, sich an fremde Ortsarmenver¬ 
bände zu halten, dass dann der Staat dafür sorgen 
müsse, dass derartige Kranke auf seine Kosten unter¬ 
gebracht würden. Auch er halte es für erforderlich, 
dass der Prozinziallandtag Stellung zu der Sache 
nehmen müsse, um die bestehenden Uebelstände 
zu beseitigen. 

Der Berichterstatter, Abgeordneter Graf Mervcldt, 
hält baldige Abhülfe für dringend geboten und stellt 
den folgenden Antrag: 

„Die Königliche Staatsregierung zu bitten, die 
Unterbringung von Geisteskranken, die nicht 
im eigenen, sondern im öffentlichen Interesse 
nothw endig ist, möglichst bald auf gesetzlichem 
Wege zu regeln.“ 

Der Abgeordnete Schmieding hält diesen Antrag 
für richtig und zweckmässig, und tritt auch dafür 
ein, dass der Staat für Abhülfe zu sorgen habe. 

Der Abgeordnete Cuno stellt den Antrag, dem 
Anträge Merveldt noch den Zusatz beizufügen : 

„oder auf Staatskosten zu übernehmen.“ 

Der Abgeordnete Graf Merveldt tritt für seinen 
allgemeiner gehaltenen Antrag ein. 

Der Landeshauptmann giebt der Erwägung an¬ 
heim, ob nicht in dein Anträge Merveldt die Worte: 
„auf gesetzlichem Wege“ zu streichen seien. 

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4 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 2 . 


Der Abgeordnete Herold schlägt vor, mit Rück¬ 
sicht darauf, dass der Provinziallandtag für die ge¬ 
setzliche Regelung die Direktive zu geben haben 
werde, die Angelegenheit einer Commission zu über¬ 
weisen. 

Der Landeshauptmann schlägt vor, eine besondere 
kleinere Commission zu wählen, bestehend aus den 
Abgeordneten Graf Merveldt, Worpenberg, Herold, 
Dr. Jungeblodt, Cuno und Schmieding. 

Der Abgeordnete Cuno hatte inzwischen den 
folgenden schriftlichen Antrag gestellt: 

„Der Provinziallandtag beschliesst, an die Kgl. 
Staatsregierung das Ersuchen zu richten, die 
Kosten für die Versorgung solcher Irren und 
Idioten, welche nicht als hülfsbedürftig, sondern 
wegen ihrer Gefahr für die öffentliche Sicher¬ 
heit in einer Anstalt verpflegt werden müssen, 
auf die Staatskasse zu übernehmen.“ 

Der Abgeordnete Herold betont diesem Anträge 
gegenüber nochmals die Nothwendigkeit der Ueber- 
weisung der Angelegenheit an eine Commission und 
wiederholt seinen Antrag auf Wahl dieser Commission. 

Der Vorsitzende äusserte sich dahin, dass der 
Antrag Merveldt ohne weiteres hätte angenommen 
werden können. 

Da weiter das Wort nicht gewünscht wurde, liess 
der Vorsitzende darüber abstimmen, ob dem Anträge 
Herold entsprechend die vorliegenden beiden Anträge 
Merveldt und Cuno einer Commission, bestehend aus 
den von dem Landeshauptmann bezeichneten Abge¬ 
ordneten überwiesen weiden sollen. 

Die Abstimmung ergab die Annahme des An¬ 
trages Herold mit grosser Mehrheit. 

Der Vorsitzende ersuchte die Commission, nach 
Schluss der Sitzung das Weitere zu verabreden. 

Am 12. III. erfolgte der Bericht der Commission 
zur Beratung der Angelegenheit, betr. Unterbringung 
geisteskranker Verbrecher usw. 

Der Berichterstatter, Abgeordneter Dr. Jungeblodt, 
trug die Gründe vor, welche für den von der Com¬ 
mission beschlossenen Antrag massgebend gewesen 
seien und beantragte: 

Der hohe Provinziallandtag wolle beschliessen: 
„Die Königliche Staatsregierung zu ersuchen, 
im gesetzlichen Wege die Fürsorge für die¬ 
jenigen mittellosen geisteskranken und schwach¬ 
sinnigen Personen, welche nur behufs des 
Schutzes anderer Personen gegen ihre Aus¬ 
schreitungen der Unterbringung in Anstalten 
bedürfen, mit der Massgabe schleunigst zu 
regeln, dass die aus der Unterbringung ent¬ 
stehenden Kosten aus Staatsmitteln gedeckt 
werden und bis zu dieser gesetzlichen Regelung 
zur Beseitigung der Rechtsunsicherheit in betreff 
der Verpflichtung und der hieraus sich ergebenden 
Missstände die Uebemahme der Kosten als 
Kosten der Landespolizei aus Staatsmitteln zu 
veranlassen.“ 


Der Provinziallandtag nahm diesen Antrag ein¬ 
stimmig an und beschloss demgemäss. — 

Der westfälische Prov.-Landtag genehmigte ferner, 
dass das Gehalt der Oberärzte an den Provinzial¬ 
anstalten auf 4200—5400 M., steigend alle 3 Jahre 
um je 300 M., festgesetzt wird, dieselben daneben 
freie Dienstwohnung nebst Garten, oder, wo solche 
nicht gewährt werden können, den bestimmungs- 
mässigen Wohnungsgeld Zuschuss erhalten. — 

— Der Abgeordnete Schmedding (Münster) hat 
mit Hilfe der Centrumspartei im preussischen 
Abgeordnetenhause den Antrag eingebracht: Das 
Haus der Abgeordneten wolle beschliessen, die Kgl. 
Staatsregierung zu ersuchen, schleunigst im gesetz¬ 
lichen W r ege die Fürsorge für diejenigen 
mittellosen geisteskranken und schwach¬ 
sinnigen Personen, welche nur behufs des 
Schutzes anderer Personen gegen ihre 
Ausschreitungen der Unterbringung in An¬ 
stalten bedürfen, zu regeln. — 

— Kongress für experimentelle Psychologie 
in Giessen. Die Herren Kollegen, welche an dem 
Kongress für experimentelle Psychologie in Giessen 
theilzunehmen wünschen, werden gebeten, sich an 
Prof. Dr. Sommer in Giessen wenden zu wollen. 


Personalnachricht. 

— Basel. Der Professor der Psychiatrie an der 
Baseler Universität Dr. L. Wille hat auf 1. Dezem¬ 
ber seinen Rücktritt als Hochschullehrer und Direktor 
der Heil- und Pflegeanstalt Friedmatt erklärt. 


Erklärung. 

In dem Archiv für Psychiatr. und Nervenkrankh. 
Bd. 38, Heft 2 ist ein „Gutachten über die Lothrin¬ 
gische Bezirks-Irrenanstalt zu Saargemünd erstattet 
von Dr. Alt, Direktor der Landes-Heil- und Pflege¬ 
anstalt Uchtspringe und Dr. Vorster, Direktor der 
Irrenanstalt zu Stephansfeld“ erschienen. 

In dieser Mittheilung ist ausser dem ausführlichen 
Gutachten von Herrn Direktor Dr. Alt ein kurzer 
gutachtlicher Bericht enthalten, den ich auf Ersuchen 
des Bezirkspräsidiums in Metz erstattet hatte und 
der für die Mitglieder des lothringischen Bezirks¬ 
tages, aber nicht zur Veröffentlichung in einer wissen¬ 
schaftlichen Zeitschrift bestimmt war. 

Durch ein Versehen ist dieser, mein Bericht, 
gleichwohl veröffentlicht. 

Ich sehe mich daher veranlasst zu erklären, dass 
ich an der Veröffentlichung im Archiv, wiewohl sie 
auch meinen Namen trägt, nicht betheiligt bin. 

Stephansfeld, den 29. März 1904. 

V o rster. 


Für den redactionellen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Br es! er , Lublinitz (Schlesien). 

Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Hevnemann’sche Buchdruckerei (Gebr. Wolff) in Halle a. S. 


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Psychiatrisch 'Neurologische 
Wochenschrift. 

Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen 
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde. 
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte nnd Nervenärzte. 

Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Aaslandes 

heransgegeben von 

Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. L. Edinger. 

Uchtspringe (Altmark). Gras. Zürich. Meerei.berg (Holland). Frankfurt a. M. 

Prof. Dr. A. Guttat&dt, Prof. Dr. E. Mendel, Prof. Dr. Mingasaini, Dr. P. J. M5bi.ua , Direktor Dr. Morel, 

Geh. Med.-Rath, Berlin. Berlin, Rom. Leipzig. Mons (Belgien) 

Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Blttl, Direktor Dr. Heinrich Schloss» Professor Dr. Ernst Schultae, 

Budapest. St. Maurice (Seine). Kierling-Gugging (Österreich). Andernach 

Direktor Dr. Urquhart, Dr. med. et phil. W. Weygandt, 

Perth (Schottland). Privatdocent, Würzburg. 

Unter Benützung amtlichen Materials 
redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Lublinits (Schlesien >. * 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse: MarhoId Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834. 

Nr. 3, 16. April. _ 1904. 

Die Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend in Stärke von 1—2 Bogen und kostet pro Quartal 4 Mk. 
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Mar hold in Halle a. S. entgegen. 

Inserate werden für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten. 

Inhalt: Die Kgl. Heilanstalt Weinsberg. Von Obermedicinalrath Dr. Dietz in Stuttgart (Schluss) (S. 25). — Wichtige Ent¬ 
scheidungen auf dem Gebiete der gerichtlichen Psychiatrie, III. Aus der Literatur des Jahres 1903 zusammengestellt von 
Prof. Ernst Schultze (Fortsetzung) (S. 30). — Mittheilungen (S. 35). — Referate (S. 35). — Personalnachricht (S. 36). 


Die Kgl. Heilanstalt Weinsberg. 

Von Obermedicinalrath Dr. Dietz in Stuttgart. 
(Schluss.) 


Die Grundrisse der offenen Häuser lehnen 
sich an die Typen an, welche anderwärts in neueren, 
im Pavillonsystem erbauten Irrenanstalten, insbesondere 
dem in dieser Beziehung noch immer vorbildlichen 
Alt-Scherbitz, erprobt sind; sie sind einfach und 
übersichtlich. Nach vom und südlich liegen die Tag¬ 
räume, der mittlere mit Ausgang auf die Veranda 
und von da direct in den Garten. Ein zweiter Ein¬ 
gang befindet sich an der Rückseite (oder bei den 
offenen Häusern der I. und II. Classe seitlich) und 
führt auf einen kleinen Corridor, auf welchen die 
Nebenräume (Spülküche, Abort, Requisitenraum mit 
Schuhablage) münden. Ein weiteres Zimmer, welches 
vom Gang wie vom Tagraum aus zugänglich ist, 
dient je in einem der Pavillons als Zimmer für eine 
Oberwärterin (No. 7 a) bezw. Oberwärter (No. 5 a), 
in den andern (7 b und c) als Nähstube oder Be¬ 


schäftigungsraum (5 b und c). Im I. Stock liegen 
über den Tagräumen 3 ' Schlafsäle mit je 8 Betten, 
ein kleinerer mit 5 Betten, ferner 1 Zimmer für 
Einzelpflege, Abort, Wasch- und Badezimmer. Die 
Waschtische sind mit Kippschalen versehen. 

Zimmer für das Pflegpersonal und Garderobe 
sind im Dachstock. — In den Tagräumen kommt 
auf einen Kranken eine Grundfläche von 4 l j t —5 1 / t qm; 
in den Schlafräumen, die nur Nachts belegt sind, 
fallen auf den Kopf mindestens 20 cbm bei einer 
Zimmerhöhe von 3,6 m. Thüren und Fenster sind 
von gewöhnlicher Construction, letztere mit Stab¬ 
jalousien versehen. 

Der Fussboden besteht — in allen Kranken¬ 
pavillons, soweit Krankenräume in Betracht kommen 
— aus Linoleum, welches jeweils im Erdgeschoss 
auf Torgament, im I. Stock auf gewöhnlichem Holz- 


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26 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 3- 



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boden mit Zwischenlage theils von Hartpresskork, 
theils von Filzpappe verlegt ist. Badezimmer, Spül- 
küchen etc. haben Plättchenboden. 

Die Grundrisse der offenen Pavillons für 
Kranke der I. und II. Classe (No. 4 und 6) 
sind ähnlich wie die für die III. Classe, enthalten 


von 16—17 Kranken, welche nur Bad, Waschraum 
und Abort gemeinsam haben. Im I. Stock befinden 
sich im Mittelbau noch zwei kleinere Zimmer für 
Einzelpflege. 

Von den Pavillons der geschlossenen Anstalt 
mögen zwei Typen angeführt werden: 

Die Aufnahme- und Ueberwachungs- 
häuser für ruhige Kranke der III. Classe 


Abb. 7a. Grundriss des Erdgeschosses eines offenen Pavillons. 
1. In 7 a Zimmer der Oberwärterin, sonst Nähstube. 2. Tag¬ 
räume. 3. Requisitenraum und Schuhablage. 4. Spülküche. 
5. Gang. 6. Aborte. 

aber statt der gemeinsamen Tag- und Schlafräume 
eine grössere Zahl von Einzelzimmern, welche sich 
um den mittleren Tagraum, der hier als Esszimmer 
dient, gruppiren. 


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Abb. 8. Grundriss des Ueberwachungshauses für ruhige Kranke 
III. Classe. Nr. 20 des Planes. 

1. Beobachtung der Neuaufnahmen. 2. Ueberwachungsbedürftige. 
3. Zimmer für Einzelpflege. 4. Tagräume. 5. Aerztliches Unter¬ 
suchungszimmer. 6. Spülküche. 7. Abort. 8. Wasch- und 
Baderaum. 

(No. 15 und 20) enthalten neben dem Tagraum, der 
wieder directen Ausgang auf die Veranda und in den 
Garten hat, drei kleinere Zimmer, welche je nach 
Bedürfniss theils als Nebenzimmer zum Tagraum, 
theils für Einzelpflege verwendet werden können. 
Hinter diesen liegen zwei Wachabtheilungen mit je 
11 Betten, von denen die eine zur Beobachtung 


Abb. 7 b. Grundriss des I. Stocks eines offenen Pavillons. 

1. Schlafräume. 2. Wasch- und Badezimmer. 3. Einzelpflege. 

4. Gang. 5. Aborte. 

In den Pavillons für halb ruhige Kranke 
(No. 14 und 19 des Plans), welche am stärksten 
belegt sind, ist die Anordnung eine andere. Die 
Nebenräume sind hier in den Mittelbau verlegt, auf 
beiden Flügeln befinden sich im Erdgeschoss die 
Tag-, im I. Stock die Schlafräume. Auf diese Weise 
erhält man in jedem der beiden Pavillons eigentlich 
zwei, räumlich von einander getrennte Abtheilungen 


Abb. 9. Vorderansicht des Ueberwachungshauses für ruhige 
Kranke. Nr. 15 des Planes. 

der Neuaufgenommenen, die andere für sonstige 
Ueberwachungsbedürftige dienen soll; sie sind durch 
eine breite Glasthüre von einander getrennt, deren 
Flügel geöffnet sich in die Wand einfügen, so dass 
je nach Bedürfniss beide Räume gemeinsam oder 





















PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


2 7 


1904.] 


jeder für sich überwacht werden kann. Der Luft- 
cubus betrügt hier ca. 35 cbm pro Kopf. Ausser den 
üblichen Nebenräumen, die sich um den kleinen Seiten- 
corridor anordnen, und von denen das Wasch- und 
Badezimmer auch directen Zugang von den Wach¬ 
sälen aus hat, befindet sich noch in diesem Pavillon 
ein ärztliches Untersuchungszimmer. In einem 
seitlichen Aufbau sind die Zimmer für einen Ober¬ 
wärter bezw. Oberwärterin und das Pflegpersonal 
untergebracht. 



Abb. 10. Grundriss des Ueberwachungshauses für unruhige 
Kranke. Nr. 22 des Planes. 

I. Wachsäle. 2. Einzelpflege. 3. Tagraum. 4. Isolirzimmer. 

5. Wasch- und Badezimmer. 6. Spülküche. 7. Abort. 

Die Pavillons für unruhige Kranke (No. 
17 und 22) enthalten zwei durch die ganze Tiefe 
des Mittelbaus durchgehende Wachsäle, welche, wie 
diejenigen in den Ueberwachungshäusem für ruhige 



Abb. 11. Vorderansicht des Ueberwachungshauses für unruhige 
Kranke III. CI. Nr. 22 des Planes. 


Kranke, durch eine Glasthüre von einander getrennt 
sind. Jeder der Wachsäle enthält 13 Betten. Auch 
hier ist der eine Saal für Neuaufnahmen, der andere 
für ältere Fälle bestimmt. Der Luftcubus beträgt 
ebenfalls ca. 35 cbm pro Kopf. An der südlichen 
Seite verläuft über die ganze Länge beider Wachsäle 
eine breite Veranda. An beiden Stirnseiten der 
Wachsäle befinden sich je zwei Zimmer für Einzel- 

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pflege und je ein Abort; Einzelzimmer und Aborte 
haben Thüren mit oberer Glasfüllung, so dass sie 
vom Saal aus übersehen werden können; die Thüren 
der Zimmer für Einzelpflege klappen geöffnet in die 
Wand ein. Die Aborte sind mit Heizung versehen 
und derart ventilirt, dass ein Eindringen schlechter 
Luft (zumal da Wasserclosetts vorhanden sind, s. u.) 
in den Saal nicht zu befürchten ist. Da im Betrieb 
nur ein geringer Theil der Kranken ausser Bett sein 
wird, ist nur ein kleinerer Tagraum vorgesehen. An 
der Nordseite der Wachsäle ist, von beiden Sälen 
aus zugänglich, das gemeinsame Bade- und Wasch¬ 
zimmer angebracht. 

Für jede Geschlechtsseite sind drei 
Isolirzimmer vorgesehen und zwar in dem am 
meisten excentrisch gelegenen Theil der Unruhigen- 
pavillons; sie sind durch einen kleinen Schallcorridor 
von den übrigen Räumen getrennt. Unter dem 
Boden sind Heizkörper angebracht. Von dem 
Corridor führt eine Thüre ins Freie, in einen kleineren, 
für besonders unruhige Kranke bestimmten Garten. 
Die Höhe der Isolirzimmer beträgt etwas über 4 m. 
Die Fenster sind 2,85 m hoch, bei einer Breite von 
1,20 m. Sie beginnen ca. 1,20 m über dem Fuss- 
boden und führen bis zur Zimmerdecke. Es wurden 
zweierlei Fensterconstructionen verwendet: Bei der 
einen (A) ist der obere, 50 cm hohe Theil vom 
Corridor aus über eine Rolle auf den Dachboden 
ganz oder zum Theil, in beliebig verstellbarer Weise, 
aufziehbar; der mittlere Theil von 95 cm Höhe ist 
feststehend, der untere 135 cm hohe Theil ist in den 
Mittelscheiben auf 96 cm Breite ebenfalls feststehend; 
rechts und links befinden sich zwei schmale, nur 
13 cm breite, aber ebenfalls 135 cm hohe Seiten¬ 
fenster, welche, nach aussen geöffnet, in die Fenster¬ 
leibung vollständig einklappen und mit dem Fenster¬ 
schlüssel festgemacht werden können; geöffnet haben 
diese Seitenfenster im Licht 11 cm Breite. Dies hat 
den Vortheil, dass sie auch geöffnet bleiben können, 
wenn das Isolirzimmer besetzt ist; ebenso 
kann der obere verstellbare Theil mehr oder weniger 
offen bleiben. Bei der andern Construction (B) ist 
der obere, ebenfalls 50 cm hohe Flügel nach innen 
einklappbar; der mittlere Theil von 95 cm Höhe 
steht fest, der untere 135 cm hohe Theil besteht aus 
zwei Flügeln, die in toto wie gewöhnliche Fenster 
geöffnet werden. Hier kann, wenn das Isolirzimmer 
besetzt ist, nur das obere Kippfenster offen bleiben; 
dagegen ist unbesetzt das ganze Zimmer leichter zu 
durchlüften. 

Das Glas der Fenster in den Isolirzimmern ist 
20 mm, an den andern Fenstern und Thüren der 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 3. 


Krankenzimmer in den unruhigen Ueberwachungs- Abort, an den Stirnseiten einige Einzelzimmer, sowie 
häusern 15 mm dick. In den übrigen Pavillons ein Operationszimmer. 

der geschlossenen Anstalt ist 10 mm starkes Glas Das Gesellschaftshaus (No. 11) stellt eine 
verwendet. Gitter sind nirgends angebracht, grosse Halle dar, welche ca. 250 Personen fasst, eine 




Die Gärten der unruhigen Häuser sind mit 
1,80 m, die der übrigen Pavillons der geschlossenen 
Anstalt mit 1,50 m hohen Zäunen aus Draht¬ 
geflecht, welche bepflanzt werden sollen, umgeben. 
Die Gärten der offenen Pavillons erhalten als Abschluss 
lebende Hecken. 

Die zweistöckigen Pavillons für überwachungs¬ 
bedürftige Kranke der I. und II. Classe (No. 16 
und 21 des Plans) haben in beiden Stockwerken den 
gleichen Grundriss: hinter dem (wie in den offenen 
Pavillons gelegenen) mittleren Tagraum mit Veranda 
befindet sich ein Wachsaal mit 8 Betten ; seitlich liegen 
Einzelzimmer und Nebenräume. 

Die Lazarette (No. 18 und 23), im wesent¬ 
lichen in Barackenform gebaut, haben je an der 
Vorderseite einen kleinen Tagraum, von Veranden 
flankirt, an der Rückseite Wasch- und Baderaum und 


kleine Bühne für Aufführungen, ein Musikzimmer und 
die noth wendigen Neben räume enthält. 

Im Sectionshaus (No. 25) befindet sich im 
Untergeschoss der Leichenraum mit Aufzug, im Erd¬ 
geschoss eine Vorhalle, als Aufbahrungsraum dienend, 
weiter ein Sections- und Mikroskopirzimmer. 

Metzgerei und Bäckerei sind mit modernen 
Einrichtungen versehen. 

Sämmtliche Gebäude haben Wasser¬ 
clo s e 11 s. 

Die ganze Anstalt ist doppelt canalisirt und zwar 
wird das Regenwasser direct in den Bach geleitet, 
während das gesammte Hausabwasser, wie Closett-, 
Küchen- und Badwasser, einer biologischen 
Kläranlage zugeführt wird. Diese, nach den An¬ 
gaben von Med.-Rath Dr. Scheurlen ausgeführt, 
besteht aus einem mit Rechen und Sandfang ver- 

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1904.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 


29 



schenen Faulraum, einem grossen primären und einem 
kleineren secundären Filterpaar, 


Der Faulraum fasst die gesammte Tagesabwasser- 
Menge von rund 500 cbm; er ist mit Dielen und 


Abb. 14. Schnitt a—b der Kläranlage, 



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Abb. 13. Kläranlage, 


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30 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 3. 


2 Frühbeetfenstern, welche zur Beobachtung und 
Lüftung dienen, bedeckt. Aus ihm führen zu den 
primären Filtern je 3 Grundablässe, welche Schieber 
besitzen, sich jedoch auch selbstthätig je nach dem 
Wasserstand öffnen und schliessen. 

Die primären Filter von je rund 750 cbm Grösse 
.sind auf eine Höhe von 1 m mit faustgrossen 
Schlacken, dann J / 2 m hoch mit eigrossen und 
15—30 cm hoch mit nuss- und haselnussgrossen 
Schlacken gefüllt Das aus dem Faulraum ab- 
fliessende Wasser gelangt in horizontal aufgehängte, 
mit Ausschnitten versehene Längsrinnen aus Holz, 
durch welche das Wasser sich auf die Schlacken 
ergiesst; in diese sind wieder Querrinnen gezogen, 
so dass das Abwasser sich über das ganze Filter 
vertheilen muss. 

Die Bedachung des Filters besteht aus Beton; 
über den Längsrinnen sind Frühbeetfenster angebracht 

Jedes primäre Filter hat eine Drainage, weiche 


auf einen Grundablass zuführt, durch den das Ab¬ 
wasser sowohl auf ein Rieselfeld, als auch in jedes 
der beiden secundären Filter abgelassen werden 
kann. Letztere sind wesentlich kleiner als die 
primären, fassen nur je 170 cbm, sind aber sonst 
wie diese eingerichtet; haben eine Holzlängsrinne und 
in die Schlacke gezogene Querrinnen, am Boden 
eine Drainage und über der ersteren Frühbeetfenster. 

Der Betrieb der Anlage, welche wie ersichtlich 
sowohl für den intermittirenden als auch den 
conlinuirlichen eingerichtet ist, soll zunächst ununter¬ 
brochen geschehen, so dass das Abwasser den einen 
Monat durch das östliche, den andern durch das 
westliche Filter in gleichmässigem, langsamem Strom 
hindurchfliesst. Eine besondere Bedienung ist hierbei 
nicht nöthig; es müssen nur am ersten jeden Monats 
die Schieber umgestellt werden. Am 10. Dezember 
1903 ist der Betrieb und zwar mit dem westlichen 
Filter begonnen worden. 


Wichtige Entscheidungen auf dem Gebiete der gerichtlichen Psychiatrie, III. 

Aus der Literatur des Jahres 1903 lusammengestellt von Ernst Schnitze . 

(Fortsetzung.) 


§§ 828, 276. (Haftpflichtges. 1.) 

1. Einer Person im Alter von 7—18 Jahren fällt 
ein Verschulden im Sinne des § 1 zur Last, wenn 
sie die im Verkehr erforderliche Soigfalt ausser 
Acht lässt, obgleich sie die Einsicht besitzt, um ihr 
Verhalten als diese Sorgfalt ausser Acht lassend er¬ 
kennen zu können. 

2. Ein Verschulden ist zu verneinen, wenn der 
Verletzte, der durch das unerwartete Auftauchen und das 
Geräusch von Zügen in Geistesverwirrung gerathen 
ist oder wenigstens alle Ruhe und Ueberlegung ver¬ 
loren hat, ohne sein Verschulden in die gefahr¬ 
drohende Nähe eines Wagenzuges gelangt ist und 
nun durch sachwidriges Handeln den Unfall herbei¬ 
geführt hat. (R.-G. VI, 10. April 1903.) 

D. R. pag. 400, Entsch. No. 2130. 

§ 828, 2. 

Die in § 828, Abs. 2 und § 276 B. G.-B. auf¬ 
gestellte Regel, wonach eine Person, die zwar das 7. 
nicht aber das 18. Lebensjahr erfüllt hat, für die 
Folgen einer Handlung, die sich objectiv als rechts¬ 
widriger Eingriff in fremde Rechte darstellt, dann 
nicht verantwortlich ist, wenn sie bei deren Begehung 
die zur Erkenntniss der Verantwortlichkeit erforder¬ 
liche Einsicht nicht gehabt hat, muss entsprechende 
Anwendung finden, wenn für den einer solchen 

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Person erwachsenen Schaden an sich ein anderer 
aufzukommen hat, für den Schaden aber das eigene 
Verhalten des Verletzten mit kausal geworden ist, 
und in Frage kommt, ob in diesem Verhalten ein 

Verschulden zu befinden sei. Es muss daher 

in solchem Falle nach der Individualität des ver¬ 
letzten Minderjährigen geprüft werden, ob er bei 
seinem Verhalten so viel Einsicht besessen hat, dass 
ihm seine Handlungsweise zum subjectiven Ver¬ 
schulden anzurechnen ist. Diese Regel muss auch 
gelten, wenn ein Minderjähriger des bezeichneten 
Alters bei dem Betriebe einer Eisenbahn körperlich 
verletzt worden ist, und in Frage kommt, ob der 
Unfall durch eigenes Verschulden des Verletzten ver¬ 
ursacht ist. Es genügt also im vorliegenden Falle 
für die Entscheidung über den jetzt in Rede 
stehenden Schadenersatzanspruch nicht die Erwägung, 
dass normale Knaben von 12 Jahren Einsicht genug 
zu haben pflegen, um ein Verhalten, wie es der 
Kläger bei dem Unfälle am 21. März 1901 bethätigt 
hat, als gefahrbringend und im eigenen Interesse 
unstatthaft zu erkennen, es kommt vielmehr auf die 
individuelle Entwicklung des Klägers an. Insoweit 
fehlt es bisher an genügender thatsächlicher Fest¬ 
stellung. (R. G. VII C. S., 23. V.) 

J. W. Beilage No. 11, pag. 101. 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


3 i 


1904.] 


§ J 339* 

Wird im Laufe eines Ehescheidungsproceses eine 
auf § 1333 B. G.-B. gestützte Anfechtungsklage er¬ 
hoben, so ist eine sechsmonatige Frist gewahrt, 
wenn vor deren Ablatzf die Scheidungsklage er¬ 
hoben ist. 

Die im § 1339 B. G.-B. bestimmte sechsmonatige 
Frist ist für die im Laufe des Scheidungsprocesses 
erhobene Anfechtungsklage als gewahrt anzusehen, 
weil, wie das Reichsgericht (Entsch. Bd. 53, No. 85, 
S. 334) dargelegt hat, das in den § 614, 616 C. P. O. 
bestimmte Verhältniss zwischen der Anfechtungs¬ 
klage und der Scheidungsklage es mit sich bringt, 
dass es genügt, wenn vor dem Ablaufe der Frist die 
Scheidungsklage erhoben worden ist. (Bayr. Oberstes 
Landesgericht, 26. Sept. 03.) 

D. R. pag. 528, Entsch. No. 2663. 

§ 1344- 

Die anfechtbare Ehe wird infolge der Anfechtung 
• rückwärtshin mit dinglicher Wirkung vernichtet und 
hat das ergehende Nichtigkeitsurtheil nur deklara¬ 
torische Wirkung. (R. G. IV, 2. VII.) 

D. R. pag. 528, Entsch. No. 2664. 

§§ 1353 » 1571 - 

Eine Aufhebung der häuslichen Gemeinschaft ist 
nur dann vorhanden, wenn ein Theil die Herstellung 
verweigert, nicht aber schon dann, wenn nichts weiter 
vorliegt, als dass er ohne seinen Willen oder un¬ 
freiwillig vorübergehend von Hause abwesend ist, 
z. B. zu einer militärischen Uebung eingezogen, ins 
Krankenhaus oder ins Gefängniss gebracht wird, oder 
dass er ohne den Willen, die Gemeinschaft auf¬ 
zuheben, vorübergehend verreist. (O.-L.-G. Königsberg, 
9. Juni 1902.) 

D. R. pag. 43, Entsch. No. 194. 

§ >567. 

Die Annahme des Landgerichts, dass bei dem 
Zustande der Beklagten das Merkmal des Fern¬ 
bleibens aus böslicher Absicht zu verneinen sei, wird 
vom Berufungsgericht verworfen. Dieses führt aus, 
sowohl das Gutachten des Medicinalraths Brauch 
vom 18. November 1898, wie das Gutachten des 
Arztes Dr. Weber vom 16. October 1901 ergeben, 
. dass die Beklagte, die geistig gesund und von un- 
geschwächter Intelligenz sei, habe erkennen können, 
das» sie ihre Pflichten gegen den Kläger verletze, 
und aus dem letzteren Gutachten gehe auch hervor, 
dass die Beklagte physisch im Stande sei, sich zum 
. Kläger zu begeben. Daraus, dass sie es gleichwohl 
v nicht thue, müsse geschlossen werden, dass sie es ans 
t böslicher Absicht nicht thue. Hierbei wird aber 

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ausser Acht gelassen, dass die Beklagte aach dem 
Gutachten des Dr. Weber, das das Betrufungagericht 
selbst wörtlich wiedergiebt und von dem es bei der 
Beurtheilung der Sache ausgeht, „nahezu willens- 
und energielos 4 * ist. Unter diesen Umständen kann 
aus der bei der Beklagten vorhandenen Er¬ 
ke nntn iss, zurückkehren zu sollen, und der 
physischen Möglichkeit, die Rückkehr auszuführen, 
noch nicht gefolgert werden, dass das Unterbleiben 
der Rückkehr auf dem Willen beruhe, femzubleiben. 
Auf diesen bösen Willen kommt es aber an. Die 
Annahme des Berufungsgerichts, dass die Beklagte 
aus bösem Willen ein Jahr lang dom Urtheil 
nicht Folge geleistet habe, und die auf Grund des 
Ausspruchs des Gutachters getroffene Feststellung, 
dass die Beklagte nahezu willenlos sei, widersprechen 
sich. Wenn auch nicht jeder Zustand von Willens¬ 
schwäche die Annahme einer böslichen Absicht 
ausschliesst, so muss doch in einem Falle, in dem 
nahezu Willenslosigkeit vorliegt, zum mindesten näher 
geprüft und dargelegt werden, ob und inwiefern der 
Beklagten die Nichtrückkehr zu ihrem Manne als 
bösliche Absicht im Sinne des § 1507 des Bürger¬ 
lichen Gesetzbuchs zur Last gelegt werden kann. 
(Urtheil der R. G. IV. C. S. f 20. XI. 1902.) 

J. W. Beilage No. 1, pag. 12. 

§ 1568. 

.... Die Ausführungen des Berufungsrichters 
lassen erkennen, dass er zur Abweisung der Klage 
nur deshalb gelangt ist, weil er für festgestellt 
ansieht, dass die Zurechnungsfähigkeit der 
Beklagten bei einzelnen der ihr zur Last gelegten 
Vorgänge ausgeschlossen gewesen sei, und dass 
auch in den übrigen Fällen das Verhalten 
der Beklagten von ihrem krankhaften Zustande 
derartig beeinflusst worden sei, dass auch hier eine 
Verfehlupg im Sinne des § 1568 a. a. O. nicht an¬ 
genommen werden könne. 

In dieser Beziehung hat sich zuuächst der Be- 
rüfungsrichter im Wesentlichen dem Gutachten des 
in erster Instanz vernommenen Sachverständigen 
Dr. L. angeschlossen, welcher zu dem Ergebnisse 
gelangt war, dass die eine (von ihm näher be¬ 
zeichnet«) Gruppe der in Frage kommenden Ver¬ 
fehlungen von der an einer Allgemeinerkrankung des 
Nervensystems leidenden Beklagten — wie mit einer 
gewissen Wahrscheinlichkeit angenommen werden 
könne — in einem die Verantwortlichkeit aus- 
schliessenden Zustande begangen sei, wogegen be¬ 
züglich der übrigen Verfehlungen — zu welchen der 
Sachverständige mit Bestimmtheit namentlich die 

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3 2 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 3. 


von den Zeuginnen bekundeten ehrverletzenden 
Aeusserungen rechnet — kein genügender Grund 
vorliege, die Verantwortlichkeit der Beklagten als 
ausgeschlossen anzusehen. Während aber dieser 
Sachverständige davon ausging, dass die Verfehlungen 
der letzteren Kategorie (bei welchen er übrigens 
ebenfalls einen Zusammenhang mit der Nerven¬ 
krankheit der Beklagten voraussetzte) ihre Erklärung 
in einem starken Hasse fänden, welchen die Beklagte 
gegen ihren Ehemann hege, hat abweichend der 
Berufungsrichter angenommen, dass die Beklagte 
von einem solchen tief eingewurzelten Hasse nicht 
beherrscht werde, sondern dass ihre leidenschaftliche 
Erregung vielmehr durch eine — wenn auch vielleicht 
unbegründete — Eifersucht hervorgerufen sei. 
Auch nimmt der Berufungsrichter als erwiesen an, dass 
der Kläger, welcher allerdings durch die Beklagte 
auf das Höchste gereizt worden sei, das in derselben 
vorhandene Gefühl, in ihren Rechten als Gattin 
gekränkt und beeinträchtigt zu werden, durch sein 
näher erörtertes Verhalten genährt und verstärkt 
habe und dass dadurch eine Verschlimmerung 
des Leidens der Beklagten herbeigeführt worden sei. 

Die Ausführungen des Berufungsrichters schliessen 
sodann mit den Worten: 

Das Berufungsgericht ist nach alledem zu der 
Feststellung gelangt, dass die Beklagte keine der ihr 
zur Last gelegten und erwiesenen Verfehlungen aus 
böser Absicht begangen, sondern dass sie dabei 
lediglich unter dem Einfluss ihrer krankhaft über¬ 
reizten Gemüthsverfassung gehandelt, dass sie also 
die Zerrüttung der Ehe nicht verschuldet hat. 

Hieraus ergiebt sich, dass der Berufungsrichter 
die Frage, ob eine Verschuldung der Beklagten im 
Sinne des § 1568 des Bürgerlichen Gesetzbuchs an¬ 
zunehmen sei, in Wahrheit nur aus dem Grunde 
verneint hat, weil das Verhalten der Beklagten — 
obwohl es den objectiven Thatbestand schwerer 
Pflichtverletzungen dargestellt haben würde — doch 
der Beklagten in subjectiver Beziehung, mit 
Rücksicht auf ihren krankhaft erregten Zustand nicht 
in voller Schwere angerechnet werden könne. 

Mit dieser Auffassung steht der vom Berufungs¬ 
richter an einer früheren Stelle der Entscheidungs¬ 
gründe gethane Ausspruch keineswegs in einem un¬ 
lösbaren Widerspruche. Aus allen diesen Erwägungen 
des Berufungsrichters geht jedenfalls hervor, dass 
derselbe eine mildere Beurtheilung für geboten 
hielt, welche ihn schliesslich zu dem Ergebnisse 
führte, dass die Anwendbarkeit des § 1568 des 
Bürgerlichen Gesetzbuchs im vorliegenden Falle, mit 
Rücksicht auf den krankhaften Zustand, unter dessen 

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Einwirkung die Beklagte gehandelt habe, für aus¬ 
geschlossen zu erklären sei. 

Hierin ist eine Rechtsnormverletzung nicht zu 
erblicken. (Urtheil des R.-G. IV. C. S., 18. XII. 1902.) 

J. W. Beilage No. 3, pag. 27. 

§ 1568, 1353- 

Was die dem Beklagten vorgeworfene Trunksucht 
betrifft, so kann es dahingestellt bleiben, ob der 
Ausspruch des Berufungsrichters: 

„als Scheidungsgrund würde Trunkenheit nur 
dann anzusehen sein, wenn sie sich entweder 
dauernd in besonders abstossender Weise zeige oder 
zu Excessen gegen den andren Ehegatten führe“, 
in dieser Allgemeinheit zu billigen sein möchte, denn 
seitens der Klägerin ist nur behauptet worden, dass 
der Beklagte in den letzten Jahren fast täglich an¬ 
getrunken nach Hause gekommen sei, und die 
Ausführungen des Untersuchungsrichters lassen er¬ 
kennen, dass er diese Thatsache, so wie sie hin¬ 
gestellt worden ist, unter konkreter Würdigung der 
Sachlage nicht für ausreichend erachtet hat. 

Unbedenklich erscheint auch die, sich auf die 
angeblich hochgradige Nervosität der Klägerin be¬ 
ziehende Bemerkung des Berufungsrichters, dass der 
Klägerin ja unbenommen , bleiben werde, die Her¬ 
stellung der häuslichen Gemeinschaft auch in Zukunft 
auf Grund des § 1353 des B. G. B. zu verweigern, 
falls infolge ihres krankhaften Zustandes zu befürchten 
wäre, dass sie bei einem Zusammenleben mit dem 
Beklagten seelisch und geistig zu Grunde gehen werde. 
(R.-G., 28. IX. 1903.) 

J. W. Beilage No. 14, pag. 127. 

§ 1568. 

Es steht fest, dass die Klägerin durch die Art und 
Weise, wie sie mit der K. verkehrte, bei ihrer Um¬ 
gebung und insbesondere bei dem Beklagten, als 
ihrem Ehemanne, Anstoss erregte, ja dass dadurch der 
Verdacht entstand, sie treibe mit der Genannten 
widernatürliche Unzucht. Zur Aufrechterhaltung der 
sittlichen Grundlagen seiner Ehe musste dem Be¬ 
klagten darum zu thun sein, dieses Verdachtsmoment 
zu beseitigen. Auch wenn der Verdacht objectiv 
unbegründet war, so hatte er doch festgestelltermassen 
eine Entfremdung der Ehegatten zur Folge, für 
welche die Klägerin nach der erwiesenen Sachlage 
moralisch verantwortlich zu machen ist und auf deren 
Beseitigung sie durch Abbruch des Umganges mit 
der K. hinwirken musste. 

Die hierbei getroffenen Urtheilsfeststellungen stehen 
auch nicht im Widerspruch mit der in den Ent¬ 
scheidungsgründen zur Klage erklärten Annahme, 


Original fram 

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*9°4J 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


33 


dass der Beklagte seinerseits eine schwere Ehe¬ 
verfehlung dadurch begangen hat, dass er die 
Klägerin dritten Personen gegenüber des unzüchtigen 
Umganges mit Fräulein K. beschuldigte, und dass 
für die Richtigkeit dieser Beschuldigung nach der 
Urteilsbegründung auch nicht der Schatten eines Be¬ 
weises vorliegt. Die bedenklichen Folgen des frag¬ 
lichen Verkehrs für das eheliche Verhältniss der 
Parteien wurden durch die Grundlosigkeit eines so 
weitgehenden Verdachtes nicht aufgehoben, und 
ebensowenig die Pflicht der Klägerin, das in ihrem 
Umgang mit der K. hervorgetretene ehezerrüttende 
Moment auf den Wunsch des Beklagten hinweg¬ 
zuräumen. (R.-G. 15. X. 1903.) 

J. W. Beilage No. 14, pag. 127. 

§ 1569- 

Wenn auch zugegeben sein mag, dass der Begriff 
des geistigen Todes von einem gewissen Einfluss auf 
das Zustandekommen des Gesetzes gewesen ist, so 
kann dieses dennoch nicht dazu führen, in den 
Gesetz gewordenen Text .... etwas hineinzutragen, 
was in demselben nicht Aufnahme gefunden hat und 
nicht steht, und auf diese Weise nur die Fälle des 
„geistigen Todes“ als einer völligen Verblödung 
des Geistes als Scheidungsgrundim ' Sinne des 
§ 1569 gelten zu lassen. . . . 

. . . Der § 1569 . . . verlangt nach seinem Wort¬ 
laut: dass in Folge des besonderen Grades und der 
besonderen Art der Geisteskrankheit das geistige 
Band, das an sich die Ehegatten verknüpft, völlig und 
dauernd — unwiederherstellbar — gelöst ist; dass 
die geistigen Beziehungen des einen Ehegatten zum 
andern beruhend auf der ehelichen Gemeinschaft, 
aus der sittliche Rechte und Pflichten entfliessen, 
dauernd erloschen sind, und es ein gemeinschaftliches 
Familieninteresse für die Eheleute jetzt nicht giebt 
und auch für die Zukunft nicht mehr denkbar 
erscheint Der kranke Ehegatte muss unfähig er¬ 
scheinen, an dem Lebens- und Gedankenkreise des 
anderen Ehegatten theilzunehmen. . . . 

Der Senat erachtet daher für erwiesen, dass die 
Geisteskrankheit der Beklagten, welche zwar äusserlich 
aus der Anstalt herausstrebt und zu den Ihrigen 
zurückkehren zu wollen erklärt, dennoch aber irgend 
welches wirkliche Interesse an den Ihren nicht 
nimmt und nicht zu nehmen vermag, und welche 
kein Verständniss mehr für die sittlichen Pflichten 
des ehelichen Lebens und kein Bewusstsein der ge¬ 
meinschaftlich bestehenden Interessen hat, während 
andererseits auch sie den Ihren und insbesondere dem 
Kläger unverständlich ist und unverständig bleiuen 

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wird, einen solchen Grad erreicht hat, dass die 
geistige Gemeinschaft zwischen den Ehegatten auf¬ 
gehoben, auch jede Aussicht auf Wiederherstellung 
dieser Gemeinschaft ausgeschlossen ist. (Urtheil des 
III C. S. des O. L. G. Königsberg, 4. XI. 1901.) 

Psych. Woch. pag. 57. 

§ i5 6 9- 

Dass die wegen Geisteskrankheit entmündigte Be¬ 
klagte seit 8 Jahren und auch noch gegenwärtig 
geisteskrank ist, nimmt der Berufungsrichter auf 
Grund des Gutachtens der Sachverständigen K. und 
Z. als erwiesen an. Der Eindruck, den die persönlich 
vor ihm erschienene Beklagte und den ihre Aus¬ 
lassungen hervorgerufen haben, hat, wie der Be¬ 
rufungsrichter bemerkt, diese Annahme bestätigt. 
Die Krankheit hat jedoch seiner Beurtheilung nach 
nicht einen solchen Grad erreicht, dass die geistige 
Gemeinschaft zwischen den Ehegatten aufgehoben 
wäre. Diese die Anwendung des § 1569 des 
Bürgerlichen Gesetzbuchs ausschliessende Feststellung 
hat das Oberlandesgericht im Einzelnen durch 
folgende Ergebnisse seiner den Krankheitszustand 
der Beklagten betreffenden Erhebungen näher be¬ 
gründet Eine völlige geistige Umnachtung sei nicht 
nachgewiesen. Selbst das Gutachten des Dr. Z., 
welches die Thatbestandserfordemisse des § 1569 
a. a. O. in vollem Umfange als vorhanden be¬ 
zeichnet, verneine einen „geistigen Tod“ der Be¬ 
klagten, nämlich einen Zustand entweder des stupiden 
Blödsinns oder der absoluten Verwirrtheit. Die Be¬ 
klagte habe aber auch das Bewusstsein der ihr durch 
die Ehe auferlegten, auf dem Wesen der Ehe be¬ 
ruhenden Rechte und Pflichten nicht verloren. Dies 
hätte ihr Verhalten im Jahre 1900 erkennen lassen, 
als der Kläger mit einer bei ihm im Dienst stehenden 
Magd Ehebruch trieb und diese schwängerte. Es 
wäre ein Grundirrthum des Sachverständigen Z., 
welcher daraus, dass sie „anstatt über die Verirrungen 
des Mannes den Mantel der Liebe zu decken,“ diese 
zum Gegenstand des Gesprächs mit Anderen gemacht 
und seinen Namen verunglimpft hätte, auf den 
Mangel des Bewusstseins ihrer Rechte als Ehefrau 
Schlüsse gezogen habe. Ihr vor dem Berufungsrichter 
ausgesprochener Wunsch, mit dem Manne und mit 
ihren Kindern wieder zusammenzuleben, entspräche 
ihrem w*ahren, dieses Bewusstsein betätigenden 
Willen. Auch die Fähigkeit, die ihr durch die 
Ehe auf erlegten Pflichten zu erfüllen, könne nicht 
verneint werden. Ihre frühere Neigung zu Gewalt¬ 
tätigkeiten bestände nicht mehr. Trotz vorhandener 
Sinnestäuschungen und Wahnideen verhalte sie sich 

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34 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 3, 


nach den Zeugenbekundungen ruhig und arbeitsam. 
Handlungen, die sich objectiv als Unsittlichkeiten oder 
eheliche Verfehlungen darstellen, wären nicht zu 
besorgen. Die Verschlimmerung des Leidens in 
der Zeit während der Behandlung der Beklagten in 
der Anstalt zu R. und die Erregungszustände in 
Folge der Verfehlung des Mannes dauerten nicht 
mehr fort. Auch für wirtschaftliche Angelegenheiten 
wäre die Beklagte nicht theilnahmlos; sie arbeite 
vielmehr nach der Zeugenbekundung ihrer Mutter 
auch auf dem Felde. Ihr Interesse für die Familie 
zeige sich dadurch, dass sie zuweilen nach R. gehe, 
um ihre Kinder zu besuchen. Allerdings meint der 
Berufungsrichter schliesslich, dass die Wahnideen und 
Sinnestäuschungen der Beklagten ihrer Umgebung 
lästig werden und auch auf die Erziehung der Kinder 
nachtheilig einwirken könnten, doch wäre die dem¬ 
zufolge für die Kinder bestehende sittliche Gefahr 
nicht so dringend, dass die Scheidung der Ehe den 
einzigen Ausgang bilde. In tatsächlicher Beziehung 
unterliegen alle diese Erwägungen nicht der Nach¬ 
prüfung des Reichsgerichts. Sie beruhen auch nicht 
auf einer Verletzung processualer Gesetzesvorschriften. 
Die Revision rügt die Nichterhebung des vom Kläger 
angebotenen Beweises für verschiedene von der Be¬ 
klagten in ihrer Geistesverwirrtheit geführte Reden, 
unter Anderem: Kläger wäre nicht der Mann, den 
sie geheiratet habe, der sei viel grösser gewesen; 
ihr Mann sei schon einmal gestorben, sie habe ihn 
in das Leben gerufen; in ihrem Haushalt wolle man 
sie vergiften und dergl. Allerdings hat der Berufungs¬ 
richter den Grund, weshalb er diese Beweise un- 
erhoben gelassen hat, nicht angegeben. Da es sich 
jedoch um Thatsachen handelt, die nicht unmittelbar 
für die Entscheidung von Erheblichkeit sind, die 
vielmehr nur ein Urteil über die Beschaffenheit und 
den Grad der Geisteskrankheit zulassen, in dieser 
Beziehung aber umfangreiche Beweiserhebungen bereits 
stattgefunden hatten, so lässt sich nur annehmen, dass 
der Berufungsrichter das dadurch gewonnene Material 
für ausreichend gehalten hat, um darautin sowie auf 
Grund der Beobachtungen der Sachverständigen und 
der eigenen Wahrnehmungen bei der Abhörung der 
Beklagten zu einem abschliessenden Urteil über 
ihren gegenwärtigen Geisteszustand zu gelangen, 
umsomehr da der Berufungsrichter selbst davon 
ausgeht, dass die Beklagte von Wahnideen und 
Sinnestäuschungen befangen sei. Die Revision ver¬ 
weist sodann auf verschiedene Einzelheiten des in 
der Beurteilung des Grades der Geisteskrankheit 
über die Feststellungen des Oberlandesgerichts hinaus¬ 


gehenden Z.’schen Gutachtens. Dies würde nur dann 
von Belang sein, wenn dem Berufungsrichter eine un¬ 
genügende Beachtung der Auslassungen dieses Sach¬ 
verständigen zum Vorwurfe gemacht werden könnte. Für 
eine derartige Beanstandung des Berufungsurtheils fehlt 
es jedoch an jedem Anhalt. Auch war der Berufungs¬ 
richter durch keine processuale Gesetzesvorschrift 
darin beschränkt, die Ausdehnung der von ihm zu 
erhebenden Sachverständigenbeweise nach eigenem 
freien Ermessen zu bestimmen. (§ 404 der Civil- 
processordnung.) (Urteil des R.-G. IV. C. S. 
18. XII. 1902.) 

J. W. Beilage No. 3, pag. 28. 

§ 1569- 

Die hier vorgesehenen 3 Jahre sind von dem 
Zeitpunkte an zu rechnen, in dem zuerst das Be¬ 
stehen von Geisteskrankheit festgestellt wurde, nicht 
etwa schon von da an, wo Symptome hervorgetreten 
sind, von denen sich später herausgestellt hat, dass 
sie durch geistige Erkrankung zu erklären seien. 
(O.-L.-G. Jena, 20. November 1902.) 

D. R. pag. 483, Entsch. No. 2453. 

§ 1666. 

Ist bei einem nicht vollsinnigen Minderjährigen 
die körperliche oder geistige oder sittliche Ver¬ 
wahrlosung mangels Anordnung besonderer erziehlicher 
Maassnahmen (Anstaltserziehung) zu besorgen, so 
kann gleichwohl die Fürsorgeerziehung auf Grund 
des § 1 No. 1 und 3 Pr. Fürs.-Erz.-G. nicht an¬ 
geordnet werden, wenn weder ein schuldhaftes Ver¬ 
halten der Eltern im Sinne des § 1666 B. G.-B. 
noch der bereits erfolgte Eintritt einer gewissen sittlichen 
Verderbtheit des Minderjährigen festzustellen ist. 
(K.-G. Berlin. 22. VI.) 

D. R. pag. 577, Entsch. No. 2936. 

§ 1786 No. 8. 

Die Führung einer Vormundschaft und einer 
Gegenvormundschaft berechtigt nicht zur Ablehnung 
der Uebemahme einer weiteren Vormundschaft. 
(Kammergericht. 8. XII. 1902.) 

D. R. pag. 126, Entsch. No. 597. 

§§ 1793.1631- 

Der Vormund eines Kindes und ebenso der 
Pfleger, dem die Sorge für die Person eines Kindes 
übertragen ist, sind berechtigt und verpflichtet, das 
Kind zu erziehen oder seine Erziehung zu überwachen. 
(K.-G. Berlin, 13. October 1902.) 

D. R. pag. 182, Entsch. No. 973. 

(Fortsetzung folgt.) 


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1904.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


35 


Mittheilungen. 


— Ein Beitrag zur Geschichte der Medizin. 

Unter dieser Aufschrift veröffentlicht Dr. Fürer- 
Rockenau in der „Dtsch. Mediz. Wochenschrift (No. 
-63) folgende Mittheilung: „In der ersten Hälfte des 
vorigen Jahrhunderts noch soll man gegen eine Art 
Eintrittsgeld hier und da in Irrenpflegeanstalten sich 
zum Zeitvertreib an der Art und Weise haben „er¬ 
götzen“ können, in welcher die abnorme, krankhafte 
Gehimthätigkeitder Anstaltsinsassen diese veranlasste, 
sich zu benehmen. Ein erfahrener Wärter soll es 
verstanden haben, durch Applikation geeigneter Reize 
-die Schaustellung dramatisch zu gestalten. 

Heute» im Anfang des 20. Jahrhunderts, zeigt 
man in München im Theater einem zahlenden Publi¬ 
kum, das man als „eingeladen“ bezeichnet, weil ge¬ 
wisse belanglose Aeusserlichkeiten einer gesetzlichen 
Bestimmung zuliebe noch ausser der Bezahlung be¬ 
obachtet werden, an verschiedenen Abenden unter 
„ärztlicher Regie“, wie ein im abnormen Zustand ver¬ 
setztes Gehirn auf gewisse psychische Reize reagirt.— 
Der Münchener Kunst- und Theateranzeiger vom 9. 
März 1904 enthält folgende Anzeige: Psychologische 
Gesellschaft. Demonstration der Traumtänzerin 
Madeleine G. im Münchener Schauspielhause. Pro¬ 
gramm für Mittwoch, den 9. März 1904. Mitwirken¬ 
de: Experimenteller Theil: Madeleine G. (Paris), 
Magnin (Paris). Musikalischer Theil: Professor L. 
Thuille, Frau Sophie Röhr-Brajnin, Professor A. 
Dressier, Konzertmeister Bruno Ahner, Graf Sigwart 
zu Eulenburg, Orchester des Gärtnertheaters (Dirigent: 
Herr Horak). Deklamation: Fräulein Lilli Marberg, 
Schaupielerin. Bühnenarrangement: Professor Gabriel 
v. Seidl und Professor Albert v. Keller. Aerztliche 
Leitung und Regie : Dr. Freiherr v. Schrenk-Notzing. 
{Folgt eine Aufzählung von musikalischen und dekla¬ 
matorischen Vorträgen, zu denen die hypnotisirte 
Person „tauzt“) In München, respektive Bayern, 
besteht ebenso wie in Preussen ein Verbot hypno¬ 
tischer Schaustellungen. Es wird aber so umgangen, 
dass zum Beispiel in diesem Falle die Psychologische 
Gesellschaft ein Theater miethet und dass man dem 
Publikum in den betreffenden mit dem Vertrieb der 
Billets betrauten Geschäften mit dem Billet eine Art 
Einladungskarte überreicht, gelegentlich auch sich den 
Namen angeben lässt. Der Preis für ein Billet be¬ 
trägt 20 Mark, respektive 10 Mark. Das betreffende 
Theater fasst zwischen 600 und 700 Leute. Kommen¬ 
tar überflüssig!“ 


Referate. 

— Beiträge zur Physiologie des Nerven¬ 
systems speciell der Sinnesorgane von 
Fr. Schuhmacher (Verlag von Th. Thomas-Leipzig). 

I. Physiologie der Nervenerregung. 

Verf. ist der Meinung, dass die doppelsinnige 
Leitung functionell die wesentliche bildet, dass dem¬ 
gemäss beim Zustandekommen der Sinneseindrticke 
sowie bei gewissen Associationsprocessen eine Art 
Reflexion des Nervenprincipes wesentlich mit bethei¬ 
ligt ist Diese Auffassung des Verf.'s stützt ausser 


der negativ. Stromschwankung u. s. f. besonders 
eine Betrachtung des anatomischen Baues der be¬ 
treffenden Nervenendigung, der fibrillären Zusammen¬ 
setzung der Sinnesnerven. Nach Rabl - Rückhardt, 
Duval sind die Dendriten contractil; Dendriten, wie 
Neuriten der einzelnen Nervenzellen bilden keine 
Verbindungen, sondern nur eine Art Contact. Verf. 
glaubt, dass von der Nervenzelle ausgehende Schwing¬ 
ungen die Dendriten (nach der allgemeinen Anschau¬ 
ung sollen die Dendriten cellulipetal sein) in eine 
gewisse Spannung versetzen, deren Folge eine lineare 
Streckung der Dendriten ist; dadurch wird eine 
kurzw’ährende wirkliche Verbindung mit den Nerven¬ 
endigungen hergestellt. 

Centrifugale Nervenleitung ist besonders deutlich 
bei den Synaesthesien, ferner bei den Visionen und 
Hallucinationen; ferner beim Eintreten der Zapfen- 
zellenreaction auf Lichtreiz, die der N. opticus ver¬ 
mittelt. Weitere Beweise für die Anschauung des 
Verf.’s von der Natur der Nervenerregung liefert das 
Purkinjesche Phänomen, die Schmerzempfindung 
nach Amputationen im amputirten Glied, die Polyäs- 
thesie der Tabiker. Vom Standpunkte des Verf. aus 
lassen sich auch die mehr oder minder scharfen 
Localisationen der verschiedenen Sinnesempfindungen 
leichter verstehen. 

II. Phylogenie der Sinnesorgane. 

Als Stützpunkt für die im vorhergehenden ge¬ 
schilderte Anschauung über die Nervenerregung dient 
dem Verf. auch die phylogenetische Entwicklung der 
Sinnesorgane. 

Während bei den einfachen und einfachsten Ge¬ 
staltungen (Rhizopoden) der gesammte Körper als 
Tast- und Hörapparat fungirt, ist bei den höchsten 
Thieren speciell den Menschen durch die Wechsel¬ 
wirkung zwischen gesteigerter Irritabilität des Proto¬ 
plasmas (Neuroplasmas) und weiterer Differenzirung der 
Sinneszellengruppen, schliesslich auch das Bewusst¬ 
sein entstanden. 

Die topographisch-anatomische Lage der Sinnes¬ 
organe erklärt sich daraus, dass sie durch Zellen- 
selection aus den Epithelzellen der Körpertheile an¬ 
standen sind, die äusseren Reizen stets zunächst 
und am intensivsten ausgesetzt sind (Kopf). 

Die Phylogenese zeigt uns, dass die Sinnesorgane 
dem Nervensystem gegenüber das Primäre sind. 
Jede Sinnesempfindung ist stets mit Vorstellungen 
verbunden, und fast durchgängig mit Gefühlen. 

III. Ueber das Bewusstsein. 

Nach dem Verf. kann man das Bewusstsein einer 
Potenzirung unserer Empfindungen und Vorstellungen 
vergleichen oder es auch analog einer Widerspiegelung 
der Empfindungen und Vorstellungen in solchen 
gleichzeitig mit erregten Erinnerungszellen, die zu der 
jeweilig gegenwärtigen Empfindung oder Vorstellung 
in gewisser Beziehung stehen, auffassen. Es besteht 
kein Zweifel, dass das Bewusstsein sich sowohl phylo¬ 
genetisch als auch ontogenetisch entwickelt hat; 
man sieht beim Kinde mit der Deponirung einer 
Anzahl von Erinnerungen des individuellen Lebens^ 


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3^ 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 3. 


sich das Bewusstsein und das Gefühl der individuellen 
Persönlichkeit entwickeln. Sämmtliche psychische 
Erscheinungen sind an die Substanz des Central¬ 
nervensystems gebunden, also Functionen einer ma¬ 
teriellen Substanz. Nach der Thatsache, dass der 
Entwicklung der Substanz im monistischen Sinne 
eine Entwicklung der Function parallel läuft, kann 
man eine Parallelskala für die Materie und deren 
Functionen construiren, als deren höchste Glieder 
einerseits das Neuroplasma, andererseits das Bewusst¬ 
sein erscheinen. H e i n i c k e - Grossschweidnitz. 

— Die Vererbung im gesunden und 
krankhaften Zustande und die Entstehung 
des Geschlechts beim Menschen von Dr. J. 
Orchanky, Professor an der Universität Charkow. Mit 
41 Abbildungen. Stuttgart, Verlag von F. Enke 1903. 

Das Werk bietet eine solche Fülle des Neuen 
und Interessanten, dass es unmöglich ist, in einem 
Referat den Inhalt nur einigermaassen zu erschöpfen. 

Es stellt daher das Folgende nur eine kurze 
Inhaltsangabe der in den einzelnen Kapiteln behan¬ 
delten Hauptfragen dar. 

Im 1. Theile, der die Lehre von der Ver¬ 
erbung umfasst, bespricht Verf. zuerst das Ge¬ 
biet der Erblichkeit, dann die verschiedenen 
Ansichten über die Vererbung von im Leben 
erworbenen Veränderungen, auch der Immu¬ 
nität, um dann auf die erbliche Uebertragung 
von Krankheiten, die pathologische Ver¬ 
erbung überzugehen. 

Im 2. Theile, der in der Hauptsache die eigenen, 
umfassenden Untersuchungen des Verf.’s enthält, be¬ 
spricht dieser zuerst die Frage von der Entsteh¬ 
ung der Geschlechter; weiter wird darin die 
Frage über die Aehnlichkeit, unter Berücksich- 
tigung der Ansichten Charles Richets, Bourgmeisters, 
Haeckel’s, Prosper Lucas und der eigenen diesbe¬ 
züglichen Beobachtungen eingehend behandelt. 

Daran schliessen sich Erörterungen vergleichenden 
Charakters über den Körperbau der Neuge¬ 
borenen und deren Mutter, über die Grenzen 
der Erblichkeit, die Entwicklung des Ske¬ 
letts, die Erbl ichkeit in kr an k e n Familien, 
die Elemente der Vererbung und die Be¬ 
fruchtungstypen. Das letzte Kapitel behandelt 
die Vererbung und die individuelle Evo¬ 
lution. Heinicke - Grossschweidnitz. 


Personalnachrichten. 

— Die Stelle des Direktors und I. Arztes an der 
neuen Provinzial-Irren-Anstalt bei Meseritz*) in Posen 
ist dem leitenden Arzte der Privat-Irrenpflege-Anstalt 
des evangelischen Diakonievereins zu Waldbröl Herrn 
Dr. L. Scholz commissarisch übertragen worden. 

— Dr. phil. et med. Hugo Liepmann, Privat¬ 
dozent der Psychiatrie an der Universität Berlin und 
Arzt an der städtischen Irrenanstalt in Dalldorf, ist 
zum Professor ernannt worden. 

*) siehe die ausführliche Beschreibung im Jahrg. III, S. 247. 


— Breslau. Bis zur endgültigen Besetzung 
des hiesigen Lehrstuhls der Psychiatrie ist Privat¬ 
dozent Dr. med. Emst Storch mit der Abhaltung, 
der Vorlesungen beauftragt worden. 


Zur Hygiene des Rauchens. 

Das lobenswerthe Bestreben, den Tabakgenuss 
zu einem möglichst unschädlichen zu machen, hat 
kürzlich wieder zu einem wichtigen Fortschritt auf 
diesem Gebiete der Hygiene geführt. Professor 
Dr. H. Thoms vom pharmaceutischen Institut in 
Berlin, der sich seit 1899 der Untersuchung der 
Rauchproducte des Tabaks widmet und bereits in 
einigen Arbeiten die Resultate seiner Forschungen 
veröffentlichte, beschreibt in der „Chemiker-Zeitung“ 
(1904, Nr. 1) ein Verfahren, durch welches eine er¬ 
hebliche Entgiftung des Tabakrauchs bewirkt 
wird: Durch Hindurchleiten von Tabakrauch durch 
eisenchloridhaltige Watte wird das höchst unange¬ 
nehm riechende ätherische Brenzöl und Schwefel¬ 
wasserstoff gebunden, Blausäure zu ungefähr der 
Hälfte und Nicotin, dessen Spaltbasen und Ammo¬ 
niak zum grössten Theile zurückgehalten. „Ein 
völliges Binden der Rauchproducte nach dieser Me¬ 
thode ist nicht möglich und auch gar nicht anzu¬ 
streben, will man dem Raucher nicht jeden Genuss 
rauben“. Letzteres findet aber statt bei den viel¬ 
fach gemachten Versuchen, das Nikotin aus dem 
Tabak zu extrahiren, der dann nach Stroh schmeckt, 
weil die das Aroma bedingenden Stoffe zerstört sind, 
und der überdies trotzdem noch andere schädliche 
Producte enthält (Methylamine, Ammoniak, Schwefel¬ 
wasserstoff, Blausäure, Kohlenoxyd). Die sogenann¬ 
ten „nikotinfreien“ Cigarren besitzen daher einen sehr 
problematischen Werth. Durch die bisherigen Me¬ 
thoden, den Tabakrauch durch Asbest oder Watte 
u. dergl. zu filtriren, wobei man noch die Filtermittel 
mit Säuren oder Alkaloidfällungsmitteln imprägnirte, 
wird ebenfalls theils das Aroma verändert, theils sind 
die angewendeten Chemiealien an sich nicht unge¬ 
fährlich. Von einer Gesammtbindung der schädlichen 
Rauchproducte kann nach Thoms keine Rede sein, 
da dieselben zu verschiedenen Klassen chemischer 
Verbindungen angehören. Prof. Dr. Thoms verwen¬ 
dete als Rauchfiltermittel fasriges Material, welches 
mit einer Eisenoxydul- oder Eisenoxydsalzlösung ge¬ 
tränkt ist; die Eisensalze werden durch die flüchtigen 
Basen des Tabakrauchs zerlegt, welche dann von 
den Säuren der betreffenden Eisensalze zurückge¬ 
halten werden. Bei den practischen Versuchen er¬ 
wies sich das mit Eisenchlorid imprägnirte fasrige 
Material als am besten geeignet. Zur Verwerthung 
seiner Erfindung setzte sich Prof. Dr. Thoms mit der 
schon durch die Gerold’schen Cigarren bekannten 
Firma Wendt’s Cigarrenfabriken in Bremen 
in Verbindung, welche sich das Verfahren patentiren 
liess. Prof. v. Lagerheim von der Universität 
Stockholm hat in seinem Laboratorium die Thoms- 
sche Erfindung einer eingehenden Nachprüfung unter¬ 
zogen und konnte bestätigen, dass die gestellte Auf¬ 
gabe in vorzüglicher Weise gelöst ist. 


Für den redactionellen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Bresier , Lublinitx (Schienen). 

Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Hevnemann’scbe Buchdruckerei (Gebr. Wolff) in Halle a. S. 


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Zuschriften für die Redaction sihd an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), tu richten. 

Inhalt: Hermann Emminghaus f (S. 37). — Paranoia oder Dementia praecox? Von Primararzt Dr. Josef Berze in Wien 
(S. 39). — Zur Frage der zellenlosen Behandlung. Von Dr. CI. Neisser, Director der Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalt 
Lublinitz (S. 43). — Wichtige Entscheidungen auf dem Gebiete der gerichtlichen Psychiatrie, III. Aus der Literatur des 
Jahres 1903, zusammengestcllt von Prof. Ernst Schultze (Fortsetzung) (S. 44). — Mittheilungen (S. 46). — Referate (S. 48). — 
Personalnachricht (S. 48). 


Hermann Emminghaus f. 


ach langem schwerem Lei¬ 
den starb am 17. II. 1904 
zu Freiburg i. B. der Grossh. 
Bad. Hofrath, Kaiserl. Russ. 
Staatsrath, Ritter m. O. Dr. 

Hermann Emminghaus, 
weiland Professor der Psychia¬ 
trie und Direktor der psychia¬ 
trischen Klinik daselbst. 

Hermann Emminghaus, 
am 20. Mai 1845 zu Weimar 
geboren, studierte in Göttingen, 
Wien und Jena, woselbst er 1870 
promovirte, zwei Jahre unter 
Siebert an der Heil- und Pflege¬ 
anstalt daselbst und ebenso zwei 
Jahre unter C. Gerhardt an 
der Medicinischen Klinik Assi¬ 
stent war. 1873 arbeitete er in 



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Leipzig unter C. Ludwig phy¬ 
siologisch und habilitierte sich 
dann Ende des gleichen Jahres 
in Würzburg, woselbst er sich als 
practischer Arzt niedergelassen 
hatte, für Psychiatrie. Im Jahre 
1880 erhielt er einen Ruf als 
ordentlicher Professor der Psy¬ 
chiatrie und Director der neuge¬ 
gründeten psychiatrischen Klinik 
nach Dorpat, wohin er übersie¬ 
delte, nachdem er zuvor noch 
unter G. Ludwig eingehend 
den ärztlichen Betrieb und die 
Verwaltung der Heppenheimer 
Irrenanstalt studirt hatte. 1886 
erfolgte seine Berufung nach 
Freiburg, woselbst er eine er¬ 
folgreiche Thätigkeit auch als 

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38 


^SYCHtATRISCH-NEUkoLOGISCHE WOCHENSCHkltT. 


[Kr. 4. 


Sachverständiger entfaltete, bis ihn eine schleichend 
verlaufende Himerkrankung zwang, sich beurlauben 
zu lassen (X. 1900), und schliesslich in den Ruhe¬ 
stand zu treten (1. X. 1902). 

Durch den vorzeitigen Hingang Emminghaus 
erleidet die Wissenschaft einen schweren Verlust. Es 
ist hier nicht der Ort, auf die zahlreichen Arbeiten 
nicht psychiatrischen Inhaltes, die Emminghaus, 
insbesondere in der ersten Periode seiner publicistischen 
Thätigkeit, verfasste, näher einzugehen. Nur an 
einzelne wollen wir erinnern, von denen die ersten 
noch aus seiner Jenaer bezw. Leipziger Zeit stammen, 
so die Veröffentlichungen: „Ueber Rubeolen“ (Jahrb. 
f. Kinderheilkunde Bd. IV.), „Ueber Perforation des 
Verdauungskanals“ (Berl. klin. Wochenschr. 1872), 
Über „ein mit der Herzaction erfolgendes Reibegeräusch 
des Bauchfelles“ (Deutsches Arch. f. klin. Medic. 1872). 
Hervorzuheben sind dann insbesondere die experi¬ 
mentellen Beiträge zur Physiologie und Pathologie 
der Absonderung und Bewegung der Lymphe. Die 
Arbeit über die Abhängigkeit der Lymphabsonderung 
vom Blutstrom (Arch. f. Heilk. u. Arbeiten d. physiol. 
Anstalt zu Leipzig 1874) und namentlich die grossen 
Beiträge, die Emminghaus zum Gerhardt’schen 
Handbuche der Kinderheilkunde (1877 und 1878) 
beisteuerte, für welches er die Rötheln, die Lyssa 
humana, die Oesophaguskrankheiten und die Meningitis 
cerebrospinalis epidemica in vortrefflicher Weise be¬ 
arbeitete. 

Neben den genannten vornehmlich dem Gebiete 
der inneren Medicin angehörigen Publicationen hatte 
Emminghaus aber von jeher mit Vorliebe auch 
Themata neurologischen oder psychopathologischen 
Inhaltes in Angriff genommen. Seine Doktorarbeit 
handelte über das hysterische Irresein. Als Assistent 
veröffentlichte er „Ueber die Behandlung der Bulimie 
mit Codein“, den „Fall von epilepsieartigen Convul- 
sionen, durch Experiment erzeugbar etc.“ (Jahrb. f. 
Kinderheilk. 1871) sowie „Psoriasis mit Angstzuständen“ 
(Berl. klin. Wochenschr.), „Ueber halbseitige Gesichts¬ 
atrophie“ (D. Arch. f. kl. Medic. Bd. XI. und XII), 
„Ueber das Auftreten von Verfolgungswahn im Pocken- 
process und das Vorkommen von Fettsäuren im 
Harne Geisteskranker“ (Arch. f. Heilk.), sowie die 
bekannte Arbeit: „Ueber epileptoide Schweisse“ und 
„Wirkungen der Galvanisation am Kopfe etc.“ (Arch. 
f. Psychiatrie, Bd. IV). Aus seiner ersten Würzburger 
Zeit datiren ein Iesenswerthes Gutachten (Viertel- 
jahresschr. f gerichtl. Medic. 1874) und klin. medic. 
und psychopathologische Studien über die Lvssa 
humana (Arch. f. Heilk. und Allgem. Zeitschr. f. 
Psychiatrie). 

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Alle die erwähnten Veröffentlichungen zeigen neben 
vielem Originellen eine ausserordentlich gründliche 
Verarbeitung des betr. Stoffes. In ganz besonderem 
Maasse gilt dies aber von dem ersten psychiatrischen 
Hauptwerke Emminghaus’, mit dem er sich sofort 
in die erste Reihe der deutschen Psychiater stellte. 
In der That sucht „die allgemeine Psychopathologie“ 
(1878 erschienen und Professor v. Rineker, dem Vor¬ 
stande der Irrenabtheilung des Juliusspitals gewidmet) 
ihres gleichen, die vielseitige und sorgsame Zergliede¬ 
rung des grossen Stoffes, die eingehende Würdigung 
der früheren Literatur sichern dem Werke dauernd 
einen Platz in der psychiatrischen Literatur. Kleinere 
Arbeiten über acute aufsteigende Spinalparalyse, über 
progressive Paralyse fallen in das Jahr 1879. 

In Dorpat verfasste Emminghaus dann die 
mustergiltigen Beiträge zu Maschkas Handbuch 
der gerichtlichen Medicin („Kinder und Unmündige“, 
„Blödsinn und Schwachsinn“ 1882), die interessante 
Mittheilung über „Kohlendunstasphyxie, Aufhebung 
der faradischen Erregbarkeit der Ni. phrenici“, sowie 
die klinische und pathologisch-anatomische Studie: 
„Zur Pathologie der postfebrilen Demenz“ (Neurolog. 
Centralblatt 1883 und Archiv f. Psychiatrie 1886). 
1887 erschien seine zweite Hauptarbeit: „Die psychi¬ 
schen Störungen des Kindesalters“ (als Ergänzungs¬ 
band des Gerhardt’schen Handbuches), die ein rüh¬ 
mendes Zeugniss der Gründlichkeit des Verfassers 
bildet und infolge der bedeutsamen Casuistik des zweiten 
Abschnittes und namentlich durch die klassische Aus¬ 
führung des allgemeinen Theils einen bleibenden Werth 
besitzt Des Verstorbenen „Behandlung des Irreseins 
im Allgemeinen“ im Handbuch der Therapie von 
Penzoldt und Stintzing (1894) bildet ein würdiges 
Gegenstück zu den beiden genannten Hauptwerken. 
1894 erfolgte noch die Veröffentlichung über „patho¬ 
logisch-anatomische Befunde bei Innervationsstörungen 
des Darmes“ (München. Medic. Wochenschr.), die 
letzte zum Druck gelangte Arbeit Emminghaus. 
Neben den genannten Eigen werken verdient hervor¬ 
gehoben zu werden, dass Emminghaus von 1889 
bis 1899 mit grosser Verlässlichkeit und Gründlichkeit 
die gesammte psychiatrische Litteratur für Virchows 
Jahresberichte der gesammten Medicin referirte, eine 
nicht zu unterschätzende Leistung. — Aber nicht 
nur in seinen 1 itterarischen Veröffentlichungen kam 
die gründliche und vielseitige Durchbildung des Ver¬ 
storbenen zum Ausdruck, sondern vornehmlich auch 
in seiner Thätigkeit als Lehrer und als Arzt Seine 
klinischen Visiten waren stets interessant und anre¬ 
gend, seine theoretischen Vorlesungen von einer un- 
gemeinen Reichhaltigkeit, zumal da sein eminentes 


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1904.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


39 


Gedächtniss ihm die Beherrschung der Litteratur 
nicht nur seines Specialfaches leicht machte, sondern 
auch ermöglichte, dass er über diejenigen anderer 
Disciplinen stets discussionsbereit orientirt war. 

In umfassendster Weise, jedem therapeutischen 
Fortschritte zuneigend, sorgte er für seine Kranken 
und bestrebte sich, durch Combination aller (psychi¬ 
scher und somatischer) Heilmethoden die Krankheit 
und ihre Symptome zu bekämpfen. Dass er es in 
seinen Kliniken dahin brachte, das Milieu, den ganzen 
Betrieb den modernsten Anschauungen gemäss zu 
gestalten und von Grund aus zu organisiren, ist um 
so höher zu taxircn, als er sowohl in Dorpat wie in 
Freiburg keinerlei diesbezügliche Tradition vorfand, 
an beiden Orten neugegründete Anstalten erst ein¬ 
zurichten und in Betrieb zu setzen hatte. Stets sah 
Emminghaus — in einer dem Unerfahrenen viel¬ 


leicht fast pedantisch erscheinenden Weise — auf 
das, was man jetzt den Comfort des Kranken, den 
Comfort der Krankenstube zu nennen pflegt, in der 
richtigen Erkenntniss, dass die Mittel oft weniger 
nützen, als die Geste mit der, die Umgebung, in der 
sie dargereicht werden. In wirksamster Weise unter¬ 
stützten den letzteren — psychischen — Heilfactor 
seine imposante Persönlichkeit Aber auch die gleich- 
mässige Freundlichkeit, mit der er die Wünsche eines 
jeden Kranken anhörte, seinen Interessen das Augen¬ 
merk zuwandte, trug viel zu seinen Erfolgen am 
Krankenbette bei. 

Alle, die Emminghaus kannten, werden seiner 
daher nie vergessen und insbesondere im Herzen 
seiner Zuhörer und Schüler wird — wie in der 
Wissenschaft — sein Bild dauernd einen Ehrenplatz 
einnehmen. H. P. 


Paranoia oder Dementia praecox? 

Von Primararzt Dr. Josef Berte in Wien. 


Jn einer jüngst erschienenen kleinen Monographie habe 
ich zu zeigen versucht, dass aus den gemeinhin 
als Paranoia bezeichneten Krankheitsfällen eine be¬ 
stimmte Gruppe ausgesondert werden kann, deren 
psychopathologische Grundlage eine Störung der Apper- 
ception ist, darin bestehend, dass der Vorgang der 
Erhebung eines psychischen Inhaltes in den inneren 
Blickpunkt erschwert ist; ich habe diese Ansicht 
weiteres dadurch zu stützen versucht, dass ich darauf 
hingewiesen habe, wie — in meiner Meinung nach 
durchaus ungezwungener Weise — die Genese aller 
Cardinalsymptome, ja die ganze Entwicklung der 
Psychose aus dieser Apperceptionsstörung abgeleitet 
werden kann, welche ich somit wohl als Primärsymptom 
dieser besonderen Form der Päranoia bezeichnen 
dürfte. 

Weygandt hat nun in einem in dieser Wochen¬ 
schrift (Nr. 47, 1904) erschienenen Referate über 
meine Arbeit u. a. gesagt: „Die Ausführungen treffen 
nicht so sehr auf die streng systematisirende Kraepe- 
lin’sche Paranoia als vielmehr auf die viel zahlreicheren 
Fälle einer paranoiden Dementia praecox zu, auf deren 
tiefgehende Defecte im Bereich der Apperception 
Referent früher schon mehrfach (vgl. u. a. Atl. u. 
Grdr. d. Psych. 1902 S. 373) hingewiesen hatte,“ 

Ich muss gestehen, dass ich von einem so aus¬ 
gesprochenen Kraepelinianer ein anderes Urtheil über 

*) UebtT das Primärsymptom der Paranoia. Halle a, S. 
(Verlag von C. Marhold) 1903. 

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meine Ansicht gar nicht erwartet habe, ja dass mir 
die in dem citirten Satze enthaltene Kritik ein Be¬ 
weis mehr dafür zu sein scheint, dass ich im ganzen 
doch Recht habe, ein Beweis, der mir umso werth¬ 
voller ist, als ich den Standpunkt und die Betrach¬ 
tungsweise meines Kritikers wohl zii schätzen weiss. 

Thatsächlich dürfte Kraepelin die meisten der 
Paranoia-Fälle, welche das Substrat meiner Arbeit 
gebildet haben, als paranoide Formen der Dementia 
praecox bezeichnen, zumaLnach der 7. Auflage seines 
Lehrbuches neben der Dementia paranoides und der 
phantastischen Verrücktheit (physikalischer Verfol¬ 
gungswahn) sogar das Delire chronique ä evolution 
systematique (Paranoia completa) zu diesen Formen 
gerechnet wird. Aus meinen Ausführungen geht 
ja klar und deutlich hervor, dass ein Teil tneiner 

Fälle in das Schema des „delire chronique.“ 

Magnan’s*) beiläufig passt, ein anderer Theil 
aber wieder nicht, was namentlich dem klar geworden 
sein wird, der meine Bemerkungen über das Fehlen 
einer eigentlichen Demenz, beziehungsweise über die 
unwesentliche Rolle, die ein etwa doch beobachteter 
Schwachsinn in den von mir benutzten Fällen m. E. 
spielt, aufmerksam gelesen hat. Jedenfalls kann ich 
es aber niemandem verargen, wenn er meint, dass 
meine Fälle grösstentheils zur Gruppe Magnan’s ge¬ 
hören ; hätte ich dies vermeiden wollen, so hätte ich 

*) Magnan, Psychiatrische Vorlesungen, deutsch von 
Möbius, Heft 1. 1891. 

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40 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 4. 


meine Fälle durchweg in extenso bringen müssen. 
Mir war jedoch daran gar nicht so viel gelegen — 
schon deshalb nicht, weil ich den Beweis dafür noch 
nicht für erbracht halte, dass die Fälle der 
Magnan’schen Gruppe (Paranoia completa, wie sie von 
Möbius treffend genannt werden) durchwegs so 
sicher gegenüber der „streng systematisirenden 
Kraepelin’schen Paranoia“ abzugrenzen sind, wie 
manche Psychiater zu glauben scheinen. Je grösser 
das dem Beobachter zur Verfügung stehende Paranoia- 
Material ist, um so sicherer muss sich ihm meiner 
Meinung nach die Ueberzeugung aufdrängen, dass 
man dann, wenn man nur den späteren Verlauf und 
den Ausgang berücksichtigt, eine Grenze zwischen 
den „paranoiden Formen“ Kraepelins und der Mehr¬ 
zahl der Fälle, welche selbst Kraepelin als Paranoia 
gelten lässt, überhaupt nicht ziehen kann, und 
weiter, dass man selbst von der schon so zusammen¬ 
geschrumpften Kraepelin’schen Paranoia noch immer 
Fälle lossreissen muss, wenn man zu einem halbwegs 
abgerundeten Begriff der „paranoiden Formen“ ge¬ 
langen will und wenn man sich nicht der Eventualität 
aussetzen will, auf Fälle zu stossen, die willkürlich 
zwischen Dementia praecox und Paranoia hin- und 
hergeschoben werden können. Gerade das sehr 
reiche Material der Wiener Landes-Irrenanstalt zeigt 
dies zur Evidenz. 

Dass ich meine Fälle „Paranoia“ nennen durfte, 
unterliegt wohl keinem Zweifel. Einstweilen ist der 
heutige Kraepelin’sche Standpunkt doch noch 
nicht allgemein anerkannt, und es fragt sich, ob es 
überhaupt dazu kommen wird. Die grosse Mehrzahl 
der Psychiater wird die Fälle Magnan’s und so wohl 
auch die meinigen heute gewiss als Paranoia und 
nicht als paranoide Formen der Dementia praecox 
bezeichnen. 

Worauf es bei der Frage, ob man die „paranoiden 
Formen“ zur Dementia praecox ziehen soll oder nicht, 
m. E. hauptsächlich ankommt, kann ich wohl am 
besten zeigen, wenn ich an die Bemerkung Wey- 
gandt’s anknüpfe, dass bei der paranoiden 
Dementia praecox tiefgehende Defecteim Bereiche 
der Apperception beobachtet werden. 

Störungen der Apperception kommen bei den 
allerverschiedensten Psychosen zur Ausbildung. Man 
kann zunächst sagen, dass fast bei allen progressiv 
destruktiven Processen im Beginne der Krankheit 
Apperceptionsstörungen auffallen, sofeme nur im 
konkreten Falle der Process nicht mit einer solchen 
Vehemenz hereinbricht oder mit solcher Raschheit 
fortschreitet, dass die alsbald ausgebildeten tieferen 
psychischen Störungen die Apperceptionsstörungen 

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verdecken. Ich erinnere mich beispielsweise einiger 
prächtigen Fälle von progressiver Paralyse, in denen 
der Process so langsam fortschritt, dass die Demenz 
lange Zeit auf sich warten Hess,. wogegen es zur 
Ausbildung eines paranoiden Zustandsbildes kam, das 
von einer echten Paranoia kaum sicher zu unter¬ 
scheiden war; gewisse Anhaltspunkte, nicht-psychischer 
Natur, wie leichte Facialis-Parese, leichte Pupillen¬ 
störungen, überstandene Lues waren es allein, die die 
Vermuthungs-Diagnose auf Paralyse ermöglichten, 
der spätere Verlauf hat diese Diagnose bestätigt. 
Auch bei rascher verlaufenden Fällen kann man, wie 
bekannt, namentlich wenn der Process zunächst mehr 
das motorische Gebiet betrifft, schön ausgebildete 
paranoide Zustandsbilder vorübergehend auftreten 
sehen. In allen diesen Fällen erweist sich die 
apperceptive Thätigkeit, welche die höchste psychische 
Funktion und wohl gerade deshalb auch das feinste 
Reagens darstellt, bereits erheblich geschädigt; mir 
ist es nicht zweifelhaft, dass auch hier diese Apper- 
ceptionsstönmg die Grundlage abgibt für die Ent¬ 
wickelung des paranoiden Bildes. Ferner darf ich 
wohl auch auf die sog. paranoiden Vorstadien gewisser 
akuten, gutartigen, heilbaren Psychosen hinweisen; 
auch hier — ich erinnere nur zunächst an gewisse 
Fälle von Amentia *— tritt das Paranoide dann auf, 
wenn sich die Krankheit nicht zu rasch entwickelt 
und hält das Paranoide so lange an, bis infolge der 
weiteren Entwicklung die von der Apperceptions- 
störung abhängigen Symptome durch andere in 
schwereren Störungen begründete Symptome in den 
Hintergrund gedrängt werden. Lichtet sich das Bild 
wieder, so tritt häufig auch das Paranoide wieder 
für kürzere oder längere Zeit in den Vordergrund. 
Ja, Liepmann’s*) inhaltsreiche Ausführungen über 
Ideenflucht zeigen uns, wie gross die Bedeutung einer 
Apperceptionsstörung auch für die Analyse der durch 
Ideenflucht characterisirten Krankheits- oder Zustands¬ 
bilder sein kann; Liepmann sagt klipp und klar: 
„Für die Anhänger der Wundt’schen Psychologie 
wäre die Kennzeichnung der Ideenflucht einfach: 
Im geordneten Denken überwiegen die apperceptiven 
Verbindungen, im ideenflüchtigen die associativen.“ 
Erwähnen will ich auch, dass bei Neurasthenikern — 
nach meiner Meinung auf der Basis einer passageren 
Apperceptionsstörung — paranoide Zustandsbilder 
vorübergehend zur Ausbildung kommen; in dieselbe 
Gruppe rechne ich auch transitorische paranoide Zu¬ 
stände bei verschiedenen Intoxicationen. Dies nur 
nebenbei! 

*) lieber IdeenJlucht. Begriffsbestimmung und psychologische 
Analyse von H. Liepmann, Halle a. S. Carl Mafhold 1904. 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


4i 


1 9 ° 4 *J 


Kein Wundei also, dass Wey g an dt bei der 
paranoiden Dementia praecox Defecte im Bereich 
der Apperception gefunden hat; es wäre zu wundern 
gewesen, wenn einem so erfahrenen Beobachter diese 
Defecte nicht aufgefallen wären. Ich stimme ihm 
vollkommen bei und freue mich besonders darüber, 
dass er diese Defecte „tiefgehende“ nennt; ich bin 
eben daran, an einer Reihe von Fällen von paranoider 
Dementia praecox die Apperceptionsstörungen zu 
studiren, und kann schon heute sagen, dass sie in 
der That recht tiefgehend sind, häufig sogar so tief¬ 
gehend, dass man von einer hochgradigen Insufficienz, 
ja zuweilen von einem förmlichen zeitweiligen Ausfall 
der apperceptiven Thätigkeit sprechen kann. Was 
nun aber meine Ausführungen über die Apperceptions- 
störung als Primärsymptom gewisser Fälle von 
Paranoia betrifft, so muss ich wohl sagen, dass ich 
mich mit meiner Arbeit gewiss nicht hervorgewagt 
hätte, wenn ich nur zu sagen gehabt hätte, dass bei 
der Paranoia Defecte im Bereiche der Apperception 
überhaupt eine Rolle spielen; was mir dazu den 
Muth gegeben hat, ist die aus der Beobachtung 
vieler Fälle geschöpfte Ueberzeugung, dass die von 
mir genauer präcisirte Apperceptionsstörung in einer 
Reihe von Fällen, welche Paranoia genannt zu werden 
verdienen, nicht nur eine Rolle, sondern die Rolle 
des Primärsymptomes zu spielen scheint. Wie man 
sich den psychologischen Zusammenhang zwischen 
dieser Apperceptionsstörung und allen wesentlichen 
Paranoia-Symptogien vorstellen könnte, habe ich als 
erster gezeigt. Wie aus meiner Arbeit weiters klar 
hervorgeht, nehme ich keineswegs an, dass es sich 
bei meinen Fällen um „tiefgehende“ Defecte im Be¬ 
reiche der Apperception gehandelt hat. Punkt 2 
meiner Schlusssätze lautet: „Die psychopathologische 
Grundlage ist eine Störung der Apperception, welche 
darin besteht, dass der Vorgang der Erhebung 
eines psychischen Inhaltes in den inneren 
Blickpunkt erschwert ist.“ Ich verkenne nicht 
die Schwierigkeiten eines Beweises dafür, dass ich bei 
dieser Fassung an eine leichte Störung der Apper¬ 
ception gedacht habe. Thatsächlich werden ja auch 
wahrscheinlich alle Grade Vorkommen, was die 
Uebergangsformen erklärt, und mir handelt es sich 
auch gar nicht darum, glauben zu machen, dass dies 
nicht der Fall sei, sondern nur darum, zu zeigen, 
wie schon eine leichte Störung der Apperception, 
eine einfache Erschwerung derselben, dazu genügt, 
das ganze Heer der Paranoia-Symptome hervor¬ 
zurufen. 

Bei den paranoiden Fällen der Dementia praecox 
liegen also Apperceptionsstörungen vor, ebenso aber 


auch bei — bisher wenigstens so bezeichnten — 
Paranoia-Fällen. Dies zeigt aber wieder, werden 
Kraepelin und seine Anhänger sagen, dass beide 
Arten zur Dementia praecox gehören. Ich schliesse 
aber — anders. 

Auch meine Erfahrungen besagen, dass von den 
hebephrenischen Formen der Dementia praecox an- 
gefangen bis tief hinein ins Gebiet der Paranoia, 
aber auch noch ins Gebiet derjenigen Paranoia, die 
Kraepelin heute noch gelten lässt, ein allmählicher 
Uebergang nachgewiesen werden kann, so dass die 
in der Reihe fern von einander stehenden Fälle w ? ohl 
von einander geschieden werden können, die einander 
nahestehenden aber kaum mit Sicherheit da oder 
dort eingereiht werden können. Daraus aber, dass 
man sie allesammt unter denselben Hut bringen kann, 
zu schliessen, dass damit schon viel gedient sei, halte 
ich für verfehlt, schon deshalb, w’eil ein solches Ver¬ 
fahren dem Streben nach einer ferneren Differenzirung 
der Formen, welches uns bei der Betrachtung der 
Krankheitsbilder leiten soll, entschieden entgegenwurkt 
Kraepelin selbst steht schon stark unter dem 
Einflüsse dieser Vorstellung; er führt in der neuesten 
Auflage seines Buches aus: „Wir werden uns schwer¬ 
lich vorstellen dürfen, dass die erdrückende Zahl von 
Fällen, die wir heute in den „grossen Topf“ der 
Dementia praecox einordnen, einem einheitlichen 
Krankheitsvorgange angehört. Uns fehlen nur noch 
vollständig die Gesichtspunkte, nach denen eine be¬ 
friedigende Gruppirung des Stoffes erfolgen könnte.“ 
Er hofft, dass es ‘gelingen werde, „das Gewirr der 
Beobachtungen in eine grössere oder kleinere Anzahl 
gut umgrenzter Krankheitsformen aufzulösen“, und 
giebt sogar zu, dass es so vielleicht möglich werden 
wird, „den nur der vorläufigen Verständigung dienen¬ 
den, viel angefochtenen und gewiss sehr anfechtbaren 
Sammelnamen der Dementia praecox fallen zu lassen.“ 

Wenn Kraepelin diesen Sammelnamen jetzt 
schon durch einen weniger präjudicirenden Namen 
ersetzt hätte, wozu ihn ja gerade die Ueberlegung 
hätte veranlassen sollen, dass sein Einfluss es vor 
Allem war, der den Namen Dementia praecox zu 
einem terminus technicus erhoben hat, dem man 
nicht heute die, morgen eine andere Bedeutung 
beilegen kann, — so hätte wohl mancher Psychiater 
an eine Bekehrung des Autors denken zu müssen 
geglaubt, wären die Meinungen über den Werth seiner 
Auffassung aber gewiss weniger getheilt gewesen, als es 
heute der Fall ist. Kraepelin hebt in der Einleitung 
des Kapitels: Dementia praecox hervor, dass allen 
Fällen, die er unter diesem Namen begriffen wissen 
will, „der Ausgang in eigenartige Schwächezustände“ 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 4. 


gemeinsam ist; ein Name, der diesen Ausgang an- 
deutet, ohne wie der Ausdruck „Dementia“ diese 
„eigenartigen Schwächezustände“ allzu eng zu be¬ 
grenzen, so dass auch gewisse distincte psychische 
Defecte unter denselben subsummirt werden könnten, 
wäre da am Platze gewesen.*) 

Nach meiner Meinung (q. Schlusssatz meiner 
citirten Arbeit) leiden meine Paranoiker an einem 
„distincten psychischen Defect“, nicht aber an 
Schwachsinn im gewöhnlichen Sinne des Wortes. 

*) Womit ich aber keineswegs sage, dass ich den Vorgang, 
vom rein prognostischen Gesichtspunkte aus Psychosen gruppiren 
zu wollen, für sonderlich aussichtsvoll halte. — 

Wie es übrigens um die Eigenartigkeit der Schwäche¬ 
zustände steht, welche nach Kraepelin die Ausgänge^ der 
„paranoiden Formen der Dementia praecox* 1 bilden, geht u. a. 
aus den Ausführungen auf S. 280 des neuesten Lehrbuches 
Kraepelin’s hervor| darnach nehmen diese Formen ihren Aus¬ 
gang „entweder in einfachem Schwachsinn ohne nennenswerthe 
Wahnvorstellungen, in wahnhafter Verworrenheit oder in 
hallm inatorischer Demenz, bei der von irgend einem sich weiter 
bildenden „System“ meist ebenso wenig die Rede sein kann 
wie von dauerndem Festhalten der gleichen Ideen Aber auch 
diejenigen Fälle, bei denen eine gewisse fortschreitende Ent¬ 
wicklung des Wahnes (sic! der Verf.) oder doch ein einfaches 
Festhalten ohne schwerere Störungen im Zusammenhänge des 
Denkens und Handelns stattfindet <sic!), tragen in der Urthcils- 
losigkeit, der Unfähigkeit, Widersprüche zu empfinden, Ein¬ 
wände zu widerlegen oder auch nur aufzufassen, in der Zer¬ 
fahrenheit des Willens und Handelns, in der gemüthlichen Ver¬ 
ödung bei gelegentlicher Reizbarkeit, endlich in den Andeutungen 
periodischer Schwankungen deutlich den Stempel von End¬ 
zuständen.“ Also, so wenig lässt sich die Eigenart der 
Schwächezuständc fassen, dass der „Stempel von Endzuständen 14 
allein schon zu ihrer Characterisirung dienen muss! Nach meiner 
Meinung geht aus der Schilderung Kraepelin’s hauptsächlich 
die V e rsc h i eden art ig kei t der Ausgänge hervor, eine 
Verschiedenartigkeit, die so weit geht, dass der Schluss auf die 
Gleichartigkeit der Grundstörungen, auf den es Kraepelin ja 
im Grunde abgesehen hat, kaum zulässig erscheinen kann, 
besonders wenn wir andererseits im Kapitel über die Ver¬ 
rücktheit (Paranoia) lesen: „Erst im Laufe von mehreren 
Jahrzehnten (also doch auch hier! Der Verf.) pflegt sich eine 
langsam zunehmende psychische Schwäche geltend zu machen, 
Nachlassen der geistigen Regsamkeit unter ganz allmählicher 
(? der Verf.) Weiterbildung des Wahnsystems,*• wenn wir 
also hören, dass auch bei der Paranoia Kraepelin’s so beiläufig 
ein „Endzustand“ herauskommt. — Was aber die „deutliche 
geistige Schwäche“ anbetrifft, mit der die Wahnbildung nach 
Kraepelin bei den „paranoiden Formen der Dementia praecox 44 
einhergeht, ist es sehr fraglich, ob man all* die Momente, 
welche Kraepelin zum Erweise dieser Schwäche heran zieht, 
thatsächlich als Beweisgründe für das Vorhandensein einer 
geistigen Schwäche im Sinne der Dementia gelten lassen kann. 
Bleibt also als „maassgebend für die Diagnose 41 nach Kraepelin’s 
eigenen Worten „das Gesammtbild des vorliegenden Krankheits¬ 
falles 44 ; dass er mit dieser Bemerkung zeigt, dass dem sub- 
jectiven Ermessen in dieser Frage ein grosser Spielraum bleibt, 
wird Kraepelin kaum bestreiten können. 


Ich kann sie daher in eine Gruppe einreihen lassen, 
welche etwa den Namen „Eigenartige psychische 
Schwächezustände“ führt; dement, d. h. schwach¬ 
sinnig oder gar universell schwachsinnig, dürfen 
sie nach meiner Meinung nicht genannt werden. 

Kraepelin nimmt an. dass auf dem Wege 
eines „tieferen ätiologischen, psychologischen oder 
anatomischen Verständnisses der Krankheit“ Gesichts¬ 
punkte für die Auflösung des Gewirres der Beobacht¬ 
ungen gefunden werden können. Meine Untersuch¬ 
ungen haben sich auf psychologischem Gebiete be¬ 
wegt. Sie haben mir gezeigt, dass Fälle, die man 
bisher allgemein als Paranoia bezeichnet hat, darunter 
sowohl solche, die Kraepelin heute zur Dementia 
praecox schlägt, als auch solche, die er heute noch 
als Verrücktheit (Paranoia) gelten lässt, sich als „eigen¬ 
artige psychische Schwächezustände“ oder, wie ich 
gesagt habe, als „durch einen distincten psychischen 
Defect“ charakterisirtc Zustände darstellen. Und als 
Grundstörung dieser Formen habe ich eine eigen¬ 
artige Apperccptiunsstürung aufgefasst, welche m. E. allein 
schon — ohne Hinzutritt anderer Störungen — den 
psych< »pathologischen Aufbau zuwege bringt. 

Meine Ansicht lässt sich mit Hinblick auf 
Kraepelin’s Anschauungen auch folgendermaassen 
ausdrücken: Aus den paranoiden Formen der De¬ 
mentia praecox und aus der heutigen Paranoia 
Kraepelin’s lassen sich Fälle aussondern, welche 
durch ein — wenn ich so sagen darf — psycho- 
gcnetisch-klinisches Band zusammengehalten werden; 
das psvchogenetische Band ist dadurch gegeben, dass 
in allen diesen Fällen eine eigenartige Apperceptions- 
störung als Priinärsvmptom angesprochen werden kann, 
das klinische Band dadurch, dass sich zu diesem 
Primärsymptom im weiteren Verlaufe kein neues, 
etwa in einer tieferen Störung begründetes psychisches 
Symptom primärer Art hinzugesellt. Die meisten 
Psychiater, namentlich alle, die es nicht gerne sehen 
würden, wenn — wie die Katatonie, wie viele Fälle 
von Amentia, von manisch-depressivem Irresein usw. 
— auch die Paranoia ganz im bekannten Topfe 
verschwänden, werden diese Fälle eben nach wie vor 
Paranoia nennen. 

Damit wird nicht behauptet, dass es keine Ueber- 
gänge von der Paranoia zu denjenigen Formen giebt, 
die mit Recht Dementia praecox genannt werden. 
Bei diesen treten eben auch Apperceptionsstörungen 
auf, Störungen, die aber nicht auf der Stufe stehen 
bleiben, auf welcher sie m. E. geeignet sind, das 
Bild der Paranoia entstehen zu machen, sondern sich 
bald als viel schwerer oder, wie Weygandt sagt, 


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1904.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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als „tiefgehend“ darstellen, so dass wohl auch ein 
paranoider Zustand vorübergehend sich entwickeln 
kann, bald aber — in Folge rascher Progression der 
Apperceptionsstörung und in Folge der Entwicklung 
anderweitiger elementarer psychischer Störungen — 
zurücktreten muss gegenüber einem allmählich zur 
Geltung kommenden Schwächezustand, der gegebenen 
Falls noch ein undeutlich paranoides Gepräge haben 
kann, die Bezeichnung Paranoia aber gewiss nicht 
mehr verdient. 

Es scheint mir also, dass diejenigen Formen, 
deren Verlauf auf eine Progression der Grundstörung 
schliessen lässt, (was meines Erachtens dann der Fall 
ist, wenn die psychologische Analyse erweist, dass 
die Apperceptionsstörung bald einen höheren Grad 
annimmt und dass anderweitige psychische Grund¬ 
störungen sich zu ihr gesellen,) die Bezeichnung 
Dementia praecox verdienen, wogegen diejenigen 
Formen, deren Verlauf auf ein Stationärbleiben der 
Grundstörung schliessen lässt, (was dann der Fall ist, 
wenn die psychologische Analyse erweist, dass die 
Apperceptionsstörung dauernd einen leichten Grad 


behält und isolirt bleibt)*) Paranoia genannt zu 
werden verdienen. Ob diese letzteren Fälle mit 
anderen Paranoiafällen, welche sicherlich eine ganz 
andere Genese haben als meine Fälle, zusammen¬ 
gebracht werden sollen oder nicht, ist eine Frage 
für sich; ich hielt es nicht für richtig, weil die 
einzelnen Paranoia-Fälle — auch solche, auf welche 
die heutige Paranoia-Schilderung Kraepelins ganz 
gut passt — derartige Verschiedenheiten der Genese 
aufweisen, dass sie in dieser Hinsicht sogar oft 
weiter von einander abstehen, als mancher Fall von 
Paranoia von unbestrittenen Dementia praecox- 
Fällen absteht. 

Für die Subsumtion der Paranoia, die ich meine, 
unter denselben Titel, der auch für die richtige 
Dementia praecox gelten soll, ist die Findung einer 
Bezeichnung, welche sowohl schwere, universelle, als 
auch leichte, distincte Defecte zu umfassen geeignet 
ist, Hauptbedingung. — 

*) Wofür gegebenen Falls der Umstand sprechen würde, 
dass sich alle wesentlichen Symptome aus dieser Störung 
ableiten lassen. 


Zur Frage der zellenlosen Behandlung. 


j~~^er Unterzeichnete möchte, nachdem mehrseitig 
angeregt worden ist, beim Neubau von Irren¬ 
anstalten auf Zellen ganz zu verzichten, zur Warnung 
folgenden Vorfall mittheilen. Am Ostermontage drangen 
bei der ärztlichen Vormittagsvisite eine Anzahl von 
Epileptikern — grösstentheils nicht „kriminelle“, aber 
durch ihre Erregbarkeit nicht minder gefährliche Ele¬ 
mente — auf den Unterzeichneten ein, indem sie 
Stühle als Waffen benutzten. Es betheiligten sich all¬ 
mählich mehr oder weniger aktiv gegen 20 Kranke 
an dem Angriff und es kam zu einem förmlichen 
Kampfe, der nur mit grosser Mühe und unter körper¬ 
licher Beschädigung der Aerzte und des bei der Ab¬ 
wehr helfenden Personals beendigt werden konnte. 
Wie sich herausgestellt hat, bestand eine vorherige 
Vereinbarung und es lag Aufreizung namentlich Seitens 
zweier schwieriger Kranker, von denen der eine aller¬ 
dings öfters vorbestraft war, vor. Den Anstoss gab 
ein wenig gut beschaffenes Kartoffelgericht, welches 
zwei Tage zuvor verabfolgt worden war; die schlechten 
Kartoffeln waren sorgfältig zusammengetragen und ver¬ 
steckt aufgehoben worden und wurden nun dem 
Unterzeichneten beim Eintritt unter Schimpfreden vor¬ 
gehalten und damit das Signal zum thätlichen Angriff 
gegeben. Zur richtigen Würdigung des Vorfalles muss 


betont werden, dass bis dahin ein durchaus normales 
freundliches Verhältniss der Kranken zu uns Aerzten 
bestanden hat. 

Nun bin ich durchaus nicht der Meinung, dass 
der nämliche Vorfall überall in ganz gleicher Weise 
sich wiederholen könnte. In einer gut eingerichteten 
und weniger überfüllten Anstalt wird eine bessere Ver¬ 
keilung solcher gefährlicher Kranker ermöglicht; auch 
ist die niedrige Culturstufe und Roheit der hiesigen 
oberschlesisch-polnischen Bevölkerung in Betracht zu 
ziehen. Trotzdem muss ein solcher auch in seinen 
Nachwirkungen (trotz des dankenswerthen Vorgehens 
der Vorgesetzten Behörde, welche einige der schlimmeren 
Kranken von hier zu versetzen genehmigt hat) sehr 
übler Vorfall eine ernste Mahnung zur Vorsicht dar¬ 
stellen. Ich habe auch in diesem Falle nur Einen 
Kranken und auch diesen nur bis zum nächsten Tage 
isolirt; hätte ich aber keine Zelle überhaupt zur Ver¬ 
fügung gehabt und dies also nicht thun können, so 
ist es recht zweifelhaft, wrann und wie die Sache ge¬ 
endet hätte. Es giebt eben Fälle, in welchen die Für¬ 
sorge für die Sicherheit der Umgebung allem Anderen 
voran stehen muss. Die Therapie beginnt mit der 
Erhaltung des Lebens. Ich bleibe deshalb bei dem 
Satze stehen, welchen ich vor zehn Jahren geschrieben 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 4. 


habe: „Die Einrichtung gesonderter Zellenabtheilungen 
ist entschieden zu verwerfen. Die Erinnerung an 
eine Menagerie mit ihren Käfigen ist nicht zu er¬ 
tragen. Natürlich aber sollen Einzelzimmer und auch 
Zeilen womöglich mit verschiedenartiger Construction 
der Fenster etc. und mit allen Abstufungen der 
Festigkeit in ausreichender Anzahl in einer wohlor- 
ganisirten Anstalt verfügbar sein. Indess diese For¬ 


derung ist nur in demselben Sinne zu stellen, wie 
man beispielsweise von dem Instrumentarium einer 
chirurgischen Klinik verlangt, dass auf alle möglichen, 
auch die selteneren und die schlimmsten Vorkomm¬ 
nisse vorsorglich Bedacht genommen sei.“ 

Lublinitz, den 14. April 1904. 

Dr. CI. N e i s s e r, 

Direktor der Prov.-Heil- und Pflege-Anstalt. 


Wichtige Entscheidungen auf dem Gebiete der gerichtlichen Psychiatrie, III. 

Aus der Literatur des Jahres 1903 tusammengestellt von Ernst Schnitze. 

(Fortsetzung.)! 


§§ 1906, 1908, Abs. I. 

Die Anordnung einer vorläufigen Vormundschaft 
ist unzulässig, nachdem der Antrag auf Einleitung 
des Entmündigungsverfahrens wegen örtlicher Un¬ 
zuständigkeit des Gerichts rechtskräftig abgelehnt 
worden ist. 

Nach § 1906 B. G.-B. kann nur ein Volljähriger, 
dessen Entmündigung beantragt ist, unter vorläufige 
Vormundschaft gestellt werden, und nach § 1908 
Abs. 1 daselbst endigt die vorläufige Vormundschaft 
mit der Rücknahme oder der rechtskräftigen Ab¬ 
weisung des Antrags auf Entmündigung. Nach 
diesem Zeitpunkte kann daher auch die vorläufige Vor- 
mundschaft nicht mehr eingeleitet werden. Unter 
der Abweisung des Antrags mag in erster Linie ein 
Beschluss zu verstehen sein, durch welchen nach 
Einleitung des Verfahrens die Entmündigung ab¬ 
gelehnt wird (zu vergl. § 663 C. P. O.). Die für 
diesen Fall getroffene Vorschrift muss aber auch dann 
Anwendung finden, wenn schon die Einleitung des 
Entmündigungsverfahrens abgelehnt wird. (Kammer¬ 
gericht Berlin, 25. Mai 1903.) 

D. R. pag. 395, Entsch. No. 2089. 

§ 1906. 

Der nach § 1906 B. G.-B. unter vorläufige Vor¬ 
mundschaft Gestellte ist gemäss § 114 B. G.-B. im 
•allgemeinen nicht processfähig; nur für die An¬ 
fechtungsklage aus § 664 C. P. O. ist der Ent¬ 
mündigte, auch wenn er in der Person eines vorläufigen 
Vormundes einen gesetzlichen Vertreter hat, process¬ 
fähig. (O. L. G. Hamburg, 22. Mai 1903.) 

D. R. pag. 457, Entsch. No. 2372. 

§ IW- 

Eine Pflegschaft darf nur in den in den §§ 1909 bis 
1919 ausdrücklich hervorgehobenen Fällen angeordnet 
werden. Jedoch unterliegt die Frage nach der 


Rechtmässigkeit einer vom zuständigen Vormund¬ 
schaftsgericht angeordneten Pflegschaft nicht der 
Nachprüfung seitens des Processrichters; insbesondere 
darf der Processrichter einen Pfleger nicht deshalb 
als zur Vertretung nicht legitimirt zurückweisen, weil 
es an den gesetzlichen Voraussetzungen für die An¬ 
ordnung einer Pflegschaft gefehlt habe. (K.-G. Berlin, 
30. März 1903.) 

D. R. pag. 432, Entsch. No. 2298. 

§ I Q IO. 

Die Bestellung eines Pflegers hat nicht die Be¬ 
deutung, den Pflegling in seiner Geschäftsfähigkeit zu 
beschränken. Vielmehr hat der Pfleger nur die 
Stellung eines von Staatswegen für die betreffenden 
Angelegenheiten bestellten Processbevollmächtigten. 
Er ist berechtigt, wirksame Rechtshandlungen für den 
Pflegling vorzunehmen, schliesst diesen aber nicht 
vom Selbsthamleln aus. (Mot. z. B. G.-B. IV S. 
1356, Mot. z. Z. P. O. — Novelle S. 52.) Eine 
Ausnahme hiervon tritt nur für einen Rechtsstreit ein. 
Hier erfordert das Bedürfniss des Rechtsverkehrs den 
Ausschluss der Möglichkeit des Nebeneinander¬ 
bestehens zweier gleich Verfügungsberechtigter. Des¬ 
halb stellt § 53 Z. P. O. während eines schwebenden, 
vom Pfleger geführten Rechtsstreits den Vertretenen 
einer nicht processfähigen Person gleich. Ausserhalb 
dieses Falles behält der Vertretene volle eigene 
Verfügungsfreiheit. (Beschluss des K.-G. vom 11. V. 03.) 

Aerztl. Sachv.-Zeit. 1903 No. 20, pag. 429. 

§§ 191°. 1 793 , 1915 B. G.-B. 

§§ 56, 473 » 477 » 612 C. P. O. 

. . . Der Pfleger der nach der thatsächlichen An¬ 
nahme des Vorderrichters geisteskranken, nicht ent¬ 
mündigten Klägerin erscheint Kraft dieser Bestallung 
ermächtigt, in allen einzelnen ihre Person betreffenden 
Angelegenheiten sie zu vertreten (§§ 1915, 1793 des 


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1904.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 45 


B. G.-B.). Zu den Angelegenheiten der letzteren 
Art gehört auch die Führung eines Ehescheidungs¬ 
prozesses (vergl. Entsch. des R.-G. in Civilsachen 
Bd. 30, S. 188). Einer Genehmigung des Vormund¬ 
schaftsgerichts bedarf es in dem vorliegenden Falle 
zu diesem Behufe nicht Der § 612, Abs. 2 der 

C. P. O. erfordert eine solche nur für die Erhebung 
der Ehescheidungsklage. Erhoben hat Klägerin 
selbst ihre Ehescheidungsklage bereits im Jahre 1893, 
also zu einer Zeit, wo sie unbestritten persönlich noch 
durchaus handlungsfähig und völlig im Stande war, 
ihren auf die gerichtliche Geltendmachung des 
Scheidungsanspruches gerichteten Willen rechtswirksam 
zu erklären. (R. G. 5. Mai 1903.) 

J. W. Beilage No. 7, pag. 64. 

§ 1911; C. P. O. 53. 

Die Einleitung der Abwesenheitspflegschaft macht 
den Abwesenden nicht ohne weiteres prozessunfähig. 
Er gilt nur dann als processunfähig, wenn der 
Pfleger den Rechtsstreit für ihn führt. (R. G. V. 
1. Octocer 1902. 191/02.) 

D. R. pag. 155, Entscheid. No. 808. 

IV. Einführungs-Gesetz 
zum Bürgerlichen Gesetzbuch. 

Art. 210; Pr. G. K. G. 1. 

1. Das B. G. B. kennt keine dem § 90 preuss. 
Vorm. O. entsprechende Pflegschaft. Eine am 
1. Januar 1900 bestehende Pflegschaft dieser Art 
durfte deshalb nicht fortgeführt werden. 

2. Ist sie dennoch fortgeführt, so sind an sich 
Kosten in Ansatz zu bringen, denn § 1 Pr. G. K. G- 
macht die Kostenpflicht nicht davon abhängig, dass 
die Ausführung des an sich gebührenpflichtigen Ge¬ 
schäftes gerechtfertigt war. (K. G. Berlin, 8. De¬ 
zember 1902.) 

D. R. pag. 265, Entscheid. No. 1447. 

V. Civilprocessordnung. 

§§ 42, 406. 

Die Ablehnung ist für begründet zu erachten. 
Denn der Sachverständige hat sich alsbald nach 
seiner Ernennung .an die Bekl. wegen vergleichs¬ 
weiser Erledigung des Processes gewendet und hat 
mit deren Inhaber persönlich berathen. Der Sach¬ 
verständige hat infolgedessen ohne Wissen des Kl., 
an den jener sich nicht gewendet, eine Darstellung 
des Sache- und Streitstandes von dem beklagtischen 
Standpunkte aus erhalten, ohne dass dem Kl. eine 
gleichzeitige Klarlegung seiner Auffassung möglich 

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war. Dieses Verfahren ist geeignet, bei dem Kl. 
Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Sach-“ 
verständigen zu rechtfertigen. (Beschluss des III. C. 
S. der R. G. vom 30. Januar 1903.) 

J. W. pag. 97. 

§£ 52, 241. (§ 1911 B. G. B.) 

Die Anordnung einer Abwesenheitspflegschaft be¬ 
wirkt nicht Processunfähigkeit des Abwesenden; 
ein von dem Abwesenden als Partei geführter 
Rechtsstreit wird daher nicht nach § 241 C. P. O. 
unterbrochen und ist nicht nach § 246 C. P. O. 
auszusetzen. 

Wie die §§ 104, 106, 107, 114 B. G. B. er¬ 
geben, besteht jetzt, abweichend von dem früheren 
Recht, eine Unfähigkeit, sich durch Verträge zu ver¬ 
pflichten, und damit Processunfähigkeit, § 52 C. P. O., 
nur bei geschäftsunfähigen Personen, § 104, B. G. B., 
sowie bei Personen, die, wie die Minderjährigen und 
die im § 114 B. G. B. bezeichneten Personen, in 
der Geschäftsfähigkeit beschränkt sind. Der Fall der 
Stellung unter Pflegschaft findet sich als Grund des Auf¬ 
hörens oder der Einschränkung der Geschäftsfähigkeit 
des Pflegebefohlenen nirgends erwähnt. Letzterer 
behält hiernach die Fähigkeit, sich durch Verträge 
zu verpflichten, und daher auch die Processfähigkeit. 
Dass dies der Wille des Gesetzgebers gewesen ist, 
wird durch die Denkschrift zur Civilprocessnovelle 
S. 86 ausdrücklich bestätigt. Eine Ausnahme macht 
nur der Fall, dass der Pfleger in Ausübung seiner 
Vertretungsmacht, die mit dem eigenen Process- 
führungsrecht des Pflegebefohlenen concurrirt, einen 
Rechtsstreit im Namen des letzteren führt Alsdann 
gilt der Pflegebefohlene für den betreffenden Rechts¬ 
streit als processunfähig, § 53 C. P. O. (R. G. V- 
1. X. 1902.) 

D. R. pag. 20. Entsch. No. 86. 

§ 287. 

Es wäre unrichtig, für die Schadensbemessung 
nicht freie richterliche Uebcr/eugung walten zu lassen, 
sondern als einzigen Grund dafür ein Sachverständigen- 
Gutachten anzuführen. 

Nicht schlechthin ausgeschlossen ist es, dass unter 
Umständen eine Entscheidung über die Höhe des 
Schadens wegen der ihm zu Grunde gelegten Gut¬ 
achten angefochten werden kann, z. B. wenn die 
Gutachten widersinnig oder vom Gericht offenbar 
missverstanden worden sind. (R. G. V. vom 1. No¬ 
vember 1902.) 

D. R. pag. 43, Entsch. No. 233. 

§ 372 . 

Hat der mit der Augenscheinseinnahme be- 

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46 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 4 . 


auftragte Richter nicht nur sinnliche Wahrnehmungen 
gemacht, sondern daraus auch gutachtliche Schlüsse 
gezogen, so gehören diese allerdings nicht in das 
Protokoll über die Augenscheinseinnahme, sie können 
aber vom Gerichte, wenn bei der Berathung die 
übrigen Richter jene Schlüsse zu den ihrigen machen 
und der betreffende Richter bei der Berathung und 
Urtheilsfassung mitwirkt, im Urtheile verwerthet 
werden. (R. G. VI. 20. Oktober 1902.) 

I). R. pag. 2i, Entscheid. No. 107. 

§§ 373 ff., 402. 

Es muss einem Sachverständigen unbenommen 
bleiben, bei Prüfung der ihm vorgelegten Fragen auch 
Auskünfte, die er von Dritten einfordert und erhält, 
zu benützen. In manchen Fällen wird er dieses 
Hülfsmittel überhaupt nicht entbehren können. In 
dessen Anwendung und in der Verwendung eines 
so begründeten Gutachtens durch den Richter für 
sich allein kann also noch kein Verstoss gegen Vor¬ 
schriften des Verfahrens, insbesondere gegen die 


§§ 402 ff.; 373 ff. C. P. O. gefunden werden, wohl 
aber wird ein auf einem derartigen Gutachten be¬ 
ruhendes Urtheil dann das Gesetz verletzen, wenn 
die vom Gutachter zu Grunde gelegten thatsächlichen 
Angaben Dritter von einem der Streitstheile als un¬ 
richtig bekämpft worden sind und der Richter diese 
Einwendungen nicht beachtet hat. (R. G. 22. IV. 03.) 

J. W. pag. 240. 

§ 383 . 

Dr. H. hat sein Zeugniss mit Recht abgelehnt. 
Es handelt sich nicht um eine zur Erhaltung der 
körperlichen Gesundheit der Kl. zu machende Mit¬ 
theilung, sondern um die Beantwortung der Frage, 
ob der Bekl. im Mai 1899 an frisch er¬ 
worbener Syphilis behandelt worden sei. Die 
Kl. will diese Mittheilung nur dazu benutzen, einen 
Ehebruch ihres Mannes zu beweisen, um dadurch 
die Scheidung ihrer Ehe zu erlangen. (Beschluss des 
VI. C. S. des R. G. vom 13. Januar 1903.) 

J. W. pag. 100. 

(Fortsetzung folgt.) 


M i t t h e i 

— Am 20. März 1904 fand die zweite Jahresver¬ 
sammlung wtlrttembergischer Juristen und Aerzte 
unter sehr zahlreicher Betheiligung von beiden Seiten in 
Stuttgart statt. Am Vorstandstische: Präsident 
v. Gessler, Ministerialrath v. Schwab, Medicinalrath 
Dr. Kreuser. 

1. Referat: Die Geistesschwäche als Entmündi¬ 
gungsgrund. Referent: Oberlandesgerichtsrath Lan¬ 
dauer-Stuttgart, Correferent Oberarzt Dr. Cammerer- 
Winnenthal. 

2. Referat: Rechtsanwalt Mainzer -Stuttgart: Das 
Bcrufsgeheimniss und Zeugnissverweigerungsrecht des 
Arztes und Rechtsanwaltes. 

3. Referat: Dr. Krauss-Kennenburg: Das Be¬ 
rufsgeheimnis des Psychiaters. 

Landauer legt an der Hand der bestehenden 
Bestimmungen die Wirkungen der Entmündigung 
wiegen Geistesschwäche auf die Stellung des Ent¬ 
mündigten im bürgerlichen Rechtsverkehr und im 
Gerichtsverfahren dar. Die Geistesschwäche ist nach 
der herrschenden Meinung von Aerzten und Juristen 
ein geringerer Grad von Geisteskrankheit, der vom 
Entmündigungsrichter nach dem Criterium des 
Maasses der Geschäftsfähigkeit dergestalt festzustellen 
ist, dass ein Geisteskranker, der noch beschränkt ge¬ 
schäftsfähig erscheint, nur wegen Geistesschwäche 
entmündigt werden darf. Aus dieser herrschenden 
Meinung ergiebt sich die Folge, dass auch Geistes¬ 
kranke, die sich Schärfe des Denkens und Energie 
des Willens bewahrt haben, bei denen also im gewöhn¬ 
lichen Leben nie von Geistesschwäche, eher von 
Geistesschärfe die Rede ist, wegen Geistesschwäche 

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1 u n g e n. 

zu entmündigen sind. Redner wies auf die Folgen 
einer solchen Entmündigung, die Schwierigkeiten in 
der Stellung des Vormundes, die Rechtsunsicherheit, 
die durch die verwickelten Rechtssätze über die be¬ 
schränkte Geschäftsfähigkeit entstehen könne, und 
die gesundheitlichen Schädigungen hin, denen der 
Entmündigte durch seinen Kampf mit dem Vormund 
ausgesetzt sei. Zu diesen praktischen Bedenken 
kommen noch die gegen die Richtigkeit der herrschen¬ 
den Gesetzesauslegung. Er kommt zu dem Ergebniss, 
der Entmündigungsrichter müsse eine Person, die nach 
der wissenschaftlichen Erkenntniss des Sachverständigen 
geisteskrank sei, w’egen Geisteskrankheit 
entmündigen, wenn sie gänzlich unfähig sei, ihre An¬ 
gelegenheiten zu besorgen, dürfe sie aber, wenn sie diese 
Angelegenheiten zwar nicht selbständig, aber doch 
mit Hilfe eines Vormundes besorgen könne, nur dann 
wegen Geistesschwäche entmündigen, wenn die 
Merkmale der Geistesschwäche vorliegen. 
Diese Merkmale der Geistesschwäche wmrden aus- 
ausgeführt und betont, dass es zu ihrer Feststellung 
stets der Lebens- und Berufserfahrung sowie der 
wissenschaftlichen Kenntnisse des Arztes bedürfe. 

(Der Vortrag erscheint in den „juristisch-psychiatr. 
Grenzfragen“). 

Cammerer: Für die Auslegung der Begriffe 
„Geisteskrankheit und Geistesschwäche“ ist lediglich 
der juristische Folgezustand maassgebend. Unter Ver¬ 
meidung des Ausdruckes der Geistesschwäche im 
medicinischen Sinne hat der Gutachter sein Urtheil 
abzugeben, ob der Kranke seine Angelegenheiten zu 
besorgen vermag, er hat auszusprechen, ob Geistes- 

Origmal from 

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1904.] Psychiatrisch-neuroLööische Wochenschrift. 


krankhcit, ob Geistesschwäche im einzelnen Falle 
vorliegt 

Durch Beispiele werden die Schwierigkeiten belegt, 
die die Bestimmung des § 661 Abs. 2 der C. P. O. 
mit sich bringt, dass dem Entmündigten der Gerichts¬ 
beschluss zugestellt werden muss. Der Vortragende 
betont die Schwierigkeiten der Beurtheilung der Ge¬ 
schäftsfähigkeit im einzelnen Fall, da nur §114 
B. G. B. einen häufig wenig brauchbaren Anhalt hier¬ 
für giebt. Er bietet eine ausführliche Uebersicht der 
Krankheitsformen und Erscheinungen, die für die 
Entmündigung wegen Geistesschwäche in Betracht 
kommen, warnt im besonderen vor zu früher Entmün¬ 
digung von Querulanten, räth zu häufigerer Anwendung 
derselben bei Degenerirten. Er mahnt zu genauer 
Individualisirung im einzelnen Fall, insbesondere mit 
Rücksicht darauf, ob dem Kranken die Wohlthat der 
milderen Form der Entmündigung zu theil werden 
könne. Bei der häufigen Anwendung dieser Form 
werde auch dem Publikum der Unterschied beider 
Entmündigungsformen klar werden. 

(Der Vortrag erscheint in den juristisch-psychiatr. 
Grenzfragen.) 

Wollenberg: Geisteskrankheit und Geistes¬ 
schwäche lassen sich lediglich im juristischen Sinne 
unterscheiden als termini für den grösseren oder ge¬ 
ringeren Grad der Geschäftsfähigkeit, für die Be¬ 
schränkung derselben durch die gestörte Geistesthätig- 
keit Bei Paranoikern wird man stets mit Entmün¬ 
digung wegen Geistesschwäche auskommen, bei Ma¬ 
nischen wird sie überhaupt nicht praktisch. Auch 
die preussische Deputation verlangt, dass der Sach¬ 
verständige mit Rücksicht auf die rechtlichen Folgen 
ausspricht, ob Geisteskrankheit oder Geistesschwäche 
vorliegt. Der Gerichtsbeschluss muss seiner Meinung 
nach zugestellt werden. 

Landauer: Mit Zustellung des Gerichtsbe¬ 
schlusses an den Arzt ist für das Gericht die Entmün¬ 
digung erledigt. Der Arzt kann den Beschluss zu¬ 
rückhalten, bis das Befinden des Kranken die Zu¬ 
stellung erlaubt, oder den Angehörigen den Beschluss 
übergeben. 

Kreuser: Geistesschwäche ist der engere Be¬ 
griff der Geisteskrankheit. K. entschliesst sich schwer 
zur Begutachtung wegen Geistesschwäche; jedenfalls 
sollte der Entmündigungsbeschluss jedes für den 
Kranken erregende Moment (Theile des Gutachtens 
mit Nennung des Gutachters) vermeiden. 

v. Kiene: Der Beschluss muss dem Entmündigten 
nach dem Wortlaut des § 661 Abs. 2 C. P. O. zu¬ 
gestellt werden. 

Beling: § 661 Abs. 2 C. P. O. nennt nur die 
Person, an die zugestellt werden muss, aber nicht 
das Wie der Zustellung; diese ist dem Ermessen des 
Arztes anheim gegeben. 

Krauss: Mit Rücksicht auf §664 Abs. 1 C. P. O. 
muss der Arzt dem Kranken alsbald den Beschluss 
zustellen. 

v. Gessler: Einigkeit herrscht nicht. Der Ent¬ 
mündigungsbeschluss sollte deshalb alle für den Kranken 
erregenden Momente vermeiden. 


Mainzer: Die Wahrung des Berufsgeheimnisses 
ist ethische Pflicht. Privatgeheimniss ist eine 
Thatsache, deren Bekanntwerden dem Willen einer 
Person zuwiderläuft. Als anvertraut hat alles zu 
gelten, was der Arzt oder Anwalt von seinem 
Klienten beruflich erfährt; moralisch dehnt sich 
die Discretion auch auf die nicht rein beruflichen 
Angelegenheiten aus. Es ist mindestens zweifelhaft, 
ob nicht auch Fahrlässigkeit zum subjectiven That- 
bestand des § 300 genügt. Unbefugt ist eine 
Handlung, wenn sie ohne Einwilligung des Ver¬ 
fügungsberechtigten und im Widerspruch mit der all¬ 
gemeinen Auflassung des Zulässigen erfolgt. Der 
subjective Wille des Verfügungsberechtigten ist jedoch 
nicht allein maassgebend, das Schweigen ist Pflicht, 
soweit nicht eine höhere sittliche Pflicht das 
Reden gebietet, auch wenn sie nicht mit einer aus¬ 
gesprochenen Rechtspflicht zusammenfällt. Auch das 
Reichsgericht theilt diesen Standpunkt, der durch das 
bürgerliche Gesetzbuch gerechtfertigt ist Niemals 
soll jedoch ein Pri vatgeheimniss offenbart werden zur 
Ausgleichung bereits entstandener Nachtheile oder 
zur Abwendung von Bestrafung, sondern nur zur 
Verhütung von Gefahren, deren Nicht¬ 
abwendung als Verletzung einer höheren sittlichen 
Pflicht erscheint. Zur gerichtlichen Verfolgung 
eigener berechtigter Interessen (Vermögensansprüchen, 
Ehre) ist nöthigenfalls das Offenbaren von Ge¬ 
heimnissen gestattet. Die herrschende Meinung, nach 
welcher der Nichtgebrauch von Zeugn iss verweigerungs¬ 
recht im Strafprocess niemals bestraft werden könne, 
ist nicht haltbar. 

De lege lata können nach den Bestimmungen 
der St P. O. über Beschlagnahme und Durch¬ 
suchung Krankheitsgeschichten und dergl. der Be¬ 
schlagnahme unterliegen, was zu einer Preisgabe des 
Privatgeheimnisses führt. (Der Vortrag erscheint in 
den juristisch-psychiatrischen Grenzfragen.) 

Krauss: Bereits die Thatsache, dass Jemand 
als psychisch Kranker in der Behandlung des Arztes 
steht, ist als Privatgeheimniss im Sinne des § 300 
St. G. B. anzusehen und zu behandeln. Jedermann 
will die psychische Erkrankung geheim gehalten 
wissen mit Rücksicht auf die socialen Verhältnisse 
des Erkrankten zumal bei der Rolle, welche die 
Frage der Vererbung spielt. Damit ist das Privat¬ 
geheimniss zugleich an vertraut, im Sinne des 
§ 300 St. G. B. Es besteht aber die Schwierigkeit, 
dass die Anvertrauenden (Angehörigen) und der 
Träger des Geheimnisses in der Regel nicht ein und 
dieselbe Persönlichkeit sind, ihre Interessen nicht 
selten auseinandergehen. Diese Frage ist von be¬ 
sonderer Wichtigkeit bei Stellung des Antrages auf 
Bestrafung. Die für die Kranken wünschenswerthe 
Discretion muss durchbrochen werden bei der Be¬ 
schaffung der für die Aufnahme in die Anstalt noth- 
w'endigen Papiere, bei Anzeigen und Auskünften im 
Verkehr mit den Behörden, mit den Gerichten und 
dergleichen. Sie zu halten wird besonders erschwert 
durch mit Neugier gemischte Fragen von ferner 
stehenden Angehörigen, bei Besuchen und so fort. 
Die rücksichtslose Ignorirung der für den Arzt be- 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 4. 


48 


stehenden Pflicht zur Verse l.w i nheit durch das 
Publikum wird durch zahlreiche Beispiele belegt. 
Sodann wird die Stellung des Psychiaters mit Bezug 
auf § 300 St. G. B. bei Berathung von Kranken 
und ihren Angehörigen in Fällen der Verheirathung, 
Lebensversicherungsgesellschaften gegenüber, bei Aus¬ 
stellung von Krankheitszeugnissen, Todtenscheinen, 
Veröffentlichung von Krankheitsgeschichten, Vor¬ 
stellung von Kranken zu Unterrichtszwecken be¬ 
sprochen. Endlich wurde noch in ausführlicher 
Weise die Thätigkeit des Psychiaters als Zeuge und 
Sachverständiger im Straf- und Civil-Process mit 
Rücksicht auf § 300 St. G. B. behandelt. 

(Der Vortrag erscheint in der Monatsschrift für 
Criminalpsychologie und Strafrechtsreform.) 

Beling: Aus der Pflicht des Arztes zu schweigen 
erhellt, dass die Beschlagnahme unzulässig ist. Der 
Arzt, der von seinem Zeugnissverweigerungsrecht 
keinen Gebrauch macht, ist nicht strafbar. 

Mainzer: Die ethischen Pflichten gelten dem 
Schutz von Personen, wie dem von Sachen. §§ 229, 
904 B. G. B. Bei einem Conflict von Pflichten hat 
das grössere Recht dem kleineren vorzugehen. 

v. Schwab: Die zulässige Aussage vor Gericht 
ist keine unbefugte im Sinne des Gesetzes, was 
schon aus der historischen Entwicklung hervorgeht, 
früher musste der Arzt aussagen. 

Mainzer: Bestreitet die Richtigkeit des Ge¬ 
sagten, man drehe die Worte Zeugnissverweigerungs- 
Recht und Verschwiegenheits - Pflicht um, so wird 
dies klar. 

Weisser: Objective Sachen zu beschlagnahmen, 
ist das gute Recht des Richters, su-bjectiv verletzt 
der Arzt damit das Gesetz nicht. 

Wollenberg: Die Aerzte können sich nur vom 
sittlichen Gesetz leiten lassen. Die Verschwiegenheits¬ 
pflicht des Psychiaters wird auch in gebildeten 
Kreisen, z. B. in Gesellschaft nicht genügend beachtet. 

Kreuscr: Die Verschwiegenheitspflicht des 
Psychiaters sollte auch vom Publikum mehr be¬ 
rücksichtigt werden. Die Zumuthungen an die 
Aerzte sind häufig geradezu unglaubhaft. Dabei 
wird durch die pflichtgemässc Verweigerung der 
Aussage die sie nicht achtende Gesellschaft in ihrem 
Mistrauen gegen Anstalten und Psychiater noch 
bestärkt. 

Kennen bürg. Dr. R. Krauss. 

— Der Verein der Irrenärzte Niedersachsens 
und Westfalens hält seine 39. Versammlung am 
7. Mai 1904, nachmittags 3 Uhr in Hannover, Lavcs- 
strasse 26, ab. Tagesordnung: 1. Bru n s-Hannover : 
Halbseitige Erkrankungen des Kleinhirns und ihre 
Diagnose. 2. Cra m c r-Göttingen : Ueber Aphasie. 
3. Behr-Liineburg: Die Beziehungen zwischen Nieren¬ 
erkrankungen und Geistesstörung. 4. \\ ober -Göt¬ 
tingen : Die Entlassung „gemeingefährlicher 4 * Kranker. 
5. Vogt-Göttingen: Ueber Pupillenveränderung nach 
akuter Alkuholintoxikation. < >. W ende n b u r g -Güt¬ 
tingen: Fall von eigentümlicher familiärer Dystrophie. 
(Mit Ki ankenVorstellung.) 


Referate. 

— Medicinische Volksbücherei. Laien¬ 
verständliche Abhandlungen, herausgegeben von Ober¬ 
arzt Dr. K. Witt hau er. Verlag von Carl Marhold, 
Halle a. S. 

Wie gross in den weitesten Laienkreisen die Un- 
kenntniss selbst der wichtigsten medicinischen Fragen 
ist, muss wohl jeder Arzt zu seinem Leidwesen nur 
zu oft erfahren, und ebenso, wie schwer es häufig ist, 
auch bei Thatsachen, deren Selbstverständlichkeit dem 
Arzte in Fleisch und Blut übergegangen ist, die Gründe 
zur Hand zu haben und dein Laien in gemeinver¬ 
ständlicher Weise vorzuführen. Für solche Fälle sind 
die Witthauer’schen medic. Volksbücher berufen, eine 
merkliche Lücke auszufüllen. Die ersten Lieferungen 
weichen in wohlthuender Weise von dem Stile ab, 
in den leider nur zu viele der populär-medicinischen 
Bücher verfallen und die Wahl der Themata und 
die Namen der Verfasser bürgen dafür, dass die 
richtige Grenze in der Auswahl des Stoffes gezogen 
werden wird und der Laie auf Grund dieser populären 
Kenntnisse nicht zu der Annahme verleitet wird, dem 
Arzte von nun ab den Laufpass geben zu können. 
Sehr viele der annoncierten Schriften werden auch 
im Unterrichte des Wartepersonals praktische Dienste 
leisten können. 

— Sulla c o s i d e 11 a p s i c o s i p o 1 i n e v r i t i c a. 
Pel Dott. G. Esposito. II manicomio, anno XVIII. 
Nr. 2. 

In dem erteil Th eil seiner Abhandlung bringt E. 
eine Uebersicht der über die Korsakowsche Psychose 
erschienenen wichtigen Arbeiten der deutschen, fran¬ 
zösischen und italienischen Litteratur. *\lsdann er¬ 
örtert er die Entwickelung, welche die Lehre von 
dieser Krankheit nach und nach erfahren hat und 
wie die Grenzen dieses Symptoinencomplexes er¬ 
weitert bz. eingeengt wurden. Er weist darauf hin, 
dass die einzelnen Autoren mitunter recht weit von 
einander abweichende Meinungen geäussert haben. 
In dem zweiten Theil werden 2 Fälle eigener Beob¬ 
achtung eingehend geschildert. In dem dritten Theil 
kommt E. zu dem Schluss, dass die Geschichte der 
Korsakow’schen Psychose lehrt, dass letztere keine 
Berechtigung besitzt, als selbständiges Krankheitsbild 
zu gelten und dass sie der Kritik nicht Stand zu 
halten vermag. Unter der Bezeichnung „Polyneu- 
ritisehe Psychose“ sind Fälle veröffentlicht worden, 
die wenig mit einander gemeinsam haben und in 
denen einige Erscheinungen von Neuritis mit einer 
Geistesstörung zusammen aufgetreten sind. Diese 
Geistesstörung äussert sieh zumeist als die Form der 
Verwirrtheit, welche bei Seelenstörungen auf infectiös- 
toxischer Grundlage anzutreffen ist. Sie hat keinen 
pathogmmu mischen Charakter, wie überhaupt der 
Krankheit ein besonderes Gepräge fehlt. 

Braune, Sch wetz a. W. 


Personalnachricht. 

— Dem Direktor der psychiatrischen und Nerven- 
klinik in Halle, Medicinal-Rath Dr. Karl Wernicke, 
ist der Charakter als Geheimer Medicinal-Rath ver¬ 
liehen worden. 


Erscheinfieden Sosral 

DigitizttTBy 


Für den redaktionellen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Bresi 


Lublinitz (Schlesien). 


§le 


Schluss der Inseratenan nähme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Car|ii|£|nrbo|td in Hall« a.S. 


Hoyn oman n’scho Buchdrucker ei (Gebr. Wolff) in Halle >■ S> 


HARVARD UNIVERSITY 








Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift. 

Redigirt v« n 

< )herarzt Dr. Joh. Bresler. 

Lubhnitz (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse : M arho Id Ver lag, Hallesaale. Fernsprecher 2834. 

NtTT _ 30. April. 1904, 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die ßspaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermäßigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien!, zu richten. 


Die Entwickelung der Irrenfürsorge in Hannover. 

Von Oberarzt Dr. Mönkemöller in Osnabrück. 


1 ~\ie Geschichte der deutschen Psychiatrie ist ver- 
hältnissmässig viel weniger bearbeitet worden, 
wie wohl die der meisten ihrer Schwesterdisciplinen 
— ist sie doch eine der jüngsten medicinischen 
Fächer. Bis jetzt haben im Wesentlichen nur die 
lokalen Historiographen das Wort ergriffen; auch 
Kirchhoff, der zuerst den Grundstein zu einer 
Geschichte der gesammten deutschen Psychiatrie ge¬ 
legt hat, hat sich darauf beschränken müssen, die 
Ergebnisse der Geschichtsforschung für einzelne 
Landestheile zusammenzufassen. Bei der Verstreut- 
heit des Stoffes ist das auch kein Wunder. 

Aber auch für einen grossen Theil der deutschen 
Lande haben bis jetzt noch die Lokal Patrioten ge¬ 
schwiegen. Das Material ist zum Theil in ganz un¬ 
erreichbarer Weise zersplittert, das Wohlwollen, wel¬ 
ches die Vorstände der Archive allen Versuchen, die 
Geschichtsforscher bei ihren Arbeiten zu unterstützen, 
zu theil werden lassen, ist nicht allgemein bekannt 
und Jedermanns Sache ist es nicht, den Staub der 
Archive einzuathmen und den zünftigen Geschichts¬ 
schreibern ins Handwerk zu pfuschen, zumal die 
Arbeit zeitraubend ist und an die Geduld ziemlich 
grosse Anforderungen stellt. Dabei sind der Fragen 
in der Psychiatrie, die sonst noch zu lösen sind, zu 
viele; der direkte Vortheil, den derartige historische 
Exkursionen bringen sollen, liegt nicht ohne weiteres 
auf der Hand und so muss sich die dunkele Ver¬ 
gangenheit hinter der glänzenden Gegenwart scham¬ 
haft zurückziehen. Und das verdient sie nicht. 

Es ist ein ganz eigenartiger Genuss, beim Durch- 
blättem der vergilbten Akten zu sehen, dass es den 
Geisteskranken vergangener Zeiten, von denen wir 
im Wesentlichen nur wissen, dass sie recht herbe 
Schicksale durchzukosten hatten, in manchen Stücken 

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gerade so ergangen ist, wie unseren modernen Kranken, 
wenn wir staunend erfahren, dass die Wurzeln so 
mancher Einrichtungen, die als ureigenste Erfindung 
der Neuzeit angesehen werden, weiter in die Ver¬ 
gangenheit zurückreichen, als wir ahnen, wenn wir 
sehen, dass das Papier in der Thätigkeit der ver¬ 
flossenen Psychiater eine gerade so grosse Rolle ge¬ 
spielt hat, wie heutzutage und dass die Vorgesetzten 
unserer Ururvorgänger das Leben ihrer Untergebenen 
gerade so durch Specialverfügungen zu würzen ver¬ 
standen, wie das heutzutage noch an vereinzelten 
Punkten des deutschen Reiches der Fall sein soll. 
Auch den alten Psychiatern wurde der Berufsbecher 
nicht ohne reichlichen Hefezusatz kredenzt. 

Für die weiter zurückliegende Vorzeit wird die 
historische Ausbeute immer recht gering bleiben. 
Die Aerzte und Beamten der verflossenen Jahrhun¬ 
derte, die dazu berufen hätten sein können, in den 
Akten jener Zeit die nöthigen Mittheilungen nieder¬ 
zulegen, brachten den Geisteskrankheiten und ihren 
unglücklichen Trägem nur ein sehr gemässigtes Inter¬ 
esse entgegen, ganz abgesehen davon, dass meist mit 
den Kranken überhaupt nichts geschah, w f as den 
Akten hätte einverleibt werden können, und die spär¬ 
lichen Mittheilungen sind dazu derart in allen mög¬ 
lichen Akten so geheimnissvoll versteckt, dass wir für 
die Zeit vor 1700 meist sehr bald die Waffen strecken 
müssen. 

So war auch für mich bei meinen Bemühungen, 
über die Geschichte der Irrenpflege im 
Hannöverschen*) etwas Näheres zu erfahren, 
trotz ausgiebigster archivalischer Studien der Gewinn 
für die Zeit vor dem Jahre 1700 recht gering. Ich 

*) Zur Geschichte der Psychiatrie in Hanno¬ 
ver. 1903 bei Carl Marhold in Halle a. S. 

Original fram 

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50 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 5 . 


beschränke mich hier auf eine ganz kurze Skizzirung ken. Erst die Eröffnung des Zucht- und Tollhauses 
des Gewonnenen. zu Celle brachte die Fürsorge für die Kranken 

Auch in Hannover, wie im gesammten deutschen einen grossen Schritt weiter (1731). Es war lange 
Reiche, spielen die Geisteskranken zuerst in den Zeit in Deutschland in seiner Art vorbildlich, ver- 
Hexen Verfolgungen eine grössere historische mochte doch das ansehnliche Gebäude in seiner 
Rolle. Meist tritt der Zusammenhang zwischen jener Blüthezeit ausser 210 Züchtlingen 188 Wahnsinnige 
unheilvollen Bewegung und den etwaigen krankhaften aufzunehmen. Der düstere Name lässt kaum ver- 
Aeusserungen ihrer Opfer nicht klar hervor, in ein- muthen, dass die Principien, nach denen die Ge- 
zelnen Fällen aber ist das unglückliche Schicksal, das müthskranken hier behandelt wurden, viel milder 
so manche Hysterische und Melancholische in den waren und ein viel tiefergehendes Verständniss für 
Flexenverfolgungen auf Grund ihrer Geisteskrankheit das Wesen der Geisteskranken verriethen, als es sonst 
zu erdulden hatten, ausser allem Zweifel, obgleich gemeiniglich in jener Zeit der Fall war; immer wieder 
nach dem Buchstaben des Gesetzes und den theo- wird betont, dass man es mit Kranken zu thun 
retischcn Anschauungen gerade die psychische Krank- habe, bei denen die Strenge nicht am Platze sei. 
heit sie der Tortur und dem Flammentode hätte Das spricht sich vor allem in der sehr interessanten 
entziehen müssen. Auch dass manche Hcxenver- Zuchthausordnung aus, welche in der ausfiihr- 
folger psychisch nicht ganz intact gewesen sind, wird liebsten Weise alles regelte, was für der Kranken 
durch einzelne Beispiele wahrscheinlich gemacht. Wohl und Wehe in Frage kam. Die körperliche 
Andererseits ist für den Kampf gegen diese abeigläu- Züchtigung war auf das strengste untersagt, ausdrück- 
bischen Anschauungen und die Geltendmachung des lieh wird hervorgehoben, dass nur eine individuali- 
Standpunktes, dass gerade die Geisteskranken diese^-^iTJH^rjii^hanillung von Erfolg begleitet sein könne; 
grausigen Schicksale entrissen werden musstg^EpP^KUmmlM m Vamten waren mit speciellen minutiös 
Hannover manches geschehen. ausgearbeitetjfr'lnstructionen versehen, besonders das 

Auch die Geisslc r b ewegung, irt] aie J»AYuLÜrjl§i3nal, Ion dem ja der Kranke am meisten 
ebenso zweifellos viele psychisch kranke und pjjrcho- abhängig war^^npfing ganz genaue Verhaltungsmaass¬ 
pathologische Elemente verstrickt wurden, hat initü^nX 1 iae> wurden die Kranken je nach ihrer 

növerschen Gebiete ihr Unwesen getrieben. ^^*i!gfcnan auf verschiedene Stationen vertheilt, es gab 

Was im Uebrigen die wirkliche Irrenfürsorge an- sogar mehrere Stuben für Honoratioren, für die 
betrifft, so ist fast immer nur von der Behandlung körperlich Kranken war ein Lazareth eingerichtet, 
einzelner Fälle die Rede, soweit man überhaupt Vor ihrer Entlassung wurden die Kranken in ein 
von einer Behandlung sprechen darf. Meist steckte allmählich freier werdendes Regime überführt. Man 
man die Kranken in die gewöhnlichen Gefängnisse ging in der Individualisirung sogar soweit, dass für 
oder in hölzerne Behältnisse, die allbekannten „Doren- die Speise der Juden besonderes Kochgeräth vorge- 
kisten“. Oder man brachte sie bei Verwandten sehen war. Die Darreichung von Alkohol an die 
unter, wo sie von Schützen bewacht oder wieder in Kranken war ausdrücklich verpönt. Um bessere Heil¬ 
em besonderes zu diesem Zwecke hergerichtetes Be- erfolge zu erzielen, bestand die nachahmungswerthe 
hältniss eingesperrt wurden. Im Gegensätze zu der Sitte, dass dem Arzte für jeden geheilten Kranken 
strengen Behandlung, deren die gewöhnlichen Geistes- ein Gratiale gereicht wurde u. s. w. 
kranken sich zu erfreuen hatten, steht die übertrieben 1764 wurde auch das Aufnahmeverfahren 

milde Methode, die man bei Herzog Wilhelm dem in feste Formen gekleidet, vor allem wurde die Er- 
Jüngeren anwandte (*J* 1592), der jahrelang geistes- hebung einer genauen Anamnese verlangt, sogar für 
krank war und bei dem man sich dauernd darüber die so werthvollen Aufnahmefragebogen, die in un- 
im Unklaren befand, wie man eigentlich gegen ihn seren Tagen die Freude aller Betheiligten sind, gab 
Vorgehen sollte. es in jener Zeit ein Analogon. Die Art des Trans- 

Später erst begann man, den Kranken in den portes in die Anstalt wurde geregelt, und über die 
Zuchthäusern eine Stätte anzuweisen, ohne sich Entlassungen, mit denen man verhältnissmässig liberal 
zunächst mit den Einrichtungen diesem Zwecke an- umging, bestimmte Grundsätze aufgestellt. Auch 
zupassen, ohne die Heilung ins Auge zu fassen, oft über die pekuniären Verhältnisse wurden, wie es 
noch nur auf die Züchtigung der Kranken bedacht, sich geziemt, in frühester Zeit das Nothwendige in 
Die forensischen Erwägungen, die häufig hier herein- ausführlichster Weise angeordnet. Dass schon da¬ 
spielten, verrathen meist auch keine besondere Rück- mals die Aerzte mit ihrer Besoldung unzufrieden 
sichtnahme auf die psychische Inferiorität der Kran- waren und Schritte zur Verbesserung ihrer Lage 


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ESYCH 1 ATR 1 SCH-N EU ROLOGISCHE WOCHENSCH RI ET. 


1904.] 


thaten, muss uns in gewisser Beziehung einigermaassen 
trösten. 

Neben Celle hatten auch zunächst die anderen 
Zuchthäuser die — von den Zuchthausvorstehern 
gar nicht sehr gern gesehene — Aufgabe, für die 
Unterbringung der Geisteskranken zu sorgen. Wie 
man sich in diesen Asylen, die gar nicht für diese 
Bestimmung eingerichtet waren, mit dieser Aufgabe 
schlecht und recht abfand, das liest sich mit recht 
gemischten Gefühlen. Sogar die Kinder der Unglück¬ 
lichen wurden gelegentlich dort untergebracht. Die 
frequentirtesten Anstalten dieser Art waren die Zucht¬ 
häuser zu Osnabrück und Peine. Wie primitiv 
die Einrichtungen in diesen Nothherbergen auch 
waren, die Aufnahme war immer sehr begehrt. Trotz 
aller Schwierigkeiten, die man bei der Bitte um Auf¬ 
nahme machte, rissen sich die Exspectanten darum, 
und die Ueberfüllung der Anstalten und die Schwierig¬ 
keiten, die die ungestümen Kranken der Verwaltung 
verursachten, bildeten das gern angeschlagene Thema 
der Klagegesänge, die in jenen Akten von sämmt- 
lichen Betheiligten angestimmt werden. 

Für Irrenanstalten, die ganz auf die An¬ 
lehnung an das Zuchthaus verzichteten, war damals 
noch nicht die Zeit gekommen. Nur in Lüneburg 
blühte in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts 
die Irrenanstalt Breite wiese, in der die Kranken 
sich ohne Zwang einer auffällig freien Behandlung 
erfreuten und sich sogar ausserhalb des Hauses be¬ 
wegen durften. Auch in H i 1 d e s h e i m befand sich 
in der allgemeinen Armen- und Arbeitsanstalt eine 
kleine Irrenanstalt, in der die Kranken systematisch 
zur Arbeit angehalten wurden. 

An Anläufen zur Gründung einer Irrenanstalt 
fehlte es auch in dieser Zeit nicht. Schon Friedrich 
der Grosse plante für Ostfriesland eine Irrenan¬ 
stalt. Die Verhandlungen, die von da ab (1765) bis 
1821 dauerten, illustrieren in herbster Weise die 
Schwierigkeiten, die allen derartigen psychiatrischen 
Reformplänen entgegengebracht wurden. Da9 Unter¬ 
nehmen verlief vollständig im Sande, Ostfriesland 
harrt noch jetzt seiner Irrenanstalt. 

Auch in Osnabrück schwang man sich 1795 
zu dem Plane auf, eine eigene Irrenanstalt zu bauen, 
man war sogar bis zu grossen Bauplänen gediehen, 
in denen sich Einfachheit mit einem recht kurzsich¬ 
tigen Blicke für das Wohl der Kranken verband. 
3200 Reichsthaler sollte das ganze Unternehmen 
kosten. Aber auch das war noch zu viel. Die An¬ 
stalt wurde nicht gebaut. 

Bei der Ueberfüllung der Zuchthäuser mussten 
ständig Gefängnisse, Armen-, Kranken- und Waisen- 

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51 


häuser den Geisteskranken als Unterkunft dienen. 
Waren schon in den Zuchthäusern die Verhältnisse 
recht unzulänglich, so ging es hier noch viel kümmer¬ 
licher zu, man lebte fast nur von Improvisationen. 
Bemerkenswerth ist es, dass, als 1770/71 in Celle 
die Kriebelkrankheit wüthete, die nervösen und 
psychischen Symptome im Vordergründe des Krank¬ 
heitsbildes standen, und dass für die Opfer des Ergo- 
tismus ein besonderes Krankenhaus gebaut werden 
musste. 

Auch in den Klöstern hatten sich die betrieb¬ 
samen Mönche und Nonnen im Nebenamte als Kon¬ 
kurrenten der Irrenärzte aufgethan. 

Das Gros der Kranken verblieb in der Frei¬ 
heit. Ueber ihr Ergehen ist verhältnissmässig viel 
in den Akten zu finden, da die Noth der Kranken 
und ihrer Angehörigen sich in Bitten um Unterstütz¬ 
ung Luft machte und so aktenkundig wurde. Die 
Einrichtung besonderer, den alten Dorenkisten ent¬ 
sprechender Kammern blieb bis in das neunzehnte 
Jahrhundert bestehen. Ueber die Grundsätze, die 
bei der pekuniären Unterstützung Geisteskranker in 
Frage kommen sollten, hat sich 1771 der berühmte 
Möser eingehend ausgesprochen, auch das schwierige 
Kapitel der Gemein gef ährlichkeit erfuhr in einem Er¬ 
lasse der Osnabrücker Regierung von 1784 eine gründ¬ 
liche Beleuchtung. Die Verwandten drückten sich 
nicht zu selten um die Sorge für ihre Geisteskranken, 
häufig mussten diese dann bei Fremden untergebracht 
werden — eine Famillenpflege allerdürftigster Art 
ohne irrenärztliche Sanction. Es wird sogar berichtet, 
dass die Kranken an den Mindestfordernden ver¬ 
steigert wurden. Das Amt der Privatirrenwächter 
blühte damals weit mehr wie heutzutage, wenn es 
auch nicht besonders einträglich war; manchmal 
musste die ganze Gemeinde umschichtig die Bewach¬ 
ung übernehmen. Auch über die Thätigkeit der 
praktischen Aerzte kommt es in den Akten zu einer 
ausführlichen Beleuchtung. Die gutachtlichen Leist¬ 
ungen verschiedenster Art, die sich in den Akten 
wiederfinden, beleuchten den Stand der psychiatrischen 
Kenntnisse bei den praktischen Aerzten jener Zeit 
und auch darin, dass gelegentlich die Behörden ihre 
Liquidationen beanstandeten, haben sie nichts vor 
ihren Collegen unserer Zeit voraus. 

Wenig bekannt dürfte es sein, dass das jetzt und 
von sämmtlichen in Betracht kommenden Kreisen 
mit geringer Liebe gesehene Institut der Landarmen, 
wenn auch nicht dem Namen, so doch der Praxis 
nach bestand. Man schaffte sie über die Grenze, 
man führte lange juristische Controversen wegen der 
Verpflichtung, für sie zu sorgen und man war froh, 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHEN SCHRIFT. 


[Nr. 5. 


52 


wenn man sie trotz der Schwierigkeiten des Trans¬ 
portes den fernen Landen ihrer Geburt zuführen 
konnte. 

Während der Okkupationszeit machten die Fran¬ 
zosen sehr energische Versuche, die Irrenpflege auf 
ein etwas würdigeres Niveau zu heben. Ausführliche, 
sehr übersichtliche statistische Erhebungen, in denen 
sich die Anschauungen der Laien und Behörden 
jener Zeit über die psychischen Krankheiten in an¬ 
schaulichster Weise wiederspiegeln, sollten das grosse 
Werk vorbereiten, die Ausführung kam nicht über 
die ersten Schritte heraus, die Freiheitskriege ver¬ 
nichteten die Reformpläne. 

Aber schon nach kurzem wurde für Hannover 
eine neue Aera der Irrenfürsorge eingeleitet. 1827 
wurde unter Bergmann die Heil- und Pflegeanstalt 
zu Hildesheim im Michaeliskloster eröffnet, nach¬ 
dem man vorher Untersuchungen darüber angestellt 
hatte, ob nicht in Osnabrück die neue Anstalt das 
Licht der Welt erblicken sollte. In den interessanten 
Verhandlungen der Stände, die dem Baue voraus¬ 
gingen, erfuhren die Principien der Behandlung eine 
grundlegende Besprechung. Ohne Scheu vor den 
Kosten wurde das alte Kloster eingerichtet, die An¬ 
stalt unter ein rein ärztliches Regime gestellt und 
die Verwaltung und Behandlung nach den mildesten 
Grundsätzen der Therapie eingerichtet Da man 
damals eine Neuerung einführte, der das Volk noch 
mit ziemlich mangelndem Verständniss gegenüber¬ 
stand, suchte man durch sehr ausführliche Besprech¬ 
ungen , die in die gelesensten Blätter eingerückt 
wurden, diesem Fehler abzuhelfen. Die Einrichtung des 
Anstaltsbetriebes wies in allen Einzelheiten ungeheure 
Fortschritte gegen früher auf; was besonders hervor¬ 
zuheben ist, ist die grosszügige Durchführung der 
Arbeitstherapie, wurden doch schon im ersten 
Jahre nicht weniger wie 88 °/ 0 der Kranken beschäf¬ 
tigt und zwar in der vielseitigsten Weise. Schon im 
ersten Jahre des Bestehens zweifelte Bergmann, ob 
die Grösse der Anstalt allen Anforderungen genügen 
werde. Die weitere Entwickelung der Anstalt be¬ 
wies dann auch, dass die hannöversche Irrenpflege 
trotz der verschiedensten Vergrösserungen, als deren 
wichtigste die Eröffnung des Magdalenenklosters (1833 
— Pflegeanstalt) und des Sülteklosters (1849) zu 
nennen sind, nicht dem Schicksale entgangen ist, das 
die gesammte deutsche Psychiatrie (und die aus¬ 
ländische nicht weniger) stets betroffen hat. Trotz 
aller Energie, trotz allen Wohlwollens der Behörden, 
vermochten die Neubauten der Anstalten nie in ge¬ 
nügender Weise mit der rapide wachsenden Ver¬ 
mehrung der Geisteskranken oder, richtiger gesagt, 


der Steigerung des Zudranges nach den Anstalten, 
Schritt zu halten. Das blieb sich, wenn auch in ge¬ 
ringerem Maasse, auch gleich nach der Eröffnung 
der Schwesteranstalten der Hildesheimer Anstalt (G ö t- 
tingen eröffnet 1866, Osnabrück 1868, Lüneburg 
1902), auf deren interessante Bau- und Entwickel¬ 
ungsgeschichte einzugehen ich mir hier gänzlich ver¬ 
sagen muss, ebenso wie ich hier davon absehen muss, 
den Verdiensten der langjährigen Direktoren der An¬ 
stalten, Snell, Ludwig Meyer und Gustav Meyer 
und vieler anderer um die hannöversche Psychiatrie 
hochverdienter Männer, auch nur andeutungsweise 
gerecht zu werden. 

Ganz wurden die durch den starken Zufluss nach 
den Anstalten verursachten Schwierigkeiten auch nicht 
dadurch gehoben, dass man von den freiesten Be¬ 
handlungsmethoden im umfangreichsten Maasse Ge¬ 
brauch machte. Dass Hannover durch die Einführ¬ 
ung der kolonialen Verpflegung (Einum 1864) 
bahnbrechend und vorbildlich gewirkt hat, ist ja all¬ 
bekannt. Und ebensowenig bedürfen die Erfolge 
Seebohm’s (Königshof 1868) und Wahrendorff’s 
(Ilten 1869) nach dieser Richtung noch einer Her¬ 
vorhebung. Des letzteren Verdienste werden nur 
noch übertroffen durch das, w r as er durch die Ein¬ 
führung der Familienpflege (1880) geleistet hat, 
die er für Hannover und Deutschland in weite und 
praktische Bahnen lenkte. C r a m e r (Göttingen) 
machte dann (1901) die neue Verpflegungsmethode 
auch für die öffentlichen Anstalten nutzbar. 

Die Errichtung der Pflegeanstalt in Wunstorf 
(1896) trug, wenn auch in verhältnissmässig geringem 
Maasse, zur Entlastung der Hauptanstalten bei, in 
ungleich höherem Maasse wurde diese Aufgabe durch 
die Privatanstalten Ilten und Liebenburg (ge¬ 
gründet 1877 durch Fontheim) gelöst. Ganz un¬ 
bekannt dagegen sind die Verdienste der originellen 
Neusandhorster Anstalten.' Begründet wurden 
sie im Beginne des 19. Jahrhunderts von mehreren 
einfachen Landleuten, die frei von allen psychiatri¬ 
schen Kenntnissen waren. Sie huldigten ausgiebig 
dem Grundsätze, die Kranken auf dem Felde zu be¬ 
schäftigen, und erlangten allmählich eine grosse Rou¬ 
tine in der Behandlung auch schwierigerer Krankheits¬ 
formen, sodass ihnen zuletzt von den Provinzialan¬ 
stalten Kranke zur Pflege übergeben werden konnten. 
Das Regime der Behandlung stellt ein Mittelding 
zwischen kolonialer und familialer Verpflegung dar, 
in gewisser Beziehung können die kleinen Anstalten 
Anspruch darauf erheben, die koloniale Verpflegung 
in Deutschland — wenn auch in allerkleinstem Maasse 
— zum ersten Male durchgeführt zu haben. 


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Original fram 

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1904.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 


53 


Während die Fürsorge für die Epileptiker, 
die in Fällen schwerer psychischer Erkrankung in 
den Irrenanstalten untergebracht sind, sonst in Bethel- 
Bielefeld und Rotenburg zum grössten Theile 
unter geistlicher, zum genngeren unter ärztlicher 
Oberaufsicht stehen, noch nicht dem Ideale einer 
Behandlung entspricht, wie es vom ärztlichen Stand¬ 
punkte aus verlangt werden muss, hat Hannover 
in der Fürsorge für die Idioten schon früh die 
Führung in Deutschland übernommen. Die Idioten¬ 
anstalt in Langenhagen, die 1862, aus privater 
Mildthätigkeit hervorgegangen, eröffnet wurde, wuchs 
äusserlich und innerlich bald zu einem Vorbilde 
heran. Hier wurde zum ersten Male die ganze 
Leitung der Anstalt einem Arzte übertragen. Wel¬ 
cher Nutzen daraus für die Geistesschwachen resul- 
tirte, beweist die glänzende Entwickelung der Anstalt, 
die 1897 in den Besitz und die völlige Verwaltung 
der Provinz überging. 

Die vorläufige Fürsorge, die man den Kranken 
vor der Aufnahme in die Irrenanstalten in den 
Krankenhäusern in den meisten Städten und erst 
recht auf dem Lande angedeihen lässt, steckt noch 
jetzt in den Kinderschuhen, eine rühmliche Ausnahme 
macheu die Städte Hannover und Lüneburg, 
in denen schon früh die Einrichtungen der Kranken¬ 
häuser diesem Zwecke angepasst wurden. Die Frage 
der Unterbringung der geisteskranken Verbrecher 
hat auch in Hannover schon viel Staub aufgewirbelt, 
auf theoretischen Erwägungen ist man dem schwie¬ 
rigen Gegenstände von den verschiedensten Seiten 
nahe getreten, zu einer endgültigen Entscheidung ist 
man aber auch hier nicht gekommen und insbeson¬ 
dere ist man zur Einrichtung eines Irrenanstaltsadnexes 
an eine Strafanstalt, wie sie schon in mehreren an¬ 
deren Provinzen eingerichtet worden sind, bis jetzt 
noch nicht gelangt. Auch in die Behandlung 
der Zwangserziehungszöglinge sind psychiatrische Ge¬ 
sichtspunkte hier noch nicht hineingetragen worden. 

Dagegen hat man auf dem Gebiete der Prophy¬ 
laxe gegen die Psychosen um so energischere Schritte 
gethan. Schon im Beginne des 19. Jahrhunderts 
zeitigte in Hannover eine sehr energische und ziel¬ 
voll durchgeführte Mässigkeitsbewegung unter 
der Führung von Pastor Böttcher in Hannover und 
Kaplan Seling in Osnabrück erhebliche Erfolge im 
Kampfe gegen den Missbrauch geistiger Getränke. 


Nachdem dann in der Mitte des verflossenen Jahr¬ 
hunderts der Kampf jahrzehntelang geruht hatte, 
flammte er am Ende zu neuer Energie empor und 
führte schliesslich 1903 zur Errichtung einer Trinker¬ 
heilanstalt bei Kästorf, Stift Isenwald, die halb 
unter ärztlicher, halb unter pastoraler Leitung steht. 
Und im vergangenen Jahre brachte die Eröffnung 
des Nervensanatoriums Rasemühle, das vor allem 
der Initiative Cr am er’s-Göttingen zu danken ist, 
eine neue Angriffsfront. Hannover ist der erste 
Communalverband, der den Kampf gegen die Ner¬ 
venkrankheiten auch der unbemittelten Stände auf¬ 
nahm und damit indirekt auch gegen den Ausbruch 
der Geisteskrankheiten prophylaktisch vorging. 

Auf die Details der Irrenfürsorge, insbesondere 
die Aenderungen im Aufnahmeverfahren und die 
Lösung der Wärterfrage näher einzugehen, ist hier 
nicht der Ort, obgleich ja auch diese in der Behand¬ 
lung der Psychosen eine sehr wichtige Rolle spielen. 
Und ebensowenig ist es möglich, der Entwickelung 
der forensischen Psychiatrie, der Arbeiten auf stati¬ 
stischem Gebiete und vor allem der wissenschaftlichen 
Leistungen zu gedenken. Habe ich mich schon im 
Vorhergehenden darauf beschränken müssen, den 
Werdegang der Psychiatrie in Hannover in den aller¬ 
gröbsten Umrissen zu skizziren, so ist hier eine aus¬ 
zugsweise Schilderung ganz und gar nicht angängig. 
Wen die Einzelheiten interessiren — und dass sie 
es gerade sind, die den spröden Stoff psychiatrischer 
Historie geniessbar machen, um so mehr, da sie recht 
häufig von unfreiwilligem aber desto erquickenderem 
Humore durchweht sind, weiss Jedermann, der sich 
mit derartigen Studien beschäftigt —, den muss ich 
auf mein Buch verweisen. 

Gerade bei diesen Kleinigkeiten sieht man aber 
auch immer, wie häufig das Material versagt, wie 
leicht es ist, trotz allen guten Willens Irrthümern 
nicht zu entgehen. Man wird dann nicht erstaunt 
sein, wenn man sieht, dass sich schon für die letzten 
Jahrzehnte selbst bei wichtigen Ereignissen historische 
Irrthümer gebildet haben. 

Werden schon jetzt rechtzeitig auf dem Altäre 
der Geschichtsschreibung der Psychiatrie auch nur 
kleine Opfer gebracht, dann wird man in Zukunft 
diesem betrüblichen Schicksale nicht mehr verfallen 
können. 


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HARVARD UNiVERSITY 






54 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCH RIFT. 


[Nr. 5. 


Wichtige Entscheidungen auf dem Gebiete der gerichtlichen Psychiatrie, III, 

Aus der Literatur des Jahres 1903 lusammengestellt von Ernst Schnitze. 

(Fortsetzung.) 


S 383 No. 5- 

Wie es Rechtspflichten giebt, die der Verschwiegen¬ 
heitspflicht vorgehen, so sind auch höhere sittliche 
Pflichten anzuerkennen, hinter denen die Verpflichtung 
zur Verschwiegenheit zurücktreten muss. So kann 
es z. B. unter Umständen für den Arzt geboten er¬ 
scheinen, der Ehefrau von der geschlechtlichen Er¬ 
krankung des Mannes Kunde zu geben, um eine 
Ansteckung derselben nach Möglichkeit zu verhindern. 
Nicht aber steht ganz allgemein Ehegatten unter¬ 
einander das Recht zu, stets über ihre gegenseitigen 
geschlechtlichen Gesundheits- bezw. KrankheitsVer¬ 
hältnisse vollen Aufschluss zu erlangen, insbesondere 
nicht über in der Vergangenheit liegende zur Durch¬ 
führung einer Scheidungsklage. (R. G. VI, 19. I. 03.) 

D. R. pag. 315, Entsch. No. 1721. 

§ 383. No. 5. 

Anvertraut sind die Thatsachen, die der Beamte 
. . . wahrgenommen hat, auch dann, wenn sich der 
Betroffene die Wahrnehmungen Kraft gesetzlichen 
Zwanges gefallen lassen musste. (R. G. V. 7. II. 

1903-) 

D. R. pag. 364, Entsch. No. 2035. 

§ 383 C. P. O. 

verbunden mit Art. 90 des Preuss. Gesetzes über 
die freiwillige Gerichtsbarkeit und § 300 des Str. G. B. 

Unter „anvertrauten“ Thatsachen im Sinne des 
§ 383 sind nicht bloss solche Thatsachen zu ver¬ 
stehen, die dem Zeugen von den Betheiligten direct 
mitgetheilt sind; es genügt, dass der Zeuge in der 
seine Verpflichtung zur Verschwiegenheit bedingenden 
Eigenschaft (Amt, Stand, Gewerbe) und Thätigkeit 
davon Kenntniss erhalten hat. (Vergl. Entsch. des 
R. G. Bd. 53, S. 169.) (U. v. 9. V. 1903.) 

J. W. pag. 240. 

§ 402 ff. 

Bei der vom Gesetze dem Sachverständigen im 
CivilpTOcesse zugewiesenen Aufgabe — der eines 
Gehilfen des Richters — erscheint es an sich nicht 
unzulässig, dass der Sachverständige über den 
Gegenstand der Begutachtung, auch über hierfür in 
Betracht kommende thatsächliche Verhältnisse, sich 
durch Erkundigung bei dritten, bei den Parteien 
oder anderen mit den Verhältnissen vertrauten Per¬ 
sonen Aufklärung verschafft; in manchen Fällen wird 
das auch kaum zu umgehen sein. Soweit es sich 
bei der Begutachtung nur um die Feststellung eines 

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Erfahrungssatzes handelt, kommt es darauf, aus 
welchen Erkenntnissquellen der Sachverständige das 
Ergebniss gewonnen hat, überhaupt nicht oder doch 
nur für die thatsächliche Würdigung seines Gut¬ 
achtens an. Dieses Gutachten untersteht selbst¬ 
verständlich auch bezüglich der darin bezeichneten 
Unterlagen der richterlichen Nachprüfung. Gleiches 
gilt bezüglich der Subsumtion processgemäss fest¬ 
gestellter Thatsachen unter den Erfahmngssatz. Die 
informatorische Thätigkeit des Sachverständigen 
wodurch dieser sich die Grundlagen für die Be- 
urtheilung des anderweit festgestellten That- 
bestandes verschafft, bildet nicht einen Act der 
eigentlichen Beweisaufnahme und unterliegt nicht den 
processualen Beweisregeln, auch nicht dem Grund¬ 
sätze des beiderseitigen Gehörs oder der Verhandlungs¬ 
maxime. Und es ist insoweit auch nicht nothwendig, 
dass die Erkenntnissquellen des Sachverständigen 
zum Gegenstand der Verhandlung gemacht, oder die 
Personen, bei denen er seine Erkundigungen ein¬ 
gezogen hat, jeweils als Zeugen vernommen werden. 
— Anders verhält es sich allerdings bezüglich der 
Feststellung von Thatsachen (Processthatsachen), auf 
welche der Sachverständige den von ihm zu Grunde 
gelegten Obersatz an wendet. Solche Thatsachen 
müssen, sofern sie des Beweises bedürfen, in der 
von der C. P. O. vorgeschriebenen Form bewiesen 
werden, zutreffenden Falles also durch gerichtliche 
Vernehmung der für die streitige Thatsache be¬ 
nannten Zeugen. — ... (Entscheid, des R. G. 
VI. C. S. 2. I. 1903.) 

J. W. pag. 66. 

§§ 402 ff., 355. 

Es bleibt einem Sachverständigen unbenommen, 
bei Prüfung der ihm vorgelegten Fragen auch ausser- 
gerichtliche und uneidliche Auskünfte von Dritten 
zu benutzen. In der Verwendung eines so be¬ 
gründeten Gutachtens liegt eine Rechtverletzung nur 
dann, wenn die zu Grunde gelegten thatsächlichen An¬ 
gaben von einer Partei als unrichtig bekämpft 
worden sind und der Richter diese Einwendungen 
nicht beachtet hat. (R. G. V., 30. April 1903.) 

D. R. pag. 294, Entsch. No. 1586. 

§§ 404- 9 1 - 

Die Auslage an einen von der Partei selbst mit 
gutachtlichen Feststellungen im Laufe des Rechtsstreits 
betrauten Sachverständigen gilt nicht als nothwendig 

Original ffom 

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IQ 04 .J PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 55 

und ist deshalb nicht erstattbar. Die Partei hat verständigen stützt, waren danach zur Zeit der 

lediglich die zu begutachtenden Punkte und, falls Einigung über die Sachverständigen bereits vorhanden 
das Gericht sie dazu auffordert, geeignete Sach- und auch dem Kl. bereits bekannt; er kann sie 

verständige zu bezeichnen, sie kann nicht damit deshalb nicht benutzen, um nachträglich darauf ein 

rechnen, dass ohne Zustimmung des Gegners das Ablehnungsgesuch zu gründen. Wenn endlich die 

Gericht dem Vorschläge bei der Auswahl folgt. Beschwerde noch, als neuen Ablehnungsgrund, 

(O. L. G. Breslau II C. S. 25. V. 1903.) dem Gutachter den Mangel an der nöthigen Fach- 

D. R. pag. 342, Entsch. No. 1862. kcnntniss abspricht, so kann auch dieses ihr nicht 

g 404. zum Erfolge verhelfen. Mangel an der ge- 

. . Diejenigen Verhältnisse in der Person und dem hörigen Sachverständigcnqualifikation ist kein Ab- 

Geschäftsbetriebe des Sachverständigen K, worauf lehnungsgrund. (Beschluss der R. G. 26. IX. 1903.) 

der Kl. die Besorgniss der Befangenheit des Sach- J- ^ • P a g- 3^6. 

(Schluss folgt.) 


M 1 t t h e 1 

— Verein für Psychiatrie und Neurologie in 
Wien. Sitzung vom 12. Januar 1904. Dr. Po t z 1: 

Einiges zur Frage der P r i m o r d i a 1 d e 1 i r ien. 

Der Vortragende erörtert einen speei eilen Fall: 
Bei einem degcnerirlen Individuum (im Sinne Mag- 
nans) trat eine transitorische Psychose auf vom 
Charakter eines Traumzustandes, in der sich eine 
Grössenidee manifestirtc. Die Psvchose schloss mit 
völliger Amnesie ab. Nach zwei Monaten chronische 
progressive Wahnbildung, Beachtungs- und Verfolgungs¬ 
ideen, Hallucinationen, interkurrente ecstatisch-visio¬ 
näre Zustände, auch transitorische Dämmerzustände. 
Dieser Dauerzustand schloss mit einer cleliranten 
Phase ab. Die Sinnestäuschungen und das weitver¬ 
zweigte Wahnsvstem wurden korrigirt. Unkorrigirt 
blieb nur die Grössenidee. Die Anamnese ergiebt, 
dass diese Grössenidee bereits in ihrer gegenwärtigen 
Form zwei Jahre vor Ausbruch der manifesten Psy¬ 
chose entstanden war. Für Dementia praecox sprechende 
Symptome fehlen bei dem Pat. Der Vortragende 
begründet, warum er den Fall als originäre Paranoia 
auf der Basis einer primären Wahnidee aufi'asst. Er 
will auf derartige Fälle den Ausdruck ,.originäre 
Paranoia“ beschränkt wissen und suburdinirt solche 
Fälle als einheitliche Gruppe dem „Entartungsirre¬ 
sein“ im Sinne Magnans. Die primäre Wahnidee 
fasst Vortr. alsein „psychisches Stigma“ (Magnan) auf 
und gliedert sie der „Zwangsvorstellung** und der 
„überwerthigen Idee“ an. 

Dozent Dr. Julius Zappert : Uebe r A 11 f- 
treten von Fett s übst a 11 z e n i m f ö t alen u n d 
kindlichen Rückenmark. 

Z. studirte am embryonalen und kindlichen Rücken¬ 
mark, in welcher Reihenfolge, welcher Form sich 
Marchi-Reaction gebende Substanzen von frühesten 
fötalen Stadien angefangen, einstellen. Er fand, 
dass zuerst die sogenannten Gefässkörnchcn, dann die 
Fettkörnchenzellen, dann die Körnungen in der vor¬ 
deren und hinteren Wurzel und in der weissen Sub¬ 
stanz, endlich jene im Centralkanalepithel, in den 
motorischen Ganglienzellen auftreten. Die Körnungen 
in den vorderen und hinteren Wurzeln lassen in ein¬ 
zelnen Fällen pathologische Ursachen voraiissetzen, 

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1 u n g e n. 

die übrigen angeführten Fettsubstanzen lassen sich 
mit der blossen Annahme eines Entwicklungsvurganges 
erklären. 

— Verein bayrischer Psychiater. Einladung 
z 11 r Jahres v e rsamnilung in der Kreisirren- 
a n s t a 1 1 A n s b a c h a m P f 1 n g s t d i e n s t a g, d e n 
24. Mai 11 jng. 9 U h 1 Vo r m i 11 ags. Tag es- 

o r d 111111 g: 

1. Bericht der Vorstandschaft, Rechnungsablage, 
Vorstandswahl, Geschäftliches. 

2. Vorträge: a) Herr Dr. Alzheimer - München: 
Einiges über die anatomischen Grundlagen der Idiotie. 

b) Herr Director Dr. Dees-Gabersee: Ueber die Un¬ 
abkömmlichkeit des Pflegepersonals im Mobilmachungs- 
falle*, c) Herr Dr. Probst-München: Otto Weininger 
in psychiatrischer Beleuchtung, d) Herr Director Dr. 
Herfeldt - Ansbuch : Die Kreisfitenanstalt Ansbach. 

c) Herr Director Dr. Vocke-München: Zur gericht¬ 
lichen Entscheidung; über den Geisteszustand wider 
ihren Willen internierter Geisteskranker. f) Herr 
Dr. Sandner-Ansbach: Bemerkungen zu art. Soll Pol. 
Sir. Ges. Buches, g^ Herr Privatdozent Dr. Wcvgandt- 
Wurxburg: Alte Dementia praecox. h) Herr Privat- 
docent Dr. Weygandt-Würzburg: Secti« »nsatteste bei 
Selbstmördern. 

3. Besichtigung der Anstalt Ansbach. 

München-Ansbach, 14. April 1004. 

Dr. Voekc. Dr. Herfeldt. 

— Strafrechtliche Behandlung der geistig 
Minderwerthigen. In seinem für den bevorstehen¬ 
den Deutschen Juristentag ausgearbeiteten Referat 
über die Behandlung der geistig Minderwerthen stellt 
Professor Dr. Kahl folgende Forderungen auf: 

Der Zug der deutschen Strafrechtsentwicklung in 
Gesetzgebung und Wissenschaft sowie die Erfahrungs- 
thatsachen der gerichtlichen Psychiatrie erfordern, dass 
die Zustände der geistigen Minderwerthigkeit einer 
sonderreohtlichen Ordnung 

durch Prägung eines gesetzlichen Begriffs der sog. 

verminderten Zurechnungsfähigkeit, 
durch Anwendung eines besonderen Strafprinzips, 
durch Verbindung von Strafvollzug und Sicherungs- 
massregeln und 

Original fram 

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5^ 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 4. 


durch Abgrenzung der bei der strafenden und sichern¬ 
den Behandlung in Frage kommenden Zuständig¬ 
keitsverhältnisse 
unterstellt werden. 

Die strafrechtliche Behandlung der geistig Minder¬ 
wertigen einschliesslich der Sicherung ist grundsätzlich 
von den Voraussetzungen und dem Verfahren der 
Entmündigung getrennt zu halten. Dagegen ist zu 
fordern, dass spätestens in Verbindung mit einer 
Ordnung der verminderten Zurechnungsfähigkeit auch 
die Verwahrung der wegen Zurechnungsunfähigkeit Frei¬ 
gesprochenen gesetzlich geregelt werde. 

Der gesetzliche Begriff ist aus inneren Gründen 
und Rücksichten der Durchführbarkeit der Reform 
thunlichst einzuschränken. Unter Vermeidung des 
Ausdrucks „verminderte Zurechnungsfähigkeit“ in der 
Gesetzessprache wird sich empfehlen, jene nur und 
mindestens dann anzunehmen, „wenn der Thäter bei 
Begehung der strafbaren Handlung sich in einem 
andauernd (? Red.) krankhaften Zustande befunden hat, 
der das Verständniss für die Bestimmung des Straf¬ 
gesetzes oder die Widerstandskraft gegen strafbares 
Handeln verminderte.“ 

Der vermindert Zurechnungsfähige ist milder 
zu bestrafen. In Ansehung des Maasstabes der Strafe 
sind auch hier erwachsene und jugendliche Personen 
verschieden zu behandeln. Bei Erwachsenen wird 
unter grundsätzlichem Ausschluss der Todes- und 
lebenslänglichen Freiheitsstrafe die Strafe nach den 
zu verallgemeinernden Bestimmungen über Strafmilde¬ 
rung in minder schweren Fällen oder beim Vor¬ 
handensein mildernder Umstände zu bemessen sein. 
Bei Angeschuldigten zwischen 14 (12) und 18 Jahren 
mildert der Richter die Strafe nach freiem Ermessen. 
Er kann die Verbüssung der zuerkannten Freiheits¬ 
strafe in einer geeigneten Erziehungsanstalt nachlassen. 

Jeder wegen verminderter Zurechnungsfähigkeit 
zu milderer Freiheitsstrafe Verurtheilte ist einer sichern¬ 
den Nachbehandlung zu unterstellen. Für Strafvollzug 
und Sicherung im einzelnen wird von der Unter¬ 
scheidung zweier Typen der geistig Minderwerthen, 
nämlich 

1. der im gewöhnlichen Sinne Strafvollzugsfähigen 
und nicht voraussichtlich einer Verwahrung Bedürf¬ 
tigen und 

2 der im Rahmen des regelmässigen Strafvollzuges 
nicht Behandlungsfähigen und wegen Gemeingefähr¬ 
lichkeit oder zwecks methodischer Heilung der An¬ 
staltsverwahrung Benöthigten auszugehen sein. 

Die vermindert Zurechnungsfähigen der ersteren 
Art verbüssen ihre Strafe in den bestehenden Straf¬ 
anstalten. Sie sind nach ihrer Entlassung ausnahmslos 
in zeitlich begrenzte Beaufsichtigung durch verbesserte 
Polizeiaufsicht, Unterbringung in einer Familie oder 
Bestellung eines besonderen Pflegers zu nehmen. 

Nur für vermindert Zurechnungsfähige der zweiten 
Art sind besondere, und zwar centrale, dem Straf¬ 
vollzug und der Verwahrung dienende Sicherungsan¬ 
stalten zu errichten. Die Verwahrung dauert mit 


den durch den Zweck gegebenen Abweichungen von 
der Strafvollzugsweise und nach Bewährung in den 
innerhalb der Anstalt zu bildenden Freiheitsklassen 
bis zur Entlassungsfähigkeit. Die Entlassung ist eine 
bedingte und daher während eines gesetzlich begrenz¬ 
ten Zeitraums widerruflich. Vor der Entlassung ist 
in jedem Falle durch Vermittlung der Anstalt ein 
neues Arbeitsverhältniss oder sonstige Unterkunft zu 
sichern. 

Alle Entscheidungen über Verweisung zum regel¬ 
mässigen Strafvollzug oder in eine Sicherungsanstalt 
stehen nach Vernehmung ärztlicher Sachverständiger 
dem Richter der Strafthat zu. Die den Strafvollzug 
und die Verwahrung innerhalb einer Sicherungsanstalt 
betreffenden Beschlüsse stehen, vorbehaltlich aller Be¬ 
fugnisse der Strafaufsichtsbehörden, der Anstaltsleitung 
zu. An ihr sind in einer dem Bedürfniss voll ge¬ 
nügenden Weise die staatlich berufenen Anstaltsärzte 
zu betheiligen. 

Zur Verkörperung des Interesses und der Ver¬ 
antwortlichkeit der Gesellschaft an der Sicherungs¬ 
behandlung der geistig minderw'erthen Verbrecher em¬ 
pfiehlt sich die Einsetzung gemischter Behörden, die 
aus den Organen der Anstaltsleitung und etwa fünf 
für diesen Dienst besonders qualifizirten Ehrenbe¬ 
amten zu bilden sind Die letzteren würden bei 
regelmässiger Verbindung mit dem Anstaltsleben in 
allen die persönlichen Verhältnisse, die individuelle 
Fürsorge und das künftige Schicksal der Verwahrten 
insonderheit betreffenden Fragen von der Anstalts¬ 
leitung zu gemeinschaftlichen Beratungen und Be¬ 
schlussfassungen zuzuziehen sein. Diesen Behörden 
sind auch die Entscheidungen über Entlassung und 
Widerruf zu übertragen. 

— Ein verbrecherischer Geisteskranker überfiel 
ohne Veranlassung den Direktor der Inenanstalt 
Stephansfeld, San.-Rath Dr. Vorster, und verletzte 
ihn durch einen Stich in den Unterleib lebensgefährlich. 


Berichtigung. 

Waldbröl, den 19. 4. 04. 

In der Nr. 3 der Psychiatrisch-Neurologischen 
Wochenschrift steht unter den Personalnachrichten 
eine Notiz, nach der es scheinen könnte, als ob die 
hiesige Privatirrenpflegeanstalt Eigenthum des ev. 
Diakonievereins wäre. Die Anstalt ist Eigenthum 
einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung; die 
Krankenpflege auf der Frauenabtheilung, sowie die 
Leitung der Küche und Wäscherei wird von Schwestern 
und Pflegerinnen des evangelischen Diakonievereins 
besorgt. Die ärztliche und wirtschaftliche Oberleitung 
der ganzen Anstalt ist dem dirigirenden Arzt über¬ 
tragen. 

Ich bitte ganz ergebenst, den Sachverhalt ent¬ 
sprechend richtigstellen zu wollen. 

Mit vorzüglicher Hochachtung im Aufträge des 
Vorstandes: 

San.-Rath Dr. Venn. 


Für den redactionellen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. BrosU-r , Lublinitz (Schlesien). 

Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Hevnemann’sche Buchdruckerei (Gebr. Wolflf) in Halle a. S 


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Original frnm 

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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift. 

Redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Lublinrtz (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834. 

Nr. 6. _ 7- Mai. __ 1904. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten. 


Aus der Rhein. Prov.-Heil- und Pflegeanstalt Grafenberg. Director: Sanitätsrath Dr. J. Peretti. 

Ueber Veronal. 

Von Dr. Herrn, van Husen , Volontärarzt. 


J^as von Fischer und v. Mering empfohlene, 
„Veronal“ genannte Schlafmittel ist nunmehr 
schon seit stark einem Jahre in vielen Krankenan¬ 
stalten auf seine Brauchbarkeit hin erprobt worden. 
Alle bisherigen Veröffentlichungen äussem sich lobend 
über das neue Mittel und sehen in ihm eine werth¬ 
volle Bereicherung unseres Arzneischatzes. Lilienfeld 
begrüsst das Veronal sogar als ein „fast unfehlbares 
Hypnotikum, dem keines unserer bisherigen Schlaf¬ 
mittel an Sicherheit und Intensität der Wirkung 
gleichkommt“; insbesondere weist er darauf hin, dass 
keine Gewöhnung an das Mittel, resp. keine Ab¬ 
schwächung seiner Wirkung eintrete. 

Die meisten andren Beobachter äussem sich 
nicht so enthusiastisch, wenn sie. auch durchweg 
mit der Wirkung zufrieden sind. So berichten 
fast alle von Fällen, in denen das Veronal 
versagte. Ebenso wird von verschiedenen Seiten, 
bes. Jolly, Oppenheim, Luther, Thomsen 
u. a. hervorgehoben, dass bei manchen Kranken 
eine entschiedene Gewöhnung an das Mittel eintrete. 
Auch wird von manchen Beobachtern über un¬ 
angenehme Nebenwirkungen berichtet; so sahen Jolly, 
Würth, Fischer, Berent, dass in einigen Fällen 
der Gang schwankend und das Sensorium leicht be¬ 
nommen erschien; ferner beobachteten Würth und 
Lilienfeld das Auftreten eines Hautausschlages. In 
vereinzelten Fällen ist auch Uebelkeit und Erbrechen 
nach Gebrauch des Veronals bemerkt worden. Mendel 
und Krön sahen unangenehme, aber nicht weiter 
bedenkliche Nebenwirkungen in etwa io°/ 0 der ver¬ 
abreichten Gaben, und zwar bereits nach 0,5, weit 
häufiger aber bei Dosen über 1,0 g auftreten. 

Während Berent „stärkere“ schädliche Neben- 

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Wirkungen selbst auf 3,5 als Einzel- und auf 8,oalsTages- 
dosis nicht beobachtet haben will, erlebte Ger har tz 
eine recht ernste Intoxikation in einem Falle, in dem 
an 2 aufeinander folgenden Abenden je i,o und, 
entgegen der ärztlichen Anordnung, am Morgen des 
dritten Tages 3,0 auf einmal genommen wurden. 
Gerhartz glaubt, dass ohne das in dem betr. Falle 
spontan auftretende Erbrechen und therapeutisches 
Eingreifen (Injection von Kampher und Aether) der 
Tod der Patientin durch Herzlähmung eingetreten 
sein würde. Einen weiteren Fall von Veronalver- 
giftung sah Clarke: Bei einem Kranken, der binnen 
wenigen Tagen 7,5 Veronal einnahm, kam es zu 
Vergiftungserscheinungen: abwechselnd Koma und 
Delirium, Exanthem, Fieber, Muskelschmerzen und 
Drüsenschwellung. Matthey sah nach einer Tages¬ 
dosis von 4,0 g eine Pulsverlangsamung auf 42, die 
sich nach Herabsetzung der Dosis aber wieder ausglich. 

Ueber einen Fall gewohnheitsmässigen Missbrauchs 
des Veronals berichtet Laudenheimer. Ein 
durch chronischen Morphinismus degenerirtes Indivi¬ 
duum nahm täglich stark 4,0 g in 2—3 Portionen 
zu sich, um sich in einen dem Alkoholrausch ähn¬ 
lichen Zustand zu versetzen. Der betreffende Kranke 
schilderte seine Stimmung als eine gleichgültig heitere 
und behagliche; die Phantasie war wenig angeregt, 
die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit niemals 
gesteigert, vielmehr fiel ihm Denken und besonders 
Schreiben schwerer. Beim Gehen taumelte er wie 
ein Betrunkener und fiel öfter hin, die Hände zitter¬ 
ten stark und die Sprache war zuweilen lallend. 

In der hiesigen Anstalt wurden 600 g Veronal 
an 69 Kranke, 36 Männer und 33 Frauen, verab¬ 
reicht, und zwar in Einzeldosen von 0,5 bis 2,0, 

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58 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 5. 


meist 1,0, in manchen Fällen auch 1,5, nur selten 
2,0. In den meisten Fällen wurde das Mittel, das 
stets rein in Pulverform unter Nachtrinkenlassen von 
etwas Wasser gegeben wurde, blos Abends, nur in 
einigen Fällen 2 oder 3 mal täglich verabreicht 
Kranke, welche nicht das Einnehmen von Medica- 
menten überhaupt verweigerten, nahmen auch das 
Veronal anstandslos, ohne dass Klagen über 
üblen Geschmack laut geworden wären. Verfasser 
selbst findet das Veronal ziemlich indifferent, höch¬ 
stens etwas bitter nachschmeckend. 

Bei 18 paralytischen Patienten (12 Männer, 6 
Frauen), die Veronal erhielten, handelte es sich durch¬ 
weg um recht unruhige und erregte Kranke, die durch 
Umherlaufen, lautes Schimpfen und Reden, besonders 
auch Nachts, viel Lärm verursachten. In der Mehr¬ 
zahl dieser Fälle mussten gleich höhere Dosen, 1,0 
oder 1,5 Veronal, verabreicht werden, wenn eine 
nennenswerthe Wirkung erzielt werden sollte; nur in 
4 Fällen (3 Männer, 1 Frau) konnten die betreffen¬ 
den Kranken mit 0,5 oder 0,75 Veronal zur Ruhe ge¬ 
bracht werden. Auch öfter tagsüber wiederholte 
kleine Dosen (0,5X2 °der 3 ) war ^n lange nicht so 
wirksam wie eine grössere einmalige abendliche Dosis. 
Bei letzterer Art der Verabreichung war die Wirkung 
des Veronals im Ganzen recht befriedigend, indem 
die sonst unruhigen Kranken sich ruhig verhielten 
und schliefen bis zum andren Morgen. Die Zeit 
bis zum Eintritt der Wirkung war verschieden, durch¬ 
weg 1 / a —2 Stunden, vereinzelt 4—5 Stunden. „Un¬ 
fehlbar wirkend“ erwies sich das Veronal ebenso¬ 
wenig wie irgend ein andres der bisher bekannten 
Schlafmittel. Selbst in den Fällen, in denen es meist 
ganz gut wirkte, versagte es gelegentlich. In Fällen 
sehr hochgradiger Unruhe, sowohl bei Männern wie 
bei Frauen, war die Dauer der Veronal Wirkung auf 
3—5 Stunden beschränkt. Vollständiges Versagen 
des Veronals war nur bei einem paralytischen Mann 
zu constatiren, der trotz 1,5 Veronal die ganze Nacht 
schlaflos und unruhig war. Auf 1,5 Chloral war der¬ 
selbe Kranke ruhig. In einigen Fällen war eine ent¬ 
schieden kumulirende Wirkung zu beobachten, indem 
die betreffenden Kranken (Männer und Frauen) 
erst in der zweiten oder dritten Nacht auf das 
Veronal reagirten und ebenso nach dem Aussetzen 
des Mittels noch eine oder mehrere Nächte sich 
ruhig verhielten. In drei Fällen (2 Männer und 1 
Frau), in welchen es sich freilich um schon ziemlich 
schwächliche Kranke handelte, fiel nach der dritten 
resp. vierten Dosis von 1,5 Veronal, Abends gegeben, 
die Schläfrigkeit der sonst sehr mobilen Kranken auch 
tagsüber auf; ferner war der Gang im Gegensatz zu 


sonst ganz taumelnd. Dieselben Erscheinungen zeigten 
sich bei einem Kranken, der stark 6 Wochen hin¬ 
durch 0,5 Veronal allabendlich erhalten hatte. Bei den 
übrigen paralytischen Kranken wurden derartige 
Nebenwirkungen nicht beobachtet, selbst nicht bei 
einer Kranken, die ganze 2 Monate hindurch all¬ 
abendlich 1,0 Veronal erhielt. 

Ferner wurde das Veronal in 5 Fällen von 
seniler Demenz (2 Männer, 3 Frauen) verabreicht, 
und zwar waren dies sämmtlich Kranke, die durch 
nächtliches Umherlaufen und Schreien für ihre Um¬ 
gebung sehr lästig waren, und bei denen Paraldehyd 
4,0 oder 5,0 oder Trional 1,0, das sie zuerst mit 
gutem Erfolg genommen hatten, zu versagen anfing. 
Bei diesen Kranken versagte 0,5 Veronal vollständig; 
erst auf Dosen von 1,0 g trat, in der Regel nach 
1 / 2 —2 Stunden, ein durchschnittlich 5—6 ständiger, 
d. h. bis etwa 3 oder 4 Uhr Morgens dauernder 
Schlaf ein. In einem Falle trat die Wirkung erst 
am andren Morgen ein: nachdem die betr. Kranke 
die Nacht über noch recht unruhig gewesen war, 
schlief sie gegen Morgen ein und verschlief noch 
den grössten Theil des folgenden Tages. In einem 
andren Falle versagten 1,0 und selbst 2,0 Veronal an 
einzelnen Abenden vollständig, indem die betr. Kranke 
trotz dieser hohen Dosen viel lärmte und andre 
Patienten schlug, obwohl sie in Folge der Veronal- 
wirkung so unsicher auf den Beinen war, dass sie 
bloss durch Umherkriechen sich fortbewegen konnte. 
Ein ähnliches Verhalten zeigte ein männlicher Kranker, 
der auf 1,0 Veronal 5—6 Stunden schlief, den Rest der 
Nacht unruhig war, trotzdem aber schon nach der 
zweiten Dosis so wackelig auf den Beinen war, dass 
er verschiedene Male hinfiel; zugleich überschlug Pat 
gegen seine sonstige Gewohnheit einzelne Mahlzeiten. 

Von 15 Fällen mit manischer Erregung (7 Männer, 
8 Frauen) reagirten 6 Fälle (je 3 Männer u. Frauen), in 
denen es sich freilich blos um wenig erregte, hypoma¬ 
nische Kranke handelte, schon auf 0,5 Veronal ganz 
zufriedenstellend. In den übrigen Fällen mussten 1,0 
oder 1,5 Veronal verabreicht werden. In der Regel, nicht 
immer, waren die betr. Kranken nach diesen Dosen 
ruhig und schliefen, meist bis zum Morgen, zuweilen 
auch bloss 5 — 6 Stunden lang. Die Wirkung stellte 
sich meistens nach 1 / i — 1 Stunde, in einem Falle, 
bei einer Frau, freilich erst nach 6 Stunden ein. In 
3 Fällen zeigte sich wieder deutlich kumulirende 
Wirkung: 2 Kranke, die Abends 1,5 Veronal erhiel¬ 
ten, verhielten sich erst von der vierten Nacht ab 
ruhig; die dritte Kranke, die 1,0 Veronal Abends 
erhielt, schlief in den beiden ersten Nächten bloss 
5 Stunden lang, in der dritten Nacht bis an den 


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Original fram 

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1904.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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Morgen, von der vierten Nacht ab war sie ganz 
ruhig. Bei derselben Kranken trat nach etwa drei¬ 
wöchigem Gebrauch ein allmähliches Versagen der 
Wirkung zu Tage. 

Ganz günstig waren die Erfolge des Veronals bei 
der Schlaflosigkeit von vier melancholischen Kranken 
(1 Mann, 3 Frauen). Zwei derselben schliefen auf 
0,5 Veronal nach ihrer Angabe besser wie sonst, auf 
0,75 Veronal schliefen sie gut Bei der einen stell¬ 
ten sich freilich schon nach der dritten Dosis Intoxi- 
cationserscheinungen ein, indem die betr. Kranke am 
Morgen einen taumelnden Gang zeigte und über 
Schwindel und Benommenheit klagte. Als die Dosis 
dann auf 0,5 herabgesetzt wurde, schwanden diese 
Nebenerscheinungen zunächst, kehrten aber nach 
sieben Tagen wieder. Bei den beiden andren Me¬ 
lancholischen, welche das Bild einer agitirten Melan¬ 
cholie boten, trat erst auf 1,0 Veronal hin Ruhe und 
Schlaf ein, in dem einen der beiden Fälle erst von 
der dritten Dosis ab. 

Unsere 12 Fälle von Dementia praecox (7 männ¬ 
liche, 5 weibliche), welche wegen ihrer Unruhe Vero¬ 
nal erhielten, und bei denen andre Hypnotica ent¬ 
weder ganz versagten oder nur auf 4 — 5 Stunden 
wirkten, reagirten, auch auf Veronal nur mit dürftigem 
Erfolge. In wenigstens 4 Fällen versagte 1,0 und 
1,5 Veronal vollständig; diese 4 Kranken schliefen 
trotz Veronal ebenso schlecht und waren gerade so 
unruhig, wie ohne Schlafmittel. Chloral 2,0 und 
Trional 1,0, zum Vergleiche gegeben, wirkten frei¬ 
lich nicht besser. Von den übrigen 8 Fällen schlie¬ 
fen auf 1,0 oder 1,5 Veronal 4 Kranke die ganze 
Nacht durch. Die andren 4 blos 4—5 Stunden. 

Zwei Alkoholhallucinanten, von denen namentlich 
der eine sich in ausserordentlich lebhafter ängstlicher 
Erregung befand, sowie eine ganz verwirrte, sehr ängst¬ 
liche, ebenfalls lebhaft hallucinirende Kranke teagirten 
auf eine Dosis von 1,5 resp. 1,0 Veronal blos mit drei- 
bis sechsstündigem Schlafe. 

Ganz befriedigend war die Wirkung des Veronals 
wieder bei einer in hysterischem Dämmerzustand 
befindlichen, sehr lebhaft hallucinirenden, ängstlichen 
Kranken, die Nachts durch lautes Schreien sehr störte. 
Auf 1,0, später auch auf 0,75 und 0,5 Veronal schlief 
Pat gut und ruhig. 

Ebenso war auch eine durch lautes Schimpfen 
sich sehr lästig bemerkbar machende Epileptica, die 
bisher bloss auf Chloralhydrat 2,0 sich beruhigte, auf 
1,0 Veronal, Abends gereicht, die Nacht über voll¬ 
kommen ruhig. Tagsüber schwätzte und schimpfte sie 
zunächst in ihrer gewohnten Weise weiter. Nach 
der fünften Dosis war sie auch tagsüber ruhig; zu- 

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gleich trat aber eine ziemlich starke Benommenheit 
und Unsicherheit beim Gehen zu Tage, sodass nach 
der sechsten Dosis das Mittel ausgesetzt winde. Ob¬ 
wohl Pat nun gar nichts erhielt, war sie noch 4 Tage 
und 4 Nächte hindurch ganz ruhig, dann fing sie 
wieder an unruhig zu werden, beruhigte sich aber 
sofort wieder auf erneute Darreichung von Veronal, 
das sich jetzt auch schon in Dosen von 0,75 und 
0,5 als ausreichend wirksam bewährte. 

Eine auffallend schnelle Abstumpfung der Wirk¬ 
ung zeigte sich bei zwei erregten Imbezillen. Bei 
beiden versagte 1,0 Veronal schon in der dritten 
Nacht. In dem einen Falle trat aber nach Er¬ 
höhung der Dosis auf 1,5 wieder Beruhigung ein, in 
dem andren nicht. 

Einfache Schlaflosigkeit war die Indication zur 
Verordnung von Veronal in 8 Fällen (je 4 Männer 
und Frauen). Hier bewährte es sich recht gut, und 
zwar genügte durchweg schon die Dosis von 0,5, um 
nach 20 Minuten bis 1 Stunde einen angenehmen, 
ruhigen Schlaf herbeizuführen. Eine höhere Gabe, 
0,7 5, war bloss in 2 Fällen (1 Mann und 1 Frau) 
nöthig. Bei einem an chronischer Schlaflosigkeit 
leidenden Neurastheniker, der lange Zeit 3,0—4,0 
Paraldehyd und andere Hypnotica erhalten hatte, 
glaubten wir wegen der Gewöhnung des Patienten an 
Schlafmittel, eine höhere Dosis Veronal geben zu 
müssen, weshalb Pat. zunächst 1,0 Veronal erhielt. 
Derselbe schlief darauf nicht nur die ganze Nacht, 
sondern war auch am andren Morgen noch so 
schläfrig, dass er gegen seine sonstige Gewohnheit 
noch einige Stunden zu Bett blieb. Es erfolgte nun¬ 
mehr eine Herabsetzung der Dosis auf 0,5 g, das 
sich dann auch in diesem Falle als vollkommen aus¬ 
reichend bewährte zur Erzielung eines guten Schlafes, 
ohne dass Pat. weiter über unangenehme Nebenwirk¬ 
ungen klagte. Auch seitens der übrigen männlichen 
Patienten wurden keine Klagen laut, wohl berichteten 
indess zwei der weiblichen Kranken, die ebenfalls 
nur 0,5 Veronal erhalten hatten, dass sie am andren 
Morgen sich schwindlig gefühlt hätten. 

Verfasser selbst nahm Veronal, weil er nicht ein¬ 
schlaf en konnte, an zwei nicht aufeinanderfolgenden 
Abenden, einmal 0,5 und einmal 1,0. In beiden 
Fällen trat nach 10— 15 Minuten eine immer stärker 
werdende Müdigkeit ein, die nach etwa einer halben 
Stunde in festen Schlaf überging. Letzterer dauerte 
nach 0,5 Veronal etwa 8, nach 1,0 Veronal etwa 
9 Stunden. Während Verfasser sich aber in dem 
ersten Falle frisch und wohl erhob, fiel ihm am 
Morgen nach dem Einnehmen der höheren Dosis 
das Aufstehen recht schwer; auch fühlte er sich den 

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6 o 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 6 . 


ganzen Vormittag über noch müde und etwas be¬ 
nommen. Sonstige unangenehme Erscheinungen be¬ 
merkte er an sich nicht. 

Fassen wir die Resultate unserer Versuche mit 
Veronal kurz zusammen, so ergiebt sich etwa Fol¬ 
gendes: Bei einfacher, unkomplizirter Schlaflosigkeit 
erwies sich Veronal als ein recht gutes Schlafmittel, 
das meist schon in der Dosis von 0,5 g nach 20 
Minuten bis 1 Stunde einen ruhigen, angenehmen 
Schlaf herbeiführte. Auch bei Erregungszuständen 
war Veronal recht brauchbar; bei leichterer Erregung 
genügte zuweilen auch schon die Dosis von 0,5 ; in 
der Regel waren indess Dosen von 1,0 und 1,5 er¬ 
forderlich. In den meisten, nicht in allen Fällen, 
führten dieselben nach l j % — 2 Stunden (selten erst 
nach 6—10 Stunden oder noch später) einen ruhigen 
Schlaf herbei, der sich meist auf 7 — 8, bisweilen 
freilich auch nur auf 3 —5 Stunden erstreckte. Ein 
immer und in allen Fällen wirkendes Beruhigungs¬ 
und Schlafmittel ist Veronal ebensowenig wie irgend 
eines der bisherigen Hypnotika. Besonders in man¬ 
chen Fällen von seniler Unruhe und von Dementia 
praecox versagte es. Die meiste Aehnlichkeit hat das 
Veronal mit dem Trional, das ihm auch an hypno¬ 
tischer Kraft so ziemlich gleichkommt. Nur in wenigen 
Fällen schien Veronal etwas besser wie Trional zu 
wirken. Ebenso wie bei Trional trat auch bei Vero¬ 
nal in vielen Fällen eine deutliche kumulirende Wirk¬ 
ung zu Tage, insofern einerseits die volle Wirkung 
vielfach erst bei der dritten oder vierten Dosis sich 
einstellte, und anderseits nach dem Aussetzen des 
Mittels noch häufig eine Nachwirkung auf die näch¬ 
sten Nächte statthatte. Bei längerer Verabreichung 
trat in der Regel ein allmähliches Versagen der 
Wirkung ein; dieselbe stellte sich aber wieder ein, 
wenn das Mittel eine Zeit lang ausgesetzt oder durch 
ein anderes Schlafmittel ersetzt wurde. Unangenehme 
Nebenwirkungen ernsterer Art wurden bei uns nicht 
beobachtet, wohl aber Schwindel, Benommenheit und 
Unsicherheit des Ganges, besonders nach Dosen von 
1,0 und 1,5, aber auch zuweilen schon nach Gaben 
von 0,5 g; namentlich bei schwächlichen und alten 
Leuten zeigten sich diese Nebenerscheinungen. Durch 
Aussetzen, bisweilen auch schon durch Herabsetzen 
der Dosis des Veronals Hessen sich dieselben stets 
schnell zum Verschwinden bringen. 

Im Ganzen wird man also wohl sagen können, 
dass das Veronal ein recht gutes und trotz der ge¬ 
legentlich auftretenden Nebenerscheinungen ein rela¬ 
tiv ungefährliches Schlafmittel ist, dass sowohl bei 
einfacher Schlaflosigkeit wie bei Erregungszuständen 
Geisteskranker entweder allein oder in Abwechslung 

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mit andern Hypnoticis zu empfehlen ist Eine Ein¬ 
führung des Veronals in weitere Kreise, besonders 
auch in Irrenanstalten, dürfte freilich vorläufig der 
sehr hohe Preis erschweren, zumal das viel billigere 
Trional resp. Methylsulfonal ihm ziemlich gleichwerthig 
ist. *) 


Litteratur über Veronal. 

J ) Aronheim: Veronal, ein neues Schlafmittel. Medicia. 
Woche. 1903 No. 31. 

*) Berent: Ueber Veronal. Therapeutische Monatshefte 
1903, Heft 6. 

®) Clarke: Fall von Veronal Vergiftung. Ref. Deutsche 
medicin. Wochenschr. 1904, No. 6. 

4 ) Fassbind: Ueber Veronal. Correspondenzbl. für 
Schweizer Aerzte 1903, XXXIII, Beil. 21. 

6 ) Fischer, E. u. Mering, I. v.: Ueber eine neue 
Classe von Schlafmitteln. Therapie der Gegenwart. 1903, 
Heft 3. 

6 ) Fischer, W.: Ueber die Wirkung des Veronals, Thera¬ 
peut. Monatshefte 1903, Heft 8. 

: ) Gerhartz: Ueber einen Fall von Veronalvergiftung 
Berl. klin. Wochenschr. 1903, No. 40. 

8 ) Jolly: Verhandlungen der Berl. raed. Gesellschaft. Berl. 
klin. Wochenschr. 1903, No. 21. 

9 ) Laudenheimer: Notiz über gewöhn heitsm&ssigcn 
Missbrauch des Veronals. Therapie der Gegenwart.. 1904 
Heft 1. 

,0 ) Lilienfeld, A.: Veronal, ein neues Schlafmittel. Berl. 
klin. Wochenschr. 1903, No. 21. 

n ) Lot sch, F.: Erfahrungen mit dem neuen Schlafmitte 
„Veronal“. Fortschritte der Medicin 1903, No. 19. 

l *) Luther: Veronal. Psychiatrisch-neurologische Wochen¬ 
schrift 1903, No. 28. 

1S ) M atthey, O. : Mittheilungen über Veronal. Neurolog 
Centralbl. 1903, No. 19. 

u ) Mendel, K., und Krön, J.: Ueber die Schlafwirkung, 
des Veronal. Deutsche med. Wochenschr. 1903, No. 34. 

1B ) Michel und Raimann: Ueber die 2 neuesten 
Schlafmittel. Heilkunde 1904, Januar. 

,e ) Montagnini: H Veronal nella ‘pratica psichiatrica 
Ref. Deutsche med. Wochenschr. 1904, No. 1. 

,7 ) Off er, Rob., Th.: Veronal, ein neues Schlafmittel. 
Centralbl. für die gesammte Therapie, 1903, Juli. 

,8 ) Oppenheim: Verhandlungen der Berl. med. Gesell¬ 
schaft. Berl. klin. Wochenschr. 1903, No. 21. 

10 ) Poly: Ueber die therapeutische Bedeutung des neuen 
Schlafmittels Veronal. Deutsche med. Wochenschr. 1903, No. 20. 

*°) Rasch kow, H.: Veronal, ein neues Schlafmittel. 
Wiener klin. Rundschau 1903, No. 11. 

**) Rosenfeld, M.: Therapeutische Erfahrungen mit 
Veronal, Therapie der Gegenwart 1903, Heft 4. 

i3 ) Schüle: Ueber das neue Schlafmittel Veronal. Thera¬ 
peut. Monatshefte 1903, Mai. 


*) Veronal: Taxpreis 40 Pf., Fabrikpreis 20 Pf. für 1 g. 
Methylsulfonal: Taxpreis 15 Pf., Fabrikpreis 6 Pf.» als sogen. 
,,Trionalersatz“ sogar bloss 3 Pf. pro Gramm! 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


61 


1904.] 


5S ) Sp iel meye r, W.: Klinische Erfahrungen mit Veronal. 
Centralbl. für Nervenheilk. und Psychiatrie 1903, 15, VIII. 

34 ) Thomsen: Ueber Veronal. Psychiatrisch-neurolog. 
Wochenschr. 1903, No. 13. 

85 ) Traut mann, C.: Der Einfluss des Veronal auf die 
Stickstoffausscheidung beim Menschen. Ref. Schmidt’s Jahr¬ 
bücher 1903, Heft 11. 


- G ) Weber, L. W.: Ueber Versuche mit Veronal. Deutsche 
med, Wochenschr. 1903, No. 40. 

31 ) Wiener, L.: Das Veronal, ein neues Hypnotikum. 
Wiener med. Presse 1903, No. 24. 

2S ) Wü rth: Ueber Veronal und seine Wirkung bei Er¬ 
regungszuständen Geisteskranker. Psychiatr.-neurolog. Wochen¬ 
schrift 1903, No. 9. 


Wichtige Entscheidungen auf dem Gebiete der gerichtlichen Psychiatrie, III. 

Aus der Literatur des Jahres 1903 susammengestellt von Ernst 'Schnitze. 

(Schluss.) 

§ 406. ausdrücklich versicherte, lässt ihn deshalb nicht 


. . . Die Partei kann beanspruchen, dass den 
Sachverständigen, welche zur Begutachtung zusammen- 
berufen werden, sämmtlich die Unbefangenheit 
zukomme, wodurch ein unparteiisches und objectives 
Unheil gewährleistet wird, und sie braucht sich, beim 
Vorliegen, eines triftigen Ablehnungsgrundes nicht 
darauf verweisen zu lassen, dass das Processgericht 
bei Würdigung der mehreren Gutachten nach Er¬ 
messen den gegen die Zuverlässigkeit des einen 
Sachverständigen vorliegenden Umständen Rechnung 
tragen könne. — Sachlich aber ist der vom Kl. vor¬ 
gebrachte Ablehnungsgrund (C. P. O. § 406, Abs. 1, 
§ 42) genügend glaubhaft gemacht. Wie sich aus 
den Acten der Staatsanwaltschaft in der Strafsache 
gegen Rechtsanwalt Dr. S. wegen Beleidigung ergiebt, 
hat Baurath B. die in jenem Schriftsätze enthaltene 
Bemängelung seiner Qualifikation als Sachverständiger, 
welche nur durch Hinweis auf das hohe Lebensalter 
desselben begründet worden war, als schwere Ver¬ 
unglimpfung aufgefasst; und bei der Art und Weise 
seines Vorgehens gegen Rechtsanwalt Dr. S. ist die 
Besorgniss nicht von der Hand zu weisen, dass bei 
dem Sachverständigen unwillkürlich eine gewisse Ein¬ 
genommenheit auch der durch den Anwalt ver¬ 
tretenen Partei gegenüber Platz greifen und seine Ob- 
jectivität beeinträchtigen möchte. (Entscheid, des 
R. G. VI. C. S. 5. I. 1Q03.) 

J. W. pag. 07. 

§ 406, 4 >4- 

Die Ablehnung eines sachverständigen Zeugen 
ist unzulässig, § 406 bezieht sich nur auf Sach¬ 
verständige. (O. L. G. Posen 16. V.) 

D. R. Entsch. No. 2694, pag. 529. 

§ 410. 

Die Thatsache, dass der im Auslande ver¬ 
nommene Sachverständige die Beeidigung seines Gut¬ 
achtens abgelehnt hat, was er nach dem ausländischen 
Rechte durfte, die Richtigkeit seines Gutachtens aber 

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weniger glaubwürdig erscheinen. (Entsch. des R. G. 
VII. C. S. 21. XI. 1902.) 

J. W. pag. 25. 

445- 475- 

. . . Gegenstand der Eidesauflage können nicht 
U rth eile, sondern nur Thatsachen und diesen 
gleichstehende gemeinverständliche Rechtsbegriffe 
bilden. Zu den Thatsachen gehören nun auch die 
sogenannten inneren Thatsachen, das heisst Gegen¬ 
stände des Wissens oder des Wollens. — — — 
(R. G. 24. III. 1903.) 

J. W. pag. 179. 

§§ 568, 575- 

Das B. G. hat den . . Arzt F. als alleinigen 
Sachverständigen zur Erstattung eines Gutachtens 
darüber bestellt, ob die Gebührenbeträge angemessen 
sind, die F. selbst dem Bekl. für die . . ärztliche Be¬ 
handlung ... in Rechnung gestellt hat und um 
deren Erstattung die Parteien streiten. Der Kl. be¬ 
zweifelt insoweit mit Grund die Unbefangenheit des 
Sachverständigen, da dieser dies Gutachten in seiner 
eigenen Sache abgeben würde und daran der Umstand 
nichts ändert, dass die Gebühren an F. schon bezahlt 
sind. . . . (Beschluss vom 19. V. 04.) 

J. W. pag. 272. 

§ 619. 

Gegenstand einer Augensc heinsnahme md einer 
damit verbundenen Untersuchung kann / ar auch 
der Körper einer Partei sein; erklärt aber die Partei, 
dass sie eine solche Untersuchung nicht gestatten 
wolle, so gewährt die C. P. O. dem Richter kein 
Recht, Zwangsmaassregeln zur Anwendung zu bringen. 
Dies gilt in gleicher Weise auch für Ehesachen. 
Nach § 619 der C. P. O. kann das Gericht zwar 
das persönliche Erscheinen einer Partei anordnen 
und erzwingen, ein weiter gehender Zwang aber ist 
nicht gestattet. Auch im Uebrigen erweisen sich die 
Ausführungen des B. R. bei diesem Punkte als un- 

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6 2 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 6. 


angreifbar. Insbesondere bedurfte es keiner aus¬ 
drücklichen Erörterung, ob und in wieweit etwa aus 
dem ablehnenden Verhalten der Beklagten (trotz der 
Vorschrift des § 617 der C. P. O.) ein Verdacht 
hätte hergeleitet werden dürfen, denn ohne eine 
ärztliche Untersuchung würde die Richtigkeit der 
vom Kläger aufgestellten Behauptung jedenfalls nicht 
vollständig dargethan werden können. (Entsch. des 
R. G. IV. C. S. 22. XI. 1902.) 

J. W. pag. 26. 

§ 646. 

Stellt der Mann die eheliche Gemeinschaft wieder 
her, so ist auf sein Verlangen das vorher gegen 
seine Ehefrau auf Antrag eines Verwandten eingeleitete 
Entmündigungsverfahren einzustellen. (K. G. Berlin, 
8. Juli 1902.) 

D. R. pag. 45, Entsch. No. 244. 

§ 648. 

Die Anfechtungsklage gegen einen Entmündigungs¬ 
beschluss kann nicht auf eine Besserung nach der 
Entmündigung gestützt werden. (O. L. G. Dresden, 
8. Februar 1902.) 

D. R. Entsch. No. 1042, pag. 185. 

§§ 649,676,679. 

Die Fortsetzung des schon eingeleiteten Verfahrens 
auf Wiederaufhebung der Entmündigung darf nicht 
von Beibringung eines ärztlichen Zeugnisses abhängig 
gemacht werden. Geschieht dies dennoch, so kann 
trotzdem der Beschluss nicht als Ablehnung im 
Sinne des § 679 angesehen werden. (O. L. G. Dresden, 
10. Januar 1902. 

D. R. pag. 45, Entsch. No. 245. 

§ 650. 

Die Ueberweisung an das Gericht des Auf¬ 
enthaltsorts soll nicht die Regel bilden, sondern nur 
unter besonderen Umständen, die zum Auf¬ 
enthalt des zu Entmündigenden hinzutreten müssen, 
ein treten. (G. L. G. Darmstadt, 27. October 1902.) 

D. R. pag. 107, Entsch. No. 554. 

C. P. O. 664. ' k 

Die Anfechtungsklage hat sich lediglich mit der 
Frage zu beschäftigen, ob der Entmündigungsbeschluss 
gerechtfertigt gewesen ist. (R. G. IV. 27. October 1902.) 

D. R. pag. 107, Entsch. No. 555. 

C. P. O. 671, 654. 

In dem Anfechtungsprocesse bei Entmündigung 
wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche darf 
die Vernehmung des Entmündigten nicht bloss durch 
einen ersuchten, sondern auch durch einen be¬ 
auftragten Richter erfolgen. (O. L. G. Karlsruhe, 
20. November 1902.) 

D. R. pag. 107, Entscheid. No. 556. 

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§§ 671,654,679. 

Das in § 671 Abs. 2. C. P. O. nachgelassene 
Abstandnehmen von der Vernehmung Sachverständiger 
bezieht sich nicht auf die nach § 654 Abs. 1. C. P. 0 . 
zu erfolgende Zuziehung der Sachverständigen bei 
persönlicher Vernehmung des zu Entmündigenden. 
(R. G. IV. C. S. 22. X. 1903.) 

D. R. pag. 609, Entscheid. N. 3142. 

VI. Gerichtsverfassungs-Gesetz. 

§ 172. (C. P. O. 355, 159.) 

Auf den Fall der Vernehmung des Entmündigten 
im Anfechtungsprocess durch einen beauftragten 
Richter findet § 172 G. V. G. keine Anwendung; 
für diese Vernehmung gilt die Oeffentlichkeit von 
vornherein als ausgeschlossen; es bedarf daher keines 
die Ausschliessung anordnenden besonderen Be¬ 
schlusses und dessen Feststellung im Vernehmungs¬ 
protokolle. (O. L. G. Karlsruhe, 20. November 1902.) 

D. R. pag. 108, Entscheid. No. 575. 
VII. Reichsgesetz über die freiwillige 
Gerichtsbarkeit. 

12, 48. 

Die Frage, ob für einen Ausländer im Inlande 
eine vormundschaftliche Fürsorge anzuordnen ist, 
entscheidet das Gericht, dem die Anordnung der 
Vormundschaft nach den allgemeinen Vorschriften 
über die örtliche Zuständigkeit obliegen würde, wenn 
es sich um einen Inländer handelte. (O. L. G. 
Dresden. 28. X. 1901.) 

D. R. pag. 506, Entsch. No. 2581. 

12, 60. 

Wird die angeordnete vorläufige Vormundschaft 
im Beschwerdewege aufgehoben, so findet gegen diese 
Entscheidung die einfache weitere Beschwerde statt. 
(K. G. Berlin. 7. V. 1903.) 

D. R. pag. 506, Entsch. No. 2582. 
36 , 37 > 43 * 

Die Zuständigkeit bestimmt sich nach dem Zeit¬ 
punkte, in dem die Anordnung der Vormundschaft 
nöthig geworden ist. Ist darnach die Zuständigkeit 
eines Gerichts einmal begründet, so wird sie durch 
den späteren Wegfall der Umstände, auf denen sie 
beruht, nicht berührt. (K. G. Berlin, 2. Februar 1903.) 

D. R. pag. 2 65, Entsch. No. 1451. 

52 , 57 - 

Gegen den Beschluss, durch den eine vorläufige 
Vormundschaft aufgehoben wird, steht dem bisherigen 
vorläufigen Vormunde ein Beschwerderecht nicht zu. 
(K. G. Berlin, 10. November 1902.) 

D. R. pag. 156, Entscheid. No. 825. 

57, Abs. 9. 

Dem Ehemann einer entmündigten Frau steht 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


63 


ein selbständiges Beschwerderecht bezüglich der Aus¬ 
wahl des Vormundes zu. (K. G. Berlin, 28. IX.) 

D. R. pag. 581, Entsch. No. 3012. 

§ 59* 

Zu den die Person einer wegen Geistesschwäche 
entmündigten Mutter betreffenden Angelegenheiten 
gehört auch die der Mutter neben dem gesetzlichen 
Vertreter ihrer Kinder zustehende Sorge für deren 
Person. (K. G. Berlin, 30. Juni 1902.) 

D. R. pag. 44, Entsch. No. 211. 

VII. Haftpflichtgesetz. 

. . . Gerade gegenüber der im § 260 a. F., 
287 u. F. der C. P. O. dem Richter eingeräumten 
Freiheit des Ermessens kann diesem Urtheile nicht 
der Sinn unterstellt werden, als ob die Anordnung 
eines Sachverständigenbeweises von Amtswegen als 
eine unbedingt erforderliche Maassnahme zu erachten 
sei. Je nach dem Berufe, dem der Verletzte an¬ 
gehört hat, und der hierzu erforderlichen Art der 
geistigen und insbesondere körperlichen Ausbildung 
kann gemäss der Art der Verletzung und deren 
Folgen auch ohne Vernehmung von Sachverständigen 
schon die Ueberzeugung gewonnen werden, dass 
mit der professionellen Erwerbsfähigkeit auch 
die Fähigkeit zu irgend einem anderen Erwerbe 
in Wegfall gekommen sei. Die Beschränkung 
auf eine im Sitzen zu verrichtende Arbeit 
gestattet nur mehr Handarbeit. Dazu gehört 
aber wieder die berufsmässige Ausbildung der Hand- 
fertigkeit, die ein Mann, der jahrelang schwere 
Arbeit verrichtet hat, jedenfalls für eine Reihe von 
Berufsarbeiten auch nicht mehr sich aneignen könnte. 
Eine Verpflichtung zur Erlernung einer neuen Erwerbs¬ 
art liegt dem Verletzten aber nicht ob. . . (Entsch. 
der R. G. VI. C. S. 8. I. 1903.) 

J. W. pag. 67. 

§ 3 a. 

Allerdings kann, wenn jemand durch einen beim 
Betriebe einer Eisenbahn erlittenen Unfall zwar die 
Fähigkeit zu seiner bisherigen erwerblichen Thätigkeit 
verloren hat, ihm aber die Möglichkeit verblieben ist, 
durch eine andere, seiner Vorbildung und seinen 
Standes- und sonstigen Verhältnissen entsprechende 
Thätigkeit Erwerb zu finden, er hiervon Gebrauch zu 
machen nicht mit der Maassgabe abiehnen, dass er 
von dem haftpflichtigen Unternehmer Schadenersatz 
so, als wenn er gänzlich erwerbsunfähig wäre, be¬ 
anspruchen könnte. Dementsprechend muss auch, 
wenn eine Person während ihres Kindesalters verletzt 
worden ist, bei der Wahl ihres späteren Berufs darauf 
Rücksicht genommen werden, zu welchen Arten 

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enverblicher Thätigkeit sie nach den Folgen des 
Unfalls fähig erscheint. (R. G. VI., 20. November 1902.) 

D. R. pag. 109, Entsch. No. 580. 

VIII. Versichenmgsrecht 

Pflicht die Obduction zu gestatten. 

Zutreffend ist das B. G. davon ausgegangen, 
dass, wenn wie nach § 11 der Bedingungen der Fall, 
seitens der Gesellschaft die Zustimmung des Rechts¬ 
nachfolgers des Versicherten zu der von der Ge¬ 
sellschaft für nothwendig erachteten Obduction der 
Leiche verlangt werden kann, dieses Recht an sich 
nicht durch die inzwischen erfolgte Beerdigung ver¬ 
loren geht. Es muss aber dafür gehalten werden, 
dass bei solcher Sachlage jedenfalls dann, w'enn die 
nunmehr erforderliche Exhumirung der Leiche mit 
den religiösen oder Pietätsgefühlen der Hinterbliebenen 
im Widerspruch steht, die Gestattung der Obduction 
ohne Nachtheil abgelehnt werden kann, falls seitens 
der Gesellschaft die Kundgebung, dass mit der 
Section vorgegangen werden solle, in unentschuldbarer 
Weise verzögert ist. (R. G., 10. III. 1903.) 

J. W. pag. 186. 

Causalnexus zwischen Tod und Unfall. 

Der erkennende Senat hat bereits in wiederholten, 
gleichliegende Fälle betreffenden Entscheidungen 
ausgesprochen, dass es rechtlich bedenkenfrei sei, 
einen Unfall als die directe und ausschliessliche 
Ursache des Todes nach Maassgabe der Versicherungs¬ 
bedingungen auch dann zu bezeichnen, wenn eine 
gewisse Empfänglichkeit des Körpers für die nach¬ 
theiligen Einwirkungen der Verletzung vorhanden ge¬ 
wesen sei, wenn also möglicherweise bei anderer 
körperlicher Beschaffenheit des Beschädigten der 
Unfall günstiger verlaufen wäre. Auch in solchen 
Fällen lässt sich sagen, dass der Tod lediglich die 
Folge des Unfalls sei und dass die Versicherung 
nicht dadurch ausgeschlossen w’erde, dass im Einzel¬ 
falle der Versicherungsnehmer sich gegenüber Unfällen 
in geringerem Grade widerstandsfähig zeigt. (Entsch. 
des R. G. VII. C. S. 5. XII. 1902.) 

J. w. pag. 30. 

IX. Reichsgewerbe-Ordnung. 

§ 30. 

Eine Privatkrankenanstalt im Sinne des § 30 
R.-Gew'.-O. ist eine auf eine gewisse Dauer berechnete 
Einrichtung, bei welcher Kranke in bestimmten, dazu 
hergestellten Räumen Behandlung ihrer Leiden oder 
Pflege oder beides zugleich in der Weise finden, 
dass ihr Aufenthalt in jenen Räumen eine gewisse 
Dauer erreicht. Die Meinungsverschiedenheit, welche 

Original fram 

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64 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Heft 6. 


in dieser Frage zwischen dem Oberverwaltungsgericht 
und dem Reichsgericht betreffs der Nothwendigkeit 
des Vorhandenseins von Betten hervorgetreten ist, 
kommt hier nicht in Betracht, da die Anstalt der 
Angeklagten mit Betten versehen ist. 

Zutreffend und in Uebereinstimmung mit obiger 
Definition hat das Landgericht das Unternehmen der 
Angeklagten als eine Privatkrankenanstalt angesehen, 
(K. G. io. IV. 1902.) 

Ztsch. für Medicinal-Beamte, Beilage No. 10, pag. 109. 
§ 30 - 

. . . Wie die Entstehungsgeschichte der jetzigen 
Vorschrift im § 30 unter a der Reichsgewerbeordnung 
ergiebt, umfasst die Zuverlässigkeit, die der Unter¬ 
nehmer einer Privatkrankenanstalt usw. besitzen muss, 
zweierlei: einmal die allgemeine Zuverlässigkeit des 
Characters, sogenannte bürgerliche Unbescholtenheit, 
und zweitens diejenige Umsicht, Erfahrung und 
Kenntniss nach der technischen und nach der 
administrativen Seite des Unternehmens, die erforderlich 
sind, wenn die im § 30 genannten Anstalten ihren 
Character als gemeinnützige Unternehmen be¬ 
haupten sollen. 


. . . Hierbei ist aber nicht zu übersehen, dass 
auch die allgemeine Zuverlässigkeit des Characters 
nicht schlechthin und ganz allgemein gefordert ist, 
sondern ihr Mangel nur in Betracht .kommt, wenn 
er ebenfalls „in Beziehung auf die Leitung oder Ver¬ 
waltung der Anstalt“ besteht. Nicht jede allgemeine 
Unzuverlässigkeit und nicht jede Verfehlung, in der 
eine solche zum Ausdruck gekommen ist, genügen 
daher, um die Concession zu versagen. Sie thun 
dies vielmehr nur dann, wenn sie einen Schluss auf 
die Art der Leitung oder Verwaltung der Anstalt zu¬ 
lassen, namentlich deshalb, wie in der Begründung 
der Novelle von 1879 als ein besonderer Fall von 
Unzuverlässigkeit hervorgehoben wird, „der Unter¬ 
nehmer durch seine Vergangenheit nicht die Annahme 
ausschliesst, als könne ein Geschäftsbetrieb auf eine 
strafbare oder auch nur unredliche Ausbeutung 
des seiner Anstalt sich anvertrauenden Publikums 

gerichtet sein.“ —-Eine besondere financielle 

Zuverlässigkeit wird nicht erfordert (Urtheil des 
Oberverwaltungsgerichts v. 28. V. 1903.) 

Zeitsch. f. Med.-Beamte, Beilage No. 16, pag. 204. 


M i t t h e i 

— Jahresversammlung des Deutschen Ver¬ 
eins für Psychiatrie zu Göttingen vom 25. bis 27. 
April 1904. (Referenten Dr. Weber und Dr. Vogt- 
Göttingen.) 

Die diesjährige Tagung der deutschen Psychiater 
und Neurologen in Göttingen begann mit einer Be- 
grüssung am Abend des 24. April. Der Besuch war 
ein ausserordentlich zahlreicher; die Präsenzliste wies 
170 Mitglieder auf, daiunter die Fachvertreter vieler 
deutscher Hochschulen, Leiter hervorragender An¬ 
stalten, überhaupt Namen vom besten Klang. 

Für die wissenschaftlichen Berathungen hatte die 
Universität das eben neu erbaute Auditorium maximum 
zur Verfügung gestellt, ein Raum, der in Bezug auf 
technische Vollkommenheit und künstlerisch vornehme 
Ausgestaltung zur Zeit wohl kaum übertroffen werden 
kann. 

Den Vorsitz der Versammlung führte Hofrath 
Professor Dr. Fiirstner-Strassburg; zu Schriftführern 
wurden die Herren Privatdocent und erster Oberarzt 
Dr. Web er-Güttingen und Privatdocent und erster 
Assistenzarzt Dr. Vogt-Göttingen ernannt. 

In einer Begri'issungsansprache gedachte der Vor¬ 
sitzende zunächst des so plötzlich dahingeschiedenen 
bisherigen Vorsitzenden J oliv und hob kurz die 
wissenschaftliche Bedeutung Jolly’s und sein persön¬ 
lich liebenswürdiges Wesen hervor. Die persönliche 
Liebenswürdigkeit, die er jedem gegenüber bewies, 
war ja gerade in der Versammlung, deren Vorsitz er 
lange Jahre geführt hat, genügend bekannt. Weiter 

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1 u n g e n. 

gedachte der Vorsitzende der ebenfalls in diesem 
Jahre Verstorbenen: Bumm-München, Emminghaus- 
Freiburg, Meyer-Roda. 

Die Versammlung wurde dann von den anwesen¬ 
den Ehrengästen begrüsst; zunächst von dem Pro¬ 
rector der Universität, Professor Leo, der als Haus¬ 
herr die Gäste in diesem Raume willkommen hiess. 
Nach ihm sprach der Chef der Hannoverschen Pro¬ 
vinziah Verwaltung, Landesdirector Lichtenberg. Er 
betonte, welche besondere Bedeutung im Kreise der 
Angelegenheiten der Provinzial Verwaltung die Fürsorge 
für die Geisteskranken besitze. In diesem wichtigen 
Verw r altungszw f eige sei die Provinz auf den sachver¬ 
ständigen Rath der Psychiater angewiesen, denen sie 
auch vertrauensvoll die Leitung der Anstalten und 
die Behandlung und Pflege der Kranken in die Hand 
lege. Redner wies dann auf das neue Werk hin, 
das die Provinz mit der Errichtung des Nerven-Sana- 
toriums Rascmühle gethan habe, und sprach die 
Hoffnung aus, dass auch andere Provinzen auf diesem 
Wege nachfolgen würden. Nach ihm begrüsste noch 
die Versammlung Oberbürgermeister Calsow und als 
Vertreter des Dekans der medicinischen Facultät Herr 
Geheimrath Professor Braun. 

Von geschäftlichen Verhandlungen ist folgende 
hervorzuheben: 

1. Der Vorstand des Vereins hat eine Eingabe 
an den preuss. Justizminister gerichtet, betreffend die 
Thätigkeit der psychiatrischen Sachverständigen bei 
Entmündigungen. Die Antwort des Justizministers 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


65 


1Q04.] 


geht dahin, dass er dem Antrag des Vereins nicht 
entsprechen kann. „Es stehe eben nichts im Wege, 
dass die Gerichte in der Person eines Leiters einer 
öffentlichen Anstalt einen besonderen Umstand in 
Bezug auf die Sachverständigkeit erblicken/* Der 
Justizminister könne aber in dieser Richtung keinen 
Einfluss auf die Gerichte ausüben. 

Der Vorsitzende beantragt, eine abwartende Halt¬ 
ung einzunehmen. 

2. Der Verein hat schon vor einiger Zeit darauf 
hingewiesen, wie wichtig es sei, dass den Anstalts¬ 
ärzten Gelegenheit geboten würde, von Zeit zu Zeit 
an einem Fortbildungskursus für Aerzte theilnehmen 
zu können. Um der Frage näher zu treten, wählt 
die Versammlung eine Commission aus den Herren 
Stoltenhoff, Peretti und Vocke, welche das ein¬ 
schlägige Material näher bearbeiten und im nächsten 
Jahre darüber berichten sollen. Von mehreren Seiten 
wurde ausserdem mitgetheilt, dass die Verwaltungs¬ 
behörden , z. B. in der Rheinprovinz, Baden und 
Bayern, Mittel zur Verfügung gestellt haben, um 
den Aerzten die Theilnahme an der Jahresversamm¬ 
lung des Deutschen Vereins für Psychiatrie zu er¬ 
möglichen. Die Versammlung ist der Ansicht, dass 
auf diesem Wege weitere Erfolge erreicht werden, 
wenn die Anstaltsdirektoren mit ihren Verwaltungs¬ 
behörden direkt in Verbindung treten unter Berufung 
auf die Präcedenzfälle. 

3. Die in der Vorstandssitzung beschlossene Er¬ 
richtung einer Laeh r-Stiftung wird der Versammlung 
zur Beschlussfassung vorgelegt. Es soll vom Verein 
aus ein Kapital gesammelt werden, das durch Zu¬ 
wendungen von verschiedenen Seiten allmählich bis 
zu 100000 M. gebracht, und durch dessen 
Zinsen wissenschaftliche und praktische Leistungen 
auf dem Gebiet der Psychiatrie gefördert werden 
sollen. Der Vorstand schlägt vor, aus dem Vereins¬ 
vermögen zunächst einen Grundstock von 5000 M. 
zu überweisen und die Verwaltung einer dreiköpfigen 
Comission zu übertragen. Die Commission soll bis 
zum nächsten Jahre Statuten ausarbeiten. Die Ver¬ 
sammlung nimmt diesen Antrag ohne Discussion an. 

4. H oche-Strassburg berichtet über die Arbeiten 
der statistischen Commission. Das eingelaufene Material 
sei ein so massenhaftes, dass die Ausarbeitung einer 
Brochure, wozu die Commission beauftragt war, erst 
nach Ablauf von vollen 2 Jahren erfolgen könne. Die 
Commission solle dann die forensisch-psychiatrische 
Frage noch besonders ins Auge fassen. 

(Fortsetzung folgt.) 

— München. Psychiatrische Klinik beim Kranken¬ 
haus 1 . d. J. Mit Eintritt der wärmeren Jahreszeit 
wurde an die Vollendungsarbeiten der bereits im 
Voijahre im Rohbau nahezu fertiggestellten verschie¬ 
denen Tracte gegangen. Insgesammt soll die Anstalt 
vorerst zur Aufnahme von 100 Kranken bestimmt 
sein. Die Gebäulichkeiten umfassen in einem Haupt- 
tract und zwei Seitenflügeln vier Geschosse, die sich 
aber nur nach der Nussbaumstrasse voll entwickeln. 
Die Klinik ist in zwei Abtheilungen — männliche 
und weibliche Kranke — getrennt. Alle Kranken¬ 
räume werden gegen den Garten, die Corridore nach 

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der Strassenseite liegen; soweit ist nach keiner Seite 
hin irgend eine Belästigung des Publikums durch 
kranke Irre möglich. In allernächster Zeit wird am 
Aeussem der Gebäude mit den Arbeiten für die 
Putz-Barockarchitektur begonnen, die im Allgemeinen 
einfach und ernst gehalten wird. Nach dem Hofe 
zu wird ein grosser Hörsaal für die Studirenden er¬ 
richtet, der nicht weniger als 229 Sitzplätze aufnimmt. 

— Process Stadt Breslau contra Regierung 
wegen Unterbringung Geisteskranker. In die 
Strafanstalts-Irrenabtheilung des Breslauer Zellenge¬ 
fängnisses werden geisteskranke Angeklagte und Ver- 
urtheilte aus der Provinz Schlesien und den Nachbar¬ 
provinzen eingeliefert. Wenn sie entlassen werden, 
so müssen sie nach * den geltenden Bestimmungen 
der Ortspolizeibehörde überwiesen werden, die sie so 
lange in einer öffentlichen Irrenanstalt intemiren muss, 
bis feststeht, dass sie der Irrenpflege nicht mehr be¬ 
dürfen. Für die Unterbringung und Verpflegung von 
solchen Geisteskranken in der städtischen Irrenanstalt 
auf der Einbaumstrasse hatte nun der Polizeipräsident 
1593 M. und 275 M. verauslagt. Der Regierungs¬ 
präsident vertrat die Ansicht, dass diese Kosten von 
der Stadtgemeinde Breslau zu tragen seien; er stellte 
auf Grund des Zuständigkeitsgesetzes und des Aus¬ 
führungsgesetzes zum Reichsgesetz über den Unter¬ 
stützungswohnsitz die Erstattung dieser Beträge an 
die Polizeikasse als der Stadtgemeinde Breslau gesetz¬ 
lich obliegende Leistungen fest und erliess dement¬ 
sprechende Verfügungen an die Stadt. Da die Stadt¬ 
gemeinde Breslau diese Feststellungsverfügungen nicht 
beachtete, verfügte der Regierungspräsident gegen die 
Stadt Breslau Zwangsetatisirungen, indem er darauf 
hinwies, dass die Kosten der Stadtgemeinde Breslau 
zur Last fallen müssten, wobei es dahingestellt bleiben 
könne, ob es sich um Arraenpflegekosten oder mittel¬ 
bare Polizeikosten im Sinne des Gesetzes vom 20. 
April 1892 handle. Gegen diese am 7. Juni und 
28. September 1903 erlassenen Zwangsetatisirungen 
strengte der Magistrat beim Oberverwaltungsgericht 
Klage an. Der erste Senat des Oberverwaltungsge¬ 
richts hat jedoch zu ungunsten der Stadtgemeinde 
erkannt und ausgesprochen, dass es sich hier um 
mittelbare Polizeikosten handle. Die gemeingefähr¬ 
lichen Geisteskranken seien als eine Unterart der 
hilflos aufgefundenen Personen anzusehen. (Breslauer 
Zeitung, 1. V. 04.) 

— Leichlingen. Am 30. April waren der Auf¬ 
sichtsrath und die Baukommission der Gesellschaft 
„Rheinische Volksheilstätten für Nerven¬ 
kranke“ hier anwesend, um das 100 Morgen um¬ 
fassende Gelände zu besichtigen, das der Geheime 
Commerzienrath Böddinghaus-Elberfeld der Gesell¬ 
schaft zur Errichtung einer Volksheilstätte für weib¬ 
liche Nervenkranke zum Geschenk gemacht hat. 
U. a. nahmen an der Besichtigung theil Commerzien¬ 
rath Dr. Wittenstein, der Vorsitzende des Bergischen 
Vereins für Gemeinwohl, Landesrath Klausener, 
Landesrath Schellmann, Regierungs- und Medicinal- 
rath Dr. Born träger, San.-Rath Dr. Peretti, Regier¬ 
ungsbaurath Endell, Oberbürgermeister Funck-Elber- 
feld, Regierungsassessor Dr. Stengel als Vertreter des 

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66 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 6 . 


Landkreises Solingen und Bürgermeister Klein-Leich¬ 
lingen. Die Herren fuhren sogleich in das zu Roder¬ 
birken gelegene Gelände, das mit seinem grossen 
Reichthum an stattlichen Eichen und schattigen 
Buchen sowie mit seiner prächtigen Fernsicht den 
vollen Beifall der Besucher erntete. Nach der Be¬ 
sichtigung fand im Laufe des Nachmittags im Rath¬ 
haus eine Sitzung des Aufsichtsrathes und der Bau¬ 
kommission statt, in der die Plätze für die einzelnen 
Pavillons und die Wirthschafts- und Verwaltungsge¬ 
bäude (die ganze Anstalt wird im Villenstil mit vor¬ 
läufig 4 Pavillons für je 25 Kranke erbaut) bestimmt 
und die Einzelheiten des Bauprogramms besprochen 
wurden. Hiernach soll die Arbeit sofort in Angriff 
genommen und dergestalt gefördert werden, dass alle 
Gebäude mit Eintritt des Winters unter Dach stehen. 
Auf Anregung von Landesrath Klausener wurde be¬ 
schlossen, eine weitere Volksheilstätte, und zwar für 
männliche Nervenkranke, auf dem Gute Gross-Ledder 
bei Dabringhausen zu erbauen. 

— Ueber das, wie in voriger Nr. gemeldet, an Herrn 
San.-Rath Dr. Vorster in Stephansfeld durch einen 
Geisteskranken verübte Attentat bringt die „Strass¬ 
burger Post tt (27. IV. 04) noch folgende Einzel¬ 
heiten: „Director Dr. Vorster war am 25. IV. auf 
seinem täglichen Rundgang zwischen 9 und 10 Uhr 
in Begleitung des Inspektors Gerstenmeyer, sowie 
eines Wärters zu dem seit längerer Zeit in der 
Stephansfelder Irrenanstalt befindlichen 40—50 jährigen 
Kranken Ulzemer gekommen. Ulzemer, aus dem 
Obereisass gebürtig, galt als verbrecherischer Geistes¬ 
kranker und wurde deshalb nicht mit anderen 
Kranken gemeinschaftlich, sondern in einem Einzel¬ 
zimmer untergebracht. Director Dr. Vorster hatte kaum 
einige oberflächliche Worte mit Ulzemer gewechselt, 
als er plötzlich zu seiner Begleitung sagte: ,,Ich bin 
gestochen. c ‘ Ohne dass man den Augenblick der 
Tliat und die Vorbereitung dazu wahrgenommen 
hätte, hatte Ulzemer zum Stiche ausgeholt und dem 
Director im Unterleibe eine tiefe Verletzung bei¬ 
gebracht. Man nahm dem Irren das Mordinstrument 
sogleich ab. Dasselbe bestand aus einem selbst¬ 
gefertigten Stilet aus Eisenblech, das sich der Kranke 
gelegentlich irgendwo verschafft haben muss, und 
welches er mit einem Griff umkleidet hatte. Direktor 
Dr. Vorster behielt seine Geistesgegenwart und begab 
sich selbst noch die Treppe hinab, um einen Noth- 
verband anzulegen. Infolge des Blutverlustes verlor 
er indess allmählich die Besinnung. Sofort wurde 
Professor Dr. Ledderhose in Strassburg benachrichtigt, 
welcher nachmittags an dem Schwerletzten eine 
Operation vomahm. Den Ausgang derselben wollten 
die Aerzte von der darauffolgenden Nacht abhängig 
machen. Director Dr. Vorster hatte eine ziemlich 
gute Nacht. Hoffentlich ist das ein günstiges Vor¬ 
zeichen dafür, dass die Verletzung nicht lebensgefährlich 
verlaufen wird. Dr. Vorster steht im besten Mannes¬ 
alter und ist Vater von 4 Kindern.“ 


Referate. 

— Endemann: Die Entmündigung wegen 
Trunksucht und das Zwangsheilungsverfahren 
wegen Trunkfälligkeit Halle a. S., Carl Marhold, 
1904, M. 1,50. 

Dass der Absatz 3 des Paragraphen 6 des Bürger¬ 
lichen Gesetzbuches, der die Entmündigung wegen 
Trunksucht vorsieht, bis jetzt einer recht wechselnden 
Auslegung unterlegen hat und zu verhältnismässig 
sehr kümmerlichen Ergebnissen geführt hat, ist eine 
sehr bedauerliche aber allgemein anerkannte Thatsache. 
Zur Vermeidung dieser Uebelstände schlägt Ver¬ 
fasser folgende Fassung vor: Entmündigt kann werden, 
wer infolge von Trunksucht die Gesammtheit seiner 
Angelegenheiten nicht vernunftgemäss zu besorgen 
vermag oder wer infolge von Trunkfälligkeit sich oder 
seine Familie der Gefahr des Nothstandes aussetzt 
oder die Sicherheit anderer gefährdet. Die praktische 
Durchführung dieses Paragraphen muss, um wirksame 
Kraft zu haben, rechtzeitig beim Trunkfälligen ein- 
setzen, die Aussetzung der Beschlussfassung wenn 
Aussichten anf Besserung vorhanden sind, muss be¬ 
schränkt werden, die Anordnung der vorläufigen Vor¬ 
mundschaft ist öfters zu handhaben. Da, selbst wenn 
die Entmündigung angeordnet ist, die Rechtsnormen 
fehlen, die das Verfahren mit Zwangswirkung ausstatten 
und die Anstalten, in denen es durchgeführt werden 
könnte, nicht vorhanden sind, verlangt Endemann 
die reichsgesetzliche Anordnung über die Errichtung 
der erforderlichen öffentlichen Heilanstalten. Der 
Trunkfällige kann sich selbst der bindenden Selbst¬ 
unterwerfung unter den Behandlungszwang unterziehen 
oder es kann die Zwangsbehandlung eintreten. Ver¬ 
fasser sieht in der gesetzlichen Formulierung, die er 
zu diesem Zwecke vorschlägt, die verschiedenen Fac- 
toren vor, die diese Zwangsbehandlung nöthig machen, 
das eigene Interesse des Trunkfälligen, die socialen 
Gründe und das Interesse der öffentlichen Sicherheit. 
Den näheren Ausführungsbestimraungen, die Endemann 
mit umfassender Sachkenntnis vorschlägt, kann von 
psychiatrischer Seite im allgemeinen nur rückhaltslos 
zugestimmt werden. Mönkemöller-Osnabrück. 

— Archiv f. Psychiatrie und Nerven» 
kr ankheiten. 

Band. 36, 3. Heft. 

Westphal-Greifswald: Ueber die Bedeu¬ 
tung von Traumen und Blutungen in der 
Pathogenose der Syringomyelie. 

Die Annahme, dass die Entstehung der Syringo¬ 
myelie auf entwickelungsgeschichtliche Störungen zu¬ 
rückzuführen sei, dem Trauma aber nur eine für die 
Entwicklung oder den Zerfall der Gliose in Betracht 
kommende sekundäre Bedeutung zu zuschreiben sei, 
hält Verf. auf Grund seiner Befunde für sehr unwahr¬ 
scheinlich; dagegen ist anzunehmen, dass sich echte 
progressive Syringomyelien auf dem Boden von trau¬ 
matischen oder durch andere Ursachen entstandenen 
Blutungen entwickeln, und zwar in Rückenmarken, 
welche keine entwickelungsgeschichtlichen Abweichun¬ 
gen erkennen lassen. 


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1904.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


67 


Schultze-Andernach: Stirner’sche Ideen 
in einem paranoischen Wahnsystem. 

Eine 4 2 jährige paranoische Kranke, die in ein¬ 
fachen Verhältnissen aufgewachsen war, vertrat einen 
Standpunkt, welcher sich kurz in die drei Sätze zu¬ 
sammenfassen lässt: Was ich will, ist recht — ich thue 
nur, was ich will, also begehe ich niemals Unrecht 
— Unrecht ist das, was ich gegen meinen Willen, 
von anderen gezwungen, der aus Noth und Gefahr thue. 
Ihre Anschauungen stellten ein geschlossenes, festge¬ 
fügtes System dar. Bemerkenswerth ist, dass ihr 
Gedankengang ganz ausserordentlich der Lehre des 
Philosophen Stirner gleicht, dessen Werke ihr aber 
kaum bekannt gewesen sein dürften. 

Schott-Tübingen: Beitrag von der Melan¬ 
cholie. 

Aus den zahlreichen Schlüssen, welche Verf. auf 
Grund von 250 Fällen von Melancholie (70 M. + 
180 Fr.) zieht, seien folgende hervorgehoben. Das 
weibliche Geschlecht überwiegt mit 2,5:1, erbliche 
Belastung war bei 46,4 °/ 0 nachweisbar, stille und zu 
ernster Lebensauffassung neigende Naturen erkranken 
leichter als andere, die nach acuten oder chronischen 
Erkrankungen auftretenden Melancholien haben eben¬ 
so wenig etwas Specifisches, wie die Schwangerschafts¬ 
und Wochenbettsmelancholien; die höheren Lebens¬ 
alter neigen mehr zu Selbstmord, als die jüngeren, 
erblich Belastete mehr als nicht Belastete; mehr als 
die Hälfte sämmtlicher Fälle heilen, die jugendlichen 
mehr als die des höheren Alters, die Reservirung 
des Begriffs- Melancholie für die Depressionszustände 
des Rückbildungsalters ist z. B. noch nicht berechtigt, 
die Neigung der jugendlichen Melancholien zu reci- 
diviren, ist aus ausgesprochener als im Allgemeinen an¬ 
genommen wird, Sondenfütterung scheint für alle 
Lebensalter prognostisch nachtheilig zu sein. 

V i e d e n z - Eberswalde: Ueber psychische 
Störungen nach Schädelverletzungen. 

Eine Schädelverletzung kann sehr wohl bei einem 
psychisch intacten Menschen eine Geistesstörung 
hervorrufen, weit häufiger aber wirkt sie bei einem ge¬ 
schwächten Gehirn als auslösendes, oder bei einem 
intacten als prädisponirendes Moment für das Ent¬ 
stehen einer Psychose. Ein traumatisches Irresein als 
selbständiges, wohl charakterisirtes Krankheitsbild giebt 
es nicht, doch haben alle durch Kopfverletzungen 
entstandenen Psychosen einige gemeinsame Züge: auf¬ 
fallende Charakterveränderung, Reizbarkeit, Nachlassen 
des Gedächtnisses, Alkoholintoleranz. Am häufigsten 
werden beobachtet primäre Demenz, hallucinatorische 
Verwirrtheit und stuporöse Zustände, z. T. mit kata¬ 
tonischen Symptomen, selten Paranoia. Ob genuine 
Epilepsie oder echte Paralyse nach Trauma entstehen 
können, ist zweifelhaft. Zwischen psychischen Stö¬ 
rungen nach Schädelverletzungen und den auf alko¬ 
holischer Grundlage entstandenen besteht eine weit¬ 
gehende Aehnlichkeit. 

Heilbronner-Halle: Ueber eine Artpro¬ 
gressiver Heredität bei Huntington’scher 
Chorea. 

Auf Gi und seiner bisherigen Erfahrungen hat Verf. 
festgestellt, dass der familiären Chorea im Allgemeinen 


die Tendenz beiwohnt, in jeder folgenden Generation 
im Durchschnitt jüngere Individuen zu befallen, als 
in der vorhergegangenen. Festzustellen wäre in Zu¬ 
kunft, ob dem früheren Ausbruch auch ein schwererer 
Verlauf in den späteren Generationen entspricht. 

Bd. 37, Heft 1. 

Meyer und Raecke (Kiel). Zur Lehre vom 
Korsako w’schen Symptomencomplex. 

Der Korsakow’sche Symptomenkomplex ist keine 
Krankheit sui generis, vor allem ist es keineswegs eine 
ausschliesslich alkoholistische Psychose, wenn auch 
Alkohol die häufigste und wichtigste Ursache derselben 
ist Er kommt auch bei anderen Krankheiten vor 
und zwar meist bei solchen Erkrankungen, die irre¬ 
parable oder schwer auszugleichende Veränderungen 
des Centralnervensystems bedingen. Unter 8 aus¬ 
führlich mitgetheilten Fällen kam der Korsakow’sche 
Symptomencomplex 3 mal vor bei Paralyse, 1 mal 
bei Dementia postapoplectica und 1 mal bei einem 
Sarkom im Mark des rechten Stimlappens. 

Diem (Burghölzli-Zürich). Die einfach de¬ 
mente Form der Dementia praecox (Demen¬ 
tia simplex). Ein klinischer Beitrag zur Kenntniss 
der Verblödungspsychosen. 

Abgesehen von den 3 bekannten Verlaufstypen 
der Dementia praecox giebt es nach Ansicht des 
Verf. noch einen Typus, welchen er als einfach de¬ 
mente Form der Dem. pr. ausscheiden will. Der Be¬ 
ginn ist regelmässig einfach, schleichend, ohne be¬ 
sondere Vorboten, die weitere Entwickelung erfolgt 
ohne akute Schübe und Remissionen, ohne ausgeprägte 
maniakalische oder melancholische Verstimmungen, 
ohne Sinnestäuschungen und Wahnideen und ohne 
die für die übrigen Formen der Dementia praecox 
charakteristischen Besonderheiten: Katalepsie, Tics, 
Geziertheiten, Manieren, Stereotypien etc. Da die 
Verblödung meist recht friedlich verläuft, kommen 
derartige Kranke nur selten in Irrenanstalten. Verf. 
bringt eine grössere Anzahl von Krankengeschichten 
bei. 

Cronbach-Berlin: Die Beschäftigungsneu¬ 
rose der Telegraphisten. 

Sowohl kerngesunde als auch irgendwie disponirte 
Personen können nach kürzerei oder längerer Thätig- 
keit am Hughsapparat genau so wie am Morseapparat 
von spezifischen Beschäftigungsneurosen befallen werden. 
Es handelt sich um sensorische, motorische, vaso¬ 
motorische und sekretorische Störungen, die hauptsäch¬ 
lich an der Beugeseite des Vorderarmes und der 
Vola manus, sowie am ulnaren Theil des Handrückens 
anftreten. Besonders charakteristisch ist eine Form 
der motorischen Störung, bei welcher die Arme und 
Hände des vor dem Hughsapparat sitzenden Kranken 
in einer richtigen Clavierspielerstellung fest stehen. 
Ausser den lokalen Symptonen kommen noch Allge¬ 
meinerscheinungen (ziehende Schmerzen im ganzen 
Körper, Kopfschmerzen) in Betracht. 

Die Prognose quo ad sanationem ist ziemlich 
schlecht, therapeutische Massnahmen sind nicht beson¬ 
ders nutzbringend, der gepriesene Ersatz des Morse- 
durch den Hughsapparat hat sich garnicht bewährt. 


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68 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 6. 


Bd. 37, Hoft 

Rydel und Seiffer (Berlin): Untersuch¬ 
ungen über das Vibrationsgefühl oder die 
sog. „K noch ensens ibilität“ (Pal läst h es i e). 
Beim Aufsetzen einer in Schwingung versetzten 
Stimmgabel auf bestimmte Stellen der Körperober¬ 
fläche wird ein eigenthümliches Gefühl von Summen 
oder Brummen empfunden. Dasselbe ist eine ge¬ 
sonderte Sensibilitätsart und unterscheidet sich wesent¬ 
lich von den übrigen Empfindungsqualitäten. Wo 
starke Störungen dieses Gefühl bestehen, findet man 
fast immer zugleich Ataxie event. auch Lagegefühls¬ 
störungen. 

Die geschilderte Sensibilitätsart ist wahrscheinlich 
nicht oder nicht allein den Knochen bez. dem 
Periost zuzuschreiben, es empfiehlt sich daher nicht 
den Namen Knochensensibilität anzuwenden, sondern 
Vibrationsgefühl oder Pallästhesie (ardXAfa^ai-vibriren, 
schwingen). Nach Ansicht der Verf. handelt es sich 
um eine complicirte Empfindungqualität, welche wahr¬ 
scheinlich von den feinsten Nervenfasern aller unter 
der Haut liegenden Gewebe aufgenommen und weiter¬ 
geleitet wird. Sie muss als ein weiterer Ausdruck 
der sogenannten „Tiefensensibilität“ aufgefasst werden. 

Bd. 37, Heft 3. 

Henneberg-Berlin. Zur forensisch-psychia¬ 
trischen Beurtheilung spiritistischer Medien. 

Verf. giebt die Beobachtungsresultate sowie das 
über das bekannte spiritistische Medium Anna Rothe 
erstattete Gutachten wieder. Eine tiefgreifende und 
die strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit aufhebende 
Geistesstörung lag nicht vor, wohl aber Hessen sich 
hysterische Symptome nachweisen. Wesentlich war, 
dass Hypnose bei ihr sehr leicht künstlich hervorge- 
rufen werden konnte und dass sie oft Trancezustände 
darbot, d. h. spontan eintretente bez. willkürlich von 
ihr producirte hypnotische und somnambule Zustäude. 

In forensischen Fällen von Mediumismus handelt 
es sich in der Regel um die Frage, ob der Trance¬ 
zustand, in welchem ein Medium die als Betrug auf¬ 
gefassten Handlungen (Apporte, Reden Verstorbener, 
Geisterschriften) beging, ein echter oder vorgetäusch¬ 
ter war. In einem ausgesprochenen Trancezustand 
ist eine die freie Willensbestimmung aufhebende Geistes¬ 
störung zu erblicken, ganz ähnlich wie in den ver¬ 
schiedenen Dämmerzuständen etc. Ein Unterschied 
besteht nur darin, dass professionelle Medien den 
Eintritt dieser Zustände veranlassen oder wenigstens 
begünstigen können; ihre willkürlich veranlassen Auto- 
hypnesien lassen sich vergleichen mit der selbstver¬ 
schuldeten Trunkenheit, dem zielbewussten „Antrinken 
mildernder Umstände“. Es ist zu wünschen, dass der 
Ausnützung eines willkührlich hervorgerufenen abnormen 
Geisteszustandes entgegengetreten wird. 

Alter-Leubus. Ein Fall von Dipsomanie. 

Verf. beschreibt einen Fall von epileptogener Dip¬ 
somanie, bei dem die Anfälle eingeleitet wurden durch 
Ansteigen des Blutdrucks und Störungen in der Fre¬ 


quenz, dem Rythmus und dem Charakter des Pulses. 
Danach trat eine Veränderung im Affekt ein (Angst 
oder Unlust) und gleichzeitig mit der Verstimmung 
Hess sich jedesmal eine beginnende Diletation des 
Herzens nachweisen; die wiederholt einen sehr be¬ 
deutenden Umfang annahm und einige Male von 
intensivem Durstgefühl begleitet war. Eine Erklärung 
für sämmtliche Erscheinungen findet Verf. in der 
Annahme, dass es sich um eine primäre Epilepsie 
des Vasomotorencentrums handelt. 

Arne mann - Grossschweidnitz. 

— A. Pick: Ueber eine besondere insi- 
diöse durch das Fehlen der Krampfanfälle 
characterisi erte Form des Status epilep- 
t i c u s. 

Wiener med. Wochenschrift 1904, S. 331. 

Nachdem schon Bresler 1896 mehrere Fälle be¬ 
schrieben hatte, bei welchen bei Epileptikern der 
Tod in einem zunehmenden Koma von der Dauer 
von 8 bis 14 Tage eintrat, ohne dass Anfälle, noch 
weniger gehäufte Anfälle, vorangegangen w’ären, berich¬ 
tet Pick über einen weiteren Fall dieser seltenen 
Form des Status epilepticus, der auch des Symptoms 
der gehäuften Anfälle gänzlich entbehrte, und sich 
lediglich als ein protrahiertes Koma darstellte, wie 
auch die früher auftretenden Anfälle sich vielfach im 
wesentlichen als postepileptischen Sopor kennzeich¬ 
neten und von Perseveration, Echolalie, katatonischen 
Erscheinungen und sensorischer und motorischer 
Apraxie begleitet waren. Die praktische Bedeutung 
der Kenntaiss dieser eigentümlichen V e rla u fo a rt des 
Status in prognostischer Beziehung liegt auf der Hand. 

— Pelmann: Ueber die Eheverbote 
unter Blutsverwandten. 

Deutsche Revue. Jan. 1904. 

Verfasser geht der meist geduldig übernommenen 
Lehre von der Schädlichkeit der Verw^andtenheiraten 
zu Leibe. Die degenerative Wirkung der Innenzucht 
sei weder durch theoretische Erklärungen noch durch 
statistische Nachweise zu halten. Er verwaist auf 
die Versuche des Historikers Otto Lorenz, unsere 
Anschauungen über Erblichkeit und Verwandtenehen 
in andere Bahnen zu lenken. Nicht der Stammbaum 
sei das richtige Mittel, um der Sache auf die Spur 
zu kommen, sondern die Ahnentafel, die sehr an¬ 
schaulich ergäbe, dass Ahnenverlust und Inzucht mit 
der Entwicklung der jungen Menschheit unzertrennlich 
verbunden seien., ohne dass sie degeneriere. Auch 
der Einfluss des einzelnen Ascendenten gewinue da¬ 
durch eine ganz andere Werteinschätzung. Und 
somit sei bis jetzt ein gesetzliches Einschreiten gegen 
das Eingehen von Verwandtenehen nicht hinreichend 
begründet. 

9 ^^ Dieser Nummer liegt ein Prospekt bei der 
Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co., 
Elberfeld, 

worauf die geschätzten Leser besonders hingewiesen 
werden. 


Für den redaktionellen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Bresler , Lublinitz (Schlesien). 

Erscheint ieden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Vertag von Carl Marhold in Halle a. S. 

Heynemann’sche Buchdruckerei (Gebr. Wolf?) in Halle a. S. 


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Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift. 

Redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Breslor, 

Lublinitx (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.'Adresse: Marho Id Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834. 

Nr. 7, 14 Mai. 1904. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marho Id in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die 3spaltige Petitxeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarxt Dr, Joh. Rresler, Lublinitx (Schlesien), xu richten. 


Material zu § 156g B. G. B. 

Von Dr. K. Osswald ', Oberarzt an der Landesirrenanstalt Hofheim. 


In Sachen der Friedrich Wilhelm A. Ehefrau 
Rosine, geb. M. zu Offenbach, Klägerin gegen 
ihren Ehemann Friedrich Wilhelm A. von Neu- 
Isenburg z. Zt. im Landeshospital Hofheim, Beklagten 
wegen Ehescheidung hat die Civilkammer III Grossh. 
Landgerichts der Provinz Starkenburg am n. Februar 
1904 beschlossen: 

Es soll Beweis erhoben werden über die Be¬ 
hauptung der Klägerin, dass die Geisteskrankheit des 
Beklagten mindestens 3 Jahre gedauert und einen 
solchen Grad erreicht hat, dass die geistige Ge¬ 
meinschaft der Eheleute aufgehoben, auch jede 
Aussicht auf Wiederherstellung dieser Gemeinschaft 
ausgeschlossen sei. 

Auf Ersuchen genannten Gerichts vom 12. 
Februar 1904 gebe ich unter Berufung auf den von 
mir generell geleisteten Sachverständigeneid als 
behandelnder Arzt des Beklagten nachstehendes Gut¬ 
achten ab. 

Nach der Fragestellung habe ich folgende 
Punkte zu beantworten: 

1. Ist Rubrikat geisteskrank? 

2. Dauert die Geisteskrankheit schon mindestens 
3 Jahre? 

3. Hat sie einen solchen Grad erreicht, dass 
dadurch die geistige Gemeinschaft ausgeschlossen ist ? 

4. Ist jede Aussicht auf Wiederherstellung der¬ 
selben ausgeschlossen? 

Frage 1 beantworte ich mit Ja. 

Denn Rubrikat befindet sich wegen Geistes¬ 
krankheit seit dem 6. Mai 1903 dauernd in hiesiger 
Anstalt; ferner ist derselbe auf mein Gutachten vom 
21. September 1903 durch Beschluss Grossh. Amts¬ 
gerichts Offenbach vom 30. September 1903 wegen 
unheilbarer Geisteskrankheit entmündigt. Durch 

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beide Umstände halte ich den Beweis der Geistes¬ 
krankheit für erbracht. 

Zur Beantwortung von Frage 2 kann ich auf 
den zwecks Aufnahme des Rubrikaten in die Irren¬ 
anstalt unter dem 6. März 1903 von Gr. Kreisarzt 
Medicinalrath Dr. Pf. in Offenbach ausgestellten 
Fragebogen zurückgreifen. 

In demselben heisst es: „A. lernte in der 
Schule weder lesen noch schreibendie Richtigkeit 
dieser Angabe geht daraus hervor, dass A. auch 
jetzt nicht lesen und seinen Namen nur zur Noth 
schreiben kann, d. h. so, dass jemand, der weiss, 
was es heissen soll — ihn entziffern kann. Die 
Buchstaben und Zahlen kennt er nicht. Er rechnet 
wohl die einfachsten Additions- und Subtractions- 
aufgaben, zum Theil mit Hilfe der Finger, Multipli¬ 
kation und Division ist ihm aber fremd. 

Da also Rubrikat trotz auf ihn verwandter Mühe 
in der Schule fast nichts gelernt hat, ist dies meines 
Erachtens ein Beweis für seine damals bestehende 
Bildungsunfähigkeit resp. für einen so hohen Grad von 
Geistesschwäche, dass man denselben unzweifelhaft 
als Geisteskrankheit (Idiotie) bezeichnen muss. 

Ausserdem ist in dem Zeugniss über den Zeitpunkt 
des Beginns der Geisteskrankheit gesagt: „Seit den 
letzten 2 Jahren ist A. von dem Wahn befallen, 
dass er mit Frau v. R. in Frankfurt in beständigem 
Geschlechtsverkehr stehe, dass diese häufig an seiner 
Arbeitsstelle vierspännig anfahre und sich hier oder 
im Wald von ihm gebrauchen lasse.“ An dieser 
unzweifelhaften Wahnidee hält Rubrikat auch 
jetzt unverrückbar fest, ja er spinnt sie noch weiter 
aus, indem er z. B. erzählt, dieselbe habe eins 
oder mehrere Kinder von ihm, er habe bei ihr oft 
lange Zeit zugebracht, sei von Bedienten geholt 
worden, habe in Stuben bis oben hin voll von Gold 

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?o 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


gesessen,,dasselbe handvollweis verschenkt, auf sein 
Geheiss seien Häuser niedergerissen und wieder auf¬ 
gebaut worden etc. 

Aus diesen letzteren Angaben geht mit Be¬ 
stimmtheit hervor, dass A. schon mindestens 3 Jahre 
geisteskrank ist, wenn etwa jemand aus der That- 
sache der Bildungsunfähigkeit des Rubrikaten den 
Beweis, dass er schon von Jugend auf geisteskrank 
ist, als nicht erbracht ansehen wollte. 

Wende ich mich nun zu Punkt 3, so ergiebt sich 
aus meinen Ausführungen zu Frage 2, dass A. schon 
zur Zeit der Eheschliessung hochgradig geisteskrank 
im Sinne des Gesetzes gewesen ist. Man wird von 
vornherein im Zweifel sein müssen, ob ein bildungs¬ 
unfähiger Idiot überhaupt ein Verständniss, ein Be¬ 
wusstsein für die ihm als Familienvater obliegenden 
sittlichen Pflichten besitzen (und somit diese auch 
nicht betätigen) konnte, mit anderen Worten, ob mit 
einem solchen Individuum überhaupt eine geistige 
Gemeinschaft möglich war. 

Nun hat aber während der Dauer der Ehe noch 
zu verschiedenen Zeiten eine Steigerung der Krankheit 
stattgefunden und zwar nach dem kreisärztlichen 
Fragebogen zum ersten Mal vor ungefähr 8 Jahren. 
Damals machten sich gelegentlich der Geburt eines 
Kindes Zeichen akuter Geistesstörung bemerkbar, 
indem A. damals die Hebamme bedrohte, weil sie 
ihm die von seiner Frau geborenen 8 Affen fort¬ 
genommen und durch ein untergeschobenes Kind 
ersetzt habe. Dazu kommen in den letzten Jahren 
die schon vorher erwähnten geschlechtlichen und 
zahlreiche andere Grössen Wahnideen, z. B. dass wenn 
er sich eineft Platz angesehen und nur gedacht habe, 
da könnte man ein Haus hinbauen, so sei auch 
alsbald ein Haus dort entstanden; er habe 
draussen im Feld Säcke voll Gold deponirt, es sei 

ihm viel Geld „von der R.cn“ vermacht 

worden, er könne draussen 10 bis 20 Mark den Tag 
mit leichter Mühe verdienen u. s. f. 

Fassen wir die aus dem Vorstehenden sich er¬ 
gebende unglaubliche Urtheilslosigkeit ins Auge, ver¬ 
möge deren Rubrikat auch geradezu Alles für 
möglich und wahr hält, was ihm seine erregte 
Phantasie vorgaukelt, und alles glaubt, was ihm andere 
aufbinden, den Umstand, dass A. seinen Geburtstag 
nicht nennen kann, das Datum nicht ungefähr kennt, 
nicht weiss, wo er sich befindet, den Ort seines 
jetzigen Aufenthaltes nicht nennen kann, betrachten 
wir sein Interesse, das sich nur auf das was seine 
Persönlichkeit unmittelbar angeht beschränkt: er ist 
eigentlich gar nicht unzufrieden, dass er hier sein 
muss, freut sich im Gegentheil, dass er hier sein gutes 


[Nr. 7. 


Essen gebracht bekommt, ein gutes Bett hat, nicht 
oder wenig zu arbeiten braucht, sich ausruhen kann, 
seine Frau könnten ja andere ernähren, er hats lang 
gut hier — so besteht kaum ein Zweifel, dass ein 
derartiger Mensch gemeinsame Familieninteressen 
weder kennt, noch sie zu fördern die Fähigkeit oder 
den Willen hat. 

Als Rubrikat noch bei seiner Familie war, hat 
er seine sittlichen Pflichten als Ehemann infolge 
seiner Geisteskrankheit gröblich vernachlässigt. Zum 
Theil wohl infolge von Beeinträchtigungsvorstellungen 
gegen seine Frau, die angeblich das von ihm ver¬ 
diente Geld mit anderen „Kerlen“ durchbrachte, 
während er nichts gehabt habe, die er eine Hure 
nennt, welche er zusammen mit einem Burschen 
erwischt habe — hat er seine Frau grob und brutal 
behandelt, sie auch bedroht und geschlagen. Durch 
die Schamlosigkeit, mit der er umständlich vor 
seinen Kindein (vergleiche Fragebogen) seinen an¬ 
geblichen Geschlechtsverkehr mit der Baronin R. und 
zahlreichen anderen Damen breittrat, durch seine fort¬ 
währende geschlechtliche Erregtheit — er nannte sich 
nur noch den Pariser Kindermacher, alle Kinder, die 
man sehe, seien von ihm — hat er die Sittlichkeit 
in der Famjlfe hochgradig gefährdet und die Er¬ 
ziehung seiner Kinder geschädigt, w-as wohl mit den 
Anlass bildete, die Kinder den Eltern zu nehmen 
und in fremde Hände zu geben. 

Auch seinen Pflichten als Ernährer der Familie 
ist A. in der‘letzten Zeit, bevor er zur Anstalt ge¬ 
bracht wurde, schlecht nachgekommen. Infolge seiner 
Grössenideen arbeitete er nur unregelmässig und wie 
er gerade Lust hatte. Weil er seinen Arbeitsverdienst 
zu hoch einschätzte, glaubte er, fortlaufende Arbeit 
gar nicht nüthig zu haben; so meinte er z. B. durch 
Ausfegen eines Abortes 25 Mark verdienen und von 
diesem Geld die Wohnungsmiethe für 3 Monate und 
noch den Haushalt bestreiten zu können. 

Hatte sich also A. schon früher für seine Familie 
recht wenig besorgt gezeigt, so ist seit seiner Auf¬ 
nahme in die Irrenanstalt noch eine Zunahme der 
Interesselosigkeit und eine weitere Entfremdung ein¬ 
getreten. 

A. äusserte wiederholt, er sei ja nun die Sorge 
um die Familie los, die müssten andere ernähren, 
ihm fehle ja nichts hier. 

Er Hess sich zwar einigemal von anderen Briefe 
an seine Frau schreiben, jedoch nur in der Absicht 
mit ihrer Hilfe wieder in die Freiheit zu gelangen, 
da er sich ja für völlig gesund hält — nicht weil 
er als Familienvater sich nach Frau und Kindern 
sehnte und für sie arbeiten und sorgen w’ollte. Be- 


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1904.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


7i 


sonders gegen seine Frau scheint in letzter Zeit die Ent¬ 
fremdung noch zugenommen zu haben, er erklärte 
auf Befragen, ob er damit einverstanden sei, dass 
seine Frau sich von ihm scheiden lasse — er habe 
gar nichts dagegen, wenn sie es wolle, es sei ihm 
einerlei, komme er wieder aus der Anstalt, so seien 
gleich mehrere an ihrer Stelle da, die ihn heirathen 
wollten, es hätten schon mehrere Wittweiber in 
Ysenburg, die Kinder von ihm hätten, nach ihm 
gefragt mit Heirathsabsichten. Als seine Frau einmal 
krank gewesen, sei auch gleich ein Mädchen ge¬ 
kommen und habe ihm sein Essen gekocht. 

Diese absolute Gleichgültigkeit gegen seine Frau 
erklärt sich wohl aus dem Vorhandensein von speciell 
auf sie gerichteten Wahnideen, die Rubrikat erst in 
letzter Zeit geäussert hat. Unter 4 Augen erzählte 
er Referenten kürzlich mit vergnügtem Lächeln, seine 
jetzige Frau sei ja gamicht seine Frau, er sei nur 
„Bursch“ bei ihr; sie habe ja 4 Kinder von ihm, die 
stünden aber, wie ihm ein Schutzmann vorgelesen 
habe, gar nicht auf seinem Namen eingetragen, auch 
die Frau führe nicht seinen, sondern ihrer Mutter 
Namen. Bevor er mit seiner Frau aufs Standesamt 
sei, wäre er schon mit der Tochter eines reichen 
Fabrikanten dort gewesen, die auch bei ihm geschlafen 
habe — sie habe ihn wohl nachher nicht genommen, 
weil er zu dumm gewesen sei. Durch Geschäfte habe 
er sich dann dazu bringen lassen, seine jetzige Frau 
„anzunehmen“, Referent solle aber ja nichts darüber 
sagen, sonst bekomme er vom Bürgermeister seine 
Schmisse. 

Wenn also Rubrikat überhaupt noch ein Bewusst¬ 


sein von dem Bestehen seiner Ehe hat, w*as man 
nach den vorherigen Ausführungen bezweifeln kann ? 
so hat er jedenfalls gar kein Interesse mehr an dem 
Fortbestehen dieses Bandes, welches nur noch ein 
äusserliches ist. Die Trennung desselben hat für ihn 
keine Härte. Hatte also A. noch während seines 
Aufenthaltes bei der Familie kein Bewusstsein mehr 
verrathen für die ihm als Ehemann und Vater ob¬ 
liegenden Pflichten, hatte er in Folge seiner Geistes¬ 
krankheit weder die Fähigkeit noch den Willen die 
gemeinsamen Interessen wahrzunehmen und zu fördern# 
so gilt alles dies jetzt noch in erhöhtem Maasse, wo 
er seine Frau nicht einmal mehr als rechtmässige 
Gattin anerkennt. 

Ich erachte demnach durch den hohen Grad 
der Geisteskrankheit des Rubrikaten die geistige Ge¬ 
meinschaft zwischen den Ehegatten für aufgehoben. 

Zu Punkt 4 habe ich nur zu erwähnen, dass nach 
der Art, der Dauer und dem Gr^d der vorhandenen 
Geisteskrankheit ärztlicher Erfahrung nach eine Besse¬ 
rung, geschweige denn eine Heilung absolut nicht 
mehr zu erwarten, vielmehr eine weitere Zunahme 
in nächster Zeit recht wahrscheinlich ist. 

Wegen der Unheilbarkeit und grossen Unwahr¬ 
scheinlichkeit einer Besserung der Erkrankung des 
Rubrikaten halte ich auch jede Aussicht auf Wieder¬ 
herstellung der geistigen Gemeinschaft zwischen den 
Eheleuten für ausgeschlossen. 

Zum Schluss fasse ich mein Gutachten kurz noch 
einmal dahin zusammen, dass ich sämmtliche For¬ 
derungen des § 15G9 im vorliegenden Fall als er¬ 
füllt ansehe. 


Mittheilungen. 


— Jahresversammlung des Deutschen Ver¬ 
eins für Psychiatrie zu Göttingen vom 25. bis 27. 
April 1904. (Fortsetzung.) 

Fürst ner: Neuropathologie und Psy¬ 
chiatrie. F. geht davon aus, dass 40 Jahre ver¬ 
gangen seien, dass Griesinger für die Vereinigung 
der beiden Fächer eingetreten sei und die gemein¬ 
same Direction einer psychiatrischen und Nerven- 
klinik geführt habe. Seitdem hätten wissenschaftliche 
Versammlungen und Fachblätter dasselbe Ziel zu 
erreichen gesucht. Die Discussion über diese Frage 
sei aber trotzdem nicht abgeschlossen. Neuerdings 
hätte sich sogar wiederum Gegnerschaft gegen die 
Angliederung der Neuropathologie geltend zu machen 
gesucht, speciell hat Fr. Schultze die Nervenpathologie 
für die innere Medicin reclamirt. Zunächst sei 
allerdings noch eine Vorbedingung zu erfüllen, ehe 
man an eine Verknüpfung beider Fächer denken 

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könne, es beständen noch nicht an allen Hoch¬ 
schulen selbständige psychiatrische Kliniken, bald 
müssten Krankenhausabtheilungen, bald Provinzial¬ 
anstalten Lehrzwecken dienen. Dieser Missstand 
müsse zunächst beseitigt werden. Es könne keine 
Rede davon sei, dass später das Hauptgewicht auf 
das neurologische Gebiet gelegt werde, ebenso wenig 
soll der Irrenklinik bezüglich des Krankenmaterials 
Abbruch geschehen t so dass neurologischer Unterricht 
in derselben behindert oder unmöglich gemacht 
werde. F. normirt das Verhältniss beider Art 
Kranker zu einander auf 3:1, bei dieser geringen 
Grösse werde es überall leicht möglich sein, Nerven- 
abtheilungen zu errichten, selbst w'enn auch als Noth- 
behelf an den Provinzialanstalten, wenn auch mit be¬ 
sonderen Aufnahme- und Betriebsverhältnissen. F. 
plädirt ferner für die Errichtung von Polikliniken für 
Nervenkranke an den psychiatrischen Kliniken und 


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72 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 7. 


den Landesanstalten. Die Vereinigung beider Fächer 
sei zunächst erstrebenswerth im Interesse des 
academischen Unterrichtes; in die psychiatrischen 
Kliniken kämen eine ganze Reihe Nervenkranker 
nicht, bei denen doch psychische Störungen die 
wichtigste Rolle spielten, es werden genannt viele 
Fälle von sogenannter traumatischer Neurose, that- 
sächlich Hypochondrien, Hysterien, weiter Träger von 
Psychoneurosen, manche Epileptiker und Hysterische. 
Es könnten auf den Nervenabtheilungen den 
Studirenden demonstrirt werden die Anfangsstadien 
mancher Psychosen, die später Aufnahme auf die 
psychiatrische Klinik finden müssten. Auch für den 
academischen Lehrer sei die Vereinigung wünsch ens- 
werth, die Anwendung der in der Neuropathologie 
üblichen Untersuchungsmethoden, die Verwerthung 
objectiver Befunde geben nicht nur vielfach wissen¬ 
schaftliche Anregung, sie schützen auch vor einseitiger 
theoretischer Bethätigung. 

Die Vereinigung sei weiter erwünscht im Interesse 
einer möglichst günstigen Vorbereitung und Aus¬ 
rüstung der speciellen Ausbildung der Nervenärzte. 
Sie würden sich einmal geeignetes psychiatrisches, 
sie würden sich auch das nöthige neurologische 
Wissen aneignen können, was in der Irrenklinik nicht 
immer möglich sei. Denselben Zwecken könnten auch 
dienstbar gemacht werden die Polikliniken für Nerven¬ 
kranke an den Landesanstalten. Weiter würde das Bei¬ 
sammensein beiderlie Kranker in derselben Anstalt, 
die mannigfachen Eindrücke, welche die beiderseitigen 
Angehörigen empfangen würden, dazu beitragen, die 
Vorurtheile zu zerstören, die heute immer noch be¬ 
züglich der Geisteskranken und der Anstalten bei den 
Laien bestehen. Die Trennung zwischen Geistes- und 
Nervenkranken sei vielfach eine künstliche. Auch bei 
den letzteren spielten oftmals Stimmungsanoraalien, 
Intelligenz- und Willensstörungen die Hauptrolle. Das 
Bild, das sich der Laie von Geisteskranken und An¬ 
stalten mache, sei unzutreffend. Bezüglich der Ab¬ 
splitterung der Neuropathologie von der inneren 
Medicin in den Grenzen, in denen F. sie sich denkt, 
stelle eine geringere Schwächung dar, wie sie schon 
jetzt durch die Abtrennung mancher Organerkrankungen 
geschaffen sei. Der etwaige Ausfall werde durch die 
Vertiefung und Vermehrung der Stoffwechselstudien, 
der Röntgentechnik mit ihren Consequenzen, und 
anderer Gebiete mehr als ausgeglichen. Schultze 
ginge zu weit, wenn er von inneren Klinikern Kenntniss 
der Hysterie in allen Formen, der progressiven Para¬ 
lyse und anderer Psychosen erwarte, bei dieser Ab¬ 
messung seien Conflicte mit den Fachpsychiatern un¬ 
vermeidlich. 

F. erörtert weiter die Frage, ob bisher zwischen 
beiden Fächern ein erspriesslicher Austausch wissen¬ 
schaftlicher Arbeiten stattgefunden und in Zukunft 
zu erwarten sei. Die Zahl der Arbeiter sei auf beiden 
Seiten sehr verschieden, zu den eigentlichen Neuro¬ 
logen hätten sich viele Mitarbeiter aus Nachbarge¬ 
bieten gesellt, auch eine Reihe Psychiater hätten rein 
neuro-pathologische Arbeiten geliefert, dagegen sei 
die Bethätigung an psychiatrischen Aufgaben gering 
gewesen. F. hofft, dass sich dies Verhältniss in Zu¬ 


kunft günstiger gestalten würde, wenn schon in Folge 
der Einführung der Psychiatrie als Prüfungsgegenstand 
bei den Nervenärzten von vornherein grösseres psychia¬ 
trisches Wissen vorhanden sein werde. F. zählt eine 
Reihe von Arbeiten auf, die beiden Gebieten zu gute 
gekommen seien und betont, dass, wenn auch aus 
den klinischen, psycho-physiologischen, psychologischen 
Studien weitere Förderung beider Fächer zu erwarten 
sei, erst die Verbindung der Neuropathologie mit der 
Psychiatrie über viele Gebiete Klarheit schaffen werde. 

Autoreferat 

Hoche: Eintheilung und Benennung der 
Psychosen mit Rücksicht auf die Anforder¬ 
ungen der ärztlichen Prüfung. 

Der Streit um die Klassifikation ist so alt, wie 
die wissenschaftliche Psychiatrie überhaupt; es ist 
tröstlich, zu sehen, dass unter allen Klagen über die 
Uneinigkeit der Irrenärzte ihre Wissenschaft ruhig 
fortgeschritten ist. Die Eigenart des Objektes ist 
der Hauptgrund, warum in der Psychiatrie jede Ein¬ 
theilung ein Programm, ein Bekenntniss zu einem 
bestimmten Princip ist. Die allgemeine Verständigung 
ist durch die vielerlei möglichen Betrachtungsweisen 
erschwert. Dass die Uneinigkeit heute grösser sei, 
als früher, ist Schwarzseherei; jedenfalls ist sie ein 
Zeichen vielseitiger Bestrebungen und mag als Symbol 
des Fortschrittes gelten. 

Für das psychiatrische Staatsexamen bringt die 
Buntscheckigkeit der Namengebung eine gewisse 
Schwierigkeit mit sich; dieselbe ist aber nicht so 
gross, bei näherer Betrachtung. Der Examinator 
muss eben im Stande sein, Candidaten auch in der 
psychiatrischen Sprache eines Anderen zu prüfen; ob 
derselbe die von der Examensordnung verlangtem 
für einen praktischen Arzt erforderlichen Kenntnisse 
in der Irrenheilkunde besitzt, lässt sich bei Gebrauch 
jeder beliebigen Klassifikation feststellen. Immerhin 
sollte das nahende Staatsexamen das Verantwortungs¬ 
gefühl der psychiatrischen Schriftsteller in der Richt¬ 
ung schärfen, dass der Luxus reichlicher Neuschaff¬ 
ung von Namen eingedämmt wird. Eis sollte auch 
bei der Auswahl des Lehrstoffes die Nothwendigkeit 
der Verständigung mit den Andern mehr als bisher 
im Auge behalten werden. 

Jede Klassifikation ist brauchbar, in deren Sprache 
man sich versteht; eine systematisch befriedigende 
wird nie existiren, sie ist auch nicht nöthig. Ein 
Blick auf den momentan gegebenen Lehrstoff zeigt, 
dass das Gemeinsame darin das Trennende über¬ 
wiegt, und vor Allem ist in der für die praktische 
Handhabung der Staatsprüfung wichtigeren allgemeinen 
Symptomenlehre eine Verständiguug wohl durchführ¬ 
bar. Bei Bemessung der an den Examinanden zu 
stellenden Ansprüche muss das praktische Bedürfniss 
des Arztes das Bestimmende sein; die praktischen 
Indikationen, die den Arzt bei Psychosen angehen, 
lassen sich ohne alle Klassifikationsfeinheiten ableiten; 
überhaupt müssen wir sehr zufrieden sein, wenn es 
gelingt, in der Zeit von i bis 2 Semestern den 
Studirenden die elementarsten Kenntnisse beizu¬ 
bringen. — Es steht zu hoffen, dass dieser für die 


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I9°4-] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


73 


Entwicklung der Psychiatrie wichtige Zeitabschnitt 
nicht durch überflüssige Uneinigkeit um sein Bestes 
betrogen wird. (Autoreferat.) 

Dr. Scheven-Rostock: Zur Physiologie des 
Patellarreflexes. 

Die vom Vortragenden grössten Theils an Kanin¬ 
chen angestellten Untersuchungen über das Knie¬ 
phänomen haben zu Ergebnissen geführt, welche zu 
einer Bestätigung der Reflextheorie der Sehnenphä¬ 
nomene dienen können. In der i. Versuchsreihe 
wurden mittelst der graphischen Methode die Latenz¬ 
zeiten der Unterschenkelstreckung bei Perkussion der 
Patellarsehnen und bei direkter, faradischer Quadri- 
cepsreizung bestimmt, und zwar bei gleicher Extension 
der Unterschenkelbewegung bei beiden Reizarten. 
Es ergab sich bei diesen Versuchen constant, dass 
die Latenzzeit bei Perkussion der Sehne fast das 
doppelte der bei direkter Muskelreizung zu bestim¬ 
menden Zeit beträgt. Die berechnete Differenz 
zwischen den beiden Latenzzeiten, welche im Mittel Vioo 
Sec. betrug, muss, da alle durch die Versuchsmechanik 
bedingten Zeitverluste bei beiden Reizarten dieselben 
waren, von der Fortleitung der Erregung durch den 
Reflexbogen in Anspruch 'genommen werden. Denn 
diese Differenzzeit ist eine zu grosse, als dass sie, 
unter der Annahme einer bei beiden Reizarten vor¬ 
handenen direkten Muskelreizung, auf die Verschieden¬ 
heit der Latenzzeit bei den beiden Arten der Reiz¬ 
ung zurückgeführt werden kann — vor allem auch 
in Rücksicht auf die bei den letzteren annähernd 
gleich grosse Extension der Unterschenkelstreckung. 

In einer weiteren Versuchsreihe wurde die Ex¬ 
tension der Streckbewegung bei gleichbleibender 
Stärke der Sehnenperkussion und bei verschieden 
grossen Reizintervallen fortlaufend graphisch darge¬ 
stellt Die hierbei gewonnenen Curven zeigen con¬ 
stant auffallende, unregelmässige Schwankungen der 
Grösse der Reflexbewegung, ohne dass eine Periodi- 
dtät zum Ausdruck kommt Eine ausreichende Er¬ 
klärung dieser Erscheinungen ist z. Z. nicht möglich. 
Von besonderer Wichtigkeit erscheint der constante 
Befund, dass bei allmählicher Verkürzung des Reiz¬ 
intervalls von 20" bis 1" die Höhe der Ausschläge 
der Unterschenkelstreckung an den Gurven einen 
treppenartigen Anstieg zeigt, aber, nachdem ein Maxi¬ 
mum erreicht ist, wieder eine leichte Senkung erfährt. 
Dieser Befund ist nur auf eine Summationswirkung 
der aufeinander folgenden Sehnenperkussionen zu¬ 
rückzuführen. Wenn die Reizungen in kürzeren Inter¬ 
vallen aufeinander folgen, werden sie auf grössere 
Rückstände der durch die vorangegangenen Reiz¬ 
ungen bedingten Erregungen im Centrum treffen und 
infolge einer Summation ausgiebigere Reflexbeweg¬ 
ungen herbeiführen, als die in längeren Intervallen 
erfolgenden Perkussionen. Diese als Summations¬ 
wirkung aufzufassende Erscheinung ist nur bei der 
Annahme einer reflectorischen Natur des Sehnen¬ 
phänomens erklärlich, während sie mit der Theorie 
der direkten Muskelreizung kaum in Einklang zu 
bringen ist (Autoreferat.) 

Dr. Weygand t- Würzburg: Verhalten des 
Gehirns bei Situs viscerum transversus. 

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Ein bei der Section eines in der Trunkenheit tot 
zusammengestürzten Menschen festgestellter Fall von 
Situs viscerum transversus lud mich zur genaueren 
Untersuchung ein 

1. wegen der Frage des Zusammenhangs der 
körperlichen Abnormität mit psychischen und heredi¬ 
tären Verhältnissen, und 

2. wegen der Frage, ob sich nicht auch im Cen¬ 
trainervensystem ein Ausdruck der Inversion finden 
lässt. 

Der Verstorbene war früher 3 /* Jahre in einer 
psychiatrischen Anstalt, wo er im Wesentlichen das 
Bild einer Katatonie dargeboten hatte. Doch schon 
in der Jugend fiel er durch Trägheit, mangelhafte 
Begabung und minderwerthigen Charakter auf. In 
seiner Familie fand sich noch eine Reihe von Fällen 
psychopathischer Minderwerthigkeit, ferner litt der 
Vater an schwerem chronischen Alkoholismus; ein 
Blutsverwandter zeichnet sich durch seine Umgebung 
überragende Talente aus. Ein entfernter Verwandter 
nun, der auch schon von früh auf psychopathische 
Züge aufweist, hat dieselbe Anomalie eines Situs trans¬ 
versus, doch ist er rechtshändig, während unser Fall 
linkshändig ist. 

Im Gehirn lenkt sich das Interesse auf die moto¬ 
rische Sprachregion, insbesondere auf die Stirn Wind¬ 
ung und die Insel, deren Verletzung Leitungs-Aphasie 
bedingt. Nach Rüdinger ist das Uebergewicht der 

3. Stirnwindung und auch der Insel auf der linken 
Seite wenigstens bei hochgebildeten, rechtshändigen 
Personen deutlich. Die histologischen Untersuch¬ 
ungen von Käs, soweit sie die rechte und linke 
Hemisphäre vergleichen, sprechen wenigstens für eine 
im Ganzen reichere Faserentwicklung der linken 
Inselgegend. Im Ganzen gehen die Autoren hin¬ 
sichtlich des mikroskopischen und auch makrosko¬ 
pischen Baues der Insel auseinander, offenbar auf 
Grund weitreichender individueller Variation des Or¬ 
ganes. 

In unserm Falle war der Windungstypus der 3. 
Stirn windung rechts entschieden reicher, vor allem 
aber überragte die rechte Insel bei weitem die linke. 
Die Oberfläche des Insellappens betrug links 3,93 qcm, 
rechts 5,61 qcm; an Windungen zeigte die rechte 
Insel 4, die linke nur 2. 

Die histologische Untersuchung ergab zunächst 
eine hochgradige Zell Veränderung, vor allem Glia¬ 
wucherung, Ganglienzellkernschwellung, Homogenisir- 
ung und vielfacher Schwund des Zellkörpers, häufig 
auch das Bild der „Auffressung“ der Nervenzellen 
durch die Glia, alles offenbar als Ausdruck der 
schweren psychischen Erkrankung. 

Ferner wurden zum Vergleiche der rechten und 
linken Insel Messungen der Binde- und Markmassen, 
sowie der verschiedenen Rindenschichten, ausserdem 
auch Faser- und Zellzählungen vorgenommen. 

Ein deutliches Ueberwiegen der einen oder andern 
Seite ist jedoch nicht festzustellen, die stärkere Ent¬ 
wicklung der rechten Insel kommt vielmehr nur in 
einer das ganze Organ vergrössemden und die Wind¬ 
ungszahl verdoppelnden Vermehrung der einzelnen 
Elemente, nicht aber in einer Vergrösserung der ein- 

Original from 

HARVARD UNIVERSITY 






74 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 7. 


zelnen Theile oder einer Vermehrung der Elemente 
in der Raumeinheit zum Ausdruck. Als wesentlichste 
Resultate sind folgende hervorzuheben: 

1. Situs transversus kommt familiär vor. 

2. Situs transversus tritt vereint mit psychischer 
Degeneration auf und stellt ein Stigma hereditatis dar. 

3. Situs transversus spricht sich auch im Hirn 
aus, bei Linkshändern wenigstens in einer reicheren 
Entwicklung der Sprachregion auf der rechten Seite, 

4. Linkshändigkeit ist als eine Folge von Situs 

transversus partialis, nämlich der Inversion des Cen¬ 
tralnervensystems anzusehen. (Autoreferat) 

Dr. Wanke-Friedrichsroda: Psychiatrie und 
Pädagogik. 

Nach einem Hinweis auf die zur Zeit noch be¬ 
stehende Unzulänglichkeit der Pädagogik in der Be¬ 
rücksichtigung der psychischen Individualität sowohl 
wie der psychischen Abnormitäten schildert Vor¬ 
tragender an der Hand der Fragen: Was haben wir 
zu thun oder zu unterlassen, um Geist und Gemüth 
des heranwachsenden Menschen vor Schädigungen zu 
bewahren? und: Wie viel muss Jeder, der im weiteren 
Sinne anderen als Lehrer gegenübersteht, von Psycho¬ 
pathologie wissen, um bei seinen Schützlingen psy¬ 
chisch-abnorme Züge oder daraus sich ergebende 
Handlungen so früh wie möglich als solche zu er¬ 
kennen und zu würdigen ? — zunächst eine Reihe 
in der physiologischen Breite liegender Auffälligkeiten, 
die sich im kindlichen und im jugendlichen Alter finden. 

Es ist ebenso verkehrt, normale auffällige, aber 
dem Kinde durchaus natürliche Züge für Unarten 
und schlechte Gewohnheiten zu halten, wie es ver¬ 
kehrt und verhängissvoll ist, pathologische Züge falsch 
zu deuten oder zu übersehen. — Nun folgt eine im 
Rahmen des Vortrages sich haltende Schilderung der 
psychopathologischen Züge, welche im praktischen 
Leben von Eltern, Lehrern und militärischen Vorge¬ 
setzten oft verkannt oder übersehen werden, welches 
beides zu unerquicklichen Consequenzen führen kann. 
Vortragender kommt zu dem Schluss, dass kein Haus¬ 
arzt, kein Schularzt, kein Militärarzt im Stande sein 
wird, das zu leisten, was verlangt werden muss: mög¬ 
lichst frühzeitige Erkennung der psychisch-abnormen 
Züge, welche den eigentlichen psychischen Erkrank¬ 
ungen vorangehen oder dieselben einleiten. — Die 
Erkennung derartiger Züge hängt aber ab von der 
Möglichkeit einer dauernden Beobachtung. Diese 
kann durch keinen Arzt geleistet werden, denn dem 
Arzt fehlt Zeit und Müsse dazu. Daraus ergiebt sich 
die Nothwendigkeit, bei Eltern, Lehrern, militärischen 
Vorgesetzten und überhaupt bei allen denjenigen, 
welche in ein pädagogisches Verhältniss zu anderen 
treten, ein tieferes Verständnis für den veränderten 
psychischen Mechanismus der Kranken und einen 
ausreichenden Fond psychopathologischen Wissens 
anzustreben, ausreichend, um eine richtige Deutung 
psychisch-abnormer Züge oder daraus sich ergebender 
Handlungen zu ermöglichen und dadurch die etwa 
nothwendige Beobachtung und Behandlung durch 
den Fachmann anzubahnen. — Es hat bisher keines¬ 
wegs an Bestrebungen in dieser Richtung gefehlt, 
aber die bisherigen Maassnahmen genügen nicht, wie 

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der Erfolg beweist. Wir haben uns also nach an¬ 
dern Mitteln und Wegen umzusehen. Aufgabe des 
Vortrages war es, die angeregte Frage in Fluss zu 
bringen, damit sie recht bald zu einem befriedigenden 
Ende geführt werden möge, zu Nutz und Frommen 
der Bedauemswerthen unter unseren Mitmenschen. 

(Autoreferat). 

Raecke: Hysterisches Irresein: 

Auf der vorletzten Versammlung Süd westdeutscher 
Irrenärzte ist von Hess in einem Vortrage über Hy¬ 
sterisches Irresein die Behauptung aufgestellt worden, 
dasselbe sei eine sehr seltene Krankheit und finde 
sich nur in o, 1 —0,3 % der Aufnahmen. Hess selbst 
hatte es unter Männern nur bei einem Traumatiker 
gesehen. In der anschliessenden Diskussion erhob 
sich kein Widerspruch, obgleich die geschilderten 
Verhältnisse höchstens auf Pflegeanstalten zutreffen, 
während in Kliniken und Stadtasylen die Ziffern weit 
höhere sind. In der Frankfurter Irrenanstalt bei¬ 
spielsweise schwankte die Häufigkeit hysterischer Er¬ 
krankungen während der letzten 6 Jahre stets zwischen 
4 und 6%. 

Allein es ist nicht zu verkennen, dass die Reak¬ 
tion auf eine früher übertriebene Ausdehnung des 
Begriffes „hysterisch“ dazu geführt hat, heute dem 
hysterischen Irresein fast überhaupt die Anerkennung 
zu versagen. Nissl’s bekannte Forderung, auch den 
Ganserschen Symptomenkomplex als Ausfluss des 
katatonischen Negativismus zu betrachten, ist zwar 
ziemlich allgemein auf Widerspruch gestossen, und 
sogar Kraepelin erkennt die hysterische Natur des¬ 
selben in der neuesten Auflage seines Lehrbuches an. 
Im Uebrigen enthält jedoch sein Kapitel über hyste¬ 
risches Irresein lediglich eine Schilderung des hyste¬ 
rischen Charakters und der einfachen Dämmerzu¬ 
stände, sowie die kurze Angabe, dass auf dem Boden 
der hysterischen Veranlagung erwachsene andersartige 
Psychosen hysterische Züge annehmen können. 
Die alte Lehre von einer Hystero - Melancholie und 
hysterischen Paranoia wird keines Wortes gewürdigt. 

Auch Binswanger widmet in seiner umfassenden 
Hysterie-Bearbeitung von 946 Druckseiten nur 4 Seiten 
dem Kapitel „hysterische Psychosen“, um zu er¬ 
wähnen, dass degenerative Veranlagung bei Hysterie die 
Tendenz zur Entwicklung maniakalischer, melan¬ 
cholischer, hypochondrischer und paranoischer Psycho¬ 
sen gebe, und dass manche hysterischen Zustände 
nur die Vorläufer jugendlicher Verblödungsprocesse 
bedeuteten. 

Bei dieser Sachlage erscheint es nicht unzeitge- 
mäss, die Frage nach Begriff und Krankheitsbild des 
hysterischen Irreseins neuerdings zur Sprache zu 
bringen, wobei ich meinen Ausführungen 168 Kranken¬ 
geschichten der Frankfurter Anstalt und Kieler Ner- 
venklinik zu Grunde legen kann, für deren gütige 
Ueberlassung ich den Herren Direktor Sioli und Prof. 
Siemerling zu Dank verpflichtet bin. Die Diagnose 
Hysterie stützte sich überall auf Vorgeschichte, Krank¬ 
heitsverlauf und Ausgang, soweit natürlich von Letz¬ 
terem bei Krankengeschichten aus den letzten 6 Jahren 
die Rede seii\ kann. Alle Psychosen, die mehr zu¬ 
fällige Komplikationen darstellten, sind ausgeschaltet, 

Original fr&m 

HARVARD UNlVERStTY 



i9°4-] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


75 


ebenso Seelenstörungen mit hysteriformen Erschein¬ 
ungen und Übergang in Verblödung. 

Ohne erst lange durch Schilderung des sogenann¬ 
ten hysterischen Charakters aufzuhalten, den ich 
übrigens mit Cramer, Wollenberg und Binswanger 
nicht als spezifisch für Hysterie ansehe, muss ich 
von einem kurzen Überblick über die einfacheren 
transitorischen Bewusstseinsstörungen und psycho¬ 
tischen Elementarsymptome der Hysterie ausgehen, 
weil ihre Kenntniss gewissermassen die Grundlage für 
unsere weiteren Betrachtungen bildet. 

Halluzinationen finden sich bei Hysterischen nicht 
ganz selten auch ausserhalb der eingentlichen Be¬ 
wusstseinstrübungen, vor allem Nachts. Dieselben be¬ 
treffen besonders das Gesicht, sind meist schreck¬ 
hafter Natur, werden als Täuschungen erkannnt, 
können aber heftige Angstzustände einleiten. Wie 
Wemicke mit Recht hervorhebt, handelt es sich mit 
Vorliebe um halluzinieren einer bestimmten Persön¬ 
lichkeit, gegen welche einseitiger Verfolgungswahn 
besteht. 

Paranoische Vorstellungen können überhaupt 
jederzeit episodisch auftauchen, indem das Gefühl 
ungerechter Zurücksetzung sich steigert bis zur krank¬ 
haften Eigenbeziehung. . Sehr bekannt ist namentlich 
der hysterische Eifersuchtswahn, ferner erfahren hyste¬ 
rische Sensationen häufig hypochondrische Verar¬ 
beitung. Durch Pseudologia phantastica entstehen 
passagere Grössenideen. Oder endlich es kommt zu 
allerlei Zwangsvorstellungen von wahrhaftem Gepräge. 

Wichtig sind überall bei der Hysterie die starken 
Affektschwankungen, als deren höchste Grade sich 
unterscheiden lassen der Raptus hystericus und der 
Furor. Unter ersterer Bezeichnung wird ein mass- 
loser Angstanfall verstanden, einerlei ob er von Sinnes¬ 
täuschungen und Illusionen begleitet ist, ob er zur 
Bewusstseinstrübung führt oder volle Erinnerung 
hinterlässt. Derselbe ist in der Regel ausgezeichnet 
durch Oppressionsgefühl, Herzklopfen, triebartige Un¬ 
ruhe, und entsteht mit Vorliebe Nachts, vermag zu 
Suiddversuchen zu führen oder zu Angriffen auf die 
Umgebung. In leichteren Fällen kommt es nur zu 
depressiver Verstimmung mit Hemmung, Kopfschmerz 
Appetitlosigkeit, auch mit Neigung zu planlosen 
Wanderungen. 

Der Furor, als Ausfluss höchstgesteigerter hyste¬ 
rischer Reizbarkeit, geht einher mit sinnlosem Toben, 
Zerstören, gewaltthätigen Angriffen auf die Umgebung, 
zweckloser Selbstbeschädigung und endet bisweilen 
mit tiefster Erschöpfung. Hervorgerufen wird er 
durch Gemüthserregungen wie Ärger, oder er schliesst 
sich an Krampfanfälle an. Auch Alkoholgenuss 
wirkt auslösend. (Fortsetzung folgt.) 

— Zum Erlass des Preussischen Justiz¬ 
ministers vom i. October i 902 betr. die Sach¬ 
verständigen im Entmündigungsverfahren. 
Nach dem Beschlüsse der Jahresversammlung des 
Deutschen Vereins für Psychiatrie 1903, in Jena, hatte 
der Vorstand des Vereins sich an den Preussischen 
Justizminister gewandt, um ihm die Gründe dar¬ 
zulegen, welche die deutschen Anstaltsärzte bewogen 
haben, zu erklären, 

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dass die unbedingt nöthige Gewähr für die Bei¬ 
bringung eines zuverlässigen Beweismaterials für 
den Beschluss auf Entmündigung geisteskranker 
Anstaltsinsassen nur darin gesehen werden könne, 
dass zur Abfassung der Gutachten die Anstalts¬ 
ärzte als Sachverständige hinzugezogen werden. 
Der Justizminister antwortete darauf mit folgendem 
Erlass (Berlin, den 10. März 1904. I, 1549): 

„Die Annahme des Vorstandes, dass durch die 
Allg. Verfügung vom 1. Oktober 1902 (J. M. Bl. 
S. 246) die Gerichte angewiesen seien, den Gerichtsarzt 
bezw. Kreisarzt bei Untersuchungen des Geisteszustandes 
in Entmündigungssachen zuzuziehen, ist nicht zutreffend. 
Nach § 404 der Civilprocessordnung und § 72 der 
Strafprocessordnung steht vielmehr die Auswahl der 
zuzuziehenden Sachverständigen dem Gerichte zu. 
Schon aus diesem Grunde bin ich nicht in der 
Lage, dem Schlussantrage der Eingabe zu ent¬ 
sprechen. 

Der § 14 der Allg. Verf. vom 28. Novbr. 1899 
(Just. M. Bl. S. 388), dessen Nummer 2 durch die 
Allg. Verf. vom 1. October 1902 eine veränderte 
Fassung erhalten hat, verfolgt nach seinem Wortlaute 
nur den Zweck, den Gerichten die Beachtung gewisser 
Punkte zu empfehlen, sie insbesondere auf die 
Rechtslage hinzuweisen. Diese ist seit dem Gesetze, 
betr. die Dienststellung des Kreisarztes pp. vom 
16. September 1899 (Ges. Samml. S. 172) dahin 
normirt, dass der Kreisarzt regelmässig Gerichtsarzt 
und als solcher öffentlich bestellter Sachverständiger 
ist. Dass sich diese seine Stellung auch auf die 
Untersuchung von Gemüthszuständen beziehen soll, 
ist in die Begründung des Entwurfes zu jenem Ge¬ 
setz ausdrücklich anerkannt worden (Drucksachen 
des Abgeordnetenhauses No. 136—19, Legislatur¬ 
periode I, Session 1899, S. 25 in Verbindung mit 
S. 10). Da nun andere Personen als öffentlich be¬ 
stellte Sachverständige nur dann zu Sachverständigen 
gewählt werden sollen, wenn besondere Umstände 
es erfordern, so entspricht die Allg. Verf. v. 1. Oct. 
1902 nur der durch das Gesetz selbst, insbesondere 
den § 9 für den Kreisarzt geschaffenen Rechtslage. 

Uebrigens steht nichts im Wege, dass die Ge¬ 
richte in der besonderen Qualification des Leiters 
einer öffentlichen Irrenanstalt oder in seiner Ver¬ 
trautheit mit dem Zustande des in der Anstalt unter¬ 
gebrachten Kranken einen „besonderen Umstand“ 
erblicken, der seine Zuziehung als Sachverständiger 
erfordert. Doch steht dem Justizminister hinsichtlich 
einer solchen Beschlussfassung eine directe Einwirkung 
auf die Gerichte nicht zu. Der Justizminister.“ 
Im weiteren Verfolg der vorstehenden Er¬ 
wägungen hat nun der Justizminister an die 
Preussischen Oberlandesgerichtspräsidenten und den 
Kammergerichtspräsidenten den nachstehenden Erlass 
gerichtet : 

„Die Allg. Verf. vom 1. October 1902 (Just. M. Bl. 
S. 246) ist vielfach dahin verstanden worden, dass 
dadurch, unter Abänderung früherer Anordnungen, 
die Zuziehung des Leiters oder eines Arztes der 
Irrenanstalt, in der sich der zu Entmündigende befindet, 
als Sachverständiger habe untersagt werden sollen. 

Original from 

HARVARD UNIVERSUM 



76 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 7 . 


Ganz abgesehen davon, dass eine solche Anordnung 
im Verwaltungswege gar nicht getroffen werden 
konnte, und dass die Allg. Verfügung die Gerichte 
nur auf die aus dem Gesetze sich ergebende Rechts¬ 
lage aufmerksam machen sollte, wird bei jener Auf¬ 
fassung übersehen, dass nach dem in der Allg. Ver¬ 
fügung wiedergegebenen § 404 Abs. 2 der Civil- 
processordnung der Leiter einer Anstalt dann zu¬ 
gezogen werden kann, wenn besondere Umstände es 
erfordern. 

Solche „besonderen Umstände“ werden bei den 
Leitern und Aerzten solcher Anstalten häufig vor¬ 
liegen. Sie können sowohl in der besonderen 
psychiatrischen Ausbildung, die namentlich bei 
den öffentlichen Anstalten mit Rücksicht auf die 
bei ihrer Auswahl geübte Sorgfalt vorauszusetzen ist, 
als in der durch ihre Thätigkeit erlangten grossen 
Erfahrung beruhen, vor allem aber darin bestehen, 
dass die in Rede stehenden Aerzte bei der Be¬ 
handlung des Kranken viel eingehendere Wahr¬ 


nehmungen zu machen in der Lage sind, als ein 
anderer nur auf Besuche beschränkter Sachver¬ 
ständiger. 

Es wird sich empfehlen, die Amtsgerichte darauf 
hinzuweisen, dass sie geeignetenfalls diese Erwägungen 
bei der Auswahl der Sachverständigen in Betracht 
ziehen. Zu diesem Zwecke sind . . . Druckexemplare 
dieser Rundverfügung hier angeschlossen. 

Berlin, den 21. März 1904. I, 1755. 

Der Justizminister. 

Hierdurch dürften nunmehr die berechtigten 
Wünsche der Irrenanstaltsärzte ihre Erledigung ge¬ 
funden haben. 

Siemens. 


Personalnachrichten. 

Dziekanka. Am 1. Mai ist der III. Assistenz¬ 
arzt Dr. Nolte ausgeschieden. Einberufen wurde 
Dr. von Domarns gen. Dommer. — 


t 

Johannes Vorster. 

Am 4. Mai d. J. starb zu Stefansfeld i. E. der Direktor der vereinigten Elsässischen Bezirks¬ 
irrenanstalten Stefansfeld-Hördt, Sanitätsrath Dr. Johannes Vorster, als Opfer einer Verletzung, 
welche ihm 9 Tage zuvor ein geisteskranker Verbrecher beigebracht hatte. Bei der regelmässigen 
Frühvisite hatte der Verstorbene sich auch die Zelle öffnen lassen, in welcher der Geisteskranke 
U. sich befand. Kaum hatte er, mit diesem auf dem Korridor vor der offenen Thür stehend, 
einige Worte gewechselt, als U. ihm mit einem versteckt gehaltenen dolchartigen Instrument so 
schnell einen Stich in den Leib versetzte, dass die dicht daneben stehenden Personen, der Inspektor 
und ein Wärter, nicht im Stande waren, es zu verhindern. Vorster hatte noch die Kraft, in die 
nächste Abtheilung zu gehen, sich selbst einen Nothverband anzulegen und dann, begleitet von dem 
Oberarzt, seine Wohnung aufzusuchen. Erst nach 5 Stunden gelang es, Professor Ledderhose und 
den I. Assistenten der chirurgischen Klinik Dr. Zimmermann aus Strassburg herbeizuholen, welche 
an dem der inneren Verblutung nahen Verletzten den Bauchschnitt ausführten und feststellten, dass 
weder der Darm noch ein anderes Organ der Bauchhöhle verletzt, dagegen die Blutung ausser¬ 
ordentlich stark war. 

Der Wundverlauf gestaltete sich befriedigend und das Allgemeinbefinden gab zu ernsteren 
Besorgnissen keinen Anlass, bis am 7. Tage die Schwäche unerwartet zunahm und Erscheinungen 
einer hypostatischen Veränderung der Lungen sich einstellten, in Folge deren nach weiteren 2 Tagen 
der Tod erfolgte. — 

Johannes Vorster war geboren am 13. März 1860 als Sohn eines Irrenarztes, des damaligen 
Leibarztes des Herzogs von Anhalt-Bemburg, späteren Direktors der Westfälischen Provinzial¬ 
irrenanstalt zu Lengerich. Seine Studien alsolvierte er in Marburg und Berlin, war dann 3V2 Jahre 
unter Rose I. Assistent an der chirurgischen Abtheilung von Bethanien in Berlin, darauf 2 1 /2 Jahre 
unter Hasse in Königslutter und trat im Jahre 1890 als 2. Arzt an die Anstalt Stefansfeld über, 
wo er seinem Direktor und späteren Schwiegervater Stark nach dessen Tode 1897 in der Direktion 
folgte. Er hinterlässt eine tiefgebeugte Wittwe und 4 Kinder im Alter von 8 Jahren bis 4 Monat. 

Eine nähere Würdigung des Verstorbenen in seiner amtlichen und wissenschaftlichen 
Wirksamkeit behalten wir einem besonderen Nachrufe vor. 



Für den redactionellen Theii verantwortlich: Oberarzt Dr. J. I3resier , Lublinits (Scheuen). 

Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Hevnemann’sche Buchdrudcerei (Gebr. Wolff) in Halle a. S. 


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Original fram 

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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift. 

Redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Lublinitz (Schlesien i. 


Nr. 8. 


Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

1 Adresse : Marhnld Verla*. Hallesaale. Fernsprecher 2834. 

21 . Mai. 


1904 . 


Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhnld in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die jspaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermäßigung ein. 
Zuschriften für die Redartion sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten. 


Behandlung der Epilepsie ohne Brom. 

(Aus der psychiatrischen Abtheilung des Comitats-Krankenhauses zu Bekes-Gyula. 
Chefarzt Dr. Koloman Pandy). 

Von Dr. Eugen Hahni , Assistenzarzt. 


J m Jahre 1902 stellte ich mit meinem Collegen 
Dr. Bagarus Versuche über die oligochlorose 
Brombehandlung der Epilepsie nach Toulouse-Richet 
an. Wir constatirten damals, dass bei künstlicher 
Chlorentziehung aus dem Organismus die Wirkung 
des Broms besser zur Geltung kommt, dass aber 
diese intensivere Wirkung eine mehr oder weniger 
schwerere Brom Vergiftung bedingt, und demnach thera¬ 
peutisch nicht nur nicht zu empfehlen ist, sondern 
ausgesprochen gefährlich erscheint. 

Seit jener Zeit wurden wir in unserer diesbezüg¬ 
lichen Ansicht von mehreren Seiten bestärkt. 

Tamburini betonte auf dem zu Ancona im 
Jahre 1901 abgehaltenen Congresse der italienischen 
Irrenärzte, dass obengenanntes Verfahren nicht ganz 
gefahrlos sei. Bei zweien seiner Kranken trat näm¬ 
lich ein stark confuses Irresein auf, welches nur nach 
Verabreichung von Kochsalz aufhörte. 

Ventra referirte auf demselben Congresse über 
gastro-intestinale Störungen, welche in Folge des 
genannten Verfahrens aufgetreten waren. 

Bei vier Kranken Schnitzer’s zeigte sich eine 
auffallend erhöhte Reizbarkeit. 

Mandel erwähnt, dass von 30 Kranken Berze’s 
21 reizbarer und unmuthig wurden, dass sie ihrer 
gew’ohnten Beschäftigung nicht mehr nachgingen, 
dass ihre Verwirrtheit häufiger auftrat und längere 
Zeit dauerte, und dass endlich die allgemeine Unzu¬ 
friedenheit in der Abtheilung fortwährend zunahm. 
Einige Kranke begannen auch zu abstiniren. 

Nach Berze darf man nicht so weit gehen, die 
Abnahme de/ Anfallsfrequenz als eine Besserung des 
Zustandes der Kranken zu betrachten, während 
andererseits nicht ausser Acht gelassen werden kann, 
dass die Ernährung unverkennbar schwächer wird und 


die psychopathologischen Symptome sich auffallend 
verschlechtern. 

Klinke bemerkt in dem „Centralblatt für Nerven¬ 
heilkunde“ (1902, November) in seinem Referate 
über den Anconaer Congress, dass das Toulouse- 
Richet’sche Verfahren nur Fiasko eintrug. 

Chaslin bespricht im Jahrgange 1902 der 
„Annales medico-psychologiques“ Pini’s Werk über 
die Heilung der Epilepsie und hält-seine Meinung 
über die Toulouse-Richet’sche Heilmethode für be¬ 
rechtigt, da Gioccardi und Bernardini bei 
Weitem nicht im Stande waren, damit die ver¬ 
sprochenen günstigen Resultate zu erzielen. Mit 
dieser ihrer Ansicht bestätigen sie die in unserer 
ersten diesbezüglichen Arbeit ausgesprochene Ueber- 
zeugung, dass den seit Galenus fortwährend sich 
wiederholenden Täuschungen bezüglich der Therapie 
der Epilepsie sich wiederum eine neue hinzugesellt hat. 

Chaslin’s Worte characterisiren treffend die mit- 
getheilten guten Erfolge: „Man kann, wenn man sich 
nur ein wenig anstrengt, mit einem beliebigen der 
sozusagen täglich erscheinenden neuen Arzneien 
gegen Epilepsie leicht an’s Wunderbare grenzende 
Resultate erzielen; die Zeit reducirt dann ein jedes 
auf seinen wirklichen Werth“. 

Gegenüber all* diesen Daten und Ansichten haben 
die Anhänger der Toulouse-Richetschen Heilmethoden 
noch durchaus nicht bewiesen, dass man auch bei 
normaler Diät mit der vier- bis fünffachen Dosis 
Brom nicht dieselben Resultate erzielen könnte — 
(denn dies ist die toxicologische Wirkung der Brom¬ 
salze während der hypochlorosen Diät). Unsererseits 
halten wir die oligochlore Bromtherapie mit mini¬ 
malen Dosen Brom und, so lange als es Mode ist, 
auf suggestivem Wege, für verwerthbar, wie wir es schon 


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Original frnm 

HARVARD UNIVERSITY 







PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 8. 


78 


in unserer ersten Mitteilung betont haben; es ist 
jedoch zu wünschen, dass der Arzt selbst über den 
wirklichen Werth dieser Methode orientirt sei. 

Im Laufe unserer Untersuchungen gelangten wir 
zur folgenden Frage: Wenn solch’ eine unnatürliche 
Steigerung der Bromtherapie, beziehungsweise der 
pharmako-dynamischen Wirkung der Bromsalze nicht 
motivirt ist, was für einen Werth hat eigentlich die 
Bromtherapie ? 

Um dies zu entscheiden, ohne jedoch das Befinden 
und den Gedankengang des Kranken zu beeinflussen, 
um aber auch durch plötzliche Bromentziehung keine 
unangenehme Reaction hervoi zurufen, schwächten wir 
die bis dahin gebrauchte io°/ 0 -ige Bromlösung wäh¬ 
rend einiger Monate ab, dadurch dass wir stufen¬ 
weise ein viertel Theil Brom durch Kochsalz ersetzten; 
eine Zeit lang gaben wir dem an eine salzige Lösung 
gewöhnten Kranken Kochsalzlösung, endlich stellten 
wir auch diese ein. 

Das Resultat unserer Untersuchungen ist in der 
nachstehenden Tabelle enthalten. 

Dieser Tabelle gemäss nahm die Zahl der An¬ 
fälle bei 14 von 23 Kranken ohne Brombehandlung 
zu, bei 9 hingegen ab. Was die Zunahme anbelangt, 
so w ? ar die Frequenz der Anfälle im I. Falle monat¬ 
lich durchschnittlich 7,4 mal grösser, im V. Falle 4,1 
mal, im VII. 6 mal, im VIII. 0,4 mal, im IX. 2,8 
mal, im XIII. 1,3 mal, im XVI. 4,1 mal, im XVII. 
15,1 mal, im XVIII. 4 mal, im XIX 2,4 mal, im 

XX. 12,6 mal, im XXI. 6,7 mal, im XXII. 4,7 mal, 
im XXIII. 1,8 mal. 

Eine wesentliche Aenderung war nur im XVII. 
und XX. Falle zu constatiren, in welchen die An¬ 
fälle jeden zweiten Tag durchschnittlich um einen 
Zunahmen; im XVII. Falle wechselte die Anzahl 
der Anfälle trotz Brombehandlung monatlich zwischen 
3 und 27, ohne Brom nahmen sie monatlich bei einer 
Anzahl von 8 bis 59 zu, verdreifachten sich demnach 
durchschnittlich; aber trotz der Brombehandlung gab 
es Monate mit 27 Anfällen und bei demselben 
Kranken weisen die ersten 8 Monate des Jahres 1003 
ein günstigeres Resultat auf, da die Gesammtzahl der 
Anfälle 157 gegen die 183 des Vorjahres ausmacht. 

Bei unserem XX. Kranken verdreifachte sich die 
Anzahl der Anfälle durchschnittlich, aber auch bei 
diesem gab es in den ersten 8 Monaten des Jahres 
1903 trotz des Aufhörens der Brombehandlung ein 
um 39 Anfälle günstigeres Resultat. Eine ähnliche 
Veränderung beobachteten w-ir auch beim I. Kranken, 
bei welchem sich die Anfälle ohne Bromtherapie 
günstiger gestalteten als im Jahre 1000; beim V. 
Kranken sank in den ersten 8 Monaten dös Jahres 


1903 die Anzahl der Anfälle auf in ; bei dem VII. 
Kranken blieb sie ohne Bromtherapie grösser; das¬ 
selbe sahen wir beim VIII. Kranken, der IX. Kranke 
hingegen weist ohne Bromtherapie ein besseres Re¬ 
sultat auf als im Jahre 1900, der XIII. bleibt mit 
oder ohne Brom unverändert, der XVI. Kranke, bei 
welchem im Jahre 1902 die Anfälle etwas häufiger 
wurden, besserte sich in den ersten 8 Monaten 
des Jahres 1903 ohne Brom in auffallender Weise; 
beim XVIII. Kranken erzielten w’ir, obwohl die Zahl 
der Anfälle ohne Bromtherapie zugenommen hatten, 
auch ein spontan günstigeres Resultat; dem XIX. 
Kranken ging es auch 1903 etw r as schlechter, beim 

XXI. besserte sich der Monatsdurchschnitt im Ver¬ 
gleiche zum Jahre 1902, während der Zustand des 

XXII. Kranken sich verschlimmerte und im Befinden 
des XXIII. eine nur unwesentliche Veränderung zu 
constatiren war. 

Im Gegensatz zu den eben genannten Fällen 
wurde die Anzahl der Anfälle während 8 Monaten 
geringer: beim II. Kranken um 52, beim III. um 10, 
beim VI. um 125, beim X. um 24, beim XI. um 
12, beim XIV. um 14, beim XV. um 126; bei K. 
M. T. hörten die Anfälle trotz Aussetzen der Brom¬ 
therapie gänzlich auf. Eine wesentliche Aenderung 
kann eigentlich nur beim IV., IX. und XV. Kranken 
constatirt werden, im Gegensatz zu jenen zwei Kranken 
(XVII. und XX.), bei welchen eine Verschlimmerung, 
beziehungsw’eise die Zunahme der Anfälle ganz er¬ 
heblich wurde. 

Es steht jedoch ausser Zweifel, dass man eine 
Aenderung im Zustande epileptischer Kranken nicht 
aus der blossen Zu- oder Abnahme der Häufigkeit 
der Anfälle zu beurtheilen im Stande ist, weil eben 
die in Anstalten gepflegten Epileptiker gegen die An¬ 
fälle sofortige Hilfe finden, während ebendaselbst das 
Betragen, die Reizbarkeit der Kranken und ihre 
Verträglichkeit mit den Uebrigen, endlich auch ihre 
Arbeitsfähigkeit höher anzuschlagen ist als die Schwank¬ 
ungen der Anfälle. 

Was die Psyche der Kranken anbelangt, fanden 
wir beim Aussetzen der Bromtherapie in keinem ein¬ 
zigen der Fälle irgend eine Verschlimmerung, wir 
beobachteten sogar im III., IV., V., X., XI., XII., 
XIII., XIV., XVI, XVIII. und XXII. Falle eine aus¬ 
gesprochene Besserung. Die Kranken wurden ruhiger, 
gefügiger, weniger reizbar, die prae- und postconvul- 
siven Reizzustände wmrden seltener oder dauerten 
kürzere Zeit und ein Theil dieser Kranken arbeitete 
ständig. Besonders interessant ist jedoch unser IV. 
Kranker, der bei Verabreichung von Brom monatlich 
14 bis 15 Anfälle erlitt und bei welchem nach Aus- 


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8 o PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 8. 


setzen des Broms und nachdem er begonnen hatte, 
sich systematisch zu beschäftigen, die Anfälle ganz 
ausblieben und bis heute, also seit 18 Monaten, nicht 
wiederkehrten. 

Hier folgt die Krankengeschichte: K. M. B. f 22 
Jahre alt, protestantisch, ledig, Landmann; drei Ge¬ 
schwister leben und sind gesund. In seiner Familie 
kamen weder Geistes- noch Nervenkrankheiten vor. 
Er besuchte die Schule und lernte gut Schreiben, 
Lesen und Rechnen. Auch seine Eltern und Ge¬ 
schwister können lesen und schreiben. In seinem 
elften Jahre schlug ihn sein Grossvater auf den Kopf, 
seitdem bekam er in verschiedenen Intervallen An¬ 
fälle; er Hess sich von verschiedenen Aerzten be¬ 
handeln, ohne Erfolg, weshalb er in einer Stunde 
grosser yerbitterung seinen Grossvater, den er als 
einzige Ursache seiner Krankheit hält, mit einem 
scharfgeschliffenen Messer ermordete. Anfangs leugnete 
er Alles, aber der Verdacht richtete sich immer mehr 
gegen ihn, so dass er geständig wurde. Zugleich gab 
er an, seinen Grossvater deshalb getötet zu haben, 
weil dieser ihn für sein ganzes Leben unglücklich 
gemacht hatte; später zog er sein Geständniss zu¬ 
rück und modificirte es derart, dass er sich an nichts 
erinnere und zugab, die That möglicherweise in epi¬ 
leptischem Zustande begangen zu haben. Die Be¬ 
obachtung seines Geisteszustandes wurde angeordnet 
und der justizärztliche Senat erklärte ihn als gemein¬ 
gefährlichen Geisteskranken. Als solcher wurde er 
am 14. Juni 1899 in der Lipotmezöer Landesirren¬ 
anstalt intemirt, wo er monatlich an Anfällen litt, 
nach deren Verlauf er ein gestörtes, betäubtes Be¬ 
tragen zeigte. Am 15. November 1899 brachte man 
ihn auf unsere Abtheilung, wo er Anfangs fortwährend 
händelsüchtig und rauflustig war und sich mit Nie¬ 
manden vertragen konnte. Erst als wir ihn in der 
Korbflechterei beschäftigten, besserte sich sein Zu¬ 
stand langsam und verlor seinen epileptischen Character. 
Er wurde einer unserer ruhigsten und anständigsten 
Arbeiter. Durch fortwährende Arbeit und Beschäf¬ 
tigung verminderte sich ohne Unterlass die Anzahl 
der xAnfälle, bis diese endlich seit Mai des ver¬ 
gangenen Jahres ganz ausblieben, während der Kranke, 
wie aus der Tabelle ersichtlich, früher monatlich 14 
bis 15 Anfälle gehabt hatte. Da sein Zustand sich 
derart besserte, da weiter die sehr intelligenten Eltern 
des Kranken — ziemlich wohlhabende Bauersleute — 
auch für den nicht ausschliessbaren Fall eines Rück¬ 
falles die Verantwortlichkeit übernahmen, übergaben 
wir den Kranken seinem Vater, welcher um ihn ge¬ 
kommen w r ar. Vor einigen Wochen erhielten wir 
vom Vater einen Brief, in welchem er uns mittheilt, 

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sein Sohn fühle sich wohlauf, arbeite fleissig mit dem 
Vater, es fehle ihm Gott sei Dank gar nichts. 

In Anbetracht dieser Umstände und besonders 
dessen, dass wir gerade in Anstalten einerseits durch 
systematische Verabreichung von Brom die Anfälle 
nur zu verringern, aber nicht zu coupiren im Stande 
sind, andererseits wieder die Bromtherapie die Psyche 
im Allgemeinen ungünstig beeinflusst, endlich auch 
nach Aussetzen von Brom Besserung, ja sogar voll¬ 
kommene Heilung eintritt, — gelangten wir zurUeber- 
zeugung, dass die Behandlung der Epilepsie mit Brom 
in Anstalten nur propter diagnosiin nicht gerecht¬ 
fertigt, ja nicht einmal zw’eckmässig ist. Trotzdem 
wonden auch wir die Bromtherapie von Zeit zu Zeit 
an und zwar in Fällen, in welchen wir im Voraus 
w'issen, dass unser Kranker mehrere Anfälle nach 
einander haben wird oder wenn eine mehrere Tage 
währende epileptische Erregung erfolgen wird. Aber 
auch in diesem Falle sind wir nicht ausschliesslich 
an Brom gebunden, sondern können gerade gegen 
die Erregungszustände Hvoscin, Atropin, Chloralhydrat, 
Morphium oder jedes beliebige, die Function des 
Nervensystems herabsetzende, beruhigende Mittel ver¬ 
abreichen. In einzelnen dieser Fälle scheint das 
Veronal ausgezeichnet zu wirken. Die Bromsalze 
selbst verabreichen wir in grossen Dosen von 10 bis 
12 g und vermindern die Dose stufemveise beim Nach¬ 
lassen des Erregungszustandes. Bei postepileptischem 
Stupor oder epileptischer Atonie geben wir natürlich 
kein Sedativum ein. Parallel mit der Arzneitherapie 
oder an ihrer Stelle wendeten wir gerade bei Erre¬ 
gungszuständen warme Bäder, lauwarme Einpackungen 
mit ausserordentlichem Erfolge an. Uebrigens be¬ 
trachten wir sowohl gegen Erregungszustände, als auch 
gegen Krämpfe als bestes Heilmittel: Ordnung in der 
Anstalt, Versetzung des Kranken in ein ihm passen¬ 
des Milieu und Beschäftigung. 

Ich erachte noch als erwähnenswerth, dass Sidney- 
Short schon im Jahre 1896 ähnliche Untersuchungen 
angestellt hatte; bei seinen 43 Kranken sah er bei 
Anwendung von Brom täglich durchschnittlich 14,37 
Anfälle; als er Brom nur in den seltensten Fällen 
verabreichte, stieg der Tagesdurchschnitt der Anfälle 
auf nur 14,96 und als er mit allen Arzneien aus¬ 
setzte, war täglich bei geringer Fleischernährung 12.OQ 
die durchschnittliche Zahl der Anfälle. Völker ver¬ 
ringerte im Jahre 1901 bei einer gewissen Anzahl 
seiner Kranken die Verabreichung von Brom oder 
hörte damit ganz auf, ohne dass in der Anzahl der 
Anfälle oder im Zustande der Kranken eine wesent¬ 
liche Aenderung aufgetreten wäre. Auf dem schon 

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HARVARD UNIVERSITY 



mo 4 .] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 81 


ei wähnten Congresse zu Ancona betonte Angiolella*), 
dass bei Epilepsie die Abnahme der Anfälle nicht 
zugleich die Heilung der Krankheit bedeute. Auch 
glaubt er, dass die Verblödung der in Instituten ge¬ 
pflegten Epileptiker wenigstens theilweise der Brom¬ 
therapie zuzuschreiben sei und dass all’ jene Arzneien, 
welche die Functionsfähigkeit der Hirnrinde vermin¬ 
dern, unnütz und in der Praxis zu verwerfen seien. 

Bei den nicht in Instituten verpflegten Epileptikern 
werden sich in mancher Beziehung andere Desiderata 
und andere therapeutische Interventionen geltend 
machen; möglicherweise ist die Verminderung der 
Anfälle für den Kranken wichtiger als die arzneiliche 
Abstumpfung seines Seelenlebens oder seiner Asso¬ 
ciationen und in solchen Fällen mag wohl die wäh- 

*) Herr Chefarzt Dr. PÄndy war so gütig, mir diese so¬ 
wie die übrigen Daten aus der Litteratur mitzutheilen. 

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rend langer Zeit fortgesetzte Brointherapie augezeigt 
sein; dies könnte man gerade bei cyklisch wieder¬ 
kehrenden Anfällen oder bei der so oft auftretenden 
Aura so eintheilen, dass der Kranke je nach Noth- 
wendigkcit steigende Dosen einnimmt, dazwischen 
gar kein oder nur wenig Brom erhält oder eventuell 
zwischen den Anfällen indifferente andersfarbige und 
in anderer Form verordnete Meriiein einnimmt. Man 
darf jedoch nicht vergessen, dass die tägliche Erfah¬ 
rung, sowie die diesbezügliche Litteratur auf Schritt 
und Tritt bestätigt, dass man auch ohne Brom¬ 
therapie mit Hilfe einer im Interesse des 
Kranken liebreich und verständnissvoll 
angewendeten Suggestion in vielen Fällen 
die Anzahl der Anfälle und deren Inten¬ 
sität vermindern kann. 


Mittheilungen. 


— Die XXIX. Wander-Versammlung der 
sudwestdeutschen Neurologen und Irrenärzte 

wird am 28. und 29. Mai in Baden-Baden im Blumen¬ 
saale des Conversationshauses abgehalten werden. 
Die erste Sitzung findet Samstag, den 28. Mai, vor¬ 
mittags von 11 bis 1 Uhr statt. Etwaige Demon¬ 
strationen von Kranken sollen in dieser Sitzung statt¬ 
finden. In der zweiten Sitzung am gleichen Tage 
nachmittags von 2 bis 5 V2 Uhr wird das Referat 
erstatten Herr Prof. Dr. Gerhardt - Erlangen: Die 
diagnostische und therapeutische Bedeutung der Lum¬ 
balpunktionen. Daran sollen sich die dazu gehörigen 
Vorträge, sowie die zur Diskussion zu machenden 
Bemerkungen anschliessen. Die dritte Sitzung findet 
Sonntag, den 29. Mai, vormittags von 9 bis 12 Uhr 
statt. Auf die zweite Sitzung folgt nachmittags 6 Uhr 
ein gemeinsames Essen im Restaurant des Conver¬ 
sationshauses. Für die schon am Abend des 27. Mai 
anwesendenTheilnehmer wird im „Krokodil“ von 8 Uhr 
an ein Tisch reservirt sein. Die Unterzeichneten Ge¬ 
schäftsführer laden hiermit zum Besuche der Ver¬ 
sammlung ergebenst ein. 

Folgende Vorträge sind angemeldet: 

1. Dr. L. Laquer (Frankfurt a. M.): Ueber leichte 
und recidivirende Formen von multipler Neuritis. 

2. Prof. Axenfeld (Freiburg): Traumatische re- 
flectorische Pupillenstarrc. 

3. Prof. Wiedersheim (Freiburg): Anatomische 
Demonstration. 

4. Prof. Dr. F. Sehu 1 1 z e (Bonn): Neuropathologie 

und innere Medizin. 

5. Priv.-Doc. Dr. Gaupp (Heidelberg): Ueber den 
psychiatrischen Begriff der Verstimmung. 

6. Dr. Determann (St. Blasien): Zur Frühdiag¬ 
nose der Tabes dorsalis incipiens. 

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7. Dr. Alzheimer (München): Ueber das Deliri¬ 

um alcoholicum febrile Magnan’s. 

8. Dr. N on ne (Hamburg): Ueber Fälle von Symp¬ 
tom encomplex von Tumor cerebri mit Ausgang 
in Heilung. 

9. Prof. Kraepelin (München): Vergleichende 

Psychiatrie. 

10. Prof. Dinkler (Aachen): Beitrag zur Sympto¬ 
matologie und Anatomie der Apoplexia spinalis. 

11. Dr. v. Hoffmann (Baden - Baden): Besserung 
oder eventuelle Beseitigung des Thränenträufelns 
bei Facialislähmung. 

12. Dr. Gi er 1 ic h (Wiesbaden): Ueber periodische 

Paranoia. 

13. Prof. v. Monakow (Zürich): Die Stabkranzfasern 
des unteren Scheitelläppchens und die sagittalen 
Strahlungen des OccipitaHappens. 

14. Priv.-Doc. Dr. Weygandt (Würzburg): Ueber 
den Einfluss von Hunger und Schlaflosigkeit auf 
die Hirnrinde. 

15. Dr. Beyer (Litten weder-Freiburg): Zum allge¬ 
meinen Bauprogramm der Nervenheilstätten. 

16. I)r Neu mann (Karlsruhe): Eine badische 
Trinkerheilstätte. 

17. Dr. L. R. Müller (Augsburg): Die Folgen der 
Amputation der unteren Hälfte des Rücken¬ 
markes beim Hunde. 

18. Priv.-Doc. Dr. Jam in (Erlangen): Ueber das 
Verhalten der Bauchdeckenreflexe bei Erkrank¬ 
ungen der Abdominalorgane. 

19. Prof. A seha f f en bu r g (Halle): Epilepsie und 
Paranoia. 

20. Dr. Bumke (Freiburg): Untersuchungen über 
den galvanischen Lichtreflex. 

2 1. Dr. Spielmever (Freiburg): Ueber eine epilep¬ 
tische Form der Grosshirn-Encephalitis. 

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HARVARD UNIVERSITY 



82 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 8* 


22. Prof. S t a r ck (Heidelberg): Ueber Vorderhorn¬ 
erkrankungen nach Trauma. 

23. Priv.-Doc. Dr. Rosenfeld (Strassburg): Ueber 
das Cholin. 

24. Dr. Stadel man n (Würzburg): Das Wesen der 
Psychose. 

25. Dr. To bl er (Heidelberg): Diagnostische und 
therapeutische Beobachtungen über die Lumbal¬ 
punktion im Kindesalter. 

26. Prof. E d i n g e r (Frankfurt) und Prof. G o 1 d - 
mann (Freiburg): Zur hirnchirurgischen Tech¬ 
nik (mit Demonstration). 

27. Priv.-Doc. Dr. Link (Freiburg): Ueber ein 
bisher wenig beachtetes Muskelphänomen. 

Um gefällige Verbreitung dieser Einladung wird 
gebeten. 

Eine Zeitdauer für die einzelnen Vorträge ist in 
den Statuten nicht festgesetzt. Doch erscheint es 
auf Grund der bisherigen Erfahrungen und mit Rück¬ 
sicht auf die grosse Zahl der diesmal angemeldeten 
Vorträge wünschenswerth, dass die Herren Vortragenden 
sich von vomeherein darauf einrichten, mit einer 
Zeitdauer von 15 Minuten auszukommen. 

Mai 1904. 

Die Geschäftsführer: 

A. H o c h e (Freiburg). F. Fischer (Pforzheim). 

— Jahresversammlung des Deutschen Ver¬ 
eins für Psychiatrie zu Göttingen vom 25. bis 27. 
April 1904. (Fortsetzung.) 

Raecke: Hysterisches Irresein. (Fort¬ 
setzung des Referates von voriger Nummer.) 

Endlich die läppisch-heitere Verstimmung, die 
Moria, ist meist mit deliriösen Erscheinungen ver¬ 
knüpft, und wird daher besser nach den Dämmerzu¬ 
ständen abgehandelt. 

Die Betrachtung der hysterischen Dämmerzustände 
beginnt mit dem Wachträumen, jener eigenthümlichen 
Zerstreutheit, in welcher der Hysteriker unbekümmert 
um die Aussenwelt sich in Phantasiespielen ergeht. 
Je selbständiger und sinnlich lebhafter sich hier die 
Vorstellungen aufdrängen, das Blickfeld des Bewusst¬ 
seins ganz erfüllend, desto mehr nähert sich der 
hypnoide Zustand dem echten Somnambulismus mit 
seinen monotonen Vorstellungsreihen, dessen Abart, 
der Noctambulismus, wieder in ähnlicher Weise sich 
aus Traum Vorgängen des Schlafes entwickelt. Es 
würde zu weit führen, hier auf die interessante Symp¬ 
tomatologie des Sonnambulismus einzugehen, auf 
seine körperlichen Begleiterscheinungen, das mögliche 
Auftreten von alternirendcm Bewusstsein. Daher sei 
nur betont, dass der typische Gansersehe Symptomen- 
komplex durch seine Verbindung von eigenthümlicher 
Associationsbehinderung mit Sensibilitätsstörungen 
der Haut den somnambulen Zuständen verwandt ist. 
Ausserdem bestehen aber entsprechend der mehr 
oder weniger vorhandenen Hemmung fliessende Über¬ 
gänge nach der Seite des Stupors. 

Der hysterische Stupor, gewöhnlich als Lethargie 
bezeichnet, ist wohl hervorgegangen zu denken aus 
den ohnmachtsähnlichen Bewusstseinspausen, wie 
sie mitunter fast apoplektiform auftreten. Nur 
schematisch lässt sich eine schlaffe und eine tonisch- 

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kataleptische Form des hysterischen Schlafes unter¬ 
scheiden. Der Eintritt ist bald langsam, bald plötz¬ 
lich. Die Dauer beträgt Minuten bis Tage. Bei 
längerem Anhalten schieben sich freiere Intervalle 
ein. Gleichzeitige halluzinatorische Vorgänge erzeugen 
das Bild der Ekstase. Stufenweises Erwachen be¬ 
dingt ein dämmerhaftes Zwischenstadium mit echt 
Ganser’schem Vorbeireden. Die erstmalige Ursache 
des Stupors war in unseren Fällen oft Schreck. 

Als typischste Bewusstseinsstörung der Hysteriker 
gilt ihr specifisches Delirium, dessen hallucinatorische 
und illusionäre Vorgänge sich um eine affektbetonte 
Reminiscenz fügen, mag dieselbe nun ein eigenes 
Erlebniss ausmachen oder infolge von Erzählung 
resp. Lectüre die Phantasie lebhaft beschäftigt haben. 
Vorherrschend ist wieder die ängstliche Färbung, in¬ 
dem unangenehme Situationen oft dramatisch durch¬ 
gekämpft w r erden. Seltener sind ekstatische, w’unsch- 
erfüllende Delirien. Eine Sonderstellung nehmen die 
deliranten Moriaformen ein mit grotesk - komischer 
Färbung, übertriebenen Manieren und Verkehrtheiten, 
kindisch albernem Negativismus und mehr absicht¬ 
lichem Vorbeireden ohne Hemmung, das vom Ganser- 
schen Symptomenkomplex streng zu trennen ist. 
Gelegentlich wähnen sich solche Kranke statt in die 
Kindheit ins Alter versetzt, gebärden sich als 90- 
jährige Greise, oder sie glauben sich in Thiere ver¬ 
wandelt. Bei Vorwiegen von Gehörstäuschungen und 
einfacher Desorientirtheit spricht man auch von einer 
hysterischen haJlucinatorischen Verwirrtheit. Die Ueber- 
gänge sind fliessende. 

Nach diesem etwas summarischen Ueberblick über 
die einfachen Bewusstseinsstörungen der Hysteriker 
wenden wir uns zu den sogenannten hysterischen 
Psychosen. Um bei dem hier herrschenden Wider¬ 
streit der Anschauungen eine Richtschnur zu haben, 
stellen wir vortheilhaft Binswanger’s Forderung vor¬ 
auf, dass eine Psychose nur dann als eine hysterische 
mit Bestimmtheit zu bezeichnen ist, wenn sie aus 
den eben besprochenen einfachen Krankheitselementen 
unzweifelhaft hysterischer Natur direkt hervorgeht. 
Jolly hat mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass 
die an sich kurzdauernden hysterischen Dämmer¬ 
zustände durch kettenartiges Aneinanderreihen den 
Charakter einer kontinuirlichcn Geistesstörung ge¬ 
winnen können, deren Gesammtdauer nach Monaten 
oder Jahren zählt. Diese Lehre hat allgemeine An¬ 
erkennung gefunden, und wird neuerdings auch von 
Kraepelin bestätigt. Sie enthält den Schlüssel zum 
Verständniss der sogen, hysterischen Psychosen. Diese 
sind nicht nur aus jenen einfachen Bewusstseinsstörungen 
hervorgegangen, sondern direkt zusammengesetzt aus 
Wachträumen, Halluzinationen, Dämmerzuständen, 
Verstimmungen, Lethargien, Delirien in beliebiger 
Anordnung mit unregelmässigen Intermissionen. Hieraus 
erklärt sich das widerspruchsvoll wechselnde Krankheits¬ 
bild des hysterischen Irreseins, und die Unmöglich¬ 
keit, dasselbe restlos in die alten Schemata einzufügen. 

Dennoch wäre es falsch, die alte Lehre von der 
Hystero- Melancholie und der hysterischen Paranoia 
gänzlich zu verwerfen. Denn die Erfahrung zeigt, 
dass die im Einzelnen so mannigfachen Bilder des 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 


hysterischen Irreseins ihrem gesammten Verlauf nach 
in 2 grosse Gruppen zerfallen, in eine depressive und 
eine paranoische Form. 

Bei der depressiven Form geben gehäufte Anfälle 
trauriger Verstimmung, raptusartige Erregungen mit 
Suicidversuchen, schreckhafte Delirien, welche im 
Krankheitsbilde überwiegen, die melancholische Grund¬ 
färbung, während interkurrente Krampferscheinungen, 
paranoische Episoden, Furor- und Moria - Anfälle, 
Dämmerzustände mit Vorbeireden, endlich die uner¬ 
warteten Intermissionen mit deutlichem Hervortreten 
des hysterischen Temperamentes und der sogen. Stig¬ 
mata den proteusartigen Wandel bedingen. Solche 
hysterischen Melancholieformen entstehen ziemlich 
acut im Anschluss an Anstrengungen und Aufregungen, 
besonders gern in Untersuchungshaft. Bei Trauma- 
tikern herrschen hypochondrische Züge vor. 

Mehr chronisch pflegt sich in der Regel die 
paranoische Form zu entwickeln. Hier wird der 
Inhalt von Wachträumen, nächtlichen Visionen und 
Delirien gewöhnlich erst durch willkürliche Phantasie- 
thätigkeit von Art der Pseudologia phantastica weiter 
ausgesponnen und allmählich zu einem Wahnsystem 
verknüpft, das aber nur vorübergehend den Hysteriker 
wirklich beherrscht und infolge äusserer Einwirkung 
spurlos verschwinden kann, um allerdings unerwartet 
wieder aufzutauchen. Solche Exacerbationen werden 
dann in der Regel von Dämmerzuständen eingeleitet. 
Lethargische und dclirante Phasen sind stets möglich, 
auch somnambule Episoden mit altemirendem Bewusst¬ 
sein. Charakteristisch ist oft die einseitige Richtung 
des Verfolgungswahnes gegen eine bestimmte Person, 
mit entsprechenden nächtlichen Sinnestäuschungen. 
Verblödung oder Uebergang in die klassische Paranoia 
sind nicht anzunehmen. 

Vielleicht darf man noch einen 3. Verlaufstypus 
unterscheiden, dercharaktcrisirt ist durch abwechselnde 
Erregungen von Art des E'uror resp. der Moria und 
Stuporanfälle. Diese Form entwickelt sich am liebsten 
bei jugendlichen Imbecillen. Ihre Abgrenzung gegen die 
während der Pubertät in einzelnen Schüben auftretenden 
Verblödungsprocesse erscheint aber noch nicht ge¬ 
nügend gesichert. 

Ueberhaupt kann die Diagnose des zusammenge¬ 
setzten hysterischen Irreseins erheblichen Schwierigkeiten 
begegnen. Zunächst ist die Möglichkeit zufälliger 
Komplikation zu beachten. E'erner tragen circuläres 
Irresein und klimakterielle Melancholien sehr oft 
einzelne hysteriformeZüge. Konvulsionen und Dämmer¬ 
zustände mit Sensibilitätsstörungen finden sich nicht 
nur bei der Epilepsie, sondern gelegentlich auch bei 
jugendlichen Verblödungspsychosen. E. Schultze hat 
neuerdings auf die weitgehende Amnesie der Hysteriker 
und ihre Gesichtsfeldeinschränkung hingewiesen. Es 
wird zu prüfen sein, ob jene bei manisch-depressivem 
Irresein, diese bei Dementia präcox fehlt. Bei Epi¬ 
leptikern findet sich, wie Schultze selbst zugiebt, Ge¬ 
sichtsfeldeinschränkung sicher. 

Werthvoll bleibt stets Entstehung im Anschluss 
an äussere Ursachen, Einfluss dieser auf Intermissionen 
und Exacerbationen, bei Frauen zeitliches Zusammen- 
fallen mit der Menstruation. Ferner kommt in Be¬ 


tracht die Oberflächlichkeit aller Erscheinungen. Ueber- 
triebenes Markieren der Depression in theatralischen 
Klagen bei erhaltener Genusssucht, aufdringliches Be¬ 
richten über Stimmen und Wahnideen ohne sichtbaren 
Einfluss derselben auf das Handeln. Endlich tief¬ 
greifende Veränderung des ganzen Krankheitsbildes 
durch suggestive Massnahmen, und geringe Beein¬ 
trächtigung von Schlaf und Appetit. Indessen sind 
alle diese Momente einzeln nur mit grosser Vorsicht 
zu verwerthen. 

Gegenüber der Katatonie wäre vielleicht zu be¬ 
rücksichtigen das Bedürfniss nach Unterhaltung und 
Beschäftigung, rege Neugier auch im Stupor, seine 
Empfänglichkeit für humoristische Scenen, Sucht eine 
Rolle zu spielen, Beherrschung der Umgebung durch 
geschicktes Intriguiren. 

Die Delirien und Halluzinationen Hysterischer be¬ 
treffen meist wirkliche Erlebnisse. Bei motorischer 
Erregung handelt es sich eher um Gefühlsausbmch als 
Beschäftigungsdrang. Stereotypien und Negativismus 
sind neben den typischen Stigmata mehr sporadisch 
eingestreut. Ihr gehäuftes Auftreten, zumal auch die 
längere Dauer eines Stupors sind verdächtig für 
katatonische Verblödungsprocesse. Plötzliches Ein¬ 
setzen des Stupors nach Aufregung, rascher Ablauf in 
Stunden bis Tagen ohne baldiges Recidiv spricht für 
Hysterie. Einen durchgreifenden Unterschied zwischen 
beiden Stuporformen giebt es nicht! 

Auch das von Ganser beschriebene Vorbeireden 
stellt kein specifisches Elementarsymptom der Hysterie 
dar, sondern eine bei den verschiedensten Bewusstseins¬ 
störungen mögliche Associationsbehinderung, die 
allerdings in typischer Form bei Hysterikern am 
häufigsten zu beobachten ist. 

Die Prognose des zusammengesetzten hysterischen 
Irreseins ist im einzelnen Falle ganz unberechenbar. 
Noch nach Jahren können alle psychotischen Symp¬ 
tome verschwinden, doch bleibt die Gefahr eines 
Recidives stets zu befürchten. Irn Allgemeinen kann 
man vielleicht sagen, dass die mehr akut einsetzenden 
depressiven Fälle häufiger zu raschem Ablauf neigen 
als die chronisch verlaufenden paranoiden. 

Wo ausgesprochene Verblödung eintritt, handelt 
es sich wohl stets um eine Complication mit 
Katatonie. 

Im übrigen ist aber das Verhältniss zwischen 
hysterischem Irresein und Katatonie noch nicht ge¬ 
nügend geklärt und bedarf dringend weiterer Be¬ 
arbeitung. (Autoreferat.) 

Henneberg: Ueber das Ganser’sche 

Sympto m. 

Die Ausführungen des Vortragenden gründen sich 
auf ca. 25 in der Charite gemachte Beobachtungen. 
Es ist zu unterscheiden zwischen Ganser’schem 
Symptom und Ganser’schem Symptomencomplex oder 
Dämmerzustand. 

Als Ganser’sches Symptom sind auf einfache 
Fragen gegebene falsche Antworten zu bezeichnen, 
die eine nahe Beziehung zur richtigen Antwort er¬ 
kennen lassen. Zu unterscheiden sind hiervon die 
paralogischen Antworten der Katatonischen, die keine 
oder nur sehr entfernte Beziehungen zur Frage- 


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84 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 8 


Stellung aufweisen. Das Ganscr x ho Symptom kommt 
vor andeutungsweise bei hysterischen und hypochon¬ 
drischen Unfallskranken, ferner unmittelbar im Anschluss 
an gewöhnliche hysterische Krampfan falle und in 
posthypnotischen Zuständen. Acut verlaufende Fälle 
von dem Typus, den Ganser geschildert hat, wurden 
nur selten in der Charite beobachtet. Das Vorliegen 
des Ganser’schen Symptoms beweist keineswegs das 
Bestehen eines Dämmerzustandes In den meisten 
Fällen, in denen das Ganser’sche Symptom vorlag, 
handelte es sich um protrahirt verlaufende hysterische 
Psychosen bei criminellen Individuen. Es lassen sich 
unterscheiden Fälle, in denen eine manische Exaltation, 
ein stuporöser und ein deliröser, beziehungsweise 
paranoischer Zustand vorwiegt. Von hysterischen 
Erscheinungen bestanden neben Krampfanfällen be¬ 
sonders Analgesien und Sprachstörungen (Stammeln, 
Agrammatismus). Trotz mancher katatonischen Züge 
wurden die Fälle dem hysterischen Irresein zu¬ 
gerechnet, da der Krankheitsverlauf in sehr deutlicher 
Abhängigkeit von der Situation des Kranken stand, 
weitgehende Remissionen nach Erledigung des ge¬ 
richtlichen Verfahrens eintraten und eine Verblödung 
nicht nachweisbar war. In einem Falle handelte es 
sich um einen sehr protrahirten, recidivirenden 
Dämmerzustand. 

In Fällen von typischer Katatonie kommen Ant¬ 
worten im Sinne des Ganser’schen Symptoms ver¬ 
einzelt nicht selten vor, ein andauerndes Daneben¬ 
reden ist selten, kommt aber auch in Fällen vor, 
die von hysterischen Zügen völlig frei sind. Ein be¬ 
sonders schnelles Antworten liegt in solchen Fällen 
durchaus nicht immer vor. Das Gansersche Symptom 
kommt ca. 5 mal so oft in criminellen als in nicht 
criminellen Fällen vor. Der Wunsch krank zu er¬ 
scheinen, ist bei den hysterischen Kranken bald mehr 
bald weniger bei dem Zustandekommen des Symptoms 
wirksam. Die Kranken empfinden eine Denk¬ 
erschwerung und lassen sich in dieser Richtung völlig 
gehen, auf dem Wege der Suggestion (durch die 
Art der Fragestellung) und Autosuggestion verstärkt 
und befestigt sich das Symptom. In anderen Fällen 
kommt das Symptom als Folge einer abnormen 
Aflfectwirkung (bei Imbecillität) zu Stande, bei 
Dementen und auch sonst als Reaction auf die 
Fragestellung und als Simulationsversuch. 

Eine besondere diagnostische Bedeutung kommt 
dem Ganserschen Symptom nicht zu. In criminellen 
Fällen ist ein häufiges Fragen nach ganz einfachen 
Dingen nicht empfehlenswert!!, weil die betreffenden 
Personen dadurch zur Simulation oder Aggravation 
verleitet werden, oder eine schädliche Suggestion 
ausgeübt wird. 

Discussion zu dem Vortrag von F ii r s t n e r: Nerven- 
pathologie und Psychiatrie (siehe vorige Nr.). 

In der Discussion äussert sich H oche-Freiburg 
im zustimmenden Sinne. Eine rein psychiatrische 
Klinik giebt dem Studierenden ein falsches Bild der 


psychischen Erkrankungen, die ihn in der Praxis er¬ 
warten. Die Kranken sind eher bereit, sich in eine 
Nervenklinik aufnehmen zu lassen. Endlich ist es 
für den betreffenden klinischen Lehrer von grossem 
Werth, nicht einseitig auf die Beschäftigung mit 
Psychosen angewiesen zu sein. 

Sommer-Giessen bemerkt, dass auch an der 
psychiatrischen Klinik Giessen die Aufnahme v<»n 
Nervenkranken möglich ist, ebenso wie dort eine Pt »li- 
klinik für „psychisch-nervöse“ Kranke besteht. Das 
Studium der Grenzfälle zwischen Psychosen und 
Nervenkrankheiten ist von besonderm Werthe auch 
für die experimentell-psychologische Forschung, da 
hier eine Reihe von psycho-motorisehen Störungen 
vorhanden und den exacten Beobachtungen zugänglich 
sind. 

Anton-Graz: Die Neuropathologie ist von der 
Psychiatrie schon deshalb nicht trennbar, weil die 
Herderkrankungen des Gehirns geradezu ein Fun¬ 
dament für die Beurtheilung von allgemeinen Psychosen 
abgeben. 

Bruns- Hannover möchte den Zusammenhang 
zwischen Neuropathologie schon in Rücksicht auf 
den ärztlichen Nachwuchs aufrecht erhalten. Für die 
sog. Nervenärzte ist eine gleichmässige Ausbildung 
auf beiden Gebieten dringend erforderlich. 

Wey gand t-Würzburg betont die Bedeutung der 
Polikliniken. Auch in Würzburg sei eine Poliklinik 
für „Psychisch - Nervöse“ eingerichtet. Ein weiteres, 
von der Psychiatrie noch wenig bebautes Gebiet sei 
das Studium und die praktische Behandlung der 
Idiotie. Auch Weygandt betont die Bedeutung 
der experimentell-psychologischen Studien. 

(Fortsetzung folgt.) 


Personalnachrichten. 

— Der zweite Arzt an der Irrenanstalt in Frankfurt 
a. M., früher Privatdozent an der Kieler Universität, 
Dr. J. Ra ecke, ist als Oberarzt an die psychiatrische 
und Nervenklinik der Kieler Universität berufen 
worden. 

— Aus Russland. In Moskau starben in 
kurzer Zeit zwei der ältesten Psychiater, die Ober¬ 
ärzte der Stadtirrenanstalten, Dr. W. Butzke und 
J. Konstantin owsky. 

In Kiew’ ist Priv.-Doc. Dr. Labinsky zum 
a. o. Professor der Psychiatrie und Nervenkrankheiten 
ernannt worden an Stelle des Prof. Ssikorsky. 

Vom Anfänge d. J. erscheint in St. Petersburg 
unter der Redaction der Professoren W. v. Bechterew 
und W. Ssereb reniko w eine neue „Zeitschrift 
für Psychologie, Criminal-Anthropologie und Hyp¬ 
notismus.“ 

In Russland erscheinen jetzt 6 Zeitschriften für 
Psychiatrie, Neurologie und verwandte Disciplinen: 
3 in St. Petersburg und je 1 in Moskau, Kazan 
und Kiew'. 


Kür den redactionellen TI i eil verantwortlich: Oberarzt Dr. J . Br es i er , Dublinitz (Sch esienl. 

Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inseratcnannahmc 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Hevnemann’sche Buchdruckerei (Gebr. Woiff) in Halle a. S. 


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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift. 



Redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Lublinitz (Schlesien . 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr. - Adresse : Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834. 


Nr. 9. 

28. Mai. 

1904. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Mar hold in Halle a. 

Inserate werden für die jspaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung < 
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten. 

S. entgegen, 
ein. 


Johannes Vorster f. 


|~^\er Tod hat in den letzten Jahren reiche Ernte 
unter den Psychiatern gehalten! Das Ende keines 
unserer Fachgenossen ist unter so tragischen Um¬ 
ständen erfolgt, wie das von Johannes Vorster. 

Es ist zu allgemein bekannt, wie der traurige Vor¬ 
fall sich abgespielt hat, als dass hier eine Schilder¬ 
ung noch am Platze wäre. Der Thäter war ein seit 
Jahren in Stephansfeld unter¬ 
gebrachter Gewaltthatsver- 
brecher, ein Paranoiker, der 
mit verhältnissmässig gut er¬ 
haltener Intelligenz grosse 
manuelle Geschicklichkeit ver¬ 
band. Stephansfeld besitzt 
keine besonderen Einrich¬ 
tungen für geisteskranke Ver¬ 
brecher , sodass der Kranke 
sich im allgemeinen ungehin¬ 
dert unter den übrigen be¬ 
wegen und sich gefährliche 
Werkzeuge herstellen konnte. 

Es widersprach dem humanen 
und mit voller Ueberzeugung 
an der Nothwendigkeit gleich¬ 
artiger Behandlung der 
Kranken festhaltenden Sinne 
Vorsters, mit Zwangsmaass¬ 
regeln einzuschreiten, obwohl 
der Thäter ihn mehrfach be¬ 
droht hatte. Als ein Opfer 
dieser idealen Anschauung ist er gefallen. 

Neun Tage währte sein Krankenlager. Die durch 
zwei hervorragende Strassburger Chirurgen vorge- 
noramene Laparotomie ergab nur das Resultat, dass 
aus in der Tiefe gelegenen Gefässen eine enorme 
Blutung stattgefunden hatte, die bei der Operation 
schon stand. Darm und parenchymatöse Organe 
waren nicht verletzt. Mit jedem Tag schien die 
Aussicht besser zu werden; die Darmpassage war 
durchgängig, bedenkliche Temperatursteigerungen 


traten nicht auf. Da, wenige Stunden nach Ent¬ 
fernung der Tampons, als wir schon über die Ge¬ 
fahr hinaus zu sein glaubten, stellten sich kollaps¬ 
artige Erscheinungen ein, die am Morgen des 4. Mai 
zum Tode führten. 

Vorster war bis wenige Minuten vor dem Ende 
bei klarem Bewusstsein; in Erwartung des Kommen¬ 
den verabschiedete er sich 
ruhigen Geistes von seiner 
Familie und seinen Beamten. 

Die ungeheure Theilnahme, 
die nicht nur aus Kol legen- 
und Bekanntenkreisen dem 
Verstorbenen gezollt wurde, 
nicht nur von genesenen Pa¬ 
tienten und deren Familien, 
sondern im ganzen Reichs¬ 
land ihren Widerhall fand, 
kam zu ergreifendem Aus¬ 
druck in der vom Bezirk ver¬ 
anstalteten Trauerfeier. 

Möge es dem Unterzeich¬ 
neten, der 7 Jahre das Ghick 
hatte, unter der Leitung des 
nun Verstorbenen zu arbeiten 
und von ihm Schritt für Schritt 
in die Psychiatrie eingeführt 
zu werden, gestattet sein, einige 
bescheidene Worte über seinen 
Lebensgang zu schreiben. 

Vorster w urdo im Jahre 1860 zu Hoym in 
Anhalt geboren, wo sein Vater Leibarzt des Herzogs 
war. 1864 siedelte die Familie nach Lengerich über; 
dort, in der von seinem Vater geleiteten Irrenanstalt, 
wuchs Vorster auf. Nach vollendetem Studium — 
besonders gern gedachte er stets der in Marburg 
verlebten Zeit — war er zunächst 3 V2 Jahre Assi¬ 
stent bei Rose in Bethanien. Die dort erworbene 
Gewandtheit und Freude am Operiren hat auch ihn 
später nicht verlassen. Er war während seiner An- 



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86 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 9 


staltsthätigkeit ein eifriger Operateur und hat manchen 
grösseren Eingriff noch als Direktor mit bestem Er¬ 
folge ausgeführt. 1888 trat er als Assistenzarzt in 
Königslutter ein und wurde von dort am 1. Mai 
1890 als Oberarzt nach Stephansfeld berufen. 1897 
wurde er als Nachfolger Starks Direktor der Anstalt. 
Die grosse Last, die die Verwaltung der 1500 Kranke be¬ 
herbergenden Anstalten Stephansfeld und Hördt ihm 
auferlegte, hinderte ihn nicht, sich auch eingehend mit 
der ärztlichen Behandlung seiner Kranken, von denen 
ihm keiner zu gering war, zu befassen. Die An¬ 
hänglichkeit, die sie ihm während seiner Thätigkeit, 
während seines schweren Krankenlagers, bei seinem 
Tode erwiesen und noch jetzt erweisen, ist eine 
wohlberechtigte. 

Die Anstalt hat unter seiner Leitung manche Ver¬ 
änderungen ihres äusseren Aussehens erfahren. Die 
wichtigste war die Erbauung zweier für freie Behand¬ 
lung bestimmter offener Villen. Ihr Bauplan und 
die Art ihrer Benutzung sind sein ureigenstes Werk 
gewiesen. Mit ihrem schmucken Aussehen sind sie 
eine Zierde Stephansfclds und viele Kranke sind auf 
dem Wege über diese Rekonvalescentenabtheilungen 
in ihre Familien zurückgekehrt. Die ärztliche Be¬ 
handlung in den Villen, von denen die eine dicht 
neben seiner Wohnung erbaut ist, lag ihm stets be¬ 
sonders am Herzen. Die Vollendung eines anderen 
Planes hat er nicht mehr erlebt. Eine offene Villa 
zur Behandlung Frischerkrankter, mit allen modernen 
Einrichtungen versehen, steht im Rohbau fertig. Auch 
dieser Bau ist Vorsters eigenstes Werk. 

In der Anstalt Hördt wurden auf seine Veran¬ 
lassung zwei Lazaiettbaracken errichtet. 

Der ehrenvolle Auftrag, den Bauplan für die 
neue Irrenanstalt in Rufach mit festzustellen, hat ihn 
noch vor kurzem in eine Reihe moderner Anstalten 
geführt. Mitten aus den Arbeiten hierzu ist er fort¬ 
gerissen w’orden. 

Bei all diesen praktischen Arbeiten liess Vorster 
auch die Wissenschaft nicht zu kurz kommen, der 
er auf vielen Gebieten gedient hat. Als Oberarzt 
beschäftigte er sich hauptsächlich mit pathologischen und 
anatomischen Studien. Audi später bewahrte er 
der Anatomie sein Interesse, wenn er auch nicht 
mehr die Zeit hatte, ausübend thätig zu sein. Seine 
Hauptarbeit widmete er vielmehr dem eingehenden 
Studium und dem Ausbau der Kraepclinschen Lehre, 
deren überzeugter Anhänger er war. Seine beiden 
letzten grösseren Veröffentlichungen beschäftigen sich 
mit klinischen Fragen; auch seine Aerzte wusste er dafür 


zu interessiren. Ein grosses, im Lauf der Jahre syste¬ 
matisch gesammeltes Einzelmaterial hat er hinterlassen- 

Schliesslich war Vorster auch ein eifriger Streiter 
im Kampf gegen den Alkohol. Selbst mit seiner 
Familie abstinent — nicht aus persönlichen Gründen, 
sondern um den Kranken und deren Angehörigen 
ein Beispiel zu geben —, hat er auch durch Vorträge 
in den Vereinen des Landes für die Sache geworben. 
Noch wenige Tage vor der tödtlichen Verletzung er¬ 
klärte er uns, dass er abstinent bleiben w’erde, so¬ 
lange die Leitung des Schicksals zahlreicher durch 
den Alkohol gefährdeter Kranker ihm anvertraut sei. 
Mehr als alles andere beleuchtet diese Aeusserung 
die Gewissenhaftigkeit, mit der er seinen Beruf auf¬ 
fasste. 

Unter den Schülern Vorsters dürfte nicht einer 
sein, der seiner nicht mit Dank und Trauer gedächte; 
besonders seine streng unparteiische Gerechtigkeit und 
seine vornehme Gesinnung sichern ihm bei allen ein 
dauerndes Andenken. Auch sonst war Vorster durch 
die vielen Vorzüge seines Characters allbeliebt. Er 
war eine anspruchslose Natur, wie sie heute selten 
sind. Kein Freund grosser Festlichkeiten, aber ein 
fröhlicher Theilnehmer an den bescheidenen Ver¬ 
gnügungen der Anstaltsbeamten, suchte er seine Er¬ 
holung im Kreis der Familie und als Wanderer in 
der Einsamkeit des Gebirges. 

Vorster ist als ein Märtyrer der Idee gefallen. 
Unter den Gedenktagen der Psychiatrie wird der 

4. Mai 1904, unter den besten Namen unserer 
Wissenschaft auch der seine stets genannt werden. 

Von den Veröffentlichungen Vorsters seien nur 
folgende genannt: 

1. Ueber Dementia paralytica bei Eisenbahn- 
Fahrbearaten (Dissertation 1887). 

2. Ueber einen Fall von doppelseitiger Hemia¬ 
nopsie mit Seelenblindheit, Photopsien und Gesichts¬ 
täuschungen. 

3. Ueber den H ämoglobingchalt und das speci- 
fischc Gewicht des Blutes bei Geisteskranken. 

4. Beitrag zur Kenntniss der optischen und tak¬ 
tilen Aphasie. 

5. Ueber die Vererbung endogener Psychosen in 
Beziehung zur Klassifikation. 

6. Ueber hysterische Dämmerzustände und das 
Vorbeireden. 

7. Material zu § 1369 Bürgerl. Gesetzbuchs (Ehe¬ 
scheidung bei Geisteskrankheit). Diese Zeitschrift 
Bd. III. Nr. 51. 

R a n s o h o f f -Stephansfeld. 


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IQ04-] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 87 


Specialanstalten für geistig Minderwerthige. 

Von Medicinalrath Dr. P. Näcke , Hubertusburg. 


T^ürzlich habe ich in dieser Wochenschrift (vom 
27. Febr. a. c.) mich bez. der Unterbringung 
geisteskranker Verbrecher dahin ausgesprochen, dass 
für uns die Frage: wohin mit ihnen ? in der Haupt¬ 
sache als gelöst zu betrachten ist. Die meisten Sach¬ 
kenner sind nämlich, bei uns wenigstens, der Ansicht, 
dass die Adnexe an grösseren Strafanstalten zweck¬ 
mässiger erscheinen als Centralanstalten und sich, so¬ 
weit Erfahrungen vorliegen, gut bewährt haben *), ja 
infolgedessen immer weitere Ausdehnung gewinnen, 
somit für uns jeder Anlass wegfällt, es mit den sehr 
problematischen Centralanstalten zu versuchen. Das 
gilt zunächst für Deutschland, weiter aber sehr wahr¬ 
scheinlich auch für den übrigen Continent, wenngleich 
ich hinzufügte, dass unter Umständen einmal eine 
andere Unterbringungsart gewählt werden müsste. 
Man darf eben auch hier kein Principienreiter sein. 

Ebendort betonte ich aber weiter, dass der Ad¬ 
nex**), soll er seinen Zweck erfüllen, von besonderer 
Beschaffenheit zu sein hat, vor allem keine blosse 
Durchgangsstation sein soll, sondern alle Ele¬ 
mente, die gefährlich, depravirend oder sonstwie 

•) Wenn Allison (Insanity in penal institution and its 
relation to principles of penology. Albany Medical Annals, 
dec. 1903) sagt: The general insane hospital in our opinion 
is not just the place for insane convicts. Xeither is a wing 
of the prison ütted up as a hospital-ward a proper receptacle. 
Both plans have been tried and ncither proved satisfactory“, 
so ist dies entschieden irrig. Adnexe bewährten sich gut. sehr 
wahrscheinlich auch in Amerika, und andererseits stören auch 
nicht die geisteskranken Verbrecher in den gewöhnlichen Irren¬ 
anstalten, wenn die paar wirklich störenden Elemente darunter 
entfernt werden, wie ich und andere es zur Genüge dar¬ 
gelegt haben. Knecht (Ueber die Unterbringung geistes¬ 
kranker Verbrecher. „Der Zeitgeist“, Beiblatt zum „Berliner 
Tageblatt“ vom 14. März 1904) meint, indem er vom geistes¬ 
kranken Gewohnheitsverbrecher spricht: „Sein Thätigkeitstrieb 
aussert sich in unermüdlichen und durch die Erfahrung seiner 
gesunden Tage begünstigten Versuchen, aus der Irrenanstalt 
auszubrechen, die früher oder später von Erfolg begleitet zu 
sein pflegen. Dass sie das sind, erklärt sich daraus, dass die 
Ueberwachung geisteskranker Verbrecher in den öffentlichen 
Irrenanstalten aus dem Rahmen der berufsmässigen Schulung 
der Krankenpfleger herausfällt“. Letzteres ist richtig, sobald 
die Ueberwachung mehr Sorge und Verantwortlichkeit erfordert, 
als die der übrigen Geisteskranken. Das aber erstreckt sich 
auf relativ nur sehr wenige und diese gehören dann eben nicht 
in die Irrenanstalt. Bezgl. des ersten Satzes ist aber daran zu 
erinnern, dass 1. Gewohnheitsverbrecher unter der Zahl der 
irren Verbrecher die Minderzahl, und 2. unter jenen wieder 
die komplottirenden und entweichungssüchtigen Elemente nicht 
die Regel bilden. 

**) Es ist wohl richtiger zu sagen: der Adnex (adnexus), 
als das Adnex, wie man so häulig liest. 

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störend sind, auch über die Strafzeit hinaus zu be¬ 
halten hat und zwar solange, bis diese unangenehmen 
Eigenschaften geschwunden sind. Er muss daher 
grösser gebaut werden, als bisher, etwa bis 150 Plätze 
fassen und die Möglichkeit einer passenden Vertheil- 
ung und*Beschäftigung der Kranken darbieten. Der 
Leiter ist selbstverständlich ein gewiegter Psychiater 
und steht ganz unabhängig da. Noch lassen sich 
verschiedene Nebenfragen hier aufstellen, so vor allem 
bez. der aufzunehmenden Kranken. Ich möchte zu 
diesen auch diejenigen unter den verbrecherischen 
Irren und unter den unbescholtenen Geisteskranken 
gerechnet sehen, welche die oben bezeichneten stö¬ 
renden Eigenschaften gewisser irrer Verbrecher an 
den Tag legen.*) 

In Parenthese will ich beifügen, dass ich Knecht 
(I. c.) durchaus darin beistimme: der Staat und nicht 
die communale Selbstverwaltung habe für die geistes¬ 
kranken Verbrecher zu sorgen. Ich würde gleich¬ 
zeitig noch zusetzen: auch für die übrigen Kategorieen 
von Kranken in den Adnexen etc. Dagegen scheint 
mir die Gemeinde oder der Landarmenverband für 
die Unterhaltungskosten aufkommen zu müssen, wenn 
die Internirten oder etwa Zahlungspflichtige Ange¬ 
hörige nicht dafür eintreten können. Beide Punkte sind 
jedoch zunächst rein juristische und gewiss nicht so 
leicht zu beantworten, am wenigsten von einem Laien. 

Meinen Aufsatz hatte ich damit gesc hlossen, dass ich 
sagte, jetzt gälte es die Lösung eines anderen wichtigen 
Problems, nachdem die Frage nach der Unterbringung 
geisteskranker Verbrecher bei uns im Allgemeinen 
als gelöst zu betrachten ist, nämlich das einer Special- 
Anstalt für geistig Minderwerthige, die zwar schon 
wiederholt von verschiedenster, auch juristischer Seite, 
gefordert, aber meines Wissens noch nie bez. der 
Details näher beleuchtet worden ist. 

Schneller, als ich dachte, ist nun eine Art von 
Lösung erfolgt, oder richtiger gesagt: ein Versuch 
dazu, und zwar von französischer Seite. Colin **) 
hat nämlich schon früher ein Projekt zur Unter¬ 
bringung von „alienes difficiles (vicieux)“ ausgearbeitet, 

*) Ich freue mich, dass Allison sich ähnlich ausspricht, 
nur statt Adnexe „Centralanstalten“ setzt. 

**) Colin: Les alidnds difficiles (alienes vicieux). Revue 
de psychiatrie etc., mars 1904. Das Projekt selbst legte er 
nieder in: Conseil g6n6ral de la Seine. Commission mixte 
chargtüe d’dtudier les questions interessant l’ospitalisation des 
alidnes. „Les alienes vicieux dans les asiles d’alidn^s.“ Ra¬ 
port pr£sent£ par le Dr. Colin. 1899. 

Original ffom 

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88 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 9. 


das recht beachtlich erscheint. „Das sind (sagt er 
in seiner vorliegenden Arbeit) Geisteskranke, Uebel- 
thäter, Lasterhafte, Ausbeuter der Anstalten, welche 
wir aus Euphemismus und mit Bezug auf ihren krank¬ 
haften Charakter: schwer zu behandelnde Geistes¬ 
kranke (alienes difficiles) nennen.“ Sie haben Ver¬ 
brechen begangen oder nicht, sind aber auf den 
Stationen gewöhnlicher Irrenanstalten unerträglich. 
Einestheils handelt es sich nach Verfasser’um Epi¬ 
leptiker, Hysteriker und gewisse moralisch Schwach¬ 
sinnige , w r elche zusammen in den Irrenanstalten 
grosser Städte so häufig und der Schrecken ruhiger 
Kranker und der Wärter sind; andrerseits um gewisse 
„Parasiten, Recidivisten und Ausbeuter der Irren¬ 
anstalten“, wie Legrain sie nennt, meist Trinker. 
Alle sind überaus faul, unteijochen und tyrannisiren 
z. Th. ihre Umgebung und betrachten, wie Legrain 
sagt, die Anstalt als Hotel, umsomehr, als so manche 
darunter (in Paris wenigstens) freiwillig eintreten, um 
der Noth oder der Strafe draussen zu entgehen. 
Auch unter den geisteskranken Frauen giebt es solche 
Personen, so z. B. unter den Huren und gewissen 
Hereditariem mit verbrecherischen Neigungen. Colin 
will die alienes vicieux aber nicht etwa mit den 
alienes criminels verwechselt wissen. In beiden Fällen 
handelt es sich freilich um Uebereinanderlagerung 
verschiedener Zustände. Jene würden die Verbrecher¬ 
laufbahn ergriffen haben, wenn sie nicht geisteskrank 
geworden wären; bei diesen, den Verbrechern, da¬ 
gegen fand eine Complication mit Psychose statt, 
wie z. B. mit Pneumonie. Diese alienes difficiles ou 
vicieux bilden nun für die Irrenanstalten des Seine- 
Departements schon seit langem eine schwere Sorge*) 
und da sie diese meist lästigen Gäste sehr bald zu 
entfernen suchen, so begreift man, dass Letztere sehr 
oft — in einem mitgetheilten Falle zum 56. Male! 
— aufgenommen werden, die Anstalt hier also wirk¬ 
lich eine Art Gasthaus darstellt. Zu ihrer Unter¬ 
bringung sollte nun Colin einen Entwurf ausarbeiten, 
da die Schaffung einer „section d’alienes vicieux dans 
le departement de la Seine“ beschlossen war. Colin 
wurde zugleich mit der Organisation „d’un Service 
d’alienes difficiles ä l’asile de Villejuif“ betraut, um 
später dirigirender Arzt dieser Sonderanstalt zu werden. 
Ganz nahe an der Anstalt Villejuif bei Paris wurde 
Boden angekauft und es sollen zunächst hier 2 Pavil¬ 
lons, jeder für 32 Männer, ausserdem einen für 44 
Frauen und 2 kleinere zu 10 Kranken für Unruhige 
beider Geschlechter errichtet werden. Die Pavillons 
sind zerstreut und von einander durch Gitter getrennt. 

*) In den Irrenanstalten der Seine wären mindestens ein¬ 
hundert Männer als malades vicieux zu entfernen (Rapport 1899). 

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Sie besitzen ein Stockwerk. Die grossen Gebäude 
haben 2 getrennte Abtheilungen mit getrennten Gärten. 
Die Pavillons zu 32 Personen haben 12 Isolirräume. 
Die ganz kleinen Gebäude zu 10 Personen, für die 
besonders unruhigen und bösen Elemente bestimmt, 
sind den grossen beigegeben und dienen auch zu 
vorübergehendem Aufenthalte. Werkstätten und Ver¬ 
gnügungsräume sind vorgesehen. In den Werkstätten 
arbeiten nur immer 2 in je einer Stube, die eines- 
theils auf einen innern, geschlossenen Corridor aus¬ 
münden, andrerseits auf einen offenen, balkonartigen, 
wo die Wache steht. Die Schlafzimmer sind nur 
kleine. Die Kranken sind also in kleinere Gruppen 
getheüt und in möglichst enge Wohn räume gebracht, 
um Complotten zu begegnen. Deshalb will Colin 
für diese Kranken auch nichts von einer Colonie 
wissen. Die Kranken sollen arbeiten und zwar nur 
in Werkstätten, aber nicht dazu gezwungen werden. 
Der Arzt, der nicht viel Patienten unter sich hat, 
soll sich auch namentlich genau um die Arbeitsver¬ 
hältnisse kümmern und die Tagesarbeiten selbst reguliren. 
Ueber das Funktioniren der Anstalt lässt sich vor¬ 
läufig nichts sagen, da sie ja eben erst projectirt ist.*) 

Betrachten wir nun zuerst die Kranken. Colin 
macht, wie wir sahen, einen Unterschied zwischen 
irren Verbrechern und den alienes difficiles ou vicieux. 
Jene sollen anderweit untergebracht werden — die 
Franzosen schwärmen meist für Centralanstalten, trotz¬ 
dem ihre jetzt bestehende zu Gailion durchaus keine 
Musteranstalt sein soll —, diese dagegen in eine 
andere Sonderanstalt. Alle sind aber, wie Colin 
ausdrücklich bemerkt: alienes, doch figuriren darunter 
sehr disparate Elemente, wie Epileptiker, Hysteriker 
ferner „gewisse Kategorieen von moralisch Schwach¬ 
sinnigen“, und, wie Beispiele zeigen, auch gewöhn¬ 
liche Schwachsinnige. 

Es scheint mir nun zweckmässiger, für grössere 
Länder diese einzelnen Gruppen zu trennen. Vorab 
wären Anstalten für Epileptiker, Schwachsinnige und 
Trinker zu schaffen, weiter Sonderanstalten spedell 
für geistig Minderwertige, die also nicht im strengen 
Wortsinn geisteskrank sind, während die störenden 
Elemente unter den verbrecherischen Irren und solche 
unter den unbescholtenen in das Adnex der gefähr¬ 
lichen verbrecherischen Irren kämen. Für kleinere 
Länder geht dies alles freilich nicht an und man 

*) Wie mir Dr. Colin aus Villejuif vom 22. April a. c. 
mittheilt, ist zunächst die Construction eines grossen Pavillons 
beantragt worden. Das Bett eines Kranken wird auf ungefähr 
6000 fr. zu stehen kommen. Die Sonderanstalt soll xu der 
Irrenanstalt Villejuif gehören, aber im ärztlichen Dienste davon 
unabhängig sein. 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


89 


IQ04.J 


müsste dann alle obigen Elemente, wie es Colin 
will, zusammenfassen. Wo auch das noch zu theuer 
wäre, könnte man am besten an einem Adnexe für 
irre Verbrecher eine eigene Abtheilung für jene Kate- 
gorieen bilden, wenigstens soweit sie gefährlich oder 
irgendwie erheblich störend sind. 

Wollen wir nun bloss die eigentlichen geistig 
Minderwerthigen — nach Abzug jener anderen, so¬ 
weit sie nicht hierher gehören — für sich unter¬ 
bringen, so fragt es sich weiter: was darunter des 
Näheren verstanden sein soll ? Zunächst sind es an¬ 
geborene Zustände, wie sehr viele der sog. „moralisch 
Schwachsinnigen“. In meiner Monographie über die 
sog. „moral insanity“ *) — welchen Namen ich mit 
andern verwerfe —, rechne ich dazu folgende Zu¬ 
stände: 1. die leicht Imbecillen; 2. die mit ganz 
leichten periodischen oder cyklischen Störungsanoraa- 
lien Behafteten und 3. die degeneres superieurs 
(Magnan). Bei allen 3 Unterabtheilungen muss der 
moralische Defekt natürlich im Vordergründe stehen. 
Auf alle Fälle sind die Intelligenzstörungen sehr ge¬ 
ringe, sonst würden die Fälle solche gewöhnlichen 
Schwachsinns sein. Ob es wirklich Fälle von echter 
„moral insanity“ giebt, d. h. also, wo nur moralische 
Defekte bestehen, ist noch sehr zweifelhaft. Zu den 
geistig Minderwerthigen kommen dann noch weitere 
Kategorieen. Ausser der Klasse der „Entarteten“, 
im Magnan’schen Sinne, soweit sie nicht zur sog. 

# ) Näcke: Ueber die sog. „moral insanity“. Wiesbaden, 
Bergmann, 1902. Grenzfragen des Nerven* und Geisteslebens, 
XVin. Dort habe ich auch einiges Uber die Unterbringung 
der hierhergehörigen Personen gesagt, noch mehr aber in einer 
andern Monographie: „Die Unterbringung geisteskranker Ver¬ 
brecher“ (Halle, Marhold, 1902), ohne jedoch in Details ein¬ 
zugehen, wie im folgenden. 


moral insanity gehören, wären noch viele Neurasthe¬ 
niker, Hysteriker und manche Quärulanten hierher 
zu zählen, also Zustände, die man immer noch mehr 
oder weniger als angeborene bezeichnen kann. 

Zahlreich ist dann das Heer der erworbenen 
Minderwerthigkeiten und hier vor allem die von Psy¬ 
chosen mit Defekt Geheilten, namentlich von den 
verschiedenen Formen der Dementia praecox, welche 
ein nicht geringes Contingent zu den Bettlern und 
Vagabunden stellen und leicht ins Gefängniss ge- 
rathen. Dazu kommen manche chronisch Nerven¬ 
kranke oder solche mit chronischen Körperleiden, 
Sieche, gewisse Greise etc. Auch nach Kopfverletz¬ 
ungen, Gehirn - Apoplexieen, Meningitis, Insolation, 
langem Tropenaufenthalt, nach Missbrauch von Mor¬ 
phium, Cocain etc. können ähnliche Zustände auf- 
treten, mit oder ohne begleitende moralische Defekte. 
Schwierig dagegen liegt die Frage bei den sexuellen 
Perversitäten. Es handelt sich hier z. Th. um Psy¬ 
chosen mit solchen Anomalien im Gefolge, die ich s. Z. 
eingehend studirt habe.*) Andererseits giebt es sehr 
wahrscheinlich auch geistig Normale — natürlich in 
der normalen Variationsbreite, die auch hier nicht 
zu eng gesteckt sein darf — z. B. Sadisten, Exhi¬ 
bitionisten, Fetischisten, Homosexuelle.**) Das Gros 
wird allerdings — am wenigsten noch vielleicht oder 
sogar wahrscheinlich bei den Homosexuellen — zu 
den geistigen Minderwerthigkeiten gehören, bei denen 
also gleichzeitig Störungen auf den verschiedensten 
Gebieten des Nervenlebens existiren. 

*) Näcke: Die sexuellen Perversitäten in der Irrenanstalt. 
Psychiatr. en Neurologische Bladen 1899, u. Wiener klinische 
Rundschau 1899, Nr. 27 — 30. 

**) Näcke: Probleme auf dem Gebiete der Homosexualität. 
Allgem. Zeitschr. für Psych. etc. 1902, 59. Bd. 

(Fortsetxung folgt.) 


Mittheilungen. 


— Programm der 73. ordentlichen General¬ 
versammlung des Psychiatrischen Vereins der 
Rheinprovinz am 11. Juni 1904, Nachmittags 1V2 
Uhr in Bonn im Hotel Kley. 

1. Geschäftliche Mittheilungen, 2. Vorträge: 

a) Förster-Bonn: a) Beitrag zur Pathologie des 
Lesens und Schreibens bei Imbecillen. ß) Demon¬ 
strationen. 

b) Brie-Grafenberg: Zur Kenntniss der Psychosen 
nach Strangulationsversuch. 

c) Beelitz- Tannenhof: Systematische Atropin¬ 
kuren bei periodischen Geistesstörungen. 

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d) T i p p e 1 - Kaiserswerth : Demonstration der 
Heissluftdouche nach Bier mit Bemerkungen über 
die damit gemachten Erfahrungen. 

e) Siebert -Bonn: Ueber die hypnotische Wirk¬ 
ung des Neuronal. 

— Jahresversammlung des Deutschen Ver¬ 
eins für Psychiatrie zu Göttingen vom 25. bis 27. 
April 1904. (Fortsetzung.) 

Alzheimer-München weist auf die Nothwendig- 
keit hin, die Aufnahme in die Kliniken zu erleichtern 
und setzt die Gründe auseinander, welche Kraepelin 
veranlasst haben, sich auf das Studium der rein psy- 

Original fram 

HARVARD UNIVERStTY 



PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. q > 


90 


chischen Fälle zu beschränken. In München solle 
mit der Irrenklinik eine offene Abtheilung und eine 
Poliklinik verbunden werden, um auch die Uebergänge 
der Beobachtung zugänglich zu machen. 

Wollenberg-Tübingen: Die Tübinger Klinik 
sei eine rein psychiatrische Klinik, habe aber mit 
Hilfe einer Poliklinik und infolge des Entgegenkommens 
des dortigen inneren Klinikers keinen Mangel an 
Grenzfällen und an neuropathologisehem Material. 
Immerhin sei auch für Tübingen eine Aenderung 
erstrebenswerth. 

Siemerling-Kiel weist darauf hin, dass die unter 
seiner Leitung entstandenen Tübinger und Kieler 
Kliniken vollständig freie Aufnahme- und Entlassungs¬ 
bedingungen haben , sodass in ihnen genau wie in 
den übrigen klinischen Instituten, der Krankenverkehr 
vor sich geht. Beide Kliniken seien dabei am besten 
gediehen, Missstände seien nicht vorgekommen und 
es sei zweifellos dieses Moment die unumgängliche 
Voraussetzung für eine fruchtbringende Verbindung 
zwischen Psychiatrie und Neuropathologie. 

Pelman-Bonn tritt den Ausführungen des 
Referenten vollständig bei, wenn er persönlich auch 
der Neuropathologie ferner stehe. 

Sch üle-Illenau bemerkt gegenüber einer Aeusse- 
rung Alzheimers, dass die Aufnahmebedingungen 
an den badischen Anstalten nicht so complicirte 
seien. Alzheimer erwähnt noch, dass auch die 
Frankfurter Anstalt ohne jedes Aufnahmeregulativ 
arbeite. 

In seinem Schlusswort fasst Fürstner nochmals 
seine Thesen zusammen und constatirt die allgemeine 
Uebereinstimmung der in der Discussion vertretenen 
Anschauungen mit seinen eigenen. 

Im Anschluss an das Referat Fürstner sprach 
Professor Cr a me r- Güttin gen über die Heil- 
und Unterrichtsanstalten für Psychiatrie 
und Nervenheilkunde in Göttingen unter 
besonderer Berücksichtigung des Sanato- 
1 i ums Rasemü hie. 

Redner wies darauf hin, dass noch vor verhältniss- 
mässig wenigen Jahren in Göttingen nur eine Heil- 
und Pflegeanstalt vorhanden war, die als psychia¬ 
trische Klinik zu Unterrichtszwecken zur Verfügung 
gestellt war. Eine derartige Einrichtung, d. h. der 
Mangel einer besonderen psychiatrischen Klinik ist 
im Princip als durchaus ungenügend zu bezeichnen. 
Indessen habe sich in der Provinz Hannover die 
Provinzial Verwaltung stets durch ein grosses Entgegen¬ 
kommen ausgezeichnet, dadurch sei es auch möglich 
gewesen, mit den gleichzeitig durch die Regierung 
geplanten Einrichtungen zusammen in den letzten 
Jahren eine Reihe von Neueinrichtungen zu treffen, 
durch die es nunmehr ermöglicht sei, den Anforde¬ 
rungen sowohl des nervenpathologischen als des psychi¬ 
atrischen Unterrichts zu genügen. So gestatten die 
Einrichtungen der Anstalt, dem Studenten alle Vor¬ 
richtungen, die die moderne Psychiatrie, zum Zweck 
der Heilung und Pflege von Geisteskranken besitzt, 
vorzuführen. Die Anstalt habe eine besondere histo¬ 
rische Bedeutung dadurch, dass hier in Göttingen der 
Vorgänger von Prof. Cramer, L. Meyer, 34 Jahre lang 

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thätig war, einer der bedeutendsten Begründer des 
no restraint-Princips. Durch eine Reihe von Neu¬ 
bauten in den letzten Jahren, durch die Freimachung 
der Gärten, durch Niederlegung der Mauern, durch 
Einrichtung von Dauerbädern (im ganzen 16), durch 
Ausbildung der Familienpflege sei vieles neügestaltet 
und erreicht. Dazu komme die Universitätsklinik für 
psychische und Nervenkranke. Dieselbe habe in den 
3 Jahren ihres Bestehens eine fortlaufende Steigerung 
der Frequenz gezeigt. Während im ersten Jahre bei 
280 Fällen 1404 Consultationen ertheilt wurden, stieg 
die Zahl im 2. Jahre auf 553 mit 3100 und wurden 
im letzten Jahre an 617 Patienten 4414 Consultationen 
ertheilt. Unter den Fällen sind die organischen Nerven¬ 
erkrankungen sehr in den Hintergrund getreten. 

Trotz dieser mannigfachen zur Verfügung stehenden 
Hilfsmittel haben die letzten Jahre doch gezeigt, dass 
die Poliklinik in Verbindung mit der Provinzial-Heil- 
anstalt nicht ausreiche für eine durchgreifende und 
allen Anforderungen gerecht werdende Bethätigung 
des Unterrichts, es sei deshalb wohl zu begrüssen, 
dass im nächsten Monat eine kleine klinische Station 
in Verbindung mit der Poliklinik eröffnet werde und, 
da auch in absehbarer Zeit die Errichtung einer be¬ 
sonderen Universitätsklinik für psychische und Nerven¬ 
kranke sicher gestellt sei, so könne in dieser Be¬ 
ziehung allen Anforderungen für wissenschaftliche und 
Unterrichtszwecke entsprochen werden. .Eine beson¬ 
dere Einrichtung hier sei das Sanatorium Rasemühle, 
das im letzten Jahre errichtet wurde. Zweck- der 
Gründung war die Schaffung eines Sanatoriums für 
nervöse Kranke aus den minder bemittelten Ständen 
und es ist dies die erste aus öffentlichen Mitteln er¬ 
richtete derartige Heilstätte m Deutschland. Leitender 
Gedanke bei der Einrichtung des Sanatoriums, das 
aus mehreren früher in Privatbesitz gewesenen Ge¬ 
bäuden umgebaut wurde, war, jeden Anstaltscharacter 
zu vermeiden, deshalb wurde einmal jede Trennung 
von männlichem und weiblichem Geschlecht in be¬ 
sondere Abtheilungen vermieden, um ganz die Ver¬ 
hältnisse einer Familienpension zu schaffen. Dieses 
Princip hat sich ganz ausserordentlich bewährt und 
zu keinerlei Unzuträglichkeiten geführt. Ein Oberarzt 
steht dem Sanatorium vor. Direktor des Sanatoriums 
ist Profossor Cramer in seiner Eigenschaft als Inhaber 
des Lehrstuhls für Psychiatrie und Nervenheilkunde 
an der hiesigen Universität. 

Princip bei der Aufnahme ist der absolute Aus¬ 
schluss von Geisteskranken, Epileptikern und Selbst¬ 
mordsüchtigen, was im einzelnen Fall immer besonders 
ärztlich attestirt werden muss. 

Discussion zu dem Vortrag Hoche’s: Ein¬ 
teilung und Benennung der Psychosen 
(siehe Nr. 7.). 

Z ieh e n-Berlin hält eine Uebereinstimmung in 
der Classification nicht für erforderlich. Die An¬ 
führung synonymer Namen habe vielfach didactischen 
Werth (acute Paranoia — Amentia — Haliucinoseu.s. w.). 

Wernicke -Halle sieht die Schwierigkeit der 
Aufgabe zum Theil in der Fassung der Examens¬ 
ordnung, in welcher, ganz entsprechend den Bestim¬ 
mungen fortgeschrittener Disciplinen, die Stellung einer 

Original from 

HARVARD UNIVERSUM 




r Q04.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 91 


ganz bestimmten Diagnose verlangt wird. Redner 
giebt an der Hand gewisser Fragenstellung den Gang 
des Examens auf Grund 13jähriger Erfahrung an; 
dabei spielt weniger die Frage nach der Diagnose 
als der Nachweis der Geisteskrankheit durch Angabe 
ganz bestimmter Symptome eine wichtige Rolle. 

Moel i-Berlin: Bei der Stellung einer bestimmten 
Diagnose ist nicht der Gebrauch eines Namens wesent¬ 
lich sondern die Darlegung des Ganges der Ueber- 
legung, die dazu führt. Auch die Frage nach den 
Begriffen der allgemeinen Psychiatrie sei nicht zu ver¬ 
gessen. Das Verständniss hierfür ist unentbehrlich für 
den allgemeinen Praktiker. 

Siemerling-Kiel steht auf dem Boden des 
Hoche’schen Referates. Er will die Bezeichnungen 
nicht ganz als gleichgültig und nebensächlich ansehen, 
weil sich doch damit ein bestimmter Krankheitsbegriff 
verbinde. 

Hit zig-Halle will neben der Berücksichtigung 
des Standpunktes eines Andern auch die eigene Auf¬ 
fassung betont wissen, da diese dazu beitrage, dem 
Lernenden eine klare Vorstellung zu verschaffen. 

Fürstner-Strassburg empfiehlt Vorsicht in der 
Fassung, in einer ganzen Reihe von Fällen sei es 
doch möglich, eine sichere Diagnose zu stellen. 

Wer nicke erwidert Herrn Siemerling, dass er 
die Diagnose der Geisteskrankheiten natürlich nicht 
so gemeint habe, dass man dem Examinanden be¬ 
sonders schwierige Fälle zur Beurtheilung geben solle. 
Nur ganz klare und unzweifelhafte Fälle kämen in 
Betracht, es handle sich um die genaue Angabe der 
Gründe, weshalb das Individuum für geisteskrank 
gelten müsste. 

Weygandt-Würzburg ergreift für seinen ab¬ 
wesenden Lehrer Kraepelin das Wort, der Grund des 
Erfolges der Kraepelin’schen Lehre müsse doch haupt¬ 
sächlich in dem inneren Gehalt derselben gefunden 
werden, die, wenn sie auch nichts Endgültiges dar¬ 
stellt, uns doch in manchen Punkten ein Stück weiter 
bringt und vor allem grosse didaktische Vorzüge be¬ 
sitze. Hinsichtlich der Verständigung betreffs des 
Unterrichts sei zu betonen, dass die Studenten, die 
künftig Psychiatrie hören müssen, es doch meist im 
letzten Semester hören werden, also an der Univer¬ 
sität, wo sie Examen machen. Ebenso grosse Diver¬ 
genz in der Nomenclatur und Auffassung besitze man 
auch in den andern Disciplinen, wie die interne Medicin 
hinsichtlich der Ehrlich’schen Theorie, noch mehr 
aber Psychologie und Philosophie. 

Im Schlusswort betont Hoc he die Uebereinstimmung 
der Autoren in den wesentlichsten Punkten und hebt 
noch hervor, dass die Concessionen des Einzelnen sich 
natürlich nur auf die Darstellung im Lehrvortrage, 
nicht auf die freie Forschung beziehen können. Eine 
Informirung der Studenten über die Detailfrage halte 
er nicht für angezeigt. 

Direktor Dr. Alt-Uchtspringe: Die alimen¬ 
täre Behandlung der Epilepsie. 

Vortragender zeigt in einer längeren historischen 
Einleitung, welche Bedeutung schon in c ^ cr ältesten 

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Zeit der Beschaffenheit der Nahrung bei der Behand¬ 
lung der Epilepsie beigelegt wurde. 

An dem reichen Uchtspringer Krankenmaterial 
angestellte Beobachtungen ergaben zahlreiche auch 
therapeutisch zu verwerthende Resultate. In erster 
Linie hebt Alt hervor, dass schon die quantitative 
Menge der Nahrung, also eine Ueberfüllung des Magens, 
für die Auslösung von Anfällen in Betracht komme. 
Weiter warnt er vor allzu reichlicher Eiweissnahrung 
in den ersten Lebensjahren der Kinder, namentlich 
wenn dieselben infolge degenerativer Anlage oder 
sonstiger Schädigungen ein weniger widerstandsfähiges 
Nervensystem besitzen. Ferner hat A 1 1 eine Anzahl 
von Versuchen angestellt, indem er eine Reihe von 
epileptischen Kindern mit verschiedener Kost ernährte 
und zwar die eine Gruppe mit reiner Milchdiät, die 
zweite Gruppe mit vegetabilischer Kost, die dritte 
mit gemischter, d. h. Fleisch enthaltender Kost. Es 
zeigte sich, dass die Fleischkost die Anfälle an Zahl 
wesentlich erhöhte. Die Ursache dieser Erscheinung 
kann nicht allein in dem grossen Eiweissgehalt der 
Fleischkost gefunden werden, da die Milchkost im 
prozentualen Verhältniss mehr Eiweiss enthalte als 
die Fleischkost. Vortragender weist aber darauf hin, 
dass bei der Milchnahrung infolge der Abscheidung 
von Milchsäure die Wucherung der Kolibakterien im 
Darm verhindert würde. Er glaubt, dass dadurch 
die Bildung schädlicher, krampfauslösender Toxine 
hintangehalten werde. Weiter wird -auf die Bedeutung 
des Kochsalzstoffwechsels hingewiesen. 

In der Diskussion weist Mendel-B er li n darauf 
hin, dass sich bei Kühen, also reinen Pflanzenfressern, 
auch echte Epilepsie finde. Er schliesst daraus, dass 
die Fleischnahrung allein nicht Schuld an der Ent¬ 
stehung epileptischer Attaken sein könne. 

Cramer bestätigt den Einfluss der Ernährungs¬ 
art auf die Häufigkeit der epileptischen Anfälle. 

Fürstner erwähnt, dass die bei vielen Epilep¬ 
tikern in den Morgenstunden auftretenden Anfälle 
nach seiner Ansicht ebenfalls mit Ueberladung des 
Magens beim Abendessen im Zusammenhang stünden. 

Alt betont in seinem Schlusswort gegenüber 
Mendel, dass auch er in den Stoffwechsclstörungcn 
nur eine Ursache der Epilepsie erblicke. 

Prof. Dr. E. S c h ul t z e - Bonn: Beziehungen 
zwischen chemisc her K o n s ti tut io n und h y p- 
notischer Wirkung. — Eine neue Gruppe 
von Schlafmitteln. 

Ausgehend von der Arbeit von Käst und Bau¬ 
mann über die Sulfone und unter Berücksichtigung 
der Wirkung zahlreicher neuer Hypnotika betont und 
belegt Sch. die hypnotische Wirkung, die den Aethyl- 
gruppen zukommt, die Schädlichkeit der Sulfonbildung 
und die Nützlichkeit der Substitution von Wasserstoff 
durch Brom in den sulphatischen Körpern. 

Unter Berücksichtigung dieser Erwägungen hat 
Sch. zusammen mit Dr. G. F uc hs - B ieb r i ch syste¬ 
matisch die Ketone und Ketoxime untersucht. Ketone 
waren unwirksam, Ketoxime nur zum Theil, hatten 
dann aber sehr unangenehme Nebenwirkungen, so 
dass von ihrer Verwendbarkeit als Schlafmittel abge¬ 
sehen werden musste. 

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HARVARD UNIVERSITY 





92 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 9. 


Darauf wurden die Acetamide untersucht. Diae- 
thylacetamid wirkt, wenn auch nur wenig, besser als 
Dipropylacetamid. Weitere Einführungen von Aethyl 
nutzten nichts, dagegen erhöhte die Substitution des 
Wasserstoffs im Acetylrest durch Brom die hypnotische 
Wirkung erheblich. So schlief ein Hund nach 2 gr 
Bromdiaethylacetamid (Neuronal) 26 Stunden. 

Auch beim Menschen erweisen sich die beiden 
Präparate Bromdiaethylacetamid und Bromdipropyl- 
acetamid in der Dosis von 0,5—1,0—1,5 gr nach 
den bisherigen Beobachtungen als so brauchbare Schlaf¬ 
mittel, dass die weitere Untersuchung ihrer hypnotischen 
Wirkung angezeigt erscheint 

Der Bromgehalt der neuen Präparate verdient 
besondere Beachtung. Dieser, zusammen mit der 
experimentell festgestellten langsamen Bromausschei¬ 
dung, spricht für die Anwendbarkeit als Sedativum 
und Antiepileptikum. (Autoreferat.) 

(Fortsetzung folgt.) 

— Zur Errichtung einer Volks-Nervenheil- 
stätte in Baden. Karlsruhe, 15. V. In medicinischen 
Kreisen hat sich schon lange die Ueberzeugung Bahn 
gebrochen, dass die im Grossherzogthum Baden jetzt 
noch bestehende Unmöglichkeit einer sachgemässen 
Behandlung wenig-bemittelter Nervenkranker eine 
empfindliche Lücke in der Krankenfürsorge unseres 
Landes bildet. Um diesen sich immer mehr fühlbar 
machenden Mangel zu beseitigen, hat sich ein provi¬ 
sorisches Komitee, bestehend aus den Herren Geh. 
Oberregierungsrath Glockner-Karlsruhe, Obermedi- 
cinalrath Hause r-Karlsruhe, Geheimrath S c h ü 1 e - 
Illenau, Dr. Determa nn-St. Blasien, Dr. Fuchs- 
Emmendingen und Dr. Neu mann-Karlsruhe ge¬ 
bildet, welches die Gründung einer Nervenheilstätte 
für Unbemittelte und Minderbemittelte aller Stände 
in die Wege leiten will. Die Regierung hält die 
Schaffung einer solchen Anstalt ebenfalls für ein 
dringendes Bedürfniss und bringt deshalb auch dem 
auf das genannte Ziel gerichteten Plane wärmstes 
Interesse und förderndes Wohlwollen entgegen. Das 
provisorische Komitee hatte sich nun entschlossen, 
durch eine von angesehenen Persönlichkeiten aus 
allen Teilen des Landes beschickte Versammlung den 
ersten Schritt zur Verwirklichung des Projektes zu 
thun und zunächst eine zweckdienliche Organisation 
zu schaffen. Zu diesem Zwecke berief dasselbe 
auf vergangenen Samstag abend hierher in den 
Rathhaussaal eine Konferenz ein, zu der sich eine 
grosse Anzahl von Personen aus hohen Beamten- 
kreisen, Aerztekreisen, mehrere Abgeordnete und 
Vertreter von Krankenkassen eingefunden hatten. 

