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Boston
Medical Library
8 The Fenway.
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Psychiatrisch-Neurologische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des ln- und Auslandes
herausgegeben von
Direktor Dr. K. Alt, Uchtspringe (Altmark). Prof. Dr. 6. Anton, Graz. Prof. Dr. Bleuler, Zürich. Direktor
Dr. van Deventer, Meerenberg (Holland). Prof. Dr. L. Edinger, Frankfurt a. M. Prof. Dr. A. Guttstadt, Geh.
Med.-Rath, Berlin. Prof. Dr. E. Mendel, Berlin. Prof. Dr. Mingazzinl, Rom. Dr. P. J. Möbius, Leipzig. Direktor
Dr. Morel, Mons (Belgien.) Direktor Dr. Olah, Budapest. Direktor Dr. Ritti, St. Maurice (Seine). Direktor
Dr. H. SchlÖ88, Kierling-Gugging (Österreich). Prof. Dr. Ernst Schultze, Greifswald. Prof. Dr. med. et phil.
Sommer, Giessen. Direktor Dr. Urquhart, Perth (Schottland). Professor Dr. med. et phil. W. Weygandt, Würzburg.
Unter Benützung amtlichen Materials
redigirt von
Oberarzt Dr. Job. Bresler
Lublinitz (Schlesien).
Sechster Jahrgang 1904/1905.
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a S
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bammelblatt zur Besprechung aller FrägWrtreS^Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
berausgegebe
Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. Q. Anton, Prof. Dr. Bleuler,
Uchtspringe (Altcnark). Graz. Zürich.
Prof. Dr. A. Guttatadt, Prof. Dr. E. Mendel
Geh. Med.-Rath, Berlin. Berlin,
Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Ritti,
Budapest. St. Maurice (Seine).
Direktor Dr. Urquhart,
Perth (Schottland).
Direktor Dr. van Deventer, F
Meerenberg (Holland).
Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius
R° m . Leipzig.
Direktor Dr. Heinrich Schloss, Professor D
Kierling-Gugging (Österreich). ,
Dr. med. et phil. W. Weygandt,
Privatdocent, Würzburg.
Unter Benützung amtlichen Materials
r^digirt von
Oberarzt Bi?; Jbbu Bresier,
Lublmnz (Schlesien).
Vertag von CARIi MAR'HOLD'in Hallte a. S.-
Tel»gi.-Adre»e: Marho Id Ver lae, Hal letaalc; FertMpredler
in Stärke von 1^—2 Bogen und kostet pro Quartal 4 Mk;
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie dierVerlagsbuchhandlung von Carl’Mafhbld in Halle a. S
Inserate werden für die jspaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein
___ Zuschriften «r «Me-Redaction sind ah Gberarft' Dr. Joh. Br es ler, Lublihitz (Schlesien), zu richten.
Inhalt: Die Kgl. Heilanstalt Weinsberg. Von Obermedicinalrath Dr. Dietz in Stuttgart {S. i). _ Wichtig.
auf dem Gebiete der gerichtlichen Psychiatrie. III. Aus der Litteratur des Jahres "1903 zusammengestellt
Schul tze (S. 5). — Progressive Paralyse und berühmte Leute. Von P; J. Möbius (S o) _ Mittl
— Referate (S, 10).-Pcr«onalnacbriclHei>-(S. ifi-). -----— -——
Die Kgl. Heilanstalt Weinsberg.
Von Obermedicinalrath Dr. Dietz in Stuttgart ,
Mattes vom i. Stättengebäude, Eiskeller und Gewächshaus. Ausserderti
1 ge meinen wurden die Heizcanäld mit den Dampfleitungsröhreri,
Mit dem Bau welche die einzelnen Gebäude mit ihre Heizcentreri
lern schon im verbinden, fertiggestellt. Nahezu beendet wurde die
estellt worden Canalisations- und diejKläranlage. Begonnen wurde
1 19 Gebäude noch im Jahre 1902 mit der Chaussirung der Strassen.
211 Pavillons“, Die innere Einrichtung der offenen Pavillons wurde
chaftsgebäude i m Sommer 1903 so weit gefördert, dass am
leamtenwohn- 23. November 1903 die ersten Kranken
J endlich die aufgenommen und die Pavillons No. 7 a und“ 5 a
für ruhige (vergl. Plan) belegt werden konnten, denen im Laufe
Verpflegungs- des Winters andere offene Pavillons folgten. Die
e 1902, im ganze Anstalt sollte im Frühjahre 1904 in Betrieb ge-
§$}j/plS£ r * ür kommen werden. Dieser Termin muss jetzt wieder
und auf Herbst veischoben werden, weil die technische
fr*. das Ausstattung und Möblirung der Innenräume erst bis
\ dahin vollendet sein werden. Zum ersten Director
wurde der. seitherige Oberarzt Dr. Kemmler berufen
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. i.
Die Oberleitung des Baues lag in den Händen des
Bauraths Gebhardt, des Oberbauraths Gsell und von der
K. Domänendirection hier, die unmittelbare Bauleitung
in denen des Bauinspectors Schmöger in Heilbronn.
Die Anstalt ist für 500 Kranke bestimmt.
Die Ansicht (Abbildung 1) zeigt sie von Süden ge-?
sehen, nach einer von der Strasse nach Weinsberg .
aufgenom menen Photographie. Im Vordergründe
liegen die Gebäude.' des Gutshofs, der seitherigen
Domäne „Weissenh'of“, kenntlich, durch ihre Um¬
fassungsmauern.; Die Geschichte des NVeisscnhofs
reicht ziemlich weit zurück, wovon verschiedene noch
förmig angeordnete Gesammtanlage mit den die
Anstalt gegen Norden schützenden Höhenzügen.
Ebenso tritt die Anordnung der Krankenpavillons
mit der Hauptfront gegen Süden ohne weiteres
hervor. Am Waldessaum im Hintergrund ist das
Wasserreservoir sichtbar. Vor dem Gutshof sich
hinziehend ist noch die Strasse nach Weinsberg zu
bemerken (Entfernung bis zum Bahnhof etwas über
2 km).
Das Areal der ca. 200 m ii. d. M. gelegenen
Anstalt beträgt, wie schon früher gesagt, 88 ha,
von denen 14 ha überbaut sind, 74 ha, wohl
Al)b. J. Ansicht von Süden.
erhaltene Baudenkmalc zeugen; eines der Gebäude
führt jetzt noch den Namen „Schlösschen“. Solange
der bauliche Zustand der Gebäude dies erlaubt, soll
der Gutshol als Colonie Weiter benützt werden.
Hinter diesem sind die etwa 100 111 weiter nördlich
beginnenden Anstaltsgebäudc sichtbar, und zwar der
Gesammtanlage entsprechend hauptsächlich die im
südlichen Theile gelegenen offenen Pavillons, westlich
mit dem offenen Pavillon No. 5 b (vergl. Plan) be¬
ginnend, östlich mit dem Wirtschaftsgebäude (No. 10
des Plans) endigend. Das weiter östlich, ausserhalb
des Gebiets der Krankenhäuser gelegene Maschinen-
und Kesselhaus (No. 28 des Plans) ist auf der Ansicht
nicht mehr zu sehen. Leicht kenntlich ist ipv
Centrum das Verwaltungsgebäude durch sein Uhr-
thürmchen. Die Gebäude des nördlichen, geschlossenen
Theils der Anstalt treten von dem ziemlich tiefer
gelegenen Standpunkt der photographischen Aufnahme
aus nur z. Th. mit ihren Giebeln und Dächern
hervor. Dagegen zeigt die Aufnahme sehr deutlich
die von Süd nach Nord leicht ansteigende, terrassen¬
arrondirt, zu landwirthschaftlichem Betriebe zur Ver¬
fügung stehen. In der Umgebung der Anstalt be¬
finden sich, von einer ca. 1 ' 2 km entfernten, an der
Sülm liegenden Mühle abgesehen, keine fremden
Betriebe und Niederlassungen. Die grösste Aus¬
dehnung der Anstalt beträgt von Süd nach Nord
ca. 500, von < >st nach West ca. 400 m. Die
Eintheilung und Anlage der einzelnen Gebäude ist
aus dem Situationsplan ersichtlich.
In der nördlichen (oberen) Hälfte liegen die
„geschlossenen“, in der südlichen (unteren) die
„offenen Häuser“, und zwar so, dass sich westlich
die Männer-, östlich die Frauenabtheilung befindet.
Die Geschlechtsaxe bildet die von Süd nach Nord
ziehende Hauptstrasse, welche, das Centrum der
Anstalt ringförmig umziehend, sich nördlich bis zum
Scctionshaus, No. 25, fortsetzt. Im Centrum liegen
die gemeinsamen Zwecken dienenden Gebäude: das
Verwaltungsgebäude, No. 9, das Gesellschaftshaus,
No. 11, mit dem davorliegenden Festplatz und die
zur Zeit noch nicht erbaute Kirche, No. 13; ausserdem
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Abb. 2. Lagcplan. — i. VVohuhaus d.^Directors. \2. Wohuh. d. Oberarztes u. Verwalters. 3. Portierhaus. 4. Offener Pavillon
I. u. II. CI. t. Männer. 5. a, b, c, Offene Pavillons III. CI. f. Männer. 0. Offener Pavillon I. u. 11 . CI. f. Frauen. 7. a, b, c.
Offene Pavillons III. CI. f. Frauen. 8. Werkstätte. 9. Verwaltungsgebäude. 10. Wirthschaftsgebäude. 11. Gesellschaftshaus. 12. Eis¬
haus. 13. Betsaal. 14. Haus f. halbruhige Männer. 15. Aufn.- u. Ueberw.-Haus III. CI. f. Männer. 16. Aufn.-u. Ueberw.-Haus
I. u. II. CI. f. Männer. 17. Ueberw.-Haus f. unruhige Männer. 18. Lazarett f. körperl, kranke Männer. 19. Haus f. halbruhige
Frauen. 20. Aufn.- u. Ueberw.-Haus III. Kl. f. Frauen. 21. Aufn. u. Ueberw.-Haus I. u. II. CI. f. Frauen. 22. Ueberw.-Haus
körperl, kranke Frauen. 24. Dcsinfections- u. Trockenhaus. 25. Sce^pnsh^u^.jp^.Leichenhalle.
■*28. Kessel- u. Maschinenhaus. 29. Metzgerei. 30. Bäckerei. X 1. Gewächshaus. \2. Kläranlagen.
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jxSmi*
4 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. r
ein offener Frauenpavillon, No. 7 c (s. u.). Um das
Centrum gruppiren sich in ungefähr kreisförmiger
Anlage die Krankenhäuser in der Art, dass von Nord
nach Süd ein allmählicher Uebergang von Wach¬
abtheilungen zu freier Behandlung stattfindet. Atn
weitesten gegen Nordost bezw. Nordwest liegen in
und sodann die offenen Pavillons No. 5 a—5 c und
7 a—7 c für Kranke der III. und No. 4 und 6 für
solche der I. und II. Classe. Diese Anordnung und
Zahl der Krankenpavillons ermöglicht eine weit¬
gehende individualisirende Behandlung und Gruppirung
der Pfleglinge. Die Entfernung der einzelnen Häuser
ziemlich excentrischer Lage und über 60 m von den von einander beträgt im Mittel *50 m; jedes Haus
nächstgelegenen Pavillons entfernt — so dass etwaiger liegt in dem dazu gehörigen Garten. Die gärtnerische
Lärm mehr nach aussen verhallt — die Wach- Anlage der Anstalt, welche der Firma Lilienfein & Sohn
abtheilungen für Unruhige, No. 17 und 22. Ihnen in Stuttgart übertragen wurde, ist zur Zeit in Aus¬
reihen sich in südlicher Richtung an die ruhigen führung begriffen.
Wachabtheilungen für Kranke der III. Verpflegungs- Zwischen die geschlossenen und die offenen Ab-
classe, No. 15 und 20, und ebenso für solche der theilungen der Frauenseite schiebt sich das Wirth-
I. und II. Classe, No. 16 und 21. Diesen folgen schaftsgebäude, No. 10, ein. Diese Anordnung er-
die Pavillons No. 14 und 19 für halbruhige Kranke möglicht es, ebensowohl Pfleglinge der offenen
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Abb. 3b. Aussicht von der Austal! gegen Södosten.
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Abb. 3a. Ansicht der Anstalt vonjSiidwcstenaus gesehen.
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PSYCHIATRISCH-NUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
5
Pavillons als solche der geschlossenen Anstalt und
besonders des Halbruhigenhauses, sobald diese sich
hierzu eignen, in der Koch- und Waschküche be¬
schäftigen zu können, ohne dass die Entfernung und
der Weg dahin hinderlich wären.' Um vom Kessel¬
haus auf möglichst kurzem Wege Dampf für das
Wirthschaftsgebäude zu erhalten, ist für letzteres der
im Situationsplan ersichtliche Platz gewählt und der
offene Pavillon No. 7 c, welcher dem Haus No. 5 c
auf der Männerabtheilung entspricht, in den inneren
Ring verlegt worden. Das Maschinen- und Kesselhaus,
No. 28, liegt, wenn auch in nächster Nähe des
Wirtschaftsgebäudes, doch abseits der Krankenhäuser,
so dass eine Störung und Belästigung der Pfleglinge
durch Kohlenzufuhr, Russ und Rauch ausgeschlossen
ist. Die excentrische Anordnung desselben tritt am
besten hervor auf der südwestlichen Ansicht der
Anstalt (in welcher die obengenannte Mühle an der
Sulm im Vordergrund liegt, vergl. Abbildung 3 a).
Hier ist auch die Lage der Kläranlage, No. 32,
der Metzgerei, No. 29, und Bäckerei, No. 30, des
Situationsplans ersichtlich.
Aehnlich wie bei dem Wirthschaftsgebäude wurde
auch die Lage des Gesellschaftshauses und der noch
auszuführenden Kirche so gewählt, dass dieselben von
allen Seiten ohne zu langen Weg erreichbar sind.
Das Werkstättengebäude, No. 8, liegt zwar im Gebiet
der offenen Pavillons, aber doch so, dass es ebenfalls
vom Halbruhigenhaus aus ohne Schwierigkeit benützt
werden kann.
Endlich sind noch die beiden, dem Desinfections-
und Trockenhaus nächstgelegenen Lazarethe, No. 18
und 23, das in der Nähe der Küche gelegene
Eishaus, No. 12, weiter das inmitten von Früh¬
beeten und Gartenland gelegene Gewächshaus,
No. 31, sowie die Beamtenwohnhäuser, No. 1 und 2,
zu erwähnen.
Sämmtliche Gebäude sind, wie früher schon
erwähnt, Backsteinbauten mit Falzziegelbedachung
auf Betonfundament, mit sparsamer Hausteinver¬
wendung für Fenstereinfassungen etc. und in einfachem
ländlichem Stil gehalten. Eine für das Auge an¬
genehme Abwechslung wurde dadurch erzielt, dass
für verschiedene Häusergruppen verschiedenfarbige
Backsteine gewählt wurden.
Von besonderem Werthe ist es, dass infolge der
Ansteigung des Bauplatzes von Süd nach Nord den
Kranken sowohl von den Zimmern als insbesondere
auch von den Gärten aus ein freier Blick in die
malerische Umgegend der Anstalt gesichert ist. Die
unmittelbar nördlich von den Ueberwachungshäusern
aufgenommene Aussicht gegen Südosten (Abbildung 3 b)
zeigt im Hintergrund die Löwensteiner Berge. Direct
südlich (auf der Photographie nicht mehr sichtbar) liegt
Abb. 4. 2 offene Pavillons und ein Theil des Gesellschaftsbauses
von der Rückseite mit Blick auf Weibertreu und Weinsberg.
im Vordergrund des Blickfeldes Weinsberg mit der
Weibertreu (vergl. Abbildung 4), westlich das Sulm-
thal mit den Heilbronner Bergen.
Die Wasserversorgung der Anstalt erfolgt
von verschiedenen Quellen, welche auf eigenem
Gebiet, etwa 800 m nordöstlich der Anstalt, neben¬
einander entspringen, insbesondere der alten, sogen.
„Herzogsquelle“. Sie sind gemeinsam gefasst und
liefern ein frisches, reines Trinkwasser von 8 e C.
Temperatur. Das Wasser wird einer Pumpstation,
zu welcher die frühere „Weissenhofmühle“ umgebaut
wurde, zugeleitet und mittelst Pumpwerk, das in der
Regel durch die vorhandene Wasserkraft, in wasser¬
armen Zeiten durch electrischen Antrieb in Bewegung
gesetzt wird, auf das Hochreservoir (s. o.) gehoben.
Bei der Berechnung des Wasserbedarfs wurde die
Forderung von 500 1 pro Kopf und Tag bei einer
Gesammtzahl von 500 Kranken zu Grunde gelegt;
hiernach waren 2,9 Secundenliter Wasser erforderlich.
Die Quellen liefern im Minimum 3,0 Secundenliter.
(Fortsetzung folgt.)
Wichtige Entscheidungen auf dem Gebiete der gerichtlichen Psychiatrie, III.*)
Aus der Literatur
de s J ahres
1903 zusammengestellt
von Ernst Schultze.
I. Strafgesetzbuch
§ 5 1 -
|~^urch die Zusammenfassung verso}^ ^
handlungen zu einer Delicti^; L
jjinzel-
ir
v
Gericht nicht der Pflicht enthoben, bezüglich jeder
Einzelhandlung zu prüfen, ob zur Zeit ihrer Begehung
der Strafausschliessungsgrund des § 51 vorhanden war,
da jede der Einzelhandlungen, aus denen sich die
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6
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. i.
i
Delictseinheit zusammensetzt, für sich allein alle
Merkmale eines selbständigen Delicts an sich tragen
muss und deshalb auch als Bestandtheil einer Delicts¬
einheit dem Angeklagten nicht zugerechnet werden
darf, wenn zur Zeit der Begehung es an der wesent¬
lichen Voraussetzung für die Strafbarkeit, der Zu¬
rechnungsfähigkeit, fehlt. (R.-G. IV, Urteil vom 6.
März 1903.)
D. R.**) pag. 216, Entscheid. No. 1210.
§§ 50, 176 No. 3.
§ 56 Abs. 2 setzt voraus, dass gegen einen An¬
geschuldigten, der zu einer Zeit, als er das zwölfte,
nicht aber das achtzehnte Lebensjahr vollendet hatte,
eine strafbare Handlung begangen hat, der Thatbestand
der betreffenden strafbaren Handlung in objektiver wie
in subjectiver Richtung erwiesen ist, eine Verurtheilung
aber nicht erfolgen kann, weil der Angeschuldigte
bei Begehung der strafbaren Handlung nach der
Ueberzeugung des Gerichts die zur Erkenntniss ihrer
Strafbarkeit erforderliche Einsicht nicht besessen hat.
Der Thatbestand des §176 No. 3 erfordert in sub¬
jectiver Hinsicht das Bewusstsein des Thäters von
dem objectiv unzüchtigen Charakter seiner Hand¬
lung, und dieses Bewusstsein ist 11 i c h t gleichbe¬
deutend mit dem Handeln aus wollüstiger Erregung,
deren Trieb nur instinktiv, mithin unbewusst
gefolgt wird. (R.-G. IV, Urteil vom 12. Mai 1903.)
D. R. pag. 319, Entscheid. No. 1784.
■ § 120.
Nach den Feststellungen wurde Sch. nach Antritt
der ihm zuerkannten dreijährigen Zuchthausstrafe aus
der Strafanstalt auf Veranlassung des Anstalts¬
arztes unter einstweiliger Gewährung von Straf¬
unterbrechung als Geisteskranker nach der
staatlichen Irrenanstalt verbracht und dort bis auf Weiteres
internirt. Hieraus folgt, dass Sch. während der Zeit,
in welche die Begünstigung seiner Flucht durch M.
fällt, nicht mehr Strafgefangener war, und kann
hieran auch der Umstand nichts ändern, dass Sch.
in der sogenannten Zellenabtheilung, in der sich
hauptsächlich die aus der Untersuchungshaft oder
Strafhaft der Irrenanstalt überwiesenen Personen be¬
finden, untergebracht und hier einer besonders auf¬
merksamen Bewachung und Beaufsichtigung durch
das Wärterpersonal unterstellt war. Zwar ist damit
nicht ausgeschlossen, dass er gleichwohl auch in dieser
Zeit ein Gefangener war, da unter einem solchen
*) Vergleiche hierzu diese Zeitschrift Jahrgang IV 1902 03
No. 1 und 2; Jahrgang V 1903 04 No. 1—4.
**) Das Recht.
im Sinne der 120 und ff. des Str.-G.-B. Jeder
zu verstehen ist, welchem durch ein Organ der Staats¬
gewalt in formell gesetzlich gebilligter Weise aus
Gründen des öffentlichen Interesses die persönliche
Freiheit entzogen wurde und welcher sich in Folge
dessen während der Dauer der Freiheitsentziehung
in der Gewalt der zuständigen Behörde befindet
(Rechtsprechung des R.-G. in Strafsachen Bd. IV
S. 356, Bd. VII S. 273. Entsch. des R.-G. in Straf¬
sachen Bd. XII S. 420, Bd. XV S. 39, Bd. XIX
S. 330). Das erste Urtheil lässt aber in dieser Hin¬
sicht jegliche nähere Feststellung vermissen, wer die
Unterbringung des Sch. als Geisteskranker in der
Irrenanstalt angeordnet hat, ob diese namentlich
durch eine staatliche Behörde geschah, ob dieselbe
zu einer derartigen Anordnung gesetzlich zuständig
war, ob die Anordnung aus Gründen des öffentlichen
Interesses geschah und Sch. auch während seiner De-
tention in der Gewalt der dieselbe anordnenden Be¬
hörde verblieb. Das vorige Urtheil spricht auch hier
nur ganz im Allgemeinen davon, dass Sch. zur Zeit
seiner Flucht auf Anordnung der zuständigen Be¬
hörde sich dortselbst befand und aus Gründen des
öffentlichen Interesses als Geisteskranker und gemein¬
gefährlicher Verbrecher hier seiner persönlichen
Freiheit beraubt war. Irgend eine nähere Begrün¬
dung hat aber auch diese erstrichterliche Annahme
nicht gefunden und bleibt insbesondere völlig unauf¬
geklärt, welche Behörde der Vorderrichter hierbei
im Auge hatte, die Strafvollstreckungsbehörde, welche
in Folge der gewährten Strafunterbrechung mit dem
einstweilen aus der Strafhaft entlassenen Sch. zunächst
nicht weiter befasst war, den Gefängnissarzt, welcher
ersichtlich nur die Ueberführung des Sch. aus der
Strafanstalt in die Irrenanstalt anregte, aber nicht
anordnete und füglich auch nicht wohl anordnen
konnte, die Polizeibehörde oder irgend eine andere
Behörde. (Urth. des III. Sen. des R.-G. vom
IQ. October 1902.)
J. W.*) pag. 74.
£ 1 75 -
Es ist nur festgestellt, dass die Angeklagten sich
aufeinandergelegt und beide in dieser Lage mit ihren
Unterleibern beischlafsähnliche stossende Bewegungen
gemacht haben. Die zur Annahme eines beischlafs-
ähnlichen Actes erforderliche unmittelbare Berührung
des activen Gliedes mit dem gemissbrauchten Körper
ist jedoch hierin nur dann zu finden, wenn eine
Entblössung d es erste ren stattgefunden hat. (Urth.
des IV. Sen. vom 19. December 1902.)
J. W. pag. 211.
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1904.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 7
§ 185-
Bei der durch unzüchtige, nicht in wollüstiger
Absicht erfolgte Betastung eines Kindes verübten
Beleidigung desselben ist es für deren Thatbestand
ohne Bedeutung, ob das Kind die Beleidigung als
solche empfindet Aber auch einem etwaigen Ein-
verständniss des Kindes kann eine rechtliche Be¬
deutung nicht beigelegt werden, weil ihm die freie
Verfügung über das verletzte Recht der Geschlechts¬
ehre nicht zusteht. (R>G. III, Urtheil vom 5. Fe¬
bruar 1903.)
D. R. pag. 133, Entsch. No. 713.
§ 223.
Im vorliegenden Falle hat durch das Ausreissen
der Haare und das Anstreifen der Revolverkugel
eine Einwirkung auf den Körper des Mädchens statt¬
gefunden , die durch plötzliche heftige Reizung der
Empfindungsnerven sie in Schreck versetzt und ihr
körperliches Missbehagen erzeugt hat. Es hat aber
nicht bloss eine davon unabhängige Erschütterung
des seelischen Zustandes, bedingt durch die nachträg¬
liche Vorstellung der durch den Schuss hervorgerufenen
Gefahr, Vorgelegen.
Damit ist aber das Thatbestandsmerkmal der
köqDerlichen Misshandlung erfüllt. (R.-G. IV. Str.
S. 2. V. 1902.)
Goltdammers Archiv. Jahrg. 49, pag. 268.
§ 230.
Der körperliche und geistige Zustand der Frau
S. ist dadurch verschlimmert worden, dass sie unge¬
heure Mengen der zur Hälfte aus Opiumtinktur be¬
stehenden Arznei eingenommen hat. Sie hat diese
Arznei durch den angeklagten Apotheker erhalten.
Der Wille der Frau S., ihre Gesundheit zu beschädigen,
ist verneint, weil sie sich der bösen Folgen des
Opiumgenusses nicht mehr bewusst war. Sie hat
also durch den Verbrauch der Arznei keine vorsätz¬
liche Selbstbeschädigung vorgenommen und dies be¬
gründet den Schluss, dass die Abgabe des Opiums
die durch den Genuss herbeigeführte Gesundheits¬
beschädigung der Frau S. trotz deren eigener Mit¬
wirkung verursacht hat. (Urth. des III. Sen. des
R.-G. vom 12. Juli 1902.)
J. W. pag. 78.
§ 230.
Verfehlt ist der Ein wand, dass der Angeklagte
die Erfolge nicht verursacht habe. Er habe —
so wird ausgeführt — den Kranken nur einen Rath
ertheilt, dessen Befolgung ihnen völlig freigestanden
*) juristische Wochenschrift.
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habe. Indem diese freiwillig und selbständig die
empfohlenen Mittel am eigenen Körper angewendet
hätten, hätten sie, wenn überhaupt von Gesundheits¬
beschädigung zu sprechen wäre, solche selbst ver¬
ursacht. Gewiss kann nicht allgemein und ohne
Weiteres von demjenigen, welcher einem An¬
deren Rath ertheilt, gesagt werden, er habe den
durch Befolgung des Raths von dem Anderen her¬
beigeführten Erfolg verursacht. Allein wenn die
Strafkammer auf Grund der Verhältnisse des vor¬
liegenden Falles eine entsprechende Feststellung ge¬
troffen hat, so ist sie vom Vorwurfe eines Rechts¬
irrthums frei. Wer im Mangel eigener Sachkunde,
aber im Vertrauen darauf, dass ein Anderer, besser
Kundiger, ihn von Leiden zu befreien im Stande sei,
sich dessen Behandlung unterwirft, begiebt sich frei¬
willig in dessen Botmässigkeit insoweit, als er bei
Anwendung der ihm verordneten Kurmittel, deren
Wirksamkeit er nicht übersieht, nicht Kraft eigenen
Urtheils und auf Grund selbständiger, die Folgen
abwägender Willensentschliessung zu handeln pflegt.
Unter solchen Umständen kann er bei Befolgung der
Anordnungen Jenes recht wohl als allein von d e s s e n
Willen abhängiges Werkzeug dergestalt betrachtet
werden, dass betreffs der Verantwortlichkeit für die
Folgen ein rechtlicher Unterschied zwischen dem
Falle, wo der Behandelnde in eigener Person die
Curmittel am Leibe des Kranken in Wirksamkeit
setzt, und dem Falle, wo es der Kranke dem Willen
Jenes entsprechend thut, nichts zu machen ist. (Urth.
des IV. Sen. des R.-G. vom 24. October 1902.)*
J. W. pag. 79.
§ 2 39 -
Hat jemand, wenn auch ohne jedes Verschulden,
den Anlass dazu gegeben, dass ein anderer des Ge¬
brauchs der persönlichen Freiheit beraubt wird, so
erwächst ihm hieraus die rechtliche Verpflichtung, so¬
bald er den Ungrund der Freiheitsberaubung erkennt,
für deren Aufhebung thätig zu werden. (R.-G. IV.
Urth. vom iö. December IQ02.)
D. R. pag. 47, Entsch. No. 270.
II. Strafprocessordnung.
§ 66.
Der von einem Zeugen oder Sachverständigen in
der Hauptverhandlung vor seiner Vernehmung ge¬
leistete Eid bleibt, so lange die Verhandlung, wenn
auch mit einer die Grenzen des § 228 Str.-P.-O.
innehaltenden Unterbrechung, fortdauert, auch für
spätere Erklärungen desselben, selbst wenn sie ein
neues Beweisthema betreffen, wirksam, aber nur so
lange, als die Vernehmung des Zeugen oder Sach-
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8
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. i.
verständigen nicht in erkennbarer Weise abgeschlossen
ist. (Entsch. des R.-G. Bd. 19, S. 27. Orth, des
II. Sen. 6. V. 1903.) J. W. pag. 216.
§ 73 -
Nach § 73 Str.-P.-O. ist zwar das Gericht befugt,
die Vernehmung von Sachverständigen abzulehnen,
wenn es sich auf Grund eigener bereits vorhandener
oder erlangter Sachkunde für befähigt erachtet, selbst¬
ständig eine Entscheidung zu treffen (vergl. Entsch.
des R.-G. in Strafsachen Bd. 25, S. 336), allein noth-
wendige Voraussetzung dafür, dass der Richter dies
gethan, ist, dass dies in seiner Begründung zum un¬
zweifelhaften Ausdruck gelangt. Dies ist vorliegend
nicht der Fall. Sowohl die aus dem Sitzungsprotocoll
ersichtliche Rechtfertigung der Ablehnung als die
Urtheilsbegründung giebt dem Zweifel Raum, dass
die Strafkammer nicht, weil sie selbst als Sachver¬
ständige sich für geeignet erachtet hat, die Frage zu
beurtheilen, sondern deshalb den Beweisantrag abge¬
lehnt hat, weil sie die bereits erhaltenen Beweisergeb¬
nisse für genügend und nicht mehr zu erschütternde
erachtet hat. Dieses Verfahren verstiess aber, wie
Angeklagter mit Recht rügt, gegen die Vorschrift des
§ 3 77 No. 8 Str.-P.-O., denn das Gericht hat hier¬
durch über das Ergebniss der beantragten Beweis¬
aufnahme im voraus abgeurtheilt und ein solches Vor¬
gehen ist, wie das Reichsgericht in ständiger Recht¬
sprechung festgehalten hat, unzulässig. (Urth. des
III. Sen. vom 5. I. 03.) J. W. pag. 216.
§§ 73 > 83.
Die Vorschrift der §§ 73 und 83, nach welcher
die Auswahl und Anzahl der zuzuziehenden Sachver¬
ständigen in das richterliche Ermessen gestellt ist,
das auch darüber zu entscheiden hat, ob eine neue
Begutachtung durch andere Sachverständige statt¬
finden soll, gilt auch für das schwurgerichtliche Ver¬
fahren. (R.-G. IV, Urth. vom 28. Januar 1903.)
D. R. pag. 134, Entsch. No. 719.
§ 79 -
Die Beeidigung der Angaben eines Sachverständigen
auf die ihm vorgelegten General- und Personal fragen
ist in der Strafprocessordnung nicht vorgeschrieben.
(R.-G. IV, Urth. vom 3. November 1903.)
D. R. pag. 558, Entsch. No. 2895.
§ 2 43 *
Die Strafkammer hatte die beantragte Vernehmung
von Zeugen über den Verlauf der Krankheit, die
bekunden würden, dass bei den Kranken kein Fieber,
keine Vergrössenmg der Milzdämpfung vorhanden
gewesen sei und dass die Krankheit sich ohne Unter¬
brechung entwickelt habe, abgelehnt.
Das Reichsgericht findet hierin keine unzulässige
Beschränkung der Vertheidigung; denn es handelt sich
um Thatsachen, welche nur vermöge ärztlicher Sach¬
kunde wahrgenommen werden können. Wie das
Vorhandensein der Glaubwürdigkeit der Zeugen, so
unterliegt auch das der persönlichen Befähigung zur
Wahrnehmung der freien Beurtheilung des Instanz¬
gerichts. (R.-G. II. Str. S. 18. IV. 1902.)
Goltdammers Archiv Jahrg. 49 pag. 264.
§ 2 43 *
Unbegründet erscheint die Processbesch werde,
durch welche die Ablehnung des Antrages auf Ver¬
nehmung der Mutter und Schwester des Angeklagten
gerügt wird. Die Zeugen sollten Thatsachen be¬
kunden, aus welchen die Vertheidigung die Unzu¬
rechnungsfähigkeit des Angeklagten herleiten wollte.
Abgelehnt ist der Antrag, da dem Gerichte auch bei
Zugrundelegung dieser Thatsachen als wahr ein be¬
gründeter Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des
Angeklagten im Sinne des § 51 des Str.-G.-B. bei
Begehung der That nicht beigehe und es demnach
die Vernehmung der Zeugen für unerheblich halte.
Die Zurückweisung des Antrages ist somit lediglich
aus thatsächlichen Gründen erfolgt Indem die
Wahrheit der behaupteten Thatsachen unterstellt
wurde, musste die Erhebung des Beweises sich als
zwecklos darsteilen und konnte deshalb ohne Ver¬
letzung eines Processgrundsatzes abgelehnt werden.
Das würde unzweifelhaft für das regelmässige Ver¬
fahren anzuerkennen sein. Der Umstand, dass es
sich vorliegend um ein schwurgerichtliches Verfahren
handelt, vermag an dieser Auffassung nichts zu ändern.
Die Geschworenen sind aber an die Auffassung des
Gerichts nicht gebunden, sie können die Aufnahme
des abgelehnten Beweises ihrerseits anregen oder auch,
wenn sie die unter Beweis gestellten Thatsachen ohne
Weiteres für wahr halten, daraus abweichende
Schlüsse ziehen. (Urth. des III. Sen. des R.-G. vom
22. September 1902.) J. W. pag. 93.
§ 243 Abs. 2.
Das Gericht hat den Antrag auf Vernehmung
eines Sachverständigen ohne Begründung abgelehnt
Dies war unzulässig. Das Gericht kann zwar die
Erhebung eines Gutachtens ablehnen, wenn es sich
genügende Sachkenntniss beimisst, um der Hülfe des
vorgeschlagenen Sachverständigen zu entbehren. Aber
diese Selbstprüfung ist durchaus verschieden von dem
freien Ermessen, es bildet vielmehr ihr Ergebniss den
für die Ablehnung massgebenden Grund, welcher ge¬
mäss § 34 der Str.-P.-O. dem nach § 243 daselbst
auch bezüglich der seitens der Betheiligten in der
Hauptverhandlung benannten Sachverständigen er-
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Original fram
HARVARD UNiVERSITY
I 9°4-]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
9
forderlichen Beschluss beizufügen ist. So liegt es
beispielsweise im besonderen Interesse der Verthei-
digung, rechtzeitig zu erfahren, ob die Ablehnung
des Antrages aus jenem Grunde, oder vielmehr aus
Gründen, welche in der Person des vorgeschlagenen
Sachverständigen liegen, erfolgt ist. (Urth. des itl.
Sen. des R.-G. vom 3. November 1902.)
J. W. pag. 93.
§§ 249- 255-
Abgesehen von der Angabe des bei der ärztlichen
Untersuchung festgestellten öbjectiven Befundes und
der Erklärung der Untersuchten über die bei ihr vor¬
handen gewesenen und noch vorhandenen Krankheits¬
erscheinungen enthält das verlesene Attest eingehende
Mittheikmgen der Verletzten über den Hergang bei
dem von ihr erlittenen Unfall und über ihr und des
Angeklagten Verhalten nach demselben, ferner auf Mit¬
theilungen einer dritten Person über das Verhalten der
Verletzten nach dem Unfälle. Insoweit überschritt das
Schriftstück in sehr erheblicher Weise den Rahmen eines
näch § "255 Str.-P.-O. veriesbaren ärztlichen Attestes
und verstiess seine, ausweislich des Sitzung9protocolles
erfolgte Verlesung gegen § 249 der Strr-P.-O. (Urtli.
des R.-G. IV. vom 9. I. 1903.)
Ztsch. für Medicinalb. Beil. No. 18, pag. 222.
(Fortsetzung folgt.)
Progressive Paralyse
Von P.
Jat 19. Jahrhundert sind nicht wenige berühmte Leute
durch progressive Paralyse zu Grunde gegangen.
Ich nenne nur Lenau, R. Schumann, Donizetti,
A. Rethel, Makart, Fr. Nietzsche. Die Diagnose
ist in der Regel auch ohne die Angaben von Sach¬
verständigen leicht: liest man in einer Biographie,
dass ein Mann in den mittleren Jahren geisteskrank
geworden und nach einigen Jahren verblödet ge¬
storben sei, so ergiebt fast immer die genauere Nach¬
forschung die Paralyse. Nun fällt mir auf, dass aus
dem 18. Jahrhundert kein solcher Fall bekannt zu
sein scheint; wenigstens habe ich noch keinen
gefunden.*) Beschäftigt man sich z. B. mit Goethes
Leben, so lernt man eine sehr grosse Zahl von
Personen kennen. Unter ihnen sind Leute mit den
verschiedensten Gehimkrankheiten: Dementia praecox
(Lenz, Hölderlin), Paranoia (Rousseau), senile Geistes¬
störung (Haller, Zimmermann, Merck), Arteriosklerose
des Gehirns (Lessing), Epilepsie (Napoleon),
Alkoholismus (Amadeus Hoffmann) u. s. w. Aber
vergeblich sucht man nach progressiver Paralyse.
Der Einwand, man habe sie nicht erkannt, weil sie
erst 1822 von Bayle beschrieben worden ist, gilt
nicht, denn es kommt ja garnicht darauf an, ob
damals eine richtige Diagnose gemacht worden ist;
wir müssten die Diagnose aus der einfachen Er¬
zählung. machen können, so gut wie wir sie nach
modernen Laienmittheilungen machen können. Dabei
ist auch* noch Folgendes zu bemerken. Man lernt
*) Einer der Generäle Napoleons ist an progressiver
Paralyse gestorben: Andoche Junot, geb. 1771, gest. am
29. Juli 1813..
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und berühmte Leute.
t. Möbius.
aus den Memoiren und Correspondenzen des
18. Jahrhunderts ausser den berühmten Leuten noch
eine Menge Anderer kennen, aber auch bei ihnen
deutet nichts auf Paralyse. Wer heute einen irgendwie
beträchtlichen Bekanntenkreis hat, kommt so und so
oft mit der Paralyse in Berührung, und wollte er
seine Memoiren schreiben, so käme er ohne ihre
Erwähnung garnicht aus.
Solche litterarische Studien sprechen doch mit
Bestimmtheit dafür, dass früher die progressive
Paralyse viel seltener gewesen ist als jetzt, und dass
sie von den Aerzten eben deshalb erst im 19. Jahr¬
hundert bemerkt worden ist, weil sie vorher nur
ausnahmsweise vorkam.
Wie sind diese Dinge zu erklären? Natürlich
denkt man zunächst an die Ausbreitung der Syphilis,
und ist es wohl nicht zu bezweifeln, dass heute die
Gesellschaft sehr viel stärker von der Syphilis durch¬
seucht ist als vor hundert Jahren. Die Frage ist nur
die, ob es damit allein gethan ist. Wenn auch
weniger als jetzt, so gab es doch im 18. Jahrhundert
immerhin ziemlich viel Syphilis. Kommen noch
Nebenumstäncle in Betracht, die die Gehirne vom
19. Jahrhundert an weniger widerstandsfähig gegen
das syphilitische Gift gemacht haben? —
Noch die Bemerkung soll hinzugefügt werden,
dass bei den Erörterungen über die Beziehungen
zwischen Genie und Geistesstörung die berühmten
Leute, die paralytisch geworden sind, nicht als Bei¬
spiele benutzt werden dürfen. Es mag ja sein, dass
unter Umständen die auf Entartung beruhende geistige
Disharmonie die Entwickelung der Paralyse be-
Original from
HARVARD UNIVERSUM
rö
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
günstigt (obwohl wir darüber garnichts Sicheres
wissen), aber es steht fest, dass sehr viele nach dem
Sprachgebrauche ganz normale Leute paralytisch
werden, und dass man aus dem Auftreten der
[Nr. i.
progressiven Paralyse gar keinen andern Schluss
ziehen kann, als dass der Erkrankte vorher au
Syphilis gelitten hat.
M i t t h e i
—- Geheimer Medicinalrath Prof. Dr. Eduard
Hitzig in Halle a. S. feierte am 17. März das
25 jährige Jubiläum als ordentlicher Professor an der
Universität Halle. Hitzig hat die Hallesche Irren¬
klinik als die erste selbständige psychiatrische und
Nervenklinik an den Universitäten Preussens im Jahre
1885 begründet.
— Düsseldorf. Unter dem Vorsitz des Cominer-
zienraths Dr, Wittenstein und [in Anwesenheit des
Oberpräsidenten der Rheinprovinz hielt die Gesell¬
schaft „Rheinische Volksheilstätten für Ner¬
venkranke, G. m. b. H.“ am 20. März d. Js.
ihre Jahresversammlung ab. Nach dem vom Geschäfts¬
führer Geh. Regierungsrath Klausener erstatteten Bericht
betrug das Gesellschaftsvermögen am Ende des Jahres
1903 145326 M. Durch die hochherzige Schenkung
des Geh. Commerzienraths Böddinghaus in Elber¬
feld ist der Gesellschaft ein 100 Morgen grosses,
allseitig von Waldungen umfasstes, bei Leichlingen
im Kreise Solingen gelegenes Gelände zur Errichtung
einer Heilstätte für weniger bemittelte nervenkranke
Personen weiblichen Geschlechts zur Verfügung ge¬
stellt worden. Der Bau wird in kürzester Zeit be¬
gonnen und die Anstalt voraussichtlich im Frühjahr
1906 eröffnet werden. Der Bauunternehmer, Archi¬
tekt Gerhardt aus Elberfeld erklärte an der Hand, von
Zeichnungen die Bauausführung. Hiernach soll die
Anstalt nach dem sogenannten Pavillon-System er¬
richtet werden und Raum für etwa 120 Kranke
bieten. Sämmtliche Mittheilungen wurden mit grossem
Interesse entgegengenommen. Der Vorsitzende schloss
die Sitzung mit Dankesworten an die Erschienenen
und besonders an den Oberpräsidenten für das leb¬
hafte Interesse, dass er dem Unternehmen und den
Bestrebungen des Vereins entgegenbringe.
Referate.
— Ueber Psychosen bei Militärgefange-
ncn. Nebst Reform Vorschlägen. Eine klinische Studie.
Von Prof. Dr. Ernst Schultze. Jena, Gustav Fischer.
276 S. 6 M.
Es liegt in der Natur der Sache, dass bei der
Ausmusterung die ärztliche Untersuchung sich nicht
in jedem einzelnen Falle eingehend mit dem Geistes¬
zustände des Rekruten beschäftigen kann. Selbst
wenn der betr. Militärarzt psychiatrisch geschult wäre,
was wohl nur in seltenen Fällen zutreffen dürfte,
würde doch die für den Einzelnen verfügbare Zeit in
der Regel absolut unzureichend sein. Es wird somit
a priori zu erwarten sein, dass geringe psychische
Anomalien bei dieser Untersuchung übersehen und
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1 u n g e n.
dass somit eine nicht ganz kleine Anzahl psycho¬
pathischer Individuen in den Heeresdienst einge¬
stellt werden. Naturgemäss gerathen solche mit der
militärischen Disciplin leicht in Conflict, und es liegt
nahe zu vermuthen, dass in der Schar der militäri¬
schen Delinquenten diese Psychopathen einen nicht
geringen Procentsatz ausmachen.
Das sind theoretische Erwägungen, thatsächlich
wussten wir bisher recht wenig über diese Dinge.
Es hat wohl jede Anstalt gelegentlich einmal einen
vereinzelten solchen Fall zu beobachten, aber daraus
lässt sich natürlich nicht viel schliessen. Ein gründ¬
liches klinisches Studium des Gegenstandes auf Grund
eines grossen Materials darf daher auf allscitiges Inter¬
esse rechnen. Und das bietet uns S c h u 1 1 z e in dem
vorliegenden Werke.
Nach der preussischen Statistik sind in den Jahren
1898—1900 insgesammt 67 Personen aus Militär¬
lazaretten und 7 aus Militärgefängnissen preussischen
Irrenanstalten zugeführt worden. Wenn also Schultze
im Laufe von 4 Jahren 32 Militärgefangene beob¬
achtet hat, und später, nach Abschluss seiner Unter¬
suchungen, in kurzer Zeit noch weitere 20 beobachten
konnte, so dürfte wohl kaum ein zweiter über eine
so reiche Erfahrung auf diesem Gebiete verfügen.
Die klinische Analyse jener 32 Fälle giebt An¬
lass zu mannigfachen theoretischen wie practischen
Erörterungen. Hier mögen nur einige kurze Andeut¬
ungen Platz finden; wer sich für die Sache inter-
essirt, wird doch zu dem Werke selbst greifen.
Fast durchweg boten die Fälle keine klassischen,
handgreiflichen Krankhcitsbilder; das ist verständlich,
sonst wären sie wohl nicht beim Militär eingestellt
oder doch bald wieder entlassen worden. Die mei¬
sten machten sogar recht erhebliche diagnostische
Schwierigkeiten. — 4 der Fälle rechnet S. zum
Krankheitsbilde des manisch-depressiven Irreseins; sie
boten der Beobachtung charakteristische Depressions¬
zustände; bei einem musste die Differentialdiagnose
gegen Epilepsie unentschieden bleiben. — 5 weitere
Kranke litten an Imbecillität, und zwar überwogen
bei den meisten die ethischen Defecte; die Unter¬
suchung und Beurtheilung Schwachsinniger wird aus¬
führlich dargestellt und im Anschluss daran 2 eigen¬
artige Fälle von simulirtein Schwachsinn mitgetheilt.
Eins der umfangreichsten Kapitel ist das über
Dementia praecox, welcher 5 der Beobachteten an¬
gehören und zw f ar 2 mal Hebephrenie, 2 mal Dementia
paranoides und 1 mal Katatonie. In diesem Kapitel
findet auch die Simulationsfrage eingehende Erörter¬
ung; mit Recht, denn gerade die Symptome der
Dementia praecox erwecken ja so oft den Eindruck
Original from
HARVARD UNIVERSITY
1904.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT n
des gemachten und werden häufig als simulirte be¬
trachtet. Besonders lehrreich ist in dieser Hinsicht
der mitgetheilte Fall von Katatonie. Einer der Fälle
giebt Anlass, die ätiologische Bedeutung des Traumas
zu erörtern. Endlich werden die körperlichen Symp¬
tome der Dementia praecox genau beschrieben und
ihre grosse diagnostische Bedeutung klargestellt
Epilepsie wurde 7 mal diagnostidrt; die Kranken
hatten meist keine ausgebildeten Krampfanfälle, doch
wurde durch Schwindelanfälle, periodische Depressi¬
onen, Angstanfälle, periodische Kopfschmerzen u. s. w.
die Diagnose hinreichend gesichert. Die Fälle boten
vieles eigenthümliche; besonders bei einem war das
Bild so ungewöhnlich, dass die Diagnose erst nach
langer Zeit klar wurde. — Bei weiteren 7 Fällen lag
Hysterie vor. Die körperlichen Grundlagen der Diag¬
nose waren charakteristische Sensibilitätsstörungen und
Einengung des Gesichtsfeldes. Psychisch wurden
Hemmungszustände, Tobsuchtsanfälle und höchst
eigenartige Dämmerzustände beobachtet.
Endlich handelte es sich in einem Falle um de-
generatives Irresein, in einem blieb die Diagnose
zweifelhaft, in einem wurde Simulation nachgewiesen,
und der letzte, bei dem Alkoholintoleranz vorlag,
giebt Anlass zu beachtenswerthen Erörterungen über
den atypischen Rauschzustand, und die Unfähigkeit
der Laien, Richter sowohl wie Zeugen, einen solchen
zu beurtheilen.
Die Zahl der Geisteskranken im Heere hat in
den letzten Jahren absolut erheblich zugenommen;
besonders macht sich diese Zunahme geltend bei den
Insassen der Militärgefängnisse. Manche erkranken
erst während der Haft, andere durch die Schädlich¬
keiten des Militärdienstes; aber ein Theil ist auch
sic her schon bei der Einstellung in die Armee krank
gewesen.
Um die Einstellung kranker Individuen nach Mög¬
lichkeit zu verhüten, bringt S. schliesslich durch¬
greifende Reformvorschläge. Sie gehen nach ver¬
schiedenen Richtungen. Vor allem muss dafür ge¬
sorgt werden, dass die Anamnese der Einzustellenden
(z. B. frühere Krankheit, schlechter Schulerfolg) genau
bekannt wird und dass gegebenen Falls eine psychia¬
trische Begutachtung stattfindet. Den Militärärzten
muss Gelegenheit zu gründlicher psychiatrischer Aus¬
bildung und des öfteren zur Ergänzung ihrer Kennt¬
nisse gegeben werden. Auch Officiere sollten einige
elementare psychiatrische Kenntnisse haben. Wie
die Erfüllung solcher Forderungen anzustreben ist,
wird im einzelnen ausgeführt.
Die ausführliche Mittheilung der interessanten
Krankengeschichten ist in den Anhang verwiesen.
Das hat den Vortheil, dass die Lectüre des Haupt-
textes nicht in unliebsamer Weise unterbrochen wird.
In unserem Bestreben, eine psychologische Be¬
trachtungsweise in möglichst vielen Bezirken unseres
öffentlichen Lebens zur Geltung zu bringen, bezeichnet
Schultzes Buch einen erheblichen Fortschritt. Es er-
schliesst der Psychiatrie ein Gebiet, in dem sie bisher
nur ein recht kümmerliches Dasein fristen konnte,
und in dem sie sicher berufen ist, in Zukunft recht
viel Gutes zu wirken. Deiters.
— Archiv fürCriminal-Anthropologie
und Criminalistik. 14. Bd.
1. und 2. Heft:
Dr. E. A. Spitzka in New York: Auftreten
von Epidemien des religiösen Fanatismus
im zwanzigstenJahrhundert. Ein frappantes
Beispiel von Suggestionswirkung auf das Religions¬
wesen eines in der Cultur primitiven Volkes, bieten die
neuerdings ausgebrochenen Unruhen der fanatisirten
Duchoborzen in Kanada. Durch mehrere „Propheten“
veranlasst, zogen ungefähr 1500 Männer, Frauen und
Kinder in der grössten Winterkälte, nur dürftig be¬
kleidet, ohne Lebensmittel aus, um Jesum zu suchen.
Da alle Vorstellungen der Behörden und benachbar¬
ten Einwohner erfolglos blieben, mussten die Fana¬
tiker, von denen viele den Strapazen erlegen waren,
zwangsweise in ihre Heimath zurückgebracht werden.
Medicinalrath Dr. P. Näcke in Hubertusburg:
Einiges zur Frauenfrage und zursexuellen
Abstinenz. Verf. bespricht das vom Verlage
der „Frauen-Rundschau“ in Leipzig verschickte „Vera“-
Buch und knüpft an die in der Schrift ausgesprochenen
Ansichten über die Frauen frage folgende social-psy¬
chologische Bemerkungen.
Die bisherige Form der Ehe ist der freien Ehe
vorzuziehen, aber sie ist zu reformiren, indem 1. bei
unerträglicher Ehe die Scheidung zu erleichtern,
2. die getrennte Gütergemeinschaft einzuführen wäre.
Ferner soll der Frau jeder Beruf offenstehen. Weiter
ist eine weise Beschränkung der Kinderzahl zu em¬
pfehlen. Die Gefahren der Prostitution, welche ein
nothwendiges Uebel ist, müssen möglichst herabge-
drtickt werden. Im Prineip besteht vor der Ehe
Geschlechtsfreiheit für beide Geschlechter. Doch ist
dem Weibe wegen der eventuellen Folgen Enthalt¬
samkeit mehr zu rathen als dem jungen Manne, dem
massiger Geschlechtsgenuss nicht schadet. Der Fall
eines Mädchens darf nicht strenger angesehen werden
als der des Mannes. Die Keuschheit des Mannes
vor der Ehe ist dadurch erschwert, dass der Ge¬
schlechtstrieb beim Manne gewöhnlich stärker ist als
bei dem Weibe, dass der Mann ferner von Natur
meist polygam angelegt und Versuchungen mehr
ausgesetzt ist als das Weib. Die jungen Leute müssen
schon als Kinder das Nötnigste über den Geschlechts¬
verkehr durch Eltern und Lehrer erfahren, später be¬
aufsichtigt und vor den Geschlechtskrankheiten ge¬
warnt werden.
3. Heft:
Hans Gross. Zur Fragedes Berufsge¬
heimnisses. Verfasser schlägt vor, dass man der
Verantwortung und dem Gewissen des Arztes die
Wahrung von Geheimnissen und die Entscheidung
darüber überlassen soll, ob er in bestimmten Fällen
vielleicht Unheil verhütet, wenn er von dem ihm
Gesagten klugen Gebrauch macht.
4. Heft:
Medicinalrath Dr. P. Näcke in Hubertusburg:
Fore n's isch-psychiatrisch- psycho logische
□ igitized by Google
Original frnm
HARVARD UNiVERSITY
12 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. f
Randglossen zum Prozesse Dippold, ins¬
besondere über Sadismus. Aus den Zeitungs¬
berichten über den Prozess Dippold geht nicht ge¬
nügend klar hervor, ob D. Sudist, Homosexueller,
Entarteter oder nur geistig Minderwerthiger ist. Da
die Entscheidung darüber sehr schwierig ist, hätte
hier ein specieller Sachverständiger wie Moll oder
v. Schrenck-Notzing gehört werden müssen .Verf. hat
den Eindruck gewonnen, dass D. wahrscheinlich ein
echter Entarteter ist, und dass daher das Urtheil
einer verminderten Zurechnungsfähigkeit vielleicht ge¬
rechtfertigt gewesen wäre. Für derartig verminderte
Zurechnungsfähige mit stark depravirtem Charakter
und ausgesprochener Gemeingefährlichkeit käme In-
ternirung in ein Gefängniss oder dessen Irrenstation
in Frage und zwar für so lange Zeit, als die Gemein¬
gefährlichkeit des Betreffenden anhält. Das Urtheil
über die Zurechnungsfähigkeit hat der Richter dem
Sachverständigen allein zu überlassen und dem Gut¬
achten desselben sich zu fügen oder ein Obergutachten
einzuholen. Verf. charakterisirt ferner das Verhalten
des als Zeugen auftretenden Brüdern des Opfers, der
Eltern desselben, des von den Eltern gesandten
Berliner Sachverständigen, des Publikums und der
Presse. D ost-Hub er t u sbu rg.
— Otto M arburg. Mikroscopisch-tvpographi-
scher Atlas des menschlichen Zentralnervensystems
mit begleitendem Texte. Mit einem Geleitwort von
Prof. Obersteiner. Mit 5 Abbildungen im Text und
30 Tafeln. Leipzig und Wien, Deutiehe 1004.
Von wannherzigen Geleitsworten Prof. Obersteinei.s
empfohlen tritt ein kleines Werk vor uns, durch das
uns in vollständigerer Weise als bisher eine zeichne-
lische Uebersicht über den feineren Bau des Ccntral-
nei vensvslcms geboten wird. Die Weigert-Barschen
Präparate sind mit Cochenille-Alaun nach Osokor
nachgefärbt und dann unter 2- bis 1 o-facher Lupen-
vergrösscrung von Maler Iviss gezeichnet worden.
Dem vorwiegend didaktischen Zweck entsprechend ist
es begreiflich, dass die wichtigsten Zellgruppen in etwas
stärkerer Vergrösscrung eingetragen sind.
Die ersten 4 Tafeln zeigen uns in 16 klaren
Figuren Rüekenmarkschnittc, sodann erhalten wir auf
12 Tafeln nicht weniger als 25 schöne Querschnitte
des Himstammcs. Besonders dankenswerth ist die
Darstellung von Horizontalschnitten des Himstammcs,
die in anderen Werken meist zu sehr vernachlässigt
sind. Den 5 Tafeln mit 9 Horizontalschnitten folgen
noch 2 mit Sagittalschnitten, darauf zur Schilderung
der Verhältnisse der Hemisphären 3 Tafeln mit
Frontal-, 2 mit Horizontal- und 2 mit Sagittalschnitten
des Grosshirns. Zur bequemeren Benützung während
der Laboratoriumsarbeit wäre vielleicht eine Neben¬
einanderstellung jeder Tafel und des entsprechenden
Textes empfehlenswerth gewesen. Doch wird auf
alle Fälle das Buch, das in dem angesehenen Ober¬
steinersehen Laboratorium entstanden ist, überall, wo
neurologisch gearbeitet wird, mit bestem Erfolg be-
nutzt werden. Weygandt-Würzburg.
— Zur Liquidation der Vorbesuche im
Entmündigungsverfahren von Privatdocent Dr.
Ernst Schultze-Andernach. (Aerztl. Sachverständigen-
Zeitung 1902 No. 15.
Die Liquidation des Gutachters über Vorbesuche
kann von Seiten des Gerichts beanstandet werden,
je nachdem Zahl, Ort, Zweck der Vorbesuche
in Betracht kommt.
Der Zahl nach sind 3 zu liquidiren gestattet,
sind mehr nöthig, empfiehlt Verf., sich vom Gericht
die Genehmigung, weitere Vorbesuche machen zu
dürfen, einzüholen.
Ist der Ort von Belang, so kommt es darauf an,
ob die Untersuchung in der Wohnung des Arztes
oder ausserhalb derselben stattfindet. Bei letzterem
Fall werden je nach den Voraussetzungen entweder
Tagesgelder und Reisekosten oder Gebühr von 3 M.
pro Besuch berechnet Besuche von Anstaltsärzten
in der Anstalt haben, nach Ansicht des Verfs
als ausserhalb derWohnung gemacht zu gelten.
Die Frage, ob die Vorbesuche, die in der Wohnung
der Aerzte erfolgen, liquidirt werden dürfen, ist noch
nicht erörtert worden, weil sie eng mit der Frage
nach dem Zweck des Vorbesuches verbunden Ist.
Erfolgt die Untersuchung vor dem Termin, so
muss der Sachverständige entschädigt werden, auch
dann, wenn die Untersuchung in seiner Behausung statt-
gefunden hat (3 M. Maximum pro Besuch). Die Gebühr
für derartige Vorbesuche steht dem Gutachter auch
zu, wenn er nach dem Termin ein schrift¬
liches Gutachten zu erstatten hat. Waren die Vor-
bcsuchc aber nur zur Gutachtenerstattung nöthig,
so sind sie im Allgemeinen nicht zu berechnen (Gut¬
achtengebühren ö — 24 M.); nur dann, wenn vom
Gericht eine längere Beobachtung der zu begutach¬
tenden Person aufgegeben ist.
H e i n i c k e - G r o s s s c h w e i d n i t z.
Personalnachrichten.
— Der Director der Rheinischen Provinzial-Irren-
Heil- und Pflegeanstalt und der psychiatrischen Klinik,
ordentlicher Professor der Psychiatrie an der Bonner
Universität, Geh. Medicinalrath Dr. Karl Pelinan,
Mitglcid des Medicinal-Collegiums der Rheinprovinz,
tritt mit Schluss des Sommersemesters 1904 in den
Ruhestand.
— Privatdozent Dr. Ernst Meyer, Oberarzt an
der psychiatrischen Universitätsklinik in Kiel, ist als
ausserordentlicher Professor auf den durch Professor
Bonhöffers Berufung nach Heidelberg freigewordenen
Lehrstuhl für Irrenheilkunde und als Direktor der
psychiatrischen Klinik nach Königsberg berufen worden.
Professor Meyer hat den Ruf angenommen.
Dieser Nummer liegt das Programm des
„Ko ngresscs für experimentelle Psychologie“
in Giessen bei.
Für den redactionellen Theil verantwortlich : Oberarzt Dr. J . lJresicr , Luhlinitz (Schlesien).
Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inscratenan nähme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag Von Carl Marhold in Halle a. S
Iievnetuaon’sche Buchdruckerei (Ciebr. Woill) in Halle a. S.
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HARVARD UNIVERSITY
Psychiatrisch-Neurologische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
heraasgegeben von
Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. O. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. Ij. Edinger,
Uchupringe l Altmarki. Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M.
Prof. Dr. A. Guttstadt, Prof. Dr. E. Mendel, Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel.
Geh. Med.-Rath. Berlin. Berlin. Rom. Leipzig. Mons (Belgien*
Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Bitti, Direktor Dr. Heinrich Schloss, Professor Dr. Ernst Schultze,
Budapest St. Maurice (Seine). Kierling-Gugging (Österreich). Andernach
Direktor Dr. Urquhart, Dr. med. et phil. W. Weygandt,
Perth (Schottland). Privatdocent, Würzburg.
Unter Benützung amtlichen Materials
redigirt von
1 )berarzt Dr. Joh. Bresier.
Lublinitz (Schlesiern.
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Haliesaale. Fernsprecher 2834.
Nr. 2. — " 9 . Apni. 1904.
Die Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend in Stärke von 1—2 Bogen und kostet pro Quartal 4 Mk.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die jspaltige Petitteile injt 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung' Äfft'. '
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresier, Lublinitz (Schlesien), zu richten.
Inhalt: Die Kgl. Heilanstalt Weinsberg. Von Obermedicinalrath Dr. Dietz in Stuttgart (Fortsetzung) (S. 13). — Wichtige
Entscheidungen auf dem Gebiete der gerichtlichen Psychiatrie, III. Aus der Literatur des Jahres 1903 zusammengestellt
von Prof. Ernst Schultze (Fortsetzung) (S. 16). — Das experimental-psychologische Laboratorium der psychiatrischen Klinik
zu Giessen. Von Prof. Sommer (S. 19). — Mittheilungen (S. 22). — Personalnachricht (S. 24).
Die Kgl. Heilanstalt Weinsberg.
Von Obermedicinalrath Dr. Dietz in Stuttgart.
(Fortsetzung.)
Die Anstalt besitzt Centra 1 - G ruppen-
Heizung. Die ursprüngliche Absicht, die ganze
Anstalt von einer Centrale aus zu heizen, wie dies
in verschiedenen neueren Anstalten mit gutem
Erfolg durchgeführt ist, scheiterte an der Kostenfrage.
Bei der jetzt eingeführten Gruppenheizung erfolgt
die Dampferzeugung in 3 Centralen, und zwar einer
Hochdruck- und zwei Niederdruckanlagen, erstere
im Kesselhaus, letztere in den Häusern der ruhigen
Wachabtheilungen, No. 15 und 20, befindlich. Die
Anordnung ist aus dem Plan (Abb. 5) ersichtlich.
Von der Hochdruckcentrale aus werden sämmtliche
offenen und die halbruhigen Pavillons, das Wirth-
schafts- und Verwaltungsgebäude, Gesellschaftshaus
und Werkstätten, im ganzen 15 Gebäude, mit
Wärme versehen, von den beiden Niederdruckcentralen
aus die geschlossenen Häuser, das Desinfections- und
Sectionshaus, im ganzen 10 Gebäude. Die Ver-
theilung des Dampfes erfolgt in unter Terrain liegenden
Canälen von insgesammt 1450 m Länge. Diese sind,
soweit sie von Hochdruckröhren durchzogen werden,
begehbar, im übrigen schlupfbar eingerichtet. Die
Dampfröhren sind mit Wärmeschutzmassen umhüllt;
geeignete Vorkehrungen sind für die Ausdehnung
und Längsverschiebung der Röhren getroffen. Für
die Reduction des Dampfes von Kessel- auf
Betriebsspannung sind in jedem Gebäude zwei
Reducirapparate angebracht Die Heizung der
Räume selbst erfolgt mittelst Niederdruck von
0,09 Atm. Spannung unter Verwendung von Radiatoren
mit Regulirventil, welche in den Tag- und Schlaf¬
räumen in den Fensternischen angebracht sind.
Für die geschlossene Anstalt wird auch im
Sommer und während der Nacht dauernd Dampf
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[Nr. 2.
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gehalten, so dass für Dauerbäder stets warmes Heizung versorgt die Kesselanlage die Koch- und
Wasser vorhanden ist. Die Dampfhaltung während Waschküche, die Warmwasserapparate und die
der Nacht erfolgt in automatischer Weise unter Maschinenanlage mit Dampf.
Benützung von Schüttfeuerungskesseln mit Präcisions- Das Wirthschaftsgebäude, No. io, enthält die
regulirung. Koch- und Waschküche.
Das Kesselhaus, No. 28, ist verbunden Die Kochküche ist für den Bedarf von 800
S*fciioirUi»u!
Erklärung:
Horhörufkd^rpflmung für Winter
* ' ‘ » Sommer
Nrederdr ilj [k3»npfie tupg für vVmtir
* * . \ • • Sommer
Conoense'fung.
einerseits mit dem Maschinensaal sammt zugehöriger Personen eingerichtet und enthält 6 Kochkessel von
Werkstätte und darüber befindlichem Accumulatoren- insgesammt 1500 1 Inhalt; vier davon haben Nickel¬
raum, auf der andern Seite mit den Räumen für einsätze, zwei solche aus verzinntem Kupfer; die
das Personal. An Kesselheizfläche sind 340 qm in Deckel laufen ausbalancirt in Chamiergelenken und
Form von 4 Stück Grosswasserraumkesseln mit sind nach Art der Papin’schen Töpfe verschliessbar.
Tenbrinkfeuerung für einen Betriebsdruck von 8,5 Die Heizung erfolgt mit Dampf von 0,3 Atm.
Atm. vorhanden — ein Kessel dient als Reserve —, Spannung. Ausserdem sind noch 5 kleinere Kipp-
ausserdem in den beiden Niederdruckanlagen je kochkessel von zusammen 100 1 Inhalt für Bereitung
75 qm in Form von je 3 Kesseln für eine Betriebs- besonderer Speisen in kleineren Portionen vorhanden.
Spannung von 0,4 Atm. Insgesammt stehen also Zur KafTeebereitung dient eine Kaffeemaschine von
490 qm Kesselheizfläche zur Verfügung. Neben der 300 1 Inhalt. Im „Kartoffelsieder“ werden die Kar-
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Abb. 5. Heizun^splan.
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT
15
toffeln mit Dampf, ohne mit Wasser in Berührung in den I. Stock zum Mangeln und Bügeln (Dampf-
zu kommen, zubereitet; es können gleichzeitig 6 Ctr. calander) und sodann wieder zur Wäscheausgabe
Kartoffeln innerhalb 45 Minuten gesotten werden, oder ins Magazin.
Zum Braten und Backen ist ein Kochherd von Wäsche, welche nicht im Coulissenapparat ge-
4 > 5 X I >5 Plattengrösse mit vier Feuerungen vor- trocknet werden will, wird mittelst des bis auf die
handen. Bühne führenden Aufzugs direct auf den Trocken-
Die Speisen werden auf beiden Seiten des Speise- boden verbracht,
abgaberaums (s. Plan) von zwei mit Wärmeplatten Das Wirtschaftsgebäude ist ca. 54 m lang und
versehenen Abgabestellen aus vertheilt; die vor ca. 18 m tief. Es ist doppelt unterkellert, enthält
diesen angebrachten Rampen ermöglichen es, mit dem im Untergeschoss sämmtliche Rohrleitungen für die
Speisewagen unmittelbar vor die Abgabestellen heran- Koch- und Waschküche, sowie Magazine, Gemüse-,
zufahren. Kartoffel- und sonstige Vorrathsräume, im Keller-
Neben der Küche befinden sich die Nebenräume: geschoss die Getränkekeller.
Speisekammer, Milchkammer, Gemüseputzraum, Spül- Koch- und Waschküche haben je eine Grund¬
abgabe. 8. Waschküche. 9. Raum zum Sortiren und Lüften. 10. Wäscheannahme. 11. Trockenraum. 12. Flickstube.
küche und Esszimmer für das Gesinde und die hier
beschäftigten Kranken, deren Zahl auf etwa 10 an¬
genommen ist. Die Schlafräume für diese Kranken
und das Gesinde, sowie die Zimmer für die Ober¬
köchin und Weisszeugverwalterin sind im I. Stock
vorgesehen.
Die Waschküche enthält drei Einweichtröge
aus Monierconstruction hergestellt, eine grössere Wasch¬
maschine für eine tägliche Wäscheproduction von
1000 kg und eine kleinere für einen täglichen
Wäscheanfall von 400 kg; ferner eine Centrifuge von
1000 mm Trommeldurchmesser, Laugen- und Seifen¬
kocher und 3 kupferne Handwaschtröge.
Der Betrieb ist folgender: Die schwarze Wäsche
wird im Wäscheannahmezimmer (vergl. Plan) ab¬
gegeben, gelangt von da durch den Sortirraum in die
Waschküche, sodann in den Trockenraum (Coulissen¬
apparat) und die Flickstube, von hier mittelst Aufzug
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Gck gle
fläche von 130 qm bei einer Höhe von 6 m und
sind von beiden Seiten belichtet und ventilirbar,
ausserdem mit über Dach führenden Ventilations¬
sehlöten versehen.
Sämmtliche maschinellen Einrichtungen sind von
der Firma E. M ö h r 1 i n in Stuttgart ausgeführt.
Die electrische Beleuchtung der Anstalt
erfolgt mittelst Gleichstrom von 220 Volt Spannung.
Das Verwaltungsgebäude enthält im Erd¬
geschoss die ärztlichen und Verwaltungsbureaux,
Warte- u. Aufnahmezimmer, Laboratorium, Mikroskopir-
zimmer, Bibliothek, Casse und einige Zimmer für
ledige Angestellte. Im I. Stock befinden sich 3
Familienwohnungen (für einen Oberarzt und 2 Ober-
wäiter) und Zimmer für Assistenzärzte, Volontäre,
Practikanten etc.
In den Krankenhäusern wurde besondere
Werth darauf gelegt, nicht zu viel Pfleglinge in einem
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[Nr. 2.
io
Gebäude zu vereinigen, um gegenseitige Reibereien
möglichst zu vermeiden. Zu diesem Zwecke sind
auch die Tagräume so angeordnet, dass die Kranken
einander ausweichen und sich beliebig gruppiren
können. Die höchste Krankenzahl in einem Ge¬
bäude beträgt 33.
Die Zahl der für die einzelnen Krankenkategorien
(Unruhige, ruhige Ueberwachungsbedürftige, Halb¬
ruhige, Ruhige) erforderlichen Plätze wurde auf Grund
bisheriger statistischer Erfahrungen berechnet, ebenso
die Krankenzahl der verschiedenen Verpflegungsclassen
und der beiden Geschlechter. Die Ziffern der männ¬
lichen und weiblichen Kranken konnten annähernd
als gleich angenommen werden; es fielen also auf
jede Geschlechtsseite 250 Plätze. Für Kranke der
III. Classe waren ca. 85 u / 0 , für solche der I. lind II.
Classe zusammen ca. 15 u / 0 ^ es Krankenstandes zu
rechnen. Hieraus ergab sich nachstehende Belegung
der Krankenhäuser:
3 Pavillons für Kranke der III. Classe
mit je 30—32 Betten, zus. ca. . . .
1 Pavillon für Kranke der I. u. II. CI.
Im Wirthschaftsgebäude (Frauen) bezw.
im seitherigen Gutsgebäude (Männer)
« .. füeberwachungshaus für unruhige Kranke
I „ f. ruhige Kranke III. CI.
III „ „ „I.u.II.Cl.
O ** (Halbruhigenhaus ........
Lazareth.
II
°3
95 Plätze
20 „
10
30
2 5
20
3 o
25
j IW :>
auf jeder Geschlechtsseite: 250
in der ganzen Anstalt : 500
Die Ueberwachungshäuser sind, mit Aus¬
nahme deijenigen für ruhige Kranke der I. u. II.
Classe, bei denen eine einstöckige Anlage eine un-
verhältnissmässig grosse räumliche Ausdehnung er¬
fordert hätte, sämmtlich einstöckig gebaut, ebenso
die Lazarethe. Kleine Flügelaufbauten dienen zur
Unterkunft für das Pflegpersonal. Die Pavillons für
ruhige und halbruhige Kranke sind durchweg zwei¬
stöckig in der Art, dass im Erdgeschoss die Tagräume,
im I. Stock die Schlaf räume sich befinden.
Die Grundrisse der Pavillons der einen Anstalts¬
hälfte stellen jeweils das Spiegelbild der correspon-
direnden Gebäude der anderen Hälfte dar.
Grössere Corridoranlagen sind sowohl aus prak¬
tischen wäe aus finanziellen Gründen vermieden; die
Grundrisse sind im allgemeinen nach dem System
der Diele angeordnet (nur die halböflenen Häuser
machen hiervon eine Ausnahme). Wenn dieses
System auch den, bei den mässigen Raumverhältnissen
der Pavillons übrigens nicht allzuhoch anzuschlagenden,
Nachtheil hat, dass einzelne Zimmer nicht direct vom
Gang aus, sondern erst durch ein anderes Zimmer
betreten werden können, so wird dies mehr als auf¬
gewogen durch die Gewinnung heller und gut ventilir-
barer Räume, und insbesondere durch die gute Ueber-
sichtlichkeit derselben und die Möglichkeit leichter
Ueberwaehung der Kranken.
(Schlus6 folgt.)
Wichtige Entscheidungen auf dem Gebiete der gerichtlichen Psychiatrie, III.
Aus der Literatur des Jahres 1903 zusammengestellt von Ernst Schnitze.
(Fortsetzung.)
§ 255 -
§ 255 der Str.-P.-O. gestattet ohne jede Ein¬
schränkung die Verlesung ärztlicher Atteste über
Körperverletzungen, welche nicht zu den schweren
gehören. Sie ist daher auch dann unbedenklich zu¬
lässig, wenn der Aussteller des Attestes in der Haupt¬
verhandlung als Zeuge erschienen ist. (Urth. des
R.-G. vom 6. II. 1903.)
Ztsch. für Medicinalb. Beil. No. 13, pag. 221.
§ 2 55 -
Aerztliche Atteste, welche Mittheilungen des atte¬
stierenden Arztes über Angaben anderer Personen,
insbesondere des Verletzten über die Entstehung der
von ihm begutachteten Körperverletzung enthalten so¬
wie die Verhütung weiterer Körperverletzungen, dürfen
bezüglich dieser Punkte nicht verlesen werden, son¬
dern es bedarf, w-enn der Inhalt dieser Mittheilungen
beweiskräftig gemacht werden soll, der zeugschaft-
lichen Vernehmung des attestierenden Arztes. (R.-
G. IV, Urth. vom 10. März 1903.)
D. R. pag. 216. Entsch. No. 1218.
§ 267.
Wenn auch davon auszugehen ist, dass Beweis¬
erheblichkeit nach den Grundsätzen des Civil- und
Strafrechts den gutachtlichen Aeusserungen von
privaten Sachverständigen und ebenso den Aussagen
von Zeugen im Allgemeinen nur unter der Vor¬
aussetzung zuzugestehen ist, dass diese Auslassungen
und Aussagen unter Beobachtung der Formen erfolgt
sind, welche die C.-P.-O. und die Str.-P.-O. für die
Erhebung des Zeugen- und Sachverständigenbeweises
vorschreiben, so kann doch dann die Beweiserheb-
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
17
lichkeit eines nicht in diesen Formen abgegebenen
privaten Gutachtens oder Zeugnisses nicht in Zweifel
gezogen werden, wenn vereinbarungsgemäss
von dessen Inhalt das Weiterbestehen oder die Auf¬
hebung eines vertraglichen Verhältnisses abhängig
gemacht, dem privaten Gutachten oder Zeugniss also
nach dem ausgesprochenen Willen der Betheiligten
selbst Beweiserheblichkeit beigemessen wird. (R.-G.
III. Urth. vom 2. XI.)
D. R. pag. 583, Entsch. No. 3049.
III. Bürgerliches Gesetzbuch.
§ 6, Z. 1.
Es kommt nicht sowohl darauf an, dass der
Geistesschwache einem einzelnen Geschäftszweig, den
er sich zu seinem Berufe ausersehen hat, mit einer
gewissen Gewandtheit und Einsicht obzuliegen ver¬
steht, als vielmehr darauf, dass er in der Fähigkeit,
die Gesammtheit seiner Rechtsangelegenheiten in
einer vernünftigen und zweckentsprechenden Weise
zu besorgen, beeinträchtigt ist. (O.-L.-G. Karlsruhe,
27. Februar 1902.)
D. R. pag. 101, Entsch. No. 429.
§ 6, Z. 1.
Wegen Geisteskrankheit kann eine Person nur
entmündigt werden, wenn durch sie deren freie
Willensbestimmung in einer solchen Weise gänzlich
aufgehoben oder doch beeinträchtigt wird, dass die
Person nach Art eines Kindes unter 7 Jahren
gänzlich an der Besorgung aller ihrer Angelegen¬
heiten gehindert wird; wegen Geistesschwäche da¬
gegen ist die Entmündigung dann gerechtfertigt, wenn
durch sie die freie Willensbestimmung in solcher
Weise beeinträchtigt wird, dass der zu Entmündigende
in erheblichem Maasse, gleich einem Minder¬
jährigen, der das 7. Lebensjahr vollendet hat, an der
Besorgung aller seiner Angelegenheiten gehindert
wird. (O.-L.-G. Karlsruhe, 22. April 1903.)
D. R. pag. 482, Entsch. No. 2418.
$ 6, Z. 1 .
Geisteskrankheit und Geistesschwäche können zur
Entmündigung nur dann führen, wenn sie die Un¬
fähigkeit des davon Betroffenen zur Besorgung aller
seiner Angelegenheiten im Gefolge haben; andern¬
falls ist nur die Einleitung einer Pflegschaft i. S. des
§ 19io, Abs. 2 B. G. B. gerechtfertigt. (O.-L.-G.
Karlsruhe, 4. IV. 1903.)
D. R. pag. 504, Entsch. No. 2528.
§ 6, Z. 1.
Wenn ein nach altem Recht Entmündigter auf
Wiederaufhebung der Entmündigung klagt, so darf
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der Richter erkennen, dass die Entmündigung wegen
Geistesschwäche aufrecht zu erhalten sei. (R.-G.
IV 23. X. 1903.)
D. R. pag. 603, Entsch. No. 3051.
§ 104, Z. 2. (§18 G. B. O.)
. . . Als wesentliches Erforderniss der Rechts¬
wirksamkeit des Rechtsgeschäfts unterliegt der Prüfung
des Hypothekenamts insbesondere die Geschäfts¬
fähigkeit desjenigen, der das Rechtsgeschäft vorge¬
nommen hat (Regelsberger, Bayer. Hypoth.-Recht
§ 25 zu Note 1, § 26 zu Note 3, Samml. XIV No.
124, S. 491). Bei notariell beurkundeten Rechts¬
geschäften ist sie im allgemeinen vorauszusetzen; das
Hypothekenamt hat aber die Eintragung abzulehnen,
wenn ihm Thatsachen bekannt sind, die einen ernsten
Grund bilden, sie zu bezweifeln. (Bayr. Oberstes
Landesgericht, 13. Februar 1903.)
D. R. pag. 151, Entsch. No. 737.
§ 104, Z. 2.
Eine geistige Erkrankung des Erblassers steht der
Gültigkeit seiner letztwilligen Verfügung nicht ent¬
gegen, wenn diese von der Erkrankung nicht beein¬
flusst ist. (Bayr. Oberstes Landesgericht, 27. No¬
vember 1902.) D. R. pag. 41, Entsch. No. 158.
§ 104, Z. 2.
Eine die Geschäftsfähigkeit ausschliessende krank¬
hafte Störung der Geistesthätigkeit ist dann anzu¬
nehmen, wenn die Störungen des Vorstellungslebens,
des Empfindungslebens und des Trieblebens derartige
sind, dass dadurch die Zurechnungsfähigkeit aufge¬
hoben wird.
(R.-G. in Seufferts Arch. Bd. 55 No. 129.) Nicht
erforderlich ist gerade die Feststellung, dass der
Betreffende ausser stände gewesen sei, die Bedeutung
der Verpflichtung, die er — vorliegend durch Accep-
tation eines Wechsels — einging, zu erkennen und
demnach seine Entschließung zu fassen. (O.-L.-G.
Frankfurt a. M., b. X. IQ02.1
D. R. pag. 127, Entsch. No. 605.
$ 104, Z. 2.
Geschäftsunfähigkeit kann auch durch Säuferwahn
herbeigeführt weiden. (Bayr. Oberstes Landesgericht,
6. Juni 1903.) D. R. pag. 359, Entsch. No. 1903.
§ i*3-
Der vom gesetzlichen Vertreter zum Eintritt in
ein Dienst- oder Arbeitsverhältniss ermächtigte Min¬
derjährige ist befugt, das von ihm angetretene Dienst-
verhältniss zu lösen und ein anderes gleichartiges
einzugehen, auch für den Fall der Uebertretung
eines Concurrenzverbots sich einer Conventionalstrafe
zu unterwerfen. Selbst ein im Auslande zu erfüllendes
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HARVARD UNIVERSITY
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 2.
Dienstverhältniss darf er dann eingehen, wenn er
schon vorher mit Genehmigung seines gesetzlichen
Vertreters in ähnlicher Stellung im Auslande thätig
war. (O.-L.-G. Colmar, 24. Januar 1903.)
D. R. pag. 102, Entsch. No. 440.
§ 114.
Die Rechtsfolge des § 114 B. G. B. tritt erst
mit dem Zeitpunkte ein, in dem die Entmündigung
in Wirksamkeit tritt.
Eine bereits vorher vorhandene Geistesschwäche
macht den, der damit behaftet Jst, nicht beschränkt
geschäftsfähig. (O.-L.-G. Frankfurt a. M., o. Oct. 1002.)
D. R. pag. 127, Entsch. No. 607.
§ 157 -
Die Nichterfüllung der formellen Versicherungs¬
bedingungen hat die an sie geknüpfte Verwirkung
des Versicherungsanspruchs nur dann zur Folge,
wenn sie eine schuldhafte ist, es sei denn, dass die
Versicherungsbedingungen das Gegentheil bestimmen.
(R. G. VII, 9. Juli 1901.)
D. R. pag. 77, Entsch. No. 293.
§ 1 57 -
Eine Vertragsbestimmung, der zufolge der Ver¬
sicherte bei Nichtbefolgung der von dem Arzt des
Versicherten zur Beförderung des Heilprozesses ge¬
troffenen Anordnungen seinen Entschädigungsanspruch
verlieren soll, wird nur wirksam, wenn die ärztliche
Anordnung durch die Sachlage wirklich gerechtfertigt
war und dem Versicherten mit Rücksicht auf seine
persönlichen, Familien- und sonstigen Verhältnisse
billigerweise zugemuthet werden dürfte. (R. G. VII,
22. October 1901.)
D. R. pag. 77, Entsch. No. 294.
§ 612.
(cf. § 2 der Gebührenordnung vom 15. V. 96.)
Wer sich in die Behandlung eines ausserordentlich
hervorragenden namhaften Arztes begiebt, ohne dass
besondere Honorarabreden getroffen werden, kann
daher wohl stillschweigend der Willensmeinung sein,
in Ermanglung solcher Abreden werde die bestehende
Taxe in Anwendung kommen müssen. . . .“
(O. L. G. Naumburg. 23. III. 1903.)
Zeitsch. f. Med.-Beamte, pag. 691.
§ 618.
Der Dienstmiether haftet für den Schaden, der
dem Bediensteten infolge der aufgetragenen Besorgung
von Leben und Gesundheit gefährdenden Dienst¬
leistungen erwächst, wenn die Besorgung besondere
sachverständige Anweisung oder Beaufsichtigung er¬
forderte, diese aber schuldhaft unterlassen wurde.
(Bayr. Oberstes Landesgericht, 19. April 1902.)
D. R. pag. 103, Entscheidung No. 475.
§ «23.
Die Schadenersatzpflicht trifft nicht denjenigen,
der möglicherweise einen Schaden verursacht hat,
sondern nur denjenigen, dessen schuldhaftes Ver¬
halten vernünftigerweise als Ursache des Schadens
anzusehen ist.
Nach dem Gutachten des Medicinalcomitees ist
es „höchstens“ möglich, aber nicht wahrscheinlich
und keinenfalls erweislich, dass die Misshandlung
die der Beklagte dem Kläger zugefügt hat, den
Eintritt des Leidens des Klägers beschleunigt hat,
ausserdem hat das Berufungsgericht auf Grund des
Gutachtens festgestellt, dass ein früherer Eintritt des
Leidens als Folge der Misshandlung sich nicht habe
ermitteln lassen. Bei dieser Sachlage kann der Klage
auch insoweit, als der Beklagte nur für eine Be¬
schleunigung des Eintritts des Leidens des Klägers
verantwortlich gemacht werden soll, nicht stattgegeben
werden; denn die Schadenersatzpflicht trifft nicht
denjenigen, der möglicherweise den Schaden ver¬
ursacht hat, wahrscheinlich aber nicht der Urheber
ist, sondern nur denjenigen, dessen schuldhaftes Ver¬
halten vernünftigerweise als die Ursache des Schadens
anzusehen ist. (Bayr. Oberstes Landesgericht,
17. September 1003.)
D. R. pag. 483, Entsch. No. 2437.
§ 823 Abs. 2.
Jedenfalls ist die Möglichkeit, den durch fahr¬
lässige Abgabe eines falschen Gutachtens ent¬
standenen Schaden von dem Sachverständigen zu
erlangen, damit gegeben, dass Abs. 2 des § 823 auch
denjenigen, der gegen „ein den Schutz eines Andern
bezweckendes Gesetz“ verstösst, dem Anderen zum
Ersätze des ihm daraus entstandenen Schadens ver¬
pflichtet. Denn der Sachverständige, der aus Fahr¬
lässigkeit vor einer zur Abnahme von Eiden zu¬
ständigen Behörde ein falsches Gutachten mit seinem
Eide bekräftigt, verstösst gegen das in den §§ 154,
163 St.-G.-B. gegebene Verbot des Falscheides. Die
Bestimmungen des Strafgesetzbuches über Meineid
und Falscheid sind aber „den Schutz eines anderen
bezweckende Gesetze“, sie sollen dem Schutze des
Einzelnen nicht weniger dienen wie dem Schutze
der Gesammtheit.“ (Kammergerichts - Entscheidung
vom 27. III. 1903.)
Viertelj. f. gerichtl. Medic. 1903, Band XXVI, pag. 201.
§ 828.
Die Bestimmung des § 828 Abs. 2 des Bürger¬
lichen Gesetzbuchs ist entstanden in offenbarer An¬
lehnung an die §§ 56, 57 des Reichsstrafgesetzbuchs;
an die Stelle der zur Erkenntniss der Strafbarkeit
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
19
erforderlichen Einsicht dort ist im Bürgerlichen Ge¬
setzbuch die zur Erkenntniss der Verantwort¬
lichkeit erforderliche Einsicht getreten. Die Er¬
kenntniss der Verantwortlichkeit erschöpft sich nicht
in dem Bewusstsein des Unrechts, des widerrechtlichen
Eingreifens in eine fremde Rechtsphäre (Planck No. 2a
zu § 828 des B. G. B.), sie erfordert vielmehr auch
ein Verständnis der Pflicht, für die Folgen der
Handlung einzustehen. Die Erkenntniss der Ver¬
antwortlichkeit deckt sich nicht mit der Erkenntniss
der Gefährlichkeit der Handlung, aber auch nicht
mit der Erkenntniss des dem Mitmenschen zu¬
gefügten Unrechts; sie geht vielmehr über beide hinaus.
Die in dem Begriffe der Erkenntniss der Ver¬
antwortlichkeit enthaltene Erkenntniss des Unrechts
setzt in vielen Fällen die Erkenntniss der Gefährlichkeit
der Handlung voraus. Insbesondere ist bei Fahr¬
lässigkeitsdelikten die erstere Erkenntniss ohne die
letztere nicht denkbar. Denn die Fahrlässigkeit
beruht stets auf einem verschuldeten Irrthum über
die schädlichen Folgen der Handlung (s. Rehbein,
Bürgerliches Gesetzbuch, Bd. 2, S. 101); sie besteht
darin, dass der Handelnde die Gefährlichkeit der
Handlung, die er erkennen konnte, schuldhafter Weise
sich nicht vorgestellt hat. Die zur Erkenntniss der
Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht des § 828
Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs ist daher in
Erweiterung der in dem Urtheile des erkennenden
Senats vom 3. Februar 1902 (Entscheidungen des
Reichsgerichts Bd. 51, S. 30) gegebenen Aus¬
führungen zu bestimmen als diejenige geistige Ent¬
wickelung, die den Handelnden in den Stand setzt,
das Unrecht seiner Handlung gegenüber dem Mit¬
menschen und zugleich die Verpflichtung zu erkennen,
in irgend einer Weise für die Folgen seiner Handlung
selbst einstehen müssen. (Urtheil des R.-G., VI C. S.,
5. XII. 1902.) J. W., Beilage No. 3, pag. 25.
(Fortsetzung folgt.)
♦
Das experimental-psychologische Laboratorium der psychiatrischen Klinik
zu Giessen.
Von Professor Dr.
uf Anregung der Redaction der psychiatrisch¬
neurologischen Woschenschrifl gebe ich an¬
lässlich des Congresses für experimentelle
Psychologie, der in Giessen vom 18.— 21. April
1904 stattfindet, eine kurze Beschreibung des
experimental - psychologischen Laboratoriums der
psychiatrischen Klinik daselbst.
Abb. 1.
Dasselbe befindet sich im Hauptgebäude dieser
und liegt in der Nähe des Hörsaals, des mikroskopisch¬
anatomischen und des chemischen Laboratoriums.
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•Spiiimir-Giessen.
Es vertheilt sich auf 3 von einander getrennte Zimmer,
(s. Abb. 1) an welche sich die mechanische Werkstätte
zur Construction von Apparaten etc. anschliesst.
In jedem der 3 Zimmer ist ein Schaltbrett an der
Wand befestigt, welches unter Verwendung von
Stöpseln die Entnahme von Schwachstrom aus einer
gemeinschaftlichen Batteriecentrale gestattet. Diese
Centrale besteht aus einer Batterie von 6 Mcidinger-
Elementen für den Hauptstrom und 2 Batterien von
je 2 Krügerelementen für 2 Nebenströme. Ausserdem
steht ein electrischer Strom von 110 Volt Spannung
zur Verfügung, der durch Vorschalteinrichtungen be¬
liebig geschwächt und für Licht und electromotorische
Zwecke verwendet werden kann. Die vorhandenen
Methoden zerfallen in 3 Gruppen, die gesondert in
den genannten Zimmern untergebracht sind.
Zimmer No. 1 ist ausschliesslich für Zeit¬
messungen und Reactionsversuche bestimmt.
Die Einrichtung ist folgende: Unterhalb und seitwärts
des oben erwähnten Schaltbretts sind eiserne, horizontal
und vertikal bewegliche Arme an der Wand befestigt,
welche zur Aufnahme von Apparaten dienen, die
Erschütterungen verursachen oder von solchen un¬
günstig beeinflusst werden können. An der gleichen
Wand steht ein schwerer Tisch mit 14 Stöpsel¬
klemmen, die auf der unteren Seite der Tischplatte
durch Leitungen mit einander verbunden sind. Die
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 2.
Enden dieser Leitungen können mit Stöpselschnüren
an das Schaltbrett angeschlossen werden. An
Apparaten sind vorhanden: i Voltmeter, i Ampere¬
meter, beide an der Wand befestigt, i Hipp’sches
Chronoskop mit 6 Minuten Laufzeit, auf einer
festen Wandkonsole ruhend, i Secundenpendel mit
Relais und localer Batterie nebst Umschalter zur
Zeitcontrolle am Chronoskop nach Sommer, l Hipp’scher
Fallapparat, i stationärer optischer Reizapparat nach
Alber, (s. Abb. 2) 1 Diopter, 1 optischer Reizapparat
Abb 2.
nach Roemer, 2 Schallschlüssel nach Roemer für
sprachlichen Reiz und Reaction, 1 Lippenschlüssel,
mehrere Morsetaster. Jeder dieser Apparate kann
durch Leitungsschnüre an eine der auf dem Tisch
vertheilten Stöpselklemmen angeschlossen werden. Nach
Entfernung des Stöpsels aus der betreffenden Klemme
ist er in den Stromkreis eingeschaltet.
Das 2. Zimmer dient hauptsächlich der Unter¬
suchung von Ausdrucksbewegungen und weist
folgende Einrichtung auf: 2 schwere Experimentir-
tische, 1 kleiner Tisch für Vorbereitungen (Berussen
von Kymographiontrommeln etc.), 1 Apparatenschrank,
eine Wasserzapfstelle mit Becken. An Apparaten
sind vorhanden: 1 grosses Basler Stativ, 1 kleines
Stativ, 1 grosses Kvmographion, 1 kleines Kymo-
graphion, ferner folgende von Sommer angegebene
und grösstentheils in der Klinik von dem Mechaniker
Hempel gebaute Apparate: Reflexmultiplikator nebst
Apparat zur zeitlichen Messung des Kniephänomens,
1 Apparat zur dreidimensionalen Analyse von Bein¬
bewegungen (in duplo auf der Krankenabtheilung),
1 Apparat zur dreidimensionalen Analyse von Beweg¬
ungen der Hände (s. Abb. 3) (in duplo auf der Kranken¬
abtheilung), 1 Apparat zur Analyse von Bewegungen
der Stimmuskulatur, 1 Pupillenmessapparat mit
Messung von Reiz und Wirkung für electrisches
Licht (s.Abb. 4), 1 desgl. für Petroleumlicht, 1 Pulsophon,
1 Apparat zur graphischen Darstellung der Athem-
bewegungen, 2 Handelectroden mit 1 Spiegel¬
galvanometer zur Untersuchung der electromotorischen
Wirkungen der Finger, 1 Anordnung zur Umsetzung
von Ausdrucksbewegungen in Licht- und Farben¬
erscheinungen, 1 Anordnung zur Untersuchung
vasomotorischer Vorgänge an der Haut. Ferner
sind vorhanden: 1 Sphygmograph nach Ziehen,
1 desgl. nach Marey, 1 Unterbrechungsrad, 3 electro-
magnetische Signalfedern, 1 electrisches Signal nach
Edelmann, 1 Chronograph nach Jaquet, 1 Phonograph,
1 Kinematograph, 1 electromagnetische Stimmgabel,
2 Bourdonsche Federn mit Schreibhebel, 2 Marey’sche
Trommeln u. s. w.
Im 3. Zimmer werden vorzugsweise Unter¬
suchungen nach rein psychologischen Methoden
vorgenommen (Orientirtheit, Schulkenntnisse, Rechnen,
Associationen) etc. und zwar in vergleichender
Weise an Normalen, Uebergangsfällen und Geistes¬
kranken. Als Hilfsapparate dienen ein Metronom
Abb. 4.
und ein optischer Reizapparat nach Alber. Das
Princip des gleichen Reizes wird in Form be¬
stimmter Reihen von Fragen, Aufgaben,
Reizworten etc. angewendet. Es dienen zur
Untersuchung: I. der Orientirtheit etc. speciell
bei Geisteskranken auch in den Krankenabtheilungen
folgende Fragen:
1. Wie heissen Sie? 2. Was sind Sie? 3. Wie
alt sind Sie? 4. Welches Jahr haben wir jetzt?
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
21
5. Wo sind Sie zu Hause ? 6. Welchen Monat
haben wir jetzt ? 7. Welches Datum haben wir ?
8. Welchen Wochentag haben wir heute? 9. Wie
lange sind Sie hier? 10. In welcher Stadt sind Sie?
11. In was für einem Hause sind Sie? 12. Wer hat
Sie hierher gebracht? 13. Wer sind die Leute
Ihrer Umgebung? 14. Wer bin ich? 15. Wo waren
Sie vor acht Tagen? 16. Wo waren Sie vor einem
Monat? Wo waren Sic vorige Weihnachten?
18. Sind Sie traurig? 19. Sind Sie krank?
20. Werden Sie verfolgt? 21. Werden Sie ver¬
spottet? 22. Hören Sie schimpfende Stimmen?
23. Sehen Sie schreckhafte Gestalten? 24. Warum
frage ich Sie dies Alles?
II. zur Prüfung der Schulkenntnisse:
1. Alphabet. 2. Zahlenreihe. 3. Monatsnamen.
4. Wochentage. 5. Vaterunser. 6. Zehn Gebote.
7. Deutschland, Deutschland über alles. 8. Wie
heissen die grössten Flüsse Deutschlands? 9. Wie
heisst die Hauptstadt von a) Deutschland ?
b) Preussen? c) Sachsen? d) Bayern? e) Württem¬
berg? f) Hessen? 10. Wer führte 1870 Krieg?
11. Wer führte 1860 Krieg? 12. Wie heisst der
Landesfürst? 13. Wie heisst der jetzige Deutsche
Kaiser? 14. Wann starb Kaiser Wilhelm I.?
III. Zur Prüfung des Rechenvermögens
folgende Aufgaben:
1. Multiplikationen:
5 X 7 = ?
IX 3 -?
2X4=?
3 X 5 = ?
4 X 6 = ?
2 + 2 = ?
3 + 4 = ?
4 + 6 = ?
5 + 8 = ?
3 — 1 = ?
8 - 3 = ?
13 — 5 — ?
18—7 = ?
2:1 = ?
8:2 = ?
18:3 = ?
32 : 4 = ?
X — 3 = 14.
X + 5= 11.
6 X 8 = ?
7X9 = ?
2. Additionen:
8 + 14 = ?
11 + 20 = ?
14 + 26 = ?
3. Subtractionen:
29 — 10 = ?
40—13 = ?
51 —16=?
4. Divisionen :
50 : 5 = ?
18:6 = ?
35 : 7 = ?
5. Gleichungen:
8 X 10 = ?
9 Xn=?
12 X 13 — ?
17 + 32 = ?
20 38 = ?
23 + 44 == ?
62 — 19 = ?
73 — 22 = ?
84 — 25 = ?
56 : 8 = ?
81 : 9 = ?
110 : 10 = ?
X = ? X x 7 = 35. X = ?
X = ? X : 9 = 5. X = ?
IV. Zur Untersuchung der Associationen
und des Vorstellungsmaterials.
A. Wortgruppen aus dem Gebiet der Sinne:
I. Licht und Farben: i. hell, 2. dunkel, 3. weiss,
4. schwarz, 5. roth, 6. gelb, 7. grün, 8. blau.
II. Ausdehnung und Form: 1. breit, 2. hoch,
3. tief, 4. dick, 5. dünn, 6. rund, 7. eckig, 8. spitz.
III. Bewegung: 1. ruhig, 2. langsam, 3. schnell.
IV. Tastsinn: 1. rauh. 2. glatt, 3. fest, 4. hart,
5. weich.
V. Temperatur: 1. kalt, 2. lau, 3. warm, 4. heiss.
VI. Gehör: 1. leise, 2. laut, 3. kreischend, 4. gellend.
VII. Geruch: 1. duftig, 2. stinkend, 3. modrig.
VIII. Geschmack: i.süss, 2.sauer, 3. bitter,4. salzig.
IX. Schmerz- und Gemeingefühl: 1. schmerzhaft,
2. kitzlich, 3. hungrig, 4. durstig, 5. ekelerregend.
X. Aesthetischc Gefühle: 1. schön, 2. hässlich.
B. ObjectVorstellungen:
XI. : 1. Kopf, 2. Hand, 3. Fuss, 4. Gehirn, 5.
Lunge, (>. Magen.
XII. : 1. Tisch, 2. Stuhl, 3. Spiegel, 4. Lampe,
5. Sofa, 6. Bett.
XIII. : 1. Treppe, 2. Zimmer, 3. Haus, 4. Palast,
3. Stadt, 6. Strasse.
XIV. : 1. Berg, 2. Fluss, 3. Thal, 4. Meer, 5.
Sterne, 6. Sonne.
XV. : 1. Wurzel, 2. Blatt, 3. Stengel, 4. Blume,
5. Knospe, 6. Blüte.
XVI. : 1. Spinne, 2. Schmetterling, 3. Adler, 4.
Schaf, 5. Löwe, 6. Mensch.
XVII. : 1. Mann, 2. Frau, 3. Mädchen, 4. Knabe,
5. Kinder, 6. Enkel.
XVIII.: 1. Bauer, 2. Bürger, 3. Soldat, 4. Pfarrer,
3. Arzt, 6. König.
C. Affectauslösende Worte, psychische Zustände,
psychologische und sociale Begriffe.
XIX.: 1. Krankheit, 2. Unglück, 3. Verbrechen,
4. Not, 5. Verfolgung, 6. Elend.
XX.: 1. Glück, 2. Belohnung, 3. Wohlthat, 4.
Gesundheit, 3. Friede, 6. Reichthum.
XXI. : 1. Ach! 2. Oh! 3. Pfui! 4. Ha! 5. Ilalloh!
6. Au!
XXII. : 1. Zorn, 2. Liebe, 3. Hass, 4. Begeiste¬
rung, 5. Furcht, 6. Freude.
XXIII.: 1. Trieb, 2. Wille, 3. Befehl, 4. Wunsch,
5. Thätigkeit, 6. Entschluss.
XXIV. : 1. Verstand, 2. Einsicht, 3. Klugheit,
4. Absicht, 5, Erkenntniss, 6. Dummheit.
XXV. : 1. Bewusstsein, 2. Schlaf, 3. Traum, 4.
Erinnerung, 5. Gedächtniss, 6. Denken«
XXVI. : 1. Gesetz, 2. Ordnung, 3. Sitte, 4. Recht,
5. Gericht, 6. Staat.
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HARVARD UNIVERSITY
22
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 2.
Die Aufgaben zu III und IV sind, abgesehen
von der tabellarischen Zusammenstellung in Bögen,
einzeln auf Karten verzeichnet, welche mittels des
Alber’sehen Reizapparates exponirt werden.
Es ist somit versucht worden, das P1 i n c i p des
gleichen Reizes aus dem physiologischen
Gebiet der Reflex-Untersuchungen in das
psychologische bezw. psycho pathologische
zu übertragen, woraus sich eine leichte Vergleich¬
barkeit der Resultate ergiebt.
Literatur:
Sommer: i. Lehrbuch der psychopathologischen
Untersuchungsmethoden, i 899.
2. Diagnostik der Geisteskrankheiten. II. Anfl. iqoi.
3. Beitrüge zur psychiatrischen Klinik.
4. Ergebnisse der Physiologie 1903. Seite 673.
Die Messung der Zeit bei psychophysischen Ver¬
suchen.
5. Berliner klin. Wochenschrift 1903 Nr. 51. Die
Umsetzung des Pulses in Töne.
6. Deutsche med. Wochenschrift 1904, Nr. 8 Seite
279: Darstellung von Ausdrucksbewegungen in Licht
und Farbenerscheinungen.
Mendelsohn: Der Ausbau im diagnostischen
Apparat der klinischen Medicin, Seite 217. Liepmann:
Apparate als Hilfsmittel der Diagnostik in der Psycho¬
pathologie.
Die zu der Ausstellung bei dem Congress
für experimentelle Psychologie angemeldeten
Apparate, Methoden, tabellarischen U ebersichten
u. s. f. haben sich mit diesem Grundstock zu folgen¬
den Gruppen vereinigen lassen. I. P s y c h op h v s io-
logie der Sinne, II. Ausdrucksbewegungen
und graphische Registrirm e t Hoden, III. Unter¬
suchung psychischer Funk ti o u e n (Gedüchtniss,
Auffassungsfühigkeit etc.), besonders für Zwecke der
Pädagogik und Psychopathologie, IV. Labo¬
rator i um sei n rieh tu n g, Zeitmessung, Reaktions¬
versuch c.
Es ist untergebracht Gruppe I in dem Gmidor
vor dem Hörsaal, Gruppe II im Zimmer 2, Gruppe III
im Zimmer 3 und im Hörsaal, Gruppe IV. im
Zimmer 1. Die vorhandene Einrichtung und Instal¬
lation giebt somit die Möglichkeit, die ausgestellten
Apparate in der Art der Anwendung zu demon-
stiiren. Andererseits zeigt die Ausstellung, in welcher
Weise das vorhandene weiterentwickelt werden kann
und bietet vieles für die Zwecke der methodischen
Psychopathologie verwerthbare.
Ich greife hier nur folgendes heraus: aus Gruppe I
die verschiedenen Methoden der optischen Exposi¬
tion (Tachistoskope nach Erdmann und Dodge, nach
Schumann und von Zinimermann, den Licht¬
unterbrechungsapparat von Martius, das Mnemo-
meter von Ranschburg und den Gedüchtnissapparat
nach Wirth, sowie den Rotationsapparat für Com-
plicationsversuche nach W undt von Zimmermann.
Fenier hebe ich hervor die Stereoskope mit Messein¬
richtung von Zeiss, an die sich die stereoskopische
Portraitsammlung der Klinik anschliesst; — aus
Gruppe II die Sphygmographen nach von Frev
und Jaquet, den Turgographen und das Turgoskop
von 0 eh m kc, womit das Problem der Messung vaso¬
motorischer Bewegungen behandelt wird; — aus
Gruppe III die zunächst für die Pädagogik wichtigen
Untersuchungen von L ay - Karlsruhe über Recht¬
schreiben, Zahlvorstellungen, Bewegungsempfindungen,
Sprachbewegungsvor Stellungen, Anschauungstypen,
Schwankungen der psychischen Energie, ferner die
Untersuchungen von Ranschburg-Budapest über
das Gedüchtniss, Auffassungsvermögen, Rechenver¬
mögen, Reproduktion etc., die bei der Prüfung schwach¬
befähigter Kinder unmittelbar Fühlung mit den oben
erwähnten Methoden nach dem Princip des
gleichen Reizes gewinnen, schliesslich die Studien
von Stern über die Sprachentwicklung eines Kindes;
aus Gruppe IV die Apparate und Methoden zur
Zeitmessung und Zeitcontrolle von Ach, Erdmann
und Dodge, Jaquet, Oehmke, welche die exacte
Voraussetzung zur Untersuchung von Reactionszeiten
schaffen wollen, ferner die Stromregulirungs - und
Messapparate von Ruhstrat, die eine Verbesse¬
rung der elektrotechnischen Installation psychophy¬
sischer Laboratorien anstreben, schliesslich das für
den Unteirieht bestimmte Studenten-Instrumentarium
von P e t z o I d.
Diese Hervorhebung allein des für psycho-
p a t h o l o g i s c h e Zwecke Verwerthbaren lässt schon
die Reichhaltigkeit der Ausstellung *) erkennen und
zeigt, wie sehr die Psychopathologie mit der
Exp e rim ental- Psychologie in Bezug auf
Methoden und Probleme zusammenhängt.
*) Eine ausführliche Beschreibung derselben erscheint im
Verlage von Ambrosius Barth-Leipzig.
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Original fram
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1004-]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE VV OCHENSCHR1ET.
23
M i t t h e i
— Die Ausstellung von Apparaten und
Methoden, welche bei dem Congress für ex¬
perimentelle Psychologie in Giessen vom 18. bis
21. April daselbst in der psychiatrischen Klinik
stattfindet, umfasst 4 Gruppen: I. Psychophysio¬
logie der Sinne, II. Ausdrucksbewegungen
und Registrirmethoden, III. Untersuchung
geistiger Funktionen speciell im Gebiet
der Paedagogik und Psychopathologie,
IV. Laboratoriumseinrichtung, Zeitmessung,
Reactionsmethoden. Bei dieser inhaltlichen
Ordnung ergiebt sich ein vergleichender Ueberblick
über die verschiedenen Methoden, die zum Theil
nicht nur in Form von Instrumenten, sondern
von Versuchsanordnungen bestehen. Die Ausstellung
bleibt nach Schluss des Congresses noch bis Sonntag,
den 24. April früh für Interessenten zugänglich. Prof.
S o in in e r in Giessen hat sich in dem Programm
der Jahresversammlung des deutschen Ver¬
eines für Psychiatrie bereit erklärt, denjenigen
Herrn Kollegen, die bei der Fahrt nach Göttingen
am 24. IV. Giessen passiren, die Ausstellung an
diesem Tage früh b 2 11 Uhr zu demonstriren. Eine
Beschreibung der Ausstellung erscheint im Verlage
von J. A. Barth-Lei pzig.
— Die Regelung der Fürsorge für gemein¬
gefährliche Geisteskranke bildete den Gegenstand
der Erörterung bei dem Bericht über den Haushaltsplan
für das Landarmenwesen in der Provinz Westfalen
1904/05 im diesjährigen westfälischen Provinzial-
Landtag (3. Vollsitzung 8. III. 04). Dem gedruckten
Verhandlungsbericht *) entnehmen wir darüber nach¬
stehende für die provinzielle und communale Irren¬
fürsorge wichtige Ausführungen:
Der Abgordnete Worpenberg macht hierbei auf
eine in der Gesetzgebung bestehende Lücke auf¬
merksam, wonach es nicht möglich sei, gemeingefähr¬
liche, nicht unterstützungsbedürftige Geisteskranke in
Provinzialanstalten unterzubringen, sondern dass diese
Kranken den Ortsarmenverbänden zur Last fielen.
Er weist an zwei Beispielen nach, in welcher Weise
der Ortsannen verband Lengerich durch Ueberweisung
solcher Kranken unberechtigterWeise belastet worden
sei und ersucht die Provinzialverwaltung, in der
Sache Wandel zu schaffen.
Der Landesrath Schmedding dankt dem Vor¬
redner für den Hinweis auf die in der Gesetzgeb¬
ung vorhandene Lücke. Er weist darauf hin, dass
durch die Einrichtung einer besonderen Abtheilung
für geisteskranke entlassene Verbrecher in der Stadt
Münster für die Provinz Westfalen grosse Uebel-
stände hervorgerufen seien. Die Anstalt sei nicht
nur für Westfalen, sondern für Hannover, Schleswig-
Holstein, Nassau und einen Teil der Rheinprovinz ein¬
gerichtet; werde nun ein Geisteskranker aus dieser
*) Der Redaktion auf Ersuchen vom Herrn Landeshaupt¬
mann von Westfalen. tieh. Obencjderungsrath Dr. Holle gütigst
übermittelt, wolür hiermit bester Dank gesagt wird.
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1 u n g e n.
Anstalt entlassen, so werde er zunächst der Polizei¬
behörde Münster überwiesen, welche ihrerseits die
Unterbringung beim Landarmen verbände beantrage.
Habe dieser die Unterbringung veranlasst, so würde
der Ortsarmenverband in Anspruch genommen, wo
der Untergebrachte seinen Unterstützungsw’ohnsitz
habe. Lehne dieser Verband die Uebernahme ab, so
sei der Landarmenverband gezwungen, den betreffen¬
den Geisteskranken der Polizeibehörde zu überweisen.
In den von dem Abgeordneten Worpenberg erwähn¬
ten Fällen sei das die Polizeibehörde Lengerich
gewesen, weil die Betreffenden in der Provinzialheil¬
anstalt Lengerich untergebracht gewesen seien. Die
Ablehnung der Uebernahme durch die sonst unter¬
stützungspflichtigen Verbände stütze sich auf eine
Entscheidung des Bundesamts für das Heimathwesen,
wonach die Verpflichtung der Armenverbände zur
Gew'ährung der Anstaltspflege dann nicht eintritt, wenn
nur der Schutz dritter Personen gegen Ausschreitungen
des Geisteskranken seine Unterbringung erfordert,
dann aber habe die landespolizeiliche Fürsorge ein¬
zutreten und diese liege dem Staate ob. Es sei daher
wünschenswert!», wenn der Provinziallandtag Stellung
in dieser Sache nehme und bei der Königlichen
Staatsregierung dahin vorstellig werde, dass diese Lücke
in der Gesetzgebung beseitigt werde.
Der Abgeordnete Dr. Jungeblodt tritt dem Vor¬
redner bei und weist darauf hin, dass ähnliche Zu¬
stände nur noch in Breslau vorhanden seien. Er sei
ebenfalls der Meinung, dass wenn eine Verpflichtung
des Provinzialverbandes nicht vorliege, dieser auch
nicht in der Lage sei, sich an fremde Ortsarmenver¬
bände zu halten, dass dann der Staat dafür sorgen
müsse, dass derartige Kranke auf seine Kosten unter¬
gebracht würden. Auch er halte es für erforderlich,
dass der Prozinziallandtag Stellung zu der Sache
nehmen müsse, um die bestehenden Uebelstände
zu beseitigen.
Der Berichterstatter, Abgeordneter Graf Mervcldt,
hält baldige Abhülfe für dringend geboten und stellt
den folgenden Antrag:
„Die Königliche Staatsregierung zu bitten, die
Unterbringung von Geisteskranken, die nicht
im eigenen, sondern im öffentlichen Interesse
nothw endig ist, möglichst bald auf gesetzlichem
Wege zu regeln.“
Der Abgeordnete Schmieding hält diesen Antrag
für richtig und zweckmässig, und tritt auch dafür
ein, dass der Staat für Abhülfe zu sorgen habe.
Der Abgeordnete Cuno stellt den Antrag, dem
Anträge Merveldt noch den Zusatz beizufügen :
„oder auf Staatskosten zu übernehmen.“
Der Abgeordnete Graf Merveldt tritt für seinen
allgemeiner gehaltenen Antrag ein.
Der Landeshauptmann giebt der Erwägung an¬
heim, ob nicht in dein Anträge Merveldt die Worte:
„auf gesetzlichem Wege“ zu streichen seien.
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
4
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 2 .
Der Abgeordnete Herold schlägt vor, mit Rück¬
sicht darauf, dass der Provinziallandtag für die ge¬
setzliche Regelung die Direktive zu geben haben
werde, die Angelegenheit einer Commission zu über¬
weisen.
Der Landeshauptmann schlägt vor, eine besondere
kleinere Commission zu wählen, bestehend aus den
Abgeordneten Graf Merveldt, Worpenberg, Herold,
Dr. Jungeblodt, Cuno und Schmieding.
Der Abgeordnete Cuno hatte inzwischen den
folgenden schriftlichen Antrag gestellt:
„Der Provinziallandtag beschliesst, an die Kgl.
Staatsregierung das Ersuchen zu richten, die
Kosten für die Versorgung solcher Irren und
Idioten, welche nicht als hülfsbedürftig, sondern
wegen ihrer Gefahr für die öffentliche Sicher¬
heit in einer Anstalt verpflegt werden müssen,
auf die Staatskasse zu übernehmen.“
Der Abgeordnete Herold betont diesem Anträge
gegenüber nochmals die Nothwendigkeit der Ueber-
weisung der Angelegenheit an eine Commission und
wiederholt seinen Antrag auf Wahl dieser Commission.
Der Vorsitzende äusserte sich dahin, dass der
Antrag Merveldt ohne weiteres hätte angenommen
werden können.
Da weiter das Wort nicht gewünscht wurde, liess
der Vorsitzende darüber abstimmen, ob dem Anträge
Herold entsprechend die vorliegenden beiden Anträge
Merveldt und Cuno einer Commission, bestehend aus
den von dem Landeshauptmann bezeichneten Abge¬
ordneten überwiesen weiden sollen.
Die Abstimmung ergab die Annahme des An¬
trages Herold mit grosser Mehrheit.
Der Vorsitzende ersuchte die Commission, nach
Schluss der Sitzung das Weitere zu verabreden.
Am 12. III. erfolgte der Bericht der Commission
zur Beratung der Angelegenheit, betr. Unterbringung
geisteskranker Verbrecher usw.
Der Berichterstatter, Abgeordneter Dr. Jungeblodt,
trug die Gründe vor, welche für den von der Com¬
mission beschlossenen Antrag massgebend gewesen
seien und beantragte:
Der hohe Provinziallandtag wolle beschliessen:
„Die Königliche Staatsregierung zu ersuchen,
im gesetzlichen Wege die Fürsorge für die¬
jenigen mittellosen geisteskranken und schwach¬
sinnigen Personen, welche nur behufs des
Schutzes anderer Personen gegen ihre Aus¬
schreitungen der Unterbringung in Anstalten
bedürfen, mit der Massgabe schleunigst zu
regeln, dass die aus der Unterbringung ent¬
stehenden Kosten aus Staatsmitteln gedeckt
werden und bis zu dieser gesetzlichen Regelung
zur Beseitigung der Rechtsunsicherheit in betreff
der Verpflichtung und der hieraus sich ergebenden
Missstände die Uebemahme der Kosten als
Kosten der Landespolizei aus Staatsmitteln zu
veranlassen.“
Der Provinziallandtag nahm diesen Antrag ein¬
stimmig an und beschloss demgemäss. —
Der westfälische Prov.-Landtag genehmigte ferner,
dass das Gehalt der Oberärzte an den Provinzial¬
anstalten auf 4200—5400 M., steigend alle 3 Jahre
um je 300 M., festgesetzt wird, dieselben daneben
freie Dienstwohnung nebst Garten, oder, wo solche
nicht gewährt werden können, den bestimmungs-
mässigen Wohnungsgeld Zuschuss erhalten. —
— Der Abgeordnete Schmedding (Münster) hat
mit Hilfe der Centrumspartei im preussischen
Abgeordnetenhause den Antrag eingebracht: Das
Haus der Abgeordneten wolle beschliessen, die Kgl.
Staatsregierung zu ersuchen, schleunigst im gesetz¬
lichen W r ege die Fürsorge für diejenigen
mittellosen geisteskranken und schwach¬
sinnigen Personen, welche nur behufs des
Schutzes anderer Personen gegen ihre
Ausschreitungen der Unterbringung in An¬
stalten bedürfen, zu regeln. —
— Kongress für experimentelle Psychologie
in Giessen. Die Herren Kollegen, welche an dem
Kongress für experimentelle Psychologie in Giessen
theilzunehmen wünschen, werden gebeten, sich an
Prof. Dr. Sommer in Giessen wenden zu wollen.
Personalnachricht.
— Basel. Der Professor der Psychiatrie an der
Baseler Universität Dr. L. Wille hat auf 1. Dezem¬
ber seinen Rücktritt als Hochschullehrer und Direktor
der Heil- und Pflegeanstalt Friedmatt erklärt.
Erklärung.
In dem Archiv für Psychiatr. und Nervenkrankh.
Bd. 38, Heft 2 ist ein „Gutachten über die Lothrin¬
gische Bezirks-Irrenanstalt zu Saargemünd erstattet
von Dr. Alt, Direktor der Landes-Heil- und Pflege¬
anstalt Uchtspringe und Dr. Vorster, Direktor der
Irrenanstalt zu Stephansfeld“ erschienen.
In dieser Mittheilung ist ausser dem ausführlichen
Gutachten von Herrn Direktor Dr. Alt ein kurzer
gutachtlicher Bericht enthalten, den ich auf Ersuchen
des Bezirkspräsidiums in Metz erstattet hatte und
der für die Mitglieder des lothringischen Bezirks¬
tages, aber nicht zur Veröffentlichung in einer wissen¬
schaftlichen Zeitschrift bestimmt war.
Durch ein Versehen ist dieser, mein Bericht,
gleichwohl veröffentlicht.
Ich sehe mich daher veranlasst zu erklären, dass
ich an der Veröffentlichung im Archiv, wiewohl sie
auch meinen Namen trägt, nicht betheiligt bin.
Stephansfeld, den 29. März 1904.
V o rster.
Für den redactionellen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Br es! er , Lublinitz (Schlesien).
Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Hevnemann’sche Buchdruckerei (Gebr. Wolff) in Halle a. S.
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Psychiatrisch 'Neurologische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktischen
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte nnd Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Aaslandes
heransgegeben von
Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. G. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. L. Edinger.
Uchtspringe (Altmark). Gras. Zürich. Meerei.berg (Holland). Frankfurt a. M.
Prof. Dr. A. Guttat&dt, Prof. Dr. E. Mendel, Prof. Dr. Mingasaini, Dr. P. J. M5bi.ua , Direktor Dr. Morel,
Geh. Med.-Rath, Berlin. Berlin, Rom. Leipzig. Mons (Belgien)
Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Blttl, Direktor Dr. Heinrich Schloss» Professor Dr. Ernst Schultae,
Budapest. St. Maurice (Seine). Kierling-Gugging (Österreich). Andernach
Direktor Dr. Urquhart, Dr. med. et phil. W. Weygandt,
Perth (Schottland). Privatdocent, Würzburg.
Unter Benützung amtlichen Materials
redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Lublinits (Schlesien >. *
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adresse: MarhoId Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834.
Nr. 3, 16. April. _ 1904.
Die Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend in Stärke von 1—2 Bogen und kostet pro Quartal 4 Mk.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Mar hold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten.
Inhalt: Die Kgl. Heilanstalt Weinsberg. Von Obermedicinalrath Dr. Dietz in Stuttgart (Schluss) (S. 25). — Wichtige Ent¬
scheidungen auf dem Gebiete der gerichtlichen Psychiatrie, III. Aus der Literatur des Jahres 1903 zusammengestellt von
Prof. Ernst Schultze (Fortsetzung) (S. 30). — Mittheilungen (S. 35). — Referate (S. 35). — Personalnachricht (S. 36).
Die Kgl. Heilanstalt Weinsberg.
Von Obermedicinalrath Dr. Dietz in Stuttgart.
(Schluss.)
Die Grundrisse der offenen Häuser lehnen
sich an die Typen an, welche anderwärts in neueren,
im Pavillonsystem erbauten Irrenanstalten, insbesondere
dem in dieser Beziehung noch immer vorbildlichen
Alt-Scherbitz, erprobt sind; sie sind einfach und
übersichtlich. Nach vom und südlich liegen die Tag¬
räume, der mittlere mit Ausgang auf die Veranda
und von da direct in den Garten. Ein zweiter Ein¬
gang befindet sich an der Rückseite (oder bei den
offenen Häusern der I. und II. Classe seitlich) und
führt auf einen kleinen Corridor, auf welchen die
Nebenräume (Spülküche, Abort, Requisitenraum mit
Schuhablage) münden. Ein weiteres Zimmer, welches
vom Gang wie vom Tagraum aus zugänglich ist,
dient je in einem der Pavillons als Zimmer für eine
Oberwärterin (No. 7 a) bezw. Oberwärter (No. 5 a),
in den andern (7 b und c) als Nähstube oder Be¬
schäftigungsraum (5 b und c). Im I. Stock liegen
über den Tagräumen 3 ' Schlafsäle mit je 8 Betten,
ein kleinerer mit 5 Betten, ferner 1 Zimmer für
Einzelpflege, Abort, Wasch- und Badezimmer. Die
Waschtische sind mit Kippschalen versehen.
Zimmer für das Pflegpersonal und Garderobe
sind im Dachstock. — In den Tagräumen kommt
auf einen Kranken eine Grundfläche von 4 l j t —5 1 / t qm;
in den Schlafräumen, die nur Nachts belegt sind,
fallen auf den Kopf mindestens 20 cbm bei einer
Zimmerhöhe von 3,6 m. Thüren und Fenster sind
von gewöhnlicher Construction, letztere mit Stab¬
jalousien versehen.
Der Fussboden besteht — in allen Kranken¬
pavillons, soweit Krankenräume in Betracht kommen
— aus Linoleum, welches jeweils im Erdgeschoss
auf Torgament, im I. Stock auf gewöhnlichem Holz-
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26
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 3-
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boden mit Zwischenlage theils von Hartpresskork,
theils von Filzpappe verlegt ist. Badezimmer, Spül-
küchen etc. haben Plättchenboden.
Die Grundrisse der offenen Pavillons für
Kranke der I. und II. Classe (No. 4 und 6)
sind ähnlich wie die für die III. Classe, enthalten
von 16—17 Kranken, welche nur Bad, Waschraum
und Abort gemeinsam haben. Im I. Stock befinden
sich im Mittelbau noch zwei kleinere Zimmer für
Einzelpflege.
Von den Pavillons der geschlossenen Anstalt
mögen zwei Typen angeführt werden:
Die Aufnahme- und Ueberwachungs-
häuser für ruhige Kranke der III. Classe
Abb. 7a. Grundriss des Erdgeschosses eines offenen Pavillons.
1. In 7 a Zimmer der Oberwärterin, sonst Nähstube. 2. Tag¬
räume. 3. Requisitenraum und Schuhablage. 4. Spülküche.
5. Gang. 6. Aborte.
aber statt der gemeinsamen Tag- und Schlafräume
eine grössere Zahl von Einzelzimmern, welche sich
um den mittleren Tagraum, der hier als Esszimmer
dient, gruppiren.
an
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Abb. 8. Grundriss des Ueberwachungshauses für ruhige Kranke
III. Classe. Nr. 20 des Planes.
1. Beobachtung der Neuaufnahmen. 2. Ueberwachungsbedürftige.
3. Zimmer für Einzelpflege. 4. Tagräume. 5. Aerztliches Unter¬
suchungszimmer. 6. Spülküche. 7. Abort. 8. Wasch- und
Baderaum.
(No. 15 und 20) enthalten neben dem Tagraum, der
wieder directen Ausgang auf die Veranda und in den
Garten hat, drei kleinere Zimmer, welche je nach
Bedürfniss theils als Nebenzimmer zum Tagraum,
theils für Einzelpflege verwendet werden können.
Hinter diesen liegen zwei Wachabtheilungen mit je
11 Betten, von denen die eine zur Beobachtung
Abb. 7 b. Grundriss des I. Stocks eines offenen Pavillons.
1. Schlafräume. 2. Wasch- und Badezimmer. 3. Einzelpflege.
4. Gang. 5. Aborte.
In den Pavillons für halb ruhige Kranke
(No. 14 und 19 des Plans), welche am stärksten
belegt sind, ist die Anordnung eine andere. Die
Nebenräume sind hier in den Mittelbau verlegt, auf
beiden Flügeln befinden sich im Erdgeschoss die
Tag-, im I. Stock die Schlafräume. Auf diese Weise
erhält man in jedem der beiden Pavillons eigentlich
zwei, räumlich von einander getrennte Abtheilungen
Abb. 9. Vorderansicht des Ueberwachungshauses für ruhige
Kranke. Nr. 15 des Planes.
der Neuaufgenommenen, die andere für sonstige
Ueberwachungsbedürftige dienen soll; sie sind durch
eine breite Glasthüre von einander getrennt, deren
Flügel geöffnet sich in die Wand einfügen, so dass
je nach Bedürfniss beide Räume gemeinsam oder
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
2 7
1904.]
jeder für sich überwacht werden kann. Der Luft-
cubus betrügt hier ca. 35 cbm pro Kopf. Ausser den
üblichen Nebenräumen, die sich um den kleinen Seiten-
corridor anordnen, und von denen das Wasch- und
Badezimmer auch directen Zugang von den Wach¬
sälen aus hat, befindet sich noch in diesem Pavillon
ein ärztliches Untersuchungszimmer. In einem
seitlichen Aufbau sind die Zimmer für einen Ober¬
wärter bezw. Oberwärterin und das Pflegpersonal
untergebracht.
Abb. 10. Grundriss des Ueberwachungshauses für unruhige
Kranke. Nr. 22 des Planes.
I. Wachsäle. 2. Einzelpflege. 3. Tagraum. 4. Isolirzimmer.
5. Wasch- und Badezimmer. 6. Spülküche. 7. Abort.
Die Pavillons für unruhige Kranke (No.
17 und 22) enthalten zwei durch die ganze Tiefe
des Mittelbaus durchgehende Wachsäle, welche, wie
diejenigen in den Ueberwachungshäusem für ruhige
Abb. 11. Vorderansicht des Ueberwachungshauses für unruhige
Kranke III. CI. Nr. 22 des Planes.
Kranke, durch eine Glasthüre von einander getrennt
sind. Jeder der Wachsäle enthält 13 Betten. Auch
hier ist der eine Saal für Neuaufnahmen, der andere
für ältere Fälle bestimmt. Der Luftcubus beträgt
ebenfalls ca. 35 cbm pro Kopf. An der südlichen
Seite verläuft über die ganze Länge beider Wachsäle
eine breite Veranda. An beiden Stirnseiten der
Wachsäle befinden sich je zwei Zimmer für Einzel-
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pflege und je ein Abort; Einzelzimmer und Aborte
haben Thüren mit oberer Glasfüllung, so dass sie
vom Saal aus übersehen werden können; die Thüren
der Zimmer für Einzelpflege klappen geöffnet in die
Wand ein. Die Aborte sind mit Heizung versehen
und derart ventilirt, dass ein Eindringen schlechter
Luft (zumal da Wasserclosetts vorhanden sind, s. u.)
in den Saal nicht zu befürchten ist. Da im Betrieb
nur ein geringer Theil der Kranken ausser Bett sein
wird, ist nur ein kleinerer Tagraum vorgesehen. An
der Nordseite der Wachsäle ist, von beiden Sälen
aus zugänglich, das gemeinsame Bade- und Wasch¬
zimmer angebracht.