Geh. Oberregierungsrath Glöckner eröffnete 
die Konferenz mit einer Begrüssungsanspräche und 
leitete auf Antrag des Geheimraths Schüle die Ver¬ 
handlungen. 

Die Tagesordnung umfasste drei Referate. Es 
sprachenDr.M. Neumann-Karlsruhe, Dr. W.Fuchs*)- 
Emmendingen und Dr. Determa nn-St. Blasien 
über den Zweck und die Bedeutung der Volksnerven- 
heilstätten, über die Organisation und Finanzirung 

*) Das Referat des Herrn Dr. Fuchs erscheint dem¬ 
nächst in dieser Zeitschrift. 


einer solchen Anstalt sowie über den Bau, die Aus¬ 
stattung und den Betrieb einer Nervenheilstätte. 
Es wurde u. a. ausgeführt: Die Geldquellen, die in 
Frage kommen, sind der Staat, die Kreise, die Ge¬ 
meinden, die Vereinigungen der Arbeiterschutzgesetz¬ 
gebung, die Einzelwohlthätigkeit und die Anstalt 
selbst. Die badische Staatsregierung wird sich als 
erste deutsche Regierung an der Gründung einer 
Volksnervenheilstätte durch entsprechende Geld- 
Unterstützung betheiligen. Die Kreise verhalten sich 
noch abwartend. An den bestehenden Anstalten in 
anderen Staaten haben sich die Vereinigungen der 
Arbeiterschutzgesetzgebung mit hohen Kapitalbeiträgen 
in Darlehensform betheiligt. Was die Nervenheilstätte 
braucht, ist das Anstaltsgrundstück, das Geld für 
den Bau, die innere Einrichtung und die Betriebs¬ 
kosten. Es ist zu wünschen, dass das Grundstück 
geschenkt wird, da alsdann die Zinsen fortfallen, die 
sonst vom Pflegesatz mit gedeckt werden müssen. 
Das Grundstück muss klimatisch, hygienisch und 
verkehrlich günstig liegen, genügend gross sein und 
ergiebige Bodenart aufweisen. Das Geld für Bau 
und innere Einrichtung würde sich zusammenzusetzen 
haben aus Erträgnissen von Sammlungen, von Wohl- 
thätigkeitsbazaren, vielleicht von Geldlotterien, von den 
Vereinsbeträgen und zu einem hoffentlich erheblichen 
Theil aus den Zuschüssen der Landesversicherungs- 
• anstalt Baden, die hypothekarisch sicher gestellt 
werden könnten. Die Deckung der Betriebskosten 
hängt davon ab, in welchem Grade man die Anstalt 
sich selbst erhalten lassen will. Will man ohne 
Zuschuss Wirtschaften, dann muss man die Pflegesätze 
höher bemessen, will man aber billig unter 4 M. 
oder gar unter 3 M. pro Tag und Kopf behandeln, 
dann bedarf man eines jährlichen Zuschusses, um 
das Deficit zu decken. Falls die badische Regierung 
diesen Zuschuss zusicherte, könnte man billigere 
Plätze schaffen, die dann namentlich den nicht ver¬ 
sicherten Minderbemittelten zu gute kämen. Das 
Grossherzogthum Baden würde damit eine Lücke in 
der Schutzgesetzgebung für seinen Theil ausfüllen. 

An die Referate, die allgemeiner Zustimmung be¬ 
gegneten, knüpfte sich eine nur kurze Debatte, in der 
Geheimrath Rasina und Geh. Oberregierungsrath 
Glöckner das Wort nahmen. Letzterer theilte mit, 
dass für den zu gründenden Verein im ganzen bereits 
12 000 Mk. zugesagt sind und dass die Regierung be¬ 
reit ist, in das nächste Budget einen Betrag für die 
Nervenheilstätte einzustellen. Es wurde sodann be¬ 
schlossen, dass das bisherige Komitee, dem das Recht 
der Kooptation zusteht, die Führung der Geschäfte 
übernimmt und die entsprechenden Schritte zur Ent¬ 
wicklung des Vereins und Förderung der Sache ein¬ 
leitet. 

Damit waren die Verhandlungen beendet 

(„Bad. Presse u , 17. V. 04.) 


Personalnachrichten. 

Heidelberg. Prof. Bonhoeffer, der Director 
der hiesigen Irrenklinik, erhielt einen Ruf nach Breslau 
als Nachfolger seines Lehrers Wernicke. 


Ersch 

Digitized b> 


Für den redactionellen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Bresler , Lublinitx (Schlesien). 

Sonnabend — Schluss der Imeratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von C-^r I M arbold in Halle a. S. 


i ^hTTe dgn 


Hevneznann’sche Buchdruckerei (Gebr. Wolff) in Halle a. S. 

HARVARD UNIVERSITY 



Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift. 

Redigiri von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Lubltnitz (Schlesien . 

'■'erlag vun CARL MARHOLD in Halle a. S 

r»*i»*Kr.-Allresse : M»rh«M V .• r i a *. IIaH«*aale Fernsprecher 2834. 

Nr. 10. 5 Juni- 1904. 

HfNtrilun^en nehmen jnle Hm hhandkmg, die Post sowie du* Verla^sbuehhandliinvf von Carl Marhold in Halle a. S enti>eifon. 

Inserate werden für die 3 spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Reilnction sind an Oberarzt I)r. Joh. Rresler, Lubltnitz (Schlesien), zu richten. 


Specialanstalten für geistig Minderwerthige. 

Von Medicinalrath Dr. P. Näcke , Hubertusburg. 

(Schluss.) 


Sämmtliche Minderwerthige lassen sich aber end¬ 
lich in 2 grosse Klassen einthcilcn; wie ich dies 
früher (1. c.) für die sog. moralisch Schwa« hsinnigen 
durchführte, nämlich i. in Aktive, Lasterhafte, Ge¬ 
fährliche und 2. in mehr Passive, Harmlose, was 
praktisch wichtig erscheint. Heide Gruppen können 
verschiedene Varianten und Ucbergänge bilden, doch 
muss ich diesbezüglic h auf meine Monographie über 
mor. ins. verweisen, da das dort Gesagte auch hier 
anwendbar sein dürfte. Angehörige beider Haupt- 
klassen finden sich nun zum grossen Theile nament¬ 
lich in Armen-, Arbeits- oder Strafhäusern aller Art, 
viele auch „auf der Walze“ als Vagabunden und 
Bettler. Seltener dagegen sind sie in Irrenanstalten, 
ausser bei ausgelu'« »eher,er Psychose. Eine wahre 
\Vc »hithat für alle betheiligten Kreise wäre eine ratio¬ 
nelle Unterbringung aller dieser Elemente in eine 
Sonderanstalt, nicht am wenigsten für die Familien, 
die oft nicht wissen, was sie mit solchen Angehörigen, 
die nur zu oft ein wahres Kreuz für sie bilden, 
machen sollen. 

Wie hat man sich nun die Unterbringung dieser 
Individuen zu denken? Eine Möglichkeit hat uns 
Colin dargelegt, obgleich er nur von Geisteskranken 
spric ht, nicht also unsere speelelicn Kategorien im Auge 
hat. Er wählt das moderne Pavillunsvstcm, doch hat 
er hier einige nüthige Vorkehrungen zu erwähnen 
vergessen. Zunächst muss eine Aufnahmestation da 
sein. Die Zahl der Pavillons für die Unruhigen, 
Gefährlichen und andererseits für rfio Ruhigen ric htet 
sic h nach dem Bedürfnis^ wobei die für Festere 
nicht zu klein zu bemessen sind, zumal sie auch 
vorübergehend Ei regle aufnehmen sollen. liier wäre 
dann auch die Einrichtung für Dauerbäder und 
Einzelzimmer nöthig. Eigentliche Isolirung dürfte 
kaum Vorkommen. So kleine Wohn räume zu schallen, 
wie Colin es will, würde ich für ziemlich überflüssig 
halten. Auch ein Gebäude für körperlich Kranke 

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ist vorzusehen; ob noch weitere Specialabtheilungen, 
entscheidet nur das Bedürfnis. Jedenfalls ist der 
Baugrund — am liebsten möglichst auf dem Lande, 
im Gegensätze zur Irrenanstalt — so gross zu wählen, 
dass nach Bedarf die Zahl der Baulichkeiten ver¬ 
mehrt werden kann und ausser für Garten noch 
Platz für Feldwirtschaft übrig bleibt, da ich die 
Hauptbeschäftigung der Intcrnirten, und zwar die 
zwang weise in Garten und Feld sehen möchte, 
weniger in Werkstätten, was Colin allein will. 
Hier wird natürlich auch das Material entscheiden, 
da die Städter, namentlich die* Grossstädter, 
meist nur Werkstättenarbeiten vorziehen werden. 
Die specielle Bauweise hat sich nach der Art der 
Kranken zu ric hten. Die Gefährlichen, sehr Störenden, 
sind im Allgemeinen fester zu verwahren, als die 
übrigen. 

Das wäre ein Modus der Unterbringung. Da 
nun das Pavillonsystcm, besonders in der Nähe 
grosser Städte, recht theucr ist, sehr viele Insassen 
ferner Viele Jahre hindurch, ja lebenslänglich, ver¬ 
pflegt werden müssen, so w-äre eine billigere Unter¬ 
bringungsart vorzuziehen. Diese ist die in grösseren 
Blocks von du —ioo Personen, im einfachsten 
Kasernenstil, aber mit der Möglichkeit einer Trenn¬ 
ung der Kranken. Die Gefährlichen könnten in 
eine besondere Abtheilung mit festerem Gewahrsam 
kommen, oder besser noch: in einen Pavillon apart, 
wenn man cs nicht überhaupt vorzieht, sie in die 
Adnexe der Strafanstalten zu bannen, wo sie sicher 
weniger stören. Das grosse Reformator}’ zu Elmira 
im Staate New-York dürfte bez. des Blocksystems, 
noch mehr aber bez. der psvehisrhen und somatischen 
Behandlung seiner Insassen hier vielfach als Muster 
dienen. 

Es könnte sich endlich die Frage erheben, die 
durchaus nic ht a limine abzuweisen ist, ob nicht die 
Harmlosen w enigstens koloniale Verpflegung gemessen 

Original from 

HARVARD UNIVERSITY 



94 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


dürften. Ich glaube, auch das wäre zu versuchen, 
wenngleich hier wahrscheinlich mehr Entweichungs¬ 
versuche Vorkommen werden, als bei gewöhnlichen 
Geisteskranken. Einfache, adaptirte Bauernhäuser 
oder schlichte Baracken würden dann wohl genügen. 
Dedichen*) hat sogar für mindergefährliche Gei¬ 
steskranke, gewisse Imbecille, Trinker ctc. Arbeiter¬ 
kolonien zur Bearbeitung z. B. von Heidegegenden 
vorgeschlagen, nachdem sich solche für Gefangene 
in Dänemark und Sardinien gut bewährt haben. Auch 
dies wäre in Erwägung zu ziehen. Die gefährlichen 
Elemente allerdings würden für eine solche freie 
Verpflegung wohl weniger passen oder dürften dann 
nur ähnlich wohnen und beaufsichtigt werden, wie 
Gefangene. 

Mag man nun die eine oder andere Unterbring¬ 
ungsart wählen, was vielfach von Umständen ab- 
hängen wird — ich würde mich, wo es angeht, aus 
oben bezeichnten Gründen, mehr für das Block¬ 
system begeistern — ; mag ferner der gewählte Typus 
in einfachster Weise durchgeführt werden oder, wenn 
es die Mittel erlauben, in reicherer und künstlerischer 
Ausgestaltung, so werden doch stets die 3 folgenden 
Hauptbedingungen zu erfüllen sein. Erstens soll die 
Anstalt nur unter einem Psychiater als Leiter stehen, 
nicht unter einem Geistlichen oder Verwaltungsbe¬ 
amten. Ist die Anstalt gross, so müssen mehrere 
Aerzte angestellt sein und zwar derart, dass auf 
Einen nicht mehr als höchstens 100 Patienten kom¬ 
men. Zweitens wird eine etwas straffere Zucht als 
in der Irrenanstalt hier ganz am Platze sein, beson¬ 
ders bei der Gruppe der Gefährlichen, Lasterhaften. 
Drittens wird sich hier für einen intelligenten und 
adaptionsfähigen Lehrer ein weit grösseres Arbeits¬ 
feld eröffnen, als in dem gewöhnlichen Irrenhausc, 
da es vor allem bei der Gruppe der mehr Passiven, 
Haltlosen gilt, die Willensschwäche durch methodische 
Arbeiten, Belehrungen etc. aufzurichten und zu stärken. 
Aber auch auf die Aktiven, Gefährlichen liesse sich 
hierdurch manches Erspricsslichc erreichen, indem 
versucht würde, das böse Triebleben in bessere 
Bahnen zu leiten und so allmählich abzustumpfen. 

Wir hätten somit die einzelnen Arten der geistig 
Minderwerthigen und ihre Unterbringungsweise skiz- 
zirt. Es bleibt nur noch übrig, einige hierher gehörige 
Fragen unter den vielen möglichen einer kurzen Be¬ 
sprechung zu unterziehen. 

Wer soll diese Specialanstalten bauen und wer hat 
für die Unterhaltungskosten der dort Verpflegten auf- 

*) Dedichen: Congrtfs d’anthropol. criminelle internal. 
Amsterdam 1901. Rapports, p. 16. 


[Nr. 10. 


zukommen? Diese Frage ist sicher nicht so leicht 
zu entscheiden, auch nicht für Juristen. Dort, wo 
der Staat selbst Irrenanstalten baut, ward er wohl 
auch die moralische Pflicht haben , eventuell für die 
geistig Minderw’erthigen in oben erörterter Weise zu 
sorgen, mindestens für die gefährlichen Elemente da¬ 
runter, die des socialen Schutzes halber eingesperrt 
werden müssen. Bei den übrigen, den Passiven, 
mehr Harmlosen, bleibt es dagegen fraglich, ob der 
Staat einzugreifen hat. Ich glaube cs aber doch, da 
es sich 1. um Zustände handelt, die pathologisch 
sind und hart an die Psychose streifen ; 2. weil auf 
diesem günstigen Boden jeden Augenblick Irrsinn 
ausbrechen kann und weil 3. diese Personen, wenn 
in Freiheit belassen, leicht der Vagabondage und dem 
Verbrechen anheimfallen. 

Hat also der Staat das nöthige Geld, so wird er 
alle geistig Minderwerthigen specialiter unterbringen. 
Hat er es nicht, so muss er wenigstens die Gefähr¬ 
lichen verwahren, sei es in einem Adnexe an einer 
Strafanstalt, sei es in einer Zentralanstalt, sei es, 
wenn ihre Zahl eine sehr grosse ist, in einer eigenen 
Anstalt, die bez. des Regimes /.wuschen Gefängniss 
und Irrenanstalt steht und w’ohin er zunächst die 
hierhergehörigen Elemente aus den Arbeite-, Besserungs- 
und Strafhäusern überführen wird. Dahin müssten 
auch sonst alle so gearteten Elemente kommen, eventuell 
zwangsweise, und sie haben selbst dort zu zahlen, oder 
die Commune oder die Familie soweit diese zahlungs¬ 
pflichtig sind. Es dürfte dann den Verwandten nicht er¬ 
laubt sein, sie auf ihre Kosten anderweit unterzubringen, 
weil dadurch der öffentlichen Sicherheit durch die 
Möglichkeit einer baldigen Entlassung keine Gewähr 
geschieht, wie z. B. im Falle des Prinzen Prosper 
Arenberg. Will oder kann der Staat abei nur die 
Fürsorge für die schlimmen Minderwerthigen auf sich 
nehmen, so muss es der Selbstverwaltung überlassen 
bleiben, für die Klasse der mehr Harmlosen, Passiven 
zu sorgen und zwar so, wie oben auseinandergesetzt 
wurde. Hier müssten natürlich auch die Gemeinden 
resp. Privaten für die Unterhaltungskosten ganz oder 
theilweis herangezogen werden, freilich früge es sich 
da immer, inwieweit ein Zwang der Unterbringung 
möglich ist. Dies wäre wohl nur betreffs derjenigen 
der Fall, deren Unterhaltung der Behörde anheim¬ 
fiele. Die meisten Familien würden aber gewiss mit 
Freuden die Gelegenheit wahrnehmen, ihre ihnen so 
viel Sorge bereitenden Angehörigen solchen Anstalten 
zu übergeben und für sie einen mässigen Satz zu 
entrichten. Wer reich genug ist, mag solche zu 
Ilause behalten und für ihre leichtfertigen Streiche 
zahlen. Sobald aber Gemeingefährlichkeit bezeugt 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


95 


1904.] 


ist, dann hat, wie schon gesagt, die Familie das Recht 
verwirkt, den Angehörigen nach Gutdünken unterzu¬ 
bringen. 

Was hat aber zu geschehen, so lange es, wie 
noch jetzt leider, überhaupt keine Sonderanstalten 
für geistig Minderwerthige giebt ? Die gefährlichen, 
verbrecherischen Personen kämen dann am besten 
in einen Adnex für irre Verbrecher. Sollte aber 
ein solcher nicht bestehen, dann eher mit ihnen ins 
Gefängniss — aber in eine besondere Abtheilung 
mit milderem Regime —, als in eine gewöhnliche 
Irrenanstalt, wo sie so oft alles auf den Kopf stürzen 
und den Betrieb schwer stören können. Bez. der 
mehr Passiven kommt es zunächst darauf an, ob sie 
reich oder arm sind. Erstcre kann man versuchs¬ 
weise, wenn es mit ihnen in der Familie absolut nicht 
mehr geht, in gewisse Anstalten, z. B. das Rauhe 
Haus oder in eine geeignete fremde Familie (die 
eines Försters, Landw'irths, Landgeistlichen) bringen, 
was öfter, wie ich sah, von gutem Erfolge ist.*) Früher 
schaffte man sie einfach nach Amerika, w'o sie meist 
elendiglich untergingen. Die Unbemittelten finden 
am besten Unterkommen in Armen-, Besserungs- oder 
Bezirksanstalten etc., wo sie bei passender Behandlung 
und Beschäftigung sich immerhin noch leidlich nützlich 
machen. Man wird vor allem Zusehen, dass man sie hier 
gütlich zurück behalten kann, um sie vor Vagabondage 
etc. zu bewahren, so lange zur Fcsthaltung derselben 
keine gesetzliche Handhabe gegeben ist. Immerhin 
ist diese Art der Unterbringung eine schlechte und 
nur vorläufige. Das Ziel bleibt also stets: alle 
Minderwerthigen in Specialanstalten auf die eine oder 
andere Art unterzubringen. In gewöhnliche Irren¬ 
anstalten passen auch die Passiven nicht gut, w*eil 
sie sich hier meist recht unglücklich fühlen und zu 
den eigentlichen Irren nicht gerechnet werden können. 
Selbst eine eigene Abtheilung für sie an der Irren¬ 
anstalt w'äre weniger zu empfehlen, da sie vielfach 
eine andere Behandlung erheischen, als die Geistes¬ 
kranken. 

Wie lange sollen nun die Untergebrachten in der 
Specialanstalt bleiben ? Bei den Aktiven, Gefährlichen 
lautet die Antwort einfach: so lange ihre Triebe noch 
gefährlich sind und verbrecherische Handlungen vor¬ 
aussehen lassen, also auf alle Fälle auf Jahre hinaus, 
selbst lebenslänglich. Bei noch unter Strafe Stchcn- 

*) Nach Scholz (Die moralische Anästhesie. Leipzig, 
Mayer, 1904) verlangen dagegen manche der „moralisch 
Anästhetischen 11 nach dem Trubel der Grossstadt, in dem sie 
sich auch ohne welche Anfechtungen sicher und geordnet 
bewegen. Er kennt solche Beispiele, ich nicht. Jedenfalls 
dürften sie nicht allzu häufig sein. 


den ist die Strafzeit selbstverständlich zum Mindesten 
einzuhalten. Von Zeit zu Zeit w'ird man versuchen, 
sie in die freieren Verhältnisse der Harmlosen zu 
versetzen, bis sie hier ganz bleiben können, um, wie 
Jene^ später beurlaubt, resp. entlassen zu werden. 
Die Fürsorge wdrd man jedoch für alle auch, wie bei 
den Geisteskranken, auf längere Beurlaubungen öder 
über die Entlassung hinaus noch ausdehnen, indem 
man ihnen passende Beschäftigung zu verschaffen 
sucht, sie mit Geld unterstützt, ihnen Werkzeuge 
kauft u. s. f. Vom Heirathen wird man ihnen nur 
abrathen, leider aber dasselbe nicht verbieten können, 
wenigstens nicht für absehbare Zeiten. 

Wie hat sich ihnen nun als Angeklagte gegen¬ 
über das Forum und der Arzt zu verhalten ? Ver¬ 
folgt man die Processe, so findet man eine Menge 
von geistig Minderwerthigen zur Strafe verurtheilt, 
daher ihre grosse Zahl in den Gefängnissen. Die 
meisten Juristen kennen eben diese Zustände zu 
wenig oder, wenn man sie ihnen darstellt, zeichnen sie 
einfach nicht darauf oder verurtheilen sie trotzdem, weil 
sie dem Gesetze nach nur ein „zurechnungs- und 
unzurechnungsfähig“ kennen. Die ärztlichen Sach¬ 
verständigen suchen wiederum die Betreffenden gern 
als unzurechnungsfähig hinzustellen. Ich glaube, auch 
hier gilt es: maassvoll sein und die praktische Seite 
nicht vergessen! Die Richter machen den Aerzten 
sogar bisweilen den ungerechtfertigten Vorwurf, sie, 
die Experten, wollten durch zu weite Ausdehnung 
des Begriffs: Unzurechnungsfähigkeit, die Angeklagten 
dem Arme der Gerechtigkeit entziehen; sie fürchten 

— und diesmal nicht ganz ohne Grund, glaube ich 

— eine unerlaubte Verallgemeinerung des Begriffs: 
verminderte Unzurechnungsfähigkeit, wenn sie diesen 
Ausdruck überhaupt zulassen. Denn sicher spielt bei 
diesen Begriffen der Subjektivismus eine ziemliche 
Rolle, w r ie die so häufig widerstreitenden Gutachten 
der Sachverständigen genugsam bezeugen. Gerade 
in der letzten Zeit fanden Processe statt, wo der An¬ 
geklagte als „unzurechnungsfähig“ erklärt ward, ich 
dagegen wahrscheinlich mein Verdikt auf: vermin¬ 
dert zurechnungsfähig abgegeben hätte. Es kommt 
eben darauf an, wie gross man einerseits die nor¬ 
male Variationsbreite der Psyche annehmen und an¬ 
dererseits, bis w'ohin man die Grenzpfähle der ge¬ 
minderten Zurechnungsfähigkeit nach der Unzurech¬ 
nungsfähigkeit hin stecken will, wobei es keine starren 
Regeln giebt, sondern sehr verschiedene Momente 
mitsprechen. 

Im Allgemeinen wird man daran festhalten, dass 
der geistig Minderwerthige, w^enn er das Delikt nicht 
in einem sicher bezeugten Zustande geistiger Um- 


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96 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. io. 


nach tun g beging — was hier bei dem leichten Auf¬ 
treten von Psychosen sehr wohl einmal geschehen 
kann —, vermindert zurechnungsfähig ist. *) Man wird 
ihn als solchen hinstellen, wenn das Gericht diesen 
Ausdruck zulässt, sonst wird man sich liumaner Weise 
eher für Unzurechnungsfähigkeit, als für Zurechnungs¬ 
fähigkeit aussprechen. Handelt es sich dagegen um 
besonders Gefährliche, so-erkläre man sie, so lange 
es keine Specialanstalten für solche giebt und die 
Irrenanstalt für . ihre sichere 'Verwahrung nicht auf- 
kommen kann und darf, ruhig für zurechnungsfähig, 
damit sie im Gefängnisse wenigstens sicher aufge¬ 
hoben sind. Zugleich wird man aber alle Gründe ver¬ 
bringen, welche mildernde Umstände bestimmen, für 
einen milderen Strafvollzug eintreten und ihn dem 
Richter anempfehlen. So lange Minderwertige aller 
Art noch im Gefängnisse weilen, sind sie besser von 
den übrigen Gefangenen getrennt zu halten, mit 
weniger strengem Regime, die bösartigen Elemente 
am besten im Adnexe, will man nicht überhaupt 
auch alle übrigen dort unterbringen. Das setzt frei¬ 
lich voraus, dass der Gefängnissarzt psychiatrisch vor- 
gebildet sei, um einerseits rechtzeitig die geistigen 
Mindeiwerthigkeiten zu erkennen und sie vor aus¬ 
brechendem Irrsinne zu bewahren, andererseits sie 
aus dem Gefängnisse zu entfernen, wo sie rechtlich 
höchstens nur halb hingehören. 

Recht schwierig kann die Frage der Zurechnungs¬ 
fähigkeit bei sexuellen Delikten **) sein, wie wir schon 
sahen. Man kann nur von Fall zu Fall hier urtheilen. 
Wo eine Psychose oder Minderwertigkeit deutlich ist, 
dann ist es freilich nicht schwer das Urtheil zu finden. 
Wir sagten jedoch schon, dass sehr wahrscheinlich so 
manche sexuell Perverse, besonders unter den Homo¬ 
sexuellen, psychisch intakt sein können, auch nicht 
minderwertig sind. Wie aber, wenn die libido einmal 
sehr stark auftritt, gar triebartig, zwangsmässig ? Ist 
die Unbezwinglichkeit erwiesen — freilich eine sehr 
schwielige Sache! — resp. der Momente Erwähnung 
gethan, die die Widerstandsfähigkeit des Individuums 
untergruben, so ist für den Akt die Unzurechnungs¬ 
fähigkeit auszusprechen, während die Person sonst, 
glaube ich, nicht einmal minderwerthig zu sein 

*) Wesentlich Triftiges lässt sich gegen die verminderte 
Zurechnungsfähigkeit nicht Vorbringen, wie immer mehr, sogar 
von juristischer Seite, anerkannt wird. Auch die neuesten 
Angriffe von Penta (la follia nelle carceri. Rivista mensile 
di psich. for. etc. 1904. No. 4) halte ich nicht für stichhaltig. 

**) Siehe auch Näcke: Forensische, physiologisch-psycho¬ 
logische Randbemerkungen zum Processe Dippold, insbesondere 
über Sadismus. Archiv für Kriminalanthrop. etc., Bd. XIII, 
4. Heft. 


braucht, vielleicht sogar nicht einmal bei wiederholten 
Akten. Auch hier würde am besten die Unterbringung 
in einer Sonderanstalt indicirt sein, namentlich wenn 
sich ähnliche Delikte trotz Strafen immer wieder¬ 
holten. Man wird dann bez. der Entlassung beson¬ 
ders vorsichtig sein und oft Jahre darüber hingehen 
lassen. 

Der berühmte Criminahst v. Liszt geht aber 
noch weiter, als wir. Er verlangt stets die Straf¬ 
losigkeit der geistig Mindcrwerthigen. Wolle man 
aber ihre Bestrafung, meint er, dann solle die Ver¬ 
wahrung erst vorangehen, unter Abrechnung der Straf¬ 
zeit. Ist Heilung eingetreten, vor Ablauf der Straf¬ 
zeit, dann könne man meinetwegen bestrafen. Dies 
dürfte aber gewiss nur sehr selten geschehen, da der 
geistig Minderwerthige, wenn überhaupt Besserung 
eintritt — von einer wirklichen Heilung ist meist 
wohl ganz abzusehen! —, sehr lange in der Sonder¬ 
anstalt zu bleiben hat. Der Richter wird auf Unter¬ 
bringung des vermindert Zurechnungsfähigen — wenn 
er diesen Ausdruck gelten lässt — verfügen, zugleich 
aber unter Beifügen einer gewissen Internirungs- 
zeit als Minimum, die als Strafzeit zu gelten hat und 
von Strafe*) müssen wir so lange sprechen, als der 
vermindert Zurechnungsfähige nicht als unzurechnungs¬ 
fähig erklärt wird. 

Ich glaube also, dass v. Liszt mit seinem Vor¬ 
schläge kaum durchdringen wird, wenigstens nicht 
jetzt. Ich halte denselben für zu weitgehend, wie auch 

*) Halten wir daran fest, dass Strafe ausserhalb des Ge¬ 
fängnisses (in Familie, Schule,• beim Militär etc.) durchaus 
seinen Zweck als Besserungs- und Abschreckungsmittel oft ge¬ 
nug erfüllt, so wird man das Gleiche auch auf den Angeklagten 
vor Gericht auwenden. Der beabsichtigte Zweck wird bei Ge- 
legcnheits- und Leidenschaftsverbrechern und manchen Jugend¬ 
lichen auch erreicht, dagegen fast nie bei den Gewohnheits¬ 
verbrechern. Sie liefern das Heer der Rückfälligen, die ja das 
Anschwellcn der Verbrecherzahl vor allem bedingen, was angeb¬ 
lich die Nutzlosigkeit der Strafe beweisen soll. Das aber ist ein 
falscher Schluss. Bei dieser Kategorie kann es sich freilich nur 
uni socialen Schutz handeln und für sie ist die Strafe auf 
unbestimmte Zeit viel schlimmer als die alte mit bestimmter 
Zeit. Ein socialer Schutz gegen Gelegenheit#* und Leidenschafts- 
Verbrecher erscheint dagegen kaum nötig. Wo aber — hier, 
wie in der Familie, Schule etc. — noch von Strafe gesprochen 
wird, da sollte dies nicht mehr im Sinne des alten jus talionis 
geschehen, als Racheakt, sondern nur als Besserungs- und 
Abschreckungsmittel, was noch mehr dadurch zum Ausdruck 
kommt, dass das Strafmaass abgeschafft wird. Die .Strafe soll 
nicht Wiedervergeltung sein, sondern, wie Scholz ( 1 . c.) sehr 
richtig sagt, ,,dcn Charakter einer naturnotwendigen, durch die 
Art der Straftat selbst begründeten Folge“ bewahren, womit 
selbstverständlich, meine ich, der weitere Zweck als Bcsserungs- 
und Abschreckungsmittel nicht ausgeschlossen ist, wo er über¬ 
haupt noch möglich erscheint. 


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den. zweiten Satz v. Liszt’s, (lass prinzipiell zwischen 
Zucht- und Irrenhaus kein Unterschied sei, und zwar, 
weil es keine wesentliche Differenz ausmache, ob 
Verbrechen oder Wahnsinn die Ursache der Gemein¬ 
gefährlichkeit sei. Letzteres ist bis zu einem gewissen 
Grade wohl wahr, trotzdem möchte ich den Unter¬ 
schied zwischen Zucht- und Irrenhaus nicht ver¬ 
wischt sehen. Sicher giebt es im Gefängnisse eine 
Reihe von Geisteskranken und noch mehr geistig 
Minderwerthigen, die also mehr oder weniger un¬ 
schuldig verurtheilt, nicht dorthin gehören. Anderer¬ 
seits wird man sich schwerlich dazij verstehen, die 
überwiegende Masse der andern Gefangenen ohne 
weiteres als Kranke anzusehen und zu behandeln, 
will man den Begriff: Krankheit, nicht zu sehr er¬ 
weitern und so verflüchtigen. Freilich begeht von 
2 Personen cct. par. nur eine ein bestimmtes Ver¬ 
brechen und zwar die mit dem grösseren endogenen 
Faktor. Die Grösse des letzteren muss aber schon 
ziemlich deutlich sein, ehe sie als krankhaft angesehen 
werden kann, weil sonst schliesslich der ganze Begriff: 
Verbrecher und Verbrechen verloren geht und es 
nur noch Kranke giebt, wozu dann in letzter Linie 
auch die sog. Ehrlichen zählen würden, da sic ja 
alle im (Lunde „latente Verbrecher“ sind, wie beson¬ 
ders geartete Umstände es jeden Tag aufzeigen können. 
Man muss daher auch für diesen endogenen Faktor, 
d. h. also für die in allen schlummernde Neigung zu 
strafbaren Handlungen, eine gewisse Variationsbreite 
statuiren, welche noch das Normale bezeichnet. So 
wird es verständlich, dass man zwar die kalten Mörder, 
die Bestien in Menschengestalt und die eigentlichen 
verbrecherischen Naturen als Kranke ansehen könnte, 
eine zum Glück sehr kleine Zahl. Trotzdem würde 
Niemand für sie ein gewöhnliches Krankenhaus 
postuliren, wegen ihrer hohen Gemeingefährlichkeit. 
Bei den Gelegenheitsverbrcchcrn wiederum ist das 
endogene Moment nicht allzu gross, um sie zu 
Kranken zu stempeln, noch weniger bei Leidenschafts¬ 
verbrechern , will man nicht ohne weiteres: Leiden¬ 
schaft = Krankheit setzen. Das Gros der Gefangenen 
dagegen besteht aus verlotterten Elementen, bei denen 
das Milieu wichtiger erscheint, als der angeborene 
Faktor. v. Liszt selbst betont ja beim Verbrecher 
das sociale Moment viel mehr als das endogene, 
mehr als ich und andere es thun. Sie sind demnach 
nicht als Kranke zu betrachten. Man wird also 
schwerlich das Zuchthaus in ein Krankenhaus ver¬ 
wandeln, wohl aber verlangen, dass die eigentlichen 
geistig Kranken und Minderwerthigen — mit Aus¬ 


97 


nähme vielleicht jener verbrecherischen Naturen etc. 
— aus der eigentlichen Strafanstalt entfernt werden'-'), 
dass aber weiter im Gefängnisse bedeutende Reformen 
stattfinden, namentlich in hygienischer Richtung und 
bez. der Handhabung des Strafvollzugs namentlich der 
Arreststrafen. Solche einschneidende Reformen würden 
freilich eine Aenderung unseres Strafrechts, vor allem 
Abschaffung jedes Strafmasses voraussetzen, und weiter 
eine z. Th. andere, besonders psychologische Vorbild¬ 
ung der Juristen verlangen. Man sieht, bis dahin hat 

es noch gute Wege! 

© © 

Alle unsere Vorschläge sind, wie der Leser ein¬ 
sieht , vorläufig nur rein theoretische , doch halte ich 
sie, zum grössten Theile wenigstens, für durchführbar; 
und bevor es zur praktischen Durchführung einer 
Sache kommt, muss sie erst theoretisch möglichst 
vielseitig untersucht werden. Darin liegt eben die 
Berechtigung und der hohe Werth der Theorie. In¬ 
zwischen scheint es, als ob Frankreich auf specielles 
Betreiben Colins — und das ist ein grosses Verdienst 
von ihm! -— zuerst solche Zwischenanstalten, d. h. 
Sonderanstalten für geistig Minderwerthige aller Art, 
welche zwischen Gefängniss und Irrenhaus stellen, 
mehr allerdings den letzteren sich nähernd, bauen 
wird. Freilich hat Colin, wie wir sehen, im Ganzen 
andere Kategorien von Personen im Auge, als wir, 
und sein Project stellt eigentlich nur ein Adnex für 
Geisteskranke an eine Irrenanstalt dar. 

Warten wir ab, wie dieser Versuch abläuft. Ich 
zweifle nicht an seinem Gelingen. Hat man hier 
erst wirkliche Erfahrungen gesammelt, so kann man 
praktisch auch an die andern Typen der Unter¬ 
bringung herantreten, um zu sehen, welcher der beste 
ist. Ich neige, wie gesagt, noch am meisten zum 
Blocksystem, eventuell zur Arbeitskolonie. 

Durch obige Ausführungen ist, glaube ich, zum 
i. Male eine solide Basis zu gedeihlicher Discusston 
über die immer dringlic her werdende Unterbringung 
geistig Minderwertiger geschaffen worden, auf der 
sich hoffentlich wird mit Erfolg weiter bauen lassen. 

*) Wenn ich am Ende meiner Monographie über moral 
insanity sagte: „Wenn erst die Gefängnisse zu einer Art Kran¬ 
kenhaus und Erziehungsanstalt geworden sind .. . so meinte ich 
dies, so lange obige kranken Elemente noch in der Strafanstalt 
bleiben. Wenn bei dem Gros der Gefangenen auch vielfach 
elendes Aussehen und so manche körperlichen Krankheiten 
bestehen, so wird man billigerweisc darauf Rücksicht nehmen 
müssen, ohne deshalb dem Ganzen den Charakter eines Kranken¬ 
hauses zu geben, da der Hauptnachdruck dort stets auf die 
sichere Verwahrung zu legen ist. 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. io. 


Mittheilungen. 


— Verein für Psychiatrie und Neurologie 
in Wien. Sitzung vom 9. Februar 1904. 

Dr. A. Fuchs demonstrirt einen 22jährigen an 
Morbus Basedowii leidenden Mann, bei welchem die 
Symptome dieser Krankheit im Februar 1903 auf¬ 
traten. Im Herbste 1903 entwickelten sich schmerz¬ 
lose Oedeme der Unterschenkel, die sich, während 
sie sich im Allgemeinen binnen vier Wochen rück¬ 
bildeten, an der Vorderfläche beider Unterschenkel 
verhärteten und sich zu schmerzlosen, starren, harten 
Infiltraten verwandelten. Es repräsentirt dieser Fall 
somit die zwar im Allgemeinen seltene, aber doch 
schon von verschiedenen Autoren beschriebene Com- 
bination von Morbus Basedowii mit Sklerodermie. 

Dr. H i r s c h 1 stellt einen Fall vor, der eine Com- 
bination von Morbus Basedowii mit Morbus Addi- 
sonii aufweist Seit August 1903 Zittern, profuse 
Schweisse, Durchfälle, seit Oktober 1903 Exophthalmus, 
Herzklopfen, Struma, bedeutende Abmagerung (von 
90 auf 58 kg), motorische Schwäche, gesteigerte Er¬ 
regbarkeit. Ebenfalls seit Oktober 1903 Broneefärb- 
ung der Haut. Hirschl versuchte eine neue Therapie 
mit Tabletten, die chromaffine Substanz enthielten, 
gewonnen aus der Marksubstanz der Nebenniere vom 
Rind. Begonnen wurde mit 0,06 g pro die, zur Zeit 
der Demonstration erhielt Pat 0,2 g chromaffiner Sub¬ 
stanz. Es konnte Abblassung der Broncefärbung, 
Rückgang der Struma und der Augensymptome, Ab¬ 
nahme der Schwäche konstatirt werden. 

Dr. E. Rai mann stellt einen 34 jährigen Mann 
vor, der bereits vor Monaten an einer Alkohol-Hallu- 
cinose erkrankte. Am 1. Februar 1904 in die Klinik 
aufgenommen, begann der Kranke am selben Abend 
unruhig zu werden und am zweiten Tage setzte ein 
typisches Delirium alcoholicum ein, welches nach drei 
Tagen mit einem kritischen Schlafe abklang. Zur 
Zeit der Demonstration des Kranken war bei noch 
fortbestehender Hallucinose eine völlige Krankheits¬ 
einsicht und Erinnerung des Patienten für das über¬ 
standene Delir zu konstatiren. Raimann verwies im 
Anschluss an die Demonstration auf die Verschieden¬ 
heit der Pathogenese des Alkoholwahnsinnes und des 
Delirs, indem eine bestimmte toxische Schädlichkeit 
vor Monaten zur Hallucinose führte, die durch den 
andauernden Potus aggravirte und erst durch die Ab¬ 
stinenz langsam abheilen wird, während die Abstinenz 
das Delirium auslöste. 

Dr. MaxDobrschansky demonstrirt die linke 
Grosshimhemisphäre eines Falles von zirkulärem Irre¬ 
sein (die rechte Hemisphäre war im Hinblick auf 
einen eventuellen Herd in eine Reihe von Frontal¬ 
schnitten zerlegt worden). Das Präparat stammte 
von einer erblich schwer belasteten Frau, bei der 
sich zur Zeit der Pubertät eine zirkuläre Psychose 
entwickelt hatte und die einem Uteruskarzinom er¬ 
legen war. Das Gehirn wies an seiner Oberfläche 
eine Reihe von Anomalien in der Anordnung der 
Furchen und Windungen auf, die dein Vortragenden 
mehr als eine zufällige Abweichung vom Normalen 
erschienen. 


Stud. med. B u n z 1 demonstrirt Schnitte eines 
Maulwurfsgehirns, in welchem in allen Partieen des 
Gehirnes encystirte Parasiten (Nematoden von nicht 
sicherzustellender Species), meist eingeschlossen in 
bindegewebigen Kapseln, zu finden waren. 

Dr. Alfred Fröhlich demonstrirt mikrosko¬ 
pische Schnitte des Rückenmarkes eines Affen, dem 
er linkerseits die 5., 6. und 7. hintere Zervikalwurzel, 
sowie die 1. und 2. hintere Thorakalwurzel durch¬ 
schnitten hatte. Die 8. hintere Zervikalwurzel war 
undurchschnitten geblieben. An den Serienschnitten 
sind die nach ' der Durchschneidung degenerirten 
Fasern bis in das erste Halssegment hinauf zu ver¬ 
folgen, während das Feld der undurchschnittpn ge¬ 
bliebenen 8. hinteren Zervikalwurzel bis in das erste 
Halssegment hinauf als lichtes Feld deutlich zu er¬ 
kennen ist. 

Dr. Emil Raimann bespricht einige neuere 
Schlafmittel: Veronal, Chloreton und Isopral. Bezüg¬ 
lich des erstgenannten finden sich nähere Mittheil¬ 
ungen des Vortragenden im Januarheft der „Heil¬ 
kunde“, bezüglich des drittgenannten im Märzheft 
derselben Zeitschrift. Chloreton in Dosen von 0,4 
bis 1,6 g (in Kapseln: 1—4 Kapseln pro die) ver¬ 
sagte bei psychomotorisch hochgradig erregten Geistes¬ 
kranken gänzlich. In leichteren Fällen von Schlaf¬ 
losigkeit war seine Wirkung als Schlafmittel eine gute. 
Manche Patienten klagten über Kopfweh und unter¬ 
brochenen Schlaf, manche hingegen zogen es dem 
Paraldehyd vor. Schädliche Nebenwirkungen wurden 
klinisch nicht nachgewiesen. Ueber 1,6 g pro die 
ging Raimann nicht hinaus. Schlöss. 

— Jahresversammlung des Deutschen Ver¬ 
eins für Psychiatrie zu Göttingen vom 25. bis 27. 
April 1904. (Fortsetzung.) 

Professor Bonhoef fer-Heidelberg: DerKorsa- 
koffsche Sym ptom enkomplex in seinen Be¬ 
ziehungen zu den verschiedenen Krankheits¬ 
formen. 

Die Abweichungen von dem von Korsakoff seiner 
Zeit fixierten Standpunkt bestehen darin, dass K. 
nicht von einem Symptomenkomplex sondern von 
einer Krankheit sprach. Das K.’sche Krankheitsbild 
ist charakterisiert durch dreierlei Momente, durch die 
begleitenden neuritischen Erscheinungen, durch das 
eigenartige psychische Bild und durch die Aetiologie. 
Die Neuritis ist indessen keine notwendige Begleit¬ 
erscheinung, es giebt Fälle von K., wo dieselbe fehlt. 
Ein klinischer, ganz ähnlicher Komplex kommt bei an¬ 
deren Psychosen vor und actiologisch schliesslich stehen 
dem K. auch andere Formen, Delirium tremens u. s. w. 
nahe. Aus diesen und ähnlichen Gründen schlug 
Jollv daher vor, von einem „Korsakoffschen Symp¬ 
tomenkomplex“ zu sprechen. 

Das klinische Bild ist charakterisiert 1) durch Defekte 
der Merkfähigkeit, (neue Erfahrungen haften nicht), durch 
retroaktive Amnesie; 2 ) durch die Unorientiertheit bei 
örtlicher und zeitlicher Beziehung. Die zeitliche stellt 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


99 


sich dabei vielfach als Folge der Störung der Merk- 
fähigkeit dar. Ferner durch Situationsverkennung, 
Confabulation, Pseudoreminiszenz, absurde Grössen¬ 
ideen. Nicht alle Symptome sind stets vorhanden, 
es giebt Fälle ohne Pseudoreminiscenz. Es ist daher 
gut, nur dann von einem K.schen Symptomenkomplex 
zu sprechen, wenn alle Symptome vorhanden sind. 

Schon beim einfachen Delirium tremens finden 
sich die klinischen Symptome des K.schen Komplexes 
angedeutet. Es giebt alle Uebergänge von Delirium 
zum chronischen Delire und zu den mit Erinnerungs¬ 
defekten verbundenen Formen. Deliriumartige Zustände 
kommen auch bei nicht alkoholisch verursachten K. 
vor. Neben der deliranten Phase kann auch die 
stuporöse die beginnende sein. Neuritische Symptome 
scheinen hier niemals zu fehlen. Auch epilepsie-artige 
Anfälle können den Zustand einleiten. 

Die Kombination Neuritis und Amnesie bietet 
auch das Bild der Poliencephalitis haemorrhagica 
superior dar. Neuritische Symptome erschweren oft 
die Differentialdiagnose gegen progressive Paralyse. 
Der amnestische Komplex auf alkoholischer Basis ist 
grosser Besserung fähig, wenn auch ein Defektzustand 
der gewöhnliche Ausgang ist. 

Auch ohne Alkohol giebt es K. z. B. bei ander¬ 
weitigen Infektionen. Hinsichtlich der Einwirkung 
auf das periphere Nervensystem stehen dem Alkohol 
nahe Arsen und Blei. Bei den Arsen Vergiftungen ist 
(nach den Erfahrungen in Manchester) der Verlauf 
ein leichterer als bei Alkohol, die Bleipsychose bietet 
gewöhnlich ein anderes Bild dar. Nächstdem zeigen 
senile und arteriosklerotische Prozesse am häufigsten 
den amnestischen Komplex. Für die senilen Formen 
gilt, dass sie meist affektbetonter sind, dass sie Angst¬ 
zustände, Geschäftigkeitsdrang u. s. w. oft aufweisen, 
dass sie häufig durch Ohnmachtsanfälle eingeleitet 
werden. Ausserdem sind die senilen Formen von 
ungünstigerer Prognose als die toxischen. Ungünstig 
sind besonders die Fälle, in denen das Bild mehr einen 
deliranten Charakter hat. Amnesieformen und hieher 
gehörende ähnliche kommen schliesslich auch bei 
Hirntumoren vor, der Sitz ist dabei gleichgültig. Es 
handelt sich meist um Erweichung. Tumor, Sarcom. 
Auch bei der Commotio cerebri kommen ähnliche 
Amnesieformen vor, hierbei geschieht die Entwickelung 
meist aus somnolenten Zuständen heraus. 

Für den K. ist die Entwickelung aus einer akuten 
Bewusstseinsstörung heraus die gewöhnliche. Es fragt 
sich: ist der schliessliche Zustand wirklich ein Defekt¬ 
zustand. Nur bei senilen Formen hat man diesen 
Eindruck. Eine Möglichkeit der Rückbildung nament¬ 
lich bei den übrigen Formen ist vorhanden. Als be¬ 
sondere Begleiterscheinungen können gelten Schlaf¬ 
losigkeit, und delirante Zustände. Das Auftreten des 
amnestischen Komplexes gestattet keine bestimmte 
Prognosenstellung. Die Symptome schwinden lang¬ 
sam bei schon geschädigtem Gehirn (Alkohol, Senium, 
Arteriosklerose). 

Es empfiehlt sich den Namen „Korsakoffscher 
Symptomenkomplex“ zu gebrauchen zur Charakte- 
risirung der reinen Gedächtnissstörung, den Namen 
der „Korsakoffschen Psychose“ dageg en beizubehalten 


für die Zustände auf alkoholischer und infektiöser 
Basis, die mit Neuritis einhergehen und einen ganz 
bestimmten Verlauf nehmen. 

Professor Siemerling-Kiel: Ueber Werth und 
Bedeutung der Cytodiagnose für Geistes- und 
Nervenkrankheiten. 

Bei der Schwierigkeit der Diagnose der Erkrankung 
des Gehirns besonders in den Anfangsstadien ist jedes 
neue Hilfsmittel, das Werth besitzt, zu schätzen. 

Die Untersuchung der Cerebrospinalflüssigkeit, eine 
Methode, um deren Einführung in Deutschland sich 
besonders Schönborn Verdienste erworben hat, ge¬ 
hört hierher. Es kommt dabei nach den jetzigen 
Kenntnissen auf dreierlei an; auf die histologische 
Beschaffenheit, auf das chemische Verhalten und auf 
die Farbe (Chromocytose) an. Die Zahl der Arbeiten, 
die sich mit diesem Problem beschäftigt haben, ist 
besonders von Seiten der französischen Autoren eine 
grosse. Was zunächst die Farbe anbelangt, so ist 
pathogenetisch nur die lebhafte Röte (Gehalt an 
frischem Blut). Chemisch kommt besonders die Ver¬ 
mehrung des Eiweissgehalts in Betracht, der bei 
verschiedenen Erkrankungen beobachtet ist. Nor¬ 
maler Weise enthält die Cerebrospinalflüssigkeit 0,2 
bis i,o pro 1000 Globulin. Der Gehalt an Albumin 
ist pathologisch. Unter den Erkrankungen, die sich 
durch eine Vermehrung des Eiweissgehalts auszeich¬ 
nen, ist besonders progressive Paralyse zu nennen. 
Von Reaktionen kommen besonders die von Nissl 
ausgearbeiteten Modifikationen der Esbach’schen 
Methode in Betracht, die ein exaktes Verfahren dar¬ 
stellt. Die Vermehruug des Eiweissgehalts, die bei 
progressiver Paralyse gefunden wird, geht oft aber 
nicht parallel der Lymphocytose. Um die histolo¬ 
gische Untersuchung haben sich vor allem franzö¬ 
sische Autoren, in DeutschlandE. Meyer, Verdienste 
erworben. Bei Erkrankungen mit chronischer menin- 
gitischer Reizung findet sich stets Lymphocytose, die 
also zusammen mit den übrigen Erkrankungen ein 
charakteristisches Zeichen für organische Erkrankung 
darstellt In 38 untersuchten Fällen von progressiver 
Paralyse haben 37 Lymphocytose ergeben. Die Be¬ 
deutung dieser Erscheinung liegt vor allem darin, 
dass die Lymphocytose, die chemische Veränderung 
der Cerebrospinalflüssigkeit schon in der Reihe der 
Frühsymptome auftritt. In drei Fällen von Delirium 
tremens fehlten die Erscheinungen. In einem Falle 
von Alkoholneuritis bestand eine leichte Lympho¬ 
cytose, vielleicht handelte es sich um eine begin¬ 
nende progressive Paralyse. Vier Fälle von Epilep¬ 
sie und besonders von einfachen Seelenstörungen 
gaben ein negatives Resultat. Untersuchungen bei 
Tabes, Hirntumoren und Lues cerebri ergaben starke, 
bei multipler Sklerose leichte Lymphocytose. Ein 
Fall von Delirium tremens mit Influenza und leich¬ 
ter meningitischer Reizung eigab leichte Lympho¬ 
cytose und 2 Fälle von eitriger Meningitis Hessen 
polynucleäre Leucocythen erkennen. In einem Falle 
von Hirntumor ergab sich ein normales Resultat, auf 
Grund dieser Thatsache wurde Lues ausgeschlossen, 
die Sektion ergab ein Sarkom. 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 10. 


Spontane Gerinnung ist in einigen Fällen be¬ 
obachtet, der Vortragende hat sie nicht gesellen. 

Irgendwelche Nebenwirkungen oder unangenehme 
Nachsymptome der Operation sind nicht zur Beob¬ 
achtung gelangt. Bei der Geringfügigkeit des ope¬ 
rativen Eingriffs stellt sich derselbe als eine wichtige 
Bereicherung unserer Hilfsmittel dar. 

Die ausgesprochene Lymphocytose weist auf das 
Bestehen einer meningitischen Reizung hin. Damit 
verbindet sich meist eine Eiweissvermehrung. Die 
Bedeutung der einzelnen histologischen Elemente, 
ausser den Lymphoeyten, stösst noch auf Schwierig¬ 
keit. Der Hauptwerth ist mit darin gelegen, dass 
der positive Ausfall in die Reihe der Frühsymptome 
der progressiven Paralyse gehört, in zweifelhaften 
Fällen ein wichtiges Moment. 

Diskussion: 

Stolper- Göttingen hat bei Schädelverletzungcn, 
die vermuthlich mit einer grossen Blutung verbunden 
waren, nicht immer auch Blut in der Punktionsflüssig- 
keit gefunden. Er macht ferner auf die bedenk¬ 
lichen Momente des Verfahrens aufmerksam. 

Schäfer-Roda. Auf Grund eigener Untersuch¬ 
ung bei verschiedenen Schwachsinnsformen bestätigt 
er die Siemerling’schen Mittheilungen hinsichtlich des 
Eiweissgehalts. Er führt dies auf die entzündliche 
Betheiligung der Leptomeninge zurück. Die Sektion 
hat das in vielen Fällen bestätigt. Drucksteigerung 
der Cerebrospinalflüssigkeit sah er häufig. 

Raecke-Frankfurt zeigt drei Mikrophotogramme 
zur Demonstration der qualitativen Unterschiede des 
Sediments; i. typische Lymphocytose bei Paralyse; 
2. polynucleäre Leucocytose bei tuberkulöser Menin¬ 
gitis; 3. einkernige Leucocyten bei multipler Sklerose. 

Wollenberg-Tübingen kann auf Grund der 
Untersuchungen in der Tübinger Klinik die Befunde 
Siemerling’s hinsichtlich der Lymphocytose bestätigen; 
chemische Untersuchungen sind dort nicht angestellt 
worden. 

Alzheimer-München hofft, dass die weiteren 
Erfahrungen die Ungefährlichkeit des Eingriffs noch 
weiter darthun werden. Der Nachweis der Lympho¬ 
cytose komme heute schon in diagnostischen Schwierig¬ 
keiten als wichtiges Moment in Betracht. Nach Unter¬ 
suchungen von Revant scheint besonders die Lues 
noch besondere Beachtung hinsichtlich der Lympho- 
evtose zu verdienen. 

Fischer- Prag erwähnt einen technischen Kunst¬ 
griff, der die Dauer der Centrifugirung verkürzt, in¬ 
dem man der frischen Flüssigkeit Formol in einigen 
Tropfen zusetzt. Fälle von Paralyse ohne Lympho¬ 
cytose erklären sich durch vernehmliche Bindegewebs¬ 
bildung. Die Lymphocytose weist also vornehmlich 
auf die zelluläre Infiltration der Meningen hin. 

Fii rstner -Strassburg regt die Frage der diagm>- 
stischen und der therapeutischen Seite des Eingriffs 
an. 

Im Schlusswort präcisirt der Vortragende noch¬ 
mals seinen Standpunkt in den wesentlichsten Punkten. 


Schüle-Illenau: Nochmals das Heirathen 
von früher Geisteskranken. 

Vortragender kommt auf ein schon vor Jahren 
behandeltes Thema zurück, indem er die allgemeine 
soc iale Pflicht betont, einen Schutz der Nachkommen¬ 
schaft zu erzielen, indem man die Vererbung psycho¬ 
pathischer Eigenschaften möglichst verhindert. Er 
giebt ohne weiteres zu, dass ein gesetzgeberisches 
Vorgehen — etwa durch Einführung eines Ehever¬ 
botes für Degencrirte und Psychopathen — heute 
nicht am Platze sei. Wir kennen die Gesetze der 
Vererbung noch so gut wie gar nicht und können 
nicht angeben, welche psychopathischen Eigenschaften 
in der ausgesprochenen Geistesstörung mit Sicherheit 
die Nachkommenschaft gefährden und welchen Ein¬ 
fluss die Beimischung gesunden Blutes zu einer psy¬ 
chopathischen Belastung besitzt. 

Die positiven Vorschläge des Vortragenden be¬ 
stehen darin, dass er 1. eingehenderes Studium der 
Erblichkeitsverhältnisse, womöglich auf einer ausge¬ 
dehnten statistischen Grundlage, empfiehlt, damit man 
auf Grund derartiger Erfahrungen allmählich zu einer 
Kenntniss der Erblichkeitsgesetze gelange. Weiter 
empfiehlt er bei denjenigen psychopathischen Zu¬ 
ständen, bei welchen ein schädlicher Einfluss auf die 
Nachkommenschaft schon jetzt einigermaassen sicher¬ 
gestellt sei, gegebenen Falls möglichst die ärztliche 
Autorität zur Verhinderung einer Ehe in die Waag¬ 
schale zu legen. Von solchen Zuständen nennt er 
die Paralyse, ferner die auf degenerativer Belastung 
entstehenden cyclischen Geistesstörungen, ethisch de- 
generirte Individuen, namentlich Epileptiker und 
Hysteriker, dann chronische Alkoholistcn mit stark 
ausgesprochenem moralischen Dcfect und andere. 
Von weiteren Maassregeln, welche schon jetzt durch¬ 
führbar seien, empfiehlt er die prophylaktische Ent¬ 
mündigung solcher Geisteskranker, welche alleinstehend 
zeitweise wieder ausserhalb der Anstalt leben können und 
der Gefahr ausgesetzt sind, wenn sie ihre Geschäftsfähig¬ 
keit behalten, zu einer Eheschliessung oft aus unlauteren 
Motiven gedrängt zu werden. Weiter kann der psy¬ 
chiatrische Sachverständige gelegentlich bei der nach¬ 
drücklichen Anfechtung auf Grund des B. G. B. 
in diesem Sinne thätig sein. 

Von der angeblichen Schutzkraft der Ehe für 
psychisch widerstandsunfähige Personen hält Vortragen¬ 
der nicht allzuviel. Insbesondere weist er auf die 
mannigfaltigen Schädlichkeiten hin, welche nament¬ 
lich für den weibl. Theil eine Eheschliessung in 
dieser Richtung mit sich bringen kann. In dieser 
Hinsicht könnte namentlich die Thütigkeit der Hilfs¬ 
vereine einsetzen, indem sie durch ihre Vertrauens¬ 
personell einen berathenden Einfluss auf die aus den 
Anstalten entlassenen Kranken und ihre Angehörigen 
ausüben. 

jUf Diese Nummer enthält einen Prospekt der 
Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer N Co., Elberfeld, 
worauf die geschätzten Leser hierdurch besonders 
hingewiesen werden. 


Tür Jen rcdactionclleu Theil verantwortlich : Oberarzt JJr. J . T.resicr , Lublinit/ (Schlesien!. 

Erscheint ieden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Angabe. — Verlag von Car! Marliold in Halle a. S 

Hevnemann’sche Buchdruckerei (Gebr. \ v oifi r ) in Halle a. S 


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Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 

Sechster Jahrgang. 


Beilage zu dem Aufsatze von Dr. Hoppe „Die Pflegeanstalt 
für geisteskranke Männer zu Tapiau“. 


Vorder-Ansicht des Irren-Pavillons vom Mittelhofe der 
Besserungs-Anstalt aus gesehen. 


Grundriss 


Grundriss 


ersten und zweiten 
Stockes. 


Erdgeschosses, 



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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift. 

Redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Lublinitx (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr -Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834. 

Nr. 11. 12 . juni. 1904. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die 3spaltige Petitxeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. ßresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten. 


Die Pflegeanstalt für geisteskranke Männer zu Tapiau. 

Von Dr. Fritz Hoppe , Tapiau, Ostpr. 

(Hierzu die lithographische Tafel.) 


I n der Entscheidung der Frage, nach welchem 
Systeme in Deutschland am zweckmässigsten die 
irren Verbrecher und verbrecherischen Irren unter¬ 
gebracht werden sollen, spielt eine genaue Statistik 
über die Einrichtungen und Erfahrungen in den vor¬ 
handenen Specialanstalten die erste Rolle. Leider 
ist in der Litteratur die Anstalt, durch welche die 
Provinz Ostpreussen für ihren Bereich diese Aufgabe 
gelöst hat, fast unbekannt, zumeist wohl aus dem 
Gnmde, weil die ferne Lage unserer Ostmark nur 
selten den Weg eines Psychiaters an unseren Irren¬ 
anstalten vorbeiführt. Deshalb glaube ich im Inter¬ 
esse aller zu handeln, die jener Frage näher treten, 
wenn ich in Folgendem einige kurze Mittheilungen 
über die Pflegeanstalt für geisteskranke Männer zu 
Tapiau und die Geschichte ihrer Entstehung der 
Litteratur übergebe. In eine Discussion über die 
Vortheile und Schwächen unseres Systems lasse ich 
mich nicht ein, zumal ich vieles nur wiederholen 
müsste, was bereits von anderen, namentlich von 
Näcke-Hubertusburg, ausgesprochen ist. 

Als sich am Anfänge des letzten Decenniums 
vorigen Jahrhunderts die Nothwendigkeit bemerkbar 
machte, die beiden sehr überfüllten ostpreussischen 
Irrenanstalten Allenberg und Kortau von gewissen 
gefährlichen, kriminellen Geisteskranken zu entlasten, 
wurde beschlossen, als Adnex an die Korrektions- 
anstalt zu Tapiau eine kleine Irrenanstalt für '50 
Männer zu bauen. Als selbstverständlich wurde 
gleich von vomeherein angesehen, dass Korrektions¬ 
und Irrenanstalt nur durch eine äussere Gemeinschaft 
(Personalunion des Direktors und des Anstaltsarztes, 
gemeinsame Oeconomie, Kasse und Sekretariat, be¬ 
nachbarte Lage der Gebäude) miteinander verbunden, 
im Uebrigen aber, namentlich in rechtlicher Bezieh¬ 
ung, völlig getrennt sein sollten. Nach dem ersten 
Entwürfe der Hausordnung vom 11. IX. 96 waren 
zur Aufnahme in die Anstalt bestimmt: „1. diejenigen 


Geisteskranken mit verbrecherischen Neigungen, die 
sich in den Irrenanstalten der Provinz Ostpreussen 
befinden; 2. diejenigen in den Straf- und Gefängniss- 
anstalten der Provinz Ostpreussen, sowie der Provin¬ 
zial-Besserungs- und Landarmen-Anstalt zu Tapiau 
befindlichen Gefangenen, welche in Geisteskrankheit 
verfallen oder deren Geisteszustand zweifelhaft er¬ 
scheint, um in derselben einem Heil- und Beobacht- 
ungsverfahien unterzogen zu werden.“ Eine weitere 
Bestimmung Hess hervorgehen, dass auch Geisteskranke 
„mit verbrecherischem Vorleben“ Platz finden sollten. 
Nach der Durchberathung dieses Entwurfs am 28. VII. 
1897 wurde dem Reglement in den interessirenden 
Punkten folgende Fassung gegeben: 㤠1. Die bei 
der ostpreussischen Provinzial - Besserungsanstalt zu 
Tapiau eingerichtete Irrenanstalt ist bestimmt zur 
Aufnahme solcher männlichen, irren Verbrecher, 
deren Entfernung aus den ordentlichen Provinzial¬ 
irrenanstalten im Interesse dieser Anstalten erwünscht 
erscheint. Unter irren Verbrechern werden Personen 
verstanden, welche wegen eines Verbrechens, bezw. Ver¬ 
gehens oder einer Uebertretung, durch rechtskräftiges, 
gerichtliches Urtheil mit einer Zuchthaus-, Gefäng- 
niss- oder Haftstrafe unter gleichzeitiger Ueberweisung 
an die Landespolizeibehörde bestraft worden und vor 
oder nach Verbüssung dieser Strafe in unheilbare Geistes¬ 
krankheit verfallen sind.“ Dieser veränderte Entwurf 
giebt für den Begriff „irrer Verbrecher“ eine Definition, 
die von der allgemein üblichen erheblich verschieden ist, 
insofern, als auch vorbestrafte Kranke darunter ver¬ 
standen werden; ausserdem geht aus der Fassung 
hervor, dass nur unheilbare Kranke aufgenommen 
werden sollten und von der Einrichtung einer Heil- 
und Beobachtungsabtheilung für Strafgefangene abge¬ 
sehen wurde. 

Dieses Reglement erhielt durch Ministerialerlass 
noch einige wesentliche, erweiternde Abänderungen. 
Ich theile in Folgendem die durch den Oberpräsi- 


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102 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. n. 


deuten ertheilte Begründung dieser Aenderungen 
wörtlich mit: 

„Im Aufträge der Herren Minister der geistlichen, 
Unterrichts- und Medicinal-Angelegenhciten und des 
Innern erwidere ich Ihnen auf die hier beigefügte 
Eingabe vom 24. Januar d. Js. Folgendes: 

Durch die von Ihnen vorgeschlagene Fassung des 
§ 1 des Entwurfs eines Reglements für die Irrcnab- 
theilung bei der Ostpreussischen Korrektionsanstalt 
zu Tapiau würde die Abtheilung bestimmt sein für 
bescholtene unheilbare Geisteskranke. Es würde da¬ 
mit ein Unterscheidungsmerkmal aufgcstellt, welches 
ebensowenig in der Pflege der Geisteskranken als in 
der Pflege der körperlich Kranken zugelassen werden 
kann. Man kann die Kranken trennen in verschie¬ 
dene Verpflegungsklassen, in denen ihnen eine dem 
Verpflegungsgelde entsprechende verschiedene Lebens¬ 
haltung gewährt wird; aber die Trennung innerhalb 
der Klassen darf nur bedingt werden durch Gründe, 
welche in der Natur der Krankheit liegen, dazu ge¬ 
hört die Bcscholtenheit nicht. 

Hierdurch ist nicht ausgeschlossen, dass Personen, 
gegen welche ein Strafverfahren schwebt, oder die 
sich im Strafvollzüge befinden, wenn sie während 
desselben erkranken, im Interesse der Strafrechtspflege 
von anderen Kranken getrennt gehalten und beson¬ 
ders behandelt werden. Ist aber das Strafverfahren 
oder der Strafvollzug beendet, so kann daraus bei 
späteren Krankheitsfällen kein Grund zu einer abge¬ 
sonderten Behandlung hergeleitet werden. 

Um der Irrenabtheilung bei der Korrektionsanstalt 
zu Tapiau diesen gewissermaassen strafrechtlichen 
Charakter zu wahren, war die veränderte Fassung des 
§ 1 des Reglements vorgeschlagen. Nr. 2 des § 1 
ist auch aus dem Grunde hinzugefügt, weil auf Ihren 
Antrag vom S. November v. Js. II A. Nr. 4970 von 
dem Herrn Minister des Innern, wie in meinem Er¬ 
lasse vom 28. Januar d. Js. O. P. 620 mitgetheilt 
ist, in Aussicht genommen war, darin auch solche 
männlichen Personen unterzubringen, welche in den 
Strafanstalten der Provinz Ostpreussen der Geistes¬ 
krankheit verdächtig werden, damit durch das vom 
Staate für diese Personen zu zahlende Pflegegeld der 
Provinz ein Beitrag zu den erheblichen Unkosten 
der Irrenabtheilung erwachse. 

Wenn nun nach Ihrem Anträge die Irrenabtheil¬ 
ung nicht beschränkt werden soll auf solche männ¬ 
lichen Personen, gegen welche ein Strafverfahren 
schwebt, oder die sich im Strafvollzüge befinden, so 
darf sie doch nicht zu einer Irrenanstalt für Beschol¬ 
tene gemacht werden. Die Herren Minister würden 
jedoch dagegen nichts zu erinnern finden, wenn darin 

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gemeingefährliche, unheilbar geisteskranke Personen 
männlichen Geschlechts untergebracht würden, einerlei, 
ob sie bescholten sind oder nicht. 

Sofern die Provinzialverwaltung n>it dieser abge¬ 
änderten Bestimmung der Irrenabtheilung einverstanden 
ist, würde der beiliegende Reglementsentwurf die darin 
im Contexte und am Rande verzeichneten Abänder¬ 
ungen erleiden müssen. Wenn nach Ihren Ausführ¬ 
ungen die Irrenabtheilung zu Tapiau zur Aufnahme 
und Beobachtung solcher Personen, die in den An¬ 
stalten der Geisteskrankheit verdächtig werden, nicht 
eingeric htet ist und auch nicht eingerichtet werden soll, 
so würde der Herr Minister des Innern auf die von ihm 
— nach meinem erwähnten Erlasse vom 28. Januar — 
in Aussicht genommene Unterbringung solcher Personen 
in der Irrenabtheilung zu Tapiau verzichten und zu 
dem Zwecke bei einer Strafanstalt eine Irrenabtheilung 
errichten. Die Herren Minister nehmen daher von 
dem Abschlüsse eines Vertrages mit der Provinzial¬ 
verwaltung über die Aufnahme der Geistesstörung 
verdächtiger Gefangener in die Provinzialirrenanstalten 
vorläufig Abstand. 

Indem ich Sie hiernach ersuche, die weitere Ent- 
schliessung der Provinzialverwaltung herbeizuführen, 
sehe ic h der Vorlage des dem Herrn Minister des 
Innern zu erstattenden, mir mit besonderem Begleit¬ 
bericht einzureichenden Beric htes demnächst entgegen. 

(Unterschrift.) 

An den Herrn Landeshauptmann hierselbst.“ 

Infolgedessen wurde durch Verfügung des Landes¬ 
hauptmanns vom 28. III. 98 die Zweckbestimmung 

der Tapiauer Anstalt geändert: ..Wenngleich 

es nach der Fassung des § 1 des Reglements zu¬ 
lässig ist, a u s s c h l i e ss 1 i c h s<»genannte geistes¬ 
kranke Verbrecher, d. h. Personen, die vor oder 
während oder nach Vcrbüssung einer gerichtlich er¬ 
kannten Freiheitsstrafe oder Konektionshaft in un¬ 
heilbare Geisteskrankheit verfallen und gemeingefähr¬ 
lich sind, der Irrenpflegeanstalt zu Tapiau zuzuführen, 
so sollen doch — nicht allein um den Wünschen 
des Herrn Ministers gerecht zu werden, sondern auch 
aus den nachstehend angeführten Zweckmässigkeits¬ 
gründen — nicht nur geisteskranke Verbrecher, son¬ 
dern auch andere hierzu geeignete Geisteskranke aus 
den Anstalten zu Allenberg und Kortau in die An¬ 
stalt zu Tapiau aufgenommen werden. Zunächst 
kann die Absicht, die Anstalten zu Allenberg und 
Kortau von sämmtlichcn geisteskranken Ver¬ 
brechern zu befreien, doch nicht erreicht werden, 
weil dazu die in der Anstalt zu Tapiau vorhandenen 
Plätze nicht ausreichen. Weiterhin ist wohl denk¬ 
bar, dass gewisse ^Geisteskranke, auch wenn sie nicht 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 103 


zu der Klasse der geisteskranken Verbrecher gehören, 
für die Anstalten zu Allenberg und Kortau weit un¬ 
bequemer und störender sind — namentlich wenn 
sie zu Gewalttätigkeiten hinneigen oder die Neigung 
haben zu entweichen — als geisteskranke Verbrecher. 
Die Zweckbestimmung der Anstalt zu Tapiau besteht 
also darin, die Anstalten zu Allenberg und Kortau 
von den störendsten und unbequemsten drittklassigen 
Kranken männlichen Geschlechts zu befreien, welche 
sich als Landarme in Freistellen befinden oder für 
welche von Kreis- und Ortsarmenverbänden das Pflege¬ 
geld bezahlt wird.“ 

Der § 1 des jetzt gültigen, durch die Ministerial¬ 
erlasse vom 21. IV. 99 und vom 30. IV. 02 ge¬ 
nehmigten Reglements für die Pflegeanstalt für gei¬ 
steskranke Männer zu Tapiau lautet: ,,Die Pflegean¬ 
stalt für geisteskranke Männer zu Tapiau ist bestimmt 
zur Aufnahme gemeingefährlicher, unheilbar geistes¬ 
kranker Personen männlichen Geschlechts.“ Damit 
war die Aufnahme von Strafanstaltsinsassen mit 
zweifelhaftem Geisteszustände zwecks Beobachtung, 
sowie von geisteskranken Gefangenen zu Heilzwecken 
ausgeschlossen. Dafür kam für den Bereich von Ost- 
preussen zwischen der Regierung und der Provin- 
zialverwaltung ein Vertrag des Inhalts zu Stande (am 
27. VI. und 21. VII. 98), dass gegen Zahlung eines 
vereinbarten Pflegesatzes die Provinzialverwaltung sich 
verpflichtete, bis zu 20 der Geisteskrankheit ver¬ 
dächtige, männliche Strafgefangene bis zur Eröffnung 
einer staatlichen psychiatrischen Adnexabtheilung für 
Männer an einer Strafanstalt (eine solche ist in¬ 
zwischen in Graudenz eröffnet) in den ordentlichen 
Irrenheilanstalten aufzunehmen. Die geisteskranken, 
bezw. der Geisteskrankheit verdächtigen weiblichen 
Gefangenen sollten auch fernerhin dauernd in den 
Heilanstalten Aufnahme finden. 

Von den übrigen Bestimmungen des Reglements 
seien noch g 2, § 6 und g 7 erwähnt, in denen das 
Verhältniss des Adnexes zur Korrektionsanstalt und 
die Leitung desselben behandelt wird : 

„§ 2. Die Pflegeanstalt bildet eine selbständige 
Anstalt und wird im innern Dienste und im Verkehr 
nach Aussen als solche bezeichnet. Sie ist räumlich 
gegen die Korrektions-Anstalt vollständig abzuschüessen 
und erhält ihren besonderen Zugang. Die Insassen 
der Pflegeanstalt sind von denen der Besserungsanstalt 
vollständig getrennt zu halten. 

Korrigenden dürfen zur eigentlichen Krankenpflege 
überhaupt nicht, zur Ausführung hauswirthschaftlicher 
und baulicher Arbeiten in der Pflegeanstalt nur dann 
verwendet werden, wenn sie dabei in keinerlei Be¬ 
rührung mit den Kranken kommen. 

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Die Pflegeanstalt hat ihr besonderes Wärterpersonal, 
dessen Dienstkleidung sich von der des Aufsichts¬ 
personals der Korrektionsanstalt unterscheidet Ausser 
dem Direktor dürfen Beamte der Korrektionsanstalt 
die Pflegeanstalt nur ausnahmsweise, insbesondere in 
Nothfällen betreten.“ 

„g 6. Die Leitung der Anstalt, soweit sie sich 
auf die Behandlung der Kranken mit allen dazuge¬ 
hörigen Maassregeln, insbesondere Beschäftigung, Ab¬ 
sonderung, Besuche, Theilnahme am Gottesdienste, 
Unterricht bezieht, führt der Anstaltsarzt nach den¬ 
selben Grundsätzen, welche für die Provinzial-Irren- 
anstalten gelten. Der Arzt muss durch längere Thätig- 
keit an einer öffentlichen Anstalt für Geisteskranke 
fachwissenschaftlich vorgebildet sein. Derselbe ist 
dafür verantwortlich, dass durch seine Vorschriften 
nicht die sichere Bewachung der Kranken gefährdet 
wird.“ 

„§ 7. Die äusseren Verwaltungsangelegenheiten 
liegen dem Direktor der Besserungsanstalt ob. Er 
ist der Vorgesetzte des Aufsichts- und Dienstpersonals 
in disciplinarer Beziehung; in Bezug auf den Dienst 
in der Anstalt und die Behandlung der Kranken 
untersteht das genannte Personal dem Anstaltsarzte. 
Ordnungsstrafen für Pflichtverletzungen im innern 
Dienst der Anstalt darf der Direktor nur auf Antrag 
und im Einverständniss mit dem Arzte verhängen.“ 

Ich halte die Fassung der beiden letzten Para¬ 
graphen für recht glücklich gewählt, da durch sie 
dem Anstaltsarzte, der im innern Dienste unabhängig ist, 
die nothw'endige, völlige Freiheit in der Kranken- 
bchandlung gewährleistet wird und auch Competenz- 
streitigkeiten bei beiderseits einsichtsvoller Auffassung 
über die Grenzen von innerem und äusserem Dienst 
fast ausgeschlossen sind. 

Bei Belegung der Anstalt am 1. V. 98 war nur 
1 Arzt an den gesammten Tapiauer Provinzial¬ 
anstalten thätig (ausser der beschriebenen Irrenanstalt 
gehören hierzu Besserungs- und Landarmenanstalt und 
Gärtnerlehranstalt). Inzwischen ist durch die in ein¬ 
zelnen Etappen fortschreitende Erbauung einer Irren- 
pflcgeanstalt von gewöhnlichem Typus, die zur Zeit 
mit den anderen Provinzialanstalten durch Personal¬ 
union des Direktors, der Aerzte, der Bureau- und 
Kassenbeamten verbunden ist, die Anzahl der An¬ 
staltsärzte bereits auf 4 gestiegen und wird auch 
weiterhin entsprechend der wachsenden Krankenzahl 
noch vergrössert werden. Das Aufsichtspersonal be¬ 
stand anfangs bei einer Belegung mit 50 besonders 
gemeingefährlichen, unheilbaren Geisteskranken aus 
1 Oberwärter und 10 Wärtern. Nach kurzer Zeit 
wurde aber die Belegungsstärke auf 68 Kranke er- 


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104 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. ii. 


höht, und es sind jetzt i Ober Wärter und 19 Wärter 
thätig. 

Das dreigeschossige, sehr fest erbaute Gebäude liegt 
an dem Mittelhofe der Besserungsanstalt, getrennt 
von ihm durch einen massiven Eisengitterzaun. An 
der Hinterseite des Hauses befindet sich der mit 
einer 5 m hohen Mauer umgebene, zugehörige Garten, 
der die Anstalt nach aussenhin abschliesst. Zur An¬ 
stalt besteht nur ein einziger Zugang vom Hofe der 
Korrektionsanstalt aus. Die Lage der einzelnen 
Räume zu einander (Zellenflügel, Arbeits-, Tages-, 
Schlaf- und Wärterräume mit Nebengelassen) ist aus 
den beigefügten Grundrissen zu ersehen. Sämmtliche 
Fenster sind mit starker Eisenvergitterung verwahrt. Die 
Räume selbst sind theilweise ganz, theilweise in er¬ 
reichbarer Höhe mit Oelfarbe gestrichen. Ueberall 
besteht Stabfussbodenbelag, mit Ausnahme der Bade-, 
Wasch- und Anrichteräume, die mit Cementplatten aus¬ 
gelegt sind. Die Einzelzellen sind ausserordentlich fest 
gebaut. Die grossen Fenster bestehen aus einer 
festen Eisenfassung, in die zahlreiche kleinere, 25 mm 
dicke Glasscheiben eingefügt sind. Zur Lüftung können 
einzelne Fenstertheile derartig umgeklappt und ange¬ 
schlossen werden, dass sie Zerstörungssüchtigen keiner¬ 
lei Angriffspunkte bieten. Die Zellenzugänge sind 
durch 2 Thüren verwahrt; die innere, doppellagige 
Eichenthüre ist mit einem kleinen Fenster aus starkem 
Glase, mit Espagnolette- und ausserdem mit besonderem 
Schlüsselverschluss versehen. Die äussere ist gleichfalls 
verschliessbar und dient sowohl zur Schalldämpfung, 
wie auch zur Erhöhung der Sicherheit gegen Aus¬ 
brüche. Die Erwärmung der Anstalt geschieht durch 
eine im Keller befindliche Niederdruckdampfheizung; 
die einzelnen Heizkörper sind in die Wände ein¬ 
gebaut und mit starken, durchlöcherten Eisenplatten 
verkleidet. Die eigentliche Heizung wird durch die 
zwischen den Heizkörpern drkulirende Luft bewirkt, 
der nach Erfordemiss durch regulirbare Klappen 
Aussenluft beigemengt werden kann. Dazu bestehen 
für die Sommerventilation Luftschächte mit Klappen¬ 
verschlüssen. Als Luftkubus kommen auf je einen 
Kranken in den Einzelzellen 42,4—57,5 cbm, in den 
Schlafräumen 21—24,7 cbm, in den Tagesräumen 
14—23,2 cbm, in den Arbeitsräumen mindestens 
15 cbm, je nach der Beschaffenheit der Kranken (die 
Stationen für besonders Unreinliche, bezw. Gewalt¬ 
tätige, sind weniger dicht belegt). Die Beleuchtung 
geschieht durch elektrische Glühlampen, die in den 
Einzelzellen geschützt hoch über der Thüre in die 
Wand eingebaut sind. Für die Nachtzeit wird durch 
Einschaltung eines bedeutenden Widerstandes die 
Stromstärke herabgesetzt, so dass in den Schlaf- 

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räumen ein mattes Dämmerlicht herrscht, das einer¬ 
seits die Schläfer 'nicht belästigt, andererseits aber 
den dauernd umgehenden Wachen gestattet, durch 
die an den Thüren angebrachten Fensteröffnungen 
die ruhenden Kranken zu übersehen. Die Elektri- 
cität wird aus der eigenen Centrale der Besserungs¬ 
anstalt bezogen. Die Wasserversorgung ist auch mit 
der Besserungsanstalt gemeinsam. Aus 2 Tiefbrunnen 
wird das Wasser entnommen, nach Piefke’s Ver¬ 
fahren enteisenet und dann nach System Sellenscheidt 
filtrirt. Nach den Badestuben bestehen Warmwasser- 
leitungen. Die Beseitigung der Abfälle ist getrennt 
Die festen und flüssigen Exkremente gelangen durch 
Fallröhren bezw. Urinbecken in zwei Sammelgruben 
(eine für das Hauptgebäude und eine für den Zellen¬ 
flügel) und werden von dort pneumatisch in ge¬ 
schlossene Abfuhrwagen gesogen. Die Niederschlags¬ 
und Wirthschaftsabwässer werden durch das Kanali¬ 
sationssystem der Besserungsanstalt in die Deime ge¬ 
führt. Die Kloseträume sind mit den üblichen Ent¬ 
lüftungsschächten versehen, die an ihrer Spitze John- 
sche Ventilationsaufsätze tragen. 

Ueber die ersten beiden Jahre des Bestehens der 
Anstalt entnehme ich hinterlassenen Papieren des 
verstorbenen Anstaltsarztes Dr. v. Schaewen über das 
Krankenmaterial folgende Notizen: „Von den 88 
während dieser Zeit erfolgten Aufnahmen sind 30 
(34%) gamicht vorbestraft, 9 (10%) mit geringen, 
nicht entehrenden Haft- und Geldstrafen belegt, 23 
(26%) mit Gefängnissstrafen belegt und 26 (30%) 
mit z. Th. schweren Zuchthausstrafen bestraft (unter 
den letzten sind 4 zum Tode verurtheilte Verbrecher, 
die begnadigt worden sind, und 2 zu lebensläng¬ 
lichem Zuchthause verurtheilte Verbrecher).“ „Was 
die Form der einzelnen Geistesstörungen anlangt, so 


litten: 


an Paralyse. 

1 

an typischer Paranoia. 

26 (darunter 7 


Quärulanten) 

an periodischem Irresein mit Erreg- 


ungszuständen. 

H 

an secundärer Demenz. 

24 

an Katatonie. 

9 

an epileptischem Irresein . . . . 

9 

an Imbecillität. 

4 

an alkoholischem Irresein . . . . 

1 

zusammen 

cd 

00 


Ueber das gegenwärtige Krankenmaterial von 68 
Insassen (am 1. IV. 1904) habe ich folgende Stati¬ 
stik bezüglich ihrer Criminalität und der Form ihrer 
Erkrankung zusaramengestellt: 

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HARVARD UN1VERSITY 









PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


105 


1004.] 


I. Weder criminell noch vorbestraft: 14. 

Grund der Einlieferung: Gewaltthätigkeit 2, Gewalt¬ 
tätigkeit mit Unverträglichkeit 4, Gewaltthätig¬ 
keit mit Quäruliren 1, Gewaltthätigkeit mit Zer¬ 
störungssucht 2, Gewaltthätigkeit mit störender 
Unruhe 2, Zerstörungssucht mit hartnäckiger 
Widersetzlichkeit 1, Unverträglichkeit mit stö¬ 
render Unruhe 1, Unreinlichkeit mit pervers 
sexuellen Neigungen 1. 

Krankheitsform: Paranoia chron. 6, period. Irresein 1, 
Dementia praecox 1, Dementia paranoides 2, 
epiiept Irresein 2, traumatisch epilept. Irre¬ 
sein 1, Imbecillität 1. 


II. Weder verbrecherische Irre noch irre 
Verbrecher, aber vorbestraft: 8. 

Grund der Einliefeiung: Gewaltthätigkeit mit Unver¬ 
träglichkeit 4, Gewaltthätigkeit mit Quäruliren 1, 
Gewaltthätigkeit mit raffinirten Fluchtversuchen 1, 
raffin. Fluchtversuche 1, störende Unruhe 1. 

Vorbestraft wegen: Vatermord i, wiederholter Körper¬ 
verletzungen 1, Hausfriedensbruchs und leichterer 
Uebertretungen 1, Hehlerei i, militärischer Ver¬ 
gehen 1, wiederholten Landstreichens und Bet¬ 
teins 3. 

Zur Zeit der Strafthaten wahrscheinlich: gemindert 
zurechnungsfähig 4, unzurechnungsfähig 1. 

Krankheitsform: Paranoia chron. 3, Paranoia chron. 
combinirt früher mit abgelaufenen Alkoholpsy¬ 
chosen 1, Dementia paranoides 2, epilept. Irre¬ 
sein 2. 


III. Verbrecherische Irre: 12. 

Grund der Einlieferung: Gewaltthätigkeit 5, Gewalt¬ 
thätigkeit mit raffin. Fluchtversuchen 3, Neig¬ 
ung zu Mordversuchen i, raffln. Fluchtversuche 
mit Aufwiegeln und Quäruliren 1, störende Un¬ 
ruhe 2. 

Strafthat bei bestehender Unzurechnungsfähigkeit: 
Mord der Gattin und eines Kindes 1, Gatten¬ 
mordversuch 2, Mordversuch mit Brandstiftung 
1, Mordversuche und Erdrosselung eines Mit¬ 
kranken 1, wiederholter Mordversuch an Wär¬ 
tern 1, Körperverletzung 2, Brandstiftung mit 
Majestätsbeleidigung 1, Brandstiftung und wieder¬ 
holte Exhibitionen 1, Einbruchsdiebstähle bei 
Beurlaubung aus der Anstalt 1, militärische Ver¬ 
gehen 1. 

Deswegen angeklagt, aber freigesprochen: 5. 

Vorbestraft wegen: mehrfachen Diebstahls 1, Dieb¬ 
stahls mit Körperver/et zlin g 2, Hehlerei und 

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Körperverletzung 1, Landstreichen und Körper¬ 
verletzung 1, wiederholte Exhibitionen 1. 

Während der früheren Strafthaten wahrscheinlich: 
gemindert zurechnungsfähig 1, unzurechnungs¬ 
fähig 3. 

Krankheitsform: Paranoia chron. 5, period. Irresein 2, 
Entartungsirresein 1, Dementia praecox 2, epi¬ 
lept Irresein 1, Imbecillität mit Erregungszu¬ 
ständen 1. 


IV. Irre Verbrecher: 34. 

Grund der Einlieferung: wegen des criminellen Vor¬ 
lebens 10, Gewaltthätigkeit 11, Gewaltthätigkeit 
mit Fluchtverdächtigkeit 6, Fluchtverdächtigkeit 
2, Zerstörungssucht 1, störende Unruhe 2, Neig¬ 
ung zum Complottiren 2. 

Eingeliefert aus: Zuchthaus 17, Gefängniss 6, militär. 
Festungshaft 3, Korrektionsanstalt 8. 

Bestraft wegen : Mord 4, Gattenmord 1, Mordversuch 
durch Höllenmaschine 1, schwerer Körperver- 
, letzung 2, Brandstiftung 2, Strassenraub 3, 
schwerer Diebstähle 9, Diebstahl mit Meuterei 
1, Meineid und Verleitung zum Meineide 1, 
widernatürliche Unzucht 1, militärischer Ver¬ 
gehen 2, Betteln 2, Landstreichen 5. 

Während dieser Strafthat wahrscheinlich: gemindert 
zurechnungsfähig 2, unzurechnungsfähig 15. 

Bereits vorbestraft: Gewohnheitsverbrecher 8, Belei¬ 
digung mit Körperverletzung 1, Mordversuch 1, 
wiederholte Körperverletzung 1, wiederholte Dieb¬ 
stähle 8, Diebstahl, Hehlerei, Jagdvergehen 1, 
militär. Vergehen 1, Gewohnheitslandstreicher 8. 

Criminalität während des Aufenthalts in anderen Irren¬ 
anstalten: Nach Ausbruch aus Heilanstalt Mord 
und Mordversuch 1, Mordversuch am Anstalts¬ 
arzt 2, Mordversuch am Wärter 1, schwere Ver¬ 
letzung eines Mitkranken 1, wiederholte schwere 
Verletzung von Wärtern 1. 

Krankheitsform: Paranoia chron. 17, Paranoia chron. 
mit Imbecillität 2, Entartungsirresein 1, Dementia 
praecox 6, Dementia paranoides 1, Dementia 
traumatica 1, epilept. Irresein 2, neurasthenisches 
Irresein 1, Imbecillität 3. 


Aus den vorstehenden Tabellen ist zu ersehen, 
dass ein beträchtlicher Procentsatz der Insassen nicht 
criminell ist, aber dafür umso lästiger und gefähr¬ 
licher. Im Laufe der letzten Jahre ist die Beobacht¬ 
ung gemacht, dass sich dieses Verhältniss andauernd 
zu Gunsten der gefährlichen, nicht criminellen Ele¬ 
mente noch weiter verschiebt, indem die überfüllten 
Irrenanstalten weit lieber harmlose Verbrecher be- 

Ürigiral from 

HARVARD UN1VERSITY 



io6 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. n. 


halten und dafür im Interesse der anderen Kranken 
jene unliebsamen Störenfriede absehicben (v. Schaewen 
giebt allerdings für die erste Zeit in seiner Zusammen¬ 
stellung bereits einen höheren Procentsatz nicht kri¬ 
mineller Kranker an, der mit meiner Beobachtung 
nicht im Einklänge steht, sich vielleicht aber daraus 
erklärt, dass v. Schaewen bei der Aufstellung der 
Statistik nur die ärztlichen Akten, nicht aber auch 
die meist sehr umfangreichen Personalakten benutzt 
hat). 

Für die Absätze über Zurechnungsfähigkeit der 
Tabellen II, III und IV bemerke ich, dass ich nur 
dann die Wahrscheinlichkeit einer bei Strafthaten vor¬ 
handen gewesenen geminderten Zurechnungsfähigkeit 
oder Unzurechnungsfähigkeit angenommen habe, wenn 
ich aus dem Aktenstudium gute Gründe dafür fand. 
Da aber in manchen Fällen das Aktenmaterial sehr 
dürftig war und keine Anhaltspunkte für die Beur¬ 
teilung der Zurechnungsfälligkeit lieferte, ist sicher 
die Zahl der unrichtig verurteilten noch zu niedrig 
veranschlagt worden. Bemerkenswert ist es, dass 
unter den Krankheitsformen die chronische Paranoia 
weitaus am stärksten vertreten ist. Der Grund ist 
wohl darin zu suchen, dass gerade Kianke mit relativ 


M i t t h e i 

— Jahresversammlung des Deutschen Ver¬ 
eins für Psychiatrie zu Göttingen vom 25. bis 27. 
April 1904. (Schluss.) 

Discussion zum Vortrag Schüle-IIlenau: Nochmals 
das Heiraten von früher Geisteskranken. 

In der Discuss ion betont Fürstner, dass zu 
einer statistischen Bearbeitung der Frage das Material 
der gewöhnlichen Zählkarten nicht genüge. Ferner 
w ürde einer solchen Statistik die ganze grosse Menge 
derjenigen Degenerirlen entgehen, w elche zeitlebens 
ausserhalb der Anstalt leben, welche aber unter Um¬ 
ständen eine Nachkommenschaft in eminenter Weise 
erblich belasten. 

Dieses letzte Moment betont auch Hitzig. Er 
weist noch darauf hin, wie sehr jeder auf gesetz¬ 
geberischem Wege zu Stande kommenden Freiheits¬ 
beschränkung des Individuums die Stimmung des 
Publikums entgegenstehe. Das Zählkartenmaterial 
halte er für genügend. 

Mendel weist gegenüber Hitzig daraufhin, dass 
Schüle von gesetzgeberischen Maassregeln ja gar nicht 
gesprochen habe. Auch er hält ein weiteres Studium 
der Erblichkeitsfrage für dringend nöthig: man wisse 
noch nicht über die einfachsten Fragen der Heredität 
Bescheid, z. B. darüber, wie viel Procente der Nach¬ 
kommenschaft erblich Belasteter gesund bleiben, wie 
gross also, procentualisch berechnet, für erblich be¬ 
lastete Individuen das Risico sei. eine kranke Nach¬ 
kommenschaft zu erzielen. 


gut erhaltener Intelligenz bei vorhandener Neigung, 
auf beeinträchtigende Wahnvorstellungen gewaltthätig 
zu reagiren, die schärfste Aufsicht erfordern und des¬ 
halb besonders für diese Specialanstalt geeignet er¬ 
scheinen. 

Von einer statistischen Berücksichtigung der in 
den Jahren April 1900 bis März 1904 entlassenen 
oder in andere Anstalten überführten Kranken habe 
ich abgesehen, weil bei einzelnen Insassen die An¬ 
gaben nach obigen Gesichtspunkten unsicher gewesen 
wären und damit die Zuverlässigkeit der Zusammen¬ 
stellung Einbusse erlitten hätte. 

Die bereits 6 Jahre langen Erfahrungen im Be¬ 
triebe der Anstalt, der von dem anderer Irrenanstalten 
nur in soweit abweicht, als es die Gefährlichkeit der 
Insassen dort auch noth wendig machen würde, haben er¬ 
geben, dass der Zweck, die andern Frovinzialanstalten 
von den bösartigsten und beschwerlichsten Kranken 
zu entlasten, erreicht ist. Es sind seit der Eröffnung 
keine Uebelstände bemerkbar geworden, die für die 
Provinz Ostpreussen eine Acnderung in ihrer Unter¬ 
bringungsart krimineller Geisteskranker und irrer Ver¬ 
brecher wünschenswert!! machen. 


1 u n g e n. 

Schüle betont in seinem Schlusswort nochmals, 
dass er jetzt noch keine gesetzgeberischen Schritte, 
sondern nur eine wissenschaftliche Vorarbeit fordere. 
Auch nach seiner Ansicht genüge das Zählkarten¬ 
material nicht. Auf eine Anregung Fürstners erklärte 
er sich bereit, einen entsprechenden Fragebogen aus¬ 
zuarbeiten, welcher dem Vorstande des Vereins vor¬ 
gelegt werden soll. 

Professor S oin m er- Giessen gab einen kurzen 
Ueberblick über die von ihm seit Jahren ausge¬ 
arbeiteten p s y c h o 1 o g i s c h e n Methoden und ihre 
Anwendung bei der Untersuchung Geisteskranker. 
Sie verfolgen den Zw'eck, alle Aeusserungen einer 
Geistesstörung auf körperlichem w r ie auf psychischem 
Gebiet möglichst objektiv darzustellen, sodass ein 
Vergleich der Resultate untereinander möglich wird. 
Vortragender wies darauf hin, wie dieses Princip und 
das andere von ihm seit Jahren betonte, die An¬ 
wendung des gleichen Reizes und der Beobachtung 
der Reaclionszeit und -Dauer schon weitgehende An¬ 
erkennung auf wissenschaftlichem und praktischem 
Gebiet gefunden habe. Eine Anzahl von Kurven, 
welche die Ausführungen des Vortragenden erläutert, 
werden mittelst des Projektionsapparates demonstrirt. 

W est ph a 1 -Greifswald : Demonstration mi¬ 
kroskopischer Präparate eines seltenen 
Falles von Missbildung des Rückenmarks. 

In der Nachmittagssitzung vom 2ö. April zeigte 
der Vortragende eine Reihe von Serienschnitten durch 


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Original fram 

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1904.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


eine merkwürdige cystenartige Bildung, welche sich als 
zufälliger Befund am unteren Rückenmarksabschnitt 
einer erwachsenen, an einer akuten Psychose gestor¬ 
benen Frau vorfand. Die Wand der Cyste besteht 
vorwiegend aus glatten Muskelfasern, die sich auch 
im Rückenmark, selbst in der hinteren Schliessungs¬ 
linie nachweisen lassen. Zwischen den Muskelfasern 
findet sich reichliches Bindegewebe, zahlreiche Blut¬ 
gefässe, spärliche Nervenfasern. Das Lumen der Cyste 
ist mit Epithel ausgekleidet Das Rückenmark zeigt 
im Sacralmark partielle Verdoppelung der grauen 
Substanz mit Verdoppelung des Centralkanals (Diate- 
matomyelie). Wirbelsäule und Dura waren vollkommen 
intakt. 

Der Vortragende weist auf entwickelungsgeschicht¬ 
liche Thatsachen und experimentelle Untersuchungen 
an Vogelembryonen (Köllmann) hin, nach denen es 
sehr wahrscheinlich ist, dass die Cyste einen erwei¬ 
terten, aus früher Embryonalzeit persistirenden Ca- 
nalis neuriticus darstellt. 

(Der Fall wird ausführlich veröffentlicht werden). 

(Autoreferat.) 

K. Brodmann: Demonstrationen zur 
Cytoarchitec to ni k der G ross h i rn rin d c mit 
besonderer Berücksichtigung der histolo¬ 
gischen Lokalisation bei einigen Säuge- 
thieren. (Ausführlich mit Abbildungen und Tafeln 
im Journal f. Psychol. u. Neurol.) 

Von früheren histologischen Lokalisationsversuchen 
beim Menschen ausgehend, hat Vortragendei an einem 
umfangreichen thierischen Materiale die Frage in An¬ 
griff genommen, ob und inwieweit sich bei einzelnen 
Arten der Thierreihe den menschlichen analoge, d. h. 
durch Lage und Schic htcnstriictur übereinstimmende 
Rindenfelder nachweisen lassen. Seine Untersuch¬ 
ungen beziehen sich zunächst hauptsächlich auf die 
Säugethierreihe. Dabei kam er in der Hauptsache 
zu folgenden Feststellungen: 

1. Der Grundplan des cvtohistologischen Schichten¬ 
baues der Grosshirnrinde ist bei Menschen und (höhe¬ 
ren) Thieren — abgesehen von Einzelheiten — ein 
übereinstimmender; insbesondere lässt sich der beim 
Menschen vorhandene histogene tisch e Grund¬ 
typus auch bei Thieren nachweisen. 

2. Wie beim Menschen, bestehen auch bei den 
Thieren weitgehende örtliche structurelle Verschieden¬ 
heiten des Rindenquerschnittes, welche — zunächst 
ganz unabhängig von physiologischen Voraussetzungen 
— zu einer Aufstellung von histologischen Cen¬ 
tre» führen, die unter sich in eine gewisse Ana¬ 
logie zu setzen sind. 

3. Einzelne dieser Centren zeigen bei manchen 
Thieren in ihrer Zelltextur (Cytoarchitectonik) eine 
grosse Uebereinstimmung mit entsprechenden Feldern 
beim Menschen, so namentlich die durch den „Cal- 
carinatypus“ ausgezeichnete Area striata im Occipital- 
lappen, ferner die Felder der Regio Rolandica und 
ihrer Nachbarschaft (Affe, Katze), die sog. Riech¬ 
rinde, der limbische Typus und ein vom Vortr. noch 
nicht näher beschriebener Frontaltypus. Audi die 
Inselrinde lässt bei manchen q'hieien eine ähnliche 


107 


Cytoarchitectonik erkennen. Bezüglich anderer Felder 
sind die Untersuchungen noch nicht abgeschlossen. 

4. Die genaue Abgrenzung der histologischen 
Centren, also ihre Gestalt und topographische Lage¬ 
beziehung zu bestimmten Punkten der Hemisphären- 
oberfläche, speciell zu einzelnen Furchen, ist bei den 
verschiedenen Thierarten vielfach ganz von einander 
abweichend. Eine exacte histologische Loka¬ 
lisation muss also für jede Thierspecies getrennt 
vorgenommen werden, ehe wir zu einer vergleichenden 
Organologie des Grosshirns gelangen können. Eine 
nächste und wichtigste Aufgabe ist daher die über 
die ganze Thierreihe sich erstreckende vergleichende 
cytoarchitectonische Topographie der Grosshimrinde. 

Im Einzelnen belegt Vortragender an der Hand 
von mikroskopischen Präparaten, von Photogrammen 
und Lichtdrucken von solchen seine Sätze; speciell 
demonstrirt er den cytoarchitectonischen Bau des 
„Calcarinatypus“ bei zahlreichen Vertretern der Säuge¬ 
thierreihe (verschiedene Affenarten, Halbaffen, Katze, 
Kaninchen, Igel, fliegender Hund, Känguruh) und 
zeigt die Uebereinstimmung desselben mit dem mensch¬ 
lichen Calcarinatypus. Trotz dieser Uebereinstimmung 
des Grundrisses des Calcarinatypus finden sich dennoch 
nicht nur bei verschiedenen Familien, sondern sogar 
bei verschiedenen Arten derselben Familie charak¬ 
teristische Differcnzirungcn, welche unter Umständen 
direkt die Erkennung der Species aus dem Quer¬ 
schnitt dieses Rindenabschnittes gestatten. So be¬ 
sitzen die niedrigen platyrheninen Kapuzineraffen eine 
Gliederung des Calcarinatypus, welche reicher und 
feiner ist, als diejenige aller anderen (bisher unter¬ 
suchten) Affen, einschliesslich des Menschen; an 
Uebersichtspräparatcn wird die Zwölfschichtung des 
Calcarinatypus vom Kapuzineraffen der Achtschichtung 
dieses Typus beim Menschen und anderen Affen 
gegenübergestellt. 

Die 1 okalisatorisch e A bgrenzung dieses Rin¬ 
denfeldes (Area striata) wird hauptsächlich von 2 Affen 
(Macacus und Cebus) an Auswahldiapositivcn aus 
Schnittserien durch ganze Hemisphären demonstrirt. 
Als wesentliches Ergebniss wird die biologisch inter¬ 
essante Thatsache festgestellt, dass beim Affen der 
Calcarinatypus (die area striata) einen sehr grossen 
Theil der Convexitat des Hinterhauptslappcns ein¬ 
nimmt , während er beim Menschen fast ausschliess¬ 
lich auf die Medianfläche beschränkt ist. Im Allge¬ 
meinen stellt aber auch hier (wie beim Menschen) 
dieses Rindenfeld ein scharf umschriebenes Organ 
dar, das kappenartig dem Occipitalpol aufsitzt und 
nach vorne sich verschinälernd im Grunde der F. 
calcarina spitz endet. Die Ungenauigkeit und Un¬ 
vollständigkeit der Schl app 'sehen Abgrenzung dieses 
Rindenfeldes wird eingehend dargethan und auch die 
lediglich auf makroskopische Untersuchungen gestützte 
Lokalisation von E. Smith in Einzelheiten ergänzt 
und berichtigt. Auf die Lokalisation bei anderen 
Thieren geht Vortragender nicht ein, er erwähnt nur 
nebenbei, dass bei der Katze dieses histologische 
Rindenfeld mit der Munk'sehen Stelle A sich nicht 
deckt. 

Zum Schlüsse zeigt Vortragender die Rinden- 


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Original fram 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. m 


108 


felder, welche er bei Affen in der Regio Rolandica 
abgrenzen konnte. Dieselben besitzen eine über¬ 
raschende Aehnlichkeit mit den früher beim Menschen 
beschriebenen. Während Schlapp beim Affen 
durch die Centralfurche nur 2 Felder abtrennt, unter¬ 
scheidet Vortr. auch hier (wie beim Menschen) in 
der hinteren Central Windung 2 und nach vorne von 
der Centralfurche mindestens 3 differente Rindenfelder. 
Auch im Paracentralläppchen ist die Abgrenzung 
ähnlich wie beim Menschen in 3 verschiedene Typen. 
Nur in einer Hinsicht findet eine bemerkenswerthe 
Abweichung statt, insofern nämlich als der Riesen- 
Pyramidentypus bei Affen weiter nach vorn reicht 
als bei Menschen, das eigentliche Stiinhirn also 
dadurch gewissermaassen nach vorne gedrängt und 
eingeschränkt erscheint. 

An Oberflächenschemata von Affen und Menschen 
weist schliesslich Vortr. auf die eigenthümliche 
streifen- und bandförmige Gestalt seiner Rinden¬ 
felder hin (im Gegensatz zum Rindenfeldermosaik 
Flechsigs), welche namentlich bei den lissen- 
cephalen Krallenaffen (Hapaliden) so ausgesprochen 
ist, dass eine gewisse äussere Aehnlichkeit mit einer 
segmentären Anordnung der Centren nicht von der 
Hand gewiesen werden kann. (Autoreferat.) 

Li e pm ann-Berlin demonstriert Serien¬ 
schnitte vom Gehirn eines Apraktischen. 

Es handelt sich um einen klinisch und anatomisch 
genau untersuchten Fall dessen eingehende Publikation 
besonders erfolgt. 

Die beiden aus Göttingen angemeldeten Vortra¬ 
genden, Dr. W eb er und Dr. Vogt, hatten zu Gunsten 
der auswärtigen Gäste auf ihre Vorträge verzichtet. 

Den Schluss der Jahresversammlung bildete am 
Dienstag Nachmittag eine Besichtigung des Provin¬ 
zial -N er vensa n ator iums Rasemühie. Bereits 
am Tage vorher hatte Professor Cr am er-Göttingen 
in seinem Vortrage die näheren Ausführungen darüber 
gegeben. Die gesammte Anlage fand grossen Beifall. 
Insbesondere wurde von allen Seiten anerkannt und 
hervorgehoben, dass es hier gelungen sei, mit ausser¬ 
ordentlich geringen Kosten und unter Benutzung der 
ganz anderen Zwecken dienenden Räumlichkeiten ein 
allen Anforderungen entsprechendes modernes Kranken¬ 
haus zu schaffen. Der Oberarzt der Rasemühle Dr. 
Qua e t-Faslern, führte den Gästen eine Reihe turnen¬ 
der Kranker vor und betonte, wie ausserordentlich 
heilsam sich diese regelmässigen Turnübungen bei 
der Behandlung Nervenkranker bewähren. 

Während der Tagung der Jahresversammlung hat 
eine Vereinigung von Vertretern der in Göttingen 
hoch entwickelten Feinmechanik eine gemeinsame 
Aufstellung von wissenschaftlichen Apparaten veran¬ 
staltet. Es waren dies namentlich die Firmen 
Winkel für Mikroskope und mikrophotographische 
Apparate, ferner Sartorius für Brütofen und 
Beckensche Mikrotome. Apparate für Elektro- 
Therapie, Massage usw. lieferten Gebr. Ruhstrat. 
Der Optiker D räge r, Firma Ru dolph, hatte einen 


neugebauten Projektionsapparat im Auditorium, wo die 
wissenschaftlichen Sitzungen stattfanden, aufgestellt. 
Allseitig wurden die ganz vorzüglichen Leistungen 
dieses Apparates anerkannt. 


Referate. 

— Allgemeine Zeitschrift f. Psychiatrie 
und psych. ger. Med. Bd. 60, Heft 5. 

Gerlach (Königslutter). Zur Revision des 
deutschen Strafgesetzbuches. 

Die z. Z. gültigen Vorschriften über die Art und 
Weise, wie mit gemeingefährlichen Geisteskranken 
nach ihrer Freisprechung zu verfahren ist, bedürfen 
einer Aenderung. v. Liszt verlangt, dass in dem Ein¬ 
stellungsbeschluss oder dem freisprechenden Urtheil zu¬ 
gleich die Ueberweisung an eine Heil- und Pflege¬ 
anstalt verfügt werde. Gegen diese Forderung wendet 
sich Verf. im Interesse der Anstalten, denn wenn der 
Geisteskranke von Gericht „zur Irrenanstalt ver- 
urtheilt“ werde, so würden zweifellos in den Augen 
des Volkes die Irrenanstalten von Neuem zu Straf¬ 
mitteln und Strafanstalten werden. Besser wäre es, 
wenn das Gericht neben der Freisprechung nur fest¬ 
stellte. ob der Geisteskranke wirklich oder wahrschein¬ 
lich der Thäter sei und ihn, falls er die That begangen 
habe, als gemeingefährlichen Geisteskranken der Ver¬ 
waltung sbehörde überwiese. 

Stakemann (Rotenburg i. Hann.). Welche be¬ 
sonderen Einrichtungen sind bei der Anstalts¬ 
behandlung der Epileptischen erforderlich? 

Für die grosse Mehrzahl der Epileptiker ist die 
Anstaltspflege nötig, natürlich unter psychiatrischer 
Aufsicht. Sonderanstalten für Epileptische sind wün- 
schenswerth, ausnahmsweise können auch andere 
Krampfkranke aufgenommen werden, zu wünschen ist 
die Aufnahme von epileptischen Idioten, welche un¬ 
terrichtsfähig sind, ebenso die Zumischung eines ge¬ 
ringen Prozentsatzes von Geisteskranken. Die beson¬ 
ders zu fordernden Einrichtungen der Epileptikeran¬ 
stalten beschränken sich im wesentlichen auf den be¬ 
sonderen Schutz der Kranken vor Verletzungen und 
Unglücksfällen. Weibliche Pflege ist auf den Abthei¬ 
lungen männlicher Epileptiker nicht angebracht. 

Kornfeld (Gleiwitz). Gutachten betreffend 
den Geisteszustand der Frau X. Diebstähle in 
der Schwangerschaft. 

Kurzes Gutachten einer 28 jährigen, nervös be¬ 
lasteten, Frau, welche als Kind 1 Jahr Krämpfe hatte, 
während der Graviditäten ausserordentlich viel unter 
Erbrechen, Kopfschmerzen, Benommenheit, Schwindel 
und Vergesslichkeit zu leiden hatte und auch Wuthan- 
fälle zeigte. Sie beging während der Schwangerschaft 
Diebstähle bei einem Bäcker und einem Fleischer 
und wurde auf Grund des Gutachtens freigesprochen, 
welches verminderte Zurechnungsfähigkeit annahm, da 
ihre Widerstandskraft erheblich unter die Norm herab¬ 
gesetzt war. Arnemann - Grossschweidnitz. 


Pur den redaction eilen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Bresler * Lublinit* (Schlesien). 

Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Mar hold in Halle a. S 

Hevnemann’scbe Buchdruckerei (Gebr. V r olff) in Halle a. S. 


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Original fram 

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Beiblatt u Nr. 11 

der Psychiatrisch - Neurologischen Wochenschrift. 

11. Juni 1904. 

Verlag von Carl Marhold, Halle a. S. 


Liste zu ermittelnder unbekannter Geisteskranker. Nr. 25—29. 


Zu Nr. 1. „Nennt sich Katharina Zwilla, Geburtsort 
und -Datum unbekannt, 25 bis 30 Jahre alt. Grösse 1,52 m, 
Haare dunkelblond, Stirn niedrig, Augenbrauen blond, 
Nase kolbig, Mund gewöhnlich, Zähne gesund, Gesicht 
rund, Sprache polnisch und gebrochen deutsch. Wurde 
am 2 . Juli 1902 in Essen aufgegrifFen; befindet sich seit 
dem 3 . September 1902 in der Provinzial-Heil- und Pflege¬ 
anstalt in Grafenberg bei Düsseldorf.“ 


Zu Nr. 2. „Nennt sich Witwe Heinrich Vossen, 
Minna geb. Jansen oder Gänsen. Angeblich am 23 . Juli 
1859 zu Kellen bei Cleve geboren. Eltern, Ackerer Jo¬ 
hann Jansen und Anna geb. Jansen sollen in Kellen ge¬ 
storben sein. Ein 
Bruder, Bäckermei¬ 
ster' - Louis Jansen, soll früher in Kellen gewohnt haben. 

Nach Mitteilung des Bürgermeisteramtes Kellen sind die 
Angaben nicht zutreffend. Grösse 1,47 m, Haare blond, 

Stirn niedrig, Augen blau, Nase spitz, Mund klein, Zähne 
gesund, Gesichtsbildung länglich, Gesichtsfarbe blass. 

Sprache deutsch. Besondere Kennzeichen: Strabismus diver- 
gens. 

War mehrmals einige Tage im Hotel Hesse in Düssel¬ 
dorf, Kaiser Wilhelmstrasse 47 .* mit Kartoffelschälen be¬ 
schäftigt. Seit 24 . Februar 1903 in der Provinzial-Heil- 
und Pflegeanstalt zu Grafenberg.“ 




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Original frnm 

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Zu Nr. 3 „Nennt sich Sofia Bisiadecka, cirka 30 Jahre 
alt. Grösse 1,55 m, Haare schwarz, Stirn gerade, Augen 
grau, Nase spitz, Mund breit, Zähne defect, Gesichtsbildung 
schmal, Gesichtsfarbe blass, Sprache polnisch. 

Wurde am 11 . März 1902 abends in Düsseldorf auf 
dem Hauptbahnhof aufgegriffen, angeblich von Antwerpen 
kommend. Seit dem 15 . März 1902 in der Provinzial-Heil- 
und Pflegeanstalt zu Grafenberg. u 


Zu Nr. 4 . „Nennt 
sich Maria Mai; 
40 bis 50 Jahre alt. 
Wurde im Februar 
1894 in Wiebels- 
Nr. 3. kirchen im Kreise 

Ottweiler aufgegriffen. Die Person ist schwerhörig, spricht 
wenig und ist blödsinnig. Dieselbe befindet sich im Land¬ 
armenhause zu Trier.“ 


Zu Nr. 5. 

„Nennt sich Jo¬ 
hann Gottfried 
Wehlehrs auch 
Rosenberg. An¬ 
geblich am 24 . 

Dezbr. 1855 in 
Hamburg gebo¬ 
ren. Nach Mitteilung der Polizeibehörde in Hamburg nicht 
zutreffend. Gibt jetzt an, bis zum 4. Jahre in Ohlau ge¬ 
wesen zu sein, dann in Breslau, woselbst er das Schuh¬ 
macherhandwerk erlernt habe. 

Befindet sich bereits seit 1888 in Anstaltspflege. Zur 
Zeit in der Irrenpflegeanstalt St. Thomas in Andernach.“ 


Es wird gebeten, Angaben, welche zur Ermittelung 
der Herkunft der Kranken dienen können, an den Landes¬ 
hauptmann der Rheinprovinz in Düsseldorf, 
Ständehaus, gelangen zu lassen. 


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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift. 

Redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Lublinits (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Te legr.-Adr esse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834. 

Nr. 12, _ 18 . Juni. _ 1904. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 

Inserate werden für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bretter, Lublinitz (Schlesien), zu richten. 


Ueber die hypnotische Wirkung des Neuronais. 

Von Dr. Arthur Siebert , III. Arzt an der Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalt zu Bonn.*) 


G. Fuchs-Biebrich und E. Schultze-Bonn 
gingen, wie ich einem von letzterem auf der diesjähri¬ 
gen Versammlung des Deutschen Vereins für Psychi¬ 
atrie zu Göttingen gehaltenen Vortrage**) entnehme, in 
ihren Studien über Schlafmittel von dem Trional aus 
und betonten die Wichtigkeit der Aethylgruppe für 
den hypnotischen Effect, die schädliche Wirkung der 
Sulfonbindung und endlich die Vortheile, die sich 
durch Substitution des an Kohlenstoff gebundenen 
Wasserstoffs durch Halogene, besonders Brom, er¬ 
gaben. Nach vergeblichen Versuchen mit Acetonen 
und Aceto^ime^ gioggn sie zur systemädscheij Prü¬ 
fung von Acetamiden über und fanden im Laufe ihrer 
Untersuchungen, dass das Bromdiaethylacetamid 
Br^ 

C2IU — C-CONII2 
C2 Hü ^ 

bei Thieren mit völliger Sicherheit einen sehr langen 
und tiefen Schlaf herbeiführte, aus dem die Thiere 
frisch wieder erwachten. Dieses Präparat bringt die 
Firma Kalle & Co.-Biebrich unter dem Namen 
„Neuronal“ in den Handel. 

Das Bromdiaethylacetamid oder Neuronal ist ein 
krystallinisches, weisses Pulver, das bei 06 — 67 °C 
ohne Zersetzung schmilzt und in Aether, Benzol, 
Alkohol und Oel leicht löslich ist. Seine Wasser¬ 
löslichkeit dagegen beträgt 1:115. Es besitzt einen 
bitteren, mentholähnlichen, etwas kühlenden Ge¬ 
schmack. 

Nachdem Neuronal an einer Anzahl Gesunder 
mit gutem Erfolge und ohne schädliche Nebenwirk¬ 
ungen in Anwendung gekommen w r ar, wurde seine 

*) Nach einem in der 73. ordentlichen Generalversamm¬ 
lung des Psychiatrischen Vereins der Rheioprovinz gehaltenen 
Vortrage. 

**) „Beziehungen zwischen chemischer Constitution und 
hypnotischer Wirkung. — Eine neue Gruppe von Schlaf- 
mitteln 4 '. Der Vortrag erscheint denijj^sf in der „Münchener 
medicinischen Wochenschrift“. 


Prüfung an Kranken in grösserem Umfange vorge¬ 
nommen. Verbraucht wurden seit Ende vorigen 
Jahres im Ganzen etwa 450 g in ca. 350 Einzel¬ 
dosen bei über hundert meist männlichen Patienten 
der Bonner Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalt 

Am besten wirkte Neuronal bei unkomplizirtem 
Schlafraangel, in der Reconvalescenz, bezw. Remission 
von Psychosen verschiedener Art, bei Neurasthenie, 
bei senil Dementen mit massiger motorischer oder 
verbaler Unruhe und bei leichteren depressiven Ver¬ 
stimmungszuständen jugendlicher Individuen (20 Pa¬ 
tienten). In etwa 1 U der Fälle genügte 0,5 g; nur 
3 mal machte sich eine Eir^eldosis von 1,5 g nöthig; 
in der überwiegenden Mehrzahl betrug die Einzelgabe 
1,0 g. Oft schon wenige Minuten nach dem Ein¬ 
nehmen des Mittels, durchschnittlich in V2 Stunde, 
trat Schlaf ein, der in der Hälfte aller Fälle ununter¬ 
brochen bis zum Wecken andauerte und im Mittel 7—8 
Stunden währte. Wo der Schlaf kürzer w'ar, wurde er 
auch öfters durch meist allerdings nur ganz kurze 
Intervalle unterbrochen. Nur ganz selten und zwar 
nur bei Altersblödsinnigen mit stärkerer motorischer 
Erregung w*aren die Schlafpausen durch Unruhe com- 
plicirt. 

Etwas weniger gut w’aren die Resultate bei Invo- 
lutions- und senilen Melancholien mit stärkerem Her¬ 
vortreten von hypochondrischen Ideen und Angstzu¬ 
ständen (6 Patienten). Hier führten nur in weniger 
als der Hälfte der Fälle kleinere Dosen zum Ziele; 
meist werden 1,5, in einigen Fällen 2,0 g gegeben. 
Im Durchschnitt dauerte es nicht ganz eine Stunde, 
bis der Schlaf eintrat, der dann auch nicht häufig 
die ganze Nacht, im Mittel nur 5 V2 Stunden an¬ 
hielt und öfters mit mehr oder weniger unruhigen 
Zwischenzeiten abw'echselte. 

Kranke, deren Schlafmangel im Wesentlichen 
durch Hallucinationen bedingt war (5 Patienten), 
quittirten die Gabe von 1,0 g mit einem durchsdmitt- 


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I IO 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 12. 


lieh 7stiindigen Schlaf, der sich häufig bald nach 
dem Einnahmen, im Durchschnitt i Stunde nachher, 
ein stellte und nur vereinzelt unterbrochen war. Bei 
2 Kranken mit deliriöser Verwirrtheit und grosser 
motorischer Unruhe Hessen 1,5 g länger auf den Er¬ 
folg warten; und der nach 1 V2 Stunden eintretende 
Schlaf hielt nur 4 — 5 Stunden an. Die allerdings 
geringe Dosis von je 1,0 g hatte bei 2 Alkohol¬ 
deliranten keine ersichtliche Wirkung; sic blieben 
schlaflos. 

Bei Manischen (14 Patienten) genügte bei massiger 
Erregung i,o, seltener 0,5 g, um nach etwa V2 Stunde 
einen ergiebigen Schlaf von 6 — 7 Stunden herbei¬ 
zuführen. Stärkere Erregungen erforderten meist 1.5, 
in einzelnen Fällen sogar 2,0—3,0 g, ohne dass man 
auch dann immer zum Ziel kam. Bei der letztge¬ 
nannten Kategorie von Kranken waren allerdings 
häufig schon längere Zeit hindurch die verschieden¬ 
sten Hypnotica und Sedativa in meist über mittlerer 
Dosis mit der gleichen unsicheren Wirkung gegeben 
worden. 

Auch paralytische (18 Patienten), sowie hebephre- 
nisehe und katatonische (13 Patienten) Erregungen mitt¬ 
lerer Stärke brauchten meist 1,5 g zur Erzielung der ge¬ 
wünschten hypnotischen Wirkung, die dann durchschnitt¬ 
lich in :i U Stunden eintrat^und 6 Stunden anhiclt. Ge¬ 
ringere Gaben waren in solchen Fällen nur von mässigem 
Erfolge begleitet. Einigemale waren 2,0 — 3,0 g bei 
stärkeren Erregungen von prompter Wirkung, auch bei 
solchen Patienten, die infolge stetiger motorischer Un¬ 
ruhe schon die Bekanntschaft einer Reihe anderer Be- 
ruhigungs- und Schlafmittel mit wechselndem Erfolg 
gemacht hatten. Ich will nicht vergessen zu er¬ 
wähnen, dass, abgesehen von der Bettbehandlung, 
wo sie angebracht erschien, bei vielen der Kranken 
nebenbei protrahirte Bäder gegeben wurden, die sich 
oft über den ganzen Tag erstreckten. 

Wegen des starken Bromgehalts des Neuronais 
von 41 ° o lag es nahe, seine Anwendbarkeit nament¬ 
lich auch bei Epileptikern zu prüfen. Einen regel¬ 
mässigen Gebrauch, etwa in der Art der Bromsalze, 
verbot seine starke hypnotische Wirkung. So war 
man denn auf seine gelegentliche Anwendung ange¬ 
wiesen. Ein Epileptiker, bei dem nachts ein mit 
Bewegungsunruhe verbundener Verwirrtheitszustand 
auftrat, beruhigte sich im Laufe des nächsten Tages, 
an dem er 2 stündlich je 0,5 g Neuronal, im Ganzen 
3,0 g erhielt, und schlief die darauf folgende Nacht 
ununterbrochen durch. Ein anderer Epileptiker, der 
einen mit intensiver motorischer Unruhe vergesell¬ 
schafteten deliriösen Verwirrtheitszustand bot und auf 

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2.5 g Chloral nicht merklich reagirte, schlief, als er 
5 Stunden später 1,5 g Neuronal erhielt, in kurzer 
Zeit ein und blieb fernerhin ganz ruhig. In einem 
weiteren Falle von epileptischem Delir mit grosser 
Unruhe, das sich an eine Serie von Anfällen an¬ 
geschlossen hatte, blieb auf 1,5 g die Wirkung aus, 
während einige Tage später, als sich die Unruhe ge¬ 
mindert hatte, auf 1,0 g volle Schlafwirkung zustande 
kam. Ob Neuronal auch einen Status epilepticus 
günstig zu beeinflussen vermag, habe ich mangels 
eines solchen nicht entscheiden können. Doch trat 
bei 3 Kranken, bei denen 6 — 8 Anfälle einander 
schnell gefolgt waren, ohne dass freilich in den an¬ 
fallsfreien Intervallen der Bewusstseinsverlust anhielt, 
nach einer Gabe von je 1,0—1,5 g kein Anfall mehr 
auf, während in einem 4. ähnlichen Falle noch ein 
Anfall hinzukam. Gegebenenfalls wären bei Status 
epilepticus 2,0—3,0 g Neuronal, in Olivenöl gelöst, 
als Klysma zu verabfolgen. Leichte Schlaflosigkeit 
der Epileptiker wurde schon durch kleine Gaben von 
0,5 bis höchstens 1,5 g behoben. In solchen Dosen 
wurde das Mittel endlich auch bei epileptischen Kopf¬ 
schmerzen angewendet, von den Kranken gelobt und 
häufig wieder erbeten. 

Auch bei Ccphalalgicn auf anderer Basis leistete 
es, wenn auch meist nur vorübergehend, gute Dienste. 

Schliesslich hatte ich auch die sedative Wirkung 
des Neuronais zu erproben einigemale Gelegenheit. 
Ein unruhiger Paralytiker schlief auf eine Morgen¬ 
gabe von 1,0 g den ganzen Tag, ein anderer auf 

1.5 g am Spätnachmittag den Rest des Tages und 
die darauffolgende Nacht hindurch. Ein ängstlicher 
Katatoniker, der nachts gar nicht geschlafen hatte, 
fortwährend aufgestanden war und dieses Verhalten 
am Morgen fortsetzte, schlief zwar auf 1,5 g am 
Tage nicht ein, verhielt sich aber ruhig und blieb im 
Bett. In einem weiteren Falle paralytischer Unruhe 
hatte 1,0 g keinen Einfluss. 

Neunmal wurde in der Regel als Pulver gegeben 
und mit etwas Wasser hinuntergespült. Es empfiehlt 
sich, ähnlich wie es bei der Darreichung des Trionals 
oder Veronals gerne geschieht, etwa V4 1 warme 
Flüssigkeit nachtrinken zu lassen, um die Lösung 
des Mcdicamcnts und dadurch seine Wirkung zu be¬ 
schleunigen. 

Mehrfach wurde über den schlechten Geschmack 
des Neuronais geklagt, namentlich seitens einiger 
weiblicher Patienten, die es deshalb theilweise aus- 
spuckten und schliesslich gar nicht mehr nahmen. 
Ein seniler Melancholiker fand den Geschmack „so 
widerlich, so faulartig“, ein anderer Patient berichtete 

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I 9 ° 4 -J 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


111 


von bitterem Geschmack im Halse; weiterhin wurde 
in je einem Falle über Brennen in der Speiseröhre, 
sowie über Sodbrennen und Aufstossen geklagt. Bei 
einem Patienten erfolgte imal, bei einem anderen 
mehrmals nach dem Einnehmen Erbrechen. Die 
Einhüllung in eine Oblate verdeckte übrigens den 
unangenehmen Geschmack. Zu demselben Zweck 
wurden seitens der Fabrik Tabletten zu 0,5 g her¬ 
gestellt, die aber von einem Theil der Kranken, an¬ 
statt direkt verschluckt, erst zerkaut wurden. Im 
Uebrigen war die Wirkung des Medicaments in 
Tablettenform die gleiche. Bei einem Katatoniker, 
der an 4 aufeinander folgenden Abenden zusammen 
9,0 g des Mittels bekommen hatte, trat in der 4. 
Nacht Diarrhoe auf, die einige Tage anhielt. Ob 
aber das Neuronal daran die Schuld trug, müssen 
weitere Erfahrungen entscheiden. Eine leicht Stuhl 
befördernde Wirkung glaube ich allerdings auch in 
einem andern Falle beobachtet zu haben. Ein sehr 
unruhiger Maniakus, der an 2 Abenden 2,0 bezw. 
j,o g Neuronal bekommen hatte, gab am zweiten 
Morgen an, er sei w ie betrunken, und gerirte sich 
auch so; es Hessen sich bei ihm 120 Pulse feststellen, 
die aber ebensogut seiner Bewegungsunruhe auf Rech¬ 
nung gesetzt werden konnten. Sonst habe ich Klagen 
über Benommenheit am anderen Morgen nur ganz 
selten zu hören bekommen. 

Ich habe zu selten eine genügende Reihe von 
Tagen hintereinander das Mittel bei demselben Pa¬ 
tienten gegeben, um über eine eventuelle kumulative 
Wirkung einer-, eine Angewöhnung und verminderte 
Wirksamkeit anderseits ein sicheres Urtheil fällen zu 
können. Auch das muss weiteren Versuchen Vorbe¬ 
halten bleiben. Das Körpergewicht derjenigen Pa¬ 
tienten, die die grössten Gesammtdosen von Neuronal 
erhalten hatten, bot keine auffälligen Schwankungen, 
das heisst keine solchen, die nicht in der Natur der 
Erkrankung selbst ihre hinreichende Erklärung fanden. 
Die Nahrungsaufnahme erfuhr keine Veränderung. 
Ein Exanthem wurde in keinem Falle beobachtet. 

Was den Vergleich mit anderen Schlafmitteln an¬ 
geht, so glaube ich, dass Veronal im Ganzen etwas 
intensiver wirkt, als Neuronal, dass man mit 1,0 g 
Veronal ebensoviel erreicht, als mit 1,5 g Neuronal; 


dem letzteren kommt aber das fast völlige Fehlen 
einiger dem Veronal oft eigenthümlicher Nebenwirk¬ 
ungen zu Gute, wie Benommenheit und motorische 
Unsicherheit. Was die anderen gebräuchlichsten 
Hypnotica betrifft, so möchte ich Neuronal als dem 
Trional sicher gjeichwerthig betrachten und der Dosis 
von 1,5 g Neuronal diejenige von 2,0 —2,5 g Dor- 
miol oder 2,0 g Chloralhydrat entsprechen lassen. 
Wie wohl auf fast alle Schlafmittel, so reagiren auch 
auf das Neuronal einzelne Individuen ganz besonders 
gut. So schlief ein jugendlicher, depressiv ver¬ 
stimmter Kranker auf 1,0 g Neuronal gewöhnlich 
die ganze Nacht hindurch, w r enn auch mit leichten 
Unterbrechungen, während er auf zwischendurch ge¬ 
gebene Dosen von je 1,0 g Trional, bezw. Veronal 
schlaflos blieb. Bemerkt sei noch, dass sich mit 
verschwindenden Ausnahmen alle Patienten, denen 
das Mittel wegen Schlaflosigkeit gegeben wurde, auf 
Wachsälen befanden, so dass eine stetige Controlle 
möglich w’ar. 

Der Preis des Neuronais entspricht dem des Vero- 
nals und beträgt somit beim Bezug von 100 g aus der 
Fabrik 18 Pfennige für das Gramm. 

Kurz erwähnen möchte ich noch, dass ich auch 
das homologe Bromdipropylacetamid in einer Reihe 
von Fällen auf seinen hypnotischen Effect geprüft 
habe. Durchaus in Uebereinstimmung mit dem Er- 
gebniss der Thierversuche von Fuchs und Schultze 
(cf. oben citirte Arbeit) fand ich, dass dieses Präparat 
auch beim Menschen dem Neuronal ähnlich, aber 
langsamer und schwächer wirkte. 

Nach den in der Bonner Anstalt gemachten Er¬ 
fahrungen darf ich resumiren: 

Das Neuronal ist ein in Gaben von 0,5—1,0 g 
bei leichter, von 1,5-- 2,0 g bei schwerer Schlaflosig¬ 
keit und bei Erregungszuständen Geisteskranker ver¬ 
schiedener Art, besonders auch der Epileptiker, gut 
wirkendes Schlafmittel, das dem Trional am nächsten 
kommt, ohne dass es dessen kumulative Eigenschaft 
zu besitzen scheint. Eindeutige Nebenwirkungen be¬ 
denklicher Natur wurden bis jetzt nicht beobachtet. 
Mit dem Neuronal sind wir somit um ein schätzen#*' 
werthes Hypnoticum reicher geworden. 


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ri2 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 12. 


Obermedicinalrath Dr. Dietz f. 


P^\ie Medicinalverwaltung des Königreichs Württem- 
berg hat den schweren Verlust ihres psychia¬ 
trischen Referenten zu beklagen. Obermedicinalrath 
Dr. Dietz in Stuttgart ist am 21 . Mai d. J einem 
apoplektischen Insult erlegen. — Am 1. September 
1859 zu Calw geboren, hat Dietz seine medicinischen 
Studien in Tübingen 1883 absolvirt. Nach 1 jähriger 
Assistententhätigkeit an der chirurgischen Abtheilung 
des Katharinenhospitals in Stutt¬ 
gart hat er sich 1885 in Bietig¬ 
heim als praktischer Arzt nieder¬ 
gelassen. Gestalteten sich die 
Verhältnisse seiner Praxis auch 
äusserlich günstig, so Hessen sie 
ihn doch unbefriedigt wegen des 
Mangels an Zeit zu wissen¬ 
schaftlichen Studien. Es waren 
besonders die Probleme der Be¬ 
ziehungen zwischen körperlichen 
Vorgängen und geistigem Leben, 
die ihn anzogen. — Auf der 
heimischen Universität, die damals 
noch des Lehrstuhls für Psychia¬ 
trie entbehrte, hatte er nicht 
ausreichend Gelegenheit gefun¬ 
den, ihnen nachzugehen. Ersuchte 
sie jetzt, indem er nach 3 / 4 Jahren 
seine Praxis verliess, um an der 
Flechsig’schen Klinik in Leipzig 
eine Assistentenstelle zu über¬ 
nehmen. Drei Jahre hat er sie bekleidet,‘[dann inVWien 
und auf Schiffsreisen noch weitere Ausbildung gesucht. 
Mit der Uebernahme der Stelle eines ordinirenden 
Arztes in Illenau hatte er sich endgillig für die psychia¬ 
trische Laufbahn entschieden. In sechsjähriger Thätig- 
keit daselbst hat er sich unter Sch ü le’s Leitung in 
allen Anforderungen der Anstaltspraxis vortrefflich be¬ 
währt, so dass er von seinem Chef, mit dem er in dauern¬ 
den freundschaftlichen Beziehungen geblieben ist, warm 
empfohlen werden konnte, als er sich um die Stellung 
bewarb, die er von 1895 bis zu seinem Tode in 
seinem engeren Vaterlande innegehabt und mit un¬ 
ermüdlichem Eifer, zuletzt schwerer Erkrankung trotzend, 
versehen hat. 

Es war eine Zeit schwerer Anfechtung für das 
Irrenwesen zumal in Württemberg gewesen, die nach 
der Errichtung der Stellung eines Landespsychiaters 
verlangt hatte. Für sie war Dietz als der geeignetste 


Bewerber erschienen und hat er sich als der rechte 
Mann bewährt. Unbeirrt durch alle einseitigen Auf¬ 
fassungen und Erwartungen hat er mit klarem Blicke 
erkannt, dass, was etwa qualitativ die Irrenfürsorge 
des Landes zu wünschen übrig Hess, vor allem auf 
ihre quantitative Unzulänglichkeit zurückzuführen war. 
Der allenthalben unangenehm fühlbaren Ueber- 
füllung der Anstalten suchte er entgegenzutreten, 
indem er überall das Streben nach 
den nothwendigen Erweiterungen 
förderte, indem er vor allem 
auch den Plan zu einer weiteren 
staatlichen Heilanstalt ausarbei¬ 
tete. Dessen Ausführung hat ihn 
während der letzten Jahre beson¬ 
ders in Anspruch genommen; 
die Vollendung durfte er nicht 
mehr erleben, aber wenigstens 
eine ausführliche Beschreibung 
der Einrichtung der Weinsberger 
Anstalt hat er hinterlassen. Mit 
grosser Entschiedenheit ist er 
eingetreten für eine Vermehrung 
der Anstaltsärzte und eine Besse¬ 
rung ihrer Existenzbedingungen, 
nicht weniger aber für eine 
günstigere Gestaltung der Ver¬ 
hältnisse des Wartpersonals. 
Alle fortschrittlichen Bestreb¬ 
ungen der Anstaltsleitungen för¬ 
dernd, üierall beratend und anregend hat er mehr 
mittelbar das Wohl der Kranken zu fördern getrachtet, 
als einzugreifen in die Krankenbehandlung selbst und 
in das Regime der einzelnen Anstalten. Hat er den 
Visitator nie hervorgekehrt, so fehlte es ihm weder 
an klarer Uebersicht über den gesammten Betrieb der 
Anstalten, noch an der erforderlichen Vertrautheit 
mit den Einzelfällen, zumal solchen, die dies von Auf- 
sichts wegen erheischten. Eine aufreibende Thätigkeit 
war es, alljährlich zweimal die sämmtlichen staatlichen 
und privaten Irrenanstalten in mehrtägigen Besuchen 
eingehend zu prüfen. Diese Visitationsreisen sind ihm 
aber eine erquickende Abwechslung gewesen in der 
bureaumässigen Thätigkeit, die in seiner Stellung zur 
Regel geworden war. Ist er doch stets Psychiater 
geblieben, dem der unmittelbare Verkehr mit den 
Kranken Bedürfniss und eine Freude war. Die 
administrativen Aufgaben, die von allen Seiten in 



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»004.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


1 13 


seiner Hand zusammenliefen, hat er darum nicht 
weniger gründlich und umsichtig erledigt. Zahlreiche 
allgemeine und spezielle Verordnungen hatte er zu 
bearbeiten und es ist ihm dies in einer Weise ge¬ 
lungen , die durch eine weitere Entwicklung des 
Irrenwesens wohl überholt werden kann, die aber 
immer einen bemerkenswerthen Schritt vorwärts be¬ 
deutet hat. 

Es ist eine andere Art von praktischer Bethätigung 
des erwählten Berufs gewesen, die Dietz in seiner 
rein amtlichen Stellung obgelegen hat, als er sie an¬ 
gestrebt haben mochte bei seinem Eintritt in die 
psychiatrische Laufbahn. War es ihm manchmal 
schwer, auf die Leitung einer Anstalt Verzicht leisten 
zu sollen, so hat er für die einmal übernommene 
Aufgabe den richtigen Standpunkt zu gewinnen und 
zu behaupten verstanden. Mit weitem Blick, be¬ 
sonnenem Urtheil und entschlossener Thatkraft hat 
er sich sein Amt selbst geformt und abgegrenzt; durch 
unerschütterliche Charakterfestigkeit, feinen Takt 
und liebenswürdiges Wesen hat er sich allenthalben 
in zunehmendem Grade Achtung, Vertrauen und 
Zuneigung zu erwerben verstanden bei allen Kreisen, 
mit denen ihn seine Wirksamkeit in Berührung ge¬ 
bracht hat. Seiner gemüthlich tief angelegten Natur 
waren freundliche kollegiale Beziehungen* Herzensbe- 


dürfniss; seine einzige Sehnsucht inmitten der Mühen 
und Lasten seines Berufes galt dem reinem Glück, 
das ihm in seinem Familienleben erblüht war. 

In den Jahren seiner praktischen Thätigkeit hat 
er mehrere klinische Studien veröffentlicht : Dementia 
paralvtica und Lues (Allg. Zeitschr. für Psychiatrie 
XLIII pag. 237); Traumatische Neurose, Uebergang 
in Dementia paralytica, (Festschrift des Stuttgarter 
ärztl. Vereins 1897); Geistesstörungen in der Armee 
im Frieden und Krieg, (Allg. Zeitschr. f. Psych. XLIV, 
pag. 209); Ueber Simulation von Geistesstörung, 
(Festschrift zur Feier des 50jährigen Jubiläums der 
Anstalt Illenau); Simulation von Geistesstörung. 
Typus: Kopie eines Kindes. 1 1 / 2 jährige Lähmung; 
(Allg. Zeitschr. f. Psy. LIII pag. 1.) Seiner amtlichen 
Thätigkeit entsprangen die Publicationen : Der heutige 
Stand der Irrenfürsorge in Württemberg und die 
neue Irrenanstalt Weinsberg (württ. med. Korresp.- 
Bl. LXXII Nr. 44) und die K. Heilanstalt Weins¬ 
berg (württ medic. Korr.-Bl. LXXIII Nr. 52 und 
Psychiatr. Wochenschrift, 6. Jahrgang No. 1 —3), 
sowie endlich die Redaktion der Berichte über die 
württembergischen Staats- und Privatirrenanstalten 
(Württemberg. Medicinalberichte 1896— 1901). 

Kr—r. 


- - 

Mittheilungen. 


— Der diesjährige Schl eswig-Holsteinische 
Provinziallandtag hat einen Antrag des Pro¬ 
vinz ialausschuss es, betreffend Erbauung einer 
besonderen Abtheilung für verbrecherische und 
gewaltthätige Geisteskranke bei der Provinzial- 
Pflegeanstalt zu Neustadt, genehmigt. 

Da dieser Antrag von grosser allgemeiner Bedeut¬ 
ung ist, geben wir im Nachstehenden den Urtext des¬ 
selben wieder: 

„Die bisherige Art der Unterbringung der ver¬ 
brecherischen und gewaltthätigen Geisteskranken hat 
für unsere Irrenanstalten von Jahr zu Jahr grössere 
Missstände hervorgerufen. Da besondere, mit Sicher¬ 
heitsvorkehrungen versehene Gebäude für diese Kran¬ 
ken nicht vorhanden sind, da ferner eine Anhäufung 
derselben in einer oder mehreren der gewöhnlichen 
Krankenabtheilungen wegen ihrer Neigung zum Kom¬ 
plott» en, zu Gewaltthätigkeiten und zu Fluchtversuchen 
nicht angängig, und da endlich eine dauernde Isolirung 
in Einzelzellen wegen ihres Krankheitszustandes nicht 
zulässig ist, so müssen sie jetzt auf den verschiedensten 
Abtheilungen verstreut unter den übrigen Kranken 
untergebracht werden. Bei den letzteren und deren 
Angehörigen erregt aber dieses Zusammenbringen mit 
Recht oft grosse Unzufriedenheit; die bes^^ 11 ^le- 


mente unter den Kranken beschweren sich darüber, 
mit derartigen Individuen in denselben Räumen leben 
zu müssen, während andererseits auf die weniger guten, 
an sich aber harmlosen Pfleglinge häufig die üblen 
Neigungen und Bestrebungen jener verbrecherischen 
Geisteskranken durch die Berührung mit ihnen über¬ 
tragen werden, so dass ein solches Zusammensein oft 
geradezu schädigend auf sie einwirken kann. Dazu 
kommt noch, dass in einer Abtheilung, in welcher siel* 
verbrecherische Kranke befinden, die Ueberwachungs- 
und Sicherheitsvorkehrungen sich unwillkürlich strenger 
und härter gestalten werden, als es dem Charakter 
eines Krankenhauses und dem Interesse der übrigen 
Kranken entspricht. 

Unter denjenigen Kranken der beiden Provinzial- 
irrenknstalten, welche — sei es vor ihrer Erkrankung, 
sei es nach und infolge derselben — mit dem Straf¬ 
gesetz in Conflict gerathen sind (sogenannte irre Ver¬ 
brecher und verbrecherische Irre), befinden sich z. Z. 
gegen 30, deren Entfernung aus den gewöhnlichen 
Krankenabtheilungen nach ihrem Vorleben, ihren 
Strafthaten und ihrem Verhalten in der Anstalt aus 
den oben angeführten Gründen dringend erwünscht 
ist. Für einige von diesen, welche noch zur Ver¬ 
fügung der Gerichts-, Strafvollstreckungs- oder Polizei- 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 12. 


behörden stehen, werden, da ihre Unterbringung mehr 
einen sicherheitspolizeilichen, als einen armenrecht- 
lichcn Character tragt, die reglementmässigen Pflege¬ 
gelder von diesen Behörden erstattet; die meisten 
dieser Kranken aber sind wegen armenrechtlicher 
Hülfsbedürftigkeit dem Landarmenverbande auf Grund 
des Irrenpflegegesetzes vom 11. Juni 1891 zur Last 
gefallen, nachdem sie entweder erst nach verbüsster 
Strafe geisteskrank geworden, oder noch während der 
Straf- oder Untersuchungszeit als geisteskrank erkannt 
und deshalb aus der Strafhaft entlassen bezw. ausser 
Verfolgung gesetzt waren. 

Bei dem ganzen Character dieser Kranken könnte 
zunächst zur Frage kommen, ob es nicht das zweck- 
mässigste sei, etwa bei der Correctionsanstalt in Glück¬ 
stadt und in ökonomischer Verbindung mit dieser 
eine besondere Abtheilung zur Aufnahme derselben 
einzurichten, ähnlich wie dies von der Provinz Ost- 
preussen bei der Correctionsanstalt zu Tapiau ge¬ 
schehen ist. Wir haben diesen Plan jedoch wieder 
fallen lassen müssen, weil er sich mit Rücksicht auf 
die räumlichen und örtlichen Verhältnisse unserer 
Correctionsanstalt bei näherer Erwägung als nicht aus¬ 
führbar erwies, und bringen jetzt in Übereinstimmung 
mit dem Gutachten der Directoren der beiden Provin¬ 
zialirrenanstalten die Errichtung eines derartigen Ge¬ 
bäudes bei der Neustädter Anstalt in Vorschlag. Die 
räumlichen Verhältnisse dort gestatten es, dass dieser 
Bau in angemessene Entfernung von den übrigen 
Anstaltsgebäuden gelegt werden kann, so dass eine 
Belästigung und Benachtheiligung der übrigen, fast 
sämmtlich unheilbaren und zum Theil idiotischen 
Kranken ausgeschlossen ist; überdies bietet die An- 
ghederung an eine Irrenanstalt, welche übrigens auch 
in mehreren anderen Provinzen gewählt worden ist, 
den Vortheil, dass bei einem Wechsel des Krankheits¬ 
zustandes die Verlegung der Kranken auf eine andere 
Abtheilung möglich ist. 

Der geplante Neubau ist in einer Grösse für 40 
bis 50 Kranke in Aussicht genommen und wird nach 
dem Anschläge der Bauverwaltung 150000 M. kosten, 
welche selbstverständlich aus dem Extraordinarium 
zu decken sein werden. Da nun der Provinzialland¬ 
tag uns im Haushaltungsplan für das Jahr 1002 — 
Extraordinarium Titel II 3 — 60000 M. für einen 
Erweiterungsbau in Neustadt für den Fall zur Ver¬ 
fügung gestellt hat, dass die Kropper Anstalten ein- 
gehen sollten, und da diese Summe für den ur¬ 
sprünglichen Zweck nicht mehr erforderlich sein wird, 
weil für den grösseren Theil der damals in Kropp 
befindlichen Provinzialkranken bereits anderweit ge¬ 
sorgt worden ist, so erscheint es uns am zweck- 
mässigsten, dass jene 60000 M. als erste Baurate für das 
jetzt geplante Gebäude zur Verfügung gestellt werden. 

Wir beantragen daher: 

Der Provinziallandtag wolle die im Haus- 
haltnngsplan für 1902, Extraordinarium Titel II 
3, ausgeworfenen 00000 M. dem Provinzial¬ 
ausschuss als erste Rate für den Bau einer be¬ 
sonderen Abtheilung für verbrecherische und ge- 
waltthätige Geisteskranke zur Verfügung stellen. 

Der Provinzialausschuss.“ 


— Verein für Psychiatrie und Neurologie 
in Wien. Sitzung vom 8. März 1904. 

1. Dr. Alfred Fuchs stellt einen 35jährigen 
Mann vor, bei dem sich spontan im Mai 1901 eine 
Gangrän der zwei letzten Zehen am linken Fuss ein- 
stelltc, welche Zehen amputirt wurden. Seit einem 
Jahre zeigen sich Symptome, die auf eine lokale 
Aufhebung der Cirkulation in den Fingern der rechten 
Hand hinweisen. Während die Prüfung mit dem 
Gärtnerischen Sphygmographen die Gesammt-Blut- 
versorgung in beiden oberen Extremitäten gleich er¬ 
scheinen lässt, und während der rechte Ulnaris-Puls 
normal ist, ist die rechte Radialis zwar deutlich tast¬ 
bar, pulsirt jedoch nicht. 

2. Dr. Fuchs stellt ferner einen 36jährigen mit 
Tetanie behafteten Mann vor. Während alle Symp¬ 
tome der Tetanie deutlich ausgesprochen sind, fehlt 
das Chvostek’sche Symptom gänzlich. 

3. Dr. Fuchs stellt noch eine 21jährige Frau 
vor, die an Tetanie leidet, überdies als seltene Com- 
plikation eine eigenthümliche Gangstörung aufweist. 
Pat. klagt, dass sie sich in den Beinen schwach fühle, 
insbesondere sei ihr das Stiegensteigen schwer. Spa- 
stisch-paretischer Gang, Schwäche der beiden unteren 
Extremitäten, der Rücken- und Lendenmuskulatur. 

4. Dr. Erwin Stransky fand an dem Gehirne 
eines seinerzeit im Vereine demonstrirten alten Mannes 
mit aphasischen, asymbolischen und katatonischen 
Störungen totale Atrophie, Athcruinatose der Gefässc 
und lokal (zumal am linken (iyrus supramarginalis 
und an der angrenzenden Parietalregion) beson¬ 
ders hochgradige Atrophie. Er demonstrirt einige 
nach verschiedenen Methoden gefärbte Rindenschnitte. 
Die mikroskopischen Befunde erinnern noch am mei¬ 
sten an die Alzheimerisehen Fälle von Rindenver¬ 
ödung, sind jedoch weit weniger ausgesprochen. 

5. Dr. A. Schüller hat mit Dr. Holzknecht 
unter Röntgenbeleuchtung den Schweifkern eines 
Hundes zerstört und demonstrirt das wirklich nur 
im Zentrum des Schweifkernes verletzte Gehirn des 
Hundes. 

6. Docent Dr. Hirschl stellt einen 18jährigen 

Mann vor. Im Jahre 1902 zeigte der Kranke neben 
den Symptomen der Tetanie eine acute hallucinato- 
rische Verworrenheit. Am 24. Februar 11)04 traten 
abermals Tetaniekrämpfe auf, cornbinirt mit den psy¬ 
chischen Symptomen einer Manie, die auf der Höhe 
zu völliger Verworrenheit führte. Dabei Basedowsche 
Symptome (Struma, Exophthalmus, Möbius- und 
Stellwag’sches Symptom, lebhafte Herzaction). Die 
Basedow- und Tetaniesymptome gingen vom <). bis 
16. März zurück. Von da an neuerliche Manie, 
Verworrenheit, hochgradige Erregung. Ausgang in 
Demenz wahrscheinlich. Hirschl berichtet im An¬ 
schluss an die Demonstration auf Grund selbst beob¬ 
achteter und aus der Litteratur gesammelter Fälle 
über die Beziehungen von Tetanie und Psychose. 
(Wird vom Vortr. in den Jahrbüchern für Psychiatrie 
ausführlich mitgetheilt werden). Schloss. 


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IQ04-] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 115 


— Der Congress für experimentelle Psycho¬ 
logie in Giessen. (Ref. Dr. Ruppel.) 

Vom 18. bis 21. April tagte in Giessen der erste 
deutsche Congress für experimentelle Psychologie. 
Dass sich mit seiner Einberufung ein früher oder 
spater nothwendiges Geschehen vollzog, bedingte die 
Entwickelung der deutschen Psychologie; dass er ein 
erfreulicherweise in den verschiedensten Disciplinen 
sich geltend machendes Bedürfniss befriedigte, be¬ 
wies die zahlreiche Theilnehmerschaft aus den Kreisen 
der Philosophen, Psychologen, Physiologen, Psychiater, 
Physiker, Juristen und Theologen nicht nur Deutsch¬ 
lands. 

Wenn die experimentelle Psychologie allein die 
Kenntniss des normalen psychischen Ablaufes klar¬ 
zulegen im Stande ist, so wird sie auch gleichzeitig 
die klinischen Methoden für das noch vielumstrittene 
Gebiet psychiatrischer Diagnostik geben müssen, die 
dann in eben dem Maasse an Einheitlichkeit ge¬ 
winnen wird als sie sich auf diesen Boden objectiver 
Forschungsweise stellt. Darin liegt die doppelte Be¬ 
deutung der experimentellen Psychologie für die Psy¬ 
chiatrie, darin ist das doppelte Interessse begründet, 
das die Psychiatrie an den Giessener Tagen hat. 

Die zahlreichen Vorträge und Demonstrationen 
ergaben eine Anordnung nach elf Gruppen: 1. Indi- 
vidualpsychologie. 2. Psychophysiologie der Sinne. 
3. Gedüchtniss. 4. Verstandcsthätigkeit. 4. Bewusst¬ 
sein und Schlaf. 6. Ausdrucks-Bewegungen undWillens- 
thätigkcit. 7. Gefühle und Aesthetik. 8. Kinder¬ 
psychologie und Pädagogik. 9. Criminalpsychologie. 
10. Psychopathologie. 11. Reaktionsversuche an Nor¬ 
malen und Geisteskranken. Diesen Gruppen ent¬ 
sprach die Anordnung der umfangreichen Ausstellung 
von Apparaten und Methoden in den Laboratorien 
der Psychiatrischen Klinik*) und zwar nach vier 
Gruppen: 1. Psychophysiologie der Sinne, 2. moto¬ 
rische Methoden, graphische Registrirmethoden, Aus¬ 
drucksbewegungen , 3. Untersuchung geistiger Funk¬ 
tionen (Gedüchtniss, Auffassung, Associationen usw.) 
speciell für Pädagogik und Psychopathologie, 4. Ein¬ 
richtung psychophysischer Laboratorien, Zeitmessung, 
Reaktionsversuche. **) 

Das Folgende giebt eine gedrängte Uebersicht 
nach diesen Gruppen, zunächst der Vorträge und 
Demonstrationen: 

Gruppe 1: P. Henri-Paris: „Ueber die Me¬ 
thoden der Individualpsychologie“. 

Henri und Binet bearbeiten seit ca. 10 Jahren diese 
Methoden. Um individuelle Unterschiede, auf die es 
ankam. zu finden, mussten die Versuchspersonen 
unter möglichst gleichen Bedingungen stehen, welche 
Voraussetzung sich auf eine lange Zeit der Entwickel¬ 
ung wie der Versuche selbst erstreckte. Schüler fran¬ 
zösischer Normalschulen im Alter von 17 bis 19 
Jahren wurden erstlich anatomisch und physiologisch 

*') Sommer, Das experimental-psychologische Laboratorium 
der psychiatrischen Klinik zu Giessen. Nr. 2, Jahrgang 1904 
dieser Wochenschrift. 

**) Sommer, Die Ausstellung von experimental-psycholo¬ 
gischen Apparaten und Methoden bei dem Con^ess für experi- 
mmtelle Psychologie, Giessen, 18.—21. Apri] jq 04- Leipzig 
1904. Johann Ambrosius Barth. 

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charakterisirt nach Körpergrösse, Brustumfang, Ath- 
mungscapacität, Puls, Ernährung, Arbeitsfähigkeit, 
Ermüdung, Schlaf und zwar mit den üblichen Me¬ 
thoden. Zur Prüfung der Schnelligkeit in der Aus¬ 
führung vorgeschriebener Bewegungen war ein Apparat 
erdacht, der beliebige Erschwerung der Aufgabe und 
akustische Kontrolle ihrer Lösung gestattete, ein 
zweiter zur Registrirung „anatomische!“ Bewegungen. 
Die individuellen psychischen Differenzen der Reak¬ 
tionsgeschwindigkeit auf äussere Eindrücke, der Merk¬ 
fähigkeit, des Concentrationsvermögens, des Asso¬ 
ciationsvermögens, der mathematischen Denkfähigkeit 
und anderer höherer Verstandesfunktionen sowie der 
Suggestibilität wurden wieder und wieder festzustellen 
gesucht durch Monate und Jahre hindurch. Die 
Untersuchungen ergaben wohl eine Reihe bemerkens- 
werther Thatsaehen, waren aber nicht zureichend für 
die gewallte exacte Prüfung und deren Fixirung, in¬ 
dem vielerlei z. B. charakteristische individuelle Be¬ 
gabungen einer Messbarkeit sich entzogen. Binet 
empfiehlt daher descriptive Methoden, wie sie in 
der Zoologie und Botanik gebräuchlich, einem sorg¬ 
samen wissenschaftlichen Ausbau. Ueber seine und 
Binet’s Versuche in dieser Richtung vermag er noch 
nicht Näheres zu berichten, deutet vielmehr nur den 
bisher eingeschlagenen Weg an (genaue psychologische 
Selbstanalyse hervorragender Persönlichkeiten mit 
möglichster Berücksichtigung der anatomischen und 
physiologischen Verhältnisse und sich anschliessenden 
Kontrollversuchen). 

Gruppe 2: G. Elias Müller-Göttingen: „Die 
Theorie der Gegenfarben und die Farben¬ 
blind h eit“. 

Den an Farbenblinden gemachten Beobachtungen 
legt M. seine Theorie des Farbensehens nach dem 
Princip der Gegenfarben zu Grunde, trennt scharf 
die in der Netzhaut und in der nervösen Sehbahn 
sich abspielenden Vorgänge, kommt so zu inneren 
und äusseren Ausfallserscheinungen und sieht durch 
deren getrenntes oder kombinirtes Auftreten die ver¬ 
schiedenen Arten der Farbenblindheit bedingt. 

Schumann- Berlin giebt seine Selbstbeobacht¬ 
ungen „Ueber einen ungewöhnlichen Fall 
von F a r b e n b 1 i n d h e i t 

Guttmann- Berlin: „Untersuchungen an 
sogenannten Farbenschwachen“ zeigten ihm, 
dass geringere Farbenempfindlichkeit (oft auch bei 
Malern bestehend), wenn auch subjektiv meist nicht 
vorhanden, sich doch objektiv naclnveisen und diffe- 
renziren lässt. 

Be n u s s i - Graz: „Ein neuer Beweis der 
s p e ci f i s ch e n Helligkeit (bez w\ Dunkel¬ 
heit) der Farben 

B. demonstrirt, dass bei gleicher Helladaptation 
durch Hervorheben bestimmter Farben der Hellig- 
keitsw’erth variirt. 

Eb b i ng ha us-Breslau : „Ueber die geome¬ 
trisch-optischen Täuschungen“. 

Die vielleicht oft nur als Spielerei erscheinende, 
in den letzten 10 — 20 Jahren ausgiebige Beschäftig¬ 
ung mit diesem Gebiet ist vielmehr geeignet, wich¬ 
tige Aufschlüsse über psvchische Vorgänge zu geben. 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


116 


[Nr. n. 


E. stellte seine Versuche nach drei Richtungen hin 
an, die Bedingungen variireud nach dem jeweils an¬ 
genommenen Enstehungsort der Täuschung, der be¬ 
kanntlich gegeben sein kann: i. im peripheren Apparat, 
2. im Gebiet der reflektorisch ein wirkenden subcorti- 
calen Centren, 3. in der corticalen Sphäre, soweit 
etwa durch vorhandene Erfahrungen die neuen Wahr¬ 
nehmungen bestimmt werden. 

Zunächst wurde bei den zu untersuchenden Vor¬ 
gängen das Auge ausgeschaltet, indem die Täusch¬ 
ungsmöglichkeit aus dem sensorischen optischen, in 
das sensible Gebiet des Tastsinnes derart verlegt 
wurde, dass die betr. optischen Muster plastisch in 
Zinkblech übertragen oder in anderem Material 
(Draht, Pappe) wiedergegeben bei Blindgeborenen in 
Anwendung kamen. Die Täuschung gelang auch so. 
Weiter wurde die binoculare Verschmelzung unter¬ 
sucht durch Spalten und stereoscopisches Vereinen 
der Muster. Getheilt zeitigten die Muster keine 
Täuschung. Schliesslich wurde die lagoscopische 
Betrachtungsweise und die bei starrer Fixation, also 
ohne Bewegungstendenz des Auges geprüft. Diese 
Versuche, die hier in extenso nicht verfolgt werden 
können, ergaben zunächst die Annahme einer Con- 
trast- oder Einstellungstäuschung, indem früher ge¬ 
machte Erfahrungen die Grössenauffassung beeinflussen 
und weiter, allgemein ausgedrückt, die Nothwendig- 
keit, für das Zustandekommen der Täuschung, die 
oben aufgezählten Gebiete sowohl getrennt als auch 
vereint verantwortlich zu machen. 

Tschermak-Halle a. S.: „Neue Unter¬ 
suchungen über Tiefenwahrnehmung mit 
besonderer Rücksicht auf deren angeborene 
Grundlage“. 

Gegenüber der empiristischen Theorie, die der 
Erfahrung die Hauptrolle bei der Lokalisation op¬ 
tischer Wahrnehmungen zuschreibt, verficht T. die 
neuere nativistische: den Netzhauttheilchen kommen 
angeborener Weise, unabhängig von ihrer Lage zu¬ 
einander, bestimmende Lokalzeichen (Raumes- und 
Ordnungswerthe) zu. Dies bestätigten ihm seine 
mitgetheilten Beobachtungen an Menschen und 
Thieren. Eine abgeschlossene Theorie der Tiefen¬ 
wahrnehmung jedoch lässt sich z. Z. nicht geben. 
Jedenfalls muss eine angeborene Tiefengrundlage an¬ 
genommen werden. Die Ordnungswerthe sind in der 
Netzhaut begründet, die subjectiven Grössenwerthe 
dagegen bestimmt durch die Empirie. 

Exner-Wien: „Ueber die Wirkung mehr¬ 
facher Operationen an der Hirnrinde des 
Hundes“. 

Ausgehend von Hitzig’s Arbeiten, deren Resultate 
Munck nachprüfend nicht bestätigen konnte, schliesst 
sich E. Hitzig an. Er erörtert eingehend die grosse 
Ausbreitung der optischen Sphäre, die Möglichkeit 
eines Ersatzes verletzter zu ihr in Beziehung stehen¬ 
der Rindenpartien, indem wahrscheinlich unter Ver¬ 
mittelung des Balkens neue Associationsbahnen sich 
bilden, durch die er eine grosse Zahl anfänglich be¬ 
stehender und später wieder ausgeglichener Ausfalls¬ 
erscheinungen erklärt. 


Schumann-Berlin: „Die Erkennung von 
Buchstaben und Worten bei momentaner 
Beleuc htung“. 

Sch. hat durch sein Tachistoscop (s. u.) die Mög¬ 
lichkeit gegeben, bei beliebig variirbarer Expositions¬ 
zeit von Buchstaben, Worten etc., das positive Nach¬ 
bild dieser sofort nach der messbaren Exposition zu 
vernichten. Die mit diesem Apparat durch Geübte 
vorgenommenen Selbstbeobachtungen führten zu einer 
Zweitheilung der Versuchspersonen. Bei der einen Gruppe 
geschieht die Auffassung der exponirten Objecte durch 
Vermittelung von Lautbildern: der akustische Typus; 
die andere bedient sich der Vorstellung optischer 
Bilder: der visuelle Typus. In einzelnen Fällen 
^ findet sich gleichzeitige Zusammengehörigkeit von 
Lautbild und visuellem Bilde. 

Struycken-Breda demonstrirt seinen auf einer 
Stimmgabel montirten Apparat zur „Bestimmung der 
Gehörschärfe in Micromillimetern“. 

H eymanns - Groningen : „Intensitätskon- 
trast und psychische Hemmung“. 

H. weist auf seine früheren Arbeiten hin, in 
denen er zeigte, dass mit einer beliebigen Empfind¬ 
ung eine gleichzeitig mit ihr auftretende weitere Em¬ 
pfindung in hemmender Wechselwirkung steht, und 
dass so ein Reiz, gepaart mit einem anderen, zu 
seiner Wahrnehmung einen stärkeren Grad erfordert 
als den bei alleiniger Einwirkung nöthigen. Mit dieser 
psychischen Hemmung gleichzeitiger Empfindungen 
erklärt H. auch den Intensitätskontrast: einander be¬ 
nachbarte Helligkeiten schwächen sich gegenseitig 
umsomehr ab, jemehr sie an Intensität zunehmen. 

Alrutz-Upsala: „Neue Untersuchungen 
über Hautsinnesempfindungen“. 

, A. bringt zunächst ein Beispiel paradoxer Kälte¬ 
empfindung: Nach Fortnahme eines Temperators von 
— io ü C. von der Stirn, stellt sich die Nachempfind¬ 
ung des Nasskalten ein, bedingt durch die paradoxe 
Empfindung des wieder durchströmenden Blutes. Für 
die Juckempfindung macht er besondere Nerven ver¬ 
antwortlich und hält wegen ihres analogen irradiiren- 
den Auftretens schwache Wärmeempfindung für iden¬ 
tisch mit schwacher Juckempfindung. Die Kälte¬ 
empfindungen sind in allen Fällen, unangesehen des 
auslösenden Momentes, identisch. (Fortsetzung folgt.) 


Personainachrichten. 

— Dziekanka. Dem I. Assistenzarzt Dr. 
Knust ist die Stelle des leitenden Arztes an der 
Heilstätte „W a 1 d fr i e d e n “ bei Fürstenwalde a. d. 
Spree (Volksheilstätte für Alkoholkranke des Berliner 
Bezirksvereins gegen den Missbrauch geistiger Ge¬ 
tränke) vom 1. Juli 1904 ab übertragen worden. Die 
Stelle des I. Ass. -Arztes erhielt der II. Ass. - Arzt 
Dr. PI an ge, die des II. der III. Ass.-Arzt Dr. von 
Domarus. 


Jahresversammlung des Nordostdont- 
schen Psychiatrischen Vereins findet am 

27. Juni in Danzig statt 


Erscheint 

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Für den redactionellen Theii verantwortlich: Oberarit Dr. J. Bresler, Lublinitz (Schlesien). 


— Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl M arho'l0 in Halle a. S. 
k, Heynemann'»che Bachdruckerei (Gebr. Volff) in Halle a. S. 



Beilage zur Psychialrisch - Neurologischen Wochenschrift 6. Jahrgang N? 13. 
Zum Aufsatz .-„Die Familienpflege Geisteskranker in Gardelegen." Von Or C.Wickel in Oziekanka yGmmn. 



Verlag von Carl Marhold, Halle a. 8. 


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April 1901 











Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift. 

Redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Lublinitz (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

T«le*r.-Adresse: Marhnld Verla*. Hallesaale. Fernsprecher 2834. 

Nr. 13. 25 Juni. 1904. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt ErmSasigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten. 


Die Familienpflege Geisteskranker in Gardelegen. 

(Besuch im November 1903.) 

Von Dr. C. Wickel, III. Arzt an der Provinzial-Irren-Anstalt Dziekanka bei Gnesen. 
(Hierzu die lithographische Tafel.) 


A uf dem ersten internationalen Congress der Für- 
sorge für Kranksinnige, insbesondere für deren 
Verpflegung in Familien, am 1. IX. 1902 zu Ant¬ 
werpen führte Alt in seinem Vortrage*) aus, dass 
der Hauptgrund zur Gründung der Familienpflege in 
Gardelegen für ihn der war, zu zeigen, dass auch 
bei uns in Deutschland ohne langjährige Vorbereitung 
der Bevölkerung diese Verpflegungsform rasch ein¬ 
gebürgert werden könne und dass die geeigneten 
Kranken sich in der Familie glücklicher fühlen, als 
selbst in einer Anstalt gleich der zu Uchtspringe mit 
der denkbar weitestgehenden freien Behandlung. 

Heute nach 5 ^jährigem Bestehen der Familien¬ 
pflege in Gardelegen kann man sagen, dass die da¬ 
selbst mit der Familienpflege gemachten Erfahrungen 
und die durch sie erzielten Erfolge voll und ganz 
den Beweis für die Richtigkeit der Vorhersagen Alt’s 
erbracht haben. 

Auf einer Informationsreise im Herbste 1903 war 
es mir vergönnt, die Familienpflege in Gardelegen 
aus eigener Anschauung kennen zu lernen. 

Ich freue mich, an dieser Stelle darüber berichten 
zu dürfen. 

Im Herbst 1898 wurden die ersten Kranken, 
4 Frauen, von Uchtspringe aus in Gardelegen in 
geeigneten Familien untergebracht. Im April 1901 
waren es 11 weibliche Kranke. Von da ab stieg 
die Zahl der Familienpfleglinge in rascher Folge, fast 
ohne Unterbrechung, bis auf 119, vorwiegend weib¬ 
liche Kranke, im Januar 1904. 

Die beigegebene graphische Darstellung veran¬ 
schaulicht das Anwachsen in deutlicher Weise. 

Die Gardelegener Kranken sind als der Anstalt 
Uchtspringe zugehörig zu befrachten. 

*) I.) Alt, K., Die familiäre ^ e rpQ c ^ u ijg der Kranksinnigen 
in Deutschland. Halle a. S. I90j. ^ ^ jyjarhold. P* 21. 

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Einer Familie werden nicht mehr wie 2 Kranke 
gleichzeitig in Pflege gegeben. 

Die Zahl der Pflegerfamilien ist stetig im Wachsen 
begriffen. Nur verschwindend wenige Pflegerfamilien 
erwiesen sich als ungeeignet zur Wartung und Beauf¬ 
sichtigung von Kranken. 

Rückversetzungen von Kranken in die Anstalt 
mussten erfolgen in einigen Fällen, bei welchen sich 
schwere körperliche Erkrankfingen oder Verschlimmer¬ 
ungen des psychischen Befindens einstellten. 

Im Jahre 1903 wurde eine Oberpflegerin in 
Gardelegen stationirt. 

Der ärztliche Dienst hatte zunächst von Ucht¬ 
springe aus statt. Im Sommer 1903 wurde ein 
eigener, Herrn Director Dr. Alt untergeordneter, 
in Gardelegen selbst wohnender Arzt für die Fami¬ 
lienpflege angestellt und zwar Herr Dr. H. Stamm, 
welcher sich bereits in Göttingen als Arzt an der 
dortigen Anstalt in hohem Maasse 11m Einführung 
der Familienpflege verdient gemacht hatte. 

Gardelegen liegt, wie die Anstalt Uchtspringe auch, 
an der Bahn Stendal-Hannover, 14 km von Uchtspringe 
entfernt, ca. 20 Minuten Bahnfahrt. 

Gardelegen ist ein an der Milde hübsch gelegenes, 
freundliches Landstädtchen, Kreisstadt, mit ca. 8000 
Einwohnern. Es hat saubere, schöne Strassen, wohl¬ 
gebaute, feste Häuser. Das Ganze macht den Ein¬ 
druck einer gewissen Wohlhabenheit. Um die Stadt 
herum, entsprechend den alten, zum Theil noch er¬ 
haltenen, Befestigungen und Wällen sind Anlagen 
und Promenaden. Aus der alten Stadt hinaus führt 
eine schöne Allee zu einem neuen Stadttheil mit 
Villen, grösstentheiis aber mit einstöckigen, massiv 
gebauten freundlichen Häusern. An die meisten 
dieser Häuser schliesst sich ein wohlgepflegter Garten 
an. Hier sind fast in jedem Hause Kranke in Pflege. 


Original frnm 

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118 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 13. 


Gardelegen hat keine Wasserleitung. Das Wasser 
entstammt öffentlichen Bohrbrunnen. Es ist ein¬ 
wandfrei. 

Der allgemeine Gesundheitszustand der Stadt ist 
ein sehr guter. Infektionskrankheiten kommen selten 
vor, insbesondere ist Typhus seit einer Reihe von 
Jahren nicht aufgetreten. 

Einen sehr guten Ueberblick über die Stadt und 
über die Vertheilung der Kranken in ihr gewährt der 
beigefügte Plan. 

Die Häuser, in welchen Familienpfleglinge sich 
befinden, sind schwarz markirt. Die gestrichelten 
Carres bedeuten Häuser, in welchen Familien wohnen, 
die sich zur Aufnahme von Kranken gemeldet haben 
und vorgemerkt wurden. 

Ihre Zahl ist, wie wir sehen, eine sehr erhebliche. 
Es ist hieraus klar zu erkennen, wie gross bereits das 
Interesse der Bevölkerung für die Familienpflege ge¬ 
worden ist. Auch selbst konnte ich mehrfach diese 
Beobachtung machen. 

Schon in der Wohnung des Arztes meldete sich 
ein Bürger und bat um Uebcrwcisung eines Kranken. 
Er versicherte, er werde sich alle Mühe geben, ein 
Zimmer habe er nach Rücksprache mit anderen 
Pflegern bereits vorschriftsmässig eingerichtet. Bei 
der Vorsicht, welche bei der Auswahl der Pfleger¬ 
familien statt hat, und bei der grossen Zahl früherer 
Meldungen musste er zunächst verzögernd beschieden 
werden. 

Ehe nämlich eine Familie einen Pflegling zuge- 
theilt erhält, werden die eingehendsten Erhebungen 
angestellt über Ruf und Qualität der Familie, ihre 
Beschäftigung und vor allem auch über die Wohn¬ 
ungsverhältnisse, speciell nach der hygienischen Seite 
hin. 

Wie subtil dabei vorgegangen wird, zeigt der als 
Anhang abgedruckte, hierfür vorgesehene Fragebogen. 

In der Wohnung einer älteren, als besonders be¬ 
währt bekannten Pflegerfamilie, welche vielfach den 
anderen mit Rath zur Seite steht, erwartete die Frau 
eines anderen Pflegers den Arzt und bat dringend, 
er möge ihr wieder eine Kranke geben. Am Tage 
zuvor war nämlich ihre Kanke, eine periodische 
Manie, wegen neu aufgetretener Erregung nach Ucht- 
springc zurück verbracht worden. Die Frau befürch¬ 
tete nun, man messe ihr vielleicht Schuld an der 
Wiederkehr der Erregung bei und werde ihr am 
Ende keine Kranke mehr anvertrauen. Wiederholt 
brachte sie dabei vor, dass sie sich dann vor „den 
Anderen“ schämen müsse. 

Die überwiegende Mehrzahl aller Quartiere habe 
ich in Begleitung des Arztes aufgesucht. 

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Die Wohnungen waren durchweg sauber und gut 
gehalten. Die für die Kranken bestimmten Zimmer 
waren tadellos im Stande, geräumig, rein, Luft und 
Licht zugänglich, aufgeräumt, mit sauberer Bettwäsche. 
War ein Zimmer noch nicht ganz in Ordnung ge¬ 
bracht, so baten deshalb die Familien regelmässig 
von selbst unter Angabe der Gründe um Entschul¬ 
digung. 

Mehrfach befanden sich mehr Möbel in den 
Krankenzimmern, wie die Vorschrift verlangte. Einigen 
Zimmern sah man an, dass sie offenbar zu dem 
Zwecke der Aufnahme der Kranken extra herge¬ 
richtet, bezw. renovirt waren. Mit einem gewissen 
Stolz wurden diese Zimmer von den Familien gezeigt 

Bei Betreten eines Quartiers stellte sich alsbald 
eines der Familienangehörigen ein, das Buch in der 
Hand, welches, die Bestimmungen über Familien¬ 
pflege *) enthaltend, dient zu Eintragungen des Arztes 
und der Oberpflegerin über Zeit des Besuchs, ärzt¬ 
liche Verordnungen, Kleiderrevisionen, Umtausch, 
Ausbesserungen. Zugleich enthält es geeignete Listen 
zur Aufzeichnung der Menses, des Körpergewichtes' 
und etwaiger Krampfanfälle. 

Fast überall war der Hausherr oder die Haus¬ 
frau selbst da. In Gardelegen wird nämlich sehr 
viel Hausindustrie, vor allem Perlmutterschleiferei, 
getrieben. Daher sind die Leute sehr wenig von 
Hause abwesend. 

Die Pfleger zeigten alle ein freundliches, entgegen¬ 
kommendes, verständiges Wesen. Fast alle berich¬ 
teten unaufgefordert über das Ergehen ihrer Kranken, 
über das körperliche Befinden, Beschäftigung, etwaige 
psychische Veränderungen. 

In sehr klarer Weise, wie sie einem jeden ge¬ 
schulten Krankenpfleger Ehre machen würde, theilte 
ein Schneidermeister seine Beobachtungen bei seinem 
etwa 8 Jahre alten Kranken mit. Es handelte sich 
um Anfälle von petit mal, welche erstmals bei dem 
Knaben (Idiotie) aufgetreten waren. 

Bald kamen auch die Kranken selbst oder wurden 
von der Arbeit herbeigeholt. Sie waren ohne Aus¬ 
nahme gut gehalten, sauber an Körper, Wäsche und 
Kleidung. Der Ernährungszustand war ein recht 
guter. Sie machten Alle einen zufriedenen Eindruck. 
Manche erschienen sogar recht vergnügt. Aus dem 
Auftreten der Angehörigen der Pflegerfamilie, aus 
dem Verhalten der Kranken konnte man schliessen, 
dass das Verhältniss zwischen beiden ein freund- 

*) Abgedruckt in: II.) Alt, K., Ueber familiäre Irrenpflege, 
p. 70 ff. Band II, Heft 7/8 der Sammlung zwangloser Ab¬ 
handlungen aus dem Gebiete der Nerven- und Geistes-Krank¬ 
heiten. Halle a. S. 1899. Carl Marhold. 

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HARVARD UN1VERSITY 




1004.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


schaftüches war. Besonders fiel dies in die Augen, 
wenn die Kranken noch Kinder waren. Hier schien 
in der That manchmal ein Verhältniss ähnlich dem 
zwischen Eltern und Kind vorzuliegen. 

In der Mehrzahl waren die Kranken, entsprechend 
dem Vorwiegen des weiblichen Geschlechtes, in der 
Küche mit Kartoffelschälen, Abwaschen und dergl. 
beschäftigt, oder sie halfen mit den weiblichen Fami¬ 
lienmitgliedern am Nähtisch. Einige begleiteten die 
Hausfrau auf Gängen im Hof, bei Besorgung des 
Kleinviehs. Andere, welche zu einer Beschäftigung 
nicht fähig waren, sassen im Zimmer neben Familien¬ 
angehörigen. Einzelne jugendliche Kranke trafen wir 
auch auf der Strasse den Kindern ihrer Pflegerfamilie 
beim Spiel zusehend, zum Theil daran theilnehmend. 

Eine Reihe von Kranken habe ich in der üblichen 
Weise gefragt, ob sie nicht lieber nach Uchtspringe 
zurück wollten, ob es in Uchtspringe nicht schöner 
und besser sei. In keinem Fall erhielt ich eine be¬ 
jahende Antwort, Alle wollten lieber bei ihrer Pfleger¬ 
familie bleiben. 

Nie werde ich vergessen, mit welchem freudigen 
Eifer eine alte würdige Dame, eine der ältesten 
Pflegerinnen Gardelegens, unter Vorführung der 
Kranken die Fortschritte der geistigen Entwickelung 
derselben schilderte. Mit beredte* Wortelr berichtete 
sie, dass die Kranke, als sie vor einigen Jahren zu 
ihr in Pflege kam, weder etwas sprechen konnte, noch 
zu irgend einer Beschäftigung zu gebrauchen war; 
selbst zur Reinlichkeit musste sie zuw'eilen angehalten 
werden. Allmählich wurde die Kranke lebhafter, be¬ 
gann sich auf Zureden und stete Anweisung etwas 
im Hause zu beschäftigen, im Laufe der Zeit lernte 
sie sogar Näh- und Flickarbeiten und ist heute der 
Pflegerin eine gute Hilfe im Hause und bei der Arbeit. 
Die Kranke spricht wenig, aber verständig. Es han¬ 
delt sich auch hier um einen Fall von Idiotie, jetzt 
19 Jahre alt. 

Zugegeben, dass bei dieser Kranken vielleicht 
auch in einer Anstalt eine gewisse Weiterentwickelung 
der geistigen Fähigkeiten stattgehabt haben würde, 
so ist doch zweifellos den geeigneteren Verhältnissen 


M i t t h e i 

— Der Congress für experimentelle Psycho¬ 
logie in Giessen. (Ref. Dr. Ruppel.) (Fortsetzung.) 

Gruppe 3. MüIler-Göttingen : „Bericht über 
Untersuchungen an einem ungewöhnlichen 
Gedächtniss“ (nebst Demonstrationen). 

Ganz exorbitante Gedächtj}j ss ]eistungen zeigte Dr. 


in der Familie, den Bemühungen der Pflegefrau und 
deren Angehörigen ein guter Theil des auffallenden 
und weitgehenden Erfolges zuzubilligen. 

Nach Mittheilung des Arztes sind solche günstigen 
Beeinflussungen des psychischen Verhaltens der Kran¬ 
ken in der Familienpflege in Gardelegen wiederholt 
zur Beobachtung gekommen. 

Bei einer älteren, erprobten Pflegerfamilie ist ein 
Verbandkasten untergebracht. Dort werden von dem 
Arzt etwa nothw’endige kleinere Verbände angelegt 
bezw\ gewechselt. Für besondere Fälle sind Instru¬ 
mente, Verbandzeug u. s. w. in der Wohnung des 
Arztes. 

Für Badegelegenheit ist Vorsorge getroffen. Eine 
Pflegerfamilie hat auf dem Hofe ihres Anwesens 
einen kleinen Bau errichtet, in welchem Wasserleitung, 
Kessel mit Heizvorrichtung zur Erwärmung des Wassers 
und 2 emaillirte Badewannen sich befinden. In einem 
Vorraum ist eine Wage aufgestellt. Alle 4 Wochen 
findet sich hier jeder Kranker in Begleitung eines 
Angehörigen der Pflegerfamilie ein, erhält ein Bad 
und wird gewogen. Für jedes Bad bekommt der 
betr. Pfleger, welcher das Badehaus erbaut hat und 
für Rüstung des Bades zu sorgen hat, 30 Pf. von 
der Anstalt Uchtspringe bezahlt. Badewannen und 
Wage sind Eigenthum der Anstalt. 

Den besseren Verpflegungsklassen gehörten 8 der 
Familienpfleglinge an. Es w’aren 3 Damen der I. 
und 5 der II. Verpflegungsklasse. 

Je 2 Pensionäre der II. Klasse haben eine ge¬ 
räumige gut möblirte Stube und eine Kammer ge¬ 
meinsam. Für jede Dame I. Klasse ist ein Wohn¬ 
zimmer und eine Kammer besonders vorhanden. 

In einer Familie, deren Haus an der nach der 
Vorstadt führenden Strasse gelegen ist, wohnen 2 
dieser Damen, alte Fälle von Paranoia chronica. Sie 
haben ein schön möblirtes Schlafzimmer und ein ge¬ 
meinschaftliches, grosses, behagliches Wohnzimmer 
inne. Bei einer der besseren Pflegefamilien hat sich 
auch die Oberpflegerin in Kost begeben. Sie nimmt 
ihre Mahlzeiten gemeinsam mit einer der Damen 
1. Klasse ein. (Schluss folgt.) 


1 u n g e n. 

R. aus K., Mathematiker, den M. vorslellte. Allein 
mit Hülfe des Erinnerungsvermögens ohne mnemo¬ 
technische Hülfe reproducirte R. z. B. 5 Reihen von 
je 5 Zahlen vorwärts, rückwärts, senkrecht u. s. w. 
15 Sec. nach dem Vorsprechen. 204 Ziffern repro- 
ducirt R. nach 13 Minuten in jeder beliebigen Folge. 


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120 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 13. 


Die ,,Hilfen“, deren R. sich bedient, schildert M. als 
die gleichen, die wir auch gebrauchen, nur besteht 
bei R. eine starke Concentrationsfähigkeit, eine über¬ 
raschend schnelle Auffassung und das sofortige Ein¬ 
treten der jeweils nöthigen Hilfe. 

Wreschner-Zürich: „Experimentelles über 
Association von Vorstellungen“. 

W. stellte ohne Rücksicht auf die übrigen bei 
Associationsprüfungen in Betracht kommenden Ver¬ 
schiedenheiten lediglich die Associationszeiten an zahl¬ 
reichen Versuchspersonen fest nach Geschlecht, Alter, 
und Bildungsgrad. Seine Versuche ergaben längere 
Associationszeiten für Kinder und Ungebildete als 
für Gebildete, für Frauen ein geringes Zeitplus gegen¬ 
über den Männern. Auf abstracte Reizworte reagir- 
ten sämmtliche Versuchspersonen am langsamsten. 

Kate Gordon-Würzburg: „Ueber das Ge- 
dächtniss für affectiv bestimmte Ein¬ 
drücke“. 

G. untersuchte, ob das Gefallen oder Missfallen, 
bedingt durch bestimmte Colorirung zu merkender 
Complexe, von Einfluss auf das Gedächtniss sei. Ein 
solcher ergab sich ihr nicht 

Rauschburg-Budapest: „Ueber die Bedeut¬ 
ung der Aehnlichkeit beim Erlernen, Be¬ 
halten und bei der Reproduction“. 

Diese wird erörtert an der Hand von 3000 Re- 
productionsmessungen. Die zu merkenden Silben¬ 
reihen setzten sich zusammen einmal aus von ein¬ 
ander verschiedenen, das andere Mal aus z. Th. sich 
wiederholenden Elementen. Das Erlernen der letz¬ 
teren gegenüber den ersteren ist leichter, das Be¬ 
halten schwerer, weil wir uns zum Erlernen ähnlicher 
Gruppen der Nebenvorstellungen bedienen, mit deren 
Abblassen auch die zu fixirenden Hauptvorstellungen 
entsprechend schwinden. Das Zustandekommen und 
Fixiren von Vorstellungen ist nicht nur vom eben 
gegebenen, vielmehr auch von dem kurz vor ihnen 
bestehenden Bewusstseinsinhalte abhängig. Eine Aehn¬ 
lichkeit dieses mit der neuen Vorstellung irradiirt die 
letztere fälschend. Mit diesem experimentell gewon¬ 
nenen Resultat negirt R. den Herbart’schen Stand¬ 
punkt, nach welchem entgegengesetzte Vorstellungen 
einander hemmen. 

Müller- Strassburg giebt einige Beobachtungen 
über das Wesen des Reproductionsvorganges. 

Gruppe 4: Külpe-Würzburg: „Versuche über 
die Abstraktion“. 

Zu unterscheiden ist positive und negative Ab¬ 
straktion i. e. das Herausheben einzelner Theile eines 
Complexes und das Vernachlässigen anderer. Es 
wurden durch Projection Silben von bestimmter Form 
eine bestimmte Zeit exponirt und verlangt, Zahl, 
Farbe, Form oder Constellation der einzelnen Buch¬ 
staben zu beachten. Die richtigsten Resultate zei¬ 
tigte das Zusammenfallen von Aufgabe und Aussage, 
m. a. W.: die Abstraktion gelingt am besten, w t o Prä- 
occupation und determinirende Tendenz besteht. 
Von der Zahl ist leichter zu abstrahiren als von Figur 
und Farbe. Unregelmässige Figuren erschwerten die 
bei dem Vorgang ursächlich maassgebende Concen- 


tration, regelmässige erleichterten sie. Die Verschie¬ 
denheit der Versuchsergebnisse hat nicht in verschie¬ 
denen Gesichtswahmehmungen ihren Grund, sondern 
entspricht den verschiedenen Aufmerksamkeitsleist¬ 
ungen. Alle Vorstellungen sind abstrakt als Bewusst¬ 
seinsphänomene. 

Spearman - Leipzig : „Die experimentelle 
Untersuchung psychischer Corre 1 ationen“. 

S. giebt mit ihnen einen Beitrag zur Methodik 
der Psychologie. Für kurzes Referat ungeeignet. 

Elsen haus-Heidelberg: „Die Aufgabe einer 
Psychologie der Deutung als Vorarbeit 
der Geistes w'issenschafte n“. 

E. erinnert daran, dass wir das Erleben anderer 
allein aus ihren Aeusserungen erkennen und aus der 
Analogie unseres eigenen Erlebens auf Grund subjec- 
tiver Deutung („Einfühlen“ und „Verstehen“) erklären 
können. 

Gruppe 5: W i rth - Leipzig: „Zur Frage des 
Bewusstseins- und Aufmerksamkeitsum¬ 
fange s“. 

Die einzelnen psychischen Inhalte besitzen einen 
verschiedenen Werth für unser psychisches Erleben, 
sie haben verschiedene Grade des Bewusstseins. 
Zahlenmässige Messung dieses Bewusstseinsgrades der 
einzelnen Elemente ist nicht möglich, wohl aber eine 
solche des Bewusstseinsumfanges. Einige entsprechende 
Versuchsanordnungen werden beschrieben. 

Weygandt-Würzburg: „Beiträge zur Psy¬ 
chologie des Schlafes“. 

W. stellte unter den verschiedensten Bedingungen 
im Anschluss an die Versuche der Kraepelin’schen 
Schule Untersuchungen an über die erholende Wirk¬ 
ung bestimmter Schlaf Zeiten durch Prüfung der Arbeits¬ 
fähigkeit (Additionsversuche) und Merkfähigkeit. Die 
blosse Additionsfähigkeit war nach vierstündigem Schlafe 
nicht wesentlich verschieden von der nach sechsstün¬ 
digem. Von grossem Einflüsse hingegen erwiesen 
sich die letzten Schlafstunden auf die Merkfähigkeit, 
wie sich überhaupt eine Proportionalität der Leist¬ 
ungsfähigkeit zur Lösung komplicirterer Aufgaben und 
der Schlafzeiten ergab. 

Clopar ede-Genf: „Biologische Theorie 
des Schlaf es“. 

C. kann sich den bisherigen Theorien über den 
Schlaf nicht anschliessen, er fasst ihn vielmehr als 
einen positiven, reflectorisch-activen Vorgang auf, als 
einen Instinct, der im Dienste der Vermeidung einer 
drohenden Erschöpfung steht. 

Gruppe 6: Henri-Paris: „Ueber die Coordi- 
nation von Bewegungen“. 

H. lieferte experimentell den Nachweis, dass die 
Regulirung von sonst niederen Centren unterstellten 
Bewegungen bei Ausschaltung jener durch höhere 
allmählich übernommen werden kann. Durchschneid¬ 
ung des sensiblen Nerven eines Taubenflügels führte 
zu Incoordination seiner Bewegungen, die gemach 
sclnvand, sich jedoch wieder passager einstellte nach 
leichtem Narcotisiren der Taube. Analoges ergaben 
Versuche am Frosch; analog ist auch das am Men- 


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1004 ] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


»dien beobachtete Seilwinden einer durch Nerven¬ 
erkrankung gesetzten Coordinationsstörung aufzufassen, 
die jedoch unter psychischen Einflüssen wieder her¬ 
vortreten kann. 

Ach- Göttingen: „Experimentelles über 
die Willensthät igk ei t“. 

A. geht von der Trennung der Willensthätigkeit 
in Selbstbestimmen (Entstehung von Absicht und 
Entschluss) und Realisirung der Absicht aus. Letztere 
ist Gegenstand seiner Untersuchungen nach variirten 
Methoden. Für kurzes Referat nicht geeignet. 

Marti us- Kiel: „Zur Untersuchung des 
Einflusses psychischer Vorgänge auf Puls 
und Athmung“. 

M. versuchte die bisher üblichen Methoden, die 
keine einheitlichen Resultate zu geben vermochten, 
möglichst zu verbessern. Den Plethysmographen be¬ 
sonders erkannte er als werthlos. Doch gelang es 
ihm bisher nicht, alle Fehlerquellen (bes. Ausdrucks¬ 
und Stossbewegungen) zu eliminiren. Er hält es auch 
für unwahrscheinlich, dass Lust und Unlust aus ihrem 
complicirten Zusammenhang heraus den Puls in ein¬ 
deutiger Weise beeinflussen. 

S om m er - Giessen : „Demonstrationen " : 
a) Umsetzung des Pulses in Töne; b) Ausdrucksbe¬ 
wegungen in Form von Licht- und Farbenerschein¬ 
ungen. 

a) Ein bei hoher Empfindlichkeit auf Grund langer 
Versuche relativ einfach gestalteter Hebelrollenapparat 
ermöglicht die variirende Einwirkung der Pulswelle 
auf die Höhe des Tones einer angeblasenen Zungen¬ 
pfeife derart, dass psychisch bedingte und bei der 
Demonstration gesetzte Einwirkung auf das Herz zu 
deutlichstem akustischen Ausdruck kommt. 

b) Es wird die dreimensionale Ausdrucksbewegung 
(der Hand) mit Hilfe eines modifleirten Flüssigkeits- 
rheostaten, der in drei Stromkreise mit verschieden 
gefärbten Glühlampen eingeschaltet ist, zu allgemein 
deutlicher optischer Wahrnehmung gebracht, zwar so, 
dass feiner Tremor, nach den drei Raumdimensionen 
getrennt, beobachtet werden kann. 

Ettlinger-München : „Einige Bemerkungen 
über Nachahmung“. 

An Beispielen aus dem Thierleben und aus der 
Psychologie des Menschen beweist E., dass die Nach¬ 
ahmung nicht auf instinctiven sondern auf associativen 
Vorgängen beruht. 

Gruppe 7: E Ise n h aus - Heidelberg: „Bemerk¬ 
ungen über die Generalisation der Gefühle“. 

Diese kann nach E.’s Ausführungen statthaben 

1. durch Theilnahmc der Gefühle am Generalisations- 
process der Vorstellungen, mit denen sie verknüpft, 

2. können Gefühle allgemeinen Charakters durch Zu¬ 
sammenfassen von Einzelgefühlen entstehen. 

G roos-Giessen : „Die Anfänge der Kunst 
und die Theorie Darwin ’s“. 

Aus der Anthropologie und Thierpsvchologic weist 
G. nach, dass, entgegen Darwin s Theorie, weder für 
ästhetisches Schaffen noch jy ir ästhetisches Gemessen 
innerhalb sämmtlichcr Klinge (D s erotische Moment 

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und das der Bewerbung allein cuusul herangezogen 
werden kann. 

S i e b e c k - Giessen : „Zur Psychologie des 
Musikalischen“. 

Der Gefühlswerth der Musik ist nichts Objektives, 
vielmehr begründet auf ästhetische Einfühlung, für 
die ausschlaggebnd ist das Verhältniss zwischen gegen¬ 
ständlichem und gefiihlsmässigem Moment bei der 
Wahrnehmung, wobei der subjective Factor, die 
Stimmung, nicht Folge sondern Voraussetzung der 
Einfühlung ist. Mit der Uebertragung unserer Stimm¬ 
ung auf das die Stimmung auslösende Objekt ist 
diese Voraussetzung erfüllt, und es wird uns nun 
durch die Einfühlung das Bild von Wesen und Werth 
unserer Gefühle vermittelt. Auf dieser Basis be¬ 
trachtet S. Provenienz und weitere psychologische Be¬ 
ziehungen der beiden Momente. 

Marbe-Würzburg: „Ueber den Rhythmus 
der Prosa“. 

Zunächst an Prosastücken Goethe’s und Heine's 
stellte M. statistische Erhebungen an, die dann weiter 
ausgedehnt wurden und ihn bezüglich des Rhythmus 
(Verhältniss der betonten zu den unbetonten Silben) 
zu der Annahme eines individuellen Typus führten, 
und das Bestehen eines, für die deutsche Sprache 
durch andere Werthe als beispielsweise für die fran¬ 
zösische, bestimmten Normalrhythmus des gesunden 
Menschen wahrscheinlich machten. 

Gruppe 8 : Amant- Würzburg: „D as psy cho- 
logische Experiment an Kindern“. 

A. berichtet über die historische Entwicklung der 
Kinderpsychologie und erörtert eingehend in welcher 
Weise und unter welchen Bedingungen das psycho¬ 
logische Experiment an Kindern möglich ist. Vor 
allem muss es dem unentwickelten Zustand des 
Kindes Rechnung tragen und den verschiedenen Ent¬ 
wickelungsstufen entsprechend angestellt werden. Die 
„Ausdrucksmethode“ ist schon früh anwendbar, wäh¬ 
rend die „Eindrucksmethode“ mit dem Selbstbewusst¬ 
sein rechnen muss und somit erst auf viel späterer 
Stufe möglich wird. Solange die experimentelle Unter¬ 
suchung noch nicht ausführbar, muss sie durch ge¬ 
naue Beschreibung sämmtlicher Aeusserungen ersetzt 
werden. 

La v - Karlsruhe : „Das Wesen und die Be¬ 
deutung der experimentellen Didaktik“. 

Die experimentelle Forschung in der Didaktik, 
bisher sehr vernachlässigt, bedarf der Ausbildung und 
Anwendung. Das didaktische Experiment erfordert 
zunächst pädagogisch ein Stadium der Hypothesen- 
bildung, der Vorbereitung für das Experiment, bevor 
es in einem weiteren Stadium angewendet, schliess¬ 
lich zu praktisch verwerthbaren Resultaten führen 
kann und den exakt psychologisch begründeten Unter¬ 
richt, wie ihn L. explicirt, ermöglicht. Die alte For¬ 
derung einer individualisirenden Pädagogik begründet 
er aufs Neue und wünscht die Errichtung von Lehr¬ 
stühlen für experimentelle Didaktik und Pädagogik 
verbunden mit Laboratorien und Uebungsschulen, um 
durch sie Seminardirectoren. Seminarlehrern, Rectoren 
und Schulinspeotoren ein pädagogisches Fachstudium 
an Universitäten zu ermöglichen. 

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122 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 13. 


S ter 11 - Breslau : „Die Sprachentwickelung 
eines Kindes (insbesondere in grammatischer und 
logischer Hinsicht)“. 

St. hat gemeinsam mit seiner Frau — die Beob¬ 
achtungen der Mutter werden also sehr wesentlich 
bes. betont — die sprachliche Entwickelung seines 
Töchtcrchens genau verfolgt und tabellarisch fixirt 
nach zeitlichem Auftreten, grammatikalischem Werth 
und Bedeutung der Worte. Die ersten Aeusserungen, 
volitionaler Art, finden in Form von Substantiven und 
Interjectionen statt. Es folgen Verba, Pronomina, 
Adverbia, Conjunctionen, Adjectiva, Numeralia und 
Interjectionen. Nachahmung und Spontaneität kom¬ 
men insofern gleichzeitig in Betracht, als das Kind 
entsprechend seiner Auffassungskraft die einzelnen 
Elemente aus der Sprache des Milieus aufnimmt, 
eklektisch nachahmt und — darin fast allein liegt im 
Gegensatz zu der meist angenommenen aber nur 
seltenen Wortneubildung das schöpferische Moment 
— zu eigenartigen Bildungen oft kombinirt (z. B. 
„Kindsoldat“ für kleiner Soldat). Letzteres ist be¬ 
sonder der Fall zwischen dem vierten und fünften 
Lebensjahre, d. h. zu einer Zeit, wo die Discrepanz 
zwischen dem Wortschatz und dem Wortbedürfniss 
sehr gross ist. Der früheren örtlichen Orientirtheit 
vor der zeitlichen entspricht das frühere Auftreten 
der Ortsadverbia. Die activen Verbformen erscheinen 
vor den passiven. Die Zukunft hat zunächst eine 
grössere Bedeutung für das Kind als die Gegenwart 
und die erst sehr spät sprachlich geäusserten Formen 
der Vergangenheit. Das häufige Wort „nein“ tritt 
zunächst nur volitionistisch auf, das praktische „nein“; 
erst viel später als constatirende Form, das theore¬ 
tische „nein“. Bemerkenswerth ist noch der spätere 
Gebrauch der Conjunction, indem lange Zeit über¬ 
und untergeordneter Satz ohne Verbindung nebenein¬ 
ander gestellt werden. 

Gruppe 9: Stern-Breslau : „Der gegenwär¬ 
tige Stand und die künftigen Aufgaben der 
Aussageforderun g‘\ 

Von der Bedeutung der Aussage für den Juristen 
und der geringen Beachtung, die diese der Psycho¬ 
logie der Aussage schenken, ausgehend, macht S. 
kurze Mittheilungen über einige Resultate seiner 
Untersuchungen: Im Verhör ist die Fehlerzahl die 
fünffache der Aussage. Das weibliche Geschlecht 
liefert bei der Aussage die grössere Quantität, das 
männliche die grössere Qualität Bei Confrontationen 
(bes. mit Kindern) muss das Moment der Suggestion 
und Autosuggestion weitgehende Berücksichtigung 
finden, so dass z. B. die häufig geübte Confrontation 
eines Einzelindividuums mit einem Kinde (sexuelle 
Delicte) nicht über Gebühr ins Gewicht fällt. 

Borst-Genf: „lieber die Art der Fehler¬ 
zählung in der Psychologie der Aussage“. 

B. legt ihren Untersuchungen an je 12 Männern 
und Weibern von 18—20 fahren eine „Normalaus¬ 
sage“ vergleichsweise zu Grunde. Diese Normalaus¬ 
sage ist etwas Complexes. Eine beliebige Aussage 
kann dann einem Theil dieses Complexes entsprechen, 
was an Beispielen erläutert wird. 


Gruppe 10: Sommer-Giessen: „Objective 
Psychopathologie“. 

Für psychopathologische Untersuchungen müssen 
die Principien des psychologischen Experimentes gelten, 
damit der subjective Eindruck des Beobachters elimi- 
nirt, durch objective Constatirungen ersetzt werden 
kann. Grundbedingung ist exakte Messung des Rei¬ 
zes, Feststellung der Reaction und ihres Verhältnisses 
zum Reiz. Für die Untersuchung der körperlichen 
Phänomene in ihrer Abhängigkeit von psychischen 
Einflüssen dienen die von S. construirten Apparate 
zur Festlegung motorischer Vorgänge, sowie vaso¬ 
motorischer und elektromotorischer Erscheinungen 
der Körperoberfläche. — Es werden Curven des 
Patellarreflexes und Tremors der Hände psycho- 
pathologisch bedingten Ablaufes demonstrirt und er¬ 
läutert. 

Die rein psychologischen Untersuchungen werden 
an der Hand von Fragebogen vorgenommen, für 
deren Durchbildung neben den für das psychophy¬ 
sische Experiment geltenden Principien die Einheit 
des Reizes, die Anwendbarkeit in jedem Falle maass¬ 
gebend war. Mit der Anwendung einheitlichen Reizes 
in bestimmten Intervallen ist die Möglichkeit gegeben, 
zu einem objectiven Urtheil auch über den zeitlichen 
Verlauf psychopathologischer Erscheinungen zu kom¬ 
men. So sind in der Giessener psychiatrischen Klinik 
schon seit geraumer Zeit gebräuchlich: Fragebögen 
über Orientirtheit und Sinnestäuschungen, Schulkennt¬ 
nisse und Rechen vermögen, sowie bestimmte Gruppen 
von Reizworten für Associationsversuche. 

Gruppe 11: Watt-Würzburg macht „Mi ttheil- 
ungen überReactionsversuche“ und demon¬ 
strirt Tabellen solcher. 

Die Ausstellung. 

Die grosse Zahl der in den oben aufgezählten 
vier Gruppen ausgestellten Objecte gestattet im Rah¬ 
men eines kurzen Referates nicht, detaillirt auf diese 
einzugehen. Es soll eine Uebersicht ohne Anspruch 
auf erschöpfende Vollständigkeit genügen, zumal eine 
ausführliche Beschreibung aus der Feder Professor 
Sommer’s ( 1 . c.) bereits erschienen. 

Gruppe 1 bietet zunächst eine Reihe von Appa¬ 
raten, die die Exposition optischer Complexe oder 
der Theile solcher bezwecken: Das Tachistoscop nach 
Erdmann und Dodge nutzt die Fähigkeit auch 
eines Theiles einer Linse, ganze Bilder zu entwerfen, 
für die simultane Exposition aus bei Verwendung 
einer einfachen Camera und einer von ihrer Linse 
elektromagnetisch auslösbaren Fallscheibe mit ent¬ 
sprechender Anordnung für Variirung der Expositions¬ 
zeiten. — Das Tachistoscop nach Schumann ge¬ 
stattet nach beliebiger, auf die Exposition folgender, 
Zeit die Zerstörung des positiven Nachbildes — Das 
Zimmermann’sche Spiegeltachistoscop nach Wirth 
dient vor allem zur Untersuchung der Aufmerksam - 
keitsvertheilung auf ein Feld tachistoscopisch ver¬ 
änderlichen Inhaltes. — Der Gedächtnissapparat nach 
Wirth (zwei verschiedene Anordnungen), der den 
exponirten Reiz für bestimmte Zeit völlig stillstehend 
erscheinen und plötzlich geräuschlos verschwinden 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


123 


lässt, ist auch für tachistoscopische Zwecke zu ver¬ 
wenden. — Rausch burg’s „Apparat zur Unter¬ 
suchung der Auffassung, Association und des Ge¬ 
dächtnisses“ exponirt optische Reize in zeitlich vari¬ 
abler Aufeinanderfolge und Dauer der Exposition. 

— Martins’ Lichtunterbrechungsapparat ermöglicht 
scharf begrenzte Lichtreize, deren Wirkung bei viel¬ 
facher Variirungsmöglichkeit exakt zu beobachten ist. 

— Speciell der psychophysiologischen Optik dienen: 
„Rotationsapparat nach Marbe zur beliebigen Ver¬ 
änderung und Ablesung des Sektorenverhältnisses 
zweier ineinander. geschobener Farbenscheiben wäh¬ 
rend der Rotation“, sowie desselben „Serie grauer 
auf photographischem Wege hergestellter Papiere mit 
untermerklichen Helligkeitsunterschieden.“ — „Apparat 
zur Diagnose und Demonstration der Farbenblind¬ 
heit“ nach Nagel lässt von dem zu Untersuchenden 
in einfacher Weise Gleichung zwischen Gelb und 
Roth herstellen und ermöglicht damit die leichte 
Unterscheidung des Deuteranopen vom Protanopen. 

— Die successive Lichtinduction demonstrirt ein sehr 
einfacher Apparat (zwei gelbe Coulissen auf blauem 
Hintergrund mit weissem Fixationspunkt verschieblich) 
aus der Werkstatt Oehmke’s. — Die Thierbrille 
du Bois Reymond’s, bestehend aus einer vor die 
Augen zu setzenden Spiegelvorrichtung, giebt durch 
die Möglichkeit, beide Gesichtsfelder für den Sehact 
zu trennen, Aufschlüsse über die subjective Projection. 
•— Tschermak stellte verschiedene hierher gehörige 
Apparate aus, von denen iin Anschluss an seinem 
Vortrag erwähnt sei das „Leuchtperimeter zur objec- 
tiven Untersuchung des binocularen Gesichtsraumes 
von Thieren“ und das „Nadelstereoscop zur Demon¬ 
stration der wichtigsten Thatsachen der binocularen 
Tiefenwahmehmung tC . — Zeiss stellte ein verbesser¬ 
tes Stereoscop mit Vorrichtung für stereoscopisches 
Messen nebst stereoscopischen Dispositionen aus. — 
Die Psychiatrische Klinik Giessen bot eine 
reichhaltige „Sammlung stereoscopischer Aufnahmen 
aus dem Gebiete der Geisteskrankheiten, geordnet 
nach der Eintheilung in der Diagnostik der Geistes¬ 
krankheiten von R. Sommer“. — Diese Aufnahmen 
wurden unter möglichster Vermeidung aller, wenn 
auch technisch oft erwünschten, Maassnahmen voll¬ 
zogen, die von Einfluss auf den eben gegebenen 
charakteristischen Zustand des Kranken hätten sein 
können. Sie zeigen die Vortheile der stereoscopischen 
Wiedergabe physiognömischer Verhältnisse vor der 
einfachen nichtstereoscopischen. 

Von den Apparaten aus der Psychophysiologie 
des Gehörsinnes seien hervorgehoben: Der „Hör¬ 
schärfeprüfer nach Zoth“, eine Fall Vorrichtung für 
verschieden grosse Stahlkügelchen, die durch genaue, 
willklihrliche Einstellung der Fallhöhe ein den Hör- 
schärfeprüfungen zu Grunde zu legendes objektives 
Maass gewährt. — Struycken-Breda’s bereits 
erwähnter Apparat zur „Bestimmung der Hörschärfe 
in Micromillimetern“. — Der Tonvariator von Stern 


verwendet wie der bereits erwähnte Apparat Som¬ 
mer’s zur „Umsetzung Pulses in Töne“ das 


Princip der contmuir/ich van 'abien Tonhöhe. Beim 
Tonvariator werden die angehlasener Flaschen 


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Gck gle 


zur Erzielung verschiedener Tonhöhen nach oben 
und unten, getrennt oder beliebig combinirt, ver¬ 
schoben. Die Aenderung der Höhe der schwingen¬ 
den Luftsäulen wird an Scalen in den entsprechenden 
Schwingungszahlen abgelesen. 

Der Untersuchung von Hautsinnesempfindungen 
dienen: der „Rotationsapparat für Complicationsver- 
suche nach Wundt“, der die subjective Zeitver¬ 
schiebung objectiv gleichzeitiger Reize in verschiedenen 
Sinnesgebieten auch für ein Auditorium zum Aus¬ 
druck bringt. — Spearman’s Aesthesiometer ist 
ähnlich dem Sieveking’schen, gestattet jedoch auch 
das Aufsetzen nur einer (Hartgummi-) Spitze auf die 
Haut. (Schluss folgt.) 

— Nordostdeutscher psychiatrischer Verein. 

Programm der XI. Sitzung am Montag, den 27. Juni 
1904, vorm. 11 Uhr im „Schützenhaus 4 * in Danzig. 
1. Geschäftliche Mittheilungen. 2. Geh. Rath Prof. 
Dr. Meschede in Königsberg: Ueber einen eigen¬ 
tümlichen cyklischen Verlauf einer Psychose in 
5 tägigen Perioden. 3. Dr. Wickel in Dziekanka: Zur 
Frage der stationären Paralyse. Mit Krankendemon¬ 
strationen. 4. Dr. Gluzewski in Konradstein: Ueber 
alimentäre Behandlung der Epileptiker. 5. Geh. Rath 
Dr. Kayser in Dziekanka: Die Entwicklung von 
Dziekanka in den ersten zehn Jahren. — Am Abend 
vor der Sitzung zwanglose Zusammenkunft bei gutem 
Wetter im Schützenhaus, bei schlechtem im Raths¬ 
keller. Nach der Sitzung gemeinsames Mittagessen 
mit Damen. Nachmittags nach Wunsch Ausflug 
nach Oliva oder Dampferfahrt. 

Die Geschäftsführer: 

Stoltenhoff -Kortau. Kayser -Dziekanka. 

— Berlin. Das Verwahrungshaus für ver¬ 
brecherische Geisteskranke, dessen Bau der 
Magistrat auf dem Gelände der dritten Irrenanstalt 
in Buch plant, hat im Stadtverordneten-Ausschüsse 
zu einer interessanten Debatte geführt. Den Bau des 
Verwahrungshauses habe doch unzweifelhaft die in 
einer städtischen Irrenanstalt vorgekommene Revolte 
veranlasst, denn in dem ursprünglichen Programme 
der dritten Anstalt sei ein solcher nicht vorgesehen. 
Wenn man der „Ansammlung wilder Männer“ Vor¬ 
beugen wolle, dann dürfe man ausser den für diese 
bestimmten Einzelzellen (es sind deren 18 vor¬ 
gesehen) nicht noch Lazaretträume in das Haus legen, 
denn das begünstige den Ausbruch von Revolten. 
Es empfehle sich die Einrichtung eines Central- 
Verwahrungshauses, wenn überhaupt die Stadt zur 
Unterbringung geisteskranker Verbrecher verpflich¬ 
tet sei. Der Magistratsvertreter bemerkte hierzu, 
dass die sogen, „festen Häuser“ bei den Anstalten in 
Dalldorf und Herzberge schon stark belegt seien und 
die Zahl der auf Grund richterlichen Urteils den 
Irrenanstalten überwiesenen Verbrecher ständig zu¬ 
nehme. Infolgedessen habe auch der Ober¬ 
präsident auf die Errichtung eines be¬ 
sonderen Verwahrungshauses „gedrungen“. 
Die Lazarettbehandlung Geisteskranker sei nach sach¬ 
verständigem Gutachten von grosser Wichtigkeit und 

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124 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 13. 


unentbehrlich. Das geplante Gebäude, dessen Kosten 
sich auf 270200 Mark belaufen werden, solle der 
dritten und vierten Irrenanstalt dienen. Als Land¬ 
armen-Verband sei die Stadt Berlin gesetzlich ver¬ 
pflichtet, für Verwahrung und Pflege der hilfs¬ 
bedürftigen Geisteskranken usw. zu sorgen. Der 
Magistrats-Antrag wurde darauf genehmigt. Es soll 
aber später noch die Frage zur Erörterung gelangen, 
ob für die noch in Untersuchung befindlichen Häft¬ 
linge die Verpftegungs- usw. Kosten, welche der 
Staat zu erstatten hat, nicht besser (anstatt nac h dem 
Tarife) nach den wirklichen Selbstkosten berechnet 
werden könnten. 


Referate. 

— Die Simulation von Geistesstörung 
und Epilepsie. Von Dr. Johannes Bresler. 
Carl Marhold, Halle a. S., 1904. 238 S. Preis 6 M. 

Verf. hat in dieser Monographie die erste um¬ 
fassende Bearbeitung der grossen deutschen und 
ausserdcutschen Literatur dieses so schwierigen Gebietes 
gegeben. Indem er den Inhalt aller in dieser Beziehung 
vorliegenden Schriften zum Theil in wörtlichen Aus¬ 
zügen historisch und nach zweckmässigen Gesichts¬ 
punkten geordnet aneinanderreiht und sie durch 
treffende kritische Bemerkungen verbindet, ist es ihm 
gelungen, dem Leser ein so klares Gesammtbild der 
beobachteten Erfahrungen und Ansichten zu bieten, 
wie es dieser vordem nur durch ein zeitraubendes 
und schwieriges Quellenstudium sich hätte aneignen 
können. Im ersten Theile sind zuerst die allgemeinen 
Ansichten der Autoren über Simulation von Geistes¬ 
störung und Epilepsie von Galen ab bis in die 
neueste Zeit wiedergegeben; hier ist eine sehr 
interessante Studie über die Fälle von Simulation im 
Alterthum bei Griechen und Römern unter philologischer 
Mitarbeit von Dr. Sniehotta - Breslau eingefügt. So¬ 
dann wird die Entlarvung der Simulation und die 
Frage des Ueberganges von Simulation in wirkliche 
Geistesstörung behandelt. In dem Kapitel über die 
Häufigkeit der Simulation ergiebt es sich, dass reine 
Simulation recht selten beobachtet wird; in einer 
umfangreichen Tabelle sind die diesbezüglichen, statis¬ 
tischen Ergebnisse sehr übersichtlich geordnet. An den 
allgemeinen Theil schliesst Verf. eine sehr reichhaltige 
Zusammenstellung beschriebener Fälle, die in zwei 
Gruppen getheilt werden: Simulation seitens geistig 
Gesunder und Simulation auf pathologischer Grund¬ 
lage mit den zweifelhaften Fällen. Den Schluss bildet 
das umfangreiche, 15 Seiten umfassende Literatur- 
verzeichniss. Bei der ausserordentlichen Fülle des 
Gebotenen ist es unmöglich, eine detaillirtere Inhalts¬ 
angabe zu machen. Medicinischen Gutachtern, wie 
nicht-medicinischen Criminalisten, die sich mit dem 
vorliegenden Gebiete beschäftigen, dürfte diese Mono¬ 
graphie künftighin ein unentbehrliches Hülfsmittel 
bilden. Dr. Fritz Hoppe, Tapiau. 


— A schaf f en bürg, Prof. Dr. G., Das Ver¬ 
brechen und seine Bekämpfung. Heidelberg, 
1903. Carl Winters Universitätsbuchhandlung. 

Der Verf. hat auf 250 Seiten eine fast erschöpfende 
Zusammenfassung der bisher ermittelten Thatsachcn 
der Criminal - Biologie und -Statistik gegeben, und 
leitet daraus mit grossem kritischen Scharfsinn die 
Principicn einer Erfolg versprechenden Criminalpolitik 
ab. Demgemäss sind aus praktischen Gründen die 
socialen Ursachen (wärthschaftliche Lage, Erziehung, 
Alkoholirnus) mit besonderem, fast zu grossem Nach¬ 
druck betont, während die individuellen, endogenen 
und ererbten Ursachen (Rasse, „der geborene Ver¬ 
brecher“ etc.) weil vorbeugenden und bekämpfenden 
Maassnahmen weniger zugänglich, nur in sehr vor¬ 
sichtiger und skeptischer Darstellung gebracht sind. 
Vielleicht wird in einer Zukunft, w’o weitere Kreise 
rassenhygienischen Gesichtspunkten zugänglich gemacht 
sind, — wovon jetzt noch nichts zu spüren ist, — 
weniger Zaghaftigkeit nöthig sein. 

Um auf die Reichhaltigkeit des in dem Buche 
bewältigten Stoffes hinzuweisen.* brauchen wir nur 
einige Kapitel zu nennen: 

Verbrechen und Jahreszeit ( Häufung von Selbst¬ 
mord und Sittlichkeitsdelikten im Beginn des Summers 
=- rudimentäre Brunst ?); Rasse und Religion; Stadt und 
Land; Beruf; Volkssitten und Alkohol (Maxima der 
Gcwaltthätigkeitsverbrechen jeder Art in den Orten 
höchsten Alkoholkonsums, der weintrinkenden Pfalz, 
dem biertrinkenden Oberbayern, dem schnapstrinken¬ 
den Bromberg); Prostitution; die Altersstufen; Ge¬ 
schlecht; die körperlichen und geistigen Eigenschaften 
des Verbrechers; Geistesstörungen bei Criminellen, Ein- 
theilung der Verbrecher. 

Wir wünschen dem Buche die weiteste Verbreitung, 
damit Juristen und auch Mediciner in höherem Maasse 
als früher für das grosse Ziel einer vernünftigeren 
Ausgestaltung des Strafgesetzes und des Strafvollzuges 
(Abschaffung des Strafmaasses) interessirt werden. 

Bolte- Bremen. 

— Karrer: Beitrag zur Frage „der geisti¬ 
gen Gemeinschaft.“ Vereinsblatt der pfälzischen 
Acrzte 1904, No. 2 und 3. 

Verfasser liefert einen Beitrag zum Wesen eines 
der manchen im Bürgerlichen Gesetzbuche niederge¬ 
legten KautschuckbegriHe, in deren Deutung Psychiater 
sowohl wie Juristen zwanglos zu den w idersprechendsten 
Ergebnissen gelangen können. Mit Recht verlangt 
er, dass die geistige Gemeinschaft auch eine Belhätig- 
ung erfordert. Und die Voraussetzung dieser Be- 
thätigung ist das lebendige Bewusstsein der gemein¬ 
samen Familieninteressen und der gemeinsame Wille, 
dem Wolde des anderen Gatten und der Kinder 
nach Kräften zu dienen und die gemeinsamen Inter¬ 
essen zu fördern. Diese Voraussetzung erfordert 
nicht einen Zustand geistigen Todes, wie er nur in 
der hochgradigen Verblödung gegeben ist. 


JKür den reductionellrn Theil verantwortlich : Oberarzt Dr. J . JircOer, I.ublinitz (Srh.esien). 

Erscheint jeden Sonnabend — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Hevnemann’sche Buchdruckerei (Gebr. v 'olff) in Hallo a S 


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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift. 

Redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Luhlmitz (Schlesien C 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse : Marhold Verlag. Hallesaaie. Fernsprecher 2834. 

Nr. 14. _ 2 Juli-_ _ 1904. 

Bestellungen nehmen jede Bu> hhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 

Inserate werden für die jspaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten. 


Ueber die Unabkömmlichkeit des männlichen Pflegepersonals in den 
Kreisirrenanstalten im Mobilmachungsfalle. 

Vortrag gehalten gel. der Versammlung des Vereins bayer. Psychiater zu Ansbach am 24. V. 04. 
Von Dr. med. Dees, kgl. Direktor der Kreisirrenanstalt zu Gabersee bei Wasserburg. 


M. H.! 

r^\er Verein bayerischer Psychiater hat gelegentlich 
seiner vorjährigen Versammlung zu München 
vi rschiedene Beschlüsse gefasst, die sich auf die 
Unabkömmlichkeit des männlichen Pflegepersonals der 
Kreisirrenanstalten, resp. Heil- und Pflegeanstalten, 
im Mobilmachungsfalle beziehen und mich beauftragt, 


Tabelle I. 


Bezeichnung 

der Anstalt 

Zahl der 
aufge¬ 
nommenen 

sicherheits- 

gefährl. 

Männer 

Gesammtzahl 

der am 

31. XII. 03 

vorhandenen 

eingewiesenen 

sicherheitsge- 

Zahl der 
aufge¬ 
nommenen 

Militär¬ 

personen 


1902 

1903 

fährl. Männer 

1902} 1903 

München .... 

()G 

64 

ICK) 

— 

1 

Gabersee .... 

4Ö 


1 1 5 

3 

4 

Deggendorf . . . 

23 

4 * 

I 13 

2 

1 

Klingeninünster . . 

S 

13 

28 

_ 

— 

Karthaus - Priihl . . 

28 

17 

90 

/ 

2 

Bayreuth .... 

47 

4 1 

117 

2 

2 

Erlangen .... 

21 

13 

48 

— 

1 

Ansbach. 

33 

()(> 

5 ° 

— 

— 

Wemeck. 

24 

32 

93 

1 

— 

Kaufbeuren-Irsec . 

23 

28 

<J4 

2 

1 


die bezüglichen Erhebungen zu pflegen, um auf Grund 
des gewonnenen statistischen Materials gelegentlich 
der heurigen Versammlung weiter in dieser Ange¬ 
legenheit zu berathen und zu beschließen, was er- 
strebenswerth erscheint. 

Anfangs Dezember v. J. richtete ich die einschlä¬ 
gigen Anfragen an die Anstalten und erhielt von 
allen auch die gewünschte Auskunft. Es wurden 
sonach für alle bayerischen Kreisirrenanstalten (Heil- 
untl Pflegeanstalten) fes tgestcj^ . 


1. Die Zahl der in den Jahren 1902 und 1903 durch 
die Distriktspolizeibehörden auf Grund des § 80, 
Abs. II, P. Str. G. B. eingewiesenen sicherheits¬ 
gefährlichen geisteskranken Männer. 

2. Die Gesammtzahl der am 31. Dez. 1903 in den 
Anstalten befindlichen, auf Grund des § 80, Abs. II, 
P. St. G. B. eingewiesenen sicherheitsgefährlichen 
geisteskranken Männer. 

3. Die Zahl der in den Jahren 1902 und 1903 in 
den Anstalten aufgenommenen aktiven Militärper¬ 
sonen. 

Tabelle II. 


Bezeichnung 

der Anstalt 

Ge¬ 

sammt¬ 

zahl 

der 

Pfleger 

Zahl 

der 

militär¬ 

freien 

Pfle¬ 

ger 

Als 

unab¬ 

kömm¬ 

lich 

aner¬ 

kannt 

Stel- 
lungs- 
pflich- 
tig bis 
zum 5. 
Mobil¬ 
mac h- 

ungs- 

tag 

Stel- 

lungs- 

pflich- 

tige 

der Er¬ 
satzre¬ 
serve u. 

Land¬ 
wehr II 

München .... 

61 

I 2 

3 

45 

I 

Gabersee .... 

41 

7 

3 

29 

2 

Deggendorf . . . 

38 

13 

— 

25 

— 

Klingeninünster . . 

59 

18 

— 

32 


Karthaus-Prüll . . 

36 

13 


20 

3 

Bayreuth .... 

55 

1 


46 

8 

Erlangen .... 

62 

2 

— 

51 

9 

Ansbach. 

34 

— 

— 

26 

8 

Werneck. 

53 

13 

— 

30 

10 

Kaufbeuren - Irsec . 

44 

12 

— 

28 

4 


Die gewonnenen Zahlen sind in der Tabelle I 
zusammenges teilt. 

In der II. Tabelle ist angegeben das Militärver- 
hältniss der Pfleger säinmtlichcr Kreisirrenanstalten 


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126 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 14. 


(Heil- und Pflegeanstalten) nach dem Stande vom 
1. Januar 1904. 

Es war ursprünglich beabsichtigt, auch das Ver¬ 
hältnis nach dem Stand vom 1. Jan. 1903 festzu- 
stellen, es ist dies aber wegen des grossen Personal¬ 
wechsels nicht in allen Anstalten gelungen, weshalb 
dieser Nachweis entfiel. Soweit sich das Ergebniss 
von 1993 übersehen lässt, war cs von demjenigen 
vom 1. I. 04 nicht erheblich verschieden. 

Das wichtigste Resultat dieser Zusammenstellung 
ist, dass am 1. Jan. d. J. in der Kreisirrenanstalt 
(Heil- und Pflcgeanstalt) zu 

München von 61 präsenten Pflegern 45 = 74 °/o 

Gabersee „ 41 „ „ 29 = 71 °/o 

Deggendorf „ 38 » >» 23 = 66% 

Klingenmünster „ 58 „ „ 32 = 35% 

Karthaus - Prüll „ 36 ,, „ 20 = 55% 

Bayreuth „ 55 „ „ 46 = 84% 

Erlangen „ 62 „ „ 51=82% 

Ansbach „ 34 „ „ 26-- 76% 

Wern eck „ 53 » » 3^ = 57% 

Kaufbeuren-Irsee „ 44 „ „ 28 = 64% 

für den 5. Mobilmachungstag stellungspflichtig ge¬ 
wesen wären. 

Natürlich verschieben sich diese Zahlen im Laufe 
der Monate, da etwas vorwärts, dort etwas rückwärts, 
im Allgemeinen darf man aber sagen, dass sie jahraus 
jahrein, wenn nicht besondere Massnahmen getroffen 
werden, ungefähr die gleichen bleiben. Die Gründe, 
warum dies so ist, und sein muss, habe ich in meinem 
vorjährigen Referate auseinandergesetzt. 

Die Zahlen sprechen selbst, und ich glaube, wir 
haben allen Grund, Abhilfe zu versuchen. In einigen 
Anstalten sind ja die Verhältnisse zur Noth haltbar, 
Schwierigkeiten würden jedoch auch diesen im Falle 
einer Mobilmachung entstehen, für die Mehrzahl der 
Anstalten aber würde eine Mobilmachung, wie ich schon 
im vorigen Jahr sagte, eine Katastrophe bedeuten. 

Meine Ausführungen vom vorigen Jahre haben 
übrigens auch anderwärts Widerhall gefunden, z. B. 
giebt Alt meinem in der „Irrenpflege“, VII. Jahrgang, 
S. 126, abgedruckten Referate folgende Geleitsworte 
bei: 

„Direktor Dees-Gabersec hat in diesem, auf der 
letzten Versammlung der bayerischen Psychiater in Mün¬ 
chen erstatteten Vortrag eine Frage angeschnitten, welche 
nicht nur für Gabersee und Bayern, sondern für alle 
Anstalten in Deutschland von weittragender Bedeutung 
ist. Da die Anstalten durchweg nur gesunde, von 
Gebrechen freie, unbescholtene junge Männer als Ililfs- 
pfleger einstellen, überwiegen naturgemäss im Pflegcr- 

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stand die gedienten Leute. Manche Anstalten, z. B. 
auch die von mir geleitete, bevorzugen die gedienten und 
darum besser disziplinierten Leute bei der Annahme, 
ja ergänzen ihr Pflegepersonal fast ausschliesslich aus 
den bestempfohlenen Reservisten. Anlässlich der Kon- 
trollversammlungen kann man so recht deutlich sehen, 
ein wie grosser Bruchtheil des Pflegepersonals der Re¬ 
serve und Landwehr angehört und welche Betriebs¬ 
störung durch deren Beurlaubung entsteht. Dass im 
Mobilmachungsfall durch deren plötzliche Einziehung 
den Anstalten grösste Verlegenheit erwächst, ist ausser 
Frage. Und es erscheint in der That nötliig, bei Zeiten 
darauf Bedacht zu nehmen, wie den daraus entspringen¬ 
den Schwierigkeiten vorzubeugen ist. Diese Schwierig¬ 
keiten sind um so grössere, als auch ein gut Theil der 
Anstaltsärzte im Mobilmachungsfall als Sanitätsoffiziere 
zur Truppe einberufen und so dem Anstaltsdienst 
entzogen weiden. 

Der Rathschlag des bayerischen Staatsministcriums 
des Innern, durch thunliehste Verminderung der Zahl der 
militärpflichtigen Pfleger vorzubeugen, bedeutet eine 
Gefährdung der Anstaltsinteressen und ist deshalb nicht 
durchführbar und zulässig. Soll etwa ein nach körper¬ 
licher und seelischer Beanlagung, Herkunft und Vor¬ 
bildung geeigneter Mann deshalb nicht zum Pfleger 
für Kranksinnige angenommen werden, weil er gedient 
und im Falle eines Feldzuges Einberufung zu gewärtigen 
hat? Oder sollen nur solche gediente Leute berück¬ 
sichtigt werden, die schon zum Landsturm überwiesen 
sind? Das würde doch gewiss eine Verschlechterung 
dieser wichtigen Mitarbeiter in der Behandlung der 
schwierigsten aller Kranken bedeuten, eine Verschlechte¬ 
rung jener ganzen Berufsklasse, welche gerade in den 
letzten Jahren erst zu einem wirklichen Stande sich 
heraufgearbeitet hat. Was nützen aber die schönsten 
und modernsten Anstalten, wenn das Pflegepersonal 
statt besser, wieder minderwerthiger wird ? Es ist gewiss 
nicht in Abrede zu stellen, dass auch unter den Nicht¬ 
gedienten sich Persönlichkeiten finden, die zur Pflege 
der Kranksinnigen ausgezeichnet sind, aber im Grossen 
und Ganzen stellen die Gedienten ein brauchbareres 
Rekrutierungsmaterial, auf das wir im Interesse unserer 
Kranken nicht verzichten können. Diese Forderung 
ist durchaus berechtigt. Es wird nöthig sein, dass die 
Leiter der öffentlichen Anstalten der aufgeworfenen 
Frage ihre vollste Beachtung schenken, bei ihrer Vor¬ 
gesetzten Behörde bei Zeiten unter gehöriger Begrün¬ 
dung entsprechende Anträge stellen, welche sicher an 
zuständiger Stelle naclulrücklichst für die Unabkömm¬ 
lichkeit einer angemessenen Zahl von Pflegern eintreten 
wird.“ 

Aus dieser temperamentvollen Parteinahme Alt’s 

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127 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


1904.] 


geht übrigens hervor, dass es anderwärts in dieser 
Sache auch nicht besser bestellt ist, als bei uns in 
Bayern, was uns allerdings mehr als Trost, denn als 
Beispiel dienen kann. 

Meine'Herrn! Ich bin nicht so optimistisch* dass 
ich glaube, wir werden Alles erreichen, was wir als 
billig wünschen können, aber einige Vortheile, hoffe ich, 
werden wir doch gewinnen. 

Wie Tabelle I. zeigt, sind schon in Friedenszeiten 
die Zugänge von geisteskranken Soldaten in den Irren¬ 
anstalten nicht unerheblich. Um wie viel mehr werden 
die Irrenanstalten von den Militärbehörden während 
eines Krieges, der meines Erachtens das höchst dis¬ 
ponierende Moment für psychische Störung bietet, in 
Anspruch genommen werden. Ich betone, gerade 
während eines Krieges müssen die öffentlichen Irren¬ 
anstalten auf ihrer höchsten Leistungsfähigkeit erhalten 
werden, denn sicherlich werden sie gerade durch das 
Militär sehr fühlbar zu Gunsten der Militärlazarette 
belastet werden. Deshalb fürchte ich auch nicht, 
dass die zuständigen Militärbehörden sich den Gründen 


verschliessen, welche die Leiter der öffentlichen Irren¬ 
anstalten den massgebenden Behörden vorzutragen 
für ihre Pflicht halten. 

Mit Rücksicht auf das Vorgetragene, stelle ich 
nun folgenden Antrag: 

Der Verein bayerischer Psychiater bescliliesst: 
den Vereinsvorstand zu ersuchen, beim k. Staats¬ 
ministerium d. I. neuerlich mit der Bitte vor¬ 
stellig zu werden, dass die Unabkömmlichkeit 
des männlichen Pflegepersonals der öffentlichen 
Irrenanstalten generell durch die Wehrordnung 
geregelt werde und zwar in der Weise, dass die¬ 
jenigen Pfleger, welche der Ersatzreserve oder der 
Landwehr I. und II. Aufgebots angehören, im 
Mobilmachungsfalle als unabkömmlich anerkannt 
werden. 

Bei Formulierung dieses Antrages stehe ich auf 
dem Standpunkt, dass wir uns bei Erreichung dieses 
Zieles einigermassen werden einrichten können. Auf 
die Befreiung der Reservisten müssen wir wohl aus 
patriotischen Gründen verzichten. 


Die Familienpflege Geisteskranker in Gardelegen. 

(Besuch im November 1903.) 

Von Dr. C. Wickel , III. Arzt an der Provinzial-Irren-Anstalt Dziekanka bei Gnesen. 
(Schluss; vergl. hierzu die lithogr. Beilage zu Nr. 13.) 


Mehr in der Mitte der Stadt, in der Nähe des 
Kirchplatzes, hat eine frühere, allein stehende Sclnil- 
aufseherin eine grössere, sehr gute, behaglich einge¬ 
richtete Wohnung. Bei ihr sind 2 Damen, auch 
ältere Fälle chronischer Paranoia, in Pflege. Die 
Pflegerin widmet sich völlig ihren beiden Kranken. 
Sie kocht für sie, besorgt ihre Zimmer, geht mit 
ihnen spaziren. 

In einer Kaufmannsfamilie war eine junge, imbe- 
cille Dame untergebracht. Sie hatte 2 vorzüglich 
ausgestattete, geräumige Zimmer. — Sie schien 
ganz zufrieden und berichtete, dass sie Abends mit 
ihrer Pflegerfamilie in den Circus gehen werde. Wie 
der Arzt mir mittheilte, war es mit der Kranken zu 
Hause gar nicht gegangen, in der Anstalt war sie 
sehr schwierig, in der Familienpflege ging es bisher 
sehr gut. 

Nie wurde beobachtet, dass Kranke von Ein¬ 
wohnern belästigt, verspottet oder geängstigt wurden. 
Irgend welche bemerkenswerthen unangenehmen Er¬ 
eignisse sind in der Gardelegener Familienpflegc bis¬ 
lang iibeihaupt nicht vorgekommen. 

Die Angehörigen der Kranken der III. Vcr- 
pflegungsklasse müssen sich ^ci c j e r Aufnahme ihrer 


Kranken in die Anstalt Uchtspringe von vorneherein 
mit Ueberführung derselben in Familienpflege ein¬ 
verstanden erklären, falls nach Lage des Falls eine 
solche angebracht erscheinen sollte. 

Bei den Kranken der I. und der II. Verpfleg- 
ungsklassc wird erst bei den Angehörigen in jedem 
einzelnen Fall angefragt, ob sie mit einer Ucberführ- 
1111g in Familienpflege einverstanden sind. 

Seitdem ein besonderer Arzt für die Familien¬ 
pflege am Orte ist, wurde die Genehmigung stets 
gern ertheilt. Auch vereinzelte Angehörige der 
Kranken der III. Verpflegungsklasse, welche zunächst 
Bedenken bei Ueberführung ihrer Kranken in Fami¬ 
lienpflegc gehabt hatten, waren, nachdem ihnen be¬ 
kannt geworden, dass ein eigener Arzt zugegen sei, 
vollkommen mit der Versetzung einverstanden und 
äusserten sich bei ihren Besuchen ganz zufrieden. 

Es sei mir im Anschluss hieran noch eine kurze 
Bemerkung erlaubt über einige Punkte, welche in 
der Familienpflege die Anwesenheit eines, lediglich 
der Familienpflege sich widmenden Arztes an Ort 
und Stelle besonders werthvoll erscheinen lassen. 
Neben dem Kranken lernt der Arzt durch den 
innigen, fast täglichen Verkehr auch die Pfleger- 


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128 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 14. 


familie eingehender kennen und ist so eher in der 
Lage, besondere Eigenschaften derselben für die Fami¬ 
lienpflege nutzbar zu machen. Er vermag ihnen, je 
nach der in bestimmten Fällen bewiesenen Umsicht 
und Geschicklichkeit, bestimmte Kranke zuzuweisen, 
er kann bei der Vertheilung der Kranken mehr indi- 
vidualisiren. Vor allem aber ruft das stete Interesse 
des besuchenden Arztes auch erhöhtes Interesse bei 
den Pflegerfamilien hervor. Durch Bevorzugung be¬ 
sonders tüchtiger Pfleger, durch Hinweise, wie es bei 
anderen Pflegern geht, durch eventuelle Verlegung 
eines schwerer zu hehandelnden Kranken zu einem 
tüchtigeren Pfleger und Zutheilung eines leichter zu 
behandelnden Pfleglings, durch Inaussichtstellung 
dieser Maassregel wird der Ehrgeiz wachgerufen. 
Ohne Zweifel ist eine solche Rivalität, ein gewisser 
Wetteifer, das Beste zu leisten, bei den Pfleger¬ 
familien Gardelegens bereits vorhanden und kann 
im Interesse der Kranken nur erwünscht sein. Sehr 
bezeichnend nach dieser Richtung hin ist gerade 
auch die bereits angeführte Aeusserung jener Frau, 
dass sie sich vor „den Anderen“ schämen müsse. 

Wie viel von der geschickten Thätigkeit des 
Arztes für Einführung der Familienpflege und für 
ihre gedeihliche Entwickelung überhaupt abhängt, 
darauf hat Alt in zutreffendster Weise schon 1899 
aufmerksam gemacht ( 1 . c. II. p. 63). 

Dass die Auswahl der in Familienpflege zu gebenden 
Kranken nach jeder Richtung hin auf das Sorgfältigste 
statt hat, bedarf hier kaum der besonderen Erwähnung. 

Was die Art der Psychosen der in Gardelegen 
untergebrachten Familienpfleglinge anlangt, so sind 
in erster Linie angeborene und erworbene Schwach¬ 
sinnszustände, sowie ruhige alte Verrückte vertreten, 
Krankheitsformen, welche sich auch sonst als vor¬ 
wiegend geeignet für Familienpflege erwiesen haben. 

Im Speciellen setzt sich das Gardelegener Kranken¬ 
material folgendermaassen zusammen: *) 



Erwachsene: 
Männl.l Weibl. 
Geschl.|Geschl. 

Kinder: 

Männl.lWeibl. 

Geschl.|Gesckl. 

Paranoia.\ . 

Imbecillität, leichtere For- 

2 

27 

1 

men von Idiotie . . . 

.1 

51 

2 20 

Epilepsie. 

I 

3 

_ j _ 

Periodische Seelenstörung 

— 

1 

I — 

Summa: 

0 | 

82 

3 20 


*) Die Zahl der Familienpfle^linge in Gardelegcn und Um¬ 
gegend ist inzwischen von 119 auf 142 gestiegen. Da über¬ 
dies in dem Pflegerdörfchen bei Uchtspringe und in den Nach¬ 
barorten 62 Kranke, ferner in Jerichow und Umgebung 146 in 
Familien untergebracht sind, so beträgt zur Zeit die Zahl der 
Familienpflege der Provinz Sachsen bereits 350. 

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Beabsichtigt ist, im Laufe der Zeit eine kleine 
Centrale in Gardelegcn zu errichten zur Aufnahme 
vorübergehend erregter oder körperlich schwerer er¬ 
krankter Pfleglinge. 

In der Centrale würden auch Untersuchungs- und 
Verbandzimmer, Badeeinrichtungen, Wohnung für einen 
Oberpfleger vorgesehen sein. 

Es läge dann, ähnlich wie in Jerichow, Familien¬ 
pflege um eine kleine Centrale vor, das von A 1 1 an¬ 
gegebene, von ihm als das deutsche bezeichnete 
System familiärer Irrenpflege. 

Ein hocherfreuliches Bild ist es, welches der Be¬ 
such der Familicnpflege in Gardelegen bietet: rührige 
Thätigkeit, erfolgreicher Fortschritt. 

Es liegt hier ein erfolggekrönter, praktischer Ver¬ 
such in grossem Maassstabe mit Familienpflege vor, 
wohlgeeignet Vorbild zu sein und als Vorbild zu 
dienen. Möge er dazu beitragen, das für Familien¬ 
pflege Geisteskranker in Deutschland gerade jetzt 
immer mehr zunehmende Interesse weiterhin anzu¬ 
regen, weiterhin den Boden zu ebnen für das freieste 
und natürlichste aller Verpflegungsformen der Krank¬ 
sinnigen. 

Von Interesse dürften noch die Mittheilungen 
sein, welche mir Herr Direktor Dr. Alt bezüglich 
der Kosten der Gardelegener Familienpflege zu¬ 
kommen liess: „Die Kosten für die Bekleidung ein¬ 
schliesslich Sch uh werk und einschl. des Ersatzes der 
im Laufe eines Jahres abgängig gewordenen Stücke 
betragen für die Familicnpflege in Gardelegen 7,1 Pf. 
pro Kopf und Tag, die für Schuhreparaturen im 
letzten Jahre aufgewendeten Kosten betragen 0,3 Pf. 
Das Einkommen des in Gardelegen stationirten Arztes 
und der Oberpflegerin auf die Familienpfleglinge ver¬ 
theilt, ergiebt z. Z. pro Kopf und Tag 10,6 bezw. 
4,4 Pf. Diese letzteren Kosten werden sich aber 
mit jeder weiteren Vermehrung und Ausdehnung der 
Familienpflege wesentlich vermindern. Die für Me¬ 
diän bisher aufgewendeten Kosten sind nur minimal 
und betragen etwa 0,25 Pf. Tabak wird an die 
Familicnpfleglinge in Gardelegen von der Anstalt 
nicht gegeben, vielmehr eihalten die Pfleglinge von 
ihren Pflegeeltern Tabak und Cigarren als Aufmun¬ 
terung und Anerkennung für geleistete Arbeit. 

Die Gesammtkosten für einen Pflegling betragen 
demnach pro Tag bei einem gewährten Pflegegeld 
von 80 Pf. z. Z. 102,65 Pf- Sie sind also um 
17,35 Pf. niedriger als der Anstalt für einen Er¬ 
wachsenen gewährt werden — für einen Kranken 
III. Klasse wird der Anstalt pro Tag 1 M. 20 Pfg. 
bezahlt — und wesentlich billiger, als ein Patient in 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


I 2 Q 


1004.] 


der Anstalt kostet. Nach dem letzten Jahresab¬ 
schluss betragen die Gesammtkosten für einen Kran¬ 
ken der III. Klasse in der Anstalt 172,19 Pf. pro 
Tag. 

Es bietet für die Verwaltung namentlich die Fa¬ 
milienpflege der Kranken besserer Stände gegenüber 
der Anstaltspflege unverkennbare Vortheile, da gegen¬ 
wärtig bereits für die in Gardelegen untergebrachten 
Pensionäre: 3 I.Massige Damen und 5 II.klassige 
Damen, täglich 7,75 M. weniger ausgezahlt als ein¬ 
genommen wird.“ 

Aus diesen Ausführungen erhellen ohne Weiteres 
die bei der Beurtheilung der familiären Irrenpflege 
nicht an letzter Stelle zu erwägenden erheblichen 
pecuniären Vortheile, welche diese Verpflegungsform 
neben ihren zahlreichen anderen Vorzügen noch mit 
sich bringt. — 

Herrn Direktor Dr. K. Alt erlaube ich mir an 
dieser Stelle nochmals meinen ehrerbietigsten Dank 
auszusprechen für die mir bewiesene Güte und Liebens¬ 
würdigkeit, für die freundliche Ueberlassung der Kurve 
und des Planes der Stadt Gardelegen. 

Herrn Dr. Stamm danke ich für die liebens¬ 
würdige Aufnahme und eingehende Führung. 

Anhang. 

Fragebogen. 

1. Vor- und Zuname des Pflegers? Wohnung? 
Alter? Confession? Verheirathet, verwittwet? (ev. 
Alter der Frau, der Wirthschafterin). — 2. Gesammt- 
zahl der Mitglieder des Haushaltes ? a) Kinder ? 
(Zahl, Alter, Geschlecht, Beschäftigung), b) Kost¬ 
gänger, Gesinde? — 3. Beschäftigung, Gewerbe der 
Pfleger? Ist ständig ein Mitglied der Familie im 
Hause ? — 4. Lebt die Familie in geordneten, guten 


M i t t h e i 

— Bericht über die 2. Jahresversammlung des 
Vereins bayerischer Irrenärzte am 24. Mai 1904 zu 
Ansbach. iRef. Alzheimerund Probst-München.) 
Zahl der Theilnehmer: 42. 

Dees- Gabersee: U e b e r die Unabkömm¬ 
lichkeit des männlichen Plegepersonals 
der Kreisirrenanstalten im Mobilmachungs- 
falle. Als Originalartikel in dieser Nr. veröffentlicht. 

Der Antrag von Dees wurde angenommen, jedoch 
wurde in der Diskussion, an welcher sich die Herren 
Vocke-Münc hen, He rfeldt-Ansbach, Eckhard- 
Klingenmünster, Lin k -Deggend orf betei¬ 
ligten, betont, dass auf Erfolg kaum zu rechnen sei. 
Die Anstalten müssten selbst helfen, indem sic 


Verhältnissen? Werden die Nahrungsmittel aus der 
eigenen Wirtschaft genommen ? — 5. Welchen hun¬ 
druck macht die Familie ? — 6. Wie steht es mit 
Ordnung, Reinlichkeit (Wohnung, Kleidung)? — 7. 
Besteht Verdacht auf Trunksucht, Tuberkulose? Sind 
Geisteskrankheiten in der Familie vorgekommen ? — 
8. Weshalb will die Familie Kranke in Pflege nehmen? 
Wie viel und welchen Geschlechtes? Etwaige be¬ 
sondere Wünsche? — 9. Wie und wo liegt das 
Grundstück ? (eingeschlossen von anderen Grund¬ 
stücken, Wohnungen in welcher Strasse). — 10. Was 
gehört zum Grundstück ? (Nebengebäude, Stallungen, 
Ackerland). — n. Wo liegt der Acker, der Garten? 

— 12. Wird Vieh gehalten? (Pferde, Ziegen, Schweine, 
Federvieh?). — 13. Wasserversorgung? Wo liegt der 
Brunnen? (Dunggrube). Wie ist, schmeckt das Wasser? 

— 14. Abort? — 15. Haus? (Backsteinbau, Fach¬ 
werk, Keller, Dach, baulicher Zustand). — 16. Wohn¬ 
ung der Pflegerfamilie ? Grundriss, Zahl der Zimmer, 
Küche etc. — 17. Wo hält sich die Familie am 
Tage auf? Wohnzimmer, Esszimmer (Grösse, Luft, 
Licht, Heizung, Himmelsrichtung, Fussboden, Ein¬ 
richtung). Stehen Betten im Wohnzimmer? — 18. 
Schlafkammer der Kranken ? a) Luftinhalt (Grund¬ 
fläche und Höhe)? b) Zahl der Fenster, Fenster¬ 
fläche, Helligkeit, Himmelsrichtung? Fenster sehen 
nach der Strasse, Hof, Fensterladen ? c) Thiiren 
gehen wohin? d) Wände? (Anstrich, Tapete, Trocken¬ 
heit). e) Möbel? f) Fussboden (gestrichen, unter¬ 
kellert)? g) Decke? h) Heizung? i) Bett? — 19. 
a) Sonstige Wohnungen im Hause ? b) Deren Be¬ 
wohner, Gewerbe, Kinderzahl, Geschlecht, Alter, Ge¬ 
sinde, Kostgänger, sonstige Hausgenossen, moralische 
Eigenschaften? — 20. Etwaige Auskunft eines Ver¬ 
trauensmannes: a) Allgemeiner Leumund (Charakter, 
Ruf, Kindererziehung)? b) Wirtschaftliche Lage?. 


1 u n g e n. 

für Stabilisirung des Personals sorgen durch Gewäh¬ 
rung höherer Löhne und Heirathserlaubniss; nur so sei 
eine Katastrophe zu vermeiden. — 

Krae pel in - München: Psychiatrisches aus 
Java. 

Den Ausgangspunkt für die Untersuchungen, die der 
Vortragende in Java anstellte, bildete die Frage nach 
der Verbreitung der Dementia praecox, von deren 
Beantwortung er gewisse Aufschlüsse über die Ur¬ 
sachen jener Krankheit erhoffte, insbesondere darüber, 
ob sie als Begleiterscheinung unserer Gesittung an¬ 
zusehen sei. Zu diesem Zwecke wurden in der vor¬ 
züglich geleiteten und eingerichteten Anstalt Buiten- 
zorg, Director Hofmann, je 100 geisteskranke Euro- 


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130 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 14. 


päer und Eingeborene, endlich noch 25 Chinesen, 
möglichst genau klinisch untersucht. Die mannig¬ 
fachen Schwierigkeiten dieser Untersuchung konnten 
durch die überaus liebenswürdige Unterstützung der 
dortigen Acrzte soweit überwunden werden, dass 
einigermaassen vergleichbare Ergebnisse erzielt wurden. 
Dabei stellte sich zunächst heraus, dass die Fälle 
von Dementia praecox unter den Eingeborenen einen 
noch etwas höheren Procentsatz lieferten, als unter 
den Europäern. Fälle mit ausgeprägten katatonischen 
Störungen waren jedoch dort entschieden etwas sel¬ 
tener. Von Paralyse und Hirnlues fanden sich unter 
den Europäern i) Fälle, davon 2 allerdings nicht 
ganz sicher, während sich unter den Eingeborenen 
kein einziger Fall nachweiscn liess, auch nicht bei 
der übrigen, 307 Köpfe starken, eingeborenen An¬ 
staltsbevölkerung. Aus der Thatsache, dass Lucs bei 
den Eingeborenen etwa 3 mal seltener ist, lässt sich 
dieser bedeutende Unterschied nicht genügend er¬ 
klären ; vielmehr müssen die Europäer in viel höherem 
Maasse die Neigung haben, an Paralyse oder Hirn¬ 
lues zu erkranken. Auch von Alkoholismus fand 
sich kein Fall unter den Eingeborenen, während 
unter den 30 europäischen Männern zwei, beide 
Deutsche, an schwerem Alkoholismus erkrankt waren. 
Dem Bilde der Epilepsie gehörten unter den Euro¬ 
päern zwei, unter den Eingeborenen acht Fülle an; 
dazu kamen noch drei Fälle von plötzlich auf¬ 
tretenden einmaligen Dämmerzuständen ohne sonstige 
Zeichen von Epilepsie. Diesen Gruppen gehört die 
Mehrzahl der Beobachtungen von sogenannten Amok¬ 
laufen an. Fälle von manisch-depressiven Irresein 
scheinen bei den Eingeborenen etwas seltener zu 
sein als bei den Europäern, doch kamen ausserdem 
noch einige Fälle von häufig wiederkehrenden, kurz¬ 
dauernden Erregungszuständen vor, ganz ähnlich 
mancher bei uns bekannter Beobachtungen, deren 
klinische Deutung zur Zeit wohl noch als zweifelhaft 
bezeichnet werden muss. 

Von Interesse war ferner tlie abweichende Aus¬ 
bildung gewisser Krankheitszustände trotz allgemeiner 
Uebereinstimmung in den Grundzügcn. Bei der De¬ 
mentia praecox fiel das Fehlen oder die schwache 
Ausprägung der einleitenden Depression auf. Gehörs¬ 
oder Gesichtstäuschungen waren weit seltener als bei 
den Europäern, die W ahnbildungen dürftiger und zu¬ 
sammenhangloser; von einer Systematisirung war 
überhaupt keine Rede. Physikalischer Verfolgungs¬ 
wahn wurde bei den Eingeborenen nur einmal beob¬ 
achtet, die Vorstellung der Gedankenbeeinflussung 
niemals; auch hypochondrische Wahnbildungen fehlten 
gänzlich ; Selbstmordneigung war selten. Entsprechend 
der geringen Entwicklung katatonischer Störungen 
traten die schweren, stumpfen Verblödungen gegen¬ 
über faseligen Schwachsinnsformen mit läppischem 
Wesen und Verwirrtheit zurück. Die Endzustände 
schienen sich rasch zu entwickeln, während gute 
Remissionen nicht häufig waren. Beim manisch- 
depressiven Irresein tiberwogen durchaus die Erreg¬ 
ungszustände; länger dauernde, tiefe Depressionen 
schienen fast völlig zu fehlen. Versündigungsideen 
waren unbekannt. 


Aus diesen Erfahrungen geht hervor, dass die be¬ 
sondere psychische Morbidität der Europäer vor allem 
gekennzeichnet ist durch die Wirkungen des Alko¬ 
hols und der Syphilis; auch die klinische Ent¬ 
wicklung des manisch-depressiven Irreseins,’ einer 
zweifellos auf Entartung beruhenden Erkrankungs¬ 
form, scheint bei uns eine ungleich reichere zu sein. 
Andererseits dürfte die Dementia praecox dort wie 
hier und auch bei den Chinesen Vorkommen; ob in 
gleic her Häufigkeit, steht allerdings dahin. Jedenfalls 
kann jene Krankheitsgruppe wohl nicht auf äussere 
Ursachen zurückgeführt werden, sondern scheint aus 
Bedingungen hervorzugehen, die allgemein im mensch¬ 
lichen Organismus gelogen sind. Wird auch das 
Krankheisbild im einzelnen durch die Rasse etwas 
verändert, so war doch die grundsätzlic he Ueberein¬ 
stimmung mit unseren Erfahrungen in Europa unver¬ 
kennbar. Die Gesichtspunkte, die wir für die Vor¬ 
beugung des Irreseins abzuleiten haben, bleiben dem¬ 
nach vor der Hand im Wesentlichen die alten : Kampf 
gegen Alkohol und Syphilis, wie eine verständige 
Rassehygiene zur Bekämpfung der Entartung. Gegen 
die Dementia praecox vermögen wir einstweilen nichts 
zu thun; immerhin ist wenigstens die Richtung etwas 
genauer umgrenzt worden, in der wir die Lösung der 
hier verborgenen, wichtigen Fragen zu suchen haben. 

(Autoreferat.) 

Diskussion fand nicht statt. 

Vocke: Zur geric h11 ich en Entscheid¬ 
ung über den Geisteszustand der wider 
ihren Willen internirten Geisteskranken. 

Die auf Anregung des kgl. Staatsministeriums des 
Innern vor 7 Jahren in die Satzungen mehrerer Kreis- 
irrcnanstalten aufgenommene Bestimmung, dass Kranke, 
welche über 3 Monate wider ihren Willen in einer 
Anstalt verwahrt sind, eine gerichtliche Entscheidung 
über ihren Geisteszustand verlangen können und 
hierauf aufmerksam zu machen sind, hat sich in der 
Praxis nicht bewährt. Schon die undeutliche Formu- 
lirung der Bestimmung, welche verschweigt, dass eine 
geric htliche Entscheidung nur in einem Entmündig¬ 
ungsverfahren ei gehen kann, giebt fortgesetzt zu be¬ 
dauerlichen Misshelligkeiten Anlass, da die wenigsten 
Kranken davon zu überzeugen sind, dass sie mit der 
Anrufung der gerichtlichen Entscheidung ihre Ent¬ 
mündigung riskiren. Die gerichtliche Entscheidung 
selbst bringt den Kranken statt des erhofften Rechts¬ 
schutzes die Entmündigung und damit die bürger¬ 
liche Entrechtung, während die frivolste Haftbe¬ 
schwerde eines Beschuldigten im Strafprocess keine 
nachtheiligen Folgen für den Beschwerdeführer hat. 
Besonders nachtheilig ist eine solche Entmündigung 
in Fällen, die zwar nic ht Heilung, wohl aber Besser¬ 
ung und spätere Entlassungsfähigkeit erhoffen lassen. 
— Ist eine Entmündigung nöthig, so kann sie auf 
anderem Wege erreicht werden und es bedarf nicht 
der Anrufung einer gerichtlic hen Entscheidung. 

Die Langsamkeit des Verfahrens, das sich bei 
Anrufung der höheren Instanzen über 1-3 fahre 
erstrec ken kann, wirkt ungünstig auf den Kranken 
und hindert häufig für längere Zeit jede psychische 
Behandlung. Endlich ist die aus der Bestimmung 


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i Q04-] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 131 


sich unabweisbar ergebende Forderung der sofortigen 
Entlassung nach etwaiger Ablehnung der Entmündig¬ 
ung principiell und practisch höchst bedenklich. 

Die Wiederaufhebung dieser Bestimmung erscheint 
daher dringend angezeigt, wogegen Bedenken um so 
weniger bestehen dürften, da sie für 3 Kreise und 
die bayerischen Privatanstalten überhaupt nicht exi- 
stirt und da zur Wahrung des Rechtsschutzes andere 
brauchbare Wege gegeben sind. (Autoreferat.) 

In der Discussion erzählt Hr. Feldkirchner- 
Karthaus-Prüll, dass er für die Oberpfälzer 
Anstalt diese Bestimmung durch persönliche Vor¬ 
stellungen weggebracht habe. 

Kraepelin meint, man müsse den Kranken 
einen Weg offen halten, auf dem eine gerichtliche 
Entscheidung herbeizuführen sei; es dürfe sich wohl 
nur um engere Fassung der Bestimmung handeln; 
ganz darauf zu verzichten, würde doch in manchen 
Fällen unangenehm sein. 

Dees-Gabersee berichtet über einen Fall, der 
infolge gerichtlicher Entscheidung zur Entlassung ge¬ 
kommen sei, nach kurzer Zeit aber wieder habe auf¬ 
genommen weiden müssen. Link-Deggendorf 
giebl an, dass er keine unangenehmen Erfahrungen 
gemacht habe, da er nur solche Fälle auswähle, bei 
denen die Erkrankung vom Gericht nicht angezweifelt 
werden könne. 

Kraepelin beantragt, bis zur nächsten Ver¬ 
sammlung einschlägige Fälle zu sammeln, damit man 
beim Vorgehen die Wirkungen dieser Bestimmungen 
illuslrircn könne. 

Hr. V o c k e erklärt sich bereit, diese Zusammen¬ 
stellung durch Rundschreiben zu übernehmen. 

W e y g a n d t - Würzburg: Uebcr alte Fälle 
von Dementia pracrox. 

Vortragender schildert eine Reihe von Insassen 
der Irrenpfründe des Juliusspitals, die vor etwa 30 
Jahren psychisch erkrankt waren. 3 davon zeigen 
seit jener Zeit das Bild tiefen Blödsinns und Reactions- 
losigkeit, einer dazu einige sprachverwirrte Aeusser- 
ungen. Bei eingehender Untersuchung ergiebt sich 
jedoch, dass die Kenntnisse aus der Zeit vor der 
Erkrankung noch ziemlich gut erhalten sind, die 
Kranken können noch etw’as rechnen, einer versteht 
sogar noch Lateinisch, sie sind aber gänzlich stehen 
geblieben, so auf dem Miinzfuss, sowie den geogra¬ 
phischen und politischen Verhältnissen jener Zeit. 
Ein vierter Kranker hat bis kurz vor seinem Tod 
noch durch katatone Haltung und Katalepsie akutere 
Symptome gezeigt. Senile Züge waren trotz des 
hohen Alters nicht aufgetreten. Es ergiebt sich aus 
der Analyse dieser Fälle, die ja zweifellos in das 
Gebiet der Dementia praecox gehören, 

1. dass jeder Versuch einer Scheidung zwischen 
primärem und secundärem Stadium undurchführbar ist, 

2. dass im Vordergrund der Störung die Schwäch¬ 
ung der Apperception im Sinne von Wundt steht, 

3. dass selbst bei tiefgreifender Verblödung der 

Gedächtnissschatz aus längstentlegener Zeit noch w'olil 
conservirt sein kann. (Autoreferat.) 

Diskussion fand nicht statt. 

San d n er- Ansbach ] ia ^ die Gründe zu einer 


Reihe von nach Art. 80 Absatz II des P. Str. 
G. B. erfolgten Einschaffungen Geisteskranker 
einer Prüfung unterzogen, da sich im Ansbacher 
Aufnahmebezirk eine auffallende Zunahme der wegen 
Gemeingefährlichkeit eingewiesenen Pfleglinge be¬ 
merkbar machte. Er kam zu dem Resultat, dass 
nicht selten diese Art der Aufnahme vermieden 
werden könnte, zumal wenn bei Kranken, die bereits 
auf Veranlassung ihrer Angehörigen einer Anstalt zu¬ 
geführt wurden, noch nachträglich seitens der Ver¬ 
waltungsbehörden die Verwahrung auf Grund des 
Art. 80, II zum Beschluss erhoben wird. Eine Ge¬ 
fahr für die öffentliche Sicherheit wäre mit der 
Unterlassung der behördlichen Einschaffung in diesen 
Fällen nicht gegeben, da die Anstaltsvorstände ge¬ 
halten sind, die Entnahme eines als gemeingefährlich 
zu erachtenden Kranken zu verweigern und von der 
Zustimmung der Behörde abhängig zu machen. Durch 
die Verminderung polizeilicher Einweisungen Kranker 
in unsere Asyle würde letzteren das Odium einer 
Internirungs- odei Detentionsanstalt genommen und 
der so beliebte Vergleich mit Zuchthaus und ähnl. 
weniger häufig erfolgen. Eine von anderer Seite ge¬ 
brachte statistische Zusammenstellung der gesummten 
in bayerischen Irrenanstalten auf Grund des Art. 80, II 
verwahrten Pfleglinge ergab, dass gerade die Ans¬ 
bacher Anstalt die grösste diesbezügliche Kranken¬ 
ziffer aufweist. (Autoreferat.) 

In der Diskussion betonte Hr. Vocke- 
München, dass in Oberbayern seit 1895 die 
polizeilichen Einweisungen an Zahl zurückgegangen 
seien. 

Hr. Eckhard- K 1 i n g e n m ü ns t e r wies auf ein 
in der Pfalz gebräuchliches Verfahren hin, Leute, 
deren Heimat nicht zu eruieren sei, in die Anstalt 
polizeilich einzuweisen. Als bei Entlassungen einige 
Kollisionen vorgekommen, sei der Beschluss ge¬ 
kommen, nach Art. 80 II eingewiesene Pfleglinge 
dürften nur entlassen werden, wenn sie geheilt seien. 
Der Beschluss sei allerdings wieder aufgehoben worden. 

(Schluss folgt.) 

— Der Congress für experimentelle Psycho¬ 
logie in Giessen. (Ref. Dr. Ruppel.) (Schluss.) 

In Gruppe 2 treffen wir: Zwei Neuconstructionen 
von Kymographien Zimmermann’s. — Den 
Sphymographen nach von Frey, die Pulsbewegung 
von der Pelotte auf den Schreibhebel ohne Gelenk¬ 
verbindung durch ein Stahlstäbchen übertragend. — 
Jaquet St. Imier’s Sphygmochronographen zur 
graphischen Fixirung der Zeiten der einzelnen Puls¬ 
phasen. —- Ein Turgoscop und einen Turgographen 
von Oehmke. — Die Psychiatrische Klinik 
Giessen stellte in dieser Gruppe aus: „Verbesserter 
Apparat zur dreidimensionalen Analyse von Muskelzu¬ 
ständen und Ausdrucksbewegungen der Beine nach 
Sommer“. Dieser Apparat überträgt mittels dreier 
ungleicharmiger Hebel die Bewegungen des äqui- 
librirten Beines in jeder der drei Dimensionen ge¬ 
trennt auf Schreibhebel. — Apparat zur „Darstellung 
von Ausdrucksbew'egungen der Hände in Licht- und 
Farbenerscheinungen nach Sommer“ (s. Vortrag). — 
„Apparat zur Analyse von Bewegungen der Stirn- 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 14. 


132 


muskulatur nach Sommer“. Die Bewegungen eines 
auf die Stirn aufgesetzten Saughütchens werden durch 
einen mit ihm gelenkig verbundenen Hebel auf zwei 
Marey’sche Trommeln und von da auf zwei Schreib¬ 
hebel übertragen. — Zur Festlegung fixer Innervations¬ 
zustände der Stirn dient das Abdruckverfahren mit¬ 
tels auf eine Rolle gespannten berussten Papieres. 
Eine Reihe so bewirkter und in Schellack fixirter 
Aufnahmen ist ausgestellt. — „Untersuchung elektro¬ 
motorischer Vorgänge an den Händen nach vonTarcha- 
noff und Sticker, Elektroden und Maasseinrichtung 
nach Sommer“. — „Sammlung von Schriftproben 
Geisteskranker“ in einer Reihe von Diapositiven, 
nach der Diagnostik der Geisteskrankheiten von R. 
Sommer geordnet, beschrieben im Atlas der Schrift 
bei Geisteskrankheiten von Köster. — Apparatan¬ 
ordnung zum „Versuch einer gesonderten Registrirung 
vasomotorischer Vorgänge an der Haut nach Sommer“. 
Eine manometrische Kapsel wird auf der Haut durch 
Evakuirung festgesaugt. Die vasomotorisch bedingten 
Volumenveränderungen innerhalb der Kapsel raani- 
festiren sich an der Flamme eines durch sie gelei¬ 
teten Leuchtgasstromes. Die Bewegungen der Flamme 
können durch eine Selenzelle in Galvanometerschwank¬ 
ungen umgesetzt werden. 

Aus Gruppe 3 ist bereits erwähnt (s. Vortrag) 
Wirth’s „Anordnung zur Untersuchung des Bewusst¬ 
seins- und Aufmerksamkeits-Umfanges“, bestehend in 
einem trichterförmigen transparenten Projectionsperi- 
meter. Es umgrenzt das Sehfeld der Versuchsperson, 
das durch entsprechende Vorrichtung an beliebiger 
Stelle bestimmte Aenderung erfahren kann. — Hier 
finden wir weiter L ay ’s Tabellen und Cuiven seiner 
„Experimentell-didaktischen Untersuchungsmethoden“ 
(s. Vortrag) und Rauschburg’s bereits angeführtes 
Mnemometer sowie dessen „Tafeln betr. Untersuch¬ 
ungen des Gedächtnisses, des Wortschatzes, Vorstell¬ 
ungsumfanges, Rechenvermögens usw. bei Kindern“, 
mit kurzen Worten nicht zu schildern. — Diesen 
Tafeln schliesst sich C. und W. Sterns’ Chrono¬ 
logisch-synchronistische Uebersicht über die Sprach- 
entwickelung eines Kindes (bis zum Anfang des 4. 
Lebensjahres)“ an (s. Vortrag). — Die Psychia¬ 
trische Klinik Giessen legte eine grosse Zahl 
von Aufzeichnungen von „Psychopathologischen Unter¬ 
suchungen nach dem Princip des gleichen Reizes 
bei verschiedenen Krankheitsgruppen“ (s. Sommer’s 
Ausführungen in Vortragsgruppe 10) aus. 

Gruppe 4 schliesslich enthielt Apparate zur Zeit¬ 
messung und Zeitcontrolle: Chronoscop von E r d - 
mann und Dodge, den graphischen Chronometer 
von Jaquet-St. Imier; Controllapparat für das 
Hipp’sche Chronoscop nach Ebbinghaus, Controll- 
pendel nach Sommer und Ach’s „Einrichtung zur 
Bestimmung der Latenzzeiten des Hipp’schen Chrono- 
scopes“. 

Der Congress führte zu der Gründung der „Ge¬ 
sellschaft für experimentelle Psychologie“. 
In den Vorstand wurden gewählt: Prof. G. E. Mül ler- 


Göttingen (1. Vorsitzender), Prof. Sommer-Giessen 
(stellv. Vorsitzender), Prof. Neumann-Zürich, Prof. 
Exner Wien, Prof. Ebbinghaus-Breslau, Prof. Külpe- 
Würzburg, als Schriftführer Prof. Schumann-Bedin. 
— Die officiellen Organe der Gesellschaft werden 
sein die „Zeitschrift für Psychologie und Physiologie 
der Sinnesorgane“ und das „Archiv für die gesammte 
Psychologie“. Der nächste Congress soll in Wiirz- 
burg 1Q04 stattfinden. Dr. L. Ruppel. 


Referate. 

— August II of fm a nn-Düsseldorf. Berufs¬ 
wahl und Nervenleben. Wiesbaden. Bergmann. 
1904. 26 S. 

H. geht von der unbestreitbaren Thatsache aus, 
dass bei der Wahl des Berufes für unsere Kinder 
dem Nervenleben derselben meist nicht die gebüh¬ 
rende Aufmerksamkeit geschenkt wird. Eine ' auch 
in dieser Beziehung sorgfältige Wahl des Berufes, 
bei der auch der Arzt gehört werden sollte, erscheint 
nicht nur für den Einzelnen, sondern für die künf¬ 
tige Gesundheit unseres Volkes von grosser Bedeutung. 

Die erste Aufgabe besteht nun darin, dass die 
nervös veranlagten Kinder rechtzeitig als solche er¬ 
kannt werden. H. schildert demgemäss die anato¬ 
mischen und functioneilen Degenerationszeiclien, die 
„Warnungssignale“, und bespricht kurz die nervösen 
Störungen des Kindesalters. Als zweite Aufgabe er- 
giebt sich nach dieser Feststellung eine Kennzeich¬ 
nung deijenigen Berufsarten, welche erfahrungsgemäss 
besonders das Nervensystem zu gefährden im Stande 
sind. H. zieht hier seine eigenen Erfahrungen heran 
und bemerkt richtig, dass weitere Erhebungen in 
grösserem Umfange sehr wünschenswerth sind. Kopf¬ 
arbeiter mit hoher Verantwortlichkeit, grosser gei¬ 
stiger Anstrengung und oft ungenügenden Einkünften 
sind natürlich am ehesten gefährdet, doch sind Fest¬ 
stellungen, die mehr ins Einzelne gehen, immer noch 
am Platz. Beachtenswerth ist es, wie häufig sich 
zu selbständiger Lebensstellung emporringende Frauen 
(Post- und Bureaubeamtinnen, Telephonistinnen) ner¬ 
vös erkranken. Weitere Untersuchungen auf dem 
ganzen von H. hier besprochenen Gebiet müssen 
dazu führen, dass die Rathschläge eine noch posi¬ 
tivere Form annehmen werden. 

Die verständlich geschriebene, zur Aufklärung weiter 
Kreise bestimmte Schrift verdient es, durch die Aerzte 
verbreitet zu werden. M e r c k 1 i n. 


Personalnachrichten. 

— Pommern. Der Assistenzarzt Dr. Gester- 
diug zu Lauen bürg scheidet mit dem 1. Juli 
1904 auf seinen Antrag aus dem Anstaltsdienste aus 
und der bisherige Assistenzarzt auf Probe Dr. Arn¬ 
heim zu Lauenburg i. Pom. und der Volontärarzt 
Dr. Plaskuda sind vom 1. April 1904 ab zu 
Assistenzärzten ernannt. 


Für den redactionellen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Bresler, Lublinitr (Schlesien). 

Erscheint ieden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Hevnomann’sche lluchdruckerei (Cirebr. "Volff) in Halle a. S. 


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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift. 


Redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Lublinitz (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Teilegr.-Adresse: Marho Id Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834. 

Nr. 15. 9 juii. 1904. 

Bestellungen nehmen jede Burhhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 

Inserate werden für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten. 


Aus den Brandenburgischen Provinzialanstalten für Epileptische und Idioten zu Potsdam (Direktor Dr. Kluge). 

Der systematische Handfertigkeitsunterricht, ein Glied ärztlicher Therapie 

in Idiotenanstalten. • 

Von Dr. R. Hopf,\ Anstaltsarzt. 


S chon längst ist man sich an Irrenanstalten klar, 
dass das beste Heilmittel für psychisch Kranke, 
die sich nicht mehr im akuten Stadium befinden, 
die Arbeit ist, und zwar jene Arbeit, die in plan¬ 
voller Weise auf die Erreichung eines Endzweckes 
hinzielt und bei der der Kranke auch einen Erfolg 
seiner Leistungen sieht. Während man sich nun 
hier in der Regel darauf beschränken muss, entweder 
leicht erregbare Kranke abzulenken, stumpfe aufzu- 
muntem oder aus dem allgemeinen Zusammenbruch 
der Psyche Reste von früheren Kenntnissen und 
Fähigkeiten zu retten und nur in wenigen Fällen den 
Kranken neue Kenntnisse zuführen kann, steht dem 
Psychiater an Idiotenanstalten die Aufgabe zu, durch, 
schon in der Kindheit einsetzende, Arbeitstherapie 
erst nützliche Glieder der Menschheit zu schaffen. 

Diese Aufgabe nun hat der Arzt, mit wenigen 
Ausnahmen, bis jetzt ausser Acht gelassen; er über- 
liess dieselbe Pädagogen oder gar Theologen; er 
überliess ihnen ein krankes Organ zur Behandlung, 
trotzdem gar kein Grund vorliegt, einzusehen, warum 
gerade diese es besser können sollten als der Arzt. 

Nun ist es ja ganz selbstverständlich, dass der 
psychiatrisch geschulte Arzt an Idiotenanstalten Werk¬ 
stätten- und Handarbeit für die erwachsenen Idioten 
in ausgedehnter Weise anwendet und ebenfalls dar¬ 
nach strebt, jene üblen Anstaltsbilder mit den Dutzen¬ 
den, stumpf und blöde auf den Bänken längs der 
Wand umhersitzenden Patienten nach Möglichkeit zu 
vermeiden; seine Hauptaufgabe aber wird sein, schon 
in der Jugend mit der Arbeitstherapie den Hebel 
einzusetzen. Man wende nicht ein, die Jugendbild¬ 
ung gehöre ausschliesslich in die Schule, wenn es 
sich um gehirnkranke Kinder handelt, bei denen 
die Ermüdungsgrenze gegenüber abstrakten Dingen 
noch viel tiefer liegt, als bei normalen und wenn man nur 


in den wenigen zahlreichen Fällen auf das hierfür 
nöthige psychiatrische Verständniss rechnen kann und 
man andererseits nur allzuleicht darnach strebt, das 
Kind mit allen möglichen Schulkenntnissen vollzu¬ 
pfropfen. Wem fällt es ein, einem magenkranken 
Kinde den Magen mit schwer verdaulichen Sachen 
zu beladen, damit es später fähig sei, sich an kuli¬ 
narischen Genüssen zu erfreuen, bei dem gehirn¬ 
kranken Kinde aber versucht man ähnliches. Solche 
Versuche werden immer und immer wieder misslingen. 

Die Therapie muss da einsetzen, von wo die 
erste Erregung zum Gehirn geht, in den Sinnes¬ 
organen. Schon Brandes*) sagt, dass Gymnastik der 
Sinnesorgane und Erregung der Muskulatur die 
erste Stufe des Idiotenunterrichts sein müssen. 
Auf dieser ersten Stufe nun muss aufgebaut werden 
und ihm parallel laufe eine verständige Dressur des 
Gehirns ohne Paukerei und 7—10 ständigen Religions¬ 
unterricht, denn wie Erlenmeyer**) unter anderm 
so richtig sagt: „Was können aber diese unglücklichen 
Wesen mit all ihrer Weisheit leisten, was nützt es 
ihnen, dass sie wissen, wer das israelitische Volk 
durch die Wüste geführt hat etc. etc., sie fallen nach 
ihrer Entlassung ebenso gut wieder der Familie resp. 
der Gemeinde zur Last.“ 

Es trete also der Arzt ein, um dies zu vermeiden, 
und suche dadurch, dass er bestrebt ist, dem Kind 
geordnete Muskel- und Bewegungsempfindungen 
zu vermitteln und die Sinnesorgane zu stärken, 
dem kranken Gehirn eine richtige Vorstellung von 
der Aussenwelt zu bieten. Ein Hauptmittel hierzu 
ist nun der systematische Handfertigkeitsunterricht. 

Die Anwendung des Werkunterrichts in Idioten- 
anstalten ist ja durchaus nichts Neues; den Päda- 

*) Brandes, Der Idiotismus, Hannover 1862, S. 116. 

**) Erlenmeyer, Correspondenz-Blatt 1854, Nr. 4. 


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134 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 15. 


gegen vom Fach, nicht etwa Theologen, gebührt das 
Verdienst, denselben dort eingeführt und mit raschem 
Blirk den Werth desselben erkannt zu haben. Die 
Schröter’sche*) Anstalt in Dresden war wohl die 
erste, die denselben in systematischer Weise anwandte; 
doch haben schon früher Aerzte auf den Nutzen der 
Handarbeit hingewiesen, das Jahrbuch der Levana**) 
kennt schon Modelliren und Drahtarbeiten. Weiter 
rühmt Branden borg***) den Werth des Handarbeits¬ 
unterrichts für das praktische Leben, auch war man 
sich bei der Debatte in der Societe de Medecinc 
mentale de Belgiquet) klar über den Werth 
des Werkunterrichtes. Während Kraepelin t+) noch 
im Jahre 1896 sagt, „die Behandlung der Idiotie wird 
der Hauptsache nach immer eine pädagogische sein, 
selbstverständlich unter Berücksichtigung der für jeden 
einzelnen Fall in Betracht kommenden ärztlichen 
Gundsätze*‘, hält ertti) 1S00 nach Streichung dieses 
Passus die Einübung von Fertigkeiten für nützlich. 
Auch Weygandt :i: t), der sich besondere Verdienste 
um das Idiotenwesen errungen hat, kennt den Hand¬ 
fertigkeitsunterricht nicht, er führt nur an , dass Mo¬ 
delliren mit Thon und Arbeit mit dem Ziehmesser 
empfohlen ist. 

Soweit ich nun die Litteratur übersehe, ist hier¬ 
sei t s **+) zum ersten Mal von psychiatrischer Seite 
der systematische Handarbeitsunterricht an Idioten¬ 
anstalten empfohlen worden und es ist wirklich der 
Mühe werth, dass der Psychiater auch darauf sein 
Augenmerk wendet, und es ist zu fordern, dass end¬ 
lich der Standpunkt verlassen wird, den noch der 
sonst so verdiente Wildermuth einnimmt, der den 

schulmässigen Unterricht für das beste Mittel zur 
geistigen Disciplinirung der Idioten hält. 

Der Handfertigkeitsuntei rieht nun wird hierseits 
den Principien des Vereins für Knabenhandarbeit 
gemäss, aber entsprechend modificirt, von einem 
Handwerksmeister, unterstützt von Pflegern, gegeben, 

*) Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger und 
Fpilept. 1892, Nr. 5 — f>. 

**) Jahrbuch der Lcvana. Wien 185N. 

***) Dr. Brandenberg, Zur Fürsorge f. d. Schwachsinnigen. 
Bielefeld 1800. 

-J-) Neurologisches Centralblatt 1901, Nr. 4, S. 187. 
fr) Kraepelin, Psychiatrie, 5. Auflage 1896. 

iff) Kraepelin, Psychiatrie, 6. Auflage, 189.9, 

+ yj Weygandt, Die Behandlung idiotischer und imbeciller 
Kinder. Würzburg 1900. 

**f) Dr. Kluge, Bericht über die Idiotenbildungsanstalt 
,,Wilhelnistift“, Brdbrg. Provin/.iallandtag, 30. Sitzungsperiode, 
1904, Nr. 17. 

***.(.) Wiidermuth, Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 
1900. S. 273. 


indem, an die Fröbelarbeiten der Schule anschliessend, 
hauptsächlich Klebearbeiten, Papparbeiten, Holz¬ 
schnitzerei, Arbeiten an der Hobelbank und Model¬ 
liren in Thon getrieben wird. In jeder dieser Dis- 
ciplinen wird systematisch vom Leichten zum Schweren 
übergegangen, und bekommt kein Kind eine schwerere 
Arbeit, bevor es nicht die leichtere erledigt hat; da¬ 
bei wird darauf gesehen, dass das Kind nicht blos 
in einer, sondern womöglich in sämmtlichen dieser 
Unterabtheilungen unterrichtet wird. Es ist hier der 
Arzt, der bestimmt, wer an dem Werkunterricht 
theilnehmen soll und der in beständiger Fühlung mit 
dem Handwerksmeister steht. 

Theil nahmen an den Unterricht im letzten 
Halbjahre: an der Hobelbank 5, in der Schnitzarbeit 
14, Papparbeit 10 und Modelliren 16 Knaben. 

In der ersten Zeit nun, wenn der Knabe in der 
Werkstatt arbeitet, macht sich eine immense Unbe- 
holfenheit bemerkbar; selbst die Knaben mit besseren 
Schulfortschritten sind meist nicht im Stande, die 
einfachsten Handgriffe nachzumachen, und nur sehr 
langsam macht sich eine, allerdings sicher fortschrei¬ 
tende, Besserung bemerkbar. Und diese Besserung muss, 
wenn nicht ein ganz hoffnungsloser Fall vorliegt, ein- 
treten, da cs ja bei dieser Art des Unterrichts ganz 
ausgeschlossen ist, dass der so gerne vor sich hin¬ 
träumende ,,Schwachsinnige“ dies auch hier thun 
kann. Es zeigt sich dann sofort ein Felder, der die 
Arbeit unbrauchbar macht; hier gilt cs, die Aufmerk¬ 
samkeit anzuspannen, der Träumer wird aufgerüttelt, 
der Gedankenflüchtige muss sich concentriren. Nach 
einer Richtung hin, auf das Endresultat muss der 
Knabe denken, er muss aber auch das Einzelne dabei 
genau überlegen, will er z. B. ein Pappkästchen fer¬ 
tigen, so muss er bei der Construction an das fertige 
Kästchen denken, zugleich aber auch an das richtige 
Maass der einzelnen Theile. Dabei wird darauf ge¬ 
sehen , dass der Junge alles selbst macht und wenn 
cs zehnmal misslingt; gar bald erwacht dann der 
Ehrgeiz und schliesslich wird es ihm doch gelingen. 
Es ist ja dies schliesslich viel leichter, als auf ab¬ 
strakte Themata, wie irgend ein religiöses Problem, 
seine Gedanken zu concentriren, denn das geistes¬ 
schwache Kind hat etwas Greifbares in den Händen; 
beständig werden durch die messenden und abtasten¬ 
den Bewegungen der Hände dem Gehirn vermittelst 
des Empfindlings- und Muskelsinnes neue Bilder zu¬ 
geführt und diese bleiben auch haften, da ja stets 
bei der Erinnerung die einmal ausgeführten Muskel- 
bewegungen im Geiste reproducirt werden. 

Der geistesschwache Knabe, der im Anfang keine 
Ahnung von Flächenausdehnung und Maassen hatte, 


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iqo 4 .] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


135 


lernt durch den Zwang selbst zu messen nicht nur Maasse, 
sondern auch den Werth der einzelnen Zahlen kennen ; 
er lernt beim Flächen- und Kerbschnitzen die Be¬ 
griffe der Länge und Tiefe, beim Modelliren in Thon 
die aller Dimensionen. Hier erst lernt er, wie ich 
vielmals beobachtete, richtig sehen. Es bleibt also 
nicht bei todter Nachahmung, nein es werden selbst¬ 
ständige (icistesprodukte von dem Schwachsinnigen 
verlangt, ein Endziel wird gefordert. Der schwache 
Geist will ein Fortschreiten, er will Bewegung sehen, 
todte, feststehende Sachen reizen ihn nicht; beim 
Entwickeln der Arbeit muss er aber auch Hinder¬ 
nisse überwinden, er wird gezwungen seine Kräfte 
anzuspannen, er muss wollen. Es liegt hierin, 
wie Götze 1 ?) s<> lichtig sagt, die vernehmlichste Be¬ 
deutung des Arbeitsunterrichts, der sich insofern vom 
Turnunterricht noch unterscheidet, dass das Turnen 
die Willcnsencrgie auf kurz dauernde Leistungen zu- 
sammenraflt, sie gleichsam zur explosiven Wirkung 
bringt, während der Arbeitsunterricht die Anspannung 
des Willens auf längere Zeit verlangt, und dadurch 
wird die Stetigkeit, die nicht zu erschlaffende Zähig¬ 
keit des Willens hervorgerufen. 

Es ist ganz auffallend und unverkennbar, wie bei 
dem Schwachsinnigen, infolge des, durch die Natur 
der Arbeit bedingten, Zwanges, scharf auf ein Ziel 
hin zu denken, etwas zu wollen, das ganze Wesen 
ein anderes wird. Die vorher zerstreuten und un¬ 
ruhigen Kranken werden ruhig, sie werfen nicht mehr, 
wie im Anfang, eleu einen Pappstreifen z. B. eines 
Kästc hens weg, um nach dem Modellirthon zu schielen 
oder nach dem Schnitzmesser zu greifen, sie bleiben 
ruhig bei der Arbeit, sie haben allmählich Ehrgeiz 
bekommen, sie wollen etwas leisten. Andrerseits 
drängen sich die vordem trägen und indolenten 
Idioten direkt zur Arbeit , sie können kaum die 
Stunde des Werkunterrichts erwarten. Sind sic nun 
bei der Arbeit und Ehrgeiz, cs den andern zuvor zu 
thun, oder Flüchtigkeit hat sie verleitet, unordentlich 
zu arbeiten, sofort misslingt die Arbeit, und zwingt 
sie, ruhiger, bewusster zu arbeiten. Also nicht nur 
anspornend, sondern auch zu lebhafte Geister hem¬ 
mend wirkt der Werkunterricht und verschafft den 
Idioten das, gerade in dieser Hinsicht sehr wenig 
entwickelte, geistige Gleichgewicht. Der Unterricht 
fordert dann die Ucberlegung des Patienten direkt 
heraus; während Anfangs bei der Hobelbankurbeit 
ein Ast im Brett die ganze Arbeit entstellen konnte, 
sieht man später den Knaben vorsichtig sein Stück 

*) Dr. Goetze, Knabcnhandarbcjtsunterricht. Leipzig 1892, 
S. 25. 


Holz von allen Seiten betrachten und dann erst be¬ 
nutzen. 

Aber auch die ethische Seite des Schwachsinnigen 
wird erheblich beeinflusst. Bei der Arbeit werden 
die sonst oft so streitsüchtigen Kinder verträglicher; 
sie sind mehr aufeinander angewiesen, sie müssen 
sich gegenseitig helfen; der schwache Geist lernt er¬ 
kennen, dass er Unterstützung braucht. Auch wird 
der Knabe angehalten, um zu prüfen, ob er auch alles 
verstanden hat, andern zu helfen, hierbei tritt der, 
bei Idioten stark entwickelte, Egoismus langsam zu¬ 
rück, das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit den 
andern entsteht, das Kind wird Altruist, wird socialer. 
Beim Besuch der Werkstätten ist es direkt hervor¬ 
stechend, mit welcher Freude und mit welcher Ge- 
nugthuung nicht nur die eigenen Arbeiten, sondern 
auch die anderer vorgezeigt werden. 

Die Freude an der vollendeten Arbeit weiter er¬ 
hebt das Kind, macht es sicherer, selbstbewusster in 
seinem Auftreten; dass aber das Selbstgefühl nicht 
zu stark werde, dafür sorgt wieder der Werkunter¬ 
richt mit seinen, natürlich immer und immer wieder 
auftretenden neuen Schwierigkeiten, da ja die Auf¬ 
gaben systematisch schwerere werden und dann 
wieder öfters missglücken. Der Meister muss auf 
Fehler oftmals aufmerksam machen, der Knabe lernt 
erkennen, dass ihm derselbe stets überlegen ist, er 
bekommt Autoritätsgefühl, das aber nichts von Angst 
an sich trägt, nein dankbar erkennen die Schwach¬ 
sinnigen die Führung an, das kann man stündlich 
beobachten. So bildet sich also das beste Verhält¬ 
nis zwischen Meister und Kranken, da ja letzterer 
genau cmUn »Ihren kann, dass alles wahr ist, was ihm 
ersterer sagt, und damit wird bei ihm, dem so oft 
von Grund aus Verlogenen, der Sinn für Wahrheit 
und Ehrlichkeit gefördert, den er zu dem ständig in 
ehrlicher, jedes Schwindeln ausschliesScndcr Handarbeit 
üben muss. 

Neben diesen werthvollen Einflüssen auf Geist 
und Gemüth ist schliesslich auch der Nutzen des 
Werkunterrichts für die allgemeine Bildung nicht zu 
unterschätzen, beim Bearbeiten des Thons wird be¬ 
sprochen, was derselbe ist, woher er kommt; das 
Messen der Pappstreifen führt zur Erörterung der 
Maasse, das Holz unter dem Messer wird auf seine 
Abstammung untersucht und noch mehr. Dass Kennt¬ 
nisse , die auf diese Weise erworben, besser sitzen 
als todte Begrifle, bedarf keines Beweises, verbindet 
sich doch mit dem Begriffe, z. B. des Maasses, dann 
eine Erinnerung an eine Thätigkeit, oder besser ge¬ 
sagt , an gehabte Muskel- und Bewegungsempfind¬ 
ungen. Für die Schwachsinnigen nun, die mit Erfolg 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 15. 


136 


den Weikunterricht besucht haben, wäre für die Zu¬ 
kunft zu fordern, dass sich als Schluss der Ausbild¬ 
ung ein Fortbildungsunterricht anschliesse, der sich 
mit Zeichnen, aber auch mit abstrakteren Dingen 
beschäftigen könne, und der jetzt sicher mehr Erfolg 
haben wird, da man dann ja mit einer sicheren 
Grundlage rechnen kann. 

Wenn man sich nun schliesslich fragt, bei welcher 
Klasse von Idioten wird der Werkunterricht vor 
allem angebracht sein, so scheiden selbstredend die 
tiefstehenden, unreinen Idioten aus. Am besten zeigen 
sich jene etwas gedankenflüchtigen, zerstreuten Kinder, 
aber auch stumpfe, träumerische sind zu gebrauchen, 
wenn man bei ihnen auch mehr Misserfolge hat. 
Der Unterricht kann schon im 8. bis 9. Jahre be¬ 
ginnen und hat seine Vorstufe im Fröbelunterricht 
der Schule. Der Einwand, dass die Kinder dadurch 
mehr der Schule entzogen werden, kann nicht als 
ausschlaggebend anerkannt werden, wenn er auch 
pädagogisch aufgefasst, richtig ist; an Stelle todter 
Buchstaben- und Rechenkunst ist der lebendige 
Einfluss der Arbeit getreten und schliesslich ist es 
gleichgültig, ob durch die täglich 1 — 2 Stunden 
Arbeit das, meist in seinem inneren Erfolg so 
problematische, Ziel der Konfirmation um ein Jahr 
verschoben wird. Dass die Arbeit dem Kinde schaden 
würde, fällt von selbst weg; der verständige Arzt 
wird nur entsprechendes Material in die Werkstätten 
schicken, aber auch bei etwas schwächlicheren Kin¬ 
dern nicht zurückschrecken, denn Kräftigung der 
Handmuskeln und Armmuskeln, z. B. bei Schnitzen 
und Hobelbankarbeit, ist auch für den ganzen Körper 
von Nutzen. 

Dass vorhergehende Ausführungen nicht blos 
theoretisch begründet sind, sondern auch in jeder 
Hinsicht sich bewährt haben, wurde schon mehrmals 
ausgeführt; den sitTitbarsten Nutzen brachte der Werk¬ 
unterricht jedoch jenen Geschöpfen, die bereits in 
früher Jugend verbrecherische Neigungen an den 
Tag gelegt haben und die in den letzten Jahren 
wegen gleichzeitigen mehr oder weniger ausgebilde¬ 
ten Schwachsinns den Idiotenanstalten zugeschoben 
wurden und auch hierseits in der Stärke von mehre¬ 
ren Dutzend besonders Anfangs eine wahre Crux der 
Abtheilung bildeten. 


Ihre Verlogenheit, ihr Mangel an moralischen 
Gefühlen, ihre Neigung zu allen Dummheiten, ihre 
theilweise sexuelle Eingeweihtheit wurde aufs störendste 
empfunden ; wurde ein Unfug verübt, dann war gewiss 
ein Fürsorgezögling dabei. An ihnen nun waren 
pädagogische und theologische Versuche wirkungslos 
abgeprallt, in ihren Akten kann man direkte Ver¬ 
zweiflungsschreie ihrer Lehrer lesen, weder intensive 
religiöse Beeinflussung, noch maasslose Prügel hatten ge¬ 
holfen, die hier selbstredend durchaus verpönt sind. Sie 
kamen hier in den Werkunterricht und die Werkstätten 
und bei den meisten gelang es, sie wurden theilweise direkt 
zu netten Jungen, die freudig und gerne ihre Arbeit 
verrichteten; ihre Ungezogenheiten schwanden zum 
grossen Theile, und alle oben beschriebenen Charakter- 
und Gemüthsbesserungen Hessen sich an ihnen beob¬ 
achten. Einige von ihnen konnten als soweit ge¬ 
bessert erachtet werden, dass man sie in Familien¬ 
pflege zu Meistern in die Lehre geben konnte und 
der Versuch ist geglückt. Bei einem kleinen 
Reste versagte theilweise allerdings auch unser Mittel, 
es betrifft dies jene Individuen, die an deutlichen 
Verstimmungs- und Aufregungszuständen leiden; doch 
sind auch diese während ihrer freien Zeit traitabler; 
setzt die geistige Störung ein, so wird Bettruhe ver¬ 
ordnet und sie als Kranke behandelt und der Zu¬ 
stand nicht, wie wo anders, als Teufelei ausgelegt. 

Gerade bei dieser Art von schwachsinnigen Kin¬ 
dern, bei denen Pädagog und Theolog versagt haben, 
tritt so richtig der Werth des Arbeitsunterrichtes als 
therapeutisches ärztliches Mittel an den Tag und zeigt, 
wer in der Brauchbarmachung eines kranken Gehirns 
vor allem mitzureden hat. Nur der Arzt gehört an 
die Spitze von Idiotenanstalten, der Arzt sei es in 
Zukunft, der auch in Fürsorgeanstalten sich kräftig 
bethätige; das sei besonders jetzt betont, wo die 
Gefahr besteht, dass dem Psychiater durch die 
Ausführung des Fürsorgegesetzes eine Reihe patholo¬ 
gischer Elemente entgehe, die er dann erst, wenn 
therapeutische Beeinflussung unmöglich geworden ist, 
in Verbrecherabtheilungen von Irrenanstalten vorfindet. 
Es ist die höchste Zeit, dass mehr an die Psychiatrie 
gedacht ward, die in stetem Kampfe gegen wider¬ 
strebende Einflüsse auf Grenzwache steht. 


Das Körpergewicht bei der Dauer-Nachtwache. 


T n den letzten Jahren fand die Dauer-Nachtwache 
A immer mehr Eingang in den Irrenanstalten. Der 
Zeitraum, über welchen sich die Dauer-Nachtwache 


erstreckt, ist ein verschiedener. Er wechselt zwischen 
6 Tagen und 3 Monaten. (Deiters, Jahresberichte, 
diese Wochenschrift 03/04, p. 143.) Der Tag ist 


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004 .] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


137 


für die Pfleger der Nachtwache dienstfrei. In 
Dziekanka wurde dieses System der Nachtwache 
im Januar 1901 eingeführt mit monatlichem Wechsel. 
Ueber die auch hier erzielten günstigen Resultate ist 
in den Anstaltsjahresberichten Mittheilung gemacht. 
Bis zum Mai 1904 wurden die Pfleger während der 
Dauer der Nachtwache, vom Tage des Beginnes ab, 
alle 8 Tage gewogen. Es hat sich in der ganz über¬ 
wiegenden Mehrzahl der Fälle eine Zunahme des 
Körpergewichts der Pfleger ergeben und zwar um 
0,5 — 4,5 kg, einmal sogar um 5,5 kg, im Durch¬ 
schnitt um 1,5 — 2 kg. Meist stieg das Gewicht 
allmählich. In einer nicht kleinen Zahl nahm das 
Gewicht zunächst etwas ab und stieg dann am Ende 
der 2. Woche auf die Anfanghöhe und allmählich 
darüber. Es hängt dies vielleicht damit zusammen, 
dass es nach Angabe vieler Pfleger einige Tage (6 
bis 8) dauert, ehe sie sich an die geänderte Lebens- 


M i t t h e i 

— Sitzung der Göttinger psychologisch¬ 
forensischen Vereinigung am 15. Juni 1904. 

Vorsitzender: Professor Cramer. Schriftführer: 
Dr. Weber. 

Professor Dr. Cramer über: „Ehescheidung 
wegen Geisteskrankheit nach dein bürger¬ 
lichen Gesetzbuch.“ 

Vortragender betonte in der Einleitung, dass er 
sich nicht lediglich auf den Ehescheidungsparagraphen 
beschränke, sondern auch die anderen auf die Ehe¬ 
scheidung bezüglichen Bestimmungen des B. G. B. 
besprechen wolle, bei denen eine Mitwirkung psy¬ 
chiatrischer Sachverständiger wünschenswerth sei. 
Demgemäss erwähnt er zuerst den § 1304 betr. die 
Ehe der beschränkt Geschäftsfähigen. 

Dazu gehören die wegen Geistesschwäche oder 
wegen Trunksucht Entmündigten. Wenn wir auch 
die Bedeutung geistiger Störungen und chronischer 
Trunksucht für die Desecndcnz noch nicht völlig 
kennen, so wird doch ein schädlicher Einfluss der¬ 
selben auf die Nachkommenschaft von allen Seiten 
zugegeben. Schon aus diesem Grunde wäre bei der 
Genehmigung der Ehe von Geistesschwachen und 
Trunksüchtigen Rücksicht auf medicinisch-psvchia- 
trische Gesichtspunkte erforderlich. Der Vortr. weist 
weiter darauf hin, dass, wie die Praxis lehrt, in sehr 
vielen Fällen bei der Eheschliessung derartiger Kranker 
rein materielle egoistische Gründe und nicht das 
Wohl dieser Kranken in erster Linie mitspielen. Von 
dem bessernden Einfluss der Ehe auf Trunksüchtige 
verspricht sich Vortr. nicht allzuviel; im Gegentheil 
wird man häufig eine rohe Behandlung des anderen 
Ehegatten befürchten müssen. 

§ 1325. Nichtigkeit der Ehe wegen Bewusstlosig¬ 
keit oder vorübergehender Störung der Geistesthätig- 
keit zur Zeit der Eheschli^ ssu ng. 


weise, vor allem an das Schlafen zur ungewohnten 
Zeit, gewöhnt haben. Es fragt sich daher auch aus 
diesem Grunde, ob eine Nachtwache für die Dauer 
von nur 6 bezw. 8 oder 14 Tagen empfehlenswerth 
ist. Etwa 8 Tage wird es, zumal auf der Siechen- 
station, immer dauern, ehe die Nachtwache ihre 
Kranken soweit kennen gelernt hat, um von mehr 
als dem persönlichen Nutzen zu sein. — Eine Ab¬ 
nahme des Körpergewichts hatte nur ausserordentlich 
selten statt. Sie betrug meist 1 kg. In vereinzelten 
Fällen 2,5 — 3 kg, einmal 5,0 kg, ohne dass eine 
andere Ursache nachweisbar war. Aehnliche Er¬ 
fahrungen wurden in Andernach bei 3 monatlichem 
Wechsel gemacht. (Deiters, 1 . c.) Die Nachtwache 
erhält in Dziekanka als Extrazulage pro Person und 
Nacht: 30 g Butter, 120 g Semmel, 50 g Kaffee, 
20 g Zucker, V2 1 Milch. Dr. C. Wickel. 


1 u n g e n. 

Theoretisch gehören hierher die transitorischen 
Bewusstseinsstörungen der Epileptiker, Hysteriker, 
ferner einzelne degenerative Erkrankungen und die 
Eheschliessung in einem Zustande von Hypnose. 
Dass diese Fälle praktisch eine grosse Bedeutung ge¬ 
wannen können, glaubt Vortr. nicht. Betreffs der Hyp¬ 
nose ist er der Anschauung, dass auf hypnotischem 
Wege auch bei sehr geeigneten Medien nur diejenigen 
Handlungen erzielt werden können, welche einiger- 
maassen dem sonstigen Vorstellungsinhalt der Medien 
entsprechen, dass also eine absolute Durchkreuzung 
des Willens nicht möglich ist. Praktisch wichtiger 
sind noch in Bezug auf § 1325 einzelne Zustände 
namentlich im Beginn und in den Remissionen der 
Paralyse, ferner die beginnende heitere Erregung des 
circulären Irreseins und der senilen Manie. Vortr. 
betont namentlich die Schwierigkeiten, bei dem oft 
weitgehenden Erhaltensein der Verstandesleistung, 
diese Zustände nachträglich, z. B. auf Grund von 
Zeugenaussagen, als krankhafte nachzuweisen und 
belegt dies durch Beispiele aus der Praxis. 

$$ 133 L 1333 und 1334: Anfechtung der Ehe. 

Zu den namentlich in den beiden letztgenannten 
Paragraphen ins Auge gefassten Zuständen rechnet 
Vortr. die chronische Trunksucht, insbesondere auch 
die Dipsomanie, die Epilepsie, die Geisteskrankheiten, 
den angeborenen Schwachsinn und den perversen 
Sexualtrieb. Von allen diesen Krankheiten fordert 
Vortr., dass sic dem anderen Ehccontrahenten vor 
der Eheschliessung bekannt gegeben werden müssen, 
wenn die Voraussetzung der §§ 1333 UR d x 334 uicht 
als gegeben erachtet werden sollen. Besonders macht 
er noch auf die oft erst in der Ehe zu Tage treten¬ 
den schweren Störungen der Epilepsie aufmerksam. 
Betreffs der Geistesstörungen betont er die ungün¬ 
stigen Folgen, die manchmal das Fortpflanzungsge- 


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i ;8 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. !Nr. n. 


schüft für einzelne weibliche Geisteskranke hat. Auch 
von einer früher durchgemachten Geistesstörung soll, 
wie Vurtr. in Uebereinstimmung mit S c h u 1 1 z e 
fordert, dem anderen Ehecontrahenten Mittheilung 
gemacht werden. 

§ 15ÖQ : Ehescheidung wegen Geisteskrankheit. 

Vortr. verbreitet sich eingehend über die in diesem 
Paragraph von dem psvchiatrischen Sach verständigen 
geforderten Nach weise. Unter „Geisteskrankheit“ hat 
er von vorneherein Geisteskrankheit im Sinne des 
$ 6 des B. G. B. verstanden, da ja die Geistes¬ 
schwäche im Sinne desselben Paragiaph nach § 1304 
unter Umständen die Ehe zulässig erscheinen lässt. 
Eine Reichsgerichtsentscheidung hat diese Anschauung 
bestätigt. 

Betreffs der Dauer der geistigen Erkrankung von 
über 3 Jahren glaubt Vom., dass hier ganz allgemein 
der Nachweis einer über 3 Jahre dauernden und un¬ 
unterbrochen bestehenden Geisteskrankheit im medici- 
nischen Sinne genüge, da für Zustände der Vergangen¬ 
heit die Unterscheidung zwischen Geisteskrankheit und 
Geistesschwäche im Sinne des B. G. B. für den Sach¬ 
verständigen oft fast unmöglich sei. 

Unter geistiger Gemeinschaft der Ehegatten ver¬ 
steht Vortr. mit Lcnnel das Bewusstsein, gemein¬ 
schaftliche Interessen zu haben, und den Willen, sich 
in den Dienst dieser Interessen zu stellen. Er be¬ 
tont aber, dass in diesem Punkte natürlich weit¬ 
gehende individuelle Unterschiede, namentlich auch 
in Bezug auf die Bildungsstufe der Ehegatten in Frage 
kommen. 

Die Unheilbarkeit der geistigen Erkrankung und 
der dauernde Ausschluss der Interessengemeinschaft 
decken sich nicht immer. Gerade bei unheilbaren 
Geistesstörungen ist die Fähigkeit zur geistigen Ge¬ 
meinschaft häufig wenigstens zeitweise vollkommen 
erhalten. Vortr. weist im Uebrigen darauf hin, wie 
vorsichtig man bei der Erklärung der Unheilbarkeit 
einer Geistesstörung sein müsse, wie häufig auch 
nach nach jahrzehntelangem Bestehen unerwartete 
Genesung eintreten könne. Unter den Begriff der 
Unheilbarkeit fallen demnach nur: 1. fortschreitende, 
mit körperlichem und geistigem Verfall einhergehende 
sogen, organisc he Seelenstörungen, wie die progressive 
Paralyse und einzelne Formen der arteri« >sclerotischen 
und der senilen Demenz. Von anderen Geistesstör¬ 
ungen kommen nur diejenigen in Betracht, bei denen 
nach jahrelangem Bestellen ein tiefer geistiger Verfall 
eingetreten ist und bei denen der Kranke sich be¬ 
reits jahrelang ununterbrochen in diesem Zustande 
tiefen geistigen Verfalls befunden hat, endlich noch 
einige Fälle angeborener geistiger Schwäche, bei 
denen die Unfähigkeit zur geistigen Gemeinschaft 
erst nach der Eheschliessung erkannt wurde. 

D i s c u s s i o n. 

Heinroth fragt, welche practischen Maassregeln 
Vortr. vorschlage, um die von ihm gerügte mangel¬ 
hafte Berücksichtigung medicinisch-psychiatrischer Er¬ 
wägungen , namentlich in Betreff des £ 1304 (Ehe- 
schljessung Geistesschwacher und Trunksüchtigen, zu 
verbessern. 


Gramer: Es könnte die Eheschliessung der 
Geistesschwachen und Trunksüchtigen, ähnlich wie 
die Entmündigung Geisteskranker, von einem sach¬ 
verständigen Gutachten abhängig gemacht werden. 

von Planck glaubt, dass man dem gesetzlichen 
Vertreter in den meisten Fällen Vertrauen schenken 
könne, und hält die Anhörung von Sach verständigen 
in allen Fällen nicht für erforderlich. Weiter macht 
er auf die Besserungsfähigkeit mancher Trunksüc h¬ 
tigen aufmerksam. Die von Gramer angegebenen 
Momente für die nachträgliche Anfechtung einer 
Ehe (nach 1333/34) hält er für zutreffend. 

Ehrenberg betont, dass nach § 1304 nur die 
Zustimmung des gesetzlichen Vertreters erforderlich 
ist und dass dieser, also der Vormund, häufig dazu 
wenig geeignet sei und auch die Verhältnisse oft zu 
wenig kenne. Dies wird von Gramer und anderen 
bestätigt. 

von Planck bemerkt noch folgendes: Zur Be¬ 
stimmung des Grades der Geistesstörung kann der 
§ 51 des Str. G. B. herangezogen werden, aber nur 
soweit er sich auf dauernde Zustände bezieht. 

„Die Absicht des Gesetzgebers ging dahin, die 
Ehescheidung wegen Geisteskrankheit möglichst zu 
erschweren und sie auf die Fälle zu beschränken, in 
welchen dem zu scheidenden geisteskranken Theile 
sicher keinerlei Schaden erwüchse und er die Härte 
einer solchen Scheidung gar nicht mehr fühlt. Bei 
der dreijährigen Dauer der Geistesstörung ist daher 
„Geisteskrankheit“ im Sinne des $ 6 B. G. R ge¬ 
meint. Der Ausdruck „Unheilbarkeit“ bezieht sieh 
nicht nur auf die zu Grunde liegende Geisteskrank¬ 
heit, sondern es ist gemeint „Unheilbarkeit“ des¬ 
jenigen Zustande^, durch welchen die geistige Ge¬ 
meinschaft dauernd ausgeschlossen ist. „Die geistige 
Gemeinsc haft besteht solange, als der geistig erkrankte 
Ehegatte eine Bethätigung der Liebe von dem ande¬ 
ren Ehegatten noch empfinden kann.“ 

Detmold sehliesst sich im Wesentlichen den 
Anschauungen v. Planck’s an. 

Gramer (Schlusswort): Nach den Ergebnissen der 
Discussion in Betreff'des § 1304 scheint es wünschens¬ 
wert , dass das Gericht selbst, nicht der gesetzliche 
Vertreter allein, die Genehmigung zur Eheschliessung 
giebt, event. unter Zuziehung von Sachverständigen. 
Z11 den Ausführungen von Planck's betont Cramer 
nochmals die Schwierigkeiten, das Bestehen einer 
Geisteskrankheit im Sinne des £ ö B. G. B. für die 
zurückliegende Zeit von 3 fahren nachzuweisen. Er 
weist darauf hin, dass unter Annahme der oben ge¬ 
gebenen Erläuterungen v. Planck’s eine Ehescheidung? 
wegen Geisteskrankheit kaum möglich sei. 

W ehe r - Göttingen. 

— Bericht über die 2. Jahresversammlung des 
Vereins bayerischer Irrenärzte am 24. Mai IQ04 zu 
A nsba c h 1 Ref. A 1 z h e i in e r und P r o b s t -München. 
(Schluss.) 

A 1 z h ei m er: E i n iges ü ber d i e an a t o m isc h en 
Grundlagen der Idiotie. 

Heute schon steht fest, dass die Idiotie nur ein 
Sammelbegriff ist für sehr verschiedene Krankheits- 


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1004.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Vorgänge, die schon vor der Geburt oder in den 
ersten Lebensjahren das Gehirn betroffen haben. 
Aber in der Abtrennung der einzelnen Krankheiten, 
welche idiotische Zustände veranlassen, sind wir noch 
ganz am Anfänge. 

Einen Krankheitsprocess, den Kretinismus oder 
die mvxödematose Idiotie, haben wir durch die kli¬ 
nische Beobachtung abtrennen gelernt und es ist 
ganz zweifellos, dass er zu den Stoffwechselerkrank¬ 
ungen zu stellen ist, da wir wissen, dass der Ausfall 
der Schilddrüsenfunction ihn mit allen seinen Symp¬ 
tomen verursacht. 

Aber der Trennung der übrigen idiotischen Zu¬ 
stände nach klinischen Gesichtspunkten stellen sich 
jetzt noch unüberwindliche Schwierigkeiten entgegen. 
Est steht zu hoffen, dass uns die pathologische Ana¬ 
tomie hier vorwärts helfen kann. 

Die Gewebsuntersuchung zeigt uns zunächst, dass 
die auffälligen und mehr oder minder für die Idiotie 
cigenthümlichen makr« »scopischen Gehirnbefunde, die 
Makroencephalie und Mikrocncephalie, die Makro- 
gyrie und Mikrogyrie, die Porencephalie und Hydro- 
eephalie nicht eigentliche Krankheiten, sondern schon 
die Folgen verschiedener Krankheitsvorgänge auf das 
noch in Entwicklung begriffene Gehirn darstellen, 
dass sie also nicht für die Abgrenzung natürlicher 
Krankheiten brauchbar sind. Denn diese werden 
sich uns nur dann ergeben, wenn wir auf die ver¬ 
schiedenen KrankheitsVorgänge selbst zurückgehen. 

Von solchen können wir heute schon unter¬ 
st beiden: 

1. die Paralyse. Fälle von jugendlicher Paralyse 
finden sich nicht ganz selten in den Idiotenanstalten, 
am häufigsten solche, bei welchen sich die Paralyse 
bei von Jugend auf Schwachsinnigen entwickelt hat. 
Dieses Zusammentreffen ist unverhältnissrnässig häufig. 
Wahrscheinlich handelt es sich dabei um Paralysen, 
die aufgepropft sind auf einen angeborenen oder früh 
erworbenen Schwachsinn, bedingt durch hereditär 
luetische Veränderungen. 

Hierher gehören wohl auch einzelne Fälle der 
Bourncville’schcn meningitischen Idiotie, soweit sie 
hinsichtlich des ersten Auftretens der paralytischen 
Erscheinungen und der Zeit des Todes mit der Früh¬ 
form der Paralyse übereinstimmen. Dagegen muss 
es noch offen gelassen werden, ob die meningitische 
Idiotie, soweit sie den ersten Lebensjahren angehört, 
durch paralytische, luetische oder andersartige oder 
sogar vielleicht verschiedene Gewebsveränderungen 
verursacht wird. 

2. Die amaurotische Idiotie. Sie scheint durch 
nicht entzündliche, degenerative Veränderungen unter 
besonderer Betheiligung einzelner Fasersysleme ver¬ 
anlasst zu werden, und ist hinsichtlich der Zeit ihres 
Auftretens, ihrer ganzen Erscheinungsform, ihres nahezu 
foudroyanten Verlaufs, ihrer Neigung zu familiärem 
Auftreten eine ungemein scharf gekennzeichnete Er¬ 
krankung. 

3. Die hypertrophische tuberkulöse Sklerose, bei 
welcher sich geschwulstartige Gliawucherungen finden. 

4. Die idiotischen Zustände nach Herderkrank¬ 
ungen des Gehirns. Die Ursachen der Herderkrank¬ 


ungen können sehr vielfache sein. Eine besondere 
Bedeutung wegen ihrer Häufigkeit kommt der Ence¬ 
phalitis zu. Ausserdem können traumatische Blut¬ 
ungen und Zerstörungen des Ilirngewebes, luetische 
Endarteriitis, Embolien, Tumoren idiotische Zustände 
zur Folge haben. Die herdförmigen atrophischen 
Sklerosen sind wenigstens theilweise durch Gefäss- 
erkrankungen bedingt, die Syphilis ist wenigstens eine 
der Ursachen der Gefässerkrankung. 

5. Entwicklungshemmungen. Man hat ihnen früher 
entschieden zu viel Platz eingeräumt. Idiotische Ge¬ 
hirne, welche weitgehende Aehnlichkeit mit foetalen 
Rinden zeigen, sind im Vergleich zu der garten 
Masse der Idiotien offenbar selten. Man findet sie 
noch am ehesten in mikroencephalen Gehirnen mit 
foetalem, also mikrogyrem Windungsbau, in Gehirnen, 
die in ihrer äusseren Form an das Karnivoren- oder 
Affengehirn erinnern. 

Auch ein auf einzelne Windungen beschränktes 
foetales Zurückbleiben scheint vorzukommen. Aber 
da wie dort finden sich oft auch Anzeigen krank¬ 
hafter Vorgänge, so dass wir vielleicht hierin die 
letzte Ursache der Entwicklungshemmung zu suchen 
haben. 

0. Ausgebreitete degenerative Veränderungen von 
verschiedener Art, die noch schwer einer Deutung 
zugänglich sind. 

Manche Rindenbilder, die von Idioten stammen, 
welche gleichzeitig an Epilepsie gelitten haben, er¬ 
innern sehr an die Befunde, welche man auch bei 
der sogenannten genuinen Epilepsie der Erwachsenen 
sieht. Vielleicht handelt es sich hier nur um beson¬ 
ders früh auftretende schwere Formen derselben 
Krankheit. Der Gcwebsbefund zeigt hier einen pro¬ 
gredienten Charakter des Krankheitsvorganges an. 

Andere Bilder lassen einen offenbar schon seit 
lange abgeschlossenen Process erkennen. Da uns die 
Anamnese oft angiebt, dass die Krankheit mit Krämpfen, 
„Fraisen“, „Gichtern“ begonnen habe, werden wir 
vielleicht einmal bei Kindern, welche unter solchen 
Hirnsymptomen gestorben sind, die dazu gehörigen 
acuten Veränderungen finden. 

Wahrscheinlich ist auch damit noc h nicht alles er¬ 
schöpft. Vielleicht finden sieh auch noch hebephre- 
nische Veränderungen in anderen Fällen (Kraepclin). 

Jedenfalls sehen wir jetzt schon , dass die Vor¬ 
stellung nicht richtig ist, welche in den idiotischen 
Zuständen nur fertige, im weiteren Leben keinen 
Krankheitsfortschritt mehr aufweisende Processe sehen 
will. Die Idiotie umfasst vielmehr ganz verschiedene 
Krankheiten, ganz verschiedenen Gruppen angehörig, 
von ganz abweichender Verlaufsart. 

Die weitere Erforschung der Idiotie hat deswegen 
auch für die Psychiatrie im Allgemeinen den grössten 
Werth, weil sie uns einesteils Krankheitsbilder kennen 
lehrt, die wir auch bei Erwachsenen finden , andren- 
theils eigenartige nur der Idiotie zukommende Krank¬ 
heitsvorgänge erkennen lässt. 

Das Studium der ersteren muss unsere Erkennt- 
niss der gleichen oder ähnlichen Krankheiten des 
späteren Alters erweitern, während das Ycrständniss 


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140 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 15. 


der letzteren uns neue pathologisc h - anatomisch und 
klinisch wichtige Gesichtspunkte eröffnen wird. 

(Autoreferat.) 

Diskussion fand nicht statt. 

H e rf el d t-Ansbach giebt in kurzen Zügen einen 
Ueberblick über Ausdehnung, Anlage, 
Belegung, Organisation und Betrieb, so¬ 
wie über fernere Ausgestaltung der von 
ihm geleiteten Anstalt. Nachdem in nächstei 
Zeit im Aufträge und Verlage der mittelfränkischen 
Kreisregierung ein diesbezügliches Werk, betitelt „die 
Kreisirrenanstalt Ansbach“, erscheinen wird, so muss 
hier auf dieses verwiesen werden. Erwähnt sei nur, 
dass die ausgedehnte, im Pavillonsystem angelegte 
Anstalt zur Zeit aus 35 Gebäuden besteht und nach 
ihrem völligen Ausbau zur Aufnahme bis zu 700 
Pfleglingen dienen soll. Dieselbe besitzt Fernheizung, 
eigenes Elektricitätswerk für Licht- und Kraftzwecke 
und gestattet auf ihrem grossen Areal die Verwend¬ 
ung von Kranken im landwirtschaftlichen Betriebe. 
Die vom Vortragenden gegebenen Schilderungen 
wurden bei dein sich anschliessenden Rundgange 
noch entsprechend erläutert. (Autoreferat.) 

Zum Vorsitzenden wurde wiederum Director Dr. 
V ock e - München gewählt, zum näc hsten Versamm¬ 
lungsort München. 

Zum Schlüsse fand eine Besichtigung der Anstalt 
statt. Sie ist unter Anwendung aller Errungenschaften 
der Technik und Berücksichtigung der modernen 
Krankeubehandlung erbaut und dürfte für lange Zeit 
vorbildlich für die Errichtung neuer Anstalten sein. *) 

Aus den geschäftlichen Verhandlungen ist hervor¬ 
zuheben , dass nunmehr den bayerischen An¬ 
staltsärzten eine Reise Vergütung zum Be¬ 
suche von Congressen genehmigt ist; die aus¬ 
geworfene Summe beträgt an 3000 Mk. 

*) Siehe auch d. Beschreibung: des .Projekts in Jahrgang: II, 
S. 7 dieser Wochenschrift. 


Personalnachrichten. 

— Herrn San.-Rath Director Dr. Dittmar in 
Saarge.münd wurde der Character als Geheimer 
Sanitäts-Rath verliehen. 


achten seitens chemischer Laboratorien vor. Eine 
in Dr. C. Bischoffs chemisch-analytischem Laboratorium 
zu Berlin vorgenommene Untersuchung ergab folgenden 
Befund: 

Hygiama ist ein lichtgelb-bräunliches Pulver von 
gleichmässig hohem Feinheitsgrade, von angenehmem 
Kakaogeruch und entsprechendem Geschmack, an 
Kakaobisquit erinnernd. 

Die Analyse ergab folgende Zusammensetzung: 


Feuchtigkeit. 4,748% 

Eiweissstoffe (incl. Theobromin) .... 21,22 % 

(darin verdauliches Eiweiss 16,15%) 

Fett.10,046% 

Lösliche Kohlehydrate.49,10 % 

Unlösliche „ . 9,57b % 

Rohfaser.*. 1,76 °/o 

Mineralstoffe. 3,55 % 

(darin Phosphorsäure 1,0285 %)• 


Die mikroskopische Untersuchung er- 
giebt nur wenige Reste unveränderten Stärkemehles, 
der grösste Theil der Kohlehydrate vom Character 
des Stärkemehles ist kaum zweifelhaft durch einen 
Röstprocess dextrinirt und daher der Form nach 
nicht sicher bestimmbar. Neben den Stärkemehlan- 
theilen finden sich Bestandteile des Kakaopulvers vor. 

Ausder chemischen und mikroskopischen 
Untersuchung ergiebt sich, dass Dr. Theinhardt’s 
Hygiama äusserst reich ist an Gesammteiweissstofien 
und an leicht verdaulichem Eiweiss. Das Präparat 
enthält ferner zum grössten Theil lösliche Kohlehydrate 
in leicht assimilirbarer Form und zeichnet sich durch 
hohen Gehalt an phosphorsäurehaltigen Mineralsalzen 
aus. 

In dieser Zusammensetzung begründet sich von 
selbst der bewährte Ruf des Präparates als ein Nähr¬ 
mittel ersten Ranges. 

Der Geschmack des aus Dr. Theinhardt’s Hygiama 
hcrgcstcllten Getränkes, mit Milch oder Wasser zu¬ 
bereitet, ist ein sehr angenehmer. Die Art der Ver¬ 
packung in dichter Pergamentpapierhülle und gut 
sehliessender Blechdose dürfte die längere Haltbarkeit 
tles Präparates ausser Frage stellen. 

Berlin, den 6. Juni 1899. 

gez.: Dr. C. Bisch off, Chem.-analvt. Laboratorium. 
“ • 9 


Das Nährpräparat Hygiama. 

nter der grossen Zahl von Nährpräparaten hat das 
Hygiama, von Dr. Theinhardt’s Nähr- 
m i 11 e 1 - G es e 11 sc h af t in Can n st a 11, Württem¬ 
berg, hergestellt, sich einen besonders hervorragenden 
Platz erobert. Wenn im Nachstehenden versucht wird, 
einen Ueberblick über die von den Aerzten gemachten 
Erfahrungen zu geben, so kann bei der Menge ein¬ 
schlägiger Mitthcilungcn eine solche Aufstellung keinen 
Anspruch auf Lückenlosigkeit machen, zumal fort¬ 
während neue Beobachtungen zur Veröffentlichung 
kommen. 

Was zunächst die Beschaffenheit und Zu¬ 
sammensetzung dieses Nährpräparats anlangt, so 
liegen hierüber eine Reihe von Analysen und Gut¬ 


Aehnlich lautet die Analyse der Wiener „Unter¬ 
suchungsanstalt für Nahrungs- und Genussmittel des 
Allgemeinen Oesterreichischen Apotheker - Vereins, 
Leiter Dr. Mansfeld“, vom 1 1. November 1899: 

„Wassergehalt. ... 4,19% 

Mineralstoffe.3,46 °/b 

(darin Phosphorsäure 1,03%) 

Fett.9,05 °/o 

Stickst* »ffsubstanz.21,93% 

Lösliche Kohlehydrate.49,45% 

Unlösliche „ 10,69% 

Cellulose.1,23 % 

Summa 100,00%. 

Mikroskopischer Befund: Weizenmehl und Kakao. 

(Fortsetzung folgt.) 


Kür den redaktionellen Theil \erantwoitlu h : Oheiurit Dr. J. liresier, Lublinitz (Schlesien). 

Erscheint ieden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Adle a. S 

Hevnemann’tche Buchdruckerei (Gebr. ''■'-''olff) in Halle a. S. 



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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift. 

Redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Lublinitx (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse: Marho Id Verlag, Hallesaale. Fernsprecher *834. 

Nr. 16. i6- Juii- _1904. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marbold in Halle a. S. entgegen. 

Inserate werden für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermäasigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten. 


Die physikalische Therapie bei Geistes- und Nervenkrankheiten. 

Von Oberarzt Dr. Mönkemöller , Osnabrück. 


T m Allgemeinen ist der Laie stets geneigt, vor den 
therapeutischen Leistungen des Psychiaters einen 
sehr geringen Respect zu haben und anzunehmen, 
dass er mit verschränkten Armen der Entwickelung 
der Krankheit zusieht, ohne eines Einflusses auf Ver¬ 
lauf und Ausgang fähig zu sein. Wie falsch diese 
Ansicht ist, braucht ja nicht dargelegt zu werden, zu 
leugnen ist aber nicht, dass sich des Irrenarztes, vor 
allem, wenn er fern von allen Segnungen der Kultur 
in wilder Einöde seines Amtes waltet, nur zu leicht 
ein gewisser Pessimismus bemächtigt, dass er dem 
Nihilismus verfällt und nur symptomatisch mit seinem 
Krankenmateriale weiter operirt. So ist es gewiss 
auch nicht in Abrede zu stellen, dass die Seg¬ 
nungen der gewaltig aufblühenden physikalischen 
Therapie der Behandlung der Psychosen verhältniss- 
mässig noch recht wenig zu Gute gekommen sind 

— während das Schwestergebiet der Nervenkrank¬ 
heiten ja schon relativ mehr daran Antheil nimmt 

— viel weniger, als das aller Wahrscheinlichkeit 
nach einmal in Zukunft der Fall sein wird. Und 
das ist sehr zu bedauern, denn eine stärkere Benützung 
all dieser Hülfsmittel wäre zweifellos im Stande, den 
Misskredit, in dem die Psychiatrie ja leider noch 
immer bei der Mehrzahl der Laien steht, zu min¬ 
dern, vielleicht auch neue Bahnen für die Genesung 
zu eröffnen, auch wenn wir uns in Bezug auf die 
therapeutischen Folgen, die wir erwarten dürfen, 
nicht dem nöthigen Pessimismus verschliessen, und 
vor allem dem Irrenarzte manchmal eine grössere 
Berufsfreudigkeit zu verschaffen. Sind doch schon 
allein die klangvollen Namen, mit denen fast alle 
diese Methoden ausgestattet sind, im Stande, auf das 
Gemüth einen wohlthätigen und beruhigenden Ein¬ 
fluss auszuüben. 

Wenn ich mir im folgenden gestatten möchte, aus 
dem trefflichen Handbuche G o 1 d s c h e i d e r’s und 


Jacob’s*) einen kurzen Abriss alles dessen zu geben, 
was aus dem Gebiete der physikalischen Therapie 
in das Gebiet der Geistes- und Nervenkrankheiten 
schlägt, so bin ich mir wohl bewusst, dass dieser Aus¬ 
zug nur ein recht ungenügendes Bild der praktischen 
Bedeutung dieser Methoden geben kann. Gerade 
auf die Einzelheiten der Methoden und ihre präcise 
Handhabung kommt sehr viel an, und diese lassen 
sich eben im Auszuge nicht einmal andeuten. Aber 
immerhin genügt dieser Auszug, um auf die Un¬ 
entbehrlichkeit und den praktischen Werth des 
Buches für den Fachmann hinzuweisen. Ueber die 
sonstigen Vorzüge des gesammten Werkes, die lücken¬ 
lose Verarbeitung des Stoffes, die systematische, über¬ 
sichtliche Anordnung und die ausgezeichnete Aus¬ 
stattung brauche ich wohl kein Wort des Lobes zu 
verlieren, das Werk hat sich in den Jahren seit seinem 
Erscheinen derartig den Weg gebahnt, dass jede 
weitere Hervorhebung überflüssig erscheint. Ich gehe 
sofort in medias res. 

In der Klimatotherapie (Historisches: 
Pagel, Klinisches: Nothnagel) hat schon 
Aretäus bei der Behandlung der Cephaläa Klima¬ 
wechsel und Reisen aus kalten in wärmere Ortschaften 
empfohlen und zur Bekämpfung der Epilepsie das 
Reisen angepriesen. In die Behandlung der Psy¬ 
chosen ist die Klimatotherapie — wenigstens theore¬ 
tisch — in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts 
hereingetragen worden. Wenn man bedenkt, wie ab¬ 
hängig die meisten Menschen in psychischer Bezieh¬ 
ung von der Beschaffenheit des Wetters sind, sollte 
man annehmen, dass wenigstens bei manchen affec¬ 
tiven Erkrankungen klimatotherapeutische Maassnahmen 
von Nutzen sein könnten, und in der That suchen 


*) Handbuch der physikalischea Therapie. Leip¬ 
zig 1901 und 1902. Georg Thieme. 


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142 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


ja auch Laien und Aerzte im Beginne so mancher 
oft nur geahnter und nicht vorausgesehener Psychosen 
durch „Luftveränderung“, Reisen, Aufenthalte in 
Sommerfrischen u. s. w. dem drohenden Uebel bei¬ 
zukommen. Die Resultate, die man bis jetzt von 
derartigen Eingriffen gesehen hat, ermuthigen aller¬ 
dings nicht zur unbeschränkten Anwendung der Kur. 
Wenn man auch hoffen darf, dass bei einer vorsich¬ 
tigen Indicationsstellung und vor allem bei einer 
mehr systematischen Anwendung, vielleicht in Com- 
bination mit einer zweckmässigen Anstaltsbehandlung, 
noch auf günstigere Resultate zu rechnen sein könnte, 
so wird man doch Nothnagel beistimmen müssen, 
dass für die Psychosen im Allgemeinen die 
Klimatotherapie ausfallen muss und für die meisten 
organischen Erkrankungen des Nervensystems im 
wesentlichen nur dann gelten kann, wenn der Zustand 
des Gesammtorganismus einen Luftwechsel er¬ 
fordert. 

Sogar für die meisten functioncllen Nervenkrank¬ 
heiten hat nach seiner Ansicht das Klima nicht den 
geringsten therapeutischen Werth — mit Ausnahme 
der Ner vosität und Neurasthenie, deren 
Wurzeln ja allerdings weit in das Gebiet der psy¬ 
chischen Erkrankungen herüberreichen. Hier unter¬ 
stützt es oft in überraschendster Weise die sonstigen 
therapeutischen Maassnahmen, wenn auch die Wahl 
des Ortes eine sorgfältige Ueberlegung und Anpass¬ 
ung an den konkreten Fall erfordert, da Patienten 
mit scheinbar gleichem klinischen Bilde sich unter 
denselben klimatischen Verhältnissen gelegentlich ganz 
verschieden befinden. Die psychischen Momente 
nehmen eben unter den Heilfactoren die erste Stelle 
ein und diese werden immer unberechenbar bleiben. 
Dazu ist bei den schwersten Formen der Neurasthenie 
eine Heilung fast überhaupt nicht zu erreichen. Allge¬ 
meine Regeln sind daher kaum aufzustellen. Nothnagel 
empfiehlt u. A. dass Neurastheniker, die schwer arbei¬ 
ten, mehrere Male im Jahre eine klimatische Kur 
durchmachen sollen und dass man in schweren Fällen 
Anstalten in nicht zu execssivem Klima bevorzugt. 
Dabei beeinflusst schlechtes Wetter die Kur oft in sehr 
unangenehmer Weise. Von Winden stark heimge- 
suchte Plätze sind zu vermeiden. Dabei kommt es 
auf das Wesen der Neurasthenie, nicht auf ihre 
wechselnden Erscheinungsformen an , nur soll 
im Allgemeinen darauf Rücksicht genommen werden, 
ob der Allgemeincharakter nach der alten klinischen 
Ausdrucksweise torpide oder erethisch ist. Der Aufent¬ 
halt im Freien ist von grösster Wichtigkeit. Zur 
Durchführung der anderen physikalischen, diätetischen 
und psychologischen Heilfaktoren ist ein Sanatorium 


[Nr. 16. 


oder zum mindesten ein sachverständiger Arzt er¬ 
forderlich. Ob ein Neurastheniker an die See oder 
in das Hochgebirge geschickt werden soll, lässt sich 
nicht durch allgemeine Regeln entscheiden, nur soll 
man bei Fällen, die man nicht kennt, zuerst indiffe¬ 
rente klimatische Plätze vorschlagen und vorsichtig 
tastend Vorgehen. Immer sind dabei etwaige Idio¬ 
synkrasien zu berücksichtigen. Bisweilen sollen'zu¬ 
fällig unternommene Seereisen günstig wirken, doch 
sind sie im Allgemeinen wegen der sonstigen Verhält¬ 
nisse auf dem Schiffe abzurathen. 

Zur Durchführung der Höhenlufttherapie 
(Physiologie: Loewy. Aerztliche Erfahrungen: Eich¬ 
horst) sind die bedeutenderen Höhen schon deshalb 
auszuschliessen, weil der Schlaf hier meist flach und 
durch Träume gestört ist, und die unangenehmen 
Akklimatisationserscheinungen z. Th. selbst nervöse 
Krankheitssymptome darstellen, obgleich gerade diese 
meistens der Suggestion in hohem Maasse zugänglich 
sind. 

Geisteskrankheiten im engeren Sinne eignen 
sich deshalb gewöhnlich nicht dafür, weil die stark 
anregenden Eigenschaften der Höhenluft sehr leicht 
bestehende Erregungszustände steigern oder überhaupt 
erst solche wachrufen können. Auch die Hysterie 
profitirt verhältnissmässig wenig von den Vortheilen 
der Behandlung. Dagegen werden H y pochonder 
durch die vielen neuen Eindrücke davon abgehalten, 
sich stets mit dem eigenen Körper zu beschäftigen, 
und die Magen- und Darmthätigkeit wird durch den 
Aufenthalt in der frischen Luft und die viele Be¬ 
wegung angeregt. Leider pflegt die Besserung nur 
so lange anzuhalten, wie der Kranke sich ferne von 
den Schädlichkeiten des Alltagslebens befindet. Dass 
die Neurasthenie sich gelegentlich im Höhen¬ 
klima bessern kann, ist schon erwähnt, immer die 
strengste Berücksichtigung ihrer Individualität vor¬ 
ausgesetzt. Die Berufsgeschäfte, die ja meistens die 
Ursache des Leidens darstellen, sind vollständig von 
dem Kranken fernzuhalten. Gute Erfolge wurden 
durch Höhenluftkuren beim Morbus Basedowii 
erzielt, wenn auch hier in der Regel die Akklimati¬ 
sationserscheinungen in besonderem Maasse über¬ 
wunden werden müssen. Die Hauptsache ist hierbei 
wohl darin zu suchen, dass das ganze Nervensystem 
gekräftigt wird. Auch Paralvsis agitans und 
Chorea befinden sich aus dem gleichen Grunde im 
Höhenklima ganz wohl, ohne eine deutliche Veränder¬ 
ung nach der guten oder schlechten Seite hin auf¬ 
zuweisen. Nicht minder ist bei Tabes dorsalis 
und ähnlichen Rückenmarkserkrankungen der Aufent¬ 
halt im Gebirge zu empfehlen, vor allem, wenn 


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I904.J 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


143 


er ebene Spaziergänge bietet. Der Aufenthalt ira 
Freien und die regelmässigen Spaziergänge selbst im 
Winter wirken um so anregender, je regelmässiger 
systematische Coordinationsübungen damit verbunden 
werden. Dass die anatomischen Veränderungen da¬ 
durch unbeeinflusst bleiben, ist ja leider selbstver¬ 
ständlich. 

Dagegen werden bei der Epilepsie durch die 
Höhenluft sehr leicht angehäufte Anfälle ausgelöst, 
auch Neuralgieen verschlimmern sich hier in der 
Regel. Und ebenso ist für manche Krankheiten des 
Nervensystems die Höhenluft geradezu kontraindicirt. 
So können sich Gehirnblutungen in der unter 
vermindertem Drucke stehenden Höhenluft sehr leicht 
wiederholen, sodass eigentlich schon der Habitus apo- 
plecticus den Gebirgsaufenthalt verbieten sollte. Auch 
mit Abscess oder Geschwulstbildung im Gehirn 
behaftete Personen sollten dem Hochgebirge fern 
bleiben, da sie dort fast immer durch unerträgliche 
Kopfschmerzen und langdauemde komatöse Zustände 
geplagt werden. 

Die Pneumatotherapie (Historisches: Pagel, 
Physiologisches: du Bois Reymond jr., Aerztliches: 
Liebig) wird der Natur der Sache nach im wesent¬ 
lichen in unserem Specialgebiete ein fremder Gast 
bleiben, wenn auch die Franzosen bei manchen Fällen 
von Epilepsie den erhöhten Luftdruck angewandt 
haben, und wenn auch die Ableitung des Blutes 
vom Kopfe durch die pneumatischen Apparate bei 
Zuständen von Eingenommenheit des Kopfes und 
bei fluxionärer Hyperämie des Gehirns von 
Nutzen sein kann. Vielleicht könnte auch bei Angst¬ 
zuständen, wie sie sich bei Psychosen und Neurosen 
der verschiedensten Art im Anschlüsse an organische 
Veränderungen des Herzens gelegentlich einstellen, 
die Anwendung der pneumatischen Apparate oder 
der pneumatischen Kammer eine Linderung herbei¬ 
führen. Im besten Falle wäre diese Methode ja nur 
als symptomatisches Mittel zu verwerthen. Mehr als 
das, wenn überhaupt so viel, wird auch die Inha¬ 
lationstherapie (Lazarus) in unseren Special¬ 
gebieten niemals leisten. 

In ein bekannteres und weiteres Gebiet führt uns 
dagegen die Balneotherapie (Historisches: Pagel, 
Sonstiges: Liebermeister). Nervöse und psychische 
Krankheiten sind ja schon seit Jahrhunderten durch 
den Aufenthalt in Bädern beeinflusst worden oder 
sollten es doch werden. Auch jetzt werden die Heil- 
factoren, mögen sie nun indirekt wirken oder durch 
die Beeinflussung des Stoffwechsels, durch die Reiz¬ 
ung der Haut, durch die Anregung der Cirkulation 
und Respiration sich bethätigen, im Beginne mancher 

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psychischen Leiden, vor allem aber bei der dauernden 
Behandlung der Nervenkrankheiten in Anspruch ge¬ 
nommen. 

Die Indikationen, die bei den verschiedenen ner¬ 
vösen Krankheiten in Bezug auf die Auswahl der 
einzelnen Bäder gestellt werden müssen, sind schon 
in fortschreitendem Maasse Gemeingut der nervenärzt- 
lichen Praxis geworden. So werden zur Beruhigung 
der Nerven die indifferent warmen Wild bä der bei 
den erethischen Formen der Neurasthenie sowie bei 
hysterischen und traumatischen Neurosen herange¬ 
zogen, ebenso wie die lauen Akratothermen bei 
Neuritiden, bei Neuralgieen, bei Lähmungen nach 
Apoplexie sowie bei Myelitis und Tabes indicirt sind. 
Denselben Effect erzielen bei diesen Krankheiten 
häufig die Mineralbäder, während bei Tabes die 
K 0I1 len Säurebäder vor allem gute Erfolge ge¬ 
währleisten, wenn Anästhesie, Muskelschwäche und 
allgemeiner Torpor in den Vordergrund des Krank¬ 
heitsbildes treten. Die kohlensäurehaltigen Gasbäder 
werden bei Neuralgieen und peripheren Lähmungen 
warm empfohlen, ohne dass allerdings der Erfolg über 
allen Zweifel erhaben wäre. 

Bei der Behandlung nervöser Schwächezustände, 
bei Myelitis und selbst bei Gehimembolien haben 
die Soolbäder vor den Kohlensäurebädem den 
Vorzug, dass ihre Reizwirkung zwar langsamer ein- 
tritt, aber infolge der Adhäsion der Badestoffe länger 
anhält, sodass sie die Erregbarkeit der Nerven all¬ 
mählich herabmindern. Moor- und Schlamm¬ 
bäder haben ihr Hauptindikationsgebiet bei der 
Neuritis, die Fangoeinpackungen entfalten bei den 
Neuralgieen eine ausgezeichnete Wirkung. 

Die Thalassotherapie (Geschichtliches: Mar- 
cuse, klimatische Verhältnisse und Seesanatorien: 
Hiller, Technik der Seebäder und Seereisen: Weber) 
wandte schon Plinius an, der das Meerwasser gegen 
Nervenschmerzen verordnete und die heilende Wirk¬ 
ung des Seewassers (im Klystier) gegen Nervenleiden, 
Tremor und Paralyse empfahl. 

Die schon im Alterthume bei Nervenleiden warm 
angepriesenen, aber später jahrhundertelang in Ver¬ 
gessenheit gerathenen Seebäder entriss Hermann Weber 
der Vergessenheit. Die Wirkung der starker* Nerven¬ 
reize, die durch die Kälte, den Salzgehalt und den 
kräftigen Wellenschlag gesetzt werden, wird wohl noch 
übertroffen durch die psychische Beeinflussung. Der 
Eindruck einer gewissen Gefährlichkeit, die Nothwendig- 
keit, sich durch eigene Kraft auf den Beinen er¬ 
halten zu müssen, der durch das Wellenspiel ver¬ 
ursachte sinnliche Reiz, heben das gesunkene Selbst- 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 16. 


vertrauen und so erklärt sich die günstige Einwirkung 
auf die Thatkraft n eurastheni sch er Personen. 

Während bei ausgeprägter Schwäche und Reizbar¬ 
keit des Nervensystems nach akuten Krankheiten 
grosse Vorsicht geboten ist und Epileptiker nur in 
Ausnahmefällen und nie ohne einen kräftigen Bade¬ 
diener baden sollen, bilden die Seebäder — natür¬ 
lich immer mit Umsicht der Individualität des Kran¬ 
ken angepasst— bei vielen functioneilen Affec- 
tionen des Nervensystems ein wichtiges Heil¬ 
mittel —, vor allem bei nervöser Dyspepsie, bei 
nervösen Kopfschmerzen, bei leichteren diphtheri- 
tischen Lähmungen und bei hysterischen Paresen. 
Allerdings können manche sogenannte „nervöse Kon¬ 
stitutionen“ die Seeluft nicht vertragen. 

Die Heilfactoren einer Seereise: Reinheit der 
Luft, Gleichmässigkeit der Temperatur, Fülle von Licht, 
belebende Seewinde, Fehlen der Ueberanstrengung, 
geistige Ruhe, gute Ernährung und passive Bewegungen 
erscheinen dazu angethan, bei einer Reihe von Neu¬ 
rosen und leich te ren nervösen Stör ungen 
segensreich zu wirken. Da natürlich hierbei sehr 
viel auf die Beschaffenheit der Schiffe ankommt, 
wäre die Einrichtung besonderer therapeutischer 
Schiffe, die diesem Specialzwecke entsprechen, an¬ 
zustreben. Da Weber als Gegenanzeigen gegen diese 
Behandlung u. A. nur Schlaflosigkeit während der 
Seereisen, Epilepsie, Melancholie, alle Geistesstörungen 
mit Neigung zum Selbstmord und Neigung zu perio- 
disehen Anfällen von Manie und anderen Formen 
von Irresein auflasst, so blieben noch Geisteskrank¬ 
heiten genug übrig, um den Versuch einer schwim¬ 
menden Irrenanstalt als lohnend erscheinen zu lassen. 

Es wäre das endlich einmal ein vollkommenes Novum 
in der etwas monoton gewordenen Behandlung der 
Psychosen. Die vielen Vortheile, die für diese neue 
Verpflegungsmethode sprechen, die Unmöglichkeit der 

-—-*♦« 


Entweichungen, die Leichtigkeit, prolongirte Bäder 
geben zu können, die Unabhängigkeit von allen bureau- 
kratischen Scheerereien und von obenher kommenden 
wohlwollenden Beeinflussungen, die Unmöglichkeit 
unbequemer verwandtschaftlicher Besuche, liegen auf 
der Hand. Dass einige Bedenken noch dagegen 
sprechen, wird ja wohl leider von den konservativen 
Elementen in der Psychiatrie geltend gemacht werden. 

Bei Nervenkrankheiten sind die Seereisen ja 
schon längst in Aufnahme gekommen. Eine specifische 
Einwirkung soll ihnen auf den Morbus Basedowii zu- 
koramen, wenngleich dies von kompetenter Seite 
völlig geleugnet wird. Bei allen nervösen Leuten, 
die durch die verschiedensten Verhältnisse in einen 
Zustand von Gemüthsdepression oder chronischer Ge¬ 
reiztheit gerathen sind, empfehlen sich solche Reisen 
ganz besonders. Auffallend günstige Resultate werden 
auch von der Behandlung des Tabes berichtet. Gleich 
erfreuliche Erfolge zeitigen die Seereisen beim chro¬ 
nischen Alkoholmissbrauch, nur müssen die Schiffs¬ 
besitzer vollkommen sicher und zuverlässig sein. 
Weber schlägt daher mit vollem Rechte die Einricht¬ 
ung von Enthaltsamkeitsschiffen vor, die mit Be¬ 
quemlichkeiten und Unterhaltungsmitteln aller Art 
ausgestattet sein sollen, bei denen aber alle geistigen 
Getränke sowohl für die Passagiere als auch für die 
ganze Schiffsmannschaft auf das strengste verpönt 
sind. 

In ähnlicher Weise könnte man dann auch den 
Kampf gegen den Morphinismus und Cocainis¬ 
mus aufnehmen. 

Die Einrichtung von Seesanatorien oder 
schwimmenden Seehospizen ist bis jetzt weder 
deri Geisteskrankheiten noch den Nervenkrankheiten 
zu gute gekommen; fasst Hiller ja sogar alle Psy¬ 
chosen und unheilbaren Neurosen als Kontraindika¬ 
tion gegen die Aufnahme in ein Seesanatorium auf. 

(Fortsetzung folgt.) 


Mittheilungen. 


— XXIX. Wanderversammlung der süd¬ 
westdeutschen Neurologen und Irrenärzte am 

28. und ^29. Mai 1904 in Baden-Baden. (Referent 
Dr. Krauss-Kennenburg.) 

Die Versammlung fand unter zahlreicher Bethei¬ 
ligung statt. 1. Sitzung, 28. Mai, Vormittags 11 Uhr. 
Vorsitzender: Geheimrath Hitzig-Halle a. S. 

1. Professor E ding er- Frankfurt und Professor 
Goldmann-Freiburg: Zur hirnchirurgischen 
Technik mit Demonstration. 

Prof. Hitzig hat eine grosse Anzahl von Hunde¬ 
gehirnen, die nur an einer ganz kleinen Rindenstelle 


sehr flach lädirt waren, Edinger zur Untersuchung 
überlassen. Es wurden sorgfältige Serienschnitte her¬ 
gestellt. Dabei fiel auf, dass selbst nach den mini¬ 
malsten Abtragungen, die nicht einmal die volle Rin¬ 
dendicke betrafen, sicher aber nach allen einiger- 
maassen tieferen sich immer dicht unter der Wunde 
grössere oder kleinere Blutergüsse, an den älteren 
Fällen auch kleine Cysten fanden. Diese Beobacht¬ 
ungen zusammengehalten mit der Erfahrung, dass 
menschliche Gehirne, die einen chirurgischen Eingriff 
erlitten haben, immer nahe demselben ausgedehnte 
Erweichungen und vor allem immer viele kleine Blut- 


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Original fram 

HARVARD UNIVERSITY 



1004.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 145 


austritte zeigen, führten zur Fragestellung, ob man 
nicht überhaupt das Messer vermeiden 
könnte. Es wurden eine Reihe Aetzmittel geprüft 
und schliesslich in der wässrigen Chromsäure ein sehr 
tief wirkendes, in dem Formalin ein gelinderes Mittel 
gefunden, das im Stande ist, wenn auf gepinselt 
einen Theil des Gehirnes spurlos zum 
Verschwinden zu bringen. Offenbar wird die 
in vivo gehärtete Substanz sehr bald resorbirt. In 
der Nachbarschaft finden sich so gut wie gar keine 
Reizwirkungen, die Rinde dicht an den grossen 
Narben scheint normal. Es liegt Pia und ev. Dura 
einfach in den Lücken der Rinde fest an. Auf 
diesem Wege ist bei der Maus zunächst die fast 
völlige Vernichtung einer Hemisphäre gelungen, dann 
wurden Versuche an Kaninchen gemacht. Hier sind 
tiefe Läsionen erzeugt worden, einmal wurde auch 
der Ventrikel eröffnet, wie die Schnitte zeigen, welche 
demonstrirt werden. Irgend welche Störung ist da¬ 
durch nicht entstanden. Die Wunde heilt glatt aus. 
Edinger und Goldmann halben sich zu gemeinsamer 
Arbeit verbunden, um zu untersuchen, wie weit cs 
möglich ist, die Methode, welche offenbar viel scho¬ 
nender als der Messereingriff wirkt, und zu heilenden 
schönen Narben führt, in der Chirurgie zu verwenden. 

Es gilt zunächst die Tiefenwirkung einer Pinsel¬ 
ung näher zu ermitteln, auch zu erfahren, wie mehr¬ 
fache Pinselungen wirken und wie grosse Stücke der 
Hemisphären man bei grossen Thieren durch die 
ganz symptomlos verlaufende Aetzung entfernen kann. 
Das Verfahren wurde bereits mit Nutzen zur Her¬ 
stellung künstlicher Degenerationen verwendet und 
dürfte auch der experimentellen Physiologie Dienste 
leisten. Schon jetzt erscheint es wahrscheinlich, dass 
weiche Geschwülste, inoperable diffus aufsitzende Tu¬ 
moren, Himpiolapse und vor allem kleine oberfläch¬ 
liche Herde, reizende Narben, die man gewöhnlich 
ausschneidet, angreifbar sind. 

Goldmann und Edinger sind mit weiteren Unter¬ 
suchungen beschäftigt. (Autoreferat.) 

Discussio n. 

Hitzig: Es sei ihm unklar, warum bei den Cau- 
sticis, die Edinger anwandte, die bei Eingriffen mit 
dem Messer erfolgenden Blutungen (secund. Degene¬ 
ration) nicht einträten, da doch beiderseits die von 
der Oberfläche her eintretenden arteriellen Blutge¬ 
fässe lädirt würden. 

2. Saenger-Hamburg demonstrirt einen von der 
Elektrode aus regulirbaren galvanischen Apparat. 

An der Elektrode befinden sich zwei Knöpfe. 
Durch Druck auf den einen Knopf wird ein im 
Apparat verborgenes Uhrwerk in Gang gesetzt, wo¬ 
durch der Rheostat bewegt wird. Durch den Druck 
auf den zweiten Knopf wird die Bewegung in ent¬ 
gegengesetztem Sinne ausgeführt. Der Vortheil dieses 
galvanischen Apparates besteht darin: 

1. dass der Untersucher seinen Ort bei Acnder- 
ung der Stromstärke nicht im Mindesten zu ändern 
braucht, 

2. dass die Zeit der clcktrodiagnostischen Unter¬ 
suchung sehr wesentlich abgekürzt wird , indem man 
die Minimalzuckung rasche*" er uiercn kann, 

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3. indem man einen Assistenten nicht benöthigt. 

Der neue Apparat ist bei R. Seiffert, Hamburg, 
zu haben. 

3. Dr. Li n k - Freiburg : Ueher ein wenig be¬ 
achtetes M u sk e 1 ph ä n o m e n. 

Vortr. berichtet über klinische Untersuchungen 
des Muskeltons beim Menschen. Die nach einer 
kurzen physiologischen Einleitung und Hinweis auf 
die Litteratur mitgetheilten Resultate sind folgende: 
Ueber völlig gelähmten Muskeln fehlt natürlich der 
Muskelton, zu dessen Demonstration beim Gesunden 
jeder willkürlich in Tetanus versetzte Muskel, z. B. 
der adductor pollucis, geeignet ist, über paretischen 
Muskeln ist er abgeschwächt. Ist eine willkürliche 
Bewegung überhaupt möglich, so ist auch ein Muskel¬ 
ton da, selbst bei partieller EAR. Bei galvanischen 
Zuckungen normaler Muskeln ist kein Ton zu hören, 
bei Ka S Te dagegen ein Ton von der Höhe des 
bei willkürlichem Tetanus auftretenden. Bei der 
trägen Zuckung der EAR fehlt der Muskelton, 
auch bei mechanisc her Reizung, was für die Theorie 
der EAR interessant ist. Bei faradischer Reizung 
eines nicht reagirenden Muskels ist nichts zu hören, 
bei der eines reagirenden Muskels bekanntlich der 
der Unterbrechungszahl des Apparats entsprechende 
Ton. Bei tiefen Reflexen ist nichts wahrnehmbar, 
bei Hautreflexen, auch dem Babinskrschen, ein leiser 
Ton. Bei den verschiedenen Formen des Zitterns 
ist der Muskelton zu hören, auch bei Athetose. Ueber 
nutritiv verkürzten Muskeln — fixirter Spitzfuss, alte 
Gonitis und Coxitis — fehlt der Muskelton, falls keine 
willkürliche Bewegung mit denselben gemacht wird, 
was für die Diagnose von Simulation werthvoll sein 
kann, da er über jedem w i 11 k ü r 1 i c h angespannten 
Muskel wahrnembar ist. Ferner fehlt er über den 
Contracturen der Kranken mit spastischer Lähmung, 
falls sie keine willkürliche Innervation anwenden. 
Vortr. wirft die Frage auf, ob der Innervationsvor¬ 
gang bei diesen wohl reflectorisch vom Rückenmark 
aus unterhaltenen Contracturen ein anderer ist als 
der bei willkürlichen Tetanus. Benutzt wurde als 
Intrumentarium das Hörrohr und das Phonendoscop 
von Bazzi-Bianchi, das eine genaue Lokalisation und 
bei vorsichtiger Anwendung — nicht andrücken, nur 
lose aufsetzen — eine gute Vermeidung von Neben¬ 
geräuschen ermöglicht, sowie den Muskelton ent¬ 
sprechend dem Eigenton der Kapsel verstärkt. 

Vortr. demonstrirt ausser dem normalen Muskel¬ 
ton den bei KaSTc und bei faradischer Reizung, 
sowie das Kehlen desselben bei der langsamen Zuck¬ 
ung der EAR. 

Eine ausführliche Bublication erscheint demnächst 
voraussichtlich im Neurologischen Centralblatt. 

(Autoreferat). 

4. I *rc »f. A x e n f e 1 d - Freiburg: T r a u in a t i s c h e 
r e f 1 c c t o 1 i s c h e P u p i 11 e n s t a r r e. 

Wenn bei Augenmuskellähmungen nach Schädel- 
contusionen der Sphinkter iridis betheiligt ist, so lässt 
sich, wie auch sonst auf dem Gebiet der Ophthalmoplegia 
interna, nicht selten nachweisen, dass starke und 
längere Convergenz noch einen Rest von Contraction 

Original from 

HARVARD UNIVERSITY 



146 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 16. 


herbeiführt, wo eine Lichtreaction gar nicht mehr 
besteht 

Diese Contraction kann den sogenannten „myoto- 
nischen“ Typus (Strassburger, Saenger, Nonne u. A.) 
darbieten. Eine reflectorische Pupillenstarre im vollen 
Sinne des Wortes ist das nicht, sondern ein Ausdruck 
der Thatsache, dass die Convergenzinnervation für 
die Pupillarbewegung überhaupt der stärkere Reiz zu 
sein pflegt. 

In einem andern Fall war nach Contusion des 
Bulbus, welche zu massiger Mydriasis traumatica und 
Ruptura chorioideae (bei S = 5/24, freiem Gesichts¬ 
feld) geführt hatten, eine Zeit lang keine direkte 
Lichtreaction vorhanden, während eine solche bei 
Convergenz erfolgt und ebenso bei consensueller 
Belichtung. Hier ist in erster Linie daran zu denken, 
dass die Pupillarfasern des Sehnerven auf 
der verletzten Seite stärker lädirt waren. Es ist diese 
Möglichkeit theoretisch bereits erörtert worden. All¬ 
mählich kehrt auch eine träge, direkte Lichtreaction 
wieder. Eine reflectorische Pupillenstarre im Robertson- 
schen Sinne ist auch dieser interessante Befund noch 
nicht. 

Näher stehen derselben schon Fälle wo eine trau¬ 
matische Ophthalmoplegia interna zurückgeht, aber die 
Lichtreaction nicht wiederkehren will, während die 
bei Convergenz sich zurückbildet. Es entspricht das 
den andern nicht traumatischen Fällen der Litteratur, 
in denen nach basaler oder peripherer Oculomotorius¬ 
lähmung sich solch ein Pupillar-Verhalten anschloss. 
Meistens bleiben aber dabei Reste von Ophthalmoplegia 
interna zurück, die Pupille bleibt etwas erweitert und 
auch die Convergenzreaction erfolgt nur träge. Vortr. 
hat nach Schädelcontusion mit Abducenslähmung der 
einen Seite diese Pupillenstörung sogar doppelseitig 
gesehen. 

Aber selbst das Vollbild der Robertson’schen 
reflectorischen Pupillenstarre nach Schädelcontusion 
ist möglich, wenn auch wohl sehr selten. Vorir. 
meint damit nicht den öfters in der Litteratur be¬ 
richteten Fall, w'o bei einem früher Syphilitischen nach 
Trauma doppelseitige typisch reflectorische Starre sich 
fand ; in solchen Fällen liegt eine zufällige Combina- 
tion nahe. Sondern er hat beobachten können, wie 
nach Contusion des Schädels mit Commotio cerebri 
nur auf der einen Seite, welche ausserdem eine leichte 
Parese des rectus inferior zeigte, eine engere, auf 
Licht direkt und consensuell fast ganz starre (unter 
der Lupe war noch eine leichte Bewegung erkenn¬ 
bar) auf Convergenz aber bis zur höchstgradigen 
Myosis sich contrahirende Pupille sich fand, wie wir 
dies besonders bei Tabikern sehen. Die andere 
Seite war normal in jeder Hinsicht. Ob hier der 
Reflexbogen isolirt lädirt war, ob an das neuerdings 
herangezogene Ganglion ciliare zu denken ist, möchte 
Vortr. unentschieden lassen. 

Die Möglichkeit einer typischen reflectorischen 
Pupillenstarre nach Trauma, die bisher bestritten 
wurde, ist aber nicht abzulehnen und auch die an¬ 
dern oben genannten Störungen verdienen difleren- 
tialdiagnostische Beachtung. (Autoreferat). 


5. Dr. von Ho ff mann: Besserung oder 
eventuelle Beseitigung des Thränenträufelns 
bei Facialislähmung. 

Vortr. stellt einen Fall von doppelseitiger Faci- 
alisparese vor und zeigt, wie das Krankheitsbild, 
welches durch Schwächung der Contraction des Orbi- 
cularmuskels und noch schlimmer bei vollkommener 
Lähmung desselben am Auge sich entwickelt, durch 
eine kleine Operation am unteren Thränenkanälchen 



gebessert werden kann. Bei vollkommener Lähmung 
ist, wie bekannt, der Lidschluss unmöglich, das untere 
Augenlid sinkt herab und das Stagniren der Thränen 
an der tiefsten Stelle der Lidspalte, in der Mitte des 
unteren Lides, führt zu Entzündung der Bindehaut 
und des unteren Homhautrandes, wenn nicht öfteres 
Auswaschen des Auges bei Tage und ein das Auge 
schliessender Schutzverband bei Nacht angewendet 

Fig. U. 



wird. — Bei Parese des Facialis kommt es vorzugs¬ 
weise darauf an, in wieweit die Blinzelbewegung der 
Lider und speciell die Action des Musculus Homeri 
getrennt ist oder sich bei Facialisparalyse nach und 
nach wieder herstellt. Die neuesten Arbeiten von 
Schirmer (Gräfe's Archiv, 1903, Band 56, Heft 2) 
haben dargethan, dass die Blinzelbewegnng für die 
Abfuhr der Thränen das allein wirksame Moment 
bildet. So ist denn die an schematischen Wirkungen 
demonstrirte keilförmige Excision (eines Schleimhaut¬ 
stückchens an der inneren Wundlippe nach voraus¬ 
gegangener Bowman’schen Spaltung des unteren 
Thränenkanälchens) bei geschwächter Blinzelbeweg¬ 
ung geeignet, den Thränenabfluss zu erleichtern 
respective oft vollkommen wieder herzustellen. Beim 


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Original fram 

HARVARD UNiVERSITY 






iqo 4 ] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCH ENSCH RIFT. 14 7 


Herabsinken oder vollkommener Lähmung des unteren 
Lides ist nach Excision eines entsprechend grösseren 



Stückes der Conjunctiva eine Hebung des Lides 
durch Anlegung einer Sutur mit dem Ausstichspunkt 
durch die Caruncuia lacrimalis angezeigt, was ebenfalls 
durch schematische Zeichnung demonstrirt wird. 

(Autoreferat.) 

6. Professor Dr. Schultze-Bonn: Neuropatho¬ 
logie und innere Medicin. 

Es ist nicht wünschenswerth, dass die innere 
Medicin in weitere Specialitäten zerfalle, so noth- 
wendig es ist, dass der Psychiater die Grenzfälle 
kennen lernt, so wenig könne inan demselben, wie 
neuerdings gefordert wird, alle Nervenkrankheiten zu¬ 
weisen, logischer Weise müsste man sonst das ganze 
Material der inneren Medicin den Psychiatern zu¬ 
fallen lassen, denn alles hat nervöse Beziehungen. 
Alle Uebergriflfe in die einzelnen Gebiete sollten ver¬ 
mieden werden. 

Discussion: 

Erb verwahrt sich ebenfalls gegen den Einbruch 
der Psychiater in das Gebiet der internen Medicin. 
Für den Psychiater sind die Gehirnkrankheiten Fälle 
mit vorwiegend psychischen Erscheinungen. Von 
den Grenzfällen gehören die vorwiegend somatischen 
dem Internen, Rückenmuskelkrankheiten haben für 
den Psychiater kein Interesse. Eine Theilung der 
Grenzfälle muss festgelegt und überall Nervenkliniken 
errichtet werden. 

Hitzig: Die Internen sollen den Psychiatern 
das Material, das zu ihrer Informirung nöthig ist, 
nicht wegnehmen. Schon Virchow sagte: Die Psy¬ 
chiater sollen sich nicht absentiren. 

Naunyn: Die Neurologie ist selbständig ge¬ 
worden. Im Unterricht in grösseren und mittleren 
Universitäten ist heutzutage der Psychiater der Spe¬ 
cialist für Neurologie, von wenigen Fällen abgesehen, 
hat er das Material und sollte aber auch gezwungen 
werden, es im Unterricht zu verwerthen. 

Fürstner: An den grossen Universitäten hat der 
Psychiater auch den Lehrauftrag für Neuropathologie. 

Hoche plädirt für den Psychiater für einen Platz 
an der Sonne, eine versoij n ]i c he Linie. 


La quer: Die Neurologen brauchen in der Praxis 
psychiatrische Vorbildung. 

Sa eng er: Die Grundlage der Neurologie ist die 
innere Medicin. (Fortsetzung folgt.) 

— Verein für Psychiatrie und Neurologie 
in Wien. Sitzung vom 10. Mai 1904. 

1. Dr. Arthur Schüller demonstrirt einen 19 
Monate alten Knaben. Das Kind zeigt leichte Symp¬ 
tome von Rachitis, Hypotonie der Muskeln der unte¬ 
ren Extremitäten bei fehlender Atrophie, Fehlen der 
tiefen Reflexe. Elektrische Erregbarkeit stark herab¬ 
gesetzt. Die Beine können nur in geringem Maasse 
aktiv bewegt werden. Diagnose: Myotonie Oppen- 
heim’s. 

2. Dr. Alfred Fuchs demonstrirt zwei Patienten, 
deren jeder eine atypische Form der spinalen Muskel¬ 
atrophie aufweist. Die atrophischen Muskeln zeigen 
myotonische Erscheinungen. Anschliessend daran 
demonstrirt Fuchs einen typischen Fall von Thomsen- 
scher Myotonia kongenita und endlich einen jungen 
Mann mit hysterischer Myotonie. 

3. Dr. Arthur Berger demonstrirt das Gehirn 
eines seinerzeit im Verein demonstrirten Knaben, bei 
welchem die Diagnose auf Tumor cerebri mit Be¬ 
theiligung der Hypophyse gestellt wurde (Himtumor- 
syraptome, Zurückbleiben des Grössenwachsthums, 
abnorme Vermehrung des Fettgewebes). Die Ob¬ 
duktion ergab Plattenepithelcarcinom der Hypophysen¬ 
gegend. Die Hypophyse fand sich comprimirt und 
plattgedrückt. 

4. Herr Talesko demonstrirt Röntgenbilder von 
Extremitäten Syringomyelitischer mit besonderen 
Formen von Knochenveränderungen. (Die Befunde 
werden in der „Deutschen Zeitschrift für Nervenheil¬ 
kunde“ veröffentlicht werden.) 

5. Dr. E. Oka da aus Japan berichtet über die 

Akupunktur (Hari) und Moxenbehandlung (Kyu) in 
Japan. Er demonstrirt nach einer geschichtlichen 
Einleitung verschiedene Typen von Moxen und setzt 
unter Demonstration von bei der Akupunktur ge¬ 
bräuchlichen Nadeln deren Anwendungsweisen und 
Wirkungen auseinander. S. 


Referate. 

— Archiv für Criminal - A nth r op ologie 
und Criminalistik, 14. Bd., 3. u. 4. H. 

Ein kasuistischer Beitrag zur foren¬ 
sischen Würdigung des Schwachsinns. Dr. 
Freiherr v. Sehrenck-Notzing. 

In dem vorliegenden Falle handelt es sich um 
einen Imbecillen, welcher einen anderen Schwach¬ 
sinnigen wiederholt in raffinirter Weise betrügt. Die 
ethischen Vorstellungen des Angeklagten waren mangel¬ 
haft entwickelt, während die Verstandeskräfte nach 
der mechanischen, äusserlichen Seite hin gut ausge¬ 
bildet waren. Höheren Anforderungen waren sie 
nicht gewachsen. Da das Reichsgericht bei Mangel 
jedes moralischen Haltes die Zurechnungsfähigkeit 
neuerdings nur dann für ausgeschlossen erklärt hat, 
wenn der Mangel aus krankhafter Störung nachweis- 


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Original fram 

HARVARD UNIVERSITY 



148 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 16. 


bar ist, so verlangt das Krankhafte der ethischen 
Defecte also den Nachweis anderweitiger Symptome 
des Schwachsinns und zwar fordert § 51 den Nach¬ 
weis eines erheblichen Grades der fraglichen geistigen 
Störung. 

Mord an einem fünfjährigen Knaben. 
J. Hahn, Untersuchungsrichter in Grodno (Russ¬ 
land). 

Ein 2ojähriger Mensch trinkt, bevor er einer ge¬ 
richtlichen Vorladung Folge leistet, 8 / 4 Liter Schnaps. 
Er wird zu 5 Tagen Haft verurtheilt, was er an¬ 
scheinend gleichmüthig hinnimmt, begiebt sich nach 
Hause und ermordet unterwegs ohne ersichtlichen 
Grund einen Knaben, der ihm begegnet. „Darauf 
wird ihm leichter“. Bald darauf kehrt er an den 
Thatort zurück und betastet das entblösste Gehirn 
der Leiche, wobei ihm Widerwillen ankommt. Die 
Gutachten der Sachverständigen sprechen sich dahin 
aus, dass der Thäter ein physischer und psychischer 
Degenerat sei, der zu impulsiven Handlungen neige 
und die That unter dem Einflüsse des Alkohols und 
des Aergers über die Verurtheilung begangen habe 

Do st - Hubertusburg. 

— Berk hau: Ueber den angeborenen 
und früh erworbenen Schwachsinn, G cistes- 
sch wache des Bürgerlichen Gesetzbuches. 
2 Aufl. Braunschweig, Friedrich Vieweg, 1904 2,40 M. 

Verfasser, der sich um die Einführung der Hülfs- 
schulen für Schwachsinnige die grössten Verdienste er¬ 
worben hat und seiner Zeit zur Gründung der ersten 
Hülfsschule in Braunschweig Anlass gab, hat in der 
zweiten Auflage des Buches vor allem wieder die 
Erfahrungen und Beobachtungen niedergelegt, die er 
an dieser Hülfsschule gemacht hat. Die sonstigen 
Vorzüge des Buches sind schon bei der ersten Auflage 
nicht nur in Fachkreisen gebührend gewürdigt worden, 
auch die pädagogischen Kreise haben den Nutzen 
nicht verkannt, der dem Lehrer — nicht nur an 
solchen Fachschulen — daraus erwächst, dass er sich 
psychiatrischen Erwägungen bei diesem schwierigsten 
aller Erziehungskapitel jricht verschliesst und Hand 
in Hand mit dem Irrenarzte arbeitet. Das Buch ent¬ 
hält diesmal auch eine Reihe von instructiven Abbil¬ 
dungen. Braune, Schwetz a. W. 


Personalnachrichten. 

— Basel. Zum Direktor der hiesigen Irrenan¬ 
stalt ist anstelle des zurücktretenden Prof. Wille 
Prof. Dr. Gustav Wolff, zur Zeit Sekundärarzt an 
der hiesigen Anstalt, ernannt worden. 

— Heidelberg. Zum ordentlichen Professor 
der Psychiatrie ist als Nachfolger Bonhüfl'ers der bis¬ 
herige ausserordentliche Professor Dr. Franz Nissl 
ernannt worden. 

— Jena. Prof. Dr. Binswanger wird am 1. 
Oktober einem Ruf nach Bonn Folge leisten. 


Berichtigung. 

ln dem Artikel des Herrn Dr. C. Wickel in No. 
15 Seite 137, rechte Spalte muss es heissen: „um 
von mehr als dem g e wo h n 1 i c h e n Nutzen zu sein.“ 


Das Nährpräparat Hygiama. 

(Fortsetzung.) 

Auf Grund dieser Bestimmungen ist zu erklären, 
dass die vorliegende Probe von „Hygiama“ infolge 
ihres hohen Gehaltes an Nährstoffen (verdaulichem 
Eiweiss, Phosphaten, Fett und löslichen Kohlenhydraten) 
sich als Nährmittel für grössere Kinder und Er¬ 
wachsene besonders eignet.“ 

Der „VII. Jahresbericht des öffentlichen chemischen 
Laboratoriums von Dr. Hundeshagen & Dr. Philip“ 
in Stuttgart, pag. 21, sagt bezüglich des Hygiama: 

„Die auch in den letzten 3 Jahren ständig durch¬ 
geführte Controlle über die Producte von Dr. Thein- 
hardt’s Nährmittel - Gesellschaft in Cannstatt erwies, 
dass dieselben mit ganz unerheblichen Abweichungen 
die folgende bewährte Zusammensetzung besassen: 


Wasser..3—5 % 

Stickstoffsubstanz. 20—22 % 

Fett. 8—11 °/o 

Lösliche Kohlenhydrate.45—48 % 

Unlösliche „ .17 -20 0 /o 

Mineralstoffe.3—4 °,b 

Phosphorsäure.0,8—1,2 °/o“. 

Die von demselben Institut ausgeführte Controll- 
Analvse vom 5. April 1902 ergab 

Wasser. 3,52% 

Protein.21,44% 

Fett . . 9,16% 

Lösliche Kohlenhydrate.48,36% 

Unlösliche „ .13,87% 

Mineralstoffe .3,65% 

(darin Phosphorsälire i,oo°/„) 


Das Präparat entspricht hiernach den Normen.“ 
Hygiama und das andere Theinhardt’sche Präparat 
„lösliche Kindernahrung“ werden unter dem Gesichts¬ 
punkte der Farbenanaly.se von Dr. F. Hundeshagen 
in einem Aufsatz: Zum Chemismus der Combinations- 
färbungen; Beiträge zur Kenntniss der Eiweissstoffe 
(Zeitschrift für öffentliche Chemie, 1902) besprochen. 
Danach ist die Beurtheilung der Nährpräparate im 
Hinblick auf den grösseren oder geringeren Grad der 
Aufschliessung des Stärkemehls nur auf Grund des 
mikroskopischen Bildes des mit Jod gefärbten, im 
übrigen unveränderten Präparates irreführend, da ja 
solche Präparate nicht im Zustande des Fabrikates 
genossen werden, sondern nach entsprechender Ver¬ 
änderung durch einen Kochprocess, der den Zustand 
der Stärke und das Verhältniss der unlöslichen und 
löslichen Kohlenhydrate noch wesentlich zu alteriren 
bestimmt ist. In der folgenden Tabelle sind die nach 
den Methoden der „Vereinbarungen“ ermittelten Ge¬ 
halte der Mehlpräparate an „löslichen und unlöslichen 
Kohlenhydraten“ wiedergegeben. 



Kohlenhydrate 


lösliche 

unlösliche 

Nestle’s Kindermehl 

. ca. 47% 

ca. 30 < 

Kufeke’s Kindermehl 

2 1 „ 

„ 56 , 

Theinhardt’s Kinder- 



nahrung . 

■ ■> 50—54 .. 

O 

CM 

1 

00 

Hvgiama. 

» 45 — 4 ^ „ 

„ 17—20, 


(Fortsetzung folgt.) 


Für den redactionellen Theil verantwortlich : Oberarzt Dr. J. Bresior, Lublinitr (Schlesien). 


Erscheint ieden Sonnabend 


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Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 
Hevnexnann’sche Buchdruckerei (Gebr. Wolff) in Halle a. S. 

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Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift. 

Redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Brealer, 

Lublinitx (Schlesien), 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834. 

Nr. 17, 23 Juli- 1904. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermäasigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Rresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten. 


Die physikalische Therapie bei Geistes- und Nervenkrankheiten. 

Von Oberarzt Dr. Mönkemötler , Osnabrück. 

(Fortsetzung.) 


Die Hydrotherapie (Historisches: Marcuse, 
Physiologisches und allgemeine ärztliche Erfahrungen: 
Winternitz, Technisches: Strass er) spielt auch 
schon seit langer Zeit ihre bedeutsame Rolle in der 
Behandlung der Nerven- und Geisteskrankheiten, 
wandte doch schon Hippokrates kalte Uebergiess- 
ungen als Reizmittel bei Ohnmacht und Collaps und 
als Reaktivmittel bei Starrkrampf an. 

Bei Rückenmarkskrankheiten empfehlen sich 
die höher temperirten Bäder von längerer Dauer, 
wobei bei der Dosirung in Betracht zu ziehen ist, ob 
Reiz- oder Ausfallserscheinungen im Vordergründe 
stehen, geradeso wie bei functioneilen Neurosen und 
Psychosen die jeweilige Erregbarkeit als Maassstab 
dient. Auch die Monate, ja selbst Jahre fortgesetzte 
Halbbäderbehandlung chronischer Erkrankungen 
des Nervensystems (so z. B. des Tabes) soll gute 
Erfolge zeitigen. Von den Theilbädern kommt 
insbesondere das Hinterhauptbad in Betracht, das auf 
das Nervensystem vom verlängerten Marke aus reflec- 
torisch einwirken soll und deshalb bei anämischen 
Kopfschmerzen, bei Neurosen des Herzens und bei 
nervösen Asthma zur Anwendung gelangt. Kalte 
Sitzbäder von sehr kurzer Dauer wirken durch 
lebhafte Reaktion dekongestionirend für den Kopf 
und in diesem Sinne auch als Schlafmittel. Ueber 
den Werth kalter Abreibungen für so manche ner¬ 
vöse — organische und functionelle — Erkrank¬ 
ungen braucht wohl kaum noch ein Wort verloren zu 
werden. 

Dass die Douchen und Vollbäder in der Be¬ 
handlung der Psychosen jahrzehntelang eine dominirende 
Stellung eingenommen haben, ist bekannt und ebenso, 
dass damit nicht nur rein therapeutische, sondern 
nur zu oft lediglich disciplinarische Zwecke verfolgt 
wurden. Jetzt werden sie anders geschätzt und vor- 

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sichtig dosirt. Vor allem haben die prolongirten .lau¬ 
warmen Vollbäder sich als ein vorzügliches Mittel gegen 
die Erregungszustände der verschiedensten Psychosen 
erwiesen. So finden die warmen Douchen auch ihre 
Anwendung bei den erethischen Formen der Neu¬ 
rasthenie, die aufsteigende Douche bei der psychischen 
Impotenz, Theildouchen auf den Nacken bei Herz¬ 
neurosen, die Stechdouche bei Migräne, bei Hyperämia 
cerebri und Reizzuständen der Meningen, die schot¬ 
tische Douche bei verschiedenen Neuralgiöen, insbe¬ 
sondere der Ischias. Für die kalten und warmen 
Umschläge gelten die allgemeinen Regeln, die für 
die Wirkung der lokalen Kälte- und Wärmeappli¬ 
kation gültig sind, so wirken die kalten Umschläge 
bei Schmerzen nicht entzündlicher Natur (Neuralgieen) 
als Sedativa und Antispasmodica. Die Kopfumschläge 
in ihrer einfachsten Form oder als koraplicirtere Kopf¬ 
kühlapparate sind u. A. indicirt bei allen Congestions- 
und entzündlichen Zuständen des Gehirns und der 
Hirnhäute, erregende Kopfumschläge (feuchte Kappe 
durch eine trockene bedeckt) bei der anämischen 
Migräne und bei manchen Fällen von Neuralgie, 
insbesondere im ersten Trigeminusaste und im Ner¬ 
vus occipitalis. Bei hyperämischen Zuständen des 
Kopfes wirken die Wadenbinden als mildes Schlaf¬ 
mittel. Die feuchten Einpackungen — schon vor 
Priessnitz als sehr wirksam erkannt — leisten bei 
functionellen motorischen Neurosen (Chorea, Athe- 
tose), bei nervösen Herzerkrankungen, bei dem Mor¬ 
bus Basedowii gute Dienste. Bei Polyneuritis ver¬ 
mindern sie die Schmerzhaftigkeit und scheinen den 
Krankheitsverlauf wesentlich abzukürzen. 

Die Anwendung der Thermotherapie (Histo¬ 
risches: Marcuse, Physiologisches: Goldscheider, 
Technik: Friedländer) kann bei Nervenkranken 
immer nur mit einer gewissen Vorsicht erfolgen, bei 

Original from 

HARVARD UN1VERSITY 










PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 17. 


150 


Hemiplegikem und Tabikern wird durch heisse Bäder 
gelegentlich sogar eine erhebliche Verschlimmerung 
verursacht, wie auch Personen mit functionellen Neu¬ 
rosen heisse Bäder meist schlecht vertragen. Dass 
durch die Anwendung der Schwitzbäder gelegentlich 
Ohnmächten und bei nicht intactem Gefässapparat 
des Gehirns sogar apoplektische Insulte ausgelöst 
werden, ist ebenfalls nur zu oft beobachtet worden. 
Bei Meningitis cerebrospinalis hingegen sollen heisse 
Bäder häufig sehr gute Dienste leisten. 

Die verschiedenen Methoden für allgemeine 
Wärmebehandlung, die Heisswasserbäder, die 
Heissluft-, die Dampf-, die Schwitzbäder in ihren 
mannigfachen Variationen, mit deren kritikloser An¬ 
wendung von Seiten des Publikums und leider auch 
mancher Aerzte noch heute vielfach Missbrauch ge¬ 
trieben wird, hat in ihren Indikationen für die Be¬ 
handlung von Nervenleiden eine sehr grosse Ein¬ 
schränkung erfahren, um so mehr, als die lokale 
Wärmebehandlung, die in viel grösserer Inten¬ 
sität anwendbar ist, die lokalen Leiden weit sicherer 
beeinflusst, ohne den Gesammtorganismus in Mit¬ 
leidenschaft zu ziehen. Eine Combination von ther¬ 
mischen mit mechanischen Reizen stellt die Behand¬ 
lung mit heissen Douchen dar, die insbesondere 
bei Neuralgieen, Lähmungen und Muskelatrophieen 
erfolgreich in Thätigkeit treten. Von den verschie¬ 
denen Mitteln der Kältebehandlung, der Psycho¬ 
therapie, übt besonders die Applikation des Chlor¬ 
äthyls bei Neuralgieen eine schmerzlindernde Wirk¬ 
ung aus und soll bei den Neuralgieen der Tabiker 
insbesondere erfolgreich sein. 

In der Massage (Historisches: Bumm, Tech¬ 
nisches : Z a b 1 u d o w s k i, ärztliche Erfahrungen : 
Reyher) eröffnet sich wieder ein Gebiet, das der 
Psychiatrie bis jetzt so gut wie vollkommen ver¬ 
schlossen geblieben ist und wohl im Allgemeinen 
auch bleiben wird, während ihre iVnwendung bei 
nervösen Erkrankungen schon so tiefe Wurzel gefasst 
hat, dass alles nähere Eingehen darauf überflüssig 
erscheinen muss. 

Schon früh hat sich die Gymnastik (Historisches: 
P a g e 1 , Physiologisches: Prof. Zuntz, Heilgymna¬ 
stik : Zander, Uebungstherapie: Jak o b, Apparat¬ 
gymnastik: Funke, Turnen: Zuntz) ihren Platz in 
der Behandlung der Nerven- und Geisteskrankheiten 
errungen. Aretaeus empfiehlt die Frietiones und 
Exercitiones bei der Cephaläa, 1 »ei der Epilepsie und 
in lethargischen Zuständen. Dass im Anfänge und 
der Mitte des vorigen Jahrhunderts vom Turnen in 
der Behandlung psychischer Kranker zeitweise der 
ausgiebigste Gebrauch gemacht wurde und dass zur 

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Dressur ungeordneter Elemente militärisches Mar¬ 
schieren und Freiübungen verwandt wurden, ist all¬ 
mählich ganz der Erinnerung entschwunden. Auch 
jetzt beruht zweifellos ein grosser Theil der thera¬ 
peutischen Erfolge, die wir bei der Heranziehung der 
Geisteskranken zu körperlichen Arbeiten sehen, in 
der ausgiebigen Muskelübung, denen sie hierbei, 
wenn auch nicht in systematischer Weise, unterzogen 
werden. 

Die Beeinflussung des Nervensystems durch Gym¬ 
nastik ist eine der wesentlichsten Gesichtspunkte bei 
ihrer therapeutischen Verwerthung im Allgemeinen. 
Die Koordination der Innervation, die richtige Ab¬ 
stufung derselben zur Vermeidung jeder unnöthigen 
Muskelanspannung, die schnelle und sichere Auffass¬ 
ung der Sinneseindrücke und die denselben ange¬ 
passte prompte motorische Innervation sind Leist¬ 
ungen , welche durch systematische Gymnastik und 
namentlich durch Sport und Turnspiele ausserordent¬ 
lich geübt werden. 

Massige Muskelthätigkeit hat einen günstigen Ein¬ 
fluss auf die nachfolgenden psychischen Leistungen. 
Die Muskelthätigkeit, richtig dosirt, liefert dem Cen¬ 
tralnervensystem durch ihre Stoffwechselprodukte die 
einzigen Narkotica, welchen man auch bei dauerndem 
Gebrauche eine schädliche Wirkung nicht nachsagen 
kann. Das wirksamste Gegenmittel gegen die bei 
geistig Arbeitenden so häufig auftretenden leichteren 
Formen der Ueberarbeitung der Denkorgane — 
Kopfschmerz, Gedankenunruhe, Schlaflosigkeit und 
wirre Träume —, ist eine mässige den individuellen 
Kräften angepasste Muskelthätigkeit. Die Anwendung 
der verschiedenen Arten des Turnens und des 
Sportes (Turnspiele, Bergsteigen, Schwimmen, Rad¬ 
fahren) zeitigen bei vernünftiger Dosirung ausgezeich¬ 
nete Resultate, vor allem bei leichter Neurasthenie 
und allgemeiner nervöser Schwäche. Vorzüglich wirkt 
auch die C v k 1 o g v m n a s t i k auf der Inaetivi- 
t ä t s a t r o p h i e verfallene Muskeln; bei Parese und 
Lähmung nach peripheren und centralen Krankheits¬ 
processen arbeitet sie im Sinne der bahnenden Ueb¬ 
ungstherapie. Von eminentem Erfolge sind ihre Er¬ 
folge bei Atactischen, namentlich Tabischen, und 
nicht zu unterschätzen ist ihre Wirkung auf die ge¬ 
drückte Stimmung dieser Kranken. Eine ähnliche 
Wirkung kommt dem Schütt- und Schneeschuh¬ 
laufen zu. Beim Reiten führt die beständige dem 
Pferde und dem Terrain zugewandte Aufmerksam¬ 
keit eine wohlthuende Ablenkung bei Hypochondern 
und Hysterischen herbei und hindert sie, sich fort¬ 
gesetzt mit ihrer eigenen Person zu beschäftigen. 

Original fram 

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IQ04 J PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Die U ebungstherapie, die mangelhaft func- 
tionirende Willensbahnen wieder beleben und ein- 
übcn soll, mag sie nun bahnend oder hemmend 
wirken, findet ihre Indikation bei den verschieden¬ 
artigsten hemiplektischen und paraplektischen Affec- 
tionen, bei Muskelatrophieen, beim Intentionszittern, 
bei der Muskelrigidität der multiplen Sklerose, beim 
Schreibkrampf, bei der Chorea, der Athetose, bei 
hysterischen Contracturen. Nicht die nervösen Appa¬ 
rate allein sollen dadurch beeinflusst werden, auch 
die Psyche nimmt an der Behandlung im ausgiebig¬ 
sten Maasse theil, indem der Kranke durch einen 
rationellen Unterricht dahin gebracht wird, seine 
Willensimpulse in richtiger Weise auszuüben, und 
dadurch unterscheidet sich diese Behandlungsmethode 
in principieller Weise von der passiven und activen 
Gymnastik. 

Ein Kind der neuesten Zeit ist die kompen¬ 
satorische Uebungstherapie, die es sich zur 
Aufgabe setzt, die ataktischen Störungen (z. B. bei 
Tabes) zu beseitigen. Hier handelt es sich nicht 
darum, die trägen Willensimpulse wieder zu beleben, 
es muss vielmehr dem Kranken ein ganz neues System 
für seine Bewegungsfähigkeit beigebracht werden. Der 
Schwerpunkt dieser Bewegungsbehandlung liegt in dem 
systematischen Aufbau der Bewegungsübungen, die 
von einer ganzen Reihe von sinnreichen Hülfsappa- 
raten unterstützt werden. 

Von unschätzbarer Bedeutung ist bei der deut¬ 
schen Heilgymnastik die moralische Be¬ 
einflussung des Patienten selbst. Nicht die rein 
mechanische Wirkung, die sich um so leichter er¬ 
zielen lässt, als sie auf alle Nebenapparate verzichtet, 
sondern die Einwirkung auf die Psyche und den 
Willen sichert ihr für alle Zeiten eine einflussreiche 
Stellung. 

Wie sehr diese Methode in das Reich der psy¬ 
chischen Behandlung hereingreift, beweisen die Erfolge 
der Suggestionsgymnastik, bei welcher durch 
passive Bewegungen bei functioneilen Störungen die 
Bewegungsempfindung wieder zum Bewusstsein ge¬ 
bracht werden kann. 

Während die mechanische Orthopädie 
(Vulpius) unserem Gebiete gewissermaassen nur im 


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Nebenamte zu Gute kommt, indem sie zur Fixation 
gelähmter Gelenke beitragen und der entstehenden 
Deformität von Gliedmaassen entgegen wirken kann, 
stellt das Reich der Nervenkrankheiten für die Elek¬ 
trotherapie (Historisches: Pagel, Physiologische 
und elektrische Proceduren: Mann, ärztliche Erfahr¬ 
ungen : B e r n h a r d t) ein Gebiet dar, in dem diese 
von Anfang an ihre ersten und grössten Erfolge er¬ 
zielt hat. Als hauptsächlicher und selbstverständ¬ 
licher Bestandtheil der Therapie der Nervenkrank¬ 
heiten muss auch sie auf eine nähere Besprechung 
verzichten, um so mehr, als sie sich wieder zu einer 
auszugsweisen Besprechung nicht eignet. Erwähnen 
möchte ich nur die Ansichten Bernhardte über 
den Werth der Elektrotherapie in der Behandlung 
der Psychosen. Stets wird sie nur einen und nicht 
den hauptsächlichsten Theil der Psychosenbehand¬ 
lung ausmachen können, wenn auch die Galvanisation 
des Kopfes, Rückenmarks und Sympathicus einzelne 
Symptome: Unruhe, Kopfschmerz, Schlaflosigkeit, eben¬ 
so günstig beeinflussen kann, wie manche Neurosen, die 
allerdings ja auch meist in innigster Verwandtschaft 
mit dem Reiche der Psychosen stehen. Auch werden 
der starken Reizung der Hautnerven durch den fara- 
dischen Pinsel günstige Erfolge bei manchen Depres¬ 
sionszuständen nachgerühmt und bei der Tabopara- 
lvse kann die Galvanisation des Kopfes, Rücken¬ 
markes und Sympathicus ähnlich vortheilhaft wirken, 
wie bei der Behandlung der Tabes überhaupt. Auch 
die Hebung des oft so schwer damiederliegenden 
Kräftezustandes kann — wenn es sich nicht um sehr 
aufgeregte oder schwer melancholische oder schon 
seit langer Zeit paranoische Kranke handelt — 
durch die allgemeine Faradisation im faradischen 
Bade herbeigeführt werden. Zu warnen ist natürlich 
vor der elektrischen Behandlung, von unter dem Ein¬ 
flüsse von Verfolgungsideen stehenden Paranoischen, 
w*eil sie diese Therapie nur zu gerne zum weiteren 
Ausbau ihrer Wahnideen verwerthen. Von vorsich¬ 
tigen Versuchen der galvanischen (Anoden-) Behand¬ 
lung bei Gehörs- und Gesichtshallucinanten verspricht 
sich Bernhardt in manchen Fällen wenigstens einen 
zeitweiligen Erfolg. 

(Schluss folgt.) 


- 


Original fram 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 17. 


15-2 


Nachtrag zum Artikel über die Dauemachtwache in No. 15. 


yiifolge eines an mich ergangenen Wunsches be- 
richte ich über die seit Januar 1901 inDzie- 
kanka eingeführte Dauerwache noch Folgendes: 

Die Nachtwache dauert 4 Wochen. Es wachen 
im Wachsaal der Aufnahmestation 2 Pfleger, im 
Wachsaal für Unruhige ebenfalls 2, im Wachsaai für 
Sieche 1 Pfleger. Das Gleiche auf der Frauenstation. 
Also 5 Pfleger bei einem Bestand von zur Zeit 399 
kranken Männern und 5 Pflegerinnen bei zur Zeit 
390 weiblichen Kranken. Das Pflegerverhältniss ist 
auf 1 : 8 festgesetzt. Die Wache dauert im Sommer 
von 9—5, im Winter von 9—6 Uhr. Auf jeder 
Station führt die Wache ein Berichtbuch. Der 
Wache wurde auf einem der offenen ruhigen Häuser 
ein besonderes Zimmer eingeräumt, wo sie unge¬ 
stört schlafen kann. Daselbst sind auch entsprechend 
viele Kleiderschränke, ein giösserer Tisch, Schreib¬ 
material, Bücher aus der Bibliothek u. s. w. Das 
Mittagessen kann von der Wache entweder um 12 
Uhr mit den Anderen oder zu einer beliebigen Zeit 
zwischen 12 und 3 Uhr eingenommen werden. Der 
Tag ist für das Wachpersonal vollkommen dienstfrei. 
Es wird zu keinerlei Arbeit herangezogen und kann 
nach Belieben aus der Anstalt aus- und eingehen. 
Missstände (Trunkenheit, Zuspätkommen p. p.) haben 
sich hieraus nicht ergeben. Die freie Zeit wird meist 
zu Spaziergängen oder zu Besorgungen in der Stadt 
benutzt. Die verheiratheten Pfleger sind in ihrer 
Familie, arbeiten auf ihrem Grundstück und dergl. 
Das Pflegepersonal kommt der Reihe nach zum 


Wachdienst heran. In der Regel wird ein älterer 
erfahrener Pfleger und ein jüngerer zusammenge¬ 
nommen. Auf der Sieehenstation wacht stets ein 
älterer umsichtiger Pfleger. Nach Ausweis der Listen 
hat es sich bisher ergeben, dass jeder Pfleger etwa 
alle 8 A — 1 Jahr zur Wache kommt. 

Die Einführung der neuen Wachart wurde auf 
der Männer- wie auf der Frauenseite mit Freuden 
begrüsst und hat sich auch stets grosser Beliebtheit 
bei dem Personal erfreut. Ein Ausfall an Personal 
am Tage hat sich nicht fühlbar gemacht. Es gehen 
täglich 8—9 Pfleger zur Aussenarbeit mit 80—90 
Kranken und im Sommer 4—5 Pflegerinnen mit 
30—40 Kranken. (Gut, Gärtnerei, Hof.) 

Die Vorzüge der Wache traten zu Tage in der 
Möglichkeit Schlafmittel und Isolirungen noch mehr 
zu reduciren, die Zahl der Unreinen erheblich herab¬ 
zusetzen. 

Nachlässigkeit in Bezug auf die Wachuhr, Ver¬ 
gessen, Einschlafen p. p. kam ganz ausserordentlich 
selten vor. Fast stets genügte gegebenen Falls eine 
Ermahnung. Im Wiederholungsfall werden Geld¬ 
strafen durch die Direktion verhängt (50 Pf. bis 5 Mk.) 
Es war dies höchstens 3—4 mal in 3V2 Jahren 
nöthig. Zu bemerken ist, dass hier das Personal 
wohl mit durch das Femsein von Fabriken, beson¬ 
ders auf der Männerseite ein gutes und stabiles ist, 
18 Pfleger sind ausserdem verheirathet. 9 davon 
wohnen in den Pflegerhäusem, 9 in der Stadt. 

Dziekanka, 7. Juli 1904. Dr. Wickel. 


M i t t h e i 

Budapest. Die III. Landeskonferenz der unga¬ 
rischen Irrenärzte wird, wie das unter dem Präsidium 
des Hofrathes Otto Schwartzer de Babarcz ste¬ 
hende Organisationskomite der Konferenz mittheilt, 
am 23. und 24. Oktober in Budapest stattfinden. An¬ 
meldungen für Vorträge werden vom Chefarzt Dr. Ladis¬ 
laus Epstein (Budapest, I.) bis 15. August ent¬ 
gegengenommen. Die Mitgliedstaxe für die Konferenz 
beträgt 5 Kronen. 

— Erlass vom 14. Mai 1904, betreffend Be¬ 
handlung geisteskranker Personen in Anstalten 
mit mehreren Verpflegungsklassen. 

Für den Fall, dass in Provinzialanstalten*) für Geistes- 

*) Anm. d. Red. Es ist nöthig, die nachfolgende Vor¬ 
schrift auch in Privatanstalten, besonders den Anstalten der 
„laueren Misrio^“ zur Wirkung zu bringen. 

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1 u n g e n. 

kranke Personen, welche in die erste oder zweite Klasse 
aufgenommen sind, vorübergehend — wenn auch 
unter Aufrechterhaltung der Verpflegung — wegen 
Unruhe auf Abtheilungen für Kranke sogenannter 
dritter oder vierter Klasse behandelt werden müssen, 
empfiehlt es sich, alsbald den Angehörigen oder dem 
gesetzlichen Vertreter hiervon Mittneilung zu machen. 
An einzelnen Stellen wird schon bei der Aufnahme 
eines Kranken in eine höhere Verpflegungsklasse der 
Vorbehalt einer Versetzung auf eine für Kranke mit 
geringerem Verpflegungssätze bestimmte Abtheilung 
für den Fall besonderer Erregung oder sehr störenden 
Verhaltens des Kranken gemacht. 

Ew. Excellenz ersuchen wir hiernach ergebenst, 
die Provinzial Verwaltung der dortigen Provinz, soweit 
sie Anstalten mit mehreren Verpflegungsklassen unter- 

Origiral from 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


904.] 


153 


hält, auf die Zweckmässigkeit solcher Anordnungen 
zur Vermeidung von Beschwerden hinzuweisen. 

Berlin, den 14. Mai 1904. 

Der Minister d. geistlichen, Der Minister des Innern. 
Unterrichts und Medizinal- ln Vertretung 

Angelegenheiten. von Bischoffshausen. 

Im Aufträge: Förster. 


An die Herren Oberpräsidenten. 

M. d. g. A. M. 6329. 
M. d. I. II a 4237.} 


— Erlass vom 20. Mai 1904, betreffend die 
Entlassung verbrecherischer Personen aus den 
öffentlichen Irrenanstalten. 

In dem Erlasse vom 15. Juni — 1901 M. d. g. 
A. M. 6368. M. d, J. II a 9209II — ist bestimmt, 
dass geisteskranke auf Grund des § 51 des Straf¬ 
gesetzbuches oder des § 203 der Strafprocessordnung 
ausser Verfolgung gesetzte Personen, welche polizeilicher- 
seits öffentlichen Anstalten für Geisteskranke über¬ 
wiesen worden sind, sofern ihnen ein Verbrechen oder 
ein nicht ganz geringfügiges Vergehen zur Last gelegt 
ist, nicht entlassen werden sollen, bevor dem Land¬ 
rath, in Stadtkreisen der Ortspolizeibehörde des künfti¬ 
gen Aufenthaltsorts Gelegenheit zur Aeusserung ge¬ 
geben ist. 

Zugleich ist weiter angeordnet, dass die Leiter 
der Anstalten über die beabsichtigte Entlassung erst 
nach Eingang dieser Aeusserung, oder nach Ablauf 
einer Frist von drei Wochen seit deren Benach¬ 
richtigung Entscheidung treffen können. Im Anschluss 
hieran bestimmt sodann der Erlass vom 16. Dezember 
1901 — M. d. g. A. M. 8224, M. d. J. IIa 8708 
—, dass in Fällen von besonderer Wichtigkeit und 
Schwierigkeit von der Polizeibehörde vor Abgabe 
ihrer Aeusserung die Entscheidung des Regierungs¬ 
präsidenten nachzusuchen ist. 

Wir bestimmen hiermit, dass fortan in gleicher 
Weise alle Fälle der vorgedachten Art zu behandeln sind, 
in denen ein richterliches Urtheil über die Täterschaft 
eines Angeschuldigten, welcher erhebliche Vorstrafen 
nicht erlitten hat, nicht vorliegt, weil der § 51 des 
Strafgesetzbuches oder der § 203 der Strafprocess¬ 
ordnung zur Anwendung gekommen ist. 

Berlin, den 20. Mai 1904. 

Der Minister d. geistlichen, Der Minister des Innern. 
Unterrichts- u. Medicinal- 1 ™ Aufträge. 

Angelegenheiten. v - Kitzm «- 

Im Aufträge: Förster. 

An die Herren Oberpräsidenten. 

M. d. g. A. M. 9696. 

M. d. Inn. II a 4450. 


— XXIX. Wanderversammlung der süd¬ 
westdeutschen Neurologen und Irrenärzte am 

28. und 29. Mai 1904 in Baden-Baden. (Referent 
Dr. K ra u s s - Kennenburg.) (Fortsetzung.) 

Nachmittagssitzung. Vorsitzender: Hofrath Pro¬ 
fessor Dr. Fürstner. 

7. Referat von Professor Dr. Gerhardt-Erlangen: 
Die diagnostische und therapeutische Be¬ 
deutung der Lumbalpunktion. 

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Vortr. giebt einen Ueberblick über die diagno¬ 
stische Bedeutung der einzelnen in Betracht kom¬ 
menden Momente (Drucksteigerung, Trübung, Blut¬ 
gehalt, ehern, und bakteriolog. Untersuchung des 
Liquors) und bespricht eingehender die modernen 
cytologischen Untersuchungen, namentlich deren 
Uebertragung auf die chronischen Fälle. 

Ihren grössten diagnostischen Werth hat die 
Lumbalpunktion immer noch bei der Frage nach 
dem Bestehen einer Meningitis und nach deren 
Aetiologie (Tuberkulose, epidemische, eitrig-metasta¬ 
tische Form); diagnostische und prognostische Be¬ 
deutung hat sie des öfteren bei Typhus, Pneumonie 
etc. mit schweren Hirnsymptomen und bei operativ 
zugänglichem Hirnabscess'(Frage, ob daneben Menin¬ 
gitis besteht). 

Ferner ist die Lumbalpunktion von diagnostischem 
Nutzen bei Unterscheidung der Himlues von anderen 
Hirn- und Rückenmarksleiden (mit Ausnahme der 
Tabes) und bei der Unterscheidung der Paralyse von 
anderen Psychosen. 

Therapeutischen Erfolg verspricht die Lumbal¬ 
punktion am ehesten bei acuten und subacuten Fällen 
seröser Meningitis und bei den hartnäckigen Kopf¬ 
schmerzen der Spätlues; geringer ist die Aussicht auf 
Erfolg bei angeborenem und erworbenem chronischen 
Hydrocephalus, noch geringer bei eitriger oder tuber¬ 
kulöser Meningitis und am geringsten bei Hirntumoren. 

Die Gefahren der Lumbalpunktion scheinen, trotz¬ 
dem Ref. 26 Todesfälle aus der Litteratur sammeln 
konnte, gering, wenn man die Flüssigkeit recht lang¬ 
sam abfliessen lässt und nur wenige Cubikcentimeter 
entnimmt, und wenn man womöglich vermeidet, 
Fälle von Hirntumor zu punktiren. Kopfweh, 
Schwindel und Aehnliches werden sich allerdings 
auch bei so vorsichtigem Vorgehen nicht sicher aus- 
schliessen lassen. (Autoreferat.) 

Discussion: 

Erb: Beweist die Bedeutung der Lumbalpunktion 
bei Fällen zweifelhafter syphilitischer Aetiologie an 
mehreren Beispielen. 

Schultze sah Erfolg bei zwei Fällen von menin- 
gitischen Processen. 

Hoche verweist auf eine demnächst aus der 
Freiburger Klinik erscheinende Arbeit. 

Nonne sah Heilung nach traumatischem Hydro¬ 
cephalus bei wiederholter Punktion, warnt auf Grund 
seiner Erfahrungen vor Lumbalpunktion bei Verdacht 
auf Hirntumoren; was Schultze bestätigt. 

S c h(") nborn berichtet i'iberdie seit seinem vorjähri¬ 
gen Vortragepunktirten (nahezu 100) Fälle der Heidel¬ 
berger mediz. Klinik. Bei 25 Tabikern regelmässig posi¬ 
tive Lymphocytose, mit Ausnahme eines klinisch ganz 
unklaren Falles. Bei 15 Meningitiden regelmässige 
Lympho- bezw. Leukocytose. Bei 5 Fällen multipler 
Sclerose drei positiv. Bei Tetanus träum., Wirbcl- 
caries, Hirntumoren, Brown-Sequard, bei allen Neu¬ 
rosen negativer Ausfall der Probe auf Lymphocytose. 
Nebenerscheinungen (Cephalaea, Nausea) traten bei 
etwa io°/o der Punktirten auf, erreichten aber nie 
hohe-Grade. Auch Redner glaubt, dass diese Er¬ 
scheinungen auf einer Ernährungsstörung in den 

Original from 

HARVARD UNIVERSITY 



154 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 17. 


Meningen, nicht auf einem Nachsickern des Liquor 
aus dem Schlitz der Dura (Sicard) beruhen. — 
Redner hat ferner einige 20 Fälle von pathologischem 
und normalem Liquor kryoskopisch untersucht und 
wie der Referent keine constanten (aber häufig hyper¬ 
toxische) Werthe gefunden; er hält die Kryoskopie 
für die Differentialdiagnose im Liquor für ebenso un¬ 
brauchbar wie die Bestimmung der elektrischen Leit¬ 
fähigkeit, die Redner bei etwa 15 Fällen prüfte. — 
Schliesslich macht er noch auf die Bemerkung Nissl’s 
aufmerksam, dass es sich bei den sog. Lymphocyten 
des Liquor, die stets ungemein schwer gut fixirbar 
sind, gar nicht um Lymphocyten, sondern um Leuko- 
cyten handeln könnte. Redner hält diese Frage noch 
nicht für spruchreif. 

Erb weist auf die Erfolge hin, die Babinsky bei 
Menierescher Krankheit hatte. 

8. Dr. Rosen fei d-Strassburg: Ueber das 
Cholin. 

Cholin wurde bis jetzt gefunden von Mott und 
Halliburton im Blut und in der Cerebrospinalflüssig- 
keit bei Paralytikern und bei verschiedenen orga¬ 
nischen Erkrankungen des Rückenmarks und peri¬ 
pherer Nerven. 

Gumbrecht zeigte, dass auch in der normalen 
Cerebrospinal fl üssigkeit von Thieren und bei körper¬ 
lich Kranken ohne Affection des Nervensystems ge¬ 
ringe Mfengen von Cholin zu finden sind, besonders 
reichlich fand er es bei Fällen von Meningitis. 

Donath wies es in fast allen Fällen von Epilepsie 
nach. 

Vortr. fand Cholin in reichlicher Menge in 15 
Fällen von organischen Erkrankungen des Nerven¬ 
systems (Tumor, Tabes, Paralyse, Epilepsie, Ence¬ 
phalitis, multipler Sklerose, Korsakow’scher Psychose, 
Apoplexie). 

In 3 sicheren Fällen von Hydrocephalus fehlte 
das Cholin in der Cereprospinalflüssigkeit oder fand 
sich nur in ganz geringen Mengen, die erst beim 
längeren Stehen des Alkoholextractes ausfielen. 

Im Urin wurde Cholin nur von Gumprecht bei 
einem Kaninchen gefunden, welchem die grosse 
Menge von 1 g subcutan beigebracht worden war. 
In einem Falle von Hirntumor fand der Vortr. reich¬ 
liche Mengen von Cholin im Urin, wenn mehrere 
Liter verarbeitet wurden. Der Fall zeigte bei der 
Sektion ein Gliom von enormer Ausdehnung, welches 
von den Ventrikel wänden ausgegangen war und fast 
die ganze Hemisphäie durchsetzt hatte und die Ven¬ 
trikel ganz ausfüllte. In der Cerebrospinalflüssigkeit 
dieses Falles fand sich ebenfalls viel Cholin. 

Die krampferregende Wirkung des Cholins, wenn 
es auf die Gehirnrinde gebracht wird (Donath), 
konnte der Vortr. bestätigen. Die Schlüsse die 
Donath aus derartigen Versuchen auf die Pathogenese 
der epileptischen Anfälle macht, sind als zu weit 
gehend zurückzu weisen. (Autoreferat.) 

(Die Untersuchungen werden an anderer Stelle 
ausführlich mitgetheilt werden.) 

9. Dr. Tobler-Heidelberg: Beobachtungen 
über Lumbalpunktion an Kindern. 

Vortragender theilt im Anschluss an das Referat 

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einige Beobachtungen aus dem Material der Heidel¬ 
berger Kinderklinik (ca. 120 Punktionen) mit. Die 
liegende Stellung ist auch bei Kindern der sitzenden 
vorzuziehen; Narkose war nicht überall entbehrlich. 

Die Lumbalpunktion wird im Kindesalter im All¬ 
gemeinen gut vertragen, besonders gut von kleinen 
Kindern, wo die offene Fontanelle durch ihre Nach¬ 
giebigkeit die einfachste Möglichkeit des Raumersatzes 
für die entnommenen Volumina schafft. Die Liquor¬ 
mengen, die ohne Gefährdung des Patienten ent¬ 
nommen werden können, sind umso grösser, je stärker 
die Flüssigkeitsvermehrung. Es wurden z. B. bei 
Meningitis epidemica rasch nacheinander Mengen bis 
zu 100 ccm mit bestem Erfolg entnommen, bei Hydro¬ 
cephalus bis zu 650 ccm in einer Sitzung ohne nach¬ 
theilige Folgen. 

Andererseits ist Vorsicht angebracht, wo eine 
Vermehrung des Liquor von vornherein nicht ange¬ 
nommen werden kann. In solchen Fällen kamen 
auch bei kleinen Mengen unangenehme m e n i n g i - 
toide Zustände von mehrtägiger Dauer vor. 

Therapeutisch wurden bei manifestem 
Hirndruck sehr gute Resultate gesehen. Bei 
chronischem, idiopathischem Hydrocephalus 
versprechen nur leichte und mittlere Grade bei grosser 
Ausdauer eine gewisse Aussicht auf Erfolg. Beachtens- 
werth sind die Resultate bei postmeningitisehen 
Zuständen. Fälle von schwerster postmeningi- 
tischer Idiotie besserten sich im Anschluss an wieder¬ 
holte Punktionen rasch und sicher. Auch bei einem 
Knaben, der vor 7 Jahren Meningitis überstanden 
hatte, war eine günstige Beeinflussung der schweren 
psychischen Veränderungen unverkennbar. Dabei 
blieb der anfänglich hohe Subarachnoideal - Druck 
(18 mm Hg) nach den ersten Punktionen dauernd 
auf der Norm (5—7 mm Hg). (Autoreferat.) 

10. Dr. Gau pp-Heidelberg: Ueber den psy¬ 
chiatrischen Begriff der Verstimmung. 

Vortr. definirt zunächst den Begriff „Stimmung“ 
(ira Unterschied von „Gefühl“ und „Affect“), erörtert 
in Kürze ihre Ursachen, unterscheidet die Stimmung 
als einen vorübergehenden seelischen Vorgang von 
der „Lebensstimmung“. Dann bespricht er das 
Wesen der „Verstimmung“, bei der ebenfalls zwei 
Formen zu nennen sind: die acute Verstimmung als 
eine zeitlich abgegrenzte Aenderung der Grund¬ 
stimmung und die dauernde Verstimmung als eine 
pathologische Art seelischer Veranlagung. Die acute 
Verstimmung kann eine sehr verschiedene klinische 
Bedeutung haben: als sekundäre Verstimm¬ 
ung von normalpsychologischer Grundlage gehört sie 
nicht eigentlich zur Psychopathologie (schwere Ge- 
müthsverstimmung bei schmerzhaften, somatischen 
Leiden etc.); als „psychotische Verstimmung, 
zeigt sie krankhafte Entstehungsbedingungen, eine 
abnorme Verlaufskurve und eine pathologische Ver¬ 
selbständigung im psychischen Lebenszusammenhang, 
entbehrt jeder psychologischen Begründung; als „psy¬ 
chopathische Verstimmung“ steht sie in der 
Mitte zwischen den beiden anderen Formen: die 
psychologische Motivirung ist unzureichend, der Ab¬ 
lauf der Stimmungsanomalie ein abnormer, vor allem 

Original frum 

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!Q04.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


155 


die Nachdauer eine pathologische. (Beispiele nament¬ 
lich bei Degenerierten, Nervösen, Hysterischen etc). 
Diepsychopathische Lebensstimmung kennen 
wir sowohl als konstitutionelle depressive Verstimmung, 
wie auch als chronischhypomanische Stimmung („konsti¬ 
tutionelle Erregung“ Kraepelin’s „manische Ver¬ 
stimmung“ Jung’s „sanguinisches Temperament“) 
immer als Ausdruck einer degenerativen Veranlagung. 
Gaupp erörtert dann ferner noch das Wesen des 
krankhaften Stimmungswechsels, die perio¬ 
dischen Verstimmungen der Epileptiker und 
Psychopathen und schliesst mit einem Versuch, die 
Pathologie des Stimmungslebens in Anlehnung an 
die psychologischen Anschauungen von Lipps 
psychologisch zu analysiren. Diese Ausführungen 
lassen sich nicht in einem kurzen Referat wiedergeben. 
Gaupp formulirt sein Hauptergebniss dahin: Jede 
pathologische Verstimmung ist in letzter Linie ein 
Vorgang seelischer Dissociation. Die Festigkeit der 
„Einheitsbeziehungen“ (Lipps) hat gelitten, das 
seelische Erlebniss, das wir Verstimmung nennen, ist 
in allen Fällen, mag es körperlich oder psychisch 
vermittelt sein, ein Phänomen, das eine Schädigung 
des apperzeptiven Zusammenhanges bedeutet. Die 
Persönlichkeit besitzt in der Verstimmung nicht mehr 
die Macht über ihre psychischen Inhalte; einzelne 
Vorgänge haben sich ein Maass psychischer Energie 
angeeignet, das die richtige Abschätzung ihrer Be¬ 
deutung unmöglich macht. (Autoreferat.) 

(Der Vortrag wird im Central-Blatt für Nervenh. 
u. Psychiatrie mitgethcilt werden.) 

11. B. Determan n-St. Blasien: Zur Früh¬ 
diagnose des tabes dorsalis incipiens. 

Determann hat 132 ei gen e Ta besf ä 11 e, von 
denen eine grosse Anzahl im allerersten Beginn stand, 
auf frühdiagnostische Symptome geprüft; er wird darüber 
des genaueren an anderer Stelle berichten. 

Die Prüfung der Tabes-Syphilisfrage, welche Deter¬ 
mann in diagnostischer und therapeutischer Hinsicht 
für nothwendig hielt, ergab bei 72% der Fälle sichere 
vorausgegangene Lues: bei 1050 anderen männlichen 
Nervenkranken (in 5 Jahren) war nur 233 Mal 
= 2 1,3 °/o Lues vorausgegangen. 

Determann hält die Syphilis für die s c h w e r- 
wiegendste Ursache der Tabes und misst bei 
syphilitisch gewesenen Personen den übrigen Momen¬ 
ten, Erkältung, Ueberanstrengung, Trauma etc. etc. 
nur die Rolle eines auslösenden Anlasses zu. 

Er theilt dann einiges von 14 Krankheitsfällen 
mit, die alle w'cit entfernt vom klassischen Bilde der 
Tabes sind, die sich aber fast alle zu einer sicheren 
Tabes entwickelt haben, entweder unter den Augen 
des Arztes oder bei mehrfacher Anwesenheit, oder im 
Laufe der Zeit bei weiterer Verfolgung des Schicksals 
der Patienten. 

Zur Feststellung der allerersten Frühsymptome 
der Tabes hat Determann aber auch sein gesammtes 
übriges Material durch Studium der Krankengeschichten 
und auf Grund eines Fragesc^ em as, das an die meisten 
Patienten gesandt war, verw^j^t. 

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Das häufigste und früheste Symptom sind die 
lanzinirenden Schmerzen, sodann kommen 
die Krisen, zumal die rudimentären und atypischen 
Formen derselben, wie Neigung zu Magensäure, häufiges 
Wasser im Mund Zusammenlaufen, Singultus, Kratzen 
im Hals, Neigung zu Husten, Brennen in der Speise¬ 
röhre, Neigung zu Uebelkeit, Neigung zu lockerem 
Stuhlgang, Drang, Kälte- und Wehegefühl im Leib, 
starke Neigung zu Blähungen — ferner die herz- 
krisenartigen Störu ngen wie Anfälle an heftigem 
Herzklopfen, Herzschwäche und Ohnmachtsgefühl, 
Hitze - Schmerz - Wehegefühl der Herzgegend. Angina 
pectorisartige Beschwerden und dergl. — Auch 
Kopfschmerzen, Blutandrang, Schwindel 
bilden zuweilen den Beginn des Leidens. Nervöse 
Hörstörungen sind im Anfang der Tabes viel 
häufiger als es bekannt ist — Unter den Sensi¬ 
bilitätsstörungen können die Kältehyperästhesie 
am Rumpf und das Auftreten kleine r analgischer 
Flecke an Unter- oder Oberschenkeln frühdiag¬ 
nostisch herangezogen werden. Ferner sind leichte 
Blasenstörungen im Anfang der Krankheit nicht 
selten. — Veränderungen der Sehnenreflexe, Vor¬ 
stadien des Kniephänomens, auch die Störungen der 
Achillessehnenreflexe, die Vorläufer der reflectorischen 
Pupillenstarre, die Atrophia nerv, optic., atactische 
Symptome rechnet Determann in dem von ihm auf¬ 
gefassten Sinne der frühzeitigen Erkennung der Tabes 
schon zu den Spätsymptomen. — Von grösster 
'Wichtigkeit ist jedenfalls Würdigung des Allgemein¬ 
zu Standes: Abmagerung, fahles blasses Aussehen, 
ausgeprägtes körperliches Müdigkeitsgefühl, (Hyperä¬ 
sthesie der sensiblen Muskelnerven,) neurasthenische 
Zustände, Schweissausbrüche etc. Diese Störungen 
müssen bei Syphilitikern zu genauester Untersuchung 
veranlassen. 

Bemerkensw'erth ist auch für die Diagnose das 
Schwanken oder Zurückgehen einzelner 
Symptome, der Patellarreflexe, der Pupillenstarre, 
der Sensibilitätsstörungen. — 

Der Beginn des Leidens bald an dieser 
bald an jener Stelle erklärt sich aus der schwäche¬ 
ren Veranlagung oder grösseren Inanspruchnahme 
dieses oder jenes Körpertheils. — Alle diese Sätze 
w r erden von Determann durch Beispiele belegt. 

Es erscheint also nach Determann erforderlich, 
eine neue Abgrenzung des klinischen Krank¬ 
heitsbildes „Tabes dorsalis“ vorzunehmen, da die 
formes frustes, die rudimentären, unentwickelten, unge¬ 
wöhnlichen Formen d. h. die Frühzustände der Tabes 
bei genügender Aufmerksamkeit des Arztes fast an 
Zahl überwiegen. Zur Frühdiagnose ist es wichtig, 
auf die Gruppirung der Anzeichen, auf ihren 
multilokularen Sitz zu achten. Die Cytodiag- 
nose kann möglicherweise auch zur frühen Erkennung 
des Leidens beitragen. (Fortsetzung folgt.) 


Berichtigung. 

In Nr. 16 ist bei dem Referat über die Berkhan’sche Schrift 
irrthümlich Herr Oberarzt Dr. Braune genannt. 

Orig mal from 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


tNr. 17. 


156 


Das Nährpräparat Hygiama. 

(Fortsetzung.,) 

Theinhardt’s Kindernahrung und Hygiama, welche 
nach den Jodreactionen von den vier Nährmitteln am 
reichsten an unveränderter Stärke sind, liefern gerade 
die meisten löslichen und die wenigsten unlöslichen 
Kohlenhydrate. 

Der Grad der Ausnutzbarkeit der Stickstoffsub¬ 
stanzen in den genannten Präparaten war bei den 
ausgeführten directen Verdauungsversuchcn folgender: 


gesammte Stick- 

ver- 

unver- 

Stoff- Substanz 

daul ich 

daulich 

Nestle's Kindermehl . 10,72% 

9.92 % 

0,80% 

Kufeke’s Kindermehl 13,15,, 
Theinhardt’s Kinder- 

12,33 » 

0,82 „ 

•nahrung . . . ^ 16,00 „ 

15 * 1 / „ 

0,83 „ 

Hygiama.22,00,, 

19,00,, 

ca. 3,00 „ . 


Der verhältnissmässig hohe Gehalt des Hygiamas 
an unverdaulichem Stickstoff stammt, wie sich auch 
bei der Phaseolyse zeigt, grösstentheils aus dem Kakao¬ 
mehl, das weniger zur Erhöhung des Nährwerths als 
zur Verbesserung des Geschmacks dienen soll. Kleien 
— (Kleberzellen), Eiweiss und Milcheiweiss lassen 
sich bei den inilchartigen Mehlpräparaten kaum rein 
tinctoriell unterscheiden, da beide sich bei primärer 
wie bei secundärer Färbung und Phaseolyse sehr 
ähnlich verhalten. Die Kleieneiweisskörperchen sind 
jedoch häufig noch an ihrer Form und dem aller¬ 
dings oft schwer darstellbaren Kem zu erkennen. 
Die von früheren Autoren beobachtete mangelhafte 
Ausnutzung der Kleienproteine in den diese ent¬ 
haltenden Nahrungsmitteln ist wohl wesentlich nur 
auf einen ungenügenden Zerkleinerungszustand zurück¬ 
zuführen, daher ist bei der üblichen feinen Mahlung 
der diätetischen Mehlpräparate selbst ein beträchtlicher 
Gehalt an Schalenbcstandtheilen. wie er mit einem 
höheren Gehalt an genuinem Klebereiweiss nothwendig 
verknüpft ist und bei diastasirten Mehlen zum Theil 
auch durch den Zusatz von Malzmehl bedingt sein 
kann, vom Gesichtspunkte der Eiweissnutzung ziemlich 
unbedenklich, wofür ausser dem günstigen Ergebniss 
der künstlichen Verdauung die klinischen Erfahrungen 
sprechen. — 

Indicationen: 

Im Hygiama werden sämmtliche Nährstoffe in 
vorwiegend leicht löslicher und verdaulicher Form ge¬ 
boten und die Eiweissstoffe desselben bis zu 85 % 
(hingegen die in Cacao-, Chocolade- und Leguminose- 
Präparaten bekanntlich nur mit ca. 42 °o) ausgenützt. 
Kohlenhydrate, Fett und Nährsalze werden leicht 
resorbiert. 

Hygiama wird verordnet bei mangelhafter Er¬ 
nährung, Erschöpfungszuständen, in der Rcconvale- 
scenz, bei Anämie, Chlorose, Verdauungsstörungen 
nervöser Natur, Darmkrankheiten, bei Magengeschwür, 
Magenkrebs, Hyperacidität, Lungen - Schwindsucht, 


Rhachitis, bei fieberhaften Erkrankungen, besonders 
Typhus und Dysenterie, bei Hyperemesis gravid., zur 
Hebung der Lactation; ferner zur Verwendung bei 
der künstlichen Ernährung per os oder per rectum 
Ausgeschlossen ist es bei Diabetes mellitus. 

Auch Kinder bis herab zu 2 Jahren können Hy¬ 
giama nehmen. 

Nährwert des Hygiama - Getränks im Vergleich 
mH dem gleichen Quantum einer guten Fleischbrühe 
mit zwei Eiern: 


Eine 1 U Liter haltende grosse Tasse 
Rindfleisch-Bouillon (180 g), mit 
zwei Eiern (100 g) nach Prof. 

Dr. J. König, Vorstand der che¬ 
mischen Versuchsstation zu 
Münster i. W., enthält: 

:j g 

Verdauliches Eiweiss . . j 15,27 

Fett.i 13,01 

Gelöste Kohlenhydrate ^ 7 
resp. lösl. Extractstoffe etc. j ,j 

Nährsalze.! 2,60 

Total an Nährstoffen . 1 37,67 

Darr eichuugs weis e: 

Gewöhnliche Zubereitungsweise. 

Hygiama mit Milch für Erwachsene. 

20 g (ca. 3 Kaffeelöffel) Hygiamapulver werden 
mit etwas heissem Wasser angerührt, sodann nach 
und nach 1 U 1 Milch zugegeben und das Ganze unter 
fortwährendem Umrühren ca. 2 Minuten lang gut auf¬ 
gekocht. 

Um das Getränk etwas kräftiger schmeckend zu 
machen, mische man zu obigem Quantum Hygiama¬ 
pulver noch einen Löffel Cacaopulver und etwas 
Zucker und verfahre ganz wie oben angegeben. 

Für Kinder nehme man die Hälfte Hygiamapulver 
bei dem gleichen Quantum Milch. 

Ausserdem kann man Hygiama mit anderen 
Nahrungsmitteln zusammen in den verschiedensten 
Formen gebrauchen lassen, z. B. Hygiama-Bisquits, 
Hygiama-Creme, Hygiama-Suppe, Schlagsahne mit 
Hygiama, Hygiama-Zwieback, Hygiamaauflauf mit 
Macronen u. s. w. 

Zubereitung für Nährclvsinen per os oder rectum. 

40—50 g Hygiamapulver werden mit etwas heissein 
Wasser angerührt, hierauf mit 300 g Milch gut durch¬ 
gekocht, 3 g Kochsalz zugefügt, eventuell noch 1 Ei 
eingequirlt, und da wo indicirt, Alkohol oder Opium- 
tinctur zugesetzt, womit, vorübergehend angewendet, 
befriedigende Ernährungsresultate erzielt werden. 

(Fortsetzung folgt.) 


Hygiama -Getränk 
aus 

20 g Hygiama 
und l U 1 Milch 
enthält: 


g 

12,24 
11,20 

21,48 

2^,65 

47Ö5 


Für dun redactionullun Theil verantwortlich : Oberarzt Dr. J . Bresirr, Lublin itz (Schlesien). 

Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inseratenanuahinc 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Hevnemann’sche Buchdruckerei (Gebr. v ':dfT) in Halle a. S 


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Original frum 

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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift. 

Redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Lublinitz (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Tele^r.-Adresse: M a rh o Id V er I a*, Hallesaale. Fernsprecher 2834. 

Nr. 18. 30 Juii- 1904. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die 3spaltige Petitseile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermlssigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten. 


Aus der Rhein. Pro v.-Heil- und Pflege-Anstalt Grafenberg. Dir.: Sanitätsrath Dr. Peretti. 

Ueber Versuche mit Neuronal. 

Von Dr. Becker , Assistenzarzt. 


r\as von G. Fuchs-Biebrich und E. Schultze-Bonn 
auf Grund theoretischer Erwägungen zuerst an 
Thieren ausgiebig erprobte Schlafmittel Neuronal 
(Bromdiäthylacetamid) ergab auch in der Anwendung 
bei gesunden und kranken* Menschen günstige Resul¬ 
tate.*) A. Siebert-Bonn prüfte es auf seine hypno¬ 
tische Wirkung an über hundert meist männlichen 
Patienten der Bonner Prov.-Heil- und Pflegeanstalt. 
Neuronal zeigte sich ihm als ein bei Schlaflosigkeit 
und Erregungszuständen Geisteskranker verschiedener 
Art, besonders auch der Epileptiker, gut wirkendes 
Schlafmittel ohne bedenkliche Nebenwirkungen.**) 
An der Anstalt zu Grafenberg wurde es 50 Patienten, 
fast ausschliesslich weiblichen, in ca. 300 Einzelgaben 
verabreicht. Möglichst jede Form der Schlaflosigkeit 
kam zur Behandlung mit Neuronal. Dosen von 0,5 
bis 2 g wurden verwendet, darüber hinaus wurde 
nicht gegangen. In der Mehrzahl wurde 1 g ge¬ 
geben. Neuronal wurde hauptsächlich als Pulver ge¬ 
reicht und in dieser Form wider Erwarten gut von 
den Kranken genommen. Sein Geschmack ist nicht 
besonders angenehm — etwas modrig mit bitterem 
Nachgeschmack — und auch nach einer neuerdings 
seitens der herstellenden Fabrik vorgenommenen 
Verbesserung ist es nicht gerade als wohlschmeckend 
zu bezeichnen. Trotzdem wurde es nur in wenigen 
Fällen zurückgewiesen. Die im Verlaufe der Ver¬ 

suche mit Neuronal erzielten Erfolge waren im Ganzen 
recht befriedigende. Bei einfacher Schlaflosigkeit 
genügte vielfach schon 0,5 g zur Herbeiführung eines 
ruhigen, 6 bis 8 Stunden dauernden Schlafes, der 

*) Vortrag von E. Schultze auf der Versammlung des 
deutschen Vereins für Psychiatrie in Göttingen. Münchner 
med. Wochenschr. 1904, Nr. 25. 

**) Vortrag auf der 73. Versammlung des psychiatrischen 
Vereins der Rheinprovinz. Nr. i 2 dieser Wcchenschr. 1904. 

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nach 20 bis 30 Minuten einzutreten pflegte. Leicht 
manische und nicht erheblich erregte paralytische 
Patienten sowie infolge nicht allzu lebhafter Sinnes¬ 
täuschungen an Schlaflosigkeit leidende kamen auf 
1 g nach durchschnittlich einer halben Stunde zur 
Ruhe. Bei stärkerer Manie machte sich die Dar¬ 
reichung von 1,5, in einzelnen Fällen von 2 g nöthig, 
ohne dass es immer gelang, eine dauernde Nacht¬ 
ruhe zu erzielen. Einige manisch-depressive Kranke, 
deren Psychose besonders schwer verlaufen war, 
schliefen im Stadium der höchsten motorischen Er¬ 
regung auf 2 g nur 3 bis 4 Stunden, andere nur 
vereinzelte Stunden oder gar nicht. Bei bedeutenden 
paralytischen Aufregungszuständen Hess dagegen Neu¬ 
ronal niemals im Stich. Unruhe geringeren Grades bei 
senil Dementen wurde durch 0,5 bis 1 g leicht, hoch¬ 
gradige nicht immer auch durch bis zu 2 g gesteigerte 
Gaben ausreichend beseitigt. Die letzteren durch bestän¬ 
diges Wühlen im Bett, zielloses Umherwandern, Be¬ 
lästigen der anderen Kranken, Reden und Schreien 
charakterisirten Fälle verhielten sich allerdings gegen 
Paraldehyd und Trional ebenfalls refraktär. Sie finden 
sich meiner Erfahrung nach häufiger und intensiver 
beim weiblichen als beim männlichen Geschlecht und 
trotzen bisweilen jeder Behandlung. Bei hallucinato- 
rischer Verwirrtheit, vergesellschaftet mit motorischer 
Unruhe, wurde 1 bis 1,5 g Neuronal gebraucht, um 
volle Wirkung zu erzielen. Hier kam es verhältniss- 
mässig häufig zur Ablehnung des Mittels, wie ja den 
unter diese Kategorie fallenden Kranken Nahrung 
und Medicamente per os überhaupt schwer beizu¬ 
bringen sind. Auffallend günstig wirkte Neuronal 
bei Erregungszuständen Imbeciller. Schon 0,5 g 
brachte Beruhigung und ausgiebigen Schlaf. Kata¬ 
tonische Patientinnen wmrden ganz verschieden, die 
einen recht gut , die anderen nicht ausreichend be- 


Original fram 

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158 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 18. 


einflusst. Sogar im Verlauf derselben Erkrankung 
bei einer Person trat diese Verschiedenheit zu Tage. 
Eine Kranke bot selten starken Bewegungsdrang und 
ausgeprägten Selbstbeschädigungstrieb. Sie kam in 
der ersten Woche der Anwendung nur ganz vorüber¬ 
gehend zum Schlafen. Als Neuronal und die übrigen 
sich gleichfalls nutzlos zeigenden Schlafmittel ebenso 
lange ausgesetzt worden waren, wirkte es bei der 
Wiederanwendung ganz ausgezeichnet, obwohl sich 
die Krankheitserscheinungen inzwischen nicht ge¬ 
ändert hatten. Bei Epileptischen konnte Neuronal 
mangels geeigneter Patientinnen nur in wenigen Fällen 
versucht werden und auch diese waren nicht gerade 
sehr unruhig, sondern störten mehr durch Unverträg¬ 
lichkeit und Sprechen die Nachtruhe der anderen 
Kranken. Auf i g Neuronal schliefen sie gut und 
zeigten sich am nächsten Tage besser gestimmt. 
Eine durch Aerger. psychisch afficirte und deshalb 
schlaflose hysterische Patientin erbrach das Mittel 
sofort wieder. Ausserdem wurde nur noch einmal 
Erbrechen nach Neuronal beobachtet. Es handelte 
sich beidemale um Kranke mit auch sonst für 
Arzneien sehr empfindlichem Magen. Weitere Stör¬ 
ungen im Bereich der Verdauungsorgane oder des 
Gefässsystems zeigten sich nicht. Ebensowenig wurden 
Hautausschläge gesehen. Eine cumulirende Wirkung 
konnte nicht constatirt werden , wohl aber schien in 
einigen Fällen eine gewisse Gewöhnung Platz zu 
greifen. Es bedurfte dann, um denselben Effekt zu 
erzielen, einer Steigerung der Dosis. Mehrmals wurde 
den gleichen Patientinnen eine ganze Reihe von 
Abenden hintereinander 2 g verabreicht, ohne dass 
wie beim Trional und Veronal Erschwerung der 


Sprache, Benommenheit und unsicherer Gang auf¬ 
traten. Sämmtliche Kranke, die im Stande waren, 
sich zuverlässig über die Wirkung des Schlafmittels 
zu äussem, fühlten sich am nächsten Morgen frisch 
und munter. Die Uebrigen Hessen objektiv keine 
Veränderung gegen sonst in ihrem Befinden erkennen. 
Es fehlten also üble Nach- und Nebenwirkungen 
vollkommen. Schliesslich wurde Neuronal noch 2 
geistesgesunden Pflegerinnen gegeben, die wegen 
Schmerzen (Menstruationsbeschwerden, Rücken- 
schmerzen bei Chlorose) nicht schlafen konnten. 
Bei beiden zeigte sich Neuronal, wie in ähnlichen Fällen 
Veronal, nicht genügend wirksam. Sie schliefen nur 
3 bis 4 Stunden und selbst während dieser Zeit 
nicht fest. 

Neuronal hat sich bei unseren Versuchen als ein 
recht brauchbares und durchaus unschädliches Schlaf¬ 
mittel erwiesen. Wie jedes andere Hypnoticum ver¬ 
sagt es gelegentlich oder zeigt sich wenigstens nicht 
als ausreichend schlafbringend bei sehr starken, im 
Verlauf der senilen Demenz, der Katatonie und des 
manisch-depressiven Irreseins vorkommenden Erreg¬ 
ungszuständen. Möglicherweise wäre aber auch in 
den genannten Fällen bei weiterer Steigerung der 
Einzelgabe noch ein Erfolg zu erzielen gewesen. Be¬ 
denken dagegen liegen ja bei der Ungefährlichkeit 
des Mittels nicht vor. Um eine dem Trional und 
Veronal gleiche Wirkung zu entfalten, muss es zwar 
in etwas höherer Dosis als sie gegeben werden, da¬ 
für fehlen ihm aber auch die jenen eigenen un¬ 
erwünschten und bei längerer Anwendung nicht un¬ 
gefährlichen Nebenerscheinungen. 


Die physikalische Therapie bei Geistes- und Nervenkrankheiten.*) 

Von Oberarzt Dr. Mönkemoller , Osnabrück. 

(Schluss.; 


Die Lichtth erapie (Historisches: Marcuse, 
Physiologisches und Technisches: Rieder) hat auch 
ihr Analogon in den frühesten Jahrhunderten; so 
fand das Sonnenbad einen hervorragenden Gebrauch 
bei Lähmungen und Ischias (Celsus), bei Hypochon¬ 
drie, Hysterie und sogar bei Epilepsie. Carus will 
sich durch Sonnenbäder von hypochondrischer Ge- 
müthsstimmung geheilt haben. Und nach dem 1V2 
Tausend Jahre langem Schlafe, in dem die Licht¬ 
therapie geschlummert hat, kam das Sonnenbad auch 

*) Nach Goldscheider und Jacob’s Handbuch der pysik. 
Therapie. 

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sofort wieder bei Erkrankungen des peripheren Ner¬ 
vensystems zu Ehren. Am bedeutungsvollsten ist 
hierbei wohl die Einwirkung auf die Psyche. An 
sonnenhellen Tagen ist — besonders hei sensitiven 
Personen — das Gemiith heiter gestimmt, die Arbeits¬ 
freudigkeit, Energie und Lebenslust gesteigert, die 
Bewegungen sind lebhafter als bei trübem Wetter, 
während man bei Polarreisenden während der Polar¬ 
nacht nicht selten Gemüthsdepression und geistige 
Abspannung beobachtet. Man denke nur an die 
Psychosen der nach Kataractoperation sich im Dunkel¬ 
zimmer Befindenden. Rieder nimmt sogar an, dass 


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IQ04-J 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


*59 


durch die Haut dem Ccntralnervensystem Lichtreize 
übertragen werden. 

So geht die neue systematische Therapie mit den 
Sonnenbädern gegen Hypochondrie und Neu¬ 
ral gi een, besonders Ischias vor. Das Luftsonnen¬ 
bad dient zur Abhärtung und Kräftigung des ge- 
sammten Nervensystems, die elektrischen Lichtbäder 
greifen gleichfalls die Neuralgieen an. 

Die Chromotherapie, die von dem alten 
Grundsätze ausgeht, dass die einzelnen Farben be¬ 
sonderen Gemüthsstimmungen entsprechen, hat bei 
Geisteskranken rothe, blaue und violette Belichtung ver¬ 
sucht und man will bei Melancholikern gute Wirkung 
von rothen, bei Maniakalischen von blauen und 
violetten Strahlen gesehen haben. Gestützt auf diese 
Beobachtungen macht man denn auch in englischen, 
italienischen und russischen Irrenanstalten schon seit 
längerer Zeit von den Wirkungen des farbigen Lichtes 
Gebrauch. 

Während im ersten Theile des Buches die Ver¬ 
treter der einzelnen Methoden zu Worte gekommen 
sind, werden im zweiten Theile die verschiedenen 
Krankheitsgebiete in ihren Beziehungen zu den physi¬ 
kalischen Heilmethoden besprochen. Diese Theilung 
des Stoffes hat, obgleich sich ja manche Wieder¬ 
holungen nicht vermeiden lassen, ihre unleugbaren 
grossen Vortheile. Nicht nur, dass sie für jede ein¬ 
zelne Disciplin den Stoff zusammenfasst und ordnet. 
Aber es ist wohl kaum zu leugnen, dass die Ver¬ 
fechter der einzelnen Methoden geneigt sein werden, 
für ihre eigene Spccialdisciplin in verständlicher 
Schwärmerei zu erglühen und den Kreis ihrer Indi¬ 
kationen etwas weit zu ziehen. Dieser Optimismus 
wird aber durch die Erfahrungen der Specialisten 
wieder gut gemacht und die Applikation der zahl¬ 
reichen Methoden auf das Maass zurückgedrängt, 
das ihm nach den nüchternen Erfahrungen zukommt. 

Im ersten Bande interessirt uns im Wesentlichen 
nur die Behandlung des Morbus Basedowii (Eich¬ 
horst). Da man hier von der medikamentösen und 
chirurgischen Behandlung keine ein wandsfreien Re¬ 
sultate gesehen hat, hat man zu fast sämmtlichen 
physikalischen Methoden seine Zuflucht genommen, 
Seebäder, Höhenaufenthalt, Badekuren, Hydrotherapie, 
Mechanotherapie, Elektrotherapie werden in gleichem 
Maasse herangezogen — leider scheint bei dieser 
Vielseitigkeit der Therapie die alte Erfahrung zu 
gelten, dass, je zahlreicher die Heilmittel, desto 
weniger sicher die Aussichten auf endgültigen Erfolg 
sind. 

In welchem Umfange di e Krankheiten der peri- 

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phereil Nerven und des Centralnervensystems an den 
Erfolgen der physikalischen Heilmethoden participiren, 
beweist der stattliche Umfang des Kapitels, das jenen 
im zweiten Bande gewidmet ist. Es kann hier natür¬ 
lich nur in den allergröbsten Zügen auf die einzelnen 
Krankheiten eingegangen werden, welche die Haupt¬ 
klientel für diese Therapie darstellen. In erster Linie 
ist es die Neuritis (Goldscheider), bei der die phy¬ 
sikalische Therapie ihre Triumphe feiert. Zunächst 
vorsichtige Berücksichtigung der Schmerzhaftigkeit 
durch die verschiedensten Applikationen, Verhütung 
späterer Contracturen durch zweckmässige Lagerung, 
die diaphoretische Behandlung mittelst des Bettschwitz¬ 
apparates, die elektrische Einwirkung auf Paresen 
der Schling- und Athmungsmuskulatur, trockene 
Wärme und feuchtwarme Einpackungen treten in den 
ersten Stadien in Thätigkeit. Systematisch angewandte 
Bäder, in denen Bewegungsübungen vorgenommen 
werden (die übrigens auch im Bette unter Benutzung 
geeigneter Aequilibtirungsapparate fortgesetzt werden 
können), eine concentrirtere elektrische Behandlung, 
die Verhütung der Deformitäten durch die verschie¬ 
densten Apparate stellen die Thätigkeit der Therapie 
auf dem Höhepunkt der Krankheit dar und im Sta¬ 
dium der Regeneration werden durch kinetotherapeu- 
tische Bäder, durch eine vielseitige Uebungsbehand- 
lung, durch noch intensivere elektrotherapeutische 
Eingriffe, durch die Massage, durch passive Beweg¬ 
ungen , durch hydriatische Proceduren die 
erloschenen Functionen wieder hcrgestellt. Gerade 
bei der Neuritis fallen die grossen Fortschritte, die 
wir auf diesem Gebiete zu verzeichnen haben, die 
minutiöse Ausbildung der Technik, die durchdachte 
Berücksichtigung der einzelnen Krankheitssymptome 
am deutlichsten ins Auge. 

In ähnlichem Maasse zeigt sich das bei der Be¬ 
handlung der Mononeuritis und der periphe¬ 
rischen Lähmungen, doch ist hier die Behand¬ 
lung wieder so specialisirt, dass wir den Einzelleist¬ 
ungen nicht gerecht werden können. 

Von den iso,l irten M us kelk rämpfen (Frankl- 
Hochwart) sind im Wesentlichen die Ticformen 
bei Neurosen Gegenstand der physikalischen Be¬ 
handlung geworden. Auch hier tritt das ganze Rüst¬ 
zeug der verschiedensten physikalischen Methoden 
in Thätigkeit, wenn auch wiederum die Erfolge nicht 
immer ganz der Menge und Vielseitigkeit der ange¬ 
wandten Mittel entsprechen, während die Neural¬ 
gieen (derselbe) weit mehr diesen Einflüssen zu¬ 
gänglich sind. Doch hängt hier die Indikationsstell¬ 
ung ganz ausserordentlich von der Richtigkeit der 
Diagnose ab, und so variirt die Anwendung der ver- 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 18 


schiedenen Mittel derart, dass wieder auf das Werk 
selbst verwiesen werden muss. 

Weit sicherer und unbestrittener sind die Erfolge, 
die den Rückenmarkskrankheiten durch die 
Ausbildung der physikalischen Heilmethoden zuge¬ 
flossen sind (Jacob). Die Unheilbarkeit der meisten 
Krankheitsprocesse, der chronische Verlauf und der 
gute Allgemeinzustand gestatten hier, zeitraubende 
und anstrengende Kurmethoden zur Anwendung zu 
bringen. In erster Linie hat man den Kampf gegen 
die Störungen der Motilität aufgenommen, denen der 
Arzt früher machtlos gegenüberstand. So feiert jetzt 
bei den mit Koordikationsstörungen verbundenen 
Rückenmarkskrankheiten, insbesondere bei der Tabes, 
die kompensatorische Uebungstherapie früher unge¬ 
ahnte Erfolge, bei der nur schwere Komplikationen, 
psychische Erschöpfungszustände und die Neurasthenie 
Gegenindikationen bilden und die allerdings eine 
intensive Mitwirkung des Arztes verlangen. Schon 
durch ihre genaue Systematisirung zeigen sie, wie 
nöthig das ist, um so mehr, als sie sich häufig mit 
der orthopädischen Massage und der allgemeinen 
gymnastischen Behandlung der Tabes verbinden muss 
und je nach den Umständen auch die Balneotherapie, 
und Thalassotherapie in Anspruch nehmen. Die früher 
so. allmächtige elektrotherapeutische Behandlung da¬ 
gegen hat sich bescheiden in den Hintergrund zurück¬ 
ziehen müssen. 

Der unheilvolle Nihilismus, der Jahrzehnte lang 
den chronischen Rückenmarkskrankheiten gegenüber 
herrschte und die Kranken hilflos den qualvollsten 
Folgezuständen überliess, ist jetzt durch die thera¬ 
peutischen Heilfactoren geschlagen. Kann auch nicht 
geheilt werden, so lassen sich lange Jahre hindurch 
ihre Verschlimmerung und viele Complikationen ver¬ 
hindern. Zur Verhütung von Decubitus und Blasen¬ 
leiden wirkt neben der allgemeinen Prophylaxe eine 
ausgedehnte Bäderbehandlung durch Krankenhebe¬ 
apparate, eine wechselnde Lagerung im Bette hält 
den Decubitus und in Verbindung mit der Massage 
der Blasengegend die drohende Cystitis fern. Bei 
spastischen und schlaffen Lähmungen wird der Patient 
unterrichtet, seine Willensimpulse in die gelähmten 
Muskeln zu schicken, die nicht betroffenen Muskel¬ 
gebiete werden thunlichst geübt und nach Eintritt 
der Lähmung Kontraktionszustände vermieden oder 
auf ein Mindestmaass herabgesetzt. Die dazu nöthigen 
in Betracht kommenden Methoden sind schon er¬ 
wähnt Gerade für diese Krankheiten haben sie eine 
ganz erstaunliche und erfolgreiche Vielseitigkeit erlangt, 
obgleich Jacob andererseits mit vollem Rechte vor 
planloser Polypragmasie warnt. Warm empfehlend 

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weist er dagegen auf die Leistungen der orthopädischen 
Behandlung hin, deren Erfolge noch viel zu wenig 
bekannt sind, während das Suspensionsverfahren — 
bei Tabes und Compression des Rückenmarkes durch 
Wirbelkaries — sich immer mehr Bahn gebrochen 
hat. Die schon früher allgemein angewandte Massage 
hat sich in der Behandlung der Obstipation und der 
Blasenlähmung neue Gebiete erkämpft. 

Die physikalische Therapie der Gehirnkrank¬ 
heiten (Jolly) soll in erster Linie Cirkulationsstör- 
ungen in der Schädelhöhle nach Möglichkeit aus- 
gleichen und die Aenderungen des Druckes, der 
Menge und Vertheilung der Cerebrospinalflüssigkeit 
beseitigen, weiterhin Schmerzen lindem, motorische 
Reizerscheinungen beseitigen und Lähmungen und 
Kontrakturen heilen oder doch wenigstens bessern. 
Während die Behandlung der Gehimanämie und 
-hyperämie die Waffen der modernen physikalischen 
Therapie verhältnissmässig wenig in Anspruch nimmt, 
ist bei der Behandlung der Meningitis der Lum¬ 
balpunktion neben den alten Methoden ein, wenn 
auch nur beschränkter, therapeutischer Werth zuzu¬ 
erkennen, die auch bei Gehirntumoren in Verbind¬ 
ung mit der Punktion der Seitenventrikel ihre Vor¬ 
theile hat. Auch die Behandlung der zurückbleiben¬ 
den Heerderscheinungen nimmt keine besonderen 
Gesichtspunkte für sich in Anspruch, Jolly warnt nur 
vor der centralen Galvanisation, die nicht ungefähr¬ 
lich und nicht sicherer im Erfolge als die periphere 
Behandlung sei. 

Einen ganz wesentlichen Fortschritt gegen früher 
stellt dagegen die physikalische Behandlung der 
Aphasie dar (Goldscheider), der man früher ver¬ 
hältnissmässig sehr passiv gegenüberstand. Was ge¬ 
schehen kann, um den Verlust der sensorischen Er¬ 
innerungsbilder und des motorischen Koordinations¬ 
vermögens zu decken, fällt wieder im Wesentlichen 
in das Gebiet der Uebungstherapie und hat eine 
derartige Durchbildung erfahren, dass sie eine thera¬ 
peutische Gruppe für sich allein bildet, die an die 
Geduld des Arztes nicht minder, wie an die des 
Kranken, grosse Anforderungen stellt und auch nur 
für eine verhältnissmässig geringe Zahl von Fällen 
günstige Resultate zeitigt. 

Der Leistungen der physikalischen Therapie bei 
der N eurastheni e und Hysterie (Determann) 
ist schon mehrfach gedacht worden, obgleich hier die 
specifische Wirkung der einzelnen Behandlungsarten 
sehr schwer abzugrenzen ist, und vor allem die sug¬ 
gestive Einwirkung des Arztes oft in ausschlag¬ 
gebendstem Maasse zur Geltung kommt. In aller¬ 
erster Linie ist die psychische und somatische Ab- 
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1904.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 161 


härtung in Frage zu ziehen, die sich die verschieden¬ 
sten physikalischen Methoden zum Ziele gesetzt haben. 
Auch bei den ausgebildeten Formen der Neurasthenie, 
mag sie nun mit übermässiger Reizempfänglichkeit 
oder unter dem Bilde der gesteigerten allgemeinen 
Schwäche einhergehen, bietet stets einen so wechseln¬ 
den Symptomen komplex dar, dass nur die sorgfältigste 
Prüfung durch den Arzt entscheiden kann, welcher 
von den vielen Methoden der Vorzug einzuräumen 
ist und stets auch eine intensive Berücksichtigung der 
gesammten Constitution und sonstiger Krankheits¬ 
symptome voraussetzen. 

Aehnlich steht es mit der Hysterie, die eine 
genaue Kenntniss der einzelnen Symptome und eine 
nicht minder gründliche der zahlreichen Mittel ver¬ 
langt. 

Obgleich noch nie die Epilepsie (Strasser) 
durch physikalische Methoden geheilt worden ist, 
obgleich vor allem auch der Anfall nie durch physi¬ 
kalische speciell hydriatrische Proceduren coupirt 
werden konnte, lässt sich doch durch mancherlei 
Applikationen (z. B. durch die Kühlhaube) die In¬ 
tensität der Anfälle herabdrücken und die Reflex¬ 
erregbarkeit mindern. Trotzdem soll sie nie ohne 
gleichzeitige BromanWendung in Thätigkeit treten, die 
dann durch jene in ihren schädlichen Nebenwirk¬ 
ungen behindert werden kann. Vor allem setzt die 
Bäderbehandlung in der Zwischenzeit die allgemeine 
psychische und geistige Depression herab. Die 
schweren Erscheinungen des Bromismus lassen sich 
durch eine vorsichtig geübte hydr. Therapie verhüten, 
und wenn vorhanden, erfolgreich bekämpfen. Auch 
manche sonstige störende Symptome sind der hydria- 
trischen Behandlung zugänglich. 

Bei der Chorea (Hoffa) hebt die Massage das 
Allgemeinbefinden und das Körpergewicht. Die hef¬ 
tigen Bewegungen nehmen ab und die Extremitäten 
werden warm. Nachdem durch passive und später 
aktive Bewegungen bei akuten Fällen die Bewegungs¬ 
fähigkeit wieder hergestellt ist, erzieht die kompen¬ 
satorische Uebungstherapie den Kranken zur mög¬ 
lichsten Beherrschung der Mitbew'egungen. Einer ge¬ 
sonderten gymnastischen Behandlung unterliegen die 
choreatischen Sprachstörungen, eine regelmässige 


Athemgymnastik geht damit Iland in Hand und 
nicht minder die Schulung der Stimmbandfunction. 
Während die elektrische Behandlung versagt, erzielt 
die Immobilisation der Glieder in manchen Fällen 
sehr gute Erfolge. Auch vorsichtige Schwitzkuren 
sollen manchmal sehr wirksam sein, während die 
hydrotherapeutischen Methoden zwar keine speei- 
fischen Wirkungen entfalten, aber das Allgemeinbe¬ 
finden günstig beeinflussen. Bei der Athetose ge¬ 
währleistet eine für längere Zeit systematisch geleitete 
lokale aktive Gymnastik nach Art der Frenkerschen 
Uebungstherapie die besten Wirkungen, bei denen 
eine ganze Reihe von Apparaten zur Behandlung 
mit herangezogen werden kann. Ist die Runipf- 
muskulatur unter lähmungsartigen Erscheinungen da¬ 
von befallen, so treten besondere Stützapparate in 
Thätigkeit. 

Die Bekämpfung der Migräne (Laquer), beson¬ 
ders wenn sie erblich ist, setzt -schon in frühester 
Jugend mit den verschiedensten physikalischen Maass¬ 
nahmen prophylaktisch ein. Bricht die Krankheit 
trotzdem aus, so stehen dem Arzte im Kampfe gegen 
den einzelnen Anfall die Massage, die Priessnitz- 
schen Umschläge, ableitende Fuss- und Handbäder 
und die Glühlichtbehandlung zu Gebote. Besonders 
günstig wirken manchmal die Kopf- und Halsgalvani¬ 
sation und die Behandlung mit der faradischen Hand. 
Tritt der Status hemicranicus ein, dann feiert die Be¬ 
handlung in Höhen- und Seeluft und die in Stahl- 
und Thermalbädern ihre höchsten Triumphe. 

Die Beschäftigungsneurosen (Laquer) er¬ 
fordern neben einer Allgemeinbehandlung wieder eine 
so specielle und individuelle Berücksichtigung, dass auf 
eine nähere Schilderung verzichtet werden muss. 

Bedenkt man, wie weit die Ausgestaltung der 
physikalischen Heilmethoden schon gediehen ist, ob¬ 
gleich ihre wissenschaftliche Begründung und Durch¬ 
bildung verhältnissmässig noch sehr jungen Datums 
ist, so sind wir sicher berechtigt, für die Zukunft noch 
eine weitere glückliche und erfolgreiche Ausbildung 
zu erwarten. Und ebenso sicher dürfen wir hoffen, 
dass die Nervenkrankheiten an dieser Ausbildung 
stetig theilnehmen werden und dass auch die Psy¬ 
chosen sich einen weiteren Platz darin erkämpfen 
werden. 


Mittheilungen. 


— Verein für Psychiatrie und Neurologie 
in Wien. Sitzung vom IO Juni 1904. 

Dr. Robert Rosen^aJ berichtet über se * ne 


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Gen gle 


gemeinsam mit Dr. A. Fuchs vorgenommenen 
Untersuchungen dei Cerebrospinalflüssigkeit 11. z. über 
den cytologischen Theil dieser Untersuchungen. Er 

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l62 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 18. 


fand Vermehrung der Lymphocyten ira Frühstadium 
der Lues, bei schweren Eruptionsformen und menin- 
gealen Reizerscheinungen; bei alter abgelaufener Lues 
fehlt dieselbe. Reichliche Lymphocytose ist ein 
Frühsymptom der Tabes und Paralyse, häufig auch 
der multiplen Sclerose und des Herpes Zoster. Die 
Technik des Verfahrens hofft Rosenthal verbessern 
zu können. 

Dr. A. Fuchs berichtet noch über die physi¬ 
kalisch-chemische Untersuchung obiger Lumbalpunk¬ 
tionsflüssigkeiten. Diese Untersuchung bezog sich 
auf die Bestimmung des Gefrierpunktes und die Be¬ 
stimmung der elektrischen Leitfähigkeit des Liquor 
cerebro-spinalis. Die diesbezüglichen Versuche werden 
in einer ausführlichen Publikation mitgetheilt werden. 

Docent Dr. B. Alexander und Prof. Dr. C. 
v. Frankl-Hoch wart zeigen Präparate eines 
Falles von Akustikus-Tumor. 

Prof. Dr. C. v. Frankl-Hochwart demonstrirt 
einen Fall von Thomsen’scher Krankheit. (Wird in 
der Deutschen Klinik ausführlich publicirt.) 

Prof. Dr. C. v. Frankl-Hochwart macht 
noch eine vorläufige Mittheilung über an Hunden 
vorgenommene Versuche, die corticale Innervation 
der Harnblase betreffend. 

Der Bericht Dr. Schüller’s über die Ergebnisse 
seiner gemeinsam mit Dr. Robinsohn vorgenom¬ 
menen Untersuchungen über die röntgenologische 
Darstellung der Schädelbasis wird ausführlich ver¬ 
öffentlicht werden. S. 

— XXIX. Wanderversammlung der süd¬ 
westdeutschen Neurologen und Irrenärzte am 

28. und 29. Mai 1904 in Baden-Baden. (Referent 
Dr. Krauss- Kennenburg.) (Fortsetzung.) 

12. Dr. Nonne- Hamburg: Ueber Fälle von Symp- 
tomenkomplex von Tumor cerebri mit Ausgang in 
Heilung. 

Von 12 Fällen mit subacut oder chronisch 
fortschreitenden „Allgemein-Symptomen des Hirntu¬ 
mor“ mit Stauungspapille gingen 8 in Dauerheilung 
(2 1 /2—3V2 Jahre) über, 4 starben. Nach den vor¬ 
handenen Symptomen war Hydrocephalus allein aus- 
zuschliessen, ebenso Tuberkulose. Von den 4 Ge¬ 
storbenen kam einer nach zweijähriger „Heilung“ acut 
zum Ende, bei den 3 übrigen Fällen fand sich makro¬ 
skopisch und mikroskopisch keine Anomalie am Ge¬ 
hirn und seinen Hüllen und Gefässen. Nonne nennt 
diese Fälle unter Hinweis auf Jacobsons „Hemiple¬ 
gie ohne anatomischen Befund“ Pseudo-Tumor 
cerebri. 

Discussion: Schultze, Bäumler, Rosenfeld, Nonne. 

29. Mai Vormittags 9 Uhr. Vorsitzender Professor 
Dr. Schultze-Bonn. 

13. Prof. W i e d e r s h e i m - Freiburg: demonstrirt 
ein Macerationsprodukt der Schichtung im Ammons¬ 
horn, das im Kern im lateralen und ventralen Umfang 
ein ineinandergreifendes Zackensystem bildete und 
beim Menschen regelmässig künstlich durch Formol- 
behandlung sich herstellen liess. 

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14. P. Grützner (Tübingen) spricht über das 
Zustandekommen natürlicher Muskelbe¬ 
wegungen, indem er von der seit lange von ihm 
vertretenen Anschauung ausgeht, dass die verschiedenen 
Muskeln der Menschen und der ihm nahestehenden 
Geschöpfe in gewissem Sinne zwar anatomische, aber 
durchaus keine physiologischen Einheiten sind und 
unter normalen Bedingungen keineswegs als ganze 
Massen gleichzeitig mit allen ihren Fasern in Thätig- 
keit gerathen, wie dies fast ausnahmslos bei den künst¬ 
lichen (elektrischen) Reizungen der Fall ist. 

Zunächst besteht fast jeder Muskel aus zwei ver¬ 
schiedenen Fasergattungen, die in verschiedenen Mus¬ 
keln in verschiedener, aber in jedem einzelnen in 
stets gleichartiger Weise angeordnet sind, nämlich 
aus sarkoplasmareichen (vielfach rothen) und sarko- 
plasmaarmen (vielfach weissen) Fasern. Bei den mannig¬ 
fachen natürlichen Muskelthätigkeiten werden nun stets 
einzelne Fasern verschiedener Muskelindividuen inner- 
virt und dadurch zur Zusammenziehung gebracht. 
Es ist dem Vortragenden, zum Theil im Verein mit 
seinen Schülern, namentlich mit Dr. Basler gelun¬ 
gen, am Frosch diese beiden physiologisch verschie¬ 
denen Fasern in einem und demselben Muskel auch 
durch künstliche Reizmittel getrennt zu erregen, so 
dass man von demselben Muskel je nach der Art 
der Reizung schnell oder langsam verlaufende 
Zuckungskurven erhalten kann. Die Reizung muss 
zweckmässigerweise hierbei stets vom Nerven aus er¬ 
folgen. Auch bei tetanischer Reizung gelingt es, zwei 
ganz verschiedene Tetani hintereinander zu erzeugen. 
So werden z. B. bei der indirekten Reizung des 
Sartorius zuerst (d. h. in Folge schwacher Reize) die 
dünnen, langsam sich zusammenziehenden (sarkoplas¬ 
mareichen) Fasern erregt, w elche einen sehr niedrigen 
glatten Tetanus ergeben, bei zweckmässiger Verstär¬ 
kung der Reize aber die dicken schnell sich zusammen¬ 
ziehenden (sarkoplasmaarmen) Fasern, welche in einen 
zitternden Tetanus gerathen. Der Uebergang in der 
Kurve vollzieht sich jäh und sprungweise. 

Von ganz besonderem Interesse aber scheint es 
dem Vortragenden, dass man auf diese Weise, d. h. 
durch zweckmässige Verstärkung tetanischer Reize, 
die natürlichen Muskelbewegungen nachahmen kann, 
was bisher noch nie gelungen ist; denn eine durch 
einen einzigen Reizanstoss erzeugte Zusammenziehung 
aller Fasern eines Muskels, eine sogenannte Zuckung, 
ist so w r enig ein physiologisches Vorkommniss, wie 
ein sogenannter „physiologischer Tetanus,“ in welchem 
durch wiederholte Reize auf alle Fasern eines oder 
mehrerer Muskel, man möchte sagen, darauf los ge¬ 
hauen wird. Unsere natürlichen Muskelbewegungen 
sind dagegen im Allgemeinen ruhig, langsam und ab¬ 
gemessen, aber weder Zuckungen noch physiologische 
Tetani, d. h. zu deutsch Krämpfe, welche beiden Vor¬ 
gänge man bisher allein künstlich erzeugt und unter¬ 
sucht hat. Diese natürlichen Muskel bew'egungen 
werden nun von den Centralapparaten aus oder auf 
künstlichem Wege nach der Ansicht des Vortragenden 
wesentlich dadurch erzeugt, dass eine Fasergruppe 
eines oder mehrerer Muskeln nach der andern in die 
Action tritt. Hierdurch wird aller Wahrscheinlichkeit 

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1904.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. rö 3 


nach zugleich viel leichter und sicherer die feine Ab¬ 
stufung aller unserer Bewegungen ermöglicht, als 
durch die verschieden starke gleichzeitige Thätig- 
keit aller Fasern. 

15. Dr. Alzheimer-München: Ueber das Deli¬ 
rium alcoholicum febrile Magnans. A. führt 
an der Hand dreier Fälle schwersten Alkoholdelirs 
mit hohem Fieber, die zum Tode führten, den Nach¬ 
weis, dass es thatsächlich Fälle von Delirium alco¬ 
holicum febrile im Sinne Magnans giebt. Die Sektion 
ergab keine Erkrankung innerer Organe, keine Ursache 
für das Fieber. Im Gehirn schwere Zerfallszustände 
in den Ganglienzellen der Hirnrinde, viele punktförmige 
Blutungen, Markscheidenzerfall. (Der Vortrag erscheint 
im Centralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie.) 

16. Prof. Kräpelin-München: Vergleichende 
Psychiatrie. Nach kurzer Einleitung über ver¬ 
gleichende Psychiatrie, die zur Voraussetzung hat, 
dass ein und derselbe Beobachter die verschiedenen 
Gruppen vergleicht, berichtete Kr. über seine Unter¬ 
suchungen auf Java. 

Unter den Ursachen der Geisteskrankheit ergiebt 
das tropische Klima keinen wesentlichen Unterschied 
für den Europäer dort und hier. 

Die Wirkung des Alkohols auf den Europäer dort 
ist genau dieselbe wie hier. Die Eingeborenen als 
Muhammedaner trinken keinen solchen. Für sie tritt 
an seine Stelle das Opium; doch werden keine Opium¬ 
psychosen beobachtet; die Erscheinungen des Opium¬ 
missbrauches sind geringfügiger als diejenigen des 
Morphiums und nicht so gefährlich durch die Art der 
Aufnahme, wie den hohen Preis derselben. Abstinenz¬ 
erscheinungen von Opium kommen nicht vor. 

Der Gebrauch von Betel macht keine körperlichen 
und geistigen Erscheinungen. 

Sehr verschieden ist die Empfänglichkeit der 
dortigen Eingeborenen und Europäer für Lues. 
Unter den eingeborenen Soldaten beträgt die Zahl 
der luetischen Erkrankungen Vs der europäischen 
Soldaten, doch können die ersteren viel leichter heirathen, 
sind nicht so auf Prostitution angewiesen. Vscerale 
Lues ist bei den Eingeborenen selten. 

Unter 370 eingeborenen Geisteskranken fand sich 
keine progressive Paralyse oder luetische Gehirner¬ 
krankung, unter 50 europäischen Kranken 8 mal. 

DieVerblödungsproeesse spielen unter den Geistes¬ 
krankheiten dieselbe Rolle, wie hier. Das manisch- 
depressive Irresein ist seltener, häufig ist Epilepsie. 

Bei den Formen der Geisteskrankheiten macht 
sich ein entschiedener Einfluss der Race geltend. 

Bei der Dementia praecox ist fast nie eine ein¬ 
leitende Depression, die Wahnideen sind dürftig, kata- 
tone Zeichen gering, auch weniger Sinnestäuschungen 
kommen vor, schwerer Stupor ist sehr selten, ebenso 
tiefe Verblödung, meist vollzieht sich rasch ein Ueber- 
gang zu faseligem Verhalten, 

Beim manisch-depressiven Irresein sind Depressionen 
seltener, Versündigungsideen fehlen, dagegen sind 
die manischen Erregungen heftiger, die Periodicität ist 
verwischt. 


Eine eigentümliche Krankheit ist La ff a. Sie be¬ 
steht in Nachahmungsautomatie mit Koprolalie durch 
plötzliches Anrufen. 

Das Amoklaufen ist keine einheitliche Krank¬ 
heit. Es umfasst verschiedenartige Erregungzustände 
mit Neigung zu Gewalttaten. Es kommt vor bei Kata¬ 
tonie, Epilepsie, epileptischen Dämmerzuständen ohne 
sonstige Symptome. 

Das Ergebniss sind sonach keine neuen Geistes¬ 
störungen , die Europäer verhalten sich in denselben 
genau so wie bei uns, dagegen ist bei den Eingebo¬ 
renen unter dem Einfluss der Race eine Abwand¬ 
lung der hiesigen Formen festzustellen. (Der Vortrag 
erscheint im Centralblatt für Nervenheilkunde und 
Psychiatrie.) 

17. Professor Dinkler (Aachen): Beitrag 
zur Symptomatologie und Anatomie der 
Apoplexa spinalis. 

Ein Fall von Spinalapoplexie nach Embolie in die 
Zweige der Art. spin. poster. im Bereich des unteren 
Abschnittes der Cervikalanschwellung mit folgendem 
Krankheitsbild: Schlaffe Lähmung der Beine und des 
Rumpfes, Muskelatrophie mit partieller Entartungs¬ 
reaktion an den kleinen Handmuskeln, rasch fort¬ 
schreitender Decubitus, Cystitis. Exitus. Diagnose: 
Hämatomyelie auf Grund der acut aufgetretenen 
Paraplegie und dissociirte Empfindungslähmung bei 
erhaltenem Bewusstsein. Abgesehen von der Embolie 
ist histologisch bemerkenswerth aufsteigende Degene¬ 
ration der Pyramidenbahnen, eigenartige Fettkörnchen¬ 
zellenanhäufung in den sekundären Degenerationen 
und das Auftreten von massenhaften Fettsäurekrystallen. 

— Dortmund. In der letzten Stadtverordneten¬ 
versammlung ist endgültig der Neubau einer Irren- 
Station in der Nähe des städt. Krankenhauses zum 
Preise von 98000 Mark besc!flössen worden. 


Persona I nach richten. 

— Baden. Med.-Rath Dr. Haardt, Director 
der Grossherzogi. Heil- und Pflegeanstalt in Emmen¬ 
dingen wurde zum Geh. Med.-Rath, Oberarzt Dr. 
Max Fischer von der Grossherzogi. Heil- und 
Pflegeanstalt Illenau zum Director der im Bau be¬ 
griffenen Grossherzogi. Heil- und Pflegeanstalt Wies- 
loch bei Heidelberg, die Oberärzte Dr. Oster in 
Illenau und Dr. Barbo in Pforzheim zu Medi- 
cinalräthen ernannt, Dr. Hegar in Illenau und 
Dr. Klew'e in Emmendingen wurden etatsmässig 
angestellt. — 

— Berlin. Nachdem sich die Verhandlungen 
des preuss. Kultusministeriums mit Prof. Dr. Bins¬ 
wang ei in Jena zerschlagen haben, ist die Berufung 
des Prof. Dr. Westphal in Greifswald zum Direktor 
der psychiatrischen Klinik an der Universität B o n n 
in Aussicht genommen. 

— Upsala. Dr. Sven so n wmrde zum a. o. 
Professor für Psychiatrie ernannt. 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 18. 


Das Nährpräparat Hygiama. 

(Fortsetzung.) 

Aerztliche Beobachtungen über Hygiama. 

Stüve 1 ) hat auf der Abtheilung des Professors 
v. Noorden im städtischen Krankenhause zu Frankfurt 
a. Main Ausnützungsversuche mit Hygiama angestellt 
und gefunden, dass der in diesem Präparat enthaltene 
Stickstoff sehr gut ausnützbar ist, wenn auch nicht 
ganz so gut wie der Stickstoff der Milch in den Ver¬ 
gleichsperioden. 

Es mag auf den ersten Blick nicht viel zu be¬ 
deuten scheinen, wenn man durch Zusatz von 20 bis 
30 g Hygiamapulver den Brennwert einer auf z. B. 
1600 Kalorien zu veranschlagenden Nahrung um 
weitere 90 — 130 Kalorien erhöht. Die Summe dünkt 
manchem vielleicht allzu gering. So darf man aber 
in Fällen, wo alle Hebel zur Besserung des Ernäh¬ 
rungszustandes in Bewegung zu setzen sind, nicht 
rechnen. Jedes auch unscheinbare Einschiebsel, 
welches man anbringen kann, ohne die Aufnahme¬ 
fähigkeit für andere Nahrung zu verkümmern, ist von 
Nutzen. Die kleinen Summen addieren sich und 
geben in ihrer Gesammtheit den entscheidenden Aus¬ 
schlag. Wer die kleinen Nährwerthsummen verachtet 
und nur zu Nahrungsmitteln mit sehr hohem Kalorien¬ 
gehalt greifen will, muss sich auf häufige Misserfolge 
bei Emährungskuren gefasst machen. 

Leb bin 2 ) unterwarf das Hygiama einer Analyse, 
die sich mit den von anderen Seiten ausgefühlten 
in bester Uebereinstimmung befand: 


Wasser.3,80 % 

Eiweisssubstanz.21,68 „ 

Fett. 9,10 „ 

Asche.3,72 „ 


Alkaloide (Theobromin) . . o,io6„ 

Lösliche Extractivstoffe . . 48,03 „. 

Bei dem von Lebbin gemachten Ausnützungs¬ 
versuch wurde an drei hintereinanderfolgenden Tagen, 
23., 24. und 25. April, nichts anderes als Hygiama, 
zusammen 499,4 g verzehrt, die nach Vorschrift 
mit Wasser zubereitet waren. Zur Abgrenzung der 
Versuchsfäces wurden am 21. und 25. April je 2 I 
Milch als ausschliessliche Nahrung gegeben. Die 
Fäcesbildung war normal und betrug bei den einzelnen 
Excretionen 30 + 142 + 15 g = 187 g frischer Fäces, 
welche beim Trocknen 65,9 g (nämlich 46,29% Ei¬ 
weissstoffe, 2,53% Fett und 14,07% Asche) hinter- 
liessen. Hieraus berechnete er folgende Bilanz: 



Auf¬ 

nahme 

Aus- I 
gäbe 

Verlust 


_ , g_ 

g 

„_g 

Trockensubstanz ... . 

480,4 

65,9 

13.7-2 

Eiw r eissst« >ffe. 

180,38 

3O0O0 

28,13 

Fett. 

45.50 

1,67 

3,67 

Asche . 

18,60 

9,27 

49^4 

Aschefreie Trockensubstanz 

461,8 

56,03 

12,20 

Eiweiss-, Fett- und asche- 




freie Trockensubstanz 

307,98 

24,45 

8 


Das Ergebniss dieses Versuches ist als günstig zu 
bezeichnen. Die Verdaulichkeit von Brot und Zwie¬ 
bäcken, die in der vom preussischen Kriegsministerium 
herausgegebenen Monographie „Untersuchungen über 
das Soldatenbrot“ von Plagge und Lebbin eingehendste 
Würdigung findet, lässt erkennen, dass die Resorbir- 
barkeit der Eiweissstoffe in unseren Cerealien hinter 
der für Hygiama hier festgestellten zurückbleibt. Der 
Verlust an Eiweissstoffen ist in den Cerealien nämlich 
erheblich grösser als gemeiniglich angenommen ward. 

Derselbe beträgt beispielsweise (vergl. die eben 
citirte Schrift S. 216—218) bei drei Versuchen mit 
Brot aus feinem vermahlenen Roggen-Kunstmehl mit 
25% Kleieauszug zwischen 31,92 und 36,66%; er 
stieg beim gewöhnlichen Commisbrot mit 15% Kleie¬ 
auszug auf 38,85—49,92%; er betrug bei einem Brot 
aus feinem Weizen-Zwiebackmehl mit 30% Kleie¬ 
auszug 15,23 — 22,14%. erhob sich endlich bei Broten 
aus feiner vermahlener Handelskleie bis auf 59,09%, 
ohne dass diese Zahl den grössten Eiweissverlust von 
allen Versuchen darstellte. 

Bei ausserordentlich feinen Gebäcken, z. B. englischen 
Albert-Cakes, wairde ein Eiweissverlust von 17,48 bis 
28,88% festgestellt; bei Aleuronat-Cakes, also einer 
ausgesprochenen feinen Eiweissnahrung, fand sich ein 
Verlust von 14,27—16,89%. Die Resorbierbarkeit 
des Fettes in Zwiebackgebäcken mit ähnlichem Fett¬ 
gehalt, wie Hygiama, z. B. englische Albert-Cakes, 
welche 11,19% Fett enthalten, ist deijenigen des Fettes 
in Theinhardt’s Hygiama wenigstens nicht überlegen. 
Wie oben festgestellt, ergab Hygiama eine Resorbir- 
barkeit des Fettes bis auf 3,67%, während bei den 
englischen Albert-Cakes der Verlust sich zwischen 
1,81 und 15% bewegte. Die Resorbirbarkeit. der 
Kohlenhydrate hält sich auf gleicher Höhe wie bei 
guten Brotsorten. Hierbei ist noch zu berücksichtigen, 
dass etw-a 5% des Verlustes der Trockensubstanz 
und von dem Verlust der Eiweissstoffe etwa 9% auf 
Rechnung des 15 % betragenden Cacaogehaltes zu 
setzen sind. 

Die von manchen Seiten geltend gemachte Be¬ 
einflussung der Untersuchungsergebnisse durch die 
Secrete der Darmschleimhaut und den Gehalt dieser 
Secrete an Stickstoffsubstanz (Rieder’sche Zahl) ist 
als für die practischen Verhältnisse nicht in Betracht 
kommend, längst erwiesen, so dass bei der Bew r erthung 
von Nahrungsmitteln auf Grund physiologischer Aus¬ 
nützungsversuche von einer Correctur vollständig ab¬ 
gesehen werden kann. 

Auch ohne solche Correctur ist das Hygiama als 
ein wohlschmeckendes und rationell zusammengesetztes, 
gut verdauliches Nährmittel zu bezeichnen. 

(Fortsetzung folgt.) 


Für den rcdactioncllen Theii verantwortlich: Oberarzt Dr. J. lirt-sier, Lublinitr (Schlesien). 

Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Car! Marhold in Halle a. S 

Hevnemann’sche Bucbdruckerei (Gebr. in Halle a. S 


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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift. 

Redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Lublinitx (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr. - Adresse: Marho Id Verlag. Hallesaale. Fernsprecher 2834. 


Nr, 19. ___ 6. August. 1904. 

Beateliongen nehmen jede Buchhandlung, die Poet sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten. 


Ueber Dauerbadeinrichtungen grösseren Stils. 

Von Dr. K. Osswald, Oberarzt an der Grossh. hess. Landesirrenanstalt Hofheini. 


T T nter den neuzeitlichen Behandlungsmethoden acut 
und chronisch erregter Geisteskranker verdient 
neben der Bettbehandlung das verlängerte oder Dauer¬ 
bad entschieden an erster Stelle genannt zu werden. 

Ganz einerlei, wie man über die Dauerbäder als 
Restraint denken mag, erfreuen sie sich dort, wo sie 
ausgiebiger in Verwendung sind, einer stets wachsen¬ 
den Anerkennung und es ist zweifellos, dass die 
Verbindung beider Regime: der Bett- und Bäder¬ 
behandlung eine fundamentale Umgestaltung in un¬ 
seren Anstalten gerade auf den Abtheilungen der 
unruhigen und gewaltthätigen Kranken hervorgerufen 
hat; dieselben haben sich so zu ihrem Vortheil ver¬ 
ändert, ihr ganzer Charakter ist dem des allgemeinen 
Krankenhauses so ähnlich geworden, dass man die 
früheren „Tobabtheilungen“ gar nicht mehr erkennt. 

Einen drastischen Beweis dafür, dass diese Ver¬ 
änderung nicht bloss uns Aerzten sondern auch dem 
Laienpublikum zum Bewusstsein kommt, habe ich 
kürzlich hier erlebt. Ein Besucher unserer Anstalt, 
der dieselbe vor 8 Jahren zum letzten Mal gesehen 
hatte, äusserte sich nach dem Durchgang durch die 
Abtheilung ganz erstaunt: „Aber ich höre und sehe 
ja gar keine Kranken, es ist alles so ruhig! Früher 
konnte man nicht durch die Anstalt gehen, ohne 
dass einem io—15 nachliefen und -schrieen, sich 
an einem hängten, so dass man sich kaum vor ihnen 
retten konnte, und jetzt diese Ruhe!“ Und dabei 
hatten wir gerade die Abtheilungen der unruhigsten 
Kranken passirt und die Krankenzahl hat sich im 
genannten Zeitraum genau verdoppelt.*) 


*) Den Bewohnern der hiesigen Umgegend ist infolge der 
grösseren Ruhe um die Anstalt geradezu ein Zeichen zu er¬ 
wartenden Witterungsumschlages verloren gegangen, wie man 
öfters hören kann. Den nördlich und nordöstlich gelegenen 
Dörfern kündete nämlich früher das laute Geschrei d er Kranken 
regnerisches Wetter, den südlich und südw^.v-b liegenden 
dagegen schönes, beständiges Wetter an. ^ dies zum 


Solche Aeusserungen sind höchst charakteristisch 
und bezeichnend für die Umwälzung, die neben der 
Schaffung besserer Raumverhältnisse ausschliesslich 
der Bett- und Dauerbadbehandlung zu verdanken ist. 

Ich glaube deshalb, dass auch die wenigen An¬ 
stalten, die sich den beiden modernen Behandlungs¬ 
methoden noch verschliessen, sich ihrem wohlthätigen 
Einfluss auf die Dauer nicht entziehen werden, denn 
die vielen Vorzüge derselben, welche ich hier als 
bekannt voraussetzen darf, sind zu sehr in die Augen 
springend, um sich nicht überall Geltung zu ver¬ 
schaffen. 

Wie die Bettbehandlung, verursacht auch die 
Dauerbadbehandlung keine besonderen Kosten, sie 
erfordert, wo Dauerbäder in kleinerem Maassstab 
verabreicht werden sollen, auch keine Extraeinrich¬ 
tungen, denn man kann Dauerbäder in kleiner Zahl, 
wie der Versuch lehrt, in jedem gut eingerichteten 
Badezimmer verabreichen, zumal wenn letzteres direkt 
an eine Wachabtheilung anstösst; für grössere 
Anstalten jedoch empfiehlt sich wegen der 
Zahl der zu versorgenden erregten Kran¬ 
ken, im Interesse eines geregelten sicheren 
Betriebs, der er leichterten ärztlichen Con- 
trolle und nicht zum wenigsten zur Er¬ 
sparnis am Personal (letzteres besonders, wenn 
man in durchaus unberechtigter Weise anderen An¬ 
stalten, mit ganz gleichartigem Krankenmaterial, gegen¬ 
über an Personal zurückstehen muss) unbedingt 
die Anlage einer oder mehrerer Dauer¬ 
badeinrichtungen grösseren Stils. 

Hiesigen Erfahrungen nach können solche An¬ 
lagen nicht genug befürwortet werden, umsomehr, als 
ihre Einrichtung sich auch in vorhandenen, anscheinend 

Theil auch damit zusammen, dass erfahrungsgemäss bei drohen¬ 
dem Witterungswechsel viele Geisteskranke erregter und lauter 
sind als bei beständigem Wetter. 


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i66 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 19. 


sogar wenig geeigneten Räumlichkeiten ohne kost¬ 
spielige Umbauten in überaus zweckmässiger Weise 
bewerkstelligen lässt. 

Den Beweis dafür hat eine auf der hiesigen 
Männerabtheilung in diesem Frühjahr in Betrieb ge¬ 
nommene grössere Dauerbadanlage geliefert, mit der 
wir bisher sehr zufrieden sind. Dieselbe giebt mir 
Veranlassung und Gelegenheit, die allgemeinen Prin- 
cipien und Forderungen, welche bei einer solchen 
Anlage zu berücksichtigen sind, zusammen zu stellen 
und später daran eine Besprechung zu knüpfen, in 
welcher Weise und wie weit wir diesen Anforder¬ 
ungen hier gerecht geworden sind. 

Voraussetzung einer jeden grösseren Dauerbad¬ 
anlage ist die Möglichkeit des Anschlusses derselben 
an eine centrale, für sich oder in Verbindung mit 
einer Heizanlage bestehende Heisswasserleitung, die 
zu jeder Zeit, tags wie nachts, im Stande sein muss, 
das heisse Wasser in durchaus hinreichender Menge 
zu liefern. Es kann gar nicht genug betont werden, 
in jedem einzelnen Fall die Centralanlage noch ein¬ 
mal besonders auf ihre Leistungsfähigkeit zu prüfen, 
ob sie thatsächlich im Stande sein wird, den an sie 
herantretenden vermehrten Ansprüchen, besonders 
nachts, auch zu genügen, weil Störungen im späteren 
Gebrauch infolge Heisswassermangels sich ausser¬ 
ordentlich unangenehm bemerkbar machen, den 
ganzen Betrieb des Dauerbades in Frage stellen 
und, wenn überhaupt, sich nur unter beträchtlichen 
Kosten später noch ausgleichcn lassen. Dauerbäder 
mit lokaler Warmwasserbereitung sind der Betriebs¬ 
schwierigkeiten wegen und weil meist ungenügend 
von vornherein zu widerrathen. 

Bezüglich der zunächst sich erhebenden Frage: 
wo, auf welcher Abtheilung das Dauerbad 
errichtet werden soll, lässt schon seine Be¬ 
stimmung : Die Behandlung, speciell Beruhigung 
acut und chronisch, besonders auch periodisch er¬ 
regter, z. Th. unreinlicher Kranker, seine Situirung 
in möglichster Nähe, eventuell direkt verbunden mit 
der oder den Abtheilungen der Unruhigen, vorzüg¬ 
lich der Wachabtheilung, für diese — als höchst 
wünschenswerth und zweckmässig erscheinen. 

Jedoch muss die Trennung zwischen beiden 
immerhin so beschaffen sein, dass möglichst weder 
eine optische noch akustische Belästigung und Stör¬ 
ung der übrigen Abtheilungskranken durch die im 
Dauerbad befindlichen stattfinden kann. 

Die weitere Fiage: wie gross, d. h. für wieviel 
Procent der unruhigen Kranken man eine der¬ 
artige Einrichtung planen, oder mit anderen 


Worten: wieviel Wannen man vorsehen soll, ist 
recht schwer zu beantworten, weil noch keine grösseren 
diesbezüglichen Erfahrungen vorliegen. 

Nehmen wir das Bedürfniss, wie es sich nach 
hiesigen Verhältnissen (Heil- und Pflegeanstalt) heraus- 
gestellt hat, so dürften Badeplätze für ungefähr 13 
bis 15% der unruhigen in Wach-, Belt- und Un¬ 
reinenabtheilung Verpflegten kaum zu hoch gegriffen 
sein. Es befinden sich nämlich z. Z. von 150 Kran¬ 
ken genannter Kategorien meiner Abtheilung durch¬ 
schnittlich 20 am Tage und einzelne auch nachts an 
verschiedenen Orten im Dauerbad. 

Der Raum, in dem das Dauerbad errichtet 
werden soll, muss im Allgemeinen allen Anforder¬ 
ungen entsprechen, die sonst an Aufenthaltsräume 
für Kranke zu stellen sind, er soll genügend gross, 
luftig, hell und hoch sein, am zweckmässigsten wohl 
von oblonger Form, w f eil sich dabei die Ueberwach- 
ung am leichtesten gestaltet. Selbstverständlich muss 
genügende Beleuchtung, Heizung und beson¬ 
ders der sich ansammelnden abzuführenden Wasser¬ 
dämpfe resp. der Luftfeuchtigkeit wegen eine vor¬ 
zügliche Ventilation vorhanden sein, ohne 
dass die Patienten irgendwie durch Zug belästigt 
oder gar geschädigt werden. 

Der F u s s b o d e n soll wasserundurchlässig aber 
möglichst warm sein, damit die Badenden ihn ohne 
unangenehmes Kältegefühl direkt, d. h. mit nackten 
Füssen, betreten können. Er ist etwas abschüssig 
und mit runden Ecken anzulegen, um dem haupt¬ 
sächlich durch Spritzen der Kranken auf ihn gelangen¬ 
den Wasser im Interesse des Badepersonals möglichst 
raschen Abfluss zu sichern. Li nothol und Terra- 
1 i t h entsprechen allen billigen Forderungen. 

Die Wände sollen bis in Greifhöhe abwaschbar, 
kein Wasser annehmend und dauerhaft sein und 
können in Cement mit Oel- oder Emailfarbenanstrich, 
in hellen Porzellanplatten oder Klinkern zweckmässig 
hergestellt werden; für den oberen Theil der Wand 
und die Decke empfiehlt sich einfacher Kalkverputz 
mit weissem Kalkanstrich, weil derselbe die Wasser¬ 
aufnahme aus der Luft am meisten begünstigt. 

Unumgänglich ist ein in dem Raum selbst etwas mas- 
kirt angebrachter Abort mit Wasserspülung, freistehen¬ 
dem Sitz, auf den man zweckmässig eine Lehne an- 
briugen kann, so dass die Kranken wie auf einem Sessel 
sitzen; eventuell auch ein Pissoir. Den Zugang zum 
Appartement verdeckt man durch eine Portiere oder 
besser noch durch einen waschbaren Zugvorhang. 

Bei Beschaffung der Badewannen sind haupt¬ 
sächlich 3 Punkte zu beachten, die zum Theil in 
engster Verbindung mit einander stehen: 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


167 


1904.] 


Das Material, aus dem sie gefertigt sind, ihre 
Form und ihre Grösse. Von dem Material 
ist zu verlangen, dass es dauerhaft und leicht zu 
reinigen ist, es darf nicht zu theuer sein, nicht viel 
Raum wegnehmen und muss zugleich die Möglichkeit 
gewähren, der Wanne jede gewünschte Form und 
Grösse zu geben. 

Hauptsächlich ist die Form der Wanne von 
Wichtigkeit, wie folgende Ueberlegung zeigen wird. 
— Der Kranke soll gern und möglichst lange, um 
volle Wirkung des Bades zu erzielen, in der Wanne 
bleiben; dazu muss der Aufenthalt in derselben für 
ihn so bequem sein, wie irgend möglich, seine 
Glieder resp. Muskeln müssen im Wasser erschlafft 
sein, er muss sich thatsächlich in vollkommener Ruhe¬ 
lage befinden. Ferner muss er die Möglichkeit 
haben, seine Körperhaltung nach seinem Ermessen 
zu ändern, er muss liegen, halbliegen und aufrecht 


und Holz undauerhaft und schwer reia zu halten, auch 
für gusseiserne emaillirte Wannen gilt dasselbe. 
Fayence ist wohl leicht zu putzen, aber unangenehm 
glatt und hat den sehr hohen Preis gegen sich (meines 
Wissens kommt eine solche Wanne mit Zubehör auf 
ca. 500 M.), ferner ist es leicht zerbrechlich und 
schwerbeweglich. Auch aus Fayenceplättchen lassen 
sich (wie die bekannten Oefen) brauchbare Wannen 
herstellen; sie erfordern aber einen etwas zu grossen 
Raum und müssten, um dem Personal nicht zu grosse 
Schwierigkeiten zu bereiten, wenigstens zur Hälfte 
aus dem Boden herausgebaut, nicht in ihn einge¬ 
lassen sein. 

Bezüglich der Grösse der Wanne ist noch nach¬ 
zutragen , dass dieselbe so lang sein soll, dass der 
Kranke bequem ausgestreckt liegen kann, und so 
hoch, dass ihm beim Aufrecht-Sitzen, je nach Füll¬ 
ung, das Wasser ca. bis in die Achselhöhe reicht. 



Abb. 1. 


sitzen können, nur unter diesen Bedingungen wird 
ihm ein längeres Verweilen im Dauerbad erträglich 
und angenehm. Wenn auch der Auftrieb des Wassers 
einen grossen Th eil des Körpergewichts trägt und 
deshalb ein Sitzen im Wasser bedeutend weniger 
Anstrengung erfordert als z. B. auf einem Stuhl 
ausserhalb desselben nahezu in einer und derselben 
Haltung (letzteres bekanntlich für längere Zeit eine 
sehr ermüdende Uebung!), so wären Wannen, in 
denen der Patient halb- oder aufrecht sitzend, für 
längere Zeit dieselbe Haltung einnehmen muss, selbst 
wenn der Sitz, wie in den Eisenbahnwagen oder bei 
gut gearbeiteten Bänken, sich den Körperformen fast 
vollständig anschmiegt — aus den genannten Gründen 
(des Zwanges und der erheblichen Anstrengung wegen) 
streng genommen kaum zu empfehlen. 


Allen erwähnten Anforderungen wird dagegen eine 
genügend grosse Wanne gerecht, deren Kopf- 
theil ungefähr in einem Winkel von 30^-35° zur 
Horizontalen geneigt ist (vergl. Abb. 1)„ 

Was die Materialien betrifft, pjfld Zink 


Wannen der beschriebenen Form und Grösse 
sind m. E. überall da erforderlich, wo Dauerbäder 
Tag und Nacht hindurch gegeben werden sollen, 
denn der Kranke muss auch im Wasser in bequemer 
Lage schlafen können. Werden die Dauerbäder nur 
auf den Tag oder gar auf Stunden beschränkt, so 
kann man wolü ohne grosse Bedenken auch kürzere 
Wannen wählen mit leicht geneigten Kopf- und Fuss- 
wandungen, denn während dieser Zeit erträgt der 
Kranke bei genügendem Spielraum, weil das Wasser 
sein Gewicht zum Theil trägt, ohne ersichtliche Be¬ 
schwerden die aufrechtsitzende Haltung. 

Derartige Wannen (d. h. letzterer Form) bieten 
bei genügender Länge, der entsprechend auch die 
Wandstärke zunehmen muss und hinreichender Breite 
am Fussende (mindestens Schulterbreite!), auch den 
nicht zu unterschätzenden Vortheil, gelegentlich ein¬ 
mal, wenn die Noth drängt, auch 2 Patienten, welche 
sich zusammen vertragen, in einer Wanne, die Ge¬ 
sichter einander zugekehrt, unterzubringen. 

Die Wannen sind an die Canalisation anzu- 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 


schliessen, jede mit besonderer Ableitung, damit bei 
gleichzeitiger Entleerung mehrerer keine Rückstauung 
des Wassers stattfinden kann. 

Bei ihrer Aufstellung ist darauf Bedacht zu nehmen, 

dass die Ueberwachung der im Bad befindlichen 
Kranken möglichst erleichtert wird, dass die Insassen 
der Wannen sich gegenseitig möglichst wenig be¬ 
lästigen können und die technische Zuführung des 
Kalt- und des Warmwassers keinen Schwierigkeiten 
begegnet. Die Zuleitungsrohre sind zu verkleiden, 
damit keine Verbrennungen Vorkommen, an den 
Hähnen müssen Sicherheitsvorkehrungen getroffen 


bett zur Lagerung, falls sich ein Collaps ereignet, 
und ein Tisch zum Abstellen der Speisen. Zum 
Schutz gegen Zugwirkung bringt man auf der Innen¬ 
seite der Zugangsthür eine Portiere an. 


sein,"[dass nur das Personal sie öffnen kann, falls 
nicht durch automatische Regulirung das Heisswasser 
immer unter der Verbrühungstemperatur bleibt. Ueber- 
haupt muss der ganze Betrieb gefahrlos und sicher 
sein, insbesondere müssen durch die Art der Hand¬ 
habung Verbrühungen der Badenden völlig ausge¬ 
schlossen sein. Auch die Verschlusstheile der Wannen 
sollen nur von dem Personal, z. B. vermittelst eines 
Drahtschlüssels, geöffnet werden können, damit die 
Patienten nicht das Wasser ablaufen lassen, oder die 
Verschlusstücke bei Seite schaffen. 

Es ist ferner zweckmässig im Badraum selbst eine 
Wascheinrichtung sowie einen besonderen Kalt¬ 
wasserhahn mit Ausguss zu Trinkzwecken anzu¬ 
bringen. An Mobiliar empfiehlt sich ein Ruhe- 


Von Nebenräumen sind erforderlich, eine 
Spülküche, wenn'[eine solche sich nicht in un¬ 
mittelbarer Nähe befindet, ferner eine Garderobe 
mit Wäscheschrank, ein Trockentücherge- 
stell und eine Vorrichtung zur Ablage der 
Kle idungsstücke der Badenden; als Garderobe 


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I 9 ° 4 -J 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


kann ganz passend ein Vorraum zum Dauerbad 
fungiren. 

Nicht zu vergessen ist schliesslich, weil unent¬ 
behrlich für eventuellen Nachtbetrieb, ein Aufent¬ 
haltsraum für die ablösenden Pfleger. 

Von diesen allgemeinen idealen Forderungen 
weicht nun unsere oben erwähnte Dauerbadeinrich¬ 
tung in manchen wesentlichen Punkten, z. B. bezüg¬ 
lich des Raumes, der Wannen etc., ab; dies konnte 
zum Theil nicht anders sein, weil wir mit gegebenen 
Verhältnissen zu rechnen hatten und die Berechtigung 
mancher Forderungen sich erst im Gebrauch ergab, 
denen, so weit möglich, noch Rechnung getragen 
werden soll. 

Wollten wir nicht ganz neu bauen und nicht 
eine Reihe von Einzelzimmern opfern, die unmittel¬ 
bar neben der Wachabtheilung für Ruhigere gelegen 
als Einzelschlafräume sehr geschätzt sind, und sich 
der zu befürchtenden Beunruhigung dieser socialen 
Kranken wegen sehr wenig zum Dauerbad eigneten, 
so blieb der hochgelegenen Canalisation wegen in 
einem grösseren Gebäudecomplex nur ein genügend 
grosser Raum von 14,6 m Länge, 4,60 m Breite und 
2,60 m Höhe mit 5 an der einen Langseite ge¬ 
legenen Fenstern von 1 . 10 :o,8o m Durchmesser — 
und dieser im Kellergeschoss. Es Hessen sich in 
demselben ca. 8—10 Wannen aufstellen und trotz 
zahlreicher entgegenstehender Bedenken entschlossen 
wir uns ihn zu verwenden, weil er von den unruhigen 
Abtheilungen bequem und ohne Störung der übrigen 
durch einen Souteraingang zu erreichen ist und zu¬ 
gleich infolge eines neben ihm projektirten Neubaus 
einer Glasveranda als Tagraum für ruhigere Kranke 
die Möglichkeit vorlag, bei Bedarf eine Erweiterung 
ein treten zu lassen, was demnächst zur Thatsache 
werden soll. 

Die Wände des Dauerbades sind 1,25 m hoch 
mit Cement verputzt und in Oel pompejanischroth 
gestrichen, darüber mit Kalk weiss getüncht. 

Der Fussboden besteht aus Terrazzo, ist stark 
abschüssig und trägt 8 Cementroste für die Wannen, 
die mit dem Kopftheil nach der Milte zu stehen, 
so dass die Kranken nach den Fenstern sehen. Die 
Wasserzuführungsrohre befinden sich an dem Fuss- 
theil der Wannen, sind immittelbar über der Wanne 
ca. 1,50 m hoch mit Holzverkleidung versehen und 
münden in ein gemeinsames Ausflussrohr. Die Hähne 
sind durch einen eisernen mit Drücker verschliess- 
baren Kasten gegen Hantirung seitens der Kranken 
geschützt und tragen grellfarbige von dem Unter¬ 


169 


grund sich scharf abhebende entsprechende Auf¬ 
schriften: Heiss und Kalt. 

Die Abführung des Badewassers geschieht nur 
durch eine Rinne — eine Extra-Rohrleitung Hess 
sich der hochgelegenen Canalisation wegen leider 
nicht anbringen — und hat den Nachtheil, dass bei 
der Entleerung der Wannen vorsichtig verfahren 
werden muss, damit Rückstauung und Ueberschwemm- 
ung des Fussbodens vermieden wird. Diese Unan¬ 
nehmlichkeit wird durch einen zwischen den in 
Gruppen von je 2 zusammengeordneten Wannen 
Hegenden Holzrost etwas gemildert. Ausserdem 
haben wir einen 40 cm breiten Strohmattenbelag auf 
dem Terrazzo anbringen lassen, so dass die Kranken 
bequem den Abort aufsuchen können, ohne den 
kalten Boden zu betreten. Die Beleuchtung geschieht 
durch 3 buntfarbige elektrische Deckenlampen, die 
Heizung durch 2 Heizschlangen. 

Die Ventilation wird durch eine an der einen 
Schmalseite fern von den Kranken in 103 cm Höhe 
über dem Fussboden befindliche 0,55/0,45 m im 
Q.-S. messende Ventilationsöffnung ermöglicht. 

Sehr wesentlich wird diese künstliche Ventilation 
unterstützt durch Doppelfenster, und zwar sind an 
der Innenkante der Fensteröffnung - Schiebefenster 
angebracht, die durch Erniedrigung der Brüstung 
bedeutend grösser als die Aussenfenster sind (1,13 
: 1,20 m). Der obere Theil dieses mit kleinen gelb 
und weissen matten Scheiben abwechselnd versehenen 
Innenfensters ist verschieblich und die Nische ist so 
tief, dass die Aussenfenster bequem geöffnet werden 
können; vermöge des Zugfensters lässt sich nun eine 
beliebig grosse Oeffnung für den Luftzutritt her- 
steilen, je nachdem es gerade der Bedarf erfoidert. 
Durch diese Einrichtung wird auch bei geöffnetem 
Aussenfenster fast jede Zugwirkung vermieden und 
infolge der Lage der Ventilationsöffnung an der einen 
Schmalseite (vgl. Skizze) kann selbst bei direkt die 
Fenster treffendem Wind — wenn man das der 
Ventilationsöffnung nächste Fenster öffnet — durch 
Absaugung jederzeit ohne unangenehmen Zug eine 
ausgiebige Luftemeuerung bewirkt werden. So war 
es bisher selbst bei der diesjährigen tropischen Hitze 
bei geringer Aufmerksamkeit des Badewärters möglich, 
dass in dem relativ niederen Raum die Temperatur 
nicht über 24 0 C stieg, sich weder die Fenster be¬ 
schlugen, noch die Decke nass wurde, unangenehme 
Nebenerscheinungen, die bei Benutzung unserer ge¬ 
wöhnlichen Badezimmer zu Dauerbadzwecken bisher 
nirgends ausblieben. (Schluss folgt.) 


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170 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 19. 


Mittheilungen. 


— XXIX. Wanderver&ammlung der süd¬ 
westdeutschen Neurologen und Irrenärzte am 

28. und 29. Mai 1904 in Baden-Baden. (Referent 
Dr. Krauss-Kennenburg.) (Fortsetzung.) 

18. Dr. Gierlich (Wiesbaden): Ueber perio¬ 
dische Paranoia. Neben den typischen Fällen 
von Paranoia im Westphal’schen Sinne sind auch solche 
mit mildem Verlaufe zur Beobachtung gekommen. 
Diese kamen zur Heilung, verliefen theils abortiv, theils 
mit periodischer Wiederkehr der paranoischen Wahn¬ 
ideen und freien Intervallen — sog. „periodische 
Paranoia.'* Ueber letztere liegen 7 Arbeiten vor 
(Mendel, Meschede, Gianelli, Kausch, Bechterew, 
Ziehen, Hamilton) mit circa 15 Fällen. Diese geringe 
Zahl hält der Vortr. bedingt durch die Natur der hier 
vorliegenden Störungen, die Anstaltsbehandlung meist 
nicht zur Folge haben und vom prakt Arzt verkannt 
werden. Doch ist das Studium solcher Kranken lehr¬ 
reich und wichtig zur Lösung mancher strittiger Fragen, 
z. B. der Genese der Wahnbildung. Vortr. schildert 
kurz seine Beobachtungen bei 2 Patienten mit pe¬ 
riodischer paranoischer Wahnbildung, die 5 und 6 Jahre 
in seiner Behandlung standen. Bei beiden fand sich 
Geisteskrankheit in der Ascendenz. Der erste, ein 
mittelmässig begabter aber ungemein ehrgeiziger 
Regierungsrath erkrankte, als er bei der Beförderung 
zum Ober-Reg.-Rath übergangen wurde. Er ertrug 
das Gefühl der Zurücksetzung sehr schwer, war voll 
Neid gegen den begünstigten Kollegen. Von einer 
strapaziösen Dienstreise heimgekehrt, verfiel er in 
einen typischen Beziehungs- und Verfolgungswahn, 
der von der Gattin des bevorzugten Kollegen aus¬ 
ging und sich über die engere und weitere Umgebung 
erstreckte. Pat. reichte seinen Abschied ein, dgl. 
Scheidungsantrag, wollte ins Ausland, um seinen Ver¬ 
folgern zu entgehen. Nach 5 Wochen Hessen die 
Wahnideen nach und in weiteren 8 Tagen kam es zu 
völliger Krankheitseinsicht. Innerhalb 5 Jahren wurden 
3 solcher Anfälle beobachtet, die sich stets im Herbst 
an Dienstreisen anschlossen. Der 2. Fall betraf 
einen jungen Ehemann, 35 J. alt, der sich bereits ein 
Vermögen erworben hatte und nun ein armes Mäd¬ 
chen heirathete. Es folgten bald Redereien der Nach¬ 
baren, das Mädchen habe sich nur versorgen wollen, 
nicht aus Liebe geheirathet. Pat. schenkte denselben, 
da sie völlig unbegründet waren, kein Gehör. Als 
er dann im Frühjahr von Holzeinkäufen zurückkehrte, 
zeigte er ein höchst verändertes Wesen gegen seine 
Frau und es kam bald ein Eifersuchtswahn heftigster 
Art zum Ausbruch, der sich nach 18 Tagen schnell 
legte und in volle Krankheitseinsicht überging. Vortr. 
beobachtete in 6 Jahren 4 solcher Anfälle, die alle 
im Frühjahr nach Ueberarbeitung sich einstellten. 
Halluc. kamen in beiden Fällen nicht zur Beobach¬ 
tung, dgl. keine manisch depressiven Zustände. De¬ 
mentia praecox oder paralytica sind auszuschliessen. 
Das Sensorium war stets frei. 

Vortr. schildert kurz seine Ermittelungen über die 
Entstehung der Wahnideen in diesen Fällen. Es 


waren augenscheinlich intensive Affektstörungen, 
welche den Wahn einleiteten, im ersten Falle das Gefühl 
der Abständigkeit und des Neides, im zweiten das des 
Zweifels an der Liebe der Frau. Das ist ganz im 
Sinne der Margulies’schen Beobachtungen. Die mit 
einem starken Gefühlston beschwerte Vorstellung 
haftet im Blickpunkt des Bewusstseins gleichsam zwangs¬ 
weise wie eine Suggestion und führt so zum Wahn. 
Auffallend war in beiden Fällen das Fehlen der 
Grössenideen und auch eines erhöhten Selbstgefühls, 
wie es sonst vielfach bereits mit den Verfolgungsideen 
hervortritt. Die Wahnbildung in den verschiedenen 
Anfällen war keine fortschreitende, sondern glich sich 
mit photographischer Treue. Auch konnte Vortr. die 
Friedmannsche Beobachtung bestätigen, dass in diesen 
Fällen mit milderem Verlauf trotz des völligen Fest¬ 
haltens am Wahnsystem doch ein gewisser Einfluss 
durch geeigneten Zuspruch zu Tage trat. 

19. Prof. v. Monakow-Zürich: Die Stab- 
kranzfasern des unteren Scheitelläppchens 
und die sagittalen Strahlungen des Occi- 
pitallappens. 

Der Vortragende hat seine Untersuchungen über 
die sec. Degenerationen bei alten begrenzten Defekten 
der Grosshimoberfläche (Regio Rolandica, Gyrus supra- 
marginalis und angularis, Occipitalwindungen, Regio 
calcarina etc.) fortgesetzt (sechs neue Beobachtungen 
unter Verfertigung von Schnittserien durch das ganze 
Gehirn) und fand, dass die dorsale Partie der retro- 
lenticulären inneren Kapsel secundär nur dann de- 
generiren muss, wenn der primäre Defekt sich auf 
ausgedehnte Theile des unteren oder des oberen 
Scheitelläppchens bezieht. In solchen Fällen geht die 
sec. Degeneration auch auf die graue Substanz des 
Pulvinar und der caudalen Partien der ventralen Kern¬ 
gruppen des ^Thalamus über (sec. Ganglienzellen¬ 
degeneration). Vortragender berichtet unter Anderen 
eingehend über einen Fall von langjährigem einseitigen 
Defekt sowohl der vorderen als der hinteren Central¬ 
windung, mit primärer Zerstörung der vorderen Partie 
der inneren Kapsel, dann des Corp. Striatum und 
der vorderen zwei Drittel des Thalamus opticus (alte 
Blutung). In diesem Falle (57 jähriger Mann) kam 
es zu hochgradigen sec. Degenerationen verschiedenster 
Bahnen (Pyramidenbahn, vordere Commissur, Balken, 
verschiedene lange Associationsbahnen etc.), auch die 
Schleife verrieth deutlichen Faserausfall, dagegen erwies 
sich die retrol enticuläre Partie der inneren 
Kapsel, einschliesslich des nahezu ganzen 
Wern icke’sehen dreieckigen Feldes normal, 
und es Hessen sich markhaltige Faserbündel aus dieser 
Gegend in stattlicher Anzahl direkt in die Windungen 
des unteren Scheitelläppchens verfolgen. Da nun die 
dorsale Partie der retrolenticulären inneren Kapsel 
auch bei selbst ausgedehnten primären Läsionen des 
Occipitallappens (Regio Rolandica) und des Temporal¬ 
lappens gewöhnlich frei bleiben, so ist mit Rücksicht 
auf die positiven Befunde bei Herden im Parietal¬ 
lappen mit Bestimmtheit anzunehmen, dass eine 


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1904.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


171 


direkte Verbi ndung zwischen der fraglichen 
Parti«der retrolenticuläreninn eren Kapsel 
resp. den hinteren Abschnitten der ven¬ 
tralen Kerngruppen des Thalamus und 
des Pulvinar einerseits und der Rinde der 
Parietalwindungen (Gyrus angularis und supra- 
marginalis) anderseits durch Stabkranzfasern 
vorhanden ist. Die Flechsig’sche Lehre, dass der 
Gyr. angularis einer Stabkranzfaserung entbehre, er¬ 
weist sich nach den Erfahrungen des Vortragenden 
als eine irrthümliche. Autoreferat. 

20. Weygandt-Würzburg: Ueber den Ein¬ 
fluss von Hunger und Schlaflosigkeit auf 
die Hirnrinde. 

Vortr. der sich seit 12 Jahren mit der experimen¬ 
tellen Prüfung der regelrechten Abweichung vom 
psychischen Normalzustand, besonders den Fragen 
des Schlafes und Traumes, dann der Ermüdung und 
Erschöpfung befasst, hat unter den Faktoren der Er¬ 
schöpfung vor allem die geistige Ueberanstrengung, 
den Nahrungsmangel und die Schlafenthaltung experi¬ 
mentell zu behandeln gesucht Während die Inanition 
nur einige geistige Funktionen massig beeinflusst, andere 
dagegen intakt lässt, greift die Schlafenthaltung die 
psychische Leistungsfähigkeit viel tiefer an und lässt 
keine der untersuchten Funktionen unberührt. Die 
experimentelle Prüfung der geistigen Ermüdung ent¬ 
spricht im hohen Grade den Befunden bei erworbener 
Neurasthenie. Neuerdings angestellte Versuche des 
Vortr., die die bei Schlaftiefenmessung festgestellte 
überwiegende Bedeutung der ersten Schlafstunde ins 
Auge fassten, haben ergeben, dass in der That für 
leichtere geistige Arbeit (Addiren) die erholende 
Wirkung der ersten Schlafzeit ausschlaggebend ist, 
während für anstrengende Arbeit, wie die Merkfähig¬ 
keitsleistung des Auswendiglernens von Zahlenreihen, 
die Erholung erst langsam, proportional der Schlaf¬ 
dauer, eintritt. 

Die Untersuchung der Erschöpfungsfaktoren vom 
anatomischen Standpunkte aus hat Vortr. bisher in 
der Weise vorgenommen, dass er die Hirnrinde von 
Mäusen untersuchte, die durch Nahrungsmangel oder 
Schlafenthaltung getödet waren. Bei den Hunger¬ 
mäusen zeigte die Rinde wie das ganze Grosshirn 
und Cerebellum, weniger die Medulla, ausserordentlich 
stark gefüllte Blutgefässe, einmal auch Mastzellen in 
der Gefässwand. Die Nervenzellen der Rinde haben 
im ganzen homogen gefärbten Körper mit nur hier 
und da etwas granulirtem Aussehen, vereinzelte Vakuolen, 
leicht gefärbten Kern, Andeutung von Dendriten und 
gelegentlich Spitzenfortsätze, die die Zellen um das 
vierfache überragen. Vermehrung der Glia war nicht 
festzustellen. Unter den sehr widerspruchsvollen An¬ 
gaben der Literatur erinnern die von Schaffer, 
sowie Marchand und Vurgas an obigen Befund. 

Bei den Schlafenthaltungsmäusen, die in einer 
durch Elektromotor ganz langsam, mit 2 Drehungen 
in der Minute, getriebenen Trommel gehalten waren, 
macht die Hirnrinde einen blutleeren Eindruck; da¬ 
gegen zeigt sich die Wand der kleineren Gefässe 
mehrfach verdickt und geschlängelt. Eine derartige 
Veränderung im Laufe von et wa 4 Tagen kann angesichts 


der eminent raschen Reaktion der Gefässe z. B. auf ent¬ 
zündliche Reize nicht unerklärlich erscheinen. Rund- 
zelleninfiltration war auch hier nicht vorhanden. Die 
Nervenzellen sind scharf conturirt, etwas geschrumpft, 
der Körper im Ganzen gleichmässig gefärbt, nur ein 
wenig granulirt, der Kern etwas heller, vereinzelte 
Vakuolen sind vorhanden, der Achsencylinder ist eine 
Strecke weit sichtbar. Gliavermehrungen finden sich 
nicht. Weiterhin ist noch zu bemerken, dass die 
äusserste, sehr zellarme Rindenschicht bei Nichtfärbung 
nicht den blassgrauen Grundton angenommen hat, 
sondern einen Stich ins Mattgelb zeigt, was die Ver- 
muthung auf eine Alteration des grauen Netzes lenken 
kann. 

Die erwähnten Befunde waren an allen Präparaten 
festzustellen. Zweifellos bildet auch anatomisch be¬ 
trachtet der Schlafmangel die intensivere Störung. 
Es handelt sich um die Anfangsglieder von 2 zunächst 
ganz getrennt liegenden Versuchsrichtungen, deren 
weiterer Verlauf vielleicht einmal Schlüsse auf engere Be¬ 
ziehungen zwischen einzelnen psychischen und Rinden- 
Veränderungen im Sinne des psychophysischen Parallelis¬ 
mus ergeben wird. (Autoreferat.) 

(Schluss folgt.) 

— Entscheidung des preussischen Ober- 
verwaltungsgerichts. Es kann auch auf dem Ge¬ 
biete der Sicherheitspolizei die Unterscheidung zwischen 
den Funktionen der Landespolizei und denen 
der Ortspolizei nach einem Urtheil des ersten 
Senats des Oberverwaltungsgerichts nur danach vor¬ 
genommen werden, ob die polizeilich zu schützenden 
Interessen in erster Linie solche der nachbarlichen 
örtlichen Gemeinschaft sind oder über diese räumliche 
Beschränkung hinaus in weiteren Bezirken, vielleicht 
als unmittelbar einheitliche Interessen des Staates 
hervortreten. Diese Unterscheidung führt aber dahin, 
Massregeln, die auf Abwendung der von gemein¬ 
gefährlichen Geisteskranken ausgehenden 
Gefahren abzielen, zu den Aufgaben der Ortspolizei 
zu zählen. Freilich dient die Unterbringung von 
Geisteskranken in Irrenanstalten nicht den besonderen 
Interessen des Ortes, an dem sie festgehalten werden, 
wohl aber denen des Ortes, von dem aus der Geistes¬ 
kranke in die Irrenanstalt gebracht wird. Diesen 
bedroht ein gemeingefährlicher Geisteskranker zunächst, 
eine Ausdehnung der von ihm ausgehenden Gefahr 
auf einen weiteren Bezirk ist zwar nicht unbedingt 
auszuschliessen, wohl aber doch nur deshalb an¬ 
zuerkennen, weil die Möglichkeit eines Wechsels 
seines Aufenthalts bei einem sich selbst überlassenen 
Geisteskranken stets gegeben ist. Deshalb mag die 
Unterbringung eines Geisteskranken in einer Anstalt 
mittelbar auch den Interessen weiterer Bezirke dienen, 
aber dieser nur mittelbar eintretende Erfolg vermag 
nichts daran zu ändern, dass sie als eine Massregel 
erscheint, die den Schutz von Interessen der örtlichen 
nachbarlichen Gemeinschaft in erster Reihe und un¬ 
mittelbar zum Zweck hat. Es tritt eine Mitwirkung 
des zur Verwaltung der Landespolizei zuständigen 
Regierungspräsidenten nur ausnahmsweise ein, wenn 
er durch Beschwerde über die von der Ortspolizei 
getroffenen Massregeln oder über die Versagung 


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172 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 19. 


polizeilichen Einschreitens zu einer Entschliessung an¬ 
gerufen wird. Trifft er in einem solchen Falle die 
Anordnung, dass der Geisteskranke in einer Irren¬ 
anstalt unterzubringen ist, so hat doch diese Ver¬ 
fügung nicht den Charakter einer landespolizeilichen, 
sondern den einer an die Ortspolizei gerichteten An¬ 
weisung zum Erlass einer ortspolizeilichen Verfügung. 
In den Fällen, in denen die Geisteskrankheit und 
Gemeingefährlichkeit bei Personen hervortritt, die sich 
in Untersuchungs- oder Strafhaft befinden, erfolgt 
freilich die Unterbringung in einer Irrenanstalt im 
unmittelbaren Anschluss an die Entlassung aus der 
Haft und auf Antrag der zur Bestimmung über die 
Entlassung zuständigen Behörde. Daraus folgt aber 
nicht, dass der Antrag dieser Behörde den Charakter 
einer landespolizeitichen Anordnung hat. Vielmehr 
kann dem Ersuchen nur die Bedeutung einer Ueber- 
weisung des Geisteskranken an die Ortspolizeibehörde 
zum Zwecke der ihr zustehenden Entschliessung über 
die zur Abwendung der , Gefahr nöthigen Anstalten 
beigemessen werden. Namentlich gilt dies in den 
Fällen, in denen es sich um Geisteskranke handelt, 
die aus den Gerichtsgefängnissen entlassen werden. 
Hier wird die Bestimmung über die Entlassung allein 
von Justizbehörden getroffen, denen polizeiliche Be¬ 
fugnisse nicht zustehen. 

(Neue Preuss. (Kreuz-) Zeitung, 31. VII. 04.) 


Personalnachrichten. 

— Tübingen. Der Assistenzarzt an der psy¬ 
chiatrischen Klinik, Dr. Specht, hielt am 23. VII. 
zum Zweck der Erlangung der venia legendi für Irren¬ 
heilkunde eine Probevorlesung über „die Psycho¬ 
logie als Hilfswissenschaft der Psychiatrie 41 . 


Das Nährpräparat Hygiama. 

(Fortsetzung.) 

Römer’s 3 ) Patienten — Reconvalescenten, Blut¬ 
arme — nahmen in der Mehrzahl der Fälle das 
Hygiama-Getränk (Hygiama mit Milch), auch in 
reichlichen Mengen von 3—4 Tassen täglich, gerne, 
es wurde selbst lange Zeit hindurch genommen und gut 
vertragen. Verdauungsstörungen wurden nicht beob¬ 
achtet, vielmehr eine günstige Beeinflussung vorhan¬ 
dener Verdauungsstörungen wahrgenommen. Von 
besonderem Werth war es bei Magengeschwür und 
Typhus, und zwar selbst bei letzterem vom Anfang 
bis zum Ende der Erkrankung als Getränk verabfolgt. 
Er hebt den hohen Procentsatz des Hygiamas an 
resorbirbaren Stoffen hervor, worin es von keinem an¬ 
deren Präparat erreicht werde, sowie die Leichtver¬ 
daulichkeit unter Bildung normaler, festweicher Fäces. 
Er findet, dass Kranke, die Abneigung gegen Milch 
haben, dieselbe nach Zusatz von Hygiama lieber 
nehmen. 

Freuden berg 4 ) empfiehlt es sehr angelegentlich 
1. bei unstillbarem Erbrechen der Schwangeren, wobei 
es eine beruhigende Wirkung auf die Magenschleim¬ 


haut ausübt und nicht nur ein gutes Nährmittel, 
sondern zugleich ein Heilmittel diätetischer Art sei, 
2. bei der als Reflexerscheinung auftretenden nervösen 
Dyspepsie unterleibskranker Frauen, 3. bei mangel¬ 
hafter Milchsecretion. 

Auch Baum 5 ) hat den Dienst des Hygiamas 
beim Erbrechen der Schwangeren nie vermisst. Bei 
dem heranwachsenden Kinde erleichtert es den Ueber- 
gang zur festen Nahrung. 

Kl aut sch 7 ) konnte im St. Elisabeth-Hause zu 
Halle a. S. die günstige Wirkung von Hygiama bei 
Kindern bestätigen; es verstopft nicht, noch erregt 
es in störender Weise die Darmbewegungen. Häufig 
regte es deutlich den Appetit an. Verdauungsstö¬ 
rungen wurden günstig beeinflusst. 

T o c h 8 ) erreichte bei rhachitischen und scrophu- 
lösen Kindern durch systematische Verabfolgung von 
Hygiama neben der gewöhnlichen Nahrung eine 
schnelle Gewichtszunahme und Besserung der Krank¬ 
heitserscheinungen. 

Manasse 9 ), welcher Hygiama bei den verschie¬ 
densten Schwächezuständen mit bestem Erfolge an¬ 
gewendet, beobachtete niemals Verdauungsstörungen, 
besonders nicht Verstopfung. 

Meyer 10 ) hat bei einem erst V2jährigen Kinde, 
das an Verdauungsstörungen litt, mit Erfolg Hygiama- 
pulver, in Milch gekocht, gegeben; auch bei älteren 
Kindern mit ähnlichen Leiden wirkte es gut. Fieber¬ 
kranke und mit erschöpfenden Krankheiten belastete 
Erwachsene nahmen das Präparat gern und hatten 
einen erheblichen Nutzen davon. 

Rhoden 11 ) hat den hervorragenden Werth des 
Hygiama bei 8 schweren Typhusfällen schätzen ge¬ 
lernt; er brauchte es während des ganzen Ver¬ 
laufs nicht auszusetzen, da es gut vertragen wurde. 
Auch bei Tuberkulose hat er es seit Jahren mit 
unzweifelhaftem Erfolge gegeben. 

Aronsohn 12 ) verordnete Hygiama bei Kindern; 
es wurde sehr gern genommen und bewirkte eine er¬ 
hebliche Gewichtszunahme und Besserung der Er¬ 
nährungsstörungen in Fällen von Rhachitis und chro¬ 
nischem Darmcatarrh, und zwar in solchen, wo sich 
die Behandlung auf rein diätetische Massnahmen be¬ 
schränkte. Bei Säuglingen gab er „Theinhardt’s lös¬ 
liche Kindemahrung“. 

Schlesinger 13 ) hebt besonders hervor, dass sich 
das Hygiama wegen seiner Schmackhaftigkeit sehr 
dazu eignet, den Patienten, welche sonst den Genuss 
grösserer Quantitäten von Milch verweigern, denselben 
zu erleichtern. Er gab es mit Erfolg auch bei 
Magengeschwü r. 

Goldberg 14 ) sah gute Erfolge von Hygiama bei 
Neurasthenie. (Fortsetzung folgt.) 

Diese Nummer enthält einen Prospekt der 

Firma: 

J. D. Riedel, Berlin N. 39, Gerichtsstr. 12/13, 
worauf die geschätzten Leser hierdurch hingewiesen 
werden. 


Für den redactionellcn Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Bresler, Lublinitr (Schlesien). 

Erscheint ieden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Heynemann’sche Buchdruckerei (Gebr. V'olff) in Halle a. S. 


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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift. 

Redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Brealer, 

Lublinitz (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834. 

Nr. 20. 13. August. 1904. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Poet sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für 4 ie ^spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Rresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten. 


Ueber Dauerbadeinrichtungen grösseren Stils. 

Von Dr. K. Qsswald , Oberarzt an der Grossh. hess. Landesirrenanstalt Hofheim. 

(Schluss.) 


Die mattscheibigen Innenfenster verbreiten ferner 
in dem Baderaum ein angenehm gedämpftes Licht, 
schützen die Kranken vor unberufenen Blicken und 
dienen weiter in sehr willkommener Weise als Schall¬ 
brecher, wenn Kranke itn Bad laut sind. Ueber- 
hanpt wird durch die Lage des Bades im Keller¬ 
geschoss, die Schiebedoppelfenster, die in einen relativ 
selten betretenen Obstgarten mündenden Fenster und 
die nicht weit von letzteren stehenden Halbhoch¬ 
stämme der Schall so abgedämpft, dass man von 
einer Belästigung der in der Nähe befindlichen ruhigen 
Kranken nicht ernstlich reden kann. 

Die anfangs von uns befürchteten Nachtheile des 
Kellergeschosses haben sich also allerdings durch 
eine Reihe von zusammen wirkenden günstigen Um¬ 
ständen nicht bemerkbar gemacht; im Gegensatz zu 
den von uns sonst benutzten Baderäumen im Parterre 
herrscht vielmehr im Souterrain im Sommer eine an¬ 
genehme Kühle, im Winter eine milde Wärme. 

Was die Wannen betrifft, so haben wir aus den 
oben genannten Gründen und den hier gesammelten 
günstigen Erfahrungen mit Kupfer, diesem Material 
den Vorzug gegeben, und weil zunächst nur Tag¬ 
betrieb geplant war, sie in einer Form, jedoch etwas 
grösser beschafft, ähnlich unseren sonstigen Bade¬ 
wannen, die uns die Fabrik zufällig in der Lage 
war rasch zu liefern. Ihre Maasse sind folgende: 

Länge: obere 1,76 rn, 
untere 1,55 m; 

B rei t e: am Kopfende oben 0,70 mp 
unten 0,56 m, 

. am Fussende oben 0,40 m, 
unten 0,35 m; 

Höhe: 0,70 m. 

Der obere Rand ist stark umgebogen und dient 
uns zugleich zur Befestigung eines über der Mitte 


der Wanne quer angebrachten Esstischchens. Letz¬ 
teres besteht aus einer ca. 30 cm breiten, auf der 
Untenseite mit Verstärkung versehenen Holzplatte, 

ifif. - 


Abb. 2. 

an deren beiden Schmalseiten je 2 eiserne Bügel 
angeschraubt sind, die den Rand der Wanne um¬ 
greifen und unterhalb desselben mit je einer Schraube 
vermittelst Druckschlüssels befestigt werden können, 
so dass der Kranke das Tischchen weder verrücken, 
noch es abnehmen kann, um etwa mit demselben 
gewaltthätig zu werden. Gleichzeitig dient das Tisch¬ 
chen in willkommener Weise zur Verspannung der 
Wände der Badewanne bei ungeberdigen Patienten. 

Um bei sehr widerstrebenden Kranken die Ein¬ 
gewöhnung in das Dauerbad zu erleichtern, oder 
zerstörende, z. B. Scheiben einschlagende oder ein¬ 



werfende, Kranke daran zu hindern, hat uns wieder¬ 
holt eine einfache Vorrichtung, die an jeder Wanne 
je nach Bedarf befestigt werden kann, gute Dienste 


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174 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 20. 


geleistet. Dieselbe besteht aus einem eisernen Reif, 
der der Form der Badewanne entsprechend gebogen 
ist und am Fussende durch ein Gewinde ungefähr 
15 cm vom oberen Rand der Wanne festgeklemmt 
werden kann. Der Reif trägt in je ca. 15 cm Ent¬ 
fernung eine Anzahl von Messingknöpfen, an wel¬ 
chen ein Segeltuchdeckel, der am Kopfende eine 
breite Oeffnung besitzt, auf die Wanne festgeknöpft 
werden kann, den Kranken am Spritzen hindert und 
die rasche Abkühlung des Badewassers, besonders im 
Winter, in recht wünschenswerther Weise erschw ert. Be¬ 
sagter Reif erlaubt ferner in sehr bequemer Art das 
Anknäpfen einer Schwebe, um auf diese schwache 
decubitöse Kranke zu lagern, welche ohne dieselbe 
fortwährend gestützt werden müssten. 

Gegen die Anwendung des Deckels, besonders 
wenn derselbe nur eine kleine Oeffnung für den Hals 
besitzt, werden sich viele Collegen und zwar mit 
Recht sträuben, denn ein solches Deckelbad ist 
m. E. ein Restraint, das nur noch davon übertroffen 
wird, wenn man einen Kranken durch Wärterhände 
im Bad festhalten lässt. Jedenfalls ist es auch ein 
schlimmeres Zwangsmittel als die Isolirung in einer 
Zelle; denn der geringe Vortheil, dass der Kranke 
im Bad Überwacht ist, wird durch seine zwangsmässige 
Festhaltung in demselben reichlich wett gemacht‘ünd 
ich möchte es unter Umständen als das kleinere 
Uebel ansehen, einen erregten Kranken in einem 
Einzelzimmer unterzubringen, zwar unüberwacht, je¬ 
doch mit der Möglichkeit freier Bewegung, und der 
Kranke wird wahrscheinlich auch dieser Ansicht sein. 
— Deckelbäder halte ich daher, allgemein gesagt, 
nur im Nothfall für erlaubt. 

Das heisse Wasser entstammt einem in unmittel¬ 
barer Nähe befindlichen Boyler. 

Um Verbrühungen zu verhindern, haben wir ge¬ 
glaubt, die in vielen Anstalten gebräuchlichen Misch¬ 
hähne entbehren zu können, die in ihrer Construk- 
tion vielfach zu complicirt und infolge davon un¬ 
zweckmässig sind und wegen der wechselnden Druck¬ 
verhältnisse zwischen dem warmen und kalten Wasser 
doch oft ihre Bestimmung: eine möglichst constante 
Temperatur des Mischwassers herzustellen, nicht er¬ 
füllen. Beschädigungen dieser Art suchen wir durch 
den Betrieb selbst in einfacher Weise zu hindern. 
Der Wärter ist nämlich verpflichtet bei jeder Neu¬ 
füllung der Wanne den Patienten aus derselben 
heraustreten zu lassen, er muss mit dem Thermo¬ 
meter und einer Hand das Badewasser*) prüfen 

*) Die Temperatur des Bades beträgt je nach Anordnung 
35 — 38° C, bei stärker erregten Kranken wenden wir öfters 
die höheren Temperaturen mit gutem Erfolg an. 


und darf dann erst den Kranken wieder hinein¬ 
setzen. Thatsächlich sind auf diese Weise bisher 
jegliche Verbrühungen vermieden worden. 

Bezüglich der inneren Ausrüstung des Bade¬ 
raumes könnte noch erwähnt werden: ein Schild 
mit der Aufschrift: Bade-Wärme 35 — 38° Celsius, 
eine grosse Holztafel, auf der die Namen der 
Badenden verzeichnet sind, und eine gedruckte In¬ 
struction für den Badewärter. Ausserdem ist eine 
Doppel sch eile, d. h. zum Hin- und RückscheUen, 
vorhanden, damit der Wärter eventuell sofort weitere 
Hülfe herbeiziehen kann. 

Bezüglich des Betriebes möchte ich noch be¬ 
merken, dass in dem grossen Dauerbad bisher nur 
Tagbetrieb eingeführt ist. Die Kranken kommen 
morgens gleich nach dem Kaffee, den sie auf ihren 
Abtheilungen einnehmen, gegen 8 Uhr in das Bad 
und zwar werden sie von Wärtern ihrer Abtheilung 
dorthin geführt durch einen im Souterrain befind¬ 
lichen Gang, ein nicht gering zu schätzender Vor¬ 
theil, weil sie auf diese Weise bei ihrem Durchgang 
die in den betreffenden Sälen befindlichen Kranken 
nicht beunruhigen. Sie bleiben dann den ganzen 
Tag über im Wasser und nehmen auch das Früh¬ 
stück, Mittagessen, Kaffee und Abendessen in dem¬ 
selben ein, zu welchem Zwecke die oben erwähnten 
Tischchen sich sehr brauchbar erwiesen haben. 
Abends 8 Uhr verlassen sie das Bad und werden 
wieder auf ihre Abtheilung abgeholt. 

In den Aufsichtsdienst im Dauerbad theilen sich 
für jede Woche zwei Wärter der Art, dass 3 V2 Tage 
der eine und 3 */2 der andre den Wachdienst hat. 
Zum Schutz gegen Nasswerden der Füsse infolge 
des von den Kranken verspritzten Wassers trägt das 
Personal Lederschuhe mit Holzsohlen und Stroh¬ 
oder Asbestsohleneinlage. Die Schuhe werden nur 
ein über den andren Tag des Trocknens wegen 
benutzt und öfters eingefettet. Bei sehr üblen Kran¬ 
ken werden zum Schutz der Kleider gegen das 
Spritzen wasserdichte Mäntel von Battist getragen, 
doch werden dieselben selten benöthigt und auch 
nicht gern getragen, weil der undurchlässige Stoff 
die Verdunstung der Körperoberfläche sehr behin¬ 
dert und die Betreffenden bald unerträglich schwitzen. 
Mäntel von dichtem Leinenstoff, welcher erst durch 
das Benetzen undurchlässig wird, wie sie die Förster 
und Waldarbeiter benutzen, sind entschieden mehr 
zu dem gedachten Zweck zu empfehlen. 

Für schlaflose nicht lärmende Kranke benutzen 
wir im Interesse der Schonung des Personals nach 
wie vor während der Nacht zu Dauer- oder ver¬ 
längerten Bädern direkt an die Wachsäle angrenzende 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


175 


Badezimmer, so dass ein Wärter zur Aufsicht für 
beide genügt oder wir verwenden fahrbare Bade¬ 
wannen (d. h. gewöhnliche Wannen, die auf ein 
fahrbares Holzuntergestell gesetzt werden) zu diesem 
Zweck und stellen dieselben in einen Wachsaal. Dem 
Personal und Kranken steht es frei nach Wunsch 
im Badraum zu rauchen oder Tabak zu kauen, letz¬ 
teren auch zu lesen; nur wenige Patienten werden 
aber durch dieses Mittel beschäftigt und abgelenkt, 
die Mehrzahl macht von Cigarren etc. einen un¬ 
zweckmässigen Gebrauch, so dass man bald bei sol¬ 
chen davon zurückkommt, doch muss man immer 
wieder einmal einen Versuch damit machen. 

Es wurde oben schon einmal erwähnt, dass man 
unter Umständen aucn einmal 2 Patienten in einer 
entsprechend grossen Wanne unterbringen könne, 
natürlich nur solche, die nach ihrer Grösse und Ver¬ 
träglichkeit zu einander passen, in der Art, dass sie 
durch das Esstischchen von einander getrennt sind. 
Der Raum ist zwar dann recht beschränkt, und des¬ 
halb ist dieses Vorgehen, zu dem auch wir uns nur 
unter Bedenken zeitweilig entschlossen haben, kaum 
zu empfehlen, wohl aber zu rechtfertigen. Im Noth- 
fall halte ich diese Unterbringung um so eher für 
erlaubt, als die Kranken sich überraschend leicht da¬ 
reinfinden und die ganze Maassregel doch nur in 
ihrem eignen Interesse und in dem ihrer Umgebung 
getroffen wird, welch letztere andernfalls durch das 
unsociale Verhalten der Betreffenden sehr leiden 


müsste. Sich verunreinigende Kranke dürfen selbst¬ 
verständlich nie mit anderen zusammen in einer 
Wanne untergebracht werden. 

Der aufmerksame Leser wird, wie schon erwähnt, 
bei der Beschreibung unseres Dauerbades die Reali- 
sirung mancher eingangs erhobenen Postulate ver¬ 
misst haben; et mag sich darüber nicht erstaunen, 
denn es handelte sich für uns zunächst um einen 
Versuch und verschiedene meiner idealen Forder¬ 
ungen sind erst aus den hier gesammelten Erfahr¬ 
ungen und Unvollkommenheiten hervorgegangen; 
theoretische Erwägungen hinken auch hier wie so oft 
den Thatsachen nach, ohne deshalb überflüssig zu 
sein. 

Ich habe aber geglaubt, unsere Erfahrungen zu¬ 
sammenstellen zu sollen, um sie auch anderen nutz¬ 
bar zu machen und ihnen bei der Errichtung grösserer 
Dauerbäder gewissermaassen als Richtschnur dienen zu 
lassen oder ihnen wenigstens brauchbare Winke zu 
geben, worauf es besonders ankommt 

Ich bin überzeugt, dass man vielleicht auf andre 
Weise unsere Einrichtung hätte vollkommener ge¬ 
stalten können, immerhin vermag dieselbe aber zu 
zeigen, dass sich schon mit relativ geringem Auf¬ 
wand (die ganze Einrichtung kostete 3300 M.) selbst 
aus keineswegs idealen Räumlichkeiten und sonstigen 
Verhältnissen durchaus brauchbare und empfehlens- 
werthe Etablissements herstellen lassen. 


lieber Wägungen und Körperpflege des Pflegepersonals. 

Von Oberarzt Dr. Tomaschny , Treptow a. Rega. 


T Tnter den Fragen, welche den praktischen Psy- 
chiater unablässig beschäftigen, ist eine der 
wichtigsten die das Pflegepersonal betreffende. In 
der richtigen Erkenntniss von der hohen Bedeutung 
eines guten Pflegepersonals ist man überall dauernd 
bemüht, die Gehalts- und Pensionsverhältnisse dieses 
Standes nach Möglichkeit zu heben und sich dadurch 
möglichst brauchbare Elemente für den Anstalts¬ 
dienst zu sichern. Eine nicht minder wichtige Auf¬ 
gabe ist es aber, auch darüber zu wachen, dass das 
Personal den hohen Anforderungen, die sein schwerer 
Beruf an es stellt, körperlich gewachsen bleibt, 
und darum ist es Pflicht, den Gesundheitszustand 
des Personals dauernd zu kontroliren und hier nach 
Möglichkeit helfend und verbessernd einzugreifen. 


Die Mittheilungen Wickel’s über „das Körper¬ 
gewicht bei der Dauemachtwache“ veranlassen mich, 
in Kürze die Maassnahmen zu besprechen, welche 
sich zur Körperpflege des Pflegepersonals an der 
Provinzialirrenanstalt zu Treptow a. Rega bewährt 
haben. Dieselben beziehen sich hauptsächlich auf 
die Beköstigung, auf die Regelung der Dienst- und 
Urlaubsverhältnisse. Ich bin mir wohl bewusst, nicht 
wesentlich Neues zu bringen, möchte nur betonen, 
dass systematisches Vorgehen in der erwähnten Rich¬ 
tung von grösster Bedeutung ist. 

Die Beköstigung des Personals ist die nämliche 
wie die der Kranken der sogenannten Normalklasse. 
In neuester Zeit ist hier — wie auch in den beiden 
anderen Pommerschen Anstalten zu Lauen bürg 


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i?6 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 20. 


und Ueckermünde — eine Verbesserung insofern 
eingeführt, als jetzt das gesaramte Personal die 
sogenannten Frühstückszulagen (Wurst, Speck, Eier 
etc.) erhält, die früher nur an arbeitende Kranke 
abgegeben wurden. Hierdurch ist ein Grund zur 
Unzufriedenheit und eine Härte beseitigt, welche 
zweifellos darin bestand, dass das Personal, welches 
bei der Arbeit den Kranken mit gutem Beispiel 
vorangehen soll, sich schlechter verpflegt sah als die 
Kranken. Sodann hat diese Verbesserung in der 
Verpflegung auch die Annehmlichkeit mit sich ge¬ 
bracht, dass jetzt endlich die früher so häufigen 
Klagen der Kranken über Entziehungen oder Kürz¬ 
ungen der ihnen bewilligten Zulagen durch die Pfleger 
verstummt sind. Dass den Pflegern unter besonderen 
Umständen, wie Angegriffensein, Erkrankung, Recon- 
valescenz und dergleichen, eine eigene zweckent¬ 
sprechende Diät verordnet wird, ist selbstverständ¬ 
lich. Damit es nun jederzeit möglich ist, für den 
Gesundheitszustand des Personals in rascher Weise 
einen Ueberblick zu verschaffen, haben wir hier zu 
dem bei Kranken ja allgemein üblichen Mittel der 
regelmässigen Wägungen gegriffen. Schon seit vier 
Jahren haben wir bei sämmtlichen Pflegern und 
Pflegerinnen am Ersten jeden Monats das Körper¬ 
gewicht festgestellt und die Gewichtszahlen vom 
Oberpflegepersonal in Listen eintragen lassen. Diese 
Listen werden regelmässig von den Abtheilungs¬ 
ärzten geprüft und bilden den Ausgangspunkt für 
die weiterhin etwa zu treffenden hygienischen Maass¬ 
nahmen. Wenn man eine solche Gewichtstabelle 
näher ansieht, so fällt sofort auf, dass abgesehen von 
einzelnen ganz wenigen Ausnahmen bei allen Pflegern 
und Pflegerinnen in den ersten Wochen des Anstalts¬ 
dienstes eine auffallende Gewichtszunahme eintritt, 
eine Erscheinung, auf die Hitzig schon in seiner 
„Kostordnung***) —pag. 71 — hinweist. Wir haben 
hier Gewichtszunahmen bis zu 5 kg innerhalb der 
ersten 4 Wochen beobachtet. Wir dürfen die Gründe 
für diese auffallende Erscheinung wohl einmal in der 
grossen Regelmässigkeit der Lebensweise vermuthen, 
zu welcher — im Gegensatz zu der bisherigen Lebens¬ 
weise — die neu Eingetretenen durch die Anstalts¬ 
ordnung genöthigt sind, sodann vielleicht in dem 
Umstande, dass den Neulingen im Anstaltsdienst 
naturgemäss immer nur diejenigen Posten angewiesen 
werden, die mit einer geringen Verantwortlichkeit 
verbunden sind und eine wenig aufregende Thätig- 
keit erfordern. Andererseits darf aber auch nicht 

*) Die Kostordnung der psychiatrischen und Nervenklinik 
der Universität Halle-Wittenberg von E. u. Ed. Hitzig, Jena 
1897. 


imerwähnt bleiben, dass das Pflegepersonal in der 
Anstalt eine in Bezug auf Menge und Güte allen 
gerechten Anforderungen vollauf entsprechende Kost 
erhält, wie sie draussen den Ständen, aus denen 
hier das Personal zum grössten Theil hervoigeht, 
wenigstens nicht zu allen Zeiten geboten wird. Das 
durch den raschen Anstieg in den ersten Wochen 
erreichte Körpergewicht hält sich jedoch nur selten 
auf der gleichen Höhe, es tritt ziemlich bald und 
zwar zumeist fast ebenso plötzlich ein stärkerer Ab¬ 
fall ein — doch so, dass fast immer im Vergleich 
zu dem Körpergewicht beim Eintritt in den Dienst 
noch ein deutliches Plus zu erkennen ist — und 
daran schliessen sich dann die eben bei fast jedem 
Menschen regelmässig zu beobachtenden Gewichts¬ 
schwankungen an, die gewissermaassen als physiolo¬ 
gisch zu bezeichnen sind und keiner besonderen 
Berücksichtigung bedürfen. Tritt nun aber in einem 
Falle ein besonders auffallendes Nachlassen des 
Körpergewichtes ein, namentlich mit der Tendenz 
eines dauernden Abfalles, so wird sofort nach der 
Ursache dieser Erscheinung gesucht In den meisten 
Fällen zeigt es sich dann — es handelt sich hierbei 
fast ausschliesslich um Pflegerinnen — dass mehr 
oder minder starke chlorotische Beschwerden ver¬ 
bunden mit allerhand nervösen Störungen vorliegen. 
Neben der entsprechenden arzneilichen und diäte¬ 
tischen Behandlung, die diesen Pflegerinnen zu theil 
wird, werden dieselben dann bei der Vertheilung 
des Dienstes sowie bei den stets in möglichst aus¬ 
gedehntem Maasse gewährten kürzeren oder längeren 
Beurlaubungen besonders berücksichtigt. 

Die Vertheilung des Dienstes besorgt im All¬ 
gemeinen das Oberpflegepersonal, welches allwöchent¬ 
lich einen hierüber aufgestellten Plan dem Anstalts¬ 
direktor zur Genehmigung vorlegt. Bei Aufstellung 
dieses Planes wird auch hier nach Möglichkeit dafür 
Sorge getragen, dass die einzelnen Pfleger und Pflege¬ 
rinnen in ständigem Wechsel auf den einzelnen Ab¬ 
theilungen resp. ausserhalb der Stationen (Feld- und 
Gartenarbeit pp.) beschäftigt werden. Auf diese 
Weise werden die einzelnen Personen in die mannig¬ 
fachen Zweige des Dienstes, der ja auf den ver¬ 
schiedenen Abtheilungen ein ganz verschiedener ist, 
rasch eingeweiht, sodann wird aber hierdurch einer 
gerechten Vertheilung des je nach den Abtheilungen 
mehr oder minder schweren Dienstes Rechnung ge¬ 
tragen und so nach Möglichkeit einer Ueberanstreng- 
ung des Einzelnen vorgebeugt. 

Auch bei Anweisung der Schlafplätze für die 
Nacht tritt in Zwischenräumen ein Wechsel derart 
ein, dass die einzelnen Personen bald auf den ruhigen. 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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bald auf den unruhigen Abtheilungen übernachten. 
Im Allgemeinen schläft das Personal hier in gemein¬ 
samen Räumen mit den Kranken und erblickt hierin 
das natürliche Verhältniss und keine besondere ver¬ 
antwortliche Anstrengung. In den Pflegeabtheilungen 
erscheint eine solche Anordnung auch unbedenklich. 
Eine Ausnahme hiervon bilden nur die Wachsäle 
für unruhige Kranke. Hier schlafen die Pfleger resp. 
Pflegerinnen in einem an den Wachsaal anstossenden 
Raum, von wo sie nötigenfalls von der Wache jeden 
Augenblick zur Unterstützung herbeigerufen werden 
können. Falls das Personal durch Unruhe auf der 
Abtheilung oder durch irgend welche andere Um¬ 
stände in der Nachtruhe erheblich beeinträchtigt 
worden ist, so wird ein besonderer Schlafurlaub ge¬ 
währt 

Für diese Zwecke sind gesondert von den Kran¬ 
kenräumen in einer Abtheilung 2 besondere Schlaf¬ 
zimmer eingerichtet In diesen Zimmern schlafen 
auch die Nachtwachen. Als Nachtwache haben wir 
auch hier vor 3 V2 Jahren die sogenannte „schottische 
Wache“ eingeführt. Dieses System wird seitens des 
Personals allen anderen Anordnungen bei weitem 
vorgezogen, und wir können auf Grund unserer 
mehrjährigen Beobachtungen die auch anderwärts 
gemachten Erfahrungen bestätigen, dass hierdurch 
der Gesundheitszustand des Personals durchaus nicht 
in irgend einer nachtheiligen Weise beeinflusst wird. 
Meist sind die einzelnen Personen 14 Tage mit der 
Wache beschäftigt Während der Nacht erhält die 
Wache 15 g Kaffee, V2 1 Milch, 240 g Semmel, 35 g 
Butter. Der Tag ist für die Wache vollkommen 
dienstfrei. Es wird darauf geachtet, dass die Wachen 
sich nicht durch allzu grosse Spaziergänge zu sehr 
übermüden. 

Wie noch bemerkt sei, hat die Oberpflegerin 
die Weisung darauf zu achten, dass die Pflegerinnen 
zur Zeit der Menses keinen Nachtwachtdienst thun. 


In Bezug auf die Ertheilung von Urlaub wird 
möglichstes Entgegenkommen gezeigt Es befinden 
sich fast ständig 1 — 2 Pflegepersonen auf einem 
längeren Erholungsurlaub, dessen Dauer je nach 
Umständen 1—2—3 Wochen beträgt Dieser längere 
mehrwöchentliche Urlaub wird besonders von den 
Pflegerinnen gern in Anspruch genommen, während 
die Pfleger einen wiederholten mehrtägigen Urlaub 
vorziehen. Auch der kürzere, nur mehrere Stunden 
betragende Urlaub wird möglichst häufig gewährt. 
Damit derselbe aber auch wirklich zur Erholung be¬ 
nutzt werden kann, was unbedingt ein Fernbleiben 
von den Krankenabtheilungen voraussetzt, sind für 
die Pflegerinnen 2 freundliche Zimmer in behag¬ 
licher Weise eingerichtet, die namentlich im Winter 
und bei ungünstiger Witterung in recht ausgiebiger 
Weise von den Beurlaubten benutzt werden. Auch 
den Pflegern steht ein Erholungszimmer zur Ver¬ 
fügung. 

Zum Schluss sei noch erwähnt, dass auch in den 
regelmässigen Pflegerkursen auf hygienische Belehr¬ 
ung des Personals besonderes Gewicht gelegt wird, 
und zwar nicht blos in Bezug auf die Kranken, son¬ 
dern auch in Bezug auf die eigene Körperpflege. 
Und es ist erfreulicherweise zu bemerken, dass das 
Personal den gegebenen Weisungen auch Folge 
leistet. Namentlich 2 gesundheitsfördernde Maass¬ 
nahmen sind es, für die die Neueingetretenen unter 
dem Personal sich immer sehr rasch zugänglich 
zeigen, nämlich die regelmässigen Bäder und die 
geordnete Mundpflege. Gerade dieses Gebiet 
der Körperpflege liegt ja bei den Leuten der niederen 
Stände recht im Argen, und oft genug haben uns 
schon verschiedene Pflegepersonen ihre Zufrieden¬ 
heit darüber ausgedrückt, dass sie hier die Seg¬ 
nungen dieser hygienischen Maassnahmen kennen 
geleint haben. 


Mittheilungen. 


— XXIX. Wanderversammlung der süd¬ 
westdeutschen Neurologen und Irrenärzte am 

28. und 29. Mai 1904 in Baden-Baden. (Referent 
Dr. Krauss-Kennenburg.) (Schluss.) 

21. F. Jam in-Erlangen: Ueber das Ver¬ 
halten der Bauchdeckenreflexe bei Er¬ 
krankungen der Abdominalo r gane. 

Bei den akuten, stürmisch verlaufenden Erkrankun¬ 
gen der Bauchorgane bezw. des P^^neums werden 
die Hautreflexe am Abdomen viel l^figer und regel¬ 


mässiger verändert, als bei den chronischen. Für die 
Krankheiten im weiblichen Becken hat Bodon (Cen¬ 
tralblatt für Gynäkologie 1898) Aehnliches gefunden. 
Am klarsten liegen die Verhältnisse bei der Peri¬ 
typhlitis, besonders da hierbei meist jugendliche Per¬ 
sonen mit normalen, sehr lebhaften Bauchdecken¬ 
reflexen in Frage kommen. Im perityphlitischen Anfall 
ist in der Regel der rechte Bauchdeckenreflex aufge¬ 
hoben oder stark abgeschwächt, während der linke 
gut auslösbar bleibt. Häufig wird nur der rechte 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 20. 


subumbilikale Reflex vermisst oder abgeschwächt ge¬ 
funden, dann aber auch der rechte Leistenreflex. 
Gehen die Krankheitserscheinungen zurück, so kehrt 
der Reflex alsbald wieder, ebenso wenn durch einen 
chirurgischen Eingriff ein Abscess entleert, der Wurm¬ 
fortsatz entfernt worden ist und die Wunde glatt ver¬ 
heilt ist. Wie hier der untere, so wird der obere rechte 
Abdominalreflex abgeschwächt oder aufgehoben bei 
Gallensteinkolik, Cholecystitis und akuter Leberschwel¬ 
lung. Geringere klinische Bedeutung hat das doppel¬ 
seitige Fehlen der Bauchreflexe bei akuter diffuser 
Peritonitis, da hier der Vergleich mit der gesunden 
Seite fehlt. Die rein mechanischen Veränderungen 
der Bauchwandspannung durch Tumorbildung etc. 
vermögen diese Reflexstörung nicht zu erklären. 
Bei chronischen Abdominalerkrankungen mit starker 
Veränderung der Configuration des Leibes (Ascites, 
grosse Tumoren, tuberkulöse Peritonitis) werden nicht 
selten deutlich auslösbare Bauchdeckenreflexe gefunden. 
Bei Schädigung der Muskeln, der Nerven oder der 
nervösen Zentren kehren die Reflexe auch nach dem 
Abklingen der ursächlichen Erkrankung nicht so rasch 
wieder (Oppenheim). Die Schmerzempfindung 
kann nicht allein das Zustandekommen der Muskelcon- 
traction verhindern; die Bauchdeckenreflexe können 
aktiv kaum unterdrückt werden; bei Perityphlitis fehlt 
auch der Reflex auf Reizung der schmerzfreien 
Medialseite des Oberschenkels; bei Ulcus ventriculi 
besteht häufig in segmentär abgegrenzter Zone Hyper- 
ralgesie und dabei sind die Hautreflexe in dem be¬ 
treffenden Gebiet erhöht (Hänel). Es scheint sich 
um eine sogenannte spastische Reflexlähmung zu 
handeln, die verursacht ist durch die mit der entzünd¬ 
lichen Reizung in einem Sympathicusgebiet einher¬ 
gehende reflektorische Muskelspannung im zugehörigen 
Segment. Diese Bauchdeckencontractur ist bekannt und 
gilt als ein diagnostisches Merkmal für die acuten 
peritonitischen Erscheinungen. Für die Diagnose der 
Appendicitis gewinnt so die Prüfung der Bauch¬ 
reflexe einige Bedeutung; zumal da sie schonender 
und ungefährlicher ist als die Palpation. Differential¬ 
diagnostisch kommt sie namentlich gegenüber der 
sogenannten hysterischen Pseudoperityphlitis in Betracht, 
insofern als bei dauernd beiderseits lebhaft auslösbaren 
Bauchdeckenreflexen das Bestehen einer acuten orga¬ 
nischen Erkrankung in der Ileocöcalgegend recht 
unwahrscheinlich ist. Ferner weisen diese Beobach¬ 
tungen über Reflexstörungen bei Erkrankungen der 
Abdominalorgane wiederum darauf hin, dass der Reflex¬ 
mechanismus für die Abdominalreflexe, wenn er sich 
auch meist wohl langer Bahnen bis zur Hirnrinde 
bedient, doch im hohen Grade dem Einfluss der 
spinalen Centren bezw. der dort einlaufenden sympa¬ 
thischen Bahnen untersteht. (Autoreferat.) 

22. B u mke - Freiburg i. Br. Untersuchung 
über den galvanischen Lichtreflex. 

Schwache galvanische Ströme lösen bekanntlich 
am Auge eine Lichtempfindung aus, eine Reaction, 
die normalerweise zuerst bei Anodenschluss und zwar 
schon bei Stromstärken zwischen Vso und Vs M. A. 
auftritt. 

Etwas starke Ströme haben nun ausserdem auch 


einen pupillömotorischen Effect zur Folge, eine Wirkung, 
die natürlich quantitativ geringfügig und nicht intensiver 
ist als die durch entsprechend kleine, normale optische 
Reize ausgelöste Pupillenverengerung, und die deshalb 
nur mit geeigneten Vergrösserungsapparaten (Westien- 
schen Lupe) sichtbar gemacht werden kann. Die 
an 29 Gesunden und 87 Kranken angestellten Unter¬ 
suchungen, über die B. berichtet, wurden in folgender, 
Weise vorgenommen: Eine grosse Electrode wurde 
auf dem Sternum befestigt, oder der Versuchsperson 
in die Hand gegeben, die kleinere Reizelectrode dagegen 
dicht neben dem Auge auf die Schläfe gesetzt oder, wenn 
nur die consensuelle Reaction geprüft werden sollte, 
direct über dem geschlossenen, durch eine Watte¬ 
schicht vor jedem Drucke geschützten Auge befestigt. 
Infolgedessen waren die absolut kleinsten wirksamen 
Reize bei der consensuellen, nicht bei der 
directen Reaction festzustellen. — Die nothwendigen 
Stromstärken wurden an einem Edelmann’schen Präci- 
sionsgalvanometer abgelesen. 

Normaler Weise waren nun, wenn der Strom von 
der Schläfe her durch das Auge geleitet wurde, Strom¬ 
stärken von durchschnittlich 2,4 M. A. (0,7 bis 5,0), 
bei directer Befestigung der Electrode über dem 
Auge solche von 0,3 (0,04 bis 0,8) erforderlich, 
um durch jeden Anodenschluss eine deutliche active 
Verengerung der gleichzeitigen und der contralateralen 
Pupille um 1 bis 2 mm auszulösen. — Nächst dem 
Anodenschluss ist zuerst wirksam die Kathodenöffnung, 
während Anodenöffnung und Kathodenschluss meist 
erst bei viel stärkeren Strömen die Pupille sichtbar 
beeinflussen. — Eine anscheinend sehr schnell ein¬ 
tretende Ermüdung des Reflexes macht übrigens auch 
bei der gewöhnlichen Reizung durch Anodenschluss 
oft schon nach der vierten oder fünften Schliessung 
des Stromes eine Erhöhung der Stromstärke erforder¬ 
lich. Länger dauernde Kathodenschliessung schien 
zuweilen eine Erholung, Anodenschluss eine nach¬ 
haltigere Erschöpfung zu bewirken. 

B. hat nun versucht, den galvanischen Lichtreflex 
für die Entscheidung der Frage zu verwerthen, ob und 
welche Unterschiede zwischen der directen und der con¬ 
sensuellen Lichtreaction bestehen; das Resultat ist 
kein eindeutiges: es giebt Individuen, bei denen der 
Reflex an dem direct gereizten Auge früher eintritt, 
als an dem anderen, bei einer etwas grösseren Anzahl 
dagegen ist ein solcher Unterschied, auch mit dieser 
Methode, nicht festzustellen. 

Dann wurde die galvanische Licht- und Reflex¬ 
empfindlichkeit bei Untersuchungen benutzt, die das 
Verhalten der Pupille in Erschöpfungszuständen be¬ 
trafen. Es wurden insgesammt 104 Einzelbeobach¬ 
tungen an 13 Gesunden (Pflegern und Pflegerinnen 
der Klinik) vorgenommen und zwar abwechselnd nach 
je einer normal durchschlafenen oder einer durch¬ 
wachten Nacht. Die Ergebnisse waren folgende: Die 
Pupillen aller Untersuchten waren am Morgen nach 
einer durchwachten Nacht regelmässig weiter (um ca. 
1,0 — 1,5 mm) als zu der gleichen Zeit an anderen 
Tagen. Die Reaction auf Licht und ebenso die bei 
der Convergens war bei der Prüfung mit den ge¬ 
wöhnlichen Untersuchungsmethoden gegen die Norm 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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nicht verändert, dagegen die Empfindlichkeit der Iris 
gegenüber sensiblen Reizen meist entschieden gesteigert, 
„die Papillenunruhe“ vermehrt. — Bei der galva¬ 
nischen Untersuchung nun zeigte sich zunächst, 
dass die galvanische Lichtempfindlichkeit in 
diesen Erschöpfungszuständen etwas erhöht ist; die 
Ref lex empfind lieh k eit dagegen wird durch die 
gleiche Schädlichkeit vermindert. Während nor¬ 
malerweise, um einen directen oder consensuellen 
galvanischen Lichtreflex auszulösen, nur 1V2 bis 4 
mal so starke Ströme erforderlich sind, als wie um 
einen Lichtblitz hervorzurufen, verhalten sich in der 
Ermüdung Licht- und Reflexempfindlichkeit unter 
Umständen wie 1 zu 40. — 

(Die ausführliche Veröffentlichung erfolgt demnächst 
in der Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der 
Sinnesorgane.) 

23. Spielmeyer-Freiburg i. B.: Ueber eine 
epileptische Form der Grosshirnencephalitis. 
Von dem gewöhnlichen klinischen Typus der Gross¬ 
hirnencephalitis zweigen nach drei verschiedenen 
Richtungen Reihen von Krankheitsbildern ab, die 
durch das Prävalieren eines mehr weniger um¬ 
schriebenen Symptomes (des comatösen Allgemeinzu¬ 
standes, der Lähmungssymptome oder der motorischen 
Reizerscheinungen) charakterisirt sind. Die epilep¬ 
tische Encephalitis ist die seltenste von diesen kli¬ 
nischen Formen, die sich rein nosographisch, nicht etwa 
den Ausgängen oder den pathologischen Befunden nach 
abgrenzen lassen. 

Die Krampferscheinungen sind auch bei der En¬ 
cephalitis von zweifacher Art: sie treten als allgemeine 
oder als lokalisirt bleibende, resp. lokalisirt be¬ 
ginnende Anfälle auf. Sie addiren sich in den um¬ 
schriebenen Fällen der epileptischen Form zu einer 
„acuten passageren Epilepsie“. 

Die differentialdiagnostischen Erwägungen, die hier 
in Betracht kommen, weichen von den sonst üblichen 
nicht ab; sie fordern in erster Linie eine Abgrenzung 
vom Hirntumor. 

(Eine eingehendere Abhandlung über dieses Thema 
erscheint im Juniheft des Gaupp’schen Centralblattes.) 

(Autoreferat.) 

24. Dr. Starck-Heidelberg: Ueber Vorder¬ 
hornerkrankung nach Trauma. Fälle, in 
welchen mit einiger Gewissheit ein Trauma als Ur¬ 
sache von chronischen, progressiv verlaufenden Läsionen 
des Rückenmarks angesehen werden darf, sind in der 
Literatur sehr spärlich verzeichnet. 

Speciell über Poliomyelitis ant. chron. nach Trauma 
hat als erster Erb Ende der qoer Jahre eine Publication 
gemacht unter Erwähnung von zwei klinisch beobach¬ 
teten Fällen. 

Stark berichtet über eine 47). Frau, die unmittelbar 
nach einem Fall von einem Wagen auf Rücken und rechte 
Schulter mit Schmerzen und zunehmender Schwäche 
im rechten Arm erkrankte; baldfolgende Atrophie der 
Oberarmmuskulatur. Am 23. Tage fibrilläre Muskel¬ 
zuckungen der rechten Schulter und Oberarmmus¬ 
kulatur, starke Atrophie in denselben Muskeln, part. 
EaR in thenarund hypothenar. Vollständige Unbrauch¬ 
barkeit des rechten Armes. Bald Muskelzucken und 

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Schwund der linken Schulter und Oberarmmuskulatur, 
und fortschreidende Atrophie der Brust-, Rumpf- und 
Bauchmuskeln, Oberschenkelmuskulatur und schliesslich 
Exitus an Zwerchfelllähmung 9 Monate nach dem Un¬ 
fall. Fehlen jeder Sensibilitätsstörung, jeder Sphinc- 
terenschwäche. Reflexe kaum vom Normalen ab¬ 
weichend. In den atropbirten Muskeln theils herabge¬ 
setzte Erregbarkeit, theils partielle Ea R, in der rechten 
Oberarmmuskulatur cornplette Ea R. Mikrosk. Unter- 
suchg.: Fast ausschliesslich parenchymatöse Ver¬ 
änderungen, Untergang der nervösen Elemente, 
fast nichts von Entzündung. 

Hochgradige Degenerationen in den Vorder¬ 
hörnern, Rarification der Ganglien, Gestalts-Struk¬ 
turveränderung, schlechte Färbbarkeit derselben, un¬ 
deutliche Umgrenzung. Markhaltige Nervenfasern 
entsprechend rarificirt. Markscheiden vielfach 

degenerirt, verdickt, blasig, eingeschnürt. Achsen- 
cy lind er meist normal, nur vereinzelt verdick t t ge¬ 
trübt, blasig. Glia in der ganzen grauen Substanz 
enorm gewuchert. Ganz spärliche schwer sichtbare 
herdweise Degenerationen in Vorderhömern. 

Entzündliche Processe fehlen fast ganz; in Gefäss- 
scheiden kein Fett. Seltene kleine Infiltrate, keine 
Haemorrhagie. Pia verdickt, nicht entzündlich, nur 
hyperplastisch. 

25. Dr. Heinrich Stadelmann-Würzburg: 
Das Wesen der Psychose. Allgemeine Princi- 
pien kommen aus der Analyse specieller Erscheinungs¬ 
formen; diese ersteren sind fernerhin maassgebend für 
die Beurtheilung weiterer Phänomene. 

Die von den Naturwissenschaften aufgefundenen 
NothWendigkeiten bei speciellen Lebenserscheinungen 
können mit diesem Recht auf alle Lebenserscheinungen 
im Princip angewandt werden. 

Das normale sowie das krankhafte veränderte 
psychische Leben des Menschen unterliegt den Noth- 
wendigkeiten, die von den Naturwissenschaften, der 
Chemie und der Physik, gefunden wurden. 

Die verschiedenartigen Bewegungsvorgänge (Licht-, 
Luft- u. s. w. Bewegung) müssen sich zwecks Asso¬ 
ciation zu einer einheitlichen Energie im Gehirn um¬ 
wandeln , von wo aus sie sich zu den Muskeln ab¬ 
leiten; daraus resultirt ein Handeln, eine Drüsense- 
cretion u. s. w. 

Wenn auch der Annahme, diese Energie möge 
die elektrische sein, mancherlei Ein wände entgegen- 
gestellt werden können, so bestehen doch andererseits 
wieder Thatsachen, die gerade diese Annahme recht- 
fertigen. 

Die Psychose hat zum Grunde eine irgendwie 
chemisch und physikalisch constituirte Anlage und 
ein Erlebniss (das stets chemischen oder physikalischen 
Nothwendigkeiten gehorcht) als Ursache; als Drittes 
erscheint im Sinne einer Reaktion des Grundes mit 
der Ursache die Psychose. 

Krankhaft verändertes psychisches Geschehen setzt 
eine Alteration des Gehirnes voraus (durch Vergiftung 
irgendwelcher Art, Uebermüdung, mechanische Ein¬ 
flüsse), die zur Folge Dissociationen haben. 

Anatomisch nachweisbare Veränderungen am feinen 
Bau sind secundärer Natur, entstanden durch chemische 

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i8o 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 20. 


oder physikalische Einwirkungen. Es kommt hier die 
Frage der mehr oder weniger leichten Restitutio ad 
integrum in Betracht. 

Aus der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise 
der Psychose ergeben sich grundlegende Sätze: 

Bei der gesunden wie bei der kranken acuten 
oder chronischen Gehimconstitution unterliegen die 
Bewegungsreize gleichen NothWendigkeiten bei ihrer 
centralen Verwerthung; bei der Psychose erscheint in¬ 
folge veränderten Grundes das psychische Geschehen 
als Zerrbild des Normalen; jedes psychotische Geschehen 
findet wenigstens seinem Wesen wenn auch nicht der 
Form nach ein Analogon im normalen psychischen 
Geschehen; für das Zustandekommen einer bestimmten 
Psychose muss ein bestimmter äusserer Bewegungsreiz 
auf die zu psychotischem Geschehen gewissermaassen 
vorbereitete Anlage wirken; dieser Bewegungsreiz wird 
ein Theil der Psychose; die geistige Gestörtheit ist 
ein Theil der Psychose, die einen grössem Symptomen- 
complex umfasst. 

— Ueber die Resultate der Behandlung von 
Kretins mit Schilddrüse veröffentlicht in der Wiener 
Klin.Wochenschr. v. 28. VII. der Wiener Psychiater Pro¬ 
fessor Wagner v. Jauregg einen ausführlichen Be¬ 
richt. Der Gelehrte, von dem die Anregung zu dieser 
wissenschaftlich probablen Behandlungsweise ausging, 
ist nach praktischer Erprobung seines Heilverfahrens 
der Ansicht, dass die Schilddrüsenbehandlung zweifel¬ 
los auf die körperliche und geistige Entwickelung von 
Idioten und Kretins einen ausserordentlich günstigen 
Einfluss ausübe. Wagner behandelte 52 Kretins aus 
Judenburg in Steiermark, im Alter von zwei bis dfrei- 
undzwanzig Jahren — schon nach drei Monaten ist 
bei den Kindern Wachstum, Abmagerung, Besserung 
der Blutbeschaffenheit festgestellt worden. Viele holten 
alles Versäumte in kurzer Zeit nach, es stellte sich 
bald Sprechvermögen ein, die Kinder sangen und 
wurdeu zum Schulbesuch geeignet, auch die Kröpfe 
verschwanden bald; die Kinder sollen sich nach zwei 
Jahren nicht mehr viel von normalen Dorfkindern 
unterschieden haben. 

— Von der Zunahme der Geisteskranken in 
Berlin. In der städtischen Irrenpflege befanden sich 
Ende Juni dieses Jahres 6854 Kranke, während Ende 
Juni vorigen Jahres die Zahl dieser Kranken erst 6589 
gewesen war. Die Zunahme beträgt wieder 265 
Kranke. Von den Kranken des laufenden Jahres 
wurden Ende Juni nur 3941 in den eigenen Anstalten 
der Stadt, in Dalldorf, Herzberge und Wuhlgarten, 
verpflegt. 2330 Kranke waren in den zur Aushilfe 
mitbenutzten Privatanstalten und 583 in Familien¬ 
pflege untergebracht. Ende Juni vorigen Jahres hatten 
sich 3932 Kranke in den eigenen Anstalten, 2114 in 
privaten Anstalten und 543 in Familienpflege befunden. 
Fast der ganze Zuwachs an Kranken, den die städ¬ 
tische Irrenpflege seit dem vorigen Jahre hatte, hat 
wieder den privaten Anstalten und der Privatpflege 
zugeführt werden müssen. Namentlich die Be¬ 
nutzung privater Anstalten nimmt immer mehr zu, 
weil die eigenen Anstalten der Stadt seit langem 
voll besetzt sind. Wenn die Irrenanstalt in Buch 
fertig ist, wird auch sie nur die Hälfte der in pri¬ 


vaten Anstalten oder in Familienpflege untergebrach¬ 
ten Kranken aufnehmen können. 

— Bonn. Geheimrath Prof. Dr. Pelm an, der 
Direktor der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt, hat 
am 1. August zum letzten Male den klinischen 
Unterricht in der psychiatrischen Klinik abgehalten. 
Seine Hörer hatten aus diesem Anlass den Saal mit 
Blumen und Pflanzen reich geschmückt und be- 
grüssten den scheidenden Lehrer beim Eintritt in 
studentischer Weise. Stud. Eichelberg dankte Herrn 
Geheimrath Pelman für seineThätigkeit als akade¬ 
mischer Lehrer und wünschte ihm, dass er im Ruhe¬ 
stände noch eine lange Reihe von Jahren in geistiger 
und körperlicher Rüstigkeit verleben möge. Geheim¬ 
rath Pelman entgegnete sichtlich bewegt, es sei eine 
besondere Ehre für ihn, dass am Ende des Semesters 
noch eine so grosse Zahl von Studirenden zu ihm 
gekommen sei und es sich nicht habe nehmen lassen, 
zu seiner Ehrung den Hörsaal so schön zu schmücken. 
Er sei den Studirenden dankbar, dass sie zu einer 
nicht sehr geeigneten Zeit, zwischen 3 und 4 Uhr 
nachmittags, immer in grosser Zahl erschienen und 
mit grossem Interesse den Vorlesungen gefolgt seien, 
sodass er dem Sprecher wohl glaube, dass die Hörer 
etwas gelernt hätten. Er denke nicht daran, völlig 
in den Ruhestand zu treten, sondern er gebe nur 
die Leitung der Anstalt und der Klinik auf. Wenn 
seine Hörer ihn also weiter hören wollten, stehe er 
gern zur Verfügung. 


Referate. 

— Dr. Hermann Kornfeld, Verbrechen 
und Geistesstörung im Lichte der altbibli¬ 
schen Trad i tion. Halle a.S. 1904. Carl Marhold. 

Verf. erweist sich in dieser Abhandlung als ein 
ausgezeichneter philologischer Kenner und grosser 
Verehrer der altbiblischen Schrift. Zuerst analysiert 
er den ersten Kriminalfall, den Sündenfall Adams und 
Evas in allen Einzelheiten; als Schlussfolgerung er- 
giebt es sich, dass das Verbrechen von der mosai¬ 
schen Lehre als Ungehorsam gegen Gott aufgefasst 
werde, dass allen Gesetzen ein göttlicher Ursprung 
innewohne. Im zweiten Theile wird das Verhältniss 
zwischen Geist und Körper behandelt; nach altbibli¬ 
schen Anschauungen sei der Sitz der Persönlichkeit 
im Blute, das Herz das Centrum der geistigen Vor¬ 
gänge, jedes Organ hätte besondere Beziehungen zu 
geistigen Vorgängen. Eine Geistesstörung bestände 
nur, wenn die Seele, die Persönlichkeit des Menschen 
erkranke ohne Komplikation mit körperlicher Krank¬ 
heit Verbrechen und Seelenstörung seien prinzipiell 
verschieden und bieten keine Übergänge. 

Dr. Fritz Hoppe. Tapiau. 

— Prof. Hoche, Zur Frage derZeugniss- 
fähigkeit geistig abnormer Personen. Mit 
einigen Bemerkungen dazu von Prof. Finger. Juri¬ 
stisch-psychiatrische Grenzfragen. Bd. * 1 , Heft 8. 

Verf. greift die Bestimmung des § 56, I der Str. 
P. O. an, indem er darauf hin weist, dass manche 


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1904.] 


PSYCHIATRBCH.NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


181 


schwer oder auch nur leicht geistig erkrankte Per¬ 
sonen sehr wohl ehe genügende Vorstellung von 
dem Wesen und der Bedeutung des Eides hatten, 
dass aber trotzdem ihre Aussagen bedingt durch 
krankhafte Einflüsse materiell ganz unbrauchbar 
wären. Als Illustration giebt er die Geschichte eines 
Falles, in dem eine Verurtheilung hauptsächlich auf 
eine durch Vereidigung bekräftigte Aussage eines 
Epileptikers erfolgte und späterhin nicht wieder auf¬ 
gehoben werden konnte. Verf. hatte bei diesem Epi¬ 
leptiker eine hochgradige Gedächtnisschwäche, Erin- 
nerungsverfälschungen» kurz alle Eigenschaften nach¬ 
gewiesen, die die Verwerthung einer Aussage mit so 
schwerwiegenden Folgen höchst bedenklich für das 
Rechtsgefühl machen musste. Verf. hält eine Aende- 
rung des § 56 für dringend nothwendig und schHesst 
sich dem Vorschläge Aschaffenbuigs an: „unbeeidigt 
sind zu vernehmen: Personen, welche zur.Zeit der 
Vernehmung das 16. Lebensjahr noch nicht vollen¬ 
det hatten; ferner solche, deren Aussagungen oder 
Wahrnehmungen durch Geisteskrankheit oder Geistes¬ 
schwäche beeinflusst sind.“ Finger stimmt von seinem 
juristischen Standpunkte diesen Ausführungen im All¬ 
gemeinen zu; nur glaubt er, dass im vorliegenden 
Falle weniger die Form des § 56 an dem rechtlich 
bedenklichen Urtheile Schuld gewesen wäre als viel¬ 
mehr die ungenügende, kritische Würdigung des im 
Prozesse verwendeten Beweismateriales seitens der 
Richter. Dr. Fritz Hoppe, Tapiau. 

— Dr. S. Reti, Sexuelle Gebrechen? 
deren Verhütung und Heilung. Für Aerzte 
und Laien. II. Aufl. Halle a. S. 1904. Carl Mar- 
hold. 

Verf. erörtert in seiner an Aerzte und Laien 
gerichteten Schrift die wichtigsten Abschnitte des 
normalen und krankhaften Sexuallebens insbesondere 
Impotenz, Onanie, Pollutionen, geschlechtliche Per¬ 
versitäten, Nothzucht, Defloration, Geschlechtskrank¬ 
heiten und deren Prophylaxe. Aus seiner langjährigen 
Praxis ilhistrirt er seine Ausführungen durch Einfü¬ 
gung zahlreicher, ausführlicher Krankengeschichten, 
von denen einige auch für den Neurologen und 
Psychiater schätzenswerthe Beiträge bilden. 

Dr. Fritz Hoppe, Tapiau. 

— Dr. Hans Stoll, Alkohol und Kaffee 
in ihrer Wirkung a u f H erzle iden und ner¬ 
vöse Störungen. 

Verf. sucht nachzuweisen, dass in jedem Falle 
durch Genuss von Alkohol und Tropenkaffee ein ge¬ 
sundheitsschädlicher Einfluss ausgeübt werde, der 
eine bedenkliche Höhe bei deren gewohnheitsraässi- 
gem Zusammenwirken erreichen könnte. Absolute 
Abstinenz beider Genussgifte sei in gewissen Berufs¬ 
klassen während der Dienstzeit unbedingt zu ver¬ 
langen wie bei Soldaten, Eisenbahn- und Postbeamten. 
Es sei Au%abe des Staates, die Abstinenzbewegung 
im allgemeinen Interesse zu fördern. 

Dr. Fritz H 0 ppe, Tapiau. 

— Dr. A. Kühner, Die N ^ rC ns chwiche 
mit besonderer BerücksiQ» ^ e r 


Geschlechtsnervenschwäche. 8. Aufl. Berlin 
1904. Wilhelm Möller. 

Die vorliegende Schrift behandelt in populärer 
Darstellung die Ursachen und Krankheitsformen der 
Neurasthenie und insbesondere der sexuellen Neura¬ 
sthenie. Verf. schildert im Anschlüsse daran die Mittel, 
diesen Krankheiten vorzubeugen und sie zu heilen. 

Dr. Fritz Hoppe, Tapiau. 

— Dr. Meinert, Das Rothenkirchner 
Eisenbahnunglück und der Alkohol. Die 
Alkoholfrage. Bd. 1, H. I. 

Verf. unterzieht die Gerichtsverhandlungen wegen 
des Rothenkirchner Eisenbahnunglücks einer einge¬ 
henden Untersuchung, inwieweit Alkobolgenuss der 
betheiligten Personen dabei mitwirkte und wie die 
typischen Charakter Veränderungen chronischer Alko- 
holisten die Aussagen modificirten. Der Process, 
der mit der Veiurtheilung des Lokomotivführers Lohse 
zu 2V2 Jahren Gefängniss endigte, ergab, dass der 
Schuldige ein chronischer Alkoholiker war und im 
Zustande von Alkoholintoxikation in sträflichster Weise 
dadurch fahrlässig handelte, dass er durch ausser¬ 
ordentlich schnelles Fahren die Zeit wieder erbrin¬ 
gen wollte, die er um seines Vergnügens am Zechen 
willen dienstwidrig vergeudet hatte. Besonders 
weist Verf. darauf hin, wie .gering vom Publikum der 
Eipfluss des Alkohols auf das Handeln des Men¬ 
schen geschätzt wird. Die grosse Masse sei der An¬ 
sicht, solange der Trinker noch nicht völlig betrunken 
sei, hätten dessen Fähigkeiten in keiner Weise ge¬ 
litten — eine sehr bedenkliche Volksauffassung über 
die vermeintliche Unschädlichkeit des Genusses selbst 
beträchtlicher Alkoholmengen. 

Dr. Fritz Hoppe, Tapiau. 

— D r. jur. Eggers, Die Sonderaus¬ 
stellung zur Bekämpfung des Alkoholis¬ 
mus in Charl otten bürg. Die Al koho 1 frage 
Bd. 1, H. I. 

Verf. lenkt die Aufmerksamkeit auf diese Sonder¬ 
ausstellung, die sich in der Ausstellung für Arbeiter¬ 
wohlfahrt in Charlotten bürg, Frauenhof erstr. befindet. 
Er weist auf die Ziele dar Alkoholgegner, der Mas¬ 
sigen wie der Enthaltsamen, hin, die Majorität der 
Deutschen dahin zu bringen, mit der Bewegung zu 
sympathisiren. Die Ausstellung hat den Zweck, die 
Waffen, die dem Alkoholgegner in seinem Kampfe 
zur Verfügung stehen, allgemein bekannt zu machen. 
Verf. bittet für die Ausstellung um Unterstützung 
durch Uebersendung von allen Dingen, die auf die 
Alkoholbekämpfung Bezug haben, wie Statistiken, 
Tabellen, bildlichen Darstellungen, Modellen, Appa¬ 
raten, Flugblättern, Zeitschriften und Büchern. In 
dieser ständigen Ausstellung sollen von Zeit zu Zeit 
Unterausstellungen specieller Gebiete veranstaltet 
werden. Dr. Fritz Hoppe-Tapiau. 


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l8 2 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 20. 


Bibliographie 

Ober Kriminal-Anthropologie und Verwandtes. 

I. Quartal 1904. 

Von Medicinalrath Dr. P. Näcke in Hubertusburg. 

Jastrowitz: Einiges über das Physiologische und 
über die aussergewöhnl. Handlungen im Liebes¬ 
ieben des Menschen. Leipzig, Thieme, 1904. 
M. 1,—. 

de Blas io: Cranio acromegalico. Ri vista mensile di 
psich. for. etc. 1903, Nr. 11. 

Woltmann: Rasse und Genie. Politisch-anthropo¬ 
logische Revue 1904, Jan. 

Driesch: Ergebnisse der neueren Lebensforschung. 
Ibidem. 

Kuhlenbeek: Aus dem Gebiete der gerichtlichen 
Psychiatrie. Ibidem. 

Bornemann: Schule und Auslese. Ibidem. 

Myers: The future of Anthropometiy. Journ. of 
the Anthr. Inst, of Gr. Brit. and Ireland. 1903. 

Brosch: Ein neues Leichen-Conservirungsverfahren. 
Zeitschr. für Heilkunde 1903, Heft 4. 

Virchow, Hans: Die Verwendung von Abgüssen 
für die Herstellung von Skelettpräparaten. Zeit¬ 
schr. für Ethnologie 1903, S. 793. 

Trab old: Schädelraum und Gaumenhöhe. Diss. 
Freiburg 1903. 

Seggel: Abhängigkeit des Astigmatismus corneae 
von der Schädelbildung. Archiv für Augenheil¬ 
kunde 1903, S. 164. 

Jacoby: Unterschiede am Schädel des Schimpansen 
Gorilla und Orang-Utang. Diss. Bern 1903. 

Smith: The so-called „Affenspalte“ in the human 
(Egyptian) brain. Anatomische Anzeigen 1903, 
m. 2/3. 

Seggel: Ueber das Verhältniss von Schädel- und 
Gehimentwickelung zum Längenwachsthum des 
Körpers. Archiv für Anthrop. 1903, S. 1—25. 

Bunge: Wachsthumsgeschwindigkeit und Lebens¬ 
dauer der Säugethiere. Archiv für die gesammte 
Physiologie 1903, S. 605 n. 

roucet et Leriche: Nains d’aujourd'hui et nains 
d’autrefois. Revue Scientifique 1903, p. 587. 

Eggeling: Ueber den oberen Rand des menschlichen 
Brustbeinhandgriffes. Anatom. Abteilg. u. 17. 
Naturforscherversamml. zu Heidelberg 1903. 

Boas: Heredity in head form. American Anthro- 
pologist 1903. 

Cunningham: Right-handedness and left-brained- 
ness. Journ. of the Anthr. Instit. 1902. 

Conklin: The cause of Inverse Symmetrv. Ana¬ 
tomische Anzeige 1903, Okt. 

Göppert: Ueber die Bedeutung der Zunge für die 
Entstehung des sekundären Gaumens. Anato¬ 
mische Anzeigen. Ergänzungsheft z. 23. Bd. 1903. 

Rabl: Ueber einige Probleme der Morphologie. 
Ibidem. 

H a d 1 i c h : Eine vierfingrige Hand als congenitale 
Missbildung. Virchow’s Archiv 1903. 

v. Gleichen-Russwurm: Vom nivellirenden Ein¬ 
fluss der Cultur. Die Woche, 1904, Nr. 3. 

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Steinmetz: Die Aufgaben der Social-Ethnologie. 
Corr.-Blatt d. deutsch. Gesellsch. f. Anthrop. etc. 
1903, S. 139. 

Zw olle: Die Bevölkerungsfrage bei den Naturvölkern. 
Ibidem, S. 143. 

v. Liszt: Vorentwurf eines Gesetzes, betreffend die 
Verwahrung gemeingefährlicher Geisteskranker 
und vermindert Zurechnungsfähiger. Aerztl. Sach- 
verständigen-Zeitung 1904, Nr. 2. 

Alsberg: Erbliche Entartung, bedingt durch sociale 
Einflüsse. Kassel, Fischer. 0,80 M. 

Hirsch: Ueber ein Magendivertikel. Münch, med. 
Wochenschr. 1904, Nr. 1. 

O r n s t e i n: Ueber einige angeborene Anomalien als 
Ausgangspunkt gewisser pathologischer Läsionen. 
Diss., Bukarest 1903. 

Möbius: Geschlecht und Kindesliebe. Marhold, 
Halle. 77 Seiten, 2 M. 1904. 

Fere: Travail et Plaisir. Paris, Alcan, 1904, 12 fr. 
476 s. 

Bajenoff: Guy de Maupassant et Dostojewsky, etude 
de psychologie comparee. Archives d’anthropo- 
logie criminelle etc. 1904, janv. 

Adler: Die mangelnde Geschlechtsempfindung des 
Weibes. Berlin 1904, Fischer, 207 S. 

Havelock Ellis: A Study of British Genius. Lon¬ 
don, Hurst and Blackett, 1904. 300 S. 

Klaussmann: Bettelbriefe. Eine kriminalistische 
Skizze. Die Woche, 1904, Heft 4. 

Penta: Un pedofilo fellatore. Rivista mensile di 
psich. for. etc. 1903, Nr. 12. 

Giuffrida-Ruggeri: La maggiore variabilitä della 
donna dimostrata col metodo Comerano (coeffi- 
ciente somatico). Monitore Zoologico Italiano, 
anno XIV, Nr. 12, 1903. 

Meyer: Ein Fall von congenitaler Ectopia vesicae 
urinariae. Diss., Kiel 1903. 

Deutsch: Ueber Kinderselbstmorde. Archiv für 
Kinderheilk., 38. Bd., H. 1 u. 2. 

Luyken: Ein Fall von kombinirter Missbildung aus 
dem pathologischen Institut zu Kiel. Diss., Kiel 

1903. 

Leskien: Die Rolle der Heredität in der Aetiologie 
des Xanthoms etc. Diss., Leipzig 1903. 

Mendelsohn: Rippenknorpelanomalien und Lungen¬ 
tuberkulose. Diss., Leipzig 1903. 

Zahrt: Ueber einen Fall von erblicher Flughaut¬ 
bildung an den Ellenbogen. Diss., Leipzig 1903. 

Scheibe: Doppelseitige kongenitale Atresie des Gehör¬ 
gangs. Demonst. Münchner medic. Wochenschr. 

1904, S. 88. 

E. A. Spitzka: A study of the brain of the late 
major J. W. Powell. Americ. Anthropologist 1903. 

v. Kunowsky: Zur Frage der Unterbringung geistes¬ 
kranker Verbrecher. Psych.-Neurolog. Wochen¬ 
schrift 1904, Nr. 44. 30. Jan. 

Weinberg: Pathologische Vererbung und genea¬ 
logische Statistik. Deutsches Archiv für klinische 
Medicin 1903, 78. Bd., 5. u. 6. H. 

Deutschländer: Demonstration eines angeborenen 
Steissbeintumors. Ref. in Münch, med. Wochen¬ 
schr. 1904, Nr. 3. 

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i go 4 .] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT- i83 


Oliva: Due casi di inversione sessuale. (Forts). 
Annali di freniatria etc. 1903, Nr. 4. 

Plötz: Die Begriffe Rasse und Gesellschaft. Archiv 
für Rassen- und Gesellschafts-Biologie etc. 1. Jahrg. 
1904, 1. H., Jan. 

Correns: Experimentelle Untersuchungen über die 
Entstehung der Arten, Ibidem. 

Schaltmeyer: Selectionstheurie, Hygiene und Ent¬ 
artungsfrage. Ibidem. 

Grüner: Der Selbstmord in der deutschen Armee. 
Diss., Berlin 1903. 

v. Lendenfeld: Karl Pearson’s Untersuchungen über 
verwandtschaftliche Aehnlichkeit und Vererbung 
geistiger Eigenschaften. Ibidem. 

Rüdin: Zur Rolle der Homosexuellen im Lebens- 
process der Rasse. Ibidem. 

Nordenholz: Ueber den Mechanismus der Gesell¬ 
schaft. Ibidem. 

Thurnwald: Zur rassenbiologischen Bedeutung von 
Hammarubis Familien-Gesetzgebung. Ibidem. 

v. Hartmann: Die Abstammungslehre seit Darwin. 
Annalen der Naturphilosophie 1903, S. 285. 

v. Hartmann: Mechanismus und Vitalismus in der 
modernen Biologie. Archiv für System. Philo¬ 
sophie 1903, Jahrg. IX. 

v. Ehrenfels: Beiträge zur Selectionstheorie. Annalen 
der Naturphilosophie 1903, S. 71. 

johannsen: Ueber Erblichkeit in Populationen und 
in reinen Linien. Jena, Fischer, 1903. 68 S. 

Toulouse et Duprat: Influence du moral sur le 
physique. Revue de Psychiatrie etc. 1904, Nr. 1. 

Rabaud: L’atavisme et les phenomenes teratologiques. 
Bull, de la Soc. d’Anthropol. de Paris 1903, Nr. 4. 

Contague: Sur les facteurs elementaires de There- 
dite. G. R. des Seances de lAcad. des Sciences. 

1903, 2. semestre. 

Camus: Accumulation des stigmates physiques chez 
un degenere. C. R. hebdomadaire des Seances 
de la Societe de Biologie 1903. 

Manouvrier: Conclusions generales sur l’anthropo- 
logie des sexes et applications sociales. Revue 
de TEcole d’Anthropologie 1903, Dec. 

Petit: Les alienes dits criminels. These de Paris 
I903- 

Orth: Die Bedeutung der Erblichkeit für die Patho¬ 
logie. Vortrag. Ref. Münch, med. Wochenschr. 

1904, Nr. 4. 

Grueffner: Kerirte Zähne in der Nase als Neben¬ 
befund bei congenitaler Lues. Ibidem. 

Neugebauer: Mann oder Weib? Sechs eigene Be¬ 
obachtungen von Scheinzwitterthum und „erreur 
de sexe“ aus dem Jahre 1903. Centralbl. für 
Gynäkologie 1904, Nr. 2. 

Fein: 2 Fälle von angeborenem Kehlkopfdiaphragma. 
Wiener klinische Rundschau 1903, Nr. 52. 

Kleinwächter: Ein bisher noch nicht beobachteter 
Defekt im Genitalsystem. Wiener medizin. Presse 
1903, Nr. 52. 

Kaiser: Wöchnerin mit Polymastie. Ref. Münchner 
med. Wochenschr. 1904, Nr. 4. 

Strauss: Ueber einen Fall von Atresia vaginae. 
Ref. ibidem. 


Ranke: Ueber Himmessung und Himhorizontale. 
Corresp.-Blatt der deutschen Ges. für Anthrop. 
etc. 1903, Nr. 12. 

Bi r kn er: Beiträge zur Rassenanatomie der Gesichts- 
weichtheile. Ibidem. 

Gaupp: Zum Verständniss des Säuger- und Menschen¬ 
schädels. Ibidem. 

Tschepourkovsky: Ueber die Vererbung des Kopf¬ 
index von Seiten der Mutter. Ibidem. 

Waldeyer: Ueber Schädelvariationen. Ibidem. 

Klaatsch: Demonstration eines Unterkiefers mit 4 
Molaren. Ibidem. 

Manheimer - Gomez: The abnormal children in 
Italy. The Journal of Mental Pathologie 1903, 
Nr. 2—3. 

Robinovitch: Suicidal and Homicidal Acts (Forts.) 
Ibidem. 

Mariani: La degenerazione criminosa nella discen- 
denza degli alienati. Riv. mensile di psich. for. 
etc. 1903, ottobre. 

Coscella: II pelo nella specie unano. Ibidem. 

Marandon de Montyel: Obsessions et Impulsions. 
Archives d’anthrop. crim. etc. 1904, fevr. 

Zarricot: Les degeneres et la determination de la 
taille par les procedes osteometriques. Ibidem. 

Ingegnieros: Simulation de la folie. Ibidem. 

Vaillant: Folie et divorce. Diss., Bordeaux 1903. 

Cazenove: Les femmes dans la foule, leur respon- 
sabilite criminelle. Diss., Bordeaux 1903. 

Lecalve: Le vol au debut de la paralyse generale. 
Diss., Bordeaux 1903. 

Stoöss: Betrachtungen über Kriminalpolitik. Archiv 
für Kriminalanthrop. etc. Bd. 14, H. 3 u. 4. 

Kratter: Erfahrungen über einige wichtige Gifte und 
deren Nachweis (Forts.) etc. Ibidem. 

v. Sehrenck-Notzing: Ein casuistischer Beitrag zur 
forensischen Würdigung des Schwachsinns. Ibid. 

Hinterstoisser: Meinungsdifferenzen der sachver¬ 
ständigen Psychiater. Ibidem. 

v. Manteuffel: Spiel und Wetten bei Pferderennen 
im französischen Strafrecht. Ibidem. 

Hahn: Mord an einem 5 jährigen Knaben. Ibidem. 

(Fortsetzung folgt) 


Personalnachrichten. 

— Heidelberg. Ausserordentl. Prof. Dr. Franz 
Nissl an der Universität Heidelberg wurde zum 
ordentl. Prof, der Psychiatrie und Director der Irren¬ 
klinik daselbst ernannt. 

— Stuttgart. Director Dr. Kölle (Pfullingen) 
zum psychiatrischen Referenten bei dem Medicinal- 
collegium in Stuttgart ernannt. 


Das Nährpräparat Hygiama. 

(Fortsetzung.) 

K1 e m p e r e r le ) schreibt: Unter den künstlichen 
Nährmitteln, welche zur Verbesserung des Ernährungs¬ 
zustandes mit Vortheil zu verwenden sind, nimmt 


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184 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 20. 


Theinbardt’s Hygiama eine hervorragende Stellung 
ein. Mit seinem hohen Gehalt an löslichen Kohlen¬ 
hydraten (49%) und Fetten (10%) neben beträcht¬ 
lichen Eiwetssmengen (2 1%) und Mineral bestand theilen 
stellt es eine Gesammtnahrüng dar, von der der 
Organismus ausschliesslich erhalten werden könnte. 
Langjährige Erfahrung hat gezeigt, dass es wohl- 
bekömmlich und leicht verdaulich ist, so dass es 
sich in ärztlichen Kreisen ziemlich eingebürgert hat.“ 

Hempt 17 ) hat Hygiama in schweren Krank¬ 
heiten verschiedenster Art gegeben. Dabei wurde die 
Ernährung in den ersten Krankheitstagen fast aus¬ 
schliesslich mit Hygiama bestritten, hernach wurde es 
breiigen Milchspeisen beigemengt, beim Uebergang 
zu gemischter Kost als Zwischenmahlzeit gereicht. 
Es wurde ausnahmslos gern genommen, selbst bei 
Appetitlosigkeit, wo alles andere verweigert wurde, 
und gerade bei schwer affidrtem Magen und Darm, 
wo andere als flüssige Nahrung ausgeschlossen ist, 
konnten die günstigsten Erfahrungen mit Hygiama 
gemacht werden. Entgegen der gewöhnlich voll¬ 
ständigen Geschmacklosigkeit anderer Präparate reizt 
es durch seinen Gfchalt an wohlschmeckendem aro¬ 
matischem Theobromin die Geschmacksnerven und 
erzielt ausser dem ernährenden einen sofort con- 
statirbaren sümulirenden Effect auf den Oiganismus. 

O. Müller 18 ) schreibt über Hygiama: 

„Ich habe dieses Präparat seit mehreren Jahren 
vielfach angewendet, wo ich eine bestehende Unter¬ 
ernährung corrigiren und den vorhandenen Verlust 
an Fett und Muskelsubstanz ersetzen wollte. Zu 
diesen Fällen zählte ich ganz besonders Frauen in 
der Schwangerschaft, welche infolge unstillbaren Er¬ 
brechens in ihrer Ernährung wesentlich herabgesetzt 
waren, und fand hierbei das Hygiama unter der Zahl 
der übrigen Präparate in dominirender Stellung. Mir 
ist speciell ein Fall in der Erinnerung, wo bei 
retroflectirtem gravidem Uterus so andauernd das 
Erbrechen bestanden hatte, das auch nach der Auf¬ 
richtung nicht gestillt werden konnte, dass die vorher 
wohl und blühend aussehende 26 jährige Patientin voll¬ 
ständig abgemagert und unfähig war, zu gehen, oder sich 
auch nur aus der liegenden Stellung zu erheben. Nach 
erfolgloser Anwendung verschiedenster concentrirter 
Nahrungsmittel, unterstützt von medikamentöser Be¬ 
handlung, brachte gerade Hygiama eine auffallende, 
fast plötzliche Veränderung hervor. Das Erbrechen 
liess nach und die Kranke erholte sich bald so gut, 
dass schon nach ca. 6 wöchentlichem Gebrauche alle 
übrige Kost gut vertragen wurde, und die letzten 
Spuren der bestandenen Abmagerung bald völlig 
verschwanden. 

Ich komme deshalb in ähnlichen Fällen stets auf 
Hygiama zurück und finde diese Wirkung immer 
wieder von neuem bestätigt“ 

Kraus 20 ) Kinderarzt, hat Hygiama mit grossem 
Erfolge bei Kindern angewendet; bei zwei Rhachi- 


tikera trat eine sichtliche Besserung der Er¬ 
scheinungen ein, die Craniotabes nahm ab, die 
Fontanellen zogen sich zusammen, die Verdauung 
regelte sich. Bei Kindern, die an chronischem 
Magencatarrh und nervöser Dyspepsie litten, konnte 
man bald eine Vermehrung des Appetits beobachten. 
Bei anämischen und chlorotischen Kindern besserte 
sich nach längerem Gebrauch von Hygiama das 
blasse Aussehen der Schleimhäute. 

Auch bei stillenden Frauen bewährte sich ihm 
das Mittel. 

Schürmayer* 2 ) wendet es in ausgedehnter 
Weise in seiner Klinik bei Gallen stein kra nken 
an; er empfiehlt es aüf Grund mehrjähriger Er¬ 
fahrungen auf diesem speciellen Gebiete dringend. 
Da bei solchen Kranken Fleischdiät die Koliken 
vermehrt und die Complicationen steigert, eine 
vegetabilische Diät aber bei der Einseitigkeit dieses 
Regimes und bei der auffälligen Vermehrung der 
ohnedem stagnirenden Ingusta des Darms schwer 
durchführbar ist, Milchdiät allein nicht ausreicht und 
ihr Einerlei den zumeist nur geringen Appetit ganz 
schwinden lässt, so kommt hier Hygiama mit der 
Milchkomponente und dem relativ geringen, für alle 
Fälle sehr leicht zu verdauenden Fettgehalte sehr 
zu statten, zumal sich in die Darreichungsform des 
Hygiamas Abwechslung bringen lässt. 

„Auch in der Periode der Nachkur erweist sich 
bei allen Patienten, die eine Behandlung durchgemacht 
haben, die „Hygiama-Diät“ als äusserst zuträglich 
und rationell. 

Das Schwinden der Magen- und Darmkatarrhe 
wird befördert, womit die vom Darm ausgehende 
Infecrionsqueile eliminirt wird; sodann macht sich die 
günstige Wirkung der vegetabilischen Komponente 
des Hygiama sichtlich geltend, indem die Neigung 
zu Reddiven entschieden hintangehalten wird. 
Schliesslich tritt eine Gewichtszunahme der häufig 
sehr entkräfteten Patienten ein, die wiederum indirekt 
dem Körper zu Gunsten kommt, indem nach 
Kräftigung des Allgemeinzustandes die Disposition zu 
Katarrhen des Verdauungstraktes schwindet 

Auch scheint trotz des Zusatzes von Kakao in 
Hygiama eine stopfende Wirkung nicht allgemein be¬ 
merkbar zu werden. Wenn sie sich aber in den 
ersten Anfängen zeigt, ist sie durch geeignete, nicht 
drastisch wirkende Mineralwässer oder noch besser 
durch geeignete Spezies-Infuse leicht zu heben; man 
kann auch sehr leicht in einem solchen Infuse das 
Pulver selbst geben, wenn die Neigung zur Obstipation 
habituell geworden ist.“ (Fortsetzung folgt.) 


9 V* Diese Nummer enthält einen Prospekt der 
Firma: 

Camera-Grossvertrieb „Union“ Hugo 
Stöckig & Co., Dresden-A., 
worauf wir die geschätzten Leser hierdurch hinweisen. 


Für den redactkmellen Tbeil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Br es ler, Lnblinitr (Sch.enen). 

Erscheint jeden Sonnabend •*- Srhltss der Inseraten annahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marli old in Halle a. S 

Hememann’acbe Bncbdrnckerei (Gebr. Volff) in Halle a. S. 


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Psychiatrisch- Neurologische Wochenschrift. 

Redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Lublinitz (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834. 

Nr. 21. 20. August. 1904, 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten. 


Aus der psychiatrischen Universitätsklinik in Zürich (Burghölzli). 

Zur Psychologie hysterischer Dämmerzustände und des Ganser’schen Symptoms. 

Von Dr. Fr am Rikliti, I. Assistenzarzt. 


T n den Arbeiten der letzten Jahre über hysterische 

Dämmerzustände und das Ganser’sche Symp¬ 
tom des Vorbeiredens kommt namentlich die diagno¬ 
stische Stellung der Fälle — ob Hysterie oder Kata¬ 
tonie — in Betracht, zweitens die Simulationsfrage 
und das Vorkommen der genannten Zustände bei 
kriminellen Fällen, endlich die Psychologie dieser 
Zustände. Es sei bemerkt, dass einzelne Autoren 
den Begriff des Ganser’schen Symptoms in ihren 
Arbeiten recht weit ausdehnen. 

Wir konnten, seit den Jung’schen Publikationen 
aus unserer Klinik 1 ), noch mehrere derartige Fälle 
beobachten. 

Die diagnostische Stellung derselben, d. h. die 
Zugehörigkeit zur Hysterie, scheint mir keinen Zweifel 
zuzulassen. (Natürlich finden wir nebenbei das 
Symptom des Vorbeiredens bei manchen von unsem 
Katatonikern, wie schon früher. Es hat aber einen 
andern, weniger systematischen Charakter.) 

Ferner ist nur einer der Fälle kriminell, und die 
Stellung zur Simulation ist in allen Fällen recht klar 
zu bestimmen. 

Endlich scheinen die Fälle auch psychologisch 
von Bedeutung. 

In dieser Beziehung sind mir die Jung ’schen 2 ) 
Arbeiten vorbildlich gewesen. Bei den Fällen West- 
phal’s 3 ), sowie bei vielen in der Litteratur angeführ¬ 
ten Untersuchungsfällen scheint die den Dämmer¬ 
zustand auslösende Ursache ziemlich fassbar. Im 
ersten Fall von Raecke 4 ) wird durch die Be- 

*) s. Litteraturverzeichniss. 

? ) 1. c. 

3 ) I. c. 

4 ) Beitrag zur Kenntniss etc., s. Litteraturverzeichniss. 

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Schreibung ohne weiteres ein solcher Zusammenhang 
nahegelegt. Im Dämmerzustand spricht die Patientin 
von ihrem Mann als von einem Räuber u. dgl., der 
ihr Böses anthut. Man erfährt von der Schwester, 
dass die Frau von ihrem Mann sehr streng behan¬ 
delt, auch geprügelt worden ist (auf Anrathen eines 
Arztes!); sie war schwanger. Aus der Klinik holte 
sie zweimal der Mann heim; sie ging jedesmal ganz 
willig mit. Der Fall ist doch am besten im Sinne 
einer Freu d’schen 1 ) Verdrängung der unangenehmen 
Vorkommnisse mit dem Mann, einer Abspaltung dieser 
Vorstellung von denen, die dem normalen Bewusst¬ 
sein zugänglich sind, zu erklären, wie es Jung 2 ) in 
seinem ersten Fall gethan hat. In der gleichen 
Arbeit äussert Raecke die Ansicht, dass die ganz 
primitive Fragestellung (nach Namen, das Zählen¬ 
lassen bis auf zehn etc.) im Lauf einer ärztlichen 
Untersuchung, namentlich bei Leuten, die in der 
Untersuchungshaft erkranken, eventuell die Vorstell¬ 
ung vom Nichtwissen der einfachsten Dinge sug- 
geriren. 

Ungefähr das Gleiche sagte Henneberg 3 ) 
wieder auf der letzten Psychiaterversammlung in 
Göttingen: Ein häufiges Fragen nach ganz einfachen 
Dingen sei nicht empfehlenswerth, da die betreffen¬ 
den Personen dadurch zur Simulation oder Aggra¬ 
vation verleitet werden. 

Wir werden sehen, dass die psychologische Ana- 

*) Breuer und Freud. Studien zur Hysterie. Wien 
1895. s * auc h Freud in Löwenfeld, Psychische Zwangs¬ 
erscheinungen. 

*) Ein Fall von hyster. Stupor etc., s. Litteraturverzeichniss. 

*) s. Litteraturverzeichniss. 

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i86 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 


[Nr. 21. 


lyse in unsern Fällen andere Deutungen zulässt, was 
der obigen Annahme bei manchen andern Fällen 
keinen Eintrag thun soll. 

Westphal 1 ) legt (pag. 66), wie Siemerling, 
den er dort anführt, Gewicht auf die Amnesie für 
den Dämmerzustand, um Simulation ausschliessen zu 
können. Ebenso wird in Raecke’s dritter Arbeit*) 
die Ansicht Siemerling’s 3 ) citirt: 

„Es ist unmöglich, in einem solchen Fall (ähn¬ 
licher Fall von hyster. Psychose) bei jedem einzelnen 
Gedächtnissdefekt mit aller Sicherheit entscheiden zu 
wollen, wieviel bei seinem Zustandekommen auf 
Rechnung eines beabsichtigten Nichtwissenwollens 
oder Leugnens zu setzen ist. Die genaueste, ein¬ 
gehendste Analyse vermag keinen wirklichen Auf¬ 
schluss zu liefern. Immer müssen wir bei derartigen 
Zuständen mit der unumstrittenen Thatsache rechnen, 
dass weitgehende Gedächtnissdefekte und Erinnerungs¬ 
fälschungen als direkter Ausdruck der Geistesstörung 
Vorkommen.“ 

Moeli 4 ) findet in seinem zweiten Fall (Dämmer¬ 
zustand) das charakteristische Danebenantworten, also 
eine Uebereinstimmung mit dem Ganser’schen 
Dämmerzustand, erwähnt aber zugleich, dass auch 
der absichtlich falsch Antwortende, weil er den er¬ 
regten richtigen Vorstellungskreis nicht ganz los 
werden könne, öfter einen ähnlichen Bescheid gebe. 

Auch Vorst er (Stephansfeld) 5 ) nimmt bei einem 
seiner Fälle an, dass, neben dem Dämmerzustände, 
das Vorbeireden als willkürlich erklärt werden müsse. 

In der gleichen Arbeit 6 ) berichtet er eine psycho¬ 
logische Merkwürdigkeit bei seinem Fall V, dessen 
Amnesie sich über 7 Monate erstreckt 7 ): Es gelang^ 
die Thatsache festzustellen, dass diese (objektiven) 
Vorgänge aus der Zeit der retrograden Amnesie 
doch, wenn auch unbewusst, zu dem Vorstellungs¬ 
inhalte des Kranken gehörten: „So hatte er im An¬ 
fang des Dämmerzustandes, als das Bewusstsein tief 
gestört war, in seinen Delirien den Namen seines 
Mitgefangenen Schmidt, der ihn zum Diebstahl ver- 

') 1. c. 

*) Allg. Zeitschr. Bd. 58, p. 445. 

8 ) Siemerling in Friedreich’s Blätter f. ger. Med. Heft 
3. 1900. 

4 ) p. 742, s. Litteraturverzeichniss. 

B ) p- > 73 / 74 » I. c. 

ß ) p. 177 . 

7 ) Vorster meint an jener Stelle, es sei dies die längste 
beobachtete hysterische Amnesie. Der N äf’sche Fall von 
Amnesie (Zeitschrift für Hypnotismus, 1898) erstreckte sich 
aber über 8 Monate; bekanntlich gelang es, dieselbe durch 
Hypnose zu heben. 


anlasst hatte, sehr häufig laut ausgerufen. Etwas 
später, aber noch während des Dämmerzustandes, 
gerieth er, als ihm dieser Name Schmidt zugerufen 
wurde, plötzlich in grosse Wuth, schrie laut: „Der 
gehört tot geschossen“, ein Vorfall, der bewies, dass 
dieser Schmidt in inniger Beziehung zu seinem Affekt¬ 
leben stand.“ Später keine Erklärung, als sich das 
Bewusstsein aufgehellt hatte. Der Name Schmidt 
Hess ihn ganz kalt; ein Träger dieses Namens hatte 
anscheinend zu keinen wichtigen Vorkommnissen in 
seinem Leben Beziehung. 

Raecke 1 ) citirt die Ausführungen von Jan et 2 ), 
welcher berichtet, dass der geschickt abgelenkte 
Kranke in der Zerstreutheit manchmal in Schrift 
und automatischen Worten volle Erinnerung verräth. 

Ganser 3 ) sieht- in seiner letzten Arbeit das 
charakteristische der beschriebenen Zustände in den 
unsinnigen Antworten und in der Bewusstseinsstör¬ 
ung. „Eines psychologischen Erklärungsversuchs des 
ganzen Symptomenkomplexes“, sagt er 4 ), „enthalte 
ich mich heute so gut wie in meinem früheren Vor¬ 
trage, indem ich offen gestehe, dass mir, nachdem 
ich mancherlei Besonderheiten beobachtet habe, jetzt 
erst vieles daran räthselhaft ist. Ich muss auch 
darauf verzichten, hier auf die Erklärung näher ein¬ 
zugehen, die Jung 5 ) ganz kürzlich für die beschriebene 
Bewusstseinsstörung gegeben hat“ etc. 

Jung 6 ) hat in seiner ersten Arbeit die Kennt- 
niss dieser hyster. Dämmerzustände mit Gans er¬ 
schein Symptom namentlich dadurch gefördert, dass 
er die Amnesie für den Dämmerzustand durch Hyp¬ 
nose gehoben hat, mit der bemerkensw r erthen Er¬ 
scheinung, die den Amnesien mit retrograden Theil 
wohl immer zukommt 7 ), dass die Erinnerung an den 
retrograden Theil der Amnesie ziemlich leicht zu 
wecken war, die Erinnerung an den eigentlichen 
Dämmerzustand aber grösserm Widerstand begegnete. 
Sie kam aber deutlich zum Vorschein unter Anwen¬ 
dung zweier Kunstgriffe : Doppelte Hypnotisirung von 
J a n e t 8 ) und suggestive Wiederversetzung in die 
frühere Situation, die von Forel im Näf’schen 
Amnesiefall 9 ) angewendet wurde. 

*) Beitrag etc., p. 126, s. Litteraturverzeichniss. 

*) Ja net. Sur l’^tat mental des hysteriques. 

*) Zur Lehre etc., s. Litt.-Verzeichn. 

4 ) 1. c., p. 41. 

A ) Ein Fall von hyst. Stupor, p. iioff, s. Litt.-Verzeichn. 

«) 1. c. 

7 ) In meiner Arbeit über „Hebung epilept. Amnesien durch 
Hypnose“. Journ. f. Psychologie u. Neurol. Bd. I. Heft 5 
und 6, konnte ich dies auch bei einem Epileptiker nach weisen. 

8 ) Janet, L’automatisme psychologique p. 87. 

•) 1. c. 


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I 9 ° 4 -] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


187 


Es Hess sich in dieser Hypnose nachweisen, dass 
die Annahme einer unbewussten, aber sichern Orien- 
tirung auch in der Zeit des tiefsten Dämmerzustandes 
richtig war und dass die anscheinend schwere Stör¬ 
ung des psychischen Processes bei solchen Dämmer¬ 
zuständen nur den Bereich des Bewusstseins betrifft, 
während die unbewusste Geislesthätigkeit wenig oder 
gar nicht in Mitleidenschaft gezogen ist 

Der psychologische Mechanismus des Zustande¬ 
kommens solcher Störungen Hess sich im Sinne einer 
Verdrängung von Breuer und Freud erklären. 
Das Nicht-mehr-wissen war ein theils unbewusstes, 
theils halbbewusstes Nicht-wissen-wollen. 

In seiner Arbeit über Simulation von Geistes¬ 
störung zeigt Jung namentlich am Fall J., dass die 
anfänglich gewollte Simulation eines Exploranden 
selbständig, von der bewussten Correktur unabhängig 
wurde. Jung bezeichnet den dadurch zustandekom¬ 
menden Ganser-Raecke ’schen Dämmerzustand 
sehr treffend als eine „ins Unterbewusste gerathene 
Simulation“. 

Er weist in der Arbeit nach, dass Affekte das 
Auftreten von psychischen Automatismen im weite¬ 
sten Sinne begünstigen, und dass wahrscheinlich auf 
gleiche Weise auch der Ganser’sche Komplex bei 
Untersuchungsgefangenen zu erklären und 
als eine der Simulation nah verwandte, aber auto- 
matisirte Erscheinung anfzufassen sei. 

Fall I. 

Ich möchte unsere letzten Beobachtungen mit 
einem Fall beginnen, der einen Untersuchungs¬ 
gefangenen betrifft. 

Wir bekamen zur Begutachtung am 9. Juni 1904 
den 41jährigen Fuhrhalter Johann S., verheirathet, 
Vater von 5 Kindern, nicht vorbestraft, nachdem er 
sich seit 4. Juni wegen Betrug und Pfändungsbetrug 
in Untersuchungshaft befunden hatte. 

S., dessen Fuhrhalterei seit dem Züricher Bau¬ 
krach 1897 zurückgegangen war, und der an Miethem, 
Baumeistern, die in Concurs geriethen, sowie durch 
Unglück im Stall viel Geld verloren hatte, kaufte im 
Juli 1903 einem Pferdehändler — dessen Ehrlichkeit 
auch nach den Akten dem nicht umsonst be¬ 
kannten Ruf entspricht — zwei Pferde ab. Als 
Theilzahlung gab er diesem Händler M. ein älteres 
Pferd, für den Restbetrag stellte er Wechsel aus, die 
er später nicht einlösen konnte. Dass er die Pferde 
gekauft habe zu einer Zeit, wo er wusste, dass er 
bald zahlungsunfähig sein werde, wie der Kläger, 
der andere Pferdehändler, behaupten wollte, ist 
wahrscheinhch falsch, hingegen suchte er das bessere 

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der beiden Pferde durch einen Scheinverkauf im 
August 1903 der Pfändung zu entziehen. Verhaftet 
wurde • S. erst, als dieser Thatbestand schon ziemlich 
fest stand, S. aber und sein Mitangeschuldigter P., 
ein Pferdehändler und Metzger, den Thatbestand 
noch leugneten. Ueber die übrigen Vorfälle zur Zeit 
der That gab S. zum Theil sehr genaue Auskunft, 
so dass z. B. ein Dämmerzustand zur Zeit der That, 
oder etwas ähnliches, gar nicht in Frage kommt. 
Das Delikt selbst wollte er nicht zugeben; er ver¬ 
drehte den Sachverhalt zu seinen Gunsten. 

Noch in der Haft (am 5. Juni) und bei den 
Verhören fiel bei Johann S. keine geistige Veränder¬ 
ung auf. Am 7. Juni machte der Mitangeklagte ein, 
freilich nur theilweises, Geständniss in Gegenwart 
unseres Exploranden. Am 8. Juni wurde P. allein 
verhört und legte ein vollständiges Geständniss ab. 
Ob unser Explorand davon erfuhr, resp. mehr er¬ 
fuhr, als was P. schon am 7. Juni zugab, weiss ich 
nicht. Am 9. Juni morgens fiel er dem Gefangen¬ 
wart durch sein Benehmen auf und als er am Nach¬ 
mittag verhört werden sollte (man erinnere sich der 
üblichen Fragen nach den Personalien im Beginne 
eines Verhörs), gab er ganz „verkehrte“ Antworten. 
Der Untersuchungsrichter hat darüber — im Akten¬ 
stil — folgendes sehr werthvolle Protokoll aufge¬ 
nommen : 

JohannS.: „Ich habe gar kein Pferd gekauft von 
einem Pferdehändler M. in W. Ich kenne keinen 
M. Ich habe noch nie Pferde für mich gekauft. 
Ich bin ja Knecht (!), gegenwärtig an der Badener¬ 
strasse (stimmt nicht; er wohnt aber im Stadtkreis, 
in dem sich diese Strasse befindet). Wie mein Meister 
heisst, weiss ich nicht. Ich heisse Johann. Meinen 
Familiennamen weiss ich nicht. Ich bin nicht ver¬ 
heirathet (!), ich war noch nie verheirathet. Eine 
Elise A. (Name der Frau) kenne ich nicht. Ich habe 
keine Kinder.“ 

Nach Vorführung des Mitangeschuldigten P.: 
„Ich kenne diesen Mann nicht. Ich weiss nicht wie 
er heisst. Ich glaube nur, ich habe ihn schon ge¬ 
sehen, er kommt mir bekannt vor. Ich weiss nicht 
in was für einem Hause wir hier sind. Wir sind in 
Zürich. Wir haben jetzt Februar, ich glaube 1898 
(es ist der 9. Juni 04). Ich weiss nichts davon, 
dass ich S. heisse. Ich weiss nicht an welchem 
Tage ich geboren bin, auch nicht in welchem Jahr. 
Ich weiss nur, dass ich 28 Jahre alt bin“ (er ist 
41 Jahre alt). 

Explorand weiss also hier Dinge nicht, über die 
er auch beim Untersuchungsrichter schon oft und 
richtig Auskunft gegeben hat. Es ist also nicht ein 

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i88 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 21 


simulirtes Nichtwissen zur Verheimlichung eines That- 
bestaudes, was S. bisher gesagt hat. Es könnte sich 
nur um Simulation von Geistesstörung überhaupt 
handeln, sofern man den Simulationsverdacht auf¬ 
recht erhalten wollte. 

Gehen wir auf die Vorgeschichte zurück. 
Der Vater und der Grossvater sollen an ganz 
ähnlichen transitorischen Bewusstseinstrübungen 
gelitten haben, wie wir sie bei unserm Exploranden 
sehen, während Anfälle epileptischer Natur oder 
andere geistige Veränderungen entschieden in Ab¬ 
rede gestellt werden. Ein Vatersbruder beging mit 
70 Jahren Suicid, bald darauf auch dessen Sohn, 
letzterer, nachdem er seit dem Suicid des Vaters, 
1V2 Jahre lang geisteskrank gewesen war. Eine 
Schwester des Exploranden war in jüngeren Jahren 
4 Wochen lang Patientin in einer Irrenanstalt; seit¬ 
her ist sie Krankenschwester, ohne Reddiv. Eine 
zweite Schwester hatte nach einem Verdruss während 
längerer Zeit Anfälle von Bewusstseinstrübungen, die 
dann jahrelang aussetzten, sich jedoch letzthin nach 
einem neuen Verdruss wiederholt haben sollen. Eine 
dritte Schwester, jetzt verheiratet und angeblich ge¬ 
sund , war als Mädchen zwei Jahre lang „verstört“, 
konnte aber zu Hause verpflegt werden. Eine Tochter 
der Vatersschwester wurde in jungen Jahren geistes¬ 
krank und befindet sich seither in einer Pflegeanstalt 

Für Imbecillität, Alkoholismus, Epilepsie, auch für 
Katatonie, resp. Dementia praecox geben weder die 
Anamnese, noch die Untersuchungen, seit Explorand 
wieder klar ist, irgendwelche Anhaltspunkte. Nega¬ 
tivismus im Sinne der Dem. praecox kann nicht 
nachgewiesen werden, auch nicht Katalepsie; Vorbei¬ 
reden kam nur im Dämmerzustand vor, und in einer 
ganz genau fassbaren Form, wie wir noch sehen 
werden. 

Der Hausarzt des Exploranden, der ihn seit 
Jahren ziemlich genau kennt, berichtet, dass der sehr 
arbeitsame und nüchterne Explorand wohl körper¬ 


M i t t h e i 

— XI. Versammlung des Nordostdeutschen 
psychiatrischen Vereins, zu Danzig am 27. Juni 
1904. (Referent Dr. Wickel- Dziekanka.) 

Anwesend die Herren: Berg-Neufahrwasser, 
Eschricht-Danzig, Firnhaber-Zoppot, Freymuth-Danzig, 
Gluszszewski-Conradstein, Hankeln-Wormditt, Heinke- 
Lauenburg, Heinze-Neustadt W.-Pr., Herse-Neustadt 
W.-Pr., Kayser-Dziekanka, Köstlin-Danzig, Krebs- 
Allenberg, Krömer-Conradstein, Meschede-Königsberg, 

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licher Arbeit, aber nicht den geistigen Anstrengungen 
der letzten Jahre gewachsen sei. 

Die Frau berichtet von einer Abnahme des Ge¬ 
dächtnisses des Exploranden in den letzten zwei 
Jahren, in welche das Delikt fällt. Sie ist aber 
Partei in der Untersuchungsangelegenheit. Der Haus¬ 
arzt will nichts von einer solchen Abnahme des Ge¬ 
dächtnisses wissen j und eine schwere Prügelei vor 
3 Jahren soll den Exploranden in seinen geistigen 
Fähigkeiten nicht beeinträchtigt haben. Wir glauben 
der Frau gerne, dass ihn die ökonomischen Sorgen 
unbesinnlicher gemacht haben, aber sonst konnten 
auch wir keine organischen Gedächtnissstörungen 
naehweisen, im Gegentheil konnte er in den Ver¬ 
hören recht genaue Auskunft geben über das Meiste, 
was z. B. zur Zeit der That passirt ist. Für eine 
Paralyse haben wir auch im körperlichen Befund 
keinen Anhaltspunkt. 

Am 1. Septbr. 1903 — also in der Zeit nach 
Begehung des Betrugs, musste Explorand in Schuld- 
beitreibungssachen vor dem Friedensrichter erscheinen. 
Nach Angaben der Frau war, als er wegging, nichts 
Abnormes an ihm zu bemerken. Beim Friedens¬ 
richter gerieth er in einen Dämmerzustand, ähnlich 
dem in der Untersuchungshaft ausgebrochenen. Der 
Hausarzt berichtete mir (am 27. Juni 04) darüber 
folgendes: Der Zustand dauerte etwa 14 Tage. In 
den ersten Tagen war Explorand aufgeregt, w r ollte 
fortlaufen, schlief nicht. Nachher sass er mehr 
stumpf brütend im Lehnstuhl. Er gab verworrene 
und unsinnige Antworten. Er w r ar oft nicht orientirt. 
Er meinte z. B. mitten am Tage, es sei morgen früh, 
er müsse aufstehen und die Pferde füttern und vieles 
Aehnliche. Nach Ablauf dieses Zustandes war nichts 
Auffallendes mehr am Exploranden zu bemerken. 
Hingegen besteht für diesen Dämmerzustand seither 
Amnesie mit einem retrograden Theil, so 
dass er z. B. auch an die schriftliche Vorladung vor 
den Friedensrichter sich absolut nicht erinnert. 

(Fortsetzung folgt.) 


1 u n g e n. 

Meyer-Königsberg, Mootz-Schwetz a. W., Pow-els- 
Kortau, Puppe-Königsberg, Rabbas-Neustadt W.-Pr., 
Rausch-Conradstein, Reinhardt-Conradstein, Sander- 
Graudenz, Schauen-Schwetz a. W., Siemens-Lauen¬ 
burg, Squar-Kortau, Stoltenhoff-Kortau, Tomaschny- 
Treptow a. R., Wickel-Dziekanka. 

Den Vorsitz führen: K ays er-Dziekanka und 
Stoltenhoff - Kortau. Wickel • Dziekanka wird 
zum Schriftführer bestimmt. 

Original frnm 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


189 


1904.] 


Kayser-Dziekanka begrüsst die Versammlung 
und gedenkt der Verdienste des so plötzlich verstor¬ 
benen Geheimrath Professor Dr. Jolly um die Psy¬ 
chiatrie. Der Verein hat einen Kranz mit Schleife 
und Widmung am Sarge niedergelegt Die Ver¬ 
sammlung erhebt sich, um das Andenken des Ver¬ 
storbenen zu ehren. 

Ihr Ausbleiben haben entschuldigt und Grüsse 
gesandt: von Blomberg-Dziekanka, Dubbers-Allenberg, 
Heise-Kulm, Knust-Dziekanka, Kruse-Danzig, Lewald- 
Obemigk, Plange-Dziekanka, Scholz-Meseritz, War- 
schauer-Inowrazlaw, Westphal-Greifswald. 

Es folgen geschäftliche Mittheilungen. 

Meyer-Königsberg schlägt vor, die Versamm¬ 
lung im nächsten Jahre in Königsberg abzuhalten. 

Sander- Graudenz schlügt Graudenz vor. Es wird 
als nächstjähriger Versammlungsort wieder Danzig an¬ 
genommen. 

Als Geschäftsführer für 1905 werden vorgeschlagen 
und gewählt: Dubbers-Allenberg und Schauen- 
Schwetz. 

Vorträge: 

I. Mesched e- Königsberg: Ueber eine 
eigenthü mlich cyklische Verlaufsweise 
psychotischer Symptome. 

(Erscheint in dieser Wochenschrift als Original.) 

Discussion: 

Krömer-Conradstein fragt, ob auch regelmässige 
Temperaturmessungen stattgehabt haben, welches Er- 
gebniss dieselben etwa hatten, ob auf Plasmodien 
untersucht, ob Chinin gegeben wurde. 

Meschede -Königsberg hat Temperaturerhöh¬ 
ungen bei der Kranken, abgesehen von gelegentlichen 
Febricitationen infolge intercurrenter Unpässlichkeit, 
nicht beobachtet. Plasmodien wurden nicht gefunden. 
Chinin war ohne Erfolg. 

Siemens-Lauenburg: Ein gewisser mehr oder 
weniger regelmässiger Anstieg und Nachlass, ein 
Wechsel zwischen Erregung und Verworrenheit einer¬ 
seits und Ruhe und grösserer Orientirtheit anderer¬ 
seits kann bei verschiedenen Psychosen zur Beob¬ 
achtung kommen. Nicht selten geschieht dies bei 
der Dementia praecox. Um einen Fall von Dementia 
praecox dürfte es sich in dem mitgetheilten Falle 
handeln. Aehnliches beobachten wir z. B. auch bei 
der Dementia paralytica. Hier kommt mitunter ein 
täglicher Wechsel zwischen erregter Euphorie und 
Depression vor. Es ist bei diesem Symptom vielleicht 
an Toxinwirkung zu denken. Die Ansammlung der 
Toxine ruft die Revolution hervor, die Wirkung der 
Körperschutzmaassregeln, die Antitoxinbildung offen¬ 
bart sich in den Besserungen. Alle diese Fälle 
mit „cyklischen Phasen“ können verschiedenen Krank- 
heitskategorieen angehören. Sie stellen nicht etwas 
Besonderes für sich dar. Es ist bekannt, dass in 
früheren Zeiten der Einwirkung der Mondphasen 
(Koster) eine Bedeutung zugeschrieben wurde. 

Meschede - Königsberg betont dem gegenüber 
die Besonderheit seines Falles, der sich von dem in 
den gedachten Krankheitsforinen nicht selten zu 
beobachtenden Symptomenwechsel durch die Regel¬ 
mässigkeit des Turnus doch wesentlich unterscheide und 

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fragt, ob von den anwesenden Herren Collegen ähnliche 
Fälle beobachtet worden seien. 

Krömer-Conradstein will nicht an der Richtig¬ 
keit des vorgetragenen Falls zweifeln, jedoch wäre 
es möglich, dass nicht alle Daten bei dem weit zu¬ 
rückliegenden Falle genau registrirt seien. Er hat 
vielfach ähnliche Zustände gesehen. Es kommt oft 
vor, dass im Verlaufe einer Psychose in gewissen 
Abständen einmal ein besserer Tag oder mehrere 
sich einstellen. Eine besondere Form ist aus 
Meschede’s Fall nicht zu construiren. 

M esched e - Königsberg. Die Eigenart der 
von ihm mitgetheilten Verlaufsweise bestehe gerade 
darin, dass es sich dabei nicht um die vom Herrn 
Vorredner erwähnte mehr oder weniger un bestimmte 
Periodicität des Auftretens gewisser Symptome und 
Symptomencomplexe gehandelt habe, wie sie im 
Verlaufe verschiedener Formen von Geisteskrank¬ 
heiten häufig genug zu beobachten sind, zumal in 
der Epilepsie, insofern in deren Verlaufe die Einzel¬ 
anfälle auch in Gruppen und nach Intervallen perio¬ 
disch wiederkehren, wobei aber sowohl die 
Dauer der Intervalle, als auch die Zahl 
und Reihenfolge der Einzelanfälle in den 
periodischen Gruppen sich sehr variabel 
zu gestalten pflegen — bei allen solchen Perio- 
dicitäten bestehe im Einzelnen grosse Irregularität 
und charakterisirten sie sich somit als irregulär- 
cyklische Verlaufsweisen. In dem von ihm mit¬ 
getheilten Falle habe es sich dagegen um eine 
scharf ausgeprägte Jahre lang in grosser 
Gleichmässigkeit erfolgende Wiederkehr 
einer ganz bestimmten Reihenfolge ganz 
bestimmter Symptome gehandelt und sei die 
Beobachtung durch Jahre lang festgesetzte 
tägliche Aufzeichnungen sicher gestellt. 

Frey m u th-Danzig: Die Kranke litt an mania- 
kalischen Anfällen, welchen Schlaf folgte. Es han¬ 
delt sich nach seiner Ansicht um eine Psycho-Neu- 
rose, Migräne mit Aequivalenten, beruhend auf Auto¬ 
intoxikation. 

Meschede- Königsberg: Die bei der Patientin 
beobachteten Symptome haben keinerlei Anhalts¬ 
punkte für eine solche Annahme ergeben. Bei der 
Patientin sind weder Anfälle von Migräne, noch sonst 
Anomalien auf dem Gebiete des sympathischen Nerven¬ 
systems hervorgetreten. Gerade diejenigen Organe, 
welche in näherem Connex zu dem sympathischen 
Nervensystem stehen, die Verdauungs-, Athmungs- 
und Circulationsorgane sind bei der Patientin durch¬ 
aus normal gewesen und haben in der Regel vor¬ 
trefflich funktionirt, wie denn die Constitution der 
Patientin im Allgemeinen auch keineswegs eine 
schwächlich-nervöse, vielmehr eine recht kräftige ge¬ 
wiesen ist. 

II. Wie k e 1 - Dziekanka: Zur Frage der sta¬ 
tionären Paralyse. 

Unter stationärer Paralyse sind Fälle von Para¬ 
lyse zu verstehen, welche auf einer mehr oder weniger 
weit vorgeschrittenen Stufe der Erkrankung zum 
Stillstand gekommen und einen längeren Zeitraum 
(Jahre) hindurch auf dieser Stufe ohne nachweisbare 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 


[Nr. 21. 


190 


Aenderung stehen geblieben sind. Es wird über 3 
Fälle berichtet, welche seit 8V2, 7 V2 und 5^2 Jahren 
stationär sind. Differentialdiagnostisch wird alko¬ 
holische , posttraumatische und postsyphilitische De¬ 
menz ausgeschlossen. Die Fälle bestätigen, dass auch 
bei echter Paralyse in der That Stillstände für viele 
Jahre eintreten können. Vorwiegend scheint dies der 
Fall zu sein, wenn die Demenz erst einen nicht un¬ 
erheblichen Grad erreicht hat. Bei der Vorhersage 
muss mit der Möglichkeit des Stationärbleibens ge¬ 
rechnet werden. 

Zwei der Kranken (7V2 und 5V2 Jahre stationär) 
werden vorgestellt. (Ausführliche Veröffentlichung 
folgt.) 

Discussion: 

F rey m u t h - Danzig bemerkt, speciell im Hin¬ 
blick auf den einen der mitgetheilten Fälle, in wel¬ 
chem das Leiden mit einem apoplektiformen Anfall 
einsetzte, dass ähnliche Krankheitsbilder auch durch 
wiederholte kleine Apoplexieen zu Stande kommen 
können. Er glaubt, dass Stillstände und Remissionen 
bei Paralyse öfter Vorkommen. 

Wickel-Dziekanka: In dem betreffenden Fall 
sprechen Verlauf und Befund gegen die Annahme 
mehrfacher apoplektischer Insulte. 

M eyer-Königsberg: „Stationäre Paralysen“, wie 
die, über welche der Vortragende berichtet hat, 
ebenso wie Jahre lang anhaltende Remissionen sind 
im Verhältniss zu der enormen Gesammtzahl der 
Paralysen recht selten. 

Einen besonders langsamen Verlauf beobachtet 
man auch bei den Paralysen, welche unter dem 
Bilde einer chronischen progressiven Augenmuskel¬ 
lähmung sich entwickeln. 

Freymuth-Danzig weist auf den langsamen 
Verlauf der Tabes-Paralyse hin. 

W i ck el - Dziekanka: Der Fall mit Fehlen der 
P. S. R. (8V2 Jahre stationär) kann nicht als Tabes- 
paialyse im strengen Sinne aufgefasst werden. Er¬ 
scheinungen der Tabes und ausgesprochene para¬ 
lytische Erkrankung traten in dem betr. Fall gleich¬ 
zeitig auf. 

Siem e ns - Lauenburg : Fälle von stationärer 
Paralyse sind nicht so ganz selten. Berichtet ist 
weniger oft über dieselben. In Anstalten sieht man 
sie öfters. Auch in Lauen bürg ist zur Zeit ein Fall 
in Behandlung, welcher der stationären Paralyse zu- 
gehört. 

Meschede - Königsberg fragt Siemens-Lauen¬ 
burg nach seiner Ansicht über ein Aufsteigen des 
tabischen Degenerationsprocesses vom Rückenmark 
zum Gehirn in der paralytischen Geisteskrankheit. 

Siem eil s- Lauenburg: Es ist eine auf- und ab¬ 
steigende paralytische Erkrankung zu unterscheiden. 
In dem einen Fall geht die Tabes der Paralyse vor¬ 
aus. Auch bei der Tabes können intercurrent 
manische und depressive Zustände eintreten, welche 
sich wieder verlieren. Schliesslich kommt es, wie bei 
der gewöhnlichen Paralyse, zur Demenz. In den 
Fällen von Paralyse, bei denen die Himsymptome 
zuerst auftreten, erkrankt das Rückenmark ebenfalls, 


aber meist in der Form der gleichzeitigen Degene¬ 
ration der Hinterstränge und der Keilstränge. 

Meschede - Königsberg weist darauf hin, dass 
die erste Beobachtung von Rückenmarkdegene¬ 
ration in den mit psychischen Symptomen be¬ 
ginnenden Fällen von allgemeiner Paralyse von ihm 
im Jahre 1865 gemacht und im Januar 1866 im 
Centralblatt veröffentlicht sei und bemerkt des Wei¬ 
teren : Die jetzt mehr und mehr zu Tage tretende 
Gepflogenheit, die paralytische Geisteskrank¬ 
heit (allgemeine fortschreitende Paralyse der Irren) 
einfach mit „Paralyse“ zu bezeichnen, kann leicht 
zu Missverständnissen führen. Vor längerer Zeit, 
vor ca. 45 Jahren, ist allerdings von einem s. Z. 
renommirten Verfasser eines psychiatrischen Lehr¬ 
buchs, Prof. Neumann-Pöpelwitz, der Vor¬ 
schlag gemacht worden, die paralytische Geistes¬ 
krankheit schlechtweg „die Paralyse“ zu nennen; 
aber es ist doch unlogisch, zur Bezeichnung einer 
Special form (eines Special begriffs) das dem all¬ 
gemeinen Begriff zukommende Wort zu gebrauchen, 
also beispielsweise eine bestimmte Form der 
Paralyse mit Paralyse schlechtweg zu bezeichnen, 
obwohl doch noch eine grosse Zahl yon anderen 
Formen von Lähmungen unter den Begriff der Para¬ 
lyse fallen und der Leser daher ohne einen näher 
determinirenden Zusatz nicht wissen kann, welche 
Form von Paralyse gemeint ist. (Fortsetzung folgt.) 


Bibliographie 

über Kriminal-Anthropologie und Verwandtes. 

I. Quartal 1904. 

Von Medicinalrath Dr. P. Näcke in Hubertusburg. 

(Fortsetzung.) 

Merzbach: Die Lehre von der Homosexualität als 
Gemeingut wissenschaftlicher Erkenntniss. Monats¬ 
sehr. für Harnkrankheiten und sexuelle Hygiene 
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E. A. Spitzka: The execution and postmortem exa- 
minations of the 3 van Worin er Brothers at 
Dannemora. The Daily Medical 1904, Nr. r. 

Selvatice Estensu: Donne uomini. Rivista mens, 
di psich. for. etc. 1904, Nr. 1. 

de Blasio: Urantropo sanguinario. Ibidem. 

deBlasio: Un microtatocefalo fra i microcefali. 
Ibidem. 

Ingegnieros: Simulacion de la locura ante la Socio- 
logia Criminal y Clinica Psiquiatriea. Buenos- 
Ayres 1903, 500 S. 

Raeckc: Das Verhalten der Sprache in epileptischen 
Verwirrtheitszuständen. Münchner med. Wochen- 
schr. 1904, Nr. 6. 

Pick: Zur Lehre von den congenital angelegten Ge¬ 
schwülsten. Vortrag. Ref. ibidem. 

Nobis: Uebcr einen Fall von Irideremia congenita 
totalis oculi utriusque. Vortrag. Ref. ibidem. 

Garswell: Geistesstörung und Trunksucht. Scottish 
Medical and Surgical Journal 1903, Nov. 


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HARVARD UNIVERSITY 




igo4.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. r gi 


Scott: Ueber Hammerfinger und das familiäre Vor¬ 
kommen derselben. Glasgow Med. Journal 1903, 
November. 

Pieron: La connaissance du eaiactere par l’etude 
des associations d’idees. Bull, de Tlnst. General 
Psychol. 1903, dec. 

Ribot: De la valeur des questionnaires en Psycho¬ 
logie. Joum. de psych. etc. 1904, janv.-fevr. 

Stewart: The mental and moral effects of the South 
African War, 1899— 1 9 ° 2 » on the British people. 
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Crime in South Wales. Ibidem. 

Damache: Essai du diagnostic entre les etats de 
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Pick: Ueber einige bedeutsame Psycho-Neurosen 
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dem Gebiete der Nerven- und Geisteskrankheiten. 
Halle, Marhold, 1604. 28 S., M. 0,80. 

E. Spitzka: Postmortem examination of the late 
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Febr. 15. 

Näcke: Adnexe oder Centralanstalten für geistes¬ 
kranke Verbrecher? Psych.-Neurol. Wochenschr. 
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Bleuler: Führen die Fortschritte der Medizin zur 
Entartung der Rasse? Münchner med. Wochen¬ 
schr. 1904, Nr. 7. 

v. Bunge: Alkoholismus und Degeneration. Virchow’s 
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S a 1 o m s o n : Ueber Entartung. Weckbl. van het 
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degli ospedali 1903, Nr. 110. 

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principes. Pol.-anthropol. Revue 1904, März. 

Weiss: Herbert Spencer und sein letztes Buch. 
Ibidem. 

Anonymus: Zeitliche und läumliche Gesetzmässig¬ 
keiten in der Geschichte der Menscheit. Ibidem. 

C. Lombroso: Der Einfluss von Rasse und Freiheit 
auf das Genie. Ibidem. 

Woltmann: Rasse und Genie — Rasse und Religion. 
Ibidem. . 

v. Ehrenfels: Die sexuelle Reform. Ibidem. 

G an hör: Ein casuistischer Beitrag zur Imbeeillität. 
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Mönkemüller: Tortur und Geisteskrankheit. Ibidem. 

Schulze: Ueber moral insanitv. Ein Beitrag zur 
Psychologie des moralischen Irreseins. Ibidem. 

Fist er: Ueber die Gaumengrübchen (fovae pala- 
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Lehmann: Ueber fistula colli congenita. Diss. 
Leipzig 1902. 

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Oesophagus und Trachea. Diss., Leipzig 1002. 

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Portugalow: Ueber Schädelmessungen bei Geistes¬ 
kranken (Russ.). Ref. Centralbl. für Anthropol. 
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Hrdlicka: Divisions of the parietal bone in man 
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Whaby: Abnormal nasal bones. Journ. of anat. and 
physiol. 1903, p. 49. 

Bolot: Notes sur l’apophyse articulaire et l’articu- 
lation tempero-maxillaire chez 1’homme et dans 
la serie animale. Bull, de la Soc. Dauphin d’Ethn. 
et d’Anthr. 1903, p. 29. 

Weinberg: Zur Anatomie des Tonis palatinus. 1902. 
Russ. Ref. in Centralbl. für Anthr. 1904, S. 73. 

Tenchini: Sopra il canale infra-squamoso di Gruber 
Monit. zool. ital. 1903, p. 202. 

Wilga: Die Zähne in anthropologischer Beziehung. 
Russ. Ref. im Centralbl. f. Anthrop. 1904, S. 73. 

A d 1 o f f: Kiefer und Zähne in ihrer Bedeutung für 
die Anthropologie. Wien, zahnärztl. Monatsschrift 
1903, Nr. 8. 

Schimkewitz: Ein Fall von Heterotopie der Haare 
beim Menschen. Russ. Ref. im Centralbl. für 
Anthrop. 1904, S. 75. 

Pittard: Un cas curieux de depigmentation non 
congenitale chez une femme tsigane. L’Anthro¬ 
pologie 1903, p. 317. 

Minakow: Ueber das Ergrauen der Haare. Russ. 
Ref. im Centralbl. für Anthrop. 1904, S. 76. 

Paravicini: II padiglione auricolare in un’ emicen- 
turia di feti. Milano 1903. 

Bechterew und Schukowski: Zur Lehre von der 
Mikrocephalie. Russ. Ref. im Centralbl. f. An¬ 
throp. 1904, S. 81. 

Inossow: Zur Frage nach der Bedeutung mehr- 
früchtiger Geburten. Russ. Ref. ibidem. 

Picaud: Triphalangie du pouce etdugros orteil. Bull, 
de la Soc. Dauphin. d J Ethn. et d'Anthr. 1903, 
P- 43 - 

Ben da: Das Problem der geschlechtsbestimmenden 
U rsachen. Deutsche med. Wohenschr. 1903, 
Nr. 30. 

Orchansky: Die Vererbung im gesunden und krank¬ 
haften Zustande und die Entstehung des Ge¬ 
schlechts beim Menschen. Stuttgart, Enke, 1903. 

Zaleski: Comc possa l’antropologia criminale rilevare 
la colpcvolezza e rinnoecnza di un uomo auche 
dallo scheletro. Archivio di psichiatria etc. 1904, 
fase. I u. II. 

San na-Salaris: La delinquenza negli alienati sardi. 
Ibidem. 

Giuffrida-Ruggeri: Una spiegazione del gergo dei 
criminali al lume dell' etnografia comparata. Ibid. 

Gonzales: Due casi di pervertimento sessuale. Ibid. 

Bergonzoli: La fossetta occipitale media nei pazzi 
e nei pazzi epilettici. Ibidem. 

Bertini: Contributo allo Studio della pazzia simulata. 
Ibidem. 

Roncoroni: Epilessia psichica con amnesia ritardata. 
Ibidem. 

Strassmann: La ,.Rassomiglianza fisica“ in Tribunale 
Ibidem. 

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192 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 21 . 


Foä: II processo al Senators d'Antona. Ibidem. 
Tovo: L’Errore di persona nella Giurisprudenza. 
Ibidem. 

Tovo: Deformita congenita per l’influenza psiöhica 
nella gravidanza. Ibidem. 

de Blasio: La secrezione lattea nei pederasti passivi. 
Ibidem. 

Mamo: Sopra le varie disposizioni le quali posseno 
osservarsi nei solchi e nelle creste che canvergono 
nelle „pretuberantia occipitalis internes“. Archivio 
di Anat. et di Embriol. 1903, fase. I. 

Lesbre et Porcherel: Variations morphologiques 
de la tete sous l’influence du regime Valimentaire. 
Bull, de la Soc. d’Anthrop. de Lyon 1903. 

(Schluss folgt.) 


Personalnachrichten. 

— Kierling-Gugging. Dr. Anton Hockauf, 
ordinirender Arzt der n. ö. Irrenanstalt Kierling- 
Gugging wurde zum Primarärzte an derselben 
Anstalt ernannt. 


Das Nährpräparat Hygiama. 

(Fortsetrung.) 

Hirschlaff 23 ) hat mit Hygiama jahrelange Ver¬ 
suche meist an Nervenkranken angestellt und vorzügliche 
Resultate erhalten. Bei seinem zusagenden Geschmack 
wurde das Mittel auch von den empfindlichsten 
Patienten monatelang gern genommen. Er sah in 
allen Fällen als Wirkung der Verordnung, Hebung 
des Appetits und der Verdauung und Zunahme des 
Körpergewichts, sowie eine bemerkenswerte Besserung 
des Allgemeinbefindens. Er verordnete 2—6 Ess¬ 
löffel Hygiama pro Tag, meist in Milch. Bei Ver¬ 
stopfung durch die Milch wurde das Präparat 
(3—4 Esslöffel) mit Schlagsahne zusammengerührt 
gegeben. Eine grosse Zahl der Patienten, denen das 
Mittel verordnet worden war, nahm es später zu 
dauerndem Gebrauch, weil sie sich von der 
günstigen Wirkung überzeugt hatten. 

Godart-Danhieux 24 ) verwendete Hygiama 
auch als Nährmittel in zwei Fällen. 

Es handelte sich um in der Ernährung sehr 
heruntergekommene Personen, die lange Zeit an 
Magengeschwüren, begleitet von einer äusserst stark 
prononcirten Hyperchlorhydrie litten. Bei beiden 
Kranken wurde Hygiama zuerst während einiger 
Tage als Nährklystier per rectum gegeben, sehr gut 
vertragen und namentlich der betreffende Kranke sehr 
gut bei Kräften damit erhalten, so dass sich der 
Autor sogar veranlasst sieht, am Schlüsse seines 
Referats (wörtlich übersetzt) zu bemerken: 

.. Diese Nährklystiere wurden voll¬ 
ständig absorbirt und sind, wie man aus Obigem 
ersieht, vollkommen fähig, den Patienten während 
einer gewissen Zeit im Gleichgewicht zu erhalten. 


Dieses Verfahren bildet ein werthvolles Hilfsmittel 

bei der Behandlung des Ulcus ventriculi und es 

wäre zu wünschen, dasselbe in viel ausgedehnterer 

Weise, wie dies bis heute geschieht, in der medicin. 

Praxis eingeführt zu sehen.“ 

Nach dem Gebrauch als Nährklystier wurde 
Hygiama in beiden Fällen für längere Zeit neben 
Milch und Eiern als ausschliessliches Nährmittel zur 
Diät verordnet. 

Im ersten beschriebenen Falle verordnete Dr. 
Godart dem Kranken eine Diät von 1 Liter Milch, 
3 Eiern und 2 Suppenlöffel Hygiama täglich — 
und bemerkte dazu wörtlich: „Dieses strenge Regime, 
welchem der Patient unterworfen wurde, zog keinerlei 
Abmagerung nach sich.“ 

Im zweiten Falle verordnete Dr. Godart dem be¬ 
treffenden Patienten (bei Bettruhe) 2 Suppenlöffel 
Hygiama in Milch, 2 Eier und 2 Liter Milch täglich 
— später wird diese Diät erweitert und 5 Eier, 
Milchreis, Erbsenpuree und Brot daneben gegeben —, 
wobei der Patient sich ausgezeichnet gut befindet; 
er ist, wie Autor ausführt, sehr gut wieder hergestellt 
und hat stark an Gewicht zugenommen. 

Schnürer 25 ) hat in seiner Praxis Hygiama be¬ 
sonders bei schwangeren und stillenden Frauen als 
vorzügliches Mittel bewährt gefunden. Auch er hebt 
hervor, dass es mittelst Hygiama gelingt, die Ab¬ 
neigung gegen Milch zu überwinden. Die laktogene 
Wirkung war in mehreren Fällen eine unzweifelhafte. 
Er lobt ferner die Möglichkeit grosser Abwechslung 
in der Darreichung des Hygiamas. 

Rosen 80 ) machte seine Versuche mit Hygiama 
hauptsächlich bei Kranken, die an Lungentuberkulose 
litten, um ihnen recht viel Nährmaterial zuzuführen. 
Ein Tuberkulöser, der Milch allein wegen danach 
auftretenden Durchfalls nicht vertragen konnte, ertrug 
sie mit Hygiama gut; eine Tuberkulöse nahm die 
Milch, die sie nicht mehr trinken wollte, unter Zusatz 
von Hygiama wieder auf, sodass die Ernährung nicht 
gänzlich stockte. Auch bei einem Kranken mit 
Lebercirrhose und Ascites, bei einem mit schwerer 
Myocarditis und einem mit chronischer Nephritis 
wurde *die Ernährung durch Hygiama günstig be¬ 
einflusst. 

K ei bei 26 ) sah ebenfalls schöne Erfolge von der 
Verordnung des Hygiama bei Tuberkulösen. 

Desgleichen ferner v. Szaboky 28 ). Dieser 
konnte bei Tuberkulösen — auch bei vorgeschrittenen 
Fällen — mit hohem Fieber, ausgebreiteten In¬ 
filtrationen, Cavemen fast immer durch längeres 
Darreichen des Hygiama eine Gewichtszunahme 
constatiren; in diesem Falle vertrugen die Kranken 
das Hygiama gut und nahmen es gerne. Auch 
Kranke mit Hämoptoe nehmen unter Hygiama an 
Körpergewicht zu. In zw r ei Fällen von Magen¬ 
geschwür nahmen die Patienten unter ausschliesslicher 
Ernährung mit Hygiama an Gewicht zu und ver¬ 
ringerten sich die Schmerzen. — (Schluss folgt.) 


I'iir den redactionellen 'J heil verantwortlich : Oberar/.t Dr. J. 11 res ler, Lublinitr (Sch esien). 
l.rsrheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inscratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Ileynemann’scho Buchdruckerei (Gebr. ’VVoiiT) in Halle a. S. 


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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift. 

Redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Lublinitx (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834. 

Nr. 22, 7 ~""~ 27. August. 1904. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 

Inserate werden für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitx (Schlesien), zu richten. 


Aus der psychiatrischen Universitätsklinik in Zürich (Burghölzli). 

Zur Psychologie hysterischer Dämmerzustände und des Ganser’schen Symptoms. 

Von Dr. Franz Riklin , I. Assistenzarzt. 

(Schluss.) 


Bei der Aufnahme am Abend des 9. Juni 04 
bot Johann S. noch das gleiche Symptomenbild, wie 
es nach dem mitgetheilten Protokoll schon am Nach¬ 
mittag des gleichen Tages bestand, nämlich ein 
schematisches Nichtwissen, resp. Danebenantw’orten, 
so dass vom Kranken beständig falsche Angaben ge¬ 
macht wurden, aus denen aber ersichtlich war, dass 
die Fragen richtig aufgefasst worden waren. Dabei 
war Explorand meistens über Zeit und Ort nicht 
orientirt und zeigte wechselnde Hautanästhesien. 

Das Krankheitsbild wird ergänzt durch die Beob¬ 
achtung, dass Explorand, seitdem er klar ist, sich 
schwer auf das Delikt und jene Zeit besinnen kann, 
trotzdem er dazwischen frappante Stichproben dafür 
giebt, dass die Sachen der Erinnerung unter andern 
Umständen zugänglich sind. 

Wir lassen kurz einige Beispiele von Antworten 
des Exploranden am Aufnahmetag folgen: 

Ref.: Wo sind Sie? Expld: Im Dolder (das be¬ 
kannte Hotel auf dem Zürichberg), sein Begleiter 
habe ihm das unterwegs gesagt. 

Ref.: Das ist das Burghölzli! Expld.: So? 

Ref.: Wissen Sie, w f as das Burghölzli ist? 

Exp.: Ich habe schon gehört davon. 

Ref.: Wie heissen Sie? Expld.: Johann. 

Ref.: Geschlechtsname? 

Expld.: Ich weiss nicht, wir haben einmal dort 
bei der Mühle gewohnt. (Stimmt für die Jugend- 
zeit.) (i) 1 ) 

Ref.: W r oher sind Sie? 

1 ) Die Zahlen (1) bis (10) beziehen sich auf verschiedene 
einander ablösende Vorstellun^skomplcxe im Verlauf des Dämmer¬ 
zustandes. 

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Expld.: Von Schaffhausen. (Ein andermal: Ich 
bin noch ein ehrlicher Züricher. Explorand ist an 
beiden Orten Bürger). 

Ref.: Heissen Sie nicht S. ? 

Expld.: S. So ? 

Explorand giebt unterdessen dem Oberwärter, der 
ihn zwischenhinein bittet, was er in der Tasche habe, 
abzugeben, all es richtig ab. (2) 

Ref.: Wie alt sind Sie? 

Expld.: 21 Jahre (er ist 41 Jahr alt). 

Ref.: Wann geboren? 

Expld.: Ich weiss den Jahrgang nicht recht, ich 
glaube fast anno 71. (1863.) 

Ref.: Welches Jahr ist jetzt? Expld.: 97. (1904.) 

Ref.: Heutiges Datum? Expld.: Weiss es nicht. 

Ref.: Monat? Expld.: April. (Juni.) 

Vorgestreckte Finger zählt Explorand richtig, ruft 
dann aber, wie um die ganze Fragerei abzulenken: 
Bekomme ich noch kein Wasser? Diese Frage 
wiederholte er im Lauf der Untersuchung noch mehr¬ 
mals, w r enn er sich für die Fragen nicht zu inter- 
essiren schien. 

Es werden ihm Gegenstände vorgezeigt, die er 
benennen soll: 

Eine Brieftasche, worauf gedruckt steht: Taschen¬ 
kalender. 

Explorand: Eine Mappe. 

Ein Schlüssel: richtig benannt. 

Ein Portemonnaie: Geldbeutel. 

Ein Zweifrankenstück: Explorand liest nach langem 
Herumdrehen auf dem Geldstück, hochdeutsch: Zwei 
Franken. 

Ein Fünflire: Explorand nach langem Herum- 

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94 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 22. 


drehen des Geldstücks: Ein Geldstück. Liest darauf: 
Fünf Franken. 

Ein Zehnrappenstück: Nach langem Drehen in der 
Hand: Münz. 

Ref.: Wie viel ist es werth? 

Expld.: Das weiss ich nicht. 

Ref.: 5+10? Expld. (studirt lange herum: 5 

. 17 - 

Ref.: Zählen Sie von 1 bis 10. 

Expld.: 1, 2, 4, 7, 9, 11 . . . 

Das ABC könne er nicht sagen. 

Man zeigt ihm eine Uhr, er benennt sie richtig. 
Man fragt ihn, wie viel Uhr es sei (die Uhr zeigt 
5V4 U.). Explorand behauptet: Halb vier, nicht 
ganz. Er hat also einfach den grossen Zeiger für 
den kleinen genommen. 

Aehnlichen Umstellungen begegnet man bekannt¬ 
lich beim Ganser’schen Symptomenkomplex immer 
wieder. 

Man zeigt ihm eine Zündholzschachtel: Expld.: 
Ich weiss nicht was das ist. 

Ref.: Machen Sie das auf! 

Explorand drückt an der Längsseite der 
Schachtel herum, dann am Deckel und Boden der 
Schachtel, und wie man bei der Aufforderung ver¬ 
harrt, drückt er immer stärker, bis plötzlich die 
Schachtel bricht. 

Man giebt dann dem Exploranden einen Schlüssel, 
er solle die Thüre schliesscn. Er macht die Thüre 
auf und sagt, nochmals zum Schlicssen aufgefordert: 
Ich kann ja nicht schlicssen; wie sollte ich denn 
schliesscn können. 

Auf Befehl steckt er endlich den Schlüssel ins 
Loch. 

Ref.: So, jetzt müssen Sie doch umdrehen. 

Explorand, ganz erstaunt: Umdrehen? 

Ref. frägt weiter: Woher kommen Sie? 

Expld : Ein Herr fuhr mit mir in einer Droschke 
herum, spazieren. (Er wurde in Begleitung eines 
Polizisten in einer Droschke gebracht.) 

Explorand will nicht wissen, wo er eingestiegen 
sei. Er wollte nichts vom Sclnau ( Untersuch ungs- 
gefängniss) wissen, nicht wissen wo, bei welchem 
Hause er eingestiegen sei. Er habe halt wie ein 
Loch im Kopf, er könne sich gar nicht mehr recht 
besinnen. 

Ref.: Morgen müssen Sie das alles wissen. 

Expld. erstaunt: So, morgen? 

Gleichen Abends 9 Uhr wurde Explorand noch¬ 
mals untersucht, als er im Wachsaal zu Bette lag. 

Ref.: W o sind Sie f 


Expld.: Im Burghölzli. Der Mann da (der Wärter) 
habe ihm das auch gesagt. 

Ref.: Woher sind Sie gekommen? 

Expld.: Ein Herr ist mit mir Droschke gefahren. 

Ref.: Wo eingestiegen? 

Expld. nach einigem Besinnen: In der Selnaustr. 
Er will aber nicht wissen, bei welchem Haus. 
Dann fragt er plötzlich: Haben Sie telephonirt nach 
Aarau, dass der Möbelwagen, der heute Morgen 
hingefahren ist, nachts 2 Uhr dort ankomme? Ich 
sagte doch, man solle telephoniren: ich sagte es 
einem Herrn, der dort sass. — Es war am Morgen, 
als wir wegfuhren; in Brugg bin ich selber halt zu¬ 
rückgefahren. 

Die Hallunken dort im Kreis III droben haben 
mir in den letzten 2 Jahren 45000 Frk. gestohlen; 
ich hatte 100000 Frk. Jetzt bin ich nur noch 
Knecht. (5) 

Ref.: Sind Sie verheirathet? 

Expld.: Nein. 

Ref.: Wie alt sind Sie ? 

Expld.: iS. 

Ref. : Haben Sie die Sekundarschule besucht? 

Expld.: Nein, das Polytechnikum; ich wollte 
Doctor werden. Explorand beharrt auf dieser Aus¬ 
sage, trotzdem man ihm erklärt, am Polytechnikum 
könne man gar nicht Doctor werden. 

Explorand hört einem nebenanliegenden Patienten 
zu, der unverständlich für sich murmelt, und meint, 
derselbe rede mit ihm; er fällt dann plötzlich mit 
den Worten ein: Ja, ja, das ist wahr, traurig, traurig, 
traurig. 

Während dieser Luiterhaltung reagirt Explorand 
zeitweise gar nicht auf tiefe Nadelstiche, zeitweise 
reagirt er darauf. 

Ref.: Wie heissen Sie ? 

Expld.: Johann S. (sagt jetzt den Geschlechts¬ 
namen auch). Pu- will aber absolut nicht verheirathet 
sein. (4) 

Ref.: Warum sind Sie eigentlich im Bett? 

Expld.: Ja, wenn ich nicht hier sein kann, gehe 
ich anderswo hin, ich komme schon unter. (5) 

Er steht auf, will sich anziehen, geht an die Thüre, 
klopft an dieselbe. Nachher sagt er wieder: Ich 
gehe nicht zu diesen Toten da. (Er sieht die schla¬ 
fenden Mitpatienten.) (6) 

Ref.: Warum sind Sie eigentlich vorhin aus dem 
Bett gegangen? 

Plxpld.: Pis war mir halt zu heiss. Er hat also 
wohl schon wieder die Vorstellungen von vorher ver¬ 
gessen. (7 j 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


J 95 


1904.] 


Ref.: Aber was macht denn ihre arme, arme 
Frau, wenn Sie gar nicht heimkommen und so tage¬ 
lang herumlaufen etc. ? 

Sobald man versuchte, auf diesem Wege des 
Gemüthes, die Erinnerung an die Frau wachzu¬ 
rufen, statt im Tone der Untersuchung, gegen den 
er sich immer ablehnend verhielt oder falsch ant¬ 
wortete, gelang es. Jetzt ist er auf einmal ver- 
heirathet, ebenso energisch, ja sogar mit drohender 
Geberde, als er vorher nicht verheirathet sein wollte. 
Er lobt seine Frau und erzählt mit entzücktem Ge¬ 
sicht Erinnerungen von der Hochzeitreise. (S) 

Im nächsten Moment fragt ihn Ref. wieder im 
Untersuchungston: Wie heissen Sie? Sind sie ver¬ 
heirathet ? etc. (9) 

Ebenso prompt und ebenso energisch behauptet 
Explorand wieder, er sei nicht verheirathet, er habe 
keine Frau. 

Den Vorwurf, er sei ja tagelang nicht heinige¬ 
gangen, ob er wohl herumgelumpt habe u. dgl., 
lässt er sich absolut nicht gefallen und droht thät- 
üeh zu werden. 

Im Momente, wo Explorand verheirathet sein 
wollte, konnte er über den Namen der Frau, Zahl 
der Kinder, Herkunft des Eherings und ähnl. richtig 
Auskunft geben, hingegen malte er sich die Situation 
von zuhause noch mehr aus, .glaubte, er sei dort, 
hielt Ref. für den „Karl aus dem Laden drüben“, 
duzte ihn, meinte die Frau sei in der Nähe, pfiff in 
den Hof hinunter, rief dem Knecht, wo sie sei, 
wollte ihr „grad telephoniren“. 

Will nicht im Burghölzli sein, nichts vom Selnau 
wissen. In diesem Zusammenhang will er 
auch von der Droschke, die ihn hergebracht 
hat, absolut nichts wissen! (10) 

Heben wir die Hauptpunkte dieses Zustandes 
hervor: 

Im Vordergrund steht das systematische Daneben¬ 
antworten, dann das Nichtwissen von ihm sehr be¬ 
kannten Personen und Sachen. 

Das Nichtwissen ist am stärksten, wo es sich 
um die Untersuchungshaft im Selnau handelt. Man 
sieht z. B. sehr gut, dass das Nichtwissen sich gleich 
wieder mehr ausdehnt, wenn man vom Selnau spricht, 
es erstreckt sich dann auch auf die vorher zugegebene 
Droschkenfahrt von der Selnaustra sse aus. 

Die zeitliche und örtliche Orientirung ist meistens 
gestört. 

Bei veränderter Frageart sind Vorstellungen wieder 
zugänglich, von denen Explorand vorher nichts wissen 
wollte (Frau, Kinder, Namen). Sobald man von 

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neuem den Untersuchungston anschlägt, w r eiss er diese 
Dinge wieder nicht. 

Auffallend ist, dass in Erinnerung gebrachte 
Situationen sofort ganz plastisch hervortreten, und 
dass Explorand gleich die ganze Umgebung im Sinne 
der augenblicklichen Vorstellung umdeutet (Situation 
von zu Hause z. B.). 

Im nächsten Moment geschieht das gleiche mit 
einer andern Vorstellung. Explorand vergisst dann 
ganz, w*as eben da war, und was er eben gesagt hat. 
Er hat z. B. vergessen, warum er aus dem Bett ge¬ 
stiegen ist und braucht dann die Ausrede: Es w f ar 
mir zu heiss u. s. f. Es bestehen nacheinander, an¬ 
geregt durch die wachgerufene Situation, verschiedene 
Zustände, die alle als kleine Dämmer zustande 
mit eingeengtem Bewusstsein charakterisirt 
sind, w'o die Umgebung danach gedeutet wird. Im 
Moment, wo sich Explorand der Frau erinnerte, war 
er nicht klarer als vorher, denn er glaubte jetzt auch, 
er sei zu Hause, suchte und pfiff die Frau, hielt in 
diesem Zusammenhang den Ref. für „den Karl“ etc. 

Ich habe versucht, durch in Klammer nebenan¬ 
gesetzte Zahlen eine Serie der eben genannten Vor¬ 
stellungskomplexe des Dämmerzustandes zu markiren. 
In Wirklichkeit sind es noch mehr. Am meisten 
tritt derjenige hervor, der durch die Untersuchungs¬ 
situation immer wieder suggerirt wurde, d. h. das 
systematische Nichtwissen. 

Am folgenden Morgen (10. Juni 04) schon war 
Explorand klarer, orientirt, gab richtige Auskunft über 
Name, Alter, Personalien, Geburtstag von Frau und 
Kindern etc., über seine Eltern und seine Vor¬ 
geschichte. Er wusste, dass er mit einer Droschke 
hergekommen sei; den Ref. verwechselte er noch 
mit einem andern Arzt, der in der Morgenfrühe zu 
ihm gekommen war. 

Hingegen besass er für die Erlebnisse der letzten 
Tage eine umschriebene Gedächtnisslücke: Er meinte, 
es sei der 6. oder 7. Juni 1904 (es war der 10.) 
wollte sich nicht ans Selnau erinnern. Er sei die 
letzten Tage zu Hause gewesen, es sei ihm etw'as 
schlecht im Kopf. Wie er von zu Hause weg- 
gekommen sei, wisse er nicht. 

Im Uebrigen giebt er aber wieder richtig an, er 
habe ein eigenes Geschäft, sei nicht Knecht; in den 
letzten Jahren habe er schlechte Erfahrungen ge¬ 
macht (weint!). Durch Rossschäden, an Konkursiten, 
Baumeistern und an Miethern etc. habe er im ganzen 
45000 Frk. verloren. 

Er habe einigeraale „vor Untersuchung“ gehen 
müssen (d. h. vor der Verhaftung schon) wegen 
Pfandunterschlagung, man habe nichts gefunden. 

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196 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 


[Nr. 22. 


An die Verhaftung besteht, wie gesagt, keine Er¬ 
innerung. 

Diese retrograde Amnesie, überhaupt der geschil¬ 
derte Dämmerzustand ist dem vom Vorjahr (1. Sept. 
1903) durchaus analog, nur dass er diesmal in Unter¬ 
suchungshaft und nicht bei einer einfachen Vorladung 
vor dem Friedensrichter eingetreten ist 

Der Verlauf des Krankheitsbildes ist seither fol¬ 
gendes gewesen: 

Explorand benahm sich auf der Abtheilung in 
der Folge nicht auffällig, war hier und da gedrückter 
Stimmung, namentlich nach Besuchen der Frau, und 
sah dann nachdenklich brütend vor sich hin. Er 
ging mit zur Feldarbeit, wo er im Anfang verhält- 
nissmässig recht munter war. Die Aussicht auf Be¬ 
strafung hat ihn seither wieder mehr deprimirt. 
3 Wochen nach dem Eintritt nahm er an einem 
Anstaltsfest theil; als einige sentimentale Lieder ge¬ 
sungen wurden, fing Explorand plötztlich zu weinen 
an, wurde dämmrig und rief: „Ach, ich bin doch 
verloren“, und wollte sich aus Taschentüchern einen 
Strick drehen. In einen Wachsaal gebracht, war er 
noch dämmrig und stieg mehrmals aus dem Bett. 
Bald fiel er jedoch in einen ruhigen Schlaf und war 
am folgenden Morgen wieder ganz klar und ruhig. 

Wir gaben unser gerichtliches Gutachten dahin 
ab, dass Explorand Hysteriker sei. Nach all 
dem Gesagten mag es überflüssig sein, auf eine 
differentialdiagnostische Besprechung zurückzukom¬ 
men. Geisteskrank im Sinne des Gesetzes sei er 
weder zur Zeit der Begehung des Pfändungsbetruges 
gewesen, noch sei er es jetzt. Hingegen haben wir 
die Straferstehungsfähigkeit breit discutirt und darin 
auf leicht mögliche Recidive hingewiesen, die dann 
unbedingt sofort sachverständige Behandlung erfor¬ 
dern, auch wegen der Suicidgefahr. Hingegen muss¬ 
ten wir sagen, dass manche Fälle nach Erledigung 
des Processes beruhigt sind und in der Strafhaft 
keine Bewusstseinsstörungen mehr zeigen etc. (Ge¬ 
fahr der Wiederholung ähnlicher Delikte im Fall der 
Freisprechung wegen Straferstehungsunfähigkeit; Schutz 
dagegen durch Bevormundung.) 

Unser Fall ist ein neuer Beweis dafür, dass die 
I ncom ptabilität eines stark unlustbe¬ 
tonten Vorstellungskomplexes mit dem 
gegenwärtigen Bewusstseinsinhalt zur Ab¬ 
spaltung desselben vom Bewusstsein führt. Im Mo¬ 
ment, wo Explorand sieht, dass die Sache schief 
geht, gewinnt der Gedanke des Nichtwissens resp. 
Nichtwissenwollens vollständig die Oberhand. Er 
beherrscht, in einer von den gewöhnlichen bewussten 
Vorstellungskomplexen unabhängigen Weise, also selb- 

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ständig, automatisch arbeitend, die Situation und 
beantwortet die an ihn gestellten Fragen. Er wird 
allerdings beeinflusst durch die andern Vorstellungs¬ 
komplexe, so die durch die Untersuchungsfragen an¬ 
geregten : deshalb kommt das systematische Daneben¬ 
antworten mit einer bewusst wohl unnachahmlichen 
Virtuosität. Dieser Gedanke des Nichtwissenwollens 
wird suggerirt und fortwährend unterhalten durch 
den Untersuchungston der Fragen. Er wird selbst¬ 
ständig und verbreitet sich auch über Gebiete, die 
über das Nichtwissen wollen des Delikts hinausgehen 
(Personalien, Frau). Das Nichtwissenwollen ist aller¬ 
dings dort am intensivsten, wo es die Untersuchungs¬ 
haft und das Delikt selbst betrifft (s. das Nicht¬ 
wissen von der Selnaustr., wenn man fragt, ob er im 
Selnau gewesen sei). Diese Absperrung der Er¬ 
innerung an das Delikt besteht in einem gewissen 
Grade auch nach Ablauf des Dämmerzustandes. 

Auf emotivem Wege und durch Sug¬ 
gestion anderer Situationen statt der 
Untersuchungssituation werden die Vor¬ 
stellungsgebiete (Frau, Geschäft etc.), die 
unter der Herrschaft einer andern Situa¬ 
tion nicht erinnert werden, zugänglich, 
um unter der Suggestion der Untersuchungssituation 
gleich w-ieder abgesperrt zu werden. 

Das Ganser ’sche Symptom ist also auf den 
Vorstellungskomplex des Nichtwissenwollens lokalisirt; 
es gelingt, andere Komplexe emporzuheben, mit 
pathologischer Plastizität (Situation von zu Hause). 
Das Bewusstsein wird durch die affektiv bewirkte 
Spaltung eingeengt, nichts wird zugelassen, was das 
Delikt selbst betrifft. Indessen zeigt derjung’sche 
Fall 1 ) und unser folgender, dass auch diese Vor¬ 
stellungsgruppe, z. B. in Hypnose, zugänglich ge¬ 
macht werden kann. 

Dieser so formulirten Auffassung entsprechen die 
Darstellungen Jung’s, wenn er sagt, beim Ganser- 
schen Symptom betreffe die Störung nur das (momen¬ 
tane) Bewusstsein und wenn er in seiner Arbeit 
über Simulation das Ganser’sche Symptom bei 
Untersuchungsgefangenen als Simulation iin Unbe¬ 
wussten (unter der entfesselten Herrschaft der affekt¬ 
erfüllten Vorstellung des Nichtwissens) aufgefasst haben 
will. 

Allerdings ist in unserm Fall (wie z. B. auch im 
Jung’schen Untersuchungsfall), das Nichtwissen viel 
ausgedehnter, als es zur Simulation nöthig wäre, geht 
sogar auf Dinge über, die der Explorand schon oft 

*) Ueber einen Fall von hyst. Stupor etc. 

Original fram 

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IQ 04 -] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


197 


erzählt hat (darin besteht das automatisch wuchernde 
Weiterwirken der Vorstellung vom Nichtwissen). 

Andererseits kann das Nichtwissen durch Ein¬ 
schleichen auf emotivem Wege, durch suggestives 
Einschmuggeln eines Vorstellungskomplexes (Frau, 
Familie, Daheim) ausgeschaltet oder eingeschränkt 
werden. 

Damit ist auch die Simulationsfrage erledigt. 
Eigentlich „simulirt“ Explorand sich selbergegen- 
über, d. h. das Nichtgewünschte — resp. das von 
starkem Unlustaffekt Begleitete — wird abgespalten 
( = verdrängt). 

Diese letztere Auffassung kommt namentlich in 
den Fällen zur Geltung, wo es sich um nicht 
kriminelle Fälle handelt und somit bewusste 
Simulation beim Auftreten des Ganser’schen Symp¬ 
toms und Komplexes gar nicht in Frage kommt. 

Fall II. Nicht kriminell. 

Eintritt am 21. April 1904. Die mit Tuberkulose und 
Hysterie erblich belastete, selbst tuberkulöse und 
hysterische 26jährige Frau Maria C. hat vor vier 
Jahren einen rechtschaffenen Taglöhner geheirathet, 
unter Protest der Familie, weil der Mann Italiener 
sei. Pat. wurde sogar enterbt, was für sie und ihren 
Mann sehr empfindlich war; immerhin brachte sie 
eine früher ererbte Summe von 800 Frk. mit in die 
Ehe. Nun gab sie vor 3 Jahren diese 800 Frk. 
leihweise einem Nachbarsmädchen, das auch trotz 
Protestes des Vaters heirathen wollte, resp. sie be¬ 
stellte für diesen Betrag Möbel etc. Die Rückzahl¬ 
ung sollte in 2 Monaten stattfinden, wo das unter¬ 
dessen volljährig gewordene Mädchen über ihren 
Vermögenstheil verfügen konnte. Das Mädchen er¬ 
hielt auch ihren Vermögensantheil, verreiste aber 
gleich mit ihrem Geliebten nach Amerika. Die arme 
Frau Maria C., welche damals wegen ihrer Tuber¬ 
kulose krank lag, erfuhr das zu spät. Dem Manne 
w'agte sie von dem für sie grossen Verlust nichts zu 
sagen und trug das Geheimniss 3 Jahre mit sich 
herum. Sie trat im Januar 1904 in die Universitäts¬ 
frauenklinik ein und gebar dort am 20. März. Wegen 
einer Venenthromböse verlängerte sich ihr Aufent¬ 
halt in der Frauenklinik. Laut ärztl. Aufnahme- 
zeugniss erhielt die sonst im ganzen sehr muntere 
Pat., die in ihren Mädchenjahren allerdings von Zeit 
zu Zeit leichte hysterische Anfälle gehabt hatte, am 
20. April von ihrem Mann einen Brief. Sie fing 
heftig zu weinen an, wurde verwirrt, verdeutete die 
Umgebung als Verfolger. Der Arzt mit rothem 
Schnurrbart wurde zum „rothen Mann“, Männer 
verfolgten sie hauptsächlich. Sie reagirte prompt auf 

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Nadelstiche, meinte dabei, man wolle sie tödten, er¬ 
stechen , glaubte im Essen sei Gift, glaubte sich im 
Gefängniss und ähnl. 

Im Briefe steht aber ungefähr folgendes: Marie ! 
Schon längst hätte ich meinem Herzen Luft gemacht, 
wollte Dich aber vor den Leuten (in der Klinik) 
nicht beschämen. Nun musst Du aber wissen: unter 
uns zweien gehts nicht mehr; ich habe alles ver¬ 
nommen (die Geschichte mit den 800 Frk.) etc. 
Jetzt enthüllst Du Dich so! Habe ich nicht, wenn 
ich abends von der Arbeit müde heim kam, Dir 
noch alles gethan, was Du wünschtest, Dir sozusagen 
die Hände unter die Füsse gelegt? etc. 

Nun hast Du mir zur schweren Arbeit noch 
solche Bürde und Bekümmemiss aufgeladen. Das 
ist keine Liebe mehr (etc. Klagen über Haushalt¬ 
ungssorgen, Verpflegungskosten) und nun noch dieser 
Verlust! Du bekümmerst Dich um kein Haar, wie 
ich alles bestreite, wenn Du es nur gut hast. Nun 
kannst Du meinetwegen Deine Sachen verkaufen 
zum Schulden zahlen. Wenn Du heim kommst, 
kannst Du Deine Kinder noch einmal sehen, aber 
dann ists fertig. 

So weit hast Du es gebracht mit Deinem 

Franz. 

Die Frau wurde noch gleichen Abend in unsere 
Klinik gebracht und gab bei der Aufnahme folgender- 
maassen Auskunft: 

Frage: Wo sind Sie? 

Antw.: Daheim, gelt Franz! (Verkennt den Arzt 
als Mann, beantwortet die Frage im Sinn der Wunsch¬ 
erfüllung.) 

Fr.: Wo ist ihr Mann? 

Antw.: Da (zeigt auf einen Arzt). 

Vom Briefe will Pat. gar nichts wissen; sie 
habe keinen Brief oder ähnl. bekommen. 

Fr.: Aber Sie sind ja nicht daheim ; Sie liegen 
auf einer Tragbahre. 

Antw.: Nein, nein, ich lasse mir das nicht nehmen, 
ich liege daheim im Bett; der Mann hat mich heim¬ 
geholt (weiss also vom Aufenthalt in der Klinik) 
und ich bin halt noch müde; darum liege ich im 
Bett. 

Fr.: Wie spät ist hier auf der Uhr? (V4 6 U.) 

Antw.: 3 Uhr (also beide Zeiger in entgegen¬ 
gesetzte Richtung umgestellt). 

5 Finger: Die ganze Hand. 

1 „ : Ein Finger. 

4 „ : Die ganze Hand. 

4 „ : Keiner. 

Schlüssel: Das ist Eisen (wiederholt). 

Original from 

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iq8 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 22. 


Ein 20- Rappenstück: Das ist ein Ring. 

Ein Messer: (ängstl. Ausdruck) Nein, nein, um 
Gotteswillen; töten lasse ich mich nicht. (Weint 
heftig.) 

Man zeigt ihr das Aufnahmezeugniss. 

Fr.: Was ist das? Ein Brief? 

Antw.: Nein, Papier. 

Fr.: Ist es eine Photographie? 

Antw.: Nein, es ist Papier, Druckpapier. 

Nadelstiche: Pat. wird sehr ängstlich und bittet 
lebhaft: Nein, nicht töten. 

Fr.: Monat? 

Antw.: 20. Februar (April!), ich habe heute 
morgen geboren. 

Fr.: Nein, Sie haben doch am 20. März geboren? 

Antw.: Nein, das ist eine Lüge! Ich war doch 
im Gebärsaal, Frl. S. (Oberhebamme) hat mich doch 
entbunden. (Stimmt). 

Fr.: Datum? 

Antw.: Ich komme gerade von droben (Frauen¬ 
klinik). Morgens 7 Uhr habe ich geboren, weisst 
Du? 

(Verkennung des Arztes als Mann.) 

Pat. behauptet, sie habe noch nie aufstehen 
dürfen; sie stand aber die letzten Tage auf. Das 
Kind sei gestorben, darum habe sie ge¬ 
weint. (Das Kind lebt.) 

Vom Kind aus associrt sie aber den Mann 
und sagt in diesem Zusammenhang: „U n d der 
Mann kam nicht mehr zu mir, weil ich 
ihm nicht gehorcht habe, ich habe viel 
Geld ausgeliehen hinter seinem Rücken, 
jetzt will er mich nicht mehr haben“. 

Wir sehen hier ganz ähnliche Folgen von kleinen 
Dämmerzuständen, wie im vorhergehenden Fall, und 
hier, auf einem ganz bestimmten Associationswege, 
kommen wir sogar zur Kenntniss der sonst „ver¬ 
drängten“ Erinnerung an den Brief, während vor- 
und nachher die Erinnerung an den Brief abge¬ 
schnitten ist. 

Bald duzt sie den Arzt; dann, auf sein Aeusseres 
aufmerksam gemacht, sagt sie: Nein, mein Mann hat 
schon graue Haare. (Richtig.) 

Eine Streichholzschachtel nennt sie: „Schmuck- 
kästlein“. 

„2 Streichhölzer“ : 2 Hölzchen. 

„Was für Hölzchen?“ Antw.: Ich weiss nicht, 
was ihr damit macht. 

„Datum ?“ Oktober 1906. 

Also: Oktober statt April, 1906 statt 1904, stark 
vordatirt; vorher sagte sie, es sei Februar, ca. am 
20. Februar (in Wirklichkeit am 20. März) habe sie 

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geboren. Sie verlegt also das Datum möglichst weit 
vor das richtige hinaus oder zurück. 

„Datum?“ Nächstes Jahr ist 1904! 

„Ehering“: Ein Ring. 

„Was für einer?“ Zum Anstecken. 

Frage: Bedeutet er nichts Besonderes? 

Antw.: Ja weisst Du, ich habe meinen Ehering 
zerbrochen, als ich Breiumschläge bekam. (Er wurde 
damals etwas verdorben.) 

Am folgenden Morgen Amnesie für die Auf¬ 
nahme. Sie erinnert sich nur, wie sie nachts er¬ 
wachte und von der Pflegerin über ihre neue Situation 
orientirt wurde. Klarer. Gegenstände werden richtig 
benannt. Die Aerzte kennt sie, entsprechend der 
Amnesie, nicht: „Sie waren nicht in der Frauen¬ 
klinik“. Giebt das Datum von der Geburt des 
Kindes richtig an. Ist im Tagesdatum um 2 Tage 
zurück. 

Erinnert sich jetzt an den Brief. Ob die hallu- 
cinirten rothen Männer Wirklichkeit hatten oder 
nicht, kann sie noch nicht angeben. Hat an die 
Hallucinationen Erinnerung, z. Th. aber nur un¬ 
scharf. 

Abends noch klarer. 

In der darauffolgenden Nacht glaubte sich Pat. 
daheim, rief dem Mann, war dabei anscheinend wach, 
redete mit offenen Augen mit der Pflegerin. Am 
Morgen Amnesie dafür. 

Es wurden bei der Pat., wie bei allen in dieser 
Arbeit erwähnten Fällen, Associationsversuche 
gemacht, über welche später in einer Arbeit über 
die Associationen Hysterischer im Zusammenhang 
berichtet werden soll. 

Wenige Tage nach dem Eintritt erhielt Pat. Be¬ 
such vom Manne, der uns einen sehr guten Ein¬ 
druck machte und ihr verzieh. Nachdem auch diese 
Spannung beseitigt war, machte die Genesung rasche 
Fortschritte; nur Hess sich eine deutliche Hysterie 
noch nachweisen. Eine Woche nach der Aufnahme 
konnte Pat. vom Dämmerzustand geheilt entlassen 
werden. Die Diagnose unterliegt wohl keinem 
Zweifel; ebenso deutlich ist die ausIösende Ur¬ 
sache des Dämmerzustandes der affektiv bedingten 
Abspaltung der Erinnerung an den unseligen Brief. 
Das automatisirte Nichtwissenwollen kann hier nicht 
als unbewusste Simulation vor einem Unter¬ 
suchenden , sondern nur als Nichtwissen wollen dem 
eigenen Bewusstsein gegenüber, als „Verdrängungs¬ 
erscheinung“ aufgefasst werden. Dabei'ist es 
unter bestimmten SituationsVorstellungen 
(Kind — Mann) möglich, dass sogar die Er- 

Original fram 

HARVARD UNIVERSITY 




PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


iQ<> 4 ] 


innerung an das psychische Trauma zum 
Vorschein kommt (ob mit aller Neben Vorstellung 
und seinem ganzen Affekt, ist nicht mehr zu eruiren). 

Die Amnesie nach wiedererlangter Klarheit ist 
schwankend und nicht vollständig. 

Der Fall muss als etwas leichter betrachtet werden, 
als der vorhergehende. 

Fall III. Nicht kriminell. 

Frau Verena D., 43jährig, war vor 10 Jahren 
schon einmal eines hysterischen Dämmerzustandes 
wegen einen Monat lang in unserer Klinik, wurde 
geheilt entlassen und war in der Zwischenzeit ge¬ 
sund und arbeitsfähig. Nichts katatonisches; keine 
Verblödung. Die Krankheit war damals in der 
Nacht nach einer Geburt ausgebrochen, nachdem 
eben der Mann betrunken nach Hause gekommen 
war; Pat. erzählt jetzt noch, dass dieser Umstand 
sie zur Verzweiflung und Verwirrung gebracht habe. 

Für den damaligen Zustand trat nach dessen Ab¬ 
lauf Amnesie ein. 

Vor kurzem ist ihr Mann gestorben und vor 
einigen Tagen erkrankte noch ihr einziges Kind, um 
das ihr nun erst recht bange wurde. Sie gerieth in 
einen sehr starken Aufregungszustand, wollte auf 
den Friedhof gehen, getötet werden. Sie kam 
sch weissgebadet und auf die Tragbahre gebunden in 
der Anstalt an. 

Sie macht richtige Angaben, ausgenommen 
über ihr Kind. Sie konnte nur mit grösster 
Mühe ins Bad gebracht werden. Hingegen war trotz 
ihrer Aufregung das Schamgefühl erhalten. Sie hatte 
die Menses und deckte sich rasch wieder, wenn sie 
sich tobend und Opisthotonus machend entblösst hatte. 
Am folgenden Tage klarer: an die Aufnahme nur 
ganz unscharfe Erinnerung. Amnesie für die 
ganze Erkrankung des Kindes, Pat. setzt das 
Datum um etwa 8 Tage zuiück. Abends hallucina- 
torischer Traumzustand, mit symbolischen Erinner¬ 
ungen an ihr Eheleben. Schläft die zweite Nacht 
nach einer Hvoscininjektion. Tagsüber klar; am 
darauffolgenden Abend nochmals aufgeregt, stereotyp 
rufend: Ich bin der Herr, Dein Gott. Du sollst 
ausser mir keine andern Götter haben. Folgenden 
Tags wieder klar; erinnert sich an das Geschehene 
wie an einen Traum. Es sei ihr die Erinnerung an 
einen Sektenprediger gekommen, den sie abgewiesen 
habe, der vor einer Woche gesagt habe, er erscheine 
wieder, zum Guten oder zum Bösen. Sie habe sich 
in ihrer Trauer so vor diesem Ausspruch gefürchtet. 

Aus suggestiven Gründen Hess man Pat. darauf 
eine Nacht in der Zelle schlafen. Von da an auch 

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190 


nachts im Wachsaal ganz ruhig, sie konnte bald auf¬ 
stehen. Gute Berichte vom Kind brachten die Am¬ 
nesie für dessen Erkrankung immer mehr zum 
Schwinden und ein Besuch des Mädchens beruhigte 
die Patientin vollständig. Nach 20tägigem Anstalts¬ 
aufenthalt wurde Pat. geheilt entlassen. 

Im Krankheitsbild steht weniger das Vorbeireden, 
das sich nur auf die Erkrankung des Kindes erstreckt, 
im Vordergrund, als der hysterische Wahnsinn und 
die, allerdings nur temporäre Amnesie für die Er¬ 
krankung des Mädchens. Dass auch hier der Affect 
die Ursache der Krankheit und Amnesie war, ist 
wohl klar. An Katatonie denkt man nach dem Ver¬ 
lauf und dem Mangel an Verblödung wohl kaum, 
trotz vorübergehender katatoner Symptome in einem 
Traumzustand. 

Auch hier wird das Nichtwissen wollen und der 
ganze Zustand nie als s i in u 1 i r t betrachtet werden. 

Ein vierter Fall betrifft eine hysterische, sehr 
tüchtige Pflegerin, die nach einer Zahnextraction in 
Narkose, während welcher sie Arc-de-cercle und 
plötzliche Entweichungsversuche machte, einen leichten 
hysterischen Dämmerzustand mit Ganser’schen 
Symptomen bekam. Sie hatte vorher Angst, sie 
werde in Narkose ihre Geheimnisse, die auch ein 
Vergiftungsconamen in sich schlossen, ausplaudem. 
Nach der Narkose Desorientirtheit, systematisches 
Vorbeireden wie in den ersten beiden Fällen. Pat. 
floh nachher in den Garten und war noch über einen 
Tag lang dämmrig. In der Narkose wiederholten 
sich gewisse in ihrer frühem Stelle aufgetretene Angst- 
scenen. 

Das Ganser sehe Symptom war hier wahrschein¬ 
lich dadurch ausgelöst worden, weil Pat. ursprünglich 
Angst gehabt hatte, sich zu verrathen. 

Die Fälle 2, 3 und 4, alle nicht kriminell, geben 
uns über die auslösende Ursache solcher Däm¬ 
merzustände und den Grund des Ganser’schen 
Symptoms, namentlich über die Simulationsfrage, 
Auskunft und bestätigen die bei Fall 1 angeführten 
Eröiterungen. Es ist zu hoffen, dass namentlich die 
Analysen der Fälle 1 und 2, zum Verständniss der 
Psychologie hysterischer Dämmerzustände und speciell 
des Ganser’schen Symptoms einen weiteren Bei¬ 
trag geleistet haben. 

Meinem hochverehrten Chef, Herrn Professor 
Bleuler, bin ich für die Uebcrlassung der Fälle, 
und ihm, sowie meinem verehrten Freund und Ge¬ 
legen Dr. C. G. Jung, für die fortgesetzte Anreg¬ 
ung, welche ich bei dieser Arbeit in gemeinsamer 
Diskussion gefunden habe, zu herzlichem Dank ver¬ 
pachtet. 

Original from 

HARVARD UNiVERSITY 



PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


200 


[Nr. 22. 


Litteraturverzeichniss. 

Binswanger: Ueber einen eigenartigen hysterischen 
Dämmerzustand (Ganser). Monatsschrift für Psy¬ 
chiatrie und Neur. Bd. III, p. 175. 1898. 

Bresler: Die Simulation von Geistesstörung und 
Epilepsie. Halle 1904. 

Cramer: Gerichtl. Psychiatrie. 1900. 

Ganser: Ueber einen eigenartigen hysterischen 
Dämmerzustand. Archiv f. Psychiatrie. Bd. 30, 
p. 633. 1897. 

— Zur Lehre vom hyster. Dämmerzustände. Arch. 
f. Psych. Bd. 38, p. 34. 

Henneberg: Ueber das Gansersche Symptom. 
Vortrag in der Jahressitzung des Deutschen Ver¬ 
eins für Psychiatrie. 25 /26. April 1904 in Göt¬ 
tingen. Referirt im Centralblatt f. Nervenheilk. 
u. Psych., Jahrg. 27, Juniheft, p. 388 u. Monats¬ 
schrift f. Psych. u. Neur., Bd. XV, H. 6. 

Ho che: Handbuch der gerichtl. Psychiatrie 1901. 

J a n e t: Sur l’etat mental des Hysteriques. Paris 
1892. 

Jolly in: Handbuch von Ebstein, Jolly u. Schwalbe. 
Bd. IV. 1900. 

Jung, C. G.: Ein Fall von hysterischem Stupor bei 
einer Untersuchungsgefangenen. Journal f. Psycho¬ 
logie u. Neur. Bd. I, Heft 3, p. 110. 1902. 

— Ueber Simulation von Geistesstörung. Journal f. 

Psych. u Neur. Bd. II, Heft 5, p. 181. 1903. 

Kaiser: Beiträge z. Diflerentialdiagnose der Hysterie 
und Katatonie. Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 58, 
p. 1126. 

Löwenfeld: Die psychischen Zwangserscheinungen. 
Wiesbaden 1904. 


Lücke: Ueber das Ganser’sche Symptom mit Be¬ 
rücksichtigung seiner forensischen Bedeutung. Allg. 
Zeitschr. f. Psych. Bd. 60, p. 1. 1903. 

Moeli: Ueber Hysterie. Allg. Zeitschr. für Psych. 
Bd. 58, p. 740. 

— Über irre Verbrecher. Berlin 1888. 

Neisser: Casuistische Mittheilungen. Allg. Zeitschr. 

Bd. 55, p. 447. 

Nissl: Hysterische Symptome bei einfachen Seelen¬ 
störungen. Centralbl. f. Nervenk. u. Psych. 25. 
Jahrg., p. 2, 1902. 

Ra ecke: Beitrag zur Kenntniss des hysterischen 
Dämmerzustandes. Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 
58, P- 11 5 - 

— Ueber hyster. Stupor bei Strafgefangenen. Allg. 
Zeitschr. f. Psych. Bd. 58, p. 409. 

— Einiges zur Hysteriefrage. Neurol. Centralblatt 
1902. p. 299. 

Schmidt: Zur Casuistik des Ganserschen Symptoms. 

Dissimulation. Leipzig 1904; 

Stegmann: Ein ungewöhnlicher Fall von hysteri¬ 
schem Dämmerzustand. Allg. Zeitschr. f. Psych. 
Bd- 59 . P- 777 - l 9 ° 2 . 

Vorst er: Üeber hyster. Dämmerzustände und das 
Vorbeireden. Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 61, 
p. 420. 

W e r n i c k e: Grundriss der Psychiatrie. 1900. p. 516. 
Westphal: Ueber hyster. Dämmerzustände u. das 
Symptom des Vorbeiredens. Neurolog. Central¬ 
blatt 1903, p. 7. 

— Ein Fall von traumatischer Hyst. mit eigenart. 
Dämmerzust. u. dem Sympt. des Vorbeiredens. 
Deutsche med. Wochenschrift 1903 No. 1. 


Ueber Dauer-Nachtwache. 

(Aus der Landes-Heil- und Pflege-Anstalt Uchtspringe.) 


Tu Nr. 15 und 17 der Psychiatrisch-neurologischen 
* Wochenschrift bringt Wickel einige Notizen 
über die seit Januar 1901 in Dziekanka eingeführte 
Dauernachtwache. Es ist nicht recht zu verstehen, 
dass trotz der günstigen Resultate, die von den 
meisten Anstalten, in denen Dauernachtwache einge¬ 
richtet ist, berichtet werden, und trotz der mannig¬ 
fachen Vorzüge, welche dies System bietet, doch 
manche Anstalten sich immer noch nicht entschliessen 
können, ein besonderes Nachtpersonal für die Wach¬ 
abtheilungen anzustellen. In Uchtspringe besteht ein 
Dauer-Nachtwachdienst seit etwa 9jahren. Schon 
im Mai 1S90 konnte Direktor A 1 1 gelegentlich eines 
im Verein der Irrenärzte Niedersachsens und West¬ 
falens gehaltenen Vortrages „Beitrag zur Wärterfrage 
mit Berücksichtigung der familiären Irrenpflege“*) über 
die in hiesiger Anstalt eingeführte Dauernachtwache 
*) Monatsschrift für Psychiatrie und Neuiologie 1896. 

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und über die Erfahrungen, welche hier mit dieser 
Einrichtung gemacht waren, eingehender berichten. 
Er hob damals u. A. hervor: „Ich halte diese Ein¬ 
richtung sowohl im Interesse der Kranken wie 
des Personals geboten. Es kann unmöglich vor- 
theilhaft für das Befinden der neuaufgenommenen 
und aus irgend welchen Gründen während der Nacht 
besonderer Beobachtung und Wartung bedürftigen 
Kranken sein, wenn jede Nacht andere ihnen fremde 
Wärter den Dienst auf der Wachabtheilung versehen, 
oder wenn gar mitten während der Nacht ein 
Wechsel des Personals stattfindet. Wer den Ver¬ 
such macht, eigenes Nachtpersonal auf der Wach¬ 
abtheilung anzustellen, der wird bald mit uns die 
Beobachtung machen, wie erheblich die Aufregungs¬ 
zustände , Verwirrungen und sonstigen unliebsamen 
nächtlichen Vorkommnisse abnehmen, und wie weit 
bessere und exactere Meldungen über die Vorgänge 

Original from 

HARVARD UNIVERSUM 



iqo 4 .J PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 201 


während der Nacht erstattet werden. Auch im 
Interesse des Personals bietet eine derartige 
Einrichtung unverkennbare Vortheile. Es ist eine 
überaus harte und in sich durchaus nicht gerecht¬ 
fertigte Forderung, von einem Menschen, der den 
ganzen Tag über schweren verantwortlichen Dienst 
verrichtet hat, zu verlangen, dass er auch noch die 
halbe Nacht Wachdienst versieht und womöglich 
noch die zweite Hälfte der Nacht mitten unter auf¬ 
geregten und unruhigen Kranken schläft. Gerade 
die gehäuften Nachtwachen, ferner das Hinüber¬ 
nehmen des Verantwortlichkeitsgefühls in den Schlaf 
hinein etc. verschleissen die Kräfte des Pflegeperso¬ 
nals vorzeitig und unaufhaltbar. Es ist geradezu 
grausam von Menschen, die tagsüber schweren Dienst 
ausgeübt haben, auch noch nächtliche Arbeit zu ver¬ 
langen; es ist ungerecht und unsinnig einem schlafen¬ 
den Menschen Verantwortung aufzunöthigen.“ 

In der Uchtspringer Anstalt, die z. Z. abgesehen 
von rund 200 Familienpfleglingen mit etwa 1050 
Kranken belegt ist, wird an 10 verschiedenen Stellen 
des Nachts gewacht. In dem geschlossenen Hause 
der Frauen- wie Männerabtheilung III. Klasse be¬ 
findet sich je 1 Doppelwache, während auf den 
übrigen Abtheihingen nur eine Pflegeperson wacht; 
mithin sind hier im Ganzen 12 Personen vom Pflege¬ 
personal im Nachtdienst beschäftigt. Die zweite 
(Hilfs-)Wache in den beiden geschlossenen Häusern 
wird von neu eingetretenen Pflegern, bezw. Pflege¬ 
rinnen versehen. Damit nach Möglichkeit jeder zu 
Anfang seiner Ausbildungszeit diesen Dienst kennen 
lernt, findet bei diesem Posten der Wechsel monat¬ 
lich statt. I111 Uebrigen wechselt die Wache viertel¬ 
jährlich. Zu den Einzelwachen, wie auch zu dem 


Hauptdienst bei der Doppelwache werden nur solche 
Pflegepersonen herangezogen, die den Dienst auf 
den betreffenden Abtheilungen bereits gründlich 
kennen, die in der Krankenpflege genügend Erfahr¬ 
ung besitzen und sich in ihrer Thätigkeit hier be¬ 
währt haben. Diejenigen, welche einen besonders 
schweren und verantwortungsvollen Posten bekleiden, 
erhalten eine Functionszulage von 3 bis 6 Mark 
monatlich, ähnlich wie dies auch bei dem am Tage 
beschäftigten Personal der Fall ist. Der Direktor ist 
hier ermächtigt dem vierten Theil des im Kranken- 
dienst beschäftigten Personals Functionszulagen in 
der genannten Höhe zu gewähren, die durch Er¬ 
sparnisse auf dem Besoldungstitel gedeckt werden. 
Das Nachtpersonal beginnt den Dienst Abends V29 
bezw f . 9 Uhr und bleibt bis V29 bezw. 9 Uhr Mor¬ 
gens auf der Abtheilung. Die Zeit von V29 bezw. 
9 Uhr Morgens bis 11 Uhr (auf den Männerablheil- 
ungen bis 12 Uhr) steht den im Nachtdienst be¬ 
schäftigten Personen zur freien Verfügung. Von 11 
bezw\ 12 Uhr an bis zum Abend dürfen sie jedoch 
ihr Zimmer ohne besondere ärztliche Erlaubniss nicht 
verlassen. Die Nachtwache erhält eine warme Mahl¬ 
zeit (ähnlich der Mittagskost II. Klasse), die nach 
Belieben Mittags oder Abends eingenommen werden 
kann. Ausserdem erhält die Wache für die Nacht 
Kaffee, Brod, Butter und Aufschnitt. Nur selten ist 
es in den neun Jahren hier vorgekommen, dass das 
Personal sich an die neue Lebensweise nicht ge¬ 
wöhnen konnte und daher von dem Posten abbe¬ 
rufen werden musste. Im Allgemeinen übernimmt 
das Personal den Nachtwachdienst sehr gern und 
fühlt sich auch bei dieser Thätigkeit sehr wohl. 

Oberarzt Dr. Sch mid t-Uchtspringe. 


Mitthei lungen. 


— XI. Versammlung des Nordostdeutschen 
psychiatrischen Vereins zu Danzig am 27. Juni 
1904. (Referent Dr. Wiek el- Dziekanka.) (Fort¬ 
setzung.) 

III. Gl uszszewsk v-Conradstein: Ueber ali¬ 
mentäre Behandlung der Epileptiker. 

Auf Anregung meines verehrten Chefs, Herrn 
Medicinalrath Direktor Dr. Krömer, habe ich eine 
Reihe von Fällen genuiner Epilepsie der salzfreien 
Behandlung unterzogen. Es wurden neun der schwer¬ 
sten Fälle herausgesucht und Curven angelegt, die 
die Zahl der Anfälle, die Erregungsstadien und den 
Ernährungszustand graphisch darstcllen. Der besseren 
Uebersicht wegen wurden auch Curven angelegt, die 
das Jahr vor der salzfreien Behandlung und das 
Jahr nach derselben betrafen. Die salzfreie Kost 

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wurde ein ganzes Jahr lang gereicht und daneben 
I g Kali bromati verabfolgt, das wir nicht in das 
Brot einbackten, sondern mit Wasse; in Lösung 
gaben. Es ergaben sich unerwartete und über¬ 
raschende Erfolge, w ie sie übersichtlich in den Curven 
zu Tage treten. Bei sämmtlichen Fällen nahm das 
Körpergewicht ganz erheblich zu, oft bis 10 — 24 
Pfund in einem Jahr und hielt sich auch nach Aus¬ 
setzen der salzfreien Kost auf ziemlich gleicher Höhe. 
Die Anfälle nahmen wesentlich ab, in einigen Fällen 
blieben sie auch ganz aus, ihre Intensität und Dauer 
war herabgemindert, die sich daran anschliessenden 
Dämmerzustände — nur in wenigen Fällen traten 
sie auf — waren von kurzer Dauer und gingen ohne 
besondere Erregung und ohne Gewaltthätigkeiten 
gegen die Umgebung vorüber. Ueberluiupt war nur 

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202 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 22. 


einmal kurz nach Beginn der salzfreien Behandlung 
ein schwerer mit Suicidversuch einhergehender Er¬ 
regungszustand zu constatiren, während sonst nur ge¬ 
ringe oder gar keine Erregungszustände sich ein¬ 
stellten. Ganz besonders werthvoll war es auch, 
dass ein grosser Theil der Leute wieder arbeitsfähig 
wurde und bis zum heutigen Tage geblieben ist. 
Auch hinsichtlich der Sauberkeit machten wir gute 
Erfahrungen. Ein Knabe, der sonst andauernd ein¬ 
nässte, blieb ständig sauber. Hinsichtlich der Psyche 
waren bei der Schwere des Versuchsmaterials und 
den bereits bestehenden Ausfallerscheinungen bezw. 
Charakterveränderungen und Wahnbildungen nur ge¬ 
ringe oder gar keine Erfolge zu beobachten. Die 
guten Wirkungen hielten auch nach Aussetzen der 
salzfreien Kost oft bis 6 Monate an und ermuthigen 
zu weiteren Versuchen. — Die Arbeit mit Tabellen 
und Krankengeschichten wird demnächst veröffentlicht. 

(Autoreferat.) 

D isc uss io n. 

Freymuth-Danzig hat bei dem gleichen Vor¬ 
gehen keine Erfolge gesehen, will jetzt nochmals 
Versuche machen. 

K r ö m e r-Conradstein : Es wurden nur die schwer¬ 
sten Fälle genuiner Epilepsie zu der Kur ausgewählt, 
damit im Falle einer ungünstigen Einwirkung der 
Schaden nicht sehr gross sei. Die erzielten Erfolge 
w-aren aber gut und zweifellos. Nur einmal trat als 
unangenehme Complication eine katarrhalische Pneu¬ 
monie auf, welche günstig verlief. Das Verfahren 
wurde nach einem Jahre unterbrochen. Einmal 
wegen der Unbequemlichkeit bei der Speisebereitung, 
vor allem aber um zu erproben, wie sich die Ver¬ 
hältnisse nach Aussetzen der Kur gestalten würden. 
Ein weiteres Jahr hindurch wurde gewöhnliche Kost 
mit Brom gegeben. Der günstige Einfluss der Kur 
dauerte an. Die Versuche wurden nun so modifidrt, 
dass auch das Brom weggelassen wurde. Es erfolgte 
ein ungeheuerer Rückschlag. Durch Brom wieder 
Besserung. Nach einem Jahr sollen im Anschluss 
an die alten graphischen Darstellungen der ver¬ 
gangenen 3 Jahre neue Tabellen den Einfluss, wel¬ 
chen diese neue Versuchsanordnung hinsichtlich Zahl 
der Anfälle, Erregung und Ernährung ausübt, ver¬ 
anschaulichen. 

Freymuth-Danzig erwähnt die Flechsig’sche 
Kur, bei welcher er Erfolge hatte. 

M e y er-Königsberg bemerkt betr. Opiura-Brom- 
Kur, dass Dr. Wick el-Dziekanka und er früher in 
der Tübinger Klinik dieselbe mehrfach mit befriedi¬ 
gendem Resultat angewandt haben, spez. bei Fällen, 
wo Brom allein keinen guten Erfolg erzielte. Vor¬ 
bedingung für die Durchführung der Kur war aus¬ 
reichender Kräftezustand der Kranken, sowie das 
Fehlen schwerer körperlicher Erkrankungen, Herz¬ 
fehler und dergl. Die Kur kann nicht in der Privat¬ 
praxis durchgeführt werden, sondern nur im Kranken¬ 
haus. Unter solchen Voraussetzungen kann M. den 
Versuch einer Opium-Brom-Kur durchaus empfehlen. 

R a b b as - Neustadt: Die F 1 e c h s i g’sche Opium- 


Brombehandlung ist auch in der Anstalt zu Neustadt 
angewandt worden. Die Resultate, welche mit der¬ 
selben erzielt wurden, sind von ihm in einer der 
ersten Vereinssitzungen bekannt gegeben und können 
als gute bezeichnet werden. Seitdem ist die Flech- 
sig’sche Kur in Neustadt noch wiederholt in An¬ 
wendung gekommen und zwar in einzelnen Fällen 
nicht ganz ohne Nutzen. Eine auffallend gute Wirk¬ 
ung hat dieselbe bei einem 23 jährigen Epileptiker 
gehabt, bei dem alle anderen Mittel vollständig ver¬ 
sagt hatten. Dieser Kranke, der seit dem ^.Lebens¬ 
jahre häufig an Krämpfen und später an Erregungs¬ 
und Verwirrtheitszuständen litt, geistig sehr stumpf 
war, dasselbe Verhalten in der Anstalt zeigte, ist 
nach der Flechsig’schen Behandlung unter Weiter¬ 
nahme von Bromkalium frei von Anfällen, ist ge¬ 
ordneter und ruhig in seinem Verhalten, geistig reger 
und- klarer, hat körperlich sich sehr erholt und geht 
täglich zur Arbeit, wozu er früher vollständig unfähig 
war. Bei elenden und schwachen Kranken ist die 
Anwendung der Kur nicht zu empfehlen. Bins- 
wanger empfehle dieselbe besonders bei Epilep¬ 
tikern, welche in der Pubertätszeit erkrankt sind. 

Krömer-Conradstein betont noch den Einfluss, 
welchen die Anstaltsbehandlung (Ruhe, gute Verpfleg¬ 
ung, Rücksichtnahme p. p.) überhaupt auf die Epi¬ 
lepsie ausübt. 

Rabbas-Neustadt hat dies besonders auffallend 
in reinen Epileptiker-Anstalten gesehen. 

(Schluss folgt.) 

— Die Heilstätte für Alkoholkranke bei 
Fürstenwalde a. d. Spree. Die ärztliche Leitung der 
„Heilstätte Waldfrieden“, deren Bild wir auf 
Seite 117, Jahrgang No. IV, brachten, ist dem Herrn 
Dr. med. Knust übertragen worden; derselbe wohnt 
seit 1. Juli a. er. in der Heilstätte selbst. In allen 
ärztlichen Fragen, welche die Kranken der Heil¬ 
stätte betreffen, wolle man sich ausschliesslich an 
Herrn Dr. Knust, dir. Arzt der Heilstätte Waldfrieden 
bei Fürstenwalde a. d. Spree wenden. Mit dem 
Augenblicke, wo die Leitung dieser Trinker-Heilstätte 
in die Hände eines abstinenten Psychiaters gelegt ist, 
ist ein wesentlicher Schritt vorwärts in der sachgemässen 
Behandlung der anvertrauten Kranken gethan. Die 
Heilstätte Waldfrieden wird dadurch die einzige Special¬ 
anstalt für Alkoholkranke sein, welche diesen Vorzug 
besitzt. Wir empfehlen die Heilstätte der warm¬ 
herzigen Förderung seitens der Aerzte, wie der Be¬ 
hörden, Landesversicherungsanstalten, Berufsgenossen¬ 
schaften und Krankenkassen. Die näheren Beding¬ 
ungen sind aus den Prospecten, welche von der 
Heilstätte zu beziehen sind, ersichtlich. Zur Auskunft 
ist wie bisher der vom Verwaltungsausschuss bevoll¬ 
mächtigte Stadtrath Dr. Wa 1 d schm i d t, Charlotten¬ 
burg Westend, Lindenallee 33, bereit. Den Verwaltungs¬ 
ausschuss bilden: Geh. Med.-Rath Dr. Sander, Vor¬ 
sitzender. Ingenieur Quitmann, Kassenführer. Stadt¬ 
rath Dr. Waldschmidt, Schriftführer. Pastor Fritsch. 
Landesrath Gerhardt. H. Gorella. Professor Dr. Grawitz. 
Dr. Oestreicher. Dr. Wegscheider. 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


203 


Bibliographie 

über Kriminal-Anthropologie und Verwandtes 

I. Quartal 1904. 

Von Medicinalrath Dr. P. Näcke in Hubertusburg. 

(Schluss.) 

C e r c h i a r i: Chiromanzia et tatuaggio. Milano, 
Hoepli, 1903, 323 S. 

Mirabella: II tatuaggio dei domiciliati coatti in 
Favignana. Roma 1903. 

Vi e d e n z: U eber psychische Störungen nach Schädel Ver¬ 
letzungen. Archiv f. Psychiatrie 1903, Bd. 36, H. 3. 

Manouvrier: SulP analogia fra genio, epilessia e 
delinquenza. Revue Scientilique 1903, 24. oct. 

Antonini: La personalita di Vittorio Alfieri, secondo 
G. Sergi. Giornale di psich. clin. etc. 1903. 

Perusini: Caratteri degenerativi e funzionali: piede 
piatto e disturbi conseguenti. Rivistä esperiment. 
di Freniatr. 1903, fase. III. 

Cristiani: Su di una singolare alterazione mnemonica 
in un alcolista alienato uxoricida. Ibidem. 

Soukhanoff: Sulla patogenesi delle ossessioni mor- 
bose. Ibidem. 

Joteyko et Stefanowska: Asymetrie dolorifique. 
Journal de Neurologie 1903, vol. VIII. 

Dugas: La pudeur. Revue Philosophique 1903, nov. 

Belot: Les principes de la morale positiviste et la 
conscience conteraporaine. Ibidem, dec. 

Tarde: L’inter-psychologie. Bull, de l’Institut general 
psychol. 1903, Nr. 2. 

Malapert: Les caracteres. Ibidem. 

Ziino: SulP attendibilitä delle deposizioni dei folli e 
dei neuropatici. Giom. Interno delle Scienzc 
mediche. 1903. 

Strassmann u. Schulz: Die Photographie im Dienste 
der gerichtlichen Medicin. Offic. Bericht der II. 
Hauptversamml. des Deutschen Medicin. Beamten- 
Vereins 1903. 

R a e c k e: Gutachten über den Geisteszustand des 
Philipp B. Friedreich’s Blätter für ger. Medicin 
1904, H. 1. 

Heller: Hypnotismus, Suggestion und Magnetopathis- 
raus etc. Ibidem. 

Vidal: Asilo de reforma de menores varones. Ar- 
chivos de Psiquiatria y Criminologia 1903. 

Yarragaray y Ingegnieros: Demencia alcoolica y 
incapacidad civil. Ibidem. 

Haver Droeze en van Lier: Gerechtelijk-gences- 
kundige rapporten. Psychiatrische en Neurolo¬ 
gische Bladen 1904, Nr. 1. 

Efferz: Observaciones sobra entrecruzamento de 
especes biologicas poco afinos. Ibidem. 

de Veygas: Estudios clinicos sobra los ladrones 
professionales. Ibidem. 

Aluaro: Atendado contra las petsonas en 1002. 
Ibidem. 

Lapuente: Estudio clinico sobre los perseguidores 
amorosos. Ibidem. 

Bischoff: Ueber Eigenthumsdelicte bei Verfolgungs¬ 
wahn. Wiener klin. Rundschau 1904, Nr. 23. 

S i e v e r s: Congenitaler Feraurdefect. Diss., Leipzig 1904. 

Waitz: Fall von totaler Svndaktvlie an Händen u. Füssen. 
Ref. Münchn. med. Wochensehr. 1904, Nr. 8. 


Kiernan: Mixoscopie adolescent survivals in art, lite- 
rature and pscudo-ethics. The Alienist and Neu- 
rologist 1904, Nr. 1. 

The gentleman degenerate.. A Homosexualists Self- 
description and Self-applied Title. Ibidem. 

Moeli: Die Imbecillität Deutsche Klinik am Eing. 
d. 20. Jahrh., 1903. 

Haushalter et Richon: Malformation cardiaque et 
ca vite medullaire chez un enfant de 10 mois. 
Revue mens, des mal. de Penfanse 1903, dec. 

Brüning: Ueber angeborenen halbseitigen Riesen¬ 
wuchs. Münch, med. Wochcnschr. 1904, Nr. 8. 

March and: Ueber Verdoppelung der Vagina bei 
einfachem Uterus. Centralblatt für Gynäkologie 
1904, Nr. 6. 

Landau: Mann oder Weib? Ibidem. 

Dietrich: Ueber die Aetiologie dei Blasenektopie. 
Vortrag. Ref. Münch, med. Wochenschr. 1904, Nr. 9. 

Binet-Sangle: Le prophete Elie. Archives d’anthro- 
pol. crim. 1904, 15. mars. 

Matignon: Le bouddha tartare mandchou de la re- 
production. Ibidem. 

Littleton-Robins: Un cas d’exhibitionisme. Ibid. 

Florence: Peut-on distinguer le sang d’un homme 
du sang d’un autre homme ? Ibidem. 

Cels: Science de Phomme et metbode anthropolo- 
logique. Felix Alcan, Paris 1903. 

Knecht: Ueber die Unterbringung geisteskranker 
Verbrecher. Der Zeitgeist, 14. März 1904. 

Seil heim: Der normale Situs der Organe im weib¬ 
lichen Becken und ihre häufigsten Entwickelungs- 
hemmungen. Wiesbaden, Bergmann, 1903. 

Zuber: Ueber einen noch nie beschriebenen Fall 
von hochgradiger angeborener Erweiterung der 
Art. pulmon. in toto. Jahrbuch für Kinderheilk., 
Bd. 59, H. 1. 

Blum: Die Hernia intervesicalis. Wiener klinische 
Wochenschr. 1904, Nr. 8. 

Bartel: Ein Beitrag zur Casuistik der Tumoren der 
Sakralgegend. Ibidem. 

Aubeit et Bruneau: Ueber Anomalien der Ar¬ 
terien, über intravaskuläie Stränge. Revue de 
medecine, oct. 1903. 

Oppenheim: Fall von Myotonia congenita. Vortrag. 
Ref. Münch, med. Wochenschr. 1904, Nr. 10. 

Graser: Zwei congenitale Missbildungen (atresiaani vul- 
varis, congenitale Blasenspalte). Vortrag. Ref. ibidem. 

Flatau: Persistirender Gärtnerischer Gang. Vortrag. 
Ref. ibidem. 

Hahn: Die Strafrechtsreform und die jugendlichen 
Verbrecher. Dresden 1904, Zahn & Zaemsch, 1 M. 

Dubuisson: Die Waarenhausdiebinnen. Deutsche 
Uebersetzung. Leipzig, Seemann, 1904. 2. Aufl. 

Köhler u. Peiser: Hammarubis Gesetz. Bd I. 
Leipzig, Pfeifer, 1904. 

Mönkemöller: Geistesstörung und Verbrechen un 
Kindesalter. Berlin, Reuther & Reichardt, 1903. 

Leuss: Aus dem Zuchthause. Berlin, Rode, 1903. 

Colin: Les Alienes difficiles. Revue de Psych. 1904, 
Nr ; 3 - 

Dupre: Definition medico-legale de Paliene. Bull. 
Medical 1904. 


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204 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 22. 


Rabaud: Les stigmates anatomiques de la ilegenc- 
rescence mentale. Revue de l’Kcole d’Anthrop. 
1904, fevr. 

Picard: Les auto-accusateurs alcooliques. These de 
Paris 1904. 

Duhem: Contribution a l’etude de la folie chez les 
spirites. These de Paris 1904. 


Personalnachrichten. 

— Baden. Den Med.- Räthen Dr. Feld bausch 
und Dr. Nadler, Oberärzten an der Heil- und Pflege¬ 
anstalt Emmendingen wurde das Ritterkreuz des 
Bad. Ordens des Zähringer Löwens verliehen. 


Das Nährpräparat Hygiama. 

(Schluss.) 

„In 70 beobachteten Fällen, darunter viele schwere 
konnte ich bei 80% eine Gewichts- und Kräfte 
Zunahme constatiren. Die Kranken, bei denen ich 
Hygiama verordnete, nahmen im Durchschnitt täglich 
um ca. 8 deka zu. Ich hatte Kranke, die unter 
3—4 Wochen 2—3 kg Zunahmen, einige aber noch 
mehr. Eine Kranke z. B., die einen Spitzencatarrh 
hatte, nahm innerhalb 25 Tagen 4,30 kg zu; eine 
andere, die dasselbe Leiden hatte, nahm in 30 Tagen 
5,30 kg zu; als ganz besonderes Resultat ist noch zu 
verzeichnen, dass in einem Falle bei Apexinfiltration 
die Patientin in 20 Tagen 5 kg zunahrn. Ich gebe 
zu, dass in meinen Fällen die diätetischen, hygienischen 
und climatischen Verhältnisse zu den guten Erfolgen 
beigetragen haben; aber es ist auch Thatsache, dass 
in den Fällen, wo ich Hygiama nicht verordnete, 
ich eine Gewichtszunahme in oben bezeichneter Zeit 
nicht constatirt habe.“ 

Hager 27 ) hat das Hygiama an der Universitäts- 
Klinik zu Budapest in 45 Fällen versucht (2 Chlorose, 
2 Magengeschwür, 4 Typhus, 4 Magenkrebs, 5 Herz¬ 
fehler, 2 Pneumonia-Reconvalescenz, 2 Neurasthenie 
und 24 Lungentuberkulose). Alle vertrugen es sehr 
gut, nahmen an Körpergewicht zu mit Ausnahme 
der Krebskranken. Abführen oder sonstige un¬ 
angenehme Erscheinungen wurden während der Ver¬ 
abreichung des Hygiama nie bemerkt. 

Abgesehen von den vorstehenden Publicationen 
spricht sich die empfehlende Anerkennung des 
Hygiamas in zahlreichen Attesten von medicinischen 
Autoritäten, dirigirenden Krankenhausärzten und 
anderen Praktikern aus: Ewald, Litten, Boas, Länderer, 
Siemerling, von Jürgensen, Ungar, Vierordt, Kussmaul, 
Leichtenstern, Eulenburg, Schulz, Pelman, Flechsig, 
v. Fetzer, Biedert, die es für ihre Patienten seit 
vielen Jahren mit bestem Erfolg verordnen. 

Bei meinen eigenen Erfahrungen mit Hygiama 
fand ich die Empfehlungen seitens Anderer bestätigt. 

Dr. B res ler. 

Literatur. 

*) St üve, R„ Klinische und experimentelle Untersuchungen 
über Dr. mcd. Theinhardt’s Hygiama. Berl. klin. 
Wochenschrift 1896, Nr. 20. 

9 Lebbin, Wissenschaftliche Miltheilungen über das Dr. 


Theinhardt’sche Nährpräparat Hygiama. Allgem. med. 
Centralzeitung 1902, Nr. 60. 

*) Römer, C., Dr. med. Theinhardt’s Hygiama, ein neues 
Nährpräparat. Aerztliche Rundschau 1895, No. 13. 

4 ) Freudenberg, Hygiama. Reichs-Medicinalanzeiger 1898, 
No. 25. 

ö ) Baum, H., Ueber den praktischen Werth von Dr. med. 
Theinhardt’s Kindernahrung und Hygiama. Der Kinder¬ 
arzt 1898, No. 1. 

6 ) Rohmer,ß.,Die Theinhardt’schen Nährpräparate. Deutsche 

Aerzte-Zeitung 1899, Heft 15. 

7 ) Klautsch, A., Ueber den praktischen Werth von Dr. 

med. Theinhardt’s Hygiama im Kindesalter. Reichs- 
Medicinal-Anzeiger 1900, No. 25. 

8 ) Toch, S., Erfahrungen über Dr. med. Theinhardt’s 

Hygiama als Nährpräparat. Prager med. Wochenschrift. 
1901, No. 24. 

9 ) Manasse, K., Ueber den praktischen Werth der Dr. 

med. Theinhardt’sche» Nährpräparate. Reichsmedicinal- 
anzeiger 1901, No. 17. 

,0 ) Meyer, Die Ernährung bei fieberhaften und erschöpfenden 
Krankheiten. Aerztliche Rundschau 1901, No. 43. 

M ) Rhoden (Bad Lippspringc). Allgem. internat. niedicin. 
Rundschau 1901, Heft 7. 

I2 ) Aronsohn, J, Ueber die Anwendung von Hygiama in 
der Kinderpraxis. Deutsche Aerzte-Zeitung 1002, 
Heft 11. 

,3 ) Schlesinger, H., Erfahrungen über Dr. med. Theinhardt’s 
Hygiama. Die ärztliche Praxis 1902, No. 6. * 

u ) Goldberg, Deutsche medicinische Presse 1901, No. 24. 
,r, j Jacobsohn, Deutsche Krankenpflege - Zeitung 1902, 

Nr. 2. 

,B ) Kleniperer, G., Therapie der Gegenwart 1902, Heft 7. 

— v. Leyden’s Handbuch d. diätetischen Therapie p. 300. 
i7 ) Hempt, A., Ueber Versuche mit Hygiama. Wiener 
medicinische Presse 1902, No. 43. 

,8 ) Müller, O., Ein Beitrag zur Anwendung von Hygiama. 

Zeitschrift für Krankenpflege 1902, Oktober. 

,9 | Sobotta, Concentrirte Nährmittel. Das Rote Kreuz 1902, 
No. 24. 

70 ) Kraus, E., Ueber den Werth des Hygiama als Nähr¬ 
mittel. Therapeutische Monatshefte 1902, No. 12. 

Sl ) Heymann, Heinr., Ein Blick in die Nährmittel-Industrie. 
Der Grossbetrieb 1902, Nr. 1. 

") Schürmayer, B., Die Dr. Theinhardt’schen Nährpräparate 
in der ärztlichen Praxis. Deutsche Praxis 1903, No. 4. 
2S ) Hirschlaff, Leo, Ueber Theinhardt’s Hygiama. Zeit¬ 
schrift für pädagogische Psychologie, Pathologie und 
Hygiene 1902, Heft No. 5/6. 

?4 ) Godart-Danhieux, Sur un point interessant de la 
pathog^nie de l’ulc&re de l’estomac. Policlinique 1902, 
No. 24 

Jf> ) Schnürer, J., Erfahrungen über' Dr. Theinhardt’s lösliche 
Kindernahrung und Hygiama. Aerztliche Reform-Zeitung 
1903, No. 7. 

2<; ) Keibcl, Ueber Anwendung des Hygiama bei Tuberkulose. 

Therapeutische Monatshefte, Fcbr. 1904. 

* 7 ) Hager, P., Klinischer Bericht über Nährpräparate. 

Budapester Aerzte-Zeitung 1904, No, 10. 

?s ) Szaboky, J. v., Ueber Dr. Theinhardt’s Hygiama. Orvosok. 
Lapya, März 1904. 

■ 9 ) Deutsch , E., Therapeutische Erfahrungen aus der Kinder¬ 
praxis. Centralblatt für Kinderheilkunde 1904, März. 
;J0 ) Rosen, R , Versuche mit dem Nährpräparat „Hygiama“. 

Medicimsrhes Correspondenzblatt 1903, Nr. 7, Juli. 

;,l j Scherbcl, Ueber den Werth von Dr. Theinhardt’s 
Hygiama für Gesunde und Kranke. Aerztlicher Rath¬ 
geber 1902, Nr. r. 

Diese Nummer enthält einen Prospekt 

der Firma 

E. Merck in Darm Stadt, 
worauf die geschätzten Leser besonders hingewiesen 
werden. 


]• iVr den red.n lioneHen Theil verantwortlich : Oberarzt Dr. J. IJresier, Lublinitr (Sch.esicn). 

Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Vertag von Carl Marhold in Halle a. S 

Heynemann’schc Buchdmckerei (Gcbr. Wo’ffl in Halle a. S. 


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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift. 

Redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Lublinitx (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse: Marhold Verla*, Hallesaale. Fernsprecher 2834. 

Nr. 2& 3. September. 1904. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die ßspaltige Petitaeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermäasigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitx (Schlesien), zu richten. 


Ein sociales Sondergebilde auf psychopathischer Grundlage. 

Berichte und Urtheile 
gesammelt von A. Grohmann , Zürich. 


T m weltentlegenen Fischerdorfe N., in einem der 
* nördlichen Nachbarländer Deutschlands, war vor 
etwa 15 Jahren ein junger Mann angekommen, im 
einzigen, sehr bescheidenen Wirthshause abgestiegen 
und dann sofort an die Erledigung eines Geschäftes 
gegangen, wie solches bisher noch niemals von einem 
Fremden an diesem Orte besorgt worden war: er 
miethete eines der stattlichsten Wohnhäuser des 
Ortes, erklärte, dass er dies für eine ‘befreundete 
Familie thue, mit der er hier bleibend zu wohnen 
gedenke und traf eine Reihe von Anordnungen zum 
Wohnlichmachen des ländlich-primitiven Gebäudes. 
Wenige Wochen später traf die angezeigte Familie, 
ein Herr R. mit Frau und Kindern, ein. Auch sie 
erklärten, ihren bleibenden Wohnsitz hier nehmen zu 
wollen und alle ihre Veranstaltungen wiesen darauf 
hin, dass das wirklich ihre Absicht war, so neu und 
auffallend dies den Dorfbewohnern auch sein mochte. 
Noch niemals war es vorgekommen, dass Leute von 
auswärts ins Dorf gezogen waren. Die neuen An¬ 
siedler waren weder Fischer noch Landwirthe — der 
Junggeselle, etwa Mitte 20er, hatte sich als Litho¬ 
graph, der Verheirathete, Mitte 40 er, als ehemaliger 
Rittmeister der deutschen Armee ausgegeben. Dass 
sie keinen Beruf hatten, der ihren Aufenthalt in N. 
erklärte, fiel natürlich auf. Die Leute schienen wohl¬ 
habend zu sein, an ihrer Lebensweise war nicht das 
Mindeste auszusetzen, ihr Benehmen war stets gleich¬ 
bleibend zuvorkommend und liebenswürdig. Das 
Dorf war schon seit Jahren im Sommer gelegentlich 
von Malern und Touristen, aber immer nur vorüber¬ 
gehend, besucht worden und diese Fremden wussten 
so viel des Lobes über das schöne Dorf, seine idyl¬ 
lische Lage, die Schönheit seines Strandes und der 
benachbarten Wälder, dass die Dorfbewohner sich 

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allmählich mit der Vorstellung abfinden mussten: die 
deutsche Familie sei gekommen, um sich bleibend 
diesen von Stadtbewohnern so geschätzten Genüssen 
hinzugeben und hier ein beschauliches Leben zu 
führen. Anders war die Sache einstweilen nicht zu 
erklären. „Privatiers! — und doch sonderbar.“ Auf¬ 
fallend blieb es, dass die Familie des Rittmeisters 
sich zur bleibenden Niederlassung entschlossen hatte, 
bevor Eines von der Familie den Ort auch nur ge¬ 
sehen hatte. Schon wenige Wochen nach dem Ein¬ 
zug der Fremden waren viele Beziehungen zwischen 
ihnen und den Dorfbewohnern in bester Weise an¬ 
geknüpft. Zuerst hatte R. sich beim Pfarrer, dann 
beim Dorfvorsteher und beim Schullehrer vorgestellt. 
Dem Pfarrer hatte er sofort erklärt, dass er und die 
Seinen „ihren eigenen Glauben“ hätten. Mit dem 
Pfarrer und dem Schullehrer verabredete er, dass 
seine Kinder die Dorfschule besuchen sollten, zu¬ 
nächst um das ihnen unverständliche Plattdeutsch zu 
lernen. Voraussichtlich würden sie es bald dahin 
bringen, dem Unterricht folgen zu können. Die wohl¬ 
erzogenen , gesunden und liebenswürdigen Kinder 
waren bald die gleichberechtigten Gespielen ihrer 
Altersgenossen und in kürzester Zeit auch gerngesehenc 
Besucher der Nachbarfamilien geworden. Dass R. 
und seine Familie andern Glaubens waren als die 
Dorfbewohner, war nicht gern gesehen worden, doch 
schien R. diese Sache in bester Art anzufassen und 
keinerlei Schwierigkeiten erwuchsen in dieser Sache. 
Verabredet wurde, dass die Kinder vom Religions¬ 
unterricht der Schule auszuschliessen seien. Die 
Mutter werde ihnen zuhause Religionsunterricht er- 
theilen. Es war so verstanden worden, dass die 
Kinder während des Religionsunterrichts das Schul¬ 
haus verlassen sollten. Doch war es durch den 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 23. 


eigenen Willen der Kinder bald dazu gekommen, 
dass sie auch während dieser Stunde im Schulzimmer 
blieben und Niemand wendete etwas dagegen ein. 

Als besonders willkommen zeigten sich die Frem¬ 
den in ihrer Eigenschaft als noble Zahler. Ohne 
Luxus zu treiben — besonders fiel auf, dass sie 
keine Dienstboten hielten — verzehrten sie doch ein 
schönes Stück Geld, die Lebensmittellieferanten ver¬ 
dienten gut an ihnen und so war man nach allem 
bald darüber einig, dass sich das Dorf zu den neuen 
Bewohnern beglückwünschen durfte. Auch die Aus¬ 
weispapiere der Fremden waren in bester Ordnung be¬ 
funden worden. 

Die gute Stimmung zu Gunsten der Fremden 
nahm noch zu, als die unerwartete Nachricht durchs 
Dorf zog, R. habe das zuerst nur gemiethete Haus 
von seinem Besitzer gekauft. Es war ein stattliches 
Haus mit grossem Grundstück, am Rande des Dorfes 
gelegen. Der Kaufpreis, den R. sofort voll zahlte, 
war ein guter, etwa l i\ oder Va höher als den im 
Orte üblichen Preisen entsprach. Ein reges Leben 
begann, das gekaufte Haus wurde umgeändert und 
verbessert, neue Fussböden gelegt, moderne Oefen 
eingesetzt, Wege wurden gebaut und ein Garten an¬ 
gelegt. Handwerker wurden vom Ort und von aus¬ 
wärts bestellt und die ärmeren Dorfbewohner erhielten 
Verdienst als Taglöhner, auch zu einer Zeit, in der 
sie sich sonst nur schwer durchzubringen wussten. 
Besonders anerkannt wurde, dass R. bei Verdienst¬ 
gelegenheiten stets bemüht war, den Dorfbewohnern 
die Vorhand zu lassen. 

Auffallend gross war die Zahl von Besuchern, 
die die Fremden erhielten. Englisch, holländisch, 
dänisch und deutsch hörte man da reden und man 
sah manche dieser ausländischen Herren und Damen 
in regem Gespräch mit R. und B. durch die Dorf¬ 
strassen gehen und mehrere von ihnen blieben dann 
bei R. wohnen, dessen Haushalt vergrössernd, der, 
wie es schien, nach feststehender Regel ohne Dienst¬ 
boten weiter bewirtschaftet wurde. 

Unter den Besuchern war den Dorfbewohnern 
bald ein Herr A. aufgefallen, der ihnen noch be¬ 
deutender als R. erschien. Man war bald darüber 
einig, dass A. die vornehmste Stellung in der allmäh¬ 
lich anwachsenden Gesellschaft der Fremden ein¬ 
nehme. Alle schwiegen und hörten auf ihn, wenn 
er sprach — und er sprach sehr viel. Scherz und 
Vertraulichkeit, die die Fremden unter sich und im 
Verkehr mit den Dorfbewohnern bei passender Ge¬ 
legenheit zeigten, waren wie aufgehoben, wenn A. 
anwesend war. In wichtigeren Entscheidungen wurde 
meist seine Bestimmung eingeholt und man erlauschte 

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gelegentlich Worte und beobachtete Situationen, aus 
denen hervorging, dass A. das Haupt der kleinen 
Fremdenkolonie sei, ihr Führer in geistigen Dingen 
und ihr nie widersprochenes Oberhaupt Er müsse 
jedenfalls eine höhere Persönlichkeit sein. Mit den 
Dorfbewohnern kam A. in wenig Berührung, alle 
wirtschaftlichen Angelegenheiten wurden nach wie 
vor von R. besorgt. Es ging aus gelegentlichen Be¬ 
merkungen hervor, dass er als Bevollmächtigter des 
A. handle und dessen rechte Hand sei. Er hatte 
auch während A.’s öfteren Abwesenheiten dessen 
sehr zahlreich einlaufende Briefe zu besorgen. Immer 
wieder war A. wieder w'eggereist. Damals, etwa 2 
Jahre nach dem Eintreffen der ersten Ansiedler, hatte 
R. zum Erstaunen des Dorfes einem seiner Bürger 
einen sehr vorteilhaften Antrag gemacht auf Ankauf 
eines grossen Landstückes mit mehreren darauf 
stehenden Häusern. Ohne sich viel auf Feilschen 
einzulassen, schloss R. den Handel glatt und rasch 
ab. Ein Bankhaus in der nächsten Grossstadt M. 
zeigte 4 Tage später dem glücklichen Verkäufer an, 
dass die gesammte Summe baar eingezahlt und ihm 
„zur gefl. Verfügung gutgeschrieben worden“ sei. Der 
Kaufpreis für dieses zweite Grundstück war, ungleich 
dem ersten, ein bedeutendes Kapital und er war 
ganz wesentlich höher als der Werth des Verkauften 
wie er von den jetzt begierig gewordenen Dorfbe¬ 
wohnern geschätzt wurde: Viel zu hoch, hiess es 
allgemein. 

Ein lebhaftes Tempo trat jetzt ein in den Er¬ 
lebnissen der kleinen Fiemdenkolonie. Zunächst war 
A. nach mehrmonatlicher Abwesenheit wieder zurück- 
gekehrt, diesmal nicht allein, sondern mit Frau und 
Kindern, aus Amerika, wie es hiess. Die Frau schien 
wie ihr Mann eine ganze Anzahl Sprachen zu sprechen, 
die Kinder sprachen englisch und deutsch. Bald 
trafen auch noch andere Familien und auch einzelne 
Männer und Frauen, Wittwen und Mädchen ein 
und für sie wurden mit grossem Eifer und Eile die 
Häuser eingerichtet, die mit dem zweiten Grundstücke 
gekauft worden waren. Bei der behördlichen Namens- 
Eintra^uno- des neuen Besitzers war nur der Name A. 
genannt worden. Tiotzdem verbreitete sich durch 
eine unrichtige Zeitungsnachricht das Gerücht, es 
handle sich um eine Genossenschaft und als Name 
dieser Genossenschaft war der Name des ersten ge¬ 
kauften Hauses genannt. So erhielt die Kolonie die 
Bezeichnung „zum Holderhof“ und sie hat ihn von 
da ab behalten. Die gekauften Häuser wurden ohne 
irgend welchen übertriebenen Luxus, entsprechend 
den Bedürfnissen wohlhabender Stadtbewohner, weit¬ 
gehend umgeändert und verschönert — wie es schien 

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1904.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 207 


ohne alle Rücksicht auf die Kosten. Die Zahl der 
Kolonisten und ihrer Gäste wurde immer grösser, 
denn von den Vielen die auf Besuch kamen, blieb 
der Eine oder Andere, wenn auch meist nur auf 
einige Monate. Immer neue Grundstücke wurden 
hinzugekauft und immer höher wurden die Land¬ 
preise der Dörfler, für die jetzt die Sache zu einer 
Glückslotterie wurde. R., der alle Geldgeschäfte für 
den Holderhof besorgte, schien es in allem sehr eilig 
zu haben und nur weniger Unterhandlungen bedurfte 
es, bis er sich zur Zahlung von Summen entschloss, 
die als erstes Angebot genannt oder nur wenig nie¬ 
driger waren. Zuletzt war es zu Preisen gekommen, 
die etwa dem 3fachen Werthe entsprachen. 

Immer weniger konnten sich die neugierig ge- 
w» >rdenen Beobachter und Kritiker erklären, was diese 
splendid zahlenden Ausländer bewogen haben mochte, 
gerade N. als bleibende Wohnstätte zu wählen und 
vor allem so viel Land zu kaufen. Lieferanten und 
Geschäftsleute der nächsten Städte erkundigten sich 
über die Fremden und die Zahl der Neugieriggewor¬ 
denen wuchs immer mehr an. Das häusliche Leben 
der Fremden wurde jetzt das Ziel der Erkundigungen 
und Ausforschungen. Von Handwerkern, die in die 
Häuser gekommen waren, erfuhr man, dass A. an 
seine Genossen, meist nach beendeter Mahlzeit, 
lange Ansprachen halte. Fast immer nur er spreche, 
selten nur entwickle sich ein Hin und Her der Rede, 
niemals eine allgemeine Betheiligung. Aber keiner 
der ausgeforschten Leute schien im Stande zu sein, 
zu berichten, was der Inhalt dieser auf Hochdeutsch 
geführten Reden sei, von denen sie immer nur wenige 
Worte aufgefangen hatten. Alle, selbst die niedrig¬ 
sten Verrichtungen des Haushalts sollten von den 
Genossen selbst besorgt werden, die sich mit vor¬ 
gebundenen Schürzen lustig an die Arbeit machten. 
Alles gehe wie am Schnürchen, ohne Hast und Streit, 
Jeder wisse, was ihm zukomme, heiter, gesund und 
nüchtern lebten sie dahin. Gearbeitet werde nicht 
übermässig viel, im Gegentheil müssten es mehr gei¬ 
stige Interessen und Unterhaltungen über wichtige 
Themata sein, die das Centrum dieser sonderbaren 
Sache seien. In den Läden des Ortes und des 
nächsten Städtchens beziehe jeder „Holderer“ was er 
wolle, auf Kredit, „auf Rechnung des Holderhofes“, 
die jeden Monat bezahlt werde. Alles ins Handwerk 
fallende wurde an Handwerker vergeben. Für die 
Arbeiten des Feldes und der Viehwirthschaft wurden 
Knechte angestellt und zu ihrer Leitung einer der 
früheren Besitzer angestellt. 

Eine kleine Zahl der Gesellschaft zum Holderhof 
waren Männer aus den untern Ständen und diese, 


darunter ein Kutscher und ein Viehknecht, arbeiteten 
zusammen mit den Taglöhnem und Knechten aus 
N. Besonders diese suchte man auszuforschen. Doch 
bald sah man, dass sie keinem Spione dienen wollten 

— „oder selber nichts wussten“. 

Ungefähr 3 Jahre nach der Ansiedlung der ersten 
Holderhofleute, hatte ich zum erstenmale von dieser 
Gesellschaft durch einen Besucher ihrer Gegend ge¬ 
hört. Ich wandte mich brieflich an die Behörde in 
N. mit der Bitte um Auskunft über die Fremden, 
ihre Absichten, ihre Lebensweise etc. Es sei schwer, 
so war die Antwort, die gewünschte Auskunft zu er- 
theilen. Die Leute hätten viele und grosse Lände¬ 
reien gekauft, alles sofort baar bezahlt Was sie mit 
diesen Besitzthümem beabsichtigten, sei unbekannt, 
da bei Erkundigungen jedesmal etwas anderes ver¬ 
laute und niemals hätten die Kolonisten ihre Absichten 
für die Zukunft angegeben. Die meisten von ihnen 

— ich hatte auch nach diesen Punkten gefragt — 
tränken keine Spirituosen und einige ässen kein 
Fleisch. *) Sie seien weder Protestanten noch Katho¬ 
liken, aber welcher Religion sie angehören, habe man 
nicht erfahren können. 

Bald nach dieser Auskunft kam ich auf mehrere 
Monate nach der von N. nur wenige Stunden ent¬ 
fernten Grossstadt M. und las hier zum ersten Male 
von der Gesellschaft des Holderhofes in Zeitungen. 
Eine ganze Anzahl von ihnen schien plötzlich Inter¬ 
esse für sie gewonnen zu haben. Die Berichte, be¬ 
sonders die allerersten, waren unter sich sehr im 
Widerspruch. Ich gebe hier einen Auszug aus dem 
am wenigsten abenteuerlich klingenden: 

„Ueber die Ansiedlung einer geheimnissvollen 
deutschen Kolonie zu N. sind in der Presse ziemlich 
sensationelle Mittheilungen verbreitet worden, die an 
verschiedenen Uebertreibungen leiden. Nach unsern 
Erkundigungen ist die Kolonie nicht so gross noch 
so märchenhaft reich, wie man ausgestreut hat. Es 
scheint sich bei dieser Kolonie um eine der zahl¬ 
losen Sekten zu handeln, an denen Nordamerika so 
reich ist. Einzelne Mitglieder der Kolonie kamen 
faktisch direkt von Amerika herüber. Die ganze Be¬ 
wegung hat einen christlich-kommunistischen Anstrich. 
Gründer der Kolonie ist Herr A., welcher schon vor 

*) Vorwegnehmend, möchte ich dem Leser berichten, dass 
weder A. noch R., noch die meisten ihrer dauernden Anhänger, 
Vegetarier waren. Doch wurde die Gesellschaft fast nur von 
Vegetariern besucht — Naturgesetz — und dieser Umstand 
mag zur obenstehenden Mittheilung geführt haben. In Bezug 
auf Alkoholabstinenz entdeckte ich die merkwürdige Thatsache, 
dass die Holderer, umgekehrt dem Verhalten Anderer, prak¬ 
tisch Abstinenten, in der Theorie aber das Gegentheil waren. 


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208 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 23. 


zwei Jahren das Gut „Holderhof“ in N. käuflich er¬ 
warb und sich dort häuslich niederliess. Bald kamen 
andere Familien wie auch einzelne Personen nach. 
Sie bilden eine Gemeinschaft. Tritt jemand ein, so 
muss er sein ganzes Besitzthum hergeben. Dafür 
aber ist der „Holderhof“ seine Heimath. Ebenso 
ist der Austritt gestattet und das eingelegte Gut wird 
zurückgegeben, allerdings ohne Zinsen. Die Mahl¬ 
zeiten werden gemeinsam gehalten. Jeder kann seinen 
Beruf weiter treiben. So wird u. a. ein Haus für 
Künstler eingerichtet. Einer soll für den andern leben. 
Sie wollen ein „Christenthum der That“. Deshalb 
geben sie auch keine Schriften heraus und predigen 
nicht, ebenso werden keine Sakramente anerkannt. 
Gott ist, wie sie sagen, in der Natur allüberall, auch 
im Menschen, denn Natur und Mensch sind aus 
derselben Materie. Der Mensch kann nichts aus 
sich selbst und es geschieht auch absolut nichts, das 
Gott nicht zulässt, darum ist auch das Gebet nicht 
nöthig. Alles was Gott schickt, dient zu unserm 
Besten. Die Verehrung der Heiligen und der Maria 
muss sein. Sie wollen sich auch katholische, d. h. 
allgemeine Kirche nennen. Sie drängen sich Nie¬ 
mandem auf, machen keine Propaganda, jeder, der 
kommt, wird getrieben dazu. Ein Lehrer aus einem 
katholischen Seminar soll, wenn es die Regierung er¬ 
laubt, den Unterricht der Kinder übernehmen. Die 
Leute haben grosse Bibelkenntn iss. Von Christus 
sagen sie, dass er ein Mensch war und zwar bis jetzt 
der einzige, der sich vom göttlichen Willen absolut 
leiten liess. Die ganze Kreatur, alle Geister in der 
Luft, deren es Millionen giebt, wie auch die Ver¬ 
storbenen, sie warten auf einen neuen Christus, und 
der wird kommen. Er wird in N. sein Reich auf¬ 
richten zu Ostern nächsten Jahres. Bis jetzt ist alles 
nur Vorbereitung. Er wird Frieden bringen. Die in 
Waffen strotzende Welt wird die Waffen niederlegen. 
Die Mächtigen der Erde werden bei ihm Rath suchen. 
Die Zeit ist da nach der Offenbarung, dass auch die 
Erdoberfläche sich erneuern wird etc. etc.“ 

Einiges — und doch wieder nichts — erfuhr 
ich über die Gesellschaft zum Holderhof aus einem 
kleinen Blatte, das den Interessen der Spiritisten, 
Theosophen und Vegetarier dient. Ein Herr E. 
schreibt dort: Ihm sei in seinem Wohnorte, einer 
weitentfernten Weltstadt, das Gerücht von einem be¬ 
deutenden Manne mit bedeutenden Fähigkeiten aus- 
gestattet, zugetragen worden, der im entlegenen 
kleinen N. eine Kolonie zur Förderung des radikalen 
Idealismus errichtet hätte. Mit zwei Freunden kommt 
er nach N. Der Verfasser erklärt, von jeher von 
Projecten nicht sonderlich berührt zu sein, deren 

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Grundlagen in alle» lei Mystik und Religionssystemen, 
für die praktische und kühle Welt nicht greif- und er¬ 
kennbar, in nebelhafte Feme gehüllt sind etc. etc , 
und er berichtet, was er in N. gesehen: • „Nicht dass 
sie in büsserischer Einförmigkeit und Noth hier in 
harter Arbeit und Beten, wie frühere Orden und 
Sekten, ihre Tage verbringen werden, sondern in 
Fülle leben sie, ihrem „radikalen Idealismus“ zu 
Nutz.“ Den grössten Theil des Aufsatzes lasse ich 
weg und schreibe nur noch folgendes ab. Von A. 
schreibt er: „Er ist ein weit das preussische Garde- 
maass überschreitender Mann von schönem gl eich- 
massigen Wuchs und Ebenmaass der Glieder. Er 
trägt sich in Kleidung und Haltung etwa wie ein 
ostpreussischer Landedelmann, den man auf Schritt 
und Tritt nicht nur die Sicherheit in der Beherrsch¬ 
ung weltlicher Formen ansieht, sondern auch die Ruhe, 
welche ihm sein vom Staate garantirter Besitz ver¬ 
leiht und eine Sorge für das Morgen nicht aufkommen 
lässt.“ 

„Das Gespräch war hauptsächlich von A. be¬ 
herrscht. Wenn ich nun schildern soll, was A. an 
jenem Abend gesagt, so komme ich an den schwie¬ 
rigsten Theil meiner Darlegung. Zweifellos verfügt 
dieser Mann, der etwa im 40. Lebensjahre steht, 
über einen ungewöhnlichen Schatz des Wissens. Es 
passirten an jenem Abend alle Geistesheroen der 
Menschheit, nicht dem Namen nach, jedoch den 
Geistesprodukten nach, den kleinen Esssaal. Er 
spricht wechselnd, nicht in gebundener Vortragsform, 
sondern in einer bilder- und an Beispielen reichen 
Art. Seine Rede wechselt auch im Tonfall der 
Stimme. A. spricht ruhig, seiner Sache gewiss, um 
dann eindringlich seine Stimme warnend werden zu 
lassen, bis sie seinem zweifellos schnellen Gedanken¬ 
flug nicht mehr zu folgen vermag und in Misstönen 
sich verliert — er schweigt eine Weile, wie nach dem 
Faden suchend, er entschuldigt sich, und das Spiel 
beginnt von neuen\ seinen Lauf.“ 

„Was er will? Um es in kurzen Worten zu 
sagen: Er möchte die Menschen lehren, hinter die 
Dinge dieser Welt zu sehen. Er glaubt, oder viel¬ 
mehr er hofft, dass wir am Anfänge einer neuen Art 
der Erlösung stehen, wo wir im Gegensatz zur heu¬ 
tigen Erscheinungswelt zu der Erkenntniss einer gei¬ 
stigen Weltensphäre gelangen werden. Er will das 
A1 1 i c h im Gegensatz zum heutigen persönlichen 
Ich lehren.“ 

„Da es mir kaum gelingen würde, mich unsern 
Lesern in der Art, wie A. es thut, verständlich zu 
machen, will ich es bei dieser kurzen Andeutung be¬ 
wenden lassen.“ 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


209 


I 9 ° 4 *] 


r Es mag sein, dass ich in meiner Entwicklungs¬ 
stufe noch zu weit zurück bin, genug, mein Innerstes 
hat A. nicht für sich zu gewinnen vermocht. Frei¬ 
lich kann ich nicht den Standpunkt der öffentlichen 
Presse theilen, die ihm zum Theil, wie auch seine 
Verwandten, die bona fides aberkennen und ihn in 
wenig schmeichelhafter Weise einen Phantasten und 
Volksverführer nennen, aber ich kann auch seiner 
Person und Sache eine grössere Bedeutung nicht ohne 
weiteres zuerkennen.“ 

„Vom niedem Standpunkte, also rein volkswirt¬ 
schaftlich und menschlich social gedacht, hat sein 
Kolonie-Projekt, wie mir auch unser kühl wagender 
Freund H. beipflichtete, wohl kaum eine Bedeutung. 
Denn es ist doch keine That, mit reichlichen Geld¬ 
mitteln ausgerüstet, in einer landschaftlich schönen 
Gegend einige Wohnstätten auszurüsten, um dann 
dort künstlerisch begabte und religiös gestimmte 
Menschen anzusiedeln, in deren Lebensprogramm 
Geburts- oder sonstige Zufälle die Noth um das 
Lebensminimum noch nicht auf kommen Hessen.“ — 

-Dann ist noch die Rede von N. als „neuem 

Bayreuth“ und einer „vielleicht zu erlangenden er¬ 
höhten Daseinsberechtigung.“ 

Bei passender Gelegenheit besuchte ich nun die 
Gesellschaft zum Holderhof, am Hin- und Rückwege 
Erkundigungen über sie einziehend bei Leuten, die 
in der Nähe wohnen. Das Land- und Fischervolk 
erklärte mir die Gesellschaft als ein höchst geheim- 
nissvolles Ding, das Niemand durchschauen könne. 
Ein gebildeter Mann in der Nähe von N. sagte mir, 
es könnten vielleicht Mormonen sein, oder Freimaurer, 
wer weiss was, jedenfalls seien es Leute, die sich 
schon die Finger verbrannt hätten, ihre Absichten 
verbergen, vielleicht an andern Orten vertrieben 
worden seien. Auch politische Flüchtlinge u. dgl. 
hörte ich von Andern. Im Ortswirthshaus steige ich 
ab. Die von mir befragte Kellnerin: Was das für 
Leute sind, kann man nicht wissen, man weiss sogar 
nicht einmal, was für eine Religion sie haben; einige 
sagen, ihre Religion sei der „Oklatismus“, aber wer 
soll das wissen, was das für eine Religion ist. Von 
andern wurde die Gesellschaft als geldspendende 
Quelle gerühmt, da sie manche Handwerker be¬ 
schäftige, dann die Besteuerung ihrer Reichthümer, 
darunter ihr Land im Werthe von, in deutsches Geld 
umgerechnet, V3, nach andern Angaben bis 2 h Mil¬ 
lionen Mark, etc. etc. Gelobt wurde mir die Mora¬ 
lität der Ansiedler. Auch beschäftige A. keine Ar¬ 
beiter, die sich unanständig benehmen und wer flucht, 
werde entlassen. 

Ich komme in den Holderhof, einem stattlich 

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renovirten Fischerhause. Nach einer Begrüssung 
von zwei Damen, Frau A. und Frau R., von ihnen 
zum Nachmittagskaffee eingeladen, der in einer Stunde 
eingenommen werde, werde ich gebeten, mir bis da¬ 
hin alles anzusehen. Einer der Herren erklärt sich 
sofort bereit, mir in Abwesenheit des bis zum Abend 
verreisten A. die Honneurs zu machen, führt mich 
in den Ländereien der Gesellschaft umher, wo eine 
Anzahl ehemalige Fischer- und Bauernhäuser in be¬ 
queme Wohnstätten umgebaut werden, spricht sich 
aber anfänglich bei meinen Erkundigungen etwas 
reservirt aus. Auf meine Frage hiess es: Der Be¬ 
richt der Zeitungen über das Erscheinen Christi im 
nächsten Jahre ist eine Zeitungsente. Es sind schon 
mehrere Zeitungsberichterstatter hier gewesen, die 
dann allerlei unwahre Nachrichten hinausbringen. 
Man muss leider vorsichtiger sein, als man möchte. 

Zu verbergen haben wir hier nichts. 

Ich: Sie leben hier alle in Gütergemeinschaft? 

Er: Ja, Jeder giebt, was sein ist, und eine Kasse 
verwaltet das Ganze. Wir haben Mitglieder, die früher 
ganz arm waren und wir haben auch solche, die 
früher reich waren. Jetzt sind sie alle gleichgestellt. 

Ich: Nimmt Herr A. Theil an den Arbeiten in Feld 
und Werkstatt? Er: Nein, er hat genug zu thun mit 
der Auslegung der Symbole. Ich: Welche Symbole? 

Er schweigt lange; dann: Es ist das neue EvangeHum, 
das geistige. Es ist nicht eine Religion. Es ist mehr 
als eine Religion. Ich: Haben die andern Genossen 
zu arbeiten? Er: Das ist Jedem überlassen. Hier 
herrscht Freiheit. Ich: Was für Bauten sind noch 
geplant? Er: Vorläufig soll nur ein Tempel gebaut 
werden von dreien die geplant sind, die Kronenburg. 
Gegen die zwei andern wird dann später die Ge¬ 
meinde N. wohl auch nichts einwenden. Die Kronen¬ 
burg wird den Namen Marienkapelle tragen. Ich: 
Haben Sie schon Baupläne? Er: Das Nähere kenne 
ich nicht. Diese Sache ist in guten Händen, ich 
aber bin nicht sachverständig in Bausachen. D., ein 
deutscher Bildhauer aus Florenz, der unser Genosse 
ist, wird die Pläne ausarbeiten. Drüben im Hulder- 
hof können Sie Zeichnungen davon sehen. 

Eine Glocke ruft uns in den Holderhof, wir 
kommen in einen Speisesaal, wo sich eine gesund 
und fröhlich aussehende Gesellschaft mit den besten 
Umgangsformen nach und nach einfindet. Mit an¬ 
dern, die auf einer Altane sitzen, etwa 40 Personen, 
nach der Sprache meist Norddeutsche, ein Holländer, 
einige Amerikaner etc. 

Ein geschäftig beweglicher Herr — er war es, 
der die Gesellschaft herbeigeläutet hatte — sieht 
mich, geht strammen Schrittes auf mich zu, stellt 

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210 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 23. 


sich vor, nimmt meinen Namen entgegen und eilt 
wieder geschäftig weg. Meinen Bekannten von vor¬ 
hin frage ich, wer und was dieser Herr sei. Er ist 
der Koch, heisst es. Ich: Wirklich ? (Eher hätte 
ich ihn für einen preussischen Officier in Civil an¬ 
gesehen.) Doch nicht Koch von Beruf? Er: Nein! 
Er ist Doctor der Theologie. 

Während des Kaffees rechts und links mit der 
äusserst liebenswürdigen Gesellschaft Beziehungen an¬ 
knüpfend, schweift mein Blick gelegentlich an den 
Wänden des Saales entlang. Zwei grosse Felder 
zwischen Fenstern enthalten eines ein aufrecht 
stehendes Kreuz, das andere ein umgekehrtes. Ueber 
einer Thür ein umgekehrtes Herz (mit der Spitze 
nach oben) mit einem Auge in der Mitte. Hinter 
dem Stuhle zu Häupten der Tafel, dem Platze des 
jetzt abwesenden A., ein altarähnlicher Aufbau mit 
symbolischen Zeichen in Goldstickerei auf violettem 
und schwarzem Damast. Im Hintergrund das für 
mich ominöse Harmonium. 

Ich suche Gelegenheit, dem Bildhauer D. vorge¬ 
stellt zu werden, erreiche dies und erfahre, dass er 
sich bleibend in N. als Genosse des Holderhofes 
niedergelassen habe. Auf meine Bitte, mir die Ent¬ 
würfe zu den Tempeln zu zeigen, bringt er mir eine 
Mappe. Mit dieser begebe ich mich zu einer der 
Bänke und Tische im Garten. Da blättere ich in 
der Sammlung, die eine Reihe von Entwürfen zu 
Tempelbauten enthält, von einer phantastischen Art, 
wie ich sie noch nicht gesehen hatte, und begleitende 
Notizen: Ein „Weisser Tempel“, ein „Tempel des 
stillen Wassers“, ein „Drachentempel mit goldener 
Kuppel und schwarzeisernen Gitterdrachen“. Dann 
kommt ein „Akustischer Musiktempel (Tonhalle und 
Concertsaal) mit irisirendem Centrallicht“. Ein Tem¬ 
pel der „Eisernen Krone, mit zehn getrennten Wander¬ 
gängen. Diese führen zur Halle der Anschauung. 
Die Front zeigt das Bild des ,TAT‘, umzingelt von 
den zehn Tugenden. Die zehn Eingänge sind flan- 
kirt von zw'ei Drachen und überspannt von einem 
Riesenbogen in Stcinmasswcrk und ganzen Kathe- 
dralscheiben weiss verglast; erst in den Kuppeldecken 
der innern zehn Wandergänge ist farbige Verglasung 
mit nöthiger Verbleiung, derart, dass das Licht der 
Gänge in der Tonleiter des Regenbogens sich unter¬ 
scheidet. Sie sind getrennt durch Sockelmauern, 
über denen plastisch durchbrochene Wände aufragen 
und Pfeilersäulen die bunte Decke tragen. Das 
grosse Tonnengewölbe ist aus Beton, das Dach aus 
glasiiten Ziegeln ohne Oberlichter“. Zu diesem 
Tempel führt eine schiefe Ebene, „da eine lange 
Treppe eimüdend und dem Schauen im Schreiten 


hinderlich wäre“, wie der hinzugesetzte Text lautet. 
Dann ein „Tempel der Erde“, untgeben von einem 
„heiligen Haine“ und einem Wassergraben. Dieser 
Tempel hat eine giosse Zahl von Sälen, jeder mit 
farbigem Oberlichte, um bestimmte Stimmungen her¬ 
vorzurufen. Da sind: zwei Vorkammern mit gold¬ 
gelbem, resp. schwefelgelbem Licht, dann ein Saal der 
Lust (orange Licht), eine Halle der Gefühle (rothes 
Licht), Saal der Sehnsucht (violettes Licht), Halle 
der Ergebung (blaues Licht), Saal der Liebe (blau¬ 
grünes Licht), Halle des Wissens (grünes Licht), Saal 
des Ehrgeizes (gelbgrünes Licht), ein Centralraum 
mit dem Bilde des Herrn der Erde (weisses Ober¬ 
licht), eine Kammer des Schweigens (dunkelblaues 
Licht), flankirt von zwei Kapellen mit je einem 
Wächter, dann eine kleine Vorkammer, genannt: 
„Das Dunkle“, und zuletzt ein kreisrunder Saal: „Das 
Heiligthum“. Der siebente und letzte Tempel end¬ 
lich heisst der „Tempel des Lucifer“ und ist mit 
Drachen, Sphinxen etc. verziert. 

Nur mit getheilter Aufmerksamkeit konnte ich 
mir die merkwürdigen Zeichnungen ansehen und die 
oben wiedergegebenen Notizen abschreiben, denn 
bald nachdem ich mich in die Gartenanlage begeben 
hatte, kam eine Gesellschaft, die die benachbarten 
Bänke einnahm und eine lebhafte Unterhaltung be¬ 
gann. Die Wortführerin war eine der ältern Damen, 
die ich in der Kaffeegesellschaft gesehen hatte. Sie 
schien da fremden Besuchern Einblick in die Ver¬ 
hältnisse des Holderhofes zu geben. In lebhafte 
Gemüthsstimmung schien sie zu gerathen, als sie des 
A. und seines Wirkens gedachte. Folgende Stelle 
kam da vor: „Ich bin kürzlich mehrere Monate in 
Berlin gewiesen. Mir hat diese vielgerühmte Stadt 
einen unangenehmen Eindruck gemacht: das Volk 
dort ist gemein. Alles hastet und jagt dort 
nach Profit, Vortheil und Gewinn, rücksichtslos für 
die Gefühle der Mitmenschen. Dieses Gethue ist 
ihnen zur zweiten Natur; es ist auch da zu finden, 
wo es ihnen nichts nützt: z. B. In die Tram- und 
Eisenbahnwagen stürzt sich das Volk, jeder hat da 
nur den Gedanken, wie komme ich zu einem Platze, 
mit den Ellbogen rudern sie dahin, um nur ja recht 
viele Mitmenschen zurückzustossen: Was des Andern 
Nachtheil, ist mein Vortheil, denken sie. Aber man 
sicht: Zuletzt hat doch jeder Platz gefunden, ob nun 
stark oder schwach, ob rücksichtslos oder nicht: Alle 
kommen ans Ziel, keiner braucht zurückzubleiben. 
Wozu also das Gedränge, wozu die Rücksichtslosig¬ 
keit, wozu die Gemeinheit ? Aber das ist ihr Trieb, 
ihre Anlage. Dass sie nun in dieser selben Stadt 
Berlin nicht wissen, wie genug Irrenanstalten zu 


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I 9 ° 4 -] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


2 I I 


bauen, das darf uns nicht Wunder nehmen. Das 
kommt von diesem Geiste der Gemeinheit. Wie an¬ 
ders hier! Welcher Friede, welche Ruhe! Wir alle, 
die Sie uns hier sehen, wir bilden eine Familie. 
Unserm A., diesem Einzigen, verdanken wir das 
alles. Hier in dieser schönen friedlichen Natur ver¬ 
wirklicht er seine Ideale: Friede auf Erden predigt 
er uns und er bewirkt ihn. Der Einzige! Da ist 
in diesen Tagen eine vollständig verarmte Familie 
K. hier eingetroffen, sehen Sie: der Mann dort 
drüben mit seiner Frau und den 2 kleinen Kindern 
nebenan. Abgebrannt, sag ich Ihnen, waren sie, 
keinen Groschen im Sack, aber auch gar nichts 
hatten diese Leute, als sie hier ankamen. Jetzt haben 
sie dasselbe wie wir, kein Unterschied wird gemacht, 
und die Leute fühlen sich wohl und zufrieden. Es 
ist den Armen zu gönnen.“ 

Spät Abends an diesem Tage ist mir ein merk¬ 
würdiger und schöner Anblick geworden: der Em¬ 
pfang des heimkehrenden A. Von der Gesellschaft, 
die, wie man mir sagte, sonst um 9 Uhr zu Bette 
zu gehen pflegt, dachte keiner daran, sich von der Be- 
grüssung des A. auszuschliessen, trotzdem seine Ankunft 
auf ungefähr 11 Uhr Nachts angezeigt war. (A. war, 
zusammen mit R., nach einer Viehausstellung gereist 
mit der Absicht, vielleicht einen Zuchtstier zu kaufen.) 
Einige gingen ihm, wie im Wettlauf um die Ehre, 
bis auf eine Stunde zu Fuss entgegen, andere bis 
zur entfernten Eisenbahnstation. Ich war mit dem 
grössten Theil der Leute auf der Strasse eine viertel 
Stunde weit gegangen, wo mir nun in der Vollmond- 
Herbstnacht der Anblick des mit zwei Schimmeln 
bespannten Wagens mit A. und R. wurde. A. war 
nur 3 Tage abwesend gewesen, aber in dichter Schaar 
umschwärmten jetzt seine Anhänger und Anhänge¬ 
rinnen den geliebten Führer mit Gruss und Anrede 
und Fragen. „Es ist ein okkulter Stier, den ich Euch 
gestern eingekauft habe“, war ein Satz, den ich von 
A. auffing. „Dem Volk hier werden wir zeigen, wie 
ihre Viehrasse verbessern.“ Nachdem sich etwas 
Ruhe eingestellt, ging ich auf A. zu, stellte mich vor 
und erklärte: Ich bin gekommen in der Hoffnung, 
dass Sie mir gestatten werden, Sie und ihre Sache 
kennen zu lernen. Eine ruhige Verbeugung der 
eleganten Erscheinung, ein sehr fester, herzlicher 
Händedruck, eine bedeutende, gewährende Geberde 
und er ward wieder von andern in Anspruch ge¬ 
nommen. Gleich drauf stellte sich mir R. vor: 
Officierserscheinung. 

Am nächsten Morgen betrat ich gleich nach dem 
beendeten Frühstück der Gesellschaft den Esssaak 
A. war schon in Mitte einer Absprache an seine An¬ 


hänger. Aus dieser Rede habe ich mir noch am 
gleichen Vormittag mehrere Sätze notirt, die ich hier 
wiedergebe. Ich nummerire sie, da ich mich weiter 
unten auf einzelne beziehen will. 

„Wir haben fünf Welttheile, entsprechend den 
fünf Sinnen. Jedem Welttheil entspricht ein be¬ 
stimmter Sinn. Aber das war nur so bis heute. 
Von jetzt ab wird dies anders werden. Es ist näm¬ 
lich jetzt ein neuer Sinn im Entstehen begriffen, der 
sechste, oder sogenannte Omega-Sinn. Wenn die 
Entwicklung dieses sechsten Sinnes vollendet sein 
wird, so wird sich manifestiren, dass es an dem ihm 
zukommenden Welttheile fehlt. Wenn aber dieser 

Tag anbricht, dann-— das sage ich Ihnen 

meine Freunde (klopft auf den Tisch) — — — 
dann werden wir froh sein, dass wir nicht mehr 
existiren!“ (Hierauf folgt die mit drastischen Ge¬ 
berden begleitete Beschreibung des bald bevorstehen¬ 
den Weltunterganges.) I. 

Im Verlauf des gleichen Gespräches war das 
Wort Urtheil vorgekommen. „Nun müssen wir 
verstehen, was heisst Urtheil ? Ur — und: theil. 
Ur heisst so viel als Ursprung oder Chaos. Theil 
kommt von Theilen oder Gerechtigkeit Also auch 
hier wieder: der deutlichste Beweis von der Existenz 
des im Bewusstsein des Weltgeistes liegenden Triebes: 
Aus dem Chaos empor zur Gerechtigkeit!“ II. 

Später kam das Wort Wacht vor. Wie in Pa¬ 
renthese, mit veränderter Stimme, ermahnt A. seine 
gespannt aufmerksamen Zuhörer. „Beachten Sie wohl: 
Das W(eh) und die Acht!“ III. 

Später: „Wir können uns vierdimensional bewegen, 
oder auch dreidimensional, ganz wie wir wollen, aber 
immer nur eins von beiden!“ IV. 

Später: „Ueberhaupt und allgemein gefasst: Wir 
bestehen aus einem innern und aus einem äussern 
Menschen. Dieses ist die Zweiheit. Verbinden 
wir diese mit der Dr eieinigkeit, so kommen wir 
zur Sechs, welche liegt neben der Sieben!“ (Ge¬ 
berde des Schreckens.) Dann mit erleichtertem Aus¬ 
druck: „Legen wir nochmals die Zweiheit hinzu, so 
kommen wir zu Neun, welche liegt neben der 
Zehn, welche ist die Verbindung der Einheit 
mit dem absoluten Nichts.“ V. 

Auch unterwies uns A. in einer Art kabalistischer 
Geheimkunst: Wie wir uns helfen könnten, gar 
mannigfaltig im Leben aus allerlei Zweifel und Un¬ 
kenntnis, bloss mit Hülfe von zwei mondförmig ge¬ 
krümmten Gegenständen: ) ), z. B. auch mit den 
gekrümmten Händen. Dreifach sei die Lage in der 


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Original fram 

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2 12 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 23. 


wir diese zwei Dinge zu einander bringen können: 

so als 3: so als S: so als o: (). Zu 3, S 

und o gab er uns die verschiedenen Bedeutungen, 
die sie haben könnten, je nach dem, und erklärte, 
man brauche nur die richtige Interpretation zu finden, 
um sich zu helfen, wie er einmal im Walde, als er 
den Weg verloren hatte: 

Am Schluss dieser Rede, der ich von 8 1 /-* bis 
10 Uhr zugehört hatte, stand A. auf und die ganze 
Gesellschaft defilirte an ihm vorüber und Jeder gab 
ihm die Hand. 

Eine ältere Dame während der sehr kurzen Pausen 
in der Rede: Das ist die höchste und beste Religion. 

Unter den Leuten, die nach der Rede verschie¬ 
dene Gruppen im Saal bildeten, waren einige, die 
den untern Volkskreisen anzugehören schienen, be¬ 
scheidener als die andern, aber sauber gekleidet. An 
sie, als die Nächststehenden, wandte ich mich, lerne 
einen sehr treuherzig aussehenden Tyroler und einen 
Badenser kennen, die mir berichten, dass sie für 
Besorgung der Pferde etc. da seien und Genossen 
der Gesellschaft seien. Ich : Verstehen Sie, was Herr 
A. predigt? Der Tyroler: Nein! Und zum Collegen 
Badenser: Gelt, du, net war, den Herr A. verstehst 
du a net? G’steh’s nur! Wissens, dem sind seine 
zwa weissen Rösseln wichtiger wie alle die G’schichten 
vom Herrn A. Ueberhaupt: Mir geht das Ding hier 
a viel zu klösterlich zu. 

An einen Herrn, der sich mir als Stud. med. 
vorgestellt hatte: Verstehen Sie den Herrn A.? Er: 
O ja, warum nicht, es ist doch eigentlich weiter 
nichts als die Descendenztheorie, die er lehrt. 

Ueber das Verhältniss zu Besuchern mich er¬ 
kundigend, erfahre ich von einer Gruppe von Herren: 
A. fühlt sich, wie er auch selbst sagt, mächtig ange¬ 
zogen vom Geiste der Personen, die neu herkommen, 
und er nimmt stets Rücksicht auf die Bildung und 
den Beruf von neuen Zuhörern. Der Geist wird ihm 
viel mehr von auswärts zugetragen als von hier am 
Platze selbst. Er kommt Jedem entgegen, der nach 
seinem Geiste strebt und ladet auf seinen Reisen 
die hervorragendsten Persönlichkeiten ein, hierher zu 
kommen. 

In mein Wirthshaus zurückgekehrt, suche ich die 
Ansicht des Wirthes zu erforschen, was nicht so 
leicht ging, als bei der den Tag vorher von mir be¬ 
fragten, etwas internationalen Kellnerin. Soweit ich 
das mir ungewohnte Platt verstehen konnte, hat er 
mir folgendes gesagt: Es wäre gut, wenn die Men¬ 
schen das thäten, was Herr A. sagt. Aber dazu 
müssten wir wissen, wie’s zu machen sei, und dazu 


müssten wir den Herrn A. verstehen. Wir hier im 
Orte verstehen ihn aber nicht. Er spricht zu eng¬ 
lisch. Auf mein genaues Befragen bekomme i»l. 
dass hier unter englisch gemeint ist: i. das zu 
schnelle Sprechen des A., 2. dass dem Wirthe wenig 
geläufige Hochdeutsch, 3. die vielen wissenschaftlichen 
Bezeichnungen. 

Nach M. zurückgekehrt, suchte ich während des 
viertel Jahres meines dortigen Aufenthaltes Leute auf, 
die A. kannten und begann bei ihnen die nach¬ 
folgend dargestellte Umfrage. Meist theilte mir ein 
Angefragter Namen und Adressen Anderer mit, die 
den Holderhof besucht hatten. Ich treffe bei der 
Wiedergabe meiner Umfrage keine Auswahl unter 
den Besuchten, sondern führe sie alle auf. 

Besitzer einer Naturheilanstalt, Vegetarier. — 
Ich: Lassen Sie sich berichten, was ich Herrn A. 
sagen hörte. (Citire die Sätze II und V.) Was 
halten Sie davon ? Er: Ja, das ist wahr. Aber Sie 
müssen nicht glauben, dass das der A. aus sich selbst 
hat. Das steht schon in unsern ältesten Weisheits¬ 
büchern. Im Uebrigen berichtet er: Den A. habe 
ich erst kürzlich nach 3 Jahren wiedergesehen. Er 
hat mir nicht mehr so gut gefallen wie früher. Er 
hat sich sehr zum Nachtheil verändert. In seinen; 
Auge liegt etwas Krankhaftes. Die Veranlassung 
die mich zu ihm nach N. führte, war die: ich wollte 
meine Anstalt und mein Gut verkaufen. Ich reise 
also nach N. und sag zu ihm: Ich hab gehört, dass 
Sie so viel Land kaufen. Wenn Sie nicht principiell 
dagegen sind, auch ausserhalb von N. zu kaufen, su 
offerire ich Ihnen mein Gut und will Ihnen in den 
Bedingungen entgegenkommen. Er hat aber sofort 
gesagt: Nein! Es ist mir ganz unmöglich, Ihr Land 
zu kaufen. Das liegt nicht an meinem guten Willen, 
das will ich Ihnen beweisen; bitte kommen Sie mit 
mir. Er führt mich zu ein paar Felsen und sagt; 
Sehen Sie diese Felsen hier, sie bilden die einzige 
Stelle, die beim Weltuntergang überbleibt. Und es 
kann keine zehn Jahre mehr dauern, bis das kommt. 
Deshalb hab ich mich ja in N. niedergelassen, um 
in der Nähe zu sein, wenn es losgeht. *) Und da 
können Sie doch nicht erwarten, dass ich Ihr Land 
kaufe, so weit weg von hier. — Ich hab gleich ge- 

*) Als ich diese Worte gehört, glaubte ich — unbekannt 
mit dem, was der Leser jetzt aus den ersten Seiten weiss 
— dass ich die Erklärung gefunden hätte, warum gerade N 
der Sitz der Holderer geworden sei. Doch hat sich später 
herausgestellt, dass die Sache mit den Felsen eine der vielen 
von A. so beliebten nachträglichen Auslegungen war. Man¬ 
chem seiner Anhänger wurden diese zu „Prophezeiungen“, die 
fleissig herumcolportirt wurden. 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


213 


1004.] 

sehen, dass er nicht kaufen will, nun, das ist seine durch alle seine Handlungen: Als einmal seine Frau 


Sache, und so bin ich wieder heim. Aber, wissen 
Sie, das mit dem Weltuntergang, das ist so eine 
Sache, in der Bibel steht nichts davon. Gar nichts 
ist da zu finden, das man so auslegen könnte. Ueber- 
haupt, ich hab bald an A. herausgemerkt, was er 
geworden ist: ein indischer Philosoph ist er jetzt, 
ganz complett. Ich: Sie können sich also nicht mit 
ihm verstehen. Er: Verstehen? Warum nicht, aber 
wir sind getrennt wie Tag und Nacht. Ich stehe 
auf dem Standpunkt der neuen oder christlichen 
Theosophie, er auf der indischen. Uebrigens hat er 
mir schon vor Jahren einmal gesagt, dass er ein 
Weisser Bruder geworden ist. Da können Sie sich 
denken, wie es mit seiner Sache stehen mag. 

Vegetarier, ehemaliger Theosoph. — Er berichtet, 
dass er bei einem Besuche in N. ungefähr Dinge 
wie ich angehört und gesehen und dass er sich nicht 
habe überzeugen können. Um uns auf gleiche Basis 
zu stellen, citire ich den Satz V. Was halten Sie 
von diesem Ausspruch? Er: Das sind Redensarten. 
Nachdem ich ihm erklärt, was Redensarten sind, 
scheint er sich etwas beengt zu fühlen und erklärt: 
Mit dem Manne kann es noch schlecht kommen, so 
viel weiss er und so viel hat er gelesen. Er ist in 
einem Zustand von zu grosser Spannung. Uebrigens 
der Satz (V) erklärt sich aus dem jüdischen Schriften-, 
Buchstaben- und Zahlenwesen. 

Pensionirte Schullehrerin, Theosophin, Vegetarierin, 
kennt A. genauer, der einmal zu ihr gekommen war, 
um sie als Anhängerin zu gewinnen. Ich citire die 
Sätze II und V. Was halten Sie davon? Sie ath- 
met auf, wie vor einer grossen Aufgabe. Ja, sehen 
Sie, daraus lässt sich machen, was Sie wollen. Je 
nach der Auslegung, die man den Worten und Be¬ 
griffen giebt. Sie trägt grosse Manuskriptpackete 
herbei, blättert in Notizen über Wortauslegungen, 
mit denen die völlig vereinsamte, jahrelang magen¬ 
leidende Naturheilkunde-Studierende ihrer Existenz 
den geistigen Inhalt gegeben. Endlich findet sie die 
gesuchte Stelle, die ungefähr so lautet: Bund, Band, 
Bündniss, binden, borgen, bürgen, Bach, Buch; das 
hängt alles zusammen. Mein Vater selig hat diese 
Sachen anders behandelt. Er hat sie Christ-philo¬ 
sophisch bearbeitet. Sie holt einen Folianten mit 
vergilbten Papieren in Gross-Aktenformat mit Datum 
aus den 40 er Jahren. Das sind die hinterlassenen 
Schriften meines Vaters selig. Diese Sache hat 
er studirt, genau! Nach einer flüchtigen Ein¬ 
führung in diese Schriften frag e ich sie um ihre Mein¬ 
ung über A. Sie : Das steht fegt: Der Mann spricht 
wachmedial. Diese Eigensc^^ zieht sich überhaupt 

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in Amerika und er in Europa war, hat er nicht 
nöthig gehabt, ihr Briefe zu schreiben. Sie waren 
in Seelengemeinschaft. 

Bericht eines vegetarischen Naturarztes, der A. 
besucht hatte: Ich habe dem A. gesagt, dass ich 
nichts an seiner Sache aussetze, dass mir aber sein 
Fleischessen nicht gefalle. A. hat mir darauf gesagt: 
Ich kann alles essen! Es ist wahr, dass die Vege¬ 
tarier über den anderen, dem Mittelgut der Men¬ 
schen, stehen, aber über die Vegetarier hinaus giebt 
es eben noch eine kleine Zahl, die, eben weil sie 
höher stehen, den Vegetarismus nicht nöthig haben. 
— R. hat mir gesagt, dass A. ein äusserst mächtiger 
Mann sei, der auch Beweise seiner Einwirkung auf 
die Elemente gezeigt habe. Einmal sei vorübergehend 
der Baarbestand in der Cassa knapp gewesen, und 
doch waren eine grössere Zahl Arbeiter zu ent¬ 
löhnen, die sie nicht gerne entlassen hätten. Da 
kam plötzlich ganz unerwartete Hülfe: Es fing an 
zu schneien, die Bauarbeiten mussten also eingestellt 
werden und das rettete sie aus der Verlegenheit. 
Auf meine Zweifel, dass das von A. gemacht worden 
sei, fühlte sich der Herr beleidigt, und wortkarg wies 
er mich an A., der mir die Sache selbst bestätigen 
könne. 

Ich: Was halten Sie von folgendem Satz, den 
Herr A. über die Bedeutung des Wortes Urtheil an¬ 
gab (citire Satz II) ? Er, nach langem Nachdenken: 
Das ist eine Philosophie, die nach rückwärts geht. 
Er forscht nach, aus was für Theilen das Wort sich 
gebildet hat, denn jedenfalls waren die Theile eher 
da als das Ganze. Versteht man die einzelnen 
Theile, so kann man das Ganze verstehen. Es ist 
eine ganz interessante Untersuchung, aber von wenig 
Nutzen. 

Eine Dame, Vegetarierin, die A. besucht und 
mehrere Reden von ihm gehört und mit dem Vor¬ 
erwähnten 2 Tage bei den Holderhofleuten gewohnt 
hatte, schreibt mir ihre Meinung über A. Sich ein 
Urtheil über A. und sein Beginnen zu bilden, halte 
ich für verfrüht. Es steckt viel Gutes, Aneiferndes 
in ihm, vor allem das unerschütterliche Vertrauen in 
das eigene Wollen, welches da Kraft giebt, zu haben, 
zu erhalten, was man ernstlich wünscht und mit Aus¬ 
dauer anstrebt etc. etc. 

Die Ansicht eines andern Vegetariers, der mehrere 
Reden des A. gehört hatte, wird mir brieflich so 
mitgetheilt: Sein Urtheil über A. ist ziemlich das¬ 
selbe wie das im .... (in dem mitgetheilten Aufsatze 
von E.). Er hält A. für eine Kraft, bewundert seinen Muth 
und das grosse Vertrauen, das er in der Erreichung 

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2T 4 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 23. 


seines Zieles hat, wird aber aus seinem Wollen und 
seinem Wesen nicht klug. 

Eine Anzahl Zeitungen brachte nun, fast gleich¬ 
lautend, folgendes: 

In N. hat sich bekanntlich unter dem Namen 
Holderhof eine Kolonie angesiedelt, die als religiöse 
Sekte mit Gütergemeinschaft und gemeinsamem Haus¬ 
halte nach dem Vorbild der ersten Christengemeinde 
geschildert wird. Es wurden eine Anzahl Ländereien 
in schöner Lage zu sehr guten Preisen käuflich er¬ 
worben und baar bezahlt. Wiesen und Gärten werden 
mit Werken der Bildhauerkunst geschmückt. — — 
— Die Fischer- und Bauernhäuser werden moderni- 
sirt und in schöne Wohnstätten umgewandelt. Ferner 
sollen Pläne existiren für mehrere neue Kunstbauten. 
Unter anderen soll auch ein Tempel geplant sein. 
Chef der Kolonie ist Herr A., gebürtig aus . . . 
Geboren wurde er in Amerika, von wo aus der 
Vater auf das deutsche Bürgerrecht Verzicht geleistet 
haben soll, ohne das amerikanische Bürgerrecht zu 
erwerben. Demnach wäre Herr A. heimathlos und 
ist nun bestrebt, das Bürgerrecht in N. zu erwerben. 
Herr A. wünschte nun für sich und seine Familie 
das Bürgerrecht in N. und oflferirte eine blanke Mil¬ 
lion. *) Die Bürger von N. trauten zuerst ihren 
Augen und Ohren nicht. Ueberdies sind sie nicht 

nur streng.sondern auch erzconservativ und 

haben noch niemals einem Fremden das Bürgerrecht 
gegeben. Aber eine Million ist eine Summe, die 
auch in N. zugänglich macht. Letzten Sonntag war 
Gemeindeversammlung, um die freigebige Offerte an¬ 
zunehmen oder abzulehnen. Die Opposition ver¬ 
stummte, besonders nachdem auch Herr Pfarrer .... 
dargethan hatte, dass der Bewilligung des Gesuches 
vom kirchlichen Standpunkte aus nichts entgegenstehe, 
indem man es hier offenbar mit gebildeten, sittlichen 
Leuten zu thun habe. Dem Gesuch wurde in der 
Abstimmung sozusagen einstimmig entsprochen. Auf 
Grund freier Vereinbarung zwischen Herrn A. und 
dem Gemeinderath wurde folgende Vertheilung der 
Million stipulirt: (es folgen die Details nach Ge¬ 
meinde, Armen, Kirche und Schule geordnet). Die 
Freigebigkeit des Herrn A. steht so einzig da und 
das Ganze hört sich so sehr wie ein Märchen aus 
Tausend und eine Nacht an, dass die volle Freude 
über den unerwarteten Goldregen sich bei den Bürgern 
von N. erst dann entwickeln wird, wenn das Bürger¬ 
recht in Kraft erwächst, bezw. wenn die Million 
wirklich bezahlt ist. Für einstweilen werden auf 
dieses Erbe hin von den N.ern noch keine neuen 
Ausgaben decretirt. 

Der dortigen Geldeinheit. 

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Bald darauf brachte eine sehr angesehene Zeit¬ 
ung folgendes : Die stark besuchte Gemeindeversamm¬ 
lung in N. vom.hat in Sachen der Forder¬ 

ungen von Herrn A. folgende Beschlüsse gefasst: 
1. Herr A. erhält die Erlaubniss zum Bau einer 
monumentalen Muttergotteskapelle in Weiss-Marmor 
in N., die nach Fertigstellung der Gemeinde geschenkt 
werden soll, während Herr A. die Unterhaltungspflicht 
übernimmt. 2. Herr A. erhält auf 99 Jahre Con- 
cession für Bau und Betrieb einer monumentalen 
Halle in der Nähe des Dorfes N. und Herstellung 
eines Weges dorthin (wird einer der grossartigsten 
Wege werden). Es soll im Umkreise von 3000 qm 
kein anderes Gebäude gebaut werden dürfen und 
auch kein Wirthshaus errichtet oder betrieben werden. 
Am Bau dürfen keine Statuen angebracht werden, 
die gegen gute Sitte oder das religiöse Gefühl ver- 
stossen. 3. Es wird an Herrn A., seine Frau und 
deren zwei Kinder das Bürgerrecht von N. ertheilt. 
4. Als Entschädigung hierfür bewilligt Herr A. eine 
Million., für die die Gemeinde sich zu fol¬ 

gender Verwendung gegenüber Herrn A. verpflichtet: 
(Details wie oben), zahlbar in baar vor der Aus¬ 
händigung des Bürgerrechtsbriefes. Die obigen Be¬ 
schlüsse wurden mit 260 gegen 5 Stimmen gefasst. 
Herr A. begiebt sich demnächst nach den Vereinigten 
Staaten behufs Beschaffung der Mittel etc. etc. 

Noch vor diesen Zeitungsberichten hatte ein Herr 
Heizmann *), einer der Begleiter des schon erwähnten 
E. auf der Reise nach N., einen Aufsatz für das gleiche 
Blatt verfasst, der nun erschien. Von ihm gebe ich 
nur einzelne Bruchstücke: 

Vor einigen Wochen erschien hier ein Reisebe¬ 
richt E.'s über N. und A. Je länger und mehr ich von 
dem Pulsschlag des grossen und einzigen Willens, 
der diesen Mann beseelt und von seinem Thun zu 
hören und selbst zu erfahren Gelegenheit hatte, desto 
mehr zwingt es mich, neben die in jenem Reisebe¬ 
richte geschilderte Auffassung, meine Anschauung zu 
stellen. — — — Ist dieser doch in bisher unerhörter 
Kühnheit am Werke, Erfüllung der Gedanken zu 
bringen, die auch unseren Bestrebungen den Unter¬ 
grund geben. Was suchen wir denn anders im 
Menschen, in uns, zu wecken, als die „Idee des 
Menschen“, das Ringen nach höchster Vollendung, 
als die Erkenntniss des gleichen Wesenkemes, der 
uns alle zum Lichte treibt. Der grosse Wunsch der 
Harmonie des Thuns, des Wollens und Könnens, die 

*) Ich ersetze den wahren Namen in diesem und mehreren 
spätem Fällen durch fingirte, die es mir ermöglichen, gewisse 
Beziehungen darzustellen, die nach den Vorstellungen des A 
durch diese Namen gegeben sein sollen. 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


215 


kraftvolle Persönlichkeit des unerschrockenen Willens 
für ihr Lebensideal, der wahre über sich hinausge¬ 
staltende Uebermensch in seiner Herrlichkeit und 

Schönheit ist doch das Ziel unserer Hoffnung.- 

— Was ringt denn nach Ausdruck in diesen Ver¬ 
schiedenen, den Asketen aus Angst, den Sektirern, 
den ruhigen Arbeitern an der Entwickelung? Es ist 

der Wille zur Lebensbejahung.-— Da kommt 

nun ein kühner Mensch, A., durchleuchtet von dem 
Bewusstsein, dem Impuls der grossen Liebe, über¬ 
zeugt, die Zeit sei da, in der Erfüllung möglich sei 
für das Sehnen der Menschen nach persönlichem 
Leben, nach Freiheit und Harmonie ihres Wollens 
und Müssens. Er bietet den Suchenden, die der 
Erfüllung entgegenharren, den Raum auf der Erde, 
wo sie befreit von der niederdrückenden Sorge, sich 

selbst zu finden vermögen. —-- Zur Befreiung 

vom niedern Ich und von seiner Qual, sucht A. 
Menschen und will für sie und mit ihnen in N. eine 
Stätte bereiten, auf der sie selbst alles Göttliche, 
Grosse in sich lebendig werden lassen und fördern 
können. — — — Es soll in diesem Geiste N.’s das 
was wir mit vielen Führern der Menschheit erst in 
generationsferner Zukunft als möglich zu erhoffen 


wagten, Wirklichkeit werden und sein. Jetzt 
und heute! Und zwar nicht vollendet mit einem 
Male, aber begonnen! Nicht mit Worten und 
durch Beispiel will man dabei „wirken“, sondern mit 
dem einfachen „Dasein“ der That sich selbst befreien. 
—-Das ist gewiss radikaler, unerhörter Idealis¬ 

mus für unsere Zeit, hier endlich einmal That werden 
zu lassen, worauf alle Worte und Theorien, all 
das hier ausgesprochene Streben als auf die kom¬ 
mende wahre Kultur, als auf das Seiende ira Men¬ 
schen hinweisen. — -- — Die Suchenden mögen 
selbst kommen und schauen. Denn mit flüchtigen 
Linien nur kann ich andeuten, wie vor meinem Auge 
die Menschen vom Holderhof am Meeresstrande 
stehen. Nichts Absonderliches an Aeusserlichkeiten 
findet hier Boden, also nichts was an „Naturmenschen¬ 
thum“, an den Sonnenkultus, an Vieles sich anlehnt, 

wohl aber Einfachheit und Muse. —- 

Anderer Zeitungsbericht: Herr A., der den 
Bewohnern von N. für die Verleihung des Bürger¬ 
rechts und verschiedener Concessionen eine Million 

.versprochen hat, will für N. eine neue Aera 

wirtschaftlicher Entwicklung herbeiführen; er plant 
u. a. den Bau einer Eisenbahn nach N. 

(Schluss folgt.) 


Ueber Bewusstseinsgrenzen. 

Eine theoretische Betrachtung. 


\\Term wir unter „Bewusstsein“ die Summe aller 
* * zu einem bestimmten Zeitpunkt im Gedächt- 
niss lebendigen Vorstellungen verstehen, so können 
wir alle die Vorstellungen als „Selbstbewusstsein“ 
bezeichnen, welche irgendwie das eigene Ich be¬ 
treffen. Eigentlich zwar ist unser gesammtes Be¬ 
wusstsein ein „Selbstbewusstsein“. Denn sämmtliche 
Eindrücke der Aussenwelt, sämmtliche auf unsere 
Psyche wirkenden Reize werden durch die Apper- 
ception in mehr oder weniger fester Verbindung 
unserem Ich einverleibt und setzen in ihm eine 
merkbare Veränderung. 

Da nun die Reize, welche auf uns wirken, in 
jeder Sekunde wechseln und in ständigem Flusse 
sind, muss auch das Bewusstsein in dauerndem Fluk- 
tuiren begriffen sein: Es ist somit kein dauernder, 
fixirter Zustand, sondern eine ganz nach den 
Reizen wechselnde Fähigkeit. Am besten 
lässt es sich als eine „V ibrationswelle“ veran¬ 
schaulichen, welche der Aussenwelt beständig neue 
Impulse entnimmt und sich in den verschiedensten 


motorischen Richtungen und Qualitäten nach innen 
oder aussen entlädt. 

Die Ausdehnung und Schwingungsintensität dieser 
in dauernder Veränderung begriffenen „Welle“ ist 
nicht nur in verschiedenen Situationen, sondern natui- 
gemäss auch bei verschiedenen Menschen eine ganz 
verschiedene. Hier spielt nicht nur die Feinheit 
unserer Sinne eine bedeutende Rolle, — ein scharf¬ 
sichtiger und hellhöriger Mensch bemerkt viel mehr 
Aussen Vorgänge als ein kurzsichtiger und halbtauber, 
— sondern in erster Linie kommt es auf die Cen¬ 
trale an, welcher die Sichtung und Verarbeitung der 
durch die Sinnesorgane assimilirten Eindrücke obliegt: 
auf das Gehiin! 

Ich kann einen Wilden vor das schärfste Fern¬ 
rohr setzen und ihm die Planetenkreise oder die 
schauerweckenden Wunder der Milchstrasse einstellen: 
er wird blöde lächeln und gamicht wissen, was er 
sieht. Was ihm -fehlt, das sind eben jene korrespon- 
direnden centralen Elemente, jene Bahnen, durch 
deren Vermittlung die neuen Eindrücke nach tausend 


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Original from 

HARVARD UNiVERSITY 




2 l6 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 23. 


Richtungen mit anderen, älteren Erfahrungen in 
Beziehung gesetzt, d. h. „gedeutet“ werden können. 
— Im günstigsten Falle fasst ihn ein ungeheures 
Staunen über das Ungeahnte, Unbekannte. Dieses 
Staunen des Urmenschen ist ja gerade das Gefühl, 
aus dem sich seine charakteristische Neugierde und 
hieraus in jahrtausendlanger Evolution jener ernste 
und feurige Wissensdrang, jener Drang nach Erkenn t- 
niss, entwickelt hat, der in moderner Zeit den Geist 
des Menschen durch Verstehen und schliesslich Be¬ 
herrschen der Natur von Sieg zu Sieg getrieben hat. 

Aber nicht nur diesen Keim des Erkenntniss- 
dranges brachte der Mensch aus seiner jahrhundert¬ 
tausendalten Vergangenheit mit herauf. Er besitzt 
noch eine andere Gabe, welche ihrerseits den Werth 
des reinen Erkenntnisdranges häufiger in Frage stellt, 
als ihm Vorschub leistet: die Gabe des Affekts! 

Wir sprachen vorhin von der Bewusstseinsbreite 
des Gelehrten im Gegensätze zu der des Wilden. 
Es bedarf keiner Erörterung, dass zwischen diesen 
beiden Extremen unzählige Zwischenstufen existiren, 
von denen eine jede sich in der Welt zu behaupten 
vermag. 

Wie wirkt nun ein Affekt — auf die Art des¬ 
selben kommt es hier nicht an — auf die Bewusst¬ 
seinsbreite eines Durchschnittsmenschen ein! ? Wir 
stellten uns diese Bewusstseinsbreite unter der Form 
einer „Vibrationswelle“ vor, die in ihrer Gesammt- 
heit normaliter eine ganz bestimmte Schwingungs¬ 
intensität besitzt. Gelangt nun das Individuum unter 
den Einfluss eines Affekts, so erlangen gewisser- 
maassen die Einzelelemente, welche der Affekt 
angeht, eine erhöhte Sch wingungsintensität, 
und zwar geschieht das stets — dies ist der springende 
Punkt — auf Kosten der übtigen Bewusst- 
seinselemente! Es findet also gewissermaassen 
eine Einengung der Wellenbreite statt. Ein gewisses 
Maass von Nervenenergie steht nur zur Verfügung 
und dieses wird vorwiegend im Interesse des Affektes 
absorbirt. 

Da die Gehimtheile eine ganz verschiedene 
Werthigkeit haben, und die zuerst eingeprägten 
Funktionen am festesten haften, werden von diesem 
Funktionsausfall zunächst die phylogenetisch jüngsten, 
d. h. zuletzt erworbenen Funktionen betroffen werden. 
Das aber sind die Mechanismen der logischen Ueber- 
legung, der Kritik, mit einem Wort: der höhere gei¬ 
stige Mensch überhaupt! 

Je nach der Stärke des Affekts treten auch in 
den entwicklungsgeschichtlich älteren und ältesten 
Funktionen deutliche Störungen auf. Das Wort: 
,,Er ist blind vor Leidenschaft, taub für jeden ,ver- 

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nünftigen 4 Einwand“ — ist nicht .ohne tiefe Bedeu¬ 
tung! Und wer kennt nicht den Krampf der Ge- 
fässe, der sich im plötzlichen Erblassen äussert, w r er 
kennt nicht das unüberwindliche Lähmungsgefühl 
beim heftigen Schreck! Die übermässige Inanspruch¬ 
nahme eines Theils der Bewusstseinswelle lässt andere 
Theile leiden. Denn nicht allein aus Reizen der 
Aussenwelt rekrutirt sich der Ersatz des geistigen 
Lebens. Auch aus sämmtlichen Regionen des eigenen 
Körpers strömen unausgesetzt Reize ins Centralorgan, 
welche uns äusserst wichtige Componenten des Ich- 
Bewusstseins liefern. 

Ist irgend eine periphere Funktion gestört, ver¬ 
ändert, so schickt sie natürlich auch einen von der 
Norm abweichenden Reiz ins Gehirn. Abnorme 
innere Reize bedeuten aber Krankheit, und man 
kann also, streng genommen, sagen, dass jeder 
körperlich kranke Mensch auch geistig 
krank ist! 

Wir wissen, dass die Handlungen, d. h. die mo¬ 
torischen Aeusserungen des gesunden Bewusstseins, 
sich unter der Kontrolle der hochwerthigen Asso¬ 
ciationsgruppen abrollen, deren Schaffung ja über¬ 
haupt das Ziel einer jeden Erziehung ist. Diese 
Associationen, phylogenetisch spät entwickelte Fähig¬ 
keiten, verlieren im Affekt ihre Herrschaft mehr oder 
weniger vollständig. Die Folge ist, dass ein ver¬ 
schied engradiger Zustand der Anarchie in den 
motorischen Impulsen zum Ausdruck kommt. Je 
mehr ein Individuum unter dem Einfluss des Affektes 
steht, d. h. je grösser seine Bewusstseins-Einengung 
ist, um so unsinniger, kritikloser werden seine Hand¬ 
lungen sein. 

Ein Bild von besonderem psychologischen Inter¬ 
esse in dieser Richtung bietet uns aber der Alkohol¬ 
rausch. Auch der Alkohol hat die Fähigkeit, eine 
Bewusstseinsverengerung hervorzurufen. Ein Berausch¬ 
ter lebt in einem kontinuirlichen künstlichen 
Affekt. Er ist heiter oder traurig über die Norm, 
je nach der ursprünglichen Gemüthsanlage. Wie 
auffällig hier die motorischen Störungen hervortreten 
können, weiss jeder. Es handelt sich nicht nur 
um kritiklose Handlungen im weitesten Sinne; son¬ 
dern auch die gröberen und gröbsten motorischen 
Funktionen können bis zu völligem Versagen lädirt 
sein. Die verschiedensten Abstufungen kommen hier 
vor. 

Das Bild der vollendetsten Anarchie, der aus¬ 
gesprochensten Incoordination, bietet aber der bei 
Alkoholikern ja gar nicht so seltene epileptische 
Anfall. Die eingeengte, aber mit vermehrter Inten- 

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1004.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


sität schwingende Bewusstseinswelle des Epileptikers 
hat natürlich auch eine vermehrte Tendenz, sich 
nach aussen zu entladen, abzufliessen. Nach 
physikalischen Gesetzen kann sie dies nur nach der 
Richtung des geringsten Widerstandes. In gelinden 
Stadien des Rausches dokumentirt sich dies Bestreben 
in den lebhaften Gestikulationen, in der Geschwätzig¬ 
keit, in der Pseudo -Thatkraft und in allerhand 
thörichten Streichen, wie sie z. B. bei Studenten zur 
Genüge bekannt sind. 

Beim typischen epileptischen Anfall ist es die 
sogenannte Aura, in welcher die Bewusstseinswelle 
gleichsam vorsichtig tastend in der Richtung ver¬ 
schiedener Sinnesgebiete Abfluss sucht, bis sie schliess¬ 
lich die motorische Region findet und hier auf offen¬ 
bar leicht gangbaren Bahnen sich entlädt. Je voll¬ 
ständiger die Entladung, umso tiefer die Bewusst¬ 
losigkeit. Denn die letzten Bewusstseinsreste sind es 
ja eben, welche im Anfall aus dem Associationsgebiet 
abfliessen in das rein motorische. 

Nicht nur der Alkohol kann beim Epileptiker das 
auslösende Moment des Anfalls sein, sondern es ge- 
nügt gar oft eine geringfügige Gemüthserregung, um 
die Welle zum Ueberfliessen zu bringen. Die er¬ 
höhte Reizbarkeit ist gerade ein Hauptcharak¬ 
teristikum des Epileptikers wie des Alkoholikers. Ja, 
wenn wir den Begriff modificiren, des modernen 
Menschen überhaupt. 

Ohne diese erhöhte Reaktionsfähigkeit auf Reize 
w'äre das Schnelltempo unseres heutigen Kulturfort¬ 
schritts ganz unmöglich. Aber nicht jedes Bewusst¬ 
sein vermag sich der erhöhten Zahl der Reize in 
diesem Tempo anzupassen. Die zunehmende Ziffer 


der Geisteskranken beweist das zur Evidenz. Jede 
psychische Erkrankung, jeder Fall von Alkoholismus 
bedeutet ein Versagen der Anpassungskraft, ist sozu¬ 
sagen ein Flüchten der Psyche in engere Bewusst¬ 
seinskreise, die ihr noch konform sind. 

Im tiefsten Grunde ist ja alles Leben ein Erleiden, 
d. h. ein Verändertwerden durch äussere Eindrücke. 
Naturen, deren Reaktionsfähigkeit auf die Spitze ge¬ 
trieben ist, 1 eagiren auf Reize, welche den physio¬ 
logischen Schwellenwerth noch nicht erreichen, und 
beantworten den physiologischen Reiz selbst mit ab¬ 
normen Reaktionen. Leider birgt diese Fähigkeit 
gar zu tiefer Eindrücke für das Individuum den Keim 
des Todes in sich. Seine Stoffe können nur in einer 
bestimmten Anordnung, einer bestimmten Wechsel¬ 
wirkung die Funktionen des ,Lebens* ei füllen. Durch 
die zahllos einlaufenden Reize muss diese Anord¬ 
nung schliesslich erschüttert und mechanisch ver¬ 
ändert werden. So kommt es, dass sich die mensch¬ 
liche Organisation und auch die Bewusstseinsfähig¬ 
keit am Ende nicht mehr in der complicirten, von 
uns ,Leben* genannten Form zu bethätigen vermag 
und die complicirte gegen eine einfachere Form ver¬ 
tauscht. 

Dies sind die Erscheinungen des sogenannten 
»Todes*. Jenes Todes, welcher im Grunde nichts ist, 
als die Summe aller Lebensreize, die im Laufe langer 
Jahre ein Individuum treffen. Welcher im Grunde 
nichts ist, als die selbstverständliche Conse- 
quenz alles Lebens überhaupt. 

Dr. Georg Lomer, 

Assistent der Proviniial- 
anstalt Neustadt (Holstein). 


M i t t h e i 

— 76. Versammlung deutscher Naturforscher 
und Aerzte in Breslau vom 18. bis 24. September 
1904. 21. Abtheilung: Neurologie und Psychiatrie. 

I. Bielschowsky (Berlin): Demonstration mikro¬ 
skopischer Präparate aus der normalen und patholo¬ 
gischen Histologie der nervösen Zentralorgane nach 
neuen Imprägnationsmethoden. — 2. Fisch er (Prag): 
Nur Cytodiagnose des Liquor cerebrospinalis. — 3. 
Foerster (Breslau): Das obere Längsbündel des 
menschlichen Grosshirns. — 4. Fuchs (Wien): Thema 
Vorbehalten. — 5. Liepmann (Berlin): Ueber Apraxie, 
mit Demonstration von Gehirnschnitten. — 6. Mann 
(Breslau): Ueber einige elektrotherapeutische Fragen. 
— 7. Rosenfeld (Strassburg): Stoffwechselversuche 
bei abstinierenden Geisteskranken. — 8. Pfister 

(Freiburg): Thema Vorbehalten. 9. A. Pick (Prag): 
Beitrag zur Pathologie des Schläfelappens. — 10. F. 
Pick (Prag): Ueber Erkrankungen der Cauda equina. 

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1 u n g e n. 

— ii.Rothmann (Berlin): Ueber neue Theorien der 
hemiplegischen Bewegungsstörung. — 12. Saenger 
(Hamburg): Referat über die Lehre von der Stauungs¬ 
papille. — 13. Storch (Breslau): Physiologie des 
Wollens und Denkens. — 14. Stransky (Wien): 
Zur Lehre von der Amentia. 

— Mit der allgemeinen Ausstellung in St. Louis ist 
auch ein internationaler Kongress über Tuber¬ 
kulose verbunden. Der Vorsitzende des Comitees 
und Präsident der Medico-Legal Society in New’-York, 
unter deren Auspicien der Kongress am 3., 4. und 
5. Oktober abgehalten werden soll, veröffentlicht 
folgendes Rundschreiben: Die leitenden Fragen be¬ 
ziehen sich auf vorbeugende Gesetzgebung zum Still¬ 
stand und zur Abwehr der Verbreitung der Tuber¬ 
kulose, nämlich a) in wie weit ist eine solche Ge¬ 
setzgebung möglich? b) wie kann die öffentliche 
Meinung zu der Nothwendigkeit einer solchen ge- 


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218 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 23. 


wonnen weiden? — Ein Zusammenwirken der Juristen 
und Mediziner ist erforderlich. Der Kongress will 
nicht über ärztliche Fragen per se diskutiren. Das 
Publikum verlangt die bez. Mittel und Methoden 
nicht blos von Seiten der Aerzte, und Staat und Ge¬ 
meinde sollen daher zur Organisation der Erziehung 
der Massen veranlasst werden. Alle welche hiermit 
sympathisiren, werden gebeten, schleunigst einen 
schriftlichen Beitrag in beliebiger Sprache einzusenden 
per Adr. Herrn Dr. Clark Bell, New-York, 30 Broadway. 
Psychiater wollen ihre Ansichten bez. 
des Zusammenhangs zwischen Geistes¬ 
störung und Tuberkulose, welcher beson¬ 
ders diskutirt werden soll, einsenden. 

— Neue Wandtafeln für den Pflegerunter¬ 
richt. Die Geschäftsstelle des deutschen Samariter¬ 
bundes, Leipzig, Nikolaikirchhof 2, versendet gegen¬ 
wärtig die Düms’schen neuen anatomischen An¬ 
schauungstafeln zur Ansicht. Die Zweckmässigkeit 
der kurzen anatomisch-physiologischen Einleitung für 
unsere Pflegerkurse wird ja noch von manchen Seiten 
angefochten. Es ist indessen nicht recht einzusehen, 
weshalb Personen, deren berufsmässige Verpflichtung 
es ist, den kranken Menschen auch mit körperlicher 
Pflege zu umgeben, nicht dasjenige vom Bau und 
den Verrichtungen des menschlichen Körpers 
erfahren sollen, was jetzt jedem Schulknaben gelehrt 
wird. Die Düms’schen Tafeln, welche das preussische 
Kultusministerium zur Ausstellung in der Lehrmittel¬ 
sammlung in St. Louis bestimmt hat, sind in der That 
ausserordentlich klar und übersichtlich. Sie stellen 
die in Betracht kommenden Verhältnisse farbig, in 
Lebensgrösse, z. Th. noch grösser dar und wählen 
für verwickeltere Gebiete die schematische Zeichnung. 
Die 6 grossen Tafeln kosten gebrauchsfertig auf Lein- 
wahd und Holzrollcn aufgezogen 20 Mark. Sie sind 
mit anderen dem gleichen Zweck dienenden Tafeln 
in Vergleich gestellt als ein hervorragendes, dabei 
pieiswerthes Unterrichtsmittel zu empfehlen. 

Mercklin. 

— XI. Versammlung des Nordostdeutschen 
psychiatrischen Vereins zu Danzig am 27. Juni 
1904. (Referent Dr. Wickel-Dziekanka.) (Schluss.) 

IV. Kay ser-Dziekanka : Die Entwicklung 
von Dziekanka in den ersten zehn Jahren. 

M. H.! Nachdem nahezu 10 Jahre verflossen 
sind seit der Eröffnung der Anstalt Dziekanka, dürfte 
es gerechtfertigt sein, einen Rückblick zu werfen auf 
ihre Entwickelung in dieser Zeit und auf die mannig¬ 
fachen Veränderungen, welche inzwischen eingetreten 
sind. Der Bau war für 600 Kranke projektirt. Die 
Männer- und Frauenseite völlig symmetrisch je 10 
Pavillons, zu welchen später neben den Gutsgebäuden 
noch ein kleiner Pavillon für auf dem Gute und auf 
dem Rieselfelde beschäftigte Kranke hinzukam. Die 
grössten Pavillons sollen 40 Kranke haben, die An¬ 
zahl der Kranken in den kleinsten beträgt 12—14. 
Das Anstaltsgebiet, auf welchem sie vertheilt sind, 
umfasst rund 90 Morgen und ist rings umgeben von 
dem Anstaltsgute. V3 der Kranken sollten in Häusern 


mit Offenthorsystem untergebracht werden und die 
Hälfte der Fenster der Krankenpavillons war unver¬ 
gittert. 

Gleichsam als Aequivalent für die gegen die 
frühere Anstalt Owinsk in umfangreicherem Maasse 
eingeführte, freie Behandlung, war eine grosse An¬ 
zahl von Isolirzimmem (62) in den meisten Pavil¬ 
lons vorgesehen, sozusagen ein Nothauslass. Diese 
Anzahl erwies sich erfreulicherweise als nicht er¬ 
forderlich und konnten diese Isolirzellen bald zu 
anderen Zwecken umgeändert werden. Bei dem in 
Anstalten vorhandenen Mangel an Raum ist dies als 
vortheilhaft zu betrachten. In den 6 Häusern für 
ruhige Kranke haben wir Kleiderkammem daraus 
gemacht und die dadurch frei werdenden Kleider¬ 
kammem umgestaltet in Wohnungen für den 2. Ober¬ 
pfleger und die 2. Oberpflegerin, in ein Pflegerinnen¬ 
heim , in welchem die Pflegerinnen bei Urlaub sich 
aufhalten, auch Näharbeiten etc. ausführen können. 
Endlich in sogen. Honoratiorenstübchen für Patienten 
der 3. Klasse, welche nach ihrem Bildungsstande in 
eine bessere Umgebung gehören und doch nur die 
Mittel für die 3. Klasse besitzen. In den Siechen- 
abtheilungen haben wir durch Wegnahme der Wände 
zwischen je 2 Zellen und Hinzunahme des davor 
liegenden Korridors je einen grossen Krankensaal 
geschaffen und eine noch verbliebene Zelle als L T nter- 
suchungs- und Verbandszimmer für den Abtheilungs¬ 
arzt eingerichtet. Ebensolche Zimmer sind in den 
Aufnahmeabtheilungen für die dort beschäftigten 
Aerzte eingerichtet. Eine andere Zelle im Pensionat 
ist zu einem Bureau für den 1. Oberpfleger ge¬ 
worden , während andere als Einzelwohn- und 
Schlafzimmer für Unsociale oder des Nachts durch 
Schnarchen störende Kranke dienen. Vom Isoliren 
der Kranken sind wir mehr und mehr abgekommen 
und haben auch in der unruhigen Abtheilung noch 
einen 2. mit dem 1. durch eine grosse Flügelthür 
verbundenen Saal zur Bettbehandlung eingerichtet. 
Ein immer grösserer Gebrauch wird von Dauer¬ 
bädern bei der Behandlung von Unruhigen gemacht, 
sodass unser Verbrauch von Narkoticis ein sehr ge¬ 
ringer ist. 

Wenn wir auch officiell zur zellenlosen Behand¬ 
lung nicht übergegangen sind, so ist doch die Zahl 
der wegen Unruhe isolirten Kranken sehr klein, etwa 
1—3 in 24 Stunden, trotz der zur Zeit starken Ueber- 
füllung der Anstalt. 

Da die Isolirbaracken auf der Männer- und 
Frauenseite, für ansteckende Krankheiten bestimmt, 
bis jetzt glücklicherweise nur einmal für diesen Zweck 
Verwendung fanden, als uns aus Gnesen eine kleine 
Typhusepidemie eingeschleppt war, so haben wir diese 
Baracken vor allem mit schwindsüchtigen Kranken 
belegt, für welche sie nach ihrer Bauart besonders 
geeignet sind. Eine gedeckte Veranda ermöglicht es, 
die durch untergeschobene Räder fahrbar gemachten 
Betten, direkt auf die, als Liegehalle dienende Veranda 
zu fahren. Beide Baracken, sowie der bei dem Gute 
errichtete Pavillon haben Offenthorsystem, somit im 
ganzen 9 von 21 Pavillons. 


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Original frnm 

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1904.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


In derselben Weise werden die Veranden der 
Siechen- und Aufnahmehäuser benützt. 

Einzelne Pavillons, die bei dem Bau noch keine 
Veranda erhalten hatten, erhielten sie nachträglich, 
so dass jetzt alle damit versehen sind. 

Von den Fenstergittern, die bei Eröffnung der 
Anstalt für die Hälfte aller Kranken vorgesehen 
waren, haben wir nach und nach soviele entfernt, 
dass zur Zeit von 21 Pavillons nur noch 2 ganz 
vergittert sind und 2 andere zur Hälfte. Auch bei 
diesen hoffen wir, die Gitter entfernen zu können, 
wenn die zur Zeit starke Ueberfüllung mit unruhigen 
und fluchtverdächtigen Elementen, insbesondere gei¬ 
steskranken Zuchthäuslern, durch Eröffnung der neuen 
Anstalt in Meseritz gehoben wird. 

Ein sogen. Ueberwachungshaus, für geisteskranke 
Zuchthäusler bestimmt, ist in Meseritz errichtet. 

Da die Fenster der sogen. Nebenräume, Korridore, 
Spülküchen, Waschzimmer, Bäder und Closetts nur 
einfache Fenster hatten, bei unserer Centralheizung 
aber jedes Haus als Ganzes geheizt wird, so haben 
wir einen Theil dieser Räume bereits mit Doppel¬ 
fenstern versehen und weiden die zur Zeit noch 
fehlenden anbringen. 

Als Abtritte waren bei Eröffnung der Anstalt 
überall Wasserclosetts eingerichtet mit selbstthätiger 
Spülung bei Niedersitzen und Wiederaufstehen, da 
aber bei dem gewählten System häufige Ausbesserungen 
nöthig sind, so ersetzen wir die schadhaft gewordenen 
durch Tornados und hoffen in 1 *— 2 Jahren damit 
zum Abschluss zu kommen. 

Da die Closetträume neben den grossen Sälen 
belegen sind, so haben wir nach Einführung der Tor¬ 
nados von der Aufstellung tragbarer Closetts in den 
Wach-, Siechen- und Unruhigen-Abtheilungen fast 
ganz Abstand nehmen können. 

Für die neue Anstalt in Meseritz ist sogar im 
Wachsaal der Aufnahmeabtheilung ein Tornado auf¬ 
gestellt und soll durch einen niedrigen Bettschirm 
verdeckt werden. 

Die Einrichtung von Wachabtheilungen, die zu 
Beginn nur in der Aufnahmeabtheilung eingerichtet 
war, machte sich mit der steigenden Krankenzahl 
auch in den Pavillons für Sieche und Unruhige nöthig. 

Seit einigen Jahren haben wir hierbei Dauer¬ 
wachen eingeführt, wobei dieselben Pfleger 4 Wochen 
hindurch den Nachtdienst übernehmen und bei Tage 
dienstfrei sind. Diese Einrichtung hat sich sehr be¬ 
währt. Wägungen des Personals ergaben, das das¬ 
selbe nur in der ersten Woche wenig an Gewicht 
verlor, während die Meisten in den folgenden Wochen 
nicht unerheblich an Gewicht Zunahmen. 

Die Kleidung und Kost der Kranken erwies sich 
als gut und reichlich, so dass auch eine genaue 
wissenschaftliche Prüfung der letzteren auf ihren Ge¬ 
halt an Eiweiss, Fett und Kohlehydraten durch Dr. 
Wickel nur geringe Abänderungen als wi'msrhens- 
werth ergab. 

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219 


Als praktisch erwies sich die Einführung von 
Fleischhackmaschinen, durch welche die ganze Kost 
(Fleisch, Gemüse, Kartoffeln etc.) für Paralytiker und 
dem Verschlucken leicht ausgesetzte Kranke, in einen 
gemeinsamen Brei verwandelt wird. Ein dänischer 
College machte mich auf diese in seiner Anstalt 
eingeführte Bereitung der Paralytikerkost aufmerksam. 

Nachdem wir auf dem Gute Einrichtungen ge¬ 
troffen haben, um alles für die Anstalt erforderliche 
Fleisch selbst produciren zu können, haben wir ein 
eigenes Schlachthaus eingerichtetund die Fleischkammer 
mit einer Kühlanlage nach dem Muster der in Galk- 
hausen bestehenden ausgestattet. Neben dem peku¬ 
niären Vorteil haben wir vor Allem noch den, dass 
nur junges ausgesuchtes Vieh geschlachtet wird. 

Die Einrichtung einer eigenen Bäckerei wurde 
von der Behörde bis jetzt abgelehnt. 

Die Krankenpfleger können nach 10 Jahren 
definitive Anstellung mit Pensionsberechtigung er¬ 
halten und ein Pflegerhaus mit 12 Familienwohn¬ 
ungen, bestehend aus Stube, Kammer und Küche, 
sowie besonderem Keller und Dachkammer, ist er¬ 
baut worden und nahe dabei ein Stallgebäude mit 
12 Ställen für 1 Schwein oder eine Ziege. Dazu 
gehören für jede Familie 3 A Morgen Land und ein 
kleiner Hausgarten. Ein solches Haus mit 12 Wohn¬ 
ungen ist allerdings als eine Kaserne zu bezeichnen 
und war von uns in dieser Form nicht gewünscht. 
Da die Wohnungen zum Theil an Handwerkerfamilien 
der Anstalt gegeben werden, so ist ihre Anzahl zu 
klein und haben wir ihre Vermehrung durch Doppel¬ 
familienhäuser wiederholt, aber bis jetzt vergeblich, 
beantragt. Sie sollen nach dem Muster der in 
Meseritz erbauten auch 1 Zimmer enthalten, um 2 
bis 3 Kranke in Familienpflege unterzubringen. Wenn 
auch bei der geringen Anzahl der Kranken der 
Nutzen nur gering ist, so hoffen war dadurch leichter 
die Doppelfamilienhäuser zu erlangen. Die Aus¬ 
dehnung einer Familienpflege auf benachbarte Dörfer 
war in Owinsk sowie bisher in Dziekanka wegen 
Mangels eines dazu geeigneten Bauernstandes nicht 
möglich. Nachdem in unserer Nähe aber verschiedene 
Ansiedelungsdörfcr eingerichtet sind, beabsichtigen 
wir, dazu Oberzugehen, sobald sich die Verhältnisse 
in diesen Ansiedelungsdörfern genügend consolidirt 
haben. 

Die Anzahl der Aufnahmen beträgt bis jetzt 2083 
Kranke, im Jahre 200—250, und der jetzige Bestand 
787, was einer Ueberfüllung von rund 130 entspricht. 
Diese ist nur dadurch möglich, dass je eine Etage 
der Pensionate mit zusammen 30 Plätzen der III. 
Klasse belegt ist, während die andern überzähligen 
Kranken auf die übrigen Pavillons vertheilt sind. 
In einer Reihe derselben (Aufnahme, Sieche und 
Unruhige) sind neben dem erforderlichen Tageraum 
33—35 cbm Schlafraum vorgesehen, sodass sie eine 
stärkere Belegung vertragen, doch soll sie nur bis 
zum 1. Oktober dieses Jahres, d. h. bis zur Eröffnung 
von Meseritz dauern. 

Der Abgang beträgt 120Ö, darunter sind ent¬ 
lassen als 

Original fram 

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220 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 23. 


geheilt 287, ungeheilt 298, 
gebessert 253, nicht geisteskrank 27, 
gestorben 431. 

Der Procentsatz der Sterbefälle betrug im letzten 
Jahre 5,15, durchschnittlich 4—5% der Verpflegten. 

Die Zahl der arbeitenden Kranken beträgt z. Z. 
5°°/o- 

Wie Sie sehen, sind die Aenderungen in Bau 
und Anstalt mannigfach und nicht unerheblich und 
ich bin der Ansicht, dass eine grosse Anstalt auch 
ein flüssiges Moment enthalten soll, da hier wie über¬ 
all Stillstand mit Rückgang gleichbedeutend ist, und 
bin ich meinen Mitarbeitern, die mich mit Rath und 
That dabei unterstützt haben, zu Dank verpflichtet. 

(Autoreferat.) 

Discussion. 

Stoltenhoff -Kortau fragt nach der Verhältniss- 
zahl, in w-eicher in Dziekanka Pflegepersonal und 
Kranke sind. 

Kay s er - Dziekanka: Das Verhältnis ist 1:8. 

K r ö m e r - Conradstein: Hat auch einen Versuch 
mit der Dauer-Nachtwache in Conradstein gemacht. 
Bei den Pflegerinnen fand das Verfahren keinen An¬ 
klang, so dass damit wieder ausgesetzt wurde. Auf 
der Männerseite ging es nicht, weil eine zu grosse 
Zahl von Pflegern nöthig war, welche dann am Tage 
fehlten. Krömer lässt das Personal jetzt 4 Stunden 
vor und 4 Stunden nach der gewöhnlichen Wache 
schlafen. 

K a y s e r - Dziekanka: In Dziekanka hat sich bei 
der Dauer-Nachtwache ein Mangel an Personal im 
Tagesdienst nicht ergeben. 

K r ö m e r - Conradstein fragt wegen besonderer Be¬ 
suchszeit. 

Kay s e r-Dziekanka: In Dziekanka ist Besuchs¬ 
zeit mit Ausnahme der Sonn- und Feiertage täglich 
von 9—12 und 2—6 Uhr, doch werden im ge¬ 
gebenen Fall stets Ausnahmen gemacht. 

Eine Umfrage in der Versammlung ergiebt, dass 
fast durchweg Besuche jederzeit statthaben können 
mit Rücksicht auf weite Entfernung der Besucher, 
Zugverbindung u. s. w. Wickel-Dziekanka. 

— München. Die neue Psychiatrische 
Klinik an der Nussbaumstrasse wird am 15. Oktober 
1904 als beziehbar durch das Baugeschäft Heilmann 
und Littmann dem Staate übergeben; in der neuen 
Klinik wird auch der Vorstand derselben, Professor 
Dr. Kräpelin, Wohnung nehmen. 

— Preussen. (Fürsorge für Geisteskranke.) Im 
Interesse einer gesicherten Fürsorge für Geisteskranke 
sind vom Minister des Innern die Polizeibehörden an¬ 
gewiesen worden, dass sie in Fällen, in denen ihnen 
ein hilfsbedürftiger gemeingefährlicher Geisteskranker 
zugeführt oder ermittelt wird, den vorläufig ver¬ 
pflichteten Ortsarmenverband zur schleunigen Unter¬ 


bringung des Kranken in eine geeignete Anstalt auf- 
zuforden haben. Diese Aufforderung ist nicht lediglich 
mit sicherheitspolizeilichen Massnahmen zu begründen, 
sondern es ist dabei vor allen Dingen zu betonen, 
dass die Noth wendigkeit der Unterbringung des 
Kranken in eine Anstalt wegen seiner Anstaltspflege¬ 
bedürftigkeit auch in seinem eigenen Interesse und 
wegen seiner Hilfsbedürftigkeit zu erfolgen habe. 


Referate. 

— Zur Prognose und Therapie der 
schweren Neurosen. Von H. Oppenheim. 
Halle a. S., Verlag von Carl Marhold, 1902. 37 S. 

Verfasser zeigt an der Hand von 5 Krankenge¬ 
schichten , dass auch bei hartnäckigen funktionellen 
Neurosen, wie z. B. bei Akinesia algera durch geeig¬ 
nete Behandlung gute Heilerfolge erzielt werden 
können. 

— Karl Lange: Sinnesgenüsse und Kunstgenuss. 
Beiträge zu einer sensualistischen Kunstlehre. Heraus¬ 
gegeben von Hans Kurelia. Grenzfragen des Nerven - 
und Seelenlebens, XX. Heft. Wiesbaden, Bergmann, 
1903 (2 Mk.). 

Verdienstlich ist die von Kurelia besorgte Aus¬ 
gabe der geistvollen Schrift von Karl Lange. So 
kühn auch die Ableitung der Physiologie des Ge¬ 
nusses von den Einflüssen auf die nervösen Leitungs¬ 
bahnen, auf die chemische Zusammensetzung des Blutes 
und auf die mechanischen Cirkulationsverhältnisse an- 
muthen mag, ungemein anregend wirkt die Darstellung 
der Affecte, Freude, Zorn, Trauer, Bewunderung, Ent¬ 
täuschung u. s. w., dann der Abwechslung und der 
Sympathierverhältnisse in ihrer Bedeutung für die Ge¬ 
nusserregung. Niemand wird den gedankenreichen 
Essay über die Kunst, der die 2. Hälfte der Broschüre 
füllt, ohne Gewinn studiren, welchen Standpunkt immer 
der Leser auch einnehmen mag. W. 

— Freund: Ucber Neurasthenia hyste- 
rika und die Hysterie der Frau. Berlin. Simion 
IQ04. 

Verfasser sucht den von den Neurologen schon 
längst verlassenen Standpunkt, nach dem die Hysterie 
eine in den weiblichen Genitalorganen örtlich bedingte, 
(Parametritis chronica atrophicans) auf dem Reflex¬ 
wege zu Stande kommende Neurose sei, mit der all¬ 
gemein geltenden Theorie, dass die Hysterie eine 
zentrale psychisch begründete Affection sei, dadurch 
in Einklang zu bringen, dass er die These aufstellt, 
es würden zwei ganz verschiedene Krankheitsprocesse 
mit „Hysterie“ bezeichnet. Ob diese Theorie als eine 
befriedigende Lösung der Frage bezeichnet werden 
kann, erscheint recht fraglich, im übrigen hat sich 
der Verfasser die Beweisführung in sehr glücklicher 
Weise dadurch erleichtert, dass er sie als Arbeitsauf¬ 
gabe anderen Nachuntersuchern überlässt. 


Für den rcdactioncllen Theil verantwortlich : Oberarzt IFr. J. Iiresler, Lublinitr (Sch'esien). 

Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseratonannahme 3 Tage vor der Ausgal»«*. — Verlag von Carl ’M’arhold in Halle a. S 

Ileynemann’sche Buchdruckt?rt*i (Gebr. Wolflh ir- Halle a. S. 


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Original frorn 

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Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift. 

Redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Lublinitz (Schienen). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adrene: Marhold Verla«. Hallesaale. Fernsprecher 2834. 

Nr. 24. 10. September. 1904. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Erroässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten. 


Ein sociales Sondergebilde auf psychopathischer Grundlage. 

Berichte und Urtheile 
gesammelt von A. Grohmann , Zürich. 

(Schluss.) 


Details aus dem Berichte eines Gelehrten *) in M., 
der A. schon seit vielen Jahren kennt. A. hat schon 
mit 7 Jahren im Elternhaus die Kabala gelesen. — 
Die Weissen Brüder sind eine kleine Zahl von 
Fakiren im Himmalava. — A.’s Logik ist eine rein 
akustische, mit der er schon seit Jahren immer die 
gleiche siegreiche suggestive Wirkung auf seine Um¬ 
gebung au§geübt hat.- Er war schon «mehrmals m 
Irrenanstalten, aber immer wieder entlassen, da die 
Irrenärzte sich überzeugt haben, dass er nicht geistes¬ 
krank ist und sie ihn gerne wieder los wurden, da 
sie für sich selbst die verwirrende Wirkung seiner 
Wortauslegungen fürchteten. 

Höherer Beamter, hat vor 3 Jahren A.’s Vor¬ 
träge angehört. Ist der damaligen Lehre A/s gegen¬ 
über „etwas sceptisch“ und sagt: A. ist ein hoch¬ 
gebildeter Mann, der aber zu viel studirt und ge¬ 
lesen hat. 

Eine Ausnahme machte ich bei dem Folgenden. 
Ich hatte einem alten Bekannten von mir, einem 
Naturarzt in der Nähe von M., brieflich vorgeschlagen, 
er möge den Holderhof besuchen, wenn er auf einer 
seiner Touren in dessen Nähe käme; auch würde 
es mich interessiren, zu erfahren, wie er über A. und 
seine Sache urtheile. Darauf schrieb er mir um¬ 
gehend : 

Das Anerbieten einer Million.für Auf¬ 

nahme in das Bürgerrecht von N. erweckt in mir 
den Glauben, dass wir es bei A. nicht mit einem 
praktischen Reformer, der irgend einen bestimmten, 
nüchternen und realisirbaren Plan verfolgt, zu thun 

*) auf dem Gebiete der exacten Naturwissenschaften. Hat 
einmal ein Colleg über Psychologie gehört. Seine Mutter ist 
Spiritistin. 


haben, sondern mit einem religiösen Schwärmer, der 
vielleicht gerne ei was Gutes und Grosses schaffen 
möchte, ohne dabei auch nur die geringste Spur von 
volkswirtschaftlichem Wissen und Können zu ent¬ 
wickeln. Denn es ist doch völlig unverständlich, 
warum A. eine Million für das Bürgerrecht einer als 
arm bezeichneten Gemeinde bezahlt, das man sonst 
überall 'für- eine- ganz - bülign Gebührensumme be¬ 
kommen kann, sofern man nur eine ehrliche Haut 
ist; das heisst denn doch mit Kanonen nach Spatzen 
schiessen. Dazu kommt, dass A. die Million noch 
gar nicht hat, sondern erst in Amerika collectiren 
muss. Für den Volksfreund ist eine solch unver¬ 
ständliche und geradezu kindische Verschwendung 
umso schmerzlicher, als man damit bei kluger, spar¬ 
samer Verwendung etwas ganz Werthvolles hätte 
schaffen können, z. B. eine ländliche Kolonie für 
Tuberkulose oder Trinker, für Nervenkranke, kurz 
alle jene, denen das Stadtleben einen langsamen, 
aber sichern Tod bereitet. Dazu bedarf es aber 
einer sorgfältigen Organisation und enormen Arbeit. 
Von alle dem höre ich bei A. nichts. Darum hat 
sein Auftreten für mich kein Interesse und ich sehe 
nicht ein, warum ich ihn besuchen soll. 

Redakteur Sonnenfels. — Zur Zeit seines Be¬ 
suches bei mir, war er daran, eine communistische 
Gesellschaft zu gründen. Dieser Sache galt sein Be¬ 
such bei mir, bei welcher Gelegenheit ich erfuhr, 
dass er A. kenne. Er berichtet: 

A. hatte mich aufgesucht, um mich für seine 
Sache zu gewinnen. Er kam aufgeregt auf mich zu, 
schüttelt mir die Hand und frägt wie in freudiger 
Erwartung: Merken Sie nichts? Nein, sage ich, ich 
merke nichts. Gar nichts? Nein, absolut gar nichts! 


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222 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 24. 


Als ich bald darauf zu einem Vortrag nach M. 
gekommen war, folgte ich der Einladung A.’s und 
besuchte ihn in N. Nachdem ich ihn eine Ansprache 
an seine Gesellschaft hatte halten hören, wollte ich 
mir die Erlaubniss erbitten, den Anwesenden meinen 
Standpunkt auseinandersetzen zu dürfen. Es wurde 
mir aber unter grosser Aufregung bedeutet, dass dies 
nicht angehe. 

Ich: Was halten Sie von seiner Lehre? Er: Von 
dem, was ich selber mit eigenen Ohren gehört habe, 
hat nichts einen Sinn gehabt. Ich: Damit wir bei 
der Beurtheilung A.’s auf gleicher Basis stehen, hören 
Sie, was er in N. in meiner Gegenwart seiner Ge¬ 
sellschaft gesagt hat: (citire Satz V.) Was halten 
Sie davon? Er: Ganz ähnliches hat er auch vor 
mir ausgesprochen. Es hat gar keinen Sinn. Ich: 
Und die Symbole an den Wänden? Er: Ja, diese 
zwei Kreuze und das Herz mit dem Auge, alle 
diese Dinge im Esssal, — nun die haben doch eben¬ 
sowenig einen Sinn. *) 

*) Aber auch in Dingen des Weltuntergangs stimmen 
die Ansichten von A. und von Sonnenfels nicht überein. Das 
lehrt ein Vortrag Sonnenfels’ in M., den ich selber angehört 
habe. Er wurde in einem grossen öffentlichen Lokal gehalten 
und die Einladung hierzu im Lokalblatt hatte gelautet: „Be¬ 
vorstehende Ausscheidung eines zweiten Erd-Mondes und in¬ 
folgedessen: Untergang der Erdmenschen bis auf einen kleinen 
Rest.“ Der Text ist bald in Sonnenfels eigenem Blatte, das 
den Untertitel „Organ des Seclenbundes“ führt, erschienen. 
Ein Stück davon lautet: 

Ich könnte auch das Datum der Geburt des zweiten 
Erdmondes angeben, beschränke mich aber hier auf die Fest¬ 
stellung, dass der grösste Theil der gegenwärtig existierenden 
Erdenmenschen Zeugen der grössten Erdkatastrophe sein wird. 

Weiter soll bezüglich der veränderten Gestalt und Stellung 
der Erde zur Sonne und dem „erstgeborenen“ Kinde, dem 
Mond, bekannt gegeben werden, dass die grössten und höchsten 
Gebirgsketten ein mehr ebenes Trümmerfeld und infolge der 
UeberHutungen des Indischen Ozeans, den Charakter von 
Inseln erhalten werden, während durch die Verrückung der 
Erdachse ein neuer Kontinent das grosse Centrum des Ozean- 
Beckens einnehmen wird. Die Binnenländer am Atlantischen 
Ozean mit den Inseln werden desgleichen ein Chaos von 
Seen und Inseln bilden. Es wird mehrere Jahrhunderte 
brauchen, bis der dichte Nebel sich verzogen hat, der auf den 
Gegenden des heutigen Asien und Amerika und Theilen von 
Afrika infolge der Katastrophe sich senken wird. 

Durch die schon erwähnte Schleuderung aus der alten Erd¬ 
bahn wird unser Planet in eine nahezu senkrechte Stellung 
zu jener gebracht und infolge dessen die Einwiikung der 
Sonnenstrahlen für nicht unbeträchtliche Strecken erheblich ab- 
gesclnväckt. Die heutigen Aequatorial- und subtropischen Ge¬ 
genden sinken auf das Temperatur-Niveau desjenigen Gürtels 
hetab, der zwischen dem 46. und 60 Breitegrad (nördlich und 
südlich vom Aequator) sich erstreckt, während unsere heutigen 
Breiten ein subtropisches und die Polargegenden ein tropisches 
Klima haben werden. 


Ueber die Vorgeschichte des Unternehmens im 
Holderhofe erfuhr ich bei einem zweiten kurzen Be¬ 
suche folgendes von R., dem Generalbevollmächtigten 
des A. 

Nach ihm baut sich die Geschichte des Unter¬ 
nehmens auf zwei Dinge auf: auf einem Buche, das 
er mir zur Einsicht übergab und auf einem spiri¬ 
tistischen Zirkel, der jahrelang in P. bestand. 

Das Buch, ungefähr 700 Seiten Grossoctav, führt 
einen merkwürdigen Titel, sodann als Untertitel die 
Worte „Geistes-Ehe“, das Motto: „Nur das höchste 
Ideal auch am vollsten real! — Dem Ewigen ge¬ 
weiht“, und eine Jahreszahl, nach welcher es unge¬ 
fähr 12 Jahre vor dem Erscheinen der ersten An¬ 
siedler in N. erschienen sein muss. Das Buch trägt 
keinen Autornamen. Als Verfasser nannte mir R. 
den Vater des A. Ein allgemeiner Theil bringt die 
mit allen Hülfsmitteln moderner Wissenschaft aufge¬ 
baute Theorie. Als Beispiel führe ich etwas Mathe¬ 
matisches an: „Doch gehen wir einen Schritt weiter, 
betrachten wir die anorganischen und organischen Er¬ 
scheinungen nur als einfache und complicirtere Be- 
wegungsproces.se der ponderabeln und imponderabcln 
Moleculargruppirung, von denen bei den Organismen 
uns wieder die zwei grossen Sphären der vegetativen 
und animalischen Bewegungscomplexe, jener de: 
Pflanzen und Thiere entgegentreten, so wird, wenn 
wir eine Analogie wollen, die anorganische Beweg¬ 
ung mit der graden Linie und den Curven des 
zweiten Grades in Entsprechung stehen (Ellipse, Pa¬ 
rabel und Hyperbel-kosmische und tellurische Gravi¬ 
tationsbewegung) , die vegetative mit den Curven 
höherer Grade (z. B. der Kyssoide, Epheulinie — 
der Cordoide, Herzlinie, dessen Gleichung 4r [xv 2 
+ x 3 -f- ry 2 ] = [x 2 4- y 2 ] 2 etc.), die animalische 
mit den transccndenten Curven (deren Gleichung al¬ 
gebraisch nicht zu lösen — Cycloidc, Spirale etc.). 

Die Behandlung der Theorie vom Standpunkte 
der Bibelwissenschaft ist eine besonders ausführliche. 
Hier kommt auch eine Bemerkung, die sich auf A. 
bezieht: „Die ganze Bibel wird gegenwärtig in obiger 
Weise nach dem angegebenen organischen Prineip 
von des Verfassers ältestem Sohne übersetzt und sind 
schon einzelne Theile, wie Propheten, Psalmen etc. 
v« »llendet.“ 

Und nun das Verhältnis der zusammengeschrumpften Erde 
zu ihren beiden Kindern: Mond Nr. 1 und Mond Nr. 2. Nr. 1 
ist der Erde um einige Tausend Kilometer näher gekommen, 
während der „feurige“ Jüngstgeborene so ein halbes Milliön¬ 
chen Kilometer hoch sich empor geschwungen und in jenen Höhen 
von der „Mama“ festgehalten wird, um sie in der Folge all¬ 
nächtlich „schief“ zu beleuchten.“ 


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19 ° 4 -] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Nach dem theoretischen Theil kommt eine Ueber- 
sicht über Heroen der Weltgeschichte, deren Ansichten 
dem Verfasser des Buches von Bedeutung sind. 
Swedenborg wird besonders ausführlich behandelt. 
In einem folgenden Theile werden praktische Fragen 
behandelt, die für das Wohl des Einzelnen wichtig 
sind. Aus diesem Theile entnehme ich folgendes, 
das sich auf den Verfasser des Buches bezieht: „In 
seiner Jugend widmete er, durch der Studien gün¬ 
stige Verhältnisse, drei Jahre der Mathematik und 
den Naturwissenschaften (arbeitete ein Jahr in che¬ 
mischen Laboratorien), dann drei Jahre der Philo¬ 
sophie und drei der Theologie. Und zwar war sein 
Studierzimmer seine Welt. Abgeschlossen von allem 
gesellschaftlichen Verkehr, lebte er nur dem Dienste 
der Wahrheit und strenger Geistesarbeit. Während 
der naturwissenschaftlichen Studien war sein Stand¬ 
punkt der skeptische. Da zog er sich durch zu 
grosse Anstrengung eine heftige Gehirnentzündung 
zu. Trotz der besten allopathischen Hülfe“ etc. (es 
kommt nun eine lange Krankheitsgeschichte). ^End¬ 
lich rief ihm sein neuer Arzt, ein christlicher Theist: 
„Beten Sie!“ Nach langen Zweifeln, die sich hieran, 
für ihn, den Skeptiker, anschlossen, ward ihm eine 
Erleuchtung von oben: „Ein Strahl des ewigen Lichtes 
erhellte das Dunkel und fest, unerschütterlich fest, 
gegenüber denen alle bisherige Sinneskenntniss nur 
ein schwankendes, schwindendes Nichts, erfüllte die 
Empfindung das ganze endliche Bewusstsein : Ich 
bin, Ich der Unendliche, und du bist nicht, du nur 
die endliche Schranke, das arme Schattenbild meines 
lebendigen Seins! Die Wurzel des Lebens war ge¬ 
funden und der lebendige Contact im innen) Gebet 
mit dem Absoluten hergestellt.“ 

Endlich der Aufruf zur Gründung eines ,Welt- 
b u n d e s der Huinanitas*. 

Es folgen dann Gedichte und eine Fussnote: 
„Man kann es an maassend finden, wenn Verfasser 
hier auch noch kleine Beiträge seiner Kinder bietet. 
Die organische Ehe und Familie wird aber erst durch 
Mann, Weib und Kind gebildet, die nur so die Reali- 
sirung des Lebens in seinem Grundbegriff erschöpft, 
auch dürfte eine nähere Betrachtung der einzelnen 
Relationen von psychologischem Interesse sein. Der 
erste Beitrag ist eine Bibelübcrsetztingsprobe des 
Aeltesten, die drei mittleren Gefühle und Phantasien 
seiner Schwestern, und der Schluss ist von dem 
jüngeren Bruder.“ 

R.: Dieses Buch zeigt die theoretische Ilcrleitung 
für das, was jetzt A. praktisch unternimmt. Der 
Vater hat nur die Theorie gege^jj, dein Coline 


223 


kommt die viel schwierigere praktische Ausführung 
zu. 

Sodann berichtet R.: In den Jahren 1874 bis 
1885 bestand in P. ein spiritistischer Zirkel, in 
welchem sich ein Schneider, sowie ein Gärtner L. 
und eine Frau U., die letztere als Medium, hervor* 
thaten. Unter den medial gewonnenen Kundgeb¬ 
ungen aus diesem Kreise kamen auch genaue An¬ 
gaben über den Ort in Italien, wo durch Bohrungen 
Petroleum zu gewinnen sei. Diese Bohrungen wurden 
in Angriff genommen, mit grossen Kosten, circa 200 
Franken per Tag, die lange fortgesetzt, aber ohne 
Ergebniss verliefen. Sodann ging man an den Bau 
eines Humanitas-Tempels in P., auf dem Grundstück 
des Gärtners L. Später wurde der Bau aufgegeben. 
Die untern Mauern, die 30000 Mark gekostet haben, 
sind dort noch zu sehen, in unmittelbarer Nähe der 

Villa des Königs von.. der sich dort oft 

aufhielt und zu den Theilnehmem des spiritistischen 
Zirkels gehörte. *) Der König hat sich so auf media¬ 
lem Wege manche politischen Aufschlüsse und Prophe¬ 
zeiungen geholt. Gärtner L. arbeitete mit dem Me¬ 
dium Frau U. und war Leiter für viele solche An¬ 
gelegenheiten , für die er ein grosses Geschick und 
Berühmtheit hatte. Schon Napoleon III. hatte er in 
dieser Weise gedient. Sogar sein eigenes Todesdatum 
hat er vorausgesagt, auf den Tag genau. In diesem 
Kreise war es, wo er A. kennen gelernt. Der Ein¬ 
druck, den dieser Mann auf ihn gemacht habe, sei 
derart gewaltig gewesen, dass er sofort gewusst habe, 
dass er es sein werde, dem er sein Leben zu wid¬ 
men habe. Seine Anfangs voreingenommene Frau 
habe auch nur einer einzigen Begegnung mit A. be¬ 
durft, um gleicher Ansicht zu werden. Darauf habe 
er — als Rittmeister — seinen Abschied vom Militär 
genommen. Dann sei vor 4 Jahren in einem früheren 
Bischofssitze, nicht weit von P., ein Weltkongress 
von 71 > Mitgliedern der Humanitas aus allen Thcilcn 
Europas abgehalten worden. Hier fand eine Spalt¬ 
ung statt: A., R. und 2 Mitglieder der Familie der 
Frau U. neben Andern auf der einen, Frau U. und 
ein Tlieil ihrer Familie neben andern Personen auf 
der andern Seite. — Diese letzteren haben sich vor 
wenigen Monaten in einem kleinen Dorfe wenige 
Stunden nördlich von N. niedergelassen und ent¬ 
wickeln dort ihre Humanitas weiter. — Die ersten 
grösseren Mittel, die dem A. für die Installirung 
seiner Humanitas zur Verfügung gestellt wunden, sind 
von einem Baron von Hofreiter bezahlt worden. 

*1 Vieles von den hier notirten positiven Angaben ist mir 
schriftlich von der Ortsbehürde bestätigt worden. 


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224 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 24. 


Dass die Mittel von diesem kommen würden, hat A. 
vorausgesagt, gestützt auf die Herleitung: „Innerer 
Vorhof der Humanitas“ und Hof reit er. Er, R., 
sei dann vor 3V2 Jahren von A. nach N. gesandt 
worden, um mit den Vorarbeiten, Haus- und Land¬ 
käufen etc. in N. zu beginnen. Während dieser 
Zeit habe A. gelegentlich dort nachgesehen und 2 
Jahre später habe er sich mit seiner aus Amerika 
herübergeholten Familie ebenfalls in N. niederge¬ 
lassen. Seit diesem Zeitpunkt sei alles mit Riesen¬ 
schritten der Entwicklung entgegengeeilt. Aus ganz 
Europa seien Menschen mit dem Verständniss für 
die Humanitas herangekommen.*) Neben manchen 
Unbrauchbaren seien es gewaltige Naturen und Men¬ 
schen von grosser Kraft gewesen, die R. so kennen 
gelernt habe. Unter seinen vielen Schilderungen 
während eines ganzen Nachmittags ziehe ich nur 
einige hier heran. Ein Mann sei da zum Holderhof 
gekommen und habe hier länger verweilt, der täglich 
die gefährlichsten Willensübungen vorgenommen habe. 
Bei seinem concentrirten Anblicken und Anwünschen 
sei man da täglich in grosser Gefahr gestanden. Er 
sei froh gewesen, dass der Herr nach einigen Wochen 
weggereist sei. Ein Anderer hätte bei Gelegenheit 
eines Vorwurfes erklärt, er brauche nicht speciell 
irgend Gutes zu thun, da er jeden Abend vor zu 
Bette gehen mit erhobenen Händen die ganze Welt 
segne. Auch unangenehme Gäste seien schon ge¬ 
kommen und mehrere von ihnen habe A. oder R. 
mit der Hundepeitsche wegjagen müssen. 

Dann erzählte R. mir von der riesigen Zahl von 
Bettelbriefen aus allen Theilen Europas, die an A. 
einliefen und die R. alle besorgen müsse. Einige 
las er mir vor. Die grösste Summe, um die A. an¬ 
gebettelt worden, sei 50000 Mark gewesen. 

Unsere Unterhaltung kam auf die persönlichen 
Eigenschaften des A. Als dieser einmal das Buch 
eines gewissen Jacob Lorber gelesen hatte, seien im 
Garten zwei Lorbeerbäume umgefallen. 

Am nächsten Morgen schloss ich mich bei einem 
Rundgang des R. in den ausgedehnten Ländereien 
der Gesellschaft an. Er zeigte mir die Stellen, wo 
die Tempel errichtet werden sollen, wobei er die 
Zeitungsnachrichten sowie die Angaben, die mir bei 
meinem ersten Besuche von einem weniger gut In- 
formirten gemacht worden, berichtigte. Nicht einer, 
oder 3, sondern alle 7 Tempel, deren Zeichnungen 
ich gesehen zu haben ihm mittheilte, sollen errichtet 
werden. Die 7 Tempel sollen so vertheilt werden: 

*) Dass A. sehr viele aufsuchte und ein lud, hat R. 
mir nicht berichtet. 

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Der eine, der von Wasser umgeben sein müsse 
werde unten am Strand erbaut werden, wo sie auch 
schon Land gekauft hätten. 5 andere kommen auf 
Land der Gesellschaft zu stehen. Eine horizontal 
angelegte breite Strasse mit 2 grossen eisernen Brücken 
über die 2 Bäche werde vom Holderhof hinüber zur 
östlich gelegenen, etwa 1 km entfernten Felsenpartie 
führen. Am Ende dieser Strasse komme der Tempel 
des Lucifer zu stehen. Westlich vom Holderhof, 
auf einem Felsen, komme der „Tempel ohne Thor“, 
und zwar auf Boden der Gemeinde. Auf meine Frage 
nach der Möglichkeit des Hineinkommens erklärte mir 
R.: Für die Aussen weit soll der Tempel nur ein 
Symbol sein. Die vom innem Zirkel werden durch 
einen geheimen unterirdischen Gang hineinkommen. 

Wir kamen in eines der Fischerhäuser, die für 
die Gesellschaft umgebaut wurden. Die Fussböden 
wurden herausgenommen und durch neue in erhöhter 
Lage ersetzt. (Die Häuser in N. haben sehr niedrige 
Stockwerke.) Die Folge war, dass auch Fenster, 
Thüren, Baikone höher zu legen, hier zu entfernen 
und zu verdecken, dort neu einzuschneiden waren. 
Dies zusammen mit Treppen- und OefenVersetzungen 
ergab die Lösung eines sehr interessanten Problems 
auf dem Gebiete der Architekturumwandlungsmöglich¬ 
keiten. In einem der Zimmer nagelten zwei Hand¬ 
werker Holzgetäfel auf eine alte Holzwand. Ich frug 
R., ob er nicht befürchte, Ungeziefer aus den alten 
Theilen mit in den Kauf zu nehmen. Ja, hiess es, 
auch in dem Haus, das ich mit meiner Familie be¬ 
wohne, hatten wir anfangs sehr viele Wanzen. Wir 
haben uns so beholfen, dass wir eine 3 fache Lage 
Makulatur aufklebten. Doch es lag nicht an dem : 
die Wanzen wären auch ohnehin weggezogen, wegen 
des Geistes, den wir ins Haus gebracht haben. Nach 
diesen Worten hatten wir die beiden Handwerker 
verlassen. Vielleicht, setzte R. jetzt die Aufklär¬ 
ung fort, kommt das davon: Die Wanzen sind Un¬ 
geziefer; das kommt von Ziffer. Ich: Verstehen Sie 
diesen Zusammenhang? Er: Nein. Da fragen Sie 
am besten Herrn A. Er kann Ihnen das erklären. 
Uebrigens, wenn uns vorhin die Leute haben reden 
hören, so werden sie sich denken, das sei ein Un¬ 
sinn, den ich da ausgesprochen habe, aber es ver¬ 
gehen keine 4 oder 5 Jahre, so sind sie in Allem 
auf unserer Seite. 

Als den Zweck dieses Hauses gab mir R. an: 
Es ist für die Familie des Dr. Sachterer, die näch¬ 
stens kommt. Das Haus und ein daneben zu er¬ 
bauendes Gesellschaftshaus soll eine Art vegetarisches 
Sanatorium und Unterkunftshaus für kürzer Verweilende 
bilden. Die bisherige Art, für diese Personen zu 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


225 


sorgen,- nimmt mir zu viel Zeit weg, die ich für 
wichtigere Dinge benöthige. Ich: Also wohl ein 
Hotel? Er: Nein. Wenigstens nicht ganz. Wir 
nehmen nicht Geld an, wie Hotelwirthe. Ich: Wie 
soll dann die Entschädigung für das Genossene er¬ 
folgen ? Er: Jetzt ist das noch nicht festgesetzt. Das 
überlassen wir getrost der Zukunft. A. wird auch 
hier das Richtige finden. 

Bei einer anderen Gelegenheit. Ich: Redakteur 
Sonnenfels war ja kürzlich bei Ihnen. Weshalb hat 
denn A. diesen Herrn cingeladen, sich ihm hier an- 
zuschliessen ? R.: Es lag ihm nur daran, dass der 
Name Sonnenfels hier bei uns vertreten sei. *) 

Später: „Dass wir überhaupt nicht zu sterben 
brauchen, wenn wir nicht wollen“, erfuhr ich auch 
von R. Ich versäumte es leider, mir die Bestätigung 
zu holen, dass er dies von A. habe. 

Später. R.: Die Tempel, das haben wir dem 
Gemeinderath gesagt, die bauen wir nur, wenn sich 
das Fischervolk gut aufführt. 7 Stück sollen es 
werden. Und was wir anfangen, wollen wir gut 
durchführen. Das Stück dürfte so auf 20 Millionen 
kommen. Auf meine Frage nach der Eisenbahn, von 
der die Zeitungen berichtet hatten, gab er mir die 
Linie an. Uebrigens brauchen wir die schon, um 
das schwere ausländische Baumaterial für die Tempel 
herzuschaffen. 

Später: Der Gemeinderath von N. hatte uns zu¬ 
erst eine andere Verwendung für die Million vorge¬ 
schlagen : Deichbau und Küstenschutz u. dgl. Davon 
hätten aber manche, die weiter drin im Lande wohnen, 
keinen Vortheil gehabt und so wollten sie eine andere 
Theilungsart. Die vorgeschlagene Aenderung war 
uns auch recht. 

Später: Wir bilden hier den Kessel, von dem 
aus die Funken sprühen und den unbewussten Weg¬ 
weiser. (Später haben mir mehrere der andern 
Herren des Holderhofes ohne mein Fragen von 
diesem Kessel berichtet.) 

Später: Von einer kurz vorher in den Zeitungen 
breitgetretenen Hofscandalgeschichte berichtete mir 
R.: A. hat diese Sache erledigt und zur Ruhe ge¬ 
bracht. Ich: Wie? R.: A. entwickelte uns seine 
Ansichten über die Sache und 2 Tage später berich- 

*) Später erfuhr ich, dass wenige Tage nach dem Besuche 
von Sonnenfels bei A. und dessen vergeblichen Bemühen, 
Sonnenfels für die Gesellschaft des Holderhofes zu gewinnen 
(siehe oben), A. nach M. gereist war und einem gewissen 
Sonnenbach den gleichen Antrag gemacht hatte, wie vorher 
dem Redakteur Sounenfels. Dies erfuhr ich aus dem Munde 
von Sonnenbach selbst. 

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teten die Zeitungen, dass., upd so war die 

Sache zu Ende. 

Auf meine Erkundigung nach dem Bildhauer D., 
den ich bei meinem zweiten Besuche vermisste, be¬ 
richtete mir R.: Sie werden ihn morgen sehen. Er 
hat seine Familie nach M. gebracht. Es ging nicht 
mehr mit seiner Frau, die absolut kein Verständniss 
hatte für unsere Gütergemeinschaft, und mit ihrer 
Familie eine eigene kleine Insel hier bilden wollte, ge¬ 
sellschaftlich und ökonomisch losgetrennt von uns. Wir 
erklärten dem D.: Für dich giebt es nur die Wahl 
zwischen folgenden 3 Dingen: Entweder du gehst 
weg mit deiner Familie. Oder du bleibst bei uns, 
bringst aber die Familie in einem andern Orte unter, 
oder endlich, du zwingst deine Frau, mit uns zu 
halten. Er hat seine Familie nach M. gebracht und 
dort für sie Wohnung genommen. 

Nach dem Eintreffen des D. am nächsten Tage 
erhielt er vor der versammelten Tischgesellschaft und 
mir, dem Fremden, einen Verweis von R., wegen 
seines Zauderns in der Angelegenheit der Trennung 
von der Familie. Unter Anführung von Bibelstellen 
wurde ihm sein Verhalten als Schwäche vorgeworfen. 
Darauf D.: Er habe sich ja von der Familie getrennt, 
ct hoffe j man werde ihm das anrechnen. Weg¬ 
werfenden Tones erklärte R.: Das hast du doch für 
dich gethan und nicht für uns. Tags darauf erhielt 
er vor der versammelten Gesellschaft beim Abend¬ 
essen vom zurückgekehrten A. einen Verweis. Beim 
Versuch einer Entgegnung wurde er durch nur wenige 
Worte und Geberden von A. zum Schweigen gebracht. 
(Weiter unten wird der Leser erfahren, was für einen 
Ausgang D.’s Genossenschaft nahm.) 

Mit dem Doctor der Theologie, den ich bei meinem 
ersten Besuch getroffen, hatte ich diesmal eine kurze 
Unterhaltung. Er theilte mir mit, dass er jetzt nicht 
mehr als Koch *) thätig sei, sondern als „Mädchen 
für Alles“ in der Familie R. Er rühmte den Holder¬ 
hof als den Ort, wo ein Jeder durch Selbsterniedrig¬ 
ung in der dem Menschen so wohlthätigen Selbst¬ 
zucht geübt werde. Früher habe er grosse innere 
Anfechtungen erlitten. Ist jetzt unbesorgt um die 
Zukunft; hat sich durchgerungen. 

Der von einer 12 tägigen Reise über ungefähr 
2000 km Bahnfahrt zurückgekehrte A. während des 
Abendessens: Die Namen der zwei Herren, die mich 
am Bahnhof in München erwarteten, sind hochbe¬ 
deutungsvoll : I leizmann und Sachterer: Heizmann 
wird ein Meister sein im Heizen des Feuers unter 

*) Diese Bezeichnung war ein Euphemismus: Gemüse¬ 
putzen und Geschirrwaschen war seine Aufgabe gewesen. 

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226 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE^WOCHENSCHRIFT. [Nr. 24. 


unserm Kessel, und Sachterer wird die Dinge sachte 
anzufassen wissen. Auch hier wieder: Der Gegen¬ 
satz! Das All im Einen! 

(Die beiden Herren Heizmann und Sachterer 
waren berufen, eine hervorragende Rolle in der ferne¬ 
ren Entwicklung der Gesellschaft des Holderhofes zu 
spielen: Dr. med. Sachterer und seine Familie soll¬ 
ten das vorhin erwähnte Sanatorium und Hotel ohne 
Bezahlung führen, Heizmann dagegen — mein Leser 
hat (oben) einen Auszug seines Aufsatzes gelesen 
— hatte sich nach Mittheilungen R.’s als Genosse 
der Holderer angemeldet und seine Aufnahme ist 
ihm zugesagt worden. Er soll als Publizist der Sache 
dienen. R. sagte mir: Von Allen, die bis jetzt über 
unsere Sache geschrieben haben, ist er der Einzige, 
der sie erfasst hat.) 

Mit dem Bildhauer D. hatte ich in seinem Atelier 
in N. eine Unterhaltung. Ich: Viele behaupten, A. 
mache das Wetter. D.: Es dürfte dies nicht der 
richtige Ausdruck sein. Nicht „er macht das Wetter“, 
sondern: die äusseren Naturereignisse laufen parallel 
und in Harmonie mit den Ereignissen im Holderhof, 
was ich selbst stets beobachtet habe. 

Später: Ich möchte nicht so weit gehen, wie A., 
der die sämmtlichen im Tagesverkehr vorkommenden 
Zahlen als nothwendigerweise bedeutungsvoll für unser 
Schicksal ansieht: z. B. die Zahl der Stühle in einem 
Zimmer, oder wie gestern Abends: die Quersumme 
der Zahl auf seinem Eisenbahnbillet Aber natür¬ 
lich: einen Zufall giebt es nicht. Die richtigen Be¬ 
ziehungen zwischen allen Zahlen und den Ereignissen 
herauszufinden, ist oft unmöglich. Jedenfalls ist aber 
A. mit seinem riesig schnellen, blitzartigen Denken 
und Empfinden uns Andern voraus im Erkennen 
alles Gesetzmässigen. Ich: Ein höherer Beamter in 
M. hat mir gesagt: es sei ihm gesagt worden, dass 
A. das viele Geld, das er hier ausgiebt, von Roth¬ 
schild bekomme. D.: So, ist ihm dies gesagt worden ? 
Ich hatte A. so verstanden, als ob er das Geld von 
Rothschild noch erwarte. 

Gespräch mit einem der anderen Herren vom 
Holderhof, einem Schlosser aus Schleswig-Holstein, 
der viele Philosophen gelesen hat. Ich: Sehen Sie 
nur, bitte, hier hinaus! Was für ein schönes Wetter! 
Gestern Abend ist Herr A. bei Regenwetter ange- 
koramen, und heute dieses Prachtwetter! Er (mit 
freudigem Erstaunen): Ach ja! Es muss wohl 
auch so sein. Als A. abreiste, kam sofort schlechtes 
Wetter. 

Später: Ich bin von jeher für die Erkenntniss- 
theorie gewesen. A. spricht mir nur zu schnelle. 

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Ich komme nicht leicht nach, aber es wird schon 
besser kommen. Ich verstehe fast alles, was er sagt, 
aber eben doch nicht alles. Nächstens mache ich 
nach Algier, wie die andern Herren*), aber darnach 
mache ich schnell auch noch nach Aegypten. Nach 
etwa 3 Wochen werde ich zurück sein, dann wird es 
wohl besser gehen mit dem Verstehen. 

Interview mit dem Herrn Schullehrer von N. 
Ich: Was ist Ihre Ansicht über die Gesellschaft vom 
Holderhofe ? Er: Dass sie eine Sekte seien, wie die 
Zeitungen berichtet haben, glaube ich nicht Mich 
dünkt, es seien Leute, die sich als Künstler zu be- 
thätigen wünschen**), die Kritik scheuen und sich 
deshalb in diese Einsamkeit zurückgezogen haben. 
Es ist ein Irrthum unserer Fischer und Bauern, wenn 
sie meinen, dass die Leute vom Holderhof hierher¬ 
gekommen seien, um den Boden zu vertheuern. — 
Im Uebrigen sind es rechte Leute. 

Bei der Fortsetzung meines Spazierganges im 
Dorfe N. wurde mir allgemein die Gesellschaft vom 
Holderhof gerühmt Z. B. habe A. eine Geldsumme 
(= 1450 M.) geschenkt für den Ankauf von Schul¬ 
bänken , und viele andere Aufmerksamkeiten habe 
er der Gemeinde und Einzelnen erwiesen. Die Leute 
vom Holderhof seien manirlich, friedliebend, verläss¬ 
lich, höflich etc. etc. und keinen bessern neuen Mit¬ 
bürger könnten sie sich wünschen als A. und alle 
seine Leute seien ihnen recht. Kurz, sehr viel Lob 
hörte ich. 

Wirth in S., einem Orte unweit von N.: A. sagt, 
Kaiser und Könige werden zu ihm kommen. 

Im Lauf einer Unterhaltung mit der Frau des 
Wirthes, fällt das Wort Religion. Plötzlich ertönt ein 
donnerartiger Ausbruch knapp neben mir: einer jener 
Flüche von der kräftigsten Sorte — wie sie A. so 
sehr verabscheuen soll — aus dem Munde eines 
grossen kräftigen Mannes mit dem „Südwester“ auf 
dem Kopfe, eines alkoholisch angeheiterten Fischers 
aus N. „Das ginge uns nichts an“, so lautete das 

*) Was es für eine Bewandtniss hatte mit der Reise von 
2 jüngern Mitgliedern des Holderhofes nach Algier, jeder ftir 
sich und auf nur wenige Tage, kurz vor meinem 2. Besuche, 
habe ich nicht mehr ermitteln können. 

**) Dies kann sich nur auf folgendes beziehen: Die Ge¬ 
sellschaft vom Holderhof hatte eine Villa im benachbarten S. 
gekauft, und A. liess im Garten dieser Villa eine Anzahl 
Statuen in Cementguss aufstellen, minderwerthige Waare, die 
aber für A. wichtig sind als Dinge mit symbolischer Bedeut¬ 
ung. Auch auf den Ländereien des Holderhofes waren solche 
Sculpturen angebracht, darunter besonders bemerkbar, weil an 
der Frontraauer des wichtigsten Gesellschaftshauses knapp an 
der Landstrasse: ein Marienbildniss und die Statue eines Natio¬ 
nalhelden. 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


227 


1004.] 

Commentar zum Fluche, „was die Leute im Holder¬ 
hof für eine Religion hätten; die Million kommt!“ 

Geistlicher: Hat bei A. in N. 2 Tage gewohnt 
und ihn mehrmals reden gehört. Urtheil: Interessant 
aber verworren. Sodann: Schade, dass Heizmann 
sich dieser Sache anschliesst; er ist ein klarer Kopf 
und ein besonders tüchtiger Mensch. 

Frühere Genossin des Holderhofes: Ich und mein 
Mann waren im Holderhof bei A. Mein Mann hat 
geschreinert und ich habe Zimmer aufgeräumt und 
Stiefel geputzt. Wir sind weg, weil A. zu viel regieren 
will. Auch die Familie K.*) ging mit uns fort; sie 
haben dort sehr viel zu erdulden gehabt. Ich: Was 
ist ihnen denn geschehen? Die Frau: A. sagte zu 
Herrn K.: Deine Ehe ist ungültig, denn eine zweite 
Ehe ist niemals gültig. Sie ist eine Sünde. Du 
musst dich von deiner Frau trennen und zu deiner 
ersten Frau zurück: Reise nach Stuttgart und suche 
die Versöhnung mit deiner ersten Frau zu erlangen 
und lebe weiter in der Ehe mit ihr. Ich: Was hat 
denn die zweite Frau K. dazu gesagt? Die Frau: 
Die Frau K., weil sie eine aufrichtige Seele ist, hat 
geglaubt, dass A. Recht hat und dass er in die Zu¬ 
kunft blicke und sehe, was da kommen müsse. Da¬ 
rauf ist Herr K. nach Stuttgart gereist und dazu hat 
ihm A. 100 M. gegeben. In Stuttgart hat er seine 
erste Frau wieder aussöhnen und zu einer neuen 
Verbindung bewegen wollen. Doch sie sagte: Daraus 
wird nichts. Ich bin von dir geschieden. Gehe du 
nur zurück zu deiner zweiten Frau; sie ist deine 
Frau jetzt. Darauf hat nun A., als der Herr K. 
zurückgekommen war, von ihm verlangt, dass er die 
100 M. zurückzahlen muss. Aber der Herr K. hatte 
kein Geld, schon von Anfang an nicht. Wie konnte 
er es dann dem A. zurückzahlen? Der A. kann 
sehr gut sein, aber auch schlimm. Er will der Welt 
helfen. Das ist wahr. Aber er will gar zu sehr 
seinen eigenen Willen. Von mir hat er verlangt, 
dass ich in ein anderes Haus einziehe, weiter oben 
vom grossen Holderhofe, zur Herstellung der Har¬ 
monie. Doch ich wollte nicht gehen und das habe 
ich auch dem A. gesagt: Das ist nicht möglich; die 
Harmonie ist nur bei den Reichen möglich, nicht 
bei uns, die wir arm sind. 

Geistlicher an einem andern Orte, der A. niemals 
hatte reden hören, aber dessen ganze Sache von An¬ 
fang an knapp beobachtet hat: A. kommt mir vor 
wie Mohamed, genau so. 

Ich wollte erfahren, wie sich w f ohl A. verhalten 
werde, wenn ich ihm meinen Entschluss, über ihn 

•) Von der der Leier schon gehört hat. 

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und seine Gesellschaft zu publiziren, inittheilen w’ürde. 
In einer Beilage zu einem Briefe an ihn, gab ich 
ihm meine Notizen über R.’s Mittheilungen und 
meine Auszüge aus dem Buche seines Vaters an. 
Ich erhielt folgende Antwort: 

Werther Herr Grohmann! 

Ich ersuche Sie in Ihrem besten Interesse wie 
Dem Der Wahrheit in Keiner Weise über uns und 
Die Sache, die wir verkörpern, etwas zu schreiben, 
wenn es Zeit ist, wird dies von berufener Seite aus 
geschehen. Gestatten Sie mir, Ihnen zu sagen, dass 
Ihre „Beilage“ uns beweist, dass Sie von Dem, was 
uns so einzig Alles in Allem ist, noch keine rechte 
Ahnung haben und haben können, — doch mag es 
einmal anders sein! 

Mit aufrichtigem Gruss A. 

Kunstschriftsteller, der 2 bis 3 Monate der Ge¬ 
sellschaft des Holderhofes angehört hatte. — Er er¬ 
klärt, dass er nach N. gekommen sei, um, mit D. 
zusammen, Antheil am Bau der Tempel zu haben. 
Diese seien ihm eine heilige Sache und seine Hin¬ 
gabe und Begeisterung für sie sei so, dass er sich, 
wenn nöthig, als Erster begeistert in die Fundamente 
eines der Tempel einmauem lassen würde. Ich: 
Was halten Sie von folgendem Satze des A. (citire 
Satz II). Er: Das ist weiter nichts wie eine dilet¬ 
tantisch-philologische Spitzfindigkeit. 

Seinen Standpunkt gegenüber der Sache des A. 
im Allgemeinen präcisirt er so: Ich habe die Ueber- 
zeugung, dass die rein materialistische Weltanschau¬ 
ung sehr in die Brüche gegangen ist, obwohl sie uns 
ja auch die grössten Vortheile in mancher Beziehung 
gebracht hat. Und ich habe wohl Ehrfurcht für das, 
was für uns bis jetzt Geheimniss in der Schöpfung 
ist. Aber ich glaube, dass man mit diesem Geheim¬ 
niss nicht spielen kann, wie es die Art der dilettan¬ 
trischen Sektier ist, die mit geringem Gefühl für Ver¬ 
antwortlichkeit in diesen Geheimnissen wühlen, und 
ohne Sinn herausreden, was sich dem schwatzhaften 
Munde zudrängt. Es ist mehr Feinheit nöthig und 
wenn der Feinheit meistens Thatensinn abgeht, so 
müssen w r ir eben so lange warten können, bis sich 
zur Feinheit vielleicht auch einmal That gesellt, und 
uns Formen und sichtbaren Ausdruck für unser 
Innerstes schafft, w'ie es in heiligen Kunstwerken, 
besonders im Tempelbau, denkbar ist. 

Medium Frau U. (schon erwähnt), circa 70 Jahre 
alt, giebt an: Hat vor etwa 20 Jahren angefangen, 
Stimmen zu hören. Sie notirte das Gehörte und diese 
Notizen brachten eine Freundin dazu, in ihr ein 
spiritistisches Medium zu erblicken. Hatte dieses 


Original fram 

HARVARD UNIVERSUM 




228 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 24. 


Wort früher nie gehört. Ist dann ein sehr gutes 
Medium geworden. Was sie im Trans sagt, weiss 
sie nicht. Auf Grund der Stimmen zum Gärtner L. 
nach P. (schon erwähnt) gereist. Hat anfangs Miss¬ 
trauen zu L. gehabt wegen seines vielen Geldver- 
dienens durch Spiritismus. L. entschuldigte sich im 
Sinne des Verdienenmüssens. Ihr Misstrauen schwand, 
als L. sie von einer 15jährigen Kontraktur geheilt. 
Nach dieser wie ein kleines Kind gehen lernen 
müssen. Dann grosse Reisen mit L. zu einer Reihe 
hoher Herrschaften. Deutet auf viele mystische Be¬ 
ziehungen unter den Menschen, Träumen, Ahnungen, 
Prophezeiungen. Auf meine Frage, wie sie A. 
kennen gelernt: Der junge T. hat ihn mir in Q. zu¬ 
geführt, nachdem ich schon Jahre vorher A.’s Gestalt 
in Träumen gesehen hatte, auch war nur seine An¬ 
kunft gemeldet worden in Gesprächen verschiedener 
Menschen, von denen ich nicht weiss, was sie mit 
A. etwa zu thun haben. Aus ihren Erinnerungen 
bei einem spätem Verkehr mit A. im Herrensitze 
eines frühem Bischofs: In der Nacht soll dem A., 
wie er sagte, der Bischof erschienen sein und er habe 
ihm die Insignien seiner Macht übergeben. Auf ihre 
Frage bei A.’s schlechtem Aussehen habe A. gesagt: 
Wenn er in der Nacht die ganze Menschheit zu 
retten gehabt, so sei das selbstverständlich, dass man 
nicht aussehen könne wie sonst. Ferner: Sich ans 
Kreuz schlagen lassen, sei keine Kunst, da stehe er 
denn doch höher und habe Grösseres geleistet. 

T. („Naturmensch“). Junger Vegetarier, mir als 
wahrheitsliebend bekannt, berichtet: Der jüngere 
Bruder des A. ist Anhänger des Dr. Dowie in Chi¬ 
cago („Zionisten“) geworden. Zwei jüngere Schwestern 
des A. und sein Vater ähnlich veranlagt. 

T., der zu verschiedenen Malen mit A. verkehrt 
habe, berichtete mir, dass sein letzter Besuch bei 
ihm in N. (wenige Tage nach meinem 2. Besuche 
dort) den Abfall des Bildhauers D. zur Folge gehabt 
habe: Nach dem Frühstück blieben wir sitzen und, 
wie das dort immer so geht, nur A. sprach. Mich 
schien er auf dem Korn zu haben und er stichelte 
mehrmals auf mich und erklärte zuletzt: Für dort 
sei nur reif, wer zu gehorchen wisse. Als ich ihm 
Einiges vorhielt, sagte er, wir wollen sehen, wer un¬ 
seres Geistes ist. Er befahl, dass Fleisch gebracht 
werde. Da frug ihn D.: Du wirst es doch nicht auf 
das ankommen lassen ? Ja gewiss, ich will, sagte A., 
worauf D. bös wurde und hinausging. Das Fleisch 
wurde gebracht und nun hielten die ungefähr 50 
Personen, die da sassen, eine Art heiliges Abendmahl: 
Jeder ass etwas Fleisch um zu zeigen, dass er sich 
zum Geiste A.’s bekenne. Ich sagte : A., mach doch 

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keine Komödie. Da seht Ihr! brauste er auf. Was 
uns heilig ist, ist für ihn Komödie. Ich reiste dann 
weg, und D. ist nun auch weg von dieser Gesell¬ 
schaft. 

Ich: Was halten Sie von A.’s Prophezeiungen? 
T.: Ich habe nicht gemerkt, dass sie eintreffen. Z. B. 
die zwei Prophezeiungen, die er einst in ... . ab¬ 
gab , sind nicht eingetroffen: nach ihnen sollte jetzt 
die Geldwirthschaft aufgehört haben und der damalige 
Papst der letzte gewesen sein. 

Früherer Genosse des A. im Holderhofe, Vege¬ 
tarier. Urtheil über A.: Er ist ein Nitscheaner und 
weiter nichts als ein äusserst gewandter Mathematiker. 
Versteht alles zu beweisen, was er will. 

Bericht einer jungen Dame, mehrere Monate Ge¬ 
nossin im Holderhof: Ich kam nach N. auf Veran¬ 
lassung meines Bräutigams. Als ich ihm sagte: ich 
verstehe den A. nicht, sagte mein Bräutigam: Bleibe 
nur dort, du wirst ihn schon verstehen lernen. Be¬ 
richtet auch von einer Reise des A. nach Monaco 
während ihres Aufenthaltes in N.: Wir alle mussten 
Geld zusammenthun, damit er hinreise, um dort zu 
spielen nach den Prophezeiungen, die er uns erklärte. 
Aber er kam ohne Geld zurück. 

B., erster Ansiedler in N., junger Lithograph. 
Langjähriger Freund des A. War fast zwei Jahre 
Genosse im Holderhof. Berichtet viel, das mir zur 
Controlle meiner Notizen dient Sodann: Der Holder¬ 
hof ist eine ausgezeichnete Schule für Viele Sie 
werden in der Aufmerksamkeit geübt und hören 
Dinge, die sie nirgends sonst erfahren. 

Als ich ihm von der Ableitung Ziffer von Wanzen 
erzählte, sagt er: A. treibt viel zu viel solcher Ab¬ 
leitungen. Das sind Dinge, die jeder selbständig 
Denkende selbst finden kann. Jede Entscheidung 
und alle Vorsätze und Entschlüsse nur aus Zahlen 
und Worten abzuleiten, dazu liegt keine Veranlassung 
vor. Bestätigt, dass die Meisten im Holderhof an 
das Wetterniachen des A. glauben und erzählt, dass 
A. von einem Erdbeben berichtet habe, das im Him- 
malaya begonnen und bei ihm geendet habe. All¬ 
gemeines Urtheil über A.: Zu viel Phantasie, beweist 
alles Mögliche aus Zahlen und Worten. Wechselt 
mit den Idealen. Prophezeit vielfach erst hinterdrein. 
Prophezeit er aber wirklich einmal im Voraus, und 
es schlägt nicht ein, so meint er: die Auslegung 
hätte eigentlich so und so sein sollen u. dgl. A. 
habe einen schweren Auftritt im Elternhause gehabt 
und sei daraufhin ins Irrenhaus gekommen. Später 
ein zweites Mal. Wechselt sehr im Gesundheitszu¬ 
stand ; es geht ihm immer schlecht, wenn er wenig 
Anhänger hat. Hat höchst merkwürdige Dinge er- 

Original from 

HARVARD UNIVERSITY 



I0O4-] 


zählt, die im Irrenhaus passirt sind, weil er dort 
eingesperrt war. A. ist nicht verrückt, man hätte ihn 
ja sonst im Irrenhaus behalten. Er wird nur bös, 
wenn man nicht an ihn glaubt. Auf meine Frage 
nach der sog. Seelengemeinschaft des A. mit seiner 
Frau, sagt B.: Ich habe in meiner Jugend mit Be¬ 
geisterung an dieser Idee gehangen. *) Ich hatte die 
Vorstellung, so werde alles im Leben einfacher und 
man könnte auch die Briefmarken ersparen. Aber 
ich habe gesehen, diese Sache ist nicht so einfach 
und nur Wenige können es. 

*) Mutter Spiritistin. 


22g 


Ein dreistündiges Gespräch führt mich in die 
Fläne dieses strebsamen Menschen ein, er schildert 
mir die schon unternommenen Schritte in der Er¬ 
richtung einer comnumistischcn Gesellschaft, schildert 
die grosse Verantwortung, die im gesprochenen Worte 
liegt und trägt schön und korrekt das Citat aus 
Faust vor: 

Da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein. 
Mit Worten lässt sich trefflich streiten, 

Mit Worten ein System bereiten, 

An Worte lässt sich trefflich glauben, 

Von einem Wort lässt sich kein Jota rauben. 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Mitthei lungen. 


— Aus Russland. Die Bezirksirrenanstalt in 
Wilna veröffentlicht unter der Redaction des Directors 
der Anstalt Dr. Krainski ein „Wissenschaftliches 
Archiv“, dessen erster Band (Heft 1/2) soeben er¬ 
schien. Er enthält ausser verschiedenen officiellen 
Nachrichten eine historische Beschreibung der Ent¬ 
wicklung der Anstalt und mehrere wissenschaftliche 
Artikel: Dr. Krainski, „Die Energetiphe Psycho¬ 
logie“ , Dr. v. F r i c k e n, „Gerichtlich-psychiatrische 
Expertisen“, Dr. Maewski, „Zur Frage über die 
Akinesia algera“, Dr. Reicher, „Zur Frage über 
den Selbstmord u. anderes. 

Das Hauptamt des russischen Rothen Kreuzes 
hat eine specielle Commission eingerichtet zur Organi¬ 
sation der ärztlichen Hülfe bei psychischen Erkrank¬ 
ungen in dem russisch-japanischen Kriege. 


Referate. 

— Löwenfeld, Die psychischen Zwangs¬ 
erscheinungen. Wiesbaden 1904, bei J. F. Berg¬ 
mann. 13 Mk. 60 Pf. 

Vergleicht man den bescheidenen Umfang der 
ersten Veröffentlichungen über die interessante Frage 
mit dem stattlichen Bande, in dem Löwenfeld mit 
kritischer Verwertung der bisherigen Arbeiten über 
diese Frage, unter Benutzung seiner reichen eigenen 
Erfahrungen und einer sehr instructiven Casuistik dem 
wichtigen Thema gerecht wird, so bekommt man einen 
sehr anschaulichen Begriff von dem überraschenden 
Aufschwünge, den die Erkenntniss und Behandlung 
der Nerven- und Geisteskrankheiten in den letzten 30 
Jahren genommen hat. Die Krankheitserscheinungen 
haben ein um so allgemeineres Interesse, als ihre 
Wurzeln sich weit bis in das Physiologische hinein 
erstrecken; übersieht man, welche Fülle von Symp¬ 
tomen nach und nach in das Krankheitsbild einrangirt 
worden sind, die so häufig im Alltagsleben Vorkommen, 
und wie schwierig und häufig unmöglich die Abgren¬ 
zung des Normalen gegen das Pathologische ist, so 
werden wir die grosse Leistung des Buches um so 
mehr zu würdigen verstehen. 

Während die Kenntniss der Einzelformcn eine 
stetige Vermehrung erfahr hat, ist in den Ansichten 

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über die nosologische Stellung, die Aetiologie und 
den Mechanismus derselben keine Annäherung ein¬ 
getreten, im Gegentheile sind die Meinungsverschieden¬ 
heiten über diese Hauptfragen eher bedeutender denn 
geringer geworden. 

An Stelle der von Westphal angegebenen Definition, 
dessen Autorität jahrzehntelang auf der Weiterentwicke¬ 
lung der theoretischen Betrachtung des Krankheits¬ 
begriffes lastete, kommt Löwenfeld zu folgender Begriffs¬ 
bestimmung: 

„Zwangsvorstellungen sind Vorstellungen, welche 
der normalen Verdrängbarkeit durch Willenseinflüsse 
ermangeln. Dieser Mangel, die Immobilität, kann 
sowohl einzelne, bestimmte Zwangsvorstellungen als 
Associationsreihen einer gewissen Richtung betreffen. 
Infolge dieser Immibolität stören sie den normalen 
Verlauf der psychischen Processe.“ 

Auf dieser Grundlage theilt der Verfasser den unge¬ 
mein umfangreichen Stoff in zwangloser und praktischer 
Weise folgendermaassen ein: Er bespricht zunächst 
die Zwangserscheinungen der intellectuellen Sphäre, die 
er in selbständige Zwangsvorstellungen und associative 
Zwangstendenzen gliedert. Der ersteren Gruppe 
ordnen sich die Zwangsvorstellungen im engeren Sinne, 
die Zwangsempfindungen und die Zwangshallucinationen 
unter, der letzteren die Grübel- und Fragesucht, die 
Zweifelsucht, Zwangsskrupel und Vorwürfe, der Beach¬ 
tungszwang, der Erinnerungszwang, Zwangsdenken und 
Vorwürfe. Den zweiten Haupttheil bilden die Zwangs¬ 
erscheinungen der cmmotionellen Sphäre, die wieder 
in die Angstzustände (primär inhaltslose Angstzustände 
und Phobieen) und andere Zwangsefl'ecte und Zw'angs- 
stimmungen sich thcilen. Im dritten Theile finden dann 
die Zwangserscheinungen der motorischen Sphäre ihren 
Platz: Zwangsimpulse, Zwangstriebe, Zwangsbewegungen 
und Handlungen und Zwangshemmungen. 

Auf die detaillirte Einthcilung, welc he die Haupt- 
theile erfahren, kann hier nicht eingegangen werden, 
wohl nichts von dem, was bis jetzt zur Lösung dieser 
Frage geschehen ist, ist der Besprechung entgangen. 

Sehr ausführlich geht Verfasser auch auf den 
Mechanismus der Zwangserscheinungen ein, über den 
er sich mit den verschiedenen Thcoriecn, ausein- 

Original fram 

HARVARD UN1VERSITY 




230 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 24. 


andersetzt. Die Darlegungen sind zu complicirt, als 
dass sie sich im Auszuge wiedergeben Hessen. 

Während nach Löwenfeld in der Aetiologie der 
Zwangsvorstellungen die Heredität eine ausserordentlich 
grosse Rolle spielt, das weibliche Geschlecht besonders 
schwer betroffen wird und die Pubertätsentwickelung 
sich sehr stark bemerkbar macht, wozu die determini- 
renden Momente in bunter Abwechselung treten, 
fungirt bei den Angstzuständen die hereditöre Ver¬ 
anlagung nur selten als ausschliessliche Ursache. 
Unter den essentiellen Ursachen der Angstzustände 
prävaliren unter den somatischen die sexuellen, unter 
den psychischen die emotionellen Noxen, eine speci- 
fische Ursache dagegen ist nicht zu ermitteln. 

Löwenfeld vermag sich nicht zu entschliessen, die 
Zwangserscheinungen von der Neurasthenie im Sinne 
Janet’s oder Freud’s abzutrennen, auch bei unbelasteten 
Neurasthenischen mangelt es nicht an schweren pho¬ 
bischen Zuständen. Ebenso bilden bei Hysterischen die 
Zwangserscheinungen ein häufiges Vorkommniss, etwas 
weniger in der Epilepsie und bei Migräneanfällen. 
Unter den Psychosen suchen sie insbesondere die 
Melancholie heim, seltener die Paranoia und Imbecillität. 
Daneben treten nicht selten die Zwangserscheinungen 
ganz isolirt auf, derartige Fälle gehören der Zwangs¬ 
vorstellungskrankheit an. 

„Die Zw'angserscheinungen bilden eine Kette psycho¬ 
pathischer Symptome, die in der Breite der Gesundheit 
beginnend zu den schweren psichischen Störungen 
herüberführen, und w enn sie auch von letzteren zumeist 
fern bleiben, doch für den Betroffenen wichtig genug 
sind, um die volle Aufmerksamkeit des Arztes zu 
beanspruchen.“ 

Nach einer ausführlichen Würdigung der zahlreichen 
Momente, die in forensischer Beziehung in Frage 
kommen, gelangt Verfasser zu dem Schlüsse, dass es 
hierbei nicht genügt, das Vorhandensein eines Zw’angsim- 
pulses nachzuweisen, sondern dass auch gezeigt werden 
muss, welche besonderen Umstände die Widerstands¬ 
fähigkeit des Individuums gegen den Impuls aufhoben. 

Ausserordentlich umfangreich sind die Aufgaben 
der Prophylaxe gegen das vielseitige Leiden. Die 
Behandlung der Zw'angserscheinungen im Einzelfalle 
ist von der Art des Grundleidens abhängig. Unter 
den psychotherapeutischen Aufgaben ist eine der ersten 
die sachgemässe Aufklärung des Kranken, unterschätzt 
worden ist vielfach die Bedeutung des Sichaussprechens. 

Neben der Ablenkung, zweckmässigen Zerstreu¬ 
ungen ist der Willensgymnastik mehr Aufmerksamkeit 
zu schenken. Auch die Suggestivbehandlung, die Hyp- 
notherapie haben noch nicht ihren gebührenden Platz 
in der Therapie der Zwangserscheinungen gefunden. 
Die Vorzüge der Freund’schen psychoanalytischen 
Methode erkennt Verfasser rückhaltslos an, wenn er 
auch meint, dass sie bei ihrer Eigenart nur einem sehr 
beschränkten Patientenkrei.se aus der bestsituirten 
Klasse zu Gute kommen kann. 

Mönkemöller-Osnabrück. 

— Allgemeine Zeitschrift f. Psychiatrie und 
psych. ger. Med. Bd. 60, Heft (>. 

E. Schultzc ^Bonnj. Ueber krankhaften 
Wandertrieb. 


Krankhafter Wandertrieb kommt nicht nur bei Epi¬ 
lepsie vor, wofür Verf. zwei Beispiele bringt, sondern 
auch, w ie an 7 ausführlich geschilderten Fällen ge¬ 
zeigt wird, bei Alkoholismus, Delirium tremens, Ent¬ 
artung, constitutioneller Verstimmung, periodischen De¬ 
pressionszuständen , angeborenem Schwachsinn und 
schwerer Neurasthenie. Hysterie ist nicht in dem 
Maasse betheiligt, wie Heilbronner annimmt, anderer¬ 
seits ist die Zahl der Epileptiker wahrscheinlich 
grösser, als Heilbronner meint, der bei Fugue-Zu¬ 
ständen nur in 20% epileptische Störungen fand. 
Allerdings ist davor zu warnen, auf das alleinige 
Symptom der Amnesie hin eine Bewusstseinsstörung 
und damit Epilepsie anzunehmen. 

Weygandt (Würzburg). Die Fürsorge für 
schwachsinnige Kinder in Bayern. 

Im Jahre 1901 waren im rechtsrheinischen Bayern 
in 15 (resp. 16) Anstalten 2295 Plätze belegt. Die 
Anstalten standen fast ausnahmslos unter geistlicher 
Leitung, nur 15,8% der Pfleglinge wurden unterrichtet, 
Sektionen wurden von den nebenamtlich angestellten 
Aerzten fast gamicht gemacht. Verf. entkräftet die 
Einw’ände, welche die Leiter der Idiotenanstalten 
gegen die Uebertragung der Anstaltsleitung auf Aeizte 
anführen und stellt dann folgende Forderungen auf: 
Einführung von Hausärzten, welche über eine gewisse 
psychiatrische Bildung verfügen, bei Neubauten Konnex 
mit dem System der Kreisirrenanstalten, bei kolonia¬ 
ler Anstalt event. in Form eines Vorwerks und 
schliesslich Errichtung von Hilfsschulen im Anschluss 
an das städtische Schulsystem, jedoch in* Verbindung 
mit einem psychiatrisch gebildeten Schulärzte. 

Rüdin (Moabit). Eine Form akuten hallu¬ 
zinatorischen Verfolgungswahns in der Haft 
ohne spätere Weiterbildung des Wahns und 
ohne Korrektur. 

Unter Anführung von 3 ausführlich wiedergege- 
benen Krankengeschichten beschreibt Verf. als akuten 
halluzinatorischen Verfolgungswahn das Vorkommen 
einer selbständigen, verhältnissmässig selten auf¬ 
tretenden Psychose. Bei erblich nicht belasteten 
Personen treten in der Isolierhaft nach 2—3 jähriger 
Inhaftirung lebhafte Sinnestäuschungen, namentlich des 
Gehörs auf und Wahnideen der Verfolgung von Seiten 
der Personen der Umgebung, wobei das Verhalten 
und die Besonnenheit korrekt sind; ein besonders 
hervorstehender Zug ist ein starker, gereizter Affekt. 
Eine Weiterbildung des duich Halluzinationen be¬ 
dingten Wahns erfolgt nicht. Die Prognose ist günstig. 
— In einem Nachworte bezeichnet Leppmann diese 
Fälle als abortive Formen der akuten halluzinato¬ 
rischen Verrücktheit. 

Zahn (Stuttgart). Eine merkwürdige Gedäch t- 
nissleistung in einem epileptischen Dämmer¬ 
zustände. 

Ein Epileptiker, einfacher Landmann, hielt bei 
vorübergehend schwer gestörtem Bewusstsein mitten 
zwischen heftigen Krampfanfällen Leichenreden. Für 
diese Leistungen fehlte ihm nicht nur jede Erinnerung, 
sondern es erschien ihm nachher der Inhalt dieser 
Reden völlig fremd, auch vermochte er im normalen 


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Original fram 

HARVARD UNiVERSITY 



PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


231 


1904.] 


Zustand nicht die gleichen Reden zu wiederholen. 
Es ergab sich, dass er sehr lebhaft hallucinirte. 

A rn e m a n n - Grossschweidnitz. 

— Hitzig. Physiologische und klinische 
Untersuchungen über das Gehirn. Gesam¬ 
melte Abhandlungen. Theil I: Untersuchungen über 
das Gehirn. Theil II: Alte und neue Untersuch¬ 
ungen über das Gehirn. Mit 1 Tafel und 320 Ab¬ 
bildungen im Text. Berlin 1904. A. Hirschwald. 

Jeder Vertreter naturwissenschaftlicher Denk- und 
Arbeitsweise, vor allem aber unsere Fachgenossen, 
werden es freudig begrüssen, dass sich Hitzig ent¬ 
schlossen hat, seine gesammten Untersuchungen über 
das Gehirn in einem Band von weit über 1000 Seiten 
unter reicher illustrativer Ausstattung herauszugeben. 
Nach dem Vorwort bringt der 1. Band zum grössten 
Theil die bereits 1874 in erster Auflage vereinigten 
Arbeiten. An die grundlegende, klassische Unter¬ 
suchung „Ueber die elektrische Erregbarkeit des 
Grosshirns“ aus dem Jahre 1870 schliessen sich die 
Schriften über weitere Grosshimuntersuchungen, über 
experimentelle Epilepsie, über Lähmungsversuche, 
über Auseinandersetzung mit Ferrier, über den Streit 
mit Goltz, über die Wirkung des Kopfgalvanisirens 
u. s. w. an. Die reichen, consequent fortgesetzten 
Forschungen der Folgezeit, vor allem die Darlegungen 
über seine Operations- und Untersuchungstechnik, 
die Ausführungen über das korticale Sehen, über die 
Beziehungen der Rinde und subkorticalen Ganglien 
zum Sehakt des Hundes, auf experimenteller Basis 
unter exacter Schilderung der Casuistik von nicht 
weniger als 157 Einzelversuchen, machen den Haupt- 
theil des II. Bandes aus. 

Die letzten Bogen fassen die Ergebnisse zu¬ 
sammen. Gegenüber Munk mit seiner Anschauung, 
dass beim Säugethier schon der Anfang alles Sehens, 
die Lichtempfindung, eine Function des Grosshims 
ist, wird eine Beweislast grössten Umfangs aufgebracht, 
die das Werk zu folgenden Schlusssätzen führt: „Für 
mich besteht der Anfang alles Sehens in der Erzeug¬ 
ung des fertigen optischen Bildes in der Retina, die 
Fortsetzung des Sehens in der Combination dieses 
optischen Bildes mit motorischen, vielleicht auch noch 
anderen Innervationsgefühlen zu Vorstellungen niederer 
Ordnung in den intrakorticalen Centren und die höchste, 
an die Existenz eines Cortex gebundene Entwicklung 
des Sehens in der Apperception dieser Vorstellungen 
niederer Ordnung und ihrer Association mit Vorstell¬ 
ungen und Gefühlen (Gefühlsvorstellungen) anderer 
Herkunft.“ Mag man sich auch vergegenwärtigen, 
welche Schwierigkeiten schon der Schluss von den 
Wahrnehmungen des Beobachters an dem operirten 
Versuchsthier auf die psychischen Vorgänge, auf 
etwaige optische Vorstellungen im Bewusstsein dieses 
Hundes, mit sich bringt, so wird doch gewiss nie¬ 
mand dem Forscher die Zustimmung versagen, dass 
er, wie er sich ausdrückt, unbesiegt von seinen Geg¬ 
nern die Waffen aus der Hand legt. Für das ganze 
Werk, dessen Ausgangspunkt mit der Entdeckung der 
elektrischen Erregbarkeit des Grosshirns schon ein 
monumentum aere perennius darstellt, bleibt die 


wissenschaftliche Welt dem Forscher zu dauerndem 
Danke verpflichtet. Weygandt-Würzburg. 

— Weininger, O.: Geschlecht und Charak¬ 
ter, eine principielle Untersuchung. 1903. 
Wilhelm Braumüller. Wien und Leipzig. — 599 S. 

W. bespricht in dem ersten, vorbereitenden 
Theile seines Buches: die sexuelle Mannigfaltigkeit, in 
dem zweiten odei Haupttheil: die sexuellen Typen. 

Die einzelnen Themata sind folgende: Im ersten 
Theil: Männer und Weiber. Arrhenoplasma und 
Thelyplasma. Gesetze der sexuellen Anziehung. 
Homosexualität und Päderastie. Anwendung auf die 
Charakterologie. Die emancipirten Frauen. Im zweiten 
Theil: Mann und Weib. Männliche und weibliche 
Sexualität Männliches und weibliches Bewusstsein. 
Begabung und Genialität. Begabung und Gedächtniss. 
Gedächtniss, Logik, Ethik. Logik, Ethik und das 
Ich. Ich - Problem und Genialität. Männliche und 
weibliche Psychologie. Mutterschaft und Prostitution, 
Erotik und Aesthetik. Das Wesen des Weibes und 
sein Sinn im Universum. Das Judenthum. Das Weib 
und die Menschheit. 

Das Werk W.s zeugt von grossem Fleisse, sehr 
grosser Belesenheit und erheblichem philosophischen 
Wissen, wie man es bei einem 25jährigen Autor kaum 
erwarten sollte. 

Das Thatsächliche, welches W. indess vorbringt, 
ist bereits von Möbius einfacher und klarer darge¬ 
stellt, vieles führt W. in übertriebener Weise aus, 
manches ist direkt falsch, ja unsinnig. Es sei hier 
Vor allem auf die 9 letzten Abschnitte des zweiten 
Theils hingewiesen. 

Es würde zu weit führen, auf die einzelnen Ab¬ 
handlungen näher einzugehen, es seien nur einige 
Resultate der Deductionen W.s angeführt. 

W. stellt als sexuelle Typen einen idealen Mann, 
M, und ein ideales Weib, W, auf. Beide giebt es 
in Wirklichkeit nicht. Es giebt nur alle möglichen 
vermittelnden Stufen zwischen dem vollkommenen 
Manne und dem vollkommenen Weibe, Annäherungen 
an beide, die selbst nie von der Anschauung erreicht 
werden. Es giebt nur männlich oder weiblich. Jedes 
Individuum ist nach den Bruchtheilen zu beschreiben, 
die es von M und W hat. Wird das Princip der un¬ 
zähligen sexuellen Uebergangsstufen zwischen M und 
W auf alle Stellen des Organismus ausgedehnt, so ist 
das Zwitterthum keine Natur Widrigkeit mehr, die sexu¬ 
ellen Zwischenstufen sind normale Erscheinungen. 

Das Gesetz der sexuellen Anziehung, zu welchem 
W. gelangt ist, lautet: „Zur sexuellen Vereinigung 
trachten immer ein ganzer Mann (M) und ein ganzes 
Weib (W) zusammen zu kommen, wenn auch auf die 
zwei verschiedenen Individuen in jedem einzelnen 
Fall in verschiedenem Verhältniss vertheilt.“ Setzt sich 
der Mann zusammen aus 3 / 4 M und 1 / 4 W, so wird 
dasjenige Weib ihm am besten gefallen, welches sich 
zusammensetzt aus '/ 4 M und 8 / 4 W. — In diesem 
Gesetz der sexuellen Anziehung ist nach W. zugleich 
die lang gesuchte Theorie der conträren Sexual¬ 
empfindung enthalten. Bei dem sexuell Invertirten 
fehlt auch nie eine anatomische Annäherung an das 
andere Geschlecht. Das conträrc Geschlechtsgefühl 


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232 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 24. 


ist ebenso normal, wie das Zwitterthum. Hinsichtlich 
des Charakters einer Person kann nicht mehr gesagt 
werden, er ist männlich, er ist weiblich. Auch hier 
ist die Frage: wieviel M, wieviel W ist in dem 
Menschen. 

Das Emancipationsbedürfnissund die Emancipations- 
fähigkeit einer Frau liegt lediglich in dem Antheile an 
M begründet, den sie hat. Alle wirklich nach Eman- 
cipation strebenden, alle mit einem gewissen Recht 
berühmten geistig und irgendwie hervorragenden Frauen 
gehören zu den vorgerückteren sexuellen Zwischen¬ 
stufen, verdanken dies ausschliesslich ihrem Gehalte 
an M, W hat gar kein Bedürfniss und auch keine 
Fähigkeit zur Emancipation. 

Trotz allen sexuellen Zwischenstufen ist der Mensch 
nun am Ende doch nur eines von beiden, entweder 
Mann oder Weib (active und passive Homosexuale). 

Das Gesammtdasein der Frau ist immer und durch¬ 
aus sexuell. W geht im Geschlechtsleben, in der 
Sphäre der Begattung und Fortpflanzung d. i. im 
Verhältniss zum Mann und zum Kinde vollständig 
auf. W ist nichts als Sexualität, M ist sexuell und noch 
etwas darüber, W ist fortwährend, M nur intermit- 
tirend sexuell. 

M lebt bewusst, W unbewusst. W empfängt sein 
Bewusstsein von M. Die Funktion, das Unbewusste 
bewusst zu machen, ist eine sexuelle Funktion des 
typischen Mannes gegenüber dem typischen Weibe, 
das zu ihm im Verhältniss idealer Ergänzung steht. 

Die Frau ist ungenial. Genialität ist an die 
Männlichkeit geknüpft, sie stellt eine ideale potenzirte 
Männlichkeit vor. 

W verfügt nur über eine Klasse von Erinnerungen, 
die mit dem Geschlechtstrieb und der Fortpflanzung 
zusammenhängenden. 

W besitzt keine Logik, ihm mangelt das intellec- 
tuelle Gewissen, man könnte bei ihm von „logical in- 
sanity“ sprechen. 

Das Weib ist amoralisch und verlogen. 

Das logische und ethische Phänomen schliessen 
sich beide im Begriff der Wahrheit zum höchsten 
Werthe zusammen und zwingen zur Annahme eines 
intelligibelen Ich’s oder einer Seele, als eines Seien¬ 
den von höchster empirischer Realität. Bei einem 
Wesen, dem wie W das logische und das ethische 
Phänomen mangeln, entfällt auch der Grund zur An¬ 
nahme eines Ich’s, zur Annahme einer Seele. 

Unter den Frauen ist der Muttertypus und der 
Dimentypus zu trennen. Es sind 2 angeborene ent¬ 
gegengesetzte Veranlagungen anzunehmen, die sich 
auf die verschiedenen Frauen in verschiedenem Ver¬ 
hältniss vertheilen: die absolute Mutter und die abso¬ 
lute Dirne. Zwischen beiden liegt die Wirklichkeit. 
Ausserordentliche Annäherungen an die absolute Dime 
sind viel öfter zu finden, als solche Grade von 
Mütterlichkeit, hinter denen das Dirnenhafte zurück¬ 
tritt. Für den Muttertypus ist der Coitus Mittel zum 
Zweck (Kind), für die Dirne ist er Selbstzweck. Jene ist ein 
lebensfreundliches, diese ein lebensfeindliches Princip. 


Das Weib ist wahrer Liebe unfähig. Es verlangt 
vom Manne nicht Schönheit, sondern volles sexuelles 
Begehren. W besitzt keinen freien Willen und kann 
daher auch nicht Schönheit in den Raum projiciren. 
Das Weib als Ganzes ist Unsinn. Schwachsinn im 
gewöhnlichen Sinn ist es nicht. Es besitzt sogar 
Schlauheit, Berechnung, „Gescheitheit“ viel regel¬ 
mässiger und constanter als M, sobald es auf Erreich¬ 
ung naheliegender egoistischer Zwecke ankommt. 

In der Kuppelei d. i. der Thätigkeit im Dienste 
des Coitus überhaupt liegt die Wesenheit des Weibes, 
sie ist die positive allgemein weibliche Eigenschaft. 
Hysterie ist die organische Krisis der organischen 
Verlogenheit des Weibes. 

Das Weib ist alogisch und amoralisch, es ist nicht 
antilogisch, es ist nicht antimoralisch. Es ist nicht 
das Nicht, sondern das Nichts, es ist weder Ja, noch 
ist es das Nein. Das Weib sündigt nicht, denn es 
ist selbst die Sünde, Möglichkeit im Manne. 

Der reine Mann ist das Ebenbild Gottes, des 
absoluten Etwas, das Weib, auch das Weib .im Manne 
ist das Symbol des Nichts: das ist die Bedeutung 
des Weibes im Universum, und so ergänzen sich 
Mann und Weib. Als des Mannes Gegensatz hat das 
Weib einen Sinn und eine Funktion im Weltganzen. 

In dem Abschnitt Judenthum wird der Nachweis 
versucht, dass viele der für das Weib gefundenen 
Punkte auch für den Juden zu Recht bestehen. Auch 
ihm mangelt die Grösse in jeder Beziehung, auch bei 
ihm ist die Kuppelei eine organische Veranlagung usw. 

W ist eine, Funktion von M und will nichts 
Anderes sein. Der Mann benutzt die Frau als Ge¬ 
nussmittel und negirt so immer wieder die Idee der 
Menschheit. Der Coitus ist darum unsittlich. Der 
Mann muss die Frau zum Verzicht auf ihre unsittliche 
Absicht auf ihn zu bewegen suchen. Das Weib muss 
bestrebt sein, sich vom Weibe zu emancipiren (wahre 
Fraucnemancipation). 

Aus dem höchsten Gesichtspunkte des Frauen-als 
des Menschheitsproblems, der Aufhebung des Weibes 
und der Bildung eines dritten Wesens, welches weder 
Mann noch Weib ist, ist die Forderung der Enthalt¬ 
samkeit für beide Geschlechter gänzlich begründet 
Dazu ist es nöthig die Erziehung des Weibes dem 
Weibe, die Erziehung der ganzen Menschheit der 
Mutter zu entziehen. — 

P. J. Möbius hat in „Geschlecht und Un¬ 
besch e id e n h eit“ (Halle a S., C. Marhold, 1904, 
30 S.) das Weininger’sche Buch einer gründlichen 
Kritik unterzogen, deren Lektüre jedem empfohlen sei, 
der das Buch Weiningcrs liest. 

Weininger hat sich das Leben selbst genommen. 

Wickel (Dziekanka). 


Personalnachrichten. 

— Bei der Universität Rostock ist der Privat- 
docent der Irren heilkunde Dr. Scheven zum 
Professor ernannt worden. 


Für dert redactionellen Theü verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Iiresler, LnbHritr (Sch esien). 

Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannähme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag Von Carl Marhold in Halle a. S 

Heyncmann'sche Buchdruckerei (Gcbr. WVffV in Halle a. S. 


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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift. 

Redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Lublinitz (Schienen). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. b. 

Telegr.-AdreMe: MarhoId Verlag, Halleaaale. Fernsprecher *834. 

Nr. 25. _ 17. September. _ 1904 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die 3spaltige Petitxeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten. 


Ueber eine eigenthümlich cyklische Verlaufsweise psychotischer Symptome. 

(Vortrag, gehalten auf der XI. Versammlung des nordostdeutschen psych. Vereins am 27. VI. 04 zu Danzig.) 

Von Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Meschede , Königsberg. 


A^ 7 "enn ich mir erlaubt habe, das angekündigte 
’ * Thema hier zur Discussion zu stellen, so ist 
es nicht allein geschehen, weil ich über eine Beob¬ 
achtung dieser Art verfüge, die ungemein selten zu 
sein scheint, ja vielleicht als ein Unicum zu bezeich¬ 
nen sein dürfte (denn während meiner 47 Jahre um¬ 
fassenden psychiatrischen Thätigkeit ist mir eine solche 
Verlaufsweise nur in einem einzigen Falle zur Beob¬ 
achtung gekommen), — sondern auch in der Hoff¬ 
nung, aus dem reichen Schatz Ihrer Erfahrungen 
vielleicht einschlägige Mittheilungen zu erhalten, die 
über die pathogenetischen Beziehungen Licht ver¬ 
breiten könnten. 

Die eigenthümliche Verlaufsweise, wie ich sie in 
ungewöhnlich scharfer Ausprägung zu beobachten 
Gelegenheit gehabt habe, hat nun im Wesentlichen 
darin bestanden, dass nicht etwa nur intercurrent, 
als gelegentlich auf treten de Irregularität, sondern wäh¬ 
rend einer ganzen Reihe von Jahren im Verlauf einer 
chronisch gewordenen Psychose die psychotischen 
Symptome in regelmässig wiederkehrenden, anfangs 
3, sodann 4 und endlich 5 Tage umfassenden Perioden 
zu Tage traten. 

Wie gesagt, machte sich anfangs ein 3 Tage um¬ 
fassender Cyklus geltend und zwar in der Weise, 
dass auf einen Tag tobsüchtiger Erregung — 
den ich in der Reihenfolge als „ersten“ oder 
„schlechten“ Tag bezeichnen will, ein ganz 
durch Schlaf ausgefüllter Tag folgte, der als der 
„zweite“ oder der „Schlaftag“ bezeichnet sein 
möge, und dass hierauf als dritter oder sogen, 
„guter“ Tag ein Tag der Ruhe und Besonnen¬ 
heit zur Geltung kam. Mit der tobsüchtigen Auf¬ 
regung pflegten krankhafte Triebe zu Aggressionen, 
Schmutzereien, mitunter auch Koprolalie sowie wahn¬ 
hafte Ideenverworrenheit einherzugehen, während Un 


dem guten Tage Nichts von alledem zu bemerken, 
das Bewusstsein vielmehr, soweit ersichtlich, klar 
war und weder krankhafte Affekte noch perverse 
Velleitäten hervortraten, das ganze Verhalten viel¬ 
mehr durchaus verständig und geordnet erschien 
und, abgesehen von einer gewissen geistigen Er¬ 
müdung und Verlangsamung des Ideenflusses, sowie 
von einer massigen Einbusse an Spontaneität und 
Initiative des Handelns, vielleicht auch an Gedächt- 
niss, sonst keine Störungen des psychischen Ge¬ 
schehens zu bemerken waren. 

Nach dem dritten, dem sog. guten Tag, 
pflegte dann unmittelbar wieder ein Tobsuchtstag 
— als erster eines neuen Turnus — einzusetzen 
um dann wieder durch einen Schlaf- und darauf¬ 
folgenden „guten“ Tag abgelöst zu werden. 

Mit fortschreitender Besserung des Gesammt- 
befindens trat an Stelle des 3 tägigen ein 4 tägiger 
Turnus, indem statt eines guten Tages deren zwei 
zur Geltung kamen und schliesslich zeigte sich noch 
eine weitere Besserung darin, dass sich noch ein 
dritter guter Tag einschob — in unmittelbarem An¬ 
schluss an die zwei guten Tage — und die Perioden 
somit 5 Tage umfassten, in folgendem Turnus: I. Tag: 
Tobsucht, II. Tag: Schlaf, III., IV. und V. Tag: 
Besonnenheit und Ruhe. 

In dieser Weise ist die Psychose während der 
letzten Jahre meiner Beobachtung derselben in auf¬ 
fallender Regelmässigkeit verlaufen. 

Allerdings haben begreiflicher Weise Abweich¬ 
ungen vom regelmässigen Typus, wie sie ja auch im 
Verlaufe anderer cyklisch verlaufender somatischer 
Krankheiten Vorkommen, auch im vorliegenden Falle 
nicht ganz gefehlt; doch sind sie verhältnissmässig 
selten gewesen: so ist es mitunter vorgekommen, 
dass der sogenannte schlechte Tag etwas zu früh 


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234 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 25. 


oder etwas verspätet eingetreten ist; ja einige Male 
ist beobachtet worden, dass der schlechte Tag 
in einem fünftägigen Turnus ganz ausfiel, 
d. h. ganz ohne Störung verlief, und somit in diesem 
Turnus vier aufeinander folgende gute Tage zur 
Geltung kamen — so dass die Möglichkeit näher ge¬ 
rückt erschien, es könne durch weitere Zunahme der 
guten und Verringerung der schlechten Tage viel¬ 
leicht doch noch eine Heilung erfolgen —, nach 
Analogie des Verlaufs eines allerdings acuten Krank- 
heitsprocesses, nämlich der Febris recurrens, bei wel¬ 
chem die Genesung sich ja auch in der Weise voll¬ 
zieht, dass sich die Zahl der Fiebertage bei jedem 
neuen Anfall vermindert, die Zahl der dann 
folgenden fieberfreien Tage aber in ent¬ 
sprechendem Verhältniss zunimmt. Ich 
verweise in dieser Beziehung auf S. 403—404 meiner 
im Jahre 1882 in Virchow’s Archiv erschienenen 
Arbeit über Recurrens.*) 

Wenn nun auch die zur Zeit, als wiederholt ein 
gänzlicher Ausfall des schlechten Tages zu beob¬ 
achten war, sich vorübergehend aufdrängende Hoff¬ 
nung auf gänzliche Genesung nicht in Erfüllung ge¬ 
gangen ist, so ist im allgemeinen Seelenzustande 
durch allmähliche Abschwächung der tobsüchtigen 
Exacerbationen einerseits, und Zunahme der intel- 
lectuellen Vermögen andererseits, thatsächlich doch 
noch eine weitere auffallende Besserung erfolgt — 
bis zu dem Grade, dass Patientin als wesentlich 
gebessert aus der Anstaltsbehandlung hat ent¬ 
lassen werden können. 

Die Geschichte dieses Falles umfasst einen 
langen Zeitraum, nämlich im Ganzen pptr. 29 Jahre, 
von denen fast die Hälfte in meine Beobachtung 
fällt. Dieselbe hier auch nur in gedrängtester Kürze 
darzulegen, dazu würde die heute zur Verfügung 
stehende Zeit in keiner Weise ausreichen und muss 
ich mich daher auf eine kurze Mittheilung der für 
die vorliegende Frage hauptsächlich in Betracht kom¬ 
menden Punkte beschränken. 

Es sei deshalb erwähnt, dass die in Rede stehende 
Psychose sich bei einer bis dahin durchaus gesunden 
und geistig hervorragend beanlagten Primipara im 
ersten Wochenbett entwickelt und Anfangs die be¬ 
kannten Symptome der sogen. Puerperalmanie 
dargeboten hat; dass Patientin zunächst in ihrer 
Familie von einem nicht speciell sachverständigen 
Arzte erfolglos behandelt, darauf wegen zunehmender 

*) Die Recurrens-Epidemie der Jahre 1879 und 
1880 nach Beobachtungen in der Städt. Kranken-Anstalt zu 
Königsberg i. Pr., Vireh. Arch. LXXXV 1 . 


Verschlimmerung nach einer kurzen Episode* in einem 
Seebade, einer renommirten Privatirrenanstalt Über¬ 
geben und von dort nach längerer ebenfalls erfolg¬ 
loser Behandlung der städtischen Krankenanstalt in 
Königsberg zugeführt worden ist. 

Bei der Aufnahme daselbst konnte ich constatiren, 
dass die bereits circa 14 Monate ohne jede 
Spur von Besserung bestehende Psychose 
trotz des bereits eingetretenen hochgradigen Schwäche¬ 
zustandes auf somatischem und psychischem Gebiete 
doch keineswegs die Kriterien eines unheilbaren Zu¬ 
standes darbot, wie von anderer Seite verlautbart 
worden war — da neben einem ausgesprochenen 
stuporösen Zustande auch noch negativer Affekt und 
Exacerbationen agitirter Melancholie das Seelenleben 
beherrschten. 

Es ist denn auch schon in den ersten Wochen 
der von mir eingeleiteten Behandlung Besserung zu 
Tage getreten und stetig fortgeschritten in dem Grade, 
dass Pat. schon nach etwa 7—8 Monaten den Ein¬ 
druck völliger Reconvalescenz machte und von ihren 
Angehörigen als bereits wieder ganz gesund betrachtet, 
darum auch am Ende des neunten Behandlungs¬ 
monats aus der Anstaltsbehandlung herausgenommen 
wurde — allerdings, wie ich hier bemerken muss, 
gegen mein ausdrückliches mündlich und schriftlich 
kundgegebenes Abrathen. 

Wie berechtigt dasselbe war, zeigte sich denn 
auch durch den weiteren Verlauf } insofern nach 
einigen Monaten wieder eine Verschlimmerung bezw. 
ein Rückfall eingetreten ist. Während der ersten 
4 Monate ist der Zustand zwar zunächst befriedigend 
geblieben, dann aber sind Zeichen einer Rekrudes- 
cenz der Geistesstörung wieder in steigendem Grade 
in die Erscheinung getreten, so dass — nach einem 
Intermezzo von im Ganzen 25 Wochen — die Wieder¬ 
aufnahme in die städtische Krankenanstalt erfolgen 
musste. 

Bei dieser zweiten Aufnahme in meiner Be¬ 
handlung zeigte sich nun, dass in der Verlaufs weise 
der Psychose eine auffallende Veränderung gegen 
früher Platz gegriffen hatte. 

Während früher der bei der ersten Aufnahme in 
die Krankenanstalt neben dem körperlichen Verfall 
constatirte mit negativem Affekt und tobsüchtigen 
Exacerbationen einhergehende stuporöse Zustand einen 
mehr kontinuirlichen Verlauf gezeigt hatte, da¬ 
bei aber eine fortschreitende fast von Woche zu 
Woche zu constatirende Besserung hatte erkennen 
lassen — trat jetzt gerade umgekehrt ein diskon- 
tinuirlicherV erlauf, nämlich ein immer deutlicher 
sich markirender Tertian-Typus, d. h. ein Alter- 


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19 ° 4 J 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


235 


niren von tobsüchtig erregtem und stuporösem Verhalten 
xu Tage, ohne dass jedoch während des ersten Jahres 
tine nennenswerthe Besserung zu bemerken gewesen 
wäre, die sich vielmehr erst später einstellte —, so 
dass erst nach im ganzen 26 Monate umfassender 
Behandlung die Patientin als definitiv und voll¬ 
ständig geheilt entlassen werden konnte, dann 
aber auch länger als zehn Jahre geistig 
vollkommen gesund geblieben ist. 

Als dann, in Folge einer Gemtithsbewegung, ein 
kompletter Rückfall erfolgte, ist Pat. sogleich in 
fine auswärtige Irrenanstalt modernen 
Stiles gebracht und dort circa 18 Monate hehan- 
dflt worden. Da dort aber keinerlei Besserung er¬ 
zielt wurde, Pat. vielmehr 72 Pfund Körperge- 
wicht verlor, wurde dieselbe von dort heraus¬ 
genommen und direkt der städtischen Kranken¬ 
anstalt in Königsberg zugeführt und in die 
psychiatrische Abtheilung aufgenommen — 
zunächst allerdings nur provisorisch, da die 
Psychose bereits die Kriterien präsumtiver Un¬ 
heilbarkeit darbot 

Hier Hess der Zustand jedoch schon nach wenigen 
Wochen eine merkliche Besserung erkennen, wie sie 
nach dem bisherigen Verlauf kaum mehr zu er¬ 
warten gewesen war, zunächst hauptsächlich auf 
somatischem Gebiete durch allmähliches Re¬ 
tablissement des Ernährungszustandes 
(Zunahme des Körpergewichts um pptr. 4 Pfund 
monatlich), bald aber auch auf psychischem Ge¬ 
biete, erkennbar sowohl an einem Nachlass der tob¬ 
süchtigen Exacerbationen nach Intensität und Ex¬ 
tensität, als auch an der zunehmenden Klärung des 
Bewusstseins unter gleichzeitiger Zunahme 
des Schlafes. 

Nach einiger Zeit trat die solchergestalt fort¬ 
schreitende Besserung auch darin zu Tage, dass sich 
der bereits geschilderte dreitägige Turnus des 
Verlaufs ausbildete und dann bei weiterer Besser¬ 
ung des Allgemeinbefindens schliesslich, wie bereits 
erwähnt, ein fünf tägiger Turnus zur Geltung kam, 
wobei zugleich auch eine allmähliche Ab Schwäch¬ 
ung des Tobsuchtszustandes nicht allein nach 
Dauer sondern auch nach Intensität und eine Zu¬ 
nahme des intellektuellen Vermögens deutlich zu er¬ 
kennen war. 

In Anbetracht dieses hier erzielten und auch im 
weiteren Verlaufe zwar langsam aber stetig fort¬ 
schreitenden Retablissements auf psychischem und 
somatischem Gebiete ist s. Z. den Bitten der An¬ 
geh örigen, die Patientin behufs Erzielung weiterer 
Besserung in meiner Behandlung zü belassen, von 


den zuständigen Behörden willfahrt worden und so 
ist es gekommen, dass diese Patientin ausnahmsweise 
lange — im Ganzen über 10 Jahre — in Pflege 
und Behandlung der städtischen Krankenanstalt bezw. 
der psychiatrisch-klinischen Abtheilung derselben ver¬ 
blieben ist. 

Während der letzten Jahre dieser Anstaltsbehand¬ 
lung ist fast ausschliessüch der fünftägige Turnus 
zur Geltung gekommen und auch noch nach der 
vor länger als zwei Jahren erfolgten Entlassung der 
Patientin in Kraft geblieben und hat sich dabei ge¬ 
zeigt, dass Patientin an den guten Tagen sehr wohl 
im Stande ist, auch rauschenden, bis in den Morgen 
des folgenden Tages sich hinziehenden Festlichkeiten, 
wie Hochzeiten und ähnlichen Familienfesten, beizu¬ 
wohnen, ohne im Geringsten aus dem psychischen 
Gleichgewichte zu kommen. 

Resümirend sei hervorgehoben, dass es sich im 
vorliegenden Falle nicht um eine periodische 
Wiederkehr kompletter Anfälle von Geistes¬ 
krankheit handelt; denn die nach verfrühter Ent¬ 
lassung erfolgte Rekrudescenz und das nach pptr. 
10jähriger Genesungsdauer eingetretene Recidiv der 
Geistesstörung bieten nicht das Merkmal der Perio- 
dicität im logischen Sinne des Wortes (denn man 
darf ein Recidiviren nicht ohne weiteres als perio¬ 
dische Geistesstörung bezeichnen) — periodisch 
ist in vorliegendem Falle nur die Wiederkehr einer 
gewissen Sy mptomenfolge im Verlaufe 
einer chronisch gewordenen Psychose. Der mitge- 
theilte Fall ist daher selbstredend nicht unter die 
periodischen Geistesstörungen zu rubriciren 
und nicht mit diesen in einen Topf zusammen zu 
werfen, vielmehr in seiner Eigenart aufzufassen und 
zu bezeichnen. 

Ich glaube deshalb auch einen Fall, der mir auf 
meine Nachfrage nach ähnlichen Beobachtungen von 
einem Kollegen mitgetheilt worden ist — bei welchem 
nämlich ein Alterniren von maniakalischer, 11 Tage 
anhaltender, Aufregung mit ungefähr ebenso langer 
Zeit dauernden Intermissionen zu beobachten war 
— nicht in dieselbe Kategorie mit dem von mir 
beobachteten bringen zu dürfen, wenn auch eine ge¬ 
wisse Aehnlichkeit zugegeben werden kann. 

Mehr drängt sich als Analogon der hier beob¬ 
achteten typischen Verlaufsweise die Symptomenfolge 
auf, wie sie bei Intermittens quartana und tertiana 
bekannt ist. (Auch ein gelegentliches Zufrüh- oder 
Zuspät-Einsetzen des Fiebers finden wir dort wieder.) 

Fragen wir nun nach den Ursachen, auf 
welche eine solche cvklische Symptomenfolge zurück¬ 
zuführen sein möchte, so drängt sich mit Rücksicht 


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236 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


|Nr. 25. 


auf die erwähnte Analogie und mit Rücksicht auf die 
Thatsache, dass der cyklische Verlauf der Inter- 
mittens tertiana und quartana im Wesentlichen auf 
die Phasen der Entwicklungs- und Lebens¬ 
geschichte der dieser Erkrankung zu Grunde 
liegenden pathogenen Mikroben (der Plasmo¬ 
dien) beruhen, zunächst der Gedanke auf, für eine 
ähnliche Verlaufsweise psychischer Symptome auch 
eine ähnliche Ursache in Betracht zu ziehen, zumal 
ja ein Abhängigkeitsverhältniss der Gestaltung des 
zeitlichen Verlaufs und der Symptomenfolge ja auch 
für andere, auf pathogene Mikroben beruhende acute 
Infektionskrankheiten bekannt ist und ja auch gerade 
die Pathogenesis der Puerperalpsychose auf einen 
somatischen Infektionsprocess zurückgeführt worden ist. 

Andererseits liegt es aber auch nahe, das Auf¬ 


treten des Tertiantypus auf den durch verschiedene 
Naturgesetze bedingten altemirenden Verlauf der 
vitalen Processe überhaupt zurückzuführen. Ich er¬ 
innere an das Altemiren von Tag und Nacht, 
Schlafen und Wachen, Nervenerregung und Ermüd¬ 
ung, und an das im Wesen der Wellenbewegung be¬ 
gründete Altemiren von Wellenberg und Wellenthal. 

Dafür, dass in vorliegendem Falle Mikroben eine 
Rolle gespielt hätten, dafür liegen keine Anhaltspunkte 
vor und scheint es daher näherliegend, die Ursachen 
des cyklischen Verlaufs in den vitalen Grundgesetzen 
der psychischen und nervösen Funktionen zu suchen. 

Doch ist hier nicht Zeit näher auf diese Frage 
einzugehen und muss ich mir ausführlichere Mittheil- 
ungen noch Vorbehalten. 


Zum allgemeinen Bauprogramm der Nervenheilstätten.*) 

Von Dr. Ernst Beyer , Nervenarzt und Besitzer des Sanatorium Gut Waldhof in Littenweiler bei Freiburg i. B. 


\\ 7 enn wir an die Aufgabe herantreten, den Bau- 
’ * plan einer neu zu errichtenden Nervenheil- 
stätte für hundert oder mehr Kranke zu entwerfen, 
so ist es wohl von vorneherein ausser Zweifel, dass 
wir nach dem Pavillon- oder Villensystem bauen 
werden. Bisher, bei den noch spärlichen Vorbildern, 
die wir zu Rathe ziehen können, ist in der That so 
verfahren worden. Zunächst in „Haus Schönow“ in 
Zehlendorf. Anders ist es allerdings bei der neuen 
Anstalt „Rasenmühle“ bei Göttingen; diese kommt in¬ 
dessen für uns hier nicht in Betracht, weil dort vor¬ 
handene Gebäude benutzt wurden. Wohl aber finden 
wir das gleiche Princip bei der im Bau befindlichen 
rheinischen Anstalt in Leichlingen, und einen gleich¬ 
artigen Entwurf hat Determann kürzlich auf der 
in Karlsruhe abgehaltenen Conferenz zur Gründung 
einer badischen Volksheilstätte für Nervenkranke vor¬ 
gelegt 

Bei allen diesen Situationsplänen sehen wir die 
typische Anordnung, dass die Villen für die Kranken 
um ein centrales Verwaltungs- und Wirtschafts¬ 
gebäude herum gruppirt sind, eben das bekannte 
Schema, wie es alle nach dem Pavillonsystem ge¬ 
bauten Krankenhäuser, Stadtasyle und Irrenanstalten 
aufzuweisen haben. Da möchte ich nun die Frage 


*) Der Vortrag war für die XXIX. Wanderversammlung 
der südwestdeutschen Neurologen und Irrenärzte in Baden-Baden 
angemeldet, konnte aber wegen Zeitmangel nicht gehalten 
werden. 


aufwerfen: müssen wir dies Schema auch bei unsem 
zukünftigen Nervenheilstätten beibehalten ? 

Determann hat in seinem Referat in Karls¬ 
ruhe sehr richtig betont, dass man den grössten 
Werth auf den behaglichen und gemüthlichen Cha¬ 
rakter der Heilstätte legen müsse, dass das Anstalts- 
mässige möglichst vermieden werde, dass man eine 
ViUencolonie bauen solle. Ich will nun nicht ein¬ 
mal so weit gehen, bin vielmehr der Ansicht, dass 
die Insassen schon durch den ganzen äusserlichen 
Eindruck der Anstalt darauf hingewiesen werden 
dürfen und sich immer dessen bewusst bleiben sollen, 
dass sie nicht zum Vergnügen, zur Sommerfrische da 
sind, sondern sich als Kranke in ärztlicher Behand¬ 
lung befinden. Ich bin aber auch der Meinung, 
dass das psychische Moment bei unsem Patienten 
der wichtigste Faktor ist, in ätiologischer wie in thera¬ 
peutischer Hinsicht, und dass man ferner w-egen 
ihrer nicht nur möglichen, sondern geradezu er¬ 
wünschten Bewegungsfreiheit andere Anforderungen 
an die baulichen Anlagen stellen darf, als sonst an 
Krankenhäuser und Irrenanstalten. Auch ich denke 
mir die zukünftige Nervenheilstätte als ViUencolonie. 
Aber — ist eine solche centralisirt * angeordnete 
Gruppe von Villen eine ViUencolonie? 

Wenn man auf einem Gelände eine ViUencolonie 
erbauen will, so ist doch w'ohl das erste, dass man 
Strassen anlegt, eventuell mit Querstrassen, eventueU 
mit freien Plätzen, und dass man die Villen in die 
so entstandenen Quartiere einordnet. So würde ich 


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1904.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


237 


nun auch bei der Anlage einer Nervenheilstätte ver¬ 
fahren. Ich würde damit beginnen, auf dem dazu 
bestimmten Terrain zunächst eine Strasse der Länge 
nach festzulegen, dann je nach Bedürfniss eine oder 
mehrere Querstrassen vorsehen. Den Mittelpunkt 
könnte ein freier Platz bilden, vielleicht gerade am 
Schnittpunkt der Hauptstrassen. An diesen kämen 
die Verwaltungsgebäude, Direktorwohnung und der¬ 
gleichen zu liegen, und dann reihten sich an nach 
der einen Seite die Krankenvillen für Männer, nach 
der andern Seite für Frauen, natürlich in „offener 
Bauweise“ und jede von einem entsprechenden Stück 
Garten umgeben. Die weniger repräsentablen Wirth- 
schaftsgebäude könnten an der rückwärtigen Quer¬ 
strasse liegen. Der ganze Complex kann durch eine 
gemeinsame Einfriedigung abgeschlossen werden und 
seine Eingänge an den Enden der Strassen erhalten. 

Auf diese Weise bekommen wir eine Gruppirung, 
die jedem Gebäude seine etwa nothw’endige Abson¬ 
derung gestattet, bei der aber freier öffentlicher Ver¬ 
kehr zwischen allen Theilen der Anstalt möglich ist. 
Dadurch schon verliert das Ganze gerade den Cha¬ 
rakter des Ungewohnten, Absonderlichen, Klöster¬ 
lichen, eben des Anstaltsmässigen, ohne doch das 
Gefühl der Zusammengehörigkeit einzubüssen. Es 
ist eben mit einem Wort eine Villencolonie. 

Vom ärztlichen Standpunkt, wegen der Bedürf¬ 
nisse unserer Kranken bezüglich des Heilzwecks, 
werden wohl keine wesentlichen Bedenken gegen 
eine solche Disposition des Situationsplanes erhoben 
werden können. Aber auch in technischer Hinsicht 
ist wohl kaum viel einzuwenden. Die Wegeanlage 
w'ird eher noch einfacher und billiger herzustellen 
sein, wenn jedes Haus direkt von einer gemeinsamen 
Strasse aus zugänglich ist, als w enn zu jedem einzeln 
eine besondere Zufahrtstrasse gebaut werden muss. 
Wasserleitung und Kanalisation, elektrische Licht- und 
Kraftleitung, Telephon und dergleichen machen keine 
Schwierigkeiten. Dampfleitungen von einer Centrale 
aus zu den sämmtlichen Gebäuden werden schwer¬ 
lich Vorkommen, auch nicht zur Heizung, denn bei 
kleineren Gebäuden mit zahlreichen Räumen ist aus 
verschiedenen Gründen die Wasserheizung der Dampf¬ 
heizung entschieden vorzuziehen und in jedem Hause 
für sich von einem Heizofen im Keller aus ganz 
einfach und bequem zu betreiben. Ein intensiver 
Verkehr mit dem Wirtschaftsgebäude, speciell der 
Hauptküche, wird nicht in dem Maasse stattfinden, 
dass er nicht auf der offenen Strasse erfolgen könnte, 
denn die überwiegende Mehrzahl der Kranken soll 
doch wohl zu den Mahlzeiten in die gemeinsamen 
Speisesäle sich begeben. Allein das Speisehaus braucht 


also direkte Verbindung mit der Küche; es braucht 
aber keineswegs genau central gelegen zu sein. 

Es würde mich hier zu weit führen, auf die 
Einzelheiten näher einzugehen. Ist es mir ja doch 
nur darum zu thun, eine allgemeine Anregung zu 
geben. Nur noch einen Punkt möchte ich zu gunsten 
meines Vorschlages erwähnen, der vielleicht etw'as 
sehr materiell erscheint, der ater bei den geldgeben¬ 
den Instanzen wohl Anklang finden dürfte. 

Wenn jemand ein neues Unternehmen gründet, 
oder w’enn ein Kapitalist Geld für eine neue Gründ¬ 
ung hergiebt, so ist eine der ersten Fragen: was 
wird daraus, wenn aus irgend einem Grunde der 
Betrieb wieder eingestellt werden muss ? Wie ist 
dann das hineingesteckte Kapital wieder herauszu¬ 
ziehen? Wie sind die aufgeführten Bauten zu ver- 
werthen ? 

Nun ist ja wohl diese Frage bei einem öffent¬ 
lichen Unternehmen nicht so brennend, wie bei einem 
einzelnen Privatmann, der mit Krankheit und Tod 
zu rechnen hat. Aber wir sehen doch so häufig, dass 
Staat oder Gemeinden in die Lage kommen, Anstalten 
zu verlegen, Krankenhäuser, Kasernen, Bahnhöfe und 
dergleichen, oft schon nach verhältnissmässig kurzem 
Bestehen. Dann pflegt der Fiskus es sehr gerne zu 
sehen, dass er nicht nur aus dem frei gewordenen 
Grundstück etwas löst, sondern dass auch das ver¬ 
lassene Gebäude noch zu verwerthen ist. Und wenn 
dies letztere zutrifft, dann erleichtert das ganz wesent¬ 
lich den Entschluss zu der aus anderen Gründen 
nothwendig gewordenen Verlegung. So kann es uns 
aber auch mit unserer Nervenheilstätte ergehen. Wir 
wissen ja gar nicht, ob diese sich wirklich so und in 
dieser Form auf die Dauer bewähren wird, wie wir 
das jetzt glauben und hoffen. Wir wissen nicht, ob 
nicht in 20 — 30 Jahren schon andere ärztliche Auf¬ 
fassungen oder neue Methoden ganz andere Forder¬ 
ungen stellen w r erden. Es können sich aber auch 
in der betreffenden Gegend die Verkehrsverhältnisse 
in ganz ungeahnter Weise verändern und eine Ver¬ 
legung erfordern. Jedenfalls sollten wir also meines 
Erachtens bei unserer Gründung von vomeherein 
den Gesichtspunkt der Verwerthbarkeit nicht ausser 
acht lassen. 

Eine centralisirt gebaute Anstalt ist aber kaum zu 
andern Zwecken zu verwenden; sie ist und bleibt 
eben immer eine Anstalt. Man betrachte sich nur 
die Situationspläne unserer bestehenden Anstalten, 
und frage sich, was sich daraus machen lässt! Selbst 
opulent gebaute Privatirrenanstalten lassen sich keines¬ 
wegs so ohne weiteres parzelliren und in eine Villen¬ 
colonie vei wandeln. Ihnen allen fehlt eben die 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 25. 


238 


Möglichkeit, sie durch Strassen zu erschliessen, und 
das wäre doch die Grundbedingung, wenn man die 
Gebäude anderweitig verwcrthen soll. 

Darum meine ich, dass wir unsere zukünftige 
Nervenheilstätte so anlegen, dass sie nicht nur im 
Aussehen, sondern auch in der inneren Disposition 
das spezifisch Anstaltsmässige vermeidet Wenn sie 
im Nothfalle jederzeit aufgetheilt und zu beliebigen 
Zwecken verwendet werden kann, so vermindert sich 


ganz wesentlich das Risiko für das hineingesteckte 
Kapital, ja es besteht 8ogar die Möglichkeit, später 
einmal einen Vorteil herauszuschlagen. Das wesent¬ 
lichste Erfordemiss dazu wäre aber die Anlage in 
Strassenform. 

Bauen wir also nicht nach dem alten Schema, 
gruppiren wir nicht um centrale Gebäude herum, 
sondern nehmen wir zur Grundlage unserer Anord¬ 
nung die Verkehrswege, die Plätze und Strassen! 


M i t t h e i 

— Zur Psychologie des Gefangenen. Eine 
Enquete. 

Das Aufsehen erregende Buch von Hans Leuss, 
„Aus dem Zuchthause“, enthält zweifellos werthvolles 
Material für den Criminalisten, wenn auch manches 
Naiv - Einseitige und Schiefgesehene abgestrichen 
werden muss. Zur Gewinnung wissenschaftlicher 
Resultate auf diesem Gebiete ist leider noch sehr 
wenig Stoff vorhanden. Dostojewsky’s „Aus einem 
todten Hause“ behandelt speciell russische Verhält¬ 
nisse. Was sonst in Betracht kommen könnte, ist 
wohl nur belletristisch, doch wäre Bezeichnung ein¬ 
schlägiger, vielleicht brauchbarer Arbeiten sehr er¬ 
wünscht. Es seien nun alle Freunde der Strafrechts¬ 
reform, nicht am wenigsten auch die Psychiater 
und Gerichtsärzte, dringend gebeten, solche 
Leute, welche die Wirkung der Untersuchungshaft 
sowohl wie der Strafhaft am eigenen Leibe, vor 
allem an der eigenen Seele beobachtet haben und 
auch nur einigermaassen über die Gabe der Darstell¬ 
ung verfügen, zu veranlassen, den Einfluss dieser 
beiden Arten von Gefangenschaft auf ihr inneres 
geistiges und moralisches Leben zu schildern und 
diesen Bericht an die Unterzeichnete Adresse zu 
senden. Es wird jedem Einsender auf Ehrenwort 
die Discretion zugesichert, die er in seinem Interesse 
gewahrt wissen will; man möge deshalb eine dies¬ 
bezügliche Angabe machen und nicht anonym ein¬ 
senden, letzteres schon um deswillen nicht, weil even¬ 
tuell zur Klärung und Erläuterung der Berichte nähere 
Anfragen nothwendig werden. Es handelt sich darum, 
Beiträge zu liefern zur Beantwortung der Fragen, 
einmal, ob die Untersuchungshaft in ihrer heutigen, 
ausgedehnten Anwendung gerechtfertigt ist gegenüber 
den Opfern an seelischer Kraft, die der Verhaftete 
(und seine Angehörigen) dabei zu bringen haben, 
sodann, wie der heutige Vollzug der Freiheitsstrafe 
auf den Charakter, auf die beruflichen und gesell¬ 
schaftlichen Fähigkeiten des Verurtheilten einwirkt. 
Die folgenden Fragen wollen nicht erschöpfend sein, 
sondern nur anregen: 

Welche Wirkung hatte die Haft auf Ihre geistigen 
und seelischen Eigenschaften: auf das religiöse Leben, 
auf die beruflichen Fähigkeiten, auf gesellschaftliche 
Neigungen, politische Anschauungen, auf Arbeitsam¬ 
keit, Sparsamkeitstrieb, Familiensinn, Liebesieben, auf 


1 u n g e n. 

Logik, schriftlichen Stil (Intuition?), auf von Ihnen 
zugegebene verbrecherische Anlagen, auch solche, die 
vielleicht mit dem vorliegenden Straffall nicht in Ver¬ 
bindung gebracht werden können ? 

Welche Wirkung hatte die Haft in körperlicher 
Hinsicht: auf die Verdauungsorgane (Anstaltskost?), 
auf das Sehvermögen, auf die Athmungsorgane 
(Tuberkulose), auf Blutzusammensetzung (Anämie), 
auf das Geschlechtsleben ? Wie ertrugen Sie die 
Entwöhnung von geistigen Getränken, von Kaffee etc. 
und Tabak ? 

Wie wiikte nach Ihrer Ansicht die Einzelhaft, 
wie die Gemeinschaftshaft, beide mit einander ver¬ 
glichen, auf Sie? Welchen Einfluss hatte der An¬ 
staltsgeistliche, die Anstaltsbeamten, der Lehrer auf 
Sie, welchen die Behandlung durch das niedere Per¬ 
sonal? Welche Förderung oder Nachtheile brachte 
Ihnen die Anstaltsarbeit ? Mit welchen Büchern 
und Schriften beschäftigten Sie sich in den Ruhe¬ 
stunden ? Was können Sie mittheilen über Reue, 
Fluchtdrang, Langeweile, über Kunstfertigkeiten, die 
sich in der Einsamkeit bei Ihnen entwickelten? 
Ueber die Wirkung und Umgehung des Schweige¬ 
gebots (Klopftelegraphie)? Ueber Disciplinarstrafen? 

Es gilt den Versuch eines durchaus wissenschaft¬ 
lichen und ideellen Unternehmens. Eine Enquete 
auf anderem Wege wäre mit grossen, wohl unüber¬ 
windlichen Schwierigkeiten verbunden. 

Dr. jur. Fritz Auer, München, Dachauerstrasse 9. 

Anm. d. Red. Das Unternehmen des Herrn 
Dr. Auer, welcher der Red. von autoritativer Seite 
als ein hervorragend strebsamer und exakt denkender 
Jurist bezeichnet wurde, verdient besondere Beach¬ 
tung der Herren Fachkollegen. 

— Zu dem Thema: Die strafrechtliche Be¬ 
handlung der geistig minderwerthigen Personen, 

welches auf dem diesjährigen Deutschen Juristen¬ 
tage in Innsbruck erörtert wurde, waren Gut¬ 
achten eingegangen vor dem Geheimen Justizrat 
Professor Dr. Kahl (Berlin) und Medicinalrath Dr. 
Leppmann (Berlin). Der erste Berichterstatter, 
Professor Dr. K 1 e i n f e 11 e r (Kiel) fasste seine Aus¬ 
führungen in folgenden Leitsätzen zusammen: 

1. Wer sich bei Begehung einer strafbaren Hand- 


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1904.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 239 


lung in einem dauernden krankhaften Zustand bes¬ 
tanden hat, welcher das Verständnis für die Straf¬ 
würdigkeit seiner Handlung oder seine Widerstands¬ 
fähigkeit gegen strafbares Handeln verminderte, ist 
nach dem für minder schwere Fälle geltenden Straf¬ 
rahmen zu bestrafen. 

2. Bei jugendlichen Personen mildert unter der 
gleichen Voraussetzung der Richter die Strafe inner¬ 
halb des für Jugendliche geltenden Strafrahmens 
nach freiem Ermessen. 

3. Die Aussetzung des Strafvollzuges ist unter den 
allgemeinen Bedingungen zulässig. 

4. Der Vollzug erfolgt in der gewöhnlichen Straf¬ 
anstalt unter individueller Berücksichtigung des die 
geistige Minderwertigkeit begründenden Zustandes; 

5. An Erwachsenen, welche sich für den Vollzug 
in einer gewöhnlichen Strafanstalt nicht eignen (ins¬ 
besondere an Gemeingefährlichen), ist die Strafe 
(nach Anordnung des erkennenden Strafgerichts) in 
einer staatlichen Sicherungsanstalt zu vollziehen. 

6. Jugendliche können im gleichen Fall statt in 
der für Jugendliche bestimmten Strafanstalt nach 
Anordnung des erkennenden Gerichts in einer staat¬ 
lichen Sicherungsanstalt oder in einer Erziehungs¬ 
anstalt untergebracht werden. 

7. Geistig Minderwertige, welche gemeingefährlich 
sind, müssen nach Vollzug oder Erlass der Strafe in 
der staatlichen Sicherungsanstalt bis zur Entlassungs¬ 
fähigkeit verwahrt werden. 

8. Die Entlassung kann nur bedingt und, während 
eines gesetzlich begrenzten Zeitraumes, widerruflich 
erfolgen. 

9! Geistig Minderwertige, welche nicht gemeinge¬ 
fährlich sind, müssen nach Vollzug oder Erlass der 
Strafe einer Beaufsichtigung durch Unterbringung in 
einer Familie oder in einer Privatanstalt oder durch 
Bestellung eines Pflegers unterworfen werden. Die 
Dauer der Aufsicht wird innerhalb einer gesetzlichen 
Grenze durch das Urteil bestimmt. 

10. Zuständig zur Anordnung der Unterbringung 
in der Sicherungsanstalt oder zur Anordnung einer 
blossen Aufsicht ist das anerkennende Strafgericht. 

11. Zuständig zur Entlassung aus der nachträg¬ 
lichen Verwahrung und zum Widerruf dieser Ent¬ 
lassung ist ein aus Beamten der Sicherungsanstalt und 
Bürgern gebildetes Kollegium. 

Geheimer Justizrath Professor Dr. Kahl und Me- 
dicinalrath Dr. Leppmann (Berlin) stellten folgenden 
Abänderungsantrag: Im Leitsatz 1 des Antrages 
Kleinfeller statt: „dauernder“ zu setzen: „nicht bloss 
vorübergehender“. An Stelle Leitsatz 2 zu setzen; 
„Bei jugendlichen Minderwerthigen ist an dem vom 
27. deutschen Juristentag gefassten Grundsätze fest¬ 
zuhalten, das heisst von dem Erfolg der Strafe durch 
staatlich übernommene Erziehung den weitgreifendsten 
Gebrauch zu machen“. Leitsatz 5 und 6 sind wie 
folgt in eine Ziffer zu fassen: „An geistig Minder¬ 
werthigen, die sich für den Strafvollzug in einer ge¬ 
wöhnlichen Strafanstalt nicht eignen, ist die Strafe 
in einer staatlichen Sicherungsanstalt, und soweit es 
sich um geistig minderwerthige Jugendliche handelt, 
in einer Erziehungsanstalt zu vollziehen“. In Leit¬ 


satz 7 anstatt staatlichen Sicherungsanstalt zu setzen: 
„in geeigneten Anstalten“. Leitsatz 9 zu fassen: 
„Geistig Minderwerthige, welche nicht gemeingefährlich 
sind, müssen nach Vollzug oder Erlass der Strafe 
unter staatlich organisirter Gesundheitsaufsicht bleiben. 
Daneben kann Unterbringung in eine Familie oder 
Privatanstalt verfügt oder Bestellung eines besonderen 
Pflegers vorgesehen werden. Die Dauer einer solchen 
Aufsicht wird innerhalb der gesetzlichen Grenzen 
durch das Urtheil bestimmt“. Anstatt Leitsatz 10 und 
11 zu setzen: „Zum Zwecke der Feststellung der Noth- 
wendigkeit der Zulässigkeit von Sicherungsmaassregeln 
gegen geistig Minderwerthige hat ein besonderes Ver¬ 
fahren stattgefunden, welches indessen grundsätzlich von 
dem Verfahren der Entmündigung getrennt zu halten ist“. 
Nach längerer Erörterung gelangten die Leitsätze in 
dieser Fassung zur Annahme. 


Referate. 

— Ueber die schwierigen Verhältnisse der Irrenpflege 
in Mähren hat der Direktor der Landes-Irrenanstalt 
in Brünn, Dr. A. Hellwig, in der Prager med. Wochschr. 
XXVIII No. 43 u. 44: „Zur Lösung der Irrenfrage 
in Mähren“ und in der bei C. Marhold 1903 erschiene¬ 
nen Broschüre: „Der Stand der Irrenpflege in 
Mähren, ein Nothstand,“ ausführlich berichtet und 
umfassende Vorschläge zur Abhilfe gebracht. 

Die Vorschläge gipfeln in der Forderung nach 
einer grossen Siechen- und Pflegeanstalt, der Er¬ 
gänzung der bestehenden Anstalten durch Kolonien 
und Familienpflege, der Entfernung der geisteskranken 
Verbrecher aus den Irrenanstalten und deren Unter¬ 
bringung in Adnexen zu Inquisitenspitälem oder 
Strafanstalten, der Errichtung von Trinkerasylen und 
einer „Anstalt für Nerven- und Gehimkranke“ als 
Zwischenglied zwischen Krankenhaus und Irrenanstalt. 
Der Director der Salzburger Irrenanstalt, Dr. 
Schweighofer, widmet diesen Brochuren eine 
Besprechung, in welcher er insbesondere auf die von Dr. 
Hellwig eingehend geschilderten Verhältnisse der 
Irrenanstalt in Brünn Bezug nimmt und hierbei 
zu folgenden Schlüssen gelangt: „587 Betten Normal¬ 
belag bei einem Stande von 700 Kranken; 400 neue 
Aufnahmen im Jahre, somit eine Gesammtziffer von 
1100 Verpflegten, gegen 450 Entlassungen; in den 
Abtheilungen für „unreine Kranke“ und „Tobende“ 
eine Vermehrung des Standes um ein Viertel bis 
ein Drittel über das Zulässige, somit z. B. 55 Tobende 
in einem Raume, in dem 37 schon zu viel sind; 
ein Luftcubus für „Unruhige“ und „Unreine“ von 
sage siebzehn Cubikmeter; die Wachstationen über¬ 
füllt, und, helfe was helfen kann, die Epidemiesta¬ 
tionen mit Siechen belegt 

Dabei bedenke man, dass die Aufgenommenen 
nur eine Auslese aus den hilfsbedürftigsten Kranken 
des Landes sind, somit diejenigen, denen eine see¬ 
lische Beruhigung und geistige Pflege am nothwen- 
digsten ist. 

Mehr als die Hälfte des jeweiligen Standes sind 
nach dem Jahresberichte für 1902 noch solche, denen 
eine Heilungsmöglichkeit nicht abgesprochen werden 


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240 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 25. 


kann. Kein Mensch wird daran zweifeln, dass ein 
übermüdetes Gehirn oder ein reizbares Gemüth der 
Ruhe in erster Linie bedarf, um zu genesen. 

Wie soll es diese in einer Anstalt finden, welche 
derart überfüllt ist und dazu noch nach einem System 
gebaut wurde, welches heute deshalb allgemein ver¬ 
lassen ist, weil es den Kranken die nöthige Ruhe 
und Sonderung nicht gewähren kann! Ueberfüllte 
Abtheilungen sind immer unruhig, daran kann die 
beste Pflege nichts ändern. 

Was es heisst, in einer Abtheilung für 37 „Un¬ 
ruhige“ 55 behandeln zu müssen, kann nur der er¬ 
messen. der sich diesen johlenden Haufen reizbarer, 
unreiner, gewaltthätiger Kranker vorstellt, die einer 
den anderen aufregen und bei denen das Schreien 
eines einzelnen genug ist, um in der Nacht alle an¬ 
deren 54 wach zu erhalten und so fort Nacht für 
Nacht; — das kann nur der begreifen, der mit der 
Aufgabe betraut ist, diese Kranken reizlos, zwanglos, 
zellenlos zu behandeln, und ihnen unter Vermeidung 
von allzuvielen Schlafmitteln den lange entbehrten 
Schlaf als das nothwendigste Mittel zur Gehirnruhe 
zu verschaffen; — der dabei verpflichtet ist, dafür zu 
sorgen, dass sein erschöpftes Personal, welches durch 
den steten Lärm, die Verantwortung und die un¬ 
appetitliche Danaidenarbeit reizbar geworden ist, sich 
nicht zu Gereiztheiten oder Ausserachtlassungen hin- 
reissen lässt, und der noch obendrein die Aufgabe 
hat, jedem einzelnen Kranken in seiner Individualität 
gerecht zu werden. 

Krankhafte Reizbarkeit durch Medicamente be¬ 
handeln zu wollen, ist ein Unding, solange man nicht 
daneben auch die Individualität des Kranken berück¬ 
sichtigen kann. Ein kleines Entgegenkommen in 
dieser Beziehung ersetzt Zeile, Zwang und Beruhig¬ 
ungsmittel, während eine Pflege, welche nicht indivi- 
dualisiren kann, Reizbarkeiten oft genug bis zur Un¬ 
heilbarkeit verlängert. 

Unter solchen Umständen ist eine erspriessliche 
Heilarbeit der Aerzte unmöglich und es wird die 
Anstalt und Pfleger sich aufreiben in nutzloser Pflicht¬ 
erfüllung. 

Dass eine solche Anstalt noch in die Lage kommt, 
mehr Kranke zu entlassen, als sie aufgenommen hat, 
ist ein Zeichen, mit welcher Anstrengung sie ihrer 
Aufgabe gerecht zu werden bemüht ist. Es kann 
daher kein Zweifel bestehen, dass mit derselben 
Arbeit in günstigen Verhältnissen ganz anderes er¬ 
reicht werden müsste, und dass es hoch an der Zeit 
ist, die Dinge zu ändern. 

Verbrecher, Säufer und die nach dem heutigen 
Strafgesetze deshalb exculpirten Abnormen, weil an 
ihnen der „freie Wille“ nicht entdeckt werden konnte, 
in einem Krankenhause neben anständigen Leuten 
pflegen zu müssen, ist eine Grausaumkeit gegen die 
Kranken, das Personal und die Aerzte. 

Landstreichende Gewohnheitsdiebe durch Bettbe¬ 
handlung und prolongirte Bäder, bestialische Säufer, 
welche ihre Familie tagtäglich prügeln und bedrohen, 


solange sie vor Rausch noch stehen können, mit 
gütigem Zuspruche und Brom behandeln zu wollen, 
Prostituirte an einen halbwegs anständigen Umgangs¬ 
ton zu gewöhnen, damit sie nicht die anderen jungen 
Mädchen neben sich verderben, und dabei zusehen 
zu müssen, wie alle diese zusammen Kranke und 
Personal durch ihre verbrecherischen Eigenschaften 
bis zur Verzweiflung treiben und sich dennoch tag¬ 
täglich über ihnen erwiesenes „Unrecht“ beschweren, 
ist eine so übermenschliche Aufgabe, dass zur Er¬ 
kenntnis derselben lediglich Sachkenntniss nothwendig 
wäre. 

Jede Anstalt wäre dankbar, wenn sie diese Ele¬ 
mente wegbrächte und die Klagen über widerrecht¬ 
liche Intemirung angeblich Gesunder in Irrenanstalten 
nicht Geständnisse für Leute sein müssten, denen man 
mit dem heutigen Strafgesetze nicht ankann, und 
die man deshalb der Humanität in die weichen 
Arme wirft; denn nur diese sind es, welche die 
Substrate für solche Klagen abgeben, gewissermaassen 
der Dank für die Arbeit, das Odium und die Gefahr. 

Das wäre längst unschwer und zu allgemeiner Zu¬ 
friedenheit zu ändern gewesen, wenn man maass¬ 
gebenden Ortes an solche Aufgaben herangetreten 
wäre, statt Erlässe über Tuberkulosebehandlung und 
Ankündigungen einwandfreier Spucknäpfe an die Irren¬ 
anstalten zu versenden. 

Eine Anstalt ohne Arbeitsmöglichkeit und beson¬ 
ders ohne koloniale Arbeit ist wie eine Schule, welche 
ihre Kinder nur das Sitzen lehren kann. 

Wahnideen und Stimmungsüberreste, welche den 
Kem zu krankhaften Vorurtheilen bilden, und im 
Gefolge derselben zu falschen Anschauungen und 
„verrückten“ Ideen über sich und die Umgebung 
führen, mit Schlaf- oder Abführmitteln kuriren zu 
wollen , ist so lächerlich, dass ‘man unwillkürlich an 
das berühmte Heine’sche Recept, über die Her¬ 
kunft sublimer Gedanken, erinnert wird. 

Jeder gesunde Mensch, der die Wohlthat der 
Arbeit an sich kennen gelernt hat, wird einsehen, 
wie unumgänglich nothwendig gerade für eine Irren¬ 
anstalt die Beschäftigung der Kranken ist. Selbst¬ 
beherrschung zu lernen ist psychischen Invaliden 
nothwendiger als Brom, und wie lernt man sie leichter, 
als durch die Ordnung, welche die Arbeit in ein 
Gemeinwesen hineinbringt. 

Es ist ein Nonsens ohnegleichen, einen kranken 
Geist heilen zu wollen, während man ihn durch Nicht¬ 
thun zum Verdummen zwingt. 

Es ist aber eine allgemeine Erfahrung, dass die 
ländliche Arbeit nicht nur für die Landbevölkerung, 
sondern gerade für das überreizte Gehirn des Städters 
das wirksamste Behandlungsmittel ist. 

Daher unser Verlangen nach Kolonien. 

Es wäre dem Lande und seinen Kranken herz- 
lichst zu wünschen, dass alle diese Fragen baldigst 
aus dem Stadium der Enqueten in das der befreien¬ 
den That treten würden.“ 


Für den redactioneiien Thril verantwortlich: Oberar/t Dr. J. Bresler, Lublinit? (Schlesien). 

Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Hall« a. S 

Heynemann’sche Buchdruckerei (Gebr. WV'fF'k jr> Halle a. S. 


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Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift. 

Redigirt Von 

Oberarzt Dr. Joh.. Bresler, 

Lublinitz (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834. 

Nr. 26. 24. September. 1904 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermissigung ein. 

Zuschriften fUr die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinits (Schlesien), zu richten. 


Abonnements-Erneuerung. 

Wir bitten die Bestellung auf unsere Wochenschrift baldigst zu erneuern, damit die 
Weiterlieferung ohne Störung geschehen kann. 

Diejenigen unserer verehrl. Abonnenten, welche die Wochenschrift unter 
Kreuzband empfangen, erhalten dieselbe weiter geliefert, sofern eine Abbestellung 
nicht erfolgt. 

Verlag und Expedition der „Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift" 

Carl Marhold in Halle a. S. 


Erweiterung des Adnexes für geisteskranke Verbrecher an Strafanstalten. 

Von Medicinalrath Dr. P. Näcke in Hubertusburg. 


TTs dürfte vielleicht einigen Lesern etwas verfrüht 
' erscheinen, jetzt schon weitere Reformen be¬ 
züglich der Adnexe für geisteskranke Verbrecher an 
Strafanstalten vorzuschlagen, nachdem diese Unter¬ 
bringungsart kaum erst durch gute Erfolge die An¬ 
erkennung der Meisten sich errungen hat und noch 
verhältnissmässig recht wenige solcher Institute er¬ 
richtet worden sind. Und doch wäre Stillstand auch 
hier nur ein Rückschritt und fortwährend muss man 
auf Verbesserungen sinnen. 

Schon wiederholt, zuletzt an dieser Stelle*), habe 
ich hervorgehoben, dass, soll eine solche Anstalt 
wfrklich ihren Zweck erfüllen, sie vor Allem keine 
blosse Durchgangsstation, wie in Preussen, 
sein darf, sondern die Kranken so lange behalten 
soll, bis sie geheilt oder, wenn unheilbar, bis sie ihre 
störenden Eigenschaften der Gemeingefährlichkeit und 
Depravation soweit eingebüsst haben, dass man sie 
ohne Schaden an die gewöhnliche Irrenanstalt oder 
an die Heimath abgeben kann, was bez. der Harm- 


# ) Näcke: Specialanstalten für geistig Minderwertige. 
Diese Wochenschr. 1904, Nr. 9 u. 10 (J un i). 

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losen sofort zu geschehen hat*). Das bedingt 
eben weiter, dass der Adnex grösser als 
bisher gebaut werden muss, etwa bis zu 
150 Plätzen enthält, um die nöthigen Kranken¬ 
abtheilungen, wie in jeder Irrenanstalt — und eine 
solche soll sie ja auch darstellen — bilden zu können. 
Raumvermehrung ist besonders dann am Platze, 
wenn etwa gleichzeitig auch Frauen mit aufgenommen 
werden sollen. Ein grösserer Gartenraum, etwas 
Feld wären, neben Werkstätten zur geeigneten Be¬ 
schäftigung, die gerade hier doppelt nothwendig er¬ 
scheint, sehr erwünscht. Der ganze Bau muss 
natürlich fester als in der gewöhnlichen Irren¬ 
anstalt sein, namentlich in den Abtheilungen für sehr 
Gemeingefährliche, auch das Regime etwas strenger. 
Sonst darf nichts an die Strafanstalt er- 


*) Auch der so tragische Tod Vorsters durch die Hand 
eines geisteskranken Verbrechers ändert nichts an der Sachlage, 
dass trotz Schäfers und Anderer die Mehrzahl der geisteskranken 
Verbrecher ziemlich harmlose Gesellen sind. Es wird eben 
nur dadurch bewiesen, dass solche seltene Ausnahmen, wie jener 
Paranoiker, eben entfernt werden müssen, was sich aber auf 
die andern nicht bezieht. 


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242 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 26. 


innern, mit der der Adnex nur wirthschaftlich und 
administrativ verbunden ist. Unabhängiger Leiter ist 
selbstverständlich ein Psychiater, dem am besten 
auch, wenn vom Verwaltungsstandpunkte aus an- 
gängig, das Wartpersonal disciplinell untersteht. Die 
Zahl der Aerzte und Pfleger hat sich nach dem 
Materiale zu richten, möchte aber, allgemein ge¬ 
sprochen , grösser sein, als in einer gewöhnlichen 
Irrenanstalt. 

Diese Desiderate sind bis jetzt leider nur zum 
Teil erfüllt — am besten noch in Waldheim —, 
doch sind sie sicher praktisch und auch durchführ¬ 
bar, wenigstens an den meisten Anstalten. Bei Neu¬ 
bauten sollte man gleich von Anfang an darauf 
Rücksicht nehmen. Wiederholt habe ich weiter an 
verschiedenen Stellen, zuletzt in der angegebenen 
Arbeit darauf hingewiesen, dass ausser einer 
räumlichen Erweiterung noch eine passende 
Vermehrung der Kran ken kategorie 11 an¬ 
zustreben sei. Dies geschieht, wenn man 
ausser den Kranken aus der Strafanstalt 
noch die gemeingefährlichen und depra- 
virten Elemente unter den irren Ver¬ 
brechern und unbescholtenen Kranken 
der gewöhnlichen Irrenanstalt dort mit 
unterbringt und zwar so lange, bis die Ge¬ 
meingefährlichkeit und Depravation, die 
freilich oft genug combinirt sind, verschwunden 
oder sehr abgeschwächt sind und eine Rück¬ 
versetzung der Patienten in die Anstalt oder ihre 
Entlassung möglich erscheint. Dieser Gedanke, der 
schon vor mir wiederholt von verschiedener Seite 
angeregt wurde, war meines Wissens noch nirgends 
in die Praxis umgesetzt worden. Wohl fanden sich 
z. B. in Amerika und England irre Verbrecher und 
verbrecherische Irre öfter vereinigt, aber es fehlten 
zur Trias noch die unbescholtenen Geisteskranken, 
auf die ich gerade hier besonderes Gewicht lege.*) 

Nun lese ich zu meiner grossen Genugthuung, 
dass an der Korrektionsanstalt zu Tapiau in Ost- 

*) Der Provinzialausschuss von Schleswig-Holstein hat 
beim Provinziallandtage die Erbauung einer „besonderen Abtei¬ 
lung für verbrecherische und gewaltthätige Geisteskranke“ als 
eignen Bau für 40 — 50 Kranke an die Provinzialanstalt zu 
Neustadt beantragt, aber nur für irre Verbrecher und verbreche¬ 
rische Irre (diese Zeitschrift, 1904, Nr. 12). Dabei ist der 
Schaden der geisteskranken Verbrecher in der Irrenanstalt, wie 
gewöhnlich, gewiss übertrieben worden. In Berlin wurde im 
Stadtverordneten-Ausschusse (diese Zeitschrift, 1904, Nr. 13) 
die Errichtung eines Central-Verwahrungshauses für verbreche¬ 
rische Geisteskranke auf dem Gelände der Irrenanstalt Buch ge¬ 
plant. Ob nur für diese oder noch andere Katagorien, ist nicht 
gesagt. 


preussen*) ein Adnex als selbständige Anstalt unter 
dem Namen: Pflegeanstalt für geisteskranke Männer 
besteht, die auch sehr störende unbescholtene Irre 
aufnimmt, neben den irren Verbrechern, die sie frei¬ 
lich nicht direkt vom Strafhause bezieht, sondern auf 
dem Umwege der Irrenanstalten. Sie besteht seit 
dem 1. V. 1898 und enthielt am 1. IV. 1904 68 
Kranke. Der Bau ist, wie Plan und Beschreibung 
erkennen lassen, im Allgemeinen durchaus zweck¬ 
entsprechend und ganz mit modernen Einrichtungen 
versehen, dabei fest genug, um unliebsamen Ereig¬ 
nissen zu begegnen. Aerzte und Wartpersonal sind 
genügend vorhanden, der dirigirende Arzt (ein Psy¬ 
chiater) ganz selbständig und das Institut steht nur 
wirthschaftlich, administrativ und disciplinell unter 
dem Direktor**) des Korrektionshauses. Das Ganze 
ist jedenfalls nach Bedarf noch erweiterungsfähig. 
Sehr wichtig ist es nun, dass der Leiter mit den 
Ergebnissen, die sich auf eine Zeit von 6 Jahren 
beziehen, durchaus zufrieden ist und für die Provinz 
Ostpreussen eine Aenderung in der Unterbringungs¬ 
art crimineller Geisteskranker und irrer Verbrecher 
nicht für wünschenswerth hält. Dadurch wurden in 
der That erst die Provinzialanstalten von ihren bös¬ 
artigsten und beschwerlichsten Kranken entlastet. 
Sehr bemerkenswerth ist aber ferner der Passus, dass: 
.,. . . die überfüllten Irrenanstalten weit lieber harm¬ 
lose Verbrecher behalten und dafür im Interesse der 
andern Kranken jene unliebsamen Störenfriede ab¬ 
schieben. . Die Direktoren geben hier also zu, 
dass es 1. harmlose Verbrecher in der Irrenanstalt 
giebt — welche meinen und anderer Erfahrungen 
nach sogar bei weitem die Hauptmasse bilden — 
und 2. so manche der andern unbescholtenen oder 
vorbestraften Irren ebenso störend sein können, 
eventuell sogar noch mehr, als die bösen Elemente 
unter den geisteskranken Verbrechern. So kam es 
denn, dass Tapiau einen beträchtlichen Procent¬ 
satz der Insassen zählt, die nicht kriminell sind, 
d. h. auch nicht irre Verbrecher.***) 

Interessant ist es aber weiter, die Krankheits¬ 
formen und die Ursache der Ueberführung der 
Kranken zu studiren. Unter den 88 Kranken der 
ersten 2 Jahre findet sich nämlich nur 1 mal Para¬ 
lyse und 26 mal echte Paranoia (darunter 7 Queru- 

*) Hoppe: Die Pflegeanstalt für geisteskranke Männer. 
Diese Wochenschrift 1904, Nr. 11 (12. Juni). 

**) Jedoch darf der Direktor „nur auf Antrag und im Ein* 
verständniss mit dem Arzte Ordnungsstrafen verhängen“. 

***) In dem Bestände der ersten 2 Jahre waren 34°/ 0 £ ar 
nicht vorbestraft; in dem jetzigen Bestände von 68 Personen 
sind 14 unbescholten, 8 vorbestraft s— 22 nicht Criminelle. 


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Original fram 

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1 9 ° 4 *] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


243 


lanten); in dem jetzigen Bestände überwiegt eben¬ 
falls die Verrücktheit und die Paralyse fehlt über¬ 
haupt. Das ist auch ganz natürlich. Unter den 
geisteskranken Verbrechern ist Paralyse bekanntlich 
sehr selten, dagegen Paranoia häufig und letzteres gilt 
auch bei den Unbescholtenen, da die Verrückten neben 
den Epileptikern wohl am meisten Anlass zu grosser 
Gemeingefährlichkeit etc. geben. Sieht man jetzt die 
Gründe für die Ueberführung Unbescholtener näher 
an, so figurirt bei den 14 Unbescholtenen des jetzigen 
Bestandes: 1 mal Zerstörungssucht mit hartnäckiger 
Widersetzlichkeit, 1 mal Unverträglichkeit mit stören¬ 
der Unruhe und 1 mal Unreinlichkeit mit pervers 
sexuellen Neigungen. Ohne nun freilich die Kranken¬ 
geschichten dieser Leute zu kennen, scheint es mir 
doch, als ob diese 3 Kranken vielleicht doch noch 
in der ersten Anstalt hätten bleiben können. Zer¬ 
störungssüchtige, Widersetzliche, Unverträgliche, Un¬ 
ruhige, Unreinliche finden sich überall genug vor 
und öfters sogar in ziemlicher Zahl. Wollte man 
aber alle diese gewiss unangenehmen Gäste abstossen, 
so würde der Adnex für geisteskranke Verbrecher 
nur zu bald sich füllen und sein Zweck wäre dann 
ge m i ssbraucht. Nur d i e S u per lat i ve dieser 
E igenschaf ten, welche wirklich trotz aller 
Mittel nicht zu beherrschen sind und das 
Getriebe der Anstalt sehr empfindlich 
stören, sollten Anlass zur Abstossung der 
Kranken werden. Die moderne Irrenanstalt hat 
überall eine Abtheilung für Unruhige, Widersetzliche, 
Unreinliche etc. und muss ihrer Herr werden. Nur 
ruhige, gutmüthige und anständige Kranke zu be¬ 
handeln, wäre freilich ideal, aber keine Kunst! Eher 
stören wirklich die sexuell Perversen, aber nicht blosse 
Onanisten, die überall verkommen, sondern die sehr 
seltenen Fälle von Pseudo-Homosexuellen*), die frei¬ 
lich das Getriebe der Anstalt auch nicht wesentlich 
beeinträchtigen, wie ich dies z. B. von Hubertusburg 
sicher behaupten kann. Also gilt es, den Be¬ 
griff der Gemeingefährlichkeit und Depra- 
vation nicht zu weit zu fassen, soll das neue 
Institut seinen richtigen Zweck erfüllen. Der wirk¬ 
lich gefährlichen, alles störenden und 
unmoralischen Kranken giebt es in der 


*) Echte Homosexuelle dürften in Landesanstalten ganz 
abnorm selten sein; ich habe wenigstens keine gesehen! Eher 
finden sie sich in Privatanstalten. Schon allein dieser Umstand 
beweist, dass bei der immer mehr anerkannten relativ grossen 
Ausbreitung des 3. Geschlechts die Homosexualität, wenn 
überhaupt eine Degenerationsform, doch lange keine so schlimme 
sein kann, wie noch die meisten Psychiater anxunehmen ge¬ 
neigt sind. 

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Irrenanstalt doch nur meist wenige un d 
diese müssen allerdings fort Unter ca. 400 
erwachsenen Männern zähle ich in Hubertusburg 
nicht mehr als 2—3 solcher Elemente, die ich 
im Interesse der übrigen entfernt wissen möchte! 
Bei den Frauen würde die Zahl natürlich eine 
grössere werden, weil hier die gewaltthätigen, sehr 
störenden und unmoralischen Kranken viel zahl¬ 
reicher vertreten sind. Ein gleiches gilt auch von 
den Epileptikern, die daher von ihren störendsten 
Elementen gereinigt werden müssen. 

Tapiau hat also bewiesen, dass die Unterbring¬ 
ung der 3 Arten von Kranken: irre Verbrecher, ver¬ 
brecherische Irre und sehr störende, aber unbeschol¬ 
tene Geisteskranke, sich gut bewährt hat. Das fordert 
zur Nacheiferung an. Wo Adnexe schon gebaut sind, 
lassen sie sich meist erweitern. Bei Neubauten ist gleich 
von Anfang an die Anlage zu vergrössem. Da aber 
wahrscheinlich hier und da Recriminationen von Fami¬ 
lienangehörigen erfolgen werden *), dass die verbreche¬ 
rischen Irren, d. h. also Unschuldige einerseits und 
gar unbescholtene Geisteskranke andererseits mit den 
eigentlichen irren Verbrechern — die freilich meist 
auch nur verbrecherische Irre sind! — gemeinsam 
untergebracht werden sollen, so würde sich der 
Name: Anstalt für gefährliche Geistes¬ 
kranke mehr empfehlen als der: Adnex 
für geisteskranke Verbrecher. Dies kostet 
ja nichts und würde manche Empfindlichkeiten be¬ 
seitigen und zwar zum Wohle des Ganzen. Wenn 
nun aber jene 3 Kategorien vereinigt werden sollen, 
so fragt es sich weiter: in welcher Art am besten. 
Getrennt oder nicht getrennt ? Würde man eine 
Trennung treffen, so stiege die Zahl der einzelnen 
Abteilungen zu sehr an, wäre also wenig praktisch, wie 
ich jetzt gegen früher einsehe. Besser ist schon eine 
Zweitheilung in Gemeingefährliche und in allein oder 
doch vorwiegend Unmoralische. Am einfachsten und 
zweckentsprechendsten erscheint es je¬ 
doch, alle Insassen ohne Unterschied 
nach den in der gewöhnlichen Irrenan¬ 
stalt üblichen Regeln abzuth eilen, was 
kaum irgendwie anstossen würde, zumal wenn die 
Etiquette der Ansalt eine andere geworden ist. 
Gewissen Empfindlichkeiten seitens der Kranken 
könnte man eventuell auch Rechnung tragen. 

Als Bau empfiehlt sich ein Kasemenbau oder 
2 grosse Blocks für zusammen ca. 150 Personen ad 
maximum. Müssten Frauen und Männer gemeinsam 

*) In dem Berichte über Tapiau ist hierüber nichts mit- 
getheilt. Es scheinen also dort keine solche Klagen erfolgt zu 
sein. 

Original from 

HARVARD UN1VERSITY 



244 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 26. 


Unterkommen finden, so wäre strenge Trennung, am 
besten in Blocks, angezeigt. Am zweckentsprechend¬ 
sten aber ist: nur eine Anstalt für Männer und eine 
andere für Frauen an anderem Orte zu bauen. Ob 
etwa eine Arbeitskolonie in Frage kommt, kann nur 
die Zukunft lehren, doch wird dann auch hier min¬ 
destens für die Gefährlichsten eine festere Abtheib 
ung sich nöthig machen. Für einige festere Zellen 
hat man in der Anstalt natürlich Sorge zu tragen. 
Freilich wird bei rationeller und ausgiebiger Anwen¬ 
dung der Bettbehandlung und besonders der Dauer¬ 
bäder Isolirung sicher immer seltener werden, wenn¬ 
gleich unter bewandten Umständen nie ganz auf¬ 
hören. 

Wir können zum Schluss aber noch einen Schritt 
weiter gehen. Sicher wird es soweit kommen — und 
die Saat ist schon reif! —, dass auch der ge- 
wöhnlicheGefängnissarztgenügendepsy- 
chiatrische Kenntnisse besitzen muss, um 
unter den Gefangenen verkannte Geisteskranke recht¬ 
zeitig zu erkennen, ebenso die Anfänge einer sich 
entwickelnden Psychose, nicht weniger auch die 
vielen Minderwevthigen. Die Irren wird er gleich 
ausschalten und sie, wenn gefährlich etc., an die 
Anstalt für gefährliche Geisteskranke, wenn harmlos, 
an die gewöhnliche Irrenanstalt, und die Minder- 
werthigen an die dafür bestimmten Institute abgeben. 
So wird die Zahl der wirklichen geisteskranken 
Verbrecher, d. h. also solcher, welche erst während 
des Strafvollzugs erkrankten, immer mehr einschmelzen. 
Noch mehr geschieht dies aber, wenn, was wohl auch 
nur eine Frage der Zeit ist, künftig viel 
mehr Angeklagte, als jetzt, namentlich 
principiell alle eines schweren Verbrechens 
Beschuldigte oder Greise einer psychia¬ 
trischen Expertise unterworfen werden. 

Ist nun einmal dieser Zeitpunkt gekom¬ 
men — und er wird sicher kommen! — dann 
hat der Adnex an der Strafanstalt keine 
Daseinsberechtigung mehr, da aus dem 
Gefängnisse selbst nur noch sehr wenig 
dort erst Erkrankte dahin kommen werden. 
Er kann also vom Strafhause ganz losge¬ 
löst und als eigene, selbständige Anstalt 
an eine gewöhnliche Irrenanstalt ange¬ 
gliedert werden, wo er unter dem Namen: 
Anstalt für gefährliche Geisteskranke 
erst recht segensreich wirken würde. 
Wir nähern uns so dem Plane Colin’s, den ich in 
meiner letzten Arbeit darlegte, nur dass hier die In¬ 
sassen etwas andere sind, aber doch alle das Ge¬ 
meinsame der Gefährlichkeit und Unmoralität an 

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sich tragen und die Hauptanstalt von solchen Ele¬ 
menten entlasten helfen. Auch die paar echten irren 
Verbrecher aus dem Strafhause könnten hier ver¬ 
pflegt und behandelt, ebenso die einer Psychose 
Verdächtigen beobachtet werden. Für unvorher¬ 
gesehene Fälle müsste das Gefängniss aber in seinem 
Lazareth eine Stube mit den nöthigsten Einrichtungen 
besitzen. Die Verbindung der Anstalt mit dem Irren¬ 
hause ermöglicht dann leicht einen Austausch von 
Kranken, ferner eine für den Psychiater interessante 
fortlaufende Beobachtung, und für den Arzt und den 
Wärter, deren Loos an einem solchen Institute für 
gefährliche Irre wahrlich kein beneidenswerthes ist, 
wäre die Nähe der Schwesteranstalt eine grosse An¬ 
nehmlichkeit. Aus dem Vorhergehenden erhellt wohl 
aber zur Genüge, dass diese Anstalt eine wirkliche, 
vollständige Irrenanstalt ist und daher nicht etwa 
mit den sog. Adnexen an Irrenhäusern, die sich 
wenig bewährten, zu verwechseln ist. 

Man strebt schon seit langem mit vollem 
Rechte nach einer Trennu n g der Anstalten 
in Heil- und Pf lege an stal ten. *) Ein wei¬ 
teres Desiderat wäre aber, dass die Pflege¬ 
anstalt möglichst auf dem Areale der 
Heilanstalt läge, schon um den beim Publikum 
anstössigen Namen: Pflegeanstalt zu vermeiden, da 
dann die beiden Anstalten zusammen den Namen. 
Heil- und Pflegeanstalt weiter führen oder einen 
andern gemeinsamen Namen annehmen könnten. 
Die äusserliche Verbindung beider würde sehr grosse 
Vortheile haben, auf die ich aber an dieser Stelle 
nicht näher eingehen will. Als drittes Glied 
könnte dann auf passendem Terrain -— 
was wohl nur auf dem platten Lande möglich wäre 
— an die eine oder andere Heil- und 
Pflegeanstalt die Anstalt für gefährliche 
Geisteskranke angeschlossen werden. Jedes 
dieser getrennten Institute hätte einen 
selbständigen ärztlichen Leiter, könnte 
aber, der Billigkeit halber, eine gemein¬ 
same wirthschaftliche und administrative 
Spitze haben. Natürlich würde es im Lande nur 
wenig solcher Anstalts-Komplexe geben. Hier wären 
dann alle Geisteskranken der verschiedensten Her¬ 
kunft zentralisirt, was seine grossen Vortheile hätte, 
und das Odium der Strafanstaltsadnexe fiele ganz 
weg. Eine Gerechtigkeits-Forderung wäre es aber 

* Diese wären in Bau, hygienischen Einrichtungen« 
Komfort und Diät viel einfacher herzustellen, als die eigent¬ 
lichen Heilanstalten, wie es die praktischen Engländer schon 
längst thun. Kasemenbauten oder grosse Blocks wären viel¬ 
leicht das Entsprechendste. _ 

Original fr&m 

HARVARD UNiVERSITY 



I 9 ° 4 *J 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


245 


dann, dass 1. die Aerzte an allen 3 Anstalten regel¬ 
mässig unter einander wechseln, was auch der Wissen¬ 
schaft zu gute käme und 2. wenn ein gleiches bei 
den Wärtern nicht durchführbar ist, doch dort, wo 
grössere Anforderungen an sie gestellt werden, mehr 
Gefahren sie bedrohen u. s. f., der Gehalt ein höherer 
ist. 

Um aber etwaigen Missverständnissen zu begegnen, 
erkläre ich nochmals, dass meine alte Forderung: 


Adnexe am Strafhanse zu bauen und für die 3 Kate¬ 
gorien von Kranken einzurichten, am besten unter 
Annahme des Namens: Anstalt für gefährliche Gei¬ 
steskranke, nach wie vor bestehen bleibt. Nur dort, 
wo diese Nothwendigkeit durch eben dargelegte 
Gründe nicht mehr vorliegt, und nur dann erst, 
soll die Anstalt für die gefähi liehen Irren an eine 
schon bestehende Heil- und Pflegeanstalt als selbst¬ 
ständige kleine Irrenanstalt angegliedert werden. 


M i t t h e i 

— Fortschritte der Familien pflege Geistes¬ 
kranker. 

Der Rath der Stadt Dresden beabsichtigt 
männliche und weibliche Pfleglinge des Stadt- 
Irren- und Siechenhauses und des Luisenhauses in 
der Vorstadt Löbtau, bei denen nach ärztlichem Gut¬ 
achten von einer ferneren Verhaltung in der ge¬ 
schlossenen Anstalt versuchsweise abgesehen werden 
kann, gegen Gewährung eines von Fall zu Fall fest¬ 
zusetzenden täglichen, in Monatsraten zahlbaren Pfleg¬ 
geldes in geeigneten Familien, die in Dresden oder 
dessen Umgebung wohnen, unterzubringen. Gefordert 
wird, dass gegen das vereinbarte Pfleggeld die Pfleg¬ 
linge in Kost, Wohnung, Heizung, Beleuchtung, 
Reinigung und kleineren Ausbesserungen an der Klei¬ 
dung, Wäsche u. s. w. vollständig unterhalten werden, 
dass sie am Familienleben im Hause, wie bei ge¬ 
meinschaftlichen Erholungen, insbesondere auch un¬ 
eingeschränkt am Familientische teilnehmen dürfen, 
und dass ihnen ein genügend grosser, möglichst ge¬ 
sonderter Schlafraum gewährt, sie auch zu geeigneter 
nützlicher Beschäftigung angehalten werden. Anmel¬ 
dungen zur Uebernahme von Pfleglingen sind bei der 
Inspektion des Stadt-Irren- und Siechenhauses, Löb- 
tauer Strasse 31, zu bewirken, woselbst auch jede 
weitere Auskunft erteilt wird und auf mündliches oder 
schriftliches Verlangen Abdrücke von den Verhaltungs¬ 
vorschriften für Pflegefamilien verabfolgt werden. 

Einführung der Familien-Pflege Geistes¬ 
kranker in Wien. Die überraschend günstigen 
Erfolge, welche in Mauer- Oehling mit dieser 
Verpflegsform erzielt worden sind, haben den Re¬ 
ferenten für die Irrenanstalten des Landes Nieder¬ 
österreich , Landesausschuss Leopold Steiner, veran¬ 
lasst, um einerseits den Wünschen der Psychiater 
nach Ausbreitung der Familienpflege gerecht zu 
werden, andererseits eine Entlastung der überfüllten 
Landes-Irrenanstalt in Wien von den unheilbaren 
und harmlosen Geisteskranken herbeizuführen, die 
Einführung der Familienpflege auch in Wien in Aus¬ 
sicht zu nehmen. 

Behufs Besprechung der Modalitäten der Durch¬ 
führung dieses Projektes hat am 15. d. M. im Land¬ 
hause unter Vorsitz des Landesausschusses Leopold 
Steiner eine kommissionelle Berathung stattgefunden, 
an welcher Ministerialrath Dr. Ferdinand Illing in 

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1 u n g e n. 

Vertretung des Ministeriums des Innern, die Statt- 
haltereiräthe v. Wagner und Dr. Netolitzky für 
die k. k. niederösterreichische Statthalterei, Landes- 
Oberinspektionsrath Gerenyi, die Direktoren Regie¬ 
rungsrath Dr. Tilkowsky der niederösterreichischen 
Landes-Irrenanstalt Wien und Dr. Starlinger der 
Kaiser Franz Josef-Landes-Heil- und Pflegeanstalt 
von Mauer-Oehling, niederösterreichischer Landes- 
Sanitätssekretär Dr Wilhelm Lorenz, Polizeichef¬ 
arzt kaiserlicher Rath Dr. Merta namens der Polizei, 
Magistratssekretär Dr. Dont und Bezirksarzt Dr. 
Grünberg vom Stadtphysikate in Vertretung der 
Gemeinde Wien theilnahmen. 

Landesausschuss Steiner verwies darauf, dass die 
anlässlich der Errichtung der Kaiser Franz Josefs- 
Landes-Heil- und Pflegeanstalt in Mauer-Oehling vom 
Lande Niederösterreich freiwillig übernommene Ver¬ 
pflichtung der Obsorge für unheilbare, harmlose 
Geisteskranke, welche bisher der öffentlichen Armen¬ 
versorgung zur Last fielen, infolge der Wirkungen des 
neuen Heimathsgesetzes eine bedeutende Ueberfüllung 
der Wiener Irrenanstalt mit sich gebracht hat. Wohl 
sei versucht worden, dieser Ueberfüllung durch Ab¬ 
gabe von Kranken aus Wien an die Landesirren¬ 
anstalten auf dem Lande abzuhelfen, doch sei der 
Zuwachs an unheilbaren Geisteskranken ein so be¬ 
trächtlicher, dass die Irrenanstalten gegenwärtig einen 
Ueberbelag von mehr als tausend Kranken zählen. 
Es steht zu befürchten, dass die neue Wiener Irren¬ 
anstalt, welche für 2000 Plätze berechnet ist, sofort 
nach ihrer Eröffnung gefüllt sein wird und müssen 
daher, sowohl um dem Bedarfe bis zur Fertigstellung 
der neuen Anstalt zu genügen als auch für die Folge 
einen Abfluss der unheilbaren, ruhigen Kranken zu 
sichern, beizeiten Vorkehrungen getroffen werden. 
Als solche erscheinen vorgeschlagen: die provisorische 
Einrichtung von Unterkunftsräumen für pflegebedürf¬ 
tige Geisteskranke und die Einführung der Familien¬ 
pflege in Wien. Der erste dieser beiden Vorschläge, 
welcher umfangreiche Vorarbeiten erfordert, bildet 
den Gegenstand von Erhebungen beim nieder¬ 
österreichischen Landesausschusse. Die Einführung 
der Familienpflege jedoch könnte mit Rücksicht da¬ 
rauf, dass diese Institution in Mauer-Oehling bereits 
erprobt sei, sofort in Angriff genommen werden. 

Ueber Aufforderung des Vorsitzenden berichtete 
Oberinspectionsrath Gerenyi über die Belagsverhält- 

Original from 

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246 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 26. 


nisse der niederösterreichischen Landes-Irrenanstalten, 
die rechtlichen Voraussetzungen für die Einführung 
der Familienpflege in Wien und über das vorliegende 
Studienmaterial, welchem die diesbezüglich in 
Berlin, wo seitens der Irrenanstalten Dallberg und 
Herzberge 700 Kranke in Familienpflege gehalten 
werden, gewonnenen Erfahrungen zugrunde liegen. 

Direktor Dr. Starlinger referirte über die 
Familienpflege in Mauer-Oehling, woselbst 135 
Kranke bei Landwirten, Gewerbetreibenden, Kauf¬ 
leuten etc. untergebracht sind. Die Erfolge erweisen 
sich infolge der unausgesetzten ärztlichen Ueberwachung 
als äusserst befriedigende. Die Anstalt bezahlt für 
die Kranken ein Kostgeld und stellt ihnen Kleidung, 
Wäsche und Schuhe bei. Allmonatlich müssen die 
Kranken in die Anstalt Überstellt werden, woselbst 
ihnen ein Bad verabfolgt und ihr Gewicht konstatirt 
wird. Die Familienpflege hat sich geradezu als 
Kulturträger erwiesen, da die Vorurteile gegen Geistes¬ 
kranke in der Bevölkerung geschwunden sind und 
die hygienischen Verhältnisse in den von Kranken 
bewohnten Häusern infolge des Einflusses der visiti- 
renden Aerzte sich übei raschend gebessert haben. 
Selbstverständlich wird bei der Auswahl der Kranken 
mit der grössten Sorgfalt vorgegangen und ist bisher 
auch nicht der geringste Anstand vorgekommen. 

Regierungsrath Dr. T i 1 k o w s k y berichtete über 
die Belagsverhältnisse der niederösterreichischen Landes¬ 
irrenanstalt in Wien. Er ist entschieden der Ansicht, 
dass die Familienpflege Geisteskranker auch in Wien 
durchführbar sei, dass jedoch Epileptiker, Paralytiker 
und ganz besonders die Alkoholiker von dieser Ver- 
pflegsart auszuschliessen sein werden. 

Landes - Sanitätssekretär Dr. Lorenz referirte 
über die von ihm gepflogenen Studien über die 
Familienpflege in Berlin. Dort bestehe diese Ein¬ 
richtung seit zwanzig Jahren. Es werden mit Aus¬ 
nahme sexuell erregter, moralisch schwachsinniger 
oder Geisteskranker, welche vorbestraft sind, alle 
Arien von Kranken in die Familienpflege gegeben. 
Schlechte Erfolge hat man nur mit den Alkoholikern 
erzielt und wird daher deren Abgabe in die Familien¬ 
pflege eingeschränkt Die Kranken sind bei Ge- 
werbsleuten, Arbeitern, vorzugsweise aber auch bei 
alleinstehenden Frauen und solchen Familien unter¬ 
gebracht, welche sich sonst mit der Vermietung von 
Zimmern oder dem Halten von Bettgehern befassen. 
Die Bewerbung um Kranke ist eine sehr rege und 
auch dort der erziehliche Einfluss der Familien pflege 
auf die Kranken unverkennbar. 

Polizeichefarzt kaiserlicher Rath Dr. Merta gab 
seiner Ansicht Ausdruck, dass er unter der Voraus¬ 
setzung einer entsprechenden Kontrolle der Kranken 
durch die Anstaltsärzte die Einführung der Familien¬ 
pflege in Wien nicht nur für durchführbar, sondern 
sogar für eine wesentliche Verbesserung der gegen¬ 
wärtig hinsichtlich der ausserhalb der Anstalt befind¬ 
lichen Geisteskranken bestehenden Verhältnisse halte. 
Es stehe heute nach dem Statute der Irrenanstalt 
jedermann frei, einen Kranken aus der Anstalt gegen 
•Revers zu entnehmen. Die Anstalt schreibt in dem 
Reveise die Bedingungen, vor, unter welchen die Ent- 

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lassung des Kranken in die Familie erfolgen kann, 
und ist es Sache der Polizei, zu prüfen, ob die be¬ 
treffende Familie in der Lage ist, den Anforderungen 
der Anstalt zu genügen. Da kommt es nun öfter 
vor, dass in Fällen, wo die Anstalt der Partei die 
Bestellung eines eigenen Wärters vorschreibt, die 
Partei sich diesen Irrenwärter für die polizeiliche 
Revision aufnimmt, nach derselben aber unmittelbar 
wieder entlässt, so dass thatsächlich der Kranke ohne 
Aufsicht gehalten wird. Eis befinden sich in Wien 
in der Familie sehr viele Kranke, welche als unheil¬ 
bar und harmlos zu betrachten sind, infolge mangel¬ 
hafter Aufsicht aber für ihre Umgebung belästigend 
wirken. Eine ständige Beaufsichtigung durch die 
Anstaltsärzte und die Bestreitung des Unterhalts der 
Kranken durch die Anstalt würde hierin eine wesent¬ 
liche Besserung herbeiführen. 

Auch die Vertreter des k. k. Ministeriums des 
Innern, der Ministerialrath Dr. Illing, und der k. k. 
niederösterreichischen Statthalterei, Statthaltereirath v. 
Wagner, sind der Anschauung, dass bei sorgfältiger 
Auswahl der Pflegestellen und der in die Familien¬ 
pflege abzugebenden Kranken sowie bei genauer Ein¬ 
haltung der hinsichtlich der Controlle zu erlassenden 
Vorschriften gegen die Einführung der Familienpflege 
in Wien keine Bedenken obwalten, dieselbe vielmehr 
als ein Fortschritt zu bezeichnen sein dürfte. 

Oberbezirksarzt Dr. Grünberg erklärt sich gegen 
die Familienpflege überhaupt, insbesondere aber in 
Wien; seiner Ansicht nach gehören alle Geisteskranken 
in die Irrenanstalten. 

Dieser Ansicht traten die Irrenanstaltsdirektoren 
Regierungsrat Dr. Tilkowsky und Dr. Starlinger 
auf das entschiedenste entgegen. Die moderne 
Psychiatrie betrachte die Familienpflege als den 
Schlussstein in der Reform des Irrenwesens. Das 
Aufgeben der Familien pflege wäre gleichbedeutend 
mit einem Rückschritte, ja es hiesse die Ausschaltung 
Niederösterreichs aus den modernen Kulturbestre¬ 
bungen auf dem Gebiete der Irrenpflege, woran die 
Irrenärzte nicht betheiligt sein wollen. 

Der Vorsitzende resumirte die erstatteten Re¬ 
ferate und Aeusserungen dahin, dass, un vorgreif lieh 
der amtlichen Erledigung dieser Frage im Wege des 
sofort einzuleitenden Schriftenwechsels, die Enquete- 
mitglicder ihrer persönlichen Anschauung nach die 
Familienpflege in Wien unter den besprochenen Vor¬ 
aussetzungen als durchführbar erachten. 

Es wird nunmehr seitens des niederösterreichischen 
Landesausschusses mit den kompetenten Behörden in 
Verhandlung getreten und nach Erlangung der Zu¬ 
stimmung die Familienpflege Geisteskranker in Wien in 
der Weise zur Durchführung kommen, dass unheilbare, 
harmlose Geisteskranke an Private gegen Bezahlung 
einer täglichen Verpflegungsgebühr von 80 H. bis 1 K 
und Beistellung von Kleidung, Wäsche und Schuhen 
seitens der Anstalt abgegeben und diese Kranken fort¬ 
laufend durch Oberpflegepersonen und Aerzte sowie 
durch die Inspektionsorgane des niederösterreichischen 
Landesausschusses controllirt werden. 

[Deutsches Volksblatt, Wien, 18. IX. 04.) 


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1904.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


247 


Referate. 

— W. K. Clifford. Von der Natur der Dinge an 
sich. Aus dem Englischen übersetzt und herausge¬ 
geben von Dr. Hans Kleinpeter. Mit einer Einleitung 
über Cliffords Leben und Wirken. Leipzig, Verlag von 
Barth, 1903. 

Die kleine Schrift zerfällt in die ausführliche Ein¬ 
leitung des Herausgebers, in der er uns eingehend 
mit der Vita und der philosophischen Thätigkeit 
Cliffords bekannt macht und in die eigentliche Ab¬ 
handlung: Ueber die Natur der Dinge an sich. Diese 
Lehre fasst Verf. in folgende 2 Hauptpunkte zusammen 

I. Die Materie ist ein Gedankenbild, in der Seelen¬ 
stoff das vorgestellte Ding ist. 

II. Vernunft, Verstand, Wille sind Eigenschaften 
eines Komplexes, der aus an sich weder vernünftigen, 
noch verständigen, noch bewussten Elementen besteht. 

Heinicke-Grossschweidnitz. 

— Gerichtsassessor Duering, Ist die Unter¬ 
bringung geisteskranker Verbrecher nach der Vorschrift 
des Ministerialerlasses vom 15. Juli 1901 Sache der 
Landarmenverbände? Preussisches Verwaltungsblatt 
Nr. 25, Jahrgang XXV, 1904. 

Verf. weist nach, dass die Kosten der Verpflegung 
geistig erkrankter Gefangenen die Justiz- oder Polizei¬ 
behörden zu tragen hätten, so lange der Kranke 
gefangen bliebe, gleichgültig von wem die Verpflegung 
ausgefuhrt würde. Das Bundesamt für das Heimaths- 
wesen hat entschieden, dass eine formelle Entlassung 
der Gefangenen nicht zur Befreiung von dieser Ver¬ 
pflichtung genügt, wenn die Polizeiverwaltung gewisse 
Rechte über den Kranken auch in der Irrenanstalts¬ 
verpflegung sich Vorbehalten hat. Die diesbezüglichen 
Entscheidungen stellen Folgendes fest: Die Justiz¬ 
oder Polizeibehörde hat für die Verpflegungskosten 
aufzukommen, 1. wenn sie die Krankenhausverwaltung 
ei sucht hat, den Kranken nach Genesung wieder zur 
Haft einzuliefem; 2. wenn sie ersucht hat, vor der 
Entlassung des Kranken Nachricht zu geben; 3. die 
Gefangenschaft gilt nur dann als aufgehoben, wenn 
der Kranke selbst freie Entschliessung darüber hat, 
ob er nach Hause zurückkehren oder in einem selbst 
gewählten Krankenhause seine Heilung erwarten will; 
er darf nicht verhindert gewesen sein, nach seiner 
Heilung sich als freier Mann nach jedem ihm belie¬ 
bigen Orte zu begeben; 4. die Armenpflege ist nicht 
zu den Kosten verpflichtet, wenn die Polizeibehörde 
ersucht hat, den Kranken nicht ohne Genehmigung 
des Polizeipräsidenten zu entlassen. 

Der Ministerialerlass vom 15. Juni 1901 ordnet 
nun ähnliche Beschränkung der Entlassungsfreiheit 
für folgende Gruppen von Geisteskranken an: 1. für 
die auf Grund von § 51 R. Strgb. freigesprochenen 
oder auf Grund von § 203 Str. P. O. ausser Ver¬ 
folgung gesetzten Kranken (kürzlich hat ein neuer 
Ministerialerlass diese Gruppe noch erweitert, Refer.), 
2. für die von der Polizeibehörde eingelieferten Kranken, 
bei denen um Mittheilung der beabsichtigten Entlassung 
ersucht ist, 3. für sonstige nach Aftsi^ 1 * des Anstalts¬ 
leiters gefährlichen Kranken. jst der Ansicht, 


dass auch für diese Gruppen die Zahlungspflicht von 
dem Armenverbande auf die Polizeibehörde übergehe, 
namentlich wenn die Polizei gegen die Entlassung 
Einspruch erhebe. Verf. glaubt, dass nach den Ent¬ 
scheidungen der Rechtsprechung künftighin die Polizei¬ 
verwaltungen für alle geisteskranken Gefangenen die 
Kosten werden tragen müssen. Er sucht nachzuweisen, 
dass der Erlass vom 15. 6. 01 gewissermaassen eine 
polizeiliche Maassnahme durch die oberste Behörde 
darstelle, und tritt Einwendungen, die ihn in anderem 
Sinne zu Ungunsten der Armen verbände auslegen 
wollen, entgegen. Sollten jedoch die kommenden 
Entscheidungen des Bundesamts für das Heimaths- 
wesen entgegen der Ansicht des Verfassers ausfallen, 
so hätte der genannte Erlass eine bedeutende Ver¬ 
schiebung der den Armen verbänden gesetzlich auf¬ 
erlegten Kostenlasten zu deren Nachtheile zur Folge; 
dann wäre aber auch die Frage nach der Rechts¬ 
gültigkeit des Erlasses aufzuwerfen, da er in seinen 
Bestimmungen über das Gebiet der Verordnung hinaus 
in den Bereich der Gesetzgebung eingriffe. 

Dr. Fritz Hoppe, Tapiau. 

— Archiv für Kriminal-Anthropologie 
und Kriminalistik. 15. Bd, H. 2/3. 

Ernst Loh sing, Zur Frage des ärztlichen 
Berufsgeheimnisses. 

Entgegen der Ansicht von Gross, dass der Arzt 
dann nicht unbefugt im Sinne des Gesetzes handelt, 
wenn er nach bestem Wissen und Gewissen ein ihm 
als Arzt anvertrautes Privatgeheimniss eines höheren 
Zweckes wegen offenbart, äussert Verf., dass die 
Offenbarung eines ärztlichen Berufsgeheimnisses un¬ 
befugterweise, d. h. dem objektiven Rechte zuwider 
erfolgt. Die Widerrechtlichkeit wird aber ausgeschlossen 
1. durch die Erlaubniss des Betreffenden, 2. durch 
entgegenstehende Rechtspflicht, 3. durch das Verlangen 
des gesetzlichen Vertreters des Betreffenden, 4. durch 
den Zweck der Berufsausübung. 

Ferner hat das Berufsgeheimniss auch für die 
Angehörigen und Bediensteten der Aerzte zu gelten. 

Es wäre wünschenswert, es auch auf die Besucher 
der Kliniken auszudehnen. 

Medicinalrath Dr. P. Näcke in Hubertusburg: 
Ein Besuch bei den Homosexuellen in Berlin, mit 
Bemerkungen über Homosexualität. 

Verf. besuchte unter Führung Dr. Hirschfeld’s eine 
Monatsversammlung des „wissenschaftlich-humanitären 
Comite’s“, ferner einen Privatzirkel und Wirtschaften 
besseren sowie gewöhnlicheren Grades, welche meist 
von Homosexuellen besucht werden, deren es nach 
Dr. Hirschfeld in Berlin mindestens 20—40000 giebt. 
Bis auf eine Kussscene sah Verf. nirgends etwas 
Ekelerregendes, sondern die Besucher auch der 
niedrigsten Lokale verhielten sich durchaus anständig. 
Unter den Hunderten von Gästen war wahrscheinlich 
eine ziemliche Zahl völlig normal, sodass der Bericht¬ 
erstatter geneigt ist, die Homosexualität als eine nor¬ 
male, seltenere Variation des Geschlechtstriebs anzu¬ 
sehen, höchstens als eine leichte Missbildung, nicht 


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248 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 26. 


aber als Krankheit.; Nur wenn weitere Stigmen vor¬ 
handen sind, kann von wirklicher Entartung gesprochen 
werden. Deutliche Effemination, auch wenn weitere 
Entartungszeichen fehlen, würde Verf. für eine grössere 
Störung halten als die gewöhnlichen Fälle von Inver¬ 
sion, wo jene abgeht. Erwähnenswerth ist noch, dass 
selten Homosexualität in der Ascendenz besteht, da¬ 
gegen relativ häufig bei Geschwistern und Vettern. 

Wachsuggestion bleibt meist erfolglos. Urninge 
sollten nicht heirathen oder höchstens Uminden ehe¬ 
lichen. Dost-Hubertusburg. 

— Archiv für Psychiatrie und Nerven¬ 
krankheit en, Bd. 3 8, Heft 1. 

Pick (Prag). Zur Pathologie des Ich-Bewusst¬ 
seins. Studie aus der allgemeinen Psychopathologie. 

Verf. berichtet über das gar nicht so Seltene Vor¬ 
kommen von gewissen Störungen des Persönlichkeits- 
betvusstseins, welche zuerst von Krishaber und dann von 
Taine beschrieben worden sind. Diebetreffenden Kranken 
klagen ziemlich plötzlich über veränderte Sinnes¬ 
empfindung und über eine, trotz Erhaltenbleibens des 
Gedächtnisses und Unheils, daraus resultirende Vor¬ 
stellung einer Aenderung des Ich. Sie glauben ent¬ 
weder überhaupt nicht mehr zu sein oder nicht mehr 
dieselben Personen zu sein, wie früher (Entfremdung 
des eigenen Ichs, Depersonalisation). Bisweilen steht 
im Vordergründe das Gefühl, als wären sie nicht 
diejenigen, von denen ihre, im übrigen inhaltlich un¬ 
gestörten, Willenshandlungen ausgehen. 

Ganser (Dresden). Zur Lehre vom hysterischen 
Dämmerzustände. 

Verf. verfügt jetzt über 20 Fälle, welche das von 
ihm 1897 beschriebene Krankheitsbild darbieten. Bei 
allen Kranken waren die bekannten Symptome (un¬ 
sinnige Antworten, Bewusstseinsstörungen mit Er¬ 
innerungsdefekten und Sensibilitätsstörungen) nach¬ 
weisbar. Gegenüber der Darstellung Nissls, welcher 
das Zustandsbild als eine Art katatonischen Negativismus 
auffasst, bleibt Verf. bei seiner früheren Ansicht, dass 
es sich um einen wirklichen hysterischen Dämmerzustand 
handelt und begründet dieselbe eingehend. 

Taniguchi (Japan). Ein Fall von Distomum- 
erkrankung des Gehirns mit dem Symptomencomplex 
von Jackson’scher Epilepsie, von Chorea und Athetose. 

Bei einer 17 jährigen Japanerin traten plötzlich 
Krampfanfälle auf, welche in der linken Körperhälfte 
begannen und als corticale Epilepsie anzusehen waren. 
Dann kam es zu schlaffer Lähmung in den linken 
Extremitäten und zu choreatischen Bewegungen in 
denselben, im weiteren Verlauf zu einer spastischen 
Lähmung, und mit dem Zunehmen der spastischen 
Lähmung wandelte sich die Chorea in Athetose um. 
Anatomisch fanden sich entzündliche Erweichungsherde 
im Marklager der rechten Grosshirnhemisphäre, nicht 
weit entfernt von der Rinde. In jedem Herde fanden 
sich Eier des in Japan sehr häufigen Lungenegels. 
Verf. nimmt an, dass von Mutterthieren, die wahrschein¬ 


lich in der Lunge gesessen haben, Eier auf embo- 
lischem Wege ins Gehirn gelangt sind und hier an 
verschiedenen Stellen des Marklagers unterhalb der 
Rinde kleinere Gefässe verstopft haben. 

W i z e 1 (Warschau). Ein Fall von phänomena¬ 
lem Rechentalent bei einem Imbecillen. 

Ein jetzt 22jähriges Mädchen, welches im 6. 
Lebensjahr, nachdem es bis dahin gesund und geistig 
normal entwickelt war, an Typhus erkrankte, bot im 
Anschluss daran „völlige Stumpfsinnigkeit und Idiotis¬ 
mus mit epileptischen Anfällen“. Im Laufe der Zeit 
trat Besserung ein, doch blieb sie imbecill. Nach 
einigen Jahren manifestirte sich eine auch jetzt noch 
vorhandene einseitige Begabung im Rechnen. Sie 
konnte zwar weder lesen noch schreiben, auch keine 
Zahlen, doch leistete sie im Multipliziren und Poten- 
ziren,namentlich 2 stelliger Zahlen erstaunliches. Auch im 
Dividiren waren ihre Leistungen ausgezeichnet, dagegen 
im Addiren nnd Subtrahiren auffallend gering. Verf. 
beschreibt ausführlich die von der Kranken angewandten 
Methoden, welche in Zerlegung der Zahlen in Factoren, 
Verwendung von 2 Zahlensystemen, dem decimalen und 
demjenigen mit der Grundzahl 16, etc. bestehen, 
und giebt dann eine Erklärung für die auffallenden 
Leistungen der Rechenkünstler im allgemeinen. 

Ferrannini (Palermo). Ueber von der Schild¬ 
drüse unabhängigen Infantilismus. I. Tuberculose-, 
Malaria-, Lungen- und Mitral-Infantilismus. II. Stoff¬ 
wechselbilanz in einem Fall von Mitralinfantilismus. 

Zunächst legt Verf. den Unterschied dar zwischen 
dem Infantilismus nach dem Typus Bnssaud und dem 
Typus Lorain. Bei äem ersteren, dem Infantilismus 
disthyreoideus, handelt es sich um. Individuen, welche 
in der Entwicklung auf der Stufe der Kindheit stehen 
geblieben sind, bei dem zweiten um einen Menschen 
en miniature mit verlangsamter, oder doch fast 
vollendeter Entwickelung. Man kann bei dem letzteren 
den tuberkulösen, syphilitischen, den Malaria-Infanti- 
lismus, den toxischen und schliesslich den pulmonalen 
und mitralen Infantilismus unterscheiden. 

Im zweiten Theil giebt Verf. die Stoffwechsel¬ 
bilanz bei einem Fall von Mitralinfantilismus wieder; 
dieselbe entsprach im Grossen und Ganzen der Bilanz 
bei einer Person, die jünger war, als die untersuchte. 

S i k o rs k i (Kiew). Die russische"psychopathische 
Litteratur als Material zur Aufstellung einer neuen 
klinischen Form, der Idiophrenia paranoides. 

Verf. giebt characteristische Titel und kurze Inhalts¬ 
angaben von Büchern wieder, welche von Psychopathen 
geschrieben sind. Er fand bei den betreffenden Autoren 
folgende gemeinschaftliche Symptome immer wieder¬ 
kehrend: Grössenideen, Verfolgungsideen, Zeichen 
eigenartigen Schwachsinns, Eigenartigkeit der geistigen 
Beschaffenheit und Eigentümlichkeiten im Handeln. 
Für diese Fälle glaubt er eine besondere Krankheits¬ 
form aufstellen zu müssen, die er Idiophrenia 
paranoides nennt. 

Arnemann - Grossschweidnitz. 


Für den redactionellen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Bresler, Luülinitr (Schlesien). 

Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Ca f f Marhold in Halle a. S 

Heynemann’sche Buchdrucltcrei (Gebr. Wu'lfl in Halle a. S. 


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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift. 

Redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Lublmitz (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr. -Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834. 

Nr. 27. 1. Oktober. 1904. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 

Inserate werden für die jspaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten. 


Die negative Suggestibilität, 

ein physiologisches Prototyp des Negativismus, der conträren Autosuggestion und gewisser Zwangsideen. 

Von Prof. Bleuler- BurghÖlzli. 


r^\ie feinere Dosirung und Abstufung einer Be- 
wegung wird am besten durch die Combination 
zweier entgegenwirkender Kräfte erreicht. Wir wenden 
das Prinzip in der Mechanik und im täglichen Leben 
bei den Bewegungen unserer Gliedmaassen beständig 
an. Ueberall, wo wir fein dosiren wollen, spannen 
wir auch die Antagonisten und wirken nur mit dem 
Ueberschuss der Kraft der Agonisten. 

Bei den feineren physiologischen Mechanismen 
sehen wir das gleiche Prinzip fast überall angewandt. 
Die Augenbewegungen, das Spiel der Iris sind schöne 
Beispiele dazu. 

Die Regulirung des chemischen Gleichge¬ 
wichtes im Organismus muss auf ähnlichen Prin¬ 
zipien beruhen. 

Auch die N erventhätig keit zeigt das näm¬ 
liche Verhalten. Alle peripheren Mechanismen (Herz, 
Darm, Gefässe, Sphinkteren etc.) besitzen ihre Reiz- 
und Hemmungsnerven, und die ganze Funktion der 
Centren lässt sich geradezu als ein Spiel von Bahn¬ 
ungen und Hemmungen auffassen. Bei der psy¬ 
chischen Thätigkeit erkennen wir neben den durch 
die einzelnen Reize und Triebe bestimmten Rich¬ 
tungen sehr gut die Hemmungen, welche sie aufein¬ 
ander ausüben. Ein beliebiger Bewusstseinsinhalt 
hemmt alle andern Vorstellungen , so weit sie nicht 
mit ihm durch Association und namentlich durch 
gleiche Ziele und Gefühlstöne verwandt sind. 

Damit ist aber ein komplizirterer Organismus 
noch nicht genügend geschützt. Wenn jeder actuelle 
Trieb die entgegenstehenden Strebungen hemmt, so 
wird der Organismus der Spielball der momentanen 
Reize und der durch sie ausgelösten Triebe. Es 
muss etwas vorhanden seif) vvas im Gegen¬ 
satz zu den bekannten If JU u n g e n aller 

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andern Funktionen gerade das Herbei¬ 
ziehen contrastirender Associationen auto¬ 
matisch oder zwangsmässig besorgt; sonst 
käme der Mensch nur zum Handeln; zum Ueber- 
legen höchstens dann, wenn zwei oder mehrere 
Triebe gleichzeitig durch äussere Reize in ungefähr 
gleich starker Weise angeregt werden. 

In Wirklichkeit überlegen wir eine grosse Zahl 
unserer Handlungen, und unser Denken zeigt ein 
beständiges Spiel von Vorstellungen und Gegenvor¬ 
stellungen und dabei ist nicht jede beliebige Erfahrung, 
nicht jede beliebige Anlage (Ethik, Hass, Liebe), in 
jedem Falle aktuell. Wenn ich über eine medicinische 
Frage nachdenke, so existiren die meisten meiner 
andern Strebungen und Erinnerungskomplexe momen¬ 
tan nicht, jedenfalls haben sie weder bewusst noch 
unbewusst einen Zusammenhang mit der Ueberlegung, 
einen Einfluss auf meine Schlüsse. Es ist gar nichts 
da, das ihnen Aktualität gäbe; viel eher wird sogar 
bei den gründlichsten Ueberlegungen etwas über¬ 
sehen, was mitsprechen sollte. 

Bei jeder Strebung finden wir also nur eine 
Auswahl von Mitstrebungen wirksam. Unter den 
letzteren spielen die gleichartigen eine besonders 
wichtige Rolle nach dem bekannten Gesetz, dass 
Affekte, Denkrichtungen etc. die gleichgerichteten 
Associationen fördern, die andern hemmen. 

Warum spielen nun aber trotz der 
Richtigkeit dieses Erfahrungssatzes gerade 
die entgegengesetzten Strebungen so stark 
mit: warum werden sie oft eine Zeit lang 
nicht nur weniger gehemmt als alle andern 
Komplexe, sondern geradezu gef ordert? 

Man spricht oft von Associationen durch Kon¬ 
trast , und könnte auch hier auf diese rekurriren 


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2 5° PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 27. 


wollen. Man mag nun eine besondere Kategorie 
der Associationen des Gegensatzes aufstellen, oder 
diese unter die der Aehnlichkcit oder der Coordi- 
nation etc. subsummiren, sicher ist, dass eine Er¬ 
klärung des Sachverhaltes auf dem Wege der ein¬ 
fachen Association durch Gegensätzlichkeit nicht ge¬ 
nügt, es sei denn, dass man der Vorstellung jedes 
Handelns die Vorstellung des Nichthandelns an die 
Seite stelle, also der des Schreibens die des Nicht¬ 
schreibens, der des Stehlens die des Nichtstehlens. 
Das wäre aber absurd — oder käme, wenig anders 
gedreht, auf das heraus, was wir im Folgenden aus¬ 
führen wollen. 

Wären die Gegenvorstellungen nur gleichwertig 
mit den sehr viel zahlreichem andern Associationen, 
so müssten die Fälle, wo sie gar nicht auftreten, un¬ 
endlich viel häufiger sein, als solche, wo sie eine 
Rolle spielen*), und da die Affekte und Triebe eine 
deutliche Neigung haben, gerade die Gegenvorstell¬ 
ungen zu hemmen, müsste das Verhältniss noch 
mehr zu Ungunsten der Letzteren verschoben werden. 
Gegenvorstellungen dürften, wenn die bereits be¬ 
kannten Gesetze allein existirten, nur ausnahmsweise 
zur Geltung kommen. 

Wenn sie trotzdem fast nie fehlen, so beweist 
das, dass ein besonderer Mechanismus existiert, 
eine allgemeine Tendenz, zu jeder Vorstellung 
auch die Gegenvorstellungen zu associren. Nur da¬ 
durch wird es erklärlich, dass den meisten Hand¬ 
lungen eine mehr oder weniger gründliche bewusste 
oder unbewusste Uebcrlegung vorausgeht. 

Beispiele: Wenn einer unserer Angestellten mich durch 
irgend welche Dienstfehler zum so und so vielten Male ärgert, 
habe ich den bestimmten Trieb, ihn endlich einmal fortzu- 
schickcn. Der Aerger hat wie alle Aflecte die Tendenz sich 
auszudehnen und zu verstärken, indem er die entsprechenden 
Associationen begünstigt, die andern hemmt. So werde ich in 
diesem Moment den Fehler für grösser ansehen als er ist, die 
guten Eigenschaften des Menschen mehr oder weniger über¬ 
sehen, und ich werde mich sehr lebhaft daran erinnern, dass 
ich schon oft nahe daran war, ihm zu künden Dennoch werden 
mir, wenn der Dienstfchler nicht in ganz undiscutabler Weise 
die Entlassung verlangt, ja gewöhnlich sogar auch dann , eine 
Menge Gegenvorstellungen in’s Bewusstsein springen: Ent¬ 
schuldigungsgründe, bedrängte Lage des Mannes, Schwierigkeit Er¬ 
satz zu bekommen etc. Woher sofort alle diese conträren Vorstell¬ 
ungen trotz des Aergcrs? Man kann sagen, es Sei Pflicht, alle die?>e 
Dinge zu überlegen. Gut: aber Pflicht und Pflichtgefühl er¬ 
klären das sofortige Auftreten nicht. — Man kann ein werfen, 
ich denke nicht blus an den Fehler und seinen Th ater, sondern 
an diese Din ge unter bestimmten Verhältnisse n, 

*) Kontrastassociationen sind bei Associalionsversuchen 
im Laboratorium recht selten, und wenn sie Vorkommen, sind 
si«> meist durch Ueluing resp. Gewöhnung bedingt: weiss — 
schwatz, gut — böse. 


welch letztere immer gedacht werden müssen, und zu denen 
die Gegenmotive auch gehören. Gewiss; aber die Gegenvor¬ 
stellungen stellen sich sofort und primär ein, sobald ich den 
Entschluss fassen will den Mann zu entlassen, mit Ueber- 
gehung aller andern ausserhalb der Linie: „Entlassung oder 
nicht“, liegenden Ideen. — Man könnte vielleicht einwenden, 
dass unter den in solchen Fällen primär ausgelösten Associa- 
tionscomplexen auch der Zweck meiner Handlung eine 
Rolle spielten; die Vorstellung des Zweckes bedingt die Vor¬ 
stellung des Resultates meiner Handlungen; wenn man den 
Begriff Resultat sehr weit fasst, kann man alles Gute und Böse, 
was aus meinem Handeln in diesem Falle entstehen kennte, als 
Association durch Subordination auftauchen lassen. Es könnte 
sich heraussTellcn, dass des Wärters Familie nach der Ent¬ 
lassung Hunger leiden muss, so gut wie der Wärter, wenn er 
hier bleibt, aufs neue einen Kranken misshandeln kann; beides 
wäre ein Resultat meines Handelns. Nach so allgemeinen 
Gesichtspunkten verlaufen aber gewöhnlich unsere Associa¬ 
tionen nicht. Das Ziel, dem sich alles unterordnen muss, ist 
möglichst gute Pflege der Kranken, also auch Schutz derselben 
vor Fehlern der Wärter. Die Gegenvorstellung von den Leiden 
der Wär terfamilie etc. müsste also eher niedergedrückt werden.— 
Man kann annehmen, die Vorstellung der Entlassung des Wärters 
rufe das Mitleid hervor. Kann sein; es muss aber nicht 
sein; und unter den gegebenen Umständen wären nach bloss 
associativen Gesetzen gerade andere Vorstellungen eher zu erwarten. 

Immerhin kann man bei wichtigen Kntschliessungen jedes¬ 
mal Gründe finden, die mit mehr oder weniger Wahrschein- 
sichkeit das Auftreten von Gegenvorstellungen begünstigen 
können. Bei den kleinen Entschlüssen fallen auch diese Ueber- 
legungen dahin: Ich bin in den Ferien; unterhalte mich ein 
wenig mit irgend einer tändelnden Beschäftigung, die ich gern 
unterbreche. Ein leichtes Durst- oder Hungergefühl bringt 
mich auf die Idee eine Orange zu essen. Irgend einen nur 
halbwegs stichhaltigen Grund, die Apfelsine nicht zu essen, 
giebt es nicht; dennoch finde ich in mir mehrere Gegenvor¬ 
stellungen: wir werden bald zu Nacht essen; vielleicht ist die 
Frucht, die ich herausgreife, zufällig sauer und ich habe keinen 
Zucker; ich möchte einem Kinde, das uns bedient, eine Orange 
überlassen u. s. w. u. s. w. Und solche Gründe können 
mich unter Umständen abhalten, das Begehrte zu thun. Von 
weiteren Zielen, Pflichtgefühl u. dgl. kann ja hier keine Rede 
sein. 

Dass der zu postulirendc Mechanismus wirklich 
existirt, lässt sich auf ganz verschiedene Weise zeigen. 

Zunächst findet man ihn meistens sehr ausge¬ 
sprochen bei Kindern, wo eine anerzogene Association 
vollständig ausgeschlossen ist. Schon im ersten 
Lebensjahr, in den folgenden Jahren noch auffälliger, 
be< »bachtct man, dass Kinder bei Annahme von 
Gaben und bei Aufforderungen irgend welcher Art 
sehr oft zuerst eine ablehnende Haltung einnehmen. 
Man weiss, dass sie ein Spielzeug, ein Stück Confect 
gern haben: sobald man es ihnen anbietet, lehnen 
sie cs ab, um es nach einigen Sekunden oder Minuten 
mit Vergnügen anzunehmen. *) Hierbei ist der 

*) So weit ich mich erkundigen und selbst beobachten 
konnte . leinen die Kinder in Mimik und Worten früher die 
Ablehnung ausdrücken als die Annahme ; in der Sprache er- 


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i qo 4 .] 

Affect der Schüchternheit innerhalb der Familie 
meistens ausgeschlossen. 

Hier springt das primäre der Negation so recht in 
die Augen. 

Ein anderes Beispiel: Die Sexual i t ä t, nament- 
licli die der Frauen. Der Trieb zum andern Ge¬ 
schlecht ist einer der stärksten Triebe; bei vielen 
erwachsenen Mädchen, die nicht durch vernünftige 
Beschäftigung abgelenkt werden, besteht das ganze 
Denken und Fühlen direkt oder indirekt aus nicht 
viel anderm. Und dann, wenn die Gelegenheit 
kommt: Sprödigkeit, energische Abweisung, die oft 
geradezu direkt proportional ist der Stärke des posi¬ 
tiven Triebes. Dass das weder anerzogene „mäd¬ 
chenhafte Zurückhaltung“, noch Schüchternheit, noch 
etwas ähnliches sekundäres ist, zeigt die genauere 
Beobachtung alltäglich; diese Hemmungen müssten 
doch, bevor sich die Gelegenheit bietet, auch in Er¬ 
scheinung treten, und — worauf ich am meisten 
Gewicht lege — bei Säugethieren, Vögeln , Insekten 
sieht man genau die gleiche Erscheinung. 

Zu negativen primären Vorstellungen werden in 
gleicher Weise positive Gegenvorstellungen associirt: 
Das Verbotene hat bekanntlich einen besonderen 
Reiz; die Gefahr lockt Tausende zu mehr oder 
weniger gewagten Abenteuern: eine Wunde, ein 
schmerzhafter Zahn muss immer wieder berührt 
werden, obgleich — oder weil — die Berührung 
schmerzt. 

Dass das Auftreten von Gegenvorstellungen nicht 
blos nach den Associationsgesetzen vor sich geht, 
zeigt sich auch in den zeitlichen Eigentümlichkeiten 
ihres Vorkommens. Ihrem Zweck entsprechend sind 
sie in viel engerer Verbindung mit dem Handeln 
als mit dem Ueberlegen. Es ist etwas alltägliches, 
dass man sich irgend etwas zu thun vornimmt, dann 
aber, wenn die Zeit des Handelns sich nähert, eine 
Menge Gründe dagegen findet und zögert oder ganz 
davon abstcht. Diejenigen Menschen, die zum Voraus 
das Für und Wider ganz erschöpfen und deshalb, 
bevor sie zur That schreiten, die Ueberlegung voll¬ 
ständig abgeschlossen haben, sind seltene Tvpen. 

scheint das Nein viel früher als das Ja. obschon das letztere in 
der kindlichen Form ’u leichter auszusprechen ist. Das hängt 
wohl auch mit diesem normalen Negativismus zusammen, nuijj 
aber noch einen andern Grund haben: Der Ausdruck der 
Ablehnung ist viel nöthiger als der der Affirmation. Wenn 
das Kind zufrieden ist mit dem, was man ihm giebt, nimmt oder 
mit ihm thut, so braucht cs nur geschehen zu lassen, oder an¬ 
zunehmen. Das Bedürfniss nach einem besondern Ausdruck 
für die Annahme wird nur selten empfunden- — Vergl. auch 
Baldwin (Entwicklung des Geistes. ^ cr lin 1898 18. 134), 
der unsereu Anschauungeil sehr nahe 


251 


Wenn eine Situation sich scheinbar geklärt hat, 
wenn ein Entschluss gefasst ist, wenn irgend eine 
Entscheidung gefallen ist, dann treten bei dem einen 
Menschen die Gegenvorstellungen erst mit besonderer 
Gewalt und in grosser Vollständigkeit auf, bei ande¬ 
ren (selteneren) sind sie von nun an unterdrückt. 

Man hat z. B. eine Anzahl Commissionen vor 
und glaubt endlich, trotzdem man zu Flause dringen¬ 
des zu thun hat, sie nicht länger verschieben zu 
dürfen. Auf dem Wege zur Stadt tauchen die 
Gründe, zu Hause zu bleiben, mit verstärkter Inten¬ 
sität und in vermehrter Zahl auf, und die Motivirung 
des Ausgehens erscheint ungenügend; es kann sogar 
begegnen, dass man gerade das Geschäft, das einen 
am lebhaftesten zum Ausgehen veranlasste, noch 
weiter verschiebt, um rasch nach Hause zu kommen. 
Meist haben indessen die nachträglichen Contrast- 
vorstellungen keinen Einfluss mehr auf das Handeln. 
Ebenso in wichtigen Dingen. Ein Jüngling, wie ihrer 
viele sind, hat sich Monate lang mit aller Gründlich¬ 
keit das Für und Wider einer Heirath überlegt und 
die Gründe addirt und subtrahirt. Er kommt, wie 
er glaubt, nach ganz abgeschlossener Erwägung aller 
Umstände zum Resultat sich zu verloben, führt den 
Entschluss rasch aus und nun fallen ihm eine ganze 
Menge von wirklichen oder eingebildeten Schwierig¬ 
keiten ein, die er vorher eigentlich auch gekannt, 
aber ignorirt hatte, und die ihm den Schritt bereuen 
lassen. Wenn ein Mädchen sich verlobt, hört man 
so oft von andern Herren: ,,Die hätte ich auch ge¬ 
nommen“. 

In solchen Fällen ist die Association der Gegen¬ 
vorstellungen meist nicht nur unnütz, sondern uner¬ 
wünscht. Der Entschluss ist gefasst, die Handlung 
eingeleitet, zurück kann man nicht mehr. Für uns 
aber ist wirhtig zu constatircn, (hiss die Contrast- 
associationcn da, wo man sie nach den bisher be¬ 
kannten Gesetzen am ehesten hätte erwarten sollen, 
beim ruhigen Ueberlegen, eine relativ geringe Rolle 
spielten, und nun beim Handeln, wo alles darauf 
eingerichtet sein sollte, sie zu unterdrücken, mit elemen¬ 
tarer Gewalt hervorbrechen. Der Mechanismus der 
Contrastvorstellungen hat eben beim ruhigen theore¬ 
tischen Ueberlegen, bei dem man sich Zeit lassen 
kann, alle Momente und somit auch die Gegenvor¬ 
stellungen willkürlich hervorzurufen, keine Bedeutung. 
Hier sollen alle Gründe möglichst ihren wirklichen 
Werth besitzen. Der Mechanismus soll nur vor 
einem überstürzten Handeln schützen und ein Ab¬ 
wägen von Für und Wider erzwingen. *) Er wird 

*) Der Mechanismus, der einen vorläufigen Schutz gegen 
Uebereiluug bildet, ist in dieser Beziehung analog den S e h n e n 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 27. 


deshalb fast nur durch die lebhafte Vorstellung des 
Handelns und durch das Handeln selbst in Thätig- 
keit gesetzt. 

Das zeigt sich auch bei vielen Personen, die 
während ihres ganzen Lebens viele Dinge sehr eifrig 
betreiben, alle einleitenden Schritte zu einer Reise 
oder irgend einem andern Unternehmen thun und 
dann unmittelbar vor der Ausführung zurücktreten, 
„weil ihnen die Sache nun verleidet ist“, weil sie nun 
verschiedene Unbequemlichkeiten nicht mehr in den 
Kauf nehmen mögen u. dergl. 

Die Selbständigkeit des Contrastmechanismus 
gegenüber der übrigen Associations- und Denk- 
thätigkeit zeigt sich überhaupt in den characterolo- 
gischen Unterschieden sehr lebhaft. Ohne jede 
Rücksicht auf die intellectuellen Fähigkeiten producirt 
der Eine die Gegenvorstellungen früher, der andere 
später, beim Einen treten sie leichter, beim Andern 
schwerer auf als andere Associationen u. s. w. 

Viele können da, wo stärkere Triebe in Be¬ 
tracht kommen, trotz hoher Intelligenz, einfach keine 
Gegenvorstellungen hervorrufen: die Leichtsinnigen; 
andere haben deren zu viele und kommen gar nicht 
zum Handeln bei sonst ähnlichen Eigenschaften. 

Bei einem unerwarteten freudigen Ereigniss tauchen 
oft unmotivirte ängstliche oder andere depressive Ge¬ 
fühle auf.*) Mir ist es zwei Mal begegnet, dass ich 
bei Unglücksfällen lachen musste, indem mir etwas 
(nachher unauffindbares) Komisches zum Bewusst¬ 
sein kam. 

Auch im Unbewussten lassen sich die Gegen¬ 
vorstellungen nachweisen, und gerade da haben sie 
am häufigsten die Gewalt von gefühlsbetonten Vor¬ 
stellungen, von Suggestionen. Wenn man fürchtet, 
auf einen bestimmten Tag Kopfweh, die Menstruation, 
oder etwas ähnliches zu bekommen, so tritt das Un¬ 
erwünschte sehr leicht ein. Das Hesse sich allenfalls 
anders erklären durch die Macht der (allerdings 
negativen) Vorstellung von Kopfweh oder Menses. 
Dass aber diese Erklärung ungenügend ist, beweist 
das eben so häufige Vorkommen des Umgekehrten: 
Eine Dame hat eine Reise, einen Ball auf einen 
Termin angesetzt, an dem normaliter die Menstruation 
vorbei sein sollte. Sie erwartet sie, sei es mit Sicher¬ 
heit, sei |es mit Aengstlichkeit an einem bestimmten 

ref lexen. Diese sollen Schut* gewähren gegen eine zu plötz¬ 
liche (passive) Dehnung eines Muskels. Dieser antwortet mit 
einer leichten Kontraktur und in der Zwischenzeit findet der 
Organismus die Möglichkeit, sich durch eine komplizierte Be¬ 
wegung den Verhältnissen anzupassen. 

*) Vielleicht beruhen hierauf die sog. Freudenthränen. 

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Tage vorher; die Periode kommt aber nicht, bis an 
dem Tag, da sie nicht da sein sollte. 

Man hat eine bestimmte Mode im Reden, in 
Haltung etc. längere Zeit mit angesehen, fängt nun 
an darüber zu schimpfen und zu spotten, und auf 
einmal entdeckt man, dass man sie selbst angenommen 
hat. — 

Viele sind impotent nur gegenüber ihrer Frau 
oder zu der Zeit, wo sie das Gegentheil ganz be¬ 
sonders wünschen (Hochzeitsnacht!); an der Un¬ 
möglichkeit zu schlafen ist so oft gerade der Wunsch 
zu schlafen Schuld u. s. w. 

Treppenwitz, Examenstupor und alle diejenigen 
Fälle, wo man gerade das nicht zur Verfügung hat, 
tt'as man im Moment vor allem haben sollte, sind 
Dinge, die jedem vertraut sind und gewiss hierher 
gehören. — Auf pathalogischem Gebiet äussert sich, 
der Mechanismus bei der Dementia praecox in plötz¬ 
licher Stockung des Denkens (Gedankenentzug), die 
allerdings auch noch andere Gründe hat. 

Um blosse Hemmungen im allgemeinen Sinn 
kann es sich in diesen Fällen nicht handeln; wie 
sollten diese erklären, dass nur gerade das Gewollte 
nicht funktionirt. Es müssen Kräfte sein, die speziell 
diesem Gewollten entgegen wirken. Die gewöhnlich 
zur Erklärung herbeigezogene Furcht oder Angst 
vor dem Nichtkönnen ist für sich allein ungenügend, 
um die Richtung der Hemmung zu bestimmen. 
Es muss etwas sein wie ein unwillkürlicher Gegen¬ 
befehl, oder die mehr oder weniger bewusste Vor¬ 
stellung des Nichtkönnens des Gewollten, die sich 
im Unbewussten des psychischen Mechanismus be¬ 
mächtigt. 

Alles dies beweist, dass ein besonderer Mechanis¬ 
mus vorhanden ist, der die Gegenvorstellungen her¬ 
vorzurufen bestrebt ist. 

Tritt nun dieser Mechanismus bei ungewohnten 
Gelegenheiten oder quantitativ stärker in Funktion, 
so haben wir pathologischen Negativismus. 

Noch unter physiologischen Verhältnissen sehen wir 
die Gegenvorstellung als eine Art Negativismus oder als 
Misstrauen häufig in Verbindung mit einer gewissen 
Schwäche der Ueberlegungs- und Willenskraft, mit 
zu grosser Suggestibilität sehr lebhaft in Erscheinung 
treten. Kinder, viele Frauen, Greise, Wilde, sugge- 
stible Leute überhaupt zeigen meist auch am aus¬ 
geprägtesten den physiologischen Negativismus. 

Teleologisch könnte man diese Thatsache so 
auffassen, dass das leichte Auftreten der Gegen¬ 
vorstellung eine Schutzvorrichtung gegen Ueber- 
rumpelung bildet, deren gerade solche Personen am 

Original fram 

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IQ 04 -] 


PSYCHIATRISCH-NEU.RQLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


253 


meisten bedürfen, und die sich alltäglich als sehr 
wirksam erweist. 

Unter pathologischen Verhältnissen wird diese 
Erklärung unmöglich, ünd dennoch sehen wir Sugge- 
stibilität und Negativismus in ihrer Entwicklung 9ehr 
oft einander parallel . gehen. (Negativismus und 
Bcfehlsautomatie, Echopraxie, bei Dementia praecox; 
Vertrauensseligkeit und Lenksamkeit neben Miss¬ 
trauen und Starrköpfigkeit bei Dementia senilis; 
Suggestibilität neben unüberwindlichen conträren Auto- 
suggestionen bei Hysterie etc.) Daraus ist zu schliessen, 
dass Negativismus und Suggestibilität nur verschiedene 


Seiten der. gleichen .Grundeigenschaft der 1 Psyche sein, 
aus gemeihsamer Ursache entspringen müssen. 

Nach unserer Auffassung wäre das leicht zu ver¬ 
stehen: Wenn die Ueberlegung irgend, wie gehemmt 
ist (Affect, enges Bewusstseinsfeld, Sperrung etc.), so 
kommt der elementarere Vorgang zur Geltung; die 
primär zu jeder Vorstellung associierte Gegenvor¬ 
stellung bleibt bestehen, und so wird das Individuum 
zum Spielball zwischen positiver und negativer Vor¬ 
stellung. 


* 


* 


>1« 


(Schluss folgt.) 


Epileptische Schulkinder. 

Nach einem auf dem 1. internationalen Kongress für Schulhygiene zu Nürnberg 
am 5. IV. 1904 gehaltenen Vortrag. 

Von IV Weygandt - WUrzburg. 


IV !\ it vollem Rechte wird immer mehr die grosse 
** A Krankheitsgruppe der Epilepsie von den Irren¬ 
ärzten in Anspruch genommen. Mag auch von Alters 
her das auffallendste Symptom, der epileptische Krampf¬ 
anfall, von Seite der Internisten und reinen Neuro¬ 
logen der Untersuchung unterworfen worden sein, 
immer mehr tritt die Ueberzeugung in den Vorder¬ 
grund, dass es sich dabei nur um ein äusseres Zeichen 
eines chronischen Krankheitszustandes handelt, bei dem 
die andern Aeusserungen dieses Zustandes ebenso 
wichtig oder noch wichtiger sind als der grosse Anfall. 
Es geht damit ähnlich wie mit der Haemoptoe bei 
der Lungenschwindsucht; der erregende Anblick eines 
Blutsturzes mag dies wohl als das augenfälligste 
Symptom der schweren Krankheit erscheinen lassen, 
aber er trifft keineswegs das Wesen der Tuberkulose, 
ja er ist nicht einmal ein Zeichen besonders inten¬ 
siver Gefahr durch die Infectionskrankheit. Der 
Name der Epilepsie beruht wohl auf dem plötzlichen 
Erfassen des Kranken durch den Anfall, auf dem 
tnikuf.tfidvuv , aber schon den Alten war sehr wohl 
bekannt, dass noch andere wichtige Symptome Vor¬ 
kommen. 

Hippokrates sprach von Aequivalenten, so von 
Visionen und nächtlichen Schreckbildem der Epileptiker, 
von ihren larvirten Anfällen, er erwähnt halbseitige 
Erscheinungen, kennt die Kinderepilepsie und die 
Schreckepilepsie, nicht minder war ihm der unfrei¬ 
willige Kothabgang bekannt und schliesslich hatte er 
schon Vorstellungen von der Bedeutung der Heredität 
für diese Krankheit 

Aehnlich war auch Aretäus Kappadocien im 

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Klaren über die Vielheit der epileptischen Symptome 
neben dem eigentlichen klassischen Anfall. Ein her¬ 
vorragendes Beispiel eines postepileptischen Dämmer¬ 
zustandes giebt Euripides in seinem „rasenden Herakles“, 
der plötzlich unter Schäumen bewusstlos wird, singend 
umherwandelt und seine Söhne ermordet* bis 0t? in 
Schlaf sinkt, um später unter Amnesie zu erwachen. 
Gerade mit Hinsicht auf das Werk des Euripides 
sei auf einen im Jahre 1902 erschienenem Aufsatz 
von Harri es „Naturalistische Darstellung seelischer 
Affekte in der tragischen Kunst der Griechen-* ver¬ 
wiesen (erschienen als Beilage zum Jahresbericht der 
Lauen burgischen Gelehrtenschule, Ratzeburg). . 

Heute müssen wir sagen, der klassische Abfall ist 
das augenfälligste Symptom, aber kein^w0g$ das 
wesentlichste, ja nicht einmal das wichtigste., fn letzte¬ 
rer Hinsicht wird er entschieden än Bedeutung über¬ 
troffen durch die Dämmerzustände, die vielfach Anlass 
zu criminellen Handlungen werden, wie auch durch 
die so häufig bei Epileptikern sich einstellende Demenz, 
die sie erst völlig gesellschafts- und erwerbsunfähig 
werden lässt, während die Anfälle, wenn sie nicht zu 
gehäuft auftreten, noch sehr wohl den Kranken beruf¬ 
lich thätig sein lassen. v 

Seit Samt haben wir gelernt, auf die Gesammt- 
heit der epileptischen Symptome des Kranken zu 
achten. Periodische, freilich keineswegs immer regel¬ 
mässig auftretende Bewusstseinsalterationen mit oder 
ohne motorische Erscheinungen irritatiyer oder para¬ 
lytischer Art, ohne -Stete Abhängigkeit von äusseren 
Einflüssen, sind das wichtigste klinische Criterium der 
Epilepsie. 

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2 54 


flStem ATfUSCH ^NEUROLOGISCHE*WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 27. 


Der Züfctätid tritt faAer Mehrheit der Fälle schon 
während des jvlgOhdKcÄten Alters än den Tag, nach 
Lüthhäfcön 15;5 % Aach Latfge 53i4®/o 'Epileptiker 
schön * Vtar nfletn ^ 1 o.* : Jahre epileptische Symptome auf- 
gfewiegen. Es ergiebfBich daraus * vorrselbst, dass eine 
selche üMftfet im jugendKchen Alter auftretende schwere 
Krankheit, <Me schätztingswetee 2 tyoo-aler Menschen in 
unseren Ländern betrifft, ihre schwerwiegende Bedeutung 
•für die "Schule habenmnss. 

Wohl haben manche Schulen schon hier und da 
versucht, darauf Rücksicht zu nehmen. Gelegentlich 
Wird dävön gesprochen, epileptische Kinder vom 
Schulbesuch auszuschliessen. Einmal sah ich auf einer 
in den Klassenzimmern eines angesehenen Gymnasiums 
aushängenden Anweisung an die Lehrer über ihr Ver¬ 
halten hinsichtlich kranker Kinder als /»ansteckende 
Nervenkrankheiten“ Epilepsie und Hysterie aufgeführt. 

Welche Stellung die Schule epileptischen Kindern 
gegenüber einzunehmen hat, das soll im folgenden 
besprochen werden. Zunächst werden die Ergebnisse 
der Untersuchung einer bettäChttibhfen Zähl epileptischer 
Kinder im schulpflichtigen Alter auseinanderguftetet 
Und dhnn eine Reihevon Schlussfolgerungen daraus 
erörtert 

Hinsichtlich der Zeit des Auftretens bestätigen 
Sich bei meiner Statistik die Befunde von Lü th und 
Länge, indem eine beiiäthtifche Zahl und zwar fast 
derselbe Proceüteätz wie bei Lange (53,4 fl /o) bereits 
vor dem 10. Lebensjahr in Erscheinung triat. Bei 
meinen 70 Fällen Waren 35 im ersten jahrzehtitund 
nur 11 nach dem zweiten, hlso jenseits des"schul- 
l^flichtigen Alters an Epilepsie erkrankt 

Nicht halb soviel‘wie die Vor dem ro. Jtihr Er¬ 
krankten waren es, deren Leiden erst im 2J Jahr¬ 
zehnt ausbrach, und immer «päriichfcr würde die Zähl 
der später beobachteten Epilepsiefälle. 

Hinsichtlich der hereditären Verhältnisse ist zu 
erwähnen, dass wieder mehrfach EpÖeprfe in der As- 
zendeftz oder Deszendenz' voHtarn, in einem Falle 
waren der Vater und 3 Brüder epileptisch. Dann 
ist AlkoholistaUs des Vaters zu erwähnen. Weiterhin 
kommen Irrsinnsformen verschiedener Art, nervöse 
Störungen Wie Tremor senilis, psychopathisches Tempe¬ 
rament usw. in Betracht. 

MH grösster Vorsicht Sind die'Angaben der Kranken 
oder Angehörigen über die Aetiolögie zu verwerten. 
Mehrfach 1 wird das Zahnen in der Kindheit ange¬ 
schuldigt, in 12,i °/o der FäHe der Schreck, einmal 
äuch Freude, was nur mit Zweifel aufgenommen werden 
kann. Einmal handelt es sich um ein 8-Monatsfcind. 
’ Unbegründet' ist dk^BesebuMigung eines ’ Versehens 
der Mutter, wohl auch des Impfens. Angaben über 

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"Erregtrag als Ursache der Abfälle lassen sich wühl 
auch so deuten, dass die Erregung sehen' der Vorbote 
des • in 1 Entwicklung begriffenen Anfalls war. Aebnlich 
körnten r bei vermeintlichen Stürzen * in der» Jugend die 
VerhÄhnizse liegen, indem eben infolge einer Absence 
der Stunr eintrat. Die Periode bei weiblichen Personen, 
auch "Entbindung ist in ursächlicher Hinsicht nicht 
-ganz von der Hand ; zu 1 weisen. Ziemlich grandios 
"wird die mehrfach betonte Onanie verantwortlich 
gemacht Auch Phimose - Operation raasäte einmal 
herhalten. In einem Falle wurde bestimmt behauptet, 
dass’ die Anfälle Sich an eine Haadverletznng, - Riss 
mit dem Splitter einer Waschschüssel angeschlossen 
haben: Zu beachten war wohl, dass als Aura ein 
unangenehmes Gefühl in der unschön geheilten Narbe 
^flüfttät; nach Ider Exzision dieser Narbe kamen und 
vergingen die AnfäUe rascher, aber ^sonst war kein 
Effekt zu beobachten, die psychische Verblödung 
machte vielmehr ruhig weitere Fortschritte. 

Weitaus wichtiger ist die Rolle des Alkohols. 
Eine Patientin' war „wägen grosser Schwächlichkeit“ in 
früher Kindheit ei&e Zeit lang mit Champagner er¬ 
nährt worden. Mehrfach (6,9 ^) bekamen die Kinder 
in früher Jugend, mit 5 bis 10 Jahren schon reichliche 
.Quantitäten Bier, auch Kaffee. Trunksucht des Vaters 
Wurde bereits erwähnt Manche Kranke -beobachten 
welbst, dass auf Bier die Beschwerden eher Eintreten ; 
bei einem ist' während der Weinlese die -Krankheit 

• abgebrochen. Auch auf Tabak wollte einer Ver¬ 
schlechterung sehen. 

Von körperlichen Krankheiten, die dem Leiden 
vOiangingen ’ünd zum Teil auch wohl zur* Verantwor¬ 
tung herangezogen -werden ' können, sind in erster 
Linie zu nennen eiterige Hirnhautentzündung in der 

• Jugend, die mehrmals Vertreten war, Cbenso auch Hydno- 
oepbähe, vereinzelt Rkadutis. Den Kinderkrankheiten, 
die so ausserordentlich verbreitet sind, darf man im 
ganzen keine besondere Bedeutung beimessen , sie 
fihden ' sich natürlich reichlich, Masern, • Diphtherie, 
Scharlach, Keuchhusten, dann auch Lüngön en tuündung 
einmal Brustfellentzündung usw. 

Degenerätionszeichen spielen keine besonders, grosse 
Rolle; bei einem Mikrocephalen fanden sich Zahn- 
■ anomaüen und angewachsene Ohrläppchen 7 ein Patient 
zeigte Caput quadratum. 

Schwere Anfälle von klassischem Typus, die'nach 
heutiger Anschauung ja keineswegs die conditio sine 
qua non mehr darstellen, fanden sich auch nur in 
rund der Hälfte der'Fälle. Status e p ife p tku ^ war * weht 
selten, offenbar da es sich ja vielfach um die begi n nend e 
Krankheit handelt, die zum Nervenarzt führt;im Gegen¬ 
satz ztrdendätiger erkrankten Anstatopatfehttn. Hier 

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I9Q4-1 


PSYÜHIATRISOT-NEUKOlOGISCHK WOCHENSCHRIFT. 


255 


und da kamen wohl 4—5—8 Anfälle am Tage vor; 
em'Ktsd mit epileptischen Reizzusfäaden zeigte seine 
zuckenden Handbewegungen oft ein paahwa! in jeder 
Stande. Auch Tag für Tag 'wiederkehrende Anfälle 
*waren nicht gerade häufig. 

Die Ätna macht sich, wie nicht anders zu erwarten, 
in mannigfacher Art > bemerklich, wenn auch fast % k 
der Kranken nichts davon zu berichten wussten, 

■ sondern ganz plötzlich ihre Anfälle erlitten. Möglicher¬ 
weise ist das kindliche Alter hier zu berücksichtigen: 
die Selbstbeobachtung ist auf dieser Altersstufe geringer 
als bei psychisch intacten Erwachsenen. Gerade 
erwachsene, gebildete Patienten, die von leichten Zu¬ 
ständen betroffen werden, sind oft von einer minu¬ 
tiösen Exactheit in der Beobachtung und machen auf 
Detailzüge aufmerksam, die man in den wissenschaft¬ 
lichen Schilderungen der Epilepsie kaum angegeben 
findet 

Einzelne merkten vorher das Herannahen des 
Anfalls, manche Kinder konnten noch der Mutter Zu¬ 
rufen „ich bekomme jetzt einen Anfall“, öder ^aie 
gaben wenigstens Töne von sich; bei einem andern 
war es schon zu spät, es merkte den nahenden Anfall, 
brachte aber kein Wort mehr heraus. Ein vages 
Gefühl ^wird von verschiedenen geschildert. Sensible 
Aura fand-sich'mehrfach; ein Knebeln auf der Zunge 
mit Speichelfluss oder ein Rieseln oder Schmerz in 
der Schulter oder das Einschlafen eines Beines. Oft 
auch eine motorische Aura, Augenzwinkern oder Zucken 
in Händen und Mund. Einmal trat Erröten oder 
Erblassen auf, öfter Abspannung. In 2 Fällen war 
Heisshunger zu beobachten. Schwindel oder Verwirrt¬ 
heit ist zu verzeichnen. 

‘ Etwas seltener tritt für einige Tage vorher schon 
ein abnormer Ztistand von Nervosität >mit Blässe oder 
von Verstimmung ein. 

Motorische Reiz- oder Lähmungssymptome fanden 
sich ungemein häufig, in der Mehrzahl der Fälle, sowohl 
als Vorboten und Begleitumstände eines Anfalls, von 
den üblichen tonisch*klonischen Erscheinungen ab- 
. gesehen, sowie eines petit mal, als auch isoliert. 

Kopfschütteln, Starter Blick, Augenverdrehen, Stra¬ 
bismus convergens, Schnalzen, lallende oder verwirrte 
Sprache, Opisthotonus, Steifwerden aller Art, Mund¬ 
verziehen, Zähneknirschen, geballte ‘Fäuste, Zittern, 
Fmgmappeln, Zuckungen in den Fingern, halbseitig 
oder doppelseitig, vielfach Zucken in Händen und 
Mund 1 oder in Auge Und Hand oder in Arm und 
Mund mit Seitwärtsdrehen des Kopfes, ‘ Einknicken 
der Kniee usw. Hierher gehört auch Schreien und 
Zusammenzucken im Schlafe. 


Bei 16 i Kranken war Urininkowünenz zu konsta- 
tiren, mit öder ohne Artfälle, gelegentlich far lange 
Zeit als einziges Symptom. 

Eigentliche petit mal-Anfälle, also Zustände 
von Bewusstlosigkeit in kürzerer Dauer, unter einzelnen 
motorischen Reiz- oder Lähmungsersobcinungen waren 
fast in der Hälfte der Beobachtungen zu kenstatiren, 
bei einer Reihe von Patienten waren es die inten¬ 
sivsten Störungen, da der klassische Krampfanfall 
ganz auSblieb. Kurze Bewusstlosigkeit, vielfach mit 
Steifwerden, hinterher Amnesie, gelegentlich Angst¬ 
zustände dabei. Dann plötzliche Unterbrechung einer 
Beschäftigung, etwa eines Gesprächs, vielfach unter 
Schnalzen, Erblassen, Zucken oder dem Ausstossen 
einiger verkehrter Wörter. 

Schwindel fand sich recht häufig, in etwa Vs der 
FäHe. 1 Kopfweh in mehr als der Hälfte, vielfach halb¬ 
seitig oder Schmerzen in der Stime. 

Die Sinnesocgane zeigten des .öfteren bleibende oder 
vorübergehende Störungen. Mehrere'Patienten waren 
schwerhörig, einer taubstumm. Rauschen im Kopf 
wurde beobachtet, öfter noch Farbensehen, auch 
Doppelsehen und Flimmern vor den Augen, sowie 
Mikropsie. 

Ein grosser Teil der Kranken (37,9 %) zeigte 
-auch ausserhalb der Anfälle zeitweise Verstimmungen, 
anfallweises Auftreten depressiven Affectes; es handelt 
sich um schlechte Laune, oft schwermütige Gedanken, 
Mutlosigkeit, Ekel, Reizbarkeit, Eigensinn, um Lebens¬ 
überdruss mit Neigung zum Revolver zu greifen, um 
die Neigung fortzulaufen usw. 

Bei vieler! Patienten war der eigenartige epileptische 
Character unschwer zu erkennen, sowohl nach seiner 
unangenehmen Seite hin, Egoismus, Retebarkeit, Miss¬ 
gunst, Undankbarkeit, als auch;die etwas traitableren 
Eigenschaften, Fleiss, Genauigkeit, Pedanterie, eine 
gewisse Förmlichkeit ’Ein Kind konnte nicht sehen, 
wenn ein Teller schief stand oder Bücher verkehrt 
lagen. 

Unter’den körperlichen Symptomen sei noch her¬ 
vorgehoben, dass 50% der Kinder in verschieden 
hohem Grade« anämisch waren, mehr als die Hälfte hatte 
beschleunigten Puls, einige auch Irregularität. In etwa 
20% ' waren die PateUarreflexe gesteigert, manchmal 
auch ungleich. Fussklonus fand zieh vereinzelt. 

All diese Symptome sind nicht besonders bedenk¬ 
lich, wenn sie sich in der bisher beschriebenen Weise 
äussern. Nur unter gewissen Umständen können sie 
für den Kranken und die Umgebung misslich werden, 
so wenn die Krampfanfälle und Bewusstlosigkeit in 
Ausübung eines verantwortungsvollen, in gefährliche 
Situationen, führenden Berufs auftritt Eine Ohnmacht 


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256 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 27. 


in der Klavierstunde oder üble Laune beim Mittag¬ 
essen ist nicht so Schlimm wie ein Krampfanfall etwa 
beim militärischen Exerziren, womöglich im Kriegs¬ 
fälle, oder ein Schwindel beim Dachdecken oder Berg¬ 
steigen. 

Auch kleinere Verletzungen wie Zungenbisse, An- 
stossen an Ohr und Nase, Beulen am Kopf sind 
nicht gerade bedenklich zu nennen. 

Anders ist es, wenn die geistige Leistungsfähigkeit 
herabgesetzt wird oder antisoziale Handlungen aus¬ 
geführt werden. Genau 1 U der Fälle weisen geistige 


Schwächen verschiedenen Grades auf, von einer leichten 
Beschränktheit bis zu den tiefsten Stufen der Ver¬ 
blödung und zur Unfähigkeit zu sprechen. 

Von antisocialen und gefährlichen Vorkommnissen 
ist zu erwähnen eine Brandstiftung, dann der Weg 
durchs Fenster, den zwei Kranke nahmen; ein anderer 
versuchte wenigstens hinauszugelangen. Manipuliren 
mit den Lichte beim epileptischen Zustande im Bett 
wurde beobachtet. Weiterhin kamen gelegentlich, bei 
einigen wenigen, Anfälle auf der Strasse vor, einmal auch 

bei einem Apothekerlehrling in der Offizin. 

(Schluss folgt.) 


Amtliche Nach Weisung 


derjenigen Personen, welche in den Jahren 1901 bis einschl. 1903 auf Grund des § 81 der Strafprozess¬ 
ordnung und des § 656 der Zivilprozessordnung in Folge Anordnung des Gerichts zur Vorbereitung eines 
Gutachtens über ihren Geisteszustand in öffentlichen und Privat-Irrenanstalten*) beobachtet worden sind. 


Provinz 

Anzahlj 
der ! 
betei¬ 
ligten 
An¬ 
stalten 

2 

Erwachsene 

Jugendliche 
(unter 18 Jahren) 

Zusammen 
(Spalten 3—6) 

7 

Hiervon (Spalte 7) wurde 
eine krankhafte Störung 
der Geistestätigkeit er¬ 
achtet 

männliche 

Personen 

3 

weibliche 

Personen 

4 

männliche 

P ersonen 

5 

weibliche 

Personen 

6 

als vor¬ 
handen bei 

.8 

als nicht vor¬ 
handen oder 
unbestimmt 
bei 

9 

Ostpreussen 

2 

(8) 34 

(0 ‘4 

2 

1 

( 9 ) 5 i 

( 9 ) 35 

16 

Westpreussen 

4 

i 14 

7 

— 

— 

2 I 

9 

12 

Berlin (Königliche 









Klinik und An- 









stalten der Stadt 



; 






Berlin) 

3 

(2) 167 

(0 22 

2 

_ 

( 3 ) ' 9 i 

(3)136 

55 

Brandenburg 

5 i 

> (2) 49 U) 

8 

(0 7 

— 

( 3 ) O ( 1 ) 

(2) 47 

(«> 17 ( 1 ) 

Pommern 

4 

' (2) 59 

(0 5 

_ | 


( 3 ) 64 

(3) 49 

18 

Posen 

3 1 

i (1) 29 

5 



(1) 34 

(1) 12 

22 

Schlesien 

10 

! (b) 132 

(2) 32 

3 

3 

(8) 170 

(8) 139 

31 

Sachsen 

5 : 

I (1) 49 

(2) 9 

— 

1 

( 3 ) 59 

(2) 34 

(l) 25 

Schleswig-Holstein 

1 

(3) 28 

(1) 4 

— 


( 4 ) 32 

( 4 ) 32 

— 

Hannover 

4 

(11) 66 

(0 13 

1 

— 

(l2) SO 

( 7 ) 45 

( 5 ) 35 

Westfalen 

5 

i <5) 79 (ff) 

(1) IO 

9 

0 

(6) 104 ( 6 ) 

(2) 77 

(4) 27 (j) 

Hessen-Nassau 

3 ' 

(7) 61 

(0 7 

— 

2 

(8) 70 

(6) 52 

(2)18 

Rheinprovinz 

1 j 

:(2i) 121(9) 

(5) 21 (3) 

2 

— 

(26) 144 ( 12 ) 

(24) 95 ( 72 ) 

(2) 49 

Hohenzollem’sehe 









Lande 

1 

I 

1 

— 

— 

I 

I 

— 

Zusammen 

61 

(69)880(7 6*1 (16) 157 (, 9 ) 

(1) 26 

13 

( 89 ) 108,5 ( 19 ) 

( 7 i) 76 o( 72 )|(i 5)325 ( 2 ) 


*) Die in <len einzelnen Zahlen enthaltenen Angaben über die auf Grund des § 656 der Zivilprozessordnung auf- 
genonimerien Personen sind eingcklainmert, über die in Privatirrenanstalten beobachteten Personen schräg gedruckt. 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


257 


1004.] 


M i t t h e i 

— Durch die Tagespresse zieht gegenwärtig eine 
Aeusserung, welche der Präsident der Vereinigten 
Staaten Rooseveltzu dem Kapitel: Freisprechung 
geisteskranker Verbrecher gethan haben soll. Für 
Wissenschaft und Rechtsprechung in Amerika ist dieselbe 
natürlich irrelevant. Wir drucken sie hier ab mit 
dem Bemerken, dass der Tagespresse der im ersten 
Satze der Roosevelt’schen Aeusserung enthaltene 
augenfällige Irrthum nicht im geringsten zum Be¬ 
wusstsein gekommen ist. Denn keine Zeitung erhebt 
dagegen einen Einwand, vielmehr wird diese Aeusserung 
auch von verständigen Blättern als berechtigt, sehr 
vernünftig etc. bezeichnet — ein Beweis, wie nöthig es ist, 
dass die Presse von fachmännischer Seite über Fragen 
des Irrenwesens bei geeigneter Gelegenheit aufgeklärt 
wird. Der „Reichsbote“ (16. 9. 04) giebt Roose- 
velt’s Ausspruch in folgender keines Kommentars be¬ 
dürfenden Weise wieder: „Ueber den Unfug der 
Irren erklärungen bei moralischen und kriminellen 
Verbrechern, die eine gewisse moderne Psychiatrie 
schon bis zu verschlagenen Zigeunern, die gemordet 
hatten und nun simulirten, erstreckt hat, hat jetzt 
auch der amerikanische Präsident ein verständiges 
Wort gesagt. „„Ich habe,““ sagt der Präsident, „„wenig 
Sympathie dafür, dass ein Mensch für irrsinnig er¬ 
klärt wird, um ihn vor den Folgen eines Verbrechens 
zu schützen, falls es ohne Begehung des Verbrechens 
unmöglich gewesen wäre, ihn auf Grund eines sach¬ 
verständigen Gutachtens als wahnsinnig in eine An¬ 
stalt überführen zu lassen. Unter den gefährlichsten 
Verbrechern, und gerade unter denen, die zu Ge- 
waltthaten geneigt sind, sind viele von so bösartigem 
und brutalem Temperament, wie es nur mit einem 
viehischen Zustand der Intelligenz vereinbar erscheint. 
Diese Menschen sind aber nichtsdestoweniger ver¬ 
antwortlich für ihre Thaten, und nichts ist mehr ge¬ 
eignet, sie zu Verbrechen zu ermuthigen, als der 
Glaube, sie könnten durch die Annahme des Wahn¬ 
sinns oder durch ein ähnliches Mittel der gerechten 
Strafe entzogen werden.““ Merkwürdigerweise druckt 
unsere liberale Presse, welche sonst alle die psychia¬ 
trischen Verirrungen, welche eine gesunde Rechtspflege 
auflösen, unterstützt, diese Auslassung als „sehr ver¬ 
nünftig“ ab; die Erleuchtung über ihre eigene Kurz¬ 
sichtigkeit muss ihr erst wieder aus dem Auslande 
kommen. 4 * So der „Reichsbote“! 

Oesterreich. (Eine Zentralbehörde für 
Irren wesen in Oesterreich.) Das Ministerium des 
Innern hatte den Professor der Psychiatrie Dr. G. 
Anton um eine Aeusserung über die Frage ersucht, in 
welcher Weise die behördliche Aufsicht über die 
Irren zu organisiren w'äre. Professor Dr. Anton hat 
in einem ausführlichen Gutachten als geeignetstes 
Mittel für die behördliche Ueberwachung der Pflege 
der in den Irrenanstalten und ausserhalb derselben 
untergebrachten Geisteskranken, insbesondere aber 
für die Wahrung der Rechte der Geisteskranken, die 
Schaffung einer Zentralbehörde für das Irrenwesen 
in Oesterreich in Vorschlag gebracht. 

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1 u n g c n. 

Berlin. Ueber den Eröffnungstermin der neuen 
städtischen Irrenanstalt in Buch sind, wie das Berliner 
Tageblatt mittheilt, alle bisher verbreiteten Nach¬ 
richten unzutreffend. So ist aus der Meldung, dass 
eine Anzahl Geisteskranker von Herzberge nach 
Buch zum Grossrein machen abkommandirt werden 
solle, eine baldige Belegung der neuen Anstalt ge¬ 
folgert worden. Jedoch kann, da alles unfertig ist, 
vorläufig nicht einmal von einer teilweisen Belegung 
die Rede sein. Diese wird sich frühestens Mitte 
nächstens Jahres ermöglichen lassen, während an den 
vollen Betrieb vor dem Jahre 1906 nicht zu denken 
ist. Auch die verschiedenen Nachrichten über die 
Person des Direktors der neuen Anstalt beruhen 
lediglich auf Kombination. Im Schosse der städtischen 
Verwaltung ist diese Frage noch garnicht ernstlich 
erörtert worden. 

— Der Geisteszustand der Prinzessin Luise 
von Koburg. Für Fachärzte von Interesse dürfte 
es sein, den Wortlaut eines psychiatrischen Commissions- 
Gutachtens über den Geisteszustand der Prinzessin von. 
Koburg zu erfahien und dadurch zur Beurtheilung / 
der verworrenen Verhältnisse einen Stützpunkt zu 
gewinnen. Es lautete (nach dem „Pester Lloyd“): 

Berlin, 5. December 1903 

In Folge Auftrages des Obersthofmarschallamtes 
Sr. k. und apostolisch k. Majestät, welcher den Unter¬ 
zeichneten durch das königlich sächsische Amtsge¬ 
richt in Meissen übermittelt wurde, haben dieselben 
eine Ueberprüfung des Geisteszustandes Ihrer jetzt 
in Lindenhof in Coswig sich aufhaltenden k. Hoheit 
der Frau Prinzessin Louise von Sachsen-Koburg und 
Gotha geborenen k. Prinzessin von Belgien vorge¬ 
nommen. Ueber das Ergebniss dieser Prüfung wird 
im nachstehenden Gutachten berichtet. 

Als Unterlage für dasselbe wurde uns das seiner 
Zeit bei der Entmündigung Ihrer königlichen Hoheit 
abgegebene Gutachten der Herren Gerichtsärzte Regie¬ 
rungsrath Dr. Hinterstoisser und Professor Dr. Fritsch, 
sowie das Fakultätsgutachten der Universität in Wien 
zur Verfügung gestellt, ferner die Akten des könig¬ 
lichen Amtsgerichtes in Meissen, welchen die über 
die Entmündigung geführten Akten des Obersthof¬ 
marschallamtes, sowie das Protokoll über den am 
18. September d. J. in Coswig abgehaltenen Termin 
und die bei Gelegenheit des letzteren durch Ihre 
k. Hoheit übergebenen Schriftstücke beigefügt waren. 
Ausserdem wurde uns Gelegenheit gegeben, von den 
durch den Anstaltsdirektor Herrn Sanitätsrath Dr. 
Pierson erstatteten Berichten über das Verhalten und 
den Zustand der Frau Prinzessin während ihres 
Aufenthaltes in Lindenhof Kenntniss zu nehmen und 
ferner durch Herrn Dr. Pierson und durch die Hof¬ 
dame Fräulein v. Gebauer eingehende persönliche 
Mittheilungen hierüber zu erhalten. Nachträglich 
wurden uns dann noch die Berichte zur Verfügung 
gestellt, welche Herr Sanitätsrath Dr. Pierson und 
Fräulein v. Gebauer über eine in der zweiten Hälfte 
Oktober dieses Jahres mit der Frau Prinzessin aus- 

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258 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 27. 


geführte Reise nach Venedig und Mailand erstattet 
haben. Die Unterzeichneten vier Sachverständigen 
haben an verschiedenen Tagen jeder einzeln die Frau 
Prinzessin besucht und hierbei Gelegenheit erhalten, 
in vielstündiger Unterredung sich über das Befinden 
und den Geisteszustand Ihrer k. Hoheit ein Urtheil 
zu bilden, welches in der auf den Termin folgenden 
gemeinsamen Berathung sich als ein in allen Punkten 
übereinstimmendes ergab. 

Vorgeschichte. 

Zu der am 3. Juni 1899 erfolgten Entmündigung 
Ihrer k. Hoheit hatten folgende Vorgänge Anlass 
gegeben. Es war seit den achtziger Jahren des 
vorigen Jahrhunderts bemerkt worden (Fakultätsgut¬ 
achten sub 2 und 3), dass die von Hause aus eine 
neuropathische Konstitution zeigende Frau Prinzessin 
zu Aufregungszuständen neigte und dass sich eine 
zunehmende reizbare missmuthige Stimmung und eine 
durch nichts motivirte Abneigung gegen ihren Gemahl 
zeigte. Als wahrscheinliche Ursache dieser psychi¬ 
schen Veränderung ergaben sich ein im August 1882 
erlittener Sturz von einer Berglehne herab mit nach¬ 
folgender mehrstündiger Bewusstlosigkeit, ferner wieder¬ 
holte, während der achtziger Jahre erfolgte Fehlge¬ 
burten, endlich die Gemüthserschütterung, welche 
durch den Tod Sr. k. Hoheit des Kronprinzen Rudolf 
hervorgerufen wurde. Ausser den bereits erwähnten 
Eischeinungen der psychischen Veränderung zeigte 
sich ein zunehmend exzentrisches Wesen und Neig¬ 
ung zu sinnloser Verschwendung. Ihre k. Hoheit 
ergab sich einer unsteten, ziellosen, abenteuernden 
Existenz, verschwendete ungeheuere Summen und 
lebte schliesslich in Gemeinschaft mit dem Ober¬ 
lieutenant Mattasich, den sie zum Kammervorsteher 
sich erwählt hatte und aus dessen Händen sie An¬ 
fangs Mai 1898 unter der Hilfe der Behörden in 
Folge Initiative des Prinzgemahls förmlich befreit 
werden musste. 

Aus den Entmündigungsakten sind noch folgende 
Thatsachen über die Entwicklung der Krankheit zu 
entnehmen, zunächst aus der Information, welche 
Se. kön. Hoheit der Prinz Philipp von Koburg dem 
Gerichtsarzt Dr. Hinterstoisser ertheilt hat. Bereits 
in der Mitte der siebziger Jahre machten sich bei 
Ihrer kön. Hoheit Erscheinungen von Nervosität 
geltend. Eine im Jahre 1876 durchgemachte Er¬ 
krankung an Typhus war von einem auch noch 
während anscheinender Gesundheit durch längere 
Zeit fortdauernden temporären deliranten Sprechen, 
sehr reizbarem und renitentem Benehmen gefolgt. 
Nach dem bereits erwähnten Sturz im Jahre 1882 
war Ihre kön. Hoheit sichtlich benommen, erkannte 
höchstihre Umgebung nicht sofort; die Sprache w'ar 
deutlich erschwert, die Zunge wich nach links ab. 
Es bestanden lebhafte Schmerzen im Nacken und 
Hinterhaupt, an der rechten Seite des Nackens hat 
sich in Folge einer Muskelkontiaktur Schiefstellung 
des Kopfes eingestellt, die erst nach etwa vier bis 
fünf Jahren allmählich nachliess, aber auch jetzt in 
den letzten Jahren zeitweilig erkennbar war. 


Protokoll der Vernehmung des Leibarztes 
k. k. Hofrathes Professor Dr. Braun vom 
19. April 1899. 

Im Jahre 1884 bestanden eine Zeit lang der 
obenerwähnten Information zufolge deutliche An¬ 
zeichen von Platzangst. Im Jahre 1886 begannen 
Aeusserungen ehelicher Abneigung mit sehr reizbarer 
missmuthiger Stimmung. Seit 1890 fiel ein stetig 
zunehmendes exzentrisches Wesen auf, indem Ihre 
königliche Hoheit überaus putzsüchtig und verschwen¬ 
derisch und im intimen Verhalten höchst auffällig 
wurde. Auf ihren Reisen verbrauchte sie in den 
folgenden Jahren durch unverhältnissmässigen Luxus 
grosse Summen. Seit 1895, nach der Bekanntschaft 
mit Mattasich, begann ihre Leidenschaft für Pferde: 
sie hielt sich einen Stall, nahm die Pferde mit auf 
die Reise von Cannes nach Paris, von dort nach 
Karlsbad und Meran, trat mit den verschiedensten 
Personen in kompromittirende Verbindung und mani- 
pulirte mit dem Badearzt Dr. Schnee in verschiedenen 
kostspieligen Engagements. 

Aus der Einvernehmung des Hof- und Gerichts¬ 
advokaten Regierungsrathes Dr. Bachrach in seiner 
Eigenschaft als Vertreter Sr. k. Hoheit des Prinzen 
Philipp von Sachsen-Koburg und Gotha entnehmen 
wir (Protokoll vom 19. April 1899), dass derselbe 
beauftragt war, zunächst mit der Frau Prinzessin über 
die eventuelle Ehescheidung zu verhandeln und dass 
er sodann die Mission erhielt, Ihre königliche Hoheit 
in das Domizil ihres Gatten nach Wien zu bringen. 
Bei der ersten in Schloss Lobor zur Ausführung ge¬ 
kommenen Unterredung fiel die Gleichgiltigkeit auf, 
mit der die Frau Prinzessin über die so ausserordent¬ 
lich wichtigen Fragen der Ehescheidung und der 
Tilgung ihrer Schulden hinwegging, während sie sich 
in ein lebhaftes Gespräch über ihre Toiletten und 
ihre Pferde einliess. Der Herr Referent erhielt ferner 
den Eindruck, dass Ihre königliche Hoheit keines¬ 
wegs in gewöhnlicher Gemüthsverfassung sich be¬ 
findet, dass der Blick der verschleierten Augen regel¬ 
mässig in das Leere gerichtet ist und dass offen¬ 
sichtlich ein eigener Wille nicht besteht. Nach der 
bald darauf in einem Hotel in Agram erfolgten Ver¬ 
haftung des Mattasich war die Frau Prinzessin ohne 
Schwierigkeit zur Mitreise nach Wien zu bewegen, 
nachdem sie die Versicherung erhalten hatte, dass 
sie mit ihrem Gemahl nicht Zusammentreffen werde. 

Aus der Schilderung ihres Verhaltens im Hotel 
und während der Reise ist unter Anderem noch be- 
merkenswerth, dass sie die Verhaftung des Mattasich 
mit verhältnissmässiger Gleichgiltigkeit behandelte, 
aber doch nic ht abzuhalten war, einen Brief an ihn 
zu schreiben, obwohl ihr das Kompromittirende dieser 
Handlung vorgehalten wurde, ferner, dass sie sich 
über die Lage ihrer Geschäfte gänzlich unorientirt 
zeigte, nicht im Stande war, über die eingegangenen 
Verbindlichkeiten irgend welche klare Auskunft zu 
geben und keinen Begriff von der angehäuften Schul¬ 
denlast hatte, endlich, dass sie die Ueberführung in 
die Privatirrenanstalt des Herrn Professors Obersteiner, 
wovon ihr unterwegs Mittheilung gemacht wurde, 


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1904.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


259 


ohne Aufregung hinnahin und sich in keiner Weise 
derselben widersetzte. 

Wie sich aus dem Protokoll über die Einverneh¬ 
mung des Professors Dr. Obersteiner ergiebt, wurde 
Ihre königliche Hoheit in dessen Anstalt vom 9. Mai 
bis zum 2. November 1898 behandelt. Als besonders 
auffallende Erscheinung wurde von diesem Sachver¬ 
ständigen bei der Frau Prinzessin die Einengung des 
Ideenkreises, die geringe Urtheilsfähigkeit und die 
Einsichtslosigkeit in Bezug auf ihre geschäftlichen 
Maassnahmen und auf ihre sonstigen auffallenden 
Handlungen, ferner ihre völlige Stimmungslosigkeit bei 
Verhandlungen über die für sie wichtigsten Vorgänge 
der jüngsten Vergangenheit hervorgehoben; die gleichen 
Wahrnehmungen wurden durch Dr. Rudinger gemacht, 
in dessen Anstalt die Frau Prinzessin bis zu ihrer 
Uebersiedlung nach Coswig verblieb. Auffallend war 
weiter die seltene gemüthliche Reaktion gegenüber 
der für die Kranke unerwartet gekommenen Ueber- 
führung nach Purkersdorf, wie gegenüber der plötz¬ 
lichen Trennung von der ihr bis dahin beigegebenen 
Hofdame, der Gräfin Fugger. Hervorgehoben wird 
ferner der völlige Mangel an Interesse für andere 
Dinge als für die Toilette und den persönlichen Com¬ 
fort, die Urtheilslosigkeit und Entschlussunfähigkeit, 
sowie die mangelnde Empfindung für das Peinliche 
der Situation, in welche sich die Frau Prinzessin 
durch ihr Verhalten gebracht hatte; besonders deut¬ 
lich trat dies zu Tage, als sie gelegentlich die Er¬ 
lau bniss zu einer Fahrt nach Wien erhielt, um ihren 
dort versetzten Schmuck im Pfandhause zu recogno- 
sciren, wobei ihr nur die Annehmlichkeit des Aus¬ 
fluges, dagegen in keiner Weise das Beschämende 
des Vorganges zum Bewusstsein kam. 

Auch der ausführliche Bericht der Gerichtsärzte 
Dr. Hinterstoisser und Professor Fritsch vom 21. Mai 
i8q8 über die mit der Frau Prinzessin gepflogenen 
Unterredungen enthält zahlt eiche Einzelheiten, welche 
den bei der Frau Prinzessin bestehenden erheblichen 
intellektuellen und ethischen Defekt beweisen, ebenso 
die weiteren Berichte der Gerichtsärzte über ihre Be¬ 
obachtungen bei der späteren Exploration. Es wurde 
hierdurch in einwandfreier Weise das Schlussgutachten 
begründet, dass die Frau Prinzessin seit Jahren an 
Schwachsinn leide, welcher sie unfähig mache, ihre 
Angelegenheiten selbst zu besorgen. 

Zu dem gleichen Ergebnisse kommt das Ober¬ 
gutachten der Wiener medicinischen Faculfät, in 
welchem auf Grund der persönlichen Beobachtung 
des Referenten Hofrathes Professor Dr. v. Krafft- 
Ebing eine ausserordentlich klare und erschöpfende 
Darstellung der Entwicklung der Krankheit und ihrer 
dauernden, die Handlungsfähigkeit ausschliessenden 
Symptome gegeben wird. 

Verhalten Ihrer königlichen Hoheit. 

während des Aufenthaltes in Coswig. 

Aus den alljährlich erstatteten Berichten des 
Herrn Sanitätsrathcs Dr. Pierson ergiebt sich, dass 
die Frau Prinzessin in Coswiu ebenso wie in den 
beiden anderen Anstalten sich verhältnissmässig leicht 

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in den Anstaltsaufenthalt gefügt und den ärztlichen 
Anordnungen keinen erheblichen Widerstand ent¬ 
gegengebracht hat. Wenn hierzu offensichtlich der 
Umstand beigetragen hat, dass ihr in Coswig grössere 
Annehmlichkeiten in der Lebensführung zutheil ge¬ 
worden sind, das Wohnen in einer besonderen Villa, 
gesellschaftlicher Verkehr mit der Familie des Direk¬ 
tors, die Gestattung von Besuchen nächster Ange¬ 
hörigen, ferner die wiederholten Ausflüge nach Dresden 
und der Aufenthalt in Schandau und Bad Elster, 
so wird andererseits doch hervorgehoben, dass auch 
hier vor Allem die krankhafte Willensschwäche der 
Patientin sie verhindert hat, eine Aenderung ihrer 
Lage anzustreben und auf die von aussen her (von 
Seite des Mattasich) an sie heran getretenen Befreiungs¬ 
versuche einzugehen, ferner wird in intellectueller 
Beziehung die immer weiter gehende Einengung ihres 
Interessenkreises hervorgehoben, der sich ganz auf ihr 
persönliches Behagen, die Befriedigung einer gewissen 
Gefallsucht und Eitelkeit beschränkt; zugleich tritt 
wie früher die völlige Unfähigkeit zu einer kritischen 
Beurtheilung ihrer Vergangenheit und ihrer durch 
diese geschaffenen Lage, sowie zur Gestaltung von 
Zukunftsplänen hervor. Auch zeigt sich die allmählich 
eingetretene Verkehrtheit ihrer Vorstellungen darin, 
dass sie jetzt in Ausdrücken der Selbstvergötterung 
von sich spricht, sich für „das Ideal einer Frau, den 
Inbegriff von Tieue und Edelmuth“ erklärt, sich „die 
heiligste, reinste Jungfrau, die heilige Braut, die un¬ 
schuldige weisse Lilie“ nennt, die in der Geschichte 
eine Rolle spielen wird, wie Elisabeth von England, 
Maria Stuart etc. (Bericht vom 23. März 1903). 

Von besonderer Bedeutung für die fortdauernd 
krankhafte Natur des ganzen Zustandes ist die aus 
den Berichten des Herrn Dr. Pierson sich ergebende 
Thatsache, dass im Laufe der mehrjährigen Beobach¬ 
tung mit einer gewissen Regelmässigkeit ein Wechsel 
im Befinden der hohen Patientin hervorgetreten ist, 
in der Art, dass Perioden völliger Apathie, gänzlich 
blöden und interesselosen Verhaltens mit solchen 
grosser Gereiztheit und Unverträglichkeit gewechselt 
haben, auf welche dann wieder verhältnissmässig 
ruhigere und bessere Zeiten gefolgt sind. In den 
Perioden der Apathie zeigt die Frau Prinzessin, wie 
wir auch aus den eingehenden persönlichen Mit¬ 
theilungen des Fräuleins v. Gebauer entnehmen, eine 
gänzliche Vernachlässigung ihrer Person, sie ist schwer 
zum Aufstehen zu bewegen, verunreinigt sich gelegent¬ 
lich und verliert die ihr sonst am Herzen liegende 
Sorge für ihre Toilette und ihr Aussehen. In den 
Zeiten der Gereiztheit quält sie unablässig ihre 
nächste Umgebung durch launenhaftes, zankendes, 
raisonnirendes Verhalten, erregt Anstoss durch un¬ 
reinliches Essen und durch sonstige ekelhafte Gewohn¬ 
heiten; auch tritt dann die schon früher beobachtete 
Neigung zum sinnlosen Zertrennen und Zerschneiden 
werthvoller Kleidungsstücke und Bücher stärker her¬ 
vor, ein Verhalten, das übrigens auch in den verhält¬ 
nissmässig guten Zeiten nicht selten an ihr beobachtet 
wurde. (Schluss fol?t.) 


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260 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


LNr. 27. 


Referate. 

— Taruffi, C.: Hermaphrodismus und 
Zeugungsunfähigkeit, eine systematische 
Darstellung der Missbildungen der mensch¬ 
lichen Geschlechtsorgane. Autorisierte deutsche 
Ausgabe von Dr. R. Teuscher. (Berlin, 1904, H. 
Barsdorf). 417 S. 

T. unterscheidet in seiner Monographie einen ana¬ 
tomischen und einen klinischen Hermaphrodismus. 
Den anatomischen trennt er in den Hermaphrodismus 
der specifischen Geschlechtsdrüsen (echter Herma¬ 
phrodismus), in den Hermaphrodismus der aplasischen 
Geschlechtsdrüsen (atrophischer oder neutraler Herm¬ 
aphrodismus) und in den Pseudo-Hermaphrodismus: 
(männlicher: Fortbestehen der Müllerschen Canäle, 
äusseres weibliches Aussehen; weiblicher: Fortbestehen 
der WolfFschen Canäle). — Der klinische Herm¬ 
aphrodismus zerfällt in äusseren Pseudo-Hermaphrodis- 
mus — (beim Manne: Pschio-schisis, perinär-scrotale 
Hypospadie, Gynäcomastie, Feminismus; beim Weibe: 
Iuvenilismus (virago), Hypertrichose, Elephantiasis 
der Clitoris) — in heterotopischen Pseudo-Herm¬ 
aphrodismus (Taruffi) und in psychischen Herm¬ 
aphrodismus (conträre Sexualempfindung). Den Schluss 
bilden Fälle mit zweifelhaftem Geschlecht. Die ein¬ 
zelnen Arten werden eingehender besprochen. Den 
Besprechungen sind die mit grösstem Fleisse aus der 
Litteratur zusammengetragenen einschlägigen Fälle, 
sowie eigene diesbezügliche Beobachtungen angefügt. 
— Das Buch ist wenig übersichtlich, manches ist 
auch nicht sehr klar ausgedrückt. 

Wickel, Dziekanka. 

— L. Löwenfeld. Sexualleben und Nerven¬ 
leide n. III. bedeutend vermehrte Aufl. Wiesbaden, 
Bergmann, 1903 (326 S.). 

Ls. bekanntes Buch ist in neuer, wiederum be¬ 
deutend erweiterter und bereicherter Form erschienen. 
Grosse eigene Erfahrung des Verls., vielseitige Ver- 
werthung und kritische Sichtung der Untersuchungen 
anderer sichern dem Werke eine volle Beherrschung 
des Stoffs und eine klare, übersichtliche Darstellung. 
Die Entwicklung und die Erscheinungen der Störungen 
des Sexualtriebs werden durch alle Lebensstufen des 
Menschen und je nach dem verschiedenen Geschlecht 
verfolgt und in der Therapie wie in der Prophylaxe 
vernünftige und rationelle Bahnen gewiesen. Der 
Zusammenhang der* sexuellen Neurasthenie mit der 
neurasthenischen Anlage resp. der allgemeinen Neu¬ 
rasthenie sind scharf betont. Der Abschnitt XII: 
„Erkrankungen der Sexualorgane bei Frauen als Ur¬ 
sache von Nervenleiden“ scheint mir besonders ge¬ 
lungen zu sein. Das Kapitel: Die Anomalien des 
Sexualtriebs bringt eine einfache Eintheilung und 
gewissenhafte Darstellung der verschiedenen Formen 
mit Berücksichtigung der Aetiologie. 

Wir sehen in dem Buche Ls. die ausführlichste 
und beste Darstellung des wichtigen Gebiets der ner¬ 
vösen Sexualstörungen. M. Fischer. 


— Kurelia. Taschenkalender für Nerven- und 
Irrenärzte. Vogel & Kreienbrink, Berlin. 

Mit unliebsamer Verspätung, doch nicht minder 
aufrichtig sei den Kollegen der bekannte, praktische 
Taschenkalender in Brieftaschenformat empfohlen, der 
in neuester Fassung noch mehr als in den Vorjahren 
über die auf engen Raum zusammengedrängte Reich¬ 
haltigkeit seines Inhalts staunen lässt. W. 

— Eduard Müller, Schlaf und Traum, Suggestion 
und Hypnose. Leipzig, Jäh und Schunke, 1903. 
60 S. 

Wenn die lebhaft geschriebene Studie auch gerade 
nichts Neues bringt, so bewegt sie sich doch auf dem 
Boden der heutigen Kenntnisse und hütet sich vor 
allem vor Uebertreibungen und Kritiklosigkeiten denen 
die über Hypnose schreibenden Autoren sonst leicht 
verfallen. YV. 


Personalnachrichten. 

— Bonn. Herr Geh. Med.-Rath Professor Di. 
Pelmann legte am 30. September die Leitung der 
hiesigen psychiatrischen Klinik nach mehr als 15 jähriger 
Thätigkeit nieder. — 

Unser hochverehrter Herr Mitherausgeber, Professor 
Dr. Ernst Schultze in Bonn, hat einen Ruf als 
ordentlicher Professor nach Greifswald erhallen 
und angenommen. 


Kunerol. 

Als „Kunerol“ kommt ein von der Pflanzenfettfabrik 
Khuner & Sohn in Wien, XIV., aus Kokosnüssen 
fabricirtes reines Pflanzenfett in den Handel. Das¬ 
selbe enthält nach der Analyse der Untersuchungs¬ 
anstalt für Nahrungs- und Genussmittel des allgemeinen 
österreichischen Apothekervereins in Wien, 99 % 

reines Fett (Butter, Kunst- oder Naturbutter 83—88% ), 
besitzt einen Schmelzpunkt von 25 0 C und ist nahe¬ 
zu völlig frei von freier Fettsäure. Da jedes Speise¬ 
fett, dessen Schmelzpunkt unterhalb der Temperatur 
des menschlichen Körpers liegt und welches keine 
grösseren Mengen freier Fettsäuren enthält, leicht ver¬ 
daulich ist, so steht auch das Kunerol hinsichtlich 
seiner Verdaulichkeit nicht hinter den anderen Speise¬ 
fetten zurück. Es schmilzt klar, zeigt beim Erwärmen 
normalen Geruch und Geschmack und ist frei von 
thierischen Fetten. In trockenen, kühlen Lokalen auf¬ 
bewahrt, hält sich Kunerol mindestens ein Jahr voll¬ 
kommen frisch. Es eignet sich zur Bereitung jeder 
Art Speisen, namentlich auch zum Ausbacken voll¬ 
kommen, den damit hergestellten Speisen haftet kein 
Fettgeruch an. — Durch die bakteriologische Unter¬ 
suchung w'urde die absolute Keimfreiheit des Kunerols 
festgestellt. Nach Dr. Pohl, Nervenarzt in Baden bei 
Wien, erscheint es angezeigt, dasselbe zur Zu¬ 
bereitung der Speisen bei sich mästenden Nerven¬ 
kranken zu verwenden. 


Kür den redaktionellen Theil verantwortlich: Oberarzt ] 3 r. J. Bresler, Lubl.nitr (Schlesien). 

Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inscratenannahmc 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Heyncmann’sche Buchdruckerei (Gebr. WVflO in Halle a. S. 


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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift. 

Redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Lublinitz (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hai lesaale. Fernsprecher 2834. 

Nr. 28. 8 . Oktober. 1904. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die 3$paltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Rresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten. 


Die negative Suggestibilität, 

ein physiologisches Prototyp des Negativismus, der contiären Autosuggestion und gewisser Zwangsideen. 

Von Prof. Bleuler- Burghölzli. 

(Schluss.) 


In eine Discussion der Theorie der negativen 
Suggestibilität möchte ich mich an dieser Stelle nicht 
einlassen. Anderswo hoffe ich nachzuweissen, dass 
die Suggestibilität im gewissen Sinne eine Seite der 
Affectivität ist. Die Suggestibilität zerfällt in eine 
positive — die bekannte — und eine negative — 
die hier beschriebene. — Die Affectivität steht in 
viel engerem Zusammenhang mit dem Wollen und 
Handeln als mit dem Denken; deshalb die Er¬ 
scheinung, dass bei Laboratoriumsversuchen, wo das 
Willens- und Gefühlsmoment fehlt, Constrastassociatio- 
nen sehr selten sind, während im Leben die 
Contrastgefühle und wohl sekundär die Contrastvor- 
stellungen das Wollen und Handeln regelmässig be¬ 
gleiten. — Manchmal können wir den Affect, der 
mit der negativen Suggestion verbunden ist, sehr 
genau kennen: alle Formen von Schüchternheit, 
Scheu vor unbekanntem, vor neuem, die namentlich 
bei Kindern und Wilden, aber auch bei unsern 
misoneistischen Philistern eine so grosse Rolle spielen, 
sind Affecte der negativen Suggestion. Bei einer 
Hysterischen, deren Krankheit sich zur Zeit beständig 
in Contrasthandlungen bewegt, konnten Herr Kollege 
Jung und ich ganz unabhängig von einander be¬ 
obachten, wie der Contrast nur durch gefühlsbetonte 
Vorstellungen erzeugt wird. 

Ganz abgesehen von dem Zusammenhang der 
Affectivität mit der Suggestibilität ist sehr leicht zu 
verstehen, dass gerade gefühlsbetonte Ideen am 
meisten von negativen Suggestionen begleitet werden 
müssen. Gefühlsstarke Gedanken drängen am 
meisten zum Handeln und hemmen die Gegenvor¬ 
stellungen am stärksten. Sie haben deshalb diese 
Controlle am nüthigsten. 


Mit der positiven Suggestion und mit der 
Affectivität teilt die negative Suggestion den enormen 
Einfluss nicht nur auf den bewussten und unbewussten 
Gedankengang, sondern auch auf die körperlichen 
Funktionen. 

* . * 

* 

Die Herren Jung und Riklin werden in den 
nächsten Heften des Journals für Psychologie und 
Neurologie nach weisen, dass manche der auffallendsten 
Symptome der Dementia praecox nur qualitativ oder 
quantitativ entstellte Mechanismen des normalen 
Seelenlebens sind. Sehr wahrscheinlich wird es mit 
dem Negativismus ebenso sein. Es ist die Aufgabe 
weiterer Untersuchungen, zu zeigen, ob sich der 
pathologische Negativismus aus diesem Mechanismus 
der Gegenvorstellungen ableiten lässt. Mir ist wahr¬ 
scheinlich, dass der elementare Ablehnungsmechanis¬ 
mus die wichtigste Wurzel dessen ist, was wir unter 
dem Namen Negativismus zusammenfassen. 

Ich möchte nicht behaupten, dass es nicht noch 
andere „Arten“ von Negativismus gebe. (Die Herren 
Jung und Riklin werden über eine Art nega- 
tivistischer Hemmung durch intercurrente Sinnesein¬ 
drücke berichten, die die Kranken etwa als ,,Bannung“ 
bezeichnen). Jedenfalls aber lässt sich durch die 
gewonnenen Anschauungen ein grosser Theil der nega- 
tivistischen Phänomene erklären. 

Man könnte sich z. B. vorstellen, dass durch die Sperrungen 
der Dementia praecox das Spiel der verschiedenen Motive, 
das wir Ueberlegen nennen, gehemmt werde, dann bleiben wie 
beim Gesunden nur noch die primären Triebe und Gegentriebe. 
Da bei Geisteskranken die primären Ideen überall mit der 
Wirklichkeit in Konflikt kommen (Wahnideen!), erfahren sie 
mehr äussere Hemmungen als unter normalen Umständen und 
so kommt der diesen entgegengesetzte Trieb häufiger zur 


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262 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 28. 


Action, und zwar mit um so elementarerer Gewalt als die 
Ueberlegung fehlt. Durch die Stereotypierung der Vorgänge 
würden nach und nach eine Menge von Vorstellungen und 
Aufforderungen „mit Negativismus behaftet.“ 

Noch an etwas anderes möchte ich erinnern. 
Es giebt Zwangsideen, die sich ausschliesslich 
in Gegen Verstellungen bewegen: Ein Sohn zweifelt 
daran, ob sein Vater wirklich todt sei. Er sucht 
eine Anzahl Möglichkeiten, dass der Mann nur 
scheintodt sei, beruhigt sich dann aber bei dem Ge¬ 
danken, der Leiche eine Ader öffnen zu lassen. 
Nachdem das geschehen und der Vater beerdigt wird, 
kommen wieder neue Gegenvorstellungen, die eine 
Möglichkeit offen lassen , dass der Vater doch noch 
am Leben sei (Thrombose der geöffneten Arterie etc.) 
Er verlangt deshalb unter grossen formellen Schwierig¬ 
keiten die Eröffnung des Grabes, um sich vom Tod 
des Vaters überzeugen zu können. In dem Moment, 
wo er glaubt, die Erlaubnis zu erhalten, fallen ihm 
eine Anzahl Gründe ein, die dafür sprechen, dass der 
Vater’ wirklich todt sei. Wie er von der Ausgrabung 
abstehen will oder abgestanden ist, kommen die ent¬ 
gegengesetzten Vorstellungen mit erneuter Gewalt, 
und so wird er Wochen lang- zwischen Entschluss 
und Gegenentschluss hin- und hergeworfen, bis ihm 
die Behörden seinen Wunsch bestimmt versagen. 
Von nun an quärulirt er beständig um die Exhumirung. 

Der Mechanismus der GegenvoiStellungen erklärt 
auch die Contrasuggestionen (conträren Auto¬ 
suggestionen) bei Hysterischen. Wenn durch 
Einschränkung des psychischen Gesichtsfeldes, wie 
es Hysterische so oft zeigen, die Ueberlegung ge¬ 
hindert ist, kommen nur noch Vorstellung und Gegen¬ 
vorstellung und secundäre Triebe und Gegentriebe 
zur Wirkung. Es kann wahllos eben so gut die eine 
wie die andere Tendenz die Oberhand gewinnen, 
deshalb das hülflose hin- und hergeworfen werden so 
vieler Hysterischen zwischen Suggestion und Contra¬ 
suggestion. 

Genauer auf die Literatur über Negativismus 
einzugehen lohnt sich wohl nicht. Folgende Be¬ 
merkungen mögen genügen. 

Am nächsten kommt unserer Auffassung Sante 
de Sanctis (cit. Zeitschr. für Physiologie der Sinnes- 
org. Bd. 13, pg. 397.), doch spricht er sich wohl zu 
vage aus: „Der einem jedem innewohnende Geist 
der Verneinung überwuchert den Rest der Wider¬ 
standskraft des Ich, der sich in Contrastempfindungcn 
äussert.“ 

Wenn Rag hi und Paul ha n (in Camus et 
Pagniez, Isolement et Psychotherapie, pg. 225) die 


Abulie durch Contrastassociation erklären, so berühren 
sich unsere Anschauungen ebenfalls. Sie lassen aber 
die Frage unbeantwortet, warum diese Constrast- 
associationen eine solche Rolle spielen können. 

Ungenügend ist wohl für den psychischen Vor¬ 
gang die Erklärung Rollers (A. Zeitschr. f. Psych. 
4 2. pg. 37), dass der Negativismus ausgelöst werde 
durch gleichzeitige Innervation der Antagonisten. Inner¬ 
vation der Antagonisten bewirkt wohl eine gegenteilige 
Bewegung des Gliedes, nicht aber eine gegenteilige 
Handlung oder gar eine gegenteilige Denkweise. 

Nach L und b erg (Centralblatt für Neur. und 
Psych. 1902 pg. 554.) sind verschiedene Arten von 
Negativismus anzunehmen. Eine derselben erklärt 
sich durch eine der Myotonie ähnliche Störung der 
Motilität, welche dem Patienten verhindert das zu thun. 
was er beabsichtigt. Diese Ueberlegung könnte höch¬ 
stens den passiven, nicht aber den activen Negativismus 
erklären. 

Wern icke nimmt an, der Wille schlage wegen 
der innen) Widerstände eine entgegengesetzte Richtung 
ein. Es scheint mir aber, die innem Widerstände 
können nur eine andere, nicht aber eine entgegen¬ 
gesetzte Richtung bedingen. 

Alter (Neurol. Centralbl. 1904, p. 8) giebt ein 
Amendement zu der W ernicke’sclien Ansicht: Mit 
den Agonisten werden immer auch die Antagonisten 
erregt. Durch Sejunction entsteht in der Agonisten bahn 
eine Stauung des Neurokyms; dieses wird dadurch 
gezwungen auf die Antagonisten überzugehen. Ab¬ 
gesehen davon, dass die Sejunction ein unheimlich 
weiter Begriff ist (hysterische, paranoische, hebephrene 
Sejunktion sind doch wohl principiell stark verschieden), 
trifft die gegen Roller gemachte Bemerkung auch 
hier zu. 

Mit Gross (Monatsschrift f. Psych. 1902, 
p. 359) den Negativismus aus der „Affectlage der 
Ablehnung“ zu erklären, scheint mir sehr gewagt. 
Bei Aeusserungen des Negativismus sind gar nicht 
immer Zeichen eines Affectes zu sehen. Ferner ist 
die Ablehnung doch w'ohl ein complicirter Vorgang, 
von dem ein Affect höchstens einen Theil ausmacht. 
Gäbe es normaliter einen Affect der Ablehnung, der 
etwa bei Dementia praecox pathologisch verstärkt 
wäre, dann müsste dies der Affect (oder einer der 
Affccte) unserer negativen Suggestibilität sein, wobei 
indessen das Zusammenvorkommen dieser letztem mit 
hochgradiger positiver Suggestibilität noch einer be- 
sondern Erklärung bedürfte. 

* * 

* 


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i Q 04 -] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


263 


Resurae. 

Es giebt nicht nur eine positive Suggestion, d. h. 
eine Tendenz zur Annahme der von aussen ge¬ 
botenen Vorstellungen und Gefühle, sondern ganz 
analog auch eine negative, das heisst eine Tendenz 
zur Ablehnung. Diese ist normaliter eines der wich¬ 
tigsten Momente zur Erzwingung einer Ueberlegung 


vor dem Handeln. Auf pathologischem Gebiete führt 
sie zu Negativismus, zu den conträren Autosugge¬ 
stionen und zu einer gewissen Klasse von Zwangsideen. 
In der gesunden wie in der kranken Psyche ist starke 
negative Suggestibilität meist verbunden mit starker 
positiver, und bildet oft ein Korrigens zu letzterer. 


Epileptische Schulkinder. 

Nach einem auf dem 1. internationalen Kongress für Schulhygiene zu Nürnberg 
am 5. IV. 1904 gehaltenen Vortrag. 

Von W. Wcygandt - Würzburg. 

(Fortsetzung.) 


Was uns nun besonders interessirt, ist die Frage, 
inwieweit der Schulbesuch und das Lernen in der 
Schule, vor allem auch der Schulbetrieb durch epilep¬ 
tische Kinder gestört wird. Die ganz blödsinnigen 
Kinder sind natürlich nicht fähig die Normalschule 
zu besuchen, ebenso die schwerhörigen oder taub¬ 
stummen. Vereinzelt wurde auch ein Kind wegen 
gehäufter Anfälle aus der Schule weggelassen. Andere 
wieder sassen wegen geringerer Leistungen ganz unten 
in der Schule. Ein Junge litt sei dem 7. Jahre an 
häufigen Anfällen ohne Zuckungen; zu Haus, auf 
der Strasse und in der Schule, alle 2 bis 3 Tage einmal, 
gelegentlich auch öfter, selbst dreimal an einem Tag. 
Der Schulbesuch ging aber gut von statten, Patient 
lernte ziemlich gut bis zum 12 Jahr. Da Hessen die 
Leistungen erheblich nach und er blieb sitzen. Im 
2. Jahrgang ging er noch mehr zurück, 2X8 kann 
er nicht rechnen, er weiss nicht den Namen des 
Prinzregenten. Dazu traten bedenkliche Characterzüge 
auf, Patient ist reizbar, äusserst unverträglich, dabei 
auffallend geizig und darauf erpicht, Geld zu bekommen. 
Die Anfälle sind nachts sehr häufig, bei Tag und 
in der Schule äusserst selten. Sie würden jedenfalls 
dem Schulbesuch nicht im Wege stehen, wohl aber 
hat die Demenz und ganz besonders die Streitsucht 
bei den Lehrern Bedenken erweckt, ob sie den Pat. 
noch länger in der Schule dulden sollen. 

Störungen des Unterrichts jedoch sind nur 
recht wenig zu verzeichnen. Bei einem Kinde trat der 
allererste Anfall in der Schule auf und dann wieder¬ 
holten sich noch öfter beim Befragen die Anfälle. 
Ein anderes Kind hatte zunächst leichte Anfälle, die 
gar nicht auffielen. Allmählich wurden die Anfälle 
stärker, dabei sprang die kleine Patientin auf, be¬ 
schimpfte die Kinder und Hess Urin. Daraufhin wurde 
sie für einige Jahre zu Hause gehalten. Als nach 

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dem Eintritt in meine Behandlung die bisher ausser¬ 
ordentlich zahlreichen Anfälle für 1 U Jahr sehr 
zurückgetreten waren, wurde wieder ein Versuch 
mit dem Schulbesuch gemacht, allerdings vergeb¬ 
lich, denn gleich in den ersten Tagen trat wieder je 
ein Anfall auf. Ein Kind hatte einen leichten Anfall 
in der Schule. Ein anderes, dem die unvernünftigen 
Eltern Bier zu trinken gaben, lernte mangelhaft, war 
müde in der Schule und schlief manchmal ein. Zwei 
Kinder hatten mehrfach leichtere Anfälle, kurze Ab¬ 
sencen, ohne dass der Lehrer oder die Lehrerin etwas 
davon merkten. 

Viele hatten zu Hause, vor allem im Bette An¬ 
fälle, während sie in der Schule verschont blieben. 
Ein Junge hatte Morgens um 7 Uhr einen Anfall mit 
Zusammensinken des ganzen Körpers, Bewusstlosigkeit 
und darauffolgendem halbstündigen Schlafe. Sodann 
ging er zur Schule und arbeitete ganz ordentlich mit; 
nach Haus zurückgekehrt bekam er wieder einen An¬ 
fall mit Zuckungen. Von mehreren heisst es, dass 
sie in der Schule recht ordentlich sind, einer wurde 
als bester Schüler bezeichnet. Bei einem Jungen war 
von mir ein Attest verlangt worden, dass er nach einer 
Zeit mit regelmässigen Anfällen, die allmählich zurück¬ 
gegangen waren, wieder die Schule besuchen könne- 
Ich schrieb, dass, wenn auch die Möglichkeit der 
Wiederkehr zwar nicht absolut auszuschliessen sei, 
ein Versuch doch gemacht werden könnte und es 
nur wünschenswerth erscheine, dass der jeweilige 
Lehrer über die Vorgeschichte informiert sei. Der 
Versuch ist gelungen. 

Ein paar Worte seien noch der Behandlung ge¬ 
widmet. Von einer bleibenden Heilung ist nur in 
wenigen Fällen die Rede. Im ganzen bewährt sich 
noch am besten die Bromtherapie in Verbindung mit 
diätetischem Verhalten und viel Ruhe. Vor allem die 

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264 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 28. 


verbreitete Anämie, die mindestens die Hälfte der 
Fälle betraf, verlangt Berücksichtigung. Im Status 
epilepticus leisteten Klystiere mit Amylenhydrat gute 
Dienste. 

Castoreumbromid sowie Bromipin hatten gelegent¬ 
liche Besserung zur Folge. Vereinzelt hörten die 
Symptome nach Bromgebrauch sofort auf, öfter kam 
es vor, dass nach einer mehrwöchigen Pause doch 
wieder Anfälle auftraten. Manchmal änderte sich der 
Typus der Anfälle, oder es besserte sich ein Symptom, 
während andere blieben. Einmal machte das Kind 
bessere Fortschritte im Laufen und Sprechen, während 
seine Anfälle sich nicht änderten. Gelegentlich sah 
man freilich auch Besserungen ohne Medikamente. 
Ein Patient war bis zum 20. Jahre in Anstalten für 
Schwachsinnige, doch hatten seine Anfälle allmählich 
ohne Bromgebrauch nachgelassen und waren schliess¬ 
lich vollkommen verschwunden. Schwerhörigkeit, 
nächtliches Schreien, geringer Tremor und eine gewisse 
geistige Rückständigkeit waren noch zu verzeichnen. 
Ich unterzog den Fall einer langdauernden, eingehen¬ 
den Untersuchung unter Zuhilfenahme experimental- 
psychologischer Methoden und kam zu der Anschau¬ 
ung, dass seine psychische Rückständigkeit vorzugs¬ 
weise auf Mangel an Lemgelegenheit in der Jugend 
zurückzuführen sei. Auf mein Gutachten wurde die 
Entmündigung aufgehoben. Seit einigen Jahren hält 
sich der frühere Patient ohne Vormund durchaus 
korrekt, die Lücken seines Wissens hat er mittler¬ 
weile ausgefüllt. 

Was unsere bisherigen Ausführungen von den Re¬ 
sultaten anderer Autoren unterscheidet, ist einmal 
das seltenere Vorkommen einer Demenz. Nur V4 
der Fälle sind dement, während Kräpelin z. B. davon 
spricht, dass mehr als die Hälfte in geistiges Siech¬ 
thum verfallen. Dipsomanie ist bei den jugendlichen 
Patienten gar nicht zu konstatiren. Auch directe anti¬ 
soziale Handlungen fehlen, von der ungezogenen 
Aufführung mancher Kinder abgesehen, denn der 
Brandstifter war schon über die Kindeijahre hinaus. 

Es erklärt sich all das zwanglos aus der Eigenart 
des Materials, das eben vorzugsweise im Kindesalter 
stand und fernerhin vielfach frisch erkrankte Fälle 
enthielt Der Schwachsinn ist offenbar in jener Lebens¬ 
zeit und auch zu Beginn der Erkrankung noch nicht 
so stark entwickelt wie bei den Anstaltspatienten, bei 
denen Kellner hinreichende psychische Leistungsfähig¬ 
keit nur etwa in 10% der Fälle fand. Ferner ist 
der Drang zum Trinken beim kindlichen Alter von 
vornherein doch wesentlich geringer als bei Er¬ 
wachsenen und auch leichter zu bekämpfen. In ge¬ 
wisser Parallele zu den dipsomanischen Neigungen 


steht der in 2 Fällen beobachtete periodisch auf tre¬ 
tende Heisshunger, der natürlich viel harmloser ist 
als das Zwangstrinken, weil bei diesem der Alkohol 
selbst den pathologischen Prozess noch wesentlich ver¬ 
schlimmert. 

Aus all dem ergiebt sich, dass die epileptischen 
Schulkinder keineswegs nach einem und demselben 
Schema behandelt werden können. Gerade die zahl¬ 
reichen Fälle mit leichten Symptomen sprechen durch¬ 
aus dagegen. Wir sind jetzt mit der genaueren 
Diagnose der Epilepsie in eine ähnliche Lage ge¬ 
kommen wie bei der Tuberkulose, wo ja auch die 
leichten Fälle die Majorität einnehmen, die keineswegs 
alle sofort in Sanatorien untergebracht oder als Todes¬ 
kandidaten angesehen werden können. 

Die erwähnte Bemerkung aus einer Schulvorschrift, 
wodurch Epilepsie als ansteckend bezeichnet wird, 
brauchen wir kaum eingehend zu widerlegen. Wohl 
können hysterische Kinder erregt und auch einmal zu 
hysterischen Anfällen provociert werden durch den 
Anblick eines epileptischen Krampfanfalles, aber die 
Epilepsie als solche ist keineswegs übertragbar. Eine 
andere, gelegentlich geäusserte Ansicht von Schul¬ 
männern , wonach epileptische Kinder vom Schul¬ 
besuch auszuschliessen seien, kann ebenso wenig auf¬ 
recht erhalten werden. Mit demselben Recht könnte 
man tuberkulöse Kinder aus der Schule verbannen, 
freilich müsste man dann fast die Hälfte aller Schul¬ 
klassen auflösen. 

Blödsinnige Kinder gehören, ob mit oder ohne 
epileptische Anfälle, in die Idiotenanstalt Da sind 
solche Fälle ja auch längst reichlich vertreten, sowohl 
mit vorausgegangener cerebraler Kinderlähmung als 
auch ohne eine solche. In den bayerischen Idioten¬ 
anstalten fanden sich 453 Insassen, also 20%, die 
als epileptisch bezeichnet wurden. Von den leichter 
schwachsinnigen, imbezillen und dabei epileptischen 
Kindern trifft man eine ansehnliche Menge in den 
Hilfsschulen, durchschnittlich 1,35%. Im einzelnen 
treffen wir bedeutende Schwankungen von 0,5 bis zu 
10% in Apolda; in kleinen Hilfsschulen manchmal ver- 
hältnissmässig noch mehr, so 3 von den 16 Kindern 
in Oschatz und 2 von 12 in Stuttgart. 

Epileptische Kinder, die antisociale Neigungen 
zeigen, zum Stehlen, Brandstiften usw., könnten am 
zweckmässigsten in der Fürsorgeerziehung ihre Unter¬ 
kunft finden. Auch die Kinder mit krankhaftem 
Wandertrieb, professionelle Schulschwänzer, finden 
dort oder in anderweitigen geschlossenen Internaten 
ihren geeigneten Platz. Thatsächlich sind die Leiter 
der Fürsorgeerziehungsanstalten vielfach schon ganz 
spontan darauf aufmerksam geworden, dass sich unter 


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1904] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


265 


den Zöglingen einige finden, die periodisch die Neigung 
zum Durchbrennen haben; ähnliches findet sich auch 
bei Hilfsschulzöglingen. 

Kinder mit gehäuften Anfällen, etwa täglich einem 
solchen, oder serienweisen Anfällen an einem Tage, 
womöglich mit Neigung zu Status epilepticus ohne Er¬ 
wachen zwischen den einzelnen Anfällen, bedürfen 
der intensivsten ärztlichen Behandlung. Sie müssen 
selbstverständlich auf Zeit vom Unterricht ausge¬ 
schlossen werden, aber weder die straffe Zucht der 
Fürsorgeerziehungsanstalt ist für sie geeignet, noch 
der Betrieb der Idiotenanstalten, die ja leider zum 
grösten Theil bei uns noch in pädagogischen Händen 
sind. Hier ist zunächst Bettbehandlung am Platze, 
die in jedem Krankenhause, vor allem Kinderspitälem, 
zur Not aber auch in der Familie durchgeführt werden 
kann. 

Wie steht es nun mit jenen Kindern, die ganz 
vereinzelt einen Anfall oder auch nur eine leichtere 
Absence, eine motorische Reiz- oder Lähmungser¬ 
scheinung bekommen ? Sie können meines Erachtens 
ganz ruhig in ihrer Schule verbleiben, unter der 
Voraussetzung, dass sie schulärztlich überwacht sind 
und der Lehrer über die Eventualitäten informiert 
ist. Wir hörten ja schon, dass gelegentlich die Lehrer 
gar nicht merkten, was Abnormes mit dem Kinde 
vorging. Zweifellos werden sie es in manchen Fällen 
auch merken, aber nicht verstehen, und dann mit un¬ 
gerechten Strafen gegen das Kind Vorgehen. Gelegent¬ 
lich habe ich im Einvernehmen mit den Eltern die 
Schuldirektoren schon informiert über die Sachlage 
bei den kleinen Patienten. 


Das ist in unserer Zeit der Schulärzte unerlässlich, 
dass die Lehrer über das Wesentliche der Krankheit 
instiuiert werden , damit sie nicht zu Strafen greifen, 
wo verständnisvolle Ueberwachung und mitleidige 
Hilfe am Platze ist. Zweifellos können manchmal 
krankhafte Zustände gerade dann auftreten, wenn der 
Kleine gefragt wird. Einem unverständigen Lehrer 
kann dieses Verhalten dann als eine Arglist, eine 
freche Simulation des Schulkindes erscheinen. Nicht 
nur die psychische Erregung, die bei Epilepsie ja 
gerade keine sehr grosse Rolle spielt, wenn sie auch 
gelegentlich bei der Auslösung von Symptomen mit- 
wirken kann, sondern mehr noch das lange Stehen 
mit der erschwerten Blutzufuhr zur Hirnrinde kann 
eine Attaque auslösen. 

Ist einmal ein Anfall ansgebrochen, so bleibt 
nichts übrig, als das Kind ruhig hinzulegen, möglichst 
ausserhalb des Schulzimmers, um dieKlassenkameraden 
nicht zu sehr aufzuregen. Im ganzen sind kindliche 
Epileptiker verträglich, ja häufig von musterhaftem 
Fleiss, so dass sie sich in der ruhigen Zeit ganz gut 
mit den Schulkameraden vertragen. Ihre Strebsamkeit 
erlaubt*vielfach auch rasches Nachholen dessen, was 
sie etwa durch die Anfälle versäumt haben. Eine 
Verbannung dieser Kinder mit leichten motorischen 
Reizerscheinungen oder motorischen Anfällen in 
Idiotenanstalten oder eine Ausschliessung vom Unter¬ 
richt wäre eine harte Ungerechtigkeit. Vereinzelte 
epileptische Attaquen sind ja vielfach bei geistig hoch¬ 
stehenden Menschen vorgekommen, so bei Napoleon I. 
wie auch bei Helmholtz. Wie hätte man diese vom 
Unterricht ausschliessen dürfen? (Schluss folgt.) 


Mitthei lungen. 


— Am 23.—24. Oktober findet in Budapest die 
III. Landeskonferenz der ungar. Irrenärzte 

statt. Auf derselben gelangen folgende Referate zur 
Verhandlung: 1. „Geisteskrankheit und Geistes¬ 
schwäche vom jurid. und ärztl. Standpunkt“, Reff. 
Prof. v. Balogh und Prof. Moravcsik. 2. „Das 
Verfahren der Entmündigung und der Aufhebung 
der Curatel bei Geisteskranken“, Ref. kgl. Tafelrichter 
Markus. 3. Die Eintheilung der Geisteskrankheiten 
mit Rücksicht auf die Anstaltsstatistik, Ref. Dir. v. 
Olah. 4. „Die Neuronlehre vom histol. und pathol. 
Standpunkte“, Ref. Prof. Schaffer. 5. „Anstalts¬ 
behandlung unbemittelter Nervenkranker“, Ref. Doc. 
Sa 1 go. 

Ferner sind im Programme folgende Vorträge 
enthalten: 1. Hajos: „Die Meinungsfreiheit dos Irren¬ 
arztes“. 2. Gero: Ueber die verminderteZurechnungs- 

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fähigkeit“. 3. Doc. v. Sar t n: Ueber die traumatische 
Neurose“. 4. Hudovernig u. Guszman: „Das 
Verhältnis der tertiären Lues zur Tabes u. Paralyse“. 

5. Fercnr z i: „Ueber zwei Formen der Neurasthenie“. 

6. Dir. Konrad: „Die Einführung der familiären 
Irrenpflege in Ungarn. 7. Dir. N o w ack: „Daten zur 
Verpflegung Geisteskranker in kleineren Spitälern“. 
8. Ranschburg: „Schwachsinnige als Zeugen.“ 9. 
Fischer (Budapest): „Die anstaltliehe Versorgung 
Iinbeciller“. 10. Prof. Alexander: „Apperccptions- 
nnd Associationspsychologie.“ 11. Gefängnissarzt 
Pattantyus: „Der Einfluss des psychischen Lebens 
auf die tuberculöse Erkrankung.“ 12. Doc. Donath: 
„Zur Psychopathologie des Masochismus.“ 13. Prim. 
Fischer: „Ueber die Neurasthenie und das Ein¬ 
gangsstadium der Paralyse.“ Ausserdem ist eine 
Demonstration angemeldet von Petry Poposts: 

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266 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 28. 


„Zur Methode der Gehimuntersuchungen.“ Sekretär 
des Org. Comites ist Prim. Dr. L. Epstein (Buda- 
pest-Lipotmezö). 

— 15. Verbandstag deutscher evang. Irren - 
Seelsorger. Am 13 Sept. hat der Verband deutscher 
evang. Irrenseelsorger seine Jahresversammlung 
in Stuttgart 'abgehalten. Als Vertreter der staat¬ 
lichen und kirchlichen Behörden erschienen waren 
Präsident v. Nestle und der neuernannte Referent für 
das Irrenwesen Med.-Rat Dr. Kölle, sowie Ob.-Kons.- 
Rat Keeser und Mediz.-Rat Dr. Kreuser-Winnen- 
thal. Der langjährige Seelsorger von Weissenau, 
Dekan Knapp in Ravensburg, hielt einen Vortrag 
über die Nothwendigkeit der Irrenseelsorge. Er wies 
zuerst die Bedenken zurück, die man gegen die Mit¬ 
arbeit der Geistlichen, an den Anstalten einwenden 
könnte und auch schon eingewendet habe, und zeigte, 
wie die Seelsorge nicht nur im Namen der Religion 
vom kirchlichen Standpunkt aus nöthig sei, sondern 
im Interesse der Kranken selbst und der Anstalten 
liege, und darum auch von ärztlicher Seite verlangt 
werde. Es habe ja in alter und neuer Zeit eine 
grosse Zahl von Aerzten gegeben, die mit religiöser 
Wärme selbst ihren Kranken Trost zuzusprechen ver¬ 
standen hätten. Aber diese Aufgabe sei doch eigent¬ 
lich Sache des Geistlichen der in der Gedankenwelt 
der Bibel zu Haus sei. Die Berechtigung c^r Seel¬ 
sorge sei auch in allen Staatsanstalten durch die An¬ 
stellung von Anstaltsgeistlichen anerkannt. Unser 
christliches Volk verlange für seine Kranken die reli¬ 
giöse Tröstung und Berathung. Den Gedanken, dass 
einmal ein allgemeiner Humanitätsglaube an Stelle 
des Christenthums treten könnte, fürchte er nicht, denn 
die Religion sei in den ewigen Bedürfnissen des 
Menschenherzens nach Gottesgemeinschaft gegründet. 
Der Geistliche müsse mit dem Arzt Hand in Hand 
gehen in verständiger Unterordnung und in gegensei¬ 
tigem Vertrauen. 

Es war sehr werthvoll, dass Med. Rat Dr. Kreuser 
vom ärztlichen Standpunkt aus die Frage beleuchtete 
und zeigte, wie mit der Nothwendigkeit der Seelsorge 
überhaupt, also nicht aus einem spezifischen psycho¬ 
therapeutischen Bedürfnisse, das Recht und die Pflicht 
der Irrenseelsorge gegeben sei. Dem Kranken müsse 
alles das an religiösem Leben in der Anstalt darge¬ 
boten werden, was er draussen gehabt und verlangt 
habe. Der Arzt fordere, abgesehen von seinem per¬ 
sönlichen Standpunkt, die Arbeit der Seelsorger beider 
Konfessionen für seine Kranken. Der Anstaltsleiter 
müsse mit dem Geistlichen beständige persönliche 
Fühlung haben, um denselben auf die Kranken auf¬ 
merksam machen zu können, welche besondere reli¬ 
giöse Bedürfnisse haben, aber auch auf die Fälle hin¬ 
zuweisen, in welchen Zurückhaltung durch den Stand 
der Krankheit geboten sei. Tm Stadium der Rekon¬ 
valeszenz und bei den sogenannten abgclaufeneri 
Fällen werde die Thätigkeit des Arztes durch die 
Mitarbeit des Geistlichen wesentlich unterstützt. 

Der zweite Vortrag von Pfarrer Z e 11 er - Schlissen- 
ried über die verschiedene seelsorgerliche Behandlung 
der einzelnen Psychosen führt in das Arbeitsgebiet 

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der Seelsorge selbst mitten hinein. Auf der Grund¬ 
lage einer prinzipiellen Erörterung über den Begriff 
und das Wesen, die Aufgabe und Eigenart, den Um¬ 
fang und den Erfolg der Irrenseelsorge und ihres 
intimen Verhältnisses zu der ärztlichen Leitung gab 
Referent zuerst einen Ueberblick über die allgemeinen 
Gesichtspunkte und Grundsätze, welche für die seel¬ 
sorgerliche Behandlung aller Anstaltskranken überhaupt 
massgebend sind, zeigte, welche persönlichen, wissen¬ 
schaftlichen und praktischen Erfordernisse der Irren¬ 
seelsorger haben müsse, welche Richtlinien in formaler 
Weise seine Arbeit modifiziren und welche Grund¬ 
sätze inhaltlich die psychisch-religiöse Einwirkung auf 
die Gemüthsleidenden bestimmen. Sodann wurde der 
Versuch gemacht, an der Hand der Mittheilungen 
über den Verlauf und die Eigenart der einzelnen 
Kiankheiten methodische Winke für die Einzelarbeit 
zu geben. Bei den Schwermüthigen wie bei den 
Manikalischen müsse der Geistliche anfangs sich zu¬ 
rückhalten, denn Ruhe sei das grösste Bedürfniss für 
das kranke Gcmüth; aber mit dem Eintreten der 
Rekonvaleszenz setze auch die Arbeit des Geistlichen 
ein ; sehr schwer aber nicht unmöglich sei es, auch 
an den mit unheilbarem Wahn Behafteten heranzu¬ 
kommen, besonders viele Mühe machen die Hyste¬ 
riker, ebenso müsse man viel Zeit und Teilnahme 
dem nach Ablauf des akuten Krankheitsanfalls unge- 
heilt in der Anstalt zurückbleibenden, religiös oft sehr 
empfänglichen Patienten zuwenden, und endlich auch 
bei der schweren Krankheitsform der Paralyse sei 
bis zum Erlöschen des letzten Rests geistigen Lebens 
seelsorgerliche Behandlung möglich und nothwendig. 
Die Arbeit des Geistlichen aber müsse sich aufs engste 
der vom ärztlichen Standpunkt aus als richtig er¬ 
kannten psychischen Handlungsweise anschliessen und 
darum sei es unerlässlich, dass der Anstaltsarzt und 
der Seelsorger in beständiger gegenseitiger Fühlung 
stehen und in harmonischem Einvernehmen bleiben. 

— Berlin. Direktionswechsel in den 
städtischen Irrenanstalten. Die Stadt Berlin 
sieht sich vor die eigenartige Aufgabe gestellt, 
spätestens im Laufe des nächsten Jahres für drei ihrer 
Irrenanstalten, unter Zuständen sogar für alle vier 
neue Direktoren wählen zu müssen. Geheimrat 
Sander von der Da Udorf er Anstalt tritt nach mehr 
als fünfundzwanzigjähriger Thätigkeit in städtischen 
Diensten am 1. April 1905 in den verdienten Ruhe¬ 
stand Direktor Dr. Hebold von der Anstalt für 
Epileptische in Wuhlgarten legt demnächst ebenfalls 
sein Amt nieder. Für die neue Anstalt in Buch 
muss gleichfalls ein neuer Direktor ernannt werden. 
Als solcher wird immer wieder Geheimer Medizinalrat 
Moeli von der Anstalt in Herzberge genannt, der 
der geistige Erbauer der Anstalt in Buch ist. Bei 
den äusserst intimen Beziehungen des Herrn Ge¬ 
heimrats Moeli zum Kultusministerium rechnen Kenner 
der Verhältnisse aber auch mit der hohen Wahr¬ 
scheinlichkeit, dass der berühmte Psychiater für eine 
Staatsstellung in Aussicht genommen ist. Eventuell 
müsste also .auch der Direktorposten in Herzberge 
neu besetzt werden. (Aus Berl. Tagesblättern.) 

Original fram 

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I9°4-] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


267 


— Der Geisteszustand der Prinzessin 
Luise von Koburg. (Fortsetzung.) 

Aus dem Berichte über das Jahr 1902 führen 
wir noch besonders an, dass während der im Feber 
eingetretenen Erregungsperiode die hohe Patientin 
sehr misstrauisch war und glaubte, alle Welt hinter¬ 
gehe sie. Sie horchte an den Thüren und schlich 
leise im Hause auf den Treppen herum. — Auch 
die Schilderung ihres Verhaltens im Dezember 1902 
lässt erkennen, dass zeitweise ihr Geisteszustand ein 
ganz verworrener wird. Auch mehrere Tage kurz 
vor Weihnachten erschien sie wie blöd, schwatzte 
sinnloses Zeug durcheinander, zog sich nicht ordentlich 
an, sass unfrisirt herum, war ausserordentlich schmutzig, 
kratzte fortwährend am Kopfe auch vor Fremden. 
Ergebniss der persönlichen Beobachtung 
durch die Unterzeichneten. 

Die im Juli und September abgestatteten Besuche 
fielen in eine Periode relativ ruhigeren Verhaltens 
Ihrer königl. Hoheit, nachdem im Frühjahre, wie 
wir erfahren haben, wieder Zeiten grösserer Gereizt¬ 
heit und Erregtheit vorgekommen waren. Die Frau 
Prinzessin selbst gab uns an, dass sie in diesen 
Zeiten wie schon öfter an stärkerer Nervosität ge¬ 
litten habe; ihre ganze Haltung bei unseren Besuchen 
war die der vornehmen Dame, die gewohnt ist, 
Konversation zu machen und sich über mancherlei 
Themata leicht und gewandt, wenn auch ohne 
tieferes Eingehen, auszusprechen; sie hatte sich er¬ 
sichtlich auf diese Explorationen vorbereitet und war 
bestrebt, einen möglichst guten Eindruck zu machen. 
Die treffende Angabe des Herrn Dr. Pierson, dass 
ein ferner stehender Beobachter auch bei grosser 
Sachkenntniss sich nur schwer eine zutreffende Vor¬ 
stellung von dem Zustande, wie er wirklich ist, 
machen könne, fanden wir daher zunächst vollauf 
bestätigt. Bei näherem Eingehen auf die früheren 
Ereignisse, sowie auf die jetzt bei der Frau Prinzessin 
vorhandenen Anschauungen über Gegenwart und 
Zukunft entrollte sich uns jedoch das Bild ihres 
defekten Geisteszustandes in voller Deutlichkeit. 
Trotz der langen Zeit, die inzwischen vergangen ist, 
hat sich bei der hohen Patientin keine Einsicht in das 
Verkehrte ihrer damaligen Handlungsweise ent¬ 
wickelt ; der alte Hass gegen ihren Gemahl besteht 
unverändert fort und wurde uns gegenüber mit den¬ 
selben nichtigen Argumenten begründet wie früher. 
Auch die Abneigung gegen ihren Sohn wurde ledig¬ 
lich damit motivirt, dass derselbe zum Vater halte. 
Sie betonte dabei wiederholt ihre eigene Reinheit 
und Vortrefflichkeit und vermochte nicht einzusehen, 
dass lediglich durch ihr Verhalten die bedenkliche 
Situation herbeigeführt worden sei, welche schliesslich 
ihre Ueberführung in Anstalten und ihre Entmündi¬ 
gung nothwendig gemacht habe. Ihre Beziehungen 
zu Mattasich bezeichnet sie als etwas durchaus Zu¬ 
lässiges, der Anstand sei nicht verletzt worden und 
die Schwierigkeiten hätten ja einfach durch eine 
Ehescheidung überwunden werden können. Ueber 
den finanziellen Zusammenbruch, der die Folge ihrer 
masslosen Verschwendung war, sprach sie sich eben¬ 
falls in leichtherziger Weise aus. Sie verstehe eben 


nicht mit Geld umzugehen, habe von Wechseln keine 
Vorstellung, glaube auch jetzt nicht, dass Fälschungen 
vorgekommen seien; sie erkenne aber an, dass sie 
in finanzieller Beziehung eines Beirathes bedürfe, 
müsse jedoch dagegen protestieren, dass man sie für 
schwachsinnig erklärt habe. Sie gab der Hoffnung 
Ausdruck, dass wir durch unsere Beobachtungen zu 
der Ueberzeugung kommen würden, die Entmündi¬ 
gung müsse aufgehoben werden. Schon die Be¬ 
sprechung der nächsten Folgen einer solchen Mass- 
regel Hess jedoch erkennen, dass die Frau Prinzessin 
zu verhältnissmässig naheliegenden Ueberlegungen un¬ 
fähig ist. Der Vorstellung, dass wenn sie jetzt als 
gesund, d. h. von der früheren Krankheit genesen 
angesehen werden sollte, sie doch vor Allem ein- 
sehen müsse, dass ihr früheres Handeln ein krank¬ 
haftes gewesen sei, ist die Frau Prinzessin nicht zu¬ 
gänglich. Wie sie auch in den dem Gerichte über¬ 
reichten Schriftstücken ausführte, hat sie wohl eine 
gewisse Empfindung dafür, dass krankhafte Er¬ 
scheinungen bei ihr vorhanden gewesen sein können, 
sie meint z. B. den Wiener Aerzten seinerzeit einen 
unvortheiIhaften Eindruck gemacht zu haben, weil sie 
sich damals in Folge der vorangegangenen Ereignisse 
in körperlicher und seelischer Depression befand. — 
„Ein geheizter Mensch ist unzurechnungsfähig,“ sagte 
sie bezüglich ihres Verhaltens im Jahre 1898. Dass 
aber dieses Gefühl des Gehetztseins lediglich die 
Folge ihrer damaligen Handlungsweise war, und dass 
gerade in dieser seit Jahren immer auffallender 
werdenden Handlungsweise der Beweis für ihren 
krankhaften Geisteszustand zu finden ist, das ist ihr 
jetzt ebenso wenig klar zu machen, wie früher. 

Die Darstellung in ihrem Schriftsatz ist ungemein 
charakteristisch für ihre Unfähigkeit, die Dinge zu 
sehen wie sie sind, und für das hierait zusammen¬ 
hängende Bestreben, ihr Geschick als die Folge 
„feindlicher“ Bestrebungen hinzustellen. In ihrem 
Schriftsätze findet sich der Satz: „Hätte der Prinz 
wirklich die Ueberzeugung gehabt, meine Abneigung 
gegen ihn sei eine grundlose, wäre es seinerseits nur 
seine Pflicht gewesen, mich mit allen Rücksichten zu 
umgeben und nichts unversucht zu lassen, um mich 
auf andere Gedanken zu bringen. 4 ‘ In Wahrheit 
sind ihr aber während dieser Intemirung alle nur 
denkbaren Rücksichten widerfahren und sie selbst 
hat mit lebhafter Dankbarkeit uns Allen gegenüber 
zum Ausdruck gebracht und dies auch in ihrem 
Schriftsatz hervorgehoben, wie sehr sie sich Herrn 
Sanitätsrath Dr. Pierson für sein liebevolles Verhalten 
und für seine Bemühungen, ihr Erleichterungen und 
Annehmlichkeiten zu verschaffen, verpflichtet fühle. 
Dass dies Alles aber nur mit Zustimmung ihres Ge¬ 
mahls möglich war und dass die allmähliche Tilgung 
der enormen Schuldenlast, die sie kontrahirt hat, nur 
durch grosse Opfer von dieser Seite durchführbar 
ist, dafür hat sie kein Wort der Anerkennung und 
es bleibt unerfindlich, mit welchen weiteren Rück¬ 
sichten er sie denn noch hätte umgeben können. 
Auch für die Zukunft wünscht sie kein Zusammen¬ 
leben, hält es aber für selbstverständlich, dass es ihr 
gestattet wird, nach Belieben ihren Wohnsitz zu 


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HARVARD UNiVERSITY 




268 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 28. 


wählen und ihr Leben einzurichten. Dabei ist be¬ 
zeichnend für das bei der Frau Prinzessin selbst be¬ 
stehende Gefühl ihrer Unsicherheit und Willens¬ 
schwäche, dass sie (Anhang zu dem Schriftsatz) gern 
zunächst noch eine Zeit lang in der Anstalt des 
Herrn Dr. Pierson bleiben möchte, „bis meine An¬ 
gelegenheit in Ordnung ist“, und dass sie weiterhin 
gern in die Nähe Dresdens ziehen würde, offenbar 
in der Empfindung, dass sie dann noch bis zu einem 
gewissen Grade des ärztlichen Schutzes und der 
Leitung des Herrn Dr. Pierson theilhaft werden könnte. 

Ihrer Zufriedenheit mit dem Aufenthalt in Linden¬ 
hof hat sie wiederholt im Laufe der mit uns ge¬ 
führten Unterredungen Ausdruck gegeben und es ist 
bei uns der Eindruck entstanden, dass sie sich trotz 
ihres Protestes gegen die Internierung ohne Schwierig¬ 
keit der Verlängerung dieses Aufenthaltes fügen wird, 
wenn nur wie bisher durch öftere Besuche ihrer 
hohen Verwandten und durch gelegentliche kleine 
Reisen und Badeaufenthalte eine gewisse Abwechs¬ 
lung in ihr Leben gebracht wird. Ebenso sehr ist 
aber auch bei uns der Eindruck entstanden, dass es 
zu den grössten UnZuträglichkeiten führen müsste, 
wenn der Versuch gemacht würde, sie ihrem Wunsche 
entsprechend ausserhalb des Bereiches der Anstalt 
wohnen zu lassen. Die Art, wie sie sich uns gegen¬ 
über über Mattasich aussprach, konnte zwar den 
Glauben erwecken, dass sie durchaus keine lebhafte 
Sehnsucht hege, mit demselben wieder zusammenzu¬ 
treffen. Auch ergiebt sich aus dem Berichte des 
Herrn Dr. Pierson, dass sie sich sehr erleichtert fühlte, 
als ihr nach dem Annäherungsversuche des Mattasich 
zunächst das Verlassen der Anstalt untersagt wurde, 
allein einerseits ihre völlige Kritiklosigkeit bezüglich 
der früher mit ihm unterhaltenen Beziehungen und 
andererseits die Willensschwäche, die sich dauernd in 
ihrem Verhalten zu erkennen giebt und die auch in 
den uns gegenüber geäusserten Bestrebungen zu Tage 
trat, würde sicher dahin führen, dass sie bald wieder 
von ihm umgarnt und zu neuen kompromittierenden 
Schritten veranlasst werden würde. Ebenso könnte 
sie aber auch bei ihrer Urtheilsunfähigkeit irgend 
welchen anderen Menschen in die Hände fallen und 
von ihnen ausgebeutet werden. Es war characteristich 
für ihre schwachsinnige Auffassung der ganzen Sach¬ 
lage, dass sie einem der Unterzeichneten, der ihr 
solche Möglichkeiten vor Augen hielt, den Vorschlag 
machte, er möge sie nach Dresden begleiten und 
dort mit ihr eine Conditorei aufsuchen, um sich zu 
überzeugen, dass sic sich anständig zu benehmen 
wisse. Damit wollte sie beweisen, dass man sie un¬ 
bedenklich ausserhalb der Anstalt wohnen lassen 
könne. (Schluss folgt.) 

Referate. 

— Pf aff. Die Alkoholfrage vom ärztlichen 
Standpunkt. Tübingen. Pietzker. 80 Pf. 


Verfasser bringt in seinem im übrigen flott und 
eindrucksvoll geschriebenen Schriftchen keine neuen 
Gesichtspunkte über die brennende Frage. Wenn 
wir die zwölf Vortheile überblicken, welche der Ver¬ 
fasser am eigenen Leibe infolge strengster Enthalt¬ 
samkeit w f ahrnehmen konnte, werden wir es verstehen, 
dass er zur Fahne der strengsten Abstinenz schwört. 

Mönkemöller -Osnabrück. 

— Bernin ge r. Ziele und Aufgaben der modernen 
Schul- und Volkshygiene. Winke und Rathschläge 
für Lehrer, Schulärzte und Eltern. Wiesbaden 1903, 
O, Nemreich. 2 M. 

Eine populäre Schrift, die vor allem Lehrern zur 
Information über ihre schulhygienischen Pflichten 
dienen kann. Die Psychohygiene ist etwas zu kurz 
gekommen; im übrigen dürfte aber die Abhandlung 
angesichts des verarbeiteten Materials auch für Aerzte 
manche Anregung bieten. Weygandt-Würzburg. 

— Zander. Vom Nervensystem. Mit 27 Figuren 
im Text. 

Aus Natur und Geisterwelt, Sammlung wissen¬ 
schaftlich-gemeinverständlicher Darstellungen aus allen 
Gebieten des Wissens. 48 Bändchen. Leipzig, 1903, 
B. S. Teubner. 

Es handelt sich um ein ungemein inhaltsreiches 
Büchlein, das in der Quellenbenutzung vielleicht 
etwas einseitig ist, im Ganzen aber doch eine Fülle 
von Tatsachen in geschickter Zusammenstellung 
wiedergiebt, so dass es jedem gebildeten Laien ge¬ 
trost empfohlen werden kann. 

Weygandt-Würzburg. 


Personalnachrichten. 

— Bonn. Herrn Geh. Med.-Rath Professor Dr. 
Pelman wurde der Kronenorden III. Klasse ver¬ 
liehen. Der hiesige klinische Assistent Dr. Wahr 
ist am 1. Oct. ausgeschieden und übernimmt die 
Leitung der Irrenpflegeanstalt der Alexianer-Brüder 
in Crefeld. An seine Stelle tritt der bisherige 
Assistent der psychiatrischen Klinik in Greifswald, 
Privatdocent Dr. Kölpin. — 

— Posen. Dr. Wickel, bisher III. Arzt an der 
Prov.-Irrenanstalt, Dziekanka, als II. Arzt an der 
Prov.-Irrenanstalt bei Meseritz angestellt, Dr. PI an ge, 
I. Ass.-Arzt in Dziekanka zum III. Arzt in Dziekanka, 
Dr. von Domarus, bisher II. Ass.-Arzt ebenda, 
zum I. Ass.-Arzt ebenda befördert. Dr. Christoph, 
bisher I. Ass.-Arzt in Owinsk, zum III. Arzt an der 
Prov.-Irrenanstalt bei Meseritz befördert. 

9 ^^ Diese Nummer enthält einen Prospekt der 
Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co„ 
Elberfeld, 

auf den die gesehätzen Leser hierdurch besonders 
hingewiesen werden. 


l'iir tim redai tiondlcn Tlnil verantwortlich : Oberarzt l>r. J. Breslrr, Lubhnitr (Sch esien). 

Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannnhme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Heynemann’sehe Buchdruckerei (Gebr. Wo’ffl ir> Halle a. S. 


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Original fram 

HARVARD UNIVERSITY 





Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift. 

Redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Lublinitt (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse : M a rbo Id V er I ag, Hallesaale. Fernsprecher 2834. 


Nr. 29. 15. Oktober. 1904. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Mar hold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die jspaltige Petitteile init 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten. 


Ueber Aufnahmeformalitäten in den staatlichen Irrenanstalten, speciell das 

ärztliche Eintrittszeugniss. 

Referat, erstattet auf der 35. Jahresversammlung des Vereins schweizerischer Irrenärzte am 2 4. V. 04 

von Director Dr. Lisibach in St. Urban Kt. Luzern. 


y^nlass zur Besprechung dieser Materie gab ein 
Beschluss der Kantonsregierung von Luzern 
vom 9. Januar 1904: „Dem Militär- und Polizei- 
departemente wird Weisung ertheilt, dafür zu sorgen, 
dass zwangsweise Versetzungen in die Irrrenanstalt 
St. Urban nur auf Grund eines von den beiden Amts¬ 
ärzten ausgestellten übereinstimmenden Zeugnisses er¬ 
folgen und bei zwangsweiser Verbringung in ausser- 
kantonale Anstalten zuyor die Bewilligung des Re- 
gierungsrathes eingeholt wird“. — Anschliessend an 
diese Verfügung erhielt das Staatswirthschaftsdeparte- 
ment, dem die Irrenanstalt unterstellt ist, den Auftrag, 
die Frage zu prüfen, ob nicht überhaupt bei allen 
Aufnahmen von Geisteskranken in eine Irrenanstalt 
zwei ärztliche Zeugnisse vorliegen sollten analog dem 
Vei fahren bei Bevormundung zufolge § 15 des Vor¬ 
mundschaftsgesetzes. — 

Bis dahin ist das Verfahren durch das Anstalts¬ 
reglement vom Jahre 1873 in den §§ 3, 6 und 7 in 
umsichtiger und klarer Weise geordnet. — Im Ein¬ 
gänge wird die Frage gestreift, ob die Materie durch 
ein Gesetz oder das Reglement oder ein Organisa¬ 
tionsstatut geregelt werden solle. In den Kantonen 
Neuenburg, Genf und Waadt sind es Irrengesetze, 
in allen anderen Kantonen der Schweiz ist die Materie 
durch Regiemente, Dekrete oder Organisationsstatute 
geordnet, wie dies auch in den Preussischcn Provin¬ 
zialanstalten, in Baden und Württemberg geschieht. 
Für eine ferne Zukunft sollte die Materie in der Eid¬ 
genossenschaft durch ein eidgenössisches Irrengesetz 
geordnet werden, wenn vorerst die grossen Fragen der 
Rechtseinheit einer Lösung entgegengeführt sein werden. 
Bei den bisherigen Vorarbeiten für die Schaffung eines 
eidgenössischen Irrengesetzes oder eines interkantonalen 
Konkordates gewinnt der Referent den Eindruck, dass 

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die Schaffung eines Inspektorates den meist be¬ 
gründeten Widerstand auch in Fachkreisen hervorge¬ 
rufen hat. — 

Die Motive für das Vorgehen der Regierung bei 
Versorgung von Geisteskranken in Irrenanstalten sind 
nicht im Beschlüsse mitgetheilt; es sind dieselben in 
einer Einsendung im Vaterland Luzern Nr. 140 vom 
21. Juni 1903 zu finden: „Die grundlose Versetzung 
in eine Irrenanstalt hat für die betreffende Person 
unter allen Umständen böse Folgen. Es ist nicht 
bloss das Gefühl bittern Unrechtes, das ihr angethan 
wurde, das Bewusstsein, auf ungerechte Weise in dei 
persönlichen Freiheit beschränkt worden zu sein, was 
verletzen und verbittern muss, sondern die Folgen 
sind auch in anderer Richtung schlimmer Art. Die 
grossen Massen des Volkes stehen immer noch auf 
einem sehr engherzigen und kleinlichen Standpunkte. 
Jeder, der einmal in einer Irrenanstalt war, wird mit 
einer gewissen Scheu betrachtet, welche weder im 
persönlichen Verkehr, noch auch in Fällen, wo es 
sich um Anstellung, um Uebertragung von Vertrauens¬ 
sachen etc. handelt, ganz überwunden werden kann.“ 
Der Zweck, der durch die Verordnung erreicht 
werden will, findet bestimmt die Billigung jedes 
Irrenarztes, der keine Nicht-Geisteskranken in der 
Anstalt internirt haben will. Der Befürchtung, dass 
Personen auf ein Arztzeugniss allein widerrechtlich in 
die Anstalt gebracht w-erden können, ist bereits im 
bestehenden Regiemente durch § 3 Ziffer 5 vorge¬ 
beugt : „Eine vom Gemeindeamtmann des Wohnortes 
des Kranken ausgehende Bestätigung der Thatsache 
der vorhandenen Geisteskrankheit, unabhängig vom 
ärztlichen Zeugnisse.“ — 

Die ärztlichen Eintrittszeugnisse. Inder 
Schweiz ist einzig der Ktn. Aargau, der im § 5 des 

* Original fram 

HARVARD UN1VERSITY 






270 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 29. 


Reglementes bei polizeilich aufgegriffenen Personen 
ein Zeugniss des Bezirksarztes verlangt für die Inter- 
nirung in Königsfelden. Herr Direktor Frölich be¬ 
merkt im Begleitschreiben: „Nach unsern allerdings 
sehr alten gesetzlichen Bestimmungen ist für das ärzt¬ 
liche Zeugniss zum Eintritte in die Irrenanstalt auch 
die Unterschrift von zwei Aerzten nöthig. Diese Be¬ 
stimmung ist aber nie aufrecht gehalten worden. 
Auch unseie ältesten Zeugnisse sind alle nur von einem 
Arzte ausgestellt. Es steht daher auch nichts von 
zwei Unterschriften in unserm Regiemente. Practisch 
hat nach meinem Dafürhalten das Gutachten von 
zwei Aerzten auch gar keinen Werth, sondern ist eine 
vexatorische Maassregel.“ — Herr College Dr. Ser¬ 
rigny von Marsens, Ktn. Freiburg, lässt sich dahin 
vernehmen: „Dans tous les cas dans notre canton 
un seul certificat medical suffit. En France aussi.“ — 
Das sorgfältig und eingehend ausgearbeitete Statut für 
die Irrenanstalten Württembergs vom 20. März 1899 
verlangt in § 16 im Falle von Widersprüchen der 
nächsten Angehörigen oder Zweifel über die Geistes¬ 
krankheit ein Gutachten des Oberamtsarztes; da soll 
noch das Zeugniss des allfällig behandelnden Arztes 
beigefügt werden. Das Statut für die Heil- und 
Pflegeanstalt Illenau, Baden, verlangt in § 12 Ziffer 2 
eine Krankengeschichte nach Fragebogen und in Ziffer 
3 ein Gutachten des Bezirksarztes über die Aufnahme- 
qualification: a) ob voraussichtlich heilbar, b) ob 
besserungsfähig, c) wenn heilbar, ob der Kranke für 
sich oder andere gefährlich oder für die öffentliche 
Schicklichkeit anstössig oder gänzlich hilflos ist. — 
Das Reglement für die Rheinischen Provinzialanstalten 
Preussens vom Jahre 1899 sagt im § 5 beim ärztlichen 
Fragebogen: „Für die Aufnahme in eine Provinzial- 
Heil- und Pflegeanstalt kann die Beantwortung des 
Fragebogens durch einen beamteten Arzt seitens 
des Anstaltsdirektors gefordert werden, falls nach 
dessen Urtheil das von einem approbirten Arzte ab¬ 
gegebene Gutachten allein für eine Entschliessung über 
die Aufnahme nicht genügt.“ — 

Kritik der Forderung zweier Arztzeugnisse und 
bei zwangsweiser Versetzung zweier amtsärztlicher Gut¬ 
achten. — Diese Forderung geht allzusehr von formal 
juridischen Gesichtspunkten aus, sieht einseitig die 
persönliche Freiheitsberaubung in Frage gestellt und 
lässt eine ärztliche Hauptsache für die Versetzung 


geisteskranker Personen in die Specialpflege der Irren¬ 
anstalt: die Heilung bei Seite. In der Forderung 
zweier Arztzeugnisse liegt ein Hinderniss für eine 
rechtzeitige Unterbringung und die Gefahr ist noch 
grösser bei armen Kranken, bei denen durch die 
Untersuchung von zwei Aerzten die Kosten erhöht 
werden. Für die Familien, welche unter geistes¬ 
kranken Mitgliedern zu leiden haben, kann die Er¬ 
schwerung der Aufnahme in eine Irrenanstalt chikanös 
werden und üble Folgen zeitigen. Es ist nicht jeder¬ 
manns Sache, die intimen und zarten Verhältnisse, 
die hier mitunter in Frage kommen, gleich zwei 
Aerzten anzuvertrauen. — Die Aufnahmefähigkeit einer 
Anstalt mit der Forderung zweier Arztzeugnisse ist 
gegenüber andern Anstalten, die nur ein Arztzeugniss 
verlangen, herabgemindert. Bei dem Studiengange 
der Aerzte in der Schweiz hat das Zeugniss des diplo- 
mirten Arztes, der mit Sachkenntniss und gewissen¬ 
haft das ärztliche Attest ausfüllt, die nämliche Autori¬ 
tät wie das Zeugniss des Bezirks- oder Amtsarztes. 
Wir haben in der Schweiz nicht wie in Oesterreich 
und Baiern eine sogenannte Physikatsprüfung. — 
In Nothfällen und bei den vielfach vorkommenden 
zwangsweisen Versetzungen ist das Einholen zweier 
amtsärztlicher Zeugnisse gar nicht möglich; gemein¬ 
gefährliches Handeln oder Selbstmordversuche ver¬ 
langen ein rasches Vorgehen. — 

Schlussfolgerungen. Im Gesetze oder in 
den Regiementen soll die Forderung eines von einem 
diplomirten Staatsarzte ausgestellten Zeugnisses genügen. 
Es giebt allerdings zweifelhafte Fälle, welche eine 
peinliche Ueberprüfung der Aufnahmepapiere, eine 
Ergänzung durch Polizeirapporte oder Begutachtung 
durch amtliche oder Gerichtsärzte verlangen oder bei 
denen die Anstaltsleitung vor der Internirung weitere 
Aufschlüsse oder Weisung von Regierungsoiganen 
verlangen muss. Diese Fälle bilden jedoch die Aus¬ 
nahme, sind in bedeutender Minderzahl und recht- 
fertigen nicht eine allgemein lautende Forderung nach 
zwei Arztzeugnissen. Der Referent schliesst mit dem 
Wunsche, dass die Sorge für die Kranken der Leit¬ 
stern bei der Diskussion der aufgeworfenen Frage 
bleiben möchte, wie Herr Dr. Greppin, Direktor in 
der Rosegg, im Begleitschreiben zum eingesandten 
Regiemente bemerkt: „Je leichter die Aufnahme vor 
sich geht, desto besser für die Patienten.“ — 


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1 9 ° 4 -] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


271 


Epileptische Schulkinder. 

Nach einem auf dem 1. internationalen Kongress für Schulhygiene zu Nürnberg 
am 5. IV. 1904 gehaltenen Vortrag. 

Von W. Weygandt - Würzburg. 

(Schluss.) 


Auf alle Fälle sollte vor einer vollkommenen Aus¬ 
schliessung vom Unterricht, sofern es nicht durch die 
Häufung der Anfälle und das körperliche Befinden 
geboten ist, erst ein Versuch mit der Hilfsschule ge¬ 
macht werden; ebenso kann man Kinder, die wegen 
schwerer Zustände einige Zeit dem Unterricht fern¬ 
blieben, späterhin für geraume Zeit erst in die Hilfs¬ 
klasse schicken, ln Städten, die sich immer noch 
nicht entschliessen können , die Kulturerrungenschaft 
der Hilfsschulen für schwächer befähigte und zurück¬ 
gebliebene Kinder sich nutzbar zu machen, wie 
Würzburg, besteht freilich eine Lücke auch für epi¬ 
leptische Kinder. In Hilfsschulstädten aber kann man 
meines Erachtens mit den bestehenden Mitteln aus- 
komraen. 

Ich bin also auf Grund dieser Erwägungen Gegner 
einer generalisierenden Behandlung der epileptischen 
Schulkinder. Gerade die Zusammenpferchung in eine 
Sonderschule für Epileptiker hätte, von dem Umstande 
einer weiteren Zersplitterung der Einschulung abgesehen, 
die unangenehme Folge, dass Kinder von der aller¬ 
verschiedensten geistigen und körperlichen Beschaffen¬ 
heit vereinigt würden. Ist einmal eine starke Neig¬ 
ung zu Anfällen vorhanden, so hat auch der Schul¬ 
weg seine Gefahr und diese gerade würde bei der 
centralisierten Epileptikerschule erhöht, da ja dann der 
Weg für die in den verschiedensten Stadttheilen 
wohnenden Kinder um so grösser würde. 

Ich komme also zu dem Schluss: 

Angesichts der mannigfaltigen Erscheinungs¬ 
weise der Epilepsie im kindlichen Alter ist eine 
Absonderung des Unterrichts für alle epileptischen 
Schulkinder nicht am Platze, sondern es empfiehlt 
sich eine Individualisierung , indem geistig Defecte 
in Idiotenanstalten oder Hilfsschulen, social Be¬ 
denkliche in die Fürsorgeerziehung gehören, Kinder 
mit gehäuften Anfällen und status in rein ärzt¬ 
liche Behandlung , während Kinder'mit vereinzelten 
Symptomen in der Normalschule unter lieber- 
wachimg eines entsprechend informierten Lehrers 
verbleiben können . 

N&ohtr&g. 

In der Debatte zu meinem Vortrage auf dem 1. 
internationalen Schulhygiene - Congress wurden einige 

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gegentheilige Ansichten laut, die sich dahinaussprachen, 
dass doch Sonderschulen für Epileptiker anzustreben seien, 
eine Forderung, die vor allem von dem um die Schul¬ 
bildung nervenkranker Kinder hochverdienten Sanitäts¬ 
rath Berkhan, Braunschweig, in seinem Vortrage auf¬ 
gestellt wurde. 

So sehr ich auch darin einstimmen möchte, dass 
Sonderschulen für einen kleinen Theii epileptischer 
Kinder, vor allem solche, die häufig von Anfällen, 
Ohnmächten und Verstimmungen geplagt werden, ohne 
wegen mehr weniger grossen Schwachsinnes in eine 
Hilfsschule oder Idiotenanstalt zu gehören, einen 
Vortheil bedeuten würden gegenüber den gegenwärtigen 
Verhältnissen, in denen sie entweder zu Hause ge¬ 
halten werden und wegen der Gefahr eines gelegent¬ 
lichen Anfalls des gewöhnlichen Schulunterrichtes ver¬ 
lustig gehen oder aber auch doch in die Schule ge¬ 
sandt werden und die Gefahr einer Störung des Unterrich¬ 
tes mit in Kauf genommen wird, so muss ich mich gegen¬ 
wärtig doch gegen Sonderschulen für Epileptische aus¬ 
sprechen. 

Meine beiden Hauptgründe sind die, dass mir 

1. die Nothwendigkeit und 

2. die Durchführbarkeit nicht schlagend genug nach¬ 
gewiesen erscheint. 

Die Nothwendigkeit müsste sich vor allem darauf 
stützen, dass für den Unterricht der Normalschule er¬ 
hebliche Störungen aus den epileptischen Anfällen er¬ 
wachsen. Für die epileptischen Kinder selbst, die 
nur durch gelegentliche Krampfanfälle betroffen werden, 
macht es verhältnissmässig wenig aus, ob sie in der 
Schule oder zu Hause Umfallen, natürlich nur in 
Fällen seltenerer Attaquen, die keine Bettbehandlung 
noth wendig machen. 

Für die Mitschüler ist allerdings der epileptische 
Anfall kein schöner Anblick. Vor allem hysterische 
Kinder können lebhaft erregt werden durch einen 
solchen Zwischenfall. Ob man nun solche erregbare 
Kinder sorgfältig vor jedem aussergewöhnlichem An¬ 
blick behüten oder ob man sie auch einmal an eine 
Störung gewöhnen soll, ist eine besondere Frage, die 
ich im letzteren Sinne bejahen möchte. Das moderne 
Leben verlangt vom Nervensystem eine gew isse Uebung 
auch im Ertragen ungewöhnlicher Ereignisse, der 

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HARVARD UNIVERSUM 



272 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 20 


Strassen verkehr, auch das Familienleben bietet doch 
gelegentlich den Kindern den Anblick von erregenden 
Begebenheiten, von Krankheitszufällen usw., ohne dass 
selbst die grösste Sorgfalt die Kleinen davor bewahren 
könnte. Viel besser, sie werden bei Zeiten an etwas 
derartiges gewöhnt und vor allem, wozu ja die Schule 
Gelegenheit bietet, auch darüber aufgeklärt, als dass 
sie unnötig lange behütet werden vor Erfahrungen, 
die ihnen das Leben über kurz oder lang doch nicht 
erspart. In dieser Hinsicht ist es bekanntlich eine 
recht traurige Erscheinung, wie heutzutage auch Er¬ 
wachsene vielfach gerade etwa einem auf der Strasse 
im Anfall zusammensinkenden Epileptiker verlegen 
und rathlos oder auch hartherzig gegenüberstehen 
oder vor einem solchen Anblick die Flucht ergreifen, 
statt helfend einzuschreiten. Wenn die Jugend schon 
lernt, sich auch in aussergewöhnlichen Situationen zurecht 
zu finden und gerade beim plötzlichen Ausbruch eines 
krankhaften Zustandes nicht den Kopf zu verlieren, 
so kann das für die Erziehung nur ein Gewinn sein. 

Vor allem aber ist die Frage noch nicht bejaht, 
ob wirklich die epileptischen Anfälle sehr häufig stören. 
So zahlreich epileptische Schulkinder an sich sind, so. 
tritt doch meines Erachtens ein Krampfanfall in der 
Schulzeit verhältnissmässig recht selten ein. Bestimmte 
Zahlen lassen sich hierüber nicht geben, aus meinem 
obigen Material war wenigstens so viel zu entnehmen, 
dass von den 59 im schulpflichtigen Alter erkrankten 
Epileptikern doch nur 3 bis 4 in der Unterrichtszeit 
durch Krämpfe aufgefallen sind. Um in dieser Rich- 
lung Aufschluss zu erhalten, habe ich im vorigen 
Winter bereits eine Eingabe an das Köngl. bayr. 
Staatsministerium des Innern für Kirchen- und Schul¬ 
angelegenheiten gemacht mit der Bitte um die Er¬ 
laubnis, entsprechende Fragebogen an die Mittel¬ 
schulen versenden zu dürfen. Mein Gesuch um Zu¬ 
lassung von Fragebogen wurde jedoch abgelehnt in 
Uebereinstimmung mit dem Gutachten des obersten 
Schulraths und auf Grund der Anschauung des 
Medicinalreferenten im Kgl. Staatsministerium. Viel¬ 
leicht hat ein Irrenarzt in einem andern deutschen 
Bundesstaate mehr Glück mit einer derartigen, zur 
Klarstellung der Bedeutung epileptischer Anfälle als 
eines störenden Momentes beim Unterricht unge¬ 
mein wichtigen Rundfrage. 

So sehr demnach die Nothwendigkeit von Sonder¬ 
schulen für epileptische Kinder noch des Nachweises 
bedarf, ebenso entschieden lässt sich die Frage der 
Durchführbarkeit von Sonderschulen für den heutigen 
Stand des Schulwesens verneinen. Im Jahre iqoi 
enthielten die 326 Hilfsklassen in Deutschland 7013 
schwachbefähigte Kinder, darunter waren 1,35% Epi- 

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leptiker, im ganzen also etwa rund 100 epileptische 
Schulkinder. Wie viel epileptische, durch Anfälle 
ausgezeichnete Schulkinder in den Normalschulen 
waren, entzieht sich, wie gesagt, genauerer Kenntnis*, 
doch lässt sich aus jenem Verhältnis schon entnehmen, 
dass es auch nicht gerade sehr viel sein werden. 
Wir müssen eben immer bedenken, dass von den 2°/oo 
der Bevölkerung, die annähernd von Epilepsie be¬ 
troffen sind, nur ein Th eil durch häufigere Anfälle 
und von derartigen Schulkindern wieder nur ein Theil 
durch Anfälle gerade in der Zeit des Unterrichts be¬ 
troffen sind. 

Wie viel Epileptische sich unter den 10 616 Hilfs¬ 
schülern befinden, die voriges Jahr laut Berichts über 
den 4. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands zu 
Mainz (Hannover 1903) vorhanden waren, ist nicht 
angegeben. 

Jedenfalls ist die Zahl der epileptischen Kinder, 
für die ein Sonderunterricht erwünscht wäre, ver¬ 
schwindend klein gegenüber der Menge der hilfsschul- 
bedürftigen Kinder. Hier muss nun energisch be¬ 
tont werden: Solange es in deutschen Städten noch 
hilfsschulbedürftige Kinder ohne geeignete Versorgung 
giebt, sollte nicht an eine weitere Zersplitterung im 
Bereich der Specialschuien gedacht werden. Da» 
aber die Zahl der Hilfsschulen ausreicht, lässt sich 
leider noch nicht behaupten. Gerade in Süddeutsch¬ 
land bleibt noch vieles zu thun und vor allem in 
Würzburg ist vor kurzem ein bedauerlicher Vorstoss 
gegen die Errichtung einer Hilfsschule zu Tage getreten- 
Der Magistrat dieser 75 497 Einwohner zählenden 
Stadt hatte beschlossen, auch hier eine Hilfsschule zu 
errichten, nachdem selbst in kleineren Plätzen wie 
Pirmasens und Frankenthal in der Pfalz oder Oschatz 
in Sachsen, Pössneck inThüringen usw. sich die Einrich¬ 
tungbewährt hat. Das Gemeindecolleg lehnte jedoch das 
Project ab, im wesentlichen aus Bedenken gegen den 
simultanen Charakter der geplanten Schule. Wenn 
irgendwo, so fällt doch gerade bei schwachbeanlagten 
Kindern der confessionelle Unterschied wenig schwer 
in die Wagschale. Auch schultechnische Argumente 
wurden von mancher Seite in das Gefecht geführt, so 
meinte ein Redner, cs müsse Schleppzeug vorhanden 
sein, damit die Lehrer nicht über das Ziel hinaus- 
schiessen. Nun, die Unterschiede zwischen begabteren 
und weniger begabten Schülern werden nicht ver¬ 
schwinden, wenn auch die durch krankhafte Zustände 
geistig schwächeren Schüler entfernt sind; hat man 
doch in Mannheim neben den Hilfsklassen noch für 
den leichtesten Grad der schwachen Befähigung be¬ 
sondere Wiederholungsklassen eingerichtet! 

Original from 

HARVARD UNIVERSITY 



1904.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Höchst befremdlich klingt es, wenn in der ganzen, 
vorzugsweise technisch zu beurtheilenden Frage, selbst 
ein Arzt glaubte, als laudator temporis acti auftreten 
zu müssen, und meinte, die Schulen früherer Genera¬ 
tionen seien von unseren Eltern doch auch recht gut 
eingerichtet gewesen. Nach diesem Princip könnte er also 
in seiner Praxis sich auch gegen moderne Heilmethoden 
ablehnend verhalten und seine Kranken anstatt mit Diph¬ 
therieserum oder mit antiseptischen Verbandmitteln, viel¬ 
mehr mit den Schröpfköpfen und Haarseilen unserer 
Vorfahren nach Grossväterweise behandeln. 

Wenn selbst der segensreichen Einrichtung der 
Hilfsschulen gegenüber noch so rückständige, ahnungs¬ 
lose Anschauungen zur Geltung kommen, dann sollten 
alle einsichtigen Schulmänner und Aerzte hier vor 


2 73 


allem erst ihren Bekehrungs- und Reformeifer einsetzen 
und nicht die Kräfte von vornherein zersplittern durch 
die Forderung zu vieler Sonderschulen, wozu auch 
die Separatklassen für epileptische Kinder gehören 
würden. 

Ich bleibe dabei, statt der heutzutage nicht allzu 
dringlichen und vor allem kaum irgendwo realisir- 
baren Forderung einer Sonderschule für Epileptiker 
empfiehlt es sich vielmehr, genauer zu diflferenziren, 
die epileptischen Kinder je nach der Art ihrer Störung 
in den bestehenden Einrichtungen einschliesslich der 
Hilfsklassen unterzubringen und bei den geistig 
intacten Kindern mit seltenen Anfällen die etwaige 
Störung des Unterrichts vielfach lieber mit in Kauf 
zu nehmen. 


M i t t h e i 

— Vereinigung mitteldeutscher Psychiater 
und Neurologen. Zu der am 22. und 23. October 
d. Js. in Halle a. S. stattfindenden X. Versammlung 
mitteldeutscher Psychiater und Neurologen beehren 
sich die Unterzeichneten Geschäftsführer ergebenst 
einzuladen. Sonnabend, den 22. October, von 8 Uhr 
Abends an: Gesellige Vereinigung im Grand Hotel 
Bode. Sonntag, den 23. October, I. Sitzung: 9 Uhr 
Vormittags in der psychiatrischen und Nervenklinik, 
Mühlrain Nr. 7. II. Sitzung: 1 Uhr Mittags. Fest¬ 
mahl: 4V2 Uhr Nachmittags im Grand Hotel Bode. 
Tagesordnung: 1. Förster-Breslau: Referat über die 
Gehimfaserung des Stammes mit Demonstrationen am 
Projectionsapparat. 2. Liepmann-Pankow: Demon¬ 
strationen der Gehirnschnitte: a) eines Agnostischen, 
b) eines Apractischen mittelst des Projectionsapparat es. 
3. Ziehen-Berlin: Untersuchung von Wahlreactionen 
bei Geisteskranken. 4. Cramer - Göttingen: Isolirte 
Abschnürung des Unterhorns und seine klinischen 
Folgen, mit Obductionsbefund. 5. Binswanger-Jena: 
Thema Vorbehalten. 6. Boldt-Jena: Ueber Merk- 
defecte. 7. Bahrmann-Jena: Ueber Hysterie und 
Epilepsie. 8. Alt-Uchtspringe: Sauerstoffbehandlung 
bei Kranksinnigen und Nervenkranken. 9. Hoppe- 
Uchtspringe: Bedeutung der Jonentheorie für die 
Behandlung der Epileptiker. 10. Bartsch-Düsseldorf: 
Trophoneurotische Störungen bei peripherer Facialis- 
lähmung. 11. Knapp-Halle: Functionelle Kontractur 
der Halsmuskulatur. 12. Ganser - Dresden: Ueber 
moralisches Irresein. 13. Stegmann-Dresden: Thema 
Vorbehalten. 14. Förster-Halle: Ueber die phagocy- 
tären Eigenschaften der Hirnrindengefässwandungen. 

15. Aschaffenburg-Halle: Die Experimentalpsychologie 
als Hilfswissenschaft der Psychiatrie. 16. Weber- 
Göttingen: Zur Pathogenese des erworbenen Hydro- 
cephalus internus. 17. Kleist-Halle: Ueber Leitungs- 
aphasie. 18. Windscheid-Leipzig: Beitrag zur Symp¬ 
tomatologie der Balkentumoren. — Wenn auch die 

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1 u n g e n. 

Zeitdauer für die einzelnen Vorträge nicht bestimmt 
ist, so wird doch gebeten, dieselben thunlichst nicht 
über 20 Minuten und diejenige der Bemerkungen in 
der Discussion nicht über 5 Minuten auszudehnen. 
Anmeldungen zu der Theilnahme am Festmahl 
(Gedeck 3 Mk.) werden bis zum 18. October an den 
I. Geschäftsführer (Wemicke - Halle) erbeten. Die 
Herren Theilnehmer werden in der Lage sein, die 
Abendschnellzüge in der Richtung Leipzig, Thüringen, 
Berlin und Magdeburg zu benutzen. Hotels. Am 
Bahnhof: Grand Hotel Bode, goldene Kugel, Con¬ 
tinental. In der Stadt: Kronprinz, Stadt Hamburg, 
Tulpe. Gäste sind willkommen. 

Die Geschäftsführer. 

Wernicke. Fries. 

— 35. Jahresversammlung des Vereins 
schweizerischer Irrenärzte in St. Urban. I. Sitzung 
23. V. 04. Präs.: Prof. Bleuler-Burghölzli. Actuar: 
Dr. Ribary-St. Urban. 

Allgemeine Discussion über die Unter¬ 
bringung verbrecherischer Irrer und 
geisteskranker Verbrecher. Referat von Dr. 
Fröhlich - Königsfelden und Dr. L. v. Muralt- 
Burghölzli. 

In Königsfelden sind zahlreiche criminelle Kranke, 
darunter viele lästige und gefährliche. Dadurch Er¬ 
schwerung der freien zwangslosen Behandlung; Un¬ 
möglichkeit, viele Criminelle passend zu beschäftigen; 
viele Intriguen; öfters Entweichungen. Die Ueber- 
füllungder Anstalt macht passende Verlegungen unmög¬ 
lich. An andern Orten sind die Schwierigkeiten je 
nach Grösse, Einrichtung, Füllung der Anstalt sehr 
verschieden, aber überall fühlbar. Nach einer Enquete 
der Referenten beträgt die Zahl der geisteskranken 
Verbrecher in den schweizerischen Irrenanstalten 
565 Männer und 172 Frauen. Von den 565 Männern 
werden 70 als dauernd gefährliche Individuen, 648 

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HARVARD UN1VERSITY 






274 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 2Q. 


als dauernd versorgungsbedürftig bezeichnet; von den 
Letzteren sind ein grosser Theil harmlos. — Unter 
den 3170 nicht criminellen geisteskranken Männern 
sind 57 dauernd gefährlich. Die Gefährlichkeit der 
geisteskranken Verbrecher ist also unverhältniss- 
mässig grösser als die der nicht criminellen Irren. 

In den schweizerischen Straf- und Correctionsan- 
stalten finden . sich 64 Geisteskranke, 63 Schwach¬ 
sinnige, 18 Epileptiker und allermindestens 265 
chronische Alcoholiker. Diese Zahlen sind Minimal - 
zahlen. Die meisten versorgten Alcoholiker sind sicher 
Gewohnheitsverbrecher oder Individuen mit unheil¬ 
baren Alcoholpsychosen, die weder in die Irrenan¬ 
stalt noch in die Strafanstalt gehören, sich aber sehr 
eignen zur Verdünnung der gefährlichen Elemente 
einer Verbrecheranstalt. 

In den Irrenanstalten befinden sich ferner an 
vermindert Zurechnungsfähigen, Psychopathen, mo¬ 
ralisch Defecten, sexuell Perversen, unheilbaren 
Säufern, die als Schimpfer, Intriguanten, Durchbrenner 
sehr lästig sind, 64 Mann und 35 Frauen. 

Durch Entfernung all dieser Elemente würden die 
Irrenanstalten nicht nur quantitativ erleichtert, sondern 
auch qualitativ verbessert. 

Da die Straf- und Irrenanstalten kantonal sind, 
ist Abhülfe nur möglich durch Schaffung einer 
schweizerischen Centralanstalt für gefährliche Geistes¬ 
kranke aller Arten. Vorläufig würde sie wohl nur 
Männer aufnehmen. Momentan sind einer solchen 
Anstalt bedürftig 21 gefährliche geisteskranke Ver¬ 
brecher, 49 gefährliche verbrecherische Geisteskranke, 
57 nicht criminelle gefährliche Kranke, 64 vermindert 
Zurechnungsfähige etc. und ca. 90 Alcoholiker, zu¬ 
sammen 281 Männer. Man müsste also für 300 bis 
350 Männer bauen, wozu später noch etwa 100 Plätze 
für Frauen kämen. Etwa 25% der Kranken ge¬ 
hören der französischen oder italienischen Schweiz 
an. Ihre Zahl ist gross genug, dass man für sie eine 
eigene Abtheilung errichten könnte. 

Die Referenten stellen den Antrag, dass zum näheren 
Studium der Anstalt, zur Ausarbeitung eines detai- 
lierten Projectes und zur Propaganda für dasselbe eine 
Specialcommission ernannt werde. 

Discussion. Ris-Rheinau. Die Irrenanstalten 
dürfen sich nicht insufficient erklären, sondern müssen 
sich für diese Leute eben einrichten. — v. Speyer- 
Waldau. Wodurch soll sich eine solche Anstalt 
von andern unterscheiden? Die Statistik kann nicht 
ganz ein wandsfrei sein. — 

Ko 1 ler-Cery. Die gefährlichen sind dann am wenig¬ 
sten gefährlich, wenn sie unter andere vertheilt sind. Er 
möchte lieber eine centrale Anstalt für vermindert 
Zurechnungsfähige und Alcoholiker, für die die Irren¬ 
anstalten am wenigsten eingerichtet sind.— Schiller- 
Wil hatte grosse Schwierigkeiten, solange seine Anstalt 
nur 4 Abtheilungen hatte, bei 18 Abtheilungen geht es 
ganz erträglich. — Die Versammlung hält die ganze 
Frage für noch nicht genügend abgeklärt und wählt 
zum weitern Studium eine Commission, bestehend aus: 
Fröhlich, v. Muralt, Ris. 

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J ung-Burghölzli. Ueber Associationsver- 
suc h e. 

Vortragender berichtet über seine gemeinsam mit 
Ri kl in angesteilten Associationsexperimente bei Ge¬ 
sunden. 

Als einige hauptsächliche Ergebnisse dieser Unter¬ 
suchungen seien angeführt: 

1. Gebildete haben durchschnittlich mehr äussere 
Associationen als Ungebildete; dementsprechend sind 

2. die Reactionszeiten der Ungebildeten etwas 
länger als die der Gebildeten. 

3. Eine Hauptquelle der Veränderungen in der 
Qualität der Associationen ist das wechselnde Ver¬ 
halten der Aufmerksamkeit. 

4. Die Erschlaffung der Aufmerksamkeit bedingt 
besonders eine deutliche Vermehrung aller minder- 
werthigen Associationsformen (sprachlicheVerbindungen, 
Wortergänzungen, Klangassociationen). Umgekehrt 
bewirkt die Anspannung der Aufmerksamkeit im All¬ 
gemeinen eine Vermehrung der inneren Associationen. 

5. Alle psychischen Störungen, die hauptsächlich 
durch Mangel an Concentrationsvermögen ausge¬ 
zeichnet sind, zeigen daher Tendenz zu äussern 
Associationen und Klangassociationen. Diese That- 
sache wurde bestätigt durch Untersuchungen im Zu¬ 
stande der Langeweile, der Ermüdung (resp. Erschöpf¬ 
ung, im Sinne Aschaffenburg’s), nach frisch über¬ 
standenem schwerem Affekt (wobei die Aufmerk¬ 
samkeit innerlich auf den überdauernden Gefühlston 
gerichtet war), bei gewissen Formen der Neurasthenie, 
der Dementia senilis und der progressiven Paralyse 
und durch Ideenflucht von verschiedener Herkunft. 

6. Die Ursache der Klangassociationen in der 
manischen Ideenflucht ist die Aufmerksamkeitsstörung, 
und nicht, wie Aschaffenburg meint, die motorische 
Erregung. 

7. Durch künstliche Herabsetzung (Spaltung) der 
Aufmerksamkeit wird ein Associationsmodus erzeugt, 
welcher im Experiment von demjenigen der Ideen- 
flucht, der Ermüdung, des acuten Alcoholismus etc. 
nicht zu unterscheiden ist. (Starke Tendenz zu 
äussern Associationen und Klangassociationen.) Moto¬ 
rische Erregung war dabei durch die Versuchsanord¬ 
nung völlig ausgeschlossen. 

II. Sitzung am 24. 5. 04. Für die Jahresbe¬ 
richte der Hülfsvereine für Geisteskranke sind zwei 
Arbeiten eingegangen, und es wird diejenige des Herrn 
Dr. Gelpke, Liestal mit dem Preise von 100 Fr. 
gekrönt. 

Auf Antrag v. Muralt wird folgender Beschluss 
gefasst: 

Der Verein schweizerischer Irrenärzte drückt dem 
Schweiz. Justizdepartement den Wunsch aus, es möchte 
die Fassung des Artikels 16 des Vorentwurfs zu einem 
schweizerischen .Strafgesetzbuch vom Juni 1903 
durch die frühere vom Irrenärzteverein sanctionirte 
Fassung ersetzt werden. (Fassung von 1903: wer zur 
Zeit der That ausser Stande war, vernunftgeinäss zu 
handeln, wer insbesondere zur Zeit der That in seiner 
geistigen Gesundheit oder in seinem Bewusstsein in 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


275 


1904.] 


hohem Grade gestört war, ist nicht strafbar. — War 
die Fähigkeit des Thäters, vernunftgemäss zu handeln, 
zur Zeit der That vermindert, war insbesondere die 
geistige Gesundheit oder das Bewusstsein des Thäters 
wesentlich beeinträchtigt, so mildert der Richter die 
Strafe nach freiem Ermessen. — Fassung von 1896: 
Wer zur Zeit der That geisteskrank oder blödsinnig 
oder bewusstlos war, ist nicht strafbar. — War die 
geistige Gesundheit oder das Bewusstsein des Thäters 
nur beeinträchtigt, oder war er geistig mangelhaft ent¬ 
wickelt, so mildert der Richter die Strafe nach freiem 
Ermessen.) 

Elmiger-St. Urban: Ueber die von 1873 bis 
1900 in der Anstalt St. Urban verpflegten 
Paralysen aus dem Kanton Luzern. Aus 
einer Bevölkerung von 140000 wurden 2357 Geistes¬ 
kranke (1191 Fr. 1166 M.) aufgenommen, davon 91 
Paralysen (74 M. 17 Fr.). Als Krankheitsursache 
war nur bei 9 (7 M. 2 Fr.) Lues angegeben, in 29 
Fällen (28 M. 1 Fr.) Alcoholismus, ausserdem bei 
14 Fällen gemüthliche Schädlichkeiten, bei 4 körper¬ 
liche Krankheiten und bei 5 Schädelverletzungen. 
Dem Berufe nach sind aus dem fast ganz agricolen 
Kanton nur 12 Landwirthe, davon betrieben nur 5 
keine anderen Berufe. Handwerker waren 36, 
Kaufleute, Wirthe, Hoteliers waren 14, Gelehrte 12. 
Von den Handwerkern waren fast alle in der Fremde, 
von den meisten wird angegeben, dass sie ein sehr 
bewegtes Leben geführt haben. In 60 % aller Fälle 
wurden die Pat. als geistig gut begabt geschildert. 

In der Discussion erwähnen alle Redner ähnliche 
Erfahrungen; die Paralytiker aus bäuerlichen Kreisen 
seien meist in der Fremde gewesen. 

Dir. Lisibach-St. Urban. Aufnahmefor¬ 
malitäten in den staatlichen Anstalten. (Vide 
Originalartikel in dieser Nr.) 

Discussion. Die meisten Votanten betonen 
die Unrichtigkeit von allen Maassregeln, die eine Er¬ 
schwerung der Aufnahmen bedingen, und erinnern 
daran, dass es oft schon gar nicht leicht sei, das eine 
Zeugniss zu bekommen, dass aber die Beschaffung 
eines zweiten Zeugnisses oft auf praktisch unüber¬ 
windliche Schwierigkeiten stosse. — Auch Herr 
Regierungsrath Vogel, der im Auftrag des Staats- 
wirthschaftsdepartements dem Director der Anstalt die 
Frage zur Begutachtung übergeben hat, ist gegen eine 
Erschwerung der Aufnahmebedingungen. — B e zz o 1 a- 
Schloss Hard: Offene Beobachtungsstationen, wo der 
für geisteskrank Gehaltene freiwillig zur Beobachtung 
eintreten könnte, würden der Schwierigkeit am besten 
begegnen. — Bleul er-Burghölzli hält den Werth 
offener Stationen in dieser Richtung für illusorisch, 
so lange sie mit geschlossenen Anstalten verbunden 
seien, so nützlich sie in anderen Richtungen sein 
können. — 

R i k 1 i n-Burghölzli: Die diagnostische Be¬ 
deutung der Associationen bei der Hys¬ 
terie. (Autoreferat.) 

Vortragender, der mit Jung gemeinsam Associa¬ 
tionsversuche gemacht hat, sucht nachzuweisen, dass 

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es einen vom Normalen und von anderen Psychosen 
abgrenzbaren hysterischen Reactionstypus giebt. 
Die bei Associationen Normaler gewonnenen Resultate 
über die Wirkung stark gefühlsbetonter 
Vorstellungskomplexe auf die Reactionen 
dienten als Grundlage der Arbeit. Der hysterische 
Reactionstypus lässt sich aus demjenigen unter den 
Normalen ableiten, bei welchem der stark gefühlsbetonte 
Vorstellungskomplex (der „Komplex“) im Sinne von 
Breuer und Freud verdrängt ist. Er lässt sich 
in den Associationen aber noch an verschiedenen 
Merkmalen erkennen, die als „Komplexwirkungen“ 
zu betrachten sind. Unter diesen spielen z. B. die 
Verlängerung der Reactions ze it, Zitate, 
Perseveration einer angeregten Vorstellung, das 
Auftreten von Fehlern (wie das Aussetzen einer 
verbalen Reaktion auf ein Reizwort bezeichnet wird), 
mimische Begleiterscheinungen anscheinend 
unverdächtiger Reactionen etc. eine wichtig Rolle. 
Von diesem schon bei Normalen vorkommenden Reac¬ 
tionstypus unterscheidet sich der hysterische haupt¬ 
sächlich durch' die Häufung und Intensität der 
genannten Erscheinungen, die bei Normalen 
nie erreicht wird. Die Curve der Reactionszeiten 
eines Hysterischen unterscheidet sich so z. B. ohne 
weiteres von der eines Normalen. Durch die Voll¬ 
ständigkeit der Abspaltung der verdrängten 
Vorstellungskomplexe von den bewussten, die eins 
der Hauptmerkmale der Hysterie ist, lassen sich diese 
Erscheinungen, gerade z. B. die Häufung der „Fehler“, 
deren affektiver Grund dem Hysteriker gewöhnlich 
gar nicht bewusst wird, sehr gut erklären. In Hyp¬ 
nose angestellte Kontrollversuche und die Aus¬ 
nützung der hypnotischen Hypermnesie bestätigen die 
gewonnenen Resultate. 

Die ausführliche Mittheilung über die Associations- 
versuche erfolgt in den „Diagnostischen Asso¬ 
ciationsstudien“, welche vorerst im „J o u r n a 1 
für Psychologie und Neurologie“ und später 
in Sonderausgabe erscheinen. 

— Paris. Am 4. October wurde im Asile Saint e- 
Anne, Dr. Val Ion, Chefarzt der Männerabtheilung 
und Docent für gerichtliche Psychiatrie, durch einen 
Kranken lebensgefährlich verletzt. Das Ereigniss er¬ 
innert in vielem an den traurigen Fall Vorster- 
Stephansfeld. 

Vallon machte um 1 j 2 10 Uhr seine Morgenvisite 
in der „Halbruhigen-Abtheilung.“ Als er, begleitet 
von seinen Internen, durch den Hof ging, waren dort 
etwa 60 Kranke versammelt, von denen ihm einer einen 
Brief gab. Vallon begann im Weiterschreiten sofort 
zu lesen und neigte dabei den Kopf etwas nach vorn. 
Plötzlich holte ein Kranker, an dem Vallon gerade 
vorbeiging, aus seiner Mütze, die er vor dem Arzt 
gezogen hatte, ein Messer heraus und stiess es mit 
grösster Wucht bis zum Griff Vallon in die linke 
Nackenseite. „Da hast du dein Theil,“ rief er dabei, 
„ich habe es dir lange genug versprochen.“ Der 
Vorfall spielte sich so schnell ab, dass niemand ihn 
verhindern konnte. Vallon schwankte einen Augen- 

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27 6 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 29. 


blick und stürzte dann zu Boden, er war rechtsseitig 
gelähmt, das Bewusstsein hatte er nicht verloren. Er 
wurde, nachdem man die Waffe aus der Wunde 
herausgezogen hatte, nach dem nahegelegenen Pavillon 
de Chirurgie gebracht, wo seine Collegen die ent¬ 
sprechende Behandlung einleiteten. Die Diagnose: 
„Verletzung des Rückenmarks“ und eine ungünstige 
Prognose hatte er sich selbst sofort nach der Ver¬ 
wundung gestellt. 

Der Attentäter ist ein 51 jähriger ehemaliger 
Küfer, anscheinend Paranoiker, der vor einigen Jahren 
von der Polizei festgenommen wurde, als er vor der 
Chambre des deputes einige Revolverschüsse abgab 
ohne besondere äussere Veranlassung, nur um die öffent¬ 
liche Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Vallon 
begutachtete ihn und erklärte ihn für unzurechnungs¬ 
fähig; er wurde daher ausser Verfolgung gesetzt und 
kam nach St. Anne, wo er anfangs in der „Un- 
ruhigenabtheilung“, seit sechs Monaten aber schon bei 
den „Halbruhigen“ sich befand. Er drängte unauf¬ 
hörlich auf Entlassung und erging sich oft in Drohungen 
gegen Vallon, die man aber nicht emsf genug nahm. 
Dem Untersuchungsrichter, der einige Stunden nach 
dem Attentat den Kranken verhörte, erklärte dieser: 
„Ich habe mit Vorbedacht gehandelt. Schon seit 
sechs Monaten suche ich eine günstige Gelegenheit, 
heute habe ich sie gefunden. Immer habe ich von 
Vallon meinen Entlassungsschein verlangt, er gab ihn 
mir nicht, obwohl er wusste, dass ich kein Narr bin. 
Nun habe ich mich gerächt und freue mich darüber.“ 
Fast wörtlich ebenso hat seiner Zeit der Kranke in 
Stephansfeld sich geäussert. 

Die Waffe des Attentäters war eine ziemlich 
stumpfe, aber sehr kräftige, etwa 10 cm lange, mittels 
Kupferdrahtes in einem Holzgriff befestigte Klinge. 
Angeblich hatte der Kranke sie gefunden; wahr¬ 
scheinlich aber ist, dass er sie eines Tags aus der 
Küche, wo er zeitweise beim Gemüsereinigen be¬ 
schäftigt war, mitgenommen, oder dass einer seiner 
Mitkranken sie ihm von der Aussenarbeit mitgebracht 
hatte. Er hatte das Instrument angeblich in seiner 
Nachttischschublade aufbewahrt und am Morgen des 
4. October unter seiner Mütze versteckt, um es zur 
That bereit zu haben. 

Vallon’s Zustand ist natürlich ein zweifelhafter. 
Es besteht Lähmung der rechten Extremitäten und 
Hyperästhesie der rechten Hand; Anästhesie der 
linken Hand. Rechte Pupille lichtstarr (Würzburger 
Theorie! Vergl. Rieger-Förster, Wolf, Bach''. 

Allerseits nimmt man herzlichen Antheil an dem 
tragischen Unglück unseres Collegen. 

Paris, 8. 10. 04. E. Hess. 

— Nachstehender Fall beweist, dass das vom 
14. Juli 1904 datierte „Gesetz, betreffend die 
Entschädigung für unschuldig erlittene 
Untersuchungshaft“ — Reichs-Gesetzblatt Nr.35 
— auch in Fällen Anwendung findet, bei 
denen die Ausschliessung der freien 
Willensbestimmung ein freisprechendes 
Urtheii bedingte. 

Es handelt sich um einen in seiner Jugend gänz¬ 
lich verwahrlost aufgewachsenen Menschen, der 

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„wegen seiner geistigen Schwäche“ auf Veranlassung 
des Armenpflegschaftsrathes seines Heimathsortes bei 
Gemeindegliedem als Tagelöhner untergebracht war. 
Mit 14 Jahren machte er sich der Brandstiftung 
schuldig, wurde aber, wegen des durch seine Jugend 
bedingten Mangels der Erkenntniss der Strafbarkeit 
seiner Handlung, freigesprochen. Zugleich wurde seine 
Unterbringung in eine Erziehungs- und Besserungsan¬ 
stalt angeordnet; von dort wurde er nach einem Jahr ent¬ 
lassen; die Charakteristik besagte: „tückisches, schaden¬ 
frohes Wesen, geistig sehr schwach veranlagt, kann 
nur schwach zwischen Gut und Böse unterscheiden.“ In 
der Folgezeit wurde H. mehrfach bestraft; einmal 
„wegen Vergehens der widernatürlichen Unzucht in 
Idealkonkurrenz mit einem Sittlichkeitsverbrechen 
nach § 183 R. Str. G. B.“ mit vier Monaten Gefängniss, 
dann „wegen Sittlichkeitsverbrechens nach § 176 
Ziff. 3 R. Str. G.-B.“ mit einer Zuchthausst rafe von 
einem Jahr. Neuerdings verübte er an einem sechs¬ 
jährigen Kinde ein Sittlichkeitsverbrechen; eine Ver¬ 
urteilung erfolgte nicht, da der Angeklagte „wegen 
hochgradigen, seine freie Willensbestimmung aus- 
schliessenden Schwachsinns von der in objectiver 
Beziehung erwiesenen Anklage eines Verbrechens 
wider die Sittlichkeit freigesprochen werden musste 
und, weil Gründe für Ausschliessung seines Ent¬ 
schädigungsanspruches nicht vorliegen“, wurde be¬ 
schlossen: „es wird die Verpflichtung der Staatskasse, 
den Angeklagten für die von ihm erlittene Unter¬ 
suchungshaft zu entschädigen, ausgesprochen.“ — §§ 1, 
2, 3, 4 des Reichsgesetzes vom 14. Juli 1904, be¬ 
treffend die Entschädigung für unschuldig erlittene 
Untersuchungshaft. — Auf polizeiliche Anordnung hin 
wurde sodann die Verwahrung des H. in der zu¬ 
ständigen Irrenanstalt wegen Gemeingefährlichkeit 
verfügt. 

Zur Orientirung seien nachfolgend die einschlägigen 
Paragraphen des fraglichen Gesetzes wiedeigegeben: 

§ 1. 

Personen, die im Strafverfahren freigesprochen 
oder durch Beschluss des Gerichts ausser Ver¬ 
folgung gesetzt sind, können für erlittene Unter¬ 
suchungshaft Entschädigung aus der Staatskasse 
verlangen, wenn das Verfahren ihre Unschuld er¬ 
geben oder dargethan hat, dass gegen sie ein be¬ 
gründeter Verdacht nicht vorliegt 

Ausser dem Verhafteten haben diejenigen, denen 
gegenüber er kraft Gesetzes unterhaltspflichtig war, 
Anspruch auf Entschädigung. 

§ 2. 

Der Anspruch auf Entschädigung ist ausge¬ 
schlossen , wenn der Verhaftete die Unter¬ 
suchungshaft vorsätzlich herbeigeführt oder durch 
grobe Fahrlässigkeit verschuldet hat Die Ver¬ 
säumung der Einlegung eines Rechtsmittels ist 
nicht als eine Fahrlässigkeit zu erachten. 

Der Anspruch kann ausgeschlossen werden, 
wenn die zur Untersuchung gezogene That des 
Verhafteten eine grobe Unredlichkeit oder Un¬ 
sittlichkeit in sich geschlossen hat oder in einem 
die freie Willensbestimmung ausschliessenden 

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1904.3 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 277 


Trunkenheitszustande begangen worden ist oder 
wenn aus den Thatumständen erhellt, dass der 
Verhaftete die Verübung eines Verbrechens oder 
Vergehens vorbereitet hatte. 

Der Anspruch kann auch dann ausgeschlossen 
werden, wenn der Verhaftete zur Zeit der Verhaftung 
sich nicht im Besitze der bürgerlichen Ehrenrechte 
befand oder unter Polizeiaufsicht stand, oder wenn 
gegen den Verhafteten auf Grund des § 181 a oder 
des § 362 des Strafgesetzbuchs innerhalb der letzten 
zwei Jahre auf Ueberweisung an die Landes-Polizei¬ 
behörde rechtskräftig erkannt worden ist. Das 
Gleiche gilt, wenn der Verhaftete mit Zuchthaus 
bestraft worden ist und seit der Verbüssung der 
Strafe drei Jahre noch nicht verflossen sind. 

§ 3 - 

Gegenstand des dem Verhafteten zu leistenden 
Ersatzes ist der für ihn durch die Untersuchungs¬ 
haft entstandene Vermögensschaden. Hat vor dem 
Erlasse des Haftbefehls eine Vorführung oder eine 
vorläufige Festnahme stattgefunden, so erstreckt 
sich der Entschädigungsanspruch auch auf die dem 
Haftbefehle vorausgegangene Zeit der Haft. 

Unterhaltungsberechtigten ist insoweit Ersatz zu 
leisten, als ihnen durch die Verhaftung der 
Unterhalt entzogen worden ist. 

§ 4 - 

Ueber die Verpflichtung der Staatskasse zur Ent¬ 
schädigung wird von dem Gerichte gleichzeitig mit 
seinem den Verhafteten freisprechenden Urtheile 
durch besonderen Beschluss Bestimmung getroffen. 

Wird auf ein gegen das Urtheil eingelegtes Rechts¬ 
mittel von neuem auf Freisprechung erkannt, so ist 
von dem erkennenden Gerichte nach Maassgabe des 
Abs. 1 von neuem Beschluss zu fassen. 

Der Beschluss ist nicht zu verkünden, sondern 
durch Zustellung bekannt zu machen, sobald das 
freisprechende Urtheil rechtskräftig geworden ist. 
Er unterliegt nicht der Anfechtung durch Rechts¬ 
mittel. Wird die Entschädigungsverpflichtung der 
Staatskasse ausgesprochen, so soll der Beschluss 
auch den Unterhaltsberechtigten, die nicht dem 
Hausstande des Verhafteten angehören, mitgetheilt 
werden, sofern ihr Aufenthalt dem Gerichte be¬ 
kannt ist. 

Diese Vorschriften finden entsprechende An¬ 
wendung, wenn der Verhaftete durch Beschluss 
des Gerichts ausser Verfolgung gesetzt wird. 

Ob die dem vorstehenden richterlichen Entscheid 
zu Grunde liegende Auffassung weitere Anhänger findet, 
bleibt abzuwarten. Sandner-Ansbach. 

— Der Geisteszustand der Prinzessin 
Luise von Koburg. (Schluss.) 

Wir müssen besonders betonen, dass in den Pe¬ 
rioden von wechselnder Apathie und Gereiztheit, wie 
sie in den letzten Jahren in regelmässiger Wiederkehr 
beobachtet worden sind und in welchen zeitweise 
ein vollständig delirantes Sprechen beobachtet wurde, 
der Aufenthalt ausserhalb der Anstalt zu den bedenk¬ 
lichsten Folgen führen würde; es ist aber nicht zu 

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verkennen, dass auch ausserhalb dieser Anfälle eine 
gewisse Neigung zu krankhafter Verkennung des That- 
sächlichen und zu phantastischen Vorstellungen sich 
bei der Frau Prinzessin bemerkbar macht und dass 
in Folge hiervon ihre Auffassung der ganzen Situation 
eine mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmende ist. 

Entsprechend den in dem letzten Berichte des 
Herrn Dr. Pierson hervorgehobenen Aeusserungen der 
hohen Patientin, dass sie die heiligste, reinste Jung¬ 
frau usw. sei, und dass sie in der Geschichte eine 
Rolle spielen werde, wie Elisabeth oder Maria Stuart, 
war auch ihr Verhalten bei Gelegenheit des gericht¬ 
lichen Termins in Coswig. Die Art, wie sie hierbei 
unter die versammelten Juristen und Aerzte trat, in 
eigenthümlich pathetischer Weise sich nach den per¬ 
sönlichen Verhältnissen der Einzelnen erkundigte und 
schliesslich gewissermassen ihre letzten Wünsche in 
den überreichten Schriftstücken zu Protokoll gab, 
zeigte einen unverkennbaren Anklang an die Abschieds¬ 
scene der Maria Stuart. Wenn nun auch in diesem 
Verhalten ebenso wie in den vorher erwähnten 
Aeusserungen zunächst nicht mehr als ein gewisses 
Spielen mit phantastischen Vorstellungen erblickt zu 
werden braucht, so lässt es doch die Disposition 
der hohen Patieritin zu krankhaften Anschauungen 
erkennen, welche in gleicher Weise in dem dauernden 
grundlosen Hass gegen ihren Gemahl und in der 
Idee, von ihm feindselig behandelt zu werden, zum 
Ausdrucke kommen, und welche ausserhalb der 
Anstalt leicht zu unberechenbaren Entschliessungen 
führen könnten. 

Wenn es endlich noch eines weiteren Beweises 
dafür bedürfte, dass die Frau Prinzessin unmöglich 
ausserhalb der Anstalt zu leben vermag, so würde 
derselbe aus den Berichten über die in jüngster Zeit 
unter ärztlicher Aufsicht unternommene Reise nach 
Venedig zu entnehmen sein. Die alte Neigung, sich 
rastlos von Ort zu Ort zu bewegen, unsinnige Ein¬ 
käufe zu machen, in kompromitlirender Weise und 
ohne jede Rücksicht auf ihre Umgebung sich ihren 
üblen Gewohnheiten beim Essen u. s. w. und ebenso 
gelegentlich ihren Zornesausbrüchen zu überlassen, 
trat hier wieder in evidenter Weise hervor. Es er- 
giebt sich hieraus, dass selbst unter ärztlicher Aufsicht 
grössere Reisen für die Prinzessin unzuträglich sind 
und dass fernerhin die an und für sich wünschens- 
werthen Ausflüge und Badeaufenthalte wie bisher 
auf die nächste Umgebung der Anstalt beschränkt 
werden mussten. 

Bezüglich des körperlichen Befindens der Frau 
Prinzessin müssen wir schliesslich noch anführen, dass 
die jetzt im Alter von 46 Jahren stehende Patientin 
sich eines guten Aussehens erfreut und dass ausser 
den Klagen über gelegentlich auftretende Kopf¬ 
schmerzen und allgemeine nervöse Beschwerden 
nichts auf körperliche Störungen Bezügliches berichtet 
wmrde. Der seit langer Zeit bestehende Hautausschlag 
(psoriasis) war bei unserer Untersuchung nur in ge¬ 
ringer Intensität und geringem Umfange vorhanden, 
irgend welche Zeichen einer organischen Gehirn¬ 
krankheit waren nicht nachweisbar. 

Original frum 

HARVARD UNIVERSiTY 




2 7 8 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 29. 


Schl us sgut achten. 

Wir kommen auf Grund des uns vorgelegten 
Aktenmaterials, sowie unserer persönlichen Wahr¬ 
nehmungen zu folgenden Schlüssen: 

1. Der bei Ihrer königlichen Hoheit der Frau 
Prinzessin Luise von Sachsen-Koburg und Gotha 
zur Zeit der Entmündigung konstatirte Zustand von 
krankhafter Geistesschwäche besteht unverändert fort 
und macht die hohe Patientin nach wie vor unfähig, 
ihre Angelegenheiten zu besorgen. 

2. Der dauernde Aufenthalt der Frau Prinzessin 
in der geschlossenen Anstalt ist auf Rücksicht auf 
diesen Krankheitszustand und im Interesse der hohen 
Patientin unbedingt nothwendig. 

3. Wir haben uns überzeugt, dass in der Anstalt 
des Herrn Sanitätsraths Dr. Pierson alle diejenigen 
Bedingungen gegeben sind, welche eine möglichst 
zweckmässige und schonende Behandlung der Frau 
Prinzessin gewährleisten. 

Vorstehendes Gutachten nehmen wir auf den bei 
dem Termin in Meissen am 18. September d. J. vor 
dem Herrn Amtsrichter von jedem Einzelnen von 
uns geleisteten Sachverständigeneid. 

Prof. Dr. F. Jolly m. p., 
geh. Med.-Rath, Director der psychiatrischen und 
Nervenklinik in Berlin. 

Dr. Julius Wagner Ritter v. Jauregg m. p., 
k. k. ord. öff. Universitäts-Professor, Vorstand der 
psychiatrischen Klinik in Wien. 

Dr. L. Mellis m. p., 

belgischer Oberstabsarzt und Leibarzt Se. k. Hoheit 
des Grafen von Flandern. 

Dr. Med. Guido Weber m. p., 
geh. Medicinalrath, Director d. k. s. Landesanstalt 
Sonnenstein. 

— Ueber die Irrenfürsorge in der . Stadt 
Hannover wird dem „Hannoverschen Courier“ v. 4. X. 
geschrieben : „Bereits vor Jahrzehnten hat der bekannte 
Psychiater Griesinger die Forderung aufgestellt, man 
solle neben meist entlegenen Central-Irrenanstalten 
kleinere sogenannte Stadtasyle bauen, geeignet, nicht 
nur als Durchgangsstation für chronisch Geisteskranke 
zu dienen, sondern vor allem jene mehr acut ver¬ 
laufenden Fälle aufzunehmen und bis zur Genesung 
bezw. Entlassungsfähigkeit zu beherbergen. Die Vor¬ 
theile solcher Stadtasyle sind offenbar. Bei acutem 
Ausbruch der Erkrankung wird es möglich, den 
Patienten unter erleichterten Aufnahmebedingungen 
schleunigst in geeignete Räume, in sachkundige Be¬ 
handlung und Bewachung zu bringen. Geht die 
Psychose, wie nicht selten, schnell in Genesung über, 
so entsteht der weitere Vortheil, dass der Genesende 
schon nach kurzem und ohne grosse Formalitäten 
seiner Familie, seinem Berufe wiedergegeben wird. 
Sehr erleichtert wird ferner durch die grosse Nähe 
des Asyls der Verkehr zwischen dem Patienten und 
seinen Angehörigen. Dabei hat der Laie häufig Ge¬ 
legenheit, sich von der humanen Art moderner Irren- 
behänd lung zu überzeugen und seine vielfach unzu¬ 
treffenden Anschauungen in diesem Punkte zu corri- 
giren. Für die Aerzte der Stadt aber bietet das 
Asyl willkommene Gelegenheit, ihre psychiatrischen 


Kenntnisse, sei es in Aerztekursen oder durch häufigen 
Besuch, zu vervollkommnen. 

Wie steht nun die Stadt Hannover zu dieser 
Frage? Im Krankenhause III haben wir, nachdem 
man vor einem Jahrzehnt etwa die syphilitische 
Station verlegt hat, eine selbständige „Irren - Beobach¬ 
tungsstation“. Dieser Name betont das Provisorische der 
Einrichtung, den Charakter einer Durchgangsstation zu 
den grossen Irrenanstalten. Ist damit aber wirklich die 
Bedeutung dieser Anstalt gekennzeichnet ? Im Jahre 
1899 wurden 327 Fälle aufgenommen. Der Abgang 
betrug 319 Fälle. Von diesen wurden 111 in andere 
Anstalten, 178 in die Familie entlassen. Der Rest 
vertheilt sich auf Entlassungen in Krankenhäuser, Ge¬ 
fängnisse, sowie auf 13 Todesfälle. 

Selbst wenn man berücksichtigt, dass unter den 
Aufgenommenen 88 Fälle von Alcoholdelirium waren, 
so zeigen diese Zahlen doch mit grosser Deutlichkeit, 
dass unser Bult-Krankenhaus nicht lediglich provi¬ 
sorische Durchgangsstation zu den grossen Anstalten, 
sondern mindestens in gleichem Maasse Heilanstalt 
für acute Fälle ist, mit anderen Worten, in seinen 
Aufgaben genau dem eben gekennzeichneten Stadt¬ 
asyle entspricht. Die räumlichen Verhältnisse sind 
nun allerdings derart, dass diese Aufgaben im Sinne 
einer modernen Psychiatrie nur höchst unvollkommen 
gelöst werden. Man hat das schon vor Jahren er¬ 
kannt und einen Neubau geplant, der mit dem 
Städtischen Armen- und Siechenhause in Verbindung 
gebracht werden sollte. So heterogene Dinge ver¬ 
einigen zu wollen, ist ein missliches Beginnen, die 
Aufgabe dieses Planes daher vom ärztlichen Stand¬ 
punkte aus keineswegs zu bedauern. 

Neuerdings trat die Angelegenheit in eine neue 
Phase: es tauchte das Projekt auf, die Station nun¬ 
mehr der Provinzialanstalt Langenhagen anzugliedern. 
Dieser Plan mag der Stadt finanzielle Vorteile bieten, 
entspricht aber im übrigen wenig dem grosszügigen 
Geiste, der sonst die Stadtleitung auszuzeichnen pflegt. 
Zunächst berührt es befremdlich, zu sehen, wie ein 
sonst so kraftvolles Gemeinwesen eine so wichtige 
Aufgabe wie die städtische Irrenfürsorge gewisser- 
maassen zu umgehen sucht, indem sie dieselbe einem 
Dritten, der Provinz, in die Hände legt. 

Der Hauptnachtheil des Projektes ist jedoch: 
Langenhagen liegt zu weit ab von Hannover. Jeder 
Arzt weiss die Vortheile zu schätzen, die es hat, wenn 
man einen aufgeregten oder Selbstmord verdächtigen 
Patienten zu jeder Tages- oder Nachtzeit schnell in 
sachkundige Behandlung zu bringen vermag. Dass 
Langenhagen das nicht leisten wird, dafür spricht 
die in der Sitzung der städtischen Kollegien vom 29. 
v. M. gefallene Aeusserung, man werde dann vielleicht 
im Krankenhause II eine kleine Station für plötzlich 
eintretende Fälle einrichten können. Gerade der 
Aufnahme solcher Fälle soll das Stadtasyl dienen, 
und mit einer derartigen „kleinen Station“ würde 
man das unglücklichste Provisorium geschaffen haben. 

Weiter würde durch die Verlegung nach Langen¬ 
hagen jene andere Aufgabe des Stadtasyls, Aufklärung 
über psychiatrische Dinge zu verbreiten, sehr er¬ 
schwert werden. Hinzu kommt das bedauemswerthe 


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Original frnm 

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I 9 ° 4 -] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


2 79 


aber schwer zu beseitigende Odium, welches mit der 
Anstalt Langenhagen verknüpft ist. Der Hannove¬ 
raner denkt bei Nennung des Namens sofort an die 
unglückliche Erscheinung des Vollidioten und wird 
geisteskranke Angehörige nur höchst ungern dort 
unterbringen wollen. Dass auch der Zweck des Asyls 
als Unterrichtsstätte für die Aerzte durch die Ver¬ 
legung hinfällig würde, sei nur nebenbei bemerkt. 

Möge die Stadt das Langenhagen - Projekt fallen 
lassen und sich dazu entschliessen, ein modernes 
Stadtasyl für Geisteskranke im nächsten Weichbilde 
erstehen zu lassen. Dr. B.“ 

— Wien. Reform der Behandlung 
geisteskranker Verbrecher in Oesterreich. 
In der neuen Irrenanstalt, deren Grundsteinlegung 
am 27. IX. stattfand, wird sich bekanntlich ein eigener 
Pavillon für geisteskranke Verbrecher befinden. Es 
ist nun von aktuellem Interesse, dass der Errichtung 
dieses Pavillons für geisteskranke Verbrecher ein Gut¬ 
achten zweier Wiener Universitätsprofessoren, und 
zwar des Vorstandes der psychiatrischen Klinik, Ober- 
sanitätsrathes Professors Dr. Wagner v. Jauregg und 
des Professors Dr. M. Benedikt, vorausgegangen ist, 
welche über die ihnen von der Regierung vorgelegte 
Frage: „Sind die verbrecherischen Irren oder irren 
Verbrecher in besonderen, etwa vom Staate zu er¬ 
richtenden Anstalten unterzubringen, und sind diese 
Anstalten als Heilanstalten oder als eine Art von 
Strafanstalten in Aussicht zu nehmen ?“ in einem um¬ 
fangreichen Referate sich geäussert haben, das kürzlich 
im Organ des Obersten Sanitätsrathes publizirt wurde. 
In diesem Referate wird gesagt: „Von seiten der 
Irrenärzte wurde seit langem die Forderung erhoben, 
dass für die kriminellen Geisteskranken eigene An¬ 
stalten zu errichten seien, und wenn auch hin und 
wieder Stimmen laut wurden, welche die NothWendig¬ 
keit oder Zweckmässigkeit solcher Anstalten bestritten, 
so blieb diese Meinung doch in der Minderheit. Dass 
die Irrenanstalt das Verlangen hat, der kriminellen 
Irren sich zu entledigen, ist in der Beschaffenheit 
eines Theiles dieser kriminellen Irren begründet. Die¬ 
selben Tendenzen, die sie in der Freiheit mit der 
bestehenden Ordnung in Konflikt gebracht haben, 
lassen sie auch in der Irrenanstalt zu einem störenden 
Elemente werden. Dazu kommt noch, dass eine nicht 
geringe Anzahl der kriminellen Geisteskranken, bevor 
sie in die Irrenanstalt kommen, mehrfach vorbestraft 
waren, sei es, dass verbrecherische Anlagen bei ihnen 
schon bestanden, bevor sie eine Geistesstörung acquirir- 
ten, sei es, dass eine schon von Haus aus bestehende 
abnorme Organisation sie zu ihren verbrecherischen 
Handlungen trieb, als strafausschliessende Geistesstörung 
aber erst nach mehrfachen kriminellen Recidiven an¬ 
erkannt wurde. Diese Leute bringen nun aus ihrem 
Gefängnissieben ein eigenthümliches Element in die 
Irrenanstalt, ein gewisses Raffiniment in der Störung 
der Hausordnung, in der Vereitlung aller Vorsichts¬ 
maassregeln und Beschränkungen, in der Demoralisation 
des Personals und Verhetzung der anderen Kranken 
etc., ein besonderes Geschick in der Vollführung von 
Excessen und Durchführung von Entweichungen etc. 
Die Störung, welche der Belieb der Irrenanstalt 

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durch die Anhäufung solcher Elemente erleidet, wächst 
mit der Zahl derselben, und zwar, man kann sagen, 
im quadratischen Verhältnisse; denn sie haben eine 
Fähigkeit, sich zu assoziiren, sich zu gemeinsamen 
Zwecken zu verbinden und zusammenzuwirken, die den 
übrigen Geisteskranken fehlt. Die durch die krimi¬ 
nellen Geisteskranken verursachten Uebelstände sind 
aber in Zunahme begriffen, denn die Zahl derselben 
nimmt zu oder hat wenigstens die Tendenz, zuzunehmen. 
Es ist darin begründet, dass die forensische Psychiatrie 
den Fortschritten der klinischen Psychiatrie folgend, 
ihren Standpunkt verändert hat. Es werden heute 
nicht mehr blos die Geistesstörungen im engeren Sinne 
als strafausschliessend angesehen und jene Grade von 
Blödsinn, die eine Erkenntniss der Strafbarkeit 
einer Handlung ganz ausschliessen, sondern auch 
viele stationäre, in der Entwicklung des Indivi¬ 
duums begründete Zustände, Schwachsinnsformen im 
weiteren Sinne des Wortes, darunter auch jene Formen, 
die vorwiegend auf ethischem Defect beruhen, gerade 
die Tendenz zur Kriminalität bedingen und daher bei 
Verbrechern sich häufig vorfinden. Es ist vom Stand¬ 
punkte des Strafrichters wünschenswerth, dass für die 
kriminellen Irren zwischen Irrenanstalt und Strafanstalt 
ein neutraler Boden geschaffen werde, auf dem die 
Gemeingefährlichkeit des Individuums und die Rück¬ 
fallsgefahr in höherem Grade berücksichtigt werden 
kann, als in der Irrenanstalt. Auch der Strafanstalts¬ 
beamte ist an der Lösung dieser Frage interessirt. 
In der Strafanstalt kommen häufig Geistesstörungen 
vor, denn Verrbecher sind im allgemeinen mehr zur 
Geistesstörung disponiert.“ 

Die Referenten erklären nun, dass für die Unter¬ 
bringung krimineller Irren drei Systeme in Betracht 
kommen: Adnexe an die Irrenanstalten, eigene An¬ 
stalten für kriminelle Geisteskranke und Adnexe an 
die Strafanstalten. Von diesen drei Systemen erklären 
die Referenten die Errichtung einer eigenen Anstalt 
für kriminelle Irre, als einer Mittelstufe zwischen 
gewöhnlichen Irrenanstalten und Strafanstalten, für die 
geeignete Lösung der Frage. Das Land Nieder¬ 
österreich hat die Lösung dieser Frage übernommen 
und sich für das System des Adnexes an die 
Irrenanstalt entschieden. Von den Er¬ 
fahrungen, die man hier machen wird, wird es ab- 
hängen, ob der Staat diesem System zustimmen, oder 
ob an die Errichtung eigener staatlicher Anstalten für 
geisteskranke Verbrecher geschritten werden wird. 

(„Neue freie Presse“ 23. X. 04.) 


Referate. 

— Th. W. Engel mann, Das Herz und seine 
Thätigkeit im Lichte neuerer Forschung. Verlag von 
Wilhelm Engelmann, Leipzig 1904. 

In dieser am Stiftungstage der Kaiser Wilhelms- 
Akademie für das militärärztliche Bildungswesen ge¬ 
haltenen Festrede führt Verf. die neuen Forschungs¬ 
ergebnisse in der Herzphysiologie aus. Die ältere, 
neurogene Theorie glaubte, dass die Herzreize und 

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280 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 29. 


die Koordination der Herztätigkeit von dem intercar- 
dialen Nervensystem ausgingen; doch die neueren 
Arbeiten (myogene Theorie) hätten die Unmöglich¬ 
keit jener Auflassung erwiesen. Neuerdings nimmt 
man an, dass die Reize zur Herzkontraktion beständig 
in den Muskelfasern selbst durch Stoffwechselvorgänge 
entstehen. Der Herzmuskel reagirt, gleichgültig wie 
gross der Reiz ist, wenn er nur den Schwellenwert 
überschritten hat, stets mit höchster Kontraktion unti 
darauf folgender Erschöpfung. Bei ständig fort¬ 
wirkenden Reizen kommt somit eine periodische Kon¬ 
traktion zu stände. Die Reize gehen normalerweise 
von dem Gebiet der Venensinus aus und pflanzen 
sich von Muskelfaser zu Muskelfaser fort, was möglich 
ist, da die einzelnen Fasern innig mit einander Zu¬ 
sammenhängen und auch Vorkammern und Kammern 
unter sich durch Muskelbrücken verbunden sind, 
so dass das ganze Herz gewissermaassen nur eine 
grosse verzweigte Muskelfaser darstellt. Durch diese 
Einheitlichkeit ist auch die Koordination bedingt. 
Die Thätigkeit der intra- wie extracardialen Herz¬ 
nerven ist nur eine regulirende, die die Herzaktion 
entsprechend den Körperbedürfnissen anpasst. Hier 
sind entsprechend den 4 Grundfunktionen des Herz¬ 
muskels 4 Gruppen von Nerven zü unterscheiden, die, 
welche die Reizerzeugung und somit das Schlagtempo 
beherrschen, die, welche den Schwellenwert des Reizes 
ändern, die, welche die Reizleitungsfähigkeit und die, 
welche das Kontraktionsvermögen beeinflussen. Je 
nach ihrer Wirkung zerfallen diese wieder in Aug- 
mentatoren und Inhibitoren, jene stammen vom Sym- 
pathicus, diese vom Vagus ab. 

Dr. Fritz Hoppe, Tapiau. 

— E. Holländer: Die Medicin in der klassischen 
Malerei. Sfuttgart, Enke, 1903. 

Das vornehm ausgestattete Werk sei auch an 
dieser Stelle empfohlen. Es bringt zu den 165 schön 
ausgeführten Autotypien einen sehr anziehend geschrie¬ 
benen Text. Die künstlerischen Darstellungen der 
Tanzwütigen, der Zwerge und Hofnarren, der halb¬ 
seitigen Kinderlähmung, des Myxödem (?), der Me¬ 
lancholie, dcrFebris amatoria, der Suggestionstherapie, 
des Key- oder Steinschneidens am Kopfe, der Heiligcn- 
behandlung der Besessenen laden besonders die Nerven¬ 
ärzte zur Betrachtung ein. Merklin. 

Toulouse, Ed. et Fieron, H. : Les Tests en 
Psycho-Pathologie. Revue de Psychiatrie et de 
Psychologie experimentale, 3. Serie. VII Annee, 
Tome VII, 1903. No. 1. 

Die Verf. wünschen bei der Wichtigkeit der psycho¬ 
logischen Untersuchungen eine grössere Einheitlich¬ 
keit und Zuverlässigkeit der Untersuchungsmethoden, 
erst dann sind Vergleiche beiechtigt. Die Verbesse¬ 
rungsvorschläge der Verf. betreffen insbesondere auch 
die Testobjekte. Es muss hier auf das Original 
verwiesen werden. Wickel (Dziekanka). 


I’iir ih n ieilacn.»neuen Tlu-il verantwortlich : Obe 
Erscheint jetten Sonnabend. — Schluss der Insrratenannahmc 3 Tage 

Iteynemann’sche Buc.hdruckerei ( 


Aufruf! 

Die Unterzeichneten halten es für wünschenswerth, 
dass im Grossherzogthum Hessen eine Völ> 

einigung für Criminalpsychologie und 
fofensische Psychiatrie gegründet werde, wie 
solche bereits mit Erfolg an verschiedenen Orten be¬ 
stehen. In dieser Vereinigung sollen Juristen, Medi- 
ciner, Verwaltungs-, besonders Polizei- und Strafan¬ 
staltsbeamte gemeinsam die vielen psychologischen 
und psychiatrischen Fragen im Rechtsleben, bes. im 
Strafrecht, studiren. 

Diesem Zwecke sollen Versammlungen an ver¬ 
schiedenen Orten, ein- oder mehrmals im Jahre mit 
Vorträgen, Berichten, Besprechungen, Besichtigungen 
und Materialsammlungen dienen. Dadurch werden 
die Betheiligten unterstützt und die Reform des Straf¬ 
rechts und Strafprocesses gefördert. An Stoff zur 
Arbeit und an Mitarbeitern whrd es nicht fehlen. 

Zu einer ersten Versammlung laden die Unter¬ 
zeichneten alle, die der Vereinigung beitreten möchten, 
auf 

Sam stag,. d en 5. November d. J. 
nach Giessen ein. 

Als Tagesordnung ist in Aussicht genommen: 

1. Vormittags 11V-4 Uhr: Sitzung im Universi¬ 
tätsgebäude : 

a) Besprechung über Zweck und Organi¬ 
sation der Vereinigung. Gründung der¬ 
selben. 

b) Bericht des Herrn Professor Mittermaier 
über: „Die Reformfragen auf dem Gebiet 
des Strafprocesses.“ 

2. 1V2 Uhr: Gemeinsames Mittagessen im 
„Grossherzog von Hessen“ (Couvert M. 2,50). 

3. Nachmittags 3V2 Uhr in der psychiatrischen 
Klinik: Bericht des Herrn Professor Sommer 
über „Die Forschungen über die Psychologie 
der Aussage.“ 

Anmeldung, auch wegen der Theilnahme am ge¬ 
meinsamen Mittagessen, w’ird erbeten an die mit¬ 
unterzeichneten Prof. Mittermaier oder den Privat- 
docent Dr. Dannemann. 

Darmstadt, Giessen, Mainz, im Oct. 1904. 
D a n 11 e in ann, Privatdozent, 
Kulimann, Landgenchtspräsident, 
v. Bessert, Oberstaatsanwalt, Mittermaier, Prof., 
S o in me r, Professor, Theobald, Oberstaatsanwalt, 
P r a e t o r i u s, Generalstaatsanwalt, 

Ilaberkorn, Kreisarzt, Schmidt, Oberstaats¬ 
anwalt. 

Dieser Nummer liegt ein Prospekt von 
J. D. Riedel, chemische Fabriken, 
Berlin N. 39, 

bei, worauf unsere Leser besonders hingewiesen seien. 

r.'ir/t l)r. J. Urcslcr, Lnbhnitr (Sch csien). 
vor der Angabe. — Verlap vr-n Car! Marhold in Halle a. S 
Gebr. We*ID i»> Halle a. S. 


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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift. 

Redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. B realer, 

Lublinitx (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr,-Adresse: Marho Id Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834. 

Nr. 30, 22. Oktober. 1904. 

--asaataasaa - sb -■■■-■ asaaaBBgagaj—sa—~~i■ — ~a" a - - L = aas — — - - 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die 3 spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitx (Schlesien), zu richten. 


Die Benennung der Krankenhäuser für Geisteskranke. 

Von Oberarzt Dr. Max Fischer-lWtnzu.. 


A us irrenärztlichen Kreisen geht in den letzten 
Jahren eine Bewegung dahin, die Ausdrücke 
„Irre, Irrenanstalt, Irrenärzte“ zu tilgen und durch 
andere zu ersetzen. Man geht dabei von der An¬ 
schauung und Ueberlegung aus, dass diese Worte 
für das Publikum in allen seinen Schichten einen 
durch alte Vorurtheile mannigfacher Art verursachten 
schlimmen, verächtlichen Sinn haben, der so einge¬ 
sessen sei, dass man durch Aufklärung nichts ändern 
könne. Man will also diesen Vorurtheilen entgegen- 
kommen und durch Neubenennungen die Sache der 
Geisteskranken, ihrer Krankenhäuser und Aerzte 
fördern. 

Ist das auf diesem Wege überhaupt möglich? 

Die gemachten Vorschläge sind nun mannig¬ 
facher Art. Der eine geht radical vor und will das 
Kind gleich beim rechten Namen nennen: „Gehirn¬ 
krankenanstalt, Gehirnkrankenhaus, Gehirnheilanstalt, 
Gehirnpflegeanstalt“, sogar abgekürzt in „Gehirnan¬ 
stalt“ (!). Liegt diesen Wortbildungen auch der 
wahre Kern zu Grunde, dass eben das Gehirn das 
körperliche Substrat der Geisteskrankheiten ist, so 
scheinen sie mir doch insofern unglücklich, als sie 
den Gesichtspunkt ausser Acht lassen, dass es sich 
um Erkrankungen der ganzen Person handelt und 
darum auch um Veränderungen ihrer rechtlichen, 
socialen und wirthschaftlichen Stellung. Dies muss 
aber auch in der Bezeichnung zum Ausdruck kommen. 

Die Zeit für die genannte radicale Umänderung 
ist noch weit weg, wird vielleicht nie kommen. Wenn 
es aber doch dazu käme, so würden die Vorurtheile 
des Publikums an diesen Namen erst recht haften 
bleiben. Schon heute gilt im Volksmunde „gehirn- 
krank“ womöglich noch schlimmer als „geisteskrank“. 

Andere Vorschläge gehen von der entgegenge¬ 
setzten Absicht aus, nämlich die Benennungen „Irre“ 


etc. durch milder und harmloser klingende zu er¬ 
setzen, da doch nicht alle Geisteskranken eigentlich 
irr seien. Statt Irrenanstalt will man darum setzen: 
Nervenanstalt, Nervenheilstätte; auch die 
Zusammensetzung: Gemüths- und Nervenan¬ 
stalt oder Gemüths- und Nervenheilstätte 
hat man empfohlen. Denn beim Geisteskranken seien 
immer auch die Nerven afficirt, das Gehirn sei nichts 
anderes als Nervensubstanz, sei die Centralstelle der 
Nerven. Unter Nervenkranken Verstehe man ohne¬ 
hin heute schon allgemein auch leichter Gemüths- 
oder Geisteskranke. So hofft man durch diese 
Sammelbenennung die Vorurtheile der Menge zu 
zerstreuen, die Irren aus ihrer Verfehmung zu er¬ 
lösen. 

Wir können uns auch nicht auf den Boden 
dieser Lösung stellen. 

Unter nervenkrank versteht man nun eben ein¬ 
mal nach dem richtigen, allgemeinen Sprachgebrauch 
nicht die eigentlichen Geisteskrankheiten, trotz 
mancher gemeinsamer Beziehungen zwischen beiden. 
Der Begriff würde ausserdem bei dieser Subsummir- 
ung auch ein viel zu weiter, die Unterscheidung um 
so schwieriger. Gerade aber die neuerlichen An¬ 
läufe, den Begriff nervenkrank weiter zu spannen 
und darunter auch die leicht Gemüths- und Gei¬ 
steskranken zu rechnen, hat in praxi zu dem über¬ 
aus bedauerlichen und folgeschweren Uebelstande 
geführt, dass unter dieser Firma in den meisten 
offenen Sanatorien jeder Art eine Unsumme von 
mehr oder weniger deutlich ausgesprochenen wirk¬ 
lichen Psychosen, oft sogar solche im abgeschlossenen 
Zustande, geführt werden, auch wenn dort kein 
irrenärztlicher Betrieb, keine fachmännische Behand¬ 
lung gewährleistet werden kann. Hierin liegt für 
unsere Kianken eine offenbare grosse Gefahr. Man 


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282 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 30 


sieht also, wieweit man mit solchen Halbheiten 
kommt. 

Ein Geisteskranker bedarf anerkanntermaassen in¬ 
folge seiner anders gearteten Krankheitsäusserungen 
zwar nicht durchaus, aber doch meistens auch anderer 
Behandlungs- und Krankenhausverhältnisse als der 
leichter Nervöse und Nervenkranke, der Durch¬ 
schnittskranke der Sanatorien, vor allem aber eines 
auf diesem Gebiete völlig vertrauten Arztes, des er¬ 
fahrenen Irrenarztes, und zwar nicht nur bei aus¬ 
gebildeten, sondern gerade auch bei leichtern oder 
in der Entwicklung begriffenen Formen der Er¬ 
krankung. 

Weit verbreitet ist ferner der Ausdruck Heil- 
und Pflegeanstalt für Irrenanstalt. Sehr schön 
und wohlklingend! Ich möchte ihn auch nicht 
ohne Weiteres in Wegfall decretiren. Aber man soll 
doch auch der Bezeichnung selbst an sich schon die 
specielle Art der Institution ansehen; sonst hat die 
Benennung keinen rechten Werth und Sinn. Ein¬ 
fach Heil- und Pflegeanstalt kann sich jedes Kranken¬ 
haus, überhaupt jede Stätte, wo geheilt und gepflegt 
wird — es braucht sich nicht einmal um Menschen 
als Patienten zu handeln — nennen. Schon aus 
diesem Grunde ist die Bezeichnung hinfällig, wenn 
man nicht laut oder leise, geschrieben oder unge¬ 
schrieben: „für Irre, Geisteskranke“ hinzusetzt. Thut 
man aber das, so wird der Begriff doch erst dann 
von humaner Bedeutung, wenn zuerst die Vorstell¬ 
ungen über Irre, Irrenanstalten und Irrenärzte sich 
geläutert haben, sonst nicht. Das erkennen wir ja 
schon aus den auf diesem Gebiete zur Zeit bestehen¬ 
den Verhältnissen. 

Das Gleiche würde für andere Ausdrücke all¬ 
gemeiner Art, wie etwa „Landespflegeheim, 
Landesgenesungsheim“ gelten. Auch hier 
kommt es auf die A u s 1 egu n g an, auf die Vorstellungen, 
die man allgemein mit deren Pfleglingen, den „Irren“ 
noch verbindet. 

Auch an Zusammensetzungen mit Seele liesse 
sich denken. S eel e n stö r un g, seelengestört, 
Seelenkrankheit, Seelenheilkunde sind ge¬ 
wohnte, gutklingende Namen und dazu richtige Bild¬ 
ungen. Ihnen kann kein odiöser oder ominöser 
Beiklang zugemischt werden. 

Und gerade die Uebertragungen der Wortbild¬ 
ungen aus Seele ins Griechische: Psychose, 
Psychiater, Psychiatrie, psychiatrische 
Klinik gehören zu den alltäglichsten und ge¬ 
bräuchlichsten in unsern Kreisen und darüber hinaus. 

Aber bei se eien krank, Scelenkranken- 
haus, Seele n Heilstätte, Seelenheil- und 


pflegeheim, ferner gar Seelenarzt, würde sich 
doch zu sehr das religiöse und moraltheologische 
Element für unser Empfinden vordrängen, so dass 
wir wohl auf eine allgemeine Einbürgerung dieser 
Bildungen für die von uns gemeinten Begriffe nicht 
zu hoffen hätten. An sich wären sie unbedingt zu 
bevorzugen. 

Auf Zusammensetzungen nicht deutschen Ur¬ 
sprungs , gerade auch solche mit Psyche, z. B. 
„Krankenhaus für psychisch Kranke“ sollten wir, glaube 
ich, für den allgemeinen Gebrauch vor dem Publikum 
aus dem Gefühle nationaler Würde heraus 
überhaupt verzichten. Um verstanden zu werden, 
müssten die Ausdrücke ja doch erst ins Deutsche 
übertragen werden. 

Ein letzter Vorschlag, der an sich sehr annehm¬ 
bar erscheint, geht dahin, aus dem Holländischen 
das Wort kranksinnig zu übernehmen. Er ist 
meines Wissens übrigens zum ersten Mal von dem 
Ulenauer Anstaltsgeistlichen Fink bereits im Jahre 
1852, also schon vor mehr als 50 Jahren („Die 
Heilanstalten von ihrer kirchlichen Seite“, S. 3), 
gemacht worden. Die Bezeichnung erscheint theore¬ 
tisch wenigstens vielleicht soweit gerechtfertigt, als die 
Berechtigung jdes Spruches: „Nihil est in $ntellectu, 
quod non fuerit in sensu“ reicht, also hauptsächlich für 
das Gebiet der Associationspsychologie, nicht aber für 
das Gesammtgebiet der krankhaften Geistes- und 
Nervenzustände. Trotzdem hätte der Ausdruck 
immerhin seine Vorzüge. Man könnte ihn auch ira 
Deutschen als im allgemeinen richtige Bezeichnung 
gelten lassen und es fehlte ihm vorläufig bei 
uns jeder verächtliche Beiklang. Ob er freilich 
Aussicht hat, sich wirklich einzubürgern, ist noch sehr 
die Frage. Insbesondere möchte ich dies bezüglich 
der weiteren Bildungen und Zusammensetzungen be¬ 
zweifeln : Kranksinn für Irresein, Kranksinnigenarzt 
für Irrenarzt, Kranksinnigenanstalt, -asyl, -heim, -heil- 
stätte für die gleichen Bildungen mit „irre“. 

Sehr wichtig ist mir hierzu die Bemerkung Ziehens 
in einem Referat von K. Alts: „Die familiäre Ver¬ 
pflegung der Kranksinnigen“ (Deutsche Med. Wochen¬ 
schrift No. 34, 18. 8. 1904, S. 1252), wonach in 
Holland der Bezeichnung „kranksinnig“ ganz dasselbe 
Odium anhaftet wie bei uns den Bezeichnungen „irre“ 
etc. Ziehen gelangt dabei zu denselben Anschauungen 
wie ich in vorliegendem Aufsatze. Ich freue mich 
dieser Uebereinstimmung. 

Ich glaube leichter ginge es noch mit den uns 
sc hon gewohnten Ausdrücken und Verbindungen mit 
„ge is t es k r ank“ und „gemü t hskra n k“, die ja das 


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Original fram 

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I 9 ° 4 -] 


PSYCHIATRISCH-N EUROLOGISCH E WOCH ENSCH RIFT. 


283 


Gleiche ausdrücken, also: Geisteskrankheit, Geistes¬ 
krankenasyl, -heim, -heilstätte, -anstalt, -arzt etc., 
ebenso: Gemüthskrankheit etc. 

Trennungen der Ausdrücke („Asyl, Anstalt, Arzt 
für Kranksinnige, Geisteskranke“) vermeide ich hier 
absichtlich, weil es für den Sprachgebrauch und die 
praktische Einführung, resp. Einführbarkeit doch auf 
den einfachsten und präcisesten Ausdruck des Be¬ 
griffs ankommen muss. 

Wir kommen damit zu dem Hauptpunkte unserer 
Erörterung: Haben alle diese Vorschläge, 
die an sich gut gemeint sind und von durchaus be¬ 
rechtigten Motiven ausgehen, auch Aussicht, 
wirklich in unsern Wortschatz einver¬ 
leibt zu werden und erfolgreich die alten 
Bezeichnungen mit irre zu verdrängen? 

Wir glauben nicht. 

Eine echte Begriffsbezeichnung muss deutsch 
und möglichst kurz sein und das Wesen, den Kern 
treffen, also prägnant sein. 

Alle vorgeführten deutschen Bezeichnungen 
sind aber zusammengesetzte Worte und sind darum 
umständlicher, schwieriger im Gebrauche und vo r 
allem länger als irr. 

So lange wir aber keinen gleich kurzen, präg¬ 
nanten tind gut deutschen Ausdruck finden, wird es 
meiner Ansicht nach schwer halten mit etwas an¬ 
derem durchzudringen. 

Und die abträglichen Vorurtheile der Menge, die 
sich mit den Begriffen Irre, Irrenanstalten, Irrenärzten 
jetzt noch verbinden, werden sich auch an die an¬ 
dern Wortbildungen „geisteskrank, kranksinnig, hirn- 
krank“ etc. heften, solange eben diese Vorurtheile 
nicht der bessern Einsicht gewichen sind. 

Gerade diesen Vorgang können wir ja bei der 
Einbürgerung der Wortgruppe mit „Irre“ feststellen, 
wo alles Verächtliche, was mit den Ausdrücken „Narr, 
Narrenhaus“ etc. verknüpft war, einfach auf die neuen 
Bezeichnungen übertragen würde. Sehr langsam findet 
erst jetzt eine Abmilderung statt. 

Nun sollen wir aber, wo wir uns mit Mühe erst von 
den Bezeichnungen „Narr“ etc. freimachen, schon wieder 
einen Wechsel des gemilderten „Irre“ etc. duichmachen! 
Neue Bezeichnungen nützen nichts, wenn nicht erst 
in der Sache eine höhere Kultur und Ethik ganz 
allgemein eingesetzt hat. 

Uebrigens haben das Wort irre und seine Zu¬ 
sammensetzungen und Ableitungen durchaus nicht 
immer die verächtliche Beimischung gehabt und 
haben sie auch heute nicht allgemein. 

Man gestatte mir eine kleine ethymologische Ab¬ 
schweifung, allerdings nicht auf tiefgründigen eigenen 

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Untersuchungen, sondern einfach im Verfolg der 
Darlegungen des Grimm ’schen Deutschen 
Wörterbuchs, dieses Standardwork unserer 
Sprache, über diesen Punkt. 

Darnach ist das Wort irre von jeher ein Lieb¬ 
lingswort der deutschen Dichter gewesen; in alter 
und neuer Zeit sind eine Unzahl von Zusammen¬ 
setzungen aller Art von ihnen geschaffen worden. 
Sie schwelgen förmlich darin, so besonders Goethe. 
Auch in der juristischen Sprache war es sehr ge¬ 
bräuchlich und hat bestimmte begriffliche Formen 
erfüllt; ebenso in der Bergwerkssprache. Verletzende 
Beiklänge fehlen vollkommen. 

Man verüble mir nicht einige Dichtercitate: 

„Es irrt der Mensch, so lang er strebt.“ 

„Der nicht mehr liebt und nicht mehr irrt, der 
lasse sich begraben.“ (Goethe.) 

„Aus Einfalt irrt ein Kind, ein Weiser durch 
Begierde.“ (Lobenstein.) 

Schliesslich: „Irren ist menschlich“, eines unserer 
gebräuchlichsten und wahrsten Sprichwörter. 

Wenn wir dann den verschiedenerlei Bedeutungen 
nachgehen, die das Wort „irre“ gehabt hat und noch 
hat, so stossen wir auf folgende: 

1. umherschweifend (vom Falken, der Gazelle) 
oder ruhelos umhergehend. „Der irre Flug, der irre 
Fuss, der irre Wanderer“. 

Dass diese Auslegung auf viele Geisteskranke und 
ihre Entäusserungen stimmt, bedarf wohl keiner Aus¬ 
einandersetzung. 

2. Verirrt; vom richtigen Weg abweichend, z. B. 
„irre werden“; daher dann: „irre gehen, irre führen“, 
ebenso in übertragener Bedeutung: „der irre Geist“; 
„irre leiten“. 

Der Vergleich liegt gleichfalls nahe. 

3. Im rechten schwankend, unschlüssig, rath- 
los; ferner: „irre machen, irre sein, werden, z. B. 
an Jemand, an Gott, an sich“. 

Es braucht wohl kaum die Exemplifikation dieser 
Begriffe auf die Zustände und Aeusserungen der 
Melancholischen, auch vieler nervös-psychisch Er¬ 
schöpften, ferner der Paranoiazustände gemacht zu 
werden. 

4. irre = erzürnt. 

5. nun folgt die Bedeutung von irre in unserem, 
dem irrenärztlichen Sinne — geistig gestört. Es gilt 
als milder Ausdruck für „wahnsinnig“, bedeutet aber 
ursprünglich so viel als thörieht, närrisch, 
dumm. Man verstand darunter insbesondere mehr 
die ruhigen, harmlosen Geisteskranken zum Unter¬ 
schiede von den „Rasenden“ und „Tollen“, d. h. 

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HARVARD UNIVERSUM 



284 


den Unruhigen. Es hatte früher überhaupt keinen 
schärferen oder gar verächtlichen Sinn, und so ist es 
auch jetzt noch in vielfachen Verbindungen wie auch 
in der Anwendung der Dichter, z. B. „etwas Irres 
im Blick“; „irrer Ausdruck“; „irre reden“ = deliriren. 

,,Gram und Verzweiflung sprach aus meinem 
irren Munde.“ (Wieland.) 

„Bist Du krank, dass Du irre sprichst.“ (Klinger.) 

Versuchen wir festzustellen, seit wann überhaupt 
die Bezeichnungen „irre“ und seine Zusammensetz¬ 
ungen, z. B. „Irrenhaus, Irrenanstalt“, sich in unsrem 
Wortschätze für psychiatrische Begriffe finden, so be¬ 
dauere ich vorerst nur von einer geringen Ausbeute 
sprechen zu können. Vielleicht fühlen sich andere 
Collegen durch meinen Vorstoss zu eigenen Bestreb¬ 
ungen angeregt. Ich werde für jede Mittheilung 
dankbar sein. Schon jetzt bin ich den Herren Pro¬ 
fessoren Dr. Kirchhoff-Schleswig, Kluge - Frei¬ 


[Nr. 30. 


bürg und Gombert für ihre Unterstützung zu leb¬ 
haftem Dank verpflichtet. 

Nach den bisherigen Eruirungen findet sich 
nun das Wort irre zuerst in einem Reglement der 
Stadt Berlin vom Jahre 1702: „Besondere Ordnung 
für irre und dolle Leute“; darin steht auch der 
sehr bemerkenswerthe Satz: „die etwas irre, aber 
nicht rasend, werden in ein gut Zimmer gehalten 
und gehen im Hause herum“ (citirt nach: Kirch- 
hoff: „Grundriss der Geschichte der deutschen Irren¬ 
pflege“). Unter den „etwas Irren“, die sich dieser 
humanen Behandlung erfreuen, sind offenbar ruhige, 
harmlose Geisteskranke zu verstehen. Manche Spi¬ 
taler und Irrenlokale der Jetztzeit, die für den Aufent¬ 
halt Geisteskranker nur die Irrenzelle kennen, 
dürften sich den Inhalt jener mehr als 200 Jahre 
alten Verordnung, wenigstens in diesem Punkte, zu 
Herzen nehmen. (Schluss folgt.) 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Die neuen Aufnahmehäuser der Landesirrenanstalt zu Neu-Ruppin. 

Von Dr. G. Marthen. 


jT\ie vierte Brandenburgische Landesirrenanstalt zu 
Neu-Ruppin, welche im Mai 1897 eröffnet wurde, 
füllte sich so schnell, dass bereits nach wenigen 
Jahren die vorläufig vorgesehene Belegungsziffer von 
1000 Kranken erreicht wurde. 

Demgemäss musste sehr bald für die von vorn¬ 
herein geplante Erweiterung der Anstalt auf 1600 
Plätze Sorge getragen werden. 

Als es sich um den Ausbau der Frauenseite 
handelte, erschien es rathsam, um den vorhandenen 
verschiedenartigen Bedürfnissen zu entsprechen, von 
der weiteren Errichtung grosser Häuser für 80—140 
Kranke, welche den Grundstock der Anstalt bildeten, 
abzugehen und für die besonderen Anforderungen be¬ 
sondere, wenn auch kleinere und deshalb vielleicht ver- 
hältnissmässig theurere Krankenabtheilungen zu schaffen. 
Vor allem handelte es sich um möglichst zweckmässige 
Einrichtungen für die Behandlung der neu auf¬ 
genommenen Kranken, besonders der frischeren 
Fälle. In Anbetracht einer zu erwartenden Auf¬ 
nahmeziffer von 200—300 Frauen im Jahr erschien 
es angezeigt, besondere Aufnahrae-Abtheilungen für 
ruhige wie unruhige Kranke zu schaffen. 

Der Mittelpunkt einer Irrenaufnahme - Abtheilung 
ist jetzt der Wachsaal. Die mannigfachen Be¬ 
dingungen, welche er in sich erfüllen muss bezüglich 
Luft, Licht, Uebersichtlichkeit, Sauberkeit, Ruhe usw. 
sind zu bekannt, als dass sie des genaueren zu er- 

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örtern wären. Wichtig erscheint aber auch seine 
Verbindung mit anderen Räumlichkeiten. Hier ist 
zuerst der Baderaum zu nennen, welcher dem Wach¬ 
saal an Bedeutung für die psychiatrische Behandlung 
am nächsten kommt. Für diese beiden muss ein 
unmittelbarer Zusammenhang verlangt werden. Die 
Einrichtung einer besonderen Badegelegenheit im 
Aufnahme-Wachsaal selbst erscheint einerseits als ein 
unzureichendes Aushilfsmittel, andererseits in einer so 
grossen Anstalt, welche nebenbei noch 4 grosse 
Doppelwachsäle für je 25 besonderer Pflege bedürftige 
Frauen besitzt, nicht erforderlich. Ferner gehören 
in die unmittelbare Nähe des Wachsaales ein oder 
besser mehrere Zimmer für einzelne Kranke, seien 
es solche, welche durch die Nachbarschaft anderer 
Kranken und deren Krankheitsäusserungen ungünstig 
beeinflusst werden, seien es solche, welche selbst 
ihre Mitkranken allzusehr stören. 