Für jede Geschlechtsseite sind drei
Isolirzimmer vorgesehen und zwar in dem am
meisten excentrisch gelegenen Theil der Unruhigen-
pavillons; sie sind durch einen kleinen Schallcorridor
von den übrigen Räumen getrennt. Unter dem
Boden sind Heizkörper angebracht. Von dem
Corridor führt eine Thüre ins Freie, in einen kleineren,
für besonders unruhige Kranke bestimmten Garten.
Die Höhe der Isolirzimmer beträgt etwas über 4 m.
Die Fenster sind 2,85 m hoch, bei einer Breite von
1,20 m. Sie beginnen ca. 1,20 m über dem Fuss-
boden und führen bis zur Zimmerdecke. Es wurden
zweierlei Fensterconstructionen verwendet: Bei der
einen (A) ist der obere, 50 cm hohe Theil vom
Corridor aus über eine Rolle auf den Dachboden
ganz oder zum Theil, in beliebig verstellbarer Weise,
aufziehbar; der mittlere Theil von 95 cm Höhe ist
feststehend, der untere 135 cm hohe Theil ist in den
Mittelscheiben auf 96 cm Breite ebenfalls feststehend;
rechts und links befinden sich zwei schmale, nur
13 cm breite, aber ebenfalls 135 cm hohe Seiten¬
fenster, welche, nach aussen geöffnet, in die Fenster¬
leibung vollständig einklappen und mit dem Fenster¬
schlüssel festgemacht werden können; geöffnet haben
diese Seitenfenster im Licht 11 cm Breite. Dies hat
den Vortheil, dass sie auch geöffnet bleiben können,
wenn das Isolirzimmer besetzt ist; ebenso
kann der obere verstellbare Theil mehr oder weniger
offen bleiben. Bei der andern Construction (B) ist
der obere, ebenfalls 50 cm hohe Flügel nach innen
einklappbar; der mittlere Theil von 95 cm Höhe
steht fest, der untere 135 cm hohe Theil besteht aus
zwei Flügeln, die in toto wie gewöhnliche Fenster
geöffnet werden. Hier kann, wenn das Isolirzimmer
besetzt ist, nur das obere Kippfenster offen bleiben;
dagegen ist unbesetzt das ganze Zimmer leichter zu
durchlüften.
Das Glas der Fenster in den Isolirzimmern ist
20 mm, an den andern Fenstern und Thüren der
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HARVARD UNIVERSITY
28
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 3.
Krankenzimmer in den unruhigen Ueberwachungs- Abort, an den Stirnseiten einige Einzelzimmer, sowie
häusern 15 mm dick. In den übrigen Pavillons ein Operationszimmer.
der geschlossenen Anstalt ist 10 mm starkes Glas Das Gesellschaftshaus (No. 11) stellt eine
verwendet. Gitter sind nirgends angebracht, grosse Halle dar, welche ca. 250 Personen fasst, eine
Die Gärten der unruhigen Häuser sind mit
1,80 m, die der übrigen Pavillons der geschlossenen
Anstalt mit 1,50 m hohen Zäunen aus Draht¬
geflecht, welche bepflanzt werden sollen, umgeben.
Die Gärten der offenen Pavillons erhalten als Abschluss
lebende Hecken.
Die zweistöckigen Pavillons für überwachungs¬
bedürftige Kranke der I. und II. Classe (No. 16
und 21 des Plans) haben in beiden Stockwerken den
gleichen Grundriss: hinter dem (wie in den offenen
Pavillons gelegenen) mittleren Tagraum mit Veranda
befindet sich ein Wachsaal mit 8 Betten ; seitlich liegen
Einzelzimmer und Nebenräume.
Die Lazarette (No. 18 und 23), im wesent¬
lichen in Barackenform gebaut, haben je an der
Vorderseite einen kleinen Tagraum, von Veranden
flankirt, an der Rückseite Wasch- und Baderaum und
kleine Bühne für Aufführungen, ein Musikzimmer und
die noth wendigen Neben räume enthält.
Im Sectionshaus (No. 25) befindet sich im
Untergeschoss der Leichenraum mit Aufzug, im Erd¬
geschoss eine Vorhalle, als Aufbahrungsraum dienend,
weiter ein Sections- und Mikroskopirzimmer.
Metzgerei und Bäckerei sind mit modernen
Einrichtungen versehen.
Sämmtliche Gebäude haben Wasser¬
clo s e 11 s.
Die ganze Anstalt ist doppelt canalisirt und zwar
wird das Regenwasser direct in den Bach geleitet,
während das gesammte Hausabwasser, wie Closett-,
Küchen- und Badwasser, einer biologischen
Kläranlage zugeführt wird. Diese, nach den An¬
gaben von Med.-Rath Dr. Scheurlen ausgeführt,
besteht aus einem mit Rechen und Sandfang ver-
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HARVARD UNIVERSUM
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1904.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT
29
schenen Faulraum, einem grossen primären und einem
kleineren secundären Filterpaar,
Der Faulraum fasst die gesammte Tagesabwasser-
Menge von rund 500 cbm; er ist mit Dielen und
Abb. 14. Schnitt a—b der Kläranlage,
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Abb. 13. Kläranlage,
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HARVARD UNIVERSITY
30
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 3.
2 Frühbeetfenstern, welche zur Beobachtung und
Lüftung dienen, bedeckt. Aus ihm führen zu den
primären Filtern je 3 Grundablässe, welche Schieber
besitzen, sich jedoch auch selbstthätig je nach dem
Wasserstand öffnen und schliessen.
Die primären Filter von je rund 750 cbm Grösse
.sind auf eine Höhe von 1 m mit faustgrossen
Schlacken, dann J / 2 m hoch mit eigrossen und
15—30 cm hoch mit nuss- und haselnussgrossen
Schlacken gefüllt Das aus dem Faulraum ab-
fliessende Wasser gelangt in horizontal aufgehängte,
mit Ausschnitten versehene Längsrinnen aus Holz,
durch welche das Wasser sich auf die Schlacken
ergiesst; in diese sind wieder Querrinnen gezogen,
so dass das Abwasser sich über das ganze Filter
vertheilen muss.
Die Bedachung des Filters besteht aus Beton;
über den Längsrinnen sind Frühbeetfenster angebracht
Jedes primäre Filter hat eine Drainage, weiche
auf einen Grundablass zuführt, durch den das Ab¬
wasser sowohl auf ein Rieselfeld, als auch in jedes
der beiden secundären Filter abgelassen werden
kann. Letztere sind wesentlich kleiner als die
primären, fassen nur je 170 cbm, sind aber sonst
wie diese eingerichtet; haben eine Holzlängsrinne und
in die Schlacke gezogene Querrinnen, am Boden
eine Drainage und über der ersteren Frühbeetfenster.
Der Betrieb der Anlage, welche wie ersichtlich
sowohl für den intermittirenden als auch den
conlinuirlichen eingerichtet ist, soll zunächst ununter¬
brochen geschehen, so dass das Abwasser den einen
Monat durch das östliche, den andern durch das
westliche Filter in gleichmässigem, langsamem Strom
hindurchfliesst. Eine besondere Bedienung ist hierbei
nicht nöthig; es müssen nur am ersten jeden Monats
die Schieber umgestellt werden. Am 10. Dezember
1903 ist der Betrieb und zwar mit dem westlichen
Filter begonnen worden.
Wichtige Entscheidungen auf dem Gebiete der gerichtlichen Psychiatrie, III.
Aus der Literatur des Jahres 1903 lusammengestellt von Ernst Schnitze .
(Fortsetzung.)
§§ 828, 276. (Haftpflichtges. 1.)
1. Einer Person im Alter von 7—18 Jahren fällt
ein Verschulden im Sinne des § 1 zur Last, wenn
sie die im Verkehr erforderliche Soigfalt ausser
Acht lässt, obgleich sie die Einsicht besitzt, um ihr
Verhalten als diese Sorgfalt ausser Acht lassend er¬
kennen zu können.
2. Ein Verschulden ist zu verneinen, wenn der
Verletzte, der durch das unerwartete Auftauchen und das
Geräusch von Zügen in Geistesverwirrung gerathen
ist oder wenigstens alle Ruhe und Ueberlegung ver¬
loren hat, ohne sein Verschulden in die gefahr¬
drohende Nähe eines Wagenzuges gelangt ist und
nun durch sachwidriges Handeln den Unfall herbei¬
geführt hat. (R.-G. VI, 10. April 1903.)
D. R. pag. 400, Entsch. No. 2130.
§ 828, 2.
Die in § 828, Abs. 2 und § 276 B. G.-B. auf¬
gestellte Regel, wonach eine Person, die zwar das 7.
nicht aber das 18. Lebensjahr erfüllt hat, für die
Folgen einer Handlung, die sich objectiv als rechts¬
widriger Eingriff in fremde Rechte darstellt, dann
nicht verantwortlich ist, wenn sie bei deren Begehung
die zur Erkenntniss der Verantwortlichkeit erforder¬
liche Einsicht nicht gehabt hat, muss entsprechende
Anwendung finden, wenn für den einer solchen
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Person erwachsenen Schaden an sich ein anderer
aufzukommen hat, für den Schaden aber das eigene
Verhalten des Verletzten mit kausal geworden ist,
und in Frage kommt, ob in diesem Verhalten ein
Verschulden zu befinden sei. Es muss daher
in solchem Falle nach der Individualität des ver¬
letzten Minderjährigen geprüft werden, ob er bei
seinem Verhalten so viel Einsicht besessen hat, dass
ihm seine Handlungsweise zum subjectiven Ver¬
schulden anzurechnen ist. Diese Regel muss auch
gelten, wenn ein Minderjähriger des bezeichneten
Alters bei dem Betriebe einer Eisenbahn körperlich
verletzt worden ist, und in Frage kommt, ob der
Unfall durch eigenes Verschulden des Verletzten ver¬
ursacht ist. Es genügt also im vorliegenden Falle
für die Entscheidung über den jetzt in Rede
stehenden Schadenersatzanspruch nicht die Erwägung,
dass normale Knaben von 12 Jahren Einsicht genug
zu haben pflegen, um ein Verhalten, wie es der
Kläger bei dem Unfälle am 21. März 1901 bethätigt
hat, als gefahrbringend und im eigenen Interesse
unstatthaft zu erkennen, es kommt vielmehr auf die
individuelle Entwicklung des Klägers an. Insoweit
fehlt es bisher an genügender thatsächlicher Fest¬
stellung. (R. G. VII C. S., 23. V.)
J. W. Beilage No. 11, pag. 101.
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
3 i
1904.]
§ J 339*
Wird im Laufe eines Ehescheidungsproceses eine
auf § 1333 B. G.-B. gestützte Anfechtungsklage er¬
hoben, so ist eine sechsmonatige Frist gewahrt,
wenn vor deren Ablatzf die Scheidungsklage er¬
hoben ist.
Die im § 1339 B. G.-B. bestimmte sechsmonatige
Frist ist für die im Laufe des Scheidungsprocesses
erhobene Anfechtungsklage als gewahrt anzusehen,
weil, wie das Reichsgericht (Entsch. Bd. 53, No. 85,
S. 334) dargelegt hat, das in den § 614, 616 C. P. O.
bestimmte Verhältniss zwischen der Anfechtungs¬
klage und der Scheidungsklage es mit sich bringt,
dass es genügt, wenn vor dem Ablaufe der Frist die
Scheidungsklage erhoben worden ist. (Bayr. Oberstes
Landesgericht, 26. Sept. 03.)
D. R. pag. 528, Entsch. No. 2663.
§ 1344-
Die anfechtbare Ehe wird infolge der Anfechtung
• rückwärtshin mit dinglicher Wirkung vernichtet und
hat das ergehende Nichtigkeitsurtheil nur deklara¬
torische Wirkung. (R. G. IV, 2. VII.)
D. R. pag. 528, Entsch. No. 2664.
§§ 1353 » 1571 -
Eine Aufhebung der häuslichen Gemeinschaft ist
nur dann vorhanden, wenn ein Theil die Herstellung
verweigert, nicht aber schon dann, wenn nichts weiter
vorliegt, als dass er ohne seinen Willen oder un¬
freiwillig vorübergehend von Hause abwesend ist,
z. B. zu einer militärischen Uebung eingezogen, ins
Krankenhaus oder ins Gefängniss gebracht wird, oder
dass er ohne den Willen, die Gemeinschaft auf¬
zuheben, vorübergehend verreist. (O.-L.-G. Königsberg,
9. Juni 1902.)
D. R. pag. 43, Entsch. No. 194.
§ >567.
Die Annahme des Landgerichts, dass bei dem
Zustande der Beklagten das Merkmal des Fern¬
bleibens aus böslicher Absicht zu verneinen sei, wird
vom Berufungsgericht verworfen. Dieses führt aus,
sowohl das Gutachten des Medicinalraths Brauch
vom 18. November 1898, wie das Gutachten des
Arztes Dr. Weber vom 16. October 1901 ergeben,
. dass die Beklagte, die geistig gesund und von un-
geschwächter Intelligenz sei, habe erkennen können,
das» sie ihre Pflichten gegen den Kläger verletze,
und aus dem letzteren Gutachten gehe auch hervor,
dass die Beklagte physisch im Stande sei, sich zum
. Kläger zu begeben. Daraus, dass sie es gleichwohl
v nicht thue, müsse geschlossen werden, dass sie es ans
t böslicher Absicht nicht thue. Hierbei wird aber
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ausser Acht gelassen, dass die Beklagte aach dem
Gutachten des Dr. Weber, das das Betrufungagericht
selbst wörtlich wiedergiebt und von dem es bei der
Beurtheilung der Sache ausgeht, „nahezu willens-
und energielos 4 * ist. Unter diesen Umständen kann
aus der bei der Beklagten vorhandenen Er¬
ke nntn iss, zurückkehren zu sollen, und der
physischen Möglichkeit, die Rückkehr auszuführen,
noch nicht gefolgert werden, dass das Unterbleiben
der Rückkehr auf dem Willen beruhe, femzubleiben.
Auf diesen bösen Willen kommt es aber an. Die
Annahme des Berufungsgerichts, dass die Beklagte
aus bösem Willen ein Jahr lang dom Urtheil
nicht Folge geleistet habe, und die auf Grund des
Ausspruchs des Gutachters getroffene Feststellung,
dass die Beklagte nahezu willenlos sei, widersprechen
sich. Wenn auch nicht jeder Zustand von Willens¬
schwäche die Annahme einer böslichen Absicht
ausschliesst, so muss doch in einem Falle, in dem
nahezu Willenslosigkeit vorliegt, zum mindesten näher
geprüft und dargelegt werden, ob und inwiefern der
Beklagten die Nichtrückkehr zu ihrem Manne als
bösliche Absicht im Sinne des § 1507 des Bürger¬
lichen Gesetzbuchs zur Last gelegt werden kann.
(Urtheil der R. G. IV. C. S. f 20. XI. 1902.)
J. W. Beilage No. 1, pag. 12.
§ 1568.
.... Die Ausführungen des Berufungsrichters
lassen erkennen, dass er zur Abweisung der Klage
nur deshalb gelangt ist, weil er für festgestellt
ansieht, dass die Zurechnungsfähigkeit der
Beklagten bei einzelnen der ihr zur Last gelegten
Vorgänge ausgeschlossen gewesen sei, und dass
auch in den übrigen Fällen das Verhalten
der Beklagten von ihrem krankhaften Zustande
derartig beeinflusst worden sei, dass auch hier eine
Verfehlupg im Sinne des § 1568 a. a. O. nicht an¬
genommen werden könne.
In dieser Beziehung hat sich zuuächst der Be-
rüfungsrichter im Wesentlichen dem Gutachten des
in erster Instanz vernommenen Sachverständigen
Dr. L. angeschlossen, welcher zu dem Ergebnisse
gelangt war, dass die eine (von ihm näher be¬
zeichnet«) Gruppe der in Frage kommenden Ver¬
fehlungen von der an einer Allgemeinerkrankung des
Nervensystems leidenden Beklagten — wie mit einer
gewissen Wahrscheinlichkeit angenommen werden
könne — in einem die Verantwortlichkeit aus-
schliessenden Zustande begangen sei, wogegen be¬
züglich der übrigen Verfehlungen — zu welchen der
Sachverständige mit Bestimmtheit namentlich die
Original from
HARVARD UN1VERSITY
3 2
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 3.
von den Zeuginnen bekundeten ehrverletzenden
Aeusserungen rechnet — kein genügender Grund
vorliege, die Verantwortlichkeit der Beklagten als
ausgeschlossen anzusehen. Während aber dieser
Sachverständige davon ausging, dass die Verfehlungen
der letzteren Kategorie (bei welchen er übrigens
ebenfalls einen Zusammenhang mit der Nerven¬
krankheit der Beklagten voraussetzte) ihre Erklärung
in einem starken Hasse fänden, welchen die Beklagte
gegen ihren Ehemann hege, hat abweichend der
Berufungsrichter angenommen, dass die Beklagte
von einem solchen tief eingewurzelten Hasse nicht
beherrscht werde, sondern dass ihre leidenschaftliche
Erregung vielmehr durch eine — wenn auch vielleicht
unbegründete — Eifersucht hervorgerufen sei.
Auch nimmt der Berufungsrichter als erwiesen an, dass
der Kläger, welcher allerdings durch die Beklagte
auf das Höchste gereizt worden sei, das in derselben
vorhandene Gefühl, in ihren Rechten als Gattin
gekränkt und beeinträchtigt zu werden, durch sein
näher erörtertes Verhalten genährt und verstärkt
habe und dass dadurch eine Verschlimmerung
des Leidens der Beklagten herbeigeführt worden sei.
Die Ausführungen des Berufungsrichters schliessen
sodann mit den Worten:
Das Berufungsgericht ist nach alledem zu der
Feststellung gelangt, dass die Beklagte keine der ihr
zur Last gelegten und erwiesenen Verfehlungen aus
böser Absicht begangen, sondern dass sie dabei
lediglich unter dem Einfluss ihrer krankhaft über¬
reizten Gemüthsverfassung gehandelt, dass sie also
die Zerrüttung der Ehe nicht verschuldet hat.
Hieraus ergiebt sich, dass der Berufungsrichter
die Frage, ob eine Verschuldung der Beklagten im
Sinne des § 1568 des Bürgerlichen Gesetzbuchs an¬
zunehmen sei, in Wahrheit nur aus dem Grunde
verneint hat, weil das Verhalten der Beklagten —
obwohl es den objectiven Thatbestand schwerer
Pflichtverletzungen dargestellt haben würde — doch
der Beklagten in subjectiver Beziehung, mit
Rücksicht auf ihren krankhaft erregten Zustand nicht
in voller Schwere angerechnet werden könne.
Mit dieser Auffassung steht der vom Berufungs¬
richter an einer früheren Stelle der Entscheidungs¬
gründe gethane Ausspruch keineswegs in einem un¬
lösbaren Widerspruche. Aus allen diesen Erwägungen
des Berufungsrichters geht jedenfalls hervor, dass
derselbe eine mildere Beurtheilung für geboten
hielt, welche ihn schliesslich zu dem Ergebnisse
führte, dass die Anwendbarkeit des § 1568 des
Bürgerlichen Gesetzbuchs im vorliegenden Falle, mit
Rücksicht auf den krankhaften Zustand, unter dessen
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Einwirkung die Beklagte gehandelt habe, für aus¬
geschlossen zu erklären sei.
Hierin ist eine Rechtsnormverletzung nicht zu
erblicken. (Urtheil des R.-G. IV. C. S., 18. XII. 1902.)
J. W. Beilage No. 3, pag. 27.
§ 1568, 1353-
Was die dem Beklagten vorgeworfene Trunksucht
betrifft, so kann es dahingestellt bleiben, ob der
Ausspruch des Berufungsrichters:
„als Scheidungsgrund würde Trunkenheit nur
dann anzusehen sein, wenn sie sich entweder
dauernd in besonders abstossender Weise zeige oder
zu Excessen gegen den andren Ehegatten führe“,
in dieser Allgemeinheit zu billigen sein möchte, denn
seitens der Klägerin ist nur behauptet worden, dass
der Beklagte in den letzten Jahren fast täglich an¬
getrunken nach Hause gekommen sei, und die
Ausführungen des Untersuchungsrichters lassen er¬
kennen, dass er diese Thatsache, so wie sie hin¬
gestellt worden ist, unter konkreter Würdigung der
Sachlage nicht für ausreichend erachtet hat.
Unbedenklich erscheint auch die, sich auf die
angeblich hochgradige Nervosität der Klägerin be¬
ziehende Bemerkung des Berufungsrichters, dass der
Klägerin ja unbenommen , bleiben werde, die Her¬
stellung der häuslichen Gemeinschaft auch in Zukunft
auf Grund des § 1353 des B. G. B. zu verweigern,
falls infolge ihres krankhaften Zustandes zu befürchten
wäre, dass sie bei einem Zusammenleben mit dem
Beklagten seelisch und geistig zu Grunde gehen werde.
(R.-G., 28. IX. 1903.)
J. W. Beilage No. 14, pag. 127.
§ 1568.
Es steht fest, dass die Klägerin durch die Art und
Weise, wie sie mit der K. verkehrte, bei ihrer Um¬
gebung und insbesondere bei dem Beklagten, als
ihrem Ehemanne, Anstoss erregte, ja dass dadurch der
Verdacht entstand, sie treibe mit der Genannten
widernatürliche Unzucht. Zur Aufrechterhaltung der
sittlichen Grundlagen seiner Ehe musste dem Be¬
klagten darum zu thun sein, dieses Verdachtsmoment
zu beseitigen. Auch wenn der Verdacht objectiv
unbegründet war, so hatte er doch festgestelltermassen
eine Entfremdung der Ehegatten zur Folge, für
welche die Klägerin nach der erwiesenen Sachlage
moralisch verantwortlich zu machen ist und auf deren
Beseitigung sie durch Abbruch des Umganges mit
der K. hinwirken musste.
Die hierbei getroffenen Urtheilsfeststellungen stehen
auch nicht im Widerspruch mit der in den Ent¬
scheidungsgründen zur Klage erklärten Annahme,
Original fram
HARVARD UNIVERSUM
*9°4J
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
33
dass der Beklagte seinerseits eine schwere Ehe¬
verfehlung dadurch begangen hat, dass er die
Klägerin dritten Personen gegenüber des unzüchtigen
Umganges mit Fräulein K. beschuldigte, und dass
für die Richtigkeit dieser Beschuldigung nach der
Urteilsbegründung auch nicht der Schatten eines Be¬
weises vorliegt. Die bedenklichen Folgen des frag¬
lichen Verkehrs für das eheliche Verhältniss der
Parteien wurden durch die Grundlosigkeit eines so
weitgehenden Verdachtes nicht aufgehoben, und
ebensowenig die Pflicht der Klägerin, das in ihrem
Umgang mit der K. hervorgetretene ehezerrüttende
Moment auf den Wunsch des Beklagten hinweg¬
zuräumen. (R.-G. 15. X. 1903.)
J. W. Beilage No. 14, pag. 127.
§ 1569-
Wenn auch zugegeben sein mag, dass der Begriff
des geistigen Todes von einem gewissen Einfluss auf
das Zustandekommen des Gesetzes gewesen ist, so
kann dieses dennoch nicht dazu führen, in den
Gesetz gewordenen Text .... etwas hineinzutragen,
was in demselben nicht Aufnahme gefunden hat und
nicht steht, und auf diese Weise nur die Fälle des
„geistigen Todes“ als einer völligen Verblödung
des Geistes als Scheidungsgrundim ' Sinne des
§ 1569 gelten zu lassen. . . .
. . . Der § 1569 . . . verlangt nach seinem Wort¬
laut: dass in Folge des besonderen Grades und der
besonderen Art der Geisteskrankheit das geistige
Band, das an sich die Ehegatten verknüpft, völlig und
dauernd — unwiederherstellbar — gelöst ist; dass
die geistigen Beziehungen des einen Ehegatten zum
andern beruhend auf der ehelichen Gemeinschaft,
aus der sittliche Rechte und Pflichten entfliessen,
dauernd erloschen sind, und es ein gemeinschaftliches
Familieninteresse für die Eheleute jetzt nicht giebt
und auch für die Zukunft nicht mehr denkbar
erscheint Der kranke Ehegatte muss unfähig er¬
scheinen, an dem Lebens- und Gedankenkreise des
anderen Ehegatten theilzunehmen. . . .
Der Senat erachtet daher für erwiesen, dass die
Geisteskrankheit der Beklagten, welche zwar äusserlich
aus der Anstalt herausstrebt und zu den Ihrigen
zurückkehren zu wollen erklärt, dennoch aber irgend
welches wirkliche Interesse an den Ihren nicht
nimmt und nicht zu nehmen vermag, und welche
kein Verständniss mehr für die sittlichen Pflichten
des ehelichen Lebens und kein Bewusstsein der ge¬
meinschaftlich bestehenden Interessen hat, während
andererseits auch sie den Ihren und insbesondere dem
Kläger unverständlich ist und unverständig bleiuen
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wird, einen solchen Grad erreicht hat, dass die
geistige Gemeinschaft zwischen den Ehegatten auf¬
gehoben, auch jede Aussicht auf Wiederherstellung
dieser Gemeinschaft ausgeschlossen ist. (Urtheil des
III C. S. des O. L. G. Königsberg, 4. XI. 1901.)
Psych. Woch. pag. 57.
§ i5 6 9-
Dass die wegen Geisteskrankheit entmündigte Be¬
klagte seit 8 Jahren und auch noch gegenwärtig
geisteskrank ist, nimmt der Berufungsrichter auf
Grund des Gutachtens der Sachverständigen K. und
Z. als erwiesen an. Der Eindruck, den die persönlich
vor ihm erschienene Beklagte und den ihre Aus¬
lassungen hervorgerufen haben, hat, wie der Be¬
rufungsrichter bemerkt, diese Annahme bestätigt.
Die Krankheit hat jedoch seiner Beurtheilung nach
nicht einen solchen Grad erreicht, dass die geistige
Gemeinschaft zwischen den Ehegatten aufgehoben
wäre. Diese die Anwendung des § 1569 des
Bürgerlichen Gesetzbuchs ausschliessende Feststellung
hat das Oberlandesgericht im Einzelnen durch
folgende Ergebnisse seiner den Krankheitszustand
der Beklagten betreffenden Erhebungen näher be¬
gründet Eine völlige geistige Umnachtung sei nicht
nachgewiesen. Selbst das Gutachten des Dr. Z.,
welches die Thatbestandserfordemisse des § 1569
a. a. O. in vollem Umfange als vorhanden be¬
zeichnet, verneine einen „geistigen Tod“ der Be¬
klagten, nämlich einen Zustand entweder des stupiden
Blödsinns oder der absoluten Verwirrtheit. Die Be¬
klagte habe aber auch das Bewusstsein der ihr durch
die Ehe auferlegten, auf dem Wesen der Ehe be¬
ruhenden Rechte und Pflichten nicht verloren. Dies
hätte ihr Verhalten im Jahre 1900 erkennen lassen,
als der Kläger mit einer bei ihm im Dienst stehenden
Magd Ehebruch trieb und diese schwängerte. Es
wäre ein Grundirrthum des Sachverständigen Z.,
welcher daraus, dass sie „anstatt über die Verirrungen
des Mannes den Mantel der Liebe zu decken,“ diese
zum Gegenstand des Gesprächs mit Anderen gemacht
und seinen Namen verunglimpft hätte, auf den
Mangel des Bewusstseins ihrer Rechte als Ehefrau
Schlüsse gezogen habe. Ihr vor dem Berufungsrichter
ausgesprochener Wunsch, mit dem Manne und mit
ihren Kindern wieder zusammenzuleben, entspräche
ihrem w*ahren, dieses Bewusstsein betätigenden
Willen. Auch die Fähigkeit, die ihr durch die
Ehe auf erlegten Pflichten zu erfüllen, könne nicht
verneint werden. Ihre frühere Neigung zu Gewalt¬
tätigkeiten bestände nicht mehr. Trotz vorhandener
Sinnestäuschungen und Wahnideen verhalte sie sich
Original from
HARVARD UNIVERSUM
34
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 3,
nach den Zeugenbekundungen ruhig und arbeitsam.
Handlungen, die sich objectiv als Unsittlichkeiten oder
eheliche Verfehlungen darstellen, wären nicht zu
besorgen. Die Verschlimmerung des Leidens in
der Zeit während der Behandlung der Beklagten in
der Anstalt zu R. und die Erregungszustände in
Folge der Verfehlung des Mannes dauerten nicht
mehr fort. Auch für wirtschaftliche Angelegenheiten
wäre die Beklagte nicht theilnahmlos; sie arbeite
vielmehr nach der Zeugenbekundung ihrer Mutter
auch auf dem Felde. Ihr Interesse für die Familie
zeige sich dadurch, dass sie zuweilen nach R. gehe,
um ihre Kinder zu besuchen. Allerdings meint der
Berufungsrichter schliesslich, dass die Wahnideen und
Sinnestäuschungen der Beklagten ihrer Umgebung
lästig werden und auch auf die Erziehung der Kinder
nachtheilig einwirken könnten, doch wäre die dem¬
zufolge für die Kinder bestehende sittliche Gefahr
nicht so dringend, dass die Scheidung der Ehe den
einzigen Ausgang bilde. In tatsächlicher Beziehung
unterliegen alle diese Erwägungen nicht der Nach¬
prüfung des Reichsgerichts. Sie beruhen auch nicht
auf einer Verletzung processualer Gesetzesvorschriften.
Die Revision rügt die Nichterhebung des vom Kläger
angebotenen Beweises für verschiedene von der Be¬
klagten in ihrer Geistesverwirrtheit geführte Reden,
unter Anderem: Kläger wäre nicht der Mann, den
sie geheiratet habe, der sei viel grösser gewesen;
ihr Mann sei schon einmal gestorben, sie habe ihn
in das Leben gerufen; in ihrem Haushalt wolle man
sie vergiften und dergl. Allerdings hat der Berufungs¬
richter den Grund, weshalb er diese Beweise un-
erhoben gelassen hat, nicht angegeben. Da es sich
jedoch um Thatsachen handelt, die nicht unmittelbar
für die Entscheidung von Erheblichkeit sind, die
vielmehr nur ein Urteil über die Beschaffenheit und
den Grad der Geisteskrankheit zulassen, in dieser
Beziehung aber umfangreiche Beweiserhebungen bereits
stattgefunden hatten, so lässt sich nur annehmen, dass
der Berufungsrichter das dadurch gewonnene Material
für ausreichend gehalten hat, um darautin sowie auf
Grund der Beobachtungen der Sachverständigen und
der eigenen Wahrnehmungen bei der Abhörung der
Beklagten zu einem abschliessenden Urteil über
ihren gegenwärtigen Geisteszustand zu gelangen,
umsomehr da der Berufungsrichter selbst davon
ausgeht, dass die Beklagte von Wahnideen und
Sinnestäuschungen befangen sei. Die Revision ver¬
weist sodann auf verschiedene Einzelheiten des in
der Beurteilung des Grades der Geisteskrankheit
über die Feststellungen des Oberlandesgerichts hinaus¬
gehenden Z.’schen Gutachtens. Dies würde nur dann
von Belang sein, wenn dem Berufungsrichter eine un¬
genügende Beachtung der Auslassungen dieses Sach¬
verständigen zum Vorwurfe gemacht werden könnte. Für
eine derartige Beanstandung des Berufungsurtheils fehlt
es jedoch an jedem Anhalt. Auch war der Berufungs¬
richter durch keine processuale Gesetzesvorschrift
darin beschränkt, die Ausdehnung der von ihm zu
erhebenden Sachverständigenbeweise nach eigenem
freien Ermessen zu bestimmen. (§ 404 der Civil-
processordnung.) (Urteil des R.-G. IV. C. S.
18. XII. 1902.)
J. W. Beilage No. 3, pag. 28.
§ 1569-
Die hier vorgesehenen 3 Jahre sind von dem
Zeitpunkte an zu rechnen, in dem zuerst das Be¬
stehen von Geisteskrankheit festgestellt wurde, nicht
etwa schon von da an, wo Symptome hervorgetreten
sind, von denen sich später herausgestellt hat, dass
sie durch geistige Erkrankung zu erklären seien.
(O.-L.-G. Jena, 20. November 1902.)
D. R. pag. 483, Entsch. No. 2453.
§ 1666.
Ist bei einem nicht vollsinnigen Minderjährigen
die körperliche oder geistige oder sittliche Ver¬
wahrlosung mangels Anordnung besonderer erziehlicher
Maassnahmen (Anstaltserziehung) zu besorgen, so
kann gleichwohl die Fürsorgeerziehung auf Grund
des § 1 No. 1 und 3 Pr. Fürs.-Erz.-G. nicht an¬
geordnet werden, wenn weder ein schuldhaftes Ver¬
halten der Eltern im Sinne des § 1666 B. G.-B.
noch der bereits erfolgte Eintritt einer gewissen sittlichen
Verderbtheit des Minderjährigen festzustellen ist.
(K.-G. Berlin. 22. VI.)
D. R. pag. 577, Entsch. No. 2936.
§ 1786 No. 8.
Die Führung einer Vormundschaft und einer
Gegenvormundschaft berechtigt nicht zur Ablehnung
der Uebemahme einer weiteren Vormundschaft.
(Kammergericht. 8. XII. 1902.)
D. R. pag. 126, Entsch. No. 597.
§§ 1793.1631-
Der Vormund eines Kindes und ebenso der
Pfleger, dem die Sorge für die Person eines Kindes
übertragen ist, sind berechtigt und verpflichtet, das
Kind zu erziehen oder seine Erziehung zu überwachen.
(K.-G. Berlin, 13. October 1902.)
D. R. pag. 182, Entsch. No. 973.
(Fortsetzung folgt.)
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HARVARD UNIVERSITY
1904.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
35
Mittheilungen.
— Ein Beitrag zur Geschichte der Medizin.
Unter dieser Aufschrift veröffentlicht Dr. Fürer-
Rockenau in der „Dtsch. Mediz. Wochenschrift (No.
-63) folgende Mittheilung: „In der ersten Hälfte des
vorigen Jahrhunderts noch soll man gegen eine Art
Eintrittsgeld hier und da in Irrenpflegeanstalten sich
zum Zeitvertreib an der Art und Weise haben „er¬
götzen“ können, in welcher die abnorme, krankhafte
Gehimthätigkeitder Anstaltsinsassen diese veranlasste,
sich zu benehmen. Ein erfahrener Wärter soll es
verstanden haben, durch Applikation geeigneter Reize
-die Schaustellung dramatisch zu gestalten.
Heute» im Anfang des 20. Jahrhunderts, zeigt
man in München im Theater einem zahlenden Publi¬
kum, das man als „eingeladen“ bezeichnet, weil ge¬
wisse belanglose Aeusserlichkeiten einer gesetzlichen
Bestimmung zuliebe noch ausser der Bezahlung be¬
obachtet werden, an verschiedenen Abenden unter
„ärztlicher Regie“, wie ein im abnormen Zustand ver¬
setztes Gehirn auf gewisse psychische Reize reagirt.—
Der Münchener Kunst- und Theateranzeiger vom 9.
März 1904 enthält folgende Anzeige: Psychologische
Gesellschaft. Demonstration der Traumtänzerin
Madeleine G. im Münchener Schauspielhause. Pro¬
gramm für Mittwoch, den 9. März 1904. Mitwirken¬
de: Experimenteller Theil: Madeleine G. (Paris),
Magnin (Paris). Musikalischer Theil: Professor L.
Thuille, Frau Sophie Röhr-Brajnin, Professor A.
Dressier, Konzertmeister Bruno Ahner, Graf Sigwart
zu Eulenburg, Orchester des Gärtnertheaters (Dirigent:
Herr Horak). Deklamation: Fräulein Lilli Marberg,
Schaupielerin. Bühnenarrangement: Professor Gabriel
v. Seidl und Professor Albert v. Keller. Aerztliche
Leitung und Regie : Dr. Freiherr v. Schrenk-Notzing.
{Folgt eine Aufzählung von musikalischen und dekla¬
matorischen Vorträgen, zu denen die hypnotisirte
Person „tauzt“) In München, respektive Bayern,
besteht ebenso wie in Preussen ein Verbot hypno¬
tischer Schaustellungen. Es wird aber so umgangen,
dass zum Beispiel in diesem Falle die Psychologische
Gesellschaft ein Theater miethet und dass man dem
Publikum in den betreffenden mit dem Vertrieb der
Billets betrauten Geschäften mit dem Billet eine Art
Einladungskarte überreicht, gelegentlich auch sich den
Namen angeben lässt. Der Preis für ein Billet be¬
trägt 20 Mark, respektive 10 Mark. Das betreffende
Theater fasst zwischen 600 und 700 Leute. Kommen¬
tar überflüssig!“
Referate.
— Beiträge zur Physiologie des Nerven¬
systems speciell der Sinnesorgane von
Fr. Schuhmacher (Verlag von Th. Thomas-Leipzig).
I. Physiologie der Nervenerregung.
Verf. ist der Meinung, dass die doppelsinnige
Leitung functionell die wesentliche bildet, dass dem¬
gemäss beim Zustandekommen der Sinneseindrticke
sowie bei gewissen Associationsprocessen eine Art
Reflexion des Nervenprincipes wesentlich mit bethei¬
ligt ist Diese Auffassung des Verf.'s stützt ausser
der negativ. Stromschwankung u. s. f. besonders
eine Betrachtung des anatomischen Baues der be¬
treffenden Nervenendigung, der fibrillären Zusammen¬
setzung der Sinnesnerven. Nach Rabl - Rückhardt,
Duval sind die Dendriten contractil; Dendriten, wie
Neuriten der einzelnen Nervenzellen bilden keine
Verbindungen, sondern nur eine Art Contact. Verf.
glaubt, dass von der Nervenzelle ausgehende Schwing¬
ungen die Dendriten (nach der allgemeinen Anschau¬
ung sollen die Dendriten cellulipetal sein) in eine
gewisse Spannung versetzen, deren Folge eine lineare
Streckung der Dendriten ist; dadurch wird eine
kurzw’ährende wirkliche Verbindung mit den Nerven¬
endigungen hergestellt.
Centrifugale Nervenleitung ist besonders deutlich
bei den Synaesthesien, ferner bei den Visionen und
Hallucinationen; ferner beim Eintreten der Zapfen-
zellenreaction auf Lichtreiz, die der N. opticus ver¬
mittelt. Weitere Beweise für die Anschauung des
Verf.’s von der Natur der Nervenerregung liefert das
Purkinjesche Phänomen, die Schmerzempfindung
nach Amputationen im amputirten Glied, die Polyäs-
thesie der Tabiker. Vom Standpunkte des Verf. aus
lassen sich auch die mehr oder minder scharfen
Localisationen der verschiedenen Sinnesempfindungen
leichter verstehen.
II. Phylogenie der Sinnesorgane.
Als Stützpunkt für die im vorhergehenden ge¬
schilderte Anschauung über die Nervenerregung dient
dem Verf. auch die phylogenetische Entwicklung der
Sinnesorgane.
Während bei den einfachen und einfachsten Ge¬
staltungen (Rhizopoden) der gesammte Körper als
Tast- und Hörapparat fungirt, ist bei den höchsten
Thieren speciell den Menschen durch die Wechsel¬
wirkung zwischen gesteigerter Irritabilität des Proto¬
plasmas (Neuroplasmas) und weiterer Differenzirung der
Sinneszellengruppen, schliesslich auch das Bewusst¬
sein entstanden.
Die topographisch-anatomische Lage der Sinnes¬
organe erklärt sich daraus, dass sie durch Zellen-
selection aus den Epithelzellen der Körpertheile an¬
standen sind, die äusseren Reizen stets zunächst
und am intensivsten ausgesetzt sind (Kopf).
Die Phylogenese zeigt uns, dass die Sinnesorgane
dem Nervensystem gegenüber das Primäre sind.
Jede Sinnesempfindung ist stets mit Vorstellungen
verbunden, und fast durchgängig mit Gefühlen.
III. Ueber das Bewusstsein.
Nach dem Verf. kann man das Bewusstsein einer
Potenzirung unserer Empfindungen und Vorstellungen
vergleichen oder es auch analog einer Widerspiegelung
der Empfindungen und Vorstellungen in solchen
gleichzeitig mit erregten Erinnerungszellen, die zu der
jeweilig gegenwärtigen Empfindung oder Vorstellung
in gewisser Beziehung stehen, auffassen. Es besteht
kein Zweifel, dass das Bewusstsein sich sowohl phylo¬
genetisch als auch ontogenetisch entwickelt hat;
man sieht beim Kinde mit der Deponirung einer
Anzahl von Erinnerungen des individuellen Lebens^
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HARVARD UNiVERSITY
3^
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 3.
sich das Bewusstsein und das Gefühl der individuellen
Persönlichkeit entwickeln. Sämmtliche psychische
Erscheinungen sind an die Substanz des Central¬
nervensystems gebunden, also Functionen einer ma¬
teriellen Substanz. Nach der Thatsache, dass der
Entwicklung der Substanz im monistischen Sinne
eine Entwicklung der Function parallel läuft, kann
man eine Parallelskala für die Materie und deren
Functionen construiren, als deren höchste Glieder
einerseits das Neuroplasma, andererseits das Bewusst¬
sein erscheinen. H e i n i c k e - Grossschweidnitz.
— Die Vererbung im gesunden und
krankhaften Zustande und die Entstehung
des Geschlechts beim Menschen von Dr. J.
Orchanky, Professor an der Universität Charkow. Mit
41 Abbildungen. Stuttgart, Verlag von F. Enke 1903.
Das Werk bietet eine solche Fülle des Neuen
und Interessanten, dass es unmöglich ist, in einem
Referat den Inhalt nur einigermaassen zu erschöpfen.
Es stellt daher das Folgende nur eine kurze
Inhaltsangabe der in den einzelnen Kapiteln behan¬
delten Hauptfragen dar.
Im 1. Theile, der die Lehre von der Ver¬
erbung umfasst, bespricht Verf. zuerst das Ge¬
biet der Erblichkeit, dann die verschiedenen
Ansichten über die Vererbung von im Leben
erworbenen Veränderungen, auch der Immu¬
nität, um dann auf die erbliche Uebertragung
von Krankheiten, die pathologische Ver¬
erbung überzugehen.
Im 2. Theile, der in der Hauptsache die eigenen,
umfassenden Untersuchungen des Verf.’s enthält, be¬
spricht dieser zuerst die Frage von der Entsteh¬
ung der Geschlechter; weiter wird darin die
Frage über die Aehnlichkeit, unter Berücksich-
tigung der Ansichten Charles Richets, Bourgmeisters,
Haeckel’s, Prosper Lucas und der eigenen diesbe¬
züglichen Beobachtungen eingehend behandelt.
Daran schliessen sich Erörterungen vergleichenden
Charakters über den Körperbau der Neuge¬
borenen und deren Mutter, über die Grenzen
der Erblichkeit, die Entwicklung des Ske¬
letts, die Erbl ichkeit in kr an k e n Familien,
die Elemente der Vererbung und die Be¬
fruchtungstypen. Das letzte Kapitel behandelt
die Vererbung und die individuelle Evo¬
lution. Heinicke - Grossschweidnitz.
Personalnachrichten.
— Die Stelle des Direktors und I. Arztes an der
neuen Provinzial-Irren-Anstalt bei Meseritz*) in Posen
ist dem leitenden Arzte der Privat-Irrenpflege-Anstalt
des evangelischen Diakonievereins zu Waldbröl Herrn
Dr. L. Scholz commissarisch übertragen worden.
— Dr. phil. et med. Hugo Liepmann, Privat¬
dozent der Psychiatrie an der Universität Berlin und
Arzt an der städtischen Irrenanstalt in Dalldorf, ist
zum Professor ernannt worden.
*) siehe die ausführliche Beschreibung im Jahrg. III, S. 247.
— Breslau. Bis zur endgültigen Besetzung
des hiesigen Lehrstuhls der Psychiatrie ist Privat¬
dozent Dr. med. Emst Storch mit der Abhaltung,
der Vorlesungen beauftragt worden.
Zur Hygiene des Rauchens.
Das lobenswerthe Bestreben, den Tabakgenuss
zu einem möglichst unschädlichen zu machen, hat
kürzlich wieder zu einem wichtigen Fortschritt auf
diesem Gebiete der Hygiene geführt. Professor
Dr. H. Thoms vom pharmaceutischen Institut in
Berlin, der sich seit 1899 der Untersuchung der
Rauchproducte des Tabaks widmet und bereits in
einigen Arbeiten die Resultate seiner Forschungen
veröffentlichte, beschreibt in der „Chemiker-Zeitung“
(1904, Nr. 1) ein Verfahren, durch welches eine er¬
hebliche Entgiftung des Tabakrauchs bewirkt
wird: Durch Hindurchleiten von Tabakrauch durch
eisenchloridhaltige Watte wird das höchst unange¬
nehm riechende ätherische Brenzöl und Schwefel¬
wasserstoff gebunden, Blausäure zu ungefähr der
Hälfte und Nicotin, dessen Spaltbasen und Ammo¬
niak zum grössten Theile zurückgehalten. „Ein
völliges Binden der Rauchproducte nach dieser Me¬
thode ist nicht möglich und auch gar nicht anzu¬
streben, will man dem Raucher nicht jeden Genuss
rauben“. Letzteres findet aber statt bei den viel¬
fach gemachten Versuchen, das Nikotin aus dem
Tabak zu extrahiren, der dann nach Stroh schmeckt,
weil die das Aroma bedingenden Stoffe zerstört sind,
und der überdies trotzdem noch andere schädliche
Producte enthält (Methylamine, Ammoniak, Schwefel¬
wasserstoff, Blausäure, Kohlenoxyd). Die sogenann¬
ten „nikotinfreien“ Cigarren besitzen daher einen sehr
problematischen Werth. Durch die bisherigen Me¬
thoden, den Tabakrauch durch Asbest oder Watte
u. dergl. zu filtriren, wobei man noch die Filtermittel
mit Säuren oder Alkaloidfällungsmitteln imprägnirte,
wird ebenfalls theils das Aroma verändert, theils sind
die angewendeten Chemiealien an sich nicht unge¬
fährlich. Von einer Gesammtbindung der schädlichen
Rauchproducte kann nach Thoms keine Rede sein,
da dieselben zu verschiedenen Klassen chemischer
Verbindungen angehören. Prof. Dr. Thoms verwen¬
dete als Rauchfiltermittel fasriges Material, welches
mit einer Eisenoxydul- oder Eisenoxydsalzlösung ge¬
tränkt ist; die Eisensalze werden durch die flüchtigen
Basen des Tabakrauchs zerlegt, welche dann von
den Säuren der betreffenden Eisensalze zurückge¬
halten werden. Bei den practischen Versuchen er¬
wies sich das mit Eisenchlorid imprägnirte fasrige
Material als am besten geeignet. Zur Verwerthung
seiner Erfindung setzte sich Prof. Dr. Thoms mit der
schon durch die Gerold’schen Cigarren bekannten
Firma Wendt’s Cigarrenfabriken in Bremen
in Verbindung, welche sich das Verfahren patentiren
liess. Prof. v. Lagerheim von der Universität
Stockholm hat in seinem Laboratorium die Thoms-
sche Erfindung einer eingehenden Nachprüfung unter¬
zogen und konnte bestätigen, dass die gestellte Auf¬
gabe in vorzüglicher Weise gelöst ist.
Für den redactionellen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Bresier , Lublinitx (Schienen).
Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Hevnemann’scbe Buchdruckerei (Gebr. Wolff) in Halle a. S.
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Psychiatrisch-Neurologische
Wochenschrift.
Sammelblatt zur Besprechung aller Fragen des Irrenwesens und der praktische!)
Psychiatrie einschliesslich der gerichtlichen, sowie der praktischen Nervenheilkunde.
Internationales Correspondenzblatt für Irrenärzte und Nervenärzte.
Unter Mitwirkung zahlreicher hervorragender Fachmänner des In- und Auslandes
herausgegeben von
Direktor Dr. K. Alt, Prof. Dr. Q. Anton, Prof. Dr. Bleuler, Direktor Dr. van Deventer, Prof. Dr. L. Edinger,
UchUpringe (Altmarkj. Graz. Zürich. Meerenberg (Holland). Frankfurt a. M.
Prof. Dr. A. Guttstadt, Prof. Dr. E. Mendel, Prof. Dr. Mingazzini, Dr. P. J. Möbius, Direktor Dr. Morel,
Geh. Med.-Rath, Berlin. Berlin, Rom. Leipzig. Mons (Belgien)
Direktor Dr. G. Olah, Direktor Dr. Ritti, Direktor Dr. Heinrich Schloss, Professor Dr. Ernst 8chultse,
Budapest St. Maurice (Seine). Kierling-Gugging (Österreich). Andernach
Direktor Dr. Urquhart, Dr. med. et phil. W. Weygandt,
Perth (Schottland). Privatdocent, Wurzburg.
Unter Benützung amtlichen Materials
redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Lublinitz (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr. - Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834.
Nr. 4. 23 . A pril. 1904.
Die Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift erscheint jeden Sonnabend in Stärke von x—2 Bogen und kostet pro Quartal 4 Mk.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die ßspaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sihd an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), tu richten.
Inhalt: Hermann Emminghaus f (S. 37). — Paranoia oder Dementia praecox? Von Primararzt Dr. Josef Berze in Wien
(S. 39). — Zur Frage der zellenlosen Behandlung. Von Dr. CI. Neisser, Director der Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalt
Lublinitz (S. 43). — Wichtige Entscheidungen auf dem Gebiete der gerichtlichen Psychiatrie, III. Aus der Literatur des
Jahres 1903, zusammengestcllt von Prof. Ernst Schultze (Fortsetzung) (S. 44). — Mittheilungen (S. 46). — Referate (S. 48). —
Personalnachricht (S. 48).
Hermann Emminghaus f.
ach langem schwerem Lei¬
den starb am 17. II. 1904
zu Freiburg i. B. der Grossh.
Bad. Hofrath, Kaiserl. Russ.
Staatsrath, Ritter m. O. Dr.
Hermann Emminghaus,
weiland Professor der Psychia¬
trie und Direktor der psychia¬
trischen Klinik daselbst.
Hermann Emminghaus,
am 20. Mai 1845 zu Weimar
geboren, studierte in Göttingen,
Wien und Jena, woselbst er 1870
promovirte, zwei Jahre unter
Siebert an der Heil- und Pflege¬
anstalt daselbst und ebenso zwei
Jahre unter C. Gerhardt an
der Medicinischen Klinik Assi¬
stent war. 1873 arbeitete er in
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Leipzig unter C. Ludwig phy¬
siologisch und habilitierte sich
dann Ende des gleichen Jahres
in Würzburg, woselbst er sich als
practischer Arzt niedergelassen
hatte, für Psychiatrie. Im Jahre
1880 erhielt er einen Ruf als
ordentlicher Professor der Psy¬
chiatrie und Director der neuge¬
gründeten psychiatrischen Klinik
nach Dorpat, wohin er übersie¬
delte, nachdem er zuvor noch
unter G. Ludwig eingehend
den ärztlichen Betrieb und die
Verwaltung der Heppenheimer
Irrenanstalt studirt hatte. 1886
erfolgte seine Berufung nach
Freiburg, woselbst er eine er¬
folgreiche Thätigkeit auch als
Original from
HARVARD UN1VERSITY
38
^SYCHtATRISCH-NEUkoLOGISCHE WOCHENSCHkltT.
[Kr. 4.
Sachverständiger entfaltete, bis ihn eine schleichend
verlaufende Himerkrankung zwang, sich beurlauben
zu lassen (X. 1900), und schliesslich in den Ruhe¬
stand zu treten (1. X. 1902).
Durch den vorzeitigen Hingang Emminghaus
erleidet die Wissenschaft einen schweren Verlust. Es
ist hier nicht der Ort, auf die zahlreichen Arbeiten
nicht psychiatrischen Inhaltes, die Emminghaus,
insbesondere in der ersten Periode seiner publicistischen
Thätigkeit, verfasste, näher einzugehen. Nur an
einzelne wollen wir erinnern, von denen die ersten
noch aus seiner Jenaer bezw. Leipziger Zeit stammen,
so die Veröffentlichungen: „Ueber Rubeolen“ (Jahrb.
f. Kinderheilkunde Bd. IV.), „Ueber Perforation des
Verdauungskanals“ (Berl. klin. Wochenschr. 1872),
Über „ein mit der Herzaction erfolgendes Reibegeräusch
des Bauchfelles“ (Deutsches Arch. f. klin. Medic. 1872).
Hervorzuheben sind dann insbesondere die experi¬
mentellen Beiträge zur Physiologie und Pathologie
der Absonderung und Bewegung der Lymphe. Die
Arbeit über die Abhängigkeit der Lymphabsonderung
vom Blutstrom (Arch. f. Heilk. u. Arbeiten d. physiol.
Anstalt zu Leipzig 1874) und namentlich die grossen
Beiträge, die Emminghaus zum Gerhardt’schen
Handbuche der Kinderheilkunde (1877 und 1878)
beisteuerte, für welches er die Rötheln, die Lyssa
humana, die Oesophaguskrankheiten und die Meningitis
cerebrospinalis epidemica in vortrefflicher Weise be¬
arbeitete.
Neben den genannten vornehmlich dem Gebiete
der inneren Medicin angehörigen Publicationen hatte
Emminghaus aber von jeher mit Vorliebe auch
Themata neurologischen oder psychopathologischen
Inhaltes in Angriff genommen. Seine Doktorarbeit
handelte über das hysterische Irresein. Als Assistent
veröffentlichte er „Ueber die Behandlung der Bulimie
mit Codein“, den „Fall von epilepsieartigen Convul-
sionen, durch Experiment erzeugbar etc.“ (Jahrb. f.
Kinderheilk. 1871) sowie „Psoriasis mit Angstzuständen“
(Berl. klin. Wochenschr.), „Ueber halbseitige Gesichts¬
atrophie“ (D. Arch. f. kl. Medic. Bd. XI. und XII),
„Ueber das Auftreten von Verfolgungswahn im Pocken-
process und das Vorkommen von Fettsäuren im
Harne Geisteskranker“ (Arch. f. Heilk.), sowie die
bekannte Arbeit: „Ueber epileptoide Schweisse“ und
„Wirkungen der Galvanisation am Kopfe etc.“ (Arch.
f. Psychiatrie, Bd. IV). Aus seiner ersten Würzburger
Zeit datiren ein Iesenswerthes Gutachten (Viertel-
jahresschr. f gerichtl. Medic. 1874) und klin. medic.
und psychopathologische Studien über die Lvssa
humana (Arch. f. Heilk. und Allgem. Zeitschr. f.
Psychiatrie).
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Alle die erwähnten Veröffentlichungen zeigen neben
vielem Originellen eine ausserordentlich gründliche
Verarbeitung des betr. Stoffes. In ganz besonderem
Maasse gilt dies aber von dem ersten psychiatrischen
Hauptwerke Emminghaus’, mit dem er sich sofort
in die erste Reihe der deutschen Psychiater stellte.
In der That sucht „die allgemeine Psychopathologie“
(1878 erschienen und Professor v. Rineker, dem Vor¬
stande der Irrenabtheilung des Juliusspitals gewidmet)
ihres gleichen, die vielseitige und sorgsame Zergliede¬
rung des grossen Stoffes, die eingehende Würdigung
der früheren Literatur sichern dem Werke dauernd
einen Platz in der psychiatrischen Literatur. Kleinere
Arbeiten über acute aufsteigende Spinalparalyse, über
progressive Paralyse fallen in das Jahr 1879.
In Dorpat verfasste Emminghaus dann die
mustergiltigen Beiträge zu Maschkas Handbuch
der gerichtlichen Medicin („Kinder und Unmündige“,
„Blödsinn und Schwachsinn“ 1882), die interessante
Mittheilung über „Kohlendunstasphyxie, Aufhebung
der faradischen Erregbarkeit der Ni. phrenici“, sowie
die klinische und pathologisch-anatomische Studie:
„Zur Pathologie der postfebrilen Demenz“ (Neurolog.
Centralblatt 1883 und Archiv f. Psychiatrie 1886).
1887 erschien seine zweite Hauptarbeit: „Die psychi¬
schen Störungen des Kindesalters“ (als Ergänzungs¬
band des Gerhardt’schen Handbuches), die ein rüh¬
mendes Zeugniss der Gründlichkeit des Verfassers
bildet und infolge der bedeutsamen Casuistik des zweiten
Abschnittes und namentlich durch die klassische Aus¬
führung des allgemeinen Theils einen bleibenden Werth
besitzt Des Verstorbenen „Behandlung des Irreseins
im Allgemeinen“ im Handbuch der Therapie von
Penzoldt und Stintzing (1894) bildet ein würdiges
Gegenstück zu den beiden genannten Hauptwerken.
1894 erfolgte noch die Veröffentlichung über „patho¬
logisch-anatomische Befunde bei Innervationsstörungen
des Darmes“ (München. Medic. Wochenschr.), die
letzte zum Druck gelangte Arbeit Emminghaus.
Neben den genannten Eigen werken verdient hervor¬
gehoben zu werden, dass Emminghaus von 1889
bis 1899 mit grosser Verlässlichkeit und Gründlichkeit
die gesammte psychiatrische Litteratur für Virchows
Jahresberichte der gesammten Medicin referirte, eine
nicht zu unterschätzende Leistung. — Aber nicht
nur in seinen 1 itterarischen Veröffentlichungen kam
die gründliche und vielseitige Durchbildung des Ver¬
storbenen zum Ausdruck, sondern vornehmlich auch
in seiner Thätigkeit als Lehrer und als Arzt Seine
klinischen Visiten waren stets interessant und anre¬
gend, seine theoretischen Vorlesungen von einer un-
gemeinen Reichhaltigkeit, zumal da sein eminentes
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
1904.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
39
Gedächtniss ihm die Beherrschung der Litteratur
nicht nur seines Specialfaches leicht machte, sondern
auch ermöglichte, dass er über diejenigen anderer
Disciplinen stets discussionsbereit orientirt war.
In umfassendster Weise, jedem therapeutischen
Fortschritte zuneigend, sorgte er für seine Kranken
und bestrebte sich, durch Combination aller (psychi¬
scher und somatischer) Heilmethoden die Krankheit
und ihre Symptome zu bekämpfen. Dass er es in
seinen Kliniken dahin brachte, das Milieu, den ganzen
Betrieb den modernsten Anschauungen gemäss zu
gestalten und von Grund aus zu organisiren, ist um
so höher zu taxircn, als er sowohl in Dorpat wie in
Freiburg keinerlei diesbezügliche Tradition vorfand,
an beiden Orten neugegründete Anstalten erst ein¬
zurichten und in Betrieb zu setzen hatte. Stets sah
Emminghaus — in einer dem Unerfahrenen viel¬
leicht fast pedantisch erscheinenden Weise — auf
das, was man jetzt den Comfort des Kranken, den
Comfort der Krankenstube zu nennen pflegt, in der
richtigen Erkenntniss, dass die Mittel oft weniger
nützen, als die Geste mit der, die Umgebung, in der
sie dargereicht werden. In wirksamster Weise unter¬
stützten den letzteren — psychischen — Heilfactor
seine imposante Persönlichkeit Aber auch die gleich-
mässige Freundlichkeit, mit der er die Wünsche eines
jeden Kranken anhörte, seinen Interessen das Augen¬
merk zuwandte, trug viel zu seinen Erfolgen am
Krankenbette bei.
Alle, die Emminghaus kannten, werden seiner
daher nie vergessen und insbesondere im Herzen
seiner Zuhörer und Schüler wird — wie in der
Wissenschaft — sein Bild dauernd einen Ehrenplatz
einnehmen. H. P.
Paranoia oder Dementia praecox?
Von Primararzt Dr. Josef Berte in Wien.
Jn einer jüngst erschienenen kleinen Monographie habe
ich zu zeigen versucht, dass aus den gemeinhin
als Paranoia bezeichneten Krankheitsfällen eine be¬
stimmte Gruppe ausgesondert werden kann, deren
psychopathologische Grundlage eine Störung der Apper-
ception ist, darin bestehend, dass der Vorgang der
Erhebung eines psychischen Inhaltes in den inneren
Blickpunkt erschwert ist; ich habe diese Ansicht
weiteres dadurch zu stützen versucht, dass ich darauf
hingewiesen habe, wie — in meiner Meinung nach
durchaus ungezwungener Weise — die Genese aller
Cardinalsymptome, ja die ganze Entwicklung der
Psychose aus dieser Apperceptionsstörung abgeleitet
werden kann, welche ich somit wohl als Primärsymptom
dieser besonderen Form der Päranoia bezeichnen
dürfte.
Weygandt hat nun in einem in dieser Wochen¬
schrift (Nr. 47, 1904) erschienenen Referate über
meine Arbeit u. a. gesagt: „Die Ausführungen treffen
nicht so sehr auf die streng systematisirende Kraepe-
lin’sche Paranoia als vielmehr auf die viel zahlreicheren
Fälle einer paranoiden Dementia praecox zu, auf deren
tiefgehende Defecte im Bereich der Apperception
Referent früher schon mehrfach (vgl. u. a. Atl. u.
Grdr. d. Psych. 1902 S. 373) hingewiesen hatte,“
Ich muss gestehen, dass ich von einem so aus¬
gesprochenen Kraepelinianer ein anderes Urtheil über
*) UebtT das Primärsymptom der Paranoia. Halle a, S.
(Verlag von C. Marhold) 1903.
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meine Ansicht gar nicht erwartet habe, ja dass mir
die in dem citirten Satze enthaltene Kritik ein Be¬
weis mehr dafür zu sein scheint, dass ich im ganzen
doch Recht habe, ein Beweis, der mir umso werth¬
voller ist, als ich den Standpunkt und die Betrach¬
tungsweise meines Kritikers wohl zii schätzen weiss.
Thatsächlich dürfte Kraepelin die meisten der
Paranoia-Fälle, welche das Substrat meiner Arbeit
gebildet haben, als paranoide Formen der Dementia
praecox bezeichnen, zumaLnach der 7. Auflage seines
Lehrbuches neben der Dementia paranoides und der
phantastischen Verrücktheit (physikalischer Verfol¬
gungswahn) sogar das Delire chronique ä evolution
systematique (Paranoia completa) zu diesen Formen
gerechnet wird. Aus meinen Ausführungen geht
ja klar und deutlich hervor, dass ein Teil tneiner
Fälle in das Schema des „delire chronique.“
Magnan’s*) beiläufig passt, ein anderer Theil
aber wieder nicht, was namentlich dem klar geworden
sein wird, der meine Bemerkungen über das Fehlen
einer eigentlichen Demenz, beziehungsweise über die
unwesentliche Rolle, die ein etwa doch beobachteter
Schwachsinn in den von mir benutzten Fällen m. E.
spielt, aufmerksam gelesen hat. Jedenfalls kann ich
es aber niemandem verargen, wenn er meint, dass
meine Fälle grösstentheils zur Gruppe Magnan’s ge¬
hören ; hätte ich dies vermeiden wollen, so hätte ich
*) Magnan, Psychiatrische Vorlesungen, deutsch von
Möbius, Heft 1. 1891.
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40
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 4.
meine Fälle durchweg in extenso bringen müssen.
Mir war jedoch daran gar nicht so viel gelegen —
schon deshalb nicht, weil ich den Beweis dafür noch
nicht für erbracht halte, dass die Fälle der
Magnan’schen Gruppe (Paranoia completa, wie sie von
Möbius treffend genannt werden) durchwegs so
sicher gegenüber der „streng systematisirenden
Kraepelin’schen Paranoia“ abzugrenzen sind, wie
manche Psychiater zu glauben scheinen. Je grösser
das dem Beobachter zur Verfügung stehende Paranoia-
Material ist, um so sicherer muss sich ihm meiner
Meinung nach die Ueberzeugung aufdrängen, dass
man dann, wenn man nur den späteren Verlauf und
den Ausgang berücksichtigt, eine Grenze zwischen
den „paranoiden Formen“ Kraepelins und der Mehr¬
zahl der Fälle, welche selbst Kraepelin als Paranoia
gelten lässt, überhaupt nicht ziehen kann, und
weiter, dass man selbst von der schon so zusammen¬
geschrumpften Kraepelin’schen Paranoia noch immer
Fälle lossreissen muss, wenn man zu einem halbwegs
abgerundeten Begriff der „paranoiden Formen“ ge¬
langen will und wenn man sich nicht der Eventualität
aussetzen will, auf Fälle zu stossen, die willkürlich
zwischen Dementia praecox und Paranoia hin- und
hergeschoben werden können. Gerade das sehr
reiche Material der Wiener Landes-Irrenanstalt zeigt
dies zur Evidenz.
Dass ich meine Fälle „Paranoia“ nennen durfte,
unterliegt wohl keinem Zweifel. Einstweilen ist der
heutige Kraepelin’sche Standpunkt doch noch
nicht allgemein anerkannt, und es fragt sich, ob es
überhaupt dazu kommen wird. Die grosse Mehrzahl
der Psychiater wird die Fälle Magnan’s und so wohl
auch die meinigen heute gewiss als Paranoia und
nicht als paranoide Formen der Dementia praecox
bezeichnen.
Worauf es bei der Frage, ob man die „paranoiden
Formen“ zur Dementia praecox ziehen soll oder nicht,
m. E. hauptsächlich ankommt, kann ich wohl am
besten zeigen, wenn ich an die Bemerkung Wey-
gandt’s anknüpfe, dass bei der paranoiden
Dementia praecox tiefgehende Defecteim Bereiche
der Apperception beobachtet werden.
Störungen der Apperception kommen bei den
allerverschiedensten Psychosen zur Ausbildung. Man
kann zunächst sagen, dass fast bei allen progressiv
destruktiven Processen im Beginne der Krankheit
Apperceptionsstörungen auffallen, sofeme nur im
konkreten Falle der Process nicht mit einer solchen
Vehemenz hereinbricht oder mit solcher Raschheit
fortschreitet, dass die alsbald ausgebildeten tieferen
psychischen Störungen die Apperceptionsstörungen
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verdecken. Ich erinnere mich beispielsweise einiger
prächtigen Fälle von progressiver Paralyse, in denen
der Process so langsam fortschritt, dass die Demenz
lange Zeit auf sich warten Hess,. wogegen es zur
Ausbildung eines paranoiden Zustandsbildes kam, das
von einer echten Paranoia kaum sicher zu unter¬
scheiden war; gewisse Anhaltspunkte, nicht-psychischer
Natur, wie leichte Facialis-Parese, leichte Pupillen¬
störungen, überstandene Lues waren es allein, die die
Vermuthungs-Diagnose auf Paralyse ermöglichten,
der spätere Verlauf hat diese Diagnose bestätigt.
Auch bei rascher verlaufenden Fällen kann man, wie
bekannt, namentlich wenn der Process zunächst mehr
das motorische Gebiet betrifft, schön ausgebildete
paranoide Zustandsbilder vorübergehend auftreten
sehen. In allen diesen Fällen erweist sich die
apperceptive Thätigkeit, welche die höchste psychische
Funktion und wohl gerade deshalb auch das feinste
Reagens darstellt, bereits erheblich geschädigt; mir
ist es nicht zweifelhaft, dass auch hier diese Apper-
ceptionsstönmg die Grundlage abgibt für die Ent¬
wickelung des paranoiden Bildes. Ferner darf ich
wohl auch auf die sog. paranoiden Vorstadien gewisser
akuten, gutartigen, heilbaren Psychosen hinweisen;
auch hier — ich erinnere nur zunächst an gewisse
Fälle von Amentia *— tritt das Paranoide dann auf,
wenn sich die Krankheit nicht zu rasch entwickelt
und hält das Paranoide so lange an, bis infolge der
weiteren Entwicklung die von der Apperceptions-
störung abhängigen Symptome durch andere in
schwereren Störungen begründete Symptome in den
Hintergrund gedrängt werden. Lichtet sich das Bild
wieder, so tritt häufig auch das Paranoide wieder
für kürzere oder längere Zeit in den Vordergrund.
Ja, Liepmann’s*) inhaltsreiche Ausführungen über
Ideenflucht zeigen uns, wie gross die Bedeutung einer
Apperceptionsstörung auch für die Analyse der durch
Ideenflucht characterisirten Krankheits- oder Zustands¬
bilder sein kann; Liepmann sagt klipp und klar:
„Für die Anhänger der Wundt’schen Psychologie
wäre die Kennzeichnung der Ideenflucht einfach:
Im geordneten Denken überwiegen die apperceptiven
Verbindungen, im ideenflüchtigen die associativen.“
Erwähnen will ich auch, dass bei Neurasthenikern —
nach meiner Meinung auf der Basis einer passageren
Apperceptionsstörung — paranoide Zustandsbilder
vorübergehend zur Ausbildung kommen; in dieselbe
Gruppe rechne ich auch transitorische paranoide Zu¬
stände bei verschiedenen Intoxicationen. Dies nur
nebenbei!
*) lieber IdeenJlucht. Begriffsbestimmung und psychologische
Analyse von H. Liepmann, Halle a. S. Carl Mafhold 1904.
Original fram
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
4i
1 9 ° 4 *J
Kein Wundei also, dass Wey g an dt bei der
paranoiden Dementia praecox Defecte im Bereich
der Apperception gefunden hat; es wäre zu wundern
gewesen, wenn einem so erfahrenen Beobachter diese
Defecte nicht aufgefallen wären. Ich stimme ihm
vollkommen bei und freue mich besonders darüber,
dass er diese Defecte „tiefgehende“ nennt; ich bin
eben daran, an einer Reihe von Fällen von paranoider
Dementia praecox die Apperceptionsstörungen zu
studiren, und kann schon heute sagen, dass sie in
der That recht tiefgehend sind, häufig sogar so tief¬
gehend, dass man von einer hochgradigen Insufficienz,
ja zuweilen von einem förmlichen zeitweiligen Ausfall
der apperceptiven Thätigkeit sprechen kann. Was
nun aber meine Ausführungen über die Apperceptions-
störung als Primärsymptom gewisser Fälle von
Paranoia betrifft, so muss ich wohl sagen, dass ich
mich mit meiner Arbeit gewiss nicht hervorgewagt
hätte, wenn ich nur zu sagen gehabt hätte, dass bei
der Paranoia Defecte im Bereiche der Apperception
überhaupt eine Rolle spielen; was mir dazu den
Muth gegeben hat, ist die aus der Beobachtung
vieler Fälle geschöpfte Ueberzeugung, dass die von
mir genauer präcisirte Apperceptionsstörung in einer
Reihe von Fällen, welche Paranoia genannt zu werden
verdienen, nicht nur eine Rolle, sondern die Rolle
des Primärsymptomes zu spielen scheint. Wie man
sich den psychologischen Zusammenhang zwischen
dieser Apperceptionsstörung und allen wesentlichen
Paranoia-Symptogien vorstellen könnte, habe ich als
erster gezeigt. Wie aus meiner Arbeit weiters klar
hervorgeht, nehme ich keineswegs an, dass es sich
bei meinen Fällen um „tiefgehende“ Defecte im Be¬
reiche der Apperception gehandelt hat. Punkt 2
meiner Schlusssätze lautet: „Die psychopathologische
Grundlage ist eine Störung der Apperception, welche
darin besteht, dass der Vorgang der Erhebung
eines psychischen Inhaltes in den inneren
Blickpunkt erschwert ist.“ Ich verkenne nicht
die Schwierigkeiten eines Beweises dafür, dass ich bei
dieser Fassung an eine leichte Störung der Apper¬
ception gedacht habe. Thatsächlich werden ja auch
wahrscheinlich alle Grade Vorkommen, was die
Uebergangsformen erklärt, und mir handelt es sich
auch gar nicht darum, glauben zu machen, dass dies
nicht der Fall sei, sondern nur darum, zu zeigen,
wie schon eine leichte Störung der Apperception,
eine einfache Erschwerung derselben, dazu genügt,
das ganze Heer der Paranoia-Symptome hervor¬
zurufen.
Bei den paranoiden Fällen der Dementia praecox
liegen also Apperceptionsstörungen vor, ebenso aber
auch bei — bisher wenigstens so bezeichnten —
Paranoia-Fällen. Dies zeigt aber wieder, werden
Kraepelin und seine Anhänger sagen, dass beide
Arten zur Dementia praecox gehören. Ich schliesse
aber — anders.
Auch meine Erfahrungen besagen, dass von den
hebephrenischen Formen der Dementia praecox an-
gefangen bis tief hinein ins Gebiet der Paranoia,
aber auch noch ins Gebiet derjenigen Paranoia, die
Kraepelin heute noch gelten lässt, ein allmählicher
Uebergang nachgewiesen werden kann, so dass die
in der Reihe fern von einander stehenden Fälle w ? ohl
von einander geschieden werden können, die einander
nahestehenden aber kaum mit Sicherheit da oder
dort eingereiht werden können. Daraus aber, dass
man sie allesammt unter denselben Hut bringen kann,
zu schliessen, dass damit schon viel gedient sei, halte
ich für verfehlt, schon deshalb, w’eil ein solches Ver¬
fahren dem Streben nach einer ferneren Differenzirung
der Formen, welches uns bei der Betrachtung der
Krankheitsbilder leiten soll, entschieden entgegenwurkt
Kraepelin selbst steht schon stark unter dem
Einflüsse dieser Vorstellung; er führt in der neuesten
Auflage seines Buches aus: „Wir werden uns schwer¬
lich vorstellen dürfen, dass die erdrückende Zahl von
Fällen, die wir heute in den „grossen Topf“ der
Dementia praecox einordnen, einem einheitlichen
Krankheitsvorgange angehört. Uns fehlen nur noch
vollständig die Gesichtspunkte, nach denen eine be¬
friedigende Gruppirung des Stoffes erfolgen könnte.“
Er hofft, dass es ‘gelingen werde, „das Gewirr der
Beobachtungen in eine grössere oder kleinere Anzahl
gut umgrenzter Krankheitsformen aufzulösen“, und
giebt sogar zu, dass es so vielleicht möglich werden
wird, „den nur der vorläufigen Verständigung dienen¬
den, viel angefochtenen und gewiss sehr anfechtbaren
Sammelnamen der Dementia praecox fallen zu lassen.“
Wenn Kraepelin diesen Sammelnamen jetzt
schon durch einen weniger präjudicirenden Namen
ersetzt hätte, wozu ihn ja gerade die Ueberlegung
hätte veranlassen sollen, dass sein Einfluss es vor
Allem war, der den Namen Dementia praecox zu
einem terminus technicus erhoben hat, dem man
nicht heute die, morgen eine andere Bedeutung
beilegen kann, — so hätte wohl mancher Psychiater
an eine Bekehrung des Autors denken zu müssen
geglaubt, wären die Meinungen über den Werth seiner
Auffassung aber gewiss weniger getheilt gewesen, als es
heute der Fall ist. Kraepelin hebt in der Einleitung
des Kapitels: Dementia praecox hervor, dass allen
Fällen, die er unter diesem Namen begriffen wissen
will, „der Ausgang in eigenartige Schwächezustände“
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 4.
gemeinsam ist; ein Name, der diesen Ausgang an-
deutet, ohne wie der Ausdruck „Dementia“ diese
„eigenartigen Schwächezustände“ allzu eng zu be¬
grenzen, so dass auch gewisse distincte psychische
Defecte unter denselben subsummirt werden könnten,
wäre da am Platze gewesen.*)
Nach meiner Meinung (q. Schlusssatz meiner
citirten Arbeit) leiden meine Paranoiker an einem
„distincten psychischen Defect“, nicht aber an
Schwachsinn im gewöhnlichen Sinne des Wortes.
*) Womit ich aber keineswegs sage, dass ich den Vorgang,
vom rein prognostischen Gesichtspunkte aus Psychosen gruppiren
zu wollen, für sonderlich aussichtsvoll halte. —
Wie es übrigens um die Eigenartigkeit der Schwäche¬
zustände steht, welche nach Kraepelin die Ausgänge^ der
„paranoiden Formen der Dementia praecox* 1 bilden, geht u. a.
aus den Ausführungen auf S. 280 des neuesten Lehrbuches
Kraepelin’s hervor| darnach nehmen diese Formen ihren Aus¬
gang „entweder in einfachem Schwachsinn ohne nennenswerthe
Wahnvorstellungen, in wahnhafter Verworrenheit oder in
hallm inatorischer Demenz, bei der von irgend einem sich weiter
bildenden „System“ meist ebenso wenig die Rede sein kann
wie von dauerndem Festhalten der gleichen Ideen Aber auch
diejenigen Fälle, bei denen eine gewisse fortschreitende Ent¬
wicklung des Wahnes (sic! der Verf.) oder doch ein einfaches
Festhalten ohne schwerere Störungen im Zusammenhänge des
Denkens und Handelns stattfindet <sic!), tragen in der Urthcils-
losigkeit, der Unfähigkeit, Widersprüche zu empfinden, Ein¬
wände zu widerlegen oder auch nur aufzufassen, in der Zer¬
fahrenheit des Willens und Handelns, in der gemüthlichen Ver¬
ödung bei gelegentlicher Reizbarkeit, endlich in den Andeutungen
periodischer Schwankungen deutlich den Stempel von End¬
zuständen.“ Also, so wenig lässt sich die Eigenart der
Schwächezuständc fassen, dass der „Stempel von Endzuständen 14
allein schon zu ihrer Characterisirung dienen muss! Nach meiner
Meinung geht aus der Schilderung Kraepelin’s hauptsächlich
die V e rsc h i eden art ig kei t der Ausgänge hervor, eine
Verschiedenartigkeit, die so weit geht, dass der Schluss auf die
Gleichartigkeit der Grundstörungen, auf den es Kraepelin ja
im Grunde abgesehen hat, kaum zulässig erscheinen kann,
besonders wenn wir andererseits im Kapitel über die Ver¬
rücktheit (Paranoia) lesen: „Erst im Laufe von mehreren
Jahrzehnten (also doch auch hier! Der Verf.) pflegt sich eine
langsam zunehmende psychische Schwäche geltend zu machen,
Nachlassen der geistigen Regsamkeit unter ganz allmählicher
(? der Verf.) Weiterbildung des Wahnsystems,*• wenn wir
also hören, dass auch bei der Paranoia Kraepelin’s so beiläufig
ein „Endzustand“ herauskommt. — Was aber die „deutliche
geistige Schwäche“ anbetrifft, mit der die Wahnbildung nach
Kraepelin bei den „paranoiden Formen der Dementia praecox 44
einhergeht, ist es sehr fraglich, ob man all* die Momente,
welche Kraepelin zum Erweise dieser Schwäche heran zieht,
thatsächlich als Beweisgründe für das Vorhandensein einer
geistigen Schwäche im Sinne der Dementia gelten lassen kann.
Bleibt also als „maassgebend für die Diagnose 41 nach Kraepelin’s
eigenen Worten „das Gesammtbild des vorliegenden Krankheits¬
falles 44 ; dass er mit dieser Bemerkung zeigt, dass dem sub-
jectiven Ermessen in dieser Frage ein grosser Spielraum bleibt,
wird Kraepelin kaum bestreiten können.
Ich kann sie daher in eine Gruppe einreihen lassen,
welche etwa den Namen „Eigenartige psychische
Schwächezustände“ führt; dement, d. h. schwach¬
sinnig oder gar universell schwachsinnig, dürfen
sie nach meiner Meinung nicht genannt werden.
Kraepelin nimmt an. dass auf dem Wege
eines „tieferen ätiologischen, psychologischen oder
anatomischen Verständnisses der Krankheit“ Gesichts¬
punkte für die Auflösung des Gewirres der Beobacht¬
ungen gefunden werden können. Meine Untersuch¬
ungen haben sich auf psychologischem Gebiete be¬
wegt. Sie haben mir gezeigt, dass Fälle, die man
bisher allgemein als Paranoia bezeichnet hat, darunter
sowohl solche, die Kraepelin heute zur Dementia
praecox schlägt, als auch solche, die er heute noch
als Verrücktheit (Paranoia) gelten lässt, sich als „eigen¬
artige psychische Schwächezustände“ oder, wie ich
gesagt habe, als „durch einen distincten psychischen
Defect“ charakterisirtc Zustände darstellen. Und als
Grundstörung dieser Formen habe ich eine eigen¬
artige Apperccptiunsstürung aufgefasst, welche m. E. allein
schon — ohne Hinzutritt anderer Störungen — den
psych< »pathologischen Aufbau zuwege bringt.
Meine Ansicht lässt sich mit Hinblick auf
Kraepelin’s Anschauungen auch folgendermaassen
ausdrücken: Aus den paranoiden Formen der De¬
mentia praecox und aus der heutigen Paranoia
Kraepelin’s lassen sich Fälle aussondern, welche
durch ein — wenn ich so sagen darf — psycho-
gcnetisch-klinisches Band zusammengehalten werden;
das psvchogenetische Band ist dadurch gegeben, dass
in allen diesen Fällen eine eigenartige Apperceptions-
störung als Priinärsvmptom angesprochen werden kann,
das klinische Band dadurch, dass sich zu diesem
Primärsymptom im weiteren Verlaufe kein neues,
etwa in einer tieferen Störung begründetes psychisches
Symptom primärer Art hinzugesellt. Die meisten
Psychiater, namentlich alle, die es nicht gerne sehen
würden, wenn — wie die Katatonie, wie viele Fälle
von Amentia, von manisch-depressivem Irresein usw.
— auch die Paranoia ganz im bekannten Topfe
verschwänden, werden diese Fälle eben nach wie vor
Paranoia nennen.
Damit wird nicht behauptet, dass es keine Ueber-
gänge von der Paranoia zu denjenigen Formen giebt,
die mit Recht Dementia praecox genannt werden.
Bei diesen treten eben auch Apperceptionsstörungen
auf, Störungen, die aber nicht auf der Stufe stehen
bleiben, auf welcher sie m. E. geeignet sind, das
Bild der Paranoia entstehen zu machen, sondern sich
bald als viel schwerer oder, wie Weygandt sagt,
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1904.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
43
als „tiefgehend“ darstellen, so dass wohl auch ein
paranoider Zustand vorübergehend sich entwickeln
kann, bald aber — in Folge rascher Progression der
Apperceptionsstörung und in Folge der Entwicklung
anderweitiger elementarer psychischer Störungen —
zurücktreten muss gegenüber einem allmählich zur
Geltung kommenden Schwächezustand, der gegebenen
Falls noch ein undeutlich paranoides Gepräge haben
kann, die Bezeichnung Paranoia aber gewiss nicht
mehr verdient.
Es scheint mir also, dass diejenigen Formen,
deren Verlauf auf eine Progression der Grundstörung
schliessen lässt, (was meines Erachtens dann der Fall
ist, wenn die psychologische Analyse erweist, dass
die Apperceptionsstörung bald einen höheren Grad
annimmt und dass anderweitige psychische Grund¬
störungen sich zu ihr gesellen,) die Bezeichnung
Dementia praecox verdienen, wogegen diejenigen
Formen, deren Verlauf auf ein Stationärbleiben der
Grundstörung schliessen lässt, (was dann der Fall ist,
wenn die psychologische Analyse erweist, dass die
Apperceptionsstörung dauernd einen leichten Grad
behält und isolirt bleibt)*) Paranoia genannt zu
werden verdienen. Ob diese letzteren Fälle mit
anderen Paranoiafällen, welche sicherlich eine ganz
andere Genese haben als meine Fälle, zusammen¬
gebracht werden sollen oder nicht, ist eine Frage
für sich; ich hielt es nicht für richtig, weil die
einzelnen Paranoia-Fälle — auch solche, auf welche
die heutige Paranoia-Schilderung Kraepelins ganz
gut passt — derartige Verschiedenheiten der Genese
aufweisen, dass sie in dieser Hinsicht sogar oft
weiter von einander abstehen, als mancher Fall von
Paranoia von unbestrittenen Dementia praecox-
Fällen absteht.
Für die Subsumtion der Paranoia, die ich meine,
unter denselben Titel, der auch für die richtige
Dementia praecox gelten soll, ist die Findung einer
Bezeichnung, welche sowohl schwere, universelle, als
auch leichte, distincte Defecte zu umfassen geeignet
ist, Hauptbedingung. —
*) Wofür gegebenen Falls der Umstand sprechen würde,
dass sich alle wesentlichen Symptome aus dieser Störung
ableiten lassen.
Zur Frage der zellenlosen Behandlung.
j~~^er Unterzeichnete möchte, nachdem mehrseitig
angeregt worden ist, beim Neubau von Irren¬
anstalten auf Zellen ganz zu verzichten, zur Warnung
folgenden Vorfall mittheilen. Am Ostermontage drangen
bei der ärztlichen Vormittagsvisite eine Anzahl von
Epileptikern — grösstentheils nicht „kriminelle“, aber
durch ihre Erregbarkeit nicht minder gefährliche Ele¬
mente — auf den Unterzeichneten ein, indem sie
Stühle als Waffen benutzten. Es betheiligten sich all¬
mählich mehr oder weniger aktiv gegen 20 Kranke
an dem Angriff und es kam zu einem förmlichen
Kampfe, der nur mit grosser Mühe und unter körper¬
licher Beschädigung der Aerzte und des bei der Ab¬
wehr helfenden Personals beendigt werden konnte.
Wie sich herausgestellt hat, bestand eine vorherige
Vereinbarung und es lag Aufreizung namentlich Seitens
zweier schwieriger Kranker, von denen der eine aller¬
dings öfters vorbestraft war, vor. Den Anstoss gab
ein wenig gut beschaffenes Kartoffelgericht, welches
zwei Tage zuvor verabfolgt worden war; die schlechten
Kartoffeln waren sorgfältig zusammengetragen und ver¬
steckt aufgehoben worden und wurden nun dem
Unterzeichneten beim Eintritt unter Schimpfreden vor¬
gehalten und damit das Signal zum thätlichen Angriff
gegeben. Zur richtigen Würdigung des Vorfalles muss
betont werden, dass bis dahin ein durchaus normales
freundliches Verhältniss der Kranken zu uns Aerzten
bestanden hat.
Nun bin ich durchaus nicht der Meinung, dass
der nämliche Vorfall überall in ganz gleicher Weise
sich wiederholen könnte. In einer gut eingerichteten
und weniger überfüllten Anstalt wird eine bessere Ver¬
keilung solcher gefährlicher Kranker ermöglicht; auch
ist die niedrige Culturstufe und Roheit der hiesigen
oberschlesisch-polnischen Bevölkerung in Betracht zu
ziehen. Trotzdem muss ein solcher auch in seinen
Nachwirkungen (trotz des dankenswerthen Vorgehens
der Vorgesetzten Behörde, welche einige der schlimmeren
Kranken von hier zu versetzen genehmigt hat) sehr
übler Vorfall eine ernste Mahnung zur Vorsicht dar¬
stellen. Ich habe auch in diesem Falle nur Einen
Kranken und auch diesen nur bis zum nächsten Tage
isolirt; hätte ich aber keine Zelle überhaupt zur Ver¬
fügung gehabt und dies also nicht thun können, so
ist es recht zweifelhaft, wrann und wie die Sache ge¬
endet hätte. Es giebt eben Fälle, in welchen die Für¬
sorge für die Sicherheit der Umgebung allem Anderen
voran stehen muss. Die Therapie beginnt mit der
Erhaltung des Lebens. Ich bleibe deshalb bei dem
Satze stehen, welchen ich vor zehn Jahren geschrieben
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44
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 4.
habe: „Die Einrichtung gesonderter Zellenabtheilungen
ist entschieden zu verwerfen. Die Erinnerung an
eine Menagerie mit ihren Käfigen ist nicht zu er¬
tragen. Natürlich aber sollen Einzelzimmer und auch
Zeilen womöglich mit verschiedenartiger Construction
der Fenster etc. und mit allen Abstufungen der
Festigkeit in ausreichender Anzahl in einer wohlor-
ganisirten Anstalt verfügbar sein. Indess diese For¬
derung ist nur in demselben Sinne zu stellen, wie
man beispielsweise von dem Instrumentarium einer
chirurgischen Klinik verlangt, dass auf alle möglichen,
auch die selteneren und die schlimmsten Vorkomm¬
nisse vorsorglich Bedacht genommen sei.“
Lublinitz, den 14. April 1904.
Dr. CI. N e i s s e r,
Direktor der Prov.-Heil- und Pflege-Anstalt.
Wichtige Entscheidungen auf dem Gebiete der gerichtlichen Psychiatrie, III.
Aus der Literatur des Jahres 1903 tusammengestellt von Ernst Schnitze.
(Fortsetzung.)!
§§ 1906, 1908, Abs. I.
Die Anordnung einer vorläufigen Vormundschaft
ist unzulässig, nachdem der Antrag auf Einleitung
des Entmündigungsverfahrens wegen örtlicher Un¬
zuständigkeit des Gerichts rechtskräftig abgelehnt
worden ist.
Nach § 1906 B. G.-B. kann nur ein Volljähriger,
dessen Entmündigung beantragt ist, unter vorläufige
Vormundschaft gestellt werden, und nach § 1908
Abs. 1 daselbst endigt die vorläufige Vormundschaft
mit der Rücknahme oder der rechtskräftigen Ab¬
weisung des Antrags auf Entmündigung. Nach
diesem Zeitpunkte kann daher auch die vorläufige Vor-
mundschaft nicht mehr eingeleitet werden. Unter
der Abweisung des Antrags mag in erster Linie ein
Beschluss zu verstehen sein, durch welchen nach
Einleitung des Verfahrens die Entmündigung ab¬
gelehnt wird (zu vergl. § 663 C. P. O.). Die für
diesen Fall getroffene Vorschrift muss aber auch dann
Anwendung finden, wenn schon die Einleitung des
Entmündigungsverfahrens abgelehnt wird. (Kammer¬
gericht Berlin, 25. Mai 1903.)
D. R. pag. 395, Entsch. No. 2089.
§ 1906.
Der nach § 1906 B. G.-B. unter vorläufige Vor¬
mundschaft Gestellte ist gemäss § 114 B. G.-B. im
•allgemeinen nicht processfähig; nur für die An¬
fechtungsklage aus § 664 C. P. O. ist der Ent¬
mündigte, auch wenn er in der Person eines vorläufigen
Vormundes einen gesetzlichen Vertreter hat, process¬
fähig. (O. L. G. Hamburg, 22. Mai 1903.)
D. R. pag. 457, Entsch. No. 2372.
§ IW-
Eine Pflegschaft darf nur in den in den §§ 1909 bis
1919 ausdrücklich hervorgehobenen Fällen angeordnet
werden. Jedoch unterliegt die Frage nach der
Rechtmässigkeit einer vom zuständigen Vormund¬
schaftsgericht angeordneten Pflegschaft nicht der
Nachprüfung seitens des Processrichters; insbesondere
darf der Processrichter einen Pfleger nicht deshalb
als zur Vertretung nicht legitimirt zurückweisen, weil
es an den gesetzlichen Voraussetzungen für die An¬
ordnung einer Pflegschaft gefehlt habe. (K.-G. Berlin,
30. März 1903.)
D. R. pag. 432, Entsch. No. 2298.
§ I Q IO.
Die Bestellung eines Pflegers hat nicht die Be¬
deutung, den Pflegling in seiner Geschäftsfähigkeit zu
beschränken. Vielmehr hat der Pfleger nur die
Stellung eines von Staatswegen für die betreffenden
Angelegenheiten bestellten Processbevollmächtigten.
Er ist berechtigt, wirksame Rechtshandlungen für den
Pflegling vorzunehmen, schliesst diesen aber nicht
vom Selbsthamleln aus. (Mot. z. B. G.-B. IV S.
1356, Mot. z. Z. P. O. — Novelle S. 52.) Eine
Ausnahme hiervon tritt nur für einen Rechtsstreit ein.
Hier erfordert das Bedürfniss des Rechtsverkehrs den
Ausschluss der Möglichkeit des Nebeneinander¬
bestehens zweier gleich Verfügungsberechtigter. Des¬
halb stellt § 53 Z. P. O. während eines schwebenden,
vom Pfleger geführten Rechtsstreits den Vertretenen
einer nicht processfähigen Person gleich. Ausserhalb
dieses Falles behält der Vertretene volle eigene
Verfügungsfreiheit. (Beschluss des K.-G. vom 11. V. 03.)
Aerztl. Sachv.-Zeit. 1903 No. 20, pag. 429.
§§ 191°. 1 793 , 1915 B. G.-B.
§§ 56, 473 » 477 » 612 C. P. O.
. . . Der Pfleger der nach der thatsächlichen An¬
nahme des Vorderrichters geisteskranken, nicht ent¬
mündigten Klägerin erscheint Kraft dieser Bestallung
ermächtigt, in allen einzelnen ihre Person betreffenden
Angelegenheiten sie zu vertreten (§§ 1915, 1793 des
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1904.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT 45
B. G.-B.). Zu den Angelegenheiten der letzteren
Art gehört auch die Führung eines Ehescheidungs¬
prozesses (vergl. Entsch. des R.-G. in Civilsachen
Bd. 30, S. 188). Einer Genehmigung des Vormund¬
schaftsgerichts bedarf es in dem vorliegenden Falle
zu diesem Behufe nicht Der § 612, Abs. 2 der
C. P. O. erfordert eine solche nur für die Erhebung
der Ehescheidungsklage. Erhoben hat Klägerin
selbst ihre Ehescheidungsklage bereits im Jahre 1893,
also zu einer Zeit, wo sie unbestritten persönlich noch
durchaus handlungsfähig und völlig im Stande war,
ihren auf die gerichtliche Geltendmachung des
Scheidungsanspruches gerichteten Willen rechtswirksam
zu erklären. (R. G. 5. Mai 1903.)
J. W. Beilage No. 7, pag. 64.
§ 1911; C. P. O. 53.
Die Einleitung der Abwesenheitspflegschaft macht
den Abwesenden nicht ohne weiteres prozessunfähig.
Er gilt nur dann als processunfähig, wenn der
Pfleger den Rechtsstreit für ihn führt. (R. G. V.
1. Octocer 1902. 191/02.)
D. R. pag. 155, Entscheid. No. 808.
IV. Einführungs-Gesetz
zum Bürgerlichen Gesetzbuch.
Art. 210; Pr. G. K. G. 1.
1. Das B. G. B. kennt keine dem § 90 preuss.
Vorm. O. entsprechende Pflegschaft. Eine am
1. Januar 1900 bestehende Pflegschaft dieser Art
durfte deshalb nicht fortgeführt werden.
2. Ist sie dennoch fortgeführt, so sind an sich
Kosten in Ansatz zu bringen, denn § 1 Pr. G. K. G-
macht die Kostenpflicht nicht davon abhängig, dass
die Ausführung des an sich gebührenpflichtigen Ge¬
schäftes gerechtfertigt war. (K. G. Berlin, 8. De¬
zember 1902.)
D. R. pag. 265, Entscheid. No. 1447.
V. Civilprocessordnung.
§§ 42, 406.
Die Ablehnung ist für begründet zu erachten.
Denn der Sachverständige hat sich alsbald nach
seiner Ernennung .an die Bekl. wegen vergleichs¬
weiser Erledigung des Processes gewendet und hat
mit deren Inhaber persönlich berathen. Der Sach¬
verständige hat infolgedessen ohne Wissen des Kl.,
an den jener sich nicht gewendet, eine Darstellung
des Sache- und Streitstandes von dem beklagtischen
Standpunkte aus erhalten, ohne dass dem Kl. eine
gleichzeitige Klarlegung seiner Auffassung möglich
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war. Dieses Verfahren ist geeignet, bei dem Kl.
Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Sach-“
verständigen zu rechtfertigen. (Beschluss des III. C.
S. der R. G. vom 30. Januar 1903.)
J. W. pag. 97.
§£ 52, 241. (§ 1911 B. G. B.)
Die Anordnung einer Abwesenheitspflegschaft be¬
wirkt nicht Processunfähigkeit des Abwesenden;
ein von dem Abwesenden als Partei geführter
Rechtsstreit wird daher nicht nach § 241 C. P. O.
unterbrochen und ist nicht nach § 246 C. P. O.
auszusetzen.
Wie die §§ 104, 106, 107, 114 B. G. B. er¬
geben, besteht jetzt, abweichend von dem früheren
Recht, eine Unfähigkeit, sich durch Verträge zu ver¬
pflichten, und damit Processunfähigkeit, § 52 C. P. O.,
nur bei geschäftsunfähigen Personen, § 104, B. G. B.,
sowie bei Personen, die, wie die Minderjährigen und
die im § 114 B. G. B. bezeichneten Personen, in
der Geschäftsfähigkeit beschränkt sind. Der Fall der
Stellung unter Pflegschaft findet sich als Grund des Auf¬
hörens oder der Einschränkung der Geschäftsfähigkeit
des Pflegebefohlenen nirgends erwähnt. Letzterer
behält hiernach die Fähigkeit, sich durch Verträge
zu verpflichten, und daher auch die Processfähigkeit.
Dass dies der Wille des Gesetzgebers gewesen ist,
wird durch die Denkschrift zur Civilprocessnovelle
S. 86 ausdrücklich bestätigt. Eine Ausnahme macht
nur der Fall, dass der Pfleger in Ausübung seiner
Vertretungsmacht, die mit dem eigenen Process-
führungsrecht des Pflegebefohlenen concurrirt, einen
Rechtsstreit im Namen des letzteren führt Alsdann
gilt der Pflegebefohlene für den betreffenden Rechts¬
streit als processunfähig, § 53 C. P. O. (R. G. V-
1. X. 1902.)
D. R. pag. 20. Entsch. No. 86.
§ 287.
Es wäre unrichtig, für die Schadensbemessung
nicht freie richterliche Uebcr/eugung walten zu lassen,
sondern als einzigen Grund dafür ein Sachverständigen-
Gutachten anzuführen.
Nicht schlechthin ausgeschlossen ist es, dass unter
Umständen eine Entscheidung über die Höhe des
Schadens wegen der ihm zu Grunde gelegten Gut¬
achten angefochten werden kann, z. B. wenn die
Gutachten widersinnig oder vom Gericht offenbar
missverstanden worden sind. (R. G. V. vom 1. No¬
vember 1902.)
D. R. pag. 43, Entsch. No. 233.
§ 372 .
Hat der mit der Augenscheinseinnahme be-
Original from
HARVARD UN1VERSITY
46
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 4 .
auftragte Richter nicht nur sinnliche Wahrnehmungen
gemacht, sondern daraus auch gutachtliche Schlüsse
gezogen, so gehören diese allerdings nicht in das
Protokoll über die Augenscheinseinnahme, sie können
aber vom Gerichte, wenn bei der Berathung die
übrigen Richter jene Schlüsse zu den ihrigen machen
und der betreffende Richter bei der Berathung und
Urtheilsfassung mitwirkt, im Urtheile verwerthet
werden. (R. G. VI. 20. Oktober 1902.)
I). R. pag. 2i, Entscheid. No. 107.
§§ 373 ff., 402.
Es muss einem Sachverständigen unbenommen
bleiben, bei Prüfung der ihm vorgelegten Fragen auch
Auskünfte, die er von Dritten einfordert und erhält,
zu benützen. In manchen Fällen wird er dieses
Hülfsmittel überhaupt nicht entbehren können. In
dessen Anwendung und in der Verwendung eines
so begründeten Gutachtens durch den Richter für
sich allein kann also noch kein Verstoss gegen Vor¬
schriften des Verfahrens, insbesondere gegen die
§§ 402 ff.; 373 ff. C. P. O. gefunden werden, wohl
aber wird ein auf einem derartigen Gutachten be¬
ruhendes Urtheil dann das Gesetz verletzen, wenn
die vom Gutachter zu Grunde gelegten thatsächlichen
Angaben Dritter von einem der Streitstheile als un¬
richtig bekämpft worden sind und der Richter diese
Einwendungen nicht beachtet hat. (R. G. 22. IV. 03.)
J. W. pag. 240.
§ 383 .
Dr. H. hat sein Zeugniss mit Recht abgelehnt.
Es handelt sich nicht um eine zur Erhaltung der
körperlichen Gesundheit der Kl. zu machende Mit¬
theilung, sondern um die Beantwortung der Frage,
ob der Bekl. im Mai 1899 an frisch er¬
worbener Syphilis behandelt worden sei. Die
Kl. will diese Mittheilung nur dazu benutzen, einen
Ehebruch ihres Mannes zu beweisen, um dadurch
die Scheidung ihrer Ehe zu erlangen. (Beschluss des
VI. C. S. des R. G. vom 13. Januar 1903.)
J. W. pag. 100.
(Fortsetzung folgt.)
M i t t h e i
— Am 20. März 1904 fand die zweite Jahresver¬
sammlung wtlrttembergischer Juristen und Aerzte
unter sehr zahlreicher Betheiligung von beiden Seiten in
Stuttgart statt. Am Vorstandstische: Präsident
v. Gessler, Ministerialrath v. Schwab, Medicinalrath
Dr. Kreuser.
1. Referat: Die Geistesschwäche als Entmündi¬
gungsgrund. Referent: Oberlandesgerichtsrath Lan¬
dauer-Stuttgart, Correferent Oberarzt Dr. Cammerer-
Winnenthal.
2. Referat: Rechtsanwalt Mainzer -Stuttgart: Das
Bcrufsgeheimniss und Zeugnissverweigerungsrecht des
Arztes und Rechtsanwaltes.
3. Referat: Dr. Krauss-Kennenburg: Das Be¬
rufsgeheimnis des Psychiaters.
Landauer legt an der Hand der bestehenden
Bestimmungen die Wirkungen der Entmündigung
wiegen Geistesschwäche auf die Stellung des Ent¬
mündigten im bürgerlichen Rechtsverkehr und im
Gerichtsverfahren dar. Die Geistesschwäche ist nach
der herrschenden Meinung von Aerzten und Juristen
ein geringerer Grad von Geisteskrankheit, der vom
Entmündigungsrichter nach dem Criterium des
Maasses der Geschäftsfähigkeit dergestalt festzustellen
ist, dass ein Geisteskranker, der noch beschränkt ge¬
schäftsfähig erscheint, nur wegen Geistesschwäche
entmündigt werden darf. Aus dieser herrschenden
Meinung ergiebt sich die Folge, dass auch Geistes¬
kranke, die sich Schärfe des Denkens und Energie
des Willens bewahrt haben, bei denen also im gewöhn¬
lichen Leben nie von Geistesschwäche, eher von
Geistesschärfe die Rede ist, wegen Geistesschwäche
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1 u n g e n.
zu entmündigen sind. Redner wies auf die Folgen
einer solchen Entmündigung, die Schwierigkeiten in
der Stellung des Vormundes, die Rechtsunsicherheit,
die durch die verwickelten Rechtssätze über die be¬
schränkte Geschäftsfähigkeit entstehen könne, und
die gesundheitlichen Schädigungen hin, denen der
Entmündigte durch seinen Kampf mit dem Vormund
ausgesetzt sei. Zu diesen praktischen Bedenken
kommen noch die gegen die Richtigkeit der herrschen¬
den Gesetzesauslegung. Er kommt zu dem Ergebniss,
der Entmündigungsrichter müsse eine Person, die nach
der wissenschaftlichen Erkenntniss des Sachverständigen
geisteskrank sei, w’egen Geisteskrankheit
entmündigen, wenn sie gänzlich unfähig sei, ihre An¬
gelegenheiten zu besorgen, dürfe sie aber, wenn sie diese
Angelegenheiten zwar nicht selbständig, aber doch
mit Hilfe eines Vormundes besorgen könne, nur dann
wegen Geistesschwäche entmündigen, wenn die
Merkmale der Geistesschwäche vorliegen.
Diese Merkmale der Geistesschwäche wmrden aus-
ausgeführt und betont, dass es zu ihrer Feststellung
stets der Lebens- und Berufserfahrung sowie der
wissenschaftlichen Kenntnisse des Arztes bedürfe.
(Der Vortrag erscheint in den „juristisch-psychiatr.
Grenzfragen“).
Cammerer: Für die Auslegung der Begriffe
„Geisteskrankheit und Geistesschwäche“ ist lediglich
der juristische Folgezustand maassgebend. Unter Ver¬
meidung des Ausdruckes der Geistesschwäche im
medicinischen Sinne hat der Gutachter sein Urtheil
abzugeben, ob der Kranke seine Angelegenheiten zu
besorgen vermag, er hat auszusprechen, ob Geistes-
Origmal from
HARVARD UNIVERSUM
1904.] Psychiatrisch-neuroLööische Wochenschrift.
krankhcit, ob Geistesschwäche im einzelnen Falle
vorliegt
Durch Beispiele werden die Schwierigkeiten belegt,
die die Bestimmung des § 661 Abs. 2 der C. P. O.
mit sich bringt, dass dem Entmündigten der Gerichts¬
beschluss zugestellt werden muss. Der Vortragende
betont die Schwierigkeiten der Beurtheilung der Ge¬
schäftsfähigkeit im einzelnen Fall, da nur §114
B. G. B. einen häufig wenig brauchbaren Anhalt hier¬
für giebt. Er bietet eine ausführliche Uebersicht der
Krankheitsformen und Erscheinungen, die für die
Entmündigung wegen Geistesschwäche in Betracht
kommen, warnt im besonderen vor zu früher Entmün¬
digung von Querulanten, räth zu häufigerer Anwendung
derselben bei Degenerirten. Er mahnt zu genauer
Individualisirung im einzelnen Fall, insbesondere mit
Rücksicht darauf, ob dem Kranken die Wohlthat der
milderen Form der Entmündigung zu theil werden
könne. Bei der häufigen Anwendung dieser Form
werde auch dem Publikum der Unterschied beider
Entmündigungsformen klar werden.
(Der Vortrag erscheint in den juristisch-psychiatr.
Grenzfragen.)
Wollenberg: Geisteskrankheit und Geistes¬
schwäche lassen sich lediglich im juristischen Sinne
unterscheiden als termini für den grösseren oder ge¬
ringeren Grad der Geschäftsfähigkeit, für die Be¬
schränkung derselben durch die gestörte Geistesthätig-
keit Bei Paranoikern wird man stets mit Entmün¬
digung wegen Geistesschwäche auskommen, bei Ma¬
nischen wird sie überhaupt nicht praktisch. Auch
die preussische Deputation verlangt, dass der Sach¬
verständige mit Rücksicht auf die rechtlichen Folgen
ausspricht, ob Geisteskrankheit oder Geistesschwäche
vorliegt. Der Gerichtsbeschluss muss seiner Meinung
nach zugestellt werden.
Landauer: Mit Zustellung des Gerichtsbe¬
schlusses an den Arzt ist für das Gericht die Entmün¬
digung erledigt. Der Arzt kann den Beschluss zu¬
rückhalten, bis das Befinden des Kranken die Zu¬
stellung erlaubt, oder den Angehörigen den Beschluss
übergeben.
Kreuser: Geistesschwäche ist der engere Be¬
griff der Geisteskrankheit. K. entschliesst sich schwer
zur Begutachtung wegen Geistesschwäche; jedenfalls
sollte der Entmündigungsbeschluss jedes für den
Kranken erregende Moment (Theile des Gutachtens
mit Nennung des Gutachters) vermeiden.
v. Kiene: Der Beschluss muss dem Entmündigten
nach dem Wortlaut des § 661 Abs. 2 C. P. O. zu¬
gestellt werden.
Beling: § 661 Abs. 2 C. P. O. nennt nur die
Person, an die zugestellt werden muss, aber nicht
das Wie der Zustellung; diese ist dem Ermessen des
Arztes anheim gegeben.
Krauss: Mit Rücksicht auf §664 Abs. 1 C. P. O.
muss der Arzt dem Kranken alsbald den Beschluss
zustellen.
v. Gessler: Einigkeit herrscht nicht. Der Ent¬
mündigungsbeschluss sollte deshalb alle für den Kranken
erregenden Momente vermeiden.
Mainzer: Die Wahrung des Berufsgeheimnisses
ist ethische Pflicht. Privatgeheimniss ist eine
Thatsache, deren Bekanntwerden dem Willen einer
Person zuwiderläuft. Als anvertraut hat alles zu
gelten, was der Arzt oder Anwalt von seinem
Klienten beruflich erfährt; moralisch dehnt sich
die Discretion auch auf die nicht rein beruflichen
Angelegenheiten aus. Es ist mindestens zweifelhaft,
ob nicht auch Fahrlässigkeit zum subjectiven That-
bestand des § 300 genügt. Unbefugt ist eine
Handlung, wenn sie ohne Einwilligung des Ver¬
fügungsberechtigten und im Widerspruch mit der all¬
gemeinen Auflassung des Zulässigen erfolgt. Der
subjective Wille des Verfügungsberechtigten ist jedoch
nicht allein maassgebend, das Schweigen ist Pflicht,
soweit nicht eine höhere sittliche Pflicht das
Reden gebietet, auch wenn sie nicht mit einer aus¬
gesprochenen Rechtspflicht zusammenfällt. Auch das
Reichsgericht theilt diesen Standpunkt, der durch das
bürgerliche Gesetzbuch gerechtfertigt ist Niemals
soll jedoch ein Pri vatgeheimniss offenbart werden zur
Ausgleichung bereits entstandener Nachtheile oder
zur Abwendung von Bestrafung, sondern nur zur
Verhütung von Gefahren, deren Nicht¬
abwendung als Verletzung einer höheren sittlichen
Pflicht erscheint. Zur gerichtlichen Verfolgung
eigener berechtigter Interessen (Vermögensansprüchen,
Ehre) ist nöthigenfalls das Offenbaren von Ge¬
heimnissen gestattet. Die herrschende Meinung, nach
welcher der Nichtgebrauch von Zeugn iss verweigerungs¬
recht im Strafprocess niemals bestraft werden könne,
ist nicht haltbar.
De lege lata können nach den Bestimmungen
der St P. O. über Beschlagnahme und Durch¬
suchung Krankheitsgeschichten und dergl. der Be¬
schlagnahme unterliegen, was zu einer Preisgabe des
Privatgeheimnisses führt. (Der Vortrag erscheint in
den juristisch-psychiatrischen Grenzfragen.)
Krauss: Bereits die Thatsache, dass Jemand
als psychisch Kranker in der Behandlung des Arztes
steht, ist als Privatgeheimniss im Sinne des § 300
St. G. B. anzusehen und zu behandeln. Jedermann
will die psychische Erkrankung geheim gehalten
wissen mit Rücksicht auf die socialen Verhältnisse
des Erkrankten zumal bei der Rolle, welche die
Frage der Vererbung spielt. Damit ist das Privat¬
geheimniss zugleich an vertraut, im Sinne des
§ 300 St. G. B. Es besteht aber die Schwierigkeit,
dass die Anvertrauenden (Angehörigen) und der
Träger des Geheimnisses in der Regel nicht ein und
dieselbe Persönlichkeit sind, ihre Interessen nicht
selten auseinandergehen. Diese Frage ist von be¬
sonderer Wichtigkeit bei Stellung des Antrages auf
Bestrafung. Die für die Kranken wünschenswerthe
Discretion muss durchbrochen werden bei der Be¬
schaffung der für die Aufnahme in die Anstalt noth-
w'endigen Papiere, bei Anzeigen und Auskünften im
Verkehr mit den Behörden, mit den Gerichten und
dergleichen. Sie zu halten wird besonders erschwert
durch mit Neugier gemischte Fragen von ferner
stehenden Angehörigen, bei Besuchen und so fort.
Die rücksichtslose Ignorirung der für den Arzt be-
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 4.
48
stehenden Pflicht zur Verse l.w i nheit durch das
Publikum wird durch zahlreiche Beispiele belegt.
Sodann wird die Stellung des Psychiaters mit Bezug
auf § 300 St. G. B. bei Berathung von Kranken
und ihren Angehörigen in Fällen der Verheirathung,
Lebensversicherungsgesellschaften gegenüber, bei Aus¬
stellung von Krankheitszeugnissen, Todtenscheinen,
Veröffentlichung von Krankheitsgeschichten, Vor¬
stellung von Kranken zu Unterrichtszwecken be¬
sprochen. Endlich wurde noch in ausführlicher
Weise die Thätigkeit des Psychiaters als Zeuge und
Sachverständiger im Straf- und Civil-Process mit
Rücksicht auf § 300 St. G. B. behandelt.
(Der Vortrag erscheint in der Monatsschrift für
Criminalpsychologie und Strafrechtsreform.)
Beling: Aus der Pflicht des Arztes zu schweigen
erhellt, dass die Beschlagnahme unzulässig ist. Der
Arzt, der von seinem Zeugnissverweigerungsrecht
keinen Gebrauch macht, ist nicht strafbar.
Mainzer: Die ethischen Pflichten gelten dem
Schutz von Personen, wie dem von Sachen. §§ 229,
904 B. G. B. Bei einem Conflict von Pflichten hat
das grössere Recht dem kleineren vorzugehen.
v. Schwab: Die zulässige Aussage vor Gericht
ist keine unbefugte im Sinne des Gesetzes, was
schon aus der historischen Entwicklung hervorgeht,
früher musste der Arzt aussagen.
Mainzer: Bestreitet die Richtigkeit des Ge¬
sagten, man drehe die Worte Zeugnissverweigerungs-
Recht und Verschwiegenheits - Pflicht um, so wird
dies klar.
Weisser: Objective Sachen zu beschlagnahmen,
ist das gute Recht des Richters, su-bjectiv verletzt
der Arzt damit das Gesetz nicht.
Wollenberg: Die Aerzte können sich nur vom
sittlichen Gesetz leiten lassen. Die Verschwiegenheits¬
pflicht des Psychiaters wird auch in gebildeten
Kreisen, z. B. in Gesellschaft nicht genügend beachtet.
Kreuscr: Die Verschwiegenheitspflicht des
Psychiaters sollte auch vom Publikum mehr be¬
rücksichtigt werden. Die Zumuthungen an die
Aerzte sind häufig geradezu unglaubhaft. Dabei
wird durch die pflichtgemässc Verweigerung der
Aussage die sie nicht achtende Gesellschaft in ihrem
Mistrauen gegen Anstalten und Psychiater noch
bestärkt.
Kennen bürg. Dr. R. Krauss.
— Der Verein der Irrenärzte Niedersachsens
und Westfalens hält seine 39. Versammlung am
7. Mai 1904, nachmittags 3 Uhr in Hannover, Lavcs-
strasse 26, ab. Tagesordnung: 1. Bru n s-Hannover :
Halbseitige Erkrankungen des Kleinhirns und ihre
Diagnose. 2. Cra m c r-Göttingen : Ueber Aphasie.
3. Behr-Liineburg: Die Beziehungen zwischen Nieren¬
erkrankungen und Geistesstörung. 4. \\ ober -Göt¬
tingen : Die Entlassung „gemeingefährlicher 4 * Kranker.
5. Vogt-Göttingen: Ueber Pupillenveränderung nach
akuter Alkuholintoxikation. < >. W ende n b u r g -Güt¬
tingen: Fall von eigentümlicher familiärer Dystrophie.
(Mit Ki ankenVorstellung.)
Referate.
— Medicinische Volksbücherei. Laien¬
verständliche Abhandlungen, herausgegeben von Ober¬
arzt Dr. K. Witt hau er. Verlag von Carl Marhold,
Halle a. S.
Wie gross in den weitesten Laienkreisen die Un-
kenntniss selbst der wichtigsten medicinischen Fragen
ist, muss wohl jeder Arzt zu seinem Leidwesen nur
zu oft erfahren, und ebenso, wie schwer es häufig ist,
auch bei Thatsachen, deren Selbstverständlichkeit dem
Arzte in Fleisch und Blut übergegangen ist, die Gründe
zur Hand zu haben und dein Laien in gemeinver¬
ständlicher Weise vorzuführen. Für solche Fälle sind
die Witthauer’schen medic. Volksbücher berufen, eine
merkliche Lücke auszufüllen. Die ersten Lieferungen
weichen in wohlthuender Weise von dem Stile ab,
in den leider nur zu viele der populär-medicinischen
Bücher verfallen und die Wahl der Themata und
die Namen der Verfasser bürgen dafür, dass die
richtige Grenze in der Auswahl des Stoffes gezogen
werden wird und der Laie auf Grund dieser populären
Kenntnisse nicht zu der Annahme verleitet wird, dem
Arzte von nun ab den Laufpass geben zu können.
Sehr viele der annoncierten Schriften werden auch
im Unterrichte des Wartepersonals praktische Dienste
leisten können.
— Sulla c o s i d e 11 a p s i c o s i p o 1 i n e v r i t i c a.
Pel Dott. G. Esposito. II manicomio, anno XVIII.
Nr. 2.
In dem erteil Th eil seiner Abhandlung bringt E.
eine Uebersicht der über die Korsakowsche Psychose
erschienenen wichtigen Arbeiten der deutschen, fran¬
zösischen und italienischen Litteratur. *\lsdann er¬
örtert er die Entwickelung, welche die Lehre von
dieser Krankheit nach und nach erfahren hat und
wie die Grenzen dieses Symptoinencomplexes er¬
weitert bz. eingeengt wurden. Er weist darauf hin,
dass die einzelnen Autoren mitunter recht weit von
einander abweichende Meinungen geäussert haben.
In dem zweiten Theil werden 2 Fälle eigener Beob¬
achtung eingehend geschildert. In dem dritten Theil
kommt E. zu dem Schluss, dass die Geschichte der
Korsakow’schen Psychose lehrt, dass letztere keine
Berechtigung besitzt, als selbständiges Krankheitsbild
zu gelten und dass sie der Kritik nicht Stand zu
halten vermag. Unter der Bezeichnung „Polyneu-
ritisehe Psychose“ sind Fälle veröffentlicht worden,
die wenig mit einander gemeinsam haben und in
denen einige Erscheinungen von Neuritis mit einer
Geistesstörung zusammen aufgetreten sind. Diese
Geistesstörung äussert sieh zumeist als die Form der
Verwirrtheit, welche bei Seelenstörungen auf infectiös-
toxischer Grundlage anzutreffen ist. Sie hat keinen
pathogmmu mischen Charakter, wie überhaupt der
Krankheit ein besonderes Gepräge fehlt.
Braune, Sch wetz a. W.
Personalnachricht.
— Dem Direktor der psychiatrischen und Nerven-
klinik in Halle, Medicinal-Rath Dr. Karl Wernicke,
ist der Charakter als Geheimer Medicinal-Rath ver¬
liehen worden.
Erscheinfieden Sosral
DigitizttTBy
Für den redaktionellen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Bresi
Lublinitz (Schlesien).
§le
Schluss der Inseratenan nähme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Car|ii|£|nrbo|td in Hall« a.S.
Hoyn oman n’scho Buchdrucker ei (Gebr. Wolff) in Halle >■ S>
HARVARD UNIVERSITY
Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift.
Redigirt v« n
< )herarzt Dr. Joh. Bresler.
Lubhnitz (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adresse : M arho Id Ver lag, Hallesaale. Fernsprecher 2834.
NtTT _ 30. April. 1904,
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die ßspaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermäßigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien!, zu richten.
Die Entwickelung der Irrenfürsorge in Hannover.
Von Oberarzt Dr. Mönkemöller in Osnabrück.
1 ~\ie Geschichte der deutschen Psychiatrie ist ver-
hältnissmässig viel weniger bearbeitet worden,
wie wohl die der meisten ihrer Schwesterdisciplinen
— ist sie doch eine der jüngsten medicinischen
Fächer. Bis jetzt haben im Wesentlichen nur die
lokalen Historiographen das Wort ergriffen; auch
Kirchhoff, der zuerst den Grundstein zu einer
Geschichte der gesammten deutschen Psychiatrie ge¬
legt hat, hat sich darauf beschränken müssen, die
Ergebnisse der Geschichtsforschung für einzelne
Landestheile zusammenzufassen. Bei der Verstreut-
heit des Stoffes ist das auch kein Wunder.
Aber auch für einen grossen Theil der deutschen
Lande haben bis jetzt noch die Lokal Patrioten ge¬
schwiegen. Das Material ist zum Theil in ganz un¬
erreichbarer Weise zersplittert, das Wohlwollen, wel¬
ches die Vorstände der Archive allen Versuchen, die
Geschichtsforscher bei ihren Arbeiten zu unterstützen,
zu theil werden lassen, ist nicht allgemein bekannt
und Jedermanns Sache ist es nicht, den Staub der
Archive einzuathmen und den zünftigen Geschichts¬
schreibern ins Handwerk zu pfuschen, zumal die
Arbeit zeitraubend ist und an die Geduld ziemlich
grosse Anforderungen stellt. Dabei sind der Fragen
in der Psychiatrie, die sonst noch zu lösen sind, zu
viele; der direkte Vortheil, den derartige historische
Exkursionen bringen sollen, liegt nicht ohne weiteres
auf der Hand und so muss sich die dunkele Ver¬
gangenheit hinter der glänzenden Gegenwart scham¬
haft zurückziehen. Und das verdient sie nicht.
Es ist ein ganz eigenartiger Genuss, beim Durch-
blättem der vergilbten Akten zu sehen, dass es den
Geisteskranken vergangener Zeiten, von denen wir
im Wesentlichen nur wissen, dass sie recht herbe
Schicksale durchzukosten hatten, in manchen Stücken
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gerade so ergangen ist, wie unseren modernen Kranken,
wenn wir staunend erfahren, dass die Wurzeln so
mancher Einrichtungen, die als ureigenste Erfindung
der Neuzeit angesehen werden, weiter in die Ver¬
gangenheit zurückreichen, als wir ahnen, wenn wir
sehen, dass das Papier in der Thätigkeit der ver¬
flossenen Psychiater eine gerade so grosse Rolle ge¬
spielt hat, wie heutzutage und dass die Vorgesetzten
unserer Ururvorgänger das Leben ihrer Untergebenen
gerade so durch Specialverfügungen zu würzen ver¬
standen, wie das heutzutage noch an vereinzelten
Punkten des deutschen Reiches der Fall sein soll.
Auch den alten Psychiatern wurde der Berufsbecher
nicht ohne reichlichen Hefezusatz kredenzt.
Für die weiter zurückliegende Vorzeit wird die
historische Ausbeute immer recht gering bleiben.
Die Aerzte und Beamten der verflossenen Jahrhun¬
derte, die dazu berufen hätten sein können, in den
Akten jener Zeit die nöthigen Mittheilungen nieder¬
zulegen, brachten den Geisteskrankheiten und ihren
unglücklichen Trägem nur ein sehr gemässigtes Inter¬
esse entgegen, ganz abgesehen davon, dass meist mit
den Kranken überhaupt nichts geschah, w f as den
Akten hätte einverleibt werden können, und die spär¬
lichen Mittheilungen sind dazu derart in allen mög¬
lichen Akten so geheimnissvoll versteckt, dass wir für
die Zeit vor 1700 meist sehr bald die Waffen strecken
müssen.
So war auch für mich bei meinen Bemühungen,
über die Geschichte der Irrenpflege im
Hannöverschen*) etwas Näheres zu erfahren,
trotz ausgiebigster archivalischer Studien der Gewinn
für die Zeit vor dem Jahre 1700 recht gering. Ich
*) Zur Geschichte der Psychiatrie in Hanno¬
ver. 1903 bei Carl Marhold in Halle a. S.
Original fram
HARVARD UN1VERSITY
50
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 5 .
beschränke mich hier auf eine ganz kurze Skizzirung ken. Erst die Eröffnung des Zucht- und Tollhauses
des Gewonnenen. zu Celle brachte die Fürsorge für die Kranken
Auch in Hannover, wie im gesammten deutschen einen grossen Schritt weiter (1731). Es war lange
Reiche, spielen die Geisteskranken zuerst in den Zeit in Deutschland in seiner Art vorbildlich, ver-
Hexen Verfolgungen eine grössere historische mochte doch das ansehnliche Gebäude in seiner
Rolle. Meist tritt der Zusammenhang zwischen jener Blüthezeit ausser 210 Züchtlingen 188 Wahnsinnige
unheilvollen Bewegung und den etwaigen krankhaften aufzunehmen. Der düstere Name lässt kaum ver-
Aeusserungen ihrer Opfer nicht klar hervor, in ein- muthen, dass die Principien, nach denen die Ge-
zelnen Fällen aber ist das unglückliche Schicksal, das müthskranken hier behandelt wurden, viel milder
so manche Hysterische und Melancholische in den waren und ein viel tiefergehendes Verständniss für
Flexenverfolgungen auf Grund ihrer Geisteskrankheit das Wesen der Geisteskranken verriethen, als es sonst
zu erdulden hatten, ausser allem Zweifel, obgleich gemeiniglich in jener Zeit der Fall war; immer wieder
nach dem Buchstaben des Gesetzes und den theo- wird betont, dass man es mit Kranken zu thun
retischcn Anschauungen gerade die psychische Krank- habe, bei denen die Strenge nicht am Platze sei.
heit sie der Tortur und dem Flammentode hätte Das spricht sich vor allem in der sehr interessanten
entziehen müssen. Auch dass manche Hcxenver- Zuchthausordnung aus, welche in der ausfiihr-
folger psychisch nicht ganz intact gewesen sind, wird liebsten Weise alles regelte, was für der Kranken
durch einzelne Beispiele wahrscheinlich gemacht. Wohl und Wehe in Frage kam. Die körperliche
Andererseits ist für den Kampf gegen diese abeigläu- Züchtigung war auf das strengste untersagt, ausdrück-
bischen Anschauungen und die Geltendmachung des lieh wird hervorgehoben, dass nur eine individuali-
Standpunktes, dass gerade die Geisteskranken diese^-^iTJH^rjii^hanillung von Erfolg begleitet sein könne;
grausigen Schicksale entrissen werden musstg^EpP^KUmmlM m Vamten waren mit speciellen minutiös
Hannover manches geschehen. ausgearbeitetjfr'lnstructionen versehen, besonders das
Auch die Geisslc r b ewegung, irt] aie J»AYuLÜrjl§i3nal, Ion dem ja der Kranke am meisten
ebenso zweifellos viele psychisch kranke und pjjrcho- abhängig war^^npfing ganz genaue Verhaltungsmaass¬
pathologische Elemente verstrickt wurden, hat initü^nX 1 iae> wurden die Kranken je nach ihrer
növerschen Gebiete ihr Unwesen getrieben. ^^*i!gfcnan auf verschiedene Stationen vertheilt, es gab
Was im Uebrigen die wirkliche Irrenfürsorge an- sogar mehrere Stuben für Honoratioren, für die
betrifft, so ist fast immer nur von der Behandlung körperlich Kranken war ein Lazareth eingerichtet,
einzelner Fälle die Rede, soweit man überhaupt Vor ihrer Entlassung wurden die Kranken in ein
von einer Behandlung sprechen darf. Meist steckte allmählich freier werdendes Regime überführt. Man
man die Kranken in die gewöhnlichen Gefängnisse ging in der Individualisirung sogar soweit, dass für
oder in hölzerne Behältnisse, die allbekannten „Doren- die Speise der Juden besonderes Kochgeräth vorge-
kisten“. Oder man brachte sie bei Verwandten sehen war. Die Darreichung von Alkohol an die
unter, wo sie von Schützen bewacht oder wieder in Kranken war ausdrücklich verpönt. Um bessere Heil¬
em besonderes zu diesem Zwecke hergerichtetes Be- erfolge zu erzielen, bestand die nachahmungswerthe
hältniss eingesperrt wurden. Im Gegensätze zu der Sitte, dass dem Arzte für jeden geheilten Kranken
strengen Behandlung, deren die gewöhnlichen Geistes- ein Gratiale gereicht wurde u. s. w.
kranken sich zu erfreuen hatten, steht die übertrieben 1764 wurde auch das Aufnahmeverfahren
milde Methode, die man bei Herzog Wilhelm dem in feste Formen gekleidet, vor allem wurde die Er-
Jüngeren anwandte (*J* 1592), der jahrelang geistes- hebung einer genauen Anamnese verlangt, sogar für
krank war und bei dem man sich dauernd darüber die so werthvollen Aufnahmefragebogen, die in un-
im Unklaren befand, wie man eigentlich gegen ihn seren Tagen die Freude aller Betheiligten sind, gab
Vorgehen sollte. es in jener Zeit ein Analogon. Die Art des Trans-
Später erst begann man, den Kranken in den portes in die Anstalt wurde geregelt, und über die
Zuchthäusern eine Stätte anzuweisen, ohne sich Entlassungen, mit denen man verhältnissmässig liberal
zunächst mit den Einrichtungen diesem Zwecke an- umging, bestimmte Grundsätze aufgestellt. Auch
zupassen, ohne die Heilung ins Auge zu fassen, oft über die pekuniären Verhältnisse wurden, wie es
noch nur auf die Züchtigung der Kranken bedacht, sich geziemt, in frühester Zeit das Nothwendige in
Die forensischen Erwägungen, die häufig hier herein- ausführlichster Weise angeordnet. Dass schon da¬
spielten, verrathen meist auch keine besondere Rück- mals die Aerzte mit ihrer Besoldung unzufrieden
sichtnahme auf die psychische Inferiorität der Kran- waren und Schritte zur Verbesserung ihrer Lage
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Gck >gle
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ESYCH 1 ATR 1 SCH-N EU ROLOGISCHE WOCHENSCH RI ET.
1904.]
thaten, muss uns in gewisser Beziehung einigermaassen
trösten.