Weiterhin ist ein naher Zusammenhang mit dem 
Wachsaal erwünscht für die Schlafsäle. Die Vorteile, 
welche aus der Möglichkeit, alle Kranken der Auf¬ 
nahmeabtheilungen nachts zu überwachen, erwachsen, 
überwiegen den Nachtheil, dass eine nächtliche 
Störung mehr Personen beeinträchtige, meiner Meinung 
nach bei weitem wenigstens für die besonderen 
Verhältnisse Ruppin’s — mit der durch seine Grösse 
bedingten Mannigfaltigkeit der Unterbringungsmöglich¬ 
keiten. 

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HARVARD UNIVERSITY 





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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Der zweite Mittelpunkt der Wachabtheilung ist 
der Tagraum. Um ihn müssen sich gruppiren Spül¬ 
küche, Garderobe, Putzraum oder Besenkammer, 
Waschzimmer und Abort. Ausserdem erscheinen 
für ein Aufnahmehaus nothwendig ein Aufnahme- 
und Besuchszimmer, ein ärztliches Untersuchungs¬ 
zimmer und eine Wohnung für einen Arzt oder eine 
Oberin. Wünschenswerth ist endlich noch eine ge¬ 
deckte Veranda, welche unseren Kranken die Mög- 



Aufnahmehaus für ruhige Frauen. 

lichkeit des Aufenthaltes und der Bewegung an der 
frischen Luft auch bei der in Norddeutschland nur 
allzu häufigen ungünstigen Witterung gewährt. 


1 CD CD 

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Grundriss zum Aufnahmehaus für ruhige Frauen. 

I. Garderobe. 2. Aufnahme- und Besuchszimmer. 3. Treppe. 
4. Spülküche. 5. Waschnische. 6. Besenkammer. 7. Abort. 
8. Tagraum. 9. Untersuchungszimmer. 10. Wasch- und Bade¬ 
raum. II. Wachsaal (12 Betten). 12. Nebenwachsaal (10 
Betten). 13. Schlafsaal (8 B.) 14, 15. Einzelzimmer. 

Diesen sich uns aufdrängenden Forderungen ver¬ 
suchten wir nun in den abgebildeten Grundrissen 
gerecht zu werden. 

Das Aufnahmehaus für ruhige Kranke besteht 
aus 2 Abtheilungen für je 30 Kranke. Wie aus dem 
Grundrisse zu ersehen ist, ge/a/^ jjian vom Treppen - 


□ igitized by 


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flur aus zunächst in das Aufnahme- und Besuchs¬ 
zimmer, von diesem durch das ärztliche Unter¬ 
suchungszimmer in den Baderaum, wo jede Kranke 
zunächst ein Bad erhält, um nun unmittelbar in den 
Wachsaal geführt und zu Bett gelegt zu werden. 

Das ärztliche Untersuchungszimmer ist ausgestattet 
mit einem Instrumentenschrank, zahlreichen Beleuch¬ 
tungskörpern — einer davon befindet sich unmittel¬ 
bar über dem Untersuchungsbett —, Waschbecken 
mit Kalt- und Warmwasserhahn u. a. m. Störungen 
bei den genaueren ärztlichen Untersuchungen, welche 
zumeist erst am nächsten Tage vorgenommen werden, 
damit die Kranke sich inzwischen erst etwas in die 
neue Umgebung einleben und sich beruhigen konnte, 
— durch andere dazwischen kommende Neuauf¬ 
nahmen finden sehr selten statt, da unsere Kranken 
zumeist mittelst der Eisenbahn zugeführt werden, 
ihre Einlieferung also vorzugsweise in bestimmten 
Tagesstunden stattfindet. Ebenso sind Störungen 
zwischen dem Reinigungsbad der aufzunehmenden 
Kranken und den Dauerbädern aus demselben 
Grunde selten. Trotzdem muss natürlich zugegeben 
werden, dass die Schaffung besonderer Räume für 
diese verschiedenen Badezwecke vortheilhaft ist. Im 
Rahmen unseres Planes Hess sie sich leider nicht er¬ 
möglichen. 

Der Baderaum, welcher mit Mettlacher Fliessen 
belegt ist, enthält 4 feststehende Badewannen aus 
starkem, weiss emaillirtem Eisenblech 
Sj — also eine Wanne für 8 Kranke. 
^ U Einiger besonderen Worte bedarf die 
Wasserzuführung. Die Zuführungsrohre 
U steigen alle an einer Wand herab und 
sind hier mittelst Schraubhähnen mit 
■ Gummidichtung verschlossen. Diese Hähne 
§j haben leider den Nachtheil einer gewissen 
n U Eigenwilligkeit, sie werden gelegentlich 
1 undicht, besonders der Heisswasserhahn. 
I Wird ein Heisswasserhahn z. B. nicht ge- 
nügend geschlossen, was oft grosser Kraft¬ 
anstrengung bedarf, sodass längere Zeit, 
etwa über Nacht, heisses Wasser ausläuft, so 
verliert der Dichtungsgummi seine Elastizität und 
es ist überhaupt kaum noch ein vollkommener 
Verschluss herbeizuführen. Aber auch bei frischem, 
elastischem Dichtungsgummi kann jederzeit durch 
Einkeilung eines kleinen Stückchens Kessel¬ 
stein eine Undichtigkeit des Hahnes herbeigeführt 
werden. 

Um die daraus sich ergebende Gefahr einer 
Verbrühung der Kranken im Bade zu vermeiden, 
sind die Zuführungsrohre nebeneinander weiter zum 

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286 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 30 


Fussende der Wannen hingeführt und zwar zunächst 
unter dem Fussboden, steigen dann senkrecht empor 
und vereinigen sich zu einem kurzen gemeinsamen 
Ausflussrohr, welches sich über den Wannenrand 
herüber krümmt. Es kann also jeder nachlaufende 
Tropfen durch das Auge wahlgenommen werden. 
Um nun nicht bei jeder Undichtigkeit eines Hahnes 
die betreffende Wanne sofort ausser Betrieb setzen 
zu müssen, ist in das Heisswasserrohr kurz vor dem 
gemeinsamen Ausflussrohr noch ein sogenannter Ent¬ 
wässerungshahn eingeschaltet worden, welcher bei 
seinem Schlüsse etwa nachdrängendes Heisswasser 
zurückhält, andererseits dem Wasser im oberen, d. h. 
distalen Rohrtheil durch eine besondere Bohrung Ab¬ 
fluss gestattet. Wird dieser Hahn nach Füllung der 
Wanne geschlossen, so läuft also zunächst das im 
gemeinsamen Ausflussrohre stehende Wasser rück¬ 
wärts durch das Entwässerungsröhrchen ab. Aber 
auch das aus dem Kaltwasserrohr bei einer Hahn¬ 
undichtigkeit nachdrängende Wasser läuft, statt im 
gemeinsamen Ausflussrohre über den Wannenrand zu 
steigen, in das distale Stück des Heiss Wasserrohres 
hinüber und durch das Entwässerungsröhrchen ab. 

Ferner enthält der Baderaum unmittelbar über 


den Heizkörpern der Niederdruck- Dam pfheizung 
Halter füi die Badelaken. (Für ihre eigentliche Trock¬ 
nung ist ein Trockenapparat im Kellergeschoss be¬ 
stimmt.) Der Baderaum wird zugleich als Wasch¬ 
raum benutzt An zwei Wänden sind in Schiefer¬ 
platten die Waschbecken aus weiss emaillirtem Eisen 
eingelassen. Gewiss stehen der Vereinigung von 
Wasch- und Baderaum manche Bedenken entgegen. 
Namentlich bei den Dauerbädern soll möglichste 
Ruhe herrschen und es ist als unzweckmässig zu be¬ 
zeichnen, wenn häufiger andere Personen diesen Raum 
betreten. Es lässt sich diese gegenseitige Störung 
jedoch einmal bei entsprechender Einrichtung des 
Betriebes erheblich einschränken. Des Morgens 
während des allgemeinen Waschens werden fast nie 
Dauerbäder gegeben. Ausserdem aber sind zur Be¬ 
nutzung über Tag noch 2 Waschbecken in einer 
Nische des Tagraumes, wie weiter unten beschrieben 
werden wird, vorhanden. Jedenfalls kann ich 
sagen, dass in der Zeit, in welcher ich dieses 
Haus unter mir hatte, sich erhebliche Unzuträglich¬ 
keiten aus dieser Vereinigung nicht ergeben haben. 

(Schluss folgt.) 


Mitthei lungcn. 


— Polizeiliche Irrenpflege. Es handelt sich 
um eine Maniaca, die aus einer Irrenanstalt nach 
Hause entlassen worden war und über die der Ehe¬ 
mann an das Landrathsamt zu B. berichtete. Zum 
Schlüsse schreibt der Ehemann: 

Für richtig halte ich es, wenn ihr gelegentlich 
Furcht eingeflösst wird, und würde ich es für sehr 
gut halten, wenn ab und an der Gendarm X., vor 
dem sie einen grossen Respekt hat, ihr ruhig, aber 
energisch zuredete und sie von ihren thörichten Ideen 
abbrächte. Am unruhigsten ist sie Morgens, und 
würde dies die geeignetste Zeit sein. 

Der Landrath verfügt daraufhin: 

Herrn Gendarm X., um gelegentlich dem Schluss¬ 
sätze gemäss zu verfahren. 

Der Gensdarm berichtet dann über die Erledigung 
des Auftrages: 

Auf vorstehenden Auftrag vom 21. d. Mts. bin 
ich am heutigen Morgen zu der Ehefrau Y. gewesen, 
um sie in aller Ruhe von ihren Ideen abzubringen, 
konnte jedoch mit derselben nicht viel vernünftige 
Reden führen, warum ich dieselbe kurz angehalten 
habe, alle diejenigen Thaten, die nicht dahin gehörten, 
zu unterlassen, da ich sonst wiederkommen würde. 

So wie ich von den Leuten höre, soll die p. Y. 

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eine grosse Angst für mich haben, und werde ich 
daher abwarten, ob mein Auftreten der Y. gegenüber, 
zum Nutzen oder zum Schaden sein wird, und werde 
ich daher gelegentlich bei derselben wieder vorkehren. 

— Wichtige gerichtliche Entscheidung. 

München, den 26. Sept. Die Kaufmannstochter 
Hess von Nürnberg musste im April 1900 wegen 
Gemeingefährlichkeit auf Anordnung des Bezirksamtes 
Königshofen in die Kreisirrenanstalt Wemeck aufge¬ 
nommen werden; die Hess war hochgradig hysterisch 
und sexuell leicht erregbar. In der ersten Zeit, so 
lange sie noch Anfälle hatte, war sie auf der Abtheil¬ 
ung isolirt untergebracht, als sich aber im Juni 1900 
ihr Zustand bedeutend besserte, wurde sie entsprechend 
ihren eigenen Wünschen und ihren Kenntnissen in 
der Anstaltsküche und deren Nebenräumen beschäftigt 
Sie unterstand dabei der Aufsicht des Küchenpersonals 
und wurde morgens und abends vom Pflegepersonal 
von der Anstalt zur Küche geführt bezw\ von dort 
wieder abgeholt. Auch war das Personal angewiesen, 
der Anstaltsleitung sofort Mittheilung zu machen, wenn 
sich die Hess einmal längere Zeit aus der Küche 
entfernen würde, z. B. um in den Park zu gehen; es 
wurden auch thatsächlich mehrere solche Anzeigen 
erstattet und die Hess wurde dann jedesmal für 
einige Zeit wieder aus der Küche weggenommen und 

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1904.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


287 


auf der Abtheilung behalten. Trotz dieser Vorsichts- 
massregeln suchte und fand die Hess aber während 
der Zeit, in der sie in der Küche beschäftigt war, 
Gelegenheit, sich dem Anstaltsheizer Smilinski zu 
nähern und ihn zum geschlechtlichen Verkehr mit ihr 
zu veranlassen. Das Kesselhaus, in dem Smilinski 
arbeitete, war nämlich nur durch einen Gang von 
der Küche bezw. von deren Nebenräumen ge¬ 
trennt, ferner war die Thüre zum Kesselhaus nicht 
immer verschlossen, so dass die Hess das Kesselhaus 
unbehindert betreten konnte. Das Küchenpersonal 
bemerkte von diesen Exkursionen der Hess nichts, 
da letztere immer jene Mittags- bezw. Abendstunden 
wählte, in denen das Personal mit der Zubereitung 
der Mahlzeiten vollauf beschäftigt war. Wie die 
Untersuchung ergab, verhielt sich Smilinski gegen die 
Annäherungsversuche der Hess anfänglich ablehnend, 
später Iiess er sich aber wiederholt mit ihr ein und 
die Folge war, dass die Hess nach ihrer Entlassung 
aus der Irrenanstalt Mutter wurde. Smilinski wurde 
inzwischen wegen Sittlichkeitsverbrechens nach § 176 
Ziff. 2 R. St. G. B. (Missbrauch einer Geisteskranken) 
vom Schwurgericht zu drei Jahren Gefängniss verurtheilt. 
Nun will aber der Vater der Hess, Kaufmann Adolf 
Hess in Nürnberg, den Fiskus für den Schaden 
haftbar machen, der seiner Tochter durch das ver¬ 
brecherische Verhalten des Smilinski erwuchs, und 
er beantragte zu diesem Zweck beim Verwaltungsge¬ 
richtshof, gegen den Direktor Dr. Kaufmann der 
Kreisirrenanstalt Vorentscheidung nach Art 7 Abs. 2 
des V. G. G. dahin zu treffen, dass sich Dr. Kauf¬ 
mann der Unterlassung einer ihm obliegenden Amts¬ 
handlung schuldig gemacht habe. Diese Unterlassung 
erblickt Hess darin, dass es die Anstaltsleitung der 
Irrenanstalt Wemeck an der nöthigen Verwahrung und 
Beaufsichtigung seiner Tochter habe fehlen lassen 
und auch nicht für strikte Durchführung des § 44 
der Hausordnung der genannten Anstalt gesorgt habe, 
inhaltlich dessen die Küchen- und Maschinenräume 
nicht allgemein zugänglich sein dürfen, also die 
Thüren immer geschlossen sein müssen; wäre diese 
Vorschrift befolgt worden, so hätte nach Ansicht des 
Hess der folgenschwere Verkehr zwischen seiner 
Tochter und dem Smilinski nicht stattfinden können. 
Direktor Dr. Kaufmann bestreitet entschieden, dass 
er sich irgend eine Unterlassung habe zu schulden 
kommen lassen, und auch die gutachtlich gehörte 
Regierung von Unterfranken, sowie Obermedizinalrath 
Dr. v. Grashey sprachen sich dahin aus, dass sich 
Dr. Kaufmann der ihm zur Last gelegten Unter¬ 
lassung nicht schuldig gemacht habe. Ebenso ent¬ 
schied der Verwaltungsgerichtshof nach durchgeführter 
Verhandlung unter Ueberbürdung der Kosten auf 
den Antragsteller Hess, dass sich Direktor Dr. Kauf¬ 
mann bei Verwahrung und Beaufsichtigung der Hess 
der Unterlassung einer ihm obliegenden Amtshand¬ 
lung im Sinne des Vorentscheidungsantrages nicht 
schuldig gemacht hat In den Entscheidungsgründen 
wird zunächst in formeller Hinsicht dargelegt, dass 
Dr. Kaufmann als Direktor der Kreisirrenanstalt 
Werneck die Eigenschaft eines Beamten im Sinne 
des Art. 7 des V. G. G. besitzt und eine Thätigkeit 

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ausübt, die als Ausübung derb hm an vertrauten öffent¬ 
lichen Gewalt erscheint Der Vorentscheidungsantrag 
sei daher formell zulässig.^Was dagegen die mate¬ 
rielle Seite anlange, so habe die Würdigung des 
Gutachtens des Obermedizinalrathes, sowie die Prüfung 
der gesammten Sachlage dahin geführt, dass irgend ein 
Verschulden des Anstaltsleiters nicht als gegeben er¬ 
achtet werden könne. Bei Aufnahme der Hess in 
die Anstalt Wemeck sei die isolirte Unterbringung 
dieser Kranken nothwendig gewesen und auch that- 
sächlich erfolgt. Dagegen war es nach eingetretener 
Besserung mit Rücksicht auf den Heilzweck durchaus 
geboten und zulässig, die Hess ihrem Wunsch ent¬ 
sprechend in der Küche zu beschäftgen, und die 
Ueberwachung durch das Küchenpersonal genügte 
vollständig, da die Hess damals nicht mehr gefährlich 
war. Ferner war seitens der Anstaltsleitung mit 
Rücksicht auf die hohe sexuelle Erregbarkeit der 
Hess Vorsorge getroffen, dass dieselbe nicht mit 
männlichen Geisteskranken in Berührung kam, es 
wurde ihr zu diesem Zweck auf den Weg von der 
Abtheilung zur Küche und umgekehrt stets eine Wärte¬ 
rin beigegeben und ausserdem war das Küchenper¬ 
sonal angewiesen, länger dauernde Entfernungen der 
Hess aus der Küche der Anstaltsleitung sofort anzu¬ 
zeigen was auch wiederholt geschah und stets die 
zeitweilige Rück Versetzung der Hess in die Abtheilung 
zur Folge hatte. Hinsichtlich der Ueberwachung der 
Hess in der Küche fand sohin keinerlei Nachlässig¬ 
keit statt Dagegen bestand für die Anstaltsleitung 
kein Grund die Nähe des Heizers Smilinski als für 
die Hess gefährlich zu erachten. Smilinski war 
seinerzeit als Heizer in der Anstalt Weineck ange¬ 
stellt worden auf Grund sehr guter Empfehlungen 
seitens einer katholischen Lehrlingsanstalt in Tirol, 
woselbst er seine Erziehung genossen hatte, und er 
war bei seiner Anstellung ausdrücklich aufmerksam 
gemacht worden, dass er sich den weiblichen Kranken 
der Anstalt ja nicht das Geringste zu schulden 
kommen lassen dürfe. Bei dieser Sachlage konnte 
die Anstaltsleitung nicht annehmen, dass Smilinski ein 
solches Verbrechen begehen werde. Wenn der An¬ 
tragsteller sagt, man hätte die Hess so intensiv be¬ 
aufsichtigen sollen, dass sie überhaupt mit keiner 
Mannsperson in Berührung hätte kommen können, 
so wäre dies in dieser Allgemeinheit gar nicht durch¬ 
führbar gewesen, schon mit Rücksicht auf die räum¬ 
lichen Verhältnisse: denn die Anstaltsküche befindet 
sich in unmittelbarer Nähe des Kesselhauses, der 
Heizer musste täglich 2 mal in der Küche selbst den 
Dampf reguliren und hatte zu diesem Zweck den 
Schlüssel zu der Verbindungsthüre in seinem Besitze, 
so dass ein Verkehr zwischen Smilinski und der 
Hess auch dann nicht hätte verhindert werden können, 
wenn diese Thüre stets verschlossen gewesen wäre. 
Uebrigens war die Bestimmung des § 44 der Haus¬ 
ordnung zunächst nicht zu dem Zwecke erlassen, die 
Kranken vor den Anstaltsbediensteten zu schützen, 
sondern vor einer Beschädigung infolge allenfallsiger 
Annäherung an den Dampfkessel. Das bedauerliche 
Vorkommniss mit der Hess war also nicht die Folge 
eines pflichtwidrigen Verhaltens des Anstaltsleiters, 

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HARVARD UN1VERSITY 





288 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 3a 


sondern eines Verbrechens, das nicht verhindert 
werden konnte, weil es nicht vorauszusehen war. 

(„Augsburger Abendzeitung“ 27. 9. 04.) 


Referate. 

— Freud. Zur Psychopathologie des Alltags¬ 
lebens. Berlin 1904, bei itarger. 3 Mk. 

Verfasser unterzieht einige der im alltäglichen 
Leben so häufig vorkommenden psychopathologischen 
Vorgänge einer psychologischen Betrachtung und 
sucht die inneren Vorgänge beim Vergessen von 
Eigennamen und fremdsprachigen Worten, sowie ihren 
Ersatz durch Denkerinnerungen, beim Versprechen, 
Verlesen, Verschreiben, beim Vergessen von Ein¬ 
drücken und Vorsätzen, beim Vergreifen, beim Zu¬ 
standekommen von Symptom-, Zufallshandlungen und 
Irrthümem zu zergliedern und die Handlungen selbst 
zu motiviren. Er gelangt zu dem Resultate, dass 
gewisse Unzulänglichkeiten unserer psychischen 
Leistungen und gewisse absichtslos erscheinende Ver¬ 
richtungen sich, wenn man das Verfahren der psycho¬ 
analytischen Untersuchung auf sie anwendet, als wohl- 
motivirt und durch dem Bewusstsein unbekannte 
Motive determinirt erweisen. So ergiebt sich in 
allen Fällen das Vergessen als begründet durch ein 
Unlustmotiv. Der Anschein inkorrecter Funktion löst 
sich durch die eigenthümliehe Interferenz zweier oder 
mehrerer korrecter Leistungen. Der gemeinsame 
Character der leichtesten wie der schwersten Fehl-, 
Zufalls* und Symptomhandlungen liegt in der Rück- 
führbarkeit der Phänomene auf unvollkommen unter¬ 
drücktes psychisches Material, das, vom Bewusstsein 
abgedrängt, doch nicht jeder Fähigkeit, sich zu 
äussem, beraubt worden ist. 

Die Bedeutung dieser interessanten psychoana¬ 
lytischen Versuche über die psychopathologischen 
Vorgänge, die noch in der physiologischen Breite 
liegen, für die Erklärung der entsprechenden Vorgänge 
bei ausgesprochenen Krankheiten ergiebt sich von 
selbst; die Methoden fordern entschieden zur Nach¬ 
prüfung und Weiterbildung heraus. Allerdings darf 
dabei nicht verschwiegen werden, dass, mag man eine 
noch so grosse Selbstzucht und Ucbung im Analysiren 
haben, man bei der Rekonstruction seiner Denkvor¬ 
gänge, besonders wenn sie zeitlich weiter zurückliegen, 
und bei der Aufspürung verborgenen Gedanken- 
materiais nur zu leicht Erinnerungsverfälschungen und 
der Autosuggestion erliegt. Ich befürchte daher, dass 
trotz der unbestrittenen Richtigkeit der Methode 
manche Leser nicht immer dem Fluge der Deutung 
des Verfassers folgen können und bei einzelnen 
Erklärungsversuchen mit schwerem Herzen vermuten 
werden, dass Verfasser sich „vergriffen 11 hat. 

Mönkemöll er-Osnabrück. 


— Ueber das von der Firma Tolhausen & Klein 
in Frankfurt a. M. in den Handel gebrachte'Pflanzen - 
eiweiss-Nährpräparat „Tutulin“ liegt folgendes Gut¬ 
achten des Professor Dr. Th. Petersen, chemisches 
Laboratorium in Frankfurt a. M., vor: „Das fein¬ 
pulverige, gelblich-weisse, fast geruch- und geschmack¬ 
lose, homogene Präparat ergab die nachstehende 


Zusammensetzung in Procenten: 

Beim Trocknen zwischen 100 bis 

t.10 0 C entweichendes Wasser . 7,63 

Ei weisssubstanz. 86,88 

Fett. 1,57 

Asche, weiss, phosphorsäurereich . 0,70 

Stickstofffreie Extractivstoffe, ein¬ 
schliesslich sehr wenig Faserstoff 3,22 


100,00 

In dem bei 100 — iio°C getrockneten Präparat 


waren enthalten: 

Eiweisssubstanz. 94,06 

Fett. 1,69 

Asche. 0,76 

Stickstofffreie Extraetivsubstanz nebst 

etwas Faserstoff. 3,49 


100,00 

Das vorliegende Präparat ist im wesentlichen Ei- 
weisssubstanz (Protein) von sehr hohem Nährwerth. 

Die geringe Menge von Neben bestandthei len 
stammen aus dem zur Herstellung verwendeten 
Weizenmehl. 

» 

Bemerkenswerth und günstig für die Beurtheilung 
des „Tutulin's“ ist die geringe, kaum genau zu be¬ 
stimmende Menge von Faserstoff in dem Präparat.“ 

Ueber dasselbe Präparat aus der Agric.-chem. 
Kontroll-Station Halle a. S.: „Nach Angaben der 
Firma Althen & Mende, Stärkefabrik in Halle a. S. 
wird deren neues Erzcugniss der Nahrungsmittel¬ 
industrie „Tutulin“ ohne irgendwelche chemische 
Reagenticn hergestellt. Das an die Agric. - ehern. 
Kontroll-Station Halle eingesandte grobgriesige „Tutu¬ 
lin“, welches in feiner Pulverform in den Handel 
kommen soll, zeigt einen leicht gelblichen Schein und 
ist fast gänzlich geruch- und geschmacklos. Nach 
unseren Untersuchungs-Ergebnissen sind von dem in 
dem „Tutulin“ sich vorfindenden 80,60% Rohprotein, 
87,30% „wirkliches Eiweiss“, welches zu 99,55%, 
also fast gänzlich, verdaulich ist; auf Trockensubstanz 
umgerechnet sind von dem 05,35 % Rohprotein 
92,50% wirkliches Eiweiss neben 2,45% leicht auf- 
nehmbarcr Stickstoff verbind ungen in Amidform, ver¬ 
daulich. Die Verdaulichkeit selbst wurde auf künst¬ 
lichem Wege durch Magen- und Darmsaft bestimmt. 
Ausser den erwähnten Eiweiss Verbindungen finden 
sich in dem „Tutulin“ nur noch gewisse, im engsten 
Zusammenhänge stehende Bestandtheile aus dem 
Weizenmehle vor. Nach diesen Ergebnissen kommt 
•dem „Tutulin“ ein ausserordentlich hoher Nährwerth 
und eine vorzügliche Verdaulichkeit zu. I. A. Dr. 
Naumann.“ 


Für «len redactiuuellen Theil verantwortlich J Oberarzt l)r. J. lirrslcr, J.ublinitr t'S« li efen). 

Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseratonannahrne 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Heyneniann’sche Buchdruckerei (Gebr. Wo'fD je Halle a. S. 


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Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift. 

Redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. B realer, 

Lublinitz (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse: Marho Id Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834. 

Nr. 31. 29 Oktober. 1904. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 

Inserate werden für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten. 


Die Benennung der Krankenhäuser für Geisteskranke. 

Von Oberarzt Dr. Max Fischer-^ lenau. 

(Schluss.) 


Allgemeiner findet sich der Ausdruck „Irrer“ und 
die ihm angeschlossene Wortgruppe erst um die 
Wende des 18. auf das 19. Jahrhundert. In Ade- 
lung’s grossem „Wörterbuch der hochdeutschen 
Mundart“ heisst „irre » des Verstandes beraubt, 
in der höflichen Sprechart des gemeinen 
Lebens“; von da an scheint es sich langsam ein¬ 
zubürgern und die früheren Ausdrücke: „Narren, 
Tolle“ zu verdrängen. Durchgedrungen ist es ja, 
wie die tägliche Erfahrung beweist, auch bis heute 
noch nicht in alle Volkskreise. Nicht nur in hinter¬ 
wäldlerischen, nein, auch in den gebildetsten Kreisen 
kann man „Narr“ noch vielfach für unsere Geistes¬ 
kranken als Bezeichnung hören. Reil, J. C., in seinen 
„Rhapsodien“ (1803) sucht offenbar bewusst „Irrende“ 
für das verächtliche „Narr 4 * einzuführen. Man wollte 
damit („irrende“ = errantes, im Zustande der „Ver¬ 
irrung“ befindliche) die Irren, die man seither mehr 
als strafwürdig mit Zuchthäuslern einsperrte, ent¬ 
schuldigen, einer milderen Beurtheilung zu¬ 
führen. 

Um dieselbe Zeit wurde auch: „Irrhaus“ (das 
vorher mehr für Labyrinth gebraucht wurde) „Irren¬ 
haus, Irranstalt, Irrenanstalt“ eingeführt, während die 
Insassen aber noch als „Wahnsinnige“ oder „Tolle“ 
bezeichnet werden. Daneben erhält sich allerdings 
noch lange „Tollhaus“ und besonders „Närrenhaus“. 
Reil scheint unter „Irrhaus“ mehr die Versorgungs¬ 
anstalt für Irre zu verstehen, zum Unterschied von 
der Heilanstalt. Noch 1790 gilt Adelung „Irren¬ 
haus“ für Tollhaus als selten, „an einigen Orten 
gebräuchlich“, während es 1811 als allgemeinüblich 
bezeichnet werden kann. In der psychiatrischen 
Litteratur ist „Irrenhaus“ seit 1773 aufzufinden ge¬ 
wesen. In Regierungskreisen und bei Sanitätscollegien 

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ist „Irrenanstalt“ bereits im Jahre 1805 zu Recht 
bestehend nachgewiesen, während es in der Litteratur 
vor 1799 nicht gefunden wurde. Weiteres Nach¬ 
suchen wird vermuthlich diese vorläufigen Ergebnisse 
noch ergänzen und ändern. 

Die oben dargelegten fünf Bedeutungen von irre 
kehren nun auch in den übrigen Ableitungen von 
irr wieder, so in: die Irre als: Umherschweifen, 
resp. als Zustand der Verzettelung, Zerstreuung, des 
Abweichens vom rechten Wege, ferner =** Irrweg. 
„Er zeigte mir, dass grübelnde Vernunft 
Den Menschen ewig in der Irre leitet.“ 

(Schiller.) 

Ferner = Zustand der V er wirrung, des Schwan¬ 
kens, der R a t h 1 o s i g k e i t, und schliesslich = 
Irrsinn. 

„Die Irre seines Geistes zeigte sich in seinem 
starren Blick.* 4 

Dann irren, in erster Reihe activ (transitiv) 
= irre machen, vom rechten Weg abbringen, falsch 
leiten. 

„Leidenschaft wird euern Blick nicht irren. 1 * 

(Schiller.) 

ferner — täuschen in milderem Sinne, 
dann = im vorwärts schreiten abhalten, hindern, 
hemmen, „lass Dicli nicht irren“, 
dann —- in Schaden bringen; schliesslich = ver¬ 
wirren, stören, beschwerlich, lästig sein, oder -- böse, 
zornig machen, oder: etwas irrig, unrecht thun. 
Aber auch = sich irren, sich irre mac hen lassen 
oder: in Irrthum verfallen, sich täuschen, 

„und irr’ ich mich an ihm, so irr’ ich gern.“ 

(Goethe.) 

In zweiter Reihe intransitiv = irre sein, in 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 3I . 


allen früheren Bedeutungen von irre, also in der 5. 
= geistig gestört sein, 

„ich irre, rase schon.“ (Goethe.) 

Man erlässt es mir wohl, die übrigen Ableitungen 
und Zusammensetzungen, in welchen irr durchaus 
jeden verächtlichen Charakters entbehrt, hier zu 
wiederholen; es sei nur an „Irresein, Irrfahrt, Irr¬ 
garten, Irrglaube, Irrgeist“, ferner „irrig“ in seinen ver¬ 
schiedenen Bedeutungen (z. B. = in Irrthum be¬ 
fangen, rathlos, schwankend, schwer zu entscheiden, 
zornig, böse), „Irrlicht, Irrsal („kein Ausweg aus dem 
Irreal zeigt sich mir“, Goethe), Irrthum, Irrung, Irr¬ 
wahn („in des zähen Gemüths Irrwahn“, Platen), 
Irrwisch, Irrziel“, erinnert. Irrsinn (daher „irrsinnig“) 
gilt = gestörter Sinn, als milderer Ausdruck für 
Wahnsinn, früher bedeutete es bloss „verwirrter“ 
oder „unrichtig denkender Sinn“. 

„Irrthum und Irrsinn“ betitelt sich ein feinsinniger 
Vortrag unseres unvergesslichen Jolly. 

Wir glauben damit hinreichend erwiesen zu haben, 
dass dem Ausdruck „irre“ und seinen Ableitungen 
der unangenehme und verletzende Beiklang wieder 
von Ursprung her noch auch heute nach seinen 
verschiedenen Bedeutungen als etwas Wesentliches 
zukommt. 

Und auch der Anwendung des Begriffs auf die 
geisteskranken Zustände wohnt dieser Sinn nicht als 
etwas Ursprüngliches inne, sondern er ist ihm künst¬ 
lich beigemengt worden und zwar infolge der be¬ 
kannten hartnäckig festgehaltenen Vorurtheile. 

Die Beseitigung dieser bringt naturgemäss auch 
jene unglückselige Beigabe am sichersten in Wegfall. 

Hier liegt der Kern der Sache und hier ist da¬ 
rum der Hebel anzusetzen. Hat die Aufklärung 
jene falschen Auffassungen zerstört, gilt es erst ein¬ 
mal nicht mehr als Schande geisteskrank zu werden 
oder zu sein, weder für den Leidenden selbst noch 
für seine Familie, sieht man in dem Irren nur einen 
kranken, mitleidsbedürftigen Nebenmenschen , in der 
Irrenanstalt nur das Krankenhaus mit durchaus 
humanen Behandlungsgrundsätzen und Einrichtungen, 
so können die Begriffe irre etc. ruhig fortbestehen; 
sie erhalten ganz von selbst die erstrebte mildere 
und richtige Auffassung, und zwar ganz allgemein. 
Dieser Weg ist der bessere, besser als ein Ausdem- 
w ? eggehen, Nachgeben und Paktiren. Dadurch be¬ 
seitigt man vorgefasste Meinungen nicht. Man gehe 
ihnen lieber herzhaft zu Leibe! 

Dass es um jede geistige Erkrankung aber eine 
sehr ernste Sache ist, bleibt bestehen und muss 
auch vom Publikum mit der wachsenden Erken ntniss 


nach jeder Hinsicht immer tiefer und ernster ge¬ 
würdigt werden. 

Darum geht unsere Meinung, wenn wir das Ge¬ 
sagte zusammenfassen, dahin, dass wir diese Begriffe, 
welche sich wegen des Vorzugs der Kürze und Präg¬ 
nanz aus der Sprache des Volks, der Gebildeten 
und unserer Wissenschaft nicht so leicht werden 
tilgen lassen, lieber, statt sie abschaffen zu wollen, 
mit allen Kräften zu stützen und zu halten suchen 
sollen. 

Wir können sie beibehalten, weil der missliche 
und unnatürliche Beiklang auf anderm Wege abgelegt 
werden kann, nämlich durch eine offene Bekämpfung, 
und wir müssen sie beibehalten, weil es gut 
deutsche, unzusammengesetzte, einfache, 
weil es die kürzesten und prägnantesten Bil¬ 
dungen für die Begriffe, die sie bezeichnen 
sollen, sind. Sie kennzeichnen ausserdem den 
Geisteskranken als Person, umfassen die krankhaft 
veränderte Gesammtpereönlichkeit. 

Und auch die Zustände leichter psychischer Ver¬ 
änderung und Erkrankung, der nervös-psychischen 
Erschöpfung, der Neurasthenie, der leicht depressiven 
Zustände könnten sich sehr wohl, ohne zu erröthen 
und ohne zu erbleichen, in diesen Begriff einbeziehen 
lassen, besondere wenn wir jene andern Bedeutungen 
des Worts (1—4), welche wie geschaffen für die 
Bezeichnung dieser Veränderungen erscheinen, hin¬ 
zunehmen. 

Was im Speciellen die vielberufenen Bezeich¬ 
nungen Irrenanstalt und Irrenarzt betrifft, so 
gilt für sie zunächst das im Generellen Gesagte. 

Dass dem Begriff der Irrenanstalt weithin 
die gehässige Unterlegung in besonders geschärftem 
Maasse und so hartnäckig beiwohnt, wird ausser den 
Vorurtheilen gegen Irre im Allgemeinen und was 
damit zusammenhängt, vor allem auch darin be¬ 
gründet sein, dass erstens diese Anstalten in aller¬ 
dings längst vergangenen Zeiten diese harte Beur¬ 
teilung wirklich verdienten, weil in der That dort 
keine humanen Zustände herrschten, sie gegentheils 
vielfach Orte des Schreckens waren. Hier hat also 
das Publikum die gewaltigen Fortschritte in der An¬ 
staltsfürsorge der Irren nicht mitgemacht, sondern 
hält an den veralteten Anschauungen allzufest, was 
bekanntlich durch verschiedenerlei Umstände er¬ 
leichtert wird. 

Zweitens aber muss wohl dem allgemeinen 
Empfinden besondere der Ausdruck Anstalt als 
ungeeignet erscheinen, weil darin eben der Begriff 
des Krankenhauses, der Heilbehandlung, 


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1904. 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


291 


wie es zur richtigen Kennzeichnung eigentlich nöthig 
wäre, nicht zum Ausdruck kommt. 

Wir können und müssen es daher als eine gesunde 
und berechtigte Bestrebung anerkennen, dass nach einem 
besseren Ersatzausdruck gesucht wird. Der Begriff 
„Anstalt“ ist so vielfach anwendbar und wird auch that- 
sächlich auf Institute, die mit der Krankenpflege nichts zu 
thun haben, häufig angewendet, so auch auf solche, 
die sich nicht einmal mit Menschen, sondern mit 
Thieren, oder aber abstrakten Dingen als Objekten 
befassen. Ganz besonders ist er aber auch für Straf¬ 
anstalten, Gefangenen-, Verbrecheranstalten, womit 
der Mensch mit Fug und Recht einen abstossenden, 
unangenehmen Sinn verbindet, gebräuchlich. Darum 
möchten wir ihn für unsere Krankenhäuser für Gei¬ 
steskranke lieber in Wegfall bringen lassen. 

s 

Höchstens in der Verbindung „Heilanstalt“ oder 
„Pflegeanstalt“ ginge er noch an, also: Irrenheil¬ 
anstalt, Irrenpflegeanstalt, Irrenheil- und Pflege¬ 
anstalt. 

Andere schon empfohlene und in Gebrauch ge¬ 
zogene Bildungen sind solche mit: Asyl, Heim, Stätte, 
Heilstätte, Genesungshaus, Hospital. 

Wir würden die Formen: Irrenheilstätte, 
Ir renpf legestätte, Irrenheil- und Pflege¬ 
stätte in erster Linie in Vorschlag bringen, eventuell 
Irrengenesungsheim, Irrenpflegeheim oder 
noch kürzer Irrenheim für Irrenpflegestätte. 

Auch die Nervösen, die hoffentlich recht bald 
und allgemein das Aufnahmerecht in die Irren¬ 
anstalten erhalten, dürften sich mit diesen Bezeich¬ 
nungen abfinden können. Geht dies allzuschwer, so 
müsste man eben an Combinationen wie: Nerven- 
und Irrenheil - und Pflegestätte denken. 

Ob allerdings einem dieser Vorschläge der Er¬ 
folg beschieden sein wird, bleibt in Frage. Akade¬ 
mische Erörterungen haben wenig Einfluss auf den 
Gang der Verhältnisse. So wird es auch bei der 
Benennung unserer Krankenhäuser sein. Wir können 
nur hemmende Einflüsse bekämpfen, fördernde sach¬ 
liche Momente beiziehen. Von diesem Gesichts¬ 
punkte schien auch die vorliegende Auseinander¬ 
setzung berechtigt und gerechtfertigt. Das übrige 
schafft die Zeit von sich. 

So haben auch alle Vorurtheile zusammen nichts 
dagegen vermocht, dass die Irrenanstalten in Wirk¬ 
lichkeit immer mehr benützt werden, ihre Plätze so 
begehrt sind, dass beinahe jede Anstalt unter einem 
Zuviel an Krankenandrang und unter Ueberfüllung, 
oft beträchtlichen Grades, leidet. Und dies alles, 
trotzdem die Zahl der Irrenanstalten gegen früher 

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rapid zugenommen hat, so dass auch jetzt noch Neu¬ 
erstellungen allenthalben geplant werden müssen. 

So wird es auch mit der Vereinigung von Nerven¬ 
kranken mit Geisteskranken in denselben Anstalten 
und zwar den Irrenanstalten ergehen. 

Soviel steht aber für mich fest, dass wir Irren¬ 
ärzte selbst hier in der Sache fest bleiben und einig 
gehen müssen. Die selbst von hervorragenden Psy¬ 
chiatern noch vor wenig Jahren an den Tag gelegte 
Scheu, Nervenheilstätten oder -pavillons mit eigent¬ 
lichen Irrenanstalten zu verbinden, weil infolge der 
Vorurtheile gegen Irrenanstalten der Zugang von 
Patienten fehlen würde, halten wir für ein unange¬ 
brachtes Zurückweichen. Wie wollen wir denn sonst 
in der Bekämpfung der Vorurtheile vorwärts kommen, 
wenn wir selbst schwanken? 

Beiderlei Zustände, psychische und nervöse, gehen 
in einander über und können in denselben Anstalten, 
wenn diese nur fachärztliche Behandlung, geeignete 
bauliche Verhältnisse und zweckmässige Einrichtungen 
bieten, neben einander gepflegt und behandelt werden. 
Ist dies wahr, so müssen wir es durch die That be¬ 
weisen, dürfen uns nicht durch vorgefasste Mein¬ 
ungen und Schlagworte schrecken lassen. Jedenfalls 
passen die meisten Nervösen ihrem Zustande nach 
besser in die Irrenanstalt, resp. in geeignete, derselben 
angegliederte Abtheilungen, als wirklich psychisch Er¬ 
krankte in die nicht psychiatrisch geleiteten 
allgemeinen und Nervensanatorien. 

In den Irrenkliniken besteht ja vielfach ohne¬ 
hin schon lange die Verbindung mit der Nerven- 
klinik. In eigentlichen Privatirrenanstalten 
finden sich neben den Irren auch zahlreiche Ner¬ 
vöse. Und in Wirklichkeit — allerdings meist nicht 
officiell — beherbergt auch jede öffentliche Irren¬ 
anstalt eine ganze Reihe von schweren Nervenfällen, 
psychisch Nervösen und Grenzfällen, aus dem 
Zwang der Verhältnisse heraus, die auch 
hier sich als die stärkeren erwiesen haben. Der 
Modus wartet also nur noch auf die Bestätigung. 

Hoffentlich kommt denn nun auch jede Irren¬ 
anstalt bald in den Besitz ihres Nervenpavil- 
lons, erhält die Licenz zur freien Aufnahme 
Nervöser und richtet sich auch eine Poliklinik 
für Nervöse ein. Um den Zulauf braucht einem 
nicht bange zu sein. Auszuschliessen dürften höch¬ 
stens die reinen Irrenpflegeanstalten sein. 

Die Frage selbständiger Nervenheilstätten 
ist eine Frage für sich, mehr eine solche der Zweck¬ 
mässigkeit im einzelnen Falle, keine Principienfrage. 
Beide Institutionen werden sehr wohl nebeneinander 
Platz finden und bestehen können. 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 31. 


Schon die ausserordentliche Verschiedenartigkeit 
und Verschiedengradigkeit der Krankheitszustände 
wird hier eine Scheidung eintreten lassen und den 
beiderlei Anstalten das entsprechende Material sichern, 
d. h. den Irrenanstalten mehr die Formen der Psy¬ 
chisch-Nervösen. 

Was zum Schlüsse unsem Titel Irrenarzt be¬ 
trifft, so habe ich ihn immer gern und mit Stolz 
getragen, nie mich durch ihn beschwert gefühlt; 
hoffentlich noch recht viele Collegen mit mir. Ich 
möchte ihn auch gar nicht geändert haben. 

Was er uns an Ungemach und Verkennung 
unsrer Mühen und Bestrebungen seitens der blinden, 
in Vorurtheilen befangenen oder auch böswilligen 
Menge einbringt, müssen wir, im Bewusstsein unsre 
Pflicht jederzeit zu thun, eben hinnehmen. Unsere 


Kranken müssen unter diesen Zuständen leiden und 
wir müssen es mit ihnen und für sie mitmachen. 

Das Einzige was wir dagegen thun können, aber 
auch mit nie erlahmender Energie des guten Zwecks 
wegen thun sollen, ist, jeder Zeit den Kampf 
immer wieder von neuem aufzunehmen gegen jene 
finstern Mächte, keinen • Anhieb hingehen zu lassen 
ohne kräftigeren Gegenhieb und vor allem 
keinerlei Concessionen zu machen. Damit 
allein, wenn jeder seinen Mann stellt, werden wir 
schliesslich zum Siege gelangen. Wir verhehlen uns 
allerdings nicht, dass darüber manche Decennien 
verstreichen werden; sich in dieser Hinsicht Illusionen 
hinzugeben, wäre das allerverkehrteste. Ebenso 
unrecht aber wäre es am Erfolge zu verzweifeln. 
w r eil die Fortschritte bisher nur langsame und mühe¬ 
volle waren. 


Die neuen Aufnahmehäuser der Landesirrenanstalt zu Neu-Ruppin. 

Von Dr. G. Marthen. 

(Schluss.) 


Weiter befinden sich im Baderaum noch je ein 
Zapfhahn für Kalt- und Warmwasser mit ‘Ausguss¬ 
becken, welcher zur Entnahme von Wasser theils für 
Wirthschaftszwecke (Aufwaschen am Morgen) theils 
zum Nachfüllen der Dauerbäder dient. Ein Abdruck 
sämtlicher Badevorschriften auf wasserdichtem Perga- 
moidpapier hängt in diesem, wie in jedem anderen 
Baderaum der Anstalt aus. 

Der 12 Krankenbetten enthaltende Wachsaal ist 
80 qm gross, sein Luftcubus fasst 320 cbm. Die 
Fenster sind ohne Gitter, dreitheilig, die Seitenflügel 
um ihre Mittelaxe drehbar. Ihr Glas ist von ge¬ 
wöhnlicher Stärke (in den Einzelzimmern 10 mm 
stark). Die Fenster schliessen bindig mit der Wand 
ab. Fenstervorhänge fehlen aus sanitären Gründen 
in den Betträumen, was jedoch kaum auffällt, infolge 
des gleichmässig weissen Anstrichs der Fenster und 
der oberen Wandhälfte. Der Lichtschutz wird ge¬ 
währt durch zieh- und ausstellbare Brettchen-Jalousien. 
Die Beleuchtung geschieht durch Gasglühlicht in 
Wandlatemen mit dickem Glas. Zur Nacht werden 
kleine grüne Vorhänge, soweit nöthig, vorgezogen. 
Ein herunterklappbarer Reflektor von polirtem Blech 
koncentrirt dann weiter das Licht auf die nächste 
Umgebung der Laterne, damit dort dem Wachper¬ 
sonal event. eine einwandfreie Beschäftigung sich er- 

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mögliche. Als Sitzgelegenheit dient dem Personal 
ein einfacher Würfel aus fester Rosshaarpolsterung mit 
gefirnisstem Scgeltuchbezuge. Endlich befinden sich 
anstelle beweglicher Nachtstühle in diesem Saale 2 
freistehende Spülclosets mit Steingutbecken. Die 
Spülung wird in Gang gesetzt durch einen in der 
Wand befindlichen Druckknopf. Bewegliche, leichte 
etw r a 1 V2 m hohe Schirme entziehen ihre Benutz¬ 
ung, soweit angängig, den Blicken. 

Mit diesem Wachsaal ist ein Nebenwachsaal ver¬ 
bunden mit 9 Kranken- und einem Wärterinbett und 
70 qm Grundfläche. Die Verbindung wird hergestellt 
durch eine Doppelschiebethür von 2 m Breite. 
Jeder Flügel ist offen oder geschlossen durch ein 
in der Thürfüllung gelegenes Schloss feststellbar. 
Hinter diesem Nebenwachsaal liegt dann noch ein 
Schlafsaal für 9 Kranke und 2 bis 3 Wärterinnen. 
Für diese beiden Säle steht ein Spülcloset im Neben¬ 
wachsaal zur Verfügung. 

Neben dem Wachsaal liegen ferner 2 Einzel¬ 
zimmer von solcher Geräumigkeit (22 qm Fläche, 
89 Cubus), dass sie nöthigenfalls auch 2 bis 3 Kranken 
zur Unterkunft dienen können. Zur besseren Ueber- 
wachung besteht ihre Thür in ihrer oberen Hälfte 
aus 10 mm starkem Glase. Die Schallisolirung durch 
dieselbe ist eine vortreffliche, wie bei zeitweiliger 


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1 . 904 -] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


293 



im Aufnahmezimmer, wenn sie nicht das in einem 
andern Hause belegene Wärterinnenheira benutzen. 

Die Eintheilung des ersten Stockes entspricht der 
Hauptsache nach der des Erdgeschosses. Nur be¬ 
findet sich hier statt Aufnahmezimmer und Garde¬ 
robe eine Wohnung wen zwei Zimmern für einen 
Arzt oder Oberin. Als Garderobe dient nebenbei 


Unterbringung recht unruhiger Elemente in ihnen 
festgestellt werden konnte. Ihre Beleuchtung em¬ 
pfangen sie durch ein Glühlicht in einer Nische über 
der Thür. 

Besondere Erwähnung mag noch eine Einrichtung 
des Wachsaales finden: ein Wandschrank mit Thüren 
auf jeder Mauerseite, welcher zum schnellen Wegstellen 
der nothwendigsten Reinigungsgeräthe (Schrubber, 
Eimer, Kehrichtschaufel) dient, damit diese nie den 
Kranken in die Hand gerathen können. 

Mit dem Wachsaal steht wiederum in un¬ 
mittelbarer Verbindung der Tagraum. In Anbetracht 
der ausgedehnt anzuwendenden Bettruhe bei den 
frisch aufgenommenen Kranken erscheint sein Inhalt 
von 80 qm ausreichend. Ein mannshohes Oelpaneel 
von blassgrüner Farbe mit einer Bordüre von 
Kastanienblättern giebt ihm ein freundliches Aussehen, 
welches belebt wird durch rothe Farbe der Möbel und 
der übrigen Holztheile. Die Beleuchtung besteht aus 
3 Glühlampen mit Dauerbrennern — eine grosse 
Annehmlichkeit für die nächtlichen Revisionen des 
Arztes. Eine Lampe davon ist tief herunterziehbar, 
ein Vorzug wieder für abendliche Beschäftigung, 
während Unzuträglichkeiten sich kaum gezeigt haben. 
Die zweitheiligen Fenster haben Ueber - und Zug¬ 
gardinen, Eine Glasthür führt hinaus auf die 21,6 ra 
lange, 2,3 m breite Veranda, welche den Kranken 
nicht nur Bewegung, sondern auch Bettbehandlung in 
frischer Luft ermöglicht. Zu diesem Zwecke führt 
eine andere Glasthür in den Neben wachsaal. 

Die Hausecke neben dem Tagraum 
ist eingenommen von Spülküche, Abort 
und Besenkammer. Um 


Aufnahmehaus für unruhige'Frauen. 


das Untersuchungszimmer, welches als solches hier 
weniger benutzt wird ; zu diesem Zwecke sind mehrere 
Schränke noch aufgestellt worden. In den Unter¬ 
suchungsbetten schlafen übrigens — natürlich unter 
Benutzung anderer Bettwäsche — nachts die Ab¬ 
theilungswärterinnen. 


den Abort y ' | 3 

unmittelbar vom Tagesraum aus zu- 
gängig zu machen, tritt die Thür der Spül- j» ^ fl 3* 
küche zurück und es bildet sich so eine IT T 
Nische. Der der Abortthür gegenüber- tl t ^ 
liegende tote Winkel ist ausgefüllt durch 

ein Doppelwaschbecken, dessen bereits U_ y ^ 

Erwähnung gethan wurde. Es bietet ^& 
ausserdem den Kranken Gelegenheit, m 

sich selbst jeder Zeit frisches Trinkwasser 
zu entnehmen. Auch im Abort finden wir wieder Spiil- 
closets. Durch den Abort ist die Besenkammer zugängig. 

Die Spülküche hat Glasthür, Spülbecken mit Kalt- und 
Warm Wasserleitung, Wandschrank mit Heizschlange zum 
Warmhalten der Speisen und enthält den Fernsprecher 
des Hauses. Die Garderobe befindet sich hinter dem 

Aufnahmezimn3e r 

Von eine/q besonderen Wärterinnenzimmer in 
diesem Hause r tihig e Kranke wurde Abstand ge¬ 
nommen. Dl - e Wärterinnen sitzen gelegentlich kellern, endlich im 


Grundriss zum Aufnahmehaus für unruhige Frauen. 

1. Zimmer für Wärterinnen. 2. Aufnahme- und Besuchszimmer. 
3 a Vorflur. 4. Treppe. 5. Spülküche. 6. Waschnische. 7. Klei¬ 
derablage. 8. Abort und Besenkammer. 9. Tagraum. 10 Schlaf¬ 
zimmer der Wärterinnen. 11. Zimmer für 3 Kr. 12. Neben¬ 
wachsaal (8 Betten). 13. Wachsaal (14 Betten). 14, 15, 16. 
Einzelzimmer. 17. Zellenflur. 18. Wasch- und Baderaum. 
19. Schlafsaal (5 Betten). 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 31. 


kammem noch 4 zweifenstrige Dachzimmer für ge¬ 
legentliche Benutzung. 

Das Aufnahmehaus für unruhige Kranke ist nach 
einem anderen Typ gebaut. Es ist verhältnissmässig 
selten, dass Aufnahmen unmittelbar hier hineinkommen. 
Erfreulich oft sehen wir es ja, dass Kranke, die sich 
vorher in grosser Erregung befanden, sowie sie in 
unsere Pflege gelangen, sich sofort erheblich beru¬ 
higen. Wenn irgend möglich, wird deshalb zunächst 
die Aufnahme in das ruhige Haus versucht. Aus 
diesem Grunde konnte auf die unmittelbare Ver¬ 
bindung „Aufnahmezimmer-Bad-Wachsaal“, verzichtet 
werden. Es findet sich zwar auch hier zunächst ein 
Aufnahmezimmer, welches von der Treppe durch einen 
kleinen Vorflur zugänglich ist, aber es dient mehr als Be¬ 
suchszimmer. Dahinter liegt ein Zimmer fürWärterinnen, 
namentlich für erkrankte, während sich daneben ein 
Zimmer für ärztliche Untersuchungen befindet. 

Von dem Vorflur wie dem Treppenflur gelangt man 
in einen Tagesraum, welcher durch die ganze Breite 
des Hauses durchgeht. Auch hier ist ja mit einer 
grossen Zahl Bettlägeriger zu rechnen; der unruhigen 
Art der Kranken wegen ist er jedoch mit 105 qm 
erheblich grösser, als der Tagraum des ruhigen Hauses. 
Auf der anderen Seite der Treppe findet sich auch 
hier die Spülküche mit einer Vomische, um den 
Zughng zum Abort freizulassen. Hier ist jedoch bei 
den etwas grösseren Raumverhältnissen des ganzen 
Eckbaues hinter den Abort noch das Garderoben¬ 
zimmer gelegt worden, welches seinen Zugang von 
der Spülküche aus hat. Als Besenkammer dient 
dagegen ein Verschlag im Abortraum. Die der 
Abortthür gegenüberliegende Nische enthält auch hier 
eine zweifache Waschgelegenheit. 

Aus dem Tagraum gelangt man weiterhin in einen 
etwa die Hälfte der Tiefe des Hauses einnehmenden 
(Neben-) Wachsaal für 8 Kranke. Die andere Hälfte ist 
nochmals getheilt Hier findet sich zunächst ein Schlaf¬ 
zimmer für 3 Wärterinnen. Dieses Zimmer hat, damit 
abends vom Ausgang heimkehrende Wärterinnen die 
Ruhe des Wachsaales nicht stören, noch einen besonderen 
Zugang vom Tagraum. Daneben befindet sich noch 
ein Zimmer für 3 Kranke. Aus dem Neben wachsaal 
führt eine Doppelflügelthür in den Hauptwachsaal, 
welcher bei 105 qm Fläche 14 Krankenbetten enthält. 
An ihn schliesst sich ein unmittelbar zugängliches 
Einzelzimmer. Zwei weitere, für besonders laute 
Kranke bestimmte Einzelzimmer haben einen kleinen, 
als Schallfänger dienenden Vorflur. Neben diesem be¬ 
findet sich der Wasch- und Baderaum mit 3 Badewannen 
und der nöthigen Anzahl Waschbecken. Die letzte 
Hausecke endlich nimmt ein Schlafsaal für 5 Betten 

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ein. Für diese Wachsäle sind Doppel wachen bestimmt, 
während alle anderen Wärterinnen in dem oben er¬ 
wähnten Zimmer schlafen, bessere Ruhe dort findend, 
doch für den Fall der Noth leicht erreichbar. 

Entsprechend der Art der hier zu behandelnden 
Kranken sind die Fenster durchweg mit starkem 
(10 mm) Glase versehen. Durch Dreitheilung und 
Drehbarkeit der Seitenflügel wurde dagegen eine eigent¬ 
liche Vergitterung selbst hier entbehrlich gemacht. 
Auch die Einzelzimmer sind möglichst fest construirt 
Sie haben das Paetz’sche Fenster. Auf eine Ve¬ 
randa ist in diesem Hause verzichtet worden in An¬ 
betracht des Umstandes, dass den unruhigen Kranken 
doch wohl nur zum geringen Bruchtheil ihre Be¬ 
nutzung würde gestattet werden können. 

Im übrigen ist die Einrichtung der Abtheilungen 
wie im anderen Hause, namentlich auch inbezug auf 
feststehende Spülclosetts in den Wachsälen. Auch hier 
ist ira ersten Stock eine Wohnung für einen Arzt oder 
Oberin. Im Dachgeschoss befinden sich Schlaf- und Wohn- 
räume für sämmtliche Nachtwachen der Frauenseite. 
Fast von Eröffnung der Anstalt an wurde das System 
der ständigen Nachtwachen eingeführt, stets beibe¬ 
halten und erweitert Aus dieser Thatsache ergiebt sich 
ohne weiteres unser Urtheil über seinen Werth. Nur 
die zweite Person der Doppelnachtwachen wird als 
Wechselwache von dem Personal des Tagesdienstes 
gestellt und zwar mit halbnächtiger Ablösung. Bereits 
bei meinem Abgänge am 1. April v. Js. bestanden bei 
einer Zahl von 640 Kranken (Frauen) 10 ständige 
Nachtwachen, welche ihre Thätigkeit auf 240 bis 
250 Kranke erstreckten. 

Zur Beurtheilung dieser beiden Neubauten der 
Ruppiner Anstalt dürfte endlich der Kostenpunkt 
heranzuziehen sein. Die ausserordentliche Höhe der 
Anforderungen, welche für die Provinz Branden¬ 
burg der nicht genug anzuerkennende Giundsatz ihrer 
Verwaltung, sämmtliche Geisteskranke, Epileptische 
und Idioten in eigenen, ärztlich geleiteten Anstalten 
zu verpflegen, mit sich bringt, rechtfertigt und fordert 
andererseits möglichste Sparsamkeit. Wenn mir 
auch der Rechnungsabschluss für die Neubauten 
nicht zur Verfügung steht, so ist doch nach mir ge¬ 
wordenen Mittheilungen anzunehmen, dass der Kosten¬ 
punkt des einzelnen Krankenbettes in ihnen mitsammt 
der inneren Ausstattung 3000 M. nicht übersteigt. 

Zum Schluss ist es mir eine angenehme Pflicht, 
Herrn Director Dr. Sei 1 e für die mir gestattete Mitarbeit 
bei dem Entwürfe dieser Häuser ifnd die Erlaubniss, 
sie zu beschreiben, sowie dem Herrn Landesbaurath 
Professor Göcke für die Ueberlassung der Pläne zu 
danken. 


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I 9°4-] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


*95 


M i t t h e i 

— Die 74. ordentliche Generalversammlung 
des Psychiatrischen Vereins der Rheinprovinz 

findet am Samstag, den 12. November, Nachmittags 
1 V2 Uhr in Bonn im Hotel Kley statt. Tages¬ 
ordnung: Geschäftliche Mittheilungen; Aufnahme 
neuer Mitglieder. Vorträge: a) Foerster-Bonn, Psy¬ 
chiatrische Streifzüge durch Paris. b) Thomsen- 
Bonn, Klinisches über Zwangsvorstellungen, c) Rumpf- 
Bonn, Ueber Arteriosklerose, d) Steiner-Cöln, Ueber 
eine Neubildung im oberen Halsmark. 

— Die höchst beklagenswerthen Zustände 
der Irrenfürsorge in Belgien schildert Dr. Lentz, 
der Nestor und zugleich der erfahrenste unter den belgi¬ 
schen Irrenärzten, Inspecteur adjoint des asiles 
d’alienes de Belgique, gelegentlich eines im Laufe 
dieses Jahres in der Academie royale de medecine 
zu Brüssel gehaltenen Vortrages über Volksheilstätten 
für arme Tuberkulöse und über die private Initiative 
bei der Gründung solcher. Zur Darlegung der 
Schattenseiten der Privatwohlthätigkeitsinstitute führt 
er die belgischen Irrenanstalten als Beispiel an und 
schreibt*): 

II existe en Belgique un Service tres important 
qui a ete completement abandonne k l’initiative 
privüe**): c’est celui de l’hospitalisation des alienes; je 
dis completement, car sur les cinquante etablissements, 
si Ton en excepte le depot de l’höpital Saint-Jean, 
il n’y en a pas un, meme ceux de l’Etat, qui soit 
exclusivement gere par les pouvoirs publics. L’ini¬ 
tiative privee a donc ete lä maitresse absolue; eile a 
meme ete stimulee par les inspections de l’Etat. Eh 
bien, voyons ce que vaut le Service ainsi remis ä 
Pinitiative privee, surtout au point de vue medical, 
car c’est en definitive celui-ci qui en constitue la 
caracteristique et qui donne sa valeur a l’ensemble 
de Porganisme; voyons si l’organisation medicale de 
nos asiles repond reellement aux exigences de la 
Science moderne et aux progres qu’elle a realises 
ailleurs. 

Et tout d’abord je ne parlerai pas de l’appreci- 
ation peu flatteuse qu’en ont emise les medecins alle- 
mands, hollandais et fran9ais qui ont pris part au 
Congres de Passistance des alienes a Anvers; je ne 
parlerai pas des considerations encore moins flatteuses 
qui ont paru dans certain joumal etranger, et qui 
sont loin d’etre k Peloge de notre medecine mentale 
et de nos medecins alienistes: je ne desire citer que 
des faits dont la realite et la valeur ne puissent etre 
contestes. 

Le premier de ces faits est relatif au nombre des 
medecins attaches ä nos differents asiles. Alors que 
dans la plupart des pays, PAllemagne, PAngleterre, 
la Hollande surtout, les etablissements comportant 
une population de 500 k 1,000 malades possedent 

*) Um dem Eindruck seiner Schilderung nicht durch die 
Uebersetzung Abbruch zu thun, geben wir hier den Urtext 
wieder. 

**) nämlich den kirchlichen Genossenschaften. 

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1 u n g e n. 

tous de cinq a dix medecins, tous alienistes, tous 
residant ä l’asile et s’occupant exclusivement de son 
Service, ces memes asiles, avec une population ä peu 
pres identique, ont, en Belgique, un seul medecin, 
non resident et la plupart du temps livre ä une sur- 
menante clientele privee; il y a meme teile localite 
oü deux grands asiles n’ont qu’un seul specialiste. 
Que peut faire un seul medecin, — j’omets le mede¬ 
cin adjoint, qui n’est pas alieniste, ne s’occupe pas 
de la specialite et ne traite que quelques malades 
incidents, — quel bien peut faire un seul medecin 
ayant Charge de 500 k 900 alienes ? Que peut valoir 
un Service ainsi reduit? Aussi, voyez les resultats; 
trois grands progres ont caracterise ces demieres 
trente annees de Pevolution psychiatrique: le nores- 
traint, le traitement par Paütement avec bains pro- 
longes et Pextension du Systeme familial. L’Allemagne, 
la Hollande, l’Angleterre, la France meme, souvent 
si retive aux innovations etrangeres, ont toutes rivalise 
de zele dans Papplication de ces principes de traite¬ 
ment aux malades de leurs asiles. La Belgique seule 
est restee inerte et, je dirai plus, eile s’est montree 
retive: des alienistes beiges ont fait une Opposition 
sourde aux progres des pays voisins. 

Depuis de longues annees, PAngleterre, PAlle¬ 
magne et la Hollande ne connaissent plus une en- 
trave: il y a ä peine une annee qu’en Belgique un 
seul asile a introduit le no-restraint, et encore dans 
des conditions materielles qui semblent laisser ä 
desirer; partout ailleurs, le restraint reste en pleine 
vigueur. 

Depuis de longues annees, le traitement par 
Palitement avec bains prolonges est devenu general 
en Allemagne, en Angleterre et en Hollande, et a 
donne dans ces differentes contrees les meilleurs 
resultats, tout en susritant les plus grands eloges. Pas 
un medecin beige n’a encore eu la volonte, le courage 
ou meme le pouvoir de Pintroduire dans son asile; 
ou plutot, je me trompe, un seul confrere a eu cette 
audace, et, ä considerer Popposition qu’a suscitee, les 
difficultes qu’a rencontrees sa tentative, on se de- 
mande comment il a eu Penergie necessaire pour 
persister dans la voie oü il s’est engage et oü encore 
il n’avait fait que quelques essais bien timides et 
bien anodins. 

Enfin, Pextension et le developpement du Systeme 
familial forment le demier faisceau de cet ensemble 
de progres realises par la psychiatrie moderne dans 
le traitement de la folie. Si un pays devait tenir a 
honneur de defendre le Systeme, c’est certes la 
Belgique, eile qui a vu naitre la colonie de Gheel, 
oü Paliene vivait deja en liberte alors que partout 
ailleurs l’asile lui-meme n’existait pas encore et que 
la prison etait le seul refuge de la folie! Eh bien! 
chose triste k dire, il a fallu que des etrangers vinssent 
chez nous, dans la patrie meme de Gheel, prendre 
la defense du patronage familial, alors que nos propres 
alienistes n’ont eu pour le Systeme que de l’indiffe- 

Original frnm 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 31. 


■2Q 6 


rence, des critiques, voire meine du bläme. Et ce 
spectacle triste et navrant, ce sunt les medecins de 
l’initiative privee qui, avec une .penible unanimite, 
l’ont donne aux etrangers stupefaits. Alors que ceux 
ci n’avaient pour notre Organisation familiale que de 
l’admiration et des eloges, il a fallu que nos mede¬ 
cins vinssent en amoindrir la valeur et en contester 
les avantages. Jamais l’initiative privee ne m’a paru 
plus insuffisante; plus partiale et plus mesquine. II 
faut lire les comptes rendus du Congres de l’assis- 
tance des alienes tenu ä Anvers en 1901 pour se 
rendre compte de l’esprit etroit qui domine la Science 
mentale beige et de la sourde hostilite qu’y a ren- 
contree le Systeme familial beige. Et cela, c’est 
l’ceuvre de 1 ’initiative privee! Je n’oserais vous donner 
moi-meme l’explication de ce fait, certes etrange, 
d’une des plus belles conquetes de la psychiätrie 
pratique discreditee, presque vilipendee dans le propre 
pays qui l’a vue naitre, se developper, prosperer, et 
d’oü eile a servi de modele aux autres nations; je 
me permettrai cependant de vous rappeier ici les 
paroles d’un des assistants au Congres qui, avec une 
franchise tout a fait scientifique, quoique bien tudes- 
que et peut-etre trop brutale, a ecrit les lignes qui 
suivent: „II est donc evident que les communautes 
clericales s’aehament de toutes leurs forces contre le 
Systeme familial, car l’extension de celui-ci ne peut 
que leur faire perdre une partie de leurs malades et 
_en tout cas diminuer les entrees dans leurs asiles — 
et ainsi le Capital engage sera beaucoup moins remu- 
nere. En consequence, le pere A... et Tun de ses 
medecins en chef ont fait une violente Opposition au 
Systeme familial en general, et en particulier a son 
extension a un plus grand nombre de malades.“ 

Voilä ce que vaut l’initiative privee dans les 
questions d’organisation hospitaliere du Service des 
alienes; je ne crois pas exagerer en affirmant que, en 
ce qui conceme la valeur du traitement medical pro- 
prement dit, eile a en grande partie fait faillite. 

Partisan fanatique de liberte et d mdividualisrae, 
c’est ä regret que j’emets cette opinion; venant d’un 
adversaire de l’interventionnisme, eile n’en acquiert 
que plus d’importance. 

Dans un discours prononce dans cette enceinte en 
1899, a propos de l’assistance des epileptiques, j’avais 
encore conserve mes illusions : l’experience est mal¬ 
heureusement venue depuis lors les dissiper une a 
une. 

Ainsi, dans le domaine si abandonne de l’hospi- 
talisation des epileptiques, qu’a produit l’initiative 
privee? Rien ou preque rien, car le petit asile pour 
enfants epileptiques qui s’est fonde durant un laps de 
plus de dix annees, n’est lä que pour attester son 
lamentable echec; et en plus, ^Organisation medicale 
de cet etablissement n’est certes pas a la hauteur de 
celle des instituts similaires des pays voisins. 

Je puis donc conclure que si, dans le Service des 
alienes, l’initiative privee a peut-etre foumi la quantite, 
die n’a certes pas foumi la qualite; l’organisation 


medicale et scientifique des asiles beiges est de beau¬ 
coup inferieure a celle des asiles allemands, anglais, 
hollandais et meme fran^ais. Et nous ne sommes 
malheureusement pas seuls de cet avis : un des pro- 
cureurs du Roi qui ont le plus consciencieusement 
rempli leur mission d’inspection et de surveillance 
abonde dans notre sens: „Je croirais manquer a tous 
mes devoirs, ecrit-il, si je m’abstenais d’ajouter que 
j’ai la conviction la plus absolue que les alienes inter¬ 
nes dans la majeure partie des asiles s’y trouvent 
dans les conditions les plus deplorables au point de 
vue de leur traitement medical. Ce Service, tel qu’il 
est actuellement organise, est totalement insuffisant 
pour ne pas dire completement nul. L’unique medecin 
— et l’adjoint n’est qu’un praticien de fa^ade — 
auquel est confie le sort de centaines d’alienes, ne 
peut suffire a sa täche d’autant moins que la clientele 
civile absorbe la plus grande partie de sa journee et 
qu’il ne consacre ä celle de Pasile que le surplus, c’est- 
a-dire ä peine deux heures par jour: aussi se borne- 
t-il ä prodiguer ses soins aux maladies incidentes des 
pensionnaires, sans se preoccuper de l’aflfection dont 
ils peuvent etre atteints et moins encore du regime 
moral dont l’importance dans les asiles d’alienes est 
cependant tres considerable.“ Et M. le procureur du 
Roi termine en disant: „Ce n’est pas la premiere 
fois que je Signale cette Situation qui constitue un 
veritable scandale, mais toujours avec le raeme insuc- 
ces.“ Or, comme la perfection du Service medical 
doit etre le but principal de l’oeuvre sanatoriale, j’ai 
donc le droit d’affirmer que l’initiative piivee est inca- 
pable de l’assurer dans les conditions requises par la 
science. 

Personalnachrichten. 

— Halle a. S. Dr. med. Gustav Aschaffen- 
burg, leitender Arzt der Abteilung für geisteskranke 
Verbrecher am Strafgefängniss, erhielt einen Ruf als 
ord. Mitglied und Prof, für Psychiatrie an die Aka¬ 
demie für prakt. Medizinin Köln und als ärztl. Direktor 
der Krankenanstalt in Lindenburg. 

PERHYDROL. 

Um der mehrfach constatirten Thatsache vorzu¬ 
beugen, dass Aerzte und Patienten im Zwischenhandel 
statt des gewünschten und für viele therapeutische 
Zwecke allein geeigneten, absolut chemisch reinen, 
30°/oigen Wasserstoffsuperoxyd es ein anderes Wasser¬ 
stoffsuperoxyd erhalten, hat die ehern. Fabrik von E. 
Merck in Darm Stadt sich für ihr Produkt die Be¬ 
zeichnung „Perhydrol“ schützen lassen. Das Merck’sche 
Präparat gelangt nun mit der Etiquette: „Perhydrol, 
Wasserstoffsuperoxyd Merck absolut säurefrei, chemisch 
rein, 30 Gewichtsprozente H2O2 = 100 Volumpro¬ 
zente enthaltend“ in Verkehr. Wenn der Arzt in 
Zukunft nur die kurze Bezeichnung „Perhydrol“ an¬ 
wendet, so ist jede Substituirung des absolut chemisch 
reinen, hochprozentigen Wasserstoffsuperoxydes durcli 
ein minderwertiges, mehr oder minder säurehaltiges 
Produkt ausgeschlossen. 


J*ur den rciLutionollcn 'J lit-il v»*r.iiu\vottii« li : Oberarzt l)r. J. Hres 1 er , LubJinit? (Schlesien). 

Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 
Heynemann’sche Buchdruckerei (Gebr. Wc'lb je Halle a. S. 


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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift. 

Redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. BreBler. 

Lublinitz (Schlesien'. 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale Fernsprecher 2834. 

Nr, 32, 5 November. 1904. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die ßspaltige Petitzeile init 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten. 


Carl Pelman. 


se * ner Zeit bereits berichtet wurde, schied 
* ’ der Direktor der Rheinischen Prov.-Heil- und 
Pflege-Anstalt und der psychiatrischen Klinik in Bonn, 
Geheimer Medicinalrath 
Prof. Dr. Carl Pelman, mit 
Oktober d. J. aus dem 
rheinischen ■ Provinzial - 
dienst. 

Am 22. Oktober hatten 
sich die Beamten und 
Aerzte, sowie eine statt¬ 
liche Zahl der früheren 
Assistenten und Schüler 
des Genannten im festlich 
geschmückten Hörsaal der 
Klinik versammelt. Nach¬ 
dem derLandeshauptmann 
der Rheinprovinz Dr. 

Renvers dem Scheidenden 
für seine hervorragenden 
Verdienste während so 
langer Jahre gedankt und 
den neuen Direktor der 
Anstalt Prof. Dr. Westphal 
aus Greifswald in sein Amt 
eingeführt hatte, über¬ 
reichte Oberarzt Dr. Brie- 
Grafenberg Herrn Geh.- 
Rath Pelman im Namen 
der früheren ärztlichen 
Mitarbeiter als Zeichen 
ihrer aufrichtigen Dank¬ 
barkeit und Verehrung 
eine Plakette, welche der Meisterhand von Gustav Rutz 
in Düsseldorf entstammt. Ein Abguss des Bronce- 
reliefs wird als dauerndes Denkmal in den Räumen 
der Bonner Anstalt angebracht werden. 

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Bei dem sich anschliessenden Festmahle, zu dem 
sich über 70 Theilnehmer vereinigt hatten, betonte 
der Landeshauptmann Dr. Renvers, wie schmerzlich 

die Provinzial Verwaltung 
den Rücktritt Pelmans 
empfinde, da sie sehr 
wohl wisse, was von ihm 
im Laufe der vielen Jahre 
auf allen Gebieten der 
Anstaltspflege geleistet 
worden sei, und sehr wohl 
wisse, mit welcher Liebe 
und Hingabe er seinem 
schweren Berufe gelebt 
habe. Aber er wolle diese 
Gelegenheit, wo der Herr 
Geheimrath sich im Kreise 
seiner Collegen und seiner 
Bonner Freunde befinde, 
nicht vorübergehen lassen, 
ohne ihm nochmals zu 
danken für alles, was er 
für die Anstalt gethan 
habe, um sie auf die heut¬ 
ige Höhe zu bringen. 
Prof. E. Schultze-Greifs¬ 
wald dankte sodann dem 
Scheidenden im Namen 
der jetzigen und ehema¬ 
ligen Assistenten für das 
jederzeit an den Tag ge¬ 
legte Wohlwollen und 
feierte in warmen Worten 
die bedeutungsvolle wissenschaftliche Thätigkeit 
Pelmans. 

Aber auch die Kranken hatten es sich nicht 
nehmen lassen, dem geliebten ärztlichen und väter- 

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208 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 32. 


liehen Berater zum Abschiede ihren tiefgefühlten Dank 
darzubringen; gegen Abend fand in dem Festsaale 
der Anstalt noch eine besondere Feier statt, bei der 
ein Patient einen Prolog vortrug und ein Festspiel 
mit Declamation, lebenden Bildern, Chorliedem und 
Orchestermusik aufgeführt wurde. 

Carl Pelman wurde am 24. Januar 1838 in 
Bonn geboren. Er widmete sich dem Studium der 
Heilkunde in seiner Vaterstadt, promovirte dort am 
10. August 1860 auf Grund seiner Dissertation „Die 
medicinische Topographie der Stadt Bonn“ und er¬ 
langte im folgenden Jahre die Approbation als Arzt. 
Seine erste Berührung mit der Irrenheilkunde geht 
in das Jahr 1860 zurück, in dem er sich nach der 
damaligen Anstalt Siegburg begab, um einen vier¬ 
wöchentlichen Cursus der Psychiatrie durchzuraachen. 
1861 kam er als Assistent nach Siegburg und ein 
Jahr später an die Privatanstalt von Reimer nach 
Görlitz. Er diente hierauf dem Vaterlande als Arzt 
und mit der Waffe — auch am Sturm auf Düppel 
nahm er teil — und wurde bald darauf II. Arzt der 
Anstalt Siegburg unter F. Hoffmann’s und später 
W. Nasse’s Leitung. Nachdem Pelman seit 1871 
fünf Jahre lang Direktor der Bezirksirrenanstalt für 
Untereisass in Stephansfeld gewesen war, wurde er 
am I April 1876 mit der Leitung der neuerrichteten 
Provinzial-Irrenanstalt Grafenberg bei Düsseldorf be¬ 
traut, der er 13 Jahre hindurch Vorstand. Er blieb 
seiner Vorliebe für die Psychiatrie getreu und schlug 
die Direktorstelle des Hamburger Allgemeinen 
Krankenhauses aus, welche man ihm angetragen hatte. 
Am 17. Juni 1889 übernahm Sanitätsrat Pelman an 
Stelle des am 19. Januar 1889 verstorbenen W. Nasse 
die Direction der Provinzial-Irrenanstalt Bonn, nach¬ 
dem er am 9. Mai des gleichen Jahres zum ordent¬ 
lichen Professor der Psychiatrie an der Universität 
Bonn ernannt worden war unter gleichzeitiger Ver¬ 
leihung des Charakters als Geheimer Medicinalrat. 
Im December 1889 wurde er Mitglied des Medicinal- 
collegiums der Rheinprovinz. 

Der Gefeierte hat es in seltener Weise verstanden, 
allen den ungewöhnlichen Anforderungen gerecht zu 
werden, welche die Leitung einer grossen Provinzial¬ 
anstalt und sein Amt als Lehrer an der Universität 
an ihn stellten. Seine Thätigkeit geht weit über die 


Grenzen der Anstalt hinaus; dies beweisen seine 
zahlreichen Vorträge, seine Abhandlungen in Sammel¬ 
werken, sowie seine vielseitigen Arbeiten und Be¬ 
sprechungen in den verschiedensten Fachzeitschriften. 
Er ist Mitherausgeber der Allgemeinen Zeitschrift für 
Psychiatrie und der Zeitschrift für Psychologie und 
Physiologie der Sinnesorgane. Seine gewandte und 
anregende Feder stellte er mit Vorliebe in den Dienst 
reformatorischer Bestrebungen, namentlich auf dem 
Gebiete der praktischen und forensischen Psychiatrie 
und überall da, wo es galt, den Zusammenhang der 
Irrenheilkunde mit der sozialen Hygiene zu betonen. 
Auch die Giündung des Hülfsvereins für Geistes¬ 
kranke in der Rheinprovinz ist sein Werk. Mehre¬ 
ren Reisen ins Ausland und seiner umfassenden 
Litteraturkenntniss verdanken wir interessante Berichte 
über den Stand der Irrenpflege auch jenseits der 
Grenzen unseres Vaterlandes. Bereits gegen Ende 
der 70 er Jahre legte er wiederholt und eindringlich 
den Aerzten die Aufgabe ans Herz, dahin zu wirken, 
dass die Ansicht von der krankhaften Natur der 
Trinker zum Allgemeingut auch des grossen Publi¬ 
kums werde. Schon früh würdigte er in kritischer 
Weise die Licht- und Schattenseiten der Lehre Lom- 
brosos und gab als einer der ersten den Anstoss 2ur 
Vertiefung des Studiums der Kriminalanthropologie 
in Deutschland. Seine Schrift über „Nervosität und 
Erziehung“ erschien in zahlreichen Auflagen. Seit 
langen Jahren gehört er dem Vorstande des Deutschen 
Vereins für Psychiatrie an, und am 22. Juni 1889 
wurde er zum Vorsitzenden des Psychiatrischen Ver¬ 
eins der Rheinprovinz gewählt, der er bis zum heutigen 
Tage ohne Unterbrechung geblieben ist. 

Geheimrath Pelman hat sich nunmehr entschlossen, 
seine Stelle als Anstaltsleiter niederzulegen. Er wird 
in körperlicher und geistiger Frische fürderhin seine 
Befriedigung finden in der Ausübung der akademischen 
Lehrthätigkeit, in seinen Fachstudien und im Genüsse 
der schöngeistigen Litteratur des In- und Auslandes, 
deren feinsinniger und sprachkundiger Kenner er ist. 
Wir wünschen ihm von ganzem Herzen, dass ihm ein 
friedliches otium cum dignitate beschieden sein möge. 
Wahrlich, er hat es verdient Ad multos annos! 

F. 


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1904. 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


299 


Das Wahnproblem. 

Von Dr. Robert Neupert , kgl. Oberarzt der Kreisirrenanstalt Erlangen. 


AISTenn ich obiges Wort zur Ueberschrift für die 
* " folgenden Ausführungen nahm, so hat mir hier¬ 
bei nicht zufüllige Ideenassociation oder momentane 
Eingebung die Feder geführt, vielmehr habe ich mit 
gutem Bedacht die Bezeichnung so gewählt und nicht 
anders. Denn durch den Titel schon wollte ich 
kritisch zum Ausdruck bringen, welches Resultat wir 
auf dem Gebiet der bisherigen Wahnforschung zu 
verzeichnen haben und bis zu welchem Punkte wir 
vorgedrungen sind. Der Wahn ist uns ein Problem 
geworden. Ein jedes Problem aber birgt wie Jo- 
kastens Schoss in sich ein feindseliges Brüderpaar: 
den Fortschritt und den Zweifel. So will ich denn 
zunächst vom Fortschritt handeln, der die eine wesen¬ 
hafte Eigenschaft jedweden Problems darstellt End¬ 
lich sind wir auf dem Gebiete der Wahnforschung 
aus jenem naiven Stadium herausgekommen, von dem 
man ohne Uebertreibung behaupten konnte, es habe 
hierbei als Leitmotiv der l berühmte Rath gegolten: 
„Im Ganzen — haltet euch an Worte, dann geht 
ihr durch die sichere Pforte zum Tempel der Gewiss¬ 
heit ein“» Treffliche Arbeiten aus dem letzten Jahr¬ 
zehnt haben uns nunmehr eine schärfere Umfassung 
und Formulierung des Wahnproblems gebracht und 
ihre fruchtbare Wirkung auch schon in manchem 
psychiatrischen Lehrbuch gezeitigt. Mit der präciseren 
Problemstellung wurde auch jene einseitig-intellektu- 
alistische Auffassung der Wahnpsychogenese schwer 
erschüttert und ihre Situation ist gegenüber der Wucht 
der gegen sie zu Felde geführten psychologischen und 
klinischen Thatsachen eine recht kritische geworden. 
So halte ich die Einsicht, dass bei dei Entstehung 
jedweden Wahns das Gefühl eine unentbehrliche, 
wenn nicht überhaupt die einzig maassgebende Rolle 
spielt, für eine werthvolle Errungenschaft, die wohl 
kaum mehr aufgegeben werden dürfte. Für „die Um- 
werthung psychiatrischer Werte“, auch auf dem Ge¬ 
biete des paranoischen Wahnes, tritt unter Anderen 
Specht in einer hervorragenden Arbeit ein. Er führt 
aus, dass auch beim paranoischen Wahn Affectzu- 
stände zugrunde liegen, und zwar ist es seiner 
Meinung nach ein Mischaffect, das Misstrauen, welches 
als die auslösende psychopathologische Ursache erscheint. 
Nun wollen wir freilich — und damit kommt der Zweifel 
zum Worte — dahingestellt sein lassen, ob das Miss¬ 
trauen einen Affectzustand im landläufigen Sinn darstellt. 
Unseres Erachtens ist das Misstrauen ein Schluss, 
dem allerdings ein bestimmter, vorerst freilich noch 


nicht näher analysirbarer Affect zugrunde liegt; es 
ist nicht der Schöpfer, sondern bereits das Geschöpf. 
Auch wäre weiterhin noch zu untersuchen, ob bei 
der Erklärung des paranoischen Wahnes wirklich 
Mischaffecte, an deren Existenz an sich ja wohl kein 
Zweifel ist, heranzuziehen sich als nothwendig erweise. 
Warum sollte auf der „schwanken Leiter der Gefühle“ 
nicht auch ein Unlustgefühl von ganz bestimmter 
Intensität und Dauer jenes paranoische Misstrauen 
erzeugen können ? Endlich käme noch als eine letzte 
Frage: „Wie ist die Kluft zwischen Affect und Wahn 
zu überbrückenj?“ Es bringt demnach die neu ge¬ 
wonnene Einsicht deswegen noch keine definitive 
Lösung, so erfreulich auch die Thatsache ist, dass 
bei der Wahnpsychogenese auf der ganzen Linie der 
Nachweis einer affectiven Grundlage versucht, wenn 
nicht erbracht wird. Für den Zweifel steht also 
noch ein weites Gebiet offen und die letzte Wahrheit 
bleibt uns verschlossen. Aber schon das Suchen 
nach Wahrheit ist von einem eminenten positiven 
Werth. Der eigentliche Fortschritt einer jeden Wissen¬ 
schaft liegt ja immer nur in der neuen Fragestellung 
und so dürfen wir auch in der Wahnforschung nicht 
erlahmen. Gerade hier ist mehr als eine Frage zwar 
strittig, aber der Lösung fähig. 

Haben sich die Arbeiten der letzten Jahre auf 
dem Gebiet der Wahnlehre mehr mit der quästio 
juris beschäftigt, so möchte ich nunmehr wieder ein¬ 
mal, wenigstens zunächst, der quästio facti mein 
Augenmerk zuwenden. Um mit einer Aeusserlichkeit 
zu beginnen, so finde ich, dass in der Terminologie 
sehr wenig Consequenz herrscht. Wenn man über 
das Wahnkapitel, sei es in einem Lehrbuch, sei es 
in einer Abhandlung, liest, dann dauert es meistens 
nicht lange und man stösst auf das Wort Wahn¬ 
vorstellung. Soll aber der sprachliche Ausdruck 
für den Inhalt eines Begriffes nicht als ein reiner 
Flatus vocis gelten, dann darf er, streng genommen, 
keine contradictio in adjecto enthalten. Es war bereits 
Aristoteles bekannt, dass Wahrheit nicht eigentlich 
in den Vorstellungen, sondern immer nur in den 
Urtheilen liegt, und Kant schreibt m seiner Logik: 
„Irrthum sowohl als Wahrheit ist nur im Urtheil“. 
Die Wahmehmungselemente als solche sind weder 
wahr, noch falsch, sondern thatsächlich. Die Vor¬ 
stellungen sind nichts Anderes, als bestimmte Be¬ 
wusstseinsphänomene und immer nur das Material, 
aus dem die Erkenntniss sich aufbaut. Erkenntniss 


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300 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 32. 


können wir nur aus den Urtheilen schöpfen, mit 
ihnen beginnt sie und mit ihnen schreitet sie fort. 
So ist es also durchaus unlogisch, von Wahnvor¬ 
stellungen zu sprechen. Streng genommen könnte 
immer nur von Wahnurtheilen die Rede sein, und 
wenn man diese Bezeichnung nicht beliebt, dann 
müsste man eine indifferente wählen, die nichts präju- 
dizirt, z. B. den Ausdruck „Wahnidee“. Die Wahn¬ 
ideen sind also Urtheile, keine Vorstellungen. Freilich, 
solange die Urtheile nur in einer Verknüpfung oder 
Zerlegung der Associationen und Begriffe bestehen, so 
besitzen sie selbst einen rein vorstellungsmässigen 
Character und würden sich als solche von den Vor¬ 
stellungen wenig oder gar nicht unterscheiden. Wir 
wären somit in Wirklichkeit nicht von der Stelle ge¬ 
rückt Allein überall da, wo es sich um Wahrheit 
handelt, tritt beim Urtheil zum blossen Verknüpfen, 
Beziehen, Zerlegen noch ein weiteres Element, das 
ausserhalb der rein vorstellungsmässigen Sphäre liegt 
und das bereits im Alterthum als jedem Urtheil in¬ 
härent erkannt wurde. Nach der Lehre der Stoa 
löst die greifbare Vorstellung ((pavzaoia xot aXtnnxij) 
gewissermaassen nur unsere Thätigkeit aus, nämlich 
die Zustimmung (ovyxardd-foig), kraft deren wir ihr 
Wirklichkeit oder Unwirklichkeit zusprechen. Es wird 
somit die Anerkennung der Wahrheit ein Akt des 
Willens. Aehnliche Auffassungen begegnen wir in 
der Scholastik bei Duns Skotus und Wilhelm von 
Occam. Letzterer lehrt, in den complexen Gedanken 
sei ein actus judicativus als eine Zustimmung oder 
Nichtzustimmung enthalten. Weiterhin war es Des- 
kartes, der vom actus judicandi behauptete, dass er 
in Bejahung oder Verneinung bestehe und der das 
theoretische Urtheil als Sache des Willens hinstellte. 
In der neuesten Geschichte behauptete zuerst S igw art, 
dass im negativen Urtheil die Abweisung einer Zu- 
muthung bestehe. Brentano betrachtete ebenfalls das 
Urtheil als einen elementaren psychischen Act des 
Anerkennens oder Verwerfens eines Bewusstseinsin¬ 
haltes. Während Lotze Affirmation und Negation 
nur als Nebengedanken in der primären Synthesis 
des Urtheils auffasst, geht Bergmann einen Schritt 
weiter und erklärt Bejahung und Verneinung nicht 
als Nebenuftheile, sondern als das „kritische Verhalten“, 
das die bloss vorgestellte Beziehung zwischen Subject 
und Prädicat überhaupt erst zum Urtheil macht. 
Nach ihm ist das Urtheil nicht bloss ein theoretisches 
Verhalten, sondern eine „Aeusserung der Seele, an 
welcher ihre praktische Natur, das Begehrungsver¬ 
mögen, betheiligt“ sei. Das Urtheil ist die Entscheid¬ 
ung über die Geltung einer Vorstellung, es ist ein 
interessirtes Verhalten, zugleich ein Fühlen und Be¬ 


gehren, es billigt und missbilligt die Vorstellung. 
Windelband unterscheidet Urtheile und Beurtheilun- 
gen, erstere sind theoretische Vorstellungsverbindungen, 
die erst durch Beurtheilung als wahr oder unwahr cha- 
racterisirt werden. „Alle Sätze der Erkenntniss ent¬ 
halten somit bereits eine Combination des Urtheils 
mit der Beurtheilung: sie sind Vorstellungsverbind¬ 
ungen, über deren Wahrheitswerth durch die Affir¬ 
mation oder Negation entschieden wird“. Nach 
Riehl tritt der eigentliche Act des Urtheilens zu der 
Vorstellung, über die er ergeht, hinzu. Aehnlich 
sieht auch Lipps im Urtheil ein Anerkennen, ein 
Vorstellen mit dem Bewusstsein der Wirklichkeit 
Rickert endlich giebt seiner Ueberzeugung dahin 
Ausdruck, dass Erkennen seinem logischen Wesen 
nach bejahend oder verneinend sei. Ich wüsste nicht 
wie man die ganzen Verhältnisse treffender kenn¬ 
zeichnen sollte, als dies Rickert in seiner klassischen 
Abhandlung, „Der Gegenstand der Erkenntniss“, thut 
wenn er sagt: Wenn wir wollen, so begehren wir ent¬ 
weder etwas oder wir verabscheuen es. Wenn wir 
fühlen, so fühlen wir entweder Lust die uns ange¬ 
nehm, oder Schmerz, der uns unangenehm ist Es 
handelt sich also beim Wollen und Fühlen- stets um 
ein Entweder-Oder, um ein Stellungnehmen zu einem 
Werthe, das nicht vorhanden ist, wenn wirjnor vor¬ 
stellen. Aus dem Vorangegangenen aber ergiebt sich, 
dass dieses Entweder-Oder nun auch beim Urtheilen 
vorliegt, welches sich im ausdrücklichen Bejahen oder 
Verneinen voll entwickelt hat. Ein solches Urtheil 
geht demnach nicht auf in einem theilnahmslosen 
Betrachten, sondern es kommt in dem Bejahen oder 
Verneinen ein Billigen oder Missbilligen, ein Stellung¬ 
nehmen zu einem Werthe zum Ausdruck. Solange 
Vorstellungen nur vorgestellt werden, kommen und 
gehen sie, ohne dass wir uns um sie kümmern. Aber, 
wie wir sie als angenehm oder unangenehm fühlen, 
wie wir sie begehren oder verabscheuen, wenn wir 
wollen, so stimmen wir ihnen zu oder weisen sie ab, 
wenn wir urtheilen. Während also die geläufige Ansicht 
im Denken und Erkennen das Urtheilen und das 
Vorstellen als zusammengehörig fasst und dem Fühlen 
und Wollen gegenüberstellt, so meinen wir, dass, 
wenn eine solche Eintheilung der psychischen Vor¬ 
gänge überhaupt gemacht werden soll, das Vorstellen 
in die eine Klasse und das bejahende und vernein¬ 
ende Urtheilen in die andere Klasse gebracht werden 
muss. Es liegt auch im vollentwickelten Urtheil und 
zwar als das für seinen logischen Sinn Wesentliche, 
ein „praktisches“ Verhalten, das in der Bejahung etwas 
billigt oder anerkennt, in der Verneinung etwas ver¬ 
wirft. Weil nun, was für das Urtheil gilt, auch für 


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1904.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


301 


das Erkennen gelten muss, da alles Erkennen sich in 
vollentwickelten Urtheilen bewegt, so ergiebtsich aus der 
Verwandtschaft, die das Urtheil mit dem Wollen und 
Fühlen hat, dass es sich auch bei dem rein theo¬ 
retischen Erkennen um eine Stellungnahme zu einem 
Wert he handelt. Es ist nicht nöthig, dafür noch 
einen besonderen Nachweis zu führen. Nur Werthen 
gegenüber hat das alternative Verhalten des Billigens 
oder Missbilligens einen Sinn. Was ich bejahe, muss 
mir gefallen, was ich verneine, muss meinen Miss¬ 
fallen erregen. Das Erkennen also ist ein Vorgang, 
der bestimmt wird durch Gefühle, und Gefühle sind 
psychologisch betrachtet stets Lust oder Unlust. So 
fremdartig es auch klingen mag, dass Lust oder Un¬ 
lust alles Erkennen leitet, so ist es doch nur die un- 
bezweifelbare Consequenz der Lehre, dass im voll¬ 
entwickelten Urtheile zu den Vorstellungen eine Be- 
urtheilung, das heisst eine Bejahung oder Verneinung, 
hinzutritt, durch welche aus den Vorstellungen über¬ 
haupt erst Erkenntniss wird.“ 

Wir sehen also, dass zu allen Zeiten eine ganze 
Reihe der hervorragendsten Denker an der nicht rein 
vorstellungsmässigen Art des Urtheils festhalten, so 
entschieden auch in der Psychologie diese Anschauung 
von anderer Seite bekämpft wird. Meiner Meinung nach 
erhältfjaber gerade durch die Psychogenese rdes Wahns 
jene Anschauung, die dem Urtheil keinen rein syn¬ 
thetischen Character zuerkennt, eine weitere Stütze. 
Wie durch blosses Verknüpfen, Zerlegen und Be¬ 
ziehen ein Wahn entstehen soll, ist absolut unerfind¬ 
lich und müsste erst noch bewiesen werden. Der 
Vorwurf, den man der Associationspsychologie macht, 
dass £ie unfähig sei, das Auftreten herrschender Ele¬ 
mente in den Verbindungen zu erklären, dieser Vor¬ 
wurf, meine ich, tritt noch mit viel eindringlicherer 
Schärfe zu Tage beim Versuche, die Entstehung des 
Wahns zu erweisen. Denn dass der Wahn im 
Bewusstsein ein herrschendes Element darstellt, ja 
noch mehr, dass er ein Tyrann ist, so despotisch und 
grausam, wie ihn sonst die Weltgeschichte nicht kennt, 
wer wollte das leugnen? Hier versagt die Associa¬ 
tionspsychologie vollständig, aber auch die volunta- 
ristische Psychologie im Sinne W u n d t s ist 
nicht im Stande, das Räthsel zu lösen. So 
führen nicht blos apriorische Erwägungen, sondern 
noch in höherem Grade die Macht der psycholo¬ 
gischen und klinischen Thatsachen dazu, der 3. psychi¬ 
schen Componente, dem Gefühle, diese Rolle zuzu¬ 
erkennen, und trotz der bisherigen Unmöglichkeit, das 
Gefühl deutlich abzugrenzen und zu analysiren, müssen 
wir dasselbe als den Grundfaktor alles psychologischen 
Geschehens betrachten. Speziell die Psychopatho¬ 


logie des Wahns ist es, bei der ohne Heranziehung 
des Gefühls eine nur halbwegs befriedigende Er¬ 
klärung meiner Meinung unmöglich ist. Das Urtheil 
aber liegt, wie wir gesehen haben, soweit es sich um 
Beurtheilung, das heisst Wahrheit handelt, durchaus 
innerhalb des Gefühlsrayons, Ist nun das Gefühl 
krankhaft verändert, dann muss auch ein krankhaft 
verändertes Urtheil die nothwendige Folge sein und 
erst in dem Augenblicke, in dem wir das Urtheil 
aus der rein intellectualistischen Sphäre herausheben 
und seinem innersten Wesen nach als dem Gefühl 
zugehörig betrachten, reduzirt sich das Wahnproblem 
wirklich auf „eine einheitliche und psychologisch durch¬ 
sichtige Formel“. 

So würde ich denn den Wahn als ein aus einem 
pathologischen Affect entsprungenes und darum un- 
corrigirbares Urtheil auffassen, das weder mit den 
subjectiven Urtheilen anderer noch mit allen Urtheilen 
desselben Subjectes zu einem in sich widerspruchs¬ 
losen Ganzen sich vereinigen lässt. Bei dieser De¬ 
finition wird mancher als wesentliches Kriterium des 
Wahns seine egocentrische Steilung vermissen. • Allein 
eine Cardinaleigenschaft des Wahns vermag ich hierin 
nicht zu finden. Theoretisch ist ja ohne weiteres zu¬ 
zugeben, dass alle Acte unseres Bewusstseins in letzter 
Linie mit dem Ich zusammenfallen und zusammen¬ 
fallen müssen. Piactisch jedoch werden wir öfter 
nicht in der Lage sein, den engeren Nachweis des 
Zusammenhanges eines Wahnurtheils mit dem Ich 
zu liefern und eben durch diese Thatsache glaubte 
BleulerSpechtindie Zwangslage versetzen zu können, 
entweder unzweifelhafte Wahnideen als solche preis¬ 
geben zu müssen oder sich in eine Diallele zu ver¬ 
stricken. Allein in letzter Instanz dürfte ein derarti¬ 
ges Dilemma, wie gesagt, überhaupt nicht existiren. 
Um so grösseres Gewicht lege ich dagegen als noth- 
wendiges und characteristisches Merkmal des Wahns 
auf dessen Uncorrigirbarkeit. Dabei fasse ich freilich 
den Begriff „uncorrigirbar“ nicht in jenem relativen, 
dehnbaren Sinne, unter dem sich zum Schlüsse Alles 
darunter verstehen lässt, sondern in einem absoluten, 
und ich stehe nicht an, freimüthig zu bekennen, dass 
ich alle uncorrigirbaren Irrthümer als Wahn betrachte. 
Andreiseits will ich bei dieser Gelegenheit betonen, 
dass auch manche als Wahnideen aufgefasste Aeusser- 
ungen von Geisteskranken, namentlich bei vorhandenem 
Schwachsinn, hie und da aber auch bei gewissen Be¬ 
wusstseinstrübungen noch den psychologischen Irr- 
thümern einzureihen sein dürften. 

Damit bin ich zum Schlüsse meiner Ausführungen 
gekommen. Es war von mir ursprünglich beabsichtigt, 
diese meine Betrachtung über das Wahnproblem auf 


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302 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 32. 


breiterer Basis der Oeffentlichkeit zu übergeben, allein 
Üeberhäufung mit practischen Berufsgeschäften, dazu 
noch ein bestimmter persönlicher Abhaltungsgrund 
haben mich auf diese Darlegungen beschränkt, bei 
denen ich öfters nur andeuten konnte, was ich gern 


näher ausgeführt hätte. Sollten jedoch diese Zeilen 
eine weitere kleine Anregung auf dem Gebiete der 
Wahnförschung gegeben haben, dann wäre ihr Zweck 
erreicht 


Mittheilungen. 


— Hilfsbedürftigkeit im armenrechtlichen 
Sinne liegt auch bei einem gemeingefährlichen Irren 
vor, wenn dieser einer Irrenanstalt nicht um seiner 
Gemeingefährlichkeit willen, sondern wegen seiner 
Hilfsbedürftigkeit von der Polizeibehörde überwiesen 
worden ist. 

Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, III. 
Senats, vom 21. Januar 1904 (III 146). [Kläger 
und Revisionskläger: ein Ortsarmenverband; Beklagte 
und Revisionsbeklagte: eine Ortskrankenkasse]. 

Der seit Jahren an chronischer Verrücktheit mit 
Verfolgungs- und Beeinträchtigungsideen leidende 
Gustav K. arbeitete vom August bis Dezember 1900 
beim Malermeister Robert J. in B. und war Mitglied 
der Beklagten. Am 8. Dezember 1900 bei einem 
Einbruchsdiebstahle ertappt, befand er sich bis zum 
15. Februar 1901 in Untersuchung, wurde aber an 
diesem Tage mit Rücksicht auf seinen Geisteszustand 
ausser Verfolgung gesetzt, dem Königlichen Polizei¬ 
präsidium in B. zugeführt, von diesem der[ Direction 
der städtischen Irrenanstalt daselbst überwiesen und 
in der letzteren vom 16. Februar bis 15. April 1900 
verpflegt. Der Kläger hat unter, Ermässigung seiner 
ursprünglichen Klageforderung beantragt, die Beklagte 
gemäss § 57 des Krankenversicherungsgesetzes zur 
Erstattung von 50 M. Armenpflegekosten nebst 4% 
Zinsen seit der Klagebehändigung an ihn zu ver- 
urtheilen. 

Der Bezirksausschuss hat jedoch durch Ent¬ 
scheidung vom 10. Juli 1902 die Klage abgewiesen, 
weil K. in der städtischen Irrenanstalt am 16. Februar 
1901 nicht wegen Hilfsbedürftigkeit, sondern wegen 
Gemeingefährlichkeit untergebracht worden sei und 
somit ein Fall armenrechtlicher Fürsorge, wie ihn der 
§ 57 a* a. O. voraussetzt, nicht vorliege. 

Der hiergegen vom Kläger eingelegten Revision 
war der Erfolg nicht zu versagen. 

Die Feststellung des Vorderrichters, dass K. nur 
im polizeilichen Interesse in die städtische Irrenan¬ 
stalt zu B. aufgenommen worden sei, ist nicht zu¬ 
treffend. Mag auch die Staatsanwaltschaft die Unter¬ 
bringung des K. wegen Gemeingefährlichkeit für 
wünschenswerth gehalten haben, so wird doch in dem 
Ersuchen des Polizeipräsidenten an die Anstaltsdi- 
rection vom 16. Februar 1901 die Aufnahme auf 
Kosten des Armenpflegefonds und auf Grund des 
ärztlichen Gutachtens vom 5. Februar 1901 bean¬ 
tragt, welches von einer Gemeingefährlichkeit des K. 


nicht spricht. Auch hat sich die Polizeibehörde die 
weitere Verfügung über den letzteren nicht Vorbehalten, 
dieser ist vielmehr nach Inhalt des Schreibens des 
Magistrats vom 22. Februar 1901 seit dem 16. des¬ 
selben Monats in der Anstalt aus Armenfonds ver¬ 
pflegt und, wie die Akten ergeben, später nach er¬ 
folgter Besserung vom Kläger aus der Pflege entlassen 
worden. Dass K. einer Anstaltspflege bedurfte und 
sich diese aus eigenen Mitteln zu verschaffen nicht 
in der Lage war, auch als Geisteskranker vom Kläger 
nicht abgewiesen und sich selbst überlassen werden 
konnte, ist zweifellos. Bei einer solchen Sachlage 
kann aber das Vorliegen einer Armenfürsorge im 
gesetzlichen Sinne auf seiten des Klägers nicht in 
Abrede gestellt werden. Die Entscheidung des Vorder¬ 
richters unterlag daher der Aufhebung — § 94 d. LVG. 
vom 30. Juli 1883. 

Bei freier Prüfung erscheint die Sache spruchreif, 
da K. nach dem ärztlichen Gutachten vom 6. Februar 
1901 bereits während seiner Beschäftigung erkrankt 
war und eine Bemängelung der Höhe des ermässigten 
Klageantrages durch die Gegenpartei nicht stattge¬ 
funden hat Die Beklagte war nach dem letzteren 
zu verurtheilen. 

(„Preuss. Verwaltungsblatt“ 8. X. 04.) 


Bibliographie 

über Kriminal-Anthropologie und Verwandtes. 

II. Quartal 1904. 

Von Medicinalrath Dr. P. Näcke in Hubertusburg 

Villemin; Beitrag zur Psychopathologie der Thiere. 
Perversion des Geschlechtstriebes bei einem Hunde. 
Bull, de la societe vet. de Lyon 1903. 

Cadiot: Aberrations sexuelles. Recueil de m£d. vet 
1903 . 

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Abstinenz. Zeitschr. f. Bekämpf, der Geschlechts¬ 
krankheiten, II, Nr. 11. 

Szilard: Ueber libido sexualis. Orvosok lapja 1903. 

Bechterew: Ueber äussere Zeichen habitueller 

Onanie bei Knaben. Centralbl. f. Nervenheilk. 
etc. 1903. 

Mainzer: Idiopathischer Priapismus, 9 Tage per- 
sistirend. Deutsche mediz. Wochenschr. 1903, 
Nr. 44. 

Taruffi: Hermaphroditismus und Zeugungsunfähig¬ 
keit, eine systematische Darstellung der Miss- 


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Original fram 

HARVARD UNIVERSITY 





1904.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


303 


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Fritsch: Ueber Exhibitionismus. Jahrb. f. Psych. u. 
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Friedländer: 2 Exhibitionisten. Deutsche med. 

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Jo ly: Perverser Sexualtrieb u. Sittlichkeitsverbrechen. 

Klinisches Jahrbuch XI, H. 1. 

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Hirt: Der Einfluss des Alkohols auf das Nerven- 
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Sachverst.-Zeitung, 1903, Nr. 22. 

Adler: Wollustgefühl u. Befruchtung. Heilkunde 
1903, Nr. 11. 

Mühsam: Homosexualität Berlin, Lilienthal, 1903. 
Bernhardt: Pollutionsartige Vorgänge beim Weibe. 

Berlin, Vogel & Kreienbrink, 1903. 
Aschaffenburg: Strafvollzug an Geisteskranken. 

Aerztl. Sachverständ.-Zeitung 1903, Nr. 21. 

Ha eck er: Descendenztheorie und Bastardlehre. 
Politisch-Anthropol. Revue, April 1904. 3. Jahrg., 
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Matiegka: Ueber die Beziehungen des Hirngewichts 
zum Berufe. Ibidem. 

Woltmann: Vorläufer Gobineau’s. Ibidem. 
Duphorn: Betrachtungen über die Blüthe und den 
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Hegar: Correlationen der Keimdrüsen u. Geschlechts¬ 
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Schödel: Einseitige Bildungsfehler der Brustwand¬ 
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Janson: Palymastie bij een man. Nederl. Wookbl. 

x 9 ° 3 ’ 

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(Fortsetzung folgt ) 


Referate. 

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Eröffnung des. internationalen Congresses für Psycho¬ 
logie. München, 4. August 1896. Zusammen in einem 

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304 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


|Nr. 32. 


Buch erschienen mit: Der Entwickelungsgedanke in 
der gegenwärtigen Philosophie. Leipzig, Joh. Ambr. 
Barth. 1903. 

St. lehnt den Monismus in den verschiedenen 
Auffassungen (Spinoza, Fechner, Mach u. a.) als un¬ 
zutreffend ab. In der Parallelitätslehre kann er statt 
des Monismus nur einen Dualismus finden. Zwischen 
Psychischem und Physischem muss ein dauernder 
Causalzusammenhang angenommen werden. 

Einmal könnte man das Psychische als eine An¬ 
häufung von Energien eigener Art ansehen. Gewisse 
psychische Funktionen würden mit einem fort¬ 
währenden Verbrauch, andere mit einer ebenso 
fortgehenden Ergänzung physischer Energie verknüpft 
sein. In der näheren Fassung der Gehimprocesse, 
welche als unmittelbare Ursache oder Wirkung be¬ 
stimmter Seelenthätigkeiten anzusehen wären, würden 
sich allerdings einige ungewohnte Vorstellungen bei 
der weiteren Verfolgung dieser Sätze eigeben. 

Die psychischen Zustände könnten aber auch in 
anderer Weise Wirkungen und Ursache physischer 
Vorgänge sein. Ein bestimmter Nervenprocess in 
bestimmter Gegend der Hirnrinde ist die regelmässige 
Vorbedingung für das Zustandekommen einer be¬ 
stimmten Empfindung. Diese geht als nothwendige 
Folge neben den physischen Wirkungen aus ihm 
hervor. Ein bestimmter Process in den motorischen 
Centren der Rinde kommt nicht nur durch physio¬ 
logische Bedingungen zu Stande, sondern stets unter 
Mitwirkung eines bestimmten Zustandes (Affekt,Willen). 
In keinem der Fälle wird physische Energie absorbiert 
durch die Einwirkung auf die Psyche bezw. von 
Seiten der Psyche. 

Die Annahme eines Causalitätszusammenhanges 
zwischen Psychischem und Physischem begründet erst 
eine monistische Anschauung im wahren Sinn. 

Wickel (Dziekanka). 


Personalnachrichten. 

— Bonn. Der I. Oberarzt Dr. Brie ist zum 
Direktor der zum 1. April 1905 zu eröffnenden 7. 
Prov.-Heil- und Pflegeanstalt der Rheinprovinz Jo¬ 
hannestal bei Süchteln, Kreis Kempen er¬ 
nannt An Stelle des nach Greifswald berufenen 
Prof. E. S ch ul tz e ist der bisherige III. Arzt der Prov.- 
Heil- und Pflege - Anstalt Andernach, Dr. Deiters, 
als Oberarzt nach Bonn versetzt worden. 


Maggi’s Würze und Bouillonkapseln. 

Prof. Dr. Liebreich bat, wie er in den „Therapeutischen 
Monatsheften“ 1904 Nr. 2 mittheilt, den Einfluss der be¬ 
kannten volkstümlichen M aggi’sch en Suppen- u. Speisen- 
Wilrze auf Circulation, Respiration und Verdauung untersucht, 
um zu ermitteln, ob sie ungünstige Nebenwirkungen im Orga¬ 
nismus entfaltet. Selbst nach Einspritzung der Substanz in die 
Jugularvene von Tieren hielt sich der Blutdruck in normaler 
Höhe; auch die subcutan eingespritzten concentrirten Lösungen 


führten zu keiner irgendwie nachtheiligen Beobachtung, nicht 
einmal zu localen Reizerscheinungen. Bei den Verdauunga- 
versucben zeigte sich, dass in dem reinen Chemismus der 
ausserhalb des Organismus herbeigeführten Verdauung nichts 
geändert wird, „aber wir wissen von allen gewürzigen Sub¬ 
stanzen, dass sie zur Verdauung durch vermehrte Secretion des 
Magensaftes beitragen und in dieser Richtung als verdauungs- 
fördernd betrachtet werden können* 4 . 

Nach Liebreich kommt der Maggi*schen Würze ein 
allgemeinerer Würzungscharakter zu als anderen, auch un¬ 
schädlichen Gewürzen, da sie mit allen Substanzen für den 
Geschmack verträglich ist. — 

Da die Bestandteile der Maggi-Würze vorwiegend dem 
Pflanzenreich entstammen, so empfiehlt sich seine Verwendung 
besonders bei Nieren- und Gichtkranken, bei welchen die 
Fleischextraktivstoffe vermieden werden sollen. — 

Dr. He im-Bonn schreibt in „Die künstlichen Nährpräpa¬ 
rate und Anregungsmittel“ (Berlin 1901, A. Hirschfeld): 

„Nach der Analyse von Prof. König aus dem Jahre 1897 
und einer neueren aus der Lebensmitteluntersuchungsanstalt der 
Stadt Konstanz enthält Maggi-Würze: 

Wasser 57 —58 % 

Trockensubstanzen 42,99 „ 

Gesammtstickstoff 3,19 „ 

Stickstoffsubstanz 19,93 * 

Mineralstoffe 21,85 „ 

mit Chlor 11,59 „ entsprechend 
mit Kochsalz 19,12 „ „ 

mit Phosphorsäure 0,69 „ „ 

Maggi-Würze ist ein wenig säuerlich, stark würzig und 
erinnert an Suppenkräuter. Maggi bewährt sich als gute, reiz¬ 
lose Würze, wenn es in wenigen Tropfen bis zu 1 Teelöffel 
voll Suppen zugesetzt wird. Wenn man es Speisen, Braten, 
Bratensaucen, Pasteten, Ragoüt-fins und grünen Gemüsen zusetzt, 
werden dieselben würziger und angenehmer. Eintönig oder 
fade schmeckende Speisen werden durch die Maggi-Würze an¬ 
sprechender gemacht. Durch dieselbe wird der Appetit ange¬ 
regt, indem zugleich deutlich Speichelabsonderung hervorgerufen 
wird, was man jederzeit beobachten kann , wenn man einige 
Tropfen der reinen Würze probirt. . . . Maggi-Würze findet 
denn heute auch in der Krankenküche einer sehr grossen An¬ 
zahl von Krankenhäusern und Verpflegungsanstalten in der 
Krankenkost eine vortheilhafte Anwendung. — Die Maggi-Ge¬ 
sellschaft bringt auch gebrauchsfertige „Bouillon-Kapseln“ in 
den Handel, die durch blosses Uebergiessen mit kochendem 
Wasser ohne weitere Zuthat die Herstellung einer guten Kraft¬ 
brühe ermöglichen, wovon ich mich selbst sehr oft überzeugt 
habe. Auch Küster und Friz berichten günstig über die Ver¬ 
wertung von Maggi’s Bouillon-Kapseln (Allgem. med. Centr.- 
Zeit., Dezember 1899). Maggi’s Bouillon-Kapseln besitzen einen 
angenehmen Wohlgeschmack, sind nach Angabe der Fabrik mit 
bestem Fleischextrakt hergestellt und enthalten feinste Gelatine 
(also Eiweisssparen, sowie Gemüseauszüge und Kochsalz. Da 
sich die Bouillon-Kapseln bei trockener und möglichst kühler 
Aufbewahrung lange halten, so dürften dieselben wegen ihrer 
bequemen Handhabung ir. der Ernährung von Gesunden und 
Kranken sich bald grosser Beliebtheit erfreuen, was zum Theil 
jetzt schon der Fall ist. Für letzteres gilt dies besonders da, 
wo die geschwächte Magenverdauung angeregt und dem Blute 
Nährsalze zugeführt werden sollen.' 

Die Verwendung dieser Bouillonkapseln dürfte sich ganz be¬ 
sonders bei dem nach t w a ch en t huenden Kranken¬ 
pflegepersonal sehr zweckmässig erweisen, ja auch für des 
Schlafs entbehrende Kranke lässt sich aus diesen 
Bouillonkapseln leicht ohne nächtliche Inanspruchnahme der 
Anstaltsküche ein angenehmes Getränk und eine kräftige Brühe 
herstellen. 


Dieser Nummer liegt ein Prospekt der 
Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co., 
Elb erfe ld, 

bei, worauf unsere Leser besonders hingewiesen seien. 


Für den redaktionellen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Bresler, Luol.mtr (Schlesien). 

Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl M&rhold in Hall« a. S. 

Heynemann "sehe Buchdruckerei (Gcbr. Wo’fD in Halle a. S. 


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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift. 

Redigiri vun 

Oberarzt Dl*. Joh. Br 08 l©T. 

Lublinitz (Schlesien'. 

Verlag von CARL MARHOLD in H h i i r ... v 

Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hal*es»ai** Fernsprecher 

Nr. 33, _ 12 . November. _ _ 1904, 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die 5spaltige Petitzeile mit 40 Plg. berechnet. Be» Wiederholung tritt Ermäßigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten. 


Material zu § 1569 B. G. B. 

(No. 17.) 

Von Privatdocent Dr. Dannemann- Giessen. 


T^Ver in folgendem dargelegte Fall verdient inso- 
fern Interesse, als er lehrt, dass die Auffassung, 
es sei nur dann die Grundbedingung des § 1569 
erfüllt, wenn auch die Entmündigung wegen Geistes¬ 
krankheit erfolgt sei oder doch die Anregung der 
Entmündigungsfrage zur Lösung in diesem Sinne 
führen würde, nicht überall auf juristischer Seite ge- 
theilt wird. Bekanntlich liegen Entscheidungen vor 
(siehe Cramer’s forensische Psychiatrie), nach denen 
es unzulässig sein soll, auf Ehescheidung zu er¬ 
kennen, wenn der erkrankte Gatte nur als geistes¬ 
schwach in rechtlichem Sinne erachtet wurde 
bezw. zu erachten sein würde. *) Wir werden 
uns von psychiatrischer Seite dagegen zu verwahren 
haben, dass diese Ansicht bestimmenden Einfluss 
auf die Praxis der Gerichte gewinnt. Vielmehr gilt 
es klar zu stellen, dass trotz der Belassung einer 
beschränkten Geschäftsfähigkeit, bezw. trotz der An¬ 
nahme einer Geistesschwäche in rechtlichem Sinne, 
die Begutachtung bei der Erörterung der Scheidungs¬ 
frage eventuell dahin resümiren darf, dass ein Gei¬ 
steszustand vorliegt, der dem entspricht, was der Ge¬ 
setzgeber im § 156c) als erste Bedingung der Schei¬ 
dungsmöglichkeit im Auge hatte. Kurz: Es kann 
unter Umständen jemand in Bezug auf § 6 B. G. B. 
geistesschwach genannt werden, der bei einer Ana¬ 
lyse seiner Persönlichkeit geisteskrank zu erklären 
ist, wenn Scheidung gegen ihn beantragt würde.**) 

Der betreffende Fall stellt sich folgendermaassen 
dar: 

*) cf. Reichsgerichtserkenntniss vom 5. V. 1902, abgedruckt 
in: Rechtspraxis der Ehescheidung bei Geisteskrankheit und 
Trunksucht. Von J. Bresler. 1903. S. 14. 

**) ähnlich auch Bresler a. a. O. S. 9- 


Die Begutachtung war eine doppelte, sie hatte 
sich einerseits darüber auszusprechen, ob Geistes- 
krankheit oder Geistes schwäche in rechtlichem 
Sinne bei dem A. Fl. von B. vorliege, und weiterhin 
war Stellung zu nehmen in einer gegen ihn seitens 
seiner Ehefrau eingereichten Ehescheidungsklage 
wegen Geisteskrankheit. Indessen lagen in Bezug 
auf die erste Prozesssache die Verhältnisse etwas 
complicirt. Fl. lebte ausserhalb einer Anstalt, war 
Vor Jahren zwar wegen Geisteskrankheit entmündigt, 
strebte aber sehr energisch gegen den Entmündigungs¬ 
beschluss an und hatte es erwirkt, dass die Entmün¬ 
digung wegen Geisteskrankheit aufgehoben und an 
ihrer Stelle die Entmündigung wegen Geistesschwäche 
ausgesprochen war. 

Der damals etwa 50jährige Fl. kam 1897 zum 
ersten Male in die Irrenanstalt zu H., konnte aber 
schon nach Monatsfrist entlassen werden. Im Be¬ 
ginn der Störung bot er allgemeine nervöse Er¬ 
scheinungen, dann traten Wahnideen in den Vorder¬ 
grund, die sich speciell gegen seine Ehefrau im Sinne 
ehelicher Untreue derselben richteten. Starker Alko¬ 
holist war Fl. nicht gewesen, auch in den späteren 
Jahren excedirte er nicht, so dass man berechtigt 
war, eine reine Paranoia zu diagnosticiren. 

Unter heftigem Widerstand in die Anstalt ge¬ 
bracht , nachdem Aeusserungen seinerseits gefallen, 
welche Schlimmes für die Ehefrau befürchten Hessen, 
war er daselbst sehr reizbar, labil in seinen Stimm¬ 
ungen , bot oft heftige Affectzustände. Misstrauen 
und Antipathie gegen die neue Umgebung beherrsch¬ 
ten ihn dauernd und führten häufig zu Reibungen. 
Selbstüberschätzung, krankhafte Einsichtslosigkeit ver¬ 
vollständigten den Symptomenkomplex. Schon da- 


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3°6 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 33 


raals füllte das pathologische Moment dominirend 
den Vorstellungskreis des Fl. aus, alle anderen Inter¬ 
essen in den Hintergrund drängend, so dass zur 
angeregten Entmündigungsfrage der Gutachter sich 
dahin aussprach, dass eine chronische, irreparable 
Geistesstörung anzunehmen sei. 

Vom 8. V. 1899 bis 12. IV. 1900 war Fl. aber¬ 
mals in der Anstalt zu H. intemirt nach wieder¬ 
holten häuslichen Erregungszuständen. Die nach¬ 
giebige Ehefrau bewirkte jedoch wieder seine Ent¬ 
lassung und stellte ihm sogar unter dem Einfluss von 
Vorwürfen seinerseits ein günstiges Zeugniss im Sinne 
der Besserung aus, als er vor dem Amtsgerichte Z. 
seine Entmündigung anfocht. In mehreren Terminen 
war Fl. ruhig, scheinbar einsichtig, bezvv. er dissimu- 
lirte in sehr geschickter Weise. Dass er jedoch an 
seinen Ideen festhielt, bewiesen Beschimpfungen 
seiner Frau, Benennungen seiner Kinder mit den 
Namen von ihm gemuthmaasster Väter und gelegent¬ 
liche Erregungszustände zur Genüge. Gleichwohl 
wusste der inzwischen in durchaus geordneter Weise 
einem Erwerb nachgehende und darum von vielen 
Bekannten für gesund angesehene Mann es zu er¬ 
zielen , dass seine Entmündigungsanfechtung Erfolg 
hatte, freilich nicht ganz in seinem Sinne. 

Von zwei als Sachverständige hinzugezogenen 
Kreisärzten sprach sich der eine dahin aus, dass er 
nicht an der Diagnose zweifle, indessen Entmündigung 
wegen Geistes schwäche befürworte. Der zweite 
Herr College drückte sich dahin aus, dass Fl. zwar 
nach medicinisehem Sprachgebrauch geisteskrank 
sei, dass ihm aber die Rechte eines wegen Geistes- 
schwäche Entmündigten ohne Gefahr für seine 
wirthschaftlichen Umstände gelassen werden könnten. 

Hierauf entschied das Amtsgericht zu Z. am 10. 
Oct. 1901 in oben schon angedeutetem Sinne, d. h. 
die Entmündigung wegen Geistes k 1 a n k h e i t wurde 
aufgehoben unter gleichzeitigem Ausspruch einer 
Entmündigung wegen Geistes s c h w ä c h e. Diese 
letztere focht jedoch der Anwalt des Fl. sofort an 
unter dem Einwand, dass ein solches Verfahren un¬ 
zulässig sei. Einer Entmündigung wegen Geistes¬ 
schwäche habe ein neuer Antrag auf Eröffnung des 
Entmündigungsverfahrens wegen Geistesschwäche vor¬ 
angehen müssen, nach vorheriger ordnungsmässiger 
Aufhebung der Entmündigung wegen Geisteskrank¬ 
heit. 

In der nun anhängig gemachten Klage des Fl. 
gegen die Staatsanwaltschaft wegen Anfechtung eines 
Entmündigungsbeschlusses wurde Referent zum Gut¬ 
achten aufgefordert und hatte sich darüber auszu¬ 
sprechen, ob Fl. am 10. Oct. 1901 geisteskrank 


oder geistesschwach im Sinne des § ö B. G. B. 
gewesen sei, und ob damals Entmündigungsmöglich¬ 
keit bestanden habe, bezw. ob noch in der Gegen¬ 
wart die Sachlage die gleiche sei. 

Da FI. nicht zu bewegen war, sich einer Anstalts¬ 
beobachtung zu unterziehen, so war Referent ge¬ 
zwungen, auf Grund des reichhaltigen Aktenmateriales 
und der Beobachtungen, die er an Fl. in zwei mehr¬ 
stündigen Terminen zu machen Gelegenheit hatte, 
sein Urtlieil abzugeben. Da zeugenmässig erwiesene 
Feststellungen aus den verschiedensten Zeitperioden 
bis zur Gegenwart Vorlagen, auch eine eingehende 
Befragung Fl.’s stattgefunden hatte, so glaubte er 
ohne Bedenken so verfahren zu dürfen. 

Das Gutachten erging in dem Sinne, dass der 
in medicinisehem Sinne unzweifelhaft geisteskranke 
Fl. auch als geisteskrank im Sinne des § 6 B. G. B. 
anzusehen sei, bezw. dass bei ihm völlige Geschäfts¬ 
unfähigkeit vor liege, und dass zur Zeit der Aufheb¬ 
ung der Entmündigung wegen Geisteskrankheit, 
also am 10. Oct. 1901, die Sachlage die gleiche 
gewesen sei. Nach einer Betrachtung der Para¬ 
graphen des B. G. B., in denen die Rechte des 
beschränkt Geschäftsfähigen tixirt sind, und ein¬ 
gehender Exemplificirung auf den vorliegenden Fall, 
wurde dahin geschlossen, dass, wenn in Fällen aus¬ 
geprägter svstematisirter Wahnbildung die Fähigkeit 
zur Wahrnehmung der eigenen Angelegenheiten über¬ 
haupt beeinträchtigt sei, dann auch volle Geschäfts¬ 
unfähigkeit angenommen werden müsse, da die Wahn¬ 
ideen jederzeit auch auf einen dem Kranken be¬ 
lassenen Rest von Geschäftsfähigkeit Einfluss ge¬ 
winnen könnten. 

Ehe noch ein Urtheil erging, zog der klägerische 
Anwalt die Klage zurück, Fl. fügte sich in die durch 
den Entscheid vom 10. Oct. iqoi geschaffene Rechts¬ 
lage, galt somit als wegen Geistesschwäche 
ent m ü n d i gt. Nun hatte aber im Herbst 1903 
die Ehefrau Scheidungsklage auf Grund des § 1509 
eingereicht und in dieser Processsache wurde Referent 
ebenfalls mit der Erstattung des Gutachtens betraut, 
welches folgenden Wortlaut erhielt: 

Aufgefordert in rubricirter Sache ein ärztliches 
Gutachten darüber abzugeben, ob die in dem $ 1500 
des bürgerlichen Gesetzbuches geforderten Beding¬ 
ungen im vorliegenden Falle gegeben sind, unter¬ 
breitet der Unterzeichnete dasselbe dem Grossh. 
Landgerichte Civilkammer II wie folgt. 

Es ist zunächst festzustellen, dass bei dem Adam 
Fl., Cigarrenarbeiter zu B., eine Geistesstörung von 
dreijähriger Dauer besteht. Das Beweismaterial hier¬ 
für entnehmen wir den Entmündigungsacten des Be- 


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I9°4-] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


307 


klagten unter gleichzeitiger Beziehung auf unsere 
gelegentlich zweier Termine in der Sache Fl. contra 
Staatsanwaltschaft gemachten Beobachtungen. Nach 
ersteren unterliegt es keinem Zweifel, dass bei Fl. 
nach früher friedlichem, geordnetem Zusammenleben 
mit seiner Familie seit dem Jahre 1897 Wahnideen 
in die Erscheinung getreten sind, welche seither ihn 
dauernd beherrschen und seine Stellungnahme zu 
den Seinen erheblich geändert haben. Seit nunmehr 
6 Jahren sieht er in seiner keineswegs mehr be- 
gehrenswerthen, abgehäimten und schwächlichen Ehe¬ 
frau eine Person, die ihm die eheliche Treue ge¬ 
brochen haben soll, macht ihr ohne Scheu und ohne 
jede Rücksicht die schlimmsten und dabei durchaus 
unzutreffenden Vorwürfe, dass sie sich für Geld preis¬ 
gegeben, soviel Geld „zusammengehurt“ habe, dass 
sie jedem ihrer Kinder eine Villa kaufen könne. 
Diese letzteren will er nicht als die Seinen aner¬ 
kennen, sondern behauptet, sie seien aus ehebreche¬ 
rischen Verhältnissen entsprossen. In dieser An¬ 
schauung hat er sie, wie aus den Entmündigungs¬ 
acten zu entnehmen ist, häufig sogar mit den Namen 
fremder Personen, eben der von ihm gemuthmaassten 
Väter, gerufen und damit ihrer Ehre Abbruch ge- 
than. In seinem Eifersuchtswahn ging Fl. sogar so¬ 
weit , dass er auch den Aerzten, mit denen seine 
Frau in Berührung kam, unlautere Motive unterschob: 
ganz Hessen habe es mit ihr zu thun und der 
Doctor in Pf. auch, äusserte er einmal zu ihr. 

Bei Worten Hess er es indessen nicht bewenden, 
sondern flocht auch schwere Drohungen gegen seine 
Ehefrau ein und erging sich in Thätlichkeiten gegen 
sie, welche recht schwerer Art gewesen sein müssen, 
denn die Tochter gab am 6. October an, dass nach 
ihrer Ansicht die Mutter nicht mehr am Leben 
wäre, wenn nicht der Bruder bei einer ihr erinner¬ 
lichen Scene hinzugekommen wäre und Schlimmes 
verhütet hätte. 

Wenn es auch verschiedentlich bei Vernehmungen 
des Fl. den Anschein hatte, als seien zeitweilig die 
bei ihm bestehenden Wahnideen abgeblasst, und 
wenn er auch des öfteren bei solchen Gelegenheiten 
auf Befragen es in Abrede gestellt hat, dass er seine 
Frau für untreu, seine Kinder für die Nachkommen 
anderer Personen halte, so ist er doch später stets 
wieder mit den gleichen festwurzelnden Ideen her¬ 
vorgetreten und hat durch seine gesammte Lebens¬ 
führung, durch die fortgesetzt feindselige Stellung¬ 
nahme zu den Seinen hinreichend den Beweis an 
die Hand gegeben, dass er völlig unter der Herr¬ 
schaft von Wahnideen steht. Es ist somit auf 
Aeusserungen f ^- e solche Fl. noch im Juli dieses 


Jahres zu Protocoll gab, dass er seine Frau nicht 
mehr für untreu halte, sie um ihre Verzeihung bitten 
wolle, seine Kinder als die eigenen anerkenne etc. 
nicht das geringste zu geben, denn an späteren Zeit¬ 
punkten erging er sich abermals in Beschuldigungen 
in gleichem Sinne, wie früher solche von ihm er¬ 
hoben wurden. Noch im September fielen beispiels¬ 
weise wieder Aeusserungen, wie: es sei doch ein 
Hurenhaus, er werde es in die Zeitung setzen. 

Das Verhalten im Termin am 7. Juli, ebenso 
wie das früher im April 1901 gezeigte, sowie ferner 
die Art und Weise, wie Fl. sich wieder am 6. October 
dieses Jahres gerirte, beweisen eben nur, dass das 
bei jedem noch einigermaassen überlegungsfähigen 
Paranoiker bald mehr, bald weniger entwickelte Dis¬ 
simulationsvermögen auch bei Fl. eine Rolle spielt 
Er hat zur Genüge die Erfahrung gemacht, dass 
seine Ansichten nicht als zutreffend angesehen werden, 
dass ein Festhalten daran vor Gericht bestimmen 
kann, seine Entmündigung aufrecht zu erhalten. Und 
so richtet er seine Antworten ganz darnach ein, ohne 
aber sein Handeln im geringsten mit einer solchen 
angeblich eingetretenen Aenderung seiner Anschau¬ 
ungen in Einklang zu bringen. 

In Bezug auf seine Familie ist er vielmehr noch 
ganz genau derselben Ansicht, wie bezüglich seiner 
Verbringung nach H. und des erzwungenen Aufenthaltes 
in der Anstalt daselbst. Eine Aeusserung von ihm 
ist ein deutlicher Beweis dafür, dass er zu einer 
sachlichen Würdigung der Gründe seiner Unterbring¬ 
ung in der genannten Anstalt absolut ausser Stande 
ist, und dass unter Umständen sogar Gewaltacte 
gegen den früher mit seiner Begutachtung betrauten 
Herrn Dr. K. zu erwarten sind: „wenn ich nur den 
K. hätte, dem thäte ich die Haut in lauter Riemen 
schneiden.“ — Wer als Arzt eine Meinung äussert, 
welche nicht zu seinen Gunsten ist, der gilt ihm 
eben , wie es ja characteristisch für den Paranoiker 
ist, als Gegner. So erklärt es sich auch wohl, wenn 
er nach anfänglich bewiesener grössester Bereitwillig¬ 
keit (er kam im April nach Giessen, wurde 
aber, da eine Aufforderung zur Begutachtung 
von gerichtlicher Seite nicht vorlag, abgewiesen) 
später doch nicht dem Referenten Gelegenheit zur 
Beobachtung gewähren wollte, weil er auch gegen 
ihn Misstrauen geschöpft haben dürfte. 

Nach allem, was uns von ihm bekannt geworden 
ist, steht Fl. unter dem Einfluss fixirter Wahnideen. 
Weiterhin liegt hinreichend Grund vor zu der An¬ 
nahme, dass zeitweilig auch Sinnestäuschungen sich 
bei ihm geltend gemacht haben. Seiner Frau hat er 
den Vorwurf gemacht, er habe ,,die Kerle schnaufen“ 


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3°B 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 33. 


hören, die es mit ihr zu thun hätten. Sie habe ihm 
Gift unter die Nase gehalten, deswegen habe er dann 
nicht zu sich kommen können. Dies erscheint 
dringend verdächtig auf Hallucinationen des Gehörs 
und des Geruchs. Damit würde auch die Mittheil¬ 
ung, dass er nachts im Zimmer umhergegangen sei 
und laut gerufen habe: „dir weis’ ich’s!“. sehr gut 
in Einklang zu bringen sein. 

Wie ungemein intensiv die krankhafte Animosität 
des Mannes gegen seine Familie ist, prägt sich auch 
durch die neuerliche Aeusserung aus: wenn er die 
ganzen Fl’s. erwischen könne, thäte er sie in ein Oel- 
fass und sprengte sie in die Luft. Es muss ange¬ 
sichts derartiger Drohungen als sehr leicht möglich 
bezeichnet werden, dass Fl. gelegentlich sich zu Ge- 
walthandlungeu schlimmster Art hinreissen lassen 
kann. Jedenfalls hat seine Gefährlichkeit für die 
Seinen im Laufe der Jahre eher zu- wie abgenommen, 
und das Fehlschlagen seiner Bestrebungen, aus der Ent¬ 
mündigung zu kommen, der eventuelle Erfolg seiner Ehe¬ 
frau mit der Ehescheidungsklage, beide Momente können 
sehr wohl verhängnisvoll werden, indem sie Ent¬ 
ladungen einer pathologischen Antipathie heraufbe¬ 
schwören. 

Fl. leidet somit an paranoischer Geistesstörung 
feit etwa 6 Jahren. Hiermit sind die beiden ersten 
Grundbedingungen des § 1569 erfüllt. 

Wir haben in der Sache Fl. contra Staatsanwalt¬ 
schaft auseinandergesetzt, dass nach unserer Ansicht 
der Ausspruch einer Entmündigung wegen Geistes- 
schwäche im Jahre 1901 nicht gerechtfertigt w'ar, 
sondern dass damals Geisteskran kheit auch im recht¬ 
lichen Sinne angenommen werden konnte. Dem¬ 
gegenüber können wir uns Erörterungen sparen be¬ 
züglich der Frage, ob bei einem rechtlich nur Geistes¬ 
schwachen, wenn auch in medicinischem Sinne Geistes¬ 
kranken, doch eine pathologische Geistesbeschaffenheit 
von der Stärke vorhanden sein kann, wie sie erforder¬ 
lich ist zur Erfüllung der Grundbedingung des § 1569. 
Von psychiatrischer Seite müsste man unseres Er¬ 
achtens diese Frage unbedingt bejahen, auch wenn 
bei Fl. nur beschränkte Geschäftsfähigkeit angenommen 
wäre. Dabei ist uns w r ohlbekannt, dass in der ge¬ 
richtlichen Praxis die Ansicht Befürworter gefunden 
hat, dass die Begriffe Geisteskrankheit in den §§ 6 
und 1569 identisch zu setzen seien, und dass die 
Grundbedingung des letzteren nicht erfüllt sei, wenn 
in einem Entmündigungsverfahren nur „Geistes¬ 
schwäche bezw. beschränkte Geschäftsfähigkeit“ 
für vorliegend erachtet wairde. 

Zu prüfen ist nunmehr, ob die bei Fl. bestehende 
Geisteskrankheit einen solchen Grad erreicht hat, 


dass sie die geistige Gemeinschaft zwischen den 
Ehegatten ausschliesst. Die Definition dessen, w r as 
man unter geistiger Gemeinschaft zu verstehen hat, 
ist eine verschiedenartige. Nach den Einen ist sie 
gleichbedeutend mit der Fähigkeit des Verständnisses 
und der Empfindung für das eheliche Verhältniss so¬ 
wie für die aus diesem Verhältnisse entspringenden 
sittlichen Pflichten. Lenel, der bekanntlich diesem 
Gegenstände seine besondere Aufmerksamkeit zuge- 
w'endet hat, begreift darunter die Familieninteressen, 
das übereinstimmende Bewusstsein, dass man an dem 
Wohle des anderen Ehegatten und der Kinder in- 
teressirt sei und den übereinstimmenden Willen habe, 
diesem Wohle zu dienen. Die geistige Gemeinschaft 
ist nach Leppmann aufgehoben, wenn „ein Mangel 
des Bewusstseins gemeinsamer Interessen und der 
Fähigkeit sowie des Willens, dieselben zu fördern, be¬ 
steht.“ 

Theoretisch kann man zwei Möglichkeiten unter¬ 
scheiden, bei denen die richtige Auffassung von dem 
Wesen der Ehe und die Bethätigung des Interesses 
am Wohle der Familie schwindet Dies kann erstens 
bedingt sein durch eine Vernichtung der früheren 
Persönlichkeit, d. h. durch völligen geistigen Ruin 
bis zu dem Grade, dass der kranke Gatte intellectuell 
und ethisch dem Nullpunkte nahe gerückt ist. Das 
findet zum Beispiel bei vorgeschrittener Paralyse statt. 
Oder zweitens durch eine Veränderung der früheren 
Persönlichkeit des Kranken, wie sie speciell durch 
fortschreitende Wahnbildung zu stände kommen kann. 
Hier ist speciell die Paranoia in Betracht zu ziehen, 
aber nur in solchen Fällen, in denen sich ein dele¬ 
tärer Einfluss der Wahnbildung auf die Beziehungen 
zum gesunden Gatten nachweisen lässt. 

Ein solcher Fall liegt hier vor, darüber braucht 
man sich wohl nicht dem geringsten Zweifel hinzu¬ 
geben. Seit Jahren sieht Fl. in seiner Gattin eine 
Gegnerin, die bestrebt sein soll, ihn unschädlich zu 
machen, ihn ins Irrenhaus zu bringen. Er beschimpft, 
misshandelt und bedroht sie, schädigt durch den 
tiefen Zwiespalt, den er dadurch heraufbeschworen 
hat, das gemeinsame Interesse in höchstem Maasse. 
Der Wille und die Fähigkeit, dasselbe zu fördern, ist 
gänzlich zurückgetreten hinter seine Wahnideen, diese 
lassen ihn eine Activität hervorkehren, welche dem 
Familieninteresse Schädigung über Schädigung zufügt. 
Der pathologische Process hat ihn in eine Situation 
gebracht, in welcher er den Seinigen und speciell der 
Ehefrau nichts mehr ist. Diese werden sich erlöst 
fühlen, wenn sie die letzte Fühlung mit ihm aufheben 
können, und andererseits wird es für ihn keine Härte 
bedeuten, wenn der de facto seit langem bestehende 


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1904. 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


309 


völlige Zerfall zwischen jenen und ihm nun auch noch 
durch den Ausspruch einer Scheidung deutlich zum 
Ausdruck gebracht wird. 

Die geistige Gemeinschaft ist aber nicht nur seit 
mindestens drei Jahren aufgehoben, sondern es 
fehlt auch die Aussicht auf eine Wiederherstellung 
derselben, denn erfahrungsgemäss sind Störungen der 
Geistesthätigkeit, wie eine solche bei Fl. uns entgegen¬ 
tritt, chronischer Art. Der Kreis der Wahnideen 
w’ird ein immer weiterer (vergl. die Einbeziehung der 
Aerzte!), aber der Ausgangspunkt bleibt immer der 
gleiche; was einmal infolge der bestehenden Störung 
der Verstandesthätigkeit in falscher Weise verarbeitet 
und in den Vorstellungsschatz aufgenommen wurde, 
erfährt keine Correctur mehr. Und somit kann es 
nach menschlichem Ermessen als ausgeschlossen er¬ 
achtet werden, dass Fl. bezüglich der Treue seiner 
Gattin, der Abstammung seiner Kinder, der Recht¬ 
mässigkeit seiner Verbringung in eine Anstalt jemals 
anderer Meinung werden wird, wie er es bisher ge¬ 
wesen. — Seit 6 Jahren tritt in seiner Wahnbildung 
entschieden etw^as progressives hervor. Auch verdient 
erwähnt zu werden, dass es bei Fl. neuerdings 
anscheinend seltener wie früher zu Affectausbrüchen 
kommt Beachtenswerth war in dieser Beziehung die 
Ruhe, welche er bei der Verhandlung vom 6. October 
bewahrte. Nicht ein einziges Mal liess er sich da 
hinreissen, weder beim Anhören der gravirenden An¬ 
gaben, welche Frau und Tochter machten, noch wenn 
er seitens des Vorsitzenden darauf hingewiesen wurde, 
dass diesen gegenüber sein Inabredestellen doch einen 
nicht glaubwürdigen Eindruck mache. Aeusserlich 
ruhig erklärte er nur die ihm unbequemen Angaben 
jener für eitel Lüge und verhielt sich sonst reservirt. 
— Dieses Zurücktreten des Aflfectes ist prognostisch 
bedeutungsvoll und im Sinne der Unheilbarkeit zu 
verwerthen. 

Fassen wir nunmehr zusammen, so sehen w'ir uns 
berechtigt, dahin zu schliessen: 

Adam Fl. von B. leidet seit über drei Jahren an 
einer Geisteskrankheit. Es besteht bei ihm eine Wahn¬ 
bildung, welche ihn in eine feindselige Stellung zu 
seiner Ehefrau und seinen Kindern gebracht hat und 
noch in der Gegenwart täglich bringt. — Die geistige 
Gemeinschaft der Ehegatten ist aufgehoben, denn 
Fl. hat infolge seiner Krankheit völlig die Fähig¬ 
keit eingebüsst, das wahre Wohl der Seinen zu er¬ 
kennen, geschweige denn, dass er es noch zu fördern 
vermöchte. — Da die vorliegende Geistesstörung 
erfahrungsgemäss eine unheilbare ist, so darf auch 


eine Wiederherstellung der geistigen Gemeinschaft für 
ausgeschlossen erachtet werden. 

Das unter dem 17. Mai 1904 ergangene Urtheil 
schied die Ehe unter Verurtheilung des Beklagten in 
die Kosten des Rechtsstreites. Im Tenor heisst es 
unter den Gründen: 

„Nach dem erstatteten Gutachten muss ange¬ 
nommen werden, dass der Beklagte geisteskrank ist, 
er konnte deshalb in diesem Rechtsstreit nicht selbst¬ 
ständig einen Vertreter bestellen. Der Rechtsstreit 
musste vielmehr, da Beklagter nach § 104 II. B. G. B. 
geschäftsunfähig ist, durch den gesetzlichen Vertreter 
geführt werden (§ 612 C. Pr. O.), als welcher nunmehr 
A. D. in B. bestellt ist. — 

Nach dem ausführlich begründeten Gutachten, auf 
dessen Inhalt im einzelnen hier Bezug genommen 
wird, kann es keinem Zweifel unterliegen, dass der 
Klagegrund des §1569 gegeben ist. Bei dem Be¬ 
klagten sind bereits seit dem Jahre 1897 Wahnideen 
in die Erscheinung getreten, die sich zunächst darin 
äusserten, dass Fl. die eheliche Treue der Klägerin 
bestritt, und die sogar zu Thätlichkeiten gegen dieselbe 

führten. Es erscheint vorliegend die geistige 

Gemeinschaft zwischen den Streittheilen aufgehoben, 
d. h. die Empfindung für das eheliche Verhältniss 
zum Ehegatten und die aus diesem Verhältniss ent¬ 
springenden Pflichten ist erloschen. — — Es erscheint 
auch nach menschlichem Ermessen jede Aussicht auf 
Wiederherstellung der ehelichen Gemeinschaft aus¬ 
geschlossen.“ 

Nach Ausgang des Scheidungsprozesses ist somit die 
Sachlage in diesem Falle die, dass Fl., der nach wie 
vor auf freiem Fusse ist und einem Erwerb nachgeht, 
wegen Geistesschwäche entmündigt bleibt, wohin¬ 
gegen seine Ehe w’egen Geisteskrankheit geschieden 
ist. Beide Processe wurden vor der gleichen 
Civilkammer geführt. Der Richter hat sich somit 
bei der Entscheidung in der Ehescheidungssache nicht 
im mindesten dadurch beeinflussen lassen, dass der Be¬ 
klagte noch im Besitze der Rechte eines Minder¬ 
jährigen, bezw. in Ansehung des § 6 zur Zeit nur als 
geistesschwach anerkannt ist. 

Es dürfte sich empfehlen, die in dieser Zeitschrift 
erscheinende Sammlung von Begutachtungsfällen bezl. 
der Ehescheidungsfrage bei Geisteskrankheit grade 
auch nach der Richtung dieser Mittheilung (geistes- 
s ch wach im Entmündigungsurtheil und geistes¬ 
krank in Bezug auf den § 1569) weiter durch Ver¬ 
öffentlichung von Entscheidungen noch zu bereichern 


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3io 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 33 


M i t t h e i 

— Deutscher Verein für Psychiatrie. Am 

14. October fand in Berlin eine Sitzung des Vor¬ 
standes statt. Es wurde als Ort der nächsten Jahres¬ 
versammlung Dresden und als Zeit die Tage vom 
28. und 29. April 1905 bestimmt. Zum Vorsitzenden 
des Deutschen Vereins für Psychiatrie wurde Moeli 
gewählt. Behufs Erlangung der Rechtsfähigkeit des 
Vereins müssen die Satzungen einer Revision unter¬ 
zogen werden: eine Vorberathung fand statt. Die 
gerichtliche Eintragung wird nothwendig werden durch 
die Einrichtung der Heinrich Laehr - Stiftung, 
welche der Verein in Göttingen beschlossen hat. 
Herr Geheimrath Laehr hat 50000 Mark für die 
Stiftung ausgesetzt. Wahrlich ein königliches Ge¬ 
schenk für die Deutsche Psychiatrie! Vivat sequens! 

S. 

— Posen. Am 2. November fand die Ein¬ 
weihung der vierten Provinzial-Irrenanstalt in Obra- 
walde bei Meseritz statt 

— Jena. Die Binswanger’sche Irrenklinik in 
Jena beging am Dienstag das Jubiläum ihres 25jäh¬ 
rigen Bestehens. Die Feier wurde im engsten Kreise 
unter den Aerzten und Anstalts-Insassen begangen. 


Referate. 

— Archiv für Psychiatrie und Nerven¬ 
krankheit. Bd. 38, Heft 2. 

M eyer (Kiel): Ueber acute und chronische Alkohol¬ 
psychosen und über die ätiologische Bedeutung des 
chemischen Alkoholmissbrauches bei der Entstehung 
geistiger Störungen überhaupt. 

Verf. giebt eine grössere Anzahl von Fällen von 
Paranoia resp. Dementia paranoides wieder, bei 
denen der chronische Alkoholmissbrauch aetiologisch 
in Frage kam. Er kommt dann zu folgenden Resul¬ 
taten. Man kann von alkoholischen Psychosen 
(speziell von chronischen Psychosen paranoischer 
Färbung) nur dann sprechen, wenn eine direkte Ent¬ 
wicklung aus den typischen Erkrankungsformen, Deli¬ 
rium tremens oder acuter Alkohol-Paranoia, vorliegt, 
oder wenn wenigstens vielfach nervöse und psychische 
Störungen der Geistesstörung vorangegangen sind. 
Sonst wird man in dem chronischen Alkoholmiss¬ 
brauch nur eine Hilfsursache für die Entstehung von 
Geistesstörungen (spec. chronisch paranoiden) sehen. 

Kalberlah (Halle): Ueber die acute Commo- 
tionspsychose, zugleich ein Beitrag zur Aetiologie des 
Korsakow’schen Symptomencomplexcs. 

Die unmittelbar und zeitlich untrennbar nach 
einer Gehirnerschütterung resp. dem auf dieselbe fol¬ 
genden Coma auftrctenden acuten geistigen Stö¬ 
rungen bilden ätiologisch und klinisch eine einheit¬ 
liche Gruppe, die sich vorwiegend durch qualitativ 
und quantitativ mannigfaltige Störungen des Gedächt¬ 
nisses charakterisiren und ihrer Ex- und Intensität 
nach sehr verschiedenartig zur Ausbildung kommen 


1 u n g e n. 

können. In der voll ausgebildeten Form erkennt man 
den auch nach anderen Schädlichkeiten auftretenden 
Korsakow’schen Symptomencomplex in seinen wesen- 
lichsten Zügen wieder. 

Pathologisch-anatomisch handelt es sich bei Ge¬ 
hirnerschütterung um einen organischen diffusen 
destructiven Prozess vorwiegend der Hirnrinde. 
Welche feineren, spezifischen organischen Verände¬ 
rungen dagegen den auf diesem Boden erwachsenden 
geistigen Störungen zu Grunde liegen, entzieht sich 
unserer Kenntniss. 

Tschirjew (Kiew): Ein Fall vollständig geheilter 
Blindheit (Hemianopsie). (Mit Abbildungen.) 

Bei einem 22 jährigen Studenten trat ca. 7 Jahre 
nach einem Sturz auf den Kopf eine Abnahme der 
Sehkraft beider Augen ein in Form der Hemianopsia 
sinistra, die allmählich fortschritt und auch auf die 
rechte Hälfte überging. Später traten noch hart¬ 
näckige Kopfschmerzen hinzu, blitzartige Schmerzen im 
linken Auge, Ameisenkriechen, Unfähigkeit längere 
Zeit zu stehen, Schwäche der rechten Körperhälfte und 
Fehlen der Patellarreflexe. Verf. nahm die allmähliche 
Entwicklung eines Glioms an (Lues und Tuberculose 
waren auszuschliessen) und erreichte durch tägliche 
Quecksilbereinreibungen und warme Bäder das 
Schwinden aller Krankheitserscheinungen. 

Brat z und Falke nberg (Wuhlgarten): Hysterie 
und Epilepsie. 

Verf. haben durch Nachprüfung von 2500 Krampf¬ 
kranken der Anstalt Wuhlgarten festgestellt, dass eine 
Hystero-Epilepsie als besondere Krankheitsform, die 
zwischen der Epilepsie und Hysterie steht, nicht an¬ 
erkannt werden kann. Stets gelang es nachzuweisen, 
dass entweder Epilepsie, oder Hysterie, oder Epi¬ 
lepsie und Hysterie Vorlagen. Eine einwandfreie 
Diagnose ist freilich in einzelnen Fällen nur bei ge¬ 
nauester Kenntniss der Anamnese und jahrelanger 
Beobachtung event. in einer Anstalt möglich. In 
zweifelhaften Fällen darf nicht zu viel Werth auf den 
einzelnen Anfall gelegt weiden, welcher nur die Be¬ 
deutung eines einzigen Symptoms hat. Entscheidend 
ist der Verlauf des Gesammtleidens. 

Ausserdem constatirten Verf., dass gar nicht selten 
ein getrenntes Nebeneinander-Vorkommen von Epi¬ 
lepsie und Hysterie bei demselben Kranken nach¬ 
weisbar ist (Neurosenaddition): unter 724 Anstalts¬ 
kranken (386 F. und 338 M.) litten 31 Frauen und 
7 Männer an Epilepsie und Hysterie. In den beob¬ 
achteten Fällen ging stets die Epilepsie der Hysterie 
voraus. 

A 1 1 (Uchtspringe) und Vors te r (Stephansfeld). 
Gutachten über die Bezirksirrenanstalt zu Saargemünd. 

Das ausführlich erstattete Gutachten kommt zu dem 
Resultat, dass in der im Jahre 1880 eröffneten An¬ 
stalt vielfache Reformen notwendig sind. Es wird 
u. A. empfohlen: das Niederlegen von Mauern, Be¬ 
pflanzen der Höfe, Offenlassen der Thüren, Verbesse¬ 
rung der Wasserzufuhr, die Abwässerung und die Be- 


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1904.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


3 11 


leuchtung, Errichtung von Neubauten ev. Einführung 
der Familienpflege, vermehrtes Heranziehen der 
Kranken zur Arbeit in den Werkstätten, Vermehrung 
und bessere Besoldung der Aerzte und des Pflege¬ 
personals, Verbesserung der eintönigen Kost und der 
gesammten Ausstattung. 

Arnemann - Grossschvveidnitz. 


Bibliographie 

über Kriminal-Anthropologie und Verwandtes. 

II. Quartal 1904. 

Von Medicinalrath Dr. P. Näcke in Hubertusburg 
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312 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 33 - 


D w i g h t: A separate Subcapitulum in both hands. 
Ibidem. 

Citelli: Süll* existenza di una cartilagine sopracri- 
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fologica. Ibidem, Nr. 10 u. 11. 

Stewart: The mental and moral effects of the 
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people. The Journal of Mental Science 1904, 
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crime in South Wales. Ibidem. 

Morse 11 i: In causa di allegata captazione di testa- 
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Oliva: Due casi di inversione sessuali. Annali di 
freniatria etc. 1904, Nr. 1. 

A ein eili: Le stimmate degeneratici negli „Uomi 
Illustri“ di Plusarca. Ibidem. 

Lener: II tatuaggio nei criminali, negli anarchici e 
nei pazzi. Racconigi, 1904. 

Schultze: Ueber Psychosen bei Militärgefangenen. 
Jena, Fischer, 1904. 276 S. 

T i 11 m a n n s: Zur Entstehung der angeborenen Sakral¬ 
tumoren mit besonderer Berücksichtigung der 
Spina bisida cystica. Deutsche Medicinische 
Wochenschrift 1904, Nr. 17. 

Carneri: Der moderne Mensch. 1904, Strauer. 

Gnauck-Kuhn e: Die deutsche Frau um die Jahr¬ 
hundertwende. Berlin, Liebmann, 1904. 

Goldenmeiser: Das Verbrechen als Strafe und 
die Strafe als Verbrechen. Leitmotive in Tolstoi’s 
„Auferstehung“. Berlin, Prager, 1904. 

E11 1 i n g e r: Untersuchungen über die Bedeutung 
der Descendenztheorie für die Psychologie. Köln, 
Bachem, 1904. 

Gaupp: Ueber den heutigen Stand der Lehre vom 
„geborenen Verbrecher“. Monatsschrift für Kri¬ 
minalpsychologie u. Strafrechtswesen, 1904, H. 1. 

Un cas de recidive remarquable. Archives d’an- 
thropol. crim. etc. 1904, avril. 

Quant er: Wider das 3. Geschlecht. Berlin, Ber- 
mühler. 

Berkhan: Ueber den angeborenen und früher¬ 
worbenen Schwachsinn. 2. Aufl. Braunschweig, 
Vieweg. 

Freud: Zur Psychopathologie des Alltagslebens, 
Berlin, Karger, 3 M. 

D rast ich: Leitfaden des Verfahrens bei Geistes¬ 
krankheiten und zweifelhaften Geisteszuständen 
für Militärärzte. I. Allgem. Teil. Wien, S afar. 

Böshagen: Ein Fall von Hypertrophie der linken 
Kopfhälfte. Diss. Bonn, 1903. 

Hochheim: Zur Casuistik der doppelseitigen con¬ 
genitalen Choanalatresien. Diss. Greifswald, 1903. 

Oppikofer: 3 Taubstummen-Labyrinthe. Diss. Basel, 
1903. 

v. Ujfalvy: Genealogie u. Anthropologie. Politisch- 
Anthropol. Revue, 1904, Mai. 

Ribbert: Die Vererbung von Krankheiten. Ibid. 


Blond: Morphinismus und Gesetzgebung. Ibidem. 

Fuld: Volksheilstätten u. Socialpolitik. Ibidem. 

Hirschfeld: Das Ergebniss der statistischen Unter¬ 
suchungen über den Procentsatz der Homosexu¬ 
ellen. Leipzig, Spohr, 1904. 68 S. 

Pactet: Sur les meurtres commis par des paraly- 
tiques generaux, ä propos d’un fait recent. Vor¬ 
trag. Nach Ref. in Revue de psvehiatrie 1904, 
Nr. 4. 

Cochy de Moncan: Contribution ä l’etude des 
stigmates de la criminalite. These de Paris 1904. 

Le Double: Traite des variations des os du eräne 
de Thomme et de leur signification au point de 
vue de l’anthropologie zoologique. Paris, Vigat, 
400 S. 

Smith: The fossa parieto-occipitalis. Joum. of anat 
and phys. 1904, p. 164. 

Weigner: Ein Beitrag zur Bedeutung des Gehim- 
gewichtes beim Menschen. Anatom. Hefte 1903, 
S. 67. 

da Costa Ferreira: La capacite du eräne et la 
proposion chez les Portugals. Bull, et Mem. d. 
1 . Soe. d’anthr. de Paris 1903, p. 417. 

Rosenfeld: Zur Frage der vererblichen Anlage zu 
Mehrlingsgeburten. Ztschr. f. Geburtsh. u. Gvnäkol. 
1903, H. 1.. 

Scholz, Friedrich: Die moralische Anaesthesie. 
Leipzig, Mayer, 1904. (Fortsetzung folgt ) 


Personalnachrichten. 

— Unser sehr verehrter Herr Mitherausgeber, 
Privatdocent Dr. Weygandt, wurde vom ärztlichen 
Verein zu München in der Generalversammlung vom 
12. X. zum korrespondirenden Mitgliede ernannt. 

— Die Stelle des leitenden Arztes an der Heil¬ 
stätte „Waldfrieden“ bei Fürstenwalde hat am 
15. X. Dr. med Danckwarth, vorher II. Arzt in 
„Tannenhof“, übernommen. 


Die bei empündlichen Patienten, daher besonders bei 
Geisteskranken und Neurasthenikern als Abführmittel wegen 
ihres angenehmen Geschmackes sehr empfehlenswerthen 
Kanoldt’schen Tamarinden, welche in der Hauptsache Apfel-, 
Wein- und Citronensäure enthalten, werden nach Angabe 
von C. Kanoldt’s Nachfolger (O. Reyher). Apotheker in Gotha 
nach folgendem Rezept hergestellt: 3,0 Apfel-Citronen-Wein- 
säure und Weinstein enthaltendes Tamarinden-Extrakt werden 
mit 0,25 kohlensaurer Magnesia, 0,5 entharztem Senna-Pulver, 
2,0 Zucker zur Latwerge gebracht, schmackhaft gemacht, mit 
2,0 Schokolade überzogen und darauf überzuckert, und sind 
um die Hälfte billiget als die Arzneitaxe zu berechnen ge¬ 
stattet. Sie erzeugen eine reiz- und schmerzlose Entleerung 
des Darmes, stören nicht nur nicht die Verdauung, sondern fördern 
sie und werden auch, wo wiederholter Gebrauch nöthig ist, 
gut vertragen. 


9 ^^ Dieser Nummer liegt ein Prospekt von 
J. D. Riedel, Chemische Fabrik, Berlin N. 39 
bei, worauf unsere Leser besonders hingewiesen seien. 


Für den redaction eilen Tluil verantwortlich: Oberar/t Dr. J. ÜresLc-r , Luhl.mt? (Schlesien). 

Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Heynemann’sche Buchdruckerei (Gebr. Wr’fft in Halle a. S. 


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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift. 

Redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. B realer, 

Lublinitx (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse: Marho Id Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834. 

Nr. 34. ~ 19. November. '_ 1904. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagshuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten. 


Die badische Volksnervenheilstätte. 

1. Organisation und Finanzirung der Badischen Volksheilstätte für Nervenkranke. 

Von Dr. Walter /'ttrAj-Emmendingen. 


1 ?s hat immerhin lange gewährt, bis im Gross- 
herzogtum Baden, dem sonst stets voraus¬ 
schreitenden, die Bestrebungen zur Errichtung einer 
Volksheilstätte für Nervenkranke sich zu einem ersten 
Ergebniss zusammengeschlossen haben, und auch 
jetzt noch sind die zur Verfügung stehenden Mittel 
erst bescheidene; die badischen Camegie’s verharre^ 
bisher in Heimlichkeit. Höchst erfreulich dagegen 
und geradezu vorbildlich ist das Mitrateu und Mittun 
der Staatsregierung; ihr ist es zu danken, wenn die 
Conferenz im Mai d. Js. umfassende Beteiligung fand 
und zur Gründung des Vereins ,,Badische Volksheil¬ 
stätte für Nervenkranke“ führte. Damit ist eine 
Instanz geschaffen, an welche der Staat und die 
Verbände ihre Zuschüsse abführen können, nun ist 
ein Centrum da, welches die Organisation leitet, 
Aufklärung in’s Volk trägt und Bau wie Betrieb 
der Heilstätte rasch, sachkundig und mit Sparsamkeit 
in die Wege lenkt. 

Eine Heilanstalt ist auf keinen Fall etwas Billiges. 
Man bedarf eines Grundstückes, und zwar eines 
nicht ganz kleinen, da wir keinen mehrstöckigen 
Block brauchen können, sondern nach modernen 
Principien detachirt bauen müssen, da ferner 
reichlich genügendes Gelände für Gartenarbeit und 
dergl. vorhanden sein soll. Zu der Bausumme 
gesellen sich die Kosten für die innere Ein¬ 
richtung. Und endlich kommen die Betriebs¬ 
kosten im weitesten Sinne des Wortes. 

Die verschiedenen Geldquellen, die für ein gemein¬ 
nütziges Unternehmen, wie die Nervenheilstätte, in 
Frage kommen können, sind der Staat, die Kreise, die 
Gemeinden, die Vereinigungen (j er Arbeiterschutz-Ge¬ 


setzgebung, die Einzelwohlthätigkeit und schliesslich die 
Anstalt selbst. Es fällt auf, dass die staatlichen Ver¬ 
bände als direkt unterstützende Faktoren sich bisher 
zurückgehalten haben. Nur das Grossherzogthum Baden 
hat die Verpflichtung zur Versorgung wie der Geistes¬ 
kranken so der Nervenkranken im Princip anerkannt, 
und wir dürfen hoffen, dass für die Nervenheilstätte 
eine nicht unerhebliche Unterstützung gewährt werden 
wird. Aehnlich verhält sich übrigens das Gross¬ 
herzogthum Sachsen - Weimar gegenüber der neuen 
Thüringer Nervenheilstätte. Die Kreise bezw. die 
Provinzen bleiben vorläufig auch noch abwartend; 
einzig die preussische Provinz Hannover hat seit 
kurzem eine eigene Provinzialheilstätte in Betrieb, 
und zwar in der klar ausgesprochenen Ejrkenntniss, 
dass eine solche, vorbeugend wirkende Anstalt die 
Zahl der Geisteskranken und damit die Ausgaben für 
die Irrenanstalten zu vermindern berufen ist. 

Die grossen socialen Institutionen dagegen 
stehen der Sache sympathischer gegenüber. Wir werden 
gleich sehen, mit welch hohen Beträgen namentlich 
die Landes - Versicherungs - Anstalten der privaten 
W o h 11 h äti g k e i t zu Hilfe gekommen sind. 

In der That ist es die letztere, die private 
Wohlthätigkeit, die den Hauptruhm in der 
Ncrvenheilstättenbewegung für sich in Anspruch nehmen 
darf, sowohl was frische Initiative, wie beharrliches 
treues Weiterarbeiten anbetrifft. In ausgezeichneter 
Weise hat sich das bei der Nervenheilstätte Haus 
Schönow in Zehlendorf bei Berlin bewährt, deren 
Erfolge und Erfahrungen uns für unseren Plan Muth 
und reiche Belehrung geben können. Die Gründer 
von Haus Schönow waren von vornherein entschlossen, 


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3i4 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 34 - 


sich an die private Wohlthätigkeit zu wenden. Aber 
freilich verfügte man von vornherein über ein ge¬ 
schenktes Gelände von 7 ha und über ein Kapital 
von 232000 M. Das war schon viel, wenn auch noch 
annähernd nicht genug; denn- man hatte sich auf 
eine Anstalt von 70—80 Kranken geeinigt, die aber 
bis zu 100 Plätzen erweiterungsfähig sein müsse. Da 
nun die hierfür nöthige Bausumme plus innerer 
Einrichtung auf 450000—500000 M. beziffert wmrde, 
so blieben noch weit über 200000 M. aufzubringen. 
Das ist in kurzer Zeit möglich gewesen: die 
Alters- und InvaliditätsVersicherungsanstalt zu Berlin 
gab dazu eine erststellige Hypothek von 200000 
Mark zu 3 Prozent, und hierzu addirten sich 
die Beiträge der Mitglieder des ad hoc ge¬ 
gründeten Vereins „Heilstätte für Nervenkranke 
Haus Schönow“: einmalige Beiträge von mindestens 
je 200 M. und Jahresbeiträge von mindestens je 6 M. 
Es blieb also nur noch die Sorge um die Betriebs¬ 
kosten inclusive der Kosten der Unterhaltung und 
Entwicklung, und die hat man sich leider entschliessen 
müssen durch die Pflegesätze zu decken. Haus 
Schönow nimmt für Kopf und Tag durchschnittlich 
4 M., bei nachgewiesener Bedürftigkeit allerdings nur 
3 oder 2 M., dagegen 7 bezw. 6 M. von bemittelteren 
Kranken in einer besonderen Abtheilung. Und zwar 
zahlten den vollen Pflegesatz im Jahre 1903 69,5% 
der Kranken und nur 30,5% wurden zu einem er- 
mässigten Pflegesatz behandelt. Freibetten besitzt 
Haus Schönow nur eins, erst neuerdings hat sich 
dazu noch ein 8 A-Freibett erstellen lassen. Das ist 
also für wirklich Bedürftige wenig tröstlich, trotzdem 
es nach dem Jahresbericht möglich war, bei Nachweis 
der Bedürftigkeit jedes Gesuch um Herabsetzung des 
Pflegesatzes zu berücksichtigen. Es ist dieser durch¬ 
schnittliche Pflegesatz auch unverhältnissmässig höher 
als beispielsweise in unseren Heil- und Pflegeanstalten, 
wo er auf noch nicht eine Mark pro Kopf und 
Tag sich beziffert. Dieses Missverhältnis muss 
schädlich genannt werden. Denn in den Nervenheil- 
stätten ersteht ja ein Instrument der Vorbeugung, 
welches mit der Zeit die Zahl der Seelenstörungen 
vermindern und die Staatsirrenanstalten entlasten soll, 
welches also durch eine zweimonatliche oder vielleicht 
auch viermonatliche Kur eine Irrenanstaltsversorgung 
von mindestens 9 Monaten, meistens aber von 
Jahren oder gar Jahrzehnten unnöthig machen kann. 
Hierbei sei bemerkt, dass Haus Schönow seine 
Kranken nach durchschnittlich nur 54 Tagen entlässt 
und trotzdem 75%, bei den Neurasthenikern sogar 
89% Heilungen resp. Besserungen hat. Aber das 
Gute allerdings haben die höheren Pflegesätze für 


Haus Schönow gehabt, dass diese Heilstätte den 
ganzen Betrieb incl. der Zinsen durch die laufenden 
Einnahmen zu decken vermochte. Ich fürchte, dass 
auch wir von dem Ideal der Wohlfeilheit manches 
werden streichen müssen. Jedenfalls würden Millionen 
nöthig sein, wollte man auch nur überwiegend Frei¬ 
plätze schaffen. 

Für die gedeihliche Entwicklung von Haus Schönow 
sprechen die Jahresberichte: der Verein hatte im 
vorigen Jahre 487 Mitglieder mit z. Th. sehr hohen 
Beiträgen. Seine Damengruppen verfügen über ein 
Kapital von über 10000 M. und ausserdem erheb¬ 
liche Baarmittel. Direkt geschenkt wurden: Das Geld 
zur Vergrösserung des Treibhauses, das auf 22 000 M. 
bewertete Grundstück für einen neuen Pavillon, zahl¬ 
reiche Werthgegenstände und baare Summen in 
Einzelgaben von hunderten von Mark; dazu kommen 
baare Zuwendungen von Magistraten, Gemeinden, 
Kreisen, Stiftungen, Ortsvereinen. Zwei Rechts¬ 
anwälte gewährten unentgeltlichen Rechtsbeistand. 
Abermalige Darlehen gaben die Kreissparkasse 
und die Landes Versicherungsanstalt in Höhe von 
80000 und 100000 M. Sehr schön ist es, dass 
man auch an die Schaffung eines Pensionsfonds für 
langjährige Pflegeschw’estem hat herangehen können. 
So dürfen wir sagen, dass die Heilstätte „Haus 
Schönow“ in vorbildlichem und beneidenswertem Flor 
steht, und zwar ohne jegliche Staatsbeihilfe. 

Die anderen Neuschöpfungen der Art haben sich 
zum Theil anders organisirt. 

Das Provinzial-Sanatorium für Nervenkranke „Rase¬ 
mühle“ bei Göttingen ist wie gesagt eine Einrichtung 
der Provinz Hannover und damit in der Lage, seine 
Kranken zu täglichen Pflegesätzen von 4 M. in der 
1. und 2,50 M. in der 2. Klasse zu verpflegen. Das 
ist also billiger als Haus Schönow, aber wahrscheinlich 
wird, so schreibt mir der leitende Arzt, ein 
kleiner jährlicher Zuschuss nöthig sein. Die Anstalt 
ist erst vorigen Herbst eröffnet worden, es fehlt also 
noch an gründlichen Erfahrungen. 

Besonders interessant und in mancher Hinsicht 
vorbildlich ist die Bewegung, die in der Rheinprovinz 
für die Nervenheilstättensache mit grosser Energie 
und Kapitalkraft eingesetzt hat Hier hat sich nach 
einer constituirenden Versammlung eine Gesellschaft 
mit bcschr. Haftung gebildet, mit einem aus den 
volleingezahlten Stammeinlagen bestehenden Stamm¬ 
kapital von ursprünglich 61000 M., seit November 
vorigen Jahres 121000 M.. Diese Gesellschaft will 
„Heilstätten für würdige und bedürftige Nervenkranke 
aus den minderbemittelten Klassen, vornehmlich aus 
dem Arbeiterstand der Rheinprovinz“ errichten. An 


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I 9°4- 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


3i5 


Geldgeschenken stehen ihr 24000 M. zur Ver¬ 
fügung, den weiter erforderlichen Beitrag zur Bau¬ 
summe bis zur Höhe von 600000 M. (also ca. 
480000 M.) hat der Vorstand der Landesversicherungs¬ 
anstalt Rheinprovinz gegen 3 % Zinsen und 1 °/o Amor¬ 
tisation darlehnsweise hergegeben. Ein Grundstück 
von 100 Morgen im Werte von ca. 40000 M. ist 
der Gesellschaft geschenkt worden. Das alles ist 
heute schon, ein Jahr nach jener constituirenden 
Konferenz, erreicht und fertig. Die Tilgung der 
Betriebskosten, Zinsen und Steuern ist durch die 
Pflegesätze gedacht, eine Gewährung von Freistellen 
nicht beabsichtigt Der Pflegesatz pro Tag und Kopf 
beträgt voraussichtlich 3,50 M. Das Hauptkontingent 
von Nervenkranken wird wohl die Versicherungsanstalt 
liefern. Beachtenswerth sind einige Bestimmungen 
des Statuts: „der Ueberschuss der Aktiva über die 
sämmtlichen Passiva, letztere einschliesslich des Grund¬ 
kapitals, des Reservefonds, etwaiger Emeuerungsfonds 
und Stiftungsfonds bildet den Reingewinn. Der er¬ 
mittelte Reingewinn ist einem Reservefonds gutzu¬ 
schreiben, bis solcher die Höhe von 25% des 
Stammkapitals erreicht hat. Von da ab kann eine 
auf höchstens 2% jährlich sich bemessende Verzinsung 
stattfinden. Wieviel von dem Buchwerth der Im¬ 
mobilien, Mobilien und Aussenstände abgeschrieben 
werden soll, beschliesst der Aufsichtsrath.“ 

Besonders beachtenswerth bei dieser kraftvollen 
Unternehmung ist ihre Entstehung gerade in der 
industriell so blühenden Rheinprovinz und die Ziel¬ 
klarheit, mit der gleich eine Vielheit von Nerven- 
heilstätten als erstrebensbedürftig ins Auge ge¬ 
fasst ist. 

Noch mehr an eine Aktiengesellschaft erinnert 
die in der Schweiz sich bildende Colonie Friedau, 
bei welcher der Schöpfer der ganzen Nervenheilstätten- 
bewegung, Möbius, persönlich betheiligt ist. Dieser 
Verein „Colonie Friedau“ konstituirt sich aus ordent¬ 
lichen Mitgliedern, die mindestens einen verzins¬ 
lichen Anteilschein zu 100 Fr. erwerben, und 
aus ausserordentlichen Mitgliedern mit einem Jahres¬ 
beitrag nicht unter 5 Fr. Ein grosser Theil des 
Geldes wird in Grund und Boden angelegt, ist also 
gesichert, während Zinsen nicht sofort zu erwarten 
sind. Es handelt sich, wie Möbius sagt, um beschränkte 
Wohlthätigkeit. Der Verein errichtet eine alkohol¬ 
freie Genossenschaft, die geistesgesunde Nervenkranke 
und leichter Alkoholkranke umschliessen soll. 

Die Aufgabe, Volks-Nervenheilstätten zu errichten, 
ruft uns also nicht vor ein Experiment in’s Dunkle 
hinein. Es handelt sich erwiesenermaassen um eine 
notwendige, nützliche und zugj e jch dankbare Auf- 

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gäbe, für die deshalb auch viel und gern gegeben wird. 
Die Resultate, die andere vor uns schon erzielt haben, 
müssen wir prüfen und das Beste daraus für uns 
verwerten. 

Was das Anstaltsgrundstück betrifft, so würde es 
das billigste sein, wenn auch wir es uns schenken Hessen. 
Sollten wir es kaufen müssen, so wäre zu bedenken, 
dass Grundstücke in der Nähe grösserer, hilfsquellen¬ 
reicher Städte teurer sind, als solche in ländlicher 
Einsamkeit. Andererseits hätte man bei letzteren 
weniger Aussicht auf Erleichterung der Zufuhr, An¬ 
schluss an Wasser- und Beleuchtungsanlagen und 
Aehnliches, sodass der ursprüngliche Nutzen sich mit 
der Zeit in’s Gegenteil verkehren könnte. Jeden¬ 
falls muss ein in jeder Beziehung möglichst billiger 
Platz, allerdings unbeschadet vitaler sonstiger Ge¬ 
sichtspunkte, gewünscht werden. Es ist ferner zu 
wünschen genügende, d. h. reichliche, namentlich für 
Gartenbau raumgebende Grösse und ergiebige Boden¬ 
art. Davon hängt der Ertrag der Arbeitstherapie ab 
und somit die Höhe der Einnahmen, wie der Grad 
der Herabminderung der Ausgaben. 

Die Bausumme würde aus Einzelgaben der 
privaten Wohlthätigkeit und aus den Vereinsbeiträgen 
sich combinieren müssen. Die Letzteren wollen wir, 
um weiteste Betheiligung zu gewinnen, auf 200 M. 
Mindesteinzelbeitrag und 6 M. Mindestjahresbeitrag 
festsetzen. Auch an Ausgabe von Obligationen nach 
Muster Kolonie Friedau würde zu denken sein. 

Bei genügender Betheiligung und genügendem 
Opfersinn könnte das eine stattliche Summe aus¬ 
machen. Ueberdies planen wir die Abhaltung von 
Wohlthätigkeitsbazaren in den grösseren Städten des 
Landes und werden uns auch nicht scheuen, durch 
Wandervorträge für die gute Sache zu wirken und zu 
werben, soweit das Beruf und Dienst uns erlauben. 
Endlich könnte man eine Lotterie in’s Auge fassen. 
Es wird indessen wohl nicht mehr als recht und 
billig sein, auch bei uns in Baden die Hilfe der 
Landesversicherungsanstalt anzurufen, die in 
Form von ersthypothekarisch gesicherten Darlehen sich 
zu betheiligen haben würde. Auch die Stadtgemeinde, 
auf deren Terrain die Anstalt etwa zu liegen käme, 
würde hoffentlich pekuniäre Beihülfe leisten. Hierfür 
freilich fehlt uns noch jede Gewähr. Dagegen dürfen 
wir eine baare staatliche Beihülfe, vielleicht bis zu 
v 8 des Bauaufwandes, wohl bestimmt erwarten. Hier¬ 
her gehört auch die Frage nach der Stellungnahme 
der Kreise. Bekanntlich haben nicht alle Kreise 
eigene Kreispflegeanstalten und wenn, so werden 
diese nicht nach gleichen Gesichtspunkten geleitet. 
In dieser Ungleichartigkeit, die von erfahrenen Kreis- 

Original frnm 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 34. 


3i6 


anstaltsleitern selbst am meisten empfunden wird, 
liegt etwas Rückständiges, unter dem sowohl die 
Pflegebedürftigen, wie auch die Kreise und Communen 
leiden müssen. Das könnte einigermaassen ausge¬ 
glichen werden bis zur späteren gründlichen Regelung 
durch eine zielbewusste Betheiligung der Kreise 
an der Nervenhei lstättengründ ung. 

Bei der Frage der Betriebskosten haben 
wir gesehen, dass Haus Schönow diese aus dem 
Pflegesatz, der aber durchschnittlich 4 M. hoch 
ist, reichlich bestreitet, dass dagegen die „Rasenmühle“, 
deren Kranke zu 8 / 4 nur 2,50 M. und nur zu 1 / i 
4 M. bezahlen, auf einen Zuschuss sich gefasst 
macht. Auch wir werden also, wenn wir es nicht 
besser treffen sollten wie unsere Paradigmata, an 
eine sehr billige Nervenkur nicht denken dürfen. 
Das ist im Interesse der minderbemittelten Nerven¬ 
kranken noch mehr zu bedauern als in dem der gar- 
nicht bemittelten; für die findet sich schliesslich eine 
Versicherungsanstalt, Krankenkasse oder dergleichen, 
welche bezahlt, für die Minderbemittelten aber, die kleinen 
Beamten, Kaufleute, Professionisten, Lehrer und sehr 
viele Frauen nicht. Hier ist nun, wie ich glaube, 
ein Punkt, wo die Grossherzogliche Staatsregierung werk- 
thätig helfen könnte. Falls staatlicherseits als 
Zuschuss zu den Betriebskosten ein jährlicher Bei¬ 
trag zugesichert würde, dann könnten wir, je 
nach dem, eine grössere oder geringere Zahl von 
halben oder viertel Freistellen für jene eines Schutz¬ 
gesetzes noch entbehrenden Nervenkranken an der 
künftigen Anstalt schaffen. Eine ganz unentgeltliche 
Behandlung unterliegt gewissen Bedenken, wird auch 
im Allgemeinen nicht nöthig sein, kann ja aber für 
bedürftige Kranke jederzeit gewährt werden. Wenn 
wir die Kurzeit, natürlich ohne bindende Limitierung 
für den Einzelfall, auf 60 Tage bemessen, so könnten 
bei 12 000 M. jährlichem Staatszuschuss 50 Kranke 
unentgeltlich, 100 bezw. 200 zum halben oder viertel 
Pflegesatz Aufnahme finden. Etwas Aehnliches an 
zuverlässiger Stütze besitzen die anderen Nervenheil- 
stätten noch nicht. 

Vielleicht könnten wir aber noch in etwas anderem 
uns vorbildlich zeigen. Wie aus den Haus Schönower 
Berichten hervorgeht, figurieren in der Betheiligung 
an der Zuführung von Kranken ausser den Landes¬ 
versicherungsanstalten noch eine ganze Reihe anderer 
Institutionen, wie Eisenbahndirektionen, Armendkek- 
tionen, Ortskrankenkassen, Berufskrankenkassen, mit 
relativ hohen Ziffern — ein Beweis für das grosse, 
im allgemeinen stabile und höchstens noch wachsende 
Bedürfniss. Falls nun die entsprechenden Ver¬ 
einigungen bei uns, unter denen ich die Berufsver¬ 


bände nicht vergessen möchte, je nach ihrem zu be¬ 
rechnenden Durchschnitts-Bedürfniss sich an der 
Finanzierung unseres Unternehmens betheiligten, statt 
auf jeden einzelnen Fall des Bedürfnisses zu warten, 
so wäre das eine gewichtige Unterstützung und 
doppelt erfreulich deshalb, weil diese Verbreiterung 
unserer pekuniären Basis zugleich eine grosse Ver- 
volksthümlichung des Heilstättengedankens bedeuten 
würde. Ganz und gar im Sinne das Gesetzes würde 
es sein, wenn die grossen Summen, welche die Re¬ 
servefonds der Kassenverbände darstellen, zum 
Teil als Hypothekendarlehen für Volksnervenheil- 
stätten Verwendung fänden. 

Die Einnahmebilanz unserer präsumptiven Heil¬ 
stätte wird, das dürfen wir mit Sicherheit Voraussagen, 
eine feste Stütze in den Erträgnissen der Arbeit 
unserer Pfleglinge finden. Haus Schönow blickt auf 
die besten Nutzerfolge. Die Arbeitsprodukte dienen 
dem Betrieb der Anstalt, werden auch zum Theil an 
Kranke und an Freunde der Heilstätte verkauft Betrieben 
wird Gartenarbeit, Schreinerei, Schnitzen, Buchbinden, 
Haushalt, Hausarbeit, Bürstenmacherei, Bureauarbeit, 
Photographieren. Zu erwägen wäre, ob wir nicht mit 
einer höchst praktischen Einrichtung, zu der Haus 
Schönow jetzt erst gelangen will, gleich von vorn¬ 
herein beginnen sollen, nämlich mit einem besonderen 
Arbeitsbetrieb ausserhalb der eigentlichen Heilstätte, 
also einer Zwischenstation zwischen Heilstätte und 
selbständiger Stellung im Erwerbsleben. Der Kranke 
würde hier einige Monate noch, zwar ohne beständige 
ärztliche Aufsicht aber in verbürgt hygienischen 
Lebensverhältnissen, seine Kräfte üben können; er 
würde vollen Lohn für seine Arbeit erhalten, aber 
auch die Kosten seiner Verpflegung selbst tragen. 
Gärtnerei und Schreinerei haben sich als besonders 
nützlich erwiesen, sowohl finanziell, wie therapeutisch. 
Wenn die Einrichtungskosten nicht oder nur zum 
kleinsten Theil zu verzinsen sind, kann man mit 
ziemlicher Sicherheit darauf rechnen, dass die Unter¬ 
haltungskosten einer reichlich und vollkommen aus¬ 
gestatteten Gärtnerei durch den Betrieb voll gedeckt 
werden. 

Die Schreinerei allein produciert in Haus Schönow 
im Werthe von 1600 M., das entspricht fast genau den 
Ausgaben für sämmtliche Gewerke zusammen; unter 
anderem wurden 162 Stühle für’s Haus im Werthe 
von 1167 M. angefertigt. Auch die Gärtnerei brachte 
reiche Erträge, die grösstentheils in der Heilstätte ab¬ 
gesetzt wurden. Wir in der H eilanstalt Emmen¬ 
dingen haben aus einem Gemüsegarten von 3 ha 
16 ar in den letzten drei Jahren Gemüse erzielt im 
Werthe von zusammen 22 865 M., im Durch- 


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1904 .] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


schnitt also 7621 M. jährlich. Das sind auf 
Hektar und Jahr berechnet über 2400 M.! Aller¬ 
dings ist das der beste Boden, den wir in Emmen¬ 
dingen haben. 

Zur Zeit, da noch so wenig Sicherheit für 
Fundamentirung wie Hochbau unserer Heilstätten¬ 
gründung gegeben ist, wird man eine detaillierte 
Kostenberechnung nicht verlangen. Wir dürfen aber 
wohl auf die mehrjährigen Erfahrungen von Haus 
Schönow hinweisen, die mutatis mutandis bei unserm 
verwandten Unternehmen sich wiederholen werden. 
Zu dem schon gesagten sei noch ergänzend berichtet, 
dass die Betriebskosten, auf die es später ankommen 
wird, von 93000 M. bei 22 270 Verpflegungstagen 
im Jahre 1900 auf über 115 000 M. bei 27668 
Verpflegungstagen im vorigen Jahre angewachsen sind. 
Das macht auf den Tag etwas mehr als 4 M. 
Wenn wir überlegen, was alles zu den Betriebskosten 
gehört: die verschiedenen Zinsen, die ganze Kranken¬ 
behandlung, Beköstigung, Extradiät, Bekleidung, 
Wäsche, Betrieb und Instandhaltung des Hauses, 
Ausgaben für den Arbeitsbetrieb, Belohnungen und 
Unterstützungen, Löhne und Gehälter, wobei wir 
nicht knausern dürfen, insbesondere auch das Wart¬ 
personal und den selbständigen ärztlichen Direktor 


317 


reichlich und standesgemäss honorieren müssen —, 
wenn wir diese Fülle der Ausgaben schätzungsweise 
berechnen, so werden auch wir mindestens den Satz 
von 4 M. Kosten pro Tag und Kopf veran¬ 
schlagen müssen. 

Es ist nicht zu bestreiten, dass das Ziel, das wir 
erstreben, grosse Opfer und Kosten erfordert, denn 
auch der Krieg gegen die Krankheiten ist ohne Geld 
und wieder Geld nicht aussichtsvoll zu führen. Fürst 
Bismarck, der grosse Socialstratege, hat das wohl 
gewusst und daher die Instrumente seiner Social¬ 
politik, die Berufsgenossenschaften, Versicherungsan¬ 
stalten und Krankenkassen finanziell kampffähig 
fundirt. Die runde Milliarde, über die die drei ge¬ 
nannten Arten von Institutionen schon im Jahre 1900 
verfügten, kann als Kriegsschatz mächtig genug genannt 
werden. Und dass diese Summen wechselnde, nur 
vom praktischen Bedürfniss abhängige Verwendung 
finden dürfen und sollen, das ist ausgesprochen 
durch die Rubrik über die Nothwendigkeit besonderer 
Behandlungsmaassnahmen, die die Möglichkeit einer 
Weiterentwicklung der staatlichen Krankenfürsorge 
parallel mit dem Weiterschreiten der ärztlichen Er¬ 
kenntnis und der ärztlichen Kunst gesetzlich sicherstellt. 


Mitthei lungen. 


— Oesterreich. Wenn man von der Südbahn¬ 
strecke oder noch besser über Speising und Lainz 
gegen Wien fährt, so sieht man das Häusermeer 
gegen Nordosten durch das waldbekränzte Mittel¬ 
gebirge des Wiener Waldes umsäumt, darunter den 
Galizinberg mit dem neuerbauten Schlosse des Erz¬ 
herzogs Rainer und seinen im dichten Waldesgrün 
verstreuten Villen. 

Der Galizinberg fällt gegen Südosten sanft ab; 
hier sind geräumige Wiesenflächen, welche bisher 
der Tummelplatz der Jugend von Ottakring, in den 
Abendstunden aber auch der Sammelort für manche 
lichtscheue Elemente gewesen sind. 

Seit einiger Zeit herrscht auf diesen Plätzen 
reges Leben; ein Gewirre von Strassenzügen durch¬ 
schneidet das Terrain nach allen Richtungen, Loko¬ 
motiven keuchen, lange Material züge hinter sich 
schleppend, den Berg hinan, und von der Höhe er¬ 
tönt das kreischende Geräusch einer Maschine, 
welche die im nahen Steinbruche gewonnenen Steine 
zu Schotter und Sand zermahlt. 

Hier ist der Bauplatz für die neue Wiener 
Irrenanstalt oder vielmehr für die drei neuen 
Anstalten, welche als Ersatz für die der Demolirung 
anheirafallende alte Irrenanstalt am Brünnlfelde ge¬ 
schaffen werden. 

Der Neubau des k. k. allgemeinen Krankenhauses 
auf der Area der Irrenanstalt und des Versorgungs- 

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hauses, hat bereits die Verlegung des letzteren aus 
der Spitalgasse zur Folge gehabt. Nunmehr ist die 
Reihe an der Irrenanstalt, die in neuer, wesentlich 
veränderter Form auf den sogenannten „Spiegel¬ 
gründen“ am Galizinberge erstehen wird. 

Die neue Anstalt wird sich aus drei Th eilen, einer 
Heilanstalt, einer Pflegeanstalt und einem Pensionate 
zusammensetzen und im ganzen für 2000 Kranke 
Raum bieten, doch sind die Wirtschaftsgebäude, 
insbesondere die Küche und Wäscherei, in so reich¬ 
licher Weise angelegt, dass die Pflegeanstalt noch 
eine bedeutende Erweiterung erfahren kann. 

Man hat geglaubt, dass mit der Errichtung der 
neuen Irrenanstalt in Mauer-Oehling der Gipfel 
des Schönen und Zweckmässigen für eine Irrenanstalt 
erreicht worden sei, die Pläne für den Neubau der 
Wiener Irrenanstalt zeigen aber, dass es auch darin 
noch eine Steigerung giebt und steht man be¬ 
wundernd vor den Plänen des Riesenwerkes, welches 
mit dem Baue dieser Anstalt geschaffen werden wird. 

Vor allem imponirt der kolossale Grundbesitz der 


neuen Anstalt, welcher ein Ausmaass 

von rund.I 440000 qm 

aufweist. 

Hiervon werden eingefriedigt circa 1 070000 „ 
die eigentliche Anstaltsarea beansprucht 660000 „ 

wovon verbaut sind. 445000 „ 

die geschlossenen Irrengärten umfassen 230000 „ 


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318 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 34. 


die offenen Parkanlagen .... 284500 qm und halbruhige Sieche und einen Pavillon für geistes- 

Strassen, Wege und Plätze rund . . 100000 „ kranke Verbrecher. 

Auf diesem Komplexe werden etwa 60 Gebäude An ein« zweite, im spitzen Winkel zu der Haupt- 
von zum grössten Theile sehr ansehnlichen Dirnen- achse verlaufenden Seitenachse gliedert sich das 
sionen aufgeführt. Pensionat, welches für 300, den vermögenden Stän- 

Die Krönung der ganzen Anlage wird eine Kirche den angehörende Geisteskranke eingerichtet wird und 
mit einem Fassungsraume für 500 Personen bilden, an Bequemlichkeit und Geschmack die Einrichtungen 
deren vergoldete Kuppel als ein neues Wahrzeichen aller bestehenden Sanatorien übertreffen soll. 

Wiens in weite Fernen hinausleuchten wird. Das Pensionat wird enthalten: 2 Pavillons für 

Die Mittelachse der neuen Anstalt bilden das Aufnahme und Halbruhige, 2 offene Pavillons, 2 so- 



fllriin Allgemeinr Anlagen. flU Heilanstalt Pflegeanstalt i 1 Pensionat. 


LAGEPLAN für den Bau der n.-ö. Landes-Heil- und Pflegeanstalten für Geisteskranke in Wien. 
Allgemeine Anlagen: AA, Pförtnerhäuser. BB t Beamten-Wohnhäuser. C Direktionsgebäude D Gesellschaftsbaus. 

E Küche. F Kirche. K Leichenhaus. L Pferdestall und Wagenremise. M Wirthschafts wohn haus. N Schweinestall und 
Brückenwage. O Beschäftigungshaus. P Wäscherei und Bäder. Q Kesselhaus. R Glashäuser und Gärtnerei. 
Heilanstalt: l, 2* Aufnahme. 3, 4, 8, 9, 12 Halbruhige. 5, 6, 11, 14 Unruhige. 7, 10 Ruhige. 
Pflegeanstalt:'13, 16 Ruhige. 15, 18, 20, 21 Pflegebedürftige und Bettlägerige. 17, 24 Unruhige Pflegebedürftige und halb¬ 
ruhige Sieche. 19, 22 Tuberkulose und Infektionskranke. 23 Kriminelle Kranke. 

Pensionat: G Verwaltungsgebäude. H Kurhaus. J Küche. 25, 26 Offene Pavillons. 27, 28 Aufnahme und Halbruhige. 
29, 30 Gesellschaftshaus. 31, 32 Unruhige Unreine. 33, 34 Unreine Sieche. 

* Die Krankenhäuser mit ungeraden Nummern für Männer, die geraden fiir Frauen. 

Directionsgebäude mit den Wohnhäusern für Aerzte genannte Gesellschaftshäuser, 2 Pavillons für unruhige 

und Beamte, das Gesellschaftshaus zur geselligen Ver- und unreine Kranke, Pavillons für unreine Sieche 

einigung der leichter Kranken, die Küche und und ein Kurhaus mit hvdro-, elektro- und raechano- 

Wäscherei und obenan die Kirche. Die rechts von therapeutischen Einrichtungen, Dampf-, Schwitz-,, 

der Mittelachse gelegenen Gebäude dienen zur Unter- Douche- und Vollbädern, Massageräumen, Sonnen¬ 
bringung von Frauen, die links befindlichen für Männer. bädern etc. 

Die untere zweite Reihe von Häusern bildet die Ausserdem enthält der Anstaltskomplex 2 Pavil- 
Heilanstalt, die obere die Pflegeanstalt. Ions für tuberkulöse Kranke, ein Beschäftigungshaus, 

Die Heilanstalt enthält zwei Aufnahmegebäude, ein Leichenhaus, Bad und Wäscherei, ein Kesselhaus, 

5 Pavillons für halbruhige, 4 Pavillons für unruhige Gewächshäuser, Pförtner- und Gärtnerhäuser, Wirth¬ 
und 2 Pavillons für ruhige Kranke. schaftswohnhäuser, Stallungen für Pferde und Schweine, 

Die Pflegeanstalt enthält 4 Pavillons für pflege- Wagenremisen etc. 
bedürftige, Pavillons für unruhige, pflegebedürftige Längs der Einfriedung der Anstalt wird die zu- 

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1904.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


319 


künftige neue Gürtelstrasse, der Gürtelring, laufen, 
der von der elektrischen Tiamway befahren wird. 

Die Stadt Wien, die an Wohlthätigkeitsanstalten 
so manches aufzuweisen hat, und erst kürzlich durch 
das Versorgungsheim im XIII. Wiener Gemeind e- 
bczirke einen neuen, grossartigen Musterbau erlangte, 
wird mit den neuen Heil- und Pflegeanstalten für 
Geisteskranke — wie in Abänderung des veralteten 
Titels Irrenanstalt die neue Anstalt heissen soll — 
eine Sehenswürdigkeit mehr erlangen. 

Eine heute noch wenig nutzbare Gegend wird 
in prächtiger, das Stadtbild dauernd verschönernder 
Weise umgestaltet und was besonders hervorgehoben 
werden muss, es wird durch die geplanten gross¬ 
artigen Parkanlagen ein Luftreservoir geschaffen, das 
für den so dicht bevölkerten Bezirk Ottakring einen 
nicht zu unterschätzenden Vortheil bedeutet 

Die Baukosten für die neue Irrenanstalt sind mit 
18 Millionen Kronen veranschlagt, wovon 13 Millionen 
durch den Kaufschilling für die alte Wiener Irren¬ 
anstalt gedeckt sind, während die restlichen 5 Mil¬ 
lionen durch ein Darlehen beschafft werden, dessen 
Verzinsung und Amortisation der Betrieb des Pen¬ 
sionates reichlich zu decken verspricht. 

Das Programm für den Bau dieser Anstalt ist 
durch ein Comite entworfen worden, welches, unter 
Vorsitz des Landesausschusses Steiner, aus folgen¬ 
den Fachleuten und zwar: 

Landes - Ober - Inspectionsrath Gerenyi, Irrenan - 
stalts-Directoren Regierungsrath Dr. Tilkowsky und 
Dr. Starlinger und Ober-Verwalter Bertgen bestand. 

Als technischer Beirath dieses Comites fungirte 
n. ö. Landes-Ober-Baurath von Boog, welcher auch 
die gesammten Pläne mit Ausnahme des Kirchen¬ 
projektes entworfen hat. 

Demselben leisteten k. k. Ober-Baurath Professor 
Wagner und der als Autorität auf dem Gebiete des 
Stadtregulirungswesens bekannte Bau-Inspector Golde- 
mund bei der Anlage der Hauptdispositionen der 
Gebäude künstlerische Beihilfe. 

Das Kirchenprojekt stammt im Grossen und Ganzen 
von Professor Otto Wagner. 

Die Anstaltskirche verspricht in der Kunstge¬ 
schichte eine besondere Rolle zu spielen, weil es 
sich um den ersten Fall der Anwendung des 
modernen Stiles auf einen grösseren Kirchenbau 
handelt. 

Zur Wahrung der liturgischen Forderungen bei 
diesem Kirchenbaue hat das fürsterzbischöfliche Ordi¬ 
nariat über Ersuchen des niederösterreichischen Lan¬ 
desausschusses den Professor an der theologischen 
Fakultät der k. k. Universität, Hofkaplan Dr. Swoboda, 
eine bekannte Kapazität auf dem Gebiete der kirch¬ 
lichen Kunst, delegirt, welcher im Einvernehmen mit 
Professor Wagner bei der Ausarbeitung der Details 
für die innere Ausschmückung der Kirche thätig war. 

Grundsteinlegung für die neue Wiener 
Landes-Heil- und Pflegeanstalt für Geistes¬ 
kranke. Trotz des strömenden Regens, der seit 
den frühesten Morgenstunden niederging und Strassen 
und Wege grundlos machte, fand am 27. September 
die Feier der Grundsteinlegung hn Beisein Seiner 


Majestät des Kaisers programmmässig statt. Pünkt¬ 
lich um 10 Uhr erschien der Kaiser und wurde am 
Portale des Festplatzes durch den Landmarschall, 
durch den Landesausschussreferenten Steiner, die 
Minister, die Chefs der Centralstellen, die Landes¬ 
chefs und die Generalität empfangen. Nach einer 
Ansprache des Landesmarschalls, Prälat Schmolk, 
der einen Rückblick auf die Zeit von der Eröffnung 
des Wiener Irrenhauses am 19. April 1784 bis zur 
Gegenwart gab und der zukünftigen Anstalt einige Worte 
der Weihe widmete, und nach einer kurzen Er¬ 
widerung des Kaisers verlas Herr Landesausschuss 
Steiner die Grundsteinlegungsurkunde, welche fol¬ 
genden Wortlaut hatte: 

„Im Jahre des Heils 1904, im 56. Jahre der 
glorreichen Regierung Seiner k. und k. Apostolischen 
Majestät Franz Josef I., Kaiser von Oesterreich, 
Apostolischer König von Ungarn etc., am 27. Tage 
des Monats September ward dieser erste Stein zu 
einem mächtigen Baue, bestimmt zur Pflege und 
Heilung leidender Menschen der niederösterreichischen 
Landes-Heil- und Pflegeanstalt für Geisteskranke in 
Wien, in den Grund gelegt. Da das bisherige den 
gleichen Zwecken dienende und seit einem halben 
Jahrhundert (1853) bestehende Gebäude der nieder» 
österreichischen Landes-Irrenanstalt im 9. Bezirke der 
Stadt Wien dem Baue anderer grossen Wohlfahrts¬ 
anstalten , der medicinischen Unterrichtskliniken, 
weichen muss, seine Mauern deshalb der Demolirung 
anheimfallen, so wird die seit 1865 in der Ver¬ 
waltung des Landes Niederösterreich unter der Enns 
stehende Landes-Irrenanstalt in Wien in erweiterter, 
allen Anforderungen der Wissenschaft, Hygiene und 
Humanität entsprechender Ausgestaltung an dieser 
neuen Städte im 16. und 13. Bezirke der Stadt 
Wien sich erheben. Möge auch dieser Neubau unter 
dem Schutze und Segen des Allmächtigen stehen, 
möge er glücklich begonnen und ebenso glücklich 
vollendet werden, und so kommenden Jahrhunderten 
zum Zeugnisse dienen von der Opferfreudigkeit, 
mit welcher der Staat, das Land und die Stadt 
Wien zu seiner Errichtung zusammen gewirkt haben. 
Urkund dessen die allergnädigste Unterfertigung 
Seiner k. und k. apostolischen Majestät, welche über 
allerunterthänigste Bitte des Landmarschalls und des 
Landesausschusses des Erzherzogthums Oesterreich 
unter der Enns geruhte, die heutige Feier durch 
allergnädigst Ihre Gegenwart auszuzeichnen; ferner 
die Unterfertigungen der nachstehenden höchsten 
Mitglieder des allerhöchsten Kaiserhauses, der hoch¬ 
ansehnlichen Würdenträger, welche an dieser Feier 
theilgenommen, sowie des Landmarschalls und des 
Landesausschusses des Erzherzogthums Oesterreich 
unter der Enns!“ 

Nach Verlesung der Urkunde richtete Landes¬ 
ausschuss Steiner an Seine Majestät die Bitte, die¬ 
selbe zu unterfertigen. Nach der Fertigung der Ur¬ 
kunde durch den Kaiser wurde dieselbe in eine 
Glaskapsel und diese in eine reich verzierte Metall¬ 
kapsel gelegt. Zwei Spengler in altdeutscher Tracht 
verlöteten die Kapsel, die sodann in die für die 
Einlagerung der Urkunde bestimmte Nische gelegt 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 34. 


wurde. Zwei Maurer verschlossen die Nische mit 
dem Grundsteine und mauerten dann denselben ein. 

Während dieser Zeremonie sang der Männer¬ 
gesangverein Beethovens „Die Ehre Gottes“ und den 
Chor „Veni sancte spiritus“. 

Hierauf erfolgte die Vorstellung des Landesaus¬ 
schusses Steiner, des Oberinspectionsrates Gerenyi 
und des Bauleiters Ingenieurs Woraczek. Landesaus¬ 
schussreferent Steiner erörterte nun die Baupläne. 

Der Kaiser sprach seine Anerkennung aus und 
bemerkte, dass ihm die Dispositionen ausserordentlich 
glücklich zu sein scheinen. Hoffentlich werde diese 
herrliche Anstalt ihren Zweck voll erfüllen. Zum 
Schlüsse dankte der Landmarschall dem Kaiser für 
sein Erscheinen am heutigen Tage und richtete an 
die Anwesenden die Aufforderung, ihrer Ehrfurcht 
und Liebe für Seine Majestät durch ein dreifaches 
Hoch- Ausdruck zu verleihen. Unter den brausenden 
Hochrufen der Festgäste und der angesammelten 
Menge verliess der Kaiser nach mehr als halbstün¬ 
digem Aufenthalt den Festplatz. 

— München. Am 7. November wurde die neu¬ 
errichtete psychiatrische Klinik offiziell eröffnet 
und ihrer Bestimmung übergeben. 


Referate. 

— Dr. Georg Ilberg, Sociale Psychiatrie. 
Monatsschrift für sociale Medizin. Bd. I. S. 321. 

Verf. umgrenzt in kurzen Zügen das Gebiet der 
Lehre von den für die geistige Gesundheit der Ge- 
sammtheit verderblichen Umständen und den zu deren 
Abwehr nützlichen Massregeln, die er „soziale Psy¬ 
chiatrie“ nennt. Zuerst wird auf die Bedeutung der 
Vererbung und auf die dadurch nöthige Vorsicht bei 
Eheschlüssen hingewiesen, um eine geistig defekte 
Nachkommenschaft zu verhüten. Eine eingehende 
populäre Schilderung erfahren die praktisch so wich¬ 
tigen Geisteskrankheiten der Dementia paralytica und 
der alkoholischen Seelenstörungen, bei denen eine 
geeignete Prophylaxe grossen Segen bringen kann. 
Sache der sozialen Psychiatrie ist es auch, ein ge¬ 
wisses Maass irrenärztlicher Kenntniss bestimmten Be¬ 
rufsklassen zu verschaffen. Hierzu gehören in erster 
Linie die practischen Aerzte, die ihren Patienten, 
wie deren Familien oft schweres Leid durch recht¬ 
zeitiges Erkennen einer geistigen Störung ersparen 
können. Nicht weniger thut psychiatrisches Wissen 
den Juristen besonders für die Leitung von Strafan¬ 
stalten und in ihrer strafrechtlichen Thätigkeit noth. 
Auch Geistliche, Lehrer und Offiziere haben viel¬ 
fach Gelegenheit, eine gewisse, allgemeine Kenntniss 
von Geisteskrankheiten in ihrem Berufe zum Vortheile 
der Allgemeinheit, wie des Einzelnen zu verwenden. 
Mit der Bitte an alle Fachgenossen an dem weiteren 
Ausbau der socialen Psychiatrie auch ihrerseits mitzu¬ 
wirken, schliesst Verf. seinen verdienstvollen Aufsatz. 

Dr. Fritz Hoppe, Ta]hau. 


Bibliographie 

über Kriminal-Anthropologie und Verwandtes. 

II. Quartal 1904.. 

Von Medicinalrath Dr. P. Näcke in Hubertusburg 
(Fortsetzung.) 

Matiegka: Ueber die Bedeutung des Hirngewichts 
beim Menschen. Anatomische Hefte, 1904, 
Heft 73. 

Jung: Aerztliches Gutachten über einen Fall von 
Simulation geistiger Störung. Schweizerische Zeit- 
schr. für Strafrecht, 1904. 

Penta: La follia nelle carceri. Rivista mensile di 
psich. for. etc. Aprile 1904. 

Gember: Hygienische Bedeutung der Ehe. Aus 
Krankheiten u. Ehe. München, Lehmann, 1904. 

Orth: Ererbte u. angeborene Krankheiten u. Krank¬ 
heitsanlagen. Ibidem. 

Kraus: Blutsverwandtschaft in der Ehe und deren 
Folge für die Nachkommenschaft. Ibid. 

Fürbringer: Sexuelle Hygiene in der Ehe. Ibid. 

Nylander: Beitrag zur Lehre von der erblichen 
Polydaktylie. Hygiea 1904, Nr. 2. 

Linde mann: Casuistischer Beitrag zur Frage der 
angeborenen klappenförmigen Verengerung der Pars 
prostatica urethrae. Diss. Jena, 1904. 

Benöhr: Ersatz der fehlenden Vena cava inferior 
teils durch die rechte, teils durch die linke er¬ 
weiterte Kardinalvene. Diss. Kiel 1904. 

Fischer: Ein Fall von congenitaler Atresie des 
Konus der Arteria pulmonalis, verbunden mit 
Tricuspidalstenose und Insufficienz. Diss. Leipzig 
1904. 

Parsons: Staphvloma anterius congenitale. Ref. 
Münchner Medicin. Wochenschr. IQ04, Nr. 16. 

Fla tau: Fall von persistirendem Gärtnerischen Gang 
bei einer Erwachsenen. Demonst. Münchner 
Wochenschr. 1904, Nr. 17. 

Axenfeld: Cataracta congenita auf Grund ange¬ 
borener Syphilis etc. Demonstr. Ibidem. 

A sc h a f f e n b u rg: Querulanten und Pseudoqueru¬ 
lanten. Vortrag. Ref. Ibidem. 

Flügge: Ueber das Bewahrungshaus in Düren. All- 
gein. Zeitschr. für Psvch etc. 61. Bd., 3. H. 

Näcke: Ueber den Werth der sog. „Kurven-Psy- 
chiatrie“. Ibidem. 

Fischer: Schwangerschaft und Diebstahl. Ibidem. 

51 r o h maver: Ziele und Wege der Erblichkeits¬ 
forschung in der Neuro- und Psychopathologie. 
Ibidem. 

K re u s e r: Beobachtungen und Bemerkungen über 
retrograde Amnesie. Vortrag. Ref. ibidem. 

Hess: Retrograde Amnesie nach Strangulationsver¬ 
such u. nach Kopftrauma. Vortr. Ref. ibidem. 

Weygandt: Beitrag zur Lehre von den psychischen 
Epidemien. Vortrag. Ref. ibidem. 

Thoma: Ueber den Bewusstseinszustand sog. Medien. 
Ibidem. 

(Fortsetzung folgt.) 


J'ür dvtt redactiunelien Thcil verantwortlich : Oberarzt lJr. J. Iiresirr, Lunl i.tz . Schlesien). 

Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag vcn Carl Marhold in Halle a. S 

Heynemann’sche Buchdruckerei (Gebr. Wr'fD in Halle a. S. 


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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift. 

Redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. B realer, 

Lublinitx (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telejfr.-Adr esse : Marhnld Verlag. Hallessale Fernsprecher 2834. 

N7T357 26. November. 1904. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 

Inserate werden für die 3 spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten. 


Die badische Volksnervenheilstätte. 

2. Character der Anstalt und des Anstaltslebens, Behandlung, Lage, Platz, Plan 

und Einrichtung der Anstalt. 

Von Privatdozent Dr. Determann % St Blasien-Freiburg. 


T 7 s müssen zur Feststellung aller dieser Punkte be- 

stimmte Erfordernisse von uns berücksichtigt 
werden, welche bei sehr vielen der schon jetzt existi- 
renden Sanatorien für bemittelte Nervenkranke vor¬ 
liegen, und welche auch für uns maassgebend sein 
müssen, da unsere Fürsorge fast der gleichen Kategorie 
voll Kranken wie in jenen Sanatorien gilt? Das* 
neue Anwesen sollte sich deshalb nach meiner Idee 
in Lage, Aussehen, Anordnung und Art der Gebäude 
mehr einem möglichst idealen Sanatorium 
nähern als jenen Krankenanstalten, wie sie für innere 
Kranke und besonders Geisteskranke etc. in muster¬ 
gültiger Weise geschaffen sind. Während für diese 
letztgenannten Kranken ein strenger Anstaltscharacter 
nothwendig ist, brauchen die Insassen unseres neuen 
Anwesens, wenn sie die günstigsten Heilungsbeding¬ 
ungen vorfinden sollen, eine etwas freiere, gemüth- 
lichere Gestaltung ihres täglichen Lebens, die ausser 
auf der Führung der ganzen Anstalt, auf der Art 
der Gesammtanlage, auf der Wahl des Klimas, der 
Landschaft, des Platzes, Stil und Gruppirung’ der Ge¬ 
bäude, Art und Ausstattung der Wohnräume beruht. 
Alle diese Erfordernisse lassen sich sehr gut mit einer 
billigen Bauart vereinigen. 

Da die Art des Zusammenlebens, der Ver¬ 
pflegung und der Behandlung bestimmend für 
die Wahl des Platzes und des Planes sein muss, so 
möchte ich erstere zunächst besprechen. 

Zunächst dieFrage nach der Z ahl der Patienten. 
Dieselbe stösst schon auf Schwierigkeiten. Einerseits 
fällt es auch dem erfahrensten und geschicktesten Arzt 
schwer, mehr als jo —So Patienten mit genügender 
Genauigkeit zu beaufsichtigen, andererseits giebt es 

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viele Gründe, die das Zusammenleben einer grösseren 
Anzahl von Insassen räthlich erscheinen lassen. 
Wenn die später zu besprechende, für die Patienten 
noth wendige und für die Anstalt nützliche Arbeit in 
richtiger Organisation und Vertheilung vorgenommen 
werden soll, so darf man kaum unter eine Zahl von 
100—1*0' Insassen - gehen. Sodann lehrt die Er¬ 
fahrung, dass sich bis zu 150 Patienten hinauf die 
Verpflegungskosten für den Einzelnen im Grossbetrieb 
noch vermindern, während darüber hinaus keine 
wesentliche weitere Verbilligung mehr eintritt. Man 
wird also, wenn man beiden Indicationen, der ärzt¬ 
lichen Behandlung und den praktischen Gesichts¬ 
punkten gerecht werden will, auf ca. 100—150 In¬ 
sassen die Anstalt einrichten müssen. Darunter sind 
Direction und Angestellte nicht gerechnet. Dem 
leitenden Arzte würden dann mindestens 2 Assistenz¬ 
ärzte beizugeben sein, wovon vielleicht einer als ab- 
kommandirter Militärarzt von der Anstalt nicht zu 
besolden wäre. Die Ableistung des Practikanten- 
jahres würde weiterhin die Möglichkeit einer weiteren 
ärztlichen kostenlosen Kraft geben. 

Dass ein Zusammenleben der beiden 
Geschlechter sich in einer Volksheilstätte für 
arme Nervenkranke, welche naturgemäss in Bildung, 
Stand und Krankheitsart sehr verschieden sind, er¬ 
möglichen lässt, haben die Erfahrungen in Haus 
Schönow gezeigt. Allerdings hat sich dort eine 
Trennung der Geschlechter in Bezug auf Wohnhaus, 
Essen, Arbeit, theilweise auch in Bezug auf Unter¬ 
haltung als nothwendig erwiesen. Es ist eben bei 
dem vorwiegend grossstädtischen Krankenpublikum eine 
etwas schärfere Controlleund Aufsicht unvermeidlich. In 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 35. 


322 


der Rasemühle bei Göttingen, in weicherein vorwiegend 
ländliches Krankenmaterial zur Behandlung kommt, lebt 
man durchaus gemeinsam bei Arbeit, Essen und Unter¬ 
haltung, ohne dass irgend welche Unzuträglichkeiten 
entstanden wären. Ja, das Wohnen beider Geschlechter 
in demselben Hause hat bis jetzt nicht zu Störungen 
geführt, allerdings sind die Erfahrungen nur recht kurz¬ 
dauernde. Ich halte esfürwünschenswerth, im’Gegensatz 
zu den strengeren Anstalten, in unserer Volksheilstätte 
auch in Bezug auf das Zusammenleben der Ge¬ 
schlechter möglichst den Sanatoriumscharacter hervor¬ 
zukehren. Kleine Schwierigkeiten lassen sich bei ge¬ 
schickter Handhabung seitens des Arztes und eines 
intelligenten Aufsichtspersonals beseitigen oder er¬ 
tragen. Im allgemeinen nehmen sich die männlichen 
Nervenkranken in Gegenwart von Frauen sogar mehr 
zusammen; sie klagen nicht so viel und sind mehr 
auf den Eindruck eines mehr oder weniger grossen 
Restes von vorhandener Männlichkeit erpicht Hy¬ 
sterische Frauen würden allerdings ein Publikum zur 
Producirung ihrer Erscheinungen finden, aber auch 
dieser Missstand lässt sich durch richtige psychische 
Behandlung abschwächen. Häufig werden auch Ver¬ 
wandte der Kranken, gesunde Begleiter, Frauen oder 
Männer hinzugenommen werden müssen. Eine solche 
Durchmischung der Gesellschaft mit wenigen Gesunden 
ist vielleicht nur von Vortheil. 

Die Verpflegung soll gut aber einfach sein, 
Fleisch sollte es für die meisten Patienten nur ein¬ 
mal täglich geben; natürlich unter Berücksichtigung 
des Einzelfalles. Im übrigen muss durch Einrichtung 
einiger Kostformen den verschiedenen Patienten¬ 
gruppen die richtige Ernährung geboten werden, be¬ 
sonders spielt hierbei die Berücksichtigung des so oft 
empfindlichen Magens und Darmkanals eine grosse 
Rolle. Auch kann man durch Quantität und Art 
der Kost, durch Zurückstellung oder Hervorhebung 
gewisser Nahrungsmittelgruppen den Stoffwechsel und 
damit nicht selten die ursprüngliche Krankheit beein¬ 
flussen. 

Wenn ich auch in Bezug auf die A 1 k o h o 1 a b- 
stinenz kein Fanatiker bin, so glaube ich doch, in 
unserer Anstalt sollte der Alkohol für gewöhnlich 
vermieden und nur in besonderen vom Arzt be¬ 
stimmten Fällen gestattet weiden. Die Nervenkranken 
gewöhnen sich übrigens ganz ohne Schwierigkeiten 
an die Abstinenz, ja, viele vertragen den Alkohol 
schon von vornherein nicht. Als Getränke dienen 
dann Milch, Wasser, Molken, alkoholfreie Frucht¬ 
weine, Fruchtsäfte, Kefir, Kumys etc. Es ist schade, 
dass der in Russland gebräuchliche Kwass, ein Ge¬ 
tränk aus Mehl und Malz ohne Hopfen, welches 


sehr gesundheitsförderlich und dabei wohlschmeckend 
ist, keine Verbreitung bei uns gefunden hat. Kaffee, 
Thee, Tabak sind in massigem Grade zu erlauben. 

An der Spitze des Anwesens sollte- ein 
Arzt stehen, der für diese Art des ärztlichen Be¬ 
rufes besonders veranlagt ist, denn es wird sehr 
schwer sein, diese verschiedenartige Gesellschaft mit 
allen ihren Leiden und Klagen, mit ihren verschiedenen 
Meinungen, mit ihren Vorurtheilen, mit ihrer Em¬ 
pfindlichkeit, bei jdem täglichen Zusammensein auf 
einem engen Raume richtig zu leiten, zu be¬ 
schäftigen, zu behandeln. Der ärztliche Leiter kann 
also nur ein Mann sein, der neben den rein ärzt¬ 
lichen Pflichten sich mit grossem Takt, mit vollem Emst 
und Interesse auch dem socialen Theil der Behand- 
ung widmet, der sich durch kleine Misserfolge und 
Enttäuschungen nicht entmuthigen lässt, der bei alle¬ 
dem zugleich den Schwierigkeiten der Verwaltung 
und der Organisation gewachsen ist, kurz, der ein 
ganzer Arzt und ein ganzer Mann ist. 

Ausser dem psychischen Einfluss, welcher 
jeden Verkehr des Arztes mit den Patienten durch¬ 
flechten muss, sollen ihm alle die Heilmittel 
physikalischer Art, welche sich in so vielen 
Nervenheilanstalten für Bemittelte vorfinden, zur Ver¬ 
fügung stehen. Vor allem müsste eine grössere 
hydrotherapeutische Abtheilung und zwar 
getrennt für Männer' und Frauen, vorhanden sein, 
sodann reiche Gelegenheit zu einfachen, Mineral- 
und medicamentösen Bädern, weiter Apparate zur 
Anwendung von Elektrizität, ein elektrisches Lichtbad, 
ein grösserer Raum zur Vornahme von einfacher und 
Apparatengymnastik. Von Apparaten brauchten jedoch 
nur die allereinfachsten vorhanden zu sein. Complicirte 
maschinelle Einrichtungen sind nicht nöthig. Auch die 
Einrichtung eines Luftbades halte ich für zweckmässig. 

Neben den physikalischen und diätetischen Heil¬ 
mitteln müssen auch diejenigen der inneren Medication, 
der Gebrauch von Mineralwässern etc. zur Verfügung 
stehen. 

Ueber die Arbeit als Behandlungsmittel 
muss ich mich etwas ausführlicher aussprechen, da sie 
erst in neuerer Zeit als solches ärztlich in Betracht 
kommt und da sie sich gerade bei unseren Kranken 
sehr oft als äusserst nützlich und segensreich erweist. 

Nach Möbius haben sich noch viele andere 
Autoren über den Werth der Arbeit für Nerven¬ 
kranke ausgesprochen und an einigen Heilanstalten 
hat man die Durchführung dieses neuen Princips 
practiseh eq)robt und zwar besonders in der Anstalt 
von Grohmann in Zürich, in Haus Schönow bei 


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1904. 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


323 


Berlin und in der Rasemühle bei Göttingen*). In 
allen diesen Anstalten wird von den meisten In¬ 
sassen gearbeitet und zwar regelmässig, ernst und er¬ 
folgreich. Bei den> Patienten stösst man dabei offen¬ 
bar auf geringere Schwierigkeiten, wie man meinen 
sollte. Die Arbeit hebt die Standesunterschiede auf, 
sie nähert den Menschen dem Menschen und sie 
trägt so viel zur Ausgleichung der Vorurtheile bei. 
Laehr, der dirigirende Arzt des Haus Schönow, 
äussert sich im zweiten Jahresbericht folgendermaassen: 
„Nur wenige Kranke verschlossen sich der Erkenntniss 
des Nutzens der Arbeit; die meisten gingen gern an 
dieselbe, anfangs vielleicht nur der ärztlichen Vor¬ 
schrift und dem Beispiele der anderen folgend, zur 
Bekämpfung der sich sonst merkbar machenden Lange¬ 
weile, oder auch durch den Reiz der Neuheit ver¬ 
lockt“ Bei den Frauen war diese Einsicht im 
ganzen schwerer zu erzielen. Grohmann, der aller¬ 
dings ein sehr einseitiges Patientenmaterial hat (be¬ 
sonders Degenerirte, Psychopathen, Hypochonder, 
auch leicht Schwachsinnige etc.), ist nicht so zufrieden. 
Er findet, dass Arbeitsscheu und Faulheit, Unge¬ 
schicklichkeit, körperliche Ungleichheit oft recht 
hinderlich sind; auch so viele unangenehme Eigen¬ 
schaften der Nervösen: Kritiksucht, sociale und andere 
Vorurtheile, Launen, Gezänke, Verweichlichung, 
Mangel an Schulung und Pflichtgefühl machen dem 
Leiter der Anstalt oft Schwierigkeiten. — Es erfordert 
gewiss eine Himmelsgeduld, immer und immer wieder 
alle diese Hindernisse zu bekämpfen und wir müssen 
uns darin ganz verlassen auf den Arzt, der Berather, 
Freund, Schiedsrichter, Ermahner, Verweiser, der 
alles sein muss. Unterstützt muss er werden durch 
tüchtige, verständige Hilfskräfte auf den verschiedensten 
Beschäftigungsgebieten. 

Natürlich eignet sich die Arbeit nicht für alle. 
Wenn jemand durch Uebermaass von Arbeit krank 
geworden ist, so ist er erschöpft und solche soll man aus¬ 
ruhen lassen. Aber nicht auf zu lange Zeit! Länger 
dauernde Beschäftigungslosigkeit wirkt schädlich bei 
allen functiönellen Nervenkrankheiten. Wenn die Er¬ 
schöpfung einer Ermüdung gewichen ist, wenn die 
Patienten nur leicht müde werden, aber nicht mehr 
durch Arbeit in einen schweren Schwächezustand 
hineingerathen, dann ist es Zeit, wieder eine Be¬ 
schäftigung anzufangen, aber eine, im Gegensatz zu 
der früheren erschöpfenden, leichte Arbeit. Die 
richtige Eintheilung von Ruhe und Thätigkeit zu 
treffen und im rechten Augenblick auch wieder zu 
der früheren Arbeit überzugehen, endlich zur rechten 

# ) Auch Herr Dr. Bartels ijj Bad Kreischa hat eine 
Abtheilung in seinem Sanatorium, in dem das Princip befolgt wird. 


Zeit den Anstaltsaufenthalt abzubrechen, sowie unter vor¬ 
sichtiger Lebensweise den Uebergang zum vollen 
Beruf zu bewerkstelligen, damit der Betreffende nicht 
ganz 'demselben entfremdet wird, das alles ist'die 
Sache eines verständigen und geschickten Menschen¬ 
kenners und Anstaltsarztes. '* 

Die Arbeit erweist sich (nach Grohmann) als 
günstiges Behandlungsmittel in drei Be¬ 
ziehungen: 

1. lenkt sie ab von den traurigen Gedanken, von 
der Beschäftigung mit dem eigenen Gesundheitszustände, 
falschen ungesunden Ideen, von Phantastereien, von 
hoch fliegenden Plänen; 

2. schafft sie das Gefühl der Befriedigung an 
sich. Sie ist für die Dauer auch bedeutend werth- 
voller für die Nervenkranken als Zerstreuung, Genuss, 
Vergnügen. Diese lenken nur ab, jene befriedigt. 
Ich habe oft zu meinem Erstaunen gesehen, dass 
die Patienten bei der Arbeit sich viel besser fühlten 
und eher viele ihrer Beschwerden verloren, als wenn 
sie sich „pflegten“, „ausruhten“. Selbst Patienten mit 
Schwächezuständen und solche mit heftigen Schmerzen 
sind nicht gänzlich von der Arbeit auszuschliessen; 

3. ist ganz besonders bei nervösen Kranken mit 
ihrem empfänglichen, zum Enthusiasmus neigenden 
Wesen, die Freude über ein greifbares Resultat der 
Arbeit gross. Dass bei vielen der Sinn für Ordnung 
und Regelmässigkeit durch die Arbeit geweckt wird, 
dass die Zunahme des Gewichts, Resistenz gegen 
Witterung und Geräusch, Hebung der Zuversicht, 
Selbstvertrauen etc. meistens günstige Folgen der 
Arbeit sind, will ich nur nebenher erwähnen. Dafür 
müssen natürlich die richtigen Arbeiten für die 
richtigen Kranken ausgewählt werden — „der Arbeiter 
muss fröhlich sein in der Arbeit“ (Möbius). Fast 
immer wird man den Sieg über alle theoretischen 
Erwägungen davontragen und als überraschendes 
Resultat sehen, dass die Patienten ohne irgend 
welchen Schaden Arbeit leisten. 

Oft ist ein Wechsel in der Beschäftigung 
nach einiger Zeit angezeigt, oft auch sind verschiedene 
Arbeiten zu verschiedenen Tageszeiten vorzunehmen. 
Alle diese Variationen ergeben sich aus dem ärzt¬ 
lichen Taktgefühl. Selbst wenn einigen die Arbeit 
gamicht besonders nützt, wird sie schon des guten 
Beispiels wegen besser mitgemacht. 

Wie wir gehört haben, sollen die Arbeiten auch 
der Anstalt zum Nutzen dienen und daher werden 
wir möglichst diejenigen darunter bevorzugen, welche 
sich auf Feld, Garten und Hof bewegen. La ein- be¬ 
richtet über seine Erfahrungen: „Das Garten- und 
Ackerland bot begreiflicherweise reichlich Gelegenheit 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 35. 


zur Arbeit; die Bestellung des Feldes, die Anlage der 
Gemüsebeete, die Pflege der Bäume, das Umgraben 
des Gartenlandes,, die Blumenpflege innerhalb und 
ausserhalb des Treibhauses, das Oculiren von Rosen, 
das Ernten der Früchte, die Instandsetzung der 
Wege u< s. w. beschäftigen beständig einen grösseren 
Theil der Kranken. Im Winter ersetzte das im all¬ 
gemeinen von Männern und Frauen gern betriebene 
Schneeschaufeln das sonst sehr beliebte Graben im 
Freien.“ Neuerdings interessiren sich im Haus 
Schönow viele Kranke für Bienenzucht. 

Grohmann, der erste Autor auf diesem Gebiete, 
bevorzugt besonders die Gartenarbeit, zumal das 
Graben; ferner die Tischlerei, besonders die Roh¬ 
tischlerei und die Arbeit mit dem Ziehmesser. Auch 
das Zeichnen, Modelliren in Thon, Tapeziren, Bucji- 
binden hält er für empfehlenswerth. Schmiede, Stell¬ 
macher, Drechsler, Schuhmacher, Schneider, Kappen¬ 
macher, Zimmerleute, Maler, Maurer, Töpfer, Dach¬ 
decker, Korbmacher, Schlosser finden, wenn erst der 
Betrieb im Gange ist, gewiss Beschäftigung. Die 
meisten Reparaturen im Haus und um dasselbe sind 
so durch die Patienten zu erledigen. Einfache Neu¬ 
bauten, Ställ§ etc. könnte man mit Hilfe eines Theils 
dieser Handwerker herstellen. Auch schwerere 
Arbeiten, wie die landwirtschaftlichen, Wegebau, 
Steinefahren, Pflügen, Thierpflege erscheinen für eine 
gewisse Anzahl von Patienten sich durchaus zu 
eignen. In Haus Schönow haben sich die Patienten 
eine drehbare Liegehalle, eine Kegelbahn erbaut und 
einen Tennisplatz angelegt. Es ist der Umstand hier¬ 
bei vortheilhaft, dass wir es meistens mit organisch 
gesunden, körperlich nicht unkräftigen Menschen zu 
thun haben. Für Frauen würden dann die zahlreichen 
häuslichen Arbeiten, Nähen, Waschen, Flicken, 
Ordnunghalten im Hause, Kleidermachen etc. in Be¬ 
tracht kommen. Aber auch die Küchen-, Garten- 
und Hofarbeiten sind für Frauen geeignet: Gemüse¬ 
putzen, Kartoffelschälen, Samenauslesen, Rosshaar- und 
Wollezupfen, Kochen (helfen), Geschirrwaschen, 
Holzkleinmachen, Flechten von Strohmatten, Laub- 
Spreu-, Brennholzsammeln. Für solche, welche 
irgendwie eine schwere Arbeit nicht leisten können, 
oder welche gar keine Neigung dazu haben, ferner 
dann, wenn die Witterung und die Jahreszeit mehr 
zum Arbeiten im Hause zwingen, muss man anders¬ 
artige Beschäftigungen wählen, zumal bei Frauen, 
welche, wie Laehr sagt, „mehr von individuellen 
Neigungen bestimmt werden und in besonderem 
Maasse einer persönlichen Anregung und Beauf¬ 
sichtigung bedürfen, wenn ihr Interesse nicht erlahmen 
und eine Stetigkeit der Arbeit erreicht werden soll.“ 

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Solche anderen, mehr unterhaltenden Arbeiten sind: 
Laubsägen, Kerbschnitzerei, Holzbrennen, Zeichnen, 
Malen, Photographiren etc. Für Leute, die gern 
mechanische Arbeiten verrichten und künstlerisch 
gar nicht veranlagt sind, lässt sich durch Einübung 
einer „hausindustriellen Thätigkeit“ ein neuer Erwerbs¬ 
zweig eröffnen, wie: einfache Holzarbeiten (wie in 
Bernau etc. im Schwarzwald), Papierarbeiten, Flechten, 
Spinnen, Sticken, Weben, Stricken, in neuerer Zeit 
sind Bürstenbinden und die Knüpfarbeit im Haus 
Schönow sehr beliebt geworden. Für frühere geistige 
und Bureauarbeiter sind Schreibarbeiten, Uebersetz- 
ungen etc. während einiger Stunden am Tage zuzu¬ 
lassen. Auch das Ordnen von Kunstblättern, Ein¬ 
richtung und Ordnen von Sammlungen aller Arten 
wird gewiss gern von solchen Leuten in Angriff ge¬ 
nommen werden. In Haus Schönow sah ich eine 
wunderschöne Schmetterlingssammlung, ferner eine 
Käfer- und Steinsammlung. 

Dass zu den Arbeiten verständige Vor¬ 
arbeiter, die ihr Fach gründlich verstehen und 
dasselbe lehren können, vorhanden sein müssen, liegt 
auf der Hand. In Haus Schönow sind Damen der 
Damengruppen und die Schwestern die „Vorarbeiter“ 
nachdem sie ein bestimmtes Fach selbst erlernt haben. 
Mit der Zeit wird man häufig aus dem Patienten- 
bestande in ihrem Berufe erfahrene oder neu ausge¬ 
bildete Leute als Hilfskräfte für den Unterricht in 
die Anstalt hinein nehmen. Vor allem aber sind 
einzelne künstlerisch veranlagte Personen, welche durch 
Zufall unter den Patienten sich finden können oder 
welche als Gesunde freiwillig Anleitung geben, von 
grösster Bedeutung für die Freudigkeit an der Arbeit 
und für ihre gute Ausführung. So wird man sich 
einen Stamm von Leuten heranziehen, die in Rück¬ 
sicht auf ihre Gesundheit gegen mässige Bezahlung 
in der Anstalt bleiben. Im übrigen hat sich nach Laehr 
in Haus Schönow das Bedürfniss nach einer beson¬ 
deren Bezahlung der einzelnen Arbeitsleistung nicht 
geltend gemacht. „Jeder Einzelne muss sich 
von vornherein dessen bew r usstsein, dass die ihm 
zugewiesene Arbeit lediglich ein Mittel seiner Behand¬ 
lung ist, dass die Zulassung zu derselben einen be¬ 
sonderen Vorzug darstellt und dass das, was erschafft, 
nicht einem Einzelnen, sondern der Allgemeinheit zu 
Gute kommt.“ Laehr richtet jetzt eine Arbeits¬ 
stätte zur Nachkur und zum Ucbergang in Beruf 
und gewöhnliches Leben ein, in welcher die Patienten 
für ihre Arbeit bezahlt werden, aber auch für ihren 
Unterhalt durch Gegenzahlung aufkommen. Vielleicht 
ist es räthlich, bei einer neuen Anstalt, wenn möglich, 
schon gleich die Arbeitsstätte mit in den Plan auf- 

Original frnm 

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1904.] 


ACETYLEN IN WISSENSCHAFT UND INDUSTRIE. 


325 


zunehmen; jedoch müsste sie, wenn auch in der Nähe 
liegend, örtlich und wirthschaftlich ganz getrennt 
sein. Der wirtschaftliche Nutzen der Arbeitsstätte 
für die Volksheilstätte wäre wahrscheinlich ein er¬ 
heblicher. 

Die Schwierigkeiten der Organisation 
dieser Arbeit werden nach vielerlei Richtungen 
sehr gross sein: 1. Die Auswahl der richtigen 
Patienten für die richtige Arbeit; z, die billige Be¬ 
schaffung, die richtige Verwendung und Nichtver¬ 
schwendung des Rohmaterials; 3. besonders im Anfang 
die Anstellung von nicht zu teueren aber tüchtigen 
Vorarbeitern (Schwestern, Patienten); 4. Arbeits¬ 
instrumente in Stand und Ordnung, zu halten und 
die Kosten der zahlreichen Werkstätten. Jedoch 
müssen im Interesse der Behandlung diese Schwierig¬ 
keiten in Kauf genommen werden. 

Aber die Kranken wollen neben der Arbeit auch 
mancherlei Unterhaltungen haben. Zunächst 
während des Tages. Eis sind da die verschiedensten 
Ausübungen des Sports zu nennen, wie Croquet, 
Kegeln, Lawn Tennis, Turnen, Billard, Ball- und 
andere Spiele; wenn möglich Rudern und Segelfahrt, 
Schlittschuhlaufen, eventl. Schneeschuhlaufen, Schlit¬ 
teln. In geeigneter Jahreszeit werden gemeinsame 
Spaziergänge, Ausflüge ins Gebirge unternommen, bei 
welchen Verpflegung und eventuelles Uebernachten 
ganz einfach sich gestalten sollen. Am besten lässt 
man die Kranken nur in Begleitung von Gesunden 
ausgehen, da sie dann ihren trüben und unnützen 
Gedanken nicht viel nachhängen können. Zu Haus 
liegt dazu besonders Abends die Gefahr vor, auch 
kann sich dann leicht die beliebte Unterhaltung über 
die Krankheiten entwickeln. Das muss verhindert 
werden durch leichte Unterhaltungsspiele, durch Ver¬ 
anstaltung von musikalischen und Vortrag- resp. 
Theaterabenden, durch Gesang und Musik, durch 
Beschäftigung mit nützlichen Büchern, Sammlungen, 
wissenschaftlichen Dingen etc. Eine gute Bibliothek 
würde eins der ersten Erfordernisse der Anstalt sein. 

Bei der Frage, wo soll eine Volksheilstätte 
liegen, müssen wir berücksichtigen, dass Nerven¬ 
kranke in bedeutend höherem Maasse als andere 
Kranke vom Klima, von der landschaftlichen Um¬ 
gebung, vom Wetter etc. abhängen. Functionelle 
Nervenkranke, um die es sich vorwiegend bei uns 
handelt, sendet man mit Vorliebe an einen land¬ 
schaftlich schön gelegenen waldigen Ort, der Möglich¬ 
keit zu abwechslungsreichen Spaziergängen bietet. 
Derselbe kann vortheilhafter Weise in einem mässig 
anregenden Klima, besonders im Mittelgebirge, in 
Höhen von 4—900 m gelegen sein. Dabei sucht 

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n»an im allgemeinen reichliche Besonnung und wind¬ 
geschützte Lage. Jedoch kommen für unsere Volks¬ 
heilstätte noch andere Erfordernisse der Behandlung 
und des Betriebes in Betracht, welche die Wahl eines 
Platzes im Gebirge als unzweckmässig erscheinen 
lassen. Wir brauchen für die Behandlung ein Klima, 
in dem gärtnerische, landwirthschaftliche und aucl* 
handwerksmässige Arbeiten, auch während des grössten 
Theils des Winters, im Freien möglich sind; wi* 
brauchen ferner eine Lage der Anstalt, in der die 
Fruchtbarkeit des Bodens und genügende Besonnung 
eine nutzbringende Bearbeitung gewährleistet Das 
alles ist im Gebirge nicht in genügendem Maasse zu 
finden, und deshalb müssen wir einen Platz 
in einer massigen Höhe von etwa 3—500 m 
wählen. Allerdings muss derselbe in Folge lokaler 
klimatischer Bedingungen eine gewisse Sommerkühle 
bieten. Ein solcher Platz wird sich entweder an den 
Abhängen oder in einem der Seitenthäler des 
Schwarzwildes (letzteres vorzuziehen) in landschaft¬ 
lich schöner und landwirtschaftlich günstiger Form 
in unserem klimatisch reich gestalteten Baden 
finden lassen. Er muss sonnig gelegen, also zum 
Theil nach Süden zu gerichtet und dann dem 
Winde nicht zu sehr ausgesetzt sein. Vor allem aber 
ist die Nähe der Eisenbahn, sowie einer grösseren 
Stadt anzustreben, wegen der Verbilligung des Baues 
und der Erleichterung des Betriebes, wegen der 
leichteren Erreichbarkeit von Seiten der Kranken, 
zum Absatz der eventuell geschaffenen Arbeitsproducte, 
zur Heranziehung von Hilfskräften bei Betrieb, Be¬ 
handlung und Unterhaltung (Specialärzte, Sachver¬ 
ständige, Handw'erkslehrer, Lehrmittel, Vortragende, 
Künstler etc.). 

Eine gewisse Grösse des Anstaltsterrains 
ist ausser wegen der wirthschaftlichen Nothwendigkeit 
deshalb wünschenswerth, um den Patienten innerhalb 
der Anstaltsgrenzen vielfache Gelegenheit zur Be¬ 
schäftigung und Unterhaltung im Freien zu geben. 
Sehr vortheilhaft wäre ferner, wenn ein genügend 
grosses Stück Wald sich dicht an oder im Anstalts¬ 
terrain befände. Gutes Trinkwasser sollte in der 
Nähe sein. Wenn auf dem Anstaltsareal oder in der 
Nähe eine billige Wasserkraft zu erwerben ist, so 
könnte sie zur Erzeugung von electrischem Licht, zu 
einer Sägerei oder zu mechanischen Betrieben benutzt 
werden. 

Vielleicht bietet sich auch die Möglichkeit, ein 
grosses Landgut, so wie es ist, oder eine bestehende 
Kuranstalt, anzukaufen und z\i einem für unsere 
Zwecke geeigneten Anwesen umzuformen. 

Ich habe eine Reihe von verkäuflichen Plätzen 

Original fr&m 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 35 . 


326 


oder Gütern angesehen, aber nur wenige davon 
können auf die engere Wahl kommen, da klimatische 
oder sonstige Bedingungen für unseren Zweck nicht 
passten. Die Frage muss also gründlich weiter¬ 
geprüft werden, besonders auch müssen die meteorolo¬ 
gischen Bedingungen während des Winters für die in 
engere Wahl kommenden Plätze studirt werden. Der 
Preis des Platzes sollte bei der grossen Wichtigkeit 
der Angelegenheit zwar eine bedeutende, aber nicht 
ausschlaggebende Rolle spielen. 

Zur Feststellung des Bauplanes sollte man 
sich meiner Meinung nach nicht an die übliche, wenn 
auch noch so vervollkommnete Bauart halten, wie 
sie für Irrenanstalten, Anstalten für Epileptische und 
Krankenhäuser in Betracht kommt. Entsprechend 
der Eigenart der Patienten sollten wir uns vielmehr 
bemühen, nach Art eines Sanatoriums ein ge¬ 
mütliches, gerade für Nervenkranke angeorduetes 
und eingerichtetes Heim zu schaffen, das neben der 
Möglichkeit sehr gesunder, heilsamer Lebensbeding¬ 
ungen, die einer umfassenden körperliches and psy¬ 
chischen Behandlung giebt In erster Linie muss es 
ruhig am Wohnort von Nervenkranken sein. Die 
Gebäude dürfen nicht zu gross sein und, durch Ge¬ 
büsch und Bäume von einander getrennt, in einer 
gewissen Entfernung von einander liegen, die Bauart 
muss solide, schall- und wärmesicher und dabei nicht 
zu theuer sein. Wir müssen also meiner Ansicht 
nach auf einen einheitlichen grossen Anstaltsbau ver¬ 
zichten und bestrebt sein, mehr den Eindruck 
einer Villenkolonie zu erzielen. M. E. wären 
folgende Gebäude erforderlich: 1. Hauptgebäude, 
für Zwecke der Verwaltung, Wirthschaft, Behandlung, 
Krankenstation, Wohnungen für Angestellte; 2. Wohn¬ 
häuser für die Patienten; 3. Beschäftigungs¬ 
und Arbeitshaus; 4. Centrale für Heizung, 
Beleuchtung, Warmwasser, Dampf etc.; 5. land¬ 
wirtschaftliche Gebäude. Die Anordnung 
der Gebäude geht aus dem beigefügten Plane hervor. 
Wohngebäude und Haupthaus müssen durch gedeckte 
Gänge miteinander verbunden sein. Ich gehe bei 
alledem von der Annahme aus, dass die Anstalt etwa 
für 120 Personen beiderlei Geschlechts in Angriff 
genommen werden soll. 

Um dem Ganzen ein freundliches und eigen¬ 
artiges Gepräge zu geben, könnte man vielleicht den 
Wohnhäusern ohne wesentliche Kostenerhöhung in 
Anpassung an die Gegend, in welcher die Anstalt zu 
stehen kommt, einen gefälligen, etwas modificirten 
Schwarzwaldstil geben. Es tritt dabei die Frage an 
uns heran, in welcher Grösse man die Wohnhäuser 
bauen soll und ob nach Baracken - oder Pavil- 

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lonsystem. Die Baracken haben manche Vortheile, 
besonders den grosser Ruhe (beschränkte Anzahl von 
Einwohnern, keine Ueberwohner). Sie lassen sich 
im Grünen verstecken und bieten so am ersten den 
Character eines Dorfes oder einer Kolonie. Ich habe 
auch die Doecker’schen Baracken (Christoph und 
Unmack), weiche den Vorzug der Transportabilität 
mit dem eines gefälligen Aussehens und Billigkeit 
vereinigen, gründlich in Berlin geprüft, jedoch bin ich 
ebenso wie die Baucommission der Rheinischen 
Volksheilstätte zu dem Entschluss gekommen, dass 
sie für unsere Zwecke nicht genügend fest- und 
schallsicher sind und dass der grösste Vortheil der 
Baracken, ihre Transportabilität, für uns wohl kaum 
in Betracht kommt. Andere Baracken zu bauen ist 
jedenfalls theurer als grössere Bauten bei gleicher 
Patientenzahl, auch ist jedcnfaHr der Betrieb kost¬ 
spieliger und schwieriger (Centralheizung, Aufsicht 
und Bedienung). Es scheint mir daher ein System 
von kleinen Pavillons, jeder etwa für 25 Kranke, das 
Beste zu sein. Bei dieser Grösse liesse sich auch 
ein Schwarzwaldstil noch ganz gut inne halten. 

Noch einige allgemeine Fragen sind zu 
besprechen: 

Eine offene Frage muss es noch bleiben, ob man 
vorzugsweise aus Holz (Riegelbau, Schindelmantel), 
aus Stein, Ziegeln oder Eisen baut Die Möglichkeit, 
billiges Holz zu bekommen, die Nähe eines Stein¬ 
bruches oder Ziegelei, billige Eisenpreise sind dabei 
entscheidend. Eine überall durchgeführte Unter¬ 
kellerung ist kaum nöthig; es genügt an geeigneten 
Stellen ein kleiner lufthaltiger Raum unter den Fuss- 
böden den hygienischen Anforderungen. Durch An¬ 
wendung von Korksteinen kann man die Böden 
weniger fusskalt machen. 

Die Wände und Böden seien stark genug, event. 
mit isolirender Schicht versehen. Doppelthüren sind 
wünschenswerth, Verbindungsthüren zwischen den 
Zimmern möglichst zu vermeiden, die Thüren selbst 
seien dick und tadellos schliessend. Grosse Fenster, 
feststehende Doppelfenster, und zwar mit gut func- 
tionirenden Klappoberflügeln, die in jeder gewählten 
Stellung stehen bleiben. Endlich feste Rolljalousien 
(zur Verdunklung und zur Abhaltung von Geräusch) 
sind nöthig. Abgerundete Ecken sind leicht herzu¬ 
stellen, Oelanstriche oder Tapeten, Wandleiste zum 
Bilderaufhängen, auf den Böden Linoleum. In allen 
Wohnhäusern und im Haupthaus ist Centralheizung 
einzurichten und zwar entweder Niederdruckdampfheiz¬ 
ung von einer Centrale aus, oder im Haupthaus Nieder¬ 
druckdampfheizung und in den Pavillons Warmwasser¬ 
heizung. Die Beleuchtung sei elektrisch. Aufzug ist 

Original from 

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1 9°4-] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


327 


nicht nöthig, zum Transportiren diene ein Trag- oder 
FahrliegestuhL 

Als Luftraum würden bei einbettigen Zimmern 
für die Person ca. 40 cbm angenommen werden 
müssen, bei zwei- oder mehrbettigen Zimmern 30 cbm. 
Die Höhe der Rfiume sei in den Pavillons im ersten 
Stock 3,5 m, im zweiten Stock 3 m. Alle Zimmer 
für eine bestimmte Personenzahl, sowie die Einzel¬ 
zimmer unter sich sollten annähernd gleich gross sein. 
Für die Zuweisung der Patienten in ein einzelnes 
oder gemeinsames Zimmer dürfen selbstverständlich 
nur ärztliche Gründe maassgebend sein. Es muss 
auch schon darin das Princip der socialen Gleich¬ 
stellung ausgedrückt sein, daff durch die ganze An¬ 
stalt geht und das seine fernere Bekräftigung durch 
die gemeinsame Arbeit findet. In Haus Schönow 
bewohnten ein Universitätsprofessor und ein einfacher 
Arbeiter dasselbe Zimmer. Die Einrichtung der 
Zimmer sei einfach und enthalte nur das nöthigste, 
dabei soll aber ein freundlicher, gemüthlicher Ein¬ 
druck^ gewahrt werden; die Möbel können vielleicht 
in einem in manchen Theilen des Schwarzwaldes üb¬ 
lichen Stil, aus gehobeltem und dann geölten und 
lackirten Tannenholz gehalten werden. Auf hygienische 
Spitzfindigkeiten, wie sie in einem Sanatorium für 
Lungenkranke zu empfehlen sind, würde ich keinen 
übertriebenen Werth legen. Alles soll haltbar, solide 
und leicht zu reinigen sein. In Haus Schönow dient 
für je zwei Patienten ein freistehender Waschtisch 
mit Schieferplatte, ein zweitheiliger Schrank und eine 
zweitheilige Commode. 

Ich komme nun zur Besprechung der ein¬ 
zelnen Gebäude (Demonstration der Pläne): 

1. Das Hauptgebäude dachte ich mir be¬ 
stehend aus einem zweistöckigen Süd-Mittelbau mit ein- 
bis zweistöckigen Seitenflügeln. Küche und Speisesaal 
seien auf einer Ebene im Ostflügel. Kochraum und Spül¬ 
raum könnten ohne Abtrennungen sein wegen der besse¬ 
ren Beaufsichtigung durch die Küchenwirthschafterin. An 
der SW.-Seite des Ostflügels Eingang zur Küche, sowie 
Treppe zum Kellerund Dachstock, daneben Speisentages¬ 
raum. Der Eingang ist hierher verlegt, damit einlaufende 
Waaren zugleich vom Bureau aus beaufsichtigt und 
manches auch gleich bezahlt werden kann. Im Keller 
Kühlräume für Fleisch, Milch, Eier, ferner Platz für 
Gemüse, Obst, Compot, Getränke, Kartoffeln, Küchen¬ 
kohlen, alles in praktischer Anordnung. Kohlen, 
Kartoffeln etc. könnten an der NO.-Seite der Küche 
direct in den Keller eingeschüttet, Kisten durch eine 
„Schleife“ hereingebracht werden. Neben der Küche, 
Office, eventuell mit Speisenaufzug nach oben. Die 
Anlage muss jedoch so sein, dass Küchengeruch im 

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Speisesaal und auch im übrigen Hause mit Sicherheit 
vermieden wird. — In Haus Schönow essen die 
Patienten nicht in einem grossen gemeinsamen Raum, 
sondern in den Tagesräumen ihrer Wohnräume. Die 
Speisen werden dann in einer Art Kochkisten, wie sie vom 
rothen Kreuz s. Z. ausgestellt wurden, herüber getragen. 
Ich bin jedoch dafür, dass man alle Patienten, mit 
Ausnahme der bettlägerigen, gemeinsam in einem 
grossen Speisesaal essen lässt. Ob zu verschiedenen 
Zeiten, oder gleichzeitig in dem durch leichte Wand 
getrennten zweitheiligen Speisesaal, nach Geschlechtern 
getrennt, oder endlich, wie es in der Rasemühle ge¬ 
schieht, mit Durchmischung der Geschlechter, muss 
noch des Näheren geprüft werden. Zugleich diene 
der Speisesaal zum Gottesdienst, sowie zu künstler¬ 
ischen und anderen Vorführungen. Vor dem Speise¬ 
saal sei eine Veranda, die zugleich auch als Liegehalle 
benutzt werden kann. Der Speisesaal sei wie die 
Küche 5 bis 6 m hoch. Es müssten also von ihm, da 
er tiefer liegt, zumMittelbau einige Stufen führen. Neben 
dem Speisesaal im Mittelbau, nach dem Gang zu, offener 
Raum (wegen Belichtung des Ganges), der zugleich als 
Garderobe diene. Auf der andern Seite des Ganges 
Lesezimmer, daran anstossend Portierloge, gegenüber 
das Bureau und zwei Closets mit Waschraum davor, dann 
Eingang und Treppe, daneben die gut gegen Geräusch 
isotirten ärztlichen Räume, Apotheke, Laboratorium 
(Nebenfenstem zum Hineinstellen von Urin etc.). Nach 
hinten Wäscheraum und Oberinzimmer. — Im West- 
Flügel die zwei grossen Behandlungsräume fQr Männer 
und Frauen für Hydrotherapie mit von aussen zu¬ 
gänglichen Einzelkabinen, zwischen ihnen ein Raum 
für Einpackungen, elektrisches Lichtbad etc. Gegen¬ 
über diesen beiden Räumen einfache, medikamentöse, 
kohlensaure etc. Bäder. — Unter diesem Westflügel 
Wäscherei und Plätterei, Trockenraum für heisse 
Luft, sowie nach W. zu einige Kellerräume für den 
ärztlichen Director. Derselbe könnte über der Bäder¬ 
abtheilung wohnen. Sein abgesonderter Treppenauf¬ 
gang befände sich an der W.-Seite. An derNW.- 
Ecke eine Isolier-Zelle und zwei Isolirzimmer mit 
Glasabschlüssen und schallsicher gebaut. Ihnen gegen¬ 
über Zimmer des] Assistenzarztes und Schwestemzimmer 
(jenseits der Treppe). Nach vom die Krankenstation, 
nach SO. durch einen Glasabschluss getrennt, Zimmer 
für Patienten erster Klasse, mit einem Tagesraum mit 
Oberlicht und einem Speiseraum. Zwei Liegehallen 
nach vom. Bäder werden hier am besten mittelst 
Rollbadewannen gegeben. Im Corridor müssten eine 
Reihe von Wandschränken (Wäsche, Verband, Arz¬ 
neien etc.) sich befinden, auch wäre ein Abstellraum > 
sowie eine Veranda zum Bettenlüften zu wünschen 


Original fram 

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3*8 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 35 - 


Der Transport der Speisen für die Patienten erster 
Klasse, sowie über die Krankenstation geschieht durch 
Speiseaufzug vom Office, oder vermittelst der Treppe 
von der Küche aus. Ueber der Küche sei der von 
der i. Klasse räumlich ganz getrennte Dachstock, in 
dem Wirthschafterin* Oberwäscherin, Küchen-, Wasch-, 
Bade- und Dienstpersonal wohnen könnten, soweit 
Platz ist Man sollte möglichst alle Frauen hier 
unterbringen. Wenn Mangel an einem geeigneten 
Wäschetrockenraum ist, so könnte man über der 
Küche auch einen 2. Stock aufführen und darüber 
einen grossen Wäschetrockenboden. Im . Dachstock 
des Mittelbaues können Verwalter, Buchhalter, 
Schwestern und Assistenten, Portier, sowie sonstige 
männliche Angestellte wohnen. Ein Theil muss für 
Koffer, Kleider und sonstige Sachen reservirt werden. 
Der Dachstock über dem Badeflügel müsste dem 
leitenden Arzt zur Verfügung gestellt werden. — Der 
Mittelbau sei nur unter den ärztlichen Räumen unter¬ 
kellert. — 

2. Pavillons. Dieselben lassen sich natürlich 
je nachdem, ob man sehr sparsam oder etwas weniger 
sparsam bauen will, sehr verschieden gestalten. Be¬ 
sonders in Bezug auf Treppenaufgang und eine 
eventuelle hallenartige Erweiterung des Corridors. 
Ich habe einstweilen das einfachste Projekt gewählt. 
Als Princip habe ich dabei festgehalten, dass es da¬ 
rauf ankommt, möglichst viel gut besonnte Zimmer zu 
erzielen. Balkons vor denselben halte ich nicht für nöthig, 
da am besten eine gemeinsame gut besonnte, regen- 
und windfreie Süd- oder Ost-Liegehalle, in der die 
Patienten durch eine Person beaufsichtigt werden 
können, an der einen Querseite des Gebäudes auf¬ 
geführt wird und zwar sowohl im ersten wie im 
zweiten Stock. Ausser den Patientenzimmem ist zu 
sorgen für einen in der Nähe der Veranda gelegenen 
Tagesraum, für das dicht am Eingang zu legende 
Schwestemzimmer, ein Wärterzimmer, ein Bad, Office, 
Besen- und Abstellraum, sowie Schränke im Corridor 
(eventuell eingemauert) für Wäsche, Verband und 
Arzneisachen. Die dreitheilige Treppe diene zugleich 
am Treppenauge als Garderobe. Unterkellerung ist 
nicht nöthig. Ein kleiner Luftraum unter den Fuss- 
böden genügt den hygienischen Anforderungen. Am 
Eingang sei ein kleiner Holzvorbau. 

3. Das Haus für Beschäftigung könnte zu¬ 
gleich theilweise eine grosse Halle für Gymnastik ab¬ 
geben. Wenn die Süd- oder Ostseite auch mit einer die 
Querseite einnehmenden Veranda ausgeatattet wird, 


so könnten an den im 1. und 2. Stock liegenden grossen 
Beschäftigungsräumen die Wände zur Veranda zum 
Herausnehmen eingerichtet und damit bei geeignetem 
Wetter die Möglichkeit des handwerkmässigen Arbeitens 
fast im Freien, gegeben werden. Im Ganzen muss 
das Gebäude, welches etwas abseits liegt, wegen des 
vielfachen Geräusches beim Arbeiten zur möglichsten 
Vermeidung gegenseitiger Störung schallsicher ge¬ 
baut sein. Geräuschempfindliche Personen können 
in über dem Gymnastiksaal liegenden Einzelzimmern 
arbeiten. Häufig werden allerdings nervöse Leute 
nur durch den Lärm, den andere verursachen, 
gestört. Selbsterzeugter Lärm stört fast nie* Eine 
grosse Reihe von Handwerks- und Reparaturarbeiteo, 
von täglichen Aufräum-, Wasch-, Flick-, Näharbeiten 
werden ja in den für die Arbeit bestimmten Stellen, 
anderwärts innerhalb des Anwesens gemacht werden 
müssen. 

Eine geeignete Wandelbahn, wie sie besonders 
bei schlechtem Wetter oft nöthig sein wird, erhalten 
wir durch die Verbindungsgänge zwischen Pavillon 
und Haupthaus. Eine Liegehalle im Wald wäre viel¬ 
leicht gleich vorzusehen, ebenso wie ein Luftbad. 

Abseits von den Wohnhäusern können dann die 
Stallungen, Remisen, der Hühnerhof. etc. liegen, da¬ 
mit man nicht durch Lärm, Fliegen, Geruch belästigt 
wird. 

Die Wohnung der Verwalter, Gärtner, Maschinisten 
Handwerker werden sich wohl theilweise im Dach- 
stock über dem Arbeitshaus finden. 

Desinfectionszimmer und Leichenkammer seien in 
der Nähe der Oekonomiegebäude. 

Die Lage der Gebäude zu einander ist 
natürlich in der verschiedenartigsten Weise möglich. 
Wichtig ist dabei zu bedenken, dass die Centrale für 
Beleuchtung, Heizung, Warmwasser, Dampf etc. nicht 
zu weit von allen Gebäuden sein darf und dass alle 
Gebäude untereinander, auch bei schlechtem Wetter 
in bequemer Verbindung stehen müssen. 

Vielleicht liesse sich auch ein Anwesen erwerben, 
auf dem schon brauchbare Gebäude vorhanden sind; 
so war es bei der Rasemühle. Immerhin wird man 
ohne verhältnissmässig grosse Unkosten nichts passendes 
schaßen können und es fragt sich, ob es nicht prak¬ 
tischer ist, von vornherein an ein ganz neues An¬ 
wesen zu denken, jedenfalls scheint es mir, dass die 
Aenderungen in der Rasemühle sehr viel Kosten 
gemacht haben. 


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Original fram 

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1904.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 329 


Mitthei Iungen. 


— X. Versammlung mitteldeutscher Psy¬ 
chiater und Neurologen in Halle a. S. am. 22. 

und 23. October 1904. I. Sitzung. Vorsitzender: 
Herr Ganser. 

1. Herr Forst er-(Breslau) Referat über die 
Gehirnfaserung der Hemisphären mit Ausschluss des 
Stammes. 

Vortr. führt in Projectionsbildem Hirnschnitte 
durch die Hemisphären vor, in denen die ver¬ 
schiedenen Faserbahnen durch die sogen, partielle 
Lappendifferenziening zur Darstellung gebracht sind. 
In der Eintheilung hält er sich an die von Meynert 
gegebene in Associations-, Projections- und Commis- 
surensysteme. Die Demonstration, die sich in der Dar¬ 
stellung normaler Verhältnisse zum Referat weniger 
eignet, beweist, dass auch das Studium von Präparaten 
aus dem normalen Gehirn des Erwachsenen wichtige 
Aufschlüsse über den systematischen Aufbau desselben 
zu geben vermag. 

Discussion : 

Herr Flechsig und Herr H o e s e 1 vertreten vom 
Vortr. abweichende Anschauungen, besonders betreffs 
des Türkischen und des unteren Längsbündels. 

2. Herr Z i e h e n - (Berlin) über die rückläufige 
Association bei Geisteskranken. 

Bei der Untersuchung Geisteskranker kommen, 
ähnlich wie bei anderen klinischen Untersuchungen 
ebenfalls, zwei Methoden in Betracht: 1. Die praktisch* 
diagnostische, die auf feinere Specialuntersuchungen 
verzichtet. 2. Die heuristisch-psychologischen Metho¬ 
den, die das Wesen der Psychose überhaupt genauer 
erforschen sollen. Von den letzteren verdient die 
„rückläufige Association“ Beachtung; sie besteht in 
der Fähigkeit, eine bekannte oder vorgesagte Reihe 
in umgekehrter Reihenfolge zu reproduciren. Die 
Fähigkeit, mit einer Association in einer Richtung 
zugleich eine, wenn auch schwächere in umgekehrter 
Richtung zu verbinden, fehlt dem 5 jährigen Kinde 
noch, und tritt erst nach dem 6. Lebensjahre auf. Für 
psychiatrische Zwecke ist es empfehlenswerth, entweder 
geläufige Reihen (Monate, Zahlenreihe usw.) zu wählen, 
oder besser noch Buchstaben- oder Zahlenreihen ad 
hoc zu bilden. Natürlich müssen die anderen psychi¬ 
schen Componenten, die die Vorbedingung der rück¬ 
läufigen Reproduction sind, vorher bekannt sein, also 
vor allem die Merkfähigkeit und die Aufmerksamkeit; 
letztere ist ohne Mühe in für den bestimmten Zweck 
genügender Genauigkeit an ihren zeitlichen Schwank¬ 
ungen zu messen. — Es zeigt sich, dass bei Hemmungs¬ 
zuständen die rückläufige Association im wesentlichen 
qualitativ intact bleibt, d. h. die Fehler sich nicht 
vermehren. Bei seniler Demenz dagegen zeigen sich 
schon in den ersten Stadien oft deutliche Ausfälle, 
die differential-diagnostisch gegenüber heilbaren senilen 
Melancholien von Bedeutung werden können. Dämmer¬ 
zustände und incohärente Formen acuter Psychosen 
lassen starke Störungen der rückläufigen Associations¬ 
fähigkeit erkennen. Defectp$ychosen zeigten ebenfalls 

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starke Ausfälle; bei Dem. paralyt. ist zwar meist schon 
die Merkfähigkeit gestört; wo diese aber intact ist, 
ist es die rückläufige Association meist auch. Früh 
schon treten Anomalien bei der arteriosklerotischen 
Demenz, ferner in den ersten Stadien der Dem. praecox 
auf, was auch differ.-diagnostisch von Werth sein 
kann. — Stets ist aber hierbei zu betonen, dass der 
Ausfall der Prüfung mit einer einzelnen solchen Methode 
nicht genügt zur Diagnosenstellung, sondern dass stets 
die anderen psychiatrisch bedeutsamen Factoren mit 
beachtet werden müssen. 

3. Herr Cr am er (Göttingen), a) Isolirte Ab¬ 
schnürung des Unterhorns mit seinen klinischen Folgen ; 
mit Obductionsbefund. Ein ca. 25jähriger, erblich 
nicht belasteter Beamter, der in der Jugend an Pleuritis 
gelitten hatte, erkrankte zuerst ca. 1 U Jahr vor seinem 
Tode im Anschluss an eine Bandwurmkur an Kopf¬ 
schmerzen und allgemeiner Mattigkeit. Mitte März 1904 
traten deutliche cerebrale Erscheinungen auf, ins¬ 
besondere Erbrechen, Schwindel, Pulsverlangsamung. 
Die Kopfschmerzen wurden vorzugsweise rechts loca- 
lisirt, dabei bestand eine lähmungsartige Schwäche 
und Ataxie im rechten Arm und Bein. Beginnende 
Stauungspapille. 

Später folgten leichte Paresen im linken Facialis 
und in den linken Extremitäten, während die rechten 
Extremitäten Spasmen und beim Beklopfen der rechten 
Hinterhauptsschuppe Zuckungen zeigten. Die All¬ 
gemeinerscheinungen, insbesondere auch die Stauungs¬ 
papille, nahmen zu. Eine Lumbalpunktion brachte 
nur wenig Flüssigkeit zu Tage, die keine diagnostische 
Anhaltspunkte gewählte und nur vorübergehend Er¬ 
leichterung schaffte. Da ein Teil der Symptome auf 
eine Affection des Kleinhirns hinwies, wurde wegen 
der Zunahme der Benommenheit und der Allgemein¬ 
erscheinungen ein operativer Eingriff versucht, der 
aber weder einen Tumor noch bei der Punktion des 
Seiten Ventrikels Flüssigkeit zutage förderte und nur 
vorübergehend Erleichterung brachte. Nach der 
Operation trat plötzlich der Tod ein. 

Die Section ergab Intactheit der übrigen Him- 
substanz, dagegen war der rechte Schläfenlappen in 
eine grosse, schwappende, dünnwandige Blase ver¬ 
wandelt, aus welcher sich beim Einschneiden helle 
Flüssigkeit entleerte. Bei der Untersuchung des Ven¬ 
trikelsystems erw'ies sich der Zugang vom Seiten¬ 
ventrikel zum Unterhorn völlig verlötet, auch für 
Sonden nicht durchgängig, sodass durch diese offenbar 
entzündliche Verwachsung die isolirte hydrocephalische 
Erweiterung des Unterhorns, welches noch die gewöhn¬ 
lichen Plexusantheile enthielt, erklärt wurde. 

Betreffs der histologischen Befunde und der muth- 
masslichen Ursache dieser Verwachsung wird auf den 
folgenden Vortrag (Web er-Göttingen) verwiesen. 

Der Befund ist geeignet, die klinischen Symptome 
zu erklären. Was die Reizerscheinungen, insbesondere 
die Zuckungen des rechten Armes bei Beklopfen der 
gleichseitigen Hinterhauptsregion betrifft, so weist 

Original frum 

HARVARD UN1VERSITY 



330 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 35. 


Vortr. darauf hin, dass für diese Erscheinung zwei 
Erklärungen möglich sind: Es kann direkt auf mecha¬ 
nischem Wege durch Contrecoup bei Beklopfen der 
rechten Kleinhimgegend eine mechanische Reizung 
der linken motorischen Region zu Stande kommen 
oder es kann der das rechte Kleinhirn treffende Reiz 
auf dem Wege einer Bahn nach der linken motorischen 
Region gelangen. In beiden Fällen würden von dem 
auf indirektem Weg gereizten Frontalhirn aus die 
Zuckungen der rechten, also zuerst betroffenen, der 
Kleinhimseite entsprechenden Extremitäten ausgelöst. 
Auch die gleichseitige Ataxie musste auf eine Beteili¬ 
gung des Kleinhirns (durch Druck) zurückgeführt 
werden. 

Im Anschluss berichtet Vortr. noch kurz über einen 
anderen Fall von isolirter hydrocephalischer Erweiterung 
des linken Vorderhoms mit entsprechenden klinischen 
Symptomen. 

In der Discussion erwähnt Flechsig die Möglich¬ 
keit , dass die gleichseitigen Reizerscheinungen der 
Extremitäten durch einen Druck auf den Hirnschenkel- 
fuss ausgelöst sein konnten. 

Ziehen betont die Häufigkeit isolirter corticaler 
Krämpfe, ohne dass man jedesmal eine entsprechend 
localisirte anatomische Veränderung der motorischen 
Region finde. Er hat solche corticale Krämpfe auf 
der gleichen Seite in einem Fall von Kleinhirn - 
erkrankung gesehen. 

ln einem Schlusswort bemerkt Cramer, dass er 
die Spasmen sicher auf eine Reizung des Himschenkel- 
fusses zurückführe. (Weber-Göttingen.) 

Discussion: 

Herr Flechsig glaubt die im ersten Falle beob¬ 
achteten Reizerscheinungen auf einen Druck des 
hydropischen Ventrikels durch das Tentorium hin¬ 
durch auf die motorischen Bahnen im Slimstamm 
zurückführen zu sollen. 

Herr Ziehen hat in einem Falle von Kleinhirn¬ 
aff ection ebenfalls halbseitige homolaterale Jackson¬ 
artige Zuckungen beobachtet. 

Herr Binswanger erinnert im Zusammenhang 
mit den vorgeführten Fällen an Zustände recidivirender 
Hydrocephalie im Kindesalter, wo vielleicht manchmal 
ähnliche Verhältnisse vorliegen. 

Herr Cramer hat die Reizerscheinungen im 
selben Sinne wie Herr Flechsig aufgefasst sehen 
wollen. (Fortsetzung folgt.) 

— Giessen. Am 5. November dieses Jahres 
fanden sich akademische und praktische Vertreter 
von Jurisprudenz und Psychiatrie in Giessen 
zu einer Vereinigung zusammen/ deren praktischer 
Zweck die Verständigung über die forensischen Streit¬ 
fragen auf dem Gebiet der CriminalPsychologie 
und strafrechtlichen Psychopathologie ist. 
Die an dem genannten Tage neugegründete Körper¬ 
schaft trägt den^Namen „Vereinigung für gerichtliche 
Psychologie und Psychiatrie“. Die neue Gründung 
erstreckt sich auf das ganze Grossherzogthum Hessen, 
es liegt also die grosse Bedeutung des Unternehmens 
wesentlich darin, dass sich im Umfange eines ganzen 
Staatsverbandes die beiden Parteien, die schon so 

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manchmal miteinander im Streite lagen, auf dem 
festesten Willen zur Vorurtheilslosigkeit zusammen¬ 
gefunden haben. 

Die geistigen Urheber des Unternehmens waren 
die Vertreter des Strafrechts und der Psychiatrie ah 
der Universität Giessen, denen sich alsbald eine 
Anzahl von Vertretern der Staatsanwaltschaft, des 
Richterstandes sowie die Amtsärzte anschlossen. Auf 
ihre Einladung fanden sich aus den Reihen der 
hessischen Juristen und Aerzte eine sehr grosse An¬ 
zahl, ca 110 Theilnehmer, ein. Die Tagungen sollen 
halbjährlich stattfinden; als Ort der nächsten Tagung 
ist Mainz bestimmt. Bei der Organisation der Ver¬ 
einigung wurde die politische Geographie des Gross¬ 
herzogthums insofern zur Grundlage genommen, als 
für jede der drei hessischen Provinzen je drei Vor¬ 
standsmitglieder gewählt wurden, sodass der Vorstand 
aus 9 Mitgliedern besteht — Die praktische Arbeit 
der ersten Tagung wurde geleistet in den Vorträgen 
der Professoren Mittermaier und Sommer. Erste- 
rer entwickelte- in ausführlichem Vortrage die Noth- 
wendigkeit der Reform des modernen Strafprocesses 
überhaupt und fand die Verknüpfung seiner Erörter¬ 
ung mit dep Leitgedanken der Vereinigung in der 
Förderung einer psychologischen Vorbildung der 
Juristen. Sommer gab in längerer Rede eine Dar¬ 
stellung der verschiedenen Formen der falschen Aus¬ 
sage bei Geisteskranken, Criminellen und Normalen. 
Der Meineid als bewusste That des Criminellen ist 
von der unbewussten falschen Aussage, wie sie bei 
moralisch ein wandsfreien Personen vorkommt, zu 
unterscheiden. Der Vortragende gab eine Uebersicht 
über die verschiedenen elementaren Störungen der 
Wahrnehmung und die Veränderungen, die diese 
erleiden können, und erläuterte diese psychologische 
Thatsache an der Hand eines Versuches. — Eine 
ausführliche Darstellung der Tagung erscheint in 
den „J uristisch-psy chia tri sehen Grenzfragen“, 
Verlag Carl Marhold, Halle a. S. 

Dr. Dannenberger. 

— München. Wie schon in voriger Nummer 
mitgetheilt, fand am 7. d. Mts. die Einweihung der 
neuen psychiatrischen Klinik zu München, Nussbaum¬ 
strasse, statt. Der von Prof. Dr. Kraepelin bei 
dieser Feier gehaltenen Festrede entnehmen wir nach 
der „Augsburger Abendzeitung“ Folgendes: 

. . . Die erste Aufgabe der Anstalt ist der Kranken¬ 
dienst. Soweit die Hilfsmittel reichten, hat die 
Klinik vertragsmässig die Rolle eines Stadtasyls für 
München übernommen: d. h. die Verpflichtung, alle 
der Anstaltspflege bedürftigen Geisteskranken der Stadt 
so lange zu versorgen, bis sie wieder entlassen oder 
in einer anderen Anstalt untergebracht werden. Den 
Hauptteil des ganzen Gebäudes, im Wesentlichen die 
beiden mittleren Stockwerke, nehmen daher die 
Krankenabtheilungen mit ca. 100 Betten ein. Diese 
Bettenzahl kann dem Bedürfniss der Münchener Hoch¬ 
schule nur pnter der Voraussetzung eines starken 
Wechsels der Kranken genügen. Nach den bisherigen 
Erfahrungen im Krankenhaus werde man in der That 
schon in nächster Zeit mit einer Aufnahmeziffer von 
1500—2000 Erkrankten zu rechnen haben. Damit 

Original from 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


33i 


1904.] 


ist natürlich eine Abkürzung der Verpflegszeit für die 
einzelnen Kranken verknüpft. Diesem Charakter 
entspricht die Ausdehnung der Ueberwachungsab- 
theilung. Nahezu zwei Drittel der Kranken, nach 
Umständen noch mehr, werden Tag und Nacht einer 
fortdauernden, sorgfältigen Ueberwachung bedürfen; 
nur ganz leichte Fälle bleiben ohne solche. Die 
Zirculation dieser Ueberwachung wird durch eine 
elektrische Centralwachuhr gewährleistet. Die Ueber¬ 
wachung ist derart eingerichtet, dass eine Person 
2 Wochen hintereinander Nachtdienst hat, um am 
Tage vollständig auszuruhen. . . . 

Abgesehen von den Bädern für das Personal und 
die Aerzte, sowie 6 Wannen zu Reinigungszwecken, 
einem elektrischen Bad und einem Duschraum sind 
in der Klinik in 5 Räumen Dauerbäder mit zusammen 
18 Wannen eingerichtet; ausserdem sind 5 fahrbare 
Wannen vorhanden. Alle Baderäume sind so freund¬ 
lich und sauber wie möglich ausgestattet, mit Kachel¬ 
wänden, reichlicher Beleuchtung, Dunkelschaltem für 
die Nacht, Holzmattenbelag, Spülclosett, Wäsche¬ 
wärmer usw.. . . 

Redner gedenkt in der Klinik den Grund¬ 
satz der zellenlosen Behandlung vollständig durch¬ 
zuführen. Immerhin sind noch einige Isolirzimmer 
da für den Fall der Einlieferung von Kranken, bei 
deren Gefährlichkeit alle anderen Rücksichten schweigen 
müssen und wo Leben und Gesundheit der Mitkranken 
in anderer Weise nicht geschützt werden könnten. . . . 

Eine gewisse grundsätzliche Bedeutung hat die 
Art der Fensterversicherung. Eis ist gewiss ein be¬ 
rechtigtes Streben, Irrenanstalten den Anschein des 
Gefängnisses zu nehmen. Man pflegt in neuerer Zeit 
vielfach die Fenster unvergittert zu lassen. Das billigt 
Prof. Dr. Kraepelin durchaus, soweit es sich um 
Erdgeschosse oder um Kranke handelt, bei denen 
jede Selbstmordgefahr ausgeschlossen ist, weil die 
Gitter nicht der Verhütung von Entweichungen, sondern 
lediglich zum Schutz gegen Selbstmord dienen sollen. 
Da nun in der Klinik sich stets zahlreiche „sich selbst¬ 
gefährliche“ Kranke befinden werden und die Räume 
dafür im 1. und 2. Stockwerk liegen, wäre der Verzicht 
auf Gitter nur möglich, wenn man den Kranken die 
Möglichkeit, selbst zu öffnen und hinauszusehen, ab¬ 
geschnitten hätte. Dieser Preis erschien dem Redrier 
zu hoch, zumal er selbst schon derartige Unglücks¬ 
fälle erlebt hat. Es sind daher für diese Krankensäle 
blumenbesetzte Korbgitter gewählt, welche den Kranken 
in Bezug auf Oeffnen und Schliessen der Fenster 
völlige Freiheit gewähren. Nur für besondere Anlässe 
ist eine Sperrvorrichtung angebracht, die etwa bei 
grosser Kälte oder bei erregten Kranken eine will¬ 
kürliche Oeffnung der Fenster unmöglich macht. In 
der Abtheilung für unruhige Kranke sind die Fenster 
mit Doppelscheiben aus starkem Glas versehen. Nach 
der Strasse zu sind Gitter vermieden, aber die 3 theiligen 
Fenster so gebaut, dass ein Hinausstürzen nicht möglich 
ist. Ebenfalls vom Gesichtspunkt des Schutzes der 
Kranken, wenn auch auf einem anderen Gebiete, zu be¬ 
trachten ist die grundsätzliche Verbannung des Alkohols 
als Genussmittel aus dem Hause. Man wird hier 
mit einer ständigen Zahl von Alkoholkranken zu 


rechnen haben, denen nur die dauernde Entziehung 
dieses Giftes die Gesundheit wiedergeben kann. Wir 
müssen daher den Kranken dessen Entbehrlichkeit 
vor Augen führen. Zum Ersatz für Alkohol werden 
neben Kaffee, Thee und Obst kohlensaures Wasser und 
Limonade dienen, zu deren Herstellung leistungsfähige 
Apparate beschafft wurden. — Das Pflegepersonal muss 
bei Durchführung der zellenlosen Behandlung so reich¬ 
lich bemessen sein, dass mindestens ein Pfleger auf 
drei Kranke trifft Redner hofft mit Hilfe des Ordens 
der barmherzigen Schwestern, welche auch die Führung 
des Wirthschaftsbetriebes übernommen haben, zu einer 
glücklichen Lösung der Frage zu kommen, insbesondere 
beabsichtigt er, die Schwestempflege, soweit es irgend¬ 
wie angeht, auch auf männliche Kranke auszudehnen, 
da man sich davon nach den Erfahrungen, nament¬ 
lich in Holland, günstige Einwirkungen auf den Geist 
der Abtheilungen verspreche. Der Klinik werden 
nicht weniger als 14 besoldete und unbesoldete Aerzte 
zur Verfügung stehen, deren Arbeitskraft allerdings 
zuweilen erheblich durch die Aufgaben des Unter¬ 
richts und der wissenschaftlichen Forschung mit in 
Anspruch genommen wird. Einer der Aerzte wird 
dauernd Nachtdienst haben. Für unbemittelte Kranke 
aus der Stadt werden in der Klinik tägliche Sprech¬ 
stunden abgehalten; für die Behandlung dieser Kranken 
stehen die verschiedensten Hilfsmittel, insbesondere 
Elektricität in mannigfacher Form, Vibrationsmassage 
und Duscheinrichtungen zur Verfügung. Die Aufgabe 
einer Klinik als Stadtasyl erfordert Zugänglichkeit 
ohne jede Förmlichkeit; jeder, der der Hilfe bedarf, 
muss die Klinik leicht und in dringenden Fällen zu 
jeder Stunde des Tages und der Nacht finden. Wenn 
einmal ein Nichtgeisteskranker die Klinik aufsuchen 
sollte, so wird sachverständige Untersuchung bald 
Klarheit schaffen. Natürlich muss auch die Entlassung 
aus der Klinik in der Regel rasch erfolgen können. 
Freiwilliger Aufenthalt in der Klinik soll nur auf 
ärztlichen Rath gewährt werden. Es giebt zahlreiche 
Irre, die durchaus der psychiatrischen Behandlung 
bedürfen, aber sich nicht entschlossen können die 
peinlichen Vorbedingungen für die Aufnahme in eine 
Irrenanstalt zu erfüllen. Für solche Kranke enthält 
die Klinik eine Abtheilung ohne jede Freiheits¬ 
beschränkung; man rechnet dabei insbesondere auf 
Kranke aus den gebildeten Ständen. . . . 

Dr. Kraepelin sprach sich sodann gegen die in 
manchen neueren psychiatrischen Kliniken durch¬ 
geführte Ausdehnung der Behandlung und des Unter¬ 
richts auf das Gebiet der Nervenkrankheiten aus. 
Einmal sei die Neurologie auf dem besten Wege 
sich zu einem selbständigen Fach zu entwickeln und 
dann braucht die Psychiatrie zu ihrer Fortentwicklung 
selbst dringend die volle Arbeitskraft ihrer Vertreter.... 

Die Klinik wird voraussichtlich vier Hochschul¬ 
lehrer beschäftigen. Nicht nur wird der schulmässige 
Unterricht zu ertheilen sein, sondern ihre Aufgabe ist 
auch die Ausbildung junger Fachgenossen aus aller 
Herren Länder, die Aufrechterhaltung wissenschaft¬ 
licher Beziehungen, die Veranstaltung von Versamm¬ 
lungen, die Abhaltung von Fortbildungskursen und 
öffentlichen Vorträgen. Mehr noch als hiefür bedarf 


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332 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 35. 


die Klinik zahlreicher Arbeitskräfte für die Lösung 
ihrer letzten und in gewissem Sinn höchsten Aufgabe, 
für die wissenschaftliche Forschung. Mit Stolz darf 
man sagen, dass in dieser Klinik der wissenschaft¬ 
lichen Forschung eine Stätte bereitet ist, wie nirgends 
in Deutschland. Redner zählt die Einrichtungen auf, 
die für Untersuchung des Blutes und anderer Körper¬ 
säfte, insbesondere der Cerebrospinal-Flüssigkeit in 
der Klinik in mustergültiger Weise getroffen sind, 
ferner für anatomische Forschungen, Mikrophoto¬ 
graphie etc. etc., die Apparate für Messung der 
Auffassungs- und Merkfähigkeit, der geistigen Arbeits¬ 
leistung etc. etc. Es sei also ein grossartiges Rüst¬ 
zeug, mit welchem die weise Fürsorge der Staats¬ 
regierung sowie die verständnissvolle Opferwilligkeit 
beider Kammern die spät aber doch nicht zu spät 
ins Leben gerufene psychiatrische Klinik ausgestattet 
hat. Kranke und Leidende, Wissenschaft und Mensch¬ 
lichkeit wird ihnen dafüi reichlich Dank zollen und 
der Segen der schöpferischen That wird nicht aus- 
bleiben! ... 

Allerdings lehre die Erfahrung, dass die Fülle der 
Hilfsmittel noch keineswegs den Erfolg verbürgt; die 
Hauptsache ist und bleibt nicht die Waffe, sondern 
der Arm, der sie führt. An uns ist es jetzt, schloss 
Prof. Kraepelin, die rauhe Form, deren Vollendung 
wir heute feiern, mit einem würdigen Inhalt zu erfüllen. 
Möchten unsere Kräfte und die Erfolge unseres 
Mühens nicht allzuweit hinter unsem Wünschen 
Zurückbleiben. (Lebhafter Beifall.) — An die Er¬ 
öffnungsrede schloss sich eine Besichtigung der Klinik 
durch die Ehrengäste und die Studierenden. 


Bibliographie 

über Kriminal-Anthropologie und Verwandtes. 

II. Quartal 1904. 

Von Medicinalrath Dr. P. Näcke in Hubertusburg 
(Fortsetzung.) 

Verster: Ueber hysterische Dämmerzustände u. das 
Vorbeireden. Vortrag. Ref. ibidem. 

Grohmann: Die V egetarier-An Siedlung in Ascona 
und die sog. Naturmenschen im Tessin. Halle a. S., 
Marhold, 1904. 63 S. 

Näcke: Ueber den Werth der sog. Degenerations¬ 
zeichen. Monatsschr. für Kriminalpsychologie etc. 
1904, Maiheft. 

Ebbinghaus: Zur Casuistik der congenitalen Herz¬ 
fehler u. deren möglichen Folgen. Münchner 
medicin. Wochenschr. 1904, Nr. 18. 

Cohn: Ein Fall von angeborenem Herzfehler. Ibid. 

Grosmolard: Les jeunes criminels en correction. 
Archives d’anthrop. crira. 15. mai 1904. 

Vaschide et Vurpas: De l’excitation sexuelle dans 
l’emotion musicale. Ibidem. 

Dubuisson: Du principe de rimitateur de l’aliena- 
tion et de le criminalite. Lyon. Paris, Stork, 
IQ04. 


Mora che: Naissance et Mort. Paris 1904. 

Hubert: De l’epilepsie tardive. Gazette des höpi- 
t^ux. 1904, Nr. 47. 

Giraud: Note sur les alienes processifs. Journ. de 
Neurologie 1904, p. 125. 

Guermonprez: L’assassinat medical et la respect de 
la vie humaine, Paris, 1904, Rousset. 

Cochy de Moncau: Des stigmates de la Criminalite. 
L’oeil et la vision chez les criminels. Paris, Jonoe, 
1904, 72 S. 

Bresler: Die Simulation von Geistesstörung u. Epi¬ 
lepsie. Marhold, Halle a. S., 1904. 

Gtitschow: Zur Kenntnis der weiblichen Epispadie. 
Diss. Rostok 1904. 

Brunner: Ueber Pulmonalstenose mit foramen ovale. 
Diss. . München 1904. 

Späther: Die angeborenen Stenosen u. Atresien des 
Darmes. Diss. Bonn 1904. 

v. Babes: Die angeborenen Anomalien, die Prädispo¬ 
sition u. die Charaktere der Arten. Ref. Münchner 
medicin. Wochenschr. 1904, Nr. 19. 

Babes: Ueber Gesichtsanomalien, welche eine 

Umwandlung der Extremitäten (Akrometagenese) 
zur Folge haben. Ref. ibidem. 

Näcke: Specialanstalten für geistig Minderwertige. 
Psvch.-Neurolog. Wochenschr. 1904, Nr. 9/10. 

Kornfeld: Verbrechen u. Geistesstörung im Lichte 
der altbiblischen Tradition. Marhold, Halle a. S., 
, u >° 4 * 

Rcti: Sexuelle Gebrechen, deren Verhütung u. Heilr 
ung. 2. Aufl. Halle a. S., Marhold, 2 M. 1904. 

Weygandt: Verhalten des Gehirns bei Situs viscerum 
transversus. Autoref. in Psych.-neuro!. Wochen¬ 
schrift. 1904, Nr. 7. 

Le Damäny: Die congenitale Hüftgelenksluxation. 
Revue de Chirurgie. Dec. 1903. 

Schallmeyer: Vererbung u. Auslese im Lebenslauf 
der Völker. Jena, Fischer, 1903. 

Rawitz: Urgeschichte, Geschichte und Politik. Berlin, 
Simon, 1903. 

Germer: 2 congenitale Tumoren des Vorderarmes. 
Diss. Greifswald, 1904. 

Heine: Ueber den angeborenem Mangel der Knie¬ 
scheibe. Berliner klin. Wochenschr. 1904, Nr. 19. 

Kier 11 an: Mixoskopic adolescent survivals in art, 
literature and pseudo-ethics. (Forts.) The Alienist 
etc. 1904, Nr. 2. 

Dühren: Neue Forschungen über den Marquis de 
Sade u. seine Zeit. Berlin, Harrwig, 10 M. 

Lombroso: Atavismus und Civilisation. Politisch- 
anthropologische Revue 1904, Nr. 3. 

Wirth: Das Gesetz in der Geschichte. Ibidem. 

Hartung: Eine Theorie des Völkertodes. Ibidem. 

Voretzsch: Lungenaplasie mit Veränderungen ma¬ 
lignen Charakters. Ref. Münchner medicin. 
Wochenschr. 1904, Nr. 21. 

Schönborn: Aussterbende Familien. Beiträge zur 
Klinik der Tuberkulose 1903, Bd. II. 

(Fortsetzung folgt.) 


Für den redacticmellen Theil verantwortlich : Oberarzt I)r. J. Iiresler, Lublmilz (Nchesien). 

Krscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inscratcnannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Heynemann’sche Buchdruckerci (Gebr. Wo'flO in Halle a. S. 


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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift. 

Redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler. 

Lublinitx (Schienen). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telejrr.-Adresse: M arho ld Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834. 

Nr. 36. 3. Dezember. 1904, 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die ßspaltige petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermüssigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Rresler, Lublinitx (Schlesien), zu richten. 


Dritter Bericht über die Fortschritte des Irrenwesens. 

Nach den Anstaltsjahresberichten erstattet 
von Dr. Deitert in Bonn, früher in Andernach. 


A bsichtlich habe ich mit der Erstattung dieses III. 

Berichtes etwas länger gezögert. Es liegt in 
der Natur der Sache, dass unsere Anstaltsberichte 
immer wieder dieselben Dinge besprechen, und der 
Referent, der alljährlich das Wissensw'erthe daraus zu¬ 
sammenstellen will, geräth in Gefahr Wiederholungen 
zu bringen. 

Nachdem nunmehr aber eine grössere Anzahl von 
Berichten vorliegt, als sonst, welche einen erheblich 
längeren Zeitraum als i Jahr umfassen, glaube ich 
doch wieder genug des Neuen bringen zu können. 

Im Uebrigen möchte ich hier das früher Gesagte 
wiederholen, dass unsere Anstaltsberichte nicht aus¬ 
reichen, um uns ein lückenloses Bild von der der¬ 
zeitigen Gesammtlage der Irrenfürsorge zu geben; 
das bitte ich also auch von dem folgenden Referat 
nicht zu erwarten. Wohl aber sind sie geeignet uns 
über den allmählichen Fortgang der Entwicklung zu 
unterrichten. 

Verzeichniss der vorliegenden Berichte. 

Deutschland. 

1. Die deutschen Heilanstalten für Alkoholkranke 
im Jahre 1^3. Hrsg. v. P. Kruse. 

Preussen. 

Provinz Ostpreussen. 

2. Bericht über die Irrenanstalten Allenberg, 
Kort au und Tapiau für das Jahr 1902. 

3. Derselbe 1903. 

5. Bericht über die Idiotenanstalt zu Rasten burg 
1902/03. 

4. Derselbe 1903/04. 

6. Jahresbericht des Königsberger Vereins zur 
Fürsorge für Schwachsinnige pro 1902. 

Provinz Westpreussen. 

7. Bericht über die Verwaltung der westpreussischen 

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Provinzial-Irrenanstalt zu Con radste in für das 
Rechnungsjahr 1902. 

8. Bericht über die Verwaltung der westpreussischen 
Provinzial-Irrenanstalt zu Sch wetz für das Rech¬ 
nungsjahr 1902. 

Provinz Pommern . 

9. Erster Bericht über die pommersche Provinzial- 
Irrenanstalt zu Treptow a. Rega für die Zeit 
vom 15. II. 1900 bis 31. III. 1903. 

Provinz Posen . 

10. Bericht über die Provinzial-Irrenanstalt zu Dzie- 
kanka für die Zeit vom 1. V. 1902 bis 31. III. 
1903. 

11. Bericht über die Provinzial - Irrenanstalt zu 
Owinsk für die Zeit vom 1. IV. 1902 bis 31. 

III. 1903. 

12. Bericht über die Provinzial-Irren- und Idioten- 
Anstalt zu Kosten für die Zeit vom 1. IV. 1901 
bis 31. III. 1902. 

13. Derselbe vom 1. IV. 1902 bis 31. III. 1903. 

Provinz Schlesien . 

14. Bericht über das städtische Irrenhaus zu Bres¬ 
lau für die Zeit vom 1. IV. 1902 bis 31. III. 
1903. 

15. Bericht der Provinzial-Irrenanstalt zu Brieg über 
das Jahr 1902/1903. 

16. Aerztlicher Jahresbericht der Provinzial-Irrenanstalt 
zu Bunzlau 1902/03. 

17. Derselbe 1903/04. 

18. Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalt zu Freiburg 
i. Schlesien, zehnter Jahresbericht (Rechnungs¬ 
jahr 1902). 

19. Provinzial-Irrenanstalt zu Leubus. Aus dem 
Jahresbericht für 1902/03. 

20. Derselbe 1903/04. 

21. Aerztlicher Bericht über das Verwaltungsjahr 1902 
der Provinzial-Irrenanstalt Rybnik. 

Provinz Brandenburg. 

22. Auszug aus dem Verwaltungsbericht des Branden- 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 35 


334 


burgischen Piovinzialausschusses vom 29. Januar 
1904. 

23. Bericht über die Idiotenbildungsanstalt ,,Wilhelm¬ 
stift“ und die Provinzialanstalt für Epileptische 
zu Potsdam. 

24. Verwaltungsbericht des Magistrats zu Berlin für 
das Etatsjahr 1902. Nr. 19. Bericht der Depu¬ 
tation für die städtische Irrenpflege. 

25. Schweizerhof. Privatheilanstalt für Nerven- 
und Psychisch-Kranke weiblichen Geschlechts. 
Dritter Bericht, 50 Jahre nach seiner Gründung. 
17. XII. 1853 bis 17. XII. 1903. 

26. Fünfter Bericht des Vereins Heilstätte für Nerven¬ 
kranke „Haus Schönow“ in Zehlendorf bei 
Berlin. 1904. 

Provinz Schleswig-Holstein. 

27. Bericht über das 82. Verwaltungsjahr der Pro- 
vinzial-Irren-Heil- und Pflegeanstalt bei Schles¬ 
wig für die Zeit vom 1. IV. 1902 bis 31. III. 
1903. 

Provinz Haimover. 

28. Jahresbericht der Provinzial-Heil- und Pflegean¬ 
stalt zu Göttingen für das Jahr 1902. 

29. Jahresbericht der Provinzial-Heil- und Pflegean¬ 
stalt zu Hildes heim für die Zeit vom 1. IV. 
1902 bis Ende März 1903. 

30. Derselbe 1903/04. 

31. Jahresbericht der Provinzial-Heil- und Pflege-An¬ 
stalt für Geistesschwache zu Lange n h a g e 11 
vom 1. IV. 1902 bis 31. III. 1903. 

32. Derselbe 1903/04. 

33. Jahresbericht der Provinzial-Heil- und Pflege-An¬ 
stalt zu Lüneburg für das Jahr 1902. 

34. Derselbe für 1. IV. 1903 bis 31. III. 1904. 

35. Jahresbericht der Provinzial-Heil- und Pflege-An¬ 
stalt zu Osnabrück für das Jahr 1902. 

36. Derselbe, Rechnungsjahr 1903. 

Provinz Sachsen . 

37. 2Ö. und 27. Verwaltungsbericht der Landes-Heil- 
und Pflege-Anstalt zu Rittergut Alt-Scherbitz 
und des Siechenasyls Kaiser-Wilhelm-Augusta- 
Stiftung 1900/01 und 1901/02. 

38. XXX. Jahresbericht pro IQ02 über das Erzieh¬ 
ungshaus für schwach- und blödsinnige Mädchen 
„zum guten Hirten“ zu Hasserode. 

Provinx Westpha len. 

39. Berichte der Directoren der Provinzial-Irrenan- 
stalten zu Marsh erg, Lengerich, Münster, 
Aplerbeck, Eickelborn für das Geschäfts¬ 
jahr 1901. 

40. Derselbe 1902. 

Rkeinprovinz . 

41. Bericht über die Provinzial-Heil- und Pflege- 
Anstalten der Rhein pro v in z, Rechnungsjahr 
1902/03. 

42. Der Tannenhof bei Lüttringhausen, evange¬ 
lische Heil- und Pflegeanstalt für Gemüths- und 
Geisteskranke. Bericht über das 7. Arbeitsjahr 
1902/03. 

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43. Fünfundvierzigster Bericht über H e p h a ta, evan¬ 
gelische Idioten-Erziehungs- und Pflege-Anstalt 
zu M. Gladbach. 1903. 

44. 2. Jahresbericht des Hülfsvereins für Geistes¬ 
kranke in der Rheinprovinz. Jahrgang 1902. 

45. 3. desgl. 1903. 

Provinz Hessen - Nassau . 

46. Bericht der Heil- und Pflege-Anstalt Eichberg 
im Rheingau, betreffend das Rechnungsjahr vom 
1. IV. 1902 bis 31. III. 1903. 

47. Bericht über die Verwaltung der Irren-Heil- und 
Pflege-Anstalt Weilmünsterfür das Rechnungs¬ 
jahr vom 1. IV. 1902 bis 31. III. 1903. 

48. Bericht über die Anstalt für Irre und Epileptische 
zu Frankfurt a. M. vom 1. IV. 1902 bis 31. 
III. 1903. 

Bayer n. 

49. Generalbericht über die Sanitäts-Verwaltung im 
Königreich Bayern. Das Jahr 1902 umfassend. 

50. Erster ärztlicher Jahresbericht der Kreisirrenanstalt 
Ansbach für das Jahr 1902. 

51. Zweiter desgl. 1903. 

52. Jahresbericht der Kreis-Irrenanstalt Bayreuth 
für das Jahr 1902. 

53. Desgl. 1903. 

54. XVII. Jahresbericht der Kreis-Irrenanstalt G aber- 
see für das Jahr 1902. 

55. XVIII. desgl. 1903. 

56. Jahresbericht der Kreis-Irrenanstalt München 
über das Jahr 1902. 

57. Desgl. 1903. 

Württemberg. 

58. Bericht über die im Königreich Württemberg 
bestehenden Staats- und Privatanstalten für Gei¬ 
steskranke, Schwachsinnige und Epileptische auf 
das Jahr 1901. 

59. Desgl. auf das Jahr 1902. 

60. Jahresbericht der Heil- und Pflege-Anstalt für 
Schwachsinnige in M a ri a b e r g vom Jahre 1902 
bis 1903. 

61. Jahresbericht der Heil- und Pflege-Anstalt für 
Schwachsinnige und Epileptische in Stetten irn 
Remsthal. 1902/03. 

Sachsen. 

62. Das Irrenwesen im Königreich Sachsen im 
Jahre 1002. 

63. Rath der Stadt Leipzig. Bericht des Hochbau- 
Amtes für das Jahr 1902. Neubau der Heil¬ 
anstalt Döse n betreffend. 

64. Heilanstalt Dösen. Bericht des Directors für 
1901 und 1902. 

Baden. 

65. Jahresbericht der grossherzoglich badischen Irren¬ 
klinik Heidelberg für die Jahre 1901/02. 

66. Desgl. für das Jahr 1903. 

67. Jahresbericht der grossherzoglich badischen psy¬ 
chiatrischen Klinik Freiburg für die Jahre 
1901/02. 

68. Desgl. für das Jahr 1903. 

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1904.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


335 


6g. Jahresbericht der grossherzogl. badischen Heil- 
und Pflege-Anstalt Illenau für die Jahre 1901 
bis 1902. 

70. Desgl. für das Jahr 1903. 

71. Jahresbericht der grossherzoglich badischen Heil- 
und Pflege-Anstalt Pforzheim für die Jahre 
1901/02. 

72. Desgl. für das Jahr 1903. 

73. Jahresbericht der grossherzogl. badischen Heil- 
und Pflege-Anstalt Emmendingen für die Jahre 
1901/02. 

74. Desgl. für das Jahr 1903. 

75. Haus Rocken au, Heilanstalt für Nervenkranke 
und Entwöhnungskuren. 

76. Erster Jahresbericht der Villa Wilhelma, 
Familienpflege für Alkoholkranke, Abstinenz- 
Sanatorium in Heidelberg. 

Mecklenburg. 

77. Verwaltungsbericht der grossherzoglich mecklen¬ 
burgischen Irren-Heil- und Pflege-Anstalt Gehls- 
heim für 1902. 

78. Derselbe für 1903. 

79. Verwaltungsbericht der grossherzoglich mecklen¬ 
burgischen Irren-Heil- u. Pflege-Anstalt Sachsen- 

* berg für 1902. 

80. Derselbe für 1903. 

81. Jahresbericht der grossherzoglichen Bildungs- und 
Pflege - Anstalt für geistesschwache Kinder zu 
Schwerin 1. X. 1902 bis 30. IX. 1903. 

82. Sechster Jahresbericht der Landesirrenanstalt bei 
Strelitz (Alt-) vom 21. VIII. 1902 bis 1. I. 
1904. 

Hessen. 

83. Bericht der Verwaltung des Hilfsvereins für die 
Geisteskranken in Hessen. Rechnungsjahr 
1902/03. 

84. Derselbe, Rechnungsjahr 1903/04. 

Braunschweig. 

85. Die herzogliche Heil- und Pflege - Anstalt zu 
Königslutter vom 1. IV. 1891 bis 31. III. 
1903. Amtlicher Bericht. 

Thüringische Staaten. 

86. Bericht über das Carl Friedrich-Hospital, Grossh. 
Sächs. Landes-Irren-Heil- und Pflege-Anstalt mit 
Siechenabtheilung zu Blankenhain (S.-W.) für 
die Jahre 1898—1902. 

87. Vierundzwanzigste statistische Nachricht über das 
Genesungshaus zu Roda auf des Jahr 1902. 

88. Fünfundzwanzigste desgl. auf das Jahr 1903. 

Hohenzollern. 

89. Aerztlicher Jahresbericht über das Fürst-Carl- 
Landes - Spital zu Sigmaringen für das Jahr 
1902. 

90. Desgl. für das Jahr 1903. 

Elsass-Lothringen. 

91. Bericht über die Verwaltung der vereinigten Be¬ 
zirks-Irrenanstalt Stefansfeld-Hördt, für die 
Verwaltungsperiode 1. IV, 1902 bis 31. III. I 9 ° 3 * 

92. Bericht über die Bezirks-Irrenanstalt bei Sa ar¬ 
ge münd für das Jahr 1902. 


Hanse -Städte. 

93. Hamburg, Jahresbericht des Krankenhauscolle¬ 
giums für das Jahr 1902. 

94. Desgl. 1903. 

95. Briefe und Bilder aus Alsterdorf. 1904. 

96. Aerztlicher Bericht über die Wirksamkeit der 
Krankenanstalt zu Bremen im Jahre 1902. 

97. Bericht über die Wirksamkeit der Privat-Heil- 
und Pflegeanstalt für Nervenleidende und Geistes¬ 
kranke des Dr. med. H. Engelken zu Rock- 
winkel im Jahre 1902. 

98. Derselbe 1903. 

99. Lübeck. Jahresbericht der Vorsteherschafl der 
Irrenanstalt über die Verwaltung im Jahre 1902. 

Oesterreich-Ungarn. 

100. Bericht des niederösterreichischen Lan¬ 
des-Ausschusses über seine Amtswirksamkeit 
vom 1. VII. 1901 bis 30. VI. 1902. 

101. Niedernhart, Bericht über die oberöster¬ 
reichische Landes-Irrenanstalt für das Jahr 1902. 

102. Desgl. für das Jahr 1903. 

103. Jahresbericht der Landes-Irrenanstalt Val du na 
in Vorarlberg für 1902 und 1903. 

104. Hellwig, der Stand der Irrenpflege in Mähren, 
ein Nothstand. 

105. Jahresbericht der mährischen Landes-Irrenanstalt 
in Brünn für das Jahr 1902. 

106. Desgl. für das Jahr 1903. 

107. Bericht der Landes-Irren-Heil- und Pflege-An- 
stalt Feldhof bei Graz nebst den Filialen 
Lankowitz, Kainbach und Hartberg für 
das Jahr 1902. 

108. Das Irrenwesen Ungarns im Jahre 1902. — 
Beilage dazu: Bericht über die Verhandlungen 
der II. Landesconferenz der ungarischen Irren¬ 
ärzte. 

109. Das Irrenwesen Ungarns im Jahre 1903. 

Schweiz. 

110. Verein schweizerischer Irrenärzte. Zur 34. Jahres¬ 
versammlung 1. u. 2. Juni 1903. 

in. Jahresbericht der Thurgauischen Irrenanstalt 
Münsterlingen 1902. 

112. Fünfundvierzigster Jahresbericht der Heil- und 
Pflegeanstalt St. Pirminsberg pro 1902. 

113. Sechsundvierzigster desgl. pro 1903. 

114. Elfter Jahresbericht des kantonalen Asyles in 
Wil, vom 1. I. bis 31. XII. 1902. 

115. Zwölfter desgl. 1903. 

116. Elfter Jahresbericht der Direction der kanto¬ 
nalen Irren- und Krankenanstalt Waldhaus 
pro 1902. 

117. Zwölfter desgl. pro 1903. 

118. Rechenschaftsbericht über die Züricher kanto¬ 
nale Irrenheilanstalt Burghölzli für das Jahr 
1902. 

119. Desgl. für das Jahr 1903. 

120. Vierzehnter Jahresbericht der Trinkerheilstätte 
Ellikon a. d. Thur über das Jahr 1902. 

121. Fünfzehnter desgl. über das Jahr 1903. 


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336 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 36. 


122. Siebenundzwanzigster Bericht des Züricher 
Hilfsvereins für Geisteskranke über das 
Jahr 1903. 

123. Achtundzwanzigster desgl. über das Jahr 1903. 

124. Bericht über die kantonale Heil- und Pflege¬ 
anstalt Friedmatt 1902. 

125. Siebzehnter Bericht des Basler Irren hilf s- 
vereins 1902. 

126. Achtzehnter desgl. 1904. 

127. Evangelische Heilanstalt „Sonnenhalde“ für 
weibl. Gemüthskranke bei Riehen. Dritter 
Jahresbericht, 1. IX. 1902 bis 31. VIII. 1903. 

128. Jahresbericht der Heil- und Pflegeanstalt Rosegg 
pro 1902. 

129. Desgl. pro 1903. 

130. Jahresberichte der bemischen kantonalen Irren¬ 
anstalten Waldau, Münsingen und Bei¬ 
lelay für das Jahr 1902. 

131. Desgl. für das Jahr 1903. 

132. Jahresbericht der kantonalen Heil- und Pflege- 
Anstalt Königsfel den 1903. 

133. Elfter Bericht des aargauischen HilfsVer¬ 
eins für arme Geisteskranke 1903. 

134. Maison de sante de Prefargier, exercice de 
1902. 

135. Desgl. 1903. 

136. Asile de Cery, exercice de 1902. 

137. Desgl 1903. 

Belgien und Holland. 

138. Fr. Meeus (Gheel) en F. Ghys (Antwerpen), 
Gezinsverpleging der Hulpbehoevenden. 

139. Verslag betreffende het Gesticht Meerenberg 
over het Jaar 1902. 

140. Desgl. 1903. 

141. Bericht über die Landes-Irrenanstalt in Buiten- 
zorg (Java, Niederländisch-Ostindien) von 1894 
bis Anfang Juni 1901. 


I. Irren-Gesetzgebung. 

Die Frage einer reichsgesetzlichen Regelung des 
Irrenwesens steht ja schon seit einer Reihe von Jahren 
auf der Tagesordnung und ist zeitweise lebhaft und 
temperamentvoll erörtert worden. Man könnte des¬ 
halb geneigt sein, zu erwarten, dass in unseren Jahres¬ 
berichten hier und da eine Meinungsäusserung hierüber 
anzutreffen sein müsse, weil doch die eigensten 
Lebensinteressen der Anstalten davon berührt werden. 

Thatsächlich findet sich aber recht wenig darüber, 
so wenig, dass ich in den beiden vorigen Berichten 
überhaupt nicht in der Lage war, dieses Kapitel be¬ 
rühren zu können; und wäre ich allein auf die reichs- 
deutschen Berichte angewiesen, so wäre es auch in 
diesem Jahre mit wenigen Worten abgethan. 

Da ist zunächst La ehr zu erwähnen, der einen 
interessanten historischen Rückblick mit einem Aus¬ 
blick in die Zukunft schliesst und dabei zur Frage 
des Reichsirrengesetzes seinen bekannten Standpunkt 


vertritt. Der Passus sei hier wiedergegeben: „Von 
einzelnen Collegen wird ein Reichsgesetz heiss er¬ 
sehnt, weil sie meinen, dass die Uebelstände, welche 
jetzt der praktischen Psychiatrie anhaften, dadurch 
beseitigt werden. Noch ist die Psychiatrie aber in 
der Entwickelung und die Gefahr liegt vor, dass ein 
Gesetz, schon jetzt festgelegt, der Zukunft nicht ge¬ 
nügt. Ich bin der Meinung, dass jene Uebelstände 
auf anderem Gebiete, namentlich aus der Unkennt¬ 
nis der meisten Laien, entspringen. Ein Ausnahme¬ 
gesetz scheint mir dem Fortschritte geradezu ein 
Hindernis zu sein, nachdem das bürgerliche Ge¬ 
setzbuch genügende Garantien gegeben hat. Die 
Verordnungen in den einzelnen deutschen Staaten 
mit ihren mancherlei verschiedenen socialen und 
lokalen Verhältnissen, der überall bei ihnen vorherr¬ 
schende Wetteifer, das Beste in der Fürsorge für 
ihre Kranken zu schatten , genügen, um das Miss¬ 
trauen, soweit dies möglich ist, zu beseitigen, und 
die Anstalten für psychisch Kranke andern für kör¬ 
perlich Kranke gleichzustellen.“ 

Der Berliner Magistratsbericht theilt mit, dass' 
auf eine Anfrage des Oberpräsidenten, „ob ein Be- 
dürfniss für die reichsgesetzliche Regelung der Auf¬ 
nahme- und Aufenthaltsverhültnisse und der Entlass¬ 
ung von Geisteskranken in bezw. aus den Irrenan¬ 
stalten anzuerkennen sei“, der . Bescheid gegeben 
wurde, „dass wir ein derartiges Bedürfniss nicht an¬ 
zuerkennen vermögen, und dass auch die drei An¬ 
staltsdirektionen ein Bedürfniss für nicht vorliegend 
erachtet hätten“. 

Näheres Eingehen auf diese Dinge finden wir 
in einigen ausländischen Berichten. Der Verein 
Schweizer Irrenärzte bringt in tabellarischer 
Form einen historischen Ueberblick über seine Be¬ 
strebungen zur Herbeiführung einer Irrenschutzgesetz¬ 
gebung in der Schweiz. Prof. Brenner, Basel, hatte 
schon i86q die Anregung gegeben, dann 1871 einen 
Entwurf vorgelegt. Es wurden dann im Lauf der 
Jahre eine ganze Reihe v<»n Commissionen gewählt, 
welche die Frage nach allen Richtungen erörterten. 
Auch mit den Vertretern der Regierungen trat man 
in Verbindung und es gelang, eine Einigung sämmt- 
licher Kantone herbeizuführen, mit Ausnahme von 
Bern und Zürich. Am Widerstande dieser beiden 
scheiterte dann das Ganze. 

Neuerdings hat Wille die Sache zum Gegen¬ 
stände eines Vortrages gemacht, welchen der Be¬ 
richt des Baseler Hilfs Vereins abdruckt. Nach 
Schilderung der bisherigen Bestrebungen stellt er die 
Aufgaben eines solchen Gesetzes zusammen: 1. Schutz 
der Irren vor unpassender Behandlung und Vemach- 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


337 


lässigung. Vorbedingung dazu ist die Anzeigepflicht, 
denn das Gesetz kann nur die Irren beaufsichtigen 
und schützen, die es kennt. Zur Ausübung dieser 
Aufsicht bedarf es aber nicht nur der Macht, son¬ 
dern auch des richtigen Verständnisses. Die Auf¬ 
sichtsbehörde soll daher, als wesentlichem Bestand¬ 
teil, aus Irrenärzten bestehen. Im einzelnen ver¬ 
langt er dazu: Regelung der Sache durch die Eid¬ 
genossenschaft, welche die speciellen kantonalen Ge¬ 
setze zu überwachen hat; einheitliche Bestimmungen 
über Aufnahmen und Entlassungen, sowie Einricht¬ 
ungen der Anstalten und Bedingungen der Familien¬ 
pflege; endlich ein Gesetz über die Trunksucht — 
2. verlangt Wille, dass die civilrechtlichen und 3. die 
strafrechtlichen Beziehungen der Geisteskranken im 
Irrengesetz geregelt werden. 

Diese beiden letzteren Punkte sind doch wohl 
anfechtbar. Wenigstens wird von juristischer Seite 
zweifellos entgegnet werden, dass diese Dinge in 
die allgemeinen Gesetzbücher, das bürgerliche Gesetz¬ 
buch und das Strafgesetzbuch gehören (cf. Vorster, 
Reichsgesetzliche Regelung des Irrenwesens, Vortrag 
im deutschen Medicinalbeamtenverein), und auch 
vom psychiatrischen Standpunkte sehe ich keinen 
Grund, sie zum Gegenstände einer Sondergesetz¬ 
gebung zu machen. Mögen auch die Bestimmungen 
der beiden Gesetzbücher im einzelnen noch nicht 
vollkommen sein, im Princip ist die allgemeine 
Regelung der Materie durch sie vorzuziehen. 

Bliebe also für das Irrengesetz nur Punkt 1, und 
das ist in der That ein recht weites Arbeitsfeld, auf 
dem noch recht viel geschehen kann. 

Freilich wird man sich diese Arbeit nicht so 
einseitig vorstellen dürfen, wie jener Grossrath im 
Kanton Aargau, der laut Bericht des Vereins 
Schweizer Irrenärzte ein Irrengesetz wünscht, „welches 
allseitigen Schutz bieten soll vor ungerechtfertigter 
Beraubung der persönlichen Freiheit und der per¬ 
sönlichen Rechte, materieller und moralischer Schä¬ 
digung, Schädigung der Gesundheit, Gefährdung des 
Lebe s tr. jtc. wegen Geisteskrankheit“. Ein Irren- 
gesetz, diw lediglich von Misstrauen gegen die An¬ 
stalten dictirt ist, würde mehr schaden als nützen. 

Auch in Ungarn strebt man nach einem Irren¬ 
gesetz. Dem ungarischen Bericht ist ein Referat 
über die II. Landesconferenz der ungarischen Irren¬ 
ärzte beigelegt, auf welcher dieses Thema verhandelt 
wurde. Der Referent Schwartzer trug die Grund¬ 
sätze zu einem Irrengesetze vor und daran schloss 
sich eine lebhafte Discussion. Meinungsverschieden¬ 
heit entstand schon über die Frage, ob der Begriff 
Geisteskrankheit im Gesetze definirt werden solle. 


Der Referent hatte es verneint, Moravcsik hielt 
es für nothwendig. Konrad erkannte zwar die 
Unmöglichkeit an, eine erschöpfende Definition zu 
geben, hielt es aber doch für wünsch enswerth, eine 
Umschreibung des Begriffes im Sinne des Gesetzes 
zu geben, welche es ermöglichen solle, gegen solche 
Degenerirte etc., welche sich entschieden dagegen 
verwahren würden, geisteskrank zu sein, aber doch 
entsprechender Fürsorge bedürfen, eine gesetzliche 
Handhabe zu bieten. Als Muster führte er die 
Definition des Schweizer Entwurfes an, welche lautet: 
„Geisteskrank ist: 1. Wer an einer angeborenen 
oder erworbenen Geisteskrankheit leidet. 2. Wer 
auch ohne tiefere Störung der Vernunft an (insbe¬ 
sondere auf konstitutioneller Basis beruhenden) patho¬ 
logischen Instincten und Neigungen oder schweren 
moralischen Defecten leidet. 3. Wer sich durch 
narcotische Gifte (Alkohol, Morphium etc.) Schaden 
zufügt, sobald er infolge seines Zustandes unfähig ge¬ 
worden ist über sich selbst zu verfügen, oder die Rechte 
anderer zu achten, zum Schutze der eigenen Person 
jedoch der Pflege und Aufsicht bedarf oder anderen 
bedeutenden Schaden zufügt oder gemeingefährlich 
wird.“ 

Im einzelnen wird man die Definition ja noch 
etwas glücklicher fassen können; principiell aber 
scheint mir die Konrad’sche ' Ansicht die richtige, 
jedenfalls praktisch brauchbarste zu sein. Gewiss ist 
es nicht möglich eine wissenschaftlich unanfechtbare 
exacte Definition des Begriffes Geisteskrankheit zu 
geben. Aber das braucht es auch nicht. Will man 
es erreichen, dass nicht nur die an manifesten Psy¬ 
chosen Leidenden unter das Gesetz fallen, sondern 
auch das grosse Heer der Grenzzustände, ferner 
die Degenerirten und die antisocialen Imbecillen, 
endlich die Trinker etc. einbezogen werden, so bleibt 
eben nichts übrig, als dies im Gesetz unzweideutig 
auszusprechen. 

Der Referent wollte ferner die Intemirung in 
Anstalten auf solche Geisteskranke beschränkt wissen, 
welche entweder für die öffentliche Sicherheit oder 
für sich selbst gefährlich sind. Dem widersprach 
v. Ol ah: „Es ist ganz unrichtig, das Recht zum Be- 
handeltwerdcn an das Kriterium der Heilbarkeit oder 
der Gemeingefährlichkeit zu binden. Die Irrenheil¬ 
kunde kann auch in jenen Fällen viel leisten, wo 
eine Heilung ausgeschlossen ist.“ Sa Igo möchte 
den grossen Apparat der Aufnahmen und Entlass¬ 
ungen dem Arzte ganz abgenommen sehen, weil 
dieser dadurch zu sehr von seinen eigentlichen Auf¬ 
gaben abgezogen würde. Ueber diese Dinge sollten 
die Aufsichtscommissionen entscheiden. 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 36. 


Eine vom Referenten vorgeschlagene Neuerung 
fand ungetheilte Zustimmung, nämlich die prophylak¬ 
tische Maassregel, dass auch nicht Geisteskranke, die 
sich freiwillig melden, in die Anstalt aufgenommen 
werden dürfen, v. Oh 14 h sieht einen Hauptvortheil 
darin, dass die Anstalt dem Publikum in ganz an¬ 
derem Lichte erscheinen werde, weni^ auch Frei¬ 
willige aufgenommen werden. „Dieser kleine fromme 
Betrug kann in vielen Fällen von grossem Nutzen 
sein.“ Lechner will noch weiter gehen und ver¬ 
langt, es müsse ausgesprochen werden, dass auch 
Alkoholiker, Nervenkranke, Gemüthskranke in die 
Anstalt aufgenommen werden. 

In Deutschland erstreben wir bekanntlich eine 
Fürsorge für Alkoholiker und Nervenkranke durch 
Schaffung besonderer Heilstätten, und das ist doch 
wohl das richtigere. In die Irrenanstalt passen sie 
doch nicht recht, sie fühlen sich selbst nicht wohl 
darin und erfordern auch einen ganz andern Zu¬ 
schnitt der Behandlung. Und das Bestreben, durch 
Aufnahme Freiwilliger dem Publikum Sand in die 
Augen zu streuen, scheint mir schon gar nicht am 
Platze. Vorurtheile bekämpft man am besten durch 
volle Offenheit, welche es jedem ermöglicht, sich 
selbst davon zu überzeugen, dass die Vorurtheile un¬ 
begründet sind. 

Einig war man darin, dass nicht in jedem Falle 
ein Entmündigungsverfahren einzuleiten sei, und dem 
wird wohl jeder zustimmen. Dagegen soll richter¬ 
liche Entscheidung angerufen werden, wenn bezügl. 
der Entlassung zwischen Anstaltsdirection und Ange¬ 
hörigen keine Einigung erzielt wird. 

Es wäre gewiss wünschenswerth, eine Instanz 
zu schaffen, welche in solchem Falle verantwortlich 
zu entscheiden hat. Denn der übliche Revers, durch 
welchen man den einsichtslosen Angehörigen die 
Verantwortung zuzuschieben pflegt, hat doch nur be¬ 
dingten Werth. Richtet der vorzeitig Entlassene 
irgend ein Unheil an, so trifft das Odium doch die 
Anstalt, auch wenn sie noch so energisch der Ent¬ 
lassung widerrathen hat. Eine Illustration dazu be¬ 
richtet Weilmünster: Eine Kranke hatte kurz 
nach der Entlassung zu Hause Selbstmord begangen. 
Dem Ehemann war wiederholt die Entlassung der 
Frau wegen Selbstmordgefahr verweigert worden. Er 
brachte schliesslich die Bescheinigung der Ortspolizei¬ 
behörde, dass er im Stande sei, die Frau genügend 
zu beaufsichtigen, und übernahm durch Unterzeich¬ 
nung eines Reverses die volle Verantwortung. Dies 
alles hielt aber die Zeitungen nicht ab, die Anstalts¬ 
direction anzugreifen und für das Unglück verantwort¬ 
lich zu machen. 


Eine Art Irrengesetz besitzt Niederländisch Ost¬ 
indien. Der Bericht von Buitenzorg druckt das 
„Reglement für das Irren wesen in Niederländisch 
Ost-Indien“ ab. Eigentümlich ist dort das Auf-, 
nahmeverfahren. Die Aufnahme wird beim Präsi¬ 
denten des Bezirksgerichtshofes beantragt; sind die 
vorgeschriebenen Beweisstücke vorhanden und aus¬ 
reichend, so ordnet er die Aufnahme ohne weiteres 
an, andernfalls muss er einen Beschluss des Gerichts¬ 
hofes bewirken. Sympathisch ist für unser Empfinden 
diese Einrichtung nicht. Wir streben danach, die 
moderne Irrenanstalt in allen ihren Einrichtungen 
immer mehr dem gewöhnlichen Krankenhaus zu 
nähern; und die Aufnahme eines Kranken in ein 
Krankenhaus zum Gegenstände eines, wenn auch 
noch so einfachen, gerichtlichen Verfahrens zu machen, 
ist nicht richtig. Auch für den weiteren Aufenthalt 
des Kranken in der Anstalt bleibt die Gerichtsbe¬ 
hörde maassgebend. Nach Ablauf der ersten vier 
Wochen, während welcher tägliche Joumalnotizen 
vorgeschrieben sind, müssen diese, nebst einer Er¬ 
klärung darüber, ob noch längerer Aufenthalt nöthig 
ist, dem Staatsanwalt eingereicht werden, welcher die 
Verlängerung beim Gerichtspräsidenten beantragt. Die 
Verlängerung darf nur für höchstens 1 Jahr be¬ 
schlossen werden, dann ist wieder das gleiche Ver¬ 
fahren erforderlich. Dieses ganze Verfahren ist wohl 
etwas umständlich und scheint mir deshalb nicht sehr 
zweckmässig; aber der Grundgedanke ist gut. Ueber- 
haupt kann ja den Anstalten eine recht genaue 
Controlle über die Rechtmässigkeit der Festhaltung 
der einzelnen Kranken nur erwünscht sein, weil ihnen 
dadurch ein gut Theil der Verantwortung abgenom¬ 
men wird. Nur soll man das Aufnahmeverfahren 
selbst so einfach wie möglich gestalten, diese Forder¬ 
ung muss im Interesse der Kranken immer wieder 
betont werden. 

Wo ein eigenes Irrengesetz nicht oder noch nicht 
vorhanden ist, werden alle diese Dinge durch be¬ 
hördliche Verordnungen, Dienstanweisungen für die 
Beamten, Statuten für die Anstalten geregelt Der 
diesjährige niederösterreichische Bericht theilt 
die neuen Statuten der Anstalten Mauer-Oehling 
und Ybbs mit. Ybbs ist dem Director von Mauer- 
Oehling mit unterstellt und dient als Pflegeanstalt 
für letzteres. Die Kranken können vom Director 
unmittelbar aus Mauer-Oehling nach Ybbs über¬ 
wiesen werden, nur ausnahmsweise kann Ybbs Kranke 
direct aufnehmen. — Die Statuten beider Anstalten 
regeln in äusserst detaillirter Weise den ganzen Be¬ 
trieb. 

Niedernhart fordert gründliche Aenderung 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


339 


seines Statuts und darin vor allem die Schaffung der 
Stelle eines ärztlichen Directors, an den auch die 
Aufnahme der Kranken zu übertragen wäre. 

In verschiedenen Berichten ist spedell vom Auf¬ 
nahmeverfahren die Rede. Die Complicirtheit dieses 
Verfahrens hat zur Folge, dass häufig schwer Er¬ 
krankte vorab, bis zur Erledigung der Formalitäten, 
in ein Krankenhaus aufgenommen werden, wo man 
sie in der Regel wenig zweckmässig behandelt. 
Brandenburg äussert sich darüber: „Wiederholt 
trat der Uebelstand hervor, dass die Kranken viel 
zu lange und ganz unzweckmässig in den Kranken¬ 
häusern zurückbehalten wurden. Unruhige Geistes¬ 
kranke werden darin meist ohne genügende Aus¬ 
wahl in die Zelle gebracht, das Krankenhauspersonal 
ist anderweitig viel zu sehr in Anspruch genommen, 
als dass es sich hinreichend um die Geisteskranken 
kümmern könnte, auch fehlt ihm die specialistische 
Schulung. Die Kranken essen dann in der Zelle 
häufig nicht, werden unsauber und kommen in 
wenigen Tagen ausserordentlich herunter, während 
sie in der Anstalt vielfach von vornherein im allge¬ 
meinen Saale gehalten und gepflegt werden können 
und sich so bald erholen.“ 

An manchen Anstalten ist aus diesem Grunde 
für dringende Fälle ein beschleunigtes Aufnahme¬ 
verfahren eingeführt, so z. B. in der Provinz Branden¬ 
burg , wo in solchen Fällen ein einfaches ärztliches 
Attest, welches das Vorhandensein von Geisteskrank¬ 
heit und die Nothwendigkeit der Anstaltsfürsorge 
bescheinigt, genügt. Der Bericht theilt mit, dass von 
diesem Eilverfahren ein recht ausgiebiger Gebrauch 
gemacht wurde, z. B. in Lands b erg in 40% aller 
Aufnahmen. 

Folge der Ueberfüllung der Anstalten ist es aber, 
dass ein solches Verfahren vielfach praktisch auf 
Schwierigkeiten stösst. Münsingen z. B. erklärt, 
dass es nicht mehr in der Lage sei, auf telephonische 
oder telegraphische Anfragen hin Aufnahmen zuzu¬ 
sagen, vielmehr vorher einen ausführlichen Kranken¬ 
bericht verlangen müsse, um danach beurtheilen zu 
können, ob eine geeignete Unterbringung des Kranken 
noch möglich sei. 

Auch Prefargier hebt die Schwierigkeiten her¬ 
vor, welche unangemeldete Aufnahmen verursachen 
und bespricht bei diesem Anlass die Anforderungen, 
welche an ein Aufnahmeattest zu stellen sind: Es 
kommt nicht auf eine bestimmte Diagnose an, die 
ja in vielen Fällen der praktische Arzt, der den 
Kranken nur einmal sieht, gar nicht stellen kann. 
Nothwendig ist genaue Schilderung der Symptome 
und des Status, praesens, sowie Mittheilung dessen, 


was über Ursprung und Dauer der Erkrankung zu 
erfahren ist. Mit diesen Daten kann der Anstalts¬ 
arzt sich ein Bild machen, um ins klare zu kommen, 
auf welche Abtheilung der Kranke gehört und ob 
Platz für ihn vorhanden ist. 

Ueber die Aufnahmeatteste spricht auch Osna¬ 
brück und verbreitet sich abfällig über die dabei 
üblichen Formulare. Es wird als ein besonderer 
Vorzug des hannoverschen Reglements bezeichnet, 
dass dort kein Formular vorgeschrieben ist, sondern 
eine Anleitung zur Abfassung der Gutachten gegeben 
wird. Das wäre ganz gut, wenn man die Sicher¬ 
heit hätte, dass die Gutachter diese Anleitung auch 
studiren und befolgen. Recht häufig erleben wir es 
doch, dass solche ohne Formular ausgestellten Atteste 
Hauptpunkte unerwähnt lassen. Ein jedes Formular 
hat natürlich seine Mängel, aber es giebt uns doch 
die Gewähr, dass alle wichtigen Gesichtspunkte in 
Betracht gezogen werden müssen. Wären alle Aerzte, 
welche solche Atteste ausstellen, psychiatrisch ge¬ 
schult, dann freilich würden wir ohne Formular besser 
fahren. Aber soweit sind wir leider noch nicht. 

Ein eigenartiges Aufnahmeverfahren hat Baden. 
Von den dortigen Staatsanstalten sind nur 3, nämlich 
Illenau und die beiden Universitätskliniken, zu 
directen Aufnahmen berechtigt. Die andern sind 
zwar nicht reine Pflegeanstalten, bekommen aber 
ihre Kranken doch nur aus den 3 Aufnahmeanstalten. 
Es scheint, dass dieses Verfahren sich bewährt. A 
priori sollte man eigentlich meinen, dass es im Inter¬ 
esse möglichst schneller Unterbringung der Kranken 
besser wäre, jeden Kranken unmittelbar der nächst¬ 
gelegenen Anstalt zuzuführen. 

Schliesslich sei noch als Beispiel dafür, dass die 
gesetzliche Beaufsichtigung nicht allein die Anstalten, 
sondern mindestens in gleichem Maasse auch die 
ausserhalb der Anstalten lebenden Geisteskranken 
betreffen muss, ein Fall aus Stephansfeld wieder¬ 
gegeben: „Unter den Aufgenommenen befand sich 
eine ältere Frau, die Jahre lang von ihrer Familie, 
um die Verpflegungskosten in der Anstalt zu ver¬ 
meiden, in einem dunkeln Bretterverschläge unter 
einer Treppe eingesperrt war, also schlechter wie ein 
Thier gehalten wurde. In völlig verwahrlostem und 
anscheinend tief verblödetem Zustande kam die 
elende Kranke hier an. Unter unserer Pflege er¬ 
holte sie sich körperlich und geistig zusehends und 
konnte zu leichter Beschäftigung herangezogen werden.“ 
Aehnliche Fälle finden wir ja in den Tageszeitungen 
des öfteren mitgetheilt und zwar sind es nicht immer 
die Angehörigen, sondern mitunter auch ländliche 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 36 . 


Gemeinden, welche eine solche Sparsamkeit für löb¬ 
lich halten. 

Sollte einmal ein Reichsirrengesetz zu Stande 
kommen, so wäre für dieses die Fürsorge für solche 
ausserhalb der Anstalten verpflegte Kranke jeden¬ 
falls eine mindestens ebenso wichtige Aufgabe wie 
die Beaufsichtigung der Anstalten. 

II. Statistik. 

In meinem vorigen Berichte habe ich die Frage 
nach dem Werth der statistischen Mittheilungen un¬ 
serer Jahresberichte näher erörtert. Das Ergebniss 
war kein günstiges. So werthvoll manche statistische 
Angaben zur Charakterisirung der einzelnen Anstalt 
sein mögen, als Vergleichswerthe zur Gewinnung all¬ 
gemeiner Resultate eignen sie sich nicht, einmal 
wegen ihres unvermeidlichen subjectiven Gehaltes, 
und dann wegen der Verschiedenartigkeit der leiten¬ 
den Gesichtspunkte. 

Ich glaube mich deshalb in diesem Jahre über 
diese Dinge kurz fassen zu dürfen. 

Die Gruppirung der Aufnahmen nach Ge¬ 
schlecht, Lebensalter, Heimath, Civilstand, Beruf, Con- 
fession u. s. w. ist stets die gleiche und giebt zu 
keinen Erörterungen Anlass, zumal irgend welche 
neuen Gesichtspunkte in diesem Jahre nicht hervor¬ 
treten. 

Von sonstigen ätiologischen Momenten finden 
Erblichkeit und Alkoholismus durchweg ein¬ 
gehende Berücksichtigung, und ohne Frage sind dies 
ja Punkte, die einer statistischen Bearbeitung sehr 
wohl zugänglich sind. Die Angaben unserer Berichte 
leiden nur eben an den im vorigen Jahre erörterten 
unvermeidlichen Mängeln. 

Im Heidelberger Bericht 1901/02 heisst es: 
„Von einer statistischen Bearbeitung der Zahl der 
Erblich-Belasteten und Nichtbelasteten wurde absicht¬ 
lich Abstand genommen, da bei der Unbestimmt¬ 
heit des Begriffes „erbliche Belastung“, der von dem 
einen sehr eng, von dem andern weit gefasst wird, 
unser Aktenmaterial keine völlig sichern, statistisch 
brauchbaren, nach stets gleichem Gesichtspunkt ge¬ 
machten Angaben enthält. Es mag genügen hervor¬ 
zuheben, dass bei mehr als 55% aber weniger als 
65% aller 1901 und 1902 verpflegten Kranken Gei¬ 
stes- oder Nervenkrankheiten bei nahen Verwandten 
in der Anamnese angegeben waren.“ 

Wenn schon die Universitätsklinik, die doch 
sicher auf Erhebung genauer Anamnesen grosse Sorg¬ 
falt verwendet, zu solcher Resignation verurtheilt ist, 
wie sollten da die vielgeplagten Aerzte der grossen, 
meist überfüllten Anstalten genauere Resultate liefern. 

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Bei ihnen kommt eben ausser den von Heidelberg 
geäusserten Bedenken noch die Mangelhaftigkeit der 
Anamnesen in Betracht. Recht charakteristisch ist 
die Aufstellung des rheinischen Berichtes, wonach 
die Quote der erblich Belasteten zwischen 14% in 
Galkhausen und 50,8% in Andernach schwankt. 
Es scheint mir ganz unmöglich diese Differenz an¬ 
ders zu erklären, als aus einer grösseren Dürftigkeit, 
der in den Aufnahme-Fragebögen gelieferten anam¬ 
nestischen Mittheilungen in Galkhausen, was ja ohne 
weiteres verständlich ist, wenn man erwägt, dass die 
Aufnahmen in Galkhausen sich zum grossen Theil 
aus fluctuirender Grossstadtbevölkerung recrutiren, 
während der Andemacher Bezirk meist ländliche und 
kleinstädtische Bevölkerung umfasst, wo sich über 
die Ascendenz meist unschwer Genaueres erfahren 
lässt. 

Am brauchbarsten sind noch die Zahlen, die 
durch Zusammenfassung eines grösseren Gebietes ge¬ 
wonnen sind. So rechnet der bayerische Bericht 
46,2%, der württembergische 50,5%, der säch¬ 
sische 51,4% mit nachgewiesener erblicher Belast¬ 
ung heraus. Sicher sind auch diese Zahlen noch 
zu klein, es dürften auch dort nicht wenige Kranke 
mit ungewisser Anamnese zur Aufnahme kommen. 
Mit Berücksichtigung dieses Umstandes käme man 
also zu ähnlichen Zahlen, wie Heidelberg sie ge¬ 
funden hat. Doch sind vielleicht auch diese Zahlen 
noch zu niedrig gegriffen, einige Schweizer Anstalten 
(Wil, Pirminsberg) rechnen viel höhere Zahlen 
aus. 

Wissenschaftlichen Werth würde übrigens diese 
ganze Berechnung erst dann haben, wenn man da¬ 
neben setzte, wieviel Procent der gesunden Bevöl¬ 
kerung erblich belastet sind. 

Beim Alkoholismus pflegt nur kurz die Procent¬ 
zahl unter den Aufnahmen angegeben zu werden, 
ohne weitere Unterscheidungen. Wenn wir hierbei 
auf sehr verschiedene Zahlen stossen, so brauchen 
wir dies keineswegs nur auf Ungenauigkeit der 
Anamnese zurückzuführen. In diesem Punkte sind 
zuverlässige Nachrichten doch wohl leichter zu be¬ 
kommen. Es giebt eben hierbei wirklich sehr grosse 
örtliche Verschiedenheiten. Stephansfeld weist 
solche sogar innerhalb seines Aufnahmebezirkes nach: 
unter den aus dem Unter-Elsass zugeführten Kranken 
waren 11,4%, aus dem Ober-Elsass 26,1 % Alkoho- 
listen, und zwar ist dies eine alljährlich wiederkehrende 
Beobachtung. — Dass sich unter den Männern stets 
ein viel höherer Procentsatz von Alkoholikern findet 
als unter den Frauen, bedarf kaum der Erwähnung. 

Original frnm 

HARVARD UNIVERSITY 




1904.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


34 i 


— Des weiteren wird unten noch auf den Alkoho¬ 
lismus zurückzukommen sein. 

Die Wichtigkeit frühzeitiger Zuführung der Kran¬ 
ken zur Anstalt im Interesse der Heilung wird wieder 
von verschiedenen Seiten betont. Leider ist aber 
frühzeitige Zuführung durchaus nicht die Regel. 
Sachsen z. B. berechnet, dass nur 25,9% in den 
ersten drei Monaten der Erkrankung zur Anstalt 
kommen. 

Die Beobachtung, dass die Eröffnung der Kieler 
Klinik der Anstalt Schleswig nicht in merkbarem 
Grade heilbare Fälle entzogen hat, giebt letzterer 
Anlass zu folgender Erwägung: „— es ist die Klinik 
im Wesentlichen ein neues Aufnahmecentrum, welches 


namentlich der nächsten Umgebung zu Gute kommt. 
Daher würde voraussichtlich auch die Aufnahme 
heilbarer Fälle in Neustadt, weder in Kiel noch 
in Schleswig die Zahl der Aufnahmen frisch Er¬ 
krankter wesentlich verringern; aber die Gesammt- 
zahl der Heilungen und Besserungen würde in der 
Provinz steigen, d. h. die Zahl der dauernd zu 
Verpflegenden würde relativ zur Bevölkerung immer 
mehr sinken. Je mehr Centren, je mehr Genesungen, 
je weniger Pfleglinge/ 4 Mir scheint diese Ansicht 
doch etwas hypothetisch. Zum mindesten werden 
wir den Beweis durch die praktische Erfahrung ab- 
warten müssen. 

(Fortsetzung folgt.) 


Mitthei lungen. 


— Im Laufe dieses Herbstes ist der Director der 
Prov. - Irrenanstalt zu B u n z 1 a u, Herr Sanitätsrath 
Dr. Karl Stö v er, in den Ruhestand getreten. Durch 
die Verschlimmerung eines langwierigen Gehörleidens 
hatte er sich bei voller Rüstigkeit in die schmerzliche 
Nothwendigkeit versetzt gesehen, seine Entlassung 
aus dem Provinzialdienst und seine Pensionirung 
nachzusuchen, die ihm auch gewährt wurden. 

Die officielle Anerkennung seiner hervorragenden 
Leistungen kam in der Allerhöchsten Verleihung des 
Rothen Adlerordens IV. Classe, mit dem Herr Sanitäts¬ 
rath Dr. Stöver bei seinem Weggange ausgezeichnet 
wurde, zum Ausdruck. 

Allerseits hat man das Ausscheiden des Herrn 
Sanitätsraths Dr. Stöver aus seinem Wirkungskreise 
aufrichtig bedauert und er selbst hat sich nur schweren 
Herzens von der ihm lieb gewordenen, mit Erfolgen 
überaus reich gesegneten Thätigkeit als Irrenarzt und 
Anstaltsleiter getrennt. 

Unsere herzlichsten und besten Wünsche begleiten 
ihn auf seinen ferneren Lebenswegen. 

— Zur gerichtlichen Psychiatrie. Im Januar 
1902 meldete der Lokomotivführer Sch. der Staats¬ 
anwaltschaft zu Köslin, dass seit Jahren verschiedene 
Personen mit seiner Frau und seinen Kindern in 
seiner Wohnung (während er abwesend war) Unzucht 
trieben, Orgien feierten, wobei in der raffinirtesten 
Weise die Kinder präparirt würden. Die Instrumente 
zum Erweitern der kindlichen Geschlechtsteile wurden 
beschrieben und abgebildet u. s. w. Es wurden eine 
Anzahl Neustettiner Bürger verschiedener Lebens¬ 
stellung verhaftet, u. A. auch ein schwindsüchtiger 
Kaufmann, der im Gefängnis starb, ein Arzt u. s. w. 
Die Beschuldigungen wurden immer ungeheuerlicher 
und man konnte ausser diesen Behauptungen des 
Sch. nichts Objectives ermitteln. In die Kinder hatte 


Sch. das ganze verrückte Zeug hineinexaminirt unter 
unglaublichen Strafen und Drohungen. 

Als nun schliesslich der Mann wegen wissentlich 
falscher Anschuldigung verhaftet war, iiess man 
endlich seinen Geisteszustand untersuchen. Der Sach¬ 
verständige, Geh. Med.-Rath Dr. Siemens-Lauenburg, 
konnte nachweisen, dass auf dem Boden ererbter An¬ 
lage und schwerer nervenschwächender Umstände 
ein combinatorisches Wahngebäude bei dem Kranken 
entstanden w'ar, dass auch Beängstigungen und Illu¬ 
sionen (vielleicht auch Hallucinationen) Vorgelegen 
hatten und dass so die Denunciationen entstanden 
waren. 

Die Verhaftung Unschuldiger hat in diesem Falle 
viel böses Blut gemacht; es sind besonders von dem 
betr. Arzt viele Beschwerden an die Ministerien und 
parlamentarischen Körperschaften gerichtet worden. 

Die unschuldig verhaftet gewesenen Herren sind 
nun, wie verlautet, einigermassen für die erlittene 
Unbill entschädigt worden. Nachdem nämlich in¬ 
zwischen das Gesetz in Kraft getreten ist, nach dem 
unschuldig verhaftete Personen durch Geldbeträge 
schadlos gehalten werden können, hat der Justiz¬ 
minister, obwohl das neue Gesetz rückwirkende Kraft 
nicht hat, in diesem Falle doch den ohne ihr Ver¬ 
schulden verhaftet gewesenen Männern Geldbeträge 
bis zur Höhe von 600 Mk. zahlen lassen. 

— Les Alienös en liberte. Comme tous les 
ans, les Annales medico-psy chologiques pu- 
blient dans le numero de novembre la statistique des 
cas d’aüenes en liberte, recueillis dans divers joumaux. 
92 cas ont ete publies en 1904. Ces alienes avaient 
commis, les uns de simples excentricites; le plus 
grand nombre de veritables crimes: homicides, tenta- 
tives d’homicide, menaces de mort, incendies, etc.; 
enfin les suicides, ainsi que les suicides precedes 
d’homicides, foumissent un serieux contingent 


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Original fram 

HARVARD UNIVERSITY 




34- 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCH RIFT. 


[Nr. 36. 


Tentatives de meurtre, agressions violentes, mena- 


ces de mort.27 

Suicides et tentatives de suicide.24 

Excentricites.15 

Homicides.13 

Homicides et suicides.10 

Incendies.3 

Total 9 2 

Ainsi sur 92 cas releves, il y a eu 23 homicides, 

dont 10 ont ete suivis du suicide de l’aliene apres 

l’accomplissement de l’acte meurtricr. Nous ne 


parlerons que pour memoire des nombreuses tentatives 
d’homicide, des actes delictueux, ainsi que des trois 
incendies. Ce qui importe surtout, c’est de compter 
le nombre de victimes faites par ces 92 cas d’alie- 
nes en liberte. II y a eu: 

Blesses grievement.59 

Morts par suicide.27 

Tues.25 

Total 111 

Ainsi notre statistique — qui ne saurait avoir 
la pretention d ? etre complete — donne 59 personnes 
blessees grievement par des alienes en liberte, et un 
grand nombre d’entre elles ont succombe ulterieure- 
ment ä leurs blessures; 25 ont ete tuees; enfin 27 
alienes se sont suicides, dont plusieurs apres avoir 
tue soit leur femme 011 leur mari, soit leurs enfants. 

Comme tous les ans, nous avons a signaler plusieurs 
cas ou les malades ont fait plusieurs victimes; ainsi 
il en est quelques-uns qui ont fait deux, trois, quatre 
victimes et meme davantage. 

Comme toujours, la plupart de ces crimes et de- 
lits ont ete commis par des alienes dont la majorit6 
etaient malades depuis longtemps et que la simple 
prudence aurait du faire sequestrer sans attendre une 
explosion violente. Beaucoup avaient ete deja traites 
dans les asiles; quelques-uns venaient d’en sortir ou 
s’en etaient evades. — Anton Ritti, Charenton. 

— X. Versammlung mitteldeutscher Psy¬ 
chiater und Neurologen in Halle a. S. am 22. 
und 23. October 1904. I. Sitzung. Vorsitzender: 
Herr Ganser. (Fortsetzung.) 

4. Herr Weber (Göttingen): Zur Pathogenese 
des erworbenen Hydrocephalus internus. 

Vortragender berichtet zunächst über den histo¬ 
logischen Befund in dem von Cramer (siehe oben) 
mitgetheilten Fall. Es fand sich als Ursache der 
hydrocephalischen Erweiterung des Unterhorns eine 
Verlegung der Eingangspforte desselben durch ent¬ 
zündliche Adhaesionen. Auf Serienschnitten trifft man 
in der Substanz des Ammonshoms nach seiner Um¬ 
biegung in das Unterhorn eine stecknadelkopfgrosse, 
verkalkte Cyste, in deren Umgegend zahlreiche miliare, 
perivasculär gelegene, mit Riesenzellen versehene 
Knötchen sich befinden. Auch weiter in der Fimbria 
und Fascia dentata finden sich ähnlich stets perivas¬ 
culär gelagerte Knötchen, ebenso unter dem Ependym 
der lateralen und oberen Wandung des Unterhorns. 
Da, wo hinter dem Thalam. opt. Fimbria und Plexus 
chorioid. in das Unterhorn eintreten, sind alle diese 
Gebilde durchsetzt und verklebt durch ein Granulations¬ 


gewebe, an dem sich auch der wuchernde Plexus be¬ 
theiligt und das den Eingang zum Unterhorn verschliesst. 
Der histologischen Struktur nach handelt es sich wahr¬ 
scheinlich um eine localisirte Tuberkulose, deren 
ältesten Herd die verkalkte Cyste darstellt, von der 
aus später aus irgendwelcher Ursache eine neue 
Dissemination in die Nachbarschaft stattgefunden hat. 
Die offenbar schon länger bestehende, durch den 
ersten Herd hervorgerufene Verklebung mag durch 
diesen neuen entzündlichen Vorgang noch befestigt 
worden sein, während gleichzeitig der entzündlich 
veränderte Plexus eine grössere Liquormenge ab¬ 
sonderte. 

Vortr. bespricht noch 5 Fälle von erworbenen 
Hvdrocephalien, hauptsächlich einseitiger Natur. 

I. Fall: 20jähriger Mensch, der im 7. Lebensjahre 
zuerst an Epilepsie erkrankte. Die Krampfanfälle 
begannen auf der rechten Körperseite; später aus¬ 
gesprochen rechtsseitige spastische Parese. Schwere 
Verblödung. Tod im Anfall. 

Befund: Pachymeningitis und Leptomeningitis 
chronica und Verwachsung beider Häute. Die Lepto¬ 
meningitis ist besonders stark und schwielig über dem 
linken Stirnhim. Dies ist in eine schwappende Blase 
verwandelt. Erweiterung sämmtlich Ventrikel, be¬ 
sonders aber des linken Seitenvent eis und des 
linken Unterhorns. Foramina durch 4 mgig. Plexus 
intakt. 

Mikroskopisch findet sich die Himsubstanz des 
linken Stirnhims fest verwachsen mit der schwieligen 
Pia, hochgradig atrophisch und cystös degenerirt, 
einzelne Piagefässe obliterirt. 

II. Fall: 58 jähriger Ingenieur, hat Lues durch¬ 
gemacht Im 45. Lebensjahr Schlaganfall mit rechts¬ 
seitiger Lähmung; später Krampfanfälle. Ausge¬ 
sprochene linksseitige spastische Parese. Tod an 
Pneumonie. 

Befund: Chronische Leptomeningitis. Starke 
Atheromatose der Basalarterien. Die Hauptäste der 
rechten Art. fossae sylv. fast völlig obliterirt. Der 
rechte Stirnlappen in eine hydrocephalische Blase ver¬ 
wandelt. Foramina intakt. Plexus stark entwickelt. 
Ependym verdickt. 

III. Fall: 48jährige Frau erkrankt an allmählich 
zunehmenden Störungen aller cerebralen Functionen, 
insbesondere ausgesprochener Seelenblindheit, Seelen- 
taubheit und Tastblindheit; daneben noch Lähmungs¬ 
erscheinungen theils centraler, theils peripherer Art. 
Dabei besteht Stauungspapille, die nach Spinalpunktion 
mehrmals verschwindet. Tod an Erschöpfung. 

Befund : Atheromatose der Basalarterien; Hydro¬ 
cephalus internus besonders links und zahlreiche, kleine 
Erweichungsherde im Hemisphärenmark. Das Epen¬ 
dym stark granulirt, die Plexus verdickt. Ein erweiterter 
und stark geschlängelter, atheromatös veränderter Ast 
der Arteria cerebelli posterior liegt auf dem Boden 
der Rautengrube in der Gegend des Corpus restiforme 
und ist mit dem Ependym des Ventrikels und dem 
Dach der Rautengrube verwachsen. 

Mikroskopisch zeigen alle kleinsten Himgefässe 
starke atheromatöse Veränderungen. 


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HARVARD UNiVERSITY 













1904-] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


343 


IV. Fall: 21 jähriges Mädchen, wahrscheinlich 
hereditär syphilitisch. Seit dem 18. Lebensjahr Anfälle, 
die zuerst als hysterische gedeutet wurden. Später 
ausgesprochene Lähmungserscheinungen: besonders 
spastische Parese rechts. Rasch zunehmender Stupor; 
reactionslos auf alle Reize. Tod im Coma. 

Befund: Diffuse Leptomeningitis. Mittelstarke 
Erweiterung aller Ventrikel. Besonders stark erweitert 
der linke Scitenventrikel und das linke Hinterhorn. 
Foramina und Ependym nichts Besonderes. 

Mikroskopisch starke Encephalitis in Gestalt von 
Kernmänteln um die mittleren und kleinen Gefässe. 
Starke Endarteritis zahlreicher kleiner Gefässe bis zur 
völligen Obliteration. Im Hemisphärenmantel links 
zahlreiche sklerotische, kernarme Herdchen und einige 
Erweichungsherdchen. 

V. Fall: 48jährige Ehefrau hat im 43. Lebens¬ 
jahr zuerst epileptische Krämpfe, seit dem 45. Jahr 
Erregungszustände. In den folgenden Jahren rasche 
Verblödung, Spasmen und Lähmungen zunächst links, 
die, wie das Verhalten der Pupillen und der Reflexe, 
während der dreijährigen Beobachtung häufig an Inten¬ 
sität wechselten. Tod im Coma. 

Befund: Chronische Leptomeningitis. Athero- 
matose. Hydrocephalische Erweiterung besonders stark 
links, dabei starke Atrophie und sklerotische Ver¬ 
härtung der Basalwindungen des linken Stirn- und 
Schläfenlappens. Foramina intact, Ependym gewuchert. 

Mikroskopisch: Ausgedehnte perivasculäre Kem- 
mäntel an den Gefässen der Rinde und des Markes 
und zahlreiche herdförmige Gliosen im Bereich der 
hydrocephalischen Hemisphäre. 

Auf die Symptomatologie der geschilderten Fälle 
geht Vortr. nicht näher ein und hebt nur die Ein¬ 
seitigkeit aller klinischen Erscheinungen, den häufigen 
Wechsel einzelner objectiver Symptome, z. B. der 
Pupillenbefunde, hervor sowie die Beobachtung, dass 
in einem Fall die Stauungspapille nach Lumbal¬ 
punktion verschwand. 

In pathologisch-anatomischer Beziehung haben die 
geschilderten Fälle etwas Gemeinsames: eine aus¬ 
gedehnte chronische Erkrankung der Hemisphären¬ 
wand jeweils im Bereich der hydrocephalischen Er¬ 
weiterung. Diese Erkrankung wird dargcstcllt in Fall I 
durch die chronische schwielige Leptomeningitis und 
cystüse Schrumpfung der Hirnrinde, im Fall II durch 
die Obliteration der Art. fossae Sylv. und dadurch 
gesetzte Ernährungsstörung der Hirnrinde, im Fall III 
durch arteriosklerotische Ernährungsstörung und Er¬ 
weichungsherdehen, im Fall IV durch eine vielleicht 
svphilitisch bedingte diffuse Gefässerkrankung mit 
sklerotischen Herdchen, im Fall V durch eine diffuse 
Encephalitis vom Characler der Paralyse und herd¬ 
förmige Gliose. Dies legt die Erwägung nahe, ob 
beim Zustandekommen derartiger einseitiger Hvdro- 
cephalien neben dem Moment der vermehrten Bildung 
des Liquor cerebrospinalis und des gestörten Abflusses 
als drittes mechanisches Moment eine verringerte 
Widerstandsfähigkeit der Hemisphären- 
wand infolge derartiger Erkrankungen in Betracht 
kommt. 

Was die anderen beiden Mumente betrifft, so 


weist wenigstens in einigen der geschilderten Fälle 
die bestehende chronische Meningitis und Meningo¬ 
encephalitis auf eine entzündliche Ursache der Ver¬ 
mehrung des Liquor hin. Ausserdem aber kommt in 
den Fällen I, II und III eine Hydropsbildung ex 
vacuo in Betracht, da die Schrumpfung der Hemi¬ 
sphärenwand infolge der cystösen (Fall I) bezw. 
arteriosklerotischen (II und III) Hirndegeneration als 
der primäre Process aufgefasst werden muss. Für die 
Behinderung des Abflusses des Liquor aus den Ven¬ 
trikeln hat sich nur im Fall III eine localisirte Ursache 
finden lassen in Gestalt der aneurysmatischen Erweite¬ 
rung und Verlagerung eines Arterienastes auf dem 
Boden des 4. Ventrikels, wodurch namentlich bei 
starker Hyperämie ein ganzer oder theilweiser Ver¬ 
schluss des Foramen Magendie wohl möglich war. 
In den anderen Fällen aber bestand eine chronische 
diffuse, im Fall I sogar sehr schwielige Leptomeningitis, 
welche durch Verlegung zahlreicher Subaraehnoideal- 
räume den Hauptabfluss weg des Liquor aus den 
Ventrikeln durch die Subarachnoidealräume und die 
Pachionischen Zotten in die Sinus verhindert haben 
kann. Dem entspricht auch die Thatsache, dass in 
keinem der Fälle ein äusserer Hydrocephalus, ein 
erhebliches Piaoedem gefunden wurde. Endlich mag 
die Thatsache nicht ohne Bedeutung sein, dass die 
in Fall IV und V bestehende starke perivasculäre 
Kernanhäufung durch Verlegung zahlreicher, sonst 
mit den Arachnoidealräumen communicirender adven- 
titieller Gefässscheiden ein Ausweichen der Flüssigkeit 
nach dieser Seite hin unmöglich machte. 

Vortragender resümirt wie folgt: 

1) Bei erworbenen . namentlich einseitigen 
Hydrocephalus internus kommen als Ursache der 
vermehrten Liquorbildung neben entzündlichen 
Veränderungen der Pia und Hirnsubstanx auch 
chronisch degeueratire Proresse in Betracht , ivelche 
einen Hydrops er vacuo zu erzeugen im Staude 
sind. 

2) Der Abfluss des Liquor aus den Ventrikeln 
kann ausser durch localisirte Verlegung der Fora - 
mina auch durch eine chronische diffuse Lepto¬ 
meningitis und Und u rchgängigkeii der Subarachno¬ 
idealräume erschwert werden . 

3) Als drittes mechanisches Moment bei der 
Bildung des einseitigen Hydrocephalus internus 
kommt eine verringerte Widerstandsfähigkeit der 
Hemisphären wand infolge von verschiedenartigen 
Erkrankungen der Hirnsubstanz in Betracht. 

(Autoreferat.) 

I ) i s c u s s i u n : 

Herr B i n s w a n g e r hat schon früher diffusen 
Schwund des Hirnmantels als Ursache von secundären 
Hydrocephalus internus bei progressiver Paralvse be¬ 
schrieben. 

5. Herr Binswanger (Jena): Ueber den Symp- 
tomencomplex der incohäreuten Erregung. 

Unter dem genannten Zustandsbilde sollen nur 
solche Fälle einbegriffen werden, die ohne Intelligenz- 
defect einhergehen. Vortr. giebt zwei casuistische 
Mittheilungen. 


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HARVARD UNIVERSITY 



344 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 36 


I. 3 7jähriger Mann, erblich convergent belastet 
In früher Jugend wahrscheinlich schon einmal ein 
Erregungszustand, im Alter von 21 Jahren sichere 
acute Psychose von 2 Wochen Dauer. Gute intellec- 
tuelle Veranlagung. Der Kranke fing ohne vorher¬ 
gehende Prodromalerscheinungen plötzlich an viel zu 
sprechen, sah Thier- und Menschengestalten, gerieth in 
zornige, zuletzt tobsuchtartige Erregung. Bei der 
Aufnahme völlig orientirt, lebhaftes Krankheitsgefühl, 
nur summarische Erinnerung für das Vorhergegangene. 
Rasche Beruhigung. In der Folge wechselnde 
Stimmung, gelegentlich ängstlich und gedrückt, dabei 
geordnet. In den nächstfolgenden Tagen anfallsweise 
alle paar Stunden heftigste Erregungszustände, inco- 
ordinirter Bewegungsdrang, Personenverkennung bei 
dauernd gut erhaltener örtlicher Orientirung. Erst auf 
dem Höhepunkte der durch kein Mittel zu beein¬ 
flussenden Erregung ging auch die örtliche Orientirung 
verloren. Manchmal stereotype Bewegungen, durch 
Motilitätshallucinationen veranlasst, Logorrhoe mit 
unverständlichen Wortbildungen und zuletzt nur un- 
articulirten Lauten. Dazwischen traten wieder plötzlich 
Pausen auf, in denen Patient in Worten und Be¬ 
wegungen völlig zusammenhängend sich zeigte und 
über seine Hallucination Auskunft gab. Dieser Wechsel 
besteht mit immer kürzer werdenden ruhigen Perioden 
nunmehr seit 13 Monaten. 

II. 36jähriger Mann, ebenfalls schwere erbliche 
Belastung. Acuter Ausbruch der Psychose: auf der 
Fahrt nach der Stadt verlor er plötzlich die Orientirung, 
fand zwar noch mit Mühe nach Hause, dort aber sich 
nicht mehr zurecht. Er äusserte Wahnideen, fürchtete 
ins Irrenhaus zu kommen. Nach kurzer Remission 
erneuter Ausbruch in der Nacht; verwechselte die 
Personen, führte verwirrende Reden, machte anhaltend 
wippende Bewegungen, war in heftiger motorischer 
Erregung. Bei der Aufnahme völlig desorientirt, am 
nächsten Morgen äusserlich beruhigt, aber einzelne 
Hallucinationen und die Desorientirtheit bestanden 
fort. Im weiteren Verlaufe ist, wie im Falle I, ein 
häufiger Wechsel zwischen Ruhe und Anfällen zu 
beobachten; in den letzteren zeigt er Bewegungs¬ 
stereotypien, grimassirt, verbigerirt. In beiden Fällen 
konnte bei Zunahme der Erregung unter wechselnder 
Merkfähigkeit eine Hypervigilität constatirt werden. — 
Die Unterbringung derartiger Krankheitsbilder in die 
gewohnten Diagnosen ist nicht leicht; in beiden Fällen 
ging die tiefgehende Incohärenz mit der Erregung 
nicht parallel, sondern bestand auch in den ruhigen 
Intervallen weiter. Der Manie sind sie wegen des 
Fehlens primärer Affectveränderungen nicht zuzuzählen, 
ebensowenig der Amentia; am meisten sind sie noch 
Wernickes „verworrener Manie“ oder hyperkine¬ 
tischer Motilitätspsychose verwandt 

Discussion: 

Herr Wern icke hat solche Krankheitsbilder 
nicht selten selbständig auftreten sehen, mit einer 
ausgesprochenen Neigung zur Periodicität. Die acute 
Anfangsphase bildet gewöhnlich schon eine Häufung 
vorangegangener leichterer Störungen. Häufig knüpft 
die Wahnbildung als Erklärungswahn an die Motilitäts¬ 
störung an, wie dies in besonders typischer Weise 


bei der hyperkinetischen Menstrualpsychose der Fall 
ist. Die vierwöchigen Intervalle derselben sind übrigens 
auch bei Männern, wenn sie an dieser Form erkranken, 
nicht selten. 

Herr Flechsig fragt, ob auf Darmerscheinungen 
und Temperaturstörungen im Verlauf der Psychose 
geachtet worden ist. 

Herr Binswanger bestätigt, dass derartige Vor¬ 
kommnisse beobachtet wurden, sic waren aber stets 
auf Gelegenheitsursachen zurückzuführen und gehörten 
nicht zum Wesen des Krankheitsbildes. 

Herr Cr am er hat einen entsprechenden Fall 
beobachtet, der vor 3 Jahren mit acuter Incohärenz 
begann und jetzt in Tagesperioden zwischen Ruhe 
und Erregungen abwechselt. Trotz des unveränderten 
Fortbestehens des Zustandes ist kein Zeichen ein¬ 
tretender Verblödung zu bemerken. 

— Einladung zur 86. Sitzung des Vereins 
Ostdeutscher Irrenärzte am Sonnabend, den 10. De¬ 
zember 1904, mittags 11V2 Uhr im Hörsaale der 
städtischen Irrenanstalt zu Breslau, Einbaumstrasse. 

Tagesordnung: 1. Direktor Dr. Neisser, 
Bunzlau: Dank an den ausscheidenden langjährigen 
Vorsitzenden des Vereins, Herrn Geh. Medicinalrath 
Professor Dr. Wern icke in Halle. Vorstandswahl. 
2. Prof. Pick, Prag: Neuer Beitrag zur Lehre von 
der Mikrographie. 3. Dr. Kramer, Breslau: Ex¬ 
perimentelle Untersuchungen über Nervenpfropfung. 

4. Privatdocent Dr. Förster, Breslau: Hysterische 
Hemiplegie mit Demonstrationen. 5. Dr. Schroeder, 
Breslau: Neuere Fortschritte der pathologischen Ana¬ 
tomie der Hirnrinde, b. Dr. Koebisch, Breslau, 
Fall von myasthenischer Bulbärparalyse. 7. Dr. G. 

5. Freund, Breslau: Thema Vorbehalten. 

Der Sekretär: Dr. Neisser, Bunzlau. 

Ueber das neue von Töllner in Bremen gefundene Leber- 
thranersatzmittel „Fucol“, von dessen Anwendung 
Dr. Iiackl und andere bei Rhachitis, Skrophulose etc. günstige 
Erfolge gesehen zu haben mittheilten, giebt die nachfolgende 
Bemerkung des genannten Arztes in der „Aerztlichen Rund¬ 
schau“ genaueren Aufschluss: „Als Rohmaterial des Fucols 
dienen jodhaltige Algenarten des Meeres, z. B. Lammaiia digitata, 
Laminaria saccharina, Fucus serratus, Fucus vesiculosus u. a. 
Dabei werden möglichst nur direct am Standort gewonnene 
Algen und nicht die aus dem Meere aulgefischten Treibalgen 
verwendet, weil letztere einen wesentlich geringeren Gehalt an 
Jod aufweisen. Die Algen werden getrocknet, zerschnitten und 
dann in eisernen Trommeln so weit geröstet, dass sie sich leicht 
zerreiben lassen. Das Röstgut wird lein gemahlen und sofort 
mit geeigneten fetten Oelen — Sesamöl und Erdnussöl — ver¬ 
mischt. Nach achttägigem Stehen und wiederholtem Umschütteln 
wird abgegossen, der Rückstand ausgepresst und das nunmehr 
gebrauchsfertige Oel filtrirt. Es kommen zehn Theile geröstete 
Algen auf neunzig Theile fetten Oeles. Die Untersuchungen 
von Dr. Schönjahn, der das Rohmaterial, die Algen, mit Aether 
extrahirte, ergaben folgende chemische Konstanten : Säurexahl 
52,7, Verseifungszahl 210,9, Jodzahl 104,8. Auffallend ist die 
hohe Säurezahl und insofern bemerkenswerth als beim Leber- 
thran gerade der hohe Gehalt an freien Fettsäuren bezw. die 
dadurch bedingte leichte Emulgirbarkeit am meisten hervor- 
gehoben wird. Um zu konstatiren, wie sich Fucol in dieser 
Beziehung verhält, wurde dieses, Sesamöl und Leberthran mit 
Wasser unter gleichen Bedingungen durchgeschüttelt; beim 
Stehen schied sich Fucol am langsamsten wieder aus und über¬ 
traf in seiner Emulsionsfähigkeit selbst den Leberthran.“ Jod- 
und bromhaltige Algen, z. B. Fucus vesiculosus wurden schon in 
früheren Zeiten gegen Kropf- und andere Leiden, welche heute 
durch Leberthrankuren bekämpft werden, mit Erfolg angewendet. 


Digitized 


Für den redacdonellcn Thcil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Bresler, Lublinit* (Schlesien). 

Srscheinftjeden Sonnabend. — Schloss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von C>fI Marhold in Hall« a. S. 

VjÜ «QIC HeynemWKho Buchdrackerei (Ci.br. Wo'ff* in Hallo UNIVERSITY 






Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift. 

Redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh.B realer, 

Lublinitz (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834. 

Nr. 37. 10. Dezember. 1904. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die 3spaltige Petitxeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten. 


Zur Differentialdiagnostik negativistischer Phänomene. 

Von Dr. Otto Gross , Assistenten der neurol.-psychiatr. Klinik zu Graz. 


l^ie vorliegende Studie soll die Weiterführung und 
Complettirung einiger früherer Beiträge bedeuten, 
die ich zum einschlägigen Thema publizirt habe;*) 
der Continuität wegen habe ich überwiegend meine 
eigenen Vorarbeiten berücksichtigt, obwohl ich weiss, 
dass Ähnliches und Werthvolles von Anderen gesagt 
worden ist. 

Es handelt sich hier hauptsächlich darum, die 
differential-diagnostische Abgrenzung des 
eigentlichen — „1c atatonen“, „psycho¬ 

motorischen“ — Negativismus**) von der 
Affectlage der Ablehnung durchzuführen. 
Diese Gegenüberstellung soll auch durch die Kranken- 
geschichten zweier besonders markanten Fälle, die 
ich in letzter Zeit zu untersuchen Gelegenheit hatte, 
veranschaulicht werden. Für die Ueberlassung des 

*) 1. : „Die Affectlage der Ablehnung“, Monatsschrift für 
Neurol. u. Psych. 

2. : „Beiträge zur Pathologie des Negativismus“, Psych.- 
neurol. Wochenschrift, 1903. Jahrg. V. S. 269. 

3. : „Ueber Bewusstseinszerfall“, Monatsschrift für Neurol. 
und Psych. 

**) In meinen „Beiträgen zur Pathologie des Negativismus“ 
(loc. cit. 2) habe ich von „psychomotorischer Hemmung“ 
gesprochen, die von der Affectlage der Ablehnung ab¬ 
zugrenzen ist, aber mit dieser zusammen sich vorfinden 
kann und dann das Bild des totalen Negativismus ergiebt. 
Ich habe damals den weiteren Begriff statt des engeren gewählt; 
heute glaube ich, dass in jener Arbeit „Negativismus“ statt 
„Hemmung“ hätte gesagt werden sollen. — Meine Arbeit über 
„die Affectlage der Ablehnung“ ( 1 . c. 1) hatte den Zwecke ein 
Zustandsbild abzugrenzen, welches sich eben durch seine affec¬ 
tive Grundlage vom echten Negativismus unterscheidet, 
und dieses Zustandsbild dem echten Negativismus gegen¬ 
überzustellen. Ich hebe diese beiden Dinge hervor, um 
einem Missverständniss zu begegnen, welches einen von mir be¬ 
sonders verehrten Autor zu der Annahme veranlasst hat, ich 
hätte den Negativismus überhaupt aus der „Affectlage der 
Ablehnung“ erklären wollen. 


Materials sage ich meinem verehrten Chef Prof. 
Anton meinen ergebensten Dank. — 

Hermine B„ 20 Jahre alt, ledig, Grossgrund¬ 
besitzerstochter, aufgen. 6. VIII. 04. Anamnese. 
Patientin soll sich in der letzten Zeit allmählich ver¬ 
ändert haben; dann begann die eigentliche Psychose 
mit Aufregungszuständen, religiösen Wahnideen etc.; 
Patientin wendete sich von ihren Angehörigen ab, 
schlug dieselben, concentrirte ihre Zuneigung dagegen 
auf ganz fremde Personen. In den letzten Tagen, 
nachdem sie einige Zejt ruhiger gewesen war, begann 
sie plötzlich alle Gegenstände aus dem Zimmer zu 
werfen, umgab sich mit Crucifixen, ist in religiöse 
Drucksachen vertieft. Schlaflos, verweigert die 
Nahrung, geht mit den Geberden höchster Erregung 
auf -und ab. 

6. 8. 04. Status psychicus b. d. Auf¬ 
nahme: Patientin steht im Gitterbett, die Füsse vor¬ 
gestreckt, die Hände auf dem Rücken, den Kopf 
vorgebeugt, mit den Schultern an die Rückwand ge¬ 
lehnt. Dabei werden die Füsse deutlich cyanotisch; 
das Gesicht ist bleich mit vasomotorischen Flecken 
auf der Wange. 

Patientin ignorirt meist die Umgebung, auch den 
sie beobachtenden Arzt, schaut starr vor sich hin, 
erröthet aber wahrnehmbar, als sie hörte, dass die 
Beschreibung ihres Verhaltens diktirt wird. 

Die Mimik ähnelt der, das intensive Nachdenken 
begleitenden. Von Zeit zu Zeit treten eigentümliche 
Bewegungscomplexe auf; Pat. macht windende oder 
drehende Rumpfbewegungen, hakt sich mit den 
Fingern in die Decke des Gitterbettes, dann wieder 
steht sie, ohne sich anzulehnen, aber mit dem Kopfe 
gegen die Decke des Gitterbettes gestemmt, macht 
einen Schritt vor, einen zurück, dann wieder eine 
Kniebeuge, verändert die Frontrichtung, verharrt 
dabei meist durch mehrere Minuten in jeder einzelnen 
der beschriebenen Stellungen. Dabei bleibt die 
Mimik ziemlich unveränderlich mit dem Ausdrucke 
gespannter innerer Aufmerksamkeit. Dabei kümmerte 
sie sich fast nie um die Umgebung, aber zwischen- 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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durch richtet sie hie und da einen aufmerksamen 
und interessirten Blick auf den Untersuchenden. 
Von Zeit zu Zeit glättet Pat. durch eine Hand¬ 
bewegung das Haar, wenn es durch Anstützen des 
Kopfes in Unordnung geräth. Diese und ähnliche 
Bewegungen geschehen einfach und zweckmässig. 

Auf Anrufen und Gruss reicht sie die Hand nach 
mehreren gehemmten, zögernden, fast gequälten Inten¬ 
tions-Bewegungen. Der Aufforderung sich nieder¬ 
zusetzen kommt sie nach, desgleichen einigen ein¬ 
fachen Anforderungen. Spontan mutacistisch; auf 
Fragen antwortet sie kurz, ruckweise, mit verlängerter 
Reactionszeit und langen Pausen zwischen einzelnen 
Theilen eines und desselben Satzes. 

Wie geht's? „Denke . . . jetzt ... an Gott“. (Pausen 
bis zu io Sek.) 

Warum hergekommen ? „Ich wollte zu den Kreuz¬ 
schwestern gehen.“ 

Warum? „Weils mir so gut gefällt“ (nach 5 Sek.). 

Was hier für Haus ? ..Ich glaube Nerven-Klinik.“ 

Wer der Arzt? (richtig.) 

Warum hierher? „Ich wusste nicht, dass ich hierher 

komme, es ist mir gesagt worden, ich komme. 

(ii Sek.) zu den Kreuzschwestern.“ 

Warum so im Bett gestauden ? „Weil ich doch nicht 
gerade stehen konnte.“ 

Warum überhaupt gestanden? „Ja . . . weil mir nichts 
fehlt.“ (Nach 12 Sek., wie geistesabwesend.) 

Was sagen die Stimmen? „Höre keine“ (19 Sek.). 

Warum beten Sie jetzt so viel ? „Wie ich in Mürz¬ 
zuschlag war, da hab ich . . (35 Sek.) 

Warum beten Sie jetzt so viel? „Ich hab sogar gebetet 
. . . . wenig beten können ... und jetzt . . .“ 

Haben Sie Erscheinungen gehabt? „Ja, Erscheinungen 
eigentlich nicht .... aber die Leute sind mir alle so sonder¬ 
bar . . . und so anders vorgekommen.“ 

Die Antworten erfolgen mit deutlicher Sperrung, 
die ruckweise, nach verschieden langen Intervallen, 
überwunden wird. Manchmal sieht man vergeb¬ 
liche Ansätze hierzu. Ist aber die Sperrung über¬ 
wunden, werden Sätze oder Satztheile fliessend, fast 
hastig vorgebracht. Die Antworten sind sinngemäss 
und geordnet: kein Vo rbeired en, kein nega- 
tivistisches oder ablehnendes Antworten. 

Ist es Ihnen unangenehm, Ihre Gedanken zusammen¬ 
zuhalten? „Ja, es ist mir auch nicht immer möglich.“ 

Wodurch wird das gestört? „Ja ich weiss nicht, es ist 
mir plötzlich .... Alles aus dem Gedächtniss entschwunden.“ 

Die Frage nach autochthonen Ideen wird bejaht, 
kann aber nicht weiter ausgeführt werden. Pat. fügt 
bei, sie könne jetzt gar nichts denken. 

Auf die Frage, ob sie mehr Leere oder mehr 
Unordnung und Verwirrtheit fühle, antwortete Pat. 
sehr decidirt: „leer“. 

„Jetzt momentan hab’ ich mehr das Gefühl von Leere, 
ein andermal da kommen solche Gedanken. 

Stimmung: jetzt nichts Besonders. 

Pat. vermag mit guter Auswahl die wichtigsten 
Momente von der früher dictirten Beschreibung ihres 
motorischen Verhaltens wiederzugeben. 

Warum die seltsamen Bewegungen? „Ja ich weiss 
nicht, es war mehr so unwillkürlich.“ 

Weiter befragt giebt sie an, es zwinge sie dazu, es 
sei wie ein plötzlicher Einfall, dem sie nach- 
kommen müsse, ein Widerstreben empfinde sie 
mei stenteils nicht. 

„Es kommt mir vor, ich muss es thun, ich muss dann 
nachkommen.“ 


Ist Ihnen das zuwider? „Nein, wenn ich nicht 
nachkomme, dann ist es schrecklich. 1 * 

Stimmen? „Ja wie meinen Sie? Von aussen oder von 
innen? (Nach Erklärung): „Ich habe von aussen und von 
innen gehört, jetzt nicht mehr.“ „Die inneren Stimmen 
kommen aus der Brust heraus;“ bezüglich der äusseren giebt 
sie an: „zu Hause hab* ich Gesänge gehört und die Anderen 
haben auf Befragen gesagt, sie haben nichts gehört.“ (Nach 
langem Nachdenken): „Eis war so wie aus den Lüften herunter, 
ich weiss es nicht zu sagen, so nur eine Melodie.“ 

Pat. bezeichnet diese Gehörswahmehmungen als 
unnatürlich, im Gegensatz zu realen Wahrnehmungen. 

Die innere Stimme hat in Worten bestanden, 
doch habe Pat. diese Worte nur wahrgenommen, wenn 
sie sich die Ohren zugehalten oder wenigstens die 
Aufmerksamkeit von der Aussenwelt abgewendet habe. 
Die innere Stimme habe gesagt, wie sie sich zu ver¬ 
halten habe und was sie thun solle. 

Die innere Stimme sei entweder Gottes Stimme 
oder die des bösen Feindes. 

Die Annahme, dass die innere Stimme auf einer 
krankhaften Sinnesstörung beruhen könne, lehnt 
Pat. ab. — 

Pat. giebt an, dass es ihr im Gespräche grosse 
Mühe mache, sich zu besinnen, dass es ihr aber 
lieber sei, wenn mit ihr gesprochen werde, als wenn 
sie allein sei. Es ist auch während des ganzen Ge¬ 
spräches keinerlei Ablehnung wahrzunehmen, 
sondern vielmehr ein ungewöhnlich entgegenkommen¬ 
des und gewissenhaftes Eingehen auf alle Fragen, 
trotz der schweren Sperrung. 

Alle Antworten sind vollkommen sinngemäss, 
präcise und verrathen eine sehr grosse Intelligenz. 

Schriftprobe misslingt wegen schwerer Gegen¬ 
impulse und offenbar auch wegen durchkreuzender 
Hallucinationen. Pat. bleibt vor der Tinte mit 
visionärem, etwas exstatischem, gespanntem Ausdruck • 
stehen, sieht starr vor sich hin, fixirt ihre Stellung, 
behält eine bizarre Haltung der linken Hand bei 
und lehnt alle Aufforderungen ab, diese Stellung zu 
verändern. Dabei ticartiges Zucken der Gesichts¬ 
muskel. Beim Versuch, sie nach dem Bett hinzu¬ 
drängen, zeigt sie sich das erste Mal deutlich nega- 
tivistisch; dabei bizarre, markirte Abwehrbewegung. 
Die wenigen sprachlichen Aeusserungen bleiben aber 
auch jetzt sinngemäss. 

Nachmittag: liegt mit dem Gesichte nach unten, 
weicht den Berührungen aus. 

Status somaticus: 

Schlank, sehr pigmentarme erethische Haut, an den 
Wangen hyperämische handtellergrosse Flecke; Hände 
cyanotisch, die Füsse werden bei längerem Stehen 
blau. Anaemie. Auf der Brust fluxionäre Röthung, 
sehr starke Darmatographie. Mund facialis und 
Zunge symmetrisch. Percussorische Herzgrenzen nicht 
verbreitert. Spitzenstoss sehr kräftig, fühlt sich 
schwirrend an; ein Geräusch ist nicht nachzuweisen, 
doch sind die Töne unrein. Patellarreflex leicht ge¬ 
steigert, Plantar-Reflex normal configurirt, lebhaft 
Kleine Struma, besonders des Isthmus. Es besteht 
starke Tachycardie. Nähere Untersuchungen wegen 
Widerstandes unmöglich. (Pupillen ?) An den Unter- 


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schenkein blaue Contusionen, am Rücken mehrere 
Kratzeffecte. 

6. 8. Pat. bejaht die Frage, ob sie sich gegen 
die Untersuchung habe wehren müssen; verneint 
die Frage, ob sie geglaubt habe, dass man ihr etwas 
habe zuleide thun wollen und ob sie auf den Arzt 
böse sei. 

Jede körperliche Annäherung löst 
negati vistisches Abschütteln aus, doch 
macht es nicht den Eindruck, als ob Pat. 
erbittert oder gekränkt wäre. Verweigert die 
Nahrung, stellt aber in Abrede zu glauben, dass die¬ 
selbe vergiftet sei. Giebt geordnete Auskunft, dass 
sie gestern Mittags zuletzt gegessen habe und jetzt 
nicht mehr essen möge. 

Ist es Ihnen unangenehm, wenn man sich mit 
Ihnen beschäftigt?: „Nein“. Warum wehren Sie 
sich denn?: „Weil ich muss“. Warum? „Ich darf 
mich nicht berühren lassen“. 

7- 8. Kniet im Bette, lässt spontan Urin, 
hält die Augen geschlossen und giebt keine Ant¬ 
wort; die Hand des Arztes, die auf ihrer Schulter 
liegt, sucht sie durch windende, ziemlich un¬ 
zweckmässige Bewegungen des Rumpfes abzuschütteln, 
ohne ihre eigene Hand zu verwenden, hält die Hände 
krampfhaft gefaltet; ruft später den Arzt zu sich, 
bittet ihn ihr die Hand zu geben, reicht ihm die 
linke und zieht die rechte angstvoll von jeder Be¬ 
rührung zurück. Sie hält dann die rechte Hand in 
einer gespreitzt manirirten Stellung, mit der linken 
hält sie den Arzt fest und weint, als sich dieser end¬ 
lich losmacht; verweigert die Nahrung. 

7. 8. Schwer negativistisch, kniet im Bett, ist 
fortwährend in unnatürlichen Stellungen oder Be- 
wegungen, dabei aber bemüht, dem Arzt, so¬ 
weit möglich, freundlich und folgsam ent¬ 
gegenzukommen. Pat. ist heute stets entkleidet. 
Gegen Abend löst sich der Negativismus, Pat. nimmt 
auf Bitte des Arztes Nahrung zu sich und zwar 
unter fortwährender gewaltsamer Ueber- 
windung negati v istischer Gegen im pulse. 

8. 8. Heute wesentlich freier, duldet Kleidung, 
giebt an, sich gestern entkleidet zu haben, weil 
sie es thun musste, da sie von einem inneren 
Drang gezwungen war. 

Hat dieser Drang auf Ihren Willen eingewirkt, oder auf 
Ihre Bewegungen? „Auf den Willen, dann der Willen auf 
die Bewegungen.“ 

Pat. stellt wieder in Abrede, ihre Be¬ 
wegungen gegen ihren Willen ausgeführt 
zu haben, vielmehr habe das ein wirk ende 
unbekannte Etwas ihren Willen so ver¬ 
ändert, dass sich Pat. dann mit diesem 
Zwang in Einklang gefühlt habe. Ein 
Gegenwille wurde nicht gefühlt. Pat. erklärt 
sich die Vorgänge als Einwirkung der höheren 
Macht, ist aber der Erklärung als pathologisches 
Moment bereits viel zugänglicher. 

Nachts (gegen Morgen); Kämmt sich über 
eine halbe Stunde lang, endlich bemerkt man, dass 
sie sich die Haare büschelweise ausreisst. Von der 


Wärterin aufgefordert, den Kamm herzugeben, er¬ 
klärt sie, nur dem Arzt den Kamm zu geben, thut 
dies dann mit sichtlicher Ueberwindung eines 
schweren inneren Widerstandes. 

Warum die Haare ausgerissen ? „Weil ich muss.* 1 

10. 8. Wesentlich freier, heiter, lächelt dem 
Arzt freundlich zu. Der Ernährungszustand und das 
Aussehen haben sich rapid gehoben. Es bestehen 
noch vielfache Parakinesien, doch ist Pat. deutlich 
nach Kräften bemüht, dieselben in den 
Hintergrund zu drängen. Dabei bestehen aber 
noch einzelne Manier-Bewegungen, z. B. Reichen der 
linken Hand, Zukneifen eines Auges etc. Beginnende 
Krankheitseinsicht. 

11. 8. Heute wieder unzugänglich, mutacistisch, 
negativistisch, weicht Berührungen aus, athmet un¬ 
regelmässig und seufzend. Dabei ist der Gesichts¬ 
ausdruck ein lächelnder. 

12. 8. Sitzt nackt in die Decke gehüllt, hält 
ein Stück Pflaster in der Hand, weint, als es ihr 
genommen wird, äussert klagend : 

„Bitte, geben Sie es mir wieder.** Was ? „Das 
Pflaster!“ (kläglich.) 

Hält dann konstant die Decke vor den Mund ge¬ 
presst. Verneint leise, dass sie auf den Arzt böse 
sei, im Uebrigen fast mutacistisch. Negativismus, 
aber sicher keine Affektlage der Ab 1 ehnung. 
Keine Tendenz, die Entblössung als solche zu maskiren. 

14. 8. Sitzt nackt im Bett, spuckt kontinuir- 
lich in die flache Hand, ruft dem Arzt nach: 

„Ach ich bitte doch um etwas Zwetschkensaft.“ „Wozu?“ 
„Zum Trinken.“ 

Weitere sprachliche Reaktionen sind nicht zu erreichen. 

t6. 8. Liegt bei der Visite in die vordere 
Kante des Gitterbettes gezwängt, hat das Schlusskleid 
über den Kopf gezogen, liegt sonst nackt, kümmert 
sich nicht um die Umgebung, wird durch das In¬ 
dezente der Stellung nicht beeinflusst. Widerstand 
gegen alle Maassnahmen, kratzt mit den Fingernägeln, 
ohne den Rumpf zu bewegen oder die Augen zu 
öffnen. Augen geschlossen. Mimik bizarr verzerrt. 
Auf die Frage: „Warum kratzen Sie?“ tritt ein viel¬ 
sagendes Lächeln auf. Spuckt rücksichtslos um sich 
herum. Als Jemand zufällig eine Aeusserung über 
„Beissen“ tut, beginnt Pat. sofort zu schnappen. 
Vollkommen mutacistisch. 

Hautdecken durch die fortwährende Entblössung 
kühl; versucht fortwährend, sich die Zähne auszu- 
reissen, zerkratzt sich das Zahnfleisch. 

17. 8. Alle möglichen Selbstbeschädigungen. Pat. 
kratzt sich blutig, rüttelt an den Zähnen, rauft sich 
die Haare, beginnt sich an den Fusssohlen die Haut 
abzuziehen, dabei streift sie jede Schlussbekleidung 
und die Handschuhbekleidung ab. 

Nachts hat die Pat. durch fortwährendes Schaben 
auf der Matratze sich eine Dermatitsi facialis zuge¬ 
zogen. 

18. 8. Pat. ist ruhiger, ziemlich frei von Be¬ 
wegungsimpulsen, giebt geordnet, wenn auch gesperrt, 
Auskunft. Auf die Frage, warum sie das Alles ge¬ 
macht habe: „Herr Doktor wissen cs ja, es hat 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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mich dazu getrieben“. Stellt in Abrede, 
diesen Zwang unangenehm empfunden zu 
haben. 

io. 8. Verhält sich ruhig, duldet Kleidung, gibt 
gehemmt, aber geordnet Auskunft, benimmt sich bei 
der körperlichen Untersuchung sinngemäss, gibt auch 
Krankheitseinsicht an (?), bricht aber bald in Thränen 
aus. Während der Krankheitshöhe sei ihr vorge¬ 
kommen, sie sei im Fegefeuer. Sie habe jedoch auch 
gewusst, dass sie auf der Klinik sei. Sie habe sich 
gedacht, dass Hölle und Fegefeuer auf der Welt 
seien. Den Arzt habe sie für Jesus gehalten, dabei 
aber den richtigen Namen gewusst, habe ihn auch 
für Maria Trost*) gehalten; befragt, wie sie sich 
diese Vereinigung vorgestellt habe, versucht sie, die 
verworrenen Gedankengänge so gut als möglich zu 
reproduzieren; dieselben erscheinen als mystisch- 
pantheistische Erklärungsversuche. Sie habe Stimmen 
in ihrem Innern gehört, die ihr Befehle gegeben 
haben. Die autochthonen Antriebe seien öfters zu¬ 
gleich als Stimmen im Innern erklungen. Vom 
Schlossberg her habe sie Vogelstimmen gehört, die 
waren „zwar nicht wie Worte, doch so, dass es einen 
Sinn giebt‘‘. Ihre katatonen Handlungen seien ihr 
nicht paradox, sondern begreiflich erschienen. Die 
Sorgen ihrer Umgebung habe sie bemerkt, trotzdem 
jedoch ihre Handlungen für richtig gehalten. 

Die Excoriationen habe sie sich wegen Juckreiz 
zugefügt, zugleich aber beabsichtigt, dass Blut kommen 
solle. Starke Schmerzen waren ihr recht, haben ihr 
wohl gethan. Der Schmerz habe sie gefreut, weil 
sie abbüssenwollte. (Deutlich secundärc Erklärungs- 
ideen. Fat. scheint zeitweise alle Vorgänge im Sinne 
ihrer Versündigungs- resp. Selbstkasteiungsideen um¬ 
gedeutet und assimilirt zu haben). Während der 
Unterredung hat sie die linke Hand auf das Auge, 
die rechte auf das Herz gepresst. 

Sie spricht zögernd unter Tremor, zwischendurch 
flüchtig lächelnd. 

12. 8. Vollkommen negativistisch, reibt und quetscht 
ihre Augen^ zieht sich die Haare kraus vor’s Gesicht, 
wickelt sich über den Kopf in die Decke und bringt 
konstant Speichel und Schleim vor die Lippen und 
verreibt dies zeitweise auf den Unterarmen. 

23. 8. In die Irrenanstalt Feldhof transferiert. 

Ich glaube, dass die inneren Vorgänge bei kata¬ 
tonen Krankheitsbildern an diesem Fall, wenn auch 
nicht erklärt, so doch wenigstens mit einer gewissen 
Deutlichkeit vorstellbar gemacht werden können. Eine 
Reihe glücklicher Umstände trägt dazu bei, uns das 
Eindringen zu erleichtern. Pat. verfügte über eine mehr 
als gewöhnliche Ausdrucksfähigkeit und Gewissen¬ 
haftigkeit in der Darstellung innerer Erlebnisse. Die 
sprachlichen Fähigkeiten waren vom Krankheitsprocess 
sozusagen gamicht berührt; die Kritikfähigkeit der 
Kranken reichte hin, um wenigstens zeitweise ein 

*) Wallfahrtskirche bei Graz. 


sinngemässes Eingehen auf die Fragen und ein ent¬ 
sprechendes Entgegenkommen zu ermöglichen. 

Die klinische Erscheinungsform war eine wech¬ 
selnde, von weitgehenden Remissionen und Exacer¬ 
bationen zusammengesetzt; dabei traten Cardinal- 
symptome der katatonen Psychosen prononcirt hervor. 
Es bestand eine Reihe paradoxer Bewegungsimpulse, 
die sich im Grossen und Ganzen als Stereotypien 
manifestirten; ferner seltsame, oft manierirte Einfälle 
und Wünsche, endlich Sperrungen auf allen Gebieten 
der Motilität. Dagegen fehlte auch jede Andeutung 
von Vorbei reden. 

Sehr auffallend war die ausgesprochene Tendenz 
zu Selbstbeschädigungen aller Art. Hierbei ist be¬ 
merkbar geworden, dass sich eine analoge Tendenz 
auch in übertragenem, seelischem Sinne geltend ge¬ 
macht hat. Pat. hat sich nicht nur das Gesicht zer- 
scheuert, das Zahnfleisch zerkratzt und Hautfetzen 
abgerissen, sie hat sich auch mit Urin gewaschen, sich 
selbst und ihre Kleider vollgespuckt, ihren Körper 
mit Schleim und Speichel eingerieben, sie hat sich 
endlich in tendencirt unästhetischer Weise entblösst, 
hat mit nacktem Unterkörper und abducirten Ober¬ 
schenkeln das Genitale an die vordere Netzwand des 
Gitterbettes gepresst — zweifellos ohne die Spur ero¬ 
tischer Tendenz. Im Gegentheil scheinen alle jene zur 
Verhütung von Ekelgefühlen dienenden Instincte, die 
ihre teleologische Bedeutung als Schutzmittel für die 
Ermöglichung erotischer Reiz Wirkungen erworben 
haben, *) hier in ihr Gegenteil convertirt worden zu 
sein. 

Wir können dies alles dahin zusammenfassen, dass 
in der Patientin ein Complcx von pathologischen Im¬ 
pulsen synergetisch die Unterdrückung aller normalen 
Impulse und Hemmungen und deren Umwandlung 
in ihr gerades Gegentheil bewirkt hat.**) 

Ich glaube annehmen zu dürfen, dass dieser Ein¬ 
fluss sich auch auf den Verständigungstricb und auf 
das Bedürfnis# nach sozialer Fühlungnahme überhaupt 
erstreckt haben muss. Diese Überlegung vereinfacht 
bereits die Erklärung für das Zustandekommen direct 
negativst is< nei Eischeinungsieiben. Es ist zu beden- 

*) William Steckei: ,,Der Ekel, eine biologische Studie/* 
Wage 1904. 

**) In seiner höchst wertvollen Studie „über die negative 
Suggestihilität“ (Psychiatr -Neurolog. Wochenschrift 1904) 
bringt Bleuler die Entdeckung der physiologischen Prä- 
formation für die uegativistische Pervertirung des Trieblebens. 
Ich hoffe mich nicht im Gegensatz zum Autor zu befinden, 
wenn ich annehme, dass der von Bleuler enthüllte präformirte 
Mechanismus in Fällen, wie die hier in Rede stehenden, auf 
die abge spa Ite n e n Nebenreihen der Bewusstseins- 
thätigkeit einwirkt, nicht auf das Hauptbewusstsein selbst. 


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ken, dass bei der Pat. das Bedürfniss nach Anschluss 
und Aussprache ein sehr lebhaftes gewesen ist; es 
ist dies aus der freundlich lächelnden Miene der Pat, 
aus ihrer Art, meine Hand festzuhalten und endlich 
auch daraus hervorgegangen, dass sich im Gespräch 
trotz aller Sperrungen und Gegenimpulse niemals irgend¬ 
welche Ablehnung bemerkbar gemacht hat und eine 
solche stets ausdrücklich in Abrede gestellt wurde. 
Pat. hat regelmässig die wegen ihres Negativismus an 
sie gerichtete Frage, ob sie auf mich böse sei, deut¬ 
lich verneint, desgleichen die Frage, ob ihr die Un¬ 
terredung unangenehm sei. 

Wir wiederholen also: eine einheitlich wir¬ 
kende Komponente im psychischen Mecha¬ 
nismus der Pat. hat sie zu einer Reihe von 
Handlungen getrieben, die ihren ursprünglichen 
Wünschen und Instinkten möglichst entgegen¬ 
gesetzt waren, hat die den natürlichen An¬ 
trieben conformen Handlungen gesperrt und ins 
Gegentheil umgesetzt. Als eine markante Theilerschei- 
nung dieser Vorgänge sind die negativistischen 
Reaktionsweisen aufzufassen. 

Über die Entstehungs- und Wirkungsweise dieses 
Complexes von Gegentrieben und paradoxen Impulsen 
erhalten wir von der Pat. sehr weitgehende introspec- 
tive Aufschlüsse, durch welche auch gewisse bestehende 
Streitfragen wenigstens für diesen einen, allerdings 
ziemlich typischen Fall in einem bestimmten Sinn 
beantwortet werden. — 

Für die Deutung katatonischer Erscheinungscom- 
plexe sind besonders zwei Erklärungsversuche von 
Wichtigkeit. Auf der einen Seite steht die grosszügige 
Auffassung Wemicke’s, der die pathologischen Be¬ 
wegungsphänomene auf eine Störung im Motilitätsbe- 
wusstsein als einem Teil des „Bewusstseins der Kör¬ 
perlichkeit“ zurückführt. Es ist kein Zweifel an dem 
hohen Wert dieser Hypothese möglich und zwar wird 
sie es sein, von der aus u. A. ein Verständniss der 
apractischen, asymbolischen und astereognostischen 
Störungen bei Herderkrankungen, der motorischen 
Rathlosigkeit bei progressiver Paralyse, ja vielleicht 
'auch gewisser agraphischer, alectischer und asemischer 
Ausfallsymptome angebahnt werden können wird. 
Für die Analyse katatoner Störungen aber stehen 
Auffassungen gegenüber, denen zufolge die einschlä¬ 
gigen Symptome als Störungen jener complicirten Ma¬ 
schinerie betrachtet werden sollen, die mit dem Schlag¬ 
wort „Willen“ angedeutet wird und denen zufolge 
der Ursprung der katatonen Bewegungsphänomene 
höher hinauf, in eigentlich intiapsychisehes Gebiet 
verlegt werden müsste. 


In diesem Sinne ist an Pat. die Frage gestellt 
worden, ob die von ihr geschilderte, zwangsmässige 
Beeinflussung ihrer Äusserungen als auf die Bewe¬ 
gungen direct oder als auf den Willen ein wirkend 
empfunden werde. Die Antwort war höchst charak¬ 
teristisch: „auf den Willen und dann durch 
den Willen auch auf die Bewegungen.“ 

Es muss hervorgehoben werden, dass Pat, so 
oft sie nach den Motiven ihrer paradoxen Handlungen 
befragt werden ist, stets gleichlautend antwortete, es 
zwinge sie „eine Gewalt“ dazu. Sie empfand das 
Agens als etwas ihrer ganzen Person fremdes, ausser 
ihr Stehendes, erklärte es sich zeitweise als: „ent¬ 
weder Gott oder der böse Feind“; daneben aber er¬ 
klärte sie wiederholt und übereinstimmend, mit grosser 
Präcision in verschiedensten Formen, dass die Ein¬ 
wirkungen dieses Agens nicht ihre Bewegungen als 
solche reguliere, sondern ihren Willen uniforme; 
sie befinde sich, sobald eine Einwirkung erfolgt, dann 
stets mit ihrer ganzen Willensrichtung in Einklang 
mit derselben; „weil ja eben mein Willen entsprechend 
verändert wird“, sagte sie einmal wörtlich. Die Aus¬ 
führung der entsprechenden Handlungen empfinde 
sie dann nicht mehr als mit ihrem Willen in Wider¬ 
spruch stehend oder als peinlich: „wenn ich es nicht 
thue, dann ist es peinlich“. Im Anschluss an ihre 
Selbstbeschädigungsimpulse erklärte sie, Schmerzen 
haben zu wollen; daran schlossen sich zeitweise 
secundäre Bussideen. Auch wegen der Entblössungen 
fühlte Pat., — obwohl dieselben offenkundig im schrof¬ 
fen Gegensatz sowohl zu ihrem Grundcharacter, als 
auch zu ihrem momentanen, ganz asexuellen Ver¬ 
halten standen, — keinerlei Widerwillen oder Ent- 
schuldigungsbedürfniss. 

Wir sehen also eine Reihe höchst auffälliger und 
paradoxer Bewegungen oder eigentlicher Handlungen, 
die keineswegs als ungewollt empfunden, vielmehr als 
dem Willen entsprechend ausdrücklich dargestellt 
werden, zugleich aber Veränderungen des Wil¬ 
lens selbst durch ein Agens, welches als 
ausserhalb der Ichkontinuität gefühlt und 
demzufolge als fremde Macht gedeutet wird. 
Die Tatsache, dass diese paradoxen Impulse als von 
Aussen kommend geschildert werden, dass sie der 
dauernden wie der momentanen Hauptpersönlichkeit 
der Kranken fremd sind, und dass sie dabei den 
Willen der Pat. derart in Besitz nehmen, dass ihre 
Ausführung nunmehr ohne inneres Widerstreben rea- 
lisirt werden kann, stellt sich dar als eine jeweilige 
Substituirung des „Willens“ der Ichkontinuität durch 
einen Einschub aus anderen Bewusstseinsreihen. 


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Ich citire hier früher*) Gesagtes: „In’s Psycho¬ 
logische übersetzt würde das Postulat resultieren, dass 
durch eine Schädigung der cerebralen Höchstfunktion 
speciell auch die synchrone Einheitlichkeit des Be¬ 
wusstseins geschädigt wird. Wir müssen uns denken, 
dass in solchen Fällen mehrere, wir wollen sagen 
Associationsreihen, gleichzeitig und ohne einander 
gegenseitig zu beeinflussen, im Bewusstseinsorgan ab¬ 
laufen können. Von diesen Associationsreihen wird 
dann Eine zur Trägerin der Kontinuität des Bewusst¬ 
seins werden müssen, **j und zwar diejenige, deren 
Gliedern die festeste associative Verbindung unter 
einander und auch mit dem ganzen übrigen latenten 
Bewusstseinsinhalt zukommt und welche dadurch jeder¬ 
zeit reproductiv in Evidenz gehalten und demzufolge 
jederzeit als kontinuirliches Bewusstsein überschaut 
und indentificirt werden kann. Die übrigen Associa- 
tionsreihen sind dann natürlich „unterbewusst“ oder 
besser „unbewusst“. Nun muss es aber jederzeit 
möglich sein, dass auch in ihnen, wir wollen sagen: 
die Nervenenergie anschwillt und eine solche Höhe 
erreicht, dass sich dann plötzlich die „Aufmerksamkeit“ 
einem ihrer Endglieder zuwendet, d. h. also, dass 
unvermittelt ein Glied aus einer unbewussten Associa- 
tionsreihe in die Kontiunität der bisher dominirenden 
sich einschiebt. Sind diese Piümissen erfüllt, so kann 
der begleitende subjective Vorgang nur der sein, dass 
irgend eine physische Erscheinung als unvermittelt 
ins Bewusstsein tretend und dabei als etwas der Be¬ 
wusstseinskontinuität vollkommen fremdes empfunden 
wird. Es scheint fast unausbleiblich, dass sich die 
Erklärungsidee anschliessen muss, die betreffende 
physische Erscheinung (Vorstellung) entstamme 
nicht dem eigenen Bewusstseinsorgane, sondern 
sei von Aussen in dasselbe hi n ei 11 ge worfen 

worden. Von den begleitenden Umständen 

wird es abhängen, ob die nach aussen projicirten 
psvchischen Erscheinungen sich als autochthone Ideen 
qualificiren oder als Hallucinationen oder als autoch- 
tone Impulse zu Bewegungen oder Hand¬ 
lungen“. 

Der Negativismus stellt sich also wenigstens für 
den in Rede stehenden Fall als eine Erscheinung 
der Bewusstseinsspaltung dar. Wir müssen uns vor¬ 
stellen, dass die ganze Bewusstseinsthätigkeit in meh¬ 
rere functioneile Reihen zerfallen ist, die sich in ihrer 
Wirkung auf die biologischen Aeusserungen des Indi¬ 
viduums ablösen. Die intermittirende Substituirung 
der „Willensverfassung“ der eigentlichen Icheontinui- 
tät durch die den Nebenreihen angehörigen Complexe 

*) Loc. cit. 3. 

**) Ich beziehe mich nicht auf Fälle von Verwirrtheit. 


erzeugt biologische Aeusserungen, welche als der 
Hauptpersönlichkeit fremd und dabei doch als confortn 
mit dem jeweiligen gleichfalls veränderten Willenszu¬ 
stand erscheinen, welche zugleich als gewollt 
und als von Aussen eingegeben empfunden 
werden. Die negativistischen Impulse gehören der 
Neben reihe an und können daher (im Gegensatz 
zu den Aeusserungen der Affectlage der Ablehnung!) 
nicht aus den in der Ichkontinuität enthaltenen psy¬ 
chischen Momenten direct abgeleitet werden, können 
nicht als Ausdruck der Hauptpersönlichkeit analysirt 
werden. Diese Unabhängigkeit der negativistischen 
— wie aller entsprechenden katatonen — Aeusserungen 
vom psychischen Zustand der Ichcontinuität musste 
dazu führen, die entsprechenden positiven oder nega¬ 
tiven Bewegungen als unabhängig von psychischen 
Prämissen überhaupt, als „psychomotorisch“ aufzu¬ 
fassen. Ich hebe hervor, dass die intrapsychischen Vor¬ 
bedingungen der „psvchomotorischen“ Phänomene 
zwar vorhanden sind, aber ausserhalb der Kontinuität 
des Ichbewusstseins gesucht werden müssen. 

Die neg a t i v i s tisch e Reaktion stellt sich 
demnach als ein biologischer Ausdruck 
der psyc h ophysischen Neben reihe dar, u n d 
z w a r als j c n e T e i 1 w i r k u n g d e r s e 1 b e n, d u 1 c h 
welche die Sperrung oder Invertierung der 
normalen Tendenzen und Impulse der 
Hauptreihe he rvorg ebrächt wird. — 

Wir sind damit darauf zurückgekommen, die 
negativistische Reaktion als das Produkt einer Be¬ 
wusstseinsspaltung zu determinieren. Nunmehr ergiebt 
sich die Frage, welcher von den möglichen Mecha¬ 
nismen der Bewusstseinsspaltung gerade hier voraus¬ 
zusetzen ist. Dazu bedarf es einer vergleichenden 
Nebeneinanderstellung der sehr verschiedenen patho¬ 
logischen Vorgänge, durch welche die verschiedenen 
Arten von Bewusstseinsspaltung hervorgeiufen werden, 
und eines Versuches, dieselben auch graduell zu 
ordnen. — 

Bei der von Breuer und Freud entworfenen 
Modalität der Bewusstseinsspaltung handelt es sich 
um eine systematisirtefunktionelleTrennung* 
von Bewusstseins complexe n. Das Zusammenhalten 
des einzelnen Complexes in sich entspricht dein 
funktionellen Erwerb; die Tennung der Complexe 
voneinander entspricht einer systematischen 
Sperrung der verbindenden Associationen und ist 
als solche gleichfalls gefestigter functioneller Er¬ 
werb; das Ausschlaggebende ist die erworbene, 
reaktive Unterdrückung der Connexe („Ab¬ 
wehr“). Eine Unterart dieser systematisirten Bewusst- 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


35i 


1904.] 


seinsspaltung ist die von Freud analvsirte Trennung 
zwischen einem Vorstellungscomplex und seinem 
zugehörigen Affect.*) Auch hier handelt es sich um 
Sperrung eines Connexes durch einen erworbenen 
systematisirten Psycho-Mechanismus, durch dessen 
Function bestimmte Verbindungen reactiv gesperrt, 
die „Erregungswellen“ in bestimmte falsche Wege 
übergeleitet und das Zustandekommen der Bewusst¬ 
seinseinheit verhindert wird. 

Die von Breuer und Freud entworfenen 
Spaltungsmechanismen werden von den Autoren 
als Mechanismen der Neurosen, speciell der Hysterie 
geführt. Im Sinn dieser Autoren könnten wir vielleicht 
für diese Modalitäten den Ausdruck gebrauchen „hyste¬ 
rischer Spaltungsmechanismus“. 

Der von mir als Bewusstseinsz er fal 1 postulirte 
pathologische Vorgang soll eine wesentlich andere Form 
der Bewusstseinsspaltung bedeuten, .die unabhängig 
vom functionellen Erwerb auf einer unmittelbaren 
Schädigung der Bewusstseinsthätigkeit als solchen 
beruht. Das Fehlen einer dem Bewusstseinsinhalt 
angepassten Systematisirung unterscheidet den Bewusst- 
seinszerfall als eine gröbere Schädigung allgemeiner 
hirnphysiologischer Leistungen vonFreud’s hysterischem 
Spaltungsmechanismus. 

Bewusstseinszerfall in meinem Sinn ist der di recte 
Endeffect des einfachen Nachlassens jener cerebralen 
Höchstfunction, durch welche die Zusammenfassung 
der synchronen psychophysischen Erregungen zur 
Synergetik des einheitlichen Bewusstseins geleistet wird. 

Ich möchte an dieser Stelle einen Versuch machen, 
die verwirrende Mannigfaltigkeit mehr oder minder 
ähnlicher Spaltungs-, Zerfalls- und Zerlegungsproresse 
etwas übersichtlicher zu gestalten. Ich habe deshalb 
ein Schema zusammengestellt, welches neben den 
e i ge n 1 1 i c h e n S p a 1 1 u n gsVorgängen überhaupt alle 
vorläufig construirbaren Formen umfassen soll, welche 
ich gemeinsam unter dem Oberbegriff „Sejunction“ 
subsummiren zu dürfen glaube. 


1. Zerfall des Bewusstseins- I Sejunctionsmechanismus nach 
inhaltes: I Wemicke. 


2. Systematisierte Zer- 
theilung des Bewusssteins- 
inhaltes: 


I Spaltungsmodus der Neurosen 
I nach Breuer und Freud. 


3. Zerfall der Bewusstseins-! Bewusstseinszerfall nach 
thätigkeit: I Gross. 

i 


*) Durch die Systematisirung und psychische „Lo- 
kalisirung 41 auch scharf unterschieden vom Vorgang der 
„Dissociation zwischen Noo- und Tymopsyche 4 * nach Stransky! 


4. Systematisirte Zer- 1 

theilung der Bewusstseins- 1 entsteht aus 2.! 

thätigkeit: 

5. Zerfall der Gefühls- I Modus der Dementia praecox 
beiordnung : | nach Stransky 

6. Sy ste m at i s irt e (und 

circum scripte) Zertheilung der ! Affectabspaltung nach Freud. 

Gefühlsbeiordnung: J 

Von den im Schema enthaltenen Sejunctions- 
möglichkeiten bedeuten 3 und 4 den Zerfall oder die 
Zerlegung der Bewusstseins thätigkeit in disparate 
sy n c li r u n e Vorstellungsgruppen. Der Bewusstseins¬ 
zerfall und der Modus der Neurosen nach Freud 
stehen dementsprechend als Spaltungen des Be¬ 
wusstseins den anderen Scjunctionsprocessen gegen¬ 
über. Der fundamentale Unterschied jener beiden 
eigentlichen Spaltungsvorgänge voneinander ist 
gleichfalls durch das Schema unterstrichen worden. 
Dennoch soll eine Möglichkeit angedeutet werden, 
die beiden Modalitäten der Bewusstseinsspaltung auch 
graduell zu ordnen. — 

Soweit es sich nicht um rein psychotraumatische 
Aetiologie handelt, muss eine angeborene oder er¬ 
worbene, acute oder chronische Disposition zu 
Bewusstseinsspaltungen allen entsprechenden 
Vorgängen zu Grunde liegen. Ich habe dafür die 
Worte eingesetzt: „ein Nachlassen jener cerebralen 
Höchstfunction, auf deren ungestörter Thätigkeit die 
Zusammenfassung aller synchronen nervösen Vorgänge 
zum einheitlichen Bewusstsein beruht.“ 

Stellen wir uns nun vor: ein weitgehendes 
Nachlassen dieser „Vereinheitlichungsfunction“ führt 
direkt zum Be wuss tse in szerfall als zu seinem 
unmittelbaren einfachen Resultat. Es ist zu be¬ 
denken, dass die „sejunktive Disposition“ eine vor¬ 
geschrittene sein muss, um unmittelbar und ohne 
unterstützende Momente zu diesem schweren Effect 
zu führen: geringere Intensität müsste demnach, wenn 
keine konkurrirende Faktoren hinzutreten, bis auf 
weiteres latent bleiben. Solche konkurrirende Faktoren 
aber hat Freud in grosser Fülle aufgedeckt: eine Serie 
von inneren Konflikten, von Unlustaffecten, von 
„Hypnoiden“ arbeitet der Vereinheitlichungsfunction 
entgegen und schaffen auf dem Weg der Abwehr oder 
Verdrängung oder der altemirenden Bewusstseins¬ 
zustände unterbewusstes Material. In Konkurrenz 
mit diesen, der Einheitlichkeit des Bewusstseins stetig 
entgegenarbeitenden Faktoren kann aber auch eine 
geringe — beginnende —- Disposition, die zur Erzeugung 
eines directen und einfachen Effectes — Be¬ 
wusstseinszerfall — noch lange nicht hinreicht, die 


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352 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 37- 


Entstehung einer systematisirten Bewusstseins- 
spaltung begünstigen; den auf Bewusstseinsspaltung 
hin wirkenden Reminiscenzen, Affekten, Hypnoiden 
wird freie Bahn geschaffen, und es kommt zwar nicht 
zum Bewusstseins-Z e r f a 11 , wohl aber zu s y s t e m a t i- 
sirter Bewusstseinszertheilung. Demnach ist eben 
beim Bewusstseinszerfa 11 der endogenen sejunc- 
tiven Disposition, bei der systematisirten Bewusst¬ 
seinszerlegung den exogenen Factoren die Haupt¬ 
rolle zugetheilt. Auf Grund dieses quantitativen 
Unterschiedes, der beiden Spaltungsformenzu Grunde 
liegenden sejunctiven Disposition wäre es möglich, 
ohne das Vorhandensein der essentiellen Unterschiede 
zu bestreiten, die Erscheinungsformen der Bewusst¬ 
seinsspaltung auch graduell zu ordnen und die Mög¬ 
lichkeit von Uebergangsbildern zwischen den ver¬ 
schiedenen Modalitäten der Bewusstseinsspaltung zu 
postuliren. 