Neben Celle hatten auch zunächst die anderen
Zuchthäuser die — von den Zuchthausvorstehern
gar nicht sehr gern gesehene — Aufgabe, für die
Unterbringung der Geisteskranken zu sorgen. Wie
man sich in diesen Asylen, die gar nicht für diese
Bestimmung eingerichtet waren, mit dieser Aufgabe
schlecht und recht abfand, das liest sich mit recht
gemischten Gefühlen. Sogar die Kinder der Unglück¬
lichen wurden gelegentlich dort untergebracht. Die
frequentirtesten Anstalten dieser Art waren die Zucht¬
häuser zu Osnabrück und Peine. Wie primitiv
die Einrichtungen in diesen Nothherbergen auch
waren, die Aufnahme war immer sehr begehrt. Trotz
aller Schwierigkeiten, die man bei der Bitte um Auf¬
nahme machte, rissen sich die Exspectanten darum,
und die Ueberfüllung der Anstalten und die Schwierig¬
keiten, die die ungestümen Kranken der Verwaltung
verursachten, bildeten das gern angeschlagene Thema
der Klagegesänge, die in jenen Akten von sämmt-
lichen Betheiligten angestimmt werden.
Für Irrenanstalten, die ganz auf die An¬
lehnung an das Zuchthaus verzichteten, war damals
noch nicht die Zeit gekommen. Nur in Lüneburg
blühte in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts
die Irrenanstalt Breite wiese, in der die Kranken
sich ohne Zwang einer auffällig freien Behandlung
erfreuten und sich sogar ausserhalb des Hauses be¬
wegen durften. Auch in H i 1 d e s h e i m befand sich
in der allgemeinen Armen- und Arbeitsanstalt eine
kleine Irrenanstalt, in der die Kranken systematisch
zur Arbeit angehalten wurden.
An Anläufen zur Gründung einer Irrenanstalt
fehlte es auch in dieser Zeit nicht. Schon Friedrich
der Grosse plante für Ostfriesland eine Irrenan¬
stalt. Die Verhandlungen, die von da ab (1765) bis
1821 dauerten, illustrieren in herbster Weise die
Schwierigkeiten, die allen derartigen psychiatrischen
Reformplänen entgegengebracht wurden. Da9 Unter¬
nehmen verlief vollständig im Sande, Ostfriesland
harrt noch jetzt seiner Irrenanstalt.
Auch in Osnabrück schwang man sich 1795
zu dem Plane auf, eine eigene Irrenanstalt zu bauen,
man war sogar bis zu grossen Bauplänen gediehen,
in denen sich Einfachheit mit einem recht kurzsich¬
tigen Blicke für das Wohl der Kranken verband.
3200 Reichsthaler sollte das ganze Unternehmen
kosten. Aber auch das war noch zu viel. Die An¬
stalt wurde nicht gebaut.
Bei der Ueberfüllung der Zuchthäuser mussten
ständig Gefängnisse, Armen-, Kranken- und Waisen-
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51
häuser den Geisteskranken als Unterkunft dienen.
Waren schon in den Zuchthäusern die Verhältnisse
recht unzulänglich, so ging es hier noch viel kümmer¬
licher zu, man lebte fast nur von Improvisationen.
Bemerkenswerth ist es, dass, als 1770/71 in Celle
die Kriebelkrankheit wüthete, die nervösen und
psychischen Symptome im Vordergründe des Krank¬
heitsbildes standen, und dass für die Opfer des Ergo-
tismus ein besonderes Krankenhaus gebaut werden
musste.
Auch in den Klöstern hatten sich die betrieb¬
samen Mönche und Nonnen im Nebenamte als Kon¬
kurrenten der Irrenärzte aufgethan.
Das Gros der Kranken verblieb in der Frei¬
heit. Ueber ihr Ergehen ist verhältnissmässig viel
in den Akten zu finden, da die Noth der Kranken
und ihrer Angehörigen sich in Bitten um Unterstütz¬
ung Luft machte und so aktenkundig wurde. Die
Einrichtung besonderer, den alten Dorenkisten ent¬
sprechender Kammern blieb bis in das neunzehnte
Jahrhundert bestehen. Ueber die Grundsätze, die
bei der pekuniären Unterstützung Geisteskranker in
Frage kommen sollten, hat sich 1771 der berühmte
Möser eingehend ausgesprochen, auch das schwierige
Kapitel der Gemein gef ährlichkeit erfuhr in einem Er¬
lasse der Osnabrücker Regierung von 1784 eine gründ¬
liche Beleuchtung. Die Verwandten drückten sich
nicht zu selten um die Sorge für ihre Geisteskranken,
häufig mussten diese dann bei Fremden untergebracht
werden — eine Famillenpflege allerdürftigster Art
ohne irrenärztliche Sanction. Es wird sogar berichtet,
dass die Kranken an den Mindestfordernden ver¬
steigert wurden. Das Amt der Privatirrenwächter
blühte damals weit mehr wie heutzutage, wenn es
auch nicht besonders einträglich war; manchmal
musste die ganze Gemeinde umschichtig die Bewach¬
ung übernehmen. Auch über die Thätigkeit der
praktischen Aerzte kommt es in den Akten zu einer
ausführlichen Beleuchtung. Die gutachtlichen Leist¬
ungen verschiedenster Art, die sich in den Akten
wiederfinden, beleuchten den Stand der psychiatrischen
Kenntnisse bei den praktischen Aerzten jener Zeit
und auch darin, dass gelegentlich die Behörden ihre
Liquidationen beanstandeten, haben sie nichts vor
ihren Collegen unserer Zeit voraus.
Wenig bekannt dürfte es sein, dass das jetzt und
von sämmtlichen in Betracht kommenden Kreisen
mit geringer Liebe gesehene Institut der Landarmen,
wenn auch nicht dem Namen, so doch der Praxis
nach bestand. Man schaffte sie über die Grenze,
man führte lange juristische Controversen wegen der
Verpflichtung, für sie zu sorgen und man war froh,
Original from
HARVARD UN1VERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHEN SCHRIFT.
[Nr. 5.
52
wenn man sie trotz der Schwierigkeiten des Trans¬
portes den fernen Landen ihrer Geburt zuführen
konnte.
Während der Okkupationszeit machten die Fran¬
zosen sehr energische Versuche, die Irrenpflege auf
ein etwas würdigeres Niveau zu heben. Ausführliche,
sehr übersichtliche statistische Erhebungen, in denen
sich die Anschauungen der Laien und Behörden
jener Zeit über die psychischen Krankheiten in an¬
schaulichster Weise wiederspiegeln, sollten das grosse
Werk vorbereiten, die Ausführung kam nicht über
die ersten Schritte heraus, die Freiheitskriege ver¬
nichteten die Reformpläne.
Aber schon nach kurzem wurde für Hannover
eine neue Aera der Irrenfürsorge eingeleitet. 1827
wurde unter Bergmann die Heil- und Pflegeanstalt
zu Hildesheim im Michaeliskloster eröffnet, nach¬
dem man vorher Untersuchungen darüber angestellt
hatte, ob nicht in Osnabrück die neue Anstalt das
Licht der Welt erblicken sollte. In den interessanten
Verhandlungen der Stände, die dem Baue voraus¬
gingen, erfuhren die Principien der Behandlung eine
grundlegende Besprechung. Ohne Scheu vor den
Kosten wurde das alte Kloster eingerichtet, die An¬
stalt unter ein rein ärztliches Regime gestellt und
die Verwaltung und Behandlung nach den mildesten
Grundsätzen der Therapie eingerichtet Da man
damals eine Neuerung einführte, der das Volk noch
mit ziemlich mangelndem Verständniss gegenüber¬
stand, suchte man durch sehr ausführliche Besprech¬
ungen , die in die gelesensten Blätter eingerückt
wurden, diesem Fehler abzuhelfen. Die Einrichtung des
Anstaltsbetriebes wies in allen Einzelheiten ungeheure
Fortschritte gegen früher auf; was besonders hervor¬
zuheben ist, ist die grosszügige Durchführung der
Arbeitstherapie, wurden doch schon im ersten
Jahre nicht weniger wie 88 °/ 0 der Kranken beschäf¬
tigt und zwar in der vielseitigsten Weise. Schon im
ersten Jahre des Bestehens zweifelte Bergmann, ob
die Grösse der Anstalt allen Anforderungen genügen
werde. Die weitere Entwickelung der Anstalt be¬
wies dann auch, dass die hannöversche Irrenpflege
trotz der verschiedensten Vergrösserungen, als deren
wichtigste die Eröffnung des Magdalenenklosters (1833
— Pflegeanstalt) und des Sülteklosters (1849) zu
nennen sind, nicht dem Schicksale entgangen ist, das
die gesammte deutsche Psychiatrie (und die aus¬
ländische nicht weniger) stets betroffen hat. Trotz
aller Energie, trotz allen Wohlwollens der Behörden,
vermochten die Neubauten der Anstalten nie in ge¬
nügender Weise mit der rapide wachsenden Ver¬
mehrung der Geisteskranken oder, richtiger gesagt,
der Steigerung des Zudranges nach den Anstalten,
Schritt zu halten. Das blieb sich, wenn auch in ge¬
ringerem Maasse, auch gleich nach der Eröffnung
der Schwesteranstalten der Hildesheimer Anstalt (G ö t-
tingen eröffnet 1866, Osnabrück 1868, Lüneburg
1902), auf deren interessante Bau- und Entwickel¬
ungsgeschichte einzugehen ich mir hier gänzlich ver¬
sagen muss, ebenso wie ich hier davon absehen muss,
den Verdiensten der langjährigen Direktoren der An¬
stalten, Snell, Ludwig Meyer und Gustav Meyer
und vieler anderer um die hannöversche Psychiatrie
hochverdienter Männer, auch nur andeutungsweise
gerecht zu werden.
Ganz wurden die durch den starken Zufluss nach
den Anstalten verursachten Schwierigkeiten auch nicht
dadurch gehoben, dass man von den freiesten Be¬
handlungsmethoden im umfangreichsten Maasse Ge¬
brauch machte. Dass Hannover durch die Einführ¬
ung der kolonialen Verpflegung (Einum 1864)
bahnbrechend und vorbildlich gewirkt hat, ist ja all¬
bekannt. Und ebensowenig bedürfen die Erfolge
Seebohm’s (Königshof 1868) und Wahrendorff’s
(Ilten 1869) nach dieser Richtung noch einer Her¬
vorhebung. Des letzteren Verdienste werden nur
noch übertroffen durch das, w r as er durch die Ein¬
führung der Familienpflege (1880) geleistet hat,
die er für Hannover und Deutschland in weite und
praktische Bahnen lenkte. C r a m e r (Göttingen)
machte dann (1901) die neue Verpflegungsmethode
auch für die öffentlichen Anstalten nutzbar.
Die Errichtung der Pflegeanstalt in Wunstorf
(1896) trug, wenn auch in verhältnissmässig geringem
Maasse, zur Entlastung der Hauptanstalten bei, in
ungleich höherem Maasse wurde diese Aufgabe durch
die Privatanstalten Ilten und Liebenburg (ge¬
gründet 1877 durch Fontheim) gelöst. Ganz un¬
bekannt dagegen sind die Verdienste der originellen
Neusandhorster Anstalten.' Begründet wurden
sie im Beginne des 19. Jahrhunderts von mehreren
einfachen Landleuten, die frei von allen psychiatri¬
schen Kenntnissen waren. Sie huldigten ausgiebig
dem Grundsätze, die Kranken auf dem Felde zu be¬
schäftigen, und erlangten allmählich eine grosse Rou¬
tine in der Behandlung auch schwierigerer Krankheits¬
formen, sodass ihnen zuletzt von den Provinzialan¬
stalten Kranke zur Pflege übergeben werden konnten.
Das Regime der Behandlung stellt ein Mittelding
zwischen kolonialer und familialer Verpflegung dar,
in gewisser Beziehung können die kleinen Anstalten
Anspruch darauf erheben, die koloniale Verpflegung
in Deutschland — wenn auch in allerkleinstem Maasse
— zum ersten Male durchgeführt zu haben.
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Original fram
HARVARD UNiVERSITY
1904.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT
53
Während die Fürsorge für die Epileptiker,
die in Fällen schwerer psychischer Erkrankung in
den Irrenanstalten untergebracht sind, sonst in Bethel-
Bielefeld und Rotenburg zum grössten Theile
unter geistlicher, zum genngeren unter ärztlicher
Oberaufsicht stehen, noch nicht dem Ideale einer
Behandlung entspricht, wie es vom ärztlichen Stand¬
punkte aus verlangt werden muss, hat Hannover
in der Fürsorge für die Idioten schon früh die
Führung in Deutschland übernommen. Die Idioten¬
anstalt in Langenhagen, die 1862, aus privater
Mildthätigkeit hervorgegangen, eröffnet wurde, wuchs
äusserlich und innerlich bald zu einem Vorbilde
heran. Hier wurde zum ersten Male die ganze
Leitung der Anstalt einem Arzte übertragen. Wel¬
cher Nutzen daraus für die Geistesschwachen resul-
tirte, beweist die glänzende Entwickelung der Anstalt,
die 1897 in den Besitz und die völlige Verwaltung
der Provinz überging.
Die vorläufige Fürsorge, die man den Kranken
vor der Aufnahme in die Irrenanstalten in den
Krankenhäusern in den meisten Städten und erst
recht auf dem Lande angedeihen lässt, steckt noch
jetzt in den Kinderschuhen, eine rühmliche Ausnahme
macheu die Städte Hannover und Lüneburg,
in denen schon früh die Einrichtungen der Kranken¬
häuser diesem Zwecke angepasst wurden. Die Frage
der Unterbringung der geisteskranken Verbrecher
hat auch in Hannover schon viel Staub aufgewirbelt,
auf theoretischen Erwägungen ist man dem schwie¬
rigen Gegenstände von den verschiedensten Seiten
nahe getreten, zu einer endgültigen Entscheidung ist
man aber auch hier nicht gekommen und insbeson¬
dere ist man zur Einrichtung eines Irrenanstaltsadnexes
an eine Strafanstalt, wie sie schon in mehreren an¬
deren Provinzen eingerichtet worden sind, bis jetzt
noch nicht gelangt. Auch in die Behandlung
der Zwangserziehungszöglinge sind psychiatrische Ge¬
sichtspunkte hier noch nicht hineingetragen worden.
Dagegen hat man auf dem Gebiete der Prophy¬
laxe gegen die Psychosen um so energischere Schritte
gethan. Schon im Beginne des 19. Jahrhunderts
zeitigte in Hannover eine sehr energische und ziel¬
voll durchgeführte Mässigkeitsbewegung unter
der Führung von Pastor Böttcher in Hannover und
Kaplan Seling in Osnabrück erhebliche Erfolge im
Kampfe gegen den Missbrauch geistiger Getränke.
Nachdem dann in der Mitte des verflossenen Jahr¬
hunderts der Kampf jahrzehntelang geruht hatte,
flammte er am Ende zu neuer Energie empor und
führte schliesslich 1903 zur Errichtung einer Trinker¬
heilanstalt bei Kästorf, Stift Isenwald, die halb
unter ärztlicher, halb unter pastoraler Leitung steht.
Und im vergangenen Jahre brachte die Eröffnung
des Nervensanatoriums Rasemühle, das vor allem
der Initiative Cr am er’s-Göttingen zu danken ist,
eine neue Angriffsfront. Hannover ist der erste
Communalverband, der den Kampf gegen die Ner¬
venkrankheiten auch der unbemittelten Stände auf¬
nahm und damit indirekt auch gegen den Ausbruch
der Geisteskrankheiten prophylaktisch vorging.
Auf die Details der Irrenfürsorge, insbesondere
die Aenderungen im Aufnahmeverfahren und die
Lösung der Wärterfrage näher einzugehen, ist hier
nicht der Ort, obgleich ja auch diese in der Behand¬
lung der Psychosen eine sehr wichtige Rolle spielen.
Und ebensowenig ist es möglich, der Entwickelung
der forensischen Psychiatrie, der Arbeiten auf stati¬
stischem Gebiete und vor allem der wissenschaftlichen
Leistungen zu gedenken. Habe ich mich schon im
Vorhergehenden darauf beschränken müssen, den
Werdegang der Psychiatrie in Hannover in den aller¬
gröbsten Umrissen zu skizziren, so ist hier eine aus¬
zugsweise Schilderung ganz und gar nicht angängig.
Wen die Einzelheiten interessiren — und dass sie
es gerade sind, die den spröden Stoff psychiatrischer
Historie geniessbar machen, um so mehr, da sie recht
häufig von unfreiwilligem aber desto erquickenderem
Humore durchweht sind, weiss Jedermann, der sich
mit derartigen Studien beschäftigt —, den muss ich
auf mein Buch verweisen.
Gerade bei diesen Kleinigkeiten sieht man aber
auch immer, wie häufig das Material versagt, wie
leicht es ist, trotz allen guten Willens Irrthümern
nicht zu entgehen. Man wird dann nicht erstaunt
sein, wenn man sieht, dass sich schon für die letzten
Jahrzehnte selbst bei wichtigen Ereignissen historische
Irrthümer gebildet haben.
Werden schon jetzt rechtzeitig auf dem Altäre
der Geschichtsschreibung der Psychiatrie auch nur
kleine Opfer gebracht, dann wird man in Zukunft
diesem betrüblichen Schicksale nicht mehr verfallen
können.
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Original frnm
HARVARD UNiVERSITY
54
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCH RIFT.
[Nr. 5.
Wichtige Entscheidungen auf dem Gebiete der gerichtlichen Psychiatrie, III,
Aus der Literatur des Jahres 1903 lusammengestellt von Ernst Schnitze.
(Fortsetzung.)
S 383 No. 5-
Wie es Rechtspflichten giebt, die der Verschwiegen¬
heitspflicht vorgehen, so sind auch höhere sittliche
Pflichten anzuerkennen, hinter denen die Verpflichtung
zur Verschwiegenheit zurücktreten muss. So kann
es z. B. unter Umständen für den Arzt geboten er¬
scheinen, der Ehefrau von der geschlechtlichen Er¬
krankung des Mannes Kunde zu geben, um eine
Ansteckung derselben nach Möglichkeit zu verhindern.
Nicht aber steht ganz allgemein Ehegatten unter¬
einander das Recht zu, stets über ihre gegenseitigen
geschlechtlichen Gesundheits- bezw. KrankheitsVer¬
hältnisse vollen Aufschluss zu erlangen, insbesondere
nicht über in der Vergangenheit liegende zur Durch¬
führung einer Scheidungsklage. (R. G. VI, 19. I. 03.)
D. R. pag. 315, Entsch. No. 1721.
§ 383. No. 5.
Anvertraut sind die Thatsachen, die der Beamte
. . . wahrgenommen hat, auch dann, wenn sich der
Betroffene die Wahrnehmungen Kraft gesetzlichen
Zwanges gefallen lassen musste. (R. G. V. 7. II.
1903-)
D. R. pag. 364, Entsch. No. 2035.
§ 383 C. P. O.
verbunden mit Art. 90 des Preuss. Gesetzes über
die freiwillige Gerichtsbarkeit und § 300 des Str. G. B.
Unter „anvertrauten“ Thatsachen im Sinne des
§ 383 sind nicht bloss solche Thatsachen zu ver¬
stehen, die dem Zeugen von den Betheiligten direct
mitgetheilt sind; es genügt, dass der Zeuge in der
seine Verpflichtung zur Verschwiegenheit bedingenden
Eigenschaft (Amt, Stand, Gewerbe) und Thätigkeit
davon Kenntniss erhalten hat. (Vergl. Entsch. des
R. G. Bd. 53, S. 169.) (U. v. 9. V. 1903.)
J. W. pag. 240.
§ 402 ff.
Bei der vom Gesetze dem Sachverständigen im
CivilpTOcesse zugewiesenen Aufgabe — der eines
Gehilfen des Richters — erscheint es an sich nicht
unzulässig, dass der Sachverständige über den
Gegenstand der Begutachtung, auch über hierfür in
Betracht kommende thatsächliche Verhältnisse, sich
durch Erkundigung bei dritten, bei den Parteien
oder anderen mit den Verhältnissen vertrauten Per¬
sonen Aufklärung verschafft; in manchen Fällen wird
das auch kaum zu umgehen sein. Soweit es sich
bei der Begutachtung nur um die Feststellung eines
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Erfahrungssatzes handelt, kommt es darauf, aus
welchen Erkenntnissquellen der Sachverständige das
Ergebniss gewonnen hat, überhaupt nicht oder doch
nur für die thatsächliche Würdigung seines Gut¬
achtens an. Dieses Gutachten untersteht selbst¬
verständlich auch bezüglich der darin bezeichneten
Unterlagen der richterlichen Nachprüfung. Gleiches
gilt bezüglich der Subsumtion processgemäss fest¬
gestellter Thatsachen unter den Erfahmngssatz. Die
informatorische Thätigkeit des Sachverständigen
wodurch dieser sich die Grundlagen für die Be-
urtheilung des anderweit festgestellten That-
bestandes verschafft, bildet nicht einen Act der
eigentlichen Beweisaufnahme und unterliegt nicht den
processualen Beweisregeln, auch nicht dem Grund¬
sätze des beiderseitigen Gehörs oder der Verhandlungs¬
maxime. Und es ist insoweit auch nicht nothwendig,
dass die Erkenntnissquellen des Sachverständigen
zum Gegenstand der Verhandlung gemacht, oder die
Personen, bei denen er seine Erkundigungen ein¬
gezogen hat, jeweils als Zeugen vernommen werden.
— Anders verhält es sich allerdings bezüglich der
Feststellung von Thatsachen (Processthatsachen), auf
welche der Sachverständige den von ihm zu Grunde
gelegten Obersatz an wendet. Solche Thatsachen
müssen, sofern sie des Beweises bedürfen, in der
von der C. P. O. vorgeschriebenen Form bewiesen
werden, zutreffenden Falles also durch gerichtliche
Vernehmung der für die streitige Thatsache be¬
nannten Zeugen. — ... (Entscheid, des R. G.
VI. C. S. 2. I. 1903.)
J. W. pag. 66.
§§ 402 ff., 355.
Es bleibt einem Sachverständigen unbenommen,
bei Prüfung der ihm vorgelegten Fragen auch ausser-
gerichtliche und uneidliche Auskünfte von Dritten
zu benutzen. In der Verwendung eines so be¬
gründeten Gutachtens liegt eine Rechtverletzung nur
dann, wenn die zu Grunde gelegten thatsächlichen An¬
gaben von einer Partei als unrichtig bekämpft
worden sind und der Richter diese Einwendungen
nicht beachtet hat. (R. G. V., 30. April 1903.)
D. R. pag. 294, Entsch. No. 1586.
§§ 404- 9 1 -
Die Auslage an einen von der Partei selbst mit
gutachtlichen Feststellungen im Laufe des Rechtsstreits
betrauten Sachverständigen gilt nicht als nothwendig
Original ffom
HARVARD UNIVERSiTY
IQ 04 .J PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 55
und ist deshalb nicht erstattbar. Die Partei hat verständigen stützt, waren danach zur Zeit der
lediglich die zu begutachtenden Punkte und, falls Einigung über die Sachverständigen bereits vorhanden
das Gericht sie dazu auffordert, geeignete Sach- und auch dem Kl. bereits bekannt; er kann sie
verständige zu bezeichnen, sie kann nicht damit deshalb nicht benutzen, um nachträglich darauf ein
rechnen, dass ohne Zustimmung des Gegners das Ablehnungsgesuch zu gründen. Wenn endlich die
Gericht dem Vorschläge bei der Auswahl folgt. Beschwerde noch, als neuen Ablehnungsgrund,
(O. L. G. Breslau II C. S. 25. V. 1903.) dem Gutachter den Mangel an der nöthigen Fach-
D. R. pag. 342, Entsch. No. 1862. kcnntniss abspricht, so kann auch dieses ihr nicht
g 404. zum Erfolge verhelfen. Mangel an der ge-
. . Diejenigen Verhältnisse in der Person und dem hörigen Sachverständigcnqualifikation ist kein Ab-
Geschäftsbetriebe des Sachverständigen K, worauf lehnungsgrund. (Beschluss der R. G. 26. IX. 1903.)
der Kl. die Besorgniss der Befangenheit des Sach- J- ^ • P a g- 3^6.
(Schluss folgt.)
M 1 t t h e 1
— Verein für Psychiatrie und Neurologie in
Wien. Sitzung vom 12. Januar 1904. Dr. Po t z 1:
Einiges zur Frage der P r i m o r d i a 1 d e 1 i r ien.
Der Vortragende erörtert einen speei eilen Fall:
Bei einem degcnerirlen Individuum (im Sinne Mag-
nans) trat eine transitorische Psychose auf vom
Charakter eines Traumzustandes, in der sich eine
Grössenidee manifestirtc. Die Psvchose schloss mit
völliger Amnesie ab. Nach zwei Monaten chronische
progressive Wahnbildung, Beachtungs- und Verfolgungs¬
ideen, Hallucinationen, interkurrente ecstatisch-visio¬
näre Zustände, auch transitorische Dämmerzustände.
Dieser Dauerzustand schloss mit einer cleliranten
Phase ab. Die Sinnestäuschungen und das weitver¬
zweigte Wahnsvstem wurden korrigirt. Unkorrigirt
blieb nur die Grössenidee. Die Anamnese ergiebt,
dass diese Grössenidee bereits in ihrer gegenwärtigen
Form zwei Jahre vor Ausbruch der manifesten Psy¬
chose entstanden war. Für Dementia praecox sprechende
Symptome fehlen bei dem Pat. Der Vortragende
begründet, warum er den Fall als originäre Paranoia
auf der Basis einer primären Wahnidee aufi'asst. Er
will auf derartige Fälle den Ausdruck ,.originäre
Paranoia“ beschränkt wissen und suburdinirt solche
Fälle als einheitliche Gruppe dem „Entartungsirre¬
sein“ im Sinne Magnans. Die primäre Wahnidee
fasst Vortr. alsein „psychisches Stigma“ (Magnan) auf
und gliedert sie der „Zwangsvorstellung** und der
„überwerthigen Idee“ an.
Dozent Dr. Julius Zappert : Uebe r A 11 f-
treten von Fett s übst a 11 z e n i m f ö t alen u n d
kindlichen Rückenmark.
Z. studirte am embryonalen und kindlichen Rücken¬
mark, in welcher Reihenfolge, welcher Form sich
Marchi-Reaction gebende Substanzen von frühesten
fötalen Stadien angefangen, einstellen. Er fand,
dass zuerst die sogenannten Gefässkörnchcn, dann die
Fettkörnchenzellen, dann die Körnungen in der vor¬
deren und hinteren Wurzel und in der weissen Sub¬
stanz, endlich jene im Centralkanalepithel, in den
motorischen Ganglienzellen auftreten. Die Körnungen
in den vorderen und hinteren Wurzeln lassen in ein¬
zelnen Fällen pathologische Ursachen voraiissetzen,
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1 u n g e n.
die übrigen angeführten Fettsubstanzen lassen sich
mit der blossen Annahme eines Entwicklungsvurganges
erklären.
— Verein bayrischer Psychiater. Einladung
z 11 r Jahres v e rsamnilung in der Kreisirren-
a n s t a 1 1 A n s b a c h a m P f 1 n g s t d i e n s t a g, d e n
24. Mai 11 jng. 9 U h 1 Vo r m i 11 ags. Tag es-
o r d 111111 g:
1. Bericht der Vorstandschaft, Rechnungsablage,
Vorstandswahl, Geschäftliches.
2. Vorträge: a) Herr Dr. Alzheimer - München:
Einiges über die anatomischen Grundlagen der Idiotie.
b) Herr Director Dr. Dees-Gabersee: Ueber die Un¬
abkömmlichkeit des Pflegepersonals im Mobilmachungs-
falle*, c) Herr Dr. Probst-München: Otto Weininger
in psychiatrischer Beleuchtung, d) Herr Director Dr.
Herfeldt - Ansbuch : Die Kreisfitenanstalt Ansbach.
c) Herr Director Dr. Vocke-München: Zur gericht¬
lichen Entscheidung; über den Geisteszustand wider
ihren Willen internierter Geisteskranker. f) Herr
Dr. Sandner-Ansbach: Bemerkungen zu art. Soll Pol.
Sir. Ges. Buches, g^ Herr Privatdozent Dr. Wcvgandt-
Wurxburg: Alte Dementia praecox. h) Herr Privat-
docent Dr. Weygandt-Würzburg: Secti« »nsatteste bei
Selbstmördern.
3. Besichtigung der Anstalt Ansbach.
München-Ansbach, 14. April 1004.
Dr. Voekc. Dr. Herfeldt.
— Strafrechtliche Behandlung der geistig
Minderwerthigen. In seinem für den bevorstehen¬
den Deutschen Juristentag ausgearbeiteten Referat
über die Behandlung der geistig Minderwerthen stellt
Professor Dr. Kahl folgende Forderungen auf:
Der Zug der deutschen Strafrechtsentwicklung in
Gesetzgebung und Wissenschaft sowie die Erfahrungs-
thatsachen der gerichtlichen Psychiatrie erfordern, dass
die Zustände der geistigen Minderwerthigkeit einer
sonderreohtlichen Ordnung
durch Prägung eines gesetzlichen Begriffs der sog.
verminderten Zurechnungsfähigkeit,
durch Anwendung eines besonderen Strafprinzips,
durch Verbindung von Strafvollzug und Sicherungs-
massregeln und
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
5^
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 4.
durch Abgrenzung der bei der strafenden und sichern¬
den Behandlung in Frage kommenden Zuständig¬
keitsverhältnisse
unterstellt werden.
Die strafrechtliche Behandlung der geistig Minder¬
wertigen einschliesslich der Sicherung ist grundsätzlich
von den Voraussetzungen und dem Verfahren der
Entmündigung getrennt zu halten. Dagegen ist zu
fordern, dass spätestens in Verbindung mit einer
Ordnung der verminderten Zurechnungsfähigkeit auch
die Verwahrung der wegen Zurechnungsunfähigkeit Frei¬
gesprochenen gesetzlich geregelt werde.
Der gesetzliche Begriff ist aus inneren Gründen
und Rücksichten der Durchführbarkeit der Reform
thunlichst einzuschränken. Unter Vermeidung des
Ausdrucks „verminderte Zurechnungsfähigkeit“ in der
Gesetzessprache wird sich empfehlen, jene nur und
mindestens dann anzunehmen, „wenn der Thäter bei
Begehung der strafbaren Handlung sich in einem
andauernd (? Red.) krankhaften Zustande befunden hat,
der das Verständniss für die Bestimmung des Straf¬
gesetzes oder die Widerstandskraft gegen strafbares
Handeln verminderte.“
Der vermindert Zurechnungsfähige ist milder
zu bestrafen. In Ansehung des Maasstabes der Strafe
sind auch hier erwachsene und jugendliche Personen
verschieden zu behandeln. Bei Erwachsenen wird
unter grundsätzlichem Ausschluss der Todes- und
lebenslänglichen Freiheitsstrafe die Strafe nach den
zu verallgemeinernden Bestimmungen über Strafmilde¬
rung in minder schweren Fällen oder beim Vor¬
handensein mildernder Umstände zu bemessen sein.
Bei Angeschuldigten zwischen 14 (12) und 18 Jahren
mildert der Richter die Strafe nach freiem Ermessen.
Er kann die Verbüssung der zuerkannten Freiheits¬
strafe in einer geeigneten Erziehungsanstalt nachlassen.
Jeder wegen verminderter Zurechnungsfähigkeit
zu milderer Freiheitsstrafe Verurtheilte ist einer sichern¬
den Nachbehandlung zu unterstellen. Für Strafvollzug
und Sicherung im einzelnen wird von der Unter¬
scheidung zweier Typen der geistig Minderwerthen,
nämlich
1. der im gewöhnlichen Sinne Strafvollzugsfähigen
und nicht voraussichtlich einer Verwahrung Bedürf¬
tigen und
2 der im Rahmen des regelmässigen Strafvollzuges
nicht Behandlungsfähigen und wegen Gemeingefähr¬
lichkeit oder zwecks methodischer Heilung der An¬
staltsverwahrung Benöthigten auszugehen sein.
Die vermindert Zurechnungsfähigen der ersteren
Art verbüssen ihre Strafe in den bestehenden Straf¬
anstalten. Sie sind nach ihrer Entlassung ausnahmslos
in zeitlich begrenzte Beaufsichtigung durch verbesserte
Polizeiaufsicht, Unterbringung in einer Familie oder
Bestellung eines besonderen Pflegers zu nehmen.
Nur für vermindert Zurechnungsfähige der zweiten
Art sind besondere, und zwar centrale, dem Straf¬
vollzug und der Verwahrung dienende Sicherungsan¬
stalten zu errichten. Die Verwahrung dauert mit
den durch den Zweck gegebenen Abweichungen von
der Strafvollzugsweise und nach Bewährung in den
innerhalb der Anstalt zu bildenden Freiheitsklassen
bis zur Entlassungsfähigkeit. Die Entlassung ist eine
bedingte und daher während eines gesetzlich begrenz¬
ten Zeitraums widerruflich. Vor der Entlassung ist
in jedem Falle durch Vermittlung der Anstalt ein
neues Arbeitsverhältniss oder sonstige Unterkunft zu
sichern.
Alle Entscheidungen über Verweisung zum regel¬
mässigen Strafvollzug oder in eine Sicherungsanstalt
stehen nach Vernehmung ärztlicher Sachverständiger
dem Richter der Strafthat zu. Die den Strafvollzug
und die Verwahrung innerhalb einer Sicherungsanstalt
betreffenden Beschlüsse stehen, vorbehaltlich aller Be¬
fugnisse der Strafaufsichtsbehörden, der Anstaltsleitung
zu. An ihr sind in einer dem Bedürfniss voll ge¬
nügenden Weise die staatlich berufenen Anstaltsärzte
zu betheiligen.
Zur Verkörperung des Interesses und der Ver¬
antwortlichkeit der Gesellschaft an der Sicherungs¬
behandlung der geistig minderw'erthen Verbrecher em¬
pfiehlt sich die Einsetzung gemischter Behörden, die
aus den Organen der Anstaltsleitung und etwa fünf
für diesen Dienst besonders qualifizirten Ehrenbe¬
amten zu bilden sind Die letzteren würden bei
regelmässiger Verbindung mit dem Anstaltsleben in
allen die persönlichen Verhältnisse, die individuelle
Fürsorge und das künftige Schicksal der Verwahrten
insonderheit betreffenden Fragen von der Anstalts¬
leitung zu gemeinschaftlichen Beratungen und Be¬
schlussfassungen zuzuziehen sein. Diesen Behörden
sind auch die Entscheidungen über Entlassung und
Widerruf zu übertragen.
— Ein verbrecherischer Geisteskranker überfiel
ohne Veranlassung den Direktor der Inenanstalt
Stephansfeld, San.-Rath Dr. Vorster, und verletzte
ihn durch einen Stich in den Unterleib lebensgefährlich.
Berichtigung.
Waldbröl, den 19. 4. 04.
In der Nr. 3 der Psychiatrisch-Neurologischen
Wochenschrift steht unter den Personalnachrichten
eine Notiz, nach der es scheinen könnte, als ob die
hiesige Privatirrenpflegeanstalt Eigenthum des ev.
Diakonievereins wäre. Die Anstalt ist Eigenthum
einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung; die
Krankenpflege auf der Frauenabtheilung, sowie die
Leitung der Küche und Wäscherei wird von Schwestern
und Pflegerinnen des evangelischen Diakonievereins
besorgt. Die ärztliche und wirtschaftliche Oberleitung
der ganzen Anstalt ist dem dirigirenden Arzt über¬
tragen.
Ich bitte ganz ergebenst, den Sachverhalt ent¬
sprechend richtigstellen zu wollen.
Mit vorzüglicher Hochachtung im Aufträge des
Vorstandes:
San.-Rath Dr. Venn.
Für den redactionellen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. BrosU-r , Lublinitz (Schlesien).
Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Hevnemann’sche Buchdruckerei (Gebr. Wolflf) in Halle a. S
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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift.
Redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Lublinrtz (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834.
Nr. 6. _ 7- Mai. __ 1904.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten.
Aus der Rhein. Prov.-Heil- und Pflegeanstalt Grafenberg. Director: Sanitätsrath Dr. J. Peretti.
Ueber Veronal.
Von Dr. Herrn, van Husen , Volontärarzt.
J^as von Fischer und v. Mering empfohlene,
„Veronal“ genannte Schlafmittel ist nunmehr
schon seit stark einem Jahre in vielen Krankenan¬
stalten auf seine Brauchbarkeit hin erprobt worden.
Alle bisherigen Veröffentlichungen äussem sich lobend
über das neue Mittel und sehen in ihm eine werth¬
volle Bereicherung unseres Arzneischatzes. Lilienfeld
begrüsst das Veronal sogar als ein „fast unfehlbares
Hypnotikum, dem keines unserer bisherigen Schlaf¬
mittel an Sicherheit und Intensität der Wirkung
gleichkommt“; insbesondere weist er darauf hin, dass
keine Gewöhnung an das Mittel, resp. keine Ab¬
schwächung seiner Wirkung eintrete.
Die meisten andren Beobachter äussem sich
nicht so enthusiastisch, wenn sie. auch durchweg
mit der Wirkung zufrieden sind. So berichten
fast alle von Fällen, in denen das Veronal
versagte. Ebenso wird von verschiedenen Seiten,
bes. Jolly, Oppenheim, Luther, Thomsen
u. a. hervorgehoben, dass bei manchen Kranken
eine entschiedene Gewöhnung an das Mittel eintrete.
Auch wird von manchen Beobachtern über un¬
angenehme Nebenwirkungen berichtet; so sahen Jolly,
Würth, Fischer, Berent, dass in einigen Fällen
der Gang schwankend und das Sensorium leicht be¬
nommen erschien; ferner beobachteten Würth und
Lilienfeld das Auftreten eines Hautausschlages. In
vereinzelten Fällen ist auch Uebelkeit und Erbrechen
nach Gebrauch des Veronals bemerkt worden. Mendel
und Krön sahen unangenehme, aber nicht weiter
bedenkliche Nebenwirkungen in etwa io°/ 0 der ver¬
abreichten Gaben, und zwar bereits nach 0,5, weit
häufiger aber bei Dosen über 1,0 g auftreten.
Während Berent „stärkere“ schädliche Neben-
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Wirkungen selbst auf 3,5 als Einzel- und auf 8,oalsTages-
dosis nicht beobachtet haben will, erlebte Ger har tz
eine recht ernste Intoxikation in einem Falle, in dem
an 2 aufeinander folgenden Abenden je i,o und,
entgegen der ärztlichen Anordnung, am Morgen des
dritten Tages 3,0 auf einmal genommen wurden.
Gerhartz glaubt, dass ohne das in dem betr. Falle
spontan auftretende Erbrechen und therapeutisches
Eingreifen (Injection von Kampher und Aether) der
Tod der Patientin durch Herzlähmung eingetreten
sein würde. Einen weiteren Fall von Veronalver-
giftung sah Clarke: Bei einem Kranken, der binnen
wenigen Tagen 7,5 Veronal einnahm, kam es zu
Vergiftungserscheinungen: abwechselnd Koma und
Delirium, Exanthem, Fieber, Muskelschmerzen und
Drüsenschwellung. Matthey sah nach einer Tages¬
dosis von 4,0 g eine Pulsverlangsamung auf 42, die
sich nach Herabsetzung der Dosis aber wieder ausglich.
Ueber einen Fall gewohnheitsmässigen Missbrauchs
des Veronals berichtet Laudenheimer. Ein
durch chronischen Morphinismus degenerirtes Indivi¬
duum nahm täglich stark 4,0 g in 2—3 Portionen
zu sich, um sich in einen dem Alkoholrausch ähn¬
lichen Zustand zu versetzen. Der betreffende Kranke
schilderte seine Stimmung als eine gleichgültig heitere
und behagliche; die Phantasie war wenig angeregt,
die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit niemals
gesteigert, vielmehr fiel ihm Denken und besonders
Schreiben schwerer. Beim Gehen taumelte er wie
ein Betrunkener und fiel öfter hin, die Hände zitter¬
ten stark und die Sprache war zuweilen lallend.
In der hiesigen Anstalt wurden 600 g Veronal
an 69 Kranke, 36 Männer und 33 Frauen, verab¬
reicht, und zwar in Einzeldosen von 0,5 bis 2,0,
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 5.
meist 1,0, in manchen Fällen auch 1,5, nur selten
2,0. In den meisten Fällen wurde das Mittel, das
stets rein in Pulverform unter Nachtrinkenlassen von
etwas Wasser gegeben wurde, blos Abends, nur in
einigen Fällen 2 oder 3 mal täglich verabreicht
Kranke, welche nicht das Einnehmen von Medica-
menten überhaupt verweigerten, nahmen auch das
Veronal anstandslos, ohne dass Klagen über
üblen Geschmack laut geworden wären. Verfasser
selbst findet das Veronal ziemlich indifferent, höch¬
stens etwas bitter nachschmeckend.
Bei 18 paralytischen Patienten (12 Männer, 6
Frauen), die Veronal erhielten, handelte es sich durch¬
weg um recht unruhige und erregte Kranke, die durch
Umherlaufen, lautes Schimpfen und Reden, besonders
auch Nachts, viel Lärm verursachten. In der Mehr¬
zahl dieser Fälle mussten gleich höhere Dosen, 1,0
oder 1,5 Veronal, verabreicht werden, wenn eine
nennenswerthe Wirkung erzielt werden sollte; nur in
4 Fällen (3 Männer, 1 Frau) konnten die betreffen¬
den Kranken mit 0,5 oder 0,75 Veronal zur Ruhe ge¬
bracht werden. Auch öfter tagsüber wiederholte
kleine Dosen (0,5X2 °der 3 ) war ^n lange nicht so
wirksam wie eine grössere einmalige abendliche Dosis.
Bei letzterer Art der Verabreichung war die Wirkung
des Veronals im Ganzen recht befriedigend, indem
die sonst unruhigen Kranken sich ruhig verhielten
und schliefen bis zum andren Morgen. Die Zeit
bis zum Eintritt der Wirkung war verschieden, durch¬
weg 1 / a —2 Stunden, vereinzelt 4—5 Stunden. „Un¬
fehlbar wirkend“ erwies sich das Veronal ebenso¬
wenig wie irgend ein andres der bisher bekannten
Schlafmittel. Selbst in den Fällen, in denen es meist
ganz gut wirkte, versagte es gelegentlich. In Fällen
sehr hochgradiger Unruhe, sowohl bei Männern wie
bei Frauen, war die Dauer der Veronal Wirkung auf
3—5 Stunden beschränkt. Vollständiges Versagen
des Veronals war nur bei einem paralytischen Mann
zu constatiren, der trotz 1,5 Veronal die ganze Nacht
schlaflos und unruhig war. Auf 1,5 Chloral war der¬
selbe Kranke ruhig. In einigen Fällen war eine ent¬
schieden kumulirende Wirkung zu beobachten, indem
die betreffenden Kranken (Männer und Frauen)
erst in der zweiten oder dritten Nacht auf das
Veronal reagirten und ebenso nach dem Aussetzen
des Mittels noch eine oder mehrere Nächte sich
ruhig verhielten. In drei Fällen (2 Männer und 1
Frau), in welchen es sich freilich um schon ziemlich
schwächliche Kranke handelte, fiel nach der dritten
resp. vierten Dosis von 1,5 Veronal, Abends gegeben,
die Schläfrigkeit der sonst sehr mobilen Kranken auch
tagsüber auf; ferner war der Gang im Gegensatz zu
sonst ganz taumelnd. Dieselben Erscheinungen zeigten
sich bei einem Kranken, der stark 6 Wochen hin¬
durch 0,5 Veronal allabendlich erhalten hatte. Bei den
übrigen paralytischen Kranken wurden derartige
Nebenwirkungen nicht beobachtet, selbst nicht bei
einer Kranken, die ganze 2 Monate hindurch all¬
abendlich 1,0 Veronal erhielt.
Ferner wurde das Veronal in 5 Fällen von
seniler Demenz (2 Männer, 3 Frauen) verabreicht,
und zwar waren dies sämmtlich Kranke, die durch
nächtliches Umherlaufen und Schreien für ihre Um¬
gebung sehr lästig waren, und bei denen Paraldehyd
4,0 oder 5,0 oder Trional 1,0, das sie zuerst mit
gutem Erfolg genommen hatten, zu versagen anfing.
Bei diesen Kranken versagte 0,5 Veronal vollständig;
erst auf Dosen von 1,0 g trat, in der Regel nach
1 / 2 —2 Stunden, ein durchschnittlich 5—6 ständiger,
d. h. bis etwa 3 oder 4 Uhr Morgens dauernder
Schlaf ein. In einem Falle trat die Wirkung erst
am andren Morgen ein: nachdem die betr. Kranke
die Nacht über noch recht unruhig gewesen war,
schlief sie gegen Morgen ein und verschlief noch
den grössten Theil des folgenden Tages. In einem
andren Falle versagten 1,0 und selbst 2,0 Veronal an
einzelnen Abenden vollständig, indem die betr. Kranke
trotz dieser hohen Dosen viel lärmte und andre
Patienten schlug, obwohl sie in Folge der Veronal-
wirkung so unsicher auf den Beinen war, dass sie
bloss durch Umherkriechen sich fortbewegen konnte.
Ein ähnliches Verhalten zeigte ein männlicher Kranker,
der auf 1,0 Veronal 5—6 Stunden schlief, den Rest der
Nacht unruhig war, trotzdem aber schon nach der
zweiten Dosis so wackelig auf den Beinen war, dass
er verschiedene Male hinfiel; zugleich überschlug Pat
gegen seine sonstige Gewohnheit einzelne Mahlzeiten.
Von 15 Fällen mit manischer Erregung (7 Männer,
8 Frauen) reagirten 6 Fälle (je 3 Männer u. Frauen), in
denen es sich freilich blos um wenig erregte, hypoma¬
nische Kranke handelte, schon auf 0,5 Veronal ganz
zufriedenstellend. In den übrigen Fällen mussten 1,0
oder 1,5 Veronal verabreicht werden. In der Regel, nicht
immer, waren die betr. Kranken nach diesen Dosen
ruhig und schliefen, meist bis zum Morgen, zuweilen
auch bloss 5 — 6 Stunden lang. Die Wirkung stellte
sich meistens nach 1 / i — 1 Stunde, in einem Falle,
bei einer Frau, freilich erst nach 6 Stunden ein. In
3 Fällen zeigte sich wieder deutlich kumulirende
Wirkung: 2 Kranke, die Abends 1,5 Veronal erhiel¬
ten, verhielten sich erst von der vierten Nacht ab
ruhig; die dritte Kranke, die 1,0 Veronal Abends
erhielt, schlief in den beiden ersten Nächten bloss
5 Stunden lang, in der dritten Nacht bis an den
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Morgen, von der vierten Nacht ab war sie ganz
ruhig. Bei derselben Kranken trat nach etwa drei¬
wöchigem Gebrauch ein allmähliches Versagen der
Wirkung zu Tage.
Ganz günstig waren die Erfolge des Veronals bei
der Schlaflosigkeit von vier melancholischen Kranken
(1 Mann, 3 Frauen). Zwei derselben schliefen auf
0,5 Veronal nach ihrer Angabe besser wie sonst, auf
0,75 Veronal schliefen sie gut Bei der einen stell¬
ten sich freilich schon nach der dritten Dosis Intoxi-
cationserscheinungen ein, indem die betr. Kranke am
Morgen einen taumelnden Gang zeigte und über
Schwindel und Benommenheit klagte. Als die Dosis
dann auf 0,5 herabgesetzt wurde, schwanden diese
Nebenerscheinungen zunächst, kehrten aber nach
sieben Tagen wieder. Bei den beiden andren Me¬
lancholischen, welche das Bild einer agitirten Melan¬
cholie boten, trat erst auf 1,0 Veronal hin Ruhe und
Schlaf ein, in dem einen der beiden Fälle erst von
der dritten Dosis ab.
Unsere 12 Fälle von Dementia praecox (7 männ¬
liche, 5 weibliche), welche wegen ihrer Unruhe Vero¬
nal erhielten, und bei denen andre Hypnotica ent¬
weder ganz versagten oder nur auf 4 — 5 Stunden
wirkten, reagirten, auch auf Veronal nur mit dürftigem
Erfolge. In wenigstens 4 Fällen versagte 1,0 und
1,5 Veronal vollständig; diese 4 Kranken schliefen
trotz Veronal ebenso schlecht und waren gerade so
unruhig, wie ohne Schlafmittel. Chloral 2,0 und
Trional 1,0, zum Vergleiche gegeben, wirkten frei¬
lich nicht besser. Von den übrigen 8 Fällen schlie¬
fen auf 1,0 oder 1,5 Veronal 4 Kranke die ganze
Nacht durch. Die andren 4 blos 4—5 Stunden.
Zwei Alkoholhallucinanten, von denen namentlich
der eine sich in ausserordentlich lebhafter ängstlicher
Erregung befand, sowie eine ganz verwirrte, sehr ängst¬
liche, ebenfalls lebhaft hallucinirende Kranke teagirten
auf eine Dosis von 1,5 resp. 1,0 Veronal blos mit drei-
bis sechsstündigem Schlafe.
Ganz befriedigend war die Wirkung des Veronals
wieder bei einer in hysterischem Dämmerzustand
befindlichen, sehr lebhaft hallucinirenden, ängstlichen
Kranken, die Nachts durch lautes Schreien sehr störte.
Auf 1,0, später auch auf 0,75 und 0,5 Veronal schlief
Pat gut und ruhig.
Ebenso war auch eine durch lautes Schimpfen
sich sehr lästig bemerkbar machende Epileptica, die
bisher bloss auf Chloralhydrat 2,0 sich beruhigte, auf
1,0 Veronal, Abends gereicht, die Nacht über voll¬
kommen ruhig. Tagsüber schwätzte und schimpfte sie
zunächst in ihrer gewohnten Weise weiter. Nach
der fünften Dosis war sie auch tagsüber ruhig; zu-
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gleich trat aber eine ziemlich starke Benommenheit
und Unsicherheit beim Gehen zu Tage, sodass nach
der sechsten Dosis das Mittel ausgesetzt winde. Ob¬
wohl Pat nun gar nichts erhielt, war sie noch 4 Tage
und 4 Nächte hindurch ganz ruhig, dann fing sie
wieder an unruhig zu werden, beruhigte sich aber
sofort wieder auf erneute Darreichung von Veronal,
das sich jetzt auch schon in Dosen von 0,75 und
0,5 als ausreichend wirksam bewährte.
Eine auffallend schnelle Abstumpfung der Wirk¬
ung zeigte sich bei zwei erregten Imbezillen. Bei
beiden versagte 1,0 Veronal schon in der dritten
Nacht. In dem einen Falle trat aber nach Er¬
höhung der Dosis auf 1,5 wieder Beruhigung ein, in
dem andren nicht.
Einfache Schlaflosigkeit war die Indication zur
Verordnung von Veronal in 8 Fällen (je 4 Männer
und Frauen). Hier bewährte es sich recht gut, und
zwar genügte durchweg schon die Dosis von 0,5, um
nach 20 Minuten bis 1 Stunde einen angenehmen,
ruhigen Schlaf herbeizuführen. Eine höhere Gabe,
0,7 5, war bloss in 2 Fällen (1 Mann und 1 Frau)
nöthig. Bei einem an chronischer Schlaflosigkeit
leidenden Neurastheniker, der lange Zeit 3,0—4,0
Paraldehyd und andere Hypnotica erhalten hatte,
glaubten wir wegen der Gewöhnung des Patienten an
Schlafmittel, eine höhere Dosis Veronal geben zu
müssen, weshalb Pat. zunächst 1,0 Veronal erhielt.
Derselbe schlief darauf nicht nur die ganze Nacht,
sondern war auch am andren Morgen noch so
schläfrig, dass er gegen seine sonstige Gewohnheit
noch einige Stunden zu Bett blieb. Es erfolgte nun¬
mehr eine Herabsetzung der Dosis auf 0,5 g, das
sich dann auch in diesem Falle als vollkommen aus¬
reichend bewährte zur Erzielung eines guten Schlafes,
ohne dass Pat. weiter über unangenehme Nebenwirk¬
ungen klagte. Auch seitens der übrigen männlichen
Patienten wurden keine Klagen laut, wohl berichteten
indess zwei der weiblichen Kranken, die ebenfalls
nur 0,5 Veronal erhalten hatten, dass sie am andren
Morgen sich schwindlig gefühlt hätten.
Verfasser selbst nahm Veronal, weil er nicht ein¬
schlaf en konnte, an zwei nicht aufeinanderfolgenden
Abenden, einmal 0,5 und einmal 1,0. In beiden
Fällen trat nach 10— 15 Minuten eine immer stärker
werdende Müdigkeit ein, die nach etwa einer halben
Stunde in festen Schlaf überging. Letzterer dauerte
nach 0,5 Veronal etwa 8, nach 1,0 Veronal etwa
9 Stunden. Während Verfasser sich aber in dem
ersten Falle frisch und wohl erhob, fiel ihm am
Morgen nach dem Einnehmen der höheren Dosis
das Aufstehen recht schwer; auch fühlte er sich den
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 6 .
ganzen Vormittag über noch müde und etwas be¬
nommen. Sonstige unangenehme Erscheinungen be¬
merkte er an sich nicht.
Fassen wir die Resultate unserer Versuche mit
Veronal kurz zusammen, so ergiebt sich etwa Fol¬
gendes: Bei einfacher, unkomplizirter Schlaflosigkeit
erwies sich Veronal als ein recht gutes Schlafmittel,
das meist schon in der Dosis von 0,5 g nach 20
Minuten bis 1 Stunde einen ruhigen, angenehmen
Schlaf herbeiführte. Auch bei Erregungszuständen
war Veronal recht brauchbar; bei leichterer Erregung
genügte zuweilen auch schon die Dosis von 0,5 ; in
der Regel waren indess Dosen von 1,0 und 1,5 er¬
forderlich. In den meisten, nicht in allen Fällen,
führten dieselben nach l j % — 2 Stunden (selten erst
nach 6—10 Stunden oder noch später) einen ruhigen
Schlaf herbei, der sich meist auf 7 — 8, bisweilen
freilich auch nur auf 3 —5 Stunden erstreckte. Ein
immer und in allen Fällen wirkendes Beruhigungs¬
und Schlafmittel ist Veronal ebensowenig wie irgend
eines der bisherigen Hypnotika. Besonders in man¬
chen Fällen von seniler Unruhe und von Dementia
praecox versagte es. Die meiste Aehnlichkeit hat das
Veronal mit dem Trional, das ihm auch an hypno¬
tischer Kraft so ziemlich gleichkommt. Nur in wenigen
Fällen schien Veronal etwas besser wie Trional zu
wirken. Ebenso wie bei Trional trat auch bei Vero¬
nal in vielen Fällen eine deutliche kumulirende Wirk¬
ung zu Tage, insofern einerseits die volle Wirkung
vielfach erst bei der dritten oder vierten Dosis sich
einstellte, und anderseits nach dem Aussetzen des
Mittels noch häufig eine Nachwirkung auf die näch¬
sten Nächte statthatte. Bei längerer Verabreichung
trat in der Regel ein allmähliches Versagen der
Wirkung ein; dieselbe stellte sich aber wieder ein,
wenn das Mittel eine Zeit lang ausgesetzt oder durch
ein anderes Schlafmittel ersetzt wurde. Unangenehme
Nebenwirkungen ernsterer Art wurden bei uns nicht
beobachtet, wohl aber Schwindel, Benommenheit und
Unsicherheit des Ganges, besonders nach Dosen von
1,0 und 1,5, aber auch zuweilen schon nach Gaben
von 0,5 g; namentlich bei schwächlichen und alten
Leuten zeigten sich diese Nebenerscheinungen. Durch
Aussetzen, bisweilen auch schon durch Herabsetzen
der Dosis des Veronals Hessen sich dieselben stets
schnell zum Verschwinden bringen.
Im Ganzen wird man also wohl sagen können,
dass das Veronal ein recht gutes und trotz der ge¬
legentlich auftretenden Nebenerscheinungen ein rela¬
tiv ungefährliches Schlafmittel ist, dass sowohl bei
einfacher Schlaflosigkeit wie bei Erregungszuständen
Geisteskranker entweder allein oder in Abwechslung
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mit andern Hypnoticis zu empfehlen ist Eine Ein¬
führung des Veronals in weitere Kreise, besonders
auch in Irrenanstalten, dürfte freilich vorläufig der
sehr hohe Preis erschweren, zumal das viel billigere
Trional resp. Methylsulfonal ihm ziemlich gleichwerthig
ist. *)
Litteratur über Veronal.
J ) Aronheim: Veronal, ein neues Schlafmittel. Medicia.
Woche. 1903 No. 31.
*) Berent: Ueber Veronal. Therapeutische Monatshefte
1903, Heft 6.
®) Clarke: Fall von Veronal Vergiftung. Ref. Deutsche
medicin. Wochenschr. 1904, No. 6.
4 ) Fassbind: Ueber Veronal. Correspondenzbl. für
Schweizer Aerzte 1903, XXXIII, Beil. 21.
6 ) Fischer, E. u. Mering, I. v.: Ueber eine neue
Classe von Schlafmitteln. Therapie der Gegenwart. 1903,
Heft 3.
6 ) Fischer, W.: Ueber die Wirkung des Veronals, Thera¬
peut. Monatshefte 1903, Heft 8.
: ) Gerhartz: Ueber einen Fall von Veronalvergiftung
Berl. klin. Wochenschr. 1903, No. 40.
8 ) Jolly: Verhandlungen der Berl. raed. Gesellschaft. Berl.
klin. Wochenschr. 1903, No. 21.
9 ) Laudenheimer: Notiz über gewöhn heitsm&ssigcn
Missbrauch des Veronals. Therapie der Gegenwart.. 1904
Heft 1.
,0 ) Lilienfeld, A.: Veronal, ein neues Schlafmittel. Berl.
klin. Wochenschr. 1903, No. 21.
n ) Lot sch, F.: Erfahrungen mit dem neuen Schlafmitte
„Veronal“. Fortschritte der Medicin 1903, No. 19.
l *) Luther: Veronal. Psychiatrisch-neurologische Wochen¬
schrift 1903, No. 28.
1S ) M atthey, O. : Mittheilungen über Veronal. Neurolog
Centralbl. 1903, No. 19.
u ) Mendel, K., und Krön, J.: Ueber die Schlafwirkung,
des Veronal. Deutsche med. Wochenschr. 1903, No. 34.
1B ) Michel und Raimann: Ueber die 2 neuesten
Schlafmittel. Heilkunde 1904, Januar.
,e ) Montagnini: H Veronal nella ‘pratica psichiatrica
Ref. Deutsche med. Wochenschr. 1904, No. 1.
,7 ) Off er, Rob., Th.: Veronal, ein neues Schlafmittel.
Centralbl. für die gesammte Therapie, 1903, Juli.
,8 ) Oppenheim: Verhandlungen der Berl. med. Gesell¬
schaft. Berl. klin. Wochenschr. 1903, No. 21.
10 ) Poly: Ueber die therapeutische Bedeutung des neuen
Schlafmittels Veronal. Deutsche med. Wochenschr. 1903, No. 20.
*°) Rasch kow, H.: Veronal, ein neues Schlafmittel.
Wiener klin. Rundschau 1903, No. 11.
**) Rosenfeld, M.: Therapeutische Erfahrungen mit
Veronal, Therapie der Gegenwart 1903, Heft 4.
i3 ) Schüle: Ueber das neue Schlafmittel Veronal. Thera¬
peut. Monatshefte 1903, Mai.
*) Veronal: Taxpreis 40 Pf., Fabrikpreis 20 Pf. für 1 g.
Methylsulfonal: Taxpreis 15 Pf., Fabrikpreis 6 Pf.» als sogen.
,,Trionalersatz“ sogar bloss 3 Pf. pro Gramm!
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
61
1904.]
5S ) Sp iel meye r, W.: Klinische Erfahrungen mit Veronal.
Centralbl. für Nervenheilk. und Psychiatrie 1903, 15, VIII.
34 ) Thomsen: Ueber Veronal. Psychiatrisch-neurolog.
Wochenschr. 1903, No. 13.
85 ) Traut mann, C.: Der Einfluss des Veronal auf die
Stickstoffausscheidung beim Menschen. Ref. Schmidt’s Jahr¬
bücher 1903, Heft 11.
- G ) Weber, L. W.: Ueber Versuche mit Veronal. Deutsche
med, Wochenschr. 1903, No. 40.
31 ) Wiener, L.: Das Veronal, ein neues Hypnotikum.
Wiener med. Presse 1903, No. 24.
2S ) Wü rth: Ueber Veronal und seine Wirkung bei Er¬
regungszuständen Geisteskranker. Psychiatr.-neurolog. Wochen¬
schrift 1903, No. 9.
Wichtige Entscheidungen auf dem Gebiete der gerichtlichen Psychiatrie, III.
Aus der Literatur des Jahres 1903 susammengestellt von Ernst 'Schnitze.
(Schluss.)
§ 406. ausdrücklich versicherte, lässt ihn deshalb nicht
. . . Die Partei kann beanspruchen, dass den
Sachverständigen, welche zur Begutachtung zusammen-
berufen werden, sämmtlich die Unbefangenheit
zukomme, wodurch ein unparteiisches und objectives
Unheil gewährleistet wird, und sie braucht sich, beim
Vorliegen, eines triftigen Ablehnungsgrundes nicht
darauf verweisen zu lassen, dass das Processgericht
bei Würdigung der mehreren Gutachten nach Er¬
messen den gegen die Zuverlässigkeit des einen
Sachverständigen vorliegenden Umständen Rechnung
tragen könne. — Sachlich aber ist der vom Kl. vor¬
gebrachte Ablehnungsgrund (C. P. O. § 406, Abs. 1,
§ 42) genügend glaubhaft gemacht. Wie sich aus
den Acten der Staatsanwaltschaft in der Strafsache
gegen Rechtsanwalt Dr. S. wegen Beleidigung ergiebt,
hat Baurath B. die in jenem Schriftsätze enthaltene
Bemängelung seiner Qualifikation als Sachverständiger,
welche nur durch Hinweis auf das hohe Lebensalter
desselben begründet worden war, als schwere Ver¬
unglimpfung aufgefasst; und bei der Art und Weise
seines Vorgehens gegen Rechtsanwalt Dr. S. ist die
Besorgniss nicht von der Hand zu weisen, dass bei
dem Sachverständigen unwillkürlich eine gewisse Ein¬
genommenheit auch der durch den Anwalt ver¬
tretenen Partei gegenüber Platz greifen und seine Ob-
jectivität beeinträchtigen möchte. (Entscheid, des
R. G. VI. C. S. 5. I. 1Q03.)
J. W. pag. 07.
§ 406, 4 >4-
Die Ablehnung eines sachverständigen Zeugen
ist unzulässig, § 406 bezieht sich nur auf Sach¬
verständige. (O. L. G. Posen 16. V.)
D. R. Entsch. No. 2694, pag. 529.
§ 410.
Die Thatsache, dass der im Auslande ver¬
nommene Sachverständige die Beeidigung seines Gut¬
achtens abgelehnt hat, was er nach dem ausländischen
Rechte durfte, die Richtigkeit seines Gutachtens aber
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weniger glaubwürdig erscheinen. (Entsch. des R. G.
VII. C. S. 21. XI. 1902.)
J. W. pag. 25.
445- 475-
. . . Gegenstand der Eidesauflage können nicht
U rth eile, sondern nur Thatsachen und diesen
gleichstehende gemeinverständliche Rechtsbegriffe
bilden. Zu den Thatsachen gehören nun auch die
sogenannten inneren Thatsachen, das heisst Gegen¬
stände des Wissens oder des Wollens. — — —
(R. G. 24. III. 1903.)
J. W. pag. 179.
§§ 568, 575-
Das B. G. hat den . . Arzt F. als alleinigen
Sachverständigen zur Erstattung eines Gutachtens
darüber bestellt, ob die Gebührenbeträge angemessen
sind, die F. selbst dem Bekl. für die . . ärztliche Be¬
handlung ... in Rechnung gestellt hat und um
deren Erstattung die Parteien streiten. Der Kl. be¬
zweifelt insoweit mit Grund die Unbefangenheit des
Sachverständigen, da dieser dies Gutachten in seiner
eigenen Sache abgeben würde und daran der Umstand
nichts ändert, dass die Gebühren an F. schon bezahlt
sind. . . . (Beschluss vom 19. V. 04.)
J. W. pag. 272.
§ 619.
Gegenstand einer Augensc heinsnahme md einer
damit verbundenen Untersuchung kann / ar auch
der Körper einer Partei sein; erklärt aber die Partei,
dass sie eine solche Untersuchung nicht gestatten
wolle, so gewährt die C. P. O. dem Richter kein
Recht, Zwangsmaassregeln zur Anwendung zu bringen.
Dies gilt in gleicher Weise auch für Ehesachen.
Nach § 619 der C. P. O. kann das Gericht zwar
das persönliche Erscheinen einer Partei anordnen
und erzwingen, ein weiter gehender Zwang aber ist
nicht gestattet. Auch im Uebrigen erweisen sich die
Ausführungen des B. R. bei diesem Punkte als un-
Original from
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6 2
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 6.
angreifbar. Insbesondere bedurfte es keiner aus¬
drücklichen Erörterung, ob und in wieweit etwa aus
dem ablehnenden Verhalten der Beklagten (trotz der
Vorschrift des § 617 der C. P. O.) ein Verdacht
hätte hergeleitet werden dürfen, denn ohne eine
ärztliche Untersuchung würde die Richtigkeit der
vom Kläger aufgestellten Behauptung jedenfalls nicht
vollständig dargethan werden können. (Entsch. des
R. G. IV. C. S. 22. XI. 1902.)
J. W. pag. 26.
§ 646.
Stellt der Mann die eheliche Gemeinschaft wieder
her, so ist auf sein Verlangen das vorher gegen
seine Ehefrau auf Antrag eines Verwandten eingeleitete
Entmündigungsverfahren einzustellen. (K. G. Berlin,
8. Juli 1902.)
D. R. pag. 45, Entsch. No. 244.
§ 648.
Die Anfechtungsklage gegen einen Entmündigungs¬
beschluss kann nicht auf eine Besserung nach der
Entmündigung gestützt werden. (O. L. G. Dresden,
8. Februar 1902.)
D. R. Entsch. No. 1042, pag. 185.
§§ 649,676,679.
Die Fortsetzung des schon eingeleiteten Verfahrens
auf Wiederaufhebung der Entmündigung darf nicht
von Beibringung eines ärztlichen Zeugnisses abhängig
gemacht werden. Geschieht dies dennoch, so kann
trotzdem der Beschluss nicht als Ablehnung im
Sinne des § 679 angesehen werden. (O. L. G. Dresden,
10. Januar 1902.
D. R. pag. 45, Entsch. No. 245.
§ 650.
Die Ueberweisung an das Gericht des Auf¬
enthaltsorts soll nicht die Regel bilden, sondern nur
unter besonderen Umständen, die zum Auf¬
enthalt des zu Entmündigenden hinzutreten müssen,
ein treten. (G. L. G. Darmstadt, 27. October 1902.)
D. R. pag. 107, Entsch. No. 554.
C. P. O. 664. ' k
Die Anfechtungsklage hat sich lediglich mit der
Frage zu beschäftigen, ob der Entmündigungsbeschluss
gerechtfertigt gewesen ist. (R. G. IV. 27. October 1902.)
D. R. pag. 107, Entsch. No. 555.
C. P. O. 671, 654.
In dem Anfechtungsprocesse bei Entmündigung
wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche darf
die Vernehmung des Entmündigten nicht bloss durch
einen ersuchten, sondern auch durch einen be¬
auftragten Richter erfolgen. (O. L. G. Karlsruhe,
20. November 1902.)
D. R. pag. 107, Entscheid. No. 556.
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§§ 671,654,679.
Das in § 671 Abs. 2. C. P. O. nachgelassene
Abstandnehmen von der Vernehmung Sachverständiger
bezieht sich nicht auf die nach § 654 Abs. 1. C. P. 0 .
zu erfolgende Zuziehung der Sachverständigen bei
persönlicher Vernehmung des zu Entmündigenden.
(R. G. IV. C. S. 22. X. 1903.)
D. R. pag. 609, Entscheid. N. 3142.
VI. Gerichtsverfassungs-Gesetz.
§ 172. (C. P. O. 355, 159.)
Auf den Fall der Vernehmung des Entmündigten
im Anfechtungsprocess durch einen beauftragten
Richter findet § 172 G. V. G. keine Anwendung;
für diese Vernehmung gilt die Oeffentlichkeit von
vornherein als ausgeschlossen; es bedarf daher keines
die Ausschliessung anordnenden besonderen Be¬
schlusses und dessen Feststellung im Vernehmungs¬
protokolle. (O. L. G. Karlsruhe, 20. November 1902.)
D. R. pag. 108, Entscheid. No. 575.
VII. Reichsgesetz über die freiwillige
Gerichtsbarkeit.
12, 48.
Die Frage, ob für einen Ausländer im Inlande
eine vormundschaftliche Fürsorge anzuordnen ist,
entscheidet das Gericht, dem die Anordnung der
Vormundschaft nach den allgemeinen Vorschriften
über die örtliche Zuständigkeit obliegen würde, wenn
es sich um einen Inländer handelte. (O. L. G.
Dresden. 28. X. 1901.)
D. R. pag. 506, Entsch. No. 2581.
12, 60.
Wird die angeordnete vorläufige Vormundschaft
im Beschwerdewege aufgehoben, so findet gegen diese
Entscheidung die einfache weitere Beschwerde statt.
(K. G. Berlin. 7. V. 1903.)
D. R. pag. 506, Entsch. No. 2582.
36 , 37 > 43 *
Die Zuständigkeit bestimmt sich nach dem Zeit¬
punkte, in dem die Anordnung der Vormundschaft
nöthig geworden ist. Ist darnach die Zuständigkeit
eines Gerichts einmal begründet, so wird sie durch
den späteren Wegfall der Umstände, auf denen sie
beruht, nicht berührt. (K. G. Berlin, 2. Februar 1903.)
D. R. pag. 2 65, Entsch. No. 1451.
52 , 57 -
Gegen den Beschluss, durch den eine vorläufige
Vormundschaft aufgehoben wird, steht dem bisherigen
vorläufigen Vormunde ein Beschwerderecht nicht zu.
(K. G. Berlin, 10. November 1902.)
D. R. pag. 156, Entscheid. No. 825.
57, Abs. 9.
Dem Ehemann einer entmündigten Frau steht
Original from
HARVARD UNIVERSITY
i9°4-]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
63
ein selbständiges Beschwerderecht bezüglich der Aus¬
wahl des Vormundes zu. (K. G. Berlin, 28. IX.)
D. R. pag. 581, Entsch. No. 3012.
§ 59*
Zu den die Person einer wegen Geistesschwäche
entmündigten Mutter betreffenden Angelegenheiten
gehört auch die der Mutter neben dem gesetzlichen
Vertreter ihrer Kinder zustehende Sorge für deren
Person. (K. G. Berlin, 30. Juni 1902.)
D. R. pag. 44, Entsch. No. 211.
VII. Haftpflichtgesetz.
. . . Gerade gegenüber der im § 260 a. F.,
287 u. F. der C. P. O. dem Richter eingeräumten
Freiheit des Ermessens kann diesem Urtheile nicht
der Sinn unterstellt werden, als ob die Anordnung
eines Sachverständigenbeweises von Amtswegen als
eine unbedingt erforderliche Maassnahme zu erachten
sei. Je nach dem Berufe, dem der Verletzte an¬
gehört hat, und der hierzu erforderlichen Art der
geistigen und insbesondere körperlichen Ausbildung
kann gemäss der Art der Verletzung und deren
Folgen auch ohne Vernehmung von Sachverständigen
schon die Ueberzeugung gewonnen werden, dass
mit der professionellen Erwerbsfähigkeit auch
die Fähigkeit zu irgend einem anderen Erwerbe
in Wegfall gekommen sei. Die Beschränkung
auf eine im Sitzen zu verrichtende Arbeit
gestattet nur mehr Handarbeit. Dazu gehört
aber wieder die berufsmässige Ausbildung der Hand-
fertigkeit, die ein Mann, der jahrelang schwere
Arbeit verrichtet hat, jedenfalls für eine Reihe von
Berufsarbeiten auch nicht mehr sich aneignen könnte.
Eine Verpflichtung zur Erlernung einer neuen Erwerbs¬
art liegt dem Verletzten aber nicht ob. . . (Entsch.
der R. G. VI. C. S. 8. I. 1903.)
J. W. pag. 67.
§ 3 a.
Allerdings kann, wenn jemand durch einen beim
Betriebe einer Eisenbahn erlittenen Unfall zwar die
Fähigkeit zu seiner bisherigen erwerblichen Thätigkeit
verloren hat, ihm aber die Möglichkeit verblieben ist,
durch eine andere, seiner Vorbildung und seinen
Standes- und sonstigen Verhältnissen entsprechende
Thätigkeit Erwerb zu finden, er hiervon Gebrauch zu
machen nicht mit der Maassgabe abiehnen, dass er
von dem haftpflichtigen Unternehmer Schadenersatz
so, als wenn er gänzlich erwerbsunfähig wäre, be¬
anspruchen könnte. Dementsprechend muss auch,
wenn eine Person während ihres Kindesalters verletzt
worden ist, bei der Wahl ihres späteren Berufs darauf
Rücksicht genommen werden, zu welchen Arten
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enverblicher Thätigkeit sie nach den Folgen des
Unfalls fähig erscheint. (R. G. VI., 20. November 1902.)
D. R. pag. 109, Entsch. No. 580.
VIII. Versichenmgsrecht
Pflicht die Obduction zu gestatten.
Zutreffend ist das B. G. davon ausgegangen,
dass, wenn wie nach § 11 der Bedingungen der Fall,
seitens der Gesellschaft die Zustimmung des Rechts¬
nachfolgers des Versicherten zu der von der Ge¬
sellschaft für nothwendig erachteten Obduction der
Leiche verlangt werden kann, dieses Recht an sich
nicht durch die inzwischen erfolgte Beerdigung ver¬
loren geht. Es muss aber dafür gehalten werden,
dass bei solcher Sachlage jedenfalls dann, w'enn die
nunmehr erforderliche Exhumirung der Leiche mit
den religiösen oder Pietätsgefühlen der Hinterbliebenen
im Widerspruch steht, die Gestattung der Obduction
ohne Nachtheil abgelehnt werden kann, falls seitens
der Gesellschaft die Kundgebung, dass mit der
Section vorgegangen werden solle, in unentschuldbarer
Weise verzögert ist. (R. G., 10. III. 1903.)
J. W. pag. 186.
Causalnexus zwischen Tod und Unfall.
Der erkennende Senat hat bereits in wiederholten,
gleichliegende Fälle betreffenden Entscheidungen
ausgesprochen, dass es rechtlich bedenkenfrei sei,
einen Unfall als die directe und ausschliessliche
Ursache des Todes nach Maassgabe der Versicherungs¬
bedingungen auch dann zu bezeichnen, wenn eine
gewisse Empfänglichkeit des Körpers für die nach¬
theiligen Einwirkungen der Verletzung vorhanden ge¬
wesen sei, wenn also möglicherweise bei anderer
körperlicher Beschaffenheit des Beschädigten der
Unfall günstiger verlaufen wäre. Auch in solchen
Fällen lässt sich sagen, dass der Tod lediglich die
Folge des Unfalls sei und dass die Versicherung
nicht dadurch ausgeschlossen w’erde, dass im Einzel¬
falle der Versicherungsnehmer sich gegenüber Unfällen
in geringerem Grade widerstandsfähig zeigt. (Entsch.
des R. G. VII. C. S. 5. XII. 1902.)
J. w. pag. 30.
IX. Reichsgewerbe-Ordnung.
§ 30.
Eine Privatkrankenanstalt im Sinne des § 30
R.-Gew'.-O. ist eine auf eine gewisse Dauer berechnete
Einrichtung, bei welcher Kranke in bestimmten, dazu
hergestellten Räumen Behandlung ihrer Leiden oder
Pflege oder beides zugleich in der Weise finden,
dass ihr Aufenthalt in jenen Räumen eine gewisse
Dauer erreicht. Die Meinungsverschiedenheit, welche
Original fram
HARVARD UNIVERSUM
64
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Heft 6.
in dieser Frage zwischen dem Oberverwaltungsgericht
und dem Reichsgericht betreffs der Nothwendigkeit
des Vorhandenseins von Betten hervorgetreten ist,
kommt hier nicht in Betracht, da die Anstalt der
Angeklagten mit Betten versehen ist.
Zutreffend und in Uebereinstimmung mit obiger
Definition hat das Landgericht das Unternehmen der
Angeklagten als eine Privatkrankenanstalt angesehen,
(K. G. io. IV. 1902.)
Ztsch. für Medicinal-Beamte, Beilage No. 10, pag. 109.
§ 30 -
. . . Wie die Entstehungsgeschichte der jetzigen
Vorschrift im § 30 unter a der Reichsgewerbeordnung
ergiebt, umfasst die Zuverlässigkeit, die der Unter¬
nehmer einer Privatkrankenanstalt usw. besitzen muss,
zweierlei: einmal die allgemeine Zuverlässigkeit des
Characters, sogenannte bürgerliche Unbescholtenheit,
und zweitens diejenige Umsicht, Erfahrung und
Kenntniss nach der technischen und nach der
administrativen Seite des Unternehmens, die erforderlich
sind, wenn die im § 30 genannten Anstalten ihren
Character als gemeinnützige Unternehmen be¬
haupten sollen.
. . . Hierbei ist aber nicht zu übersehen, dass
auch die allgemeine Zuverlässigkeit des Characters
nicht schlechthin und ganz allgemein gefordert ist,
sondern ihr Mangel nur in Betracht .kommt, wenn
er ebenfalls „in Beziehung auf die Leitung oder Ver¬
waltung der Anstalt“ besteht. Nicht jede allgemeine
Unzuverlässigkeit und nicht jede Verfehlung, in der
eine solche zum Ausdruck gekommen ist, genügen
daher, um die Concession zu versagen. Sie thun
dies vielmehr nur dann, wenn sie einen Schluss auf
die Art der Leitung oder Verwaltung der Anstalt zu¬
lassen, namentlich deshalb, wie in der Begründung
der Novelle von 1879 als ein besonderer Fall von
Unzuverlässigkeit hervorgehoben wird, „der Unter¬
nehmer durch seine Vergangenheit nicht die Annahme
ausschliesst, als könne ein Geschäftsbetrieb auf eine
strafbare oder auch nur unredliche Ausbeutung
des seiner Anstalt sich anvertrauenden Publikums
gerichtet sein.“ —-Eine besondere financielle
Zuverlässigkeit wird nicht erfordert (Urtheil des
Oberverwaltungsgerichts v. 28. V. 1903.)
Zeitsch. f. Med.-Beamte, Beilage No. 16, pag. 204.
M i t t h e i
— Jahresversammlung des Deutschen Ver¬
eins für Psychiatrie zu Göttingen vom 25. bis 27.
April 1904. (Referenten Dr. Weber und Dr. Vogt-
Göttingen.)
Die diesjährige Tagung der deutschen Psychiater
und Neurologen in Göttingen begann mit einer Be-
grüssung am Abend des 24. April. Der Besuch war
ein ausserordentlich zahlreicher; die Präsenzliste wies
170 Mitglieder auf, daiunter die Fachvertreter vieler
deutscher Hochschulen, Leiter hervorragender An¬
stalten, überhaupt Namen vom besten Klang.
Für die wissenschaftlichen Berathungen hatte die
Universität das eben neu erbaute Auditorium maximum
zur Verfügung gestellt, ein Raum, der in Bezug auf
technische Vollkommenheit und künstlerisch vornehme
Ausgestaltung zur Zeit wohl kaum übertroffen werden
kann.
Den Vorsitz der Versammlung führte Hofrath
Professor Dr. Fiirstner-Strassburg; zu Schriftführern
wurden die Herren Privatdocent und erster Oberarzt
Dr. Web er-Güttingen und Privatdocent und erster
Assistenzarzt Dr. Vogt-Göttingen ernannt.
In einer Begri'issungsansprache gedachte der Vor¬
sitzende zunächst des so plötzlich dahingeschiedenen
bisherigen Vorsitzenden J oliv und hob kurz die
wissenschaftliche Bedeutung Jolly’s und sein persön¬
lich liebenswürdiges Wesen hervor. Die persönliche
Liebenswürdigkeit, die er jedem gegenüber bewies,
war ja gerade in der Versammlung, deren Vorsitz er
lange Jahre geführt hat, genügend bekannt. Weiter
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1 u n g e n.
gedachte der Vorsitzende der ebenfalls in diesem
Jahre Verstorbenen: Bumm-München, Emminghaus-
Freiburg, Meyer-Roda.
Die Versammlung wurde dann von den anwesen¬
den Ehrengästen begrüsst; zunächst von dem Pro¬
rector der Universität, Professor Leo, der als Haus¬
herr die Gäste in diesem Raume willkommen hiess.
Nach ihm sprach der Chef der Hannoverschen Pro¬
vinziah Verwaltung, Landesdirector Lichtenberg. Er
betonte, welche besondere Bedeutung im Kreise der
Angelegenheiten der Provinzial Verwaltung die Fürsorge
für die Geisteskranken besitze. In diesem wichtigen
Verw r altungszw f eige sei die Provinz auf den sachver¬
ständigen Rath der Psychiater angewiesen, denen sie
auch vertrauensvoll die Leitung der Anstalten und
die Behandlung und Pflege der Kranken in die Hand
lege. Redner wies dann auf das neue Werk hin,
das die Provinz mit der Errichtung des Nerven-Sana-
toriums Rascmühle gethan habe, und sprach die
Hoffnung aus, dass auch andere Provinzen auf diesem
Wege nachfolgen würden. Nach ihm begrüsste noch
die Versammlung Oberbürgermeister Calsow und als
Vertreter des Dekans der medicinischen Facultät Herr
Geheimrath Professor Braun.
Von geschäftlichen Verhandlungen ist folgende
hervorzuheben:
1. Der Vorstand des Vereins hat eine Eingabe
an den preuss. Justizminister gerichtet, betreffend die
Thätigkeit der psychiatrischen Sachverständigen bei
Entmündigungen. Die Antwort des Justizministers
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
65
1Q04.]
geht dahin, dass er dem Antrag des Vereins nicht
entsprechen kann. „Es stehe eben nichts im Wege,
dass die Gerichte in der Person eines Leiters einer
öffentlichen Anstalt einen besonderen Umstand in
Bezug auf die Sachverständigkeit erblicken/* Der
Justizminister könne aber in dieser Richtung keinen
Einfluss auf die Gerichte ausüben.
Der Vorsitzende beantragt, eine abwartende Halt¬
ung einzunehmen.
2. Der Verein hat schon vor einiger Zeit darauf
hingewiesen, wie wichtig es sei, dass den Anstalts¬
ärzten Gelegenheit geboten würde, von Zeit zu Zeit
an einem Fortbildungskursus für Aerzte theilnehmen
zu können. Um der Frage näher zu treten, wählt
die Versammlung eine Commission aus den Herren
Stoltenhoff, Peretti und Vocke, welche das ein¬
schlägige Material näher bearbeiten und im nächsten
Jahre darüber berichten sollen. Von mehreren Seiten
wurde ausserdem mitgetheilt, dass die Verwaltungs¬
behörden , z. B. in der Rheinprovinz, Baden und
Bayern, Mittel zur Verfügung gestellt haben, um
den Aerzten die Theilnahme an der Jahresversamm¬
lung des Deutschen Vereins für Psychiatrie zu er¬
möglichen. Die Versammlung ist der Ansicht, dass
auf diesem Wege weitere Erfolge erreicht werden,
wenn die Anstaltsdirektoren mit ihren Verwaltungs¬
behörden direkt in Verbindung treten unter Berufung
auf die Präcedenzfälle.
3. Die in der Vorstandssitzung beschlossene Er¬
richtung einer Laeh r-Stiftung wird der Versammlung
zur Beschlussfassung vorgelegt. Es soll vom Verein
aus ein Kapital gesammelt werden, das durch Zu¬
wendungen von verschiedenen Seiten allmählich bis
zu 100000 M. gebracht, und durch dessen
Zinsen wissenschaftliche und praktische Leistungen
auf dem Gebiet der Psychiatrie gefördert werden
sollen. Der Vorstand schlägt vor, aus dem Vereins¬
vermögen zunächst einen Grundstock von 5000 M.
zu überweisen und die Verwaltung einer dreiköpfigen
Comission zu übertragen. Die Commission soll bis
zum nächsten Jahre Statuten ausarbeiten. Die Ver¬
sammlung nimmt diesen Antrag ohne Discussion an.
4. H oche-Strassburg berichtet über die Arbeiten
der statistischen Commission. Das eingelaufene Material
sei ein so massenhaftes, dass die Ausarbeitung einer
Brochure, wozu die Commission beauftragt war, erst
nach Ablauf von vollen 2 Jahren erfolgen könne. Die
Commission solle dann die forensisch-psychiatrische
Frage noch besonders ins Auge fassen.
(Fortsetzung folgt.)
— München. Psychiatrische Klinik beim Kranken¬
haus 1 . d. J. Mit Eintritt der wärmeren Jahreszeit
wurde an die Vollendungsarbeiten der bereits im
Voijahre im Rohbau nahezu fertiggestellten verschie¬
denen Tracte gegangen. Insgesammt soll die Anstalt
vorerst zur Aufnahme von 100 Kranken bestimmt
sein. Die Gebäulichkeiten umfassen in einem Haupt-
tract und zwei Seitenflügeln vier Geschosse, die sich
aber nur nach der Nussbaumstrasse voll entwickeln.
Die Klinik ist in zwei Abtheilungen — männliche
und weibliche Kranke — getrennt. Alle Kranken¬
räume werden gegen den Garten, die Corridore nach
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der Strassenseite liegen; soweit ist nach keiner Seite
hin irgend eine Belästigung des Publikums durch
kranke Irre möglich. In allernächster Zeit wird am
Aeussem der Gebäude mit den Arbeiten für die
Putz-Barockarchitektur begonnen, die im Allgemeinen
einfach und ernst gehalten wird. Nach dem Hofe
zu wird ein grosser Hörsaal für die Studirenden er¬
richtet, der nicht weniger als 229 Sitzplätze aufnimmt.
— Process Stadt Breslau contra Regierung
wegen Unterbringung Geisteskranker. In die
Strafanstalts-Irrenabtheilung des Breslauer Zellenge¬
fängnisses werden geisteskranke Angeklagte und Ver-
urtheilte aus der Provinz Schlesien und den Nachbar¬
provinzen eingeliefert. Wenn sie entlassen werden,
so müssen sie nach * den geltenden Bestimmungen
der Ortspolizeibehörde überwiesen werden, die sie so
lange in einer öffentlichen Irrenanstalt intemiren muss,
bis feststeht, dass sie der Irrenpflege nicht mehr be¬
dürfen. Für die Unterbringung und Verpflegung von
solchen Geisteskranken in der städtischen Irrenanstalt
auf der Einbaumstrasse hatte nun der Polizeipräsident
1593 M. und 275 M. verauslagt. Der Regierungs¬
präsident vertrat die Ansicht, dass diese Kosten von
der Stadtgemeinde Breslau zu tragen seien; er stellte
auf Grund des Zuständigkeitsgesetzes und des Aus¬
führungsgesetzes zum Reichsgesetz über den Unter¬
stützungswohnsitz die Erstattung dieser Beträge an
die Polizeikasse als der Stadtgemeinde Breslau gesetz¬
lich obliegende Leistungen fest und erliess dement¬
sprechende Verfügungen an die Stadt. Da die Stadt¬
gemeinde Breslau diese Feststellungsverfügungen nicht
beachtete, verfügte der Regierungspräsident gegen die
Stadt Breslau Zwangsetatisirungen, indem er darauf
hinwies, dass die Kosten der Stadtgemeinde Breslau
zur Last fallen müssten, wobei es dahingestellt bleiben
könne, ob es sich um Arraenpflegekosten oder mittel¬
bare Polizeikosten im Sinne des Gesetzes vom 20.
April 1892 handle. Gegen diese am 7. Juni und
28. September 1903 erlassenen Zwangsetatisirungen
strengte der Magistrat beim Oberverwaltungsgericht
Klage an. Der erste Senat des Oberverwaltungsge¬
richts hat jedoch zu ungunsten der Stadtgemeinde
erkannt und ausgesprochen, dass es sich hier um
mittelbare Polizeikosten handle. Die gemeingefähr¬
lichen Geisteskranken seien als eine Unterart der
hilflos aufgefundenen Personen anzusehen. (Breslauer
Zeitung, 1. V. 04.)
— Leichlingen. Am 30. April waren der Auf¬
sichtsrath und die Baukommission der Gesellschaft
„Rheinische Volksheilstätten für Nerven¬
kranke“ hier anwesend, um das 100 Morgen um¬
fassende Gelände zu besichtigen, das der Geheime
Commerzienrath Böddinghaus-Elberfeld der Gesell¬
schaft zur Errichtung einer Volksheilstätte für weib¬
liche Nervenkranke zum Geschenk gemacht hat.
U. a. nahmen an der Besichtigung theil Commerzien¬
rath Dr. Wittenstein, der Vorsitzende des Bergischen
Vereins für Gemeinwohl, Landesrath Klausener,
Landesrath Schellmann, Regierungs- und Medicinal-
rath Dr. Born träger, San.-Rath Dr. Peretti, Regier¬
ungsbaurath Endell, Oberbürgermeister Funck-Elber-
feld, Regierungsassessor Dr. Stengel als Vertreter des
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HARVARD UNIVERSUM
66
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 6 .
Landkreises Solingen und Bürgermeister Klein-Leich¬
lingen. Die Herren fuhren sogleich in das zu Roder¬
birken gelegene Gelände, das mit seinem grossen
Reichthum an stattlichen Eichen und schattigen
Buchen sowie mit seiner prächtigen Fernsicht den
vollen Beifall der Besucher erntete. Nach der Be¬
sichtigung fand im Laufe des Nachmittags im Rath¬
haus eine Sitzung des Aufsichtsrathes und der Bau¬
kommission statt, in der die Plätze für die einzelnen
Pavillons und die Wirthschafts- und Verwaltungsge¬
bäude (die ganze Anstalt wird im Villenstil mit vor¬
läufig 4 Pavillons für je 25 Kranke erbaut) bestimmt
und die Einzelheiten des Bauprogramms besprochen
wurden. Hiernach soll die Arbeit sofort in Angriff
genommen und dergestalt gefördert werden, dass alle
Gebäude mit Eintritt des Winters unter Dach stehen.
Auf Anregung von Landesrath Klausener wurde be¬
schlossen, eine weitere Volksheilstätte, und zwar für
männliche Nervenkranke, auf dem Gute Gross-Ledder
bei Dabringhausen zu erbauen.
— Ueber das, wie in voriger Nr. gemeldet, an Herrn
San.-Rath Dr. Vorster in Stephansfeld durch einen
Geisteskranken verübte Attentat bringt die „Strass¬
burger Post tt (27. IV. 04) noch folgende Einzel¬
heiten: „Director Dr. Vorster war am 25. IV. auf
seinem täglichen Rundgang zwischen 9 und 10 Uhr
in Begleitung des Inspektors Gerstenmeyer, sowie
eines Wärters zu dem seit längerer Zeit in der
Stephansfelder Irrenanstalt befindlichen 40—50 jährigen
Kranken Ulzemer gekommen. Ulzemer, aus dem
Obereisass gebürtig, galt als verbrecherischer Geistes¬
kranker und wurde deshalb nicht mit anderen
Kranken gemeinschaftlich, sondern in einem Einzel¬
zimmer untergebracht. Director Dr. Vorster hatte kaum
einige oberflächliche Worte mit Ulzemer gewechselt,
als er plötzlich zu seiner Begleitung sagte: ,,Ich bin
gestochen. c ‘ Ohne dass man den Augenblick der
Tliat und die Vorbereitung dazu wahrgenommen
hätte, hatte Ulzemer zum Stiche ausgeholt und dem
Director im Unterleibe eine tiefe Verletzung bei¬
gebracht. Man nahm dem Irren das Mordinstrument
sogleich ab. Dasselbe bestand aus einem selbst¬
gefertigten Stilet aus Eisenblech, das sich der Kranke
gelegentlich irgendwo verschafft haben muss, und
welches er mit einem Griff umkleidet hatte. Direktor
Dr. Vorster behielt seine Geistesgegenwart und begab
sich selbst noch die Treppe hinab, um einen Noth-
verband anzulegen. Infolge des Blutverlustes verlor
er indess allmählich die Besinnung. Sofort wurde
Professor Dr. Ledderhose in Strassburg benachrichtigt,
welcher nachmittags an dem Schwerletzten eine
Operation vomahm. Den Ausgang derselben wollten
die Aerzte von der darauffolgenden Nacht abhängig
machen. Director Dr. Vorster hatte eine ziemlich
gute Nacht. Hoffentlich ist das ein günstiges Vor¬
zeichen dafür, dass die Verletzung nicht lebensgefährlich
verlaufen wird. Dr. Vorster steht im besten Mannes¬
alter und ist Vater von 4 Kindern.“
Referate.
— Endemann: Die Entmündigung wegen
Trunksucht und das Zwangsheilungsverfahren
wegen Trunkfälligkeit Halle a. S., Carl Marhold,
1904, M. 1,50.
Dass der Absatz 3 des Paragraphen 6 des Bürger¬
lichen Gesetzbuches, der die Entmündigung wegen
Trunksucht vorsieht, bis jetzt einer recht wechselnden
Auslegung unterlegen hat und zu verhältnismässig
sehr kümmerlichen Ergebnissen geführt hat, ist eine
sehr bedauerliche aber allgemein anerkannte Thatsache.
Zur Vermeidung dieser Uebelstände schlägt Ver¬
fasser folgende Fassung vor: Entmündigt kann werden,
wer infolge von Trunksucht die Gesammtheit seiner
Angelegenheiten nicht vernunftgemäss zu besorgen
vermag oder wer infolge von Trunkfälligkeit sich oder
seine Familie der Gefahr des Nothstandes aussetzt
oder die Sicherheit anderer gefährdet. Die praktische
Durchführung dieses Paragraphen muss, um wirksame
Kraft zu haben, rechtzeitig beim Trunkfälligen ein-
setzen, die Aussetzung der Beschlussfassung wenn
Aussichten anf Besserung vorhanden sind, muss be¬
schränkt werden, die Anordnung der vorläufigen Vor¬
mundschaft ist öfters zu handhaben. Da, selbst wenn
die Entmündigung angeordnet ist, die Rechtsnormen
fehlen, die das Verfahren mit Zwangswirkung ausstatten
und die Anstalten, in denen es durchgeführt werden
könnte, nicht vorhanden sind, verlangt Endemann
die reichsgesetzliche Anordnung über die Errichtung
der erforderlichen öffentlichen Heilanstalten. Der
Trunkfällige kann sich selbst der bindenden Selbst¬
unterwerfung unter den Behandlungszwang unterziehen
oder es kann die Zwangsbehandlung eintreten. Ver¬
fasser sieht in der gesetzlichen Formulierung, die er
zu diesem Zwecke vorschlägt, die verschiedenen Fac-
toren vor, die diese Zwangsbehandlung nöthig machen,
das eigene Interesse des Trunkfälligen, die socialen
Gründe und das Interesse der öffentlichen Sicherheit.
Den näheren Ausführungsbestimraungen, die Endemann
mit umfassender Sachkenntnis vorschlägt, kann von
psychiatrischer Seite im allgemeinen nur rückhaltslos
zugestimmt werden. Mönkemöller-Osnabrück.
— Archiv f. Psychiatrie und Nerven»
kr ankheiten.
Band. 36, 3. Heft.
Westphal-Greifswald: Ueber die Bedeu¬
tung von Traumen und Blutungen in der
Pathogenose der Syringomyelie.
Die Annahme, dass die Entstehung der Syringo¬
myelie auf entwickelungsgeschichtliche Störungen zu¬
rückzuführen sei, dem Trauma aber nur eine für die
Entwicklung oder den Zerfall der Gliose in Betracht
kommende sekundäre Bedeutung zu zuschreiben sei,
hält Verf. auf Grund seiner Befunde für sehr unwahr¬
scheinlich; dagegen ist anzunehmen, dass sich echte
progressive Syringomyelien auf dem Boden von trau¬
matischen oder durch andere Ursachen entstandenen
Blutungen entwickeln, und zwar in Rückenmarken,
welche keine entwickelungsgeschichtlichen Abweichun¬
gen erkennen lassen.
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HARVARD UNiVERSITY
1904.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
67
Schultze-Andernach: Stirner’sche Ideen
in einem paranoischen Wahnsystem.
Eine 4 2 jährige paranoische Kranke, die in ein¬
fachen Verhältnissen aufgewachsen war, vertrat einen
Standpunkt, welcher sich kurz in die drei Sätze zu¬
sammenfassen lässt: Was ich will, ist recht — ich thue
nur, was ich will, also begehe ich niemals Unrecht
— Unrecht ist das, was ich gegen meinen Willen,
von anderen gezwungen, der aus Noth und Gefahr thue.
Ihre Anschauungen stellten ein geschlossenes, festge¬
fügtes System dar. Bemerkenswerth ist, dass ihr
Gedankengang ganz ausserordentlich der Lehre des
Philosophen Stirner gleicht, dessen Werke ihr aber
kaum bekannt gewesen sein dürften.
Schott-Tübingen: Beitrag von der Melan¬
cholie.
Aus den zahlreichen Schlüssen, welche Verf. auf
Grund von 250 Fällen von Melancholie (70 M. +
180 Fr.) zieht, seien folgende hervorgehoben. Das
weibliche Geschlecht überwiegt mit 2,5:1, erbliche
Belastung war bei 46,4 °/ 0 nachweisbar, stille und zu
ernster Lebensauffassung neigende Naturen erkranken
leichter als andere, die nach acuten oder chronischen
Erkrankungen auftretenden Melancholien haben eben¬
so wenig etwas Specifisches, wie die Schwangerschafts¬
und Wochenbettsmelancholien; die höheren Lebens¬
alter neigen mehr zu Selbstmord, als die jüngeren,
erblich Belastete mehr als nicht Belastete; mehr als
die Hälfte sämmtlicher Fälle heilen, die jugendlichen
mehr als die des höheren Alters, die Reservirung
des Begriffs- Melancholie für die Depressionszustände
des Rückbildungsalters ist z. B. noch nicht berechtigt,
die Neigung der jugendlichen Melancholien zu reci-
diviren, ist aus ausgesprochener als im Allgemeinen an¬
genommen wird, Sondenfütterung scheint für alle
Lebensalter prognostisch nachtheilig zu sein.
V i e d e n z - Eberswalde: Ueber psychische
Störungen nach Schädelverletzungen.
Eine Schädelverletzung kann sehr wohl bei einem
psychisch intacten Menschen eine Geistesstörung
hervorrufen, weit häufiger aber wirkt sie bei einem ge¬
schwächten Gehirn als auslösendes, oder bei einem
intacten als prädisponirendes Moment für das Ent¬
stehen einer Psychose. Ein traumatisches Irresein als
selbständiges, wohl charakterisirtes Krankheitsbild giebt
es nicht, doch haben alle durch Kopfverletzungen
entstandenen Psychosen einige gemeinsame Züge: auf¬
fallende Charakterveränderung, Reizbarkeit, Nachlassen
des Gedächtnisses, Alkoholintoleranz. Am häufigsten
werden beobachtet primäre Demenz, hallucinatorische
Verwirrtheit und stuporöse Zustände, z. T. mit kata¬
tonischen Symptomen, selten Paranoia. Ob genuine
Epilepsie oder echte Paralyse nach Trauma entstehen
können, ist zweifelhaft. Zwischen psychischen Stö¬
rungen nach Schädelverletzungen und den auf alko¬
holischer Grundlage entstandenen besteht eine weit¬
gehende Aehnlichkeit.
Heilbronner-Halle: Ueber eine Artpro¬
gressiver Heredität bei Huntington’scher
Chorea.
Auf Gi und seiner bisherigen Erfahrungen hat Verf.
festgestellt, dass der familiären Chorea im Allgemeinen
die Tendenz beiwohnt, in jeder folgenden Generation
im Durchschnitt jüngere Individuen zu befallen, als
in der vorhergegangenen. Festzustellen wäre in Zu¬
kunft, ob dem früheren Ausbruch auch ein schwererer
Verlauf in den späteren Generationen entspricht.
Bd. 37, Heft 1.
Meyer und Raecke (Kiel). Zur Lehre vom
Korsako w’schen Symptomencomplex.
Der Korsakow’sche Symptomenkomplex ist keine
Krankheit sui generis, vor allem ist es keineswegs eine
ausschliesslich alkoholistische Psychose, wenn auch
Alkohol die häufigste und wichtigste Ursache derselben
ist Er kommt auch bei anderen Krankheiten vor
und zwar meist bei solchen Erkrankungen, die irre¬
parable oder schwer auszugleichende Veränderungen
des Centralnervensystems bedingen. Unter 8 aus¬
führlich mitgetheilten Fällen kam der Korsakow’sche
Symptomencomplex 3 mal vor bei Paralyse, 1 mal
bei Dementia postapoplectica und 1 mal bei einem
Sarkom im Mark des rechten Stimlappens.
Diem (Burghölzli-Zürich). Die einfach de¬
mente Form der Dementia praecox (Demen¬
tia simplex). Ein klinischer Beitrag zur Kenntniss
der Verblödungspsychosen.
Abgesehen von den 3 bekannten Verlaufstypen
der Dementia praecox giebt es nach Ansicht des
Verf. noch einen Typus, welchen er als einfach de¬
mente Form der Dem. pr. ausscheiden will. Der Be¬
ginn ist regelmässig einfach, schleichend, ohne be¬
sondere Vorboten, die weitere Entwickelung erfolgt
ohne akute Schübe und Remissionen, ohne ausgeprägte
maniakalische oder melancholische Verstimmungen,
ohne Sinnestäuschungen und Wahnideen und ohne
die für die übrigen Formen der Dementia praecox
charakteristischen Besonderheiten: Katalepsie, Tics,
Geziertheiten, Manieren, Stereotypien etc. Da die
Verblödung meist recht friedlich verläuft, kommen
derartige Kranke nur selten in Irrenanstalten. Verf.
bringt eine grössere Anzahl von Krankengeschichten
bei.
Cronbach-Berlin: Die Beschäftigungsneu¬
rose der Telegraphisten.
Sowohl kerngesunde als auch irgendwie disponirte
Personen können nach kürzerei oder längerer Thätig-
keit am Hughsapparat genau so wie am Morseapparat
von spezifischen Beschäftigungsneurosen befallen werden.
Es handelt sich um sensorische, motorische, vaso¬
motorische und sekretorische Störungen, die hauptsäch¬
lich an der Beugeseite des Vorderarmes und der
Vola manus, sowie am ulnaren Theil des Handrückens
anftreten. Besonders charakteristisch ist eine Form
der motorischen Störung, bei welcher die Arme und
Hände des vor dem Hughsapparat sitzenden Kranken
in einer richtigen Clavierspielerstellung fest stehen.
Ausser den lokalen Symptonen kommen noch Allge¬
meinerscheinungen (ziehende Schmerzen im ganzen
Körper, Kopfschmerzen) in Betracht.
Die Prognose quo ad sanationem ist ziemlich
schlecht, therapeutische Massnahmen sind nicht beson¬
ders nutzbringend, der gepriesene Ersatz des Morse-
durch den Hughsapparat hat sich garnicht bewährt.
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HARVARD UNiVERSITY
68
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 6.
Bd. 37, Hoft
Rydel und Seiffer (Berlin): Untersuch¬
ungen über das Vibrationsgefühl oder die
sog. „K noch ensens ibilität“ (Pal läst h es i e).
Beim Aufsetzen einer in Schwingung versetzten
Stimmgabel auf bestimmte Stellen der Körperober¬
fläche wird ein eigenthümliches Gefühl von Summen
oder Brummen empfunden. Dasselbe ist eine ge¬
sonderte Sensibilitätsart und unterscheidet sich wesent¬
lich von den übrigen Empfindungsqualitäten. Wo
starke Störungen dieses Gefühl bestehen, findet man
fast immer zugleich Ataxie event. auch Lagegefühls¬
störungen.
Die geschilderte Sensibilitätsart ist wahrscheinlich
nicht oder nicht allein den Knochen bez. dem
Periost zuzuschreiben, es empfiehlt sich daher nicht
den Namen Knochensensibilität anzuwenden, sondern
Vibrationsgefühl oder Pallästhesie (ardXAfa^ai-vibriren,
schwingen). Nach Ansicht der Verf. handelt es sich
um eine complicirte Empfindungqualität, welche wahr¬
scheinlich von den feinsten Nervenfasern aller unter
der Haut liegenden Gewebe aufgenommen und weiter¬
geleitet wird. Sie muss als ein weiterer Ausdruck
der sogenannten „Tiefensensibilität“ aufgefasst werden.
Bd. 37, Heft 3.
Henneberg-Berlin. Zur forensisch-psychia¬
trischen Beurtheilung spiritistischer Medien.
Verf. giebt die Beobachtungsresultate sowie das
über das bekannte spiritistische Medium Anna Rothe
erstattete Gutachten wieder. Eine tiefgreifende und
die strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit aufhebende
Geistesstörung lag nicht vor, wohl aber Hessen sich
hysterische Symptome nachweisen. Wesentlich war,
dass Hypnose bei ihr sehr leicht künstlich hervorge-
rufen werden konnte und dass sie oft Trancezustände
darbot, d. h. spontan eintretente bez. willkürlich von
ihr producirte hypnotische und somnambule Zustäude.
In forensischen Fällen von Mediumismus handelt
es sich in der Regel um die Frage, ob der Trance¬
zustand, in welchem ein Medium die als Betrug auf¬
gefassten Handlungen (Apporte, Reden Verstorbener,
Geisterschriften) beging, ein echter oder vorgetäusch¬
ter war. In einem ausgesprochenen Trancezustand
ist eine die freie Willensbestimmung aufhebende Geistes¬
störung zu erblicken, ganz ähnlich wie in den ver¬
schiedenen Dämmerzuständen etc. Ein Unterschied
besteht nur darin, dass professionelle Medien den
Eintritt dieser Zustände veranlassen oder wenigstens
begünstigen können; ihre willkürlich veranlassen Auto-
hypnesien lassen sich vergleichen mit der selbstver¬
schuldeten Trunkenheit, dem zielbewussten „Antrinken
mildernder Umstände“. Es ist zu wünschen, dass der
Ausnützung eines willkührlich hervorgerufenen abnormen
Geisteszustandes entgegengetreten wird.
Alter-Leubus. Ein Fall von Dipsomanie.
Verf. beschreibt einen Fall von epileptogener Dip¬
somanie, bei dem die Anfälle eingeleitet wurden durch
Ansteigen des Blutdrucks und Störungen in der Fre¬
quenz, dem Rythmus und dem Charakter des Pulses.
Danach trat eine Veränderung im Affekt ein (Angst
oder Unlust) und gleichzeitig mit der Verstimmung
Hess sich jedesmal eine beginnende Diletation des
Herzens nachweisen; die wiederholt einen sehr be¬
deutenden Umfang annahm und einige Male von
intensivem Durstgefühl begleitet war. Eine Erklärung
für sämmtliche Erscheinungen findet Verf. in der
Annahme, dass es sich um eine primäre Epilepsie
des Vasomotorencentrums handelt.
Arne mann - Grossschweidnitz.
— A. Pick: Ueber eine besondere insi-
diöse durch das Fehlen der Krampfanfälle
characterisi erte Form des Status epilep-
t i c u s.
Wiener med. Wochenschrift 1904, S. 331.
Nachdem schon Bresler 1896 mehrere Fälle be¬
schrieben hatte, bei welchen bei Epileptikern der
Tod in einem zunehmenden Koma von der Dauer
von 8 bis 14 Tage eintrat, ohne dass Anfälle, noch
weniger gehäufte Anfälle, vorangegangen w’ären, berich¬
tet Pick über einen weiteren Fall dieser seltenen
Form des Status epilepticus, der auch des Symptoms
der gehäuften Anfälle gänzlich entbehrte, und sich
lediglich als ein protrahiertes Koma darstellte, wie
auch die früher auftretenden Anfälle sich vielfach im
wesentlichen als postepileptischen Sopor kennzeich¬
neten und von Perseveration, Echolalie, katatonischen
Erscheinungen und sensorischer und motorischer
Apraxie begleitet waren. Die praktische Bedeutung
der Kenntaiss dieser eigentümlichen V e rla u fo a rt des
Status in prognostischer Beziehung liegt auf der Hand.
— Pelmann: Ueber die Eheverbote
unter Blutsverwandten.
Deutsche Revue. Jan. 1904.
Verfasser geht der meist geduldig übernommenen
Lehre von der Schädlichkeit der Verw^andtenheiraten
zu Leibe. Die degenerative Wirkung der Innenzucht
sei weder durch theoretische Erklärungen noch durch
statistische Nachweise zu halten. Er verwaist auf
die Versuche des Historikers Otto Lorenz, unsere
Anschauungen über Erblichkeit und Verwandtenehen
in andere Bahnen zu lenken. Nicht der Stammbaum
sei das richtige Mittel, um der Sache auf die Spur
zu kommen, sondern die Ahnentafel, die sehr an¬
schaulich ergäbe, dass Ahnenverlust und Inzucht mit
der Entwicklung der jungen Menschheit unzertrennlich
verbunden seien., ohne dass sie degeneriere. Auch
der Einfluss des einzelnen Ascendenten gewinue da¬
durch eine ganz andere Werteinschätzung. Und
somit sei bis jetzt ein gesetzliches Einschreiten gegen
das Eingehen von Verwandtenehen nicht hinreichend
begründet.
9 ^^ Dieser Nummer liegt ein Prospekt bei der
Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co.,
Elberfeld,
worauf die geschätzten Leser besonders hingewiesen
werden.
Für den redaktionellen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Bresler , Lublinitz (Schlesien).
Erscheint ieden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Vertag von Carl Marhold in Halle a. S.
Heynemann’sche Buchdruckerei (Gebr. Wolf?) in Halle a. S.
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Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift.
Redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Breslor,
Lublinitx (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.'Adresse: Marho Id Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834.
Nr. 7, 14 Mai. 1904.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marho Id in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die 3spaltige Petitxeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarxt Dr, Joh. Rresler, Lublinitx (Schlesien), xu richten.
Material zu § 156g B. G. B.
Von Dr. K. Osswald ', Oberarzt an der Landesirrenanstalt Hofheim.
In Sachen der Friedrich Wilhelm A. Ehefrau
Rosine, geb. M. zu Offenbach, Klägerin gegen
ihren Ehemann Friedrich Wilhelm A. von Neu-
Isenburg z. Zt. im Landeshospital Hofheim, Beklagten
wegen Ehescheidung hat die Civilkammer III Grossh.
Landgerichts der Provinz Starkenburg am n. Februar
1904 beschlossen:
Es soll Beweis erhoben werden über die Be¬
hauptung der Klägerin, dass die Geisteskrankheit des
Beklagten mindestens 3 Jahre gedauert und einen
solchen Grad erreicht hat, dass die geistige Ge¬
meinschaft der Eheleute aufgehoben, auch jede
Aussicht auf Wiederherstellung dieser Gemeinschaft
ausgeschlossen sei.
Auf Ersuchen genannten Gerichts vom 12.
Februar 1904 gebe ich unter Berufung auf den von
mir generell geleisteten Sachverständigeneid als
behandelnder Arzt des Beklagten nachstehendes Gut¬
achten ab.
Nach der Fragestellung habe ich folgende
Punkte zu beantworten:
1. Ist Rubrikat geisteskrank?
2. Dauert die Geisteskrankheit schon mindestens
3 Jahre?
3. Hat sie einen solchen Grad erreicht, dass
dadurch die geistige Gemeinschaft ausgeschlossen ist ?
4. Ist jede Aussicht auf Wiederherstellung der¬
selben ausgeschlossen?
Frage 1 beantworte ich mit Ja.
Denn Rubrikat befindet sich wegen Geistes¬
krankheit seit dem 6. Mai 1903 dauernd in hiesiger
Anstalt; ferner ist derselbe auf mein Gutachten vom
21. September 1903 durch Beschluss Grossh. Amts¬
gerichts Offenbach vom 30. September 1903 wegen
unheilbarer Geisteskrankheit entmündigt. Durch
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beide Umstände halte ich den Beweis der Geistes¬
krankheit für erbracht.
Zur Beantwortung von Frage 2 kann ich auf
den zwecks Aufnahme des Rubrikaten in die Irren¬
anstalt unter dem 6. März 1903 von Gr. Kreisarzt
Medicinalrath Dr. Pf. in Offenbach ausgestellten
Fragebogen zurückgreifen.
In demselben heisst es: „A. lernte in der
Schule weder lesen noch schreibendie Richtigkeit
dieser Angabe geht daraus hervor, dass A. auch
jetzt nicht lesen und seinen Namen nur zur Noth
schreiben kann, d. h. so, dass jemand, der weiss,
was es heissen soll — ihn entziffern kann. Die
Buchstaben und Zahlen kennt er nicht. Er rechnet
wohl die einfachsten Additions- und Subtractions-
aufgaben, zum Theil mit Hilfe der Finger, Multipli¬
kation und Division ist ihm aber fremd.
Da also Rubrikat trotz auf ihn verwandter Mühe
in der Schule fast nichts gelernt hat, ist dies meines
Erachtens ein Beweis für seine damals bestehende
Bildungsunfähigkeit resp. für einen so hohen Grad von
Geistesschwäche, dass man denselben unzweifelhaft
als Geisteskrankheit (Idiotie) bezeichnen muss.
Ausserdem ist in dem Zeugniss über den Zeitpunkt
des Beginns der Geisteskrankheit gesagt: „Seit den
letzten 2 Jahren ist A. von dem Wahn befallen,
dass er mit Frau v. R. in Frankfurt in beständigem
Geschlechtsverkehr stehe, dass diese häufig an seiner
Arbeitsstelle vierspännig anfahre und sich hier oder
im Wald von ihm gebrauchen lasse.“ An dieser
unzweifelhaften Wahnidee hält Rubrikat auch
jetzt unverrückbar fest, ja er spinnt sie noch weiter
aus, indem er z. B. erzählt, dieselbe habe eins
oder mehrere Kinder von ihm, er habe bei ihr oft
lange Zeit zugebracht, sei von Bedienten geholt
worden, habe in Stuben bis oben hin voll von Gold
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HARVARD UN1VERS1TY
?o
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
gesessen,,dasselbe handvollweis verschenkt, auf sein
Geheiss seien Häuser niedergerissen und wieder auf¬
gebaut worden etc.
Aus diesen letzteren Angaben geht mit Be¬
stimmtheit hervor, dass A. schon mindestens 3 Jahre
geisteskrank ist, wenn etwa jemand aus der That-
sache der Bildungsunfähigkeit des Rubrikaten den
Beweis, dass er schon von Jugend auf geisteskrank
ist, als nicht erbracht ansehen wollte.
Wende ich mich nun zu Punkt 3, so ergiebt sich
aus meinen Ausführungen zu Frage 2, dass A. schon
zur Zeit der Eheschliessung hochgradig geisteskrank
im Sinne des Gesetzes gewesen ist. Man wird von
vornherein im Zweifel sein müssen, ob ein bildungs¬
unfähiger Idiot überhaupt ein Verständniss, ein Be¬
wusstsein für die ihm als Familienvater obliegenden
sittlichen Pflichten besitzen (und somit diese auch
nicht betätigen) konnte, mit anderen Worten, ob mit
einem solchen Individuum überhaupt eine geistige
Gemeinschaft möglich war.
Nun hat aber während der Dauer der Ehe noch
zu verschiedenen Zeiten eine Steigerung der Krankheit
stattgefunden und zwar nach dem kreisärztlichen
Fragebogen zum ersten Mal vor ungefähr 8 Jahren.
Damals machten sich gelegentlich der Geburt eines
Kindes Zeichen akuter Geistesstörung bemerkbar,
indem A. damals die Hebamme bedrohte, weil sie
ihm die von seiner Frau geborenen 8 Affen fort¬
genommen und durch ein untergeschobenes Kind
ersetzt habe. Dazu kommen in den letzten Jahren
die schon vorher erwähnten geschlechtlichen und
zahlreiche andere Grössen Wahnideen, z. B. dass wenn
er sich eineft Platz angesehen und nur gedacht habe,
da könnte man ein Haus hinbauen, so sei auch
alsbald ein Haus dort entstanden; er habe
draussen im Feld Säcke voll Gold deponirt, es sei
ihm viel Geld „von der R.cn“ vermacht
worden, er könne draussen 10 bis 20 Mark den Tag
mit leichter Mühe verdienen u. s. f.
Fassen wir die aus dem Vorstehenden sich er¬
gebende unglaubliche Urtheilslosigkeit ins Auge, ver¬
möge deren Rubrikat auch geradezu Alles für
möglich und wahr hält, was ihm seine erregte
Phantasie vorgaukelt, und alles glaubt, was ihm andere
aufbinden, den Umstand, dass A. seinen Geburtstag
nicht nennen kann, das Datum nicht ungefähr kennt,
nicht weiss, wo er sich befindet, den Ort seines
jetzigen Aufenthaltes nicht nennen kann, betrachten
wir sein Interesse, das sich nur auf das was seine
Persönlichkeit unmittelbar angeht beschränkt: er ist
eigentlich gar nicht unzufrieden, dass er hier sein
muss, freut sich im Gegentheil, dass er hier sein gutes
[Nr. 7.
Essen gebracht bekommt, ein gutes Bett hat, nicht
oder wenig zu arbeiten braucht, sich ausruhen kann,
seine Frau könnten ja andere ernähren, er hats lang
gut hier — so besteht kaum ein Zweifel, dass ein
derartiger Mensch gemeinsame Familieninteressen
weder kennt, noch sie zu fördern die Fähigkeit oder
den Willen hat.
Als Rubrikat noch bei seiner Familie war, hat
er seine sittlichen Pflichten als Ehemann infolge
seiner Geisteskrankheit gröblich vernachlässigt. Zum
Theil wohl infolge von Beeinträchtigungsvorstellungen
gegen seine Frau, die angeblich das von ihm ver¬
diente Geld mit anderen „Kerlen“ durchbrachte,
während er nichts gehabt habe, die er eine Hure
nennt, welche er zusammen mit einem Burschen
erwischt habe — hat er seine Frau grob und brutal
behandelt, sie auch bedroht und geschlagen. Durch
die Schamlosigkeit, mit der er umständlich vor
seinen Kindein (vergleiche Fragebogen) seinen an¬
geblichen Geschlechtsverkehr mit der Baronin R. und
zahlreichen anderen Damen breittrat, durch seine fort¬
währende geschlechtliche Erregtheit — er nannte sich
nur noch den Pariser Kindermacher, alle Kinder, die
man sehe, seien von ihm — hat er die Sittlichkeit
in der Famjlfe hochgradig gefährdet und die Er¬
ziehung seiner Kinder geschädigt, w-as wohl mit den
Anlass bildete, die Kinder den Eltern zu nehmen
und in fremde Hände zu geben.
Auch seinen Pflichten als Ernährer der Familie
ist A. in der‘letzten Zeit, bevor er zur Anstalt ge¬
bracht wurde, schlecht nachgekommen. Infolge seiner
Grössenideen arbeitete er nur unregelmässig und wie
er gerade Lust hatte. Weil er seinen Arbeitsverdienst
zu hoch einschätzte, glaubte er, fortlaufende Arbeit
gar nicht nüthig zu haben; so meinte er z. B. durch
Ausfegen eines Abortes 25 Mark verdienen und von
diesem Geld die Wohnungsmiethe für 3 Monate und
noch den Haushalt bestreiten zu können.
Hatte sich also A. schon früher für seine Familie
recht wenig besorgt gezeigt, so ist seit seiner Auf¬
nahme in die Irrenanstalt noch eine Zunahme der
Interesselosigkeit und eine weitere Entfremdung ein¬
getreten.
A. äusserte wiederholt, er sei ja nun die Sorge
um die Familie los, die müssten andere ernähren,
ihm fehle ja nichts hier.
Er Hess sich zwar einigemal von anderen Briefe
an seine Frau schreiben, jedoch nur in der Absicht
mit ihrer Hilfe wieder in die Freiheit zu gelangen,
da er sich ja für völlig gesund hält — nicht weil
er als Familienvater sich nach Frau und Kindern
sehnte und für sie arbeiten und sorgen w’ollte. Be-
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HARVARD UNiVERSITY
1904.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
7i
sonders gegen seine Frau scheint in letzter Zeit die Ent¬
fremdung noch zugenommen zu haben, er erklärte
auf Befragen, ob er damit einverstanden sei, dass
seine Frau sich von ihm scheiden lasse — er habe
gar nichts dagegen, wenn sie es wolle, es sei ihm
einerlei, komme er wieder aus der Anstalt, so seien
gleich mehrere an ihrer Stelle da, die ihn heirathen
wollten, es hätten schon mehrere Wittweiber in
Ysenburg, die Kinder von ihm hätten, nach ihm
gefragt mit Heirathsabsichten. Als seine Frau einmal
krank gewesen, sei auch gleich ein Mädchen ge¬
kommen und habe ihm sein Essen gekocht.
Diese absolute Gleichgültigkeit gegen seine Frau
erklärt sich wohl aus dem Vorhandensein von speciell
auf sie gerichteten Wahnideen, die Rubrikat erst in
letzter Zeit geäussert hat. Unter 4 Augen erzählte
er Referenten kürzlich mit vergnügtem Lächeln, seine
jetzige Frau sei ja gamicht seine Frau, er sei nur
„Bursch“ bei ihr; sie habe ja 4 Kinder von ihm, die
stünden aber, wie ihm ein Schutzmann vorgelesen
habe, gar nicht auf seinem Namen eingetragen, auch
die Frau führe nicht seinen, sondern ihrer Mutter
Namen. Bevor er mit seiner Frau aufs Standesamt
sei, wäre er schon mit der Tochter eines reichen
Fabrikanten dort gewesen, die auch bei ihm geschlafen
habe — sie habe ihn wohl nachher nicht genommen,
weil er zu dumm gewesen sei. Durch Geschäfte habe
er sich dann dazu bringen lassen, seine jetzige Frau
„anzunehmen“, Referent solle aber ja nichts darüber
sagen, sonst bekomme er vom Bürgermeister seine
Schmisse.
Wenn also Rubrikat überhaupt noch ein Bewusst¬
sein von dem Bestehen seiner Ehe hat, w*as man
nach den vorherigen Ausführungen bezweifeln kann ?
so hat er jedenfalls gar kein Interesse mehr an dem
Fortbestehen dieses Bandes, welches nur noch ein
äusserliches ist. Die Trennung desselben hat für ihn
keine Härte. Hatte also A. noch während seines
Aufenthaltes bei der Familie kein Bewusstsein mehr
verrathen für die ihm als Ehemann und Vater ob¬
liegenden Pflichten, hatte er in Folge seiner Geistes¬
krankheit weder die Fähigkeit noch den Willen die
gemeinsamen Interessen wahrzunehmen und zu fördern#
so gilt alles dies jetzt noch in erhöhtem Maasse, wo
er seine Frau nicht einmal mehr als rechtmässige
Gattin anerkennt.
Ich erachte demnach durch den hohen Grad
der Geisteskrankheit des Rubrikaten die geistige Ge¬
meinschaft zwischen den Ehegatten für aufgehoben.
Zu Punkt 4 habe ich nur zu erwähnen, dass nach
der Art, der Dauer und dem Gr^d der vorhandenen
Geisteskrankheit ärztlicher Erfahrung nach eine Besse¬
rung, geschweige denn eine Heilung absolut nicht
mehr zu erwarten, vielmehr eine weitere Zunahme
in nächster Zeit recht wahrscheinlich ist.
Wegen der Unheilbarkeit und grossen Unwahr¬
scheinlichkeit einer Besserung der Erkrankung des
Rubrikaten halte ich auch jede Aussicht auf Wieder¬
herstellung der geistigen Gemeinschaft zwischen den
Eheleuten für ausgeschlossen.
Zum Schluss fasse ich mein Gutachten kurz noch
einmal dahin zusammen, dass ich sämmtliche For¬
derungen des § 15G9 im vorliegenden Fall als er¬
füllt ansehe.
Mittheilungen.
— Jahresversammlung des Deutschen Ver¬
eins für Psychiatrie zu Göttingen vom 25. bis 27.
April 1904. (Fortsetzung.)
Fürst ner: Neuropathologie und Psy¬
chiatrie. F. geht davon aus, dass 40 Jahre ver¬
gangen seien, dass Griesinger für die Vereinigung
der beiden Fächer eingetreten sei und die gemein¬
same Direction einer psychiatrischen und Nerven-
klinik geführt habe. Seitdem hätten wissenschaftliche
Versammlungen und Fachblätter dasselbe Ziel zu
erreichen gesucht. Die Discussion über diese Frage
sei aber trotzdem nicht abgeschlossen. Neuerdings
hätte sich sogar wiederum Gegnerschaft gegen die
Angliederung der Neuropathologie geltend zu machen
gesucht, speciell hat Fr. Schultze die Nervenpathologie
für die innere Medicin reclamirt. Zunächst sei
allerdings noch eine Vorbedingung zu erfüllen, ehe
man an eine Verknüpfung beider Fächer denken
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könne, es beständen noch nicht an allen Hoch¬
schulen selbständige psychiatrische Kliniken, bald
müssten Krankenhausabtheilungen, bald Provinzial¬
anstalten Lehrzwecken dienen. Dieser Missstand
müsse zunächst beseitigt werden. Es könne keine
Rede davon sei, dass später das Hauptgewicht auf
das neurologische Gebiet gelegt werde, ebenso wenig
soll der Irrenklinik bezüglich des Krankenmaterials
Abbruch geschehen t so dass neurologischer Unterricht
in derselben behindert oder unmöglich gemacht
werde. F. normirt das Verhältniss beider Art
Kranker zu einander auf 3:1, bei dieser geringen
Grösse werde es überall leicht möglich sein, Nerven-
abtheilungen zu errichten, selbst w'enn auch als Noth-
behelf an den Provinzialanstalten, wenn auch mit be¬
sonderen Aufnahme- und Betriebsverhältnissen. F.
plädirt ferner für die Errichtung von Polikliniken für
Nervenkranke an den psychiatrischen Kliniken und
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
72
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 7.
den Landesanstalten. Die Vereinigung beider Fächer
sei zunächst erstrebenswerth im Interesse des
academischen Unterrichtes; in die psychiatrischen
Kliniken kämen eine ganze Reihe Nervenkranker
nicht, bei denen doch psychische Störungen die
wichtigste Rolle spielten, es werden genannt viele
Fälle von sogenannter traumatischer Neurose, that-
sächlich Hypochondrien, Hysterien, weiter Träger von
Psychoneurosen, manche Epileptiker und Hysterische.
Es könnten auf den Nervenabtheilungen den
Studirenden demonstrirt werden die Anfangsstadien
mancher Psychosen, die später Aufnahme auf die
psychiatrische Klinik finden müssten. Auch für den
academischen Lehrer sei die Vereinigung wünsch ens-
werth, die Anwendung der in der Neuropathologie
üblichen Untersuchungsmethoden, die Verwerthung
objectiver Befunde geben nicht nur vielfach wissen¬
schaftliche Anregung, sie schützen auch vor einseitiger
theoretischer Bethätigung.
Die Vereinigung sei weiter erwünscht im Interesse
einer möglichst günstigen Vorbereitung und Aus¬
rüstung der speciellen Ausbildung der Nervenärzte.
Sie würden sich einmal geeignetes psychiatrisches,
sie würden sich auch das nöthige neurologische
Wissen aneignen können, was in der Irrenklinik nicht
immer möglich sei. Denselben Zwecken könnten auch
dienstbar gemacht werden die Polikliniken für Nerven¬
kranke an den Landesanstalten. Weiter würde das Bei¬
sammensein beiderlie Kranker in derselben Anstalt,
die mannigfachen Eindrücke, welche die beiderseitigen
Angehörigen empfangen würden, dazu beitragen, die
Vorurtheile zu zerstören, die heute immer noch be¬
züglich der Geisteskranken und der Anstalten bei den
Laien bestehen. Die Trennung zwischen Geistes- und
Nervenkranken sei vielfach eine künstliche. Auch bei
den letzteren spielten oftmals Stimmungsanoraalien,
Intelligenz- und Willensstörungen die Hauptrolle. Das
Bild, das sich der Laie von Geisteskranken und An¬
stalten mache, sei unzutreffend. Bezüglich der Ab¬
splitterung der Neuropathologie von der inneren
Medicin in den Grenzen, in denen F. sie sich denkt,
stelle eine geringere Schwächung dar, wie sie schon
jetzt durch die Abtrennung mancher Organerkrankungen
geschaffen sei. Der etwaige Ausfall werde durch die
Vertiefung und Vermehrung der Stoffwechselstudien,
der Röntgentechnik mit ihren Consequenzen, und
anderer Gebiete mehr als ausgeglichen. Schultze
ginge zu weit, wenn er von inneren Klinikern Kenntniss
der Hysterie in allen Formen, der progressiven Para¬
lyse und anderer Psychosen erwarte, bei dieser Ab¬
messung seien Conflicte mit den Fachpsychiatern un¬
vermeidlich.