Versuchen wir nun, in unserm Falle die Mo¬ 
dalitäten der Bewusstseinsspaltung näher zu ana- 
lysiren, so fällt uns die grosse Einheitlichkeit in 
den auf die Hauptpersönlichkeit ausgeübten Wirkungen 
auf. Die substituirten Impulse haben alle die gleiche 
Tendenz und stehen in einem wahrnehmbaren Ab- 
hängigkeitsverhältniss von den Impulsen der Haupt¬ 
persönlichkeit. Dies geht hervor aus der mehrfach 
betonten Thatsache, dass alle diese Substitutionen 
auf die Invertirung und Contrastwirkung gegenüber 
den normalen Impulsen hinauslaufen. Dies lässt an 
Wirkung und Rück w i r k u ng zwischen den an¬ 
genommenen psychophysischen Parallelreihen denken. 

Diese letzte Erwägung nun enthält eine Veran¬ 
lassung, den Symptomencomplex des hier be¬ 
schriebenen Krankheitsfalles als ein Uebergangsbild 
zwischen Bewusstseinszerfa 1 1 und svstematisirte 
Bewusstseinsspaltung einzuschieben. Die Substitutions¬ 
vorgänge, durch welche Willensrichtungen, Impulse, 
aber auch Halluzinationen in die Ichkontinuität ein¬ 
geschoben werden, entsprechen dem Vorhandensein 
psychophysischer Parallelreihen, und wir kennen ge¬ 
rade diese Erscheinungen als Symptome von Be¬ 
wusstseinszerfall; doch ist ersichtlich, dass diese 
Parallelreihen auch wieder in einem gewissen Zu¬ 
sammenhang in sich und mit der Hauptreihe stehen. 
Wir haben gesehen, dass den ausserbewussten Impulsen 
und zwar in erster Linie den negativistischen eine 
bestimmte Tendenz zugehört, die zu den normalen 
Impulsen des Ichkontinuität in der Abhängigkeits¬ 
relation des Gegensatzes steht. Es zeigt sich hier 
also ein systematisirtes Abhängigkeits- und Gegen- 
seitigkeitsverhältniss zwischen dem Hauptbewusstsein 
und den Parallelreihen. Es werden jeweils und nach 


Umständen bestimmte Gruppen von verbin¬ 
denden Assoziationen ermöglicht, die anderen ge¬ 
sperrt; wir sehen also auch einen Zerteilungs¬ 
mechanismus mit bestimmten reguliren-, 
den und hemmenden Funktionen hinter dem 
Moment der Bewusstseinsspaltung. 

Diese Erwägung lehrt uns vielleicht die engen 
Beziehungen zwischen acut - katatonischen und 
hysterischen Zustandsbildem verstehen, die uns 
unter den Erfahrungen der Klinik häufig auffallen. Die 
differenzialdiagnostischen Schwierigkeiten in dieser 
Richtung sind hinlänglich bekannt; es ist ferner be¬ 
sonders von N i s s 1 darauf hingewiesen worden, dass 
„hysterische“ Symptome bei einer sehr grossen Zahl 
von Krankheiten und zwar meist im Beginn derselben 
vertreten sind, dass hier gerade die hebephrenen und 
katatonen Zustandsbilder den Hauptanteil haben, 
und dass zahlreiche Fälle der Dementia präcox- 
Gruppe in ihrem Beginn als „hysterische“ Psychosen 
passieren. Wenn wii nun annehmen, dass ein und dieselbe 
Disposition bei geringer Intensität das Auftreten einer 
systematisirten Bewusstseinszertheilung nach dem Modus 
der Hysterie begünstigen, bei grösserer Intensität direkt zu 
einem regellosen Zerfall der Bewusstseinseinheit führen 
könnte, dann ist es nicht überraschend, wenn zahlreiche 
Psychosen mit Symptomen beginnen, die auf „hyste¬ 
rische“ Bewusstseinsspaltung (im Sinne Freuds) 
zurückzu führen sind und später in Stadien übergehen, 
die durch Bewusstseinszerfall (in meinem Sinn) 
als der Dementia sejunctiva zugehörig charakterisirt 
sind. 

Noch eine weitere klinische Erfahrung rückt nun 
vielleicht dem Verständniss etwas näher. Je enger 
die systematisirten Beziehungen zwischen den 
psychophysischen Parallel reihen und dem Hauptbe- 
wusstsein sind, je mehr hier ein Abhängigkeitsverhältniss, 
z. B. des Gegensatzes die Erscheinungen beherrscht, 
je weniger sich die psychophysische Reihe der Ich¬ 
kontinuität von den Parallelreihen emanzipirt hat, 
desto mehr kann das Phänomen universeller Aliena- 
tion, das Bild diffuser allgemeiner Störung zur 
Geltung kommen. Wenn dann das sejunctive 
Moment weiter vorschreitet, so kann die Ichkontinuität 
unabhängiger von den Parallelreihen und damit evtl, 
geordneter werden, so dass äusserlich der Eindruck 
der Komponirtheit geboten wird. Das Bild der 
schweren universellen Störung bei allgemeinem 
Negativismus entspricht also einem Zustand, bei 
welchem die Bewusstseinsreihen noch in einem durch¬ 
greifenden Abhängigkeitsverhältniss von 
einander stehen und dem entsprechend der Sejunk- 
ti< uisprözess noch nicht den höchsten Grad erreicht 


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I 9°4*J 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


353 


hat. Dies deckt sich mit der, auch für die hier ein¬ 
schlägigen Fälle geltenden Erfahrung von der 
besseren Prognose bei universeller Perturbation. 

Wir wissen: je gleichmässiger sich das pathologi¬ 
sche Moment über das ganze psychische Geschehen 
ausbreitet, und je einheitlicher es dasselbe verschiebt, 
desto schwerer und stürmischer sind meist die acuten 
Erscheinungen, desto besser ist meist die Prognose. 
Dies kann nun eintreffen, solange die psychischen 
Vorgänge noch in einem gewissen systematisirten Zu¬ 
sammenhänge stehen, noch immer einen, wenn auch 
gespaltenen Connex darstellen. Wenn die „cerebrale 
Höchstfunktion“, von der die Coordination gewähr¬ 
leistet wird, noch weiter nachlässt, wenn es zum com- 
pletten Bewusstseinszerfall kommt, so verlieren die 
psychophysischen Parallelreihen ihren Zusammenhang 
immer mehr, die einheitliche Wirkung des pathologi¬ 
schen Momentes tritt zurück, die Aufrechthaltung 
einer als componirt erscheinenden Ichcontinuität wird 
möglich, die Prognose aber verschlechtert sich ent¬ 
sprechend der höheren Intensität des sejunktiven 
Momentes. 

Der hier beschriebene Fall bietet gewiss keine ab¬ 
solut ungünstige Prognose und dementsprechend sehen 
wir trotz der erhaltenen Orientirtheit und der Fähig¬ 
keit zu sinngemässen Ueberlegungen eine universelle 
Ausbreitung der pathologischen Verschiebung über fast 
alle Reaktionen der Persönlichkeit, so dass der Fall 
bei flüchtiger Beobachtung als Amentia imponiren 
konnte. Es entspricht dies seiner Stellung als Ueber- 
gangsform, in der wir noch die Phänomene der 
systematisirten Bewusstseinsspaltung und des 
Bewusstseinszerfalls neben- und durcheinander 
finden. 

Wir müssen uns im Uebrigen eingestehen, dass 
es derzeit unmöglich ist, in exakter Weise zu be¬ 
stimmen, welchen Antheil die systematisirten 
Bewusstseinsspaltungen, welchen Antheil der Be¬ 
wusstseinszerfall an den einzelnen Erscheinungen 
negativistisch-katatoner Krankheitsbilder gleich den 
unseren hat, in welcher Weise die interferirenden 
Spaltungsmodalitäten ineinandergreifen und welche 
Mechanismen die Mischsymptome beider regieren. 
Zur Behandlung solcher Fragen bedürfte es um¬ 
fassendster analytischer Untersuchungen, und diese 
wieder scheinen, besonders in Erwägung der Schwie¬ 
rigkeiten im Verkehr mit den hier interessirenden 
Kranken, eine vollendetere psychologische Unter¬ 
suchungstechnik vorauszusetzen, als uns schon heute 
zu Gebote steht. Was wir an dieser Stelle festhalten 


wollen, ist das für unsere differentialdiagnostische 
Untersuchung in Betracht kommende Resultat, dass 
wir bei katatonen Zustandsbildern eine Spaltung des 
Bewusstseins in psychologische Paralleireihen 
voraussetzen, die unter einander in einem engeren oder 
lockereren, mehr oder minder systematisirten, auf 
jeden Fall aber ausserbewussten, d. h. der 
E viden zhaltung durch die continuirliche 
Hauptbewusstseinsreihe entrückten Zu¬ 
sammenhänge stehen. Wo im einzelnen Fall das In¬ 
einandergreifen getrennter psychophysischer Erregungs¬ 
reihen zum einheitlichen Bewusstsein nicht durch einen 
einfachen Defectzustand unterbleibt, sondern 
durch einen systematisirten Mechanismus gesperrt 
wird, da liegt dieser zertheilende Mechanismus ebenso 
ausserhalb des Bewusstseins als die ursächliche 
hirnphysiologische Veränderung, die wir .als Agens für 
den Bewusstseins zerfall vorauszusetzen genöthigt 
sind. Die Nebenreihen, aus denen heraus die negati- 
vistischen Reactionsweisen in das Hauptbewusstsein 
sich einschieben, stehen ausserhalb der continuirlichen 
Evidenzhaltung durch die Ichcontinuität, die wir Be¬ 
wusstsein nennen; die negativistischen Vorgänge stehen 
in keiner introspectiv wahrnehmbaren — rein psycho¬ 
logisch gesprochen: in keiner! — Beziehung zu den 
psychischen Vorgängen der bewussten Persönlichkeit. 

Dies nun unterscheidet den eigentlichen Nega¬ 
tivismus essentiell von der Affectlage der Ab¬ 
lehnung. Auch diese kann allerdings bei Spaltungs- 
oder Zerfallsvorgängen des Bewusstseins auftreten; 
sie ist aher immer und auch dann der Ausdruck 
der in der Ichkontinuität, in der bewussten Persön¬ 
lichkeit sich abspielenden Vorgänge. So können 
Halluzinationen, autochthone Ideen und Impulse als 
Folgen eines Bewusstseinszerfalles auftreten und dabei 
— indem sie rathlos machen! — Bedingungen her¬ 
beiführen, auf Grund welcher es in der bewussten 
Persönlichkeit zur Affektlage der Ablehnung 
kommt. Dann kann sich Negativismus und Affect¬ 
lage der Ablehnung zu einem Bilde des sogen. 
Totalen oder Psychischen Negativismus kombiniren.*) 

Hier soll als Gegenstück zum „psychomotorischen“ 
Negativismus ein Fall Platz finden, welcher sich den 
loc. eit. i veröffentlichten Krankengeschichten an- 
schliesst, bei welchem aber die einschlägigen Momente 
viel klarer und eindeutiger zu Tage treten und der 
in Folge dessen zur Veranschaulichung der hier 
interessierenden differenzialdiagnostischen Kriterien 
besonders geeignet erscheint. (Fortsetzung folgt.) 

*) Loc. cit. 2 beschrieben. 


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354 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 37- 


Mitthei lungen. 


— X. Versammlung mitteldeutscher Psy¬ 
chiater und Neurologen in Halle a. S. am 22. 
und 23. October 1904. I. Sitzung. Vorsitzender: 
Herr Ganser. (Fortsetzung.) 

6. Herr Bol dt (Jena): Ueber Merkdefecte. 

Nach einer kurzen Critik der Prüfungsmethoden 
von Ranschburg, Bernstein und Diehl schildert Vortr. 
das von ihm eingeschlagene Verfahren, welches sich 
im Wesentlichen mit der älteren Ranschburg’schen 
Methode deckt (Zeitschrift f. Psych. u. Neurol. IX). 
Geprüft wurde in 7 Gruppen die Merkfähigkeit für 
sinnvolle und sinnlose Worte, Zahlen mit und ohne 
Verbindung bestimmter Begriffe, Personen und Namen, 
Farben und Orientirung im Raume. Die Versuche 
wurden an 50 Personen vorgenommen, und zwar an 
13 normalen gebildeten und ungebildeten Individuen 
und 37 Kranken, darunter 12 Paralytiker, 4 Tabopara- 
lytiker, 4 Fälle von Lues cerebri, 5 von epileptischer 
Demenz, 1 postdiabetische Demenz, 2 alkoholischer 
Demenz, 1 Korsakoff’sche Psychose, 2 Hysterien, 
1 Imbecillität, 1 Dementia paranoides. Das Prüfungs¬ 
material war für Gesunde und Kranke das gleiche, 
der Unterschied betraf nur die Methode. Von den 
Resultaten sei erwähnt, dass sich als allgemeingültig 
feststellen Hess, dass beim normalen Individuum die 
Leistungsfähigkeit steigt, indem erst bei der 3. Repro- 
duction nach 24 Stunden der Höhepunkt erreicht 
wird, während es sich bei Kranken umgekehrt verhält. 
Vielfach übt der Lebensberuf einen gewissen conser- 
virenden Einfluss auf das Specialgedächtniss aus, dies 
lässt sich aber nicht als allgemein gültiger Satz hinstellen. 
— Im weiteren werden eine Anzahl Ergebnisse mit- 
getheilt, die sich auf das Verhalten der Merkfähigkeit 
bei sonst gut erhaltenem geistigem Besitzstand be¬ 
ziehen: Versuche bei Lues cerebri und Intoxications- 
psvchosen. Bei allen derartigen Fällen wird der 
schwere Merkdefect hervorgehoben. Im Gegensatz 
dazu stehen einige Fälle, in denen bei zum Theil 
erheblichem intellectuellem Defect eine ausgezeichnete 
Merkfähigkeit bestehen geblieben war; gleichzeitig 
wurde an diesen Patienten, durchweg Kindern von 
12—14 Jahren, die schon früher gemachte Erfahrung 
bestätigt, dass in diesem Alter die rein elementare 
Merkfähigkeit am leistungsfähigsten ist. Vortr. kommt 
zu dem Schluss, dass am ersten und stärksten das 
Zahlengcdächtniss leidet, dann die Merkfähigkeit für 
sinnlose Worte und für Namen, und dass diese umso 
schwerer behalten werden, je weniger Vorstellungen 
associativ damit verknüpft werden können. (Die Ver¬ 
suche sollen im Rahmen einer Studie veröffentlicht 
werden.) (Autoreferat.) 

Discussion: 

Herr Wern icke hat schon früher wiederholt die 
oft überraschend gute Merkfähigkeit der Epileptiker 
betont. 

II. Sitzung. 

Vorsitzender: Herr M oe 1 i - Herzberge. 

1. Herr Liepmann (Pankow): Demonstration 
der Gehirnschnitte eines Apraktischen und eines 
Agnos tischen. 


Die wesentlichen klinischen Symptome des ersten 
Falles waren die folgenden: 49jähriger Mann, der 
vor Jahren Syphilis gehabt hatte. 1899 Apoplexie, 
die einen anscheinend tiefgehenden Blödsinn hinter- 
liess. Patient kannte anscheinend den Gebrauch der 
einfachsten Gegenstände nicht mehr. Genauere Unter¬ 
suchung zeigte aber, dass dieser „Blödsinn“ ein halb¬ 
seitiger und zwar rechtsseitiger war. Bei Gebrauch 
der linken Körperhälfte entwickelte Patient eine 
relativ reiche Intelligenz. Er verstand alle Aufforde¬ 
rungen, w’enn er sie links ausführen durfte, war nicht 
leseblind, nicht agraphisch, sondern konnte links, w r enn 
auch mühsam, in Spiegelschrift schreiben. Der Aus¬ 
fall beruhte nicht auf mangelhaftem Erkennen und 
Verstehen, sondern auf einer Intentionslähmung der 
rechten Körperhälfte; nur mit der rechten Hand wurden 
die Gegenstände verkehrt benutzt, mit der linken 
richtig. Er w'ar nicht agnostisch, sondern apraktisch 
im engeren Sinne. Zu fordern war zur Erklärung 
des eigenartigen Zustandsbildes eine Isolirung der 
Centren des rechten Armes und Beines resp. der 
ganzen rechten sensomotorischen Zone vom übrigen 
Gehirn. Das Fehlen von Worttaubheit, Seelenblind¬ 
heit und Lähmung deutete auf einen Herd im Parietal- 
theil hin. — Im weiteren Verlaufe trat einmal eine 
vorübergehende rechtsseitige Hemiparese auf, einmal 
eine linksseitige Hemiplegie. Nach 1 Jahr fing der 
vorher stumme Patient wieder an zu sprechen, mit 
erhaltenem inneren Wortbild, aber mangelhafter Wort¬ 
bildung; trotz der Complicationen blieb das erste 
interessante Symptomenbild unverändert. — Die Haupt¬ 
punkte des Sectionsbefundes waren: 

1. ein subcorticaler Herd in der III. linken Stirn- 
windung, 

2. eine subcorticale Cyste im gyrus supramarginalis 
(vorderen unteren Scheitelläppchen), 

3. ein fast vollständiger, nur das hinterste Ende 
verschonender Schwund des Balkens durch Verstopfung 
der Arteriae corporis callosi infolge Endarteriitis 
syphilitica, 

4. Cystöse Durchsetzung beider Cingula, 

5. ein Herd im rechten Gyrus angularis, 

6. eine Degeneration in der linken Insel (sogen, 
capsula extrema). 

Der 2. Fall betraf einen Seelenblinden (Agnos- 
tischen) mit rechtsseitiger Hemianopsie; derselbe bot 
klinisch äusserlich ein ähnliches Bild wie der Aprak¬ 
tisch e, indem er von den ihm gereichten Gegenständen 
einen verkehrten Gebrauch machte. Die Analyse 
ergab aber, dass er die Gegenstände nicht erkannte, 
im Gegensatz zum ersten Falle, und dass seine 
motorischen Functionen intact w r aren. Die Unter¬ 
suchung des Gehirns ergab deshalb auch in gewissem 
Sinne das negative Gegenbild zu dem ersteren: eine 
Zerstörung der Rinde der fissura calcarina und ihrer 
Umgebung, bei Erhaltung der subcorticalen Ver¬ 
bindungsbahnen. 

Der erste Fall bringt also den Beweis für eine 
Störung des Handelns, die weder Lähmung noch 


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1904 .] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


355 


Ataxie ist, und doch durch eine organische Herd¬ 
erkrankung bedingt. Der Vergleich mit anderen 
Fällen weitgehender Balken Zerstörung, die nur sehr 
wenige klinische Erscheinungen dargeboten hatten, 
beweist, dass ein Functionsausfall dabei erst dann 
deutlich wird, wenn eine der Hemisphären nicht mehr 
intact ist Die sonst nur bei Hysterie beobachtete 
psychische Spaltung, dass das eine Sensomotorium 
über die Lage und Bewegungen der gegenseitigen 
Extremitäten nicht mehr Bescheid weiss, kommt also 
auch als Herderscheinung vor. 

Discussion: 

Hen Flechsig hält die Deutung des klinischen 
Befundes infolge der Mehrzahl von Erkrankungsherden 
für erschwert; der Herd in der III. linken Stirnwindung 
dürfte an dem Zustandekommen des Symptomen- 
bildes wesentlich mit betheiligt sein. 

Herr Ziehen fragt, wohin die Balkenfasem ge¬ 
langen, die im Splenium noch erhalten geblieben sind; 
ferner, ob der Patient im Stande war, auf Gegen¬ 
stände in der linken Gesichtsfeldhälfte mit den rechts¬ 
seitigen Extremitäten zu reagiren ? 

Herr Liepmann: Die anatomische Verfolgung 
der erhaltenen Balkenfasern steht noch aus. Patient 
konnte mit der rechten Hand nach jedem Punkte 
des Gesichtsfeldes greifen. Herrn Flechsig gegen¬ 
über erwähnt Vortr. einen Fall von doppelseitigem 
Scheitellappenherd und erhaltenem Balken, der intra 
vitam ebenfalls das Bild der Apraxie darbot. 

8. Herr A 1 1 (Uchtspringe): Sauerstoffbehandlung 
bei Kranksinnigen und Nervenkranken. 

Die Sauerstoffbehändlung hat sehr verschiedene 
Beurtheilung erfahren, ebenso grosse Hoffnungen er¬ 
weckt wie Widerspruch hervorgÄrufen. Die meist 
gebrauchte Anwendung ist die Inhalation; intravenöse 
Einführung ist nicht ganz unbedenklich. Die Frage, 
ob eine O-Anreicherung des Organismus durch Inha¬ 
lation erfolgen könne, kann nach den Untersuchungen 
besonders von Zuntz in bejahendem Sinne beant¬ 
wortet werden. Weniger die Erythrocyten als vielmehr 
das Blutserum kann O in erhöhtem Maasse aufnehmen; 
die therapeutische Wirksamkeit bei Vergiftungen, 
besonders mit Kohlenoxydgas, Anilin u. a. ist ausser 
Zweifel. Neuerdings wird Sauerstoff auch von den 
Chirurgen in Form der Sauerstoff-Chloroformnarkose 
gerühmt. — In der Neurologie ist er noch wenig 
beachtet worden. In der Anstalt Uchtspringe ist 
Sauerstoff seit mehreren Jahren in Anwendung, und 
zwar: 

1. bei Vergiftungen: bei einer in selbstmörderischer 
Absicht ausgeführten Chloralhydratvergiftung wirkten 
Inhalationen nach längeren vergeblichen Versuchen 
mit anderen Mitteln lebensrettend, ebenso in 2 Fällen 
von schwerer Nicotin Vergiftung, hervorgerufen durch 
Verzehren von Cigarrenresten. 

2. bei Erschöpfungscollaps: künstliche Athmung 
verbunden mit Sauerstoffinhalationen wirkte lebens¬ 
rettend; bei einer schweren Erschöpfungspsychose 
halfen sie über das bedrohlichste Stadium hinweg. 

3. bei Epilepsie: in einem Falle, wo durch Zu- 

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sammenschnüren des Halstuchs im Anfalle Erstickungs¬ 
gefahr drohte, wurde O mit Erfolg angewandt; ferner 
zur Bekämpfung von Herz- und Athemschwäche und 
bedrohlicher Cyanose nach gehäuften Anfällen. Zur 
Coupirung des schweren Status epilepticus hat man die 
reine Chloroformnarkose wegen der Gefahr für das 
Herz oft gefürchtet; die gemischte Sauerstoffchloroform¬ 
narkose, an die sich Inhalationen von reinem Sauerstoff 
anschliessen, wirkt zuverlässig coupirend und gefahrlos 
und ermöglicht es, dem Kranken dann per rectum 
Chloralhydrat oder andere Schlafmittel beizubringen. 

4. bei Hemmungspsychosen, bei denen die all¬ 
gemeine Herabsetzung aller vitalen Functionen manch¬ 
mal einen bedrohlichen Grad annehmen kann. 

5. bei manchen Angstzuständen wirkten die Inha¬ 
lationen so erleichternd, dass oft die Patienten selbst 
den Ballon verlangten, um über den Anfall schneller 
hinwegzukommen. 

Im Ganzen steht dem Sauerstoff in einem Anstalts¬ 
betriebe eine vielseitige und unter Umständen aus¬ 
schlaggebende Verwendung offen und Vortr. kann 
nur warm seine Anwendung empfehlen. 

Discuss ion: 

Herr Ganser hat seit längerer Zeit auch den 
Sauerstoff in der Behandlung Geisteskranker angewandt, 
allerdings nicht in Form der Einathmung aus Ballons, 
sondern als Liegebehandlung im Freien, und kann 
auch diese letztere Form nur empfehlen. 

Herr Dums hat im Militärhospital und auf 
Rettungswachen Sauerstoffinhalationen mit gutem Erfolg 
angewandt. Auffallend war besonders, wie schnell 
Leute, die schwer betrunken eingeliefert wurden, dabei 
das Bewusstsein wieder erlangten. Auch der „Kater“ 
nach der Chloroformnarkose wurde dadurch erheblich 
verringert. (Schluss folgt.) 


Referate. 

— Dr. Bruno Drastig, Leitfaden des Ver¬ 
fahrens bei Geisteskrankheiten und zweifelhaften 
Geisteszuständen für Militärärzte. I. Allgemeiner 
Teil. Wien IQ04. Josef Safar. 

Die vorliegende Arbeit umfasst in eingehender 
Darstellung das Gebiet der irrenärztlichen Thätigkeit 
im österreichischen Heere. Gestützt auf eine reiche, 
praktische Erfahrung und genaue Kenntniss der ein¬ 
schlägigen Verordnungen und gesetzlichen Bestimm¬ 
ungen hat es Verf. verstanden, einen zuverlässigen 
Rathgeber in allen den Militärarzt interessirenden, 
psychiatrischen Fragen zu schaffen. In den einzelnen 
Kapiteln wird der Gang der nothwendigen Massnahmen 
in der zeitlichen Reihenfolge von der Einbringung 
des Kranken an dargestellt. Aus der Art der Be¬ 
rücksichtigung kleiner Einzelheiten und Eventualitäten 
mit zweckentsprechenden Winken ist zu ersehen, 
dass Verf. aus der Praxis für die Praxis seine Erfah¬ 
rungen gesammelt hat. Der Transport in die Sanitäts¬ 
anstalten, die Spitalaufnahme, der Ueberwachungs- 
dienst für in Beobachtung befindliche Militärpersonen 
wird auf das genaueste beschrieben. Für die schriftlichen 

Original fram 

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356 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


LNr. 37- 


Erhebungen und Berichte, die Beobachtungs-Journale 
und Gutachten sind geeignete Fragebogen und Muster¬ 
beispiele eingefügt. Das Verfahren bei Konstatirung 
zurückgebliebener, geistiger Entwickelung, bei Antrag¬ 
stellung behufs Beurlaubung oder Entlassung der 
Geisteskranken wird erörtert. 

Für gerichtlich-medizinische Fälle, den Zweck der 
Beobachtungs-Journale, der Gutachten und der weiteren 
Maassnahmen sind specielle Anweisungen aufgestellt. 
Zum Schlüsse wird die Zuweisung der geisteskranken 
Militärpersonen in die Irren-Heilanstalten, das Kuratel¬ 
verfahren, die Standesbehandlung mit den zugehörigen 
Vorschriften, das finanzielle Verhältniss des Kranken 
zu seinen Angehörigen und die Wiedererlangung der 
Diensttauglichkeit bei Genesung behandelt. In dem 
Werke sind zw>ar nur die Verhältnisse im öster¬ 
reichischen Heere berücksichtigt, doch dürfte auch 
der deutsche Militärarzt und Psychiater darin manche 
werthvolle Anregung finden. 

Dr. Fritz Hoppe, Tapiau. 


Bibliographie 

über Kriminal-Anthropologie und Verwandtes. 

II. Quartal 1904. 

Von Medicinalrath Dr. P. Näcke in Hubertusburg 
(Fortsetzung.) 

Bernaldo de Q ui ros: Alrededor del delito y de 
la pena. Madrid, 1904, Rodriguez Serra, 181 S. 
Loh sing: Zur Frage des ärtztlichen Berufsgeheim¬ 
nisses. Archiv für Criminalanthrop. etc. 15. Bd. 

2/3 H. 

P ass o w: Die Nothw f endigkeit criminalogischer Einzel¬ 
beobachtungen. Ibidem. 

Pollak: Wiener Gaunersprache. Ibidem. 

Näcke: Ein Besuch bei den Homosexuellen in 
Berlin. Nebst Bemerkungen über Homosexualität. 
Ibidem. 

Loh sing: Ein Vorschlag zur Verminderung der Be¬ 
schäftigungslosigkeit in den Österreich. Gerichts¬ 
gefängnissen. Ibidem. 

Kirsch: Die Lipomatosis als Degenerationszeichen. 

Berliner klin. Wochenschr. IQ04, Nr. 21. 
Katzenstein: Ueber eine seltene Form der Epi- 
spadie, die Eichelepispadie und ihre Entstehung. 
Deutsche medic. Wochenschr. 1904, Nr. 21. 
Blum: Zur Casuistik der Missbildungen der weib¬ 
lichen Genitalien. Ibidem. 

Russell: Der angeborene Ursprung der Brüche. 
Lancet, März 1904. 

Gottschalk: Materialien zur Lehre von der ver¬ 
minderten Zurechnungsfähigkeit. Berlin 1904, 
Guttentag. 123 S. 

Seiffer: Fall von doppelseitiger Halsrippe. Ref. 

Neurolog. Zentralbl. 1904, Nr. 11. 

Hudovenig: Fall von Gigantismus. Ref. ibid. 


Hudovenig: Fall von Akromegalie. Ibidem. 

Giuffrida-Ruggeri: II profilo della pianta del 
piede nei degeniati e nelle razze infererori. Archivio 
di psich. 1904, fas. II. 

Bellini: Delinquente nato. Ibidem. 

Capelli: Par la distribuzione regionale della genia- 
litä in Italia. Ibidem. 

Mariani: Frenastenia congenita. Ibidem. 

Negro: La sindrome oculare di Claude Bemard- 
Horner, quäle stimmata somatica degenerativa 
non rara, specialmente in epilettici. Ibidem. 

Neugebauer: Sei nuovi casi die ermafroditismo, 
Ibidem. 

Gualino: II reflesso sessuale dell’ eccitamento alle 
labbra. Ibidem. 

Mirabella: Sulla necessitä della relegazione per- 
petua dei delinquenti epilletici. Ibidem. 

Pellegrini: Razzia e degenerazione fra soldati e 
carabinieri reali. Ibidem. 

Botti: La delinquenza femminile a Napoli. Napoli, 

I 9 ° 4 - 

Albanol: Le crime dans la famille. Paris, Rueff. 
1904. 

Santini: Divisione del parietale in criminale. An- 
nali della Facoltä di Medicina di Perugia, 1903. 

Brouardel: Malformation des Organes genitaux de 
la femme. Annales d’ Hygiene publique etc. 
Paris, 1904, mars. 

Mingazzini e Serra: Infanticidio in stato di 
dormio reglia. Giornale di Medicina legale, 1904, 
marzo. 

Aschaffenburg: Criminalpsychologie u. Strafrechts¬ 
reform. Monatsschrift für Criminalpsychologie u. 
Strafrechtsreform. 1904, H. 1. 

v. Liszt: Schutz fler Gesellschaft gegen gemeinge¬ 
fährliche Geisteskranke u. vermindert Zurechnungs¬ 
fähige. Ibidem. 

Kohlrausch: Der Kampf der Criminalistenschulen 
im Lichte des Falles Dippold. Ibidem. 

v. Mayr: Die Nutzbarmachung der Crirainalstatistik. 
Ibidem. 

Ellen Kay: Ueber Liebe und Ehe. Essays. Berlin, 
Fischer. 

Schilder: Ueber die Bedeutung des Genies in der 
Geschichte. Leipzig 1904. (Schluss folgt.) 


Personalnachrichten. 

— Innsbruck. Der a. o. Professor Dr. Karl 
Mayer ist zum ordentlichen Professor der Psychiatrie 
und Nervenpathologie in Innsbruck ernannt. 

— Heidelberg. Als wissenschaftlicher Assistent 
wurde an der hiesigen Irrenklinik (Director Prof. Dr. 
Franz Nissl) aufgenommen Fräulein Dr. med. Olga 
v. Leon o \v a. 

— Kosten (Posen). Dem Director der Prov.- 
Heil- u. Pflegeanstalt, Dr. Dluhosch, wurde der 
Character als Sanitätsrath verliehen. 


Für den redactionellcn Theil verantwortlich : Oberarzt Dr. J . B regier, Lublinitz (Schlesien). 

Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inscratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Wall* a. S 

Heyneinann’sche Buchdruckerei (Gebr. VVffl h# Halle a. S. 


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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift. 

Redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. B realer, 

Lublinitz (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834. 

Nr. 38^ 17. Dezember. 1904. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die ßspaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Rresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten. 


Zur Differentialdiagnostik negativistischer Phänomene. 

Von Dr. Otto Gross , Assistenten der neurol.-psychiatr. Klinik zu Graz. 
(Fortsetzung und Schluss.) 


Marie D., 49 J., Professorswittwe, autgen. 8. VIII. 
04. Anamnese: Vor etwa 5 Jahren bei Dr. H. in 
Behandlung, anscheinend wegen eines hallucinatorischen 
Erregungs-Zustandes. 

Dieser ging rasch vorüber, doch blieb ein Zug 
von krankhaftem Misstrauen mit Neigung zu parano- 
etischen Umdeutungen bestehen. In letzter Zeit soll 
Pat. sehr vergesslich geworden sein, Dinge verlegt, 
sich vernachlässigt haben. 

Der jetzige Zustand ist ziemlich plötzlich mit angst¬ 
voll rathloser Erregtheit ausgebrochen. 

Seit mehreren Jahren hat sich Pat-. „über alles 
aufgeregt“, Allem „eine übertriebene Bedeutung bei¬ 
gelegt“, „sich alles mögliche eingebildet.“ Erzählte 
allen Besuchen aufregende Geschichten über ihre An¬ 
gehörigen, bildete sieb z. B. plötzlich ein, ihre Tochter 
könne wegen Lungenkrankheit nicht heirathen etc. Dann 
wieder, ihre Kinder hätten ihr ganzes Geld verthan; 
machte ihren Kindern durch Jahre hindurch Vorwürfe. 
So gab es durch Jahre peinliche Scenen; die Töchter 
mieden jeden Verkehr infolge der abenteuerlichen 
Behauptungen, die Pat. allen Bekannten gegenüber 
aufstelite. 

Pat. soll bis vor etwa 10 Jahren ungemein heiter 
und lebenslustig gewesen sein. Dann folgte die Er¬ 
krankung ihres Mannes, die ihr durch eine Unvor¬ 
sichtigkeit des Arztes sehr plötzlich und schonungslos 
angekündigt wurde, worüber sich Pat. sehr heftig er¬ 
schreckte. Dann lange Krankenpflege und Tod des 
1 Gatten. Seither stellte sich eine vollständige und 
dauernde Characterveränderung ein. 

Pat. verlor ihr heiteres Temperament, wurde de¬ 
pressiv, äusserte Selbstvorwürfe und Verarmungsideen, 
wurde reizbar, misstrauisch, schwarzseherisch, nahm 
alles übel, bildete sich Schlechtes von ihren Kindern 
ein, glaubte sich von diesen geringgeschätzt, vernach¬ 
lässigt, um ihr Geld gebracht, machte ihnen abstruse 
Vorwürfe und äusserte diese auch zu allen Bekannten. 

Während der Ehe war der Mann pedantisch spar¬ 
sam, die Frau liberal in Geldsachen gewesen; seit 
dem Tod ihres Mannes ist sie sparsam bis zum Ver- 

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armugswahn, excessiv „gewissenhaft“; macht sich Selbst¬ 
vorwürfe, ihren Mann „nicht verstanden zu haben.“ 

Aus dieser veränderten Seelen Verfassung heraus 
haben sich einzelne psychotische Aufregungszustände 
erhoben, vor allem einer vor 5 Jahren und dann 
der jetzige, der dem ersten fast photographisch ähn¬ 
lich sein soll. Zugleich mit gesteigerter Aufregung 
tritt jedesmal eine crasse Bigotterie auf, zugleich eine 
excessive Steigerung der Schwarzseherei bis zu leb¬ 
haften Angst- und Unglücksgefühlen, sowie eine phan¬ 
tastische Übertriebenheit der eingebildeten Vorwürfe 
gegen ihre Angehörigen. 

Status somaticus: 

8. 8. Sehr kräftig, sehr gut genährt, Gesicht etwas ge- 
röthet. Pupillen gleich mittelweit, reagiren etwas träge, 
besonders die linke. Rechter Mundwinkel bleibt bei 
Innervation etwas zurück. Zunge wird nicht vorge¬ 
streckt. Patellarreflexe auslösbar, nicht gesteigert. 
Plantar-Reflexe sehr schwach. Herz-Dämpfung -nicht 
verbreitert, Töne rein. Puls regelmässig, kräftig, etwas 
gespannt. Zunge wird ungewöhnlich weit und kräftig 
vorgestreckt. Kleinwelliger Tremor der Hände, besonders 
links. Lungen normal. Spuren von Syphilis nicht 
nachweisbar. 

Der anamnestische Nachtrag erweist durch 
eine eingehendere Schilderung der intimen Lebens¬ 
führung, dass schon seit vielen Jahren Veränderungen 
im Sinne von Beziehungsgefühlen, krankhaften Trieben 
und Affecten, sowie weitgehender Wahnbildung be¬ 
stehen. 

Das ganze Affectleben, die Beziehungen zur 
Familie, die Lebensführung im Detail, erscheint in 
diesem Sinne verschoben. 

Seit Jahren besteht Sammeltrieb, so dass sie sich 
grösste Quantitäten alten Plunders angekauft hat; 
u. A. wurden Dutzende von Photographien gefunden, 
die Patientin von sich hatte im Geheimen anfertigen 
lassen. 

An gewisse typische, an sich indifferente Vorgänge 
schiosten sich typische, aber unbegreifliche Affect- 
äusserungen an. Patientin behauptete in diesem Sinne 

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358 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 38 . 


z. B., die Tochter sei gefehlt frisirt, schaue sie gefehlt 
an, etc.; daran anschliessend schwere Zornaff ecte.. 
Andererseits wieder pathologische, expansive Freude 
über wichtige Vorkommnisse, etc. etc. 

Status psychicus: 

Das Benehmen der Pat. ist ein eigenthümlich er¬ 
regtes, widerspruchsvolles, rasch wechselndes. Sie er¬ 
scheint von den heterogensten Impulsen hin und her 
geworfen. 

Den Arzt spricht sie richtig an, scheint auch sonst 
orientirt. Auf die körperliche Untersuchung geht sie 
anfangs sinngemäss ein, dann plötzlich wehrt sie ab, 
macht Geberden der Rathlosigkeit, deutet auf ihren 
Mund und zuckt die Achseln, als ob sie nicht sprechen 
könne. Beim Versuch, die Patellarreflexe zu prüfen, 
wehrte Pat. laut und unarticulirt schreiend ab, um 
wenige Secunden darauf wieder mit vollem Sinnesver- 
ständniss und ruhigem Gesichtsausdruck auf eine Auf¬ 
forderung einzugehen. 

Wie geht es Ihnen denn? ,Ja Hunger hab’ ich, sonst geht’s 

mir gut.In der Früh hab ich nicht wollen, geben Sie 

mir jetzt zu essen. u (Letzteres zur Wärterin). 

Warum hergekommen? „Die Kinder haben mich her¬ 
gebracht; weil ich so nervös war, haben sie mich gebeten, auf 
die Nerven-Klinik zu gehen.“ 

Getällts Ihnen hier? „Ja legen S ie sich einmal eine Nacht 
hierher, dann werden Sie sehen.“ (Lachend.) 

Stimmen werden in Abrede gestellt. (Warum früher nicht 
gesprochen): „Es gibt eine Zeit, wo man reden muss .... 

Das dürfen Sie nicht missverstehen, Gott behüte,. 

Dass am Ende hier .... es kommen ja oft Confusionen 
heraus nicht zu sagen.“ 

„Unter einen unnatürlichen Zwang .... ich werde sagen 
aus Mitleid, man weiss ja oft nicht die richtigen Worte.“ 

Stehen Sie oft unter einem solchen Zwang? „Das werde 
ich Ihnen unter vier Augen sagen, aber es ist eine solche 
Kleinigkeit, dass alle Herren dabei sein können.“ 

Auf Befragen über die Motive ihrer verschiedenen 
Actionen wird Pat. rathlos, beginnt vorbei zu reden, 
trachtet das Auffallende in ihrem Benehmen zu mas- 
kiren. Später wird sie über die Fragen des Arztes 
ungehalten, behauptet, es werde ihr durch diese Kreuz¬ 
fragen ganz unheimlich zu Muth, auch die Veränder¬ 
ung der Umgebung wirke so eigenthümlich etc. 

Stil probe: (Als Reaction auf die Fragen nach 
der Ursache gewisser Auffälligkeiten in ihrem Be¬ 
nehmen stenographisch mitgeschrieben). 

„Das kann ich ja nicht sagen, man schreit halt auf . . . 
Wenn mau sich einen Zahn reissen lässt, schreit man halt 
auf .... Ich will ja nichts verheimlichen, aber ich kann 
nicht die Antwort finden dazu .... Gerade so wie wenn 
Ihnen ein Zahn gerissen wird, können Sie ja auch nicht so . . . 
ein Schrei oder nicht? — Auf mich hat so vieles cingewirkt, 
man denkt halt auch auf alles Mögliche. Die Kinder müssen 
sich ihr Brot selbst verdienen. — Eine Wittwe hat halt auch 
andere Gedanken als ein verheirateter Mensch. — Wenn man 
ins Spital kommt, sieht man viele fremde Gesichter, man wird 
ganz nervös. Jetzt soll ich da ein förmliches Verhör mit¬ 
machen, warum ich das getan habe. Man weiss es ja absolut 
nicht, es ist gerade so, wie wenn einem ein Zahn gezogen wird, 
man macht einen Schrei und weiss nicht warum. — Die Aerzte 
wissen ja auch nicht, warum sie einem einen Schmerz bereiten. 
Der vernünftigste Mensch macht oft einen Schrei und ein ver¬ 
nünftiger nicht ? 

Ist halt so, wie wenn man irgend wohin geht, *man wird 
halt auch müde.“ — Zu einer Mitpatienten ,,Ein liebes Dirndl 
. . . armes Hascherl.*• 

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Nachts: schwer rathJos; sie wisse nicht was man 
von ihr wolle, Alles sei so fremd, so eigenthümlich, 
die Gesichter der Leute im Zimmer seien so unheim¬ 
lich, man müsse ganz verwirrt werden. — Drängt 
wild aus dem Bett, blickt verstört umher, will sich 
mit einer schlafenden Mitpatientin beschäftigen (ag¬ 
gressiv?). Sprache in abrupten oft deutlich incohae- 
renten Sätzen, bei denen einzelne Wendungen oft 
wiederkehren, z. B. „mit Freude“ oder „im Kampf.“ 
Orientirung kann als intact nachgewiesen werden. 
Hallucinationen werden negirt und sind zum Min¬ 
desten nicht in stärkerem Ausmaass vorhanden. Uri¬ 
niert in’s Bett, demonstrirt: „Eine ganzen Laken!“ 

11. 8. Still, rathlos, mit starrem Blick, Lider weit auf¬ 
gerissen, trachtet sich bei Annäherung der Visite zu 
sammeln und möglichst geordnet zu erscheinen. Pu¬ 
pillen nicht ganz rund, reagiren nur spurweise, beson¬ 
ders der linke. P. S. R. leicht gesteigert 

12.8. Rathlos mit verzweifelter Miene fragt den Arzt, 
warum sie eigentlich im Spitale sei, und auf die Er¬ 
widerung, weil sie etwas aufgeregt gewesen sei, gibt 
sie zu, gemüthskrank zu sein; erzählt, dass sie noch 
ängstlicher sei wie früher, weint etwas und bittet man 
möge mit ihr anfangen was man will, sie habe zu den 
Aerzten das vollste Vertrauen, man möge sie gesund 
machen, damit sie dann zu ihren Kindern gehen 
könne. Nachmittags verunreinigt sich Pat. per arnun, 
während sie — ausser Belt — Besuche empfängt; 
berichtet nun dies coram publico, spontan und nur 
mit dem Ausdruck leichter Verwunderung; 

„Denken Sie, Herr Docter, jetzt hab’ ich mich ganz 
angemacht!“ 

13. 8. Begrüsst den Arzt sofort: „Also Herr Doktor, 
sagen Sie was ich muss.“ 

Stilprobe (Stenogramm): 

„Herr Docter bleiben Sie bei mir; warum wollen Sie nicht 
zu mir kommen? Ja schaun Sie, jetzt werde ich ganz anders 
reden, jetzt kommen Sie zu mir her .... Schaun Sie, ich 
zweifle ja nicht an Ihnen . . . Thun Sie ganz reden, ich 
werde die Fragen beantworten . . . Thun Sie mich ganz ge¬ 
wöhnlich fragen, ich werde antworten . . .Sie haben immer 
gesagt: ich muss, und ich habe immer das Rechte gesagt. 
Also kommen Sie her . . .“ Also was wollen Sie von mir? 
„Ja ich will ja nichts, es ist eine kolossale Confusion, da will 
aber auch jeder lür sich die Verantwortung nehmen.“ 

Worüber regen Sie sich auf? „Ueber die Confusion, die 
hier herrscht.“ 

In welcher Beziehung Confusionen ? „Da soll jemand 
kommen und soll zuschauen kommen wie es hier zugeht. Das 
i$t meine Pflicht, ich bin ganz harmlos hereingekommen. u 
(In der Nacht und auch Vormittag grosse Unruhe im Zimmer). 
Die Fragen: Wo ? und Wer sie hereingebrachl? werden richtig 
beantwortet. 

. . . „Ich habe immer gewartet und ich habe nicht dürfen 
hinausgehen. Und wenn ich hinausgegangen hm, bin ich 
immer gehalten worden. Das ist meine heiligste Pflicht, ich 
kann nicht anders reden.“ Was wollen Sie? „Ich will gar 

nichts.“ Ja Sie haben mich doch hergerufen! .. 

^rathlos) ja kommen Sie her.“ 

Anamnestischer Nachtrag: 

Am Tag vor der Hereinbringung stundenlanger 
Anfall von Bewusstlosigkeit. 

Am 2. Tag nach der Aufnahme ein weiterer An¬ 
fall vom Character eines paralytischen Insultes mit 
schwerer Benommenheit (nicht totaler Bewusstseinver- 
lust) und einseitiger Cloni im Facialisgebiet. 

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1904-] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


359 


14.8. Zeigt sich andauernd rathlos, bes. im Gespräch; 
beschuldigt den Arzt, so seltsam zu sprechen, dass 
man ihn nicht verstehen könne: „Bringen Sie mir 
den Dr. H. oder sonst einen Herrn, die ich ver¬ 
standen habe . . . mit mir muss man klar und ein¬ 
fach reden.“ Antwortet auch auf die einfachsten Be¬ 
merkungen: „Ja wie soll ich da wieder sagen?“ Auf 
Aufforderungen: „Ja Sie müssen mir sagen, warum 
ich das thun soll.“ Giebt an, ein Gefühl von Furcht 
in sich zu haben, weil alles um sie herum so confus 
und unverständlich sei, wiederholt dies stets und in 
den verschiedensten Arten. Frägt den ganzen Tag 
über die Wärterin was sie thun müsse, z. B. in der 
Frühe: „muss ich jetzt aufstehen ?“ muss ich mich 
jetzt kämmen ?“ etc. Heute entwickelt sich die Rath- 
losigkeit zu einer ausgesprochenen Affectlage der Ab¬ 
lehnung. Weigert sich zornig, dem Arzt die Hand 
zu reichen, weist zornig jede Berührung ab. 

Hört ihre Angehörigen rufen, behauptet dieselben 
seien im Hause. — Das Lachen der Patienten im 
Hof „thue ihr so weh, dass sie weinen möge;“ das 
Kartenspiel derselben sei ihr „unheimlich:“ „es sei, 
als ob jede Karte ihre bestimmte Bedeutung habe.“ 
Iilusionirt einen Polster als „Viech;“ hallucinirt Ge¬ 
rüche nach Moschus, Thieren etc. Aus den Stimmen 
der Patienten im Hof iilusionirt sie ein „Verhör.“ 
Dabei stets orientirt. 

Folgt schreckhaft jedem Blick des Amtes oder der Wärterin: 
„Was ist denn dort? Was schreien Sie denn?“ 

Dreht sich oft jäh um: „Was schleicht da an mich heran ?“ 

Erkennt den Professor. 

Pupillen reagiren. 

Tremor der Hände. — Patellarreflexe normal. 

Hören Sie schwer? „Das kann ich nicht sagen, ob ich 
schwer höre. Herr Professor dürfen nicht so eigentümlich 
fragen!“ 

Mimik und Geberde der Rathlosigkeit und angst¬ 
voller Verstimmung. 

16. 8. Giebt an Stimmen zu hören, welche mit ihr eine 
Art Verhör anstellen. Sie hört Stimmen der Anklage 
und der Vertheidigung. Es sind Stimmen ihrer Ver¬ 
wandten und auch unbekannte Stimmen. Sie kommen 
grösstentheils durch das Fenster aus dem Garten her¬ 
auf. (Thatsächlich hört man fast immer Stimmen 
aus dem Hofraum!) Das Reden der Schwester und 
der Wärterinnen stehen augenscheinlich damit im Zu¬ 
sammenhang. 

„Bald kommt die heran, bald die, jedes unwissende Kind 
müsste ja den Zusammenhang durchschauen.“ 

Pat. giebt an sie fühle sich „wie niedergebannt 
durch einen fremden Willen“, so dass sie sich nicht 
recht vom Bett erheben könne. 

Anfangs habe sie keinen rechten Zusammenhang 
gefunden, jetzt verstehe sie, dass es sich um ein Ver¬ 
hör handle. Ruft die Wärterin trotz unzähliger 
Correcturen „Mitzl“ statt Gertrud. 

(Anlässlich eines Gespräches neben ihr über die Familien¬ 
verhältnisse einer anderen Kranken): „Von wem reden Sie? 
Sie reden gewiss von meiner Tochter! ... Es hängt so etwas 
in der Luft .... Dass Unschuldige fUr mich leiden müssen, 
das fühle ich, das musss jeder fühlen, der ein Herz hat.“ 

Soeben habe ihre „Tante Lotti“ gesagt: „Da gehe lieber 
ich;“ Tante Lotti müsste in der Nähe sein. „Mir ist so schwer, 
ich kann Ihnen otyf sagen, wie schwer!“ 


Hören Sie die Stimmen von den Verwandten? „Ja, da 
müsste man ja taub sein, wenn man nicht hören würde. Die 
andern müssen doch auch gehört haben?“ 

Was sagen die Stimmen? „Ja mir kommts vor, als ob 
nicht der andern suchen thäte. . . . Oder ist das auch wieder 
Einer den richtige Ausdruck? 

Warum unheimlich ? „Ja weil jeder ein anderes Gesicht 
macht und überhaupt, die Umgebung ist so, dass man muss 
auf allerhand Sachen denken. — Das ist alles so successive ge¬ 
kommen; mir ist es schrecklich, wenn ein anderer für mich 
leiden soll. . . . etwa der Onkel Toni. Ich höre unsere Rosa 
(so wird die Wärterin gerufen) das ist seine Frau. (Es wird 
eine Thüre zugeworfen) Oh Gott, oh Gott, Thüren zuschlagen 
und so . . . machen Sie mit mir was Sie wollen!“ 

Woher die Gedanken, dass andere für Sie leiden? „Diese 
Empfindung hab ich, das Gefühl hab ich ... . dass etwas 
nicht klar ist zwischen uns . . Was, kann ich nicht sagen, 
aber es ist etwas nicht klar zwischen uns!“ 

„Der Professor Anton hat auch so komisch gesprochen!“ 

16. 8. 04. (Fortsetzung.) Warum empfinden Sie alles 
so fremdartig ? „Ja durch die äusseren Eindrücke“ (erzählt ein 
Erlebniss, wo ihr plötzlich eingefallen sei, es müsse ein Un¬ 
glück geschehen sein.) 

(Spontan) „Also was soll ich thun? Soll ein Geistlicher 
kommen oder soll — sonst etwas sein? Soll ich beichten gehn 
oder soll ich sonst etwas thun?“ 

(Ueber die HereinveTbringung). „Ich habe so ein Gefühl 
gehabt, als ob im Zimmer etwas wäre .... und als ob ich 
schnell fort müsse . . . Dann ist der Herr gekommen und hat 
gesagt ich muss mitgehen, er ist der Dr. Phleps, hat er 
gesagt“ etc. (verschiedene exacte Details) „Es ist immer so, 
als ob noch irgend etwas wäre!“ 

17. 8. Die Stimmen sprechen immer fort, er¬ 
zählen, dass die Verwandten um ihretwillen verfolgt 
werden. — 

Aufgefordert ruhig zu liegen: „Ja wenn ich auch ruhig 
liege, so komtaen doch die Gedanken oder Stimmen oder wie 
ich dann sagen soll.“ 

Klagt weinend, dass sie ihre Kinder nicht leiden 
sehen kann. 

„Ich höre alles durch die Musik oder durch die Empfindung 
oder wie ich sagen soll; es ist ein Verhängnis über uns, aber 
was für eines weiss ich nicht.“ 

Stereotyp kehrt der Ausruf wieder: „Thun Sie 
mit mir was Sie müssen.“ 

Das Wort „stereotyp“ aus dem Dictat iilusionirt 
Pat. „Sterben die Herren?“; fragt weinend, ob ihre 
jüngere Tochter noch lebe. 

19. 8. „Ueberall schleicht das Unglück um mich herum. Ueber 
allen schwebt das Verhängniss. Ich weiss nicht welches — 
ich kann es nicht fassen, ich weiss nicht, was es ist, aber es 
ist etwas. — Sagen Sie mir, was es ist. Thuen Sie, was Sic 
müssen!“ 

Aus einem Gespräche, in dem die Worte „Husten¬ 
reiz“, „Mischung“ und „College“ vorgekommen 
sind, iilusionirt Pat. heraus: „Die Mischler ist eine 
Collegin von der“ und „ein Reiz auf den Gustav;“ 
bezieht diese Worte mit starkem Affect auf sich und 
interpellirt den Arzt spontan. Im Gespräch sucht 
Pat. jeder Fassung oder Festhaltung einer von ihr 
gethanen Aeusserung auszuweichen, beendet fast jedes 
Gespräch mit „ja warum Herr Doctor jetzt sag ich 
schon gar nichts mehr.“ 

Jedes einfachste Wort, jede indifferente Handlung 
wird im Sinne eines ängstlichen Beziehungsgefühles 
aufgefasst 

Nachmittag: (Stenogramm:) 

Was sagen die Stimmen? „Ja was soll ich Ihnen denn 
sagen? (mehrmals) Ja was? Anklage oder was denn? Wie soll 
ich denn wissen, wie ich mich ausdrücken soll?“ 


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360 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 38 . 


Von Angst? „Ich hab keine Angst! Mir ist es wohl un¬ 
angenehm, über Angst habe ich nicht, greifen Sie mich an, 
ich hab keine Angst!“ 

Was macht Ihnen das für ein Gefühl, wenn man mit 
Ihnen spricht? „Ja was für ein Gefühi? ja mein Gott und 
Herr, was soll ich denn sagen um Gotteswillen ! Dass ich 
Angst um meine Angehörigen habe. — Dass wir auseinander¬ 
kommen, dass Eines da und Eines dort hinkommt. — 

Was sagen die Stimmen? „Das ganze ist eine gegen uns 
alle, ich kann nicht anders reden ? „Ich kann nicht sagen, wer 
die Anklage macht, der liebe Gott oder wer .... Das kann 
ich nicht sagen!“ 

„Ich höre eine Menge Leute, bald lachen, bald weinen 

. . . bald die eine, bald die andere Stimme.grössten- 

theils sind es Anklagen.“ 

„Ich höre Stimmen von Bekannten und Unbekannten, 
meist höre ich die Tante Lotti heraus .... Was sie spricht, 
höre ich nicht, ich höre höchstens ihr Lachen heraus 
.... dann höre ich meinen Bruder.“ 

Was redet der Bruder? „Mir kommt vor, wie wenn eine 
schwarze und eine weisse Kugel wäre ... er oder ich . . . 
wie ich Ihnen schon oft gesagt habe. 11 

24. 8. Giebt keine Antwort, schaut den Arzt starr 
an. zögert angstvoll ihm die Hand zu geben. Ab¬ 
lehnend: „Mit dem Herrn Doctor geh’ ich mit, mit 
Ihnen nicht.“ 

„Sie wissen ja jeden Gedanken von mir, jedes Wort, 
was wollen Sie noch? Ich sage was ich weiss.“ 

„Sie haben doch die Tante Lotti auch schreien gehört! 
Jeder hat sie schreien gehört.“ 

(Ob Tante Lotti Worte gesagt hat?) 

„Brüllen hab ich Sie gehört . . . Ach gehn Sie, fragen 
Sie mich doch ordentlich!“ 

(Nach intensivster Erläuterung, was mit der Frage nach 
Inhalt der Stimmen gemeint ist.) 

„Ach Herr Docter, das sind so heikliche Fragen.“ 

Später: „Ich hab sie reden auch gehört, es ist das ganze 
eine Anklage, es handelt sich um schwarze und weisse Kugeln 
— ich oder das Andere, oder so was!“ 

Bestimmte Worte? „Bestimmte Worte auch ... ja 
schauen Sie, der Docter schreibt jedes Wort auf das ich sage 
. . . der weiss ja auch alles, was ich denke!“ (Redet wieder 
von ihren Kindern und den pathologischen Sorgen um diese.) 

„Mir ist mein eigenes Ich so wenig .... aber meinen 
Kindern lass ich nichts thucn!“ (weinend.) 

„Jetzt bin ich wohl aufgeregt, schauen Sie an!“ (De¬ 
monstriert ihre Hände, sehr starker Tremor.) 

(Es wird erläutert, dass die Sorge um ihre Angehörigen 
grundlos ist.) 

„Kann ich mit dem Herrn Dr. Phleps nicht sprechen ? 
. . . Der könnte Ihnen Aufklärung geben !*‘ 

(Ist Dr. Phleps über Ihre Angehörigen informiert?) 

„Das nicht . . . aber er weiss, dass ich hier bin.“ (!) 
(Vorschlag verschiedener Wege sich über die Familie zu 
informiren): Kein Effect. 

„Wie kann ich den wissen .... das giebts nicht!“ 

(Ja wenn Sie über alles infonnirt sind, werden Sic wohl 
keine Angst mehr haben!) 

Die Angst hab ich doch immerfort!“ 

Pat. ist nun direct ablehnend geworden, wird es 
auch gegen Dr. X., sobald dieser ein längeres Ge¬ 
spräch mit ihr unterhält. 

20. 8. 04. Fortsetzung. Beginnt die Nahrung zu 
verweigern! 

25. 8. Sehr ablehnend, scheu. 

Concentrirt ihre Aufmerksamkeit selten und nur 
beiläufig auf das Gespräc h, obwohl sie misstrauisch- 
ängstlich Allem eine erhöhte Bedeutung und Eigen¬ 
beziehung unterschiebt; scheint stets von inneren Vor¬ 
gängen abgelenkt zu werden und ebenso von inter¬ 
currenten äusseren Einwirkungen: „reizbare Schwäche 
der Aufmerksamkeitsleistungen!“ 

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Zu irgend einem Eingehen auf die gestellten Fragen 
ist Pat. w f egen affectiver Ablehnung nicht zu bewegen; 
redet fortwährend in Ausflüchten. 

Gegen Abend gelingt es, die Ablehnung etc. zu 
durchbrechen, hauptsächlich indem man darauf ver¬ 
zichtet, irgend eine präcise Auskunft forcieren zu 
wollen. Trotzdem aber Pat. nunmehr nicht absicht¬ 
lich zurückzuhalten scheint (und auch von Negativis¬ 
mus im eigentlichen Sinne keine Rede ist!), so kommt 
doch nur sehr w r enig an verwerthbaren Aufschlüssen 
zustande, offenbar weil fast nur Affecte ohne klaren 
Vorstellungsinhalt bestehen. Pat. erzählt wieder, dass 
sie sich um ihre Angehörigen sorge, weil sie von 
diesen getrennt sei; stellt dies als selbstverständlich 
hin, fügt aber endlich bei, es müsse wohl ein Un¬ 
glück geschehen sein: „ich habe so die Empfindung, 
dagegen kann man nicht ankämpfen!“ 

Befragt, ob sie schläfrig sei: 

„Ja schläfrig schon, aber ich glaube, ich muss wachen . . . 
ich bleibe schon lieber wach!“ 

Legt sich mit dem Rock bekleidet zu Bett; aufgefordert, 
ihn abzulegen: 

„Nein, das thu ich nicht, denn wenn was daherkommt in 
dei Nacht, dann laufe ich schnell davon ... im blossen Hemd 
geht das nicht!“ 

(Was soll daher kommen ?) Zuckt wortlos die Achseln. — 

2ö. 8. Wieder sehr ablehnend; redet nur mehr 
mit der Schwester. 

Zu dieser äussert sie, Dr. G. frage sie lauter 
Dinge, die sie selber nicht wisse, frage anders als alle 
anderen Leute, es komme ihr vor, als ob es sich um 
den Kopf handle, ihren oder den des Dr. G. Be¬ 
schuldigt Dr. G., sie heimlich „abmurksen“ zu wollen. 
Ueber Stimmen befragt, giebt Pat. jetzt gar keine 
Antwort als ausweichende Redensarten — vielleicht, 
weil sie keinen concreten Inhalt der Stimmen anzugeben 
w'eiss. Es ist zweifellos, dass cs sich viel weniger 
um eigentliche Ilallueinationen handelt als um illusio¬ 
näre Umdeutung realer Stimmen oder um Auslegung 
ihres Inhaltes im Sinne angstvoller Eigenbeziehung. 
— dies geht daraus hervor, dass Pat. nie einen In¬ 
halt der Stimmen anzugeben w'eiss, dass sie die Stim¬ 
men stets in Richtungen projicirt, aus denen that- 
sächlich Stimmengeräusch zu hören ist, endlich aus 
den zahlreichen Illusionen und Auslegungen, die im 
Momente ihres Zustandekommens zur Beobachtung 
gelangt sind. 

13. 10. 04. Die Tochter der Patientin berichtet 
eine Reihe von Auskünften, welche Patientin über 
ihre pathologischen Erlebnisse gemacht hat und durch 
welche Material über Vorgänge geliefert wird, die 
Patientin vor den Aerzten streng geheim hält. 

Ilallueinationen: Patientin hört ihren Cousin 
im oberen Stockwerke reden, bchaupet, er sei oben 
anwesend. 

Hört mitten im Gespräche eine Stimme: „Jetzt 
ist’s mit der Mutter fertig, jetzt können wir gehen.“ 

Auch ihre übrigen Verwandten höre sie fast fort¬ 
während im Nebenzimmer untereinander reden. 

C o m j > 1 c x h a 11 u c i n a t i o n e n u n d p h y s i ca¬ 
lischer Wahn: Durch ein Loch in der Zimmer¬ 
decke w-ird Patientin mit „Röntgenstrahlen“ beob- 

Original fram 

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1904 .] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


361 


achtet, durch ein Loch im Fussboden werden ihre 
Gedanken „magnetisch abgeleitet.“ 

Hier (B. A.) sei eine „Station für astronomische 
Beobachtungen.“ 

Wahnhafte Umdeutungen: Dr. Gross sei 
kein Arzt, sondern ein „hoher Herr,“ wahrscheinlich 
„Graf Bianti“ „Besitzer vom Schloss Rubia:“ er 
wolle sich über Patienten nur lustig machen, frage sie 
lauter Dinge die er ohnehin wisse, z. B. hauptsächlich 
nach den „Stimmen.* 4 

Im Wachzimmer hätten sich damals, als Patientin 
herein verbracht wurde, die „Verwundeten von Rade¬ 
gund“ befunden; an allem Unheil sei Dr. Gross 
schuld gewesen, habe seine Schuld auf Patienten ab¬ 
wälzen wollen. Hier sei alles „in Verbindung mit 
Radegund.“ 

Eine Mitpatientin, Frau M., bezeichnet Patientin 
als die „Schauspielerin Renard,“ erzählt eine ganze 
Serie romanartiger Confabulationen, welche die an¬ 
gebliche Lebensgeschichte dieser Patientin zum Inhalt 
haben. 

Eine Reihe weiterer Wahnbildungen kann nur 
aus einzelnen Andeutungen erschlossen werden. 
Patientin lacht oft ganz unvermittelt im Gespräch 
geheimnisvoll auf; befragt, worüber sie lache, äussert 
sie, dass dürfe sie nicht sagen. 

Der beschriebene Fall illustrirt mit besonderer 
Klarheit den Mechanismus der Ablehnung. Wir 
sehen eine schwere universelle Rathlosigkeit mit deut¬ 
licher Erschwerung in der Verarbeitung von Wahr¬ 
nehmungen zu Situationsbildein; wir sehen die Steiger¬ 
ung all dieser Schwierigkeiten und der begleitenden 
Unlustgefühle durch Zuwachs neuer Reize; wir sehen 
in der Unterredung die ergiebigste Quelle hierfür 
und wie sich dementsprechend die Abwehrgefühle 
gerade an die Unterredungen anschliessen, wie suc- 
cessive alle Persönlichkeiten ausdrücklich abgelehnt 
werden, an welche die Aufgabe der gesprächsweisen 
Exploration übergeht. Hierfür beweisend ist es, dass 
die Kranke ausdrücklich erklärt, sie wolle nicht mehr 
mit mir verkehren, sondern mit dem Sekundararzt, 
der bisher noch nicht mit ihr gesprochen hat und 
dann eine halbe Stunde später, nachdem die Unter¬ 
redung ihrem Wunsche entsprechend durch den 
Sekundararzt geführt worden war, wiederum diesen 
ablchnt und einen dritten Arzt verlangt. Immer 
wieder begegnen wir der Angabe, man spreche mit 
ihr „unverständlich“, „zweideutig“, „anders wie An¬ 
dere“, so dass sie „nicht weiss, was sie sagen soll“. 
Alle diese übereinstimmenden Erklärungsidecn lassen 
die Ablehnung als selbstverständliche Folge der 
durch das Gespräch herbeigeführten Zunahme von 
Auffassungsschwierigkeiten und begleitenden Unlust¬ 
gefühlen erkennen. Dadurch, dass Pat. diese — ton 
mir seiner Zeit *) nur postulirten — inneren Vor- 

+ ) 1 . c. Nr. 1. 

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gänge in überreicher Menge zum Ausdruck ge¬ 
bracht hat, erscheint mir der Fall als eine werth¬ 
volle Bestätigung meiner damals aufgestellten An¬ 
nahmen. Er illustrirt besonders markant, im Gegen¬ 
satz zum Negativismus im eigentlichen Sinne, die 
Affektlage der Ablehnung als nach fühl barer Aus¬ 
druck innerer Vorgänge in der bewussten Persön¬ 
lichkeit. 

Ich wiederhole: es soll damit keineswegs be¬ 
hauptet werden, dass bei der Analyse des Zustands¬ 
bildes nicht gleichfalls auf Spaltungs- oder Zufalls¬ 
phänomene des Bewusstseins zurückgegriffen werden 
dürfte; nur wirken diese nicht unmittelbar als Ab¬ 
lehnungsäusserungen, sondern, wenn überhaupt, dann 
nur, indem sie das ihrige zum Zustandekommen 
der Rathlosigkeit beitragen. Wir werden ihren Wirk¬ 
ungen also nicht bei der Analyse der Ablehnung als 
solchen begegnen, sondern bei der Analyse der 
Faktoren, die zum Zustandekommen der Rath¬ 
losigkeit Zusammenwirken. 

Den ersten Rang unter diesen nimmt naturgemäss 
die Erschwerung in der Verarbeitung der Wahrnehm¬ 
ungen ein. Am klarsten verräth sich diese in der 
illusionären Auffassung optischer (Polster als „Vieh“ 
illusii »nirt) sowie aller zufälligen akustischen Reize. 
Eine Reihe solcher beiläufigen Auffassungen zufälliger 
an ihr Ohr dringender Worte wurde direkt beob¬ 
achtet; so z. B. hörte Pat.: „auf Gustav ein Reiz“ 
statt „Hustenreiz“ und vieles Aehnliches. Des wei¬ 
teren waren alle Beobachter überzeugt, dass die sog. 
„Stimmen“ zum grössten Th eil auf Vcrhörung wirk¬ 
licher Wortreize beruhten. Ferner enthält die Kran¬ 
kengeschichte den Vermerk, dass Pat. in Folge innerer 
Ablenkung trotz ihrer Hypermetainorphose zu einer 
Concentrirung der Aufmerksamkeit besonders schlecht 
befähigt erscheint. Diese sümmtlichen Auffassungs¬ 
defekte sind höchst geeignet zur Erzeugung schwerer 
Rathlosigkeit als „Folge eines Missverhältnisses zwischen 
Orientirungsbedürfniss und Orientirungsfähigkcit“ (1. c. 
Nr. 1). 

Die Herabsetzung der Auffassung als solche würde 
sich ziemlich einfach erklären lassen, wenn man das 
ganze Krankheitsbild als ausgelöst von einer pro¬ 
gressiven Paralyse betrachtet. Hierfür haben sich 
Anhaltspunkte thatsächlich gefunden: Tremor, gestei¬ 
gerte Reflexe, Schwankungen in der Pupilleninner- 
vation, suspekte Ohnmachtsanfällc, Sclbstvcrunreinig- 
ung; bei diesem Anlass ist die herabgesetzte Rcaction 
im Sinne socialer und ästhetischer Gefühle im gleichen 
Sinne aufgcfallen. Bewiesen konnte die Annahme 
einer Paralyse nicht werden ; es musste daneben vor 


Original fram 

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3 Ö 2 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 38 . 


Allem die Möglichkeit einer klimakterischen Veränder¬ 
ung offen gelassen werden.*) 

Auf keinen Fall haben diese beiden Möglichkeiten 
das Krankheitsbild erschöpft; eine Reihe von Symp¬ 
tomen ist vielleicht eher so zu erklären, dass die para¬ 
lytische oder klimakterische Erkrankung mehr oder 
minder latentes Material manifest gemacht 
h a t. Die hier einschlägigen Symptome erschienen 
dann in Uebereinstimmung damit als eine Steiger¬ 
ung der, laut Anamnese, seit einem Dezennium be¬ 
stehenden Charakter- und Wesens Veränder¬ 
ungen. Das interessanteste Symptom aus dieser 
Reihe ist das lebhafte Unglücks- und Beziehungs- * 
gefühl, das seinerseits nicht aus den oben erwähnten 
Prämissen der Rathlosigkeit erklärt werden kann, das 
aber als zweitwichtigste Komponente zur Entstehung 
der Rathlosigkeit mit beigetragen hat. Dieser Ge¬ 
fühlskomplex ist ausser Beziehung zum Gespräch 
oder anderen Reizkomplexen gestanden, war stets in 
Wirksamkeit und hat sich auch seinerseits durch 
eine Reihe sehr charakteristischer Aeusserungen ein¬ 
deutig ausgeprägt: „es ist ein Unglück geschehen, 
ich weiss nur nicht, welches“ — „ich habe es in 
meinem Gefühl, dass etwas passirt ist“ — „es schwebt 
ein Verhängniss über uns, das ich nicht fassen kann, 
aber mein Gefühl sagt mir, dass es so ist“ — „sagen 
Sie mir doch, was eigentlich los ist“ — und endlich 
die unzählige Male wiederholte Aeusserung: „da bin 
ich, thun Sie mit mir, was Sie müssen“ — ferner 
eine Reihe von Selbstvorwürfen und Versündigungs¬ 
ideen, inhaltlich unbestimmter Art. 

Ich kann den Gedanken nicht abweisen, dass es 
sich hier vielleicht um ein altes Abwehrphänomen 
im Sin ne Freuds handeln könnte. Die Anamnese 
ergibt dafür gewisse Anhaltspunkte: die ominöse 
Krankenpflege, der Tod des Mannes und die Re- 
miniscenz an Reihen von Confhcten in der Ehe, die 
sich vor Allem durch den Gegensatz zwischen der 
pedantisch sparsamen Gcldgcbahiung des Mannes 
mit der liberalen Auffassung des Tat. ergaben. Nach 
dem Tode des Mannes erfolgt eine umwälzende und 
dauernde Charakterveränderung: Bat. zeigt das „Symp¬ 
tom der Gewissen heit“ (Freud), äussert Verarmungs- 
ideen, wirel ihrerseits von nun ab pathologisch spar¬ 
sam und macht ihren Angehörigen unsinnige Vor¬ 
würfe, Geld verschwendet zu haben. Es erinnert 
dies mit einer auffälligen Analogie an die Folgen- 

*) Der spätere Verlauf hat den Verdacht .auf Paralyse 
entkräftet. Die Krankheit entwickelt sich zu einem chroni^ch- 
parnnoidfii Symptomcncomplex. Die auf den Verdacht auf 
Paralyse begründeten theoretischen Erwägungen werden aber 
durch diese nachträgliche Correctur wenig tangirt 

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reihe in dem von Freud analysirten und auf ideo- 
gene Ursachen zurückgeführten Paranoiafall; einzu¬ 
setzen wäre in die Anamnese als möglich, dass in der 
durch die Krankenpflege und den Tod des Mannes 
veränderten Gemüthsverfassung aus den Reminiscen- 
zen an die finanziellen Conflicte Sclbstvorwürfe des 
gleichen Inhalts geworden sind und zur Abwehrver- 
drängung des ihnen adhärenten Affektkomplexes ge¬ 
führt haben. Analog dem Falle Freud’s schafft der 
Veitlrängungsprocess als sejunktives Moment eine 
überwerthige Idee*) mit identischem affektivem 
und invertirtem Vorstellungsinhalt. Damit wäre 
ein pathogenes Material geschaffen, dessen Inhalt 
wir halblatent in der veränderten Persönlichkeit 
vor und manifest in den Symptomen nach der 
jetzigen Excrcerbation wahrnchincn. Der Inhalt der 
überwerthigen Ideen beziehungsweise der Leitaffekte 
ist dementsprechend durch das Gefühl determinirt, 
eine schwere Verantwortung zu tragen, sich für die 
Angehörigen opfern zu sollen, sich Selbstvorwürfe 
machen zu müssen, ein vages Unglück und Verhäng¬ 
niss zu ahnen. Die Lockerung des psychophysischen 
Gefühles durc h die neuhinzutretende (vielleicht para¬ 
lytische) Erkrankung wirkt auf das bereitgehaltene 
pathogene Material in ähnlichem Sinne, wie die all¬ 
gemeine Veränderung im physiologischen Traumzu¬ 
stande: sie führt zur Manifestirung des ver¬ 
drängten Materiales. Die Reduction der Ge- 
hirnthütigkeit bedeutet eben wieder ein Nachlassen 
der cerebralen Höchstfunction, durch welche die 
Einheitlichkeit des Bewusstseins gaiantirt wird, es 
wird eine sejunktive Disposition geschaffen und das 
bisher niedergehaltene verdrängte Material findet nun¬ 
mehr Gelegenheit, neben der Ichkontinuität an die 

*) Es ist interessant, zu vergleichen, wie sich bei Wernicke 
und Freud von absolut verschiedenen Ausgangspunkten her 
nahezu identische Auffassungen über jenes Phänomen gebildet 
haben, das wir mit Wernicke als „überwerthige Idee“ be¬ 
zeichnen. Nach bieden Autoren erscheint dieses Phänomen 
als Folge eines Vorganges, den wir nunmehr, mit Wernickes 
Terminologie Sejunction des Bewusstseinsinhaltes nennen. 
Wernicke geht aus von der Annahme eines Zerfalles, Freud 
von der Annahme einer systematisirten Zerlegung des Be¬ 
wusstseins! n h a 11 es ; in der Erklärung der „überwerthigen Idee“ 
unterscheiden sich die Ergebnisse der beiden von einander so 
unabhängigen Forschungsrichtungen und geben damit einen 
werthvollen Beleg für die Berechtigung der Prämissen und 
Folgerungen auf beiden Seiten. — Man vergleiche ferner, 
um sich den Unterschied zwischen Sejunktion des Bewusstseins¬ 
inhalts und Sejunktionen der Bewusstseinst h ä t ig kei t — 
Bewusstseinssp a 1 tungen — klar zu machen, die Charaktere 
der ,,ü be rw ert h i gen Idee“ und der „au toch tho nen Idee“ 
und meine Erklärung dieser letzteren als einer Erscheinung 
von „B»*wusstseinszerfall". 

Original from 

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1904! 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


363 


Oberfläche zu kommen; es kommt zur manifesten 
Bewusstseinsspaltung — oder zur „Ueberwältigung 
der Persönlichkeit“ durch die der Verdrängung ent¬ 
rinnenden unterbewussten Factoren. 

Vom Standpunkt unserer differentialdiagnostischen 
Untersuchung aus interessirt nur die Thatsache, dass 
die Affektlage der Ablehnung nicht unmittelbar aus 
der Bewusstseinsspaltung hervorgeht, sondern höch¬ 
stens mittelbar, wenn durch die Bewusstseins¬ 
spaltung das Auftreten eines Zustandes von Rath- 
losigkeit begünstigt wird. Die Affektlage der Ab¬ 
lehnung selbst ist aber immer das consequente Er- 
gebniss aus dem psychischen Zustande der bewussten 
Persönlichkeit. 


Wir gelangen damit zu folgenden differential- 
diagnostischen Möglichkeiten und Vermuthungen 
causaler Unterlagen: 

I. Der echte katatone („psychomoto¬ 
rische“) Negativismus ist ein Complex von 
Phänomenen, welche den Ausdruck einer von 
der Ichkontinuität abgetrennten Reihe psy¬ 


chophysischer Vorgänge bilden, in keinem 
Zusammenhänge mit den psychischen Vor¬ 
gängen der bewussten Persönlichkeit stehen 
und damit keiner nachfühlenden introspec- 
tiven Betrachtung zugänglich gemacht werden 
können. 

2. Die Affektlage der Ablehnung beruht 
auf dem allgemeinen Zustande der Rathlosig- 
keit und der Steigerung dieses Zustandes 
durch jede Art von Annäherung; sie ist der 
nachfühlbare, introspectiv erklärbare Aus¬ 
druck der bewussten Persönlichkeit. Spalt¬ 
ungsvorgänge des Bewusstseins können nur 
einen mittelbaren Einfluss auf die Affektlage 
der Ablehnung ausüben, wenn sie Symptome 
hervorrufen, durch welche der Zustand der 
Rathlosigkeit verstärkt wird. 

3. Der „psychische“ oder totale Nega¬ 
tivismus beruht auf dem Zusammentreffen 
des katatonen Negativismus und der Affekt¬ 
lage der Ablehnung. 


Dritter Bericht über die Fortschritte des Irrenwesens. 

Nach den Anstaltsjahresberichten erstattet 
von Dr. Deiters in Bonn, früher in Andernach. 

(Fortsetzung.) 


Ueber die Statistik der Entlassungen bedarf 
es kaum eines Wortes. Zu der Gruppirung nach 
Geheilten, Gebesserten, Ungeheiltcn könnten höch¬ 
stens die im vorigen Jahre gemachten Bemerkungen 
wiederholt werden. 

Das Verhältniss der Aufnahmen zu den Entlass¬ 
ungen erläutert die Veränderungen des Bes tan des, 
welche sich auch in den Berichtsjahren wieder un¬ 
entwegt in derselben Richtung, nämlich der einer 
beständigen Zunahme, bewegen. Allenthalben über- 
wiegen die Zugänge um ein Beträchtliches über die 
Abgänge und nichts kehrt in unsem Berichten so 
stereotyp wieder, wie die Klagen über Ueberfüllung. 
Die zahlreichen neuen Anstalten haben daran bisher 
noch nicht viel zu ändern vermocht, und wo einmal 
durch Eröffnung einer neuen Anstalt eine alte ent¬ 
lastet worden ist, da beeilt man sich, hervorzuheben, 
dass diese Entlastung nur eine vorübergehende sei, 
dass in Kürze die alte Ueberfüllung wieder einge¬ 
treten oder doch zu erwarten sei. 

In den o st p reu ssi sehen Anstalten hatte man 

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nach 15 jährigem Durchschnitt eine jährliche Zu¬ 
nahme von 95 Kranken berechnet. 1902 betrug 
die Zunahme 121, ging dann aber 1003 wieder auf 
das Normalmaass, 97, zurück. 

Brandenburg hat durch seine Familienpflege 
nur geringe Entlastung erreicht: „Freilich will das 
dem unaufhörlichen Irrenandrang gegenüber nicht 
zu viel sagen, und die Anstalten befanden sich theil- 
weise schon in recht bedenklichen Platznöthen, so- 
dass sie nicht immer alle Kranken ihres Bezirks auf¬ 
nehmen konnten.“ Durch Eröffnung verschiedener 
Neubauten wird Besserung erhofft. 

Berlin hat noch viele Kranke in Privatanstalten, 
und zwar mehr, als nach Eröffnung von Buch dort 
werden Aufnahme finden können. Da in Privatan¬ 
stalten nur harmlose Kranke untergebracht werden, 
so sind die städtischen besonders mit unruhigen und 
gefährlichen Elementen überlastet. 

Die westp hä lisch en Anstalten berichten fast 
alle über abgelehnte Aufnahmeanträge in grösserer 
Zahl. Die Zahlen sind so beträchtlich, dass man 

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364 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 38. 


zweifeln muss, ob die im Bau begriffene neue Anstalt 
es ermöglichen wird, das System der Wartelisten zu 
beseitigen. 

Auch Hildesheim hat von 274 Anträgen 93 
ablehnen müssen, während Osnabrück durch Ab¬ 
gabe von Kranken nach Lüneburg und an die 
Göttinger Familienpflege soviel Plätze frei bekam, 
dass allen Anträgen entsprochen werden konnte. 

In Frankfurt a. M. ist der Zugang gegen das 
Vorjahr um mehr als 200 gestiegen. 

In Friedrichsberg-H amburg ist „eine der¬ 
artige Ueberfüllung eingetreten, dass Erweiterungs¬ 
bauten in Langenhorn unverzüglich vorgenommen 
werden müssen.“ Der neue Bericht stellt wiederum 
eine Zunahme von 5,36% fest. „Trotzdem im 
vorigen Jahre schon alle Krankenräume überbelegt 
waren, musste immer wieder Raum für neu aufzu¬ 
stellende Betten geschaffen werden. Hierdurch hat 
aber die Ueberfüllung derartige Dimensionen ange¬ 
nommen, dass die provisorische Errichtung von Baracken 
bald wird ins Auge gefasst werden müssen.“ 

Bremen muss schon jetzt für die im Bau be¬ 
griffene neue Anstalt Erweiterungsbauten in Aussicht 
nehmen, weil der in ihr vorgesehene Platz schon für 
den jetzigen Bestand nicht ausreicht. 

Königslutter hat sich jahrelang bemüht, durch 
Entlassung harmloser Unheilbarer der Ueberfüllung 
vorzubeugen. Die Bemühungen scheiterten schliesslich 
an dem Widerstand der Heimathgemeinden; die zur 
Unterstützung verpflichteten Kassen weigerten sich, 
für Entlassene Pflegegeld zu zahlen, und selbst die 
Kosten zu tragen, waren die Gemeinden nicht geneigt. 
Mit Recht scheute die Anstalt davor zurück, den 
widerwilligen Gemeinden die Kranken aufzuzwingen, 
sie wären schwerlich zweckmässig verpflegt worden. 
Man versucht jetzt, durcli Einführung der Familien- 
pflege der Ueberfüllung entgegen zu arbeiten. 

In Sachsen ist im Gegensatz zu allen anderen 
Ländern die Zahl der Aufnahmen zurückgegangen. 
Man führt dies zurück auf eine falsc he Auffassung 
der gegen die frühere Ueberfüllung gerichteten Mass¬ 
nahmen : „Zurückweisung der Aufnahmen bei man¬ 
gelndem, geeignetem Platz und Entfernung der un¬ 
heilbaren, nicht gefährlichen Kranken, beziehentlich 
Erhöhung der Pflegesätze für dieselben“. Infolge 
dieser Massnahmen war beim Publikum und bei 
manchen unteren Behörden die Auffassung entstanden, 
die Anstalten seien überhaupt nur für die gefährlichen 
Kranken bestimmt; andere wurden darum vielfach 
garnicht angemeldet. — „Eine Ueberfüllung der An¬ 
stalten, auch eine nur partielle, ist für die Zukunft 


dadurch ausgeschlossen, dass für jede einzelne Ab¬ 
theilung bezw. jedes Haus eine bestimmte Belagziffer 
festgestellt und den Directionen zur Pflicht gemacht 
worden ist, diese Ziffer unter keinen Umständen zu 
überschreiten.“ Das ist eine halbe Massregel; wo 
sollen denn die Kranken hin, wenn die Anstalten voll 
sind? Besser noch in überfüllten Räumen, als ganz 
ohne Anstaltsbehandlung. 

Bayreuth giebt seiner Noth kräftigen Ausdruck: 
„Immer schreiender, immer dringender, immer drücken¬ 
der wird das Bedürfniss nach Abhülfe bezüglich der 
kolossalen, fast möchte man sagen sanitätswidrigen 
Ueberfüllung unserer Anstalt, für deren etwaige ge¬ 
fährliche Folgen ärztlicherseits eine Verantwortung 
kaum mehr übernommen werden kann, nach einer 
ergiebigen Erweiterung der Anstalt oder vielmehr nach 
Erbauung einer zweiten oberfränkischen Kreisirren¬ 
anstalt. Bald wird der Zeitpunkt gekommen sein, an 
dem unsere Anstalt geschlossen werden muss, d. h. 
nur dann noch einzelne neue Kranke aufnehmen 
kann, wenn andere Kranke abgegangen sein werden. 
Was aber dies für frisch Erkrankte und namentlich 
für deren Angehörige oder Gemeinden etc. bedeutet, 
das kann nur der ermessen, der solche Kranke draussen 
— zumal auf dem Lande — gesehen und die 
schwierigen Umstände, unter denen dieselben oft be¬ 
handelt und gepflegt, um nicht zu sagen — wenn 
auch nicht absichtlich — misshandelt werden, kennen 
gelernt hat. Darum muss gründliche Abhülfe bald¬ 
möglichst geschaffen worden.“ Der soeben erschienene 
neue Bericht kann mittheilen, dass nunmehr der ober¬ 
fränkische Landtag die Erbauung einer zweiten Kreis¬ 
irrenanstalt beschlossen hat. 

In Heidelberg war die Zahl der Kranken stets 
grösser als die der verfügbaren Betten; häufig mussten 
auf den Corridoren „Bodenbetten“ hergerichtet werden. 
Auch Elm men dingen war genüthigt, in Corridoren 
und Tagesräinnen Betten aufzustellen. 

I111 württc mb er gischen Bericht heisst es: 
„das schwerste Hemmniss für die staatliche Irren- 
fiirsorgc bildete auch im Berichtsjahr wieder die 
Ueberfüllung sämmtlicher Staatsirrenanstalten, ins¬ 
besondere deren Abtheilungen für Uebenvachung und 
Bettbehandlung.“ Trotz erheblicher Vermehrung der 
Plätze konnten nur 60% der Aufnahmegesuche be¬ 
rücksichtigt werden. Nach dem soeben erschienenen 
neuen Berichte hat sich dies auch 1902 noch nicht 
gebessert. 

Stephansfeld giebt eine Uebersicht über die 
allmähliche Zunahme des Zugangs; er betrug im Jahre 
1 893 / 94 : 2 3^, im Jahre 1902: 397. — Saargemünd 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


IQ04.J 


klagt über eine Ueberfüllung, „welche die schwersten 
Missstände und Gefahren mit sich bringt.“ „Wie 
sehr unter diesen Zuständen die Tag und Nacht auf¬ 
einander gedrängten Kranken leiden, wie viel die 
Ruhe und Ordnung der Stationen — trotz der sehr 
erheblich gesteigerten Bemühungen des ohnedies 
schon schwer genug belasteten Pflegepersonals — zu 
wünschen übrig lässt, wie schliesslich die Freudigkeit 
der Pfleger und Aerzte über diesen vergeblichen Be¬ 
mühungen erlahmen, das alles braucht nicht geschildert 
zu werden.“ — 

Selbst wenn der Gesammtbestand einer Anstalt 
sich noch in erträglichen Grenzen hält, kann die 
Ueberfüllung der Ueberwachungs-Abtheilungen zu 
schweren Missständen führen. Im vorigen Jahre 
konnten wir einen Passus aus dem sächsischen 
Bericht mittheilen, der dies recht deutlich vor Augen 
führt; auch der neue Bericht theilt mit, dass sich 
dieses Missverhältniss noch nicht ausgeglichen habe. 
Fast noch schärfer spricht sich in diesem Jahre 
Rybnik aus; die Anstalt ist im Laufe der Zeit von 
600 auf 800 Plätze vergrössert worden, die Zahl der 
Unruhigen, Unsozialen ist relativ in noch viel grösserem 
Masse gewachsen, dennoch sind die Abtheilungen 
für Unruhige weder vermehrt noch erweitert worden. 
„Auf diese Weise ist bei uns eine Ueberfüllung der 
unruhigen Abtheilungen entstanden, die wir geradezu 
als bedenklich und gefahrbringend bezeichnen müssen, 
es wird von diesen Abtheilungen eine unverhältniss- 
mässige Zahl von Pflegepersonal in Anspruch ge¬ 
nommen, das Personal dort wird ausserordentlich an¬ 
gestrengt, und trotzdem sind auf den Abtheilungen 
für Unruhige jetzt Prügeleien und alle Arten von 
Gewaltthätigkeiten, Komplotte, gemeinschaftliche, unter 
Anwendung von Gewalt durchgeführte Fluchtversuche 
und Entweichungen sehr viel häufiger als früher.“ 

Es ist ja ganz natürlich, dass unter der Ueber¬ 
füllung in erster Linie die Wachabtheilungen, und 
zwar besonders die für Unruhige, leiden; auch wir 
in Andernach erleben alltäglich das gleiche. In 
den ruhigen Abtheilungen kann man durch liberale 
Handhabung der Entlassungen meistens unschwer 
einige Plätze freihalten. Aber damit ist nicht viel 
gewonnen, denn die neu kommenden Kranken sind 
fast alle fürs erste überwachungsbedürftig, und zum 
grossen Theil recht unruhig, und müssen daher in 
den Wachabtheilungen untergebracht werden. 

Nach dieser Blüthenlese aus reichsdeutschen Be¬ 
richten (nb. die leicht vermehrt werden könnte), seien 
noch einige Stimmen aus ausländischen Anstalten 
hinzugefflgt 

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365 


Nieder Österreich rechnet aus fünfjährigem 
Durchschnitt eine jährliche Zunahme der zu Verpfle¬ 
genden um ca. 107 heraus. Charakteristisch ist die 
Gegenüberstellung von Bestand und Normal belegraum: 


Wien. 

Normal¬ 

belegraum 

. 900 

Kranken¬ 

stand 

1026 

Ybbs. 

• 450 

544 

Klosterneuburg . . 

. 530 

598 

Kierling-Gugging . 

. 640 

0 

00 

Langenlois . . . 

. 184 

218 

zusammen 

: 2704 

3° ( )4 


Ueber die Zustände in Mähren schreibt Hell- 
wig: „Der drückende Raummangel in der mährischen 
Landesirrenanstalt datirt schon seit Decennien und 
sind die Klagen hierüber immer allgemeiner und 
lauter geworden.“ Eingehend schildert er dann die 
allmähliche Entwicklung der Missstände, und es ist 
characteristisch, wie man immer wieder sich begnügte, 
der dringendsten Noth mit kleinen Massregeln zu 
begegnen, deren Unzulänglichkeit schon im Voraus 
evident war, und das, obgleich von berufener Seite 
die Forderungen zur Abhülfe deutlich ausgesprochen 
waren. Er schliesst mit den Worten: „der Stand der 
Irrenpflege in Mähren ist demnach mehr denn je 
ein Nothstand geworden.“ 

Niedernhart theilt ausführlich Verhandlungen 
mit der Vorgesetzten Behörde mit, welche zu dem 
Resultat führten, dass man zur momentanen Abhülfe 
den Neubau eines Pavillons und zur Vorsorge für die 
Zukunft die Schaffung einer landwirtschaftlichen Co- 
lonie beschloss. 

Der ungarische Bericht spricht von einer „an 
der Grenze des Zulässigen angelangten Ueberfüllung“ 
und theilt mit, dass die Absicht, eine neue grosse 
Anstalt in der mittelungarischen Ebene zu errichten 
und eine andere Anstalt zu erweitern, „in Bälde zur 
Verwirklichung gelangen wird.“ Nach Angabe des 
neuen Berichtes sind an 3 öffentlichen Krankenhäusern 
Abtheilungen für Geisteskranke eröffnet worden, doch 
war die dadurch erreichte Entlastung der grossen 
Anstalten nur vorübergehend. 

Auch in der Schweiz sind die meisten Anstalten 
überfüllt. In der Waldau (1902) hat sich die Zahl 
der Abweisungen verdreifacht. „Alle Abtheilungen 
sind so überfüllt, dass man sich nicht wundern darf, 
wenn die Kranken einander schaden und gelegentlich 
ein Unglück vorkommt.“ Auch im folgenden Jahre 
sind wieder über 100 Kranke abgewiesen worden. 

Das Burghölzli war durch Ueberführungen in 
die Rheinau vorübergehend entlastet, hatte aber in 

Original fram 

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366 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 38. 


kurzer Zeit wieder die alte Ucberfüllung. „Eine Be¬ 
wältigung der Mehrarbeit ist für die vorhandenen 
Aerzte physikalisch unmöglich, wenn man ein Eingehen 
auf die Bedürfnisse der Kranken voraussetzt, wie es 
eine richtige Behandlung verlangt.“ 

Königsfelden muss viele Kranke wochenlang 
auf die Aufnahme warten lassen, und hat dabei die 
Erfahrung gemacht, dass manche sich dann von selbst 
beruhigen und der Aufnahme nicht mehr bedürfen. 
Das ist freilich ein schwacher Trost. 

Im Kanton Waadt ist man dazu übergegangen, 
für Unheilbare, nicht Gemeingefährliche, die Kost¬ 
gelder zu erhöhen, um dadurch die Zahlungspflichtige 
Gemeinde zu veranlassen, solche aus der Anstalt 
zurückzunehmen, was in der That in einer Reihe von 
Fällen geschehen ist. 

Mag es damit genug sein. Fast alle Berichte 
enthalten derartige Klagen, aber einer Vermehrung der 
Citate bedarf es wohl nicht. 

Mehrere Berichte beschäftigen sich mit der Frage, 
ob dieses allenthalben beobachtete Anwachsen der 
Aufnahmen in die Anstalten auf einer wirklichen Zu¬ 
nahme der Geisteskranken überhaupt beruhe. Wenn 
Hellwig sagt: „Wie überall, ist auch in unserm 
engem Vaterlande Mähren eine sich steigernde Zu¬ 
nahme von Irrsinnsfällen notorisch,“ so kann man 
dem doch nicht ohne weiteres zustimmen; zum min¬ 
desten fehlt für diese Behauptung vorläufig der Beweis. 
Eichbcrg ist anderer Meinung. Man hat dort be¬ 
obachtet, dass die Vermehrung der Aufnahmen haupt¬ 
sächlich die Unheilbaren betrifft, und schliesst daraus, 
dass es sich nicht um wirkliche Zunahme akuter Er¬ 
krankungen handelt, sondern nur um eine vermehrte 
Inanspruchnahme der Anstalten auch für blosse 
Pflegefälle, die früher in der Familie gehalten wurden. 
Uebiigens möchte ich vermuthen, dass dies nur eine 
lokale Beobachtung ist. Von sehr vielen Anstalten 
wird doch mitgetheilt, dass sie diese harmlosen Pfleg¬ 
linge möglichst entfernen, um die Anstalt zu entlasten, 
und dass die neu zugeführten grüsstentheils unruhige, 
störende Elemente sind. 

K ö n i g s 1 u 11 e r widmet der Frage ein eigenes 
Kapitel. Da die Aufnahmen der Anstalt ausschliess¬ 
lich aus dem Hcrzogthum Braunschweig stammen, ist 
das Material zur Berechnung der Krankenzahl im 
Verhältniss zur Bevölkerung sehr geeignet. Fs ergab 
sieh, dass auf 100000 Einwohner im lahre 1871: 
43, im Jahre 1 ou 1 : 1 14 Anstaltskranke kamen; also 
eine sehr beträchtliche Yennehrung. Wesentlich ino- 
dificirt wird aber dieses Resultat durch den Nachweis, 
dass der grössere Theil dieser Vermehrung auf nicht 

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im Herzogthum Geborene, auf zugewanderte Fabrik¬ 
bevölkerung entfiel. Da aus der älteren Zeit genaue 
Geburtsnachweise fehlten, konnten für diese Berech¬ 
nung nur die beiden letzten Jahrzehnte 1881 —1901 
verwerthet werden. Eine Berechnung der Neuauf¬ 
nahmen auf 100000 Einwohner ergab im ersten Jahr¬ 
fünft 12 im Herzogthum Geborene pro Jahr, im 
letzten Jahrfünft 15, also nur eine geringe Zunahme, 
die wohl nicht als Beweis für eine absolute Ver¬ 
mehrung der Geisteskranken angesehen werden kann, 
sondern sich zur Genüge daraus erklären lässt, dass 
die Neigung, Kranke in der Familie zu behalten, 
immer geringer wird. 

In Württemberg hat sich in 30 Jahren die Zahl 
der in Anstalten untergebrachten Geisteskranken ver¬ 
dreifacht; sie betrug 1872 etwas über 1000, 1902 
über 3000, während die Bevölkerung Württembergs 
sich in der Zeit nur um etwa Vs vermehrt hat. Aber 
auch dabei handelt es sich nur um die Kranken in 
Anstalten, wie viele ausserhalb der Anstalt vorhanden 
sind, w'eiss man nicht einmal von der Gegenwart, 
geschweige vom Jahre 1872. 

Im Berichte des Vereins Schweizer Irrenärzte wird 
vom Kanton Bern mitgetheilt, dass die Irrenzählung 
im Mai 1902 gegen 1871 eine absolute Vermehrung 
von 72,1%, im Verhältniss zur Bevölkerungszunahme 
eine relative Vermehrung von 50% ergeben habe. 
Die Höhe dieser Zahlen wirkt ja sehr suggestiv. 
Immerhin scheint mir eine solche summarische Be¬ 
rechnung zur Entscheidung unserer Frage auch nicht 
geeignet. Sind denn beide Zählungen nach genau 
gleichen Grundsätzen ausgeführt worden? Oder hat 
man nicht doch vielleicht bei der zweiten Zählung 
die Grenzen des Irreseins weiter gezogen als früher, 
entsprechend der fortgeschritteneren Kenntniss? Ueber- 
haupt sprechen da noch mancherlei Faktoren mit, 
zumal in einem so verkehrreichen Lande. 

Von vornherein werden wir das Material unserer 
Anstaltsberichte für recht ungeeignet zur Entscheid¬ 
ung dieser Frage halten müssen, weil es naturgemäss 
unvollständig und einseitig ist. Uüberhaupt ist wohl 
eine sichere Entscheidung dieser Frage recht schwer, 
bisher jedenfalls nicht gelungen, wenn auch eine 
grosse Wahrscheinlichkeit für eine thatsüchliche Zu¬ 
nahme sich nicht bestreiten lässt. 

Für die praktische Iirenfürsorge ist es ausreichend 
zu wissen, dass die absolute Zahl der Anstaltspflegc- 
bedürftigen Kranken beständig wächst. Um dieses 
Anwachsen zu illustriren, möge hier schliesslich noch 
eine Tabelle wiedeigegeben werden, die der ost- 
prcussische Bericht von 19.62 bringt. In den Jahren 

Original fram 

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1904.] ' PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 367 


1893 bis 1901 stieg die Zahl der in Anstalten unter¬ 
gebrachten Kranken in: 


Ostpreusssen 

von 

1466 

auf 

2 160 

Westpreussen 

»» 

I I IO 

tt 

1/93 

Pommern 

»» 

1240 

ty 

1636 

Posen 

>♦ 

1031 

» 

1868 

Schlesien 


3750 

» 

4975 

Brandenburg 

>» 

2499 

»» 

4895 

Hannover 

>» 

2334 

JJ 

3022 

Sachsen 

» 

2024 

>} 

2676 

Schleswig-Holstein 

» 

1955 


2140 

W r estphalen 

» 

2476 


3^99 

Rheinprovinz 

>» 

4748 


8995 

Hessen-Kassel 

« 

1492 

r> 

2007 

Hessen-Nassau 

f« 

896 

• 

>> 

L549* 


III. Neu- and Umbauten; sanitäre 
Einrichtungen. 

Die selbstverständliche Folge der oben be- 
sprochenen Ueberfüllung ist es, dass man allent¬ 
halben auf Vermehrung der Plätze für die Geistes¬ 
kranken bedacht ist, und zwar sowohl durch Erwei¬ 
terung alter wie durch Erbauung neuer Anstalten. 

Beginnen wir mit der Reichshauptstadt. Schon 
seit mehreren Jahren ist man dort mit dem Bau 
einer grossen städtischen Anstalt bei Buch be¬ 
schäftigt. Der diesjährige Bericht theilt mit, dass die 
Eröffnung dieser Anstalt bis 1905 hat hinausge¬ 
schoben werden müssen. Zugleich hat man be- 
lechnet, dass auch diese Anstalt noch nicht aus¬ 
reichen wird, um alle von der Stadt zu verpflegenden 
Kranken unterzubringen und plant darum sogleich 
noch eine weitere Anstalt, die ebenfalls bei Buch 
gebaut werden soll. 

Auch in verschiedenen preussischen Provinzen 
sind neue Anstalten theils geplant, theils im Bau, 
so in Posen, wo bei Meseritz eine grosse Anstalt 
gebaut wird, in Westphalen, in der Rheinpro- 
vinz, deren neue Anstalt bei Süchteln voraus¬ 
sichtlich im kommenden Frühjahr theilweise dem Be¬ 
trieb übergeben werden soll. Die Berichte enthalten 
darüber nichts. 

Leu b us berichtet, dass man auf dem Anstalts¬ 
gute Städtel-Leubus mit dem Bau einer neuen An¬ 
stalt für 800 Kranke begonnen habe. Es ist beab¬ 
sichtigt, diese mit der alten Anstalt unter eine Leit¬ 
ung zu vereinigen, und zwar soll die öffentliche An¬ 
stalt in den Neubau verlegt, die alten Anstaltsge¬ 
bäude zu einer billigen Pensionsanstalt eingerichtet 
werden. 


Der Münchener Bericht vom Jahre 1902 
schildert kurz den Fortgang der Bauarbeiten an der 
neuen Anstalt bei Eglfing. . Auch dort hat man die 
Eröffnung hinausgeschoben. Im neuen Bericht pro 
1903 ist merkwürdiger Weise gar nicht die Rede 
davon. 

Der niederösterreichische Landesausschuss 
berichtet über die Erwerbung eines umfangreichen 
Geländes im Wiener Gemeindebezirk zur Erricht¬ 
ung neuer Anstalten, welche die bisherige Wiener 
Landesirrenanstalt ersetzen sollen. Man plante ur¬ 
sprünglich 2 Heilanstalten zu je 1000 Betten, hat 
aber neuerdings beschlossen, die Kranken der I. und 
II. Klasse auszuscheiden und für sie eine gesonderte 
Anstalt zu bauen. Das Bauprogramm ist fertig ge¬ 
stellt; man baut eine Heilanstalt mit 800 Betten, 
eine Pflegeanstalt mit 900 Betten, und ein Pensionat 
mit 300 Betten. 

In Ungarn sind an verschiedenen Hospitälern 
neue Irrenabtheilungen eröffnet worden. Die Erbau¬ 
ung einer neuen Staatsirrenanstalt steht in Aussicht. 

In der Schweiz wird im Kanton Appenzell 
eine neue Anstalt im Krombach Herisau gebaut. 
Die Pläne sind ausgearbeitet, mit den Arbeiten soll 
alsbald begonnen werden. 

Zu diesen z. Z. noch im Bau befindlichen An¬ 
stalten kommen sodann mehrere bereits vollendete, 
welche über die Eröffnung oder das eiste Arbeits¬ 
jahr berichten. 

Da ist zunächst Treptow zu erwähnen, das 
zwar schon im Jahre 1900 eröffnet worden ist, aber 
jetzt den ersten Bericht herausgiebt. Man hat bei 
der Anlage der Anstalt an der üblichen symmetrischen 
Gruppirung der Gebäude festgehalten, weil diese die 
technischen Einrichtungen, Dampf-, Wasser-, elek¬ 
trische Leitungen, erleichtert. Durchwehe Uneben¬ 
heiten des Terrains wird bewirkt, dass die Symmetrie 
das Auge nicht stört, sondern doch malerische Wirk¬ 
ungen erzielt werden. 

Das Anstaltsgebiet ist nicht eingefriedigt. Die 
Gärten sind mit 1 m hohen Zäunen, nur die der 
Unruhigen und Gefährlichen mit Mauern umgeben. 
Vorn liegt das Verwaltungsgebäude, dessen Flügel 
Wohnungen enthalten, weiter in der Mittelachse das 
Wirthschaftsgebäude mit Koch-, Waschküche und 
Magazin, dann Kesselhaus und W r asserthurm, Spritzen- 
und Desinfectionshaus. Im Wirthschaftsgebäude ist 
genügender Raum vorgesehen, um Kranke beschäftigen 
zu können. In den Nebenräumen des Kesselhauses 
sind die erforderlichen Werkstätten und Maschinen, 
Pumpen , Enteisenungsapparat, Hauptkessel für die 
Whirmwasserbcreitung, elektrische Beleuchtungsanlage. 


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Gck gle 


Original fram 

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Treptow a. Rega. Ansicht von Nordwesten. 


368 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 38. 


Ferner auch Centralbäder für Männer und Frauen, liehst ähnlich zu machen, hat man bei ihnen auf 

Von der Mittelachse liegen westlich die Männer-, alle Centralanlagen verzichtet, man heizt sie mit 
östlich die Frauenhäuser. In der Nähe des Ver- Kachelöfen und beleuchtet sie mit Petroleum. 

Dann folgen die Aufnahme-Wachabtheilungen. 
Sie enthalten in ihrem einzigen Stockwerk 2 Wach- 
säle zu 18 Betten. Besondere Tagesräume sind nicht 
vorgesehen. Die Wascheinrichtungen befinden sich 
in den Sälen selbst. Jeder Wachsal hat ein Closet, 
das in einer nach aussen vorspringenden Nische 
steht, welche durch eine Glasthür verschlossen ist, 
sodass auch dort die Kranken der Aufsicht nicht 
entzogen sind. Bei jedem Wachsaal liegen noch 2 
Einzelzimmer. Ferner hat jede Abtheilung 2 Bade¬ 
zimmer mit je 2 Wannen, und zwar hat man innen 
verzinnte Kupferwannen gewählt. An Nebenräumen: 
Besuchszimmer, Spülküche, Garderoberaum; Assistenz¬ 
arztwohnung; Erholungszimmer für Pflegepersonal. 

Mit diesen Wachabtheilungen sind die Häuser 
für Unruhige durch einen festen Gang verbunden, 
um die häufigen Versetzungen zwischen beiden zu 
erleichtern. Sonst stehen alle Häuser frei. 

Die Häuser für Unruhige haben 50 Plätze. Im 
Erdgeschoss befinden sich 2 grosse Tagesräume und 
ein Wachsaal für 15 Betten , mit Nischencloset, 
Badezimmer und zwei Einzelzimmern. Ferner ein 
Corridor mit 4 Isolirzimmern, die aber nicht mehr 
benutzt werden und umgebaut werden sollen. Im 
obern Stock sind Schlafräume. — Leider ist nicht 
gesagt, wie viele Badewannen für die Unruhigen 
vorgesehen sind. 15 Wachsaalplätze für Unruhige 
ist bei der Grösse der Anstalt wohl etwas wenig. 

In den Häusern für Halbruhige mit je 50 Plätzen 
sind Tag- und Schlaf räume verteil getrennt. 

Die Häuser für Sieche enthalten 80 Betten. Jedes 
Haus ist in 4 Einzelabtheilungen getheilt, deren jede, 
unter Vermeidung von Corridoren, zwei doppelseitig 
belichtete Liegesäle zu 10 Betten, sowie die er¬ 
forderlichen Nebenräume, enthält. Abseits im Walde 
liegen noch 2 kleine Häuser für ansteckende Kranke. 

In den Aufnahmeabtheilungen sind die Fenster 
vergittert, die Häuser für Halbruhige haben drei- 
theilige Fenster. Alle andern Häuser haben Fenster 
gewöhnlicher Form mit Dornverschlüssen. 

Verwaltungsgebäude und Siechenhäuser haben 
Dampfwarmwasserheizung, die übrigen Häuser Dampf¬ 
luftheizung. — Die Beleuchtung ist elektrisch. 

Die Fussböden sind mit Linoleum auf Cement- 
grundlage belegt. Die Badezimmer, Aborte etc., so¬ 
wie die Infectionshäuser haben Terazzofussböden. 

waltungsgebäudes liegen zunächst einige offene Land- Das Wasser wird aus 4 Tiefbrunnen in der 

häuser. Um sie gewöhnlichen Wohnhäusern mög- Nähe des Kesselhauses gepumpt, und passirt zu. 




Original from 

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1 9 ° 4 -] 

nächst eine Enteisenungsanlage, dann einen Filter¬ 
apparat. 

Die Closets haben durchweg Wasserspülung; Fae- 
calien und Abwässer werden in einem unterirdischen 
grossen Behälter gesammelt und von da auf die 
Rieselfelder gepumpt. — 

Ihren ersten Jahresbericht veröffentlicht ferner 
die neue bayrische Kreisirrenanstalt Ansbach. Die 
Inbetriebsetzung, sowie die mancherlei anfänglichen 
Schwierigkeiten, werden in diesem Bericht geschil¬ 
dert. Ueber die bauliche Anlage und die Einricht¬ 
ungen der Anstalt enthält er jedoch leider nichts. 

Württemberg beschreibt ausführlich die neue 
Anstalt W e i n s b e r g, welche freilich zur Berichts¬ 
zeit noch nicht in Betrieb gesetzt war, vielmehr 
hat der auf das Frühjahr 1904 festgesetzte Eröff¬ 
nungstermin wieder verschoben werden müssen, weil 
die innere Ausstattung noch nicht fertig war. — Die 
Beschreibung und einige Abbildungen der Anstalt 
finden sich in Nr. 1—3 dieses Jahrgangs der psych.- 
neurol. Wochenschrift. 

Sachsen berichtet über die am 1. März 1902 
erfolgte Eröffnung der neuen Heil- und Pflegeanstalt 
Grossschweidnitz. Bezgl. Bau und Einricht¬ 
ungen wird auf eine beabsichtigte besondere Publi- 
cation des Directors Kreil verwiesen, und im Be¬ 
richt nur eine summarische Darstellung gegeben. 

Die Anstalt ist nach dem kolonialen System er¬ 
baut und hat in 19 Häusern 524 Plätze. Die Männer¬ 
abtheilung umfasst: 

1 Haus für 18 ruhige Kranke I. und II. Kl., 

1 Haus für 14 überwachungsbedürftige und un¬ 
ruhige Kranke I. und II. Kl., 


369 

3 Häuser für je 30 ruhige Kranke III. Kl., 

2 Häuser für je 30 halbruhige Kranke III. Kl., 

1 Haus für 30 unruhige Kranke III. Kl., 

1 Haus für 20 überwachungsbedürftige und 10 
sieche Kranke III. Kl. 

Die Frauenabtheilung hat im Allgemeinen die 
gleichen Gebäude, nur ist dort noch ein drittes Haus 
für Halbruhige vorhanden, und das Haus für Un¬ 
ruhige hat 40 Plätze. 

Man glaubt, dass die Zahl der vorhandenen 
Plätze für längere Zeit dem Bedürfniss genügen wird; 
doch ist es zweifelhaft ob die Verhältnisszahl der 
Plätze für unruhige und überwachungsbedürftige zu 
der der Ruhigen richtig getroffen ist. 

Die Leitungen der Centralheizanlage liegen in 
begehbaren Kanälen von 1800 m Länge. In den¬ 
selben Kanälen liegen auch die elektrischen Leitungen 
für die Beleuchtung. Um diese kostspielige Kanal¬ 
anlage nicht zu sehr ausdehnen zu müssen, hat man 
die Häuser zum Theil etwas näher zusammengestellt, 
als sonst wünschenswerth wäre. 

Das Wasser wird durch eine Leitung vom Ab¬ 
hange des Berges Kottmar her geliefert. — Die Ab¬ 
wässer gehen durch eine Kläranlage nach dem bio¬ 
logischen Verfahren und werden dann in einen Blich 
geleitet. 

Ueber die Anstalt Dösen hat das Hochbauamt 
der Stadt Leipzig einen reich illustrirten eigenen 
Bericht herausgegeben. Die Abbildungen sind von 
der psychiatrisch-neurologischen Wochenschrift bereits 
zum Theil im Jahrgang 5, Nr. 23, gebracht worden. 
Eine Beschreibung der Anstalt konnte ich schon im 
vorigen Jahre nach dem sächsischen Jahresberichte 
bringen. (Fortsetzung folgt.) 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Mitthei lungen. 


— X. Versammlung mitteldeutscher Psy¬ 
chiater und Neurologen in Halle a. S. am 22. 
und 23. October 1904. I. Sitzung. Vorsitzender: 
Herr Ganser. (Schluss.) 

9. Herr Hoppe-Uchtspringe: Bedeutung der 
Jonentheorie für die Behandlung der Epileptiker. 

Durch die Arbeiten von van d’Hoff, Alz¬ 
heimer u. a. ist unsere Einsicht in die Wirkung der 
Salzlösungen wesentlich gefördert worden. Da der Zu¬ 
satz eines neuen Gases auf die Dissociation des ursprüng¬ 
lich im Raume vorhandenen ohne Einfluss ist, wenn 
das neue Gas keines der Dissociationsproducte des 
alten enthielt, dasselbe Gesetz aber auch für die 
Lösungen gilt, so ist der Zusatz eines neuen Salzes 
auf die Dissociation einer Salzlösung ohne Einfluss, 

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wenn die beiden Salze keine gemeinsamen 
Jonen haben. Diese Thatsache ist für die Wirkung 
der Desinfcction und vieler arzneilicher Salzlösungen 
von grosser Bedeutung. Der beliebte Zusatz von 
Kochsalz zu einer Sublimatlösung (z. B. Angerer’s 
Pastillen) lässt die desinficirende Kraft bedeutend 
zurückgehen. Ebenso ist z. B. die Combination von 
Halogenen mit denselben Alkalimetallen (KBr+KJ), 
das Verordnen von Salzen mit anderen verwandten 
„brausenden Salzen“ irrationell, da sofort die Disso¬ 
ciation , d. h. die Zahl der activen Moleküle und 
somit auch die chemische Wirkung bedeutend zurück¬ 
geht. Fügt man zu einer Bromnatriumlösung Chlor¬ 
natrium, so wird sofort die Dissociation, ,die Br- 
Wirkung eine geringere. Je weniger also bei einer 

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370 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 38. 


Na Br-Verordnung Na CI im Essen verabfolgt wird, genau kennen, besonders auch die Ausscheidungs- 
desto stärker ist die Br-Wirkung, desto weniger Na Br fähigkeit seiner Nieren eine Woche lang beobachtet 
braucht man, um dieselbe Wirkung zu erzielen. Diese haben, sind wir im Stande, das richtige Mittel m 
Thatsache erklärt ungezwungen die Erfolge der geeigneter Form zu verordnen. (Autoreferat.) 

Toulouse-Richet’sehen Behandlung, wenn auch x Q . Herr S t e g m a n n - Dresden: Casuistischer Bei- 

diese Autoren zunächst von anderen Theorien aus- trag zur Behandlung der Neurosen mittels der kathar- 
gingen. — Von den 3 gebräuchlichsten Br-Präparaten tischen Methode (nach Freud). 

(NaBr, KBr und Bromalin) erhöht Na Br am meisten Vortr. hat in den letzten Jahren, theils im Dresdner 
den osmotischen Druck im Blute, etwas weniger die Stadt-Irrenhause, theils in der Privatpraxis, mehrere 
beiden anderen. Um festzustellen, wie die Nieren, Kranke mit verschiedenen Neurosen nach der kathar- 
welche in erster Linie die Ausscheidung der Salze tischen Methode behandelt; 3 dieser Fälle erwähnt 
zu bewirken und die normale Concentration des Blutes er nur kurz und bespricht einen ausführlicher. Hier 
(ausgedrückt durch den Gefrierpunkt Ü) wieder herzu- handelte es sich um eine an Angst Schlaflosigkeit, 
stellen haben, sich den verschiedenen Salzen gegenüber Reizbarkeit und gelegentlich auftretenden Sinnes¬ 
verhalten, erhielten 2 Epileptiker (mit völlig functions- täuschungen leidende Patientin, die zunächst längere 
fähigen Nieren) 6 Wochen gemischte Kost 6 weitere Zeit in der Anstalt behandelt wurde, wo jedoch, 
Wochen dieselbe Kost mit Zusatz von 2,0 KBr., 2 trotzdem man ihr besondere Sorgfalt widmete, ein 
andere Epileptiker unter denselben Bedingungen durchgreifender Erfolg nicht erzielt wurde. Man 
2,0 Na Br., endlich 2 weitere entsprechenden Na CI- erreichte zwar, dass sie sich in der Anstalt regel- 
bezw. KCl-Zusatz. Während dieser Zeit wurde die mässig beschäftigte, auch Hess sich durch Suggestion 
Ausscheidung des N und der Salze sowie der Gefrier- [ m hypnotischen Schlaf vorübergehend ruhigere Stim- 
punkt des Urins täglich festgestellt. Es stellte sich mung erzielen, doch blieben die siörendsten Symptome 
heraus, dass bei diesen Epileptikern die K-Salze bestehen und auch das Körpergewicht blieb niedrig, 
grössere Anforderungen an die Arbeitsleistung der Die Behandlung mit Hypnose wurde, weil sie keinen 
Ausscheidungsorgane stellten als die entsprechenden dauernden Erfolg erkennen Hess, nur 3 Monate lang 
Mengen von Na-Salzen. Die chemische Untersuchung fortgesetzt und Patientin wurde nach weiteren 6 
ergab hierbei, dass die K-Salze schneller und stärker Monaten ungeheilt von ihren Angehörigen aus der 
ausgeschieden werden, dass sie sogar dem Körper Anstalt abgeholt, nachdem sie kurz zuvor einen durch 
etwas von seinem Salzgehalte entziehen und daher Sinnestäuschungen veranlassten Selbstmordversuch ge- 
bei salzarmer Kost durchaus nicht am Platze sind. mac ht hatte. Sie stellte sich bald darauf wegen weiterer 
Da sie nur kürzere Zeit im Körper verweilen, wirken Verschlechterung ihres Befindens in der Anstalts- 
sie auch bei Kranken (mit gesunder Niere) zunächst Sprechstunde vor und wurde von da ab durch Vortr. 
weniger toxisch und plarmakognomisch, mit anderen ambulant weiter behandelt. Durch spontane Mit- 
Worten langsamer. Anders ist jedoch die Aus- theilungen der Patientin kam Vortr. auf den Gedanken, 
Scheidung bei den vielen Kranken, deren Nieren durch s i e nach der Freud’schen Methode auszufragen und 
vieles Mediciniren, Infectionskrankheiten, Herzstö- da dies im Wachen nicht vollständig gelang, wurde 
rungen etc. zwar nicht direct erkrankt, aber in ihrer es in tiefer Hypnose fortgesetzt mit dem Erfolg, dass 
Leistungsfähigkeit geschädigt sind. Da die K-Salze Patientin umso freier wurde, je weiter die Analyse 
grössere Ansprüche an diese Leistungsfähigkeit stellen, fortschritt. Die reproducirten Erinnerungen stellten 
bleiben sie hier stärker zurück, wirken deshalb wesent- zum Theil psychische Traumen aus dem sexuellen 
lieh toxischer als die entsprechenden NaBr-Mengen. Gebiet dar, zum Theil aber auch — und zwar 
Der grösste Theil der eingeführten Br-Salze befindet anscheinend unabhängig von diesen — solche, die 
sich im Serum; wird es von dort infolge herabgesetzter aus unglücklichen Verhältnissen im Elternhause ent- 
Arbeitsfähigkeit der Nieren nicht genügend ausge- sprangen. Letztere stammten zumeist aus frühester 
schieden, so wird es hauptsächlich in 2 Organen: Jugend und wurden bei der Analyse als letzte repro- 
Nieren und Gehirn, abgelagert. Solche Kranke zeigen ducirt Vortr. nimmt an, dass hier die auf sexuelle 
deshalb leicht Zeichen schwerer Br-Intoxication. Ueber Dinge bezüglichen Gedankenreihen eine Neurose zur 
das Wirken und Verbleiben der Br-Salze im Organis- Entwicklung brachten, für welche die früheren Kind¬ 
mus haben Nenck i, Tessel u. a. werthvolle Arbeiten heits-Erinnerungen nichtsexueller Art den Boden be- 
geliefert. Die Resultate dieser Untersuchungen dürfen re itet hatten. Patientin ist seit Herbst 1902 halb, 
jedoch nicht ohne weiteres auf den Menschen über- se it Frühjahr 1904 ganz erwerbsfähig und hat bisher 
tragen werden. Auch die an einzelnen Menschen keine Neubildung krankmachender Reminiscenzen er- 
angestellten Untersuchungen gelten nicht für die All- kennen lassen; das Körpergewicht ist beträchtlich 
gemeinheit, da die Ausscheidung individuell sehr ver- gestiegen. — Vortr. bespricht dann eine Kranke, 
schieden, in der Hauptsache durch die Nieren t>eein- deren mit Zwangsvorstellungen und motorischen 
flusst wird, was in der Lauden heimer sehen Störungen einhergehende Neurose, durch Anwendung 
Arbeit zu wenig berücksichtigt ist, weiter aber sehr der Freud’schen Methode, wesentlich gebessert wurde 
vom Salzgehalt der Nahrung und schliesslich auch un d weiter einen Fall von migräneartigem Kopf- 
noch von der Wahl des Br-Präparates abhängt. Da schmerz, der gleichfalls günstig beeinflusst wurde; in 
wir die Br-Salze oft jahrelang in Anwendung bringen, beiden Fällen wurde Arbeitsfähigkeit in sehr an- 
können wir uns auch mit der Anordnung Zeit lassen, strengendem Beruf erzielt. Endlich bespricht Vortr. 
Erst wenn wir den Kranken nach allen Richtungen einen Kranken, bei dem sich seit 1903 eigentümliche 

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I 9°4-] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


37i 


Krampferscheinungen im rechten Arm eingestellt hatten 
im Anschluss an einen seit 1885 bestehenden Schreib¬ 
krampf. Hier hat die Behandlung in kurzer Zeit 
überraschende Ergebnisse zu Tage gefördert und 
schon jetzt eine Besserung der zuletzt aufgetretenen 
Krampferscheinungen gebracht. 

Vortr. weist auf die Schwierigkeiten des Verfahrens 
hin und meint, dass grosse Vorsicht und Zurückhaltung 
in der Fragestellung unerlässlich sei. Für einzelne 
Fälle scheint ihm aber die kathartische Methode 
unentbehrlich und jeder anderen Behandlungsweise 
überlegen zu sein. (Eigenbericht.) 

Discussion: 

Herr Binswanger hat die Methode auch an¬ 
gewandt, wenn auch nicht mit so günstigem Erfolge 
wie Vortr. Wenn der Erfolg eintritt, tritt er bald ein, 
jahrelange Fortsetzung der Behandlung führt nach 
seiner Erfahrung* nicht zu weiteren Resultaten. Bei 
dem intensiven Befragen besteht die Gefahr, dass die 
Patienten allerhand Dinge noch dazu erfinden und 
eine Art Bekenntnisssucht kriegen, die dann der Arzt 
schwer wieder los werden kann. 

Herr Stegmann hat besonders betont, dass er 
bei den Fragen stets zurückhaltend und vorsichtig 
vorgegangen ist und keine Nöthigung angewandt hat. 
Seine Erfolge, die noch nach jahrelangen Bemühungen 
zu voller Arbeitsfähigkeit führten, sprechen gegen die 
ungünstigeren Erfahrungen Binswangers. 

H. Haenel-Dresden. 

— Russland. Dr. Awtokratow, bevollmächtigter 
Arzt am Lazarett für geisteskranke Soldaten, berichtet, 
dass vom 23. September bis zum 30. October a. St. 
in Moskau 94 Geisteskranke aus dem fernen Osten 
eintrafen. An Psychiatern herrsche auf dem Kriegs¬ 
schauplätze kein Mangel, wohl aber an dem nöthigen 
Wartepersonal. Sammelpunkte, resp. Lazarette für 
geisteskranke Militärs wurden in Charbin, Tschita, 
Omsk und Krassnojarsk eingerichtet. 

— Fulda. Für die Provinz - Idiotenanstalt „St. 
Antoniusheim“ ist auf dem westlich hochgelegenen 
Münsterfeld ein Baugelände von 30000 qm. Grösse 
erworben worden; die Anlage der Anstalt ist zur Auf¬ 
nahme von 450 — 500 Idioten berechnet. Vorläufig 
ist erst ein Drittel des Knabenhauses für 50—55 
Pfleglinge fertig und gestern durch den Bischof 
non Fulda in Gegenwart des Landeshauptmanns 
Frhrn. v. Riedesel zu Eisenbach und verschiedener 
Vertreter königlicher und städtischer Behörden einge¬ 
weiht worden. Der dreistöckige Theilbau des Barm¬ 
herzigkeitshauses kostet bis jetzt rund 100 000 M. 

— Rheinprovinz. Der Hülfsverein für 
Geisteskranke in der Rheinprovinz hatte auf 1. 
Dez. Nachmittag seine Mitglieder in die Lesegesell¬ 
schaft zur zweiten Hauptversammlung eingeladen. Der 
Vorsitzende, Herr Sanitätsrath Dr. Peretti (Grafen¬ 
berg), eröffnete die Versammlung mit der Begrüssung 
des Hm. Oberpräsidenten Nasse, des Hrn. Dechant 
Kribb en (Düsseldorf) als Vertreter des Hrn. Kardinals 
Fischer, des Hrn.Generalsuperintendenten Umbeck 
(Koblenz), des Hrn. Geheimralhs Pelm an n (Bonn) 

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und der übrigen Anwesenden. Dem Bericht des 
Vorsitzenden über die Thätigkeit des am 8. November 
1901 gegründeten Vereins ist zu entnehmen, dass die 
Mitgliederzahl auf 5432 sich beziffert, was gegen das 
Vorjahr einen Zuwachs von 1121 Mitgliedern bedeutet. 
Es sei nicht zu verhehlen, dass leider in den grösseren 
Städten das Interesse für den Verein verhältnissmässig 
zu wünschen übrig lässt. Wenn dem Vereine gegen¬ 
über eine ablehnende Haltung schon angenommen 
worden sei mit der Begründung, dass die Sorge für 
die Geisteskranken und ihre Angehörigen Sache der 
Armenverbände sei, so sei dem entgegenzuhalten, dass 
der Verein gerade da eintreten wolle, wo gesetzliche 
Verpflichtungen der Kommunal verbände nicht vor¬ 
liegen. An Unterstützungen wurden im Berichtsjahre 
8974,84 M. ausgegeben, beinahe 1000 M. mehr als 
im Vorjahre; ausserdem wurden aus den Zinsen der 
Stiftung des früheren Hülfsvereins für Geisteskranke im 
Regierungsbezirk Düsseldorf 1834,30 M. verteilt Das 
Vereins vermögen beträgt gegenwärtig 26370 M. Eine 
Anregung geht dahin, Anschluss an verwandte Vereine 
zu suchen, z. B. an den Verein gegen den Missbrauch 
geistiger Getränke, an den Verein für Nervenheilstätten; 
ferner sollen Vertraueosmännerversammlungen einbe¬ 
rufen und auch Frauen zur Thätigkeit als Vertrauens¬ 
personen herangezogen werden. Der vorgelegte 
Statutenentwurf wurde genehmigt. Dem Ausschuss 
sollen nach den neuen Statuten der Landeshauptmann 
der Rheinprovinz, der Weihbischof von Köln und der 
Generalsuperintendent der Rheinprovinz als geborene 
Mitglieder angehören. Die Herren Oberpräsident 
Nasse, Landeshauptmann a. D. Klein und Geheim- 
rath Pelmann (Bonn) wurden zu Ehrenmitgliedern 
ernannt. Hr. Dr. Brosius (Sayn) verbreitete sich 
hierauf in einem Vortrage über die Geschichte der 
Irrenhülfsvereine; der erste wurde im Jahre 1829 
vom Vorsteher der Anstalt Eberbach in Hessen 
gegründet. Hr. Director Dr. Herting (Galkhausen) 
gab durch Verlesung von oft rührenden Dank- und 
Bittgesuchen, die an den Verein gerichtet wurden, 
interessante Detailbeiträge zum Bericht über die 
practische Thätigkeit des Irrenhülfsvereins. 


Referate. 

— Sommer: Beiträge zur psychiatrischen 
Klinik. Bd. I, Heft 2. 

Manfred Fuhrmann: Analyse des Vor¬ 
stellungsmaterials bei epileptischem Schwach¬ 
sinn. 

Verf. stellte an drei Epileptikern Associationsver¬ 
suche in der Weise an, dass er bestimmte und aus¬ 
gewählte Worte als Reize auf die associative Sphäre 
derselben einwirken Mess. Aus den gewonnenen 
Reaktionen ergab sich eine Procentzahl -— die Asso¬ 
ciationsweite — die ausdrückt, wieviel neue ver¬ 
schiedenartige Reaktionen bei dem betr. Individuum 
auf 100 verschiedene Reizworte bei der durch einen 
gewissen Zeitraum getrennten Versuchsreihe zur Beob¬ 
achtung kamen. Die Associationsweite ist nach 
seinen Untersuchungen bei demselben Individuum 
eine coustante Zahl und variirt beim Normalen 

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372 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 38. 


zwischen 80—85%. Bei seinen psychopathischen 
Versuchspersonen blieb dieselbe weit unter dieser 
Zahl. Man konnte also den Grund des Schwach¬ 
sinns in Zahlen ausdrücken. 

Es ergaben sich bei diesen Versuchen noch einige 
Momente, die dem Verf. für den epileptischen 
Schwachsinn charakteristisch erscheinen; besonders 
interessant ist das Auftreten der sog. „unbewussten 
Reaktionen“, die blitzschnell kommen und aufzufassen 
sind als das Lautwerden innerster unbewusster Zu¬ 
stände, die auf irgend einen Reiz ohne sonstigen Zu¬ 
sammenhang mit diesem ans Licht treten. Ferner 
die bedeutende Verlängerung der Reaktionszeit, die 
Monotonie der Reaktionen und der Reaktionsweise. 

Köster: Zur Frage der Beziehungen 
körperlicher und geistiger Krankheiten zu 
einander. 

Verf. bespricht unter gedrängter Anführung einer 
Reihe von Krankengeschichten die prognostische Be¬ 
deutung dieser Frage. Der erste Theil der Betracht¬ 
ungen erstreckt sich auf die Beeinflussung psychischer 
Krankheitsbilder durch begleitende körperliche Krank¬ 
heiten : es kann das Krankheitsbild und -Verlauf 
durch ein körperliches Leiden völlig modifidrt 
werden; die körperliche Erkrankung kann die An¬ 
fangserscheinungen einer prognostisch ungünstigen 
Psychose ganz veischleiern; die Psychose kann durch 
die körperliche Krankheit so vermindert werden, dass 
ihre Symptome in einem unberechtigt ungünstigen 
Licht erscheinen. 

Im zweiten Theil wird die Modification körper¬ 
licher Krankheitsbilder durch Psychosen besprochen: 
es kann durch Erschwerung der Diagnose des soma¬ 
tischen Leidens zu gefährlichen Complikationen 
kommen; das körperliche Leiden wird durch Hinzu¬ 
treten einer an sich als günstig zu prognosticirenden 
Psychose so verschlimmert, dass ein ungünstiger Aus¬ 
gang sich einstellt. 

Hornung: Beitrag zur Kenntniss der 
Alkoholwirkung auf motorische Funktionen 
des Menschen. 

Es handelt sich um die Deutung der sogenannten 
„Fallkurven“. Der bei den Versuchen zu Tage 
tretende Mangel an motorischen Hemmungen wird 
vom Verf. übereinstimmend bei erethisch Schwach¬ 
sinnigen und bei acuter Alkoholintoxikation gefunden. 

A. Ilegar. 


Bibliographie 

über Kriminal-Anthropologie und Verwandtes. 

II. Quartal 1904. 

Von Mcdicinalrath Dr. P. Näcke in Hubertusburg 
(Schluss.) 

V a s c o 11 i: Delle umane inclinazioni. Capodistria 
1 9°4 ; 

Sebastiano: La sensibilita nell’ artista. Italia 
Moderna IQ04, Aprile. 


Maxwell: Un recent proces spirite. Bordeaux 1904. 

Levi-Bianchini: Superstizioni, pregiudizi e terapia 
empirica nella razza calabrese. Rivista dltalia 
1904, aprile. 

Curci: L’organismo vivente e la sua anima. Catania 
IQ04. 

Pitawal der Gegenwart. Almanach interessanter 
Straffälle. 

Locard: La mort de Judas Iscariote. Archives 
d’anthrop. crim. 1904, juin. 

G ro s m o 1 a r d : Les jeunes criminels en correction. 
(suite et fin.) Ibidem. 

Wahl: Peut-on supprimer la prostitution ? Ibid. 

J ac oby: Les victimes oubliees de la guerre moderne. 
Ibidem. 

Toulouse: Les conflits intersexuels et sociaux. 
Paris 1904. 

Ha rtung: Ein Fall geheilter Urachusfistcl. Münchner 
Medic. Wochenschr. 1904, Nr. 23. 

Dineur: Ueber Diverkulitis. Journal medical de 
Bruxelles, nov. 1903. 

Strunz: Klinischer Beitrag zur Lehre von der Spina 
bifida. Diss. Erlangen, 1904. 

Liepmann: Duell u. Ehre. Berlin, Liebmann, 1904. 

Zelle: Wer hat Ernst Winter ermordet? Eine 
psychologische Studie etc. Braunschweig, Sattler, 
x 9 ° 4 - 

Marie: Les folies spirites. Annales medic.-psych 
1904, Nr. 3. 

Pactet: L’accident de Villejuif et la pretendue 
bienveillance des paralytiques generaux. Ibidem. 

Larride: Un cas de retard de la parol par la mal- 
formation anatomique chez un errierc epileptique. 
Journal de Neurologie 1904, Nr. 9. 

Hoppe: Die Pflegeanstalt für geisteskranke Männer 
zu Tapiau Psych.-Neurol. Wochenschr. 1904, 
Nr. 11. 

D eye: Ueber Wolfsrachen. Diss. Jena 1904. 

Burkhard: Ueber Entwickelungstörungen u. Ge¬ 
schwülste der Samenblasen. Diss. München, 1904. 

Siebenmann; Ueber die Anatomie der angebore¬ 
nen Taubstummheit. Ref. Münchner Medic. 
Wochenschr. 1904, Nr. 24. 

Hammersch lag: Die Beziehung zwischen heredi- 
tär-degenerativer Taubheit und Koreanguimität 
der Erzeuger. Ibidem. 

Sommer: Kriminalpsychologie und strafrechtliche 
Psychopathologie etc. Leipzig, Barth, 1904. 


Personal nachrichten. 

— Lublinitz. Dr. Klinke, bisher Oberarzt 
an der Prov.-Irrenanstalt zu Brieg, wurde zum 
Director der Prov.-IIcil- und Pflegeanstalt zu Lubli¬ 
nitz ernannt. 

— Stephansfeld. Oberarzt Dr. Ran so ho ff 
ist zum Direktor der Anstalten Stephansfeld-Hördt 
ernannt worden. 


J ur den redui tnim-ilen Theil verantwortlich : Oberar/t Dr. J'. Breslt-r, Lubl.riitz i Srh esien). 

Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der I nsera t enannuh rar 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag ven Carl Marti old in Halle a. S 
Heynetnann’sche Buchdruckerei (Gebr. Wo'fb ir< Halle .1. S. 


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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift. 

Redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. B realer, 

Lublinit* (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hai lesaale. Fernsprecher 2834. 

Nr. 39. _____ 24. Dezember. 1904. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die jspaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten. 


Abonnements-Erneuerung. 

Wir bitten die Bestellung auf die „Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift“ baldigst zu 
erneuern, damit die Weiterlieferung ohne Störung geschehen kann. 

Diejenigen unserer geschätzten Abonnenten, welche die Wochenschrift 
durch die Post empfangen, erhalten dieselbe weiter, sofern eine Abbestellung nicht 
erfolgt. 

Expedition und Verlag 

Carl JWarhold in Halle a. S. 


Dritter Bericht über die Fortschritte des Irrenwesens. 

Nach den Anstaltsjahresberichten erstattet 
von Dr. Deiters in Bonn, früher in Andernach. 

(Fortsetzung.) 


Die neue Anstalt bei Alt-Strelitz ist am 
21. August 1902 bezogen und zugleich die alte 
aufgelöst worden. Eine Beschreibung der Anstalt 
bringt der Bericht nicht, sondern verweist auf eine 
Publication darüber in der allgemeinen Zeitschrift für 
Psychiatrie, Bd. 60. 

In Nied eröster r eich ist im Juni 1902 die 
Anslalt Mauer-Oehling eröffnet worden. Es 
wird über die letzten Bauarbeiten und die Eröffnung 
berichtet und ausführlich das Statut der Anstalt mit- 
getheilt. Eine Beschreibung wird jedoch nicht gegeben. 
Eine solche nebst Lageplan und zahlreichen Ab¬ 
bildungen befindet sich in der Psychiatrisch-Neuro¬ 
logischen Wochenschrift 1902, Jahrgang IV, S. 251. 

Ausser diesen ganz neuen Anstalten ist ferner 
noch über zahlreiche Erweiterungs- und Neubauten 
von älteren Anstalten zu berichten. Es können hier 
natürlich nur die grösseren und wichtigeren Berück¬ 
sichtigung finden, und auch diese nur in aller Kürze. 

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Eberswalde hat neue Aufnahmehäuser eröffnet, 
über deren Inbetriebsetzung mit Befriedigung be¬ 
richtet wird. Sorau hat ein neues Frauenhaus in 
Gebrauch genommen und von der Versetzung der 
Kranken in freundlichere Umgebung manchen gün¬ 
stigen Einfluss beobachtet. 

Lengerich hat ausser einigen wirthschaftlichen 
Neubauten und Beamten wormungen zwei neue Auf¬ 
nahmeabtheilungen eröffnet, mit Centralheizung und 
elektrischer Beleuchtung. Demnächst sollen die alten 
Isolirabtheilungen umgebaut werden. — In Münster 
ist eine neue Aufnahme- und Wachabtheilung, ein 
Haus für halbruhige und eins für ruhige Kranke be¬ 
legt worden. 

In Rybnik wurde in der Kolonie Rudamühle 
ein Männerlandhaus für 30 Kranke erbaut. 

In Conradstein sind wiederum 2 Häuser 
fertiggestellt worden, und zwar Beobachtungs- und 
Ueberwachungsabtheilungen im Wesentlichen für chro- 

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PSYCHIATRISCH-NEU ROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 39. 


nisch Kranke, je eine für Männer und für Frauen. 
„Sie enthalten im Wesentlichen vier Liegesäle zu 
je 15 Betten, für je 2 Säle einen Tagesraum und 
geräumige Badezimmer zur Anwendung von Dauer¬ 
bädern für erregte Kranke. Für je 15 Kranke ist 
ein Isolirzimmer vorgesehen, es finden sich sonach 
4 in jedem dieser Häuser.“ Die Fenster sind un¬ 
vergittert. Im Bau sind noch 4 Häuser, für Bett¬ 
lägerige und für Unsociale und Gefährliche. 

Kosten berichtet über die Erbauung einer An¬ 
zahl von Gebäuden für jugendliche bildungs- und 


sirung der alten Anstalt. Es wird ein umfang¬ 
reiches Reformproject mitgetheilt, welches der Haupt¬ 
sache nach umfasst: 1. den Neubau je eines Pavil¬ 
lons für unruhige Kranke auf jeder Geschlechtsseite; 
2. Gewinnung geeigneter Wachsäle für Ruhige und 
Halbruhige durch innere Umbauten in der alten 
Anstalt. 

Die beiden neuen Pavillons waren zur Zeit des 
ersten Berichtes bereits fertig gestellt. Sie sind ein¬ 
ander ganz gleich. Jeder besteht aus 2 Abthei¬ 
lungen, von denen die eine der Heil-, die andere der 



Winnenthal, Ueberwachungshaus für unruhige weibliche Kranke. Grundriss des Erdgeschosses. 


beschäftigungsfähige Idioten und Epileptiker, und 
zwar 2 Knaben- und 2 Mädchen-Pavillons, 1 Pavillon 
für Kinder unter 9 Jahren, 1 Lazarett und 1 Schul¬ 
gebäude. Ferner sind dort für die Irrenpflegeanstalt 
2 Aufnahmehäuser erbaut worden. 

Winnenthal theilt den Grundriss eines neuen 
Ueberwachungshauses für unruhige Frauen mit. Ein 
früherer Zellenbau ist dort in eine Abtheilung für 
Bettbehandlung umgebaut worden. Ferner ist dort 
der Bau einer landwirtschaftlichen Kolonie, be¬ 
stehend aus 2 Wohn- und 2 Stallgebäuden, fertigge¬ 
stellt worden. 

In II len au arbeitet man eifrig an der Moderni- 


Pflegeabtheilung angehört. Jede Unterabtheilung ent¬ 
hält einen kleineren und einen grösseren Wachsaal, 
die dun h eine grosse Flügelthür verbunden sind. 
Beim grossem Saal liegt ein Einzelzimmer und gegen¬ 
über ein Bad mit 2 Wannen. Von den kleinern 
führt eine Thür direct in den Garten, eine andere 
in einen Corridor, auf den 5 Isolirzimmer münden. 
Fussböden: Parkett in Asphalt. Niederdruckdampf¬ 
heizung. Die Gärten haben versenkte Mauern. Jeder 
der Pavillons hat 36 Plätze. 

Ferner sind noch 2 neue Landhäuser mit im 
Ganzen 46 Plätzen gebaut worden, deren Vollendung 
der 2. Bericht mittheilt. 


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I 9°4-] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


375 


In diesem wird denn auch über die durch Um¬ 
bau gewonnenen Beobachtungsabtheilungen für Ruhige 
und Halbruhige berichtet, welche inzwischen auf der 
Männerseite zur Ausführung gelangt sind. Auch sie 
zerfallen in je zwei Unterabtheilungen für Heil- und 
Pflegeabthpilung. Die Halbruhigen sind im ersten, 
die Ruhigen im zweiten Stock untergebracht. Jede 
Unterabtheilung hat einen grösseren Wachsaal, einige 
Einzelzimmer, Spülküche, Bad mit mehreren eisen- 
emaillirten Wannen, Besuchszimmer. Bei den Halb¬ 
ruhigen ist noch ein kleinerer Wachsaal für Kranke 
besserer Stände vorgesehen. 


einen Wachpavillon mit 21 Betten und ein Haus für 
Reconvalescenten und Pfleglinge mit 40 Betten. Um¬ 
fangreiche Bauarbeiten waren in Königslutter zur 
Sicherung gegen Feuersgefahr nothwendig. 

In Niedernhart soll auf der Frauenabtheilung 
ein Pavillon zu 180 Betten gebaut werden, zu dem 
der Bericht die Projecte mittheilt. 

Wil beschreibt im Bericht 1902 wiederum ein 
neues Gebäude, welches zur Unterbringung ruhiger 
Männer bestimmt ist. Im folgenden Bericht wird 
die Vollendung eines ganz gleichen Hauses für Frauen 
mitgetheilt. 


. zu F.INf-W w ach TAVU.l-UN 

rt>R cit_ 

m £üLAN£T£LT KCZNIGAU iTTP.R. 




Königslutter, Wachpavillon. 


Ausserdem sollen noch die Wirthschafiseinricht- 
unsren, Küche, Waschküche und Maschinenhaus 
nach aussen verlegt und dadurch im Innern für Ver¬ 
waltungszwecke Raum gewonnen werden. 

Die Freiburger Klinik berichtet über den Neu¬ 
bau eines Dauerbades mit 5 festen und 2—3 trans¬ 
portablen Wannen. Die Wannen werden von einer 
an der Wand angebrachten verschliessbaren Central¬ 
mischstelle aus gefüllt. 

In Königslutter konnte durch Einführung 
der Familienpflege der Ueberfüllung nur vorüber¬ 
gehend abgeholfen werden. Es musste daher zu 
Neubauten geschritten werden, und zwar baut man 
gegenwärtig 4 Pavillons, für jede Geschlechtsseite 


Burghölzli berichtet über die Eröffnung eines 
neues Wachsaales, ohne ihn näher zu beschreiben. 

Bei Anstaltsbauten hat die Fussbodenfrage 
noch immer keine durchaus befriedigende Lösung 
gefunden. Aesthetische Gründe verleiten immer 
wieder dazu, Eichenriemenparkett zu wählen, das ja 
schön gebohnt und gut gepflegt immer schön aus¬ 
sieht. Hygienisch ist es leider anfechtbar, weil es 
nicht viel Wasser vertragen kann, und nasse Behand¬ 
lung der Fussböden ist doch wohl in Krankenräumen 
ein unbedingtes Erforderniss. Auch haben gehöhnte 
Fussböden den Nachtheil, dass sie das Personal mit 
übermässig viel Arbeit belasten, und dass sie durch 
ihre Glätte den Kranken Gelegenheit zum Fallen geben. 


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376 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 39 . 

Osnabrück hat mit solchem Boden böse Er- Emmendingen hat man den Eichenriemen - 

fahrungen gemacht. Ein neu angelegtes Parkett hat boden mit einer neuen Lackart „Chinoleum“ ver¬ 
sieh dort „derartig geworfen, dass es vollständig sehen, was den Erfolg hat, dass „er stets feucht auf- 
wieder entfernt werden musste. Der Unternehmer genommen werden kann und im Gegensatz zu der 
schiebt dies auf übermässige Wasserbehandlung, die sonstigen Behandlung dieser Böden, dem Abschleifen, 
Anstalt auf mangelhafte Anlage. Nach dem, was Wichsen und Bürsten, sehr leicht und bequem für 
ich von anderen Anstalten gehört habe, kann das ^ as Pflegepersonal zu behandeln ist. Auch fällt bei 
Parkett sehr wohl so gelegt werden, dass es ein tüch- dieser Behandlung die oft unangenehme und nic^ 


ja mir 1 



Königslutter, Wachpavillon * 


tiges, ausgiebiges Scheuern verträgt. Wäre dies nicht ungefährliche Glätte des Fussbodens weg.“ 
möglich, so wäre ein Parkett in derartigen Abtheil- Fr ei bürg (Schlesien) hat in einigen Räumen 

ungen überhaupt nicht zu gebrauchen.“ Letzteres ist Papvrolithfussböden gelegt, die sich aber nicht be- 
auch meine Meinung. währen, sondern schon nach kurzer Zeit Sprünge und 

Im Potsdamer Wilhelmstift behandelte man Risse bekommen, 
den Fussboden mit „staubfreiem Oel“ (Dustless-Oel) Die Wasserversorgung macht in Rybnik 

und ist mit dem Erfolge zufrieden. Ich kann darin ernste Schwierigkeit. Man hat dort getrennte Leit- 
nur einen Nothbehelf erblicken. Die Wasserbehand- ungen für Trink- und Wirthschaftswasser und das 
lung ist doch wohl vorzuziehen. Letztere ist in hohem Grade anfechtbar. Es ent- 

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1904 .] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


377 


hält viel Humussäure und Eisen, ist trotz aller Rei¬ 
nigungsvorrichtungen niemals ganz klar, und greift 
die Leitungsröhren stark an. Man plant eine grosse 
Anlage zur Enteisenung und Filtrirung, doch sollen 
vorher noch Versuche [gemacht werden, auf dem An¬ 
staltsgebiete anderes Wasser zu finden. 

In Münster ist ein neuer Röhrenbrunnen an¬ 
gelegt und das Wasser verschiedenen Chemikern zur 
Untersuchung gesandt* worden. Die Gutachten der 
Chemiker werden im Bericht mitgetheilt und es wirkt 


Quellgebiet Wasser in einer Menge von 16 Sekunden¬ 
litern zuführt. 

I Henau besitzt seit 93 eine gemeinsame Wasser¬ 
leitung mit der Stadt Achem, welche einer Grund¬ 
wasserader im Acherthal entstammt. Auf die Anstalt 
entfällt ein Drittel der vorhandenen Wassermenge. 
In den letzten Jahren trat bei trockener Jahreszeit 
bisweilen Wassermangel ein. Es wurde darum in 
der Nähe der alten Quelle eine neue Wasserader 
gefasst, und nun ist bis auf weiteres der Bedarf ge- 



Aufnahmehaus der Anstalt für Epileptische zu Potsdam. 


fast komisch, wie verschieden sie lauten. Auf Grund 
zweier Gutachten wurde es in Gebrauch genommen, 
doch stellte sich bald heraus, dass es in hohem 
Grade zerstörend auf alle Metallbehälter und Rohr¬ 
leitungen wirkte, was auf seinen hohen Gehalt an 
Salpetersäure und salpetersauren Salzen zurückzu¬ 
führen ist. — Der neue Bericht theilt nun mit, dass 
der neue Brunnen wieder ausser Gebrauch gesetzt 
werden ist. 

In Gabersee ist eine neue Wasserleitung fertig¬ 
gestellt w’orden, welche aus einem 3 km entfernten 


deckt. Sollte mit der Zeit bei höherer Inanspruch¬ 
nahme die Menge nicht mehr ausreichen, so ist be¬ 
absichtigt, für Wirthschaftszwecke die alte Grund¬ 
wasserleitung wieder in Gebrauch zu nehmen. 

In Königsfelden ist das vorhandene Wasser 
zu beanstanden. Der Umstand, dass es sich nach 
starken Regengüssen trübt, weist darauf hin, dass 
einzelne Quellen ungenügend gefasst sind. Sach¬ 
verständige Untersuchung bestätigte dies. Man hat 
in der Nähe eine gute und ergiebige Quelle gefunden, 
deren Zuleitung beabsichtigt ist. Das beanstandete 


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37» 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 39. 


Wasser soll dann noch zur Speisung der Fontänen 
und zur Spülung der Kanäle Verwendung finden. 

Für die Abfuhr hat Gabersee ein Projekt für 
Schwemmkanalisation ausgearbeitet. 

Illenau hat bisher am Tonnensystem festge¬ 
halten und ist zufrieden. Zur Verhütung des Geruchs 
wird eine Saprollösung verwendet. Die andern Ab¬ 
wässer werden in die Kanalisation von Achern ge¬ 
leitet. 

Im Burghölzli machen sich die alten Jauche¬ 
gruben unangenehm bemerkbar. Es ist darum ein 
Projekt für Kanalisation, im Anschluss an die städtische 
Kanalisation, ausgearbeitet worden. 

Zur Beleuchtung hat Göttingen in seinen 
Neubauten elektrisches Nernstlicht eingeführt, das 
sich gut bewährt. 

Königsfelden hat in der Küche einen Ent¬ 
nebelungsapparat angebracht, dessen Princip darin 
besteht, dass heisse trockene Luft durch ein an der 
Decke befindliches Röhrensystem in die Küche hinein- 
gepresst wird. 

IV. Gesundheitszustand. 

Der Bericht der oberösterreichischen Landesirren¬ 
anstalt Niedernhart bringt eine statistische Arbeit 
von Ganhör über die Verbreitung und Prophylaxe 
der Tuberkulose. Nach kurzem historischem 
Ueberblick wird darin das Material der Anstalt ver¬ 
arbeitet und daraus berechnet, dass unter den Todes¬ 
fällen bei den Männern 17,3, bei den Frauen 25,28%, 
im Ganzen also 20,47% der Tuberkulose zur Last 
fallen. Auf die Gesammtzahl der Verpflegten be¬ 
rechnet fanden sich auf 1000 Männer 70,7, auf 
1000 Frauen 76,4, für alle zusammen also 73,4 °/oo 
Todesfälle an Tuberkulose. Die entsprechenden 
Zahlen bei der freilebenden Bevölkerung können ja 
nicht mit gleicher Genauigkeit festgestellt werden, 
aber das ergiebt sich doch mit Sicherheit, dass „unter 
den Anstaltsinsassen die Tuberkulose mehr verbreitet 
ist, als unter der Bevölkerung im Allgemeinen“. 
Weiter wird zahlenmässig dargethan, dass bei Ueber- 
füllung der Anstalten das Verhältniss noch ungün¬ 
stiger wird. Unter Zugrundelegung der Annahme, 
dass die mittlere Dauer der Erkrankung 3 V2 — 4 
Jahre beträgt, wird ferner berechnet, dass bei etwa 
V3 der Fälle die Infection in der Anstalt erfolgt. 

In einem Schlusskapitel wird die Prophylaxe ein¬ 
gehend besprochen, und, sofern die Errichtung 
eines eigenen Tuberkulose-Pavillons nach Starlinger’s 
Vorschlag unmöglich ist , zum Mindesten eine eigene 


Tuberkulose-Abtheilung gefordert Dem ist entgegen 
zu halten, dass in manchen Anstalten die Zahl der 
Tuberkulösen so gering ist, dass sie eine eigene Ab¬ 
theilung bei weitem nicht füllen würden. Das ist 
z. B. bei uns in Andernach der Fall. 

Schliesslich giebt Ganhör einen Entwurf zu einer 
Hausordnung für die Tuberkulose-AbtheiluDg, der 
hier wiedergegeben sei: 

„1. Rauchen ist in allen Räumlichkeiten der Ab¬ 
theilung sowohl für Kranke als auch für Wärter un¬ 
bedingt untersagt. 

2. Die Wärter dürfen ihre Mahlzeiten nicht in 
den für die Kranken bestimmten Räumlichkeiten ein¬ 
nehmen. 

3. Vor Verlassen der Abtheilung, insbesondere 
vor jeder Mahlzeit, wird den Wärtern die peinlichste 
Reinigung der Hände zur Pflicht gemacht. 

4. Die Kranken sind nach Möglichkeit dazu an¬ 
zuhalten, ebenfalls vor jeder Mahlzeit Mund und Hände 
zu reinigen. 

5. Auf der Abtheilung ist überall die peinlichste 
Reinlichkeit zu beobachten. Mit besonderer Sorgfalt 
ist jede Staubentwicklung zu vermeiden. Fussböden 
und Wände sind täglich wenigstens einmal (am besten 
mit heisser Seifenlösung) feucht abzuwischen; ebenso 
sind die Bettgestelle täglich zu reinigen. 

6. Der Kehricht ist zu verbrennen. Die Fuss- 
bodenlappen werden täglich in heisser Lauge gekocht. 

7. Verspuckter Auswurf ist sofort auf das sorg¬ 
fältigste aufzuwischen und die Stelle mit Lysollösung 
abzuwaschen. 

8. Ein von einem Kranken benutztes Bett darf 
nur nach vorheriger Desinfection von einem andern 
Kranken benutzt werden. Die Desinfection des Bett¬ 
zeugs erfolgt im Dampfsterilisator. 

9. Beschmutzte Bett- und Leibwäsche sowie Sack¬ 
tücher sind durch wenigstens 5 Minuten in heisser 
Lauge zu kochen, bevor sie in die Wäscherei abge¬ 
liefert werden. 

10. Reinigen von Kleidern und Schuhen, sowie 
ev. von Teppichen etc., ist nur in dem hierzu be¬ 
stimmten Raume gestattet. 

11. Esszeug und Gläser sind stets mit heissem 
Wasser zu reinigen. 

12. Spucknäpfe und Closets sind stets mit kochen¬ 
dem Wasser zu reinigen und täglich einmal mit Lysol¬ 
lösung auszuspülen. 

13. Isolirzimmer sind bei jedesmaliger Verlegung 
aufs Gewissenhafteste mit heisser Seifenlösung zu 
reinigen. 

14. Alle Räume müssen stets (auch nachts) gut 
gelüftet und gleichmässig temperirt sein. Zugluft ist 


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i go4.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 379 


zu vermeiden. Dem Sonnenlichte ist möglichst un¬ 
gehindert Eingang zu "verschaffen.“ 

In den Berichten steht bei Besprechung des Ge¬ 
sundheitszustandes die Tuberkulose im Vordergrund. 
Rybnik theilt mit, dass die Zahl der Tuberkulösen 
auf der Frauenseite so zugenommen habe, dass eine 
strikte Separirung nicht mehr durchführbar sei. Es 
ist deshalb die Errichtung einer Absonderungsbaracke 
für Tuberkulöse mit etwg, 25—30 Plätzen beantragt 
worden, aber vorläufig noch ohne Erfolg. 

Wie ausserordentlich verschieden die Zahl der 
Tuberkulösen in verschiedenen Anstalten ist, zeigt 
anschaulich die Zusammenstellung des rheinischen 
Berichtes. Es fand sich Tuberkulose als Todesur¬ 
sache in 

Grafenberg 2,6% 

Galkhausen 2,8 „ 

Andernach 8,8 „ 

Bonn 17,2 „ 

Merzig 25,7 „ . 

Die Zahlen von Grafen berg und Galk¬ 
hausen sind so exorbitant niedrig, zumal wenn 
man bedenkt, dass Grafenberg unter steter Ueber- 
füllung leidet,"dass es interessant wäre, den Ursachen 
nachzuforschen. 


Eine ähnliche Zusammenstellung bringt der Würt- 
temberger Bericht. Dort betrug die Zahl der Todes¬ 
fälle an Tuberkulose, in Procent der Gesammtmorta- 
lität berechnet: 

in Weissenau 42% 

„ Zwiefalten 30 „ 

„ Schussenried 19 „ 

„ Winnenthal 10 „ . 

Im sächsischen Bericht wird berechnet, dass 
etwa 16,6% der Todesfälle der Tuberkulose zur Last 
fielen. 

Es ist bekannt, dass in Idiotenanstalten die Tuber¬ 
kulose besonders häufig ist. Bei den Eigenarten 
dieser Kranken ist das verständlich. Kosten theilt 
mit, dass unter seinen Todesfällen 44% tuberkulös 
waren. Rastenburg klagt, dass dort die Tuber¬ 
kulosesterblichkeit eine Höhe erieiche, wie nirgends 
sonst. In Procent der Gesammtverpflegten berechnet, 
beträgt dort die Tuberkulosesterblichkeit 6,25%, 
während eine Rundfrage bei andern Anstalten eine 
mittlere Tuberkulosesterblichkeit von 1,36% ergeben 
hat, und Wulff auf Grund der Berichte von 46 
deutschen Idioten-Anstalten 2,1—2,4% berechnet 

(Fortsetzung folgt.) 


Eine neue Methode der Epilepsiebehandlung. 

Von Dr. Alexander B. Szabö , Specialarzt in Budapest. 


I~^\ie Behandlung der Epilepsie giebt dem praktischen 
Arzt ein schwer zu lösendes Problem auf. Dies 
ist leicht zu begreifen, wenn man sich vergegenwärtigt, 
dass die Entstehungsbedingungen dieser Krankheit 
äusserst complicirte, Sitz und Wesen des Leidens zu¬ 
meist in Dunkel gehüllt sind, eine causale Therapie 
mithin von vornherein nur wenig aussichtsvoll und 
selten durchführbar erscheint. Man bleibt also fast 
allein auf den therapeutischen Versuch angewiesen. 
Und thatsächlich behauptet die Empirie auf diesem 
Gebiete der Heilkunde bis heute eine unbestrittene 
Herrschaft. 

Ein solches auf Empirie gegründetes therapeutisches 
Heilverfahren soll im Folgenden behandelt werden. 

Es ist allgemein bekannt, dass die Einführung der 
Brommetalle eine förmliche Umwälzung in der Epi¬ 
lepsiebehandlung hervorgebracht hat. Und das ist 
durchaus nicht zu verwundern. Man forscht im ganzen 
grossen Arzneischatz vergebens nach Mitteln, die an 
sedativer Wirksamkeit auf die centrale Nervensubstanz 
— dem muthmasslichen Sitze der Epilepsie — an 

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diejenige der Bromide heranreichen würden. Wie 
kommt es doch, dass in der Laien- und auch in der 
ärztlichen Welt so mannigfache Vorurtheile gegen 
eine dauernde Verwendung derselben bestehen? — 
Wohl nur aus Angst vor den üblen Einwirkungen 
der Bromide auf die physischen, psychischen und 
sensiblen Functionen des Kranken. Dieser, der Brom¬ 
therapie anhaftende Uebelstand führte theils zur Suche 
nach anderen, angeblich weniger gefährlichen Brom¬ 
präparaten, theils zur Combination der Bromsalze 
mit anderen Antiepilepticis. Es steht nicht in meinem 
Programm, all die angepriesenen Verfahren einer 
Musterung zu unterziehen und noch viel weniger, sie 
zum Gegenstände einer Kritik zu machen. Die Viel¬ 
heit dieser Experimente lässt darauf schliessen, dass 
keines derselben den an sie geknüpften Erwartungen 
vollkommen entsprochen hat. 

Erwägungen dieser Art und die Erkenntniss der 
Unzulänglichkeit der bisherigen Behandlungsmethoden 
regten in mir den Gedanken an, — da ich von vorn¬ 
herein an der Ueberzeugung festhielt, dass das Heil 

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380 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 39 


nur in einer combinirten Behandlung zu suchen sei — 
die Combination der Bromide mit anderen Arznei¬ 
mitteln zu versuchen, mit solchen, deren Bedeutung 
für die Epilepsiebehandlung meiner Auffassung nach 
bisher nicht die verdiente Beachtung gefunden und 
die höchstens nur so nebenher verordnet wurden: 
ich meine die grosse Classe der Roborantia und 
Stimulantia. 


Auch in meinen Verordnungen gegen Epilepsie 
nehmen die Brompräparate den ihnen von altersher 
gebührenden Platz und Rang ein, sie bilden gleich¬ 
sam die Achse, das Alpha und Omega, um das sich 
die übrigen Arzneimittel gruppiren. Hierbei verfolge 
ich einen doppelten Zweck: indem die angegliederten 
Arzneistoffe den Heileffect der Bromide aufs Höchste 
steigern, erfahren sie durch ihre enge Verbindung 
mit denselben gewissermaassen eine Verstärkung ihrer 
eigenen Wirkungspotenz. Es scheint eine Art von 
Wechselwirkung zu sein, die hier zu Stande kommt. 
Um dieser combinativen Verbindung die beabsichtigte 
Wirkung voll und ganz abzugewinnen, erscheint es 
geboten, alle diese Substanzen in einem Medicamente 
zu vereinigen, indem die Erfahrung lehrt, dass eine 
Vollwirkung durch getrennte Verabreichung nicht zu 
erzielen ist. 


Zweck und Sinn der eben gekennzeichneten 
Methode werden nachstehende zwei Receptformeln, 
die den constitutionellen Haupttypen der Epi¬ 
lepsie Rechnung tragen, am deutlichsten veranschau¬ 
lichen. 

I. 


Rp.: 


Spec. lignor. 

Fol. Senn. 

F. decoct.-infus. 
Sacch. pulv. 

Kali bromat. | 
Natr. „ f 
Ammon. „ 

Liqu. a. Fowl. 
Vin. malag. 

Aqu. menth. ptt. 
ut. f. Solut Ccm. 


40,0— 60,0 
20,0— 30,0 
35o,o 

200,0—500,0 

aa. 50,0—ioo,o 

2 5 >°— 5 °>° 
5 >°— 15,0 
150,0—250,0 
qu. s. 

1000 


Ds.: Nach Vorschrift. 


II. 

Rp.: Aqu. d. 

Sacch. p. 

Kal. bromat. ) 

Natr. „ J aa 

Ammon. „ 

Sal. Seignett. 

Liqu. a. Fowl. 




400,0 

50,0—100,0 

25,0— 50,0 
5,0— 15,0 


Tinct ferr. pomat 50,0—100,0 
Vin. malag. 150,0—250,0 

Aqu. m. pt qu. s. 

ut f. Solut Ccm 1000 

Ds.: Nach Vorschrift 


Composition 1 verwende ich vorwiegend bei voll¬ 
saftigem, robustem und pastösem Habitus, während 
Formel II hauptsächlich bei mageren, anämischen, 
grazilen und erethischen Naturen in Anwendung kommt 

Um eine präcise Dosirung zu ermöglichen, ver¬ 
wende ich graduirte Maassgläser von 1—30 Ccm. — 
Hierdurch ist es in meine Hände gegeben, sowohl 
die Einzel- als die Tagesdosis in der durch die Eigen¬ 
art des Falles und die Individualität des Kranken be¬ 
dingten Menge auf das Genaueste festzustellen. 
Wenn man die oft laxe und unzuverlässige Hand¬ 
habung der Dosirung in der Privatpraxis betrachtet 
und andererseits erwägt, von welch einschneidender 
Wichtigkeit eine streng genaue Absteckung der Arznei¬ 
dosen in der Epilepsie ist, so wird die Bedeutsamkeit 
dieser Maassregel von selbst einleuchten. — Von obigen 
Mixturen verwende ich 10—15 Theilstriche 3 mal 
täglich. 

Wie aus obiger Zusammenstellung hervorgeht, ist 
die Combination der Bromide mit Liqu. ars. Fowleri 
und Vin. malagense beiden Formeln gemeinsam. 
Diese Verbindung ist das Stationäre, das Bleibende, 
das in allen meinen Verschreibungen wiederkehrt. 
Wie erwähnt, bin ich vielleicht mehr aus intuitiver Ein¬ 
gebung als aus theoretischen Erwägungen auf den 
Gedanken gekommen, die Tonica zur Hauptwirkung 
in der Epilepsiebehandlung heranzuziehen. Die Ver¬ 
suche, die ich nach dieser Richtung anstellte und die 
günstigen Heilergebnisse, die sie im Gefolge hatten, 
bestärkten mich vollends von der Richtigkeit meines 
Ausgangspunktes; sie mussten aber lange fortgesetzt 
werden, bis ich aus der Reihe der für diesen Zweck 
in Betracht kommenden Arzneimittel die geeignetste 
Auswahl treffen und das Verfahren für die Praxis 
festzulegen vermochte. 

Das Endergebniss meiner Experimente und Be¬ 
obachtungen ist in obigen Combinationsformen aus¬ 
gedrückt. Entscheidend für die getroffene Auswahl 
der Mittel war der grössere therapeutische Erfolg, 
den ich mit denselben im Vergleiche zu anderen 
Combinationen mit Mitteln dieser Gruppe erzielte. 
Seitdem ich diese Methode befolge, kann ich, ohne 
eine Uebertreibung zu begehen, behaupten, dass ich 
mit derselben einigermaassen sicher operire, ich wage 
mich an die schweren und inveterirten Fälle heran, 
und habe nachhaltige Erfolge zu verzeichnen, dort, 


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1904.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 381 


wo andere Mittel und Verfahren vollends versagten. 

— Doch möchte ich beileibe nicht missverstanden 
werden. Auch die Wirkungsfähigkeit meines Ver¬ 
fahrens hat ihre Grenze — eine natürliche Grenze, 
die durch das Mass des durch medicamentöse Behand¬ 
lung überhaupt Erreichbaren bedingt ist. — Kurz 
und prägnant können die Ergebnisse meiner Heilungs¬ 
methode folgendermassen zusammengefasst werden; 
Prompte Sistirung der epileptischen Anfälle, auf¬ 
fallende Besserung der Psyche und entschiedene 
Hebung des allgemeinen Kräftezustandes. 

Wie erklärt sich diese tiefgehende Wirkung, wenn 
man bedenkt, dass die Verordnung von Brom mit 
Arsen nicht neu ist und auch gegenwärtig vielfach 
verwendet wird, ohne dass ein solch eclatanter Er¬ 
folg zu Tage treten würde? Nach meinen Erfahrungen 
kann für mich kaum ein Zweifel bestehen, dass erst 
durch das Hinzutreten des vin. malag. jener über¬ 
wiegende Einfluss zur Geltung kommt, der den ge¬ 
schilderten Heileffekt hervorbringt. Welchen Compo- 
nenten die eigentliche Wirkung in diesen Fällen zu¬ 
zuschreiben ist, vermag ich nicht mit Sicherheit zu 
entscheiden. Ob der Vin. Malag. durch seine nutri¬ 
tive, tonisirende und stimulirende Eigenschaften allein 
wirkt, oder vielmehr die Collectivwirkung aller zur 
Combination herangezogenen Arzneimittel erst den 
Ausschlag giebt, muss ich dahin gestellt sein lassen. 
Thatsache ist, dass ich durch diese Composition 
ausserordentlich günstige Heilerfolge erzielt habe, 
weit bessere, als ich sie durch andere Heilverfahren 
herbeizuführen in der Lage war. 

Weitere therapeutische, praktische und tactische 
Vortheile dieser Methode hebe ich im folgenden hervor: 

1. Durch die Einstellung der Spec. lignor Fol. 
Senn, und des Liqu. ars. Fowl. verfolge ich den 
weiteren Zweck, gegen die im Gefolge der Brom¬ 
therapie oft genug eintretenden üblen Begleit- und 
Folgeerscheinungen in diesen Mitteln ein Gegen¬ 
gewicht zu schaffen. Ein Blick auf die Gruppirung 
der Mittel wird darüber belehren, wie diese Gegen¬ 
wirkung zu Stande kommt. Die Spec. lignor, und 
Fol. Senn, veranlassen durch Anregung einer kräftigen 
Diurese und Darmperistaltik die Eliminirung der die 
Schädlichkeiten hervorbringenden Bromcomponenten 
auf kürzestem Wege, während die Solut. Fowl. der 
Entstehung der Bromacne spezifisch entgegenwirkt. 

— Wo gegen die Darreichung der Diuretica und 
Drastica Bedenken ob walten, suche ich die Secretionen 
durch mildere, weniger eingreifende Mittel in Gang 
zu erhalten. — Aus dem Umstande, dass ich in 
meiner Praxis — obzwar ich vor grossen (8—10 g 
pro die) Bromdosen durchaus nicht zurückschrecke 


— fast niemals in die Nothwendigkeit versetzt wurde, 
die Kur wegen schweren Bromerscheinungen einzu¬ 
stellen, schliesse ich, dass nebst den erwähnten auch 
die übrigen Bestandtheile, also die Gesammtcomposition 
auch nach dieser Richtung einen heilsamen Einfluss 
entwickeln. 

2. Durch meine Kurmethode habe ich in Händen 
den Kranken festzuhalten, ihn gleichsam an die Kur 
zu binden. Dadurch, dass ich meine Verordnungen 
für längere Dauer, in der Regel für Monatsfrist treffe, 
also für eine Zeit, die schon halbwegs einen Ueber- 
blick und ein Urtheil gestattet — welches nebenbei 
gesagt, fast immer zu Gunsten der Kur lautet — 
erreiche ich, dass der Kranke mit aller Macht sich 
an die ihm augenscheinlichen Nutzen bringende Kur 
klammert und nicht von ihr lassen will. Das ist 
allerdings nur ein tactisches Moment, aber ein solches, 
das dem Heilzweck und dem Kranken in gleicher 
Weise zu gute kommt 

3. Es ist leider eine bekannte, von Aerzten oft 
unangenehm genug empfundene Wahrnehmung, dass 
viele Kranke durch vergebliche Heilversuche in ihrem 
Glauben an eine mögliche Heilbarkeit ihres Leidens 
wankend geworden, eine fast unüberwindliche Ab¬ 
neigung gegen weiteren Bromgebrauch an den Tag 
legen. Solche Kranke, deren Zustand bei richtiger 
Behandlung noch Chancen einer Besserung oder selbst 
Heilung darbieten würde, greifen willig nach einem 
Präparat, in welchem die Bromide gewissermassen 
von einem schützenden Wall verschiedener Heil¬ 
substanzen umstellt Vorkommen — wie ich ähnliches 
in meiner Praxis nicht selten erlebt habe. 

4. Durch die Corrigentien gewinnt die Mixtur 
einen fast angenehm zu nennenden Geschmack, durch 
welchen das Salz nur wenig durchschlägt und bei¬ 
nahe ganz verdeckt wird. Dies ist bei einem für 
längeren Gebrauch bestimmten Heilmittel ein nicht 
zu unterschätzender Vorzug, der besonders in der 
Kinderpraxis sehr in die Waagschale fällt. 

Alle die aufgezählten Momente sind leider zum 
Nachtheil der Kranken bisher viel zu wenig gewürdigt 
worden. 

Das grosse Heer der diätetisch-hygienischen, 
hydrotherapeutischen, galvanischen und mechanischen 
Hilfsmittel ist für eine rationelle Therapie der Epi¬ 
lepsie ebenso unentbehrlich, wie die medicamentöse 
Therapie, wenngleich letztere naturgemäss den Vor¬ 
rang behauptet. Analog den Indicationen, die für eine 
Zweitheilung meiner medicamentösen Verordnungen 

— den konstitutionellen Haupttypen entsprechend — 
bestimmend waren, lasse ich mich bei Feststellung 
des Regimens von den gleichen Gesichtspunkten 




382 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


leiten. Speziell bei schwächlichen nervösen, anämi¬ 
schen, rhachitischen Patienten achte ich darauf, dass 
das roborirende Moment parallel mit der medicamen- 
tösen Behandlung auf der ganzen Linie der Diätetik 
und Hygiene zur vollsten Geltung gelange. Mich 
in nähere Details zu ergehen, halte ich nicht für 
nothwendig. 

Die geschilderten heilkräftigen Eigenschaften und 
besonderen Vortheile meiner Kurmethode verleihen 
derselben die Eignung zur Anwendung auf einem 
räumlichen Gebiete, das gemeinhin als Domäne des 
Geheimmittelwesens betrachtet wird, — die Eignung 
für die Fembehandlung. Ich stehe nicht an zu er¬ 
klären, dass ich von derselben Gebrauch mache, je¬ 
doch nur unter streng umschriebenen Modalitäten 
und Vorbehalten. Wo es nur irgend angeht, suche 
ich den Hausarzt der Kranken zur Mitwirkung heran¬ 
zuziehen. In solchen Fällen gehe ich auf die Fem¬ 
behandlung unbedenklich ein, unter steter Bedachtnahme 


[Nr. 39. 


darauf, dass die unerlässliche ärztliche Ueberwachung 
und Controlle während des ganzen Verlaufes der 
Behandlung hinreichend gesichert werde. 

Im Vorangehenden war ich bestrebt, die Grund- 
principien meiner Behandlungsmethode in möglichst 
klarer Anschaulichkeit darzulegen. Die Attribute, die 
derselben Werth und Rang einer neuen Errungenschaft 
gewährleisten, sind: 

I. Die Combination der Brompräparate mit Arznei¬ 
mitteln aus der Gruppe der Tonica, insbesondere mit 
Vin. malagense. 

II. Form und Methodik der Anwendung. 

Ich übergebe mein Heilverfahren der Beurtheilung 
der Fachkreise. Doch möge man sehen, prüfen, er¬ 
proben und dann erst urtheilen. Ich bin mir dessen 
bewusst, durch Veröffentlichung eines überaus kraft- 
und wirkungsvollen Heilverfahrens der Epilepsiebe¬ 
handlung einen neuen Weg gewiesen zu haben. 


Mitthei lungen. 


— Bericht über die 73. ordentliche Ver¬ 
sammlung des Psychiatrischen Vereins der 
Rheinprovinz am 11. Juni 1904 in Bonn. 

I. Geschäftliche Mitteilungen. 

Der Vorsitzende Pelman gedenkt zu Beginn 
der Sitzung des Todes von Jolly, Vorster- 
Stephansfeld und Burghart -Herzberge. Die Ver- 
sammlung richtet an das erkrankte Vorstandsmitglied 
Oebeke ein Telegramm. 

Pelman verliest sodann einen Erlass des 
Preussischen Justizministers vom 21. März 04, durch 
welchen der Ministerialerlass vom 1. October 02 be¬ 
züglich der Thätigkeit der Sachverständigen im Ent¬ 
mündigungsverfahren zu Gunsten der Psychiater ab¬ 
geändert wird. 

Im Anschluss hieran berichtet Fabricius, dass 
ein Insasse seiner Anstalt im Entmündigungsverfahren 
sämmtliche Anstaltsärzte als befangen ablehnte und 
dass das Landgericht diese Beschwerde anerkannt 
habe. 

II. Vorträge. 

1. R. Focrster-Bonn: a) Beitrag zur Pathologie 
des Lesens und Schreibens. 

Vortr. berichtet über 2 Fälle aus dem Hospital 
Bicetre in Paris (Abtheilung von Prof. P. Marie), die 
er im vergangenen Winter in der Pariser „Socicte 
de Neurologie“ vorgestellt hat. Es handelt sich um zwei 
ausgesprochene Imbezille im Alter von 21 und 27 
fahren. Der erste Patient, ein typischer Achondro- 
plasc, vermag jeden vorgelegten geschriebenen oder 
gedruckten Text richtig abzuschreiben, ohne jedoch 
dessen Sinn zu verstehen. Beim Copircn zeichnet 
er die Buchstaben nicht etwa nach wie die Linien 


einer Zeichenvorlage, sondern er kann die Druck¬ 
lettern recht schnell in die entsprechenden Schrift¬ 
zeichen umsetzen. Spontan vermag er nur drei ihm 
sehr geläufige Namen zu schreiben. Die Zahlen von 
1 bis 40 benennt er leidlich richtig und schreibt sie 
auch auf Dictat hin. Der zweite Kranke bietet eine 
ganz ähnliche Störung; er copirt weniger gut, 
buchstabiert aber besser und hat es in der Kenntniss 
der Zahlen weiter gebracht. 

Foerster führt diesen eigenartigen Symptomen- 
complex, der unwillkürlich an die Störungen nach 
localen Hirnläsionen erinnert und in der Litteratur 
nicht häufig beschrieben ist, auf eine Entwicklungs¬ 
hemmung in den entsprechenden Centren zurück; 
zum Theil liegt die Ursache wohl auch in 
der Art des Unterrichts. Nach Ansicht des Vor¬ 
tragenden werden derartige Zustände als vorüber¬ 
gehende. Erscheinung in den Schulen für normale 
und zurückgebliebene Kinder gar nicht so selten 
beobachtet. Man sollte, wie dies bereits geschehen, 
die geschilderte Störung nicht als ,,angeborene Wort¬ 
blindheit“ bezeichnen. 

b) Vortr. demonstrirt hierauf: 

a) einige von einem Paranoiker mit ungewöhn¬ 

lichem Geschick angefertigte Mordinstrumente, 

ji) die zertrümmerten Porzellan- und Metalltheile 

eines Bieiflaschenverschlusses, die ein Katatoniker 

verschluckt und ohne Schaden par anum aus¬ 
geschieden hatte, 

y) eine eigenartige Oberkiefer-Missbildung, 

(V) die radiographische Aufnahme einer in der 
Schädelhöhle befindlichen Kugel. 


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1904.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 383 


2. Brie- Grafenberg: Zur Kenntniss der Psychosen 
nach Strangulationsversuch. 

Brie berichtet nach einleitenden Bemerkungen 
über die körperlichen und psychischen Störungen nach 
Strangulation über einen von ihm beobachteten 
interessanten Fall: Der 45jährige, von jeher etwas 
beschränkte und dem Trünke ergebene Sammetweber 
A. machte einen Nothzuchtversuch bei seiner Tochter. 
Nach der Verhaftung versuchte er sich zu erhängen, 
wurde jedoch noch rechtzeitig abgeschnitten. Nach 
2 ständiger künstlicher Athmung Wiederkehr von 
Athmung und Puls; gleichzeitig traten Krämpfe auf. 
Bis zum folgenden Morgen Bewusstlosigkeit, noch 
nach 4 Tagen Trübung des Bewusstseins. Einige 
Zeit später machte eine tobsüchtige Erregung die 
Anstaltspflege nothwendig. Dort wurde 2 Monate 
hindurch ein eigenartiger Zustand von Benommenheit, 
Apathie und Unbesinnlichkeit beobachtet, der einer 
fortgeschrittenen Demenz glich und an den Korsa- 
koff’schen Symptomencomplex erinnerte. Es trat 
völlige Erholung ein, jedoch blieb eine retrograde 
Amnesie zurück, die den Zeitraum von etwa zwei 
Monaten vor dem Strangulationsversuch einschliesslich 
der strafbaren Handlung umfasste; auch die Merk¬ 
fähigkeit war herabgesetzt. Keine hysterischen 
Symptome. In der Hypnose erfolgten die gleichen 
Angaben wie im wachen Zustande. Die Amnesie 
besteht noch jetzt nach 10 Monaten fort. — A. wird 
gleichwohl verurtheilt werden müssen, da bei ihm zur 
Zeit der Begehung der That die Bedingungen des 
§ 51 St. G. B. nicht zutrafen. 

3. Beelit z - Tannenhof: Systematische Atropin- 
curen bei periodischen Geistesstörungen. 

Vortrag, hat bei 19 chronischen und 15 relativ 
frischen Fällen von periodischen (meist katatonischen) 
Psychosen die Hitzig’schen Atropininjektionen an¬ 
gewendet in systematisch steigenden Dosen von 0,2 
mg bis höchstens 1,2 mg. Im allgemeinen Hess die 
Erregung bei der eingeschlagenen Therapie nach, es 
zeigte sich jedoch, dass gleichzeitig eine Verlängerung 
der kranken Phase eintrat. Es ist rathsam, mit der 
Cur schon vor dem Einsetzen der Erregung zu be¬ 
ginnen, jedoch ist dies leider nur seltener ausführ¬ 
bar. 

4. T i pp e 1 - Kaiserswerth: Demonstration der Heiss¬ 
luftdusche nach Bier mit Bemerkungen über die da¬ 
mit gemachten Erfahrungen. 

Nach einer Skizzirung von Bier's Untersuchungen 
über die Heilwirkung der Hyperämie demonstrirt 
Tippei den nach Bier’s Angaben von Esch- 
b a u m in Bonn angefertigten Apparat für Heissluft¬ 
dusche, der wegen des verhältnissmässig niedrigen 
Preises, der bequemen Handhabung und der leichten 
Transportfähigkeit sehr zu empfehlen ist. Bei acut 
auftretenden Neuralgieen und rheumatoiden Affectionen 
hat Vortr. überraschend gute Erfolge zu verzeichnen, 
namentlich bei Lumbago und Torticollis. Chronische 
Zustände müssen lange behandelt werden. 

Bier empfiehlt bei Gelenkaffectionen die An¬ 
wendung der Kastenapparate. 

5. Sieber t-Bonn: Ueber die hypnotische 

Wirkung des Neuronais. 


Der Vortrag ist in No. 12 (vom 18. Juni 1904) 
dieser Wochenschrift in extenso erschienen. 

R. Foerster-Bonn. 

— 74. ordentliche Generalversammlung des 
Psychiatrischen Vereins der Rheinprovinz am 

12. November 1904, nachm. 1V2 Uhr in Bonn im 
Hotel Kley. 

1. Vor der Tagesordnung: Herr Westphal: 
Demonstration eines 47jährigen Kranken, der eine 
beiderseitige atrophische Lähmung der kleinen Hand- 
muskeln und der Peronealmuskulatur zeigte; dieselbe 
war acut entstanden im 12. Lebensjahre als Folge 
einer mit Convulsionen einhergehenden Krankheit 
(Poliomyelitis anterior). Seit ca. 12 Jahren bestehen 
bei dem Kranken auch rhytmische ticartige Be¬ 
wegungen des Kopfes, der Lippen- und Zungen¬ 
muskulatur, die bei Erregungen stärker werden. Infolge 
einer Contraktur des rechten Cucullaris (oberen 
Portion) und des rechten Sternocleidomastoideus wird 
der Kopf nach hinten gezogen, das Gesicht nach oben 
und links gedreht; der Kopf ist indes activ und passiv 
frei beweglich. — Psychisch bietet der Kranke seit 
vielen Jahren das Bild des manisch-depressiven Irreseins 
mit vorwiegender Ausbildung der manischen Phasen. 

Der Fall ist interessant wegen der Combination 
dieser verschiedenen Erkrankungen, die sämmtlich 
das gemein haben, dass sie zur Entwicklung gelangen 
auf dem Boden eines von vornherein als minder- 
werthig zu bezeichnenden Nervensystems. 

Zur Discussion: Herr Fr. Schultze, Herr 
H offmann, Herr Westphal. 

2. Herr Foerster: Psychiatrische Streifzüge 
durch Paris. 

Der Vortragende schildert in eingehender Weise 
die Verhältnisse an den Pariser Irrenanstalten und 
die Eindrücke, die er von dem dortigen Betriebe 
während eines längeren Aufenthaltes erhalten hat. 
Für ein kurzes Referat ist der Vortrag nicht geeignet. 
(Erscheint in extenso in der Münchener Medicin. 
Wochenschrift.) 

3. Herr Thomsen: Klinisches über Zwangs¬ 
vorstellungen. 

Vortr. macht Mittheilungen über eine Reihe 
interessanter Beobachtungen verschiedener Zwangs¬ 
zustände, darunter auch 2 Fälle von Zwangshalluci- 
nationen. Er kommt zu dem Schlüsse, dass, auch 
wenn man heute die alte Westphal’sche Definition 
durchaus nicht in allen Punkten mehr aufrecht erhalten 
könne, doch die neuerdings von Löwcnfeld ge¬ 
gebene Definition in ihrer sehr weiten Fassung nicht 
geeignet sei, um die Zwangserscheinungen gegenüber 
anderen psychischen Symptomen mit genügender 
Schärfe abzugrenzen. (Der Vortrag wird in extenso 
erscheinen.) 

Zur Discussion: Herr Westphal, Herr Zach e r. 

Herr Rumpf: Ueber Arteriosklerose. 

Bei der noch unklaren Entstehungsweise der 
Arteriosklerose hat Vortr. sich die Frage zu beant¬ 
worten gesucht, ob nicht Abweichungen in den 
chemischen Bestandtheilen des Blutes und der Ge¬ 
webe mit den degenerativen Aenderungen der Gefässe 
verbunden sind. Die Untersuchungen des Vortr. 


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384 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 39. 


erstreckten sich auf 13 Fälle, die z. T. mit Nephritis 
eomplieirt waren. Bei uncomplicirter Arteriosklerose 
fand er in der Aorta eine Vermehrung des Fett- und 
Kalkgehaltes, im Blut viel Natrium, Kalium und 
lösliches Calcium, dagegen wenig Chlor; einen ähn¬ 
lichen Befund ergaben Herz und Leber. In anderen 
Fällen zeigte einmal das Magnesium, einmal das 
Calcium sehr hohe Werthc, in vorgeschrittenen Fällen 
trat neben der Vermehrung der Erdalkalien auch eine 
Herabsetzung des Wassergehalts des Blutes — theil- 
weise auch der Leber und des Herzens — in die 
Erscheinung. Die mit Nephritis einhergehenden 
Fälle zeigten neben diesem letzterwähnten Symptom 
vielfach noch eine Erhöhung des Chlornatriumgehalts. 
— Vortr. ist der Ansicht, dass die degenerative Ver¬ 
änderung der Gefässmuskulatur, die die Ablagerung 
von Kalk in derselben ermögliche, vermuthlich zurück¬ 
zuführen sei auf toxische Einflüsse — bei Nephritis 
Erschwerung der Ausscheidung der Erdmetalle! —, 
daneben aber spielen wohl sicher auch andere Momente 
noch eine grosse Rolle. 

Im Anschluss hieran spricht Herr Fischer über 
durch intravenöse Einführung von Adrcnalien bei 
Kaninchen erzeugte Gcfässerkrankungen. (Demun- 
stration von Präparaten.) 

Herr Steiner: Ueber eine Neubildung im oberen 
Halsrnark. 

16jähriger junger Mann. Beginn der Erkrankung 
mit Schmerzen bei Kopfbewegungen. Es bestand 
Druckschmerzhaftigkeit der Wirbelsäule. Schwäche 
der linken Extremitäten. Sehnenreflexe links ge¬ 
steigert, linksseitiger Fussklonus; in der linken Hand 
Klauenstcllung und Contrakturcn. besonders der Streck¬ 
muskeln. Empfindung etwas herabgesetzt. — 7 Wochen 
später auch rechts spastische Erscheinungen Ab¬ 
weichung des linken Auges und der Zunge nach 
links. Beiderseits Stauungspapille. In den letzten 
Tagen ante mortem Schluckbeschwerden und vertiefte 
Athmung. Puls 100. Intelligenz intact. Die Diagnose 
lautete auf Neubildung im oberen Halsmark mit 
Metastase im Gehirn. — Bei der Sektion fand sich 
ein wahrscheinlich vom 2. Halswirbel ausgehendes 
bis hinauf zum Keilbeinrande reichendes Chondro¬ 
fibrom. Das Rückenmark war in der Gegend des 
2. Halswirbels zu Bleistiftdicke eomprimirt. die Medulla 
oblongata war nur einfach platt gedrückt. (Demon¬ 
stration des Präparates.) Kölpin-Bonn. 

— Erlass betreffend Anzeigen über Aufnahme 
und Entlassung von Ausländern in bezw. aus Privat¬ 
anstalten für Geisteskranke vom 3. Octobcr 1904. 
Nach § <| der Anweisung über Unterbringung in 
Privatanstalten für Geisteskranke, Epileptische und 
Idioten vom 2 0. März 1901 bezw. dem dazu er¬ 
gangenen Erlass vom gleichen Tage (Min.-Bl. für 
Medicinal- 11. s. w. Angelegenheiten S. 07 fg.), so¬ 
wie nach den späteren Erlassen vom ib. September 
1901 (a. a. O. S. 269) und 27. Februar 1903 (a. a. O. 
S. 144) ist die Aufnahme von Angehörigen anderer 
deutschen Bundesstaaten oder von Ausländern in 
derartige Anstalten und die Entlassung aus solchen 
dem zuständigen Regierungspräsidenten und von 
diesem gemäss dem Erlasse vom 5. August 1S82 — 


M. d Inn. II. 7857 I, M. d. g. A. M. 4061 II — 
dem Herrn Minister der auswärtigen Angelegenheiten 
an zu zeigen. 

Soweit Angehörige anderer Bundesstaaten in Frage 
kommen, ist dieses Verfahren, durch welches die 
Benachrichtigung des zuständigen Heimathsgerichts 
gesichert werden sollte, durch die einheitliche Regel¬ 
ung des Entmündigungsverfahrens für das Deutsche 
Reich in Verbindung mit den preussischerseits ge¬ 
troffenen Vorschriften über Benachrichtigung des 
Ersten Staatsanwalts des für die Entmündigung zu¬ 
ständigen Gerichts entbehrlich geworden. 

Wir bestimmen daher unter entsprechender Ab¬ 
änderung der genannten Erlasse, dass derartige An¬ 
zeigen über die Aufnahme oder Entlassung von 
Personen in bezw. aus Privatanstalten für Geistes¬ 
kranke u. s. w. fortan nur noch bei Ausländern, 
nicht aber mehr bei Angehörigen anderer deutscher 
Bundesstaaten, an den zuständigen Regierungspräsi¬ 
denten und demnächst weiter an den Herrn Minister 
der auswärtigen Angelegenheiten zu erstatten sind. 

An die Herren Regierungspräsidenten 
und den Herren Polizeipräsidenten in Berlin. 
Abschrift theilen wir Ew. Excellenz zur gefälligen 
Kenntnissnahme und Nachachtung bezüglich der 
öffentlichen Anstalten ergebenst mit. 

Berlin, den 3. October 1Q04. 

Der Justizminister. 

I. V.: K üntzel. 

Der Minister der geistlichen, Unterrichls- 
und Medicinal-Angelegenheiten. 

I. A.: Förster. 

Der Minister des Innern. 

I. A.: Findig. 

An den Herren Oberpräsidenten. 


Personalnachrichten. 

— Veränderungen bei den Pommcr- 
sehen P r o v i n zia 1 - 1 r r en a n st a 1 1 e n : 

1. Versetzt sind zum 15. Dezember 1004 
der Oberarzt Dr. Encke von Lauen bürg nach 
Ueckerm i'i n d e und der Oberarzt Dr. Deutsch 
von Ueckermünde nach Dmenburg. 

2. Angestellt sind: Dr. Luther, bisher 

Assistenzarzt in N eustadt (Holstein) als Assistenzarzt 
in Lauen bürg, Dr. Viola als Assistenzarzt in 
Treptow a. R., Dr. Stelter als Volontärarzt in 
Ue rkerm ü n de. 

— Düssei darf-Graf e nberg. Der Assistenz¬ 
arzt Dr. Ennen ist zum III. Arzt der Prov.-Heil- 
und Pflege-Anstalt in Andernach a. Rh. ernannt 
worden. 

— Bonn. Der Assistenzarzt der Prov.-Heil- und 
Pflege-Anstalt, Privatdocent Dr Fo er st er ist zum 
auswärtigen Mitglied der Soci e t e medico -psy cho- 
logique in Paris ernannt worden. Dem Oberarzt 
der Prov.-Heil- und Pflege-Anstalt Dr. Umpfenbach 
ist der Charakter des Sanitätsrath verliehen worden. 

— Bri eg. Dem Direktor der Prov.-Irrenanstalt 
zu Bri eg Dr. Petcrsen ist der Charakter als 
Sanitätsrath verliehen worden. 


Erscheinlf3e3'en.Sonnabeni|. — S 

□igitlzed by VjöOQlC 


J ur den redaktionellen Thcil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Brevier, Lubhnitz (Schlesien). 

— Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von C ;i ^ ^t.^r h p HaJle a. S 

Heyncmann’schc Buchdruckerei (Gebr. \WlD in Halle a. S. 



Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift. 

Redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. B realer, 

Lublinitz (Schlesien'. 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

TVinrr.-.\«lrr®M*: MarhoM V^rlae, Hall««a»ie. Fernsprecher 2834. 

Nr. 40. 3 1 Dezember. 1904. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die jspaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ertnässigung ein. 

Zuschriften für die Kedaction sind an Oberarzt Dr. T f >h. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten. 


Dritter Bericht über die Fortschritte des Irrenwesens. 

Nach den Anstaltsjahresberichten erstattet 
von Dr. Deiters in Bonn, früher in Andernach. 

(Fortsetzung.) 


Auffallend viele Anstalten berichten in diesem 
Jahre über das Vorkommen von Typhus. Bei den 
meisten handelt es sich allerdings nur um vereinzelte 
Fälle, und unter diesen konnte bei vielen eine Ein¬ 
schleppung von aussen nachgewiesen werden. Nicht 
so selten lesen wir freilich auch, dass die Quelle der 
Infektion nicht festgestellt werden konnte; das ist 
immer etwas unheimlich, denn wenn man die Quelle 
nicht kennt, kann man sie nicht verstopfen und muss 
immer auf neue Fälle gefasst sein. Emmen dingen 
berichtet über mehrere Fälle und fügt hinzu: „Der 
Infectionsmodus konnte in keinem Falle wissenschaft¬ 
lich sicher festgestellt werden.“ In Lüneburg er¬ 
krankte eine schon lange in der Anstalt befindliche 
Kranke; „der Weg der Infection ist räthselhaft, zumal 
die Kranke sich auch nicht ausserhalb der Anstalt 
bewegt hatte.“ Osnabrück hatte 2 Fälle und muss 
bekennen: „Die Infectionsquelle ist trotz sorgfältigster 
Nachforschung vollständig dunkel geblieben.“ Alt¬ 
scherbitz konnte mit Wahrscheinlichkeit naeh- 
wcisen, dass der Krankheitskeim durch von den An¬ 
gehörigen mitgebrachte Genussmittel eingcschlcppt 
war Auch einige Fälle in Hildes heim waren 
wahrscheinlich durch von auswärts geschicktes Obst 
entstanden. 

In Düren trat wieder Typhus auf in demselben 
Hause, das schon früher heimgesucht war, obwohl 
inzwischen alles denkbare zur Assanirung geschehen 
war. „Die Ursache des Typhus blieb unaufgeklärt.“ 
In einigen anderen rheinischen Anstalten kamen 
nur sporadische Fälle vor. 

In Dziekanka trat im Februar 1903 eine Epi¬ 
demie auf, die 23 Fälle umfasste und in der Mehr- 

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zahl das Pflegepersonal betraf. Es konnte Einschlepp¬ 
ung aus Gnesen nachgewiesen werden. 

Illenau berichtet über eine kleine Epidemie, 
die schon im Dec. 1900 begonnen hatte und sich 
mit einzelnen Ausläufern bis ins Jahr 1902 erstreckte. 
„Der Tvphusherd konnte nicht festgestellt werden.“ 
In der Freiburger Klinik nahm die Seuche einen 
solchen Umfang an, dass die Klinik durch ministe¬ 
rielle Verfügung mehrere Monate hindurch für Auf¬ 
nahmen gesperrt wurde. Eine systematische Blut¬ 
untersuchung auch nicht erkrankter Insassen ergab 
einen auffallend hohen Procentsatz von Fällen mit 
positiver Widal-Rcaction ohne entsprechende klinische 
Erscheinungen. 

Ga bei sec hatte schon seit längerer Zeit unter 
häufigen Typhuserkrankungen zu leiden. 1902 kam 
('s nac h kurzer Pause wieder zu einer ausgedehnten 
Epidemie. Die Erwägungen führten darauf hin, dass 
irgendwo im Boden der Typhuskeim enthalten sein 
müsse und dass die unvollkommene Abfuhr (Tonnen- 
system) und die nicht ausreichende Wasserversorgung 
anzuschukligen seien. In beiden Punkten wurde da¬ 
her Romedur beschlossen. Der neue Bericht theilt 
mit, dass die neue Wasserleitung bereits fertig ge¬ 
stellt und für Schwemmkanalisation ein Project aus¬ 
gearbeitet worden sei. Typhus ist im neuen Jahre 
nur noch in einem Falle aufgetreten. 

In Hördt Hessen sich beim Auftreten von Typhus 
in dn überfüllten Anstalt Contactinfectionen nicht 
ganz vermeiden. Man hat sich darum zum Bau von 
Isolirbaracken, die bisher nicht vorhanden waren, ent¬ 
schlossen, und hat diese, für jede Geschlechtsseite 
eine, bereits fertig gestellt. Auch Saargemünd 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 40. 


386 


hatte eine kleine Epidemie, konnte aber die Quelle 
nicht feststellen. 

Der niederösterreichische Landesausschuss 
berichtet über eine schwere Epidemie in der Siechen- 
anstalt Allentsteig. 

Die Influenza ist nun ja seit einer Reihe von 
Jahren unser regelmässiger Gast in der rauhen Jahres¬ 
zeit und natürlicherweise macht sie sich auch in den 
Anstalten unangenehm bemerkbar. Manche berichten 
sogar über recht ausgedehnte Epidemien. 

Aplerbeck berichtet über eine heftige Ruhr¬ 
epidemie, die sich über mehrere Monate erstrec kte 
und im Ganzen 98 Personen befiel. In Bonn, 
das im Vorjahre eine ausgedehnte Ruhrepidemie 
hatte, kamen im Berichtsjahre nur noch vereinzelte 
Fälle vor. Rybnik hatte eine Anzahl sehr hart¬ 
näckiger Ruhrfälle auf der Frauenabtheilung. Auch 
K ie rli ng-G ugg i ng hatte fünf Fälle mit einem 
Todesfall. 

Kierli ng-G uggi 11g hatte' ausserdem in seiner 
Kinderabtheilung eine Sch arl achepidemie. Die 
gleiche Seuche hat in \Vuhlgurten die Frauenab¬ 
theilung heimgesucht. 

Meerenberg hatte eine Malariaepidemie. In 
Ungarn ist seit einer Reihe von Jahren Pellagra 
endemisch aufgetreten, jetzt aber bereits wieder in 
der Abnahme begriffen. 

Buitenzorg wurde von einer Beri-Beri- 
Epidemie heimgesucht. Früher war die Krankheit 
in der Anstalt nur sporadisch aufgetreten, nahm aber 
im Mai 1901 plötzlich grosse Verbreitung an. Man 
machte Versuche mit einem neuen Heilmittel „Kat- 
jang-idjoe“, der Bohne vom Phaseolus radiatus, mit 
dem Ergebniss, dass das Mittel ohne Schaden längere 
Zeit genommen werden kann , dass es sowohl pro- 
phylactisch, sowie in frischen Fällen therapeutisch 
sehr gut wirksam ist, auf veraltete Fälle dagegen 
keinen Einfluss ausübt. 


V. Behandlung und Pflege der Kranken. 

a) In der Anstalt. 

Wir werden nicht erwarten dürfen, über die Be¬ 
handlung der Kranken in unseren Berichten wesent¬ 
lich neue Gesichtspunkte zu finden. Die Grundsätze 
der Behandlung stehen fest; die gegenwärtige Zeit 
ist damit beschäftigt, das Errungene überall in die 
Praxis einzuführen und weiter auszubauen. Die sog. 
modernen Behandlungsprincipien, um die noch vor 
einigen Jahren erbittert gekämpft wurde, sind jetzt 
ein gesicherter Besitz, und entgegengesetzte Stimmen, 
die das alte System vertheidigen, werden kaum noch 
gehört. 


Dabei ist es nun nicht ohne Interesse, dass in 
der Behandlung unserer Kranken der psychische 
Faktor wieder mehr und mehr betont wird. Es gab 
eine Zeit, und sie ist noch nicht fern, wo man für 
die „psychische Behandlung“ der Geisteskranken nur 
ein überlegenes Lächeln hatte. Heute hat man sich 
darauf besonnen, dass selbst bei der Behandlung 
rein körperlicher Leiden die Psyche eingehende Be¬ 
rücksichtigung verdient, was erfahrene Practiker schon 
immer wussten; und dass man durch psychische Ein¬ 
wirkungen körperliche Funktionen beeinflussen kann, 
ist schon lange nichts neues mehr. Wenn man auch 
daran festhält, dass materielle Veränderungen des 
Gehirns als Grundlage der Geisteskrankheiten anzu¬ 
nehmen sind, so hat doch die Vermuthung nichts 
unwahrscheinliches, dass Veränderungen, welche sich 
in psychischen Erscheinungen äussern, auch durch 
psychische Reize beeinflussbar sind. 

Zwar der erste Anstoss für die Beseitigung des 
Zwanges aus der Irrenbehandlung ist wohl eine all¬ 
gemeine Humanität gewesen, das Bestreben, auch 
im Irren den Menschen zu achten. (Pinel’s viel 
citirte That fiel ja ungefähr in die Zeit, in welcher 
die „Menschenrechte“ erfunden wurden.) Doch liegt 
der Consequenz, mit der man heute immer weiter 
daran arbeitet, etwas anderes zu Grunde. Es steht 
jetzt mehr der ärztlich-therapeutische Gesichtspunkt 
im Vordergrund. Man hat erkannt, dass durch 
Zwang die meisten Kranken psychisch ungünstig be¬ 
einflusst werden, dass umgekehrt durch milde, nach¬ 
giebige Behandlung viele Ausbrüche von Erregung 
und sonstige unangenehme Erscheinungen vermieden 
werden können. Bekanntlich sind sogar manche 
Irrenärzte soweit gegangen, in allen Erregungszu¬ 
ständen nur Artefacte zu sehen, die durch unzweck¬ 
mässige Behandlung entstehen, und es ist behauptet 
worden, dass bei richtiger Behandlung alle Psychosen 
vollkommen ruhig verlaufen würden. Dass dies nicht 
zutrifft, weiss jeder, der Kranke objectiv beobachtet. 
Aber es scheint, (hiss Uebertreibungen nöthig sind, 
wenn Neuerungen durchgeführt werden sollen. Hätten 
unsere Rufer im Streit nicht ihren Enthusiasmus ge¬ 
habt, sondern sich stets nur an das objectiv Beweis¬ 
bare gehalten, wer weiss ob wir heute schon so weit 
wären. 

Es ist also hauptsächlich des psychischen Ein¬ 
drucks wegen, dass man den Zwang nach Möglich¬ 
keit vermeidet. Der Kranke soll soweit als möglich 
das subjective Gefühl der Freiheit haben; darum ent¬ 
fernt man Mauern und Fenstergitter, und lässt, wo 
es nur irgend möglich ist, auch die ihüren offen, 


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iQ04.J PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 387 


um dem Kranken das peinliche Gefühl zu nehmen, 
eingesperrt zu sein. 

Freilich scheitern wir damit oft schon von vorn¬ 
herein. Wie wenige Kranke kommen gutwillig zur 
Anstalt. Den meisten ist schon die Verbringung in 
die Anstalt ein verhasster Zwang, gegen den sie sich 
aufs äusserste wehren. Da helfen sich denn freilich 
die klugen Angehörigen mit mancherlei Kriegslisten, 
auf die sie sich oft nicht wenig zu Gute thun, und 
locken die Kranken unter den absonderlichsten Vor¬ 
spiegelungen zur Anstalt. Aber dann kommt der 
Moment, wo der Kranke sich überlistet und betrogen 
sieht, und dann stellt sich eben in den meisten 
Fällen heraus, dass die auf solche Art erreichte Ver¬ 
meidung des Zwanges mehr geschadet als genützt 
hat. Zwangsweise Verbringung in die Anstalt wird 
ein Kranker mit der Zeit verzeihen; hat man ihn 
dagegen unter falschen Vorspiegelungen hineingelockt, 
so ist sein Vertrauen oft für immer zerstört. Also 
hier heisst es: Lieber Zwang, als Lüge! 

Haben wir den Kranken nun glücklich in der 
Anstalt, so setzt zunächst die Bettbehandlung 
ein. Darüber sind heute wohl alle einig, dass frisch 
Erkrankte, Erregte, Deprimirte, Verwirrte, fürs Erste 
ins Bett gehören. Neben den körperlichen Wirk¬ 
ungen der Bettruhe, die wohl keiner Erörterung mehr 
bedürfen, ist es auch hier der psychische Factor, 
den man erstrebt, und der auch in unsern Berichten 
von vielen Seiten hervorgehoben wird. Dem Kranken, 
der oft keine Krankheitseinsicht hat, soll die Bett¬ 
ruhe suggeriren, dass er krank ist. 

Ich darf es mir wohl ersparen, aus unsern Be¬ 
richten einzelne Stimmen über die Bettbehandlung zu 
citiren. Genug, sie ist allgemein anerkannt. Nur 
eine sehr richtige Bemerkung aus dem sächsischen 
Bericht sei hier wiedergegeben, dass nämlich, wie 
jedes wirksame Mittel, auch die Bettruhe sorgfältiger 
Dosirung bedarf, wenn sie nicht zum Schaden ge¬ 
reichen und zu sog. Bettsiechthum führen soll. Es 
ist in der That sehr wesentlich, den richtigen und 
individuell sehr verschiedenen Zeitpunkt zu treffen, 
in dem es angezeigt ist, die Bettruhe abzubrechen 
und geeignete Beschäftigung zu verordnen. 

Auch die Bäderbehandlung ist allgemein 
anerkannt. Die Heidelberger Klinik, deren 
Methode ja vielfach vorbildlich gewesen ist, wendet 
bei Depressionen und Angstzuständen 1 — 2 stündige 
warme Bäder als Schlafmittel an. Bei erregten, 
namentlich manischen Kranken kommen die eigent¬ 
lichen Dauerbäder zur Anwendung, und zwar ohne 
zeitliche Beschränkung, auch bei Nacht. Bei kata¬ 
tonischen Erregungszuständen versagen die Dauer- 

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bäder meist, hier haben sich mehr die feuchten Ein¬ 
packungen bewährt. 

Es hat ja nicht an Stimmen gefehlt, welche die 
letzteren als mechanische Zwangsmittel verwerfen 
wollten. Doch ist ihr therapeutischer Nutzen in 
vielen Fällen so ersichtlich, dass man sie ungern 
wird entbehren mögen. In der heute üblichen Form 
als unbefestigte Einwickelung, aus der der Kranke 
sich, wenn er will, leicht selbst losmachen kann, wird 
man auch wohl kaum einen Zwang darin erblicken 
können, besonders wenn man an dem Princip fest¬ 
hält, sie nur dann anzuwenden, wenn der Kranke 
sie sich ohne Widerstand machen lässt. 

In der Freiburger Klinik sind erst neuerdings 
die Einrichtungen für Dauerbäder geschaffen worden. 
Man hat die Bäderbehandlung sogleich in grossem 
Umfang, bei Tag und Nacht, eingeführt, und zwar 
mit bestem Erfolge. Der Bericht weist darauf hin, 
dass die Wirksamkeit der Dauerbäder besonders 
dann deutlich zum Bewusstsein gebracht werde, wenn 
einmal wegen einer nothwendigen Reparatur das 
Bad einen halben oder ganzen Tag nicht gebraucht 
werden kann. Auch dort hat man bei manischen 
Zuständen und ausserdem bei Delirien die besten 
Erfolge gehabt, während bei katatonischen Erreg¬ 
ungen die Wirkung ausblieb. Das ist ja die allge¬ 
meine Erfahrung. 

In Freiburg hat man sich auch mit der Frage 
einer zweckmässigen Bekleidung der Pflegerinnen 
beim Badedienst beschäftigt, die ja, wenn sehr auf¬ 
geregte Kranke im Bade sind, der Gefahr gründ¬ 
licher Durchnässung beständig ausgesetzt sind. Von 
allen Versuchen mit Gummimänteln und andern 
wasserdichten Stoffen ist man wieder abgekommen, 
weil alle diese Stoffe der warmen Feuchtigkeit 
doch nicht lange widerstehen. Man hat schliess¬ 
lich den Pflegerinnen einfache leinene Ueberkleider 
gegeben, unter denen sie vorn eine wasserdichte 
Schürze tragen. -— Wir haben hier in Andernach 
in früherer Zeit ähnln hc Versuche gemacht und 
wieder aufgegeben; die Wasserdichtigkeit aller dieser 
Stoffe (Gummistoffe, Oelleinen etc.) bezieht sich 
eben nur auf kaltes Wasser. Wir haben jetzt seit 
längerer Zeit Ueberkleider aus leichtem Tyroler 
Lodenstoff im Gebrauch, der zwar nicht absolut 
wasserdicht ist, aber doch für gewöhnlich hinreichen¬ 
den Schutz gewährt. Die meisten Pflegerinnen tragen 
diese Kleider ganz gern. Manche allerdings ziehen 
es vor, in ihrer gewöhnlichen Dienstkleidung den 
Dienst im Bade zu versehen. Ein Zwang wird darin 
natürlich nicht ausgeübt. Als Schuhbekleidung ist 
man in Freiburg nach vielfachen andern Versuchen 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 


388 


bei einfachen Lederschuhen mit paraffingetränkten 
Sohlen stehen geblieben. Bei uns haben sich relativ 
am besten Lederschuhe mit starken Holzsohlen be¬ 
währt. 

Mit einer lästigen Nebenwirkung des Bades hat 
man in Freiburg längere Zeit zu kämpfen gehabt, 
nämlich einem eigenthümlichen Eczem, das kleine 
rothe erhabene Papeln, oft mit einem kleinen Eiter¬ 
bläschen, bildete. Durch Monate lang fortgesetzte 
systematische Desinfection der gesammten Bade¬ 
wäsche gelang es, das Leiden zu verhüten. Ausser¬ 
dem wird Einreibung der ganzen Körperhaut mit 
Vaselin zur Prophylaxe empfohlen. 

In Illenau ist eine schlimmere Nebenwirkung 
der Bäder beobachtet worden, nämlich häufige Fu¬ 
runkel und selbst schwere Phlegmonen. „Es scheint, 
als ob die Hautdecke durch die lange Einwirkung 
des Wassers aufgeweicht und empfindlicher würde 
für das Eindringen von Entzündungserregern. Ist 
nun der Kranke als Inwohner der Wachabtheilung 
nur mit dem Hemde bekleidet, und zugleich durch 
seine motorischen Entäusserungen häufiger kleinen 
Verletzungen ausgesetzt, so ist eben die angedeutete 
Gefährdung gegeben, entschieden mehr als früher, 
da er im Schutz der Kleidung in den gemeinsamen 
Tagesälen weilte. Zudem findet, wenn einmal eine 
Phlegmone bei einem Kranken aufgetreten ist, bei 
dem ständigen Verkehr desselben im Wachsaal wohl 
leichter eine Uebertragung statt, als früher, wo solche 
Kranke länger isolirt waren. Andererseits heilen 
aber auch wieder in den Dauerbädern solche Ver¬ 
letzungen rasch.“ 

Furunkel haben auch wir des öfteren bei den 
Dauerbädern beobachtet, wenn auch nicht so häufig, 
dass wir, wie Illenau, von einer Endemie sprechen 
könnten. Bei gehäuftem Auftreten wäre zu erwägen, 
ob nicht auch dabei durch conscquente Desinfection 
der Badewannen und der Badewäsche etwas zu er¬ 
reichen wäre. Dass gleichzeitig hei den ja meistens 
zu Unsauberkeiten neigenden erregten Kranken auf 
peinlichste Sauberkeit der Bett- und Leibwäsche ge¬ 
achtet werden muss, versteht sich von selbst. 

Auf der Männerscite hatten auch wir längere 
Zeit mit einem hartnäckigen Eczem zu kämpfen, das 
aber nicht in der Form auftrat, die Frei bürg be¬ 
schreibt, sondern das typische Bild des Eczema 
marginatum zeigte. Auch dieses konnte schliesslich 
durch systematische Desinfection der Badew'äsche be¬ 
seitigt werden. 

Wenn ich vorhin sagte, dass die Bäderbehand¬ 
lung allgemein anerkannt sei, so ist damit natürlich 
nicht gesagt, dass sic auch überall in vollem Um¬ 


fange practisch durchgeführt ist. Aeltere Anstalten 
haben eben meist keine zweckmässigen Einrichtungen 
dafür, und so lesen wir noch des öftern in Berichten, 
dass man darauf verzichten müsse. Andere suchen 
sich mit ihren ungeeigneten Einrichtungen zu helfen, 
so gut es geht, wieder andere sind bemüht, ihre 
Badeeinrichtungen entsprechend umzugestalten und 
zu verbessern. 

Hier und da lesen wir denn auch noch über 
erste tastende Versuche, und wenn auch die meisten 
sich dann alsbald befriedigt über die Erfolge äussern, 
so kommt es doch mitunter auch vor — Namen 
möchte ich nicht nennen —, dass man zu Anfang 
durch Misserfolge entmuthigt wird und dadurch zu 
dem Schluss kommt, dass die Sache doch überschätzt 
worden sei. Das ist nun sicher falsch. Dass die 
Bäderbehandlung gelegentlich versagt, ist ja nur natür¬ 
lich, wo hat man jemals eine stets unfehlbar wirkende 
Behandlungsmethode gehabt! Bei consequenter 
Durchführung wird man in der Mehrzahl der Fälle 
günstigen Erfolg constatiren können, vorausgesetzt, 
dass man nicht mit zu hochgespannten Erwartungen 
an die Sache herantritt. Wirkliche Misserfolge sah 
ich nur bei Katatonikern mit activem Negativismus 
und starkem Bewegungsdrang; und dass bei diesen 
die Bäder unwirksam sind, ist ja schon lange be¬ 
kannt. 

Wie die Dauerbäder in ihrer Vollkommenheit zu 
handhaben sind, lesen wir u. a. im Treptower 
Bericht. Vorbedingung ist, dass man das Baden 
auch die Nacht hindurch fortsetzen kann. Der 
Kranke bleibt dann solange im Bade, bis deutliche 
Müdigkeit eintritt. Wird diese beobachtet, gleich¬ 
gültig ob bei Tage oder bei Nacht, so wird er zu 
Bett gebracht. Tritt die Erregung wieder aufs neue 
ein, so kommt er wieder ins Bad. 

Natürlich ist ein solches Verfahren ganz unmög¬ 
lich, w*enn Baderaum und Wachsaal weit auseinander 
liegen. Am zweckmäßigsten ist cs, w'enn, wie z. B. 
in Dösen, das Bad dicht beim Wachsaal liegt 
und durch eine Thür direct mit ihm verbunden ist, 
so dass beide unter gemeinsamer Uebcrwachung 
stehen können. 

Programmmässig hätten wir weiter vom Isoliren 
zu reden. Es ist hierüber schon so unendlich viel 
geschrieben worden, dass wohl schon mancher ge¬ 
seufzt hat: quousque tanclem. Aber es ist nun ein¬ 
mal ein actuelles Thema und unsere Berichte sprechen 
fast alle davon. 

Ein ausführliches Eingehen auf die principielle 
Seite der Frage glaube ich mir um so mehr ersparen 


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389 


1905-] 


zu dürfen, als ich im vorigen Jahre Gelegenheit ge¬ 
nommen habe, meine Meinung zu sagen. 

Unbedingte Vertheidiger des Isolirens giebt es 
unter den diesjährigen Berichten nicht. Aber auch 
die unbedingten Gegner sind keineswegs so sehr 
zahlreich. Einige Anstalten theilen wieder mit, 
dass sie gar nicht isoliren (Treptow, Altscher¬ 
bitz u. a.), aber Altscherbitz betont dabei aus¬ 
drücklich , dass man sich dem Princip, nicht zu 
isoliren, nicht unbedingt anschliesse, da es sehr wohl 
Kranke geben könne, denen die zeitweilige Isolirung 
zuträglich ist. Man hat nur deshalb dort das Iso¬ 
liren ganz aufgegeben, „um jeden Verdacht, dass 
wir es mit unserer Ansicht von der Entbehrlichkeit 
des Isolirens nicht ernst meinten, auszuschliessen“. 

Die meisten Berichte sprechen sich dafür aus, 
dass man bemüht sei, die Isolirungen möglichst ein¬ 
zuschränken, sie nur im äussersten Nothfall und auch 
dann nur vorübergehend anzuwenden, dass man sie 
aber vollständig nicht entbehren könne. 

Auch die narkotischen Arzneimittel er¬ 
freuen sich heute nicht mehr der übergrossen Be¬ 
liebtheit wie früher. Von allen Seiten wird berichtet, 
dass man bemüht sei, ihren Gebrauch einzuschränken, 
was eben durch die systematische Anwendung der 
Bett- und Bäderbehandlung ermöglicht wird. Aber 
ganz beseitigen kann man sie wohl nicht. Selbst 
Treptow sagt: „Die gänzliche Beseitigung der Be- 
ruhigungs- und Schlafmittel, die von einigen Seiten 
gefordert wird, erscheint uns zur Zeit kein zweck¬ 
mässiges Ziel zu sein.“ Die zur Anwendung ge¬ 
langenden Mittel sind überall die üblichen. In der 
Auswahl unter der grossen Zahl entscheidet wohl 
oft mehr der persönliche Geschmack, als strikte In¬ 
dikation. Etwas neues enthalten die Berichte hier¬ 
über nicht. 

Ein weiterer Hauptfactor unserer Therapie ist 
die Ernährung. Besonders bei acuten Erregungs¬ 
zuständen ist es oft von ausschlaggebender Bedeut¬ 
ung, den Kranken durch reichliche Ernährung vor 
Erschöpfung zu bewahren. Nimmt er von selbst 
keine Nahrung und ist er womöglich schon in er¬ 
schöpftem Zustande in die Anstalt eingeliefert worden, 
so tritt die Sondenernährung in ihr Recht. 
Die extrem moderne Richtung, welche diese als 
„Zwangsmittel“ abschaffen wollte, hat wenig Anklang 
gefunden. Sie ist eben bei manchen Kranken un¬ 
entbehrlich, wenn man sie nicht verhungern lassen 
will. Weniger dringlich ist sie bei Deprimirten, die 
infolge Versündigungsideen oder dergl. die Nahrung 
ablehnen, dabei aber ruhig im Bette liegen. Bei 
ihnen ist die Gefahr der Erschöpfung nicht gross 


und man kann lange zuwarten, ehe ein Eingreifen 
nöthig wird. Meist fangen sie schliesslich von selbst 
wieder an zu essen. 

Andere Schwierigkeiten macht die Ernährung bei 
Siechen und Gelähmten. In der Regel wird für 
diese eine besondere Kostform unentbehrlich sein. 
Treptow theilt mit, dass man dort eine besondere 
Siechenkost im Speisenregulativ vorgesehen habe. 

Auch die Ernährung wird zur „psychischen Be¬ 
handlung“ herangezogen. Göttingen theilt mit, 
dass seit Einführung einer Verpflegungsverbesserung 
es auf den Abtheilungen entschieden ruhiger zugehe, 
und sich der alte Satz bestätige, „dass bei vollem 
Magen die Stimmung immer eine friedlichere ist, 
als bei leerem.“ 

Ausser durch die Beköstigung sucht man durch 
das gesammte Milieu auf die Stimmung des Kran¬ 
ken zu wirken; durch wohnliche Einrichtung und 
Ausschmückung der Räume will man es ihnen be¬ 
haglich machen. Oläh, der in der ungarischen Irren¬ 
ärzteversammlung über die modernen Behandlungs- 
principien sprach, wendet sich eifrig gegen die Auf¬ 
fassung, dass dies unwesentliche Kleinigkeiten seien, 
und weist darauf hin, dass auch die Kleidung 
der Kranken von grosser Wichtigkeit sei. Das ist 
ja auch keine Frage, dass es, besonders bei Frauen, 
von günstigster Wirkung auf die Stimmung ist, 
wenn man in der Kleidung soweit als möglich ihren 
subjectiven Wünschen entgegenkommt. Männer fügen 
sich der üblichen Uniformirung im allgemeinen viel 
leichter. 

In gleichem Sinne wirken dann schliesslich noch 
die zahlreichen Unterhaltungen und Vergnüg¬ 
ungen, welche in allen Anstalten den Kranken dar¬ 
geboten werden, wie Spaziergänge, Tanzkränzchen, 
Theateraufführungen u. dgl. m. Zahlreiche Berichte 
sprechen hiervon, doch bringen die Mittheilungen 
nichts neues. 

Auch die Besuche der Angehörigen sind hier¬ 
her zu rechnen, die überall mit grösster Bereitwillig¬ 
keit zugelassen werden. 

Die letzte Consequenz der Bestrebungen nach 
Vermeidung allen Zwanges ist schliesslich die Be¬ 
willigung völlig freier Bewegung. Es besteht die 
Tendenz, den Kreis der Kranken, denen man un¬ 
bedenklich freien Ausgang gestatten kann, immer 
weiter zu ziehen. In neuen Anstalten, wo für die 
grosse Masse der ruhigen Kranken offene Landhäuser 
vorhanden sind, ergiebt sich dies ja meist von selbst. 
Aeltere Anstalten mit ihrer geschlossenen Bauart 
haben dabei mehr Schwierigkeiten. Aber es geht 
auch da. 


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390 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 40 . 


Königslutter erzählt in ansprechender Weise, 
wie man im Laufe der Jahre zu der Erkenntniss 
kam, „dass eine völlig freie Behandlung für weit 
mehr Patienten, als bis dahin hier geschehen, zu¬ 
lässig und damit auch geboten sei“, und wie die 
Zahl der frei ausgehenden immer grösser geworden 
sei. 

Illenau hebt noch in seinem ersten Bericht 
hervor, dass nur .sorgfältig ausgewählten“ Kranken, 
und zwar meistens solchen höherer Stände, freier 
Ausgang gewährt werde, berichtet aber im zweiten 
schon von 2 offenen Landhäusern, deren Insassen 
sich ganz frei bewegen. Warum die freie Behand¬ 
lung ein Vorrecht der höheren Stände sein soll, ist 
ohnehin schwer verständlich. 

Nebenbei sei erwähnt, dass wir hier in Ander¬ 
nach seit kurzem eine von ca. 60 Kranken be¬ 
wohnte Abtheilung auf der Frauenseite, die bis dahin 
stets geschlossen war, kurzer Hand offen gelassen 
haben. Zur Vorbereitung waren nur ganz wenige 
Versetzungen nöthig. Nachträglich mussten einige 
der Kranken wegen Neigung zu Liebeleien wieder 
eingeheimst werden. Sonst ergab sich keine Störung, 
die Kranken machen von ihrer Freiheit verständigen 
Gebrauch, nur die Obstbäume der Anstalt hatten 
einigen Schaden von der Einrichtung. 

Was ältere Anstalten mit unzweckmässiger Bau¬ 
art so mit einiger Schwierigkeit doch durchsetzen, 
das fällt neuen, zweckmässig gebauten von selbst in 
den Schoss. So konnte Mauer-Oehling sogar 
in sein Statut den Satz aufnehmen: „Den Kranken 
soll sowohl innerhalb wie ausserhalb der Anstalt 
jener Grad von freier Bewegung und Selbständigkeit 
gestattet sein, welcher mit ihrem jeweiligen Geistes¬ 
zustände vereinbar ist." 

Es liegt diesem Satze ein sehr richtiger Gedanke 
zu Grunde. Man findet bei Irrenärzten noch so 
häufig die Anschauung, dass sie mit der Gewährung 
freien Ausgangs den Kranken eine Wohlthat er¬ 
weisen, auf die sie eigentlich keinen Anspruch haben. 
Das ist durchaus nicht richtig. Wir sind allerdings 
verpflichtet, unsem Kranken das Maass von Freiheit 
zu geben, das bei ihrem Zustande zulässig ist. Man 
berufe sich nicht darauf, dass der Kranke unter den 
vorgeschriebenen Formalitäten rechtmässig in die An¬ 
stalt aufgenommen sei und dass die Anstalt Deten- 
tionsbefugniss habe. Ich kann mich hierin auf eine 
Autorität berufen. In seinem Vortrage über die 
„Reichsgesetzliche Regelung des Irrenwesens“ führt 
Vorster aus, dass es eine Anstalt „mit Detentions- 
befugniss“ überhaupt in der Welt nicht gebe. Die 


Detentionsbefugniss bezieht sich stets nur auf 
den einzelnen Fall, auf das Individuum, dauert 
also nur so lange, „als sein individueller Zu¬ 
stand ein derartiger ist, dass seine Festhaltung 
nach den maassgebenden Vorschriften nothwendig 
ist“ Es scheint mir einleuchtend, dass sich dies 
nicht nur auf die Entlassung aus der Anstalt be¬ 
ziehen kann, sondern auch auf die Gewährung von 
Freiheit während der Anstaltsbehandlung. Wir dürfen 
einen Kranken nur soweit in seiner Freiheit be¬ 
schränken, als sein Zustand es nothwendig macht 
Wenn sein Zustand derart ist, dass wir ihn zwar 
noch nicht aus der Anstalt entlassen können, weil 
er noch unserer Fürsorge bedarf, dass wir ihm aber 
ohne Bedenken freien Ausgang gewähren könnten, 
so sind wir auch verpflichtet ihm diesen zu geben. 
Thäten wir dies nicht, etwa auf Wunsch der Ange¬ 
hörigen oder aus sonst irgend einem Grunde, mit 
andern Worten, hielten wir einen Kranken im Innern 
der Anstalt intemirt, obgleich sein Zustand freien 
Ausgang zulässig erscheinen lässt und er selbst ihn 
verlangt, so würden wir uns gegen den § 239 St. G. B. 
verfehlen. 

Endüch noch einige Worte über eins unserer 
wichtigsten und vielseitigsten Behandlungsmittel, die 
Beschäftigung der Kranken. Fast alle Berichte 
reden davon mit grösserer oder geringerer Ausführ¬ 
lichkeit. Im Princip ist es ja überall das Gleiche, 
die Männer werden grösstentheils mit landwirtschaft¬ 
lichen Arbeiten beschäftigt, ein kleiner Theil von 
ihnen geht in die verschiedenen Werkstätten. Von 
den Frauen findet meist nur eine kleine Anzahl 
auch in der Landwirtschaft Verwendung, im 
Uebrigen fallen ihnen die Arbeiten in Küche und 
Waschküche, in Näh- und Flickstuben zu. Und 
dazu kommen dann noch die täglichen Hausarbeiten, 
wie Putzen, Spülen u. dgl., die natürlich von beiden 
Geschlechtern auf ihren Abteilungen geleistet werden. 

Wesentlich neues bringen unsere Berichte nicht. 
Im einen oder andern ist einmal die Rede von der 
Neueinrichtung irgend einer Beschäftigungsart, die 
eine Anstalt hat eine Korbflechterei, die andere etwa 
eine Strohflechterei eingerichtet In Illen au und 
Emmendingen hat man einige Wärterinnen die 
schwedische Handweberei erlernen lassen, unter deren 
Anleitung nun eine Anzahl Kranke damit beschäftigt 
werden. 

Auf die Ziele und Erfolge der Beschäftigungs- 
Therapie näher einzugehen, darf ich mir wohl er¬ 
sparen ; sie sind ja allgemein bekannt und anerkannt 

(Fortietzuog folgt.) 


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1905.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


39i 


Aus der Kgl. Heil- u. Pflegeanstalt Hubertusburg i. Sa., Anstalt B. 

Aerztlicher Leiter: Medicinalrath Dr. Matthaes. 

Beschreibung des Schädeldaches eines wegen Epilepsie operirten Kindes. 

Von Dr. AI. Schmidt , Anstaltsarzt. 


T 3 ei der 12 V2 jährigen M. B., die am 28. III. 1904 
^ in die hiesige Anstalt aufgenommen wurde und 
am 29. IV. an einer Lungenentzündung starb, han¬ 
delte es sich um eine Idiotie schwersten Grades mit 
häufigen epileptischen Krämpfen. 

Etwaige aetiologische Aufschlüsse sind aus der 
dürftigen Vorgeschichte nicht zu entnehmen. Die 
Krämpfe sollen zum ersten Male im Alter von 3 li 
Jahren mit dem Durchbruch der Backenzähne auf¬ 
getreten sein. Wegen dieser Krämpfe wurde das 
Kind im jugendlichen Alter — Genaueres war nicht 
zu erfahren — operirt, wobei das Gehirn blossgelegt 
wurde; nach einer Angabe waren es 2 Operationen. 
Auf den Verlauf der Krämpfe und der geistigen 
Entwicklung hatte die Operation keinen Einfluss. 

Bei der Aufnahme bot der Schädel folgenden 
Befund. Auf der Schädeloberfläche fand sich ein 
System von geraden, etwas eingezogenen, schmalen 
weiss-glänzenden und auf der Unterlage wenig ver¬ 
schieblichen Narben, wie es die Skizze zeigt. 



Abb. 1. 

Nur die Narbe c wies eine etwas grössere 
Druckempfindlichkeit auf; drückte man hier kräftig, 
so hörte das Kind mit seinen sonstigen ziellosen 
Bewegungen auf und machte Abwehrbewegungen. 
Ein Krampfanfall liess sich von hier aus nicht aus- 
lösen. Unter den einzelnen Narben fühlte man 
rinnenartige Vertiefungen der Schädelknochen. 

Bei der Section erwiesen sich die Schädelweich- 
theile als mit den Knochennarben fest verwachsen. 


Die Loslösung des knöchernen Schädeldaches war 
sehr erschwert, indem die im Ganzen verdickte und 
getrübte Dura an den Knochennarben colossal dicke 
und feste Auflagerungen auf wies, die mit den Narben 
ganz fest verwachsen waren, so dass sie mit dem 
Messer abgetrennt werden mussten. Die Gehirnober¬ 
fläche liess gröbere Veränderungen nicht erkennen. 



Abb. 2. 

Die Knochenlücken, die man am Bilde des mace- 
rirten Schädels mit ihren wie zernagt aussehenden 
Rändern, in den Knochenrinnen verlaufend erkennen 
kann, waren bei der Herausnahme durch Bindege- 
websmassen, die nach aussen mit den weichen 
Schädeldecken, nach innen mit der Dura zusammen¬ 
hingen, geschlossen. Die grössten Durchmesser der 
Sägeflächen sind 16/13,5 cm. Rechts finden sich 5 
Lücken, deren grösseste 2,3/0,7 cm misst; links 
findet sich ganz vorn eine kleine Lücke, während 
die breite Rundung der der Narbe c entsprechenden 
Lücke für einen dicken Daumen bequem durch¬ 
gängig ist. Aus dem Vergleich der Hautnarben und 
der Knochennarben und -Lücken ergiebt sich wohl, 
dass es sich um 2 Operationen gehandelt hat. 

Die Unzweckmässigkeit dieser Operationen, von 
denen man ja, wenn es sich um eine sogenannte ge¬ 
nuine Epilepsie handelt, abgekommen ist, illustriren 
wohl am besten die dicken Narben der Dura, die 


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39 2 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 40. 


Folgen einer auf Beseitigung eines Rindenreizes aus¬ 
gehenden Operation. 

Bieten nun diese dicken Bindegewebsverschlüsse 
der Knochenlücken einen gewissen Schutz, wie die 
Unmöglichkeit durch Druck durch die grosse Lücke 
hindurch einen Krampfanfall auszulösen lehrt, so 
stellen doch diese grossen Lücken einen „locus mi- 
noris resistentiae“ dar, als eigenthümliche „Leibes¬ 
beschaffenheit“ nicht ohne Interesse für den Gerichts¬ 
arzt ; ein locus minoris resistentiae, auf den wohl der 
§ 199 Abs. 2 b der österreichischen Str. Pr. O. anzu¬ 
wenden wäre („werden Verletzungen wahrgenommen, 
so ist insbesondere zu erörtern, ob diese Handlung 
vermöge der eigenthümlichen persönlichen Beschaf¬ 
fenheit oder eines besonderen Zustandes des Ver¬ 
letzten den Tod herbeigeführt habe.“). Natürlich 


hätte dieser locus minoris resistentiae auch bei Ge¬ 
legenheit eines Krampfanfalles seine verhängnisvolle 
Rolle spielen können. 

Schliesslich ist nicht ohne Interesse die Ver¬ 
knöcherung der rechten Kranznaht auch über den 
directen Bezirk der Knochennarbe hinaus. Man 
wird sich diese theilweise Verknöcherung damit er¬ 
klären , dass die von den Meisseischlägen oder 
Sägezügen ausgehenden Schwingungen die Zwischen¬ 
knochenschicht der Naht trafen und als formitiver 
Reiz im Sinne Meynert’s wirkend die teilweise vor¬ 
zeitige Verknöcherung herbeiführten. Am Schädel 
selbst ist übrigens besser als auf dem Bild zu er¬ 
kennen, wie die Verknöcherung mit Verschwinden 
der Naht vom Ort der stärksten Erschütterung an, 
nach den Seiten allmählich abnimmt. 


Mittheilungen. 


— 35- Versammlung der stldwestdeutschen 
Irrenärzte in Fr ei bürg i. B. am 2Q. und 30. 
October 1904. Referent: Dr. Krau ss-Kennenburg. 

Professor Hoc he eröffnet die zahlreich besuchte 
Versammlung; den Vorsitz übernimmt Hofrath Pro¬ 
fessor Dr. Fü rstner. 

I. Dr. Weygandt: Referat über leicht 
abnorme Kinder, 

Der Begriff der Abnormität im Kindesalter soll 
hier möglichst weit gefasst werden, er umfasst sowohl 
die Debilen als die leichteste Stufe geistiger Unzu¬ 
länglichkeit zwischen Imbecillität und normaler An¬ 
lage, als auch die psychopathische Minderwerthigkcit 
nach Koch und die Degenerirten im Sinne von 
Magnan und Möbius. Ferner weichen viele Kinder 
in ihrer psychischen Verfassung von der Durchschnitts- 
breite ab auf Grund exogener Umstände, schwerer 
körperlicher Krankheit und des Milieus. Der Psy¬ 
chiater ist verpflichtet, sein Interesse dieser grossen 
Klasse der leicht Abnormen zuzuwenden, einmal 
w'eil ihre Kenntniss das Verständnis^ schwerer Ab¬ 
normitäten fördert und dann vor allem auch, weil 
unter ihnen viele Anwärter späterer Psychosen zu 
treffen sind. 

So bedauerlich hinsichtlich der Fixirung der Ab¬ 
normität der Mangel eines Canons auf psychischem 
Gebiete ist, so macht sich dies doch noch viel be- 
merklicher für das kindliche Alter mit seinen mannig¬ 
fachen Abstufungen. Zwar ist die Erforschung der 
normalen Kindespsyche in erfreulichem Aufschwung 
begriffen, aber doch sind bei manchen Vorgängen 
noch lebhafte Zweifel berechtigt, ob sie als normal 
oder abnorm aufzufassen sind. 

Manche Forscher rechnen z. B. die Lüge zu den 
normalen Zügen des Kindesalters; in frühen Jahren 
sind auffallende motorische Erscheinungen, rhythmische 
Bewegungen, Verbigeration, Grimmassiren u. s. w., 


die an katatonische Erscheinungen erinnern, auch 
bei gesunden Kindern anzutreffen. 

Zu dieser sachlichen Schwierigkeit gesellt sich 
noch die andere: Die Beschaffung des Materials und 
die Litteratur. 

Neben den Insassen der Anstalten für schwer er¬ 
ziehbare Kinder und den kindlichen Patienten von 
Ambulatorien für Psychisch - Nervöse findet sich ein 
gut ausgehobenes Kindermaterial in der Mannheimer 
Volksschul-Institution der Förderklassen für leicht 
zurückgebliebene Kinder. Auch die Litteratur, die 
zum grössten Theile pädagogischen Ursprungs ist, 
verlangt vielfach besondere Kritik. 

Unter den ätiologischen Momenten sind zunächst 
die rein äusseren, schädigenden Umstände auszu¬ 
scheiden, wie Ortswechsel, mangelhafte Pflege; wich¬ 
tiger sind die Einflüsse der Ueberanstrengung mancher 
Kinder durch Gelderwerb, ferner das schlechte Bei¬ 
spiel herabgekommener Eltern. All das sind exo¬ 
gene Ursachen vorübergehender Art. 

Unter den bleibenden Abnormitäten sind zu¬ 
nächst die formes frustes der schweren Idiotiefonnen 
zu erwähnen. Manche ätiologisch und anatomisch 
fixirte Formen, wie Hvdrocephalie, auch Mikrocephalie, 
encephalitische Idiotie und Kretinismus, zeigen eine 
Abstufung von schweren, tiefblödsinnigen Fällen bis 
zu solchen, die psychisch gänzlich oder nahezu nor¬ 
mal sind. 

Nächst den toxisch bedingten Defektzuständen, 
besonders Alkoholismus im Kindesalter, sind die 
Fälle schwerer Stoffwechselalteration mit Einwirkung 
auf das Nervensystem zu erwähnen, besonders die 
Erbsyphilis und dann die als type Lorain beschrie¬ 
benen kindlichen Entwicklungsstörungen mit Zwerg¬ 
wuchs und geistiger Unzulänglichkeit auf der Basis 
schwerer Tuberkulose und Kreislaufstörungen, insbe¬ 
sondere Pulmonal- und Mitralstenose. 


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1904.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Besonders wichtig ist die Frage nach Eigentüm¬ 
lichkeiten der Kinder, die später an einer Psychose 
erkranken, an Dementia praecox, manisch-depressivem 
Irresein, auch der originären Paranoia nach Sander; 
wenn nicht die Art der Heredität einen Fingerzeig 
giebt, sind wir meist ausser Stande, derartige Fälle 
von anderen kindlichen Abnormitäten zu scheiden. 
Viel leichter möglich, wenn auch nicht immer durch¬ 
führbar ist die Deutung eines abnormen Kindes als 
epileptisch oder hysterisch. 

Bei einer Analvsirung zahlreicher Fälle findet sich 
oft genug eine Combination mehrerer ätiologischer 
Faktoren, so wenn ein Kind von einem alkoholistischen 
Vater stammt, von einer hysterischen Mutter erzogen 
und frühe schon auf Broterwerb ausgeschickt wird. 

Symptomatologisch ist zu konstatiren, dass der 
Vorgang der einfachen Empfindungen selten gestört 
ist, aber vielfach schon die Perception, die Einreih¬ 
ung des Empfindungsrohmaterials den Bewusstseins¬ 
mangel zeigt; dieser Auffassungsakt entbehrt nicht 
der associativen Hilfen wie beim Idioten und Im- 
becillen, doch ist er gewöhnlich flüchtiger, ober¬ 
flächlicher als beim Normalen. Als vorübergehende 
Abnormität sind die Sinnestäuschungen zu erwähnen, 
an denen Kinder bei manchen Infektionskrankheiten 
besonders leicht erkranken. 

Am leichtesten lassen sich Verstandesstörungen 
feststellen, Gedächtnissdefekte und mangelhafte Asso¬ 
ciationen , doch nicht selten unter einer excessiven 
Veranlagung nach manchen Richtungen hin; so 
kommt Erschwerung des Urtheilsprocesses beim Sub¬ 
trahieren vor, während die Gedächtnissleistungen der 
Multiplikation sehr gut von statten gehen können. 
Als grundlegende Störung ist gewöhnlich die Auf¬ 
merksamkeitsschwäche zu ernennen. Beim Zusammen- 
schliessen von partiellen, bei der Verarbeitung von 
Wahrnehmungen aus verschiedenen Sinnesgebieten, 
bei der Aneinanderreihung mehrerer Vorstellungen 
zu einem Schluss und besonders bei der Bildung 
abstrakter allgemeiner Vorstellungen tritt das hervor. 

Schwierig zu beurtheilen sind die Abnormitäten 
der Phantasiethätigkeit, weil manche Kinder ihr 
Seelenbinnenleben selten erschliessen. Complicirte 
Vorstellungsrcihcn, Grübeleien , Zwangsvorstellungen, 
paranoide Gedankengänge können lange Zeit den 
Erziehern verborgen bleiben; leichter zu beurtheilen 
sind Kinder, die ihre Phantasiebildungen zum Aus¬ 
druck bringen und fabuliren. 

Von grösster Wichtigkeit sind die Störungen des 
Gefühlslebens und der Psvchomotilität. Schwache 
Gefühlsreaktion muss ebenso aullällen wie besonders 
lebhafte Gefühlsausbrüche, vor allem nach der Un¬ 
lustseite hin. Die Depressionsäusscrringen des Kindes 
können rein reflektorisch veranlassend sein wie beim 
Pavor nocturnus, sowie auch durch mehr oder 
weniger mangelhafte psychische Motivirung bedingt. 

Neben Intensitätsänderungen im psychomotorischen 
Verhalten des Kindes treffen wir auch qualitative 
Verschiebungen, so die für die frühesten Jahre noch 
normalen, rein motorischen Entladungen, dann Mit¬ 
bewegungen, Zwangsbewegungen, ferner die wichtige 

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Erscheinung des Davonlaufens. Neben den Mängeln 
der passiven Aufmerksamkeit bei der Auffassung und 
Verarbeitung von Eindrücken liegt auch in Störungen 
der aktiven Aufmerksamkeit, in der Ungleichmässig- 
keit der psychischen Aktivität ein Grundzug der 
Minderwertigkeit. Aus einem Missverhältniss zwischen 
Gefühlsregungen und Hemmungsvorstellungen, die ge¬ 
schwächt sind, und hinreichend starker Aktivität er¬ 
geben sich social bedenkliche Handlungen mancher 
Abnormen 

Von rein nervösen Symptomen verlangen Krämpfe, 
Ohnmacht, Schwindel, ferner Sensibilitätsstörungen, 
dann besonders die Schlafstörungen mannigfacher 
Art besondere Berücksichtigung. 

Rein körperlich kommen Anämie, auch Strabismus, 
Nystagmus, ferner Rachitis und Tuberkulose recht 
häufig vor; Degenerationszeichen sind nicht gerade 
selten. 

Aetiologische Gruppen sind schwer zu bilden. 
Bei einem Versuch nach klinisch psychologischem 
Gesichtspunkte die leicht abnormen Kinder zu grup- 
piren, können wir folgende Hauptabtheilungen bilden: 

1. Die epileptischen Kinder, von denen nur etwa 
die Hälfte klassische Krampfanfälle zeigt und ein 
kleinerer Theil verblödet, als sich aus den Statistiken 
der in Epileptiker- und Idiotenanstalten befindlichen 
Kinder ergiebt. Auch dieser einheitlichsten Gruppe 
gegenüber ist zu betonen, dass es zahlreiche leicht 
abnorme Kinder giebt, die den Verdacht, aber nicht 
den Nachweis der Epilepsie zulassen; 

2. die hysterischen und 

3. die konstitutionell neurasthenischen Kinder 
werden vom Herrn Correferenten einer eingehenden 
Würdigung unterzogen. 

Von jenen Fällen psychischer Minderwerthigkeit 
im Kindesalter, die nicht durch irgend w'elche Syn¬ 
drome die Rubricirung unter die vorigen Gruppen 
ermöglichen, sind zunächst als 

Gruppe 4 die Fälle hervorzuheben, bei denen 
ziemlich gleichmässig eine leichte Minderleistung der 
Aufmerksamkeit mit einer geringen Abstumpfung der 
Gefühlssphäre verbunden ist, die Debilen im engem 
Sinne. 

Als Gruppe 5 können wir die Fälle zusammen¬ 
fassen, bei denen die intellektuellen Leistungen, die 
Aufmerksamkeit, die psychische Aktivität gering ent¬ 
wickelt sind im Vergleich zu dem regen Gefühlsleben. 
Aus dieser Ueberwucherung der aktiven Seite resul- 
tiren die phantastischen, träumerischen, überschwäng¬ 
lichen , reizbaren und lügnerischen Kinder, auch die 
Vorstufen jener, die Kraepelin als die „haltlosen“ 
unter den psychopathischen Persönlichkeiten be¬ 
schreibt. 

Gruppe 0 zeigt im Gegensatz dazu gewöhnlich 
eine hinreichende Ausbildung der intellektuellen und 
psychomotorischen Sphäre bei einer Minderentwick¬ 
lung des Gefühlslebens. Es sind die Kinder, die 
an den harmlosen Spielen keinen Gefallen finden, 
die auf Strafen mit Trotz reagiren, die Thiere quälen, 
ihr Spielzeug und Kleider absichtlich ruiniren, keine 

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394 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 40 . 


Anhänglichkeit und Dankbarkeit kennen und sich 
früh schon durch Ränke, Heimtücke, Gewalttätigkeit 
und Diebstahl auszeichnen. Es sind die Frühstufen 
des geborenen Verbrechers. Nicht bloss das kom- 
plicirte Gewebe der moralischen Gefühle ist bei 
ihnen abnorm, sondern schon die einfachen Gefühls¬ 
töne sind bei ihnen gestört. Die intellektuelle Ent¬ 
wicklung leidet darunter wohl vielfach, aber keines¬ 
wegs in jedem Falle nothwendig. 

Der Arzt hat vorzugsweise die diagnostische, der 
Pädagoge die therapeutische Aufgabe. Vor allem 
der Hausarzt sollte schon vor dem schulpflichtigen 
Alter die Kinder nach dieser Richtung ins Auge 
fassen. In grösseren Städten ist die Berücksichtigung 
der abnormen Kinder als eines wissenschaftlich werth¬ 
vollen Materials für Nervenpolikliniken dringend zu 
empfehlen. Selbstverständlich sollte der Schularzt 
psychologisch und psychiatrisch gebildet sein. 

Neben einer Zustandsuntersuchung hat der Arzt 
auch auf die Einleitung einer zweckmässigen Ver¬ 
sorgung zu achten. Bei zahlreichen Kindern dieser 
Art führen hygienische Maassregeln und erzieherische 
Sorgfalt zu einem guten Resultat, sehen wir doch, 
dass manche hochbedeutende Männer, wie Liebig, 
auch Helmholtz, in der Jugend nach mancher Rich¬ 
tung hin von der Norm abgewichen waren. 

Bei vielen leicht Abnormen jedoch empfiehlt sich 
eine Aenderung in der Erziehung und im Unterricht. 
Während die Hilfsklassen im Wesentlichen für nicht 
intemirungsbedürftige Imbecille geeignet sind, bietet 
sich für solche Kinder, die intellektuell ganz leicht 
zurückgeblieben sind, als zweck massigste Einrichtung 
das Förderklassensystem nach Sickinger in Mann¬ 
heim , die Zwischenstufe zwischen Hilfsklassen und 
Normalklassen. Repetenten, nervöse, leicht ermüd¬ 
bare, anämische, schlecht genährte Kinder, auch 
solche, die durch längere Sch ul Versäumnisse zurück¬ 
geblieben sind, werden aus der Normalklasse in eine 
Förderklasse versetzt. Hier werden sie durch be¬ 
sonders geeignete Lehrer, die mit der Klasse auf¬ 
rücken, unterrichtet, die Schülerzahl ist kleiner als 
in den Normalklassen, der Lehrgang ist quantitativ 
modificirt, doch in sich geschlossen und führt zu 
einem schulmässig abgerundeten Bildungsabschluss 
in einem mehrklassigen, den Normalklassen parallel 
gehenden System, das Rtickversetzung jeder Zeit 
leicht erlaubt. Die bisherigen Erfahrungen in Mann¬ 
heim, wo 7,7% aller Volksschüler in solchen Förder¬ 
klassen untergebracht sind, waren in hohem Maasse 
befriedigend. 

Moralisch schwache Kinder, die konstanter Ueber- 
wachung bedürfen, sollten möglichst in Internaten 
untergebracht werden. Für Wohlhabende existiren 
wohl einige tierartige Pädagogien, die dann vor allem 
zu empfehlen sind, wenn sie sich möglichst dem 
Familienbetrieb nähern und nicht Massenanstalten 
darstellen. Schwere Fälle werden nach § 1666 und 
1838 B. G. B. in der Fürsorgeerziehung unterge¬ 
bracht, gegen deren Durchführung vom ärztlichen 
und pädagogischen Standpunkte noch manche Be¬ 
denken bestehen. 

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Für unbemittelte Kinder, die nicht derart ver¬ 
sorgt werden können, aber doch intensiver Ueber- 
wachung bedürfen, fehlt es noch an entsprechen¬ 
den Einrichtungen. 

Für epileptische Kinder Sonderschulen einzu¬ 
richten, empfiehlt sich nicht so sehr als vielmehr 
eine Individualisirung, indem intellektuell Defekte in 
Idiotenanstalten oder Hilfsschulen, social Bedenkliche 
in die Fürsorgeerziehung gehören, Kinder mit ge¬ 
häuften Anfällen und Status epilepticus rein ärzt¬ 
licher Behandlung bedürfen, während Kinder mit 
vereinzelten, anfallartigen Symptomen ohne sonstige 
Defekte in der Normalschule unter Ueberwachung 
durch einen entsprechend informirten Lehrer ver¬ 
bleiben können. 

Störung des Unterrichts durch Anfälle kommen 
überraschend selten vor. (Autoreferat.) 

(Fortsetzung folgt.) 

— Die badische Volksheilstätte für Nerven¬ 
kranke. Die Entwicklung der Nervenheilstättensache 
im Grossherzogthum Baden wird voraussichtlich einen 
etwas anderen Verlauf nehmen wie in den Theilen 
des Reiches, die mit einer derartigen Wohlfahrtsein¬ 
richtung schon ausgerüstet sind, einen etwas anderen 
Verlauf aber auch, als wir uns es anfangs gedacht haben. 
Die im Betrieb befindlichen Nerven-Heilstätten für 
Minder- und Unbemittelte — Haus Schönow bei 
Berlin, die Rasemühle bei Göttingen, die Rheinische 
Nervenheilstätte — haben mit finanziellen Schwierig¬ 
keiten verhältnissmässig wenig zu kämpfen gehabt, der 
brennende Punkt war die Haltung des Staates, und 
die Herren von Haus Schönow sind aus ihrer Er¬ 
fahrung heraus zu der Ansicht gelangt, dass die staat¬ 
liche Förderung, weil fraglich und erst zu erringen, 
die Hauptsache, die Geldbeschaffung dagegen eine 
cura minima sei, da die Versicherungsanstalten sich 
mit Regelmässigkeit zu betheiligen pflegten. In der 
That durften sich die Rheinische und die Berliner 
Heilstätte einer Capitalunterstützung von zusammen 
über *U Millionen Mark seitens ihrer Versicherungs¬ 
anstalten erfreuen. Bei uns in Baden scheint sich 
der Goldregen nicht so rasch einzustellen, zum Theil 
deshalb, weil unsere Landesversicherungsanstalt mit 
ihren Colleginnen vom Rhein und von der Spree 
sich an financieller Leistungsfähigkeit wohl nicht messen 
daif. Dass sie sich ihrer Beitragspflicht nicht ganz ent¬ 
zieht, dafür freilich haftet neben dem Wortlaut des 
socialen Gesetzes die philanthropische Anschauung ihres 
Leiters. 

Was wir in Baden aber voraushaben vor allen 
anderen Gründungen der Art, das ist die sachdien¬ 
liche und thatkräftige Unterstützung durch die Staats¬ 
regierung, die überdies in keiner Weise hierzu ver¬ 
pflichtet gewesen wäre, denn ihr vor Jahr und Tag 
dargelegter Plan der Errichtung einer Nervenheilstätte 
hat nichts zu thun mit den jetzigen Bestrebungen, 
wird vielmehr in selbständiger Weise, im Anschluss 
an die bestehenden Staatsirrenanstalten, seine Erfüllung 
finden. Die badische Volksheilstätte für Nervenkranke 
ist etw r as hiervon ganz unabhängiges, ihre Geschichte 
beginnt mit der sammelnden und werbenden Thätigkeit 
dreier badischer Collegen, Determann-St. Blasien,M. 

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1904.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


395 


N e u m an n -Karlsruhe, W. Fuchs -Emmendingen, 
die sich privatim als vorbereitendes Comite zusammen¬ 
schlossen. Aber dies der privaten Initiative ent¬ 
springende Vorgehen hat sich sofort der lebhaftesten 
officiellen Förderung zu erfreuen gehabt. Auch 
die constituirende Conferenz im Mai wie die Vereins¬ 
gründung und nun im November die erste Mitglieder¬ 
versammlung verdanken Zustandekommen wie gedeih¬ 
lichen Verlauf dem Mitwirken der Regierung, speciell 
des Ministerialreferenten Geheimrath Dr. Glöckner, 
der in Vertretung des leider gesundheitlich verhinderten 
Vorsitzenden, Geheimerath Schüle-Illenau, die Aus¬ 
schusssitzungen wie die Plenarversammlungen leitete 
und auch in den Kampfpausen die Zuversicht 
der Mitarbeiter rege und die Betheiligungsricht¬ 
ungen zusammen hielt. Zu danken haben wir 
Glöckner ferner die klaren und praktischen Vereins¬ 
satzungen und gewiss manches Vereinsmitglied. Durch 
Ministerialverfügung sollen dem Verein die Rechte 
einer juristischen Person verliehen werden. Weitere, 
direkte und indirekte, Erleichterungen staatlicherseits 
sind noch nicht sichergestellt, aber wohl sicher zu er¬ 
hoffen. 

Dies ist die eine Seite der staatlichen Mitarbeit; 
die andere, die financielle, nothleidet etwas unter der 
schlechten Geldlage Badens (hohe Matrikularbeiträge, 
geringes Rentiren der Staatsbahnen, Abneigung gegen 
Aufnahme von Anleihen), immerhin steht ein barer 
Staatsbeilrag in nicht unerheblicher Höhe (50000 M.) 
mit Bestimmtheit in Aussicht. Damit ändern sich 
einige Zukunftsbilder: wir hatten ursprünglich den 
Staatsbeitrag, den wir uns vorstelllen als unkünd¬ 
baren jährlichen Zuschuss, zur Verbilligung des Pflege¬ 
satzes benützen wollen, da wir uns sagten, dass der 
zur Vorbeugung eines Deficit unabweisliche Durch¬ 
schnittssatz von 4 Mark pro Tag zu theuer sei für 
die durch kein Versicherungsgesetz unterstützten 
Minderbemittelten, Beamte, Kaufleute, Handwerker, 
Lehrer und viele Frauen, die doch auch so dringend 
der Hülfe bedürfen. Das wird nun in dieser Form 
nicht möglich sein, denn vorerst muss der Staatszu¬ 
schuss dem Bauaufwand zu Gute kommen, da ja 
leider anderweitig noch keine genügenden Mittel 
zur Verfügung gestellt sind. Vielleicht können wir 
statt dessen später, etwa aus Ueberschüssen und un¬ 
verhofften — wenn auch nichts weniger als uner¬ 
wünschten! — Zuwendungen, also freilich auf recht 
schwankender Grundlage, einen Fonds an 1 egen, der 
wohlfeile Anstaltsplätze erlaubt. Von den schönen 
Worten Max Neumann’s: ,,Es handelt sich hier um 
den Beweis, dass wir der Aufgabe der wahren, höchsten 
Kultur gewachsen sind, der Aufgabe, die nicht nur 
darin besteht, stets an der Spitze zu marschiren, son¬ 
dern darin, auch die Schwachen unter uns tragen zu 
können und trotzdem an der Spitze zu marschiren! —“ 
wird hoffentlich nichts zurückgenommen werden müssen. 

Zur Zeit steht uns baar zur Verfügung nur eine 
lediglich durch private Sammlungen aufgebrachte 
Summe von etwa 30000 Mark. Die Bemühungen 
sollen fortgesetzt werden, bis die Summe auf 100000 
Mark, den Staatszuschuss eingerechnet, angewachsen 
ist, dann wird mit dem Bau begonnen. Verheissungs- 


voll in dieser Beziehung ist das lebhafte Interesse der 
Orts-Krankenkassen, vornehmlich der beiden grössten, 
der von Mannheim und von Karlsruhe. Ein Anstalts¬ 
grundstück besitzen wir zwar auch noch nicht, eine 
ganze Anzahl von Plätzen sind uns aber schon zum 
Kauf angeboten worden, deren Besichtigung sich 
Determann-St. Blasien unterzogen hat. D. konnte 
über seine Eindrücke vor der 1. Mitgliederversamm¬ 
lung Bericht erstatten. Ein Abschluss ist auch in 
dieser Frage noch nicht erreicht. 

Besonderer Dank gebührt der badischen Tages¬ 
presse, die der Sache der Nervenheilstätte die un¬ 
eigennützigsten und bereitwilligsten Dienste gewährt 
hat. Walter Fuchs-Emmendingen. 

— Die Unterhaltung und Erheiterung der 
Kranken bildet ein wichtiges und unentbehrliches 
Mittel in der Behandlung der chronischen Geistes¬ 
störungen. Es finden daher wohl in allen deutschen 
Anstalten Musikaufführungen, Theatervorstellungen 
u. dergl. statt. Einen grossen Theil dieser Unter¬ 
haltungen können die Einwohner der Anstalt selbst, 
gesunde und kranke, leisten. Ausserdem werden in 
den meisten Fällen Freunde und Gönner der An¬ 
stalten bereit sein, ihre schauspielerischen und musika¬ 
lischen Kräfte zur Verfügung zu stellen. Es bleibt 
jedoch immer noch die Nothwendigkeit vorhanden, 
bezahlte Kräfte heranzuziehen, z. B. Taschenspieler, 
Sängergesellschaften, Kinematographen u. dergl. Es 
hängt jetzt, so weit meine Kenntnisse der Verhält¬ 
nisse reichen, im Wesentlichen vom Zufalle ab, 
welche Leute sich dem Leiter der Irrenanstalt anbieten. 
Es giebt einzelne „Künstler“, welche mit besonderer 
Vorliebe in den Irrenanstalten auftreten und sich 
dort Zeugnisse über zufriedenstellende Leistungen 
geben lassen, auch kommt es vor, dass zunächst 
eine schriftliche Anfrage an die Anstalt kommt, ob 
eine Vorstellung gewünscht wird. Die Besitzer von 
Lokalen, in denen herumziehende Gesellschaften auf¬ 
zutreten pflegen, machen diese zuweilen auf in der 
Nähe befindliche Anstalten aufmerksam. Im All¬ 
gemeinen aber hängt es von dem blinden Zufall ab, 
ob die Anstalten passende Angebote zu geeigneter 
Zeit und zu massigen Preisen erhalten. Es ist da¬ 
her die Regel, dass man zeitweise zu starkes Ange¬ 
bot hat, dann wieder unangenehm lange Pausen, 
dass man wohl niemals nach einem gewissen Plane 
Vorführungen verschiedener Art in passenden Zeit¬ 
abständen auswählen kann, sondern nehmen muss, 
was gerade der Zufall bringt. Oft muss man dann 
noch überflüssige Reisekosten zahlen. Fast immer 
hat man keine Garantie für die Brauchbarkeit und 
Anständigkeit der angebotenen Vorstellungen, sodass 
trübe Erfahrungen nicht ausbleiben. 

Dieser Zustand Hesse sich leicht verbessern, wenn 
die Anstaltsdirektoren sich vereinigten, um ein Ver¬ 
zeichniss derjenigen umherziehenden Gesellschaften 
aufzustellen, die für Vorstellungen in Irrenanstalten 
geeignet sind. Den Unternehmern müsste dann ein 
Verzeichniss der Anstalten in die Hand gegeben 
werden, welche Angebote wünschen. So Hesse es 
sich leicht erreichen, dass die Anstalten eine bequeme 


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396 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 40. 


Auswahl treffen und zugleich die Unternehmer sich 
eine passende Rundreise zusammenstellen könnten. 

Vorbedingung für die vorgeschlagene Einrichtung 
ist allerdings eine Centralstelle, an welche sich, 
wenigstens im Anfang, beide Parteien wenden könnten. 
Diese Mühe müsste ein College auf sich nehmen. 
Vielleicht könnte man dem Vorstande des deutschen 
Vereines für Psychiatrie einen ,,Vergnügungs - Assi¬ 
stenten“ angliedern. 

Zunächst möchte ich über die angeregte Frage 
einen Meinungsaustausch in dieser Wochenschrift an- 
regen. Snell (Lüneburg). 


Referate. 

— Archiv für C r i m in a 1 - A nt h r o pol ogi e 
und C r i m i n a 1 i s ti k. 15. B., 4 H. 

Ueber einen seltenen Fall transitori¬ 
scher Bewusstseinsstörung. Von Walter 
S t e i n b e i s s. 

Ein völlig gesunder Wärter einer Irrenanstalt steht 
nachts eilig auf, kleidet sich an, verlässt das Haus, 
indem er alle Thüren verschliesst. Am nächsten 
Tage kehrt er zurück, beschmutzt, nur mit einem 
Schuh versehen, und fragt, ob der entflohene Kranke 
L. zurück sei. Thatsächlich hatte aber der Kranke 
das Haus nicht verlassen. Es stellte sich heraus, 
dass der Wärter, dessen Erinnerung an die nächt¬ 
liche Reise sehr lückenhaft war, aufgestanden war, 
in der Meinung, ein Kranker sei eben entflohen. 
Er weiss nicht, welchen Weg er eingeschlagen hat, 
hat bald den Flüchtigen gesehen, seine höhnischen 
Zurufe gehört, stand aber plötzlich bis an den Hals 
im Wasser und verlor dann die Spur des Kranken. 
Epilepsie, Fieberdelir, Trunkenheit sind auszusrhliesscn. 
Wahrscheinlich ist der Fall als Schlafwandeln aufzu¬ 
fassen , in welchem bei vollkommen aufgehobenem 
Selbstbewusstsein durch die Selbstthätigkeit des Gross¬ 
hirns Vorstellungen und Sinnesbilder gleichwie im 
Traum erzeugt werden, ohne aber wie bei. diesem 
in ihrem Uebergang in motorische Akte getrennt zu 
sein. 

Die U e b e r e m p f i n d 1 i c h k e i t gewisser 
Sinne als möglicher criininogener Faktor. 
Von Medicinalrath Dr. P. Näcke in Hubertusburg. 

Verf. beschreibt im Anschlüsse an einen von 
Prof. Gross berichteten Fall 2 Psychosen, bei denen 
Ueberempfindlichkeit der Sinnesorgane Aufregungs¬ 
zustände hervorruft, und führte weiter aus, dass auch 
bei Epilepsie, Hysterie, Migräne, nach Trauma der¬ 
artige Hyperästhesien ähnliche Folgen haben können. 
Schon beim Normalen ist die Möglichkeit einer un¬ 
absichtlichen , mehr „refiexoiden“ Handlung durch 
Ueberempfindlichkeit gewisser Sinnesorgane, welche 
von allen möglichen Faktoren, wie Luftdruck, Er¬ 
müdung, Kälte, Hunger, Vergiftung, Krankheit, Milieu, 
Geschlecht, Alter u. s. w. abhängig sein kann, nicht 
ganz auszuschHessen. 


iri. Bd., 3. u. ,j. H. 

Ein Beitrag zur C a s u i s t i k der Simu¬ 
lation von Geisteskrankheit. Dr. A. G 1 os , 
Gerichtsadjunkt in Neutitsehein. 

Die Wittwe Anna St., welche ihre Gläubigerin, 
mit der sie in einem Bette schlief, nachts erwürgt 
und den Ehemann derselben zu vergiften versucht 
hatte, simulirte nach der That auf eine Frage des 
Untersuchungsrichters nach Geisteskrankheit in der 
Familie, Geisteskrankheit. Sie hatte früher bei ihrem 
Ehemann epileptische Krämpfe gesehen und von 
Sinnestäuschungen bei Delirium gehört. Sie simulirte 
daher Krampfanfälle und Hallucinationen. Die Simu¬ 
lation war leicht nachzuweisen, und es erfolgte Be¬ 
strafung. 

Im Anschlüsse daran betonte Verf., dass der 
Untersuchungsrichter psychiatrisch vorgebildet sein 
müsse, um bei der Entlarvung von Simulanten mit- 
wirken und die Akten so gestalten zu können, dass 
aus dem Studium des Vorlebens, der übrigen anam¬ 
nestischen Daten, der Schilderung der verbrecherischen 
Handlung, des Verhaltens der Angeklagten nach der 
That, der psychiatrische Sachverständige sich wirk¬ 
lich ein Urtheil über den Fall bilden könne. 

Dost- Hubertusburg. 

— Enquctes. Intervention du punvoir judi- 
ciaire dans le placemcnt des alienes. Revue de 
Psvchiatrie et de Psychologie experimentale IQ04. 
Nr. 4. 

Aus Anlass eines von Dr. Dubcief dem franzö¬ 
sischem Parlamente eingebrachten Entwürfe eines 
Irrengesetzes, veranstaltete die Redaktion der Revue 
de Psychiatrie eine Rundfrage unter den ange¬ 
sehensten, ärztlichen Leitern von französischen Irren¬ 
anstalten, ob ein Mitwirken der Gerichtsbehörden bei 
der Einlieferung von Geisteskranken in die Iricnan- 
stalten zweckmässig wäre. Die Antwoiten und ihre 
Begründungen sind sehr verschiedenartig ausgefallen. 
Von 30 Antworten sprachen sich 13 in jedem Falle 
dafür aus, 5 teilweise dafür; die andere Hälfte der 
Zuschriften wandte sich aber entschieden gegen diese 
beabsichtigte Neuerung. Als einer der Hauptgegen- 
gründe wird insbesondere die Befürchtung ange¬ 
sehen, dass ein Mitwirken der Justiz das Aufnahme¬ 
verfahren erheblich langsamer gestalten würde zum 
Nachtheile der Kranken. Falb aber durc h die Fassung 
des Gesetzes die Vermeidung eines solchen Ucbel- 
stande.'* sichergestellt werden sollte, wäre es möglich 
dass sich späterhin doch die Mehrzahl der franzö¬ 
sischen Irrenärzte für diesen Reform Vorschlag aus¬ 
spricht. 

Dr. Fritz Hoppe, Tapiau. 


Personalnachrichten. 

— In Charlottenburg ist nach schwerem 
Leiden Dr. ined. Martin Brasch, Irren- und Nerven¬ 
arzt, im 40. Lebensjahre gestorben. 


Itir den redactkmelien Theii vorauf wörtlich : Oberarzt l)r. J. Ilr#fä|,r, Ltlbl.mt« (Sch rsien). 

Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme j Tage' vor der Angabe. — Verlag Von Catf Marhold in Halle a. S 

Heyncmann’sche BuchJruckerei (Gcbr. in Halle a. S. 


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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift, 

Redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. B realer, 

Lublinitx (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Teleur.-Adresse: Marho Id Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834. 

Nr. 41, 7. Januar. _ m 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler. Lublinitz (Schlesien), zu richten. 


Dritter Bericht über die Fortschritte des Irrenwesens. 

Nach den Anstaltsjahresberichten erstattet 
von Dr. Deiters in Bonn, früher in Andernach. 

(Fortsetzung.) 


Gewisse Schwierigkeiten macht es mitunter, ge¬ 
fährliche Kranke zu beschäftigen. Treptow be¬ 
absichtigt besondere Werkstätten im Hause der Un¬ 
ruhigen einzurichten und hat bisher diese Kranken 
mit Schreib- und Zeichenarbeiten innerhalb der Ab¬ 
theilung, im Sommer mit Gartenarbeiten im ge¬ 
schlossenen Garten beschäftigt. Meerenberg 
spricht sich gegen besondere Werkstätten für solche 
Kranke aus und theilt einen Fall mit, in dem es 
beabsichtigt war, ihm ein eigenes Lokal anzuweisen, 
wo er sich mit Mattenflechten beschäftigen sollte. 
Die Maassregel kam aber nicht zur Ausführung, 
weil es schliesslich doch noch gelang, ihn unter an¬ 
dern Kranken zu beschäftigen und zu socialem Ver¬ 
halten zu erziehen. — Ob das immer möglich ist, 
wird man füglich bezweifeln dürfen. 

An den meisten Anstalten ist es Sitte, den Arbei¬ 
tenden irgend welche kleine Vergünstigungen zuzu¬ 
wenden, etwa in Form von Beköstigungszulagen oder 
Genussmitteln, oder auch Spaziergängen, gelegent¬ 
licher Gewährung von Taschengeld od. dgl. Ueber 
eigentliches Arbeitsverdienst in der Form, dass den 
Kranken je nach ihrer Arbeitsleistung ein wenn auch 
kleiner Geldbetrag zugebilligt wird, sagen unsere Be¬ 
richte nichts. Eine solche Einrichtung hat ja auch 
ihre Schwierigkeiten; denn wenn der zu gewährende 
Betrag nur einigermaassen nennenswerth sein soll, so 
würden b$i der grossen Zahl der beschäftigten Kran¬ 
ken die aufzuwendenden Mittel recht beträchtliche 
sein müssen. 

Mauer-Oehling spricht in seinem Statut den 
Grundsatz aus, dass die Arbeit Heilmittel sei und 
somit den Kranken kein Anspruch auf Entlohnung 
zustehe. Es ist jedoch' eine Arbeitsverdienstkasse 

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vorgesehen, in welche am Ende des Jahres ein nach 
der Gesammtheit aller Arbeitsleistungen der Kranken 
berechneter Pauschalbetrag niedergelegt wird. Die 
Kasse bleibt zur Verfügung des Directors, welcher 
daraus den Kranken Extravergünstigungen, nach 
Bedarf auch Unterstützungen an Entlassene gewähren 
kann. 

b) Coloniale und Familien-Pflege. 

Coloniale Verpflegung ist in Württemberg 
schon seit längerer Zeit sehr beliebt und soll noch 
weiter ausgebaut werden. Winnenthal hat den 
Neubau einer Colonie vollendet und im Jahre 1902 
in Betrieb gesetzt. Schussenried hat die Männer- 
colonie andauernd voll besetzt und den Bau einer 
Frauencolonie begonnen. Zwiefalten, Weissenau, 
sowie die Privatanstalten Göppingen und Pful¬ 
lingen berichten über ungestörten Fortgang des 
colonialen Betriebes. 

Frankfurt hat ausserhalb der Stadt 2 Filialen, 
Prächtershof und Köppern, über deren Arbeiten 
berichtet wird. 

Niedernhart hat, um der Ueberfüllung ab¬ 
zuhelfen, die Gründung einer Colonie in Vorschlag 
gebracht. — 

Die Familienpflege hat jetzt ohne Zweifel 
eine Zeit fortschreitender Entwicklung, obgleich ja 
von manchen Seiten ihr Werth ernstlich bestritten 
wird. 

In der Provinz Brandenburg wird sie sehr 
gepflegt; im Ganzen sind dort schon ca. 120 Kranke 
in Familien untergebracht. An der Spitze steht 
Eberswalde, das im Berichtsjahr von 27 auf 56 
gestiegen ist und im laufenden Jahre auf 100 zu 

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398 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 


[Nr. 41. 


kommen hofft Auch Landsberg, Neuruppin 
und Lübben haben bereits eine grössere Anzahl 
Kranker in Familien pflege, während in Sorau die 
Versuche bisher fehlschlugen. Selbst die branden- 
burgische Idiotenanstalt, das Wilhelmsstift in 
Potsdam, macht Versuche mit dieser Verpflegungs¬ 
form und hat fürs Erste 10 männl. und 4 weibl. 
Idioten in Treuenbrietzen untergebracht. Der Bericht 
spricht sich aber ziemlich skeptisch aus: „Es ist zu 
berücksichtigen, dass die hier hinausgegebenen Pfleg¬ 
linge besonders ausgesuchte Idioten darstellen, die 
auch in der Anstalt gehörig zu leiten waren und 
auch hier mehr oder weniger gute Fortschritte 
machten/' 

Göttingen berichtet eingehend überdas Blühen 
und Gedeihen seiner Familienpflege. Es sind wieder 
einige Dörfer neu hinzugekommen, und die ange¬ 
botenen Pflegestellen sind schon so zahlreich, dass 
die Anstalt nicht genug geeignete Kranke dafür hat. 
Schon mehrfach sind aus andern hannöverschen 
Anstalten Kranke zu diesem Zweck nach Göttingen 
überführt worden. — Osnabrück kann bisher nur 
über misslungene Versuche berichten, die umwoh¬ 
nende Bevölkerung ist wenig geeignet, doch hat man 
die Hoffnung noch nicht aufgegeben. 

In Westphalen haben Lenge rieh und 
Aplerbeck mit der Einrichtung der Familienpflege 
begonnen. Lengerich hat 16 Pfleglinge hinaus¬ 
gegeben und damit die Zahl der geeigneten Elemente 
vorläufig erschöpft; eine Vergrösserung wird nur ganz 
langsam erwartet. Aplerbeck hat seine Stellen 
nicht vermehrt, und erwartet auch keine weitere Aus¬ 
dehnung. 

Treptow hat bald nach Eröffnung der Anstalt 
sich bemüht, die Familienpflege einzuführen, hatte 
aber Anfangs mit grossen Schwierigkeiten zu kämpfen, 
weil die Bevölkerung der Sache Misstrauen ent¬ 
gegenbrachte. Man hat bisher nur 13 weibliche 
Kranke unterbringen können, doch hofft man auf 
weitere Ausdehnung. 

In Schlesien hat Brieg einen Anfang mit 
der Familienpflege gemacht und hatte am Schlüsse 
des Berichtsjahrs schon 20 Pfleglinge hinausgegeben. 
Die Einzelheiten der Einrichtung werden mitgetheilt; 
sie stimmen im Wesentlichen mit den anderwärts 
üblichen überein. Bunzlau berichtet über einige 
Störungen in der Familienpflege, wie Gewaltthätig- 
keiten, sexuelle Zudringlichkeiten von Kranken u. dgl. 
Die Anstalt hat viele ruhige Kranke an andere An¬ 
stalten abgeben müssen und muss es deshalb in der 
Familienpflege auch gelegentlich mit unsicheren Ele¬ 
menten versuchen. 


In Konradstein hat die Familienpflege eine 
erhebliche Ausdehnung erfahren. Man hatte im 
Vorjahre mit 21 Pfleglingen abgeschlossen und wollte 
im Berichtsjahr auf 40 steigen, war aber durch die 
Ueberfüllung genöthigt noch weiter zu gehn und ist 
bis auf 60 gekommen. Eine Erörterung der Vor¬ 
züge der Familienpflege führt zu dem Resultat, dass 
sie erstens billiger ist als die Anstaltspflege; es wird 
berechnet, dass die jährlichen Kosten eines Familien¬ 
pfleglings sich auf 376,98 M., die eines in der An¬ 
stalt verpflegten Kranken auf 427,68 M. belaufen. 
„Wichtiger noch ist der Umstand, dass die familiäre 
Verpflegung für die Kranken selbst ausgesprochene 
Vortheile bietet. Die ärztliche Behandlung körper¬ 
licher Erkrankungen ist zwar weniger leicht durch¬ 
führbar als innerhalb der Anstalt, indess bei ernsteren 
und länger dauernden Krankheitsfällen, sow r ie bei 
besonderen Vorkommnissen wird ja ohnehin die 
Rückkehr der Pfleglinge in die Anstalt noth wendig. 
Dahingegen bietet die Verpflegung in der Familie 
den Pfleglingen grössere Möglichkeit einer Berück¬ 
sichtigung ihrer Eigenart gegenüber den mehr gleich¬ 
artigen nivellirenden Bedingungen des Anstaltslebens. 
Sie haben zudem in der Familie vielfach mehr An¬ 
regung, leben naturgemässer und in Verhältnissen, 
die ihrer ursprünglichen Lebensweise weit mehr an¬ 
gepasst sind. Es lässt sich das eben nur in einer 
fremden Familie ermöglichen, nicht in der eigenen. 
In dieser wirken wieder alle jene Schädlichkeiten auf sie 
ein, die zuerst ihre Verbringung in die Anstalt nöthig 
machten, während dieselben in fremder Familie fort¬ 
fallen ; dazu kommt dann noch, dass sie hier dauernd 
unter ärztlicher Aufsicht stehen.“ 

Eigenartig war die Entwicklung der Familienpflege 
in Königslutter. Der Ueberfüllung wegen führte 
man dort im Jahre 1898 sog. „Nachtlogis“ ein, d. h. 
man brachte eine grössere Anzahl harmloser Kranker 
für die Nacht in Privathäusem in der nächsten Nach¬ 
barschaft der Anstalt unter; bei Tage kamen die 
Kranken wieder in die Anstalt. Diese Nachtlogis 
waren ein Nothbehelf. Sie gaben aber einen geeig¬ 
neten Uebergang zur Familienpflege ab, deren Einfüh¬ 
rung freilich noch mancherlei Schwierigkeiten machte. 
Für die männlichen Kranken ist die Einrichtung jetzt 
gesichert, während für die Frauen noch kein end¬ 
gültiges Ergebniss erzielt ist. Man rechnet darauf, 
höchstens 10% des Krankenbestandes in Familien¬ 
pflege unterzubringen. 

Auch in Blankenhain war Ueberfüllung die 
Ursache für die Einführung der Familienpflege. Man 
hatte früher gelegentlich einzelne Kranke, die aus 
irgend einem Grunde nicht in die eigene Familie 


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1905.] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


399 


beurlaubt werden konnten, in Familien der benach¬ 
barten Ortschaften untergebracht. Ende 1901 wurde 
eine officielle Organisation der Familienpflege in die 
Wege geleitet, und bis Ende 1902 hatte man 18 
Kranke untergebracht. 

In Württemberg besteht Familienpflege in 
Zwiefalten und in Weissenau. Neuerungen 
sind im Berichtsjahre nicht zu verzeichnen. 

Unter den badischen Anstalten hat Emmen¬ 
dingen mit der Einrichtung der Familienpflege be¬ 
gonnen, obgleich bei der eigenthümlichen Arbeits¬ 
teilung unter den badischen Anstalten gerade dort 
das Krankenmaterial nicht das geeignetste für diese 
Verpflegungsform ist. Seitens der Bevölkerung schei¬ 
nen sich keine besonderen Schwierigkeiten ergeben 
zu haben, es waren gleich von vornherein genügend 
Bewerbungen vorhanden. Bis zum Jahresschluss 
hatte man 18 Kranke — 5 Männer und 13 Frauen 
— untergebracht. 

In der Schweiz giebt es Familienpflege erst an 
wenigen Orten. Die Waldau klagt, dass sie dort 
nicht recht gedeihen wolle. Die Ursache liegt darin, 
dass die Anstalt stets darauf bedacht ist, zunächst 
die eigenen Colonien zu besetzen; da bleiben denn 
nicht viele zur Familienpflege geeignete Kranke'übrig. 

Das Asile deCery hat „un projet de placement 
dalienes chroniques tranquilles k la Campagne“ ins 
Auge gefasst. 

Im Aargau plant der Hülfsverein sich mit der 
Einrichtung der Familienpflege zu befassen. 

Der ungarische Bericht pro 1902 theilt mit, 
dass, angeregt durch den Antwerpener Congress, 
2 ungarische Irrenanstalten die Einführung der Fa¬ 
milienpflege planen. Der neue Bericht spricht nicht 
mehr davon. 

Meerenberg, von dem wir im vorigen Jahre 
berichten konnten, dass es die Einführung der Fa¬ 
milienpflege plant, hat 1902 mit der practischen Aus¬ 
führung begonnen, musste sich aber ijn ersten Jahr 
auf eine geringe Anzahl beschränken, weil sich in 
einem Fall Schwierigkeiten wegen der Kostentragung 
ergaben. Es war strittig, ob ein in Familienpflege ge¬ 
gebener Kranker noch als „Anstaltskranker“ (gestichts- 
kranksinnig) zu betrachten sei. Nach Behebung 
der Schwierigkeiten wurde 1903 mit der Ausführung 
fortgefahren. An Stelle von V2 Jahr hat man jetzt 
die Zeit von 3 Monaten als Mindestzeit festgesetzt, 
die ein Kranker in der Anstalt gewiesen sein muss, 
bevor er von anstaltswegen in Familienpflege ge¬ 
geben werden kann. Man plante früher V10 des 
gesammten Bestandes der Familienpflege zuzuführen, 
hat dies aber jetzt auf V20 vermindert. 


Ein auf dem Vlämischen Aerztecongress 1903 
gehaltener Vortrag von Meeus und Ghys über 
„Gezinsverpleging der Hulpbehoevenden“ beschäftigt 
sich hauptsächlich mit der Einrichtung von Gheel, 
die ja allgemein bekannt ist. Betont wird der Gegen¬ 
satz von Gheel, wo die Familienpflege numerisch 
weitaus die Hauptsache bildet und die Centrale 
zwar nothwendig, aber doch von mehr sekundärer 
Bedeutung ist, und anderen Einrichtungen, wo die 
Centralanstalt die Hauptsache bleibt und die Familien¬ 
pflege in grösserem oder geringerem Umfange ihr 
angegliedert wird. 

c) Fürsorge für Entlassene; Prophylaxe. 

Die Irrenfürsorge darf sich nicht mehr darauf 
beschränken, für die im engeren Sinne hilfsbedürf¬ 
tigen Kranken in Anstalten und deren Adnexen ge¬ 
eignetes Unterkommen zu schaffen. Es ist eine der 
schönsten und werthvollsten Seiten unserer modernen 
Bestrebungen, dass man sich auch der nicht mehr 
oder noch nicht anstaltspflegebedürftigen Kranken an¬ 
nimmt und ihnen behülflich ist, solange wie möglich 
eine selbständige Existenz zu behaupten. 

Zwei Wege sind also zu gehen. Der eine für 
uns Anstaltsärzte zunächst gegebene ist der, die 
Kranken, die wir aus der Anstalt entlassen, im Auge 
zu behalten, dafauf 2U sehen, dass sie in zweck¬ 
mässige Umgebung kommen, ihnen auch ausserhalb 
der Anstalt noch unsern Rath zu leihen, und vor 
allem sie durch pecuniäre Unterstützungen vor Noth 
zu bewahren. Zugleich muss auch das Ziel ins 
Auge gefasst werden, den Kreis dieser „Entlassenen“ 
weiter zu ziehen, d. h. manchen Kranken, die nach 
bisherigen Anschauungen noch für anstaltspflegebe- 
dürftig gelten, den Weg in die Freiheit zu erschliessen. 
Natürlich ist das nur dann möglich, wenn eine aus¬ 
giebige Fürsorge für sie zweckmässig organisirt ist. 

Der zweite, viel schwierigere Weg ist der der 
eigentlichen Prophylaxe. Es sollen jene Labilen 
oder auch bereits Erkrankten, die unter einfachen 
geordneten Verhältnissen noch sehr wohl in Freiheit 
leben können, die aber durch jede Störung ihres 
ruhigen Lebens in Gefahr gerathen, anstaltspflege¬ 
bedürftig zu werden, geschützt werden. 

Eine allgemeine officielle Organisation dieser Für¬ 
sorge existirt nicht; vielleicht bringt sie uns später 
einmal das Reichsirrengesetz, für welches dies jeden¬ 
falls eine erspriesslichere Aufgabe wäre, als der thörichte 
Kampf gegen das Gespenst der widerrechtlichen In- 
ternirung Gesunder. Vorderhand liegt diese Arbeit 
der Hauptsache nach in den Händen der Hülfs- 
vereine. Leider liegen mir Berichte dieser Ver¬ 
eine nur in geringer Zahl vor. 


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400 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 41. 


Einer der ältesten und erfolgreichsten dieser Ver¬ 
eine ist der hessische. In seinem letzten Berichte 
werden zunächst die Ziele und Erfolge der Vereins- 
thätigkeit erörtert und dabei die Meinung vertreten, 
dass eine staatliche Behörde mit ihrer doch immer 
etwas schematischen Arbeitsweise niemals in der 
Lage sein würde, dem höchst mannigfaltigen Hülfs- 
bedürfniss zu entsprechen, dass vielmehr gerade das 
organische Zusammenarbeiten des privaten Vereins 
mit den Staatsbehörden, wie es sich in Hessen 
herausgebildet hat, die beste Gewähr für gedeihliches 
Wirken gebe. Weiter wird über einige Neuerungen 
berichtet. Man will regelmässige Vertrauensmänrter- 
tage einführen, um mit diesen in engerer Fühlung 
zu bleiben; auch will man sie zur Besichtigung der 
Anstalten einladen, um ihr Verständniss für die Sache 
zu heben. Ferner hat man auf die Anregung eines 
Vertrauensmannes hin, in grösseren Orten die Zahl 
der Vertrauensmänner zu vermehren, den Beschluss 
gefasst, es zwar überall bei einem Vertrauensmann 
zu belassen, welcher die generellen Arbeiten für den 
Verein behalten soll, dafür aber die practische Für¬ 
sorge für einzelne Hülfsbedürftige bestimmten Per¬ 
sonen , sogenannten „Helfern“ zu übertragen, mit 
denen die Central Verwaltung direct verkehrt, zugleich 
aber den zuständigen Vertrauensmann auf dem Lau¬ 
fenden erhält. In richtiger Erkenntniss, dass die 
Bedürfnisse weiblicher Kranker besser von Frauen 
beurtheilt werden können, hat man für diese die Be¬ 
stellung von „Helferinnen“ ins Auge gefasst. 

Das schon im vorigen Jahre mitgetheilte Vor¬ 
haben des Vereins, auch die Nervösen in den Be¬ 
reich seiner Wirksamkeit zu ziehen und damit ge- 
wissermaassen prophylactisch zu wirken, hat bisher 
noch geringen Erfolg gehabt. 

Gerade die Fürsorge für unbemittelte Nerven¬ 
kranke wird ja seit einigen Jahren lebhaft erörtert. 
Der sächsische Bericht tbeilt mit, dass man vor 
einigen Jahren den Plan erwogen habe, an den Irren¬ 
anstalten Abtheilungen oder Adnexe für Nervenkranke 
einzurichten, doch gelangte man zu dem Schluss, 
dass aus praktischen Gründen eine solche Vereinig¬ 
ung unzweckmässig sei, weil dadurch viele Nerven¬ 
kranke abgeschreckt werden würden, die Anstalt auf¬ 
zusuchen. Die Gründung selbständiger öffentlicher 
Nervenheilstätten ist für Sachsen bisher nicht ge¬ 
plant. Doch spricht der Bericht den Wunsch aus, 
dass es dazu kommen möchte. Wenn der Wunsch 
an maassgebender Stelle einmal da ist, wird sich wohl 
auch ein Weg finden. 

In Lüneburg hat man eine Poliklinik für Nerven¬ 
kranke eingerichtet, deren Frequenz aber noch nicht 


sehr gross ist; eine Stunde wöchentlich genügt bis¬ 
her dem Bedürfniss. — Wenn die Freiburger 
Klinik die Aufnahme Nervenkranker befürwortet, so 
gehört dies nur mittelbar hierher, weil es hauptsäch¬ 
lich mit Unterrichtszwecken begründet wird. 

Der junge rheinische Hülfsverein kann über 
eine erfreuliche Entwicklung berichten. Mitglieder¬ 
zahl und Einkommen haben beträchtlich zugenommen, 
wenn auch bei weitem noch nicht die Höhe erreicht 
ist, die von einer so grossen und reichen Provinz 
zu erwarten ist Der Bericht wendet sich gegen den 
Standpunkt einer städtischen Behörde, die den Bei¬ 
tritt abgelehnt hat, weil das Sache der Armenver¬ 
bände sei, und hebt hervor, dass der Verein gerade 
da helfend eintreten wolle, wo keine Verpflichtung 
der Armen verbände vorliege. — Für die Vertrauens¬ 
personen ist eine Anleitung ausgearbeitet worden, 
welche ihnen über die Hauptpunkte ihrer Thätigkeit 
Auskunft giebt. Auch eine Vermehrung der Ver¬ 
trauensmänner wird beabsichtigt. 

Die Unterstützungen fielen naturgemäss zum 
grössten Theil an die aus der Anstalt Entlassenen. 
Ausserdem wurden häufig die Familien von Kranken, 
besonders Ehefrauen, unterstützt. Zu der Frage, ob 
nach dem Tode des Kranken die Unterstützung 
der Familie noch fortgesetzt werden solle, wird der 
Grundsatz aufgestellt, dass im Allgemeinen dann 
wohl keine Unterstützungen mehr zu geben sind, 
weil dies eben über die Aufgabe des Vereins hinaus¬ 
geht; dass aber unter Umständen für das Wohl der 
Kinder eine weitere Unterstützung prophylactisch 
von Bedeutung sein könne. 

Im Bericht der Anstalt Treptow wird raltge- 
theilt, dass Mercklin dort die Gründung eines 
Pommerschen Hülfsvereins angeregt habe, doch einigte 
man sich dahin, vorläufig keinen neuen Verein zu 
gründen, sondern den pommerschen Provinzialverein 
für innere Mission zu ersuchen, die Fürsorge für 
entlassene Geisteskranke in sein Arbeitsprogramm 
aüfzunehmen, was dieser bereitwilligst und mit gutem 
Erfolg übernahm. Unterstützungen in Geld werden 
von der Provinz gewährt. 

Von reichsdeutschen Hülfsvereinen habe ich leider 
keine weiteren Berichte, dagegen liegen mir einige 
solche aus der Schweiz vor. 

Der Züricher Verein berichtet ausführlich über 
die gewährten Unterstützungen, die z. Th. recht 
grosse Noth linderten. Seine Bemühungen, für die 
Einrichtung einer Familienpflege zu wirken, haben 
bisher keinen Erfolg gehabt. Ein besonderer Zweig 
seiner Thätigkeit besteht in der Ertheilung von Hand¬ 
arbeiten als Nebenverdienst für weibliche Entlassene. 


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1905] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


401 


Auch der Basler Verein berichtet über erspriess- 
liche Thätigkeit. Er plant eine Erweiterung seiner 
Thätigkeit in der Richtung, dass für manche Kranke 
die Verpflegungskosten in der Anstalt vom Verein 
übernommen werden, für solche nämlich, welche 
nicht so arm sind, dass sie aus öffentlichen Mitteln 
verpflegt werden können, deren Familien aber doch 
durch die Tragung der Kosten in Bedrängniss ge- 
rathen. 

Der Aargauer Hülfsverein weist auf die Noth- 
lage der dortigen Irrenfürsorge durch die Ueberfüll- 
ung der Anstalt Königsfelden hin. Auch er hat 
die Einrichtung einer Familienpflege ins Auge ge¬ 
fasst und hofft dies bei dem Anwachsen seines 
Kapitalvermögens bald ins Werk setzen zu können. 

Im Jahresbericht des Vereins Schweizer Irren¬ 
ärzte wird noch kurz über die Thätigkeit des St. 
Gallischen und des Luzerner Hülfsvereins be¬ 
richtet. 

Auf Frank’s Antrag wurde im Verein Schweizer 
Irrenärzte beschlossen, einen Zusammenschluss sämmt- 
licher Schweizer Hülfevereine herbeizuführen und 
einen Preis auszusetzen für eine zur Aufklärung des 
Volkes dienende populäre Abhandlung über das 
Inenwesen. Uebrigens bringen mehrere Hülfsver- 
einsberichte solche Abhandlungen. Im Züricher Be¬ 
richt schreibt 1902 Inhelder über einen „Gang 
durch eine Irrenanstalt“, 1903 v. Muralt „Ueber 
erbliche Belastung bei Geisteskranken“. Im Basler 
Bericht sind Vorträge von Wille über „Ein schwei¬ 
zerisches Irrengesetz“ und „Ueber Irrsein, Irre und 
Irrenanstalten“ abgedruckt. Dem letzten rheini¬ 
schen Hülfsvereinsbericht liegt eine Abhandlung von 
Scholz über „die Grenzen des Irreseins“ bei. Allen 
diesen Arbeiten möchte man im Publikum grosse 
Verbreitung wünschen. 

Ausser von den Hülfsvereinen werden noch oft 
von den Anstalten direct Unterstützungen an Ent¬ 
lassene, oder an Familien von in der Anstalt be¬ 
findlichen Kranken gewährt. Wohl die meisten An¬ 
stalten haben irgend einen, wenn auch oft kleinen 
Fonds zu diesem Zweck. Die Berichte sagen nicht 
viel darüber. 

In relativ grossem Umfange scheint diese Ein¬ 
richtung in Illenau zu bestehen. Allein an Weih¬ 
nachtsgaben werden dort pro Jahr an 1000 M. und 
mehr verausgabt. Unter den verschiedenen Stift¬ 
ungen, über welche die Anstalt verfügt, befindet sich 
auch eine aus mehreren Schenkungen und Vermächt¬ 
nissen vereinigte, welche für arme Entlassene oder 
bedürftige Angehörige von Kranken bestimmt ist. 


Die neue „Schüle-Stiftung“, welche Schüle bei 
Gelegenheit seines 40jährigen Dienstjubiläums über¬ 
reicht worden ist, soll „zu Erziehungsbeihülfen für 
Kinder von in der Anstalt befindlichen und ehe¬ 
maligen bedürftigen und würdigen Pflegebefohlenen 
der Anstalt Illenau“ verwendet werden. 


VI. Alkohol. 

An der Alkoholfrage, die in unsern Tagen mit 
solcher Lebhaftigkeit erörtert wird, sind wir Irren¬ 
ärzte mit in erster Linie interessirt Unsere Jahres¬ 
berichte bringen natürlich keine eingehenden Be¬ 
sprechungen darüber; aber principielle Meinungs¬ 
äusserungen dazu finden sich doch in recht vielen. 

Vor allem interessirt die Frage, in welchem Um¬ 
fange der Alkoholmissbrauch an der Aetiologie der 
Psychosen betheiligt ist, und viele Berichte geben 
in ihren statistischen Berechnungen Aufschluss hier¬ 
über; freilich von etwas verschiedenen Standpunkten 
aus, sodass die mitgetheilten Zahlen nicht direct 
vergleichbar sind. — Einige der Zahlen seien hier 
wiedergegeben. 

Der brandenburgische Bericht theilt mit, dass in 
Eberswalde unter den Männern 21,2%, unter den 
Frauen 0%, in Neu-Ruppin unter den Männern 
16,33%, unter den Frauen 5,32% Trinker waren. 

Sachsen berechnet aus seinen sämmtlichen 
Anstalten 18,5% der Männer und 2,2% Frauen, 
bei denen der Alkoholismus überhaupt ätiologisch 
in Betracht kam, während sich wirkliche Alkohol¬ 
entartung nur in 2,1% der männlichen Aufnahmen 
fand. 

Württemberg berechnet unter sämmtlichen 
Aufnahmen, ohne Trennung der Geschlechter, 10% 
Alkoholismus. Unter Hinzurechnung der Fälle, in 
denen bei einem der Eltern Trunksucht vorlag, 
kommt bei 17% der Aufnahmen der Alkohol als 
ätiologisches Moment in Betracht. 

Im Burghölzli handelte es sich um Alkohol¬ 
psychosen bei 16,1% der Männer, 2,3% der Frauen, 
im Ganzen bei 10,7% der Aufnahmen. 

Die enorme Anzahl von Alkoholpsychosen, welche 
in der Frankfurter Anstalt zur Aufnahme ge¬ 
langt sind, lässt sich mit den anderen nicht ohne 
weiteres vergleichen. Es sind unter 742 männlichen 
Aufnahmen 415. Charakteristisch ist es, dass da¬ 
runter 97 Fälle von „acutem Alkoholismus“ sich be¬ 
finden. Die Anstalt hat eben eine offene Abtheilung 
ohne complicirte Aufnahmebedingungen, in die seitens 
der Rettungsgesellschaft jeder auf der Strasse be- 


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402 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 41. 


wusstlos gefundene eingebracht wird. „Es kann 
keinem Zweifel unterliegen, dass dies die einzig rich¬ 
tige, humanen und mechanischen Grundsätzen ent¬ 
sprechende Behandlung des Alkoholismus ist. Nur 
in der Anstalt kann entschieden werden, ob es sich 
um einfachen Alkoholismus oder um eine Himherd- 
erkrankung handelt. Auch können nur hier die ein¬ 
fachen acuten Alkoholisten von den chronischen 
Alkoholisten getrennt werden. Die ersteren werden 
baldmöglichst wieder entlassen, die letzteren, soweit 
sie dazu geeignet sind, einer längeren Behandlung 
unterworfen. Zu allen diesen Maassregeln ist nur 
die Irrenanstalt durch ihre Einrichtungen (permanente 
Badewache, Einzelzimmer, 'Wachsäle und ärztlichen 
Wachdienst) geeignet. u 

Die Zahlenbeispiele noch zu vermehren ist wohl 
überflüssig. Allgemein gültige Zahlen wird man aus 
unsern Berichten nicht gewinnen können, es giebt 
darin doch recht grosse örtliche Verschiedenheiten. 

Soviel geht aus diesen Zahlen wieder hervor, 
dass der Alkohol in der Aetiologie der Psychosen 
eine recht beträchtliche Rolle spielt. Und darum 
ist es verständlich, dass im Kampf gegen den Alko¬ 
holmissbrauch! Irrenärzte mit in erster Linie stehen. 

Es liegt nahe, diesen Kampf vor allem im 
eigenen Hause zu beginnen. Merkwürdigerweise 
scheint die Anzahl der Anstalten, welche die volle 
Abstinenz bei sich eingeführt haben, noch nicht sehr 
gross. 

Heidelberg theilt mit, dass dort seit 1893 
keine alkoholischen Getränke mehr verabreicht 
worden sind, ohne dass daraus Schwierigkeiten ent¬ 
standen wären. Neu eingefühlt ist die Abstinenz 
z. B. in Valduna, wo man sie im Lauf von 2 
Jahren ganz allmählich fortschreitend durchführte, 
ohne auf Schwierigkeiten zu stossen. „Welche An¬ 
schauungen man auch sonst immer in der Alkohol¬ 
frage vertreten mag, so wird doch kaum jemand zu 
bestreiten wagen, dass der Alkohol für Geistes- und 
Nervenkranke als Genussmittel zum Mindesten ent¬ 
behrlich ist“ — Mauer-Oehling hat die Abstinenz 
sogar gesetzlich festgestellt. Es heisst im Statut: „In 
der Anstalt werden geistige Getränke an Kranke 
grundsätzlich nicht verabfolgt. Ausnahmen sind nur 
im Falle der ärztlichen Verschreibung von Alkohol 
als Medikament gestattet.“ 

Man wendet gegen die Einführung der vollen 
Abstinenz in Irrenanstalten ein, dass für viele unserer 
Kranken der Alkohol unschädlich sei. Mag das 
immerhin sein; aber grösser ist doch jedenfalls die 
Zahl deijenigen, bei welchen der Alkohol ungünstig 
wirkt und bei vielen ist er sogar contraindicirt 


Deren Abstinenz lässt sich kaum mit Sicherheit 
durchführen, wenn daneben andere Kranke Alkohol 
bekommen. Und dabei lehrt die Erfahrung, dass 
die Zahl deijenigen Kranken, welche die Abstinenz 
unangenehm oder gar als Härte empfinden, ausser¬ 
ordentlich klein ist, mit Ausnahme natürlich der 
eigentlichen Alkoholisten, welche ja doch keinen 
Alkohol bekommen dürfen. Die grosse Mehrzahl 
der Kranken, denen der Alkohol unschädlich ist, 
hat auch kein grosses Verlangen danach. 

Es ist hier nicht der Ort, auf die mannigfachen 
gegen den Alkoholmissbrauch gerichteten Bestrebungen 
einzugehen. Nui über das Heilstättenwesen bedarf 
es noch einiger Worte. 

Es liegt ein Bericht über sämmtliche deutsche 
Trinkerheilstätten vor, welchen der Leiter der Lin- 
torfer Anstalt, P. Kruse, dem Bremer Antialko- 
holcongress gewidmet hat. Die Entstehung der Lin- 
torfer Anstalt, der ältesten in Deutschland, ist auf 
eine Anregung des älteren Nasse zürückzuführen. 
Später hat auch Werner Nasse sich der Sache 
lebhaft angenommen, und die von ihm aufgestellten 
Grundzüge für die Arbeit der Anstalt, welche im 
Bericht citirt werden, seien hier wiedergegeben: 
„Das innere Leben muss möglichst den Charakter 
des Familienlebens tragen, geregelt durch eine Haus¬ 
ordnung, der Jeder sich zu fügen hat, mit einem 
Hausvater oder Inspector an der Spitze, für den 
ein höherer Grad von Bildung dringend zu wünschen 
ist Ausser den allgemeinen Regeln der Behandlung: 
als Enthaltung von geistigen Getränken, Anleitung zu 
mannigfachen Beschäftigungen, Beschaffung einer be¬ 
sonders kräftigenden Kost, Anregung zu zerstreuender 
und belehrender Unterhaltung, sittlich-religiöser Ein¬ 
wirkung durch Hausandacht, Ansprachen, Lectüre 
u. s. w. wird hauptsächlich eine individualisirende 
Behandlung, ein Eingehen auf die mannigfachen ver¬ 
schiedenen körperlichen und geistigen abnormen Zu¬ 
stände und deren Ursprung die Aufgabe derer sein 
müssen, die ein solches Asyl leiten. Geistlicher und 
Arzt werden in dieser Hinsicht gemeinsam und in 
gegenseitigem Verständniss zu wirken haben.“ 

Diese im Jahre 1877 gesprochenen Worte ent¬ 
halten ein Programm, das in seinen Hauptpunkten 
auch heute noch Gültigkeit hat, und dem die meisten 
heute bestehenden und mit gutem Erfolg arbeitenden 
Heilanstalten in ihren Einrichtungen entsprechen. 
Nur wird man heute für solche Anstalten eine ärzt¬ 
liche Leitung fordern müssen, entsprechend dem 
Grundsatz, dass Alkoholiker Kranke sind. 

Von allen wird betont, dass es bei der Trinker¬ 
behandlung auf eine erziehliche Beeinflussung der 


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1 9 ° 5 *] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


403 


gesammten Persönlichkeit ankomme, welche durch 
Beschäftigung, Unterhaltung, Geselligkeit etc. ange¬ 
strebt wird. Die vollständige Enthaltsamkeit von 
alkoholischen Getränken ist dabei selbstverständlich, 
und zwar muss erstrebt werden, diese zu einer 
dauernden zu machen. Alle Erfahrungen sprechen 
dafür, dass es nicht angeht, dem Trinker nach er¬ 
folgreicher Kur für sein späteres Leben den massigen 
Genuss geistiger Getränke wieder zu gestatten. Der 
massige Genuss führt dann stets bald wieder zum 
Uebermaass. Der Bericht von Haus Rocken au 
sagt: „Bei der Natur des Leidens ist es unmöglich, 
auf anderm Wege Heilung zu erzielen, als indem 
man den Kranken zum überzeugten und begeisterten 
Anhänger der vollständigen Enthaltsamkeit macht, 
der fähig ist, wenn er wieder ins Leben hinaustritt, 
seinen neugewonnenen Standpunkt zu vertheidigen.“ 
Kruse bringt, nach ausführlichem Bericht über 
die stattliche Zahl der deutschen Anstalten, noch eine 
Zusammenfassung, aus der hervorgeht, dass zur Zeit 
in Trinkerheilanstalten 532 Plätze für Männer, 140 
für Frauen, und 113 in beiden Geschlechtern ge¬ 
meinsamen Anstalten zur Verfügung stehen. Für 
den Bedarf ist das sicher zu wenig. Zudem haben 
manche der Anstalten mit finanziellen Schwierig¬ 
keiten zu kämpfen; denn sie sind durchweg Privat- 


untemehmungen, nur ganz vereinzelt haben Behörden 
sich der Sache angenommen. 

Dass dem Bedarf bisher nicht genügt ist, geht 
schon aus der grossem Zahl der Alkoholiker-Auf¬ 
nahmen in die Irrenanstalten hervor. Denn, ent¬ 
gegen der oben mitgetheilten Frankfurter Auffassung, 
ist man doch im Allgemeinen der Meinung, dass 
die einfachen, nicht ausgesprochen psychotischen 
Trinker in der Irrenanstalt nicht zweckmässig unter¬ 
gebracht sind. Die besten Erfolge in der Trinker¬ 
behandlung werden von kleinen Anstalten mit mehr 
familiärem Charakter erzielt 

Auf die Dauer werden sich also doch wohl die 
zuständigen Behörden der Nothwendigkeit nicht ver- 
schliessen können, auch für die Trinker eine offidelle 
Fürsorge zu schaffen. Hier und da finden sich 
schon Ansätze dazu. So lese ich im b ran den - 
burgischen Berichte, dass man der Heilstätte 
Waldfrieden die Ueberweisung von Trinkern aus 
den Landesirrenanstalten zugesichert habe, „für den 
Fall der Herstellung eines entsprechenden Neubaus 
und Berufung eines ärztlichen Leiters“. Und Kruse’s 
Bericht entnehme ich noch, dass Dresden mit der 
Gründung einer städtischen Trinkerheilstätte beschäf¬ 
tigt ist | (Fortsetzung folgt.) 


Einige Bemerkungen zu Prof. Heilbronner’s Aufsatz über die Versorgung 

der geisteskranken Verbrecher.*) 

Von Medidnalrath Dr. P. Näcke , in Hubertusburg. 


r\er Redakteur dieser Wochenschrift bat mich, 
zu den Hauptergebnissen der grossen und in¬ 
haltsreichen Arbeit Heilbronners Stellung zu nehmen. 
Ich folge um so lieber dieser Aufforderung, als H. 
fast überall zu denselben Resultaten gelangt, wie ich 
in meinen verschiedenen Studien über denselben 
Gegenstand. 

Mit mir und andern fordert H. eine bessere 
psychiatrische Vorbildung der Gefongnissärzte, die 
durch Kurse an den Gefängnissirrenabtheilungen zu 
befördern wäre. Das setzt, meine ich, natürlich 
voraus, dass Gefängnisse mit solchen Abtheilungen 
entweder in Universitätsstädten oder an Orten sich 
befinden, wo erfahrene Psychiater wohnen, um als 
Lehrer dienen zu können. Man könnte gleichzeitig 
auch, wie schon Lombroso verlangte, Verbrecher- 

*) In der Monatsschrift für Kriminalpsychologie etc. 1904 
1. Jahrg. H. 5. 


kliniken einrichten, an denen Juristen und Aerzte zu¬ 
gleich, auch Gefängnissbeamte theilnehmen würden. 
Gerade das Zusammenarbeiten dieser disparaten 
Elemente wäre später sehr wichtig, besonders, wenn 
man an die Vorstellung Diskussionen oder eine Art 
von Seminar angeschlossen hätte, an dem auch 
anthropologische, soziale und statistische Untersuchungen 
vorgenommen würden. Dann erst schieden möglichst 
bald die für die Strafabsitzung ungeeigneten Elemente 
aus dem Gefängnisse, weil sie eben früh als krank 
erkannt würden. 

Dass diese Gefängnissirrenabtheilungen, wie Heil- 
bronner verlangt, den Charakter von vorwiegenden 
Beobachtungsabtheilungen haben sollten, wäre weniger 
nach meinem Geschmacke, da ich die Abtheilung 
eben als eine kleine, aber möglichst vollkommen ein¬ 
gerichtete Irrenanstalt von 150—«ioo Personen mir 
denke, wohin nicht bloss Fälle zur Beobachtung, 


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404 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 41- 


sondem auch zur Heilung und, wenn unheilbar, auf 
unbestimmte Zeit behalten werden sollten, bis die 
Gemeingefährlichkeit oder Gefahr inhaltlicher An¬ 
steckung vorüber ist. Solche grössere Anstalten 
würde man selbst in Preussen nur 2 oder 3 brauchen. 
Sie erscheinen besser, als mehrere kleine. Sie wären 
also keine blossen Durchgangsstationen, wie jetzt 
noch dort! 

Zentralanstalten für alle Vorbestraften oder mit 
den Gesetzen in Konflikt gekommenen Geisteskranken 
hält H. nicht für nöthig und das sehr richtig! Ja, 
er will sogar nicht die Gefährlichen aus dem Gefäng- 
niss in eine besondere Abtheilung versetzt wissen, 
und hält dies selbst für sehr bedenklich. 

Er sagt wörtlich: „Unter den Kranken, die 
der Irrenanstalt aus den Gefängnissen zu- 
fliessen, ist — auch unter den ungünstig¬ 
sten Verhältnissen — der Prozentsatz der 
Gefährlichen viel geringer, als vielfach 

behauptetund angenommen wird.Bei 

entsprechender Vertheilung können die 
Irrenanstalten ihrer Aufgabe zur Aufnahme 
und Behandlung aller Geisteskranken — 


inclusive der gefährlichen Verbrecher — 
gerecht werden, ohne dadurch in ihrer Ent¬ 
wicklung und ihrer Aufgabe gehemmt zu 
werden.*) 

Ich freue mich besonders, dass Heilbronner obige 
Sätze, die so viele aus Voreingenommenheit 
nicht annehmen wollen, hinstellte. Sie treffen sicher 
im allgemeinen das richtige. 

Man versuche also meinetwegen die gefährlichen 
unter die gewöhnlichen Geisteskranken zu mischen. 
Wo es absolut nicht geht, sollte man sie, wenn nicht 
vielleicht besser gleich von vornherein, im Adnexe 
der Strafanstalt belassen, bis sie eben den Character 
der Gefährlichkeit eingebüsst und dann eben ganz gut 
unter die anderen Kranken passen. Wo aber kein 
solcher Adnex da ist, bleibt nichts übrig, als 
solche Elemente, zu denen dann aber auch die ge¬ 
fährlichen und pravirenden Elemente unter den 
nicht bestraften Geisteskranken gehören, in einen 
eigenen, festen Pavillon oder do. Abtheilung einzu- 
schliessen, freilich wieder nur ein Nothbehelf. 

*) Im Text nicht gesperrt gedruckt! 


Mittheilungen. 


— Herr Professor Dr. med. et phil. Sommer 
(Giessen) ist, wie wir zu unserer besonderen Freude 
mittheilen, den Herausgebern dieser Zeitschrift bei¬ 
getreten. Red. 

— 35 . Versammlung der südwestdeutschen 
Irrenärzte in Fr ei bürg i. B. am 29. und 30. 
October 1904. Referent: Dr. K rau ss-Kennen bürg. 
(Fortsetzung.) 

1 a. Dr. Thoma-Illenau: Leicht abnorme 
Kinder. 

Neben den geistesschwachen, den epileptischen 
und gemüthsentarteten Kindern, fallen unter den 
Begriff der leicht abnormen auch die Kinder mit 
Störungen, die den Neurosen Erwachsener nahe¬ 
stehen , resp. mit diesen identisch sind. Es sind 
Störungen, die sich unter den Hauptgruppen der 
kindlichen Neurasthenie, Hysterie und Chorea minor 
zusammenfassen lassen. 

Was zunächst die Neurasthenie betrifft, so steht 
hier das von Emminghaus als Neurasthenia 
cerebralis der Kinder bezeichnete abgeschlossene 
Krankheitsbild an der Spitze. — Meist hat man es 
jedoch nicht mit einem solchen zu thun, sondern mit 
einzelnen Erscheinungen, die in das Gebiet der Neu¬ 
rasthenie gehören. 

Dies sind zunächst die Zwangsvorstellungen 


und Phobieen, die schon bei Erwachsenen, mehr 
aber noch bei Kindern auf neuropathische Veranlag¬ 
ung hindeuten. Manche Phobieen (Furcht vor 
Spinnen, Mäusen, Ekel vor gewisser Nahrung) stehen 
den Idiosynkrasieen nahe und unterscheiden 
sich vom Normalen nur durch die Dauer und In¬ 
tensität der Reaction. Ihren Ausgangspunkt können 
sie von einem einmaligen starken psychischen Ein¬ 
druck nehmen. Daneben sind die echten Zwangs¬ 
vorstellungen wie bei Erwachsenen häutig. Auch 
die krankhafte Skrupulosität gehört hierher. 

Mit den Zwangsvorstellungen verwandt sind die 
Tics, die sich bis zur maladie des tics con- 
vulsifs steigern können, deren erstes Symptom 
aber lediglich in Zerstreutheit und Unaufmerksamkeit 
bestehen kann. 

Ebenso wie die Tics deuten eine Reihe von vor¬ 
wiegend vasomotorischen Erscheinungen auf das Vor¬ 
handensein der neuropathischen Anlage und sind 
deshalb alsWarnungssignale wichtig. (Erröthen, 
Erblassen, partielle Gefässparesen, Nesselausschläge, 
nervöses Herzklopfen und Erbrechen etc.) Die 
Therapie ist in allen diesen Fällen in dem Referat nur 
kurz angedeutet und wird neben einer allgemeinen 
hygienisch diätetischen, stets eine ärztlich pädago¬ 
gische Behandlung empfohlen. 


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1 9 ° 5 -] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


405 


An die Tics schliessen sich gewisse mehr im psy¬ 
chischen Gebiet liegende Erscheinungen an. Die 
pathologische Träumerei, in der die Pseudo¬ 
logia phantastica ihren Ursprung haben kann. 

Ferner gehört hierher das trieb artige Davon¬ 
laufen, der Wandertrieb, Fugues, die Porio- 
manie, die den Wanderungen Epileptischer und 
Hysterischer ähnlich ist, gerade bei Kindern aber 
auch auf Grund einfacher Psychasthenie Vorkommen 
kann und sich zuweilen an eine Missstimmung, eine 
Dysphorie anschliesst. 

Referent wendet sich dann zur Hysterie, die 
bei Kindern wohl stets auf erblicher Anlage beruht 
und angeboren ist. 

Die sichersten Erscheinungen sind Krämpfe, die 
früher häufig irrthümlich der Dentition zugeschrieben 
wurden, ferner Lähmungen und Contracturen, Zom- 
paroxysmen. Ohnmächten, Strabismus etc. Bei zu¬ 
nehmendem Alter werden die Erscheinungen immer 
mehr denen bei Erwachsenen ähnlich, vor Allem 
auch die Ausbildung des hysterischen Charakters. 

Wichtig sind auch hier die ersten oft sehr vagen 
Erscheinungen, die Hysterie in statu nascendi, 
die sich bei den Kindern zuweilen nach einem 
Schrecken oder im Reconvalescenzstadium von acuten 
Krankheiten zeigen und um so leichter ihren hyste¬ 
rischen Charakter verbergen, als die Hysterie hier 
häufig monosymptomatisch auftritt. 

Auch bei der Chorea minor, die ebenfalls 
meist auf nervösem Boden erwächst, wird die aus¬ 
gebildete Erkrankung ihrer typischen Muskel¬ 
unruhe resp. Bewegungen auch von Eltern und Leh¬ 
rern kaum übersehen. Dagegen sind im Beginn die 
Erscheinungen oft wenig ausgeprägt und werden da¬ 
her oft verkannt, zumal auch stets der Charakter der 
Kinder verändert ist. 

Bei allen Ausführungen betont Referent die 
Wichtigkeit des Beobachtens der Initialsymptome 
als Wamungssignale, aus welchen auf das Vorhanden¬ 
sein einer psychopathischen oder psychasthenischen 
Constitution geschlossen werden kann. 

Der zweite Theil des Referates behandelt die 
allgemeinen Principien, die bei der Bekämpfung dieser 
Aeusserungen einer abnormen Anlage im Kindesalter 
in Betracht kommen. 

Da eine Besserung gewisser ätiologisch wichtiger 
Factoren, z. B. die Vermeidung von Ehen consti-, 
tutionell kranker Personen vorläufig nicht zu erwarten 
sein dürfte, so ist ein möglichst frühzeitiges Erkennen 
der kranken Anlage nöthig, da, wenn überhaupt, im 
Beginne noch bessernd auf diese eingewirkt werden 
kann. 

Zur Feststellung der abnormen Kinder wird dann 
eine möglichst ausgiebige, auch auf das Land aus¬ 
gedehnte Controlle durch psychiatrisch und psycho¬ 
logisch vorgebildete Schulärzte empfohlen. 

Die Behandlung selbst richtet sich gegen die 
kranke Constitution und soll heilend und erziehend 
zugleich wirken. Sie muss daher eine ärztlich päda¬ 
gogische sein. Neben sorgfältiger Körperpflege, wo¬ 
bei Ruhe, Diät, Gymnastik, Bewegungsspiele, Hydro¬ 
therapie eine Rolle spielen, ist vor allem die Er¬ 


ziehungsmethode wichtig. Man nimmt jetzt allgemein 
an, dass der übliche Fachunterricht sich für viele 
geistig abnorme Kinder nicht eignet, vielmehr für 
solche eine von individual-psychologischen 
Principien ausgehende Erziehungsmethode anzuwenden 
ist. 

Sowohl die ärztliche Behandlung von kranken 
Kindern der oben erwähnten Kategorien, als auch 
die genannte Erziehungsmethode, wird sich in vielen 
Fällen nur in einer entsprechend geleiteten Anstalt 
durchführen lassen. 

Referent empfiehlt daher in einem Schlusssatz 

1. ausgiebige Anstellung psychiatrisch und psycho¬ 
logisch vorgebildeter Schulärzte; 

2. Schaffung von Anstalten nach dem obigen 

Princip. (Autoreferat.) 

Discussion: 

Dr. La quer: Schliesst sich in der Hauptsache 
den Ausführungen der Referenten an. Er macht 
gegen die Mannheimer Wiederholungsförderklassen 
geltend die Vermehrung der so wie so kaum er¬ 
schwinglichen Schullasten und das Fehlen der Besser¬ 
befähigten, welche die anderen mit sich reissen. 
Schulen für nervöse und hysterische Kinder sind 
werthlos; solche sollen zu Hause erzogen und ärzt¬ 
lich behandelt werden. Epileptiker können in den 
Hilfsschulen bleiben. 

Sanitätsrath Wildermuth weist die Nothwen- 
digkeit eigener Anstalten für nervöse Kinder zurück. 
Chorea und Hysterie haben nichts mit einander zu 
thun. Er weist auf die Bedeutung der Beobachtung 
der Kinder beim zwanglosen Spiel hin. 

Professor Pfister- Freiburg wünscht Material 
gesammelt zu wissen über den neurologischen Status 
geistig abnormer Kinder, insbesondere der psycho¬ 
motorischen Anomalien und Defecte, das späterhin 
in diagnostisch-prognostischer Beziehung Verwerthung 
finden könnte. 

Medicinalrath Dr. K reu s er-Winnenthal ver¬ 
misst Vorschläge für die Fürsorge für die abnormen 
Kinder über die Schule hinaus. Hier muss besonders 
individualisirt werden. Die gemeinsame Erziehung 
beim Militär ist ja wohl für einen Theil sehr förder¬ 
lich, bei dem anderen, der mit der Disciplin in 
Conflict kommt, führen die Strafen zu weiterer psy¬ 
chischer Degeneration. 

Dr. Laquer-Frankfurt verweist auf die Arbeits¬ 
lehrkolonien , wie sie in Breslau im Anschluss an 
die Hilfsschulen bestehen und in Frankfurt einge¬ 
führt werden sollen. Die Listen der Schulentlassenen 
der Hilfsschulen, die in vielen Theilen des Reiches 
der Aushebungscommission eingereicht werden, sind 
sehr von Nutzen. 

Professor Fürstner - Strassburg: Bei den zu 
Rede stehenden Kranken spielen Entwickelungs- 
hemmungen und Krankheiten in der ersten Kind¬ 
heitsperiode eine grössere Rolle, als von den Herren 
Referenten hervorgehoben wurde, wie gewisse Ver¬ 
änderungen, wie Ungleichheiten der Reflexe auf 
beiden Seiten beweisen. 

Gegenüber der von Herrn Weygandt als typisch 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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angenommenen Gemüthsstumpfheit der moralisch De- 
fecten weist er auf die bei derartigen Kranken häufig 
zu beobachtende sehr lebhafte Affecterregbarkeit hin, 
die allerdings in der Reaction von der Norm ab¬ 
weicht, ja ihr oft genug entgegengesetzt ist. Einen 
Wandertrieb ohne Bewusstseinstrübung anzunehmen 
ist um so bedenklicher, als damit die Unterscheidung 
zwischen pathologischem Wandern und dem Davon¬ 
laufen gesunder Kinder wegfällt. Manche Erlebnisse 
pathologischer Natur in der Anamnese dürften sich 
als Erinnerungsfälschungen erweisen. 

Fürstner warnt vor der Aeussemng weiterer 
Anstaltswünsche. 

Weygandt (Schlusswort) äussert sich zustimmend 
zu den Discussionsbemerkungen von Medicinal-Rath 
Kreusser und Prof. Fürstner und glaubt auch mit 
San.-Rath Wildermuth vor übertreibender Specialisirung 
im Sonderschulwesen warnen zu müssen. Dennoch er¬ 
scheint ihm das Mannheimer System empfehlenswerth, 
weil es im engsten Zusammenhang mit dem Gesammt- 
schulorganismus steht. Keineswegs bedeute es eine 
grosse Mehrbelastung des Schuletats, denn ob io 
Klassen mit je 35 Schülern von 10 Lehrern unterrichtet 
würden oder 9 Normalklassen von je 37 und eine 
Förderklasse von 17 Schülern von zusammen 10 
Lehrern, das sei für die Kostenfrage ganz dasselbe. 
Auch in den Förderklassen seien noch so verschiedene 
Individualitäten, dass keineswegs der Anreiz durch 
die Leistungsfähigeren fehle. Die bisherigen Erfahr¬ 
ungen bei Kindern, Eltern und Lehrern sind durch¬ 
aus ermuthigend. 

Thoma (Schlusswort): Der Einwand von Dr. 
Wildermuth, dass für eine grössere Anstalt dieser 
Art kein Bedürfnis vorliege, wird von Referent da¬ 
hin beantwortet, dass in dem Referate absichtlich 
eine Aeusserung über die praktische Ausführung ver¬ 
mieden wurde. 

Referent habe übrigens, soweit eine öffentliche 
Fürsorge in Betracht komme, nur an eine Abtheilung 
für.leicht abnorme Kinder vielleicht zusammen mit 
wirklich psychisch Kranken gedacht, die einer be¬ 
stehenden grösseren Irrenanstalt anzugliedem wäre. 
Für eine solche bestehe aber allerdings ein Be- 
dürfniss. 

2. Neu mann-Karlsruhe: Bericht der Ner- 
venheilstätten-Commission. 

Neu eröffnet wurde die Nervenheilstätte Rase¬ 
mühle bei Göttingen 1903. Im Bau befindet sich 
die Anstalt Leichlingen. Beschlossen sind Anstalten 
von der Stadt Essen und vom Grossherzogthum 
Baden. Letztere erfreut sich des Interesses der 
Krankenkassen. Zu ihrer Förderung wurde von 
Privaten ein Heilstätten verein gegründet, der ein 
Capital von 25000 M. besitzt und dem von der 
Staatsregierung 50000 M. in Aussicht gestellt wurden. 

3. San.-Rath Dr. F aus er-Stuttgart: Endogene 
Sy mptom enkomplexe bei endogenen Krank- 
h eitsforme n. 

Redner berichtet zunächst in ausführlicher Weise 
über einen von ihm beobachteten Krankheitsfall, bei 

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dem über ein Jahr lang ein Zustandsbild bestand, 
das nach allen seinen klinischen Erscheinungen, 
nach Krankheitsbeginn und Verlauf mit der Manie, 
resp. dem manisch-depressiven Irresein sich 
deckte, das weder in der geistigen noch in der 
körperlichen Sphäre ein paralytisches Symptom er¬ 
kennen Hess, und das nach mehr als Jahresfrist, 
scheinbar in der Nähe der Genesung, einer an¬ 
scheinend gut fundirten Diagnose zum Trotz, als der 
Paralyse zugehörig sich entpuppte. 

Bei der pathogenetischen Erklärung solcher Fälle 
weist der Vortragende zunächst auf die Thatsache 
hin, dass nicht nur bei der Paralyse, sondern auch 
bei andern exogenen Krankheitsformen — bei Collaps- 
Delirium, Amentia, erworbener Neurasthenie: bei den 
katatonischen, präsenilen und senilen Involutions- und 
Verblödungsprocessen; bei Hirntumoren und anderen 
umschriebenen Gehirnprocessen u. s. f. — neben dem 
manisch-depressiven Symptomenkomplex auch 
hysterieartige, konstitutionell-neurasthenische, moral- 
insanitv-artige Komplexe erfahrungsgemäss zur Beob¬ 
achtung gelangen. 

Durchweg handelt es sich dabei um Syndrome 
aus der degenerativen Gruppe. Das Charakte¬ 
ristische für alle diese Störungen degenerativer Art ist, 
dass sie durch eine Brücke psychologischer Zusammen¬ 
hänge mit dem normalen Seelenleben verbunden, 
dass sie introspectiv begreifbar sind: von den aus¬ 
gesprochen Manischen, Depressiven führt der Weg 
über die konstitutionell Erregten, konstitutionell Ver¬ 
stimmten schrittweise zurück ins Normale; die „rein 
psychogene Entstehungsweise“, die wir für die hyste¬ 
rischen und verwandten Neurosen in Anspruch neh¬ 
men, ist nichts anderes als der Ausdruck für die 
introspektive Begreifbarkeit derselben; Phobieen, 
Zwangsvorstellungen und andere konstitutionell-neu- 
rasthenische Symptome innerlich zu verstehen und 
nachzuerleben fällt uns nicht allzuschwer etc. Es 
handelt sich eben bei den degenerativen Krankheits¬ 
erscheinungen um coordinirte Svmptomenkomplexe, 
die beim Gesunden bereits präformirt sind, deren 
einseitiges Hervortreten aber beim Gesunden durch 
eine Reihe von Momenten, insbesondere durch die 
Einflüsse der Uebung, Erziehung, der intellektuellen 
Processe ganz oder nahezu ganz verhindert wird. 
Je mehr diese letztgenannten Momente an Intensität, 
absolut oder relativ, abnehmen, um so mehr 
werden jene bisher latenten Syndrome manifest. 
Das Auftreten hysterischer, manisch-depressiver etc. 
Symptome bei exogenen Krankheitsformen dürfen 
wir sowohl als eine Ausfallserscheinung auf¬ 
fassen , die mit den anderen längst bekannten Aus¬ 
fallserscheinungen auf den Gebieten der Uebung, der 
Erziehung, der intellektuellen Processe auf eine Stufe 
zu stellen ist. 

Der Vortragende fasst zum Schluss seine Aus¬ 
führungen in folgende drei Sätze zusammen: 

1. Bei vielen (allen?) durch äussere Ursachen 
im weitesten Sinn hervorgerufenen Krankheitsformen 
finden sich Svmptomenkomplexe aus der degenera¬ 
tiven Gruppe, die für den Krankheitsverlauf inhalt¬ 
lich und formal von wesentlicher Bedeutung sind. 


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I 9 ° 5 *] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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2. Durchweg handelt es sich dabei um psychische 
Faktoren, die bereits im gesunden Leben vorgebildet 
sind. 

3. Ihr einseitiges Hervortreten ist am ehesten 

als eine Ausfallserscheinung aufzufassen, analog 
den übrigen schon längst als Ausfallserscheinungen 
gewürdigten Symptomen. (Autoreferat.) 

Discussion: 

Prof. Fürstner: Die Erfahrung, dass progressive 
Paralysen im Beginne unter dem Bilde endogener 
Psychosen mit an Heilung streifender Remission 
verlaufen, ist nicht so selten. 

(Fortsetzung folgt.) 


Referate. 

— Allgemeine Zeitschrift f. Psychiatrie 
u. psych. ger. Med. Bd. 61, 1. u. 2. Heft. 

Ganghör (Niedernhart-Linz): Ein casuisti- 
scher Beitrag zur I mbecillität. 

Von dem gleichen Sachverständigen waren über 
einen 18jährigen, der Schändung, Blutschande etc. 
angeklagten Menschen kurz nach einander zwei ganz 
verschiedene Gutachten abgegeben worden. Erst 
durch die Beobachtung in der Irrenanstalt wurde 
Imbecillität festgestellt und zwar lag bei verhältniss- 
mässig gut entwickeltem Gedächtniss ausser ethischen 
und moralischen Defekten ein auffallendes Versagen 
des Schlussapparates und der Combinationsgabe vor. 

Jung (Burghölzli-Zürich): Ueber manische 
Verstimmung. 

Zunächst werden ausführliche Krankengeschichten 
von 4 Fällen wiedergegeben, deren Eigenthümlichkeit 
in einem chronischen submanischen Verhalten 
besteht; ähnliche Zustände sind als sanguinische 
Minderwerthigkeit, chronische Manie etc. beschrieben 
worden, Verf. zieht aber den engeren Krankheits¬ 
begriff der manischen Verstimmung vor und kommt 
zu folgenden Thesen: Die manische Verstimmung 
ist ein dem Gebiet der psychopathischen Minder- 
werthigkeit angehörendes Krankheitsbild, welches 
charakterisirt ist durch einen meist bis in die Jugend 
zurückreichenden, stabilen, submanischen Symptomen- 
komplex. Exacerbationen von unsicherer Periodicität 
kommen vor. Alkoholismus, Criminalität, Moral in- 
sanity, sociale Unbeständigkeit oder Unfähigkeit sind 
in diesem Falle vom submanischen Zustande ab¬ 
hängige Symptome. 

v. Grabe (Hamburg-Langenhorn): Ein Fall 
von episodischer Katatonie bei Paranoia. 

Bei einer 39jährigen Patientin mit ausgebildeter, 
schon mehrere Jahre andauernder Paranoia, bildete 
sich ziemlich plötzlich ein Zustand von Katatonie 
aus, der nach etwa drei vierteljähriger Dauer völlig 
schwand und dem alten paranoischen Zustand Platz 
machte. 

Mönkemöller (Osnabrück): Tortur und 
Geisteskrankheit. 

Die Gesetzbücher des Mittelalters bestimmten zu¬ 
vor, dass Geisteskranke von der Tortur befreit sein 
sollten, aber die Praxis stand mit der Theorie im 
ärgsten Widerspruch. Eine Befreiung von der Folter 


* 

trat thatsächlich nur selten ein, da einerseits die Psy¬ 
chosen nicht erkannt wurden und andererseits über¬ 
all Simulation gewittert wurde. Sobald Hexerei im 
Spiele war, fiel überhaupt jede Milde w r eg; die Situa¬ 
tion dieser Unglücklichen wurde namentlich dann 
verschlimmert, wenn das sogenannte Stigma, wonach 
eifrig gesucht wairde, gefunden worden war. 

Schulze (Sorau): Ueber moral insanity. 
Ein Beitrag zur Psychologie des moralischen Irre¬ 
seins. 

Individuen mit theilw f eisem oder gänzlichem Aus¬ 
fall moralischer Begriffe sind zurückgebliebene Men¬ 
schen, die gleichsam einen atavistischen Rückschlag 
in die Urform der hypothetischen Höhlenmenschen 
darstellen; es sind Wesen, die in ein falsches Zeit¬ 
alter hinein geboren sind und an denen die viele 
Jahrtausend alte Erziehung des Menschengeschlechts 
durch sich selbst ohne Eindruck vorüber gegangen 
ist. Diese Menschenspielart steht ausserhalb der 
Principien des ganz auf socialer Basis ruhenden 
Rechts; in Rücksicht auf ihre Gefährlichkeit bedarf 
die menschliche Gesellschaft des Schutzes vor ihnen, 
und es ist zu hoffen, dass der weitere Entwickelungs¬ 
gang unserer Strafrechtspflege dahin führen wird, 
dass diese antisocialen Elemente nicht mehr bestraft, 
sondern in einer ihrer Individualität angepassten Form 
unschädlich gemacht werden. 

König (Dalldorf): Die Aetiologie der ein¬ 
fachen Idiotie verglichen mit derjenigen 
der cerebralen Kinderlähmungen. 

Nachdem Verf. in einer früheren Arbeit die prä- 
disponirenden und ätiologischen Momente der cere¬ 
bralen Kinderlähmungen eingehend untersucht hatte, 
stellte er nunmehr an 260 Fällen von Idiotie die 
gleichen Untersuchungen an und kommt zu dem 
Resultat, dass eine grosse Uebereinstimmung der 
zu beiden Erkrankungen führenden Momente vor¬ 
handen ist. Nach Ansicht des Verf. sind zu den 
sicheren ätiologischen Momenten nur zu rechnen: 
schwere bez. asphiktische Geburt, Kopftrauma und 
Infektionskrankheiten, während alle anderen Momente 
prädisponirende bez. mitwirkende sind, z. B. erbliche 
Belastung, Potus des Vaters, familiäre Kachexie, Lues 
u. s. w. 

Ludwig (Heppenheim): Ueber die Anlage 
besonderer Speisesäle in den öffentlichen 
Irrenanstalten. 

Verf. hat seit 1883 in Heppenheim einen ausser¬ 
halb der Abtheilung im Wirtschaftsgebäude dicht 
neben der Küche gelegenen Speisesaal eingerichtet 
und empfiehlt auf Grund seiner Erfahrungen für 
jede Geschlechtsseite die Anlage eines derartigen 
externen Speisesaals. Wenn, wie in Heppenheim, 
eine gedeckte und geschlossene Verbindung zwischen 
dem Speisesaal und allen Abtheilungen durch einen 
Untererdgeschoss-Corridor hergestellt ist, können auch 
Kranke der unruhigen Abtheilungen zu den gemein¬ 
samen Mahlzeiten herangezogen werden. 

Arnemann, Grossschweidnitz. 

— Dr. Georg Ilberg, Oberarzt an der k. sächs. 
Heil- und Pflegeanstalt zu Grossschw-eidnitz. Irren- 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 41. 


anstalten, Idioten- und Epileptikeran¬ 
stalten mit besonderer Berücksichtigung 
der Thätigkeit des Arztes in denselben. 
84 Seiten. Jena, Fischer, 1904. 

In verdienstvoller Weise hat Ilberg im 4. Band 
des Handbuchs für sociale Medicin das Anstaltswesen 
in der Behandlung der Geisteskranken, Idioten und 
Epileptiker dargestellt. Die Einleitung entwirft eine 
Uebersicht über die Arten der Anstalten, von der 
Universitätsirrenklinik, der „wissenschaftlichen Kraft¬ 
quelle des gesammten Irrenwesens“ an bis zu den 
Stadtasylen, Heilanstalten, Pflegeanstalten, Irrenab¬ 
theilungen an Strafanstalten u. s. w. Wesentlich ge¬ 
stützt auf die Verhältnisse der musterhaften Anstalt 
zu Grossschweidnitz skizzirt das Buch den Bau einer 
idealen Heil- und Pflegeanstalt, als deren günstigste 
Belegzahl 600 angesehen ist. Wohl sind noch Isolir- 
räume, als „Stübchen“ bezeichnet, concedirt; Nach¬ 
druck ist auf die Dauerbäder gelegt, daneben zeigt 
sich eine Vorliebe für das Centralbad. Eine an¬ 
schauliche Schilderung fand die Bedeutung und der 
Verlauf von Anstaltsfesten. Im wirthschaftlichen 
Theil ist hinsichtlich der Abwasserbesorgung das 
biologische System von V. Schweder befürwortet 
Besonders beherzigenswerth bei der Lectüre von 
ärztlicher Seite sind die Darlegungen über den Dienst 
der Aerzte, der Pfleger u. s. w., wobei sich ein 
hübscher Ueberblick über die möglichen Zweige 
wissenschaftlicher Bethätigung in der Anstalt eröffnet. 

Gesondert dargestellt ist die Versorgung der 
Idioten und Imbedllen, die ja gerade in Sachsen 
auf vorbildliche Weise von dem Staat in die Hand 
genommen worden ist Bei aller Berücksichtigung 
des pädagogischen Einflusses spricht sich Ilberg doch 
schliesslich dahin aus, dass die Uebertragung der 
Leitung der Anstalten an mit genügenden päda¬ 
gogischen und administrativen Kenntnissen ausge¬ 
stattete Aerzte grossen Vortheil bringen würde. 

Den 3. Theil bildet eine Uebersicht über die 
Epileptikeranstalten. Das strenge Gebot der Alko¬ 
holabstinenz ist hier zu beachten, die freilich für alle 
Anstalten mit geistig abnormen Menschen ein Postulat 
sein sollte. Beherzigenswerth ist in dem Schlusswort 
noch die Mahnung, anstelle der „Inzucht“ einen 
„frischen, fröhlichen Wechsel der Anstaltsärzte eines 
Landes“ treten zu lassen. 

Mag auch das Buch in erster Linie an praktische 
Aerzte gerichtet sein, so kommt es daneben doch 
nicht nur dem Verständniss von Verwaltungsmännem 
entgegen, sondern es weiss auch unseren jüngeren 
Specialkollegen zweifellos reiche Anregung und Be¬ 
lehrung zu bieten. Weygandt-Würzburg. 

— E. Hirt- München. Der Einfluss des 
Alkohols auf das Nerven- und Seelen¬ 
leben. Wiesbaden, Bergmann, 1904. 76 S. 

Es ist ein erfreuliches Zeichen der Zeit, dass die 
Zahl guter Schriften, welche sich mit der Alkohol¬ 


frage beschäftigen, von Tag zu Tag wächst Auch 
in den „Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens“ 
durfte dieses Thema nicht unbesprochen bleiben und 
dem Charakter dieser Sammlung entspricht es, wenn 
H. nicht in flammenden Worten, sondern in ruhiger, 
eingehender Darstellung der ermittelten Thatsachen 
seine Hauptaufgabe sieht und die praktischen Schluss¬ 
folgerungen kurz an den Schluss stellt Er bespricht 
nach allgemeiner Einleitung über Gifte und Gift¬ 
wirkung zunächst die unmittelbaien reinen Wirk¬ 
ungen des Alkohols, wobei die acute und die chro¬ 
nische Vergiftung zur Darstellung kommen. Dass 
hierbei besonders die Arbeitsergebnisse Kraepelins 
und seiner Schüier herangezogen werden, ist natürlich. 
Es folgt die Schilderung der mittelbaren, zufälligen 
Alkoholwirkungen. (Complicirte Räusche, acute und 
mehr chronische Geistesstörungen der Gewohnheits¬ 
trinker.) Hier sind besonders Bonhöffer’s Arbeiten 
berücksichtigt. Endlich wird Alles wiedergegeben, 
was wir über die pathologische Anatomie der Alko¬ 
holvergiftung wissen. Schon aus dieser Inhaltsangabe 
sieht man, dass die Schrift mehr für ärztliche Leser 
als für Laien bestimmt ist. Auch die Gründlichkeit 
der Schilderung, das Eingehen auf zahlreiche Einzel¬ 
arbeiten lässt diese Absicht erkennen. In den Schluss¬ 
betrachtungen bezweifelt H., dass grosse Belehrungen 
der Menge allzuviel Zw’eck haben und fordert Um¬ 
gestaltung der Sitten durch das Beispiel. Von der 
Massigkeit hält er wenig, kommt vielmehr zu dem 
Schluss, dass die praktische Lösung der Alkoholfrage 
Abstinenz fordere. 

Die maassvolle und klare Schrift ist Allen zu 
empfehlen, die eine übersichtliche Darstellung der 
bisherigen Forschung über Alkohol Wirkung und Alko¬ 
holfolgen zu lesen wrünschen. Mercklin. 

— Dr. C. G. Jung, Ueber Simulation von Geistes¬ 
störung. Journal für Psychologie und Neurologie. 
1903. Bd. II. 

Verf. behandelt das Grenzgebiet von Simulation 
und wirklicher Geistesstörung, wozu er einige kasu¬ 
istische Beiträge liefert Das Ergebniss der Arbeit 
gipfelt in den Schlusssätzen: „1. Es giebt Menschen, die 
eine abnorme Nachwirkung starker Affekte (nament¬ 
lich Schrecken und Angst) in Form einer anhaltenden 
Fassungslosigkeit zeigen, welche man als „emotionelle 
Stupidität“ bezeichnen kann. 2. Affekte und deren 
spezifische Wirkung auf die Aufmerksamkeit begün¬ 
stigen das Auftreten von psychischen Automatismen 
im weitesten Sinne. 3. Aus abnormer Affektwirkung 
und Automatisation (oder Autohypnose) ist wahr¬ 
scheinlich eine gewisse Anzahl von Simulationsfällen 
zu erklären und deshalb als krankhaft aufzufassen. 
4. Auf gleiche Weise ist wahrscheinlich auch der 
Ganser’sehe Komplex bei Untersuchungsgefangenen 
zu erklären und als eine der Simulation nah ver¬ 
wandte, aber automatisirte Erscheinung aufzufassen.“ 
Dr. Fritz Hoppe, Tapiau. 


Für den redactionellen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Bresler, LuMinit* (Schlesien). 

Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahmc 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S. 

Heynemann’sche Buchdrackerei (Gebar. Wo’ffl ir Halle a. S. 


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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift. 

Redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bre8ler, 

Loblinits (Schieden). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Teley.-Adre—e: Marho Id Verlag, Hai leiaale. Fernsprecher 1834. 

Nr. 42. 14 - Januar. 1905. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden fifar die 3 spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermlarigung ein. 

Zuschriften für die Redaction dnd an Oberarzt Dr. Joh. Rresler, Lublinitz (Schieden), zu riditen. 


Dritter Bericht über die Fortschritte des Irrenwesens. 

Nach den Anstaltsjahresberichten erstattet 
von Dr. Deiters in Bonn, früher in Andernach. 

(Fortsetzung.) 


VII. Personal. 

a) Aerzte. 

Ueber die Aerzte der Anstalten habe ich in 
diesem Jahre nicht viel zu sagen. Es ist zur Ver¬ 
besserung ihrer Stellung in den letzten Jahren allent¬ 
halben viel geschehen, und nach unseren Berichten 
könnte es fast scheinen, dass ein Erfolg dieser Ver¬ 
besserungen bereits eingetreten wäre. Denn die 
Klagen über Mangel an Aerzten, über langes Un¬ 
besetztbleiben der Assistenzarztstellen, die noch vor 
2 Jahren so allgemein waren, sind jetzt bereits recht 
spärlich geworden. 

Die Mittheilung von Königslutter, dass eine 
neugeschaffene Assistenzarztstelle lange Zeit vacant 
blieb, und erst nach wiederholter Erhöhung der 
Remuneration dauernd besetzt werden konnte, be¬ 
zieht sich noch auf das Jahr 1898. Seitdem im 
Jahre 1901 die Remuneration auf die heute allent¬ 
halben übliche Höhe festgesetzt worden war, „hatte 
die Anstalt nicht mehr über Mangel an geeigneten 
Bewerbern zu klagen*'. 

Stephansfeld leidet immer noch unter häufigem 
Wechsel und hofft von der Anstellung eines weiteren 
Oberarztes endgültige Besserung. Auch Schw'etz 
konnte monatelang eine Stelle nicht besetzen. 

Ansbach hatte sehr unter dem Wechsel zu 
leiden und hatte längere Zeit für 400 Kranke nur 
2 Aerzte. Durch Erbauung von Wohnungen für 4 
verheirathete Aerzte hofft man grössere Stabilität zu 
erreichen. 

Im Bericht der Waldau heisst es: „Weil die 
Assistentenstellen so schwer zu besetzen sind, so hat 
die Commission der Sanitätsdireetion von neuem 


empfohlen, die betreffenden Besoldungen zu er¬ 
höhen.“ 

Und Münsingen schreibt: „Es war nicht mög¬ 
lich, im Berichtsjahr einen Ersatz für den weggewähl¬ 
ten Assistenzarzt zu finden, trotzdem durch Inserate 
und persönliche Bemühungen das Mögliche geschah, 
um die entstandene Lücke auszufüllen.'' Zur Ab¬ 
hülfe wird Anstellung 'eines IV. verhetratheten Arztes 
verlangt. 

Das sind, wie gesagt, nur vereinzelte Stimmen, 
die noch über Aerztenoth klagen. An den meisten 
Anstalten scheinen alle Stellen dauernd besetzt ge¬ 
wesen zu sein. Es wäre aber doch wohl voreilig, 
sich jetzt schon in Sicherheit zu wiegen und alle 
Notli für beseitigt zu halten. Die relativ sehr gute 
Besoldung der Assistenzärzte lockt jetzt zweifellos 
viele jüngere Collegen in die Anstalten. Ob diese 
nicht bald wieder abgeschreckt werden, wenn sie 
sehen, wie langsam sie weiter kommen, bleibt abzu¬ 
warten. 

In der Schweiz werden von verschiedenen An¬ 
stalten weibliche Assistenzärzte aufgeführt, z. B. 
Waldau, Münsingen, Cery. In Deutschland 
ist das meines Wissens bisher nur in Privat-Anstalten 
vorgekommen. In öffentlichen Anstalten würde es, 
wenigstens für den Anfang, zweifellos einige Schwie¬ 
rigkeiten machen; aber kommen wird es mit der Zeit. 

Ueber pecuniäre Aufbesserungen wird wieder von 
verschiedenen Seiten berichtet. In Conradstein 
sollen die Assistenzärzte anstatt alle 3 Jahre um 300, 
jetzt alle Jahre um 100 M. steigen. Berlin hat 
die Assistenzarztgehälter erhöht und begründet dies 
so: „Während die Assistenzärzte bei den Kranken¬ 
häusern nur 2—3 Jahre in ihren Stellungen bleiben, 


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4io PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 42. 


um sich dann der Privatpraxis zu widmen, sehen die 
Assistenzärzte an den Irrenanstalten ihr Specialfach 
als Lebensberuf an, weil es im Interesse der An¬ 
stalten liegt, dass sich die Aerzte durch längere 
Thätigkeit die durchaus wünschenswerthe Erfahrung 
erwerben, andererseits aber, weil ihnen ihre Beschäf¬ 
tigung in der Psychiatrie nicht in gleichem Maassc 
wie bei den Krankenhäusern den Erwerb derjenigen 
besonderen Fertigkeiten und Kenntnisse ermöglicht, 
über die frei practicircnde Aerzte verfügen müssen. 
Dazu kommt, dass sie früher verhältnissmässig leicht 
eine Anstellung als Kreis- oder Gerichtsarzt erhalten 
konnten, weil vielfach die Ansicht maassgebend war, 
dass ihre besondere Vorbildung sie vorzüglich ge¬ 
eignet mache, derartige Stellungen zu bekleiden. 
Diese Aussichten haben sich aber auch neuerdings 
durch das Gesetz über die Indienststellung des Kreis¬ 
arztes insofern verschlechtert, als Kreisassistenzarzt- 
stellen als Vorstufe für die Kreisarztstellen geschaffen 
sind. Den Assistenzärzten der Irrenanstalten bleibt 
jetzt also nur übrig, entweder die Leitung einer Pri¬ 
vatirrenanstalt zu übernehmen oder das Aufrücken 
in eine Oberarztstelle abzuwarten. Der erste Weg 
wird wegen Mangels an den er lorderlichen Kapitalien 
nur in den wenigsten Fällen gangbar sein; die Aus¬ 
sicht auf Erreichung einer (Überarztstelle ist aber 
naturgemäss sehr gering. Die Folge hiervon ist ein 
immer mehr sich fühlbar machender Mangel an ge¬ 
eigneten ärztlichen Hülfskräften.“ 

Zu den Maassnahmen, welche auf eine Besserung 
der Lage der Aerzte hinzielen , gehört auch die 
Sorge für ihre wissenschaftliche Fortbildung. Audi 
in dieser Hinsicht ist ja in den letzten Jahren von 
verschiedenen Verwaltungen Erfreuliches geschehen. 
Unter unseren diesjährigen Berichten spricht nur 
Treptow davon: Es sind dort Mittel bereit gestellt 
zur Gewährung von Beihülfen zu Studienreisen ; in 
der Anstalt selbst hat man einen zwang!« ivii wissen¬ 
schaftlichen Abend gegi findet. 

An dieser Sielle sei noch erw.ihnt, dass die säch¬ 
sische Anstalt für Epileptis« he zu H oc h wei t zsr h c n, 
an deren Spitze 1 »Fiter ein Vei waUungsbcamter ge¬ 
standen hat, nunmehr einen ärztlichen Leiter er¬ 
halten hat. 

b) Pf lege p e rs <» n a 1. 

Dass ein gewissenhaftes und gut geschultes Pflege¬ 
personal ein unbedingtes Frfordcrniss ist tür ein er¬ 
folgreiches ärztliches Arbeiten in der 1 1 renanstalt, 
das ist eine Selbst \. ei Ländlichkeit. Denn dem Per¬ 
sonal sind die Kranken den größten r I heil des Fage< 
überantwortet, die Aerzte kommen nur \>>n /eit zu 


Zeit, eontrollirend und anordnend. Es ist also wohl 
verständlich, dass ,,die Gewinnung guten Pflege¬ 
personals eine der Hauptsorgen der heutigen Irren¬ 
pflege bildet und an nicht wenigen Anstalten be¬ 
trächtliche Schwierigkeiten macht.“ 

So drückte ich mich in meinem vorigen Berichte 
aus und schloss daran eine nähere Erörterung der 
Schwierigkeiten, mit welchen sehr viele Anstalten zu 
kämpfen haben, und der verschiedenen Wege, die 
man zur Abhülfe vorgeschlagen hat. Einige Tages¬ 
blätter nahmen nun diese Worte zum Anlass, das 
Personal der «öffentlichen Anstalten für ganz schlecht 
zu erklären und dem gegenüber die Vorzüge des 
kirchlichen Personals an den konfessionellen Privat¬ 
anstalten zu preisen. In denselben Zeitungsartikeln 
wurden denn auch diese konfessionellen Anstalten 
gegen den (übrigens nicht von mir ausgesprochenen) 
Vorwurf in Schutz genommen, dass sie in der 
modernen Irrenbehandlung zurückgeblieben seien und 
an antiquirten Anschauungen festhielten. 

Diesen letzteren Ausführungen wird man gern 
beipflichten können. Wenn auch nicht in allen , so 
doch gewiss in recht vielen dieser Anstalten ist man 
redlich bemüht, den modernen Anforderungen gerecht 
zu werden. Aber das miss do. h entschieden be¬ 
tont werden, dass die Fortschritte in der Irrenbe¬ 
handlung in der Hauptsache in öffentlichen Anstalten, 
mit weltlichem, nur vom Arzt abhängigem Personal 
gemacht worden sind; jene kirchlichen Anstalten 
kommen damit eist nach. Und wenn, wie man auf 
jener Seite zu wünschen scheint, die Irrenpflege 
heute noch ganz in Händen jener kirchlichen Ge¬ 
nossenschaften läge, so wären wir darin wohl noch 
nicht viel weiter, als vor 100 Jahren. 

Pass das Personal jenet Anstalten sich zum Theil 
aus höheren Gesellschaftsscliichten recrutirt, als das 
unsere, ist richtig. ( )b aber damit allein eine zweck- 
massigere Auslese gegeben ist, wird man bezweifeln 
dürfen Was uns die Annahme kin blichen Personals 
für die ölh-ntli- hen Anteilen imitier wieder unan¬ 
nehmbar erscheinen lässt, ist der Umstand, dass 
dieses ausser der Anstaltsleitung andere, eigene Obere 
hat, dass also der ärztliche Leiter der Anstalt nicht 
seli»ständig über Einstellung und Entlassung des Per¬ 
sonals Verlagen, keine Auswahl treffen kann, sondern 
mehr oder weniger von dem guten Willen jener 
Oberen anhängig ist. Dass unser Personal zum 
Theil noch nicht ganz den hohen Anforderungen 
moderner Irrenpflege entspricht, dass wir noch mit 
mancheBei S<Te\im iG-cilen zu kämpfen haben, be¬ 
st leitet niemand. Aber diese Schwierigkeiten sind 


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1905.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 411 


nicht unüberwindlich. Arbeiten wir auf dem be- 
schrittenen Wege rüstig weiter. 

Soviel zur Abwehr. — 

Um nun zu unseren diesjährigen Berichten zu 
kommen, so sei gleich vor-weggenommen, dass hier 
und da die Bemühungen zur Besserung bereits er¬ 
folgreich zu sein scheinen. Der W ii r t te m b e rg i soh e 
Bericht bemerkt, dass im Berichtsjahre der günstige 
Einfluss der eingeführten Verbesserungen sich beieits 
gezeigt habe. Potsdam schreibt: „Die ni» ht un¬ 
erheblichen Gehaltsaufbesserungen der letzten Zeit 
haben entschieden eine gute: \\ irkung erzielt; weitere 
in Aussicht stehende Yei besseren gen .... werden 
zweifellos die günstigsten Folgen zeitigen.“ 

Im Grossen und Ganzen ist freilich das Bild 
gegen das vorige Jahr noch nicht «erheblich geändert. 
Von vielen Anstalten wird wieder über grossen 
Wechsel geklagt. Ich möchte nicht wieder Zahlen 
hersetzen; die Zahlen sind bei den einzelnen An¬ 
stalten ausserordentlich verschieden, aber die An¬ 
gaben der Berichte reichen nicht aus, um über die 
Ursachen dieser Verschiedenheiten ein Urthcil zu 
gewinnen. Genug, dass die Noth noch sehr ver¬ 
breitet ist. 

Es kann nicht wunder nehmen, dass besonders 
neu eröffn ete Anstalten Mühe haben, genügendes 
Personal zu bekommen. So lesen wir im Treptower 
Bericht, dass man anfangs mir mit grossen Schwierig¬ 
keiten. zum Theil aus grosser Entfernung, beute ge¬ 
winnen konnte, während jetzt allmählich das Angebot 
an geeigneten Kräften auch aus der nährten Um¬ 
gebung sich mehrt. Auch Dösen hatte anfangs 
grosse Schwierigkeiten, ist aber jetzt, nach Einführung 
des neuen Regulativs, welches das Personal besser 
stellt, zufrieden. 

Wie schon im vorigen Jahre ausgeführt wurde, 
setzen die Bemühungen, unser Personal zu ver¬ 
bessern, im Wesentlichen an 3 Punkten ein. Zu¬ 
vörderst pecuniäre Aufbesserung sowie nac 1 1 längerer 
Dienstzeit Sicherstellung für die Zukunft: sodann Er¬ 
ziehung und Unterricht; und drittens endlich zweck¬ 
mässige Dienstverthcilung und Gewährung ausreichen¬ 
der Erholungsstur.den. 

Punkt I , die pecuniäre Aufbesserung, ist natür¬ 
lich eine Grundbedingung, wenn man tüchtige Leute 
heranziehen und festhalten will. Und so finden wir 
eine solche in recht vielen Berichten erwähnt. Von 
Dosen wurde bereits oben mitgctlieilt, dass dort 
eine Erhöhung der Pflegerlöhne stattgetunden hat. 
Ebenso war oben schon von Württemberg die 
Rede, wo eine Erhöhung der Löhne und nach 10- 


jähriger Dienstzeit eine Prämie von 500 M. einge¬ 
führt worden ist. 

Königslutter thcilt ausführlich die dort ein¬ 
geführte Regelung der Lohnfrage mit. Bemerkens¬ 
werth ist daran, dass verheirathete Pfleger nach 5 
Dienstjahren eine jährliche Zulage von 100 M. be¬ 
kommen. Fenier erfolgt nach 10 Dienstjahren staat¬ 
liche Anstellung mit Pensionsberechtigung. 

Hildesheim berichtet über eine Einrichtung, 
die als Wohlthat beabsichtigt war, aller in der Praxis 
in das Gegentheil umgeschlagen ist, nämlic h die Ver¬ 
leihung der Pensionsberechtigung. Früher bekamen 
ausgediente Pfleger ein nach den gleichen Grund¬ 
sätzen berechnetes Ruhegehalt in Form einer fort¬ 
laufenden Unterstützung und bezogen ausserdem 
natürlich noch die Invalidenrente* Nachdem sie 
jetzt die Berechtigung auf Ruhegehalt haben, fällt 
die Invalidenrente fort, sobald dieses den 7 V2 fachen 
Grundbetrag der Invalidenrente übet steigt. Sie sind 
also thatsächlich geschädigt. Ob sich ein Weg finden 
wird, diese unerwünschte Nebenwirkung zu vermeiden, 
ist noch unentschieden. 

Stephansfeld hat eine Unterstützungskasse 
für Hinterbliebene von Pflegern eingerichtet. 

L T eber eine neuartige, dem socialen Zuge der 
Zeit entsprechende Einrichtung berichtet Berlin. 
Man hat dort bei dein Pen- nal der städtischen 
Irrenanstalten Arbeiterausschüsse eingesetzt, „die den 
Zweck bähen, dem Personal Gelegenheit zu geben, 
durch seil»slgewähiU: Vertreter Anträge, Wünscht und 
Besc hwerden vorzutragen, und hierüber, sowie über 
sonstige auf ihr Wohl bezügliche Fragen auf Ver¬ 
langen des Direetors gutachtliche Aeusserungen ab¬ 
zugeben.“ 

Dass unser Personal Anleitung und Unterricht 
bedarf, bestreitet niemand. Das liegt ja auch auf 
der Hand, denn wer als Neuling an den Verkehr 
mit Geisteskranken herantritt, trifft so leicht nicht 
den richtigen Ton, das will gelernt sein; und auch 
in der körperlichen Krankenpflege sollen unsere 
Pfleger ja bewandert sein. 

Verschiedene Meinungen giebt cs dagegen noch 
über die Methode des Unterrichts. Es giebt nam¬ 
hafte Collcgen , welche der Meinung sind, dass die 
regelmässig bei den ärzlichen Rundgängen eitheilten 
Anweisungen genügen und systematischer theoretischer 
Unterricht entbehrlich sei. 

Aber das entspricht nicht der modernen Ström¬ 
ung, heute verlangt man überall den letzteren. Viel¬ 
fach ist die Frage erörtert worden, ob man nicht 
zweckmässig ausserhalb der Anstalten Pflegerschulen 
ei mich ten solle, sodass die Pfleger von dort schon 


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412 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 42. 


fertig ausgebildet zur Anstalt kommen. Diese Ein¬ 
richtung besteht seit langen Jahren in Sachsen, 
und die Berichte sprechen sich stets befriedigt über 
die Erfolge aus. 

Dennoch scheint anderenorts wenig Neigung zu 
bestehen, diese Einrichtung nachzuahmen. Das ist 
nicht zu verwundern. Die Anschauungen über prac- 
tische Irrenpflege sind heute noch so verschieden, 
dass es verständlich ist, wenn jeder es vorzieht, sich 
sein Personal selbst auszubilden. 

Wir finden also heute fast überall den Gebrauch, 
dass in der Anstalt dem Personal von den Abtheil¬ 
ungsärzten Unterricht ertheilt wird. Zu diesem 
Zweck ist in der Regel irgend ein Leitfaden, meist 
der Scholz’sche, officiell eingeführt, im Uebrigen aber 
die Art der Unterrichtsertheilung den Unterrichtenden 
frei gegeben. Viele freilich halten es auch für nöthig, 
diese durch genaue Vorschriften und Paragraphen 
festzulegen, und manche haben sogar eine Prüfung 
eingeführt, welcher sich die Pfleger am Schluss des 
Kurses unterziehen müssen. 

Viele Anstalten theilen dementsprechend kurz 
mit, dass der Unterricht in dieser oder jener Weise 
ertheilt wird. Hier seien nur einige dieser Mittheil¬ 
ungen wiedergegeben. 

Treptow hat gleich mit Eröffnung der Anstalt 
den Unterricht eingeführt, welcher von den Aerzten 
ertheilt wird. Vor dem Director wird dann eine 
Prüfung abgelegt Der Unterricht umfasst ausser 
der eigentlichen Irrenpflege noch die gesammte 
Krankenpflege. Er besteht nicht nur in Vorträgen, 
sondern schliesst sich durch Wiederholung und Be¬ 
fragung der Unterrichtsform der Schule an. 

Herz berge berichtet allgemein, dass man mit 
dem Unterricht günstige Resultate erzielt habe. 
Breslau theilt die Prädicate mit, welche in der 
Schlussprüfung gegeben wurden. Auch Kierling- 
Gugging führt im Einzelnen die Resultate der 
Prüfung auf. 

Die Anstalt Buitenzorg, welche in früherer 
Zeit examinirte Pflegerinnen aus dem Mutterlande 
erhielt, hat seit 1897 eigene Kurse eingeführt, und 
theilt ein Unterrichtsprogramm mit, welches das ge¬ 
sammte Gebiet der Krankenpflege umfasst. Der 
Kursus dauert 3 Jahre, am Schluss wird eine Prüf¬ 
ung abgelegt. — Hier sei noch erwähnt, dass 
Buitenzorg, ebenso wie ja auch Meerenberg, 
auch auf den Männerabtheilungen zum Theil weib¬ 
liches Personal hat. 

Der dritte Weg zur Verbesserung unseres Per¬ 
sonals ist zweckmässige Diensteintheilung und Ge- 

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Währung genügender Erholungszeit. Er ist vielleicht 
der wichtigste von allen, bietet aber auch nicht ge¬ 
ringe Schwierigkeiten. Vieles ist ja in dieser Hin¬ 
sicht schon geschehen, aber doch wohl noch nicht 
genug. 

In der Versammlung der ungarischen Irrenärzte 
ist die Wärterfrage gründlich besprochen worden, 
und Sa Igo äusserte in der Discussion, der Unter¬ 
richt habe die daran geknüpften Erwartungen nicht 
erfüllt, die pecuniäre Aufbesserung habe wohl den 
Erfolg, dass die Leute länger im Dienst bleiben, aber 
das sei kein Vortheil, weil sie nach einer gewissen 
Zeit doch abgenutzt seien. Dann schloss er: „Am 
zweckmässigsten wäre es, anstatt der bisher üblichen 
24ständigen Dienstzeit eine Dienstzeit von 8 Stunden 
zu systemisiren“. Und Epstein führte das noch 
weiter aus: Die Diensteintheilung solle eine solche 
sein, dass der Wärter seinem Dienste gewissenhaft 
nachzukommen im Stande sei, und ferner solle man 
ihn von solchen Arbeiten befreien, die nicht zum 
eigentlichen Krankendienst gehören, wie Aufreiben 
des Bodens, Reinigung des Zimmers etc. Für diese 
Arbeiten sollten eigene Leute angestellt werden. 

Dieser letzteren Ansicht möchte ich nicht bei¬ 
stimmen. Es ist sicher nicht zweckmässig, zweierlei 
Personal von verschiedenem Rang auf den Abtheil¬ 
ungen zu haben; die Reinhaltung des Krankenzimmers 
gehört eben zum Dienst des Krankenpflegers. Es 
wird sich ja ohnehin in der Regel von selbst ergeben, 
dass diese gröberen Arbeiten von den jüngeren Pfle¬ 
gern besorgt werden; auch ist das ja für viele unserer 
Kranken eine nützliche Beschäftigung. 

Hinsichtlich der übrigen Ausführungen wird man 
aber anerkennen müssen, dass sie vieles richtige 
enthalten. Die ,,24 ständige Dienstzeit“ ist ja wohl 
ein wenig übertrieben; denn wenn auch die Pfleger, 
nachdem sie den ganzen Tag Dienst gethan haben, 
Nachts auch noch bei den Kranken schlafen müssen, 
so schlafen sie doch eben, und erholen sich. 
Aber immerhin, da sie bei den Kranken schlafen, 
so sind sie doch nicht ganz frei von Verantwortung, 
und wenn man auch noch so sehr bemüht ist, alle 
störenden Elemente auf die Wachsäle zu legen, hier 
und da kommen doch auch in den andern Abtheil¬ 
ungen nächtliche Störungen vor und rauben dem 
Pfleger die Nachtruhe. 

Das ist sicher noch ein Mangel in unseren Ein¬ 
richtungen , und wir müssen auf Abhülfe sinnen. 
Dösen hat, von ganz ähnlichen Erwägungen aus¬ 
gehend, einen guten Schritt vorwärts gethan. Der 
betr. Passus aus dem Dösener Bericht sei hier wört¬ 
lich abgedruckt: 

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II ■ 



PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


1005.] 


,,Die Erfahrung hat gelehrt, dass zwar günstige 
materielle Anstellungsbedingungen, gute Geholter 
und gesicherte Stellung das erste Erforderniss zur 
Gewinnung eines tüchtigen Pflegepersonals bilden, 
dass aber auch noch hinreichend Zeit zur Erholung 
und gewisse dienstliche Erleichterungen ihm gewährt 
werden müssen, um es berufsfreudig und frisch zu 
erhalten. Es wird deshalb jeder Pflegeperson wöchent¬ 
lich eine Freizeit von 24 Stunden , und zwar von Mittag 
zu Mittag, gewährt, den verheiratheten Pflegern, 
deren Zahl noch gering ist, die Erlaubniss crtheilt, 
von Abends V28 Uhr bis Morgens 6 Uhr bei der 
Familie zu verweilen, und den Pflegerinnen, soweit 
sie nach dem Abendbrote abkömmlich sind, gestattet, 
bis zum Schlafengehen das Pflegcrinnenheim aufzu¬ 
suchen. Ausserdem sind Pflegern und Pflegerinnen 
in jedem Krankengebäude mehrere Zimmer über¬ 
wirsen . in denen sie ihre Sachen aufbewahren, sich 
vorübergehend aufhalten dürfen, und ausserhalb der 
Krankenräume schlafen können. Um denjenigen, 
welche tagsüber Dienst verrichten , nachts die Mög¬ 
lichkeit eines sorgenlosen Schlafes und der Erholung 
vom Tagesdienst zu verschaffen, dürfen sie im Pflegc¬ 
rinnenheim bezw. in den Pflegerinnenzimmern schlafen, 
und es sind auf der Frauenabtheilung 5 ständige 
Nachtwachen eingerichtet, die bei den unruhigen 
und besonderer Fürsorge und Überwachung be¬ 
dürftigen Kranken den Nachtdienst versehen, wäh¬ 
rend die ruhigen und geordneten Patientinnen in 
ihren Schlafräumen ohne Pflegerinnen bleiben und 
nur in 2 Abtheilungen den gelegentlich Hülfe er¬ 
fordernden Kranken eine Pflegerin beigegeben ist, 
die mit in ihrem Schlafsaale schläft. In der Männer¬ 
abtheilung schlafen in einer grösseren Anzahl von 
Sälen Kranke und Pfleger gemeinschaftlich/ 4 

Zweifellos hat Dösen da einen beträchtlichen 
Schritt vorwärts getluin, ist aber leider auf halbem 
Wege stehen geblieben. Es kommt darauf an, allen, 
die bei Tage Dienst gethan haben, die ungestörte 
Nachtruhe zu sichern. Und umgekehrt wird man 
auch den Einwand nicht von der Hand weisen 
können, dass es auch hei „ruhigen und geordneten“ 
Kranken nicht so durchaus unbedenklich ist, siedieganze 
Nacht sirh selbst zu überlassen. Auch bei ihnen können 
unvorhergesehene Ereignisse Hülfe erfordern. Da 
stehen als«* 2 Forderungen einander schroff gegen¬ 
über. Die einfachste Lösung scheint mir in der 
Einführung einer ambulanten Wache zu liegen, die 
in nicht zu langen Zwischenräumen, mit geräusch¬ 
losem Schuh werk angethan, alle Schlafsäle zu durch¬ 
wandern hätte. Dann könnte das gesammte Pflege¬ 
personal in eigenen Zimmern schlafen. Die im eigent¬ 


413 


liehen Sinne überwachungsbedürftigen Kranken würden 
natürlich von dieser Einrichtung nicht betroffen, sie 
liegen ja in den Sälen mit ständiger Nachtwache. 

In K ö n i gs 1 u 11 e r besteht bereits ähnliches. 
„Es wird hier als unzulässig angesehen, dass die¬ 
jenigen, die den ganzen Tag die Kranken pflegten, 
des Nachts mit ihnen auch noch das Schlafzimmer 
theilen und für die kranken Schlafgenossen verant¬ 
wortlich sein sollen. Alle Wärter und Wärterinnen 
haben liier, was auch für die Neubauten vorgesehen, 
besondere Schlafzimmer; die nächtliche Pflege und 
Verantwortlichkeit fällt ausschliesslich den Wachen 
zu.“ Leider ist nicht genauer mitgetheilt. wie letzteres 
diirchgeführt wird. 

Die Salgo sehe Forderung einer S ständigen 
Arbeitszeit dürfte dagegen zu weit gehen. Wir 
dürfen den Dienst unseres Personals nicht mit der 
Thütigkeit der Arbeiter vergleichen. Hei letzteren 
ist die Arbeitszeit thatsächlich mit unausgesetzter 
Arbeit ausgefüllt. Bei unsern Pflegern nicht, da liegt 
doch so manche Arbeitspause dazwischen. Die 
Aufsicht in einem Wachsaal ist ja gewiss zeitweise 
eine üusserst aufreibende und anstrengende Thätig- 
keit, aber stundenweise kann sie auch recht beschau¬ 
lich sein. Und wie häufig besteht der Dienst eines 
Pflegers stundenlang nur darin. dass er persönlich 
anwesend zu sein hat. Sorgen wir nur für gehörige 
Abwechslung in den verschiedenen Zweigen der 
Arbeit, besonders für häufige Ablösung von schwereren 
Posten , so dürfen wir das Personal unbedenklich 
den ganzen Tag im Dienst lassen, wie es ja auch 
allenthalben geschieht. 

Durchaus nothwendig ist freilich häufiger Er¬ 
holungsurlaub, der wohl in der Regel sieh auf halbe 
Tage erstreckt. Wenn Dösen jede Woche 24 
Stunden Urlaub gewährt, so ist es auch darin den 
meisten andern Anstalten voraus; es muss recht 
zahlreiches Personal vorhanden sein, um das durch¬ 
führen zu können. Zweckmässig und erstrebenswerth 
ist es gewiss. Denn das beständige verantwortliche 
Zusammensein mit Geisteskranken wirkt auf nicht 
ganz stumpfsinnige Leute stets mehr oder weniger 
erregend und aufreibend, und nur durch häufige 
Ausspannung können da nervöse Störungen ver¬ 
mieden werden. Allerhand neurasthenisrhe Be¬ 
schwerden finden wir ja auch hei unserm Personal 
gar nicht so selten und im vorigen Berichte konnte 
ich eine ganze Anzahl einschlägiger Mittheilungen 
zusammenstellen. In unseren diesjährigen Berichten 
finden sich nur einige kurze Notizen hierüber, die 
nichts Neues bieten. 

Der Nachtwachdienst giebt in diesem Jahr zu 


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4 M 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 


[Nr. 42. 


weiteren Erörterungen keinen Anlass. Wieder be¬ 
richten verschiedene Anstalten über die Einführung 
des ausschliesslichen Nachtdienstes durch Personen, 
die dann bei Tage ganz dienstfrei sind. Strittig ist 
immer noch die zweckmässigste Dauer dieser Dienst- 
form. Manche plädiren für wöchentlichen Wechsel, 
und von i Woche bis zu 3 Monaten finden sich 
alle Zwischenstufen. Bei uns in Andernach bewährt 
sich nach wie vor ein 3 monatlicher Turnus. 

VIII. Klinisches. 

Auch in diesem Jahre ist der Gehalt unserer 
Berichte an wissenschaftlich-klinischem Material wieder 
recht gering. Das ist kein Vorwurf; denn unsere 
Berichte haben eben andere Zwecke und können 
klinische Mittheilungen höchstens nebenbei bringen. 
— Immerhin lohnt es, das wenige, was sie enthalten, 
zusammenzustellen. 

Die meisten Berichte vertheilen ihre Aufnahmen 
nach Krankheitsformen. Sehen wir ganz davon ab, 
dass die angewendete Nomenclatur in den verschie¬ 
denen Berichten eine sehr verschiedene ist, und dass 
mitunter auch der gleiche Name von verschiedenen 
Berichterstattern in ganz verschiedenem Sinne ge¬ 
braucht wird; viel bedenklicher noch scheint mir der 
Umstand zu sein, dass man den glatten Tabellen 
gar nicht ansieht, wieviel Zwang oft dem einzelnen 
Falle angethan wird, um ihn bei einer bestimmten 
Diagnose unterzubringen. Die Freiburger Uni¬ 
versitätsklinik erwähnt in ihrem ersten Bericht, dass 
„fast 25% der Fälle bezügl. ihrer klinischen Auf¬ 
fassung sehr strittig waren“. Immerhin wird in der 
Mehrzahl dieser strittigen Fälle doch schliesslich eine 
bestimmte Diagnose gestellt worden sein. Heidel¬ 


berg hat in der Zusammenstellung der Krankheit- 
formen eine besondere Rubrik „diagnostisch unklare 
Fälle“, welche in den beiden ersten Berichtsjahren 
die Zahlen 4 und 8, im letzten Jahre die stattliche 
Zahl 31 (unter 520 Aufnahmen) aufweist. — Ich 
führe diese Zahlen nur deshalb an, weil sie uns recht 
eindringlich darauf hinweisen, wie weit wir noch von 
einer erschöpfenden Kenntniss der Geistesstörungen 
entfernt sind, und dass wir von keinem der vorhan¬ 
denen Lehrsysteme erwarten dürfen, dass es alles 
umfasst,, was vorkommt. Der Inhalt unserer Be¬ 
richte kann natürlich in keiner Weise zur Förderung 
dieser Frage beitragen. 

Von Interesse ist in dieser Hinsicht noch die 
Zusammstellung des Württemberg ischen Be¬ 
richtes, welche ergiebt, dass von 1898 bis 1901 die 
primären Deinenzformen von 10 auf 15,3% ge¬ 
stiegen, die chronische Verrücktheit von 17 auf 14% 
gefallen ist. Der Bericht hebt selbst hervor, dass 
diese Verschiebung lediglich auf eine Aenderung 
der diagnostischen Auflassung zurückzuführen ist. 

Im Bericht des Züricher Hülfsvereins ist ein 
Vortrag von v. Muralt über erbliche Belastung 
abgedruckt, in welchem in geschickter Form die an¬ 
erkannten Thatsachen über dieses wichtige Thema 
gemeinverständlich dargestellt sind. — Wille hat im 
Verein Schweizer Irrenärzte einen Vortrag über erb¬ 
liche Uebertragung von Geisteskrankheiten gehalten, 
welchem das Material der Pirminsberger Anstalt 
zu Grunde liegt. Er fand die Tendenz zu gleich¬ 
artiger Vererbung viel geringer, als die Untersuch¬ 
ungen anderer Forscher (Sioli, Vorster) ergeben haben ; 
in fast der Hälfte der Fälle fand er bei Eltern und 
Kindern differente Krankheitsbilder. 

(Schluss folgt.) 


Zur Statistik des 


Zahl der 

I. Kranken Pfleger IV. 


I. 

Heidelberg 

383 

128 

40 

3,2 

2. 

Friedheim 

280 

20 

7 

2,9 

3 - 

Breslau 

-\S8 

246 

50 

4,9 

4 . 

Freiburg i. B. 

220 

138 

40 

3,5 

5 

Herzberge (Berlin) 

128 

1171 

207 

5,7 

6. 

Wien 

92 

1026 

1 75 

5,9 

7 . 

Friedmatt 

85 

207 

44 

6,1 

8. 

Illenau 

69 

57 2 

149 

3,8 

9 * 

Burghölzli 

68 

380 

9 i 

4,2 

IO. 

Lipotmezö 

66 

1004 

*52 

6,6 

11. 

Gehlsheim 

62 

290 

66 

4,4 


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Pflegepersonals. 


12. 

Bamberg 

Öl 

90 

24 

3,7 

13 . 

Angyalföld 

59 

337 

57 

5*9 

14. 

Oberdöbling 

54 

69 

44 

1.6 

* 5 - 

Bonn 

52 

701 

87 

8,1 

16. 

Grafenberg 

5 * 

77 8 

Mi 

5,9 

* 7 - 

Galkhausen 

48 

616 

82 

7*5 

18. 

Pirminsberg 

47 

239 

36 

6,6 

19. 

Salzburg 

46 

'95 

38 

5 *' 

20. 

Andernach 

42 

456 

81 

5 * 6 

21. 

Klosterneuburg 

38 

598 

81 

7,3 

22. 

Wil 

37 

557 

65 

8,6 

* 3 - 

Friedrichsberg(Hambg.) 

35 

1417 

214 

6,6 

24- 

Nagy Kal 16 

34 

297 

42 

7 ,' 


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1905-] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


4i5 


25. Wuhlgarten 

52 

1182 

159 

7,4 

26. Waldhaus 

30 

288 

4* 

7,o 

27. Leubus 

29,2 

3*2 

40 

7,8 

28. Düren 

28,7 

*7*5 

111 

6,4 

29. Ueckermünde 

28,6 

493 ca. 

70 ca. 

7,o 

30. München 

28,6 

762 

**9 

6,4 

31. Lüneburg 

28,3 

648 

98 

6,6 

32. Münsingen 

28,3 

665 

83 

7,8 

33. Merzig 

27,6 

705 

9 2 

7,7 

34. Rottenmünster 

2 7,3 

220 

41 

5,4 

35. Alt-Scherbitz 

26,3 

769 

*28 

6,0 

36. Osnabrück 

24,6 

39 8 

63 

6,3 

37. Schussenried 

24,5 

46l 

75 

6,1 

38. Marsberg 

24,0 

326 

73 

7,2 

3Q. Roda 

23,9 

373 

39 

9,6 

40. Ansbach 

22,6 

394 

66 

6,0 

41. Treptow a. R. 

22,0 

473 

69 

6,9 

42. Uchtspringe 

21,8 

857 

*25 

6,9 

43. Feldhof b. Graz 

2L7 

1295 

*57 

8,4 

44. Münster 

204 

5«3 

92 

6,3 

45 - Nagjr Szeben 

19,8 

420 

66 

6,6 

46. St. Urban 

19,6 

459 

63 

7,3 

47. Tannenhof 

19.5 

371 ca 

. 62 ca 

.. 6,0 

48. Waldau 

18,8 

577 

68 

8,5 

49. Königsfelden 

18,7 

661 

52 

12,7 

50. Sachsenberg 

18,7. 

552 

82 

6,7 

51. Bayreuth 

17 , 9 * 

679 

101 

6,7 

52. Stephansfeld-Hördt 

i 7,9 

1460 

196 

7,4 

53. Aplerbeck 

i7,5 

593 

83 

7,* 

34. Landsberg 

i7,3 

774 

1 *9 

6,5 

35. Gabersee 

16,3 

644 

82 

7,9 

36. Zwiefalten 

15,7 

567 

88 

6,4 

37. Rosegg 

i 5,3 

300 

46 

6,5 

38. Dziekanka 

15,1 

736 

98 

7,5 

59. Alt-Strelitz 

15,0 

161 

29 

5,6 

60. Eichberg 

14,i 

668 

77 

7,7 

61. Sigmaringen 

13,9 

122 

*3 

9,4 

62. Brieg 

13,0 

484 

56 

8,7 

63. Lengerich 

13,0 

576 

82 

7,o 

64. Ybbs 

12,7 

544 

67 

8,1 

65. Conradstein 

12,7 

77 i 

99 

7,8 

66. Owinsk 

12,4 

7*7 

9 * 

7,9 

67. Neuruppin 

12,3 

*365 

202 

6,8 

68. Bernburg 

12,1 

3*4 

46 

6,8 

69. Stetten 

11,0 

482 

81 

6,0 

70. Weilmünster 

10,6 

679 

101 

6,7 

71. Pfullingen 

IC,4 

372 

58 

6,4 

72. Neustadt i. Westpr. 

10,3 

493 

65 

7,6 

73. Emmendingen 

8,8 

*348 

*85 

7,3 

74. Blankenhain 

8,8 

455 

39 

**,7 

73. Schwetz 

4,8 

463 

67 

6,9 

76. Freiburg i. Schl. 

4 ,i 

663 

72 

9,2 


77 - 

Kosten 

3,2 

728 

84 

8,7 

78. 

Langenhorn (Hamburg) 

3 ,o 

540 

65 

8,3 

79 * 

Langenhagen 

2,9 

700 

89 

7,8 

80. 

Pforzheim 

2,8 

648 

90 

7,2 

81. 

Eickelborn 

*.5 

5*4 

49 

10,5 

82. 

Bellelay 

*>3 

296 

32 

9,3 

83. 

Rheinau 

1,0 

839 

95 

8,8 



30,4 

47448 6886 

6,9 


Die Zahlen sind den bis zum 1. Oktober 1904 
eingegangenen Berichten der dem Laehr’schen Vereine 
angehörigen Anstalten entnommen. Wenn nicht alle 
Anstalten aufgeführt sind, so liegt das daran, dass 
nicht alle Berichte Notizen über das Pflegepersonal 
enthalten. Reihe II giebt den Krankenbestand, 
Reihe III den Pflegepersonalbestand am Ende des 
Berichtsjahres an. Das Oberpflegepersonal ist ein¬ 
gerechnet. Reihe IV giebt an, auf wieviel Kranke 
eine Pflegeperson kommt; Reihe I endlich giebt an, 
wieviel Kranke im Berichtsjahre entlassen sind, be¬ 
rechnet auf 100 des Schlussbestandes. Die Ge¬ 
storbenen sind unter den Entlassenen nicht mit¬ 
gerechnet. 

Die Ansicht, dass eine Anstalt desto mehr Pflege¬ 
personal bedarf, je mehr frische Fälle sie biigt, d. h. 
je grösser der Wechsel unter den Kranken ist, ist 
ällgemein verbreitet und trifft ceteris paribus wohl 
auch zu. (Vgl. di6 folgende Tabelle.) Der zahlen - 
mässige Ausdruck für den Wechsel unter den Kranken 
ist das Verhältniss von Entlassungen zum Kranken- 
bestande, wie es Reihe 1 bringt. Nach diesem Ver¬ 
hältniss sind dämm die Anstalten geordnet. 

In sämmtlichen 83 Anstalten mit 47 448 Kranken 
und 6886 Pflegepersonen betragen die Entlassungen 
30,4 vom Hundert des Bestandes; auf je eine Pflege¬ 
person kommen im Durchschnitt 6,9 Kranke. — 
Des weiteren sind die 83 Anstalten in 5 Gruppen 
geteilt worden: A 5 Anstalten mit mehr als 100 Ent¬ 
lassungen; B 21 mit 30—100; C 18 mit 20—30; 
D 28 mit 10—20; E 11 mit weniger als 10 Ent¬ 
lassungen auf Hundert des Bestandes. 


Gesammtzahl der 




I 

Kranken Pfleger 

IV 

A 

mehr als 100% Entl. 

* 75,6 

*703 

344 

5,o 

B 

30— 100% 

44,5 

**359 

*859 

6,1 

C 

20—30°/o 

24,7 

10649 

*543 

6,9 

D 

10—20% 

*5,4 

16541 

2273 

7,3 

E 

0—10% 

4,2 

7196 

867 

8,3 



30,4 

47448 

6886 

6,9 


Die Zahlen in Reihe I und IV sind Durchschnitts¬ 
zahlen; ßie verstehen sich wie in der Haupttabelle. 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


416 


Neben den männlichen Pflegern werden auf den 
Männerabtheilungen folgender Anstalten noch Pflege¬ 
rinnen — barmherzige Schwestern — beschäftigt. 

1. R o 11 e n m ii n s t e r, ist Eigenthum der Schwestern. 
Auf 90 männliche Kranke kommen hier 11 Pfleger 
und 8 Schwestern, mithin ohne die Schwestern auf 
8,2 Kranke, mit den Schwestern auf 4,7 Kranke eine 
Pflegeperson. 

2. S igmaringen. Auf 60 männliche Kranke 
kommen hier 4 Pfleger und 3 Schwestern, mithin 
ohne die Schwestern auf 15 Kranke, mit den 
Schwestern auf 8,0 Kranke eine Pflegeperson. 

3. Bernburg. Auf 154 männliche Kranke 


[Nr. 42. 


kommen hier 15 Pfleger und 6 Schwestern, mithin 
ohne die Schwestern auf 10,3 Kranke, mit den 
Schwestern auf 7,3 Kranke eine Pflegeperson. 

4. Langenhagen. L. ist „Anstalt für Schwach¬ 
sinnige“, hat 31,7% Kranke unter 15 Jahren, weitere 
21,3% unter 20 Jahren. 

3. Stetten ist ebenfalls Anstalt für Schwach¬ 
sinnige. 

6. S t eph a n sf el d - H ö rd t. Hier kommen auf 
707 männliche Kranke 87 Pfleger, mithin auf 8,1 
Kranke ein Pfleger. Daneben sollen noch Schwestern 
Dienst thun, jedoch ist aus dem Bericht nicht er¬ 
sichtlich, wieviele. Dr. Boegc, Sigrnaringen. 


Mitt'heil ungen. 


— 35. Versammlung der südwestdeutschen 
Irrenärzte in Frei bürg i. B. am 29. und 30. 
October 1904. Referent: Dr. K r a uss-Kcnnenburg. 
(Fortsetzung.) 

II. Versammlungstag (in der psychiatr. Klinik). 
Vorsitzender: Medicinalrath Dr. K re user-Winnen¬ 
thal. 

4. Privatdocent Dr. R ose n f e 1 d - Strassburg i. E. 
V eher De m en z und A pha si e. 

R. berichtet über einen £| 2 jährigen nur leicht 
dementen, chronischen Alkoholisten, bei dem zu 
einer Zeit, in welcher das Gedächtniss, die Merk¬ 
fähigkeit , Aufmerksamkeit und die zeitliche und 
räumliche Orientirung vollständig intact waren, asym- 
b(»fische und aphasische Symptome auftraten und im 
Krankheitsbilde dominirten , ohne dass der klinische 
Verlauf irgend einen Anhaltspunkt dafür hot, dass 
eine gröbere, organische Erkrankung vorlag. 

Der Kranke hatte das Benennungsvermögen für 
fast alle konkreten Gegenstände verloren. Er hatte 
für diesen Ausfall vollständige Krankheitseinsicht. 
Durch den Tastsinn konnte er die genannte Störung 
nicht corrigiren. Für einzelne Gegenstände war er 
»symbolisch. Er gebrauchte zahlreiche Umschreib¬ 
ungen für die ihm fehlenden Begriffe und einzelne 
paraphasische Bildungen. Er konnte lesen, schreiben 
nach Diktat und spontan ohne Fehler. Dauer der 
Beobachtung V2 Jahr. Bis jetzt keine Symptome 
einer organischen Gehirnerkrankung. Allmählich zu¬ 
nehmende Demenz. (Autoreferat.) 

5. Professor Dr. W o 11 e n b erg-Tübingen. Ueber 
G e h i r 11 c y s t i c e r k e n. 

Nach einigen einleitenden Bemerkungen über 
Entstehungsweise, Vorkommen und Häufigkeit, sowie 
Lieblingslokalisation der Cysticerken im menschlichen 
Keuper, geht der Vortragende auf die zuerst von 
Zenker erkannte und unter dein Namen „Cysticercus 
raceinosus“ beschriebene Form dieses Parasiten ein, 
und theilte 6 Fälle mit, die er in den 00er' Jahren 
in der Hitzig’schen Klinik untersucht und bis zum 


Tode beobachtet hat. — Die Fälle zeigten in ana¬ 
tomischer Beziehung eine weitgehende Utrberein- 
stiinmung, da in 4 von ihnen die charakteristischen, 
vielfach verästelten Blasen in der Gegend von Pons, 
Oblongata, Hirnschenkeln und Chiasma sich vorfanden, 
während in den beiden letzten nur einzelne. aber 
grössere und zum Theil in der basalen Hirnsubstanz 
selbst gelegene Blasen vorhanden waren. Daneben 
wurden in einigen Fällen niembranausgckleidete 
Höhlen in den Hirnlappen, ferner Erweichungen in 
den grossen Ganglien, endlich ziemlich regelmässig 
Epcndymgranulationen, Hydrops ventneulorum und 
chronische Verdickung der weichen Häute festgestellt. 
— Das klinische Bild kennzeichnet® sich von vorn¬ 
herein durch Kopfschmerz, Schwindel, meist auch 
durch frühes Erbrechen. Ferner waren statische Ataxie, 
Veränderungen des Augenhintergrundes! (Hyperämie, 
Neuritis optica, seltener Stauungspapille^ Afifectionen 
der basalen Hirnnerven, mannigfache Reizerschein¬ 
ungen im Gebiet der Körpermuskulatur vorhanden, 
dazu die den jeweiligen Herderkrankungen ent¬ 
sprechenden Ausfallerscheinungen. Hervorhebung 
verdient eine allgemeine Hyperästhesie, die in 5 von 
den o Fällen sehr ausgesprochen war, und das Auf¬ 
treten von Schmerzen in verschiedenen Körpertheilen, 
das in mehreren Fällen schon aus weit vor dem 
eigentlichen Krankheitsbeginn liegender Zeit berichtet 
wurde. Aus dem weiteren Verlauf ist von besonderer 
Bedeutung der frappirende Wechsel in der Intensität 
der Krankheitsersoheimingen. 

Im Anschluss daran erörtert der Vortragende 
die Diagnose der Gehirncystirerken und zwar speciell 
im Hinblick auf die hier allein in Betracht gezogene 
Form. 

Die Feststellung, dass es sich um ein organisches 
und raumbeschränkendes Leiden des Schädelinnern 
handelte, machte in keinem der besprochenen Fälle 
Schwierigkeiten: ebenso wiesen die Symptome mit 
hinreichender Deutlichkeit auf eine Affection der 
hinteren Schädelgrube und der Gehimbasis hin. 


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1905 .] PSYCHIATRISCH.NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 417 


Aber auch die Specialdiagnose könnte in Fällen 
dieser Art, auch ohne dass Cysticerken an den 
directer Untersuchung zugängigen Stellen (Haut, 
Auge, Zunge) vorhanden wären, wohl vielfach wenig¬ 
stens mit grosser Wahrscheinlichkeit gestellt werden 
und wurde in dem zuletzt beobachteten Falle that- 
sächlich auch richtig gestellt. Besonders ist dabei 
der auffällige Wechsel der Erscheinungen charakte¬ 
ristisch, der ähnlich höchstens bei specifischen Er¬ 
krankungen vorkommt. Ausserdem ist vielleicht die 
in den mitgetheilten Fällen fast ausnahmslos fest¬ 
gestellte allgemeine Hyperästhesie von diagnostischer 
Bedeutung und endlich verdient wohl das mehrjährige 
Vorausgehen heftiger Schmerzen der verschiedensten 
Körpergebiete Beachtung. 

Der Vortrag, der durch die Projection einiger 
Diapositive erläutert wurde, wird im Archiv für Psy¬ 
chiatrie in erweiterter Form veröffentlicht werden. 

(Autoreferat.) 

Discussion: 

Professor Fürstner, Dr. Thoma, Dr. Laquer, 
Dr. Geelvink, Dr. Bayerthal, Professor Dr. 
Wollenbe rg. 

6. Dr. Spielmeyer-Freiburg: Demonstration 
von Encephalitis-Präparaten. 

Sp. demonstrirt (mit Hilfe des Projectionsapparates) 
Präparate zweier Fälle von G r o s s h i r n e n c e p h a - 
litis und eines Falles von acuter hämorrha- 
gischer Policen cephalis superior. 

Die beiden Grosshirnfälle sind wesentlich von 
einander verschieden: in dem einen Falle findet sich 
— als einzig nachweisbare Veränderung — eine 
Rundzelleninfiltratinn der Gefässe im Hemisphären¬ 
parenchym und stellen weise auch in den Meningen, 
in dem anderen beherrscht ein herdförmiger Ent- 
zündungsprocess mit grosszeiliger Hyperplasie das 
ganze Hemisphärenmark. Diese Fälle beanspruchen 
ein besonderes casuistisches Interesse: der erste kann 
die Uebergänge zu den „Encephalitiden“ ohne ana¬ 
tomisches Substrat illustriren, er erinnert an die Be¬ 
funde von Krannhals bei seinen meningitisähn¬ 
lich verlaufenden Fällen; der zweite leitet zu den 
indurativen Endausgängen der geheilten Encephalitis 
über, zu den Fällen also von sogenannter „secundärer“ 
oder „entzündlicher Sklerose“. 

So different diese beiden Grosshirnencephalitiden 
sind, so sind beiden doch exquisit entzündliche Ver¬ 
änderungen gemeinsam. Bei der typischen Wern ic ke- 
sehen Polioencephalitis dagegen vermissen wir diese 
echten Entzündungserscheinungen; es handelt sich 
dort um eine einfache hämorrhagische Infiltration. 
Für deren Genese dürften zwei Momente in Betracht 
kommen: die anatomisch-pathologischen und patho¬ 
genetischen Beziehungen dieser Extravasate im cen¬ 
tralen Höhlengrau zu den Blutungen bei der hämor¬ 
rhagischen Diathese und feiner die reichen Gefüss- 
neubildungen in den von den Blutungen betroffenen 
Gegenden. (Autoreferat.) 

Discussion: 

Dr. Bayerthal, Prof. Nissl, Prof. Fürstn er, 
Dr. Spielmeyer. 

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7. Professor Dr. H oche-Freiburg zeigt die 
Dauerbadeinrichtung der Klinik und weist einen 
äusserst zweckmässig erscheinenden Mischhahn für 
solche vor. 

8. Professor Dr. Ho che-Freiburg stellt eine An¬ 
zahl von Kretinen und kretinoiden Kranken aus der 
Kreispflegeanstalt Freiburg vor. 

9. Professor Dr. Ho che - Freiburg: Ueber 
Zwangshallucinationen. 

Eine Kranke fand eine Sublimatpastille und warf 
sie ins Closett. Sofort hatte sie die Vorstellung, die 
Benützer des Closettes würden vergiftet und seitdem 
hallucinirte sie in der Weise, dass sie rothe Flecke, 
ähnlich der Sublimatpastille, auf allen Gegenständen 
sah. Obwohl die Kranke die Sinnestäuschung für 
eine wirkliche Wahrnehmung hielt, hatte sie doch 
immer die Einsicht in die Krankhaftigkeit ihres Ein¬ 
druckes. 

Diese Fälle sind selten beschrieben, sie haben 
meist Beziehungen zu gewohnheitsmässigen Vorstell¬ 
ungen. Auch das Gehör kann mitbetheiligt sein. 

Disc u ssion: 

Prof. Thomsen-Bonn theilt einen analogen Fall 
seiner Praxis mit. 

10. Dr. Merzbach er-Heidelberg: Zur Bio¬ 
logie der Nervendegeneration. 

M. theilt die Ergebnisse experimenteller Versuche 
mit, die an Winterschläfern und bei der Transplan¬ 
tation isolirter Nervenstücke gewonnen wurden. 

Die Degenerationsversuche an Winterschlaf enden 
Fledermäusen geben Zeugniss von der grossen Ab- 
hängigkeit des Degenerationsprocesses von den Ein¬ 
flüssen der umgebenden Temperatur. In der Kälte 
scheinen wir ein Mittel zu besitzen, um den Eintritt 
der Degeneration zeitlich zu trennen von der Wirk¬ 
ung der Schädigungen, die den Nerven im Augen¬ 
blick der Durchschneidung treffen. 

An den transplantirten Nervenstücken konnte 
man zweierlei regressive Processe verfolgen, die 
histologisch und biologisch von einander verschieden 
sind. Der eine Proccss entspricht der bekannten 
typischen Degeneration, der andere Process wird von 
M. als ein zur Nekrose frührender Process aufgefasst; 
er ist besonders dadurch von der Degeneration aus¬ 
gezeichnet, dass im Verlaufe desselben die Mark¬ 
scheiden in toto sich verändern, ohne in Segmente 
zu zerfallen. Degeneration trat ein bei der Auto¬ 
transplantation, d. h. wenn der Nerv eines Thieres 
auf dasselbe Thier transplantirt wurde; Nekrose hin¬ 
gegen spielte sich am isolirten Nervenstück ab bei 
der Heteroplastik, d. h. wenn ein Nervenstiick aus 
einem Thiere in ein Individuum einer anderen Species 
übergepflanzt wurde. In einer anderen Versuchs¬ 
reihe wurde zu beweisen gesucht, dass die Degene¬ 
ration als ein Lebcnsprocess aufzufassen sei, d. h. 
als ein Vorgang, der nur im lebenden Gewebe sich 
abspielt, und ferner nur am überlebenden Nerven. 
Der Beweis wurde dadurch erbracht, dass die Nerven- 
stiieke auf tote, jedoch warm gehaltene Thiere trans¬ 
plantirt wurden und ferner dadurch, L dass ;Nerven 
aus toten Thieren auf lebende übertragen wurden. 


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418 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 42. 


Bei all diesen Versuchen verlor der Nerv die Fähig¬ 
keit zu degeneriren; es spielte sich hingegen an 
demselben der nekrotische Vorgang ab. 

(Autoreferat.) 

(Schluss folgt.) 

— Verein für Psychiatrie und Neurologie 
in Wien. Sitzung vom 8. November 1904. 

Dr. Erwin Stransky dernonstrirt einen 35jährigen 
Epileptiker. Seit Ende der achtziger Jahre Krampf¬ 
anfälle, seit 1808 nach Sturz vom Kutschbocke post- 
epileptische Delirien, derentwegen Pat. wiederholt auf 
der Klinik sich befand. Kein Potus, Ui suche der 
Epilepsie nicht eruirbar. In somatischer Beziehung 
zeigt Pat. eine linksseitige Hemiparese mit Contrac- 
turstellung der oberen Extremität. Die Parese trat 
vor Jahresfrist im Anschluss an einen convulsiven An¬ 
fall auf. Diesem Befunde supponirt Stransky einen 
grösseren oder mehrere kleinere Herde im Marklager 
unter der Rinde der rechten motorisc hen Region als 
anatomische Ursache. 

Dr. Otto Pötzl stellt einen 44jährigen Mann vor, 
welcher nach einer als Katatonie zu bezeichnenden 
Psychose, die vier fahre dauerte, genesen ist. Die 
ersten Symptome der Krankheit halten sich im un¬ 
mittelbaren Zusammenhang mit einer Initialsklerose 
entwickelt. 3V2 Jahre war der Kranke stuporös ge¬ 
wesen. Die Genesung setzte ganz unvermittelt ein 
und besteht seit 8 Monaten. 

Dr. A. Fuchs stellt zwei junge Mädchen vor. In 
beiden Fällen handelt es sich um Myasthenie. In 
dem ersteren Falle hat sich eine Atrophie der Spatia 
interossea III. und IV., links stärker als rechts, ent¬ 
wickelt und das Eussphänomen ist auslösbar. Solche 
Fälle lassen den Bestand einer reinen Neurose un¬ 
wahrscheinlich eischeinen. Der zweite Fall weist eine 
Pseudohypertrophie der Wadenmuskulatur auf. 

Prof. Obersteiner dernonstrirt an mikrosko¬ 
pischen Präparaten die Veränderungen, die er am 
Centralnci vensvstem von Mäusen nach Bestrahlung 
mit Radium gefunden hat. 

Dr. Pilcz hält einen Vortrag über „Heilversuche 
an Paralytikern“, der in den Jahrbüchern für Psychi¬ 
atrie in extenso erscheinen wird. S. 

Referate. 

— Kraepelin: P s v c: h litt r i e, 7. vielfach 11m- 
geatbeitete Auflage. II. Band, klinische Psychiatrie. 
XIV und 802 S. Leipzig 1004. 

Kraepolin's klinische Psychiatrie, der 2. Band, 
iib< 1 trifft in der neuesten, 7., Auflage den eisten, all¬ 
gemeinen Theil an Umfang ausserordentlich, fast bis 
aufs Doppelte. Das Werk, das in seinen 3 ersten 
Auflagen als ( oinpendiiim ging, dann ein grosses, 
rasch wachsendes Lehrbuch darstellte, nähert sich 
jetzt dem Charakter eines Handbuchs, nicht bloss 
wegen des stattlichen, für den Studirenden eigentlich 
s« h«01 zu starken Umfangs, sondern viel mehr noch 
wegen des ersichtlichen Bestrebens, mannigfache 
illustialive Hilfsmittel, wie Patientenbilder, Mikropro¬ 
gramme, Schriftproben, Diagramme, zu Verwendern 
und auch reichlichere Literaturnachweise zu bieten. 


Auch der klinische Theil ist völlig neu durchge¬ 
arbeitet, wenn er schon nicht mehr jene Umwälzungen 
erkennen lässt, wie bei dem Uebergang von der 3. 
zur 4. und 5. Auflage. 

Nach einer Betrachtung über die Klassifikation 
der Psychosen wird das infektiöse Irresein dargestellt. 
Die Trennung der Fieberdelirien von den infektiösen 
hat etwas Problematisches an sich ; in diagnostischer 
Hinsicht dürfte bei der Frage eines Typhusinitial¬ 
delirs doch der Ausfall der Gruber-VidaPschen Serum¬ 
reaktion wichtiger sein als das psychische Bild. Als 
3. Untergruppe sind die infektiösen Schwächezustände, 
darunter die Korsakowsche Psychose nicht alkoholo- 
gener Art, dargestellt. 

Die akuten Kimmen des Erschöpfungsirreseins, 
Collapsdelir und acute Verwirrtheit oder Amentia 
gehören nach dieser Definirung zu den allerseltensten 
Psychosen. Als chronische nervöse Erschöpfung hat 
die erworbene Neurasthenie ihren Platz behalten, 
der auch Bemerkungen über Hypochondrie beige¬ 
fügt sind, wenn schon das Gros letzterer Fälle wohl 
eher dem Bereich der konstitutionellen Verstimmung 
angehört. 

Eine ausgiebige Darstellung ist den Alkoholpsy¬ 
chose u gewidmet, wobei die .Nachgiebigkeit hinsicht¬ 
lich der Möglichkeit eines Abstinenzdelirs vielleicht 
manchem Autor etwas zu weitgehend erscheinen mag. 

Nach einer Würdigung des Morphinismus und 
G »cainismus wird als thvreogenes Irresein das Myxödem 
und der Cretinismus geschildert. 

Fast 7 Druckbogen sind der grossen, von Kraepelin 
in den Mittelpunkt der klinischen Discussion gerück¬ 
ten Gruppe der Dementia praecox gewidmet. Als 
klinische Formen werden die hebephnmischen, kata¬ 
tonischen und paranoiden Fälle auseinander gehalten, 
ohne dass Uebeigänge damit in Abrede gestellt 
würde 1 !!. Es fragt sich, oh es sieh nicht empfiehlt, 
neben jenen 3 Gruppen auch die Fälle einfacher 
Verblödung auf affectivem und apperceptivem Gebiet 
ohne Nebensymptome gesondert hervorzuheben, wie 
es u. a. in der von Bleuler angeregten Arbeit 
Di eins geschah, da gerade diese leichtesten Formen 
wegen ihrer forensischen und auch pädagogischen 
Wichtigkeit besondere Aufmerksamkeit verlangen. 

Es sclüiesst sich an ein noch stärkeres Kapitel 
über die Paralyse. Neben anschaulicher klinischer 
Schilderung hat auch die Oytocliagnose eine Stätte 
gefunden. Eingehend und unter Heranziehung zahl¬ 
reiche!* mikrophotographischer Abbildungen wurde 
die pathologische Anatomie dem Paralvse ausführlich 
geschildert. Besonders eingehend ist die Frage nach 
der Ursache behandelt. Angesichts der Seltenheit 
der Paralvse in manc hen Lues-reichen Ländern wird 
die Möglichkeit einer verschiedenen Giftigkeit des 
syphilitischen AnsterkungsstofTes erörtert. Die Auf¬ 
fassung der Paralvse als einer allgemeinem Ernähr¬ 
ungsstörung bringt sie in verwandtschaftliche Bezieh¬ 
ungen zu Myxödem, ferner M Diabetes, Akromegalie, 
Osteomalacie, während die Aulfassung der Paralvse 
als Folge funktioneller Ueberan.sti engung des Central¬ 
nervensystems Kr. nicht zu teilen vermag. Es sei 
übrigens erwähnt, dass auch diese Auflage noch 


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IQ 05 -J PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


(S. 301) die unzutreffende Aeusserung „Schluckpneu¬ 
monien“ (sog. „hypostatische Pneumonien“) enthält, 
während diese Bezeichnungen doch ganz verschiedene 
Dinge ausdrücken, die nicht mit einander zu ver¬ 
wechseln sind. 

Im Kapitel über das Irresein bei Hirneikrank- 
ungen ist der Hirnlues besondere Aufmerksamkeit, 
auch durch NissPsche Mikropin »togiamme, gewidmet. 

Ferner fand die arteriosklerotische Ilirnerkrank- 
ung eingehende Schilderung. Solche Patienten nehmen 
an Gedächtniss und Arbeitskraft ab, die Stimmung 
wechselt , ist oft hypochondrisch. Schwindel und 
Ohnmachtneigung tritt auf, auch apoplektiforme Zu¬ 
stände mit vorübergehenden Paresen, Aphasien u. s. w. 
Nicht selten ist eine schwere, progressive Form. 

Als Irresein des Rückbildungsalters wird die 
Melancholie, der präsenile Beeinträchtigungswahn 
und der Altersblödsinn behandelt. Die Abgrenzung 
des präsenilen Beeinträchtigungswahns von der 
Kraepelin’schen Paranoia scheint dem Ref. weniger 
tief zu greifen, als die der 2 Unterformen des Alters- 
blfuLiuns, der Presbyophrenie und des senilen Ver- 
f< »Igungswahns. 

Das Kapitel des manisch-depressiven Irreseins 
erfreut sich diesmal besonders reicher Anwendung 
graphischer Hilfsmittel, auch die Mannigfaltigkeit der 
Mischzustände ist durch Curven verdeutlicht. Den 
Versuch Th al bi t z e r 's, auc h die Involutionsmelan¬ 
cholie unter die manisch-depressive Psychose zu sub- 
summiren, weist Kr. zuiiick. 

Nach dem kurzen Paranoiaabschnitt wird das 
epileptische Irresein dargestellt. Sodann treffen wir 
als die psychogenen Neurosen das hysterische Irre¬ 
sein, aus dem auch der G a n s e r'sehe Dämmerzu¬ 
stand noch nicht definitiv verbannt ist, dann die 
„Schreckneurose“ und schliesslich die „Erwartungs¬ 
neurose“, eine Gruppe, die wohl zunächst noch nicht 
viel Gegenliebe finden wird. 

Unter den „originären Krankheitszuständen“, zu 
denen man auch die Hysterie hätte gruppiren können, 
sind die Nervosität, die konstitutionelle Verstimmung 
und Erregung, das Zwangsirresein, das schwer von 
letzterem zu trennende impulsive Irresein und zu 
guter letzt die geschlechtlichen Verirrungen besprochen. 

Weiterhin werden als psychopathische Persön¬ 
lichkeiten der geborene Verbrecher, die Haltlosen, 
die krankhaften Lügner und Schwindler, sowie die 
Pseudoquerulanten geschildert. 

Als die psychischen Entwicklungshemmungen 
haben Imbecillität und Idiotie im Schlusskapitel 
ihren Platz gefunden. In ätiologischer Hinsicht ist 
neben Syphilis, Mikrocephalie, Encephalitis, Hydro¬ 
zephalie, Hirnddernse, auch der Dementia praecox 
gedacht, an deren Symptome ja das renitente Wesen, 
die Haltungseigenthümliehkeiten. die Maniren und 
Stereotypien der Idioten vielfach erinnern, wobei 
freilich nicht zu vergessen ist, dass einzelne Zeichen 
dieser Art, z. B. Echosymptome, auch im ganz nor¬ 
malen Kindesalter auftreten. 

Wenn Joll\ r bei der Besprechung einer früheren 
Auflage von „schwerflüssigen Stellen“ sprach, die vor 
Allem bei der Form des Wahnsinns, bei den Bezieh¬ 


ungen zwischen Verwirrtheit und akuten sowie chro¬ 
nischen paranoist hen Zuständen zu finden seien, so 
besteht heutzutage einer der Hauptvorzüge des 
Kracpeliivschcn Svstems gerade in dem, was es aus 
jenen Zuständen gemacht hat, in der scharfen Grenz¬ 
setzung zwischen manisch-depressiver Psychose und 
Dementia praecox, in der Definition des Begriffs der 
systematisirenden Paranoia und der engeren Fassung 
der Amenlia. Oh auf die Dauer freilich auch jener 
Rest der Paranoia unangetastet 1 »leibt, ist zweifelhaft. 
Die ersterwähnte Grenzsetzung aber hat voraussicht¬ 
lich längeren Bestand. 

Während die hier immer feiner herausgearbeitete 
Diffenmtialdiagno.se bereits bei der ersten Untersuch¬ 
ung von 2 äusserlich vielleicht recht ähnlich erschei¬ 
nenden Zustandsbildern oft schon die Einreihung in 
2 ganz differente Krankheitsgruppen mit relativ 
sicherer Prognose erlaubt, liegt hinsichtlich der er¬ 
heblichsten Neuerung dieser Auflage, der ausführ¬ 
licheren Darstellung der psychopathischen Persön¬ 
lichkeiten im Kap. XIV, doch auch XII und XIII, 
der Hauptwerth auf dem Umstand , dass der Blick 
des Irrenarztes wieder schärfer auf die Fälle jener 
Erscheinungen gelenkt wird, die sonst nur zu häufig 
vor das Forum des Neurologen treten und hier 
summarisch abgcurtheilt weiden. 

Die Schätzung eines Buchs kann nicht von einem 
Vergleich mit anderweitigen Bearbeitungen dergleichen 
Materie Abstand nehmen. Hier muss nun zweifel¬ 
los gelten, dass das Werk die inhaltreichste Darstell¬ 
ung der Psychiatrie repräsentirt, mit der eindringend¬ 
sten Kritik den mannigfachen Dunkelheiten des Stoffes 
begegnet und sich überdies durch eine geradezu 
mustergiltige Anschaulichkeit der Darstellung aus¬ 
zeichn et. Weygan d t - Würzburg. 

Wegen der Bedeutung des K ra e p e 1 i n’schen 
Lehrbuches erschien es der Redaction zweckmässig, 
den Fachcollegen einen Theil der von Möbius in 
Schmidt’s Jahrbüchern veröffentlichten Besprechung 
dieses Werkes hier wiederzugeben : 

Möbius glaubt nämlich, dass das ausgezeichnete 
Lehrbuch K.’s poch besser sein würde, wenn die 
Kapitel etwas anders geordnet wären. „Jetzt stehen 
die exogenen Krankheiten voran und zwischen ihnen 
steht die Dementia praecox. Dann folgen die endo¬ 
genen Zustände und Erkrankungen, aber ohne er¬ 
kennbare Ordnung. Ob man mit dem Exogenen 
oder dem Endogenen anfängt, ist schliesslich ohne 
Bedeutung; da die endogenen Erkrankungen doch 
den Kern der Psychiatrie bilden, so möchte ihnen 
eigentlich der Voirang gebühren, aber aus Rücksicht 
auf den Lehrzweck bleibt es vielleicht besser bei 
dem Vorausgehen der exogenen Formen. In Hin¬ 
sicht auf jene ist es nun sehr begreiflich, dass der 
Irrenarzt das manisch-depressive Irresein, die Ver¬ 
rücktheit u. s. w. zuerst bespricht, denn diese Dinge 
sind sozusagen sein tägliches Brot, indessen für den 
Lernenden wäre es förderlicher, wenn die „originären 
Zustände“, d. h. die primären Zustände Magnan’s, 
vor den Syndromen kämen. Denn die „Nervösen“, 
„Degcnerirten“. „Psychopathen“ sind doch eben 
einerseits das Publikum, dass die Irren liefert, sie 


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420 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 42. 


bilden andererseits die Brücken, die aus dem Ge¬ 
biete des Normalen in das eigentliche Irresein hin¬ 
überführen. Die Nervosität ist sozusagen der Stamm, 
aus dem die Zweige des psychiatrischen Baumes 
herauswachsen; dort sind die Anfänge von allen 
Formen, die in ihrer Vollendung einander unähnlich 
sind, noch beisammen. Geht der Anfänger durch 
dieses Thor ein, so begreift er am ehesten, wie alles 
unter einander zusammenhängt. Er mag dann auch 
ein Verständniss dafür gewinnen, dass alle endogenen 
Formen durch Uebergänge verbunden sind, dass man 
im Grunde nicht sagen kann , wo das Eine aufhört 
und das Andere anfängt. Das aber ist Dem am 
schwersten zu begreifen, der an die strengen Unter¬ 
scheidungen der gewöhnlichen Medicin gewöhnt ist. 
Die Reihenfolge der endogenen Formen des eigent¬ 
lichen Irreseins kann verschieden gewählt werden, 
weil es keine natürliche Reihe giebt. Aber das geht 
doch nicht an, dass die Dementia praecox von ihnen 
abgetrennt ward. Diese ist von K. zwischen das 
Myxödem und die progressive Paralyse gestellt 
worden, weil er meint, es müsse bei ihr die Zer¬ 
störung des Gehirns durch giftige Ergebnisse des 
Stoffwechsels stattfinden. Das kann der Fall sein, 
aber müssen w'ir nicht bei allen Erkrankungen 
chemische Vorgänge im Gehirn voraussetzen? Und 
ist der Unterschied nicht nur der, dass die zer¬ 
störenden Stoffe einmal tiefgreifende grobe Ver¬ 
änderungen bewirken, das andere Mal aber geringe, 
schwer fassbare? Die Hauptsache ist, wo das 
Gift herkomme. Bei der Paralyse ist seine Ent¬ 
stehung an die Einführung eines Giftes von aussen 
her geknüpft, bei dem Myxödem ist es die Wirkung 
der Atrophie einer bestimmten Drüse. Beide Vor¬ 
gänge sind bei der Dementia praecox iin höchsten 
Giade unwahrscheinlich. Dagegen ist es höchst 
wahrscheinlich, dass der abnorme Chemismus bei 
ihr auf dieselbe (uns unbekannte) Weise entsteht 
wie bei den übrigen endogenen Formen, weil die 
Erkrankenden von Haus aus entartet sind und weil 
die Dementia praecox auf das Engste mit den 
übrigen Formen durch Uebergänge verbunden ist. 
Das ist am deutlichsten bei der Paranoia. Gerade 
K. hat ja das Meiste, was früher in dem Paranoia- 
Kasten war, in den Dementia-Kasten geschüttet, 
ja er geht jetzt so weit, die Paranoia completa zur 
Dementia praecox zu rechnen. Es ist wohl etwas 
wunderlich, läuft aber auf Wortstreit hinaus, wenn 
man nur zugiebt, dass keine prinzipielle Trennung 
zwischen Paranoia und Dementia praecox möglich 
ist. Von der Paranoia w-ieder geht es ohne Spalt 
zu den „psychopathischen Persönlichkeiten“ und 
zur Hysterie. Aber auch nach der Seite des 
manisch-depressiven Irreseins sind die Uebergänge 
da. K. selbst sagt (p. 234), dass er manche Formen 
der Dementia praecox früher zu jenem gerechnet 
habe und dass ähnliche Bilder hier wie dort Vor¬ 
kommen. Das manisch-depressive Irresein wieder 
hängt mit den „originären Zuständen“ auf das In¬ 
timste zusammen. U. s. f. Bleibt man bei der 
Giftvorstellung, so kann man noch sagen, wenn 
einer eine grosse Menge Gift bekommen habe, so 


breche er zeitig zusammen und leide an Dementia 
praecox, trage er aber nur wenig und verdünntes 
Gift in sich, so erkranke er später an Paranoia oder 
etwa an senilen Zufällen. 

An die Spitze der exogenen Formen treten am 
besten die Vergiftungen durch eingeführte chemische 
Stoße, weil bei ihnen die Verhältnisse am durch¬ 
sichtigsten sind. Dann mögen die Toxinwirkungen 
bei infektiösen Krankheiten, die Organvergiftungen 
(z. B. Myxödem), die Metasyphilis und die groben 
Gehirnerkrankungen folgen. Schwierig ist es mit 
der Epilepsie. Wahrscheinlich liegt ihr immer eine 
Gehirnnarbe zu Grunde und deshalb gehört sie 
eigentlich zu den groben Gehimkrankheiten. Auch 
ist sie wohl immer exogener Natur, denn es ist 
kaum anzunehmen, dass es wirklich eine ererbte 
Epilepsie gebe. Vielmehr wird w-ohl nur das hin¬ 
fällige Gehirn ererbt, das dann Sitz einer infantilen 
Encephalitis oder anderer Krankheiten w’ird. Aber 
wie trotz der verschiedenen Ursachen der Gehim- 
narbe (akute Infektion, Syphilis, Trauma, Alkohol 
u. s. w.) w'egen der Uebereinstimmung der klinischen 
Bilder und des Verlaufes praktische Rücksichten zur 
Aufstellung Einer Epilepsie drängen, so nöthigen 
diese Rücksichten auch , das epileptische Irresein an 
die endogenen Formen anzuknüpfen, weil die von 
Kindheit an Epileptischen gar zu viel mit den erb¬ 
lich Verkümmerten gemein haben. Also mag die 
Epilepsie zwischen den exogenen und den endogenen 
Formen stehen. Aelmliche Schwierigkeiten kehren 
hei der Idiotie wieder: auch hier bewirken praktische 
Rücksichten, dass das Congiomcrat erhalten bleibe, 
dass degenerativer Schwachsinn , Hydrocephalus, 
Porencephalie, Gehirnsklerose u. s. w. unter derselben 
Firma stehen. Am besten schlösse sich daher die 
Idiotie an die Epilepsie an.“ 

— F o r e I: Hygiene der Nerven und des 
Geistes. Bibi, der Gesundheitspflege Bd. 9. (3 M.) 
Stuttgart bei E. H. Moritz. 

In meisterhafter Weise hat Forel das Wichtigste 
über die normalen Verhältnisse des Centralnerven¬ 
systems wie des Seelenlebens und über die Nerven - 
pathologie zusammengefasst, um daraufhin einen be¬ 
redsamen und überzeugenden Rathgeber für die 
Hygiene des Seelen- und Ncrvenlebcns darzustellen. 

Auf einzelne Lieblingsvorstellungen Forers, die 
sich noch keiner ungetheilten Anschauung erfreuen, 
wollen w'ir hier nicht eingehen. 

Das Büchlein ist ausgestattet mit wenigen, doch 
treffenden Abbildungen, nur dass in störender Weise 
bei der Hirnfigur das Armcentrum die oberste Stelle 
der Centralwindung einnimmt. 

Als Ganzes stellt die Schrift ein geradezu genial 
durchgeführtes Muster für eine gediegene Popularisir- 
ung der Lehren unseres Faches dar. 

Weygandt - Würzburg. 


Personalnachrichten. 

— Unser sehr verehrter Mitherausgeber, Herr 
Privatdozent Dr. med. et phil. Weygandt ist zum 
ausserordentlichen Professor ernannt worden. 


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i’iir den icd.urtionell« n Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. llreslt-r, Lllhlnit/ ^Sch esien). 

Erscheint jeden Sonnabend. — Schloss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Heynemann’sche Buchdruckerei (Gebr. Wo’ffl ir* Halle a. S. 

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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift. 

Redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. B realer, 

Lublinitz (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse: Marho Id Verlag, Halletaale. Fernsprecher 2834. 

Nr. 43. 21. Januar. 1905. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die 3 spaltige Petitseile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermassigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten. 


Zur Frage der Versorgung geisteskranker Verbrecher. 

Von Oberarzt Dr. von Kunowski in Leubus. 


1 \ yTit einigem Befremden habe ich in Nummer 41 
Näckes Referat über Heilbronners Aufsatz 
zu obigem Thema*) gelesen. Es ist mir nicht recht 
verständlich, wie Näcke schreiben kann, dass „Heil- 
bronner fast überall zu denselben Resultaten ge¬ 
langt“, wie er selbst. Ich finde nur in dem einen 
Punkte eine gewisse Übereinstimmung beider, als 
Heilbronner Adnexe für geisteskranke Verbrecher 
an Irrenanstalten verwirft, während Näcke sie 
nur für weniger empfehlenswert!! hält als solche an 
Strafanstalten. Aber schon in der Begründung dieser 
gemeinsamen Ansicht weicht Heilbronner völlig 
von Näcke ab. Jener wendet sich nämlich überhaupt 
gegen jede Form der Adnexe, also auch gegen die 
von Näcke so warm befürworteten Adnexe an 
Strafanstalten, und vertritt soipit einen dem 
Näc ke’schenso ziemlich entgegengesetzten Standpunkt. 
Er führt, und wie ich glaube mit Recht, aus, dass 
jede Absonderung, die sich auf eine Auslese gefähr¬ 
licher Elemente beschränkt und diese eng zusammen¬ 
legt, deren Gefährlichkeit nur noch steigert und gerade¬ 
zu unmögliche Verhältnisse künstlich züchtet. Flügges 
Schilderungen in seinem Vortrag über das Bewahrungs¬ 
haus in Düren **) nennt er „eine abschreckende 
Illustration zu seinen Behauptungen“. In Straf¬ 
anstaltsadnexen, meint er, würden die vereinigten 
geisteskranken Verbrecher noch grössere Schwierig¬ 
keiten bereiten als in den Strafanstalten selbst und 
jede psychiatrische Behandlung illusorisch machen. 
Diesen Adnexen scheinen ihm aber ausserdem noch 
vorläufig unüberwindliche gesetzliche Schwierigkeiten 
entgegenzustehen. 

Ganz im Sinne dieser Ausführungen verlangt 
Heilbronner weiterhin, dass die in Preussen bc- 

*) Monatsschr. f. Kriminalpsychol. I. 5. 

**) Allg. Zeitschr. f. Psychiatr. LXI, 3. 


stehenden staatlichen Beobachtungsstationen 
an Strafanstalten wirklich nur der Beobachtung 
dienen sollen und nicht auch nur zeitweiliger Ver¬ 
sorgung als solcher erkannter und aus dem Straf¬ 
vollzug zu entlassender geisteskranker Verbrecher. 
Sie sollen Theile der Strafanstalt selbst bleiben und 
sich nicht zu Adnexen auswachsen. Nicht einmal 
als Durchgangsstationen sollen sie länger als unbedingt 
erforderlich in Anspruch genommen werden, um nicht 
ihrer eigentlichen Bestimmung entzogen zu werden. 
Hiermit vergleiche man Näckes Worte: „Dass diese 
Gefängnissirrenabtheilungen, wie Heilbronner ver¬ 
langt, den Charakter von vorwiegenden Beobachtungs¬ 
abtheilungen haben sollten, wäre weniger nach meinem 
Geschmack, da ich die Abtheilung eben als eine 
kleine, aber möglichst vollkommen eingerichtete Irren¬ 
anstalt von 150—200 Personen mir denke, wohin 
nicht blosse Fälle zur Beobachtung, sondern auch 
zur Heilung und, wenn unheilbar, auf unbestimmte 
Zeit behalten werden sollten. Sie wären also keine 
blossen Durchgangsstationen, wie jetzt noch dort!“ 
Lässt diese zarte Andeutung einer kleinen 
Meinungsverschiedenheit den Leser erkennen, dass 
Heilbronner ein prinzipieller Gegner des Straf¬ 
anstaltsadnexes zum Zwecke der Versorgung geistes¬ 
kranker Verbrecher ist und diese vielmehr der 
allgemeinen den Landarmen verbänden obliegenden 
Irrenfürsorge überwiesen wissen will ? In Wahrheit 
handelt es sich zwischen Näcke und Heilbronner 
um ganz denselben Gegensatz der Meinungen, wie er 
zwischen Näcke und mir zu Tage getreten ist. 
Ebenso, wie jetzt Heilbronner, hatte auch ich in 
Nummer 44 vorigen Jahrganges auf die technischen 
Schwierigkeiten der Adnexe überhaupt und auf die 
rechtlichen Hindernisse der Adnexe an Strafanstalten 
im besondern hinge wiesen. 


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422 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 43. 


Auf Grund gleicher Erwägungen kommt Ileil- 
b rönner daher jetzt auch zu dem gleichen Ergebniss, 
wie ich, indem er meint, dass, wenn überhaupt eine 
Absonderung platzgreifen soll, rechtlich und technisch 
durchführbar nur von den Landarmenverbänden 
errichtete eigene Anstalten f ü r geis t eskr an k e 
Verbrecher sind, und steht damit wieder im 
Gegensatz zu dem von Näcke vertretenen Stand¬ 
punkte. Mit mir hält er es für einen springenden 
Punkt, dass solche Anstalten nicht auf eine Auslese 
der gefährlichsten Elemente beschränkt bleiben, sondern 
gerade durch die Hinzunahme harmloserer Verbrecher 
den Betrieb als Krankenhaus ermöglichen. Er meint 
geradezu, dass eine derartige Verbrecheranstalt sich 
„verhältnissmässig harmlos“ gestalten Hesse und ein 
gewisses Mass freier Behandlung gewähren könnte. 
„Einzelne derartige Anstalten scheinen thatsächlich 
befriedigend zu wirken.“ 

Wenn nun aber Heilbronner trotzdem letzten 
Endes nicht für solche Verbrechei anstalten eintritt, wie ich 
es gethan, so geschieht dies nur aus dem Grunde, weil 
er überhaupt jede Absonderung für überflüssig hält. 
Er glaubt, dass schon die blosse gleichmässige Ver¬ 
keilung der verbrecherischen Elemente über die 
Provinzialanstalten genügt, um alle wesentlichen 
Schwierigkeiten zu beseitigen. Die Begründung 
dieser Ansicht bildet den Hauptgegenstand seiner 
Abhandlung. Er ist zu ihr nicht direkt durch eigene 
Beobachtung der Anstaltsverhältnisse gelangt, sondern 
er hat sie indirekt erschlossen. Einerseits hatte er 
Gelegenheit, an der Polizeiabtheilung der Breslauer 
Gefängnissirrenanstalt zu beobachten, dass nur etwa 
20% der Insassen wirklich gefährlich w r ar, während 
weitere 60% der Aufreizung zugänglich erschienen. 
Andererseits entnahm er einer ihm von der Leitung 
des preussischen Strafanstaltswesens zugänglich ge¬ 
machten Statistik, dass im Zähljahr 1002/03 nur 
203 geisteskranke Verbrecher aus den ö preussischcn 
Gefängnissbeobachtungsstationen den Provinzialirren¬ 
anstalten zugeführt wurden. Indem er nun den am Bres¬ 
lauer Material ermittelten Prozentsatz der Gefährlichen auf 
die Gesammtheit der Ueberwiesenen ausdehnt, findet 
er, dass jährlich nur ein Zufluss von ca. 40 gefähr¬ 
lichen Verbrechern einer Gcsammtaufnahmeziffer aller 
Irrenanstalten in Prcussen von ca. 10 000 gegenüb er¬ 
steht. Dies Verhältniss erscheint ihm, auch in An¬ 
betracht der Thatsache, dass die verbrecherischen 
Elemente dauerndere Insassen der Anstalten bleiben 
als der Durchschnitt, von vornherein nicht derart, 
11m besondere einschneidende Massnahmen nöthig zu 
machen. 

Heilbronner hat hierbei ubersehen, dass seine 


Beweisführung zw'ei bedenkliche Lücken aufweist. 
Die den Provinzialanstalten aus den Beobachtungs¬ 
stationen zugehenden verbrecherischen Geisteskranken 
bilden sicher noch nicht die Hälfte dieser Kategorie. 
Mehr als die Hälfte gelangt entweder direkt aus dem 
Gefängniss und der Untersuchungshaft in die Irrenan¬ 
stalten oder, und das ist vielleicht ein ebenso häufiger Fall, 
die Geistesstörung wurde überhaupt nicht während 
einer Strafhaft oder eines Strafverfahrens manifest. 
Andererseits besagt die zum Vergleiche herangezogene 
Gesammtaufnahmezifler nichts für die Frage Be¬ 
weisendes. Abgesehen davon, dass sic auch die 
Privatanstalten einschliesst, sei nur daran erinnert, 
dass eine ganze Anzahl Kliniken und städtische An¬ 
stalten auf 100 Betten gegen 1000 Aufnahmen im 
Jahr haben, während in Provinzialanstalten auf 100 
Betten oft nur 10 Aufnahmen kommen, und gerade 
auf sie entfallen fast ausschliesslich die geisteskranken 
Verbrecher. Ohne eine genaue Differenzirung sind 
also solche statistischen Berechnungen werthlos 
und durchaus nicht, wie Heilbronner es annimmt, 
geeignet, der ganzen Frage ein festeres Fundament 
zu geben. Wenn er also hiernach geneigt ist, that¬ 
sächlich aufgetretene Schwierigkeiten nur auf die 
Anhäufung von Verbrechern in einzelnen Provinzial¬ 
anstalten zurückzuführen, so liegt hier verinuthlich 
eine irrige Verallgemeinerung der ihm bekannten Ver¬ 
hältnisse der Provinz Sachsen vor, mit der die ander¬ 
wärts allseitig laut gewordenen Klagen im Widerspruch 
stehen. 

Neben seinen statistischen Berechnungen führt 
Heilbronner unterstützend auch noch humanitäre 
Erwägungen ins Feld. Er fürchtet, dass besondere 
Anstalten für geisteskranke Verbrecher, auch wenn 
man ihnen nicht eine solche Bezeichnung giebt, die 
Insassen zu Kranken zweiter Klasse herabdrücken. 
Hierbei geräth er aber in einen Widerspruch mit 
sich selbst. Denn einerseits giebt er zu, dass das 
allgemeine Wohl unbedingt voranstellen muss und 
z. B. bei Quarantänemassnahmen auch gegen sozial 
werthvolle Individuen Härten nöthig macht. Anderer¬ 
seits weiss er selbst keinen besseren Rath, als den, 
einer zu grossen Anhäufung geisteskranker Verbrecher 
im Nothfalle durch Zuriickversetzungen in den Straf¬ 
vollzug abzuhelfen. Ich meine, es giebt thatsäch¬ 
lich Menschen von verschiedenem gesellschaftlichen 
Werth, und diese Thatsache lässt sich nicht übersehen, 
sie macht sich unter allen Umständen geltend. Auch 
unter andere Kranken gemischt werden Ver¬ 
brecher trotz humansten Strebens zu Kranken zweiter 
Klasse w-erden, vielleicht mehr noch als in eignen 
Anstalten. Dort werden sie immer ein Hemmniss 


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1905.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


einer allgemeinen möglichst freien Behandlung bleiben 
und eigene Sicherheitsmassnahmen erfordern, hier 
unterscheiden sie sich nicht von ihrer Umgebung. 
Wenn ich auch nie soweit gehen würde, Adnexen 
an Strafanstalten das zu Wort zu reden, die trotz 
des redlichsten Bemühens der ärztlichen Leitung doch 
immer selbst den Charakter von Strafanstalten be¬ 
halten, so kann ich humanitäre Bedenken gegen 
selbständige Anstalten für geisteskranke Verbrecher 
innerhalb der allgemeinen Irrenfürsorge nicht theilen. 

Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, als 
sei Heilbronner’s Arbeit von einer ge wissen Tendenz 
beherrscht. Es ist ihm anscheinend darum zu thun, 
nachzuweisen, dass, im Gegensatz zu vielfach geäusserten 
Forderungen, diepreussische Staatsverwaltung 
keine Ver an lassun g hat, den Provinzen die 
Versorgung der geisteskranken Verbrecher 
abzunehmen. Die Ausscheidung könnte nicht auf 
eine wissenschaftliche Begriffsdefinition des geistes¬ 
kranken Verbrechers als eines geschlossenen Typus 
basirt werden, sie müsste vom praktischen Bedürfniss 
ausgehen. Die concentrirte Anhäufung Gefährlicher 
würde aber erst recht unpraktisch, wenn nicht un¬ 
durchführbar sein. Dagegen wären die Provinzen 
recht wohl in der Lage, durch Errichtung besonderer 
Anstalten, in die ,sie nach Bedarf auch Harmlosere 
mit hinübemehmen, selbst mit ihren geisteskranken 
Verbrechern fertig zu werden. Sow-eit ist, meiner 
Meinung nach, der ganze Gedankengang unantastbar, 
aber zugleich auch zum Beweise hinreichend. Damit 
begnügt sich Heilbronner aber nicht, sondern wirft 
auch noch die Bedürfnissfrage auf, die er selbst als 
eine „interne* Angelegenheit der Provinzen be¬ 
zeichnet. Hiermit schiesst er über das selbstgesteckte 
Ziel hinaus, das durch die Art der Negierung nur 
um so merklicher wird und bei Kennern der Ver¬ 
hältnisse, eben den Beschwerdeführern, nur zu leicht 
auch die Beweiskraft seiner tatsächlich richtigen Aus¬ 
führungen abzuschwächen geeignet ist. 

Die Bedürfnissfrage kann nun einmal nicht rein 
vom grünen Tisch aus entschieden werden, und auch 
die „Kurvenpsychiatrie“ erweist sich ihr gegenüber 
anscheinend als unzulänglich. Dazu bedarf es der 
gesammelten praktischen Erfahrungen der Anstalten, 
sowohl solcher mit vielen, wie mit wenigen geistes¬ 
kranken Verbrechern, vor allein aber solcher mit 
möglichst freier Behandlung. Aus diesen Erfahrungen 
scheint sich schon jetzt zu ergeben, dass die Zahl 
der gefährlichen Verbrecher garnicht die Rolle spielt, 
die ihr Heilbronner zuschreibt. In den schlesischen 
Anstalten befinden sich notorisch mindestens 400 
geisteskranke Verbrecher. Mögen davon auch noch 


keine 20 °/ G wirklich gefährlich sein, vielleicht sind es 
gar nur io°/ 0 , so genügen sie thatsächlich dennoch, 
auch bei ziemlich glcichraässiger Vertheilung, um den 
Charakter aller Anstalten nachtheilig zu beeinflussen. 
Letzten Endes hängt eben die ganze Frage 
der Absonderung mit den Zielen zusammen, 
die man der Irrenpflege überh au pt stec kt. 
Heilbronner hat ja insoweit ganz recht, wenn er 
meint, cs Hesse sich schliesslich in jeder Anstalt 
irgend eine feste Abtheilung einrichten, in der eine 
beschränkte Anzahl gefährlicher Verbrecher unschäd¬ 
lich gemacht werden könnte. Aus eigener Erfahrung 
kann ich nur sagen, dass ich verjähren in Kreuzburg 
mit einer ziemlich erheblichen Anzahl dieser Elemente 
ganz gut fertig geworden bin und im besonderen 
stolz darauf war, durch Jahre hindurch alle gröberen 
Conflicte auch mit Kranken vermieden zu haben, die 
deretwegen aus anderen Anstalten dorthin versetzt 
worden w f aren. Aber man lernt eben schliesslich, an 
einen Anstaltsbetrieb andere Forderungen stellen, als 
das blosse Schaffen eines modus vivendi. Deshalb 
trifft auch Heilbronners Behauptung nicht zu, 
dass man nur die jetzt allgemein herrschende Über¬ 
füllung der Anstalten zu beseitigen brauchte, um aller 
Schwierigkeiten mit geisteskranken Verbrechern über¬ 
hoben zu sein. Wohl muss ich zugeben, dass sie 
durch diese misslichen Verhältnisse um so fühlbarer 
werden, ihre Hauptquelle haben sie aber in 
der Unvereinbarkeit der betreffenden 
Elemente mit den modernen Behandlungs- 
p r i n c i p ie n. Wer heuzutage eine freie Behandlung, 
nach Alt-Scherbitzer Muster, für ein allgemein er- 
strebenswerthes Ideal ansieht, der muss auch für die 
Absonderung der gefährlichen geisteskranken Ver¬ 
brecher eintreten. Und dass diese dann aus tech¬ 
nischen Gründen einen grossen Thcil der mehr oder 
weniger harmlosen Verbrecher nach sich ziehen, das 
ist eine Consequenz, die mit in Kauf genommen 
werden muss. 

Diesem innigen Zusammenhang der Verbrecher- 
fragc mit der ganzen modernen Reform des Irren¬ 
anstaltswesens, die unseren Anstalten den früheren 
Gefängnisscharacter völlig nehmen und sie zu wahren 
Krankenhäusern umwandeln soll, scheint mir Heil¬ 
brunner nicht das richtige Verständniss entgegen 
zu bringen. Darauf deuten auch seine Ausführungen 
hin die Frage betreffend, in wie weit die Gemein¬ 
schaft mit Verbrechern von unbescholtenen Patienten 
und ihren Angehörigen als anstüssig empfunden wird. 
Er übeiträgt hier seine Erfahrungen aus Kliniken 
und Krankenhäusern für körperlich Kranke auf die 
anders gearteten Verhältnisse der Irrenanstalten. 


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424 


Wenn dort schon der ganze Aufenthalt nur von 
vorübergehender Dauer und der Procentsatz der 
Verbrecher fast unmerklich ist, so liegt der Haupt¬ 
unterschied doch darin, dass diese Anstalten sich 
ganz allgemein im Publikum eines anderen Rufes 
erfreuen als Irrenanstalten. Für diese muss alles 
gethan werden, um ein thatsächlich leider noch viel¬ 
fach bestehendes Vorurtheil zu überwinden. Die Ver¬ 


[Nr- 43 - 


brecherfrage spielt daher für sie in jeder Hinsicht eine 
ganz andere Rolle als für alle anderen Krankenhäuser, 
und das wird in noch höherem Grade als jetzt der 
Fall sein, wenn erst, wie Heilbronner es wünscht, 
die Beobachtungsstationen an den Strafanstalten 
deren Insassen schärfer ausmustem, um alle Geistes¬ 
kranken dem Strafvollzug zu entziehen und sie der 
Irren pflege zuzuführen. 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Dritter Bericht über die Fortschritte des Irrenwesens. 

Nach den Anstaltsjahresberichten erstattet 
von Dr. Deiters in Bonn, früher in Andernach. 

(Schluss.) 


In L a e h r ’s 50jährigem Berichte über den 
Schweizerhof sind zwei umfangreiche wissenschaft¬ 
liche Arbeiten abgedruckt: 

Hans Laehr theilt ausführlich die Kranken¬ 
geschichten zweier gut beobachteter Fälle von circu¬ 
larem Irresein mit, die von der gewöhnlichen Ver¬ 
laufsart dieser Krankheit nicht unwesentlich abweichen. 
Die unregelmässige Aufeinanderfolge der Anfälle giebt 
Anlass zu Erwägungen über das von Kraepelin auf¬ 
gestellte Krankheitsbild des manisch-depressiven Irre¬ 
seins, das L. jedoch ablehnen zu müssen glaubt. 
Die wichtigste Abweichung von der Regel war die, 
dass neben den manischen und melancholischen auch 
noch exquisit paranoische Zustandsbilder, mit Beein¬ 
trächtigungswahn und Hallucinationen, sich in den 
Verlauf einschoben, deren Entstehung L. psycho¬ 
logisch analysirt. — Die Mittheilung solcher unge¬ 
wöhnlich verlaufender Fälle dürfte schon deshalb von 
grossem Werthe sein, weil sie darauf hinweisen, jeden 
Geisteskranken als Individuum für sich zu betrachten, 
mit dessen Rubricirung unter eine bestimmte Diagnose 
oft wenig gewonnen ist. 

Hohlfeld berichtet über eine Kranke, welche 
unter dem Bilde der allmählich fortschreitenden psy¬ 
chischen Lähmung — Theilnahmlosigkeit, Intelligenz¬ 
schwäche, Benommenheit, Somnolenz — erkrankt 
war und nur unbedeutende körperliche Symptome 
bot: auch Kopfschmerz fehlte. Bei der Obduction 
fand sich ein Fibrosarkom im Stirnhim, das von der 
Dura ausgegangen und beiderseits in die Hirnsub¬ 
stanz hineingewuchert war. 

Im Bericht der Fried matt wird ausführlich 
ein höchst interessanter Fall jener eigenartigen Sprach-, 
Lese- und Schreibstörung mitgetheilt, welche Wolff- 


Basel schon früher beschrieben*), und zu der kürz¬ 
lich Förster im rheinischen psychiatrischen Verein 
einen weiteren Beitrag geliefert hat. Die betr. Kranke 
hatte volles Sprachversländniss. Spontan sprach sie 
nur wenige Worte,' konnte aber wahrgenommene 
Gegenstände benennen. Auf Frage nach Dingen, 
die sie nicht sinnlich wahmahm, fand sie meist die 
Antwort nicht, Eigenschaftswörter wieder leichter als 
Hauptwörter. „Ist sie zur Wortfindung nur auf die 
Association ihrer Gedächtnissvorstellungen angewiesen, 
so ist sie häufig nicht im Stande, das Wort zu finden.“ 
Lesen konnte sie nur einige geläufige Haupt- und 
Eigenschaftswörter und einige wenige Verba. Eine 
Anzahl von Worten las sie falsch und aus ihren 
Fehlem ging hervor, dass sie überhaupt nicht buch- 
stabirend las, sondern das allgemeine Wortbild auf¬ 
fasste, das sie dann bei weniger geläufigen Worten 
mit einem ähnlichen ihr geläufigeren verwechselte. 
Schreiben konnte sie weder spontan noch auf Dictat, 
doch schrieb sie richtig alles ab, was ihr in deutscher 
Schrift vorgelegt wände. So schrieb sie auch solche 
Worte, die sie nicht lesen konnte, und konnte nach¬ 
her auch die von ihr selbst geschriebenen nicht 
lesen. Dabei malte sie nicht mechanisch die Vor¬ 
lage ab, sondern setzte Druckschrift in Schreibschrift 
um. Von den früher beschriebenen Fällen der Art 
unterscheidet sich dieser dadurch, dass es sich bei 
jenen durchweg um primären Bildungsmangel han¬ 
delte, während diese Patientin eine früher durchaus 
normale Frau war, welche durch Apoplexien im 30. 
Lebensjahr (Lues? Herzfehler) den Defect erworben 
hatte. 

Illenau berichtet über einen Fall von Morbus 


*) Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. 60. 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


425 


*9<>5-] 


Basedowii mit frischer Psychose, welcher mit Merck- 
schen Antithyreoidinserum nach Möbius behandelt 
wurde. Das Serum wurde 5 Wochen lang in stei¬ 
gender Dosis bis 3 mal tgl. 4,5 gegeben. „Es heilte 
nicht nur die Psychose in auffallend kurzer Zeit ab, 
sondern auch die objectiven Zeichen des Basedow 
gingen erheblich zurück.“ 

Ein immer wieder viel bearbeitetes Thema ist 
die Epilepsiebehandlung; alle die beständig 
auftauchenden neuen Methoden finden alsbald all¬ 
gemeine Nachprüfung. 

ZurZeit steht noch die Ri che t - Toulouse’sche 
Methode im Vordergründe. Die Potsdamer An¬ 
stalt theilt nur kurz mit, dass man sie bei einer An¬ 
zahl Frauen mit günstigem Erfolge angewendet habe, 
die Fortsetzung aber an dem Widerwillen der Kran¬ 
ken gegen die würzlosc Kost gescheitert sei. 

In Schwerin wird dagegen diese Behandlungs¬ 
weise fortgesetzt mit günstigem Erfolge angewendet, 
und manche Kranke werden schon 2V2 Jahre ohne 
Unterbrechung so behandelt. 

In Zwiefalten wurde die Methode in 4 Fällen 
versucht; die Kranken unterzogen sich der Kur 
gern, das Körpergewicht nahm zu, vorher bestandene 
habituelle Kopfcongestioncn besserten sich ; die Zahl 
der Anfälle nahm nicht ab, aber auch nicht zu, ob¬ 
gleich die Bromdosis auf den vierten Theil ver¬ 
ringert worden war. —*■ Auch Weissenau hat 
Versuche gemacht, die aber noch nicht abgeschlossen 
sind. 

In Meerenberg entsprachen die Erfolge nicht 
den Erwartungen, zu welchen die Erfahrungen des 
Vorjahres zu berechtigen schienen. 

In der Conferenz der ungarischen Irrenärzte 
berichtet Bai int über sehr günstige Erfolge mit der 
chlorfreien Diät, doch überwog in der daran an¬ 
schliessenden Discussion eine skeptische Auffassung. 

Meerenberg hat auch die von v. Bechterew 
angegebene Methode der Epilepsiebehandlung ver¬ 
sucht und günstige Erfolge gehabt. Sie besteht in 
einer Combination von Brom mit Adonis vernalis 
und Codein. 

In Hochweitzschen hat man Versuche mit 
Cerebrinum-Poehl gemacht, aber mit wenig ermuti¬ 
gendem Erfolge. — Ferner hat dort Prof. Schön 
systematisch die Augen untersucht und in fast allen 
Fällen Augenfehler gefunden, welche nervöse Be¬ 
schwerden machen müssen. Durch Correctur dieser 
Fehler hofft er die Krankheit günstig zu beeinflussen. 


E£. Forensisches. 

Ueber den Umfang der gerichtsärztlichen Thätig- 
keit an den Anstalten geben die Berichte kein rich¬ 
tiges Bild, weil ihre Mittheilungen zu verschieden¬ 
artig sind; sie schwanken von völligem Schweigen 
bis zu ausführlicher Mittheilung der einzelnen Fälle. 

Ueber Begutachtungen in civilrechtlichen 
Fällen finden sich nur ganz spärliche Angaben, und 
doch ist es ja bekannt, dass Entmündigungsgutachten 
in den meisten öffentlichen Anstalten zum täglichen 
Brot gehören. Auch darüber habe ich keine Notiz 
gefunden, ob die Wirkung des vielbesprochenen 
Ministerialerlasses sich fühlbar gemacht hat. 

In der Regel betreffen die Entmündigungs¬ 
gutachten ja natürlich Kranke, welche sich bereits 
in der Anstalt befinden. Aufnahme zur Beobacht¬ 
ung im Entmündigungsverfahren scheint ziemlich 
selten zu sein. Lüneburg hatte im Jahre 1902 
zwei solche Fälle, und erwähnt bei der Gelegenheit, 
dass das Aufnahmereglement die Aufnahme nach 
§ 656 C. P. O. gar nicht vorsieht und darum die 
Genehmigung des Landesdirectors zur Aufnahme 
eigens nachgesucht werden musste. 

II len au giebt eine kurze Uebersicht über seine 
Entmündigungen und constatirt, dass sie an Zahl 
zugenommen haben, seitdem durch Ministerialerlass 
bestimmt worden ist, dass nach einem Anstaltsaufent¬ 
halt von 9 Monaten der Staatsanwaltsc haft die Acten 
mitgetheilt werden müssen, welche dann von sich 
aus die Entmündigung betreibt. Ferner wird im 
Illenauer Bericht darüber Klage geführt, dass „die 
Kranken oft processual wie Gesunde behandelt 
wurden, nicht selten zum Schaden ihrer Gesundheit“. 
Gemeint ist die übliche Mittheilung des motivirten 
Gerichtsbeschlusses bei Entmündigung wegen Geistes¬ 
schwäche; dass hierdurch manche Kranke sehr er¬ 
regt und geschädigt werden können, haben wir ja 
alle schon erfahren. Gesetzlich vorgeschrieben ist 
ja auch nur die Mittheilung der Entmündigung selbst; 
in Illenau ist es in der That wiederholt gelungen, 
das Gericht zu bewegen, von der Mittheilung des 
motivirten Beschlusses Abstand zu nehmen. 

Weiter schreibt Illenau: ,,Eigenthümlieh muthet 
es auch an, wenn man manchmal tief verblödeten 
Kranken gerichtliche Schreiben übergeben muss, in 
denen sie zur Angabe von Beweismitteln aufgefordert 
werden.“ Das hat wohl schon mancher empfunden. 
Die Schreiben der Gerichte sind meist in einem Stil 
abgefasst, dass schon eine besondere Sachkenntniss 
dazu gehört, um sie überhaupt verstehen zu können. 
Es wird nicht einmal auf das Verständniss des un¬ 
gebildeten Gesunden Rücksicht genommen, geschweige 


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426 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 4 3 . 


auf das des Geisteskranken. Man frage doch einmal 
einen Bauer, was er sich unter „Beweismitteln“ denkt. 
In Königslutter hat man es durchgesetzt, dass 
diese Aufforderungen jetzt an die Anstaltsdirection 
gesandt und dem Kranken durch den Arzt mitge- 
theilt werden. 

Von Ehescheidungs gutachten ist nur in 
wenigen Berichten die Rede. Königslutter hat 
in der ganzen Zeit 7 solche Fälle zu begutachten 
gehabt; dabei sind „ausser Betracht gelassen die 
nicht eben spärlichen Privatbriefe, in denen ein Ehe¬ 
gatte dem Wunsch, sich seiner erkrankten Ehehälfte 
mit Hülfe des § 1569 zu entledigen, Ausdruck ver¬ 
lieh.“ Illenau theilt einen Fall mit, wo ein wegen 
Geistesschwäche Entmündigter in England eine Ehe 
geschlossen hatte, die dann vom heimischen Amts¬ 
gericht für nichtig erklärt wurde. Gegen diese Ent¬ 
scheidung erhob er beim Landgericht Klage und 
wurde in Illenau begutachtet. 

Die im Strafprocess den Anstalten zur Beob¬ 
achtung überwiesenen Kranken sind der Mehrzahl 
nach „interessante Fälle“, d. h. in der Regel keine 
typischen Psychosen, sondern Zustände, deren Auf¬ 
fassung zu Zweifeln Anlass giebt. Es wäre ver¬ 
lockend, das ganze strafrechtliche Material der An¬ 
stalten unter gleichen Gesichtspunkten zu verarbeiten. 
Leider geht das nicht, wenigstens nicht nach unsem 
Berichten. Die Angaben darin sind zu verschieden¬ 
artig. Vor allem ist es nur ein Bruchtheil der Be¬ 
richte, der überhaupt Angaben hierüber enthält. Und 
unter diesen bringt wieder die Mehrzahl nur ganz 
kurze Notizen. 

Auffällig ist es bei Durchsicht dieser Mittheil¬ 
ungen, wie ungemein häufig der Alkoholismus dabei 
eine Rolle spielt. Bestimmte Zahlen lassen sich bei 
der Unvollständigkeit des Materials natürlich nicht 
angeben. Ausserdem wird Epilepsie sehr häufig eon- 
statirt und ferner psychopathische Minderwertigkeit, 
Imbecillität, Degeneration; reine Psychosen viel 
seltener. Bemerkenswerth ist es, dass die Mehrzahl 
aller Beobachteten mehrfach vorbestraft war. 

Einige Anstalten haben den Vorzug, über be¬ 
rühmte Fälle berichten zu können. So hatte Hil¬ 
de s h e i m jenen Matrosen der Loreley zu begut¬ 
achten, der im Piraeus einen Unterofficier ermordete, 
um sich der Schiffskasse zu bemächtigen, aber nur 
die Kiste mit den Schiffspapieren erwischte. Er 
wurde bekanntlich nicht als geisteskrank befunden 
und später hingerichtet — Rybnik beherbergt in 
seinen Mauern die Frau, die in Breslau das bekannte 
Attentat auf den Kaiser gemacht hat. Sie neigt 
auch in der Anstalt sehr zu Gewaltthätigkeiten und 


macht viel Mühe durch beständiges Drohen mit 
Suicidversuchen. 

Begutachtungen in Unfallsachen sind ebenfalls 
nicht selten in den Anstalten. Dennoch enthalten 
die Berichte wenig darüber. Die wenigen Fälle der 
Art, die mitgetheilt werden, bieten nichts Bemerkens¬ 
werth es. 

Bresler hat in seiner kürzlich erschienenen 
Bearbeitung der Simulationsfrage*) die Jahresberichte' 
zu Rathe gezogen, um über die Häufigkeit des Vor¬ 
kommens von Simulation ein Urtheil zu gewinnen. 
In richtiger Erkenntniss der UnVollständigkeit dieses 
Materials hat er darauf verzichtet, bestimmte Schlüsse 
daraus zu ziehen, sondern hat sich damit begnügt, 
die Fälle tabellarisch zusammenzustellen. Aus dieser 
Zusammenstellung scheint immerhin soviel hervorzu¬ 
gehen, dass die Simulation denn doch etwas häufiger 
zu sein scheint, als gemeinhin angenommen wird. 
In der herrschenden Lehrmeinung gilt sie ja geradezu 
für eine Seltenheit. 

Es lag nahe, nunmehr auch die diesjährigen Be¬ 
richte auf diese Frage hin durchzusehen, und da er- 
giebt sich denn, dass wiederum eine ganze Anzahl 
Fälle von Simulation constatirt wurde. 

Auf eine tabellarische Zusammenstellung möchte 
ich verzichten, weil sie ja doch, von vornherein un¬ 
vollständig und auf verschiedenartigen Angaben be¬ 
ruhend, nicht viel beweisen könnte. 

München theilt kurz mit: „3 Männer konnten 
als Simulanten entlarvt werden.“ In Bayreuth 
wurden 2 zur Beobachtung Eingelieferte „als gesunde 
und geriebene Simulanten erkannt.“ 

In Königsfelden sind durch die Polizei 2 
Simulanten eingeliefert worden, ein wegen Sittlich¬ 
keitsverbrechen inhaftirter, der im Gefängniss Geistes¬ 
störung simulirt hatte, und eine Dime, die sich im 
Gefängniss bewusstlos gestellt hatte. In der Rosegg 
war ein Gewohnheitsverbrecher, der im Untersuch- 
ungsgefängniss in ganz plumper Weise simulirt hatte, 
um in die Irrenanstalt zu kommen, aus der er leichter 
entweichen zu können hoffte. Als er dort das Ent¬ 
weichen doch nicht so ganz leicht fand, gab er das 
Simuliren bald auf. 

Folgende Fälle sind etwas ausführlicher mitge¬ 
theilt: In Altscherbitz wurde ein Barbier beob¬ 
achtet, der wegen Diebstahl, Betteln, Betrug etc. etc. 
mehrfach vorbestraft war, und jetzt wegen verschie¬ 
dener Betrügereien unter Anklage stand. Er simu- 
lirte Blödsinn, wurde aber als Simulant erkannt. Ins 

*) Bresler, Die Simulation von Geistesstörung und Epilepsie. 
Halle a. S., Carl Marhold. 1904. 


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1905.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 427 


Gefängniss zurückgebracht, setzte er die Simulation 
noch kurze Zeit fort, gab es dann aber auf. Im 
Termin vertheidigt er sich „in raffinirt geschickter 
Weise“. 

Osnabrück berichtet über einen Postbeamten, 
der einen Dämmerzustand vorzutäuschen suchte. 
Nachdem die Kenntniss solcher Zustände ins Publi¬ 
kum gedrungen ist, werden solche Versuche in nächster 
Zeit wohl häufiger werden. Der Mann hatte eine 
grössere Summe unterschlagen und sich damit nach 
Amerika begeben. Dadurch, dass seine Frau ihm 
nachfolgte, kam man auf seine Spur. Zurückgebracht, 
schützte er Geistesstörung vor, und versuchte in der 
Anstalt mit Geschick einen Dämmerzustand zu kon- 
struiren. Als das nicht gelang, versuchte er es mit 
einem Tobsuchtsanfall. Dann gab er die Versuche 
auf. 

Nach Hildes heim wurde eine Frau gebracht, 
welche wegen verschiedener Schwindeleien unter An¬ 
klage stand. Sie versuchte die Symptome des melan¬ 
cholischen Stupors vorzutäuschen, wurde aber als 
Simulantin erkannt. 

In Kosten kam ein Mann wegen „epileptischer 
Seelenstörung“ zur Aufnahme. In der Anstalt gab 
er an, dass er, um sich dem Militärdienst zu ent¬ 
ziehen, in den Strassen der Stadt Posen wiederholt 
epileptische Anfälle simulirt habe. Man stellte in 
Gegenwart sämmtlicher Anstaltsärzte eine Probe an 
und es ergab sich, dass er die Anfälle geschickt und 
täuschend nachzuahmen wusste. 

Stephansfeld berichtet über einen Unter- 
officier, der wegen schwerer Misshandlungen seiner 
Untergebenen in Anklagezustand versetzt wurde. In 
der Untersuchungshaft versuchte er Angstzustände 
und Hallucinationen vorzutäuschen. In der Anstalt 
wurde nichts krankhaftes beobachtet. Ins Gefängniss 
zurückgebracht, machte er nochmals einen Simulations¬ 
versuch. 

Erwägt man, dass nur ein Theil der Berichte 
überhaupt von den zur Beobachtung Eingelieferten 
spricht, so ward man nicht bestreiten können, dass 
die Zahl der beobachteten Simulanten eine recht 
beträchtliche ist. Ganz so selten, wie man vielfach 
glaubt, dürfte die Simulation also doch wohl nicht 
sein. Gewiss ist der Nachweis der Simulation in 
vielen Fällen ein recht schwieriger, auch ist sicher 
schon mancher Kranke fälschlich für einen Simulanten 
gehalten worden. Niemand wird ferner bestreiten, 
dass nachgewiesene Simulation noch keineswegs gei¬ 
stige Gesundheit beweist. Dennoch scheint Bresler’s 
Vermuthung richtig zu sein, dass von gesunden Ver¬ 


brechern Simulation nicht ganz selten versucht wird, 
häufiger jedenfalls, als man vielfach anzunehmen ge¬ 
neigt ist. 

Es ist eine alte Klage, dass wir mit unsern 
Anschauungen bei den Richtern so oft auf Unglauben 
und Ablehnung stossen. Gewiss ist das besser ge¬ 
worden; das Interesse für psychiatrische* Fragen 
nimmt bei den Juristen immer mehr zu, und in der 
Criminalanthropologie arbeiten Mediciner und Juristen 
Hand in Hand. Aber immer bleibt noch viel zu 
thun. Das Verständniss für psychopathische Zustände 
muss doch bei unsern Richtern noch viel allgemeiner 
werden. Als Beispiel sei nur Stephansfeld citirt, 
w'o im Berichtsjahre 2 4 Kranke aufgenommen worden 
sind, welche nach der Erkrankung mit dem Straf¬ 
gesetz in Conflict gerathen waren, und 21 von diesen 
24 waren bestraft worden, v. Speyr sagt in seinem 
Referat über das bernische Irrenwesen im Bericht 
des Vereins Schweizer Irrenärzte: „Mit unsern ge¬ 
richtlichen Fällen haben wir immer noch unsere liebe 
Noth. Ich will den Fehler in erster Linie bei uns 
Sachverständigen suchen, dass wir die Krankheit 
vielleicht nicht klar und entschieden genug betonen. 
Eine grosse Schuld aber muss der Einrichtung der 
Geschworenengerichte zugeschrieben werden, und fast 
noch mehr unsern Staatsanwälten, die eine geistige 
Störung sehr ungern anerkennen und „um des Bei¬ 
spiels wällen“ durchaus auf Bestrafung ausgehn. So 
kommt es immer wieder vor, dass vollkommen un¬ 
zurechnungsfähige Kranke mit oder ohne Annahme 
von verminderter Zurechnungsfähigkeit verurtheilt 
werden.“ 

Der Verein Schweizer Irrenärzte hat sich mit 
dieser Angelegenheit befasst und auf einen Vortrag 
von Frank hin nach lebhafter Discussion sich auf 
bestimmte Postulate geeinigt. Das erste lautet: „Wir 
müssen verlangen, dass bei der Ausbildung der Ju¬ 
risten die Psychologie und Psychiatrie soweit berück¬ 
sichtigt worden, dass sie als Richter befähigt sind, 
den Verbrecher wissenschaftlich zu verstehen und 
fachmännische Gutachten zu würdigen. Es sollten 
hierzu die Anstaltsdircctorcn, besonders natürlich die 
Universitätsprofessoren, besondere practische Curse 
ertheilen, wie dies durch Kraepelin in Heidelberg 
schon geschieht.“ In Genf ist man denn auch als¬ 
bald dazu geschritten, psychiatrisch-klinischen Unter¬ 
richt für Juristen einzurichten und in Zürich ist eine 
juristisch-psychiatrische Vereinigung entstanden, „wel¬ 
cher ca. 40 Richter, Strafuntersuchungsbeamte, An¬ 
wälte, Docenten der juristischen Fakultät, Psychiater 
und Bezirksärzte angehören.“ 

Solche Vereinigungen sind wohl das beste Mittel, 


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428 


um zu gegenseitigem Verständniss zu gelangen. 
Gegenseitig muss dieses sein, denn so gut, wie wir 
vom Richter psychiatrisches Verständniss fordern, 
ebensowohl muss der Sachverständige mit den Er¬ 
fordernissen geordneter Rechtspflege vertraut sein. 
In Deutschland sind ja seit einigen Jahren mehrere 
solche Vereinigungen entstanden und finden viel 
Anklang. Wir dürfen hoffen, dass sie sich noch 
vermehren werden. 

Die Unterbringung der geisteskranken Verbrecher 
ist immer noch ein Schmerzenskind unserer Irren¬ 
fürsorge. Die übliche Methode, sie einfach in die 
öffentlichen Irrenanstalten aufzunehmen, führt zu 
Missständen, die in unseren Berichten beredten Aus¬ 
druck finden. Der Blüthenlese derartiger Aeusser- 
ungen, die ich im vorigen Jahre wiedergab, kann ich 
in diesem Jahre eine ähnliche an die Seite setzen. 
Nach Dalldorf kommen so viele, „dass sie in ge¬ 
fahrdrohender Weise sich wieder ansammeln“. Nach 
Herz berge werden sie „in einer solchen Menge 
überwiesen, dass ihre Unterbringung fortdauernd auf 
fast unüberwindliche Schwierigkeiten stösst“. Weil- 
münster schreibt: ,,Das Anwachsen der Zahl der 
verbrecherischen Kranken auf der Männerseite, von 
denen naturgemäss die wenigsten zur Entlassung 
kommen und deren Dislokalisation bei der immer 
mehr überhand nehmenden Ueberfüllung der Anstalt 
sich stets schwieriger bewerkstelligen lässt, etc. . . ., 
machen sich in störender Weise bemerkbar.“ 

Dass in einer neuen ganz offen angelegten An¬ 
stalt solche Elemente besonders störend sind, ist be¬ 
greiflich. Treptow hat bereits eine grosse Anzahl 
solche Elemente: „durch häufige Versetzungen, durch 
zeitweilige Bettbehandlung der schlimmsten Elemente, 
durch möglichst eingehende psychische Behandlung 
einzelner und Freiheitsgewährungen, sofern solche 
irgendwie gewagt werden konnten, ist es in der Be¬ 
richtszeit noch gelungen, grösseres Unheil zu ver¬ 
meiden. Doch nimmt die Ueberwachung dieser 
unverbesserlichen Elemente und die Ueberlegung, 
wie ihren Ausschreitungen zu begegnen ist, ohne 
dass Isolirung angewendet wird und der freie Cha¬ 
rakter der Behandlung in der Anstalt leidet, für 
Aerzte und Pflegepersonal zeitweise eine unverhältniss- 
inftssig grosse Zeit in Anspruch, die für andere Pflege- 
und Heilzwecke verloren geht.“ Unwillkürlich fragt 
man sich, ist es wirklich am Platze, diese Zeit für 
andere Zwecke verloren gehen zu lassen, nur um 
bei Verbrechern die Isolirung zu vermeiden ? 

In JC o nr ad st 4 ei n , das eine grosse Anzahl 
solcher Kranken beherbergt, die seit der Einrichtung 
der Untersuchungsstation am Zuchthause zu Grau- 


[Nr. 43- 

denz noch zugenommen hat, kam es gar zu einei 
Revolte, bei der mehrere Wärter verletzt wurden. 

Beachtenswerth ist folgende Aeusserung der An¬ 
stalt Münster: „Da die Unterbringung dieser geistes¬ 
kranken Strafgefangenen in eine öffentliche Irrenan¬ 
stalt in der erheblich vorwiegenden Mehrzahl der 
Fälle erst dann erfolgt, wenn nach Dauer und Form 
der Erkrankung eine Heilbarkeit als ausgeschlossen 
anzusehen ist, so dürfte es im Interesse dieser Straf¬ 
gefangenen selbst liegen, sie in der Irrenabtheilung 
der Strafanstalt solange zu belassen, bis die Strafzeit 
verbüsst ist. Die Unterbrechung der Strafhaft ist 
für den geisteskranken Strafgefangenen jedenfalls un¬ 
günstig, da, falls er wieder strafvollzugsfähig wird, 
der Wiederantritt der Strafe und die Inaussicht¬ 
stellung einer solchen überhaupt nur nachtheilig auf 
ihn wirken kann. Die geisteskranken Strafgefangenen 
kennen die Dauer ihrer Strafzeit meist ganz genau, 
sind aber für ihre Erkrankung, für den Grund ihrer 
Verbringung in die öffentliche Irrenanstalt gewöhn¬ 
lich uneinsichtig, und glauben die ihnen restirenden 
Strafen in der Letzteren abbüssen zu können. 
In dieser irrigen Voraussetzung befangen, betonen 
sie häufig schon Monate vorher den Tag ihrer Ent¬ 
lassung und regen mit ihren oft drohenden Aeusser- 
ungen die übrigen Kranken in ihrer Umgebung auf. 
Würden diese Strafgefangenen, deren verbrecherischer 
Charakter schlimmer ist als die bei ihnen bestehende 
Psychose, und deren Beaufsichtigung in den üflent- 
lichen Heilanstalten mit vielen und grossen Schwierig¬ 
keiten verknüpft ist, erst nach Abbüssung der Straf¬ 
haft in die Heilanstalt kommen, so würde diese 
schliessliche Unterbringung bei ihnen das Krankheits¬ 
gefühl wecken und günstig beeinflussen können, und 
der von ihnen stets vorgegebene Grund, dass mit 
Ablauf der Strafzeit auch die Entlassung aus der 
Anstalt erfolgen müsse, in Fortfall kommen. Die 
Aussicht, die verbliebene Strafzeit noch abbüssen zu 
müssen, muss sowohl auf die Besserungsfähigen, wie 
auch auf die unheilbaren geisteskranken Stiafgefange- 
nen höchst ungünstig einwirken.“ 

Schleswig tritt für besondere Abtheilungen an 
Strafanstalten ein: „Wie im vorigen Jahre, lag die 
schwierige Behandlung der geisteskranken Verbrecher, 
deren Zahl sich in den letzten Jahren verdoppelt 
hat, wie ein Druck auf der Anstalt; eine freie, den 
heutigen Anschauungen entsprechende Behandlung 
aller geisteskranken Männer wird erst möglich werden 
nach Entfernung jener gefährlichen Elemente. Wie 
fast in allen andern Provinzen, drängt diese Sachlage 
darauf hin, im Anschluss an Straf- oder Corrections- 
anstalten besondere Gebäude für geisteskranke Ver- 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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1905.] 


brecher zu errichten; diese Losung würde auch für 
unsere Provinz die beste sein.‘ £ 

In Ungarn besteht eine solche Einrichtung am 
Sammelgefängniss zu Ofen-Pest. In der Conferenz 
ungarischer Irrenärzte hat Moravcsik, der Leiter 
dieser Abtheilung, sich durchaus befriedigt darüber 
ausgesprochen. 

Es giebt ja auch in Preussen bereits eine ganze 
Anzahl von Irrenabtheilungen an Strafanstalten; doch 
sind diese noch bei weitem nicht zahlreich genug, 
um alle geisteskranken Verbrecher darin unterbringen 
zu können. Auch ist ja die Staatsbehörde vorder¬ 
hand noch gänzlich abgeneigt, diese Aufgabe zu 
übernehmen. Brandenburg theilt mit, dass man 


429 


auf der Landesdirectorenconferenz beschlossen habe, 
einen entsprechenden Antrag an den Minister zu 
stellen und damit die Provinz Brandenburg zu be¬ 
trauen. 

Vorderhand sind noch die Provinzen darauf an¬ 
gewiesen, die geisteskranken Verbrecher unterzubringen, 
so gut es gehen will, und die meisten haben sie ein¬ 
fach in den gemeinsamen Anstalten. Das rheinische 
Bewahrungshaus bei der Anstalt Düren, das ja an¬ 
fangs ungemeine Schwierigkeiten machte *), functionirt 
jetzt zur Zufriedenheit. 

*) cf. Flügge, Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. 61. 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Mittheilungen. 


— 35. Versammlung der südwestdeutschen 
Irrenärzte in Freiburg i. B. am 29. und 30. 
October 1904. Referent: Dr. Kr a uss-Kennenburg. 
(Schluss.) 

11. Dr. Wilm an ns- Heidelberg: Das Land¬ 
streicherthum, seine Verhütung und Be¬ 
kämpfung. 

Wir stehen dem professionellen Vagabondenthum 
ziemlich machtlos gegenüber. Kurze Haftstrafen und 
Nachhaft haben keinen Einfluss darauf gehabt. Das 
Fürsorgewesen (Verpflegungsstationen, Wanderarbeits¬ 
stätten und Arbeiterkolonien) hat seinen Zweck, die 
Unterstützung des mehr oder weniger vollwerthigen 
und arbeitswilligen Arbeitslosen, verfehlt. Die Aus¬ 
nutzung dieser Einrichtungen durch Gewohnheits¬ 
und professionelle Bettler hat ihnen allmählich einen 
Charakter verliehen, der die besseren Arbeiterelemente 
ihnen entfremdet, so dass sie jetzt vorzugsweise von 
mehr oder weniger erwerbsunfähigen und den gröss¬ 
ten Theil des Jahres auf fremde Unterstützung an¬ 
gewiesenen, meist vorbestraften Persönlichkeiten auf¬ 
gesucht werden. 

Eine wirksame Verhütung und Bekämpfung kann 
nur auf Grund genauerer Kenntniss des Landstreichers 
und der Ursachen für die Vagabondage eingeleitet 
werden. 

Der Vortragende spricht sodann über die gei¬ 
stigen und köq^erlichen Defecte der im Arbeitshause 
detinirten Corrigenden, über den Einfluss von mangel¬ 
hafter Erziehung und Ausbildung, die Wechselbe¬ 
ziehungen zwischen Alkoholismus und Vagabondage, 
die sociale Lage und Arbeitsgelegenheit für vermin¬ 
dert Erwerbsfähige und Gelegenheitsarbeiter, über die 
Beziehungen zwischen Verbrecherthum und Vaga¬ 
bondenthum, über die Gelegenheits-, die Gewohn- 
heits- und die professionellen Bettler und endlich 
über die Ursachen für die mangelhaften Resultate 
der Zwangserziehung und der Fürsorgevereine für 
entlassene Gefangene. 


Als Mittel zur Bekämpfung und Verhütung des 
professionellen Landstreicherthums schlägt der Vor¬ 
tragende vor: Reform der Fürsorge- und Zwangs¬ 
erziehung unter psychiatrischer Leitung, Bekämpfung 
des Alkoholismus, Verwahrung der Unverbesserlichen 
in ihrem Defecte entsprechenden Anstalten. Erst 
nach Elimination der Unverbesserlichen wird die Arbeits¬ 
losigkeit, insbesondere durch die Arbeitslosenversicher¬ 
ung, mit Erfolg bekämpft werden können. 

Der Vortrag erscheint ausführlich in der Monats¬ 
schrift für Criminalpsvchologie und Strafrechtsreform. 

(Autoreferat.) 

12. Professor Dr. Pf ist e r-Freiburg: Ueber 
Störungen des Schlafes. 

Pf. giebt eine kurze Uebersicht über unser Wissen 
von den physiologischen Ursachen, Begleiterschein¬ 
ungen, der Psychologie, Anatomie etc. des Schlafes, 
weist hin auf die Nothwendigkeit neuer Material¬ 
sammlung , psychologischer und anatomischer Vor¬ 
arbeiten, die erst ein systematisches Zusammenarbeiten 
der verschiedenen naturwissenschaftlichen Disciplinen 
zum Studium des normalen und patholog. Schlafes 
ermöglichen werden, und berichtet dann über seine 
klinischen und statistischen Untersuchungen einzelner 
Anomalien des Einschlafens, Erwachens sowie ge¬ 
wisser Störungen und abnormer Begleiterscheinungen 
des Schlafes selbst. Darnach haben die sog. h,yp- 
nagogen Sinnestäuschungen (zumeist richtiger als 
Urtheilstäuschungen des einschlafenden Bewusstseins- 
organs über die Intensität lebhafter Erinnerungs- und 
Phantasiebilder anzusehen) keine pathologische Be¬ 
deutung, sofern sie nur gelegentlich, nach schwächen¬ 
den Einflüssen, insbesondere starker Inanspruchnahme 
eines Sinnes, auftreten. Zeigen sie sich dagegen 
ohne derartige Veranlassungen, mehr chronisch (habi¬ 
tuell) in einem oder mehreren Sinnen, zeigen sie 
besondere Stärke oder Hartnäckigkeit (Zwangscha¬ 
rakter), wie bei degenerativen Zuständen des Central¬ 
nervensystems, constitutioneller Neurasthenie, Hysterie 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 43. 


430 


besonders der Fall, so beruhen sie offenbar auf, 
wenn auch leichtesten, functioneilen Schwächezu¬ 
ständen, einem abnormen Erethismus der betr. Sinnes¬ 
region, und können daher als neuropathisi hes Stigma 
betrachtet werden. 

Zähneknirschen, Kau-, Augen-, Kopfbe- 
wegungen im Schlafe, Schlafspr erben finden 
sich in der Vorgeschichte nicht ausgesprochen Er¬ 
krankter, sowie derjenigen aller möglicher Hirn- und 
Nervenleiden. Wohl 90% des Materials waren er¬ 
heblich erblich belastet, gut die Hälfte bot constitu¬ 
tioneil neurasthenische Züge, ein Drittel litt an Epi¬ 
lepsie oder hatte wenigstens in directer Ascendenz 
Epilepsie. Bei einer geringen Zahl der Fälle treten 
die abnormen Erscheinungen nur sporadisch, kurz¬ 
dauernd, gewöhnlich in nachweisbarem Zusammen¬ 
hang mit schwächenden Momenten (nach Krank¬ 
heiten, lebhaften Gemüthsbewegungen etc.) auf. In 
der Mehrzahl der Fälle handelte es sich um ein 
mehr chronisches Vorkommen, das vornehmlich im 
Kindesalter und während der Pubertät constatirt 
wurde; auf der Lebenshöhe sind die Störungen 
seltener. Sie häufen sich wieder im Rückbildungs¬ 
alter. Schlafbewegungen, Schlafsprechen finden sich 
dann auch in den (neurasthenischen) Prodromal¬ 
perioden organischer Hirnkrankheiten, insbesondere 
solcher infolge Erkrankungen der Hirngefässe. — 
Schlafha n d e I n (Gestikuliren , Aufsitzen, Aufstehen 
im Schlaf) und Schlafwandeln kommen vom frühen 
Kindesalter an, insbesondere zwischen 14. und 30. 
Lebensjahre, meist nur sporadisch, in der Pubertät, 
nach erschöpfenden Einflüssen (Infectionskrankheiten 
etc.) auch gehäuft vor. Scheinbar stets erheblich 
belastete Individuen. Zwei Drittel der Fälle boten 
unverkennbar hysterische Züge, ein kleiner Theil 
war epileptisch. Die weiblichen Kranken überwiegen. 

Von den mit Pa vor nocturnus behafteten, 
bezw. behaftet gewesenen Individuen war dagegen 
weitaus die Mehrzahl nachweisbar epileptisch' oder 
hatte Epilepsieanfälle in der Ascendenz und nächsten 
Seitenverwandtschaft: ein Fünftel bot hysterisch 

degenerative, noch ein kleinerer Theil konstitutionell 
neurasthenische Züge. Ucber die Pubertät hinaus 
scheinen ausgesprochene Anfälle nur bei Epileptikern 
vorzukommen, z. Th. sehr gehäuft zu gewissen Zeit¬ 
perioden (oflenbar im Zusammenhang mit Intensitäts¬ 
schwankungen des epilept. Hiinzustandes). 

Vortr. berichtet dann weiter über neue Beob¬ 
achtungen von E n 11 res i s n o c turna - Fällen und 
Störungen des Kr Wachens (spec. verzögerten psycho- 
m« »t« »iis( hem Erwachen ), die seine in der Monatsschr. 
f. Psychiatr. u. Xcirolog. 1904, sowie Berl. klin. 
Wochenschr. 19.03 niedergelegten Anschauungen be¬ 
stätigen und ergänzen. (Autoreferat.) 

D i s c u s s i o n : 

Dt. Wevgandt möchte als Symptom nervöser 
Erschöpfung auch das vorzeitige psychomotorische 
Einschlafen ansehen. Hinsichtlich der Schlummer¬ 
bilder spielen wohl die Gesichts- und Gehörssphäre 


die grösste, aber nicht die einzige Rolle; auch andre 
Sinnesgebiete können betheiligt sein. 

Director Fra n k-Münsterlingen verspricht sich 
wesentliche Aufschlüsse von der Hypnose. 

13. Dr. E. B e y e r - Litteweiler : Ueber die Be¬ 
deutung früher Heirath für die Entsteh¬ 
ung nervöser Erkrankungen der Frauen. 

Im Eheleben kommen als Schädlichkeiten nicht 
nur die körperlichen Geschlechtsfunktionen in Betracht, 
sondern auch die psychischen Momente (Differenzen 
mit dem Gatten, Kummer etc.). Frühzeitige Ehc- 
schliessung vor vollendeter Reife vermehrt wegen 
der geringeren Widerstandsfähigkeit die Aussichten 
auf ungünstigen Einfluss jener Schädigungen. Hinaus¬ 
schieben der Ehe ist aber rathsam auch deshalb, 
weil Psychosen und Neurosen beim weiblichen Ge¬ 
schlecht überwiegend gerade um das 20. Lebensjahr 
beginnen, also gewissermaassen als Quarantäne. In 
manchen Fällen ist frühes Heirathen selbst schon 
Folge psychischer Abnormität (Schwärmerei, Exaltirt- 
heit etc.). Prophylaktisch wichtig ist die Beachtung 
solcher nervöser Anomalien, weil durch die ehrt mi¬ 
schen Neurosen, Neurasthenie, Hysterie etc., das Ehe¬ 
glück und Familienleben viel gründlicher und nach¬ 
haltiger zerstört wird, als durch acute Psychosen, 
nach deren Ueberstehen die Frau wieder völlig ge¬ 
sund ist. (Autoreferat.) 

Discussion: 

Dr. Ransohoff, Med.-Rath Dr. Kreuser. 

Die Versammlung beschliesst nächstes Jahr in 
Karlsruhe zu tagen und wählt Professor Dr. N i s s 1 
und Dr. Neu mann, Karlsruhe, zu Schriftführern. 

— Verein Bayerischer Psychiater. Die dies¬ 
jährige Jahresversammlungfindetam Pfingstdienstag, den 
13. Juni und Mittwoch, den 14. Juni er. in der Psychia¬ 
trischen Klinik zu München statt. An die Verhand¬ 
lungen wird sich auf Einladung des Herrn Prof. Dr. 
Kräpelin eine Besichtigung der Klinik und ihrer 
wissenschaftlichen Einrichtungen anschliessen. Die 
Anmeldung von Vorträgen wird spätestens bis 20. 
April er. an den Unterzeichneten (p. a. Kreis¬ 
irrenanstalt München) erbeten. 

München, 1 1. Januar 1003. 

Der Vorsitzende: 

Dr. Vocke. 

— Zu: ,,Die Unterhaltung und Erheiterung 
der Kranken“ in Nummer 40 der Wochenschrift. 

Zu der ebenso interessanten wie dankenswerthen 
Anregung des Herrn G »liegen Sn eil möchte ich 
bemerken, dass ich, obwohl meine Privatklinik für 
Nervenkranke und Kranksinnige sehr nahe von 
Frankfurt a. Main liegt, auch schon oft den Mangel 
einer „Organisation für passende Vergnügungsdar¬ 
bietungen“ empfunden habe. Als ich noch in Jena 
war, hat die dortige Direction der Irrenklinik selbst 
grosse Opfer nicht gescheut, um eine gute Sänger- 
gesellschaft („Koschatsänger unter Jacob Domhofer“) 
für einen Abend zu gewinnen. Wer mit erlebte, wie, 
selbst stumpfere Kranke tagelang vorher sich freuten 


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1905.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 431 


um oft noch länger über das Genossene zu sprechen, 
der bedauerte, dass vor allem aus Mangel an geeig¬ 
neten Anerbietungen den Kranken nicht öfter eine 
solche Freude bereitet werden konnte. Sänger, wie 
die Damhofergcsellschaft, sind theuer; ein Abend 
kostet 80—130 M. Wüsste eine solche Vereinigung, 
dass sie in regelmässigen Intervallen in einer Reihe 
von Anstalten auftreten, diese auf ihren Kunstreisen 
gewissermassen „einschieben“ könnte, dann würden 
sie auch billigere Preise verlangen. Und ich kenne 
manchen grossen Künstler, der auch aus Menschen¬ 
freundlichkeit seine Kunst in den Dienst unserer 
dankbaren Kranken stellen würde, wenn er von einer 
im Snell’schen Sinne zu gründenden Vertretung 
hiezu gebeten würde. 

Ad. Fried län der (Hohe Mark.) 

Wir bitten die Herren Collegen um recht baldige 
weitere Aeusserungen zu diesem Gegenstand. Red. 


Referate. 

— Dr. Magnus Hirschfeld: Das Erg eb¬ 
niss der statistischen Untersuchungen 
über den Procentsatz der Homosexuellen. 
Leipzig. Verlag von Max Spolir. 1904. 

An Hand der Littetatur weist der auf diesem 
Gebiete schriftstellerisch bekannte Verf. nach, dass 
alle bisherigen Untersuchungen und Schätzungen über 
die Zahl homosexuell veranlagter Personen mehr 
oder weniger auf unzuverlässigen Vermuthungen be¬ 
ruhen. Um sichere, statistische Resultate zu er¬ 
langen, hat er zwei Methoden angewendet, die der 
Stichproben und die der Rundfragen. Zu Stich¬ 
proben wählte er 30 nicht zu kleine Gruppen von 
männlichen Personen der verschiedensten Stände, 
die er auf das Vorhandensein von Urningen aufs 
Genaueste erforschen tiess. Hierbei erhielt er unter 
6611 Personen 132 Homosexuelle — 1,99%. Um¬ 
fragen veranstaltete er zuerst bei der Studentenschaft 
der Charlottenburger Hochschule. Es ergab sich, dass 
unter ibqo Studenten 04% heterosexuell, 1,5% homo¬ 
sexuell, 4,5% bisexuell, 6% abweichend veranlagt 
waren. Bei einer Rundfrage unter den Metallarbei¬ 
tern Berlins bekannten sich unter 1912 Personen 
vorwiegend oder rein homosexuell 1,75 °/o. Hierzu 
verwerthet er eine Enquete, die v. Römer vor 2 
Jahren unter Amsterdamer Studirenden veranstaltete. 
Es fanden sich 94,1% Heterosexuelle, 1,9% Homo¬ 
sexuelle, 3,0% Bisexuelle und 5,8% abweichend 
Fühlende. Als Durchschnittszahl aus den Stichproben 
und Umfragen ergiebt sich für rein oder vorwiegend 
Homosexuelle 2,2%. Verf. nimmt an, dass diese 
Zahl sowohl für alle Lebensalter, für beide Ge¬ 
schlechter, wie für alle Völkerrassen zutrifft. Das be¬ 
deutet, dass allein in Deutschland 1 Vs Millionen 
Homosexuelle leben. Zum Schlüsse giebt Verf. eine 
Schätzung über die Häufigkeit der Bethätigung des 
gleichgeschlechtlichen Triebes im Vergleich zu den 
Bestrafungen und damit über die Unwirksamkeit des 
$ 175 R. Str. Gb. Denn von den Thätcrn würden 
jährlich höchstens 0,2 ü ,o , von den Thatcn 0,001 °/o 


bestraft. Diese Thatsache bilde insbesondere einen 
Grund zur Aufhebung des § 175, zumal überhaupt 
die Strafbarkeit homosexueller Handlungen zweifel¬ 
haft sei. Dem eifrigen Forschen und Streben des 
Verfassers in dieses bisher noch recht dunkele Ge¬ 
biet trotz aller Anfeindungen verständnissloser Igno¬ 
ranten wissenschaftliche Klarheit zu bringen, ist 
psychiatrische:seits auch fernerhin der beste Erfolg 
zu wünschen. Dr. Fritz Hoppe, Tapiau. 

Einer unserer Herren Mitarbeiter hat die Hirschfeld- 
sehe Schrift einem erklärten Homosexuellen zur Kritik 
übergeben und daraufhin folgende bemerkenswerthe 
Aeusserung erhalten: 

Sit venia verbo. 

Um den Procentsatz der Homosexuellen wenig¬ 
stens annähernd richtig feststellen zu können, müsste 
sich das wissenschaftlich-humanitäre Comite schon 
entschliessen, die bewussten Enqueten entweder in 
Italien oder wenigstens in jenen Ländern zu ver¬ 
anstalten, in denen der Code fran^ais noch zu Recht 
besteht. In Ländern, w'o die sog. Unzucht wider 
die Natur nur dann ein gesetzlich zu ahndendes 
Delikt bildet, wenn sie zugleich auch ein outrage 
public a la pudeur verursacht, ist es eben weit un¬ 
bedenklicher, sich als Homosexuellen zu bekennen, 
als in Deutschland oder gar in Oesterreich. Dies 
muss ja doch Herrn Dr. Magnus Hirschfeld selbst 
klar werden, wenn er die fünf sehr verfänglichen 
Fragen, die Herr Dr. v. Römer in Amsterdam 
völlig unbeanstandet einer Corporation von 
505 Studenten vorlegen konnte, mit den relativ 
harmlosen Fragen vergleicht, die das Substrat einer 
Anklage wider ihn (Dr. Hirschfeld) bilden. Die Er¬ 
mittlung und Zusammenstellung der in seinem Neuesten 
Werke „das Ergebniss der Statist. Untersuchungen 
über den Procentsatz der Homosexuellen“ angeführ¬ 
ten Daten hat Herrn Dr. Hirschfeld zweifellos sehr 
viel Mühe gekostet; nichts desto weniger steht das 
Resultat der gepflogenen Erhebungen in keinem Ver¬ 
hältnisse zu dem vorangegangenen Aufgebote von 
Fleiss und Geldkosten. Die auf Seite 17 — 26 an¬ 
geführten Stichproben sind von geringem Werthe, 
da in jeder derselben der Zufall eine grosse Rolle 
zu spielen scheint. Zudem differiren die Angaben 
zwischen 1 °/o und 5,75%! Es ist z. B. gewiss ein 
seltener Fall, dass sich unter 52 vierzehnjährigen 
Bürgerschülern 3 homosexuelle befinden (Stichprobe 
XXII). 

Noch grössere Vorsicht ist gegenüber den „Bi¬ 
sexuellen“ geboten. Neunzig Procent derselben 
können mit ruhigem Gewissen den Heterosexuellen 
und die restlichen zehn Procent den Homosexuellen 
zugezählt werden. Sie liefern das weitaus grösste 
Contingent zur männlichen Prostitution und es kann 
wohl von keinem derselben behauptet werden, dass 
er unter einem unwiderstehlichen Zwange handle. 
Wer sich ohne Horror beiden Geschlechtern zur 
Verfügung stellen kann, ist bei keinem derselben so 
engagirt, dass er eventuellen Lockungen nicht wider¬ 
stehen könnte. 

Uebrigcns kommt es bei Beantwortung der Frage, 


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432 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 43 


ob § 175 des deutschen, resp. § 129 des österr. 
Strafgesetzes, aufgehoben werden soll, darauf gar 
nicht an. Die meisten Juristen sind darüber einig, 
dass durch den (einverständlichen) homosexuellen 
Verkehr zweier erwachsener Personen keines Dritten 
Rechte verletzt werden. Die hervorragendsten Aerzte 
verschliessen sich der Erkenntniss nicht, dass der 
gleichgeschlechtliche Verkehr nicht schädlicher wirkt, 
als die solitäre Onanie oder gewisse von zwei Per¬ 
sonen verschiedenen Geschlechtes begangene wider¬ 
natürliche Akte, ja dass sogar der heterosexuelle 
Verkehr bisweilen ärgere Uebelstände (Lues, Kinds¬ 
mord , Abtreibung der Leibesfrucht) zeitigt als der 
homosexuelle. Schliesslich lehrt die Statistik, dass 
in jenen Ländern, in denen gegenwärtig der homo¬ 
sexuelle Verkehr gestattet ist, die Anzahl der Ehe¬ 
schliessungen und Geburten deswegen nicht abge¬ 
nommen hat. 

Uebrigens wird kein Gesetz die (ab origine) Homo¬ 
sexuellen zur Ueberzeugung biingen, dass das andere 
Geschlecht in körperlicher und geistiger Hinsicht 
dem eigenen gleichwerthig sei. Und hierin 
liegt doch der Kernpunkt der ganzen homosexuellen 
Frage. 

— Dr. v. Mako witz, Präs.-Secr. O.-L-G. Inns¬ 
bruck : Ein Beitrag zur Casuistik der Schlaf¬ 
trunkenheit. Arch. f. Orim.-Anthrop. 1904. 

Der Angeklagte T. w’ar, nachdem er Tags über 
ca. 2 V2 Liter Wein getrunken hatte, Abends ange¬ 
heitert mit einem Unbekannten in Streit gekommen 
und aus der Wirthsstube hinausgeworfen, nachträglich 
aber von dem ängstlichen Wirth in ein Zimmer mit 
2 Betten für die Nacht untergebracht worden. Dort 
war er nach 1 U St. eingeschlafen. 2 St. später, ca. 
9V2, wurde einem dem T. unbekannten Arbeiter das 
zweite Bett eingeräumt, die Wirth in will etwas später 
gelegentlich in der Kammer einige sprechen gehört 
haben. Als sie wieder ins Erdgeschoss zurückgekehrt 
war, schrie T. um Hilfe; und die hinaufeilenden Leute 
fanden auf dem nicht benutzten Bette den halb- 
angekleideten Italiener todt, mit einer Stichwunde im 
Herzen. Das umgestürzte Nachtgeschirr lag auf dem 
Boden. T. w’ar verzweifelt und betheuert von Nichts 
zu wissen. Die Geschworenen nahmen Ueberschreit- 
ung der Nothwehr an; das Gericht erkannte auf 
leichte Arreststrafe. 

Vf. weist nun nach, dass hier ein klassischer 
Fall von S. vorliegt. Nach Alkohol ca. 1 V 2 Stunde 
im tiefen Schlafe sieht sich T., aufgeweckt durch das 
Geräusch des Eintretenden, einem Unbekannten 
gegenüber. Desorientirt hält er ihn für einen der 
früheren Angreifer, gegen den er sich zu vertheidigen 
hat. Letzterer, ein mit einem Sprachfehler behafteter, 
gutmüthiger Mensch, hatte sich möglicherweise um 
das Nachtgeschirr gebückt und dem T. etwas zuge¬ 
rufen, was dieser missverstand , sofort aufsprang und 
mit dem Taschenmesser zustiess. Darauf kam T. 
zur Besinnung und, entsetzt, bot er nun das Bild 
eines vor etwas Unfassbaren gestellten Menschen. 
Ein Anhalt für vorausgegangenen Streit w r ar nicht 
gegeben; auch Volltrunkenheit nicht behauptet. Un¬ 


geachtet der nicht vollkommen sch liessenden Beweis¬ 
kette wird, wie Vf. mit Recht sagt, der Gerichtsarzt 
hier und in ähnlichen Fällen die Annahme der 
Schlaftrunkenheit z. Z. der That verantworten können. 

Hermann Kornfeld. 

Preisarbeit 

des Vereins abstinenter Aerzte des Deutschen Sprach¬ 
gebietes. 

Das Preisausschreiben des „Vereins abstinenter 
Aerzte vom Jahre 1903 hat ein Ergebniss von be¬ 
deutendem wissenschaftlichen Werthe gehabt. Von 
den eingegangenen experimentellen Arbeiten „über 
die Einwirkung des Alkohols auf das 
Warmblüterherz“ bedeutet nach dem Urtheil 
der drei Preisrichter, Prof. Dr. Hans Meyer in Mar¬ 
burg, Prof. Dr. Rosemann in Bonn und Dr. Georg 
Keferstein in Lüneburg, die des Herrn Dr. Martin 
Kochmann in Gent (Belgien) einen entschiedenen 
Fortschritt in unserer Kenntniss der Herzwirkung des 
Alkohols und ist mit dem ausgesetzten Preise gekrönt 
worden. 

Eine zweite Arbeit von Herrn Oswald Loeb, 
gepr. cand. ined. in Heidelberg, die das gestellte 
Thema in engerer Umgrenzung bearbeitet, ist gleich¬ 
falls ein wissenschaftlich werthvoller, an sich preis¬ 
würdiger Beitrag zur gestellten Frage, dem die Ver- 
einsver'Sammlung auf Antrag der Preisrichter einen 
Nebenpreis zuerkannt hat. Die beiden Arbeiten 
werden in Kürze von ihren Verfassern in der Fach¬ 
presse veröffentlicht werden Eine endgültige Ent¬ 
scheidung der behandelten Frage ist aber auch durch 
diese Arbeiten, die zum Theil sich widersprechende 
Ergebnisse haben, nicht herbeigeführt. Ihre wissen¬ 
schaftliche Bedeutung erleidet dadurch jedoch keinen 
Abbruch. 

Der Erfolg dieses Preisausschreibens hat den 
Verein abstinenter Aerzte veranlasst, auf seiner letzten 
Jahresversammlung in Breslau am 21. Sept. 1904 vier¬ 
hundert Mark für eine neue Preisarbeit 
auszusetzen, deren Thema lautet : „D i e Beeinflussung 
der Sinnesfunctionen durch geringe Alko¬ 
hol m e n g e n.“ Es soll dabei vor allem die Wirkung 
des Alkokols auf die Unterschiedsempfindlichkeit und 
die Sch wellen werthe experimentell untersucht werden. 

Das Amt der Preisrichter haben übernommen: 
1. Prof. Dr. Kraepelin in München, 2 . Prof. Dr. 
v. G r ü t z n er in Tübingen und 3. Prof. Dr A s c ha f f en - 
bürg in Köln a. Rh. 

Den mit Motto versehenen und in deutscher 
Sprache abgefassten Arbeiten ist ein das gleiche 
Motto tragender Umschlag, der den Namen des Ver¬ 
fassers enthält, beizufügen. 

Die Arbeiten sind bis zum 1. April 1906 an den 
Schriftführer des Vereins abstinenter Aerzte, Dr. Georg 
Keferstein in Lüneburg einzusenden. 


Personalnachrichten. 

— Bei der Universität München ist der Privat- 
docent für Irrenheilkunde, Dr. Hans Gudden, ein 
Sohn Bernhard von Guddens, zum ausserordentlichen 
Pmfessor befördert worden. 


ii;r den redactionellen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Brrslcr » Lublinitz (Schlesien). 

Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Aasgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S. 

Heyneinann’sche Buchdruckerei (Gcbr. Wo'ffl in Halle a. S. 

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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift. 

Redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. B realer, 

Lublinitz (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Tellur.-Adresse: M a rhId Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834. 

Nr. 44, 28. Januar. 1905 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die 3spaltige Petitseile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten. 


Aus der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Uchtspringe (Director Dr. Alt). 

Ueber Bromeigon und Pepto-Bromeigon in der Behandlung der Epilepsie. 

Von Dr. H. Ehrcke , ordentlicher Arzt. 


r\ie üblen Nervenwirkungen , welche die bei der 
Behandlung der Epilepsie so werthvollen Brom¬ 
salze oft mit sich bringen, haben den Wunsch her¬ 
vorgerufen, andere Bromverbindungen anzuwenden, 
denen diese unangenehmen Eigenschaften weniger 
anhaften. Aus diesem Bedürfniss heraus entstand 
das Bromalin, das Bromipin, Bromocoll u. s. w. 

Die letzten Monate haben uns abermals zwei 
neue Brompräparate, die von der Fabrik Helfenberg 
A.-G. hergestellt wurden, bescheert. Es sind dies 
das Bromeigon, eine Bindung des Broms mit Eiweiss, 
welche ca. 11 °/o Brom enthalten soll, ferner das 
Peptobromeigon, eine Verbindung zwischen Pepton 
und Brom, welche ebenfalls 11 % Brom enthält. Auf 
Anregung meines Chefs, des Herrn Director Dr. Alt, 
sind in der hiesigen Anstalt mit beiden Präparaten 
bei einer Reihe von Epileptikern Versuche über ihre 
krampfstillende Wirkung gemacht worden, von denen 
berichtet werden soll. 

Das Bromeigon ist ein gelbliches, lockeres, in Wasser 
unlösliches Pulver von eigenartigem Geruch und Ge¬ 
schmack, das Peptobromeigon stellt ein bräunliches, 
wenig angenehm riechendes, in Wasser lösliches Pulver 
dar. Beide enthalten 11 % Brom. Nach Angaben von 
Tischer und Beddies sollen 0,12 gr Brom in 1 gr 
Bromeigon physiologisch und therapeutisch höher- 
werthig sein, als 0,33 gr Brom in 0,5 gr Bromkali, 
auch sollen die gleichen M;iximaldosen in Form von 
Bromeigon wie von Bromküü ohne Zeichen des Bro¬ 
mismus vertragen werden. 

Von der Fabrik wurden der Anstalt grössere 
Mengen von Bromeigon und Peptobromeigon zur 
Verfügung gestellt. Mit diesen wurden im ganzen 
18 an Epilepsie /eidende Kranke längere oder kürzere 


Zeit hindurch behandelt. Ausgewählt wurden vor 
allen Dingen solche Kranke, bei denen die Brom¬ 
salze entweder wirkungslos geblieben waren oder die 
Erscheinungen der Bromvergiftung hervorgerufen 
hatten. Auch wurde nach Möglichkeit darauf Rück¬ 
sicht genommen, dass das Leiden noch nicht zu alt 
und eingewurzelt war. Nach den Angaben von 
Tischer und Beddies müssten 6 gr Bromeigon thera¬ 
peutisch gleichw'erthig oder vielmehr sogar höherwerthig 
sein wie 6 gr Bromkali. Die gewöhnliche Anfangs¬ 
dosis des Bromkali für einen Epileptiker beträgt 6gr 
pro Tag. Aus diesen Gesichtspunkten heraus wurde 
die täglich den Versuchspersonen zu verabfolgende 
Menge Bromeigon oder Peptobromeigon auf 6 gr 
festgesetzt. Es wurden nun im ganzen elf Anfalls¬ 
personen in der Weise behandelt, dass bei ihnen 
eine gleich lange Zeit die gleiche Dosis Bromeigon 
und Bromnatrium gegeben wurde. Bei Kindern be¬ 
trug die Bromnatriumgabe 4 gr. Bei weiteren sechs 
Personen musste der Vergleich mit der Wirkung von 
6 gr Bromnatrium aus äusseren Gründen aufgegeben 
werden. Bei den elf erstgenannten Patienten betrug 
die Gesammtzahl der Behandlungstage in beiden 
Perioden jedes Mal 560. Die Gesammtsumme der 
in dieser Zeit in der Bromeigonperiode beobachteten 
Anfälle betrug 221. Die, der in der Bromnatrium¬ 
periode beobachteten 59. Es ergiebt sich also für 
die Zeit der Bromeigonbehandlung ein erhebliches 
Mehr von Anfällen. Nach dem Ausfall dieser Ver¬ 
suche muss also der Ansicht von der therapeutischen 
Höherwerthigkeit des Bromeigons widersprochen werden. 
6 gr Bromnatrium pro Tag erwiesen sich ungleich 
wirksamer auf die Zahl der Anfälle. 

Graphisch stellt sich das beobachtete Resultat 
wie in Tabelle 1 dar: 


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Bei 6 Personen konnte ein Vergleich mit einer 
vorangegangenen Periode, in der kein Medikament 
verabfolgt wurde, gemacht werden. Das Resultat 
stellt sich wie in Tabelle II dar. 

Es ist also die Zahl der Anfälle in der Bromei¬ 
gonperiode nahezu gleich der, in welcher überhaupt 
kein Krampfmittel gegeben wurde. 


221 Anfälle 



566 Behandlupgst^ge 
Bromeigon ^ — unter Bromnatrium 

Tabelle I. 


Ein Unterschied in der Art der Anfälle war nicht 
ersichtlich. 

Zu bemerken ist noch, dass die übrige Behandlung 
bei allen dieselbe war. Namentlich bekamen alle 
dieselbe Kost, deren bedeutsamen Einfluss Alt*) ein¬ 
gehend nachgewiesen, hat. Auch sonst standen alle 
Versuchspersonen unter denselben Bedingungen. 
Irgendwelche Complicationen, welche von wesent- 

*) Zeitschrift für klinische Medicin, Bei. 53. 


lichem Einfluss auf das Auftreten der Anfälle hätten 
sein können, wurden nicht beobachtet. 

Es erübrigt nun noch, über 6 andere Kranke zu 
berichten, die in der obigen Zusammenstellung noch 
nicht mit berücksichtigt sind. Es geschah dies haupt¬ 
sächlich deswegen, weil bei ihnen die Vergleichszeit 

83 Anfälle 



_ ohne Medizin _ — mit Bromeigon — 


mit Bromnatrium . 

Tabelle II. 

nicht genügend abgegrenzt werden konnte. Hierunter 
befindet sich ein Kranker, der 64 Tage lang anfangs 
mit 6 g Bromeigon, später mit 8 g behandelt wurde. 
Der Versuch bei ihm wurde deswegen vorgenommen, 
weil unter Bromnatrium ein Zustand von schwerem 
Bromismus auftrat. Nachdem das Bromnatrium ent¬ 
zogen und Patient sich in längerer Pause von seinem 
Bromismus erholt, wurden b g Bromeigon, nach 8 Tagen 
8 g verabfolgt. Diese Dosis wurde 2 Monate hin¬ 
durch beibehalten. Eine Besserung in Bezug au! die 
Anfälle trat auch hier nicht ein. Dagegen wurden 
trotz der Neigung des Kranken zu Bromvergiftung 


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I 9 ° 5 -] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


435 


diesmal keine Zeichen vom Bromismus beobachtet. 
Der Kranke wurde leider in eine andere Anstalt ver¬ 
legt und dadurch der weiteren Beobachtung entzogen. 
Von einer Kranken der Frauenseite wird berichtet, 
dass sie sich unter 6,og Bromeigon längere Zeit leidlich 
wohl gefühlt Mit dem Einsetzen des Bromnatriums 
trat ein Erregungszustand auf, der als Bromismus 
gedeutet wurde und zum Aussetzen des Bromnatrium 
zwang. Nach Verschwinden der Vergiftungserscheinung 
wurde die Kranke wieder unter Bromeigon gesetzt, 
ohne dass diese erneut auftraten. Ein sichtbarer Ein¬ 
fluss auf die Anfälle konnte auch hier nicht constatirt 
werden. Bei den übrigen mit Bromeigon behandelten 
Kranken wurden Vergiftungserscheinungen nicht beob¬ 
achtet. 

Hinsichtlich des Auftretens von Bromgeschwüren 
oder Bromakne waren die Erfahrungen verschieden. 
Eine Kranke, welche bei Darreichung von Brom¬ 
alkalien unter erheblichen Bromgeschwüren gelitten 
hatte, bekam auch unter Bromeigon sofort wieder 
ausgedehnte Geschwüre, so dass die weitere Dar¬ 
reichung unterbrochen werden musste. Dagegen kann 
von 2 anderen Kranken, die auch unter Bromkali 
zu Aknebildung und Geschwüren neigen, berichtet 
werden, dass bei ihnen während der Bromeigondar¬ 
reichung diese nicht auftraten. Im Uebrigen wurde 
das Bromeigon wie Brompepton gern genommen und 
es wurden keine sonstigen Störungen beobachtet. 

Um einen Ueberblick Über die Salzausscheidung 
bei Verabreichung der Bromeiweisspräparate zu er¬ 
halten, werden in 2 Fällen längere Zeit hindurch 
täglich quantitative Bestimmungen der im Ham aus¬ 
geschiedenen Halogenmengen gemacht. Die Versuche 
wurden so augeordnet, dass die Kranken in der 
Versuchszeit täglich dieselbe Kost, 2 Liter Milch und 
6 Zwiebäcke erhielten, also eine immer gleichmässig 
zusammengesetzte Kost. Während der ersten Periode 
wurde kein Medikament gereicht, in der zweiten 
wurden in dem einen Falle pro Tag 8 g Bromeigon, 
in dem anderen 8p g Brompepton verabfolgt. Die Be¬ 
stimmung der ausgeschiedenen Saig m en ge wurde täg¬ 
lich nach dem Verfahren von Volhard vorgenommen. 


Im Falle I betrug die in der arznedosen Periode 
durchschnittlich täglich ausgeschiedene Salzmenge 5,3 g, 
im Falle II 5,6 g auf Chlomatrium berechnet. Während 
der Bromeigonzeit betrug die durchschnittlich täglich 
ausgeschiedene Menge 7,8 g. Es ist hier also eine 
tägliche Mehrausscheidung von 2,5 g im Durchschnitt 
zu verzeichnen. 

Im Falle II betrug in der Broropeptonperiode die 
täglich im Durchschnitt ausgeschiedene Menge 5,6 g, 
also ebensoviel wie in der arzneilosen Zeit. Es muss 
also eine Aufspeicherung des Broms im Körper statt- 
gefunden haben. Dem entsprechen dann auch die 
klinischen Erscheinungen, insofern in diesem Falle 
sich bald die Zeichen beginnender Bromvergiftung 
bemerkbar machten. Aus diesen einzelnen Beob¬ 
achtungen kann natürlich noch nicht geschlossen 
werden, dass der Körper das Peptobromeigon schwerer 
ausscheide. Näher liegt vielmehr die Annahme, dass 
dieser Fall zu den von Hoppe geschilderten Kranken 
gehört, bei denen überhaupt infolge schlechter Nieren¬ 
function die Salzausscheidung erschwert ist Eine 
Prüfung der Nierenfunction konnte leider nachträglich 
nicht mehr ausgeführt werden, da der Kranke nach 
Hause beurlaubt werden musste. 

Wird das Gesammtresultat der obigen Versuche 
zusammengefasst, so ergiebt sich, dass das Bromeigon 
und das Peptobromeigon, in denselben Dosen wie die 
Bromsalze gegeben, nicht im Stande sind, die Zahl 
der Krampfanfälle in sichtbarer Weise zu beeinflussen. 
In einigen Fällen haben sie sich nützlich erwiesen, 
weniger durch ihre Wirkung auf die Zahl der Anfälle, 
als vielmehr durch Ausbleiben der sonst bei Brom¬ 
salzen sich zeigenden Nebenerscheinungen. Absolut 
ist aber bei ihnen das Auftreten von Akne und Bro¬ 
mismus auch nicht ausgeschlossen. Gleichwohl dürfte 
es sich verlohnen, in geeignetem Fabe die genannten 
Mittel zu probiren, um die Erfahrungen darüber zu 
erweitern und vielleicht zu corrigiren, wobei nament¬ 
lich die Frage einer höheren Downing m überlegen 
wäre. 


Nekrolog für Prof. Penta in Neapel 


TVToch vor Schluss des Jahres J904 ist in Neapel 
in der Blüthe seiner Jahre der ausgezeichnete 
Psychiater und Criminalanthropolog Penta gestorben, 
und er ist es wohl werth, dass wir ihm einige Zeilen 


dankbarer Erinnerung widmen. Ursprünglich Psy¬ 
chiater und langjähriger Gefängnissarzt, hatte er viele 
Gelegenheit, intensiv sich mit Körper und Geist 
des Verbrechers zu beschäftigen. Er war in 


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Gck gle 


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PSYCH 1 ATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCH ENSCHR 1 ET. 


[Nr. 44- 


436 


Italien vielleicht der gründlichste Kenner des Ver¬ 
brechers und sicher einer der ersten in Europa. 
Aber er begnügte sich nicht mit der blossen un- 
. fruchtbaren Beobachtung, sondern er fing sehr bald 
an, seine reiche Erfahrung in vielerlei Arbeiten nieder¬ 
zulegen, die sich naturgemäss um Psychiatrie, Crimi- 
nalanthropologie und Sexualpathologie, die er bei 
den Gefangenen reichlich beobachten konnte, grup- 
piren. So erschien 1893 sein ausgezeichnetes Buch: 

I pervertimenti sessuali nell* uomo e Vincenzo Verzeni, 
Napoli, mit einer Fülle von eigenen Beobachtungen, 
feinen klinischen, psychologischen und soeiologischen 
Bemerkungen. Dass er die einschlägige, weitschich- 
tige Literatur völlig beherrschte, versteht sich von 
selbst. Die Sexualprobleme interessirten ihn so, dass 
er 1896 als die erste und einzig in ihrer Art bestehende 
Zeitschrift für Sexualpathologie eine solche unter dem 
Namen: Archiviodellepsicopatologie sessuali herausgab, 
die leider, des Verlegers halber, schon nach einem Jahre 
einging, ein schwerer Verlust für diesen speciellen 
Zweig der Wissenschaft, der hier eine geeignete 
Centralstelle gefunden hatte. Freilich suchte er die 
Fortschritte derselben in der 1898 von ihm heraus¬ 
gegebenen „Rivista mensile diPsichiatiia forenseetc.“ zu 
verzeichnen, doch nur sehr generaliter, da hier, wie 
der Titel schon sagt, hauptsächlich die forense Psy¬ 
chiatrie, Criminalanthropologie und Gefängnisskunde 
gepflegt wurden. Bis zu seinem Tode hat er diese 
ausgezeichnete Monatsschrift fortgeführt und darin 
eine Menge eigener Arbeiten veröffentlicht. Penta 
war seit Jahren a. o. Prof, der Psychiatrie und ver¬ 
trat zugleich den ersten und einzigen Lehrstuhl für 
Criminalanthropologie in Italien. Er that beides in 
würdigster Weise und 1900 gab er für seine Studenten 
zunächst nur hektographirt ein kurzes Lehrbuch der 
Psychiatrie: lezioni di psichiatria, heraus, das später 
gedruckt wurde. Alles war bei ihm Klarheit, scharfe 
Kritik, Knappheit im Ausdruck, und trotzdem er 
seine Sprache wundervoll beherrschte, liess er sich 
nie zu tönenden Phrasen verleiten. Höchst werthvoll 
sind seine vielen gerichtlich-psychiatrischen Gutachten, 
in denen er das psycho- und anthropologische Mo¬ 
ment vortrefflich hervorzuheben wusste. Sehr gern 
beschäftigte er sich mit den Gefängnisspsychosen und 
seine Arbeiten über Simulation von Irresein bei 
Verbrechern sind geradezu klassisch. Merkwürdig 
ist es, dass gerade in Neapel solche Simulation sehr 
häufig ist! 

Anfänglich war Penta ein begeisterter Anhänger 

-—»♦« 


Loinbrosos und lieferte eine Reihe eingehender crimi- 
nalanthropologischer Untersuchungen. Allmählich aber 
sah er die Einseitigkeiten und Uebertreibungen seines 
Meisters ein und wahrte seinen eigenen Standpunkt, 
weshalb ihn Lombroso von da ab ignorirte. Er er¬ 
kannte zwar den delinquento-nato noch an, doch in 
sehr beschränkter Weise und er leugnete stricte einen 
besonderen Verbrechertypus. Auch die Zurückführ¬ 
ung von Verbrechen auf Epilepsie liess er nicht mehr 
gelten und wurde bez. des Wortes: Atavismus vor¬ 
sichtiger, obgleich er immer noch hierin, wie Unter¬ 
zeichnetem scheint, zu weit ging. Aber bez. der 
praktischen Forderungen stand er ganz auf Seiten 
der positiven Schule und verfocht die Sätze mit 
flammenden Worten, besonders immer die Igno¬ 
ranz der Juristen in psychologischen und psychiatrischen 
Dingen, sowie ihre Ueberhebung betonend. 

Ich habe öfter mit dem seltenen Manne corre- 
spondirt und ihn auch Vorjahren in Neapel besucht, 
wo er mich in verschiedene Gefängnisse führte und 
mir auch seine Arbeitsstätte in der Sapienza, der 
Universität, zeigte. Und unter wie bescheidenen Ver¬ 
hältnissen musste er arbeiten! 2 halbdunkle, leere 
Säle standen ihm zur Verfügung und mühselig musste 
er sich die nöthigen Lehrobjecte selbst beschaffen. 
Ein grosser Haufen von Krankengeschichten, Zeich¬ 
nungen, Tafeln, Kurven etc., alle von ihm allein her¬ 
rührend und seinen grossen Fleiss genugsam bekun¬ 
dend, lagen aufgeschichtet da, der Verarbeitung 
harrend, die wohl nun nicht mehr eintreten wird, 
was allein schon sicherlich einen schweren Verlust 
für die Wissenschaft bedeutet. 

Penta war aus dem Neapolitanischen, aus Avellino, 
hatte aber wenig vom localen Typus, war ernst, fast 
schweigsam und beim Reden gebrauchte er keine 
Gesten, wie seine Landsleute. Er hatte eher ein 
nordisches Temperament. Er verstand es aber 
Freunde zu erwerben und zu erhalten, so dass es 
ihm nie an Mitarbeitern gebrach. Bescheidenheit 
war eine seiner Hauptzierden und nie drängte er sich vor 
oder griff ungerufen in eine Discussion ein. So bot 
er denn das Bild eines wahren Mannes, Gelehrten 
und echten Streiters für die Wahrheit, der durch 
nichts sich einschüchtem, aber auch nicht imponiren 
liess. Durch seinen Tod hat die Wissenschaft einen 
herben Verlust erlitten, insbesondere aber sein Vater¬ 
land, in dem solche Männer nicht all zu häufig 
sind. 

Friede seiner Asche! 

Näck e. 


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1905.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


437 


Mittheilungen. 
Irrenrechtliches: 


— Ein neuer Kritiker. Der kürzlich in Berlin 
vor dem Schwurgericht verhandelte Process gegen 
Gehlhaus und Lache diente einem Amtsrichter a. D. 
dazu, in der Tagespresse die Sachverständigenthätig- 
keit von Irrenärzten in ihrer Bedeutung gegenüber 
Richtern und Geschworenen herabzusetzen, einzig 
aus dem Grunde, weil die Gutachter nicht zu einem 
übereinstimmenden Urtheil gelangen konnten; mit 
einem gewissen Genugthuungsgefühl wird den Zei¬ 
tungslesern auseinandergesetzt, wie „die Geschworenen 
im Bewusstsein der völligen Unzulänglichkeit unserer 
Irrenheilkunde sich ein eigenes Urtheil zugetraut“ 
hätten, was „unwiderleglich beweist, dass unsere Psy¬ 
chiatrie kein Vertrauen im Volke hat“. „So niedrig 
schätzt also unser Volk den Stand der heutigen Er¬ 
kenntnis der Geisteskrankheiten ein, ebenso niedrig 
schätzen ihn auch viele Aerzte“ u. s. w. 

Nachdem der Kritiker sich noch über die Frage 
der Entmündigung, der „leichten Unterbringung und 
der lebenslänglichen Intemirung“ des längeren ver¬ 
breitet hat, wird schliesslich die kühne Behauptung 
aufgestellt, dass trotz alledem bis heute „keine 
bessernde Hand“ angelegt sei, dass unsere Regierung 
„keine Neigung habe, eine grössere Garantie gegen 
ungerechtfertigte Entmündigung und Einsperrung zu 
schaffen“. Zum Schluss fordert er auf, einschlägiges 
Material zu sammeln, die öffentliche Meinung aufzu¬ 
klären; erste ärztliche und juristische Gelehrte haben 
ihre Sympathie mit dem Vorgehen erklärt. Genug! 

Soweit der Inhalt, der Unrichtigkeiten in Menge 
enthält, die an anderer Stelle bereits gewürdigt sind. 
Man fragt sich beim 'Durchlesen immer wieder nach 
den Gründen, die den Verfasser, der sonst treffliche 
juristische Aufsätze veröffentlicht, zum Niederschreiben 
bewogen haben. Sind ihm alle Bestrebungen der 
letzten Jahrzehnte unbekannt geblieben, die doch 
dazu gedient haben, weiten Kreisen einen Einblick 
in das Wesen von Geisteskrankheit zu verschaffen? 
Hat er nichts gehört von der wachsenden Antheil- 
nahme gebildeter Stände für die Lösung von Problemen 
dieser Art? Weshalb das Misstrauen und die offene 
Anfeindung eines Standes, dessen Vertreter bislang 
keine Veranlassung zu solchem Thun gegeben haben? 

Da hilft nur ein Protest gegen den „Vorwurf 
von Schurkereien, die sich hinter den Mauern der 
Anstalten verbergen“. Wie letzthin im Falle der Louise 
von Koburg ist es die zunehmende Sensationslust 
und die mangelnde Sachkenntniss, die geradezu eine 
Entgegnung erforderlich machen, auf dass cs besser 
werdemit der Beurteilung auch bei gebildeten Menschen. 
Mehr Licht, solange Kritik und schlechte— in Geltung 
ist vor Thun und Produciren, wie Multatuli einmal sagt. 

Dr. med. et phil. Meyer, Münster. 

Anm. d. Red. Es handelt sich in dem oben 
beanstandeten Artikel um einen Aufsatz: „Irrenärzte 
vor Gericht“, von« Dr. jur. W. Brandis, Gross- 
Lichterfelde, in der „Augsburger Abendzeitung“ vom 


19. Dezbr. 1904, Nr. 349. Unter dem gleichen 
Titel veröffentlichte Dr. med. C. von Hösslin-Tübingen, 
in der genannten Zeitung vom 22. Dezbr. eine Ent¬ 
gegnung, und als Dr. Brandis noch einmal das Wort 
ergriff (Nr. 8 der „Augsburger Abendzeitung“ 1905), 
eine zweite Entgegnung in der „Augsburger Abend¬ 
zeitung“ vom 11. Januar 1905. Ausserdem erfuhren 
die Dr. Brandis’schen Artikel eine eingehende Wider¬ 
legung aus juristischer Feder in derselben Zeit¬ 
ung vom 17. Januar 1905: „Der Rechtsschutz gegen 
ungerechtfertigte Entmündigung in Bayern.“ Wir 
messen diesem letzten Artikel eine besondere Be¬ 
deutung bei und lassen darum Einiges daraus hier 
folgen. Der Artikel beginnt: 

„Der Aufsatz „Irrenärzte vor Gericht“ (Nr. 349 
v. J.) hat hinsichtlich seines psychiatrischen Inhalts 
bereits entsprechende Entgegnung aus den Kreisen 
der angegriffenen Aerzte gefunden. Er kann aber 
auch von juristischer Seite nicht ohne Widerspruch 
gelassen werden, weil darin über die vorhandenen 
Rechtsgarantien gegen unbegründete Entmündigung 
in viel zu oberflächlicher Weise abgeurtheilt und 
noch in der Replik (Nr. 8 d. J.) neuerdings behauptet 
wird, die gerichtliche Entmündigung wie die Fest¬ 
haltung vermeintlich Geisteskranker in den Irrenan¬ 
stalten sei mit „zu grosser Leichtigkeit zu erreichen“. 

Hinsichtlich der Entmündigung geräth der Ver¬ 
fasser beider Aufsätze damit schon zu seinen eigenen 
Darlegungen in einen gewissen Widerspruch; denn 
er selbst weist ja gerade eindringlich auf den Gegen¬ 
satz hin, der sich hinsichtlich der psychiatrischen 
Gutachten zwischen den Irrenärzten einerseits und 
den Laien, insbesondere auch weiten Juristenkreisen, 
andererseits gebildet haben soll. Wer anders als 
Juristen aber entscheiden denn über die Entmündig¬ 
ung? Misstrauen dieser gegen die Irrenärzte müsste 
also doch eigentlich eher zu einer Erschwerung der 
Entmündigung führen. 

In Wirklichkeit ist das Entmündigungsverfahren 
mit solch ausgiebigen Garantien versehen, wie keine 
andere Procedur, Ehe- und Kindschaft nicht ausge¬ 
nommen. Auch der Laie wird dies aus folgender 
kurzer Zusammenstellung der wichtigsten bezüglichen 

Vorschriften der Reichscivilprocessordnung entnehmen 
« 

Es folgen die einzelnen hierhergehörigen Para¬ 
graphen der Civilprocessordnung*), worauf der Ver¬ 
fasser fortfährt: 

„Das heisst also, practisch gesprochen, jeder 
Deutsche, auch der ärmste, hat das Recht und die 
Möglichkeit, seine Entmündigungssache von 3 + 5 + 7 


*) Speciell betont er, dass dem Entmündigten bei der 
Klage gegen die Entmündigung auf Antrag ein Rechtsanwalt 
beigeordnet werden muss, gleichgiltig ob die Sache etwa aus¬ 
sichtslos erscheint (§ 664, 668), — was weit über den Um¬ 
fang des daneben geltenden gewöhnlichen Armenrechts hinaus¬ 
geht. 


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438 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 44- 


= 15 deutschen Richtern nachprüfen zu lassen, und 
die Entmündigung hat nur dann Bestand, wenn die 
Geisteskrankheit oder Geistesschwäche von mindestens 
10 Richtern (1 Amtsrichter, 2 Mitgliedern des Land¬ 
gerichts, 3 des Oberlandesgerichts und 4 des Reichs¬ 
gerichts) als vorhanden angenommen wird. In der 
That, ein stärkerer Schutz ist gesetztechnisch im 
Rahmen der Civil-Process-Ordnung kaum noch denk¬ 
bar. Wie sich derselbe in der Praxis darstellt, zeigt 
die Statistik. Auch hier beweisen Zahlen! 

Nach der amtlichen Zusammenstellung des baye¬ 
rischen Justizministeriums sind im Jahre 1903 bei den 
bayerischen Amtsgerichten 1424 Entmündigungsanträge 
erledigt worden. Von den Beschlüssen lauteten auf 
Entmündigung wegen Geisteskrankheit oder Geistes¬ 
schwäche 792, wegen Verschwendung 45, wegen 
Trunksucht 59. Es wurden also insgesammt 896 
Entmündigungen ausgesprochen. Anfechtungsklagen 
aber sind bei sämmtlichen bayerischen Landgerichten 
im Jahre 1903 nur 40 anhängig gewesen und zwar 
einschliesslich derjenigen auf Wiederaufhebung wegen 
Genesung. Hievon wurden 21 beendet, aber nur 
ein einziges Urtheil hat auf Aufhebung des Ent¬ 
mündigungsbeschlusses als unbegründet gelautet. 
Diese Ziffern beweisen zunächst, dass die Durch¬ 
setzung der Entmündigung durchaus nicht leicht ist, 
denn nahezu 40 Procent aller Anträge führten nicht 
zum Ziel. Andererseits ergiebt sich daraus schlagend, 
wie triftig begründet die wirklich erlassenen Ent¬ 
mündigungsbeschlüsse waren; denn nur cirka 2 Proc. 
wurden als unbegründet angefochten und auf 896 
Entmündigungsbeschlüsse trifft eine einzige Aufhebung. 
Jedes weitere Wort zu diesem Ergebniss erscheint 
überflüssig. 

Nun zur Festhaltung in einer Irrenanstalt! Diese 
kann bekanntlich auch ohne Entmündigung geschehen, 
ebenso wie umgekehrt zahlreiche Entmündigte auf 
freiem Fusse sich bewegen. Die Garantie gegen 
ungerechtfertigte derartige Detentionen liegen sowohl 
auf dem Gebiete des Strafrechts als des Verwaltungs¬ 
rechts. Das Reichsstrafgesetzbuch bedroht im § 239 
mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren die vorsätzliche 
und rechtswidrige Freiheitsberaubung über eine 
Woche hinaus; bei kürzerer Dauer tritt Gefängniss- 
strafe ein, die bei Beamten nicht unter drei Monaten 
beträgt (§ 341). Ausserdem haftet der Beamte und 
in Bayern für ihn der Staat wegen allen Schadens 
der durch vorsätzliche oder fahrlässige Amtspflicht¬ 
verletzung verursacht worden ist (§ 83c) B. G.-B., 
Art. bo Ausf.-G. z. B. G.-B). Nach der Gewerbe¬ 
ordnung § 30 ist der Betrieb einer Privatanstalt ohne 
behördliche Konccssion verboten; die Versagungs¬ 
gründe. z. B. wegen Unzuverlässigkeit, sind gesetzlich 
geregelt. Nach Anordnung des K. Staatsministeriums 
des Innern vom 3. Dezember 1895 (Justiz-M.-Bl. 1896 
S. 36 ff.) müssen die Privatanstalten fortwährend 
evidente Zu- und Abgangslisten der Pfleglinge, ferner 
Krankengeschichten und Personalacten für dieselben 
führen und dürfen ohne jedesmalige specielle Ge¬ 
nehmigung der Districtsverwaltungsbehörde keinen 
Pflegling aufnehmen. Hierbei muss neben dem 
Zeugnisse eines deutschen amtlichen Arztes über -die 


Geistesstörung eine gleiche Konstatirung der Districts- 
polizeibehörde, gegründet auf selbständige, vom ärzt¬ 
lichen Zeugnisse unabhängige Erhebungen beigebracht 
werden. Das ärztliche Zeugniss selbst muss auf 
persönliche Untersuchung innerhalb der letzten vier 
Wochen gestützt sein. Die Aufhalimeerlaubniss wird 
nur nach Einvernahme des Bezirksarztes ertheilt. Bei 
provisorischen Aufnahmen ist dieses Verfahren nach¬ 
zuholen. Die Entlassung muss erfolgen: 

a) wenn eine freiwillig eingetretene Person ihren 
Austritt erklärt; 

b) wenn der Pflegling genesen oder nicht als 

geisteskrank befunden wurde ; * 

c) wenn der gesetzliche Vertreter bezw. Vormund 
oder in Ermangelung dieser die nächsten Angehörigen 
die Entlassung des Pfleglings beantragen. 

Eine Zurückhaltung kann nur auf Grund Zwangs¬ 
beschlusses der Verwaltungsbehörde wegen Gemein- 
gefährlichkeit (Art. 80 Pol.-St.-G.-B.) geschehen. 

Die Privat-Irrenanstalten sind öfters unvermulhet 
durch die Districtsverwaltungsbehörde gemeinsam mit 
dem Bezirksarzt zu untersuchen und ist hiebei, wo 
Veranlassung besteht, dem Rechtsschutze der Pfleg¬ 
linge , zumal durch Intervention behufs Erwirkung 
einer gerichtlichen Entscheidung über den Geistes¬ 
zustand, die gebührende Bedachtnahme zuzuwenden. 
Damit in engstem Zusammenhang steht die ent¬ 
sprechende Statutenänderung der Kreisirrenanstalten 
(Entschliessung des K. Staatsministeriums des Innern 
vom 9. Nov. 1803) und die Anweisung des K. Staats¬ 
ministeriums vom 28. März 1895 an die Staatsanwälte 
(Just.-M.-Bl. 1895 S. 70), in allen Fällen den Ent¬ 
mündigungsantrag zu stellen, wenn eine seit mehr als 
sechs Monaten in einer Irrenanstalt wider ihren 
Willen verwahrte Person eine gerichtliche Entscheidung 
über ihren geistigen Zustand beantragt und zwar 
selbst dann, wenn ein anderer Anlass hiezu nicht 
bestünde. Damit der Staatsanwalt in Kenntniss von 
den bezüglichen Vorgängen gesetzt wird, muss ihm 
von der Einschaffung oder dem Eintritt eines Pfleglings 
stets Kenntniss gegeben werden, w’enn ein gesetzlicher 
Vertreter des Pfleglings nicht vorhanden oder dessen 
Vernehmung erschwert oder sonst ein besonderer 
Grand zur Verständigung des Staatsanwalts ersicht¬ 
lich ist 

Selbst die amtliche zwangsweise Einschaffung in 
eine Irrenanstalt wegen Gemeingefährlichkeit nach 
Art. 80 P.-St.-G.-B. erfordert einen förmlichen Be¬ 
schluss der Districtspolizeibehörde nach erschöpfender 
Sachinstruktion und obligatorischer Einvernahme des 
gesetzlichen Vertreters, wrenn thunlich, auch des Ein- 
zuschaffenden. Dem zu Grunde gelegten bezirksärzt¬ 
lichen Zeugnisse muss eine persönliche Untersuchung 
durch den Bezirksarzt vorangegangen sein; auch der 
behandelnde Arzt muss einvernommen werden. Bei 
Gefahr auf Verzug müssen diese Amtshandlungen 
nachgeholt werden und zwar mit thunlichster Be¬ 
schleunigung. Die Entlassung erfolgt nach Wegfall 
der Gemeingefährlichkeit auf den von Amtswegen zu 
stellenden Antrag der Irrenanstalts- Vorstände oder 
controllirenden Bezirksärzte, wobei allenfallsige Gesuche 
der gesetzlichen Vertreter und Angehörigen unter 


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1905.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 439 


Umständen auch des Geisteskranken selbst in sach- 
gemässe Würdigung zu ziehen sind. (Entschl. des 
Staatsm. des Innern vom 1. Jan. 1895, Amtsbl. S. 2.) 

Diese Verwaltungsnonnen sind nun gewiss noch 
mancher Verbesserung fähig und trotz der besten 
Vorschriften können Fehlgriffe überall noch Vorkommen. 
Es ist aber nach den vorstehenden Darlegungen einfach 
nicht wahr, dass in Bayern Entmündigung oder 
Detention wegen Geisteskrankheit „mit zu grosser 
Leichtigkeit“ zu erreichen sei. Man darf hiebei auch 
die Kehrseite der Sache nicht übersehen. In zahl¬ 
reichen Fällen acuter Geistesstörung gemeingefährlicher 
Art thut augenblicklicher Zugriff absolut noth. Wenn 
eine Ehefrau nachts hilfesuchend auf die Polizei¬ 
station läuft, weil ihr Ehemann, der seit Wochen 
z. B. wegen Geldverlust, Tod von Angehörigen ab¬ 
sonderlich vor sich hinbrütete, nunmehr ein gewetztes 
Messer unter das Kopfkissen gelegt und ihr und den 
Kindern den Tod angedroht habe, so kann man nicht 
lange Vernehmungen pflegen; genug, dass kein Ver¬ 
dacht fingirter Angaben besteht, und der Mann wird 
momentan unschädlich gemacht. Möglich, dass er 
selbst hinterher von seinem Geliaben nichts mehr 
weiss oder wissen will, ebenso dass die Intervention 
der Behörde den Aufregungszustand nach Ueber- 
schreitung des Höhepunktes beendet hat, dass er 
nach einigen Tagen der Detention das geistige Gleich¬ 
gewicht wiedergewinnt und dass die Stimmung der 
Nachbarschaft mit dem Eintritt der Katastrophe in 
der bekannten Weise zu Gunsten des Mannes um¬ 
schlägt, — das alles ändert aber nichts an der 
Thatsache, dass die Behörde lediglich ihre Pflicht 
erfüllt hat. Denn das gleiche Recht auf Verhütung 
von Gefährdungen wie der Eingeschaffte hat auch 
dessen Umgebung, und die Beamten wie der Staat 
haften diesen Leuten nicht minder für allen Schaden 
aus der schuldhaften Unterlassung einer gebotenen 
Einschaffung wie dem Eingeschafften für schuldhafte 
Freiheitsberaubung. Die Hauptsache bleibt doch 
stets, dass genügend starke Garantien für rasche Fest¬ 
stellung des wahren Sachverhalts bestehen und diese 
sind im eingangs erwähnten Aufsatze mit Unrecht — 
wie obige Darlegung für Bayern zeigt — geleugnet 
worden.“ 

— Sitzung des Vereins für Psychiatrie und 
Neurologie in Wien am 13. Dezember 1904. 

Prof. Redlich demonstirt einen Fall einer 
atypischen amyotraphischen Lateralsklerose mit relativ 
wenig ausgesprochenen spastischen Phänomenen. Ein¬ 
zelne Symptome: reflectorische Pupillenstarre, be¬ 
ginnende Atrophie des N. opticus, Romberg und leichte 
locomotorische Ataxie scheinen zur Annahme einer 
beginnenden Tabes zu berechtigen. Eine vorausge¬ 
gangene luetische Infection könnte beiden supponirten 
Affectionen zu Grunde liegen. 

Dr. Erwin S t r a n s k y demonstrirt einen Fall 
von progressiver Paralyse mit einer seit einigen Monaten 
bemerkbaren Kombination: einer muskulären Atrophie 
von spinalem Typus in der rechten und (später auch) 
in der linken oberen Extremität. 

Dr. A. Fuchs demonstrirt einen Fall von peri¬ 
odischer Extremitätenlähinung, einen 30jährigen Mann, 


der an zeitweilig auftretenden in ihrer Intensität variir- 
enden schlaffen Lähmungen der Extremitäten leidet. 
Fehlen der tiefen und cutanen Reflexe während der Zeit 
der Lähmung, ebenso Störungen in der electrischen 
Erregbarkeit Die Erkrankung ist in diesem Falle 
nicht familiär. 

Dr. Marburg erörtert in einem Vortrag: „Die 
physiologische Function der Kleinhimseitenstrangbahn. 
Em Beitrag zur Ataxiefrage“ zunächst die Störungen 
in der Motilität, welche bei Hunden nach Durch¬ 
schneidung der Kleinhimseitenstrangbahn im oberen 
Cervikalmark auftreten, bespricht die Beziehungen der 
Ergebnisse des Thierexperimentes mit den anatomischen 
Verhältnissen sowie die Zusammensetzung der centri- 
petaten Bahn für die Principal be wegungen (Munk). 

S. 


Referate. 

— State of New-York, State Commission 
in Lunacy, 15. animal Report, Oet. 1, 1902, 
to Sept. 30, 1903. Albany, Quayle, 1904. 1011 

Seiten. 

Es ist höchst interessant zu sehen, wie sehr auch 
in Amerika, bes. aber im Staate New-York, praktisch 
in der Irrenpflege fortgearbeitet wird. Obiges, reich 
ausgestattetes Jahrbuch giebt darüber erwünschte 
Auskunft. Es existirten in diesem Staat z. Z. m 14 
Staatsanstaften (2 mit ca. 3500 Personen 1) inck 
des Matteawan und Dannemora Hospital für irre 
Verbrecher mit 860 Personen am 30. Sept. 1903: 
24087 Personen. In den concessionirten Privat¬ 
anstalten kamen weiter 946 hinzu. Ueberall wird 
über colossale Ueberfüllung und zu geringe Aerzte- 
zahl geklagt. In dem Berichtsjahre betrug die Zu¬ 
nahme in allen Anstalten 946 P. und 1 Arzt kam 
durchschnittlich auf 170 Patienten! Das neue Ein¬ 
wandrergesetz hat bis jetzt wenig gefruchtet und es 
wird vorgeschlagen, den Hafenärzten bei der Land¬ 
ung von Einwandrern einen Psychiater beizugeben, 
der schon manche offenbar Geisteskranke zurück¬ 
weisen könnte. Der Ueberflutung suchte man überall 
durch Umbauten etc abzuhelfen, auch neue Anstalten 
sind projectirt. Die hygienischen Verhältnisse waren 
meist gut, nur dass noch in dem Utica-Hospitale 
viel Diphtherie vorkam, und in einem andern Ery¬ 
sipel. Typhusfälle im St. Lawrence Hospital Hessen 
sich auf Flusseis zurückführen, das Typhusbacillen 
enthielt. Die Verbesserungen in den Gebäuden, in 
Diät, Pflege etc. sind sehr lobenswerth. Es sind 
Adnexe für Tuberkulöse gebaut worden, auch schöne 
neue Pavillons für je 100 solche Kranke, und im Man¬ 
hattan-Hospital nebst 2 andern Anstalten hat man mit der 
Zeltbehandlung der Tuberkulösen, Siechen, Unrein¬ 
lichen und acut Erkrankten sehr gute Erfahrungen 
gesammelt. Es werden viele gute Vorschläge und 
Bemerkungen gemacht. Von der Zellenlosigkeit, Bett¬ 
behandlung, no-restraint und open-door wird nach 
Kräften Gebrauch gemacht. Es scheint aber, dass 
im.Ganzen die eigentliche psychiatrische Behandlung 
noch nicht ganz auf moderner Höhe steht. Dr. Meyer 
vom Pathologischen Institute in New-York sucht 
durch Vortiäge, Anweisungen, Arbeiten im Institute 


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440 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 44. 


etc. das Interesse der Aerzte für die Psychiatrie zu 
heben und das mit Erfolg. Schon im vorigen Jahre 
haben sehr viele Aerzte Arbeiten veröffentlicht. Ueberall 
sind mehr Laboratorien, Bibliotheken etc. geschaffen 
worden, und an einer Anstalt wurden allein 21 medi- 
cinische Zeitschriften gehalten! Trotz der gestiegenen 
Preise aller Art, kam die Person-Verpflegung doch nur auf 
172,55 Dollars zu stehen, gewiss für Amerika ein 
niedriger Satz, trotz guter und reichlicher Kost. Auch 
alle Löhne und Gehälter stiegen. Ueberall giebt es 
Wärter-Schulen (schon seit mehr als 20 Jahren), wo 
auch Diplome ertheilt werden. Fast alle Anstalten 
besitzen einen weiblichen Arzt für gynäkologische 
Fälle, doch scheinen grössere Operationen nur von 
Specialisten ausgeführt zu werden, wie denn auch an 
jeder Anstalt mehrere Specialisten regelmässig zuge¬ 
zogen werden. Dem Auge und dem Munde wird spe- 
cielle Sorgfalt gewidmet und so werden z. B. viele Brillen 
verordnet, Zähne plombirt und künstliche Gebisse 
verfertigt. In dieser körperlichen Fürsorge sind uns 
die Amerikaner entschieden über! Mit Recht wird 
darauf hingewiesen, dass die Zunahme der Kranken¬ 
zahl noch nicht ohne weiteres für Zunahme der 
Psychosen überhaupt spreche. Bei den vielen pro- 
jectirten Neubauten wird ein Durchschnittspreis von 
555 Dollars pro Platz berechnet. Colonialanhänge w'urden 
geschaffen. Man will ferner für jedes Hospital 2 Volontäre 
einstellen. Man hat es mit Recht aufgegeben, reine 
Heilanstalten zu haben; alle sind Heil- und Pflege¬ 
anstalten. Das Matteawan Hospital für irre Ver¬ 
brecher hatte am 1. Oct. 1903: 588 Personen (513 M., 
75 W.), mit 46 Aufnahmen (darunter chron. Manie 
12, chron. Melancholie 9, Paranoia o, Paralyse 4 und 
21 ohne erbliche Belastung). Dannemora-Hospital 
hatte 212 irre Verbrecher (nur Männer) mit 49 Auf¬ 
nahmen. Näcke. 

— C o n t ri b u to a 11 o Studio del 1 a simula- 
z'io ne della pa zzia, Del dott. Guido Gar bini. 
II manicomio. Anno XIX, Nr. 1. 

G. berichtet ausführlich über 13 Fälle von Simulation 
von Geistesstörung, die er in der Irrenanstalt Messina 
während eines Zeitraumes von 4 Jahren beobachtet hat. 
Sämmtliche 13 Fälle wiesen schwere erbliche Belastung 
auf und w f aren psychopathisch veranlagte Individuen. 
Die Form der Geistesstörung, die simuliert wurde, war 
entw-eder Verwirrtheit oder Schwachsinn und konnte als 
eine Uebertreibung oder Wiederholung der bei den Be¬ 
treffenden festgcstellten Defccte angesehen werden. 
Uebereinstimmend war in allen Fällen die Dauer der 
Simulation kurz. Auffallend war, dass, abgesehen 
von einem Fall, stets nur eine geringfügige Ursache 
für die Simulation vorlag. Mitunter bildete die Simu¬ 
lation nur ein Vorläuferstadium einer Psychose. G. 
schliesst sich der Meinung derjenigen an, welche be¬ 
haupten, dass ein geistig vollständig Gesunder über¬ 
haupt nicht oder nur sehr scfover simuliren kann. 
Er glaubt, dass die Simulation entweder eine Geistes¬ 
störung oder ein Symptom einer solchen ist. 

Braune, Sch wetz. a. W. 


— Dr. Friedrich Scholz: Die moralische 
Anästhesie. Für Aerzte und Juristen. Leipzig 
I9 ° 4 * 

In dieser eingehenden, durch zahlreiche casuisti- 
sche Beiträge detailreichen Monographie behandelt 
Veif. jene Geisteszustände, die ein Mangel in dem 
Empfinden und der Bethätigung der Moral bei sonst 
nur geringfügigen oder gar fehlenden nervösen und 
psychischen Störungen kennzeichnet und für die 
Verf. den Ausdruck „moralische Anästhesie“ ge¬ 
braucht. Nach einem historischen Ueberblicke über 
die Lehre Von der Prichard’schen moral insanity 
und einer psychologischen Betrachtung über das Vor¬ 
stellen, Fühlen und Handeln, ihrer Wechselbezieh¬ 
ungen zu einander, zu Intellekt und Charakter, 
werden die fünf Formen beschrieben. Beim „Typus 
des unbewussten Motivs“ wird die Verletzung der 
Moral durch plötzlich auftauchende Impulse veran¬ 
lasst, w r as bisweilen später durch räsonnirende Er¬ 
klärungsversuche des Thäters verschleiert w ird. Beim 
„Typus des Zwangsmässigen“ spielen überwerthige, zu 
Handlungen hinreissende Zwangsvorstellungen die 
Hauptrolle. Der „Typus des gesteigerten Strebens“ 
zeigt ein Ueberwiegen der egoistischen Triebe und 
des Selbstgefühls zu Ungunsten des altruistischen 
Vorstellungskreises, während das Gegenstück, „der 
Typus des verringerten Strebens“ Schwäche des Ent¬ 
schlusses und Handelns charakterisirt. Der „perverse 
Typus“ hat seine Domäne im sexuellen Gebiete. 
Bei allen Typen kann man die Anfänge der ab¬ 
normen Geisteszustände oft bis in die früheste Jugend 
an bestimmten Eigenthümlichkeiten des Kindes zu¬ 
rückverfolgen. Nach ausführlichen Erläuterungen 
über die Ursachen, Vorhersage und Behandlung der 
moralischen Anästhesie, über die Differentialdiagnose 
und Zurechnung schliesst die verdienstvolle Schrift 
mit dem Verlangen nach einer Aenderung der Straf¬ 
rechtsgrundsätze und des Strafvollzuges. 

Dr. Fritz H oppe-Tapiau. 


Personalnachrichten. 

— Württemberg. Ernennungen: zum Director 
der K. Heilanstalt Schussenried der Director der K. 
Heilanstalt Zwhefalten Dr. G ross (1904) zum Director 
der K Heilanstalt Zwiefalten Sanitätsrat Dr. K ri m mel 
(1904); zum psychiatrischen Referenten beim kgl. 
Medizinalkollegium mit dem Titel und der Stellung 
eines vollbeschäftigten Medizinalrates der Oberarzt 
Dr. Camerer an der K. Heilanstalt Winnenthal 
(1905); zum leitenden Arzt der Irrenabtheilung an 
der Strafanstalt auf dem Hohenasperg mit dem 
Titel Sanitätsrat der seitherige Oberarzt Dr. Starger 
an der K. Heilanstalt Weissenau (1905), zum Ober¬ 
arzt der K. Heilanstalt Zwäefalten der stellvertretende 
Oberarzt Dr. Koch an der K. Heilanstalt Schussen¬ 
ried (1905). 


I*«r <U‘« redaction eilen '1 heil verantwortlich: Oberar/.t Dr. J. Bresler» Lublinitz (Schlesien). 

Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inscratcnannahinc 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Heynemann’sche Buchdruckerei (Gebr. Wo’FH ie Halle a. S. 


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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift. 

Redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Brealer, 

Lublinitz (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

T**iegrr.-Adresse : M a rho Id Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834. 

NrT 457 4. Februar. 1905 

Besteilangen nehmen jede Bu<hhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die 3spaltige Petitzeile init 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten. 


Frühe Entlassungen. 

Von Prof. E. Bleuhrr-BurghölzU. 


T> scheint eine ziemlich allgemeine Regel zu sein, 
je besser die Versorgungsverhältnisse eines Landes 
sind, um so grösser ist die Zahl der bekannten Geistes¬ 
kranken , und um so mehr spricht man von der 
Unzulänglichkeit der bestehenden Anstalten. Lange 
Zeit tröstete ich mich — aber ohne rechte Ueber- 
zeugung, dass dadurch alles erklärt sei — damit, dass 
bei unzureichender Verpflegung in hygienisch schlecht 
eingerichteten und schlecht geleiteten Anstalten, und 
in Privatmi^hftBdhiB^>ei«i^re 9 sec Thettvdcr&Imn iröh^ 
zeitig sterbe, während in guten Anstalten die Lebens¬ 
dauer vielleicht höher ist als bei der entsprechenden 
Bevölkerungsklasse draussen. 

Die Unterschiede sind doch zu gross, um alles auf 
diesen Factor zurückzuführen, da man heut zu Tage 
auch in einer weniger empfindsamen Bevölkerung 
Geisteskranke nur ausnahmsweise verhungern lässt oder 
in Ketten und andere rohe Zwangsmittel schliesst, die 
Verletzungen und Wundkrankheiten herbeiführen. 

Als ich vor 19 Jahren in die Pflegeanstalt Rheinau 
kam, bemerkte einmal der viel zu früh verstorbene 
Verwalter Rimathe, der ein ausgezeichnetes Verstand- 
niss für die Kranken und ihre Verhältnisse hatte, im 
Kanton X werde man wohl bald eine Pflegeanstalt 
brauchen, man baue ja eine Heilanstalt. So paradox 
cs klang, ich musste ihm recht geben: je mehr und 
je besser man für die Irren sorgt, um so mehr Ver¬ 
sorgungsbedürftige giebt es. 

Ich glaubte durch zahlreiche Entlassungen dem 
Uebel abhelfen zu können. Aber was nützte es, 
wenn ich von einer Bevölkerung von über 700 jährlich 
kaum zwei Dutzend fortschickte? Mehr nahm man 
mir einfach nicht ab. Um mehr Autorität gegenüber 
den Gemeinden und Angehörigen zu haben, liess icli 
mir mal von der Aufsichtscommission den Auftrag 
geben, 20 anscheinend harmlose Kranke zu exmittiren. 
Ich bekam bei 19 derselben so geharnischte Proteste, 

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dass ich davon abstand, und der zwanzigste Kranke 
kam nach wenigen Wochen Aufenthalt draussen in 
recht verwahrlostem Zustande wieder zurück; er war 
ein Katatoniker, der vor Jahrzehnten einmal eine 
Scheune angezündet hatte, seitdem in einem offenen 
Hause der Anstalt eine viel grössere Bewegungsfreiheit 
genoss als irgend ein Beamter, den Direktor einge¬ 
schlossen, und sich durch Gartenarbeit recht nützlich 
machte, ohne jemals irgend jemanden zu stören. 

&o wusste- wh m der 12 jährigen Thäfctgfeeit in 
Rheinau gegen die Calamität der Ueberfüllung und 
der ganz ungenügenden Aufnahmsfähigkeit nichts zu 
thun, als für Neubauten zu kämpfen, die dann endlich, 
einem Drittel des damaligen BedÜrfnissess entsprechend, 
erstellt worden sind — um sofort voll belegt zu werden. 

Dass wir dennoch mit den Entlassungsbestrebungen 
auf dem richtigen Wege gewesen waren, schienen 
uns die Anstaltsberichte und Krankengeschichten aus 
Gegenden mit weniger Plätzen zu beweisen, wo man 
eine Menge von Kranken — meist als geheilt, entliess, 
die fortzuschicken wir nicht gewagt hätten.*) — Vor 
bald 7 Jahren kam ich in die Heilanstalt des Kantons, 
das Burghölzli. Auch da wollte mein Traum sich 
nicht realisiren. Die Anstalt war mit Unheilbaren 
voll gepfropft, so dass man nur etwa die Hälfte der 
angemeldeten Fälle aufnehmen konnte. Die Kranken 
mussten einander aufregen; und gerade für die 
günstigen Fälle, die bei der Anmeldung Aufgeregten, 
war kein Platz, und keine Beruhigungsmöglichkeit. 
So kamen wir auch hier nicht dazu, die Entlassungen 
wesentlich zu vermehren. Erst nachdem es gelungen 
war, das Budget zu erhöhen und mehr Wartpersonal, 
mehr Arbeit, mehr Wachsäle zu erlangen, und 
namentlich, nachdem durch die Transferirungen von 

*) Sehr belehrend ist in dieser Richtung auch die Schilder¬ 
ung mex icanischcr Irrenverhältnisse durch Grohmann 
in: Grohmann, Geisteskrank. Melusine, Leipzig 1902. 

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44 * 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 45 - 


c. 60 Kranken nach Neu-Rheinau Bewegungsmöglich¬ 
keit geschaffen worden war, änderten sich auf einmal 
die Verhältnisse. Die Kranken wurden rascher ruhig, 
viele andere spürten die Repression nicht mehr so 
stark und die früheren und zahlreicheren Entlassungen 
kamen von selbst. Da wir damit gute Erfahrungen 
gemacht hatten, und zwar auch nach den zahlreich 
eingeholten Berichten über die Entlassenen, gingen 
wir immer weiter, und wir haben uns nun zur Regel 
gemacht, jeden Fall von Dementia praecox (ein 
Substantiv, das erlaubte, diese Leute mit einem Worte 
zu bezeichnen, hat Kräpelin leider noch nicht ge¬ 
schaffen) so früh zu entlassen, als man ihn uns ab¬ 
nimmt. Es geht bis jetzt merkwürdig gut, nicht nur 
draussen (wo wir es indess nicht zu den Lichtseiten 
des Verfahrens rechnen, wenn einzelne „Geheilte“ 
sich verheiratheten), sondern auch in der Anstalt, wo 
wir seit bald einem Jahre auf der Männerseite 
beständig freie Plätze haben und zwar lür Unruhige 
wie für Ruhige — ein Verhältniss, das in den 34 
Jahren der Anstaltsgeschichte unerhört ist. Nur in 
den Wachsälen ist der verfügbare Raum fast immer 
etwas knapp. Auf der Frauenseite sind die Verhält¬ 
nisse etwas ungünstiger, theils weil diese von früher 
her noch viel mehr mit Entlassungsunfähigen ange¬ 
stopft ist, theils weil die (spärlichen) Fälle, die uns 
Rheinau abnehmen kann, fast lauter Männer sind. 
Die Entlassungen (ohne die Todesfälle) stiegen von 
durchschnittlich 208 in den Jahren 93—97 auf 273 
in 02—04, und dabei nehmen auch die Beurlaubungen 
beständig zu (von 30 auf 60). 

Wodurch wurde der Unterschied im Wesentlichen 
bedingt ? 

Das Gros der heilbaren Kranken wird gebildet 
durch die Manisch-depressiven. Bei den meisten ist 
ein stärkerer Einfluss der Anstaltsbehandlung auf die 
Dauer und die Wiederholung der Anfälle nicht zu 
constatiren; sie heilen in schlechten Anstalten nahezu 
wie in guten — Ausnahmen giebt es natürlich. Bei 
den Hysterischen macht allerdings die Behandlung 
alles aus, sie bilden aber eine verschwindende Minder¬ 
zahl in unserem Bestände. Paralytiker, Senile, Epilep¬ 
tiker leben bei guter Pflege länger als bei schlechter, 
werden aber kaum entlassungsfähiger. Es bleiben die 
praecociter Dementen, die in jeder Anstalt den 
Hauptstock des bleibenden Bestandes ausmachen. 
Für diese ist die Anstaltsbehandlung ein 
U e b e 1, das sich während der acuten Schübe und 
bei allzu argem chronischem antisocialem Verhalten 
nicht vermeiden lässt. Die Schädlichkeit liegt einmal 
darin, dass gerade diese Kranken durch die Repression 
gereizt und verschlimmert werden. Je mehr Freiheit 

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sie haben, um so besser geht es ihnen.*) Eine Kranke 
z. B. war seit langem in der Zelle gehalten, die wegen 
Lebensgefährlichkeit nie von einer Wärterin allein 
betreten werden durfte; wir nahmen sie einmal aus 
der Zellenabtheilung direct an eine Anstaltsfeier. Ein 
paar Tage später sang sie bei einem ähnlichen Anlass 
Lieder zur Unterhaltung der Kranken; nach kurzem 
wurde sie auf die beste Abtheilung versetzt, erhielt 
freien Ausgang, von dem sie einmal erst nach längerer 
Zeit zurückkam (nach schriftlicher Abmeldung), um 
ihre Kleider zu holen. Sie hatte sich draussen ge¬ 
halten und ist nun 6 Jahre arbeitsfähig geblieben. 
Auch in Rheinau hatte ich mehrmals mit Glück 
Hebephrene direct aus der Zelle nach Hause ent¬ 
lassen. 

Katatoniker haben ferner Neigung zu Echo- 
praxie, die nicht immer demonstrirbar ist, aber 
sich schliesslich doch dadurch äussert, dass die Patienten 
um so sociabler sind, je besser die Umgebung sich 
verhält und umgekehrt. Sie sind ferner Stereo- 
typiker: je länger sie unter abnormen Umständen 
gelebt haben, um so mehr bildet sich geradezu eine 
Art Bedürfnis nach diesen Zuständen aus, und wenn 
sie mal eine Unart angefangen haben, so ist es 
schwer, sie ihnen wieder abzugewöhnen, wenn man 
nicht dem allerersten Anfang wehrt; die Leute, welche 
durch die „Zellenbehandlung“ verkommen, sind be¬ 
kanntlich fast alles Katatoniker, — kaum je Manisch- 
depressive, denen die Isolirung von allen Reizen im 
Gegentheil oft die grösste Wohlthat ist Hält man 
die „Katatoniker 44 so viel als möglich in normalen 
Verhältnissen, so bleiben sie viel eher diesen angepasst 
Bei „bessern“ Kranken kommt wohl auch hinzu, dass 
sie, einmal an die Bequemlichkeit und Sorglosigkeit 
des Anstaltslebens gewöhnt, die Mühsale des Kampfes 
ums Dasein zu schwer empfinden, und deshalb immer 
wieder der Anstalt zustreben, wenn auch meist 
unbewusst. 

Der principielle Unterschied zwischen 
den Erfahrungen aus der Pflegeanstalt und 
denen der Heilanstalt liegt aber darin, 
dass man draussen den frischen Fällen 
noch ein Interesse entgegenbringt, das 
nach wenigen Jahren vollständig schwindet. 
Deshalb ist es leicht möglich, den Ange- 
gehörigen oder den Gemeinden frische 
Fälle zu übergeben, sobald sie sich nur 
halbwegs geordnet aufführen, während 

*) Wollte ich mich an die gangbaren Schlagwörter an. 
schliessen, so müsste ich sagen, für viele Kranke sei die An¬ 
stalt der empfindlichste Restraint, ev. ich verlange nichts als 
Ausdehnung des No-restraint auch auf dieses Zwangsmittel, 


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I 9°5-] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


443 


nach Jahren auch ein hohes Kostgeld 
niemanden mehr zur Aufnahme der Kranken 
lockt. Aus all diesen Gründen fort mit den Kata- 
tonikem aus den Anstalten, sobald jemand die Mühe 
der Besorgung und eventuell die Verantwortlichkeit 
übernehmen will, sei es in Form von Entlassung, sei 
es in der der Beurlaubungen, welch letztere namentlich 
sehr zu empfehlen sind und bei uns meist zu defini¬ 
tiven Entlassungen führen. 

Zur Handhabung des letzteren Satzes gehört 
allerdings das granum salis, das man bei jedem 
Irrenarzt voraussetzen muss. Es giebt Kranke, sich 
selbst und andern gefährlich, die man den Verwandten 
nicht übergeben darf; es kann auch eine Katatoniker- 
entlassung zu früh ausgesprochen werden, — aber 
diese Fälle sind selten; einigermassen vernünftigen 
Angehörigen kann man die Kranken früher überlassen 
als man nach meinem Dafürhalten gerade in den 
guten Anstalten bis jetzt zu thun geneigt war. 

Dementsprechend ist aber auch bei den Auf¬ 
nahmen zu verfahren. Man weiss schon lange, dass 
die bald nach der Erkrankung in die Anstalten ein¬ 
tretenden Fälle in viel grösserem Procentsatz geheilt 
und gebessert werden als die „Verschleppten“. Man 
war geneigt, daraus ein Lob für die Irrenanstalten 
abzuleiten, das seit Jahrzehnten in allen Tonarten 
gesungen wird. Es sind aber die rasch herein¬ 
kommenden Fälle die acuten; hierunter fallen fast 
alle heilbaren, und die aufgeregten Katatoniker, die 
sehr gute Remissionschancen bieten. Die andern 
sind die lange verbleibenden, die quoad sanationem 
schon bei der Erkrankung nicht mehr Aussichten 
geboten haben als zur Zeit des Eintritts in die 
Anstalt. Es ist also nichts mit jenem Beweise der 
Vortrefflichkeit der Anstalt. Im Gegentheil, für die 
Verblödungspsychosen ist die Anstalt im Grossen und 
Ganzen schädlich, und nur als ein nothwendiges 
Uebel zu betrachten, das sich während gewisser Zeiten 
nicht vermeiden lässt, aber sofort vermieden werden 
soll, wenn es nicht mehr nöthig ist. Ueberhaupt ist 
die Heilungszahl kein Massstab für die Güte der 
Anstalt; sie hängt vielmehr von den Aufnahmever¬ 
hältnissen ab. Die heilbaren Kranken heilen zum 
grössten Theil auch in schlechten Anstalten; und bei 
den Unheilbaren möchte ich sagen, kommt es jetzt noch 
in erster Linie auf den Begriff an, den der Director mit 
dem Worte „Heilung“ verbindet. Vielleicht wird 
einmal die Zahl der Besserungen ein brauchbareres 
Maass für die Leistungsfähigkeit der Anstalt. 

Natürlich bietet die frühzeitige Entlassung auch 
etwa Gelegenheit zu einem Unglücksfall. Aber cs 
scheint gar ni^ht, dass es mehr Unglücksfälle gebe 


als bei der grössten Vorsicht in den Entlassungen, 
wobei die Anstalten überfüllt bleiben und die acuten 
Fälle aus Platzmangel draussen gehalten werden 
müssen. Der Irrenarzt muss sich eben, wenn ihm 
einmal Vorwürfe gemacht werden sollten, damit 
trösten, seine Pflicht gethan und mehr genützt als 
geschadet zu haben. — Zur Illustration des Gesagten 
mag dienen, dass ich von einer Irrenanstalt weiss, 
wo bei Gelegenheit die Fälle zusammengestellt w erden 
sollten, bei denen Kranke gegen den Rath der Aerzte 
herausgenommen wurden und dann ein Unglück 
angestellt hatten. Sie bildeten eine so geringe Minder¬ 
zahl, dass man vorzog, das Resultat nicht zu ver- 
werthen. Erscheint es nach diesem sicher, dass man 
oft zu vorsichtig ist, so möchte ich doch hierin nicht 
zu leichtsinnig scheinen. Namentlich bei Manisch- 
depressiven kann man kaum zu vorsichtig sein. Aber 
allerdings wird die Beurtheilung nahezu unmöglich, 
wenn man sich gegenüber der Kräpelin’schen Dia¬ 
gnostik, welche eben zugleich eine Prognostik ist, 
ablehnend verhält. 

Nicht ganz das gleiche wie das, was wir anstreben 
ist die organisirte Privatpflege. Sobald die 
Kranken ,,versorgt“ werden, fühlen sie sich weniger 
gut, als wenn sie unter anscheinend normalen Ver¬ 
hältnissen zu Ihrer Familie oder zu Bekannten 
kommen. Das Gefühl eines Zwanges, der Gedanke, 
als Mensch zweiter Ordnung zu gelten, tritt zu leicht 
auf und hat bei diesen Kranken, deren Gefühlsleben 
sonst oft kaum nachzuweisen ist, einen ganz merk¬ 
würdigen Einfluss. Damit möchte ich gegen die Vortreff¬ 
lichkeit der Privatpflege für eine Menge von Fällen 
nichts gesagt haben — im Gegentheil, ich kämpfe 
hier schon seit vielen Jahren um deren Einführung, 
scheitere aber vorläufig daran, dass wir kein Geld 
haben, eine gesetzlich geordnete Aufsicht über die 
privat Verpflegten durchzuführen, und dass uns trotz 
aller Anstrengungen niemand, auch gegen hohes 
Kostgeld, Geisteskranke abnehmen will, an denen er 
kein persönliches Interesse hat, während sich die eigenen 
Familienglieder und gute Bekannte ohne Kostgeld der 
gleichen Kranken annehmen, und ganz von selbst 
dafür sorgen, dass sie zur Arbeit und zu richtigem 
Verhalten erzogen werden. 

Natürlich giebt es auch noch andere Mittel der 
Entlastung unserer Anstalten. Das wichtigste und auf 
die Dauer allein wirksame Mittel wäre eine rationelle 
Prophylaxe, der aber die Irrenärzte wie die Hygi¬ 
eniker immer noch aus dem Wege zu gehen scheinen. 
Wenn man wollte, so könnte man immerhin in dieser 
Richtung recht viel thun durch Bekämpfung des 
Alkoholgenusses — man will aber vorläufig noch nicht. 


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444 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 45 


Viel schwerer wird es sein, die Degenerirten und 
Entarteten von der Kinderzeugung abzuhalten; hier 
fehlt es nicht nur am Willen, sondern man weiss noch 
gar nicht recht, wie man die Sache anpacken könnte. 
Wenn in den nächsten Generationen nicht mehr 


genug Gesunde sein werden, die Kranken zu pflegen, 
wird man wohl diese Fragen auch practisch angreifen. 
Jetzt wäre es unsere Pflicht, unsem Nachkommen 
wenigstens das theoretische Material zu bieten, das 
ihnen ein rationelles Einschreiten ermöglichen wird. 


Heilige Dinge aus Ost und West. 

Von A . Grohmann ) Zürich. 


1. „Buddhistische Keuschheitsehen.“ 
nter den mannigfachen Ueberbringern der in¬ 
dischen Ideenwelt nach Europa spielen die 
Psychopathen eine hervorragende Rolle, sowohl durch 
ihre grosse Zahl als durch die Intensität ihres Wir¬ 
kens auf das Gemüthsleben und die Lebenshaltung. 
Umgekehrt haben die Psychopathen manches aus 
Europa den Indiern zugetragen, und da der Vege¬ 
tarismus dort nicht mehr importfähig w^ar, so ist 
unter dem dort Eingeführten neben vielen Bruch¬ 
stücken aus unsem sämmtlichen Staatsreligionen und 
Secten der Spiritismus eines der Glanzstücke ge¬ 
wesen. Unter den Ueberbringern haben manche, 
wie die Russin Blavatzki und der Amerikaner Olkott, 
dort eine hervorragende Rolle gespielt in der Ver¬ 
quickung zweier Ideenwelten, und bei den etw’a 1830 
und 1840 begonnenen Reformationen indischer Reli¬ 
gionen kam es bei Millionen von Indiern zur Aufnahme 
von Vorstellungen europäischen Ursprungs. Die 
Gegenwelle von dort hat uns besonders den Buddhis¬ 
mus gebracht, zu dessen Einführung in Europa 
dement, excentrisch und paranoid angehauchte Psycho¬ 
pathen vielleicht mehr gethan haben, als alle Dichter, 
Literaturhistoriker und übrigen Gelehrten zusammen. 
Eine historisch - wissenschaftliche Schilderung dieser 
Bewegungen innerhalb des modernen europäischen 
Buddhismus hätte sich ausser mit den hauptsäch¬ 
lichen Vertretern, wie dem esoterischen Buddhismus 
und der Theosophie etc., mit zahllosen andern von 
geringem Umfang zu beschäftigen: alles was sich da 
an Combination und Variation nur denken lässt, 
scheint auch thätlich ausgedacht und ins Practische 
übertragen worden zu sein. Aus diesem Riesenge¬ 
biete greife ich hier die „buddhistischen Keusch¬ 
heitsehen“ heraus, die in der Gesellschaft der Nor¬ 
malen und Gesunden noch sehr wenig bekannt sind, 
für die sich aber vielleicht Psychiater interessiren 
dürften, trotzdem sie nur selten mit Vertretern dieser 
Sonderbarkeit zu thun bekommen mögen, da das 
Wesentliche an ihnen practisch genommen eine Art 
Heiligkeit ist, die nur selten schwere Collisionen her¬ 


vorruft. Die (europäischen) „indischen Buddhisten 
nach der Ordensregel des ersten Buddha“, wie sie 
sich auch gern nennen, haben das Gelübde der Ar- 
muth, der Keuschheit und des Gehorsams. Buddha 
hat gelehrt, dass das Elend der Welt nur durch das 
Aussterben des Menschengeschlechts, also nur durch 
die Keuschheit zu Ende gebracht werden könne- 
Dem so gebotenen Cölibat kommen sie nach, da¬ 
durch , dass sie auf die gewöhnliche Ehe und jeg¬ 
lichen Geschlechtsverkehr „Verzicht leisten“ — (viel¬ 
leicht ihrer nicht bedürfen). Ein Theü von ihnen 
will aber nicht auf die übrigen Faktoren verzichten, 
die mit unserer Ehe verbunden sind, und deshalb 
verbinden sie sich unter der Bezeichnung „Bruder 
und Schwester“ oder auch „buddhistische Mönche 
und Nonnen“ oder andern ähnlichen Bezeichnungen 
zu Güter- und Lebensgemeinschaft. Da giebt es 
herzige kleine Psychopathennestchen — aber auch 
sehr viel Schönes. Nach den mir bekannten Fällen 
und einer Anzahl Erkundigungen zu urtheilen, scheinen 
da der Reichthum und das Lebensalter bei der Wahl 
des Consors fast gar keine Rolle zu spielen, wohl 
aber eine herausgediftelte „ethische Wahlverwandt¬ 
schaft“. Sie sind alle gegen den Luxus, die Frauen 
tragen keinen Schmuck, sie leben meist sehr ein¬ 
fach und zwar vegetarisch und in Alkoholabstinenz 
und helfen sich gegenseitig und auch Andern durch 
Almosen. Sie bilden eine Art Orden, wenn auch 
nur lose gefügt, denn viele von ihnen schlagen nach 
den verschiedensten „Nebenrichtungen“, denen sie 
nicht untreu werden möchten. Ihr Centrum ist in 
Leipzig und sie wollen ungefähr 50000 Glieder in 
Europa zählen — was ich nicht weiter controliren 
kann. Eine mir bekannte Dame in Zürich, die erst 
seit 2 Jahren mit ihrem buddhistischen Gefährten 
lebt, und nur w r enige gesellschaftliche Beziehungen 
hat, theilt mir mit, dass sie in dieser Zeit von 7 
Paaren in Zürich mit Sicherheit erfahren habe, dass 
sie zu den ihrigen zählen und dass sie in buddhistischer 
Keuschheitsehe leben, von einem achten wisse sie es 
noch nicht bestimmt. Ausser dem Erkennungszeichen 



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*9°5-] 


beim Händereichen, dem Buddhakreuz bei der Unter¬ 
schrift in vertraulichen Briefen und einigen an den 
Zimmerwänden decorativ angebrachten Symbolen 
habe ich keine weiteren Abzeichen bei ihnen an¬ 
getroffen. Sonderbarer Weise haben selbst diese 
heiligen Menschen gelegentlich polizeiliche Verfolg¬ 
ungen durchzumachen. Dies ist zu erklären als 
Folge von Verleumdungen durch Hausgenossen, 
denen wohl meist das Verständniss für den wahren 
Charakter dieser Verbindungen fehlen mag: Man 
verdächtigt sie des Concubinats und die Folge ist, 
dass sie sich „darnach zu richten gelernt haben“ 
und gelegentlich wissen sie die einschlägigen Gesetze 
und Polizeiparagraphen zu citiren fast wie Prosti- 
tuirte, denen w r ohl auch nur dieser Theil der Gesetze 
geläufig sein mag. Da sie keine gesetzliche Ehe 
schliessen und sich auch nicht als Eheleute ausgeben, 
so haben sie auf jene Punkte zu achten. Meist 
miethen sie sich, als angeblich unabhängig von ein¬ 
ander, möblirte Zimmer im gleichen Hause oder die 
Frau miethet eine Wohnung und hat den Freund 
als Zimmermiether oder dgl. 

Wir Europäer haben aber beim Eingehen solcher 
Keuschheitsehen den Umweg über Buddha nicht 
nöthig: Wir haben Vereinigungen, z. B. unter den 
extremeren Tolstoianern und den sog. christlichen 
Anarchisten, die auch diese Keuschheitsehen haben, 
und ich habe die Ehre den Redakteur eines # 14 tägig 
erscheinenden holländischen Blattes zu kennen, das 
Propaganda für diese Sache betreibt. Der Herr hat 
mich kürzlich besucht, „um mich zu veranlassen, die 
Sache in der Schweiz zu verbreiten“; auch wollte 
er, dass ich die Herausgabe seiner Propaganda¬ 
schriften auf Deutsch übernehme. Meine Brochure 
über die Vegetarier in Ascona hatte ihn merkwürdiger¬ 
weise auf die Vorstellung gebracht, dass ich diese 
Mission gerne übernehmen würde: Man sollte vor¬ 
sichtig sein können in der Wahl seiner Leser. 

2. Der Verein „Silent Unity.“ 

In den Vereinigten Staaten giebt es einen Verein 


445 


„Society of Silent Unity“, dessen Thätigkeit sich auf¬ 
baut auf der Bibelstelle Matthäi 18, 19 und 20: 
„Weiter sage ich euch, wenn euer zwei auf Erden 
zusammen stimmen w'erden, um irgend eine Sache 
zu bitten, so wird es ihnen zu Theil werden von 
meinem Vater, der in den Himmeln ist.“ „Denn 
wo Zwei oder Drei in meinem Namen versammelt 
sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ Die Mitglieder 
dieser Vereinigung haben die Erfahrung gemacht, 
— so versichert ihr Organ „Unity“ —, dass, wenn 
sehr Viele zugleich dasselbe wünschen, jeder von 
ihnen Theil nimmt an der Berührung mit den obem 
Mächten. So sei allmählich ihre Vereinigung von 
unter einander Unbekannten entstanden, die sich 
alle dazu verpflichten, jeden Abend von 9 Uhr ab, 
5 Minuten lang ein und dasselbe zu denken. -Was, 
das ist in ihrem Organ „Unity“ zu lesen. Dort wird 
der sog. „Classengedanke“ ausgegeben, meist eine 
Bibelstelle, die vom 20. des einen bis zum 20. des 
nächsten Monats zu gelten hat Jedes Mitglied denkt 
sich um 9 Uhr Abends diesen Satz, vereinigt sich 
dadurch mit allen andern, und: „Alles was ihr immer 
im Gebete begehret, glaubt, dass ihr es empfanget, 
und es wird auch werden“. 

Certificate der Mitgliedschaft giebt der Verein 
gratis ab. Ihre Centrale, das „Hauptquartier“, be¬ 
schäftigt eine Anzahl Angestellter, die auch ein¬ 
schlägige Literatur gratis versenden, neben dem 
monatlich erscheinenden Organ ,,Unity“, das 1 Dollar 
pro Jahr kostet und in Kansas City im Staate Mis¬ 
souri erscheint. Es giebt an, dass es 7500 Abon¬ 
nenten hat, von denen manche körperlich und geistig 
auf diesem Abonnementswege geheilt worden sind. 
Unter den Directiven heisst es da: „Neu eintretende 
Mitglieder haben meist viele neugierige Fragen, für 
deren Beantwortung sie am besten das vom Verein 
herausgegebene »Wahrheitsbuch* für 75 Cents kaufen 
sollten“. „Die Silentium Stunde ist 9 p. m. Local- 
zcit, denn geographische Zeit-Differenzen sind von 
keinem Belang in Dingen geistiger Vereinigung.“ 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Mittheilungen. 


— Errichtung von Schutzmannsschulen. 

Die Nothwendigkeit, eine bessere psychologische 
Schulung der mit dem öffentlichen Sicherheitsdienst 
betrauten Personen in die Wege zu leiten, dürfte jeder 
für erwiesen an6ehen, der beispielsweise in forensischer 
Thätigkeit Gelegenheit hatte, von Fällen Kenntniss 


zu nehmen, in denen Widerstand, Beleidigung, Be¬ 
drohung etc. aus ungeeigneten Maassnahmen bei der 
Sistirung erreglicher Individuen hergeleitet werden 
konnten. Der Procentsatz der Psychopathen, Schwach¬ 
sinnigen, epileptisch Veranlagten ist unter den Rechts¬ 
brechern ein erheblicher, und eine Bekanntschaft mit 


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446 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 45. 


ihrer Eigenart seitens der gegen sie Einschreitenden 
wird eine bessere Garantie für sachgemässe Behand¬ 
lung gewähren. 

In diesem Sinne wird vom forensisch-psychiatrischen 
Standpunkte aus die Errichtung von Schulen, in denen 
Schutzleute und Criminalbeamte ausser in practischen 
Dingen auch nach psychologischer Seite Unterricht 
erhalten, mit lebhaftem Interesse verfolgt werden 
müssen. Wohl eine der ersten Gründungen dieser 
Art ist die jüngst in Darmstadt ins Leben gerufene 
„Schutzmannsschule für das Grossherzog¬ 
thum Hessen.“ Im November und December 
wurde bereits der erste Ausbildungscurs abgehalten. 
Man beabsichtigt, demnächst neben Elementarcursen 
auch Fortbildungscurse für ältere Schutzleute und 
Polizeikommissäre abzuhalten, wobei die Behandlung 
der psychologischen Seite in eingehender und wissen¬ 
schaftlicher Weise erfolgen soll. 

Welche Tragweite ein Unternehmen dieser Art 
gewinnen kann, liegt auf der Hand. Wir wollen nur 
darauf hinweisen, welch ein wichtiger Factor eine 
derartig ausgebildete Sicherheitsmannschaft im Kampfe 
gegen die zunehmende Gemeingefährlichkeit der 
Geisteskranken werden kann. Eine tactvolle Wahr¬ 
nehmung der Aufsicht über entlassene Geisteskranke, 
in den Familien verpflegte Epileptiker und Imbecille 
durch derart qualificirte Polizeiorgane dürfte wohl im 
Stande sein, manches Unglück zu verhüten. — Hier¬ 
von ganz abgesehen wird eine gründliche psychologische 
Durchbildung auch die beste Gewähr für eine Ueber- 
griffe vermeidende Berücksichtigung gerechter An¬ 
sprüche Inhaftirter, in Untersuchungshaft genommener 
Personen bieten. 

Noch vieles ist auf diesem Gebiete zu thun, und 
es ist Zeit, dass systematische Neuerungen allerorten 
in Angriff genommen werden. 

Dannemann- Giessen. 

— 16. Westfälischer Provinziallandtag. In 

der Sitzung vom 19. Januar wurde berathen über die 
Abänderung des Anstellungsverhältnisses 
der jüngeren Aerzte, des Pflegepersonals 
und d er Bureaugch i 1 f en beidenProvinzial- 
h eilanstalten und bei der Provinzialpf lege- 
anstalt zu Eickelborn. 

Berichterstatter Abgeord. Dr. Lö bk er -Bochum 
erläutert die Vorlage: 

Diese Vorlage verdankt ihre Entstehung der That- 
sache, dass es in den letzten Jahren mit grossen 
Schwierigkeiten verbunden ist, Assistenzarztstellen in 
der irrenärztlichen Laufbahn zu besetzen. So hat auch 
die am 1. April d. Js. bei einer Provinzialanstalt ge¬ 
schaffene 5. Arztstelle trotz aller Bemühungen nicht 
besetzt werden können, da es an geeigneten Bewerbern 
völlig fehlte. Die Gründe, weshalb sich so wenig 
junge Aerzte der Thätigkeit an den Irrenanstalten 
widmen wollen, sind verschiedene. Die Besoldung 
dieser Aerzte kann nicht unzulänglich genannt werden; 
die Oberärzte beziehen einen Gehalt von 4200 bis 
5400 Mark bei freier Familienwohnung, die Assistenz¬ 
ärzte 1,500 M., steigend in 10 Jahren bis zu 2500 M. 
bei freier Station 1. Klasse. Die hauptsächlichsten 
Gründe sind wohl folgende: 


1. die Eigenart der irrenärztlichen Thätigkeit, die 
einerseits mancherlei Schwierigkeiten und Unannehm¬ 
lichkeiten, oft genug auch Gefahren, andererseits aber 
nur wenig freudige Eindrücke mit sich bringt. Es 
wird immer nur eine beschränkte Zahl von Aerzten 
sein, die sich hier ihre Lebensaufgabe suchen; 

2. das Misstrauen und die Abneigung, welche 
heute in weiten Kreisen gegen Irrenanstalten und 
Irrenärzte bestehen, im grellen Widerspruche zu dem 
humanen Geist, der unsere moderne Irrenfürsorge 
beherrscht; 

3. die weltabgeschiedene Lage der meisten An¬ 
stalten; sie hält oft gerade die regsameren jungen 
Aerzte fern, die für ihre wissenschaftlichen und 
sonstigen geistigen Interessen in der grösseren Stadt 
viel bessere Anregungen finden, als in einer ab¬ 
gelegenen Anstalt; 

4. die stetig zunehmende Zahl von Assistenten - 
stellen an städtischen Krankenhäusern und Universitäts¬ 
anstalten, welche dem jungen Arzte viel günstigere 
Gelegenheit zur weiteren Ausbildung für die Praxis 
bieten, als die Irrenanstalt. Eine mehrjährige Thätig¬ 
keit an der Provinzialanstalt hat nur für solche junge 
Aerzte wirklichen Werth, die Psychiatrie als Lebens¬ 
beruf ergreifen wollen, sei es, dass sie über genügendes 
Kapital zum späteren Ankauf einer Privatanstalt ver¬ 
fügen, oder dass sie auf Avancement weiterdienen; 

5. gerade in Bezug auf das Avancement sind aber 
für die Aerzte, die in den Dienst von Provinzial- 
anstaltcn treten, die Aussichten völlig unsicher, für 
viele geradezu trostlos. Auch für den tüchtigen Arzt 
bleibt es völlig dem Zufall überlassen, ob er nach 2 
oder nach 5 oder nach 8 Jahren oder überhaupt 
jemals ‘im Anstaltsdienste eine Stelle erreicht, die ihm 
die Gründung und Versorgung einer Familie gestattet. 
Diese Unsicherheit der Zukunft hält vielfach gerade 
die besseren Elemente vom Anstaltsdienste fern, oder 
veranlasst sie nach mehr oder weniger kurzer Zeit 
ihn wieder zu verlassen. 

Hierin Wandel zu schaffen bezweckt die gegen¬ 
wärtige Vorlage: Den in den Dienst der Provinzial¬ 
heilanstalten und der Provinzialpflegeanstalt eintreten¬ 
den Assistenzärzten soll dadurch nicht nur die 
Möglichkeit, sondern die Gewähr geboten werden, 
dass sie nach einer bestimmten Zeit eine feste, 
pensionsberechtigte Stellung mit einem zur Gründung 
einer Familie ausreichenden Einkommen erlangen, 
wenn sie sich bis dahin als für den Anstaltsdienst 
durchaus geeignet erwiesen haben. (Welcher Art die 
Aenderungen in den Anstellungsverhältnissen sind, 
ergiebt der später folgende Antrag I der Vorlage.) 

Da die moderne Irrenpflege auch bedeutend 
höhere Anforderungen an das Pflegepersonal in den 
Heilanstalten stellt, erscheint es nothwendig, auch 
diese Gehälter und Anstellungsverhältnisse zu ver¬ 
bessern, um besonders bewährte und tüchtige Pflege¬ 
kräfte, männliche und weibliche mehr als bisher an 
den Provinzialdienst zu fesseln und durch die Aus¬ 
sicht auf derartige bessere Stellen auch geistig höher 
stehende Elemente zu diesem Krankendienst heran¬ 
zuziehen. Ebenso erscheint es dringend wünschens- 
werth, die Gehalts Verhältnisse der Bureaubeamten der 


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I 9°5-] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


447 


Heilanstalten wenigstens der i. Bureaugehilfen ein¬ 
heitlich zu regeln. In welcher Weise dieses geschehen 
soll, zeigen die Anträge II—V. 

Die Vorlage geht dahin, zu beschliessen: 

I. Die Anstellungsverhältnisse der Assistenzärzte 
bei den Provinzialheilanstalten und der Provinzial¬ 
pflegeanstalt werden nach folgenden Grundsätzen 
geregelt: 

1. Das Gehalt beträgt im i. Dienstjahre 1500 M., 
im 2. 1750 M., im 3. 2000 M. neben freier Ver¬ 
pflegung in der 1. Tischklasse. Während dieser 
3 Jahre steht beiden Theilen eine vierteljährige 
Kündigung zu. 

2. Solche Aerzte, welche sich 3 Jahre hindurch 
im Dienste der Provinz Westfalen als tüchtig bewährt 
haben, werden vom 4. Jahre an als „Abtheilungs¬ 
ärzte“ fest und mit Pensionsberechtigung angestellt. 
Das Anfangsgehalt beträgt dann 3000 M., steigt nach 
je 2 Jahren um 300 M. auf 3300, 3600, 3900 M., 
von da ab nach je 3 Jahren um 300 M. bis zum 
Höchstgehalt von 4800 M. Daneben wird Unver¬ 
heirateten freie Wohnung für ihre Person, Verhei¬ 
rateten freie Familienwohnung nebst Garten oder, 
falls eine Dienstwohnung riicht vorhanden ist, ein 
vom Provinzialausschusse für die einzelne Anstalt fest¬ 
zusetzender Wohnungsgeldzuschuss, welcher jedoch 
den für die Staatsbeamten der 5. Rangklasse in der 
nächsten Stadt geltenden Satz nicht übersteigen soll, 
gewährt. 

3. Der Provinzialausschuss wird ermächtigt, in 
besonderen Fällen ausnahmsweise auch eine an aus¬ 
wärtigen Heilanstalten verbrachte Dienstzeit ganz oder 
theilweise auf die Dienstzeit eines Assistenzarztes an¬ 
zurechnen. 

II. Die Anstellungs- und Besoldungsverhältnisse 
des Pflegepersonals an den Provinzialheilanstalten und 
der Provinzialpflegeanstalt werden wie folgt geregelt: 

1. Der Barlohn der Pfleger bleibt der gleiche wie 
er durch Beschluss des 39. westfälischen Provinzial¬ 
landtages festgesetzt wurde. Er beträgt: im 1. Jahre 
500 M., im 2. 550 M., im 3. 600 M., im 4. und 5. 
650 M., im 6. und 7. 700 M., vom 8. Jahre ab 
750 M. Der Barlohn der Pflegerinnen beträgt im 
1. Dienstjahre 300 M. und steigt mit jedem weiteren 
Dienstjahre um 20 M. bis zum Höchstbetrage von 
420 M. Das Aufsteigen in die höheren Lohnklassen 
erfolgt bei Pflegern und Pflegerinnen erst nach Ablauf 
desjenigen Vierteljahres, in welchem das höhere Dienst¬ 
alter erreicht ist! Für das Aufsteigen gilt ordentliche 
Führung und befriedigende Leistung als Voraussetzung. 

2. Der Landeshauptmann wird ermächtigt, für das 
bei den einzelnen Anstalten neu eintretende Personal 
eine Probe- und Ausbildungszeit von mehrmonatiger 
Dauer anzuordnen. Sofern diese Anordnung getröden 
wird, führt das davon betroffene Personal die Be¬ 
zeichnung „Hilfspfleger“ bezw. ,,Hilfspflegerin“. Die 
„Hilfspfleger“ erhalten einen Monatslohn von geringerer 
Höhe, als es dem Anfangslohn der Pfleger entspricht. 
Diese Höhe wird für jede Anstalt vom Landeshaupt¬ 
mann bestimmt. 

3. Solche Pfleger und Pflegerinnen, welche sich 
als besonders tüchtig in ihrem Berufe bewährt haben, 

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können vom Landeshauptmann nach Anhörung des 
Anstaltsdirectors zu „Abtheilungspflegern“ bezw. „Ab¬ 
theilungspflegerinnen“ befördert werden. „Abtheilungs¬ 
pfleger' 1 erhalten einen Lohn von 750 M., 3 mal nach 
je 2 Jahren um 50 M. steigend bis 900 M. Der 
Lohn der „Abtheilungspflegerinnen“ beträgt 450 M. 
und steigt nach je 2 Jahren um 50 M. bis zum 
Höchstbetrage von 600 M. Die Zahl der „Abtheilungs¬ 
pfleger“ und „-Pflegerinnen“ soll nicht mehr als den 
vierten Theil des gesammten Pflegepersonals betragen. 

4. Allen Pflegepersonen wird neben dem Baarlohn 
freie Verpflegung 3. Klasse gewährt, dem ganzen 
Personal, mit Ausnahme der Hilfspfleger und Hilfs¬ 
pflegerinnen, auch freie Dienstkleidung, soweit dieselbe 
uniformirt ist. 

5. Solche Pfleger, welche verheirathet sind und 
mit Genehmigung des Anstaltsdirectors einen eigenen 
Hausstand führen, erhalten freie Familienwohnung 
oder, soweit geeignete Wohnungen nicht zur Verfügung 
stehen, einen vom Provinzialausschusse für die einzelne 
Anstalt festsusetzenden Wohnungsgeldzuschuss, der 
jedoch den Betrag von 120 M. für das Jahr nicht 
übersteigen soll. 

6. „Hilfspfleger“ und „Hilfspflegerinnen“ werden 
auf 14 tägige, das übrige Personal wird auf V* jährige 
Kündigung angestellt. 

III. Das Baargehalt des 2. Oberpflegers beträgt 
wie bisher 1200—1700 M., steigt 6 mal nach je 2 
Jahren um 80 M. und einmal um 20 M. bis zum 
Höchstgehalt. 

IV. Die Oberpflegerinnen beziehen ein Gehalt 
von 600—1000 M., welches 6 mal nach je 2 Jahren 
um 60 M. und das letzte Mal um 40 M. bis zum 
Höchstgehalte steigt; ausserdem erhalten sie freie 
Station 2. Klasse. 

V. Die 1. Bureaugehilfen an den Provinzialheil¬ 
anstalten erhalten das gleiche Baargehalt wie die 
2. Oberpfleger: 1200—1700 M., 6 zweijährige Steige¬ 
rungen von 80 M., eine letzte von 200 M. Unver- 
heirathete erhalten daneben Wohnung für ihre Person, 
Verheiratheteerhalten Familienwohnung oder, sofern eine 
solche nicht zur Verfügung steht, einen vom Provinzial¬ 
ausschusse für die einzelne Anstalt festzusetzenden 
Wohnungsgeldzuschuss, der jedoch den Betrag von 
200 M. nicht übersteigen soll. Der Provinzialaus¬ 
schuss wird ermächtigt, dem 1. Bureaugehilfen nach 
dreijähriger einwandfreier Dienstzeit Ruhegehaltsberech¬ 
tigung zu verleihen. 

Referent befürwortet die Annahme der Anträge 
I—V namens der Kommission und aus eigenem. In 
der Kommission für Haushaltspläne w r ar noch ge¬ 
wünscht die Erhöhung des Gehaltes der Aerzte sofort, 
des übrigen von 190b an eintreten zu lassen. 

Die Vorlage wird debattelos angenommen. 

(Westf. Merkur.) 

Damit sind für die Provinz Westfalen, in der die 
Psychiatrie vordem als Stiefkind behandelt wurde, 
Verhältnisse geschaffen, wie sie keine Preussische 
Provinz bisher aufweisen kann. 

Den Umschwung in den Anschauungen, die Ver¬ 
wirklichung dieser, von der Mehrzahl der deutschen 

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448 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 45- 


Irrenärzte seit lange erhobenen Forderungen verdanken 
wir Männern, deren Namen seit langem in der west¬ 
fälischen Psychiatrie einen guten Klang haben; wir 
meinen, wenn unsere Informationen richtig sind, den 
Geh. Medicinalrath Dr. Gerl ach, Director der Prov. 
Heilanstalt zu Münster und den neugewählten Director 
der Prov. Heilanstalt zu Warstein, Dr. Simon, denen 
sich als Referent im Landtag der Führer der deutschen 
Aerzteschaft, Prof. Dr. Lobker -Bochum zugesellte. 

M. M. 

— Württemberg. Irrenanstalt für Straf¬ 
gefangene. Nach einer Bekanntmachung des 
Regierungsblatteswnrd auf Hohenaspergam i. Febr. 
die Irrenabtheilung für Strafgefangene in 
Betrieb genommen. In dieser Anstalt sollen männ¬ 
liche Strafgefangene aus den höheren Strafanstalten, 
die während des Strafvollzugs geisteskrank geworden 
sind oder deren Geisteszustand zweifelhaft erscheint, 
untergebracht werden. Die Anstalt bildet eine Ab¬ 
theilung des Zuchthauses in Ludwigsburg und steht 
unter Aufsicht und Verwaltung der Zuchthausdirection, 
während die Oberaufsicht dem Strafanstaltencollegium 
bezw. dem Justizministerium zusteht. Aus der Haus¬ 
ordnung ist eine Bestimmung hervorzuheben, nach 
der die Zuchthausdirection in geeigneten Fällen befugt 
ist, die Begnadigung eines Gefangenen in Anregung 
zu bringen. Insbesondere ist dies bei voraussichtlicher 
Unheilbarkeit des Kranken statthaft. Ucber die Auf¬ 
nahme eines Gefangenen in die Abtheilung entscheidet 
deren ärztlicher Leiter. 

Referate. 

— Archiv für Psychiatrie und Nerven¬ 
krankheiten. Bd. 38, Heft 3. 

Fü r s t n er (Strassburg): Neuropathologie und 
Psychiatrie. 

Im Gegensatz zu denjenigen Bestrebungen, welche 
neuerdings wiederum die Zugehörigkeit der Nerven¬ 
heilkunde zur innern Medicin verlangen (Fr. Schultze), 
betont Ref. die Nothwendigkeit der Verbindung der 
Neuropathologie mit der Psychiatrie. Sowohl an 
den Kliniken, als auch in den zu Unterrichtszwecken 
dienenden Provinzialanstalten ist der Anschluss von 
neuropathologischen Abtheilungen an die psychia¬ 
trischen x\btheilungen wünschenswert!!, ferner ist die 
Errichtung von Polikliniken für Nervenkranke an den 
grossen Anstalten zu empfehlen. Die Vereinigung 
beider Fächer ist zunächst erstrebenswert!! im Inter¬ 
esse des Unterrichts, sie wird ferner dem Lehrer 
eine Quelle der Anregung und Befriedigung werden, 
sie ist wichtig für die specielle Ausbildung künftiger 
Nervenärzte und schliesslich wird sie durch die zahl¬ 
reichen Berührungen zwischen beiderlei Kranken und 
deren Angehörigen viel mehr zur Beseitigung von 
allerhand Vorurtheilen bezüglich der Geisteskranken 
beitragen, als die Belehrungen der Irrenärzte es ver¬ 
mögen. 


Ein fruchtbringender Austausch wissenschaftlicher 
Ergebnisse hat zwar bisher schon zwischen beiden 
Fächern stattgefunden, jedoch werden die x\rbeits- 
ergebnisse sich noch vortheilhafter gestalten, wenn 
dem Psychiater neuropathologisches Material und 
dem Neuropathologen psychiatrisches Wissen in 
grösserem Umfange zur Verfügung steht. 

II o che (Freiburg): Eintheilung und Benennung 
der Psychosen mit Rücksicht auf die Anforderungen 
der ärztlichen Prüfung. 

Obgleich unter den Irrenärzten über die Eintheil¬ 
ung und Gruppirung der Psychosen durchaus keine 
Einigkeit herrscht, sind bei näherer Betrachtung die 
Schwierigkeiten nicht allzu grosse, welche sich in 
der Praxis bei den ärztlichen Prüfungen ergeben. 
Denn über eine grosse Anzahl von Krankheiten 
herrscht thatsächlich bereits Uebereinstimmung, wenn 
auch nicht bis in alle Einzelheiten; als die eigent¬ 
lichen Differenzpunkte haben nur zu gelten die Aus¬ 
dehnung des Paranoia-Begriffs und das Kapitel von 
der Dementia praecox. Bei einem gewissen Maass 
von Opferbereitschaft von Seiten der Examinatoren 
ist jedoch nicht allzu schwer durchzukommen. Zu¬ 
nächst dürfen, wie das bei anderen Disciplinen längst 
üblich ist, diejenigen Punkte nicht als Gegenstand 
des Sch ul vortrags dienen, welche noch in das Gebiet 
der wissenschaftlichen Forschung gehören, dann wird 
sich der Einzelne im Lehrvortrag der Nomenclatur 
der Majorität fügen müssen, und endlich dürfen von 
Examinanden nur die fin den practischen Arzt 
noth wendigen Kenntnisse verlangt werden. Eine 
präcise Namensdiagnose wird daher nur in anerkannt 
typischen Fällen zu fonlern sein. im Uebrigen wird 
es vollkommen genügen, wenn der Examinand im 
Stande ist den Symptomencomplex in seinen Haupt- 
componenten zu erkennen und daraus die prac- 
tischen Schlussfolgerungen abzuleiten. 

Arnemann- Grossschweidnitz. 

— Pick, A.: lieber eine eigentümliche 
Sch r eib 3 töru n g, Mikrographie, in Folge 
cerebraler Erkrankung. Prag. Med. Wochen¬ 
schrift 1903, Nr. 1. 

Zwei Fälle von Mikrographie bei Apoplektikern. 
P. fasst die Erscheinung auf als Folge von Spann¬ 
ungszuständen der Muskeln , wie sie bei cerebralen 
Herden auftreten. 

Zum Vergleich wird herangezogen der trippelnde 
Gang bei Paralysis agitans, auch im Stadium des 
fehlenden Tremors, die demarche a petits pas von 
Dcjcrine bei Pseudo-Bulbärparalyse, nach Rückgang 
der eigentlichen Lähmungen. Wickel- Dziekanka. 

Personalnachrichten. 

— Wien. Der Privatdocent an der Universität 
Wien Dr. Heinrich v. Halb an ist zum ausserordent¬ 
lichen Professor der Irren- und Nervenheilkunde an 
der Universität Lemberg ernannt worden. 


IVir den redactionelleti Thcit verantwortlich : Oberarzt Dr. J. Brrsler, Lublinitz , Schemen). 

Krsclieint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseraten an nah me 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 
Heynemann’sche Buchdruckerei (Gebr. Wo'ff! in Halle a. S. 


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Beilage zur Psychiatrisch • Neurologischen Wochenschrift - . 

4. Feoruar 1905 

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Hysterische Reactionszeiten; Assoziationsversuch bei der Patientin Lina H. 

Jede einzelne Kolonne stellt die Dauer einer einzelnen Reaction (vom Moment der Aussprache des Reizwortes 

bis zum Beginn der Antwort) dar in Sekunden. 

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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift. 

Redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Lublinitx (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.'Adresse : M arho Id Ver lag, Hallesaale. Fernsprecher 2834. 

Nr, 46. ii- Februar. 1905. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden filr die 3spaltige Petitseile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten. 


Analytische Untersuchungen der Symptome und Assoziationen 
eines Falles von Hysterie (Lina H.) 

Von Dr. Franz Riklin , bisher 1. Assistenzarzt am Burghölzli, z. Z. Sekundararzt an der Züricher Pflegeanstalt‘Rheinau. 

Mit 2 Tabellen. 


Oeit ca. 2 Jahren habe ich, hauptsächlich angeregt 
^ durch die Arbeiten von Breuer und Freud, 
einen Fall von Hysterie mit vorwiegend körperlichen 
Symptomen verfolgt, der bei der Analyse durch die 
Reichhaltigkeit an analytischem Material, den compli- 
cirten Aufbau der Symptome, die fast ausschliessliche 
Beschränkung der vielen Symptome aufs Körperliche 
bemerkenswerth erschien. Ausser den Arbeiten der 
genannten Autoren ist die Litteratur nicht gerade 
reich an solchen Analysen, (vd. Cit. vers.) Der Fall 
veranlasste mich auch darum zur Publikation, weil 
er einige Resultate unserer Assoziationsversuche mit 
den Ergebnissen der Analyse zu vergleichen und in 
theoretischen Einklang zu bringen gestattet, wobei es 
mir nöthig schien, den Begriff der „Conversion“, der 
in den klassischen Studien über Hysterie aufgestellt 
ist, einer Revision zu unterziehen. 

A. Das klinische Bild. 

Anamnese. Die Patientin, Lina H. wurde im 
Kanton Zürich 1876 geboren. Der Vater ist ein 
brutaler heruntergekommener Trinker. Sein Bruder 
steht ihm in dieser Beziehung sehr nahe. Die 
Mutter ist eine etwas sonderbare Person, die in der 
Erziehung der Kinder gleichgültig war und stumpf, hin¬ 
gegen war sie eine tüchtige Wäscherin. Pat. hatte 
4 Geschwister. Die älteste Schwester verunglückte als 
kleines Kind. Die 2. Schwester ist verheirathet. Sie 
wurde, als Pat. etwa 3—4 Jahre zählte, als 14—15- 
jähriges Mädchen vom eigenen Vater missbraucht 
und wurde gravid; das Kind starb jedoch kurz nach 
der Geburt. Ein Bruder ist Schreiner, und bringt 
sich ordentlich durch. Eine weitere Schwester der 
Pat. starb mit 18 Jahren an einer langwierigen 
Knochentuberkulose. Auch bei ihr machte der 
Vater einmal einen Nothzuchtsversuch. Das nächste 
Kind war Pat. selbst; mit ihr beging der Vater 
ebenfalls Incest, nachdem sie bereits ein uneheliches 


Kind hatte. Im August 1902 starb die jüngste 
Schwester der Pat. im Wochenbett. Das Familien¬ 
leben war sehr zerrüttet. 

Als Pat. 6 Jahr alt war, wurde der Vater wegen 
Blutschande zu 4 Jahren Zuchthaus verurtheilt. Die 
Mutter Hess sich von ihm scheiden und zog bald 
darauf mit den Kindern in die benachbarte Stadt 
W. Gegen das Ende der Schulzeit hin lag Pat. 
wegen eines (hysterischen) Herzleidens im Spital. 
Von der Schule musste sie öfters abgeholt werden, 
weil ihr unwohl wurde. Dabei war sie ganz steif, 
verdrehte die Augen, war bewusstlos und musste sich 
tragen lassen; sie athmete heftig, als müsste sie er¬ 
sticken; eigentliche Zuckungen wurden nicht wahr¬ 
genommen. 13 Jahre alt, wurde sie zur weiteren 
Erziehung und Pflege in die Anstalt Tw. gebracht. 
Dort traten bald darauf die ersten Menses ein. Mit 
17 Jahren kehrte Pat. wieder in ihre Familie zurück. 
Unterdessen hatte sich auch der Vater wieder ein¬ 
gestellt und zum 2. mal mit der Mutter verheirathet. 
Zuhause soll Pat. nicht gut behandelt worden sein. 
Sie lernte einen jungen Maler kennen und wurde 
schwanger. Die Geburt trat zu früh ein, nach einem 
Unfall, das Kind starb 3 Jahre alt. 2 Jahre nach 
dem ersten Kind bekam Pat. ein zweites; sie war 
damals 20 Jahre alt. Sie hatte den Vater desselben, 
einen Kaufmann, am eidgenössischen Schützenfest in 
W. kennen gelernt; nachher konnte sie ihn nicht 
mehr auffinden. Während ihrer Gravidität versuchte 
ihr eigener Vater, der betrunken war, sie eines 
Morgens zu vergewaltigen! Das zweite Kind, schwach¬ 
sinnig, ist versorgt. Die Pat. zog nun fort, nahm 
Stellen an, war 3 Monate Zimmermädchen in einem 
Züricher Hotel, dann in verschiedenen Wirthschaften; 
sie fand oder suchte dann keine Stellen mehr, war 
oft in Noth und prostituirte sich manchmal. Zuletzt 
verkehrte sie mit einem jüdischen Kaufmann, von 
diesem wurde sie wieder gravid. Sie nahm nachher 
nochmals eine Stelle an, kehrte aber gegen das 
Ende der Schwangerschaft nach Hause zurück. Dort 
erwarteten sie schwere Vorwürfe. Sie lief von Hause 


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450 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 46 . 


weg, nachdem schon die Fruchtblase gesprungen war, 
bekam Wehen und gebar ihr drittes Kind an einem 
kalten Herbstmorgen im Walde draussen (31. Okt. 
1897). Die Geburt erfolgte um 8 Uhr Morgens, um 
V2 3 Uhr Nachmittags wurde Pat. aufgefunden, neben 
ihr das noch lebende Kind, welches aber nach einer 
halben Stunde starb. Man brachte die Mutter ins 
Kantonsspital in W. Nach 14 Tagen wurde sie vom 
Schwurgericht wegen fahrlässiger Tötung ihres 3. 
Kindes zu 1 Jahr Arbeitshaus verurtheilt. In der 
Strafanstalt war sie fleissig, soll oft kränklich gewesen 
sein und gegen das Ende der Strafzeit Husten und 
Auswurf gehabt haben. Nach der Entlassung wurde 
sie vom Verein für Aufsicht über entlassene weibliche 
Gefangene in einem Mädchenasil untergebracht. Sie 
war dort anfangs sehr fleissig, wurde aber bald 
eigensinnig, verfiel in Trübsinn, hatte Selbstmord¬ 
gedanken und kam deshalb nach einigen Wochen 
ins Burghölzli, im März 1899. 

2. Status. Lina H. ist eine ziemlich kleine, 
zart gebaute Person, immer sehr reinlich gekleidet, 
oft etwas auffallend herausgeputzt, doch den Ver¬ 
hältnissen entsprechend mit sehr einfachen Mitteln. 
Das Gesicht ist blass, mager, das Haar roth, die 
Lider fallen ziemlich tief auf die blassen, hohlen 
Augen; Kleidung, Auftreten und Aussehen stempeln 
Pat. zu einer interessanten Figur. Sie spricht ein 
etwas affektirtes ,,gewähltes“ Schweizerdeutsch und 
vermeidet sorgfältig die plumpen oder rohen Dialekt¬ 
ausdrücke. Pat. ist nicht sehr intelligent, aber eigent¬ 
liche Schw'achsinnssymptome lassen sich nicht nach- 
weisen. 

Ueber körperliche Krankheiten haben wir objek¬ 
tiv folgende Anhaltspunkte: Nach der Aufnahme 
wurde konstatirt: Pat. hustet zeitweise; wenig Aus¬ 
wurf. Mehrere Untersuchungen der Lungen gaben 
keinen sichern Anhaltspunkt für das Bestehen tuber¬ 
kulöser Veränderungen. Auch für das häufige 
Seitenstechen nichts Objektives. Im März 1900: 
Kleine, schmerzhafte Drüse vor dem linken Ohr. 
Eine gynäkologische Untersuchung im August 1900, 
wegen Ovarialschmerzen, ergab leichte Retroflexion 
und Retroposition des Uterus und ein kleines Ovulum 
Nabothi. Etwas Ausfluss. Eine Untersuchung im 
Frühjahr 1903 ergab, obwohl starke Schmerzen in 
der rechten Ovarialgegend angegeben wurden, nichts 
Besonderes; Ref. meinte eine leichte Resistenz im 
rechten seitlichen Scheidengewölbe zu fühlen. Im 
Auswurf, der zeitweise vorhanden war, konnten 
Tuberkelbazillen nie nachgewiesen werden. Eine 
Magensaftuntersuchung während einer appetitlosen 
Zeit im Frühjahr 1903 ergab Hypazidität. 

Das ist so ziemlich alles, was objektiv Patho¬ 
logisches herausgefunden werden konnte; es entspricht 
keineswegs der kolossalen Menge und Häufigkeit der 
subjektiven Beschwerden, ja ich wage den Verdacht 
zu hegen, dass bei den Pulmonalbefunden die Menge 
der subjektiven Symptome eine leise Suggestion 
auf die Untersuchung ausgeübt habe. Der Umstand, 
dass nach der Analyse alle Pulmonalsymptome, 
Schmerzen, Husten und Auswurf ganz verschwunden 
sind, sjnicht für diese Annahme. 


Im Uebrigen ergiebt eine neue körperliche Unter¬ 
suchung nichts von Bedeutung. 

3. Kran kheits verl auf. Um ein Bild vom 
Krankheitsverlauf zu geben, führe ich hier einige 
Notizen aus der Krankengeschichte an. Im allge¬ 
meinen bietet Pat einen auffallenden Wechsel 
zwischen fröhlicher, ausgelassener Stimmung und 
Depression; Pat. liegt dann häufig zu Bett, weint 
viel, ist mürrisch, giebt wenig Auskunft oder keine. 
Die Dauer dieser Stimmungen variirt sehr. Häufige 
Klagen über Stechen auf der rechten Seite, Schlaf¬ 
losigkeit, Appetitraangel. Zeitweise isst Pat fast gar 
nichts, man muss ihr mit künstlicher Ernährung 
drohen. 30. 3. 99. Husten bei Nacht, wenig Aus¬ 
wurf. — 9. 7. 99. Bald zu Bett, bald wieder auf, 
starke pleuritische Schmerzen. Wickel, Liniment, 
volatile, Morphium. Pat. nährt sich fast nur von 
Milch, sie nützt die wenige Nahrung ausgezeichnet aus. 
magert kaum ab, bleibt beim gleichen Gewicht. 

6. 10. 99• Deutliche Periodizität, ein paar 
Tage munter und fidel; Pat. singt, lacht, spricht viel 
mit dem Arzt, dann wieder eine Reihe von Tagen 
zu Bett, stumm, deprimirt, klagt über Seitenstechen 
und Kopfweh. 

11. 10. 99. Klagt, ihre Augen seien zeitweise 
so schlecht, besonders wenn sie nicht schlafen 
könne. 

29.11.99. Verlangt oft Sch lafmittel. Heroin 
gegen den Husten. J od an st rieh gegen Stechen 
in der rechten Seite. 

20. 12. 99. Wieder deprimirt, zu Bett. Halb¬ 
seitige Gesichtsschmerzen; dazu die alten Klagen. 
Isst nichts. 

5. 3. 1900. Schwer zum regelmässigen Essen zu 
bringen, man droht ihr mit künstlicher Ernährung. 
Man nimmt auf ihre Launen und ihren Geschmack 
beim Essen Rücksicht. Gestern beim Fastnachtsball 
tanzte sie grösstentheils allein, wie traumverloren. 

27. 3. 00. Eine Drüse vor dem rechten Ohr 
wird mit Ichthyolumschlägen behandelt. Bald will 
Pat. keine Umschläge mehr. Wieder Schwierigkeiten 
mit dem Essen. 

20. 6. 00. Arbeitet oft auf dem Felde und auf der 
Lingerie, sieht besser aus. Oft trübe Stimmung, bei 
Anstaltsanlässen aber meist heiter, wie rasend tanzend. 

27. 7. 00. Weitere medicamentöse Behandlung 
der Drüse vor dem linken Ohr. Ichthyolumschläge; 
J odoformsalbe. 

25. 8. 00. In der letzten Woche viel zu Bett; 
Schmerzen in Brust und Kreuz. Isst äusserst wenig. 
Wegen der Kreuzschmerzen gynäkologische Unter¬ 
suchung. „Fast“ nichts positives zu finden. 

16. 10. 00. Bekam Morphium wegen Husten. 

2 8. 10. 00. Wird gegen die Schlaflosigkeit hyp- 
notisirt, mit Erfolg. 

27. 7. 1901. Meinte heute nach zwei richtigen 
Elendstagen, sie sei hier nicht am richtigen Platze; 
will fort. 

13. 12. 01. War lange Zeit ganz unnahbar, 
wollte vom Arzt nichts wissen; dann ziemlich plötz¬ 
licher Umschlag. Sie bittet den Arzt unter Thränen, 
sie zu entlassen, schliesslich lässt sie sich doch über- 


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Original fram 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


45' 


1905] 


zeugen, dass dies nach den bisherigen Erfahrungen 
unsinnig sei, wird freundlicher. Dieses Hinausdrängen 
stellt sich während der schlechten Zeiten oft ein, 
nachher ist Pat wieder zufrieden. 

28. 5. 1902. Immer wechselnde Stimmung; 
meist am Morgen tief betrübt weltschmerzlich zu Bett, 
massenhafte Klagen über unzählige Leiden, Magen¬ 
schmerzen vorherrschend. Abends meist besser. 
Pat macht jedes Fest in ausgelassenster Laune mit. 

18. 6. 02. Neulich viel Erbrechen. Magenspülung 
mit Erfolg. 

23. 8. 02. Hustet in letzter Zeit viel. Kein ob- 
jectiver Lungenbefund. 

1. 10. 02. Klagt seit kurzem über Schmerzen in 
der Gegend des Muskelbauches des Supi¬ 
nator longus am rechten Unterarm. Bei 
der ersten Untersuchung war diese Gegend resistenter, 
die folgenden Male keine deutlichen Veränderungen 
nachweisbar. Zeitweise Klagen über Schmerzen 
in der rechten Ovarialgegend; besonders z. 
Zt. der Menses; objectiv nichts sicheres nachweisbar. 

Hypnosen. Zeitweise wird Pat. wegen Schlaf¬ 
störung hypnotisirt. Sie eignet sich sehr gut zu hyp¬ 
notischen Experimenten. Schöne posthypnotische 
Wirkungen. Lässt sich leicht in verschiedene Bewusst- 
zustände bringen, z. B. wird ihr in Hypnose ein Stück 
Seife gegeben und ihr suggerirt sie beisse in einen 
guten Apfel. Nach der Hypnose Amnesie. In 
einer späteren Hypnose Erinnerung an diese Scene: 
Man habe ihr einen guten süss schmeckenden Apfel 
gegeben. Sie wird nun in sogen, tiefere Hypnose 
versetzt, in welcher sie angeben kann, dass man ihr 
ein Stück Seife gegeben habe, welches schlecht, laugen¬ 
haft schmeckte. Die Sinneseindrücke, welche die Seife 
machte, waren also unbewusst alle registrirt worden, 
und die unpassenden hatten sich von den für die 
Suggestion passenden abgespalten. 

9. 4. 1903. An der Fastnacht sehr lebhaft, als 
Zigeunerin verkleidet, nachher wochenlang zu Bett. 
Fühlt sich nachher 8 Tage lang so schwach, und hat 
Schmerzen in den Beinen, dass sie nur schwer gehen 
kann und sich an den Wänden hält. Macht fast un¬ 
erschwingliche Ansprüche an die medicamentöse Be¬ 
handlung ihrer Leiden, bald verlangt sie Schlafpulver, 
bald Pulver gegen Kopfschmerz, Ichthyolumschläge 
auf die rechte Ovarialgegend, Wickel wegen Seiten¬ 
stechen, Bleiwasserumschläge gegen die Schmerzen 
im rechten Unterarm, besondere Speisezettel in allen 
Nüancen. Isst namentlich kein Fleisch; zeitweise 
macht man Magenspülungen; ein Magentumor ist nicht 
nachweisbar. Pat. kann zeitweise nicht gehen, klam¬ 
mert sich an Bett und Stühle, verlangt Kamillenthee 
wegen Krämpfen im Unterleib beim Unwohlsein, Ein¬ 
reibungen mit Campherspiritus gegen die Rücken¬ 
schmerzen. Gegen den sporadisch auftretenden Husten 
giebt man ihr Codein, wegen Hypacidität Salz¬ 
säure. Sie ist so ein Kreuz für die Pflegerinnen. 
Schliesslich musste consequent mit den Medicamenten 
abgebrochen werden, was die Pat. zeitweise sehr ver¬ 
stimmte, da sie meinte man kümmere sich gamicht 
mehr um sie, auch das fortwährende Erbrechen bringt 
sie sehr herunter, sie klagt viel darüber und hat Angst 

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vor Magenkrebs. Als sie im Frühjahr sich oft über 
Krämpfe in der Herzgegend beklagte, den Ref. bat, 
ihr Herz zu untersuchen und nichts gefunden werden 
konnte, wurde die Analyse nach den Freud’schen 
Angaben, immerhin meist mit Hülfe eigentlicher Hyp¬ 
nosen begonnen, deren Resultate die Diagnose: Hys¬ 
terie erhärteten. 

Bei der Analyse hielt ich mich möglichst genau 
an die von Breuer und Freud angegebenen Me¬ 
thoden. 

B. Psycho-Analyse der Symptome. 

Die folgenden Notizen stammen meist aus den 
Protocollen, welche über die einzelnen hypnotischen 
Sitzungen geführt wurden. 

Das Erbrechen. Zeitweise, eine bestimmte 
Periodicität wurde nicht konstatiert, stellte sich bei 
unserer Pat. Erbrechen ein, das geradezu beängstigend 
werden konnte. Pat. konnte nichts mehr bei sich be¬ 
halten, alle Diätcuren nützten nichts, namentlich ver¬ 
trug sie kein Fleisch. Sie lag oft wochenweise im 
Bett, war nach jedem Erbrechen sehr verstimmt, oft 
unzugänglich, man machte Magenspülungen ohne Er¬ 
folg; da Hypacidität bestand, wurde Salzsäure ver¬ 
ordnet, aber die ganze medicamentirte Therapie war 
oft machtlos. Es fiel uns auf, dass Pat. bei der that- 
sächlich ganz ungenügenden Ernährung im Gewichte 
nicht stark zurückging, sie schonte sich allerdings sehr; 
dazu liegt die Annahme eines Sparstoffwechsels äus- 
serst nahe. 

Zusammenhang mit Masturbation. Hinter 
diesem Erbrechen nun liegt eine ganze Reihe 
psychischer Traumen, welche in der Hypnose gefun¬ 
den wurden. Pat. gestand nach langem Widerstreben, 
dass sie seit 1V2 Jahren oft masturbire, jedesmal 
mache sie sich nachher Vorwürfe, sei mürrisch, wider¬ 
wärtig für die andern Patienten, sie schäme sich sehr, 
glaube man sehe ihr ihre Untugend an, sie empfinde Ekel 
vor sich selber, sie müsse regelmässig erbrechen. 
Es stellte sich später heraus, dass Pat. diese Symp¬ 
tome nicht nach jeder Masturbation zeigte, sehr oft 
stellten sich andere körperliche Symptome ein als 
Erbrechen, und zweitens kam es sehr darauf an, wen 
sich Pat. beim Masturbiren vorstellte resp. wen sie 
halluzinirte. Pat., die das Geständniss der Mastur¬ 
bation mit vielen Selbstanklagen vorgebracht hat, er¬ 
zählt weiter, sie habe dann jeweilen ein Gefühl -vom 
Unterleib herauf bis in die Schlundgegend und Neigung 
zum Erbrechen, ohne eigentliche Schmerzen in der 
Magengegend. 

Sexuelle Träume. Der Pat. fällt weiter ein, 
dass ihr seit geraumer Zeit, besonders seit circa 1V2 
Jahren oft träume, sie werde von ihrem Vater sexuell 
missbraucht; am folgenden Tage sei sie jeweilen eben¬ 
so ungeniessbar, und jedesmal müsse sie sich erbrechen, 
diese Träume aber traten erst auf, nachdem sie vor 
der genannten Zeit einmal vom Vater in der Anstalt 
besucht worden war. Bei ihrer Aufnahme, 1899 
wurde ihr erklärt, dass sie von ihm nicht besucht 
werden dürfe, sie machte darauf eine grosse Scene, 
und fühlte nachher lebhafte Schmerzen, Krämpfe in 
den Brüsten und der ganzen Brustgegend. Unter¬ 
dessen hatte ein Arztwechsel stattgefunden, man hatte 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 40. 


die früheren Geschehnisse vergessen, und als vor 1 
Jahren der Vater einmal zum Besuch erschien, wurde 
er zugelassen. Sie traf ihn im Besuchszimmer in 
ziemlich unordentlicher Kleidung, w r as bei einem ver¬ 
kommenen Alcoholiker nicht unerklärlich ist. Beson¬ 
ders peinlich empfand sie einen Riss in dessen Bein¬ 
kleidern, sodass an jener Stelle der Schenkel entblösst 
war. Sie empfand Scham und Ekel, konnte den Ge¬ 
danken nicht los werden, dass jeder, der sie beide 
jetzt sehe, etwas ungebührliches von ihr denken müsse; 
wie von einem Uhrwerk getrieben durchzogen alle 
früheren Erlebnisse das Bewusstsein, speciell auch 
eine Scene, wo sie von ihrem Vater wirklich missbraucht 
worden war. Als sie vom Besuchzimmer nach ihrer 
Abteilung ging, musste sie sich heftig erbrechen. 

Incest Das nächste war nun, dass Pat. über 
jenes sexuelle Attentat ihres Vaters Auskunft gab. 
Es war einige Monate nach ihrer ersten ausserehe- 
lichen Niederkunft. . Sie konnte oft wenig schlafen, 
weil sie ihr Kleines zu besorgen hatte. In jener 
Nacht brannte ein Haus in der Nachbarschaft; am 
Morgen legte sie sich, da sie sehr müde war, auf den 
Rath der Mutter nochmals zu Bette. Unterdessen 
war der Vater betrunken heimgekommen, nachdem 
er der Feuersbrunst zugeschaut und gezecht hatte. 
Er fand die Tochter im Bett. Als sie erwachte, 
fühlte sie dessen Körper. Sie empfand grossen Ekel 
vor dem brutalen Trunkenbold, von dem sie wusste, 
dass er auch Blutschande an ihrer Schwester verübt 
hatte. Es war ihr recht übel zu Mute, sie musste 
sich erbrechen darob. 

Zusammenhang mit Schmerzen in der 
Bru9t. Oberbewusste Erklärungsversuche. 
Während Pat. beim Geständnisse, dass sie masturbire, 
sich selbst schwer anklagte, heftig schluchzte, an einer 
Besserung ihrer ganzen Lage verzweifelte und scheinbar 
dem Ekel über ihr Laster intensiven Ausdruck gab, wurde 
sie bei der Erzählung vom Incest von krampfartigen 
Schmerzen in den Brüsten und der Brustgegend er¬ 
griffen. 

Wir werden der Erscheinung, dass ein Symptom 
abreagirt, d. h. die Erzählung davon von starken Affect- 
äusserungen begleitet und in den Einzelheiten sehr 
deutlich vorgestellt wird, während gleichzeitig ein an¬ 
deres körperliches Symptom — hier Schmerzen in 
den Brüsten — auftritt, noch mehrfach begegnen. 

Gewöhnlich ist das Abreagiren nicht vollständig, 
es liegen noch andere Einzelheiten im Unterbewussten 
verborgen, und die neuen Schmerzen verrathen Zu¬ 
sammenhänge mit der Geschichte, welche ihnen zu¬ 
grunde liegt. 

Pat. giebt an, dass Reizzustände der Genitalsphäre 
namentlich zu Beginn der Menses auftreten, so dass 
sie dann viel häufiger masturbire. Dann sei sie tage¬ 
lang unausstehlich, verbissen, weine viel und dränge 
auf Entlassung. Sie wisse, dass es gerade dann am 
Verderblichsten wäre und sie unbedingt ihr altes 
Leben wieder aufnehmen würde. — Wenn man 
sie aber zu diesen Zeiten im wachen Zu¬ 
stand reden hört, so führt sie ihr Weinen auf 
ihr Heimweh zurück und das eintönige Anstalts¬ 
leben ; sie könne nur draussen ganz gesund werden 

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und sich besser pflegen; sie habe in ihrem Leben 
jetzt genug erfahren, so dass sie wisse, wie sie sich 
verhalten müsse. Von neuen sexuellen Verirrungen 
sei keine Rede, dazu sei sie zu alt und durch die Er¬ 
fahrung gewitzigt. 

Das Oberbewusstsein erklärt also das Symptom 
ganz anders, und trotzdem anscheinend plausibel. 
Hätten wir nicht die Hypnose, so wären wir über 
die wahre Ursache des Symptoms ohne richtige Aus¬ 
kunft. Es ist gerade in diesem Fall sehr auffallend, 
wie um das „Conversionssvmptom“ herum ein mög¬ 
lichst natürlich scheinendes Milieu geschaffen, mög¬ 
lichst annehmbare Erklärungen gebaut werden. 

Exhibition. In einer folgenden Hypnose stos- 
sen wir auf eine Schicht neuen Materials. Pat. hatte 
sich das letzte Mal auf frühere sexuelle Erlebnisse 
nicht besinnen können. Jetzt aber fällt ihr ein, dass 
in der Anstalt P., wo sie nach VerbÜssung der Strafe 
untergebracht war, an der Fastnacht ein anderes 
Mädchen kam und sie aufforderte, in den Hof jenes 
Hauses hinunterzusehen. Dort stand ein Mensch, der 
exhibirte. Sofort empfand sie Brechreiz. 

Pathogene Erlebnisse vor der Pubertät. 
Endlich kamen ihr Erlebnisse in den Sinn, die 
vor die Zeit ihrer Menstruation fallen. Pat. 
war mit ihrer Grossmutter in jenem Dorf und Hause 
in J. in den Ferien, das die Familie vor ihrem Weg¬ 
zug nach der Stadt W. bewohnt hatte. Sie schlief 
dort im gleichen Zimmer mit einem verwandten Mäd¬ 
chen. Abends nun erschien öfters ein verheirathetei 
Vetter, der sowohl die Pat., als das andere Mädchen, 
mehrmals missbrauchte. Jedesmal musste Pat. er¬ 
brechen, es war ihr sehr übel zumuthe. Als sie sich 
an einem solchen Abend zur Grossmutter flüchten 
wollte, wurde sie vom Vater dieses Mannes an den 
Haaren in ihre Kammer zmückgebracht Die Gross¬ 
mutter fand es dann für gut, folgenden Tages mit 
ihr nach Hause zurückzukehren. 

Pat. war damals etwa 12 Jahre alt, während die 
Menses mit 13 Jahren eintraten. Nun aber war sie 
vom gleichen Vetter, noch früher, mit ca. 10 Jahren, 
einmal missbraucht worden, als sie noch in J. 
wohnten. Pat. versichert, dass sie vorher nichts von 
den sexuellen Verhältnissen gewusst habe. Als sie 
allein zu Hause war, lockte sie der Mann freundlich 
in die Scheune. Das Mädchen wollte nicht recht 
folgen und empfand ein gewisses Misstrauen, da gab 
er ihm 50 cts. In der Scheune drohte er ihm und 
sagte, wenn es ihm nicht gehorche und ruhig sei, so 
werde er der Mutter schon sagen, wie unfolgsam und 
widerspenstig es sei. Hierauf vollführte er sein Vor¬ 
haben. Pat. berichtet, sie habe starke Schmerzen 
und Ekel empfunden, es sei ihr elend zumuthe ge¬ 
wesen den ganzen Tag, und sie habe sich heftig er¬ 
brochen. 

Das erste Attentat ist unter den in Betracht kom¬ 
menden das älteste psych. Trauma, dem wir in 
der Analyse des Falles auf die Spur kommen, und 
es wäre damit ein sexuelles Trauma vor der Puber¬ 
tät gefunden, wie es in der Hysterietheorie von Breuer 
und Freud eine Rolle spielt. 

(Fortsetzung folgt.) 

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190,5-] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


455 


Einiges Neueste aus der fremdländischen Litteratur zur Unterbringungsfrage 
der irren Verbrecher und der geistig und social Minderwerthigen. 

Von Medizinalrath Dr. P. Nocke in Hubertusburg. 


Tn einer Artikeireihe (No. 48, 1904, No. 9 und 

10, 1904 und No. 26, 1904) h*tbe ich ziemlich 
erschöpfend die Frage nach der Unterbringung der 
irren Verbrecher und der geistig Minderwerthigen be¬ 
handelt Es geschah dies vornehmlich vom Stand¬ 
punkte des Psychiaters und Psychologen aus, während 
ich absichtlich die juristische und verwaltliche Seite 
der Frage nicht oder nur gelegentlich berührte, da 
ich ja hierin Laie bin und mir in diesen Dingen 
folglich kein selbständiges Urtheil anmaasse. Hier 
eben müssen Mediciner und Juristen Zusammenarbeiten 
und sich zu ergänzen suchen. 

Ich hatte zunächst gezeigt, dass in Deutschland 
die Meinung Competenter immer mehr sich für die 
Errichtung von Adnexen an Strafanstalten*) für irre 
Verbrecher ausspricht und von Centralanstalten nichts 
wissen will. Auch die Adnexe an Irrenanstalten be¬ 
gegnen nur wenig Gegenliebe, da sie sich bei uns 
nicht besonders bewährten, wie von neuem der Bericht 
aus Düren darlegt. Ausdrücklich hatte ich aber hervor¬ 
gehoben, dass Centralanstalten gut oder wenigstens 
leidlich fungiren können, wie es namentlich Broad- 
moor in England und Matteawan-Hospital**) in Amerika 
beweisen. Dass dort aber die Verhältnisse ganz anders 
liegen, als bei uns, hob ich speciell hervor. 

Für die Adnexe an Strafanstalten hatte ich aber 
einen grösseren Raum, etwa 150 Plätze gewünscht, 
um so eine kleine Irrenanstalt darzustellen mit allen 
nöthigen Einrichtungen. Wichtig scheint mir weiter 
die Forderung, dass dieser Adnex nicht bloss 
Durchgangsstation sein, sondern ausser zur Beob¬ 
achtung und Kur noch die Ueberwachung der ge¬ 
fährlichen oder depravirenden Elemente unter den 
chronischen Fällen auf unbestimmte Zeit be¬ 
zwecken sollte. Endlich wäre es sehr erwünscht — 
und das scheint mir das Wichtigste! — dass er nicht 
bloss die irren Verbrecher aus dem Strafhause, sondern 

*) Von Kunowsky behauptet in No. 43, 1905, dass ich 
die Ausführungen Heilbronners über den fraglichen Gegen¬ 
stand in meinem kurzen Artikel (No. 41, 1905) falsch auf¬ 
gefasst habe. Ich bitte den Leser, die Schlusssätze der 
Ileilbronnerschen Arbeit, auf welche meine Kritik sich allein 
auf baut, aufmerksam zu lesen und mit meinen Darlegungen 
zu vergleichen. Ich bin überzeugt, er wird mir nur Recht geben. 

**) Der ausserordentlich tüchtige und verdienstvolle Leiter 
vom Matteawan-Hospital, Dr. A-llison, der auch gute 
Arbeiten lieferte, ist leider kürzlich im besten Maunesalter ge¬ 
storben. Ehre seinem Andenken! 

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auch diejenigen verbrecherischen Irren und ander¬ 
seits diejenigen unbestraften Geisteskranken der 
gewöhnlichen Irrenanstalt mit aufzunehmen hätte, 
welche wegen ihrer Gefährlichkeit oder Depravirung 
in die Irrenanstalt nicht passen. Diese 3 Categorien 
— denen unter Umständen noch gewisse geistig 
Minderwertige beigemischt werden könnten — sind 
nach allgemeinen psychiatrischen, besonders aber s o- 
cialen Gesichtspunkten, zu ordnen, nicht also 
nach der ursprünglichen Kategorie, der 
sie zugehören. Am besten würde dann die Anstalt 
den Namen: Anstalt für gefährliche Geisteskranke 
führen. Endlich ging ich noch einen Schritt weiter 
und wollte diese Anstalt für spätere Zeiten an eine 
Irren-Heil- und Pflegeanstalt, aber unter selbstän¬ 
diger Leitung angeschlossen haben, welche dann jedoch 
nicht einem Adnexe an Irrenanstalten gleich zu 
setzen wäre. 

Ein besonderer Artikel behandelte auch ziemlich 
eingehend die Art der unterzubringenden geistig 
Minderwerthigen und verlangte neben besonderen 
Schwachsinnigen-, Epileptiker- und Trinkeranstalten 
für die restirenden Elemente, die schlecht ins Irren¬ 
haus, aber auch nicht ins Gefängnis passen, eigene 
Anstalten, der Billigkeit halber im Blocksystem er¬ 
baut, event. auch als Landkolonieen gedacht. Ich 
habe wohl als Erster ziemlich genaue Angaben über 
die Bauart und die Einrichtungen dieser Zwischen¬ 
anstalten gemacht. 

Alle diese 3 Artikel dienten zur weiteren Aus¬ 
führung dessen, was ich in meiner Monographie *) 
schon gesagt hatte. Sie bilden damit also ein orga¬ 
nisches Ganze, dem z. Z. nur wenig noch beizufügen 
wäre. Um jetzt wirklich Neues sagen zu können, 
haben wir erst die Erfahrungen der neu errichteten 
Strafanstalten in Preussen und anderswo abzuwarten, 
die hoffentlich nur das schon Gesagte bestätigen werden. 

Wir müssen schon froh sein, dass diese Adnexe 
zunächst nur als Durchgangsstation dienen. Z. Z. 
lagen jedenfalls verschiedene Gründe vor, die diesen 
Character nicht abstreifen Hessen. Dass aber recht¬ 
lich, v e r w a 111 i c h u n d p s y c h i a t r i s c h a u c h 
ein grösserer Adnex zu mehr oder weniger 
dauernder Verwahrung gefährlicher etc. 
Elemente, dienen kann und es d a m i t t rot z A n- 

*) Niickc: Die Unterbringung geisteskranker Verbrecher. 
Marhold, Halle a. S., 1902. 

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454 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 46 


Häufung solcher Elemente recht leidlich 
geht, zeigt der Adnex an der Strafanstalt Waldheim. 
Damit ist allen gegentheiligen theoretischen Meinungen 
die Spitze abgebrochen 1 Die Kranken sind dort sicher 
leichter zu behandeln, als früher im Gelängnisse 
selbst. Die harmlos gewordenen irren Verbrecher, 
verbrecherischen Irren etc. können ruhig in die ge¬ 
wöhnliche Anstalt zurückversetzt werden, wo sie gewiss 
auch nicht in der Verdünnung, wenn sie sich sonst 
anständig betragen, irgendwie zu „Kranken zweiter 
Klasse“ werden. Das oberste Princip sei aber 
immer in jeder Irrenanstalt: „Verdünnung“ 
der unangenehmen Fälle, mögen sie nun vorher 
bestraft worden sein oder nicht. Erst bei einer 
gewissen Anhäufung solcher Kranken oder bei 
ganz specieilen Individuen wird die „Ver¬ 
dünnung“ nichts mehr nützen und den Be¬ 
trieb der modernen Anstalt schwer schä¬ 
digen. Solche Patienten müssen dann eben 
entfernt und in einen Adnex einer Strafanstalt 
gebracht werden, wo ein solcher existirt, sonst in einer 
festeren Abtheilung der Irrenanstalt verbleiben. 

Heute liegen mir 3 interessante, fremdländische 
literarische Erscheinungen vor, die auch unsere Fragen 
beleuchten und deshalb hier kurz berührt werden 
sollen. Es wird dabei die eine oder andere kritische 
Bemerkung fallen und unsere früheren Ausführungen 
in diesem oder jenem Falle ergänzen. 

Ein junger Jurist, Dr Wüst, schreibt in seiner 
Doctordissertation über „Die sichernden Maassnahinen 
im Entwurf zu einem schweizerischen Strafgesetz¬ 
buche.“*) Es ist eine der werthvollsten Dissertationen, 
die ich je las; und dass ich mich auch in der juristi¬ 
schen Bewerthung derselben nicht täuschte, beweist 
die sehr Iobenswerthe Besprechung derselbens seitens 
Prof. Stoos.**) Es ist wunderbar, wie dieser junge 
Mann, der die Praxis noch nicht kennt, durch scharfe 
Kritik, eine Art von Intuition und reiche Litteratur- 
kenntniss seinen Gegenstand völlig beherrscht, stets 
von grossen Standpunkten aus urtheilt und insofern 
auch ganz modern ist, als er die Psychiater überall 
zu ihrem Recht kommen lässt. Verf. geht auf den 
grossartigen schweizerischen Entwurf des Strafgesetz¬ 
buches, der fast ganz auf Prof. Stoos zurückzuführen 
ist, aus, und bespricht mit Vorliebe, aber nicht allein, 
schweizerische Verhältnisse. Dort wurden systema¬ 
tisch zum ersten Male die „sichernden Maassnahmen“ 
in den Strafgesetz-Entwurf mit aufgenommen, d. h. 
die Verweisung von gewissen Personen: 1. in Heil- 

*) Zürich,;Alb. Müller, 1905, 246 S. 

**) Im Archiv für Kriminalanthropologie, 17. Bd. (1904) 
p. 380 usw. 

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und Pflegeanstalten, 2. in eine Verwahrungs-, 3. Ar- 
beits- und 4. Trinkeranstalt, und Verf. tritt mit Stoos 
für deren juristische Natur ein. Er statuirt den 
Unterschied zwischen Strafe und sichernder Maass- 
nahme, hält aber wohl mit Recht daran fest, dass 
letztere eventuell gemischter Natur sein könne, 
d. h. also Strafe + sichernde Maassnahme. Speciell 
Verwahrungs- und Arbeitsanstalt wirken w'ie Strafe 
auf den Betreffenden und werden auch als solche 
von ihm empfunden. Jede s. M. (= sichernde 
Maassnahme) soll „im eigentlichen Sinne die Gesell¬ 
schaft schützen vor gefährlichen Individuen“, und 
zw’ar durch Freiheitsentziehung. Was Verf. über diese 
einzelnen Anstalten und ihre Insassen sagt, ist meist 
ausgezeichnet. Er ist durchaus für die „verminderte 
Zurechnungsfähigkeit“, weist die juristische Berechtig¬ 
ung hierzu schön auf und zeigt, dass sie durchaus 
nicht „mildernden Umständen“ gleich ist Der 
Richter soll nach Sachlage der Dinge gleich 
die sichernden Maassnahmen bestimmen 
und sich nicht mit einer Ueberweisung an die Be¬ 
hörde begnügen, wenn er keine Strafe decretirt. 
Immer hat im allgemeinen die Verwahrung nicht auf 
bestimmte Zeit zu geschehen. Ein sehr richtiger 
Gedanke des Verf.’s scheint mir ferner der zu sein, 
dass, „w'enn der Staat einen Menschen in Arbeits-, 
Trinkerheil- und Irrenanstalten einsperrt, er dann 
auch die Pflicht hat, seine auf diese Art gesicherte 
Ruhe zu bezahlen. Er hat deshalb nicht nur für 
den Einzuweisenden selbst zu sorgen, sondern auch 
für dessen Familie.“ Der Jurist spricht also hier für 
die Zahlungspflicht des Staates, nicht der 
Gemeinde, und dehnt sogar dessen Vor¬ 
sorgepflicht auf die Familie aus. Das letzte 
scheint mir allerdings kaum durchführbar. Mit Recht 
betont Verf. ferner die Nothwendigkeit eines 
Irreng esetzes, die leider noch manche Psychiater 
heute nicht anerkennen wollen. Er sagt sehr richtig: 
„Nicht nur aus dem Gesichtspunkt des Schutzes für 
die Irren selbst, sondern auch . . . zum Schutze 
Dritter gegen Geisteskranke ist ein Irrengesetz dringen¬ 
des Bedürfniss.“ Ich möchte noch hinzufügen: auch 
zum Schutz der Irrenärzte. Der vermindert Zu¬ 
rechnungsfähige ist juristisch zurechnungs¬ 
fähig, also auch juristisch strafbar, doch 
giebt es Fälle, w'ie der Verf. richtig sagt, wo die Be¬ 
strafung besser aufzuheben ist. „Der Täter ist dann 
wohl strafbar, aber er ist nicht straffähig.“*) Der 
vermindert Zurechnungsfähige ist nicht (mit gewissen 
Ausnahmen) milder, wohl aber anders zu be- 

*) „Stoos hat — sagt Verf. — zuerst diesen feinen, scharf¬ 
sinnigen Unterschied gemacht“. 

Original from 

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1905 .] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 455 


strafen, bez. zu behandeln. Was Verf. ferner über 
Wesen und Zweck der Strafe, über die Verbrecher, 
Vagabunden, Trinker etc. sagt, ist sehr beherzigens- 
werth. Er findet, dass heute „ein innerer Gegensatz 
zwischen Vergeltungsstrafe und Sicherungsstrafe nicht 
bestehe.“ Es darf nicht heissen: Vergeltungsidee 
oder Zweckgedanke, sondern Vergeltungsidee und 
Zweckgedanke. Vermengung des Strafrechts mit 
Sozialpolitik ist durchaus verwerflich. In die Straf¬ 
anstalt gehören die vermindert Zurechnungsfähigen 
nicht, in die Irrenanstalt will sie niemand haben. 
Hier bemerke ich, dass es doch auch unter ihnen 
solche Elemente giebt, die in der Irrenanstalt nicht 
stören und nicht complottiren etc., obwohl die Mehr¬ 
zahl es allerdings thun dürfte. Verf hält eigene An¬ 
stalten für solche gefährliche, schwer disciplinirbare 
Menschen, als ein „Mittelding“ zwischen Gefängniss 
und Irrenanstalt, für unmöglich. Wie ich in einem 
meiner Aufsätze darthat, halte ich solches trotzdem 
mit anderen wohl für möglich, wie auch dort die 
Verquickung eines etwas strammen Regimes mit irren¬ 
ärztlicher Behandlung. Das stramme Regime hätte 
um so mehr Daseinsberechtigung, wenn wir mit Verf. 
annehraen, dass die Vermindertzurechnungsfähigen 
„eine eigene Verbrecherklasse bilden“, wobei aber 
die Vergeltungsstrafe diesen Verbrechern gegenüber 
zurückzutreten hat. Mit Recht verwirft Wüst die 
Theorie v. Liszt’s, dass der unverbesserliche Ge¬ 
wohnheitsverbrecher unzurechnungsfähig sei, und er 
fügt noch bei: „Strafrechtlich unempfindlich für die 
Strafe ist noch nicht gleichbedeutend mit unverant¬ 
wortlich.“ Bez. der irren Verbrecher präconisirt er 
die Trennung dieser von den verbrecherischen Irren. 
Das zeigt, dass Verf. eben doch diese Verhältnisse 
nicht genau kennt, da eine scharfe Trennung beider 
Categorien nur selten möglich ist, ja die meisten eben 
nur verbrecherische Irre und nicht irre Verbrecher 
sein dürften. Die Unterbringung der letzten in 
Centralanstalten verwirft Verf. (für die Schweiz zu¬ 
nächst) und spricht sich für die Errichtung 
von Adnexen an Strafanstalten aus, nicht 
aber an Irrenanstalten. Verf. rechnet bei Annahme 
von 4% geisteskranker Verbrecher ca. ibo solcher 
in der gesammten Schweiz. Wenn dann 1 U ruhig 
in die Irrenanstalten kommen könnte und ein anderer 
Theil in Anstalten für Vermindertzurechnungsfähige 
(die er hier gegen früher empfiehlt, allerdings nicht 
mehr als „Mittelding“ gedacht), so bleiben ca. 80 
bis 100 irre Verbrecher übrig, für die eine Central¬ 
anstalt zu bauen sich nicht lohne. Dies dürften die 
für uns wichtigsten Stellen aus dem schönen Buche 
Wüst’s sein. 


Noch eingehender behandelt unser specielles Thema 
aber eine 2. mir vorliegende Arbeit, und zwar eine 
holländische von Schermers*). Eine Commission 
von Psychiatern w'ar von der holländischen Regierung 
eingesetzt worden, betreffs der Frage nach der Ver¬ 
sorgung gefährlicher und schädlicher Geisteskranker. 

Diese Commission hat sehr gründlich gearbeitet 
und die einzelnen Punkte eingehend discutirt. Es 
zeigte sich zunächst, dass z. Z. in den niederländischen 
Irrenanstalten vcrmuthlich ca. 4—500 Personen ver¬ 
pflegt w'aren, die früher gerichtlich verurtheilt worden 
sind. Davon waren 50— 60 wegen der Schwierig¬ 
keiten der Verpflegung als „gefährlich“ zu bezeichnen, 
und von diesen befanden sich die Hälfte in der 
Reichsirrenanstalt zu Medeinblik. In den Ge¬ 
fängnissen wurden sicher wenigstens 5°'o 
von („totaler“) Simulation von Psychosen 
festgestellt. Das ist, meine ich, eine sehr hohe 
Ziffer, die bei uns sicher nicht erreicht, dagegen in 
Neapel noch bei weitem überschritten wird. Mit 
Recht macht die Commission darauf aufmerksam, dass 
die Simulation nicht stets leicht zu erkennen ist und 
oft einer kurzem oder längern Beobachtung in einer 
Irrenanstalt oder einer ähnlichen Einrichtung bedarf, 
keineswegs aber sollte * dies im Gefängnisse selbst 
stattfinden. 3 Wochen Beobachtung sollen genügen, 
was mir unter Umständen doch als eine zu kurze 
Zeit erscheint. Die Commission ist durchaus und mit 
Recht davon überzeugt, dass in Gefängnissen und 
verwandten Anstalten die psychiatrische Aufsicht zu 
verbessern und zu verschärfen sei und zwar durch 
die Inspectoren der Irrenanstalten, welche am liebsten 
auch noch die Untersuchungsgefangenen besuchen 
sollten. Hier hat jedenfalls, meine ich, das 
belgische Beispiel eingewirkt. Besser statt dessen 
ist freilich, glaube ich, hier eine möglichst gründ¬ 
liche psychiatrische Vorbildung des Gefängniss- 
arztes, was die Commission nicht fordert. Weiter 
wurde festgestellt, dass in den Gefängnissen, Arbeits¬ 
anstalten etc. unter 7850 Personen (davon 7478 M.)38o 
(davon 341 M.) an Epilepsie, Imbecillität, Idiotismus 
leiden oder mit andern psychischen Defekten behaftet 
sich vorfanden. Von eigentlichen Psychosen ist hier nichts 
erwähnt, und sicher befanden sich auch solche dort. 
Später ward in der That eingestanden, dass in 
den Gefängnissen oft genug Personen mit zweifel¬ 
haftem Geisteszustände vorhanden sind. 

*) Schermers: Het rapport van de *taaUcommissi in 
zake de verzorging van gevaarlijke en schadelijke krankzinnigen, 
overgedreckt uit het Nederl. Tijdschrift voor Geneeskunde 1904, 
Deel II, No. 20. 


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Original fram 

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456 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 4 . 


Mit Recht wird gefordert, dass jeder Untersuchungs¬ 
gefangene, dessen Geisteszustand zweifelhaft sei, psy¬ 
chiatrisch untersucht werde, und zwar in einer zu 
errichtenden Central - Beubachtungs - Station mit 30 
Betten zu Utrecht, eventuelL auch an jeder andern psy¬ 
chiatrischen Klinik, und auf die Zeit von höchstens 
6 Wochen. Diese Station könnte zugleich für den 
forensisch-psychiatrischen Unterricht benutzt werden. 
Dorthin sollte auch jeder Gefangene kommen, dessen 
Geisteszustand dem Gefängnissarzt zweifelhaft ist. Die 
Minderheit der Commission will sie aber in den Adnexen 
zur Strafanstalt untergebracht wissen. In Parenthese füge 
ich hier bei, was ich schon früher betonte, dass principiell 
von den Untersuchungsgefangenen alle die, welche 
ein schweres oder ein sexuelles Verbrechen begingen, 
ferner alle Greise und auch die Weiber (wegen mög¬ 
licher Einwirkung der Menstruation und des Klimak¬ 
teriums) psychiatrisch untersucht werden sollten. Es 
wird von der Commission der Wunsch ausgesprochen, 
dass an allen Gefängnissen und verwandten Anstalten 
einfache Krankenabtheilungen geschaffen würden für 
diejenigen Patienten, die w-egen ihres Zustandes nicht 
anderswohin transportirt werden können oder welche 
an sehr vorübergehenden Psychosen leiden. Ausser¬ 
dem sollten an einigen grossen Straf¬ 
anstalten besondere Einrichtungen oder 
Adnexe zur Beobachtung von Gefangenen oder zur 
Kur irrer Verbrechen vorgesehen werden. Das Ge¬ 
bäude müsste auf dem Terrain des Gefängnisses gebaut 
und mit ihm administrativ verbunden sein, doch so, 
dass der Gefängnissarzt einen überwiegenden Einfluss 
auf die Geschäfte hat. Sobald das Uebergehen des 
Irreseins in Chronizität mit einiger Wahrscheinlich¬ 
keit anzunehmen ist, hat die Verw-ahrung und Be¬ 
handlung dort ihr Ende erreicht. Der Adnex soll 
für ungefähr 30 Personen eingerichtet sein, nach 
modernen psychiatrischen Principien und mit den 
nöthigen Sachverhaltsmaassregeln. 2—3 solcher Ad¬ 
nexe würden für Holland vorläufig genügen. In 
schwierigeren Fällen soll der Arzt, der kein Psychi¬ 
ater ist, den Rath anderer einholen. Die Ucber- 
führung des Verurtheilten aus dem Adnex 
in eine Irrenanstalt soll nur nach richter¬ 
lichem Spruch, auf ein ärztliches Gutachten hin, 
gcsc liehen. Diese Art von Adnexen entspricht 
also mehr den prcussischen Einrichtungen und 
scheint mir noch nicht zweckentsprechend zu sein. 
Bei so kleinen Adnexen lassen sich vor allem die 
w üns< henswerthen Abtheilungen der Kranken nicht 
durchführen. Zu tadeln ist ferner, dass der Arzt 
kein Psychiater zu sein braucht. Sehr richtig wird 
von der Commission festgestellt, dass die meisten 

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irren Verbrecher keine grösseren Anforde- j 
rungen an die Verpflegung stellen als die | 
anderen Irrsinnigen. Die wenigen anderen, ge¬ 
fährlichen, sollen in besondere Abtheilungen der Irren¬ 
anstalten kommen, also in Adnexe zu solchen. Diese 
wünschte ich aber, wie ich früher ausführte, gleich¬ 
falls in den Adnex der Strafanstalten verwiesen zu 
sehen, ebenso w'ie auch die gleichen Elemente unter 
den verbrecherischen Irren und den unbestraften, aber 
gefährlichen Irren. Die Entlassung irrer Ver- | 
brecher aus den gewöhnlichen Irrenan¬ 
stalten soll, nach Meinung der Commission, nur 
auf richterlichen Beschluss geschehen, 
basirend auf ein ärztliches Gutachten, was jedenfalls 
nur zu loben ist. Für Centralanstalt eil kann 
die Commission nicht stimmen, da die Erfahr¬ 
ungen in England, Nordamerika und Italien nicht 
besonders aufmunternd seien. Ich habe aber schon 
früher gesagt, dass dies eigentlich nur von Italien gilt. 
während in England und Nordamerika die Sache I 
jetzt ganz leidlich zu gehen scheint und sicher noch 
besser gehen würde, wenn die Anstalten dort nicht 
so überfüllt wären und w ? enn sie mehr und besserem 
Pflegepersonal hätten. Mit Recht wird das Be¬ 
stehen einer besonderen Gefängniss- 
psychose geleugnet. V ielmehr kämen alle )l 
Irrsinnsformen vor, wenngleich, wie ich erwähnen 
will, manche häufiger, andere (z. B. die Paralyse! 
seltener und ausserdem mit gewissen Färbungen 
versehen, die durch die individuelle Anlage und 
das lokale Milieu bedingt erscheinen. Ferner wird 
richtig festgestellt, dass für die Gefährlich¬ 
keit eines Kranken weniger das Ver¬ 
brechen als solches, als vielmehr die 
Art der Psychose entscheidend ist. Für 
die Epileptiker, Imbezillen und Alkoholisten seien 
am liebsten eigene Einrichtungen zu schaffen, ebenso 
für die übrigen geistig minderwerthigen, so¬ 
fern sie gefährlich sind, da sie weder in eine Irren¬ 
anstalt noch in ein Gcfängniss passen. Eine 
Anstalt mit dem Charakter eines Arbeits¬ 
hauses wäre am besten für sie. Das Ver¬ 
mischen irrer Verbrecher mit unbe¬ 
straften Kranken hat keine besonderen 
Nachtheile (natürlich nach Abzug der gefährlichen 
und depravirciulen Elemente), meint die Commission. 

Sie glaubt, dass es „f ür d ie A n s t a 1 1 sä rzt e gerade 
eine besondere Ehre sein müsse, auch 
diese Elemente an freie Behandlung zu 
gewöhnen und womöglich an das no-restraint 
Bei den Meisten geschieht dies ohne viel 
Schwierigkeit . . .“ Man sieht hier also einen 

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1905] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 457 


Satz ausgesprochen, den ich wiederholt betonte! Die 
Commission will aber nicht etwa, dass alle gefähr¬ 
lichen und schädlichen Irren (d. h. unter den Be¬ 
straften) in einen Adnex kommen sollen. Sie hält 
eine grosse Zahl solcher für bedenklich und spricht 
sich mehr für Verdünnung dieser Elemente aus. 
Letzterer ist ja stets zunächst anzustreben, wie ich 
oben ausführte, aber wo es nicht mehr geht, muss 
man die Kranken eben entfernen, und auch in 
grösserer Anzahl in einem Adnex, sogar in einer 
Centralanstalt können sie sicher * ohne besondere 
Schwierigkeiten verpflegt werden. 

Das wären die Hauptpunkte dieser Arbeit, die 
mit unseren Ansichten meist harmoniren. Man 
sieht, dass Holland jetzt am meisten f ü r die Adnexe 
an Strafanstalten ist und speciell die Harmlosigkeit 
der meisten irren Verbrecher betont. Früher waren 
dort gegenteilige Meinungen vorherrschend. So ändern 
sich eben die Ansichten! Auch in Oesterreich-Ungarn 
ist die meiste Stimmung für solche Adnexe und 
Dänemark hat sich, wenn ich nicht irre, gleichfalls 
dafür ausgesprochen. Aus der Schweiz haben wir 
eben die Stimme eines Juristen vernommen, die um 
so wichtiger erscheint, als sie juristisch die Einrichtung 
eines Adnexes an die Strafanstalt mit allein drum 
und dran für durchaus möglich hält, was ja übrigens 
die Praxis bei uns und anderswo schon lange bewiesen 
hat, ebenso wie die Ueberwindung technischer Schwierig¬ 
keiten. Njir in romanischen Ländern will man z. Zt. 
noch wenig von solchen Adnexen wissen und schwärmt, 
trotz trauriger Erfahrungen, immer noch sehr für die 
Centralanstalten. Aber auch hier lassen sich schon 
jetzt verschiedene Stimmen dagegen vernehmen und 
es steht zu erwarten, dass allmählich ein Umschwung 
zu Gunsten der Strafanstaltsadnexe eintreten 
wird. So scheint denn auch ausserhalb 
Deutschlands immer mehr Stimmung für 
diese Art der Unterbringung sich zu ent¬ 
wickeln! 

An dritter Stelle will ich hier endlich noch kurz 
einige Bemerkungen hinstellen, die Tanzi, Prof, der 
Psychiatrie in Florenz, in seinem grossartigen neuen 
Lehrbuche der Psychiatrie *), dem, meiner Ansicht 
nach, geistreichsten nach dem Meynert’schen, macht. 
Er schimpft mit Recht auf die italienischen Central¬ 
anstalten für irre Verbrecher, den manicome giudiziari, 
die er für nicht besser als Gefängnisse hält. Leider 

*) Tanzi: Malattie mentali. Milano 1905. Ich werde das 
Werk demnächst ziemlich eingehend in der allgemeinen Zeit¬ 
schrift fUr Psychiatrie etc. besprechen. 

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spricht er sich nicht darüber aus, was an deren Stelle 
zu setzen wäre. Ausführlich behandelt er die Zustände, 
die man gemeiniglich unter dem Namen: mdral 
insanity zusammenfasst Er schlägt dafür aber den 
Namen: immoralitu costitäzionale vor. Hier will er 
nun verschiedene Klassen unterschieden wissen, die 
mit meinen „Activen und Passiven“ *) so ziemlich zu¬ 
sammenfallen. Ausserdem spricht er noch von einer 
Klasse, von „Impulsiven“, die weniger aus Neigung 
Verbrechen begehen als vielmehr aus einer Art aktiver 
„Exuberanz“. Hier würde eine richtige Wahl des 
Berufs sehr wichtig sein. Für die „Activen“ — 
Verf. nennt sie die „Impulsiven“ — geben Korrektions¬ 
anstalten etc. schlechte Resultate. Da man nun einmal 
die Centralanstalten habe, solle man sie hinein sperren, 
aber nur die „criminali lucidi e anomali“, und zwar 
vertheilt und zur Arbeit angehalten; bedingten Urlaub 
könne man hier versuchen. Von besonderen An¬ 
stalten für sie sprach er oben nicht. In Irrenanstalten 
passen sie aber nie, eher schon in Gefängnisse. 
„Wenn man, sagt Tanzi, jene geistesklaren Amphibien 
(anfibi lucidi), die moralisch defect sind, nicht in die 
Centralanstalten einsperren will . . ., ebenso gut wäre 
es, sie im Gefängnisse zu belassen. Die angeborene 
Iramoralität ist eine Anomalie, nicht eine Krankheit“. 
Gegen den letzten Ausspruch Hesse sich wohl streiten, 
da Entwickelungsstörungen, wie sie hier oft vorliegen, 
wohl sicher mehr von Krankheitsprocessen abhängen, 
also die Reste von solchen sind und keine blosse Ano¬ 
malie oder Variation darstellen. Für manche Fälle, 
meint Verf., ist die bedingte Verurtheilung sehr gut. 
Er wendet sich gegen die Anwendung der Kastration 
als ein mögliches Heilmittel dieser Zustände — worin 
ich ihm nicht ganz Recht gebe**) — und ist mehr für 
Lagaro’s theilweise Schilddrüsenexstirpation, die mir 
sehr problematisch erscheint.***) Interessant endlich 
ist folgende Bemerkung: „. . . Niemand kann den 
evidenten Nutzen des Strafcodex auf die Menge der 
mittelmässig Equilibrirten bestreiten und auf den 
Haufen der unempfindlichen, aber vernünftigen Immo¬ 
ralen . . . Die Verbrecher aus immoralitä constituzio- 
nale .... sind nicht weniger zu verurtheilen und gefähr- 


*) Näcke: Ueber die sogen, moral insanity. Wiesbaden, 
Bergmann, 1902. 

**) Näcke: Die Kastration bei gewissen Klassen von 
Degenerirten als ein wirksamer socialer Schutz. Archiv für 
Kriminalanthrop. etc. Bd. 3. 1899. 

***) Näcke: Chirurgische Therapie bei gewissen moralisch 
Schwachsinnigen. Kleinere Mittheilung im Archiv für Kriminal¬ 
anthrop. etc. 16. Bd. 1904. 

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458 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 


[Nr. 46. 


lieh, als die gewöhnlichen Verbrecher, und es ist eine sie, meine ich, keineswegs in das Gefängniss, sondern 
Ungerechtigkeit, sie in Gefängnissen oder sonstwo mit in eine besondere Anstalt. Das Gefängniss wäre für 
jenen zu vermischen.“ Hält man diese Personen aber sie eine Ungerechtigkeit und nur die äusserste Noth 
für krank und nicht bloss für anomal, dann gehören sollte sie dahin bringen. 


M i t t h e i 

— Sachsen. Unterbringung von Geisteskranken 
in Privatanstalten. Das sächsische Ministerium hat 
in einer Verordnung bestimmt, dass die Vorschriften, 
welche hinsichtlich der Unterbringung von Geistes¬ 
kranken für die nach § 30 der Gewerbeordnung con- 
cessionirten Piivatirrenanstalten gelten, auch auf alle 
anderen nicht unter der Verwaltung des Staates 
stehenden und zur Aufnahme Geisteskranker oder 
Geistesschwacher bestimmten Anstalten sinngemässe 
Anwendung zu finden haben. Die privaten Anstalten 
dürfen somit nicht mehr ohne weiteres Geisteskranke 
zur Behandlung aufnehmen, sondern die Behandlung 
darf nur erfolgen auf einen von den Angehörigen, 
dem gesetzlichen Vertreter oder der Polizeibehörde 
gestellten Antrag, sowie auf Grund eines mit aus¬ 
führlicher Krankengeschichte versehenen Zeugnisses 
eines approbirten Arztes. Durch das letztere ist zu 
bescheinigen, dass der Aufzunehmende an Geistes¬ 
krankheit oder Geistesschwäche leidet und der Pflege 
in einer Anstalt bedarf. 

Richtigstellung. 

Mit Bezug auf die Angabe über die neugeregelten 
Aerztegehälter bei den westfälischen Irrenanstalten 
in voriger Nr., S. 447, rechte Spalte unten, sei da¬ 
raufhingewiesen, dass der pommerschen Provin¬ 
zial-Verwaltung das Verdienst gebührt, in dieser 
Richtung bahnbrechend vorangegangen zu sein. 
Näheres siehe in Nr. 52 Jahrgang V, 1904 dieser 
Zeitschrift, Seite 558 und 559, wonach sich die Ober¬ 
ärzte an den pommerschen Anstalten noch ein ganz 
Theil besser stehen als an den westfälischen. 


Referate. 

— O. Klinke, E. T. A. Hofl'manns Leben und 
Werke vom Standpunkte eines Irrenarztes. Braun¬ 
schweig, Sattler, 239 S. 

Amadeus Hnffmanns Erzählungen haben wir alle 
in lesehungrigen Jugendjahren in uns aufgenommen 
und der phantastisch-dämonische Zug dieser Werke 
war es, der uns sie aufsuchen Hess. In späteren 
Lebensjahren jedoch sind nur wenige von uns wieder 
zu Huffmann zurückgekehrt. K.’s Buch ist nun von 
dem Wunsche getragen, dass wieder mehr reifere 
Leser und besonders Psychiater den Werken Hoflf- 
manns näher treten möchten. Er sucht nachzuweisen, 
dass die bisherigen Biographen Hofl'manns, da sie 

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1 u n g e n. 

nicht Aerzte waren, der Eigenart dieses genialen, 
erblich belasteten und nervösen Mannes nicht gerecht 
werden konnten, der hoch begabt als Musiker, Maler 
und Jurist, als Schriftsteller selbst in Krankheitszeiten 
bis zu seinem Tode von bewunderungswürdiger Frucht¬ 
barkeit blieb. Hoffmann schildert mit Vorliebe Traum¬ 
erlebnisse, pathologische Charactere, Grenzzustände, 
Geisteskranke. Er entnahm die Anregung hierzu der 
Selbstbeobachtung (er litt an der Zwangsvorstellung, 
einen Doppelgänger zu haben und an der Furcht, 
geisteskrank zu werden\ dem Umgang mit hervor¬ 
ragenden Irrenärzten seiner Zeit, dem Studium 
psychiatrischer Werke (Reil, Schubert u. a.) und der 
direkten Beobachtung von Geisteskranken. Klinke 
legt besonderes Gewicht darauf, festzustellen, dass 
Hoffmann zahlreiche psychopathologische Vorgänge, 
cjie in der Gegenwart erst wieder genauer beschrieben 
und untersucht worden sind (Wachträume, Gedanken¬ 
lautwerden, Wurzeln der Wahnbildung, combinirte 
Hallucinationen, scenenhafte Hallucinationen p. p.) 
bekannt waren und dass er sie besonders schön ge¬ 
schildert hat. 

Zweifellos ist das auf eingehende Vorarbeiten 
gegründete Buch Klinkes geeignet, eine richtigere 
Bewerthung der Persönlichkeit Hoffmanns und seiner 
Werke herbeizuführen. Mercklin. 

— Ralf Wich mann, Die Ueberbürdung der 
Lehrerinnen. Halle, Marhold. 1904. 24 S. 

W. hat Fragebogen bezüglich Ueberbürdung und 
anderer Umstände an 10000 deutsche Lehrerinnen 
versandt, 780 Antworten erhalten, \on welchen 416 
das Bestehen einer Ueberbürdung bejahen (= 53%). 
Bei Prüfung aller Antworten kommt er zu dem Er¬ 
gebnis: Eine allgemeine Schulüberbürdung der Lehre¬ 
rinnen besteht in Deutschland nicht, als Ausnahme¬ 
erscheinung ist sie ziemlich häufig Die Gründe 
liegen nur zum Theil in der Schule selbst (mangel¬ 
hafte Anfangsbesoldung, welche zu Nebenerwerb zwingt, 
Ueberfüllung der Klassen, hohe wöchentliche Stunden¬ 
zahl, zu viel Correkturen und Vertretungen), zum 
anderen Theil in den Familienverhältnissen der 
Lehrerin (unangenehme häusliche Pflichten und 
Lasten), aber auch in der Lehrerin selbst (ehrgeiziges 
Streben, Vergnügungssucht, schon ursprünglich vor¬ 
handene nervöse Anlage). Mercklin. 

— A 1 lg em eine Zei tsch rift f. Psychiatrie 
und psych.-gerich 1 1 . Medicin. Bd. 61, H. 5. 

Henneberg (Berlin): Ueber das Ganser'sche 
Symptom. 


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IQ05.J PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 459 


Am häufigsten tritt das Ganse rische Symptom 
nach den Beobachtungen des Verf., von denen er 
eine grössere Anzahl wiedergiebt, bei protrahirten 
Formen des hysterischen Irreseins auf. Der Nach¬ 
weis desselben beweist aber keineswegs das Bestehen 
eines hysterischen Dämmerzustandes, es kann also 
nicht etwa für die Diagnose ausschlaggebend sein. 
Das Symptom kommt etwa 5 mal so oft bei crimi¬ 
nellen, als bei nicht criminellen Fällen vor; bei den 
ersteren empfiehlt es sich sehr, bei der Prüfung auf 
das Ganserische Symptom Vorsicht walten zu lassen, 
denn es hat sich ergeben, dass dasselbe bei Unter¬ 
suchungsgefangenen um so häufiger und ausge¬ 
sprochener auftritt, je intensiver man nach dem¬ 
selben forscht. 

Marc (Würzburg): Ueber familiäres Auftreten 
der progressiven Paralyse. 

Verf. berichtet über einen Fall, in welchem in 4 
Generationen 9 Mitglieder einer Familie von Para¬ 
lyse befallen wurden und zwar vorwiegend die männ¬ 
lichen Mitglieder. Aeussere ätiologische Momente 
spielten keine Rolle, speciell fehlte jeder Nachweis 
von Lues. Durch Absterben der geisteskranken In¬ 
dividuen regenerirt sich die Familie wieder. Sodann 
referirt Verf. noch über einige Familien, wo auch 
gehäuftes Auftreten von Paralyse zu beobachten war, 
wo aber eine kleinere Anzahl von Mitgliedern be¬ 
troffen wurde. 

Nach den gemachten Beobachtungen kommt Verf. 
zu der Ansicht, dass die Paralyse unter Umständen 
die Rolle einer endogenen Geistesstörung spielen 
kann und dass exogene Ursachen durchaus nicht 
immer erforderlich sind. Vielleicht lassen sich auch 
die nachweislich endogenen Formen der Paralyse im 
Krankheits verlauf und pathologisch-anatomisch als 
eigene Krankheitsgruppe abgrenzen. 

Schmidt (Alt-Scherbitz): Ueber einen Fall von 
Hirnabscess bei katatonischem Krankheitsverlauf. 

Bei einem hereditär belasteten, von Jugend auf 
etwas sonderbaren, beschränkten Mädchen traten in 
der Pubertätszeit geistige Störungen ein, welche zu¬ 
nächst die Diagnose Hysterie vermuthen Hessen, 
dann aber während des ganzen Verlaufs das Bild 
ausgesprochener Katatonie darboten. Die Section 
ergab das Vorliegen eines Hirnabscesses im Mark 
des linken Parietallappens. Die Diagnose auf ein 
organisches Leiden war nicht gestellt worden, da 
einerseits Heerdsymptome nicht beobachtet wurden 
und andererseits diejenigen psychischen Erscheinungen 
fehlten, welche sich bei Hirnabscessen und ähn¬ 
lichen schweren organischen Hirnleiden zu zeigen 
pflegen. 

Sklarek und van Vleutcn (Dalldorf): Gleich¬ 
zeitiges Auftreten einer geistigen Erkrankung bei drei 
Geschwistern. 

Drei Geschwister, welche in Abhängigkeit von 
einander geistig erkrankten, wurden wegen äusserst 
gemeingefährlicher Handlungen in die Irrenanstalt 
gebracht. Der eine war und blieb deutlich geistes¬ 


krank, er hatte Halluzinationen und Wahnideen im 
Sinne der Verfolgung, sein Bruder und seine Schwester 
hatten seine Wahnideen kritiklos übernommen (folie 
imposee der französischen Autoren). Da die beiden 
letzteren sofort nach dei Trennung vom Bruder ein 
Abblassen der Wahnideen erkennen Hessen, konnten 
sie bald entlassen werden; ein leichter Grad von 
Schwachsinn hatte begünstigend auf das Zustande¬ 
kommen der psychischen Infection gewirkt. 

Koller (Lausanne): Ueber die Rolle der Statistik 
in den Jahresberichten der Irrenanstalten. 

Die statistischen Tabellen in den Jahresberichten 
der Irrenanstalten taugen in ihrer gewöhnlichen Form 
nach Ansicht des Verf. aus verschiedenen Gründen 
nichts, hauptsächlich, weil ihre Zahlen viel zu klein 
sind. Die Anstalten sollten deshalb alljährlich nur 
die wichtigsten Angaben über Bestand, Zuwachs¬ 
und Abgangsverhältnisse u. s. w. wie bisher mit¬ 
theilen und nur alle 5—10 Jahre oder sogar über 
noch grössere Zeiträume zusammenhängende stati¬ 
stische Tabellen veröffentlichen. Alljährlich aber 
könne die Art und Weise des ärztlichen Betriebes 
besprochen werden, wobei aber das Verhältniss der 
einzelnen Behandlungsfactoren zu einander und zum 
Gesammtkrartkenbestand zum Ausdruck kommen 
müsse. Zur Erläuterung giebt Verf. für die Anstalt 
Cery die entsprechenden Zahlen für die Winter¬ 
monate 1903/04 wieder, indem er für jeden Monat 
den mittleren Bestand aus den Gesammtzugang er¬ 
mittelte, ferner die tägliche, mittlere absolute Anzahl 
der Isolirungen, der mit Narcoticis behandelten 
Kranken, der in Bett- und Badbehandlung befind¬ 
lichen und der arbeitenden Patienten berechnete 
und für jede Categorie noch das procentische Ver¬ 
hältnis zum mittleren Monatsbestande hinzufügte. 

Arnemann- Grossschweidnitz. 

— Heinrich Rudolph: Der Ausdruck der 
Gemüthsbewegungen des Menschen, dar¬ 
gestellt und erklärt auf Grund der Urformen und 
der Gesetze des Ausdruckes und der Erregungen. 
Atlas und ein Textband. Dresden 1903. Gerhard 
Kühtmann. 

Der Bedeutung der Ausdrucksbewegungen wird 
von psychiatrischer Seite heutzutage unverkennbar 
mehr Beachtung gezollt, als vor 15 — 20 Jahren, als 
Meynert durch seinen Kölner Vortrag die Auf¬ 
merksamkeit auf diese Fragen zu lenken versucht 
hatte. Vor allem die wichtige Unterscheidung der 
manisch-depressiven Psychosen mit der Vielseitigkeit 
ihrer den gesteigerten Affccten entsprechenden Aus¬ 
drucksformen gegenüber der Dementia praecox mit 
ihrer mehr weniger tiefgreifenden Lähmung der Aus¬ 
drucksbewegungen erheischt dringende Berücksichtig¬ 
ung jenes Kapitels. 

Die litterarischen Hilfsmittel sind jedoch noch 
recht dürftig; vor allem sind manche guten Weg¬ 
weiser, wie das Buch von Hughes oder die ein¬ 
schlägigen Kapitel in Wundt's Völkerpsychologie, 
Band 1 , noch in etwas mangelhafter Weise ausge- 


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460 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


stattet. Da muss jeder Beitrag freudig begrüsst 
werden, der zu jenem Kapitel neues, brauchbares 
Material darbietet. 

Kunstmaler Rudolph ist mit grosser Gründlich¬ 
keit zu Werke gegangen, die Früchte iojähriger 
Arbeit sind es, die er in den umfangreichen Atlas 
und einem kleinen Textband niedergelegt hat. Der 
bekannte Kunstverlag von Kühtmann hat dem Werke 
eine äusserst opulente Ausstattung gespendet, so dass 
der Tafelband nicht weniger als 183 Lichtdruck¬ 
tafeln mit 680 Köpfen, der Textband 44 Abbild¬ 
ungen, meist Figuren, enthalt. 

Den Bildern liegen künstlerische Skizzen zu Grunde, 
die entworfen sind nach einem Modell, das jeweils 
künstlich den betreffenden Gesichtsausdruck anzu- 
nehraen hatte. Es ergab sich so eine riesige Fülle 
feiner Variationen, deren genaueres Studium sich 
lohnt. Als besonders gelungen muss die Serie des 
den Hass ausdrückenden Porträts bezeichnet werden. 
In einfacher Technik, schwarzer Kreidezeichnung mit 
einigen weissen Lichtern, sind die Köpfe offenbar 
unter grosser Naturtreue hingeworfen. Vor allem 
sprechend sind die Augen gerathen; für die scharfe 
Beobachtung spricht die exacte Wiedergabe des Spitz¬ 
ohrs mit Darwinscher Spina. • 

Bedenken erregt jedoch die Beschränkung auf 
ein einziges Modell, einen Mann gebildeten Standes 
und mittleren Lebensalters, die nun all diese vielen 
Hunderte von Nuancen der Ausdrucksbewegungen 
darstellen soll. Da ist es kein Wunder, dass man¬ 
ches Gezwungene mit unterläuft, so bei einer grossen 
Reihe von Bildern, bei denen die Aufgabe gestellt 
war, folgendes auszudrücken: „Das Bedenkliche; 
Lachen über das Fatale, welches humoristisch wirkt“ 
oder „ . . . satyrisch wirkt“. Gequält sind schon die 
4 Bilder eines Lachens unter Thränen. Vollends 
unnatürlich muss es wirken, wenn nicht weniger als 
19 Bilder verschiedene Formen des Abscheus durch 
Heraüsstrecken der Zunge repräsentiren sollen; das 
ist eben eine Ausdrucksbewegung, die bei einem 
solchen Modell in normalem Geisteszustand über¬ 
haupt nicht Vorkommen wird; auch der Zusatz 
„vulgär“ macht es nicht verständlicher, denn auch 
der Mann aus dem Volk übt nicht diese Ausdrucks¬ 
bewegung, sondern höchstens die Kinder ungebil¬ 
deter Eltern. Der erläuternde Text wie auch die 
Anordnung haben manches Gekünstelte; eine ein¬ 
gehendere Benützung der oben erwähnten Werke 
wäre hier am Platz gewesen. 

Die Vielfältigkeit des Gesichtsausdrucks zu schil¬ 
dern, dazu genügt unter keinen Umständen ein ein¬ 
ziges Modell. Eine grössere Anzahl muss herange¬ 
zogen werden, vor allem auch Kinder. Ferner ist 
die Wahl eines vollbärtigen Mannes nicht besonders 
glücklich, weil dabei doch manches verdeckt wird. 
Der Schauspieler Bore ist da mit seinen physiogno- 
mischen Bildern vorsichtiger gewesen. 


[Nr. A f, 


Immerhin ist das Gesammtmaterial so reichhaltig 
und es schliesst so manches Gute ein, dass sehr 
wohl der Psycholog und Psychopatholog mit Nutzen 
nach dem Werke greifen wird und auch Kliniken, 
die über stattliche Mittel verfügen, die Anschaffung 
empfohlen werden kann. Weygandt- Würzburg. 

Personalnachrichten. 

(Um Mittbeilung von Peraonalnachrichten etc an die Redaction 
wird gebeten.) 

— Veränderungen an den rheinischen 
Anstalten: Oberarzt Dr. Brie an der Prov.-Heil- 
und Pflegeanstalt Grafenberg zum Director an der 
Prov. - Heil - und Pflegeanstalt zu Johannisthal bei 
Süchteln ernannt; Oberarzt Dr. Buddeberg ander 
Prov.-Heil- und Pflegeanstalt Merzig zum Director 
dieser Anstalt an Stelle des in den Ruhestand ge¬ 
tretenen Directors Sanitätsraths Dr. Gottlob. Zu 
Oberärzten wurden ernannt die bisherigen III. Aerzt< 
Dr. Stall mann (für Andernach), Dr. Neu (fü: 
Galkhausen), Dr. Schröder (für Grafenberg), Dr 
Lückerath (für Merzig), Dr. Siebert (für Johannis¬ 
thal); zu III. Aerzten die bisherigen Assistenzärzte: 
Dr. Förster (für Bonn), Dr. Geller (für Düren), Dr. 
Rade mac her (für Galkhausen), Dr. Becker (für 
Grafenberg), Dr. En neu (für Merzig). Oberarzt D: 
Adams wurde von Galkhausen nach Johannisthal 
versetzt. Die III. Arztstelle in Andernach wurde it 
eine Oberarztstelle unigewamlelt. — Die Anstellung 
der Aerzte erfolgt am 1. April dieses Jahres au 
Lebenszeit. — 

Infolge obiger Veränderung sind an den rhei¬ 
nischen Prov.-Heil- und Pflegeanstalten 
vom 1. Ap ri 1 d i eses J a hre s a b mehrere Assi¬ 
stenzarztstellen zu besetze n (vergl. die Aus¬ 
schreibung derselben durch den Herrn Landes¬ 
hauptmann der Rheinprovinz auf dem Um¬ 
schlag dieser Zeitsehr.). 


Das von Ernst Schultze in die Therapie eingeführte 
„Neuronal“ wurde von Dr. Rixen an der Berliner städl 
Anstalt für Epileptische zu Wuhlgarten bei Epileptischen 
angewendet. Er kommt auf Grund seiner Beobachtungen zu 
folgendem Urtheil: „Das Neuronal ist bei epileptischen Er- 
regungs- und Verwirrtheitszuständen ein wirksames Beruhigungs¬ 
und Schlafmittel; meistens genügen 1,0—2,0 g zur Beruhigung, 
bei grosser Erregung und motorischer Unruhe wird in der 
Regel durch 3—4 g pro die Erfolg erzielt. Insbesondere wirkt 
Neuronal günstig auf die nach epileptischen Anfällen auftreten¬ 
den heftigen Kopfschmerzen, sowie auf nervöse Menstruations¬ 
beschwerden. Unangenehme Nebenwirkungen kamen bisher 
nicht zur Beobachtung. 

(Münch, med. Wochenschr, 1904, Nr. 48.) 


Dieser Nummer liegt ein Prospekt der 

Firma 

E. Merck in Darmstadt über „Veronal“ 
bei, welchen wir geneigter Beachtung empfehlen. 


Für den redactionellen Theil verantwortlich: Oberarzt I)r. J. Iiresler, Lublinitz (Sch esien). 

Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseratcnannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl M arhold in Halle a. S 
Heynemann’sche Buchdruckerei (Gebr. WVfD i»' Halle a. S. 


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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift. 

Redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. B regier, 

Lublinitz (Schienen). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adreve: Marhold Verlag, Halleaaale Fernsprecher 2834. 

Nr. 47. 18 . Februar. __ 1905. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 

Inserate werden für die 5spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermäasigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten. 


Ein Beitrag zur Frage der Dauerbadeeinrichtungen. 

Von Oberarzt Dr. Tomaschny , Treptow a. R. 


( elegentlich einer im Laufe des letzten Sommers unter¬ 
nommenen Reise, die mich durch mehrere der 
neuesten Anstalten Deutschlands und Oesterreichs führte, 
hatte ich mir die Aufgabe gestellt, die überall vor¬ 
handenen Einrichtungen für Dauerbäder einem be¬ 
sonderen Studium zu unterziehen, und bei der grossen 
Bedeutung, welche diese Frage für die praktische 
Psychiatrie hat, möchte ich es nicht unterlassen, von 
meinen unterwegs genommenen Anschauungen sowie 
den im Anschluss hieran gemachten Erwägungen 
einiges hier niederzulegen. Was zunächst die Lage 
des Bade raum es anlangt, so kann es gar keinem 
Zweifel unterliegen, dass derselbe unbedingt unmittel¬ 
bar an den Wachsaal angeschlossen sein muss. Nur 
dann, wenn diese Forderung erfüllt ist, kann der 
Segen dieser modernen Behandlungsweise der Auf¬ 
regungszustände voll zur Geltung kommen, und ich 
habe in der That sehr gut eingerichtete Baderäume 
vorgefunden, die nur wenig benutzt wurden aus dem 
einfachen Grunde, weil sie zu entfernt lagen. 

Ganz selbstverständlich ist es wohl, dass man 
nicht Wannen zur Ertheilung von Dauerbädern auf¬ 
stellt, ehe man sich davon überzeugt hat, ob man 
auch genügend warmes Wasser haben wird, um die 
Bäder in dem gewünschten Umfange unterhalten zu 
können. Ich sehe aber den Anschluss der Dauer¬ 
badanlage an eine zentrale Warmwasserversorgung 
nicht für so unbedingt nöthig an und glaube, dass 
eine lokale Warmwasserversorgung auch ihre 
Vorzüge hat, zumal wenn dieselbe noch mit einer 
lokalen Heizanlage verknüpft ist. Wachabtheilung 
und Dauerbad bilden nach der jetzt wohl all¬ 
gemein gütigen Anschauung ein unzertrennliches 
Ganze. In beiden gestaltet sich aber der Betrieb 
so wesentlich anders als in den übrigen Häusern 
einer Anstalt, dass es gar nicht so unvorteilhaft ist, 
wenn diese Räumlichkeiten in Bezug auf Heizung 


und Warmwasserversorgung von einer etwa vorhandenen 
zentralen Anlage unabhängig sind. Wo Dauerbäder 
gegeben werden sollen, muss warmes Wasser un¬ 
unterbrochen Tag und Nacht zur Verfügung stehen, 
es müssen aber auch die Baderäume und Wachab¬ 
theilungen Tag und Nacht geheizt werden und zwar 
häufig schon oder noch zu einer Jahreszeit, wo eine 
Heizung der übrigen Pavillons der Anstalt nicht 
nöthig ist. Um dieser Forderung aber gerecht 
werden zu können, muss man etwas Bewegungsfreiheit 
haben und nicht abhängig sein von dem ja sonst vor¬ 
teilhaften aber immerhin etwas schwerfälligen Betriebe 
einer zentralen Anlage. Ich glaube deshalb, dass die 
Frage nach einer lokalen Anlage für Heizung und 
Warmwasserbereitung in den Wachabtheilungen resp. 
Dauerbaderäumen wenigstens einer Erwägung werth 
ist. Den hygienischen Anforderungen in Bezug auf 
Licht und Wärme kann man sehr zweck¬ 
mässig in folgender Weise nachkommen. Für die 
Erhellung des Baderaumes erscheint sehr geeignet 
das Oberlicht. Hierdurch kann man den ganzen 
Raum in sehr ausgiebiger und gleichmässiger Weise 
erhellen, die Kontrolle über die genügende Reinigung 
der Badewannen wird hierdurch sehr erleichtert, und 
mit dem Fehlen der Fenster in den Wänden sind 
viele Ecken und Nischen beseitigt, in welche das von 
den Kranken verspritzte Wasser oder auch sonst die 
Luftfeuchtigkeit in unliebsamer Weise eindringt. 
Bei Anlage der Heizvorrichtungen erscheint es nicht ganz 
abwegig, an eine Fussbod e nh e i z u ng zu denken. 
Der Fussboden, der am zweckmässigsten in Terrazzo 
oder Fliesen ausgeführt wird, ist natürlich immer sehr 
kalt, was für die Kranken, die nicht immer leicht 
zum Anziehen einer Fussbekleidung zu bewegen sind, 
sehr unangenehm ist und Erkältungen nach sich 
ziehen kann. Holzlattenroste zu legen, ist nicht ge¬ 
rade sehr zu empfehlen, denn durch das umher- 


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462 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 47. 


gespritzte Wasser werden dieselben dauernd sehr 
glatt erhalten und Kranke sowie Pfleger kommen dann 
leicht in die Gefahr zu fallen. Auch das Belegen 
des Fussbodens mit Matten aus Stroh oder ähnlichen 
Stoffen hat seine Nachtheile, weil alle diese Matten 
unter dem steten Einfluss der Feuchtigkeit rasch 
schadhaft werden. Allen diesen Uebelständen kann 
man aus dem Wege gehen, wenn man den aus 
Fliesen bestehenden Fussboden durch einige darunter 
geführte Warmwasserschlangen erwärmt. Man kann 
dann die Kranken ruhig auch mit nackten Füssen 
den Boden betreten lassen. (Terrazzo würde sich 
in diesem Falle nicht für den Fussboden eignen, 
weil dadurch etwaige Reparaturen an der Heizanlage 
sehr erschwert würden.) Für die Erwärmung des 
Fussbodens kann man sehr gut das zur Bereitung 
der Bäder dienende Warmwasser benutzen, indem 
man es vor Eintritt in die Wanne durch die unter 
dem Fussboden angelegten Heizschlangen leitet. 
Sollte sich diese Art der Heizanlage bei stärkerer 
Kälte für die Erwärmung des Baderaumes als un¬ 
genügend erweisen, so kann diese ja noch immer 
nebenbei durch eine der sonst üblichen Eimichtungen 
erfolgen. 

Ob eine Trennung der einzelnen Badewannen 
d urch halbhohe Zwischenwände zweckmässig 
ist, darüber lässt sich streiten. Im allgemeinen 
sind nach unserer Erfahrung solche Wände nicht 
erforderlich, sie erschweren auch sehr die Auf¬ 
sicht über die Badenden. Da mitunter aber recht 
unsociale Kranke Vorkommen, welche ihre Nachbaren 
unablässig durch Spritzen, Schimpfen und Drohen be¬ 
lästigen, so mag man immerhin 1 oder 2 halbhohe 
bewegliche Wände bereit halten, durch deren Auf¬ 
stellung man dann solche unsociale Elemente optisch 
isoliren kann. Unbedingt nothwendig gehören zur 
Ausstattung eines Baderaumes auch eine Anzahl 
Bademäntel sowie mehrere Paar B as t s c h u h e. 
Die Bademäntel brauchen die Kranken auf dem 
Wege nach dem Bade und auf der Rückkehr ins 
Bett, beim Aufsuchen des Abortes und besonders 
auch beim Wechsel des Badewassers. Bei Aus¬ 
führung letztgenannter Dienstleistung wird noch immer 
sehr viel gesündigt. Man verfährt am zweckmässigsten 
so, dass man den Kranken ganz aus der Wanne 
herausnimmt, ihm den Bademantel umhängt und ein 
Paar Bastschuhe anzieht. Er kann dann ruhig die 
wenigen Augenblicke, welche das Erneuern des Bade¬ 
wassers erfordert, neben der Wanne stehen. Eine 
Gefahr, dass er sich hierbei erkältet, ist nicht vor¬ 
handen, wenn nur das Badezimmer genügend warm 
ist. Ganz unstatthaft ist es aber, den Kranken 


während der Erneuerung des Wassers ganz uni*, 
kleidet und zähneklappernd auf dem Wannenra&tf* 
sitzen zu lassen oder ihn gar in der Zwischenzeit zu 
einem andern Kranken in die Wanne zu setzen. 

Zur Technik des Badens möchte ich, sowe.t 
diese Frage nicht schon bei den vorstehenden Aus¬ 
führungen gelegentlich berührt wurde, namentlich 
einen Punkt besonders hervorheben. In einzelnen 
Anstalten ist es üblich, bei Kranken, welche sich 
schwer im Bade halten lassen oder durch ständiges 
Umherspritzen des Wassers störend sind, Decken vor. 
Segeltuch oder ähnlichem Zeug zu verwenden und 
zwar in der Weise, dass diese Decken an einen um 
die Wanne gelegten Reifen oder an Ringen befestigt 
werden und so den Kranken erheblich in seiner Be¬ 
wegungsfreiheit beschränken. Eine durch eine der¬ 
artige Vorrichtung in ein kleines Gefängniss verwandelte 
Wanne ist für den modernen Psychiater kein schöner 
Anblick, und soweit meine Erfahrung reicht, kann 
man durch ein vorübergehendes Zurückbringen des 
Kranken ins Bett, durch ein Narcoticum, durch 
eine feuchte Einpackung und andere Maassnahmen 
diese Zwangs maassregel mit Sicherheit immer umgehen 
Aber auch noch aus einem anderen Grunde möchte 
ich eine feste Decke über der Wanne als unzweo 
mässig verurtheilen. Ich habe in einer Anstalt gesehen, 
wie ein Kranker, ob durch Zufall oder mit Absicht 
ist gleichgültig — plötzlich unter der Decke verschwand 
und in Gefahr kam zu ertrinken. Schon eine solche 
Möglichkeit ist Grund genug, diese unschöne Ein¬ 
richtung der fest angebrachten Decken zu vermeiden. 
Dagegen darf es wohl als statthaft gelten, wenn inan 
aus ästhetischen Gründen oder auch um eine 
zu rasche Abkühlung des Badewassers zu verhüten, 
ein Laken ganz lose über die Wanne legt. 

Soweit man auf keinen Widerstand von seiten der 
Kranken stösst, empfiehlt es sich — namentlich bei 
den Frauen — dieselben im Hemde baden zu 
lassen. Es hat sich auch bei uns die Maassnahme 
sehr bewährt, zur Vermeidung einer übermässigen 
Maceratiun der Haut, Hände und Füsse der Badenden 
mit Vaseline einzufetten. 

Einige Bemerkungen über die Wirkung der Dauer¬ 
bäder möchte ich mir für später Vorbehalten. 

Die Wände des Baderaumes müssen in ihrer 
ganzen Ausdehnung ebenso wie die Decke einen An¬ 
strich erhalten, der keine Feuchtigkeit annimmt, also 
einen von Oel oder Emaillefarbe. Ein einfacher 
Kalkanstrich an irgend einem Theil der Wand oder 
an der Decke ist entschieden zu verwerfen, denn der 
Umstand, dass ein Kalkanstrich die Wasseraufnahme 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


463 


1905O 


aus der Luft begünstigt — was Oswald *) lobend her¬ 
vorhebt, — ist nicht als ein Vortheil, sondern als ein 
erheblicher Nachtheil anzusehen. Eine feuchte Wand, 
in der es zu Schwamm- und Schimmelbildung kommt, 
können wir in einem Baderaum ebenso wenig ge¬ 
brauchen wie in irgend einem anderen Zimmer. Den¬ 
selben wasserundurchlässigen Anstrich müssen auch 
Thür und Thürpfosten, ebenso alle in dem Baderaum 
befindlichen Holztheile erhalten, weil das Holz sonst 
unter dem Einfluss der starken Luftfeuchtigkeit rasch 
in Fäulniss übergeht, wie dies häufig in älteren Bade¬ 
zimmern, die nun zu Dauerbädern verwendet werden, 
beobachtet wird. 

Das Material, aus dem die Wannen herzu¬ 
stellen sind, kann sehr verschieden sein. Wer nicht 
zu sehr mit dem Geldpunkt rechnen muss, mag 
Wannen von Fayence anschaffen; dieselben sehen 
vorteilhaft aus und sind auch sonst ganz zweckent¬ 
sprechend. Hier in Treptow a. R. verwenden wir 
verzinkte Kupferwannen und sind damit sehr zufrieden. 
Wannen von emaillirtem Eisenblech werden infolge 
stellenweisen Abspringens der Emaille nach kurzer 
Zeit unansehnlich. Gar nicht zu empfehlen sind 
Kunstwannen (Terrazzo). An ihnen kann anhaftender 
Schmutz leicht übersehen werden, sie bekommen leicht 
durch Abspringen kleiner Teilchen eine rauhe Innen¬ 
fläche, und schliesslich haben sie noch den Nachtheil, 
dass der über dem Wasserspiegel liegende Theil der 
Wanne immer sehr kalt bleibt. 

Was die Form der Wannen anlangt, so halte 
ich es für zweckmässig, wenn man wenigstens einige 
Wannen vorräthig hat, welche am Kopfende gegen 
die Horizontale eine Neigung von ca. 35—40 0 be¬ 
sitzen. Die so gestalteten Wannen eignen sich be¬ 
sonders für schwächliche Kranke, welche wegen drohen¬ 
den Druckbrandes oder aus ähnlichen Gründen baden 
und in einer solchen Wanne bequem und -ohne jede 
Anstrengung längere Zeit hindurch die liegende 
Stellung innehalten können. Darauf, dass die Kranken 
in einer solchen Wanne ev. auch schlafen können, 
möchte ic h nicht so viel Gewicht legen. Die Bäder¬ 
behandlung soll doch nur eine Ergänzung der Bett¬ 
behandlung sein, und wenn sich ein aufgeregter 
Kranker im Bade beruhigt hat und das Bedürfniss 
nach Schlaf empfindet, so sehe ich nicht ein, warum 
man ihm dann die Bettruhe vorenthalten soll. In 
der Wanne wird der Schlaf für ihn nicht so erquickend 
sein wie im Bette, schon aus dem einfachen Grunde, 
weil sich der ermüdete Körper in der Wanne nicht 

*) Oswald, über Dauerbadeinrichtungen grösseren Stils. 
Nr. 19 und 20 der Psychiatrisch-Neurologischen Wochen¬ 
schrift. 


nach Belieben die für ihn gerade bequemste Lage 
aussuchen kann. Auch deshalb scheint es mir nicht 
zweckmässig, einen Kranken in der Wanne schlafen 
zu lassen, weil derselbe durch die im Laufe von 
mehreren Stunden doch unbedingt nothwendige Er¬ 
neuerung des Badewassers unnöthigerweise im Schlafe 
gestört wird. 

In Bezug auf die Grösse der Wannen wird 
es wohl niemanden schwer fallen, das richtige Maass 
zu finden. Man darf sich nur nicht von dem Ge¬ 
sichtspunkte leiten lassen, dass eine Wanne gross ge¬ 
nug sein müsse, um unter Umständen auch 2 Kranke 
gleichzeitig aufnehmen zu können. *) Ein solches 
Verfahren ist einfach als unstatthaft zu erklären und 
bedarf wohl nicht erst einer besonderen Widerlegung 
durch ausführliche Gründe. Wenn der Arzt zwei 
Kranke gleichzeitig in einer Wanne baden lässt, dann 
wird ein Pfleger nicht einsehen, warum er nicht auch 
2 Kranke hinter einander in demselben Wasser baden 
dürfte. Mit demselben Rechte könnte man schliess¬ 
lich sagen, man solle ja recht grosse Betten an¬ 
schaffen, damit man unter Umständen auch 2 Kranke 
in einem Bett unterbringen könne. • 

Ueber die erforderliche Anzahl der Wannen 
sind die Erfahrungen noch gering, und es hängt diese 
Frage eng zusammen damit, wie man sich zur Iso- 
lirung und zum Gebrauch der Narcotica stellt. Hier 
in Treptow, wo schon seit Jahren »nicht mehr isolirt 
wird und nur wenig Narcotica gereicht werden, ver¬ 
hält sich auf der unruhigen Wachabteilung die Zahl 
der Badewannen zur Zahl der Kranken wie 1 :5. 
Bisher erschien uns diese Anzahl von Wannen als 
ausreichend. Es giebt aber neuere Anstalten mit sehr 
guten Dauerbadeinrichtungen — Leubus (Neubau), 
Dösen — wo die betreffenden Zahlen sich wie 1 :4 
resp. 1 13 verhalten. 

Was die Art der Zuleitung und Ableitung 
des Badewassers anlangt, so muss man dafür 
sorgen, dass ein Oeffnen und Schliessen der Hähne 
den Kranken selbst unmöglich ist und dass das Zu¬ 
flussrohr möglich nahe am Boden in die Wanne ein- 
mündet. Bei einiger Aufmerksamkeit des Personals 
werden sich dann leicht Unglücksfälle und Unzuträg¬ 
lichkeiten vermeiden lassen. Bei uns in Treptow sind 
alle Hähne, auch die des Abflussrohrs, nur mittels 
eines Vierkants zu öffnen. Es giebt aber sonst noch 
verschiedene andere und recht brauchbare Einrich¬ 
tungen. Auch Mischhähne, welche das Wasser gleich 
in der erforderlichen Badetemperatur in die Wanne 
eintreten lassen, bewähren sich wie ich mich über- 

*) vergl. Oswald. 


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464"' 


PSYCHIATRISCH-NEU KO LOG ISCHE WOCHENSCHRIFT 


[Nr. 47 . 


zeugt habe, gut. Dass von den Wannen jede mit 
einem besonderen Abflussrohr direct an die Kanali¬ 
sation angeschlossen wird — wie Oswald will —, ist 
gar nicht nöthig. Man kann sehr gut die Abflussrohre 
der einzelnen Wannen in ein gemeinsames grösseres 
Rohr leiten und braucht keine Rückstauung zu be¬ 
fürchten, wenn dieses grössere Rohr nur weit genug 
ist. Eine einfache Rechnung ergiebt, dass man durch 
6 Rohre von 3 cm lichter Weite gleichzeitig Wasser 
in ein gemeinsames Abflussrohr von 8 cm Durch¬ 
messer leiten kann, ohne dass Rückstauung eintritt 
Im ungünstigsten Falle wird vielleicht bei gleichzeitiger 
Entleerung sehr vieler Wannen in der einen oder 
anderen Wanne der Abfluss des Wassers etwas lang¬ 
samer erfolgen als erwünscht ist. 

Unter den sonstigen Einrichtungen resp. 
Gegenständen, mit welchen ein Baderaum unbedingt 
ausgestattet sein muss, ist zu erwähnen erstens ein 
Closetsitz. Das Vorhandensein eines solchen im Bade¬ 
raum selbst ist, ein ganz unabweisbares Erfordemiss. 
Wenn kein Abort zur Stelle ist, lassen die meisten 
Kranken zum mindesten den Urin in die Wanne und 
zwar fast cfurchweg auch selche Kranke, die sonst 
selbst in der Erregtheit regelmässig den Abort aus 
eigenem Antriebe aufsuchen, wenn sie ihn leicht 


erreichen können also z. B. so lange sie sich im Wach- 
saale befinden. Das Fehlen eines Abortes gestaltet 
auch den ganzen Betrieb viel umständlicher, indem 
die im Baderaum befindliche Wache jedesmal zum 
Abführen eines Kranken erst eine andere Pflegeperson 
zur Unterstützung herbeirufen muss. 

Ferner ist eine Wasch Vorrichtung im Bade¬ 
raum nicht zu entbehren. Es ist aber wichtig, dass 
diese Einrichtung auch wirklich nur für diejenigen 
Kranken und Pfleger bestimmt ist, welche sich auf 
Grund ärztlicher Anordnung im Baderaum aufhalten 
sollen. Wenn dies nicht der Fall ist, dann bietet 
das fortwährende Kommen und Gehen von Personen 
für verschiedene Kranke, die sonst vielleicht ganz 
ruhig im Bade sitzen, ständig einen Anreiz zu neuer 
Aufregung. Es ist überhaupt streng darauf zu halten, 
dass niemand das Badezimmer betritt oder sich in 
demselben aufhält, der nicht am Bade betheiligt ist. 
Ganz zweckmässig ist auch das Vorhandensein eines 
Ruhebettes. Im allgemeinen kommen Ohnmächten 
oder ähnliche Unglücksfälle im Dauerbade äusserst 
selten vor, falls sie sich aber doch einmal ereignen, 
dann ist es immer ganz gut, wenn man für die erste 
Hülfeleistung rasch eine Liegestelle zur Hand hat. 


Analytische Untersuchungen der Symptome und Assoziationen 
eines Falles von Hysterie (Lina H.) 

Von Dr. Franz Rikltn , bisher 1. Assistenzarzt am Burghölxli, z. Z. Sekundararzt an der Züricher Pflegeanstalt Rheinau. 

(Fortsetzung.) 


Frühjahrssymptome. Abortversuche. Da¬ 
mit sind aber noch nicht alle Ursachen des Erbrechens 
erschöpft Die bis jetzt enthüllten Einzelheiten kamen 
in den Hypnosen vom Mai 1903 zum Vorschein. 
Als Pat. anfangs Juni in Hypnose über ein anderes 
Symptom (Rückenschmerzen) befragt wurde, fiel ihr 
ein, dass sie auch ein Jahr vorher, ebenfalls im Früh¬ 
jahr und zur Zeit der Menses, Erbrechen und Rücken¬ 
schmerzen nacheinander gehabt habe. Man machte 
Magenspülungen. Zu jener Zeit half Pat. bei der 
Feldarbeit, aber ein Zusammenhang war nicht zu 
eruiren — auch nicht mit den damals aufgetretenen 
Beinschmerzen (bes. in den Oberschenkeln, die sie 
nach einer Erkältung durch Sitzen ins kalte Gras er¬ 
worben haben will. Sie hatte damals die Menses). 
Alle Bemühungen, hier weiter zu kommen, scheiterten. 

Beinahe ein Jahr verging, ohne dass Pat. mehr 
erbrochen hätte. Appetit etc. waren sehr gut, die 
hauptsächlichsten Symptome waren verschwunden, als 
Pat. Ende April 1904, also wieder im Frühjahr, einige- 
male erbrach; gleichzeitig nahm die Masturbation 


wieder zu, und Pat. klagte mehrmals über intensive 
Leibschmerzen. Im übrigen litt ihr Allgemeinbefinden 
wenig unter diesen Erscheinungen. 

Dass nach allem ein psychischer Grund hinter 
diesem Symptomencomplex stecken müsse, gab das 
Oberbewusstsein der Pat. keineswegs zu. Die Hyp¬ 
nose brachte ihn zutage: 

Die Masturbation nahm zu nach den Besuchen 
von einer Freundin (einer ehern. Pat der Anstalt), 
die kürzlich als Submaniaca sich blindlings in ein Ver- 
hältniss mit einem zweifelhaften Coiffeur gestürzt hatte. 
Dieser verduftete, nachdem er der Pat. ziemlich viel 
Geld entlockt und sie gravid gemacht hatte. 

Diese Erzählungen regten unsere Pat. sexuell auf, 
nachts träumte sie von ähnlichen Situationen aus 
ihrem Leben und masturbirte wieder. Statt Erbrechen 
oder dgl. stellten sich diesmal nach dem Masturbiren 
Schmerzen in den äusseren Genitalien ein. Wir wer¬ 
den darauf zurückkommen. 

Bald darauf kam doch Erbrechen. Das Oberbe¬ 
wusstsein der Pat. konnte angeben, sie habe sich er- 


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I 9°5-] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


465 


kältet. Die Menses seien im Anzuge, und da sei sie 
heute zum erstenmal im Garten ins Gras gesessen. 
Letztes Jahr sei ihr das auch einmal so gegangen. 

Also geht aus einer Reihe von Einzelerfahrungen 
hervor, dass Pat. jedes Frühjahr, wenn die Menses 
heranrückten, einmal ins feuchte Gras sass und dann 
Erbrechen bekam. 

Durch die Hypnose war es möglich, zur unter¬ 
bewussten Maschinerie zu gelangen, welche da im 
Spiele war: 

Wenn die Pat. im Frühjahr zum erstenmal ins 
Gras sass — offenbar hatte sie einen förmlichen Drang, 
dies jeweilen zu thun; denn wieso soll jeder Mensch 
gerade jeden Frühling ins feuchte Gras sitzen, nament¬ 
lich nach so schlechten Erfahrungen — weckte sie 
im Unbewussten die Erinnerung an die Zeit ihrer 
ersten Schwangerschaft; das war auch im Frühjahr; 
die Schwangerschaft war nicht mehr zu verheimlichen, 
sie theilte die Sache zu Hause mit und bekam dafür 
Prügel! Dann musste sie auf Befehl der Angehörigen 
eine Abort kur machen: man liess sie heisse Sitzbäder, 
resp. „Dämpfe“ für den Unterleib nehmen, dann, ohne 
sich abtrocknen zu dürfen, wurde sie geschickt um 
selbst die Pflanzen auf der Wiese zu suchen, die als 
Abtreibemittel galten und in ihre Dampfbäder gethan 
wurden. Man glaubte, das Mittel verbunden mit der 
bezweckten Erkältung und Kongestion des Unter¬ 
leibes werden ihre Wirkung thun. Pat. fühlte sich 
bei der Procedur keineswegs wohl, sie gehorchte 
widerwillig, denn sie wusste, dass die Schwangerschaft 
doch schon zu weit fortgeschritten sei, und oft setzte 
sie sich ins Gras und weinte. Ungeführ nach dem 
fünften Mal fing das Mittel zu wirken an: Pat. be¬ 
kam sehr heftige Leibschmerzen, der Abort drohte 
sich einzustellen, aber schliesslich kam er doch nicht 
zustande. 

Damit hätten wir den Grund für die hysterischen 
Leibschmerzen aufgedeckt. 

Für das gleichzeitige Erbrechen besteht eine weitere 
Determinirung, ein Grund, warum Pat. bald nach dem 
ins Gras sitzen, unmittelbar nach einem Besuch jener 
Freundin, wieder erbrach: die Freundin hatte ihr er¬ 
zählt, dass sie kürzlich nach einer starken Anstrengung 
abortirt habe und nun glücklicherweise die Folgen 
ihres Verhältnisses nicht weiter gehen. 

Das Unterbewusste unserer Pat. erinnerte sich da¬ 
bei, und beim ins Gras sitzen, einer zweiten Abtreib¬ 
ungsgeschichte. In der zweiten Hälfte der zweiten 
Schwangerschaft, wieder im Frühjahr, erzählte sie zu¬ 
erst ihrer Schwester was ihrer harre. Die Schwester 
liess sie — als Abtreibemittel, einen Absud von Tabak 
und Cigarren trinken. Die Wirkung des Nicotins 
zeigte sich bald: Furchtbares Erbrechen und intensive 
Leibschmerzen. Iu den folgenden Tagen hatte Pat. 
noch eine Menge Ohnmächten. Die Abtreibung kam 
indessen nicht zustande. 

Andere hysterische Verdauungsstörungen, 
Ekel vor Milch und Fleisch. Bis jetzt gab unsere 
Analyse der Ansicht von Breuer und Freud, dass 
das hysterische Erbrechen gewöhnlich ein symbolisches 
körperliches Symptom für hysterischen Ekel sei, voll¬ 


ständig recht. Es war daher nahe liegend, hinter 
dem Ekel vor Milch und Fleisch, der bei unserer 
Pat. vorhanden war, ähnliche Ursachen zu suchen. 

Nachdem die Hauptpunkte über die Ursachen des 
Erbrechens festgestellt waren (Mai, Juni 1903), fiel 
es auf, dass Pat., die lange Zeit keine Milch mehr 
ertragen hatte, dieselbe ohne weiteres trank und so¬ 
gar bat, man möchte ihr statt des Nachtessens Milch 
verabreichen, 

Mitte August wurde die Pat. hypnotosirt und um 
Aufschluss über ihre frühere Abneigung gegen die 
Milch gebeten. 

Zuerst giebt Pat an, im Mädchenasyl P. habe 
sie zur Stärkung viel Milch trinken müssen; die an¬ 
dern haben ihr das missgönnt, das habe sie sehr ver¬ 
stimmt, und seither sei ihr ein Widerwille gegen die 
Milch geblieben. 

Dann erinnert sie sich, dass sie in der Erziehungs¬ 
anstalt in P. früher auch Mich erbrochen habe, als 
sie eine Milchkur machen sollte. Einmal besonders 
musste sie erbrechen, als sie die frische Milch im 
Stall holen musste; die Milch sei damals schlecht ge¬ 
wesen ! 

Plötzlich taucht eine neue Erinnerung auf. (Meistens 
erkennt man das Eintreten verdrängter Erinnerungen 
ins Bewusstsein der Hypnotisirten in einer plötzlichen 
Veränderung des Gesichts: Pat wird blass oder roth; 
an Stelle der eines ruhig Schlafenden treten verzerrte, 
erbitterte Gesichtszüge; die Lippen werden zusammen- 
gepresst und Pat. wendet sich ab, schüttelt den Kopf, 
sagt: „Nein“, oder „Lassen sie mich in Ruhe; quälen 
sie mich doch nicht“ und dgl. Es geht dann oft 
noch einige Zeit, bis Pat wirklich Auskunft giebt. 

Man wird lebhaft an die sog. mimischen Reac- 
tionen in den mit meinem Collegen Dr. Jung ge¬ 
meinsam ausgeführten *) Associationsversuchen erinnert, 
wo ein Reizwort oft eine auffallende Aenderung der 
Mimik hervorruft, und besonders an die Fehler, wo 
ähnliche Hemmungen — resp. Sperrungen — Vor¬ 
kommen.) 

Widerwillen gegen die Milch: Kurz nach 
jenem ersten Attentat des Vetters geschah ein ähn¬ 
liches. Pat war geschickt worden, Milch im Stalle 
zu trinken und zu holen, da sie schwächlich war (der 
betr. Vetter hatte inzwischen das Heimwesen und 
die Viehhabe gekauft.) 

Ibi homo puellam coagere conatus est, ut semen, 
quod masturbatione effluebat, ore reciperet 

Seither musste sie sich oft erbrechen, wenn sie 
Milch sah oder trinken wollte. Die Woche nach 
dieser Hypnose war Pat. schlechter. Sie erbrach fast 
immer die Milch und producirte noch verschiedene 
andere Symptome, besonders Herzklopfen und Ohren¬ 
schmerzen. Zwistrhen hinein war sie einen ganzen 
Tag lang auffallend fröhlich und wollte tanzen — „zum 
letztenmal in ihrem Leben“, meinte sie! 

Der Grund dieser Verschlechterung lag im un¬ 
vollständigen Aufschluss über die letzte Angelegenheit. 
Aber erst in der zweitfolgenden Hypnose gelang es 
weiter in diesem Sumpfe vorzudringen. 

*) Jung und Riklin, Ueber Asiociationen Gesunder; Journal 
f. Psych. u. Neur. Bd. III. 


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I 


466 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Der Vetter hatte damals eben die Kühe gemolken. 
Als sie kam, Schloss er die Tennthüre hinter ihr ab 
und zog sie in die Tenne ins Stroh, und stellte das 
genannte Ansinnen an die Pat Sie sträubte sich und 
schlug ihn, wobei er strauchelte und mit seinem ent- 
blössten Penis in den Milchkessel fiel. Pat. lief weg, 
mit grossem Ekel; abends wollte sie dann begreif¬ 
licherweise keine Milch trinken, und als man sie mit 
Schlägen dazu zwang, erbrach sie sich heftig. 

Dass das Erbrechen, nach dem uns jetzt bekannten 
Mechanismus, unter ähnlichen Situationen, bei Milch¬ 
kuren etc. jeweilen wieder hervortrat, ist leicht ver¬ 
ständlich. 

Bei der Analyse dieses Symptoms beobachten wir 
wieder, wie zuerst die neuern und unbedeutendem 
„Determinanten“ zuerst bewusst werden, und die 
letzten Dinge die wichtigsten sind. Das Abreagiren 
erfolgte ziemlich stürmisch; Pat. schämte sich vor dem 
Ref., leistete heftigen Widerstand, so dass die Ana¬ 
lyse erst in einer zweiten Sitzung möglich war, weinte 
schwer u. s. f. 

In der Folge hat Pat. täglich mehrmals Milch ge¬ 
trunken, und zwar ganz ohne Beschwerden. Magen¬ 
spülungen sind nie mehr nöthig geworden. 

Die Symptome von Seite des Magens bilden zu¬ 
sammen eine einheitliche Gruppe symbolischer 
Ekelsymptome, sexueller Natur. Um jedes herum 
associirt sich später eine Reihe weiterer, weniger wich¬ 
tiger Determinanten, je nach den ursächlichen Er¬ 
eignissen. 

Schlechtes Fleisch. Im Mädchenasyl P. 
soll Pat. einmal schlechtes Fleisch (!) bekommen haben. 
Sie habe von da an kein Fleisch mehr gegessen bis 
zum Eintritt in unsere Klinik und hier habe sie sich 
öfter deswegen erbrechen müssen. 

. Dann: Ekel vor dem Fleisch habe sie empfunden, 
seit sie in jenem Mädchenasyl ein geschlechtskrankes 
Mädchen besorgt habe! Das Leiden verursachte einen 
sehr üblen Geruch. Pat. dachte sich damals, es hätte 
ihr bei ihrem Leben ebenso gehen können Wie diesem 
Mädchen; sie könnte jetzt auch mit solch einem ab¬ 
scheulichen Leiden zu Bette liegen. 

Die andern fanden damals das Fleisch nicht 
schlecht, auch nicht dass es übel rieche. Pat. aber 
war unmittelbar vorher beim betr. Mädchen gewesen! 

Der Portier. Im Hotel S. in Zürich, wo Pat. 
vorher 2 Jahre lang gedient hatte, war der Portier 
krank. Er bekam ein tiefes Geschwür im Mund, die 
Pflege war ekelhaft; er wurde in das Kantonsspital 
gebracht. Sein Nachfolger erzählte unserer Patientin 
beim Essen, der Vorgänger hätte eben eine Geschlechts¬ 
krankheit. 

Im weiteren Verlauf des Gespräches wurde er 
aggressiver und entblösste seine Genitalien; zum Coitus 
kam es nicht, Pat. empfand im Gegentheil in diesem 
Zusammenhänge starken Ekel und konnte nicht mit¬ 
essen. In der Folge sah sie beim Essen, besonders 
beim Fleischessen, immer wieder diesen Penis vor 
den Augen. 

Im Mädchenasyl wurde gleich an jenem Tage 
auch diese Geschichte (unbewusst) erinnert. 


[Nr. 4;. 


Besuch vom Vater. Eines Tages (23. VI. 031 
verlangte Pat. plötzlich wieder Eier statt Fleisch, die 
sie erbrechen musste; sie wusste nicht recht warum. 
Am folgenden Tage Hypnose: 

Pat. hatte Besuch von der Schwester erwartet. 
Sie kam nicht; Pat. meinte, wahrscheinlich habe sie 
erfahren, dass sie vom Vater besucht worden sei und 
sei erbost darüber. Dieser Gedanke rief unbewusst 
den Gedanken an die Blösse des Vaters wach, an 
die Exhibition des Portiers etc., und sie konnte*kein 
Fleisch essen. 

Der Gedanke an die Blösse des Vaters, der sonst 
zu denen gehörte, die allgemein Erbrechen, Mastur- 
biren etc. hervorrief, associirte sich hier mit dem ex- 
hibirenden Portier, und so kommt es, dass diese 
Constellation hier zur Production des andern körper¬ 
lichen Ekelsymptoms: Ekel vor Fleisch, mithilft. Pat. 
musste sich darob erbrechen. 

Bevor die Analyse dieses Punktes erledigt war. 
hatte Pat. hier und da mehr Milch an Stelle des 
Fleisches verlangt. Seither hat sich nie mehr Ekel 
vor der Fleischkost eingestellt. 

Masturbatorische Schmerzen. Es wurden 
verschiedene Symptome analvsirt, die alle zur Mastur¬ 
bation der Pat. in Beziehung stehen. Dass die 
Masturbation selbst als Symptom und nicht blos als 
Ursache von andern Symptomen aufgefasst werden 
muss, haben wir schon erklärt. 

Wir haben auch gesehen, dass die sexuellen 
Träume der Pat., die mit Masturbation verbunden 
waren, häufig Erbrechen im Gefolge hatten. Die 
Ursache des Erbrechens war dem Oberbewusstsein 
der Pat. meist verhüllt. 

In anderen Zusammenhängen verursacht die Ma¬ 
sturbation mit ihren eigenen Ursachen andere körper¬ 
liche Symptome, die Bestandteile eines weitem 
Symptomenco m p 1 ex es sind im gleichen Sinne, wie 
das Erbrechen einerseits, der Ekel vor Milch und 
Fleisch, welche die Symptomengruppe der Magen¬ 
besch werden gebildet haben. 

Zuerst ergab sich, (8. VI. 03) immer unter An¬ 
wendung der gleichen Methode, ein Zusammenhang 
mit den Rückenschmerzen der Pat., die sich als 
Prodromal- und Begleitsymptome der Menses einstellen. 
Da bei vielen Frauen die Menses von stärkern oder 
geringem Schmerzen begleitet werden, war besonders 
schwierig, das organische an diesen Schmerzen zu 
eliminiren; nur der Mangel an einem wichtigem patho¬ 
logischen Genitalbefund musste Verdacht erwecken, 
und am Ende der Analyse fanden sich eben keine 
Unterleibsschmerzen mehr vor, auch zur Zeit der 
Menses nicht. 

Um die menstruellen gruppirt sich eine’ ganze 
Menge secundärer Genitalsymptome und Schmerzen 
im Rücken, wieder ein Mittel, um dem Beobachter 
und dem Oberbewusstsein der Pat. den wahren Sach¬ 
verhalt zu verdecken und eine gute Verdrängung zu 
ermöglichen. 

Pat. bekam einmal bei der Analyse der Magen¬ 
schmerzen, unmittelbar bevor sie ihre Masturbation 
eingestand und die Analyse nicht weiter gehen wollte, 


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Original frnm 

HARVARD UNIVERSITY 




i9°5J 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCH K1 FT. 


467 


intensive Schmerzen im Rücken, besonders beim 
Liegen; dann wieder am folgenden Morgen; es hatte 
ihr vorher geträumt, sie masturbire. Dann fiel ihr 
ein, dass dieses Masturbiren sie an die dritte Schwan¬ 
gerschaft erinnere; der Vater des dritten Kindes hatte 
ihr intensive Schmerzen verursacht, nachher trat eine 
starke Blutung ein. Es zeigt sich später, dass die 
Masturbationssymptome verschieden sind, je nachdem 
sich Pat. den Vater, den Vetter, den ersten Geliebten 
resp. hier den Vater des dritten Kindes vorstellt; 
dass letzterer hauptsächlich im Zusammenhang mit 
der menstruellen Blutung erscheint, ist nach der uns 
jetzt bekannten Symbolik erklärlich.*) 

*) Auffallender weise traten, wenn sich Pat. beim Mastur¬ 
biren ihren ersten Geliebten, den Maler, vorgcstellt hatte, 
keine Symptome vor; Pat war dann guter Laune. Nicht 
etwa moralische Entrüstung ist also der tiefere Grund, warum 
Pat. nach der Masturbation in übler Laune ist, sondern die 
Bindung an bestimmte, oft unbewusste Erinnerungen, vielleicht 
ist die Reproduction so vieler Symptome überhaupt eine Folge 
der ganzen Lage der Pat. Das Masturbieren unter Vorstellung 
des ersten Geliebten ist eine Art Wunscherfüllung. Ihn hat 
sie wirklich geliebt. 


Wir sehen hier, dass bei der Analyse des Brech- 
symptomes nicht nur der Complex „Masturbation“ 
erregt wurde, sondern auch das damit ebenfalls ver¬ 
bundene Symptom Rückenschmerz, besonders beim 
Liegen (Coitus), und zwar in dem Maasse, dass Pat., 
bevor sie den verdrängten Grund, die Masturbation, 
gefunden und abreagiit hatte, bat, man möge sie doch 
aus der Hypnose wecken, da unerträgliche Rücken¬ 
schmerzen sie quälen. (Pat. lag während der Hypnose 
zu Bett.) 

In den folgenden Tagen (n. VI.), zu einer Zeit 
wo weder das Erbrechen noch die masturba- 
torischen Symptome fertig analysirt waren, 
war Pat. verstimmt, scheu, missmuthig, widerwärtig, 
verlangte entlassen zu werden und erbrach sich, alles 
mit der Masturbation zusammenhängende Symptome. 
Die Menses waren im Anzuge, Pat. war sexuell er¬ 
regt (dann verlangte sie immer entlassen zu werden). 
Die Menses traten 2 Tage später wirklich ein, be¬ 
gleitet von den oben erwähnten Symptomen, die wir 
ira Lauf der Analyse werden verschwinden sehen. 

(Fortsetzung folgt.) 


Mittheilungen. 


— Berlin. Die Bestimmungen über die 
Unterbringung von Geisteskranken auf 
Kosten der Stadt Berlin in Privatanstalten haben hin¬ 
sichtlich der Entlassung gebesserter Kranker zu Miss¬ 
verständnissen geführt. Die Deputation für die 
städtische Irrenpflege hat deshalb folgende An¬ 
ordnung getroffen: Erscheint die Entlassung eines 
Kranken möglich, so ist sie unter Berücksichtigung 
der staatlichen Anweisungen (eventuell also nach 
Anzeige an die zuständigen Behörden) alsbald ein¬ 
zuleiten. Sofern zur Entlassung oder Beurlaubung 
eines Kranken eine einmalige Unterstützung 
oder die Empfehlung zu fortlaufender Unter¬ 
stützung an die Armendirektion erforderlich ist, 
oder falls der Zustand die Familien pflege unter 
Aufsicht der Anstalt gestattet, ist der Direktion der 
Hauptanstalt sofort Mittheil ungbehufs weiterer Maass- 
nahmen zu machen. 

Jubiläum der Irrenanstalt Dalldorf. 
Die Irrenanstalt Dalldorf und mit ihr zahlreiche Be¬ 
amte, darunter der Direktor der Anstalt Geh. Medizinal¬ 
rath Dr. Sander, der Oberarzt Sanitätsrath Dr. 
Ri chterund verschiedeneVerwaltungsbeamte,konnten 
am 15. d. Mts ihr 2 5 jähriges ] u biläum feiern. 
An diesem Tage waren seit dem Bestehen dieser 
ersten städtischen Irren- und Idioten-Anstalt 25 Jahre 
verflossen. 

Die dritte städtische Irrenanstalt Berlins 
in Buch soll ausser den projektirten Häusern noch 
ein besonderes Gebäude zur Unterbringung ver¬ 
brecherischer Geisteskranken erhalten. Die Depu¬ 
tation für die städtische Irren pflege ist der 
Ansicht, dass durch die Anwesenheit solcher geistes¬ 
kranker Personen in der Anstalt Sicherungsmaassregeln 
erforderlich sind, die mit den wesentlichen Grund¬ 
sätzen der Behandlung der übrigen Geisteskranken 
im Widerspruch stehen. Das Gebäude soll 

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deshalb ausserhalb der eigentlichen Anstalt errichtet 
werden und Raum für 50 Kranke bieten. Für das 
erforderliche Pflegepersonal soll ein besonderes Wohn¬ 
haus errichtet werden, das im Erdgeschoss Wohn- 
räume für 16 Pfleger nebst den nöthigen Aufent¬ 
halts- und Speiseräumen und im Obergeschoss eine 
Wohnung für einen verheiratheten Pfleger enthalten 
soll. Nach dem Verwaltungsbericht des Magistrats 
sind die Kosten für das Verwahrungshaus auf 270000 
M. und für das Pflegeihaus auf 76100 M. veran»- 
schlagt werden. 


Referate. 

— Hirschfeld, Magnus: Der u mische 
Mensch. Leipzig, Verlag von Max Spohr. 

Hirschfeld hat irn Laufe der letzten 7 Jahre ca. 
1500 Homosexuelle sorgfältig beobachtet. Auf diesem 
Beobachtungsmaterial sind die Ausführungen des 
Verf. begründet. Bei den germanischen und angel¬ 
sächsischen Völkern linden sich verhältnissmässig 
mehr Homosexuelle, wie bei den Romanen. 3,6% 
der Fälle II.’s waren Juden. Die echte Homo¬ 
sexualität ist angeboren. Den Momenten, welche 
gewöhnlich als Ursachen der Homosexualität genannt 
werden, kommt lediglich oceasionelle Bedeutung zu. 
Wie Gelegenheitsursachen aller Art den normalen 
Trieb auslösen, lösen auch äussere Einwirkungen oft 
den schlummernden, aber doch deutlich vorhandenen 
homosexuellen Trieb aus. Nur aus dem geborenen 
Urning, aus dem urnischen Kinde entwickelt sich 
der homosexuelle Mann und das homosexuelle Weib. 
Weder ein männliches oder weibliches Wesen kann 
sich in ein gleichgeschlechtlich empfindendes ver¬ 
wandeln, noch ist das Umgekehrte möglich. Varia¬ 
tionsbedürf n iss, Reizhunger, pathologische Associa¬ 
tionen , choc fortuit etc. etc. sind nicht im Stande, 
eine solche Umgestaltung der ganzen körperlichen 

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4 68 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 47 . 


und geistigen ^Beschaffenheit hevorzurufen, wie sie bei 
den Homosexuellen besteht. 

Urning und Uranierin stehen als durchaus harmo¬ 
nische, abgeschlossene Persönlichkeiten in körper¬ 
licher und geistiger Beziehung zwischen Mann und 
Weib, ein drittes Geschlecht darstellend. 

Ueberall in der Natur giebt es Uebergänge. Auch 
der Uranismus ist als ein solcher aufzufassen und ist 
somit eine Naturnothwendigkeit. 

Bei der homosexuellen Empfindung handelt es 
sich um wirkliche Liebe, welche in allen ihren Details 
ein vollkommenes Aequivalent der heterosexuellen 
Liebe ist. Wie bei den Heterosexuellen giebt es 
auch bei den Homusexuellen solche, bei denen der 
Geschlechtstrieb im engeren Sinn nur eine mehr oder 
weniger untergeordnete Rolle spielt und andere, die 
von ihrer Leidenschaft völlig beherrscht werden. 

Auch bei dem Homosexuellen steht das Traum¬ 
leben unter dem Einfluss seiner Triebrichtung. Schon 
vor Eintritt der Reife sind die angenehmen Träume 
der Urninge von gleichgeschlechtlichen Vorstellungen 
erfüllt. Der Trieb der Arterhaltung mangelt gänzlich. 

Der homosexuelle Trieb kann durch gewisse Um¬ 
stände in seiner Gewalt beeinflusst werden, an und 
für sich ist er unausrottbar. Die zuweilen mit Hyp¬ 
nose erzielten Erfolge beruhen, wie bereits Krafft- 
Ebing betonte, „nicht auf wirklicher Heilung, sondern 
auf suggestiver Dressur“. 

Heredität spielt nach den Beobachtungen H.’s 
eine geringe Rolle. Sie bestand in höchstens 20 bis 
25%. Nur bei diesen waren fast durchgängig Zeichen 
von Degeneration nachweisbar. Auffallend ist das 
verhältnissmässig sehr häufige Vorkommen homo¬ 
sexueller Geschwister. Unter 100 Urningen finden 
sich durchschnittlich 8, deren Bruder oder Schwester 
ebenfalls homosexuell sind. 

Rein für sich betrachtet kann von dem Homo¬ 
sexualismus höchstens als von einer besondern Art, 
nicht aber von einer Anomalie im pathologischen 
Sinn gesprochen werden. 

Auch unfruchtbar ist er nicht. H. weist darauf 
hin, dass der Zweck des Geschlechtstriebs auch nur 
die Liebe sein könnte, die Liebe, die stets fruchtbar 
ist, zeugt und gebiert, auch wenn ihr keine neuen 
Lebewesen entspriessen. Man kann auch productiv 
sein, ohne sich fortzupflanzen — das hat nach H.’s 
Ansicht der Uranismus bewiesen. Aufhebung des 
§ 175 ist anzustreben. 

Es dürfte angebracht sein, den Ausführungen 
H.’s die Ansicht Jolly’s, welche im Wentlichen die 
Auffassung einer Reihe hervorragender und kritischer 
Psychiater und Neurologen wiedergiebt, gegenüber¬ 
zustellen. 

Jolly führt in seiner Abhandlung, „Perverser 
Sexualtrieb und Sittlichkeitsverbrechen“ (Klinisches 
Jahrbuch, XI. Band, Heft 1, Gerichtliche Medicin, 
12 Vorträge, Jena, Verl. v. Gustav Fischer, 1903, 
p. 199 ff), aus: Die Homosexualität tritt vielleicht 
in einer ganz kleinen Zahl der Fälle als wirklich an¬ 
geborene Erscheinung auf. In den weitaus meisten 
Fällen ist sie ganz sicher eine erworbene, zum Theil 
in früher Kindheit, zum Theil erst im späteren Leben. 


In der Jugend Bildung fester Association zwischen 
sexueller Empfindung und der bestimmten Vorstell¬ 
ung der Befriedigung, wie es auch bei den anderen 
Perversitäten, Sadismus, Masochismus, Fetischismus. 
Exhibitionismus der Fall ist Die grosse Mehrzahl 
der zunächst Befallenen geht' in der Zeit der vollen 
Geschlechtsreife auf die normale Bahn über und wird 
die „weibliche Seele“ wieder los. 

Eine nicht unbeträchtliche Minderzahl bleibt 
dauernd mehr oder weniger unter der Nachwirkung 
der Jugendeindrücke stehen. Unter dieser Minder¬ 
zahl befindet sich eine nicht geringe Anzahl von 
psychopathischen Naturen, bei welchen die Wider¬ 
standsfähigkeit vermindert ist und die deshalb be¬ 
sondere Neigung zeigen zu solchen pathologischen 
Verknüpfungen. Auch eine ganze Menge gesunder 
Individuen behält diese Neigung bei. 

Bei Erwachsenen ist die Entstehung der Perver¬ 
sität ganz besonders häufig da zu beobachten, wo 
die Betreffenden von der normalen Geschlechtsbe¬ 
friedigung abgeschnitten sind. Auch hier zufällige 
Erwerbung einer Perversität, welche eine ganz isolirte 
sein und bleiben kann, neben der ein durchaus 
normales sonstiges Seelenleben möglich ist. 

Die Theorie, dass die ursprünglich bisexuelle An¬ 
lage des Embryo auch auf eine bisexuelle Anlage 
der Gehirn centren hin weise, dass bei einzelnen Indi¬ 
viduen zufällig das männliche Centrum verkümmere 
und nur das weibliche erhalten bleibe, ist als positiv 
falsch zu bezeichnen. 

Der Umstand, dass die Perversität der Homo¬ 
sexualität in ganz übereinstimmender Weise sich ent¬ 
wickelt, wie alle anderen Perversitäten in sexueller 
Beziehung, beweist, dass alle Erklärungsversuche, 
welche nur für die einzelne Perversität zugeschnitten 
sind, von vorneherein hinfällig sein müssen. 

Für die practische Begutachtung, für die Auf¬ 
fassung des Psychiaters und des Gerichtsarztes, der 
solchen Fällen gegenübergestellt wird, kann allein in 
Frage kommen, zu ermitteln, ob geistige Krankheit 
vorhanden ist oder nicht, eventuell ob neben dieser 
perversen Sexualität etw^a andere Momente vorhanden 
sind von krankhafter Art, welche die Widerstands¬ 
kraft des Individuums ausserordentlich herabsetzen. 

Jolly ist für Aufhebung des § 175. 

Die Gründe dafür sind folgende: Es werden da¬ 
durch Scandalprocesse vermieden, welche Niemanden 
zu Nutzen sind, insbesondere nicht der öffentlichen 
Moral. Weiterhin verfallen noch der practischen 
Rechtsprechung nur ganz bestimmte sexuelle Prac- 
tiken, die unter Männern geübt werden, der Strafe, 
während andere Practiken straflos bleiben, speciell 
die mutuellle Masturbation. 

Solange der § 175 besteht, müssen es sich die 
Homosexuellen gefallen lassen, mit demselben Maasse 
gemessen zu werden, wie die anderen Sexualper¬ 
versen. Auch von den Homosexualen ist zu ver¬ 
langen , dass sie, soweit sie nicht unter den Begriff 
der eigentlich Geisteskranken fallen, wie jeder sitt¬ 
liche Mensch bestrebt sind, ihre Triebe zu be¬ 
herrschen. Thuen sie es nicht, so haben sie die 
Folgen davon zu tragen. W ickel-Dziekanka. 


Für den redactionclk-n Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Brt-sler, Lubhnitz (Schlesien). 

Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl M arhold in Halle a. S. 

Heyneznann’sche Buchdruckerei (Gehr. Wo’fn in Halle a. S. 

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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift. 

Redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Lublinitx (Schlesien). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834. 

Nr. 48. 25. Februar. 1905. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagshuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die 3 spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten. 


Analytische Untersuchungen der Symptome und Assoziationen 
eines Falles von Hysterie (Lina H.) 

Von Dr. Franz Riklin , bisher 1. Assistenzarzt am Burghölzli, z. Z. Sekundararzt an der Züricher Pflegeanstalt Rheinau. 

(Fortsetzung.) 


Schmerzen im rechten Arm. Pat. klagte 
öfter, namentlich bei verdriesslicher Laune, über Schmer¬ 
zen im rechten Vorderarm, besonders in der Gegend 
der Supinatoren. 

Der Arzt, dem sie diese Schmerzen zum ersten¬ 
mal klagte, fand damals eine Schwellung und Druck¬ 
empfindlichkeit dieser Muskeln. Bei den späteren 
Untersuchungen wurde jeweilen noch Druckempfind¬ 
lichkeit, aber nicht mehr Schwellung konstatirt. Pat. 
selbst meinte in der Folge, die Schmerzen kommen 
dann, wenn sie sich beim Glätten überarbeite und 
ähnl. Man verordnete feuchte Umschläge. In der 
Hypnose wird der Pat. zur Unterstützung der Analyse 
suggerirt, sie empfinde jetzt lebhaft diese Schmerzen. 
Pat. erzählt hierauf: Am Morgen des Tages, wo diese 
Schmerzen, verbunden mit deutlicher Schwellung des 
Vorderarms sich einstellten, war sehr schlechtes Wetter 
und ich sehr verdriesslich. (Man merke sich diese 
scheinbare Begründung) dann: „Ich war sehr gereizt 
(sexuell), denn erst zwei Tage vorher war die Periode 
eingetreten. Ich quälte mich selber (masturbirte ; 
„quälen“ braucht Pat. auch im Sinne von Coitus erleiden, 
spec. vor der 3. Schwangerschaft oder im Sinne von 
missbraucht werden) mit der rechten Hand. Nach¬ 
her verwünschte ich diese Hand: wenn sie nur ver¬ 
faulen oder abgehauen würde! In dieser Entrüstung 
ging ich hin und klemmte die Hand (resp. den ganzen 
Vorderarm) zwischen Bett und Mauer ein (am Morgen 
als Pat. ihr Bett rüstete!) sodass sie nachher ge¬ 
schwollen war. Abends kam Dr. M., ich klagte ihm 
über die Schmerzen im Arm“. Pat. wusste in diesem 
Momente schon nicht mehr, woher die Schmerzen 
und die Schwellung rührten. In der Folge stellten sich 
die gleichen Schmerzen jeweilen wieder ein, wenn Pat. 
masturbirt hatte und nicht eine andere Constellation 
ein anderes masturbatorisches Symptom verlangte — 
z. B. Erbrechen, wenn gleichzeitig andere Magensymp- 
tome schon da waren, Rückenschmerzen wenn die 
andern Determinanten für Rückenschmerzen schon 
vorhanden waren u. s. f. (möglicherweise stellte sic 


sich beim Masturbiren mit Armschmerz dem Ab¬ 
theilungsarzt vor). 

Dieses Symptom des Armschmerzes ist eines der 
wenigen, die im Laufe der Beobachtung neu entstan¬ 
den sind. 

Der Umstand, dass Pat. am Abend des genannten 
Tages schon nicht mehr wusste, woher die Schmerzen 
im Arm kamen, dass also schon wieder eine starke 
Spaltung zwischen Symptom und Ursache stattgefun¬ 
den hatte, lässt daran denken, Pat. habe sich im 
Moment der Entstehung in einem hypnoiden Zustand 
befunden. Beweisen lässt sich diese Annahme nicht 
Während der ganzen Zeit der Beobachtung konnte 
ein hypnoider Zustand, in dem Pat. z. B. ein deut¬ 
lich eingeengtes Bewusstsein gehabt, falsch oder schwer 
aufgefasst oder Vorgänge in ihrer Umgebung nicht 
wahrgenommen hätte, nicht nachgewiesen werden, aus¬ 
genommen wenn es sich um posthypnotische oder 
intrahypnotische Suggestionen handelte, die Pat. aller¬ 
dings musterhaft realisirte. 

Nach dem was wir von der Pat. wissen, sind wir 
nicht berechtigt, die Entstehung der „Conversion“ der 
Abspaltung vom Bewusstsein, bei ihr in hypnoide 
Zustände zu verlegen, sofern wir nicht annehmen, 
dass im Zustande des Affects immer eine gewisse 
Bewusstseinseinschränkung auf das Object des Affects 
entsteht. 

Zeitweise war die Masturbation wieder von einem 
andern Symptom gefolgt, Husten; derselbe hat im 
Zusammenhang folgende Aetiologie: 

Als Pat. in unsere Anstalt kam, klagte sie über 
Schmerzen auf der Brust und auf der Seite (Schmerzen 
in den Brüsten). Sowohl die einweisende Aerztin 
als der Arzt, der den Aufnahmestatus besorgte, fanden 
nichts Objectives; letzterer fragte sie noch, ob sie 
vielleicht eine Brustfellentzündung durchgemacht habe. 
Er fragte sie auch, ob sie Husten habe. Als er aber 
auch nichts fand, und sie doch über Schmerzen in 
der Seite geklagt hatte, machte es ihr den Eindruck, 
als glaube man ihr nichts. Im übrigen regte sie die 


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HARVARD UNiVERSITY 












PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 4.8 


47° 


gleichzeitig vorgenommene gynäkologische Unter¬ 
suchung sexuell stark auf. Denn sie erwartete die 
Menses, vor deren Eintritt die sexuelle Erregung bei 
ihr immer stärker war. Innerhalb 8 Tagen stellten 
sich dann die Menses ein und damit auffallender 
Husten. Seither hustet Pat. oft bei sexueller Erregung. 

Im Frühjahr 1901, als ein ärztlicher Vertreter die 
Abteilung besorgte, klagte Pat. eines Abends über 
Schmerzen in der Ovarialgegend. Der Ver¬ 
treter nahm eine gynäkolog. Untersuchung vor, welche 
die Pat. sehr stark sexuell erregte. Sie bekam einen 
kleinen Anfall, wurde blass, die Pupillen erweiterten 
sich stark, sie zuckte etwas mit den unteren und 
oberen Extremitäten, verlor jedoch keineswegs das 
Bewusstsein. Die Untersuchung wurde sofort unter¬ 
brochen. Gleich nachher heftiger nervöser Husten, 
hervorgerufen durch die sexuelle Erregung, welche 
durch eine unbewusste Erinnerung an die frühere 
gynäkolog. Untersuchung verknüpft war. Es fiel zur 
Zeit der Analyse besonders auf, dass Pat. vom 31. V. 
03 an wieder merklich hustete; man verschrieb ihr 
vorher, wie schon oft, Codein; der Husten legte sich 
nach 8 Tagen, nachdem die Menses eingetreten war. 
Einen wichtigen Grund für das Auftreten des Hustens 
hatte Pat. nicht. Bei der Analyse ergab es sich 
aber, dass Pat. am Tage des Auftretens von Husten 
die Menses erwartete, die erst 8 Tage später kamen. 
Gewöhnlich kamen in der letzten Zeit die Menses 
regelmässig alle 3 Wochen, diesmal waren es 4 ge¬ 
worden. Den Husten begleiteten während der letzten 
8 Tage vor der Menstruation die z. T. schon berührten 
gürtelförmigen Rücken- und Kreuzschmerzen. Seit 
dem 6. VI. (Eintritt der Menses) hustete Pat. noch 
vereinzelte Male ; jedesmal Hess sich nachweisen, dass 
sie sexuell erregt gewesen war und masturbirt hatte. 
Die während der Masturbation vorgestellte Person — 
jener Hilfsarzt — hat dabei das Symptom des Hustens 
determinirt. Dieses Symptom hat ein ziemlich eigen¬ 
tümliches Genese: Bei der ersten Untersuchung war 
Pat. sexuell erregt; Husten aber hatte sie gar nicht, 
sondern man fragte sie nur darnach, und so bildete 
sich die Coexistenz der sexuellen Erregung mit der 
Vorstellung des Hustens. Bei der folgenden Steige¬ 
rung der sexuellen Erregung durch den Eintritt der 
Menses, trat merklich starker Husten ein. In Zukunft 
trat Husten jeweilen auf: 

1. Kurz vor dem Eintritt der Menses, indem sich 
Pat. an die damalige Untersuchung unbewusst er¬ 
innerte. 

2. Seit der spätem Untersuchung durch den Hilfs¬ 
arzt, oft wenn Pat. masturbirte, und soviel sich nach¬ 
weisen lässt, stellte sie sich dabei gewöhnlich den 
betr. Hilfsarzt voi. 

So hat sich die Masturbation unter besonderen 
Umständen dieses Hustens als „Conversionssymptom“ 
bedient. 

Gleichzeitig haben wir den Aufbau des Symptoms 
Husten durch Angliederung an ein schon vorhandenes, 
Schmerz in der Seite und auf der Brust, verfolgen 
können. Der Husten ist, wie die meisten Symptome, 
durch Anlagerung neuer ähnlicher Ursachen, mehr- 
ach determinirt. 


Masturbation und Herzsymptome. Das 
Weinen. Am 6. Juli 03, nachdem die Analyse 
des Hustensymptoms erledigt war, suchte sich Pat 
bei der ärztl. Morgenvisite zu drücken, ebenso bei 
der Abendvisite. Sie weinte, tagsüber immer, fühlte 
sich sehr unglücklich, gab schliesslich (in Hypnosci 
zu, sie habe in der Frühe masturbirt und habe des¬ 
halb den Arzt nicht anzusehen gewagt. Erbrechen 
oder Schmerzen im Arm waren nicht mehr 
aufgetreten. In der folgenden Nacht hatte sie 
Schmerzen in der Herzgegend, einen „Herz¬ 
krampf“. Ueberhaupt ist das psychische Befinden 
eigentlich ziemlich schlecht. Die letzten Symptome 
gehören zu einer grösseren Symptomengruppe mit 
Lokalisation in der Brustgegend, die schwer aus¬ 
einander zu lesen sind. 

Am 12. Juli 03 Menses (nach genau 4 Wochen 
Intervall; vorher alle 3 Wochen). Die Rücken- 
schmerzen, die sonst den Anzug der Menses an¬ 
kündigten, blieben diesmal aus, nachdem sie 
inzwischen analysirt und abreagirt worden war. Pat. 
war die letzten 8 Tage immerhin labiler und sexuell 
erregter und onaniite mehrmals. Auch hustete sie 
diese 8 Tage ein wenig, aber viel weniger heftig als 
früher. Eigenthümlicher weise traten nochmals 
Schmerzen im rechten Arm auf, und zwar 
ohne dass Pat. den Grund kannte. Es ergab 
sich, dass noch nicht alle mit der Masturbation ver¬ 
bundenen hysterischen Symptome aufgedeckt waren, 
und nach der vollständigen Analyse traten sie meines 
Wissens nicht mehr auf. 

Die Hypnose vom 13.. Juli 03 ergab, dass sich 
Pat. beim Masturbiren neben den bis jetzt bekannten 
Männern noch einen anderen vorstellt (von den übrigen 
ist ihr erster Geliebter der Unschuldigste; denn wenn 
sich Pat. ihn vorstellt, erscheint ihr die Masturbation 
nicht als etwas Abscheuliches, sondern etwas An¬ 
genehmes, Physiologisches, d. h. soviel als: die un¬ 
angenehme Reaction auf die Masturbation ist secundär, 
beruht auf einer oberflächlichen Erklärung; wenn die 
sexuelle Erregung zur Vorstellung von unange¬ 
nehmen Situationen und Menschen führt, dann 
macht die Masturbation unangenehme Symptome, 
sonst nicht.) 

Dieser vierte Mann ist der Schwager der Pat., 
den sie sonst als soliden Mann darstellt. Auch er 
pflegte sexuellen Verkehr mit ihr. Das eistemal war 
sie etwa 12 Jahre alt, noch nicht menstruirt, und 
wohnte bei ihm mit ihrer Mutter. Er war schon 
verheiiathet. Pat. hatte seit dem ersten Angriff von 
Seite des Vetters neben dem Erbrechen auch hie und 
da Herzklopfen, fühlte sich überhaupt oft nicht ganz 
wohl und blieb ab und zu einen Tag im Bett. An 
einem solchen Tag befand sich ausser ihr nur der 
Schwager zu Hause. Als sie eingeschlummert war, 
missbrauchte er sie. Sie hatte nachher nicht Er¬ 
brechen, sondern, was zur Ueberraschung viel eher 
passt und sich zu dem schon angedeuteten durch 
ähnliche Ursachen bedingten Herzklopfen recht natür¬ 
lich gesellte: Sie bekam ganz intensives Herz¬ 
klopfen. Dasselbe stellte sich nun jedesmal wieder 
ein, w'enn sie bei einer Erinnerung an diesen Angriff 


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I 9°5-] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


47 1 


von seiten des Schwagers zur Zeit sexueller Erregung 
masturbirtc. 

Nach dem ersten Missbrauch durch den Schwager 
wurde Pat. wegen einer „Herzkrankheit“ ins Kantons¬ 
spital in W. geschickt und neun Wochen behandelt. 
Die übrigen Ursachen für diese Herzkrankheit, die 
nach allem, was w*ir wissen, rein hysterischer Natur 
war, werden wir noch anführen. 

Nach der Geburt des ersten Kindes verkehrte der 
Schwager häufig mit ihr. Pat. behauptet, sie hätte 
nach der schlechten Behandlung, welche sie bei dieser 
Gelegenheit erfahren hatte, nicht mehr zu protestieren 
gewagt; einmal habe sie es den Angehörigen gesagt, 
da habe sie Prügel bekommen. Sie weinte sehr, 
namentlich vor Entrüstung. Dies war auch die fol¬ 
genden Male die einzige Reaction. (Oberbewusst 
giebt Pat. ganz andere Erklärungen für ihre Wein¬ 
anfälle: Man ärgere sie überall, sie möchte entlassen 
werden u. s. f.) 

Der gleiche Schwager fand sie als erster nach der 
Geburt des 3. Kindes im Walde. 

Als sie dann später in jenem Mädchenasyl P. vom 
Schwager besucht wurde, brach sie in Thränen aus 
und war nicht zu beschwichtigen. Nicht der Besuch 
an sich, sondern die Errinnerung an jene sexuellen 
Geschichten mit dem Schwager waren der Hauptgrund 
dieser intensiven Reaction. In der Folge gab cs 
Geschichten wegen ihres Heimathscheines, der beim 
Schwager liegen musste. Jedesmal, wenn vom Heimath- 
schein die Rede war und dadurch die Erinnerung an 
den Schwager wieder wach wurde, gab es Wein¬ 
anfälle. ' Etwas später brachte ihr der Schwager einen 
Brief ihres ersten Geliebten : Wieder grosser Thränen- 
ausbruch. Pat. las diesen Brief oft durch, jedesmal 
mit der gleichen Wirkung. Sie erinnerte sich dabei 
an die letzte Geburt, an den Schwager etc. und ergoss 
sich in Thränen. Man nahm ihr dann den Brief weg, 
sie weinte erst recht; dieses Verhalten gab den Aus¬ 
schlag zur Ueberführung in unsere Klinik. Während 
Pat. dies erzählte, brach sie oft in Thränen aus. 

Das Weinen functionirt in diesem Zusammenhang 
ganz gleich wie ein anderes körperliches Symptom. 
Es tritt eigentlich nur dann auf, wenn die Ursache, 
welche es in dieser Form zum erstenmal auslöste, und 
die spätem secundären Ursachen in Form von (meist 
nicht bewusst werdenden) Erinnerungen wieder wirk¬ 
sam werden. 

Viele unbewusste Erinnerungen, welche an ebenso 
traurige, aber mit anderen körperl. Begleiterscheinungen 
verbundene Ereignisse geknüpft sind, lösen eben keine 
Weinanfälle, sondern andere Symptome aus. Auch 
haben diese Weinanfälle, wie übrigens der Husten 
und ähnliche für den Beobachter sofort etwas Auf¬ 
fallendes, Gekünsteltes, Uebertriebenes an sich, wenn 
auch ihre Verwendung an recht geschickten, fürs 
Bewusstsein plausiblen Orten erfolgt, wie die Analyse 
zeigt. 

Das Weinen ist komplicirter als manche der 
andern Symptome. Bei den verschiedenen Schmerzen 
handelt es sich darum, dass eine mit der Ursache, 
welche nur unterbewusst erinnert wird, ursprünglich 
coöxistente Schmerzempfindungsvorstellung, in hallu¬ 


zinatorischer Deutlichkeit wieder auftaucht, natürlich 
mit einem mehr oder weniger intensiven aber gewisser- 
raassen localisirten Unlustaflekt. Man kann mit der 
Pat. in diesem Zustande sehr wohl eine angenehme 
Unterhaltung führen, wie oft mit einem körperlich 
Leidenden. 

Beim Weinen handelt es sich um die Repro- 
duction einer complicirten Stimmung mit einer Aus¬ 
lösung motorischer, vasamotor. undsecretor. Phänomene. 

Trotz dieser Unterschiede functionirt das Symptom: 
Weinanfall in ganz gleichem Sinn als körperliches 
ConVersionssymptom wie alle andern. Zusammen¬ 
fassend sehen wir, dass das Herzklopfen nach dem 
ersten Missbrauch (Vetter) einsetzte, beim folgenden 
(Schwager) den Umständen angepasst in den Vorder¬ 
grund trat und die „H erzkrankheit“ des Mädchens 
von damals bedingte, die wir noch zu verfolgen haben. 
In einem bestimmten Momente, als nämlich Pat., nach¬ 
dem sie vom Schwager wieder missbraucht worden 
w f ar, auf die Anzeige hin noch Prügel bekommen 
hatte, trat das sehr begründete Weinen auf, das in 
der Folge als Conversionssymptom fortdauerte, sodass, 
wenn das Masturbiren mit der Erinnerung an den 
Schwager verbunden ist, Herzklopfen und Weinanfälle 
auftreten. Oberbewusst erklärt Pat. diese Symptome 
anders: Sie glaubt, sie habe sich das Herzklopfen 
durch Ueberanstrengung zugezogen oder sie habe 
einen Herzfehler, und weinen müsse sie, weil sie von 
Mitpatientinnen oder Pflegerinnen geärgert worden 
sei; sie sucht und findet dann natürlich Gelegen¬ 
heiten, sich zu ärgern. 

Wenn Pat. masturbirt, so bekommt sie ganz 
leichten Fluor albus, eigentlich kaum der Rede 
werth. Dieser fast hypothetische Fluor lagert sich 
als körperliche Beschwerde an die übrigen Genital¬ 
symptome. Oberbewusst weiss Pat. die Ursache nicht 
anzugeben. Erst die Hypnose ergiebt, dass die Mastur¬ 
bation und die dahinterliegenden Gedankencomplexe 
dieses Symptom als Beschwerde bedingen. Wenn 
Pat., wie sie verlangte, jeweilen Ausspülungen machen 
durfte, war der Fall für ihr Oberbewusstsein erledigt. 
Die Ursache für den Fluor verlegte sie in ihr angeb¬ 
liches Genitalleiden, das selbst aus lauter ähnlich 
entstandenen Symptomen besteht, denen keine körper¬ 
liche, aber eine psychische Ursache zu Grunde liegt. 

8 Tage bevor im Frühjahr 1904 die Hypnose 
Aufschluss über die intensiven mit Erbrechen ver¬ 
bundenen Leibschmerzen brachte (Abortversuche!), 
hatte Pat infolge Masturbirens auch wieder „Ausfluss“; 
sie habe sich erkältet, weil sie im Grase gesessen sei. 
Trotzdem eine Hypnose den Zusammenhang ergeben 
halte, behauptete sie am Tag vor der folgenden Hyp¬ 
nose (19. III. 03) wieder, wenn man sie vor 8 Tagen 
hätte Ausspülungen machen lassen, so hätte sie jetzt 
auch keine so intensiven Leibschmerzen! Erst die 
folgende Hypnose, welche die Geschichte von den 
Abortversuchen zu Tage förderte, machte ihr den 
Zusammenhang auf’s neue klar. Seither hat Pat. die 
gleichen Schmerzen noch einmal* vorgebracht, ohne 
über den Zusammenhang klar zu sein. Es zeigt 
dieses Beispiel wieder, dass in einer neuen Constel- 
lation die Genese der alten, vermeintlich abreagirten 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


4/2 


[Nr. 4 : 


Symptome dem Oberbewusstsein wieder entschwinden 
kann, und dass der Automatismus in Form des 
körperlichen Symptoms durch den noch nicht analy- 
sirten Complex ausgelöst werden kann. 

Ganz ähnlich wie die Schmerzen im rechten 
Arm entstanden solche in den äusseren Geni¬ 
talien. Im Frühjahr 1904, ungefähr in der gleichen 
Zeit, wo die Erzählungen jener Freundin über ihr 
Verhältniss und ihren Abort spielten, und neuerdings 
Erbrechen, Leibschmerzen und Fluor albus auftraten, 
klagte Pat. über intensive Schmerzen in den Genitalien. 
Leider wurde erst an einem der folgenden Tage eine 
Inspection vorgenommen, die nichts Positives ergab. 
In der Hypnose stellte es sich heraus, dass sich Pat. 
im Aerger über ihr Masturbiren in die Labien 
gekniffen hatte. 

Theoretisch ist dieses neue Symptom den Schmerzen 
im Arm gleichzustellen. Ursprünglich wollte Pat. den 
Arm übrigens nicht quetschen, sondern hinein- 
beissen, aber sie hat schon frühzeitig die Zähne 
verloren und besass noch keine künstlichen! Beissen 
ist aber ein mimisches Symbol der Wuth und hätte 
der Stimmung der Pat. durchaus entsprochen. 
Quetschen und Kneifen dienen also zum Ersatz des 
Beissens. 

Wir haben damit die durch die Masturbation 
(die selbst mit den vielen sexuellen Schädigungen der 
Pat. zusammenhängt) bedingten körperlichen Symptome 
wohl annähernd erschöpft. Sie sind auch sehr selten 
geworden, ob ganz und für dauernd, wage ich nicht 
zu sagen. Wer weiss, ob nicht bei irgend einer neuen 
Constellation das eine oder andere Symptom wieder 
auftritt und es sich herausstellt, dass noch nicht alles 
„erledigt“ ist. Das Erbrechen z. B., das bis auf die 
Geschichte von den Abortversuchen analysirt war, 
blieb richtig mehr als ein halbes Jahr ganz aus. Eine 
intensive Constellation: Das ins Gras sitzen im Früh¬ 
jahr plus die Erzählung einer Bekannten von ihren 
sexuellen Abenteuern und ihrem Abort, waren nöthig, 
um das Symptom manifest zu machen, und dessen 
weitere Ursache an den Tag bringen zu können. 

Weitere Analyse der pectoralen Symp¬ 
tomengruppe. Zur Gruppe der pectoralen Symptome 
gehören: die Herzkrankheit im 12. Lebensjahr (z. T. 
analysirt), „Herzkrämpfe“. Schmerzen in den Brüsten 
und in deren Umgebung, Dyspnoe, Seitenstechen, 
Hitz- und Frostgefühl, der Husten (analysirt) und 
Blutspucken. 

Die „Herzkrankheit“ im 12. Jahr war ausser 
den schon angeführten noch durch folgende Punkte 
determinirt: 

Nach dem ersten Missbrauch durch den Vetter 
hatte Pat. wieder Herzklopfen, als sie vom Lehrer 
mit dem Lineal Schläge auf die Finger bekam, weil 
sie im Heft so viele Fehler hatte. (Der Vetter hatte 
ihr s. Z. Prügel versprochen, wenn sie der Mutter 
etwas sage.) Das wiederholte sich, so oft sie Schläge 
bekam. Weil sie in der Schule ihrer Herzgeschichten 
wegen oft fehlte, half ihr der Vetter zu Hause im 
Rechnen nach; dabei drohte er ihr wieder mit Schlägen, 
wenn sie in der Schule zurückgesetzt werde. So 
wiederholte sich bei jeder Züchtigung zu Hause oder 


in der Schule dieses Herzklopfen, und es entstand 
ein förmlicher circulus vitiosus: Wegen ihres Herz¬ 
klopfens blieb sie in der Schule aus, wegen des Aus¬ 
bleibens kam sie im Lernen zurück und bekam mehr 
Schläge, die wieder Herzklopfen auslösten. 

Als sie den übrigen Angehörigen von der Ver¬ 
gewaltigung durch den Schwager mittheiite, bekam 
sie auch wieder Schläge, worüber sie sehr empör: 
war; damals begannen die Weinanfälle. Gleichzeitig 
lösten diese Schläge wieder Herzklopfen aus. 

Dazu kam ein zweites: 

Als Kind wollte ihr der Vater einmal Schnap* 
zu trinken geben (vor dem ersten sexuellen Trauma 
und als sie nicht trinken wollte, gab er ihr einen 
Stoss in die Brustgegend, rechts. Die gleiche Stelle 
berührte ihr Schwager in der Zeit, als sich das Herz¬ 
klopfen entwickelte, einmal plötzlich mit der kalten 
Hand, sodass sie erschrak und einen förmlichen Er¬ 
stickungsanfall bekam. Als sie mit der Grossmutter 
in jener Zeit einmal in den Ferien in ihrer alten 
Heimath in J. war, wo der Vetter noch wohnte, kam 
abends öfter, wie schon erzählt, der Vetter und miss¬ 
brauchte sie. Sie erbrach sich nachher, fühlte sich 
schlecht. Sie beklagte sich bei der Grossmutter, welche 
ihr rieth, sie solle das nächstemal weglaufen, und 
unterdessen die Geschichte in der Nachbarschaft 
herumkolportirte. Das kam dem Vetter und dessen 
Vater zu Ohren, beide waren wüthend über diese 
Schädigung ihres Ansehens x\ls die Pat. das nächste¬ 
mal dem Vetter entfliehen wollte, trat ihr unter de: 
Hausthüre dessen Vater entgegen und versetzte ih 
einen Stoss in die Brust. Er tiaf sie ungefähr an der 
gleichen Stelle wie s. Z. der Vater und dann der 
Schwager, unter der rechten Brust, so dass sie rück¬ 
lings auf die Schwelle fiel und Schmerzen oben im 
Rücken an der Stelle bekam, die auf die Schwelle 
fiel. (Bei späterer Wiedererweckung der Brustschmerzen 
taucht ab und zu auch diese Art Rückenschmerzen 
wieder auf) Sie bekam dann von dem Manne 
Schläge mit der Hand auf die für Prügel prädestinirten 
entblössten Körpertheile, was sie ebenso sehr indignirte 
wie die Schläge, als sie den Schwager verklagt hatte. 

Als sie letzterer mit der kalten Hand anfasste, 
wmrde auch — unbewusst — die Erinnerung an die 
schlagende nackte Hand jenes Vaters des Vetters 
wachgerufen. 

Die Grossmutter reiste nach dem oben genannten 
Vorfall mit der Pat. heim. Eigenthümlicher Weise 
wiederholten sich bei späteren Schlägen nicht die 
Schmerzen in der Glutäalgegend; sie w-urden immer 
ersetzt durch solche in der rechten Brustgegend. Kurz¬ 
um: so oft Pat. später Schläge bekam oder durch 
irgend ein Ereigniss im Unterbewussten die Erinne¬ 
rung an solche Scenen erweckt wurde, stellten sich 
neben Herzklopfen und Weinen auch Schmerzen 
in der rechten Brustgegend ein. 

Im Kantonsspital in W. verbot man den Eltern, 
das Kind in Zukunft wieder zu schlagen. Die Symp¬ 
tome besserten sich auffallend; wenn aber Pat., etwa 
beim Spielen, von einem anderen Kind einen Schlag 
auf den Rücken erhielt, trat jeweilen eine Verschlimme¬ 
rung ein. 


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1905 ] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


473 


Nach der Gebart des zweiten Kindes kam einmal 
der Vater — der sonst getrennt von der Mutter 
lobte — un&afechimpfte mit ihr Wegen dieses Kindes, 
wobei er ihft /Wieder einen Stoss an die gleiche Stelle 
versetzte. Ge¬ 
während der Erzählung der letzten Geschichten 
weinte Pat häufig. 

Längere Zeit, nachdem Pat. den Sachverhalt über 
die Schmerzen in der rechten Brustgegend erzählt 
hatte, ging sie eines Abends früher zu Bett und klagte 
am folgenden Morgen, wie wenn sie von der ganzen 
Analyse nichts wüsste, wieder über Schmerzen unter 
der rechten Brust; wie selbstverständlich fügte sie bei, 
auf der linken Seite habe es jetzt auch angefangen 
weh zu thun, so dass sie schlecht geschlafen habe. 
Letzteres Symptom war neu, und die Hypnose ergab, 
dass Pat. tags zuvor von einer Pflegerin mit etwas 
derber Veranlagung und grossem Heirathsbcdürfniss 
auf die Abtheilung begleitet worden war. Die Pflegerin 
fasste die Pat. scherzweise fest um die linke Hüfte, 
und als Pat., wie es üblich ist, schrie, sagte die Pflegerin 
lachend, so bekomme Pat. ja nie einen Mann, wenn 
sie so laut schreie, wenn er sie um die Hüfte fasse. Pat 
erwiderte: Der würde mich doch nicht so drücken? 
Darauf die Pflegerin: Ja, was meinen sie denn, wenn 
er sie aufs Bett hindrückt? Pat. lachte über diesen 
massiven Scherz. Doch fühlte sie gleichzeitig den 
Schmerz in der rechten Brustgegend, desgleichen 
auf der linken Seite, wo die Pflegerin sie gefasst 
hatte. Sie hatte früher eben vom Schwager noch 
nicht alles erzählt: Als er sie s. Z. mit der kalten Hand 
angefasst hatte, stiess er die sitzende Pat. aufs 
Bett zurück (mit sexuellen Absichten?); sie bekam 
damals auch Gefühle von Frost und Hitze, die sich 
auch jetzt wieder eingestellt haben. 

Die Anlagerung eines neuen körperlichen Symp¬ 
toms an ein altes, von ähnlicher symbolischer Be¬ 
deutung, zeigt sich hier überaus hübsch. 

Interessant ist der Moment der Entstehung; vom 
hypnoiden Zustand nichts nachweisbar; oberbewusst 
nicht einmal ein bedeutender Affekt, nur unterbewusst 
wirkt die Erinnerung an die entsprechende Scene mit 
dem Schwager. Zum gleichen Affekt hat sich in 
diesem günstigen Moment ein zweites, symmetrisches 
Symptom associirt. 

Das Oberbewusstsein lacht, während der 
gleichzeitig angeregte, verdrängte, noch unvollständig 
abreagirte Coraplex die Schmerzempfindungen im 
Oberbewusstsein auslöst. 

Damit war die Analyse dieser Schmerzen in der 
Hauptsache erledigt und Pat. in der Folge davon be¬ 
freit — ob ganz und auf die Dauer, ist noch eine 
Frage. 

Die Schmerzen in der Herzgegend, welche Pat, 
empfand, wenn sie geschlagen wurde, wobei sie 
gewöhnlich auch weinte, sind nicht ganz identisch 
mit dem Herzklopfen, das sich beim Erschrecken 
über die ersten Vergewaltigungen einstellte und fixirte. 
Die Herzschmerzen beim Aerger über die ungerechte 
Behandlung, der ja oft mit dem Herzklopfen aus 
Angst (Prügel!) zusammen sich einstellte, trat in der 
Folge fast bei jedem Aerger auf, erscheint trotz 


aller Mühe von Zeit zu Zeit bei neuem Aerger wieder. 
Es würde viel zu weit führen, die Unmenge von 
einzelnen ärgerlichen Ereignissen anzuführen, die mit 
Herzkrämpfen, wie Pät. diese differencirte Art 
von Herzschmerzen nennt, verbunden sind. 

Als Pat. nach der dritten Geburt im Spital in 
Anwesenheit anderer Kranker wegen der angenom¬ 
menen Kindestötung verhört wurde, sich schämte und 
alle alten Erinnerungen im Verhör theils bewusst, 
theils unbewusst erwachen und anklingen mussten, 
stellten sich gleichzeitig eine Unmenge dieser körper¬ 
lichen Symptome ein. 

Das gleiche geschah vor der Analyse und während 
derselben, oft zur Zeit der Menses. Die Menses 
waren jeweilen die Brücke zu allen möglichen patho¬ 
genen Erinnerungen: Geburten, Masturbation, Incest, 
Vergewaltigung, überhaupt alles, was direct und indirect 
mit dem Sexualcomplex zu thun hatte. Dement¬ 
sprechend war das Befinden der Pat. meist schlecht, 
sie klagte über alles mögliche. 

Es stellte sich heraus, dass „Seitenschmerzen u und 
die Schmerzen unter der rechten Brust identisch sind; 
Die Grenze der schmerzhaften Gegend ist, entsprechend 
den Ursachen, nicht scharf. 

Es würde zu weit führen, alle kleinem Symptome, 
die sich noch an grössere Gruppen anlagern, aufzu¬ 
zählen. Hingegen haben wir noch einige Haupt¬ 
gruppen von Interesse zu analysiren. 

Die Abasie. Im Frühjahr 1903 lag Pat. wegen 
Abasie 8 Wochen lang zu Bett. Als sie versuchte 
aufzustehen, musste sie sich überall stützen und än- 
klammern, doch gelang es ihr allmählich, zum Essen, 
aufzustehen, und die nöthigsten Gänge innerhalb der 
Abtheilung zu machen. Immerhin hielt sie sich fast 
stets an der Wand und hatte noch einen wankenden 
Gang. Die Beine waren zu „schwach 4 ‘. 

Pat kam bei der Analyse zuerst auf eine Seiten¬ 
fährte. Sie erinnerte sich in Hypnose, dass sie 
einmal Schmerzen auf der Vorderfläche der Ober¬ 
schenkel hatte, nachdem sie am Morgen jenes Tages 
im nassen Gras auf dem Bauch gelegen war. 

Es dauerte ein Jahr, bis der Zusammenhang 
dieser Beinschmerzen gefunden wurde: Sie war eben 
wie jedes Frühjahr ins Gras gelegen und hat sich so 
der Abortgeschichten imbewusst erinnert. Im Früh¬ 
jahr 1903 war die „Sperrung 41 (ich brauche hier nicht 
ohne Grund einen Begriff, der im Symptomenbild 
der Dementia praecox eine wichtige Rolle spielt) 
resp, der Widerstand zu gross, um zu diesem Vor- 
steUungscomplex zu gelangen. Die Erzählung vom 
Abort der Freundin rief ihn wieder wach, mit Er¬ 
brechen, und nun war es möglich, die Spur zu finden. 

Mit dem ins Gras liegen stellten sich Leib¬ 
schmerzen ein, dazu gesellten sich jetzt secundäre 
Schmerzen der gleichzeitig den Boden berührenden 
Oberschenkel. Diese Schmerzen auf der Vorderfläche 
der Oberschenkel haben sich, ähnlich wie die 
Schmerzen auf der linken Seite zu denen auf der 
rechten Seite, den Leibschmerzen recht natürlich 
angelagert. Möglicherweise hat ein Scherz mit 
sexuellem Hintergrund diese Addition bedingt Pat 
erzählte einmal, dass an jenem Morgen auf dem Feld 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT: 


[Nr. 4 ?. 


474 


solche Scherze gemacht wurden (wegen einer Ver¬ 
lobung). Einen ähnlichen Fall liefert die Analyse 
der Ohrenschmerzen der Pat. (s. unten). 

In einer andern Richtung führt die Analyse zu 
folgenden Ursachen der Abasie: 
i An der Fastnacht 1903 hatte Pat. gerade die 
Menses. Sie wollte sich aber den Anstaltsball nicht 
entgehen lassen und tanzte, wie üblich, eifrig mit. 
Einen Herrn wollte sie demaskfren, sie lief, als sie 
ihn erkannt hatte, weg, glitt im Saal aus und fiel zu 
Boden. Sie schämte sich, weil ihre Kleider in Un¬ 
ordnung geriethen und sie denken musste, die gegen¬ 
über sitzenden Herren sehen sie entblösst und müssen 
ihr Unwohlsein bemerken. Auch schmerzte sie der 
Fall, und obwohl keine Quetschungen Vorlagen, setzte 
eine Abasie ein, die in den folgenden Tagen schon 
deutlich ausgesprochen war. 

Die unterbewusste Ursache dieser Abasie lag 
darin, dass sich Pat. — unterbewusst, sie sagt aus¬ 
drücklich, dass sie den Grund damals nicht wusste 
— erinnerte, dass sie gegen das Ende ihrer ersten 
Schwangerschaft, die sie durch alle Mittel zu ver¬ 
bergen suchte, zu Hause im Estrich die Estrichtreppe 
hinuntergefallen war. Ein Pensionär, der ihr nach¬ 
stellte, hatte scherzweise die Estrichthüre, welche die 
Treppe unten abschliesst, zugeschlossen; Pat. etwas 
erregt, strauchelte, als sie mit dem Holz herunter¬ 
steigen wollte, fiel mit Gepolter die Treppe hinunter 
und stiess an die Thüre. Ihre Kleider waren ganz 
in Unordnunggerathen, die Beine z. T. entblösst; über¬ 
dies folgte dem Fall eine heftige Blutung aus den 
Genitalien, wie denn auch zwei Tage später die Ge¬ 
burt, und zwar zu früh, einsetzte. Abgesehen von 
den Schmerzen war ihr dieser Augenblick furchtbar; 
sie glaubte, durch das Gepolter alarmirt sei der 
Pensionär, welcher sie ja eigentlich eingeschlossen 
hatte, der erste, der öffne und sie in diesem Zustand 
sehe; er wusste vorher nicht einmal, dass sie schwanger 
sei, und jetzt müsse er es sehen. 

Der Fall beim Tanz, während der Menses, hatte 
als analoge Situation den ersten Fall zur Erinnerung 
gebracht und als symbolisches Symptom die Abasie 
hinterlassen. Beim ersten Fall konnte sie wirklich 
nicht mehr gehen. Statt der bewussten Erinnerung 
daran, stellte sich jetzt das für das Oberbewusstsein 
plausible Symptom der Abasie ein. 

Nach einiger Zeit versuchte Pat. aufzustehen und 
in den Garten zu gehen; mitten auf einer kleinen 
Treppe, die ins Freie führt, befiel sie plötzlich wieder 
die Abasie in verstärktem Maasse. Die Konstellation 
der kaum verschwundenen Abasie erklärt hier den 
Zusammenhang, der in Hypnose gefunden wurde, sehr 
gut. Auf der Treppe wurde unbewusst zum zweiten¬ 
mal die Erinnerung an den Fall auf der Estrichtreppe 
wachgerufen. Das Ietztemal war der Fäll im Tanz¬ 
saal , jetzt die Treppe die auslösende Vorstellung. 
Gemeinsam ist aber beiden Abasieanfällen, dass Pat 
gerade die Menses hatte. Diese vielfältige Konstel* 
lation mag auch erklären, warum Pat. eben nicht 
jedesmal, wenn sie die kleine Treppe in den 
Garten hinunter geht, eine Abasie bekommen hat 

Sie ist seither nie mehr eingetreten. Hingegen 


bekam Pät früher zur/ Zeit *ls sie Äbef frische 
Schmerzen in den Oberschenkeln Wagte und der Ara 
bei det Inspektion die Thüre nicht recht geschlossen 
hatte, eine kurzdauernde Abaste; sie fürchtete, jemand 
könnte sie vom Korridor aus sehen, und das hatte 
eine ähnliche, aber nicht so intensive Wirkung wie 
die eben berührten andern Ursachen. 

Unterleibssymptome. Wie gesagt, häuften 
sich um die Menses herum eine Menge von Symp¬ 
tomen, speziell von solchen, welche mit den weib¬ 
lichen Organen in Beziehung zu stehen schienen. 
Wir haben den Ursprung einer Reihe solcher Symptome 
kennen gelernt. Ein neuer Mechanismus ist bei den 
übrigen nicht zu beobachten. Von Interesse ist viel¬ 
leicht noch eines: Pat. hatte zur Zeit der Menses 
meist gürtelförmige Schmerzen, verursacht durch eine 
unterbewusste Erinnerung an einen Gürtel, * den sie 
fast seit Beginn der dritten Schwangerschaft trug, theils 
weil sie sich seit dem Verkehr mit dem Vater da 
dritten Kindes im Rücken „ohne Halt‘ f fühlte (sie 
hatte als Kind in der Erziehungsanstalt eine ähnliche 
Bandage wegen schlechter Körperhaltung getragen), 
später um die Schwangerschaft zu verbergen, was ihr 
sehr gut gelang. Der Untersuchungsrichter vermuthete 
zuerst sogar, Pat. habe den Gürtel getragen, damit 
das Kind absterbe. 

Symptome von seiten des Ohres. Ab und 
zu klagte Pat. über Schmerzen im rechten Ohr, ver¬ 
bunden mit Kopfschmerzen, und zwar meistens be 
der Morgenvisite an kalten Tagen; zu diesen Be¬ 
schwerden kamen dann ab und zu Klagen, sie hör. 
schlecht im rechten Ohr. Es liess sich je weilet 
objectiv nichts nachweisen. Mehrmals wurde der 
äussere Gehörgang mit lauer Borlösung ausgespült und 
das vorhandene Cerumen entfernt, andemmale wurde 
Oleum Hyosciami eingeträufelt Pat. erklärte, sie habe 
sich erkältet, Schnupfen bekommen, ohne dass viel 
davon zu sehen war. Auch in der Hypnose suchte 
sie sich vorerst mit dieser Erklärung zu begnügen. 
Doch verhielt sich die Sache anders: 

Ohren- und Kopfschmerzen traten immer zusammen 
auf und datiren zurück auf jenen sehr kalten Herbst¬ 
morgen, wo sie draussen im Walde ihr drittes Kind 
gebar. Sie trug eine wärmere graue Bluse als sonst, 
und diese Bluse befand sich zur Zeit der Analyse 
noch unter ihren Kleidungsstücken. Pat. trug sie nur 
sehr selten, gewöhnlich, weil sie wärmer war, nur an 
recht kalten Morgen, bis Toilette und Zimmer in 
Ordnung waren, oder ganz ausnahmsweise, wenn sie 
momentan keine andere anzuziehen hatte. Jedesmal 
empfand sie dann Ohren- und Kopfschmerzen. Für 
das Oberbewusstsein war jeweilen ein plausibler Grund 
zur Hand: Erkältung. Der wahre Grund war Pat. 
oberbewusst unbekannt, dass nämlich das Tragen 
dieser Bluse und die Erinnerungen den Ohren- 
und Kopfschmerz hervorriefen, konnte Pat. erst in 
Hypnose angeben. Die Ohrenschmerzen richtetet! sich 
nicht etwa nach der Kälte selbst, sondern nur nach 
dem Tragen der Bluse. Eine Verifikation war gerade 
bei diesem Symptom nach der Krankengeschichte 
und den Erinnerungen des Personals leicht möglich. 
Man sieht an diesem Beispiel wieder, wie gewandt 


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PSYCHIATRISCfT-NEUROtOOISCHE WOCHENSCHRIFT. 


4?5 


sich dieser^ fhysterische Mechanismus hinter gans -plau¬ 
sible Gründe versteckt ■ (Erkältung. I) Es ist so viel 
leichter für das Oberbewtisstsein, eine Brücke zu dem 
Symptom zu finden ; um nicht den unangenehmen 
Weg über die wirklichen, unterbewussten Ursachen 
desselben suchen und aufdecken zu müssen. ' 

Pat., der Entstehüngsweise der Schmerzen nicht 
bewusst, verlangte nun einmal (1901/62) -vom Arzte 
Kopfwehpulver. Der Arzt schlug die Bitte ab, worauf 
Pat. 1—2 Tage auf dem rechten Ohr schlecht hörte. 
Seither hörte Pat. immer dann schlecht auf dem 
.rechten Ohr, wenn aus den genannten Gründen 
Schmerzen im Ohr und Kopf vorhanden waren und 
man der Pat. gerade dann, unter diesen besonderen 
Umständen, einen Wunsch abschlug. Hier lagert sich 


dieses Symptom an die andern an, Wie um ja dem 
Oberbewusstsein nicht aufzufallen. Beim letzten, dem 
Ref. sehr erinnerlichen Pall, weigerte er ach* der Pat** 
die eb&n ihre Ohrenschmerzen hatte* Schwarzbrod 
anstatt des gewöhnlichen Hausbrodes zu verschreiben. 
Darauf hörte sie 1 — 2 Tage schlecht. Ein andermal 
war ihr Butter zum 4 Uhr-Essen verweigert -worden; 
sie solle lieber ihre Milch trinken* : 

• Wenn der Pat. zu andern Zeiten etwas verweigert 
werden musste, so stellten sich gewöhnlich andere 
Symptome ein, z. B. Herzkrämpfe (Aerger!) 

Die in Frage stehende .Bluse wurde entfernt 
Seither sind auch die Ohrenschmerzen nie mehr 
aufgetreten. 

(Fortsetzung folgt.) 


M i t t h e i 

— Fürsorge ftlr gemeingefährliche Geistes¬ 
kranke. Bericht*) der verstärkten Gemeindekommission 
des preussischen Abgeordnetenhauses über den Antrag 
des Abgeordneten Schmedding (Münster) auf gesetz¬ 
liche Regelung der Fürsorge für mittellose geistes¬ 
kranke und schwachsinnige Personen, Drucksache 
Nr. 152. Berichterstatter: Abgeordneter Schmedding 
(Münster). 

Der Abgeordnete Schmedding (Münster) hat 
unterm 2t. März 1904 den Antrag gestellt: 

Das Haus der Abgeordneten wolle beschliessen: 
die Königliche Staatsregierung zu ersuchen, schleunigst 
im gesetzlichen Wege die Fürsorge für diejenigen 
mittellosen geisteskranken und schwachsinnigen Per¬ 
sonen, welche nur behufs des Schutzes anderer Per¬ 
sonen gegen ihre Ausschreitungen der Unterbringung 
in Anstalten bedürfen, zu regeln. 

Der Antrag gelangte am 3. November 1904 in 
der 96. Plenarsitzung des Abgeordnetenhauses zur 
Berathung mit dem Erfolge, dass er der um sieben 
Mitglieder verstärkten Gemeindekommission überwiesen 
wurde. 

Diese Kommission verhandelte am 6. Dezember 
1904 über den Antrag. Dabei waren zugegen als 
Vertreter des 

£. Justizministeriums: Dr. Hamier, Geh. Ober¬ 
justizrath, Plaschke, Geh. Justizrath; 

TI. Ministeriums der geistlichen usw. Angelegen¬ 
heiten: Frhr. v. Zedlitz und Neukirch, Geh. Re¬ 
gierungsrath, Dr. Moeli, Professor, Geh. Medizinalrath ; 

III. Finanzministeriums: Dr. Conze, Geh. Ober- 
finanzrath; 

IV. Ministeriums des Innern: Dr. Krohne, Geh. 
Oberregierungsrath, Dr. Maubach, Geh. Oberregierungs¬ 
rath, Dr. Freund, Geh. Oberregierungsrath. 

Der vorliegende schriftliche Bericht wurde in einer 
weiteren Sitzung der Kommission am 23. Januar 1905 
festgestellt 

Zur Begründung des Antrages wurde folgendes 
angeführt: 

Der Antrag bezieht sich nicht auf die sog. geistes- 

*) Abdruck aus dem amtlichen Bericht. 


1 u n g e n. 

kranken Verbrecher (weiteren Sinnes) im allgemeinen. 
Unter ihnen pflegt man zu verstehen: 

1. die Strafgefangenen, welche während der 
Strafzeit geisteskrank werden, und 

2. die verbrecherischen Geisteskranken, d. h. dier 
jenigen Irren, welche verbrecherische Neigungen 
zeigen, z. B. zu Körperverletzungen, Unsittlichkeiten usw. 
neigen. 

Er bezieht sich vielmehr nur auf eine ganz ber 
stimmte Art dieser Geisteskranken, wie sich unten 
näher ergiebt. 

Die Fürsorge für geisteskranke Verbrecher im 
allgemeinen hat das Abgeordnetenhaus schon früher 
einmal beschäftigt und zwar aus Anlass einer Petition 
der Landesdirektoren der preussischen Monarchie. 
Dieselben hatten unterm 27. November 1896 den 
Antrag gestellt: 

„auf die Königliche Staatsregierung geneigtest dahin 
ein wirken zu wollen, dass zur Verwahrung und Be¬ 
handlung irrer Verbrecher baldigst besondere staatliche 
Einrichtungen getroffen und die Irrenanstalten der 
Kommunalverbände — nötigenfalls unter Mitwirkung 
der Gesetzgebung — von diesen Geisteskranken ent¬ 
lastet werden.“ 

Begründet war die Petition hauptsächlich mit 
dem Hinweis, dass die freie Behandlung der Geistes¬ 
kranken, wie sie die moderne Psychiatrie verlangt, für 
die geisteskranken Verbrecher sich nicht eigne, und 
dass, wenn gleichwohl die Provinzialanstalten ge¬ 
zwungen sein würden, diese Leute aufzunehmen und 
sicher zu bewahren, hieraus verschiedene Uebelstände 
entständen, besonders die übrigen Pfleglinge der An¬ 
stalten benachtheiligt würden. 

Obwohl verschiedene Vertreter der Königlichen 
Staatsregierung sich gegen den Antrag der Petenten 
ausgesprochen hatten — wobei namentlich von einem 
Kommissar des Ministeriums des Innern geltend ge¬ 
macht wqrden war, dass die gesammte Irrenfürsorge 
ohne Ausnahme durch das Dotalionsgesetz vom Jahre 
1875 und das Gesetz vom 11. Juli 189 ij betreffend 
die ausserordentliche iVrmenlast, den Provinzen über- 


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476 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 48 . 


tragen sei —> beschloss doch die Justizkommission, 
dem Abgeordnetenhause vorzuschlagen: 

„die Petition der Landesdirektoren der Königlichen 
Staatsregierung zur Erwägung zu überweisen.“ 

Massgebend für diesen Beschluss war die Er¬ 
wägung, dass das Vorhandensein von Uebelständen 
bezüglich der Unterbringung und Pflege der geistes¬ 
kranken Verbrecher nicht wohl bezweifelt werden 
könnte, und dass die Frage wichtig genug sei, um 
einer eingehenden Prüfung unterstellt zu werden. 

Das Abgeordnetenhaus ist diesem Beschlüsse in 
der Plenarsitzung vom 7. April 1897 beigetreten unter 
Verwerfung eines weitergehenden Antrages auf Be¬ 
rücksichtigung. Die Erwägungen der Königlichen 
Staatsregierung haben sodann dahin geführt, dass sie 
wenigstens theilweise den Wünschen der Landes- 
direktorea nachgekommen ist nämlich dadurch, dass 
sie bei den Strafanstalten zu Breslau, Graudenz, Halle, 
Moabit und Münster sogenannte Irrenabteilungen 
eingerichtet hat, in welche diejenigen Strafgefangenen 
aufgenommen werden, welche während der Verbüssung 
der Strafe dem Verdacht der Geisteskrankheit ver¬ 
fallen. 

Wenn jetzt trotz dieser Vorgänge das Abgeordneten¬ 
haus abermals mit dieser Materie beschäftigt und der 
vorliegende Antrag eingebracht ist, so hat das darin 
seinen Grund, dass neuerdings Umstände eingetreten 
sind, welche die öffentliche Sicherheit zu schädigen 
geeignet sind. Hervorgerufen sind dieselben durch 
zwei Thatsachen: 

1. durch einen Streit zwischen den betheiligten 
Kommunalbehörden einerseits und den staatlichen 
Behörden andererseits über die Frage: wer die Für¬ 
sorgepflicht für die in Frage kommenden Geistes¬ 
kranken zu erfüllen habe, und 

2. durch die Folgen der eben erwähnten Irren¬ 
ab theilungen in den Strafanstalten. 

Was die Frage der Fürsorgepflicht anbelangt, so 
sind darüber in neuester Zeit Urtheile, einmal des 
Bundesamts für Heimathwesen und sodann des Ober¬ 
verwaltungsgerichts eigangen, wodurch dieselbe wenig¬ 
stens nach gewissen Richtungen hin geklärt ist 

Zum besseren Verständniss dieser Urtheile muss 
daran erinnert werden, dass das vorerwähnte preussische 
Gesetz vom 11. Juli 1891 die Fürsorge für die 
Geisteskranken und Idioten dann den Landarmen¬ 
verbänden überträgt, wenn diese Personen hilfs¬ 
bedürftig und anstaltspflegebedürftig sind; hilfs¬ 
bedürftig müssen sie sein im Sinne der Armengesetze; 
denn jenes Gesetz ist nur ein Ausführungsgesetz zum 
Reichsgesetz vom 6. Juni 1870 über den Unter¬ 
stützungswohnsitz. Nun hat der in Armenrechts¬ 
streitigkeiten die höchste Instanz bildende Gerichtshof, 
das Bundesamt für Heimathwesen, in dem Urtheil vom 
24. Oktober 1903 (Anlage A)*) ausgeführt: 

„Durch das erwähnte Gesetz ist nach den all¬ 
gemeinen Grundsätzen des preussischen Armenrechts 
den Landarmenverbänden keine über die öffentliche 
Armenpflege hinausgehende Aufgabe zugewiesen 
worden. Die Verpflichtung der Landaimenverbände 


*) Erscheint in der nächsten Nummer. 


zur Gewährung der Anstaltspflege tritt .daher nur ein, 
wenn der Geisteskranke oder der Schwachsinnige ihrer 
zu seinem Schutze gegen Gefahren oder zu seiner 
Heilung bedarf, aber nicht schon dann, wenn der 
Schutz anderer Personen gegen Ausschreitungen des 
Geisteskranken oder des Schwachsinnigen seine Unter¬ 
bringung erfordert“ 

In ähnlichem Sinne hatte bereits ein früheres 
Urtheil desselben Gerichtshofs vom 8. Dezember 1900 
ausgeführt: 

„Wen die Kostenlast trifft, hängt nach dem 
grundsätzlichen Standpunkt des Bundesamts für 
Heimathwesen (vergl. Wohlers-Krech, Note 15 B e zu 
§ 28, Unterstützungswohnsitzgesetz) davon ab: in 
welchem Maasse im Einzelfalle einerseits das öffentliche, 
sicherheitspolizeiliche Interesse und andererseits das 
persönliche, gesundheitliche Interesse des Geistes¬ 
kranken betheiligt ist; insbesondere auch davon, in¬ 
wieweit die Polizeibehörde während des Aufenthalts 
in der Anstalt ihre Hand über den Geisteskranken 
hält und ihn weiter bewacht“ (Anlage B.)*) 

Hiernach muss also nach der jetzigen Judikatur 
als feststehend angenommen werden, dass jedenfalls 
die Landarmen verbände als solche für diejenigen 
Irren, welche nur behufs des Schutzes anderer Per¬ 
sonen gegen ihre Ausschreitungen der Unterbringung 
in Anstalten bedürfen, nicht zu sorgen brauchen. 
Diese Irren sind nun aber die Personen, auf welche 
sich der vorliegende Antrag bezieht. Dass das 
Bundesamt für Heimathwesen bei einem ferner an 
dasselbe heran tretenden gleichen Falle anders ent¬ 
scheiden wird, lässt sich nicht annehmen; denn die 
beiden vorbezeichneten Urtheile enthalten eine durch¬ 
aus konsequente Entwicklung der in der Judikatur 
des Armenrechts festgewurzelten Grundsätze über die 
Grenze zwischen öffentlicher Armenpflege und den 
Polizeiaufgaben, und es würde das Bundesamt für 
Heimathwesen mit all seinen früheren Grundsätzen 
in Widerspruch gerathen, wenn es später anders ent¬ 
scheiden wollte. Zur Zeit ist also mit der festen 
Judikatur des Bundesamts für Heimathswesen zu 
rechnen, wonach die Landarmenverbände keine Pflicht 
zur Fürsorge für die im Anträge bezeichneten Per¬ 
sonen tragen. Es fragt sich jedoch, ob nicht sonst 
jemand vorhanden ist, der für diese Personen ein¬ 
zustehen hat. 

Wie aus einem Erlass des Ministers des Innern 
vom 13. Juli 1904 II a 7562 sowie aus einem zur 
Zeit zwischen dem Oberpräsidenten und der Provinzial¬ 
verwaltung der Rheinprovinz schwebenden Prozesse 
bekannt geworden ist, steht die Königliche Staats¬ 
regierung auf dem Standpunkt, dass die gesammte 
öffentliche Fürsorge für das Irrenwesen ohne jede 
Einschränkung durch die Bestimmung der Provinzial¬ 
ordnung und des Dotationsgesetz vom 8. Juli 1875 
den Provinzen übertragen worden sei. 

Was indessen zunächst die Provinzialordnung an¬ 
belangt, so findet sich darin keine Bestimmung, die 
eine Unterstützung der Ansicht der Staatsregierung 
bilden könnte. In Betracht können nur kommen 
die §§ 6 und 120 der Provinzialordnung; sie lauten: 

*) Siehe nächste Nummer. 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


477 


1905] 


§ 6 

Die Provinzialangehörigen sind berechtigt: 

1. zur Theilnahme an der Verwaltung und Ver¬ 
tretung des Provinzialverbandes" nach näherer Vor¬ 
schrift dieses Gesetzes; 

2. zur Mitbenutzung der öffentlichen Einrichtungen 
und Anstalten des Provinzialverbandes nach Massgabe 
der für dieselben bestehenden Bestimmungen. 

§ 120. 

Der Genehmigung der zuständigen Minister be¬ 
dürfen ferner die von dem Provinziallandtage gemäss 
§ 8 Nr. 2, §§ 35 und 95 für folgende Provinzial¬ 
institute und Verwaltungszweige zu beschliessenden 
Reglements: 

2. Irren-, Taubstummen-, Blinden- und Idioten- 
anstalten. 

Dieser Genehmigung unterliegen jedoch die ge¬ 
dachten Reglements nur insoweit, als sich die Be¬ 
stimmungen derselben beziehen: 

in Betreff der zu 1 und 2 gedachten Anstalten 
auf die Aufnahme, die Behandlung und Entlassung 
der Landarmen, Korrigenden, Irren, Taubstummen, 
Blinden und Idioten, bezw. auf den Unterricht der¬ 
selben. 

Dass diese Bestimmungen schon ihrem Wortlaute 
nach nichts über die Pflicht zur Aufnahme der geistes¬ 
kranken Verbrecher enthalten, wird näherer Ausfüh¬ 
rungen nicht bedürfen. 

In Bezug auf das Dotationsgesetz mag zugegeben 
werden, dass dasselbe bei oberflächlicher Prüfung für 
die Ansicht der Königlichen Staatsregierong angezogen 
werden kann; in demselben heisst es im § 4: 

§ 4 . 

Die Ueberweisung der in den §§ 2 und 3 ge¬ 
dachten Summen an die im § 2 unter Nr. 1 bis 12 
genannten Communalverbände erfolgt zur Verwendung 
für folgende Zwecke: 

1. Fürsorge für den Neubau von chaussirten 
Wegen und Unterstützung des Gemeinde- und Kreis¬ 
wegebaues, . 

4. Fürsorge bezw. Gewährung von Beihilfen für 
das Irren-, Taubstummen- und Blindenwesen, 

5. Unterstützung milder Stiftungen, Rettungs-, 
Idioten- und anderer Wohlthätigkeitsanstalten, 

6. Leistung von Zuschüssen für Vereine, welche 

der Kunst und Wissenschaft dienen, desgleichen für 
öffentliche Sammlungen, welche diese Zwecke ver¬ 
folgen, Erhaltung und Ergänzung von Landesbiblio¬ 
theken, Unterhaltung von Denkmälern,. 

Bei näherer Prüfung ergiebt sich jedoch, dass die 
Provinzialverbände nicht verpflichtet sind, unter allen 
Umständen Fürsorge zu treffen, dass sämmtliche 
Geisteskranken und Geistesschwachen ihres Bezirks 
Unterkommen in geeigneten Anstalten finden. 

Die Richtigkeit dieser Behauptung folgt zunächst 
hinsichtlich der Geistesschwachen (Idioten) schon 
daraus, dass die Provinzialverbände nach der Be¬ 
stimmung unter Nr. 5 auf eine Unterstützung der 
Idiotenanstalten sich beschränken dürfen. Aber auch 
in Bezug auf die Geisteskranken setzt das Gesetz 
keine allgemeine Fürsorgepflicht fest. Hierfür sprechen: 

1. der Wortlaut der Bestimmungen; danach sollen 


die Provinzen die Fürsorge beziehungsweise die Ge¬ 
währung von Beihilfen für das Irrenwesen übernehmen. 
Die Provinzialverbände dürften hiernach auch jetzt 
noch in der Lage sein, sich ganz oder theilweise auf 
Beihilfen an bestehende private Irrenanstalten zu 
beschränken, wie namentlich die westlichen Provinzen 
(Westfalen und Rheinprovinz) in mehr oder minder 
grossem Umfange bis in die neueste Zeit gethan 
haben. Sie haben es also nicht nöthig, selbst Irren¬ 
anstalten zu errichten. Hieraus ergiebt sich aber 
dann von selbst die Folgerung, dass sie nicht für 
jeden geisteskranken Verbrecher freien Platz zu 
schaffen haben. 

2. Will man gegentheiliger Ansicht sein und den 
Wortlaut des Gesetzes im Sinne der Ansicht der 
Königlichen Staatsregierung interpretiren, so muss man 
in gleicher Weise den Ausdruck Fürsorge auch in 
Nr. 1 interpretiren und zwar dahin, dass die Provin¬ 
zialverbände auch angehalten werden können, alle 
irgendwo nöthigen Wege neu zu chaussiren. Ferner 
müsste man dann folgerichtig bei Nr. 6 und 7 des 
Gesetzes annehnien, dass die Provinzial verbände ver¬ 
pflichtet wären, sämmtliche milden Stiftungen der 
Provinz zu unterstützen und allen der Kunst und 
Wissenschaft dienenden Vereinen Zuschüsse zu leisten. 
Wenn so weit gehende Interpretation, wie wohl ohne 
weiteres einleuchtet, bei Nr. 1, 5 und 6 verfehlt sein 
würde, so darf man folgerichtig auch die Interpretation 
der Königlichen Slaatsregierung bei Nr. 4 nicht auf¬ 
recht erhalten. 

3. 'Auf die nebenbei sich aufwerfende Frage: wie 
weit die Verpflichtung der Provinzialverbände reicht, 
dürfte zu antworten sein, dass sie nur so weit geht, 
als die den Provinzialverbänden überwiesenen Dota¬ 
tionen reichen Das ergiebt sich: 

a) aus den Motiven des Dotationsgesetzes, in dem 
es in der Einleitung Abs. 3 am Ende S. 19/20 heisst: 

Es ist der Zw'eck der gegenwärtigen Gesetzes¬ 
vorlage, zugleich die Aufgaben zu bestimmen, welche 
die Verbände mit den ihnen zu überweisenden Jahtes- 
renten und Fonds zu erfüllen haben werden, 

b) aus der Erklärung des Regierungskommissars 
Röttger in der Sitzung vom 22. April 1875 bei Be- 
rathung des Dotationsgesetzes; derselbe sagte: 

„Das Gesetz setzt voraus, dass die Summe, die in 
dem § 1 gewährt wird, vollständig ausreicht für alle 
diejenigen Verwendungszwecke, welche im Gesetze 
aufgeführt sind.“ 

4. Die Königliche Staatsregierung hat bisher selbst 
die hier vertretene Ansicht getheilt. 

So hat sie in der Begründung zum Gesetze vom 
11. Juli 1891, betreffend die ausserordentliche Armen¬ 
pflege, ausdrücklich erklärt: 

Da hiernach als festgestellt angenommen werden 
darf, dass der im § 31 des Gesetzes vom 8. März 
1871 vorgesehene Weg nicht zum Ziele führt, so 
erscheint es angezeigt, diesem Ziele nunmehr durch 
eine entsprechende Aenderung des § 31 cit. näher 
zu treten, und die gegenwärtige Befugniss der Land¬ 
armenverbände und Kreise mit den in dem Erlass 
vom 30. September v. Js. und weiter unten ferner 
erwähnten Maassgaben in eine Verpflichtung umzu- 


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478 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 48 . 


wandeln. Es ist dies zugleich ein bedeutungsvoller 
Schritt auf der Bahn einer festeren Abgrenzung der 
den einzelnen engeren und weiteren Communalver- 
bänden obliegenden öffentlichen Verpflichtung. Wenn 
insbesondere bei Erlass der Dotationsgesetze den 
dotirten Verbänden vielfach nur die Befugniss bei¬ 
gelegt worden ist, die überwiesenen Summen für 
gewisse öffentlich-rechtliche Zwecke zu verwenden, 
ohne ihnen gleichzeitig die Verpflichtung aufzuerlegen, 
diese Verwendung in einem dem Bedürfnisse ent¬ 
sprechenden Umfange eintreten zu lassen, so hat sich 
dies als ein Uebelstand erwiesen, welchem bezüglich 
der hier in Rede stehenden Frage der ausserordent¬ 
lichen Armenlast im Wege der Gesetzgebung Abhilfe 
zu geben, dringend geboten erscheint. 

Hiermit stehen in Uebereinstimmung 

a) der Erlass des Ministers des Innern vom 15. Sept. 
1891 (M. Bl. für innere Verwaltung S. 166) lautend: 

In § 31 des Gesetzes vom 8. März 1871 (Gesetz- 
samml. S. 130) ist den Landarmenverbänden die 
Befugniss beigelegt worden, die Kosten der öffent¬ 
lichen Armenpflege, welche die Fürsorge für Geistes¬ 
kranke, Idioten, Taubstumme, Sieche und Blinde 
verursacht, unmittelbar zu übernehmen. Diese Be¬ 
fugniss hat — soweit es sich nicht um Sieche handelt 
— der Artikel I des Gesetzes vom 11. Juli d. Js., 
betreffend Abänderung der §§ 31, 65 und 68 des 
ersterwähnten Gesetzes (Gesetzsamml. S. 300), in 
eine Verpflichtung umgewandelt. Nach dem neuen 
Gesetze haben die Landarmenverbände vom 1. April 
1893 ab unter Betheiligung der Kreise und Orts¬ 
armenverbände an den erwachsenden Kosten für 
Bewachung, Kur und Pflege der bezeichneten Kate¬ 
gorien von Hilfsbedürftigen — mit Ausnahme der 
Siechen — soweit sie der Anstaltspflege bedürfen, in 
geeigneten Anstalten Fürsorge zu treffen. Die gleiche 
Verpflichtung ist den Landarmenverbänden hinsicht¬ 
lich der im § 31 des Gesetzes vom 8. März 1871 
nicht besonders aufgeführten hilfsbedürftigen Epilep¬ 
tischen, für welche die Anstaltspflege unentbehrlich 
erscheint, auferlegt worden; 

b) die Erklärung des Ministers des Innern im 
Herrenhause am 24. Januar 1891; derselbe führt aus: 

Sodann möchte ich mich noch einmal gegen die 
Annahme des Antrages des Herrn Grafen Zieten- 
Schwerin erklären. Meine Herren, es ist gesagt 
worden .... „wir machen ein ganz neues Gesetz für 
eine neue Verpflichtung der Provinzialbehörden, und 
da könnten wir auch das noch aufnehmen, was sonst 
in der Fürsorge für Hilfsbedürftige nicht liegt. . . .“ 
So liegt die Sache nicht. Es war schon nach dem 
bisherigen Ausführungsgesetz zu dem Gesetz über den 
Unterstützungswohnsitz eine Vorschrift über die ausser¬ 
ordentliche Annenlast im § 31 vorhanden, und die 
ist hier nur dahin abgeändert, dass aus der Befugniss 
der Landarmenverbände zur Uehernahtne jener Last 
eine Verpflichtung gemacht worden ist. Im übrigen 
hält sich dieses Gesetz ganz in dem Rahmen des 
Gesetzes vom 8. März 1871. Es hat zur Voraus¬ 
setzung die Definition der Hilfsbedürftigkeit, welche 
im § 1 dieses Gesetzes in Uebereinstimmung mit dem 
Reichsgesetz gegeben ist, und bezieht sich, .... nur 


auf die nach den Bestimmungen dieses Gesetzes als 
hilfsbedürftig anzusehenden Personen; 

c) die Erklärung des Berichterstatters im Herren- 
hause vom 24. Januar 1891, lautend: 

Durch den vorliegenden Gesetzentwurf soll die 
Fürsoige für eine gewisse Klasse von Kranken, näm¬ 
lich für die hilfsbedürftigen Geisteskranken, Idioten. 
Epileptiker, Taubstummen und Blinden, in anderer 
Weise geregelt werden, als es bisher der Fall war. 
Die Fürsorge für diese Kranken lag ja bisher, den 
allgemeinen gesetzlichen Bestimmungen entsprechend, 
den Ortsarmenverbänden ob, während nebenbei den 
Landarmen verbänden und den sonstigen grösseren 
Communalverbänden die Befugniss zustand, auch 
ihrerseits die Sorge für diese Kranken zu übernehmen 
Nun soll gewiss nicht verkannt werden, dass die 
Landarmenverbände und insbesondere die Provmzial- 
verwaltungen von dieser Befugniss einen recht aus¬ 
reichenden Gebrauch gemacht haben. Davon geben 
die zahlreichen Irrenanstalten, welche von den ver¬ 
schiedenen Provinzen gegründet worden sind und 
erhalten werden, und die sonstigen Pflegeanstalten 
ein recht schlagendes Zeugniss. Trotzdem haben sich 
bei dem jetzigen Verfahren in den verschiedenen 
Landestheilen recht erhebliche Uebelstände heraus¬ 
gestellt, wie solches in den Motiven zu dem Gesetz¬ 
entwurf auch des näheren ausgeführt worden ist. So 
haben sich diese Lasten rscht ungleich vertheilt, indem 
einzelne Ortsarmenverbände mit Pflegekosten für 
Geisteskranke und Idioten überlastet worden sind 
während andere von denselben ganz frei blieben. Die 
Nothwendigkeit, einen oder mehrere Kranke in einer 
Irrenanstalt unterzubringen, konnte geradezu den 
financiellen Ruin einer kleinen Gemeinde herbeiführen. 
Aus diesem Grunde gingen dann solche Ortsarmen¬ 
verbände nur in dem äussersten Nothfalle dazu über, 
einen solchen Kranken den betreffenden Anstalten 
der Provinz zu überweisen, und das hatte wieder zur 
Folge, dass viele dieser Kranken in den Gemeinden 
übrig blieben zur grossen Benachteiligung ihrer 
Familien und zur Belästigung der ganzen Gemeinde. 
Diese Uebelstände sind vielfach und oft recht empfind¬ 
lich gefühlt worden. Aber, meine Herren, es zeigte 
sich noch ein weiterer Uebelstand; denn wenn auch, 
wie ich bereits erwähnt habe, die Provinzen von der 
Befugniss w T ohl einen recht umfangreichen Gebrauch 
gemacht haben, die Fürsorge für die genannten 
Kranken zu übernehmen, so war doch damit dem 
Bedürfnisse noch in gar keiner Weise genügt worden, 
und es blieben noch immer sehr viel Kranke dieser 
Art in den verschiedenen Gemeinden übrig, nicht 
nur deshalb, weil die betreffenden Gemeinden vor 
den Kosten der Unterbringung scheuten, sondern 
auch deshalb, weil die Kranken eine Unterkunft in 
der betreffenden Anstalt nicht finden konnten, und 
daher die Anträge, die aus den Gemeinden dieserhalb 
gestellt werden, zurückgewiesen werden mussten. In 
Erwägung dieser Verhältnisse ist dann die Königliche 
Staatsregierung zu der Ueberzeugung gelangt, dass 
eine Aenderung der bestehenden Gesetzgebung ge¬ 
schaffen werden müsste, und zwar dadurch, dass die 
in dem §31 des Gesetzes vom 8. März 1871 den 


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»9°5-] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


479 


Landarmen verbänden eithelltc Befugniss, die Fürsorge 
für die genannten Kranken zu übernehmen, in eine 
Verpflichtung verwandelt würde, und dass ferner 
auch grössere Verbände als die Ortsarmen verbände, 
welche bisher durch die ihnen obliegende Fürsorge 
für die genannten Kranken oft zu sehr überlastet 
wurden, verpflichtet werden sollten, einen Theil dieser 
Kosten zu übernehmen, nämlich die Kreise. 

Ihre Kommission, meine Herren, ist nun diesen 
Anschauungen der Königlichen Staatsregierung überall 
voll und ganz beigetreten und hat sich dahin aus¬ 
gesprochen, dass auch sie vollständig das Bedürfniss 
anerkenne, auf andere Art, und zwar in der von der 
Königlichen Staatsregierung vorgeschlagenen Weise, 
die Fürsorge für die genannten Kranken zu regeln. 

5. Ferner sprechen verschiedene Entscheidungen 
des Bundesamts für Heimathwesen für die Ansicht 
des Antragstellers, z. B. die Entscheidung in Heft 27, 
Seite 54, worin es heisst: 

„namentlich sind dadurch (sc. Gesetz vom 11. Juli 
1891) nicht etwa den Landarmen verbänden in B?zug 
auf Armenfürsorge Aufgaben zugewiesen worden, 
welche nach den allgemeinen Grundsätzen des 
preussischen Armenrechts im übrigen dem Gebiete 
der Armenpflege fremd sind Eine Aenderung ist 
nur darin cingetreten, dass, während der § 31 des 
Ausführungsgeselzes vom 8. März 1871 die Land¬ 
armenverbände für befugt erklärte, die Kosten der 
Fürsorge für hilfsbedürftige Geisteskranke, Idioten, 
Taubstumme und Blinde zu übernehmen, den land¬ 
armen vei bänden jetzt gemäss dem durch das Gesetz 
vom 11. Juli 1891 abgeänderten § 31 in betreff der 
daselbst aufgeführten Categorien von Hilfsbedürftigen 
eine Verpflichtung zur Fürsorge obliegt, soweit diese 
im Wege der Anstaltspflege zu gewähren ist. Für 
die Auffassung, dass die nunmehrige Verpflichtung 
der Landarmenverbände nicht ebenfalls innerhalb der 
allgemeinen Grenze sich zu halte'. habe, welche im 
§ 1 des Ausführungsgesetzes der Armenpflege gezogen 
ist, fehlt es an einem Anhalt“. 

Wenn trotz aller dieser Thatsachen weiter be¬ 
hauptet werden möchte, dass die Provinzialverbände 
die Fürsorge für dasgesainmte Irrenwesen übernommen 
haben, so folgt hieraus doch noch nicht, dass die¬ 
selben auch alle Geisteskranken, die mittellos sind, 
auf ihre (der Provinzen) Kosten in die Anstalten auf¬ 
nehmen müssen. Hierauf kommt es aber gerade an; 
denn die ganze Frage ist mehr eine Geldfrage als 
eine allgemeine Fürsorgefrage. Dass aber die Pro¬ 
vinzen nicht die Kosten zu tragen haben, folgt aus 
der Gegenüberstellung der Bestimmungen in Nr. 3 
und der Nr. 4 des Dotationsgesetzes. Während 
nämlich in Nr. 3 den Provinzen die Bestreitung der 
Kosten des Landarmen- und des Korrigendenwesens 
auferlegt ist, spricht Nr. 4 nur von der allgemeinen 
Fürsorge für die Irren. Hieraus folgt doch, dass sie 
die Kosten für das Irrenwesen nicht in allen Fällen 
zu tragen haben. Sodann ist aber auch nicht zu be¬ 
streiten, dass die Provinzen auf keinen Fall die ihnen 
im Dotationsgesetz übertragenen Lasten in ungünstigerer 
Weise übernehmen sollten, als wie bis dahin der Staat 
dieselben getragen hatte. Wie aber der Staat vor 

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Inkrafttreten des Dotalionsgesetzcs seine Irrenanstalten 
nicht unentgeltlich zur Unterbringung von Geistes¬ 
kranken dargeboten hatte, so durften später auch die 
Provinzen von den Aufgenommenen Pflegekosten in An¬ 
spruch nehmen und dürfen solches auch jetzt noch 
thun mit der Maassgabe, wie sie sich aus dem Ge¬ 
setze vom 11. Juli 1891 ergiebt. Daher der § 6 der 
Provinzialordnung, auf Grund dessen alle Provinzen 
Reglements entworfen haben, wonach sie die Geistes¬ 
kranken regelmässig nui gegen Zahlung von Pflege¬ 
geld in ihre Anstalten aufnehmen. Für die Hilfsbe¬ 
dürftigen müssen die Ortsarmenverbände und der 
Landarmen verbände gemäss Gesetz vom 11. Juli 1891 
zahlen. Da aber in den hier in Rede stehenden 
Fällen keine Hilfsbedürftigkeit vorliegt, und * somit 
weder Orts- noch Landarmenverbände einzutreten 
haben, so bleibt also immer die hier in erster Linie 
interessirende Frage offen: Wer hat für diese Kranken 
die Zahlungspflicht? Hierauf hat nun in neuester 
Zeit das Oberverwaltungsgericht in dem in Anlage C*) 
abgedrucklen Urtheilc vom 29. April 1904 für gewisse 
Fälle eine Antwort gegeben und zwar dahin, dass die 
Kosten zur Beseitigung des gemeingefährlichen Zu¬ 
standes des Geisteskranken als mittelbare Polizeikosten 
anzusehen sind und demgemäss nach dem Polizei¬ 
gesetz von 1850 den Gemeinden obliegen. In dem¬ 
selben Urtheil ist übrigens in Bestätigung der obigen 
Deduktion nebenher auch ausgeführt, dass in den 
fraglichen Fällen kein Armenpflegefall vorliegt, und 
dass daher der sonst verpflichtete Armenverband nicht 
haftbar gemacht werden kann. (Fortsetzung folgt.) 

— Darmstadt. Nach einer kürzlich erlassenen 
Verfügung des Ministeriums der Justiz können für 
die Folge kriminelle Irrsinnige, deren als¬ 
baldige Unterbringung mit Rücksicht auf die Art 
ihrer Geisteskrankheit geboten ist, ohne Verzug 
in eine Landesirrenanstalt untergebracht 
werden, ohne da^s die seither vorgeschriebenen Auf¬ 
nahmebelege, deren Beschaffung stets längere Zeit 
in Anspruch nahm, beigebracht zu werden brauchen. 

— In Hildburghausen fand am 11. Februar 
eine Berathung der Vertreter der thüringischen Justiz¬ 
verwaltungen und irrenärztlicher Autoritäten statt, 
welche die Errichtung einer besonderen Ab¬ 
theilung zur Unterbringung von geistes¬ 
kranken Verbrechern an einer der thürin¬ 
gischen Irrenanstalten bezweckt. Dabei wurde 
die dortige Irrenheil- und Pflegeanstalt von den 
Herren besichtigt. Es soll ein geeignetes Haus für 
geisteskranke Verbrecher gebaut werden. 

Referate. 

— Th. Tiling: Individuelle Geistes¬ 
artung und Geistesstörung. Wiesbaden, Berg¬ 
mann, 1904. 58 S. 

T. begründet in dieser Schrift ausführlich noch¬ 
mals seine Anschauungen über die Entstehung der 
Psychosen, die er schon wiederholt in früheren 
Arbeiten (über die Entwickelung der Wahnideen, 
über den Charakter, zur Paranoiafrage, zur Aetiologie 

- *) Erscheint in der nächsten Nummer. 

Original fram 

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480 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 


der Geistesstörungen) niedergelegt hat, Anschauungen, 
die sich mit der Auffassung anderer Forscher (u. a. 
Möbius, Bresler) nahe berühren. T. sucht die Patho¬ 
genese der Geistesstörungen so viel als möglich aus 
der ursprünglichen Charakteranlage der Erkrankten, 
aus der disproportionalen Anlage der Gemüths- und 
Geisteskräfte abzuleiten. Er beschäftigt sich deshalb 
mit der Psychologie der verschiedenen Charakter¬ 
typen, die noch als der Gesundheitsbreite angehörig 
angesehen werden und sucht eingehend darzulegen, 
wie sowohl für den Ausbruch des Irreseins, als auch 
für seine Gestaltung und Weiterentwickelung die psy¬ 
chischen Grundqualitäten des Individuums das Wich¬ 
tigste sind, während die äusseren Ursachen an Be¬ 
deutung zuiücktreten. Man wird die Ausführungen 
T.’s um so mehr mit Interesse lesen, als hier nicht 
nur eigene grosse Erfahrung zur Begründung dient, 
sondern auch die neuesten psychiatrischen Veröffent¬ 
lichungen wie reiche Lesefrüchte auf nicht psychia¬ 
trischem Gebiet kritische Verwerthung finden. Zu¬ 
stimmung wird T. für viele Krankheitsformen, be¬ 
sonders für die Paranoia, viele Fälle melancholischer, 
manischer, hysterischer, hypochondrischer Verstimm¬ 
ung, für das Gebiet des inducirten Irreseins finden. 
Ob aber — bei aller Anerkennung der hervorragen¬ 
den Bedeutung der Prädisposition — die Bewerthung 
der äusseien Ursachen der Psychosen durchweg 
eine so geringe w’ird sein dürfen, wie T. (auch unter 
Anziehung einer Arbeit von Martius) besonders auf 
S. 52 und 54 ausspricht, erscheint mir zweifelhaft. 
Ziehen wir den Kreis dessen, was als Psychose zu 
bezeichnen ist, nicht zu eng, so ist nicht nur die 
Möglichkeit, sondern wohl auch die Erfahrungsthat- 
sache gegeben, dass äussere Schädlichkeiten von 
grösserer Höhe auch das Gehirn des gut organisirten 
Individuums zu anormalen Lebensäusserungen bringen. 
Im Uebrigen enthalten gerade auch wieder die letzten 
Seiten der Schrift, auf welchen auch die Schwank¬ 
ungen der Disposition während des Einzellebens be¬ 
sprochen werden, anregende Betrachtungen und 
Hypothesen, welche weitere Untersuchungen veran¬ 
lassen dürften. In Allem bringt T.’s Schrift für eine 
der schwierigsten „Grenzfragen des Nerven- und 
Seelenlebens“ eine jedenfalls sehr beachtenswerthe 
Darstellung. M e r c k 1 i n. 

— A. Kowalewski - Königsberg. Studien 
zur Psychologie des Pessimismus. Wies¬ 
baden, Bergmann, 1904. 122 S. 

Der Pessimismus, die Anschauung, dass die Lust¬ 
summe in unserer Welt von der Unlustsumme über¬ 
wogen wird, ist nicht ein blosses Erzeugniss philo¬ 
sophischer Reflexion. Sie zeigt sich, wie K. in den 
einleitenden Abschnitten seiner Schrift darlegt, in 
der Religion, in der Poesie, in der Volksweisheit, im 
Volksaberglauben und in der Volkssitte. Es liegt 
hierin ein Hinweis, dass sich in der normalen mensch¬ 
lichen Gefühlsweise natürliche Ansatzpunkte für die 
Entwickelung einer pessimistischen Seelen Verfassung 
finden müssen. Die Vermuthung liegt nahe, dass 
die Lust- und Unlustfunctionen des normalen Gei¬ 
steslebens nicht gleichmüssig entwickelt sind, sondern 
dass hier Asymmetrien bestehen. Der Prüfung dieser 


Annahme, der Symmetrieprüfung der Lus*.- 
und Unlustfunction, sind die experimentell- 
psychologischen und statistischen Untersuchungen 
gewidmet, welche den Kern der vorliegenden Arbeit 
bilden. Die zahlreichen Methoden, mit welchen K 
seine Aufgabe angreift, können hier nicht wieder¬ 
gegeben werden, nur die wichtigsten Ergebnisse seien 
erwähnt. Die angenommene Asymmetrie der Lu>t- 
und der Unlustfunction besteht in der That. K. 
zeigt, dass die Häufigkeit der Luststimraungen sid 
zu der der Unluststimmungen verhält wie 2:3, da^ 
im durchschnittlichen Stimmungsverlauf eines Tagt* 
das Unlustquantum das 2 bis 5 fache des Lustquai* 
tums beträgt. Er findet weiter, dass in der Auflad¬ 
ung von Intensität und Innigkeit bei Lust- und Un¬ 
lusteindrücken, in der zeitlichen Seite der Lust- und 
Unlusteindrücke, in der sprachlichen Charakteristik 
der Lust- und Unlust, in der Catalogisirung der 
Leiden und Freuden Asymmetrien bestehen, welche 
auf die Wurzeln für pessimistische Anschauungen im 
normalen Geistesleben Hinweisen. Diesen pessimisti¬ 
schen Ansatzpunkten stehen jedoch mächtige Faktoren 
gegenüber, welche in antagonistischem Sinne wirken, 
und unter den gewöhnlichen Lebensbedingungen 
nur vorübergehend pessimistische Krisen zulassen 
(Abwehrlust, Erinnerungsoptimismus, Hoffnung, teleo¬ 
logische Reflexionen). Alle Feststellungen K.’s be¬ 
ziehen sich, wie er im Schlusswort nochmals hervor¬ 
hebt, auf ein Beobachtungsmaterial von Personen, 
die dem ausgesprochenen Pessimismus ebenso ferr 
standen, wie dem ausgesprochenen Optimismus. Eine 
besondere mehr individual-psychologische Untersuch¬ 
ung würde die Entstehungsbedingungen des ausge¬ 
sprochenen dauernden Pessimismus festzustellen 
haben. K. deutet diese abnormen Bedingungen an 
und streift die nahen Beziehungen der Neurasthenie 
zum Pessimismus. 

Es braucht kaum ausgesprochen zu werden, dass 
die bedeutsame Untersuchung und die feinen psycho¬ 
logischen Beobachtungen, welche sich überall ein¬ 
gehend finden, die Schrift K.’s zu einer für den 
Psychiater sehr beachtensvverthen machen. 

Mercklin. 

Personalnachrichten. 

— Dziekanka (Posen). — Dem Sanitätsrath 
Dr. Kavser, Direktor der Prov.-Irrenanstalq wurde 
der Rothe Adlerorden 4. Klasse verliehen. 


Berichtigung. 

Bei der Drucklegung meines in Nr. 47 dieser Wochenschrift 
veröffentlichten Aufsatzes über „Dauerbadeeinrichtungen* ist 
durch ein Versehen des Setzers die Disposition erheblich ge¬ 
stört. Der Abschnitt auf Seite 462 von den Worten: „Ob eine 
Trennung“.bis ... . „für später Vorbehalten“ — ge¬ 

hört naturgemäss an den Schluss der Abhandlung. 

Tomaschny, Treptow a. R. 

Der heutigen Nummer liegt ein Prospekt der 

Firma 

C. Kanoldt Nachfolger (O. Reyher) 
Apotheker in Gotha 

bei, welchen wir geneigter Beachtung empfehlen. 


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Ersc heint |cd|:r 



den rcdactiouciieu '1 heil Verantwortlich : Oherar/t Dr. J. Bresler, Lublinitz (Schlesien). 

- Schluss der Inseratcnannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von G^rl •MififhPffd * n Halle a. S 
Heynemann'sehe Buchdruckerei (Gebr. Wo’fD in Halle a. S. 




Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift. 

Redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Lublinitz (Schienen). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adrette: Marho Id Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834. 

Nr. 49. 4 - März. 1905. 

• Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 

Inserate werden für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten. 


Analytische Untersuchungen der Symptome und Assoziationen 
eines Falles von Hysterie (Lina H.) 

Von Dr Franz Riklin , bisher 1. Assistenzarzt am Burghölzli, z. Z. Sekundararzt an der Züricher Pflegeanstalt Rheinau. 

(Fortsetzung.) 


B. Allgemeines. 

Wenn man sich an die Erzählungen Pseudo- 
logischer erinnert, so könnte man leicht Zweifel in 
die Glaubwürdigkeit der geradezu abschreckenden 
Fülle von Angaben über sexuelle Traumata der Pat. 
setzen. 

Indessen liess sich vieles nachprüfen, und das 
übrige entfernt sich durchaus nicht aus dem Bereich 
dessen, was nach Analogie des Kontrollirbaren sehr 
wahrscheinlich ist. 

Der Vater wurde wegen Incestes, begangen an 
einer Schwester der Pat., mit Zuchthaus bestraft und 
ist nachweislich schwerer Potator. Man hatte ihn 
auch in Verdacht, der Urheber der zweiten Schwanger¬ 
schaft der Pat. zu sein und setzte ihn in Untersuch¬ 
ungshaft. Wegen Mangels an Beweisen wurde er 
wieder entlassen. Die Pat. wurde den Eltern weg¬ 
genommen und in eine Erziehungsanstalt gebracht. 
Diese Daten charakterisiren einigermaassen die Zu¬ 
stände zu Hause. Ueber den Character der „Herz¬ 
krankheit“ mit 12 Jahren konnte leider nichts Sicheres 
mehr erhoben werden, indem das Spital sich damals 
noch nicht in kantonaler Verwaltung befand und 
noch keine Krankengeschichten geführt wanden. Die 
Angaben über Vetter und Schwager entziehen sich 
für die Zeit bis zur dritten Geburt einer genauem 
Controle. Hingegen gab die Mutter über die Herz¬ 
krankheit der Pat. eine ausführliche Beschreibung; 
sie schildert die Anfälle von Herzklopfen und Dys¬ 
pnoe, sowie die spätem Anfälle von Abasie recht 
plastisch. Ueber die Ursachen wurde sie damals 
nicht gefragt und hätte sie schwerlich gewusst. Ueber 
die Vorgänge vor und nach der dritten Geburt, ihr 

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Leben als Zimmermädchen, Maitresse etc., geben die 
gerichtlichen Akten im Kindsmordprocess Auskunft, 
ebenso die Berichte des Schutzaufsichtsvereins für 
entlassene Sträflinge. Auch über ihr Verhalten im 
Mädchenasyl haben wir ziemlich genaue Auskunft, 
die ganz mit den Angaben der Pat. übereinstimmt. 
Z. B. wird berichtet, dass sie eigentlichen Nega¬ 
tivismus (der Arzt, welcher die Anamnese besorgte, 
hatte Verdacht auf Dementia praecox) nur beim 
Essen zeigte. Sie wollte keine Milch etc. nehmen. 
Wollte man sie doch zum Essen zwingen, so wurde 
sie verstimmt, sonst war sie lenksam. Einzelne ab¬ 
sonderliche Handlungen fielen auf. Sie lief während 
des Essens öfter im Hause auf und ab, ohne dass 
man einen Grund dafür ausfindig machen konnte. 

Fragen über ihre Vergangenheit wich sie aus 
und verstummte. 

Die Krankengeschichte, meine eigenen Beobacht¬ 
ungen und die nachträglichen Erhebungen über 
viele Einzelheiten bei den Aerzten und dem Pflege¬ 
personal ergaben für viele und ganz verschiedene 
Punkte ausreichende Belege für die Richtigkeit der 
Angaben der Pat. in Hypnose. 

Wir haben infolgedessen wirklich keinen Grund, 
an den Angaben der Pat. zu zweifeln. Auf der 
Abtheilung ist sie keineswegs als lügenhaft oder un¬ 
zuverlässig bekannt. 

Dazu kommt, dass die Analyse den von Breuer 
und Freud aufgestellten Gesetzen bis in viele kleine 
Eigenthümlichkeiten folgt, was schwer ohne Wider¬ 
sprüche zu phantasiren wäre. 

Kurzum, ich betrachte die Controlle der Zuver¬ 
lässigkeit der Pat. für genügend. Widersprüche 
haben sich nicht gefunden. 

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482 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 40 


Unvollständigkeit der Analyse. Die 
Analyse ist leider noch nicht vollständig, obwohl sie 
eine gewaltige Summe von Zeit gekostet hat. Ich 
verzweifle nachgerade an der Möglichkeit, sie in 
diesem Fall zu erschöpfen. Nicht nur ist die Summe 
der Symptome sehr gross, sondern namentlich die 
Zahl der sie bestimmenden psychischen Traumata. 
Z. B. verschwanden viele Symptome längere Zeit 
vollständig, um plötzlich, nach irgend einem Anlass 
wieder aufzutauchen, wenn Pat. unbewusst an etwas 
erinnert wurde, was auch mit diesem Symptom zu¬ 
sammenhing, aber noch nicht erzählt war. Sie hat 
z. B. Symptome, die sowieso nur alljährlich 
wiederkehrten, z. B. die Leibschinerzen im Frühjahr, 
so dass jeweilen erst nach einem Jahr beobachtet 
werden konnte, ob sie verschwunden seien oder 
nicht. Die analytische Arbeit war zeitweise sehr 
mühsam: Oft brauchte es 2 — 3 Hypnosen, um 
schliesslich über einen einzigen Punkt Aufschluss zu 
bekommen, indem die ersten Hypnosen wegen 
starker Absperrung des zu Erzählenden resultatlos 
verliefen. 