F. erörtert weiter die Frage, ob bisher zwischen
beiden Fächern ein erspriesslicher Austausch wissen¬
schaftlicher Arbeiten stattgefunden und in Zukunft
zu erwarten sei. Die Zahl der Arbeiter sei auf beiden
Seiten sehr verschieden, zu den eigentlichen Neuro¬
logen hätten sich viele Mitarbeiter aus Nachbarge¬
bieten gesellt, auch eine Reihe Psychiater hätten rein
neuro-pathologische Arbeiten geliefert, dagegen sei
die Bethätigung an psychiatrischen Aufgaben gering
gewesen. F. hofft, dass sich dies Verhältniss in Zu¬
kunft günstiger gestalten würde, wenn schon in Folge
der Einführung der Psychiatrie als Prüfungsgegenstand
bei den Nervenärzten von vornherein grösseres psychia¬
trisches Wissen vorhanden sein werde. F. zählt eine
Reihe von Arbeiten auf, die beiden Gebieten zu gute
gekommen seien und betont, dass, wenn auch aus
den klinischen, psycho-physiologischen, psychologischen
Studien weitere Förderung beider Fächer zu erwarten
sei, erst die Verbindung der Neuropathologie mit der
Psychiatrie über viele Gebiete Klarheit schaffen werde.
Autoreferat
Hoche: Eintheilung und Benennung der
Psychosen mit Rücksicht auf die Anforder¬
ungen der ärztlichen Prüfung.
Der Streit um die Klassifikation ist so alt, wie
die wissenschaftliche Psychiatrie überhaupt; es ist
tröstlich, zu sehen, dass unter allen Klagen über die
Uneinigkeit der Irrenärzte ihre Wissenschaft ruhig
fortgeschritten ist. Die Eigenart des Objektes ist
der Hauptgrund, warum in der Psychiatrie jede Ein¬
theilung ein Programm, ein Bekenntniss zu einem
bestimmten Princip ist. Die allgemeine Verständigung
ist durch die vielerlei möglichen Betrachtungsweisen
erschwert. Dass die Uneinigkeit heute grösser sei,
als früher, ist Schwarzseherei; jedenfalls ist sie ein
Zeichen vielseitiger Bestrebungen und mag als Symbol
des Fortschrittes gelten.
Für das psychiatrische Staatsexamen bringt die
Buntscheckigkeit der Namengebung eine gewisse
Schwierigkeit mit sich; dieselbe ist aber nicht so
gross, bei näherer Betrachtung. Der Examinator
muss eben im Stande sein, Candidaten auch in der
psychiatrischen Sprache eines Anderen zu prüfen; ob
derselbe die von der Examensordnung verlangtem
für einen praktischen Arzt erforderlichen Kenntnisse
in der Irrenheilkunde besitzt, lässt sich bei Gebrauch
jeder beliebigen Klassifikation feststellen. Immerhin
sollte das nahende Staatsexamen das Verantwortungs¬
gefühl der psychiatrischen Schriftsteller in der Richt¬
ung schärfen, dass der Luxus reichlicher Neuschaff¬
ung von Namen eingedämmt wird. Eis sollte auch
bei der Auswahl des Lehrstoffes die Nothwendigkeit
der Verständigung mit den Andern mehr als bisher
im Auge behalten werden.
Jede Klassifikation ist brauchbar, in deren Sprache
man sich versteht; eine systematisch befriedigende
wird nie existiren, sie ist auch nicht nöthig. Ein
Blick auf den momentan gegebenen Lehrstoff zeigt,
dass das Gemeinsame darin das Trennende über¬
wiegt, und vor Allem ist in der für die praktische
Handhabung der Staatsprüfung wichtigeren allgemeinen
Symptomenlehre eine Verständiguug wohl durchführ¬
bar. Bei Bemessung der an den Examinanden zu
stellenden Ansprüche muss das praktische Bedürfniss
des Arztes das Bestimmende sein; die praktischen
Indikationen, die den Arzt bei Psychosen angehen,
lassen sich ohne alle Klassifikationsfeinheiten ableiten;
überhaupt müssen wir sehr zufrieden sein, wenn es
gelingt, in der Zeit von i bis 2 Semestern den
Studirenden die elementarsten Kenntnisse beizu¬
bringen. — Es steht zu hoffen, dass dieser für die
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HARVARD UNiVERSITY
I9°4-]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
73
Entwicklung der Psychiatrie wichtige Zeitabschnitt
nicht durch überflüssige Uneinigkeit um sein Bestes
betrogen wird. (Autoreferat.)
Dr. Scheven-Rostock: Zur Physiologie des
Patellarreflexes.
Die vom Vortragenden grössten Theils an Kanin¬
chen angestellten Untersuchungen über das Knie¬
phänomen haben zu Ergebnissen geführt, welche zu
einer Bestätigung der Reflextheorie der Sehnenphä¬
nomene dienen können. In der i. Versuchsreihe
wurden mittelst der graphischen Methode die Latenz¬
zeiten der Unterschenkelstreckung bei Perkussion der
Patellarsehnen und bei direkter, faradischer Quadri-
cepsreizung bestimmt, und zwar bei gleicher Extension
der Unterschenkelbewegung bei beiden Reizarten.
Es ergab sich bei diesen Versuchen constant, dass
die Latenzzeit bei Perkussion der Sehne fast das
doppelte der bei direkter Muskelreizung zu bestim¬
menden Zeit beträgt. Die berechnete Differenz
zwischen den beiden Latenzzeiten, welche im Mittel Vioo
Sec. betrug, muss, da alle durch die Versuchsmechanik
bedingten Zeitverluste bei beiden Reizarten dieselben
waren, von der Fortleitung der Erregung durch den
Reflexbogen in Anspruch 'genommen werden. Denn
diese Differenzzeit ist eine zu grosse, als dass sie,
unter der Annahme einer bei beiden Reizarten vor¬
handenen direkten Muskelreizung, auf die Verschieden¬
heit der Latenzzeit bei den beiden Arten der Reiz¬
ung zurückgeführt werden kann — vor allem auch
in Rücksicht auf die bei den letzteren annähernd
gleich grosse Extension der Unterschenkelstreckung.
In einer weiteren Versuchsreihe wurde die Ex¬
tension der Streckbewegung bei gleichbleibender
Stärke der Sehnenperkussion und bei verschieden
grossen Reizintervallen fortlaufend graphisch darge¬
stellt Die hierbei gewonnenen Curven zeigen con¬
stant auffallende, unregelmässige Schwankungen der
Grösse der Reflexbewegung, ohne dass eine Periodi-
dtät zum Ausdruck kommt Eine ausreichende Er¬
klärung dieser Erscheinungen ist z. Z. nicht möglich.
Von besonderer Wichtigkeit erscheint der constante
Befund, dass bei allmählicher Verkürzung des Reiz¬
intervalls von 20" bis 1" die Höhe der Ausschläge
der Unterschenkelstreckung an den Gurven einen
treppenartigen Anstieg zeigt, aber, nachdem ein Maxi¬
mum erreicht ist, wieder eine leichte Senkung erfährt.
Dieser Befund ist nur auf eine Summationswirkung
der aufeinander folgenden Sehnenperkussionen zu¬
rückzuführen. Wenn die Reizungen in kürzeren Inter¬
vallen aufeinander folgen, werden sie auf grössere
Rückstände der durch die vorangegangenen Reiz¬
ungen bedingten Erregungen im Centrum treffen und
infolge einer Summation ausgiebigere Reflexbeweg¬
ungen herbeiführen, als die in längeren Intervallen
erfolgenden Perkussionen. Diese als Summations¬
wirkung aufzufassende Erscheinung ist nur bei der
Annahme einer reflectorischen Natur des Sehnen¬
phänomens erklärlich, während sie mit der Theorie
der direkten Muskelreizung kaum in Einklang zu
bringen ist (Autoreferat.)
Dr. Weygand t- Würzburg: Verhalten des
Gehirns bei Situs viscerum transversus.
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Ein bei der Section eines in der Trunkenheit tot
zusammengestürzten Menschen festgestellter Fall von
Situs viscerum transversus lud mich zur genaueren
Untersuchung ein
1. wegen der Frage des Zusammenhangs der
körperlichen Abnormität mit psychischen und heredi¬
tären Verhältnissen, und
2. wegen der Frage, ob sich nicht auch im Cen¬
trainervensystem ein Ausdruck der Inversion finden
lässt.
Der Verstorbene war früher 3 /* Jahre in einer
psychiatrischen Anstalt, wo er im Wesentlichen das
Bild einer Katatonie dargeboten hatte. Doch schon
in der Jugend fiel er durch Trägheit, mangelhafte
Begabung und minderwerthigen Charakter auf. In
seiner Familie fand sich noch eine Reihe von Fällen
psychopathischer Minderwerthigkeit, ferner litt der
Vater an schwerem chronischen Alkoholismus; ein
Blutsverwandter zeichnet sich durch seine Umgebung
überragende Talente aus. Ein entfernter Verwandter
nun, der auch schon von früh auf psychopathische
Züge aufweist, hat dieselbe Anomalie eines Situs trans¬
versus, doch ist er rechtshändig, während unser Fall
linkshändig ist.
Im Gehirn lenkt sich das Interesse auf die moto¬
rische Sprachregion, insbesondere auf die Stirn Wind¬
ung und die Insel, deren Verletzung Leitungs-Aphasie
bedingt. Nach Rüdinger ist das Uebergewicht der
3. Stirnwindung und auch der Insel auf der linken
Seite wenigstens bei hochgebildeten, rechtshändigen
Personen deutlich. Die histologischen Untersuch¬
ungen von Käs, soweit sie die rechte und linke
Hemisphäre vergleichen, sprechen wenigstens für eine
im Ganzen reichere Faserentwicklung der linken
Inselgegend. Im Ganzen gehen die Autoren hin¬
sichtlich des mikroskopischen und auch makrosko¬
pischen Baues der Insel auseinander, offenbar auf
Grund weitreichender individueller Variation des Or¬
ganes.
In unserm Falle war der Windungstypus der 3.
Stirn windung rechts entschieden reicher, vor allem
aber überragte die rechte Insel bei weitem die linke.
Die Oberfläche des Insellappens betrug links 3,93 qcm,
rechts 5,61 qcm; an Windungen zeigte die rechte
Insel 4, die linke nur 2.
Die histologische Untersuchung ergab zunächst
eine hochgradige Zell Veränderung, vor allem Glia¬
wucherung, Ganglienzellkernschwellung, Homogenisir-
ung und vielfacher Schwund des Zellkörpers, häufig
auch das Bild der „Auffressung“ der Nervenzellen
durch die Glia, alles offenbar als Ausdruck der
schweren psychischen Erkrankung.
Ferner wurden zum Vergleiche der rechten und
linken Insel Messungen der Binde- und Markmassen,
sowie der verschiedenen Rindenschichten, ausserdem
auch Faser- und Zellzählungen vorgenommen.
Ein deutliches Ueberwiegen der einen oder andern
Seite ist jedoch nicht festzustellen, die stärkere Ent¬
wicklung der rechten Insel kommt vielmehr nur in
einer das ganze Organ vergrössemden und die Wind¬
ungszahl verdoppelnden Vermehrung der einzelnen
Elemente, nicht aber in einer Vergrösserung der ein-
Original from
HARVARD UNIVERSITY
74
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 7.
zelnen Theile oder einer Vermehrung der Elemente
in der Raumeinheit zum Ausdruck. Als wesentlichste
Resultate sind folgende hervorzuheben:
1. Situs transversus kommt familiär vor.
2. Situs transversus tritt vereint mit psychischer
Degeneration auf und stellt ein Stigma hereditatis dar.
3. Situs transversus spricht sich auch im Hirn
aus, bei Linkshändern wenigstens in einer reicheren
Entwicklung der Sprachregion auf der rechten Seite,
4. Linkshändigkeit ist als eine Folge von Situs
transversus partialis, nämlich der Inversion des Cen¬
tralnervensystems anzusehen. (Autoreferat)
Dr. Wanke-Friedrichsroda: Psychiatrie und
Pädagogik.
Nach einem Hinweis auf die zur Zeit noch be¬
stehende Unzulänglichkeit der Pädagogik in der Be¬
rücksichtigung der psychischen Individualität sowohl
wie der psychischen Abnormitäten schildert Vor¬
tragender an der Hand der Fragen: Was haben wir
zu thun oder zu unterlassen, um Geist und Gemüth
des heranwachsenden Menschen vor Schädigungen zu
bewahren? und: Wie viel muss Jeder, der im weiteren
Sinne anderen als Lehrer gegenübersteht, von Psycho¬
pathologie wissen, um bei seinen Schützlingen psy¬
chisch-abnorme Züge oder daraus sich ergebende
Handlungen so früh wie möglich als solche zu er¬
kennen und zu würdigen ? — zunächst eine Reihe
in der physiologischen Breite liegender Auffälligkeiten,
die sich im kindlichen und im jugendlichen Alter finden.
Es ist ebenso verkehrt, normale auffällige, aber
dem Kinde durchaus natürliche Züge für Unarten
und schlechte Gewohnheiten zu halten, wie es ver¬
kehrt und verhängissvoll ist, pathologische Züge falsch
zu deuten oder zu übersehen. — Nun folgt eine im
Rahmen des Vortrages sich haltende Schilderung der
psychopathologischen Züge, welche im praktischen
Leben von Eltern, Lehrern und militärischen Vorge¬
setzten oft verkannt oder übersehen werden, welches
beides zu unerquicklichen Consequenzen führen kann.
Vortragender kommt zu dem Schluss, dass kein Haus¬
arzt, kein Schularzt, kein Militärarzt im Stande sein
wird, das zu leisten, was verlangt werden muss: mög¬
lichst frühzeitige Erkennung der psychisch-abnormen
Züge, welche den eigentlichen psychischen Erkrank¬
ungen vorangehen oder dieselben einleiten. — Die
Erkennung derartiger Züge hängt aber ab von der
Möglichkeit einer dauernden Beobachtung. Diese
kann durch keinen Arzt geleistet werden, denn dem
Arzt fehlt Zeit und Müsse dazu. Daraus ergiebt sich
die Nothwendigkeit, bei Eltern, Lehrern, militärischen
Vorgesetzten und überhaupt bei allen denjenigen,
welche in ein pädagogisches Verhältniss zu anderen
treten, ein tieferes Verständnis für den veränderten
psychischen Mechanismus der Kranken und einen
ausreichenden Fond psychopathologischen Wissens
anzustreben, ausreichend, um eine richtige Deutung
psychisch-abnormer Züge oder daraus sich ergebender
Handlungen zu ermöglichen und dadurch die etwa
nothwendige Beobachtung und Behandlung durch
den Fachmann anzubahnen. — Es hat bisher keines¬
wegs an Bestrebungen in dieser Richtung gefehlt,
aber die bisherigen Maassnahmen genügen nicht, wie
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der Erfolg beweist. Wir haben uns also nach an¬
dern Mitteln und Wegen umzusehen. Aufgabe des
Vortrages war es, die angeregte Frage in Fluss zu
bringen, damit sie recht bald zu einem befriedigenden
Ende geführt werden möge, zu Nutz und Frommen
der Bedauemswerthen unter unseren Mitmenschen.
(Autoreferat).
Raecke: Hysterisches Irresein:
Auf der vorletzten Versammlung Süd westdeutscher
Irrenärzte ist von Hess in einem Vortrage über Hy¬
sterisches Irresein die Behauptung aufgestellt worden,
dasselbe sei eine sehr seltene Krankheit und finde
sich nur in o, 1 —0,3 % der Aufnahmen. Hess selbst
hatte es unter Männern nur bei einem Traumatiker
gesehen. In der anschliessenden Diskussion erhob
sich kein Widerspruch, obgleich die geschilderten
Verhältnisse höchstens auf Pflegeanstalten zutreffen,
während in Kliniken und Stadtasylen die Ziffern weit
höhere sind. In der Frankfurter Irrenanstalt bei¬
spielsweise schwankte die Häufigkeit hysterischer Er¬
krankungen während der letzten 6 Jahre stets zwischen
4 und 6%.
Allein es ist nicht zu verkennen, dass die Reak¬
tion auf eine früher übertriebene Ausdehnung des
Begriffes „hysterisch“ dazu geführt hat, heute dem
hysterischen Irresein fast überhaupt die Anerkennung
zu versagen. Nissl’s bekannte Forderung, auch den
Ganserschen Symptomenkomplex als Ausfluss des
katatonischen Negativismus zu betrachten, ist zwar
ziemlich allgemein auf Widerspruch gestossen, und
sogar Kraepelin erkennt die hysterische Natur des¬
selben in der neuesten Auflage seines Lehrbuches an.
Im Uebrigen enthält jedoch sein Kapitel über hyste¬
risches Irresein lediglich eine Schilderung des hyste¬
rischen Charakters und der einfachen Dämmerzu¬
stände, sowie die kurze Angabe, dass auf dem Boden
der hysterischen Veranlagung erwachsene andersartige
Psychosen hysterische Züge annehmen können.
Die alte Lehre von einer Hystero - Melancholie und
hysterischen Paranoia wird keines Wortes gewürdigt.
Auch Binswanger widmet in seiner umfassenden
Hysterie-Bearbeitung von 946 Druckseiten nur 4 Seiten
dem Kapitel „hysterische Psychosen“, um zu er¬
wähnen, dass degenerative Veranlagung bei Hysterie die
Tendenz zur Entwicklung maniakalischer, melan¬
cholischer, hypochondrischer und paranoischer Psycho¬
sen gebe, und dass manche hysterischen Zustände
nur die Vorläufer jugendlicher Verblödungsprocesse
bedeuteten.
Bei dieser Sachlage erscheint es nicht unzeitge-
mäss, die Frage nach Begriff und Krankheitsbild des
hysterischen Irreseins neuerdings zur Sprache zu
bringen, wobei ich meinen Ausführungen 168 Kranken¬
geschichten der Frankfurter Anstalt und Kieler Ner-
venklinik zu Grunde legen kann, für deren gütige
Ueberlassung ich den Herren Direktor Sioli und Prof.
Siemerling zu Dank verpflichtet bin. Die Diagnose
Hysterie stützte sich überall auf Vorgeschichte, Krank¬
heitsverlauf und Ausgang, soweit natürlich von Letz¬
terem bei Krankengeschichten aus den letzten 6 Jahren
die Rede seii\ kann. Alle Psychosen, die mehr zu¬
fällige Komplikationen darstellten, sind ausgeschaltet,
Original fr&m
HARVARD UNlVERStTY
i9°4-]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
75
ebenso Seelenstörungen mit hysteriformen Erschein¬
ungen und Übergang in Verblödung.
Ohne erst lange durch Schilderung des sogenann¬
ten hysterischen Charakters aufzuhalten, den ich
übrigens mit Cramer, Wollenberg und Binswanger
nicht als spezifisch für Hysterie ansehe, muss ich
von einem kurzen Überblick über die einfacheren
transitorischen Bewusstseinsstörungen und psycho¬
tischen Elementarsymptome der Hysterie ausgehen,
weil ihre Kenntniss gewissermassen die Grundlage für
unsere weiteren Betrachtungen bildet.
Halluzinationen finden sich bei Hysterischen nicht
ganz selten auch ausserhalb der eingentlichen Be¬
wusstseinstrübungen, vor allem Nachts. Dieselben be¬
treffen besonders das Gesicht, sind meist schreck¬
hafter Natur, werden als Täuschungen erkannnt,
können aber heftige Angstzustände einleiten. Wie
Wemicke mit Recht hervorhebt, handelt es sich mit
Vorliebe um halluzinieren einer bestimmten Persön¬
lichkeit, gegen welche einseitiger Verfolgungswahn
besteht.
Paranoische Vorstellungen können überhaupt
jederzeit episodisch auftauchen, indem das Gefühl
ungerechter Zurücksetzung sich steigert bis zur krank¬
haften Eigenbeziehung. . Sehr bekannt ist namentlich
der hysterische Eifersuchtswahn, ferner erfahren hyste¬
rische Sensationen häufig hypochondrische Verar¬
beitung. Durch Pseudologia phantastica entstehen
passagere Grössenideen. Oder endlich es kommt zu
allerlei Zwangsvorstellungen von wahrhaftem Gepräge.
Wichtig sind überall bei der Hysterie die starken
Affektschwankungen, als deren höchste Grade sich
unterscheiden lassen der Raptus hystericus und der
Furor. Unter ersterer Bezeichnung wird ein mass-
loser Angstanfall verstanden, einerlei ob er von Sinnes¬
täuschungen und Illusionen begleitet ist, ob er zur
Bewusstseinstrübung führt oder volle Erinnerung
hinterlässt. Derselbe ist in der Regel ausgezeichnet
durch Oppressionsgefühl, Herzklopfen, triebartige Un¬
ruhe, und entsteht mit Vorliebe Nachts, vermag zu
Suiddversuchen zu führen oder zu Angriffen auf die
Umgebung. In leichteren Fällen kommt es nur zu
depressiver Verstimmung mit Hemmung, Kopfschmerz
Appetitlosigkeit, auch mit Neigung zu planlosen
Wanderungen.
Der Furor, als Ausfluss höchstgesteigerter hyste¬
rischer Reizbarkeit, geht einher mit sinnlosem Toben,
Zerstören, gewaltthätigen Angriffen auf die Umgebung,
zweckloser Selbstbeschädigung und endet bisweilen
mit tiefster Erschöpfung. Hervorgerufen wird er
durch Gemüthserregungen wie Ärger, oder er schliesst
sich an Krampfanfälle an. Auch Alkoholgenuss
wirkt auslösend. (Fortsetzung folgt.)
— Zum Erlass des Preussischen Justiz¬
ministers vom i. October i 902 betr. die Sach¬
verständigen im Entmündigungsverfahren.
Nach dem Beschlüsse der Jahresversammlung des
Deutschen Vereins für Psychiatrie 1903, in Jena, hatte
der Vorstand des Vereins sich an den Preussischen
Justizminister gewandt, um ihm die Gründe dar¬
zulegen, welche die deutschen Anstaltsärzte bewogen
haben, zu erklären,
Digitized by Google
dass die unbedingt nöthige Gewähr für die Bei¬
bringung eines zuverlässigen Beweismaterials für
den Beschluss auf Entmündigung geisteskranker
Anstaltsinsassen nur darin gesehen werden könne,
dass zur Abfassung der Gutachten die Anstalts¬
ärzte als Sachverständige hinzugezogen werden.
Der Justizminister antwortete darauf mit folgendem
Erlass (Berlin, den 10. März 1904. I, 1549):
„Die Annahme des Vorstandes, dass durch die
Allg. Verfügung vom 1. Oktober 1902 (J. M. Bl.
S. 246) die Gerichte angewiesen seien, den Gerichtsarzt
bezw. Kreisarzt bei Untersuchungen des Geisteszustandes
in Entmündigungssachen zuzuziehen, ist nicht zutreffend.
Nach § 404 der Civilprocessordnung und § 72 der
Strafprocessordnung steht vielmehr die Auswahl der
zuzuziehenden Sachverständigen dem Gerichte zu.
Schon aus diesem Grunde bin ich nicht in der
Lage, dem Schlussantrage der Eingabe zu ent¬
sprechen.
Der § 14 der Allg. Verf. vom 28. Novbr. 1899
(Just. M. Bl. S. 388), dessen Nummer 2 durch die
Allg. Verf. vom 1. October 1902 eine veränderte
Fassung erhalten hat, verfolgt nach seinem Wortlaute
nur den Zweck, den Gerichten die Beachtung gewisser
Punkte zu empfehlen, sie insbesondere auf die
Rechtslage hinzuweisen. Diese ist seit dem Gesetze,
betr. die Dienststellung des Kreisarztes pp. vom
16. September 1899 (Ges. Samml. S. 172) dahin
normirt, dass der Kreisarzt regelmässig Gerichtsarzt
und als solcher öffentlich bestellter Sachverständiger
ist. Dass sich diese seine Stellung auch auf die
Untersuchung von Gemüthszuständen beziehen soll,
ist in die Begründung des Entwurfes zu jenem Ge¬
setz ausdrücklich anerkannt worden (Drucksachen
des Abgeordnetenhauses No. 136—19, Legislatur¬
periode I, Session 1899, S. 25 in Verbindung mit
S. 10). Da nun andere Personen als öffentlich be¬
stellte Sachverständige nur dann zu Sachverständigen
gewählt werden sollen, wenn besondere Umstände
es erfordern, so entspricht die Allg. Verf. v. 1. Oct.
1902 nur der durch das Gesetz selbst, insbesondere
den § 9 für den Kreisarzt geschaffenen Rechtslage.
Uebrigens steht nichts im Wege, dass die Ge¬
richte in der besonderen Qualification des Leiters
einer öffentlichen Irrenanstalt oder in seiner Ver¬
trautheit mit dem Zustande des in der Anstalt unter¬
gebrachten Kranken einen „besonderen Umstand“
erblicken, der seine Zuziehung als Sachverständiger
erfordert. Doch steht dem Justizminister hinsichtlich
einer solchen Beschlussfassung eine directe Einwirkung
auf die Gerichte nicht zu. Der Justizminister.“
Im weiteren Verfolg der vorstehenden Er¬
wägungen hat nun der Justizminister an die
Preussischen Oberlandesgerichtspräsidenten und den
Kammergerichtspräsidenten den nachstehenden Erlass
gerichtet :
„Die Allg. Verf. vom 1. October 1902 (Just. M. Bl.
S. 246) ist vielfach dahin verstanden worden, dass
dadurch, unter Abänderung früherer Anordnungen,
die Zuziehung des Leiters oder eines Arztes der
Irrenanstalt, in der sich der zu Entmündigende befindet,
als Sachverständiger habe untersagt werden sollen.
Original from
HARVARD UNIVERSUM
76
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 7 .
Ganz abgesehen davon, dass eine solche Anordnung
im Verwaltungswege gar nicht getroffen werden
konnte, und dass die Allg. Verfügung die Gerichte
nur auf die aus dem Gesetze sich ergebende Rechts¬
lage aufmerksam machen sollte, wird bei jener Auf¬
fassung übersehen, dass nach dem in der Allg. Ver¬
fügung wiedergegebenen § 404 Abs. 2 der Civil-
processordnung der Leiter einer Anstalt dann zu¬
gezogen werden kann, wenn besondere Umstände es
erfordern.
Solche „besonderen Umstände“ werden bei den
Leitern und Aerzten solcher Anstalten häufig vor¬
liegen. Sie können sowohl in der besonderen
psychiatrischen Ausbildung, die namentlich bei
den öffentlichen Anstalten mit Rücksicht auf die
bei ihrer Auswahl geübte Sorgfalt vorauszusetzen ist,
als in der durch ihre Thätigkeit erlangten grossen
Erfahrung beruhen, vor allem aber darin bestehen,
dass die in Rede stehenden Aerzte bei der Be¬
handlung des Kranken viel eingehendere Wahr¬
nehmungen zu machen in der Lage sind, als ein
anderer nur auf Besuche beschränkter Sachver¬
ständiger.
Es wird sich empfehlen, die Amtsgerichte darauf
hinzuweisen, dass sie geeignetenfalls diese Erwägungen
bei der Auswahl der Sachverständigen in Betracht
ziehen. Zu diesem Zwecke sind . . . Druckexemplare
dieser Rundverfügung hier angeschlossen.
Berlin, den 21. März 1904. I, 1755.
Der Justizminister.
Hierdurch dürften nunmehr die berechtigten
Wünsche der Irrenanstaltsärzte ihre Erledigung ge¬
funden haben.
Siemens.
Personalnachrichten.
Dziekanka. Am 1. Mai ist der III. Assistenz¬
arzt Dr. Nolte ausgeschieden. Einberufen wurde
Dr. von Domarns gen. Dommer. —
t
Johannes Vorster.
Am 4. Mai d. J. starb zu Stefansfeld i. E. der Direktor der vereinigten Elsässischen Bezirks¬
irrenanstalten Stefansfeld-Hördt, Sanitätsrath Dr. Johannes Vorster, als Opfer einer Verletzung,
welche ihm 9 Tage zuvor ein geisteskranker Verbrecher beigebracht hatte. Bei der regelmässigen
Frühvisite hatte der Verstorbene sich auch die Zelle öffnen lassen, in welcher der Geisteskranke
U. sich befand. Kaum hatte er, mit diesem auf dem Korridor vor der offenen Thür stehend,
einige Worte gewechselt, als U. ihm mit einem versteckt gehaltenen dolchartigen Instrument so
schnell einen Stich in den Leib versetzte, dass die dicht daneben stehenden Personen, der Inspektor
und ein Wärter, nicht im Stande waren, es zu verhindern. Vorster hatte noch die Kraft, in die
nächste Abtheilung zu gehen, sich selbst einen Nothverband anzulegen und dann, begleitet von dem
Oberarzt, seine Wohnung aufzusuchen. Erst nach 5 Stunden gelang es, Professor Ledderhose und
den I. Assistenten der chirurgischen Klinik Dr. Zimmermann aus Strassburg herbeizuholen, welche
an dem der inneren Verblutung nahen Verletzten den Bauchschnitt ausführten und feststellten, dass
weder der Darm noch ein anderes Organ der Bauchhöhle verletzt, dagegen die Blutung ausser¬
ordentlich stark war.
Der Wundverlauf gestaltete sich befriedigend und das Allgemeinbefinden gab zu ernsteren
Besorgnissen keinen Anlass, bis am 7. Tage die Schwäche unerwartet zunahm und Erscheinungen
einer hypostatischen Veränderung der Lungen sich einstellten, in Folge deren nach weiteren 2 Tagen
der Tod erfolgte. —
Johannes Vorster war geboren am 13. März 1860 als Sohn eines Irrenarztes, des damaligen
Leibarztes des Herzogs von Anhalt-Bemburg, späteren Direktors der Westfälischen Provinzial¬
irrenanstalt zu Lengerich. Seine Studien alsolvierte er in Marburg und Berlin, war dann 3V2 Jahre
unter Rose I. Assistent an der chirurgischen Abtheilung von Bethanien in Berlin, darauf 2 1 /2 Jahre
unter Hasse in Königslutter und trat im Jahre 1890 als 2. Arzt an die Anstalt Stefansfeld über,
wo er seinem Direktor und späteren Schwiegervater Stark nach dessen Tode 1897 in der Direktion
folgte. Er hinterlässt eine tiefgebeugte Wittwe und 4 Kinder im Alter von 8 Jahren bis 4 Monat.
Eine nähere Würdigung des Verstorbenen in seiner amtlichen und wissenschaftlichen
Wirksamkeit behalten wir einem besonderen Nachrufe vor.
Für den redactionellen Theii verantwortlich: Oberarzt Dr. J. I3resier , Lublinits (Scheuen).
Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Hevnemann’sche Buchdrudcerei (Gebr. Wolff) in Halle a. S.
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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift.
Redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Lublinitz (Schlesien i.
Nr. 8.
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
1 Adresse : Marhnld Verla*. Hallesaale. Fernsprecher 2834.
21 . Mai.
1904 .
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhnld in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die jspaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermäßigung ein.
Zuschriften für die Redartion sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten.
Behandlung der Epilepsie ohne Brom.
(Aus der psychiatrischen Abtheilung des Comitats-Krankenhauses zu Bekes-Gyula.
Chefarzt Dr. Koloman Pandy).
Von Dr. Eugen Hahni , Assistenzarzt.
J m Jahre 1902 stellte ich mit meinem Collegen
Dr. Bagarus Versuche über die oligochlorose
Brombehandlung der Epilepsie nach Toulouse-Richet
an. Wir constatirten damals, dass bei künstlicher
Chlorentziehung aus dem Organismus die Wirkung
des Broms besser zur Geltung kommt, dass aber
diese intensivere Wirkung eine mehr oder weniger
schwerere Brom Vergiftung bedingt, und demnach thera¬
peutisch nicht nur nicht zu empfehlen ist, sondern
ausgesprochen gefährlich erscheint.
Seit jener Zeit wurden wir in unserer diesbezüg¬
lichen Ansicht von mehreren Seiten bestärkt.
Tamburini betonte auf dem zu Ancona im
Jahre 1901 abgehaltenen Congresse der italienischen
Irrenärzte, dass obengenanntes Verfahren nicht ganz
gefahrlos sei. Bei zweien seiner Kranken trat näm¬
lich ein stark confuses Irresein auf, welches nur nach
Verabreichung von Kochsalz aufhörte.
Ventra referirte auf demselben Congresse über
gastro-intestinale Störungen, welche in Folge des
genannten Verfahrens aufgetreten waren.
Bei vier Kranken Schnitzer’s zeigte sich eine
auffallend erhöhte Reizbarkeit.
Mandel erwähnt, dass von 30 Kranken Berze’s
21 reizbarer und unmuthig wurden, dass sie ihrer
gew’ohnten Beschäftigung nicht mehr nachgingen,
dass ihre Verwirrtheit häufiger auftrat und längere
Zeit dauerte, und dass endlich die allgemeine Unzu¬
friedenheit in der Abtheilung fortwährend zunahm.
Einige Kranke begannen auch zu abstiniren.
Nach Berze darf man nicht so weit gehen, die
Abnahme de/ Anfallsfrequenz als eine Besserung des
Zustandes der Kranken zu betrachten, während
andererseits nicht ausser Acht gelassen werden kann,
dass die Ernährung unverkennbar schwächer wird und
die psychopathologischen Symptome sich auffallend
verschlechtern.
Klinke bemerkt in dem „Centralblatt für Nerven¬
heilkunde“ (1902, November) in seinem Referate
über den Anconaer Congress, dass das Toulouse-
Richet’sche Verfahren nur Fiasko eintrug.
Chaslin bespricht im Jahrgange 1902 der
„Annales medico-psychologiques“ Pini’s Werk über
die Heilung der Epilepsie und hält-seine Meinung
über die Toulouse-Richet’sche Heilmethode für be¬
rechtigt, da Gioccardi und Bernardini bei
Weitem nicht im Stande waren, damit die ver¬
sprochenen günstigen Resultate zu erzielen. Mit
dieser ihrer Ansicht bestätigen sie die in unserer
ersten diesbezüglichen Arbeit ausgesprochene Ueber-
zeugung, dass den seit Galenus fortwährend sich
wiederholenden Täuschungen bezüglich der Therapie
der Epilepsie sich wiederum eine neue hinzugesellt hat.
Chaslin’s Worte characterisiren treffend die mit-
getheilten guten Erfolge: „Man kann, wenn man sich
nur ein wenig anstrengt, mit einem beliebigen der
sozusagen täglich erscheinenden neuen Arzneien
gegen Epilepsie leicht an’s Wunderbare grenzende
Resultate erzielen; die Zeit reducirt dann ein jedes
auf seinen wirklichen Werth“.
Gegenüber all* diesen Daten und Ansichten haben
die Anhänger der Toulouse-Richetschen Heilmethoden
noch durchaus nicht bewiesen, dass man auch bei
normaler Diät mit der vier- bis fünffachen Dosis
Brom nicht dieselben Resultate erzielen könnte —
(denn dies ist die toxicologische Wirkung der Brom¬
salze während der hypochlorosen Diät). Unsererseits
halten wir die oligochlore Bromtherapie mit mini¬
malen Dosen Brom und, so lange als es Mode ist,
auf suggestivem Wege, für verwerthbar, wie wir es schon
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Original frnm
HARVARD UNIVERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 8.
78
in unserer ersten Mitteilung betont haben; es ist
jedoch zu wünschen, dass der Arzt selbst über den
wirklichen Werth dieser Methode orientirt sei.
Im Laufe unserer Untersuchungen gelangten wir
zur folgenden Frage: Wenn solch’ eine unnatürliche
Steigerung der Bromtherapie, beziehungsweise der
pharmako-dynamischen Wirkung der Bromsalze nicht
motivirt ist, was für einen Werth hat eigentlich die
Bromtherapie ?
Um dies zu entscheiden, ohne jedoch das Befinden
und den Gedankengang des Kranken zu beeinflussen,
um aber auch durch plötzliche Bromentziehung keine
unangenehme Reaction hervoi zurufen, schwächten wir
die bis dahin gebrauchte io°/ 0 -ige Bromlösung wäh¬
rend einiger Monate ab, dadurch dass wir stufen¬
weise ein viertel Theil Brom durch Kochsalz ersetzten;
eine Zeit lang gaben wir dem an eine salzige Lösung
gewöhnten Kranken Kochsalzlösung, endlich stellten
wir auch diese ein.
Das Resultat unserer Untersuchungen ist in der
nachstehenden Tabelle enthalten.
Dieser Tabelle gemäss nahm die Zahl der An¬
fälle bei 14 von 23 Kranken ohne Brombehandlung
zu, bei 9 hingegen ab. Was die Zunahme anbelangt,
so w ? ar die Frequenz der Anfälle im I. Falle monat¬
lich durchschnittlich 7,4 mal grösser, im V. Falle 4,1
mal, im VII. 6 mal, im VIII. 0,4 mal, im IX. 2,8
mal, im XIII. 1,3 mal, im XVI. 4,1 mal, im XVII.
15,1 mal, im XVIII. 4 mal, im XIX 2,4 mal, im
XX. 12,6 mal, im XXI. 6,7 mal, im XXII. 4,7 mal,
im XXIII. 1,8 mal.
Eine wesentliche Aenderung war nur im XVII.
und XX. Falle zu constatiren, in welchen die An¬
fälle jeden zweiten Tag durchschnittlich um einen
Zunahmen; im XVII. Falle wechselte die Anzahl
der Anfälle trotz Brombehandlung monatlich zwischen
3 und 27, ohne Brom nahmen sie monatlich bei einer
Anzahl von 8 bis 59 zu, verdreifachten sich demnach
durchschnittlich; aber trotz der Brombehandlung gab
es Monate mit 27 Anfällen und bei demselben
Kranken weisen die ersten 8 Monate des Jahres 1003
ein günstigeres Resultat auf, da die Gesammtzahl der
Anfälle 157 gegen die 183 des Vorjahres ausmacht.
Bei unserem XX. Kranken verdreifachte sich die
Anzahl der Anfälle durchschnittlich, aber auch bei
diesem gab es in den ersten 8 Monaten des Jahres
1903 trotz des Aufhörens der Brombehandlung ein
um 39 Anfälle günstigeres Resultat. Eine ähnliche
Veränderung beobachteten w-ir auch beim I. Kranken,
bei welchem sich die Anfälle ohne Bromtherapie
günstiger gestalteten als im Jahre 1000; beim V.
Kranken sank in den ersten 8 Monaten dös Jahres
1903 die Anzahl der Anfälle auf in ; bei dem VII.
Kranken blieb sie ohne Bromtherapie grösser; das¬
selbe sahen wir beim VIII. Kranken, der IX. Kranke
hingegen weist ohne Bromtherapie ein besseres Re¬
sultat auf als im Jahre 1900, der XIII. bleibt mit
oder ohne Brom unverändert, der XVI. Kranke, bei
welchem im Jahre 1902 die Anfälle etwas häufiger
wurden, besserte sich in den ersten 8 Monaten
des Jahres 1903 ohne Brom in auffallender Weise;
beim XVIII. Kranken erzielten w’ir, obwohl die Zahl
der Anfälle ohne Bromtherapie zugenommen hatten,
auch ein spontan günstigeres Resultat; dem XIX.
Kranken ging es auch 1903 etw r as schlechter, beim
XXI. besserte sich der Monatsdurchschnitt im Ver¬
gleiche zum Jahre 1902, während der Zustand des
XXII. Kranken sich verschlimmerte und im Befinden
des XXIII. eine nur unwesentliche Veränderung zu
constatiren war.
Im Gegensatz zu den eben genannten Fällen
wurde die Anzahl der Anfälle während 8 Monaten
geringer: beim II. Kranken um 52, beim III. um 10,
beim VI. um 125, beim X. um 24, beim XI. um
12, beim XIV. um 14, beim XV. um 126; bei K.
M. T. hörten die Anfälle trotz Aussetzen der Brom¬
therapie gänzlich auf. Eine wesentliche Aenderung
kann eigentlich nur beim IV., IX. und XV. Kranken
constatirt werden, im Gegensatz zu jenen zwei Kranken
(XVII. und XX.), bei welchen eine Verschlimmerung,
beziehungsw’eise die Zunahme der Anfälle ganz er¬
heblich wurde.
Es steht jedoch ausser Zweifel, dass man eine
Aenderung im Zustande epileptischer Kranken nicht
aus der blossen Zu- oder Abnahme der Häufigkeit
der Anfälle zu beurtheilen im Stande ist, weil eben
die in Anstalten gepflegten Epileptiker gegen die An¬
fälle sofortige Hilfe finden, während ebendaselbst das
Betragen, die Reizbarkeit der Kranken und ihre
Verträglichkeit mit den Uebrigen, endlich auch ihre
Arbeitsfähigkeit höher anzuschlagen ist als die Schwank¬
ungen der Anfälle.
Was die Psyche der Kranken anbelangt, fanden
wir beim Aussetzen der Bromtherapie in keinem ein¬
zigen der Fälle irgend eine Verschlimmerung, wir
beobachteten sogar im III., IV., V., X., XI., XII.,
XIII., XIV., XVI, XVIII. und XXII. Falle eine aus¬
gesprochene Besserung. Die Kranken wurden ruhiger,
gefügiger, weniger reizbar, die prae- und postconvul-
siven Reizzustände wmrden seltener oder dauerten
kürzere Zeit und ein Theil dieser Kranken arbeitete
ständig. Besonders interessant ist jedoch unser IV.
Kranker, der bei Verabreichung von Brom monatlich
14 bis 15 Anfälle erlitt und bei welchem nach Aus-
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8 o PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 8.
setzen des Broms und nachdem er begonnen hatte,
sich systematisch zu beschäftigen, die Anfälle ganz
ausblieben und bis heute, also seit 18 Monaten, nicht
wiederkehrten.
Hier folgt die Krankengeschichte: K. M. B. f 22
Jahre alt, protestantisch, ledig, Landmann; drei Ge¬
schwister leben und sind gesund. In seiner Familie
kamen weder Geistes- noch Nervenkrankheiten vor.
Er besuchte die Schule und lernte gut Schreiben,
Lesen und Rechnen. Auch seine Eltern und Ge¬
schwister können lesen und schreiben. In seinem
elften Jahre schlug ihn sein Grossvater auf den Kopf,
seitdem bekam er in verschiedenen Intervallen An¬
fälle; er Hess sich von verschiedenen Aerzten be¬
handeln, ohne Erfolg, weshalb er in einer Stunde
grosser yerbitterung seinen Grossvater, den er als
einzige Ursache seiner Krankheit hält, mit einem
scharfgeschliffenen Messer ermordete. Anfangs leugnete
er Alles, aber der Verdacht richtete sich immer mehr
gegen ihn, so dass er geständig wurde. Zugleich gab
er an, seinen Grossvater deshalb getötet zu haben,
weil dieser ihn für sein ganzes Leben unglücklich
gemacht hatte; später zog er sein Geständniss zu¬
rück und modificirte es derart, dass er sich an nichts
erinnere und zugab, die That möglicherweise in epi¬
leptischem Zustande begangen zu haben. Die Be¬
obachtung seines Geisteszustandes wurde angeordnet
und der justizärztliche Senat erklärte ihn als gemein¬
gefährlichen Geisteskranken. Als solcher wurde er
am 14. Juni 1899 in der Lipotmezöer Landesirren¬
anstalt intemirt, wo er monatlich an Anfällen litt,
nach deren Verlauf er ein gestörtes, betäubtes Be¬
tragen zeigte. Am 15. November 1899 brachte man
ihn auf unsere Abtheilung, wo er Anfangs fortwährend
händelsüchtig und rauflustig war und sich mit Nie¬
manden vertragen konnte. Erst als wir ihn in der
Korbflechterei beschäftigten, besserte sich sein Zu¬
stand langsam und verlor seinen epileptischen Character.
Er wurde einer unserer ruhigsten und anständigsten
Arbeiter. Durch fortwährende Arbeit und Beschäf¬
tigung verminderte sich ohne Unterlass die Anzahl
der xAnfälle, bis diese endlich seit Mai des ver¬
gangenen Jahres ganz ausblieben, während der Kranke,
wie aus der Tabelle ersichtlich, früher monatlich 14
bis 15 Anfälle gehabt hatte. Da sein Zustand sich
derart besserte, da weiter die sehr intelligenten Eltern
des Kranken — ziemlich wohlhabende Bauersleute —
auch für den nicht ausschliessbaren Fall eines Rück¬
falles die Verantwortlichkeit übernahmen, übergaben
wir den Kranken seinem Vater, welcher um ihn ge¬
kommen w r ar. Vor einigen Wochen erhielten wir
vom Vater einen Brief, in welchem er uns mittheilt,
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sein Sohn fühle sich wohlauf, arbeite fleissig mit dem
Vater, es fehle ihm Gott sei Dank gar nichts.
In Anbetracht dieser Umstände und besonders
dessen, dass wir gerade in Anstalten einerseits durch
systematische Verabreichung von Brom die Anfälle
nur zu verringern, aber nicht zu coupiren im Stande
sind, andererseits wieder die Bromtherapie die Psyche
im Allgemeinen ungünstig beeinflusst, endlich auch
nach Aussetzen von Brom Besserung, ja sogar voll¬
kommene Heilung eintritt, — gelangten wir zurUeber-
zeugung, dass die Behandlung der Epilepsie mit Brom
in Anstalten nur propter diagnosiin nicht gerecht¬
fertigt, ja nicht einmal zw’eckmässig ist. Trotzdem
wonden auch wir die Bromtherapie von Zeit zu Zeit
an und zwar in Fällen, in welchen wir im Voraus
w'issen, dass unser Kranker mehrere Anfälle nach
einander haben wird oder wenn eine mehrere Tage
währende epileptische Erregung erfolgen wird. Aber
auch in diesem Falle sind wir nicht ausschliesslich
an Brom gebunden, sondern können gerade gegen
die Erregungszustände Hvoscin, Atropin, Chloralhydrat,
Morphium oder jedes beliebige, die Function des
Nervensystems herabsetzende, beruhigende Mittel ver¬
abreichen. In einzelnen dieser Fälle scheint das
Veronal ausgezeichnet zu wirken. Die Bromsalze
selbst verabreichen wir in grossen Dosen von 10 bis
12 g und vermindern die Dose stufemveise beim Nach¬
lassen des Erregungszustandes. Bei postepileptischem
Stupor oder epileptischer Atonie geben wir natürlich
kein Sedativum ein. Parallel mit der Arzneitherapie
oder an ihrer Stelle wendeten wir gerade bei Erre¬
gungszuständen warme Bäder, lauwarme Einpackungen
mit ausserordentlichem Erfolge an. Uebrigens be¬
trachten wir sowohl gegen Erregungszustände, als auch
gegen Krämpfe als bestes Heilmittel: Ordnung in der
Anstalt, Versetzung des Kranken in ein ihm passen¬
des Milieu und Beschäftigung.
Ich erachte noch als erwähnenswerth, dass Sidney-
Short schon im Jahre 1896 ähnliche Untersuchungen
angestellt hatte; bei seinen 43 Kranken sah er bei
Anwendung von Brom täglich durchschnittlich 14,37
Anfälle; als er Brom nur in den seltensten Fällen
verabreichte, stieg der Tagesdurchschnitt der Anfälle
auf nur 14,96 und als er mit allen Arzneien aus¬
setzte, war täglich bei geringer Fleischernährung 12.OQ
die durchschnittliche Zahl der Anfälle. Völker ver¬
ringerte im Jahre 1901 bei einer gewissen Anzahl
seiner Kranken die Verabreichung von Brom oder
hörte damit ganz auf, ohne dass in der Anzahl der
Anfälle oder im Zustande der Kranken eine wesent¬
liche Aenderung aufgetreten wäre. Auf dem schon
Original frnm
HARVARD UNIVERSITY
mo 4 .] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 81
ei wähnten Congresse zu Ancona betonte Angiolella*),
dass bei Epilepsie die Abnahme der Anfälle nicht
zugleich die Heilung der Krankheit bedeute. Auch
glaubt er, dass die Verblödung der in Instituten ge¬
pflegten Epileptiker wenigstens theilweise der Brom¬
therapie zuzuschreiben sei und dass all’ jene Arzneien,
welche die Functionsfähigkeit der Hirnrinde vermin¬
dern, unnütz und in der Praxis zu verwerfen seien.
Bei den nicht in Instituten verpflegten Epileptikern
werden sich in mancher Beziehung andere Desiderata
und andere therapeutische Interventionen geltend
machen; möglicherweise ist die Verminderung der
Anfälle für den Kranken wichtiger als die arzneiliche
Abstumpfung seines Seelenlebens oder seiner Asso¬
ciationen und in solchen Fällen mag wohl die wäh-
*) Herr Chefarzt Dr. PÄndy war so gütig, mir diese so¬
wie die übrigen Daten aus der Litteratur mitzutheilen.
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rend langer Zeit fortgesetzte Brointherapie augezeigt
sein; dies könnte man gerade bei cyklisch wieder¬
kehrenden Anfällen oder bei der so oft auftretenden
Aura so eintheilen, dass der Kranke je nach Noth-
wendigkcit steigende Dosen einnimmt, dazwischen
gar kein oder nur wenig Brom erhält oder eventuell
zwischen den Anfällen indifferente andersfarbige und
in anderer Form verordnete Meriiein einnimmt. Man
darf jedoch nicht vergessen, dass die tägliche Erfah¬
rung, sowie die diesbezügliche Litteratur auf Schritt
und Tritt bestätigt, dass man auch ohne Brom¬
therapie mit Hilfe einer im Interesse des
Kranken liebreich und verständnissvoll
angewendeten Suggestion in vielen Fällen
die Anzahl der Anfälle und deren Inten¬
sität vermindern kann.
Mittheilungen.
— Die XXIX. Wander-Versammlung der
sudwestdeutschen Neurologen und Irrenärzte
wird am 28. und 29. Mai in Baden-Baden im Blumen¬
saale des Conversationshauses abgehalten werden.
Die erste Sitzung findet Samstag, den 28. Mai, vor¬
mittags von 11 bis 1 Uhr statt. Etwaige Demon¬
strationen von Kranken sollen in dieser Sitzung statt¬
finden. In der zweiten Sitzung am gleichen Tage
nachmittags von 2 bis 5 V2 Uhr wird das Referat
erstatten Herr Prof. Dr. Gerhardt - Erlangen: Die
diagnostische und therapeutische Bedeutung der Lum¬
balpunktionen. Daran sollen sich die dazu gehörigen
Vorträge, sowie die zur Diskussion zu machenden
Bemerkungen anschliessen. Die dritte Sitzung findet
Sonntag, den 29. Mai, vormittags von 9 bis 12 Uhr
statt. Auf die zweite Sitzung folgt nachmittags 6 Uhr
ein gemeinsames Essen im Restaurant des Conver¬
sationshauses. Für die schon am Abend des 27. Mai
anwesendenTheilnehmer wird im „Krokodil“ von 8 Uhr
an ein Tisch reservirt sein. Die Unterzeichneten Ge¬
schäftsführer laden hiermit zum Besuche der Ver¬
sammlung ergebenst ein.
Folgende Vorträge sind angemeldet:
1. Dr. L. Laquer (Frankfurt a. M.): Ueber leichte
und recidivirende Formen von multipler Neuritis.
2. Prof. Axenfeld (Freiburg): Traumatische re-
flectorische Pupillenstarrc.
3. Prof. Wiedersheim (Freiburg): Anatomische
Demonstration.
4. Prof. Dr. F. Sehu 1 1 z e (Bonn): Neuropathologie
und innere Medizin.
5. Priv.-Doc. Dr. Gaupp (Heidelberg): Ueber den
psychiatrischen Begriff der Verstimmung.
6. Dr. Determann (St. Blasien): Zur Frühdiag¬
nose der Tabes dorsalis incipiens.
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7. Dr. Alzheimer (München): Ueber das Deliri¬
um alcoholicum febrile Magnan’s.
8. Dr. N on ne (Hamburg): Ueber Fälle von Symp¬
tom encomplex von Tumor cerebri mit Ausgang
in Heilung.
9. Prof. Kraepelin (München): Vergleichende
Psychiatrie.
10. Prof. Dinkler (Aachen): Beitrag zur Sympto¬
matologie und Anatomie der Apoplexia spinalis.
11. Dr. v. Hoffmann (Baden - Baden): Besserung
oder eventuelle Beseitigung des Thränenträufelns
bei Facialislähmung.
12. Dr. Gi er 1 ic h (Wiesbaden): Ueber periodische
Paranoia.
13. Prof. v. Monakow (Zürich): Die Stabkranzfasern
des unteren Scheitelläppchens und die sagittalen
Strahlungen des OccipitaHappens.
14. Priv.-Doc. Dr. Weygandt (Würzburg): Ueber
den Einfluss von Hunger und Schlaflosigkeit auf
die Hirnrinde.
15. Dr. Beyer (Litten weder-Freiburg): Zum allge¬
meinen Bauprogramm der Nervenheilstätten.
16. I)r Neu mann (Karlsruhe): Eine badische
Trinkerheilstätte.
17. Dr. L. R. Müller (Augsburg): Die Folgen der
Amputation der unteren Hälfte des Rücken¬
markes beim Hunde.
18. Priv.-Doc. Dr. Jam in (Erlangen): Ueber das
Verhalten der Bauchdeckenreflexe bei Erkrank¬
ungen der Abdominalorgane.
19. Prof. A seha f f en bu r g (Halle): Epilepsie und
Paranoia.
20. Dr. Bumke (Freiburg): Untersuchungen über
den galvanischen Lichtreflex.
2 1. Dr. Spielmever (Freiburg): Ueber eine epilep¬
tische Form der Grosshirn-Encephalitis.
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HARVARD UNIVERSITY
82 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 8*
22. Prof. S t a r ck (Heidelberg): Ueber Vorderhorn¬
erkrankungen nach Trauma.
23. Priv.-Doc. Dr. Rosenfeld (Strassburg): Ueber
das Cholin.
24. Dr. Stadel man n (Würzburg): Das Wesen der
Psychose.
25. Dr. To bl er (Heidelberg): Diagnostische und
therapeutische Beobachtungen über die Lumbal¬
punktion im Kindesalter.
26. Prof. E d i n g e r (Frankfurt) und Prof. G o 1 d -
mann (Freiburg): Zur hirnchirurgischen Tech¬
nik (mit Demonstration).
27. Priv.-Doc. Dr. Link (Freiburg): Ueber ein
bisher wenig beachtetes Muskelphänomen.
Um gefällige Verbreitung dieser Einladung wird
gebeten.
Eine Zeitdauer für die einzelnen Vorträge ist in
den Statuten nicht festgesetzt. Doch erscheint es
auf Grund der bisherigen Erfahrungen und mit Rück¬
sicht auf die grosse Zahl der diesmal angemeldeten
Vorträge wünschenswerth, dass die Herren Vortragenden
sich von vomeherein darauf einrichten, mit einer
Zeitdauer von 15 Minuten auszukommen.
Mai 1904.
Die Geschäftsführer:
A. H o c h e (Freiburg). F. Fischer (Pforzheim).
— Jahresversammlung des Deutschen Ver¬
eins für Psychiatrie zu Göttingen vom 25. bis 27.
April 1904. (Fortsetzung.)
Raecke: Hysterisches Irresein. (Fort¬
setzung des Referates von voriger Nummer.)
Endlich die läppisch-heitere Verstimmung, die
Moria, ist meist mit deliriösen Erscheinungen ver¬
knüpft, und wird daher besser nach den Dämmerzu¬
ständen abgehandelt.
Die Betrachtung der hysterischen Dämmerzustände
beginnt mit dem Wachträumen, jener eigenthümlichen
Zerstreutheit, in welcher der Hysteriker unbekümmert
um die Aussenwelt sich in Phantasiespielen ergeht.
Je selbständiger und sinnlich lebhafter sich hier die
Vorstellungen aufdrängen, das Blickfeld des Bewusst¬
seins ganz erfüllend, desto mehr nähert sich der
hypnoide Zustand dem echten Somnambulismus mit
seinen monotonen Vorstellungsreihen, dessen Abart,
der Noctambulismus, wieder in ähnlicher Weise sich
aus Traum Vorgängen des Schlafes entwickelt. Es
würde zu weit führen, hier auf die interessante Symp¬
tomatologie des Sonnambulismus einzugehen, auf
seine körperlichen Begleiterscheinungen, das mögliche
Auftreten von alternirendcm Bewusstsein. Daher sei
nur betont, dass der typische Gansersehe Symptomen-
komplex durch seine Verbindung von eigenthümlicher
Associationsbehinderung mit Sensibilitätsstörungen
der Haut den somnambulen Zuständen verwandt ist.
Ausserdem bestehen aber entsprechend der mehr
oder weniger vorhandenen Hemmung fliessende Über¬
gänge nach der Seite des Stupors.
Der hysterische Stupor, gewöhnlich als Lethargie
bezeichnet, ist wohl hervorgegangen zu denken aus
den ohnmachtsähnlichen Bewusstseinspausen, wie
sie mitunter fast apoplektiform auftreten. Nur
schematisch lässt sich eine schlaffe und eine tonisch-
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kataleptische Form des hysterischen Schlafes unter¬
scheiden. Der Eintritt ist bald langsam, bald plötz¬
lich. Die Dauer beträgt Minuten bis Tage. Bei
längerem Anhalten schieben sich freiere Intervalle
ein. Gleichzeitige halluzinatorische Vorgänge erzeugen
das Bild der Ekstase. Stufenweises Erwachen be¬
dingt ein dämmerhaftes Zwischenstadium mit echt
Ganser’schem Vorbeireden. Die erstmalige Ursache
des Stupors war in unseren Fällen oft Schreck.
Als typischste Bewusstseinsstörung der Hysteriker
gilt ihr specifisches Delirium, dessen hallucinatorische
und illusionäre Vorgänge sich um eine affektbetonte
Reminiscenz fügen, mag dieselbe nun ein eigenes
Erlebniss ausmachen oder infolge von Erzählung
resp. Lectüre die Phantasie lebhaft beschäftigt haben.
Vorherrschend ist wieder die ängstliche Färbung, in¬
dem unangenehme Situationen oft dramatisch durch¬
gekämpft w r erden. Seltener sind ekstatische, w’unsch-
erfüllende Delirien. Eine Sonderstellung nehmen die
deliranten Moriaformen ein mit grotesk - komischer
Färbung, übertriebenen Manieren und Verkehrtheiten,
kindisch albernem Negativismus und mehr absicht¬
lichem Vorbeireden ohne Hemmung, das vom Ganser-
schen Symptomenkomplex streng zu trennen ist.
Gelegentlich wähnen sich solche Kranke statt in die
Kindheit ins Alter versetzt, gebärden sich als 90-
jährige Greise, oder sie glauben sich in Thiere ver¬
wandelt. Bei Vorwiegen von Gehörstäuschungen und
einfacher Desorientirtheit spricht man auch von einer
hysterischen haJlucinatorischen Verwirrtheit. Die Ueber-
gänge sind fliessende.
Nach diesem etwas summarischen Ueberblick über
die einfachen Bewusstseinsstörungen der Hysteriker
wenden wir uns zu den sogenannten hysterischen
Psychosen. Um bei dem hier herrschenden Wider¬
streit der Anschauungen eine Richtschnur zu haben,
stellen wir vortheilhaft Binswanger’s Forderung vor¬
auf, dass eine Psychose nur dann als eine hysterische
mit Bestimmtheit zu bezeichnen ist, wenn sie aus
den eben besprochenen einfachen Krankheitselementen
unzweifelhaft hysterischer Natur direkt hervorgeht.
Jolly hat mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass
die an sich kurzdauernden hysterischen Dämmer¬
zustände durch kettenartiges Aneinanderreihen den
Charakter einer kontinuirlichcn Geistesstörung ge¬
winnen können, deren Gesammtdauer nach Monaten
oder Jahren zählt. Diese Lehre hat allgemeine An¬
erkennung gefunden, und wird neuerdings auch von
Kraepelin bestätigt. Sie enthält den Schlüssel zum
Verständniss der sogen, hysterischen Psychosen. Diese
sind nicht nur aus jenen einfachen Bewusstseinsstörungen
hervorgegangen, sondern direkt zusammengesetzt aus
Wachträumen, Halluzinationen, Dämmerzuständen,
Verstimmungen, Lethargien, Delirien in beliebiger
Anordnung mit unregelmässigen Intermissionen. Hieraus
erklärt sich das widerspruchsvoll wechselnde Krankheits¬
bild des hysterischen Irreseins, und die Unmöglich¬
keit, dasselbe restlos in die alten Schemata einzufügen.
Dennoch wäre es falsch, die alte Lehre von der
Hystero- Melancholie und der hysterischen Paranoia
gänzlich zu verwerfen. Denn die Erfahrung zeigt,
dass die im Einzelnen so mannigfachen Bilder des
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HARVARD UNiVERSfTY
IQ°4-]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT
hysterischen Irreseins ihrem gesammten Verlauf nach
in 2 grosse Gruppen zerfallen, in eine depressive und
eine paranoische Form.
Bei der depressiven Form geben gehäufte Anfälle
trauriger Verstimmung, raptusartige Erregungen mit
Suicidversuchen, schreckhafte Delirien, welche im
Krankheitsbilde überwiegen, die melancholische Grund¬
färbung, während interkurrente Krampferscheinungen,
paranoische Episoden, Furor- und Moria - Anfälle,
Dämmerzustände mit Vorbeireden, endlich die uner¬
warteten Intermissionen mit deutlichem Hervortreten
des hysterischen Temperamentes und der sogen. Stig¬
mata den proteusartigen Wandel bedingen. Solche
hysterischen Melancholieformen entstehen ziemlich
acut im Anschluss an Anstrengungen und Aufregungen,
besonders gern in Untersuchungshaft. Bei Trauma-
tikern herrschen hypochondrische Züge vor.
Mehr chronisch pflegt sich in der Regel die
paranoische Form zu entwickeln. Hier wird der
Inhalt von Wachträumen, nächtlichen Visionen und
Delirien gewöhnlich erst durch willkürliche Phantasie-
thätigkeit von Art der Pseudologia phantastica weiter
ausgesponnen und allmählich zu einem Wahnsystem
verknüpft, das aber nur vorübergehend den Hysteriker
wirklich beherrscht und infolge äusserer Einwirkung
spurlos verschwinden kann, um allerdings unerwartet
wieder aufzutauchen. Solche Exacerbationen werden
dann in der Regel von Dämmerzuständen eingeleitet.
Lethargische und dclirante Phasen sind stets möglich,
auch somnambule Episoden mit altemirendem Bewusst¬
sein. Charakteristisch ist oft die einseitige Richtung
des Verfolgungswahnes gegen eine bestimmte Person,
mit entsprechenden nächtlichen Sinnestäuschungen.
Verblödung oder Uebergang in die klassische Paranoia
sind nicht anzunehmen.
Vielleicht darf man noch einen 3. Verlaufstypus
unterscheiden, dercharaktcrisirt ist durch abwechselnde
Erregungen von Art des E'uror resp. der Moria und
Stuporanfälle. Diese Form entwickelt sich am liebsten
bei jugendlichen Imbecillen. Ihre Abgrenzung gegen die
während der Pubertät in einzelnen Schüben auftretenden
Verblödungsprocesse erscheint aber noch nicht ge¬
nügend gesichert.
Ueberhaupt kann die Diagnose des zusammenge¬
setzten hysterischen Irreseins erheblichen Schwierigkeiten
begegnen. Zunächst ist die Möglichkeit zufälliger
Komplikation zu beachten. E'erner tragen circuläres
Irresein und klimakterielle Melancholien sehr oft
einzelne hysteriformeZüge. Konvulsionen und Dämmer¬
zustände mit Sensibilitätsstörungen finden sich nicht
nur bei der Epilepsie, sondern gelegentlich auch bei
jugendlichen Verblödungspsychosen. E. Schultze hat
neuerdings auf die weitgehende Amnesie der Hysteriker
und ihre Gesichtsfeldeinschränkung hingewiesen. Es
wird zu prüfen sein, ob jene bei manisch-depressivem
Irresein, diese bei Dementia präcox fehlt. Bei Epi¬
leptikern findet sich, wie Schultze selbst zugiebt, Ge¬
sichtsfeldeinschränkung sicher.
Werthvoll bleibt stets Entstehung im Anschluss
an äussere Ursachen, Einfluss dieser auf Intermissionen
und Exacerbationen, bei Frauen zeitliches Zusammen-
fallen mit der Menstruation. Ferner kommt in Be¬
tracht die Oberflächlichkeit aller Erscheinungen. Ueber-
triebenes Markieren der Depression in theatralischen
Klagen bei erhaltener Genusssucht, aufdringliches Be¬
richten über Stimmen und Wahnideen ohne sichtbaren
Einfluss derselben auf das Handeln. Endlich tief¬
greifende Veränderung des ganzen Krankheitsbildes
durch suggestive Massnahmen, und geringe Beein¬
trächtigung von Schlaf und Appetit. Indessen sind
alle diese Momente einzeln nur mit grosser Vorsicht
zu verwerthen.
Gegenüber der Katatonie wäre vielleicht zu be¬
rücksichtigen das Bedürfniss nach Unterhaltung und
Beschäftigung, rege Neugier auch im Stupor, seine
Empfänglichkeit für humoristische Scenen, Sucht eine
Rolle zu spielen, Beherrschung der Umgebung durch
geschicktes Intriguiren.
Die Delirien und Halluzinationen Hysterischer be¬
treffen meist wirkliche Erlebnisse. Bei motorischer
Erregung handelt es sich eher um Gefühlsausbmch als
Beschäftigungsdrang. Stereotypien und Negativismus
sind neben den typischen Stigmata mehr sporadisch
eingestreut. Ihr gehäuftes Auftreten, zumal auch die
längere Dauer eines Stupors sind verdächtig für
katatonische Verblödungsprocesse. Plötzliches Ein¬
setzen des Stupors nach Aufregung, rascher Ablauf in
Stunden bis Tagen ohne baldiges Recidiv spricht für
Hysterie. Einen durchgreifenden Unterschied zwischen
beiden Stuporformen giebt es nicht!
Auch das von Ganser beschriebene Vorbeireden
stellt kein specifisches Elementarsymptom der Hysterie
dar, sondern eine bei den verschiedensten Bewusstseins¬
störungen mögliche Associationsbehinderung, die
allerdings in typischer Form bei Hysterikern am
häufigsten zu beobachten ist.
Die Prognose des zusammengesetzten hysterischen
Irreseins ist im einzelnen Falle ganz unberechenbar.
Noch nach Jahren können alle psychotischen Symp¬
tome verschwinden, doch bleibt die Gefahr eines
Recidives stets zu befürchten. Irn Allgemeinen kann
man vielleicht sagen, dass die mehr akut einsetzenden
depressiven Fälle häufiger zu raschem Ablauf neigen
als die chronisch verlaufenden paranoiden.
Wo ausgesprochene Verblödung eintritt, handelt
es sich wohl stets um eine Complication mit
Katatonie.
Im übrigen ist aber das Verhältniss zwischen
hysterischem Irresein und Katatonie noch nicht ge¬
nügend geklärt und bedarf dringend weiterer Be¬
arbeitung. (Autoreferat.)
Henneberg: Ueber das Ganser’sche
Sympto m.
Die Ausführungen des Vortragenden gründen sich
auf ca. 25 in der Charite gemachte Beobachtungen.
Es ist zu unterscheiden zwischen Ganser’schem
Symptom und Ganser’schem Symptomencomplex oder
Dämmerzustand.
Als Ganser’sches Symptom sind auf einfache
Fragen gegebene falsche Antworten zu bezeichnen,
die eine nahe Beziehung zur richtigen Antwort er¬
kennen lassen. Zu unterscheiden sind hiervon die
paralogischen Antworten der Katatonischen, die keine
oder nur sehr entfernte Beziehungen zur Frage-
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Original fr&m
HARVARD UNIVERSITY
84 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 8
Stellung aufweisen. Das Ganscr x ho Symptom kommt
vor andeutungsweise bei hysterischen und hypochon¬
drischen Unfallskranken, ferner unmittelbar im Anschluss
an gewöhnliche hysterische Krampfan falle und in
posthypnotischen Zuständen. Acut verlaufende Fälle
von dem Typus, den Ganser geschildert hat, wurden
nur selten in der Charite beobachtet. Das Vorliegen
des Ganser’schen Symptoms beweist keineswegs das
Bestehen eines Dämmerzustandes In den meisten
Fällen, in denen das Ganser’sche Symptom vorlag,
handelte es sich um protrahirt verlaufende hysterische
Psychosen bei criminellen Individuen. Es lassen sich
unterscheiden Fälle, in denen eine manische Exaltation,
ein stuporöser und ein deliröser, beziehungsweise
paranoischer Zustand vorwiegt. Von hysterischen
Erscheinungen bestanden neben Krampfanfällen be¬
sonders Analgesien und Sprachstörungen (Stammeln,
Agrammatismus). Trotz mancher katatonischen Züge
wurden die Fälle dem hysterischen Irresein zu¬
gerechnet, da der Krankheitsverlauf in sehr deutlicher
Abhängigkeit von der Situation des Kranken stand,
weitgehende Remissionen nach Erledigung des ge¬
richtlichen Verfahrens eintraten und eine Verblödung
nicht nachweisbar war. In einem Falle handelte es
sich um einen sehr protrahirten, recidivirenden
Dämmerzustand.
In Fällen von typischer Katatonie kommen Ant¬
worten im Sinne des Ganser’schen Symptoms ver¬
einzelt nicht selten vor, ein andauerndes Daneben¬
reden ist selten, kommt aber auch in Fällen vor,
die von hysterischen Zügen völlig frei sind. Ein be¬
sonders schnelles Antworten liegt in solchen Fällen
durchaus nicht immer vor. Das Gansersche Symptom
kommt ca. 5 mal so oft in criminellen als in nicht
criminellen Fällen vor. Der Wunsch krank zu er¬
scheinen, ist bei den hysterischen Kranken bald mehr
bald weniger bei dem Zustandekommen des Symptoms
wirksam. Die Kranken empfinden eine Denk¬
erschwerung und lassen sich in dieser Richtung völlig
gehen, auf dem Wege der Suggestion (durch die
Art der Fragestellung) und Autosuggestion verstärkt
und befestigt sich das Symptom. In anderen Fällen
kommt das Symptom als Folge einer abnormen
Aflfectwirkung (bei Imbecillität) zu Stande, bei
Dementen und auch sonst als Reaction auf die
Fragestellung und als Simulationsversuch.
Eine besondere diagnostische Bedeutung kommt
dem Ganserschen Symptom nicht zu. In criminellen
Fällen ist ein häufiges Fragen nach ganz einfachen
Dingen nicht empfehlenswert!!, weil die betreffenden
Personen dadurch zur Simulation oder Aggravation
verleitet werden, oder eine schädliche Suggestion
ausgeübt wird.
Discussion zu dem Vortrag von F ii r s t n e r: Nerven-
pathologie und Psychiatrie (siehe vorige Nr.).
In der Discussion äussert sich H oche-Freiburg
im zustimmenden Sinne. Eine rein psychiatrische
Klinik giebt dem Studierenden ein falsches Bild der
psychischen Erkrankungen, die ihn in der Praxis er¬
warten. Die Kranken sind eher bereit, sich in eine
Nervenklinik aufnehmen zu lassen. Endlich ist es
für den betreffenden klinischen Lehrer von grossem
Werth, nicht einseitig auf die Beschäftigung mit
Psychosen angewiesen zu sein.
Sommer-Giessen bemerkt, dass auch an der
psychiatrischen Klinik Giessen die Aufnahme v<»n
Nervenkranken möglich ist, ebenso wie dort eine Pt »li-
klinik für „psychisch-nervöse“ Kranke besteht. Das
Studium der Grenzfälle zwischen Psychosen und
Nervenkrankheiten ist von besonderm Werthe auch
für die experimentell-psychologische Forschung, da
hier eine Reihe von psycho-motorisehen Störungen
vorhanden und den exacten Beobachtungen zugänglich
sind.
Anton-Graz: Die Neuropathologie ist von der
Psychiatrie schon deshalb nicht trennbar, weil die
Herderkrankungen des Gehirns geradezu ein Fun¬
dament für die Beurtheilung von allgemeinen Psychosen
abgeben.
Bruns- Hannover möchte den Zusammenhang
zwischen Neuropathologie schon in Rücksicht auf
den ärztlichen Nachwuchs aufrecht erhalten. Für die
sog. Nervenärzte ist eine gleichmässige Ausbildung
auf beiden Gebieten dringend erforderlich.
Wey gand t-Würzburg betont die Bedeutung der
Polikliniken. Auch in Würzburg sei eine Poliklinik
für „Psychisch - Nervöse“ eingerichtet. Ein weiteres,
von der Psychiatrie noch wenig bebautes Gebiet sei
das Studium und die praktische Behandlung der
Idiotie. Auch Weygandt betont die Bedeutung
der experimentell-psychologischen Studien.
(Fortsetzung folgt.)
Personalnachrichten.
— Der zweite Arzt an der Irrenanstalt in Frankfurt
a. M., früher Privatdozent an der Kieler Universität,
Dr. J. Ra ecke, ist als Oberarzt an die psychiatrische
und Nervenklinik der Kieler Universität berufen
worden.
— Aus Russland. In Moskau starben in
kurzer Zeit zwei der ältesten Psychiater, die Ober¬
ärzte der Stadtirrenanstalten, Dr. W. Butzke und
J. Konstantin owsky.
In Kiew’ ist Priv.-Doc. Dr. Labinsky zum
a. o. Professor der Psychiatrie und Nervenkrankheiten
ernannt worden an Stelle des Prof. Ssikorsky.
Vom Anfänge d. J. erscheint in St. Petersburg
unter der Redaction der Professoren W. v. Bechterew
und W. Ssereb reniko w eine neue „Zeitschrift
für Psychologie, Criminal-Anthropologie und Hyp¬
notismus.“
In Russland erscheinen jetzt 6 Zeitschriften für
Psychiatrie, Neurologie und verwandte Disciplinen:
3 in St. Petersburg und je 1 in Moskau, Kazan
und Kiew'.
Kür den redactionellen TI i eil verantwortlich: Oberarzt Dr. J . Br es i er , Dublinitz (Sch esienl.
Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inseratcnannahmc 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Hevnemann’sche Buchdruckerei (Gebr. Woiff) in Halle a. S.
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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift.
Redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Lublinitz (Schlesien .
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr. - Adresse : Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834.
Nr. 9.
28. Mai.
1904.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Mar hold in Halle a.
Inserate werden für die jspaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung <
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten.
S. entgegen,
ein.
Johannes Vorster f.
|~^\er Tod hat in den letzten Jahren reiche Ernte
unter den Psychiatern gehalten! Das Ende keines
unserer Fachgenossen ist unter so tragischen Um¬
ständen erfolgt, wie das von Johannes Vorster.
Es ist zu allgemein bekannt, wie der traurige Vor¬
fall sich abgespielt hat, als dass hier eine Schilder¬
ung noch am Platze wäre. Der Thäter war ein seit
Jahren in Stephansfeld unter¬
gebrachter Gewaltthatsver-
brecher, ein Paranoiker, der
mit verhältnissmässig gut er¬
haltener Intelligenz grosse
manuelle Geschicklichkeit ver¬
band. Stephansfeld besitzt
keine besonderen Einrich¬
tungen für geisteskranke Ver¬
brecher , sodass der Kranke
sich im allgemeinen ungehin¬
dert unter den übrigen be¬
wegen und sich gefährliche
Werkzeuge herstellen konnte.
Es widersprach dem humanen
und mit voller Ueberzeugung
an der Nothwendigkeit gleich¬
artiger Behandlung der
Kranken festhaltenden Sinne
Vorsters, mit Zwangsmaass¬
regeln einzuschreiten, obwohl
der Thäter ihn mehrfach be¬
droht hatte. Als ein Opfer
dieser idealen Anschauung ist er gefallen.
Neun Tage währte sein Krankenlager. Die durch
zwei hervorragende Strassburger Chirurgen vorge-
noramene Laparotomie ergab nur das Resultat, dass
aus in der Tiefe gelegenen Gefässen eine enorme
Blutung stattgefunden hatte, die bei der Operation
schon stand. Darm und parenchymatöse Organe
waren nicht verletzt. Mit jedem Tag schien die
Aussicht besser zu werden; die Darmpassage war
durchgängig, bedenkliche Temperatursteigerungen
traten nicht auf. Da, wenige Stunden nach Ent¬
fernung der Tampons, als wir schon über die Ge¬
fahr hinaus zu sein glaubten, stellten sich kollaps¬
artige Erscheinungen ein, die am Morgen des 4. Mai
zum Tode führten.
Vorster war bis wenige Minuten vor dem Ende
bei klarem Bewusstsein; in Erwartung des Kommen¬
den verabschiedete er sich
ruhigen Geistes von seiner
Familie und seinen Beamten.
Die ungeheure Theilnahme,
die nicht nur aus Kol legen-
und Bekanntenkreisen dem
Verstorbenen gezollt wurde,
nicht nur von genesenen Pa¬
tienten und deren Familien,
sondern im ganzen Reichs¬
land ihren Widerhall fand,
kam zu ergreifendem Aus¬
druck in der vom Bezirk ver¬
anstalteten Trauerfeier.
Möge es dem Unterzeich¬
neten, der 7 Jahre das Ghick
hatte, unter der Leitung des
nun Verstorbenen zu arbeiten
und von ihm Schritt für Schritt
in die Psychiatrie eingeführt
zu werden, gestattet sein, einige
bescheidene Worte über seinen
Lebensgang zu schreiben.
Vorster w urdo im Jahre 1860 zu Hoym in
Anhalt geboren, wo sein Vater Leibarzt des Herzogs
war. 1864 siedelte die Familie nach Lengerich über;
dort, in der von seinem Vater geleiteten Irrenanstalt,
wuchs Vorster auf. Nach vollendetem Studium —
besonders gern gedachte er stets der in Marburg
verlebten Zeit — war er zunächst 3 V2 Jahre Assi¬
stent bei Rose in Bethanien. Die dort erworbene
Gewandtheit und Freude am Operiren hat auch ihn
später nicht verlassen. Er war während seiner An-
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HARVARD UNIVERSITY
86 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 9
staltsthätigkeit ein eifriger Operateur und hat manchen
grösseren Eingriff noch als Direktor mit bestem Er¬
folge ausgeführt. 1888 trat er als Assistenzarzt in
Königslutter ein und wurde von dort am 1. Mai
1890 als Oberarzt nach Stephansfeld berufen. 1897
wurde er als Nachfolger Starks Direktor der Anstalt.
Die grosse Last, die die Verwaltung der 1500 Kranke be¬
herbergenden Anstalten Stephansfeld und Hördt ihm
auferlegte, hinderte ihn nicht, sich auch eingehend mit
der ärztlichen Behandlung seiner Kranken, von denen
ihm keiner zu gering war, zu befassen. Die An¬
hänglichkeit, die sie ihm während seiner Thätigkeit,
während seines schweren Krankenlagers, bei seinem
Tode erwiesen und noch jetzt erweisen, ist eine
wohlberechtigte.
Die Anstalt hat unter seiner Leitung manche Ver¬
änderungen ihres äusseren Aussehens erfahren. Die
wichtigste war die Erbauung zweier für freie Behand¬
lung bestimmter offener Villen. Ihr Bauplan und
die Art ihrer Benutzung sind sein ureigenstes Werk
gewiesen. Mit ihrem schmucken Aussehen sind sie
eine Zierde Stephansfclds und viele Kranke sind auf
dem Wege über diese Rekonvalescentenabtheilungen
in ihre Familien zurückgekehrt. Die ärztliche Be¬
handlung in den Villen, von denen die eine dicht
neben seiner Wohnung erbaut ist, lag ihm stets be¬
sonders am Herzen. Die Vollendung eines anderen
Planes hat er nicht mehr erlebt. Eine offene Villa
zur Behandlung Frischerkrankter, mit allen modernen
Einrichtungen versehen, steht im Rohbau fertig. Auch
dieser Bau ist Vorsters eigenstes Werk.
In der Anstalt Hördt wurden auf seine Veran¬
lassung zwei Lazaiettbaracken errichtet.
Der ehrenvolle Auftrag, den Bauplan für die
neue Irrenanstalt in Rufach mit festzustellen, hat ihn
noch vor kurzem in eine Reihe moderner Anstalten
geführt. Mitten aus den Arbeiten hierzu ist er fort¬
gerissen w’orden.
Bei all diesen praktischen Arbeiten liess Vorster
auch die Wissenschaft nicht zu kurz kommen, der
er auf vielen Gebieten gedient hat. Als Oberarzt
beschäftigte er sich hauptsächlich mit pathologischen und
anatomischen Studien. Audi später bewahrte er
der Anatomie sein Interesse, wenn er auch nicht
mehr die Zeit hatte, ausübend thätig zu sein. Seine
Hauptarbeit widmete er vielmehr dem eingehenden
Studium und dem Ausbau der Kraepclinschen Lehre,
deren überzeugter Anhänger er war. Seine beiden
letzten grösseren Veröffentlichungen beschäftigen sich
mit klinischen Fragen; auch seine Aerzte wusste er dafür
zu interessiren. Ein grosses, im Lauf der Jahre syste¬
matisch gesammeltes Einzelmaterial hat er hinterlassen-
Schliesslich war Vorster auch ein eifriger Streiter
im Kampf gegen den Alkohol. Selbst mit seiner
Familie abstinent — nicht aus persönlichen Gründen,
sondern um den Kranken und deren Angehörigen
ein Beispiel zu geben —, hat er auch durch Vorträge
in den Vereinen des Landes für die Sache geworben.
Noch wenige Tage vor der tödtlichen Verletzung er¬
klärte er uns, dass er abstinent bleiben w’erde, so¬
lange die Leitung des Schicksals zahlreicher durch
den Alkohol gefährdeter Kranker ihm anvertraut sei.
Mehr als alles andere beleuchtet diese Aeusserung
die Gewissenhaftigkeit, mit der er seinen Beruf auf¬
fasste.
Unter den Schülern Vorsters dürfte nicht einer
sein, der seiner nicht mit Dank und Trauer gedächte;
besonders seine streng unparteiische Gerechtigkeit und
seine vornehme Gesinnung sichern ihm bei allen ein
dauerndes Andenken. Auch sonst war Vorster durch
die vielen Vorzüge seines Characters allbeliebt. Er
war eine anspruchslose Natur, wie sie heute selten
sind. Kein Freund grosser Festlichkeiten, aber ein
fröhlicher Theilnehmer an den bescheidenen Ver¬
gnügungen der Anstaltsbeamten, suchte er seine Er¬
holung im Kreis der Familie und als Wanderer in
der Einsamkeit des Gebirges.
Vorster ist als ein Märtyrer der Idee gefallen.
Unter den Gedenktagen der Psychiatrie wird der
4. Mai 1904, unter den besten Namen unserer
Wissenschaft auch der seine stets genannt werden.
Von den Veröffentlichungen Vorsters seien nur
folgende genannt:
1. Ueber Dementia paralytica bei Eisenbahn-
Fahrbearaten (Dissertation 1887).
2. Ueber einen Fall von doppelseitiger Hemia¬
nopsie mit Seelenblindheit, Photopsien und Gesichts¬
täuschungen.
3. Ueber den H ämoglobingchalt und das speci-
fischc Gewicht des Blutes bei Geisteskranken.
4. Beitrag zur Kenntniss der optischen und tak¬
tilen Aphasie.
5. Ueber die Vererbung endogener Psychosen in
Beziehung zur Klassifikation.
6. Ueber hysterische Dämmerzustände und das
Vorbeireden.
7. Material zu § 1369 Bürgerl. Gesetzbuchs (Ehe¬
scheidung bei Geisteskrankheit). Diese Zeitschrift
Bd. III. Nr. 51.
R a n s o h o f f -Stephansfeld.
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IQ04-] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 87
Specialanstalten für geistig Minderwerthige.
Von Medicinalrath Dr. P. Näcke , Hubertusburg.
T^ürzlich habe ich in dieser Wochenschrift (vom
27. Febr. a. c.) mich bez. der Unterbringung
geisteskranker Verbrecher dahin ausgesprochen, dass
für uns die Frage: wohin mit ihnen ? in der Haupt¬
sache als gelöst zu betrachten ist. Die meisten Sach¬
kenner sind nämlich, bei uns wenigstens, der Ansicht,
dass die Adnexe an grösseren Strafanstalten zweck¬
mässiger erscheinen als Centralanstalten und sich, so¬
weit Erfahrungen vorliegen, gut bewährt haben *), ja
infolgedessen immer weitere Ausdehnung gewinnen,
somit für uns jeder Anlass wegfällt, es mit den sehr
problematischen Centralanstalten zu versuchen. Das
gilt zunächst für Deutschland, weiter aber sehr wahr¬
scheinlich auch für den übrigen Continent, wenngleich
ich hinzufügte, dass unter Umständen einmal eine
andere Unterbringungsart gewählt werden müsste.
Man darf eben auch hier kein Principienreiter sein.
Ebendort betonte ich aber weiter, dass der Ad¬
nex**), soll er seinen Zweck erfüllen, von besonderer
Beschaffenheit zu sein hat, vor allem keine blosse
Durchgangsstation sein soll, sondern alle Ele¬
mente, die gefährlich, depravirend oder sonstwie
•) Wenn Allison (Insanity in penal institution and its
relation to principles of penology. Albany Medical Annals,
dec. 1903) sagt: The general insane hospital in our opinion
is not just the place for insane convicts. Xeither is a wing
of the prison ütted up as a hospital-ward a proper receptacle.
Both plans have been tried and ncither proved satisfactory“,
so ist dies entschieden irrig. Adnexe bewährten sich gut. sehr
wahrscheinlich auch in Amerika, und andererseits stören auch
nicht die geisteskranken Verbrecher in den gewöhnlichen Irren¬
anstalten, wenn die paar wirklich störenden Elemente darunter
entfernt werden, wie ich und andere es zur Genüge dar¬
gelegt haben. Knecht (Ueber die Unterbringung geistes¬
kranker Verbrecher. „Der Zeitgeist“, Beiblatt zum „Berliner
Tageblatt“ vom 14. März 1904) meint, indem er vom geistes¬
kranken Gewohnheitsverbrecher spricht: „Sein Thätigkeitstrieb
aussert sich in unermüdlichen und durch die Erfahrung seiner
gesunden Tage begünstigten Versuchen, aus der Irrenanstalt
auszubrechen, die früher oder später von Erfolg begleitet zu
sein pflegen. Dass sie das sind, erklärt sich daraus, dass die
Ueberwachung geisteskranker Verbrecher in den öffentlichen
Irrenanstalten aus dem Rahmen der berufsmässigen Schulung
der Krankenpfleger herausfällt“. Letzteres ist richtig, sobald
die Ueberwachung mehr Sorge und Verantwortlichkeit erfordert,
als die der übrigen Geisteskranken. Das aber erstreckt sich
auf relativ nur sehr wenige und diese gehören dann eben nicht
in die Irrenanstalt. Bezgl. des ersten Satzes ist aber daran zu
erinnern, dass 1. Gewohnheitsverbrecher unter der Zahl der
irren Verbrecher die Minderzahl, und 2. unter jenen wieder
die komplottirenden und entweichungssüchtigen Elemente nicht
die Regel bilden.
**) Es ist wohl richtiger zu sagen: der Adnex (adnexus),
als das Adnex, wie man so häulig liest.
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störend sind, auch über die Strafzeit hinaus zu be¬
halten hat und zwar solange, bis diese unangenehmen
Eigenschaften geschwunden sind. Er muss daher
grösser gebaut werden, als bisher, etwa bis 150 Plätze
fassen und die Möglichkeit einer passenden Vertheil-
ung und*Beschäftigung der Kranken darbieten. Der
Leiter ist selbstverständlich ein gewiegter Psychiater
und steht ganz unabhängig da. Noch lassen sich
verschiedene Nebenfragen hier aufstellen, so vor allem
bez. der aufzunehmenden Kranken. Ich möchte zu
diesen auch diejenigen unter den verbrecherischen
Irren und unter den unbescholtenen Geisteskranken
gerechnet sehen, welche die oben bezeichneten stö¬
renden Eigenschaften gewisser irrer Verbrecher an
den Tag legen.*)
In Parenthese will ich beifügen, dass ich Knecht
(I. c.) durchaus darin beistimme: der Staat und nicht
die communale Selbstverwaltung habe für die geistes¬
kranken Verbrecher zu sorgen. Ich würde gleich¬
zeitig noch zusetzen: auch für die übrigen Kategorieen
von Kranken in den Adnexen etc. Dagegen scheint
mir die Gemeinde oder der Landarmenverband für
die Unterhaltungskosten aufkommen zu müssen, wenn
die Internirten oder etwa Zahlungspflichtige Ange¬
hörige nicht dafür eintreten können. Beide Punkte sind
jedoch zunächst rein juristische und gewiss nicht so
leicht zu beantworten, am wenigsten von einem Laien.
Meinen Aufsatz hatte ich damit gesc hlossen, dass ich
sagte, jetzt gälte es die Lösung eines anderen wichtigen
Problems, nachdem die Frage nach der Unterbringung
geisteskranker Verbrecher bei uns im Allgemeinen
als gelöst zu betrachten ist, nämlich das einer Special-
Anstalt für geistig Minderwerthige, die zwar schon
wiederholt von verschiedenster, auch juristischer Seite,
gefordert, aber meines Wissens noch nie bez. der
Details näher beleuchtet worden ist.
Schneller, als ich dachte, ist nun eine Art von
Lösung erfolgt, oder richtiger gesagt: ein Versuch
dazu, und zwar von französischer Seite. Colin **)
hat nämlich schon früher ein Projekt zur Unter¬
bringung von „alienes difficiles (vicieux)“ ausgearbeitet,
*) Ich freue mich, dass Allison sich ähnlich ausspricht,
nur statt Adnexe „Centralanstalten“ setzt.
**) Colin: Les alidnds difficiles (alienes vicieux). Revue
de psychiatrie etc., mars 1904. Das Projekt selbst legte er
nieder in: Conseil g6n6ral de la Seine. Commission mixte
chargtüe d’dtudier les questions interessant l’ospitalisation des
alidnes. „Les alienes vicieux dans les asiles d’alidn^s.“ Ra¬
port pr£sent£ par le Dr. Colin. 1899.
Original ffom
HARVARD UNfVERSITY
88
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 9.
das recht beachtlich erscheint. „Das sind (sagt er
in seiner vorliegenden Arbeit) Geisteskranke, Uebel-
thäter, Lasterhafte, Ausbeuter der Anstalten, welche
wir aus Euphemismus und mit Bezug auf ihren krank¬
haften Charakter: schwer zu behandelnde Geistes¬
kranke (alienes difficiles) nennen.“ Sie haben Ver¬
brechen begangen oder nicht, sind aber auf den
Stationen gewöhnlicher Irrenanstalten unerträglich.
Einestheils handelt es sich nach Verfasser’um Epi¬
leptiker, Hysteriker und gewisse moralisch Schwach¬
sinnige , w r elche zusammen in den Irrenanstalten
grosser Städte so häufig und der Schrecken ruhiger
Kranker und der Wärter sind; andrerseits um gewisse
„Parasiten, Recidivisten und Ausbeuter der Irren¬
anstalten“, wie Legrain sie nennt, meist Trinker.
Alle sind überaus faul, unteijochen und tyrannisiren
z. Th. ihre Umgebung und betrachten, wie Legrain
sagt, die Anstalt als Hotel, umsomehr, als so manche
darunter (in Paris wenigstens) freiwillig eintreten, um
der Noth oder der Strafe draussen zu entgehen.
Auch unter den geisteskranken Frauen giebt es solche
Personen, so z. B. unter den Huren und gewissen
Hereditariem mit verbrecherischen Neigungen. Colin
will die alienes vicieux aber nicht etwa mit den
alienes criminels verwechselt wissen. In beiden Fällen
handelt es sich freilich um Uebereinanderlagerung
verschiedener Zustände. Jene würden die Verbrecher¬
laufbahn ergriffen haben, wenn sie nicht geisteskrank
geworden wären; bei diesen, den Verbrechern, da¬
gegen fand eine Complication mit Psychose statt,
wie z. B. mit Pneumonie. Diese alienes difficiles ou
vicieux bilden nun für die Irrenanstalten des Seine-
Departements schon seit langem eine schwere Sorge*)
und da sie diese meist lästigen Gäste sehr bald zu
entfernen suchen, so begreift man, dass Letztere sehr
oft — in einem mitgetheilten Falle zum 56. Male!
— aufgenommen werden, die Anstalt hier also wirk¬
lich eine Art Gasthaus darstellt. Zu ihrer Unter¬
bringung sollte nun Colin einen Entwurf ausarbeiten,
da die Schaffung einer „section d’alienes vicieux dans
le departement de la Seine“ beschlossen war. Colin
wurde zugleich mit der Organisation „d’un Service
d’alienes difficiles ä l’asile de Villejuif“ betraut, um
später dirigirender Arzt dieser Sonderanstalt zu werden.
Ganz nahe an der Anstalt Villejuif bei Paris wurde
Boden angekauft und es sollen zunächst hier 2 Pavil¬
lons, jeder für 32 Männer, ausserdem einen für 44
Frauen und 2 kleinere zu 10 Kranken für Unruhige
beider Geschlechter errichtet werden. Die Pavillons
sind zerstreut und von einander durch Gitter getrennt.
*) In den Irrenanstalten der Seine wären mindestens ein¬
hundert Männer als malades vicieux zu entfernen (Rapport 1899).
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Sie besitzen ein Stockwerk. Die grossen Gebäude
haben 2 getrennte Abtheilungen mit getrennten Gärten.
Die Pavillons zu 32 Personen haben 12 Isolirräume.
Die ganz kleinen Gebäude zu 10 Personen, für die
besonders unruhigen und bösen Elemente bestimmt,
sind den grossen beigegeben und dienen auch zu
vorübergehendem Aufenthalte. Werkstätten und Ver¬
gnügungsräume sind vorgesehen. In den Werkstätten
arbeiten nur immer 2 in je einer Stube, die eines-
theils auf einen innern, geschlossenen Corridor aus¬
münden, andrerseits auf einen offenen, balkonartigen,
wo die Wache steht. Die Schlafzimmer sind nur
kleine. Die Kranken sind also in kleinere Gruppen
getheüt und in möglichst enge Wohn räume gebracht,
um Complotten zu begegnen. Deshalb will Colin
für diese Kranken auch nichts von einer Colonie
wissen. Die Kranken sollen arbeiten und zwar nur
in Werkstätten, aber nicht dazu gezwungen werden.
Der Arzt, der nicht viel Patienten unter sich hat,
soll sich auch namentlich genau um die Arbeitsver¬
hältnisse kümmern und die Tagesarbeiten selbst reguliren.
Ueber das Funktioniren der Anstalt lässt sich vor¬
läufig nichts sagen, da sie ja eben erst projectirt ist.*)
Betrachten wir nun zuerst die Kranken. Colin
macht, wie wir sahen, einen Unterschied zwischen
irren Verbrechern und den alienes difficiles ou vicieux.
Jene sollen anderweit untergebracht werden — die
Franzosen schwärmen meist für Centralanstalten, trotz¬
dem ihre jetzt bestehende zu Gailion durchaus keine
Musteranstalt sein soll —, diese dagegen in eine
andere Sonderanstalt. Alle sind aber, wie Colin
ausdrücklich bemerkt: alienes, doch figuriren darunter
sehr disparate Elemente, wie Epileptiker, Hysteriker
ferner „gewisse Kategorieen von moralisch Schwach¬
sinnigen“, und, wie Beispiele zeigen, auch gewöhn¬
liche Schwachsinnige.
Es scheint mir nun zweckmässiger, für grössere
Länder diese einzelnen Gruppen zu trennen. Vorab
wären Anstalten für Epileptiker, Schwachsinnige und
Trinker zu schaffen, weiter Sonderanstalten spedell
für geistig Minderwertige, die also nicht im strengen
Wortsinn geisteskrank sind, während die störenden
Elemente unter den verbrecherischen Irren und solche
unter den unbescholtenen in das Adnex der gefähr¬
lichen verbrecherischen Irren kämen. Für kleinere
Länder geht dies alles freilich nicht an und man
*) Wie mir Dr. Colin aus Villejuif vom 22. April a. c.
mittheilt, ist zunächst die Construction eines grossen Pavillons
beantragt worden. Das Bett eines Kranken wird auf ungefähr
6000 fr. zu stehen kommen. Die Sonderanstalt soll xu der
Irrenanstalt Villejuif gehören, aber im ärztlichen Dienste davon
unabhängig sein.
Original from
HARVARD UNIVERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
89
IQ04.J
müsste dann alle obigen Elemente, wie es Colin
will, zusammenfassen. Wo auch das noch zu theuer
wäre, könnte man am besten an einem Adnexe für
irre Verbrecher eine eigene Abtheilung für jene Kate-
gorieen bilden, wenigstens soweit sie gefährlich oder
irgendwie erheblich störend sind.
Wollen wir nun bloss die eigentlichen geistig
Minderwerthigen — nach Abzug jener anderen, so¬
weit sie nicht hierher gehören — für sich unter¬
bringen, so fragt es sich weiter: was darunter des
Näheren verstanden sein soll ? Zunächst sind es an¬
geborene Zustände, wie sehr viele der sog. „moralisch
Schwachsinnigen“. In meiner Monographie über die
sog. „moral insanity“ *) — welchen Namen ich mit
andern verwerfe —, rechne ich dazu folgende Zu¬
stände: 1. die leicht Imbecillen; 2. die mit ganz
leichten periodischen oder cyklischen Störungsanoraa-
lien Behafteten und 3. die degeneres superieurs
(Magnan). Bei allen 3 Unterabtheilungen muss der
moralische Defekt natürlich im Vordergründe stehen.
Auf alle Fälle sind die Intelligenzstörungen sehr ge¬
ringe, sonst würden die Fälle solche gewöhnlichen
Schwachsinns sein. Ob es wirklich Fälle von echter
„moral insanity“ giebt, d. h. also, wo nur moralische
Defekte bestehen, ist noch sehr zweifelhaft. Zu den
geistig Minderwerthigen kommen dann noch weitere
Kategorieen. Ausser der Klasse der „Entarteten“,
im Magnan’schen Sinne, soweit sie nicht zur sog.
# ) Näcke: Ueber die sog. „moral insanity“. Wiesbaden,
Bergmann, 1902. Grenzfragen des Nerven* und Geisteslebens,
XVin. Dort habe ich auch einiges Uber die Unterbringung
der hierhergehörigen Personen gesagt, noch mehr aber in einer
andern Monographie: „Die Unterbringung geisteskranker Ver¬
brecher“ (Halle, Marhold, 1902), ohne jedoch in Details ein¬
zugehen, wie im folgenden.
moral insanity gehören, wären noch viele Neurasthe¬
niker, Hysteriker und manche Quärulanten hierher
zu zählen, also Zustände, die man immer noch mehr
oder weniger als angeborene bezeichnen kann.
Zahlreich ist dann das Heer der erworbenen
Minderwerthigkeiten und hier vor allem die von Psy¬
chosen mit Defekt Geheilten, namentlich von den
verschiedenen Formen der Dementia praecox, welche
ein nicht geringes Contingent zu den Bettlern und
Vagabunden stellen und leicht ins Gefängniss ge-
rathen. Dazu kommen manche chronisch Nerven¬
kranke oder solche mit chronischen Körperleiden,
Sieche, gewisse Greise etc. Auch nach Kopfverletz¬
ungen, Gehirn - Apoplexieen, Meningitis, Insolation,
langem Tropenaufenthalt, nach Missbrauch von Mor¬
phium, Cocain etc. können ähnliche Zustände auf-
treten, mit oder ohne begleitende moralische Defekte.
Schwierig dagegen liegt die Frage bei den sexuellen
Perversitäten. Es handelt sich hier z. Th. um Psy¬
chosen mit solchen Anomalien im Gefolge, die ich s. Z.
eingehend studirt habe.*) Andererseits giebt es sehr
wahrscheinlich auch geistig Normale — natürlich in
der normalen Variationsbreite, die auch hier nicht
zu eng gesteckt sein darf — z. B. Sadisten, Exhi¬
bitionisten, Fetischisten, Homosexuelle.**) Das Gros
wird allerdings — am wenigsten noch vielleicht oder
sogar wahrscheinlich bei den Homosexuellen — zu
den geistigen Minderwerthigkeiten gehören, bei denen
also gleichzeitig Störungen auf den verschiedensten
Gebieten des Nervenlebens existiren.
*) Näcke: Die sexuellen Perversitäten in der Irrenanstalt.
Psychiatr. en Neurologische Bladen 1899, u. Wiener klinische
Rundschau 1899, Nr. 27 — 30.
**) Näcke: Probleme auf dem Gebiete der Homosexualität.
Allgem. Zeitschr. für Psych. etc. 1902, 59. Bd.
(Fortsetxung folgt.)
Mittheilungen.
— Programm der 73. ordentlichen General¬
versammlung des Psychiatrischen Vereins der
Rheinprovinz am 11. Juni 1904, Nachmittags 1V2
Uhr in Bonn im Hotel Kley.
1. Geschäftliche Mittheilungen, 2. Vorträge:
a) Förster-Bonn: a) Beitrag zur Pathologie des
Lesens und Schreibens bei Imbecillen. ß) Demon¬
strationen.
b) Brie-Grafenberg: Zur Kenntniss der Psychosen
nach Strangulationsversuch.
c) Beelitz- Tannenhof: Systematische Atropin¬
kuren bei periodischen Geistesstörungen.
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d) T i p p e 1 - Kaiserswerth : Demonstration der
Heissluftdouche nach Bier mit Bemerkungen über
die damit gemachten Erfahrungen.
e) Siebert -Bonn: Ueber die hypnotische Wirk¬
ung des Neuronal.
— Jahresversammlung des Deutschen Ver¬
eins für Psychiatrie zu Göttingen vom 25. bis 27.
April 1904. (Fortsetzung.)
Alzheimer-München weist auf die Nothwendig-
keit hin, die Aufnahme in die Kliniken zu erleichtern
und setzt die Gründe auseinander, welche Kraepelin
veranlasst haben, sich auf das Studium der rein psy-
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HARVARD UNIVERStTY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. q >
90
chischen Fälle zu beschränken. In München solle
mit der Irrenklinik eine offene Abtheilung und eine
Poliklinik verbunden werden, um auch die Uebergänge
der Beobachtung zugänglich zu machen.
Wollenberg-Tübingen: Die Tübinger Klinik
sei eine rein psychiatrische Klinik, habe aber mit
Hilfe einer Poliklinik und infolge des Entgegenkommens
des dortigen inneren Klinikers keinen Mangel an
Grenzfällen und an neuropathologisehem Material.
Immerhin sei auch für Tübingen eine Aenderung
erstrebenswerth.
Siemerling-Kiel weist darauf hin, dass die unter
seiner Leitung entstandenen Tübinger und Kieler
Kliniken vollständig freie Aufnahme- und Entlassungs¬
bedingungen haben , sodass in ihnen genau wie in
den übrigen klinischen Instituten, der Krankenverkehr
vor sich geht. Beide Kliniken seien dabei am besten
gediehen, Missstände seien nicht vorgekommen und
es sei zweifellos dieses Moment die unumgängliche
Voraussetzung für eine fruchtbringende Verbindung
zwischen Psychiatrie und Neuropathologie.
Pelman-Bonn tritt den Ausführungen des
Referenten vollständig bei, wenn er persönlich auch
der Neuropathologie ferner stehe.
Sch üle-Illenau bemerkt gegenüber einer Aeusse-
rung Alzheimers, dass die Aufnahmebedingungen
an den badischen Anstalten nicht so complicirte
seien. Alzheimer erwähnt noch, dass auch die
Frankfurter Anstalt ohne jedes Aufnahmeregulativ
arbeite.
In seinem Schlusswort fasst Fürstner nochmals
seine Thesen zusammen und constatirt die allgemeine
Uebereinstimmung der in der Discussion vertretenen
Anschauungen mit seinen eigenen.
Im Anschluss an das Referat Fürstner sprach
Professor Cr a me r- Güttin gen über die Heil-
und Unterrichtsanstalten für Psychiatrie
und Nervenheilkunde in Göttingen unter
besonderer Berücksichtigung des Sanato-
1 i ums Rasemü hie.
Redner wies darauf hin, dass noch vor verhältniss-
mässig wenigen Jahren in Göttingen nur eine Heil-
und Pflegeanstalt vorhanden war, die als psychia¬
trische Klinik zu Unterrichtszwecken zur Verfügung
gestellt war. Eine derartige Einrichtung, d. h. der
Mangel einer besonderen psychiatrischen Klinik ist
im Princip als durchaus ungenügend zu bezeichnen.
Indessen habe sich in der Provinz Hannover die
Provinzial Verwaltung stets durch ein grosses Entgegen¬
kommen ausgezeichnet, dadurch sei es auch möglich
gewesen, mit den gleichzeitig durch die Regierung
geplanten Einrichtungen zusammen in den letzten
Jahren eine Reihe von Neueinrichtungen zu treffen,
durch die es nunmehr ermöglicht sei, den Anforde¬
rungen sowohl des nervenpathologischen als des psychi¬
atrischen Unterrichts zu genügen. So gestatten die
Einrichtungen der Anstalt, dem Studenten alle Vor¬
richtungen, die die moderne Psychiatrie, zum Zweck
der Heilung und Pflege von Geisteskranken besitzt,
vorzuführen. Die Anstalt habe eine besondere histo¬
rische Bedeutung dadurch, dass hier in Göttingen der
Vorgänger von Prof. Cramer, L. Meyer, 34 Jahre lang
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thätig war, einer der bedeutendsten Begründer des
no restraint-Princips. Durch eine Reihe von Neu¬
bauten in den letzten Jahren, durch die Freimachung
der Gärten, durch Niederlegung der Mauern, durch
Einrichtung von Dauerbädern (im ganzen 16), durch
Ausbildung der Familienpflege sei vieles neügestaltet
und erreicht. Dazu komme die Universitätsklinik für
psychische und Nervenkranke. Dieselbe habe in den
3 Jahren ihres Bestehens eine fortlaufende Steigerung
der Frequenz gezeigt. Während im ersten Jahre bei
280 Fällen 1404 Consultationen ertheilt wurden, stieg
die Zahl im 2. Jahre auf 553 mit 3100 und wurden
im letzten Jahre an 617 Patienten 4414 Consultationen
ertheilt. Unter den Fällen sind die organischen Nerven¬
erkrankungen sehr in den Hintergrund getreten.
Trotz dieser mannigfachen zur Verfügung stehenden
Hilfsmittel haben die letzten Jahre doch gezeigt, dass
die Poliklinik in Verbindung mit der Provinzial-Heil-
anstalt nicht ausreiche für eine durchgreifende und
allen Anforderungen gerecht werdende Bethätigung
des Unterrichts, es sei deshalb wohl zu begrüssen,
dass im nächsten Monat eine kleine klinische Station
in Verbindung mit der Poliklinik eröffnet werde und,
da auch in absehbarer Zeit die Errichtung einer be¬
sonderen Universitätsklinik für psychische und Nerven¬
kranke sicher gestellt sei, so könne in dieser Be¬
ziehung allen Anforderungen für wissenschaftliche und
Unterrichtszwecke entsprochen werden. .Eine beson¬
dere Einrichtung hier sei das Sanatorium Rasemühle,
das im letzten Jahre errichtet wurde. Zweck- der
Gründung war die Schaffung eines Sanatoriums für
nervöse Kranke aus den minder bemittelten Ständen
und es ist dies die erste aus öffentlichen Mitteln er¬
richtete derartige Heilstätte m Deutschland. Leitender
Gedanke bei der Einrichtung des Sanatoriums, das
aus mehreren früher in Privatbesitz gewesenen Ge¬
bäuden umgebaut wurde, war, jeden Anstaltscharacter
zu vermeiden, deshalb wurde einmal jede Trennung
von männlichem und weiblichem Geschlecht in be¬
sondere Abtheilungen vermieden, um ganz die Ver¬
hältnisse einer Familienpension zu schaffen. Dieses
Princip hat sich ganz ausserordentlich bewährt und
zu keinerlei Unzuträglichkeiten geführt. Ein Oberarzt
steht dem Sanatorium vor. Direktor des Sanatoriums
ist Profossor Cramer in seiner Eigenschaft als Inhaber
des Lehrstuhls für Psychiatrie und Nervenheilkunde
an der hiesigen Universität.
Princip bei der Aufnahme ist der absolute Aus¬
schluss von Geisteskranken, Epileptikern und Selbst¬
mordsüchtigen, was im einzelnen Fall immer besonders
ärztlich attestirt werden muss.
Discussion zu dem Vortrag Hoche’s: Ein¬
teilung und Benennung der Psychosen
(siehe Nr. 7.).
Z ieh e n-Berlin hält eine Uebereinstimmung in
der Classification nicht für erforderlich. Die An¬
führung synonymer Namen habe vielfach didactischen
Werth (acute Paranoia — Amentia — Haliucinoseu.s. w.).
Wernicke -Halle sieht die Schwierigkeit der
Aufgabe zum Theil in der Fassung der Examens¬
ordnung, in welcher, ganz entsprechend den Bestim¬
mungen fortgeschrittener Disciplinen, die Stellung einer
Original from
HARVARD UNIVERSUM
r Q04.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 91
ganz bestimmten Diagnose verlangt wird. Redner
giebt an der Hand gewisser Fragenstellung den Gang
des Examens auf Grund 13jähriger Erfahrung an;
dabei spielt weniger die Frage nach der Diagnose
als der Nachweis der Geisteskrankheit durch Angabe
ganz bestimmter Symptome eine wichtige Rolle.
Moel i-Berlin: Bei der Stellung einer bestimmten
Diagnose ist nicht der Gebrauch eines Namens wesent¬
lich sondern die Darlegung des Ganges der Ueber-
legung, die dazu führt. Auch die Frage nach den
Begriffen der allgemeinen Psychiatrie sei nicht zu ver¬
gessen. Das Verständniss hierfür ist unentbehrlich für
den allgemeinen Praktiker.
Siemerling-Kiel steht auf dem Boden des
Hoche’schen Referates. Er will die Bezeichnungen
nicht ganz als gleichgültig und nebensächlich ansehen,
weil sich doch damit ein bestimmter Krankheitsbegriff
verbinde.
Hit zig-Halle will neben der Berücksichtigung
des Standpunktes eines Andern auch die eigene Auf¬
fassung betont wissen, da diese dazu beitrage, dem
Lernenden eine klare Vorstellung zu verschaffen.
Fürstner-Strassburg empfiehlt Vorsicht in der
Fassung, in einer ganzen Reihe von Fällen sei es
doch möglich, eine sichere Diagnose zu stellen.
Wer nicke erwidert Herrn Siemerling, dass er
die Diagnose der Geisteskrankheiten natürlich nicht
so gemeint habe, dass man dem Examinanden be¬
sonders schwierige Fälle zur Beurtheilung geben solle.
Nur ganz klare und unzweifelhafte Fälle kämen in
Betracht, es handle sich um die genaue Angabe der
Gründe, weshalb das Individuum für geisteskrank
gelten müsste.
Weygandt-Würzburg ergreift für seinen ab¬
wesenden Lehrer Kraepelin das Wort, der Grund des
Erfolges der Kraepelin’schen Lehre müsse doch haupt¬
sächlich in dem inneren Gehalt derselben gefunden
werden, die, wenn sie auch nichts Endgültiges dar¬
stellt, uns doch in manchen Punkten ein Stück weiter
bringt und vor allem grosse didaktische Vorzüge be¬
sitze. Hinsichtlich der Verständigung betreffs des
Unterrichts sei zu betonen, dass die Studenten, die
künftig Psychiatrie hören müssen, es doch meist im
letzten Semester hören werden, also an der Univer¬
sität, wo sie Examen machen. Ebenso grosse Diver¬
genz in der Nomenclatur und Auffassung besitze man
auch in den andern Disciplinen, wie die interne Medicin
hinsichtlich der Ehrlich’schen Theorie, noch mehr
aber Psychologie und Philosophie.
Im Schlusswort betont Hoc he die Uebereinstimmung
der Autoren in den wesentlichsten Punkten und hebt
noch hervor, dass die Concessionen des Einzelnen sich
natürlich nur auf die Darstellung im Lehrvortrage,
nicht auf die freie Forschung beziehen können. Eine
Informirung der Studenten über die Detailfrage halte
er nicht für angezeigt.
Direktor Dr. Alt-Uchtspringe: Die alimen¬
täre Behandlung der Epilepsie.
Vortragender zeigt in einer längeren historischen
Einleitung, welche Bedeutung schon in c ^ cr ältesten
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Zeit der Beschaffenheit der Nahrung bei der Behand¬
lung der Epilepsie beigelegt wurde.
An dem reichen Uchtspringer Krankenmaterial
angestellte Beobachtungen ergaben zahlreiche auch
therapeutisch zu verwerthende Resultate. In erster
Linie hebt Alt hervor, dass schon die quantitative
Menge der Nahrung, also eine Ueberfüllung des Magens,
für die Auslösung von Anfällen in Betracht komme.
Weiter warnt er vor allzu reichlicher Eiweissnahrung
in den ersten Lebensjahren der Kinder, namentlich
wenn dieselben infolge degenerativer Anlage oder
sonstiger Schädigungen ein weniger widerstandsfähiges
Nervensystem besitzen. Ferner hat A 1 1 eine Anzahl
von Versuchen angestellt, indem er eine Reihe von
epileptischen Kindern mit verschiedener Kost ernährte
und zwar die eine Gruppe mit reiner Milchdiät, die
zweite Gruppe mit vegetabilischer Kost, die dritte
mit gemischter, d. h. Fleisch enthaltender Kost. Es
zeigte sich, dass die Fleischkost die Anfälle an Zahl
wesentlich erhöhte. Die Ursache dieser Erscheinung
kann nicht allein in dem grossen Eiweissgehalt der
Fleischkost gefunden werden, da die Milchkost im
prozentualen Verhältniss mehr Eiweiss enthalte als
die Fleischkost. Vortragender weist aber darauf hin,
dass bei der Milchnahrung infolge der Abscheidung
von Milchsäure die Wucherung der Kolibakterien im
Darm verhindert würde. Er glaubt, dass dadurch
die Bildung schädlicher, krampfauslösender Toxine
hintangehalten werde. Weiter wird -auf die Bedeutung
des Kochsalzstoffwechsels hingewiesen.
In der Diskussion weist Mendel-B er li n darauf
hin, dass sich bei Kühen, also reinen Pflanzenfressern,
auch echte Epilepsie finde. Er schliesst daraus, dass
die Fleischnahrung allein nicht Schuld an der Ent¬
stehung epileptischer Attaken sein könne.
Cramer bestätigt den Einfluss der Ernährungs¬
art auf die Häufigkeit der epileptischen Anfälle.
Fürstner erwähnt, dass die bei vielen Epilep¬
tikern in den Morgenstunden auftretenden Anfälle
nach seiner Ansicht ebenfalls mit Ueberladung des
Magens beim Abendessen im Zusammenhang stünden.
Alt betont in seinem Schlusswort gegenüber
Mendel, dass auch er in den Stoffwechsclstörungcn
nur eine Ursache der Epilepsie erblicke.
Prof. Dr. E. S c h ul t z e - Bonn: Beziehungen
zwischen chemisc her K o n s ti tut io n und h y p-
notischer Wirkung. — Eine neue Gruppe
von Schlafmitteln.
Ausgehend von der Arbeit von Käst und Bau¬
mann über die Sulfone und unter Berücksichtigung
der Wirkung zahlreicher neuer Hypnotika betont und
belegt Sch. die hypnotische Wirkung, die den Aethyl-
gruppen zukommt, die Schädlichkeit der Sulfonbildung
und die Nützlichkeit der Substitution von Wasserstoff
durch Brom in den sulphatischen Körpern.
Unter Berücksichtigung dieser Erwägungen hat
Sch. zusammen mit Dr. G. F uc hs - B ieb r i ch syste¬
matisch die Ketone und Ketoxime untersucht. Ketone
waren unwirksam, Ketoxime nur zum Theil, hatten
dann aber sehr unangenehme Nebenwirkungen, so
dass von ihrer Verwendbarkeit als Schlafmittel abge¬
sehen werden musste.
Original from
HARVARD UNIVERSITY
92
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 9.
Darauf wurden die Acetamide untersucht. Diae-
thylacetamid wirkt, wenn auch nur wenig, besser als
Dipropylacetamid. Weitere Einführungen von Aethyl
nutzten nichts, dagegen erhöhte die Substitution des
Wasserstoffs im Acetylrest durch Brom die hypnotische
Wirkung erheblich. So schlief ein Hund nach 2 gr
Bromdiaethylacetamid (Neuronal) 26 Stunden.
Auch beim Menschen erweisen sich die beiden
Präparate Bromdiaethylacetamid und Bromdipropyl-
acetamid in der Dosis von 0,5—1,0—1,5 gr nach
den bisherigen Beobachtungen als so brauchbare Schlaf¬
mittel, dass die weitere Untersuchung ihrer hypnotischen
Wirkung angezeigt erscheint
Der Bromgehalt der neuen Präparate verdient
besondere Beachtung. Dieser, zusammen mit der
experimentell festgestellten langsamen Bromausschei¬
dung, spricht für die Anwendbarkeit als Sedativum
und Antiepileptikum. (Autoreferat.)
(Fortsetzung folgt.)
— Zur Errichtung einer Volks-Nervenheil-
stätte in Baden. Karlsruhe, 15. V. In medicinischen
Kreisen hat sich schon lange die Ueberzeugung Bahn
gebrochen, dass die im Grossherzogthum Baden jetzt
noch bestehende Unmöglichkeit einer sachgemässen
Behandlung wenig-bemittelter Nervenkranker eine
empfindliche Lücke in der Krankenfürsorge unseres
Landes bildet. Um diesen sich immer mehr fühlbar
machenden Mangel zu beseitigen, hat sich ein provi¬
sorisches Komitee, bestehend aus den Herren Geh.
Oberregierungsrath Glockner-Karlsruhe, Obermedi-
cinalrath Hause r-Karlsruhe, Geheimrath S c h ü 1 e -
Illenau, Dr. Determa nn-St. Blasien, Dr. Fuchs-
Emmendingen und Dr. Neu mann-Karlsruhe ge¬
bildet, welches die Gründung einer Nervenheilstätte
für Unbemittelte und Minderbemittelte aller Stände
in die Wege leiten will. Die Regierung hält die
Schaffung einer solchen Anstalt ebenfalls für ein
dringendes Bedürfniss und bringt deshalb auch dem
auf das genannte Ziel gerichteten Plane wärmstes
Interesse und förderndes Wohlwollen entgegen. Das
provisorische Komitee hatte sich nun entschlossen,
durch eine von angesehenen Persönlichkeiten aus
allen Teilen des Landes beschickte Versammlung den
ersten Schritt zur Verwirklichung des Projektes zu
thun und zunächst eine zweckdienliche Organisation
zu schaffen. Zu diesem Zwecke berief dasselbe
auf vergangenen Samstag abend hierher in den
Rathhaussaal eine Konferenz ein, zu der sich eine
grosse Anzahl von Personen aus hohen Beamten-
kreisen, Aerztekreisen, mehrere Abgeordnete und
Vertreter von Krankenkassen eingefunden hatten.
Geh. Oberregierungsrath Glöckner eröffnete
die Konferenz mit einer Begrüssungsanspräche und
leitete auf Antrag des Geheimraths Schüle die Ver¬
handlungen.
Die Tagesordnung umfasste drei Referate. Es
sprachenDr.M. Neumann-Karlsruhe, Dr. W.Fuchs*)-
Emmendingen und Dr. Determa nn-St. Blasien
über den Zweck und die Bedeutung der Volksnerven-
heilstätten, über die Organisation und Finanzirung
*) Das Referat des Herrn Dr. Fuchs erscheint dem¬
nächst in dieser Zeitschrift.
einer solchen Anstalt sowie über den Bau, die Aus¬
stattung und den Betrieb einer Nervenheilstätte.
Es wurde u. a. ausgeführt: Die Geldquellen, die in
Frage kommen, sind der Staat, die Kreise, die Ge¬
meinden, die Vereinigungen der Arbeiterschutzgesetz¬
gebung, die Einzelwohlthätigkeit und die Anstalt
selbst. Die badische Staatsregierung wird sich als
erste deutsche Regierung an der Gründung einer
Volksnervenheilstätte durch entsprechende Geld-
Unterstützung betheiligen. Die Kreise verhalten sich
noch abwartend. An den bestehenden Anstalten in
anderen Staaten haben sich die Vereinigungen der
Arbeiterschutzgesetzgebung mit hohen Kapitalbeiträgen
in Darlehensform betheiligt. Was die Nervenheilstätte
braucht, ist das Anstaltsgrundstück, das Geld für
den Bau, die innere Einrichtung und die Betriebs¬
kosten. Es ist zu wünschen, dass das Grundstück
geschenkt wird, da alsdann die Zinsen fortfallen, die
sonst vom Pflegesatz mit gedeckt werden müssen.
Das Grundstück muss klimatisch, hygienisch und
verkehrlich günstig liegen, genügend gross sein und
ergiebige Bodenart aufweisen. Das Geld für Bau
und innere Einrichtung würde sich zusammenzusetzen
haben aus Erträgnissen von Sammlungen, von Wohl-
thätigkeitsbazaren, vielleicht von Geldlotterien, von den
Vereinsbeträgen und zu einem hoffentlich erheblichen
Theil aus den Zuschüssen der Landesversicherungs-
• anstalt Baden, die hypothekarisch sicher gestellt
werden könnten. Die Deckung der Betriebskosten
hängt davon ab, in welchem Grade man die Anstalt
sich selbst erhalten lassen will. Will man ohne
Zuschuss Wirtschaften, dann muss man die Pflegesätze
höher bemessen, will man aber billig unter 4 M.
oder gar unter 3 M. pro Tag und Kopf behandeln,
dann bedarf man eines jährlichen Zuschusses, um
das Deficit zu decken. Falls die badische Regierung
diesen Zuschuss zusicherte, könnte man billigere
Plätze schaffen, die dann namentlich den nicht ver¬
sicherten Minderbemittelten zu gute kämen. Das
Grossherzogthum Baden würde damit eine Lücke in
der Schutzgesetzgebung für seinen Theil ausfüllen.
An die Referate, die allgemeiner Zustimmung be¬
gegneten, knüpfte sich eine nur kurze Debatte, in der
Geheimrath Rasina und Geh. Oberregierungsrath
Glöckner das Wort nahmen. Letzterer theilte mit,
dass für den zu gründenden Verein im ganzen bereits
12 000 Mk. zugesagt sind und dass die Regierung be¬
reit ist, in das nächste Budget einen Betrag für die
Nervenheilstätte einzustellen. Es wurde sodann be¬
schlossen, dass das bisherige Komitee, dem das Recht
der Kooptation zusteht, die Führung der Geschäfte
übernimmt und die entsprechenden Schritte zur Ent¬
wicklung des Vereins und Förderung der Sache ein¬
leitet.
Damit waren die Verhandlungen beendet
(„Bad. Presse u , 17. V. 04.)
Personalnachrichten.
Heidelberg. Prof. Bonhoeffer, der Director
der hiesigen Irrenklinik, erhielt einen Ruf nach Breslau
als Nachfolger seines Lehrers Wernicke.
Ersch
Digitized b>
Für den redactionellen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Bresler , Lublinitx (Schlesien).
Sonnabend — Schluss der Imeratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von C-^r I M arbold in Halle a. S.
i ^hTTe dgn
Hevneznann’sche Buchdruckerei (Gebr. Wolff) in Halle a. S.
HARVARD UNIVERSITY
Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift.
Redigiri von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Lubltnitz (Schlesien .
'■'erlag vun CARL MARHOLD in Halle a. S
r»*i»*Kr.-Allresse : M»rh«M V .• r i a *. IIaH«*aale Fernsprecher 2834.
Nr. 10. 5 Juni- 1904.
HfNtrilun^en nehmen jnle Hm hhandkmg, die Post sowie du* Verla^sbuehhandliinvf von Carl Marhold in Halle a. S enti>eifon.
Inserate werden für die 3 spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Reilnction sind an Oberarzt I)r. Joh. Rresler, Lubltnitz (Schlesien), zu richten.
Specialanstalten für geistig Minderwerthige.
Von Medicinalrath Dr. P. Näcke , Hubertusburg.
(Schluss.)
Sämmtliche Minderwerthige lassen sich aber end¬
lich in 2 grosse Klassen einthcilcn; wie ich dies
früher (1. c.) für die sog. moralisch Schwa« hsinnigen
durchführte, nämlich i. in Aktive, Lasterhafte, Ge¬
fährliche und 2. in mehr Passive, Harmlose, was
praktisch wichtig erscheint. Heide Gruppen können
verschiedene Varianten und Ucbergänge bilden, doch
muss ich diesbezüglic h auf meine Monographie über
mor. ins. verweisen, da das dort Gesagte auch hier
anwendbar sein dürfte. Angehörige beider Haupt-
klassen finden sich nun zum grossen Theile nament¬
lich in Armen-, Arbeits- oder Strafhäusern aller Art,
viele auch „auf der Walze“ als Vagabunden und
Bettler. Seltener dagegen sind sie in Irrenanstalten,
ausser bei ausgelu'« »eher,er Psychose. Eine wahre
\Vc »hithat für alle betheiligten Kreise wäre eine ratio¬
nelle Unterbringung aller dieser Elemente in eine
Sonderanstalt, nicht am wenigsten für die Familien,
die oft nicht wissen, was sie mit solchen Angehörigen,
die nur zu oft ein wahres Kreuz für sie bilden,
machen sollen.
Wie hat man sich nun die Unterbringung dieser
Individuen zu denken? Eine Möglichkeit hat uns
Colin dargelegt, obgleich er nur von Geisteskranken
spric ht, nicht also unsere speelelicn Kategorien im Auge
hat. Er wählt das moderne Pavillunsvstcm, doch hat
er hier einige nüthige Vorkehrungen zu erwähnen
vergessen. Zunächst muss eine Aufnahmestation da
sein. Die Zahl der Pavillons für die Unruhigen,
Gefährlichen und andererseits für rfio Ruhigen ric htet
sic h nach dem Bedürfnis^ wobei die für Festere
nicht zu klein zu bemessen sind, zumal sie auch
vorübergehend Ei regle aufnehmen sollen. liier wäre
dann auch die Einrichtung für Dauerbäder und
Einzelzimmer nöthig. Eigentliche Isolirung dürfte
kaum Vorkommen. So kleine Wohn räume zu schallen,
wie Colin es will, würde ich für ziemlich überflüssig
halten. Auch ein Gebäude für körperlich Kranke
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ist vorzusehen; ob noch weitere Specialabtheilungen,
entscheidet nur das Bedürfnis. Jedenfalls ist der
Baugrund — am liebsten möglichst auf dem Lande,
im Gegensätze zur Irrenanstalt — so gross zu wählen,
dass nach Bedarf die Zahl der Baulichkeiten ver¬
mehrt werden kann und ausser für Garten noch
Platz für Feldwirtschaft übrig bleibt, da ich die
Hauptbeschäftigung der Intcrnirten, und zwar die
zwang weise in Garten und Feld sehen möchte,
weniger in Werkstätten, was Colin allein will.
Hier wird natürlich auch das Material entscheiden,
da die Städter, namentlich die* Grossstädter,
meist nur Werkstättenarbeiten vorziehen werden.
Die specielle Bauweise hat sich nach der Art der
Kranken zu ric hten. Die Gefährlichen, sehr Störenden,
sind im Allgemeinen fester zu verwahren, als die
übrigen.
Das wäre ein Modus der Unterbringung. Da
nun das Pavillonsystcm, besonders in der Nähe
grosser Städte, recht theucr ist, sehr viele Insassen
ferner Viele Jahre hindurch, ja lebenslänglich, ver¬
pflegt werden müssen, so w-äre eine billigere Unter¬
bringungsart vorzuziehen. Diese ist die in grösseren
Blocks von du —ioo Personen, im einfachsten
Kasernenstil, aber mit der Möglichkeit einer Trenn¬
ung der Kranken. Die Gefährlichen könnten in
eine besondere Abtheilung mit festerem Gewahrsam
kommen, oder besser noch: in einen Pavillon apart,
wenn man cs nicht überhaupt vorzieht, sie in die
Adnexe der Strafanstalten zu bannen, wo sie sicher
weniger stören. Das grosse Reformator}’ zu Elmira
im Staate New-York dürfte bez. des Blocksystems,
noch mehr aber bez. der psvehisrhen und somatischen
Behandlung seiner Insassen hier vielfach als Muster
dienen.
Es könnte sich endlich die Frage erheben, die
durchaus nic ht a limine abzuweisen ist, ob nicht die
Harmlosen w enigstens koloniale Verpflegung gemessen
Original from
HARVARD UNIVERSITY
94 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
dürften. Ich glaube, auch das wäre zu versuchen,
wenngleich hier wahrscheinlich mehr Entweichungs¬
versuche Vorkommen werden, als bei gewöhnlichen
Geisteskranken. Einfache, adaptirte Bauernhäuser
oder schlichte Baracken würden dann wohl genügen.
Dedichen*) hat sogar für mindergefährliche Gei¬
steskranke, gewisse Imbecille, Trinker ctc. Arbeiter¬
kolonien zur Bearbeitung z. B. von Heidegegenden
vorgeschlagen, nachdem sich solche für Gefangene
in Dänemark und Sardinien gut bewährt haben. Auch
dies wäre in Erwägung zu ziehen. Die gefährlichen
Elemente allerdings würden für eine solche freie
Verpflegung wohl weniger passen oder dürften dann
nur ähnlich wohnen und beaufsichtigt werden, wie
Gefangene.
Mag man nun die eine oder andere Unterbring¬
ungsart wählen, was vielfach von Umständen ab-
hängen wird — ich würde mich, wo es angeht, aus
oben bezeichnten Gründen, mehr für das Block¬
system begeistern — ; mag ferner der gewählte Typus
in einfachster Weise durchgeführt werden oder, wenn
es die Mittel erlauben, in reicherer und künstlerischer
Ausgestaltung, so werden doch stets die 3 folgenden
Hauptbedingungen zu erfüllen sein. Erstens soll die
Anstalt nur unter einem Psychiater als Leiter stehen,
nicht unter einem Geistlichen oder Verwaltungsbe¬
amten. Ist die Anstalt gross, so müssen mehrere
Aerzte angestellt sein und zwar derart, dass auf
Einen nicht mehr als höchstens 100 Patienten kom¬
men. Zweitens wird eine etwas straffere Zucht als
in der Irrenanstalt hier ganz am Platze sein, beson¬
ders bei der Gruppe der Gefährlichen, Lasterhaften.
Drittens wird sich hier für einen intelligenten und
adaptionsfähigen Lehrer ein weit grösseres Arbeits¬
feld eröffnen, als in dem gewöhnlichen Irrenhausc,
da es vor allem bei der Gruppe der mehr Passiven,
Haltlosen gilt, die Willensschwäche durch methodische
Arbeiten, Belehrungen etc. aufzurichten und zu stärken.
Aber auch auf die Aktiven, Gefährlichen liesse sich
hierdurch manches Erspricsslichc erreichen, indem
versucht würde, das böse Triebleben in bessere
Bahnen zu leiten und so allmählich abzustumpfen.
Wir hätten somit die einzelnen Arten der geistig
Minderwerthigen und ihre Unterbringungsweise skiz-
zirt. Es bleibt nur noch übrig, einige hierher gehörige
Fragen unter den vielen möglichen einer kurzen Be¬
sprechung zu unterziehen.
Wer soll diese Specialanstalten bauen und wer hat
für die Unterhaltungskosten der dort Verpflegten auf-
*) Dedichen: Congrtfs d’anthropol. criminelle internal.
Amsterdam 1901. Rapports, p. 16.
[Nr. 10.
zukommen? Diese Frage ist sicher nicht so leicht
zu entscheiden, auch nicht für Juristen. Dort, wo
der Staat selbst Irrenanstalten baut, ward er wohl
auch die moralische Pflicht haben , eventuell für die
geistig Minderw’erthigen in oben erörterter Weise zu
sorgen, mindestens für die gefährlichen Elemente da¬
runter, die des socialen Schutzes halber eingesperrt
werden müssen. Bei den übrigen, den Passiven,
mehr Harmlosen, bleibt es dagegen fraglich, ob der
Staat einzugreifen hat. Ich glaube cs aber doch, da
es sich 1. um Zustände handelt, die pathologisch
sind und hart an die Psychose streifen ; 2. weil auf
diesem günstigen Boden jeden Augenblick Irrsinn
ausbrechen kann und weil 3. diese Personen, wenn
in Freiheit belassen, leicht der Vagabondage und dem
Verbrechen anheimfallen.
Hat also der Staat das nöthige Geld, so wird er
alle geistig Minderwerthigen specialiter unterbringen.
Hat er es nicht, so muss er wenigstens die Gefähr¬
lichen verwahren, sei es in einem Adnexe an einer
Strafanstalt, sei es in einer Zentralanstalt, sei es,
wenn ihre Zahl eine sehr grosse ist, in einer eigenen
Anstalt, die bez. des Regimes /.wuschen Gefängniss
und Irrenanstalt steht und w’ohin er zunächst die
hierhergehörigen Elemente aus den Arbeite-, Besserungs-
und Strafhäusern überführen wird. Dahin müssten
auch sonst alle so gearteten Elemente kommen, eventuell
zwangsweise, und sie haben selbst dort zu zahlen, oder
die Commune oder die Familie soweit diese zahlungs¬
pflichtig sind. Es dürfte dann den Verwandten nicht er¬
laubt sein, sie auf ihre Kosten anderweit unterzubringen,
weil dadurch der öffentlichen Sicherheit durch die
Möglichkeit einer baldigen Entlassung keine Gewähr
geschieht, wie z. B. im Falle des Prinzen Prosper
Arenberg. Will oder kann der Staat abei nur die
Fürsorge für die schlimmen Minderwerthigen auf sich
nehmen, so muss es der Selbstverwaltung überlassen
bleiben, für die Klasse der mehr Harmlosen, Passiven
zu sorgen und zwar so, wie oben auseinandergesetzt
wurde. Hier müssten natürlich auch die Gemeinden
resp. Privaten für die Unterhaltungskosten ganz oder
theilweis herangezogen werden, freilich früge es sich
da immer, inwieweit ein Zwang der Unterbringung
möglich ist. Dies wäre wohl nur betreffs derjenigen
der Fall, deren Unterhaltung der Behörde anheim¬
fiele. Die meisten Familien würden aber gewiss mit
Freuden die Gelegenheit wahrnehmen, ihre ihnen so
viel Sorge bereitenden Angehörigen solchen Anstalten
zu übergeben und für sie einen mässigen Satz zu
entrichten. Wer reich genug ist, mag solche zu
Ilause behalten und für ihre leichtfertigen Streiche
zahlen. Sobald aber Gemeingefährlichkeit bezeugt
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HARVARD UNIVERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
95
1904.]
ist, dann hat, wie schon gesagt, die Familie das Recht
verwirkt, den Angehörigen nach Gutdünken unterzu¬
bringen.
Was hat aber zu geschehen, so lange es, wie
noch jetzt leider, überhaupt keine Sonderanstalten
für geistig Minderwerthige giebt ? Die gefährlichen,
verbrecherischen Personen kämen dann am besten
in einen Adnex für irre Verbrecher. Sollte aber
ein solcher nicht bestehen, dann eher mit ihnen ins
Gefängniss — aber in eine besondere Abtheilung
mit milderem Regime —, als in eine gewöhnliche
Irrenanstalt, wo sie so oft alles auf den Kopf stürzen
und den Betrieb schwer stören können. Bez. der
mehr Passiven kommt es zunächst darauf an, ob sie
reich oder arm sind. Erstcre kann man versuchs¬
weise, wenn es mit ihnen in der Familie absolut nicht
mehr geht, in gewisse Anstalten, z. B. das Rauhe
Haus oder in eine geeignete fremde Familie (die
eines Försters, Landw'irths, Landgeistlichen) bringen,
was öfter, wie ich sah, von gutem Erfolge ist.*) Früher
schaffte man sie einfach nach Amerika, w'o sie meist
elendiglich untergingen. Die Unbemittelten finden
am besten Unterkommen in Armen-, Besserungs- oder
Bezirksanstalten etc., wo sie bei passender Behandlung
und Beschäftigung sich immerhin noch leidlich nützlich
machen. Man wird vor allem Zusehen, dass man sie hier
gütlich zurück behalten kann, um sie vor Vagabondage
etc. zu bewahren, so lange zur Fcsthaltung derselben
keine gesetzliche Handhabe gegeben ist. Immerhin
ist diese Art der Unterbringung eine schlechte und
nur vorläufige. Das Ziel bleibt also stets: alle
Minderwerthigen in Specialanstalten auf die eine oder
andere Art unterzubringen. In gewöhnliche Irren¬
anstalten passen auch die Passiven nicht gut, w*eil
sie sich hier meist recht unglücklich fühlen und zu
den eigentlichen Irren nicht gerechnet werden können.
Selbst eine eigene Abtheilung für sie an der Irren¬
anstalt w'äre weniger zu empfehlen, da sie vielfach
eine andere Behandlung erheischen, als die Geistes¬
kranken.
Wie lange sollen nun die Untergebrachten in der
Specialanstalt bleiben ? Bei den Aktiven, Gefährlichen
lautet die Antwort einfach: so lange ihre Triebe noch
gefährlich sind und verbrecherische Handlungen vor¬
aussehen lassen, also auf alle Fälle auf Jahre hinaus,
selbst lebenslänglich. Bei noch unter Strafe Stchcn-
*) Nach Scholz (Die moralische Anästhesie. Leipzig,
Mayer, 1904) verlangen dagegen manche der „moralisch
Anästhetischen 11 nach dem Trubel der Grossstadt, in dem sie
sich auch ohne welche Anfechtungen sicher und geordnet
bewegen. Er kennt solche Beispiele, ich nicht. Jedenfalls
dürften sie nicht allzu häufig sein.
den ist die Strafzeit selbstverständlich zum Mindesten
einzuhalten. Von Zeit zu Zeit w'ird man versuchen,
sie in die freieren Verhältnisse der Harmlosen zu
versetzen, bis sie hier ganz bleiben können, um, wie
Jene^ später beurlaubt, resp. entlassen zu werden.
Die Fürsorge wdrd man jedoch für alle auch, wie bei
den Geisteskranken, auf längere Beurlaubungen öder
über die Entlassung hinaus noch ausdehnen, indem
man ihnen passende Beschäftigung zu verschaffen
sucht, sie mit Geld unterstützt, ihnen Werkzeuge
kauft u. s. f. Vom Heirathen wird man ihnen nur
abrathen, leider aber dasselbe nicht verbieten können,
wenigstens nicht für absehbare Zeiten.
Wie hat sich ihnen nun als Angeklagte gegen¬
über das Forum und der Arzt zu verhalten ? Ver¬
folgt man die Processe, so findet man eine Menge
von geistig Minderwerthigen zur Strafe verurtheilt,
daher ihre grosse Zahl in den Gefängnissen. Die
meisten Juristen kennen eben diese Zustände zu
wenig oder, wenn man sie ihnen darstellt, zeichnen sie
einfach nicht darauf oder verurtheilen sie trotzdem, weil
sie dem Gesetze nach nur ein „zurechnungs- und
unzurechnungsfähig“ kennen. Die ärztlichen Sach¬
verständigen suchen wiederum die Betreffenden gern
als unzurechnungsfähig hinzustellen. Ich glaube, auch
hier gilt es: maassvoll sein und die praktische Seite
nicht vergessen! Die Richter machen den Aerzten
sogar bisweilen den ungerechtfertigten Vorwurf, sie,
die Experten, wollten durch zu weite Ausdehnung
des Begriffs: Unzurechnungsfähigkeit, die Angeklagten
dem Arme der Gerechtigkeit entziehen; sie fürchten
— und diesmal nicht ganz ohne Grund, glaube ich
— eine unerlaubte Verallgemeinerung des Begriffs:
verminderte Unzurechnungsfähigkeit, wenn sie diesen
Ausdruck überhaupt zulassen. Denn sicher spielt bei
diesen Begriffen der Subjektivismus eine ziemliche
Rolle, w r ie die so häufig widerstreitenden Gutachten
der Sachverständigen genugsam bezeugen. Gerade
in der letzten Zeit fanden Processe statt, wo der An¬
geklagte als „unzurechnungsfähig“ erklärt ward, ich
dagegen wahrscheinlich mein Verdikt auf: vermin¬
dert zurechnungsfähig abgegeben hätte. Es kommt
eben darauf an, wie gross man einerseits die nor¬
male Variationsbreite der Psyche annehmen und an¬
dererseits, bis w'ohin man die Grenzpfähle der ge¬
minderten Zurechnungsfähigkeit nach der Unzurech¬
nungsfähigkeit hin stecken will, wobei es keine starren
Regeln giebt, sondern sehr verschiedene Momente
mitsprechen.
Im Allgemeinen wird man daran festhalten, dass
der geistig Minderwerthige, w^enn er das Delikt nicht
in einem sicher bezeugten Zustande geistiger Um-
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96 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. io.
nach tun g beging — was hier bei dem leichten Auf¬
treten von Psychosen sehr wohl einmal geschehen
kann —, vermindert zurechnungsfähig ist. *) Man wird
ihn als solchen hinstellen, wenn das Gericht diesen
Ausdruck zulässt, sonst wird man sich liumaner Weise
eher für Unzurechnungsfähigkeit, als für Zurechnungs¬
fähigkeit aussprechen. Handelt es sich dagegen um
besonders Gefährliche, so-erkläre man sie, so lange
es keine Specialanstalten für solche giebt und die
Irrenanstalt für . ihre sichere 'Verwahrung nicht auf-
kommen kann und darf, ruhig für zurechnungsfähig,
damit sie im Gefängnisse wenigstens sicher aufge¬
hoben sind. Zugleich wird man aber alle Gründe ver¬
bringen, welche mildernde Umstände bestimmen, für
einen milderen Strafvollzug eintreten und ihn dem
Richter anempfehlen. So lange Minderwertige aller
Art noch im Gefängnisse weilen, sind sie besser von
den übrigen Gefangenen getrennt zu halten, mit
weniger strengem Regime, die bösartigen Elemente
am besten im Adnexe, will man nicht überhaupt
auch alle übrigen dort unterbringen. Das setzt frei¬
lich voraus, dass der Gefängnissarzt psychiatrisch vor-
gebildet sei, um einerseits rechtzeitig die geistigen
Mindeiwerthigkeiten zu erkennen und sie vor aus¬
brechendem Irrsinne zu bewahren, andererseits sie
aus dem Gefängnisse zu entfernen, wo sie rechtlich
höchstens nur halb hingehören.
Recht schwierig kann die Frage der Zurechnungs¬
fähigkeit bei sexuellen Delikten **) sein, wie wir schon
sahen. Man kann nur von Fall zu Fall hier urtheilen.
Wo eine Psychose oder Minderwertigkeit deutlich ist,
dann ist es freilich nicht schwer das Urtheil zu finden.
Wir sagten jedoch schon, dass sehr wahrscheinlich so
manche sexuell Perverse, besonders unter den Homo¬
sexuellen, psychisch intakt sein können, auch nicht
minderwertig sind. Wie aber, wenn die libido einmal
sehr stark auftritt, gar triebartig, zwangsmässig ? Ist
die Unbezwinglichkeit erwiesen — freilich eine sehr
schwielige Sache! — resp. der Momente Erwähnung
gethan, die die Widerstandsfähigkeit des Individuums
untergruben, so ist für den Akt die Unzurechnungs¬
fähigkeit auszusprechen, während die Person sonst,
glaube ich, nicht einmal minderwerthig zu sein
*) Wesentlich Triftiges lässt sich gegen die verminderte
Zurechnungsfähigkeit nicht Vorbringen, wie immer mehr, sogar
von juristischer Seite, anerkannt wird. Auch die neuesten
Angriffe von Penta (la follia nelle carceri. Rivista mensile
di psich. for. etc. 1904. No. 4) halte ich nicht für stichhaltig.
**) Siehe auch Näcke: Forensische, physiologisch-psycho¬
logische Randbemerkungen zum Processe Dippold, insbesondere
über Sadismus. Archiv für Kriminalanthrop. etc., Bd. XIII,
4. Heft.
braucht, vielleicht sogar nicht einmal bei wiederholten
Akten. Auch hier würde am besten die Unterbringung
in einer Sonderanstalt indicirt sein, namentlich wenn
sich ähnliche Delikte trotz Strafen immer wieder¬
holten. Man wird dann bez. der Entlassung beson¬
ders vorsichtig sein und oft Jahre darüber hingehen
lassen.
Der berühmte Criminahst v. Liszt geht aber
noch weiter, als wir. Er verlangt stets die Straf¬
losigkeit der geistig Mindcrwerthigen. Wolle man
aber ihre Bestrafung, meint er, dann solle die Ver¬
wahrung erst vorangehen, unter Abrechnung der Straf¬
zeit. Ist Heilung eingetreten, vor Ablauf der Straf¬
zeit, dann könne man meinetwegen bestrafen. Dies
dürfte aber gewiss nur sehr selten geschehen, da der
geistig Minderwerthige, wenn überhaupt Besserung
eintritt — von einer wirklichen Heilung ist meist
wohl ganz abzusehen! —, sehr lange in der Sonder¬
anstalt zu bleiben hat. Der Richter wird auf Unter¬
bringung des vermindert Zurechnungsfähigen — wenn
er diesen Ausdruck gelten lässt — verfügen, zugleich
aber unter Beifügen einer gewissen Internirungs-
zeit als Minimum, die als Strafzeit zu gelten hat und
von Strafe*) müssen wir so lange sprechen, als der
vermindert Zurechnungsfähige nicht als unzurechnungs¬
fähig erklärt wird.
Ich glaube also, dass v. Liszt mit seinem Vor¬
schläge kaum durchdringen wird, wenigstens nicht
jetzt. Ich halte denselben für zu weitgehend, wie auch
*) Halten wir daran fest, dass Strafe ausserhalb des Ge¬
fängnisses (in Familie, Schule,• beim Militär etc.) durchaus
seinen Zweck als Besserungs- und Abschreckungsmittel oft ge¬
nug erfüllt, so wird man das Gleiche auch auf den Angeklagten
vor Gericht auwenden. Der beabsichtigte Zweck wird bei Ge-
legcnheits- und Leidenschaftsverbrechern und manchen Jugend¬
lichen auch erreicht, dagegen fast nie bei den Gewohnheits¬
verbrechern. Sie liefern das Heer der Rückfälligen, die ja das
Anschwellcn der Verbrecherzahl vor allem bedingen, was angeb¬
lich die Nutzlosigkeit der Strafe beweisen soll. Das aber ist ein
falscher Schluss. Bei dieser Kategorie kann es sich freilich nur
uni socialen Schutz handeln und für sie ist die Strafe auf
unbestimmte Zeit viel schlimmer als die alte mit bestimmter
Zeit. Ein socialer Schutz gegen Gelegenheit#* und Leidenschafts-
Verbrecher erscheint dagegen kaum nötig. Wo aber — hier,
wie in der Familie, Schule etc. — noch von Strafe gesprochen
wird, da sollte dies nicht mehr im Sinne des alten jus talionis
geschehen, als Racheakt, sondern nur als Besserungs- und
Abschreckungsmittel, was noch mehr dadurch zum Ausdruck
kommt, dass das Strafmaass abgeschafft wird. Die .Strafe soll
nicht Wiedervergeltung sein, sondern, wie Scholz ( 1 . c.) sehr
richtig sagt, ,,dcn Charakter einer naturnotwendigen, durch die
Art der Straftat selbst begründeten Folge“ bewahren, womit
selbstverständlich, meine ich, der weitere Zweck als Bcsserungs-
und Abschreckungsmittel nicht ausgeschlossen ist, wo er über¬
haupt noch möglich erscheint.
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den. zweiten Satz v. Liszt’s, (lass prinzipiell zwischen
Zucht- und Irrenhaus kein Unterschied sei, und zwar,
weil es keine wesentliche Differenz ausmache, ob
Verbrechen oder Wahnsinn die Ursache der Gemein¬
gefährlichkeit sei. Letzteres ist bis zu einem gewissen
Grade wohl wahr, trotzdem möchte ich den Unter¬
schied zwischen Zucht- und Irrenhaus nicht ver¬
wischt sehen. Sicher giebt es im Gefängnisse eine
Reihe von Geisteskranken und noch mehr geistig
Minderwerthigen, die also mehr oder weniger un¬
schuldig verurtheilt, nicht dorthin gehören. Anderer¬
seits wird man sich schwerlich dazij verstehen, die
überwiegende Masse der andern Gefangenen ohne
weiteres als Kranke anzusehen und zu behandeln,
will man den Begriff: Krankheit, nicht zu sehr er¬
weitern und so verflüchtigen. Freilich begeht von
2 Personen cct. par. nur eine ein bestimmtes Ver¬
brechen und zwar die mit dem grösseren endogenen
Faktor. Die Grösse des letzteren muss aber schon
ziemlich deutlich sein, ehe sie als krankhaft angesehen
werden kann, weil sonst schliesslich der ganze Begriff:
Verbrecher und Verbrechen verloren geht und es
nur noch Kranke giebt, wozu dann in letzter Linie
auch die sog. Ehrlichen zählen würden, da sic ja
alle im (Lunde „latente Verbrecher“ sind, wie beson¬
ders geartete Umstände es jeden Tag aufzeigen können.
Man muss daher auch für diesen endogenen Faktor,
d. h. also für die in allen schlummernde Neigung zu
strafbaren Handlungen, eine gewisse Variationsbreite
statuiren, welche noch das Normale bezeichnet. So
wird es verständlich, dass man zwar die kalten Mörder,
die Bestien in Menschengestalt und die eigentlichen
verbrecherischen Naturen als Kranke ansehen könnte,
eine zum Glück sehr kleine Zahl. Trotzdem würde
Niemand für sie ein gewöhnliches Krankenhaus
postuliren, wegen ihrer hohen Gemeingefährlichkeit.
Bei den Gelegenheitsverbrcchcrn wiederum ist das
endogene Moment nicht allzu gross, um sie zu
Kranken zu stempeln, noch weniger bei Leidenschafts¬
verbrechern , will man nicht ohne weiteres: Leiden¬
schaft = Krankheit setzen. Das Gros der Gefangenen
dagegen besteht aus verlotterten Elementen, bei denen
das Milieu wichtiger erscheint, als der angeborene
Faktor. v. Liszt selbst betont ja beim Verbrecher
das sociale Moment viel mehr als das endogene,
mehr als ich und andere es thun. Sie sind demnach
nicht als Kranke zu betrachten. Man wird also
schwerlich das Zuchthaus in ein Krankenhaus ver¬
wandeln, wohl aber verlangen, dass die eigentlichen
geistig Kranken und Minderwerthigen — mit Aus¬
97
nähme vielleicht jener verbrecherischen Naturen etc.
— aus der eigentlichen Strafanstalt entfernt werden'-'),
dass aber weiter im Gefängnisse bedeutende Reformen
stattfinden, namentlich in hygienischer Richtung und
bez. der Handhabung des Strafvollzugs namentlich der
Arreststrafen. Solche einschneidende Reformen würden
freilich eine Aenderung unseres Strafrechts, vor allem
Abschaffung jedes Strafmasses voraussetzen, und weiter
eine z. Th. andere, besonders psychologische Vorbild¬
ung der Juristen verlangen. Man sieht, bis dahin hat
es noch gute Wege!
© ©
Alle unsere Vorschläge sind, wie der Leser ein¬
sieht , vorläufig nur rein theoretische , doch halte ich
sie, zum grössten Theile wenigstens, für durchführbar;
und bevor es zur praktischen Durchführung einer
Sache kommt, muss sie erst theoretisch möglichst
vielseitig untersucht werden. Darin liegt eben die
Berechtigung und der hohe Werth der Theorie. In¬
zwischen scheint es, als ob Frankreich auf specielles
Betreiben Colins — und das ist ein grosses Verdienst
von ihm! -— zuerst solche Zwischenanstalten, d. h.
Sonderanstalten für geistig Minderwerthige aller Art,
welche zwischen Gefängniss und Irrenhaus stellen,
mehr allerdings den letzteren sich nähernd, bauen
wird. Freilich hat Colin, wie wir sehen, im Ganzen
andere Kategorien von Personen im Auge, als wir,
und sein Project stellt eigentlich nur ein Adnex für
Geisteskranke an eine Irrenanstalt dar.
Warten wir ab, wie dieser Versuch abläuft. Ich
zweifle nicht an seinem Gelingen. Hat man hier
erst wirkliche Erfahrungen gesammelt, so kann man
praktisch auch an die andern Typen der Unter¬
bringung herantreten, um zu sehen, welcher der beste
ist. Ich neige, wie gesagt, noch am meisten zum
Blocksystem, eventuell zur Arbeitskolonie.
Durch obige Ausführungen ist, glaube ich, zum
i. Male eine solide Basis zu gedeihlicher Discusston
über die immer dringlic her werdende Unterbringung
geistig Minderwertiger geschaffen worden, auf der
sich hoffentlich wird mit Erfolg weiter bauen lassen.
*) Wenn ich am Ende meiner Monographie über moral
insanity sagte: „Wenn erst die Gefängnisse zu einer Art Kran¬
kenhaus und Erziehungsanstalt geworden sind .. . so meinte ich
dies, so lange obige kranken Elemente noch in der Strafanstalt
bleiben. Wenn bei dem Gros der Gefangenen auch vielfach
elendes Aussehen und so manche körperlichen Krankheiten
bestehen, so wird man billigerweisc darauf Rücksicht nehmen
müssen, ohne deshalb dem Ganzen den Charakter eines Kranken¬
hauses zu geben, da der Hauptnachdruck dort stets auf die
sichere Verwahrung zu legen ist.
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. io.
Mittheilungen.
— Verein für Psychiatrie und Neurologie
in Wien. Sitzung vom 9. Februar 1904.
Dr. A. Fuchs demonstrirt einen 22jährigen an
Morbus Basedowii leidenden Mann, bei welchem die
Symptome dieser Krankheit im Februar 1903 auf¬
traten. Im Herbste 1903 entwickelten sich schmerz¬
lose Oedeme der Unterschenkel, die sich, während
sie sich im Allgemeinen binnen vier Wochen rück¬
bildeten, an der Vorderfläche beider Unterschenkel
verhärteten und sich zu schmerzlosen, starren, harten
Infiltraten verwandelten. Es repräsentirt dieser Fall
somit die zwar im Allgemeinen seltene, aber doch
schon von verschiedenen Autoren beschriebene Com-
bination von Morbus Basedowii mit Sklerodermie.
Dr. H i r s c h 1 stellt einen Fall vor, der eine Com-
bination von Morbus Basedowii mit Morbus Addi-
sonii aufweist Seit August 1903 Zittern, profuse
Schweisse, Durchfälle, seit Oktober 1903 Exophthalmus,
Herzklopfen, Struma, bedeutende Abmagerung (von
90 auf 58 kg), motorische Schwäche, gesteigerte Er¬
regbarkeit. Ebenfalls seit Oktober 1903 Broneefärb-
ung der Haut. Hirschl versuchte eine neue Therapie
mit Tabletten, die chromaffine Substanz enthielten,
gewonnen aus der Marksubstanz der Nebenniere vom
Rind. Begonnen wurde mit 0,06 g pro die, zur Zeit
der Demonstration erhielt Pat 0,2 g chromaffiner Sub¬
stanz. Es konnte Abblassung der Broncefärbung,
Rückgang der Struma und der Augensymptome, Ab¬
nahme der Schwäche konstatirt werden.
Dr. E. Rai mann stellt einen 34 jährigen Mann
vor, der bereits vor Monaten an einer Alkohol-Hallu-
cinose erkrankte. Am 1. Februar 1904 in die Klinik
aufgenommen, begann der Kranke am selben Abend
unruhig zu werden und am zweiten Tage setzte ein
typisches Delirium alcoholicum ein, welches nach drei
Tagen mit einem kritischen Schlafe abklang. Zur
Zeit der Demonstration des Kranken war bei noch
fortbestehender Hallucinose eine völlige Krankheits¬
einsicht und Erinnerung des Patienten für das über¬
standene Delir zu konstatiren. Raimann verwies im
Anschluss an die Demonstration auf die Verschieden¬
heit der Pathogenese des Alkoholwahnsinnes und des
Delirs, indem eine bestimmte toxische Schädlichkeit
vor Monaten zur Hallucinose führte, die durch den
andauernden Potus aggravirte und erst durch die Ab¬
stinenz langsam abheilen wird, während die Abstinenz
das Delirium auslöste.
Dr. MaxDobrschansky demonstrirt die linke
Grosshimhemisphäre eines Falles von zirkulärem Irre¬
sein (die rechte Hemisphäre war im Hinblick auf
einen eventuellen Herd in eine Reihe von Frontal¬
schnitten zerlegt worden). Das Präparat stammte
von einer erblich schwer belasteten Frau, bei der
sich zur Zeit der Pubertät eine zirkuläre Psychose
entwickelt hatte und die einem Uteruskarzinom er¬
legen war. Das Gehirn wies an seiner Oberfläche
eine Reihe von Anomalien in der Anordnung der
Furchen und Windungen auf, die dein Vortragenden
mehr als eine zufällige Abweichung vom Normalen
erschienen.
Stud. med. B u n z 1 demonstrirt Schnitte eines
Maulwurfsgehirns, in welchem in allen Partieen des
Gehirnes encystirte Parasiten (Nematoden von nicht
sicherzustellender Species), meist eingeschlossen in
bindegewebigen Kapseln, zu finden waren.
Dr. Alfred Fröhlich demonstrirt mikrosko¬
pische Schnitte des Rückenmarkes eines Affen, dem
er linkerseits die 5., 6. und 7. hintere Zervikalwurzel,
sowie die 1. und 2. hintere Thorakalwurzel durch¬
schnitten hatte. Die 8. hintere Zervikalwurzel war
undurchschnitten geblieben. An den Serienschnitten
sind die nach ' der Durchschneidung degenerirten
Fasern bis in das erste Halssegment hinauf zu ver¬
folgen, während das Feld der undurchschnittpn ge¬
bliebenen 8. hinteren Zervikalwurzel bis in das erste
Halssegment hinauf als lichtes Feld deutlich zu er¬
kennen ist.
Dr. Emil Raimann bespricht einige neuere
Schlafmittel: Veronal, Chloreton und Isopral. Bezüg¬
lich des erstgenannten finden sich nähere Mittheil¬
ungen des Vortragenden im Januarheft der „Heil¬
kunde“, bezüglich des drittgenannten im Märzheft
derselben Zeitschrift. Chloreton in Dosen von 0,4
bis 1,6 g (in Kapseln: 1—4 Kapseln pro die) ver¬
sagte bei psychomotorisch hochgradig erregten Geistes¬
kranken gänzlich. In leichteren Fällen von Schlaf¬
losigkeit war seine Wirkung als Schlafmittel eine gute.
Manche Patienten klagten über Kopfweh und unter¬
brochenen Schlaf, manche hingegen zogen es dem
Paraldehyd vor. Schädliche Nebenwirkungen wurden
klinisch nicht nachgewiesen. Ueber 1,6 g pro die
ging Raimann nicht hinaus. Schlöss.
— Jahresversammlung des Deutschen Ver¬
eins für Psychiatrie zu Göttingen vom 25. bis 27.
April 1904. (Fortsetzung.)
Professor Bonhoef fer-Heidelberg: DerKorsa-
koffsche Sym ptom enkomplex in seinen Be¬
ziehungen zu den verschiedenen Krankheits¬
formen.
Die Abweichungen von dem von Korsakoff seiner
Zeit fixierten Standpunkt bestehen darin, dass K.
nicht von einem Symptomenkomplex sondern von
einer Krankheit sprach. Das K.’sche Krankheitsbild
ist charakterisiert durch dreierlei Momente, durch die
begleitenden neuritischen Erscheinungen, durch das
eigenartige psychische Bild und durch die Aetiologie.
Die Neuritis ist indessen keine notwendige Begleit¬
erscheinung, es giebt Fälle von K., wo dieselbe fehlt.
Ein klinischer, ganz ähnlicher Komplex kommt bei an¬
deren Psychosen vor und actiologisch schliesslich stehen
dem K. auch andere Formen, Delirium tremens u. s. w.
nahe. Aus diesen und ähnlichen Gründen schlug
Jollv daher vor, von einem „Korsakoffschen Symp¬
tomenkomplex“ zu sprechen.
Das klinische Bild ist charakterisiert 1) durch Defekte
der Merkfähigkeit, (neue Erfahrungen haften nicht), durch
retroaktive Amnesie; 2 ) durch die Unorientiertheit bei
örtlicher und zeitlicher Beziehung. Die zeitliche stellt
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I0Q4-]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
99
sich dabei vielfach als Folge der Störung der Merk-
fähigkeit dar. Ferner durch Situationsverkennung,
Confabulation, Pseudoreminiszenz, absurde Grössen¬
ideen. Nicht alle Symptome sind stets vorhanden,
es giebt Fälle ohne Pseudoreminiscenz. Es ist daher
gut, nur dann von einem K.schen Symptomenkomplex
zu sprechen, wenn alle Symptome vorhanden sind.
Schon beim einfachen Delirium tremens finden
sich die klinischen Symptome des K.schen Komplexes
angedeutet. Es giebt alle Uebergänge von Delirium
zum chronischen Delire und zu den mit Erinnerungs¬
defekten verbundenen Formen. Deliriumartige Zustände
kommen auch bei nicht alkoholisch verursachten K.
vor. Neben der deliranten Phase kann auch die
stuporöse die beginnende sein. Neuritische Symptome
scheinen hier niemals zu fehlen. Auch epilepsie-artige
Anfälle können den Zustand einleiten.
Die Kombination Neuritis und Amnesie bietet
auch das Bild der Poliencephalitis haemorrhagica
superior dar. Neuritische Symptome erschweren oft
die Differentialdiagnose gegen progressive Paralyse.
Der amnestische Komplex auf alkoholischer Basis ist
grosser Besserung fähig, wenn auch ein Defektzustand
der gewöhnliche Ausgang ist.
Auch ohne Alkohol giebt es K. z. B. bei ander¬
weitigen Infektionen. Hinsichtlich der Einwirkung
auf das periphere Nervensystem stehen dem Alkohol
nahe Arsen und Blei. Bei den Arsen Vergiftungen ist
(nach den Erfahrungen in Manchester) der Verlauf
ein leichterer als bei Alkohol, die Bleipsychose bietet
gewöhnlich ein anderes Bild dar. Nächstdem zeigen
senile und arteriosklerotische Prozesse am häufigsten
den amnestischen Komplex. Für die senilen Formen
gilt, dass sie meist affektbetonter sind, dass sie Angst¬
zustände, Geschäftigkeitsdrang u. s. w. oft aufweisen,
dass sie häufig durch Ohnmachtsanfälle eingeleitet
werden. Ausserdem sind die senilen Formen von
ungünstigerer Prognose als die toxischen. Ungünstig
sind besonders die Fälle, in denen das Bild mehr einen
deliranten Charakter hat. Amnesieformen und hieher
gehörende ähnliche kommen schliesslich auch bei
Hirntumoren vor, der Sitz ist dabei gleichgültig. Es
handelt sich meist um Erweichung. Tumor, Sarcom.
Auch bei der Commotio cerebri kommen ähnliche
Amnesieformen vor, hierbei geschieht die Entwickelung
meist aus somnolenten Zuständen heraus.
Für den K. ist die Entwickelung aus einer akuten
Bewusstseinsstörung heraus die gewöhnliche. Es fragt
sich: ist der schliessliche Zustand wirklich ein Defekt¬
zustand. Nur bei senilen Formen hat man diesen
Eindruck. Eine Möglichkeit der Rückbildung nament¬
lich bei den übrigen Formen ist vorhanden. Als be¬
sondere Begleiterscheinungen können gelten Schlaf¬
losigkeit, und delirante Zustände. Das Auftreten des
amnestischen Komplexes gestattet keine bestimmte
Prognosenstellung. Die Symptome schwinden lang¬
sam bei schon geschädigtem Gehirn (Alkohol, Senium,
Arteriosklerose).
Es empfiehlt sich den Namen „Korsakoffscher
Symptomenkomplex“ zu gebrauchen zur Charakte-
risirung der reinen Gedächtnissstörung, den Namen
der „Korsakoffschen Psychose“ dageg en beizubehalten
für die Zustände auf alkoholischer und infektiöser
Basis, die mit Neuritis einhergehen und einen ganz
bestimmten Verlauf nehmen.
Professor Siemerling-Kiel: Ueber Werth und
Bedeutung der Cytodiagnose für Geistes- und
Nervenkrankheiten.
Bei der Schwierigkeit der Diagnose der Erkrankung
des Gehirns besonders in den Anfangsstadien ist jedes
neue Hilfsmittel, das Werth besitzt, zu schätzen.
Die Untersuchung der Cerebrospinalflüssigkeit, eine
Methode, um deren Einführung in Deutschland sich
besonders Schönborn Verdienste erworben hat, ge¬
hört hierher. Es kommt dabei nach den jetzigen
Kenntnissen auf dreierlei an; auf die histologische
Beschaffenheit, auf das chemische Verhalten und auf
die Farbe (Chromocytose) an. Die Zahl der Arbeiten,
die sich mit diesem Problem beschäftigt haben, ist
besonders von Seiten der französischen Autoren eine
grosse. Was zunächst die Farbe anbelangt, so ist
pathogenetisch nur die lebhafte Röte (Gehalt an
frischem Blut). Chemisch kommt besonders die Ver¬
mehrung des Eiweissgehalts in Betracht, der bei
verschiedenen Erkrankungen beobachtet ist. Nor¬
maler Weise enthält die Cerebrospinalflüssigkeit 0,2
bis i,o pro 1000 Globulin. Der Gehalt an Albumin
ist pathologisch. Unter den Erkrankungen, die sich
durch eine Vermehrung des Eiweissgehalts auszeich¬
nen, ist besonders progressive Paralyse zu nennen.
Von Reaktionen kommen besonders die von Nissl
ausgearbeiteten Modifikationen der Esbach’schen
Methode in Betracht, die ein exaktes Verfahren dar¬
stellt. Die Vermehruug des Eiweissgehalts, die bei
progressiver Paralyse gefunden wird, geht oft aber
nicht parallel der Lymphocytose. Um die histolo¬
gische Untersuchung haben sich vor allem franzö¬
sische Autoren, in DeutschlandE. Meyer, Verdienste
erworben. Bei Erkrankungen mit chronischer menin-
gitischer Reizung findet sich stets Lymphocytose, die
also zusammen mit den übrigen Erkrankungen ein
charakteristisches Zeichen für organische Erkrankung
darstellt In 38 untersuchten Fällen von progressiver
Paralyse haben 37 Lymphocytose ergeben. Die Be¬
deutung dieser Erscheinung liegt vor allem darin,
dass die Lymphocytose, die chemische Veränderung
der Cerebrospinalflüssigkeit schon in der Reihe der
Frühsymptome auftritt. In drei Fällen von Delirium
tremens fehlten die Erscheinungen. In einem Falle
von Alkoholneuritis bestand eine leichte Lympho¬
cytose, vielleicht handelte es sich um eine begin¬
nende progressive Paralyse. Vier Fälle von Epilep¬
sie und besonders von einfachen Seelenstörungen
gaben ein negatives Resultat. Untersuchungen bei
Tabes, Hirntumoren und Lues cerebri ergaben starke,
bei multipler Sklerose leichte Lymphocytose. Ein
Fall von Delirium tremens mit Influenza und leich¬
ter meningitischer Reizung eigab leichte Lympho¬
cytose und 2 Fälle von eitriger Meningitis Hessen
polynucleäre Leucocythen erkennen. In einem Falle
von Hirntumor ergab sich ein normales Resultat, auf
Grund dieser Thatsache wurde Lues ausgeschlossen,
die Sektion ergab ein Sarkom.
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IOO
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 10.
Spontane Gerinnung ist in einigen Fällen be¬
obachtet, der Vortragende hat sie nicht gesellen.
Irgendwelche Nebenwirkungen oder unangenehme
Nachsymptome der Operation sind nicht zur Beob¬
achtung gelangt. Bei der Geringfügigkeit des ope¬
rativen Eingriffs stellt sich derselbe als eine wichtige
Bereicherung unserer Hilfsmittel dar.
Die ausgesprochene Lymphocytose weist auf das
Bestehen einer meningitischen Reizung hin. Damit
verbindet sich meist eine Eiweissvermehrung. Die
Bedeutung der einzelnen histologischen Elemente,
ausser den Lymphoeyten, stösst noch auf Schwierig¬
keit. Der Hauptwerth ist mit darin gelegen, dass
der positive Ausfall in die Reihe der Frühsymptome
der progressiven Paralyse gehört, in zweifelhaften
Fällen ein wichtiges Moment.
Diskussion:
Stolper- Göttingen hat bei Schädelverletzungcn,
die vermuthlich mit einer grossen Blutung verbunden
waren, nicht immer auch Blut in der Punktionsflüssig-
keit gefunden. Er macht ferner auf die bedenk¬
lichen Momente des Verfahrens aufmerksam.
Schäfer-Roda. Auf Grund eigener Untersuch¬
ung bei verschiedenen Schwachsinnsformen bestätigt
er die Siemerling’schen Mittheilungen hinsichtlich des
Eiweissgehalts. Er führt dies auf die entzündliche
Betheiligung der Leptomeninge zurück. Die Sektion
hat das in vielen Fällen bestätigt. Drucksteigerung
der Cerebrospinalflüssigkeit sah er häufig.
Raecke-Frankfurt zeigt drei Mikrophotogramme
zur Demonstration der qualitativen Unterschiede des
Sediments; i. typische Lymphocytose bei Paralyse;
2. polynucleäre Leucocytose bei tuberkulöser Menin¬
gitis; 3. einkernige Leucocyten bei multipler Sklerose.
Wollenberg-Tübingen kann auf Grund der
Untersuchungen in der Tübinger Klinik die Befunde
Siemerling’s hinsichtlich der Lymphocytose bestätigen;
chemische Untersuchungen sind dort nicht angestellt
worden.
Alzheimer-München hofft, dass die weiteren
Erfahrungen die Ungefährlichkeit des Eingriffs noch
weiter darthun werden. Der Nachweis der Lympho¬
cytose komme heute schon in diagnostischen Schwierig¬
keiten als wichtiges Moment in Betracht. Nach Unter¬
suchungen von Revant scheint besonders die Lues
noch besondere Beachtung hinsichtlich der Lympho-
evtose zu verdienen.
Fischer- Prag erwähnt einen technischen Kunst¬
griff, der die Dauer der Centrifugirung verkürzt, in¬
dem man der frischen Flüssigkeit Formol in einigen
Tropfen zusetzt. Fälle von Paralyse ohne Lympho¬
cytose erklären sich durch vernehmliche Bindegewebs¬
bildung. Die Lymphocytose weist also vornehmlich
auf die zelluläre Infiltration der Meningen hin.
Fii rstner -Strassburg regt die Frage der diagm>-
stischen und der therapeutischen Seite des Eingriffs
an.
Im Schlusswort präcisirt der Vortragende noch¬
mals seinen Standpunkt in den wesentlichsten Punkten.
Schüle-Illenau: Nochmals das Heirathen
von früher Geisteskranken.
Vortragender kommt auf ein schon vor Jahren
behandeltes Thema zurück, indem er die allgemeine
soc iale Pflicht betont, einen Schutz der Nachkommen¬
schaft zu erzielen, indem man die Vererbung psycho¬
pathischer Eigenschaften möglichst verhindert. Er
giebt ohne weiteres zu, dass ein gesetzgeberisches
Vorgehen — etwa durch Einführung eines Ehever¬
botes für Degencrirte und Psychopathen — heute
nicht am Platze sei. Wir kennen die Gesetze der
Vererbung noch so gut wie gar nicht und können
nicht angeben, welche psychopathischen Eigenschaften
in der ausgesprochenen Geistesstörung mit Sicherheit
die Nachkommenschaft gefährden und welchen Ein¬
fluss die Beimischung gesunden Blutes zu einer psy¬
chopathischen Belastung besitzt.
Die positiven Vorschläge des Vortragenden be¬
stehen darin, dass er 1. eingehenderes Studium der
Erblichkeitsverhältnisse, womöglich auf einer ausge¬
dehnten statistischen Grundlage, empfiehlt, damit man
auf Grund derartiger Erfahrungen allmählich zu einer
Kenntniss der Erblichkeitsgesetze gelange. Weiter
empfiehlt er bei denjenigen psychopathischen Zu¬
ständen, bei welchen ein schädlicher Einfluss auf die
Nachkommenschaft schon jetzt einigermaassen sicher¬
gestellt sei, gegebenen Falls möglichst die ärztliche
Autorität zur Verhinderung einer Ehe in die Waag¬
schale zu legen. Von solchen Zuständen nennt er
die Paralyse, ferner die auf degenerativer Belastung
entstehenden cyclischen Geistesstörungen, ethisch de-
generirte Individuen, namentlich Epileptiker und
Hysteriker, dann chronische Alkoholistcn mit stark
ausgesprochenem moralischen Dcfect und andere.
Von weiteren Maassregeln, welche schon jetzt durch¬
führbar seien, empfiehlt er die prophylaktische Ent¬
mündigung solcher Geisteskranker, welche alleinstehend
zeitweise wieder ausserhalb der Anstalt leben können und
der Gefahr ausgesetzt sind, wenn sie ihre Geschäftsfähig¬
keit behalten, zu einer Eheschliessung oft aus unlauteren
Motiven gedrängt zu werden. Weiter kann der psy¬
chiatrische Sachverständige gelegentlich bei der nach¬
drücklichen Anfechtung auf Grund des B. G. B.
in diesem Sinne thätig sein.
Von der angeblichen Schutzkraft der Ehe für
psychisch widerstandsunfähige Personen hält Vortragen¬
der nicht allzuviel. Insbesondere weist er auf die
mannigfaltigen Schädlichkeiten hin, welche nament¬
lich für den weibl. Theil eine Eheschliessung in
dieser Richtung mit sich bringen kann. In dieser
Hinsicht könnte namentlich die Thütigkeit der Hilfs¬
vereine einsetzen, indem sie durch ihre Vertrauens¬
personell einen berathenden Einfluss auf die aus den
Anstalten entlassenen Kranken und ihre Angehörigen
ausüben.
jUf Diese Nummer enthält einen Prospekt der
Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer N Co., Elberfeld,
worauf die geschätzten Leser hierdurch besonders
hingewiesen werden.
Tür Jen rcdactionclleu Theil verantwortlich : Oberarzt JJr. J . T.resicr , Lublinit/ (Schlesien!.
Erscheint ieden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Angabe. — Verlag von Car! Marliold in Halle a. S
Hevnemann’sche Buchdruckerei (Gebr. \ v oifi r ) in Halle a. S
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HARVARD UNiVERSITY
Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift
Sechster Jahrgang.
Beilage zu dem Aufsatze von Dr. Hoppe „Die Pflegeanstalt
für geisteskranke Männer zu Tapiau“.
Vorder-Ansicht des Irren-Pavillons vom Mittelhofe der
Besserungs-Anstalt aus gesehen.
Grundriss
Grundriss
ersten und zweiten
Stockes.
Erdgeschosses,
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Original fram
HARVARD UNIVERSITY
Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift.
Redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Lublinitx (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr -Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834.
Nr. 11. 12 . juni. 1904.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die 3spaltige Petitxeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. ßresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten.
Die Pflegeanstalt für geisteskranke Männer zu Tapiau.
Von Dr. Fritz Hoppe , Tapiau, Ostpr.
(Hierzu die lithographische Tafel.)
I n der Entscheidung der Frage, nach welchem
Systeme in Deutschland am zweckmässigsten die
irren Verbrecher und verbrecherischen Irren unter¬
gebracht werden sollen, spielt eine genaue Statistik
über die Einrichtungen und Erfahrungen in den vor¬
handenen Specialanstalten die erste Rolle. Leider
ist in der Litteratur die Anstalt, durch welche die
Provinz Ostpreussen für ihren Bereich diese Aufgabe
gelöst hat, fast unbekannt, zumeist wohl aus dem
Gnmde, weil die ferne Lage unserer Ostmark nur
selten den Weg eines Psychiaters an unseren Irren¬
anstalten vorbeiführt. Deshalb glaube ich im Inter¬
esse aller zu handeln, die jener Frage näher treten,
wenn ich in Folgendem einige kurze Mittheilungen
über die Pflegeanstalt für geisteskranke Männer zu
Tapiau und die Geschichte ihrer Entstehung der
Litteratur übergebe. In eine Discussion über die
Vortheile und Schwächen unseres Systems lasse ich
mich nicht ein, zumal ich vieles nur wiederholen
müsste, was bereits von anderen, namentlich von
Näcke-Hubertusburg, ausgesprochen ist.
Als sich am Anfänge des letzten Decenniums
vorigen Jahrhunderts die Nothwendigkeit bemerkbar
machte, die beiden sehr überfüllten ostpreussischen
Irrenanstalten Allenberg und Kortau von gewissen
gefährlichen, kriminellen Geisteskranken zu entlasten,
wurde beschlossen, als Adnex an die Korrektions-
anstalt zu Tapiau eine kleine Irrenanstalt für '50
Männer zu bauen. Als selbstverständlich wurde
gleich von vomeherein angesehen, dass Korrektions¬
und Irrenanstalt nur durch eine äussere Gemeinschaft
(Personalunion des Direktors und des Anstaltsarztes,
gemeinsame Oeconomie, Kasse und Sekretariat, be¬
nachbarte Lage der Gebäude) miteinander verbunden,
im Uebrigen aber, namentlich in rechtlicher Bezieh¬
ung, völlig getrennt sein sollten. Nach dem ersten
Entwürfe der Hausordnung vom 11. IX. 96 waren
zur Aufnahme in die Anstalt bestimmt: „1. diejenigen
Geisteskranken mit verbrecherischen Neigungen, die
sich in den Irrenanstalten der Provinz Ostpreussen
befinden; 2. diejenigen in den Straf- und Gefängniss-
anstalten der Provinz Ostpreussen, sowie der Provin¬
zial-Besserungs- und Landarmen-Anstalt zu Tapiau
befindlichen Gefangenen, welche in Geisteskrankheit
verfallen oder deren Geisteszustand zweifelhaft er¬
scheint, um in derselben einem Heil- und Beobacht-
ungsverfahien unterzogen zu werden.“ Eine weitere
Bestimmung Hess hervorgehen, dass auch Geisteskranke
„mit verbrecherischem Vorleben“ Platz finden sollten.
Nach der Durchberathung dieses Entwurfs am 28. VII.
1897 wurde dem Reglement in den interessirenden
Punkten folgende Fassung gegeben: „§ 1. Die bei
der ostpreussischen Provinzial - Besserungsanstalt zu
Tapiau eingerichtete Irrenanstalt ist bestimmt zur
Aufnahme solcher männlichen, irren Verbrecher,
deren Entfernung aus den ordentlichen Provinzial¬
irrenanstalten im Interesse dieser Anstalten erwünscht
erscheint. Unter irren Verbrechern werden Personen
verstanden, welche wegen eines Verbrechens, bezw. Ver¬
gehens oder einer Uebertretung, durch rechtskräftiges,
gerichtliches Urtheil mit einer Zuchthaus-, Gefäng-
niss- oder Haftstrafe unter gleichzeitiger Ueberweisung
an die Landespolizeibehörde bestraft worden und vor
oder nach Verbüssung dieser Strafe in unheilbare Geistes¬
krankheit verfallen sind.“ Dieser veränderte Entwurf
giebt für den Begriff „irrer Verbrecher“ eine Definition,
die von der allgemein üblichen erheblich verschieden ist,
insofern, als auch vorbestrafte Kranke darunter ver¬
standen werden; ausserdem geht aus der Fassung
hervor, dass nur unheilbare Kranke aufgenommen
werden sollten und von der Einrichtung einer Heil-
und Beobachtungsabtheilung für Strafgefangene abge¬
sehen wurde.
Dieses Reglement erhielt durch Ministerialerlass
noch einige wesentliche, erweiternde Abänderungen.
Ich theile in Folgendem die durch den Oberpräsi-
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Original frnm
HARVARD UNIVERSITY
102 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. n.
deuten ertheilte Begründung dieser Aenderungen
wörtlich mit:
„Im Aufträge der Herren Minister der geistlichen,
Unterrichts- und Medicinal-Angelegenhciten und des
Innern erwidere ich Ihnen auf die hier beigefügte
Eingabe vom 24. Januar d. Js. Folgendes:
Durch die von Ihnen vorgeschlagene Fassung des
§ 1 des Entwurfs eines Reglements für die Irrcnab-
theilung bei der Ostpreussischen Korrektionsanstalt
zu Tapiau würde die Abtheilung bestimmt sein für
bescholtene unheilbare Geisteskranke. Es würde da¬
mit ein Unterscheidungsmerkmal aufgcstellt, welches
ebensowenig in der Pflege der Geisteskranken als in
der Pflege der körperlich Kranken zugelassen werden
kann. Man kann die Kranken trennen in verschie¬
dene Verpflegungsklassen, in denen ihnen eine dem
Verpflegungsgelde entsprechende verschiedene Lebens¬
haltung gewährt wird; aber die Trennung innerhalb
der Klassen darf nur bedingt werden durch Gründe,
welche in der Natur der Krankheit liegen, dazu ge¬
hört die Bcscholtenheit nicht.
Hierdurch ist nicht ausgeschlossen, dass Personen,
gegen welche ein Strafverfahren schwebt, oder die
sich im Strafvollzüge befinden, wenn sie während
desselben erkranken, im Interesse der Strafrechtspflege
von anderen Kranken getrennt gehalten und beson¬
ders behandelt werden. Ist aber das Strafverfahren
oder der Strafvollzug beendet, so kann daraus bei
späteren Krankheitsfällen kein Grund zu einer abge¬
sonderten Behandlung hergeleitet werden.
Um der Irrenabtheilung bei der Korrektionsanstalt
zu Tapiau diesen gewissermaassen strafrechtlichen
Charakter zu wahren, war die veränderte Fassung des
§ 1 des Reglements vorgeschlagen. Nr. 2 des § 1
ist auch aus dem Grunde hinzugefügt, weil auf Ihren
Antrag vom S. November v. Js. II A. Nr. 4970 von
dem Herrn Minister des Innern, wie in meinem Er¬
lasse vom 28. Januar d. Js. O. P. 620 mitgetheilt
ist, in Aussicht genommen war, darin auch solche
männlichen Personen unterzubringen, welche in den
Strafanstalten der Provinz Ostpreussen der Geistes¬
krankheit verdächtig werden, damit durch das vom
Staate für diese Personen zu zahlende Pflegegeld der
Provinz ein Beitrag zu den erheblichen Unkosten
der Irrenabtheilung erwachse.
Wenn nun nach Ihrem Anträge die Irrenabtheil¬
ung nicht beschränkt werden soll auf solche männ¬
lichen Personen, gegen welche ein Strafverfahren
schwebt, oder die sich im Strafvollzüge befinden, so
darf sie doch nicht zu einer Irrenanstalt für Beschol¬
tene gemacht werden. Die Herren Minister würden
jedoch dagegen nichts zu erinnern finden, wenn darin
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gemeingefährliche, unheilbar geisteskranke Personen
männlichen Geschlechts untergebracht würden, einerlei,
ob sie bescholten sind oder nicht.
Sofern die Provinzialverwaltung n>it dieser abge¬
änderten Bestimmung der Irrenabtheilung einverstanden
ist, würde der beiliegende Reglementsentwurf die darin
im Contexte und am Rande verzeichneten Abänder¬
ungen erleiden müssen. Wenn nach Ihren Ausführ¬
ungen die Irrenabtheilung zu Tapiau zur Aufnahme
und Beobachtung solcher Personen, die in den An¬
stalten der Geisteskrankheit verdächtig werden, nicht
eingeric htet ist und auch nicht eingerichtet werden soll,
so würde der Herr Minister des Innern auf die von ihm
— nach meinem erwähnten Erlasse vom 28. Januar —
in Aussicht genommene Unterbringung solcher Personen
in der Irrenabtheilung zu Tapiau verzichten und zu
dem Zwecke bei einer Strafanstalt eine Irrenabtheilung
errichten. Die Herren Minister nehmen daher von
dem Abschlüsse eines Vertrages mit der Provinzial¬
verwaltung über die Aufnahme der Geistesstörung
verdächtiger Gefangener in die Provinzialirrenanstalten
vorläufig Abstand.
Indem ich Sie hiernach ersuche, die weitere Ent-
schliessung der Provinzialverwaltung herbeizuführen,
sehe ic h der Vorlage des dem Herrn Minister des
Innern zu erstattenden, mir mit besonderem Begleit¬
bericht einzureichenden Beric htes demnächst entgegen.
(Unterschrift.)
An den Herrn Landeshauptmann hierselbst.“
Infolgedessen wurde durch Verfügung des Landes¬
hauptmanns vom 28. III. 98 die Zweckbestimmung
der Tapiauer Anstalt geändert: ..Wenngleich
es nach der Fassung des § 1 des Reglements zu¬
lässig ist, a u s s c h l i e ss 1 i c h s<»genannte geistes¬
kranke Verbrecher, d. h. Personen, die vor oder
während oder nach Vcrbüssung einer gerichtlich er¬
kannten Freiheitsstrafe oder Konektionshaft in un¬
heilbare Geisteskrankheit verfallen und gemeingefähr¬
lich sind, der Irrenpflegeanstalt zu Tapiau zuzuführen,
so sollen doch — nicht allein um den Wünschen
des Herrn Ministers gerecht zu werden, sondern auch
aus den nachstehend angeführten Zweckmässigkeits¬
gründen — nicht nur geisteskranke Verbrecher, son¬
dern auch andere hierzu geeignete Geisteskranke aus
den Anstalten zu Allenberg und Kortau in die An¬
stalt zu Tapiau aufgenommen werden. Zunächst
kann die Absicht, die Anstalten zu Allenberg und
Kortau von sämmtlichcn geisteskranken Ver¬
brechern zu befreien, doch nicht erreicht werden,
weil dazu die in der Anstalt zu Tapiau vorhandenen
Plätze nicht ausreichen. Weiterhin ist wohl denk¬
bar, dass gewisse ^Geisteskranke, auch wenn sie nicht
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 103
zu der Klasse der geisteskranken Verbrecher gehören,
für die Anstalten zu Allenberg und Kortau weit un¬
bequemer und störender sind — namentlich wenn
sie zu Gewalttätigkeiten hinneigen oder die Neigung
haben zu entweichen — als geisteskranke Verbrecher.
Die Zweckbestimmung der Anstalt zu Tapiau besteht
also darin, die Anstalten zu Allenberg und Kortau
von den störendsten und unbequemsten drittklassigen
Kranken männlichen Geschlechts zu befreien, welche
sich als Landarme in Freistellen befinden oder für
welche von Kreis- und Ortsarmenverbänden das Pflege¬
geld bezahlt wird.“
Der § 1 des jetzt gültigen, durch die Ministerial¬
erlasse vom 21. IV. 99 und vom 30. IV. 02 ge¬
nehmigten Reglements für die Pflegeanstalt für gei¬
steskranke Männer zu Tapiau lautet: ,,Die Pflegean¬
stalt für geisteskranke Männer zu Tapiau ist bestimmt
zur Aufnahme gemeingefährlicher, unheilbar geistes¬
kranker Personen männlichen Geschlechts.“ Damit
war die Aufnahme von Strafanstaltsinsassen mit
zweifelhaftem Geisteszustände zwecks Beobachtung,
sowie von geisteskranken Gefangenen zu Heilzwecken
ausgeschlossen. Dafür kam für den Bereich von Ost-
preussen zwischen der Regierung und der Provin-
zialverwaltung ein Vertrag des Inhalts zu Stande (am
27. VI. und 21. VII. 98), dass gegen Zahlung eines
vereinbarten Pflegesatzes die Provinzialverwaltung sich
verpflichtete, bis zu 20 der Geisteskrankheit ver¬
dächtige, männliche Strafgefangene bis zur Eröffnung
einer staatlichen psychiatrischen Adnexabtheilung für
Männer an einer Strafanstalt (eine solche ist in¬
zwischen in Graudenz eröffnet) in den ordentlichen
Irrenheilanstalten aufzunehmen. Die geisteskranken,
bezw. der Geisteskrankheit verdächtigen weiblichen
Gefangenen sollten auch fernerhin dauernd in den
Heilanstalten Aufnahme finden.
Von den übrigen Bestimmungen des Reglements
seien noch g 2, § 6 und g 7 erwähnt, in denen das
Verhältniss des Adnexes zur Korrektionsanstalt und
die Leitung desselben behandelt wird :
„§ 2. Die Pflegeanstalt bildet eine selbständige
Anstalt und wird im innern Dienste und im Verkehr
nach Aussen als solche bezeichnet. Sie ist räumlich
gegen die Korrektions-Anstalt vollständig abzuschüessen
und erhält ihren besonderen Zugang. Die Insassen
der Pflegeanstalt sind von denen der Besserungsanstalt
vollständig getrennt zu halten.
Korrigenden dürfen zur eigentlichen Krankenpflege
überhaupt nicht, zur Ausführung hauswirthschaftlicher
und baulicher Arbeiten in der Pflegeanstalt nur dann
verwendet werden, wenn sie dabei in keinerlei Be¬
rührung mit den Kranken kommen.
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Die Pflegeanstalt hat ihr besonderes Wärterpersonal,
dessen Dienstkleidung sich von der des Aufsichts¬
personals der Korrektionsanstalt unterscheidet Ausser
dem Direktor dürfen Beamte der Korrektionsanstalt
die Pflegeanstalt nur ausnahmsweise, insbesondere in
Nothfällen betreten.“
„g 6. Die Leitung der Anstalt, soweit sie sich
auf die Behandlung der Kranken mit allen dazuge¬
hörigen Maassregeln, insbesondere Beschäftigung, Ab¬
sonderung, Besuche, Theilnahme am Gottesdienste,
Unterricht bezieht, führt der Anstaltsarzt nach den¬
selben Grundsätzen, welche für die Provinzial-Irren-
anstalten gelten. Der Arzt muss durch längere Thätig-
keit an einer öffentlichen Anstalt für Geisteskranke
fachwissenschaftlich vorgebildet sein. Derselbe ist
dafür verantwortlich, dass durch seine Vorschriften
nicht die sichere Bewachung der Kranken gefährdet
wird.“
„§ 7. Die äusseren Verwaltungsangelegenheiten
liegen dem Direktor der Besserungsanstalt ob. Er
ist der Vorgesetzte des Aufsichts- und Dienstpersonals
in disciplinarer Beziehung; in Bezug auf den Dienst
in der Anstalt und die Behandlung der Kranken
untersteht das genannte Personal dem Anstaltsarzte.
Ordnungsstrafen für Pflichtverletzungen im innern
Dienst der Anstalt darf der Direktor nur auf Antrag
und im Einverständniss mit dem Arzte verhängen.“
Ich halte die Fassung der beiden letzten Para¬
graphen für recht glücklich gewählt, da durch sie
dem Anstaltsarzte, der im innern Dienste unabhängig ist,
die nothw'endige, völlige Freiheit in der Kranken-
bchandlung gewährleistet wird und auch Competenz-
streitigkeiten bei beiderseits einsichtsvoller Auffassung
über die Grenzen von innerem und äusserem Dienst
fast ausgeschlossen sind.
Bei Belegung der Anstalt am 1. V. 98 war nur
1 Arzt an den gesammten Tapiauer Provinzial¬
anstalten thätig (ausser der beschriebenen Irrenanstalt
gehören hierzu Besserungs- und Landarmenanstalt und
Gärtnerlehranstalt). Inzwischen ist durch die in ein¬
zelnen Etappen fortschreitende Erbauung einer Irren-
pflcgeanstalt von gewöhnlichem Typus, die zur Zeit
mit den anderen Provinzialanstalten durch Personal¬
union des Direktors, der Aerzte, der Bureau- und
Kassenbeamten verbunden ist, die Anzahl der An¬
staltsärzte bereits auf 4 gestiegen und wird auch
weiterhin entsprechend der wachsenden Krankenzahl
noch vergrössert werden. Das Aufsichtspersonal be¬
stand anfangs bei einer Belegung mit 50 besonders
gemeingefährlichen, unheilbaren Geisteskranken aus
1 Oberwärter und 10 Wärtern. Nach kurzer Zeit
wurde aber die Belegungsstärke auf 68 Kranke er-
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104
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. ii.
höht, und es sind jetzt i Ober Wärter und 19 Wärter
thätig.
Das dreigeschossige, sehr fest erbaute Gebäude liegt
an dem Mittelhofe der Besserungsanstalt, getrennt
von ihm durch einen massiven Eisengitterzaun. An
der Hinterseite des Hauses befindet sich der mit
einer 5 m hohen Mauer umgebene, zugehörige Garten,
der die Anstalt nach aussenhin abschliesst. Zur An¬
stalt besteht nur ein einziger Zugang vom Hofe der
Korrektionsanstalt aus. Die Lage der einzelnen
Räume zu einander (Zellenflügel, Arbeits-, Tages-,
Schlaf- und Wärterräume mit Nebengelassen) ist aus
den beigefügten Grundrissen zu ersehen. Sämmtliche
Fenster sind mit starker Eisenvergitterung verwahrt. Die
Räume selbst sind theilweise ganz, theilweise in er¬
reichbarer Höhe mit Oelfarbe gestrichen. Ueberall
besteht Stabfussbodenbelag, mit Ausnahme der Bade-,
Wasch- und Anrichteräume, die mit Cementplatten aus¬
gelegt sind. Die Einzelzellen sind ausserordentlich fest
gebaut. Die grossen Fenster bestehen aus einer
festen Eisenfassung, in die zahlreiche kleinere, 25 mm
dicke Glasscheiben eingefügt sind. Zur Lüftung können
einzelne Fenstertheile derartig umgeklappt und ange¬
schlossen werden, dass sie Zerstörungssüchtigen keiner¬
lei Angriffspunkte bieten. Die Zellenzugänge sind
durch 2 Thüren verwahrt; die innere, doppellagige
Eichenthüre ist mit einem kleinen Fenster aus starkem
Glase, mit Espagnolette- und ausserdem mit besonderem
Schlüsselverschluss versehen. Die äussere ist gleichfalls
verschliessbar und dient sowohl zur Schalldämpfung,
wie auch zur Erhöhung der Sicherheit gegen Aus¬
brüche. Die Erwärmung der Anstalt geschieht durch
eine im Keller befindliche Niederdruckdampfheizung;
die einzelnen Heizkörper sind in die Wände ein¬
gebaut und mit starken, durchlöcherten Eisenplatten
verkleidet. Die eigentliche Heizung wird durch die
zwischen den Heizkörpern drkulirende Luft bewirkt,
der nach Erfordemiss durch regulirbare Klappen
Aussenluft beigemengt werden kann. Dazu bestehen
für die Sommerventilation Luftschächte mit Klappen¬
verschlüssen. Als Luftkubus kommen auf je einen
Kranken in den Einzelzellen 42,4—57,5 cbm, in den
Schlafräumen 21—24,7 cbm, in den Tagesräumen
14—23,2 cbm, in den Arbeitsräumen mindestens
15 cbm, je nach der Beschaffenheit der Kranken (die
Stationen für besonders Unreinliche, bezw. Gewalt¬
tätige, sind weniger dicht belegt). Die Beleuchtung
geschieht durch elektrische Glühlampen, die in den
Einzelzellen geschützt hoch über der Thüre in die
Wand eingebaut sind. Für die Nachtzeit wird durch
Einschaltung eines bedeutenden Widerstandes die
Stromstärke herabgesetzt, so dass in den Schlaf-
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räumen ein mattes Dämmerlicht herrscht, das einer¬
seits die Schläfer 'nicht belästigt, andererseits aber
den dauernd umgehenden Wachen gestattet, durch
die an den Thüren angebrachten Fensteröffnungen
die ruhenden Kranken zu übersehen. Die Elektri-
cität wird aus der eigenen Centrale der Besserungs¬
anstalt bezogen. Die Wasserversorgung ist auch mit
der Besserungsanstalt gemeinsam. Aus 2 Tiefbrunnen
wird das Wasser entnommen, nach Piefke’s Ver¬
fahren enteisenet und dann nach System Sellenscheidt
filtrirt. Nach den Badestuben bestehen Warmwasser-
leitungen. Die Beseitigung der Abfälle ist getrennt
Die festen und flüssigen Exkremente gelangen durch
Fallröhren bezw. Urinbecken in zwei Sammelgruben
(eine für das Hauptgebäude und eine für den Zellen¬
flügel) und werden von dort pneumatisch in ge¬
schlossene Abfuhrwagen gesogen. Die Niederschlags¬
und Wirthschaftsabwässer werden durch das Kanali¬
sationssystem der Besserungsanstalt in die Deime ge¬
führt. Die Kloseträume sind mit den üblichen Ent¬
lüftungsschächten versehen, die an ihrer Spitze John-
sche Ventilationsaufsätze tragen.
Ueber die ersten beiden Jahre des Bestehens der
Anstalt entnehme ich hinterlassenen Papieren des
verstorbenen Anstaltsarztes Dr. v. Schaewen über das
Krankenmaterial folgende Notizen: „Von den 88
während dieser Zeit erfolgten Aufnahmen sind 30
(34%) gamicht vorbestraft, 9 (10%) mit geringen,
nicht entehrenden Haft- und Geldstrafen belegt, 23
(26%) mit Gefängnissstrafen belegt und 26 (30%)
mit z. Th. schweren Zuchthausstrafen bestraft (unter
den letzten sind 4 zum Tode verurtheilte Verbrecher,
die begnadigt worden sind, und 2 zu lebensläng¬
lichem Zuchthause verurtheilte Verbrecher).“ „Was
die Form der einzelnen Geistesstörungen anlangt, so
litten:
an Paralyse.
1
an typischer Paranoia.
26 (darunter 7
Quärulanten)
an periodischem Irresein mit Erreg-
ungszuständen.
H
an secundärer Demenz.
24
an Katatonie.
9
an epileptischem Irresein . . . .
9
an Imbecillität.
4
an alkoholischem Irresein . . . .
1
zusammen
cd
00
Ueber das gegenwärtige Krankenmaterial von 68
Insassen (am 1. IV. 1904) habe ich folgende Stati¬
stik bezüglich ihrer Criminalität und der Form ihrer
Erkrankung zusaramengestellt:
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
105
1004.]
I. Weder criminell noch vorbestraft: 14.
Grund der Einlieferung: Gewaltthätigkeit 2, Gewalt¬
tätigkeit mit Unverträglichkeit 4, Gewaltthätig¬
keit mit Quäruliren 1, Gewaltthätigkeit mit Zer¬
störungssucht 2, Gewaltthätigkeit mit störender
Unruhe 2, Zerstörungssucht mit hartnäckiger
Widersetzlichkeit 1, Unverträglichkeit mit stö¬
render Unruhe 1, Unreinlichkeit mit pervers
sexuellen Neigungen 1.
Krankheitsform: Paranoia chron. 6, period. Irresein 1,
Dementia praecox 1, Dementia paranoides 2,
epiiept Irresein 2, traumatisch epilept. Irre¬
sein 1, Imbecillität 1.
II. Weder verbrecherische Irre noch irre
Verbrecher, aber vorbestraft: 8.
Grund der Einliefeiung: Gewaltthätigkeit mit Unver¬
träglichkeit 4, Gewaltthätigkeit mit Quäruliren 1,
Gewaltthätigkeit mit raffinirten Fluchtversuchen 1,
raffin. Fluchtversuche 1, störende Unruhe 1.
Vorbestraft wegen: Vatermord i, wiederholter Körper¬
verletzungen 1, Hausfriedensbruchs und leichterer
Uebertretungen 1, Hehlerei i, militärischer Ver¬
gehen 1, wiederholten Landstreichens und Bet¬
teins 3.
Zur Zeit der Strafthaten wahrscheinlich: gemindert
zurechnungsfähig 4, unzurechnungsfähig 1.
Krankheitsform: Paranoia chron. 3, Paranoia chron.
combinirt früher mit abgelaufenen Alkoholpsy¬
chosen 1, Dementia paranoides 2, epilept. Irre¬
sein 2.
III. Verbrecherische Irre: 12.
Grund der Einlieferung: Gewaltthätigkeit 5, Gewalt¬
thätigkeit mit raffin. Fluchtversuchen 3, Neig¬
ung zu Mordversuchen i, raffln. Fluchtversuche
mit Aufwiegeln und Quäruliren 1, störende Un¬
ruhe 2.
Strafthat bei bestehender Unzurechnungsfähigkeit:
Mord der Gattin und eines Kindes 1, Gatten¬
mordversuch 2, Mordversuch mit Brandstiftung
1, Mordversuche und Erdrosselung eines Mit¬
kranken 1, wiederholter Mordversuch an Wär¬
tern 1, Körperverletzung 2, Brandstiftung mit
Majestätsbeleidigung 1, Brandstiftung und wieder¬
holte Exhibitionen 1, Einbruchsdiebstähle bei
Beurlaubung aus der Anstalt 1, militärische Ver¬
gehen 1.
Deswegen angeklagt, aber freigesprochen: 5.
Vorbestraft wegen: mehrfachen Diebstahls 1, Dieb¬
stahls mit Körperver/et zlin g 2, Hehlerei und
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Körperverletzung 1, Landstreichen und Körper¬
verletzung 1, wiederholte Exhibitionen 1.
Während der früheren Strafthaten wahrscheinlich:
gemindert zurechnungsfähig 1, unzurechnungs¬
fähig 3.
Krankheitsform: Paranoia chron. 5, period. Irresein 2,
Entartungsirresein 1, Dementia praecox 2, epi¬
lept Irresein 1, Imbecillität mit Erregungszu¬
ständen 1.
IV. Irre Verbrecher: 34.
Grund der Einlieferung: wegen des criminellen Vor¬
lebens 10, Gewaltthätigkeit 11, Gewaltthätigkeit
mit Fluchtverdächtigkeit 6, Fluchtverdächtigkeit
2, Zerstörungssucht 1, störende Unruhe 2, Neig¬
ung zum Complottiren 2.
Eingeliefert aus: Zuchthaus 17, Gefängniss 6, militär.
Festungshaft 3, Korrektionsanstalt 8.
Bestraft wegen : Mord 4, Gattenmord 1, Mordversuch
durch Höllenmaschine 1, schwerer Körperver-
, letzung 2, Brandstiftung 2, Strassenraub 3,
schwerer Diebstähle 9, Diebstahl mit Meuterei
1, Meineid und Verleitung zum Meineide 1,
widernatürliche Unzucht 1, militärischer Ver¬
gehen 2, Betteln 2, Landstreichen 5.
Während dieser Strafthat wahrscheinlich: gemindert
zurechnungsfähig 2, unzurechnungsfähig 15.
Bereits vorbestraft: Gewohnheitsverbrecher 8, Belei¬
digung mit Körperverletzung 1, Mordversuch 1,
wiederholte Körperverletzung 1, wiederholte Dieb¬
stähle 8, Diebstahl, Hehlerei, Jagdvergehen 1,
militär. Vergehen 1, Gewohnheitslandstreicher 8.
Criminalität während des Aufenthalts in anderen Irren¬
anstalten: Nach Ausbruch aus Heilanstalt Mord
und Mordversuch 1, Mordversuch am Anstalts¬
arzt 2, Mordversuch am Wärter 1, schwere Ver¬
letzung eines Mitkranken 1, wiederholte schwere
Verletzung von Wärtern 1.
Krankheitsform: Paranoia chron. 17, Paranoia chron.
mit Imbecillität 2, Entartungsirresein 1, Dementia
praecox 6, Dementia paranoides 1, Dementia
traumatica 1, epilept. Irresein 2, neurasthenisches
Irresein 1, Imbecillität 3.
Aus den vorstehenden Tabellen ist zu ersehen,
dass ein beträchtlicher Procentsatz der Insassen nicht
criminell ist, aber dafür umso lästiger und gefähr¬
licher. Im Laufe der letzten Jahre ist die Beobacht¬
ung gemacht, dass sich dieses Verhältniss andauernd
zu Gunsten der gefährlichen, nicht criminellen Ele¬
mente noch weiter verschiebt, indem die überfüllten
Irrenanstalten weit lieber harmlose Verbrecher be-
Ürigiral from
HARVARD UN1VERSITY
io6 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. n.
halten und dafür im Interesse der anderen Kranken
jene unliebsamen Störenfriede absehicben (v. Schaewen
giebt allerdings für die erste Zeit in seiner Zusammen¬
stellung bereits einen höheren Procentsatz nicht kri¬
mineller Kranker an, der mit meiner Beobachtung
nicht im Einklänge steht, sich vielleicht aber daraus
erklärt, dass v. Schaewen bei der Aufstellung der
Statistik nur die ärztlichen Akten, nicht aber auch
die meist sehr umfangreichen Personalakten benutzt
hat).
Für die Absätze über Zurechnungsfähigkeit der
Tabellen II, III und IV bemerke ich, dass ich nur
dann die Wahrscheinlichkeit einer bei Strafthaten vor¬
handen gewesenen geminderten Zurechnungsfähigkeit
oder Unzurechnungsfähigkeit angenommen habe, wenn
ich aus dem Aktenstudium gute Gründe dafür fand.
Da aber in manchen Fällen das Aktenmaterial sehr
dürftig war und keine Anhaltspunkte für die Beur¬
teilung der Zurechnungsfälligkeit lieferte, ist sicher
die Zahl der unrichtig verurteilten noch zu niedrig
veranschlagt worden. Bemerkenswert ist es, dass
unter den Krankheitsformen die chronische Paranoia
weitaus am stärksten vertreten ist. Der Grund ist
wohl darin zu suchen, dass gerade Kianke mit relativ
M i t t h e i
— Jahresversammlung des Deutschen Ver¬
eins für Psychiatrie zu Göttingen vom 25. bis 27.
April 1904. (Schluss.)
Discussion zum Vortrag Schüle-IIlenau: Nochmals
das Heiraten von früher Geisteskranken.
In der Discuss ion betont Fürstner, dass zu
einer statistischen Bearbeitung der Frage das Material
der gewöhnlichen Zählkarten nicht genüge. Ferner
w ürde einer solchen Statistik die ganze grosse Menge
derjenigen Degenerirlen entgehen, w elche zeitlebens
ausserhalb der Anstalt leben, welche aber unter Um¬
ständen eine Nachkommenschaft in eminenter Weise
erblich belasten.
Dieses letzte Moment betont auch Hitzig. Er
weist noch darauf hin, wie sehr jeder auf gesetz¬
geberischem Wege zu Stande kommenden Freiheits¬
beschränkung des Individuums die Stimmung des
Publikums entgegenstehe. Das Zählkartenmaterial
halte er für genügend.
Mendel weist gegenüber Hitzig daraufhin, dass
Schüle von gesetzgeberischen Maassregeln ja gar nicht
gesprochen habe. Auch er hält ein weiteres Studium
der Erblichkeitsfrage für dringend nöthig: man wisse
noch nicht über die einfachsten Fragen der Heredität
Bescheid, z. B. darüber, wie viel Procente der Nach¬
kommenschaft erblich Belasteter gesund bleiben, wie
gross also, procentualisch berechnet, für erblich be¬
lastete Individuen das Risico sei. eine kranke Nach¬
kommenschaft zu erzielen.
gut erhaltener Intelligenz bei vorhandener Neigung,
auf beeinträchtigende Wahnvorstellungen gewaltthätig
zu reagiren, die schärfste Aufsicht erfordern und des¬
halb besonders für diese Specialanstalt geeignet er¬
scheinen.
Von einer statistischen Berücksichtigung der in
den Jahren April 1900 bis März 1904 entlassenen
oder in andere Anstalten überführten Kranken habe
ich abgesehen, weil bei einzelnen Insassen die An¬
gaben nach obigen Gesichtspunkten unsicher gewesen
wären und damit die Zuverlässigkeit der Zusammen¬
stellung Einbusse erlitten hätte.
Die bereits 6 Jahre langen Erfahrungen im Be¬
triebe der Anstalt, der von dem anderer Irrenanstalten
nur in soweit abweicht, als es die Gefährlichkeit der
Insassen dort auch noth wendig machen würde, haben er¬
geben, dass der Zweck, die andern Frovinzialanstalten
von den bösartigsten und beschwerlichsten Kranken
zu entlasten, erreicht ist. Es sind seit der Eröffnung
keine Uebelstände bemerkbar geworden, die für die
Provinz Ostpreussen eine Acnderung in ihrer Unter¬
bringungsart krimineller Geisteskranker und irrer Ver¬
brecher wünschenswert!! machen.
1 u n g e n.
Schüle betont in seinem Schlusswort nochmals,
dass er jetzt noch keine gesetzgeberischen Schritte,
sondern nur eine wissenschaftliche Vorarbeit fordere.
Auch nach seiner Ansicht genüge das Zählkarten¬
material nicht. Auf eine Anregung Fürstners erklärte
er sich bereit, einen entsprechenden Fragebogen aus¬
zuarbeiten, welcher dem Vorstande des Vereins vor¬
gelegt werden soll.
Professor S oin m er- Giessen gab einen kurzen
Ueberblick über die von ihm seit Jahren ausge¬
arbeiteten p s y c h o 1 o g i s c h e n Methoden und ihre
Anwendung bei der Untersuchung Geisteskranker.
Sie verfolgen den Zw'eck, alle Aeusserungen einer
Geistesstörung auf körperlichem w r ie auf psychischem
Gebiet möglichst objektiv darzustellen, sodass ein
Vergleich der Resultate untereinander möglich wird.
Vortragender wies darauf hin, wie dieses Princip und
das andere von ihm seit Jahren betonte, die An¬
wendung des gleichen Reizes und der Beobachtung
der Reaclionszeit und -Dauer schon weitgehende An¬
erkennung auf wissenschaftlichem und praktischem
Gebiet gefunden habe. Eine Anzahl von Kurven,
welche die Ausführungen des Vortragenden erläutert,
werden mittelst des Projektionsapparates demonstrirt.
W est ph a 1 -Greifswald : Demonstration mi¬
kroskopischer Präparate eines seltenen
Falles von Missbildung des Rückenmarks.
In der Nachmittagssitzung vom 2ö. April zeigte
der Vortragende eine Reihe von Serienschnitten durch
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Original fram
HARVARD UNiVERSITY
1904.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
eine merkwürdige cystenartige Bildung, welche sich als
zufälliger Befund am unteren Rückenmarksabschnitt
einer erwachsenen, an einer akuten Psychose gestor¬
benen Frau vorfand. Die Wand der Cyste besteht
vorwiegend aus glatten Muskelfasern, die sich auch
im Rückenmark, selbst in der hinteren Schliessungs¬
linie nachweisen lassen. Zwischen den Muskelfasern
findet sich reichliches Bindegewebe, zahlreiche Blut¬
gefässe, spärliche Nervenfasern. Das Lumen der Cyste
ist mit Epithel ausgekleidet Das Rückenmark zeigt
im Sacralmark partielle Verdoppelung der grauen
Substanz mit Verdoppelung des Centralkanals (Diate-
matomyelie). Wirbelsäule und Dura waren vollkommen
intakt.
Der Vortragende weist auf entwickelungsgeschicht¬
liche Thatsachen und experimentelle Untersuchungen
an Vogelembryonen (Köllmann) hin, nach denen es
sehr wahrscheinlich ist, dass die Cyste einen erwei¬
terten, aus früher Embryonalzeit persistirenden Ca-
nalis neuriticus darstellt.
(Der Fall wird ausführlich veröffentlicht werden).
(Autoreferat.)
K. Brodmann: Demonstrationen zur
Cytoarchitec to ni k der G ross h i rn rin d c mit
besonderer Berücksichtigung der histolo¬
gischen Lokalisation bei einigen Säuge-
thieren. (Ausführlich mit Abbildungen und Tafeln
im Journal f. Psychol. u. Neurol.)
Von früheren histologischen Lokalisationsversuchen
beim Menschen ausgehend, hat Vortragendei an einem
umfangreichen thierischen Materiale die Frage in An¬
griff genommen, ob und inwieweit sich bei einzelnen
Arten der Thierreihe den menschlichen analoge, d. h.
durch Lage und Schic htcnstriictur übereinstimmende
Rindenfelder nachweisen lassen. Seine Untersuch¬
ungen beziehen sich zunächst hauptsächlich auf die
Säugethierreihe. Dabei kam er in der Hauptsache
zu folgenden Feststellungen:
1. Der Grundplan des cvtohistologischen Schichten¬
baues der Grosshirnrinde ist bei Menschen und (höhe¬
ren) Thieren — abgesehen von Einzelheiten — ein
übereinstimmender; insbesondere lässt sich der beim
Menschen vorhandene histogene tisch e Grund¬
typus auch bei Thieren nachweisen.
2. Wie beim Menschen, bestehen auch bei den
Thieren weitgehende örtliche structurelle Verschieden¬
heiten des Rindenquerschnittes, welche — zunächst
ganz unabhängig von physiologischen Voraussetzungen
— zu einer Aufstellung von histologischen Cen¬
tre» führen, die unter sich in eine gewisse Ana¬
logie zu setzen sind.
3. Einzelne dieser Centren zeigen bei manchen
Thieren in ihrer Zelltextur (Cytoarchitectonik) eine
grosse Uebereinstimmung mit entsprechenden Feldern
beim Menschen, so namentlich die durch den „Cal-
carinatypus“ ausgezeichnete Area striata im Occipital-
lappen, ferner die Felder der Regio Rolandica und
ihrer Nachbarschaft (Affe, Katze), die sog. Riech¬
rinde, der limbische Typus und ein vom Vortr. noch
nicht näher beschriebener Frontaltypus. Audi die
Inselrinde lässt bei manchen q'hieien eine ähnliche
107
Cytoarchitectonik erkennen. Bezüglich anderer Felder
sind die Untersuchungen noch nicht abgeschlossen.
4. Die genaue Abgrenzung der histologischen
Centren, also ihre Gestalt und topographische Lage¬
beziehung zu bestimmten Punkten der Hemisphären-
oberfläche, speciell zu einzelnen Furchen, ist bei den
verschiedenen Thierarten vielfach ganz von einander
abweichend. Eine exacte histologische Loka¬
lisation muss also für jede Thierspecies getrennt
vorgenommen werden, ehe wir zu einer vergleichenden
Organologie des Grosshirns gelangen können. Eine
nächste und wichtigste Aufgabe ist daher die über
die ganze Thierreihe sich erstreckende vergleichende
cytoarchitectonische Topographie der Grosshimrinde.
Im Einzelnen belegt Vortragender an der Hand
von mikroskopischen Präparaten, von Photogrammen
und Lichtdrucken von solchen seine Sätze; speciell
demonstrirt er den cytoarchitectonischen Bau des
„Calcarinatypus“ bei zahlreichen Vertretern der Säuge¬
thierreihe (verschiedene Affenarten, Halbaffen, Katze,
Kaninchen, Igel, fliegender Hund, Känguruh) und
zeigt die Uebereinstimmung desselben mit dem mensch¬
lichen Calcarinatypus. Trotz dieser Uebereinstimmung
des Grundrisses des Calcarinatypus finden sich dennoch
nicht nur bei verschiedenen Familien, sondern sogar
bei verschiedenen Arten derselben Familie charak¬
teristische Differcnzirungcn, welche unter Umständen
direkt die Erkennung der Species aus dem Quer¬
schnitt dieses Rindenabschnittes gestatten. So be¬
sitzen die niedrigen platyrheninen Kapuzineraffen eine
Gliederung des Calcarinatypus, welche reicher und
feiner ist, als diejenige aller anderen (bisher unter¬
suchten) Affen, einschliesslich des Menschen; an
Uebersichtspräparatcn wird die Zwölfschichtung des
Calcarinatypus vom Kapuzineraffen der Achtschichtung
dieses Typus beim Menschen und anderen Affen
gegenübergestellt.
Die 1 okalisatorisch e A bgrenzung dieses Rin¬
denfeldes (Area striata) wird hauptsächlich von 2 Affen
(Macacus und Cebus) an Auswahldiapositivcn aus
Schnittserien durch ganze Hemisphären demonstrirt.
Als wesentliches Ergebniss wird die biologisch inter¬
essante Thatsache festgestellt, dass beim Affen der
Calcarinatypus (die area striata) einen sehr grossen
Theil der Convexitat des Hinterhauptslappcns ein¬
nimmt , während er beim Menschen fast ausschliess¬
lich auf die Medianfläche beschränkt ist. Im Allge¬
meinen stellt aber auch hier (wie beim Menschen)
dieses Rindenfeld ein scharf umschriebenes Organ
dar, das kappenartig dem Occipitalpol aufsitzt und
nach vorne sich verschinälernd im Grunde der F.
calcarina spitz endet. Die Ungenauigkeit und Un¬
vollständigkeit der Schl app 'sehen Abgrenzung dieses
Rindenfeldes wird eingehend dargethan und auch die
lediglich auf makroskopische Untersuchungen gestützte
Lokalisation von E. Smith in Einzelheiten ergänzt
und berichtigt. Auf die Lokalisation bei anderen
Thieren geht Vortragender nicht ein, er erwähnt nur
nebenbei, dass bei der Katze dieses histologische
Rindenfeld mit der Munk'sehen Stelle A sich nicht
deckt.
Zum Schlüsse zeigt Vortragender die Rinden-
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Original fram
HARVARD UNIVERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. m
108
felder, welche er bei Affen in der Regio Rolandica
abgrenzen konnte. Dieselben besitzen eine über¬
raschende Aehnlichkeit mit den früher beim Menschen
beschriebenen. Während Schlapp beim Affen
durch die Centralfurche nur 2 Felder abtrennt, unter¬
scheidet Vortr. auch hier (wie beim Menschen) in
der hinteren Central Windung 2 und nach vorne von
der Centralfurche mindestens 3 differente Rindenfelder.
Auch im Paracentralläppchen ist die Abgrenzung
ähnlich wie beim Menschen in 3 verschiedene Typen.
Nur in einer Hinsicht findet eine bemerkenswerthe
Abweichung statt, insofern nämlich als der Riesen-
Pyramidentypus bei Affen weiter nach vorn reicht
als bei Menschen, das eigentliche Stiinhirn also
dadurch gewissermaassen nach vorne gedrängt und
eingeschränkt erscheint.
An Oberflächenschemata von Affen und Menschen
weist schliesslich Vortr. auf die eigenthümliche
streifen- und bandförmige Gestalt seiner Rinden¬
felder hin (im Gegensatz zum Rindenfeldermosaik
Flechsigs), welche namentlich bei den lissen-
cephalen Krallenaffen (Hapaliden) so ausgesprochen
ist, dass eine gewisse äussere Aehnlichkeit mit einer
segmentären Anordnung der Centren nicht von der
Hand gewiesen werden kann. (Autoreferat.)
Li e pm ann-Berlin demonstriert Serien¬
schnitte vom Gehirn eines Apraktischen.
Es handelt sich um einen klinisch und anatomisch
genau untersuchten Fall dessen eingehende Publikation
besonders erfolgt.
Die beiden aus Göttingen angemeldeten Vortra¬
genden, Dr. W eb er und Dr. Vogt, hatten zu Gunsten
der auswärtigen Gäste auf ihre Vorträge verzichtet.
Den Schluss der Jahresversammlung bildete am
Dienstag Nachmittag eine Besichtigung des Provin¬
zial -N er vensa n ator iums Rasemühie. Bereits
am Tage vorher hatte Professor Cr am er-Göttingen
in seinem Vortrage die näheren Ausführungen darüber
gegeben. Die gesammte Anlage fand grossen Beifall.
Insbesondere wurde von allen Seiten anerkannt und
hervorgehoben, dass es hier gelungen sei, mit ausser¬
ordentlich geringen Kosten und unter Benutzung der
ganz anderen Zwecken dienenden Räumlichkeiten ein
allen Anforderungen entsprechendes modernes Kranken¬
haus zu schaffen. Der Oberarzt der Rasemühle Dr.
Qua e t-Faslern, führte den Gästen eine Reihe turnen¬
der Kranker vor und betonte, wie ausserordentlich
heilsam sich diese regelmässigen Turnübungen bei
der Behandlung Nervenkranker bewähren.
Während der Tagung der Jahresversammlung hat
eine Vereinigung von Vertretern der in Göttingen
hoch entwickelten Feinmechanik eine gemeinsame
Aufstellung von wissenschaftlichen Apparaten veran¬
staltet. Es waren dies namentlich die Firmen
Winkel für Mikroskope und mikrophotographische
Apparate, ferner Sartorius für Brütofen und
Beckensche Mikrotome. Apparate für Elektro-
Therapie, Massage usw. lieferten Gebr. Ruhstrat.
Der Optiker D räge r, Firma Ru dolph, hatte einen
neugebauten Projektionsapparat im Auditorium, wo die
wissenschaftlichen Sitzungen stattfanden, aufgestellt.
Allseitig wurden die ganz vorzüglichen Leistungen
dieses Apparates anerkannt.
Referate.
— Allgemeine Zeitschrift f. Psychiatrie
und psych. ger. Med. Bd. 60, Heft 5.
Gerlach (Königslutter). Zur Revision des
deutschen Strafgesetzbuches.
Die z. Z. gültigen Vorschriften über die Art und
Weise, wie mit gemeingefährlichen Geisteskranken
nach ihrer Freisprechung zu verfahren ist, bedürfen
einer Aenderung. v. Liszt verlangt, dass in dem Ein¬
stellungsbeschluss oder dem freisprechenden Urtheil zu¬
gleich die Ueberweisung an eine Heil- und Pflege¬
anstalt verfügt werde. Gegen diese Forderung wendet
sich Verf. im Interesse der Anstalten, denn wenn der
Geisteskranke von Gericht „zur Irrenanstalt ver-
urtheilt“ werde, so würden zweifellos in den Augen
des Volkes die Irrenanstalten von Neuem zu Straf¬
mitteln und Strafanstalten werden. Besser wäre es,
wenn das Gericht neben der Freisprechung nur fest¬
stellte. ob der Geisteskranke wirklich oder wahrschein¬
lich der Thäter sei und ihn, falls er die That begangen
habe, als gemeingefährlichen Geisteskranken der Ver¬
waltung sbehörde überwiese.
Stakemann (Rotenburg i. Hann.). Welche be¬
sonderen Einrichtungen sind bei der Anstalts¬
behandlung der Epileptischen erforderlich?
Für die grosse Mehrzahl der Epileptiker ist die
Anstaltspflege nötig, natürlich unter psychiatrischer
Aufsicht. Sonderanstalten für Epileptische sind wün-
schenswerth, ausnahmsweise können auch andere
Krampfkranke aufgenommen werden, zu wünschen ist
die Aufnahme von epileptischen Idioten, welche un¬
terrichtsfähig sind, ebenso die Zumischung eines ge¬
ringen Prozentsatzes von Geisteskranken. Die beson¬
ders zu fordernden Einrichtungen der Epileptikeran¬
stalten beschränken sich im wesentlichen auf den be¬
sonderen Schutz der Kranken vor Verletzungen und
Unglücksfällen. Weibliche Pflege ist auf den Abthei¬
lungen männlicher Epileptiker nicht angebracht.
Kornfeld (Gleiwitz). Gutachten betreffend
den Geisteszustand der Frau X. Diebstähle in
der Schwangerschaft.
Kurzes Gutachten einer 28 jährigen, nervös be¬
lasteten, Frau, welche als Kind 1 Jahr Krämpfe hatte,
während der Graviditäten ausserordentlich viel unter
Erbrechen, Kopfschmerzen, Benommenheit, Schwindel
und Vergesslichkeit zu leiden hatte und auch Wuthan-
fälle zeigte. Sie beging während der Schwangerschaft
Diebstähle bei einem Bäcker und einem Fleischer
und wurde auf Grund des Gutachtens freigesprochen,
welches verminderte Zurechnungsfähigkeit annahm, da
ihre Widerstandskraft erheblich unter die Norm herab¬
gesetzt war. Arnemann - Grossschweidnitz.
Pur den redaction eilen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Bresler * Lublinit* (Schlesien).
Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Mar hold in Halle a. S
Hevnemann’scbe Buchdruckerei (Gebr. V r olff) in Halle a. S.
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Beiblatt u Nr. 11
der Psychiatrisch - Neurologischen Wochenschrift.
11. Juni 1904.
Verlag von Carl Marhold, Halle a. S.
Liste zu ermittelnder unbekannter Geisteskranker. Nr. 25—29.
Zu Nr. 1. „Nennt sich Katharina Zwilla, Geburtsort
und -Datum unbekannt, 25 bis 30 Jahre alt. Grösse 1,52 m,
Haare dunkelblond, Stirn niedrig, Augenbrauen blond,
Nase kolbig, Mund gewöhnlich, Zähne gesund, Gesicht
rund, Sprache polnisch und gebrochen deutsch. Wurde
am 2 . Juli 1902 in Essen aufgegrifFen; befindet sich seit
dem 3 . September 1902 in der Provinzial-Heil- und Pflege¬
anstalt in Grafenberg bei Düsseldorf.“
Zu Nr. 2. „Nennt sich Witwe Heinrich Vossen,
Minna geb. Jansen oder Gänsen. Angeblich am 23 . Juli
1859 zu Kellen bei Cleve geboren. Eltern, Ackerer Jo¬
hann Jansen und Anna geb. Jansen sollen in Kellen ge¬
storben sein. Ein
Bruder, Bäckermei¬
ster' - Louis Jansen, soll früher in Kellen gewohnt haben.
Nach Mitteilung des Bürgermeisteramtes Kellen sind die
Angaben nicht zutreffend. Grösse 1,47 m, Haare blond,
Stirn niedrig, Augen blau, Nase spitz, Mund klein, Zähne
gesund, Gesichtsbildung länglich, Gesichtsfarbe blass.
Sprache deutsch. Besondere Kennzeichen: Strabismus diver-
gens.
War mehrmals einige Tage im Hotel Hesse in Düssel¬
dorf, Kaiser Wilhelmstrasse 47 .* mit Kartoffelschälen be¬
schäftigt. Seit 24 . Februar 1903 in der Provinzial-Heil-
und Pflegeanstalt zu Grafenberg.“
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Zu Nr. 3 „Nennt sich Sofia Bisiadecka, cirka 30 Jahre
alt. Grösse 1,55 m, Haare schwarz, Stirn gerade, Augen
grau, Nase spitz, Mund breit, Zähne defect, Gesichtsbildung
schmal, Gesichtsfarbe blass, Sprache polnisch.
Wurde am 11 . März 1902 abends in Düsseldorf auf
dem Hauptbahnhof aufgegriffen, angeblich von Antwerpen
kommend. Seit dem 15 . März 1902 in der Provinzial-Heil-
und Pflegeanstalt zu Grafenberg. u
Zu Nr. 4 . „Nennt
sich Maria Mai;
40 bis 50 Jahre alt.
Wurde im Februar
1894 in Wiebels-
Nr. 3. kirchen im Kreise
Ottweiler aufgegriffen. Die Person ist schwerhörig, spricht
wenig und ist blödsinnig. Dieselbe befindet sich im Land¬
armenhause zu Trier.“
Zu Nr. 5.
„Nennt sich Jo¬
hann Gottfried
Wehlehrs auch
Rosenberg. An¬
geblich am 24 .
Dezbr. 1855 in
Hamburg gebo¬
ren. Nach Mitteilung der Polizeibehörde in Hamburg nicht
zutreffend. Gibt jetzt an, bis zum 4. Jahre in Ohlau ge¬
wesen zu sein, dann in Breslau, woselbst er das Schuh¬
macherhandwerk erlernt habe.
Befindet sich bereits seit 1888 in Anstaltspflege. Zur
Zeit in der Irrenpflegeanstalt St. Thomas in Andernach.“
Es wird gebeten, Angaben, welche zur Ermittelung
der Herkunft der Kranken dienen können, an den Landes¬
hauptmann der Rheinprovinz in Düsseldorf,
Ständehaus, gelangen zu lassen.
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HARVARD UNfVERSITY
Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift.
Redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Lublinits (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Te legr.-Adr esse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834.
Nr. 12, _ 18 . Juni. _ 1904.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bretter, Lublinitz (Schlesien), zu richten.
Ueber die hypnotische Wirkung des Neuronais.
Von Dr. Arthur Siebert , III. Arzt an der Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalt zu Bonn.*)
G. Fuchs-Biebrich und E. Schultze-Bonn
gingen, wie ich einem von letzterem auf der diesjähri¬
gen Versammlung des Deutschen Vereins für Psychi¬
atrie zu Göttingen gehaltenen Vortrage**) entnehme, in
ihren Studien über Schlafmittel von dem Trional aus
und betonten die Wichtigkeit der Aethylgruppe für
den hypnotischen Effect, die schädliche Wirkung der
Sulfonbindung und endlich die Vortheile, die sich
durch Substitution des an Kohlenstoff gebundenen
Wasserstoffs durch Halogene, besonders Brom, er¬
gaben. Nach vergeblichen Versuchen mit Acetonen
und Aceto^ime^ gioggn sie zur systemädscheij Prü¬
fung von Acetamiden über und fanden im Laufe ihrer
Untersuchungen, dass das Bromdiaethylacetamid
Br^
C2IU — C-CONII2
C2 Hü ^
bei Thieren mit völliger Sicherheit einen sehr langen
und tiefen Schlaf herbeiführte, aus dem die Thiere
frisch wieder erwachten. Dieses Präparat bringt die
Firma Kalle & Co.-Biebrich unter dem Namen
„Neuronal“ in den Handel.
Das Bromdiaethylacetamid oder Neuronal ist ein
krystallinisches, weisses Pulver, das bei 06 — 67 °C
ohne Zersetzung schmilzt und in Aether, Benzol,
Alkohol und Oel leicht löslich ist. Seine Wasser¬
löslichkeit dagegen beträgt 1:115. Es besitzt einen
bitteren, mentholähnlichen, etwas kühlenden Ge¬
schmack.
Nachdem Neuronal an einer Anzahl Gesunder
mit gutem Erfolge und ohne schädliche Nebenwirk¬
ungen in Anwendung gekommen w r ar, wurde seine
*) Nach einem in der 73. ordentlichen Generalversamm¬
lung des Psychiatrischen Vereins der Rheioprovinz gehaltenen
Vortrage.
**) „Beziehungen zwischen chemischer Constitution und
hypnotischer Wirkung. — Eine neue Gruppe von Schlaf-
mitteln 4 '. Der Vortrag erscheint denijj^sf in der „Münchener
medicinischen Wochenschrift“.
Prüfung an Kranken in grösserem Umfange vorge¬
nommen. Verbraucht wurden seit Ende vorigen
Jahres im Ganzen etwa 450 g in ca. 350 Einzel¬
dosen bei über hundert meist männlichen Patienten
der Bonner Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalt
Am besten wirkte Neuronal bei unkomplizirtem
Schlafraangel, in der Reconvalescenz, bezw. Remission
von Psychosen verschiedener Art, bei Neurasthenie,
bei senil Dementen mit massiger motorischer oder
verbaler Unruhe und bei leichteren depressiven Ver¬
stimmungszuständen jugendlicher Individuen (20 Pa¬
tienten). In etwa 1 U der Fälle genügte 0,5 g; nur
3 mal machte sich eine Eir^eldosis von 1,5 g nöthig;
in der überwiegenden Mehrzahl betrug die Einzelgabe
1,0 g. Oft schon wenige Minuten nach dem Ein¬
nehmen des Mittels, durchschnittlich in V2 Stunde,
trat Schlaf ein, der in der Hälfte aller Fälle ununter¬
brochen bis zum Wecken andauerte und im Mittel 7—8
Stunden währte. Wo der Schlaf kürzer w'ar, wurde er
auch öfters durch meist allerdings nur ganz kurze
Intervalle unterbrochen. Nur ganz selten und zwar
nur bei Altersblödsinnigen mit stärkerer motorischer
Erregung w*aren die Schlafpausen durch Unruhe com-
plicirt.
Etwas weniger gut w’aren die Resultate bei Invo-
lutions- und senilen Melancholien mit stärkerem Her¬
vortreten von hypochondrischen Ideen und Angstzu¬
ständen (6 Patienten). Hier führten nur in weniger
als der Hälfte der Fälle kleinere Dosen zum Ziele;
meist werden 1,5, in einigen Fällen 2,0 g gegeben.
Im Durchschnitt dauerte es nicht ganz eine Stunde,
bis der Schlaf eintrat, der dann auch nicht häufig
die ganze Nacht, im Mittel nur 5 V2 Stunden an¬
hielt und öfters mit mehr oder weniger unruhigen
Zwischenzeiten abw'echselte.
Kranke, deren Schlafmangel im Wesentlichen
durch Hallucinationen bedingt war (5 Patienten),
quittirten die Gabe von 1,0 g mit einem durchsdmitt-
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HARVARD UNIVERSITY
I IO
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 12.
lieh 7stiindigen Schlaf, der sich häufig bald nach
dem Einnahmen, im Durchschnitt i Stunde nachher,
ein stellte und nur vereinzelt unterbrochen war. Bei
2 Kranken mit deliriöser Verwirrtheit und grosser
motorischer Unruhe Hessen 1,5 g länger auf den Er¬
folg warten; und der nach 1 V2 Stunden eintretende
Schlaf hielt nur 4 — 5 Stunden an. Die allerdings
geringe Dosis von je 1,0 g hatte bei 2 Alkohol¬
deliranten keine ersichtliche Wirkung; sic blieben
schlaflos.
Bei Manischen (14 Patienten) genügte bei massiger
Erregung i,o, seltener 0,5 g, um nach etwa V2 Stunde
einen ergiebigen Schlaf von 6 — 7 Stunden herbei¬
zuführen. Stärkere Erregungen erforderten meist 1.5,
in einzelnen Fällen sogar 2,0—3,0 g, ohne dass man
auch dann immer zum Ziel kam. Bei der letztge¬
nannten Kategorie von Kranken waren allerdings
häufig schon längere Zeit hindurch die verschieden¬
sten Hypnotica und Sedativa in meist über mittlerer
Dosis mit der gleichen unsicheren Wirkung gegeben
worden.
Auch paralytische (18 Patienten), sowie hebephre-
nisehe und katatonische (13 Patienten) Erregungen mitt¬
lerer Stärke brauchten meist 1,5 g zur Erzielung der ge¬
wünschten hypnotischen Wirkung, die dann durchschnitt¬
lich in :i U Stunden eintrat^und 6 Stunden anhiclt. Ge¬
ringere Gaben waren in solchen Fällen nur von mässigem
Erfolge begleitet. Einigemale waren 2,0 — 3,0 g bei
stärkeren Erregungen von prompter Wirkung, auch bei
solchen Patienten, die infolge stetiger motorischer Un¬
ruhe schon die Bekanntschaft einer Reihe anderer Be-
ruhigungs- und Schlafmittel mit wechselndem Erfolg
gemacht hatten. Ich will nicht vergessen zu er¬
wähnen, dass, abgesehen von der Bettbehandlung,
wo sie angebracht erschien, bei vielen der Kranken
nebenbei protrahirte Bäder gegeben wurden, die sich
oft über den ganzen Tag erstreckten.
Wegen des starken Bromgehalts des Neuronais
von 41 ° o lag es nahe, seine Anwendbarkeit nament¬
lich auch bei Epileptikern zu prüfen. Einen regel¬
mässigen Gebrauch, etwa in der Art der Bromsalze,
verbot seine starke hypnotische Wirkung. So war
man denn auf seine gelegentliche Anwendung ange¬
wiesen. Ein Epileptiker, bei dem nachts ein mit
Bewegungsunruhe verbundener Verwirrtheitszustand
auftrat, beruhigte sich im Laufe des nächsten Tages,
an dem er 2 stündlich je 0,5 g Neuronal, im Ganzen
3,0 g erhielt, und schlief die darauf folgende Nacht
ununterbrochen durch. Ein anderer Epileptiker, der
einen mit intensiver motorischer Unruhe vergesell¬
schafteten deliriösen Verwirrtheitszustand bot und auf
Digitized by Google
2.5 g Chloral nicht merklich reagirte, schlief, als er
5 Stunden später 1,5 g Neuronal erhielt, in kurzer
Zeit ein und blieb fernerhin ganz ruhig. In einem
weiteren Falle von epileptischem Delir mit grosser
Unruhe, das sich an eine Serie von Anfällen an¬
geschlossen hatte, blieb auf 1,5 g die Wirkung aus,
während einige Tage später, als sich die Unruhe ge¬
mindert hatte, auf 1,0 g volle Schlafwirkung zustande
kam. Ob Neuronal auch einen Status epilepticus
günstig zu beeinflussen vermag, habe ich mangels
eines solchen nicht entscheiden können. Doch trat
bei 3 Kranken, bei denen 6 — 8 Anfälle einander
schnell gefolgt waren, ohne dass freilich in den an¬
fallsfreien Intervallen der Bewusstseinsverlust anhielt,
nach einer Gabe von je 1,0—1,5 g kein Anfall mehr
auf, während in einem 4. ähnlichen Falle noch ein
Anfall hinzukam. Gegebenenfalls wären bei Status
epilepticus 2,0—3,0 g Neuronal, in Olivenöl gelöst,
als Klysma zu verabfolgen. Leichte Schlaflosigkeit
der Epileptiker wurde schon durch kleine Gaben von
0,5 bis höchstens 1,5 g behoben. In solchen Dosen
wurde das Mittel endlich auch bei epileptischen Kopf¬
schmerzen angewendet, von den Kranken gelobt und
häufig wieder erbeten.
Auch bei Ccphalalgicn auf anderer Basis leistete
es, wenn auch meist nur vorübergehend, gute Dienste.
Schliesslich hatte ich auch die sedative Wirkung
des Neuronais zu erproben einigemale Gelegenheit.
Ein unruhiger Paralytiker schlief auf eine Morgen¬
gabe von 1,0 g den ganzen Tag, ein anderer auf
1.5 g am Spätnachmittag den Rest des Tages und
die darauffolgende Nacht hindurch. Ein ängstlicher
Katatoniker, der nachts gar nicht geschlafen hatte,
fortwährend aufgestanden war und dieses Verhalten
am Morgen fortsetzte, schlief zwar auf 1,5 g am
Tage nicht ein, verhielt sich aber ruhig und blieb im
Bett. In einem weiteren Falle paralytischer Unruhe
hatte 1,0 g keinen Einfluss.
Neunmal wurde in der Regel als Pulver gegeben
und mit etwas Wasser hinuntergespült. Es empfiehlt
sich, ähnlich wie es bei der Darreichung des Trionals
oder Veronals gerne geschieht, etwa V4 1 warme
Flüssigkeit nachtrinken zu lassen, um die Lösung
des Mcdicamcnts und dadurch seine Wirkung zu be¬
schleunigen.
Mehrfach wurde über den schlechten Geschmack
des Neuronais geklagt, namentlich seitens einiger
weiblicher Patienten, die es deshalb theilweise aus-
spuckten und schliesslich gar nicht mehr nahmen.
Ein seniler Melancholiker fand den Geschmack „so
widerlich, so faulartig“, ein anderer Patient berichtete
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I 9 ° 4 -J
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
111
von bitterem Geschmack im Halse; weiterhin wurde
in je einem Falle über Brennen in der Speiseröhre,
sowie über Sodbrennen und Aufstossen geklagt. Bei
einem Patienten erfolgte imal, bei einem anderen
mehrmals nach dem Einnehmen Erbrechen. Die
Einhüllung in eine Oblate verdeckte übrigens den
unangenehmen Geschmack. Zu demselben Zweck
wurden seitens der Fabrik Tabletten zu 0,5 g her¬
gestellt, die aber von einem Theil der Kranken, an¬
statt direkt verschluckt, erst zerkaut wurden. Im
Uebrigen war die Wirkung des Medicaments in
Tablettenform die gleiche. Bei einem Katatoniker,
der an 4 aufeinander folgenden Abenden zusammen
9,0 g des Mittels bekommen hatte, trat in der 4.
Nacht Diarrhoe auf, die einige Tage anhielt. Ob
aber das Neuronal daran die Schuld trug, müssen
weitere Erfahrungen entscheiden. Eine leicht Stuhl
befördernde Wirkung glaube ich allerdings auch in
einem andern Falle beobachtet zu haben. Ein sehr
unruhiger Maniakus, der an 2 Abenden 2,0 bezw.
j,o g Neuronal bekommen hatte, gab am zweiten
Morgen an, er sei w ie betrunken, und gerirte sich
auch so; es Hessen sich bei ihm 120 Pulse feststellen,
die aber ebensogut seiner Bewegungsunruhe auf Rech¬
nung gesetzt werden konnten. Sonst habe ich Klagen
über Benommenheit am anderen Morgen nur ganz
selten zu hören bekommen.
Ich habe zu selten eine genügende Reihe von
Tagen hintereinander das Mittel bei demselben Pa¬
tienten gegeben, um über eine eventuelle kumulative
Wirkung einer-, eine Angewöhnung und verminderte
Wirksamkeit anderseits ein sicheres Urtheil fällen zu
können. Auch das muss weiteren Versuchen Vorbe¬
halten bleiben. Das Körpergewicht derjenigen Pa¬
tienten, die die grössten Gesammtdosen von Neuronal
erhalten hatten, bot keine auffälligen Schwankungen,
das heisst keine solchen, die nicht in der Natur der
Erkrankung selbst ihre hinreichende Erklärung fanden.
Die Nahrungsaufnahme erfuhr keine Veränderung.
Ein Exanthem wurde in keinem Falle beobachtet.
Was den Vergleich mit anderen Schlafmitteln an¬
geht, so glaube ich, dass Veronal im Ganzen etwas
intensiver wirkt, als Neuronal, dass man mit 1,0 g
Veronal ebensoviel erreicht, als mit 1,5 g Neuronal;
dem letzteren kommt aber das fast völlige Fehlen
einiger dem Veronal oft eigenthümlicher Nebenwirk¬
ungen zu Gute, wie Benommenheit und motorische
Unsicherheit. Was die anderen gebräuchlichsten
Hypnotica betrifft, so möchte ich Neuronal als dem
Trional sicher gjeichwerthig betrachten und der Dosis
von 1,5 g Neuronal diejenige von 2,0 —2,5 g Dor-
miol oder 2,0 g Chloralhydrat entsprechen lassen.
Wie wohl auf fast alle Schlafmittel, so reagiren auch
auf das Neuronal einzelne Individuen ganz besonders
gut. So schlief ein jugendlicher, depressiv ver¬
stimmter Kranker auf 1,0 g Neuronal gewöhnlich
die ganze Nacht hindurch, w r enn auch mit leichten
Unterbrechungen, während er auf zwischendurch ge¬
gebene Dosen von je 1,0 g Trional, bezw. Veronal
schlaflos blieb. Bemerkt sei noch, dass sich mit
verschwindenden Ausnahmen alle Patienten, denen
das Mittel wegen Schlaflosigkeit gegeben wurde, auf
Wachsälen befanden, so dass eine stetige Controlle
möglich w’ar.
Der Preis des Neuronais entspricht dem des Vero-
nals und beträgt somit beim Bezug von 100 g aus der
Fabrik 18 Pfennige für das Gramm.
Kurz erwähnen möchte ich noch, dass ich auch
das homologe Bromdipropylacetamid in einer Reihe
von Fällen auf seinen hypnotischen Effect geprüft
habe. Durchaus in Uebereinstimmung mit dem Er-
gebniss der Thierversuche von Fuchs und Schultze
(cf. oben citirte Arbeit) fand ich, dass dieses Präparat
auch beim Menschen dem Neuronal ähnlich, aber
langsamer und schwächer wirkte.
Nach den in der Bonner Anstalt gemachten Er¬
fahrungen darf ich resumiren:
Das Neuronal ist ein in Gaben von 0,5—1,0 g
bei leichter, von 1,5-- 2,0 g bei schwerer Schlaflosig¬
keit und bei Erregungszuständen Geisteskranker ver¬
schiedener Art, besonders auch der Epileptiker, gut
wirkendes Schlafmittel, das dem Trional am nächsten
kommt, ohne dass es dessen kumulative Eigenschaft
zu besitzen scheint. Eindeutige Nebenwirkungen be¬
denklicher Natur wurden bis jetzt nicht beobachtet.
Mit dem Neuronal sind wir somit um ein schätzen#*'
werthes Hypnoticum reicher geworden.
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ri2
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 12.
Obermedicinalrath Dr. Dietz f.
P^\ie Medicinalverwaltung des Königreichs Württem-
berg hat den schweren Verlust ihres psychia¬
trischen Referenten zu beklagen. Obermedicinalrath
Dr. Dietz in Stuttgart ist am 21 . Mai d. J einem
apoplektischen Insult erlegen. — Am 1. September
1859 zu Calw geboren, hat Dietz seine medicinischen
Studien in Tübingen 1883 absolvirt. Nach 1 jähriger
Assistententhätigkeit an der chirurgischen Abtheilung
des Katharinenhospitals in Stutt¬
gart hat er sich 1885 in Bietig¬
heim als praktischer Arzt nieder¬
gelassen. Gestalteten sich die
Verhältnisse seiner Praxis auch
äusserlich günstig, so Hessen sie
ihn doch unbefriedigt wegen des
Mangels an Zeit zu wissen¬
schaftlichen Studien. Es waren
besonders die Probleme der Be¬
ziehungen zwischen körperlichen
Vorgängen und geistigem Leben,
die ihn anzogen. — Auf der
heimischen Universität, die damals
noch des Lehrstuhls für Psychia¬
trie entbehrte, hatte er nicht
ausreichend Gelegenheit gefun¬
den, ihnen nachzugehen. Ersuchte
sie jetzt, indem er nach 3 / 4 Jahren
seine Praxis verliess, um an der
Flechsig’schen Klinik in Leipzig
eine Assistentenstelle zu über¬
nehmen. Drei Jahre hat er sie bekleidet,‘[dann inVWien
und auf Schiffsreisen noch weitere Ausbildung gesucht.
Mit der Uebernahme der Stelle eines ordinirenden
Arztes in Illenau hatte er sich endgillig für die psychia¬
trische Laufbahn entschieden. In sechsjähriger Thätig-
keit daselbst hat er sich unter Sch ü le’s Leitung in
allen Anforderungen der Anstaltspraxis vortrefflich be¬
währt, so dass er von seinem Chef, mit dem er in dauern¬
den freundschaftlichen Beziehungen geblieben ist, warm
empfohlen werden konnte, als er sich um die Stellung
bewarb, die er von 1895 bis zu seinem Tode in
seinem engeren Vaterlande innegehabt und mit un¬
ermüdlichem Eifer, zuletzt schwerer Erkrankung trotzend,
versehen hat.
Es war eine Zeit schwerer Anfechtung für das
Irrenwesen zumal in Württemberg gewesen, die nach
der Errichtung der Stellung eines Landespsychiaters
verlangt hatte. Für sie war Dietz als der geeignetste
Bewerber erschienen und hat er sich als der rechte
Mann bewährt. Unbeirrt durch alle einseitigen Auf¬
fassungen und Erwartungen hat er mit klarem Blicke
erkannt, dass, was etwa qualitativ die Irrenfürsorge
des Landes zu wünschen übrig Hess, vor allem auf
ihre quantitative Unzulänglichkeit zurückzuführen war.
Der allenthalben unangenehm fühlbaren Ueber-
füllung der Anstalten suchte er entgegenzutreten,
indem er überall das Streben nach
den nothwendigen Erweiterungen
förderte, indem er vor allem
auch den Plan zu einer weiteren
staatlichen Heilanstalt ausarbei¬
tete. Dessen Ausführung hat ihn
während der letzten Jahre beson¬
ders in Anspruch genommen;
die Vollendung durfte er nicht
mehr erleben, aber wenigstens
eine ausführliche Beschreibung
der Einrichtung der Weinsberger
Anstalt hat er hinterlassen. Mit
grosser Entschiedenheit ist er
eingetreten für eine Vermehrung
der Anstaltsärzte und eine Besse¬
rung ihrer Existenzbedingungen,
nicht weniger aber für eine
günstigere Gestaltung der Ver¬
hältnisse des Wartpersonals.
Alle fortschrittlichen Bestreb¬
ungen der Anstaltsleitungen för¬
dernd, üierall beratend und anregend hat er mehr
mittelbar das Wohl der Kranken zu fördern getrachtet,
als einzugreifen in die Krankenbehandlung selbst und
in das Regime der einzelnen Anstalten. Hat er den
Visitator nie hervorgekehrt, so fehlte es ihm weder
an klarer Uebersicht über den gesammten Betrieb der
Anstalten, noch an der erforderlichen Vertrautheit
mit den Einzelfällen, zumal solchen, die dies von Auf-
sichts wegen erheischten. Eine aufreibende Thätigkeit
war es, alljährlich zweimal die sämmtlichen staatlichen
und privaten Irrenanstalten in mehrtägigen Besuchen
eingehend zu prüfen. Diese Visitationsreisen sind ihm
aber eine erquickende Abwechslung gewesen in der
bureaumässigen Thätigkeit, die in seiner Stellung zur
Regel geworden war. Ist er doch stets Psychiater
geblieben, dem der unmittelbare Verkehr mit den
Kranken Bedürfniss und eine Freude war. Die
administrativen Aufgaben, die von allen Seiten in
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»004.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
1 13
seiner Hand zusammenliefen, hat er darum nicht
weniger gründlich und umsichtig erledigt. Zahlreiche
allgemeine und spezielle Verordnungen hatte er zu
bearbeiten und es ist ihm dies in einer Weise ge¬
lungen , die durch eine weitere Entwicklung des
Irrenwesens wohl überholt werden kann, die aber
immer einen bemerkenswerthen Schritt vorwärts be¬
deutet hat.
Es ist eine andere Art von praktischer Bethätigung
des erwählten Berufs gewesen, die Dietz in seiner
rein amtlichen Stellung obgelegen hat, als er sie an¬
gestrebt haben mochte bei seinem Eintritt in die
psychiatrische Laufbahn. War es ihm manchmal
schwer, auf die Leitung einer Anstalt Verzicht leisten
zu sollen, so hat er für die einmal übernommene
Aufgabe den richtigen Standpunkt zu gewinnen und
zu behaupten verstanden. Mit weitem Blick, be¬
sonnenem Urtheil und entschlossener Thatkraft hat
er sich sein Amt selbst geformt und abgegrenzt; durch
unerschütterliche Charakterfestigkeit, feinen Takt
und liebenswürdiges Wesen hat er sich allenthalben
in zunehmendem Grade Achtung, Vertrauen und
Zuneigung zu erwerben verstanden bei allen Kreisen,
mit denen ihn seine Wirksamkeit in Berührung ge¬
bracht hat. Seiner gemüthlich tief angelegten Natur
waren freundliche kollegiale Beziehungen* Herzensbe-
dürfniss; seine einzige Sehnsucht inmitten der Mühen
und Lasten seines Berufes galt dem reinem Glück,
das ihm in seinem Familienleben erblüht war.
In den Jahren seiner praktischen Thätigkeit hat
er mehrere klinische Studien veröffentlicht : Dementia
paralvtica und Lues (Allg. Zeitschr. für Psychiatrie
XLIII pag. 237); Traumatische Neurose, Uebergang
in Dementia paralytica, (Festschrift des Stuttgarter
ärztl. Vereins 1897); Geistesstörungen in der Armee
im Frieden und Krieg, (Allg. Zeitschr. f. Psych. XLIV,
pag. 209); Ueber Simulation von Geistesstörung,
(Festschrift zur Feier des 50jährigen Jubiläums der
Anstalt Illenau); Simulation von Geistesstörung.
Typus: Kopie eines Kindes. 1 1 / 2 jährige Lähmung;
(Allg. Zeitschr. f. Psy. LIII pag. 1.) Seiner amtlichen
Thätigkeit entsprangen die Publicationen : Der heutige
Stand der Irrenfürsorge in Württemberg und die
neue Irrenanstalt Weinsberg (württ. med. Korresp.-
Bl. LXXII Nr. 44) und die K. Heilanstalt Weins¬
berg (württ medic. Korr.-Bl. LXXIII Nr. 52 und
Psychiatr. Wochenschrift, 6. Jahrgang No. 1 —3),
sowie endlich die Redaktion der Berichte über die
württembergischen Staats- und Privatirrenanstalten
(Württemberg. Medicinalberichte 1896— 1901).
Kr—r.
- -
Mittheilungen.
— Der diesjährige Schl eswig-Holsteinische
Provinziallandtag hat einen Antrag des Pro¬
vinz ialausschuss es, betreffend Erbauung einer
besonderen Abtheilung für verbrecherische und
gewaltthätige Geisteskranke bei der Provinzial-
Pflegeanstalt zu Neustadt, genehmigt.
Da dieser Antrag von grosser allgemeiner Bedeut¬
ung ist, geben wir im Nachstehenden den Urtext des¬
selben wieder:
„Die bisherige Art der Unterbringung der ver¬
brecherischen und gewaltthätigen Geisteskranken hat
für unsere Irrenanstalten von Jahr zu Jahr grössere
Missstände hervorgerufen. Da besondere, mit Sicher¬
heitsvorkehrungen versehene Gebäude für diese Kran¬
ken nicht vorhanden sind, da ferner eine Anhäufung
derselben in einer oder mehreren der gewöhnlichen
Krankenabtheilungen wegen ihrer Neigung zum Kom¬
plott» en, zu Gewaltthätigkeiten und zu Fluchtversuchen
nicht angängig, und da endlich eine dauernde Isolirung
in Einzelzellen wegen ihres Krankheitszustandes nicht
zulässig ist, so müssen sie jetzt auf den verschiedensten
Abtheilungen verstreut unter den übrigen Kranken
untergebracht werden. Bei den letzteren und deren
Angehörigen erregt aber dieses Zusammenbringen mit
Recht oft grosse Unzufriedenheit; die bes^^ 11 ^le-
mente unter den Kranken beschweren sich darüber,
mit derartigen Individuen in denselben Räumen leben
zu müssen, während andererseits auf die weniger guten,
an sich aber harmlosen Pfleglinge häufig die üblen
Neigungen und Bestrebungen jener verbrecherischen
Geisteskranken durch die Berührung mit ihnen über¬
tragen werden, so dass ein solches Zusammensein oft
geradezu schädigend auf sie einwirken kann. Dazu
kommt noch, dass in einer Abtheilung, in welcher siel*
verbrecherische Kranke befinden, die Ueberwachungs-
und Sicherheitsvorkehrungen sich unwillkürlich strenger
und härter gestalten werden, als es dem Charakter
eines Krankenhauses und dem Interesse der übrigen
Kranken entspricht.
Unter denjenigen Kranken der beiden Provinzial-
irrenknstalten, welche — sei es vor ihrer Erkrankung,
sei es nach und infolge derselben — mit dem Straf¬
gesetz in Conflict gerathen sind (sogenannte irre Ver¬
brecher und verbrecherische Irre), befinden sich z. Z.
gegen 30, deren Entfernung aus den gewöhnlichen
Krankenabtheilungen nach ihrem Vorleben, ihren
Strafthaten und ihrem Verhalten in der Anstalt aus
den oben angeführten Gründen dringend erwünscht
ist. Für einige von diesen, welche noch zur Ver¬
fügung der Gerichts-, Strafvollstreckungs- oder Polizei-
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 12.
behörden stehen, werden, da ihre Unterbringung mehr
einen sicherheitspolizeilichen, als einen armenrecht-
lichcn Character tragt, die reglementmässigen Pflege¬
gelder von diesen Behörden erstattet; die meisten
dieser Kranken aber sind wegen armenrechtlicher
Hülfsbedürftigkeit dem Landarmenverbande auf Grund
des Irrenpflegegesetzes vom 11. Juni 1891 zur Last
gefallen, nachdem sie entweder erst nach verbüsster
Strafe geisteskrank geworden, oder noch während der
Straf- oder Untersuchungszeit als geisteskrank erkannt
und deshalb aus der Strafhaft entlassen bezw. ausser
Verfolgung gesetzt waren.
Bei dem ganzen Character dieser Kranken könnte
zunächst zur Frage kommen, ob es nicht das zweck-
mässigste sei, etwa bei der Correctionsanstalt in Glück¬
stadt und in ökonomischer Verbindung mit dieser
eine besondere Abtheilung zur Aufnahme derselben
einzurichten, ähnlich wie dies von der Provinz Ost-
preussen bei der Correctionsanstalt zu Tapiau ge¬
schehen ist. Wir haben diesen Plan jedoch wieder
fallen lassen müssen, weil er sich mit Rücksicht auf
die räumlichen und örtlichen Verhältnisse unserer
Correctionsanstalt bei näherer Erwägung als nicht aus¬
führbar erwies, und bringen jetzt in Übereinstimmung
mit dem Gutachten der Directoren der beiden Provin¬
zialirrenanstalten die Errichtung eines derartigen Ge¬
bäudes bei der Neustädter Anstalt in Vorschlag. Die
räumlichen Verhältnisse dort gestatten es, dass dieser
Bau in angemessene Entfernung von den übrigen
Anstaltsgebäuden gelegt werden kann, so dass eine
Belästigung und Benachtheiligung der übrigen, fast
sämmtlich unheilbaren und zum Theil idiotischen
Kranken ausgeschlossen ist; überdies bietet die An-
ghederung an eine Irrenanstalt, welche übrigens auch
in mehreren anderen Provinzen gewählt worden ist,
den Vortheil, dass bei einem Wechsel des Krankheits¬
zustandes die Verlegung der Kranken auf eine andere
Abtheilung möglich ist.