Pat. produzirte auch neue Symptome (Arm¬ 
schmerzen u. s. f.), und es schien zeitweise, als ob 
die Analyse der alten weniger rasch fortschreite als 
das Auftauchen neuer. 

Es wurde dann noch eine andere Methode ver¬ 
sucht: da ich mehrere Wochen Militärdienst zu 
machen hatte, gab ich der Patientin meine Visiten¬ 
karte und versicherte sie in der Hypnose, sie werde, 
wenn sie einen Schmerz spüre und die Karte an¬ 
sehe, von selbst in Hypnose verfallen und dann den 
Grund des Schmerzes finden. Indessen war Pat. 
mcni sehr productiv und hat die Methode selten 
angewendet. Sie scheute sich auch, das Gefundene 
dem Papier anzuvertrauen; sie wollte es lieber münd¬ 
lich machen. 

Mehrere kleinere Symptome: Zeitweise Schmerzen 
in den Augen, „Krkälten“ beim Erdbeerenessen (jähr¬ 
lich im Sommer) mit et welchen Leibschmerzen, ein 
plötzlich auftretender Schmerz in der einen Ferse 
(als Pat. einer Pflegerin im Scherz davon lief und 
diese eine witzige Bemerkung über Liebesgeschichte 
machte), hie und da Uebelwerden in der Nacht, die 
ich vorher nie beobachtet hatte, die aber wohl zu 
den seltener auftretenden Symptomen gehören, ferner 
ab und zu etwas Schlaflosigkeit und etwas Schmerzen 
im Unterleib zur Zeit der Menses, gewisse Verstimm¬ 
ungen, das sind Dinge, die noch etwa eintreten und 
der weiteren Analyse harren — und ob dann nicht 
noch andere, z. B. alte Symptome ab und zu — 


nie ohne Grund — wieder einmal auftreten werdet, 
wie bis jetzt, weiss ich nicht. 

Prognose. Wahrscheinlich hat Pat. von Jugend 
auf, nachweisbar seit dem 10. Jahre, den Mechanis¬ 
mus des Abspaltens und „Convertirens“ geübt, ur.c 
schliesslich fast alles Unangenehme so zu verdränget 
gesucht. Und da ist es begreiflich, wenn die lang¬ 
same Analyse der schnellen Abspaltungstechnik nicht 
Schritt hält. 

Breuer und Freud unterscheiden in deo 
„Studien zur Hysterie“ eben auch zwischen erwor¬ 
benen Hysterien, die nur ein oder wenige Male in , 
Leben dazu kommen, den hysterischen Verdrärig- 
ungs- und Conversionsprocess anzuwenden , und sei- j 
chen, wo diese Anlagen mehr oder weniger ange¬ 
boren sind. Die beiden Autoren haben auch Fälle 
ohne vollständige Heilung (z. B. Frau Emmy von N 
Beobachtung II). 

Es sind eben schwerere Fälle, mit starke' 
hereditärer Belastung und tiefer gehender hy¬ 
sterischer Disposition, und stärkerer Tendenz 
zum Zerfall des psychischen Organismus in autonome ! 
Vorstellungscomplexe („Dissoziation“ von Forel). j 

Ich habe auch den Eindruck, dass unsere Pai 
ein viel weniger starkes Heilungsbedürfniss hat ä- , 
andere Fälle, und dass die praktischen Erfolge eU I 
viel weniger glänzend sind, als bei andern Fällen | 
wo einem die Therapie grössere Freude macht 
z. B. bei einzelnen Pflegerinnen, die nachher zum 
leistungsfähigsten Personal gehören. 

Allmählich ermüden Arzt und Pat. bei der Be- f, 
handlung, kurzum, die praktischen Erfolge stehen in jj 
so schweren Fällen nicht recht im Verhältniss zur ' 
angewandten Mühe. 

Trotzdem ist das Resultat erfreulich: Die Stimm¬ 
ung der Pat. ist dauernd besser, ebenso der Schlaf, 
Pat. hat sehr guten Appetit, ist viel leistungsfähiger 
als früher; nur ganz ausnahmsweise ist sie einmal 
einen halben oder ganzen Tag arbeitsunfähig; früher 
waren es Wochen und Monate. Pat. hat auch ent¬ 
sprechend zugenommen, etwa 15 kg in einem halben 
Jahr, während man früher in dieser Beziehung immer 
in Sorgen war. 

Wichtig ist, dass man weiss, dass die Pat. an 
Hysterie leidet, dass man sie als Hysterie behandeln 
muss, dass bis jetzt sozusagen alle ihre körperlichen 
Symptome hysterische gewesen sind und dass man 
die medicamentöse Behandlung ganz aus dem Spiele 
lassen kann. 

Mit Rücksicht auf ihr sexuelles Vorleben wagten 
wir bis jetzt noch nicht die Pat. zu entlassen, wir 


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I 9°5-] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


483 


konnten ihr aber, seitdem die Besserung anhält, 
freien Ausgang gestatten. 

Freud hat seither, in einem Buche Löwen- 
feld’s*) resumirend seine jetzigen Anschauungen, 
die Technik und Indikation für psycho-analytische 
Methode niedergelegt. 

Er verlangt demnach gewöhnlich keine Hypnose 
sondern nur noch Concentration des Pat. in Ruhe¬ 
lage und fordert ihn auf, sich in seinen Mittheilungen 
gehen zu lassen und was ihm in den Sinn kommt, 
zu sagen, ob es ihm auch als unwichtig, störend oder 
beschämend Vorkommen möge. Es stellen sich dann 
schon bei der Erzählung der Krankengeschichte 
Lücken heraus, und drängt man den Patienten, sich 
darauf zu concentriren, so merkt man, dass die 
hierzu sich einstellenden Erinnerungen von ihm mit 
allen Mitteln der Kritik zurückgedrängt werden, bis 
er endlich das direkte Unbehagen verspürt, wenn 
sich die Erinnerung wirklich eingestellt hat. Aus 
dieser Erfahrung schliesst Freud, dass die Am¬ 
nesien das Ergebniss eines Vorgangs sind, den er 
Verdrängung heisst und als dessen Motiv er Un¬ 
lustgefühle erkennt. Die psychischen Kräfte, welche 
diese Verdrängung herbeigeführt haben, meint er in 
dem Widerstand, der sich gegen die Widerherstellung 
erhebt, zu finden. 

„Das Moment des Widerstandes ist eines der 
Fundamente seiner Theorie geworden. Die sonst 
unter allerlei Vorwänden beseitigten Einfälle be¬ 
trachtet er als Abkömmlinge der verdrängten psy¬ 
chischen Gebilde (Gedanken und Regungen), als Ent¬ 
stellungen derselben infolge des gegen ihre Reproduction 
bestehenden Widerstandes. 

Je grösser der Widerstand, desto ausgiebiger diese 
Entstellung. In dieser Beziehung der unbeabsich¬ 
tigten Einfälle zum verdrängten psychischen Material 
ruht nun ihr Werth für die therapeutische Technik. 
Wenn man ein Verfahren besitzt, welches ermöglicht, 
von den Einfällen aus zu dem Verdrängten, von den 
Entstellungen zum Entstellten zu gelangen, so kann 
man auch ohne Hypnose das früher Unbewusste im 
Seelenleben dem Bewusstsein zugänglich machen.“ 

„Freud hat darauf eine Deutungskunst 
ausgebildet, welcher diese Leistung zufällt, die gleich¬ 
sam aus den Erzen der unbeabsichtigten Einfälle 
den Metallgehalt an verdrängten Gedanken darstellen 
soll. Object dieser Deutungsarbeit sind nicht allein 
die Einfälle der Kranken, sondern auch seine Träume, 
die den direktesten Zugang zur Kenntniss des Unbe- 

*) L. Löwenfeld: Die psychischen Zwangserscheinungen. 
Wiesbaden, Bergmann, 1904. pag. 545 ff. 

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wussten eröffnen, seine unbeabsichtigten, wie plan¬ 
losen Handlungen (Symptomhandlungen) und 
die Irrungen seiner Leistungen im Alltagsleben (Ver¬ 
sprechen, Vergreifen und dergl.). Die Details 
dieser Deutungs- oder Uebersetzungsteclmik sind von 
Freud noch nicht veröffentlicht worden.“ 

„Ein umfangreiches Buch über die „Traumdeut¬ 
ung“, 1900 von Freud publicirt, ist als Vorläufer 
einer solchen Einführung in die Technik anzusehen. 

„Die Aufgabe, welche die psychoanalytische Me¬ 
thode zu lösen bestrebt ist, lässt sich in verschiede¬ 
nen Formeln ausdrücken, die aber ihrem Wesen nach 
äquivalent sind Man kann sagen: Aufgabe der Cur 
sei, die Amnesien aufzuheben. Wenn alle Erinner¬ 
ungslücken ausgefüllt sind, alle räthselhaften Effekte 
des psychischen Lebens aufgeklärt sind, ist der Fort¬ 
bestand , ja eine Neubildung des Leidens unmöglich 
gemacht. Man kann die Bedingung anders fassen: 
Es seien alle Veränderungen rückgängig zu machen; 
der psychische Zustand ist dann derselbe, in dem 
alle Amnesien ausgefüllt sind. Weittragender ist eine 
andere Fassung: es handle sich darum, das Unbe¬ 
wusste dem Bewusstsein zugänglich zu machen, was 
durch Ueberwindung der Widerstände geschieht. Man 
darf aber dabei nicht vergessen, dass ein solcher 
Wachzustand auch beim normalen Menschen nicht 
besteht und dass man nur selten in die Lage kommen 
kann, die Behandlung annähernd so weit zu treiben. 
So wie Gesundheit und Krankheit nicht principiel, 
geschieden, sondern nur durch eine praktisch be¬ 
stimmbare Summationsgrenze gesondert sind, so wird 
man sich auch nie etwas anderes zum Ziel der Be¬ 
handlungselzen als die praktische Genesung des Kranken, 
Herstellung seiner Leistungs- und Genussfähigkeit. 
Bei unvollständiger Cur oder unvollkommenem Er¬ 
folg derselben erreicht man vor allem eine bedeu¬ 
tende Hebung des psychischen Allgemeinzustandes, 
während die Symptome, aber mit geminderter Be¬ 
deutung für den Kranken fortbestehen können, ohne 
ihn zu einem Kranken zu stempeln.“ 

„Am günstigsten für die Psychoanalyse sind die 
chronischen Fälle \on Psychoneurosen mit wenig 
stürmischen oder gefahrdrohenden Symptomen, also 
zunächst alle Arten der Zwangsneurose. Zwangs¬ 
denken und Zwangshandeln und Fälle von Hysterie, 
in denen Phobien und Abulien die Hauptrolle spielen, 
weiterhin aber auch alle somatischen Ausprägungen 
der Hysterie, insofern nicht, wie bei der Anorexie, 
rasche Beseitigung der Symptome zur Hauptaufgabe 
des Arztes wird. Bei acuten Fällen von Hysterie 
wird man den Eintritt eines ruhigeren Stadiums ab¬ 
zuwarten haben: in allen Fällen, bei deinen die 
nervöse Erschöpfung obenan steht, wird man ein 
Verfahren vermeiden, welches selbst Anstrengung er¬ 
fordert, nur langsame Fortschritte zeitigt, und auf die 
Fortdauer der Symptome eine Zeit lang keine Rück¬ 
sicht nehmen kann.“ 

„An die Person, die man mit Vortheil der Psy¬ 
choanalyse unterziehen soll, sind mehrfache Forder¬ 
ungen zu stellen. Sie muss erstens eines psychischen 

Original from 

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484 


[Nr. 40. 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Normalzustandes fähig sein; in Zeiten der Verworren¬ 
heit oder melancholischer Depression ist auch bei 
einer Hysterie nichts auszurichten. Man darf ferner 
ein gewisses Maass natürlicher Intelligenz und ethischer 
Entwicklung fordern; bei wcrthlosen Personen lässt 
den Arzt bald das Interesse im Stiche, welches ihn 
zur Vertiefung in das Seelenleben des Kranken be¬ 
fähigt. Ausgeprägte Charakterverbildungen, Züge von 
wirklich degenerativer Konstitution äussern sich bei 
der Cur als Quelle von kaum zu überwindenden 
Widerständen. Insoweit setzt überhaupt die Kon¬ 
stitution eine Grenze für die Heilbarkeit durch 
Psychotherapie. Auch eine Altersstufe in der Nähe 
des fünften Decenniums schafft ungünstige Beding¬ 
ungen für die Psychoanalyse. Die Masse des psy¬ 
chischen Materials ist dann nicht mehr zu bewäl¬ 
tigen, die zur Herstellung erforderliche Zeit wird zu 
lang und die Fähigkeit, psychische Voigänge rück¬ 
gängig zu machen, beginnt zu erlahmen.“ 

Gesammtbild. Das Krankheitsbild unserer 
Pat. ist in dem Sinne ungemein einheitlich, geradezu 
schematisch, als es zum grossem Teil aus körper¬ 


lichen „Conversionssymptomen“ mit starker Deter- 
minirung durch eine Reihe psychischer Traumen — 
meist sexueller Natur — besteht. Das erste, vor die 
Zeit der Pubertät fallend (Missbrauch durch der. 
Vetter, mit 10 Jahren), entspricht also ganz der 
Freud’schen Annahme von den sexuellen Traumen 
vor der Pubertät als Hauptursache der Hysterie. 

Die Mehrzahl der Symptome ordnet sich in 
Gruppen zu Symptomenkomplexen. Wir können 
einen Symptomenkomplex von Seite des Magens 
(Erbrechen, Widerwillen gegen Milch und Fleisch , 
der Brust (Herzklopfen, Herzkrämpfe, Husten, Dis- 
pnoe, Schmerzen in der Seite), des Unterleibs (Leib¬ 
schmerzen, Ovarialschmerzen, „Ausfluss“, Schmerzen 
der äussern Genitalien etc., Rückenschmerzen), der 
Beine (Astasie — Abasie, Beinschmerzen, Schmerzen 
in der Ferse) und des Gehörs (Ohrenschmerz. 
Nichthören, angebliche „Drüsen**' vor dem Ohr 
unterscheiden. (Fortsetrung folgt.) 


Mittheilungen. 


— Fürsorge für gemeingefährliche Geistes¬ 
kranke. (Schluss.) 

Es erhebt sich nun die weitere Frage, ob durch 
dieses Urtheil der vorliegende Antrag überflüssig ge¬ 
worden ist. Diese Frage dürfte mit Entschiedenheit 
zu verneinen sein; denn vor allem würde es für viele 
namentlich ländliche Gemeinden eine grosse Härte 
bedeuten, wenn sie für diese gefährlichen Geistes¬ 
kranken sorgen sollten. Es bedarf keiner Ausführung, 
dass sie, vielleicht von Berlin, Breslau und anderen 
grossen Städten abgesehen, nicht in der Lage sind, 
die besonderen höchst kostspieligen Einrichtungen 
zu treffen und zu unterhalten, welche die Verwahrung 
gefährlicher Geisteskranker nöthig macht. Sic würden 
sich daher an schon vorhandene Anstalten wenden 
müssen und an dieselben, wenn Aufnahme erfolgt, 
recht hohe Pflegekosten zu zahlen haben, die bei der 
vielfach vorhandenen schweren Belastung mit Ge¬ 
meindeabgaben den völligen Ruin der Gemeinde 
herbeiführen können. Sodann w-ird es aber auch im 
Einzelfalle leicht zweifelhaft sein, welche Gemeinde 
die Fürsorgepflicht übernehmen soll. Das Urtheil des 
Obcrverwaltungsgerichts giebt hierüber keinen hin¬ 
reichenden Aufschluss. Es geht von einem Fall aus, 
w'o ein in Breslau geborener und dort bis zu 
seiner Verhaftung wohnhafter Mann in der Strafan¬ 
stalt daselbst geisteskrank wurde und, dieserhalb ent¬ 
lassen, der Polizei in Breslau zugeführt wird, also 
eine in jeder Beziehung in Breslau ortsangehörige 
Person, und es führt in dieser Hinsicht wörtlich 
weiter an: 

„Ob eine Ausnahme von der Regel, dass die 

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Kosten der Unterbringung Geisteskranker in Irren 
anstalten sich als Kosten der örtlichen Polizeiver- 
w-altung darstellen, sofern sie nicht Armenpflegekosten 
sind, dann eintritt, wenn sich der Geisteskranke früher 
solange er in Freiheit gelassen w'urde, ausserhalb des 
Ortes aufgehalten hat, von dem aus er in die Anstalt 
gebracht wurde, und erst infolge seiner Überführung 
in ein an diesem Ort befindliches Gefängniss und in 
unmittelbarem Anschluss an die Entlassung aus diesem 
der Oltspolizei überw r iesen wird, bedarf es in der vor¬ 
liegenden Streitsache keiner Erörterung, denn ein Fall 
dieser Art ist nicht gegeben. Otto Brieger hat sich 
nach dem Inhalt der bei der mündlichen Verhandlung 
vor dem Gerichtshof vorgelegten Polizeiacten schon 
seit der am 5. Mai 1899 verfügten Entlassung aus 
der Provinzialirrenanstalt zu Plagwitz in Breslau auf¬ 
gehalten, ist erst infolge eines am Orte verübten Ein¬ 
bruchsdiebstahls in Untersuchungshaft genommen 
und nach der alsbald verfügten Entlassung aus dieser 
dem Polizeipräsidenten zu Breslau zugeführt worden. 
Es kann daher keine Rede davon sein, dass die 
Ueberweisung an die Ortspolizeibehörde lediglich auf 
der Lage des Untersuchungsgefängnisses in der Stadt 
beruhe oder Folge einer im Interesse weiterer Ge¬ 
biete ergriffenen Maassregel sei, denn es handelt sich 
nicht um eine ortsfremde, sondern um eine durch 
jahrelangen Aufenthalt, anscheinend auch durch Ab¬ 
stammung und Wohnsitz der Stadt angehörige Person. 
Für eine Zurechnung der streitigen Kosten zu denen 
der Landespolizeiverwaltung fehlt es daher an jeder 
Unterlage.“ 

Wenn es sich also um sogenannte ortsfremde 
Personen handelt, so deutet das Urtheil an, dass 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


485 


möglicherweise anders zu entscheiden gewesen wäre, 
und dass diese Kosten als Landespolizeikosten anzu¬ 
sehen seien. Und in der That! Warum soll denn 
bei solchen ortsfremden Personen gerade die Gemeinde 
dauernd ein treten, in der die krank gewordene Person 
sich vielleicht nur ganz kurze Zeit aufgehalten hat? 
Die Gemeinde des vorübergehenden Aufenthalts hat 
gar kein andauerndes Interesse an der Verwahrung 
des Kranken, wohl aber das ganze Land. Daher 
liegt hier eine landespolizeiliche Angelegenheit vor, 
deren Kosten der Fiskus zu tragen hat Wollte man 
dies nicht annehmen, so bleibt die Frage offen, welche 
Gemeinde dann aufzukommen hat, wenn eine geistes¬ 
kranke, gemeingefährliche Person einen Unterstützungs¬ 
wohnsitz noch nicht erworben hat und in der letzten 
Zeit vor ihrer Inhaftirung im Lande herumgewandert 
ist. Dazu kommt die weitere Frage: was berechtigt 
die Gemeinde, welche die Unterbringung der gemein¬ 
gefährlichen Person bewirkt hat, diese Person, obwohl 
sie sjch selbst nicht mehr gefährlich und dieserhalb 
auf Grund ärztlichen Gutachtens nach einiger Zeit 
entlassungsfähig geworden ist, trotzdem wegen ihrer 
fortdauernden Gemeingefährlichkeit hinter Anstalts¬ 
mauern zu halten? Hier liegt eine so grosse, das 
Wohl der Gemeinden stark berührende Lücke in der 
Gesetzgebung vor, dass es dringend geboten erscheint, 
mit thunlichster Beschleunigung für Abhilfe zu sorgen. 

Wenn man mit Rücksicht auf den zur Zeit 
schwebenden Process zwischen der Rheinprovinz und 
der Königlichen Staatsregierung einwenden möchte, 
es sei zunächst der Ausgang des Processes abzuwarten, 
so dürfte es nicht ohne Bedeutung sein, auf den 
Process kurz einzugehen: Vor diesem Processe hatte 
sich der Provinzialausschuss der Rheinprovinz unterm 
5. März 1904 auf Vortrag des Landeshauptmanns 
einverstanden erklärt, dass ein seinerzeit der Provin¬ 
zial Heil- und Pflegeanstalt Grafenberg überwiesener 
Geisteskranker, trotz des Widerspruchs des Ober¬ 
bürgermeisters in Düsseldorf und des Landraths in 
Solingen, auf das Gutachten der Anstaltsärzte hin aus 
der Irrenanstalt zu entlassen sei, weil es sich bei 
seiner Festhaltung nur um eine im öffentlichen Sicher¬ 
heitsinteresse gebotene Maassgabe handele, und der 
Kranke zu seinem eigenen Schutz gegen Gefahren 
oder zu seiner Heilung der Anstaltspflege nicht be¬ 
dürfte. Diesen Beschluss hat der Oberpräsident der 
Rheinprovinz unterm 5. März 1904 beanstandet, wo¬ 
gegen die Provinzialverwaltung unterm 15. März 1904 
Klage beim Oberverwaltungsgericht eingelegt hat mit 
dem Anträge, den Beanstandungsbeschluss aufzuheben. 
Nach allbekannten Processgrundsätzen hat der Richter 
nur über die Anträge zu entscheiden und kann hier¬ 
über nicht hinausgehen. Das Oberverwaltungsgericht 
hat also in diesem Falle nur darüber zu entscheiden, 
ob die Rheinprovinz berechtigt war, den Geistes¬ 
kranken zu entlassen, nicht aber darüber, wer, falls 
derselbe nicht entlassen werden durfte, die Kosten der 
Verwahrung zu tragen hat. Aber gerade auf diese 
Frage kommt es, wie schon vorhin bemerkt, hier an. 
Der Rheinprovinzprocess präjudicirt also durch¬ 
aus nicht dem vorliegenden Anträge. Mit Rück¬ 
sicht hierauf, da ferner dargelegt worden ist, dass 
nach wiederholten höchstinstanzlichen Entscheidungen 

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des Bundesamts für Heimathwesen jetzt als festgestellt 
angesehen werden darf, dass in allen fraglichen Fällen 
die öffentliche Armenpflege nicht einzutreten braucht, 
und dass andererseits nach der angezogenen Ent¬ 
scheidung des Oberverwaltungsgerichts eine polizei¬ 
liche Aufgabe in Frage steht, so wird ein Abwarten 
des Rheinprovinzprocesses überflüssig erscheinen, und 
zwar um so mehr, als Gefahr im Verzüge liegt. Die¬ 
selbe ist gegeben durch den schon oben bezeichneten 
Erlass des Ministers des Innern vom 13. Juli 1904; 
hierin wird nämlich nach einer voraufgegangenen 
Rechtsbelehrung, die mit der oben geschilderten In- 
dikatur des Bundesamts für Heimathwesen schwerlich 
in Einklang zu bringen sein dürfte, den Ortspolizei-r 
behörden zur Pflicht gemacht, in vorkommenden 
Fällen der in Rede stehenden Art mit Zwangsmitteln 
gegen die Ortsarmenverbände vorzugehen. Die Poli¬ 
zeibehörden haben den Anweisungen des Ministers 
zu entsprechen. Die Folge wird demnach sein, dass 
jede Gemeinde in die Lage kommen kann, in Fällen 
der vorliegenden Art einem Zwangsverfahren unter¬ 
worfen zu werden. Um solchen Zuständen vorzu¬ 
beugen, dürfte hinreichender Anlass gegeben sein, 
von der Königlichen Staatsregierung zu verlangen, 
dass sie zur Beseitigung der bestehenden Missstände 
und Lücken in der Gesetzgebung recht bald ein ent¬ 
sprechendes Gesetz vorlegt, inhalts dessen die Grenzen 
zwischen Armenpflege und Sicherheitspolizei auf dem 
Gebiete des Irrenwesens näher festgesetzt werden. 

Seitens eines Vertreters des Ministers des Innern 
wurde folgende Erklärung abgegeben: 

„Die Herren Ressortminister theilen mit den 
Antragstellern das Bedauern über die unerfreulichen 
Zustände, welche in den einzelnen Provinzen der 
Monarchie in letzter Zeit auf dem Gebiete der öffent¬ 
lichen Fürsorge für Geisteskranke, insbesondere hin¬ 
sichtlich der Unterbringung von gemeingefährlichen 
Irren in öffentlichen Anstalten zu Tage getreten sind. 
Mit Besorgniss hat sie namentlich die Wahrnehmung 
erfüllen müssen, dass vielfach Armen verbände an der 
Hand und in unberechtigter Verallgemeinerung einer 
bei der Rechtsprechung des Bundesamts für das 
Heimathwesen hier und da zum Ausdruck ge¬ 
kommenen Unterscheidung zwischen den lediglich im 
sicherheitspolizeilichen Interesse zum Schutze anderer 
Personen und den in ihrem eignen gesundheitlichen 
Interesse in einer Anstalt unterzubringenden Geistes¬ 
kranken das Bestreben gezeigt haben, in weiterem 
Umfange die Fürsorge für die gemeingefährlichen 
Geisteskranken von sich ab und auf andere Schultern 
zu wälzen, was zur Folge hatte, dass die durch das 
Gesetz über die ausserordentliche Armenpflege vom 
11. Juli 1891 geschaffene Wohlthat der Kostenver- 
theilung auf verschiedene Communalverbände für eine 
grosse Anzahl von Fällen, in welchen an sich die 
Voraussetzungen dieses Gesetzes gegeben waren, ausser 
Anwendung blieb und dass an deren Stelle eine zum 
Theil schwer drückende Belastung einzelner Gemeinden 
mit mittelbaren Polizeikosten gemäss der Recht¬ 
sprechung des Oberverwaltungsgerichts eintreten musste. 

Abweichend aber von der dem Anträge zu Grunde 
liegenden Auffassung vermögen die betheiligten Herren 
Minister nicht zu erkennen, dass die beregten Miss- 

Orig i na I from 

HARVARD UNIVERSUM 






486 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 49. 


stände auf das Vorhandensein einer Lücke in der 
Gesetzgebung zurückzuführen sind, müssen vielmehr 
den Grund dafür lediglich in einer irrthümlichen 
Auslegung und in einer missverständlichen Anwendung 
des bestehenden Rechts erblicken. 

Sie werden, was die Beurtheilung der Rechtslage 
hinsichtlich der Fürsorge für das öffentliche Irren¬ 
wesen anlangt, von folgenden Erwägungen geleitet: 

Zunächst müssen sie an der von der Königlichen 
Staatsregierung stets vertretenen Auffassung festhalten, 
dass durch die Dotationsgesetze der 70er Jahre ohne 
jede Einschränkung die bis dahin dem Staate ob¬ 
gelegenen Verpflichtungen auf diesem Gebiete auf 
die Provinzen und die übrigen diesen gleichstehenden 
höheren Communalverbände übergegangen sind. Sieht 
man von den ausserhalb des Rahmens der Fürsorge 
gelegenen, lediglich wissenschaftlichen und Unterrichts¬ 
zwecken dienenden psychiatrischen Kliniken bei den 
höheren Lehranstalten, sowie von den Einrichtungen 
für die Beobachtung und Behandlung von der Geistes¬ 
krankheit verdächtigen, noch im Strafvollzüge befind¬ 
lichen Strafgefangenen ab, so beschränkt sich die 
Thätigkeit des Staates auf dem in Rede stehenden 
Gebiete gegenwärtig ausschliesslich auf die Hand¬ 
habung der Aufsicht über die mit der Fürsorge für 
Geisteskranke gesetzlich befassten Selbstverwaltungs¬ 
körper. 

Der Auslegung der bezüglichen gesetzlichen Be¬ 
stimmungen, insbesondere des § 4 des Dotations¬ 
gesetzes vom 8. Juli 1875, wie sie der Berichterstatter 
zum Ausdrucke gebracht hat, kann die Königliche 
Staatsregierung nicht bei treten. Nach ihrer Auffassung 
muss für die Auslegung dieses Gesetzes, wie auch 
aus dem § 1 hervorgeht, als leitender Grundsatz 
gelten, dass auf den der Selbstverwaltung überwiesenen 
Gebieten die dem bisherigen Rechtszustande ent¬ 
sprechenden Aufgaben und Verbindlichkeiten vom 
Staate auf die dotirten Verbände übergegangen sind. 
Wendet man diesen Grundsatz, aus welchem heraus 
sich auch die Verschiedenheit der Fassung in den 
einzelnen Ziffern des § 4 des Gesetzes erklärt, auf die 
hier in Frage stehende Materie an, so gestaltet sich 
die durch das Gesetz geschaffene Rechtslage wie folgt: 

Wie vor dem Inkrafttreten der Dotationsgesetze 
der Staat entsprechend seinen allgemeinen Aufgaben 
und in Gemässheit der besonderen Bestimmungen des 
Allgemeinen Landrechts (vergl. § 344 II 18) für die 
Unterbringung von Irren in öffentliche Anstalten Sorge 
zu tragen hatte, für deren als nothwendig erkannte 
Bewahrung und Heilung in einer geeigneten Anstalt 
sich sonst keine Gelegenheit fand, so liegt diese Ver¬ 
pflichtung seit Erlass jener Gesetze den erwähnten 
Communalverbänden ob. Diese Verpflichtung ist 
eine uneingeschränkte und wird als solche in keiner 
Weise dadurch beeinflusst, dass es sich in den Einzel¬ 
fällen um heilbare, einer Kur zuzuführende, in anderen 
um unheilbare, lediglich der Bewahrung und Pflege 
bedürftige Geisteskranke handelt; auch ist, was die 
Verpflichtung anlangt, weder im Gesetze, noch in 
langjähriger Praxis ein Unterschied zwischen den 
gemeingefährlichen und nicht gemeingefährlichen und 
ebensowenig zwischen solchen Geisteskranken gemacht 


worden, welche mit den Strafgesetzen in Conflikt 
gekommen, und solchen, welche als unbescholten zu 
bezeichnen sind. Vielmehr bildet die Grundlage 
für die Verpflichtung einzig und allein die Noth- 
wendigkeit, der Bewahrung in einer Anstalt, um zu 
verhüten, dass sie sich oder anderen Schaden zufügen 
(§341 II 18 A. L. R.). 

Nur nach einer Richtung hin ergiebt sich aus 
dem Gesetze eine Verschiedenheit, nämlich hinsicht¬ 
lich der Kostenfrage, indem für die hilfsbedürftigen, 
d. h. für diejenigen Irren, welche weder aus eigenen 
Mitteln, noch unter Heranziehung alimentations- oder 
erstattungspflichtiger dritter Personen die Kosten der 
nothwendigen Anstaltspflege zu bestreiten in der Lage 
sind, die Armenverbände in dem durch das Gesetz 
geregelten Umfange einzutreten haben, während bei 
nicht hilfsbedürftigen Irren diese Kosten entweder 
aus ihrem eigenen Vermögeu oder aus dem Vermögen 
der verpflichteten Dritten zu erstatten sind. Da es 
sich, abgesehen von der geringen Anzahl solcher 
vermögender Irren, welche aus irgend einem Grunde 
in Privat anstalten kein Unterkommen finden, im 
wesentlichen um die Versorgung von hilfsbedürftigen 
Geisteskranken handelt, so hat sich auch vor dem 
Inkrafttreten der Dotationsgesetze die staatliche Thätig¬ 
keit vornehmlich der Regelung der Fürsorge für die 
hilfsbedürftigen Geisteskranken zugewendet und die 
Gründung von öffentlichen Irrenanstalten seitens der 
Landarmenverbände in der Regel im Anschlüsse an 
die Landarmenhäuser vermittelt mit der Bestimmung, 
sowohl den landarmen Irren, wie den von den Ge¬ 
meinden, später von den Ortsarmen verbänden unter¬ 
zubringenden Irren Aufnahme zum Zwecke der 
Bewahrung, Kur und Pflege zu gewähren, wobei es 
nicht ausgeschlossen war, dass diese Anstalten, ebenso 
wie die auf Stiftungen beruhenden und staatlich ver¬ 
walteten, demnächst aber gemäss den Dotationsgesetzen 
den Provinzen überwiesenen Irrenanstalten auch ver¬ 
mögenden Geisteskranken, soweit der Raum es 
gestattete, gegen entsprechende Vergütung offen¬ 
standen. Die Reglements über die Einrichtung und 
Verwaltung dieser Anstalten lassen keinen Zweifel 
darüber, dass es sich dabei vor allem auch um die 
Unterbringung von gemeingefährlichen Irren zur Ver¬ 
hütung der von deren Ausschreitungen für die All¬ 
gemeinheit und für die Kranken selbst zu befürch¬ 
tenden Gefahren handelte. 

Nachdem diese Einrichtungen bezüglich der 
mittellosen Geisteskranken durch das Gesetz vom 
11. Juli 1891 eine abschliessende Regelung dahin 
erfahren haben, dass den daselbst näher bezeichneten 
Landarmen verbänden die Verpflichtung auferlegt 
worden ist, allen hilfsbedürftigen Geisteskranken, 
welche der Anstaltspflege bedürfen, Bewahrung, Kur 
und Pflege in dazu geeigneten Anstalten zu gewähren, 
— vorbehaltlich der Erstattung der Kosten in dem 
von dem Gesetze bestimmten Umfange seitens der 
dazu verpflichteten Communalverbände — ist auf 
dem Gebiete der öffentlichen Fürsorge für das Irren¬ 
wesen nach allen Richtungen hin eine klare und 
ausreichende Rechtslage geschaffen, welche einer 
Ergänzung nicht bedürftig ist. 


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I 9°5-] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


487 


Auch das Gesetz vom n. Juli 1891 macht keinen 
Unterschied zwischen heilbaren und unheilbaren, 
zwischen gemeingefährlichen und nichtgemeingefähr¬ 
lichen und ebensowenig zwischen beschoitenen und 
unbescholtenen Geisteskranken, sondern stellt als 
Voraussetzungen für seine Anwendbarkeit lediglich die 
Hilfsbedürftigkeit und die Anstaltspflegebedürftigkeit 
des Kranken hip. Dafür, dass gemeingefährliche Irre 
oder irre Verbrecher nicht als Kranke zu betrachten 
und dass für diese Categorien von Geisteskranken, 
auch wenn die obigen Voraussetzungen zutreffen, die 
Bestimmungen hinsichtlich der Verpflichtung der Land¬ 
armenverbände und der Ortsarmenverbände keine 
Geltung haben sollen, findet sich im Gesetze nirgend¬ 
wo auch nur der geringste Anhalt. Wenn gleichwohl 
neuerdings von verschiedenen Seiten der Versuch 
gemacht worden ist, die in den vorerwähnten Gesetzen 
zweifelsfrei niedergelegte Rechtslage zu verschieben 
und die den Provinzen und Landarmenverbänden, 
sowie den übrigen Communalverbänden überwiesenen 
Verpflichtungen auf andere Schultern zu wälzen, so 
kann diesem Vorgehen nur eine missveistündliche 
Auffassung der gesetzlichen Bestimmungen zu Grunde 
liegen. Allerdings findet diese Auffassung anscheinend 
eine Unterstützung in einzelnen Entscheidungen des 
Bundesamts für das Heimathwesen. Diese Unter¬ 
stützung ist aber im wesentlichen nur eine scheinbare, 
jedenfalls wild dadurch die verallgemeinerte Anwen¬ 
dung gewisser Entscheidungsgründe nicht bedingt 
Auch das Bundesamt hat es wiederholt ausgesprochen, 
dass die Gemeingefährlichkeit eines hilfsbedürftigen 
Geisteskranken das Eintreten der Armenpflege keines¬ 
wegs ausschliesst, dass ein solches Eintreten vielmehr 
auch dann zu erfolgen habe, wenn neben dem eigenen 
Interesse des Irren auch das öffenüiche Sicherheits¬ 
interesse bei der Beurtheilung der Anstaltspflege¬ 
bedürftigkeit konkurrire. Diese Konkurrenz wird aber 
in allen Fällen vorliegen, in welchen die NothWendig¬ 
keit der Unterbringung eines Geisteskranken in eine 
Anstalt aus dem Grunde sich ergeben hat, weil dem 
Kranken gemeingefährliche Neigungen innewohnen. 
Ein Geisteskranker, welchem die freie Bewegung in 
der menschlichen Gesellschaft nicht gestattet werden 
kann, weil er durch die bei ihm zu befürchtenden 
Ausschreitungen anderen Personen gefährlich werden 
kann und der aus diesem Grunde in einer Anstalt 
bewahrt werden muss, bedarf dieser Bewahrung auch 
in seinem eigenen Interesse, nicht nur deshalb, weil 
er sich selbst ebenfalls gefährlich ist, sondern auch, 
weil sein eigenes gesundheitliches Interesse es verbietet, 
ihn der freien Bethätigung seiner auf Geisteskrankheit 
beruhenden gefährlichen Neigungen in der Aussen w'elt 
zu überlassen. Die oft versuchte Unterscheidung, 
ob im einzelnen Falle das gesundheitliche Interesse 
des Kranken oder die Rücksicht auf den Schutz 
anderer Personen bei der Frage nach der Begründung 
der Anstaltspflegebedürftigkeit überwiegt, muss schon 
um deswillen verworfen werden, weil sie einer sicheren 
Prüfung und Beurtheilung sich überhaupt entzieht 
Was endlich die Frage der Hilfsbedürftigkeit bei der 
Anwendung des Gesetzes vom 11. Juli 1891 anlangt, 
so kann es auch nach der Rechtsprechung des 


Bundesamts für das Heimathwesen keinem Zweife 
unterliegen, dass sie in allen Fällen zu bejahen ist 
in welchen der Geisteskranke weder aus eigenem 
Vermögen, noch mit Hilfe verpflichteter Dritter die 
Kosten der Anstaltspflege bestreiten kann. 

Hiernach kann die bestehende Rechtslage dahin 
zusammengefasst werden,, dass in allen Fällen, in 
welchen Hilfsbedürftigkeit in dem vorstehend ange¬ 
gebenen Sinne vorliegt, die Armen verbände, wo dies 
nicht der Fall ist, die Provinzen oder die ihnen 
gleichstehenden Communalverbände für die Unter¬ 
bringung der gemeingefährlichen Geisteskranken zu 
sorgen haben, mit der Maassgabe, dass die letzt¬ 
gedachte Verpflichtung der Provinzen pp. sich auf 
die Fälle beschränkt, in welchen anderweitig die 
ordnungsmässige Unterbringung nicht zu ermöglichen 
ist, und mit der weiteren Maassgabe, dass, während 
die Kosten der Fürsorge für die hilfsbedürftigen 
Geisteskranken nach den Vorschriften des Gesetzes 
vom 11. Juli 1891 aufzubringen sind, für die aus der 
Unterbringung von zahlungsfähigen Kranken erwach¬ 
senden Kosten das Vermögen der Kranken bezw. 
das ihrer alimentationspflichtigen Angehörigen haftbar 
ist. 

Wären die vorstehenden Gesichtspunkte bei Be¬ 
handlung der in der Praxis vorgekommenen Fälle 
überall beachtet worden, und wären bei den Verhand¬ 
lungen darüber nicht der Natur der Sache fremde 
Momente hineingetragen worden, so hätten die zur 
Begründung des Antrags herangezogenen Vorgänge 
wohl vermieden werden können und es hätten sich 
die fraglichen Fälle in gleicher Weise, wie andere 
armenrechtlichen Fälle abgespielt, ohne dass dadurch 
die bemängelten, unerfreulichen Missstände hervor¬ 
gerufen worden wären. 

Auf eine den Gesetzen entsprechende zukünftige 
Behandlung dieser Angelegenheit seitens der Selbst¬ 
verwaltungsbehörden hinzuwirken, war der Zw r eck 
mehrfacher Erlasse des Ministers des Innern aus 
letzter Zeit und des weiteren einer Reihe von münd¬ 
lichen Besprechungen mit den maassgebenden Leitern 
solcher Behörden. Es kann mit Befriedigung constatirt 
werden, dass sich jetzt bereits ein beachtenswerther 
Theil dieser leitenden Stellen der vorhin dargelegten 
Auffassung angeschlossen hat und es muss in alle 
betheiligten Stellen der Selbstverwaltung das Vertrauen 
gesetzt werden, dass sie an der ordnungsmässigen 
Regelung der Frage im Sinne der bestehenden Gesetze 
mitzuwirken bereit sind. Inwieweit der Ausgang des 
gegenwärtig bei dem Oberverwaltungsgericht anhängig 
gemachten Rechtsstreites einen weiteren Beitrag zur 
Klärung der Rechtslage liefern wird, kann dahin¬ 
gestellt bleiben. Jedenfalls vermögen die betheiligten 
Herren Minister gegenwärtig ein Bedürfniss zu einer 
anderweitigen Regelung der vorliegenden Materie im 
Wege der Gesetzgebung nicht anzuerkennen. Sollte 
eine solche sich dennoch als nothwendig oder zweck¬ 
mässig erweisen, so würde sie nach Auffassung der 
Herren Minister nicht in der Richtung anzustreben 
sein, dass nunmehr wieder ein Theil der öffentlichen 
Fürsorge für das Irrenw-esen auf den Staat zu über¬ 
nehmen wäre, sondern dahin, dass die Kosten der 


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Original frnm 

HARVARD UNiVERSITY 




488 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Unterbringung von etwa nicht unter das Armengesetz 
fallenden gemeingefährlichen Geisteskranken in gleicher 
Weise, wie dies in dem Gesetze vom n. Juli 1891 
vorgesehen ist, auf die daselbst bezeichneten Communal- 
verbände vertheilt werden. Mit einer solchen Regelung 
würden die bestehenden Meinungsverschiedenheiten 
und die daraus sich ergebenden Schwierigkeiten am 
einfachsten beseitigt werden. 

Die bei der Plenarberathung über den Antrag 
zur Sprache gebrachte Frage, ob die Unterbringung 
bescholtener Geisteskranker — nämlich der irren 
Verbrecher — in die von den Provinzen und Land¬ 
armenverbänden unterhaltenen Irrenanstalten ange¬ 
messen und zweckmässig sei, erscheint bei der vor¬ 
liegenden Erörterung von untergeordneter Bedeutung 
und ist Sache der Ausführung, nicht der gesetzlichen 
Regelung. Sind Sachverständige und Verwaltung 
darüber einig, dass gewisse Categorien von Geistes¬ 
kranken, namentlich solcher mit gemeingefährlichen 
Neigungen, der Unterbringung und Behandlung in 
besonderen Abtheilungen oder in besonderen Anstalten 
bedürfen, so werden die verpflichteten Verbände sich 
dem nicht entziehen, Einrichtungen zu schaffen, welche 
diesem Zwecke zu dienen geeignet sind.“ 

Hiergegen befürworteten verschiedene Commissions¬ 
mitglieder den Antrag, indem sie ausführten: 

Es könne dahingestellt bleiben, ob den Provinzial¬ 
verbänden durch das Dotationsgesetz vom 8. Juli 1875 
die Fürsorge für das gesammte Irrenwesen übertragen 
worden sei; denn jedenfalls werde durch dieses 
Gesetz nicht die Frage geregelt, wer die Kosten der 
Verwahrung und Pflege der in die Irrenanstalten 
eingebrachten Kranken zu tragen habe. Auf diese 
Frage komme es zur Beurtheilung des vorliegenden 
Antrages allein an. Durch das Urtheil des Bundes¬ 
amts für Heimathwesen vom 24. Oktober 1903 sei 
nun zunächst festgestellt, dass die Landarmenverbände 
auf Grund des Gesetzes vom u.Juli 1891 nicht für 
die im Antrag bezeichneten Geisteskranken und Geistes¬ 
schwachen aufzukommen haben. Dass das Bundes¬ 
amt bei weiteren vorkommenden Fällen zu einer 
anderen Auffassung kommen werde, sei um so weniger 
anzunehmen, als dasselbe schon bei früherer Gelegen¬ 
heit im gleichen Sinne entschieden habe, z. B. am 
8. December 1900 in Sachen Berlin wider Provinz 
Brandenburg. Es sei unverständlich, dass die König¬ 
liche Staatsregierung, die bei anderen Gelegenheiten 
sich gern auf die ihr günstigen Entscheidungen stütze, 
jetzt die ihr unbequeme Judikatur des höchsten 
Gerichtshofes in Armensachen ausser acht zu lassen 
empfehle. Aus diesem Grunde müsse es auch be¬ 
dauert werden, dass der Minister des Innern in dem 
Erlasse vom 13. Juli 1904 sich offenbar in Wider¬ 
spruch zu jener Judikatur gesetzt habe. Die Durch¬ 
führung dieses Erlasses bringe grosse Härten hervor; 
denn nach ihm sollen die Polizeiverwaltungen die 
Ortsarmenverbände zwangsweise zur Unterbringung 
der in Rede stehenden Kranken anhalten, obwohl 
diese Sache nach der Judikatur des Bundesamts die 
Armenverbände nicht angehe. Wenn daher ein Orts¬ 
armenverband dem ihm angedrohten Zwange folgend 
einen Geisteskranken, der nicht in seinem Bezirk den 

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(Nr. 40. 


Unterstützungswohnsitz besitze, in einer Anstalt unter¬ 
bringe, so laufe er Gefahr, eine Erstattung seine: 
Auslagen von dem Ortsarmen verbände des Unter¬ 
stützungswohnsitzes nicht erlangen zu können. Möchte 
nun auch in solchen Fällen der Landarmen verband . 
sich bereit finden, das Gesetz vom 11. Juli 1891 zur 
Anwendung zu bringen, so bleibe doch immer ein 
Drittel der Pflegekosten auf dem Armen verbände zu 
Unrecht haften. Solche Aussicht werde zu mancherlei 
Streitigkeiten zwischen den betheiligten Ortsarmen¬ 
verbänden führen, und es sei dringend gebotr-% 
solchen Streitigkeiten vorzubeugen. Da eine zue- i- 
entsprechende Aenderung des Unterstützungswohnsi; - 
gesetzes nicht zu erhoffen sei, so müsse auf andere 1 
Wege auf Abhilfe Bedacht genommen werden. 

In ähnlichem Sinne sprachen sich noch andere 
Commissionsmitglieder aus, wobei insbesondere au 
auf das Urtheil des Oberverwaltungsgerichts vom 
29. April 1904 hingewiesen wurde. Indem in diesem 
Urtheil die erforderlichen Maassregeln, die auf Al - 1 
Wendung der von gemeingefährlichen Geisteskranken 
ausgehenden’ Gefahren abzielen, zu den Aufgaben 1 
der Ortspolizei gerechnet seien, werde den Trägem j 
der Ortspolizeikosten, d. h. den Gemeinden, eine Last t 
zugemuthet, die die meisten zu tragen ausser Stande 
seien. Es sei gerade das Getz vom 11. Juli iSftt 
gegeben woiden, um die Gemeinden auf dem Gebiete 
des Irrenwesens zu entlasten. ' Da nun aber nach 
dem bundesamtlichen Urtheil die Wohlthat des Ge¬ 
setzes vom 11. Juli 1891 in den im Antrag bezeich* | 
neten Fällen versage, so müsse jetzt auf anderer j 
Wege das Ziel der Entlastung der Gemeinden erstreb: I 
werden. Da übrigens die Gemeingefährlichkeit eines 
geisteskranken Verbrechers sich in der Regel nicht 
nur einem bestimmten Orte gegenüber, sondern auch 
in Bezug auf eine umfangreiche Gegend geltend mache, 
so erscheine es gerechtfertigt, dem Staate als Träger 
der Landespolizei die Kosten der Fürsorge zu über¬ 
tragen, wie es denn auch schon jenes Urtheil de* 
Oberverwaltungsgerichts für den Fall andeute. d;>" 
nicht ortsangesessene Geisteskranke in Frage kämen. 

Gegenüber dem Einwande eines Vertreters des 
Ministers des Innern, dass die ganze Frage um des¬ 
willen keine grosse practische Bedeutung besitze, weil 
einzelne Landarmenverbände trotz der Judikatur des 
Bundesamts für Heimathwesen doch auf die in Rede 
stehenden Fälle das Gesetz vom 11. Juli 1891 zur 
Anwendung brächten, wurde von Commissionsmit- 
gliedern geltend gemacht, dass die Vertreter der Land¬ 
armenverbände zu dieser Maassnahrae nur vorüber¬ 
gehend gegriffen hätten in der Absicht, die Orts¬ 
armenverbände nicht in Noth gerathen zu lassen. 
Dieselben könnten jederzeit sich anders entschliessen 
und die Judikatur des Bundesamts für Heimathwesen 
zur Durchführung bringen; eine solche der gesetzlichen 
Basis entbehrende und ungewisse Praxis könne aber 
in einem geordneten Staatsleben nicht länger aufrecht 
erhalten werden. Der vorliegende, im Interesse aller 
Gemeinden liegende Antrag sei daher wohl zu em¬ 
pfehlen. 

Die alsdann folgende Abstimmung ergab die ein¬ 
stimmige Annahme des Antrages. 

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I 9 ° 5 -] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


489 


Hierauf stellte der Berichterstatter zum Zwecke 
der Durchführung des angenommenen Antrages fol¬ 
genden weiteren Antrag, wodurch jener Antrag von 
selbst seine Erledigung findet: 

Die Staatsregierung zu ersuchen, einen Gesetz¬ 
entwurf vorzulegen, wonach folgendes bestimmt wird: 

Soweit die Landarmenverbände nicht gemäss dem 
Gesetze vom 11. Juli 1891, betreffend die ausser¬ 
ordentliche Armenpflege, verpflichtet sind, die Kosten 
der Unterbringung derjenigen mittellosen Geisteskranken 
und schwachsinnigen Personen zu übernehmen, welche 
nur oder vorwiegend behufs des Schutzes anderer 
Personen gegen ihre Ausschreitungen der Unterbring¬ 
ung in Anstalten bedürfen, hat der Staat diese Kosten 
auf die Staatskasse zu übernehmen. 

Zur Begründung wurde ausgeführt: Wenngleich es 
an sich wünschenswerth sei, dass der Staat, der am 
besten in der Lage sei, alle geisteskranken Verbrecher 
in zweckentsprechender Weise in Verwahrung zu 
nehmen, die ganze diesbezügliche Fürsorge übernehme, 
so gebiete doch die bisherige Entwicklung des Irren¬ 
wesens in Preussen sowie die bisherige ablehnende 
Stellung der Königlichen Staatsregierung zu dem vor¬ 
erwähnten Anträge eine Beschränkung auf das unbe¬ 
dingt Nöthige. Dies ergebe sich aber aus den mehr¬ 
erwähnten bundesamtlichen Urtheilen, indem darin 
ausgesprochen sei, dass die Armen verbände für die¬ 
jenigen mittellosen geisteskranken und schwachsinnigen 
Personen, welche nur oder vorwiegend behufs des 
Schutzes anderer Personen gegen ihre Ausschreitungen 
der Unterbringung in Anstalten bedürfen, nicht zu 
sorgen brauchen. Da man aber diese Fürsorge den 
meistentheils ohnehin schwer belasteten Gemeinden 
nicht zumuthen könne und ebensowenig der schon 
über das Maass der Dotationsrenten hinaus in An¬ 
spruch genommenen Provinzial verbänden, so bleibe 
nur übrig, auf den Staat zurückzugreifen. 

Hiergegen wurde von einem Vertreter des Ministers 
des Innern bemerkt, dass die Uebertragung der frag¬ 
lichen Kosten auf den Staat einen Bruch mit deip 
hinsichtlich der Polizeikosten bestehenden System 
bedeuten würde, weil es sich nicht um Landes-, 
sondern um Ortspolizeikosten handle, als deren Träger 
grundsätzlich die Gemeinden zu gelten haben. 

Ein Commissar des Finanzministers gab hierzu 
folgende Erklärung ab: 

„Nach dem geltenden Rechte scheidet der Staat 
für die Kostenfrage völlig aus. Denn entweder handelt 
es sich um eine Unterbringung aus armenrechtlichen 
Gründen; dann greift das Gesetz vom 11. Juli 1891 
Platz, wonach die verschiedenen Communalverbände 
zur gemeinsamen Kostentragung verpflichtet sind. 
Oder die Internirung erfolgt aus sicherheitspolizei¬ 
lichen Gründen; dann hat die Gemeinde als Trägerin 
der mittelbaren Polizeikosten die entstehenden Aus¬ 
gaben zu übernehmen. Dass es sich dabei, wie 
behauptet, nicht um einen orts-, sondern um einen 
landespolizeilichen Akt handle, dessen Kosten der 
Staatskasse zur Last fallen, findet in den bisher vor¬ 
liegenden höchstinstanzlichen Entscheidungen keine 
rechtliche Unterlage und muss daher bis auf weiteres 

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um so mehr bestritten werden, als in dem durch das 
Erkenntnis des Obervenvaltungsgerichts vom 29. April 
1904 zur Entscheidung gebrachten Falle die Inter- 
nirungskosten ausdrücklich als mittelbare Polizeikosten, 
welche die Gemeinde zu tragen habe, anerkannt sind. 

Zugestanden mag werden, dass in der Belastung 
einer einzelnen Gemeinde mit diesen Kosten eine 
gewisse Härte liegt; solche Härten werden aber auch 
auf anderen polizeilichen Gebieten Vorkommen, ohne 
dass der Staat sich verpflichtet hält, alsbald mit seinen 
Mitteln einzugreifen. De lege ferenda wäre es jeden¬ 
falls höchst bedenklich und würde zu weitgehenden 
Berufungen führen, wenn der Staat hier ortspolizeiliche 
Lasten übernehmen wollte. Dazu kommt aber, dass 
die Entscheidung der Frage, ob ein Irrer im Interesse 
seiner Person oder im allgemeinen Interesse anstalts¬ 
pflegebedürftig ist, sich nach allgemeingültigen kon¬ 
kreten Merkmalen kaum treffen lässt und daher stets 
mehr oder minder den Schein der Willkür an sich 
tragen wird. Zwischen den verschiedenen Verpflich¬ 
teten würde deshalb nur nach sehr schwierigen 
psychiatrischen Untersuchungen und durch unendliche 
Prozesse im einzelnen Falle zum Austrag zu bringen 
sein, wer ersatzpflichtig wäre, ob die armenrechtlich 
verpflichteten Verbände nach dem erwähnten Gesetz 
von 1891, oder der Staat als Träger der ihm über¬ 
wiesenen Polizeikosten. Soll daher aus Billigkeits¬ 
erwägungen der einzelnen Gemeinde die für sie zu 
drückende Last abgenommen und auf breitere Schultern 
gelegt werden, so würde zur Vermeidung jener Rechts¬ 
unsicherheit und der daraus folgenden Streitigkeiten 
kaum etwas anderes übrig bleiben, als in beiden 
Arten von Fällen die Kosten demselben Verpflichteten 
aufzuerlegen, d. h. also nicht den Staat, sondern die 
bereits nach dem Gesetz von 1891 aus armenrecht¬ 
lichen Gründen verpflichteten Verbände an Stelle der 
einzelnen Gemeinde treten zu lassen.“ 

Dieser Auffassung traten mehrere Commissions¬ 
mitglieder entgegen, indem sie darauf hinwiesen, dass 
es sich bei der vorliegenden Frage um Schutz vor 
gemeingefährlichen Leuten für das ganze Land, mithin 
um eine landespolizeiliche Angelegenheit, handle. In 
diesem Sinne sei auch das Urthcil des Oberveiwaltungs- 
gerichts vom 29. April 1904, wenigstens in Bezug 
auf die nicht ortsangehörigen Geisteskranken, zu ver¬ 
stehen. 

Andere Commissionsmitglieder meinten, dass selbst 
dann, wenn es sich hier um eine ortspolizeiliche An¬ 
gelegenheit handle, die Uebertragung der bezüglichen 
Aufgabe auf den Staat gerechtfertigt sei, weil ihre 
Durchführung für die Gemeinden eine zu grosse Härte 
bilden werde. Einig war die Commission darin, dass 
cs sich nicht empfehle, über den Rahmen des zweiten 
Antrages hinauszugehen, und die ganze Fürsorge für 
verbrecherische Irre bezw\ geisteskranke Verbrecher 
einzubeziehen. 

Auf den Einwand der Vertreter der Königlichen 
Staatsregierung, dass es in der Praxis nicht möglich 
sei, die Geisteskranken, welche lediglich der Aussen - 
welt Gefahren mit sich brächten, von denjenigen zu 
unterscheiden, die sich selbst gefährlich würden, und 

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490 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 40 . 


dass deshalb die gesetzliche Festlegung solcher Unter¬ 
scheidung den Anlass zu vielen Streitigkeiten geben 
würde, zumal nicht feststehe, wer über die Unter¬ 
scheidung entscheiden könne und solle, wurde von 
Commissionsmitgliedern entgegnet, dass dieses Be¬ 
denken deshalb keine Berücksichtigung verdiene, weil 
schon jetzt — wie die oben wiederholt angezogenen 
Urtheile des Bundesamts für Heimathwesen ergeben 
— in armenrechtlichen Procesßen die nöthige Auf¬ 
klärung ohne grosse Schwierigkeiten durch Anhörung 
von sachverständigen Aerzten gewonnen worden sei. 

Die Abstimmung ergab schliesslich die einstimmige 
Annahme des zweiten Antrags. 

Der Antrag der Commission lautet demnach: 

Das Haus der Abgeordneten wolle beschliessen: 
die Königliche Staatsregierung zu ersuchen, einen 
Gesetzentwurf vorzulegen, wonach folgendes bestimmt 
wird: Soweit die Landarmen verbände nicht gemäss 
dem Gesetze vom n. Juli 1891, betreffend die ausser¬ 
ordentliche Armenpflege, verpflichtet sind, die Kosten 
der Unterbringung derjenigen mittellosen Geistes¬ 
kranken und schwachsinnigen Personen zu über¬ 
nehmen, welche nur oder vorwiegend behufs des 
Schutzes anderer Personen gegen ihie Ausschreitungen 
der Unterbringung in Anstalten bedürfen, hat der 
Staat diese Kosten auf die Staatskasse zu übernehmen. 

Berlin, den 23. Januar 1905. 

Die verstärkte Commission für das 
G emeinde wesen: 

Hausmann, Vorsitzender. Schmedding (Münster), Be¬ 
richterstatter. Albers. Brütt. v L'ülow (Homburg). 
Fischbeck. Dr. Hauptmann. v. Heyking. Klausener. 
Dr. Krüger (Marienburg). Meyenschein. Pless. Reck. 
Reinecke (Sagan). Schmidt (Warburg). Schulze-Pelkum. 
Stackmann (Wetzlar). Vorster. Westermann. Wilckens. 

Wolff (Biebrich). 

(Fortsetzung folgt.) 

— Aus russischen Anstaltsberichten. Dem 

Verein zum Austausch der Anstaltsberichte sind mehrere 
grössere russische Anstalten beigetreten. Von den ein¬ 
gesandten Jahresberichten für 1903 sucht der eine 
(Anstalt Pokrowskoje; Dir. Jakowenko) deutschen 
Lesern das Verständniss zu erleichtern, indem vielen 
Tabellen Bezeichnungen in deutscher Sprache beigefügt 
sind. Aus den umfassenden Berichten können an 
dieser Stelle nur einige Fragen berücksichtigt werden. 

Die Irrenfürsorge in Russland leidet vielfach an 
zu starker Centralisation, welche den gewaltigen Ent¬ 
fernungen nicht Rechnung trägt. Wir erfahren, dass 
der Pirogow-Co’ngress der russischen Aerzte von 1904, 
als er das Thema der Irrenfürsorge in Russland ver¬ 
handelte, zu dem Schluss kam, dass eine möglichst 
weitgehende Decentralisation der Anstaltsfürsorge pp. 
die wichtigste Aufgabe für den Fortschritt sei, die 
Selbstverwaltung der Landschaften (Semstwo) und die 
Städte hätten diese Aufgabe zu lösen. 

Das Verhältniss der Anzahl der Aerzte zur Kranken¬ 
zahl ist fast durchweg ein sehr günstiges; eine Tabelle, 
welche der Odessaet Bericht (nach Angabe für 1902) 

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zusammenstellt, giebt dies wieder.*) Es kamen (den 
Director nicht mit eingerechnet) in Pokrowskuje 
(Moskauer Semstwoanstalt) auf 1 Arzt 50 Kranke, 


in St. Petersburg (Panteleimon) . . . 1 : 70 

in Ssaratow. 1: 80 

in Odessa . 1 : 84 

in Pensa. . 1: 00 

in Pskow. 1 : 95 

in Charkow und Nischni-Nowgorod .... I : 96 

in Smolensk . 1:109 

in Kursk.... 1 : r ro 

in Woronesch. . 1 : 1 So 

in Nowgorod. 1:216 

in Tschernigow. 1:230 


Die Verhältnisszahl bezüglich des Pflegepersonals 
schwankte zwischen 1:33 Kr. (Pokrowskoje) und 
1 : 7,5 Kr. (Nowgorod). Bezüglich der Kranken¬ 
behandlung finden wir denselben Fragen die Auf¬ 
merksamkeit zugewendet, wie bei uns. 

In Ufa sind die* Versuche, acute Psychosen, bei 
welchen eine Intoxication angenommen wurde, syste¬ 
matisch mit Infusionen von physiol. Kochsalzlösung 
zu behandeln, wieder aufgegeben worden, da höch¬ 
stens symptomatische Erfolge zu bemerken waren, 
ein Einfluss auf den weiteren Krankheitsverlauf aber 
ausblieb. Zur ausgedehnten Anwendung von Dauer¬ 
bädern wurden dort die nothwendigen baulichen Ver¬ 
änderungen getroffen, feuchte Einpackungen werden 
nur ausnahmsweise bei hochgradigen Erregungszu¬ 
ständen angewendet. 

Isolirungen sind in Ufa seit 1902 nicht mehr 
angewendet worden, die Zellen wurden zu gewöhn¬ 
lichen Krankenzimmern mit grossen Fenstern umgebaut. 
In der (NB. überfüllten) Anstalt zu Odessa haben 
Isolirungen in einzelnen Fällen stattgefunden, der 
Berichterstatter (Dr. Worotynski) erklärt sie auch für 
gewisse Fälle für ein nützliches therapeutisches Mittel, 
wobei er mit Hinweis auf die Berichte von Pokrows¬ 
koje, Kostroma, Ssamara, Kursk, St. Petersburg hervor¬ 
hebt, dass er in dieser Anschauung nicht allein steht. 
Er führt folgenden Ausspruch des Direktor Jakowenko 
an: „Eine richtig verstandene Isolirung d. h. die Ge¬ 
währung von Stille, Ruhe, Absonderung für den 
Kranken bei sorgfältiger Aufsicht, erscheint im höch¬ 
sten Grade wünschenswerth für sehr zahlreiche Fälle“. 
Hier scheint mir doch wieder zwischen Einschliessung 
und Separirung nicht mit genügender Schärfe unter¬ 
schieden zu werden, wie auch bei einer vorangehenden 
Bemerkung Worotynski’s, dass viele seiner Kranken 
selbst um Versetzung in ein Einzelzimmer baten, ,,utn 
sie vom Lärm und der unangenehmen Nachbarschaft 
zu befreien“. Zu einem unbefangenen Urtheil in der 
Frage der Isolirung wird man erst kommen, wenn 
längere Perioden von Verzicht auf Isolirung mit 
solchen, in welchem isolirt wurde, an derselben Anstalt 
verglichen werden können. Einen Versuch mit 
zeitweiligem Verzicht auf die Isolirungen sollten daher 
noch mehr Anstalten machen. Uebrigens ist auch 
von Deiters auf die Nothwendigkeit einer derartigen 

*) Aufnahmeziffern sind der Tabelle nicht beigegeben 
Prokowscoje batte 1902 = 457, Odessa 1902=417 Zugänge. 

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* 905 -] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


49 1 


vergleichsweise!! Entscheidung der Frage hingewiesen 
worden (vergl. diese Wochenschrift 1903, S. 132)*). 

Die Blutserumbehandlung der Epilepsie nach Ceni 
wurde von Dr. Ssokalski in Ufa an einer Reihe von 
Kranken versucht. Das Serum wurde durch Aderlass 
von Epileptikern gewonnen, in deren Blut zur Zeit 
die Anwesenheit von Antitoxinen vermuthet werden 
durfte (Uebergang eines Dämmerzustandes in Klarheit, 
eben überwundener Status epilepticus), bei den 
Injectionen wurde bis zu 200 ccm Serum eingeführt. 
Ein Erfolg war weder auf den Gesammtzustand, noch 
auf das psychische Verhalten, noch auf die Häufigkeit 
der Krampfanfälle bei den Behandelten zu ver¬ 
zeichnen. Mercklin. 

*) In seinem dankenswerten kritischen Bericht Uber die 
Fortschritte des Irrenwesens (diese Wochenschrift 1905) hat 
Deiters der Auschauung Ausdruck gegeben (S. 428), dass wir 
hier in Treptow bezüglich der Vermeidung der Isolirung bei 
Verbrechern wohl zu weit gingen. Pro domo muss ich anfiihren, 
dass, was bei unserem bisherigen Bestände an freierem Ver¬ 
fahren gewagt werden konnte, nicht geschah, „nur um bei Ver¬ 
brechern die Isolirung zu vermeiden“, sondern weil der Ein¬ 
druck unabweislich ^ar, dass wir bei den bisher beobachteten 
Einzelfäilen so doch verhältnissmässig besser fuhren und 
schlimmere Vorkommnisse umgingen. Dass auch wir uns 
bestimmte Grenzen gesetzt haben und übermenschliches weder 
unserem Personal noch der Umgebung der zu verbrecherischen 
Ausfällen neigenden Kranken zumuthen werden, ist selbstver¬ 
ständlich. Ich habe das schon am Schlüsse meines Vortrages 
in Jena ausgeführt und darf auf das dort Gesagte verweisen, 
(s. diese Wochenschrift Jahrgang V, Seite 81.) 


Referate. 

— R. S. Stewart: The Mental and Moral 
Effects of the South African War 1899 bis 
1902 on the British People. (Journal of 
Mental Science 1904, Jan.) 

Stewart behauptet einen in die Augen springenden 
Einfluss des Burenkrieges auf den Sittenzustand der 
in Europa lebenden Briten. Drei Perioden des 
Krieges werden auseinander gehalten. Die erste 
umfasst die letzten drei Monate des Jahres 1899, 
in welcher die Engländer im Nachtheil waren, in 
der zweiten, in den darauf folgenden vier Monaten, 
wird der Feind allmählich bezwungen, während die 
dritte Periode, die zwei letzten Jahre des Krieges, 
in denen die Buren keinen organischen Widerstand 
mehr leisteten, einschliesst. 

Die erste Periode, die Zeit des Unglücks, zeichnet 
sich durch das Hervortreten von Selbstlosigkeit und 
Opferwilligkeit in England aus, die sittliche Führung 
ist im Allgemeinen deutlich gehoben. In der Freude 
über die errungenen Vortheile lässt aber schon in 
der zweiten Periode die Opferwilligkeit nach. Eine 
Verschlechterung der sittlichen Führung für die Zeit 
der beiden letzten Perioden ist die Folge davon. 

Stewart stützt sich auf statistische Erhebungen 
für die Zeit des Krieges über Verbrechen, Geistes¬ 
krankheiten, Heirathen, Conceptionen und uneheliche 
Geburten. 

Die Zahl der im Jahre 1899 in England ver¬ 
übten schweren Verbrechen ist an und für sich be- 
merkenswerth niedrig. Auffallenderweise aber ist die 
Abnahme der Verbrechen in den letzten drei Mo¬ 


naten, und hier wiederum im allerletzten Monate — 
„in jenen düsteren Decembertagen“ — sehr deutlich. 
Diese Abnahme erreicht in den ersten 9 Monaten 

1899 eine Höhe bis zu 6,9 % im Vergleich mit dem 
vorhergehenden Jahre, steigt für die letzten 3 Monate 
des Jahres bis zu 10% und für den December allein 
bis zu 17,8%. In den ersten drei Vierteljahren 

1900 hält die Abnahme der Verbrechen noch an, 
im letzten Vierteljahr zeigt sich eine Zunahme von 
8,1%, für das ganze Jahr eine Zunahme von 2,5%. 
Wales zeigt 1899 eine Abnahme von 10,2% und 
eine Zunahme von 6,3% im folgendem Jahre. 

Im Gegensätze hierzu weist Schottland im letzten 
Vierteljahre von 1899 eine Zunahme von 5,4% bei 
einer Abnahme von 0,9 in den ersten 3 A Jahren 
auf. Die Zunahme beträgt hier 1900 bis zu 7,6% 
und zwar 8,3% für die ersten drei Vierteljahre, 5,4% 
im letzten Vierteljahre. 

In Irland erreicht die Abnahme der Verbrechen 
1899 8,4% (8,5 für die ersten drei Vierteljahre, 
7,3 für das letzte Vierteljahr, 23,5 für December 
allein). Im folgenden Jahre erreicht die Abnahme 
hier nur 1,6%, für den December allein berechnet 
findet sich eine Zunahme von 19,3%, für 1901 eine 
Zunahme um 0,3%. Das Gesamtergebniss erfährt 
einige Modifikationen bei einer Einteilung in Ver¬ 
brechen, die mit Ueberlegung begangen wurden, (vor¬ 
nehmlich Eigenth ums verbrechen) und der im Affekt 
begangenen Verbrechen (Gewalttätigkeiten, Tot¬ 
schlag, Sittlichkeitsverbrechen, Selbstmord). Eigen- 
thumsverbrechen zeigen in England (im engeren 
Sinne) 1899 eine Abnahme von 8,4% (7,3 für die 
ersten drei Vierteljahre; 10,1 für das letzte Viertel¬ 
jahr; 17,1 für den December allein), 1900 dagegen 
eine Zunahme um 3,3% (1,3% für die ersten drei 
Vierteljahre; 9,7 für das letzte Vierteljahr; 25,8 für 
December allein). Auch in Wales findet eine Ab¬ 
nahme bis ii,i°/o statt für 1899, dagegen eine Zu¬ 
nahme dieser Verbrechen bis zu 7,5% für 1900. 
In Irland beträgt die Abnahme 1899 bis 8,7% 
(23% für Dezember allein) gegen eine Zunahme 
von 0,4% für 1900 und 0,5% für 1901. In 
Schottland hingegen zeigt sich schon 1899 eine 
Zunahme von 2,6, die 1900 auf 10,6% steigt. 

Auch die Affektverbrechen zeigen die gleiche 
Erscheinung; eine allgemeine Abnahme im Jahre 
1899, die sich im letzten Vierteljahr auffallend stei¬ 
gert und im December ihren Höhepunkt erreicht, 
wird im Jahre 1900 allmählich geringer und endet 
im gleichem Jahre mit einer Zunahme dieser Ver¬ 
brechen. Die Zahl der Morde fällt 1899 um 16%, 
nimmt 1900 um 2,1% zu. Darunter zeigen die 
Morde an Neugeborenen einen Abfall von 37,7% 
für 1899 und eine Zunahme von 6,1% für 1900. 

Sittlichkeitsverbrechen nehmen in Eng¬ 
land (im engeren Sinne) um 4,3% ab (0,7 % be¬ 
trägt die Abnahme in den ersten drei Vierteljahren 
16,4% für das letzte Vierteljahr, 24,7% für den 
December allein). Auch Irland zeigt für diese Ver¬ 
brechen eine Abnahme von 5,6% für 1899 (3,9% 
für die ersten 9 Monate, 11,1 für die letzten, 37,5 
für den December). Im Gegensätze hierzu zeigen 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr | 


Schottland und Wales eine Zunahme für 1899 um 
17,4% bezw, 4,5%. Dedenkt man aber, dass die 
Zunahme dieser Verbrechen in Schottland im Oc- 
tober 56,2, dagegen für die letzten zwei Monate nur 
20% zeigt, so sieht man hieraus, dass doch auch in 
diesen Zahlen ein ähnlicher Einfluss wie in England 
und Irland zum Ausdrucke kommt. Dieser Einfluss 
wird aber 1900 allmählich abgeschwächt, die Ab¬ 
nahme dieser Verbrechen fällt in den ersten 9 Mo¬ 
naten von 1900 und weicht einer Zunahme in den 
letzten drei Monaten wenigstens für England und 
Schottland (1,4 bezw. 35,2% Zunahme gegen das 
Fallen einer Abnahme von 26,3 % auf 8,3 % in Irland). 

Die Selbstmorde wiesen eine Abnahme auf 
(2,4% für England und Wales, 6,5 für Schottland, 
11,7 für Irland), diese Abnahme hält 1900 in Schott¬ 
land und Irland weiter an, während in England und 
Wales sich eine Zunahme bis zu 1,8 bezw. 5,5 be¬ 
merkbar macht. 

Auch die S elbstmordversuche nehmen 1899 
ab und dies wieder besonders in den letzten drei 
Monaten (bis 4,0%). Diese Abnahme steigert sich 
noch 1900 bis zu 15,1% in den ersten neun Monaten, 
fällt auf 12,1 in den letzten drei Monaten und auf 
3,4% im December. 1901 aber zeigt sich eine Zu¬ 
nahme der Selbstmordversuche von 17,8%. 

In ähnlicher Weise lassen die statistischen Zahlen 
für die unbedeutenden Vergehen und Trunkenheit 
eine Abnahme für 1900 und eine Zunahme für 
1901 erkennen. Auch die Erklärung für diese That- 
sache findet St. in einem sittlich bessernden Einflüsse 
des Krieges, der sich anfangs zeigt, später aber allmäh¬ 
lich abnimmt und zuletzt in das Gegentheil umschlägt. 

Die Geisteskrankheiten zeigen eine stetige Zu¬ 
nahme im Königreiche in den Jahren 1898—1902 
(nach Erstaufnahmen in Anstalten auf je 100000 
Einwohner berechnet 1898: 51,7, 1899: 52,2, 1900: 
52,6, igoi: 55,4, 1902: 60, 2.) 

(Gleiche Schwankungen wie bei den Verbrechen 
finden sich also nicht. Ref.) 

Die Zahl der Heirathen nimmt in England im 
Dezember 1899 ab, erhebt sich auch 1900 nur 
wenig und erreicht eine absolute Zunahme erst im 
Jahre 1901 wieder. 

Die Zahl der Conceptionen nimmt 1899 nament¬ 
lich in den letzten drei Monaten ab, was sich be¬ 
sonders in England und Schottland bemerkbar macht, 
wo 1900 die bisher geringste Anzahl von Geburten 
registrirt werden. Die Zahl der Conceptionen stei¬ 
gert sich dann wieder in den Jahren 1900 und 1901. 

Die Zahl der unehelichen Geburten, die für 1899 
eine Abnahme zeigt, weisst eine Zunahme in den 
folgenden Jahren auf. 

Stewart fasst am Schlüsse dahin zusammen: 

Die Widerstandsfähigkeit und die sittliche Halt¬ 
ung nehmen unter dem Einflüsse des Krieges sicht¬ 
lich zu. Dieser gute Einfluss verliert sich jedoch 
allmählich so sehr, dass gegen Ende des Krieges der 
sittliche Stand des Volkes ein tieferer ist, als zu Beginn. 


In einer Diskussion über die Resultate Steward 
bezweifelt Dr. Jones, ob der gegenwärtige Zeitpum; 
schon ein endgültiges Urtheil über den Einfluss 
Krieges gestatte. Alle grossen öffentlichen Frager, 
und Aufregungen pflegen ihren Ausdruck in 
Haltung des Widerstandsünfähigen im Lande m 
finden. Nicht der Krieg allein als solcher, sonder: 
auch die grosse plötzlich geforderte Kriegsuinfa^ 
hatte eine Aenderung der Verhältnisse im Land 
geschaffen. Nach Jones’ Ansicht wirkten mehre- 
Ursachen bei dem Zustandekommen des Wechsel' 
im sittlichen Verhalten der Bevölkerung mit. J> no 
ist geneigt, der Witterung einen Einfluss auf d> 
Statistik der Selbstmorde zuzuschreiben. Vor allen 
sieht Jones in dem „Pro Boerism“ mit seinen die 
Patrioten verletzenden Begünstigungen der Buren einer 
mächtigen Faktor zurStärkungdesnationalen Rückgrates 

Dr. Andriezen ist der Ansicht, dass jeder Krie; 
die verbrecherischen Instinkte der Menschen, die 
durch die Civilisation nur gedämpft seien, ent¬ 
fessele, und dass auch dieser Krieg bezüglich der 
sittlichen Verhältnisse im Lande nur eine Verschlech¬ 
terung gebracht habe. Den grössten Einfluss übte 
nicht der Krieg als solcher, sondern die Erschütte¬ 
rung der Vermögensverhältnisse und die Stockung iin 
Handel, die er mit sich brachte. 

Im Schlusswort hält Stewart Dr. Jones entgegen, 
dass in den letzten Monaten des Jahres 1899, *>- 
wie in den ersten des Jahres 1900 ausser den 
Kriege keine andere öffentliche Frage das Volk ; r 
Spannung erhielt und dass daher wohl der Kric 
allein für die oben ausgeführten Wirkungen verant¬ 
wortlich zu machen sei. Ihm sei es darum zu thur 
gewesen, zu zeigen, dass die eigenartige Erschütter¬ 
ung, welche das Reich durch den Ausbruch cie> 
Krieges erlitt, eine Abnahme von Geisteskrankheit 
(? vergl. oben, Ref.) und Verbrechen herbeigeführt 
habe. Die Liste der Selbstmorde in den grossen 
Städten der Monarchie, welche die Times wöchent¬ 
lich bringt, würde Dr. Jones belehren, dass unter 
dem Einflüsse ungünstiger Witterung keine Zunahme 
der Selbstmorde erfolge. 

Stewart schliesst mit der Bemerkung, dass Präsi¬ 
dent Krüger ein Standbild in der Westminster Abtei 
verdiene; denn er sei es gewesen, der den imperia¬ 
listischen Gedanken im englischen Volke wachge¬ 
rufen habe. H orstmann-Treptow a. Rega. 


Personalnachrichten. 

— Uchtspringe: Dem hiesigen Assistenzarzt 
Dr. Holthausen ist die 4. Arztstelle in Tapiau 
übertragen worden. 

Dieser Nummer liegen zwei Prospekte der Firmen 
Camera-Grossvertrieb „Union“ 

Hugo Stockig & Co., Dresden-A., Fürstenstr. 43 
und Chemische Werke F r i t z F r i e d 1 ä n d e r G. m. b. H. 
Berlin W. 64, Unter den Linden 8 bei, welche wir 
geneigter Beachtung empfehlen. 


Für den redactionellen Thetl verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Bresler, Lublinitr (Schlesien). 

Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inscratcnannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle 3. S 

Heynemann’sche Buchdruckerei (Gebr. Wo’fT> ir Halle a. S. 


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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift. 

Redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Lnbhnitz (Schlesien). 

Verlag von CARL % MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834. 

Nr. 50. xi- Marz . 1905. 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 

Inserate werden für die 3 spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Rresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten. 


Analytische Untersuchungen der Symptome und Assoziationen 
eines Falles von Hysterie (Lina H.) 

Von Dr. Franz Riklin , bisher 1. Assistenzarzt am Btirghölzli, z. Z. Sekundararzt an der Züricher Pflegeanstalt Rheinau. 

(Fortsetzung.) 


Ueber angebl. „Drüsen“ vor dem Ohr klagte 
Pat. einmal, als sie gerade ihre Ohrenschmerzen hatte 
und eine Pflegerin Nasenbluten bekam. Es waren 
unbewusste Erinnerungen an Fälle aus der Erzieh¬ 
ungsanstalt, wo sie einen Schlag ins Gesicht und da¬ 
her Nasenbluten bekam, und an eine Ohrfeige, 
die ihr der Hausvater gegeben hatte; sie habe nach 
jenem Schlag oft Nasenbluten gehabt und man habe 
gemeint, sie bekomme die Auszehrung. Die Nach¬ 
ahmung tuberkulöser Symptome steht wohl im 
Zusammenhang damit, dass ihre Geschwister z. Th. 
an Tuberkulose litten — ein Bruder an Drüsen und 
Abscessen, eine Schwester an Knochen- und Lungen¬ 
tuberkulose. In der Erziehungsanstalt waren wahr¬ 
scheinlich viele tuberkulöse Kinder. Wahrscheinlich 
ist der Zusammenhang der „Drüsenschmerzen“ am 
Ohr noch nicht genügend analysirt. 

Im Ganzen folgen die Schmerzen einer ziemlich 
durchsichtigen Genealogie Mit dem ersten sexu¬ 
ellen Attentat des Vetters verband sich Erbrechen, 
das Symbol psychischen Ekels, und Herzklopfen. 
Zum Theil differencirte sich das Erbrechen in Wider¬ 
willen und Erbrechen beim Genuss von M i 1 c h und 
Fleisch, die Veranlassungen dazu haben wir schon 
besprochen. Der erste Missbrauch durch den Schwager 
entwickelte neben dem Erbrechen hauptsächlich das 
Symptom des Herzklopfens und der Dyspnoe, die 
um jene Zeit nach den Angaben der Mutter geradezu 
als Anfälle, ohne Zuckungen und ohne völligen 
Bewusstseins Verlust, auftraten. Das Erbrechen er¬ 
hielt in der Folge einen Zuwachs an Determinanten 
(Exhibitionen, Abortversuche u. s. f.). 

An diese Gruppe von M a ge n sy in p t o m e n 
ketteten sich neue. An das Herzklopfen gliederten 


sich die pektoralen Symptome, mit den sexuellen 
Ursachen zusammenhängend. Die Symptome brei¬ 
teten sich allmählich aus auf andere allgemeinere 
Ursachen. Die pektoralen Schmerzen und das 
Weinen wegen Prügelns (im Zusammenhang mit den 
früheren sexuellen Traumen) treten schliesslich auf bei 
jedem Aerger. Die Schmerzen haben eine gewisse 
Neigung, zu Stereotypien oder Tics zu werden (vgl. 
auch Breuer und Freud, loco cit. p. 81). An das 
Erbrechen gliedert sich auf der andern Seite eine 
Reihe von masturbatorischen Symptomengruppen, 
je nach dem Vorstellungsinhalt beim Masturbiren. 

Bezeichnenderweise macht der erste Geliebte keine 
Symptome. Von den Abortversuchen, von sexuellem 
Verkehr und den Geburten aus werden die Genital- 
symptome determinirt, ferner die Astasie und 
Abasie, die dritte Geburt weckt den Ohrschmerz- 
komplex u. s. f. , 

Mit Vorliebe lokalisiren sich neue Symptome um 
alte herum, Schmerzgebiet gliedert sich an Schmerz¬ 
gebiet und täuscht eine Einheit von Symptomen vor. 

Die Schmerzen am Arm und an den äussern 
Genitalien haben einen gleichartigen Entstehungs¬ 
modus (Quetschen, Kneifen nach Masturbation); sie 
sind darin symbolisch, dass sie Wuthäusserungen 
sind, nicht nur Metamorphosen einer primitiven Art 
von Wuthreaction, dem Beissen. (Pat. wollte sich 
zuerst in den Arm beissen, hatte aber keine Zähne.) 

Das Nichthören trat als Reaction auf verweigerte 
Wünsche auf, wenn der Ohrkomplex schon vor¬ 
handen war. Dieses Anlagcrungssymptom stellt sich 
also nur in bestimmten Fällen ein und wird sonst 
ersetzt durch das Acrgersymptom: Herzkrämpfe. 

Solche Anlagerungssymptome können also 


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494 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 50. 


durch andere ersetzt werden, je nach den vorherr¬ 
schenden Hauptsymptomen, sndass sich dem Ober¬ 
bewusstsein ein möglichst einheitlicher Sympt«»men¬ 
komplex vorstellt. 

Die Unterleibs- und Genitalsym ptomc 
haben wie die Astasie — Abasie ihre Haupt- 
wurzel in den Schwangerschaften, A b o r t - 
versuchen und Geburten der Pat. Sie grup- 
piren sich hauptsächlich um die Menses und scheinen 
ganz natürlich durch die Menstruation bedingt zu 
sein. Die Menstruation wirkt als Erregerin von 
Erinnerungen an diese Traumata im Unbewussten. 
Oberbewusst werden dann mehr Schmerzen wahr¬ 
genommen. Auch die masturbatorischen Symptome 
gruppiren sich sekundär hauptsächlich um die Menses 
— das Husten etc. Z. Th. sind es direkte Anlager¬ 
ungen an den Genitalkomplex (Schmerzen in den 
äussern Genitalien). 

Die Menses führen also ziemlich regelmässig 
eine allgemeine Exacerbation der Beschwerden 
herbei, indem dann sozusagen der ganze traumatisch 
wirkende zusammengesetzte Vorstellungskornplex an¬ 
geregt und thätig wird, und im Oberbewusstsein 
Symptome verursacht. 

Eine andere Häufung der Beschwerden zeigte 
sich gewöhnlich im Frühjahr, bedingt durch Erinner¬ 
ungen an Schwangerschaften, Aborte (ins Gras sitzen!) 
den Aufenthalt im Mädchenasyl etc., Dinge, die im 
Frühjahr stattfanden. 

Solchen hysterischen Gedenkfeiern begegnet man 
häufig. Eine unserer Pat. beging allmonatlich den 
Todestag ihres Geliebten, den siebenten, mit einem 
Anfall oder Dämmerzustand. Breuer und Freud*) 
geben sehr schöne Beispiele von „nachholendem 
Abreagiren“, das sich in ähnlicher Weise an be¬ 
stimmte Erinnerungstage knüpft. 

Der Grad der Abspaltung zwischen körper¬ 
lichen Symptomen und deren ursächlichen, durch 
irgend welchen Anlass angeregten Vorstellungskom¬ 
plexen ist verschieden. 

Oft geht die Trennung sehr weit, so dass Pat. 
oberbewusst gar keine Kenntniss von der Veranlass¬ 
ung der Symptome hat; das ist der häufigste Fall, 
z. B. beim Husten, bei dem Fall im Conccrtsaal und 
bei vielen andern. 

Manchmal ist das Symptom von der Stirn in 11 ng 
begleitet, welche mit dem ursächlichen Vorstellungs- 
komplcx verbunden ist (wenn Pat. die graue Jacke 
trug, war sie z. B. traurig gestimmt und musste etwa 

*) loco dt. p. 142—143. 


an ihre Gesc hichte denken, ohne indess zu wissen, 
dass die Jacke diese Stimmung auslöste). 

Später gelang es, dass Pat. auch im Wachen 
gewisse Zusammenhänge fand, allerdings meist nur 
d^e oberflächlichen. 

Sehr auffallend war das Verhalten der Pat., wenn 
nach theilweiser Analyse ein Symptom sich wieder 
einstellte; dann wusste Pat. selten den Grund anzu¬ 
geben: gewöhnlich benahm sie sich, wie wenn sie 
von der Analyse nichts wüsste. Z. B. verlangte sie, 
während die Analyse der Herzsymptome noch nicht 
vollständig war, mehrmals, man möge doch ihr Herz 
untersuchen, sie müsse doch einen Herzfehler haben. 
Sie verlangte auch wieder Spülungen wegen des 
Fluors und behauptete, wenn sie solche hätte machen 
dürfen, so hätte sie keine Leibschmerzen — lange 
nachdem der Zusammenhang von Fluor und Mastur¬ 
bation bekannt war; ähnlich verhält es sich mit an¬ 
dern masturbatorischen Symptomen. Einmal — nach 
weitgediehe 1 er Analyse — gab sie, im Wachen über 
den Husten befragt, die Antwort: „Ich weiss es nicht 
und habe keine Zeit darüber nachzudenken.“ 

Als sie über ihr Ohr klagte, glaubte sie, sie habe 
vor dem Ohr „eine Drüse, die wohl schon eitere'*. 

Wie wir schon gesehen haben, ist überhaupt die 
Neigung zu oberbewussten, anscheinend plausiblen Be¬ 
gründungen für die durch unbewusst erweckte Vor¬ 
stellungskomplexe hervorgerufenen Symptome sehr 
gross (Ohrschmerz und „Erkältung“, Genitalschmerzen 
u. s. f.). Breuer und Freud*) nennen diese 
Bildungen „falsche Verknüpfungen“. 

In andern Fällen, z. B. bei der Entstehung des 
Widerwillens gegen Fleisch bildete sich eine Decke 
über den wahren Sachverhalt in der Annahme, das 
Fleisch sei schlecht gewesen, worauf sich heraus¬ 
stellt, dass nur die Pat. es schlecht fand, die an¬ 
dern nicht. 

Als Pat. einmal wegen Herzschmerzen ein Pulver 
verlangte und sie auf den schon weitgehend analv- 
sirten Theil des Zusammenhangs aufmerksam gemacht 
wurde, konnte sie sich bald darauf besinnen. Sie 
fühlte sich aber nicht wohl, und offenbar hätte ihr 
ein Pulver grössere suggestive Hülfe gebracht. 

Nach jeder Wiederholung eines Schmerzes fing 
sie an von neuem zu behaupten, es sei alles er¬ 
ledigt, was oft nicht stimmte. Anderseits glaubte sie 
immer wieder, ihre Schmerzen seien organisch, durch 
irgend ein körperliches Leiden bedingt. 

Gerade das Gefühl, es sei alles erledigt, machte 
der Analyse Schwierigkeiten; wenn nämlich Pat. ein 

*) loco cit. 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


«905-] 


determinirendes Erlebniss nicht vollständig erzählt, 
abreagirt hatte, so blieben nach der Hypnose die 
Schmerzen meist bestehen und Pat. fühlte sich 
schlechter als vorher; war aber ein Punkt, ein 
determinirendes Erlebniss erzählt, so hörte das Con- 
versionssymptom oft auf, bis ein weiterer Punkt bei 
irgend einer Gelegenheit den gleichen Schmerz 
wieder belebte und nachwies, dass noch mehr deter- 
minirende Erlebnisse hinter diesem körperlichen 
Symptom stecken. So konnte man in der Zwischen¬ 
zeit glauben, das Symptom sei erledigt. 

Ein Beispiel: Nachdem die mit Erbrechen zu¬ 
sammenhängenden Geschichten zum Theil erledigt 
waren, stieg der Appetit der Pat. bedeutend, sie ver¬ 
langte sogar viel Milch zu trinken. Dann nach der 
Analyse weiterer Punkte fing sie plötzlich seit einer 
bestimmten hypnotischen Sitzung die Milch wieder 
zu erbrechen an, so dass jene Sitzung direkt eine 
Verschlimmerung hervorrief. Tn der folgenden Sitz¬ 
ung kam dann die Erzählung von dem speciellen 
Fall, wo sie der Vetter veranlassen wollte, seinen 
Penis in den Mund zu nehmen etc. Nachher war 
das Symptom verschwunden. Auch das Erbrechen 
w ar etwa für ein halbes Jahr verseil wunden und 
Pat. glaubte alles erledigt, bis das Frühjahr kam und 
Pat. im Gras sass und die Freundin vom Abort er¬ 
zählte. Erbrechen und Leibschmerzen traten wieder 
auf und erst die Erzählung der einzeln Abortge¬ 
schichten in Hypnose* führte zum Verschwinden der 
Symptome. 

Eine recht eigenthümliche Spaltungserscheinung 
ist der inadäquate Affekt, den Pat. wie andere 
Hysterien manchmal zur Schau trägt. *) Wenn Hy¬ 
sterische z. B. ein körperliches „Conversions“-Symp- 
tom darbieten, ohne dass gleichzeitig der Affekt der 
verursachenden Vorstellung auftritt, wenn nach der 
Anschauung der „Studien über Hysterie“ die Con- 
version vollständig ist, so ist nach unserer An¬ 
sicht eine Abspaltung der mit dem entsprechenden 
Affekt verbundenen Hauptvorstellungen des patho¬ 
genen Vorstellungskomplexes vorhanden. In andern 
Fällen ragt auch noch ein Theil dieser Vorstellungen 
mit ihrem Affekt, mit ihrer Gemüthsstimmung ins 
Oberbew'usste hinein (Unvollständige Conversion). 
Oft ist nun das Conversionssymptom begleitet von der 
allgemeinen Stimmung des pathogenen Vorstellungs¬ 
komplexes im Oberbew'usstsein. Wir wissen aus den 
Erfahrungen des Traumlebens, dass uns gewisse un¬ 
angenehme Traumvorstellungen, die uns nach dem 

*) Der Ausdruck stammt eigentlich aus der Symptomen- 
terminologie der Dementia praecox. 

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49 5 


Erwachen rasch aus dem Bewusstsein entschwinden, 
die Stimmung den ganzen Tag über verderben kön¬ 
nen. Oft erinnern wir uns tagsüber der Ursache 
nicht, die Stimmung bleibt, ob die ursächliche Vor¬ 
stellung im Bewussten oder „unter der Schwelle“ 
resp. ausserhalb des Bewusstseins sich befindet. Ich 
glaube zwischen der „unvollständigen Con\ersion“ 
und dieser Wirkung von Träumen lässt sich unbedingt 
eine Parallele ziehen. Es existiren nämlich auch 
Beispiele von „inadäquatem Affekt“ bei Hysterie, 
wo man nicht behaupten kann, dass eine „Con¬ 
version“ vorhanden sei. 

„La belle indifference des hysteriques“, gehört 
schon zu dieser Art von inadäquater Affektäusserung. 
Sie tritt auch zu Zeiten auf, wo kein Conversions¬ 
symptom activ ist. 

Zu einer Zeit (am 26. IV. 03) wo vielleicht ein 
Viertel der Analyse bereits gemacht und die Auf¬ 
klärung für verschieden e Symptome angeschnitten 
war, versuchte ich mit der Pat. im Wachen das zu 
Tage Beförderte zu besprechen, einestheils um den 
Erfolg, die Ueberführung, Zugänglichmachung des 
Abgespaltenen für das Oberbewusstsein zu controliren, 
anderseits das etwa nicht vollständige Abreagiren be¬ 
sorgen zu lassen. Ich glaubte mich schon viel näher 
dem Ziele, als es thatsächlich der Fall war. Da ver¬ 
hielt sich Pat. recht sonderbar. Sie wusste zw r ar 
ziemlich alles bisher zu Tage Geförderte, aber der 
Affekt war ganz inadäquat: keine Freude am Er¬ 
reichten, nur halbes Interesse, von Abreagiren keine 
Spur, kurz, eine grosse Indifferenz. Trotzdem ich 
meinerseits auf alle bisher bekannten Details und 
Traumata einging, konnte ich weder Interesse noch 
körperliche Con Versionssymptome auslösen. 
Pat. war auffallend zerstreut, liess sich be¬ 
ständig durch die Umgebung ablenken, sprach 
zwischen hinein von allen möglichen Nebensachen, 
von den Blumen im Zimmer, von ihrer Stickarbeit, 
die sie gerade machte, vom gleichgültigen Hausklatsch, 
in einem Grade, der bei einem Gespräch unter an¬ 
dern Umständen nicht vorgekommen w’äre. 

Es scheint mir, dass hier die Con Versionstheorie 
ungenügend ist. Ein Conversionssymptom oder ein 
Eingehen, eventuell abreagiren, oder im Falle der 
analytischen Erledigung der Symptome, ein Gefühl 
der Zufriedenheit, hätte vorhanden sein sollen. An¬ 
statt dessen sehen wir nur eine ungeheure Gleich¬ 
gültigkeit und krampfhafte Ablenkung auf die Um¬ 
gebung. 

Letzteres Symptom, dem man unter bestimmten 
Bedingungen in den Reactionen bei Associätionsver- 
suchen w'ieder begegnet, möchte ich noch am Bei- 

Original fram 

HARVARD UNiVERSITY 




4<)6 


PSYCHIATRISCH-NEU ROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 


[Nr. 50. 


spiel eines etwa 5jähr. Knaben erläutern, den der 
Hausarzt, in der Nacht gerufen, in einer Art Delirium 
mit schreckhaften Hallucinationen traf, das bis in 
den folgenden Tag hineindauerte. Der Kleine war 
Nachts in diesem Zustand erwacht; was für andere 
Ursachen etwa vorausgegangen waren, konnte ich 
nicht ermitteln. 

Als ich den Kleinen nachmittags mit dem Haus¬ 
arzt besuchte, schien er schläfrig zu sein, gähnte und 
wollte über das Erlebte nicht recht Auskunft geben. 
Dagegen war er sofort mit einer frischen prompten 
Antwort bereit, wenn man nach seinen Spielsachen 
etc. fragte. Gegen weitere Inquisitionen über seine 
Hallucinationen, an die er sich erinnerte, wie auch 
an den nächtlichen Besuch des Hausarztes, ver¬ 
teidigte er sich auf zwei Arten: entweder that er, 
als ob er recht schläfrig oder gar eingeschlafen sei, 
um so tiefer, je eindringlicher das Fragen war, oder 
er wich ihnen dadurch aus, dass er selbst immer 
Fragen stellte: „Mutter, wo ist mein Büchlein? 
Mutter, giebst du mir Wasser? Mutter, wo ist mein 
Fünfer (Fünfrappenstück) ?“. Dieses Symptom ging 
zurück, sobald man ein Gesprächsthema wählte, das 
sich nicht um die Hallucinationen der vergangenen 
Nacht drehte. 

Es ist mir auch aufgefallen, dass bei Fällen mit 
Ganser’schem Dämmerzustand die Ablenkung auf 
die Umgebung im Momente eingehender Exploration 
sich häufig in der wiederholten Frage äussert: „Kann 
ich nicht etwas Wasser bekommen — ein Glas Wasser, 
bitte — Wasser, Wasser!“ 

Achnlich benahm sich unsere Patientin, als sie, 
wie gesagt, „keine Zeit“ hatte, über ein Symptom 
weiter nachzudenken. 

Eine andere schwer hysterische Patientin, eine 
Studentin, deren Krankheit hauptsächlich durch den 
Selbstmord des Geliebten ausgelöst worden w'ar, 
wagte , nachdem ich mühsam die Zusammenhänge 
ihrer Anfälle und Dämmerzustände mit dieser Ur¬ 
sache herausgearbeitet hatte, eines schönen Tages 
lachend und zerstreut über die ganze Geschichte zu 
sprechen, die bei ihr, sobald alle dazu associirten 
Vorstellungen lebendig waren, die schwerste Reaction, 
Anfäl e, Dämmerzustände und Verstimmungen aus¬ 
löst. Ein andermal beging die gleiche Patientin 
einen ihrer oben genannten hysterischen Gedächtniss¬ 
tage statt mit einem Dämmerzustände, der einzu¬ 
setzen drohte, damit, dass sie uns privatissime mit 
unvergleichlicher Nachahmung eine Vorstellung von 
Liedern und Tänzen gab, die man nur im Variete 
zu sehen und zu hören bekommt. Es war ein Hohn 
auf ihre traurigen Gedanken und Erlebnisse, und 
ihre Lieder waren lauter „Complexcitate“*), z. B. 

*) Experimentelle Untersuchungen über Assoc. Gesunder. 
Journal f Psychologie und Neurologie, Bd. III. 

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Liebeslieder, in denen der Name ihres verstorbenen 
Geliebten die Hauptrolle spielte u. dgl. 

Diese „falsche“ Fröhlichkeit, die ich noch mehr¬ 
mals beobachten konnte, vertrat vermuthlich direkt 
einen Dämmerzustand. 

Bei der Analyse unseres Falles begegnete ich 
den gleichen Widerständen, auf die Freud ein 
so grosses Gewicht legt. Manchmal waren sie so 
gross, dass man die weitere Analyse des Symptoms 
auf die folgende Sitzung versparen musste. In sol¬ 
chen Momenten empfand Pat. jedes weitere Wort, 
jede Berührung sehr unangenehm und rief gleich: 
„Nicht, nicht quälen“, wurde blass, oder es bedeckte 
sich die Stirn mit Schweiss; sie konnte, auch in 
Hypnose, ganz ablehnend werden und verstummen: 
wie wenn es sich um einen katatonischen Negativis¬ 
mus handeln würde. Man sah es der Pat. an ihren 
mimischen Veränderungen an, ob ihr wieder 
ein neuer wichtiger Punkt zur Analyse eingefallen 
war oder nicht, aber sie brachte dann der Aussprache 
meist noch grossen Widerstand entgegen, und so 
bedeutete der Widerstand meist auch einen grossen 
Aufwand an Zeit. 

Man konnte oft an der Mimik w'ahrnehmen. 
dass ein Gedanke auftauchen wollte, um wieder zv. 
verschwinden : dann glättete sich das Gesicht wieder, 
und Pat. konnte nichts mittheilen. 

Wir werden bei der Besprechung der Asso- 
c i a t i o n s v e r s u c h e bei dieser, sowie späteren 
hysterischen Versuchspersonen auf Reactionsfonnen 
stossen, die direkte Parallelen zu diesen eben be¬ 
schriebenen Erscheinungen sind (Fehler, mimische 
Reactionen, lange Reactionszeitcn, Citate, oberfläch¬ 
liche Complexreactionen und dgl. *) 

Einmal klagte Pat., das Denken falle ihr, 
wenn sie (wegen unbewussten Erinnerungen) sich 
so schlecht befinde, so schwer, es falle ihr nichts 
mehr ein, bis sie sich den Kopf drücke: (Tech¬ 
nisches Hilfsmittel, das nach Breuer und Freud 
zur Erzielung von Erinnerungen in Hypnose ange- 
wendet wurde). 

Mehrmals wurden in Hypnose Träume der 
Pat. reproducirt, meist von stark somnambulen Cha¬ 
rakter, sehr schöne Paradigmata zu Freud’s Traum- 

*) Die vorläufige Mittheiluug darüber siehe in meinem 
Vortrag über „ Diagnostische Bedeutung von Associationsver¬ 
suchen bei Hysterischen“. Ein Autoreferat über den an der 
Versammlung des Vereins schweizer Irrenärzte vom 24. V. 
1904 in St. Urban (Luzern) gehaltenen Vortrag s. z. B. im 
„Centralblatt für Neuiologie und Psychiatrie“ von Gaupp, 
Heidelberg, Jahrg. 1904. 

Original fram 

HARVARD UNIVERSITY 



I 9°5] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


deutung.*) Der Sinn'einer dieser Träume war 
der, dass sich Pat. in einer katholischen Kirche mit 
ihrem ersten Geliebten vermählte. Sie ist Protestantin, 
er war Katholik, zugleich Deutscher, und das waren 
die wesentlichen Gründe, welche die Heirath mit 
dem ersten Geliebten, die beiderseits ernstlich in 
Betracht kam, zum Scheitern brachten. Ein anderes 
Mal erzählte Pat — es war zur Zeit als die mastur- 
batorische Symptomengruppe analysirt wurde —, sie 
sei heute Morgen so schwer erwacht, sie habe ge¬ 
meint, mich ins Zimmer eintreten und wieder hinaus¬ 
gehen zu hören. (Ich war nicht dort.) Sie hatte 
gewünscht ich hätte sie geweckt, wegen eines un¬ 
angenehmen Traumes. Sie will nicht sagen was für 
ein Traum das gewesen sei, wird nachdenklich, will 
sich besinnen und fängt plötzlich an zu weinen 
(masturbator. Symptom). Ich hatte ihr am Abend 
vorher in Hypnose Schlaf für die Nacht suggerirt, 
da er in den letzten Nächten nicht gut gewesen war. 

In einer neuen Hypnose gab sie an, sie habe 
sich im Schlaf zum Masturbiren gedrängt gefühlt 
und sei sexuell erregt gewesen. Da sei ihr gewesen, 
als höre sie mich eintreten und sie habe gehofft, ich 
wecke sie. 

Leider drang ich damals nicht weiter in sie, um 
den Grund des Weinens zu entdecken. Ich be¬ 
gnügte mich ohne Argwohn mit der oberflächlichen 
Auskunft, sie habe geweint, weil sie sich vor mir 
hätte schämen müssen, das zu sagen; bei genauerem 
Fragen hätte ich wahrscheinlich den weitern Traum 
und dessen männliche Hauptperson entdeckt, welche 
am Symptom des Weinens schuld gewesen ist. 

Mehrmals kam es vor, dass sie nachts anschei¬ 
nend wach hallueinirte, z. B. hörte sie rufen, sah 
den Vater und ähnl.; ich konnte beobachten, dass 
diese Hallucinationen dann eintraten, wenn durch 
die Analyse Erinnerungen aus dem betr. Gebiet, 
z. B. an Geschichten mit dem Vater wachgerufen 
worden waren. 

Zustand zur Zeit der Bildung neuer 
Symptome. Während der fünf Jahre, welche Pat. 
bis jetzt in der Anstalt zugebracht hat und speciell 
während der letzten zwei Jahre, wo ich mich der 
Analyse halber genauer mit der Pat. beschäftigt 
habe, ist es nie gelungen einen hysterischen An¬ 
fall, einen Dämmerzustand oder dgl. nachzuweisen. 

*) Freud: Die Traumdeutung 1900. Wien. 


497 


Sie hatte meines Wissens nie Momente, wo sie die 
Umgebung verkannte, falsch auffasste und dgl., ab¬ 
gesehen von den in Hypnose gegebenen suggestions 
ä echeance. 

Der am besten beobachtete Moment der Ent¬ 
stehung neuer Schmerzen ist der, als sie bei der 
sexuellen Anspielung der Pflegerin, welche sie um 
die linke Hüfte gefasst hatte, auch Schmerzen links 
bekam. Aber weder vor- noch nachher, noch in 
jenem Moment fiel irgend etwas weiteres an ihr auf. 
Ebensowenig giebt die Analyse selbst Anhaltspunkte 
für die Annahme, dass Pat. ihre Symptome in 
Dämmerzuständen erworben oder überhaupt Dämmer¬ 
zustände gezeigt. hätte. Ein traumhafter Gedanken¬ 
gang während des Wachens konnte nie beobachtet 
werden. Zum Unterschied von vielen andern Fällen 
wird beim unsrigen das Krankheitsbild vollständig 
beherrscht durch den Mangel an Bewusst¬ 
seinstrübungen, wofür sich aber die Krank¬ 
heit in einheitlicher Weise, in körper¬ 
lichen „Conversionssymptomen' 4 geltend 
macht. 

Die systematische Abspaltung kann sich also bei 
Hysterischen jedenfalls, wie Breuer und Freud 
angenommen haben, auch im Wachen vollziehen, 
sodass ein Vorstellungskomplex aus dem Bewusst¬ 
sein verdrängt wird und nur noch bestimmte An- 
theile im Bewusstsein als dessen „Vertreter“ vor¬ 
handen sind. Der Affekt scheint bei der Ent¬ 
stehung der Symptome doch immer die Hauptrolle 
zu spielen. 

Es ist möglich, dass bei der einseitigen Ausbild¬ 
ung körperlicher Symptome in unserm Fall das 
Milieu, das Krankenhaus und die ärztliche Behand¬ 
lung eine Rolle spielen. Indessen ist das sicher 
nicht das einzige Moment. Pat. hatte ebensoviel 
Grund, den Aerzten Dämmerzustände und ähnliches 
darzustellen; überdies hat sich ein wichtiger Theil 
der körperlichen Symptome schon vor dem Eintritt 
in die Anstalt ausgebildet. Es ist aber wohl mög¬ 
lich, dass Pat., wäre sie nicht in einer Anstalt, im 
Sinn der Absicht gesprochen, eine geringere ,,Sorg¬ 
falt“ auf den Ausbau des körperlichen Symptomen- 
bildes verwendet hätte. 

Jedoch scheint es an und für sich eine bestimmte 
Anlage zu sein, dass Pat. einen fast rein körper¬ 
lichen Symptomenkomplex ausgebildet hat und nicht 
Anfälle und Dämmerzustände. 

(Fortsetzung folgt.) 


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Original fram 

HARVARD UNIVERSITY 





498 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 50. 


Mittheilungen. 


— Programm des 5. internationalen Congresses 
für Psychologie zu Rom vom 26.—30. April 1905, 
in der Poliklinik der königl. chirurgischen Klinik. 
(Eröffnung am 26. April, 10 Uhr, im Campidoglio. 
Beitrag für Herren 20 Fr., für Damen 10 Fr. — 
Eisenbahnfahrpreisermässigungen etc. Congresssprachen: 
Italienisch, deutsch, englisch , französisch. Näheres 
durch den Generalsecretär Prof. Dr. Sante de 
Sanctis, Rom, Via Depretis Nr. 92. Weitere 
Vortraganmeldungen möglichst bis 30. März.) 

I. Allgemeine Sitzung: 

1. Prof. Th. Lipps, München: Die Wege der 
Psychologie. 

2. Prof. Ch. Ri chet, Paris: L’avenir de la Psychologie 
et la Metapsychique. 

Discussion. 

II. Allgemeine Sitzung:! 

1. Prof. Paul Flechsig, Leipzig: Himphysiologie 
und Willenstheorien (Projectionen). 

2. Prof. Leonardo Bianchi, Napoli: La zona 
corticale del Linguaggioe rintelligenza(Projectionen). 

3. Prof. Ezio Sciamanna, Roma: Funzioni psichiche 
e corteccia cerebrale (avee presentation de quelques 
singes operes). 

Discussion. 

III. Allgemeine Sitzung. 

1. Prof. R. Sommer, Giessen: Die Methoden der 
Untersuchung von Ausdrucksbewegungen (Projec¬ 
tionen). 

2. Prof. P. Jan et, Paris: Les oscillations du niveau 
mental. 

3. Dr. P. Sollier, Paris: La conscience et ses 
degres. 

Discussion. 

IV. Allgemeine Sitzung. 

1. Prof. James Sully, London: Relations of Psycho- 
logy to Pedagogy. 

2. Prof. Th. Flournoy, Genf: La Psychologie de 
la religion. 

— Aufbesserung der Bezüge bei den ost- 
preussischen Anstaltsärzten. Der Provinzialland¬ 
tag von Ostpreussen hat in der Plenarsitzung vom 
27. v. Mts., gemäss dem Anträge des Prov.-Aus- 
schusses, die nachfolgende Vorlage des letzteren ge¬ 
nehmigt: 

I. Das ärztliche Personal an den Provinzialan¬ 
stalten zu Allenberg, Kortau und Tapiau hat — 
ausser den Directoren der Anstalten Allenberg und 
Kortau — für die Folgezeit zu bestehen aus: je 
zwei Oberärzten , je zwei Anstaltsärzten und der 
durch die Anstaltsetats bestimmten Anzahl von Assi¬ 
stenzärzten und Volontärärzten. 

II. Die Anstellung der Oberärzte und Anstalts¬ 
ärzte erfolgt unter Vorbehalt eines beiden Theilen zu¬ 
stehenden sechsmonatlichen Kündigungsrechts, die 
Anstellung der Assistenzärzte unter Vorbehalt eines 
beiden Theilen zustehenden dreimonatlichen Kün¬ 
digungsrechts. Die Annahme der Volontärärzte er- 

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folgt gegen eine beiden Theilen zustehende vierzehn¬ 
tägige Kündigung. 

Der Provinzialausschuss ist unter den in Ziffer 2 
Seite 3 der Vorlage *) angegebenen Voraussetzungen 
befugt, die Oberärzte und Anstaltsärzte nach fünf¬ 
jähriger zufriedenstellender Dienstleistung auf Lebens¬ 
zeit anzustellen. 

III. Das Diensteinkommen besteht aus: 

1. Für die Oberärzte: 

a) Gehalt 3500 bis 5500 Mark, steigend von 3 zu 
3 Jahren um je 500 Mark (Höchstgehalt nach 12 
Jahren), 

b) Dienstwohnung im Jahreswerthe von 500 Mark, 

c) Heizung und Beleuchtung im Jahreswerthe von 200 
Mark, 

d) Gartennutzung im Jahreswerthe von 30 Mark. 

Der mit der ständigen Vertretung des Anstalts¬ 
direktors beauftragte erste Oberarzt erhält ausserdem 
eine ruhegehaltsberechtigte Amtszulage von 500 Mark 
jährlich. 

2. Für die Anstaltsärzte: 

a) Gehalt 3000 bis 5000 Mark, steigend von 3 zu 
3 Jahren um je 400 Mark (Höchstgehalt nach 15 
Jahren), 

b) Dienstwohnung im Jahreswerthe von 450 Mark, 

c) Heizung und Beleuchtung im Jahreswerthe von 200 
Mark, 

d) Gartennutzung im Jahreswerthe von 30 Mark bezw. 
Entschädigung für Gartennutzung mit 30 Mark. 
Bezieht ein Tapiauer Anstaltsarzt aus Anlass 

seiner Verheirathung eine Miethswohnung in der Stadt, 
so wird ihm bis zur Bereitstellung einer Familien - 
dienstwohnung ein Wohnungsgeld von 600 Mark 
jährlich (ruhegehaltsberechtigt mit 450 Mark) gewährt. 

3. Für die Assistenzärzte: 

a) Gehalt 1800 bis 2400 Mark, steigend von 2 zu 
2 Jahren um je 200 Mark (Höchstgehalt nach 6 
Jahren), 

b) Dienstwohnung im Jahreswerthe von 100 Mark, 


*) „Wie uns bekannt ist, hält der Vorbehalt der Kündigung, 
sowie eine zehnjährige Wartezeit bis zur lebenslänglichen 
Anstellung der Aerzte vielfach davon ab, auf die Dauer ira An¬ 
staltsdienste zu verbleiben, — weil sie — und nicht mit Un¬ 
recht — Bedenken tragen, sich zu verheirathen, so lange sie 
sich in einer kündbaren Stellung befinden. Soll daher der 
Zweck dieser Vorlage, die Aerzte durch Gewährung eines aus¬ 
kömmlichen Gehalts und einer gesicherten Lebensstellung 
dauernd an die Anstalten zu fesseln, erreicht werden, so muss 
die gegenwärtige zehnjährige Wartezeit für die lebensläng¬ 
liche Anstellung abgekürzt weiden, und schlagen wir, dem Vor¬ 
gänge in der Provinz Pommern folgend, vor, diese Wartezeit 
für die Oberärzte und „Anstaltsärzte“ auf 5 Jahre abzukürzen. 
Die Aerzte selbst sollen nicht berechtigt sein, ihre lebensläng¬ 
liche Anstellung nach 5 jähriger Dienstzeit zu verlangen, sie 
sollen vielmehr wie bisher auf Kündigung angestellt werden, 
was ausdrücklich in der Anstellungsurkunde festgestellt werden 
soll. Nur soll der Provinzialausschuss die Befugniss haben, 
einen Oberarzt oder „Anstaltsarzt“ in geeignet erscheinendeu 
Fällen, also namentlich wenn der betreffende Arzt sich ver¬ 
heirathen will, bereits nach fünfjähriger zufriedenstellender 
Dienstleistung auf Lebenszeit anzustellen.“ 

Original from 

HARVARD UNIVERSITY 



1905] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


499 


c) Heizung und Beleuchtung im Jahreswerthe von 75 

Mark, 

d) Beköstigung I. Klasse im Jahreswerthe von 600 

Mark, 

e) freie Wäsche im Jahreswerthe von 45 Mark. 

IV. Der Provinzialausschuss ist ermächtigt, die 
Oberärzte und Anstaltsärzte jederzeit von einer An¬ 
stalt an die andere zu versetzen. 

— Aus Obrawalde (hierzu siehe die illustrierte 
Beilage). Wie bereits in Nr. 33 dieser Wochenschrift 
kurz erwähnt ist, wurde die vierte Irrenanstalt der 
Provinz Posen bei Meseritz am 2. XI. 1904 feier¬ 
lich eingeweiht Die Anstalt erhielt den Namen 
Obrawalde. 

Näheres über die Anstalt, insbesondere über Anlage, 
über Bau der einzelnen Häuser, Grösse der Be¬ 
legungsfähigkeit, Kosten p. p., findet sich in der Ver¬ 
öffentlichung von Nötel (diese Wochenschrift 1901. 
Nr. 25 und 26). 

Es seien heute 2 Abbildungen der Anstalt ge¬ 
bracht, sowie ein grösserer Lageplan, welcher u. a. 
noch die Lage der Klär- und Filteranlage wieder- 
giebt. Die für spätere Vergrösserung der Anstalt vor¬ 
gesehenen Bauten sind schraffirl. Bild l zeigt die 
Anstalt von Südwesten aus gesehen, Bild II zeigt 
eine Vorderansicht der Anstalt 

In der Zeit vom 8. bis zum 14. XL 1904 wurden 
aus den 3 anderen Anstalten der Provinz je 100 Kranke 


aufgenommen . . . . : 150 Männer 150 Frauen 

Neuaufnahme . . : 16 „ 7 „ 

Entlassen.: 7 „ 2 „ 

Gestorben.: 2 „ 1 „ 


Bestand am 23. II. 95 


157 Männer 154 Frauen 

Sa: 311 Kranke. 

Die Aufnahme der 300 Kranken ging rasch und 
glatt von Statten. 

Klinisch interessant war das Auftreten von ver¬ 
worrenen hallu cinatorischen Erregungszu¬ 
ständen ängstlichen Charakters bei einigen 
Idioten und Dementen (vorwiegend Endzustände der 
Dementia präcox), welche vorher jahrelang ruhig ge¬ 
wesen und z. T. zur Arbeit gegangen waren. Diese 
Zustände dauerten 2—3 Wochen. Sie sind ent¬ 
schieden auf die veränderte Lage, die ungewohnten 
neuen Verhältnisse zurückzuführen, mit welchen 
sich die invaliden Hime nicht abfinden konnten. So 
sprach ein Idiot, welcher seit Jahren ruhig und 
fleissig als Hausarbeiter in Dziekanka sich bethätigt 
hatte, in der Erregung anhaltend von Dieben, vom 
Totschiessen, „fort fort, Dziekanka, Schuheputzen!“ 

In dem Bewahrungshaus hat sich Verdünnung 
mit harmlosen Idioten und ruhigen sehr vorgeschritte¬ 
nen Demenzen gut bewährt. Das Pflegepersonal ist 
hier 1 : 4, sonst 1 : 8. 

Demnächst soll mit der Familienpflege in den 
Pflegerfamilien begonnen werden. 

Anfang April 1905 werden der Anstalt nochmals 
Kranke aus den anderen Anstalten der Provinz zu¬ 
geführt und zwar 225, zur Hälfte Männer, zur 
Hälfte Frauen. 

Ausführlichere Mittheilungen sind für später in Aus¬ 
sicht genommen. Dr. C. Wickel. 


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Gck gle 


— Entscheidung des deutschen Bundesamts 
fttr das Heimathswesen.*) 

Im Namen des Deutschen Reichs! 

In Sachen des Ortsarmenverbandes Kirchberg, 
Klägers und Berufungsklägers, wider den Landarmen¬ 
verband der Rheinprovinz, Beklagten und Berufungs¬ 
beklagten, hat das Bundesamt für das Heimathwesen 
in seiner Sitzung vom 24. Oktober 1903, an welcher 
theilgenommen haben: 

der Präsident Dr. Kelch, 
der Geheime Regierungsrath Dr. Krech, 
der Oberverwaltungsgerichtsrath Genzmer, 
der Geheime Oberregierungsrath v. Sydow, 
für Recht erkannt: 

die Berufung des Klägers gegen den Bescheid 
des Bezirksausschusses zu Düsseldorf vom 17. April 
1903 wird zurückgewiesen, die Kosten der Berufungs¬ 
instanz werden dem Kläger auferlegt. 

Gründe. 

Dem Bezirksausschuss muss darin beigetreten 
werden, dass eine Unterbringung des schwach¬ 
sinnigen Albert Frank in seinem eigenen Interesse 
nicht nothwendig ist, und dass daher eine Verpflich¬ 
tung des beklagten Landarmenverbandes auf Grund 
des preussischen Ausführungsgesetzes vom 11. Juli 
1891 auch dann eintrete, wenn die Bewahrung eines 
Geisteskranken oder Idioten in einer Anstalt nicht 
in seinem eigenen, sondern ausschliesslich im Inter¬ 
esse der öffentlichen Sicherheit erforderlich ist, er¬ 
scheint unzutreffend. Durch das erwähnte Gesetz ist 
nach den allgemeinen Grundsätzen des preussischen 
Armenrechts den Landarmenverbänden keine über 
die öffentliche Armenpflege hinausgehende Aufgabe 
zugewiesen worden. Die Verpflichtung der Land¬ 
armenverbände zur Gewährung der Anstaltspflege tritt 
daher nur ein, wenn der Geisteskranke oder Schwach¬ 
sinnige ihrer zu seinem Schutze gegen Gefahren oder 
zu seiner Heilung bedarf, aber nicht schon dann, 
wenn der Schutz anderer Personen gegen Aus¬ 
schreitungen des Geisteskranken oder Schwachsinnigen 
seine Unterbringung erfordert. 

Im vorliegenden Falle ist in dem Gutachten des 
Dr. Bickenbach vom 2. Oktober 1900 erklärt worden, 
dass Albert Frank blödsinnig, aber nicht bildungs¬ 
fähig sei, dass er ziemlich willig, gesellig und ver¬ 
träglich sei, keine auffallenden Gewohnheiten, Sonder¬ 
barkeiten oder Abneigungen habe, dass von Leiden¬ 
schaften bei ihm nichts bekannt sei, und dass seine 
Unterbringung in eine Anstalt erforderlich sei, um 
unsittliche Handlungen des Frank gegenüber anderen 
Personen, wie sie schon vorgekommen, zu verhüten. 
Hiernach hat der Bezirksausschuss mit Recht ange¬ 
nommen, dass nicht das eigene Interesse des Frank, 
sondern vielmehr das polizeiliche Interesse seine 
Unterbringung in eine Anwalt erfordere, dass aber 
die Fürsorge für dieses Interesse nicht dem Beklag¬ 
ten obliege (vergl. Ent.sch. des Bundesamts Heft 30, 
S. 135/176 und Heft 32, S. 61/62). Der vom 
Kläger in der Berufungsschrift beantragten Einholung 

'■■) Siehe die Mittheilung: Fürsorge für gemeinschaftliche 
Geisteskranke in Preussen, Seite 475 und 484. 

. 

HARVARD UNIVER3ITY 







5oo 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 50. 


eines Gutachtens des Kreisarztes Dr. Lanke bedarf 
es nicht, weil dieser bereits am 5. November 1900 
dem Gutachten Dr. Bickenbach beigetreten und vom 
Kläger nicht behauptet worden ist, dass seitdem eine 
Aenderung in dem Zustande des Albert Frank ein¬ 
getreten ist. 

Die Berufung des Klägers gegen den die Klage 
abweisenden Bescheid des Bezirksausschusses musste 
daher zurückgewiesen werden. 


Vorstehendes Erkenntniss wird hierdurch zum 
Öffentlichen Glauben ausgefertigt. 

Berlin, den 29. Oktober 1903.. 

(Siegel) 

Das Bundesamt für das Heimathwesen. 
gez. K eich. 


Im Namen des Deutschen Reichs! 

In Sachen des Landarmenverbandes Provinz 
Brandenburg, Beklagten und Berufungsklägers, wider 
den Ortsarmen verband Berlin, Kläger und Berufungs¬ 
beklagten, hat das Bundesamt für das Heimathwesen 
in seiner Sitzung vom 8. Dezember 1900, an welcher 
theilgenommen haben: 

der Präsident Weymann, 
der Geheime Regierungsrath Dr. Krech, 
der Geheime Oberregierungsrath Dr. Hoffmann, 
der Geheime Regierungsrath v. Jonquieres, 
der Oberverwaltungsgerichtsrath Genzmer, 
für Recht erkannt: 

dass die Entscheidung des Bezirksausschusses zu 
Potsdam vom 14. August 1900 dahin abzuändem: 
dass der Kläger mit seiner Klage abzuweisen und 
schuldig, die Kosten des Rechtsstreits zu tragen. 

Gründe. 

Der Beklagte hat in der Berufsinstanz aus zwei 
Gründen die Entscheidung des Bezirksausschusses an- 
gefochten, durch welche er zur Erstattung der Pflege¬ 
kosten für den in der Irrenanstalt Dalldorf unter¬ 
gebrachten geisteskranken Schiffer Richard Erpel und 
zur Uebernahme desselben in eigene Fürsorge ver- 
urtheilt worden. 

Der Beklagte vermisst einerseits eine nähere, die 
richterliche Nachprüfung auf Schlüssigkeit ermöglichende 
Begründung der von dem Bezirksausschuss zur Grund¬ 
lage seiner Entscheidung gemachten amtlichen Aus¬ 
kunft der Direktion der Irrenanstalt zu Dalldorf vom 
27. Juli 1900, laut welcher Erpel sich vom Beginn 
seiner Einlieferung an in einem die Anstaltspflege 
nothwendig machenden Zustande befunden hat, und 
sein Aufenthalt in der Anstalt ebenso sehr, ja noch 
mehr mit Rücksicht auf seinen persönlichen Krank¬ 
heitszustand, als aus Gründen öffentlicher Sicherheit 
zur Verhinderung weiterer Gewaltthaten geboten ge¬ 
wesen. Sodann — hierauf wird das Hauptgewicht 
gelegt — ist der Beklagte der Meinung, dass Hilfs¬ 
bedürftigkeit im armenrechtlichen Sinne nicht vorliege, 
weil eine effective Entlassung des Erpel aus der 
Strafgewalt des Staates nicht stattgefunden habe. 

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Dies folge aus dem von den Königlich preussischen 
Ministem des Innern und der Justiz bei Genehmi¬ 
gung der Haftentlassung gemachten Vorbehalte: dass 
die Verwahrung Erpels in einer Irrenanstalt gesichert 
sei, — ferner aus den Anordnungen, welche der 
Königliche Oberpräsident der Provinz Brandenburg 
dahin erlassen habe, dass besondere Vorkehrungen 
zur Verhinderung des Entweichens des Kranken aus 
der Anstalt zu treffen seien, und dass die Anstalts- 
verwaltung die Strafvollzugsbehörden in dem Be¬ 
streben, den Erpel zur weiteren Verbüssung seiner 
Strafe heranzuziehen, insoweit zu unterstützen habe, 
dass sie vor der Entlassung aus der Irrenanstalt die 
Strafvollzugsbehörde rechtzeitig von der Absicht der 
Entlassung in Kenntniss setze. Für die Richtigkeit 
dieser seiner Auffassung beruft sich der Beklagte auf 
die — bei Wohleis - Krech in Anmerkung 14 c zu 
§ 28 Unterstützungswohnsitzgesetz angezogenen — 
Entscheidungen des Bundesamts für das Heimath¬ 
wesen, Band 22 S. 108, Band 24 S. 104, Band 30 S. 40. 

Dieser zweite und Haupteinwand des Beklagten 
trifft freilich nicht zu. Denn weder durch die von 
den Ministern des Innern und der Justiz bei der Ge¬ 
nehmigung der Haftentlassung in dem Erlasse vom 
9. Mai 1899 gemachten Vorbehalte, noch durch die 
zur Ausführung dieser Vorbehalte getroffenen Anord¬ 
nungen des Oberpräsidenten wurde Erpel während 
seines Aufenthalts in der Irrenanstalt zu Dalldorf trotz 
formeller Unterbrechung des Strafvollzugs thatsächlich 
zur Verfügung der Justizbehörden gehalten. Auf den 
— nach der Entscheidung des Bundesamts Band 24 
S. 105 bedeutungslosen, übrigens gemäss dem Erlasse 
des Ministers des Innern vom 28. Juli 1900 künftig 
überhaupt nicht mehr zu machenden — Vorbehalt, 
nach welchem die Minister die Haftentlassung vor¬ 
behaltlich der Wiedereinziehung im Falle der Ge¬ 
nesung genehmigten, ist der Beklagte selbst nicht 
eingegangen. Aber auch der weiteren Einschränkung 
des Einverständnisses mit der Haftentlassung Erpels: so¬ 
fern seine Verwahmng in einer Irrenanstalt gesichert 
ist, — kann die ihr von dem Beklagten beigelegte 
Bedeutung nicht zugestanden werden, denn dieser 
Vorbehalt solle weder ausschliesslich noch vornehm¬ 
lich die Fortsetzung des Strafvollzuges sichern. 

Erpel ist nach Lage der Akten aus der Straf¬ 
anstalt zu Moabit entlassen w’orden, weil er nach 
den mehr als i5monatigen Wahrnehmungen des 
dortigen Anstaltsarztes, Sanitätsrathes Dr. Leppmann. 
welche die Annahme einer Simulation ausschlossen, in 
solchem Grade geisteskrank war, dass er voraussicht¬ 
lich dauernd strafvollzugsunfähig erschien, zumal da er, 
seit der Wiedereinbringung nach einer kühn und 
durchdacht ausgeführten h lucht, aus Sicherheitsgründen 
in der Strafanstalt dauernd isolirt gehalten werden 
musste. Die Uebergabe an eine Irrenanstalt wurde 
von diesem Arzt wegen seiner Gemeingefährlichkeit 
beantragt. Auch der Königliche Polizeipräsident 
empfahl in seinem, die Haftentlassung und die Unter¬ 
bringung in einer Irrenanstalt betreffenden Be¬ 
richte an den Minister des Innern vom 11. April 
1899 die Anordnung einer besonders sicheren Ver¬ 
wahrung wegen der grossen Gemeingefährlichkeit des 

Original fram 

HARVARD UN1VERSITY 





1905.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 501 


sehr schweren Verbrechers. Diese Gemeingefähilich- 
keit Erpels ergab sich daraus, dass nicht nur der 
über ihn verhängten 15 jährigen Zuchthausstrafe nebst 
Zulässigkeit von Polizeiaufsicht, Raub, schwerer Dieb¬ 
stahl und vorsätzliche Körperverletzung mit tödlichem 
Ausgange zugrunde lagen, sondern dass er auch sonst 
Neigung zur Begehung von Verbrechen an den Tag 
gelegt hatte. Verfällt ein solcher Verbrecher in Irr¬ 
sinn, so muss im öffentlichen Sicherheitsinteresse auf 
seine Verwahrung in einer Irrenanstalt Bedacht ge¬ 
nommen werden, einerlei ob und in welchem Um¬ 
fange er, wenn gesund, die ihm zuerkannte Strafe 
noch zu verbüssen hätte, oder ob etwa eine Verur¬ 
teilung wegen der begangenen schweren Straftaten 
noch gar nicht hatte erfolgen können, weil wegen vor¬ 
herigen Ausbruchs der Geisteskrankheit das Verfahren 
gemäss § 203 Strafprozessordnung vorläufig eingestellt 
werden musste. Der Bericht des Polizeipräsidenten 
hob denn auch bei Erpel das Maass der noch nicht 
verbüssten Strafe als Grund für die Nothwendigkeit 
einer sicheren Verwahrung in der Irrenanstalt nicht 
hervor. Wenn daher bei der in rechtlich zweifelloser 
Form erfolgten Haftentlassung Erpels von den Ministern 
der Vorbehalt sicherer Unterbringung und Verwah¬ 
rung in einer Irrenanstalt gemacht wurde, so kann 
darin nicht ohne weiteres die Absicht erblickt weiden, 
ihn zur Fortsetzung der Strafvollstreckung im Falle 
der Genesung zur Verfügung der Justizbehörden zu 
behalten. 

Auch das von dem Oberpräsidenten der Provinz 
Brandenburg in Ausführung des Ministerialei lasses 
zunächst an den Landesdirektor, später in gleicher 
Weise an den Magistrat zu Berlin gerichtete Ersuchen, 
Erpel einer Irrenanstalt zu überweisen, deren even¬ 
tuell zu verbessernde Einrichtungen ein Entweichen 
verhindern, wurde keineswegs durch die noch unver- 
büsste langjährige Strafzeit bedingt. Stand doch nach 
dem gutachtlichen Bericht des Moabiter Anstalls¬ 
arztes Dr. Leppmann überhaupt dahin, ob Erpel je 
wieder strafvollzugsfähig werden würde. In seinem 
erläuternden Schreiben an den Landesdirektor vom 
5. August 1S99 deutete der Oberpräsident auch an, 
dass nur die Gemeingefährlichkeit und die verbreche¬ 
rische Neigung Erpels als solche den Anlass zu diesem 
Ersuchen gegeben, denn er hob hervor, dass letzteres 
nicht über den Rahmen der Verpflichtung der Ver¬ 
waltung der Irrenanstalten hinausgehe, Vorkehrungen 
dahin zu treffen, dass gemeingefährliche Geisteskianke, 
insbesondere Geisteskranke, deren Krankheit in der 
Neigung zur Begehung strafbarer Handlungen be¬ 
steht, nicht in die Aussenwelt zurückzukehren, bezw. 
dass deren Entweichung aus der Irrenanstalt mög¬ 
lichst verhütet würde. Wenn der Oberpräsident in 
demselben Schreiben der Ansicht Ausdruck gab, dass 
die Anstaltsverwaltung die Strafvollzugsbehörden in 
dem Bestreben, Erpel wieder zur Verbüssung seiner 
Strafen heranzuziehen, wenigstens insoweit zu unter¬ 
stützen habe, dass sie die Strafvollzugsbehörde vor 
der etwaigen Entlassung Erpels aus der Irrenanstalt 
von der Absicht der Entlassung rechtzeitig in Kcnnt- 
niss setzt, so ist dies im unmittelbaren Anschlüsse an 
einen Satz geschehen, in welchem der Oberpiäsident 

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der Ansicht entgegentritt, dass Erpel nach seiner 
Ueberführung in eine Anstalt zur Verfügung der 
Justizbehörden verbleibe. Der Oberpräsident hat 
auch ein direktes Ersuchen um solche vorherige Mit¬ 
theilungen weder dem Landesdirektor noch dem 
Magistrat zu Berlin gegenüber an die bezügliche Be¬ 
merkung geknüpft (vergl, Entscheidung des Bundes¬ 
amts Band 30 S. 46). 

Hiernach muss bei der Erörterung der Verpflich¬ 
tungsfrage der Gesichtspunkt ausscheiden, dass die 
Absicht bestanden habe und Vorkehrungen getroffen 
seien, um Erpel zur Verfügung der strafvollstreckenden 
Justizbehörden zu behalten. Deshalb können auch 
die von dem Beklagten herangezogenen Entscheidungen 
des Bundesamtes für die Beurtheilung des vorliegenden 
Falles nicht ausschlaggebend verwerthet werden. 

Wohl aber ist anzuerkennen, dass Erpels Unter¬ 
bringung in die Irrenanstalt in hohem Maasse durch 
das sicherheitspolizeiliche Interesse veranlasst wrnrde, 
weil er ein höchst gemeingefährlicher Geisteskranker ist. 

Wen in einem solchen Falle die Kostenlast trifft, 
die Polizeiverwaltung oder die Armen Verwaltung? 
hängt nach dem grundsätzlichen Standpunkte des 
Bundesamts für das Heimathw’esen (vergl. Wohlers- 
Kicih Note 15 B e zu § 23 Unterstützungswohnsitz- 
gesetz) davon ab, in welchem Maasse im Einzelfalle 
einerseits das öffentliche sicherheitspolizeiliche Inter¬ 
esse und andererseits das persönliche gesundheitliche 
Interesse des Geisteskranken betheiligt ist, insbesondere 
auch davon, inwieweit die Polizeibehörde während 
des Aufenthalts in der Anstalt ihre Hand über den 
Geisteskranken hält und ihn weiter überwacht. 

Nun ist zwar auf Grund der Auskunft der An¬ 
staltsdirektion zu Dalldorf vom 27. Juli 1900 und 
der von dem Moabiter Anstaltsarzt, Sanitätsrath 
Dr. Leppmann wiederholt erstatteten Berichte anzu¬ 
nehmen, dass Erpel auch in seinem persönlichen 
Gesundheitsinteresse der Anstaltspflege bedarf; in¬ 
dessen überwiegt doch das sicherheitspolizeilichc Inter¬ 
esse an seiner Vci Währung in einer Irrenanstalt in 
dem Maasse, und es ist dieses Interesse von den zu¬ 
ständigen Behörden auch so weitgehend bethätigt 
worden, dass dasselbe für die Entscheidung der Frage: 
ob ein Akt der Armenpflege oder eine polizeiliche 
Maassnahme vorliegt, unbedingt den Ausschlag geben 
muss. Die Aeusserung der Anstaltsdirektion zu Dall¬ 
dorf über das Verhältnis der beiderseits betheiligten 
Interessen ist unerheblich. Die Beurtheilung dessen 
ist nicht Sache der Aerzte, sondern des Richters. 
Wenn nun schon bei Würdigung des persönlichen 
gesundheitlichen Interesses des Geisteskranken nicht 
ausser acht gelassen werden darf, dass nach den Be¬ 
lichten des Sanitätsraths Dr. Leppmann die Ursache, 
oder doch die allmählich eingetretene Verschlimme¬ 
rung der Geisteskrankheit Erpels in enger Beziehung 
mit seiner Strafhaft, insbesondere mit der Noth- 
wendigkeit einer dauernden Isolirung steht, sodass 
Erpel bei der Wiederergreifung nach der Flucht aus 
der Mcabiter Strafanstalt infolge des Genusses einer 
iBtägigcn Freiheit sich verhältnissmässig wohlerfühlte, 
— dass deshalb die Frage offen bleibt: ob er überhaupt 
je der Pflege in einer Irrenanstalt bedurft hätte oder noch 

Original frnm 

HARVARD UNIVERSITY 




5 02 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCIIK WOCHENSCHRIFT [Nr. 50. 


bedürfte, wenn er nicht wegen seiner Strafthaten in 
strenger und thunlichst isolirter Verwahrung gehalten 
werden müsste? so sind es auf der anderen Seite — 
abgesehen von der Schwere der von Erpel bethätig- 
ten verbrecherischen Neigung — insbesondere zwei 
Momente, welche dessen Unterbringung in der Anstalt 
den vorwiegend polizeilichen Charakter aufprägen: zu¬ 
nächst das Verlangen der Aufsichtsbehörde, dass 
eventuell besondere Vorkehrungen zur Verhinderung 
des Entweichens getroffen werden möchten, in Ver¬ 
bindung mit dem Hinweise darauf, unter welchen er¬ 
schwerenden Umständen ein solches Entweichen aus 
der Irrenabtheilung der Moabiter Strafanstalt möglich 
geworden war, sodann ferner: dass aus einer Regi¬ 
stratur in den Akten der Dalldorfer Irrenanstalt sich 
ergebende, von dem Königlichen Polizeipräsidium 
(Abtheilung IV) unterm 5. September 1 899 an die 
Anstaltsdirektion dahin gestellte Eisuchen: 

den im höchsten Grade gemeingefährlich geistes¬ 
kranken Erpel nicht ohne diesseitige Zustimmung 
verlegen, beurlauben oder entlassen zu wollen. 

Durch diese Maassnahmen haben die polizei¬ 
lichen Behörden auf das unzweideutigste, bekundet, 
dass sie die Verfügung über Erpel für die gesammte 


Referate. 

— Archiv für Psychiatrie und Nerven- 
krankheiten. Bd. 30, Heft 1. 

K ö 1 p i n - Greifswald: Klinische Beiträge zur Me¬ 
lancholiefrage. 

Verf. berichtet eingehend über die Krankenge¬ 
schichten von 18 klinisch gut beobachteten Fällen 
von Depressionszuständen und kommt zu folgendem 
Resultat. Es lassen sich zwei wohl charakterisirte 
Grundformen aller melancholischen Zustandsbilder 
aufstellen, die reine Melancholie und die acute Angst¬ 
psychose. Die letztere kommt vor auf dem Boden 
des Alkoholismus, der Epilepsie, des Klimakteriums 
und des Seniums. Zwischen den beiden Grund¬ 
formen existiren aber alle möglichen Combinationcn 
und fliessende Ucbcrgänge. Diese Mischformen fasst 
Verf. zusammen unter der Bezeichnung Angstmelan¬ 
cholie. Im Allgemeinen nähern sich die im jugend¬ 
lichen Alter auftretenden Mischzustände der reinen 
Melancholie, dagegen stehen diejenigen des höheren 
Lebensalters mehr der Angstpsychose näher. 

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Dauer seines Aufenthalts in der Irrenanstalt behalten 
wollen, dass daher nur mit ihrem Einverständniss — 
ganz unabhängig von der Frage: inwieweit der per¬ 
sönliche Gesundheitszustand dessen weitere Belassung 
in der Anstalt erfordere? — die Anstaltsdirektion die 
Entlassung Erpels solle bewirken dürfen. 

In Betracht aller dieser Umstände muss die Ver¬ 
wahrung Erpels in der Irrenanstalt als eine wesentlich 
im öffentlichen Sicherheitsinteresse getroffene polizei¬ 
liche Maassregel, nicht aber als ein Akt der Armenpflege 
angesehen werden. Infolgedessen fehlt es an einer 
Verpflichtung des beklagten Landarmenverbandes zu 
den in dem Klageanträge von ihm beanspruchten 
armenrechtlU hen Leistungen. Die Klage war daher 
unter Abänderung der Vorentscheidung kostenpflichtig 
abzuweisen. 


Vorstehendes Erkenntniss wird hierdurch zum 
öffentlichen Glauben ausgefertigt. 

Berlin, den 27. Dezember 1900. 

(Siegel) 

Das Bundesamt für das Heimathwesen 
gez. Weymann. 


H e rmk es-Kiel : Ueber den Werth chirurgischer 
Behandlung von Neurosen und Psychosen. 

In der vorliegenden Arbeit wird über operative 
Eingriffe berichtet, welche bei genuiner Epilepsie, 
Rindenepilepsie etc. gemacht werden sind; besonders 
interessant sind die Angaben über die bei Hysterie 
ausgeführten Operationen. Von der chirurgischen Be¬ 
handlung war auch nach der suggestiven Seite hin 
niemals ein Erfolg, oftmals aber eine wesentliche 
Verschlimmerung zu sehen. Verf. empfiehlt daher 
bei Psychosen und Neurosen eine chirurgische Be¬ 
handlung nur dann, wenn eine genau festgestellte 
Indieation besteht: meist werden nur solche Fälle zur 
Operation kommen, welche auch ohne das Bestehen 
der Psychose chirurgisches Eingreifen erfordern würden. 

Zur Bekämpfung der in der Schwangerschaft auf¬ 
tretenden Neurosen und Psychosen (Chorea gravi¬ 
darum, Eclampsie, Hvperemesis, Depressionszustände) 
ist zuweilen die Einleitung der künstlichen Entbind¬ 
ung indicirt. 

S trauss-Obernigk: Ueber angiospastische Gangrän 
(Raynaud'sehe Krankheit). 

Original from 

HARVARD UNIVERSITY 


Paul Brie f. 

Am 3. März verschied nach längerem Krankenlager zu Bonn, w-<» er sich wegen eines Carcinoma 
recti einer Operation unterziehen musste, der Oberarzt der Rhein. Pmv.-Heil- u. Pflegeanstalt Grafen¬ 
berg Dr. Paul Brie im 43. Lebensjahre. 

Er w'ar vom 1. XII. 86 an Rheinischen Prov.-Anstalten thätig, zuerst als Assistenzarzt in Bonn, 
dann als II. Arzt in Andernach und Düren und seit dem 1. April 1898 als Oberarzt in Grafenberg. 

Sein allzufrühes Dahinscheiden, das ihn mitten aus seinem unermüdlichen, von hohem Pflicht¬ 
gefühl getragenen Arbeiten hinwegraffte, ist um so tragischer, als er am 1. April dieses Jahres das ihm 
durch das einstimmige Vertrauen des Provinzial-Ausschusses übertragene Amt des Direktors der dem¬ 
nächst zu eröffnenden Prov.-Hcil- und Pflegeanstalt Johannistal bei Süchteln antreten sollte 

Die Psychiatrie verliert in ihm einen wissenschaftlich und praktisch gleich hervorragenden Ver¬ 
treter, und unsere Zeitschrift einen geschätzten Mitarbeiter. 





1905 ] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Das 1862 von Raynaud unter dem Namen sym¬ 
metrische Gangrän veröffentlichte Krankheitsbild führt 
diese Bezeichnung mit Unrecht, da es bald einseitig, 
bald doppelseitig, kaum jemals aber streng symme¬ 
trisch auftritt. Die Krankheit, welche meist Finger 
und Zehen, nächstdem auch Nasen, Ohren und Wangen 
betrifft, wird nach der Ansicht des Verf. durch einen 
Gefässkrampf hervorgerufen und ist daher als Angio¬ 
neurose aufzufassen, die bald als selbständiges Leiden, 
bald auf der Basis anderweitiger Erkrankungen des 
Nervensystems sich entwickelt. Zur Unterscheidung 
von anderen Formen der Spontangangrän wird die 
Bezeichnung angiospastische Gangrän vorgeschlagen. 

Kufs-Sonnenstein: Beitrag zur Syphilis des Ge¬ 
hirns und der Hypophysis und zur Differentialdiag¬ 
nose zwischen der Tuberkulose und Syphilis des 
Centralnervensystems. 

Bei einer 47 jährigen Frau mit dem Krankheits¬ 
bild der dementen Form der Dementia paralytica 
wurde mit grösster Wahrscheinlichkeit Himlues diag- 
nosticirt, da eine charakteristische Erkrankung der 
Leber vorlag. Antiluetische Behandlung war ohne 
Erfolg. Die Section ergab die Richtigkeit der 
Diagnose: Lues cerebri convexitatis combinirt mit 
Gumma der Hypophysis und Gummata in einer 
cir rhotisch gelappten Leber. Die Tumoren des 
Gehirns und der Hypophysislumor hatten grosse 
Aehnlichkeit mit Solitärtuberkeln. 

Scheven - Rostock: Ueber den Einfluss der 
Anämie auf die Erregbarkeit der weissen Substanz 
des Centralnervensystems. 

Auf Grund von Versuchsergebnissen an Kanin¬ 
chen und Hunden erscheint die Annahme berechtigt, 
dass bei der Anämisirung des Centralnervensystems 
die weisse Substanz in ähnlicher Weise wie die graue 
ihre Erregbarkeit durch den Indicationsstrom ein- 
büsst. 

R e n tsch - Sonnenstein : Ueber zwei Fälle von 
Dementia paralytica mit Hirnsyphilis (Pseudopara¬ 
lysis syphilitica nach Jolly). 

Bei den Sectionen von zwei Fällen, die klinisch 
vollständig das Bild der allgemeinen progressiven 
Paralyse geboten hatten, fanden sich specifische Ver¬ 
änderungen als Nebenbefunde: das eine Mal Arte¬ 
riitis gummosa der basalen Hirnarterien, das andere 
Mal ein Gumma zwischen Chiasma und Carotis in¬ 
terna. Es handelte sich beide Male um gleichmässig 
fortschreitende Verblödung, die Krankheitsdauer be¬ 
trug 2 resp. 1 1 h Jahr. 

Meyer- Königsberg: Ueber Autointoxications- 
psychoSen. 

Bei verschiedenen Krankheiten, besonders nach 
Magendarmerkrankungen, kommen Fälle vor, bei 
denen das psychische Krankheitsbild im Verein mit 
den körperlichen Erscheinungen auf eine Autointoxi- 
cation hinweist. Eine specifische Autointoxications- 
psvchose giebt es jedoch nach Verf., der 8 Fälle 
ausführlich mittheilt, nicht. Ein Teil der Fälle ge¬ 
hörte dem Delirium acutum an, ein anderer verlief 
unter dem Bild einer nicht agitirten, traumhaften Be¬ 
nommenheit mit Ineohärenz, erschwerter Auflassung, 
Neigung zu Perseveration und Stereotypie, sowie 

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vielfach mit eigenthümlich wechselnden hvsteriformen 
Zügen. 

Reichardt - Würzburg: Das Verhalten des 
Rückenmarkes bei reflectorischer Pupillenstarre. 

Verf. hat bei 35 klinisch gut beobachteten und 
später mikroskopisch untersuchten Fällen gefunden, 
dass für die Pupillenstarre als charakteristisch anzu¬ 
nehmen ist: eine bestimmte (endogene) Degeneration 
im ventralen Theil der Zwischenzone, vorwiegend des 
dritten Cervicalsegmentes. Die reflectorische Pupillen¬ 
starre ist also Symptom einer Rückenmarks er- 
kran kung. Arnemann - Grossschweidnitz. 

Bibliographie 

über Kriminal-Anthropologie und Verwandtes. 

III. Quartal 1904 

Von Medicinalrath Dr. P. N äcke in Hubertusburg. 

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1904. 5 M. 

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di psich. for. etc. 1904. No. 5. 

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geschwülsten. Diss. Leipzig 1904. 

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Nach. Ref. Ibid. 

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Psych. Bd. 38, H. 3. 

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Ref. Zentralbl. f. Anthropol. 1904, H. 4. 

Origmal fram 

HARVARD UNIVERSITY 



504 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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Rosanow: Ueber gesteigerte und verlangsamte Ent¬ 
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Blatt f. Anthropol. 1904, H. 4. 

Uschakow: Ein Beitrag zur Frage der erblichen 
Uebertragbarkeit erworbener Eigenschaften. Ref. 
Ibid. 

Zander: Die Zwergvölker. Naturwissensch. Wochen¬ 
schau 1904, No. 27. 

Ammon: Beiträge zur Erforschung der Vererbung 
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der Estin etc. Zeitschr. f. Morph, u. Anthrop. 1904. 
Doroschewicz: Ssachalin und die Zwangsarbeit. 

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Adacki: Häufigeres Vorkommen des Musculus stcr- 

nalis bei Japanern. Zeitschr. f. Morph, u. Anthrop. 
r 9°4» Pag- 133- 

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1904, H. 4. 

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Poscharissky: Ueber zwei seltene Anomalien der 
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Münchener medic. Wochenschr. 1904, No. 27. 
Buttermilch; Fall von Hermaphroditismus spurius 
masculinus. Ref. Ibid. 

Swoboda: Ueber Zwitterbildung. Ref. Ibid. 
Dewey: A Case of Circular Insanity, studied from 
Chinical, Differential, and Forensic Standpoints. 
Journal of the Americ. Medicin. Association, 
April 30. and May 7., 1904. 

Spitzka: Hereditary resemblanccs in the brains of 
three brothers. Americ. Anthropologist 1904, No. 2. 
H e i d 1 e n : Vormundschaft oder Pflegschaft. Vortrag, 
gehalten auf der Vcrsamml. von Juristen und 
Aerzten in Stuttgart 1903. Jurist.-psvrhiatr. Grenz¬ 
fragen, Halle, Marhold, 1904. 

Kreuser: Ueber Paranoia. Ibid. 

Wollen berg: Ueber das Queruliren Geisteskranker. 
Ibid. 

Gaupp: Ueber moralisches Irresein und jugendliches 
Verbrecherthum. Ibid. 

Fauser: Ueber die Bedeutung der neueren Ent¬ 
wickelung der Psychiatrie für die geiichtliche 
Medicin. Ibid. 

Wildermuth: Ueber die Zurechnungsfähigkeit der 
Hysterischen. Ibid. 

Daiber: Statistische Erhebungen über die forensischen 


[Nr. 50. 


Beziehungen der württembergisehen Irrenanstalts¬ 
pfleglinge. Ibid. 

A limaras: Ein Fall von Situs transversus partialis. 
Diss. Freiburg 1904. 

Lugaro: Una proposta di terapia chirurgica nella 
pazzia morale. Rivista di patologia nervosa e 
mentale. Luglio 1904. 

Schi'il e : Ueber die Frage des Heirathens von früheren 
Geisteskranken. Leipzig 1904, Hiozel. 

Capanove: Les femmes dans la foule et leur 
responsabilite criminelle. These de Bordeaux. 1904. 

Hey: Das Ganser’sche Symptom, seine klinische und 
forense Bedeutung. Berlin, Hirschwald, 1904. 

He gar: Das Stottern vor dem Strafrichter. Allgem. 
Zeitschr für Psych. etc. Bd. 61, H. 4. 

Reichardt: Ueber acute Geistesstörungen nach 
Hirnerschütterung. Ibid. 

^Fortsetzung folgt.) 


Unter den vielerlei Kaffeeersatzmitteln hat sich der 

„Natnral-Malzkaffee** 

der Firma L. Rübsam in Bamberg, Bayern, einen hervor¬ 
ragenden Platz errungen. Er findet in vielen Piovinzial- und 
Privat-Irrenanstalten, Sanatorien, Hospitälern und Kranken¬ 
häusern ständig Verwendung. Von den drei zur Herstellung 
gelangenden Sorten derselben scheint Nr. II den meisten An- 
ktang zu linden. Eine Analyse dieses Malzkaffees seitens des 
öffentlichen Untersuchungslaboratoriums für die Brauindustrie 
Dr. Karl Scholvien, Mühlhausen i. Thür., vom November 
v Js. ergab: 



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Nr. I aus 





Süssmalz- 

Caramclmalz 

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94,86 

45,9 

48,4 

geschmack 

Nr. II aus 






Grünmalz 

4. 2 3 

95,77 

44,5 

46.5 

\ Sehr angenehm 

Nr. III aus 





> kaffeeartiger 

Grün malz 

6,57 

93,43 

4i,3 

44,2 

j Geschmack 

Bohnenkaffee 





Reiner Kaffee- 

ä Pfd. 1,60 M. 

4,2i 

95,79 

24.0 

■ 

24,7 

geschmack 


.... Der Nährwerth der 3 Naturell-Malz kaffees beläuft 
sich fast aufs doppelte von dem des Bohnenkaffees, ohne die 
schädlichen Eigenschaften des letzteren zu besitzen .... 

Alles in Allem sind Ihre Produkte, besonders aber No. II, 
als „hervorragend“ zu bezeichnen. Die vollen üppigen Körner 
weisen auf Verarbeitung von nur prima Gersten hin, die Röstung 
ist eine äusserst gute, da verbrannte Körner in Ihren Proben 
nicht zu finden waren.“ 

___•_ 

Dieser Nummer liegt je ein Prospekt 

über 

„Kan ol d V s Tama ri n d en‘‘ aus Gotha, 
sowie der Firma 

C. F. Boc h rin g er & Söhne, Waldhof-Mannheim, 
bei, die wir geneigter Beachtung empfehlen. 


1 ür di*n 1 rd.u tioiUM i' :i ’l lu-il \t-r.uitvMi: ii.i h : Obi rar/t l)r. J. r, I.ublini*# (Schreien). 

Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Iuscratenannuhme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag vi n (. a 1 I M;;rt .j j in Hallt t c 

Ilevneniann’sche Burhdruckerei Wc’fO Halle a. S. 


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Original from 

HARVARD UNIVERSITY 






Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift. 

Redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Lublinitz (Schlesien}. 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adrei««*: Marho Id Ver lag, Hallesaale. Fernsprecher 2834. 


Nr. 51. 


8 März. 


Bestellungen nehmen jede ßuehhandlnng. die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die jspaltige Petitzeil« mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermäßigung ein. 
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten. 


Analytische Untersuchungen der Symptome und Associationen 
eines Falles von Hysterie (Lina H.). 

Von Dr. I 4 ranz Riklin , bisher 1 . Assistenzarzt am Burghölzli, z. Z. Sekundararzt an der Züricher Pflegeanstalt Rheinau. 

(Fortsetzung.) 


C. Experimenteller Theil. 

( A s s ociations versuche.) 

In einer vorläufigen Mittheilung*) über die Asso¬ 
ciationsversuche bei Hysterischen wurde der Ver¬ 
such gemacht, den hysterischen Reactionstypus von 
jener Form des- normalen -Co mp le K l ypu » abauWi*#»*, 
wo der in den Associationen wirksame gefühlsbe¬ 
tonte Complex „verdrängt“ ist.**) Wir haben dort 
gefunden, dass z. B. Anwendung von Citaten, Reac- 
tionen in Satzform, Perseveration einer angeregten 
Vorstellung, Assimilation der Reizwörter im Sinne 
des Complexes, halbbewusstes oder unbewusstes Miss¬ 
verstehen des Reizwortes, das den „Complex“ an- 
regen würde, öftere Wiederholung einer Reaction im 
Laufe des Versuchs***), Auftreten von Fehlern, 

*) Ueber die diagnostische Bedeutung von Associations¬ 
versuchen bei Hysterischen, von Dr. F. Riklin. 

Siehe Autoreferat, L. c. 

**) Siehe z. B. Versuchsperson 1 der ungebildeten Frauen 
in den Experiment. Untersuch, über Associationen Gesunder, 
von Jung und Riklin. Journal, Bd. III. 

***) Eines dieser Merkmale ist die Entstehung von Stereo¬ 
typien in den Reactionen, die vielleicht einmal in der Psycho¬ 
logie der Dementia praecox eine gewisse Bedeutung erlangen 
wird. Inunserer Arbeit „Exper. Untersuch, über Assoc. Gesunder“ 
finden wir ein Beispiel angeführt: (Versuchsperson 5 , gebildete 
Männer). 

Die Reaction 
Küssen — gestern 

lieben — gestern (Aus dem Zusammenhang 

schon (verstand: schön) — gestern > herausgenommeu nnd zu- 
Wunder — gestern sammengestellt.) 

beten — gestern 

bezogen sich alle auf den gleichen erotischen Complex. Die 
Reaktion „gestern“ wäre unsinnig, wenu nicht die Erinnerung 

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d. h. Mangel einer verbalen Reaction auf das Reiz¬ 
wort, infolge einer plötzlichen bewussten oder unbe- 

an ein kleines Geschenk von der Dame, welche von der Versuchs¬ 
person verehr wurde, aus den letzten Tagen darangeknüpft wäre. 
Bei „Wunder“ und „beten“ spielten bekanntlich religiöse Motive 
mit, die in engstem Zusammenhänge mit der Liebesgeschichte 
standen.' Bei einer andern Versuchsperson (No. 4 der gebildeten 
Männer in unserer Arbeit über Assoc. Gesunder) hat die 
Reaction „böse“ eine ähnliche Funktion. Sie vertritt eine 
Sanze glückliche Liebesgeschichte. 

Zuerst trat diese Reaction auf beim Reizwort freundlich : 
freundlich — böse. 

Dann in einem neuen Versuche bei 
React. No. 14 trotzig — böse 0,8 sec. Vp. dachte sich: Mein 
Schatz ist nicht trotzig, aber selbstbewusst. 

„ „ 19 stolz — böse 0.8 sec. Sie ist stolz. 

„ „22 bös — böse 0,3 sec. Mit deutlicher Vorstellung 

seiner Geliebten. 

„ „ 74 wild böse 0,8 sec. Weckt einfach die Erinne¬ 

rung an die Geliebte. 

„ „78 fremd — böse 1,0 sec. „Wir sind uns nicht 

mehr fremd“. 

Die React. böse ist nur noch sprachmotorische 
Vertreterin des Gedankens an die Geliebte, wäre 
sonst sinnlos. 

„ „ 86 falsch — böse 1,3 sec. Weckt die Erinnerung an 

den erotischen Complex. 

„ * 87 Angst — böse 1,0 sec. Angst vor unangenehmen 

Folgen bei früheren Liebesgeschichten. „Böse“ 
vertritt also einen erweiterten erotischen Complex 

„ „ 94 still — böse 1,0 sec. Weckt den erotischen 

„ „130 schlimm — bös 1,0 sec. Complex; das Reizw. 

„ „ 170 gut — böse 0,8 sec. -ist gleichsam die un- 

„ «174 hart — böse 1,2 sec. deutlich gestellte 

„ „188 fein — böse 1,1 sec. Frage: „Wie verhält 

sich mein Schatz?“ schliesslich kommt ja die 
React. „böse 11 bei jedem Adjektiv. 

„ «189 Liebe — böse 1,1 sec. Perseverat. zur vorigen 


Original ffom 

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506 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 51. 


wussten Hemmung; mimische Reactionen (Er- 
röthen, Erblassen, Lachen, Weinen, bestimmte Be¬ 
wegungen, Leisesprechen etc. bei bestimmten Reiz¬ 
wörtern), sowie verlängerte R eactionsze i ten, 
Merkmale für die Existenz verdrängter, 
gefühlsbetonter Complexe sind. Wahrschein¬ 
lich sind die Symptomhandlungen Freud’s 
ähnliche motorische ,,Complexerscheinungen“. Es ist 
sogar gelungen, nachzuweisen, dass bei Versuchs¬ 
personen , deren Associationen anscheinend recht 
objectiv, frei von Complexwirkungen scheinen, kleine, 
innerhalb enger Grenzen (etwa zwischen 1 — 3 Se- 
cunden) schwankende Verlängerungen der Reactions- 
zeit, die bewusst meist nicht wahrgenommen werden, 
auf die Wirkungen verdrängter Complexe zurückzu¬ 
führen sind.*) 

Die hysterischen Associationen boten bis jetzt 
hauptsächlich eine starke qualitative und quantitative 
Vermehrung der bei Gesunden mit verdrängten Com- 
plexen — es sind das fast alle Gesunden — vor¬ 
kommenden Complexmerkmale. 

An unserem Falle lässt sich nachweisen, dass 
sich diese Complexerscheinungen der Hysterischen 
mit den übrigen besprochenen hysterischen Erschein¬ 
ungen in Parallele setzen lassen. 

Eine erste Associationsreihe (156 Assoc.) wurde, 
in gleicher Weise, wie wir es in den Versuchen über 
Associationen Gesunder beschrieben haben, im Nov. 
1902 aufgenommen, damals leider noch ohne Zeit¬ 
messungen. Nur auffallend lange Reactionszeiten 
wurden durch ein Zeichen vermerkt. 

Die zweite Hälfte der zu diesem Versuche die¬ 
nenden Reizwörter wurde folgenden Tags zu einem 
neuen Versuche in Hypnose benutzt. 

Werth voller ist ein Versuch vom 25. IV. 04, 
wo 100 Associationen mit Zeitmessungen aufgenommen 
und dann ein Versuch mit den gleichen 100 Reiz- 

React, zeigt wieder den direkten Zusammenhang 
mit dem, erotischen Complex. 

Unser Material enthält noch eine Anzahl solcher Beispiele. 
Gegenüber der einfachen Wiederholung der Reaction treten diese 
Stereotypien auch da auf, wo sie sinnlos geworden sind, resp. 
der Sinn nur noch durch die Analyse der Entwicklung festzu¬ 
stellen ist. Es braucht nur eine leise Anregung, um das den 
Complex vertretende Reaktionswort auszulösen. 

Diesem Phänomen einigermassen verwandt ist das Auf¬ 
treten der Symptome Herzschmerz und Weinen bei unserer Pat. 
Zuerst haben sie eine ganz bestimmte Ursache, später können 
sie durch alle Vorstellungen ausgelöst werden, die nur von 
ferne den ursächlichen Complex berühren. 

*) Dr. Jung wird noch ausführlich über das Verhalten 
der Reactionszeiten in dieser Beziehung berichten. 

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Wörtern in gleicher Art in Hypnose gemacht 
wurde. 

Es würde zu weit führen, in dieser Arbeit eine 
vollständige Untersuchung dieser Associationen wieder¬ 
zugeben. Ich möchte nur die Momente erwähnen, 
welche uns einen Vergleich erlauben zwischen dem, 
was die Analyse ergeben hat, und dem, w r as in den 
Associationen auffällt. 

Um zu zeigen, wie viel intensiver die Complex¬ 
wirkungen bei Hysterie sind als bei Normalen, sind 
der Arbeit zwei Reactionszeitentabellen beigegeben. 
(Siehe Beilage bei Nr. 46 dieser Zeitschrift.) Jede 
einzelne Säule entspricht der Dauer einer einzelnen 
Reaction. Die erste Tabelle stammt von einem 
Gesunden*), die zweite von unserer Patientin. Beides 
sind also nicht Durchschnittstabellen; indessen ist 
das Bild der Durchschnittstabellen von Normalen ein 
ganz ähnliches wie Tabelle I, und Tabelle II ist der 
Typus einer hysterischen Reactionszeitentabelle. 

In Tabelle I entsprechen die stärkeren Erheb¬ 
ungen, d. h. längere Reactionen, immer Reizwörtern, 
die den „Complex“ der Versuchsperson getroffen 
haben. Bei Tabelle II ist das gleiche der Fall, wie 
w ir noch sehen w’erden; nur ist das Bild ein viel 
^yffaljendefes. . .. 

Wir finden in Tabelle II se hs Colonnen, die 
nicht in Schwarz angegeben sind und alle andern 
überragen. Sie entsprechen sog. Fehlern (d. h. 
auf das Reizwort erfolgte überhaupt keine verbale 
Reaction). Es traten Fehler ein bei den Reiz¬ 
wörtern: lang, bös, drohen, reich, stinken. 
Beim Reizwort lang sagte Pat. nach 15 Sek.: Es 
fällt mir nichts ein; ich habe Sie nicht verstanden. 

Ref. wiederholte das Reizwort — aber es fiel 
der Pat. wieder gar nichts ein, worüber sie erstaunt 
war. 

In der Hypnose associirte Pat. an der gleichen 
Stelle: lang—sam 

eine Wortergänzung, also eine äussere, oberflächliche 
Reaction. Dann gab sie folgende Auskunft: Sie 
konnte bei lang nicht reagiren, weil sie durch eine 
Geschichte vom Maler Lang, die sie eben gelesen 
und die sie durch vieles ganz lebhaft an ihr erstes 
Verhältnis mit dem Flachmaler (siehe Anamnese) 
mahnte, an eine ganze Menge von „traumatischen 
Cmiplexen* 4 erinnert wurde. 

Der zweite Fehler trat beim Reizwort bös ein, 
und Pat. rief erstaunt: Ja, was ist denn das, ich 
habe ja keine Gedanken, Herr Doctor? 

*) Experimentelle Untersuchungen über die Assoc. Ge¬ 
sunder. Versuchsperson No. 5, geh. Männer. 

Original frnm 

HARVARD UNiVERSITY 



1905] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


507 


Die Hypnose gab bei diesem Reizwort folgende 
Auskunft: 

Im Moment kam das Wort „artig“, das aber 
sofort vergessen wurde; dann kam nichts mehr. 
Ich dachte an mich selber, da ich so böse, unver¬ 
träglich war in letzter Zeit, weil mich alles reizte. 
Pat. meinte die Zeit ihrer letzten Menses, wo sie 
von neuem sexuell sehr gereizt war und masturbirte. 
Es war gerade die Zeit einer neuen Exacerbation 
durch die Erinnerung an die frühem, weiter oben 
angeführten Abortversuche. 

Beim Reizwort drohen seufzte Pat. und es 
fiel ihr nichts ein. Die Erklärung kam erst bei der 
Association in Hypnose: Es fielen ihr Drohgeschichten 
von zu Hause ein, namentlich jene mit dem Vetter, 
der sie unter Drohungen zum sexuellen Verkehr 
zwang. 

Das Reizwort reich musste Ref. nach 3 Sekunden 
nochmals wiederholen, als wenn sie es nicht recht 
verstanden hätte. Aber es fiel ihr auch dann gar 
nichts ein. Sie wollte die Sache nicht verstehen: 
„Ich weiss absolut nicht, wie Sie das meinen!“ 

Auch dieser Fehler ist sehr begründet. Das 
Reizwort war auf einen Complex gestossen, der sich 
auf ihre dritte Schwangerschaft bezog. Schon ihr 
Vater hatte in den kräftigsten Ausdrücken über diese 
Reichen geschimpft, die die schlechtesten Kerle seien. 
Er bewies seine Meinung an Fällen, wo der kleine 
Dieb gehängt und der grosse laufen gelassen worden 
war. Als Pat. mittellos hemmlief und sich der 
Prostitution ergab — was sie wirklich nur in Geld¬ 
nöthen that — dachte sie lebhaft an diese Ausführ¬ 
ungen des Vaters und die Gemeinheit der Reichen. 
Ganz besonders ging ihr der Gedanke an den Vater 
des dritten Kindes, jenes Kaufmanns, im Kopf her¬ 
um, der sie beim Verkehr so furchtbar „geplagt“ 
hatte. Pat. hat nie über seinen Namen Auskunft 
geben wollen. Dieser ganze Complex wurde also 
durch das Reizwort „reich“ geweckt, kam aber nicht 
ins Bewusstsein. 

Beim Reizwort „stinken“ drehte sich Pat. um 
und vergrub einen Moment den Kopf im Kissen; 
es falle ihr nichts ein. 

Hypnose: Sie brachte es nicht fertig, „Jauche“ 
zu sagen und es entschwand ihr wieder, ohne dass 
sie etwas anderes fand. Ob nicht die noch unange¬ 
nehmere Geschichte von jener Geschlechtskranken 
dahinter steckt? Ich unterliess leider eine zweite 
Untersuchung. 

Diese „Fehler“, die wir bei Associationen 
Hysterischer viel häufiger finden als bei Normalen, 
nach bisherigen Zählungen mindestens im Verhält- 


niss von 1 : 2 (das aber wahrscheinlich noch zu 
niedrig ist), haben also etwas ganz ähnliches zu 
bedeuten, wie die in der Analyse beobachteten, ab¬ 
gespaltenen Vorstellungen, die automatischen Com- 
plexe. Sie wirken, indem sie einfach keine zuge¬ 
hörige Vorstellung ins Bewusstsein treten lassen. Die 
Versuchsperson ist z. B. in ihrem (Ober-)Bewusstsein 
ganz erstaunt, dass ihr nichts einfällt. 

Oder der Widerstand, den ein abgespaltener, 
verdrängter Vorstellungskomplex der Association zum 
Bewussten entgegensetzt, ist so gross, dass die betr. 
Vorstellung einfach nicht bewusst wird. 

In diesem oberbewussten Erstaunen über das 
Fehlen einer Association, dem „Nichtverstehen“ eines 
Reizwortes, dem raschen Verschwinden einer auf¬ 
tauchenden Reaction (z. B. bös — artig) haben wir 
eine Erscheinung, die uns schon bei der Analyse 
unseres Falls begegnet ist. Eine Vorstellung will 
auf tauchen, wird aber rasch wieder aus dem Bewusst¬ 
sein gerissen. Bei Dementia praecox finden 
wir ein ganz analoges Symptom, dem ein von Jung 
untersuchter Kranker unserer Anstalt den ganz cha¬ 
rakteristischen Namen „Gedankenentzug“ ge¬ 
geben hat. Der betr. Kranke hat sich damit um 
die psychiatrische Terminologie sehr verdient ge¬ 
macht, und einen Ausdruck geschaffen, den die mit 
diesem Symptom behafteten Kranken sofort ver¬ 
stehen. Frägt man einen solchen Pat.: „Leiden Sie 
an Gedankenentzug?“, so versteht er die Frage so¬ 
gleich und giebt es durch die Antwort kund, so gut 
wie wenn er, falls er Gehörshallucinationen hat, so¬ 
fort die Frage nach „Stimmen“ versteht. 

Eine Art von Gedankenentzug, der selber unter 
den Begriff der Sperrung gebracht werden muss, 
haben wir also auch bei der Hysterie, wenn auch 
nicht in dem absoluten, oft unüberwindlichen Grade 
wie bei Dementia praecox. 

Dass auch die verlängerten Reactionszeiten, auf 
die wir in unserer Arbeit über die Associationen 
Gesunder hingewiesen haben, gleichbedeutend sind 
mit dem von Breuer und Freud in ihren Ana¬ 
lysen hervorgehobenen Widerstand, den die ver¬ 
drängten Vorstellungskomplexe der Entdeckung, dem 
Bewusstwerden entgegensetzen, beweisen wieder die 
Associationsversuche in Hypnose. Zwischen ver¬ 
längerten Reactionszeiten und Fehlern ist nur ein 
Intensitätsunterschied. 

Z. B. Assoc. No. 15 (Tabelle II): 

Stengel—Lilien, 8,8 Sec. 

In Hypnose macht Pat. die gleiche Association, 
wobei sie gleichzeitig die Mimik ändert und gesteht, 
es sei ihr eine unangenehme sexuelle Geschichte bei 


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Original fram 

HARVARD UNiVERSITY 



508 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 51 


Stengel eingefallen. (Das Reizwort „Stengel“ ruft, 
namentlich bei Frauen, leicht eine Verlängerung der 
Reactionszeit hervor. Eine Reihe von Analysen lässt 
uns vermuthen, das Reizwort stosse dabei u. a. auf 
die unterbewusste Vorstellung von Penis.) Der 
Polizist, der sie verhaftet habe, habe diesbezügliche, 
unanständige, sie äusserst hart berührende Anspiel¬ 
ungen gemacht. Dass als Deckwort im Bewussten 
gerade Lilie, das Symptom der Unschuld, gebraucht 
wird, ist gewissermaassen charakteristisch als Verdräng¬ 
ungsphänomen. 

Assoc. 18 (Tabelle II): 

Krank — das ist Blödsinn! 4,4 Sec. 

Pat. will Ref. im Scherze schlagen. 

In Hypnose: „Ich selber bin krank, ich bin böse, 
dass man mir, wenn ich fortgehen will, immer unter 
die Nase reibt, ich sei geisteskrank.“ 

Stolz — Dummheit, 12,2 Sec. 

In Hypnose: „Dummheit und Stolz wachsen auf 
einem Holz. Ich dachte an eine Pflegerin, über die 
ich mich kürzlich sehr ärgerte“ (Liebeshändel). 
malen — Wand, 4,8 Sec. 

In Hypnose: „Mein Schatz war Wandmaler“. 

Storch: (Pat. wollte das Reizwort nicht verstehen 
und sagte nach 10 Sec. (!): Wie? Ich habe nicht 
recht verstanden!). 

Nach Widerholung des Reizwortes durch Ref. 
kommt die Association : 

Storch—Nest, 3,4 Sec.(!). 

In Hypnose erzählt Pat. zögernd genirt, es sei 
ihr nämlich die Geschichte eingefallen vom kleinen 
Fritz, der noch ans Christkind, St. Niklaus und den 
Storch glaubte, der die Kinder bringt. Als er er¬ 
fuhr , dass der Vater den Christbaum bringe und 
der Vater der St. Niklaus gewesen sei, der ihn 
erschreckt hatte, kam er zum Vater und sagte als 
enfant terrible: Ich weiss jetzt alles; Du bist das 
Christkind, Du bist der Samichlaus und Du bist 
auch der Storch! 

Das Reizwort stiess hier auf den Complex „Vater“ 
und die kleine Geschichte hat für die Pat. eine be¬ 
sondere Bedeutung und kam nicht von ungefähr 
(ihr Vater!). 

Auch hier sahen wir eine eingeübte, oberflächliche 
Reaction den Grundgedanken verdecken. 

Ein Theil der im Wachen gemachten ober¬ 
flächlichen Associationen sind Deckassocia- 
tionen über Complexen, die abgespalten sind. 

Z. B. verachten — kann ich nicht, 3,8 Sec. 

In der Hypnose, nach noch längerer Reactions¬ 
zeit, sagt Pat.: „Ich bin selber nicht besser“. 

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Oder z. B. Monat—Mai, 1,2 Sec. 

Association in Hypnose, nach recht langer Reac¬ 
tionszeit: „Im wunderschönen Monat Mai“ (nochmals 
oberflächl. Citat) — im Mai war die erste Geburt 
(Erinnerung an die ganze damalige Lage). 

Oder z. B. schlagen — Pferd, 2,4 Sec. 

In Hypnose kommt mit sehr langer Reactionszeit 
(ca. 20 Sec.) die Antwort: Ich bin geschlagen — 
genug geschlagen worden (vergl. Anamnese). 

Diejenigen Associationen in Hypnose, die anders 
lauten als im Wachen, verändern sich meistens im 
Sinne einer deutlicheren Constellafion, z. B.: 


Reizw. 

Reaktion im Wachen: 

j Reaktion in Hypnose: 

Kopf i 

1 

zerbiechen 2,0 Sek. 

Kopfzerbrechen wegen 
der Entlassung. 

stechen 

Biene 1,4 Sek. 1 

! 

bestechen (lange Reak¬ 
tionszeit). 

freundlich 

! 

bin ich nicht, 3,0 Sek. 

Ich war die letzten Tage 
so unfreundlich. 

tragen 

Holz 1,2 Sek. 

schwer. 

singen 

ist schön 5,8 Sek. 

Ein sentimentales Volks¬ 
lied aus dem letzten An- 
staltskonzert. . 

Sitte 

los 3,0 Sek. 

Ich bin sittenlos gewesen. 

Dumm 

Nichts dergleichen sagen! 
8,6 Sek. 

Ich f ich bin dumm ge¬ 
wesen. 

Zahn 

weh 1,2 Sek. 

1 

Ich habe keine Zähne 
(möchte gern künstliche 
Zähne haben). 

Gesetz 

los 3,0 Sek. 

1 i 

l 

1 

i 

— los. Pat. will nicht 
weiter antworten; erst 
nach langer Zeit sagt sie: 
ich selber, früher. 


Die Hypnose wirkt also hier wie bei der Ana¬ 
lyse der körperlichen Symptome: die anscheinend 
gleichgültigen Associationen im Wachen decken die 
Beziehungen, welche sofort zwischen Reizwort und 
eigenen, manchmal verdrängten Complexen sich bilden. 

Zur Vervollständigung möchte ich aus Versuchen 
bei einigen andern Fällen von Hysterie noch Bei¬ 
spiele von Verdrängungserscheinungen in den Asso¬ 
ciationen anführen, resp. Fälle, wo das Reizwort auf 
einen verdrängten Complex stösst (immer im Sinne 
von Vorstellung plus dem entsprechenden Affekt ge¬ 
braucht), .und wo die Reaction eine ähnliche Rolle 
spielt, wie z. B. die körperlichen Symptome bei 
unserer Patientin. Die körperlichen Symptome sind, 
wie schon gesagt, zum verdrängten Complex, meist 

Orig mal fram 

HARVARD UNIVERSITY 



1905 ] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


509 


durch Coexistenz (Ohrenschmerz in unserm Fall, 
Geruch von verbranntem Mehl im Fall Lucy R. von 
Breuer und Freud) oder als Symbole 
(d. h. durch Aehnlichkeit), associirte Neben Vorstell¬ 
ungen, die an Stelle und zur Deckung dieses Com- 
plexes im Bewusstsein erscheinen. 

Ganz entsprechende Erscheinungen treffen wir 
bei Associationsversuchen, wo die Reactionen in 
Form von Citaten, Sätzen, Klangassociationen oder 
sog. mimischen Reactionen (d. h. das Reizwort löst 
statt einer gewöhnlichen verbalen Reaction neben 
oder ohne diese mimische Veränderungen, Lachen, 
Weinen, Zittern, Blasswerden, Unruhebewegungen, 
Glänzen der Augen, Aenderungen des Ausdrucks, 
aus) auftreten. 

Die eben genannten Reactionskategorien ver¬ 
treten und verdecken, wie wir schon in unserer Ar¬ 
beit über Associationsversuche bei Gesunden *) nach¬ 
zuweisen versucht haben, den abgespaltenen Vor¬ 
stellungskomplex. Die sog. „Fehler“ in den Asso¬ 
ciationen Gesunder und Hysterischer endlich ent¬ 
sprechen starken, fast vollständigen Abspaltungen 
des vom Reizwort getroffenen Vorstellungskomplexes 
vom Bewusstsein, wie ich oben ausführte. 

Ich sehe davon ab, weitere Beispiele von Fehlern 
zu bringen, hingegen möchte ich einige andere Fälle 
zur Erläuterung der obigen Behauptungen mittheilen. 

Die schon mehrmals erwähnte Studentin, deren 
Geliebter sich ihretwegen erschoss, worauf sie anfalls¬ 
weise hysterische Dämmerzustände bekam, glaubte 
fast bei jedem Anfall oder Dämmerzustand, auch bei 
leichten, wo man sich mit ihr unterhalten konnte, 
Blut an der Schläfe des Arztes zu sehen (Schuss¬ 
wunde !) und wollte das Blut abputzen, abwischen. 

Beim Reizwort putzen associirte Pat. Gummi¬ 
schuhe, sie brauchte 7,2 Sec. (!) dazu, eine stark verlän¬ 
gerte Reactionszeit, dabei lachte sie. Es ging aus An¬ 
gaben in Hypnose und aus Besprechungen hervor, 
dass bei ihr das Reizwort putzen im Unterbewussten 
sofort die Erinnerung an das Blut etc. angeregt hatte. 
Gummischuhe ist also nur eine oberflächliche, ober- 
bewusste Deckassodation, und die Abtrennung ist 
auch so gut gelungen, dass Pat sogar oberbewusst 
einen andern Affect äussert, sie lacht. Es entspricht 
das ganz den angeführten Beispielen von „inadä¬ 
quatem“ Affect bei Hysterischen. Die gleiche Pat. 
sang mit Vorliebe eine Stelle aus einem Kinderlied, 
das mit den Worten anfing: „Putzen, putzen, putzen 
. . . .“ Wenn ich die Ausführungen Freud’s in 
Löwen fei d’s Zwangserscheinungen richtig versiehe, 

*) L. c. Journal f. Psychologie u. Neurologie Bd. III. 

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ist das wahrscheinlich auch eine Art Symptom¬ 
handlung. 

Eine Patientin*), der nach dem Tode des Mannes 
noch ihr einziges Kind schwer erkrankte, weswegen 
sie in einen hysterischen Dämmerzustand gerieth, 
bildete beim Associationsversuch hauptsächlich schein¬ 
bar ganz objective Sätze nach Art eines Schülers. 
Besonders häufig kamen Sätze mit „die Kinder“ als 
Satzgegenstand, z. B.: 

Bös — Die Kinder sind etwa bös, 4,8 Sec. 

Anstand — Die Kinder sollen Anstand lernen, 
1,8 Sec. 

danken — das Kind dankt der Muttet, 2,6 Sec. 

schicken — die Mutter schickt das Kind (und 
ähnl.), 4,6 Sec. 

Unter „Kind“ ist, wie sich herausstellte, immer 
ihr Kind, namens „Roseli“ verstanden. 

Nun hat sie daneben noch andere bemerkens- 
werthe Deckassociationen, z. B.: 

1. Schlagen — Böse Buben schlagen ein¬ 
ander, 6,0 Sec. 

(„Was fiel Ihnen denn in der langen Zeit erst 
ein ?“) 

Man schlägt den Baum, 

Das Roseli ist auch so wild! 

Endlich: Bei Schlagen fiel ihr zuerst ein, dass 
sie ihr Roseli einst, als sie Besuch hatte, 
schlug, worüber sie sich jetzt Vorwürfe macht. 

AehnlicHte Associationen: 

2. Schlecht — Es giebt schlechte Men¬ 
schen, 15,4 Sec. 

(„Was zuerst gedacht?“) 

Es giebt auch schlechte Sachen, Gemüse. 

Endlich: Ach, wenn mirmein Mann (Potator) 
versprach, er wolle früh heimkommen! 

3. Treue — Dienstboten sollen treu 
sein. 8,0 Scc. 

Analyse: Die Frau soll treu sein ihrem Mann. 
Pat. hatte Angst, wenn der Mann so lange 
ausblieb, er sei ihr nicht treu. 

Die Pat. Frau Marie C., Fall II meiner Publi¬ 
kation über Ganser ’sche Dämmerzustände **), Tag¬ 
löhnersfrau, die auf unvorsichtige Art um 800 Frk. 
kam .und deren Mann, als er es später erfuhr, sie 
laut Brief verstossen wollte, worauf sie einen Ganser- 
schen Dämmerzustand bekam, associirte u. a.: 

*) Fall III in meiner Arbeit „Zur Psychologie hysterischer 
Dämmerzustände und des Ganser \chen Symptoms* 1 . Psychiatr. 
neurol. Wochenschrift, August 1904. 

*•) 1. c. 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 51. 


5io 


Weiss — ist der Schnee, (2,2 Sec.) und 
weisse Kleider, weisse Linge (sie lächelt, im nächsten 
Augenblick bricht sie in Thränen aus): „ Leichen - 
k 1 e i d e r fiel mir ein**. 

Sie dachte an Suicid, wenn ihr der Mann nicht 
verzeihe. 

Auffallend ist, was man allerdings aus diesen Bei¬ 
spielen nicht schliessen kann, welche Beziehungen 
sich der pathogene, so gut als möglich abgespaltene 
Complex dienstbar macht. Alle möglichen Reizworte 
w r eiss er auf sich zu beziehen. 

D. Die hysterische (Konversion. 

Breuer und Freud vergleichen die motorischen 
(bei den sensiblen Symptomen, Anästhesien z. B„ 
hinkt der Vergleich), überhaupt körperlichen Symp¬ 
tome der Hysterie mit Erscheinungen, die durch 
„Kurzschluss“ entstehen. Anstatt dass die intracere¬ 
brale Erregung einen Affect, resp. eine stark affect- 
betonte Erinnerung auslöst, entladet sie sich in ein 
körperliches Symptom. Der ursprüngliche Affect hat 
sich nicht in einem normalen, sondern abnormen 
Reflex entladen, und jede Erinnerung, welche sonst 
den Affect wachrufen würde, ruft nur noch den ab¬ 
normen Reflex wach. 

Abnorme Bahnungen, Kurzschlüsse, körperliche 
Symptome können z. B. eintreten, wo ein bestimmter 
Reflex durch somatische Krankheit bereits gebahnt 
ist (organisch bedingte Schmerzen), oder wenn eine 
bestimmte Muskelinnervation (Strecken des Armes 
z. B.) im Moment des Affects willkürlich intendirt 
wurde. 

Es sind dies Determinirungen eines Symptoms 
durch Gleichzeitigkeit. Eines der schönsten 
Beispiele dafür ist das Symptom des Geruchs nach 
verbranntem Mehl bei Miss Lucv R. *) Er existirte 
zufällig im Momente, als die Vorstellung ins Be¬ 
wusstsein kam, die dann verdrängt wurde. Später 
trat er an Stelle dieser verdrängten Vorstellung 
auf, obwohl nicht eine innere, sondern nur eine 
äussere Verbindung durch Coexistenz im Bewusst¬ 
sein diesen Geruch und die verdrängte Vorstellung 
verknüpft. 

Bei unserer Pat., Lina H., haben wir eine Menge 
ähnlicher Beispiele. Die Schmerzen im Ohr existirten 
gleichzeitig, als Pat. zum dritten Mal gebar. Ihre 
graue Jacke weckt aber nicht die Erinnerung an jene 
Geburt, sondern die Vorstellung des Ohrenschmerzes 
wird wach. 

Eine andere ist die Determinirung durch Sym¬ 
bolik, Wortspiele und Klangassociationen. 

♦) Studien zur Hysterie. 


Z. B. ist Erbrechen das Symbol des Ekels, 
seine Genese und sein Verschwinden begründen diese 
Auffassung. Dem Bewusstsein gegenüber aber ist 
das Erbrechen nicht eindeutig. Die bewusste Per¬ 
sönlichkeit erklärt es darum gewöhnlich anders, aus 
einem Magenübel z. B. Das Gleiche lässt sich von 
der Abasie sagen. 

Leider wissen wir nicht genau, was für Anschau¬ 
ungen Freud*) jetzt über die Conversionstheorie 
hat Es scheint mir aber nach den Mitlheilungen 
in Löwenfeld **), dass sie jetzt weniger anatomisch 
sind. 

Ich möchte versuchen, die körperlichen 
Symptome der Hysterie andern, allgemei¬ 
nem Erscheinungen unterzuordnen und 
den Begriff der Conversion im Sinne eines 
abnormen Reflexes, einer Umwandlung psychi¬ 
scher Erregung in körperliche, zu umgehen, um 
ihn durch einen associativen zu ersetzen. 

Einmal ist schwer zu erklären, warum die con- 
vertiite Erregung immer wieder eintreten muss, wenn 
die ursprüngliche traumatische Affektvorstellung ge¬ 
weckt wird. Warum hat das Convertiren nicht den 
gleichen Effect wie das Abreagiren, wenn doch ein¬ 
mal die Entladung als Conversionssymptom erfolgt ist? 

Dann aber ist durch das Abreagiren keineswegs 
der Widerstand völlig beseitigt, der auf den nun ins 
Bewusstsein gezogenen traumatischen Vorstellungen 
lag. Unsere Associationsversuche bei Normalen und 
Hysterischen lehren, dass unter der Form von ver¬ 
längerten Reactionszeiten (= Widerständen) trauma¬ 
tische Vorstellungen auch nach wirken, die wirklich 
abreagirt sind. Diese Widerstände können sich viel¬ 
leicht verkleinern, abstumpfen, aber keine unange¬ 
nehme Erinnerung kann vollständig vergessen 
werden; sie macht sich z. B. im Associations¬ 
versuch durch verschiedene Zeichen in der Reac- 
tion bemerklich. Auch abreagirte unangenehme 
Erinnerungen behalten meist noch ihren peinlichen 
Gefühlston. 

Ich möchte die ,,traumatischen Complexe“ 
d. h. diejenigen unlüstvollen Erinnerungen, die kör¬ 
perliche Symptome auslösen, mit diesen Symptomen 
zusammen als a utom atische Complexe auffassen, 
die vom Bewusstsein wegen ihrer Inkomptaibilität 
mit dem Bewusstseinsinhalt sich abspalten und die 
aus der Vorstellung sarnmt Affect bestehen (also 
ohne Conversion der intrapsychischen Erregung). 

*) Breuer uud Freud: Studien p. 90. 

*•) Löwenfeld: Die psychischen Zwangserscheinungen. 
Leipzig uud Wien 1904. pag. 545 ff. 


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1905.J 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Werden sie wieder erregt, so ragt ein mehr oder 
weniger grosser Theil dieses abgespaltenen Complexes, 
das Freud’sche Retentionsphänomen, ins Bewusst¬ 
sein hinein, und wird dort nicht als Antheil des 
betr. Complexes, sondern als etwas Selbständiges 
empfanden, für dessen Auftreten plausible Gründe 
im Oberbewusstsein gesucht und gefunden werden. 
(Oberbewusste Erklärungen. Falsche Verknüpfungen.)*) 
Das beweist nicht, dass nicht auch der abgespal¬ 
tene Theil des als Automatismus ins Bewusstsein 
einbrechenden Complexes erregt wird. 

Z. B. hatte eine hysterische Pat., welche ich 

*) Die sekundären Erklärungen automatischer Phänomene 
bei Dem. praecox sind wahrscheinlich ein Analogon. 


5*1 


sammt ihrer Leidensgeschichte bei einem befreun¬ 
deten Director eines Nervensanatoriums kennen 
lernte, Kältegefühle von bestimmter Form und Aus¬ 
dehnungsart an den Beinen. Die empfundene Kälte 
war keineswegs intensiv, und doch brachten diese 
Gefühle die Pat. zu Suiridgedanken; letztere sind 
motivirt, wenn man die hysterische Genese des 
Kältegefühls einigermaassen kennt und somit weiss, 
was für ein verdrängter Vorstellungskomplex im Spiele 
ist. Die Suicidgedanken werden begreiflich, wenn 
die Kältegefühle, die-sich auf die bei einer gynäkolog. 
Untersuchung entblössten Körpergebiete beschränken, 
mit sexueller Erkaltung in der Ehe, Kinderlosigkeit 
und ähnl. Zusammenhängen. (Schluss folgt.) 




Der Fall Otto Weininger. 

Eine principielle Untersuchung. 


D ie jüngere Vergangenheit hat uns mit einer neuen 
Gattung kritischer Arbeiten beschenkt: dem all¬ 
gemeinverständlich gehaltenen psychiatrischen Gut¬ 
achten über hervorragende Persönlichkeiten der Lite¬ 
ratur. Die unmittelbare Veranlassung für die Wahl 
gerade dieses Objectes mochte der Umstand abge¬ 
geben haben, dass in den Arbeiten eines Schrift¬ 
stellers das symptomatische Material für die psychia¬ 
trische Untersuchung gewissermaassen öffentlich bereit 
liegt; der tiefere Grund dafür, dass diese Untersuch¬ 
ungen überhaupt in die Erscheinung traten, liegt 
jedenfalls in dem Bestreben, weiteren Kreisen eine 
wenigstens ungefähre Einsicht in das Wesen geistiger 
Erkrankung oder Abnormität zu vermitteln Und 
dieses Bestreben selbst dient wieder einem allgemein¬ 
eren Bedürfniss unserer Tage: dem Bedürfniss, der 
Psychologie beim Erklimmen derjenigen dominirenden 
Stellung behilflich zu sein, die sie als exacte Basis 
unserer Allgemeinbildung — als solche gilt sie heute 
— zu beanspruchen hat, aber noch lange nicht ein¬ 
nimmt Von der pathologischen Seite aus hofft man 
mit Recht, das Verständniss auch für die normale 
psychische Function anzubahnen. 

Möbius war der erste, der in grösserem Um¬ 
fang derartige Untersuchungen in populärer Form 
unternahm. Wir verdanken ihm eine Anzahl fein¬ 
sinniger Analysen einer Reihe von bedeutenden Per¬ 
sönlichkeiten. Und es ist ein Verdienst von ihm, 
sich dieser Aufgabe mit derjenigen Delikatesse ent¬ 
ledigt zu haben, welche die Pietät gegen jene Säulen 
der Vergangenheit zu verlangen berechtigt war. Neben 

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jenem formalen Vorzug — des litterarischen Tactes 
— ist ihm ein zweiter wesentlicherer nachzurühmen: 
er hat sich nie verleiten lassen, eine Grenzlinie ob- 
jectiv-materiellen Charakters zu überschreiten, die 
jeder derartigen Discussion gezogen ist. 

Das psychiatrische Gutachten kann nichts 
anderes sein wollen als ein Anhang zur 
Biographie. Als solcher kann es insofern von 
hervorragendem Interesse sein, als jede Nachricht 
von Belang über einen Autor im Stande ist, einen 
Lichtstrahl auf seine Production zu werfen. Es kann 
über bisher vielleicht unverständliche Eigentümlich¬ 
keiten des Denkmodus Klarheit verbreiten, die patholo¬ 
gische Wurzel sonderbarer, verworrener oder überstie¬ 
gener Behauptungen aufdecken, für den Ausbruch un¬ 
begreiflicher Affecte die Erklärung finden und so die 
Geschlossenheit des Charakterbildes gerade an den 
Stellen retten, wo sie verloren zu gehen drohte. 

Hier aber ist der kritische Punkt, wo es füi den 
Psychiater gilt, einer naheliegenden Verführung aus¬ 
zuweichen: nachdem er fj zum guten Theil durch 
kritische Betrachtung des litterarischen Nachlasses, 
Einsicht in den pathologischen Zustand des Autors 
gewonnen hat, darf er nie und nimmer auf jene 
Litteralien zurückschliessend ein Werthurtheil über 
sie abgeben. Das ist schon logisch unzulässig; man 
darf nicht am Schluss einer Beweisführung das Ge¬ 
wicht seiner Beweismittel alteriren. Man könnte 
sonst in einen Kreisprocess gerathen, aus dem es 
kein Entrinnen giebt. Der schriftlich niedergelegte 
Gedanke lebt sein eigenes Leben; er hat sich vor 

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512 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 51 . 


aller Welt aus eigener Kraft zu verantworten; er 
steht ausser allem Zusammenhang mit seinem Er¬ 
zeuger und seine Abkunft kann ihn weder heben 
noch verkleinern. Das ist das Grundgesetz aller 
Kritik; auch der kritisirende Psychiater kann sich 
seiner Macht nicht entwinden. Ueberhaupt kann 
die Kritik des Psychiaters ihrem Object immer nur 
mit den Waffen zu Leibe gehen, die ihm adäquat 
sind; handelt es sich um Philosophie, so kann man 
ihr bloss mit philosophischen Argumenten beikommen, 
einer Dichtung bloss mit ästhetischen. Dann wird 
aber der Psychiater nur da Gelegenheit zu Bean¬ 
standungen finden, wo sie die besonnene Fachkritik 
auch schon fand; womit gesagt sein will, dass 
der Psychiater hier überhaupt nichts Neues produ- 
ciren kann; dass vielmehr seine ganze Thätigkeit 
in der Subsumirung bekannten kritischen Materials 
unter neue Gesichtspunkte aufgeht. Und sofeme 
er mit seinen Gesichtspunkten immer nur von dem 
Werk weg nach dem Autor hinüber reflectirt, also 
subjectivirend verfährt, kann er auch mit diesen Ge¬ 
sichtspunkten nichts Neues an objectiver Kritik ge¬ 
winnen. 

Vor Kurzem ist ein actueller Fall, der Fall „Otto 
Weininger“, der psychiatrischen Untersuchung unter¬ 
worfen worden.*) Misst man die Behandlung des 
Falles an den im Vorstehenden aufgestellten Nonnen, 
so zeigt sich, dass der Verfasser die Grenzen seines 
Machtbereichs nicht erkannt, vielmehr ohne Scrupel 
überschritten hat. Sonst würde er nicht glauben, 
den Philosophen durch sein psychiatrisches 
Urtheil gerichtet zu haben, würde er nicht dem 
„Blitzeschleuderer“ den „Geisteskranken“ gegenüber¬ 
stellen. Ein Psychiater kann unmöglich bestreiten 
wollen, dass ein Geisteskranker Blitze schleudern 
könne; es ist verkehrt, gegen die Aeusserungen 
eines Geisteskranken wegen seiner Krankheit vorein¬ 
genommen zu sein. Hier ist also unbesonnener 
Weise der Rückschluss aus der Diagnose auf den 
Werth der Gedanken gezogen worden. Dieselbe 
Confundirung ist daran schuld, dass von „pathologi¬ 
schen Schlussfolgerungen“ gesprochen wird. Es giebt 
keine pathologischen Schlüsse, sondern nur richtige 
und falsche; allerdings kann ein falscher Schluss auf 
einen pathologischen Zustand des Autors schliessen 
lassen. 

Dieser Schrift kann also der Vorwurf der Unklar¬ 
heit über Zweck, Ziel und Grenzen des psychiatrischen 


•) Der Fall Otto Weininger. Eine psychiatrische 
Studie von Dr. Ferd. Probst. Heft XXXI der „Grenzfragen 
des Nerven- und Seelenlebens.“ 


Vorwurfs nicht erspart bleiben, weil sie aus ihrem 
diagnostisch positiven Resultat falsche Schlüsse zieht 
Es muss aber noch eine zweite, gegen primitivere 
Forderungen der Gerechtigkeit verstossende Versün¬ 
digung aufgedeckt werden. Die Arbeiten Weininger’s 
werden nicht erst nach dem Urtheilsspruch executirt, 
sondern schon vorher. Die ganze Exploration hat 
nicht den Charakter einer objectiven Untersuchung 
seitens eines exacten Fachmannes, sondern den einer 
erbitterten Polemik seitens eines Gegners. Von allem 
Anfang an macht der Verfasser Stimmung gegen 
Weininger; indem er seine „Lehre“ in Anführungs¬ 
zeichen setzt; indem er sein übertriebenes Selbstge¬ 
fühl nie erwähnen kann, ohne es mit feindseligen 
Beiworten zu belegen, obwohl doch gerade hier dem 
Psychiater, der wohl vor einem Symptom der Krank¬ 
heit stand, Objeetivität geziemt hätte; indem er sich 
über Weininger’s Logik lustig und traurig macht, 
anstatt unter Vermeidung jeden Affectes den Mangel 
an logischer Schärfe bei hoher Stufe der Intellec- 
tualität exact zu verwerthen; indem er in seinem Aus¬ 
zug nur Stellen citirt, die er mit Ausrufzeichen ver¬ 
sehen kann, so dass man die Auslassungen eines 
frechen Schwachkopfes zu vernehmen glaubt und am 
Schluss erstaunt ist, wenn Weininger ein Zug von 
Genialität zugestanden wird. Dass diese Animosität 
mitunter auch Gedanken auf den Index, setzt, die 
richtig oder mindestens sehr gut discutabel sind, wie 
den von der „logical insanity“ des Weibes oder den 
vom unkeuschen Anpacken der Dinge durch die 
Juden, sei nebenbei bemerkt. Man hat im ganzen 
den Eindruck, dass die Philosophie Weininger’s vor¬ 
her mit allen Mitteln schlecht gemacht werden musste, 
vielleicht weil die kurze psychiatrische Discussion sich 
nachher kaum mit einem Worte auf die breite litte- 
rarische Darlegung bezieht, vielmehr merkwürdiger¬ 
weise ausdrücklich constatirt, dass „Verstand und 
Gedächtniss niemals Störungen zeigten“. 

Der Grund aber, warum das kritische Resultat 
so ganz negativ ausfallen musste, leuchtet von anderer 
Seite her ein. Die resignirte Erklärung wird mehr¬ 
fach wiederholt, dass die Arbeit „lediglich Wider¬ 
spruch und heftigen Vorwurf erfahren werde“. Das 
sollte allerdings bei einer Auseinandersetzung, die 
lediglich einer objectiven Feststellung dienen will, 
keine Rolle spielen. Wenn es trotzdem nachdrück¬ 
lich betont wird, so ist damit gesagt, dass die ob- 
jective Feststellung in der That gar nicht der Zweck 
war, sondern im stillen, vielleicht nur. halb bewusst, 
beabsichtigt wurde, eine bestimmte Wirkung auszu¬ 
üben nämlich der — vermeintlichen oder wirklichen 
— Gefahr, welche die Weininger’schen Ideen in sich 


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£ 9°5] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


5*3 


bargen, zu begegnen. Die Vermuthung, dass dieser lassen, so war der psychopathologische Maassstab 

Zweck nicht erreicht werden würde, inspirirte jene erst recht ungeeignet, zur Vergleichung einer Philo- 

resignirte Erklärung. Die psychiatrische Discussion sophie mit irgend welchen anderen von wem immer 

zu diesem Dienst zu zwingen, war aber ein höchst sanctionirten geistigen Werten und damit zur Dis¬ 
unglückliches Unterfangen: war es schon ein unum- qualification Weininger’s zu dienen, 

gängliches Gebot der Objectivität, den absoluten Otto Volck. 

Werth der Gedanken Weininger’s unangetastet zu 


M l t t h e 1 

— Berlin. Beihilfe bei Entweichung gemein¬ 
gefährlicher Geisteskranker. Der jetzige Heilge¬ 
hilfe Robert Bleckerts, der kürzlich wegen Gefangenen¬ 
befreiung vor der Strafkammer des Landgerichts II 
zur Verantwortung gezogen wurde, war früher Offizier 
der Heilsarmee und versah eine Zeitlang das Amt 
eines Hilfswärters in der Irrenanstalt Herzberge. Als 
solcher hatte er auch die Obhut über den dort we¬ 
gen Geisteskrankheit intemirten Kaufmann Kirsch, 
der im öffentlichen Sicherheitsinteresse von der Polizei 
der Irrenanstalt überwiesen worden war. Dieser 
wollte gern aus der Anstalt heraus uud wusste das 
Herz des Angeklagten dermaassen zu rühren, dass er 
schliesslich sein Ziel erreichte. Er verstand es, dem 
Angeklagten klar zu machen, dass er absolut nicht 
geisteskrank, sondern nur das Opfer schlechter Men¬ 
schen geworden sei, die ihn in eigensüchtigem In¬ 
teresse unschädlich machen wollten und deshalb in 
die Irrenanstalt gesperrt hätten. Er wusste seine 
Leidensgeschichte so glaubhaft zu gestalten, dass der 
Angeklagte schliesslich tiefes Mitleid mit dem Armen 
empfand und dessen immer wiederholte Bitte um 
Befreiung Gehör gab. Eines Tages Hess der Ange¬ 
klagte einen grossen Reisekorb in die Anstalt bringen, 
den er angeblich dazu verwenden wollte, um ihm 
gehörige Kleidungsstücke und andere Sachen wegzu¬ 
befördern. I n Wirklichkeit kroch aber Kirsch 
in den Korb und liess sic h als Gepäckstück 
aus der Anstalt hinausfahren (!). Er harrte auch in 
dem etwas unbequemen Raume so lange aus, bis der 
Korb an seinem Bestimmungsort, einem Hause der 
Frankfurter Chaussee, angelangt war. Vor dem 
Schöffengericht hatte sich herausgestellt, dass der An¬ 
geklagte sich bei seiner thörichten Handlung keines¬ 
wegs von eigensüchtigen Motiven, sondern lediglich 
von seinem Mitgefühl für einen Unglücklichen, dessen 
Worten er geglaubt, hatte leiten lassen. Das Schöffen¬ 
gericht hielt daher eine Strafe von 3 Tagen Ge- 
fängniss für eine ausreichende Sühne. Hiergegen legte 
der Staatsanwalt Berufung ein, indem er das Vorgehen 
des Angeklagten für um so strafwürdiger erachtete, 
als diesem der Kirsch als gemeingefährlich geistes¬ 
krank zu ganz besonderer Obhut übergeben worden 
sei. Dies bestritt der Angeklagte entschieden und 
behauptete, dass ihm von einer Gemeingefährlichkeit 
des Geisteskranken, der nach seiner Behauptung in¬ 
zwischen als geistesgesund erklärt worden sei, nichts 
mitgetheilt worden sei. Der Gerichtshof hielt eine 

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1 u n g e n. 

weitere Aufklärung nach dieser Richtung hin für noth- 
wendig und vertagte deshalb die Verhandlung. (Nach 
Berliner Zeitungen). 

— Jena. Die letzte Sitzung der staatswissenschaft¬ 
lichen Gesellschaft befasste sich mit dem Thema der 
Vorsorge für di ekrimine 11 enMinderjährigen. 
Professor Dr. Binswanger, Direktor der psychiatrischen 
Klinik, stellte folgende sieben Thesen auf: 

I. Heraufsetzung des bedingt strafmündigen 
Alters auf 14 Jahre. 2 . Der § 56 ist im Sinne des 
schweizerischen Entwurfs zu ergänzen: Bei Ange¬ 
schuldigten zwischen 15 und 18 Jahren muss die 
nothwendige sittliche und geistige Reife erlangt sein, 
um sie für ihre Handlungen strafrechtlich verantwort¬ 
lich zu machen. 3. Jeder Bestrafung soll eine er- 
ziehungs- und vormundschaftsamtliche Behandlung 
des Falles vorausgehen; die straffälligen, bedingt 
strafmündigen Personen sollen von dieser Behörde 
beurtheilt und je nach dem Befunde dem Strafrichter 
oder der Zwangserziehung überwiesen werden. 4. Der 
Strafvollzug hat bei den Jugendlichen in besonderen 
Anstalten zu geschehen, in welchen der Zweck der 
Erziehung und Besserung der Sträflinge in erster 
Linie steht. Alle kurzen Freiheitsstrafen, Haft und 
Gefängniss sind als zwecklos zu verwerfen. 5. Die 
einzige verlässliche, vorbeugende Maassregel gegen die 
auffällige Vermehrung krimineller Minderjähriger ist 
die Fürsorge nicht nur für die sittlich verwahrlosten, 
sondern auch für die sittlich gefährdeten Kinder 
durch den weiteren Ausbau der Fürsorgeerziehung. 
Es gilt dies nicht nur für die materiell, sondern auch 
für die moralisch verlassenen Minderjährigen. 6. Die 
Strafverfolgung eines in Zwangserziehung befindlichen 
kriminellen Jugendlichen ist nur nach Einholung eines 
Gutachtens der Anstaltsleitung und ihrer Einwilli¬ 
gung zulässig. Die Zwangserziehung kann unter 
gleichen Voraussetzungen bei verurtheilten Jugendlichen 
durch die Strafhaft ersetzt werden. 7. Handelt es 
sich um sittlich gefährdete oder verwahrloste Kinder, 
bei welchen Erziehungsversuche sowohl in intellectu- 
eller als moralischer Beziehung aussergewöhnlichen 
Schwierigkeiten begegnen, so hat die Anstaltsleitung 
eine fachärztliche Untersuchung und Beobachtung 
dieser Insassen in die Wege zu leiten. In^gleicher 
Weise muss schon in der Voruntersuchung, falls es 
sich um die strafrechtliche Beurtheilung eines bedingt 
strafmündigenjugendlichen handelt, ein s a chverständiger 
Arzt hinzugezogen werden, sobald d a s Vorhanden- 


Original frnm 

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5*4 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 51. 


sein einer krankhaften geistigen Minderwerthigkeit einer¬ 
seits durch die Art der Straf handl ungen, andererseits 
durch den Entwicklungsgang und das Verhalten des 
Angeschuldigten wahrscheinlich gemacht wird. 

In der Diskussion wurde das Beispiel anerkannt, 
das die Stadt Frankfurt a. M. in der Fürsorgeerzie¬ 
hung gegeben hat, und gewünscht, dass sich die Kom¬ 
munalbehörden grösserer Städte anschliessen, so lange 
der Staat eine abwartende Haltung einnimmt. 
(National-Zeitung.) 

— M arburg. Der Direktor der hiesigen Irrenheil¬ 
anstalt, Medizinalrath Professor Tuczek, machte kürz¬ 
lich nach einem von ihm gehaltenen Vortrag über 
moderne Fürsorge für Geisteskranke die Mitteilung, 
dass im hiesigen Regierungsbezirk die Gründung 
eines Vereins für entlassene Geisteskranke im Werke 
ist. 

— Brandenburgischer Provinziallandtag. 

Auf den Antrag des Landesdirektors Frhrn. von 
Manteuffel wählte der Landtag den ersten Oberarzt 
und stellvertretenden Direktor der Landesirrenanstalt 
zu Neu-Ruppin Dr. med. Knörre zum Direktor der 
neu zu erbauenden Landesirrenanstalt zu Teu p i tz mit 
der Maassgabe, dass er vom 1. April 1907 ab Direktor 
ist, die Funktionen des Direktors aber schon vom 
1. April 1905 ab ausüben soll, damit er den Bau der 
Anstalt vom Standpunkt des Irrenarztes aus 
überwachen kann. 

— Die französischen Irrenärzte über Luise 
von Koburg. (vrgl. Seite 257). Soviel über das Er- 
gebniss der Begutachtung der Prinzessin Luise von 
Koburg seitens der französischen Irrenärzte (Gar¬ 
nier und Magnan) bisher in die Öffentlichkeit ge¬ 
drungen ist, sollen die beiden Aerzte übereinstim¬ 
mend zu dem Schlüsse gekommen sein, dass Luise 
von Koburg nicht so gestört sei, dass sich eine fer¬ 
nere Einschliessung in einer Anstalt rechtfertigen 
Hesse; eine solche Maassnahme wäre vielmehr unge¬ 
recht und unzweckmässig und vor allem durch die 
Verhältnisse keineswegs geboten. (??) Dagegen erkann¬ 
ten die Herren ohne weiteres an, dass sie es mit 
einer nicht mehr normalen, sondern „erblich stark 
belasteten“, exzentrischen, capriziösen und extrava¬ 
ganten Person zu thun hatten. 

— Entscheidungen des deutschen Bundesamts 
für das Heimathswesen. (Fortsetzung s. S. 499). 

Im Namen des Königs! 

In der Verwaltungsstteitsache 
der Stadtgemeinde Breslau, vertreten durch den 
dortigen Magistrat, Klägerin 
wider 

den Königlichen Regierungspräsidenten zu Breslau, 
Beklagten, 

hat das Königliche Oberverwaltungsgericht, Erster 
Senat in seiner Sitzung vom 29. April 1904, 

an welcher der Präsident Peters und die Ober- 
verwaltungsgerichtsräthe: v. Templhoff, Genzmer, 
Dr. Scholz und Lohsec theilgenommen haben, 
für Recht erkannt, 

dass die Klage gegen die Xwangsetatisiiungs- 
verfügung des beklagten Königlichen Regierungs- 

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Präsidenten vom 28. September 1903 abzuweisen 
und die Kosten, unter Festsetzung der Wertbe 
des Streitgegenstandes auf 275,95 Mk., der 
Klägerin zur Last zu legen. 

Von Rechts wegen. 

Gründe. 

Der zu Breslau geborene und dort wohnhafte An¬ 
streicher Otto Brieger ist während der Verbüssung 
eine? gegen ihn verhängten Zuchthausstrafe in Geistes¬ 
krankheit verfallen, zunächst in die Irrenanstalt zu 
Dalldorf, dann in die zu Plagwitz gebracht worden 
und aus der letzteren am 5. Mai 1899 als „gebessert“ 
aber „noch nicht haftfähig und geistesgesund“ nach 
Breslau entlassen worden. Dort wurde er wieder¬ 
holt wegen Diebstahls verhaftet, die Strafverfolgung 
aber stets nach kurzer Zeit wieder eingestellt, weil 
die Fortdauer der Geisteskrankheit durch gerichts¬ 
ärztliches Gutachten festgestellt wurde. Insbesondere 
wurde Brieger am n. September 1902 bei einem in 
Breslau verübten Diebstahle betroffen und in das 
dortige Untersuchungsgefängniss eingeliefert. Nach¬ 
dem er am 3. und 10. Oktober 1902 vom Gerichts¬ 
arzt untersucht worden war, und dieser sich für die 
Fortdauer der Geisteskrankheit, aber auch der Ge¬ 
meingefährlichkeit ausgesprochen hatte, verfügte der 
Staatsanwalt bei dem Königlichen Landgericht in 
Breslau am 10. Oktober 1902 die Einstellung des 
Strafverfahrens und beantragte bei dem dortigen 
Amtsgericht die Aufhebung des am 15. des vorher¬ 
gegangenen Monats erlassenen Haftbefehls. Den am 
11. Oktober 1902 gefassten Aufhebungsbeschluss über* 
sandte er am selben Tage der Inspection des Unter¬ 
suchungsgefängnisses mit dem Ersuchen, Otto Brieger 
dem Königlichen Polizeipräsidenten zu Breslau zuzu¬ 
führen. Den Polizeipräsidenten selbst ersuchte er, 
Otto Brieger, den er als gemeingefährlichen Geistes¬ 
kranken bezeichnte, in einer Irrenanstalt unterzu¬ 
bringen und aus dieser nicht ohne vorgängige Ver¬ 
ständigung mit ihm zu entlassen, theilte auch dabei 
mit, dass er die Entmündigung Briegers herbeizu¬ 
führen beabsichtige. Der Polizeipräsident hörte hier¬ 
auf zunächst den Kreisarzt und ordnete, als auch 
dieser sich dafür aussprach, dass Brieger fortdauernd 
geisteskrank und gemeingefährlich sei, am 12. Oktober 
1002 dessen Zuführung an die Direktion des König¬ 
lichen Strafgefängnisses zu Breslau zum Zwecke seiner 
Aufnahme in die damit verbundene Irrenabtheilung 
an, die durch Erlass des Ministers des Innern zur 
vorläufigen Aufnahme polizeilich unterzubringender 
Geisteskranker bestimmt war. Gleichzeitig benachrich¬ 
tigte er den Magistrat zu Breslau von der getroffenen 
Maassregel und ersuchte ihn, entweder den Geistes¬ 
kranken in eigene Fürsorge zu übernehmen und in 
einer geeigneten Anstalt unterzubringen oder doch 
die Pflicht zur Tragung der bisher erwachsenen und 
künftig noch etwa erwachsenden Kosten anzuerkennen, 
wobei er begründend bemerkte, dass nach seiner 
Ansicht ein Fall der öffentlichen Armenpflege vor¬ 
liege, dass aber auch dann, wenn die Unterbringung 
des Kranken als eine im sicherheitspolizeilichen Inter¬ 
esse erfolgte Maassregel anzusehen sei, dennoch ihre 

Original from 

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*9°5-D 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


515 


Kosten von der Stadtgemeinde zu tragen seien. Die 
städtische Armendirektion lehnte jedoch das Er¬ 
suchen ab. Weitere Versuche des Polizeipräsidenten, 
die Aufnahme Otto Briegers in eine der Provinzial¬ 
irrenanstalten zu erreichen, scheiterten, er wurde des¬ 
halb in der Irrenabtheilung des Strafgefängnisses bis 
zum 2. Februar 1903 belassen, und an diesem Tage 
auf Anordnung des Polizeipräsidenten entlassen, nach¬ 
dem sich der ärztliche Leiter der Irrenabtheilung da¬ 
hin geäussert hatte, dass eine psychische Besserung 
eingetreten sei und ärztliche Bedenken der Ent¬ 
lassung aus der Anstalt nicht mehr entgegenständen. 
Wegen Erstattung der durch seinen Aufenthalt in der 
Irrenabtheilung erwachsenen Kosten' nahm der Polizei¬ 
präsident die Stadtgemeinde in Anspruch und wandte 
sich, da die städtischen Behörden die Zahlung 
weigerten, an den Königlichen Regierungspräsidenten 
zu Breslau. Dieser stellte durch Verfügung vom 30. 
Juli 1903 die Pflicht zur Erstattung der streitigen 
Kosten mit 275,95 M. an die Kasse der Königl. 
Polizeiverwaltung zu Breslau als eine der dortigen 
Stadtgemeinde gesetzlich obliegende Leistung unter 
Bezugnahme auf § 7 des Zuständigkeitsgesetzes vom 
1. August 1883 und § 25 des zur Ausführung des 
Reichsgesetzes über den Unterstützungswohnsitz er¬ 
lassenen Landesgesetzes vom 8. März 1871 fest und 
führte begründend aus, dass die streitigen Kosten 
entweder als Armenpflegekosten oder als mittelbare 
Kosten der örtlichen Polizei Verwaltung anzusehen, in 
einem wie im anderen Falle aber von der in An¬ 
spruch genommenen Stadtgemeinde zu tragen seien. 
Die Stadtgemeinde beharite jedoch bei ihrer Weiger¬ 
ung. Deshalb ordne'.e der Regierungspräsident durch 
Verfügung vom 28. September 1903 auf Grund des 
§ 19 des Zuständigkeitsgesetzes vom 1. August 1883 
an, dass die festgestellte Leistung mit 295,95 M. in 
den Haushaltsvoranschlag des laufenden Jahres ein¬ 
zutragen oder als ausserordentliche Ausgabe aufzu¬ 
bringen sei, und begründete die Verfügung durch 
Bezugnahme auf die voraufgegangene Feststellung 
und Wiederholung ihrer Begründung, die er durch 
Ausführungen darüber ergänzte, dass die Unterbringung 
des Geisteskranken nicht lediglich im sicherhcitspoli- 
zeilichen Interesse erfolgt, sondern auch zum Zwecke 
der Fürsorge für ihn selbst erforderlich gewesen sei. 

Gegen diese Verfügung hat die Stadtgemeinde 
Breslau geklagt und ihre Aufhebung beantragt. In 
erster Reihe rügt sie unzureichende Begründung der 
angegriffenen Verfügung. Die getroffene Anord¬ 
nung werde allein auf die §§ 7 und 19 des Zu- 
ständigkeitsgesezes vom 1. August 1883 und § 25 
des zur Ausführung des Reichsgesetzes über den 
Unterstützungswohnsitz erlassenen preussischen Landes¬ 
gesetzes gestützt. Aus diesen Bestiu mungen aber 
folge nur die Aufsichtsbefugniss des beklagten Regier¬ 
ungspräsidenten; ihre Anführung könne also als 
eine sachliche Begründung der gestellten Anforderung 
nicht betrachtet werden. Eine solche sei auch in der 
Feststellung, dass die streitigen Kosten entweder 
mittelbare Kosten der örtlichen Polizeiverwaltung oder 
Kosten der öffentlichen Armenpflege seien, nicht zu 
finden, denn die rechtlichen Folgen seien verschieden, 

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je nachdem der eine oder andere Fall vorliege. 
Handle es sich um Kosten der öffentlichen Armen¬ 
pflege, so richte sich der Erstattungsanspruch gegen 
die Klägerin als Landarmen verband. Handle es sich 
dagegen um mittelbare Kosten der örtlichen Polizei¬ 
verwaltung, so werde die Pflicht der Klägerin aus 
ihrer Eigenschaft als Aufenthaltsgemeinde hergeleitet. 
Im ersteren Falle stehe der Klägerin der Rückgriff 
auf andere Armenverbände zu, im anderen aber 
nicht. Deshalb sei die Angabe, ob die Erstattungs¬ 
pflicht aus dem einen oder dem anderen Rechts¬ 
grunde hergeleitet werde, zur Begründung der an¬ 
gegriffenen Verfügung unbedingt erforderlich. Aus 
dem Fehlen dieser Angabe folge daher die Auf¬ 
hebung der angegriffenen Verfügung wegen dieses 
formalen Mangels gehöriger Begründung. 

In zweiter Reihe stellt die Klägerin in Abrede, 
dass die geforderte Zahlung eine ihr gesetzlich ob¬ 
liegende Leistung darstelle. Sie bestreitet, dass die 
Kosten für Unterbringung des geisteskranken Brieger 
sich als Kosten der öffentlichen Armenpflege dar¬ 
stellen. Im einzelnen führt sie aus, dass Brieger aus 
dem Polizeigewahrsam nicht ohne Zustimmung des 
Staatsanwaltes, und aus der Irrenanstalt nicht ohne 
Zustimmung des Polizeipräsidenten habe entlassen 
werden dürfen, dass auch seine Detention vorwiegend 
wegen seiner verbrecherischen Neigungen erforder¬ 
lich gewesen und in keinem Stadium der Verhand¬ 
lung die Rücksicht auf den Geisteskranken selbst, 
sondern immer nur das öffentliche Interesse maass- 
gebend gewesen sei. Daraus zieht sie den Schluss, 
dass es sich in der ganzen Angelegenheit nicht um 
Fürsorge für einen hilfsbedürftigen Geisteskranken, 
sondern um Verwahrung eines Polizeigefangenen ge¬ 
handelt habe, und demnach die Annahme, dass die 
zu erstattenden Kosten durch einen Akt der öffent¬ 
lichen Armenpflege erwachsen seien, völlig ausge¬ 
schlossen erscheine. 

Die Klägerin sucht ferner darzuthun, dass die 
streitigen Kosten nicht zu den mittelbaren Kosten 
der örtlichen Polizeiverwaltung gehören und bezeichnet 
sie als Kosten der Landespolizei. Die Anordnung 
über die Entlassung Geisteskranker aus der Strafhaft 
und ihre Weiterverpflegung in Irrenanstalten würden 
nicht von den Ortspolizeibehörden, sondern von den 
Landespolizeibehörden, ja sogar von den Zentral¬ 
behörden getroffen. Sie würden auch nicht im Inter¬ 
esse eines örtlichen Theiles des Landes, sondern im 
allgemeinen Interesse des ganzen Landes erlassen; 
denn die Einsperrung eines gemeingefährlichen Geistes¬ 
kranken diene nicht den Interessen des Ortes, in dem 
er zufällig gefangen gehalten werde, sondern der All¬ 
gemeinheit. Mindestens müsse es für ausgeschlossen 
erachtet werden, dass die Staatsverwaltung Kosten, 
die durch Verhaftung von Geisteskranken an andern 
Orten entständen, dadurch zu Kosten der örtlichen 
Polizeiverwaltung der Stadt Breslau mache, dass sie 
die verhafteten Personen nach dem Gefängniss in 
Breslau schaffe und der dortigen Polizeibehörde die 
weitere Fürsorge überlasse. Die Fürsorge für derartige 
Personen gehöre nicht zu den in $ 1 des Gesetzes 
vom 11. März 1850 begrenzten Aufgaben der Orts- 

Original frnm 

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516 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 51 


polizei, sondern liege nach § 13 Nr. 2 der Verord¬ 
nung wegen verbesserter Einrichtung der Provinzial¬ 
behörden vom 30. April 1815 den Regierungen ob. 
In betreff der Ausländer sei dies in einem gleich - 
liegenden Falle durch Erlass des Ministers des Innern 
vom 24. Dezember 1901 anerkannt worden. Für 
den Fall, dass die streitigen Kosten indess zu denen 
der örtlichen Polizeiverwaltung zu rechnen seien, be¬ 
hauptet die Klägerin, dass sie nicht mittelbare 
sondern unmittelbare Polizeikosten seien und beruft 
sich auf die Aufzählung in § 2 des Gesetzes vom 
20. April 1892, in der unter anderem auch Polizei- 
gefängnisskosten aufgeführt sind. 

Der beklagte Königliche Regierungspräsident be¬ 
antragt Abweisung der Klage. Er hält die Begrün¬ 
dung der angegriffenen Verfügung formell für aus¬ 
reichend und sachlich für zutreffend, weil die gesetz¬ 
liche Pflicht zur Erstattung der streitigen Kosten die 
Klägerin sowohl dann treffe, wenn sie Kosten der 
öffentlichen Armenpflege seien, wie dann, wenn sie sich 
als mittelbare Kosten der örtlichen Polizeiverwaltung 
kennzeichneten, und weil seine Zuständigkeit zur Fest¬ 
stellung der streitigen Leistung in einem wie im anderen 
Falle begründet sei. In erster Reihe behauptet er indess, 
dass ein Fall öffentlicher Armenpflege voriiege. Brieger 
sei als mittelloser Geisteskranker der Armenpflege und 
insbesondere der Anstaltspflege bedürftig gewesen. Da 
die Klägerin die Uebemahme der Fürsorge ver¬ 
weigert habe, so habe der Polizeipräsident die 
nöthigen Anstalten von Armenpolizei wegen treffen 
und zu diesem Zwecke die Unterbringung in der 
Irrenabtheilung des Königlichen Strafgefängnisses herbei¬ 
führen müssen, da sich ein anderer Ausweg nicht ge¬ 
boten habe. Wenn auch Brieger sich vor der Zu¬ 
führung an die Polizeibehörde in Untersuchungshaft 
befunden habe, so sei doch die Ueberführung in die 
Irrenabtheilung des Strafgefängnisses in seinem eigenen 
Interesse erfolgt, da bei ihm, wie bei jedem ähn¬ 
lichen Geisteskranken, auch Angriffe auf seine eigene 
Gesundheit zu erwarten gewesen und er vor der Be¬ 
gehung von Strafthaten habe gehütet werden müssen. 
Deshalb kennzeichnet sich seine Unterbringung in 
der Irrenanstalt als eine Maassregel der öffentlichen, 
ausserordentlichen Armenpflege. Daran ändere auch 
nichts, dass die Maassregel wegen seiner Gemein¬ 
gefährlichkeit auch dem öffentlichen Interesse diene, 
denn dies schliesse die Armenpflege nicht aus. Eine 
entgegengesetzte Auffassung könne auch aus dem von 
der Klägerin angeführten Ministerialerlass vom 15. 
Juni 1901 nicht hcrgeleitet werden. Dieser bestimme 
nichts weiter, als dass den Polizeibehörden vor Ent- 
assu ng gemeingefährlicher Geisteskranker aus öffent¬ 
lichen Irrenanstalten Gelegenheit zur Aeusserung zu 
geben sei, lege ihnen aber nicht die Befugniss zur 
Entscheidung über die Entlassung bei, sondern über¬ 
lasse die Entschliessung, ob die Voraussetzungen für 
eine Fortsetzung der Armenpflege in öffentlichen An¬ 
stalten noch vorliegen, auch bei gemeingefährlichen 
Geisteskranken den verpflichteten Landarmenverbänden. 
Deshalb könne auch daraus, dass bei der Unter¬ 
bringung des Brieger Rücksichten auf die öffentliche 
Sicherheit mitbestimmend gewesen seien, nicht ge- 

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folgert werden, dass die Kosten seiner Unterbringung 
nicht als Kosten der öffentlichen Armenpflege anzu- 
sehen seien. 

Selbst wenn aber diese Frage verneint werde, 
so bleibe doch die Pflicht zur Erstattung der streitigen 
Kosten für die Klägerin” bestehen; denn diese seien 
insoweit, als sie nicht Armenpflegekosten seien, zu 
den Polizeikosten zu rechnen, und * zwar nicht zu den 
Kosten der Landespolizeiverwallung, sondern zu den 
mittelbaren Kosten der örtlichen Polizeiverwaltung. 
Mit der Aufhebung des Haftbefehls und der Ein¬ 
stellung des Strafverfahrens sei die Aufgabe der 
Landespolizei beendet und die weitere Fürsorge für 
die Unterbringung des entlassenen Geisteskranken 
auf die Ortspolizeibehörde übergegangen. Diese habe 
die streitigen Kosten zur Herstellung eines polizei- 
mässigen Zustandes verausgabt, der nicht durch ihre 
eigenen Beamten, sondern durch Dritte, nämlich den 
Leiter der Irrenabtheilung des Königlichen Strafgefärig- 
nisses herbeigeführt sei. Derartige Aufwendungen 
seien aber nach der Rechtsprechung des Oberver¬ 
waltungsgerichts als mittelbare Polizeikosten im Sinne 
des Gesetzes vom 20. April 1892 anzusehen und des¬ 
halb von der Klägerin zu tragen. 

Eis war, wie geschehen, zu erkennen. 

Die Rüge, dass die angegriffene Verfügung einer 
ausreichenden Begründung entbehre, war für verfehlt 
zu erachten. Der § 19 des Zuständigkeitsgesetzes 

vom 1. August 1883 schreibt freilich vor, dass der 
Regierungpräsident die Eintragung in den Etat der 
Stadtgemeinde beziehungsweise die Feststellung der 
ausserordentlichen Ausgabe „unter Angabe derGründe' 1 
verfügt. Daraus folgt jedoch nur, dass die Zwangs* 
etatisirungsverfügung nicht jeder Begründung ent¬ 
behren darf, aber nicht, dass eine mangelhafte oder 
unvollständige Begründung die Aufhebung der ge¬ 
troffenen Anordnung nach sich zieht Eis war aber 
auch nicht einmal anzuerkennen, dass die Begründung 
der angegriffenen Verfügung eine nicht schlüssige isL 
Die Vorschrift, dass die Zwangsetatisirungsverfügung 
zu begründen ist, hat nur den Zweck, der in An¬ 
spruch genommenen Stadtgemeinde erkennbar zu 
machen, auf welchen thatsächlichen Voraussetzungen 
und rechtlichen Erwägungen die gestellte Anforde¬ 
rung beruht und ihr die Möglichkeit zur Begründung 
eines Angriffs gegen die Grundlage der Zwangs- 
etatisirung zu gewähren. Diesem Zwecke genügt die 
Feststellung,' dass die streitigen Kosten der Klägerin 
gesetzlich obliegen, weil soviel unzweifelhaft sei, dass 
sie entweder Armenpflegekosten oder mittelbare 
Kosten der örtlichen Polizei Verwaltung seien, voll¬ 
kommen. Stellt die Erstaltungspflicht in dem einen 
wie in dem anderen Falle eine der Klägerin gesetz¬ 
lich obliegende Leistung dar, und ist in beiden die 
Zuständigkeit des beklagten Regierungspräsidenten zur 
Feststellung begründet, wie dieser annimmt, so ist es 
unerheblich, welcher von beiden Fällen vorliegt, also 
auch eine Angabe hierüber zur Begründung der 
Zwangsetatisirung nicht erforderlich. Wenn die 
Klägerin ausführt, dass die Kosten der ausserordent¬ 
lichen Armenpflege den Landarmenverband treffen, 
Pohzeikosten aber der Ortsgemeinde zur Last fallen, 

Original fram 

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ioo 5 .] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT, • 


soweit sie nicht vom Staate zu tragen sind, in ersterein 
Falle auch die Möglichkeit eines Rückgriffs gegen 
andere Armenverbände gegeben ist, im anderen aber 
nicht besteht, so ist dies verfehlt, denn unstreitig und 
unzweifelhaft wird der Landarmenverband der Stadt 
Breslau durch den Stadtbezirk allein gebildet (zu 
vergl. v. Brauchitsch, Verwaltungsgesetze Band III, 
Anmerkung zu § 28 des Gesetzes vom 8. März 
«871, Seite 609 und 610, 15. Auflage). Der Land¬ 
armenverband des Stadtkreises Breslau und dieser 
Stadtkreis selbst sind keine von dieser Ortsgemeinde ver¬ 
schiedene Rechtssubjecte. Vielmehr stellen die Worte: 
Landarmenverband, Ortsai men verband, Stadtkreis, Orts¬ 
gemeinde“, w r enn sie auf dieselbe Stadt anzuwenden sind, 
nur zusammenfassende Bezeichnungen für die verschiede¬ 
nen Beziehungen dar, unter denen dasselbe einheitliche 
Rechtssubject „die Stadtgemeinde“ als Träger von 
Rechten und Verbindlichkeiten anzusehen ist. Er¬ 
scheint aber die Verpflichtung dieses einheitlichen 
Rechtssubjects zu der geforderten Leistung sowohl 
dann begründet, wenn die streitigen Kosten Armen¬ 
pflegekosten sind, wie dann, wenn sie sich als mittel¬ 
bare Polizeikosten darstellen, so ist ein Grund, wes¬ 
halb die Feststellung, ob das eine oder das andere 
zutrifft, zur Begründung der angegriffenen Verfügung 
unerlässlich sein sollte, nicht erfindlich. Mögen auch 
die rechtlichen Folgen, die sich an die Erfüllung der 
geforderten Leistung durch die Klägerin knüpfen 
würden, verschiedene sein, je nachdem es sich um 
Armenpflegekosten oder um Polizeikosten handelt, 
so folgt doch daraus nicht, dass die Klägerin den 
Anspruch auf eine Darlegung, ob das eine oder 
das andere zutrifft, gegen den zwangsetatisirenden 
Regierungspräsidenten geltend machen kann, denn 
die Voraussetzung der Zwangsetatisirung ist nur die 
Feststellung ihrer eigenen Leistungspflicht, nicht aber 
die Entscheidungen darüber, in welche Beziehungen 
sie durch die Erfüllung dieser Pflicht zu Dritten 
treten würde. Diese liegt ausserhalb des Rahmens 
der Zwangsetatisirung, ja selbst des zur Anfechtung 
dieses gegebenen Streitverfahrens. Auch in diesem 
bedarf es einer Erörterung jener Frage nur insoweit, 
als von ihrer Beantwortung die Entscheidung, ob 
die geforderte Leistung der Stadtgemeinde gesetzlich 
obliegt und die Zuständigkeit des Regierungs¬ 
präsidenten zu ihrer Feststellung begründet ist, ab¬ 
hängt. Um so weniger konnte daraus, dass die Frage 
der FeststellungsVerfügung und der darauf folgenden 
Zwangsetatisirungsverfügung unentschieden gelassen ist, 
ein formaler Mangel der angegriffenen Verfügung, der 
zu ihrer Aufhebung nöthigte, hergeleitet werden, 
vielmehr war zu prüfen, ob die Anforderung sach¬ 
lich berechtigt und von der hierzu befugten Behörde 
festgestellt ist. 

Bei dieser Prüfung aber war den Ausführungen 
des beklagten Regierungspräsidenten, dass die Unter¬ 
bringung des Geisteskranken Otto Brieger in der 
Irrenabtheilung des Strafgefängnisses sich in erster 
Reihe als ein Akt der Armenpolizei darstelle, dessen 
Kosten von dem zur Fürsorge verpflichteten Armen- 
verbande zu tragen seien, und dass sowohl hieraus die 
Pflicht der Klägerin zur Erstattung der streitigen 

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Kosten, als auch die Zuständigkeit der Aufsichts¬ 
behörde über die Verwaltung der Angelegenheiten 
der Gemeinde und des durch diese gebildeten Armen¬ 
verbandes zu ihrer Fesstellung folge, nicht beizutreten. 
Allerdings gehört die Ausübung der Armenpolizei zu 
den Aufgaben der örtlichen Polizei Verwaltung, allein 
daraus erfolgt nur die Befugniss der Ottspolizei- 
behörde, in dringenden Fällen den zur Fürsorge ver¬ 
pflichteten, aber in ihrer Ausführung säumigen Armen¬ 
verband zur Gewährung der Armenpflege mit polizei¬ 
lichen Zwangsmitteln anzuhalten (zu vergh die Ürtheile 
vom 13, Juni 1876* Oktober Und * 4 - November 
1880 in der Sammlung der Entscheidungen des Öte a 
richtshofs Bd. I S. 337 flg., Band VII S. 129 flg. und 
1 33 flg.). Liegen die Voraussetzungen vor, unter 
denen ein polizeiliches Einschreiten Zütn Zwecke der 
Herbeiführung öffentlicher Armenpflege geboten er¬ 
scheint, ist namentlich die schleunige Unterbringung 
einer geistig Und körperlich erkrankten und zugleich 
armenrechtlich hilfsbedürftig gewordenen Person in 
einer Krankenanstalt in deren eigenem Interesse 
dringend erforderlich, so hät die Polizeibehörd® den 
zur Fürsorge verpflichteten Armen verband durch 
polizeiliche Verfügung zu den erforderlichen Maass¬ 
regeln aufzufordern und deren Ausführung mit den in 
§ 132 des Landesverwaltungsgesetzes vom 30. Juli 
1883 gegebenen Zwangsmitteln durchzusetzen. In 
Anwendung dieser darf sie auch die Unterbringung 
des Hilfsbedürftigen in einer von ihr bestimmten An¬ 
stalt, vorausgesetzt, dass diese will, ausführen, aber 
nur, nachdem sie die Anwendung des Zwangsmittels 
der Ausführung ihrer Anordnung durch einen Dritten 
auf Kosten des verpflichteten Armenverbandes durch 
schriftliche Verfügung zuvor angedroht hat. Ist dies 
geschehen, so können die Kosten der Unterbringung 
des Kranken, gleich anderen Kosten der Ausführung 
polizeilicher, gegen Gemeinden gerichteter Vet** 
fügungen zum Gegenstände einer Zwangsetatisirung 
gemacht werden, aber die Feststellung der Erstattungs¬ 
pflicht hat nicht von der Aufsichtsbehörde über die 
Verwaltung der Angelegenheiten der Gemeinde und 
des durch diese gebildeten Armenverbandes auszu¬ 
gehen, sondern von der Polizeibehörde, die, wie zum 
Erlass der Anordnung und zur Androhung der ZU 
ihrer Durchsetzung dienenden Zwangsmittel, so auch 
zu deren Festsetzung und Ausführung nach §§ 132 
und 133 des Landesverwaltungsgesetzes allein zu¬ 
ständig ist (zu vergl. Urtheil vom 18. Oktober 1901 
in der Sammlung der Entscheidungen des Gerichts¬ 
hofs Band LXI Seite 189 flg.). 

Dagegen war eine Berechtigung der Polizeibehörde 
ohne weiteres und ohne vorgängigen Erlass einer 
gegen den verpflichteten Armenverband gerichteten 
polizeilichen Verfügung die Fürsorge für einen Hilfs¬ 
bedürftigen an Stelle des Armenverbandes zu über¬ 
nehmen, nicht anzuerkennen. Thut sie dies, so tritt 
sie dem Armenverband gegenüber in die Stellung 
eines Dritten, der die Unterstützung eines Hilfsbe¬ 
dürftigen ohne Auftrag des hierzu verpflichteten Orts¬ 
armenverbandes übernommen hat. Daraus können 
für den zur Tragung der Amtsunkosten der Polizei¬ 
behörde Verpflichteten, hier der Staat, Ansprüche auf 

Original frnm 

HARVARD UNIVERSiTY 



[N r. 51 


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518 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Erstattung der aufgewendeten Kosten entstehen, die 
im Rechtswege zu verfolgen sind (zu vergl. v. Brauchitsch, 
Die neuen preussischen Veiwaltungsgesetze Bd. III 
S. 665, Anmerkung 3 zu § 62 des zur Ausführung 
de» Reichsgesetzes über den Unterstützungswohnsitz 
erlassenen preussischen Landesgesetzes vom 8. März 
1871 nebst dem dort angeführten Plenarbeschluss 
des Reichsgerichts vom 27. Juli 1898 in den Ent¬ 
scheidungen dieses Gerichtshofs in Zivilsachen, Band 
XLI S. 267). Daraus folgt aber nicht die Zuständig¬ 
keit des Regierungspräsidenten, die Erstattungspflicht 
in solchen Fällen vorläufig festzustellen, denn diese 
Befugniss der Aufsichtsbehörde ist nur dann anzuer¬ 
kennen, wenn ein öffentliches, von ihr wahrzunehmendes 
Interesse an Erfüllung der streitigen Verbindlichkeit 
vorliegt. Dies ist zwar gegeben, wenn die ordnungs- 
mässige Führung der Gemeindeverwaltung oder der 
örtlichen Polizeiverwaltung die Leistung der Gemeinde 
erfordert, wie dies bei der Erstattung von Kosten der 
Polizeiverwaltung zutrifft, die den Gemeinden zur 
Last fallen, aber nicht schon daraus herzuleiten, dass 
der Staat oder ein anderer öffentlich rechtlicher Ver¬ 
band als Forderungsberechtigter in Fällen auftritt, in 
denen auch ein Dritter den gleichen Anspruch er¬ 
heben und im Rechtswege geltend machen könnte. 
Im vorliegenden Falle hat nun der Königliche Polizei¬ 
präsident zu Breslau zwar den dortigen Magistrat 
am 12. Oktober 1902 von der Aufnahme des Geistes¬ 
kranken Otto Brieger in die mit dem Königlichen Straf- 
gefängniss verbundene Irrenabtheilung benachrichtigt 
und ihn ersucht, die Fürsorge für den Geisteskranken, 
den er für hilfsbedürftig im armenrechtlichen Sinne 
ansehe, selbst zu übernehmen, aber er hat die Ab¬ 
sicht, seine Aufforderung mit dem im § 132 des 
Landes Verwaltungsgesetzes gegebenen Zwangsmittel 
durchzusetzen, keinen Ausdruck gegeben und jeden¬ 
falls eine solche nicht in erkennbarer Form angedroht. 
Vielmehr ergiebt der Zusammenhang der ganzen 
Verfügung, dass ihm eine derartige Androhung völlig 
fern gelegen hat, dass er vielmehr nur die Ueber- 
nahme in eigene Fürsorge als eine im finanziellen 
Interesse der Stadtgemeinde liegende Maassregel hat 
empfehlen wollen, wie namentlich daraus hervorgeht, 
dass das Schreiben vom 12. Oktober 1902 das 
Hauptgewicht auf die Ausführung legt, die Kosten 
der Unterbringung Briegers in einer Irrenanstalt seien 
auch dann, wenn seine Hilfsbedürftigkeit im armen¬ 
rechtlichen Sinne nicht anzuerkennen sei, doch von 
der Stadtgemeinde als mittelbare Kosten der örtlichen 
Polizeiverwaltung zu übernehmen. Danach kann in 
dem Schreiben vom 12. Oktober 1902 nicht eine 
polizeiliche, gegen die Klägerin gerichtete Verfügung, 
welche ihr die Uebernahme der Fürsorge für Otto 
Brieger auferlegt, gefunden werden, sondern nur eine Be¬ 
nachrichtigung, dass die Polizeibehörde diese Fürsorge 
selbstthätig an Stelle der Stadtgemeinde übernommen 
habe und den Anspruch auf Erstattung der er¬ 
wachsenden Kosten seinerzeit gegen die Stadtgemeinde 
geltend machen werde. Wollte man aber auch in 
jenem Schreiben eine polizeiliche Anordnung finden, 
so würde es doch an jeder Androhung eines Zwangs¬ 
mittels fehlen, und deshalb ist es ausgeschlossen, in 

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den späteren Verfügungen des Polizeipräsidenten, mit 
denen er die Stadtgemeinde zur Erstattung der durch 
die Unterbringung Briegers in der Irrenabtheilung er¬ 
wachsenen Kosten mit zusammen 275,95 M. aufge¬ 
fordert hat, die Festsetzung angedrohtef Zwangsmittel 
und damit eine innerhalb der Zuständigkeit der ört¬ 
lichen Polizeibehörde liegende Feststellung der Ersatz¬ 
pflicht der Stadtgemeinde als Ortsarmenverbandes zu 
finden, die der Zwangsetatisirung zur Grundlage dienen 
könnte. Hiernach aber bedarf es keiner Erörterung, 
ob Otto Brieger zur Zeit der Aufnahme in die 
Irrenabtheilung des Königlichen Strafgefängnisses armen¬ 
rechtlich hilfsbedürftig war. Auch wenn dies zu be¬ 
jahen ist, so folgt daraus doch nicht die Zuständigkeit 
des beklagten Regierungpräsidenten zur Feststellung der 
Pflicht des Armen verbandes, die durch seine Unter¬ 
bringung erwachsenen Kosten dem Staate oder der 
staatlichen Polizeibehörde zu erstatten. (Schluss folgt.) 

Referate. 

— Die Entwicklung des menschlichen 
Gehirns während der ersten Monate, Unter¬ 
suchungsergebnisse von Wilhelm H i s. Leipzig, 
Verlag von S. Hirzel, 1904. 

Mit gewohnter Gewissenhaftigkeit hat Verf. in der 
vorliegenden Abhandlung die Entwicklungsge¬ 
schichte des Centralnervensystems bis 
zum Schluss des ersten Monats, die Ent¬ 
wicklung der G e h i r n h e m i s p h ä r e n von 
ihrem frühesten morphologischen Auf¬ 
treten bis zum vierten Monat und die intra- 
medullären Faserbahnen mit besonderer 
Berücksichtigung der Reihenfolge ihrer 
Entwicklung beschrieben. His hat fortlaufende 
Schnittreihen vom Nervensystem von Embryonen an¬ 
gefertigt, hat seine Schnitte photographirt und ver- 
grössert, die Constructionsmethode mit Likisopapier 
und Zirkel zu Hilfe gezogen und durch Anfertigung 
von Glasmodellen körperliche Bilder von inneren 
Gehirnstrukturen erreicht. Alle Resultate sind mit 
grösster Präcision wiedergegeben und durch nicht 
weniger als 115 meisterhafte Abbildungen erläutert: 
die neuesten histologischen Ansichten von Bethe, 
Nissl und Heuser werden berührt. Besonderes Inter¬ 
esse verdient der Abschnitt über die Schichten 
der Hemisphärenwand und deren histo¬ 
logisches Verhalten. Bei einem 8 Wochen 
alten Embryo fand His die Anfänge einer mit Pyra¬ 
miden zellen ausgestatteten Rindenschicht; die 
aus der Matrix stammenden Nervableiter sind hier 
in Umbildung zu Pyramidenzellen begriffen. 

Mit dieser gediegenen Abhandlung hat der ehr¬ 
würdige Forscher Abschied von seinen Schülern und 
Mitarbeitern genommen. Er hoffte seine Studien 
noch erweitern zu können, bald jedoch nach Ver¬ 
öffentlichung des vorliegenden Werkes ist er aus 
einem überaus arbeitsreichen, aber auch an wissen¬ 
schaftlichen Erfolgen reichen Wirken für immer ab¬ 
berufen worden. In der Entwicklungsgeschichte des 
Gehirns wird sein Name stets einen ehrenvollen Klang 
behalten! G. Ilberg. 

Original fr&m 

HARVARD UNIVERSITY 





1 9°5-l 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


— Allgemeine Zeitschrift f. Psychiatrie 
und psych.-gerichtl. Medicin. Bd. 61, H. 3. 

Fuchs- Emmendingen : Ungewöhnlicher Verlauf 
bei „Katatonie“. 

Bei einem erblich nicht belasteten Mann, der 
wahrend der Verbüssung einer Zuchthausstrafe im 
47. Lebensjahre acut einen katatonischen Zustand 
von l /4jähriger Dauer durchmachte, zeigte sich später 
ein gleicher Zustand von 3 Ajähriger Dauer, an dem 
der Kranke zu Grunde ging. Zwischen beiden kata- 
tonen Schüben lag eine paranoische Zeit von über 
10 Jahren, während welcher keinerlei Zeichen von 
Verblödungspsychose erkennbar waren. 

Flügge-Grafenberg: Ueber das Bewahrungshaus 
in Düren. 

Verf. berichtet über die Erfahrungen, welche in 
dem für 48 Kranke eingerichteten Bewahrungshaus 
zu Düren im Zeitraum von fast 3 Jahren gemacht 
worden sind. Nach wenigen Wochen der Ruhe 
traten schwere Zeiten ein, in denen wüstes Zerstören, 
zahlreiche Entweichungen, Ausbruchsversuche und 
Revolten sich in erschreckender Weise häuften; 
Aerzte und Pfleger konnten sich wiederholt nicht 
anders helfen, als dass sie mit der Feuerspritze vor¬ 
gingen. In baulicher Beziehung machten sich um¬ 
fassende Verstärkungen an Gittern, Sicherungen, 
Thüren, Thoren und Fenstern nöthig. Auf Grund 
seiner üblen Erfahrungen spricht sich Verf. dahin 
aus, dass eine jede Anstalt, auch die modernste, 
sich mit widerspenstigen Elementen abfinden müsse, 
und dass nur da die Versetzung in das Bewahrungs¬ 
haus zu beantragen sei, wo nichts mehr zu ver¬ 
derben sei, aber andere schuldlose Kranke verdorben 
würden. 

Näcke-Hubertusburg: Ueber den Werth der 
sogenannten „Kurven-Psychiatrie“. 

Unter Kurvenpsychiatrie versteht Verf. die Ge- 
sammtheit dessen in der Psychiatrie, was sich in 
Zahlen und Kurven ausdrücken lässt und somit den 
höchsten Grad der Exactheit erreicht. Sie steht im 
Gegensatz zu der noch jetzt vielfach üblichen Ein¬ 
drucks-Psychiatrie. Er wünscht nun in Zukunft ver¬ 
mehrte Anwendung der ersteren und erwartet davon 
Gewinn sowohl für die wissenschaftliche, als auch 
für die praktische, nicht am wenigsten die forense 
Psychiatrie, schliesslich auch für die Anstaltsein¬ 
richtungen. 

Wend e-Kreuzburg : Ein Fall von traumatischer 
Psychose. 

Bei einem vorher gesunden 33jährigen Arbeiter 
entwickelte sich im Anschluss an eine Kopfverletzung 
geringfügiger Art eine rein traumatische Seelenstör¬ 
ung. Sie war, abgesehen von einer sich zeitweise 
steigernden psychischen Depression, charakterisirt 
durch eine bedeutende Verlangsamung bczw. Hemm¬ 
ung des Denkprocesses, die zu Ausfallserscheinungen 
im Bereich der Willenssphäre, des Gedächtnisses, der 
Merkfähigkeit u. a. führte. Daneben bestand auch 
zeitweise das Symptom, welches von Ganser als„Vur- 
beireden“ bezeichnet worden ist. 

Fischer- Illenau: Schwangerschaft und Dieb¬ 
stahl. 


519 


Eine 29jährige Landwirthsehefrau beging während 
ihrer 5. Gravidität im Verlauf weniger Stunden Dieb¬ 
stähle, welche sich durch ihre Schwere und Massen- 
haftigkeit auszeichneten. Es Hess sich bei der erblich 
belasteten Frau, welche während der Zeit der 
Schwangerschaften jedes Mal psychische Abnormi¬ 
täten dargeboten hatte, nachweisen, dass bei ihr 
während der Diebstahlshandlungen psychopathische 
Momente mit im Spiele waren, welche als Nach¬ 
wirkung einer affectiven Verstimmung in einem leichten 
Dämmerzustand des Bewusstseins bestanden und 
ihren Handlungen den Charakter des Triebartigen, 
nicht des frei Gewollten verliehen. Beachtenswerth 
war, dass der Tag der That mit einem supponirten 
wirklichen Menstrualtermin zusammenfiel. Sie wurde 
freigesprochen. 

Strohmayer-Jena: Ziele und Wege der Erb¬ 
lichkeitsforschung in der Neuro- und Psychopatho¬ 
logie. 

Die fast allgemein übliche Massenstatistik, welche 
nach dem Grundsatz verfährt: Geisteskrankheit resp. 
Nervenkrankheit in der Blutsverwandtschaft, ergo 
erbliche Belastung, bezeichnet Verf. als eine statistische 
Misswirthschaft, gegen die Front gemacht werden 
muss. Er verlangt für die zukünftige Erblichkeits¬ 
forschung eine auf der Grundlage der Ahnentafel 
basirende Familienforschung, welche die psychischen 
Gesundheitsverhältnisse eines Geschlechts über eine 
Reihe von Generationen hin überschaut. Zur Unter¬ 
suchung geeignet erscheint nur eine leicht überseh¬ 
bare, wenig fluktuirende Bevölkerung einer umschrie¬ 
benen medicinal politischen Einheit (Stadt, Kreis, 
Provinz). Als Quellen sollen benutzt werden die 
Aufnahmelisten der zuständigen Irrenanstalten, die 
Kirchenbücher und die Register der Standesämter; 
die Mitarbeit der Hausärzte ist als unentbehrlich 
nicht zu vergessen. 

Meitzer- Grosshennersdorf: Die staatliche Schwach- 
sinnigenfürsorge im Königreich Sachsen. I. Ihre Ent¬ 
wicklung und Einrichtungen. 

Nach einer kurzen historischen Einleitung giebt 
Verf. ein Bild von den Einrichtungen und dem Be¬ 
trieb der Anstalten Grosshennersdorf (für Knaben) 
und Nossen (für Mädchen). Der Durchschnittsbe¬ 
stand von G. beträgt 250 bei einer jährlichen Auf¬ 
nahmeziffer von 50 Kindern, deijenige von N. 175 
bei einer Aufnahmeziffer von 30. Es werden die 
Aufnahmebedingungen, die Beköstigung, der Tages¬ 
plan, die ärztliche Thätigkeit etc. eingehend geschil¬ 
dert. Zum Schluss berichtet Verf., in welcher Weise 
die Anstalt den Schwachsinnigen auch nach dem 
Austritt aus dem Anstaltsleben Schutz und Unter¬ 
stützung gewährt. Arnemann - Grossschw'eidnitz. 


Bibliographie 

über Kriminal-Anthropologie und Verwandtes. 

III. Quartal 1904. 

Von Medicinalrath Dr. P. Näcke in Hubertusburg. 
(Fortsetzung.) 

Herting: Beiträge für die statistische Kommission. 
(Ignorirung von Gutachten. Entlastung krimineller 
Geisteskranker.) Autoreferat. Ibid. 


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520 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 51. 


Berze: Zur Frage der partiellen Unzurechnungs¬ 
fähigkeit. Monatsschr. f. Kriminalpsvch. etc. 1904, 
Bd. I. 

Palante: Combat pour l’individu. Paris 1904. 

Pasturel: Paralytiques generaux persecutes et dan- 
gereux. Archives de Neurologie 1904, Juin. 

Toulouse et Vurpas: Rapport entre l’intensite 
des reflexes et l’organisation nerveuse. C.-R. 
hebdom. des Seances de l’Academie des Sciences, 
r 9° 4 - 

Fe re: Note sur l’interet de quelques equivalents des 
epileptiques. Revue de Mediane 1904, Juin. 

Reja: La litterature des fous; la prose. Revue de 
Philosophie. 1904, Juin. 

Damaye: L’heredite collaterale, sa valeur et scn 
importance en pathologie. Revue Scicntificjue 
1904, 5^ serie. 

Bonfigli e Giamelli; Importanza medico-legale 
del isterismo, traumatico.in rapporto alle defficienze 
mentali. Giornale de Psich. Clin. etc. 1903, fase. 

Righetti: Contributo allo Studio deH’anencefalia e 
dell’amiela. Rivista di patol. nervosa etc. 1904, 
Giuglio. 

Am ante, Bignami etc. II caso d’Angelo. Rivista 
Sperimentale di Freniatria 1904, Maggio. 

Mantoux: La syphilis nerveuse latente et les 
stigmates nerveuse de la syphilis. Paris, Rousset. 
1904. 

Picard: Les auto-accusateurs alcooliques. Paris, 
Rousset. 1904. 

Geline au: Penseurs et savants. Leurs maiadies, 
leur hygiene. Paris, Vigot. 1904. 

Graves: Ueber Lückenbildung zwischen den einzelnen 
Zähnen, ein früh diagnostisches und bisher wenig 
bekanntes Zeichen der Akromegalie. Monatsschr. 
für Psych. und Neurol. Juli 1904. 

Moll: Ein Gutachten über den Heilmagnetismus. 
Deutsche medicinische Presse. 1904, No. 14. 

Aschaff en bürg: Kriminalpsychologie und Straf¬ 
rechtsreform. Monatsschr. f. Kriminalpsvch. etc. 
1904, 1. Jahrg., H. i. 

von Liszt: Schutz der Gesellschaft gegen gemein¬ 
gefährliche Geisteskranke und vermindert Zu¬ 
rechnungsfähige. Ibid. 

Kohlrausch: Der Kampf der Kriminalistenschulen 
im Lichte des Falles Dippold. Ibid. 

von Mayr: Die Nutzbarmachung der Kriminal¬ 
statistik. Ibid. 

Kirchner: Ein Beitrag zur Kenntniss vom Trichter¬ 
becken. Diss. Greifswald 1903. 

Kö brich: Ueber den anus praeternaturalis vaginalis 
et vestibularis. Diss. Halle 1903. 

Meyer: Ein Fall von congenitaler Ectopia vesicae 
urinariae. Diss. Kiel IQ03. 

Radjek: Ueber zwei Abnormitäten der Mcdulla 
oblongata des Menschen. Diss. Würzburg 1903. 

PI aber mann: Ein seltener Fall von Situs in versus 
totalis. Münchener medic. Wochenschr. 1904, 
No. 30. 


Hofmeier: Ueber angeborene und erworbene Ver¬ 
schlüsse der weiblichen Genitalien und deren Be¬ 
handlung. Zeitschr. für Geburtshilfe und Gynäko¬ 
logie. 52. Bd. 

Kutner: Zur Diagnostik des pathologischen Rausches. 

Deutsche medic. Wochenschr. 1904, No. 29. 

H. Fuchs: Richard Wagner und die Homosexualität. 

Berlin, Barsdorf 1903. 278 Seiten. 

Kratter: Erfahrungen über einige wichtige Gifte und 
deren Nachweis (Schluss). Archiv f. Kriminal- 
anthropol. etc. Bd. XVI, H. 1 u. 2. 
van Ledden-Hulsebosch: Zwei Kriminalfälle. 
Ibid. 

Anuschat: Die Photographie von Fussspuren und 
ihre Verwerthung für gerichtliche Zwecke. Ibid. 
Wulffen: Zur Ausbildung der praktischen Krimi¬ 
nalisten. Ibid. 

Gross: Zum Fall: „Ein Kannibale“ (von Staats¬ 
anwalt Dr. Nemanitsch). Ibid. 

Wilhelm: Ein Fall von sogen. „Kleptomanie“. Ibid. 
Sammlung kriminologisch wichtiger Thatsachen und 
Fälle. Ibid. 

Lacassagne: Gabriel Tarde, 1843—1904. Archives 
d’anthropologie criminelle etc., 15 Juillet et 15 Aoüt 

1904. 

T ard e: I/inter -psychologie. Ibid. 

Tarde: Fiagment d’Histoire futurc. Ibid. 
Bertraud: Un essai de cosmologie sociale. Les 
thescs monadologiques de G. Tarde. Ibid. 

Vaschule: La psychologie de G. Tarde. Ibid. 
Schultze: Familiäre symmetrische Monodaktylie. 
Neurol. Centralbl. 1904, No. 15. 

(Schluss folgt.) 


Personalnachrichten. 

— Tübingen. Für das Fach der Psychiatrie 
habilitirte sich Dr. Johannes Finckh, Assistenzarzt 
an der hiesigen Irrenklinik. Seine Habilitationsschrift 
behandelt die Epilepsie. 


ln einer, aus dem „Kindlein Jesu-Hospital“, Warschau stam¬ 
menden Arbeit „Ueber SanatOfcen*’ (Kronika Lekarska 
1904, 2) hat Dr. Otto Czlane an einem umfangreichen Untersu- 
cliungsmaterial—es sind ca. 60 Fälle beobachtet— die Eigen¬ 
schaften des Sanatogcns in verschiedener Richtung geprüft. Er 
berücksichtigte zunächst die Resorbirbarkeit des Präparates 
vom Magen aus und fand, dass es sowohl bei chronischen 
Magenerkrankungen wie auch bei anderen Affektionen stets 
schneller — ca. */ 2 Stunde früher resorbirt wurde als Hühner - 
eiweiss, ohne dass später Milchsäure nachweisbar war. 

Ferner hat Verfasser bei einer Anzahl von Fallen von 
Nierenerkrankungen, acuter und chronischer Art, Sanatogen 
verabfolgt und hat stets die völlige Reizlosigkeit desselben con- 
statiit, wobei er auch nie eine Erhöhung der Eiweissausschei- 
dung fand; er zieht es aus diesem Grunde auch dem Fleisch- 
eiweiss bei weitem vor, das er durch Sanatogen ersetzen will. 
Bemerkenswerth sind auch die in den meisten Fällen erzielten 
Gewichtszunahmen, die oft eine recht beträchtliche Höhe in 
relativ kurzer Zeit erreichen. 

Aehnlich günstige Erfolge erzielte Verfasser bei Typhus 
abdominalis, Scrophulose und Chlorose; bei letzterer gab er 
cs sowohl allein als auch gleichzeitig mit Eisenpräparaten und 
hat dann eine leichtere Aufnahme der letzteren constatirt. 


lür den rcdaetionc 1 « n ’I iu ii verantwortlich : Oberarzt I )r. J . Brcslrr, Luühnitz iSrli esien). 

Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S 

Ileynemann’sche Buchdruekerei ((»ebr. We’tT* b> Hallo a. S. 


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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift. 

Redigirt von 

Oberarzt Dr. Joh. Bresler, 

Lablinitx (Schieden). 

Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S. 

Telegr.-Adreae: Marhold Verlag, Halletaale. Fernsprecher 2834. 

Nr. 52. 25. März. 1905 

Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen. 
Inserate werden für die jspaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Erniässigung ein. 

Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten. 


Abonnements-Erneuerung. 

Wir bitten die Bestellung auf die „Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift“ baldigst zu 
erneuern, damit die Weiterlieferung ohne Störung geschehen kann. 

Diejenigen unserer geschätzten Abonnenten, welche die Wochenschrift 
durch die Post empfangen, erhalten dieselbe weiter, sofern eine Abbestellung nicht 
erfolgt. 

Expedition und Verlag 

der „Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift“. 


Analytische Untersuchungen der Symptome und Associationen 
eines Palles von Hysterie (Lina H.). 

Von Dr. Franz Riklin , bisher 1. Assistenzarzt am Burghölzli, z. Z. Sekundararzt an der Züricher Pflegeanstalt Rheinau. 

(Schluss.) 


Der ins Bewusstsein ragende Theil kann mehr 
oder weniger umfangreich sein — bald ganz 
ins Bewusstsein treten —, dann tritt oft ein 
Dämmerzustand ein, mit eingeengtem Bewusst¬ 
sein, in welchem der traumatische Complex isolirt 
bleibt, so dass eigentlich die Trennung von den dem 
normalen Bewusstsein zugänglichen Complexen er¬ 
halten bleibt; bald ist z. B. durch eine unbewusste 
Erinnerung geweckt, das körperliche Symptom 
plus der entsprechenden Stimmung im Be¬ 
wusstsein (Jacke — Ohrenschmerz mit trüber 
Stimmung: Weinen plus körperliches „Conversions- 
symptom“). Die Stimmung besteht ja aus Gefühlen 
mit einer Menge nicht deutlich bewussten einzelnen 
Vorstellungselementen. Das im Bewusstsein ver¬ 
tretende Symptom ist dann vom gleichen affectiven 
Grundton begleitet, der der abgespaltenen Vorstellung 
zukommt. Auch in diesem Fall wird für die Stimm¬ 
ung oft eine oberbewusste Erklärung gesucht, weil 
der wahre Grund der Stimmung nicht im Bewussten 
liegt, sondern es sind abgespaltene Vorstellungen. 
Der Affect ist gerade in diesen Füllen deutlich nic ht 
convertirt. 

In andern, gut abgetrennten Fällen ist nur das 


körperliche, zur Zeit der Entstehung des abge¬ 
spaltenen Complexes mit diesem coexistente Symp¬ 
tom (z. B. Geruch von verbranntem Mehl bei Freud’s 
Lucy R., oder verschiedene Schmerzen in meinem 
Fall) im Bewusstsein vorhanden, wenn der Complex- 
automatismus ausgelöst wird. 

Die Stimmung im Bewusstsein kann dann sogar ganz 
das Gegentheil von derjenigen sein, welc he ausgelöst 
würde, wenn der ganze abgespaltene „Complex“ be¬ 
wusst würde. So erklären sich die angeführten Bei¬ 
spiele von „inadäquaten“ Affecten bei Hysterie und 
die „belle indift'crence“ der Hysterischen. Aehnlich 
müssen wir die mit Vorliebe betriebenen Spielereien der 
erwähnten Studentin erklären, wenn sie an der Schläfe 
des Arztes Rosenblätter mit Knall zerquetschte oder 
Varietelieder mit dem Namen ihres erschossenen 
Geliebten sang u. dgl. Letzteres sind keine directen 
„Conversionssvmptomc“, denn sie entstanden nicht 
direct im Moment des psychischen Traumas, aber 
es sind symbolische, vom abgespaltenen traumatischen 
Complex in Dienst genommene, unterhaltene und 
beeinflusste Vorstellungen (wahischeinlich „Symptom¬ 
handlungen“ von Freud), im Bewusstsein vorhan¬ 
dene Functionen des unbewussten Complexes, die 


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522 


den Conversionssyraptomen sonst in jeder Beziehung 
gleichen. 

Endlich kann der Complex ganz abgespalten sein 
(„Gedankenentzug“, Fehler in den Associationen). 

Der „Complex“ kann also das Bewusstsein bloss 
berühren oder mehr oder weniger mit ihm inter- 
feriren. 

Einen Unterschied zwischen ConVersionssymptom 
und den übrigen im Bewusstsein nachweisbaren Func¬ 
tionen des verdrängten, abgespaltenen Complexes 
müssen wir indessen feststellen : 

Das Conversionssymptom trägt die Zeichen eines 
Automatismus: Wird der verdrängte Complex 
auf associativem Wege im Unbewussten erregt, so 
tritt im Bewusstsein das Conversionssymptom auf. 
Wir können das vergleichen mit dem Einbrechern 
eines abtrünnigen Vasallen in das Gebiet seines 
Königs. Auch die Entstehung des Conversions- 
symptoms knüpft sich an ein ganz bestimmtes Er¬ 
eigniss. 

Die übrigen im Bewusstsein vorhandenen An¬ 
zeichen eines verdrängten Complexes („Svmptomhand- 
iungen“, „Complexreactionen“, in den Associations¬ 
versuchen , die Rosenblätter und Varieielieder der 
erwähnten Studentin) sind nicht durch die gleiche 
Entstehungsart fest, als Automatismus an den ver¬ 
drängten Complex gebunden, sondern sie sind das 
Resultat von Einwirkungen des verdrängten Com¬ 
plexes auf den bewussten Vorstellungsablauf. Wenn 
die genannte Studentin Varietelieder singt, so liegt 
kein Automatismus vor ; sie singt wahrscheinlich auch 
wenn kein abgcspaltener Complex sie treibt. Aber 
Art und Inhalt des Singens zeigen einen Einfluss 
des Complexes. Fs lässt sich dies vergleichen mit 
den Beziehungen. welche sh h zwischen dem ange¬ 
nommenen Königreich und dem abtrünnigen Vasallen¬ 
staat ausbilden. 

Das Abreag i ren bestände hauptsächlich in der 
Zugänglichmachung des abgespaltencn Complexes, in 
der Ueberführung ins Bewusstsein; dann kann er 
sich eben nicht mehr als Automatismus geberrien, 
er tritt in Verbindung mit korrigirenden Vorstell¬ 
ungen, er verfällt der „Usur“ (Freud). Das kann 
auch geschehen ohne Convcision im Sinne von Breuer 
und Freud. Das Abreagiten andern Personen 
<re< r enüber, das viel bessei wirkt als das Ausmalen 
sich selbst gegenüber, muss noch auf besondern Ge¬ 
setzen beruhen, nicht bloss in der Uebeifiihrung ins 
Bewusstsein. Man empfindet die Wohlthat des Er¬ 
zählens aiu*h dann, wenn man über nicht abge¬ 
spaltene., nicht „convertirte“ traumatische: Erinner¬ 
ungen einem andern das Herz ausschüttet. 

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[Nr. 52 


Warum aber diese „Retentionsphänomene“ und 
diese Complexanzeichen in den Associationen, diese 
hysterischen Spielereien , diese Complex Vertreter im 
Bewusstsein ? 

Folgende Ueberlegungen zeigen vielleicht einen 
Weg. 

Die Schmerzen etc. sind mit dem traumatischen 
Complex associirt durch C o exi st en z, nicht inhalt¬ 
lich. Die Symbole sind keine Symbole, sondern 
banale Aehnl ichkeitsassociati onen, als solche 
den ebenso oberflächlichen, nicht begrifflich, sondern 
nur äusserlich an das den „Complex“ auslösende 
Reizwort gebundenen Klangassociationen gleich¬ 
zustellen. Im gleichen Sinne oberflächlich an den 
Complex associirt sind Lieder, Citate, allgemeine 
Sätze etc., die wir gleichsam als Deckassociationen 
über den Complexen in unsern Associationsversuchen 
treffen. Kurzum, es sind meist Vorstellungen, die 
nicht innig an den abgespaltenen Complex asso¬ 
ciirt sind und an und für sich sehr gut selbständig, 
ohne den Complex, gedacht werden können. Darum 
war es schwer, aus den Schmerzen auf die wahre 
Ursache zu sch Hessen, und darum fallen die Com- 
plexmerkmale in den Associationen erst dann auf, 
wenn man nach einiger Uebung den Vogel an seinen 
Federn erkennen gelernt hat. Es besteht zwischen 
Con Versionssymptomen und den andern Complex¬ 
anzeichen, w r ie gesagt, eigentlich nur ein Unterschied 
in der Entstehung und festem Bindung an den 
Complex. 

Freud hat sich in ähnlicher Weise die Traum¬ 
deutung ausgebildet und seine jetzige Methode zur 
psychischen Analyse ohne Hypnose baut sich nach 
den Mittheilungen bei Löwenfeld*) aus einem 
ähnlichen System con Merkmalen auf. 

Da von einem Complex zum andern, vom ab¬ 
getrennten Complex zum bewussten immer Associa¬ 
tionswege führen, so muss die Abspaltung darin be¬ 
stehen, dass als Zwischenstationen zwischen Vorstell¬ 
ungen des einen und andern Complexes solche 
indifferente, unverdächtige Vorstellungen: Coexi- 
stenzen, Klänge, Symbole, eingeschaltet werden. 

Man kann sich also den abgetrennten Complex 
vorstellen umgeben mit einem* Wall solcher ober¬ 
flächlich associirter Vorstellungen. Trifft in den 
Associations'versuchen ein Reizwort einfen abgespal¬ 
tenen Complex, so trifft er in erster Linie nur diese 
um den Complex „herum liegenden“ oberflächlich 
äusserlich associirten Vorstellungen, die nur der 

*) 1 c. 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 






Kundige als Complexmerkmale erkennt, die Versuchs¬ 
person selber gewöhnlich nicht. 

Wird ein abgespaltener Complex angeregt, so 
wird im günstigen Fall nur der Theil bewusst, der 
dem bewussten Vorstellungsinhalt nicht als Complex- 
merktnal auffällt. Wie gut dies gelingen kann, zeigen 
die oberbewussten Erklärungen („falsche Verknüpf¬ 
ungen“ von Breuer und Freud) 

Je wirksamer ein abgespaltener „verdräftgter“ 
Complex ist, um so mehr hat er solche Zeichen im 
Bewusstsein. 

In veralteten Fällen wird es viel schwieriger, 
diese durch „Ueberdeterminiiung“ in fortwährende 
Uebung festgebannten eingeübten Automatismen aus¬ 
zurotten, weshalb jetzt auch Freud die Prognose 
der psychoanalytischen Behandlung vom Alter, von 
der Hochgradigkeit des Symptoms etc. abhängig 
macht. 

In unsenn Fall (Lina H ) hätten wir es mit 
einem gut ausgebauten System von automatisirten, 
abgespaltenen Complexen zu thun, als deren Vertreter 
ein ebenso wohlgefügtes System von körperlichen 
Symptomen im Bewusstsein erscheint, und zw r ar so, 
dass diese Symptome in wa>hlbegründete Symptomen- 
komplexe sich vereinigen. Daneben zeigt uns Pat,, 
z. B. gerade in den Associationen, eine Menge durch 
den Complex beeinflusste Rtactionen, die mit den 
Conversionssymptomen das gemein haben, dass ihre 
Bindung an den Complex eine äussere und dadurch 
dem Bewusstsein auch weniger auffällige ist. 

Wir hätten somit die vielen Krankheitserschein¬ 
ungen, die wir bei unserer PaL finden und die 
gegenüber andern Fonnen der Hysterie (Somnam¬ 
bulismus, Dämmerzustände, Bewusstseinstrübungen) 
unter ein Hauptmerkmal der Hysterie: Disso- 
ciation und automat isches« selbständiges 
Walten der dissociirten Komplexe, eingereiht. 

Versuchen wir andererseits die bekannteren klini- 
schen^ Formen der Hysterie und die verwandten 
Zustände unter dem Gesichtspunkte des vorherrschen¬ 
den, ursächlichen oder auslösenden^ Complexes zu 
betrachten, der gewöhnlich von den übrigen abge¬ 
spalten ist: 

Bei der Hysterie mit körperlichen Symp¬ 
tomen (ConVersionssymptome) ist der Complex ab¬ 
gespalten und dem Bewusstsein gegenüber abgegrenzt 
durch die mit ihm äusserlich associirten, dem Be¬ 
wussten “ gegenüber gleichsam unauffälligen körper¬ 
lichen Symptome und Complexmerkmale, resp. Symp¬ 
tomhandlungen, wie wir im vorliegenden Falle sehen. 

Die Associationen bei Hysterischen zeigen 
immer ein ganz ähnliches Bild; die Reactionen sind 

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zwischen Complex und Bewusstsein eingeschaltete, 
mit ersterem äusserlich verbundene Vorstellungen. 

Bei den Zwangsneurosen ist wieder der ur¬ 
sprünglich traumatische Complex abgespalten, im 
Bewusstsein existirt der ihm entsprechende Gefühls¬ 
ton, die gleiche Affectlagc, verbunden mit Complexen, 
die dem abgespaltenen verwandt, mit ihm eng asso- 
ciirt sind (Freud’sche Auffassung). Die Abspaltungs¬ 
grenze ist für das Individuum in diesen Fällen un¬ 
günstiger, als bei Hysterien mit körperlichen Symp¬ 
tomen, indem nur der traumatische Complex, nicht 
aber der entsprechende Affect aus dem Bewusstsein 
geschwunden ist; das Unbehagen ist entschieden 
grösser, die Folgen schwerer. 

Bei den hysterischen Dämmerzuständen in 
Form von Wunschpsychosen wird der trau¬ 
matische Complex abgcspalten und durch einen ange¬ 
nehmen im Sinne einer Wunscherfüllung ersetzt, sodass 
die Kranken gerade das Gegentheil von dem erleben 
oder träumen, was Inhalt der traumatischen Vorstell¬ 
ung ist. Die verstorbenen Angehörigen leben, der 
Untersuchungsgefangene wird unschuldig erklärt, Pat. 
spaziert während einer schmerzhaften Operation auf 
blumiger Wiese (Jung), einem hyster. Visionär, der, 
weil er ein w’enig herumgelumpt hat, sich fürchtet, 
zur strengen Ehefrau heimzugehen, erscheint im 
Augenblicke, wo ihn die Frau in einer Schenke un¬ 
erwartet überrascht, seine verstorbene Mutter mit 
freundlicher, liebevoller Aufforderung, zu ihr zu 
kommen etc.; in diesem Zustand nimmt Pat. von der 
Gegenwart seiner Frau nichts mehr wahr etc. (Fall 
in unserer Klinik). Die Beispiele liessen sich beliebig 
vermehren. 

Die in Anfällen auf treten den hysterischen 
Delirien oder Dämmerzustände haben meistens 
den traumatischen Complex zum Inhalt, indem er 
vom normalen Bewusstsein abgespalten ist, und Am¬ 
nesie für den Anfall besteht. Eine den Complex 
treffende Vorstellung löst den Anfall aus. 

Beim hyster. Dämmerzustand mit Ganser- 
schem Symptom tritt die Vorstellung des Nicht¬ 
wissens zwischen Bewusstsein und abgespaltenen Com¬ 
plex und trennt sie vollständig; die systematische 
Abwehr gegen das Bew'usstwerden des Complexcs 
geht dabei automatisch weiter, über das nächste Ziel 
hinaus, sodass auch die in der Nähe und ferner 
vom Complex gelegenen Vorstellungen in den Be¬ 
reich des Nichtwissens gezogen werden. 

Bei Somnambulen mit Trances und während der¬ 
selben automatisch auftretenden Persönlichkeiten han¬ 
delt es sich gewöhnlich um abgespaltene Complexe, 
die sich z. B. zu einer zweiten Persönlichkeit, die 


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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


524 


sich in diesen Zuständen äussert, entwickeln. (Siehe 
Flournoy und Jung.) 

In der Hypnose isoliren wir künstlich Vorstell¬ 
ungen und Cornplexe gegenüber andern Vorstellungen. 

In der pathologischen Hypnose collidiren 
die durch abgespaltene Cornplexe bedingten und die 
vom Hypnotiseur gewollten Abgrenzungen. So kann 
es dann kommen, dass es sehr schwer ist, eine be¬ 
stimmte Vorstellung zu suggeriren, weil sie einem 
abgespaltenen Complex angehört, anderseits ist es 
oft viel schwieriger, den einmal wachgerufenen abge¬ 
spaltenen Complex wieder wegzusuggeriren und den 
manchmal dadurch hervorgerufenen Anfall oder Däm¬ 
merzustand zu beschwören. 

Bei Schreckneurosen, wie z. B. den von 
Möbius beschriebenen mit Abasie einhergehenden 
Fällen, wo die Abasie allmählich schwindet, ist wohl 
die als Leistung des Affects bekannte starke, schwer 
korrigirbare Bindung zwischen Symptom und „Com¬ 
plex“ im Spiele; nur braucht zwischen „Complex“ 
und Bewusstsein keine absolute Trennung zu be¬ 
stehen. Es wäre dies eine Zwischenstufe gegen die 
Fälle mit körperlichen Symptomen, wo die Trennung 
vollständig sein kann. 

Ich hoffe, die angefühlten Ueberlegungen können 
vielleicht zwischen den Ergebnissen der Psychoana¬ 
lyse, der Associationsversuche und der Erscheinungen 
bei schweren Psychosen (z. B. Dementia praecox), 
wo ähnliche Erscheinungen eine grosse Rolle spielen, 
eine Brücke schlagen. 

Ich verhehle mir nicht, dass die dargelegte An¬ 
schauungsweise vielleicht lückenhaft ist und noch an 
vielem Material nachgeprüft werden muss; soweit es 
mir möglich war, habe ich es gethan. Es mag auch 
Erscheinungen geben, die mit der alten Breuer 
und Freud’schen Theorie bis jetzt allseitiger erklärt 
werden können (vielleicht das Abreagiren). Aber 
dennoch scheint mir der Begriff der Conversion im 
alten Sinne nicht haltbar. 

Meinem frühem hochverehrten Chef, Herrn Prof. 
Bleuler, bin ich für die Ueberlassung des bearbei¬ 
teten Falles zu Dank verpflichtet, ebenso meinem 
verehrten Freund, Dr. C. G.Jung, für seine Dienste 
bei unsern gemeinsamen Vorarbeiten. 


Literatur. 

Bin sw* an ge r, O.: Die Hysterie. Wien 1904. 
Breuer und Freud: Ueber den psych. Mechanis- 

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[Nr. 5 -- - 

mus hyster, Phänomene. Neur. Centralbl. XII 
1. 2. 1893. 

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Flournoy: Des Indes ä la planete Mars; Etüde 

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1900. 

Freud: Die Abw'ehrneuropsychosen. Neur. Central¬ 
blatt 1894; pag 362. 

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— Zum psych. Mechanismus dei Vergesslichkeit. 
Monatschr. f. Psychiatrie u. Neurol. 1898. 

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— Ueber Deckerinnerungen. Monatschr. f. Psych. 
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Jan et: L’automatisme psychologique. Paris, Alcan. 
1889. 

— L’amnesie hysterique. Arch. de Neurol. XXIII. 

pag. 323. 1891. 

— L’amnesie hyst.: ibid. XXIV. p. 29. 1892. 

— La Suggestion chez les hysteriques. Ibid. XXIV. 

p 448- 

— Etat mental des hysteriques. Paris, Rueff & Co. 
1893. 

Jung, C. G.: Zur Psychologie und Pathologie sog. 
occulter Phänomene. Leipzig, Mutze, 1902. 

— Ein Fall von hyster. Stupor bei einer Unter¬ 
suchungsgefangenen. Journal f. Psych. u. Neur. 
Bd. I. 1902. pag. 110. 

— Ueber Simulation von Geistesstörung. Joum. f. 
Psych. u. Neur. Bd. II. 1903. pag. 181. 

Jung und Ri klin: Experimentelle Untersuchungen 
über Associationen Gesunder. Joum. f. Psych. 
u. Neur. Bd. III. 1904. 

Löwenfeld: Die psychischen Zwangserscheinungen. 
Wiesbaden 1904. 

Möbius: Neurologische Beiträge. Leipzig 1894. 

1. Heft: Ueber den Begriff der Hysterie etc. 
Rai mann, E.: Die hysterischen Geistesstörungen. 
Leipzig u. Wien 1904. 

R i k 1 i n, F.: Ueber die diagnostische Bedeutung 
von Associationsversuchen bei Hysterischen. Vor¬ 
trag in der Schweiz. Psychiaterversammlung in 
St. Urban, 1904. Ref. im Centralbl. f. Nerven- 
heilk. 1904, pag. 554* u. Autoreferat in dieser Zeit- 
schr. S. 275. 

— Zur Psychologie hyster. Dämmerzustände und des 
GansePschen Symptoms. Psychiatr.-neur. Wochen¬ 
schrift Nr. 21 u. 22, 1904. (Mit einem Verzeich¬ 
niss der Ganser-Literatur.) 

Vogt, O.: Zur Kenntniss des Wesens und der psy- 
cholog. Bedeutung des Hypnotismus. Zeitschr. f. 
Hypn. Bd. III. 1894/95* 


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1905.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 525 


— Zur Psychopathologie der Hysterie. Neur. Cen- 
tralbl. 1898, pag. im. 

— Zur Methodik der ätiolog. Erforschung der Hysterie, 
Zeitschr. f. Hypn. Bd. VIII. 1899. 

— Norrnalpsycholog. Einleitung in die Psychopatho¬ 
logie der Hysterie. Zeitschr. f. Hypn. Bd. VIII. 


— Zur Kritik d. psvchogenet. Erforschung d. Hysterie. 
Ibid. Bd. VIII.' 

War da, R.: Ein Fall von Hysterie, dargestellt nach 
der kathart. Methode von Breuer und Freud. 
Monatschr. f. Psych. u. Neur. Bd. VII, pag. 301. 
1900. 


Ein Fall von Cysticercus racemosus des Gehirns und Rückenmarks. 

Von Dr. Boege, Assistenzarzt am Fürst Carl - Landesspital in Sigmaringen. 


T m Fürst Carl-Landesspital wurde kürzlich bei einer 

Section ein Cysticercus racemosus gefunden. Im 
folgenden sei der Fall mitgetheilt. 

Ein 55jähriger lediger Knecht litt seit dem Jahre 
1901 an starkem Kopfweh. Am 19. August 1902 
wurde er deswegen ins Spital aufgenommen. Das 
Kopfweh wurde stärker, P. begann über Schwindel 
zu klagen, fiel mitunter vor Schwindel hin, konnte 
sich dann nur mit Hilfe erheben. Er war nachts 
öfters unruhig, wollte einmal zum Fenster hinaus; wie 
er nachher sagte, weil er es für die Thür gehalten 
hatte. Merkfähigkeit und Erinnerungsvermögen liessen 
nach. Nachher Hess er öfters Urin unter sich. 

Am 28. November 02 wurde seine Ueberführung 
in die Abtheilung - für Geisteskranke nöthig. Hier 
konnte er zunächst noch ausser Bett gehalten werden. 
Doch war er auch tagsüber meist leicht benommen, 
zeigte Neigung zum Einschlafen. Sein Gang war 
unsicher, taumelnd. Anfangs seltener, später häufiger 
traten Bewusstseinsstörungen von verschieden langer 
Dauer auf. P. fiel um, Krämpfe traten zunächst 
nicht auf. Erst später wurden die Bewusstseins¬ 
verluste von epileptiformen Krämpfen begleitet. — 
Währenddes Hess die Sehkraft nach. — P. musste 
dauernd im Bett bleiben. 

Am 15. Okt. 03 sah Ref. den P. zum ersten Mal. 

Es handelte sich um einen kräftig gebauten Mann 
in schlechtem Ernährungszustände — die inneren 
Organe ohne abweichenden Befund. 

Soweit sich das bei der Trübung des Sensorimus 
feststellen Hess, war die Sensibilität überall intact. 
Die Musculatur war durchweg stark atrophisch, die 
Muskelkraft dementsprechend herabgesetzt. Der Gang 
war unsicher taumelnd. Mit den Händen einen festen 
Halt suchend, konnte P. sich mühsam fortbewegen; 
ohne Stütze fiel er zu Boden. 

P. selbst war der Meinung, er könne Personen 
unterscheiden und erkennen. Thatsächlich jedoch 
war das Sehvei mögen auf die Unterscheidung von 
Hell und Dunkel beschränkt; selbst die Loralisation 

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leuchtender Punkte war durchaus unvollständig. — 
Die Pupillen reagirten unsicher, zögernd auf Licht¬ 
einfall, die linke Pupille war etwas grösser als die 
rechte. Der intraoeulare Druck war nicht erhöht. 
Hornhaut und brechende Medien intact. — Die Ge- 
fässe des Augenhintergrundes von normaler Füllung, 
die Grenzen der Papilla nervi optici leicht verwaschen. 

Das Sensorium war meist etwas benommen. 
Doch konnte P. durch Anreden auf längere Zeit 
fixirt werden. Er zeigte sich über Ort und Zeit nur 
ungenügend orientirt. Sein Gedächtniss wiess grosse 
Lücken auf, die Merkfähigkeit war stark herabgesetzt. 
Das Urteil war unsicher, P. widersprach sich oft. 
Die Stimmung war deprimirt, doch dabei eigenartig 
humoristisch gefärbt. 

In unregelmässigen Intervallen traten die bereits 
erwähnten Anfälle auf. Apoplectiform ohne Aura 
schwand das Bewusstsein. Gleichzeitig setzten tonische 
Krämpfe ein, die gewöhnlich sehr bald klonisch 
wurden. Doch blieb die Amplitude der Zuckungen 
gering. Meist begannen die Krämpfe in der linken 
Hand, blieben auf die linke Körperhälfte beschränkt 
oder verbreiteten sich über die gesammle Körper- 
musculatur. Nur selten setzten die Krämpfe sofort uni¬ 
versal ein. Auf der Höhe des Anfalls bestanden sehr 
starke, ebenfalls clomsche Krämpfe dei äusseren 
Augenmuskeln. Während des Anfalls oft Abgang von 
Harn und Koth. Das Krämpfestadium dauerte nur 
wenige Minuten, die Bewusstseinsstörung dauerte länger, 
bis zu einer halben Stunde. 

Die Nahrungsaufnahme des Pat. war ungenügend; 
dagegen das Flüssigkeitsbedürfniss erheblich gesteigert. 

P. war nur unvollkommen über seine Lage orien¬ 
tirt. Er klagte vornehmlich über Schwindel und Ab¬ 
nahme der Sehkraft. Von den Anfällen wusste er 
nichts. 

Das Krankheitsbild als genuine Epilepsie aufzu¬ 
fassen — woran zunächst zu denken war — erschien 
nicht angängig. Einmal war auffallend, dass die 
Krämpfe oft auf die linke Seite beschränkt blieben. 

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526 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


[Nr. 52 


Dazu bot P. nichts von den Characteränderungen, 
die die Epileptiker meist zeigen. Er war ein gut¬ 
mütiger, phlegmatischer biederer Kerl. Endlich hätte 
dann die Sehstörung einer eigenen Erklärung bedurft. 
Auch die dauernde Bewusstseinstrübung, das Kopf¬ 
weh, der Schwindel wurden durch die Annahme einer 
genuinen Epilepsie nicht erklärt. 

Es erschien vielmehr die Annahme begründet, 
dass es sich um einen Tumor handelte. Kopfweh 
und Schwindel, die epileptiformen Krämpfe, der Ver¬ 
lust der Sehkraft, die psychische Alienation fanden 
dadurch eine einigermaassen befriedigende Erklärung. 

Der nur einmal aufgenommene ophthalmoscopische 
Befund war nicht eindeutig genug, als dass mit 
Sicherheit die Entscheidung zwischen Stauungspapille 
und Sehnervenatrophie getroffen wurde. Und da sich 
bei dem meist benommenen P. die Untersuchung 
sehr schwierig gestaltete, musste es bei der einen 
Exploration des Augenhintergrundes bleiben. — Aus¬ 
gesprochener Hirndruck bestand nicht, wenigstens 
war der Puls kaum verlangsamt. Ueber die Locali- 
sation des vermutheten Tumors konnte allerdings 
nichts Bestimmtes angenommen werden ; die epilepti¬ 
formen Krämpfe deuteten auf die Rinde, die Augen¬ 
symptome auf die Hirnbasis. 

Der weitere Verlauf bot keinerlei Ueberrasehungen. 
Da an die Möglichkeit luetischer Aetiologie gedacht 
wuide, wurde Jod gegeben (Jodkalium, Jodipin), je¬ 
doch ohne dass eine Aenderung im Befinden erfolgte. 

P. ging langsam, aber ständig zurück. Kopfweh 
und Schwindel nahmen zu. Die Anfälle kamen 
häufiger und verliefen intensiver. Die Lichtempfindung 
schwand völlig. Die psychische Entfremdung wurde 
immer ausgesprochener. Das Sensorium war zum 
Schluss dauernd benommen P. reagirte nicht mehr 
auf Anreden oder schmerzhafte Reize; war ständig 
unrein. Die Flüssigkeitsaufnahme blieb stets vermehrt. 

Anfangs Mai 1904 war trotz sorgfältiger Hautpflege 
Decubitus aufgetreten. 

Nach längerer Agonie erfolgte am 27. VI. der 
Exitus letalis. 

Die Autopsie ergab folgenden Befund. 

Die Meningen getrübt, doch überall spiegelnd. 
Hydrocephalus internus. 

Ueber dem Chiasma nervorum opticorum sass 
eine rundliche bohnengrosse schwappende Blase mit 
undurchsichtigen trüben Wänden. Der Querschnitt 
der Sehnerven unterhalb des Chiasma auf h'h — V2 
des normalen reduciit. — Nachdem die SchlälVlappen 
aus den mittleren Schädelgruben herausgehoben waren 
und die vordere Fläche des Hirnstamms sichtbar 
wurde, zeigte sich ringsum die Medullu oblongata und 

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auch an der Vorderseite des Pons eine gallertig aus¬ 
sehende bläulichgraue Masse von unregelmässiger Ge¬ 
stalt, die nach oben bis zu den Himschenkeln, nach ab¬ 
wärts bis in den Wirbelkanal hineinreichte und diesen 
völlig von der Schädeldecke abschloss. Ohne dass 
ein stärkerer Zug ausgeübt wrnrde, liess sich diese 
Masse von ihrer Unterlage ablösen. Sie wurde 
jedoch nicht in toto sondern in vier Einzelstücken 
erhalten, jedes etwa 3—4 cm in die Länge und Breite. 
Obgleich nun die Einzelstücke deutlich von einander 
abgesetzt waren, so blieb doch wahrscheinlich, dass 
sie in situ zusammengehangen hatten und nur bei 
der Präparation an dünneren Stellen von einander 
gerissen waren. Die Einzelstücke erwiesen sich als 
vier schlaffgefüllte Blasen. Ob jede von ihnen in 
sich abgeschlossen gewesen, oder ob sie untereinander 
communicirt hatten, das war nicht sicher zu ent¬ 
scheiden. Nur die eine von diesen Blasen hatte eine 
verhältnissmässig glatte, wenn auch leicht gefaltete 
Oberfläche. Die Oberfläche der anderen 3 Blasen 
sah durch zahlreiche Her vor Wölbungen unregelmässig 
höckerig und hügelig aus. Während die meisten 
Hervorwölbungen sich nach Oeffnung der Blasen als 
breit mit dem Hauptraum communicirende Aus¬ 
buchtungen erwiesen, wurde ein beträchtlicher Theil 
der Hervorwölbungen durch kleinere selbständige 
Blasen gebildet, die in die Wand der grossen Blase 
gleichsam eingefügt waren. Andere kleine Blasen 
endlich sassen der Wand mit mehr oder minder engem 
und langem Stiel auf. I111 ganzen wurden von diesen 
kleineren Blasen, die mit dem grossen Blasenrauin 
nicht communicirten, sondern von ihm abgeschnürt 
waren, etwa 30 gezählt. — Gehirn und Rückenmark 
wurden i toto nach der Pickschen Methode eon- 
servirt. 

Nach beendeter Conservirung wurde die Unter¬ 
suchung noch vervollständigt. Nach Spaltung des 
spinalen Duralschlauchs wurde nämlich in Höhe des 
siebenten und achten Cervicalsegmenles auf der 
Hinterseite der Medulla unter der Aradmoidea eine 
weitere Blase gefunden; oder genauer eine grosse 
Blase mit mehreren kleineren. Die grosse war etwa 
2 cm breit und 3 cm lang, seitwärts waren ihr zwei 
kleinere pfefferkorngrosse hintereinander angefügt, 
denen dann noch einmal eine erbsengrosse Blase wie 
ein Kopf seinem Halse aufsass. An der Seitenwand 
dieser letzten wiederum befanden sich nebeneinander 
zwei kleinste stecknadelkopfgrosse Bläschen. 

Das Rückenmark war in der Höhe des siebenten 
Cervicalsegmentes in seiner linken Hälfte in der 
Richtung von vorne nach hinten etwas zusammen¬ 
gedrückt ; die Fiss. long. ant. et post, waren infolge 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 


IQ05.J 


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dessen nicht sagittal gerichtet, sondern schräg von 
links vorne nach rechts hinten gestellt. Im übrigen 
waren Hirn- und Rückenmarksubstanz frei von Ver¬ 
änderungen. In der linken Niere fanden sich drei 
Cysten, in der rechten eine. Die weitere Section er¬ 
gab keine Abweichungen von der Norm. Die 
Darmsection wurde aus äusseren Gründen nicht 
gemacht. 

Dass die beschriebenen Gebilde in der Arach- 
noidea der Himbasis und des Rückenmarkes Cysti¬ 
cercusblasen waren und zwar Cysticercus racemosus, 
das war beim ersten Anblick sicher. Die Eigentüm¬ 
lichkeiten, die die microscopis« he Untersuchung er¬ 
gab, bestätigten die Diagnose: die Gefässlosigkeit der 
Membran und die Beschaffenheit der Aussenfläche, 
die Zenker sehr treffend mit „jenem nachgerade 
etwas altmodisch gewordenen, aus unbehauenen rund¬ 
lichen Steinen zusammengesetzten Strassen pflastert 
verglichen hat. Ein Finnenkopf wurde in keiner der 
zahlreichen Blasen gefunden. Jenes kopfartig der im 
Rückenmarkkanal gefundenen Blase aufsitzende Ge¬ 
bilde wurde anfangs für einen Kopf gehalten, doch 
wurden bei näherem Zusehen Hakenkranz und Saug¬ 
näpfe, auch in der Anlage, vermisst. Einzelne Haken 
wurden ebenfalls nirgends gefunden. — Die microsko- 
pische Untersuchung von Medulla oblongata und 
Rückenmark ergab keine Abweichungen von der Norm. 

Zenker hat nach der äusseren Gestaltung drei 
Formen von Cyst. racem. unterschieden: eine buchtige, 
eine mehrblasige und eine traubige Form. Unser 
Fall wäre in keine dieser Gruppen einzureihen. 

Die erste Veröffentlichung über Cyst. racem. 
stammt von Zenker. Er konnte im Jahre 1882 
15 Fälle zusammenstellen, 5, die er selbst beobachtete, 
10, die er aus der damaligen Litteratur gesammelt 
hatte. Seitdem ist Cyst. racem. öfters bei Sectionen 
gefunden worden. Soweit ich die Litteratur *) über¬ 
sehen kann, haben Bi tot urdSabrazes 189020 
Fälle und Max Richter 1891 25 Fälle (davon 
3 eigene) zusammengestellt. 1902 veröffentlichte 
Durst einen Fall, 1903 Fischer**) 2 Fälle. 

Da mir die Originalien nicht zui Verfügung standen 
konnte ich nicht prüfen, ob etwa in Richters und 

*) Prager med. Wochenschrift. XVI. 16. 1891. Dr 

Max Richter. Ueber einen Fall von Cysticercus racemosus 
in den inneren Meningen des Gehirns und Rückenmarks. 

Bordeaux. Gaz. de Par. LXI, 27 — 30, 32—34. 1890. 

— Etüde sur les cysticerques en grappe de l’enc£phale et de 
la moelle che* Phomme. Par. Em. Bitot et Jean Sabraz&s. 

Liecinicki viestnik XXIV, 7. 1902. — Dr. F. Durst- 
Ein Fall von Cysticercus racemosus cerebri. 

Citirt nach Schmidts Jahrbüchern. 

•*) Siehe benutzte Litteratur ! 


Bi tot s Casuishk gleiche Fälle verwerthet sind. Zu 
seltenen Befunden gehört Cyst. racem. immerhin, und 
L. Bruns schreibt mit Recht: „Der Trauben¬ 
cysticercus ist ein seltenes Vorkommniss.“ 

Noch viel seltener als im Hirn ist Cyst. racem. 
im Rückenmark gefunden worden. Vielleicht liegt 
das zum nicht geringen daran, dass die Section des 
Rückenmarkes aus mancherlei Gründen nur selten 
gemacht wird, jedenfalls nur wenn klinisch diag¬ 
nostische Momente dafür sprechen. 

Was unseren Fall etwas auszeichnet, ist nicht die 
verhältnissmässige Giösse — Heller hat einen von 
25 cm Länge beobachtet, der unsere war viel¬ 
leicht 12—15 cm lang —, sondern einmal die grosse 
Zahl der kleineren Blasen, über 30, dann die Blase 
im Rückenmark. Zenker selbst hat in seinen Fällen 
keine besonderen Neben- oder Tochterblasen gefunden, 
deren Höhlen mit der Hauptblase nicht ccmmuni- 
ciren und die sich als Vacuolen in der Dicke der 
Blasenwand bilden. Nach ihm spielt „diese echte 
Blasenproliferation, die an die Tochterblasenbihlung 
des Echinococcus erinnert“, nur eine Nebenrolle. 

Klinisch bot der Fall insofern einige Abweichungen 
von dem gewöhnlichen Symptomenbild des Czvst. 
racem., als auch Störungen der Sinnesorgane zur Be¬ 
obachtung kamen, die sonst zur Seltenheit gehören 
(unter Zenkers 15 Fällen nur einmal). Die Herab¬ 
setzung des Sehens bis zur Amblyopie und völligen 
Amaurose fand ihr anatomisches Correlat in der 
Atrophie des Sehnerven, die wohl zweifellos durch 
die dem Chiasma aufsitzende Blase bedingt war. 
Leider ging sie bei der Conservirung verloien, oder 
konnte wenigstens nicht wiedererkannt w'erden. -■ I111 
übrigen jedoch war auch bei uns das Symptomenbild 
so undeutlich, so reichhaltig, wie es für Cyst. racem 
characteristisch ist. 

Dass alle die einzelnen Symptome, deren einheit¬ 
liche Deutung im Leben grosse Schwierigkeiten machte: 
Kopfschmerz, Schwindel, epileptiforme Anfälle, Dia¬ 
betes insipidus (?), die Sehnervenatrophie, die Be¬ 
nommenheit des Sensorium, die psychische Aliena- 
tion, lediglich durch den Cyst. racem. bedingt w r aren 
unterliegt wohl keinem Zweifel. 

Die physiologische Erklärung der Symptome 
durch die anatomische Lucalisation allerdings er¬ 
scheint im einzelnen nicht möglich. Bemerkt sei mit 
Rücksicht auf die Blase im Spinalkanal, dass intra 
vitam an eine Rückenmarksläsion nicht gedacht 
worden war. Ob sie ganz symptomlos geblieben 
oder ob die Symptome infolge der Trübung des Sen- 
soriums nur nicht zur Beobachtung kamen, das mag 
dahingestellt bleiben. Da das Rückenmark an der 


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Gck gle 


Original fr&m 

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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 52. 


52S 

Stelle, wo die Blase bei der Autopsie gefunden wurde, 
bereits eine bleibende Formveränderung erlitten hatte, 
so muss der Cysticercus immerhin schon einige Zeit 
dort etablirt gewesen und kann nicht erst gegen Ende 
des Lebens dorthin gerückt sein. 

Meinem verehrten Chef, Herrn Sanitätsrath Dr. 
Bilharz, spreche ich für die gütige Plrlaubniss, den 
Fall zu veröffentlichen, meinen verbindlichsten Dank aus. 


Benutzte Litteratur. 

1. Die Parasiten des Menschen. Von Rudolf 
Leuckart. I Bd. I. Abt. Leipzig 1879—1886. 

2. Ueber den Cysticercus racemosus des Gehirns. 
Von F. A. Zenker. — Beiträge zur Anatomie und 
Embryologie. Bonn 1882. 

3. Handbuch der Pathologischen Anatomie des 
Nervensystems. — I. Band. Berlin 1904. — L. Bruns. 
Hirngeschwülste und Hirnparasiten. 

4. Klinische Mittheilungen. Prof. Dr. H. Fisch er. 
I. Cysticercus racemosus cerebri. — Archiv für klinische 
Chirurgie LXIX. Berlin 1903. 


Mittheilungen. 


—- Ansbach. Auf Anregung des ärztlichen Be¬ 
zirksvereins Ansbach veranstalten die Aerzte der Kreis¬ 
irrenanstalt Ansbach, Director Dr. Herfeldt, Dr. 
Sandner, Dr. O etter, einen Fortbildungskurs in 
der Psychiatrie vom 4. April ab. 

— Sudwestdeutsche Neurologen und Irren¬ 
ärzte. Diesjährige Versammlung am 27. und 28. 
Mai m Baden-Baden. 

— 15. Congress der französischen Irrenärzte 
und Neurologen vom 1.—7. August in Rennes. 
Tagesordnung: Hypochondrie; Neuritis ascendens; 
Balneotherapie und Hydrotherapie bei Geisteskrank¬ 
heiten. 

— Entscheidungen des deutschen Bundesamts 
für das Heimathswesen. (Schluss). 

Die Befugniss des beklagten Regierungspräsidenten 
zur Feststellung der streitigen Leistung ergiebt sich 
indess aus einer anderen Erwägung. Die Unter¬ 
bringung des Geisteskranken Otto Brieger in der 
Irrenabtheilung des Strafgefängnisses ist nicht allein 
deshalb erfolgt, weil er als hilfsbedürftig angesehen 
wurde, sondern vor allem deshalb, weil er nach den 
wiederholten Gutachten beamteter Aerzte, insbesondere 
des Gerichtsarztes und des vom Polizeipräsidenten 
zugezogenen Kreisarztes als „gemeingefährlich“ anzu¬ 
sehen war. Seine Unterbringung in der Irren¬ 
abtheilung des Strafgefängnisses erweist sich daher 
als eine nicht gegen die Klägerin, als Armenverband, 
sondern gegen einen Dritten, den Geisteskranken 
selbst, gerichtete und alsbald im Wege unmittelbaren 
Zwanges durchgesetzte polizeiliche Maassregel; ihre 
Kosten kennzeichnen sich daher zunäc hst als Polizei¬ 
kosten und zwar selbst dann, wenn zugleich armen¬ 
rechtliche Hilfsbedürftigkeit Vorgelegen haben sollte. 
Denn aus dem Vorliegen dieser Voraussetzung würde 
nur folgen, dass die Polizeibehörde befugt gewesen 
wäre, die Unterbringung in Anstaltspflege dem zur 
Fürsorge verpflichteten Armenverbande aufzugeben, 
aber nicht, dass sie die Abwendung der von dem 
Geisteskranken ausgehenden Gefahren nur auf diesem 
Wege erreichen konnte, und eine gegen ihn selbst 
gerichtete Anordnung nicht treffen oder durchführen 
durfte. Zur Feststellung der Pflicht einer Stadtge- 

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meinde, Polizeikosten zu tragen, ist aber der Regierungs¬ 
präsident, der die Aufsicht über die städtische Polizei¬ 
verwaltung und die über die Verwaltung der städti¬ 
schen Gemeindeangelegenheiten in sich vereinigt, un¬ 
zweifelhaft befugt (zu vergl. Urtheil vom 26. November 
1890 in der Sammlung der Entscheidungen des Ge¬ 
richtshofs Band XX S. 65 flg.). Daher ist die an¬ 
gegriffene Verfügung trotz ihrer nicht überall zu¬ 
treffenden Begründung als rechtmässig anzuerkennen, 
wenn die streitigen Kosten zu denjenigen Kosten 
der örtlichen Polizeiverwaltung gehören, die auch 
nach Erlass des Gesetzes vom 20. April 1892 den 
Städten, in denen die Polizei von einer Königlichen 
Behörde geführt wird, verblieben sind, mit anderen 
Worten, wenn sie als mittelbare Kosten der örtlichen 
Polizeiverw f altung anzusehen sind. Diese Frage aber 
war, entgegen den Ausführungen der Klägerin, zu be¬ 
jahen. 

Ohne Grund behauptet die Klägerin, dass die Ab¬ 
wendung der Gefahren, die von einem Geisteskranken 
ausgehen, Aufgabe der Landespolizei sei. Zur Be¬ 
gründung dieser Auffassung hat sie sich zwar auf § 13 
Nr. 2 der Verordnung über die verbesserte Einrich¬ 
tung der Provinzialbehörden vom 30. April 1815 
(Gesetzsammlung S. 85) berufen, ferner geltend ge¬ 
macht, dass die Unterbringung gemeingefährlicher 
Geisteskranker in Irrenanstalten nicht den Interessen 
des Orts, an dem sie zufällig festgehalten würden, 
sondern der Allgemeinheit diene und endlich an¬ 
gegeben, dass die Maassregel der Unterbringung 
nach der bestehenden Verwaltungspraxis nicht von 
den örtlichen Polizeibehörden, sondern von den 
Landespolizeibehörden, ja sogar von den Zentral¬ 
behörden zu treffen sei. Von diesen Ausführungen 
war jedoch keine als richtig und zutreffend anzuer¬ 
kennen. Allerdings beginnt die angeführte Gesetzes¬ 
stelle mit den Worten: „Die Regierung verwaltet: 

1. . 2. die Landespolizei der allgemeinen 

Sicherheit, der Lebensmittel und anderer Gegen¬ 
stände“; allein aus dieser Vorschrift w ? ürde, selbst 
wenn die §§ 13—19 der Verordnung vom 30. April 
1815 nicht schon durch die §§ 1 flg. der Regierungs¬ 
instruktion vom 23. Oktober 1817 ersetzt wären, 
doch nichts für die Beantwortung der Frage, ob 

Original fram 

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1905.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 529 


eine sicherheitspolizeiliche Maassregel einen landes¬ 
polizeilichen oder ortspolizeilichen Charakter an sich 
trägt, entnommen werden können. Einerseits ist der 
Zweck, der in den Anfangsworten des § 13 Nr. 2 
der Verordnung vom 30. April 1815 enthaltenen 
Aufzählung nicht die Abgrenzung zwischen den Zu¬ 
ständigkeiten der Landes- und Ortspolizeibehörden, 
sondern die Aufführung derjenigen Zweige der Polizei¬ 
verwaltung, auf die sich die landespolizeilichen Be¬ 
fugnisse der Regierung beziehen, andererseits fehlt es 
an einer gesetzlichen Definition des Begriffs der all¬ 
gemeinen Sicherheit, im Gegensatz zu der Sicherheit 
der einzelnen Ortschaften. Es kann daher auch auf 
dem Gebiete der Sicherheitspolizei die Unterscheidung 
zwischen den Funktionen der Landespolizei und 
denen der Ortspolizei nur danach vorgenommen 
werden, ob die polizeilich zu schützenden Interessen 
in erster Linie solche der nachbarlichen örtlichen 
Gemeinschaft sind oder über die räumliche Be¬ 
schränkung hinaus in weiteren Bezirken, vielleicht als 
unmittelbar einheitliche Interessen des Staates hervor¬ 
treten (zu vergl. Urtheil vom 6. Januar 1894, in der 
Sammlung der Entscheidungen des Gerichtshofs Band 
XXVI, S. 87). Diese Unterscheidung aber führt 
dahin, Maassregeln, die auf Abwendung der von ge¬ 
meingefährlichen Geisteskranken ausgehenden Ge¬ 
fahren abzielen, zu den Aufgaben der Ortspolizei zu 
zählen. Freilich dient die Unterbringung von Geistes¬ 
kranken in Irrenanstalten nicht den besonderen 
Interessen desjenigen Orts, an dem diese festgehalten 
werden, denn das ist der, wo sich die Irrenanstalt 
befindet, wohl aber denen des Orts, von dem aus 
der Geisteskranke in die Irrenanstalt gebracht wird. 
Diesen bedroht ein gemeingefährlicher Geisteskranker 
zunächst und zuerst, eine Ausdehnung der von ihm 
ausgehenden Gefahr auf einen weiteren Bezitk ist 
zwar nicht unbedingt auszuschHessen, aber doch nur 
deshalb anzuerkennen, weil die Möglichkeit eines 
Wechsels seines Aufenthalts bei einem sich selbst 
überlassenen Geisteskranken stets gegeben ist. Des 
halb mag die Unterbringung eines Geisteskranken in 
einer Anstalt mittelbar auch den Interessen weiterer 
Bezirke dienen, aber dieser nur mittelbar eiutretende 
Erfolg vermag nichts daran zu ändern, dass sie als 
eine Maassregel erscheint, die den Schutz von Inter¬ 
essen der örtlichen, nachbarlichen Gemeinschaft in 
erster Reihe und unmittelbar zum Zweck hat. Wenn 
die Klägerin endlich angiebt, dass die auf Unter¬ 
bringung von gemeingefährlichen Geisteskranken in 
Irrenanstalten gerichteten Anordnungen von den 
Landespolizeibehörden, ja sogar von den Central¬ 
behörden zu treffen seien, so ist auch dies vet fehlt. 
Handelt es sich um solche Personen, deren Geistes¬ 
krankheit und Gemeingefährlichkeit hervorgetreten ist, 
ehe sie eine strafrechtlich verfolgbare Handlung be¬ 
gangen hatten, so wird eben nur die Ortspolizei- 
behördc mit den zur Abwendung der Gefahr er¬ 
forderlichen Maassregeln befasst. Eine Mitwirkung 
anderer Behörden aber ist ebensowenig erforderlich, 
wie bei anderen polizeilichen Anordnungen, die zur 
Abwendung einer dem Publiko oder einzelnen Gliedern 
desselben drohenden Gefahr getroffen werden. Nament- 

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lieh tritt eine Mitwirkung des zur Verwaltung der 
Landespolizei zuständigen Regierungspräsidenten nur 
ausnahmsweise ein, wenn er durch Beschwerde über 
die von der Ortspolizeibehörde getroffenen Maass¬ 
regeln oder über die Versagung polizeilichen Ein¬ 
schreitens zu einer Entschliessung angerufen wird. 
Trifft er in einem solchen Falle die Anordnung, dass 
der Geisteskranke in eine Irrenanstalt unterzubringen 
ist, so hat doch diese Verfügung nicht den Charakter 
einer landespolizeilichen, sondern den einer an die 
Ortspolizeibehörde gerichteten Anweisung zum Erlass 
einer ortspolizeilichen Verfügung. In denjenigen 
Fällen, in denen die Geisteskrankheit und Gemein¬ 
gefährlichkeit erst während der Untersuchungshaft oder 
der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe hervortritt oder 
mit Sicherheit festgestellt wird, erfolgt freilich die 
Unteibringung in einer Irrenanstalt im unmittelbaren 
Anschluss an die Entlassung aus der Untersuchungs¬ 
oder Strafhaft und auf Antrag der zur Bestimmung 
über die Entlassung zuständigen Behörde. Daraus 
folgt aber nicht, dass der Antrag dieser Behörde den 
Charakter einer landespolizeilichen Anordnung hat, 
welche die angerufene Ortspölizeibehörde im Aufträge 
der Landespolizeibehörde auszuführen hat, wie die 
Klägerin anzunehmen scheint. Vielmehr kann dem 
Ersuchen nur die Bedeutung einer Ueberweisung des 
Geisteskranken an die Ortspolizeibehörde zum Zwecke 
der ihr zustehenden Entschliessung über die zur Ab¬ 
wendung der Gefahr nöthigen Anstalt beigemessen 
werden, namentlich gilt dies in denjenigen Fällen, in 
denen es sich um Geisteskranke handelt, die aus den 
Gerichtsgefängnissen entlassen werden, denn hier wird 
die Bestimmung über die Entlassung allein von Justiz¬ 
behörden getroffen, denen polizeiliche Befugnisse 
nicht zustehen. Nur in denjenigen Fällen, in denen 
geisteskranke Sträflinge aus Gefängnissanstalten ent¬ 
lassen werden sollen, die unter der Aufsicht des 
Regierungspräsidenten . und des Ministers des Innern 
stehen, tritt eine Mitwirkung von zur Verwaltung der 
Landespolizei zuständigen Provinzial- und Central¬ 
behörden ein. Denn hier soll nach den Erlassen 
vom 26. Oktober 1858 und 8. März 1866 (Ministerial¬ 
blatt der inneren Verwaltung Jahrgang 1858, S. 237 
und Jahrgang i8ö6, S. 8q) von den Regierungen an 
den Minister des Innern „zur eventuellen weiteren 
Communication mit dem Justizminister“ berichtet 
werden, sobald sich die Nothwendigkeit einer Ein¬ 
stellung oder Unterbrechung der Strafvollstreckung 
gegen einen in Geisteskrankheit verfallenen Sträfling 
herausstellt Aus dieser Mitwirkung der Regierungen, 
jetzt der Regierungspräsidenten, und des Ministers 
des Innern an der Bestimmung über die Entlassung 
geisteskranker Sträflinge folgt indess nicht, dass die 
infolge dieser Entlassung erforderlich werdenden An¬ 
ordnungen über die Unterbringung des Geisteskranken 
in einer Irrenanstalt den Charakter landespolizeilicher 
Verfügung haben. Mögen auch in den die Ent¬ 
lassung anordnenden oder genehmigenden Verfügungen 
Bestimmungen über die künftige Behandlung des zu 
entlassenden Geisteskranken getroffen werden, so haben 
diese doch nicht den Charakter polizeilicher Ver¬ 
fügungen des Regierungspräsidenten oder gar des ihm 

Original frnm 

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530 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 52. 


Vorgesetzten Ministers des Innern, sondern den von 
Anweisungen, die mit Rücksicht auf die übergeordnete 
Stellung der verfügenden Behörde im Verhältnis zur 
Ortspolizeibehörde nicht nur für die Verwaltung des 
Strafgefängnisses, sondern auch für die Ortspolizei¬ 
behörde maassgebend sein mögen. Vielmehr bleiben 
die gegen den Geisteskranken zu treffenden Maass¬ 
regeln Verfügungen der Ortspolizeibehörde, auch wenn 
sie auf Anordnung der ihr Vorgesetzten Polizeiauf¬ 
sichtsbehörde getroffen werden. Die Ausführung der 
Klägerin über die bestehende Verwaltungspraxis ist 
daher haltlos und beruht theils auf einer Verall¬ 
gemeinerung der Verhältnisse, die bei der Entlassung 
geisteskranker Sträflinge aus den unter der obersten 
Aufsicht des Ministers des Innern stehenden Straf¬ 
gefängnissen entstehen, teils auf einer Vermengung 
derjenigen Bestimmungen, welche die Entlassung des 
Geisteskranken aus der Strafanstalt betreffen, mit den 
polizeilichen Anordnungen, die infolge der Entlassung 
erforderlich werden. Hiernach aber konnte aus den 
Ausführungen der Klage der Schluss, dass die Kosten 
der im Interesse der öffentlichen Sicherheit polizei¬ 
lich angeordneten Unteibringung Geisteskranker in 
Irrenanstalten stets Kosten der Landespolizei seien, 
nicht gezogen werden, vielmehr war auch ihnen gegen¬ 
über an der Rechtsauffassung festzuhalten, dass jene 
Maassregel Aufgabe der Ortspolizeibehörde und folg¬ 
lich ihre Kosten, soweit sie sich nicht als Armen¬ 
pflegekosten darstellen, Kosten der örtlichen Polizei¬ 
verwaltung sind. 

Eine entgegengesetzte Auffassung ist auch nicht, 
wie Klägerin will, aus § 344 Tit. 18 Teil II des 
Allgemeinen Landrechts herzuleiten, denn diese Vor¬ 
schrift enthält eine Bestimmung darüber, wem die 
Koslen der Unterbringung Geisteskranker in öffent¬ 
lichen Irrenanstalten obliegen, überhaupt nicht, sondern 
bezeichnet es nur als eine Aufgabe des Staates und 
der von ihm mit Wahrnehmung der öffentlichen 
Sicherheit beauftragten Behörden, die Aufnahme 
Geisteskranker in die dazu bestimmten Anstalten 
herbeizuführen. Ob eine Ausnahme von der Regel, 
dass die Kosten der Unterbringung Geisteskranker 
in Irrenanstalten sich als Kosten der örtlichen 
Polizeiverwaltung darstellen, sofern sie nicht Armen¬ 
pflegekosten sind, dann cintritt, wenn sich der Geistes¬ 
kranke früher, so lange er in Freiheit gelassen wurde, 
ausserhalb des Ortes aufgchalten hat, von dem aus 
er in die Anstalt gebracht wurde, und erst infolge 
seiner Ueberführung in ein an diesem Orte befind¬ 
liches Gefängniss und im unmittelbaren Anschluss an 
die Entlassung aus diesem der Ortspolizei überwiesen 
wird, bedarf es in der vorliegenden Streitsache keiner 
Erörterung, denn ein Fall dieser Art ist nicht ge¬ 
geben. Otto Brieger hat sich nach dem Inhalt der 
bei der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichts¬ 
hof vorgelegten Polizeiacten schon seit der am 5. 
Mai 18Q9 verfügten Entlassung aus der Provinzial¬ 
irrenanstalt zu Plagwitz in Breslau aufgehalten, ist 
erst infolge eines am Orte verübten Einbruchsdieb¬ 
stahls in Untersuchungshaft genommen und nach 
der alsbald verfügten Entlassung aus dieser dem 
Polizeipräsident zu Breslau zugeführt worden. Es 

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kann daher keine Rede davon sein, dass die Uebcr- 
weisung an die Ortspolizeibehörde lediglich auf der 
Lage des Untersuchungsgefängnisses in der Stadt be¬ 
ruhe oder Folge einer iin Interesse weiterer Gebiete 
ergriffenen Maassregel sei, denn es handelt sieb 
nicht um eine ortsfremde, sondern um eine durch 
jahrelangen Aufenthalt, anscheinend auch durch Ab¬ 
stammung und Wohnsitz der Stadt angehörige Person. 
Für eine Zurechnung der streitigen Kosten zu denen 
der Landespolizeiverwaltung fehlt es daher an jeder 
Unterlage. 

Nicht minder verfehlt ist die weitere Ausführung 
der Klägerin, dass die streitigen Kosten Gefangenen- 
kosten und deshalb, sofern sie zu den örtlichen 
Polizeiverwaltungskostcn zu rechnen seien, nicht mittel* 
bare, sondern unmittelbare Polizeikosten darstellten. 
Wenn die Klägerin sich darauf beruft, dass der Staats¬ 
anwalt in dem die Zuführung des Otto Brieger 
begleitenden Schreiben vom 11. Oktober 1902 ersucht, 
den Geisteskranken .,unter keinen Umständen ohne 
vorherige Verständigung mit ihm aus der Irrenanstalt 
zu entlassen“ und hieraus den Schluss zieht, dass die 
Haft auch nach der Entlassung aus dem Unter- 
suchungsgefängmss fortgedauert habe, so legt sie diesem 
Ersuchen eine Bedeutung bei, die es nicht hat 11ml 
nicht haben soll. Wie aus der zwar nicht im Original 
wohl aber in einer von der Polizeibehörde aus den 
Acten entnommenen und deshalb völlig glaubwürdigen 
Abschrift vorliegenden Verfügung vom 10. Oktober 
1902 hervorgeht, hat der Erste Staatsanwalt die Ein¬ 
stellung des Ermittelungsverfahrens auf Grund der 
Annahme verfügt, dass Otto Brieger zur Zeit der 
That nicht zurechnungsfähig gewesen, und zugleich 
die Absicht ausgesprochen, seine Entmündigung zu 
betreiben. Mit der Einstellung der Strafverfolgung 
aber ist die Annahme, dass dieses Ersuchen vom 
folgenden Tage in der That eine Fortsetzung der 
Untersuchungshaft in der Irrenanstalt zum Ziele habe, 
völlig unvereinbar. Dagegen erklärt es sich aus¬ 
reichend durch die auch in der Verfügung vom 
11. Oktober 1902 dem Polizeipräsidenten gegenüber 
wiederholt ausgesprochene Absicht, die Entmündigung 
des Geisteskranken herbeizuführen, denn für die 
Durchführung dieses Verfahrens war die fortdauernde 
Kenntniss von dem Aufenthalte des Geisteskranken 
schlechthin erforderlich. Zudem mochte der Staats¬ 
anwalt beabsichtigen, im Falle der Entlassung aus der 
Irrenanstalt selbst Anträge auf Grund des § 686 der 
Civilprocessordnung zu stellen oder das durch die 
weitere Beobachtung während der polizeilichen Unter¬ 
bringung gewonnene Material für die Entmündigung 
zu verwerthen. Was aber die Klägerin sonst noch 
für ihre Auffassung, dass die streitigen Kosten Polizei- 
gefängnisskosten im Sinne des § 2 des Gesetzes, 
betreffend die Kosten Königlicher Polizeiverwaltungen 
in den Stadtgemeinden vom 20. April 1892 seien, 
vorbringt, gipfelt in dem Satze, dass jeder, dessen 
Freiheit durch polizeiliche Anordnungen beschränkt 
worden ist, als ein Polizeigefangener zu betrachten 
sei. Dieser Satz ist indessen nicht als richtig anzu¬ 
erkennen und in dem Urtheil vom 10. Oktober 18qg 
(Preussisches Verwaltungsblatt Jahrgang XXI S. 538) 

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1905Ü Psychiatrisch-neurologische Wochenschrift. 531 


widerlegt worden. Wenn auch in dem angeführten 
Erkenntniss zunächst nur über die Natur der Kosten 
für Verpflegung und Kur von Prostituirten, die behufs 
zwangsweiser Heilung von Geschlechtskrankheiten in 
Krankenanstalten untergebracht waren, entschieden 
worden ist, so treffen doch die gleichen Erwägungen 
auch bei der Beurtheilung von Kosten, die durch 
eine im polizeilichen Interesse angeordnete Unter¬ 
bringung von Geisteskranken in Irrenanstalten er¬ 
wachsen, zu. Auch hier handelt es sich nicht, wie 
Klägerin annimmt, lediglich um eine „Einsperrung“ 
zu dem Zwecke, den Geisteskranken an seine Um¬ 
gebung gefährdenden Handlungen zu verhindern, 
sondern vor allem darum, ihm eine seiner geistigen 
Krankheit angemessene Pflege und Behandlung zu 
gewähren und seine Heilung oder doch Besserung, 
namentlich die Beseitigung gemeingefährlicher Er- 
regungszustände herbeizuführen. Diesem Zwecke 
dient die Ueberführung in die Irrenanstalt und die 
mit dieser nothwendig verbundene Freiheitsentziehung. 
Deshalb wird der Geisteskranke nicht zum Gefangenen 
und die Irrenanstalt nicht zum Gcfängniss. Daran 
kann auch nichts ändern, dass im vorliegenden Falle 
die Irrenanstalt an ein Strafgefängniss angegliedert ist; 
denn der Geisteskranke ist in diese nicht deshalb 
aufgenommen worden, weil er Strafgefangener, sondern 
weil er Geisteskranker ist. Man kann auch nicht 
ein wenden, dass die Ueberführung des Geisteskranken 
in die Irrenanstalt deshalb anders beurtheilt werden 
müsse, wie die eines körperlich erkrankten, ins¬ 
besondere einer mit Geschlechtskrankheit behafteten 
Prostituirten in die Krankenanstalt, weil den polizei¬ 
lich zu schützenden Interessenten schon durch eine 
Ausschreitungen verhindernde Einsperrung des Geistes¬ 
kranken genügt werde und deshalb diese als das 
Hauptsächlichste für den Charakter der gegen ihn 
ergriffenen Maassregeln bestimmende Moment er¬ 
scheine, denn das Gleiche trifft auch bei der Prosti¬ 
tuirten zu, da schon die Einsperrung diese an einem 
die Uebertragung der Krankheit bedingenden Ge¬ 
schlechtsverkehr behindert. Dass aber die auf Heilung 
oder doch auf Beseitigung gemeingefährlicher Erregungs¬ 
zustände Geisteskranker abzielenden, polizeilichen 
Maasstegein die Herstellung eines den polizeilich zu 
schützenden Interessenten entsprechenden Zustandes 
in der Aussen weit zum Gegenstände haben, bedarf 
keiner näheren Begründung. Daher war auch den 
Ausführungen der Klägerin gegenüber an der im 
Urtheil vom 12. Juni 1900 (Sammlung der Ent¬ 
scheidungen des Gerichtshofs Band NXXVIII S. 150) 
zu Grunde gelegten Rechtsauffassung, dass die Kosten 
der Unterbringung Geisteskranker in einer Irrenanstalt 
sich dann, wenn sie nicht der Beobachtung und Fest¬ 
stellung halber, ob gemeingefährliche Zustände vor¬ 
handen sind, sondern zum Zwecke der Beseitigung 
dieser Zustände erfolgt, als mittelbare und nicht als 
unmittelbare Polizeikosten darstellen, festzuhalten. 
Hiernach aber war die Pflicht zur Erstattung der 
streitigen Kosten als eine der Stadtgemeinde gesetzlich 
obliegende Leistung anzuerkennen und deshalb die 
Klage abzuweisen, woraus folgt, dass der Klägerin 


auch die Kosten gemäss § 103 des Landesverwaltungs¬ 
gesetzes vom 30. Juli 1883 zur Last zu legen waren. 

Urkundlich unter dem Insiegel des Königlichen 
Oberveiwalturigsgerichts und der verordneten Unter¬ 
schrift. 

(Siegel) 

(gez.) Peters. 


Referate. 

— 1. Sickinger, Dr., Stadtschulrath: Der 
U n terrich ts betrieb in grossen Volksschul¬ 
körpern sei nicht schematisch-einheitlich 
sondern di fferenzirt-ein heit lieh. (3,20 M.) 

2. Sickinger: Organisation grosser Volks¬ 
schulkörper nach der natürlichen Leist¬ 
ungsfähigkeit der Kinder. (0,80 M.) 

3. Moses, Dr. med.: Das Sonderklassen¬ 
system der Mannheimer Volksschule. Ein 
Beitrag zur Hygiene des Unterrichts. (0,80 M.) 

Sämmtlich erschienen zu Mannheim, A. Bong- 
heimer, 1904. 

Immer mehr Beachtung findet die Mahnung an 
unsere Fachgenossen, sich nicht allein auf die psy¬ 
chisch schwer abnormen Insassen der Anstalten zu 
beschränken, sondern ihr Interesse jeder irgendwie 
gearteten Abweichung von dem normalen psychischen 
Verhalten zuzuwenden. Ein besonders reiches Ge¬ 
biet, das auch hinsichtlich der Pathogenese späterer 
Geisteskrankheiten von grosser Bedeutung ist, stellen 
die Zustände geistiger 'Unzulänglichkeit im Kindes¬ 
alter vor. 

Den bedeutsamsten Versuch, der unendlichen 
Mannigfaltigkeit psychischer Minderwerthigkeit gerecht 
zu werden und für jede Stufe die geeignete Behand¬ 
lung zu finden, repräsentirt das Sonderklassensystem 
des Mannheimer Volksschulkörpers, der vom Stadt¬ 
schulrath Dr. Sickinger in weitblickender und ener¬ 
gischer Weise reformirt worden ist. 

Angesichts der mannigfachen Unterschiede in der 
Befähigung der Kinder erscheint es unmöglich, alle 
Volksschüler nach einem Plan zu dem gleichen 
Lehrziel zu bringen. Thatsächlich wird das Volks¬ 
schulziel noch nicht in 2 h der Fälle glatt erreicht. 
Während die Bildungsunfähigen in die Idiotenanstalt 
gehören, sind für die Schwachbefähigten Hilfsklassen 
einzurichten; die Gutbefähigten gehören in die Nor¬ 
malklassen, aber für die unter Mittel Leistungsfähigen 
bedarf es noch einer besonderen Fürsorge. Für sie 
wurden nun in Mannheim sogenannte Förder¬ 
klassen geschaffen, und zwar für die unteren Schul¬ 
jahre Wiederholungsklassen, für die oberen Abschluss¬ 
klassen, die zusammen zum Hauptklassensystem eine 
um 2 Stufen kürzere Parallelklassenreihe darstellen. 
Auch Kinder, die auf Grund körperlicher Beschwerden, 
Sinneskrankheiten, sowie durch längere Verhinderung 
am Schulbesuch, z. B. infolge Zuzugs, zurückgeblieben 
sind, gehören in diese Klasse. Ihre wichtigsten 
Förderungsmittel bestehen einmal in der geringeren 
Schülerzahl, dann in den ausgesuchten Lehrkräften; 


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Original fram 

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532 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 52. 


im Aufsteigen mit dem Klassenlehrer, in einem 
quantitativ modificirten Unterrichtsstoff, in succes- 
sivem Abtheilungsunterricht und in bevorzugter Be¬ 
rücksichtigung bei Wohlfahrtseinrichtungen, wie Schul¬ 
bädern, warmes Frühstück, Ferienkolonien, Kinder¬ 
horte u. s. w. Dringend zu wünschen ist schulärzt¬ 
liche Mitwirkung. 

Der Schöpfer dieses weitsichtigen Systems hat 
in der ersten Schrift eine zusammenfassende Dar¬ 
stellung des Ganzen, vor allem auch nach seiner 
Genese geliefert, während die beiden andern Schriften, 
die auf dem I. internationalen Congress für Schul¬ 
hygiene zu Nürnberg, IV. 1904, gehaltene Referate 
über das System darstellen, das eine von Stadtschul¬ 
rath Dr. Sickinger selbst, das andere von einem ärzt¬ 
lichen Autor. Alle 3 Schriften, vor allem die ärzt¬ 
lich gehaltene, die in der Litteratur vielleicht etwas 
knapp gefasst ist, seien der Aufmerksamkeit unserer 
Leser angelegentlich empfohlen. 

Wer, wie Referent, Gelegenheit halte, die Mann¬ 
heimer Einrichtung eingehender durch eigene An¬ 
schauung kennen zu lernen, dem wird alsbald jede 
Skeptik schwinden und dafür die Ueberzeugung er¬ 
wachsen, dass es sich hier um einen lebenskräftigen, 
vielversprechenden Organismus handelt, dessen Ge¬ 
deihen und vorbildliches Walten auch von uns im 
Interesse der Erforschung der Psychopathologie und 
Psychologie des Kindesalters lebhaft zu begrüssen ist. 

Weygandt - W r ürzburg. 

— Ueber die Frage des Heirathens von 
fiüher Geisteskranken. Vortrag, geh. auf d. 
Jahresvers. d. deutsch. Psych. in Göttingen am 26. 
Aoril 1904 von H einr ich Schüle. Leipzig 1904. 
Vedag v. G. Hirzel. Preis 0,60 M. 

Die Freiheit des Einzelnen bezüglich einer Ehe¬ 
schliessung muss eine Grenze haben, wenn eine 
Schädigung der Allgemeinheit zu befürchten ist. Verf. 
hält daher ein Eheverbot für angebracht bei Para¬ 
lyse in allen Formen und zwar in einem möglichst 
frühen Stadium der Krankheit, ferner bei degene- 
lativen Cyklikem nach mehrfachen Anfällen, bei 
ethisch degenerirten Epileptikern und Hysterischen 
und bei chronischen Alkoholisten mit pathologischer 
Charakterveränderung, schwereren, functioneilen, event. 
auch organischen Nervenstörungen. Bei den übrigen 
Scelenstörungen ist unsere Kenntniss vorläufig noch 
nicht so weit gediehen, dass Eheverbote verlangt 
werden könnten; da muss erst das Studium der 
Ei blichkeitsfrage, zu dessen Durchführung Verf. ein 
Schema mittheilt, wieder mehr in den Vordergrund 
gerückt werden. Jetzt kann indessen schon der 
Schutz der Nachkommenschaft bewirkt werden durch 
prophylactische Entmündigung und durch die ge¬ 
eignete Thätigkeit des Arztes bei der Anfechtung 
von Ehen. Arnemann - Grossschweidnitz. 

— Der Alkohol als Nahrungs st off. Von 
Prof. Dr. Rud. Rosemann in Bonn. Bonn 1904. 
Verl, von Martin Hager. Preis 0.80 M. 

Der Alkohol ist, wie Verf. auf Grund eigener 
Versuche wieder bestätigen kann, sicherlich ein Nahr¬ 
ungsstoff, aber wegen seiner giftigen Nebenwirkungen 
kann er für die Er n ähr u ng des Ges u n d en prak- 

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tisch nicht in Frage kommen. Anders liegen die 
Vcihältnisse beim Kranken: hier lassen sich durch 
den Alkohol ernährende Wirkungen erzielen, die 
durch die anderen Nahrungsstoffe nicht erreicht 
werden können. Ebenso lässt sich die eigenartige 
Wirkung des Alkohols als Genussmittel durch keinen 
anderen Stoff ersetzen. Verf. steht auf dem Stand¬ 
punkt, dass derjenige auf den Genuss alkoholischer 
Getränke nicht zu verzichten braucht, der bei nor¬ 
maler Veranlagung die geistige Kraft in sich fühlt, 
die dazu nöthig ist, im Genuss das richtige Maass 
zu finden und zu halten. 

Arnemann-G rossseh weid n i tz. 

— Der Alkoholismus. Zeitschrift zur wissen- 
schaftl. Erörterung der Alkoholfrage Organ d. Verb, 
der Trinkerheilstätten des deutschen Sprachgebietes. 
Herausgegeb. von Dr. med. J. Walds chm i d t. Neue 
Folge, Heft 2. 

In den Originalarbeiten dieses Heftes spricht sich 
Fabrikinspector Dr. Fuchs-Karlsruhe für Beschränk¬ 
ung des Flaschenbierhandels aus, Dr. La quer schil¬ 
dert in einem Reisebericht die vorbildlichen Ein¬ 
richtungen, welche zur Bekämpfung des Alkoholismus 
in der Schweiz getroffen sind (Trinkerheilanstalten. 
Alkoholfreie Wirtschaften, Absiinenzsccrctariat etc.) 
und Pastor Dr. Stubbe berichtet kurz über das 
Thema „Höhere Schule und Alkohol“. 

Arnemann - Grossschweidnilz. 

— Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 
und psych. ger. Medicin. Bd. 61, IV. 

H e gar - Illenau: Der Stotterer vor dem Straf¬ 
richter. 

Ueber einen zu 6 Monaten Gefängniss verurtheff- 
ten stotternden Soldaten erstattete Verf. ein Gut¬ 
achten dahin, dass derselbe die Erklärung über die 
Annahme der Strafe in einem Zustande krankhafter 
Störung der Geistesthätigkeit abgegeben habe; denn 
es habe bei ihm unter dem Einfluss des Angstafl'ectes 
eine mehr oder minder grosse Bewusstseinsstörung 
mit unklarer Auffassung der Vorgänge, sowie eine 
Lähmung im Denken und Handeln Vorgelegen. Das 
Gericht trat zwar den Ausführungen bei, da aber 
der Verurtheilte trotz geistigen. Schwächezustandes 
nicht als unzurechnungsfähig begutachtet werden 
konnte, so wurde das frühere Urtheil bestätigt — 
Irn Allgemeinen empfiehlt Verf., dass Stotterer vor 
Gericht niemals ohne Rechtsbeistand erscheinen. 

G e i s t - Zschadrass: Tuberkulose und Irrenan¬ 
stalten. 

Die Zahl der in Zschadrass an Tuberkulose Ver¬ 
storbenen ist ganz wesentlich grösser als im Lande 
sonst, es zeigte sich, dass die Disposition zur Tuber¬ 
kulose durch die höheren Grade geistigen Verfalls 
geschaffen wurde. Zu fordern ist sowohl im Inter¬ 
esse der nicht tuberkulösen, wie der tuberkulösen 
Geisteskranken die Errichtung besonderer Abtheil¬ 
ungen für Letztere. Grössere Anstalten hätten be¬ 
sondere Tuberkuloseabtheilungen zu bilden, im 
Uebrigen ist für 2, 3 oder mehr Anstalten an einer 
von diesen Anstalten eine Abtheilung zur Aufnahme 
solcher Kranken einzurichten. Die Zuweisung müsste 
möglichst früh erfolgen. 

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1905] 


PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


333 


Abraham-Dalldorf: Ueber einige seltene Zu¬ 
standsbilder bei progressiver Paralyse. 

Verf. wünscht, dass Fälle von Paralyse mit so¬ 
genannten „Herdsymptomen“ mehr als bi>her studirt 
werden. An einer Casuistik von 4 sehr genau be¬ 
obachteten Kranken zeigte sich, dass einerseits sich hinter 
ähnlichen Erscheinungen ganz verschiedenartige Zu¬ 
stände verbergen können und dass andererseits ver¬ 
schiedene Möglichkeiten der Entwicklung und des 
Verlaufs der sogenannten paralytischen Herderkrank¬ 
ungen existiren. Die 4 Fälle betrafen 1. Vorüber¬ 
gehende Apraxie im Anschluss an einen apoplecti- 
formen paralytischen Anfall, 2. Vorübergehende 
transcorticale sensorische Aphasie nach einem apo- 
plectiformen Anfall, 3. Subcorticale sensorische Aphasie 
nach paralytischen Anfällen und endlich 4. sensorisch- 
motorische Asymbolie (totale Aphasie, schwere Seelen¬ 
taubheit, Apraxie, Agraphie, Alexie). 

Reichardt-Würzburg: Ueber acute Geistesstör¬ 
ungen nach Hirnerschütterung. 

Verf. liefert eine Reihe von casuistischen Bei¬ 
trägen für das Auftreten acuter Geistesstörungen 
nach Himerschütterungen bei vorher geistig absolut 
gesunden Personen. Die Psychose entwickelte sich 
einige Male aus einem delirösen oder somnolenten 
Stadium, hatte eine Dauer bis zu 5 Wochen und bot 
je nach dem verschiedenen Sitz der muthmaasslichen 
Himläsion ein verschiedenes klinisches Bild. Nach 
Ansicht des Verf. ist der Sitz der Läsion nicht in 
die Gesammthirnrinde zu verlegen, sondern es han¬ 
delt sich um Herderkrankungen des Gehirns, die 
durch acute anatomische Veränderungen, hauptsäch¬ 
lich der Hirnrindengebiete hervorgerufen werden. 

Weygand t- Würzburg: Ueber Beerdigungsatteste 
bei Selbstmördern. 

Bei Beerdigungsattesten kann der Arzt eine jede, 
wenn auch fern liegende Möglichkeit eines Schlusses 
auf Geistesstörung betonen und damit eine humane 
Entscheidung der Geistlichkeit in der Frage des 
kirchlichen Begräbnisses erreichen. Wenn es sich 
dagegen um einen Rechtsstreit handelt, muss der 
strikte Beweis für Geisteskrankheit entweder aus 
dem früheren Verhalten oder aus dem Hirnbefund 
geführt werden. Zur Illustration führt Verf. den sehr 
interessanten Fall eines Selbstmörders an, der auf 
Grund eines vom Obduzenten ausgestellten Attestes 
mit kirchlichen Ehren begraben wurde, dessen Ange¬ 
hörige al^r die bei einer Lebensversicherungsgesellschaft 
versicherte Summe nicht erhielten, da derselbe Arzt er¬ 
klärte, er könne nicht beweisen, dass X. geistesgestört war. 

Meltzer-Grosshennersdorf: Die staatlicheSchwach- 
sinnigenfürsorge im Königreich Sachsen. II. Die 
Grundsätze der Schwachsinnigenerziehung in der 
Landesanstalt Grosshennersdorf i. Sa. 

Verf. betont zunächst mit Nachdruck die Noth- 
wendigkeit schwachsinnige Kinder möglichst zeitig, 
d. h. im 7.—9. Lebensjahre der Anstalt zuzuführen, 
sodann führt er dem Leser in sehr anschaulicher 
Weise bis ins Detail vor, in wie mühevoller Weise 
sich der Bildungsgang der Zöglinge, die er nach ihren 
geistigen Fähigkeiten in 4 Gruppen theilt, gestaltet. 
Das Ziel der Anstalt ist nicht die Schüler auf eine 

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einzelne Handfertigkeit zu trainiren oder sie mit 
Schulweisheit vollzupfropfen, sondern sie will sie zu 
Menschen erziehen, die in der Aussenwelt brauchbar 
sind. Arnemann-Grossschweidnitz. 

— Wollenberg. Die Hypochondrie. 
Wien, Hölder, 1904. (Aus Nothnagel, Specielle 
Pathologie und Therapie). 

Nachdem Verfasser die historische Entwickelung 
des Krankheilsbegriffes der Hypochondrie geschildert 
hat, der im Laufe der Jahrhunderte ganz ausser¬ 
ordentlichen Wandlungen unterworfen gewesen ist 
und auch jetzt sich keiner unangefochtenen Um- 
schriebenheit erfreut, schildert er die vielgestaltige 
Symptomatologie der konstitutionellen und acciden- 
tellen Hypochondrie. Er gelangt zu dem Schlüsse, 
dass die Bezeichnung Hypochondrie in dem allgemein 
gebräuchlichen Sinne kein einheitliches Krankheits¬ 
bild bedeutet, sondern sehr verschiedenartige Zu¬ 
stände deckt, und dass sie als eigentliche Krankheit 
nicht aufrecht erhalten werden kann, sondern aus 
einen psychopathologischen Zustand, eine krankhafte 
psychische Disposition besonderer Art darstellt. Neu¬ 
rasthenie und Hysterie geben einen vorzugsweise 
günstigen Boden für die Entstehung hypochondrischer 
Zustände ab. Neben der psychischen Behandlung 
gelangen die physikalischen Heilmethoden vorzugs¬ 
weise zur Anwendung, differente medikamentöse 
Mittel dürfen nur bei dringender Indikation und in 
grösseren Zwischenräumen gegeben werden. 

Mönkemöller - Osnabrück. 

— Die Hysterie im kindlichen und 
jugendlichen Alter. Von Dr. med. P. Bezy, 
Prof. a. d. Kinderklinik zu Toulouse und Dr. med. 
V. Bibent, übersetzt von Dr. med. Brodtmann. 

Nach Abgrenzung des Begriffes der Hysterie 
geben die Verfasser zunächst einen historischen 
LTeberblick über die Entwickelung der Erkenntniss 
von dem Vorhandensein der Hysterie bei Kindern, 
wobei in erschöpfender Weise chronologisch die ein¬ 
schlägigen Arbeiten französischer und anderer Autoren 
besprochen werden. In der Folge wird dann in 
gesonderten Kapiteln ausführlich der allgemeine 
Krankheitsverlauf, die specielle Symptomatologie, 
Diagnose, Prognose und Therapie der Krankheit 
unter Anführung zahlreicher casuistischer Beispiele 
in mustergültiger Weise abgehandelt. Den Schluss 
bildet ein vollständiges chronologisch geordnetes 
Litteraturverzeichniss. 

Die Arbeit ist mit ihrer vollständigen und über¬ 
sichtlichen Darstellung des genannten Gegenstandes 
als sehr lesenswerth zu bezeichnen. Dr. Thoma. 


Bibliographie 

über Kriminal-Anthropologie und Verwandtes. 
III. Quartal 1904. 

Von Medicinalrath Dr. P. Näcke in Hubertusburg. 
(Fortsetzung.) 

Stein: Ein Fall von Himbruch auf degenerativer 
Grundlage. Ref. Ibid. 

Bartels: Uebei den Eintritt der vicariirenden 
Frontaliscontraction bei congenitaler Ptosis, Zeit¬ 
schrift für Augenheilkunde 1904, Mai. 

Original from 

HARVARD UNIVERSITY 



534 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 52. 


Penta: Simulazionc di pazzia e reali disturbi o defetti 
psichici nei criminali. Rivista mensiie di psich. 
for. etc. 1904, No. 6. 

Q. Bi an c h i: L’educazione dei figli dei carcerati. Ibid. 

Bruno: Beschreibung eines Falles von Infantilismus. 
Gazetta degli osped. 1904, No. 28. 

Br ug s ch: Klinisches und Entwickelungsgeschichtliches 
über die Bedeutung der congenitalen Anomalicen 
der Haut der Steissgegend (Steissgruben, -fistel, 
-cysten und -haarbildungen). Berliner klinische 
Wochenschr. 1904, No. 29. 

K reute r: Ueber die Aetiologie der congenitalen 
Darmatresieen. Arch. f. klin. Chirurgie 1904, H. 4. 

Velhagen: Ueber Thurraschädel und Sehnerven¬ 
atrophie. Münchener medic. Wochenschr. 1904, 
No. 31. 

von Schumacher: Ein Fall von secundäret Daktylie 
an den Zehen. Wiener klin. Wochenschr. 1904, 
No. 30. 

le Domany: Eine neue Theorie über die Pathoge¬ 
nese der angeborenen Hüftgelenkluxation. Revue 
de Chirurgie, Fevr. Mars 1904. 

Nau: Die congenitalen Zwerchfellshernieen. Revue 
mensuelle des maladies de l’enfance. April 1904. 

Mendelsohn: Rippenanomalieen und Lungen¬ 
tuberkulose. Archiv f. Kinderheilk. Bd. 38, 1003. 

Maydl: Ueber den angeborenen Hochstand der 
Scapula. 1904. Tchechisch. Ref. Schmidt’s Jahr¬ 
bücher 1904, H. 8, pag. 201. 

Schallmayer: Infeciion als Morgengabe. Zeitschr. 
f. Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten 1903 
bis 1904, No. 10. 

Marianie Mannini: Intomo ad alcune note tera- 
tologiche delle mani e dei piedi. Arch. di 
psich. etc. 1904, fase. 4. 

Lombroso: Ladro pazzo morale. Ibid. 

Levi-Bianchini: SulP epilessia paranoide. Ibid. 

Ugolotti: Gigantismo parziale in un epilettico. Ibid. 

Lombroso: Rapina in un tenente dipsomane. Ibid. 

Ellero: Identitä e dissomiglianza fotografica. Ibid. 

Levi: Limite all* opera gratuita dei periti nei giudizi 
penali. Ibid. 

Baladoni: La pellagra e la delinquenza in rapporto 
al prezzo dei frumento e dei raais. Riv. Pellagro- 
logica Ital. No. 3, 1904. 

de Montmorand: Ascetisme et mysticisme. Revue 
philosophique 1904. 

Sergi: Nuove osservazioni sulle forme dei cranio 
umano. Atti della Societo Rom. di Antropol. 
1904, fase. 1—3. 

Schwalbe: Sulla suttura metopica nei primati etc. 
Ibid. 

Padula: Un’ articulazione sacro-iliaca non rara e 
fin qui non osservata. Ibid. 

Sergi: Un cervello giavanese. Ibid. 

S perino: Ghiandole sebacee della mucosa labiale 
e della mucosa delle guancie. Ibid. 

Bleuler: Zur Behandlung Gemeingefährlicher. Mo- 
natsschr. f. Kriminalpsychol. etc. 1904, H. 2. 

Qttolenghi: L’insegnamento della polizia scientifica 
ai funzionari di pubblica sicurezza. Roma 1904. 

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Ottolenghi: II momento attuale della medicina 
legale e la sua funzione sociale. Roma 1904. 

Bruni Le perizie medico-legali, come sono e corrie 
dovrebbero essere. Acqui. 1904. 

von Fabrice; Die Lehre von der Kindesabtreibung 
und vom Kindesmord. Berlin, Barsdorf, 1905. 

Oberndorfer und Steinharter: Die posthypno¬ 
tischen Aufträge in ihrer psychiatrischen und 
forensischen Bedeutung (Fortsetzg.). Friedreichs 
Blätter f. gerichtl. Medizin 1904, H. 3. 

Kornfeld: Ueberschreitung des Züchtigungsrechtes. 
Ibid. 

Grass 1 : Die Selbstmorde in Bayern (Forts.). Ibid. 

Kompe: Idiotismus und Imbezillität in strafrechtlicher 
Beziehung (Forts.) Ibid. 

Gross: Ein Fall von mehrfacher Simulation geistiger 
Störung. Der Pitaval der Gegenwart, 1904, H. 3. 

Clement: Versuchter Giftmord. Ibid. 

de la Touche: Recherches sur l’identite d’un clieven. 
Annales d'Hygiene publique. 1904, Juin. 

Donnier: De Phomicide conjugal. Paiis, Storck, 1904. 

Gambarotta: Terapia dei delitto. Alessandria 1904. 

Mule: La delinquenza nella paranoia. Sciacca 1904. 

Nucci e Viviani: Sullo stato mentale di F. A., 
omicida. Arezzo 1904. 

Varsotti: Delle umane inclinazioni. Capodistria 1904. 

V iola: Bibliografia italiana della peua di morte. 1904. 

Brichta: Zurechnungsfähigkeit oder Zweckmässigkeit. 
Wien 1904, Deuticke. 

Hänel: Ueber Mechanismus und Vitalismus. Neurol. 
Centralbl. 1904, No. 16. 

Litkens: Ueber den Einfluss der psychischen Ver¬ 
fassung der Eltern auf die Bildung des Geschlechts 
bei den Nachkommen. Obosrenije psichiatrii 
1903, No. 4. 

Wolfmann: Rassenpsychologie und Kulturgeschichte. 
Polit.-anthrop. Revue 1904, Nr. 6. 

von Neupaur: Der Kulturwerth der Mischrassen 
und reinen Rassen. Ibid. 

Juliusburger: Die Bekämpfung der Abstinenz durch 
Herrn Prof. Dr. Hüppe. Medicin. Reform 1904, 
No. 35- 

Juliusburger: Gegen den Alkohol. Berlin 1904, 
Wunder. 

Fischer: Ein einfaches und praktisches Verfahren 
für Hand- und Fussabdrücke auf Papier. Corresp.- 
Blatt der deutsch. Gesellsch. f. Anthropol. 1904, 
No. 7. • 

von Ehrenfels: Einfluss des Darwinismus auf die 
moderne Soziologie. Die Waage, 1904, No. 17. 

A rkövy: Die Rückbildung des menschlichen Gebisses. 
Oesterreich-Ungar. Vierteljahrs-Schr. f. Zahnheil¬ 
künde 1904, H. 1. 

Meyer: Die Kulturgeschichte im Lichte der Darwin¬ 
schen Theorie Odenkirchen, Breitenbad. 

Schridde: Ueber den angeborenen Mangel des proc. 
vermiformis etc. Virchow’s Arch. 177. Bd. H. 1. 

Hirschei: Ueber einen Fall von Darmmyom mit Diver¬ 
tikelbildung bei gleichzeitigem Vorhandensein eines 
Meckel’schen Divertikels. Ibid. 

La ras s: Ueber Dermoide der Bauchdecken. Diss. 
Leipzig 1904. 

Original fram 

HARVARD UNIVERSUM 



1905.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Seligsohn: Ucber congenitale Erkrankungen des 
rechten Herzens. Diss. Rostock 1904. 

Senator und Kam in er: Krankheiten und Ehe. 
3. Abtheilg. München, Lehmann 

Ledermann: Syphilis und Ehe. Ibid. 

Neisser: Trippererkrankungen und Ehe. Ibid. 

Posner: Erkrankungen der tieferen Hainwege, psy¬ 
chische Impotenz und Ehe. Ibid. 

Bl um re ich: Frauenkrankheiten, Empfängnissfähigkeit 
und Elie. Ibid. 

Eulenburg: Nervenkrankheiten und Ehe. Ibid. 

Mendel: Geisteskrankheiten und Ehe. Ibid. 

Moll: Perverse Sexualempfindung, psychische Impo¬ 
tenz und Ehe. Ibid. 

Leppmann: Alkoholismus, Morphinismus und Ehe. 
übid. 

Placzek: Aerztliches Berufsgeheimniss und Ehe. Ibid. 

Eberstadt: Die socialpolitische Bedeutung der 
sanitären Verhältnisse in der Ehe. Ibid. 

Leder mann: Hautkrankheiten und Ehe. Ibid. 

Wind u. K o d i r e k : Daktyloscopie, Verwerthung von 
Fingerabdrücken zu Identifi/.irungszwecken. Wien, 
Braumüller, 1904. 

Sy m ington: John Grattan’s Craniometer und Granio- 
metric. Methods. Journ. of Anat. and Physiol. 1904. 

Ens li n : Die Augen Veränderungen beim Thurmschädel, 
besonders die Sehhervenerkrankung. Archiv für 
Ophthalmol. 1904 pag. 151. 

Tenchini: Di un canale perforante artcrioso (infra¬ 
parietale) nella volta cranica deH’uomo adulto, 
Monit. zool. ital. 1904. 

Barchielli: Variazioni del margine supeiiore dello 
sterno umano e loro significazione. Ibid. 

Seyraour - Sewell: A study of 1 the astragalus. 
Joum. of anat. and physiol. 1904. 

Kohlbrugge: Die Variationen an den Grosshirn¬ 
furchen der Affen, mit besonderer Berücksichtigung 
d. Affenspalte. Zeitschr. f. MurphoL u. Anthrop.« 1903 

Katzenstein: Ueber eine seltene Form der Epi- 
spadie, die Eichcl-Epispadie und ihre Entstehung. 
Deutsche medic. Wochenschr. 1904, No. 21 . 

Lehmann-Nitsche: Ein Fall von Brachvphalangie 
der rechten Hand mit theilweiser Superdaktylie 
von Zeige- und Mittelfinger. Ibid. 

Blechen: Zur Casuistik der Missbildungen der weib¬ 
lichen Genitalien. Deutsche medic. Wochenschr. 
1904, No. 2 1 . 

Pearl! On the mortalily due to congenital malfor- 
mations etc. Medicine 1903, Nov. 

Rabl: Ueber die züchtende Wirkung funktioneller 
Reize. Leipzig, Engelmann, 1904. 

Damaye: Note sur un cas de suicide. Revue de 
psychiatrie 1904, No. 8. 

Vigoureux: Reaction dangereuse premeditce d’un 
paralytique general. Ref Ibid. 

Marie et Vio 1 et: Suicide et paralysie generale. 
Ref. Ibid. 

Brissaud et Meige: Type infantile du gigantisme. 
Ref. Revue de psych. 1904, No. 8. 

Borst: Recherches experimentales sur l’cducabilite 
et la fidelitc du tcmoignage. Arch. de psych. 
1904, No. II. 


) off roy: L’hoinieide dans ses rapports avec l’alienation 
mentale. Bulletin medical. 1904. 

Gangloff: Gontribution statistique ä l’etude de la 
tare hereditaire chez les alienes. These de 
Paris 1904. 

Marcndon de M o n t v e 1: I.a predisposition en 
ethiologie mentale. Journ. de Neurol. 1904, 
No. 13, 14. 

Sullivan: A Statistical note on the social causes of 
alcoholism. Journ. of Ment. Science 1904, pag. 417. 

M i d d 1 e m a s s: Traumatism and general paralysis. 
Ibid. 

Bäcker: General paralysis in Crime. Ibid. 

Ralier: Du role social du medecin. These Paris 1904. 

Berault: Les maisons de toletance au point de vue 
hygienique et social. These Paris 1904. 

K i e r n a n : Forensic aspect of double suicide. The 
Alienist and Neurologist 1904, No. 3. 

Kiernan: Mixoscopic adolescent survivals in art, 
literature, and pseudo-ethics. Ibid. 

Hughes: Morbid exhibitionism. Ibid. 

Grothers: A psvchological incident in the Court 
Room. Ibid. 

Hughes: The erratic erotic Princess Chimay. A 
psychological analysis. Ibid. 

Schölte ns: II Gerechtelijk-geneeskundige Expertises. 
Psych. en Neurol. Bladen 1904, No. 4. 

Robi nowitsch: Suicidal and homicidal acts etc. 
The Journ. of mental pathol. 1903, No. 4, 5. 

Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen u. s. f. 6 . Jahr¬ 
gang. Leipzig, Spohr 1904. 744 Seiten. 

Pr a e t o r i us: Homosexualität u. bürgerliches Gesetz¬ 
buch. Ibid. 

Wirz: Der Uranier vor Kirche und Schrift. Eine 
Studie vom orthodox-evangelischen Standpunkt. 
Ibid. 

Hirschfeld: Das Ergebnis der statistischen Unter¬ 
suchungen über den Procentsatz der Homosexu¬ 
ellen. Ibid. 

Friedländer: Die physiologische Freundschaft als 
normaler Grundtrieb des Menschen und als Grund¬ 
lage der Sociabilität. Ibid. 

von Neugebauer: 103 Beobachtungen von mehr 
weniger hochgradiger Entwickelung einer Gebär¬ 
mutter beim Manne (Pseudo-Hermaphroditismus 
masculinus internus). Ibid. 

von Neugebauer: 58 Beobachtungen von perio¬ 
dischen genitalen Blutungen menstruellen Anscheins, 
von pseudomenstruellen Blutungen etc. bei Schein- 
zwittcrn. Ibid. 

von Römer: Vorläufige Mittheilungen über die 
Darstellung eines Schemas der Geschlechtsdifferen- 
cirungen. Ibid. 

Frey: Aus dem Seelenleben des Grafen Platen. Ibid. 

Praetorius: Die Bibliographie der Homosexualität 
für das Jahr 1903. Ibid. 

Protiwenski: Der Mord an Barbara Smreck. Arch. 
für Kriminalanthrop. etc. Bd. 16, H. 3, 4. 

Finkelnburg: Die Autobiographie eines Sträflings. 
Ibid. 

Marko wich: Gedicht eines Raubmörders. Ibid. 

Siefert: Zur Frage der Schlaftrunkenheit. Ibid. 


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Original fram 

HARVARD UNiVERSITY 



536 PSYCHIATRISCH-NEUKOLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 52. 


Glos: Ein Beitrag zu Casuistik der Simulation von 
Geisteskrankheit. Ibid. 

Junk: Die Trunkenheit im Militärstrafverfahren. Ibid. 

Schneickert: Beobachtungen aus dem Raubmord - 
process Lackner-München. Ibid. 

Ein Fall von Leichenschändung. Ibid. 

Wenger: Strafprocesse vor dem römischen Statt¬ 
halter in Egypten. Ibid. 

Oberwinter: Ein Fall von angeborener Communi- 
cation zwischen Aorta und Arteria pulmonalis mit 
gleichzeitiger Aneurysmabildung des gemeinschaft¬ 
lichen Septums. Münchener medic. Wochenschr. 
1904, No. 36. 

Stein: Ein typischer Fall von Menstruatio praecox. 
Deutsche medic. Wochenschr. 1904, No. 35. 

G r o h m a n n: Ein sociales Sondergebilde auf psycho¬ 
pathischer Grundlage. Psych.-neurol. Wochen¬ 
schrift 1904, No. 23, 24. 

Lomer: Ueber Bewusslseinsgrenzen. Ibid. 

Meyer von Schauensee: Zur Frage der „geistig 
Minderwerthigen.“ Luzern, Eisenring, 1904. 

Gross: Die Degeneration und das Strafrecht. Ver¬ 
handlung des 27. deutschen Juristentages. Berlin 
1904, Guttentag. 

Tuczek: Ueber das pathologische Element in der 
Kriminalität der Jugendlichen. Zeitschr. f. klin. 
Medicin 1904. 

Zwanziger: Ein Fall von angeborener perinealer 
Dislocation des Testikels. Diss. Kiel 1904. 

Cunningham: Riesen und Zwerge. Kef. Münchener 
medic. Wochenschr. 1904, No. 37. 

Smith: Die Kriminalistische Verantwortlichkeit 

geisteskranker Mörder. Ibid. 

Mercier: Kriminalistische Verantwortlichkeit und 
Degeneration. Ibid. 

Bl e i b t r e u: Die Milieu - Entstehung des Sozialismus. 
Wartburgstimmen, Sept. 1904. 

La Cara: Su di un caso di libidiue sanguinaria. 
Riv. mens, di psich. for 1904, No. 7, 8. 

Monzardo: Contributo allo Studio delle inversioni 
sessuali. Fortsetz, und Schluss. Ibid. 

Penta: Documenti umani. ibid. 

Duhuisson: Essai sur la folie au point de vue 
medico-legal. Arch. d’anthrop. crim. 1904, Sept. 


Personalnachrichten. 

— Zürich. Dr. K. G. Jung aus Basel, stell vertr. 
Sekundararzt an der Irrenanstalt Burghölzli, hat sich 
an der Universität Zürich als Privatdozent für Psy¬ 
chiatrie habilitirt. Seine Habilitationsschrift hat den 
Titel „Ueber das Verhalten der Reactionszeit beim 
Associationsexperimente“. 

— Wern eck. Zum 1. Assistenzarzt der Kreis¬ 
irrenanstalt Werneck wurde der 3. Assistenzarzt der 
Heil- und Pflegeanstalt Deggendorf Dr. Harlan der 
ernannt. 


Neuere Ergebnisse über Veroual. 

P. Kleist*) hat io dem Pharmazeutischen Institut der 
Universität Berlin, von dem Leiter des Instituts Professor Dr. 
Thoms beauftragt, die physiologische Prüfung der Wirkung 
des Veronals bei Fröschen, Hunden, Kaninchen auf Bacterien 
und auf Blut vorgenommen. 

Veronal bewirkt an den Blutgefässen der Niere in einer Kon¬ 
zentration von 0,125 6 au f 1 Liter Blut schon bei sehr kurzer 
Einwirkungsdauer eine wenige Minuten nachhaltige, bei länger 
dauernder Einwirkung eine sehr kräftige GefässerWeiterung. 

Bei Warmblütern wird das ungelöste Veronal durch die 
Alkaleszenz des Darmes bald gelöst und nach Verlauf etwa 
einer halben Stunde nach der Eingabe beginnt die Resorption 
und mit ihr die Wirkung. Veronal gelöst eingeführt, sei es 
per os oder subkutan wirkt schneller. Die Ausscheidung durch 
den Organismus beginnt bald nach der Aufnahme, jedoch nur 
sehr langsam und ganz allmählich, infolgedessen ist auch die 
Wirkung eine sehr lange. 

„In kleinen Dosen erweist sich das Mittel als ein aus¬ 
gezeichnetes Hypnoticum.“ 

Nach sehr grossen Dosen taumelten die Versuchsthieie vor 
dem Einschlafen herum; der Schlaf war unruhig, nach dein Er¬ 
wachen schienen die Thicre von Unlust befallen zu sein Nach 
grösseren Dosen fiel ein starkes Zittern während des Schlafs 
auf, als ob die Thiere sehr frören. Da nach den Untersuchungen 
von C. Trautmann nach Veronalgebrauch eine ziemlich be¬ 
trächtliche Verminderung der Stickstoffausscheidung stattfindet 
uud infolge dieser negativen Stoffwechselbilanz die Körper¬ 
temperatur herabsinken muss, (bei grösseren Dosen Veronal 
bis zu 3 0 im Thierversuch) so ist möglicherweise der unruhige 
Schlaf nach grossen Dosen nnd das nach dem Erwachen unter 
Stöhnen und Umherwerfen auftrelende Unlustgefühl, zum 
Theil durch diese Temperaturerniedrigung bedingt. 

Gemäss dem Ablauf der Temperatureroiedrigung ist die 
Wirkung des Veionals etwa 3 Stunden nach der Einnahme 
am stärksten. 

Da irgend welche Veränderung der Niere nach Veronal- 
gaben sich nicht feststellen Hess, kann von einer Nierenreizung 
durch Veronal doch nicht die Rede sein. Die geringen nach 
sehr grossen Veronalgaben im Urin gefundenen Spuren von 
Eiweiss muss man darauf zurückführen, dass bei der verstärkten 
Transsudation infolge der Getässerweiterung und unvollkommener 
Filtration auch gelöst s Eiweiss transsudiert. 

Das starke Zittern nach grösseren Veronalgaben während 
des Schlafs dürfte als ein künstlicher Schüttelfrost aufgefasst 
werden, hervorgerufen durch ein intensives Frostgefühl infolge 
Kontraktion der Hautgefässe. 

Bakterizide Eigenschaften besitzt Veronal nicht 

Eine Auflösung von Veronal in physiologischer Kochsalz¬ 
lösung in einer Konzentration von 1 °/ 0 , 10 ccm auf 10 ccm 
Blutlösung wirkt weder auf Blutfarbstoff noch auf Blutkörperchen 
ein, sobald sie neutralisirt ist. Nicht abgestumpfte Vetonal- 
lösung laugt wegen des sauren Characters die Blutkörperchen aus. 

Wegen seiner eiweisssparenden Wirkung bei fieberhaften 
Zuständen und zehrenden Krankheiten ist es anderen bekannten 
Schlafmitteln vorzuziehen. Einer uach Veronalgebrauch auf¬ 
tretenden Polyurie sei keine grosse Bedeutung beisumesseu. 
Ob bei Nephritiden Veronalgebrauch schädlich, müssten Versuche 
am Krankenbett lehren. 


*) Ueber die physiologische Wirkung des Veronals. (Aus 
dem Pharmazeutischen Institut der Universität Berlin.) „Therapie 
der Gegenwart“, August 1904. 


W 9 F DieseNummerenthältjeeineBeilagederFirraen: 
Meister, Lucius & Brüning, Höchst a. M. 
über „Valyl“, 

und E. Merck, Chemische-Fabrik Darmstadt 
über „Thyreoid-Serura“, 
worauf wir besonders aufmerksam machen. 


Kür den redactionellm Theil verantwortlieh; Oberar/t Dr. J. Bresler, Lubhnitz (Sch esien). 

Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannähme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag vc.n Carl Marhold in Halle a. S 

Heynemann’sche Buchdruckerei (Gebr. Wo'fD in Halle a. S. 


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Original frnm 

HARVARD UNIVERSITY 





Sachregister. 

(Die Zahl» bedeuten die Seiten.) 

(Die Bibliographie über Criminalanthropologie und Verwandtes von Medizinalrath Dr. P. Näcke befindet sich auf den Seiten 

182, 190, 203, 30*, 3 11 » 3*o, 33*, 35*, 37*, 5<>3, 5*9. 533 ) 


Ablehnung, Affekt der A. 345 

Abnorme Kinder 392, 404 

Abstinenz, sexuelle und Frauenfrage 11 

Abstraktion, Versuche 120 

Addison’sche Krankheit bei Morb. Basedowii 98 

Adrenalin 384 

Affenhim 98 

Agnosie 354 

Akusticus-Tumor 162 

Aloohoiabstinenz in Irrenanstalten 402 

Alcohol und Eisenbahnunglück 181 

Alcoholfrage 268, 340, 401 

Alcohol und Geisteskrankheiten 426 

Alcohol-HaHucinose 98 

Alcoholheilstätten 402 

Alcohol und Herzleiden 181 

Alcohol als Nahrungsstoff 532 

Alcoholpsychosen 310 

Alcoholwirkung auf motorische Funktionen 372 
Alcoholwirkung auf Warmblüterherz 432 
Alcoholwirkung auf Sinne (Preisarbeit) 432 
Alcoholwirkung auf Nerven- und Seelenleben 408 
Alcoholismus, Sonderausstellung zur Bekämpfung des 
181 

Anstalt Waldfrieden 202 
Alcoholismus und Vagabondage 429 
Alcoholismus, Zeitschrift 532 
Ammonshom 162 

Amyrtrophische Lateralsklerose 439 
Anämie, Einfluss auf die Erregbarkeit des Nerven¬ 
systems 503 

Anästhesie, moralische 440 
Ansbach 140 
Antithyreoidinserum 423 


Aphasie und Demenz 416 
Apoplexia spinalis 163 
Apraxie, Gehimschnitte 108, 354 
Arteriosklerose 383 

Associationen, experim. 120, diagnostische Bedeutung 
bei Hysterie 275, rückläufige Ann. bei Geistes¬ 
kranken 329, analyt Untersuchungen der 
Associationen bei Hysterie 449, 464, 469, 481, 
493, 505, 52i 

Atheromathose des Gehirns 114 
Atrophie des Gehirns 114 

Atropincuren bei periodischen Geisteskrankheiten 

383 

Attentat, auf Irrenärzte 66 Vorster, Vallon 275 
Aufmerksamkeitsumfang 120 
Aufnahmeformalitäten 269, 275, 339, 396 
Aufnahmehäuser in Neu-Ruppin 284 
Ausdrucksbewegungen, in Form von Licht- und 
Farbenerscheinungen 121 
Ausdruck der Gemüthsbewegungen 459 
Ausländische Geisteskranke, preussisch. Minist.-Erlass 
vom 3. X. 04 384 
Aussageforschung 122, 330, 341 
Autointoxikationspsychosen 503 

Bäderbehandlung 165, 387, 417, 461, 490 
Basedow’sche Krankheit 98, Antithyreoidinserum 425 
Bauchdeckenreflexe 177 
Beerdigungsatteste bei Selbstmördern 533 
Belgien, kirchliche Irrenanstalten 295 
Bellelay, Beilage zu Nr. 15 

Berlin, Zunahme der Geisteskranken 180, Anstalt 
Buch 257, 467. Unterbringung von Geistes¬ 
kranken in Privatanstalten 467 


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Original from 

HARVARD UNIVERSITY 



538 


SACHREGISTER. 


Berufsgeheimniss u, 46, 47, 48, 54, 247 

Berufswahl und Nervenleben 132 

Bewusstsein, 35, 248, Bs.-Umfang 120, Spaltung 353 

Bewusstseinsgrenzen 215 

Bewusstseinsstörung, transitorische 396 

Blindheit, geheilte, (Hemianopsie) 310 

Blutsverwandte, Eheverbote 68 

Brie, Nekrolog 502 

Bromeigon 433 

Brünn, Anstalt, Beilage zu Nr. 15, 239 
Buddhistische Keuschheitsehen 444 

Centralnervensystem, mikroscop.-typograph. Atlas 12, 
Einfluss d. Anämie auf d. Erregbarkeit 503 
Cerebrale Kinderlähmung 407 
Cerebrinum-Pöhl 425 

Cerebrospinalflüssigkeit, cytologisch 161, 162 
Charakter und Geschlecht 231 

Chirurgische Behandlung der Neurosen und Psychosen 
502 

Chloreton 98 

Chorea, progressive Heredität 67 
Cholin 154 

Circuläres Irresein 98, 424 
Coloniale Pflege 397 
Commission, statistische, 65 
Commotionspsychose 310, 533 
Congress s. Versammlungen 
Conversion, hysterische 510 
Coordination der Bewegungen 120 
Correlationen, psychische, exper. 120 
Cretinismus 417, Schilddrüsenbehandlung 180 
Cyklische Verlaufsweise von Psychose 189, 233 
Cysticerken, Gehirn- 416, 525 
Cytodiagnose 99 

Dauerbäder 165, 387, 417, 461, 490 
Degeneration, Nerven-, 417 
Degenerirter, Mord durch solchen 148 
Delirium alcohol. febril. 163 
Demenz und Aphasie 416 
Dementia präcox 39, 67, 131 
Deutung, Psychologie der D. 120 
Didaktik, experim, 121 
Diebstahl bei Schwangerschaft 108 
Dietz, Nekrolog 112 
Dippold, Randglossen zum Fall D., 12 
Dipsomanie 68 

Distomumerkrankung des Gehirns 248 

Dortmund, Anstalt 163 

Dösen 369 

Düren 519 

Dziekanka 218 


Ehescheidung (§ 1339. *344) 1353, «567. '5^8, 

1569, 1571 B. G. B.) 31—34; Gutachten 69, 
137. 305. 426 

Eheverbote bei Blutsverwandten 68 
Elektrodiagnostik 145 
Emminghaus, Nekrolog 37 
Encephalitis 417, Epilepsie dabei 179 
Endogene Symptomencomplexe bei exogenen Krank¬ 
heiten 406 

Entlassungen, frühe 441 

Entmündigungsverfahren 425, Liquidation der Vor¬ 
besuche 12, E. b. Geisteskrankheit und Geistes¬ 
schwäche 17, Anfechtungsklage 62, Wiederauf¬ 
hebung 62, Ueberweisung an ein anderes Ge¬ 
richt 62, „Angelegenheiten“ bei entmündigter 
Mutter 63, bei Trunksucht 66, gesetzlich. 
Schutz gegen unbegründete E. 436 
Entscheidungen s. gerichtl. Psychiatrie 
Entweichung, Beihilfe, 513 
Enuresis nocturna 437 

Epidemien des relig. Fanatismus im 20. Jahrhundert 
11, in Irrenanstalten 385 

Epilepsie, Augenuntersuchung 425, Behandlung 379, 
ohne Brom 77, 425 Wandertrieb 230, alimentäre 
Behandlung 91, 201, 425, Bromeigon und Pepto- 
Bromeigon 433, E. bei Encephalitis 178, Ge- 
dächtnissleistung im epilept. Dämmerzustand 230, 
E. u. Hysterie 310, Befund nach Operation 
am Schädeldach 391, Ionentheorie, Bedeutung 
der I. bei der Behandlung der E. 369, Vor¬ 
stellungsmaterial 371, E. mit Hemiplegie 418 
Epileptiker, Anstaltseinrichtungen 108, 408, Merk¬ 
fähigkeit 354 

Epileptische Schulkinder 253 
Erbliche Belastung 414 
Erblichkeitsforschung 519 

Erkennen, optischer und acustischer Typus 116 
Erlasse f. Verfügungen 

Facialislähmung, Thränenträufeln 146 
Familienpflege 397, Gardelegen 117. Dresden 245, 
Wien 245 

Farbenblindheit 115 
Farbenschwäche 115 
Farbentheorie 115 

Fettsubstanzen im fötalen und kindlichen Rücken¬ 
mark 55 

Fortschritte des Irrenwesens 333, 363, 385 
Frauenfrage und sexuelle Abstinenz 11 
Freiheitsberaubung, unverschuldete, Pflicht zur Auf¬ 
hebung derselben (§ 239) 7 
Fucol 344 


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SACHREGISTER. 


539 


Furunkel bei Dauerbädern 388 
Fürsorgeerziehung (§ 1666 B. G. B.) 34, 513 
Fussböden 375 

Gangrän d. Zehen 114, angiospastische 502 
Ganser’sches Symptom 83, 185, 458 
Gardelegen 117 

Gebührenordnung, Entscheidung 18 
Gedächtnissuntersuchungen 119 (ungewöhnliches Ge¬ 
dächtnis»), bei affectiven Eindrücken 120; im 
epilept. Dämmerzustand 230; Merkdefekte 354 
Gefangene, Psychologie, 238 

Gefässerkrankung nach Adrenalin, experimentell 384 
Gefühle, Generalisation 121 

Gehirn-Abscess mit katatonem Verlauf 459; G., Ab¬ 
schnürung des Unterhorns 329; G.-Ammonshom 
162; G.-Anatomie, Scheitellappen, Ocdpitallappen 
170; G. eines Apractischen 108; G.-Atrophie 
und Atheromatose 114; G.-Chirurgie 144; G., 
Distomumerkrankung 248; G.-Cytoarchitektonik 
der Rinde 106; G.-Cysticerken 416, Cystic. 
racemosus 525; G.-Einfluss von Hunger und 
Schlaflosigkeit auf die Rinde 171; G.-Entwicklung 
während der ersten Monate 518; G. experimen¬ 
tables 116; G., Faserung 329; G., Hydroce- 
phalus erworbener 342; G., physiolog. und 

klinische Untersuchungen 231; G. bei Situs 
transversus 73; G.-Syphilis 503 ; G.-Tumoren, 
Symptome 162, 424; G.-Zerstörung des Schweif- 
kems 114 

Gehörschärfe, Bestimmung 116 
Geistesartung, individuelle 479 
Geisteskranke, bestrafte 427; Ätiologie, Alcohol 340, 
401; Beaufsichtigung d. G. ausserhalb der An¬ 
stalten 339; G., Behandlung 389; Entlassung 
(Min.-Erlass vom 20. V. 04) 153; frühe Ent¬ 
lassungen 441; Entscheidung über Internierung 
130, 131, 171, 396; Entweichung, Beihilfe 
513; Fürsorge für gemeingefährliche G. 23, 24, 
87, 101, 113, 123, 171, 220, 241, 273,341 (in 
Frankreich); 475,484,499,514,528 (in Preussen); 
519 (Düren); 479 (Hessen, Thüringen); Gesetz¬ 
gebung 336, 396; Haftpflicht bei Schwängerung 
einer Anstaltskranken 286; Heirathen früher G. 
100, 106, 532; Hilfsbedürftigkeit in armen¬ 
rechtlichem Sinne (Entscheidung) 302; Hilfs¬ 
verein Rheinprovinz 371, 399, 514; Zeugniss- 
fähigkeit 180, 330, 341; Seelsorge 266; 

Statistik 340, 459; Erblichkeit 340; rückläufige 
Association 329; unbekannte G, Beilage zu Nr. 
11, 20, 23, 32, 43; Zunahme d. G.en 366, in 
Berlin 180 


Geisteskranker Verbrecher, ob Strafgefangener? (§ 
120) 6; Unterbringung 65, 87, ioi, 113, 123, 
241, 247, 257, 273, 279, 403, 407, 421, 428, 

453» 467, 475. 479. 484, 499. 5*4. 528; 448 

(Hohenasperg) 

Geisteskrankheit und Tortur 407 
Geisteskrankheiten , in altbiblischer Tradition 180; 
Behandlung in Japan 147; Beziehungen zu 
körperlichen K. 372; Individualität 479; phy¬ 
sikalische Therapie 141, 389; Sauerstoftbehand- 
!ung 355 

Geistesschwäche als Entmündigungsgrund 46, 147, 148 
Geistesstörung, individuelle 479 
Gemeinschaft, eheliche und Entmündigung, 62; 
geistige 124 

Gemütsbewegungen, Ausdruck 459 
Geschäftsfähigkeit (§ 104, 113, 114 B. G. B.) 17, 

18,45 

Geschlecht, Entstehung des Gs., 36; G. u. Charakter 
231; G. u. Unbescheidenheit 232 
Gesetzgebung, Irren-, 336 

Giessen, experimental-psychologisches Laboratorium, 
19 

Grossschweidnitz 369 

Haftpflicht, gerichtl. Entscheidung, 18, 30, 63; 286 
(bei Schwängerung) 

Hallucinationen, Zwangs- 417 

Hallucinatorischer Verfolgungswahn in der Haft 230 
Halsmark, Neubildung 384 
Hallucinose, Alcohol-H., 98 
Handfertigkeitsunterricht in Idiotenanstalten 133 
Hannover, Irrenfürsorge 49 (Geschichte); (Stadt), 
Irrenfürsorge 278 

Harnblase, corticale Innervation 162 
Hautsinnesempfindungen 116 

Heirathen, früher Geisteskrankef 100, 106, 532, frühes 
Heirathen und Neurosen 430 
Heissluftdusche 383 
Hemianopsie, geheilte 310 
Hemmung und Intensitätscontrast 118 
Hermaphrodismus 260 
Herzleiden und Kaffee 181 
Herzthätigkeit, physiologisch 278 
Hilfsvereine 399, 371, 514 
Hitzig, E., Jubiläum 10 
Hoff mann, E. T. A., Biographie 458 
Homosexuelle 247, Statistik 431 
Hydrocephalus internus, erworbener 342 
Hygiama 140 

Hygiene des Rauchens 36, Schul-H. 268; der Irren¬ 
anstalten 3Ö7 


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540 


SACHRBGISTKR. 


Hypnagoge Sinnestäuschungen 429 
Hypenose 260 

Hypnotische Wirkung und chemische Constitution 91 
Hypochondrie 533 

Hypophysentumor 147; H.-Syphilis 503 
Hysterie, der Frau 220 
H. u. Epilepsie 310 
Hysterisches Irresein 74, 82, 83 
Hysterische Analyse der Associationen 449, 464, 
469, 481, 493, 505, 521; Conversion 510; H.- 
Dämmerzustände 185, 248, 458; H., diagnos¬ 
tische Bedeutung der Associationen 275 

Java, Psychiatrisches 129 
Idiophrenia paranoides 248 

Idiotenanstalten 408, Handfertigkeitsunterricht 133, 
St. Antoniusheim 371 

Idiotie, anatomische Grundlagen 138, Fürsorge in 
Bayern 230, in Sachsen 519, 533, I. u. cerebrale 
Kinderlähmung 407 

Imbecillität 407, Rechentalent 248, Lese- und Schreib¬ 
störung 382 
Incohärenz 343 

Individuelle Geistesartung und Geistesstörung 479 
Individualpsychologie 115, 479 
Inductives Irresein bei 3 Geschwistern 459 
Infantilismus, unabhängig von Schilddrüse 248 
Irrentheorie bei Epilepsiebehandlung 369 
Internirung, Entscheidung über I. Geisteskranker 130, 

131 

Irrenanstalten 408, Arbeitsverdienst 397, Aufnahme¬ 
formalitäten 269, 275, 339, Benennung 281, 
frühe Entlassungen 441, Entweichung 513, Epi¬ 
demien 385,forense Thätigkeit(in Preussen 1901 bis 
03) 256, Fussböden 375, Haftpflicht bei Schwän¬ 
gerung einer Geisteskranken 286, kirchliche I.en 
in Belgien 293* Nachtwachen 136, 152, Neu- 
und Umbauten 367, Revolte 43, sanitäre Ein¬ 
richtungen 367, Speisesäle 407, Statistik 459, 
Tuberkulose 217, 378, 532, Überfüllung 363, 
Unterhaltung und Erheiterung der Kranken 395, 
430, Wasserversorgung 376. — Ansbach 140, 
528, Bellelay (Ansicht) Beilage zu No. 15, Brünn 
desgl. und 239, Buch 257, 467, Dortmund 163, 
Dösen 369, Dziekanka 218, Grossschweidnitz 
369, Hohenasperg 448, Java 129, Königslutter 
375 (nebst Abbild.), München (Klinik) 330, Neu- 
Ruppin, Aufnahmehäuser 284, Neustadt (Hol¬ 
stein) 113, Obrawalde 499 (nebst Abbild.), Pots¬ 
dam (nebst Abbild.) 377, Saargemünd 24, 310, 
Treptow (nebst Abbild.) 368, St. Urban, Beilage 
zu Nr. 15. Valduna desgl., Weinsberg (Beschrei¬ 


bung nebst Plänen) 1, Wien 317, 319, Winnen¬ 
thal (nebst Abbild.) 374 

Irrenärzte 409, Fortbildungskurse 65, Attentate auf 
I. 66 (Vorster), Vallon 275, Reisevergütungen 140, 
410, Gehaltsaufbesserungen 446, (Westfalen), 458 
(Pommern), 498 (Ostpreussen), Irrenärzte in Russ¬ 
land 490 

Irrenfürsorge Berlin 467, Geschichte d. I. in Hanno¬ 
ver 49, Belgien 295, in Russland 490, im rus¬ 
sischen Kriege 371, Java 129, Bayern 130, 131, 
Rheinprovinz 371, New York 439, Österreich 
Centralbehörde 257, Württemberg 448, Paris 
383, Hannover (Stadt) 278, „polizeiliche“ 286 
Irrengesetzgebung 336 

Irren wesen, Fortschritte des, I. Bericht von Deiters 

333» 303.373.3S5.409 .424 

Isopral 98 

Jubiläum Hitzig 10, Pelman 180, 297, Sander 467, 
Richter 467, Klinik in Jena 310, Laehr’s An¬ 
stalt Schweizerhof 424, Dalldorf 467 
Juristen, Ausbildung in Psychiatrie 427 

Kaffee- und Herzleiden 181 

Katatonie 363, episodische K. bei Paranoia 407, Ge¬ 
nesung 418, ungewöhnlicher katatonischer Ver¬ 
lauf bei Hirnabscess 459, Verlauf 519 
Katatoniker, verschluckte Scherben 382 
Kathartische Methode bei Neurosen 370 
Keuschheitsehen, buddhistische 444 
Kinderlähmung und Idiotie 407 
Kinder, psycholog. Experiment 121, Sprachentwick¬ 
lung 122, leicht abnorme 392, 404 
Kleinhirnseitenstrangbahn, Funktion 439 
Knochensensibilität 68 

Koburg, Luise von, Gutachten über dieselbe 257, 

5M 

Kochsalzinfusionen 490 
Königslutter 375 (nebst Abbild.) 

Körperliche Krankheiten, Beziehungen zu geistigen 
372 

Korsakow’sche Psychose (s. a. polyneuritische) 67, 
98, 310 

Krieg, südafrikanische, Einfluss 491 
Kunerol 260 

Kunst, Anfänge der K. und Darwinsche Theorie 121 

Kurvenpsychiatrie 519 

Lähmung periodische 439 

Laehr-Stiftung 65, 310 

Landstreicherthum 429 

Lateralsklerose 439 

Lehrerinnen Überbürdung 458 

Leicht abnorme Kinder 392, 404 


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SACHREGISTER. 


541 


Lesestörung 38 2 
Lichtreflex galvanischer 178 

Lumbalpunktion, diagnostisch und therapeutisch 153, 
154, 161, 162 

Mähren Irrenfürsorge 239 
Maggi’s Würze 304 

Malerei in der klassischen Medizin 280 
Manische Verstimmung 407 
MalzkafFee 504 
Melancholie 67, 502 
Merkdefekte 354 
Mikrographie 448 
Militärgefangene, Psychosen 10 
Minderjährige, criminelle Fürsorge 513 
Minderwerthige, strafrechtliche Behandlung 55, 238 

Spezialanstalten 87, 453 
Missbildungen d. Rückenmarks 106, 

Misshandlung, körperliche, Begriff 7 
Moralische Anästhesie 440 
Moral insanity 407, 440 
Mord durch degenerirten Alkoholiker 148 
München, psychiatr. Klinik 65, 330 (Einweihung) 
Musikalisches, Psychologie des M. 121 
Muskelatrophie spinale 147 
Muskelbewegungen, Zustandekommen 162 
Mulkelphänomen 145, ein wenig beachtetes (Muskel¬ 
ton) 

Myasthenie 418 
Myotonie 147 

Nachahmung, Bemerkungen über 121 
Nachtwachen, Körpergewicht 136. 152, 200 
Narcotica 389 

Negativismus, negative Suggestibilität 249, 261 
Negativistische Phänomene 345, 357 
Nekrolog: Emminghaus 37, Vorster 76, 85, Dietz 
112, Penta 435, Brie 502 
Nematoden im Maulwurfshim 98 
Nervendegeneration Biologie 417 
Nervenheilstätten (Volks-) 10, 65 rheinische; 40, 108, 
Rasemühle; 92, 313, 321, 394, 406, Baden; 

338 Bauprogramin 236 

Nervenkrankheiten, physikalische Therapie 141, Sauer- 
stoffbehandlung 355, der Lehrerinnen 458 
Nervenleben und Berufswahl 132 
Nervensystem 268, Beiträge zur Physiologie des N. 
und der Sinnesorgane 35, Veränderung nach 
Radiumbestrahlung 418 
Neurasthenie 181, 220 
Neuronal 92, 109, 157, 383, 460 
Neuropathologie und Psychiatrie 71, 84, 89, 90, 
448, N. und innere Medizin 147 


Neurose, bei Telegraphisten 67, Prognose und The¬ 
rapie 220, kathartische Methode 370, bei frühen 
Heirathen 430, chirurgische Behandlung 502 
Neuruppin Aufnahmehäuser 284 
Nikotinunschädliche Cigarren 36 

Obduktion, Recht auf O. bei Versicherten 63 
Obrawalde 310 

Optische Täuschungen 115 
Pädagogik und Psychiatrie 74 

Paralyse progr. bei berühmten Leuten 9, stationäre 
189, Statistik in Luzern 275, P. mit Atrophie 
439, Heil versuche 418, familiäres Auftreten 459 
P. nebst Hirnsyphilis 503, seltene Zustands¬ 
bilder 533 

Paranoia, P. oder Dementia präcox? 39, Stirnersche 
Ideen bei P. 67, periodische P. 170, episodische 
Katatonie 407 

Paranoiker, Mordinstrumente eines P. 382 
Paris, psychiatr. Streifzüge 383 
Patellarreflexe, Physiologie 73 
Pavor noctornus 430 
Pelman Jubiläum 180, 297 (Porträt) 

Penta, Necrolog 435 
Pepto-Bromeigon bei Epilepsie 433 
Perhydrol 296 
Periodische Lähmung 439 
Periodische Psychosen Atropinkur 383 
Pessimismus Psychologie des P. 480 
Pflegepersonal 410, Unabkömmlichkeit bei Mobil¬ 
machung 125, 129, Wägungen und Körperpflege 
175, Unterricht 218, 411, Urlaub 413, Statistik 
414, materielle Aufbesserung 447 (Westfalen), 
in Russland 490 
Pflegschaft 44, 45 

Physiologie des Nervensystems und der Sinnesorgane 
35 

Poliamylitis anterior 383 

Polizeiliche Einweisung Geisteskranker 131 

Polyneuritische Psychose 48 

Potsdam Epileptikeranstalt 377 (nebst Abbild.) 

Primordialdelirien 55 

Privatanstalten, Begriff 63, Zuverlässigkeit des Be¬ 
sitzers 64, Minister.- Erlass in Sachsen 459 
Communalkranke in Privatanstalten 467 
Psychiatrie und Pädagogik 74, und Neuropathologie 
71, 84, 89, 90, 448; in Java 129, vergleichende 
Ps. 163, sociale Ps. 320, Lehrbuch von Krae- 
pelin 418, Kurvenpsychiatrie 519 
Psychiatrie, wichtige gerichtl. Entscheidungen 5, 16, 
30, 44, 54, 61; §§ 5 L 56» 120, 175, 176, (No. 


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542 


SACHREGISTER. 


3) 185, 223, 230, 239, St. G. B. §§ 66, 73, 79, 
83, 243, 249, 255, 267, Str. Pr. O. §§ 6, 104, 
113, 114, 157, 612, 618, 823,828, 1339, 1344, 
1353» 15 67» 157 L 1568, 1631, 1569, 1666, 

1786, 1793, 1906, 1908, 1909, 1910, 1911 B. 
G. B. § 210 Kinführungsgesetz zum B. G. B. 
— §§ 42, 406, 52, 91, 241, 287, 372, 373, 

383, 402, 404, 406, 410, 414, 445, 475, 568, 

575, 619, 646, 648, 649, 676, 679, 650, 650, 

664, 671, 679, C. P. O. § 172 Gerichts-Verf.- 

Ges. § 12, 36, 37, 43, 52, 57, 59, 60 R,-G. 
freiw. Gerichtsbarkeit. §3 Haftpflichtgesetz; § 11 
Versicherungsrecht; § 30 R Gewerbe-Ordnung 
— Begutachtungen in Preussen in den Jahren 
1901-03, 256. Justizirrthum 341, Leitfaden für 
Begutachtung geisteskranker Soldaten 355, straf- 
rechtl. Begutachtungen in Anstalten 426, 427 
Psychische Epidemien 11 

Psychische Vorgänge, Einfluss auf Puls und Athmung 
121 

Psychische Zwangserscheinungen 229 
Psychologie experimentelle, Laboratorium in Giessen, 
Ausstellung psychophysischer Apparate 122, Con- 
gress 19, 115, 131, Methoden 106, Individualps. 
115, 479, P. der Deutung 120, 247, P. des 
Schlafes 120; P. bei Kindern 121, P. der Aus¬ 
sage 122, P. der Gefangenen 238, Leib und 
Seele 303, P. d. Pessimismus 480, international. 
Congress in Rom 1905, 498 
Psychopathische Literatur in Russland 248 
Psychopathische Sekten 444 

Psychopathologie objective 122, individuelle 479, Pr. 
der Hysterie 449, 505, Untersuchungsmethoden 
280, sociales Sondergebilde 205; Ich-Bewustsein 
248, P. des Alltagslebens 288, Wahnprobiem 
299, Incohärenz 343, endogene Symptomen- 
complexe bei exogenen Krankheiten 406 
Psychosen, Autointoxicationspsychosen 503, bei Base¬ 
dowscher Krankheit (Antityreoidinserum) 425, 
Behandlung 490; chirurgische Behandlung 502, 
Benennung und Eintheilung 72, 90, 91, 414, 
448; circuläre 98, 189, 233; Commotionspsy- 
chosen 310, 533; Kochsalzfusionen 490; induk¬ 
tive Psychosen bei 3 Geschwistern 459: bei 
Militärgefangenen 10 (E. Schultze); periodische, 
Atropinkur 383; polyneuritische 48, 67, 98, 

310; nach Schädel Verletzungen 67, 519; Sauer¬ 
stoffbehandlung 355; Serumbehandlung 490; 
Wesen der Psychose 179 
Puls Umsetzung des Puls in Töne 121 
Pupillenstarre traumatische reflectorische 145, reflec- 
torische, Verhalten des Rückenmarkes 503 


Radium, Veränderung der Nerven nach R.-Bestrah¬ 
lung 418 

Rauchen, Hygiene des R. 36 
Reactionsversuche 122 
Rechentalent bei Inbecillität 248 
Reproduktion experim. 120 

Rückenmark, Fettsubstanzen im kindlichen und fö¬ 
talen R. 55, Missbildungen 106, Vorderhomer¬ 
krankungen nach Trauma 179, Neubildungen 
im Halsmark 384 
Rythmus der Prosa 121 

Saargemünd 24, 310 

Sachverständigenthätigkeit in Preussen bei Entmündi- 
gungen 64, 75, 382; § 66 73, 79, 83, 243 
249, 255, 267, Strafprozessordnung 6, 7, 8, 9, 
Liquidation von Vorbesuchen 12, Schaden¬ 
ersatzpflicht bei fahrlässigem Gutachten 18, Ab¬ 
lehnung 45, 55, 46, 54, 61; Information 62, 
Bekritelung 437 
Sanatogen 520 

Schadenersatzpflicht gerichtl. Entscheidungen 18 
Schädelbasis röntgenologische Untersuchung 162 
Schädelverletzuhgen psych. Störungen 67 
Schlaf, Psychologie 120, biologische Theorie 120, 
Schl, und Traum 260 

Schlafmittel, Wirkung und chemische Constitution oi 

Schlafstörungen 429 

Schlaftrunkenheit 432 

Schreibstörung 382 

Schulhygiene 268 

Schulkinder epileptische 253 

Schwachsinn, forensisch 147, 148, 407, Rechentalent 
248, Vorstellungsmaterial 371, 392, 404 
Schwachsinnigenfürsorge in Bayern 230, Sachsen 519, 
533 

Schwangerschaft, Diebstahl bei 108, 519 
Schweifkem, exper. Zerstörung 114 
Schutzmannschulen Unterricht über Geisteskranke 
445 

Seele Leib und S. 303 

Seelsorge bei Irren 266 

Sekten, psychopathische 444 

Selbstmörder Beerdigungsanst. 533 

Serumbehandlung 491 

Sexualleben und Nervenleiden 260 

Sexuelle Abstinenz 11, Gebrechen, Verhütung 181 

„Silent Unity“ 445 

Simulation von Geistesstörung 124, 396, 408, 426, 
440 , 455 

Sinnesgenuss und Kunstgenuss 220 
Situs transversus, Gehirn dabei 73 


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SACHREGISTER. 


543 


Sondenernährung 389 
Speisesäle in Irrenanstalten 407 
Spiritistische Medien, Begutachtung 68 
Sprachentwicklung des Kindes 122 
Sprachstörung Fall von eigenartiger 424 
Statistik in den Anstaltsberichten 459 
Statistische Kommission 65 
Status epilepticus (Fehlen der Anfälle) 68 
Stimersche Ideen bei Paranoia 67 
Stottern vor dem Strafrichter 
Stöwer, Ausscheiden aus dem Dienst 341 
Strafausschliessung (§ 51) für jede Einzelhandlung bei 
Delictseinheit zu prüfen 5 

Strafgesetz deutsches, Revision 108, 330, schweize¬ 
risches (Reform) 274 
Strafunmündigkeit (§ 56,2) 6 
Strangulationsversuche, Psychosen danach 383 
Suggestibilität negative 249 
Suggestion 260 

Syphilis, Gehirn und Hypophyse 503 
Syringomyelie, Traumen und Blutungen als Ursache 
66, Knochen 147 

Tabes dorsalis Frühdiagnose 155 
Tamarinden 312 
Tapiau 101 

Täuschungen optische 115 
Telegraphisten, Beschäftigungsneurose 67 
Tetanie 114, T. und Psychose 114 
Teupitz, neue Anstalt 514 
Thomsensche Krankheit 162 
Thränenträufeln bei Facialislähmung 146 
Tiefen Wahrnehmungen 116 
Tortur und Geisteskrankheit 407 
Transitorische Bewusstseinsstörung 396 
Traum und Schlaf 260 
Trauma, Vorderhomerkrankungen 179 
Traumtänzerin Madeleine G. 35 
Treptow (Abbildung) 368 
Trunksucht, Entmündigung 66 s. a. Alkohol 
Tuberkulose in Anstalten 378, 532 
Tutulin 288 

Typhus in Irrenanstalten 385 

Überbürdung der Lehrerinnen 458 
Überempfindlichkeit der Sinne als criminogener Fac¬ 
tor 396 

Unfall Beziehung zum Tod 63 

Unterhaltung und Erheiterung der Kranken 395, 
430 

Untersuchungshaft, Gesetz über unschuldig erlittene 
U. auch auf Geisteskranke anwendbar 276 


Unzüchtige Handlungen, Begriff (§ 175) 6, Beleidi¬ 
gung durch solche (§ 185) 7 
Urban, St., Beilage zu No. 15 
Umische Mensch 467 

Vagabondenthum 429 
Valduna Beilage zu Nr. 15 
Vallon, Opfer eines Attentats 275 
Verantwortlichkeit, Einsicht für diese 18, 30 
Verbrechen und seine Bekämpfung 124, V. in alt¬ 
biblischer Tradition 180, Überempfindlichkeit 
der Sinne als criminogener Factor 396 
Verbrecher geisteskranke s. Geisteskranke 
Vererbung 36, 414, 519 

Verfügungen, preussische minister, vom 14. 5. 04 betr. 
Behandlung Geisteskranker in Anstalten mit 
mehreren Verpflegungsklassen 152, vom 20. 5. 
04, betr. Entlassung verbrecherischer Geistes¬ 
kranker aus denöffentl. Irrenanstalten 153, betr. 
Gemeingefährliche 220, preuss. Min. Erlass betr. 
Ausländer v. 3. 10 04, 384 
Veronal 57, 98, 536 

Versammlungen: jurist.-psychiatrische in Stuttgart 20. 
III. 04 46, Verein für Psychiatrie und Neurolo¬ 
gie in Wien 12. I. 04 55, 9. II. 04 98, 8. III. 
04 114, 10. V. 04 147, 10. VI. 04 161, 

deutsch. Ver. f. Psychiatrie 25-27. IV. 04 64, Con- 
gress f. exper. Psychologie in Giessen 115, 131, 
psychiatr. Verein d. Rheinprovinz 11. VI. 04 
382, 12. XI. 04, 383, Göttingen psycholog.- 
forens. Vereinigung 137, Südwestdeutsche Neu¬ 
rologen und Irrenärzte 28. und 29. V. 1904 
144, 153, Nordostdeutscher psychiatr. Verein 
27. VI. 04 188, ungar. Irrenärzteverein 1904 
265, deutsche Irrenseelsorger 266 schweizerische 
Irrenärzte 273, V. für Criminalpsychologie und 
forens. Psychiatrie in Giessen 280, 330, mittel¬ 
deutsche Psychiater und Neurologen 329, süd¬ 
westdeutsche Irrenärzte 392 
Verstimmung 154, manische 407 
Vibrationsgefühl 68 

Volksbücherei medicinische v. Witthauer 48 
Vormundschaft (Ablehnung wegen Führung einer 
anderen V.) 34, Pflichten bei Kindern 34, vor¬ 
läufige 44, 62, für Ausländer 62, Zuständigkeit 
62, bei entmündigten Ehefrauen 62 
Vorsätzliche Selbstbeschädigung nicht vorhanden, wenn 
die Folgen nicht bewusst sind 7 
Vorstellungsmaterial bei epilept. Schwachsinn 3 71 
Vorster Nekrolog 76, 85 

Wahnproblem 299 
Waldbröl 56 


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Original from 

HARVARD UNIVERSITY 



SACHBBCKSngL 


5* 

Waldfrieden, Heilstätte f. Alkoholiker 202 
Wandertrieb krankhafter 230 
Wasserversorgung in Anstalten 376 
Weininger 511 
Weinsberg (Beschreibung nebst Abbildungen) 1 
Wien neue Irrenanstalt 317, 319 
Willensthätigkeit, experiment, 121 
Winnenthal (nebst Abbildungen) 374 


Zähneknirschen im Schlaf 430 
Zellenlose Behandlung 43, 389, 490 
Zeugnissfähigkeit geistig Abnormer 180, 341 
Zeugnissverweigerung 46, 47, 48 
Zurechnungsfähigkeit verminderte 12, 55, 238 
Zwangserscheinungen psychische 229 
Zwangshalludnationen 417 
Zwangsvorstellungen 383 


□ igitized b 


v Go* gle 


Original fram 

HARVARD UNIVERSUM 



Namenregister. 

(Die Zahlen bedeuten die Seiten.) 


Abraham 533 
Ach 121 
Alexander 162 
Alrutz 116 
Alt 91, 310, 355 
Alter 68 

Alzheimer 89, 100, 138, 

163 

Amant 121 
Anton 84 
Aschaffenburg 124 
Auer 238 
Axenfeld 145 

Becker 157 
Beelitz 383 
Beling 47, 48 
Benussi 115 
Berger 147 
Berkhan 148 
Beminger 268 
Berae, J., 39 
Beyer 236, 430 
Bezy 533 
Bibeat 533 

Binswanger 330, 343, 344, 
37i. 513 

Bleuler 249, 261, 441 
Böge 416, 521 
Boldt 354 
Bonhoeffer 98 
Borst 122 
Bratz 310 
Bresler 124 
Brie 383 

Brodmann 107, 533 
Bruns 84 
Bumcke 178 
Bunzl 98 

Cammerer 46 
Clifford 247 
Cloparede 120 
Cramer 90, 91, 137, 138, 
329i 330, 344 
Cronbach 67 


Dannemann 305, 446 
Dannenberger 330 
Dees 125, 131 
Deiters 333, 363, 373, 385, 

397, 409, 434 
Determann 92, 155, 321, 

394 

Detmold 138 
Diem 67 
Dietz 1 
Dinkler 163 
Dobrschansky 98 
Drastig 355 
Dürns 355 
Düring 247 

Ebbinghaus 115 
Eckhard 131 
Edinger 144 
Eggers 181 
Ehrenberg 138 
Ehrke 433 
Elmiger 275 
Elsenhaus 120, 121 
Endemann 66 
Engelmann 279 
Erb 147, 153, 154 
Esposito 48 
Ettlinger 121 
Exner 116 

Falkenberg 310 
Fauser 406 
Feldkirchner 131 
Ferranini 248 
Fischer 100, 281, 289, 

384. 5*9 

Flechsig 329, 330, 344, 355 
Flügge 519 
Forel 420 

Förster 329, 382, 383 
Frank 427, 430 
Frankl-Hochwart, v., 162 
Freymuth 189, 190, 202 
Freud 288 
Freund 220 


Friedländer 431 
Fröhlich 98, 273 
Fuchs 92, 98, 114, 147, 
161,162,313,395,418, 

439.519 

Fuhrmann 371 
Fürer 35 

Fürstner 71, 90, 91, 100, 
106,147,405,407,448 

Ganghör 407, 378 
Ganser 248, 355 
Garbini 440 
Gaupp 154 
Geist 532 
Gelpke 274 
Gerenyi 245 
Gerhardt 153 
Gerlach 108 
Gessler, v., 47 
Gierlich 170 
Glöckner 92 
Glos 396 
Gluszcwesky 201 
Goldmann 144 
Gordon 120 
Grabe, v., 407 
Grohmann 205, 444 
Groos 121 
Gross, Hans, 11 
Gross, Otto 345, 357 
Grützner 162 
Guttmann 115 

Hahn 148 
Halmi 78 
Hauser 92 
Hegar 532 
Heilbronner 67, 403 
Heinroth 138 
Hellwig 239 
Henneberg 68, 83, 458 
Henri 115, 120 
Herfeldt 140 
Hermkes 502 
Hess 276 


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Heymanns 118 
Hirschfeld 431, 467 
Hirschl 98, 114 
Hirt 408 
His 518 

Hitzig 91, 106, 144, 147, 

231 

Hoche 65, 72, 84, 147, 
153» *8o, 417, 448 
Hoffmann, A., 132 
Hoffmann, v., 146 
Hohlfeld 424 
Holländer 280 
Hopf 133 
Hoppe, F., 101 
Hoppe 369 
Hornung 372 
Hösel 329 
Husen, van, 57 

Jamin 177 
Ilsberg 320, 407 
Jolly 468 

Jung 274, 275, 407, 408 

Kahl 55, 238 
Kalberlah 310 
Karrer 124 
Kate 120 
Kayser 218, 220 
Kiene 47* 

Kleinfeiler 238 

Klinke 458 

Knapp 266 

Kochmann 432 

Koller 274, 459 

Kölpin 502 

König 407 

Kornfeld 108, 180 

Köster 372 

Kowalewsld 480 

Kraepelin 129, 131, 163, 

330.418 

Krauas 47, 144 
Kreuser 47, 48, 266, 405 
Krömer 189, 202, 220 


Original frnm 

HARVARD UNIVERSUM 



540 NAMENREGISTER. 


Kufe 503 
Kühner 181 
Külpe 120 
Kunowski 421 
Kurelia 229 

Laehr 66, 424 
Landauer 46, 47 
Lange 220 
Laqueur 147, 405 
Lay 121 
Lentz 295 
Leppmann 238 
Liegmann 108, 354, 355 
Link 131 

link (Freiburg) 145 
Lisibah 269, 275 
Loeb 432 
Lohsing 247 
Lomer 215 
Lorenz 245 
Löwenfeld 229, 260 
Ludwig 407 

Mainzer 47, 48 
Makowitz 432 
Marbe 121 

Marburg, O., 12, 439 
Marc 459 
Marthen 284, 292 
Marti us 121 
Meinert 181 
Meitzer 519, 533 
Mendel 91, 106 
Merklin 491 
Merzbacher 417 
Meschede 189, 190, 233 
Meyer 67, 190, 202, 310, 

437, 503 
Mittermaier 330 
Möbius, P. J. 9, 232, 419 
Möli 91 
Monakow 170 
Mönkemöller 49, 141, 407 
Moses 53 

Müller-Göttingen 115, 119 
Müller (Strassburg) 120 
Müller, E., 260 
Muralt 273, 274 

Nücke 11, 87, 241, 247, 


396, 403, 421, 43 

453,519 

Naunyn 147 
Neisser 43 

Neumann 92, 395, 406 
Neupert 299 
Nonne 153, 162 
Obersteiner 418 
Okada 147 
Oppenheim 220 
Orchansky 36 
Oswald 69, 165 

Pelmann 68, 90, 382 
Pfaff 268 
Pfister 405, 429 
Pick 68, 248, 448 
Pilcz 418 
Pieron 280 
v. Planck 138 
Pötzl 55, 418 
Habbas 202 

Raecke 67, 74, 82, 100 
Raimann 98 
Ransohoff 86 
Redlich 439 
Reichardt 503, 535 
Rentsch 503 
Reti 181 

Ricklin 185, 274, 275, 

449, 4ö4,48i,493, 505: 
521 

Ris 274 
Ritti 342 
Robinsohn 162 
Rosenfeld 154, 416 
Rosemann 532 
Rosenthal 161 
Rüdin 230 
Rudolf 459 
Rumpf 383 
Ruppel 115, 132 
Rydel 68 

Sandner 131, 277 
Sänger 144, 147 
Schäfer 100 
Schermers 455 
Scheven 73, 503 
Schmidt 200, 391, 459 
Scholz, F., 440 


i, Schönbom 153 
Schott 67 

v. Schreck-Notzing 147 
Schuhmacher 35 
Schüle 90, 92, 100, 106 
532 

Schüller 114, 147, 162 
Schulze 407 

Schultze, E., (Greifswald) 5 
10, 12, 17, 30, 44, 54 
61,67,91,153,230 
Schultze, Bonn, 147 
v. Schwab 48 
Schweighofer 239 
Seiffer 68 
Sickinger 531 
Siebeck 121 
Siebert 109, 383 
Siemens 76, 189, 190 
Siemerling 90, 91, 99 
Sikorski 248 
Sklarek 459 
Snell 396 

Sommer 19, 84, 106, 115, 
121, 122, 280, 330, 371 
Spearmann 120 
Speyr 427 

Spielmeyer 179, 417 
Spitzka 11 
Stadelmann 179 
Stackemann 108 
Stark 179 
Starlinger 246 
Stegmann 370, 371 
Steinbeiss 396 
Steiner 245, 384 
Stern 122 
Stewart 491 
Stoll 181 
Stolper 100 
Stoltenhoff 220 
Stransky 114, 418, 439 
Strauss 502 
Strohmaier 519 
Struycken 116 
Stumpf 303 
Szabo 379 

Talesko 147 
Taniguchi 248 


Tanzi 457 
Taruffi 260 
Thoma 404, 406 
Thomsen 383 
, Tiling 479 
Tilkowsky 346 
Tippei 383 
Tobler 154 
, Tomaschny 175, 461 
, Toulouse 280 
Tschermak 116 
Tscheijew 310 
Turczek 513 

Viedenz 67 
van Vleuten 459 
Vocke 130, 131 
Volck 511 
Vorster 24, 310 

Wagner v. Jauregg 180 
Wanke 74 
Watt 122 
Weber 329, 342 
Weininger 231 
Weisser 48 
Wende 519 

Wemicke 90, 91, 344, 

354 

Westphal 66, 106, 383 
Weygandt 73, 84, 91, 120, 
171, 230, 253, 

392, 406, 430, 533 
Wichmann 458 
Wickel 117, 127, 152, 

189, 190, 499 
Wiedersheim 162 
Wildermuth 405 
Wilmans 429 
Wirth 120 
Witthauer 48 
Wizel 248 

Wollenberg 47, 48, 90, 

100, 416, 533 
Wreschner 120 
Wüst 454 

Zahn 230 
Zander 268 
Zappert 55 
Zeller 266 

Ziehen 90, 329, 330, 355. 


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Original from 

HARVARD UNIVERSITY 





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Original fram 

HARVARD UNIVERSITY 





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Original fram 

HARVARD UNIVERSITY 




Y/c/3t7 


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HARVARD UNIVERSITY