Der geplante Neubau ist in einer Grösse für 40
bis 50 Kranke in Aussicht genommen und wird nach
dem Anschläge der Bauverwaltung 150000 M. kosten,
welche selbstverständlich aus dem Extraordinarium
zu decken sein werden. Da nun der Provinzialland¬
tag uns im Haushaltungsplan für das Jahr 1002 —
Extraordinarium Titel II 3 — 60000 M. für einen
Erweiterungsbau in Neustadt für den Fall zur Ver¬
fügung gestellt hat, dass die Kropper Anstalten ein-
gehen sollten, und da diese Summe für den ur¬
sprünglichen Zweck nicht mehr erforderlich sein wird,
weil für den grösseren Theil der damals in Kropp
befindlichen Provinzialkranken bereits anderweit ge¬
sorgt worden ist, so erscheint es uns am zweck-
mässigsten, dass jene 60000 M. als erste Baurate für das
jetzt geplante Gebäude zur Verfügung gestellt werden.
Wir beantragen daher:
Der Provinziallandtag wolle die im Haus-
haltnngsplan für 1902, Extraordinarium Titel II
3, ausgeworfenen 00000 M. dem Provinzial¬
ausschuss als erste Rate für den Bau einer be¬
sonderen Abtheilung für verbrecherische und ge-
waltthätige Geisteskranke zur Verfügung stellen.
Der Provinzialausschuss.“
— Verein für Psychiatrie und Neurologie
in Wien. Sitzung vom 8. März 1904.
1. Dr. Alfred Fuchs stellt einen 35jährigen
Mann vor, bei dem sich spontan im Mai 1901 eine
Gangrän der zwei letzten Zehen am linken Fuss ein-
stelltc, welche Zehen amputirt wurden. Seit einem
Jahre zeigen sich Symptome, die auf eine lokale
Aufhebung der Cirkulation in den Fingern der rechten
Hand hinweisen. Während die Prüfung mit dem
Gärtnerischen Sphygmographen die Gesammt-Blut-
versorgung in beiden oberen Extremitäten gleich er¬
scheinen lässt, und während der rechte Ulnaris-Puls
normal ist, ist die rechte Radialis zwar deutlich tast¬
bar, pulsirt jedoch nicht.
2. Dr. Fuchs stellt ferner einen 36jährigen mit
Tetanie behafteten Mann vor. Während alle Symp¬
tome der Tetanie deutlich ausgesprochen sind, fehlt
das Chvostek’sche Symptom gänzlich.
3. Dr. Fuchs stellt noch eine 21jährige Frau
vor, die an Tetanie leidet, überdies als seltene Com-
plikation eine eigenthümliche Gangstörung aufweist.
Pat. klagt, dass sie sich in den Beinen schwach fühle,
insbesondere sei ihr das Stiegensteigen schwer. Spa-
stisch-paretischer Gang, Schwäche der beiden unteren
Extremitäten, der Rücken- und Lendenmuskulatur.
4. Dr. Erwin Stransky fand an dem Gehirne
eines seinerzeit im Vereine demonstrirten alten Mannes
mit aphasischen, asymbolischen und katatonischen
Störungen totale Atrophie, Athcruinatose der Gefässc
und lokal (zumal am linken (iyrus supramarginalis
und an der angrenzenden Parietalregion) beson¬
ders hochgradige Atrophie. Er demonstrirt einige
nach verschiedenen Methoden gefärbte Rindenschnitte.
Die mikroskopischen Befunde erinnern noch am mei¬
sten an die Alzheimerisehen Fälle von Rindenver¬
ödung, sind jedoch weit weniger ausgesprochen.
5. Dr. A. Schüller hat mit Dr. Holzknecht
unter Röntgenbeleuchtung den Schweifkern eines
Hundes zerstört und demonstrirt das wirklich nur
im Zentrum des Schweifkernes verletzte Gehirn des
Hundes.
6. Docent Dr. Hirschl stellt einen 18jährigen
Mann vor. Im Jahre 1902 zeigte der Kranke neben
den Symptomen der Tetanie eine acute hallucinato-
rische Verworrenheit. Am 24. Februar 11)04 traten
abermals Tetaniekrämpfe auf, cornbinirt mit den psy¬
chischen Symptomen einer Manie, die auf der Höhe
zu völliger Verworrenheit führte. Dabei Basedowsche
Symptome (Struma, Exophthalmus, Möbius- und
Stellwag’sches Symptom, lebhafte Herzaction). Die
Basedow- und Tetaniesymptome gingen vom <). bis
16. März zurück. Von da an neuerliche Manie,
Verworrenheit, hochgradige Erregung. Ausgang in
Demenz wahrscheinlich. Hirschl berichtet im An¬
schluss an die Demonstration auf Grund selbst beob¬
achteter und aus der Litteratur gesammelter Fälle
über die Beziehungen von Tetanie und Psychose.
(Wird vom Vortr. in den Jahrbüchern für Psychiatrie
ausführlich mitgetheilt werden). Schloss.
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IQ04-] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 115
— Der Congress für experimentelle Psycho¬
logie in Giessen. (Ref. Dr. Ruppel.)
Vom 18. bis 21. April tagte in Giessen der erste
deutsche Congress für experimentelle Psychologie.
Dass sich mit seiner Einberufung ein früher oder
spater nothwendiges Geschehen vollzog, bedingte die
Entwickelung der deutschen Psychologie; dass er ein
erfreulicherweise in den verschiedensten Disciplinen
sich geltend machendes Bedürfniss befriedigte, be¬
wies die zahlreiche Theilnehmerschaft aus den Kreisen
der Philosophen, Psychologen, Physiologen, Psychiater,
Physiker, Juristen und Theologen nicht nur Deutsch¬
lands.
Wenn die experimentelle Psychologie allein die
Kenntniss des normalen psychischen Ablaufes klar¬
zulegen im Stande ist, so wird sie auch gleichzeitig
die klinischen Methoden für das noch vielumstrittene
Gebiet psychiatrischer Diagnostik geben müssen, die
dann in eben dem Maasse an Einheitlichkeit ge¬
winnen wird als sie sich auf diesen Boden objectiver
Forschungsweise stellt. Darin liegt die doppelte Be¬
deutung der experimentellen Psychologie für die Psy¬
chiatrie, darin ist das doppelte Interessse begründet,
das die Psychiatrie an den Giessener Tagen hat.
Die zahlreichen Vorträge und Demonstrationen
ergaben eine Anordnung nach elf Gruppen: 1. Indi-
vidualpsychologie. 2. Psychophysiologie der Sinne.
3. Gedüchtniss. 4. Verstandcsthätigkeit. 4. Bewusst¬
sein und Schlaf. 6. Ausdrucks-Bewegungen undWillens-
thätigkcit. 7. Gefühle und Aesthetik. 8. Kinder¬
psychologie und Pädagogik. 9. Criminalpsychologie.
10. Psychopathologie. 11. Reaktionsversuche an Nor¬
malen und Geisteskranken. Diesen Gruppen ent¬
sprach die Anordnung der umfangreichen Ausstellung
von Apparaten und Methoden in den Laboratorien
der Psychiatrischen Klinik*) und zwar nach vier
Gruppen: 1. Psychophysiologie der Sinne, 2. moto¬
rische Methoden, graphische Registrirmethoden, Aus¬
drucksbewegungen , 3. Untersuchung geistiger Funk¬
tionen (Gedüchtniss, Auffassung, Associationen usw.)
speciell für Pädagogik und Psychopathologie, 4. Ein¬
richtung psychophysischer Laboratorien, Zeitmessung,
Reaktionsversuche. **)
Das Folgende giebt eine gedrängte Uebersicht
nach diesen Gruppen, zunächst der Vorträge und
Demonstrationen:
Gruppe 1: P. Henri-Paris: „Ueber die Me¬
thoden der Individualpsychologie“.
Henri und Binet bearbeiten seit ca. 10 Jahren diese
Methoden. Um individuelle Unterschiede, auf die es
ankam. zu finden, mussten die Versuchspersonen
unter möglichst gleichen Bedingungen stehen, welche
Voraussetzung sich auf eine lange Zeit der Entwickel¬
ung wie der Versuche selbst erstreckte. Schüler fran¬
zösischer Normalschulen im Alter von 17 bis 19
Jahren wurden erstlich anatomisch und physiologisch
*') Sommer, Das experimental-psychologische Laboratorium
der psychiatrischen Klinik zu Giessen. Nr. 2, Jahrgang 1904
dieser Wochenschrift.
**) Sommer, Die Ausstellung von experimental-psycholo¬
gischen Apparaten und Methoden bei dem Con^ess für experi-
mmtelle Psychologie, Giessen, 18.—21. Apri] jq 04- Leipzig
1904. Johann Ambrosius Barth.
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charakterisirt nach Körpergrösse, Brustumfang, Ath-
mungscapacität, Puls, Ernährung, Arbeitsfähigkeit,
Ermüdung, Schlaf und zwar mit den üblichen Me¬
thoden. Zur Prüfung der Schnelligkeit in der Aus¬
führung vorgeschriebener Bewegungen war ein Apparat
erdacht, der beliebige Erschwerung der Aufgabe und
akustische Kontrolle ihrer Lösung gestattete, ein
zweiter zur Registrirung „anatomische!“ Bewegungen.
Die individuellen psychischen Differenzen der Reak¬
tionsgeschwindigkeit auf äussere Eindrücke, der Merk¬
fähigkeit, des Concentrationsvermögens, des Asso¬
ciationsvermögens, der mathematischen Denkfähigkeit
und anderer höherer Verstandesfunktionen sowie der
Suggestibilität wurden wieder und wieder festzustellen
gesucht durch Monate und Jahre hindurch. Die
Untersuchungen ergaben wohl eine Reihe bemerkens-
werther Thatsaehen, waren aber nicht zureichend für
die gewallte exacte Prüfung und deren Fixirung, in¬
dem vielerlei z. B. charakteristische individuelle Be¬
gabungen einer Messbarkeit sich entzogen. Binet
empfiehlt daher descriptive Methoden, wie sie in
der Zoologie und Botanik gebräuchlich, einem sorg¬
samen wissenschaftlichen Ausbau. Ueber seine und
Binet’s Versuche in dieser Richtung vermag er noch
nicht Näheres zu berichten, deutet vielmehr nur den
bisher eingeschlagenen Weg an (genaue psychologische
Selbstanalyse hervorragender Persönlichkeiten mit
möglichster Berücksichtigung der anatomischen und
physiologischen Verhältnisse und sich anschliessenden
Kontrollversuchen).
Gruppe 2: G. Elias Müller-Göttingen: „Die
Theorie der Gegenfarben und die Farben¬
blind h eit“.
Den an Farbenblinden gemachten Beobachtungen
legt M. seine Theorie des Farbensehens nach dem
Princip der Gegenfarben zu Grunde, trennt scharf
die in der Netzhaut und in der nervösen Sehbahn
sich abspielenden Vorgänge, kommt so zu inneren
und äusseren Ausfallserscheinungen und sieht durch
deren getrenntes oder kombinirtes Auftreten die ver¬
schiedenen Arten der Farbenblindheit bedingt.
Schumann- Berlin giebt seine Selbstbeobacht¬
ungen „Ueber einen ungewöhnlichen Fall
von F a r b e n b 1 i n d h e i t
Guttmann- Berlin: „Untersuchungen an
sogenannten Farbenschwachen“ zeigten ihm,
dass geringere Farbenempfindlichkeit (oft auch bei
Malern bestehend), wenn auch subjektiv meist nicht
vorhanden, sich doch objektiv naclnveisen und diffe-
renziren lässt.
Be n u s s i - Graz: „Ein neuer Beweis der
s p e ci f i s ch e n Helligkeit (bez w\ Dunkel¬
heit) der Farben
B. demonstrirt, dass bei gleicher Helladaptation
durch Hervorheben bestimmter Farben der Hellig-
keitsw’erth variirt.
Eb b i ng ha us-Breslau : „Ueber die geome¬
trisch-optischen Täuschungen“.
Die vielleicht oft nur als Spielerei erscheinende,
in den letzten 10 — 20 Jahren ausgiebige Beschäftig¬
ung mit diesem Gebiet ist vielmehr geeignet, wich¬
tige Aufschlüsse über psvchische Vorgänge zu geben.
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
116
[Nr. n.
E. stellte seine Versuche nach drei Richtungen hin
an, die Bedingungen variireud nach dem jeweils an¬
genommenen Enstehungsort der Täuschung, der be¬
kanntlich gegeben sein kann: i. im peripheren Apparat,
2. im Gebiet der reflektorisch ein wirkenden subcorti-
calen Centren, 3. in der corticalen Sphäre, soweit
etwa durch vorhandene Erfahrungen die neuen Wahr¬
nehmungen bestimmt werden.
Zunächst wurde bei den zu untersuchenden Vor¬
gängen das Auge ausgeschaltet, indem die Täusch¬
ungsmöglichkeit aus dem sensorischen optischen, in
das sensible Gebiet des Tastsinnes derart verlegt
wurde, dass die betr. optischen Muster plastisch in
Zinkblech übertragen oder in anderem Material
(Draht, Pappe) wiedergegeben bei Blindgeborenen in
Anwendung kamen. Die Täuschung gelang auch so.
Weiter wurde die binoculare Verschmelzung unter¬
sucht durch Spalten und stereoscopisches Vereinen
der Muster. Getheilt zeitigten die Muster keine
Täuschung. Schliesslich wurde die lagoscopische
Betrachtungsweise und die bei starrer Fixation, also
ohne Bewegungstendenz des Auges geprüft. Diese
Versuche, die hier in extenso nicht verfolgt werden
können, ergaben zunächst die Annahme einer Con-
trast- oder Einstellungstäuschung, indem früher ge¬
machte Erfahrungen die Grössenauffassung beeinflussen
und weiter, allgemein ausgedrückt, die Nothwendig-
keit, für das Zustandekommen der Täuschung, die
oben aufgezählten Gebiete sowohl getrennt als auch
vereint verantwortlich zu machen.
Tschermak-Halle a. S.: „Neue Unter¬
suchungen über Tiefenwahrnehmung mit
besonderer Rücksicht auf deren angeborene
Grundlage“.
Gegenüber der empiristischen Theorie, die der
Erfahrung die Hauptrolle bei der Lokalisation op¬
tischer Wahrnehmungen zuschreibt, verficht T. die
neuere nativistische: den Netzhauttheilchen kommen
angeborener Weise, unabhängig von ihrer Lage zu¬
einander, bestimmende Lokalzeichen (Raumes- und
Ordnungswerthe) zu. Dies bestätigten ihm seine
mitgetheilten Beobachtungen an Menschen und
Thieren. Eine abgeschlossene Theorie der Tiefen¬
wahrnehmung jedoch lässt sich z. Z. nicht geben.
Jedenfalls muss eine angeborene Tiefengrundlage an¬
genommen werden. Die Ordnungswerthe sind in der
Netzhaut begründet, die subjectiven Grössenwerthe
dagegen bestimmt durch die Empirie.
Exner-Wien: „Ueber die Wirkung mehr¬
facher Operationen an der Hirnrinde des
Hundes“.
Ausgehend von Hitzig’s Arbeiten, deren Resultate
Munck nachprüfend nicht bestätigen konnte, schliesst
sich E. Hitzig an. Er erörtert eingehend die grosse
Ausbreitung der optischen Sphäre, die Möglichkeit
eines Ersatzes verletzter zu ihr in Beziehung stehen¬
der Rindenpartien, indem wahrscheinlich unter Ver¬
mittelung des Balkens neue Associationsbahnen sich
bilden, durch die er eine grosse Zahl anfänglich be¬
stehender und später wieder ausgeglichener Ausfalls¬
erscheinungen erklärt.
Schumann-Berlin: „Die Erkennung von
Buchstaben und Worten bei momentaner
Beleuc htung“.
Sch. hat durch sein Tachistoscop (s. u.) die Mög¬
lichkeit gegeben, bei beliebig variirbarer Expositions¬
zeit von Buchstaben, Worten etc., das positive Nach¬
bild dieser sofort nach der messbaren Exposition zu
vernichten. Die mit diesem Apparat durch Geübte
vorgenommenen Selbstbeobachtungen führten zu einer
Zweitheilung der Versuchspersonen. Bei der einen Gruppe
geschieht die Auffassung der exponirten Objecte durch
Vermittelung von Lautbildern: der akustische Typus;
die andere bedient sich der Vorstellung optischer
Bilder: der visuelle Typus. In einzelnen Fällen
^ findet sich gleichzeitige Zusammengehörigkeit von
Lautbild und visuellem Bilde.
Struycken-Breda demonstrirt seinen auf einer
Stimmgabel montirten Apparat zur „Bestimmung der
Gehörschärfe in Micromillimetern“.
H eymanns - Groningen : „Intensitätskon-
trast und psychische Hemmung“.
H. weist auf seine früheren Arbeiten hin, in
denen er zeigte, dass mit einer beliebigen Empfind¬
ung eine gleichzeitig mit ihr auftretende weitere Em¬
pfindung in hemmender Wechselwirkung steht, und
dass so ein Reiz, gepaart mit einem anderen, zu
seiner Wahrnehmung einen stärkeren Grad erfordert
als den bei alleiniger Einwirkung nöthigen. Mit dieser
psychischen Hemmung gleichzeitiger Empfindungen
erklärt H. auch den Intensitätskontrast: einander be¬
nachbarte Helligkeiten schwächen sich gegenseitig
umsomehr ab, jemehr sie an Intensität zunehmen.
Alrutz-Upsala: „Neue Untersuchungen
über Hautsinnesempfindungen“.
, A. bringt zunächst ein Beispiel paradoxer Kälte¬
empfindung: Nach Fortnahme eines Temperators von
— io ü C. von der Stirn, stellt sich die Nachempfind¬
ung des Nasskalten ein, bedingt durch die paradoxe
Empfindung des wieder durchströmenden Blutes. Für
die Juckempfindung macht er besondere Nerven ver¬
antwortlich und hält wegen ihres analogen irradiiren-
den Auftretens schwache Wärmeempfindung für iden¬
tisch mit schwacher Juckempfindung. Die Kälte¬
empfindungen sind in allen Fällen, unangesehen des
auslösenden Momentes, identisch. (Fortsetzung folgt.)
Personainachrichten.
— Dziekanka. Dem I. Assistenzarzt Dr.
Knust ist die Stelle des leitenden Arztes an der
Heilstätte „W a 1 d fr i e d e n “ bei Fürstenwalde a. d.
Spree (Volksheilstätte für Alkoholkranke des Berliner
Bezirksvereins gegen den Missbrauch geistiger Ge¬
tränke) vom 1. Juli 1904 ab übertragen worden. Die
Stelle des I. Ass. -Arztes erhielt der II. Ass. - Arzt
Dr. PI an ge, die des II. der III. Ass.-Arzt Dr. von
Domarus.
Jahresversammlung des Nordostdont-
schen Psychiatrischen Vereins findet am
27. Juni in Danzig statt
Erscheint
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Für den redactionellen Theii verantwortlich: Oberarit Dr. J. Bresler, Lublinitz (Schlesien).
— Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl M arho'l0 in Halle a. S.
k, Heynemann'»che Bachdruckerei (Gebr. Volff) in Halle a. S.
Beilage zur Psychialrisch - Neurologischen Wochenschrift 6. Jahrgang N? 13.
Zum Aufsatz .-„Die Familienpflege Geisteskranker in Gardelegen." Von Or C.Wickel in Oziekanka yGmmn.
Verlag von Carl Marhold, Halle a. 8.
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HARVARD UNIVERSITY
April 1901
Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift.
Redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Lublinitz (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
T«le*r.-Adresse: Marhnld Verla*. Hallesaale. Fernsprecher 2834.
Nr. 13. 25 Juni. 1904.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt ErmSasigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten.
Die Familienpflege Geisteskranker in Gardelegen.
(Besuch im November 1903.)
Von Dr. C. Wickel, III. Arzt an der Provinzial-Irren-Anstalt Dziekanka bei Gnesen.
(Hierzu die lithographische Tafel.)
A uf dem ersten internationalen Congress der Für-
sorge für Kranksinnige, insbesondere für deren
Verpflegung in Familien, am 1. IX. 1902 zu Ant¬
werpen führte Alt in seinem Vortrage*) aus, dass
der Hauptgrund zur Gründung der Familienpflege in
Gardelegen für ihn der war, zu zeigen, dass auch
bei uns in Deutschland ohne langjährige Vorbereitung
der Bevölkerung diese Verpflegungsform rasch ein¬
gebürgert werden könne und dass die geeigneten
Kranken sich in der Familie glücklicher fühlen, als
selbst in einer Anstalt gleich der zu Uchtspringe mit
der denkbar weitestgehenden freien Behandlung.
Heute nach 5 ^jährigem Bestehen der Familien¬
pflege in Gardelegen kann man sagen, dass die da¬
selbst mit der Familienpflege gemachten Erfahrungen
und die durch sie erzielten Erfolge voll und ganz
den Beweis für die Richtigkeit der Vorhersagen Alt’s
erbracht haben.
Auf einer Informationsreise im Herbste 1903 war
es mir vergönnt, die Familienpflege in Gardelegen
aus eigener Anschauung kennen zu lernen.
Ich freue mich, an dieser Stelle darüber berichten
zu dürfen.
Im Herbst 1898 wurden die ersten Kranken,
4 Frauen, von Uchtspringe aus in Gardelegen in
geeigneten Familien untergebracht. Im April 1901
waren es 11 weibliche Kranke. Von da ab stieg
die Zahl der Familienpfleglinge in rascher Folge, fast
ohne Unterbrechung, bis auf 119, vorwiegend weib¬
liche Kranke, im Januar 1904.
Die beigegebene graphische Darstellung veran¬
schaulicht das Anwachsen in deutlicher Weise.
Die Gardelegener Kranken sind als der Anstalt
Uchtspringe zugehörig zu befrachten.
*) I.) Alt, K., Die familiäre ^ e rpQ c ^ u ijg der Kranksinnigen
in Deutschland. Halle a. S. I90j. ^ ^ jyjarhold. P* 21.
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Einer Familie werden nicht mehr wie 2 Kranke
gleichzeitig in Pflege gegeben.
Die Zahl der Pflegerfamilien ist stetig im Wachsen
begriffen. Nur verschwindend wenige Pflegerfamilien
erwiesen sich als ungeeignet zur Wartung und Beauf¬
sichtigung von Kranken.
Rückversetzungen von Kranken in die Anstalt
mussten erfolgen in einigen Fällen, bei welchen sich
schwere körperliche Erkrankfingen oder Verschlimmer¬
ungen des psychischen Befindens einstellten.
Im Jahre 1903 wurde eine Oberpflegerin in
Gardelegen stationirt.
Der ärztliche Dienst hatte zunächst von Ucht¬
springe aus statt. Im Sommer 1903 wurde ein
eigener, Herrn Director Dr. Alt untergeordneter,
in Gardelegen selbst wohnender Arzt für die Fami¬
lienpflege angestellt und zwar Herr Dr. H. Stamm,
welcher sich bereits in Göttingen als Arzt an der
dortigen Anstalt in hohem Maasse 11m Einführung
der Familienpflege verdient gemacht hatte.
Gardelegen liegt, wie die Anstalt Uchtspringe auch,
an der Bahn Stendal-Hannover, 14 km von Uchtspringe
entfernt, ca. 20 Minuten Bahnfahrt.
Gardelegen ist ein an der Milde hübsch gelegenes,
freundliches Landstädtchen, Kreisstadt, mit ca. 8000
Einwohnern. Es hat saubere, schöne Strassen, wohl¬
gebaute, feste Häuser. Das Ganze macht den Ein¬
druck einer gewissen Wohlhabenheit. Um die Stadt
herum, entsprechend den alten, zum Theil noch er¬
haltenen, Befestigungen und Wällen sind Anlagen
und Promenaden. Aus der alten Stadt hinaus führt
eine schöne Allee zu einem neuen Stadttheil mit
Villen, grösstentheiis aber mit einstöckigen, massiv
gebauten freundlichen Häusern. An die meisten
dieser Häuser schliesst sich ein wohlgepflegter Garten
an. Hier sind fast in jedem Hause Kranke in Pflege.
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HARVARD UNIVERSITY
118
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 13.
Gardelegen hat keine Wasserleitung. Das Wasser
entstammt öffentlichen Bohrbrunnen. Es ist ein¬
wandfrei.
Der allgemeine Gesundheitszustand der Stadt ist
ein sehr guter. Infektionskrankheiten kommen selten
vor, insbesondere ist Typhus seit einer Reihe von
Jahren nicht aufgetreten.
Einen sehr guten Ueberblick über die Stadt und
über die Vertheilung der Kranken in ihr gewährt der
beigefügte Plan.
Die Häuser, in welchen Familienpfleglinge sich
befinden, sind schwarz markirt. Die gestrichelten
Carres bedeuten Häuser, in welchen Familien wohnen,
die sich zur Aufnahme von Kranken gemeldet haben
und vorgemerkt wurden.
Ihre Zahl ist, wie wir sehen, eine sehr erhebliche.
Es ist hieraus klar zu erkennen, wie gross bereits das
Interesse der Bevölkerung für die Familienpflege ge¬
worden ist. Auch selbst konnte ich mehrfach diese
Beobachtung machen.
Schon in der Wohnung des Arztes meldete sich
ein Bürger und bat um Uebcrwcisung eines Kranken.
Er versicherte, er werde sich alle Mühe geben, ein
Zimmer habe er nach Rücksprache mit anderen
Pflegern bereits vorschriftsmässig eingerichtet. Bei
der Vorsicht, welche bei der Auswahl der Pfleger¬
familien statt hat, und bei der grossen Zahl früherer
Meldungen musste er zunächst verzögernd beschieden
werden.
Ehe nämlich eine Familie einen Pflegling zuge-
theilt erhält, werden die eingehendsten Erhebungen
angestellt über Ruf und Qualität der Familie, ihre
Beschäftigung und vor allem auch über die Wohn¬
ungsverhältnisse, speciell nach der hygienischen Seite
hin.
Wie subtil dabei vorgegangen wird, zeigt der als
Anhang abgedruckte, hierfür vorgesehene Fragebogen.
In der Wohnung einer älteren, als besonders be¬
währt bekannten Pflegerfamilie, welche vielfach den
anderen mit Rath zur Seite steht, erwartete die Frau
eines anderen Pflegers den Arzt und bat dringend,
er möge ihr wieder eine Kranke geben. Am Tage
zuvor war nämlich ihre Kanke, eine periodische
Manie, wegen neu aufgetretener Erregung nach Ucht-
springc zurück verbracht worden. Die Frau befürch¬
tete nun, man messe ihr vielleicht Schuld an der
Wiederkehr der Erregung bei und werde ihr am
Ende keine Kranke mehr anvertrauen. Wiederholt
brachte sie dabei vor, dass sie sich dann vor „den
Anderen“ schämen müsse.
Die überwiegende Mehrzahl aller Quartiere habe
ich in Begleitung des Arztes aufgesucht.
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Die Wohnungen waren durchweg sauber und gut
gehalten. Die für die Kranken bestimmten Zimmer
waren tadellos im Stande, geräumig, rein, Luft und
Licht zugänglich, aufgeräumt, mit sauberer Bettwäsche.
War ein Zimmer noch nicht ganz in Ordnung ge¬
bracht, so baten deshalb die Familien regelmässig
von selbst unter Angabe der Gründe um Entschul¬
digung.
Mehrfach befanden sich mehr Möbel in den
Krankenzimmern, wie die Vorschrift verlangte. Einigen
Zimmern sah man an, dass sie offenbar zu dem
Zwecke der Aufnahme der Kranken extra herge¬
richtet, bezw. renovirt waren. Mit einem gewissen
Stolz wurden diese Zimmer von den Familien gezeigt
Bei Betreten eines Quartiers stellte sich alsbald
eines der Familienangehörigen ein, das Buch in der
Hand, welches, die Bestimmungen über Familien¬
pflege *) enthaltend, dient zu Eintragungen des Arztes
und der Oberpflegerin über Zeit des Besuchs, ärzt¬
liche Verordnungen, Kleiderrevisionen, Umtausch,
Ausbesserungen. Zugleich enthält es geeignete Listen
zur Aufzeichnung der Menses, des Körpergewichtes'
und etwaiger Krampfanfälle.
Fast überall war der Hausherr oder die Haus¬
frau selbst da. In Gardelegen wird nämlich sehr
viel Hausindustrie, vor allem Perlmutterschleiferei,
getrieben. Daher sind die Leute sehr wenig von
Hause abwesend.
Die Pfleger zeigten alle ein freundliches, entgegen¬
kommendes, verständiges Wesen. Fast alle berich¬
teten unaufgefordert über das Ergehen ihrer Kranken,
über das körperliche Befinden, Beschäftigung, etwaige
psychische Veränderungen.
In sehr klarer Weise, wie sie einem jeden ge¬
schulten Krankenpfleger Ehre machen würde, theilte
ein Schneidermeister seine Beobachtungen bei seinem
etwa 8 Jahre alten Kranken mit. Es handelte sich
um Anfälle von petit mal, welche erstmals bei dem
Knaben (Idiotie) aufgetreten waren.
Bald kamen auch die Kranken selbst oder wurden
von der Arbeit herbeigeholt. Sie waren ohne Aus¬
nahme gut gehalten, sauber an Körper, Wäsche und
Kleidung. Der Ernährungszustand war ein recht
guter. Sie machten Alle einen zufriedenen Eindruck.
Manche erschienen sogar recht vergnügt. Aus dem
Auftreten der Angehörigen der Pflegerfamilie, aus
dem Verhalten der Kranken konnte man schliessen,
dass das Verhältniss zwischen beiden ein freund-
*) Abgedruckt in: II.) Alt, K., Ueber familiäre Irrenpflege,
p. 70 ff. Band II, Heft 7/8 der Sammlung zwangloser Ab¬
handlungen aus dem Gebiete der Nerven- und Geistes-Krank¬
heiten. Halle a. S. 1899. Carl Marhold.
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HARVARD UN1VERSITY
1004.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
schaftüches war. Besonders fiel dies in die Augen,
wenn die Kranken noch Kinder waren. Hier schien
in der That manchmal ein Verhältniss ähnlich dem
zwischen Eltern und Kind vorzuliegen.
In der Mehrzahl waren die Kranken, entsprechend
dem Vorwiegen des weiblichen Geschlechtes, in der
Küche mit Kartoffelschälen, Abwaschen und dergl.
beschäftigt, oder sie halfen mit den weiblichen Fami¬
lienmitgliedern am Nähtisch. Einige begleiteten die
Hausfrau auf Gängen im Hof, bei Besorgung des
Kleinviehs. Andere, welche zu einer Beschäftigung
nicht fähig waren, sassen im Zimmer neben Familien¬
angehörigen. Einzelne jugendliche Kranke trafen wir
auch auf der Strasse den Kindern ihrer Pflegerfamilie
beim Spiel zusehend, zum Theil daran theilnehmend.
Eine Reihe von Kranken habe ich in der üblichen
Weise gefragt, ob sie nicht lieber nach Uchtspringe
zurück wollten, ob es in Uchtspringe nicht schöner
und besser sei. In keinem Fall erhielt ich eine be¬
jahende Antwort, Alle wollten lieber bei ihrer Pfleger¬
familie bleiben.
Nie werde ich vergessen, mit welchem freudigen
Eifer eine alte würdige Dame, eine der ältesten
Pflegerinnen Gardelegens, unter Vorführung der
Kranken die Fortschritte der geistigen Entwickelung
derselben schilderte. Mit beredte* Wortelr berichtete
sie, dass die Kranke, als sie vor einigen Jahren zu
ihr in Pflege kam, weder etwas sprechen konnte, noch
zu irgend einer Beschäftigung zu gebrauchen war;
selbst zur Reinlichkeit musste sie zuw'eilen angehalten
werden. Allmählich wurde die Kranke lebhafter, be¬
gann sich auf Zureden und stete Anweisung etwas
im Hause zu beschäftigen, im Laufe der Zeit lernte
sie sogar Näh- und Flickarbeiten und ist heute der
Pflegerin eine gute Hilfe im Hause und bei der Arbeit.
Die Kranke spricht wenig, aber verständig. Es han¬
delt sich auch hier um einen Fall von Idiotie, jetzt
19 Jahre alt.
Zugegeben, dass bei dieser Kranken vielleicht
auch in einer Anstalt eine gewisse Weiterentwickelung
der geistigen Fähigkeiten stattgehabt haben würde,
so ist doch zweifellos den geeigneteren Verhältnissen
M i t t h e i
— Der Congress für experimentelle Psycho¬
logie in Giessen. (Ref. Dr. Ruppel.) (Fortsetzung.)
Gruppe 3. MüIler-Göttingen : „Bericht über
Untersuchungen an einem ungewöhnlichen
Gedächtniss“ (nebst Demonstrationen).
Ganz exorbitante Gedächtj}j ss ]eistungen zeigte Dr.
in der Familie, den Bemühungen der Pflegefrau und
deren Angehörigen ein guter Theil des auffallenden
und weitgehenden Erfolges zuzubilligen.
Nach Mittheilung des Arztes sind solche günstigen
Beeinflussungen des psychischen Verhaltens der Kran¬
ken in der Familienpflege in Gardelegen wiederholt
zur Beobachtung gekommen.
Bei einer älteren, erprobten Pflegerfamilie ist ein
Verbandkasten untergebracht. Dort werden von dem
Arzt etwa nothw’endige kleinere Verbände angelegt
bezw\ gewechselt. Für besondere Fälle sind Instru¬
mente, Verbandzeug u. s. w. in der Wohnung des
Arztes.
Für Badegelegenheit ist Vorsorge getroffen. Eine
Pflegerfamilie hat auf dem Hofe ihres Anwesens
einen kleinen Bau errichtet, in welchem Wasserleitung,
Kessel mit Heizvorrichtung zur Erwärmung des Wassers
und 2 emaillirte Badewannen sich befinden. In einem
Vorraum ist eine Wage aufgestellt. Alle 4 Wochen
findet sich hier jeder Kranker in Begleitung eines
Angehörigen der Pflegerfamilie ein, erhält ein Bad
und wird gewogen. Für jedes Bad bekommt der
betr. Pfleger, welcher das Badehaus erbaut hat und
für Rüstung des Bades zu sorgen hat, 30 Pf. von
der Anstalt Uchtspringe bezahlt. Badewannen und
Wage sind Eigenthum der Anstalt.
Den besseren Verpflegungsklassen gehörten 8 der
Familienpfleglinge an. Es w’aren 3 Damen der I.
und 5 der II. Verpflegungsklasse.
Je 2 Pensionäre der II. Klasse haben eine ge¬
räumige gut möblirte Stube und eine Kammer ge¬
meinsam. Für jede Dame I. Klasse ist ein Wohn¬
zimmer und eine Kammer besonders vorhanden.
In einer Familie, deren Haus an der nach der
Vorstadt führenden Strasse gelegen ist, wohnen 2
dieser Damen, alte Fälle von Paranoia chronica. Sie
haben ein schön möblirtes Schlafzimmer und ein ge¬
meinschaftliches, grosses, behagliches Wohnzimmer
inne. Bei einer der besseren Pflegefamilien hat sich
auch die Oberpflegerin in Kost begeben. Sie nimmt
ihre Mahlzeiten gemeinsam mit einer der Damen
1. Klasse ein. (Schluss folgt.)
1 u n g e n.
R. aus K., Mathematiker, den M. vorslellte. Allein
mit Hülfe des Erinnerungsvermögens ohne mnemo¬
technische Hülfe reproducirte R. z. B. 5 Reihen von
je 5 Zahlen vorwärts, rückwärts, senkrecht u. s. w.
15 Sec. nach dem Vorsprechen. 204 Ziffern repro-
ducirt R. nach 13 Minuten in jeder beliebigen Folge.
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120 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 13.
Die ,,Hilfen“, deren R. sich bedient, schildert M. als
die gleichen, die wir auch gebrauchen, nur besteht
bei R. eine starke Concentrationsfähigkeit, eine über¬
raschend schnelle Auffassung und das sofortige Ein¬
treten der jeweils nöthigen Hilfe.
Wreschner-Zürich: „Experimentelles über
Association von Vorstellungen“.
W. stellte ohne Rücksicht auf die übrigen bei
Associationsprüfungen in Betracht kommenden Ver¬
schiedenheiten lediglich die Associationszeiten an zahl¬
reichen Versuchspersonen fest nach Geschlecht, Alter,
und Bildungsgrad. Seine Versuche ergaben längere
Associationszeiten für Kinder und Ungebildete als
für Gebildete, für Frauen ein geringes Zeitplus gegen¬
über den Männern. Auf abstracte Reizworte reagir-
ten sämmtliche Versuchspersonen am langsamsten.
Kate Gordon-Würzburg: „Ueber das Ge-
dächtniss für affectiv bestimmte Ein¬
drücke“.
G. untersuchte, ob das Gefallen oder Missfallen,
bedingt durch bestimmte Colorirung zu merkender
Complexe, von Einfluss auf das Gedächtniss sei. Ein
solcher ergab sich ihr nicht
Rauschburg-Budapest: „Ueber die Bedeut¬
ung der Aehnlichkeit beim Erlernen, Be¬
halten und bei der Reproduction“.
Diese wird erörtert an der Hand von 3000 Re-
productionsmessungen. Die zu merkenden Silben¬
reihen setzten sich zusammen einmal aus von ein¬
ander verschiedenen, das andere Mal aus z. Th. sich
wiederholenden Elementen. Das Erlernen der letz¬
teren gegenüber den ersteren ist leichter, das Be¬
halten schwerer, weil wir uns zum Erlernen ähnlicher
Gruppen der Nebenvorstellungen bedienen, mit deren
Abblassen auch die zu fixirenden Hauptvorstellungen
entsprechend schwinden. Das Zustandekommen und
Fixiren von Vorstellungen ist nicht nur vom eben
gegebenen, vielmehr auch von dem kurz vor ihnen
bestehenden Bewusstseinsinhalte abhängig. Eine Aehn¬
lichkeit dieses mit der neuen Vorstellung irradiirt die
letztere fälschend. Mit diesem experimentell gewon¬
nenen Resultat negirt R. den Herbart’schen Stand¬
punkt, nach welchem entgegengesetzte Vorstellungen
einander hemmen.
Müller- Strassburg giebt einige Beobachtungen
über das Wesen des Reproductionsvorganges.
Gruppe 4: Külpe-Würzburg: „Versuche über
die Abstraktion“.
Zu unterscheiden ist positive und negative Ab¬
straktion i. e. das Herausheben einzelner Theile eines
Complexes und das Vernachlässigen anderer. Es
wurden durch Projection Silben von bestimmter Form
eine bestimmte Zeit exponirt und verlangt, Zahl,
Farbe, Form oder Constellation der einzelnen Buch¬
staben zu beachten. Die richtigsten Resultate zei¬
tigte das Zusammenfallen von Aufgabe und Aussage,
m. a. W.: die Abstraktion gelingt am besten, w t o Prä-
occupation und determinirende Tendenz besteht.
Von der Zahl ist leichter zu abstrahiren als von Figur
und Farbe. Unregelmässige Figuren erschwerten die
bei dem Vorgang ursächlich maassgebende Concen-
tration, regelmässige erleichterten sie. Die Verschie¬
denheit der Versuchsergebnisse hat nicht in verschie¬
denen Gesichtswahmehmungen ihren Grund, sondern
entspricht den verschiedenen Aufmerksamkeitsleist¬
ungen. Alle Vorstellungen sind abstrakt als Bewusst¬
seinsphänomene.
Spearman - Leipzig : „Die experimentelle
Untersuchung psychischer Corre 1 ationen“.
S. giebt mit ihnen einen Beitrag zur Methodik
der Psychologie. Für kurzes Referat ungeeignet.
Elsen haus-Heidelberg: „Die Aufgabe einer
Psychologie der Deutung als Vorarbeit
der Geistes w'issenschafte n“.
E. erinnert daran, dass wir das Erleben anderer
allein aus ihren Aeusserungen erkennen und aus der
Analogie unseres eigenen Erlebens auf Grund subjec-
tiver Deutung („Einfühlen“ und „Verstehen“) erklären
können.
Gruppe 5: W i rth - Leipzig: „Zur Frage des
Bewusstseins- und Aufmerksamkeitsum¬
fange s“.
Die einzelnen psychischen Inhalte besitzen einen
verschiedenen Werth für unser psychisches Erleben,
sie haben verschiedene Grade des Bewusstseins.
Zahlenmässige Messung dieses Bewusstseinsgrades der
einzelnen Elemente ist nicht möglich, wohl aber eine
solche des Bewusstseinsumfanges. Einige entsprechende
Versuchsanordnungen werden beschrieben.
Weygandt-Würzburg: „Beiträge zur Psy¬
chologie des Schlafes“.
W. stellte unter den verschiedensten Bedingungen
im Anschluss an die Versuche der Kraepelin’schen
Schule Untersuchungen an über die erholende Wirk¬
ung bestimmter Schlaf Zeiten durch Prüfung der Arbeits¬
fähigkeit (Additionsversuche) und Merkfähigkeit. Die
blosse Additionsfähigkeit war nach vierstündigem Schlafe
nicht wesentlich verschieden von der nach sechsstün¬
digem. Von grossem Einflüsse hingegen erwiesen
sich die letzten Schlafstunden auf die Merkfähigkeit,
wie sich überhaupt eine Proportionalität der Leist¬
ungsfähigkeit zur Lösung komplicirterer Aufgaben und
der Schlafzeiten ergab.
Clopar ede-Genf: „Biologische Theorie
des Schlaf es“.
C. kann sich den bisherigen Theorien über den
Schlaf nicht anschliessen, er fasst ihn vielmehr als
einen positiven, reflectorisch-activen Vorgang auf, als
einen Instinct, der im Dienste der Vermeidung einer
drohenden Erschöpfung steht.
Gruppe 6: Henri-Paris: „Ueber die Coordi-
nation von Bewegungen“.
H. lieferte experimentell den Nachweis, dass die
Regulirung von sonst niederen Centren unterstellten
Bewegungen bei Ausschaltung jener durch höhere
allmählich übernommen werden kann. Durchschneid¬
ung des sensiblen Nerven eines Taubenflügels führte
zu Incoordination seiner Bewegungen, die gemach
sclnvand, sich jedoch wieder passager einstellte nach
leichtem Narcotisiren der Taube. Analoges ergaben
Versuche am Frosch; analog ist auch das am Men-
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Original frnm
HARVARD UNIVERSITY
1004 ] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
»dien beobachtete Seilwinden einer durch Nerven¬
erkrankung gesetzten Coordinationsstörung aufzufassen,
die jedoch unter psychischen Einflüssen wieder her¬
vortreten kann.
Ach- Göttingen: „Experimentelles über
die Willensthät igk ei t“.
A. geht von der Trennung der Willensthätigkeit
in Selbstbestimmen (Entstehung von Absicht und
Entschluss) und Realisirung der Absicht aus. Letztere
ist Gegenstand seiner Untersuchungen nach variirten
Methoden. Für kurzes Referat nicht geeignet.
Marti us- Kiel: „Zur Untersuchung des
Einflusses psychischer Vorgänge auf Puls
und Athmung“.
M. versuchte die bisher üblichen Methoden, die
keine einheitlichen Resultate zu geben vermochten,
möglichst zu verbessern. Den Plethysmographen be¬
sonders erkannte er als werthlos. Doch gelang es
ihm bisher nicht, alle Fehlerquellen (bes. Ausdrucks¬
und Stossbewegungen) zu eliminiren. Er hält es auch
für unwahrscheinlich, dass Lust und Unlust aus ihrem
complicirten Zusammenhang heraus den Puls in ein¬
deutiger Weise beeinflussen.
S om m er - Giessen : „Demonstrationen " :
a) Umsetzung des Pulses in Töne; b) Ausdrucksbe¬
wegungen in Form von Licht- und Farbenerschein¬
ungen.
a) Ein bei hoher Empfindlichkeit auf Grund langer
Versuche relativ einfach gestalteter Hebelrollenapparat
ermöglicht die variirende Einwirkung der Pulswelle
auf die Höhe des Tones einer angeblasenen Zungen¬
pfeife derart, dass psychisch bedingte und bei der
Demonstration gesetzte Einwirkung auf das Herz zu
deutlichstem akustischen Ausdruck kommt.
b) Es wird die dreimensionale Ausdrucksbewegung
(der Hand) mit Hilfe eines modifleirten Flüssigkeits-
rheostaten, der in drei Stromkreise mit verschieden
gefärbten Glühlampen eingeschaltet ist, zu allgemein
deutlicher optischer Wahrnehmung gebracht, zwar so,
dass feiner Tremor, nach den drei Raumdimensionen
getrennt, beobachtet werden kann.
Ettlinger-München : „Einige Bemerkungen
über Nachahmung“.
An Beispielen aus dem Thierleben und aus der
Psychologie des Menschen beweist E., dass die Nach¬
ahmung nicht auf instinctiven sondern auf associativen
Vorgängen beruht.
Gruppe 7: E Ise n h aus - Heidelberg: „Bemerk¬
ungen über die Generalisation der Gefühle“.
Diese kann nach E.’s Ausführungen statthaben
1. durch Theilnahmc der Gefühle am Generalisations-
process der Vorstellungen, mit denen sie verknüpft,
2. können Gefühle allgemeinen Charakters durch Zu¬
sammenfassen von Einzelgefühlen entstehen.
G roos-Giessen : „Die Anfänge der Kunst
und die Theorie Darwin ’s“.
Aus der Anthropologie und Thierpsvchologic weist
G. nach, dass, entgegen Darwin s Theorie, weder für
ästhetisches Schaffen noch jy ir ästhetisches Gemessen
innerhalb sämmtlichcr Klinge (D s erotische Moment
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und das der Bewerbung allein cuusul herangezogen
werden kann.
S i e b e c k - Giessen : „Zur Psychologie des
Musikalischen“.
Der Gefühlswerth der Musik ist nichts Objektives,
vielmehr begründet auf ästhetische Einfühlung, für
die ausschlaggebnd ist das Verhältniss zwischen gegen¬
ständlichem und gefiihlsmässigem Moment bei der
Wahrnehmung, wobei der subjective Factor, die
Stimmung, nicht Folge sondern Voraussetzung der
Einfühlung ist. Mit der Uebertragung unserer Stimm¬
ung auf das die Stimmung auslösende Objekt ist
diese Voraussetzung erfüllt, und es wird uns nun
durch die Einfühlung das Bild von Wesen und Werth
unserer Gefühle vermittelt. Auf dieser Basis be¬
trachtet S. Provenienz und weitere psychologische Be¬
ziehungen der beiden Momente.
Marbe-Würzburg: „Ueber den Rhythmus
der Prosa“.
Zunächst an Prosastücken Goethe’s und Heine's
stellte M. statistische Erhebungen an, die dann weiter
ausgedehnt wurden und ihn bezüglich des Rhythmus
(Verhältniss der betonten zu den unbetonten Silben)
zu der Annahme eines individuellen Typus führten,
und das Bestehen eines, für die deutsche Sprache
durch andere Werthe als beispielsweise für die fran¬
zösische, bestimmten Normalrhythmus des gesunden
Menschen wahrscheinlich machten.
Gruppe 8 : Amant- Würzburg: „D as psy cho-
logische Experiment an Kindern“.
A. berichtet über die historische Entwicklung der
Kinderpsychologie und erörtert eingehend in welcher
Weise und unter welchen Bedingungen das psycho¬
logische Experiment an Kindern möglich ist. Vor
allem muss es dem unentwickelten Zustand des
Kindes Rechnung tragen und den verschiedenen Ent¬
wickelungsstufen entsprechend angestellt werden. Die
„Ausdrucksmethode“ ist schon früh anwendbar, wäh¬
rend die „Eindrucksmethode“ mit dem Selbstbewusst¬
sein rechnen muss und somit erst auf viel späterer
Stufe möglich wird. Solange die experimentelle Unter¬
suchung noch nicht ausführbar, muss sie durch ge¬
naue Beschreibung sämmtlicher Aeusserungen ersetzt
werden.
La v - Karlsruhe : „Das Wesen und die Be¬
deutung der experimentellen Didaktik“.
Die experimentelle Forschung in der Didaktik,
bisher sehr vernachlässigt, bedarf der Ausbildung und
Anwendung. Das didaktische Experiment erfordert
zunächst pädagogisch ein Stadium der Hypothesen-
bildung, der Vorbereitung für das Experiment, bevor
es in einem weiteren Stadium angewendet, schliess¬
lich zu praktisch verwerthbaren Resultaten führen
kann und den exakt psychologisch begründeten Unter¬
richt, wie ihn L. explicirt, ermöglicht. Die alte For¬
derung einer individualisirenden Pädagogik begründet
er aufs Neue und wünscht die Errichtung von Lehr¬
stühlen für experimentelle Didaktik und Pädagogik
verbunden mit Laboratorien und Uebungsschulen, um
durch sie Seminardirectoren. Seminarlehrern, Rectoren
und Schulinspeotoren ein pädagogisches Fachstudium
an Universitäten zu ermöglichen.
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HARVARD UNIVERSITY
122 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 13.
S ter 11 - Breslau : „Die Sprachentwickelung
eines Kindes (insbesondere in grammatischer und
logischer Hinsicht)“.
St. hat gemeinsam mit seiner Frau — die Beob¬
achtungen der Mutter werden also sehr wesentlich
bes. betont — die sprachliche Entwickelung seines
Töchtcrchens genau verfolgt und tabellarisch fixirt
nach zeitlichem Auftreten, grammatikalischem Werth
und Bedeutung der Worte. Die ersten Aeusserungen,
volitionaler Art, finden in Form von Substantiven und
Interjectionen statt. Es folgen Verba, Pronomina,
Adverbia, Conjunctionen, Adjectiva, Numeralia und
Interjectionen. Nachahmung und Spontaneität kom¬
men insofern gleichzeitig in Betracht, als das Kind
entsprechend seiner Auffassungskraft die einzelnen
Elemente aus der Sprache des Milieus aufnimmt,
eklektisch nachahmt und — darin fast allein liegt im
Gegensatz zu der meist angenommenen aber nur
seltenen Wortneubildung das schöpferische Moment
— zu eigenartigen Bildungen oft kombinirt (z. B.
„Kindsoldat“ für kleiner Soldat). Letzteres ist be¬
sonder der Fall zwischen dem vierten und fünften
Lebensjahre, d. h. zu einer Zeit, wo die Discrepanz
zwischen dem Wortschatz und dem Wortbedürfniss
sehr gross ist. Der früheren örtlichen Orientirtheit
vor der zeitlichen entspricht das frühere Auftreten
der Ortsadverbia. Die activen Verbformen erscheinen
vor den passiven. Die Zukunft hat zunächst eine
grössere Bedeutung für das Kind als die Gegenwart
und die erst sehr spät sprachlich geäusserten Formen
der Vergangenheit. Das häufige Wort „nein“ tritt
zunächst nur volitionistisch auf, das praktische „nein“;
erst viel später als constatirende Form, das theore¬
tische „nein“. Bemerkenswerth ist noch der spätere
Gebrauch der Conjunction, indem lange Zeit über¬
und untergeordneter Satz ohne Verbindung nebenein¬
ander gestellt werden.
Gruppe 9: Stern-Breslau : „Der gegenwär¬
tige Stand und die künftigen Aufgaben der
Aussageforderun g‘\
Von der Bedeutung der Aussage für den Juristen
und der geringen Beachtung, die diese der Psycho¬
logie der Aussage schenken, ausgehend, macht S.
kurze Mittheilungen über einige Resultate seiner
Untersuchungen: Im Verhör ist die Fehlerzahl die
fünffache der Aussage. Das weibliche Geschlecht
liefert bei der Aussage die grössere Quantität, das
männliche die grössere Qualität Bei Confrontationen
(bes. mit Kindern) muss das Moment der Suggestion
und Autosuggestion weitgehende Berücksichtigung
finden, so dass z. B. die häufig geübte Confrontation
eines Einzelindividuums mit einem Kinde (sexuelle
Delicte) nicht über Gebühr ins Gewicht fällt.
Borst-Genf: „lieber die Art der Fehler¬
zählung in der Psychologie der Aussage“.
B. legt ihren Untersuchungen an je 12 Männern
und Weibern von 18—20 fahren eine „Normalaus¬
sage“ vergleichsweise zu Grunde. Diese Normalaus¬
sage ist etwas Complexes. Eine beliebige Aussage
kann dann einem Theil dieses Complexes entsprechen,
was an Beispielen erläutert wird.
Gruppe 10: Sommer-Giessen: „Objective
Psychopathologie“.
Für psychopathologische Untersuchungen müssen
die Principien des psychologischen Experimentes gelten,
damit der subjective Eindruck des Beobachters elimi-
nirt, durch objective Constatirungen ersetzt werden
kann. Grundbedingung ist exakte Messung des Rei¬
zes, Feststellung der Reaction und ihres Verhältnisses
zum Reiz. Für die Untersuchung der körperlichen
Phänomene in ihrer Abhängigkeit von psychischen
Einflüssen dienen die von S. construirten Apparate
zur Festlegung motorischer Vorgänge, sowie vaso¬
motorischer und elektromotorischer Erscheinungen
der Körperoberfläche. — Es werden Curven des
Patellarreflexes und Tremors der Hände psycho-
pathologisch bedingten Ablaufes demonstrirt und er¬
läutert.
Die rein psychologischen Untersuchungen werden
an der Hand von Fragebogen vorgenommen, für
deren Durchbildung neben den für das psychophy¬
sische Experiment geltenden Principien die Einheit
des Reizes, die Anwendbarkeit in jedem Falle maass¬
gebend war. Mit der Anwendung einheitlichen Reizes
in bestimmten Intervallen ist die Möglichkeit gegeben,
zu einem objectiven Urtheil auch über den zeitlichen
Verlauf psychopathologischer Erscheinungen zu kom¬
men. So sind in der Giessener psychiatrischen Klinik
schon seit geraumer Zeit gebräuchlich: Fragebögen
über Orientirtheit und Sinnestäuschungen, Schulkennt¬
nisse und Rechen vermögen, sowie bestimmte Gruppen
von Reizworten für Associationsversuche.
Gruppe 11: Watt-Würzburg macht „Mi ttheil-
ungen überReactionsversuche“ und demon¬
strirt Tabellen solcher.
Die Ausstellung.
Die grosse Zahl der in den oben aufgezählten
vier Gruppen ausgestellten Objecte gestattet im Rah¬
men eines kurzen Referates nicht, detaillirt auf diese
einzugehen. Es soll eine Uebersicht ohne Anspruch
auf erschöpfende Vollständigkeit genügen, zumal eine
ausführliche Beschreibung aus der Feder Professor
Sommer’s ( 1 . c.) bereits erschienen.
Gruppe 1 bietet zunächst eine Reihe von Appa¬
raten, die die Exposition optischer Complexe oder
der Theile solcher bezwecken: Das Tachistoscop nach
Erdmann und Dodge nutzt die Fähigkeit auch
eines Theiles einer Linse, ganze Bilder zu entwerfen,
für die simultane Exposition aus bei Verwendung
einer einfachen Camera und einer von ihrer Linse
elektromagnetisch auslösbaren Fallscheibe mit ent¬
sprechender Anordnung für Variirung der Expositions¬
zeiten. — Das Tachistoscop nach Schumann ge¬
stattet nach beliebiger, auf die Exposition folgender,
Zeit die Zerstörung des positiven Nachbildes — Das
Zimmermann’sche Spiegeltachistoscop nach Wirth
dient vor allem zur Untersuchung der Aufmerksam -
keitsvertheilung auf ein Feld tachistoscopisch ver¬
änderlichen Inhaltes. — Der Gedächtnissapparat nach
Wirth (zwei verschiedene Anordnungen), der den
exponirten Reiz für bestimmte Zeit völlig stillstehend
erscheinen und plötzlich geräuschlos verschwinden
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Original fram
HARVARD UNiVERSITY
IQ 04 .J
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
123
lässt, ist auch für tachistoscopische Zwecke zu ver¬
wenden. — Rausch burg’s „Apparat zur Unter¬
suchung der Auffassung, Association und des Ge¬
dächtnisses“ exponirt optische Reize in zeitlich vari¬
abler Aufeinanderfolge und Dauer der Exposition.
— Martins’ Lichtunterbrechungsapparat ermöglicht
scharf begrenzte Lichtreize, deren Wirkung bei viel¬
facher Variirungsmöglichkeit exakt zu beobachten ist.
— Speciell der psychophysiologischen Optik dienen:
„Rotationsapparat nach Marbe zur beliebigen Ver¬
änderung und Ablesung des Sektorenverhältnisses
zweier ineinander. geschobener Farbenscheiben wäh¬
rend der Rotation“, sowie desselben „Serie grauer
auf photographischem Wege hergestellter Papiere mit
untermerklichen Helligkeitsunterschieden.“ — „Apparat
zur Diagnose und Demonstration der Farbenblind¬
heit“ nach Nagel lässt von dem zu Untersuchenden
in einfacher Weise Gleichung zwischen Gelb und
Roth herstellen und ermöglicht damit die leichte
Unterscheidung des Deuteranopen vom Protanopen.
— Die successive Lichtinduction demonstrirt ein sehr
einfacher Apparat (zwei gelbe Coulissen auf blauem
Hintergrund mit weissem Fixationspunkt verschieblich)
aus der Werkstatt Oehmke’s. — Die Thierbrille
du Bois Reymond’s, bestehend aus einer vor die
Augen zu setzenden Spiegelvorrichtung, giebt durch
die Möglichkeit, beide Gesichtsfelder für den Sehact
zu trennen, Aufschlüsse über die subjective Projection.
•— Tschermak stellte verschiedene hierher gehörige
Apparate aus, von denen iin Anschluss an seinem
Vortrag erwähnt sei das „Leuchtperimeter zur objec-
tiven Untersuchung des binocularen Gesichtsraumes
von Thieren“ und das „Nadelstereoscop zur Demon¬
stration der wichtigsten Thatsachen der binocularen
Tiefenwahmehmung tC . — Zeiss stellte ein verbesser¬
tes Stereoscop mit Vorrichtung für stereoscopisches
Messen nebst stereoscopischen Dispositionen aus. —
Die Psychiatrische Klinik Giessen bot eine
reichhaltige „Sammlung stereoscopischer Aufnahmen
aus dem Gebiete der Geisteskrankheiten, geordnet
nach der Eintheilung in der Diagnostik der Geistes¬
krankheiten von R. Sommer“. — Diese Aufnahmen
wurden unter möglichster Vermeidung aller, wenn
auch technisch oft erwünschten, Maassnahmen voll¬
zogen, die von Einfluss auf den eben gegebenen
charakteristischen Zustand des Kranken hätten sein
können. Sie zeigen die Vortheile der stereoscopischen
Wiedergabe physiognömischer Verhältnisse vor der
einfachen nichtstereoscopischen.
Von den Apparaten aus der Psychophysiologie
des Gehörsinnes seien hervorgehoben: Der „Hör¬
schärfeprüfer nach Zoth“, eine Fall Vorrichtung für
verschieden grosse Stahlkügelchen, die durch genaue,
willklihrliche Einstellung der Fallhöhe ein den Hör-
schärfeprüfungen zu Grunde zu legendes objektives
Maass gewährt. — Struycken-Breda’s bereits
erwähnter Apparat zur „Bestimmung der Hörschärfe
in Micromillimetern“. — Der Tonvariator von Stern
verwendet wie der bereits erwähnte Apparat Som¬
mer’s zur „Umsetzung Pulses in Töne“ das
Princip der contmuir/ich van 'abien Tonhöhe. Beim
Tonvariator werden die angehlasener Flaschen
□ igitized by
Gck gle
zur Erzielung verschiedener Tonhöhen nach oben
und unten, getrennt oder beliebig combinirt, ver¬
schoben. Die Aenderung der Höhe der schwingen¬
den Luftsäulen wird an Scalen in den entsprechenden
Schwingungszahlen abgelesen.
Der Untersuchung von Hautsinnesempfindungen
dienen: der „Rotationsapparat für Complicationsver-
suche nach Wundt“, der die subjective Zeitver¬
schiebung objectiv gleichzeitiger Reize in verschiedenen
Sinnesgebieten auch für ein Auditorium zum Aus¬
druck bringt. — Spearman’s Aesthesiometer ist
ähnlich dem Sieveking’schen, gestattet jedoch auch
das Aufsetzen nur einer (Hartgummi-) Spitze auf die
Haut. (Schluss folgt.)
— Nordostdeutscher psychiatrischer Verein.
Programm der XI. Sitzung am Montag, den 27. Juni
1904, vorm. 11 Uhr im „Schützenhaus 4 * in Danzig.
1. Geschäftliche Mittheilungen. 2. Geh. Rath Prof.
Dr. Meschede in Königsberg: Ueber einen eigen¬
tümlichen cyklischen Verlauf einer Psychose in
5 tägigen Perioden. 3. Dr. Wickel in Dziekanka: Zur
Frage der stationären Paralyse. Mit Krankendemon¬
strationen. 4. Dr. Gluzewski in Konradstein: Ueber
alimentäre Behandlung der Epileptiker. 5. Geh. Rath
Dr. Kayser in Dziekanka: Die Entwicklung von
Dziekanka in den ersten zehn Jahren. — Am Abend
vor der Sitzung zwanglose Zusammenkunft bei gutem
Wetter im Schützenhaus, bei schlechtem im Raths¬
keller. Nach der Sitzung gemeinsames Mittagessen
mit Damen. Nachmittags nach Wunsch Ausflug
nach Oliva oder Dampferfahrt.
Die Geschäftsführer:
Stoltenhoff -Kortau. Kayser -Dziekanka.
— Berlin. Das Verwahrungshaus für ver¬
brecherische Geisteskranke, dessen Bau der
Magistrat auf dem Gelände der dritten Irrenanstalt
in Buch plant, hat im Stadtverordneten-Ausschüsse
zu einer interessanten Debatte geführt. Den Bau des
Verwahrungshauses habe doch unzweifelhaft die in
einer städtischen Irrenanstalt vorgekommene Revolte
veranlasst, denn in dem ursprünglichen Programme
der dritten Anstalt sei ein solcher nicht vorgesehen.
Wenn man der „Ansammlung wilder Männer“ Vor¬
beugen wolle, dann dürfe man ausser den für diese
bestimmten Einzelzellen (es sind deren 18 vor¬
gesehen) nicht noch Lazaretträume in das Haus legen,
denn das begünstige den Ausbruch von Revolten.
Es empfehle sich die Einrichtung eines Central-
Verwahrungshauses, wenn überhaupt die Stadt zur
Unterbringung geisteskranker Verbrecher verpflich¬
tet sei. Der Magistratsvertreter bemerkte hierzu,
dass die sogen, „festen Häuser“ bei den Anstalten in
Dalldorf und Herzberge schon stark belegt seien und
die Zahl der auf Grund richterlichen Urteils den
Irrenanstalten überwiesenen Verbrecher ständig zu¬
nehme. Infolgedessen habe auch der Ober¬
präsident auf die Errichtung eines be¬
sonderen Verwahrungshauses „gedrungen“.
Die Lazarettbehandlung Geisteskranker sei nach sach¬
verständigem Gutachten von grosser Wichtigkeit und
Original from
HARVARD UN1VERSITY
124 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 13.
unentbehrlich. Das geplante Gebäude, dessen Kosten
sich auf 270200 Mark belaufen werden, solle der
dritten und vierten Irrenanstalt dienen. Als Land¬
armen-Verband sei die Stadt Berlin gesetzlich ver¬
pflichtet, für Verwahrung und Pflege der hilfs¬
bedürftigen Geisteskranken usw. zu sorgen. Der
Magistrats-Antrag wurde darauf genehmigt. Es soll
aber später noch die Frage zur Erörterung gelangen,
ob für die noch in Untersuchung befindlichen Häft¬
linge die Verpftegungs- usw. Kosten, welche der
Staat zu erstatten hat, nicht besser (anstatt nac h dem
Tarife) nach den wirklichen Selbstkosten berechnet
werden könnten.
Referate.
— Die Simulation von Geistesstörung
und Epilepsie. Von Dr. Johannes Bresler.
Carl Marhold, Halle a. S., 1904. 238 S. Preis 6 M.
Verf. hat in dieser Monographie die erste um¬
fassende Bearbeitung der grossen deutschen und
ausserdcutschen Literatur dieses so schwierigen Gebietes
gegeben. Indem er den Inhalt aller in dieser Beziehung
vorliegenden Schriften zum Theil in wörtlichen Aus¬
zügen historisch und nach zweckmässigen Gesichts¬
punkten geordnet aneinanderreiht und sie durch
treffende kritische Bemerkungen verbindet, ist es ihm
gelungen, dem Leser ein so klares Gesammtbild der
beobachteten Erfahrungen und Ansichten zu bieten,
wie es dieser vordem nur durch ein zeitraubendes
und schwieriges Quellenstudium sich hätte aneignen
können. Im ersten Theile sind zuerst die allgemeinen
Ansichten der Autoren über Simulation von Geistes¬
störung und Epilepsie von Galen ab bis in die
neueste Zeit wiedergegeben; hier ist eine sehr
interessante Studie über die Fälle von Simulation im
Alterthum bei Griechen und Römern unter philologischer
Mitarbeit von Dr. Sniehotta - Breslau eingefügt. So¬
dann wird die Entlarvung der Simulation und die
Frage des Ueberganges von Simulation in wirkliche
Geistesstörung behandelt. In dem Kapitel über die
Häufigkeit der Simulation ergiebt es sich, dass reine
Simulation recht selten beobachtet wird; in einer
umfangreichen Tabelle sind die diesbezüglichen, statis¬
tischen Ergebnisse sehr übersichtlich geordnet. An den
allgemeinen Theil schliesst Verf. eine sehr reichhaltige
Zusammenstellung beschriebener Fälle, die in zwei
Gruppen getheilt werden: Simulation seitens geistig
Gesunder und Simulation auf pathologischer Grund¬
lage mit den zweifelhaften Fällen. Den Schluss bildet
das umfangreiche, 15 Seiten umfassende Literatur-
verzeichniss. Bei der ausserordentlichen Fülle des
Gebotenen ist es unmöglich, eine detaillirtere Inhalts¬
angabe zu machen. Medicinischen Gutachtern, wie
nicht-medicinischen Criminalisten, die sich mit dem
vorliegenden Gebiete beschäftigen, dürfte diese Mono¬
graphie künftighin ein unentbehrliches Hülfsmittel
bilden. Dr. Fritz Hoppe, Tapiau.
— A schaf f en bürg, Prof. Dr. G., Das Ver¬
brechen und seine Bekämpfung. Heidelberg,
1903. Carl Winters Universitätsbuchhandlung.
Der Verf. hat auf 250 Seiten eine fast erschöpfende
Zusammenfassung der bisher ermittelten Thatsachcn
der Criminal - Biologie und -Statistik gegeben, und
leitet daraus mit grossem kritischen Scharfsinn die
Principicn einer Erfolg versprechenden Criminalpolitik
ab. Demgemäss sind aus praktischen Gründen die
socialen Ursachen (wärthschaftliche Lage, Erziehung,
Alkoholirnus) mit besonderem, fast zu grossem Nach¬
druck betont, während die individuellen, endogenen
und ererbten Ursachen (Rasse, „der geborene Ver¬
brecher“ etc.) weil vorbeugenden und bekämpfenden
Maassnahmen weniger zugänglich, nur in sehr vor¬
sichtiger und skeptischer Darstellung gebracht sind.
Vielleicht wird in einer Zukunft, w’o weitere Kreise
rassenhygienischen Gesichtspunkten zugänglich gemacht
sind, — wovon jetzt noch nichts zu spüren ist, —
weniger Zaghaftigkeit nöthig sein.
Um auf die Reichhaltigkeit des in dem Buche
bewältigten Stoffes hinzuweisen.* brauchen wir nur
einige Kapitel zu nennen:
Verbrechen und Jahreszeit ( Häufung von Selbst¬
mord und Sittlichkeitsdelikten im Beginn des Summers
=- rudimentäre Brunst ?); Rasse und Religion; Stadt und
Land; Beruf; Volkssitten und Alkohol (Maxima der
Gcwaltthätigkeitsverbrechen jeder Art in den Orten
höchsten Alkoholkonsums, der weintrinkenden Pfalz,
dem biertrinkenden Oberbayern, dem schnapstrinken¬
den Bromberg); Prostitution; die Altersstufen; Ge¬
schlecht; die körperlichen und geistigen Eigenschaften
des Verbrechers; Geistesstörungen bei Criminellen, Ein-
theilung der Verbrecher.
Wir wünschen dem Buche die weiteste Verbreitung,
damit Juristen und auch Mediciner in höherem Maasse
als früher für das grosse Ziel einer vernünftigeren
Ausgestaltung des Strafgesetzes und des Strafvollzuges
(Abschaffung des Strafmaasses) interessirt werden.
Bolte- Bremen.
— Karrer: Beitrag zur Frage „der geisti¬
gen Gemeinschaft.“ Vereinsblatt der pfälzischen
Acrzte 1904, No. 2 und 3.
Verfasser liefert einen Beitrag zum Wesen eines
der manchen im Bürgerlichen Gesetzbuche niederge¬
legten KautschuckbegriHe, in deren Deutung Psychiater
sowohl wie Juristen zwanglos zu den w idersprechendsten
Ergebnissen gelangen können. Mit Recht verlangt
er, dass die geistige Gemeinschaft auch eine Belhätig-
ung erfordert. Und die Voraussetzung dieser Be-
thätigung ist das lebendige Bewusstsein der gemein¬
samen Familieninteressen und der gemeinsame Wille,
dem Wolde des anderen Gatten und der Kinder
nach Kräften zu dienen und die gemeinsamen Inter¬
essen zu fördern. Diese Voraussetzung erfordert
nicht einen Zustand geistigen Todes, wie er nur in
der hochgradigen Verblödung gegeben ist.
JKür den reductionellrn Theil verantwortlich : Oberarzt Dr. J . JircOer, I.ublinitz (Srh.esien).
Erscheint jeden Sonnabend — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Hevnemann’sche Buchdruckerei (Gebr. v 'olff) in Hallo a S
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Original fram
HARVARD UNiVERSITY
Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift.
Redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Luhlmitz (Schlesien C
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adresse : Marhold Verlag. Hallesaaie. Fernsprecher 2834.
Nr. 14. _ 2 Juli-_ _ 1904.
Bestellungen nehmen jede Bu> hhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die jspaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten.
Ueber die Unabkömmlichkeit des männlichen Pflegepersonals in den
Kreisirrenanstalten im Mobilmachungsfalle.
Vortrag gehalten gel. der Versammlung des Vereins bayer. Psychiater zu Ansbach am 24. V. 04.
Von Dr. med. Dees, kgl. Direktor der Kreisirrenanstalt zu Gabersee bei Wasserburg.
M. H.!
r^\er Verein bayerischer Psychiater hat gelegentlich
seiner vorjährigen Versammlung zu München
vi rschiedene Beschlüsse gefasst, die sich auf die
Unabkömmlichkeit des männlichen Pflegepersonals der
Kreisirrenanstalten, resp. Heil- und Pflegeanstalten,
im Mobilmachungsfalle beziehen und mich beauftragt,
Tabelle I.
Bezeichnung
der Anstalt
Zahl der
aufge¬
nommenen
sicherheits-
gefährl.
Männer
Gesammtzahl
der am
31. XII. 03
vorhandenen
eingewiesenen
sicherheitsge-
Zahl der
aufge¬
nommenen
Militär¬
personen
1902
1903
fährl. Männer
1902} 1903
München ....
()G
64
ICK)
—
1
Gabersee ....
4Ö
1 1 5
3
4
Deggendorf . . .
23
4 *
I 13
2
1
Klingeninünster . .
S
13
28
_
—
Karthaus - Priihl . .
28
17
90
/
2
Bayreuth ....
47
4 1
117
2
2
Erlangen ....
21
13
48
—
1
Ansbach.
33
()(>
5 °
—
—
Wemeck.
24
32
93
1
—
Kaufbeuren-Irsec .
23
28
<J4
2
1
die bezüglichen Erhebungen zu pflegen, um auf Grund
des gewonnenen statistischen Materials gelegentlich
der heurigen Versammlung weiter in dieser Ange¬
legenheit zu berathen und zu beschließen, was er-
strebenswerth erscheint.
Anfangs Dezember v. J. richtete ich die einschlä¬
gigen Anfragen an die Anstalten und erhielt von
allen auch die gewünschte Auskunft. Es wurden
sonach für alle bayerischen Kreisirrenanstalten (Heil-
untl Pflegeanstalten) fes tgestcj^ .
1. Die Zahl der in den Jahren 1902 und 1903 durch
die Distriktspolizeibehörden auf Grund des § 80,
Abs. II, P. Str. G. B. eingewiesenen sicherheits¬
gefährlichen geisteskranken Männer.
2. Die Gesammtzahl der am 31. Dez. 1903 in den
Anstalten befindlichen, auf Grund des § 80, Abs. II,
P. St. G. B. eingewiesenen sicherheitsgefährlichen
geisteskranken Männer.
3. Die Zahl der in den Jahren 1902 und 1903 in
den Anstalten aufgenommenen aktiven Militärper¬
sonen.
Tabelle II.
Bezeichnung
der Anstalt
Ge¬
sammt¬
zahl
der
Pfleger
Zahl
der
militär¬
freien
Pfle¬
ger
Als
unab¬
kömm¬
lich
aner¬
kannt
Stel-
lungs-
pflich-
tig bis
zum 5.
Mobil¬
mac h-
ungs-
tag
Stel-
lungs-
pflich-
tige
der Er¬
satzre¬
serve u.
Land¬
wehr II
München ....
61
I 2
3
45
I
Gabersee ....
41
7
3
29
2
Deggendorf . . .
38
13
—
25
—
Klingeninünster . .
59
18
—
32
Karthaus-Prüll . .
36
13
20
3
Bayreuth ....
55
1
46
8
Erlangen ....
62
2
—
51
9
Ansbach.
34
—
—
26
8
Werneck.
53
13
—
30
10
Kaufbeuren - Irsec .
44
12
—
28
4
Die gewonnenen Zahlen sind in der Tabelle I
zusammenges teilt.
In der II. Tabelle ist angegeben das Militärver-
hältniss der Pfleger säinmtlichcr Kreisirrenanstalten
□ igitized by Google
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
126 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 14.
(Heil- und Pflegeanstalten) nach dem Stande vom
1. Januar 1904.
Es war ursprünglich beabsichtigt, auch das Ver¬
hältnis nach dem Stand vom 1. Jan. 1903 festzu-
stellen, es ist dies aber wegen des grossen Personal¬
wechsels nicht in allen Anstalten gelungen, weshalb
dieser Nachweis entfiel. Soweit sich das Ergebniss
von 1993 übersehen lässt, war cs von demjenigen
vom 1. I. 04 nicht erheblich verschieden.
Das wichtigste Resultat dieser Zusammenstellung
ist, dass am 1. Jan. d. J. in der Kreisirrenanstalt
(Heil- und Pflcgeanstalt) zu
München von 61 präsenten Pflegern 45 = 74 °/o
Gabersee „ 41 „ „ 29 = 71 °/o
Deggendorf „ 38 » >» 23 = 66%
Klingenmünster „ 58 „ „ 32 = 35%
Karthaus - Prüll „ 36 ,, „ 20 = 55%
Bayreuth „ 55 „ „ 46 = 84%
Erlangen „ 62 „ „ 51=82%
Ansbach „ 34 „ „ 26-- 76%
Wern eck „ 53 » » 3^ = 57%
Kaufbeuren-Irsee „ 44 „ „ 28 = 64%
für den 5. Mobilmachungstag stellungspflichtig ge¬
wesen wären.
Natürlich verschieben sich diese Zahlen im Laufe
der Monate, da etwas vorwärts, dort etwas rückwärts,
im Allgemeinen darf man aber sagen, dass sie jahraus
jahrein, wenn nicht besondere Massnahmen getroffen
werden, ungefähr die gleichen bleiben. Die Gründe,
warum dies so ist, und sein muss, habe ich in meinem
vorjährigen Referate auseinandergesetzt.
Die Zahlen sprechen selbst, und ich glaube, wir
haben allen Grund, Abhilfe zu versuchen. In einigen
Anstalten sind ja die Verhältnisse zur Noth haltbar,
Schwierigkeiten würden jedoch auch diesen im Falle
einer Mobilmachung entstehen, für die Mehrzahl der
Anstalten aber würde eine Mobilmachung, wie ich schon
im vorigen Jahr sagte, eine Katastrophe bedeuten.
Meine Ausführungen vom vorigen Jahre haben
übrigens auch anderwärts Widerhall gefunden, z. B.
giebt Alt meinem in der „Irrenpflege“, VII. Jahrgang,
S. 126, abgedruckten Referate folgende Geleitsworte
bei:
„Direktor Dees-Gabersec hat in diesem, auf der
letzten Versammlung der bayerischen Psychiater in Mün¬
chen erstatteten Vortrag eine Frage angeschnitten, welche
nicht nur für Gabersee und Bayern, sondern für alle
Anstalten in Deutschland von weittragender Bedeutung
ist. Da die Anstalten durchweg nur gesunde, von
Gebrechen freie, unbescholtene junge Männer als Ililfs-
pfleger einstellen, überwiegen naturgemäss im Pflegcr-
Digitized by Google
stand die gedienten Leute. Manche Anstalten, z. B.
auch die von mir geleitete, bevorzugen die gedienten und
darum besser disziplinierten Leute bei der Annahme,
ja ergänzen ihr Pflegepersonal fast ausschliesslich aus
den bestempfohlenen Reservisten. Anlässlich der Kon-
trollversammlungen kann man so recht deutlich sehen,
ein wie grosser Bruchtheil des Pflegepersonals der Re¬
serve und Landwehr angehört und welche Betriebs¬
störung durch deren Beurlaubung entsteht. Dass im
Mobilmachungsfall durch deren plötzliche Einziehung
den Anstalten grösste Verlegenheit erwächst, ist ausser
Frage. Und es erscheint in der That nötliig, bei Zeiten
darauf Bedacht zu nehmen, wie den daraus entspringen¬
den Schwierigkeiten vorzubeugen ist. Diese Schwierig¬
keiten sind um so grössere, als auch ein gut Theil der
Anstaltsärzte im Mobilmachungsfall als Sanitätsoffiziere
zur Truppe einberufen und so dem Anstaltsdienst
entzogen weiden.
Der Rathschlag des bayerischen Staatsministcriums
des Innern, durch thunliehste Verminderung der Zahl der
militärpflichtigen Pfleger vorzubeugen, bedeutet eine
Gefährdung der Anstaltsinteressen und ist deshalb nicht
durchführbar und zulässig. Soll etwa ein nach körper¬
licher und seelischer Beanlagung, Herkunft und Vor¬
bildung geeigneter Mann deshalb nicht zum Pfleger
für Kranksinnige angenommen werden, weil er gedient
und im Falle eines Feldzuges Einberufung zu gewärtigen
hat? Oder sollen nur solche gediente Leute berück¬
sichtigt werden, die schon zum Landsturm überwiesen
sind? Das würde doch gewiss eine Verschlechterung
dieser wichtigen Mitarbeiter in der Behandlung der
schwierigsten aller Kranken bedeuten, eine Verschlechte¬
rung jener ganzen Berufsklasse, welche gerade in den
letzten Jahren erst zu einem wirklichen Stande sich
heraufgearbeitet hat. Was nützen aber die schönsten
und modernsten Anstalten, wenn das Pflegepersonal
statt besser, wieder minderwerthiger wird ? Es ist gewiss
nicht in Abrede zu stellen, dass auch unter den Nicht¬
gedienten sich Persönlichkeiten finden, die zur Pflege
der Kranksinnigen ausgezeichnet sind, aber im Grossen
und Ganzen stellen die Gedienten ein brauchbareres
Rekrutierungsmaterial, auf das wir im Interesse unserer
Kranken nicht verzichten können. Diese Forderung
ist durchaus berechtigt. Es wird nöthig sein, dass die
Leiter der öffentlichen Anstalten der aufgeworfenen
Frage ihre vollste Beachtung schenken, bei ihrer Vor¬
gesetzten Behörde bei Zeiten unter gehöriger Begrün¬
dung entsprechende Anträge stellen, welche sicher an
zuständiger Stelle naclulrücklichst für die Unabkömm¬
lichkeit einer angemessenen Zahl von Pflegern eintreten
wird.“
Aus dieser temperamentvollen Parteinahme Alt’s
Original from
HARVARD UNIVERSUM
127
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
1904.]
geht übrigens hervor, dass es anderwärts in dieser
Sache auch nicht besser bestellt ist, als bei uns in
Bayern, was uns allerdings mehr als Trost, denn als
Beispiel dienen kann.
Meine'Herrn! Ich bin nicht so optimistisch* dass
ich glaube, wir werden Alles erreichen, was wir als
billig wünschen können, aber einige Vortheile, hoffe ich,
werden wir doch gewinnen.
Wie Tabelle I. zeigt, sind schon in Friedenszeiten
die Zugänge von geisteskranken Soldaten in den Irren¬
anstalten nicht unerheblich. Um wie viel mehr werden
die Irrenanstalten von den Militärbehörden während
eines Krieges, der meines Erachtens das höchst dis¬
ponierende Moment für psychische Störung bietet, in
Anspruch genommen werden. Ich betone, gerade
während eines Krieges müssen die öffentlichen Irren¬
anstalten auf ihrer höchsten Leistungsfähigkeit erhalten
werden, denn sicherlich werden sie gerade durch das
Militär sehr fühlbar zu Gunsten der Militärlazarette
belastet werden. Deshalb fürchte ich auch nicht,
dass die zuständigen Militärbehörden sich den Gründen
verschliessen, welche die Leiter der öffentlichen Irren¬
anstalten den massgebenden Behörden vorzutragen
für ihre Pflicht halten.
Mit Rücksicht auf das Vorgetragene, stelle ich
nun folgenden Antrag:
Der Verein bayerischer Psychiater bescliliesst:
den Vereinsvorstand zu ersuchen, beim k. Staats¬
ministerium d. I. neuerlich mit der Bitte vor¬
stellig zu werden, dass die Unabkömmlichkeit
des männlichen Pflegepersonals der öffentlichen
Irrenanstalten generell durch die Wehrordnung
geregelt werde und zwar in der Weise, dass die¬
jenigen Pfleger, welche der Ersatzreserve oder der
Landwehr I. und II. Aufgebots angehören, im
Mobilmachungsfalle als unabkömmlich anerkannt
werden.
Bei Formulierung dieses Antrages stehe ich auf
dem Standpunkt, dass wir uns bei Erreichung dieses
Zieles einigermassen werden einrichten können. Auf
die Befreiung der Reservisten müssen wir wohl aus
patriotischen Gründen verzichten.
Die Familienpflege Geisteskranker in Gardelegen.
(Besuch im November 1903.)
Von Dr. C. Wickel , III. Arzt an der Provinzial-Irren-Anstalt Dziekanka bei Gnesen.
(Schluss; vergl. hierzu die lithogr. Beilage zu Nr. 13.)
Mehr in der Mitte der Stadt, in der Nähe des
Kirchplatzes, hat eine frühere, allein stehende Sclnil-
aufseherin eine grössere, sehr gute, behaglich einge¬
richtete Wohnung. Bei ihr sind 2 Damen, auch
ältere Fälle chronischer Paranoia, in Pflege. Die
Pflegerin widmet sich völlig ihren beiden Kranken.
Sie kocht für sie, besorgt ihre Zimmer, geht mit
ihnen spaziren.
In einer Kaufmannsfamilie war eine junge, imbe-
cille Dame untergebracht. Sie hatte 2 vorzüglich
ausgestattete, geräumige Zimmer. — Sie schien
ganz zufrieden und berichtete, dass sie Abends mit
ihrer Pflegerfamilie in den Circus gehen werde. Wie
der Arzt mir mittheilte, war es mit der Kranken zu
Hause gar nicht gegangen, in der Anstalt war sie
sehr schwierig, in der Familienpflege ging es bisher
sehr gut.
Nie wurde beobachtet, dass Kranke von Ein¬
wohnern belästigt, verspottet oder geängstigt wurden.
Irgend welche bemerkenswerthen unangenehmen Er¬
eignisse sind in der Gardelegener Familienpflegc bis¬
lang iibeihaupt nicht vorgekommen.
Die Angehörigen der Kranken der III. Vcr-
pflegungsklasse müssen sich ^ci c j e r Aufnahme ihrer
Kranken in die Anstalt Uchtspringe von vorneherein
mit Ueberführung derselben in Familienpflege ein¬
verstanden erklären, falls nach Lage des Falls eine
solche angebracht erscheinen sollte.
Bei den Kranken der I. und der II. Verpfleg-
ungsklassc wird erst bei den Angehörigen in jedem
einzelnen Fall angefragt, ob sie mit einer Ucberführ-
1111g in Familienpflege einverstanden sind.
Seitdem ein besonderer Arzt für die Familien¬
pflege am Orte ist, wurde die Genehmigung stets
gern ertheilt. Auch vereinzelte Angehörige der
Kranken der III. Verpflegungsklasse, welche zunächst
Bedenken bei Ueberführung ihrer Kranken in Fami¬
lienpflegc gehabt hatten, waren, nachdem ihnen be¬
kannt geworden, dass ein eigener Arzt zugegen sei,
vollkommen mit der Versetzung einverstanden und
äusserten sich bei ihren Besuchen ganz zufrieden.
Es sei mir im Anschluss hieran noch eine kurze
Bemerkung erlaubt über einige Punkte, welche in
der Familienpflege die Anwesenheit eines, lediglich
der Familienpflege sich widmenden Arztes an Ort
und Stelle besonders werthvoll erscheinen lassen.
Neben dem Kranken lernt der Arzt durch den
innigen, fast täglichen Verkehr auch die Pfleger-
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128 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 14.
familie eingehender kennen und ist so eher in der
Lage, besondere Eigenschaften derselben für die Fami¬
lienpflege nutzbar zu machen. Er vermag ihnen, je
nach der in bestimmten Fällen bewiesenen Umsicht
und Geschicklichkeit, bestimmte Kranke zuzuweisen,
er kann bei der Vertheilung der Kranken mehr indi-
vidualisiren. Vor allem aber ruft das stete Interesse
des besuchenden Arztes auch erhöhtes Interesse bei
den Pflegerfamilien hervor. Durch Bevorzugung be¬
sonders tüchtiger Pfleger, durch Hinweise, wie es bei
anderen Pflegern geht, durch eventuelle Verlegung
eines schwerer zu hehandelnden Kranken zu einem
tüchtigeren Pfleger und Zutheilung eines leichter zu
behandelnden Pfleglings, durch Inaussichtstellung
dieser Maassregel wird der Ehrgeiz wachgerufen.
Ohne Zweifel ist eine solche Rivalität, ein gewisser
Wetteifer, das Beste zu leisten, bei den Pfleger¬
familien Gardelegens bereits vorhanden und kann
im Interesse der Kranken nur erwünscht sein. Sehr
bezeichnend nach dieser Richtung hin ist gerade
auch die bereits angeführte Aeusserung jener Frau,
dass sie sich vor „den Anderen“ schämen müsse.
Wie viel von der geschickten Thätigkeit des
Arztes für Einführung der Familienpflege und für
ihre gedeihliche Entwickelung überhaupt abhängt,
darauf hat Alt in zutreffendster Weise schon 1899
aufmerksam gemacht ( 1 . c. II. p. 63).
Dass die Auswahl der in Familienpflege zu gebenden
Kranken nach jeder Richtung hin auf das Sorgfältigste
statt hat, bedarf hier kaum der besonderen Erwähnung.
Was die Art der Psychosen der in Gardelegen
untergebrachten Familienpfleglinge anlangt, so sind
in erster Linie angeborene und erworbene Schwach¬
sinnszustände, sowie ruhige alte Verrückte vertreten,
Krankheitsformen, welche sich auch sonst als vor¬
wiegend geeignet für Familienpflege erwiesen haben.
Im Speciellen setzt sich das Gardelegener Kranken¬
material folgendermaassen zusammen: *)
Erwachsene:
Männl.l Weibl.
Geschl.|Geschl.
Kinder:
Männl.lWeibl.
Geschl.|Gesckl.
Paranoia.\ .
Imbecillität, leichtere For-
2
27
1
men von Idiotie . . .
.1
51
2 20
Epilepsie.
I
3
_ j _
Periodische Seelenstörung
—
1
I —
Summa:
0 |
82
3 20
*) Die Zahl der Familienpfle^linge in Gardelegcn und Um¬
gegend ist inzwischen von 119 auf 142 gestiegen. Da über¬
dies in dem Pflegerdörfchen bei Uchtspringe und in den Nach¬
barorten 62 Kranke, ferner in Jerichow und Umgebung 146 in
Familien untergebracht sind, so beträgt zur Zeit die Zahl der
Familienpflege der Provinz Sachsen bereits 350.
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Beabsichtigt ist, im Laufe der Zeit eine kleine
Centrale in Gardelegcn zu errichten zur Aufnahme
vorübergehend erregter oder körperlich schwerer er¬
krankter Pfleglinge.
In der Centrale würden auch Untersuchungs- und
Verbandzimmer, Badeeinrichtungen, Wohnung für einen
Oberpfleger vorgesehen sein.
Es läge dann, ähnlich wie in Jerichow, Familien¬
pflege um eine kleine Centrale vor, das von A 1 1 an¬
gegebene, von ihm als das deutsche bezeichnete
System familiärer Irrenpflege.
Ein hocherfreuliches Bild ist es, welches der Be¬
such der Familicnpflege in Gardelegen bietet: rührige
Thätigkeit, erfolgreicher Fortschritt.
Es liegt hier ein erfolggekrönter, praktischer Ver¬
such in grossem Maassstabe mit Familienpflege vor,
wohlgeeignet Vorbild zu sein und als Vorbild zu
dienen. Möge er dazu beitragen, das für Familien¬
pflege Geisteskranker in Deutschland gerade jetzt
immer mehr zunehmende Interesse weiterhin anzu¬
regen, weiterhin den Boden zu ebnen für das freieste
und natürlichste aller Verpflegungsformen der Krank¬
sinnigen.
Von Interesse dürften noch die Mittheilungen
sein, welche mir Herr Direktor Dr. Alt bezüglich
der Kosten der Gardelegener Familienpflege zu¬
kommen liess: „Die Kosten für die Bekleidung ein¬
schliesslich Sch uh werk und einschl. des Ersatzes der
im Laufe eines Jahres abgängig gewordenen Stücke
betragen für die Familicnpflege in Gardelegen 7,1 Pf.
pro Kopf und Tag, die für Schuhreparaturen im
letzten Jahre aufgewendeten Kosten betragen 0,3 Pf.
Das Einkommen des in Gardelegen stationirten Arztes
und der Oberpflegerin auf die Familienpfleglinge ver¬
theilt, ergiebt z. Z. pro Kopf und Tag 10,6 bezw.
4,4 Pf. Diese letzteren Kosten werden sich aber
mit jeder weiteren Vermehrung und Ausdehnung der
Familienpflege wesentlich vermindern. Die für Me¬
diän bisher aufgewendeten Kosten sind nur minimal
und betragen etwa 0,25 Pf. Tabak wird an die
Familicnpfleglinge in Gardelegen von der Anstalt
nicht gegeben, vielmehr eihalten die Pfleglinge von
ihren Pflegeeltern Tabak und Cigarren als Aufmun¬
terung und Anerkennung für geleistete Arbeit.
Die Gesammtkosten für einen Pflegling betragen
demnach pro Tag bei einem gewährten Pflegegeld
von 80 Pf. z. Z. 102,65 Pf- Sie sind also um
17,35 Pf. niedriger als der Anstalt für einen Er¬
wachsenen gewährt werden — für einen Kranken
III. Klasse wird der Anstalt pro Tag 1 M. 20 Pfg.
bezahlt — und wesentlich billiger, als ein Patient in
Original fram
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
I 2 Q
1004.]
der Anstalt kostet. Nach dem letzten Jahresab¬
schluss betragen die Gesammtkosten für einen Kran¬
ken der III. Klasse in der Anstalt 172,19 Pf. pro
Tag.
Es bietet für die Verwaltung namentlich die Fa¬
milienpflege der Kranken besserer Stände gegenüber
der Anstaltspflege unverkennbare Vortheile, da gegen¬
wärtig bereits für die in Gardelegen untergebrachten
Pensionäre: 3 I.Massige Damen und 5 II.klassige
Damen, täglich 7,75 M. weniger ausgezahlt als ein¬
genommen wird.“
Aus diesen Ausführungen erhellen ohne Weiteres
die bei der Beurtheilung der familiären Irrenpflege
nicht an letzter Stelle zu erwägenden erheblichen
pecuniären Vortheile, welche diese Verpflegungsform
neben ihren zahlreichen anderen Vorzügen noch mit
sich bringt. —
Herrn Direktor Dr. K. Alt erlaube ich mir an
dieser Stelle nochmals meinen ehrerbietigsten Dank
auszusprechen für die mir bewiesene Güte und Liebens¬
würdigkeit, für die freundliche Ueberlassung der Kurve
und des Planes der Stadt Gardelegen.
Herrn Dr. Stamm danke ich für die liebens¬
würdige Aufnahme und eingehende Führung.
Anhang.
Fragebogen.
1. Vor- und Zuname des Pflegers? Wohnung?
Alter? Confession? Verheirathet, verwittwet? (ev.
Alter der Frau, der Wirthschafterin). — 2. Gesammt-
zahl der Mitglieder des Haushaltes ? a) Kinder ?
(Zahl, Alter, Geschlecht, Beschäftigung), b) Kost¬
gänger, Gesinde? — 3. Beschäftigung, Gewerbe der
Pfleger? Ist ständig ein Mitglied der Familie im
Hause ? — 4. Lebt die Familie in geordneten, guten
M i t t h e i
— Bericht über die 2. Jahresversammlung des
Vereins bayerischer Irrenärzte am 24. Mai 1904 zu
Ansbach. iRef. Alzheimerund Probst-München.)
Zahl der Theilnehmer: 42.
Dees- Gabersee: U e b e r die Unabkömm¬
lichkeit des männlichen Plegepersonals
der Kreisirrenanstalten im Mobilmachungs-
falle. Als Originalartikel in dieser Nr. veröffentlicht.
Der Antrag von Dees wurde angenommen, jedoch
wurde in der Diskussion, an welcher sich die Herren
Vocke-Münc hen, He rfeldt-Ansbach, Eckhard-
Klingenmünster, Lin k -Deggend orf betei¬
ligten, betont, dass auf Erfolg kaum zu rechnen sei.
Die Anstalten müssten selbst helfen, indem sic
Verhältnissen? Werden die Nahrungsmittel aus der
eigenen Wirtschaft genommen ? — 5. Welchen hun¬
druck macht die Familie ? — 6. Wie steht es mit
Ordnung, Reinlichkeit (Wohnung, Kleidung)? — 7.
Besteht Verdacht auf Trunksucht, Tuberkulose? Sind
Geisteskrankheiten in der Familie vorgekommen ? —
8. Weshalb will die Familie Kranke in Pflege nehmen?
Wie viel und welchen Geschlechtes? Etwaige be¬
sondere Wünsche? — 9. Wie und wo liegt das
Grundstück ? (eingeschlossen von anderen Grund¬
stücken, Wohnungen in welcher Strasse). — 10. Was
gehört zum Grundstück ? (Nebengebäude, Stallungen,
Ackerland). — n. Wo liegt der Acker, der Garten?
— 12. Wird Vieh gehalten? (Pferde, Ziegen, Schweine,
Federvieh?). — 13. Wasserversorgung? Wo liegt der
Brunnen? (Dunggrube). Wie ist, schmeckt das Wasser?
— 14. Abort? — 15. Haus? (Backsteinbau, Fach¬
werk, Keller, Dach, baulicher Zustand). — 16. Wohn¬
ung der Pflegerfamilie ? Grundriss, Zahl der Zimmer,
Küche etc. — 17. Wo hält sich die Familie am
Tage auf? Wohnzimmer, Esszimmer (Grösse, Luft,
Licht, Heizung, Himmelsrichtung, Fussboden, Ein¬
richtung). Stehen Betten im Wohnzimmer? — 18.
Schlafkammer der Kranken ? a) Luftinhalt (Grund¬
fläche und Höhe)? b) Zahl der Fenster, Fenster¬
fläche, Helligkeit, Himmelsrichtung? Fenster sehen
nach der Strasse, Hof, Fensterladen ? c) Thiiren
gehen wohin? d) Wände? (Anstrich, Tapete, Trocken¬
heit). e) Möbel? f) Fussboden (gestrichen, unter¬
kellert)? g) Decke? h) Heizung? i) Bett? — 19.
a) Sonstige Wohnungen im Hause ? b) Deren Be¬
wohner, Gewerbe, Kinderzahl, Geschlecht, Alter, Ge¬
sinde, Kostgänger, sonstige Hausgenossen, moralische
Eigenschaften? — 20. Etwaige Auskunft eines Ver¬
trauensmannes: a) Allgemeiner Leumund (Charakter,
Ruf, Kindererziehung)? b) Wirtschaftliche Lage?.
1 u n g e n.
für Stabilisirung des Personals sorgen durch Gewäh¬
rung höherer Löhne und Heirathserlaubniss; nur so sei
eine Katastrophe zu vermeiden. —
Krae pel in - München: Psychiatrisches aus
Java.
Den Ausgangspunkt für die Untersuchungen, die der
Vortragende in Java anstellte, bildete die Frage nach
der Verbreitung der Dementia praecox, von deren
Beantwortung er gewisse Aufschlüsse über die Ur¬
sachen jener Krankheit erhoffte, insbesondere darüber,
ob sie als Begleiterscheinung unserer Gesittung an¬
zusehen sei. Zu diesem Zwecke wurden in der vor¬
züglich geleiteten und eingerichteten Anstalt Buiten-
zorg, Director Hofmann, je 100 geisteskranke Euro-
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130 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 14.
päer und Eingeborene, endlich noch 25 Chinesen,
möglichst genau klinisch untersucht. Die mannig¬
fachen Schwierigkeiten dieser Untersuchung konnten
durch die überaus liebenswürdige Unterstützung der
dortigen Acrzte soweit überwunden werden, dass
einigermaassen vergleichbare Ergebnisse erzielt wurden.
Dabei stellte sich zunächst heraus, dass die Fälle
von Dementia praecox unter den Eingeborenen einen
noch etwas höheren Procentsatz lieferten, als unter
den Europäern. Fälle mit ausgeprägten katatonischen
Störungen waren jedoch dort entschieden etwas sel¬
tener. Von Paralyse und Hirnlues fanden sich unter
den Europäern i) Fälle, davon 2 allerdings nicht
ganz sicher, während sich unter den Eingeborenen
kein einziger Fall nachweiscn liess, auch nicht bei
der übrigen, 307 Köpfe starken, eingeborenen An¬
staltsbevölkerung. Aus der Thatsache, dass Lucs bei
den Eingeborenen etwa 3 mal seltener ist, lässt sich
dieser bedeutende Unterschied nicht genügend er¬
klären ; vielmehr müssen die Europäer in viel höherem
Maasse die Neigung haben, an Paralyse oder Hirn¬
lues zu erkranken. Auch von Alkoholismus fand
sich kein Fall unter den Eingeborenen, während
unter den 30 europäischen Männern zwei, beide
Deutsche, an schwerem Alkoholismus erkrankt waren.
Dem Bilde der Epilepsie gehörten unter den Euro¬
päern zwei, unter den Eingeborenen acht Fülle an;
dazu kamen noch drei Fälle von plötzlich auf¬
tretenden einmaligen Dämmerzuständen ohne sonstige
Zeichen von Epilepsie. Diesen Gruppen gehört die
Mehrzahl der Beobachtungen von sogenannten Amok¬
laufen an. Fälle von manisch-depressiven Irresein
scheinen bei den Eingeborenen etwas seltener zu
sein als bei den Europäern, doch kamen ausserdem
noch einige Fälle von häufig wiederkehrenden, kurz¬
dauernden Erregungszuständen vor, ganz ähnlich
mancher bei uns bekannter Beobachtungen, deren
klinische Deutung zur Zeit wohl noch als zweifelhaft
bezeichnet werden muss.
Von Interesse war ferner tlie abweichende Aus¬
bildung gewisser Krankheitszustände trotz allgemeiner
Uebereinstimmung in den Grundzügcn. Bei der De¬
mentia praecox fiel das Fehlen oder die schwache
Ausprägung der einleitenden Depression auf. Gehörs¬
oder Gesichtstäuschungen waren weit seltener als bei
den Europäern, die W ahnbildungen dürftiger und zu¬
sammenhangloser; von einer Systematisirung war
überhaupt keine Rede. Physikalischer Verfolgungs¬
wahn wurde bei den Eingeborenen nur einmal beob¬
achtet, die Vorstellung der Gedankenbeeinflussung
niemals; auch hypochondrische Wahnbildungen fehlten
gänzlich ; Selbstmordneigung war selten. Entsprechend
der geringen Entwicklung katatonischer Störungen
traten die schweren, stumpfen Verblödungen gegen¬
über faseligen Schwachsinnsformen mit läppischem
Wesen und Verwirrtheit zurück. Die Endzustände
schienen sich rasch zu entwickeln, während gute
Remissionen nicht häufig waren. Beim manisch-
depressiven Irresein tiberwogen durchaus die Erreg¬
ungszustände; länger dauernde, tiefe Depressionen
schienen fast völlig zu fehlen. Versündigungsideen
waren unbekannt.
Aus diesen Erfahrungen geht hervor, dass die be¬
sondere psychische Morbidität der Europäer vor allem
gekennzeichnet ist durch die Wirkungen des Alko¬
hols und der Syphilis; auch die klinische Ent¬
wicklung des manisch-depressiven Irreseins,’ einer
zweifellos auf Entartung beruhenden Erkrankungs¬
form, scheint bei uns eine ungleich reichere zu sein.
Andererseits dürfte die Dementia praecox dort wie
hier und auch bei den Chinesen Vorkommen; ob in
gleic her Häufigkeit, steht allerdings dahin. Jedenfalls
kann jene Krankheitsgruppe wohl nicht auf äussere
Ursachen zurückgeführt werden, sondern scheint aus
Bedingungen hervorzugehen, die allgemein im mensch¬
lichen Organismus gelogen sind. Wird auch das
Krankheisbild im einzelnen durch die Rasse etwas
verändert, so war doch die grundsätzlic he Ueberein¬
stimmung mit unseren Erfahrungen in Europa unver¬
kennbar. Die Gesichtspunkte, die wir für die Vor¬
beugung des Irreseins abzuleiten haben, bleiben dem¬
nach vor der Hand im Wesentlichen die alten : Kampf
gegen Alkohol und Syphilis, wie eine verständige
Rassehygiene zur Bekämpfung der Entartung. Gegen
die Dementia praecox vermögen wir einstweilen nichts
zu thun; immerhin ist wenigstens die Richtung etwas
genauer umgrenzt worden, in der wir die Lösung der
hier verborgenen, wichtigen Fragen zu suchen haben.
(Autoreferat.)
Diskussion fand nicht statt.
Vocke: Zur geric h11 ich en Entscheid¬
ung über den Geisteszustand der wider
ihren Willen internirten Geisteskranken.
Die auf Anregung des kgl. Staatsministeriums des
Innern vor 7 Jahren in die Satzungen mehrerer Kreis-
irrcnanstalten aufgenommene Bestimmung, dass Kranke,
welche über 3 Monate wider ihren Willen in einer
Anstalt verwahrt sind, eine gerichtliche Entscheidung
über ihren Geisteszustand verlangen können und
hierauf aufmerksam zu machen sind, hat sich in der
Praxis nicht bewährt. Schon die undeutliche Formu-
lirung der Bestimmung, welche verschweigt, dass eine
geric htliche Entscheidung nur in einem Entmündig¬
ungsverfahren ei gehen kann, giebt fortgesetzt zu be¬
dauerlichen Misshelligkeiten Anlass, da die wenigsten
Kranken davon zu überzeugen sind, dass sie mit der
Anrufung der gerichtlichen Entscheidung ihre Ent¬
mündigung riskiren. Die gerichtliche Entscheidung
selbst bringt den Kranken statt des erhofften Rechts¬
schutzes die Entmündigung und damit die bürger¬
liche Entrechtung, während die frivolste Haftbe¬
schwerde eines Beschuldigten im Strafprocess keine
nachtheiligen Folgen für den Beschwerdeführer hat.
Besonders nachtheilig ist eine solche Entmündigung
in Fällen, die zwar nic ht Heilung, wohl aber Besser¬
ung und spätere Entlassungsfähigkeit erhoffen lassen.
— Ist eine Entmündigung nöthig, so kann sie auf
anderem Wege erreicht werden und es bedarf nicht
der Anrufung einer gerichtlic hen Entscheidung.
Die Langsamkeit des Verfahrens, das sich bei
Anrufung der höheren Instanzen über 1-3 fahre
erstrec ken kann, wirkt ungünstig auf den Kranken
und hindert häufig für längere Zeit jede psychische
Behandlung. Endlich ist die aus der Bestimmung
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i Q04-] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 131
sich unabweisbar ergebende Forderung der sofortigen
Entlassung nach etwaiger Ablehnung der Entmündig¬
ung principiell und practisch höchst bedenklich.
Die Wiederaufhebung dieser Bestimmung erscheint
daher dringend angezeigt, wogegen Bedenken um so
weniger bestehen dürften, da sie für 3 Kreise und
die bayerischen Privatanstalten überhaupt nicht exi-
stirt und da zur Wahrung des Rechtsschutzes andere
brauchbare Wege gegeben sind. (Autoreferat.)
In der Discussion erzählt Hr. Feldkirchner-
Karthaus-Prüll, dass er für die Oberpfälzer
Anstalt diese Bestimmung durch persönliche Vor¬
stellungen weggebracht habe.
Kraepelin meint, man müsse den Kranken
einen Weg offen halten, auf dem eine gerichtliche
Entscheidung herbeizuführen sei; es dürfe sich wohl
nur um engere Fassung der Bestimmung handeln;
ganz darauf zu verzichten, würde doch in manchen
Fällen unangenehm sein.
Dees-Gabersee berichtet über einen Fall, der
infolge gerichtlicher Entscheidung zur Entlassung ge¬
kommen sei, nach kurzer Zeit aber wieder habe auf¬
genommen weiden müssen. Link-Deggendorf
giebl an, dass er keine unangenehmen Erfahrungen
gemacht habe, da er nur solche Fälle auswähle, bei
denen die Erkrankung vom Gericht nicht angezweifelt
werden könne.
Kraepelin beantragt, bis zur nächsten Ver¬
sammlung einschlägige Fälle zu sammeln, damit man
beim Vorgehen die Wirkungen dieser Bestimmungen
illuslrircn könne.
Hr. V o c k e erklärt sich bereit, diese Zusammen¬
stellung durch Rundschreiben zu übernehmen.
W e y g a n d t - Würzburg: Uebcr alte Fälle
von Dementia pracrox.
Vortragender schildert eine Reihe von Insassen
der Irrenpfründe des Juliusspitals, die vor etwa 30
Jahren psychisch erkrankt waren. 3 davon zeigen
seit jener Zeit das Bild tiefen Blödsinns und Reactions-
losigkeit, einer dazu einige sprachverwirrte Aeusser-
ungen. Bei eingehender Untersuchung ergiebt sich
jedoch, dass die Kenntnisse aus der Zeit vor der
Erkrankung noch ziemlich gut erhalten sind, die
Kranken können noch etw’as rechnen, einer versteht
sogar noch Lateinisch, sie sind aber gänzlich stehen
geblieben, so auf dem Miinzfuss, sowie den geogra¬
phischen und politischen Verhältnissen jener Zeit.
Ein vierter Kranker hat bis kurz vor seinem Tod
noch durch katatone Haltung und Katalepsie akutere
Symptome gezeigt. Senile Züge waren trotz des
hohen Alters nicht aufgetreten. Es ergiebt sich aus
der Analyse dieser Fälle, die ja zweifellos in das
Gebiet der Dementia praecox gehören,
1. dass jeder Versuch einer Scheidung zwischen
primärem und secundärem Stadium undurchführbar ist,
2. dass im Vordergrund der Störung die Schwäch¬
ung der Apperception im Sinne von Wundt steht,
3. dass selbst bei tiefgreifender Verblödung der
Gedächtnissschatz aus längstentlegener Zeit noch w'olil
conservirt sein kann. (Autoreferat.)
Diskussion fand nicht statt.
San d n er- Ansbach ] ia ^ die Gründe zu einer
Reihe von nach Art. 80 Absatz II des P. Str.
G. B. erfolgten Einschaffungen Geisteskranker
einer Prüfung unterzogen, da sich im Ansbacher
Aufnahmebezirk eine auffallende Zunahme der wegen
Gemeingefährlichkeit eingewiesenen Pfleglinge be¬
merkbar machte. Er kam zu dem Resultat, dass
nicht selten diese Art der Aufnahme vermieden
werden könnte, zumal wenn bei Kranken, die bereits
auf Veranlassung ihrer Angehörigen einer Anstalt zu¬
geführt wurden, noch nachträglich seitens der Ver¬
waltungsbehörden die Verwahrung auf Grund des
Art. 80, II zum Beschluss erhoben wird. Eine Ge¬
fahr für die öffentliche Sicherheit wäre mit der
Unterlassung der behördlichen Einschaffung in diesen
Fällen nicht gegeben, da die Anstaltsvorstände ge¬
halten sind, die Entnahme eines als gemeingefährlich
zu erachtenden Kranken zu verweigern und von der
Zustimmung der Behörde abhängig zu machen. Durch
die Verminderung polizeilicher Einweisungen Kranker
in unsere Asyle würde letzteren das Odium einer
Internirungs- odei Detentionsanstalt genommen und
der so beliebte Vergleich mit Zuchthaus und ähnl.
weniger häufig erfolgen. Eine von anderer Seite ge¬
brachte statistische Zusammenstellung der gesummten
in bayerischen Irrenanstalten auf Grund des Art. 80, II
verwahrten Pfleglinge ergab, dass gerade die Ans¬
bacher Anstalt die grösste diesbezügliche Kranken¬
ziffer aufweist. (Autoreferat.)
In der Diskussion betonte Hr. Vocke-
München, dass in Oberbayern seit 1895 die
polizeilichen Einweisungen an Zahl zurückgegangen
seien.
Hr. Eckhard- K 1 i n g e n m ü ns t e r wies auf ein
in der Pfalz gebräuchliches Verfahren hin, Leute,
deren Heimat nicht zu eruieren sei, in die Anstalt
polizeilich einzuweisen. Als bei Entlassungen einige
Kollisionen vorgekommen, sei der Beschluss ge¬
kommen, nach Art. 80 II eingewiesene Pfleglinge
dürften nur entlassen werden, wenn sie geheilt seien.
Der Beschluss sei allerdings wieder aufgehoben worden.
(Schluss folgt.)
— Der Congress für experimentelle Psycho¬
logie in Giessen. (Ref. Dr. Ruppel.) (Schluss.)
In Gruppe 2 treffen wir: Zwei Neuconstructionen
von Kymographien Zimmermann’s. — Den
Sphymographen nach von Frey, die Pulsbewegung
von der Pelotte auf den Schreibhebel ohne Gelenk¬
verbindung durch ein Stahlstäbchen übertragend. —
Jaquet St. Imier’s Sphygmochronographen zur
graphischen Fixirung der Zeiten der einzelnen Puls¬
phasen. —- Ein Turgoscop und einen Turgographen
von Oehmke. — Die Psychiatrische Klinik
Giessen stellte in dieser Gruppe aus: „Verbesserter
Apparat zur dreidimensionalen Analyse von Muskelzu¬
ständen und Ausdrucksbewegungen der Beine nach
Sommer“. Dieser Apparat überträgt mittels dreier
ungleicharmiger Hebel die Bewegungen des äqui-
librirten Beines in jeder der drei Dimensionen ge¬
trennt auf Schreibhebel. — Apparat zur „Darstellung
von Ausdrucksbew'egungen der Hände in Licht- und
Farbenerscheinungen nach Sommer“ (s. Vortrag). —
„Apparat zur Analyse von Bewegungen der Stirn-
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 14.
132
muskulatur nach Sommer“. Die Bewegungen eines
auf die Stirn aufgesetzten Saughütchens werden durch
einen mit ihm gelenkig verbundenen Hebel auf zwei
Marey’sche Trommeln und von da auf zwei Schreib¬
hebel übertragen. — Zur Festlegung fixer Innervations¬
zustände der Stirn dient das Abdruckverfahren mit¬
tels auf eine Rolle gespannten berussten Papieres.
Eine Reihe so bewirkter und in Schellack fixirter
Aufnahmen ist ausgestellt. — „Untersuchung elektro¬
motorischer Vorgänge an den Händen nach vonTarcha-
noff und Sticker, Elektroden und Maasseinrichtung
nach Sommer“. — „Sammlung von Schriftproben
Geisteskranker“ in einer Reihe von Diapositiven,
nach der Diagnostik der Geisteskrankheiten von R.
Sommer geordnet, beschrieben im Atlas der Schrift
bei Geisteskrankheiten von Köster. — Apparatan¬
ordnung zum „Versuch einer gesonderten Registrirung
vasomotorischer Vorgänge an der Haut nach Sommer“.
Eine manometrische Kapsel wird auf der Haut durch
Evakuirung festgesaugt. Die vasomotorisch bedingten
Volumenveränderungen innerhalb der Kapsel raani-
festiren sich an der Flamme eines durch sie gelei¬
teten Leuchtgasstromes. Die Bewegungen der Flamme
können durch eine Selenzelle in Galvanometerschwank¬
ungen umgesetzt werden.
Aus Gruppe 3 ist bereits erwähnt (s. Vortrag)
Wirth’s „Anordnung zur Untersuchung des Bewusst¬
seins- und Aufmerksamkeits-Umfanges“, bestehend in
einem trichterförmigen transparenten Projectionsperi-
meter. Es umgrenzt das Sehfeld der Versuchsperson,
das durch entsprechende Vorrichtung an beliebiger
Stelle bestimmte Aenderung erfahren kann. — Hier
finden wir weiter L ay ’s Tabellen und Cuiven seiner
„Experimentell-didaktischen Untersuchungsmethoden“
(s. Vortrag) und Rauschburg’s bereits angeführtes
Mnemometer sowie dessen „Tafeln betr. Untersuch¬
ungen des Gedächtnisses, des Wortschatzes, Vorstell¬
ungsumfanges, Rechenvermögens usw. bei Kindern“,
mit kurzen Worten nicht zu schildern. — Diesen
Tafeln schliesst sich C. und W. Sterns’ Chrono¬
logisch-synchronistische Uebersicht über die Sprach-
entwickelung eines Kindes (bis zum Anfang des 4.
Lebensjahres)“ an (s. Vortrag). — Die Psychia¬
trische Klinik Giessen legte eine grosse Zahl
von Aufzeichnungen von „Psychopathologischen Unter¬
suchungen nach dem Princip des gleichen Reizes
bei verschiedenen Krankheitsgruppen“ (s. Sommer’s
Ausführungen in Vortragsgruppe 10) aus.
Gruppe 4 schliesslich enthielt Apparate zur Zeit¬
messung und Zeitcontrolle: Chronoscop von E r d -
mann und Dodge, den graphischen Chronometer
von Jaquet-St. Imier; Controllapparat für das
Hipp’sche Chronoscop nach Ebbinghaus, Controll-
pendel nach Sommer und Ach’s „Einrichtung zur
Bestimmung der Latenzzeiten des Hipp’schen Chrono-
scopes“.
Der Congress führte zu der Gründung der „Ge¬
sellschaft für experimentelle Psychologie“.
In den Vorstand wurden gewählt: Prof. G. E. Mül ler-
Göttingen (1. Vorsitzender), Prof. Sommer-Giessen
(stellv. Vorsitzender), Prof. Neumann-Zürich, Prof.
Exner Wien, Prof. Ebbinghaus-Breslau, Prof. Külpe-
Würzburg, als Schriftführer Prof. Schumann-Bedin.
— Die officiellen Organe der Gesellschaft werden
sein die „Zeitschrift für Psychologie und Physiologie
der Sinnesorgane“ und das „Archiv für die gesammte
Psychologie“. Der nächste Congress soll in Wiirz-
burg 1Q04 stattfinden. Dr. L. Ruppel.
Referate.
— August II of fm a nn-Düsseldorf. Berufs¬
wahl und Nervenleben. Wiesbaden. Bergmann.
1904. 26 S.
H. geht von der unbestreitbaren Thatsache aus,
dass bei der Wahl des Berufes für unsere Kinder
dem Nervenleben derselben meist nicht die gebüh¬
rende Aufmerksamkeit geschenkt wird. Eine ' auch
in dieser Beziehung sorgfältige Wahl des Berufes,
bei der auch der Arzt gehört werden sollte, erscheint
nicht nur für den Einzelnen, sondern für die künf¬
tige Gesundheit unseres Volkes von grosser Bedeutung.
Die erste Aufgabe besteht nun darin, dass die
nervös veranlagten Kinder rechtzeitig als solche er¬
kannt werden. H. schildert demgemäss die anato¬
mischen und functioneilen Degenerationszeiclien, die
„Warnungssignale“, und bespricht kurz die nervösen
Störungen des Kindesalters. Als zweite Aufgabe er-
giebt sich nach dieser Feststellung eine Kennzeich¬
nung deijenigen Berufsarten, welche erfahrungsgemäss
besonders das Nervensystem zu gefährden im Stande
sind. H. zieht hier seine eigenen Erfahrungen heran
und bemerkt richtig, dass weitere Erhebungen in
grösserem Umfange sehr wünschenswerth sind. Kopf¬
arbeiter mit hoher Verantwortlichkeit, grosser gei¬
stiger Anstrengung und oft ungenügenden Einkünften
sind natürlich am ehesten gefährdet, doch sind Fest¬
stellungen, die mehr ins Einzelne gehen, immer noch
am Platz. Beachtenswerth ist es, wie häufig sich
zu selbständiger Lebensstellung emporringende Frauen
(Post- und Bureaubeamtinnen, Telephonistinnen) ner¬
vös erkranken. Weitere Untersuchungen auf dem
ganzen von H. hier besprochenen Gebiet müssen
dazu führen, dass die Rathschläge eine noch posi¬
tivere Form annehmen werden.
Die verständlich geschriebene, zur Aufklärung weiter
Kreise bestimmte Schrift verdient es, durch die Aerzte
verbreitet zu werden. M e r c k 1 i n.
Personalnachrichten.
— Pommern. Der Assistenzarzt Dr. Gester-
diug zu Lauen bürg scheidet mit dem 1. Juli
1904 auf seinen Antrag aus dem Anstaltsdienste aus
und der bisherige Assistenzarzt auf Probe Dr. Arn¬
heim zu Lauenburg i. Pom. und der Volontärarzt
Dr. Plaskuda sind vom 1. April 1904 ab zu
Assistenzärzten ernannt.
Für den redactionellen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Bresler, Lublinitr (Schlesien).
Erscheint ieden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Hevnomann’sche lluchdruckerei (Cirebr. "Volff) in Halle a. S.
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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift.
Redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Lublinitz (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Teilegr.-Adresse: Marho Id Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834.
Nr. 15. 9 juii. 1904.
Bestellungen nehmen jede Burhhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten.
Aus den Brandenburgischen Provinzialanstalten für Epileptische und Idioten zu Potsdam (Direktor Dr. Kluge).
Der systematische Handfertigkeitsunterricht, ein Glied ärztlicher Therapie
in Idiotenanstalten. •
Von Dr. R. Hopf,\ Anstaltsarzt.
S chon längst ist man sich an Irrenanstalten klar,
dass das beste Heilmittel für psychisch Kranke,
die sich nicht mehr im akuten Stadium befinden,
die Arbeit ist, und zwar jene Arbeit, die in plan¬
voller Weise auf die Erreichung eines Endzweckes
hinzielt und bei der der Kranke auch einen Erfolg
seiner Leistungen sieht. Während man sich nun
hier in der Regel darauf beschränken muss, entweder
leicht erregbare Kranke abzulenken, stumpfe aufzu-
muntem oder aus dem allgemeinen Zusammenbruch
der Psyche Reste von früheren Kenntnissen und
Fähigkeiten zu retten und nur in wenigen Fällen den
Kranken neue Kenntnisse zuführen kann, steht dem
Psychiater an Idiotenanstalten die Aufgabe zu, durch,
schon in der Kindheit einsetzende, Arbeitstherapie
erst nützliche Glieder der Menschheit zu schaffen.
Diese Aufgabe nun hat der Arzt, mit wenigen
Ausnahmen, bis jetzt ausser Acht gelassen; er über-
liess dieselbe Pädagogen oder gar Theologen; er
überliess ihnen ein krankes Organ zur Behandlung,
trotzdem gar kein Grund vorliegt, einzusehen, warum
gerade diese es besser können sollten als der Arzt.
Nun ist es ja ganz selbstverständlich, dass der
psychiatrisch geschulte Arzt an Idiotenanstalten Werk¬
stätten- und Handarbeit für die erwachsenen Idioten
in ausgedehnter Weise anwendet und ebenfalls dar¬
nach strebt, jene üblen Anstaltsbilder mit den Dutzen¬
den, stumpf und blöde auf den Bänken längs der
Wand umhersitzenden Patienten nach Möglichkeit zu
vermeiden; seine Hauptaufgabe aber wird sein, schon
in der Jugend mit der Arbeitstherapie den Hebel
einzusetzen. Man wende nicht ein, die Jugendbild¬
ung gehöre ausschliesslich in die Schule, wenn es
sich um gehirnkranke Kinder handelt, bei denen
die Ermüdungsgrenze gegenüber abstrakten Dingen
noch viel tiefer liegt, als bei normalen und wenn man nur
in den wenigen zahlreichen Fällen auf das hierfür
nöthige psychiatrische Verständniss rechnen kann und
man andererseits nur allzuleicht darnach strebt, das
Kind mit allen möglichen Schulkenntnissen vollzu¬
pfropfen. Wem fällt es ein, einem magenkranken
Kinde den Magen mit schwer verdaulichen Sachen
zu beladen, damit es später fähig sei, sich an kuli¬
narischen Genüssen zu erfreuen, bei dem gehirn¬
kranken Kinde aber versucht man ähnliches. Solche
Versuche werden immer und immer wieder misslingen.
Die Therapie muss da einsetzen, von wo die
erste Erregung zum Gehirn geht, in den Sinnes¬
organen. Schon Brandes*) sagt, dass Gymnastik der
Sinnesorgane und Erregung der Muskulatur die
erste Stufe des Idiotenunterrichts sein müssen.
Auf dieser ersten Stufe nun muss aufgebaut werden
und ihm parallel laufe eine verständige Dressur des
Gehirns ohne Paukerei und 7—10 ständigen Religions¬
unterricht, denn wie Erlenmeyer**) unter anderm
so richtig sagt: „Was können aber diese unglücklichen
Wesen mit all ihrer Weisheit leisten, was nützt es
ihnen, dass sie wissen, wer das israelitische Volk
durch die Wüste geführt hat etc. etc., sie fallen nach
ihrer Entlassung ebenso gut wieder der Familie resp.
der Gemeinde zur Last.“
Es trete also der Arzt ein, um dies zu vermeiden,
und suche dadurch, dass er bestrebt ist, dem Kind
geordnete Muskel- und Bewegungsempfindungen
zu vermitteln und die Sinnesorgane zu stärken,
dem kranken Gehirn eine richtige Vorstellung von
der Aussenwelt zu bieten. Ein Hauptmittel hierzu
ist nun der systematische Handfertigkeitsunterricht.
Die Anwendung des Werkunterrichts in Idioten-
anstalten ist ja durchaus nichts Neues; den Päda-
*) Brandes, Der Idiotismus, Hannover 1862, S. 116.
**) Erlenmeyer, Correspondenz-Blatt 1854, Nr. 4.
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134 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 15.
gegen vom Fach, nicht etwa Theologen, gebührt das
Verdienst, denselben dort eingeführt und mit raschem
Blirk den Werth desselben erkannt zu haben. Die
Schröter’sche*) Anstalt in Dresden war wohl die
erste, die denselben in systematischer Weise anwandte;
doch haben schon früher Aerzte auf den Nutzen der
Handarbeit hingewiesen, das Jahrbuch der Levana**)
kennt schon Modelliren und Drahtarbeiten. Weiter
rühmt Branden borg***) den Werth des Handarbeits¬
unterrichts für das praktische Leben, auch war man
sich bei der Debatte in der Societe de Medecinc
mentale de Belgiquet) klar über den Werth
des Werkunterrichtes. Während Kraepelin t+) noch
im Jahre 1896 sagt, „die Behandlung der Idiotie wird
der Hauptsache nach immer eine pädagogische sein,
selbstverständlich unter Berücksichtigung der für jeden
einzelnen Fall in Betracht kommenden ärztlichen
Gundsätze*‘, hält ertti) 1S00 nach Streichung dieses
Passus die Einübung von Fertigkeiten für nützlich.
Auch Weygandt :i: t), der sich besondere Verdienste
um das Idiotenwesen errungen hat, kennt den Hand¬
fertigkeitsunterricht nicht, er führt nur an , dass Mo¬
delliren mit Thon und Arbeit mit dem Ziehmesser
empfohlen ist.
Soweit ich nun die Litteratur übersehe, ist hier¬
sei t s **+) zum ersten Mal von psychiatrischer Seite
der systematische Handarbeitsunterricht an Idioten¬
anstalten empfohlen worden und es ist wirklich der
Mühe werth, dass der Psychiater auch darauf sein
Augenmerk wendet, und es ist zu fordern, dass end¬
lich der Standpunkt verlassen wird, den noch der
sonst so verdiente Wildermuth einnimmt, der den
schulmässigen Unterricht für das beste Mittel zur
geistigen Disciplinirung der Idioten hält.
Der Handfertigkeitsuntei rieht nun wird hierseits
den Principien des Vereins für Knabenhandarbeit
gemäss, aber entsprechend modificirt, von einem
Handwerksmeister, unterstützt von Pflegern, gegeben,
*) Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger und
Fpilept. 1892, Nr. 5 — f>.
**) Jahrbuch der Lcvana. Wien 185N.
***) Dr. Brandenberg, Zur Fürsorge f. d. Schwachsinnigen.
Bielefeld 1800.
-J-) Neurologisches Centralblatt 1901, Nr. 4, S. 187.
fr) Kraepelin, Psychiatrie, 5. Auflage 1896.
iff) Kraepelin, Psychiatrie, 6. Auflage, 189.9,
+ yj Weygandt, Die Behandlung idiotischer und imbeciller
Kinder. Würzburg 1900.
**f) Dr. Kluge, Bericht über die Idiotenbildungsanstalt
,,Wilhelnistift“, Brdbrg. Provin/.iallandtag, 30. Sitzungsperiode,
1904, Nr. 17.
***.(.) Wiidermuth, Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie
1900. S. 273.
indem, an die Fröbelarbeiten der Schule anschliessend,
hauptsächlich Klebearbeiten, Papparbeiten, Holz¬
schnitzerei, Arbeiten an der Hobelbank und Model¬
liren in Thon getrieben wird. In jeder dieser Dis-
ciplinen wird systematisch vom Leichten zum Schweren
übergegangen, und bekommt kein Kind eine schwerere
Arbeit, bevor es nicht die leichtere erledigt hat; da¬
bei wird darauf gesehen, dass das Kind nicht blos
in einer, sondern womöglich in sämmtlichen dieser
Unterabtheilungen unterrichtet wird. Es ist hier der
Arzt, der bestimmt, wer an dem Werkunterricht
theilnehmen soll und der in beständiger Fühlung mit
dem Handwerksmeister steht.
Theil nahmen an den Unterricht im letzten
Halbjahre: an der Hobelbank 5, in der Schnitzarbeit
14, Papparbeit 10 und Modelliren 16 Knaben.
In der ersten Zeit nun, wenn der Knabe in der
Werkstatt arbeitet, macht sich eine immense Unbe-
holfenheit bemerkbar; selbst die Knaben mit besseren
Schulfortschritten sind meist nicht im Stande, die
einfachsten Handgriffe nachzumachen, und nur sehr
langsam macht sich eine, allerdings sicher fortschrei¬
tende, Besserung bemerkbar. Und diese Besserung muss,
wenn nicht ein ganz hoffnungsloser Fall vorliegt, ein-
treten, da cs ja bei dieser Art des Unterrichts ganz
ausgeschlossen ist, dass der so gerne vor sich hin¬
träumende ,,Schwachsinnige“ dies auch hier thun
kann. Es zeigt sich dann sofort ein Felder, der die
Arbeit unbrauchbar macht; hier gilt cs, die Aufmerk¬
samkeit anzuspannen, der Träumer wird aufgerüttelt,
der Gedankenflüchtige muss sich concentriren. Nach
einer Richtung hin, auf das Endresultat muss der
Knabe denken, er muss aber auch das Einzelne dabei
genau überlegen, will er z. B. ein Pappkästchen fer¬
tigen, so muss er bei der Construction an das fertige
Kästchen denken, zugleich aber auch an das richtige
Maass der einzelnen Theile. Dabei wird darauf ge¬
sehen , dass der Junge alles selbst macht und wenn
cs zehnmal misslingt; gar bald erwacht dann der
Ehrgeiz und schliesslich wird es ihm doch gelingen.
Es ist ja dies schliesslich viel leichter, als auf ab¬
strakte Themata, wie irgend ein religiöses Problem,
seine Gedanken zu concentriren, denn das geistes¬
schwache Kind hat etwas Greifbares in den Händen;
beständig werden durch die messenden und abtasten¬
den Bewegungen der Hände dem Gehirn vermittelst
des Empfindlings- und Muskelsinnes neue Bilder zu¬
geführt und diese bleiben auch haften, da ja stets
bei der Erinnerung die einmal ausgeführten Muskel-
bewegungen im Geiste reproducirt werden.
Der geistesschwache Knabe, der im Anfang keine
Ahnung von Flächenausdehnung und Maassen hatte,
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iqo 4 .] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
135
lernt durch den Zwang selbst zu messen nicht nur Maasse,
sondern auch den Werth der einzelnen Zahlen kennen ;
er lernt beim Flächen- und Kerbschnitzen die Be¬
griffe der Länge und Tiefe, beim Modelliren in Thon
die aller Dimensionen. Hier erst lernt er, wie ich
vielmals beobachtete, richtig sehen. Es bleibt also
nicht bei todter Nachahmung, nein es werden selbst¬
ständige (icistesprodukte von dem Schwachsinnigen
verlangt, ein Endziel wird gefordert. Der schwache
Geist will ein Fortschreiten, er will Bewegung sehen,
todte, feststehende Sachen reizen ihn nicht; beim
Entwickeln der Arbeit muss er aber auch Hinder¬
nisse überwinden, er wird gezwungen seine Kräfte
anzuspannen, er muss wollen. Es liegt hierin,
wie Götze 1 ?) s<> lichtig sagt, die vernehmlichste Be¬
deutung des Arbeitsunterrichts, der sich insofern vom
Turnunterricht noch unterscheidet, dass das Turnen
die Willcnsencrgie auf kurz dauernde Leistungen zu-
sammenraflt, sie gleichsam zur explosiven Wirkung
bringt, während der Arbeitsunterricht die Anspannung
des Willens auf längere Zeit verlangt, und dadurch
wird die Stetigkeit, die nicht zu erschlaffende Zähig¬
keit des Willens hervorgerufen.
Es ist ganz auffallend und unverkennbar, wie bei
dem Schwachsinnigen, infolge des, durch die Natur
der Arbeit bedingten, Zwanges, scharf auf ein Ziel
hin zu denken, etwas zu wollen, das ganze Wesen
ein anderes wird. Die vorher zerstreuten und un¬
ruhigen Kranken werden ruhig, sie werfen nicht mehr,
wie im Anfang, eleu einen Pappstreifen z. B. eines
Kästc hens weg, um nach dem Modellirthon zu schielen
oder nach dem Schnitzmesser zu greifen, sie bleiben
ruhig bei der Arbeit, sie haben allmählich Ehrgeiz
bekommen, sie wollen etwas leisten. Andrerseits
drängen sich die vordem trägen und indolenten
Idioten direkt zur Arbeit , sie können kaum die
Stunde des Werkunterrichts erwarten. Sind sic nun
bei der Arbeit und Ehrgeiz, cs den andern zuvor zu
thun, oder Flüchtigkeit hat sie verleitet, unordentlich
zu arbeiten, sofort misslingt die Arbeit, und zwingt
sie, ruhiger, bewusster zu arbeiten. Also nicht nur
anspornend, sondern auch zu lebhafte Geister hem¬
mend wirkt der Werkunterricht und verschafft den
Idioten das, gerade in dieser Hinsicht sehr wenig
entwickelte, geistige Gleichgewicht. Der Unterricht
fordert dann die Ucberlegung des Patienten direkt
heraus; während Anfangs bei der Hobelbankurbeit
ein Ast im Brett die ganze Arbeit entstellen konnte,
sieht man später den Knaben vorsichtig sein Stück
*) Dr. Goetze, Knabcnhandarbcjtsunterricht. Leipzig 1892,
S. 25.
Holz von allen Seiten betrachten und dann erst be¬
nutzen.
Aber auch die ethische Seite des Schwachsinnigen
wird erheblich beeinflusst. Bei der Arbeit werden
die sonst oft so streitsüchtigen Kinder verträglicher;
sie sind mehr aufeinander angewiesen, sie müssen
sich gegenseitig helfen; der schwache Geist lernt er¬
kennen, dass er Unterstützung braucht. Auch wird
der Knabe angehalten, um zu prüfen, ob er auch alles
verstanden hat, andern zu helfen, hierbei tritt der,
bei Idioten stark entwickelte, Egoismus langsam zu¬
rück, das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit den
andern entsteht, das Kind wird Altruist, wird socialer.
Beim Besuch der Werkstätten ist es direkt hervor¬
stechend, mit welcher Freude und mit welcher Ge-
nugthuung nicht nur die eigenen Arbeiten, sondern
auch die anderer vorgezeigt werden.
Die Freude an der vollendeten Arbeit weiter er¬
hebt das Kind, macht es sicherer, selbstbewusster in
seinem Auftreten; dass aber das Selbstgefühl nicht
zu stark werde, dafür sorgt wieder der Werkunter¬
richt mit seinen, natürlich immer und immer wieder
auftretenden neuen Schwierigkeiten, da ja die Auf¬
gaben systematisch schwerere werden und dann
wieder öfters missglücken. Der Meister muss auf
Fehler oftmals aufmerksam machen, der Knabe lernt
erkennen, dass ihm derselbe stets überlegen ist, er
bekommt Autoritätsgefühl, das aber nichts von Angst
an sich trägt, nein dankbar erkennen die Schwach¬
sinnigen die Führung an, das kann man stündlich
beobachten. So bildet sich also das beste Verhält¬
nis zwischen Meister und Kranken, da ja letzterer
genau cmUn »Ihren kann, dass alles wahr ist, was ihm
ersterer sagt, und damit wird bei ihm, dem so oft
von Grund aus Verlogenen, der Sinn für Wahrheit
und Ehrlichkeit gefördert, den er zu dem ständig in
ehrlicher, jedes Schwindeln ausschliesScndcr Handarbeit
üben muss.
Neben diesen werthvollen Einflüssen auf Geist
und Gemüth ist schliesslich auch der Nutzen des
Werkunterrichts für die allgemeine Bildung nicht zu
unterschätzen, beim Bearbeiten des Thons wird be¬
sprochen, was derselbe ist, woher er kommt; das
Messen der Pappstreifen führt zur Erörterung der
Maasse, das Holz unter dem Messer wird auf seine
Abstammung untersucht und noch mehr. Dass Kennt¬
nisse , die auf diese Weise erworben, besser sitzen
als todte Begrifle, bedarf keines Beweises, verbindet
sich doch mit dem Begriffe, z. B. des Maasses, dann
eine Erinnerung an eine Thätigkeit, oder besser ge¬
sagt , an gehabte Muskel- und Bewegungsempfind¬
ungen. Für die Schwachsinnigen nun, die mit Erfolg
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 15.
136
den Weikunterricht besucht haben, wäre für die Zu¬
kunft zu fordern, dass sich als Schluss der Ausbild¬
ung ein Fortbildungsunterricht anschliesse, der sich
mit Zeichnen, aber auch mit abstrakteren Dingen
beschäftigen könne, und der jetzt sicher mehr Erfolg
haben wird, da man dann ja mit einer sicheren
Grundlage rechnen kann.
Wenn man sich nun schliesslich fragt, bei welcher
Klasse von Idioten wird der Werkunterricht vor
allem angebracht sein, so scheiden selbstredend die
tiefstehenden, unreinen Idioten aus. Am besten zeigen
sich jene etwas gedankenflüchtigen, zerstreuten Kinder,
aber auch stumpfe, träumerische sind zu gebrauchen,
wenn man bei ihnen auch mehr Misserfolge hat.
Der Unterricht kann schon im 8. bis 9. Jahre be¬
ginnen und hat seine Vorstufe im Fröbelunterricht
der Schule. Der Einwand, dass die Kinder dadurch
mehr der Schule entzogen werden, kann nicht als
ausschlaggebend anerkannt werden, wenn er auch
pädagogisch aufgefasst, richtig ist; an Stelle todter
Buchstaben- und Rechenkunst ist der lebendige
Einfluss der Arbeit getreten und schliesslich ist es
gleichgültig, ob durch die täglich 1 — 2 Stunden
Arbeit das, meist in seinem inneren Erfolg so
problematische, Ziel der Konfirmation um ein Jahr
verschoben wird. Dass die Arbeit dem Kinde schaden
würde, fällt von selbst weg; der verständige Arzt
wird nur entsprechendes Material in die Werkstätten
schicken, aber auch bei etwas schwächlicheren Kin¬
dern nicht zurückschrecken, denn Kräftigung der
Handmuskeln und Armmuskeln, z. B. bei Schnitzen
und Hobelbankarbeit, ist auch für den ganzen Körper
von Nutzen.
Dass vorhergehende Ausführungen nicht blos
theoretisch begründet sind, sondern auch in jeder
Hinsicht sich bewährt haben, wurde schon mehrmals
ausgeführt; den sitTitbarsten Nutzen brachte der Werk¬
unterricht jedoch jenen Geschöpfen, die bereits in
früher Jugend verbrecherische Neigungen an den
Tag gelegt haben und die in den letzten Jahren
wegen gleichzeitigen mehr oder weniger ausgebilde¬
ten Schwachsinns den Idiotenanstalten zugeschoben
wurden und auch hierseits in der Stärke von mehre¬
ren Dutzend besonders Anfangs eine wahre Crux der
Abtheilung bildeten.
Ihre Verlogenheit, ihr Mangel an moralischen
Gefühlen, ihre Neigung zu allen Dummheiten, ihre
theilweise sexuelle Eingeweihtheit wurde aufs störendste
empfunden ; wurde ein Unfug verübt, dann war gewiss
ein Fürsorgezögling dabei. An ihnen nun waren
pädagogische und theologische Versuche wirkungslos
abgeprallt, in ihren Akten kann man direkte Ver¬
zweiflungsschreie ihrer Lehrer lesen, weder intensive
religiöse Beeinflussung, noch maasslose Prügel hatten ge¬
holfen, die hier selbstredend durchaus verpönt sind. Sie
kamen hier in den Werkunterricht und die Werkstätten
und bei den meisten gelang es, sie wurden theilweise direkt
zu netten Jungen, die freudig und gerne ihre Arbeit
verrichteten; ihre Ungezogenheiten schwanden zum
grossen Theile, und alle oben beschriebenen Charakter-
und Gemüthsbesserungen Hessen sich an ihnen beob¬
achten. Einige von ihnen konnten als soweit ge¬
bessert erachtet werden, dass man sie in Familien¬
pflege zu Meistern in die Lehre geben konnte und
der Versuch ist geglückt. Bei einem kleinen
Reste versagte theilweise allerdings auch unser Mittel,
es betrifft dies jene Individuen, die an deutlichen
Verstimmungs- und Aufregungszuständen leiden; doch
sind auch diese während ihrer freien Zeit traitabler;
setzt die geistige Störung ein, so wird Bettruhe ver¬
ordnet und sie als Kranke behandelt und der Zu¬
stand nicht, wie wo anders, als Teufelei ausgelegt.
Gerade bei dieser Art von schwachsinnigen Kin¬
dern, bei denen Pädagog und Theolog versagt haben,
tritt so richtig der Werth des Arbeitsunterrichtes als
therapeutisches ärztliches Mittel an den Tag und zeigt,
wer in der Brauchbarmachung eines kranken Gehirns
vor allem mitzureden hat. Nur der Arzt gehört an
die Spitze von Idiotenanstalten, der Arzt sei es in
Zukunft, der auch in Fürsorgeanstalten sich kräftig
bethätige; das sei besonders jetzt betont, wo die
Gefahr besteht, dass dem Psychiater durch die
Ausführung des Fürsorgegesetzes eine Reihe patholo¬
gischer Elemente entgehe, die er dann erst, wenn
therapeutische Beeinflussung unmöglich geworden ist,
in Verbrecherabtheilungen von Irrenanstalten vorfindet.
Es ist die höchste Zeit, dass mehr an die Psychiatrie
gedacht ward, die in stetem Kampfe gegen wider¬
strebende Einflüsse auf Grenzwache steht.
Das Körpergewicht bei der Dauer-Nachtwache.
T n den letzten Jahren fand die Dauer-Nachtwache
A immer mehr Eingang in den Irrenanstalten. Der
Zeitraum, über welchen sich die Dauer-Nachtwache
erstreckt, ist ein verschiedener. Er wechselt zwischen
6 Tagen und 3 Monaten. (Deiters, Jahresberichte,
diese Wochenschrift 03/04, p. 143.) Der Tag ist
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004 .]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
137
für die Pfleger der Nachtwache dienstfrei. In
Dziekanka wurde dieses System der Nachtwache
im Januar 1901 eingeführt mit monatlichem Wechsel.
Ueber die auch hier erzielten günstigen Resultate ist
in den Anstaltsjahresberichten Mittheilung gemacht.
Bis zum Mai 1904 wurden die Pfleger während der
Dauer der Nachtwache, vom Tage des Beginnes ab,
alle 8 Tage gewogen. Es hat sich in der ganz über¬
wiegenden Mehrzahl der Fälle eine Zunahme des
Körpergewichts der Pfleger ergeben und zwar um
0,5 — 4,5 kg, einmal sogar um 5,5 kg, im Durch¬
schnitt um 1,5 — 2 kg. Meist stieg das Gewicht
allmählich. In einer nicht kleinen Zahl nahm das
Gewicht zunächst etwas ab und stieg dann am Ende
der 2. Woche auf die Anfanghöhe und allmählich
darüber. Es hängt dies vielleicht damit zusammen,
dass es nach Angabe vieler Pfleger einige Tage (6
bis 8) dauert, ehe sie sich an die geänderte Lebens-
M i t t h e i
— Sitzung der Göttinger psychologisch¬
forensischen Vereinigung am 15. Juni 1904.
Vorsitzender: Professor Cramer. Schriftführer:
Dr. Weber.
Professor Dr. Cramer über: „Ehescheidung
wegen Geisteskrankheit nach dein bürger¬
lichen Gesetzbuch.“
Vortragender betonte in der Einleitung, dass er
sich nicht lediglich auf den Ehescheidungsparagraphen
beschränke, sondern auch die anderen auf die Ehe¬
scheidung bezüglichen Bestimmungen des B. G. B.
besprechen wolle, bei denen eine Mitwirkung psy¬
chiatrischer Sachverständiger wünschenswerth sei.
Demgemäss erwähnt er zuerst den § 1304 betr. die
Ehe der beschränkt Geschäftsfähigen.
Dazu gehören die wegen Geistesschwäche oder
wegen Trunksucht Entmündigten. Wenn wir auch
die Bedeutung geistiger Störungen und chronischer
Trunksucht für die Desecndcnz noch nicht völlig
kennen, so wird doch ein schädlicher Einfluss der¬
selben auf die Nachkommenschaft von allen Seiten
zugegeben. Schon aus diesem Grunde wäre bei der
Genehmigung der Ehe von Geistesschwachen und
Trunksüchtigen Rücksicht auf medicinisch-psvchia-
trische Gesichtspunkte erforderlich. Der Vortr. weist
weiter darauf hin, dass, wie die Praxis lehrt, in sehr
vielen Fällen bei der Eheschliessung derartiger Kranker
rein materielle egoistische Gründe und nicht das
Wohl dieser Kranken in erster Linie mitspielen. Von
dem bessernden Einfluss der Ehe auf Trunksüchtige
verspricht sich Vortr. nicht allzuviel; im Gegentheil
wird man häufig eine rohe Behandlung des anderen
Ehegatten befürchten müssen.
§ 1325. Nichtigkeit der Ehe wegen Bewusstlosig¬
keit oder vorübergehender Störung der Geistesthätig-
keit zur Zeit der Eheschli^ ssu ng.
weise, vor allem an das Schlafen zur ungewohnten
Zeit, gewöhnt haben. Es fragt sich daher auch aus
diesem Grunde, ob eine Nachtwache für die Dauer
von nur 6 bezw. 8 oder 14 Tagen empfehlenswerth
ist. Etwa 8 Tage wird es, zumal auf der Siechen-
station, immer dauern, ehe die Nachtwache ihre
Kranken soweit kennen gelernt hat, um von mehr
als dem persönlichen Nutzen zu sein. — Eine Ab¬
nahme des Körpergewichts hatte nur ausserordentlich
selten statt. Sie betrug meist 1 kg. In vereinzelten
Fällen 2,5 — 3 kg, einmal 5,0 kg, ohne dass eine
andere Ursache nachweisbar war. Aehnliche Er¬
fahrungen wurden in Andernach bei 3 monatlichem
Wechsel gemacht. (Deiters, 1 . c.) Die Nachtwache
erhält in Dziekanka als Extrazulage pro Person und
Nacht: 30 g Butter, 120 g Semmel, 50 g Kaffee,
20 g Zucker, V2 1 Milch. Dr. C. Wickel.
1 u n g e n.
Theoretisch gehören hierher die transitorischen
Bewusstseinsstörungen der Epileptiker, Hysteriker,
ferner einzelne degenerative Erkrankungen und die
Eheschliessung in einem Zustande von Hypnose.
Dass diese Fälle praktisch eine grosse Bedeutung ge¬
wannen können, glaubt Vortr. nicht. Betreffs der Hyp¬
nose ist er der Anschauung, dass auf hypnotischem
Wege auch bei sehr geeigneten Medien nur diejenigen
Handlungen erzielt werden können, welche einiger-
maassen dem sonstigen Vorstellungsinhalt der Medien
entsprechen, dass also eine absolute Durchkreuzung
des Willens nicht möglich ist. Praktisch wichtiger
sind noch in Bezug auf § 1325 einzelne Zustände
namentlich im Beginn und in den Remissionen der
Paralyse, ferner die beginnende heitere Erregung des
circulären Irreseins und der senilen Manie. Vortr.
betont namentlich die Schwierigkeiten, bei dem oft
weitgehenden Erhaltensein der Verstandesleistung,
diese Zustände nachträglich, z. B. auf Grund von
Zeugenaussagen, als krankhafte nachzuweisen und
belegt dies durch Beispiele aus der Praxis.
$$ 133 L 1333 und 1334: Anfechtung der Ehe.
Zu den namentlich in den beiden letztgenannten
Paragraphen ins Auge gefassten Zuständen rechnet
Vortr. die chronische Trunksucht, insbesondere auch
die Dipsomanie, die Epilepsie, die Geisteskrankheiten,
den angeborenen Schwachsinn und den perversen
Sexualtrieb. Von allen diesen Krankheiten fordert
Vortr., dass sic dem anderen Ehccontrahenten vor
der Eheschliessung bekannt gegeben werden müssen,
wenn die Voraussetzung der §§ 1333 UR d x 334 uicht
als gegeben erachtet werden sollen. Besonders macht
er noch auf die oft erst in der Ehe zu Tage treten¬
den schweren Störungen der Epilepsie aufmerksam.
Betreffs der Geistesstörungen betont er die ungün¬
stigen Folgen, die manchmal das Fortpflanzungsge-
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Original frnm
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i ;8 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. !Nr. n.
schüft für einzelne weibliche Geisteskranke hat. Auch
von einer früher durchgemachten Geistesstörung soll,
wie Vurtr. in Uebereinstimmung mit S c h u 1 1 z e
fordert, dem anderen Ehecontrahenten Mittheilung
gemacht werden.
§ 15ÖQ : Ehescheidung wegen Geisteskrankheit.
Vortr. verbreitet sich eingehend über die in diesem
Paragraph von dem psvchiatrischen Sach verständigen
geforderten Nach weise. Unter „Geisteskrankheit“ hat
er von vorneherein Geisteskrankheit im Sinne des
$ 6 des B. G. B. verstanden, da ja die Geistes¬
schwäche im Sinne desselben Paragiaph nach § 1304
unter Umständen die Ehe zulässig erscheinen lässt.
Eine Reichsgerichtsentscheidung hat diese Anschauung
bestätigt.
Betreffs der Dauer der geistigen Erkrankung von
über 3 Jahren glaubt Vom., dass hier ganz allgemein
der Nachweis einer über 3 Jahre dauernden und un¬
unterbrochen bestehenden Geisteskrankheit im medici-
nischen Sinne genüge, da für Zustände der Vergangen¬
heit die Unterscheidung zwischen Geisteskrankheit und
Geistesschwäche im Sinne des B. G. B. für den Sach¬
verständigen oft fast unmöglich sei.
Unter geistiger Gemeinschaft der Ehegatten ver¬
steht Vortr. mit Lcnnel das Bewusstsein, gemein¬
schaftliche Interessen zu haben, und den Willen, sich
in den Dienst dieser Interessen zu stellen. Er be¬
tont aber, dass in diesem Punkte natürlich weit¬
gehende individuelle Unterschiede, namentlich auch
in Bezug auf die Bildungsstufe der Ehegatten in Frage
kommen.
Die Unheilbarkeit der geistigen Erkrankung und
der dauernde Ausschluss der Interessengemeinschaft
decken sich nicht immer. Gerade bei unheilbaren
Geistesstörungen ist die Fähigkeit zur geistigen Ge¬
meinschaft häufig wenigstens zeitweise vollkommen
erhalten. Vortr. weist im Uebrigen darauf hin, wie
vorsichtig man bei der Erklärung der Unheilbarkeit
einer Geistesstörung sein müsse, wie häufig auch
nach nach jahrzehntelangem Bestehen unerwartete
Genesung eintreten könne. Unter den Begriff der
Unheilbarkeit fallen demnach nur: 1. fortschreitende,
mit körperlichem und geistigem Verfall einhergehende
sogen, organisc he Seelenstörungen, wie die progressive
Paralyse und einzelne Formen der arteri« >sclerotischen
und der senilen Demenz. Von anderen Geistesstör¬
ungen kommen nur diejenigen in Betracht, bei denen
nach jahrelangem Bestellen ein tiefer geistiger Verfall
eingetreten ist und bei denen der Kranke sich be¬
reits jahrelang ununterbrochen in diesem Zustande
tiefen geistigen Verfalls befunden hat, endlich noch
einige Fälle angeborener geistiger Schwäche, bei
denen die Unfähigkeit zur geistigen Gemeinschaft
erst nach der Eheschliessung erkannt wurde.
D i s c u s s i o n.
Heinroth fragt, welche practischen Maassregeln
Vortr. vorschlage, um die von ihm gerügte mangel¬
hafte Berücksichtigung medicinisch-psychiatrischer Er¬
wägungen , namentlich in Betreff des £ 1304 (Ehe-
schljessung Geistesschwacher und Trunksüchtigen, zu
verbessern.
Gramer: Es könnte die Eheschliessung der
Geistesschwachen und Trunksüchtigen, ähnlich wie
die Entmündigung Geisteskranker, von einem sach¬
verständigen Gutachten abhängig gemacht werden.
von Planck glaubt, dass man dem gesetzlichen
Vertreter in den meisten Fällen Vertrauen schenken
könne, und hält die Anhörung von Sach verständigen
in allen Fällen nicht für erforderlich. Weiter macht
er auf die Besserungsfähigkeit mancher Trunksüc h¬
tigen aufmerksam. Die von Gramer angegebenen
Momente für die nachträgliche Anfechtung einer
Ehe (nach 1333/34) hält er für zutreffend.
Ehrenberg betont, dass nach § 1304 nur die
Zustimmung des gesetzlichen Vertreters erforderlich
ist und dass dieser, also der Vormund, häufig dazu
wenig geeignet sei und auch die Verhältnisse oft zu
wenig kenne. Dies wird von Gramer und anderen
bestätigt.
von Planck bemerkt noch folgendes: Zur Be¬
stimmung des Grades der Geistesstörung kann der
§ 51 des Str. G. B. herangezogen werden, aber nur
soweit er sich auf dauernde Zustände bezieht.
„Die Absicht des Gesetzgebers ging dahin, die
Ehescheidung wegen Geisteskrankheit möglichst zu
erschweren und sie auf die Fälle zu beschränken, in
welchen dem zu scheidenden geisteskranken Theile
sicher keinerlei Schaden erwüchse und er die Härte
einer solchen Scheidung gar nicht mehr fühlt. Bei
der dreijährigen Dauer der Geistesstörung ist daher
„Geisteskrankheit“ im Sinne des $ 6 B. G. R ge¬
meint. Der Ausdruck „Unheilbarkeit“ bezieht sieh
nicht nur auf die zu Grunde liegende Geisteskrank¬
heit, sondern es ist gemeint „Unheilbarkeit“ des¬
jenigen Zustande^, durch welchen die geistige Ge¬
meinschaft dauernd ausgeschlossen ist. „Die geistige
Gemeinsc haft besteht solange, als der geistig erkrankte
Ehegatte eine Bethätigung der Liebe von dem ande¬
ren Ehegatten noch empfinden kann.“
Detmold sehliesst sich im Wesentlichen den
Anschauungen v. Planck’s an.
Gramer (Schlusswort): Nach den Ergebnissen der
Discussion in Betreff'des § 1304 scheint es wünschens¬
wert , dass das Gericht selbst, nicht der gesetzliche
Vertreter allein, die Genehmigung zur Eheschliessung
giebt, event. unter Zuziehung von Sachverständigen.
Z11 den Ausführungen von Planck's betont Cramer
nochmals die Schwierigkeiten, das Bestehen einer
Geisteskrankheit im Sinne des £ ö B. G. B. für die
zurückliegende Zeit von 3 fahren nachzuweisen. Er
weist darauf hin, dass unter Annahme der oben ge¬
gebenen Erläuterungen v. Planck’s eine Ehescheidung?
wegen Geisteskrankheit kaum möglich sei.
W ehe r - Göttingen.
— Bericht über die 2. Jahresversammlung des
Vereins bayerischer Irrenärzte am 24. Mai IQ04 zu
A nsba c h 1 Ref. A 1 z h e i in e r und P r o b s t -München.
(Schluss.)
A 1 z h ei m er: E i n iges ü ber d i e an a t o m isc h en
Grundlagen der Idiotie.
Heute schon steht fest, dass die Idiotie nur ein
Sammelbegriff ist für sehr verschiedene Krankheits-
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1004.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Vorgänge, die schon vor der Geburt oder in den
ersten Lebensjahren das Gehirn betroffen haben.
Aber in der Abtrennung der einzelnen Krankheiten,
welche idiotische Zustände veranlassen, sind wir noch
ganz am Anfänge.
Einen Krankheitsprocess, den Kretinismus oder
die mvxödematose Idiotie, haben wir durch die kli¬
nische Beobachtung abtrennen gelernt und es ist
ganz zweifellos, dass er zu den Stoffwechselerkrank¬
ungen zu stellen ist, da wir wissen, dass der Ausfall
der Schilddrüsenfunction ihn mit allen seinen Symp¬
tomen verursacht.
Aber der Trennung der übrigen idiotischen Zu¬
stände nach klinischen Gesichtspunkten stellen sich
jetzt noch unüberwindliche Schwierigkeiten entgegen.
Est steht zu hoffen, dass uns die pathologische Ana¬
tomie hier vorwärts helfen kann.
Die Gewebsuntersuchung zeigt uns zunächst, dass
die auffälligen und mehr oder minder für die Idiotie
cigenthümlichen makr« »scopischen Gehirnbefunde, die
Makroencephalie und Mikrocncephalie, die Makro-
gyrie und Mikrogyrie, die Porencephalie und Hydro-
eephalie nicht eigentliche Krankheiten, sondern schon
die Folgen verschiedener Krankheitsvorgänge auf das
noch in Entwicklung begriffene Gehirn darstellen,
dass sie also nicht für die Abgrenzung natürlicher
Krankheiten brauchbar sind. Denn diese werden
sich uns nur dann ergeben, wenn wir auf die ver¬
schiedenen KrankheitsVorgänge selbst zurückgehen.
Von solchen können wir heute schon unter¬
st beiden:
1. die Paralyse. Fälle von jugendlicher Paralyse
finden sich nicht ganz selten in den Idiotenanstalten,
am häufigsten solche, bei welchen sich die Paralyse
bei von Jugend auf Schwachsinnigen entwickelt hat.
Dieses Zusammentreffen ist unverhältnissrnässig häufig.
Wahrscheinlich handelt es sich dabei um Paralysen,
die aufgepropft sind auf einen angeborenen oder früh
erworbenen Schwachsinn, bedingt durch hereditär
luetische Veränderungen.
Hierher gehören wohl auch einzelne Fälle der
Bourncville’schcn meningitischen Idiotie, soweit sie
hinsichtlich des ersten Auftretens der paralytischen
Erscheinungen und der Zeit des Todes mit der Früh¬
form der Paralyse übereinstimmen. Dagegen muss
es noch offen gelassen werden, ob die meningitische
Idiotie, soweit sie den ersten Lebensjahren angehört,
durch paralytische, luetische oder andersartige oder
sogar vielleicht verschiedene Gewebsveränderungen
verursacht wird.
2. Die amaurotische Idiotie. Sie scheint durch
nicht entzündliche, degenerative Veränderungen unter
besonderer Betheiligung einzelner Fasersysleme ver¬
anlasst zu werden, und ist hinsichtlich der Zeit ihres
Auftretens, ihrer ganzen Erscheinungsform, ihres nahezu
foudroyanten Verlaufs, ihrer Neigung zu familiärem
Auftreten eine ungemein scharf gekennzeichnete Er¬
krankung.
3. Die hypertrophische tuberkulöse Sklerose, bei
welcher sich geschwulstartige Gliawucherungen finden.
4. Die idiotischen Zustände nach Herderkrank¬
ungen des Gehirns. Die Ursachen der Herderkrank¬
ungen können sehr vielfache sein. Eine besondere
Bedeutung wegen ihrer Häufigkeit kommt der Ence¬
phalitis zu. Ausserdem können traumatische Blut¬
ungen und Zerstörungen des Ilirngewebes, luetische
Endarteriitis, Embolien, Tumoren idiotische Zustände
zur Folge haben. Die herdförmigen atrophischen
Sklerosen sind wenigstens theilweise durch Gefäss-
erkrankungen bedingt, die Syphilis ist wenigstens eine
der Ursachen der Gefässerkrankung.
5. Entwicklungshemmungen. Man hat ihnen früher
entschieden zu viel Platz eingeräumt. Idiotische Ge¬
hirne, welche weitgehende Aehnlichkeit mit foetalen
Rinden zeigen, sind im Vergleich zu der garten
Masse der Idiotien offenbar selten. Man findet sie
noch am ehesten in mikroencephalen Gehirnen mit
foetalem, also mikrogyrem Windungsbau, in Gehirnen,
die in ihrer äusseren Form an das Karnivoren- oder
Affengehirn erinnern.
Auch ein auf einzelne Windungen beschränktes
foetales Zurückbleiben scheint vorzukommen. Aber
da wie dort finden sich oft auch Anzeigen krank¬
hafter Vorgänge, so dass wir vielleicht hierin die
letzte Ursache der Entwicklungshemmung zu suchen
haben.
0. Ausgebreitete degenerative Veränderungen von
verschiedener Art, die noch schwer einer Deutung
zugänglich sind.
Manche Rindenbilder, die von Idioten stammen,
welche gleichzeitig an Epilepsie gelitten haben, er¬
innern sehr an die Befunde, welche man auch bei
der sogenannten genuinen Epilepsie der Erwachsenen
sieht. Vielleicht handelt es sich hier nur um beson¬
ders früh auftretende schwere Formen derselben
Krankheit. Der Gcwebsbefund zeigt hier einen pro¬
gredienten Charakter des Krankheitsvorganges an.
Andere Bilder lassen einen offenbar schon seit
lange abgeschlossenen Process erkennen. Da uns die
Anamnese oft angiebt, dass die Krankheit mit Krämpfen,
„Fraisen“, „Gichtern“ begonnen habe, werden wir
vielleicht einmal bei Kindern, welche unter solchen
Hirnsymptomen gestorben sind, die dazu gehörigen
acuten Veränderungen finden.
Wahrscheinlich ist auch damit noc h nicht alles er¬
schöpft. Vielleicht finden sieh auch noch hebephre-
nische Veränderungen in anderen Fällen (Kraepclin).
Jedenfalls sehen wir jetzt schon , dass die Vor¬
stellung nicht richtig ist, welche in den idiotischen
Zuständen nur fertige, im weiteren Leben keinen
Krankheitsfortschritt mehr aufweisende Processe sehen
will. Die Idiotie umfasst vielmehr ganz verschiedene
Krankheiten, ganz verschiedenen Gruppen angehörig,
von ganz abweichender Verlaufsart.
Die weitere Erforschung der Idiotie hat deswegen
auch für die Psychiatrie im Allgemeinen den grössten
Werth, weil sie uns einesteils Krankheitsbilder kennen
lehrt, die wir auch bei Erwachsenen finden , andren-
theils eigenartige nur der Idiotie zukommende Krank¬
heitsvorgänge erkennen lässt.
Das Studium der ersteren muss unsere Erkennt-
niss der gleichen oder ähnlichen Krankheiten des
späteren Alters erweitern, während das Ycrständniss
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140
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 15.
der letzteren uns neue pathologisc h - anatomisch und
klinisch wichtige Gesichtspunkte eröffnen wird.
(Autoreferat.)
Diskussion fand nicht statt.
H e rf el d t-Ansbach giebt in kurzen Zügen einen
Ueberblick über Ausdehnung, Anlage,
Belegung, Organisation und Betrieb, so¬
wie über fernere Ausgestaltung der von
ihm geleiteten Anstalt. Nachdem in nächstei
Zeit im Aufträge und Verlage der mittelfränkischen
Kreisregierung ein diesbezügliches Werk, betitelt „die
Kreisirrenanstalt Ansbach“, erscheinen wird, so muss
hier auf dieses verwiesen werden. Erwähnt sei nur,
dass die ausgedehnte, im Pavillonsystem angelegte
Anstalt zur Zeit aus 35 Gebäuden besteht und nach
ihrem völligen Ausbau zur Aufnahme bis zu 700
Pfleglingen dienen soll. Dieselbe besitzt Fernheizung,
eigenes Elektricitätswerk für Licht- und Kraftzwecke
und gestattet auf ihrem grossen Areal die Verwend¬
ung von Kranken im landwirtschaftlichen Betriebe.
Die vom Vortragenden gegebenen Schilderungen
wurden bei dein sich anschliessenden Rundgange
noch entsprechend erläutert. (Autoreferat.)
Zum Vorsitzenden wurde wiederum Director Dr.
V ock e - München gewählt, zum näc hsten Versamm¬
lungsort München.
Zum Schlüsse fand eine Besichtigung der Anstalt
statt. Sie ist unter Anwendung aller Errungenschaften
der Technik und Berücksichtigung der modernen
Krankeubehandlung erbaut und dürfte für lange Zeit
vorbildlich für die Errichtung neuer Anstalten sein. *)
Aus den geschäftlichen Verhandlungen ist hervor¬
zuheben , dass nunmehr den bayerischen An¬
staltsärzten eine Reise Vergütung zum Be¬
suche von Congressen genehmigt ist; die aus¬
geworfene Summe beträgt an 3000 Mk.
*) Siehe auch d. Beschreibung: des .Projekts in Jahrgang: II,
S. 7 dieser Wochenschrift.
Personalnachrichten.
— Herrn San.-Rath Director Dr. Dittmar in
Saarge.münd wurde der Character als Geheimer
Sanitäts-Rath verliehen.
achten seitens chemischer Laboratorien vor. Eine
in Dr. C. Bischoffs chemisch-analytischem Laboratorium
zu Berlin vorgenommene Untersuchung ergab folgenden
Befund:
Hygiama ist ein lichtgelb-bräunliches Pulver von
gleichmässig hohem Feinheitsgrade, von angenehmem
Kakaogeruch und entsprechendem Geschmack, an
Kakaobisquit erinnernd.
Die Analyse ergab folgende Zusammensetzung:
Feuchtigkeit. 4,748%
Eiweissstoffe (incl. Theobromin) .... 21,22 %
(darin verdauliches Eiweiss 16,15%)
Fett.10,046%
Lösliche Kohlehydrate.49,10 %
Unlösliche „ . 9,57b %
Rohfaser.*. 1,76 °/o
Mineralstoffe. 3,55 %
(darin Phosphorsäure 1,0285 %)•
Die mikroskopische Untersuchung er-
giebt nur wenige Reste unveränderten Stärkemehles,
der grösste Theil der Kohlehydrate vom Character
des Stärkemehles ist kaum zweifelhaft durch einen
Röstprocess dextrinirt und daher der Form nach
nicht sicher bestimmbar. Neben den Stärkemehlan-
theilen finden sich Bestandteile des Kakaopulvers vor.
Ausder chemischen und mikroskopischen
Untersuchung ergiebt sich, dass Dr. Theinhardt’s
Hygiama äusserst reich ist an Gesammteiweissstofien
und an leicht verdaulichem Eiweiss. Das Präparat
enthält ferner zum grössten Theil lösliche Kohlehydrate
in leicht assimilirbarer Form und zeichnet sich durch
hohen Gehalt an phosphorsäurehaltigen Mineralsalzen
aus.
In dieser Zusammensetzung begründet sich von
selbst der bewährte Ruf des Präparates als ein Nähr¬
mittel ersten Ranges.
Der Geschmack des aus Dr. Theinhardt’s Hygiama
hcrgcstcllten Getränkes, mit Milch oder Wasser zu¬
bereitet, ist ein sehr angenehmer. Die Art der Ver¬
packung in dichter Pergamentpapierhülle und gut
sehliessender Blechdose dürfte die längere Haltbarkeit
tles Präparates ausser Frage stellen.
Berlin, den 6. Juni 1899.
gez.: Dr. C. Bisch off, Chem.-analvt. Laboratorium.
“ • 9
Das Nährpräparat Hygiama.
nter der grossen Zahl von Nährpräparaten hat das
Hygiama, von Dr. Theinhardt’s Nähr-
m i 11 e 1 - G es e 11 sc h af t in Can n st a 11, Württem¬
berg, hergestellt, sich einen besonders hervorragenden
Platz erobert. Wenn im Nachstehenden versucht wird,
einen Ueberblick über die von den Aerzten gemachten
Erfahrungen zu geben, so kann bei der Menge ein¬
schlägiger Mitthcilungcn eine solche Aufstellung keinen
Anspruch auf Lückenlosigkeit machen, zumal fort¬
während neue Beobachtungen zur Veröffentlichung
kommen.
Was zunächst die Beschaffenheit und Zu¬
sammensetzung dieses Nährpräparats anlangt, so
liegen hierüber eine Reihe von Analysen und Gut¬
Aehnlich lautet die Analyse der Wiener „Unter¬
suchungsanstalt für Nahrungs- und Genussmittel des
Allgemeinen Oesterreichischen Apotheker - Vereins,
Leiter Dr. Mansfeld“, vom 1 1. November 1899:
„Wassergehalt. ... 4,19%
Mineralstoffe.3,46 °/b
(darin Phosphorsäure 1,03%)
Fett.9,05 °/o
Stickst* »ffsubstanz.21,93%
Lösliche Kohlehydrate.49,45%
Unlösliche „ 10,69%
Cellulose.1,23 %
Summa 100,00%.
Mikroskopischer Befund: Weizenmehl und Kakao.
(Fortsetzung folgt.)
Kür den redaktionellen Theil \erantwoitlu h : Oheiurit Dr. J. liresier, Lublinitz (Schlesien).
Erscheint ieden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Adle a. S
Hevnemann’tche Buchdruckerei (Gebr. ''■'-''olff) in Halle a. S.
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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift.
Redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Lublinitx (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adresse: Marho Id Verlag, Hallesaale. Fernsprecher *834.
Nr. 16. i6- Juii- _1904.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marbold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermäasigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten.
Die physikalische Therapie bei Geistes- und Nervenkrankheiten.
Von Oberarzt Dr. Mönkemöller , Osnabrück.
T m Allgemeinen ist der Laie stets geneigt, vor den
therapeutischen Leistungen des Psychiaters einen
sehr geringen Respect zu haben und anzunehmen,
dass er mit verschränkten Armen der Entwickelung
der Krankheit zusieht, ohne eines Einflusses auf Ver¬
lauf und Ausgang fähig zu sein. Wie falsch diese
Ansicht ist, braucht ja nicht dargelegt zu werden, zu
leugnen ist aber nicht, dass sich des Irrenarztes, vor
allem, wenn er fern von allen Segnungen der Kultur
in wilder Einöde seines Amtes waltet, nur zu leicht
ein gewisser Pessimismus bemächtigt, dass er dem
Nihilismus verfällt und nur symptomatisch mit seinem
Krankenmateriale weiter operirt. So ist es gewiss
auch nicht in Abrede zu stellen, dass die Seg¬
nungen der gewaltig aufblühenden physikalischen
Therapie der Behandlung der Psychosen verhältniss-
mässig noch recht wenig zu Gute gekommen sind
— während das Schwestergebiet der Nervenkrank¬
heiten ja schon relativ mehr daran Antheil nimmt
— viel weniger, als das aller Wahrscheinlichkeit
nach einmal in Zukunft der Fall sein wird. Und
das ist sehr zu bedauern, denn eine stärkere Benützung
all dieser Hülfsmittel wäre zweifellos im Stande, den
Misskredit, in dem die Psychiatrie ja leider noch
immer bei der Mehrzahl der Laien steht, zu min¬
dern, vielleicht auch neue Bahnen für die Genesung
zu eröffnen, auch wenn wir uns in Bezug auf die
therapeutischen Folgen, die wir erwarten dürfen,
nicht dem nöthigen Pessimismus verschliessen, und
vor allem dem Irrenarzte manchmal eine grössere
Berufsfreudigkeit zu verschaffen. Sind doch schon
allein die klangvollen Namen, mit denen fast alle
diese Methoden ausgestattet sind, im Stande, auf das
Gemüth einen wohlthätigen und beruhigenden Ein¬
fluss auszuüben.
Wenn ich mir im folgenden gestatten möchte, aus
dem trefflichen Handbuche G o 1 d s c h e i d e r’s und
Jacob’s*) einen kurzen Abriss alles dessen zu geben,
was aus dem Gebiete der physikalischen Therapie
in das Gebiet der Geistes- und Nervenkrankheiten
schlägt, so bin ich mir wohl bewusst, dass dieser Aus¬
zug nur ein recht ungenügendes Bild der praktischen
Bedeutung dieser Methoden geben kann. Gerade
auf die Einzelheiten der Methoden und ihre präcise
Handhabung kommt sehr viel an, und diese lassen
sich eben im Auszuge nicht einmal andeuten. Aber
immerhin genügt dieser Auszug, um auf die Un¬
entbehrlichkeit und den praktischen Werth des
Buches für den Fachmann hinzuweisen. Ueber die
sonstigen Vorzüge des gesammten Werkes, die lücken¬
lose Verarbeitung des Stoffes, die systematische, über¬
sichtliche Anordnung und die ausgezeichnete Aus¬
stattung brauche ich wohl kein Wort des Lobes zu
verlieren, das Werk hat sich in den Jahren seit seinem
Erscheinen derartig den Weg gebahnt, dass jede
weitere Hervorhebung überflüssig erscheint. Ich gehe
sofort in medias res.
In der Klimatotherapie (Historisches:
Pagel, Klinisches: Nothnagel) hat schon
Aretäus bei der Behandlung der Cephaläa Klima¬
wechsel und Reisen aus kalten in wärmere Ortschaften
empfohlen und zur Bekämpfung der Epilepsie das
Reisen angepriesen. In die Behandlung der Psy¬
chosen ist die Klimatotherapie — wenigstens theore¬
tisch — in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts
hereingetragen worden. Wenn man bedenkt, wie ab¬
hängig die meisten Menschen in psychischer Bezieh¬
ung von der Beschaffenheit des Wetters sind, sollte
man annehmen, dass wenigstens bei manchen affec¬
tiven Erkrankungen klimatotherapeutische Maassnahmen
von Nutzen sein könnten, und in der That suchen
*) Handbuch der physikalischea Therapie. Leip¬
zig 1901 und 1902. Georg Thieme.
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142
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
ja auch Laien und Aerzte im Beginne so mancher
oft nur geahnter und nicht vorausgesehener Psychosen
durch „Luftveränderung“, Reisen, Aufenthalte in
Sommerfrischen u. s. w. dem drohenden Uebel bei¬
zukommen. Die Resultate, die man bis jetzt von
derartigen Eingriffen gesehen hat, ermuthigen aller¬
dings nicht zur unbeschränkten Anwendung der Kur.
Wenn man auch hoffen darf, dass bei einer vorsich¬
tigen Indicationsstellung und vor allem bei einer
mehr systematischen Anwendung, vielleicht in Com-
bination mit einer zweckmässigen Anstaltsbehandlung,
noch auf günstigere Resultate zu rechnen sein könnte,
so wird man doch Nothnagel beistimmen müssen,
dass für die Psychosen im Allgemeinen die
Klimatotherapie ausfallen muss und für die meisten
organischen Erkrankungen des Nervensystems im
wesentlichen nur dann gelten kann, wenn der Zustand
des Gesammtorganismus einen Luftwechsel er¬
fordert.
Sogar für die meisten functioncllen Nervenkrank¬
heiten hat nach seiner Ansicht das Klima nicht den
geringsten therapeutischen Werth — mit Ausnahme
der Ner vosität und Neurasthenie, deren
Wurzeln ja allerdings weit in das Gebiet der psy¬
chischen Erkrankungen herüberreichen. Hier unter¬
stützt es oft in überraschendster Weise die sonstigen
therapeutischen Maassnahmen, wenn auch die Wahl
des Ortes eine sorgfältige Ueberlegung und Anpass¬
ung an den konkreten Fall erfordert, da Patienten
mit scheinbar gleichem klinischen Bilde sich unter
denselben klimatischen Verhältnissen gelegentlich ganz
verschieden befinden. Die psychischen Momente
nehmen eben unter den Heilfactoren die erste Stelle
ein und diese werden immer unberechenbar bleiben.
Dazu ist bei den schwersten Formen der Neurasthenie
eine Heilung fast überhaupt nicht zu erreichen. Allge¬
meine Regeln sind daher kaum aufzustellen. Nothnagel
empfiehlt u. A. dass Neurastheniker, die schwer arbei¬
ten, mehrere Male im Jahre eine klimatische Kur
durchmachen sollen und dass man in schweren Fällen
Anstalten in nicht zu execssivem Klima bevorzugt.
Dabei beeinflusst schlechtes Wetter die Kur oft in sehr
unangenehmer Weise. Von Winden stark heimge-
suchte Plätze sind zu vermeiden. Dabei kommt es
auf das Wesen der Neurasthenie, nicht auf ihre
wechselnden Erscheinungsformen an , nur soll
im Allgemeinen darauf Rücksicht genommen werden,
ob der Allgemeincharakter nach der alten klinischen
Ausdrucksweise torpide oder erethisch ist. Der Aufent¬
halt im Freien ist von grösster Wichtigkeit. Zur
Durchführung der anderen physikalischen, diätetischen
und psychologischen Heilfaktoren ist ein Sanatorium
[Nr. 16.
oder zum mindesten ein sachverständiger Arzt er¬
forderlich. Ob ein Neurastheniker an die See oder
in das Hochgebirge geschickt werden soll, lässt sich
nicht durch allgemeine Regeln entscheiden, nur soll
man bei Fällen, die man nicht kennt, zuerst indiffe¬
rente klimatische Plätze vorschlagen und vorsichtig
tastend Vorgehen. Immer sind dabei etwaige Idio¬
synkrasien zu berücksichtigen. Bisweilen sollen'zu¬
fällig unternommene Seereisen günstig wirken, doch
sind sie im Allgemeinen wegen der sonstigen Verhält¬
nisse auf dem Schiffe abzurathen.
Zur Durchführung der Höhenlufttherapie
(Physiologie: Loewy. Aerztliche Erfahrungen: Eich¬
horst) sind die bedeutenderen Höhen schon deshalb
auszuschliessen, weil der Schlaf hier meist flach und
durch Träume gestört ist, und die unangenehmen
Akklimatisationserscheinungen z. Th. selbst nervöse
Krankheitssymptome darstellen, obgleich gerade diese
meistens der Suggestion in hohem Maasse zugänglich
sind.
Geisteskrankheiten im engeren Sinne eignen
sich deshalb gewöhnlich nicht dafür, weil die stark
anregenden Eigenschaften der Höhenluft sehr leicht
bestehende Erregungszustände steigern oder überhaupt
erst solche wachrufen können. Auch die Hysterie
profitirt verhältnissmässig wenig von den Vortheilen
der Behandlung. Dagegen werden H y pochonder
durch die vielen neuen Eindrücke davon abgehalten,
sich stets mit dem eigenen Körper zu beschäftigen,
und die Magen- und Darmthätigkeit wird durch den
Aufenthalt in der frischen Luft und die viele Be¬
wegung angeregt. Leider pflegt die Besserung nur
so lange anzuhalten, wie der Kranke sich ferne von
den Schädlichkeiten des Alltagslebens befindet. Dass
die Neurasthenie sich gelegentlich im Höhen¬
klima bessern kann, ist schon erwähnt, immer die
strengste Berücksichtigung ihrer Individualität vor¬
ausgesetzt. Die Berufsgeschäfte, die ja meistens die
Ursache des Leidens darstellen, sind vollständig von
dem Kranken fernzuhalten. Gute Erfolge wurden
durch Höhenluftkuren beim Morbus Basedowii
erzielt, wenn auch hier in der Regel die Akklimati¬
sationserscheinungen in besonderem Maasse über¬
wunden werden müssen. Die Hauptsache ist hierbei
wohl darin zu suchen, dass das ganze Nervensystem
gekräftigt wird. Auch Paralvsis agitans und
Chorea befinden sich aus dem gleichen Grunde im
Höhenklima ganz wohl, ohne eine deutliche Veränder¬
ung nach der guten oder schlechten Seite hin auf¬
zuweisen. Nicht minder ist bei Tabes dorsalis
und ähnlichen Rückenmarkserkrankungen der Aufent¬
halt im Gebirge zu empfehlen, vor allem, wenn
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I904.J
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
143
er ebene Spaziergänge bietet. Der Aufenthalt ira
Freien und die regelmässigen Spaziergänge selbst im
Winter wirken um so anregender, je regelmässiger
systematische Coordinationsübungen damit verbunden
werden. Dass die anatomischen Veränderungen da¬
durch unbeeinflusst bleiben, ist ja leider selbstver¬
ständlich.
Dagegen werden bei der Epilepsie durch die
Höhenluft sehr leicht angehäufte Anfälle ausgelöst,
auch Neuralgieen verschlimmern sich hier in der
Regel. Und ebenso ist für manche Krankheiten des
Nervensystems die Höhenluft geradezu kontraindicirt.
So können sich Gehirnblutungen in der unter
vermindertem Drucke stehenden Höhenluft sehr leicht
wiederholen, sodass eigentlich schon der Habitus apo-
plecticus den Gebirgsaufenthalt verbieten sollte. Auch
mit Abscess oder Geschwulstbildung im Gehirn
behaftete Personen sollten dem Hochgebirge fern
bleiben, da sie dort fast immer durch unerträgliche
Kopfschmerzen und langdauemde komatöse Zustände
geplagt werden.
Die Pneumatotherapie (Historisches: Pagel,
Physiologisches: du Bois Reymond jr., Aerztliches:
Liebig) wird der Natur der Sache nach im wesent¬
lichen in unserem Specialgebiete ein fremder Gast
bleiben, wenn auch die Franzosen bei manchen Fällen
von Epilepsie den erhöhten Luftdruck angewandt
haben, und wenn auch die Ableitung des Blutes
vom Kopfe durch die pneumatischen Apparate bei
Zuständen von Eingenommenheit des Kopfes und
bei fluxionärer Hyperämie des Gehirns von
Nutzen sein kann. Vielleicht könnte auch bei Angst¬
zuständen, wie sie sich bei Psychosen und Neurosen
der verschiedensten Art im Anschlüsse an organische
Veränderungen des Herzens gelegentlich einstellen,
die Anwendung der pneumatischen Apparate oder
der pneumatischen Kammer eine Linderung herbei¬
führen. Im besten Falle wäre diese Methode ja nur
als symptomatisches Mittel zu verwerthen. Mehr als
das, wenn überhaupt so viel, wird auch die Inha¬
lationstherapie (Lazarus) in unseren Special¬
gebieten niemals leisten.
In ein bekannteres und weiteres Gebiet führt uns
dagegen die Balneotherapie (Historisches: Pagel,
Sonstiges: Liebermeister). Nervöse und psychische
Krankheiten sind ja schon seit Jahrhunderten durch
den Aufenthalt in Bädern beeinflusst worden oder
sollten es doch werden. Auch jetzt werden die Heil-
factoren, mögen sie nun indirekt wirken oder durch
die Beeinflussung des Stoffwechsels, durch die Reiz¬
ung der Haut, durch die Anregung der Cirkulation
und Respiration sich bethätigen, im Beginne mancher
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psychischen Leiden, vor allem aber bei der dauernden
Behandlung der Nervenkrankheiten in Anspruch ge¬
nommen.
Die Indikationen, die bei den verschiedenen ner¬
vösen Krankheiten in Bezug auf die Auswahl der
einzelnen Bäder gestellt werden müssen, sind schon
in fortschreitendem Maasse Gemeingut der nervenärzt-
lichen Praxis geworden. So werden zur Beruhigung
der Nerven die indifferent warmen Wild bä der bei
den erethischen Formen der Neurasthenie sowie bei
hysterischen und traumatischen Neurosen herange¬
zogen, ebenso wie die lauen Akratothermen bei
Neuritiden, bei Neuralgieen, bei Lähmungen nach
Apoplexie sowie bei Myelitis und Tabes indicirt sind.
Denselben Effect erzielen bei diesen Krankheiten
häufig die Mineralbäder, während bei Tabes die
K 0I1 len Säurebäder vor allem gute Erfolge ge¬
währleisten, wenn Anästhesie, Muskelschwäche und
allgemeiner Torpor in den Vordergrund des Krank¬
heitsbildes treten. Die kohlensäurehaltigen Gasbäder
werden bei Neuralgieen und peripheren Lähmungen
warm empfohlen, ohne dass allerdings der Erfolg über
allen Zweifel erhaben wäre.
Bei der Behandlung nervöser Schwächezustände,
bei Myelitis und selbst bei Gehimembolien haben
die Soolbäder vor den Kohlensäurebädem den
Vorzug, dass ihre Reizwirkung zwar langsamer ein-
tritt, aber infolge der Adhäsion der Badestoffe länger
anhält, sodass sie die Erregbarkeit der Nerven all¬
mählich herabmindern. Moor- und Schlamm¬
bäder haben ihr Hauptindikationsgebiet bei der
Neuritis, die Fangoeinpackungen entfalten bei den
Neuralgieen eine ausgezeichnete Wirkung.
Die Thalassotherapie (Geschichtliches: Mar-
cuse, klimatische Verhältnisse und Seesanatorien:
Hiller, Technik der Seebäder und Seereisen: Weber)
wandte schon Plinius an, der das Meerwasser gegen
Nervenschmerzen verordnete und die heilende Wirk¬
ung des Seewassers (im Klystier) gegen Nervenleiden,
Tremor und Paralyse empfahl.
Die schon im Alterthume bei Nervenleiden warm
angepriesenen, aber später jahrhundertelang in Ver¬
gessenheit gerathenen Seebäder entriss Hermann Weber
der Vergessenheit. Die Wirkung der starker* Nerven¬
reize, die durch die Kälte, den Salzgehalt und den
kräftigen Wellenschlag gesetzt werden, wird wohl noch
übertroffen durch die psychische Beeinflussung. Der
Eindruck einer gewissen Gefährlichkeit, die Nothwendig-
keit, sich durch eigene Kraft auf den Beinen er¬
halten zu müssen, der durch das Wellenspiel ver¬
ursachte sinnliche Reiz, heben das gesunkene Selbst-
Original from
HARVARD UNIVERSITY
M 4
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 16.
vertrauen und so erklärt sich die günstige Einwirkung
auf die Thatkraft n eurastheni sch er Personen.
Während bei ausgeprägter Schwäche und Reizbar¬
keit des Nervensystems nach akuten Krankheiten
grosse Vorsicht geboten ist und Epileptiker nur in
Ausnahmefällen und nie ohne einen kräftigen Bade¬
diener baden sollen, bilden die Seebäder — natür¬
lich immer mit Umsicht der Individualität des Kran¬
ken angepasst— bei vielen functioneilen Affec-
tionen des Nervensystems ein wichtiges Heil¬
mittel —, vor allem bei nervöser Dyspepsie, bei
nervösen Kopfschmerzen, bei leichteren diphtheri-
tischen Lähmungen und bei hysterischen Paresen.
Allerdings können manche sogenannte „nervöse Kon¬
stitutionen“ die Seeluft nicht vertragen.
Die Heilfactoren einer Seereise: Reinheit der
Luft, Gleichmässigkeit der Temperatur, Fülle von Licht,
belebende Seewinde, Fehlen der Ueberanstrengung,
geistige Ruhe, gute Ernährung und passive Bewegungen
erscheinen dazu angethan, bei einer Reihe von Neu¬
rosen und leich te ren nervösen Stör ungen
segensreich zu wirken. Da natürlich hierbei sehr
viel auf die Beschaffenheit der Schiffe ankommt,
wäre die Einrichtung besonderer therapeutischer
Schiffe, die diesem Specialzwecke entsprechen, an¬
zustreben. Da Weber als Gegenanzeigen gegen diese
Behandlung u. A. nur Schlaflosigkeit während der
Seereisen, Epilepsie, Melancholie, alle Geistesstörungen
mit Neigung zum Selbstmord und Neigung zu perio-
disehen Anfällen von Manie und anderen Formen
von Irresein auflasst, so blieben noch Geisteskrank¬
heiten genug übrig, um den Versuch einer schwim¬
menden Irrenanstalt als lohnend erscheinen zu lassen.
Es wäre das endlich einmal ein vollkommenes Novum
in der etwas monoton gewordenen Behandlung der
Psychosen. Die vielen Vortheile, die für diese neue
Verpflegungsmethode sprechen, die Unmöglichkeit der
-—-*♦«
Entweichungen, die Leichtigkeit, prolongirte Bäder
geben zu können, die Unabhängigkeit von allen bureau-
kratischen Scheerereien und von obenher kommenden
wohlwollenden Beeinflussungen, die Unmöglichkeit
unbequemer verwandtschaftlicher Besuche, liegen auf
der Hand. Dass einige Bedenken noch dagegen
sprechen, wird ja wohl leider von den konservativen
Elementen in der Psychiatrie geltend gemacht werden.
Bei Nervenkrankheiten sind die Seereisen ja
schon längst in Aufnahme gekommen. Eine specifische
Einwirkung soll ihnen auf den Morbus Basedowii zu-
koramen, wenngleich dies von kompetenter Seite
völlig geleugnet wird. Bei allen nervösen Leuten,
die durch die verschiedensten Verhältnisse in einen
Zustand von Gemüthsdepression oder chronischer Ge¬
reiztheit gerathen sind, empfehlen sich solche Reisen
ganz besonders. Auffallend günstige Resultate werden
auch von der Behandlung des Tabes berichtet. Gleich
erfreuliche Erfolge zeitigen die Seereisen beim chro¬
nischen Alkoholmissbrauch, nur müssen die Schiffs¬
besitzer vollkommen sicher und zuverlässig sein.
Weber schlägt daher mit vollem Rechte die Einricht¬
ung von Enthaltsamkeitsschiffen vor, die mit Be¬
quemlichkeiten und Unterhaltungsmitteln aller Art
ausgestattet sein sollen, bei denen aber alle geistigen
Getränke sowohl für die Passagiere als auch für die
ganze Schiffsmannschaft auf das strengste verpönt
sind.
In ähnlicher Weise könnte man dann auch den
Kampf gegen den Morphinismus und Cocainis¬
mus aufnehmen.
Die Einrichtung von Seesanatorien oder
schwimmenden Seehospizen ist bis jetzt weder
deri Geisteskrankheiten noch den Nervenkrankheiten
zu gute gekommen; fasst Hiller ja sogar alle Psy¬
chosen und unheilbaren Neurosen als Kontraindika¬
tion gegen die Aufnahme in ein Seesanatorium auf.
(Fortsetzung folgt.)
Mittheilungen.
— XXIX. Wanderversammlung der süd¬
westdeutschen Neurologen und Irrenärzte am
28. und ^29. Mai 1904 in Baden-Baden. (Referent
Dr. Krauss-Kennenburg.)
Die Versammlung fand unter zahlreicher Bethei¬
ligung statt. 1. Sitzung, 28. Mai, Vormittags 11 Uhr.
Vorsitzender: Geheimrath Hitzig-Halle a. S.
1. Professor E ding er- Frankfurt und Professor
Goldmann-Freiburg: Zur hirnchirurgischen
Technik mit Demonstration.
Prof. Hitzig hat eine grosse Anzahl von Hunde¬
gehirnen, die nur an einer ganz kleinen Rindenstelle
sehr flach lädirt waren, Edinger zur Untersuchung
überlassen. Es wurden sorgfältige Serienschnitte her¬
gestellt. Dabei fiel auf, dass selbst nach den mini¬
malsten Abtragungen, die nicht einmal die volle Rin¬
dendicke betrafen, sicher aber nach allen einiger-
maassen tieferen sich immer dicht unter der Wunde
grössere oder kleinere Blutergüsse, an den älteren
Fällen auch kleine Cysten fanden. Diese Beobacht¬
ungen zusammengehalten mit der Erfahrung, dass
menschliche Gehirne, die einen chirurgischen Eingriff
erlitten haben, immer nahe demselben ausgedehnte
Erweichungen und vor allem immer viele kleine Blut-
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Original fram
HARVARD UNIVERSITY
1004.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 145
austritte zeigen, führten zur Fragestellung, ob man
nicht überhaupt das Messer vermeiden
könnte. Es wurden eine Reihe Aetzmittel geprüft
und schliesslich in der wässrigen Chromsäure ein sehr
tief wirkendes, in dem Formalin ein gelinderes Mittel
gefunden, das im Stande ist, wenn auf gepinselt
einen Theil des Gehirnes spurlos zum
Verschwinden zu bringen. Offenbar wird die
in vivo gehärtete Substanz sehr bald resorbirt. In
der Nachbarschaft finden sich so gut wie gar keine
Reizwirkungen, die Rinde dicht an den grossen
Narben scheint normal. Es liegt Pia und ev. Dura
einfach in den Lücken der Rinde fest an. Auf
diesem Wege ist bei der Maus zunächst die fast
völlige Vernichtung einer Hemisphäre gelungen, dann
wurden Versuche an Kaninchen gemacht. Hier sind
tiefe Läsionen erzeugt worden, einmal wurde auch
der Ventrikel eröffnet, wie die Schnitte zeigen, welche
demonstrirt werden. Irgend welche Störung ist da¬
durch nicht entstanden. Die Wunde heilt glatt aus.
Edinger und Goldmann halben sich zu gemeinsamer
Arbeit verbunden, um zu untersuchen, wie weit cs
möglich ist, die Methode, welche offenbar viel scho¬
nender als der Messereingriff wirkt, und zu heilenden
schönen Narben führt, in der Chirurgie zu verwenden.
Es gilt zunächst die Tiefenwirkung einer Pinsel¬
ung näher zu ermitteln, auch zu erfahren, wie mehr¬
fache Pinselungen wirken und wie grosse Stücke der
Hemisphären man bei grossen Thieren durch die
ganz symptomlos verlaufende Aetzung entfernen kann.
Das Verfahren wurde bereits mit Nutzen zur Her¬
stellung künstlicher Degenerationen verwendet und
dürfte auch der experimentellen Physiologie Dienste
leisten. Schon jetzt erscheint es wahrscheinlich, dass
weiche Geschwülste, inoperable diffus aufsitzende Tu¬
moren, Himpiolapse und vor allem kleine oberfläch¬
liche Herde, reizende Narben, die man gewöhnlich
ausschneidet, angreifbar sind.
Goldmann und Edinger sind mit weiteren Unter¬
suchungen beschäftigt. (Autoreferat.)
Discussio n.
Hitzig: Es sei ihm unklar, warum bei den Cau-
sticis, die Edinger anwandte, die bei Eingriffen mit
dem Messer erfolgenden Blutungen (secund. Degene¬
ration) nicht einträten, da doch beiderseits die von
der Oberfläche her eintretenden arteriellen Blutge¬
fässe lädirt würden.
2. Saenger-Hamburg demonstrirt einen von der
Elektrode aus regulirbaren galvanischen Apparat.
An der Elektrode befinden sich zwei Knöpfe.
Durch Druck auf den einen Knopf wird ein im
Apparat verborgenes Uhrwerk in Gang gesetzt, wo¬
durch der Rheostat bewegt wird. Durch den Druck
auf den zweiten Knopf wird die Bewegung in ent¬
gegengesetztem Sinne ausgeführt. Der Vortheil dieses
galvanischen Apparates besteht darin:
1. dass der Untersucher seinen Ort bei Acnder-
ung der Stromstärke nicht im Mindesten zu ändern
braucht,
2. dass die Zeit der clcktrodiagnostischen Unter¬
suchung sehr wesentlich abgekürzt wird , indem man
die Minimalzuckung rasche*" er uiercn kann,
Digitized by Google
3. indem man einen Assistenten nicht benöthigt.
Der neue Apparat ist bei R. Seiffert, Hamburg,
zu haben.
3. Dr. Li n k - Freiburg : Ueher ein wenig be¬
achtetes M u sk e 1 ph ä n o m e n.
Vortr. berichtet über klinische Untersuchungen
des Muskeltons beim Menschen. Die nach einer
kurzen physiologischen Einleitung und Hinweis auf
die Litteratur mitgetheilten Resultate sind folgende:
Ueber völlig gelähmten Muskeln fehlt natürlich der
Muskelton, zu dessen Demonstration beim Gesunden
jeder willkürlich in Tetanus versetzte Muskel, z. B.
der adductor pollucis, geeignet ist, über paretischen
Muskeln ist er abgeschwächt. Ist eine willkürliche
Bewegung überhaupt möglich, so ist auch ein Muskel¬
ton da, selbst bei partieller EAR. Bei galvanischen
Zuckungen normaler Muskeln ist kein Ton zu hören,
bei Ka S Te dagegen ein Ton von der Höhe des
bei willkürlichem Tetanus auftretenden. Bei der
trägen Zuckung der EAR fehlt der Muskelton,
auch bei mechanisc her Reizung, was für die Theorie
der EAR interessant ist. Bei faradischer Reizung
eines nicht reagirenden Muskels ist nichts zu hören,
bei der eines reagirenden Muskels bekanntlich der
der Unterbrechungszahl des Apparats entsprechende
Ton. Bei tiefen Reflexen ist nichts wahrnehmbar,
bei Hautreflexen, auch dem Babinskrschen, ein leiser
Ton. Bei den verschiedenen Formen des Zitterns
ist der Muskelton zu hören, auch bei Athetose. Ueber
nutritiv verkürzten Muskeln — fixirter Spitzfuss, alte
Gonitis und Coxitis — fehlt der Muskelton, falls keine
willkürliche Bewegung mit denselben gemacht wird,
was für die Diagnose von Simulation werthvoll sein
kann, da er über jedem w i 11 k ü r 1 i c h angespannten
Muskel wahrnembar ist. Ferner fehlt er über den
Contracturen der Kranken mit spastischer Lähmung,
falls sie keine willkürliche Innervation anwenden.
Vortr. wirft die Frage auf, ob der Innervationsvor¬
gang bei diesen wohl reflectorisch vom Rückenmark
aus unterhaltenen Contracturen ein anderer ist als
der bei willkürlichen Tetanus. Benutzt wurde als
Intrumentarium das Hörrohr und das Phonendoscop
von Bazzi-Bianchi, das eine genaue Lokalisation und
bei vorsichtiger Anwendung — nicht andrücken, nur
lose aufsetzen — eine gute Vermeidung von Neben¬
geräuschen ermöglicht, sowie den Muskelton ent¬
sprechend dem Eigenton der Kapsel verstärkt.
Vortr. demonstrirt ausser dem normalen Muskel¬
ton den bei KaSTc und bei faradischer Reizung,
sowie das Kehlen desselben bei der langsamen Zuck¬
ung der EAR.
Eine ausführliche Bublication erscheint demnächst
voraussichtlich im Neurologischen Centralblatt.
(Autoreferat).
4. I *rc »f. A x e n f e 1 d - Freiburg: T r a u in a t i s c h e
r e f 1 c c t o 1 i s c h e P u p i 11 e n s t a r r e.
Wenn bei Augenmuskellähmungen nach Schädel-
contusionen der Sphinkter iridis betheiligt ist, so lässt
sich, wie auch sonst auf dem Gebiet der Ophthalmoplegia
interna, nicht selten nachweisen, dass starke und
längere Convergenz noch einen Rest von Contraction
Original from
HARVARD UNIVERSITY
146 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 16.
herbeiführt, wo eine Lichtreaction gar nicht mehr
besteht
Diese Contraction kann den sogenannten „myoto-
nischen“ Typus (Strassburger, Saenger, Nonne u. A.)
darbieten. Eine reflectorische Pupillenstarre im vollen
Sinne des Wortes ist das nicht, sondern ein Ausdruck
der Thatsache, dass die Convergenzinnervation für
die Pupillarbewegung überhaupt der stärkere Reiz zu
sein pflegt.
In einem andern Fall war nach Contusion des
Bulbus, welche zu massiger Mydriasis traumatica und
Ruptura chorioideae (bei S = 5/24, freiem Gesichts¬
feld) geführt hatten, eine Zeit lang keine direkte
Lichtreaction vorhanden, während eine solche bei
Convergenz erfolgt und ebenso bei consensueller
Belichtung. Hier ist in erster Linie daran zu denken,
dass die Pupillarfasern des Sehnerven auf
der verletzten Seite stärker lädirt waren. Es ist diese
Möglichkeit theoretisch bereits erörtert worden. All¬
mählich kehrt auch eine träge, direkte Lichtreaction
wieder. Eine reflectorische Pupillenstarre im Robertson-
schen Sinne ist auch dieser interessante Befund noch
nicht.
Näher stehen derselben schon Fälle wo eine trau¬
matische Ophthalmoplegia interna zurückgeht, aber die
Lichtreaction nicht wiederkehren will, während die
bei Convergenz sich zurückbildet. Es entspricht das
den andern nicht traumatischen Fällen der Litteratur,
in denen nach basaler oder peripherer Oculomotorius¬
lähmung sich solch ein Pupillar-Verhalten anschloss.
Meistens bleiben aber dabei Reste von Ophthalmoplegia
interna zurück, die Pupille bleibt etwas erweitert und
auch die Convergenzreaction erfolgt nur träge. Vortr.
hat nach Schädelcontusion mit Abducenslähmung der
einen Seite diese Pupillenstörung sogar doppelseitig
gesehen.
Aber selbst das Vollbild der Robertson’schen
reflectorischen Pupillenstarre nach Schädelcontusion
ist möglich, wenn auch wohl sehr selten. Vorir.
meint damit nicht den öfters in der Litteratur be¬
richteten Fall, w'o bei einem früher Syphilitischen nach
Trauma doppelseitige typisch reflectorische Starre sich
fand ; in solchen Fällen liegt eine zufällige Combina-
tion nahe. Sondern er hat beobachten können, wie
nach Contusion des Schädels mit Commotio cerebri
nur auf der einen Seite, welche ausserdem eine leichte
Parese des rectus inferior zeigte, eine engere, auf
Licht direkt und consensuell fast ganz starre (unter
der Lupe war noch eine leichte Bewegung erkenn¬
bar) auf Convergenz aber bis zur höchstgradigen
Myosis sich contrahirende Pupille sich fand, wie wir
dies besonders bei Tabikern sehen. Die andere
Seite war normal in jeder Hinsicht. Ob hier der
Reflexbogen isolirt lädirt war, ob an das neuerdings
herangezogene Ganglion ciliare zu denken ist, möchte
Vortr. unentschieden lassen.
Die Möglichkeit einer typischen reflectorischen
Pupillenstarre nach Trauma, die bisher bestritten
wurde, ist aber nicht abzulehnen und auch die an¬
dern oben genannten Störungen verdienen difleren-
tialdiagnostische Beachtung. (Autoreferat).
5. Dr. von Ho ff mann: Besserung oder
eventuelle Beseitigung des Thränenträufelns
bei Facialislähmung.
Vortr. stellt einen Fall von doppelseitiger Faci-
alisparese vor und zeigt, wie das Krankheitsbild,
welches durch Schwächung der Contraction des Orbi-
cularmuskels und noch schlimmer bei vollkommener
Lähmung desselben am Auge sich entwickelt, durch
eine kleine Operation am unteren Thränenkanälchen
gebessert werden kann. Bei vollkommener Lähmung
ist, wie bekannt, der Lidschluss unmöglich, das untere
Augenlid sinkt herab und das Stagniren der Thränen
an der tiefsten Stelle der Lidspalte, in der Mitte des
unteren Lides, führt zu Entzündung der Bindehaut
und des unteren Homhautrandes, wenn nicht öfteres
Auswaschen des Auges bei Tage und ein das Auge
schliessender Schutzverband bei Nacht angewendet
Fig. U.
wird. — Bei Parese des Facialis kommt es vorzugs¬
weise darauf an, in wieweit die Blinzelbewegung der
Lider und speciell die Action des Musculus Homeri
getrennt ist oder sich bei Facialisparalyse nach und
nach wieder herstellt. Die neuesten Arbeiten von
Schirmer (Gräfe's Archiv, 1903, Band 56, Heft 2)
haben dargethan, dass die Blinzelbewegnng für die
Abfuhr der Thränen das allein wirksame Moment
bildet. So ist denn die an schematischen Wirkungen
demonstrirte keilförmige Excision (eines Schleimhaut¬
stückchens an der inneren Wundlippe nach voraus¬
gegangener Bowman’schen Spaltung des unteren
Thränenkanälchens) bei geschwächter Blinzelbeweg¬
ung geeignet, den Thränenabfluss zu erleichtern
respective oft vollkommen wieder herzustellen. Beim
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Original fram
HARVARD UNiVERSITY
iqo 4 ] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCH ENSCH RIFT. 14 7
Herabsinken oder vollkommener Lähmung des unteren
Lides ist nach Excision eines entsprechend grösseren
Stückes der Conjunctiva eine Hebung des Lides
durch Anlegung einer Sutur mit dem Ausstichspunkt
durch die Caruncuia lacrimalis angezeigt, was ebenfalls
durch schematische Zeichnung demonstrirt wird.
(Autoreferat.)
6. Professor Dr. Schultze-Bonn: Neuropatho¬
logie und innere Medicin.
Es ist nicht wünschenswerth, dass die innere
Medicin in weitere Specialitäten zerfalle, so noth-
wendig es ist, dass der Psychiater die Grenzfälle
kennen lernt, so wenig könne inan demselben, wie
neuerdings gefordert wird, alle Nervenkrankheiten zu¬
weisen, logischer Weise müsste man sonst das ganze
Material der inneren Medicin den Psychiatern zu¬
fallen lassen, denn alles hat nervöse Beziehungen.
Alle Uebergriflfe in die einzelnen Gebiete sollten ver¬
mieden werden.
Discussion:
Erb verwahrt sich ebenfalls gegen den Einbruch
der Psychiater in das Gebiet der internen Medicin.
Für den Psychiater sind die Gehirnkrankheiten Fälle
mit vorwiegend psychischen Erscheinungen. Von
den Grenzfällen gehören die vorwiegend somatischen
dem Internen, Rückenmuskelkrankheiten haben für
den Psychiater kein Interesse. Eine Theilung der
Grenzfälle muss festgelegt und überall Nervenkliniken
errichtet werden.
Hitzig: Die Internen sollen den Psychiatern
das Material, das zu ihrer Informirung nöthig ist,
nicht wegnehmen. Schon Virchow sagte: Die Psy¬
chiater sollen sich nicht absentiren.
Naunyn: Die Neurologie ist selbständig ge¬
worden. Im Unterricht in grösseren und mittleren
Universitäten ist heutzutage der Psychiater der Spe¬
cialist für Neurologie, von wenigen Fällen abgesehen,
hat er das Material und sollte aber auch gezwungen
werden, es im Unterricht zu verwerthen.
Fürstner: An den grossen Universitäten hat der
Psychiater auch den Lehrauftrag für Neuropathologie.
Hoche plädirt für den Psychiater für einen Platz
an der Sonne, eine versoij n ]i c he Linie.
La quer: Die Neurologen brauchen in der Praxis
psychiatrische Vorbildung.
Sa eng er: Die Grundlage der Neurologie ist die
innere Medicin. (Fortsetzung folgt.)
— Verein für Psychiatrie und Neurologie
in Wien. Sitzung vom 10. Mai 1904.
1. Dr. Arthur Schüller demonstrirt einen 19
Monate alten Knaben. Das Kind zeigt leichte Symp¬
tome von Rachitis, Hypotonie der Muskeln der unte¬
ren Extremitäten bei fehlender Atrophie, Fehlen der
tiefen Reflexe. Elektrische Erregbarkeit stark herab¬
gesetzt. Die Beine können nur in geringem Maasse
aktiv bewegt werden. Diagnose: Myotonie Oppen-
heim’s.
2. Dr. Alfred Fuchs demonstrirt zwei Patienten,
deren jeder eine atypische Form der spinalen Muskel¬
atrophie aufweist. Die atrophischen Muskeln zeigen
myotonische Erscheinungen. Anschliessend daran
demonstrirt Fuchs einen typischen Fall von Thomsen-
scher Myotonia kongenita und endlich einen jungen
Mann mit hysterischer Myotonie.
3. Dr. Arthur Berger demonstrirt das Gehirn
eines seinerzeit im Verein demonstrirten Knaben, bei
welchem die Diagnose auf Tumor cerebri mit Be¬
theiligung der Hypophyse gestellt wurde (Himtumor-
syraptome, Zurückbleiben des Grössenwachsthums,
abnorme Vermehrung des Fettgewebes). Die Ob¬
duktion ergab Plattenepithelcarcinom der Hypophysen¬
gegend. Die Hypophyse fand sich comprimirt und
plattgedrückt.
4. Herr Talesko demonstrirt Röntgenbilder von
Extremitäten Syringomyelitischer mit besonderen
Formen von Knochenveränderungen. (Die Befunde
werden in der „Deutschen Zeitschrift für Nervenheil¬
kunde“ veröffentlicht werden.)
5. Dr. E. Oka da aus Japan berichtet über die
Akupunktur (Hari) und Moxenbehandlung (Kyu) in
Japan. Er demonstrirt nach einer geschichtlichen
Einleitung verschiedene Typen von Moxen und setzt
unter Demonstration von bei der Akupunktur ge¬
bräuchlichen Nadeln deren Anwendungsweisen und
Wirkungen auseinander. S.
Referate.
— Archiv für Criminal - A nth r op ologie
und Criminalistik, 14. Bd., 3. u. 4. H.
Ein kasuistischer Beitrag zur foren¬
sischen Würdigung des Schwachsinns. Dr.
Freiherr v. Sehrenck-Notzing.
In dem vorliegenden Falle handelt es sich um
einen Imbecillen, welcher einen anderen Schwach¬
sinnigen wiederholt in raffinirter Weise betrügt. Die
ethischen Vorstellungen des Angeklagten waren mangel¬
haft entwickelt, während die Verstandeskräfte nach
der mechanischen, äusserlichen Seite hin gut ausge¬
bildet waren. Höheren Anforderungen waren sie
nicht gewachsen. Da das Reichsgericht bei Mangel
jedes moralischen Haltes die Zurechnungsfähigkeit
neuerdings nur dann für ausgeschlossen erklärt hat,
wenn der Mangel aus krankhafter Störung nachweis-
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HARVARD UNIVERSITY
148
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 16.
bar ist, so verlangt das Krankhafte der ethischen
Defecte also den Nachweis anderweitiger Symptome
des Schwachsinns und zwar fordert § 51 den Nach¬
weis eines erheblichen Grades der fraglichen geistigen
Störung.
Mord an einem fünfjährigen Knaben.
J. Hahn, Untersuchungsrichter in Grodno (Russ¬
land).
Ein 2ojähriger Mensch trinkt, bevor er einer ge¬
richtlichen Vorladung Folge leistet, 8 / 4 Liter Schnaps.
Er wird zu 5 Tagen Haft verurtheilt, was er an¬
scheinend gleichmüthig hinnimmt, begiebt sich nach
Hause und ermordet unterwegs ohne ersichtlichen
Grund einen Knaben, der ihm begegnet. „Darauf
wird ihm leichter“. Bald darauf kehrt er an den
Thatort zurück und betastet das entblösste Gehirn
der Leiche, wobei ihm Widerwillen ankommt. Die
Gutachten der Sachverständigen sprechen sich dahin
aus, dass der Thäter ein physischer und psychischer
Degenerat sei, der zu impulsiven Handlungen neige
und die That unter dem Einflüsse des Alkohols und
des Aergers über die Verurtheilung begangen habe
Do st - Hubertusburg.
— Berk hau: Ueber den angeborenen
und früh erworbenen Schwachsinn, G cistes-
sch wache des Bürgerlichen Gesetzbuches.
2 Aufl. Braunschweig, Friedrich Vieweg, 1904 2,40 M.
Verfasser, der sich um die Einführung der Hülfs-
schulen für Schwachsinnige die grössten Verdienste er¬
worben hat und seiner Zeit zur Gründung der ersten
Hülfsschule in Braunschweig Anlass gab, hat in der
zweiten Auflage des Buches vor allem wieder die
Erfahrungen und Beobachtungen niedergelegt, die er
an dieser Hülfsschule gemacht hat. Die sonstigen
Vorzüge des Buches sind schon bei der ersten Auflage
nicht nur in Fachkreisen gebührend gewürdigt worden,
auch die pädagogischen Kreise haben den Nutzen
nicht verkannt, der dem Lehrer — nicht nur an
solchen Fachschulen — daraus erwächst, dass er sich
psychiatrischen Erwägungen bei diesem schwierigsten
aller Erziehungskapitel jricht verschliesst und Hand
in Hand mit dem Irrenarzte arbeitet. Das Buch ent¬
hält diesmal auch eine Reihe von instructiven Abbil¬
dungen. Braune, Schwetz a. W.
Personalnachrichten.
— Basel. Zum Direktor der hiesigen Irrenan¬
stalt ist anstelle des zurücktretenden Prof. Wille
Prof. Dr. Gustav Wolff, zur Zeit Sekundärarzt an
der hiesigen Anstalt, ernannt worden.
— Heidelberg. Zum ordentlichen Professor
der Psychiatrie ist als Nachfolger Bonhüfl'ers der bis¬
herige ausserordentliche Professor Dr. Franz Nissl
ernannt worden.
— Jena. Prof. Dr. Binswanger wird am 1.
Oktober einem Ruf nach Bonn Folge leisten.
Berichtigung.
ln dem Artikel des Herrn Dr. C. Wickel in No.
15 Seite 137, rechte Spalte muss es heissen: „um
von mehr als dem g e wo h n 1 i c h e n Nutzen zu sein.“
Das Nährpräparat Hygiama.
(Fortsetzung.)
Auf Grund dieser Bestimmungen ist zu erklären,
dass die vorliegende Probe von „Hygiama“ infolge
ihres hohen Gehaltes an Nährstoffen (verdaulichem
Eiweiss, Phosphaten, Fett und löslichen Kohlenhydraten)
sich als Nährmittel für grössere Kinder und Er¬
wachsene besonders eignet.“
Der „VII. Jahresbericht des öffentlichen chemischen
Laboratoriums von Dr. Hundeshagen & Dr. Philip“
in Stuttgart, pag. 21, sagt bezüglich des Hygiama:
„Die auch in den letzten 3 Jahren ständig durch¬
geführte Controlle über die Producte von Dr. Thein-
hardt’s Nährmittel - Gesellschaft in Cannstatt erwies,
dass dieselben mit ganz unerheblichen Abweichungen
die folgende bewährte Zusammensetzung besassen:
Wasser..3—5 %
Stickstoffsubstanz. 20—22 %
Fett. 8—11 °/o
Lösliche Kohlenhydrate.45—48 %
Unlösliche „ .17 -20 0 /o
Mineralstoffe.3—4 °,b
Phosphorsäure.0,8—1,2 °/o“.
Die von demselben Institut ausgeführte Controll-
Analvse vom 5. April 1902 ergab
Wasser. 3,52%
Protein.21,44%
Fett . . 9,16%
Lösliche Kohlenhydrate.48,36%
Unlösliche „ .13,87%
Mineralstoffe .3,65%
(darin Phosphorsälire i,oo°/„)
Das Präparat entspricht hiernach den Normen.“
Hygiama und das andere Theinhardt’sche Präparat
„lösliche Kindernahrung“ werden unter dem Gesichts¬
punkte der Farbenanaly.se von Dr. F. Hundeshagen
in einem Aufsatz: Zum Chemismus der Combinations-
färbungen; Beiträge zur Kenntniss der Eiweissstoffe
(Zeitschrift für öffentliche Chemie, 1902) besprochen.
Danach ist die Beurtheilung der Nährpräparate im
Hinblick auf den grösseren oder geringeren Grad der
Aufschliessung des Stärkemehls nur auf Grund des
mikroskopischen Bildes des mit Jod gefärbten, im
übrigen unveränderten Präparates irreführend, da ja
solche Präparate nicht im Zustande des Fabrikates
genossen werden, sondern nach entsprechender Ver¬
änderung durch einen Kochprocess, der den Zustand
der Stärke und das Verhältniss der unlöslichen und
löslichen Kohlenhydrate noch wesentlich zu alteriren
bestimmt ist. In der folgenden Tabelle sind die nach
den Methoden der „Vereinbarungen“ ermittelten Ge¬
halte der Mehlpräparate an „löslichen und unlöslichen
Kohlenhydraten“ wiedergegeben.
Kohlenhydrate
lösliche
unlösliche
Nestle’s Kindermehl
. ca. 47%
ca. 30 <
Kufeke’s Kindermehl
2 1 „
„ 56 ,
Theinhardt’s Kinder-
nahrung .
■ ■> 50—54 ..
O
CM
1
00
Hvgiama.
» 45 — 4 ^ „
„ 17—20,
(Fortsetzung folgt.)
Für den redactionellen Theil verantwortlich : Oberarzt Dr. J. Bresior, Lublinitr (Schlesien).
Erscheint ieden Sonnabend
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Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Hevnexnann’sche Buchdruckerei (Gebr. Wolff) in Halle a. S.
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Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift.
Redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Brealer,
Lublinitx (Schlesien),
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834.
Nr. 17, 23 Juli- 1904.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermäasigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Rresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten.
Die physikalische Therapie bei Geistes- und Nervenkrankheiten.
Von Oberarzt Dr. Mönkemötler , Osnabrück.
(Fortsetzung.)
Die Hydrotherapie (Historisches: Marcuse,
Physiologisches und allgemeine ärztliche Erfahrungen:
Winternitz, Technisches: Strass er) spielt auch
schon seit langer Zeit ihre bedeutsame Rolle in der
Behandlung der Nerven- und Geisteskrankheiten,
wandte doch schon Hippokrates kalte Uebergiess-
ungen als Reizmittel bei Ohnmacht und Collaps und
als Reaktivmittel bei Starrkrampf an.
Bei Rückenmarkskrankheiten empfehlen sich
die höher temperirten Bäder von längerer Dauer,
wobei bei der Dosirung in Betracht zu ziehen ist, ob
Reiz- oder Ausfallserscheinungen im Vordergründe
stehen, geradeso wie bei functioneilen Neurosen und
Psychosen die jeweilige Erregbarkeit als Maassstab
dient. Auch die Monate, ja selbst Jahre fortgesetzte
Halbbäderbehandlung chronischer Erkrankungen
des Nervensystems (so z. B. des Tabes) soll gute
Erfolge zeitigen. Von den Theilbädern kommt
insbesondere das Hinterhauptbad in Betracht, das auf
das Nervensystem vom verlängerten Marke aus reflec-
torisch einwirken soll und deshalb bei anämischen
Kopfschmerzen, bei Neurosen des Herzens und bei
nervösen Asthma zur Anwendung gelangt. Kalte
Sitzbäder von sehr kurzer Dauer wirken durch
lebhafte Reaktion dekongestionirend für den Kopf
und in diesem Sinne auch als Schlafmittel. Ueber
den Werth kalter Abreibungen für so manche ner¬
vöse — organische und functionelle — Erkrank¬
ungen braucht wohl kaum noch ein Wort verloren zu
werden.
Dass die Douchen und Vollbäder in der Be¬
handlung der Psychosen jahrzehntelang eine dominirende
Stellung eingenommen haben, ist bekannt und ebenso,
dass damit nicht nur rein therapeutische, sondern
nur zu oft lediglich disciplinarische Zwecke verfolgt
wurden. Jetzt werden sie anders geschätzt und vor-
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sichtig dosirt. Vor allem haben die prolongirten .lau¬
warmen Vollbäder sich als ein vorzügliches Mittel gegen
die Erregungszustände der verschiedensten Psychosen
erwiesen. So finden die warmen Douchen auch ihre
Anwendung bei den erethischen Formen der Neu¬
rasthenie, die aufsteigende Douche bei der psychischen
Impotenz, Theildouchen auf den Nacken bei Herz¬
neurosen, die Stechdouche bei Migräne, bei Hyperämia
cerebri und Reizzuständen der Meningen, die schot¬
tische Douche bei verschiedenen Neuralgiöen, insbe¬
sondere der Ischias. Für die kalten und warmen
Umschläge gelten die allgemeinen Regeln, die für
die Wirkung der lokalen Kälte- und Wärmeappli¬
kation gültig sind, so wirken die kalten Umschläge
bei Schmerzen nicht entzündlicher Natur (Neuralgieen)
als Sedativa und Antispasmodica. Die Kopfumschläge
in ihrer einfachsten Form oder als koraplicirtere Kopf¬
kühlapparate sind u. A. indicirt bei allen Congestions-
und entzündlichen Zuständen des Gehirns und der
Hirnhäute, erregende Kopfumschläge (feuchte Kappe
durch eine trockene bedeckt) bei der anämischen
Migräne und bei manchen Fällen von Neuralgie,
insbesondere im ersten Trigeminusaste und im Ner¬
vus occipitalis. Bei hyperämischen Zuständen des
Kopfes wirken die Wadenbinden als mildes Schlaf¬
mittel. Die feuchten Einpackungen — schon vor
Priessnitz als sehr wirksam erkannt — leisten bei
functionellen motorischen Neurosen (Chorea, Athe-
tose), bei nervösen Herzerkrankungen, bei dem Mor¬
bus Basedowii gute Dienste. Bei Polyneuritis ver¬
mindern sie die Schmerzhaftigkeit und scheinen den
Krankheitsverlauf wesentlich abzukürzen.
Die Anwendung der Thermotherapie (Histo¬
risches: Marcuse, Physiologisches: Goldscheider,
Technik: Friedländer) kann bei Nervenkranken
immer nur mit einer gewissen Vorsicht erfolgen, bei
Original from
HARVARD UN1VERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 17.
150
Hemiplegikem und Tabikern wird durch heisse Bäder
gelegentlich sogar eine erhebliche Verschlimmerung
verursacht, wie auch Personen mit functionellen Neu¬
rosen heisse Bäder meist schlecht vertragen. Dass
durch die Anwendung der Schwitzbäder gelegentlich
Ohnmächten und bei nicht intactem Gefässapparat
des Gehirns sogar apoplektische Insulte ausgelöst
werden, ist ebenfalls nur zu oft beobachtet worden.
Bei Meningitis cerebrospinalis hingegen sollen heisse
Bäder häufig sehr gute Dienste leisten.
Die verschiedenen Methoden für allgemeine
Wärmebehandlung, die Heisswasserbäder, die
Heissluft-, die Dampf-, die Schwitzbäder in ihren
mannigfachen Variationen, mit deren kritikloser An¬
wendung von Seiten des Publikums und leider auch
mancher Aerzte noch heute vielfach Missbrauch ge¬
trieben wird, hat in ihren Indikationen für die Be¬
handlung von Nervenleiden eine sehr grosse Ein¬
schränkung erfahren, um so mehr, als die lokale
Wärmebehandlung, die in viel grösserer Inten¬
sität anwendbar ist, die lokalen Leiden weit sicherer
beeinflusst, ohne den Gesammtorganismus in Mit¬
leidenschaft zu ziehen. Eine Combination von ther¬
mischen mit mechanischen Reizen stellt die Behand¬
lung mit heissen Douchen dar, die insbesondere
bei Neuralgieen, Lähmungen und Muskelatrophieen
erfolgreich in Thätigkeit treten. Von den verschie¬
denen Mitteln der Kältebehandlung, der Psycho¬
therapie, übt besonders die Applikation des Chlor¬
äthyls bei Neuralgieen eine schmerzlindernde Wirk¬
ung aus und soll bei den Neuralgieen der Tabiker
insbesondere erfolgreich sein.
In der Massage (Historisches: Bumm, Tech¬
nisches : Z a b 1 u d o w s k i, ärztliche Erfahrungen :
Reyher) eröffnet sich wieder ein Gebiet, das der
Psychiatrie bis jetzt so gut wie vollkommen ver¬
schlossen geblieben ist und wohl im Allgemeinen
auch bleiben wird, während ihre iVnwendung bei
nervösen Erkrankungen schon so tiefe Wurzel gefasst
hat, dass alles nähere Eingehen darauf überflüssig
erscheinen muss.
Schon früh hat sich die Gymnastik (Historisches:
P a g e 1 , Physiologisches: Prof. Zuntz, Heilgymna¬
stik : Zander, Uebungstherapie: Jak o b, Apparat¬
gymnastik: Funke, Turnen: Zuntz) ihren Platz in
der Behandlung der Nerven- und Geisteskrankheiten
errungen. Aretaeus empfiehlt die Frietiones und
Exercitiones bei der Cephaläa, 1 »ei der Epilepsie und
in lethargischen Zuständen. Dass im Anfänge und
der Mitte des vorigen Jahrhunderts vom Turnen in
der Behandlung psychischer Kranker zeitweise der
ausgiebigste Gebrauch gemacht wurde und dass zur
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Dressur ungeordneter Elemente militärisches Mar¬
schieren und Freiübungen verwandt wurden, ist all¬
mählich ganz der Erinnerung entschwunden. Auch
jetzt beruht zweifellos ein grosser Theil der thera¬
peutischen Erfolge, die wir bei der Heranziehung der
Geisteskranken zu körperlichen Arbeiten sehen, in
der ausgiebigen Muskelübung, denen sie hierbei,
wenn auch nicht in systematischer Weise, unterzogen
werden.
Die Beeinflussung des Nervensystems durch Gym¬
nastik ist eine der wesentlichsten Gesichtspunkte bei
ihrer therapeutischen Verwerthung im Allgemeinen.
Die Koordination der Innervation, die richtige Ab¬
stufung derselben zur Vermeidung jeder unnöthigen
Muskelanspannung, die schnelle und sichere Auffass¬
ung der Sinneseindrücke und die denselben ange¬
passte prompte motorische Innervation sind Leist¬
ungen , welche durch systematische Gymnastik und
namentlich durch Sport und Turnspiele ausserordent¬
lich geübt werden.
Massige Muskelthätigkeit hat einen günstigen Ein¬
fluss auf die nachfolgenden psychischen Leistungen.
Die Muskelthätigkeit, richtig dosirt, liefert dem Cen¬
tralnervensystem durch ihre Stoffwechselprodukte die
einzigen Narkotica, welchen man auch bei dauerndem
Gebrauche eine schädliche Wirkung nicht nachsagen
kann. Das wirksamste Gegenmittel gegen die bei
geistig Arbeitenden so häufig auftretenden leichteren
Formen der Ueberarbeitung der Denkorgane —
Kopfschmerz, Gedankenunruhe, Schlaflosigkeit und
wirre Träume —, ist eine mässige den individuellen
Kräften angepasste Muskelthätigkeit. Die Anwendung
der verschiedenen Arten des Turnens und des
Sportes (Turnspiele, Bergsteigen, Schwimmen, Rad¬
fahren) zeitigen bei vernünftiger Dosirung ausgezeich¬
nete Resultate, vor allem bei leichter Neurasthenie
und allgemeiner nervöser Schwäche. Vorzüglich wirkt
auch die C v k 1 o g v m n a s t i k auf der Inaetivi-
t ä t s a t r o p h i e verfallene Muskeln; bei Parese und
Lähmung nach peripheren und centralen Krankheits¬
processen arbeitet sie im Sinne der bahnenden Ueb¬
ungstherapie. Von eminentem Erfolge sind ihre Er¬
folge bei Atactischen, namentlich Tabischen, und
nicht zu unterschätzen ist ihre Wirkung auf die ge¬
drückte Stimmung dieser Kranken. Eine ähnliche
Wirkung kommt dem Schütt- und Schneeschuh¬
laufen zu. Beim Reiten führt die beständige dem
Pferde und dem Terrain zugewandte Aufmerksam¬
keit eine wohlthuende Ablenkung bei Hypochondern
und Hysterischen herbei und hindert sie, sich fort¬
gesetzt mit ihrer eigenen Person zu beschäftigen.
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
IQ04 J PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Die U ebungstherapie, die mangelhaft func-
tionirende Willensbahnen wieder beleben und ein-
übcn soll, mag sie nun bahnend oder hemmend
wirken, findet ihre Indikation bei den verschieden¬
artigsten hemiplektischen und paraplektischen Affec-
tionen, bei Muskelatrophieen, beim Intentionszittern,
bei der Muskelrigidität der multiplen Sklerose, beim
Schreibkrampf, bei der Chorea, der Athetose, bei
hysterischen Contracturen. Nicht die nervösen Appa¬
rate allein sollen dadurch beeinflusst werden, auch
die Psyche nimmt an der Behandlung im ausgiebig¬
sten Maasse theil, indem der Kranke durch einen
rationellen Unterricht dahin gebracht wird, seine
Willensimpulse in richtiger Weise auszuüben, und
dadurch unterscheidet sich diese Behandlungsmethode
in principieller Weise von der passiven und activen
Gymnastik.
Ein Kind der neuesten Zeit ist die kompen¬
satorische Uebungstherapie, die es sich zur
Aufgabe setzt, die ataktischen Störungen (z. B. bei
Tabes) zu beseitigen. Hier handelt es sich nicht
darum, die trägen Willensimpulse wieder zu beleben,
es muss vielmehr dem Kranken ein ganz neues System
für seine Bewegungsfähigkeit beigebracht werden. Der
Schwerpunkt dieser Bewegungsbehandlung liegt in dem
systematischen Aufbau der Bewegungsübungen, die
von einer ganzen Reihe von sinnreichen Hülfsappa-
raten unterstützt werden.
Von unschätzbarer Bedeutung ist bei der deut¬
schen Heilgymnastik die moralische Be¬
einflussung des Patienten selbst. Nicht die rein
mechanische Wirkung, die sich um so leichter er¬
zielen lässt, als sie auf alle Nebenapparate verzichtet,
sondern die Einwirkung auf die Psyche und den
Willen sichert ihr für alle Zeiten eine einflussreiche
Stellung.
Wie sehr diese Methode in das Reich der psy¬
chischen Behandlung hereingreift, beweisen die Erfolge
der Suggestionsgymnastik, bei welcher durch
passive Bewegungen bei functioneilen Störungen die
Bewegungsempfindung wieder zum Bewusstsein ge¬
bracht werden kann.
Während die mechanische Orthopädie
(Vulpius) unserem Gebiete gewissermaassen nur im
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Nebenamte zu Gute kommt, indem sie zur Fixation
gelähmter Gelenke beitragen und der entstehenden
Deformität von Gliedmaassen entgegen wirken kann,
stellt das Reich der Nervenkrankheiten für die Elek¬
trotherapie (Historisches: Pagel, Physiologische
und elektrische Proceduren: Mann, ärztliche Erfahr¬
ungen : B e r n h a r d t) ein Gebiet dar, in dem diese
von Anfang an ihre ersten und grössten Erfolge er¬
zielt hat. Als hauptsächlicher und selbstverständ¬
licher Bestandtheil der Therapie der Nervenkrank¬
heiten muss auch sie auf eine nähere Besprechung
verzichten, um so mehr, als sie sich wieder zu einer
auszugsweisen Besprechung nicht eignet. Erwähnen
möchte ich nur die Ansichten Bernhardte über
den Werth der Elektrotherapie in der Behandlung
der Psychosen. Stets wird sie nur einen und nicht
den hauptsächlichsten Theil der Psychosenbehand¬
lung ausmachen können, wenn auch die Galvanisation
des Kopfes, Rückenmarks und Sympathicus einzelne
Symptome: Unruhe, Kopfschmerz, Schlaflosigkeit, eben¬
so günstig beeinflussen kann, wie manche Neurosen, die
allerdings ja auch meist in innigster Verwandtschaft
mit dem Reiche der Psychosen stehen. Auch werden
der starken Reizung der Hautnerven durch den fara-
dischen Pinsel günstige Erfolge bei manchen Depres¬
sionszuständen nachgerühmt und bei der Tabopara-
lvse kann die Galvanisation des Kopfes, Rücken¬
markes und Sympathicus ähnlich vortheilhaft wirken,
wie bei der Behandlung der Tabes überhaupt. Auch
die Hebung des oft so schwer damiederliegenden
Kräftezustandes kann — wenn es sich nicht um sehr
aufgeregte oder schwer melancholische oder schon
seit langer Zeit paranoische Kranke handelt —
durch die allgemeine Faradisation im faradischen
Bade herbeigeführt werden. Zu warnen ist natürlich
vor der elektrischen Behandlung, von unter dem Ein¬
flüsse von Verfolgungsideen stehenden Paranoischen,
w*eil sie diese Therapie nur zu gerne zum weiteren
Ausbau ihrer Wahnideen verwerthen. Von vorsich¬
tigen Versuchen der galvanischen (Anoden-) Behand¬
lung bei Gehörs- und Gesichtshallucinanten verspricht
sich Bernhardt in manchen Fällen wenigstens einen
zeitweiligen Erfolg.
(Schluss folgt.)
-
Original fram
HARVARD UNIVERSUM
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 17.
15-2
Nachtrag zum Artikel über die Dauemachtwache in No. 15.
yiifolge eines an mich ergangenen Wunsches be-
richte ich über die seit Januar 1901 inDzie-
kanka eingeführte Dauerwache noch Folgendes:
Die Nachtwache dauert 4 Wochen. Es wachen
im Wachsaal der Aufnahmestation 2 Pfleger, im
Wachsaal für Unruhige ebenfalls 2, im Wachsaai für
Sieche 1 Pfleger. Das Gleiche auf der Frauenstation.
Also 5 Pfleger bei einem Bestand von zur Zeit 399
kranken Männern und 5 Pflegerinnen bei zur Zeit
390 weiblichen Kranken. Das Pflegerverhältniss ist
auf 1 : 8 festgesetzt. Die Wache dauert im Sommer
von 9—5, im Winter von 9—6 Uhr. Auf jeder
Station führt die Wache ein Berichtbuch. Der
Wache wurde auf einem der offenen ruhigen Häuser
ein besonderes Zimmer eingeräumt, wo sie unge¬
stört schlafen kann. Daselbst sind auch entsprechend
viele Kleiderschränke, ein giösserer Tisch, Schreib¬
material, Bücher aus der Bibliothek u. s. w. Das
Mittagessen kann von der Wache entweder um 12
Uhr mit den Anderen oder zu einer beliebigen Zeit
zwischen 12 und 3 Uhr eingenommen werden. Der
Tag ist für das Wachpersonal vollkommen dienstfrei.
Es wird zu keinerlei Arbeit herangezogen und kann
nach Belieben aus der Anstalt aus- und eingehen.
Missstände (Trunkenheit, Zuspätkommen p. p.) haben
sich hieraus nicht ergeben. Die freie Zeit wird meist
zu Spaziergängen oder zu Besorgungen in der Stadt
benutzt. Die verheiratheten Pfleger sind in ihrer
Familie, arbeiten auf ihrem Grundstück und dergl.
Das Pflegepersonal kommt der Reihe nach zum
Wachdienst heran. In der Regel wird ein älterer
erfahrener Pfleger und ein jüngerer zusammenge¬
nommen. Auf der Sieehenstation wacht stets ein
älterer umsichtiger Pfleger. Nach Ausweis der Listen
hat es sich bisher ergeben, dass jeder Pfleger etwa
alle 8 A — 1 Jahr zur Wache kommt.
Die Einführung der neuen Wachart wurde auf
der Männer- wie auf der Frauenseite mit Freuden
begrüsst und hat sich auch stets grosser Beliebtheit
bei dem Personal erfreut. Ein Ausfall an Personal
am Tage hat sich nicht fühlbar gemacht. Es gehen
täglich 8—9 Pfleger zur Aussenarbeit mit 80—90
Kranken und im Sommer 4—5 Pflegerinnen mit
30—40 Kranken. (Gut, Gärtnerei, Hof.)
Die Vorzüge der Wache traten zu Tage in der
Möglichkeit Schlafmittel und Isolirungen noch mehr
zu reduciren, die Zahl der Unreinen erheblich herab¬
zusetzen.
Nachlässigkeit in Bezug auf die Wachuhr, Ver¬
gessen, Einschlafen p. p. kam ganz ausserordentlich
selten vor. Fast stets genügte gegebenen Falls eine
Ermahnung. Im Wiederholungsfall werden Geld¬
strafen durch die Direktion verhängt (50 Pf. bis 5 Mk.)
Es war dies höchstens 3—4 mal in 3V2 Jahren
nöthig. Zu bemerken ist, dass hier das Personal
wohl mit durch das Femsein von Fabriken, beson¬
ders auf der Männerseite ein gutes und stabiles ist,
18 Pfleger sind ausserdem verheirathet. 9 davon
wohnen in den Pflegerhäusem, 9 in der Stadt.
Dziekanka, 7. Juli 1904. Dr. Wickel.
M i t t h e i
Budapest. Die III. Landeskonferenz der unga¬
rischen Irrenärzte wird, wie das unter dem Präsidium
des Hofrathes Otto Schwartzer de Babarcz ste¬
hende Organisationskomite der Konferenz mittheilt,
am 23. und 24. Oktober in Budapest stattfinden. An¬
meldungen für Vorträge werden vom Chefarzt Dr. Ladis¬
laus Epstein (Budapest, I.) bis 15. August ent¬
gegengenommen. Die Mitgliedstaxe für die Konferenz
beträgt 5 Kronen.
— Erlass vom 14. Mai 1904, betreffend Be¬
handlung geisteskranker Personen in Anstalten
mit mehreren Verpflegungsklassen.
Für den Fall, dass in Provinzialanstalten*) für Geistes-
*) Anm. d. Red. Es ist nöthig, die nachfolgende Vor¬
schrift auch in Privatanstalten, besonders den Anstalten der
„laueren Misrio^“ zur Wirkung zu bringen.
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1 u n g e n.
kranke Personen, welche in die erste oder zweite Klasse
aufgenommen sind, vorübergehend — wenn auch
unter Aufrechterhaltung der Verpflegung — wegen
Unruhe auf Abtheilungen für Kranke sogenannter
dritter oder vierter Klasse behandelt werden müssen,
empfiehlt es sich, alsbald den Angehörigen oder dem
gesetzlichen Vertreter hiervon Mittneilung zu machen.
An einzelnen Stellen wird schon bei der Aufnahme
eines Kranken in eine höhere Verpflegungsklasse der
Vorbehalt einer Versetzung auf eine für Kranke mit
geringerem Verpflegungssätze bestimmte Abtheilung
für den Fall besonderer Erregung oder sehr störenden
Verhaltens des Kranken gemacht.
Ew. Excellenz ersuchen wir hiernach ergebenst,
die Provinzial Verwaltung der dortigen Provinz, soweit
sie Anstalten mit mehreren Verpflegungsklassen unter-
Origiral from
HARVARD UNIVERSUM
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
904.]
153
hält, auf die Zweckmässigkeit solcher Anordnungen
zur Vermeidung von Beschwerden hinzuweisen.
Berlin, den 14. Mai 1904.
Der Minister d. geistlichen, Der Minister des Innern.
Unterrichts und Medizinal- ln Vertretung
Angelegenheiten. von Bischoffshausen.
Im Aufträge: Förster.
An die Herren Oberpräsidenten.
M. d. g. A. M. 6329.
M. d. I. II a 4237.}
— Erlass vom 20. Mai 1904, betreffend die
Entlassung verbrecherischer Personen aus den
öffentlichen Irrenanstalten.
In dem Erlasse vom 15. Juni — 1901 M. d. g.
A. M. 6368. M. d, J. II a 9209II — ist bestimmt,
dass geisteskranke auf Grund des § 51 des Straf¬
gesetzbuches oder des § 203 der Strafprocessordnung
ausser Verfolgung gesetzte Personen, welche polizeilicher-
seits öffentlichen Anstalten für Geisteskranke über¬
wiesen worden sind, sofern ihnen ein Verbrechen oder
ein nicht ganz geringfügiges Vergehen zur Last gelegt
ist, nicht entlassen werden sollen, bevor dem Land¬
rath, in Stadtkreisen der Ortspolizeibehörde des künfti¬
gen Aufenthaltsorts Gelegenheit zur Aeusserung ge¬
geben ist.
Zugleich ist weiter angeordnet, dass die Leiter
der Anstalten über die beabsichtigte Entlassung erst
nach Eingang dieser Aeusserung, oder nach Ablauf
einer Frist von drei Wochen seit deren Benach¬
richtigung Entscheidung treffen können. Im Anschluss
hieran bestimmt sodann der Erlass vom 16. Dezember
1901 — M. d. g. A. M. 8224, M. d. J. IIa 8708
—, dass in Fällen von besonderer Wichtigkeit und
Schwierigkeit von der Polizeibehörde vor Abgabe
ihrer Aeusserung die Entscheidung des Regierungs¬
präsidenten nachzusuchen ist.
Wir bestimmen hiermit, dass fortan in gleicher
Weise alle Fälle der vorgedachten Art zu behandeln sind,
in denen ein richterliches Urtheil über die Täterschaft
eines Angeschuldigten, welcher erhebliche Vorstrafen
nicht erlitten hat, nicht vorliegt, weil der § 51 des
Strafgesetzbuches oder der § 203 der Strafprocess¬
ordnung zur Anwendung gekommen ist.
Berlin, den 20. Mai 1904.
Der Minister d. geistlichen, Der Minister des Innern.
Unterrichts- u. Medicinal- 1 ™ Aufträge.
Angelegenheiten. v - Kitzm «-
Im Aufträge: Förster.
An die Herren Oberpräsidenten.
M. d. g. A. M. 9696.
M. d. Inn. II a 4450.
— XXIX. Wanderversammlung der süd¬
westdeutschen Neurologen und Irrenärzte am
28. und 29. Mai 1904 in Baden-Baden. (Referent
Dr. K ra u s s - Kennenburg.) (Fortsetzung.)
Nachmittagssitzung. Vorsitzender: Hofrath Pro¬
fessor Dr. Fürstner.
7. Referat von Professor Dr. Gerhardt-Erlangen:
Die diagnostische und therapeutische Be¬
deutung der Lumbalpunktion.
Digitized by Go de
Vortr. giebt einen Ueberblick über die diagno¬
stische Bedeutung der einzelnen in Betracht kom¬
menden Momente (Drucksteigerung, Trübung, Blut¬
gehalt, ehern, und bakteriolog. Untersuchung des
Liquors) und bespricht eingehender die modernen
cytologischen Untersuchungen, namentlich deren
Uebertragung auf die chronischen Fälle.
Ihren grössten diagnostischen Werth hat die
Lumbalpunktion immer noch bei der Frage nach
dem Bestehen einer Meningitis und nach deren
Aetiologie (Tuberkulose, epidemische, eitrig-metasta¬
tische Form); diagnostische und prognostische Be¬
deutung hat sie des öfteren bei Typhus, Pneumonie
etc. mit schweren Hirnsymptomen und bei operativ
zugänglichem Hirnabscess'(Frage, ob daneben Menin¬
gitis besteht).
Ferner ist die Lumbalpunktion von diagnostischem
Nutzen bei Unterscheidung der Himlues von anderen
Hirn- und Rückenmarksleiden (mit Ausnahme der
Tabes) und bei der Unterscheidung der Paralyse von
anderen Psychosen.
Therapeutischen Erfolg verspricht die Lumbal¬
punktion am ehesten bei acuten und subacuten Fällen
seröser Meningitis und bei den hartnäckigen Kopf¬
schmerzen der Spätlues; geringer ist die Aussicht auf
Erfolg bei angeborenem und erworbenem chronischen
Hydrocephalus, noch geringer bei eitriger oder tuber¬
kulöser Meningitis und am geringsten bei Hirntumoren.
Die Gefahren der Lumbalpunktion scheinen, trotz¬
dem Ref. 26 Todesfälle aus der Litteratur sammeln
konnte, gering, wenn man die Flüssigkeit recht lang¬
sam abfliessen lässt und nur wenige Cubikcentimeter
entnimmt, und wenn man womöglich vermeidet,
Fälle von Hirntumor zu punktiren. Kopfweh,
Schwindel und Aehnliches werden sich allerdings
auch bei so vorsichtigem Vorgehen nicht sicher aus-
schliessen lassen. (Autoreferat.)
Discussion:
Erb: Beweist die Bedeutung der Lumbalpunktion
bei Fällen zweifelhafter syphilitischer Aetiologie an
mehreren Beispielen.
Schultze sah Erfolg bei zwei Fällen von menin-
gitischen Processen.
Hoche verweist auf eine demnächst aus der
Freiburger Klinik erscheinende Arbeit.
Nonne sah Heilung nach traumatischem Hydro¬
cephalus bei wiederholter Punktion, warnt auf Grund
seiner Erfahrungen vor Lumbalpunktion bei Verdacht
auf Hirntumoren; was Schultze bestätigt.
S c h(") nborn berichtet i'iberdie seit seinem vorjähri¬
gen Vortragepunktirten (nahezu 100) Fälle der Heidel¬
berger mediz. Klinik. Bei 25 Tabikern regelmässig posi¬
tive Lymphocytose, mit Ausnahme eines klinisch ganz
unklaren Falles. Bei 15 Meningitiden regelmässige
Lympho- bezw. Leukocytose. Bei 5 Fällen multipler
Sclerose drei positiv. Bei Tetanus träum., Wirbcl-
caries, Hirntumoren, Brown-Sequard, bei allen Neu¬
rosen negativer Ausfall der Probe auf Lymphocytose.
Nebenerscheinungen (Cephalaea, Nausea) traten bei
etwa io°/o der Punktirten auf, erreichten aber nie
hohe-Grade. Auch Redner glaubt, dass diese Er¬
scheinungen auf einer Ernährungsstörung in den
Original from
HARVARD UNIVERSITY
154 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 17.
Meningen, nicht auf einem Nachsickern des Liquor
aus dem Schlitz der Dura (Sicard) beruhen. —
Redner hat ferner einige 20 Fälle von pathologischem
und normalem Liquor kryoskopisch untersucht und
wie der Referent keine constanten (aber häufig hyper¬
toxische) Werthe gefunden; er hält die Kryoskopie
für die Differentialdiagnose im Liquor für ebenso un¬
brauchbar wie die Bestimmung der elektrischen Leit¬
fähigkeit, die Redner bei etwa 15 Fällen prüfte. —
Schliesslich macht er noch auf die Bemerkung Nissl’s
aufmerksam, dass es sich bei den sog. Lymphocyten
des Liquor, die stets ungemein schwer gut fixirbar
sind, gar nicht um Lymphocyten, sondern um Leuko-
cyten handeln könnte. Redner hält diese Frage noch
nicht für spruchreif.
Erb weist auf die Erfolge hin, die Babinsky bei
Menierescher Krankheit hatte.
8. Dr. Rosen fei d-Strassburg: Ueber das
Cholin.
Cholin wurde bis jetzt gefunden von Mott und
Halliburton im Blut und in der Cerebrospinalflüssig-
keit bei Paralytikern und bei verschiedenen orga¬
nischen Erkrankungen des Rückenmarks und peri¬
pherer Nerven.
Gumbrecht zeigte, dass auch in der normalen
Cerebrospinal fl üssigkeit von Thieren und bei körper¬
lich Kranken ohne Affection des Nervensystems ge¬
ringe Mfengen von Cholin zu finden sind, besonders
reichlich fand er es bei Fällen von Meningitis.
Donath wies es in fast allen Fällen von Epilepsie
nach.
Vortr. fand Cholin in reichlicher Menge in 15
Fällen von organischen Erkrankungen des Nerven¬
systems (Tumor, Tabes, Paralyse, Epilepsie, Ence¬
phalitis, multipler Sklerose, Korsakow’scher Psychose,
Apoplexie).
In 3 sicheren Fällen von Hydrocephalus fehlte
das Cholin in der Cereprospinalflüssigkeit oder fand
sich nur in ganz geringen Mengen, die erst beim
längeren Stehen des Alkoholextractes ausfielen.
Im Urin wurde Cholin nur von Gumprecht bei
einem Kaninchen gefunden, welchem die grosse
Menge von 1 g subcutan beigebracht worden war.
In einem Falle von Hirntumor fand der Vortr. reich¬
liche Mengen von Cholin im Urin, wenn mehrere
Liter verarbeitet wurden. Der Fall zeigte bei der
Sektion ein Gliom von enormer Ausdehnung, welches
von den Ventrikel wänden ausgegangen war und fast
die ganze Hemisphäie durchsetzt hatte und die Ven¬
trikel ganz ausfüllte. In der Cerebrospinalflüssigkeit
dieses Falles fand sich ebenfalls viel Cholin.
Die krampferregende Wirkung des Cholins, wenn
es auf die Gehirnrinde gebracht wird (Donath),
konnte der Vortr. bestätigen. Die Schlüsse die
Donath aus derartigen Versuchen auf die Pathogenese
der epileptischen Anfälle macht, sind als zu weit
gehend zurückzu weisen. (Autoreferat.)
(Die Untersuchungen werden an anderer Stelle
ausführlich mitgetheilt werden.)
9. Dr. Tobler-Heidelberg: Beobachtungen
über Lumbalpunktion an Kindern.
Vortragender theilt im Anschluss an das Referat
Digitized by Google
einige Beobachtungen aus dem Material der Heidel¬
berger Kinderklinik (ca. 120 Punktionen) mit. Die
liegende Stellung ist auch bei Kindern der sitzenden
vorzuziehen; Narkose war nicht überall entbehrlich.
Die Lumbalpunktion wird im Kindesalter im All¬
gemeinen gut vertragen, besonders gut von kleinen
Kindern, wo die offene Fontanelle durch ihre Nach¬
giebigkeit die einfachste Möglichkeit des Raumersatzes
für die entnommenen Volumina schafft. Die Liquor¬
mengen, die ohne Gefährdung des Patienten ent¬
nommen werden können, sind umso grösser, je stärker
die Flüssigkeitsvermehrung. Es wurden z. B. bei
Meningitis epidemica rasch nacheinander Mengen bis
zu 100 ccm mit bestem Erfolg entnommen, bei Hydro¬
cephalus bis zu 650 ccm in einer Sitzung ohne nach¬
theilige Folgen.
Andererseits ist Vorsicht angebracht, wo eine
Vermehrung des Liquor von vornherein nicht ange¬
nommen werden kann. In solchen Fällen kamen
auch bei kleinen Mengen unangenehme m e n i n g i -
toide Zustände von mehrtägiger Dauer vor.
Therapeutisch wurden bei manifestem
Hirndruck sehr gute Resultate gesehen. Bei
chronischem, idiopathischem Hydrocephalus
versprechen nur leichte und mittlere Grade bei grosser
Ausdauer eine gewisse Aussicht auf Erfolg. Beachtens-
werth sind die Resultate bei postmeningitisehen
Zuständen. Fälle von schwerster postmeningi-
tischer Idiotie besserten sich im Anschluss an wieder¬
holte Punktionen rasch und sicher. Auch bei einem
Knaben, der vor 7 Jahren Meningitis überstanden
hatte, war eine günstige Beeinflussung der schweren
psychischen Veränderungen unverkennbar. Dabei
blieb der anfänglich hohe Subarachnoideal - Druck
(18 mm Hg) nach den ersten Punktionen dauernd
auf der Norm (5—7 mm Hg). (Autoreferat.)
10. Dr. Gau pp-Heidelberg: Ueber den psy¬
chiatrischen Begriff der Verstimmung.
Vortr. definirt zunächst den Begriff „Stimmung“
(ira Unterschied von „Gefühl“ und „Affect“), erörtert
in Kürze ihre Ursachen, unterscheidet die Stimmung
als einen vorübergehenden seelischen Vorgang von
der „Lebensstimmung“. Dann bespricht er das
Wesen der „Verstimmung“, bei der ebenfalls zwei
Formen zu nennen sind: die acute Verstimmung als
eine zeitlich abgegrenzte Aenderung der Grund¬
stimmung und die dauernde Verstimmung als eine
pathologische Art seelischer Veranlagung. Die acute
Verstimmung kann eine sehr verschiedene klinische
Bedeutung haben: als sekundäre Verstimm¬
ung von normalpsychologischer Grundlage gehört sie
nicht eigentlich zur Psychopathologie (schwere Ge-
müthsverstimmung bei schmerzhaften, somatischen
Leiden etc.); als „psychotische Verstimmung,
zeigt sie krankhafte Entstehungsbedingungen, eine
abnorme Verlaufskurve und eine pathologische Ver¬
selbständigung im psychischen Lebenszusammenhang,
entbehrt jeder psychologischen Begründung; als „psy¬
chopathische Verstimmung“ steht sie in der
Mitte zwischen den beiden anderen Formen: die
psychologische Motivirung ist unzureichend, der Ab¬
lauf der Stimmungsanomalie ein abnormer, vor allem
Original frum
HARVARD UNIVERSITY
!Q04.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
155
die Nachdauer eine pathologische. (Beispiele nament¬
lich bei Degenerierten, Nervösen, Hysterischen etc).
Diepsychopathische Lebensstimmung kennen
wir sowohl als konstitutionelle depressive Verstimmung,
wie auch als chronischhypomanische Stimmung („konsti¬
tutionelle Erregung“ Kraepelin’s „manische Ver¬
stimmung“ Jung’s „sanguinisches Temperament“)
immer als Ausdruck einer degenerativen Veranlagung.
Gaupp erörtert dann ferner noch das Wesen des
krankhaften Stimmungswechsels, die perio¬
dischen Verstimmungen der Epileptiker und
Psychopathen und schliesst mit einem Versuch, die
Pathologie des Stimmungslebens in Anlehnung an
die psychologischen Anschauungen von Lipps
psychologisch zu analysiren. Diese Ausführungen
lassen sich nicht in einem kurzen Referat wiedergeben.
Gaupp formulirt sein Hauptergebniss dahin: Jede
pathologische Verstimmung ist in letzter Linie ein
Vorgang seelischer Dissociation. Die Festigkeit der
„Einheitsbeziehungen“ (Lipps) hat gelitten, das
seelische Erlebniss, das wir Verstimmung nennen, ist
in allen Fällen, mag es körperlich oder psychisch
vermittelt sein, ein Phänomen, das eine Schädigung
des apperzeptiven Zusammenhanges bedeutet. Die
Persönlichkeit besitzt in der Verstimmung nicht mehr
die Macht über ihre psychischen Inhalte; einzelne
Vorgänge haben sich ein Maass psychischer Energie
angeeignet, das die richtige Abschätzung ihrer Be¬
deutung unmöglich macht. (Autoreferat.)
(Der Vortrag wird im Central-Blatt für Nervenh.
u. Psychiatrie mitgethcilt werden.)
11. B. Determan n-St. Blasien: Zur Früh¬
diagnose des tabes dorsalis incipiens.
Determann hat 132 ei gen e Ta besf ä 11 e, von
denen eine grosse Anzahl im allerersten Beginn stand,
auf frühdiagnostische Symptome geprüft; er wird darüber
des genaueren an anderer Stelle berichten.
Die Prüfung der Tabes-Syphilisfrage, welche Deter¬
mann in diagnostischer und therapeutischer Hinsicht
für nothwendig hielt, ergab bei 72% der Fälle sichere
vorausgegangene Lues: bei 1050 anderen männlichen
Nervenkranken (in 5 Jahren) war nur 233 Mal
= 2 1,3 °/o Lues vorausgegangen.
Determann hält die Syphilis für die s c h w e r-
wiegendste Ursache der Tabes und misst bei
syphilitisch gewesenen Personen den übrigen Momen¬
ten, Erkältung, Ueberanstrengung, Trauma etc. etc.
nur die Rolle eines auslösenden Anlasses zu.
Er theilt dann einiges von 14 Krankheitsfällen
mit, die alle w'cit entfernt vom klassischen Bilde der
Tabes sind, die sich aber fast alle zu einer sicheren
Tabes entwickelt haben, entweder unter den Augen
des Arztes oder bei mehrfacher Anwesenheit, oder im
Laufe der Zeit bei weiterer Verfolgung des Schicksals
der Patienten.
Zur Feststellung der allerersten Frühsymptome
der Tabes hat Determann aber auch sein gesammtes
übriges Material durch Studium der Krankengeschichten
und auf Grund eines Fragesc^ em as, das an die meisten
Patienten gesandt war, verw^j^t.
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Das häufigste und früheste Symptom sind die
lanzinirenden Schmerzen, sodann kommen
die Krisen, zumal die rudimentären und atypischen
Formen derselben, wie Neigung zu Magensäure, häufiges
Wasser im Mund Zusammenlaufen, Singultus, Kratzen
im Hals, Neigung zu Husten, Brennen in der Speise¬
röhre, Neigung zu Uebelkeit, Neigung zu lockerem
Stuhlgang, Drang, Kälte- und Wehegefühl im Leib,
starke Neigung zu Blähungen — ferner die herz-
krisenartigen Störu ngen wie Anfälle an heftigem
Herzklopfen, Herzschwäche und Ohnmachtsgefühl,
Hitze - Schmerz - Wehegefühl der Herzgegend. Angina
pectorisartige Beschwerden und dergl. — Auch
Kopfschmerzen, Blutandrang, Schwindel
bilden zuweilen den Beginn des Leidens. Nervöse
Hörstörungen sind im Anfang der Tabes viel
häufiger als es bekannt ist — Unter den Sensi¬
bilitätsstörungen können die Kältehyperästhesie
am Rumpf und das Auftreten kleine r analgischer
Flecke an Unter- oder Oberschenkeln frühdiag¬
nostisch herangezogen werden. Ferner sind leichte
Blasenstörungen im Anfang der Krankheit nicht
selten. — Veränderungen der Sehnenreflexe, Vor¬
stadien des Kniephänomens, auch die Störungen der
Achillessehnenreflexe, die Vorläufer der reflectorischen
Pupillenstarre, die Atrophia nerv, optic., atactische
Symptome rechnet Determann in dem von ihm auf¬
gefassten Sinne der frühzeitigen Erkennung der Tabes
schon zu den Spätsymptomen. — Von grösster
'Wichtigkeit ist jedenfalls Würdigung des Allgemein¬
zu Standes: Abmagerung, fahles blasses Aussehen,
ausgeprägtes körperliches Müdigkeitsgefühl, (Hyperä¬
sthesie der sensiblen Muskelnerven,) neurasthenische
Zustände, Schweissausbrüche etc. Diese Störungen
müssen bei Syphilitikern zu genauester Untersuchung
veranlassen.
Bemerkensw'erth ist auch für die Diagnose das
Schwanken oder Zurückgehen einzelner
Symptome, der Patellarreflexe, der Pupillenstarre,
der Sensibilitätsstörungen. —
Der Beginn des Leidens bald an dieser
bald an jener Stelle erklärt sich aus der schwäche¬
ren Veranlagung oder grösseren Inanspruchnahme
dieses oder jenes Körpertheils. — Alle diese Sätze
w r erden von Determann durch Beispiele belegt.
Es erscheint also nach Determann erforderlich,
eine neue Abgrenzung des klinischen Krank¬
heitsbildes „Tabes dorsalis“ vorzunehmen, da die
formes frustes, die rudimentären, unentwickelten, unge¬
wöhnlichen Formen d. h. die Frühzustände der Tabes
bei genügender Aufmerksamkeit des Arztes fast an
Zahl überwiegen. Zur Frühdiagnose ist es wichtig,
auf die Gruppirung der Anzeichen, auf ihren
multilokularen Sitz zu achten. Die Cytodiag-
nose kann möglicherweise auch zur frühen Erkennung
des Leidens beitragen. (Fortsetzung folgt.)
Berichtigung.
In Nr. 16 ist bei dem Referat über die Berkhan’sche Schrift
irrthümlich Herr Oberarzt Dr. Braune genannt.
Orig mal from
HARVARD UNIVERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
tNr. 17.
156
Das Nährpräparat Hygiama.
(Fortsetzung.,)
Theinhardt’s Kindernahrung und Hygiama, welche
nach den Jodreactionen von den vier Nährmitteln am
reichsten an unveränderter Stärke sind, liefern gerade
die meisten löslichen und die wenigsten unlöslichen
Kohlenhydrate.
Der Grad der Ausnutzbarkeit der Stickstoffsub¬
stanzen in den genannten Präparaten war bei den
ausgeführten directen Verdauungsversuchcn folgender:
gesammte Stick-
ver-
unver-
Stoff- Substanz
daul ich
daulich
Nestle's Kindermehl . 10,72%
9.92 %
0,80%
Kufeke’s Kindermehl 13,15,,
Theinhardt’s Kinder-
12,33 »
0,82 „
•nahrung . . . ^ 16,00 „
15 * 1 / „
0,83 „
Hygiama.22,00,,
19,00,,
ca. 3,00 „ .
Der verhältnissmässig hohe Gehalt des Hygiamas
an unverdaulichem Stickstoff stammt, wie sich auch
bei der Phaseolyse zeigt, grösstentheils aus dem Kakao¬
mehl, das weniger zur Erhöhung des Nährwerths als
zur Verbesserung des Geschmacks dienen soll. Kleien
— (Kleberzellen), Eiweiss und Milcheiweiss lassen
sich bei den inilchartigen Mehlpräparaten kaum rein
tinctoriell unterscheiden, da beide sich bei primärer
wie bei secundärer Färbung und Phaseolyse sehr
ähnlich verhalten. Die Kleieneiweisskörperchen sind
jedoch häufig noch an ihrer Form und dem aller¬
dings oft schwer darstellbaren Kem zu erkennen.
Die von früheren Autoren beobachtete mangelhafte
Ausnutzung der Kleienproteine in den diese ent¬
haltenden Nahrungsmitteln ist wohl wesentlich nur
auf einen ungenügenden Zerkleinerungszustand zurück¬
zuführen, daher ist bei der üblichen feinen Mahlung
der diätetischen Mehlpräparate selbst ein beträchtlicher
Gehalt an Schalenbcstandtheilen. wie er mit einem
höheren Gehalt an genuinem Klebereiweiss nothwendig
verknüpft ist und bei diastasirten Mehlen zum Theil
auch durch den Zusatz von Malzmehl bedingt sein
kann, vom Gesichtspunkte der Eiweissnutzung ziemlich
unbedenklich, wofür ausser dem günstigen Ergebniss
der künstlichen Verdauung die klinischen Erfahrungen
sprechen. —
Indicationen:
Im Hygiama werden sämmtliche Nährstoffe in
vorwiegend leicht löslicher und verdaulicher Form ge¬
boten und die Eiweissstoffe desselben bis zu 85 %
(hingegen die in Cacao-, Chocolade- und Leguminose-
Präparaten bekanntlich nur mit ca. 42 °o) ausgenützt.
Kohlenhydrate, Fett und Nährsalze werden leicht
resorbiert.
Hygiama wird verordnet bei mangelhafter Er¬
nährung, Erschöpfungszuständen, in der Rcconvale-
scenz, bei Anämie, Chlorose, Verdauungsstörungen
nervöser Natur, Darmkrankheiten, bei Magengeschwür,
Magenkrebs, Hyperacidität, Lungen - Schwindsucht,
Rhachitis, bei fieberhaften Erkrankungen, besonders
Typhus und Dysenterie, bei Hyperemesis gravid., zur
Hebung der Lactation; ferner zur Verwendung bei
der künstlichen Ernährung per os oder per rectum
Ausgeschlossen ist es bei Diabetes mellitus.
Auch Kinder bis herab zu 2 Jahren können Hy¬
giama nehmen.
Nährwert des Hygiama - Getränks im Vergleich
mH dem gleichen Quantum einer guten Fleischbrühe
mit zwei Eiern:
Eine 1 U Liter haltende grosse Tasse
Rindfleisch-Bouillon (180 g), mit
zwei Eiern (100 g) nach Prof.
Dr. J. König, Vorstand der che¬
mischen Versuchsstation zu
Münster i. W., enthält:
:j g
Verdauliches Eiweiss . . j 15,27
Fett.i 13,01
Gelöste Kohlenhydrate ^ 7
resp. lösl. Extractstoffe etc. j ,j
Nährsalze.! 2,60
Total an Nährstoffen . 1 37,67
Darr eichuugs weis e:
Gewöhnliche Zubereitungsweise.
Hygiama mit Milch für Erwachsene.
20 g (ca. 3 Kaffeelöffel) Hygiamapulver werden
mit etwas heissem Wasser angerührt, sodann nach
und nach 1 U 1 Milch zugegeben und das Ganze unter
fortwährendem Umrühren ca. 2 Minuten lang gut auf¬
gekocht.
Um das Getränk etwas kräftiger schmeckend zu
machen, mische man zu obigem Quantum Hygiama¬
pulver noch einen Löffel Cacaopulver und etwas
Zucker und verfahre ganz wie oben angegeben.
Für Kinder nehme man die Hälfte Hygiamapulver
bei dem gleichen Quantum Milch.
Ausserdem kann man Hygiama mit anderen
Nahrungsmitteln zusammen in den verschiedensten
Formen gebrauchen lassen, z. B. Hygiama-Bisquits,
Hygiama-Creme, Hygiama-Suppe, Schlagsahne mit
Hygiama, Hygiama-Zwieback, Hygiamaauflauf mit
Macronen u. s. w.
Zubereitung für Nährclvsinen per os oder rectum.
40—50 g Hygiamapulver werden mit etwas heissein
Wasser angerührt, hierauf mit 300 g Milch gut durch¬
gekocht, 3 g Kochsalz zugefügt, eventuell noch 1 Ei
eingequirlt, und da wo indicirt, Alkohol oder Opium-
tinctur zugesetzt, womit, vorübergehend angewendet,
befriedigende Ernährungsresultate erzielt werden.
(Fortsetzung folgt.)
Hygiama -Getränk
aus
20 g Hygiama
und l U 1 Milch
enthält:
g
12,24
11,20
21,48
2^,65
47Ö5
Für dun redactionullun Theil verantwortlich : Oberarzt Dr. J . Bresirr, Lublin itz (Schlesien).
Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inseratenanuahinc 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Hevnemann’sche Buchdruckerei (Gebr. v ':dfT) in Halle a. S
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Original frum
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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift.
Redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Lublinitz (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Tele^r.-Adresse: M a rh o Id V er I a*, Hallesaale. Fernsprecher 2834.
Nr. 18. 30 Juii- 1904.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die 3spaltige Petitseile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermlssigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten.
Aus der Rhein. Pro v.-Heil- und Pflege-Anstalt Grafenberg. Dir.: Sanitätsrath Dr. Peretti.
Ueber Versuche mit Neuronal.
Von Dr. Becker , Assistenzarzt.
r\as von G. Fuchs-Biebrich und E. Schultze-Bonn
auf Grund theoretischer Erwägungen zuerst an
Thieren ausgiebig erprobte Schlafmittel Neuronal
(Bromdiäthylacetamid) ergab auch in der Anwendung
bei gesunden und kranken* Menschen günstige Resul¬
tate.*) A. Siebert-Bonn prüfte es auf seine hypno¬
tische Wirkung an über hundert meist männlichen
Patienten der Bonner Prov.-Heil- und Pflegeanstalt.
Neuronal zeigte sich ihm als ein bei Schlaflosigkeit
und Erregungszuständen Geisteskranker verschiedener
Art, besonders auch der Epileptiker, gut wirkendes
Schlafmittel ohne bedenkliche Nebenwirkungen.**)
An der Anstalt zu Grafenberg wurde es 50 Patienten,
fast ausschliesslich weiblichen, in ca. 300 Einzelgaben
verabreicht. Möglichst jede Form der Schlaflosigkeit
kam zur Behandlung mit Neuronal. Dosen von 0,5
bis 2 g wurden verwendet, darüber hinaus wurde
nicht gegangen. In der Mehrzahl wurde 1 g ge¬
geben. Neuronal wurde hauptsächlich als Pulver ge¬
reicht und in dieser Form wider Erwarten gut von
den Kranken genommen. Sein Geschmack ist nicht
besonders angenehm — etwas modrig mit bitterem
Nachgeschmack — und auch nach einer neuerdings
seitens der herstellenden Fabrik vorgenommenen
Verbesserung ist es nicht gerade als wohlschmeckend
zu bezeichnen. Trotzdem wurde es nur in wenigen
Fällen zurückgewiesen. Die im Verlaufe der Ver¬
suche mit Neuronal erzielten Erfolge waren im Ganzen
recht befriedigende. Bei einfacher Schlaflosigkeit
genügte vielfach schon 0,5 g zur Herbeiführung eines
ruhigen, 6 bis 8 Stunden dauernden Schlafes, der
*) Vortrag von E. Schultze auf der Versammlung des
deutschen Vereins für Psychiatrie in Göttingen. Münchner
med. Wochenschr. 1904, Nr. 25.
**) Vortrag auf der 73. Versammlung des psychiatrischen
Vereins der Rheinprovinz. Nr. i 2 dieser Wcchenschr. 1904.
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nach 20 bis 30 Minuten einzutreten pflegte. Leicht
manische und nicht erheblich erregte paralytische
Patienten sowie infolge nicht allzu lebhafter Sinnes¬
täuschungen an Schlaflosigkeit leidende kamen auf
1 g nach durchschnittlich einer halben Stunde zur
Ruhe. Bei stärkerer Manie machte sich die Dar¬
reichung von 1,5, in einzelnen Fällen von 2 g nöthig,
ohne dass es immer gelang, eine dauernde Nacht¬
ruhe zu erzielen. Einige manisch-depressive Kranke,
deren Psychose besonders schwer verlaufen war,
schliefen im Stadium der höchsten motorischen Er¬
regung auf 2 g nur 3 bis 4 Stunden, andere nur
vereinzelte Stunden oder gar nicht. Bei bedeutenden
paralytischen Aufregungszuständen Hess dagegen Neu¬
ronal niemals im Stich. Unruhe geringeren Grades bei
senil Dementen wurde durch 0,5 bis 1 g leicht, hoch¬
gradige nicht immer auch durch bis zu 2 g gesteigerte
Gaben ausreichend beseitigt. Die letzteren durch bestän¬
diges Wühlen im Bett, zielloses Umherwandern, Be¬
lästigen der anderen Kranken, Reden und Schreien
charakterisirten Fälle verhielten sich allerdings gegen
Paraldehyd und Trional ebenfalls refraktär. Sie finden
sich meiner Erfahrung nach häufiger und intensiver
beim weiblichen als beim männlichen Geschlecht und
trotzen bisweilen jeder Behandlung. Bei hallucinato-
rischer Verwirrtheit, vergesellschaftet mit motorischer
Unruhe, wurde 1 bis 1,5 g Neuronal gebraucht, um
volle Wirkung zu erzielen. Hier kam es verhältniss-
mässig häufig zur Ablehnung des Mittels, wie ja den
unter diese Kategorie fallenden Kranken Nahrung
und Medicamente per os überhaupt schwer beizu¬
bringen sind. Auffallend günstig wirkte Neuronal
bei Erregungszuständen Imbeciller. Schon 0,5 g
brachte Beruhigung und ausgiebigen Schlaf. Kata¬
tonische Patientinnen wmrden ganz verschieden, die
einen recht gut , die anderen nicht ausreichend be-
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
158 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 18.
einflusst. Sogar im Verlauf derselben Erkrankung
bei einer Person trat diese Verschiedenheit zu Tage.
Eine Kranke bot selten starken Bewegungsdrang und
ausgeprägten Selbstbeschädigungstrieb. Sie kam in
der ersten Woche der Anwendung nur ganz vorüber¬
gehend zum Schlafen. Als Neuronal und die übrigen
sich gleichfalls nutzlos zeigenden Schlafmittel ebenso
lange ausgesetzt worden waren, wirkte es bei der
Wiederanwendung ganz ausgezeichnet, obwohl sich
die Krankheitserscheinungen inzwischen nicht ge¬
ändert hatten. Bei Epileptischen konnte Neuronal
mangels geeigneter Patientinnen nur in wenigen Fällen
versucht werden und auch diese waren nicht gerade
sehr unruhig, sondern störten mehr durch Unverträg¬
lichkeit und Sprechen die Nachtruhe der anderen
Kranken. Auf i g Neuronal schliefen sie gut und
zeigten sich am nächsten Tage besser gestimmt.
Eine durch Aerger. psychisch afficirte und deshalb
schlaflose hysterische Patientin erbrach das Mittel
sofort wieder. Ausserdem wurde nur noch einmal
Erbrechen nach Neuronal beobachtet. Es handelte
sich beidemale um Kranke mit auch sonst für
Arzneien sehr empfindlichem Magen. Weitere Stör¬
ungen im Bereich der Verdauungsorgane oder des
Gefässsystems zeigten sich nicht. Ebensowenig wurden
Hautausschläge gesehen. Eine cumulirende Wirkung
konnte nicht constatirt werden , wohl aber schien in
einigen Fällen eine gewisse Gewöhnung Platz zu
greifen. Es bedurfte dann, um denselben Effekt zu
erzielen, einer Steigerung der Dosis. Mehrmals wurde
den gleichen Patientinnen eine ganze Reihe von
Abenden hintereinander 2 g verabreicht, ohne dass
wie beim Trional und Veronal Erschwerung der
Sprache, Benommenheit und unsicherer Gang auf¬
traten. Sämmtliche Kranke, die im Stande waren,
sich zuverlässig über die Wirkung des Schlafmittels
zu äussem, fühlten sich am nächsten Morgen frisch
und munter. Die Uebrigen Hessen objektiv keine
Veränderung gegen sonst in ihrem Befinden erkennen.
Es fehlten also üble Nach- und Nebenwirkungen
vollkommen. Schliesslich wurde Neuronal noch 2
geistesgesunden Pflegerinnen gegeben, die wegen
Schmerzen (Menstruationsbeschwerden, Rücken-
schmerzen bei Chlorose) nicht schlafen konnten.
Bei beiden zeigte sich Neuronal, wie in ähnlichen Fällen
Veronal, nicht genügend wirksam. Sie schliefen nur
3 bis 4 Stunden und selbst während dieser Zeit
nicht fest.
Neuronal hat sich bei unseren Versuchen als ein
recht brauchbares und durchaus unschädliches Schlaf¬
mittel erwiesen. Wie jedes andere Hypnoticum ver¬
sagt es gelegentlich oder zeigt sich wenigstens nicht
als ausreichend schlafbringend bei sehr starken, im
Verlauf der senilen Demenz, der Katatonie und des
manisch-depressiven Irreseins vorkommenden Erreg¬
ungszuständen. Möglicherweise wäre aber auch in
den genannten Fällen bei weiterer Steigerung der
Einzelgabe noch ein Erfolg zu erzielen gewesen. Be¬
denken dagegen liegen ja bei der Ungefährlichkeit
des Mittels nicht vor. Um eine dem Trional und
Veronal gleiche Wirkung zu entfalten, muss es zwar
in etwas höherer Dosis als sie gegeben werden, da¬
für fehlen ihm aber auch die jenen eigenen un¬
erwünschten und bei längerer Anwendung nicht un¬
gefährlichen Nebenerscheinungen.
Die physikalische Therapie bei Geistes- und Nervenkrankheiten.*)
Von Oberarzt Dr. Mönkemoller , Osnabrück.
(Schluss.;
Die Lichtth erapie (Historisches: Marcuse,
Physiologisches und Technisches: Rieder) hat auch
ihr Analogon in den frühesten Jahrhunderten; so
fand das Sonnenbad einen hervorragenden Gebrauch
bei Lähmungen und Ischias (Celsus), bei Hypochon¬
drie, Hysterie und sogar bei Epilepsie. Carus will
sich durch Sonnenbäder von hypochondrischer Ge-
müthsstimmung geheilt haben. Und nach dem 1V2
Tausend Jahre langem Schlafe, in dem die Licht¬
therapie geschlummert hat, kam das Sonnenbad auch
*) Nach Goldscheider und Jacob’s Handbuch der pysik.
Therapie.
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sofort wieder bei Erkrankungen des peripheren Ner¬
vensystems zu Ehren. Am bedeutungsvollsten ist
hierbei wohl die Einwirkung auf die Psyche. An
sonnenhellen Tagen ist — besonders hei sensitiven
Personen — das Gemiith heiter gestimmt, die Arbeits¬
freudigkeit, Energie und Lebenslust gesteigert, die
Bewegungen sind lebhafter als bei trübem Wetter,
während man bei Polarreisenden während der Polar¬
nacht nicht selten Gemüthsdepression und geistige
Abspannung beobachtet. Man denke nur an die
Psychosen der nach Kataractoperation sich im Dunkel¬
zimmer Befindenden. Rieder nimmt sogar an, dass
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
IQ04-J
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
*59
durch die Haut dem Ccntralnervensystem Lichtreize
übertragen werden.
So geht die neue systematische Therapie mit den
Sonnenbädern gegen Hypochondrie und Neu¬
ral gi een, besonders Ischias vor. Das Luftsonnen¬
bad dient zur Abhärtung und Kräftigung des ge-
sammten Nervensystems, die elektrischen Lichtbäder
greifen gleichfalls die Neuralgieen an.
Die Chromotherapie, die von dem alten
Grundsätze ausgeht, dass die einzelnen Farben be¬
sonderen Gemüthsstimmungen entsprechen, hat bei
Geisteskranken rothe, blaue und violette Belichtung ver¬
sucht und man will bei Melancholikern gute Wirkung
von rothen, bei Maniakalischen von blauen und
violetten Strahlen gesehen haben. Gestützt auf diese
Beobachtungen macht man denn auch in englischen,
italienischen und russischen Irrenanstalten schon seit
längerer Zeit von den Wirkungen des farbigen Lichtes
Gebrauch.
Während im ersten Theile des Buches die Ver¬
treter der einzelnen Methoden zu Worte gekommen
sind, werden im zweiten Theile die verschiedenen
Krankheitsgebiete in ihren Beziehungen zu den physi¬
kalischen Heilmethoden besprochen. Diese Theilung
des Stoffes hat, obgleich sich ja manche Wieder¬
holungen nicht vermeiden lassen, ihre unleugbaren
grossen Vortheile. Nicht nur, dass sie für jede ein¬
zelne Disciplin den Stoff zusammenfasst und ordnet.
Aber es ist wohl kaum zu leugnen, dass die Ver¬
fechter der einzelnen Methoden geneigt sein werden,
für ihre eigene Spccialdisciplin in verständlicher
Schwärmerei zu erglühen und den Kreis ihrer Indi¬
kationen etwas weit zu ziehen. Dieser Optimismus
wird aber durch die Erfahrungen der Specialisten
wieder gut gemacht und die Applikation der zahl¬
reichen Methoden auf das Maass zurückgedrängt,
das ihm nach den nüchternen Erfahrungen zukommt.
Im ersten Bande interessirt uns im Wesentlichen
nur die Behandlung des Morbus Basedowii (Eich¬
horst). Da man hier von der medikamentösen und
chirurgischen Behandlung keine ein wandsfreien Re¬
sultate gesehen hat, hat man zu fast sämmtlichen
physikalischen Methoden seine Zuflucht genommen,
Seebäder, Höhenaufenthalt, Badekuren, Hydrotherapie,
Mechanotherapie, Elektrotherapie werden in gleichem
Maasse herangezogen — leider scheint bei dieser
Vielseitigkeit der Therapie die alte Erfahrung zu
gelten, dass, je zahlreicher die Heilmittel, desto
weniger sicher die Aussichten auf endgültigen Erfolg
sind.
In welchem Umfange di e Krankheiten der peri-
Digitized by Go ^ »sie
phereil Nerven und des Centralnervensystems an den
Erfolgen der physikalischen Heilmethoden participiren,
beweist der stattliche Umfang des Kapitels, das jenen
im zweiten Bande gewidmet ist. Es kann hier natür¬
lich nur in den allergröbsten Zügen auf die einzelnen
Krankheiten eingegangen werden, welche die Haupt¬
klientel für diese Therapie darstellen. In erster Linie
ist es die Neuritis (Goldscheider), bei der die phy¬
sikalische Therapie ihre Triumphe feiert. Zunächst
vorsichtige Berücksichtigung der Schmerzhaftigkeit
durch die verschiedensten Applikationen, Verhütung
späterer Contracturen durch zweckmässige Lagerung,
die diaphoretische Behandlung mittelst des Bettschwitz¬
apparates, die elektrische Einwirkung auf Paresen
der Schling- und Athmungsmuskulatur, trockene
Wärme und feuchtwarme Einpackungen treten in den
ersten Stadien in Thätigkeit. Systematisch angewandte
Bäder, in denen Bewegungsübungen vorgenommen
werden (die übrigens auch im Bette unter Benutzung
geeigneter Aequilibtirungsapparate fortgesetzt werden
können), eine concentrirtere elektrische Behandlung,
die Verhütung der Deformitäten durch die verschie¬
densten Apparate stellen die Thätigkeit der Therapie
auf dem Höhepunkt der Krankheit dar und im Sta¬
dium der Regeneration werden durch kinetotherapeu-
tische Bäder, durch eine vielseitige Uebungsbehand-
lung, durch noch intensivere elektrotherapeutische
Eingriffe, durch die Massage, durch passive Beweg¬
ungen , durch hydriatische Proceduren die
erloschenen Functionen wieder hcrgestellt. Gerade
bei der Neuritis fallen die grossen Fortschritte, die
wir auf diesem Gebiete zu verzeichnen haben, die
minutiöse Ausbildung der Technik, die durchdachte
Berücksichtigung der einzelnen Krankheitssymptome
am deutlichsten ins Auge.
In ähnlichem Maasse zeigt sich das bei der Be¬
handlung der Mononeuritis und der periphe¬
rischen Lähmungen, doch ist hier die Behand¬
lung wieder so specialisirt, dass wir den Einzelleist¬
ungen nicht gerecht werden können.
Von den iso,l irten M us kelk rämpfen (Frankl-
Hochwart) sind im Wesentlichen die Ticformen
bei Neurosen Gegenstand der physikalischen Be¬
handlung geworden. Auch hier tritt das ganze Rüst¬
zeug der verschiedensten physikalischen Methoden
in Thätigkeit, wenn auch wiederum die Erfolge nicht
immer ganz der Menge und Vielseitigkeit der ange¬
wandten Mittel entsprechen, während die Neural¬
gieen (derselbe) weit mehr diesen Einflüssen zu¬
gänglich sind. Doch hängt hier die Indikationsstell¬
ung ganz ausserordentlich von der Richtigkeit der
Diagnose ab, und so variirt die Anwendung der ver-
Üriginal from
HARVARD UN1VERSITY
i6o
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 18
schiedenen Mittel derart, dass wieder auf das Werk
selbst verwiesen werden muss.
Weit sicherer und unbestrittener sind die Erfolge,
die den Rückenmarkskrankheiten durch die
Ausbildung der physikalischen Heilmethoden zuge¬
flossen sind (Jacob). Die Unheilbarkeit der meisten
Krankheitsprocesse, der chronische Verlauf und der
gute Allgemeinzustand gestatten hier, zeitraubende
und anstrengende Kurmethoden zur Anwendung zu
bringen. In erster Linie hat man den Kampf gegen
die Störungen der Motilität aufgenommen, denen der
Arzt früher machtlos gegenüberstand. So feiert jetzt
bei den mit Koordikationsstörungen verbundenen
Rückenmarkskrankheiten, insbesondere bei der Tabes,
die kompensatorische Uebungstherapie früher unge¬
ahnte Erfolge, bei der nur schwere Komplikationen,
psychische Erschöpfungszustände und die Neurasthenie
Gegenindikationen bilden und die allerdings eine
intensive Mitwirkung des Arztes verlangen. Schon
durch ihre genaue Systematisirung zeigen sie, wie
nöthig das ist, um so mehr, als sie sich häufig mit
der orthopädischen Massage und der allgemeinen
gymnastischen Behandlung der Tabes verbinden muss
und je nach den Umständen auch die Balneotherapie,
und Thalassotherapie in Anspruch nehmen. Die früher
so. allmächtige elektrotherapeutische Behandlung da¬
gegen hat sich bescheiden in den Hintergrund zurück¬
ziehen müssen.
Der unheilvolle Nihilismus, der Jahrzehnte lang
den chronischen Rückenmarkskrankheiten gegenüber
herrschte und die Kranken hilflos den qualvollsten
Folgezuständen überliess, ist jetzt durch die thera¬
peutischen Heilfactoren geschlagen. Kann auch nicht
geheilt werden, so lassen sich lange Jahre hindurch
ihre Verschlimmerung und viele Complikationen ver¬
hindern. Zur Verhütung von Decubitus und Blasen¬
leiden wirkt neben der allgemeinen Prophylaxe eine
ausgedehnte Bäderbehandlung durch Krankenhebe¬
apparate, eine wechselnde Lagerung im Bette hält
den Decubitus und in Verbindung mit der Massage
der Blasengegend die drohende Cystitis fern. Bei
spastischen und schlaffen Lähmungen wird der Patient
unterrichtet, seine Willensimpulse in die gelähmten
Muskeln zu schicken, die nicht betroffenen Muskel¬
gebiete werden thunlichst geübt und nach Eintritt
der Lähmung Kontraktionszustände vermieden oder
auf ein Mindestmaass herabgesetzt. Die dazu nöthigen
in Betracht kommenden Methoden sind schon er¬
wähnt Gerade für diese Krankheiten haben sie eine
ganz erstaunliche und erfolgreiche Vielseitigkeit erlangt,
obgleich Jacob andererseits mit vollem Rechte vor
planloser Polypragmasie warnt. Warm empfehlend
□ igitized by Google
weist er dagegen auf die Leistungen der orthopädischen
Behandlung hin, deren Erfolge noch viel zu wenig
bekannt sind, während das Suspensionsverfahren —
bei Tabes und Compression des Rückenmarkes durch
Wirbelkaries — sich immer mehr Bahn gebrochen
hat. Die schon früher allgemein angewandte Massage
hat sich in der Behandlung der Obstipation und der
Blasenlähmung neue Gebiete erkämpft.
Die physikalische Therapie der Gehirnkrank¬
heiten (Jolly) soll in erster Linie Cirkulationsstör-
ungen in der Schädelhöhle nach Möglichkeit aus-
gleichen und die Aenderungen des Druckes, der
Menge und Vertheilung der Cerebrospinalflüssigkeit
beseitigen, weiterhin Schmerzen lindem, motorische
Reizerscheinungen beseitigen und Lähmungen und
Kontrakturen heilen oder doch wenigstens bessern.
Während die Behandlung der Gehimanämie und
-hyperämie die Waffen der modernen physikalischen
Therapie verhältnissmässig wenig in Anspruch nimmt,
ist bei der Behandlung der Meningitis der Lum¬
balpunktion neben den alten Methoden ein, wenn
auch nur beschränkter, therapeutischer Werth zuzu¬
erkennen, die auch bei Gehirntumoren in Verbind¬
ung mit der Punktion der Seitenventrikel ihre Vor¬
theile hat. Auch die Behandlung der zurückbleiben¬
den Heerderscheinungen nimmt keine besonderen
Gesichtspunkte für sich in Anspruch, Jolly warnt nur
vor der centralen Galvanisation, die nicht ungefähr¬
lich und nicht sicherer im Erfolge als die periphere
Behandlung sei.
Einen ganz wesentlichen Fortschritt gegen früher
stellt dagegen die physikalische Behandlung der
Aphasie dar (Goldscheider), der man früher ver¬
hältnissmässig sehr passiv gegenüberstand. Was ge¬
schehen kann, um den Verlust der sensorischen Er¬
innerungsbilder und des motorischen Koordinations¬
vermögens zu decken, fällt wieder im Wesentlichen
in das Gebiet der Uebungstherapie und hat eine
derartige Durchbildung erfahren, dass sie eine thera¬
peutische Gruppe für sich allein bildet, die an die
Geduld des Arztes nicht minder, wie an die des
Kranken, grosse Anforderungen stellt und auch nur
für eine verhältnissmässig geringe Zahl von Fällen
günstige Resultate zeitigt.
Der Leistungen der physikalischen Therapie bei
der N eurastheni e und Hysterie (Determann)
ist schon mehrfach gedacht worden, obgleich hier die
specifische Wirkung der einzelnen Behandlungsarten
sehr schwer abzugrenzen ist, und vor allem die sug¬
gestive Einwirkung des Arztes oft in ausschlag¬
gebendstem Maasse zur Geltung kommt. In aller¬
erster Linie ist die psychische und somatische Ab-
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1904.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 161
härtung in Frage zu ziehen, die sich die verschieden¬
sten physikalischen Methoden zum Ziele gesetzt haben.
Auch bei den ausgebildeten Formen der Neurasthenie,
mag sie nun mit übermässiger Reizempfänglichkeit
oder unter dem Bilde der gesteigerten allgemeinen
Schwäche einhergehen, bietet stets einen so wechseln¬
den Symptomen komplex dar, dass nur die sorgfältigste
Prüfung durch den Arzt entscheiden kann, welcher
von den vielen Methoden der Vorzug einzuräumen
ist und stets auch eine intensive Berücksichtigung der
gesammten Constitution und sonstiger Krankheits¬
symptome voraussetzen.
Aehnlich steht es mit der Hysterie, die eine
genaue Kenntniss der einzelnen Symptome und eine
nicht minder gründliche der zahlreichen Mittel ver¬
langt.
Obgleich noch nie die Epilepsie (Strasser)
durch physikalische Methoden geheilt worden ist,
obgleich vor allem auch der Anfall nie durch physi¬
kalische speciell hydriatrische Proceduren coupirt
werden konnte, lässt sich doch durch mancherlei
Applikationen (z. B. durch die Kühlhaube) die In¬
tensität der Anfälle herabdrücken und die Reflex¬
erregbarkeit mindern. Trotzdem soll sie nie ohne
gleichzeitige BromanWendung in Thätigkeit treten, die
dann durch jene in ihren schädlichen Nebenwirk¬
ungen behindert werden kann. Vor allem setzt die
Bäderbehandlung in der Zwischenzeit die allgemeine
psychische und geistige Depression herab. Die
schweren Erscheinungen des Bromismus lassen sich
durch eine vorsichtig geübte hydr. Therapie verhüten,
und wenn vorhanden, erfolgreich bekämpfen. Auch
manche sonstige störende Symptome sind der hydria-
trischen Behandlung zugänglich.
Bei der Chorea (Hoffa) hebt die Massage das
Allgemeinbefinden und das Körpergewicht. Die hef¬
tigen Bewegungen nehmen ab und die Extremitäten
werden warm. Nachdem durch passive und später
aktive Bewegungen bei akuten Fällen die Bewegungs¬
fähigkeit wieder hergestellt ist, erzieht die kompen¬
satorische Uebungstherapie den Kranken zur mög¬
lichsten Beherrschung der Mitbew'egungen. Einer ge¬
sonderten gymnastischen Behandlung unterliegen die
choreatischen Sprachstörungen, eine regelmässige
Athemgymnastik geht damit Iland in Hand und
nicht minder die Schulung der Stimmbandfunction.
Während die elektrische Behandlung versagt, erzielt
die Immobilisation der Glieder in manchen Fällen
sehr gute Erfolge. Auch vorsichtige Schwitzkuren
sollen manchmal sehr wirksam sein, während die
hydrotherapeutischen Methoden zwar keine speei-
fischen Wirkungen entfalten, aber das Allgemeinbe¬
finden günstig beeinflussen. Bei der Athetose ge¬
währleistet eine für längere Zeit systematisch geleitete
lokale aktive Gymnastik nach Art der Frenkerschen
Uebungstherapie die besten Wirkungen, bei denen
eine ganze Reihe von Apparaten zur Behandlung
mit herangezogen werden kann. Ist die Runipf-
muskulatur unter lähmungsartigen Erscheinungen da¬
von befallen, so treten besondere Stützapparate in
Thätigkeit.
Die Bekämpfung der Migräne (Laquer), beson¬
ders wenn sie erblich ist, setzt -schon in frühester
Jugend mit den verschiedensten physikalischen Maass¬
nahmen prophylaktisch ein. Bricht die Krankheit
trotzdem aus, so stehen dem Arzte im Kampfe gegen
den einzelnen Anfall die Massage, die Priessnitz-
schen Umschläge, ableitende Fuss- und Handbäder
und die Glühlichtbehandlung zu Gebote. Besonders
günstig wirken manchmal die Kopf- und Halsgalvani¬
sation und die Behandlung mit der faradischen Hand.
Tritt der Status hemicranicus ein, dann feiert die Be¬
handlung in Höhen- und Seeluft und die in Stahl-
und Thermalbädern ihre höchsten Triumphe.
Die Beschäftigungsneurosen (Laquer) er¬
fordern neben einer Allgemeinbehandlung wieder eine
so specielle und individuelle Berücksichtigung, dass auf
eine nähere Schilderung verzichtet werden muss.
Bedenkt man, wie weit die Ausgestaltung der
physikalischen Heilmethoden schon gediehen ist, ob¬
gleich ihre wissenschaftliche Begründung und Durch¬
bildung verhältnissmässig noch sehr jungen Datums
ist, so sind wir sicher berechtigt, für die Zukunft noch
eine weitere glückliche und erfolgreiche Ausbildung
zu erwarten. Und ebenso sicher dürfen wir hoffen,
dass die Nervenkrankheiten an dieser Ausbildung
stetig theilnehmen werden und dass auch die Psy¬
chosen sich einen weiteren Platz darin erkämpfen
werden.
Mittheilungen.
— Verein für Psychiatrie und Neurologie
in Wien. Sitzung vom IO Juni 1904.
Dr. Robert Rosen^aJ berichtet über se * ne
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Gen gle
gemeinsam mit Dr. A. Fuchs vorgenommenen
Untersuchungen dei Cerebrospinalflüssigkeit 11. z. über
den cytologischen Theil dieser Untersuchungen. Er
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l62
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 18.
fand Vermehrung der Lymphocyten ira Frühstadium
der Lues, bei schweren Eruptionsformen und menin-
gealen Reizerscheinungen; bei alter abgelaufener Lues
fehlt dieselbe. Reichliche Lymphocytose ist ein
Frühsymptom der Tabes und Paralyse, häufig auch
der multiplen Sclerose und des Herpes Zoster. Die
Technik des Verfahrens hofft Rosenthal verbessern
zu können.
Dr. A. Fuchs berichtet noch über die physi¬
kalisch-chemische Untersuchung obiger Lumbalpunk¬
tionsflüssigkeiten. Diese Untersuchung bezog sich
auf die Bestimmung des Gefrierpunktes und die Be¬
stimmung der elektrischen Leitfähigkeit des Liquor
cerebro-spinalis. Die diesbezüglichen Versuche werden
in einer ausführlichen Publikation mitgetheilt werden.
Docent Dr. B. Alexander und Prof. Dr. C.
v. Frankl-Hoch wart zeigen Präparate eines
Falles von Akustikus-Tumor.
Prof. Dr. C. v. Frankl-Hochwart demonstrirt
einen Fall von Thomsen’scher Krankheit. (Wird in
der Deutschen Klinik ausführlich publicirt.)
Prof. Dr. C. v. Frankl-Hochwart macht
noch eine vorläufige Mittheilung über an Hunden
vorgenommene Versuche, die corticale Innervation
der Harnblase betreffend.
Der Bericht Dr. Schüller’s über die Ergebnisse
seiner gemeinsam mit Dr. Robinsohn vorgenom¬
menen Untersuchungen über die röntgenologische
Darstellung der Schädelbasis wird ausführlich ver¬
öffentlicht werden. S.
— XXIX. Wanderversammlung der süd¬
westdeutschen Neurologen und Irrenärzte am
28. und 29. Mai 1904 in Baden-Baden. (Referent
Dr. Krauss- Kennenburg.) (Fortsetzung.)
12. Dr. Nonne- Hamburg: Ueber Fälle von Symp-
tomenkomplex von Tumor cerebri mit Ausgang in
Heilung.
Von 12 Fällen mit subacut oder chronisch
fortschreitenden „Allgemein-Symptomen des Hirntu¬
mor“ mit Stauungspapille gingen 8 in Dauerheilung
(2 1 /2—3V2 Jahre) über, 4 starben. Nach den vor¬
handenen Symptomen war Hydrocephalus allein aus-
zuschliessen, ebenso Tuberkulose. Von den 4 Ge¬
storbenen kam einer nach zweijähriger „Heilung“ acut
zum Ende, bei den 3 übrigen Fällen fand sich makro¬
skopisch und mikroskopisch keine Anomalie am Ge¬
hirn und seinen Hüllen und Gefässen. Nonne nennt
diese Fälle unter Hinweis auf Jacobsons „Hemiple¬
gie ohne anatomischen Befund“ Pseudo-Tumor
cerebri.
Discussion: Schultze, Bäumler, Rosenfeld, Nonne.
29. Mai Vormittags 9 Uhr. Vorsitzender Professor
Dr. Schultze-Bonn.
13. Prof. W i e d e r s h e i m - Freiburg: demonstrirt
ein Macerationsprodukt der Schichtung im Ammons¬
horn, das im Kern im lateralen und ventralen Umfang
ein ineinandergreifendes Zackensystem bildete und
beim Menschen regelmässig künstlich durch Formol-
behandlung sich herstellen liess.
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14. P. Grützner (Tübingen) spricht über das
Zustandekommen natürlicher Muskelbe¬
wegungen, indem er von der seit lange von ihm
vertretenen Anschauung ausgeht, dass die verschiedenen
Muskeln der Menschen und der ihm nahestehenden
Geschöpfe in gewissem Sinne zwar anatomische, aber
durchaus keine physiologischen Einheiten sind und
unter normalen Bedingungen keineswegs als ganze
Massen gleichzeitig mit allen ihren Fasern in Thätig-
keit gerathen, wie dies fast ausnahmslos bei den künst¬
lichen (elektrischen) Reizungen der Fall ist.
Zunächst besteht fast jeder Muskel aus zwei ver¬
schiedenen Fasergattungen, die in verschiedenen Mus¬
keln in verschiedener, aber in jedem einzelnen in
stets gleichartiger Weise angeordnet sind, nämlich
aus sarkoplasmareichen (vielfach rothen) und sarko-
plasmaarmen (vielfach weissen) Fasern. Bei den mannig¬
fachen natürlichen Muskelthätigkeiten werden nun stets
einzelne Fasern verschiedener Muskelindividuen inner-
virt und dadurch zur Zusammenziehung gebracht.
Es ist dem Vortragenden, zum Theil im Verein mit
seinen Schülern, namentlich mit Dr. Basler gelun¬
gen, am Frosch diese beiden physiologisch verschie¬
denen Fasern in einem und demselben Muskel auch
durch künstliche Reizmittel getrennt zu erregen, so
dass man von demselben Muskel je nach der Art
der Reizung schnell oder langsam verlaufende
Zuckungskurven erhalten kann. Die Reizung muss
zweckmässigerweise hierbei stets vom Nerven aus er¬
folgen. Auch bei tetanischer Reizung gelingt es, zwei
ganz verschiedene Tetani hintereinander zu erzeugen.
So werden z. B. bei der indirekten Reizung des
Sartorius zuerst (d. h. in Folge schwacher Reize) die
dünnen, langsam sich zusammenziehenden (sarkoplas¬
mareichen) Fasern erregt, w elche einen sehr niedrigen
glatten Tetanus ergeben, bei zweckmässiger Verstär¬
kung der Reize aber die dicken schnell sich zusammen¬
ziehenden (sarkoplasmaarmen) Fasern, welche in einen
zitternden Tetanus gerathen. Der Uebergang in der
Kurve vollzieht sich jäh und sprungweise.
Von ganz besonderem Interesse aber scheint es
dem Vortragenden, dass man auf diese Weise, d. h.
durch zweckmässige Verstärkung tetanischer Reize,
die natürlichen Muskelbewegungen nachahmen kann,
was bisher noch nie gelungen ist; denn eine durch
einen einzigen Reizanstoss erzeugte Zusammenziehung
aller Fasern eines Muskels, eine sogenannte Zuckung,
ist so w r enig ein physiologisches Vorkommniss, wie
ein sogenannter „physiologischer Tetanus,“ in welchem
durch wiederholte Reize auf alle Fasern eines oder
mehrerer Muskel, man möchte sagen, darauf los ge¬
hauen wird. Unsere natürlichen Muskelbewegungen
sind dagegen im Allgemeinen ruhig, langsam und ab¬
gemessen, aber weder Zuckungen noch physiologische
Tetani, d. h. zu deutsch Krämpfe, welche beiden Vor¬
gänge man bisher allein künstlich erzeugt und unter¬
sucht hat. Diese natürlichen Muskel bew'egungen
werden nun von den Centralapparaten aus oder auf
künstlichem Wege nach der Ansicht des Vortragenden
wesentlich dadurch erzeugt, dass eine Fasergruppe
eines oder mehrerer Muskeln nach der andern in die
Action tritt. Hierdurch wird aller Wahrscheinlichkeit
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1904.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. rö 3
nach zugleich viel leichter und sicherer die feine Ab¬
stufung aller unserer Bewegungen ermöglicht, als
durch die verschieden starke gleichzeitige Thätig-
keit aller Fasern.
15. Dr. Alzheimer-München: Ueber das Deli¬
rium alcoholicum febrile Magnans. A. führt
an der Hand dreier Fälle schwersten Alkoholdelirs
mit hohem Fieber, die zum Tode führten, den Nach¬
weis, dass es thatsächlich Fälle von Delirium alco¬
holicum febrile im Sinne Magnans giebt. Die Sektion
ergab keine Erkrankung innerer Organe, keine Ursache
für das Fieber. Im Gehirn schwere Zerfallszustände
in den Ganglienzellen der Hirnrinde, viele punktförmige
Blutungen, Markscheidenzerfall. (Der Vortrag erscheint
im Centralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie.)
16. Prof. Kräpelin-München: Vergleichende
Psychiatrie. Nach kurzer Einleitung über ver¬
gleichende Psychiatrie, die zur Voraussetzung hat,
dass ein und derselbe Beobachter die verschiedenen
Gruppen vergleicht, berichtete Kr. über seine Unter¬
suchungen auf Java.
Unter den Ursachen der Geisteskrankheit ergiebt
das tropische Klima keinen wesentlichen Unterschied
für den Europäer dort und hier.
Die Wirkung des Alkohols auf den Europäer dort
ist genau dieselbe wie hier. Die Eingeborenen als
Muhammedaner trinken keinen solchen. Für sie tritt
an seine Stelle das Opium; doch werden keine Opium¬
psychosen beobachtet; die Erscheinungen des Opium¬
missbrauches sind geringfügiger als diejenigen des
Morphiums und nicht so gefährlich durch die Art der
Aufnahme, wie den hohen Preis derselben. Abstinenz¬
erscheinungen von Opium kommen nicht vor.
Der Gebrauch von Betel macht keine körperlichen
und geistigen Erscheinungen.
Sehr verschieden ist die Empfänglichkeit der
dortigen Eingeborenen und Europäer für Lues.
Unter den eingeborenen Soldaten beträgt die Zahl
der luetischen Erkrankungen Vs der europäischen
Soldaten, doch können die ersteren viel leichter heirathen,
sind nicht so auf Prostitution angewiesen. Vscerale
Lues ist bei den Eingeborenen selten.
Unter 370 eingeborenen Geisteskranken fand sich
keine progressive Paralyse oder luetische Gehirner¬
krankung, unter 50 europäischen Kranken 8 mal.
DieVerblödungsproeesse spielen unter den Geistes¬
krankheiten dieselbe Rolle, wie hier. Das manisch-
depressive Irresein ist seltener, häufig ist Epilepsie.
Bei den Formen der Geisteskrankheiten macht
sich ein entschiedener Einfluss der Race geltend.
Bei der Dementia praecox ist fast nie eine ein¬
leitende Depression, die Wahnideen sind dürftig, kata-
tone Zeichen gering, auch weniger Sinnestäuschungen
kommen vor, schwerer Stupor ist sehr selten, ebenso
tiefe Verblödung, meist vollzieht sich rasch ein Ueber-
gang zu faseligem Verhalten,
Beim manisch-depressiven Irresein sind Depressionen
seltener, Versündigungsideen fehlen, dagegen sind
die manischen Erregungen heftiger, die Periodicität ist
verwischt.
Eine eigentümliche Krankheit ist La ff a. Sie be¬
steht in Nachahmungsautomatie mit Koprolalie durch
plötzliches Anrufen.
Das Amoklaufen ist keine einheitliche Krank¬
heit. Es umfasst verschiedenartige Erregungzustände
mit Neigung zu Gewalttaten. Es kommt vor bei Kata¬
tonie, Epilepsie, epileptischen Dämmerzuständen ohne
sonstige Symptome.
Das Ergebniss sind sonach keine neuen Geistes¬
störungen , die Europäer verhalten sich in denselben
genau so wie bei uns, dagegen ist bei den Eingebo¬
renen unter dem Einfluss der Race eine Abwand¬
lung der hiesigen Formen festzustellen. (Der Vortrag
erscheint im Centralblatt für Nervenheilkunde und
Psychiatrie.)
17. Professor Dinkler (Aachen): Beitrag
zur Symptomatologie und Anatomie der
Apoplexa spinalis.
Ein Fall von Spinalapoplexie nach Embolie in die
Zweige der Art. spin. poster. im Bereich des unteren
Abschnittes der Cervikalanschwellung mit folgendem
Krankheitsbild: Schlaffe Lähmung der Beine und des
Rumpfes, Muskelatrophie mit partieller Entartungs¬
reaktion an den kleinen Handmuskeln, rasch fort¬
schreitender Decubitus, Cystitis. Exitus. Diagnose:
Hämatomyelie auf Grund der acut aufgetretenen
Paraplegie und dissociirte Empfindungslähmung bei
erhaltenem Bewusstsein. Abgesehen von der Embolie
ist histologisch bemerkenswerth aufsteigende Degene¬
ration der Pyramidenbahnen, eigenartige Fettkörnchen¬
zellenanhäufung in den sekundären Degenerationen
und das Auftreten von massenhaften Fettsäurekrystallen.
— Dortmund. In der letzten Stadtverordneten¬
versammlung ist endgültig der Neubau einer Irren-
Station in der Nähe des städt. Krankenhauses zum
Preise von 98000 Mark besc!flössen worden.
Persona I nach richten.
— Baden. Med.-Rath Dr. Haardt, Director
der Grossherzogi. Heil- und Pflegeanstalt in Emmen¬
dingen wurde zum Geh. Med.-Rath, Oberarzt Dr.
Max Fischer von der Grossherzogi. Heil- und
Pflegeanstalt Illenau zum Director der im Bau be¬
griffenen Grossherzogi. Heil- und Pflegeanstalt Wies-
loch bei Heidelberg, die Oberärzte Dr. Oster in
Illenau und Dr. Barbo in Pforzheim zu Medi-
cinalräthen ernannt, Dr. Hegar in Illenau und
Dr. Klew'e in Emmendingen wurden etatsmässig
angestellt. —
— Berlin. Nachdem sich die Verhandlungen
des preuss. Kultusministeriums mit Prof. Dr. Bins¬
wang ei in Jena zerschlagen haben, ist die Berufung
des Prof. Dr. Westphal in Greifswald zum Direktor
der psychiatrischen Klinik an der Universität B o n n
in Aussicht genommen.
— Upsala. Dr. Sven so n wmrde zum a. o.
Professor für Psychiatrie ernannt.
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HARVARD UNIVERSITY
164
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 18.
Das Nährpräparat Hygiama.
(Fortsetzung.)
Aerztliche Beobachtungen über Hygiama.
Stüve 1 ) hat auf der Abtheilung des Professors
v. Noorden im städtischen Krankenhause zu Frankfurt
a. Main Ausnützungsversuche mit Hygiama angestellt
und gefunden, dass der in diesem Präparat enthaltene
Stickstoff sehr gut ausnützbar ist, wenn auch nicht
ganz so gut wie der Stickstoff der Milch in den Ver¬
gleichsperioden.
Es mag auf den ersten Blick nicht viel zu be¬
deuten scheinen, wenn man durch Zusatz von 20 bis
30 g Hygiamapulver den Brennwert einer auf z. B.
1600 Kalorien zu veranschlagenden Nahrung um
weitere 90 — 130 Kalorien erhöht. Die Summe dünkt
manchem vielleicht allzu gering. So darf man aber
in Fällen, wo alle Hebel zur Besserung des Ernäh¬
rungszustandes in Bewegung zu setzen sind, nicht
rechnen. Jedes auch unscheinbare Einschiebsel,
welches man anbringen kann, ohne die Aufnahme¬
fähigkeit für andere Nahrung zu verkümmern, ist von
Nutzen. Die kleinen Summen addieren sich und
geben in ihrer Gesammtheit den entscheidenden Aus¬
schlag. Wer die kleinen Nährwerthsummen verachtet
und nur zu Nahrungsmitteln mit sehr hohem Kalorien¬
gehalt greifen will, muss sich auf häufige Misserfolge
bei Emährungskuren gefasst machen.
Leb bin 2 ) unterwarf das Hygiama einer Analyse,
die sich mit den von anderen Seiten ausgefühlten
in bester Uebereinstimmung befand:
Wasser.3,80 %
Eiweisssubstanz.21,68 „
Fett. 9,10 „
Asche.3,72 „
Alkaloide (Theobromin) . . o,io6„
Lösliche Extractivstoffe . . 48,03 „.
Bei dem von Lebbin gemachten Ausnützungs¬
versuch wurde an drei hintereinanderfolgenden Tagen,
23., 24. und 25. April, nichts anderes als Hygiama,
zusammen 499,4 g verzehrt, die nach Vorschrift
mit Wasser zubereitet waren. Zur Abgrenzung der
Versuchsfäces wurden am 21. und 25. April je 2 I
Milch als ausschliessliche Nahrung gegeben. Die
Fäcesbildung war normal und betrug bei den einzelnen
Excretionen 30 + 142 + 15 g = 187 g frischer Fäces,
welche beim Trocknen 65,9 g (nämlich 46,29% Ei¬
weissstoffe, 2,53% Fett und 14,07% Asche) hinter-
liessen. Hieraus berechnete er folgende Bilanz:
Auf¬
nahme
Aus- I
gäbe
Verlust
_ , g_
g
„_g
Trockensubstanz ... .
480,4
65,9
13.7-2
Eiw r eissst« >ffe.
180,38
3O0O0
28,13
Fett.
45.50
1,67
3,67
Asche .
18,60
9,27
49^4
Aschefreie Trockensubstanz
461,8
56,03
12,20
Eiweiss-, Fett- und asche-
freie Trockensubstanz
307,98
24,45
8
Das Ergebniss dieses Versuches ist als günstig zu
bezeichnen. Die Verdaulichkeit von Brot und Zwie¬
bäcken, die in der vom preussischen Kriegsministerium
herausgegebenen Monographie „Untersuchungen über
das Soldatenbrot“ von Plagge und Lebbin eingehendste
Würdigung findet, lässt erkennen, dass die Resorbir-
barkeit der Eiweissstoffe in unseren Cerealien hinter
der für Hygiama hier festgestellten zurückbleibt. Der
Verlust an Eiweissstoffen ist in den Cerealien nämlich
erheblich grösser als gemeiniglich angenommen ward.
Derselbe beträgt beispielsweise (vergl. die eben
citirte Schrift S. 216—218) bei drei Versuchen mit
Brot aus feinem vermahlenen Roggen-Kunstmehl mit
25% Kleieauszug zwischen 31,92 und 36,66%; er
stieg beim gewöhnlichen Commisbrot mit 15% Kleie¬
auszug auf 38,85—49,92%; er betrug bei einem Brot
aus feinem Weizen-Zwiebackmehl mit 30% Kleie¬
auszug 15,23 — 22,14%. erhob sich endlich bei Broten
aus feiner vermahlener Handelskleie bis auf 59,09%,
ohne dass diese Zahl den grössten Eiweissverlust von
allen Versuchen darstellte.
Bei ausserordentlich feinen Gebäcken, z. B. englischen
Albert-Cakes, wairde ein Eiweissverlust von 17,48 bis
28,88% festgestellt; bei Aleuronat-Cakes, also einer
ausgesprochenen feinen Eiweissnahrung, fand sich ein
Verlust von 14,27—16,89%. Die Resorbierbarkeit
des Fettes in Zwiebackgebäcken mit ähnlichem Fett¬
gehalt, wie Hygiama, z. B. englische Albert-Cakes,
welche 11,19% Fett enthalten, ist deijenigen des Fettes
in Theinhardt’s Hygiama wenigstens nicht überlegen.
Wie oben festgestellt, ergab Hygiama eine Resorbir-
barkeit des Fettes bis auf 3,67%, während bei den
englischen Albert-Cakes der Verlust sich zwischen
1,81 und 15% bewegte. Die Resorbirbarkeit. der
Kohlenhydrate hält sich auf gleicher Höhe wie bei
guten Brotsorten. Hierbei ist noch zu berücksichtigen,
dass etw-a 5% des Verlustes der Trockensubstanz
und von dem Verlust der Eiweissstoffe etwa 9% auf
Rechnung des 15 % betragenden Cacaogehaltes zu
setzen sind.
Die von manchen Seiten geltend gemachte Be¬
einflussung der Untersuchungsergebnisse durch die
Secrete der Darmschleimhaut und den Gehalt dieser
Secrete an Stickstoffsubstanz (Rieder’sche Zahl) ist
als für die practischen Verhältnisse nicht in Betracht
kommend, längst erwiesen, so dass bei der Bew r erthung
von Nahrungsmitteln auf Grund physiologischer Aus¬
nützungsversuche von einer Correctur vollständig ab¬
gesehen werden kann.
Auch ohne solche Correctur ist das Hygiama als
ein wohlschmeckendes und rationell zusammengesetztes,
gut verdauliches Nährmittel zu bezeichnen.
(Fortsetzung folgt.)
Für den rcdactioncllen Theii verantwortlich: Oberarzt Dr. J. lirt-sier, Lublinitr (Schlesien).
Erscheint ieden Sonnabend — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Car! Marhold in Halle a. S
Hevnemann’sche Bucbdruckerei (Gebr. in Halle a. S
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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift.
Redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Lublinitx (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr. - Adresse: Marho Id Verlag. Hallesaale. Fernsprecher 2834.
Nr, 19. ___ 6. August. 1904.
Beateliongen nehmen jede Buchhandlung, die Poet sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten.
Ueber Dauerbadeinrichtungen grösseren Stils.
Von Dr. K. Osswald, Oberarzt an der Grossh. hess. Landesirrenanstalt Hofheini.
T T nter den neuzeitlichen Behandlungsmethoden acut
und chronisch erregter Geisteskranker verdient
neben der Bettbehandlung das verlängerte oder Dauer¬
bad entschieden an erster Stelle genannt zu werden.
Ganz einerlei, wie man über die Dauerbäder als
Restraint denken mag, erfreuen sie sich dort, wo sie
ausgiebiger in Verwendung sind, einer stets wachsen¬
den Anerkennung und es ist zweifellos, dass die
Verbindung beider Regime: der Bett- und Bäder¬
behandlung eine fundamentale Umgestaltung in un¬
seren Anstalten gerade auf den Abtheilungen der
unruhigen und gewaltthätigen Kranken hervorgerufen
hat; dieselben haben sich so zu ihrem Vortheil ver¬
ändert, ihr ganzer Charakter ist dem des allgemeinen
Krankenhauses so ähnlich geworden, dass man die
früheren „Tobabtheilungen“ gar nicht mehr erkennt.
Einen drastischen Beweis dafür, dass diese Ver¬
änderung nicht bloss uns Aerzten sondern auch dem
Laienpublikum zum Bewusstsein kommt, habe ich
kürzlich hier erlebt. Ein Besucher unserer Anstalt,
der dieselbe vor 8 Jahren zum letzten Mal gesehen
hatte, äusserte sich nach dem Durchgang durch die
Abtheilung ganz erstaunt: „Aber ich höre und sehe
ja gar keine Kranken, es ist alles so ruhig! Früher
konnte man nicht durch die Anstalt gehen, ohne
dass einem io—15 nachliefen und -schrieen, sich
an einem hängten, so dass man sich kaum vor ihnen
retten konnte, und jetzt diese Ruhe!“ Und dabei
hatten wir gerade die Abtheilungen der unruhigsten
Kranken passirt und die Krankenzahl hat sich im
genannten Zeitraum genau verdoppelt.*)
*) Den Bewohnern der hiesigen Umgegend ist infolge der
grösseren Ruhe um die Anstalt geradezu ein Zeichen zu er¬
wartenden Witterungsumschlages verloren gegangen, wie man
öfters hören kann. Den nördlich und nordöstlich gelegenen
Dörfern kündete nämlich früher das laute Geschrei d er Kranken
regnerisches Wetter, den südlich und südw^.v-b liegenden
dagegen schönes, beständiges Wetter an. ^ dies zum
Solche Aeusserungen sind höchst charakteristisch
und bezeichnend für die Umwälzung, die neben der
Schaffung besserer Raumverhältnisse ausschliesslich
der Bett- und Dauerbadbehandlung zu verdanken ist.
Ich glaube deshalb, dass auch die wenigen An¬
stalten, die sich den beiden modernen Behandlungs¬
methoden noch verschliessen, sich ihrem wohlthätigen
Einfluss auf die Dauer nicht entziehen werden, denn
die vielen Vorzüge derselben, welche ich hier als
bekannt voraussetzen darf, sind zu sehr in die Augen
springend, um sich nicht überall Geltung zu ver¬
schaffen.
Wie die Bettbehandlung, verursacht auch die
Dauerbadbehandlung keine besonderen Kosten, sie
erfordert, wo Dauerbäder in kleinerem Maassstab
verabreicht werden sollen, auch keine Extraeinrich¬
tungen, denn man kann Dauerbäder in kleiner Zahl,
wie der Versuch lehrt, in jedem gut eingerichteten
Badezimmer verabreichen, zumal wenn letzteres direkt
an eine Wachabtheilung anstösst; für grössere
Anstalten jedoch empfiehlt sich wegen der
Zahl der zu versorgenden erregten Kran¬
ken, im Interesse eines geregelten sicheren
Betriebs, der er leichterten ärztlichen Con-
trolle und nicht zum wenigsten zur Er¬
sparnis am Personal (letzteres besonders, wenn
man in durchaus unberechtigter Weise anderen An¬
stalten, mit ganz gleichartigem Krankenmaterial, gegen¬
über an Personal zurückstehen muss) unbedingt
die Anlage einer oder mehrerer Dauer¬
badeinrichtungen grösseren Stils.
Hiesigen Erfahrungen nach können solche An¬
lagen nicht genug befürwortet werden, umsomehr, als
ihre Einrichtung sich auch in vorhandenen, anscheinend
Theil auch damit zusammen, dass erfahrungsgemäss bei drohen¬
dem Witterungswechsel viele Geisteskranke erregter und lauter
sind als bei beständigem Wetter.
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 19.
sogar wenig geeigneten Räumlichkeiten ohne kost¬
spielige Umbauten in überaus zweckmässiger Weise
bewerkstelligen lässt.
Den Beweis dafür hat eine auf der hiesigen
Männerabtheilung in diesem Frühjahr in Betrieb ge¬
nommene grössere Dauerbadanlage geliefert, mit der
wir bisher sehr zufrieden sind. Dieselbe giebt mir
Veranlassung und Gelegenheit, die allgemeinen Prin-
cipien und Forderungen, welche bei einer solchen
Anlage zu berücksichtigen sind, zusammen zu stellen
und später daran eine Besprechung zu knüpfen, in
welcher Weise und wie weit wir diesen Anforder¬
ungen hier gerecht geworden sind.
Voraussetzung einer jeden grösseren Dauerbad¬
anlage ist die Möglichkeit des Anschlusses derselben
an eine centrale, für sich oder in Verbindung mit
einer Heizanlage bestehende Heisswasserleitung, die
zu jeder Zeit, tags wie nachts, im Stande sein muss,
das heisse Wasser in durchaus hinreichender Menge
zu liefern. Es kann gar nicht genug betont werden,
in jedem einzelnen Fall die Centralanlage noch ein¬
mal besonders auf ihre Leistungsfähigkeit zu prüfen,
ob sie thatsächlich im Stande sein wird, den an sie
herantretenden vermehrten Ansprüchen, besonders
nachts, auch zu genügen, weil Störungen im späteren
Gebrauch infolge Heisswassermangels sich ausser¬
ordentlich unangenehm bemerkbar machen, den
ganzen Betrieb des Dauerbades in Frage stellen
und, wenn überhaupt, sich nur unter beträchtlichen
Kosten später noch ausgleichcn lassen. Dauerbäder
mit lokaler Warmwasserbereitung sind der Betriebs¬
schwierigkeiten wegen und weil meist ungenügend
von vornherein zu widerrathen.
Bezüglich der zunächst sich erhebenden Frage:
wo, auf welcher Abtheilung das Dauerbad
errichtet werden soll, lässt schon seine Be¬
stimmung : Die Behandlung, speciell Beruhigung
acut und chronisch, besonders auch periodisch er¬
regter, z. Th. unreinlicher Kranker, seine Situirung
in möglichster Nähe, eventuell direkt verbunden mit
der oder den Abtheilungen der Unruhigen, vorzüg¬
lich der Wachabtheilung, für diese — als höchst
wünschenswerth und zweckmässig erscheinen.
Jedoch muss die Trennung zwischen beiden
immerhin so beschaffen sein, dass möglichst weder
eine optische noch akustische Belästigung und Stör¬
ung der übrigen Abtheilungskranken durch die im
Dauerbad befindlichen stattfinden kann.
Die weitere Fiage: wie gross, d. h. für wieviel
Procent der unruhigen Kranken man eine der¬
artige Einrichtung planen, oder mit anderen
Worten: wieviel Wannen man vorsehen soll, ist
recht schwer zu beantworten, weil noch keine grösseren
diesbezüglichen Erfahrungen vorliegen.
Nehmen wir das Bedürfniss, wie es sich nach
hiesigen Verhältnissen (Heil- und Pflegeanstalt) heraus-
gestellt hat, so dürften Badeplätze für ungefähr 13
bis 15% der unruhigen in Wach-, Belt- und Un¬
reinenabtheilung Verpflegten kaum zu hoch gegriffen
sein. Es befinden sich nämlich z. Z. von 150 Kran¬
ken genannter Kategorien meiner Abtheilung durch¬
schnittlich 20 am Tage und einzelne auch nachts an
verschiedenen Orten im Dauerbad.
Der Raum, in dem das Dauerbad errichtet
werden soll, muss im Allgemeinen allen Anforder¬
ungen entsprechen, die sonst an Aufenthaltsräume
für Kranke zu stellen sind, er soll genügend gross,
luftig, hell und hoch sein, am zweckmässigsten wohl
von oblonger Form, w f eil sich dabei die Ueberwach-
ung am leichtesten gestaltet. Selbstverständlich muss
genügende Beleuchtung, Heizung und beson¬
ders der sich ansammelnden abzuführenden Wasser¬
dämpfe resp. der Luftfeuchtigkeit wegen eine vor¬
zügliche Ventilation vorhanden sein, ohne
dass die Patienten irgendwie durch Zug belästigt
oder gar geschädigt werden.
Der F u s s b o d e n soll wasserundurchlässig aber
möglichst warm sein, damit die Badenden ihn ohne
unangenehmes Kältegefühl direkt, d. h. mit nackten
Füssen, betreten können. Er ist etwas abschüssig
und mit runden Ecken anzulegen, um dem haupt¬
sächlich durch Spritzen der Kranken auf ihn gelangen¬
den Wasser im Interesse des Badepersonals möglichst
raschen Abfluss zu sichern. Li nothol und Terra-
1 i t h entsprechen allen billigen Forderungen.
Die Wände sollen bis in Greifhöhe abwaschbar,
kein Wasser annehmend und dauerhaft sein und
können in Cement mit Oel- oder Emailfarbenanstrich,
in hellen Porzellanplatten oder Klinkern zweckmässig
hergestellt werden; für den oberen Theil der Wand
und die Decke empfiehlt sich einfacher Kalkverputz
mit weissem Kalkanstrich, weil derselbe die Wasser¬
aufnahme aus der Luft am meisten begünstigt.
Unumgänglich ist ein in dem Raum selbst etwas mas-
kirt angebrachter Abort mit Wasserspülung, freistehen¬
dem Sitz, auf den man zweckmässig eine Lehne an-
briugen kann, so dass die Kranken wie auf einem Sessel
sitzen; eventuell auch ein Pissoir. Den Zugang zum
Appartement verdeckt man durch eine Portiere oder
besser noch durch einen waschbaren Zugvorhang.
Bei Beschaffung der Badewannen sind haupt¬
sächlich 3 Punkte zu beachten, die zum Theil in
engster Verbindung mit einander stehen:
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167
1904.]
Das Material, aus dem sie gefertigt sind, ihre
Form und ihre Grösse. Von dem Material
ist zu verlangen, dass es dauerhaft und leicht zu
reinigen ist, es darf nicht zu theuer sein, nicht viel
Raum wegnehmen und muss zugleich die Möglichkeit
gewähren, der Wanne jede gewünschte Form und
Grösse zu geben.
Hauptsächlich ist die Form der Wanne von
Wichtigkeit, wie folgende Ueberlegung zeigen wird.
— Der Kranke soll gern und möglichst lange, um
volle Wirkung des Bades zu erzielen, in der Wanne
bleiben; dazu muss der Aufenthalt in derselben für
ihn so bequem sein, wie irgend möglich, seine
Glieder resp. Muskeln müssen im Wasser erschlafft
sein, er muss sich thatsächlich in vollkommener Ruhe¬
lage befinden. Ferner muss er die Möglichkeit
haben, seine Körperhaltung nach seinem Ermessen
zu ändern, er muss liegen, halbliegen und aufrecht
und Holz undauerhaft und schwer reia zu halten, auch
für gusseiserne emaillirte Wannen gilt dasselbe.
Fayence ist wohl leicht zu putzen, aber unangenehm
glatt und hat den sehr hohen Preis gegen sich (meines
Wissens kommt eine solche Wanne mit Zubehör auf
ca. 500 M.), ferner ist es leicht zerbrechlich und
schwerbeweglich. Auch aus Fayenceplättchen lassen
sich (wie die bekannten Oefen) brauchbare Wannen
herstellen; sie erfordern aber einen etwas zu grossen
Raum und müssten, um dem Personal nicht zu grosse
Schwierigkeiten zu bereiten, wenigstens zur Hälfte
aus dem Boden herausgebaut, nicht in ihn einge¬
lassen sein.
Bezüglich der Grösse der Wanne ist noch nach¬
zutragen , dass dieselbe so lang sein soll, dass der
Kranke bequem ausgestreckt liegen kann, und so
hoch, dass ihm beim Aufrecht-Sitzen, je nach Füll¬
ung, das Wasser ca. bis in die Achselhöhe reicht.
Abb. 1.
sitzen können, nur unter diesen Bedingungen wird
ihm ein längeres Verweilen im Dauerbad erträglich
und angenehm. Wenn auch der Auftrieb des Wassers
einen grossen Th eil des Körpergewichts trägt und
deshalb ein Sitzen im Wasser bedeutend weniger
Anstrengung erfordert als z. B. auf einem Stuhl
ausserhalb desselben nahezu in einer und derselben
Haltung (letzteres bekanntlich für längere Zeit eine
sehr ermüdende Uebung!), so wären Wannen, in
denen der Patient halb- oder aufrecht sitzend, für
längere Zeit dieselbe Haltung einnehmen muss, selbst
wenn der Sitz, wie in den Eisenbahnwagen oder bei
gut gearbeiteten Bänken, sich den Körperformen fast
vollständig anschmiegt — aus den genannten Gründen
(des Zwanges und der erheblichen Anstrengung wegen)
streng genommen kaum zu empfehlen.
Allen erwähnten Anforderungen wird dagegen eine
genügend grosse Wanne gerecht, deren Kopf-
theil ungefähr in einem Winkel von 30^-35° zur
Horizontalen geneigt ist (vergl. Abb. 1)„
Was die Materialien betrifft, pjfld Zink
Wannen der beschriebenen Form und Grösse
sind m. E. überall da erforderlich, wo Dauerbäder
Tag und Nacht hindurch gegeben werden sollen,
denn der Kranke muss auch im Wasser in bequemer
Lage schlafen können. Werden die Dauerbäder nur
auf den Tag oder gar auf Stunden beschränkt, so
kann man wolü ohne grosse Bedenken auch kürzere
Wannen wählen mit leicht geneigten Kopf- und Fuss-
wandungen, denn während dieser Zeit erträgt der
Kranke bei genügendem Spielraum, weil das Wasser
sein Gewicht zum Theil trägt, ohne ersichtliche Be¬
schwerden die aufrechtsitzende Haltung.
Derartige Wannen (d. h. letzterer Form) bieten
bei genügender Länge, der entsprechend auch die
Wandstärke zunehmen muss und hinreichender Breite
am Fussende (mindestens Schulterbreite!), auch den
nicht zu unterschätzenden Vortheil, gelegentlich ein¬
mal, wenn die Noth drängt, auch 2 Patienten, welche
sich zusammen vertragen, in einer Wanne, die Ge¬
sichter einander zugekehrt, unterzubringen.
Die Wannen sind an die Canalisation anzu-
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schliessen, jede mit besonderer Ableitung, damit bei
gleichzeitiger Entleerung mehrerer keine Rückstauung
des Wassers stattfinden kann.
Bei ihrer Aufstellung ist darauf Bedacht zu nehmen,
dass die Ueberwachung der im Bad befindlichen
Kranken möglichst erleichtert wird, dass die Insassen
der Wannen sich gegenseitig möglichst wenig be¬
lästigen können und die technische Zuführung des
Kalt- und des Warmwassers keinen Schwierigkeiten
begegnet. Die Zuleitungsrohre sind zu verkleiden,
damit keine Verbrennungen Vorkommen, an den
Hähnen müssen Sicherheitsvorkehrungen getroffen
bett zur Lagerung, falls sich ein Collaps ereignet,
und ein Tisch zum Abstellen der Speisen. Zum
Schutz gegen Zugwirkung bringt man auf der Innen¬
seite der Zugangsthür eine Portiere an.
sein,"[dass nur das Personal sie öffnen kann, falls
nicht durch automatische Regulirung das Heisswasser
immer unter der Verbrühungstemperatur bleibt. Ueber-
haupt muss der ganze Betrieb gefahrlos und sicher
sein, insbesondere müssen durch die Art der Hand¬
habung Verbrühungen der Badenden völlig ausge¬
schlossen sein. Auch die Verschlusstheile der Wannen
sollen nur von dem Personal, z. B. vermittelst eines
Drahtschlüssels, geöffnet werden können, damit die
Patienten nicht das Wasser ablaufen lassen, oder die
Verschlusstücke bei Seite schaffen.
Es ist ferner zweckmässig im Badraum selbst eine
Wascheinrichtung sowie einen besonderen Kalt¬
wasserhahn mit Ausguss zu Trinkzwecken anzu¬
bringen. An Mobiliar empfiehlt sich ein Ruhe-
Von Nebenräumen sind erforderlich, eine
Spülküche, wenn'[eine solche sich nicht in un¬
mittelbarer Nähe befindet, ferner eine Garderobe
mit Wäscheschrank, ein Trockentücherge-
stell und eine Vorrichtung zur Ablage der
Kle idungsstücke der Badenden; als Garderobe
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
kann ganz passend ein Vorraum zum Dauerbad
fungiren.
Nicht zu vergessen ist schliesslich, weil unent¬
behrlich für eventuellen Nachtbetrieb, ein Aufent¬
haltsraum für die ablösenden Pfleger.
Von diesen allgemeinen idealen Forderungen
weicht nun unsere oben erwähnte Dauerbadeinrich¬
tung in manchen wesentlichen Punkten, z. B. bezüg¬
lich des Raumes, der Wannen etc., ab; dies konnte
zum Theil nicht anders sein, weil wir mit gegebenen
Verhältnissen zu rechnen hatten und die Berechtigung
mancher Forderungen sich erst im Gebrauch ergab,
denen, so weit möglich, noch Rechnung getragen
werden soll.
Wollten wir nicht ganz neu bauen und nicht
eine Reihe von Einzelzimmern opfern, die unmittel¬
bar neben der Wachabtheilung für Ruhigere gelegen
als Einzelschlafräume sehr geschätzt sind, und sich
der zu befürchtenden Beunruhigung dieser socialen
Kranken wegen sehr wenig zum Dauerbad eigneten,
so blieb der hochgelegenen Canalisation wegen in
einem grösseren Gebäudecomplex nur ein genügend
grosser Raum von 14,6 m Länge, 4,60 m Breite und
2,60 m Höhe mit 5 an der einen Langseite ge¬
legenen Fenstern von 1 . 10 :o,8o m Durchmesser —
und dieser im Kellergeschoss. Es Hessen sich in
demselben ca. 8—10 Wannen aufstellen und trotz
zahlreicher entgegenstehender Bedenken entschlossen
wir uns ihn zu verwenden, weil er von den unruhigen
Abtheilungen bequem und ohne Störung der übrigen
durch einen Souteraingang zu erreichen ist und zu¬
gleich infolge eines neben ihm projektirten Neubaus
einer Glasveranda als Tagraum für ruhigere Kranke
die Möglichkeit vorlag, bei Bedarf eine Erweiterung
ein treten zu lassen, was demnächst zur Thatsache
werden soll.
Die Wände des Dauerbades sind 1,25 m hoch
mit Cement verputzt und in Oel pompejanischroth
gestrichen, darüber mit Kalk weiss getüncht.
Der Fussboden besteht aus Terrazzo, ist stark
abschüssig und trägt 8 Cementroste für die Wannen,
die mit dem Kopftheil nach der Milte zu stehen,
so dass die Kranken nach den Fenstern sehen. Die
Wasserzuführungsrohre befinden sich an dem Fuss-
theil der Wannen, sind immittelbar über der Wanne
ca. 1,50 m hoch mit Holzverkleidung versehen und
münden in ein gemeinsames Ausflussrohr. Die Hähne
sind durch einen eisernen mit Drücker verschliess-
baren Kasten gegen Hantirung seitens der Kranken
geschützt und tragen grellfarbige von dem Unter¬
169
grund sich scharf abhebende entsprechende Auf¬
schriften: Heiss und Kalt.
Die Abführung des Badewassers geschieht nur
durch eine Rinne — eine Extra-Rohrleitung Hess
sich der hochgelegenen Canalisation wegen leider
nicht anbringen — und hat den Nachtheil, dass bei
der Entleerung der Wannen vorsichtig verfahren
werden muss, damit Rückstauung und Ueberschwemm-
ung des Fussbodens vermieden wird. Diese Unan¬
nehmlichkeit wird durch einen zwischen den in
Gruppen von je 2 zusammengeordneten Wannen
Hegenden Holzrost etwas gemildert. Ausserdem
haben wir einen 40 cm breiten Strohmattenbelag auf
dem Terrazzo anbringen lassen, so dass die Kranken
bequem den Abort aufsuchen können, ohne den
kalten Boden zu betreten. Die Beleuchtung geschieht
durch 3 buntfarbige elektrische Deckenlampen, die
Heizung durch 2 Heizschlangen.
Die Ventilation wird durch eine an der einen
Schmalseite fern von den Kranken in 103 cm Höhe
über dem Fussboden befindliche 0,55/0,45 m im
Q.-S. messende Ventilationsöffnung ermöglicht.
Sehr wesentlich wird diese künstliche Ventilation
unterstützt durch Doppelfenster, und zwar sind an
der Innenkante der Fensteröffnung - Schiebefenster
angebracht, die durch Erniedrigung der Brüstung
bedeutend grösser als die Aussenfenster sind (1,13
: 1,20 m). Der obere Theil dieses mit kleinen gelb
und weissen matten Scheiben abwechselnd versehenen
Innenfensters ist verschieblich und die Nische ist so
tief, dass die Aussenfenster bequem geöffnet werden
können; vermöge des Zugfensters lässt sich nun eine
beliebig grosse Oeffnung für den Luftzutritt her-
steilen, je nachdem es gerade der Bedarf erfoidert.
Durch diese Einrichtung wird auch bei geöffnetem
Aussenfenster fast jede Zugwirkung vermieden und
infolge der Lage der Ventilationsöffnung an der einen
Schmalseite (vgl. Skizze) kann selbst bei direkt die
Fenster treffendem Wind — wenn man das der
Ventilationsöffnung nächste Fenster öffnet — durch
Absaugung jederzeit ohne unangenehmen Zug eine
ausgiebige Luftemeuerung bewirkt werden. So war
es bisher selbst bei der diesjährigen tropischen Hitze
bei geringer Aufmerksamkeit des Badewärters möglich,
dass in dem relativ niederen Raum die Temperatur
nicht über 24 0 C stieg, sich weder die Fenster be¬
schlugen, noch die Decke nass wurde, unangenehme
Nebenerscheinungen, die bei Benutzung unserer ge¬
wöhnlichen Badezimmer zu Dauerbadzwecken bisher
nirgends ausblieben. (Schluss folgt.)
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 19.
Mittheilungen.
— XXIX. Wanderver&ammlung der süd¬
westdeutschen Neurologen und Irrenärzte am
28. und 29. Mai 1904 in Baden-Baden. (Referent
Dr. Krauss-Kennenburg.) (Fortsetzung.)
18. Dr. Gierlich (Wiesbaden): Ueber perio¬
dische Paranoia. Neben den typischen Fällen
von Paranoia im Westphal’schen Sinne sind auch solche
mit mildem Verlaufe zur Beobachtung gekommen.
Diese kamen zur Heilung, verliefen theils abortiv, theils
mit periodischer Wiederkehr der paranoischen Wahn¬
ideen und freien Intervallen — sog. „periodische
Paranoia.'* Ueber letztere liegen 7 Arbeiten vor
(Mendel, Meschede, Gianelli, Kausch, Bechterew,
Ziehen, Hamilton) mit circa 15 Fällen. Diese geringe
Zahl hält der Vortr. bedingt durch die Natur der hier
vorliegenden Störungen, die Anstaltsbehandlung meist
nicht zur Folge haben und vom prakt Arzt verkannt
werden. Doch ist das Studium solcher Kranken lehr¬
reich und wichtig zur Lösung mancher strittiger Fragen,
z. B. der Genese der Wahnbildung. Vortr. schildert
kurz seine Beobachtungen bei 2 Patienten mit pe¬
riodischer paranoischer Wahnbildung, die 5 und 6 Jahre
in seiner Behandlung standen. Bei beiden fand sich
Geisteskrankheit in der Ascendenz. Der erste, ein
mittelmässig begabter aber ungemein ehrgeiziger
Regierungsrath erkrankte, als er bei der Beförderung
zum Ober-Reg.-Rath übergangen wurde. Er ertrug
das Gefühl der Zurücksetzung sehr schwer, war voll
Neid gegen den begünstigten Kollegen. Von einer
strapaziösen Dienstreise heimgekehrt, verfiel er in
einen typischen Beziehungs- und Verfolgungswahn,
der von der Gattin des bevorzugten Kollegen aus¬
ging und sich über die engere und weitere Umgebung
erstreckte. Pat. reichte seinen Abschied ein, dgl.
Scheidungsantrag, wollte ins Ausland, um seinen Ver¬
folgern zu entgehen. Nach 5 Wochen Hessen die
Wahnideen nach und in weiteren 8 Tagen kam es zu
völliger Krankheitseinsicht. Innerhalb 5 Jahren wurden
3 solcher Anfälle beobachtet, die sich stets im Herbst
an Dienstreisen anschlossen. Der 2. Fall betraf
einen jungen Ehemann, 35 J. alt, der sich bereits ein
Vermögen erworben hatte und nun ein armes Mäd¬
chen heirathete. Es folgten bald Redereien der Nach¬
baren, das Mädchen habe sich nur versorgen wollen,
nicht aus Liebe geheirathet. Pat. schenkte denselben,
da sie völlig unbegründet waren, kein Gehör. Als
er dann im Frühjahr von Holzeinkäufen zurückkehrte,
zeigte er ein höchst verändertes Wesen gegen seine
Frau und es kam bald ein Eifersuchtswahn heftigster
Art zum Ausbruch, der sich nach 18 Tagen schnell
legte und in volle Krankheitseinsicht überging. Vortr.
beobachtete in 6 Jahren 4 solcher Anfälle, die alle
im Frühjahr nach Ueberarbeitung sich einstellten.
Halluc. kamen in beiden Fällen nicht zur Beobach¬
tung, dgl. keine manisch depressiven Zustände. De¬
mentia praecox oder paralytica sind auszuschliessen.
Das Sensorium war stets frei.
Vortr. schildert kurz seine Ermittelungen über die
Entstehung der Wahnideen in diesen Fällen. Es
waren augenscheinlich intensive Affektstörungen,
welche den Wahn einleiteten, im ersten Falle das Gefühl
der Abständigkeit und des Neides, im zweiten das des
Zweifels an der Liebe der Frau. Das ist ganz im
Sinne der Margulies’schen Beobachtungen. Die mit
einem starken Gefühlston beschwerte Vorstellung
haftet im Blickpunkt des Bewusstseins gleichsam zwangs¬
weise wie eine Suggestion und führt so zum Wahn.
Auffallend war in beiden Fällen das Fehlen der
Grössenideen und auch eines erhöhten Selbstgefühls,
wie es sonst vielfach bereits mit den Verfolgungsideen
hervortritt. Die Wahnbildung in den verschiedenen
Anfällen war keine fortschreitende, sondern glich sich
mit photographischer Treue. Auch konnte Vortr. die
Friedmannsche Beobachtung bestätigen, dass in diesen
Fällen mit milderem Verlauf trotz des völligen Fest¬
haltens am Wahnsystem doch ein gewisser Einfluss
durch geeigneten Zuspruch zu Tage trat.
19. Prof. v. Monakow-Zürich: Die Stab-
kranzfasern des unteren Scheitelläppchens
und die sagittalen Strahlungen des Occi-
pitallappens.
Der Vortragende hat seine Untersuchungen über
die sec. Degenerationen bei alten begrenzten Defekten
der Grosshimoberfläche (Regio Rolandica, Gyrus supra-
marginalis und angularis, Occipitalwindungen, Regio
calcarina etc.) fortgesetzt (sechs neue Beobachtungen
unter Verfertigung von Schnittserien durch das ganze
Gehirn) und fand, dass die dorsale Partie der retro-
lenticulären inneren Kapsel secundär nur dann de-
generiren muss, wenn der primäre Defekt sich auf
ausgedehnte Theile des unteren oder des oberen
Scheitelläppchens bezieht. In solchen Fällen geht die
sec. Degeneration auch auf die graue Substanz des
Pulvinar und der caudalen Partien der ventralen Kern¬
gruppen des ^Thalamus über (sec. Ganglienzellen¬
degeneration). Vortragender berichtet unter Anderen
eingehend über einen Fall von langjährigem einseitigen
Defekt sowohl der vorderen als der hinteren Central¬
windung, mit primärer Zerstörung der vorderen Partie
der inneren Kapsel, dann des Corp. Striatum und
der vorderen zwei Drittel des Thalamus opticus (alte
Blutung). In diesem Falle (57 jähriger Mann) kam
es zu hochgradigen sec. Degenerationen verschiedenster
Bahnen (Pyramidenbahn, vordere Commissur, Balken,
verschiedene lange Associationsbahnen etc.), auch die
Schleife verrieth deutlichen Faserausfall, dagegen erwies
sich die retrol enticuläre Partie der inneren
Kapsel, einschliesslich des nahezu ganzen
Wern icke’sehen dreieckigen Feldes normal,
und es Hessen sich markhaltige Faserbündel aus dieser
Gegend in stattlicher Anzahl direkt in die Windungen
des unteren Scheitelläppchens verfolgen. Da nun die
dorsale Partie der retrolenticulären inneren Kapsel
auch bei selbst ausgedehnten primären Läsionen des
Occipitallappens (Regio Rolandica) und des Temporal¬
lappens gewöhnlich frei bleiben, so ist mit Rücksicht
auf die positiven Befunde bei Herden im Parietal¬
lappen mit Bestimmtheit anzunehmen, dass eine
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
171
direkte Verbi ndung zwischen der fraglichen
Parti«der retrolenticuläreninn eren Kapsel
resp. den hinteren Abschnitten der ven¬
tralen Kerngruppen des Thalamus und
des Pulvinar einerseits und der Rinde der
Parietalwindungen (Gyrus angularis und supra-
marginalis) anderseits durch Stabkranzfasern
vorhanden ist. Die Flechsig’sche Lehre, dass der
Gyr. angularis einer Stabkranzfaserung entbehre, er¬
weist sich nach den Erfahrungen des Vortragenden
als eine irrthümliche. Autoreferat.
20. Weygandt-Würzburg: Ueber den Ein¬
fluss von Hunger und Schlaflosigkeit auf
die Hirnrinde.
Vortr. der sich seit 12 Jahren mit der experimen¬
tellen Prüfung der regelrechten Abweichung vom
psychischen Normalzustand, besonders den Fragen
des Schlafes und Traumes, dann der Ermüdung und
Erschöpfung befasst, hat unter den Faktoren der Er¬
schöpfung vor allem die geistige Ueberanstrengung,
den Nahrungsmangel und die Schlafenthaltung experi¬
mentell zu behandeln gesucht Während die Inanition
nur einige geistige Funktionen massig beeinflusst, andere
dagegen intakt lässt, greift die Schlafenthaltung die
psychische Leistungsfähigkeit viel tiefer an und lässt
keine der untersuchten Funktionen unberührt. Die
experimentelle Prüfung der geistigen Ermüdung ent¬
spricht im hohen Grade den Befunden bei erworbener
Neurasthenie. Neuerdings angestellte Versuche des
Vortr., die die bei Schlaftiefenmessung festgestellte
überwiegende Bedeutung der ersten Schlafstunde ins
Auge fassten, haben ergeben, dass in der That für
leichtere geistige Arbeit (Addiren) die erholende
Wirkung der ersten Schlafzeit ausschlaggebend ist,
während für anstrengende Arbeit, wie die Merkfähig¬
keitsleistung des Auswendiglernens von Zahlenreihen,
die Erholung erst langsam, proportional der Schlaf¬
dauer, eintritt.
Die Untersuchung der Erschöpfungsfaktoren vom
anatomischen Standpunkte aus hat Vortr. bisher in
der Weise vorgenommen, dass er die Hirnrinde von
Mäusen untersuchte, die durch Nahrungsmangel oder
Schlafenthaltung getödet waren. Bei den Hunger¬
mäusen zeigte die Rinde wie das ganze Grosshirn
und Cerebellum, weniger die Medulla, ausserordentlich
stark gefüllte Blutgefässe, einmal auch Mastzellen in
der Gefässwand. Die Nervenzellen der Rinde haben
im ganzen homogen gefärbten Körper mit nur hier
und da etwas granulirtem Aussehen, vereinzelte Vakuolen,
leicht gefärbten Kern, Andeutung von Dendriten und
gelegentlich Spitzenfortsätze, die die Zellen um das
vierfache überragen. Vermehrung der Glia war nicht
festzustellen. Unter den sehr widerspruchsvollen An¬
gaben der Literatur erinnern die von Schaffer,
sowie Marchand und Vurgas an obigen Befund.
Bei den Schlafenthaltungsmäusen, die in einer
durch Elektromotor ganz langsam, mit 2 Drehungen
in der Minute, getriebenen Trommel gehalten waren,
macht die Hirnrinde einen blutleeren Eindruck; da¬
gegen zeigt sich die Wand der kleineren Gefässe
mehrfach verdickt und geschlängelt. Eine derartige
Veränderung im Laufe von et wa 4 Tagen kann angesichts
der eminent raschen Reaktion der Gefässe z. B. auf ent¬
zündliche Reize nicht unerklärlich erscheinen. Rund-
zelleninfiltration war auch hier nicht vorhanden. Die
Nervenzellen sind scharf conturirt, etwas geschrumpft,
der Körper im Ganzen gleichmässig gefärbt, nur ein
wenig granulirt, der Kern etwas heller, vereinzelte
Vakuolen sind vorhanden, der Achsencylinder ist eine
Strecke weit sichtbar. Gliavermehrungen finden sich
nicht. Weiterhin ist noch zu bemerken, dass die
äusserste, sehr zellarme Rindenschicht bei Nichtfärbung
nicht den blassgrauen Grundton angenommen hat,
sondern einen Stich ins Mattgelb zeigt, was die Ver-
muthung auf eine Alteration des grauen Netzes lenken
kann.
Die erwähnten Befunde waren an allen Präparaten
festzustellen. Zweifellos bildet auch anatomisch be¬
trachtet der Schlafmangel die intensivere Störung.
Es handelt sich um die Anfangsglieder von 2 zunächst
ganz getrennt liegenden Versuchsrichtungen, deren
weiterer Verlauf vielleicht einmal Schlüsse auf engere Be¬
ziehungen zwischen einzelnen psychischen und Rinden-
Veränderungen im Sinne des psychophysischen Parallelis¬
mus ergeben wird. (Autoreferat.)
(Schluss folgt.)
— Entscheidung des preussischen Ober-
verwaltungsgerichts. Es kann auch auf dem Ge¬
biete der Sicherheitspolizei die Unterscheidung zwischen
den Funktionen der Landespolizei und denen
der Ortspolizei nach einem Urtheil des ersten
Senats des Oberverwaltungsgerichts nur danach vor¬
genommen werden, ob die polizeilich zu schützenden
Interessen in erster Linie solche der nachbarlichen
örtlichen Gemeinschaft sind oder über diese räumliche
Beschränkung hinaus in weiteren Bezirken, vielleicht
als unmittelbar einheitliche Interessen des Staates
hervortreten. Diese Unterscheidung führt aber dahin,
Massregeln, die auf Abwendung der von gemein¬
gefährlichen Geisteskranken ausgehenden
Gefahren abzielen, zu den Aufgaben der Ortspolizei
zu zählen. Freilich dient die Unterbringung von
Geisteskranken in Irrenanstalten nicht den besonderen
Interessen des Ortes, an dem sie festgehalten werden,
wohl aber denen des Ortes, von dem aus der Geistes¬
kranke in die Irrenanstalt gebracht wird. Diesen
bedroht ein gemeingefährlicher Geisteskranker zunächst,
eine Ausdehnung der von ihm ausgehenden Gefahr
auf einen weiteren Bezirk ist zwar nicht unbedingt
auszuschliessen, wohl aber doch nur deshalb an¬
zuerkennen, weil die Möglichkeit eines Wechsels
seines Aufenthalts bei einem sich selbst überlassenen
Geisteskranken stets gegeben ist. Deshalb mag die
Unterbringung eines Geisteskranken in einer Anstalt
mittelbar auch den Interessen weiterer Bezirke dienen,
aber dieser nur mittelbar eintretende Erfolg vermag
nichts daran zu ändern, dass sie als eine Massregel
erscheint, die den Schutz von Interessen der örtlichen
nachbarlichen Gemeinschaft in erster Reihe und un¬
mittelbar zum Zweck hat. Es tritt eine Mitwirkung
des zur Verwaltung der Landespolizei zuständigen
Regierungspräsidenten nur ausnahmsweise ein, wenn
er durch Beschwerde über die von der Ortspolizei
getroffenen Massregeln oder über die Versagung
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172
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 19.
polizeilichen Einschreitens zu einer Entschliessung an¬
gerufen wird. Trifft er in einem solchen Falle die
Anordnung, dass der Geisteskranke in einer Irren¬
anstalt unterzubringen ist, so hat doch diese Ver¬
fügung nicht den Charakter einer landespolizeilichen,
sondern den einer an die Ortspolizei gerichteten An¬
weisung zum Erlass einer ortspolizeilichen Verfügung.
In den Fällen, in denen die Geisteskrankheit und
Gemeingefährlichkeit bei Personen hervortritt, die sich
in Untersuchungs- oder Strafhaft befinden, erfolgt
freilich die Unterbringung in einer Irrenanstalt im
unmittelbaren Anschluss an die Entlassung aus der
Haft und auf Antrag der zur Bestimmung über die
Entlassung zuständigen Behörde. Daraus folgt aber
nicht, dass der Antrag dieser Behörde den Charakter
einer landespolizeitichen Anordnung hat. Vielmehr
kann dem Ersuchen nur die Bedeutung einer Ueber-
weisung des Geisteskranken an die Ortspolizeibehörde
zum Zwecke der ihr zustehenden Entschliessung über
die zur Abwendung der , Gefahr nöthigen Anstalten
beigemessen werden. Namentlich gilt dies in den
Fällen, in denen es sich um Geisteskranke handelt,
die aus den Gerichtsgefängnissen entlassen werden.
Hier wird die Bestimmung über die Entlassung allein
von Justizbehörden getroffen, denen polizeiliche Be¬
fugnisse nicht zustehen.
(Neue Preuss. (Kreuz-) Zeitung, 31. VII. 04.)
Personalnachrichten.
— Tübingen. Der Assistenzarzt an der psy¬
chiatrischen Klinik, Dr. Specht, hielt am 23. VII.
zum Zweck der Erlangung der venia legendi für Irren¬
heilkunde eine Probevorlesung über „die Psycho¬
logie als Hilfswissenschaft der Psychiatrie 41 .
Das Nährpräparat Hygiama.
(Fortsetzung.)
Römer’s 3 ) Patienten — Reconvalescenten, Blut¬
arme — nahmen in der Mehrzahl der Fälle das
Hygiama-Getränk (Hygiama mit Milch), auch in
reichlichen Mengen von 3—4 Tassen täglich, gerne,
es wurde selbst lange Zeit hindurch genommen und gut
vertragen. Verdauungsstörungen wurden nicht beob¬
achtet, vielmehr eine günstige Beeinflussung vorhan¬
dener Verdauungsstörungen wahrgenommen. Von
besonderem Werth war es bei Magengeschwür und
Typhus, und zwar selbst bei letzterem vom Anfang
bis zum Ende der Erkrankung als Getränk verabfolgt.
Er hebt den hohen Procentsatz des Hygiamas an
resorbirbaren Stoffen hervor, worin es von keinem an¬
deren Präparat erreicht werde, sowie die Leichtver¬
daulichkeit unter Bildung normaler, festweicher Fäces.
Er findet, dass Kranke, die Abneigung gegen Milch
haben, dieselbe nach Zusatz von Hygiama lieber
nehmen.
Freuden berg 4 ) empfiehlt es sehr angelegentlich
1. bei unstillbarem Erbrechen der Schwangeren, wobei
es eine beruhigende Wirkung auf die Magenschleim¬
haut ausübt und nicht nur ein gutes Nährmittel,
sondern zugleich ein Heilmittel diätetischer Art sei,
2. bei der als Reflexerscheinung auftretenden nervösen
Dyspepsie unterleibskranker Frauen, 3. bei mangel¬
hafter Milchsecretion.
Auch Baum 5 ) hat den Dienst des Hygiamas
beim Erbrechen der Schwangeren nie vermisst. Bei
dem heranwachsenden Kinde erleichtert es den Ueber-
gang zur festen Nahrung.
Kl aut sch 7 ) konnte im St. Elisabeth-Hause zu
Halle a. S. die günstige Wirkung von Hygiama bei
Kindern bestätigen; es verstopft nicht, noch erregt
es in störender Weise die Darmbewegungen. Häufig
regte es deutlich den Appetit an. Verdauungsstö¬
rungen wurden günstig beeinflusst.
T o c h 8 ) erreichte bei rhachitischen und scrophu-
lösen Kindern durch systematische Verabfolgung von
Hygiama neben der gewöhnlichen Nahrung eine
schnelle Gewichtszunahme und Besserung der Krank¬
heitserscheinungen.
Manasse 9 ), welcher Hygiama bei den verschie¬
densten Schwächezuständen mit bestem Erfolge an¬
gewendet, beobachtete niemals Verdauungsstörungen,
besonders nicht Verstopfung.
Meyer 10 ) hat bei einem erst V2jährigen Kinde,
das an Verdauungsstörungen litt, mit Erfolg Hygiama-
pulver, in Milch gekocht, gegeben; auch bei älteren
Kindern mit ähnlichen Leiden wirkte es gut. Fieber¬
kranke und mit erschöpfenden Krankheiten belastete
Erwachsene nahmen das Präparat gern und hatten
einen erheblichen Nutzen davon.
Rhoden 11 ) hat den hervorragenden Werth des
Hygiama bei 8 schweren Typhusfällen schätzen ge¬
lernt; er brauchte es während des ganzen Ver¬
laufs nicht auszusetzen, da es gut vertragen wurde.
Auch bei Tuberkulose hat er es seit Jahren mit
unzweifelhaftem Erfolge gegeben.
Aronsohn 12 ) verordnete Hygiama bei Kindern;
es wurde sehr gern genommen und bewirkte eine er¬
hebliche Gewichtszunahme und Besserung der Er¬
nährungsstörungen in Fällen von Rhachitis und chro¬
nischem Darmcatarrh, und zwar in solchen, wo sich
die Behandlung auf rein diätetische Massnahmen be¬
schränkte. Bei Säuglingen gab er „Theinhardt’s lös¬
liche Kindemahrung“.
Schlesinger 13 ) hebt besonders hervor, dass sich
das Hygiama wegen seiner Schmackhaftigkeit sehr
dazu eignet, den Patienten, welche sonst den Genuss
grösserer Quantitäten von Milch verweigern, denselben
zu erleichtern. Er gab es mit Erfolg auch bei
Magengeschwü r.
Goldberg 14 ) sah gute Erfolge von Hygiama bei
Neurasthenie. (Fortsetzung folgt.)
Diese Nummer enthält einen Prospekt der
Firma:
J. D. Riedel, Berlin N. 39, Gerichtsstr. 12/13,
worauf die geschätzten Leser hierdurch hingewiesen
werden.
Für den redactionellcn Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Bresler, Lublinitr (Schlesien).
Erscheint ieden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Heynemann’sche Buchdruckerei (Gebr. V'olff) in Halle a. S.
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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift.
Redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Brealer,
Lublinitz (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834.
Nr. 20. 13. August. 1904.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Poet sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für 4 ie ^spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Rresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten.
Ueber Dauerbadeinrichtungen grösseren Stils.
Von Dr. K. Qsswald , Oberarzt an der Grossh. hess. Landesirrenanstalt Hofheim.
(Schluss.)
Die mattscheibigen Innenfenster verbreiten ferner
in dem Baderaum ein angenehm gedämpftes Licht,
schützen die Kranken vor unberufenen Blicken und
dienen weiter in sehr willkommener Weise als Schall¬
brecher, wenn Kranke itn Bad laut sind. Ueber-
hanpt wird durch die Lage des Bades im Keller¬
geschoss, die Schiebedoppelfenster, die in einen relativ
selten betretenen Obstgarten mündenden Fenster und
die nicht weit von letzteren stehenden Halbhoch¬
stämme der Schall so abgedämpft, dass man von
einer Belästigung der in der Nähe befindlichen ruhigen
Kranken nicht ernstlich reden kann.
Die anfangs von uns befürchteten Nachtheile des
Kellergeschosses haben sich also allerdings durch
eine Reihe von zusammen wirkenden günstigen Um¬
ständen nicht bemerkbar gemacht; im Gegensatz zu
den von uns sonst benutzten Baderäumen im Parterre
herrscht vielmehr im Souterrain im Sommer eine an¬
genehme Kühle, im Winter eine milde Wärme.
Was die Wannen betrifft, so haben wir aus den
oben genannten Gründen und den hier gesammelten
günstigen Erfahrungen mit Kupfer, diesem Material
den Vorzug gegeben, und weil zunächst nur Tag¬
betrieb geplant war, sie in einer Form, jedoch etwas
grösser beschafft, ähnlich unseren sonstigen Bade¬
wannen, die uns die Fabrik zufällig in der Lage
war rasch zu liefern. Ihre Maasse sind folgende:
Länge: obere 1,76 rn,
untere 1,55 m;
B rei t e: am Kopfende oben 0,70 mp
unten 0,56 m,
. am Fussende oben 0,40 m,
unten 0,35 m;
Höhe: 0,70 m.
Der obere Rand ist stark umgebogen und dient
uns zugleich zur Befestigung eines über der Mitte
der Wanne quer angebrachten Esstischchens. Letz¬
teres besteht aus einer ca. 30 cm breiten, auf der
Untenseite mit Verstärkung versehenen Holzplatte,
ifif. -
Abb. 2.
an deren beiden Schmalseiten je 2 eiserne Bügel
angeschraubt sind, die den Rand der Wanne um¬
greifen und unterhalb desselben mit je einer Schraube
vermittelst Druckschlüssels befestigt werden können,
so dass der Kranke das Tischchen weder verrücken,
noch es abnehmen kann, um etwa mit demselben
gewaltthätig zu werden. Gleichzeitig dient das Tisch¬
chen in willkommener Weise zur Verspannung der
Wände der Badewanne bei ungeberdigen Patienten.
Um bei sehr widerstrebenden Kranken die Ein¬
gewöhnung in das Dauerbad zu erleichtern, oder
zerstörende, z. B. Scheiben einschlagende oder ein¬
werfende, Kranke daran zu hindern, hat uns wieder¬
holt eine einfache Vorrichtung, die an jeder Wanne
je nach Bedarf befestigt werden kann, gute Dienste
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174
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 20.
geleistet. Dieselbe besteht aus einem eisernen Reif,
der der Form der Badewanne entsprechend gebogen
ist und am Fussende durch ein Gewinde ungefähr
15 cm vom oberen Rand der Wanne festgeklemmt
werden kann. Der Reif trägt in je ca. 15 cm Ent¬
fernung eine Anzahl von Messingknöpfen, an wel¬
chen ein Segeltuchdeckel, der am Kopfende eine
breite Oeffnung besitzt, auf die Wanne festgeknöpft
werden kann, den Kranken am Spritzen hindert und
die rasche Abkühlung des Badewassers, besonders im
Winter, in recht wünschenswerther Weise erschw ert. Be¬
sagter Reif erlaubt ferner in sehr bequemer Art das
Anknäpfen einer Schwebe, um auf diese schwache
decubitöse Kranke zu lagern, welche ohne dieselbe
fortwährend gestützt werden müssten.
Gegen die Anwendung des Deckels, besonders
wenn derselbe nur eine kleine Oeffnung für den Hals
besitzt, werden sich viele Collegen und zwar mit
Recht sträuben, denn ein solches Deckelbad ist
m. E. ein Restraint, das nur noch davon übertroffen
wird, wenn man einen Kranken durch Wärterhände
im Bad festhalten lässt. Jedenfalls ist es auch ein
schlimmeres Zwangsmittel als die Isolirung in einer
Zelle; denn der geringe Vortheil, dass der Kranke
im Bad Überwacht ist, wird durch seine zwangsmässige
Festhaltung in demselben reichlich wett gemacht‘ünd
ich möchte es unter Umständen als das kleinere
Uebel ansehen, einen erregten Kranken in einem
Einzelzimmer unterzubringen, zwar unüberwacht, je¬
doch mit der Möglichkeit freier Bewegung, und der
Kranke wird wahrscheinlich auch dieser Ansicht sein.
— Deckelbäder halte ich daher, allgemein gesagt,
nur im Nothfall für erlaubt.
Das heisse Wasser entstammt einem in unmittel¬
barer Nähe befindlichen Boyler.
Um Verbrühungen zu verhindern, haben wir ge¬
glaubt, die in vielen Anstalten gebräuchlichen Misch¬
hähne entbehren zu können, die in ihrer Construk-
tion vielfach zu complicirt und infolge davon un¬
zweckmässig sind und wegen der wechselnden Druck¬
verhältnisse zwischen dem warmen und kalten Wasser
doch oft ihre Bestimmung: eine möglichst constante
Temperatur des Mischwassers herzustellen, nicht er¬
füllen. Beschädigungen dieser Art suchen wir durch
den Betrieb selbst in einfacher Weise zu hindern.
Der Wärter ist nämlich verpflichtet bei jeder Neu¬
füllung der Wanne den Patienten aus derselben
heraustreten zu lassen, er muss mit dem Thermo¬
meter und einer Hand das Badewasser*) prüfen
*) Die Temperatur des Bades beträgt je nach Anordnung
35 — 38° C, bei stärker erregten Kranken wenden wir öfters
die höheren Temperaturen mit gutem Erfolg an.
und darf dann erst den Kranken wieder hinein¬
setzen. Thatsächlich sind auf diese Weise bisher
jegliche Verbrühungen vermieden worden.
Bezüglich der inneren Ausrüstung des Bade¬
raumes könnte noch erwähnt werden: ein Schild
mit der Aufschrift: Bade-Wärme 35 — 38° Celsius,
eine grosse Holztafel, auf der die Namen der
Badenden verzeichnet sind, und eine gedruckte In¬
struction für den Badewärter. Ausserdem ist eine
Doppel sch eile, d. h. zum Hin- und RückscheUen,
vorhanden, damit der Wärter eventuell sofort weitere
Hülfe herbeiziehen kann.
Bezüglich des Betriebes möchte ich noch be¬
merken, dass in dem grossen Dauerbad bisher nur
Tagbetrieb eingeführt ist. Die Kranken kommen
morgens gleich nach dem Kaffee, den sie auf ihren
Abtheilungen einnehmen, gegen 8 Uhr in das Bad
und zwar werden sie von Wärtern ihrer Abtheilung
dorthin geführt durch einen im Souterrain befind¬
lichen Gang, ein nicht gering zu schätzender Vor¬
theil, weil sie auf diese Weise bei ihrem Durchgang
die in den betreffenden Sälen befindlichen Kranken
nicht beunruhigen. Sie bleiben dann den ganzen
Tag über im Wasser und nehmen auch das Früh¬
stück, Mittagessen, Kaffee und Abendessen in dem¬
selben ein, zu welchem Zwecke die oben erwähnten
Tischchen sich sehr brauchbar erwiesen haben.
Abends 8 Uhr verlassen sie das Bad und werden
wieder auf ihre Abtheilung abgeholt.
In den Aufsichtsdienst im Dauerbad theilen sich
für jede Woche zwei Wärter der Art, dass 3 V2 Tage
der eine und 3 */2 der andre den Wachdienst hat.
Zum Schutz gegen Nasswerden der Füsse infolge
des von den Kranken verspritzten Wassers trägt das
Personal Lederschuhe mit Holzsohlen und Stroh¬
oder Asbestsohleneinlage. Die Schuhe werden nur
ein über den andren Tag des Trocknens wegen
benutzt und öfters eingefettet. Bei sehr üblen Kran¬
ken werden zum Schutz der Kleider gegen das
Spritzen wasserdichte Mäntel von Battist getragen,
doch werden dieselben selten benöthigt und auch
nicht gern getragen, weil der undurchlässige Stoff
die Verdunstung der Körperoberfläche sehr behin¬
dert und die Betreffenden bald unerträglich schwitzen.
Mäntel von dichtem Leinenstoff, welcher erst durch
das Benetzen undurchlässig wird, wie sie die Förster
und Waldarbeiter benutzen, sind entschieden mehr
zu dem gedachten Zweck zu empfehlen.
Für schlaflose nicht lärmende Kranke benutzen
wir im Interesse der Schonung des Personals nach
wie vor während der Nacht zu Dauer- oder ver¬
längerten Bädern direkt an die Wachsäle angrenzende
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1904.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
175
Badezimmer, so dass ein Wärter zur Aufsicht für
beide genügt oder wir verwenden fahrbare Bade¬
wannen (d. h. gewöhnliche Wannen, die auf ein
fahrbares Holzuntergestell gesetzt werden) zu diesem
Zweck und stellen dieselben in einen Wachsaal. Dem
Personal und Kranken steht es frei nach Wunsch
im Badraum zu rauchen oder Tabak zu kauen, letz¬
teren auch zu lesen; nur wenige Patienten werden
aber durch dieses Mittel beschäftigt und abgelenkt,
die Mehrzahl macht von Cigarren etc. einen un¬
zweckmässigen Gebrauch, so dass man bald bei sol¬
chen davon zurückkommt, doch muss man immer
wieder einmal einen Versuch damit machen.
Es wurde oben schon einmal erwähnt, dass man
unter Umständen aucn einmal 2 Patienten in einer
entsprechend grossen Wanne unterbringen könne,
natürlich nur solche, die nach ihrer Grösse und Ver¬
träglichkeit zu einander passen, in der Art, dass sie
durch das Esstischchen von einander getrennt sind.
Der Raum ist zwar dann recht beschränkt, und des¬
halb ist dieses Vorgehen, zu dem auch wir uns nur
unter Bedenken zeitweilig entschlossen haben, kaum
zu empfehlen, wohl aber zu rechtfertigen. Im Noth-
fall halte ich diese Unterbringung um so eher für
erlaubt, als die Kranken sich überraschend leicht da¬
reinfinden und die ganze Maassregel doch nur in
ihrem eignen Interesse und in dem ihrer Umgebung
getroffen wird, welch letztere andernfalls durch das
unsociale Verhalten der Betreffenden sehr leiden
müsste. Sich verunreinigende Kranke dürfen selbst¬
verständlich nie mit anderen zusammen in einer
Wanne untergebracht werden.
Der aufmerksame Leser wird, wie schon erwähnt,
bei der Beschreibung unseres Dauerbades die Reali-
sirung mancher eingangs erhobenen Postulate ver¬
misst haben; et mag sich darüber nicht erstaunen,
denn es handelte sich für uns zunächst um einen
Versuch und verschiedene meiner idealen Forder¬
ungen sind erst aus den hier gesammelten Erfahr¬
ungen und Unvollkommenheiten hervorgegangen;
theoretische Erwägungen hinken auch hier wie so oft
den Thatsachen nach, ohne deshalb überflüssig zu
sein.
Ich habe aber geglaubt, unsere Erfahrungen zu¬
sammenstellen zu sollen, um sie auch anderen nutz¬
bar zu machen und ihnen bei der Errichtung grösserer
Dauerbäder gewissermaassen als Richtschnur dienen zu
lassen oder ihnen wenigstens brauchbare Winke zu
geben, worauf es besonders ankommt
Ich bin überzeugt, dass man vielleicht auf andre
Weise unsere Einrichtung hätte vollkommener ge¬
stalten können, immerhin vermag dieselbe aber zu
zeigen, dass sich schon mit relativ geringem Auf¬
wand (die ganze Einrichtung kostete 3300 M.) selbst
aus keineswegs idealen Räumlichkeiten und sonstigen
Verhältnissen durchaus brauchbare und empfehlens-
werthe Etablissements herstellen lassen.
lieber Wägungen und Körperpflege des Pflegepersonals.
Von Oberarzt Dr. Tomaschny , Treptow a. Rega.
T Tnter den Fragen, welche den praktischen Psy-
chiater unablässig beschäftigen, ist eine der
wichtigsten die das Pflegepersonal betreffende. In
der richtigen Erkenntniss von der hohen Bedeutung
eines guten Pflegepersonals ist man überall dauernd
bemüht, die Gehalts- und Pensionsverhältnisse dieses
Standes nach Möglichkeit zu heben und sich dadurch
möglichst brauchbare Elemente für den Anstalts¬
dienst zu sichern. Eine nicht minder wichtige Auf¬
gabe ist es aber, auch darüber zu wachen, dass das
Personal den hohen Anforderungen, die sein schwerer
Beruf an es stellt, körperlich gewachsen bleibt,
und darum ist es Pflicht, den Gesundheitszustand
des Personals dauernd zu kontroliren und hier nach
Möglichkeit helfend und verbessernd einzugreifen.
Die Mittheilungen Wickel’s über „das Körper¬
gewicht bei der Dauemachtwache“ veranlassen mich,
in Kürze die Maassnahmen zu besprechen, welche
sich zur Körperpflege des Pflegepersonals an der
Provinzialirrenanstalt zu Treptow a. Rega bewährt
haben. Dieselben beziehen sich hauptsächlich auf
die Beköstigung, auf die Regelung der Dienst- und
Urlaubsverhältnisse. Ich bin mir wohl bewusst, nicht
wesentlich Neues zu bringen, möchte nur betonen,
dass systematisches Vorgehen in der erwähnten Rich¬
tung von grösster Bedeutung ist.
Die Beköstigung des Personals ist die nämliche
wie die der Kranken der sogenannten Normalklasse.
In neuester Zeit ist hier — wie auch in den beiden
anderen Pommerschen Anstalten zu Lauen bürg
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i?6
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 20.
und Ueckermünde — eine Verbesserung insofern
eingeführt, als jetzt das gesaramte Personal die
sogenannten Frühstückszulagen (Wurst, Speck, Eier
etc.) erhält, die früher nur an arbeitende Kranke
abgegeben wurden. Hierdurch ist ein Grund zur
Unzufriedenheit und eine Härte beseitigt, welche
zweifellos darin bestand, dass das Personal, welches
bei der Arbeit den Kranken mit gutem Beispiel
vorangehen soll, sich schlechter verpflegt sah als die
Kranken. Sodann hat diese Verbesserung in der
Verpflegung auch die Annehmlichkeit mit sich ge¬
bracht, dass jetzt endlich die früher so häufigen
Klagen der Kranken über Entziehungen oder Kürz¬
ungen der ihnen bewilligten Zulagen durch die Pfleger
verstummt sind. Dass den Pflegern unter besonderen
Umständen, wie Angegriffensein, Erkrankung, Recon-
valescenz und dergleichen, eine eigene zweckent¬
sprechende Diät verordnet wird, ist selbstverständ¬
lich. Damit es nun jederzeit möglich ist, für den
Gesundheitszustand des Personals in rascher Weise
einen Ueberblick zu verschaffen, haben wir hier zu
dem bei Kranken ja allgemein üblichen Mittel der
regelmässigen Wägungen gegriffen. Schon seit vier
Jahren haben wir bei sämmtlichen Pflegern und
Pflegerinnen am Ersten jeden Monats das Körper¬
gewicht festgestellt und die Gewichtszahlen vom
Oberpflegepersonal in Listen eintragen lassen. Diese
Listen werden regelmässig von den Abtheilungs¬
ärzten geprüft und bilden den Ausgangspunkt für
die weiterhin etwa zu treffenden hygienischen Maass¬
nahmen. Wenn man eine solche Gewichtstabelle
näher ansieht, so fällt sofort auf, dass abgesehen von
einzelnen ganz wenigen Ausnahmen bei allen Pflegern
und Pflegerinnen in den ersten Wochen des Anstalts¬
dienstes eine auffallende Gewichtszunahme eintritt,
eine Erscheinung, auf die Hitzig schon in seiner
„Kostordnung***) —pag. 71 — hinweist. Wir haben
hier Gewichtszunahmen bis zu 5 kg innerhalb der
ersten 4 Wochen beobachtet. Wir dürfen die Gründe
für diese auffallende Erscheinung wohl einmal in der
grossen Regelmässigkeit der Lebensweise vermuthen,
zu welcher — im Gegensatz zu der bisherigen Lebens¬
weise — die neu Eingetretenen durch die Anstalts¬
ordnung genöthigt sind, sodann vielleicht in dem
Umstande, dass den Neulingen im Anstaltsdienst
naturgemäss immer nur diejenigen Posten angewiesen
werden, die mit einer geringen Verantwortlichkeit
verbunden sind und eine wenig aufregende Thätig-
keit erfordern. Andererseits darf aber auch nicht
*) Die Kostordnung der psychiatrischen und Nervenklinik
der Universität Halle-Wittenberg von E. u. Ed. Hitzig, Jena
1897.
imerwähnt bleiben, dass das Pflegepersonal in der
Anstalt eine in Bezug auf Menge und Güte allen
gerechten Anforderungen vollauf entsprechende Kost
erhält, wie sie draussen den Ständen, aus denen
hier das Personal zum grössten Theil hervoigeht,
wenigstens nicht zu allen Zeiten geboten wird. Das
durch den raschen Anstieg in den ersten Wochen
erreichte Körpergewicht hält sich jedoch nur selten
auf der gleichen Höhe, es tritt ziemlich bald und
zwar zumeist fast ebenso plötzlich ein stärkerer Ab¬
fall ein — doch so, dass fast immer im Vergleich
zu dem Körpergewicht beim Eintritt in den Dienst
noch ein deutliches Plus zu erkennen ist — und
daran schliessen sich dann die eben bei fast jedem
Menschen regelmässig zu beobachtenden Gewichts¬
schwankungen an, die gewissermaassen als physiolo¬
gisch zu bezeichnen sind und keiner besonderen
Berücksichtigung bedürfen. Tritt nun aber in einem
Falle ein besonders auffallendes Nachlassen des
Körpergewichtes ein, namentlich mit der Tendenz
eines dauernden Abfalles, so wird sofort nach der
Ursache dieser Erscheinung gesucht In den meisten
Fällen zeigt es sich dann — es handelt sich hierbei
fast ausschliesslich um Pflegerinnen — dass mehr
oder minder starke chlorotische Beschwerden ver¬
bunden mit allerhand nervösen Störungen vorliegen.
Neben der entsprechenden arzneilichen und diäte¬
tischen Behandlung, die diesen Pflegerinnen zu theil
wird, werden dieselben dann bei der Vertheilung
des Dienstes sowie bei den stets in möglichst aus¬
gedehntem Maasse gewährten kürzeren oder längeren
Beurlaubungen besonders berücksichtigt.
Die Vertheilung des Dienstes besorgt im All¬
gemeinen das Oberpflegepersonal, welches allwöchent¬
lich einen hierüber aufgestellten Plan dem Anstalts¬
direktor zur Genehmigung vorlegt. Bei Aufstellung
dieses Planes wird auch hier nach Möglichkeit dafür
Sorge getragen, dass die einzelnen Pfleger und Pflege¬
rinnen in ständigem Wechsel auf den einzelnen Ab¬
theilungen resp. ausserhalb der Stationen (Feld- und
Gartenarbeit pp.) beschäftigt werden. Auf diese
Weise werden die einzelnen Personen in die mannig¬
fachen Zweige des Dienstes, der ja auf den ver¬
schiedenen Abtheilungen ein ganz verschiedener ist,
rasch eingeweiht, sodann wird aber hierdurch einer
gerechten Vertheilung des je nach den Abtheilungen
mehr oder minder schweren Dienstes Rechnung ge¬
tragen und so nach Möglichkeit einer Ueberanstreng-
ung des Einzelnen vorgebeugt.
Auch bei Anweisung der Schlafplätze für die
Nacht tritt in Zwischenräumen ein Wechsel derart
ein, dass die einzelnen Personen bald auf den ruhigen.
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1 9 ° 4 -]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
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bald auf den unruhigen Abtheilungen übernachten.
Im Allgemeinen schläft das Personal hier in gemein¬
samen Räumen mit den Kranken und erblickt hierin
das natürliche Verhältniss und keine besondere ver¬
antwortliche Anstrengung. In den Pflegeabtheilungen
erscheint eine solche Anordnung auch unbedenklich.
Eine Ausnahme hiervon bilden nur die Wachsäle
für unruhige Kranke. Hier schlafen die Pfleger resp.
Pflegerinnen in einem an den Wachsaal anstossenden
Raum, von wo sie nötigenfalls von der Wache jeden
Augenblick zur Unterstützung herbeigerufen werden
können. Falls das Personal durch Unruhe auf der
Abtheilung oder durch irgend welche andere Um¬
stände in der Nachtruhe erheblich beeinträchtigt
worden ist, so wird ein besonderer Schlafurlaub ge¬
währt
Für diese Zwecke sind gesondert von den Kran¬
kenräumen in einer Abtheilung 2 besondere Schlaf¬
zimmer eingerichtet In diesen Zimmern schlafen
auch die Nachtwachen. Als Nachtwache haben wir
auch hier vor 3 V2 Jahren die sogenannte „schottische
Wache“ eingeführt. Dieses System wird seitens des
Personals allen anderen Anordnungen bei weitem
vorgezogen, und wir können auf Grund unserer
mehrjährigen Beobachtungen die auch anderwärts
gemachten Erfahrungen bestätigen, dass hierdurch
der Gesundheitszustand des Personals durchaus nicht
in irgend einer nachtheiligen Weise beeinflusst wird.
Meist sind die einzelnen Personen 14 Tage mit der
Wache beschäftigt Während der Nacht erhält die
Wache 15 g Kaffee, V2 1 Milch, 240 g Semmel, 35 g
Butter. Der Tag ist für die Wache vollkommen
dienstfrei. Es wird darauf geachtet, dass die Wachen
sich nicht durch allzu grosse Spaziergänge zu sehr
übermüden.
Wie noch bemerkt sei, hat die Oberpflegerin
die Weisung darauf zu achten, dass die Pflegerinnen
zur Zeit der Menses keinen Nachtwachtdienst thun.
In Bezug auf die Ertheilung von Urlaub wird
möglichstes Entgegenkommen gezeigt Es befinden
sich fast ständig 1 — 2 Pflegepersonen auf einem
längeren Erholungsurlaub, dessen Dauer je nach
Umständen 1—2—3 Wochen beträgt Dieser längere
mehrwöchentliche Urlaub wird besonders von den
Pflegerinnen gern in Anspruch genommen, während
die Pfleger einen wiederholten mehrtägigen Urlaub
vorziehen. Auch der kürzere, nur mehrere Stunden
betragende Urlaub wird möglichst häufig gewährt.
Damit derselbe aber auch wirklich zur Erholung be¬
nutzt werden kann, was unbedingt ein Fernbleiben
von den Krankenabtheilungen voraussetzt, sind für
die Pflegerinnen 2 freundliche Zimmer in behag¬
licher Weise eingerichtet, die namentlich im Winter
und bei ungünstiger Witterung in recht ausgiebiger
Weise von den Beurlaubten benutzt werden. Auch
den Pflegern steht ein Erholungszimmer zur Ver¬
fügung.
Zum Schluss sei noch erwähnt, dass auch in den
regelmässigen Pflegerkursen auf hygienische Belehr¬
ung des Personals besonderes Gewicht gelegt wird,
und zwar nicht blos in Bezug auf die Kranken, son¬
dern auch in Bezug auf die eigene Körperpflege.
Und es ist erfreulicherweise zu bemerken, dass das
Personal den gegebenen Weisungen auch Folge
leistet. Namentlich 2 gesundheitsfördernde Maass¬
nahmen sind es, für die die Neueingetretenen unter
dem Personal sich immer sehr rasch zugänglich
zeigen, nämlich die regelmässigen Bäder und die
geordnete Mundpflege. Gerade dieses Gebiet
der Körperpflege liegt ja bei den Leuten der niederen
Stände recht im Argen, und oft genug haben uns
schon verschiedene Pflegepersonen ihre Zufrieden¬
heit darüber ausgedrückt, dass sie hier die Seg¬
nungen dieser hygienischen Maassnahmen kennen
geleint haben.
Mittheilungen.
— XXIX. Wanderversammlung der süd¬
westdeutschen Neurologen und Irrenärzte am
28. und 29. Mai 1904 in Baden-Baden. (Referent
Dr. Krauss-Kennenburg.) (Schluss.)
21. F. Jam in-Erlangen: Ueber das Ver¬
halten der Bauchdeckenreflexe bei Er¬
krankungen der Abdominalo r gane.
Bei den akuten, stürmisch verlaufenden Erkrankun¬
gen der Bauchorgane bezw. des P^^neums werden
die Hautreflexe am Abdomen viel l^figer und regel¬
mässiger verändert, als bei den chronischen. Für die
Krankheiten im weiblichen Becken hat Bodon (Cen¬
tralblatt für Gynäkologie 1898) Aehnliches gefunden.
Am klarsten liegen die Verhältnisse bei der Peri¬
typhlitis, besonders da hierbei meist jugendliche Per¬
sonen mit normalen, sehr lebhaften Bauchdecken¬
reflexen in Frage kommen. Im perityphlitischen Anfall
ist in der Regel der rechte Bauchdeckenreflex aufge¬
hoben oder stark abgeschwächt, während der linke
gut auslösbar bleibt. Häufig wird nur der rechte
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HARVARD UNIVERSITY
178
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 20.
subumbilikale Reflex vermisst oder abgeschwächt ge¬
funden, dann aber auch der rechte Leistenreflex.
Gehen die Krankheitserscheinungen zurück, so kehrt
der Reflex alsbald wieder, ebenso wenn durch einen
chirurgischen Eingriff ein Abscess entleert, der Wurm¬
fortsatz entfernt worden ist und die Wunde glatt ver¬
heilt ist. Wie hier der untere, so wird der obere rechte
Abdominalreflex abgeschwächt oder aufgehoben bei
Gallensteinkolik, Cholecystitis und akuter Leberschwel¬
lung. Geringere klinische Bedeutung hat das doppel¬
seitige Fehlen der Bauchreflexe bei akuter diffuser
Peritonitis, da hier der Vergleich mit der gesunden
Seite fehlt. Die rein mechanischen Veränderungen
der Bauchwandspannung durch Tumorbildung etc.
vermögen diese Reflexstörung nicht zu erklären.
Bei chronischen Abdominalerkrankungen mit starker
Veränderung der Configuration des Leibes (Ascites,
grosse Tumoren, tuberkulöse Peritonitis) werden nicht
selten deutlich auslösbare Bauchdeckenreflexe gefunden.
Bei Schädigung der Muskeln, der Nerven oder der
nervösen Zentren kehren die Reflexe auch nach dem
Abklingen der ursächlichen Erkrankung nicht so rasch
wieder (Oppenheim). Die Schmerzempfindung
kann nicht allein das Zustandekommen der Muskelcon-
traction verhindern; die Bauchdeckenreflexe können
aktiv kaum unterdrückt werden; bei Perityphlitis fehlt
auch der Reflex auf Reizung der schmerzfreien
Medialseite des Oberschenkels; bei Ulcus ventriculi
besteht häufig in segmentär abgegrenzter Zone Hyper-
ralgesie und dabei sind die Hautreflexe in dem be¬
treffenden Gebiet erhöht (Hänel). Es scheint sich
um eine sogenannte spastische Reflexlähmung zu
handeln, die verursacht ist durch die mit der entzünd¬
lichen Reizung in einem Sympathicusgebiet einher¬
gehende reflektorische Muskelspannung im zugehörigen
Segment. Diese Bauchdeckencontractur ist bekannt und
gilt als ein diagnostisches Merkmal für die acuten
peritonitischen Erscheinungen. Für die Diagnose der
Appendicitis gewinnt so die Prüfung der Bauch¬
reflexe einige Bedeutung; zumal da sie schonender
und ungefährlicher ist als die Palpation. Differential¬
diagnostisch kommt sie namentlich gegenüber der
sogenannten hysterischen Pseudoperityphlitis in Betracht,
insofern als bei dauernd beiderseits lebhaft auslösbaren
Bauchdeckenreflexen das Bestehen einer acuten orga¬
nischen Erkrankung in der Ileocöcalgegend recht
unwahrscheinlich ist. Ferner weisen diese Beobach¬
tungen über Reflexstörungen bei Erkrankungen der
Abdominalorgane wiederum darauf hin, dass der Reflex¬
mechanismus für die Abdominalreflexe, wenn er sich
auch meist wohl langer Bahnen bis zur Hirnrinde
bedient, doch im hohen Grade dem Einfluss der
spinalen Centren bezw. der dort einlaufenden sympa¬
thischen Bahnen untersteht. (Autoreferat.)
22. B u mke - Freiburg i. Br. Untersuchung
über den galvanischen Lichtreflex.
Schwache galvanische Ströme lösen bekanntlich
am Auge eine Lichtempfindung aus, eine Reaction,
die normalerweise zuerst bei Anodenschluss und zwar
schon bei Stromstärken zwischen Vso und Vs M. A.
auftritt.
Etwas starke Ströme haben nun ausserdem auch
einen pupillömotorischen Effect zur Folge, eine Wirkung,
die natürlich quantitativ geringfügig und nicht intensiver
ist als die durch entsprechend kleine, normale optische
Reize ausgelöste Pupillenverengerung, und die deshalb
nur mit geeigneten Vergrösserungsapparaten (Westien-
schen Lupe) sichtbar gemacht werden kann. Die
an 29 Gesunden und 87 Kranken angestellten Unter¬
suchungen, über die B. berichtet, wurden in folgender,
Weise vorgenommen: Eine grosse Electrode wurde
auf dem Sternum befestigt, oder der Versuchsperson
in die Hand gegeben, die kleinere Reizelectrode dagegen
dicht neben dem Auge auf die Schläfe gesetzt oder, wenn
nur die consensuelle Reaction geprüft werden sollte,
direct über dem geschlossenen, durch eine Watte¬
schicht vor jedem Drucke geschützten Auge befestigt.
Infolgedessen waren die absolut kleinsten wirksamen
Reize bei der consensuellen, nicht bei der
directen Reaction festzustellen. — Die nothwendigen
Stromstärken wurden an einem Edelmann’schen Präci-
sionsgalvanometer abgelesen.
Normaler Weise waren nun, wenn der Strom von
der Schläfe her durch das Auge geleitet wurde, Strom¬
stärken von durchschnittlich 2,4 M. A. (0,7 bis 5,0),
bei directer Befestigung der Electrode über dem
Auge solche von 0,3 (0,04 bis 0,8) erforderlich,
um durch jeden Anodenschluss eine deutliche active
Verengerung der gleichzeitigen und der contralateralen
Pupille um 1 bis 2 mm auszulösen. — Nächst dem
Anodenschluss ist zuerst wirksam die Kathodenöffnung,
während Anodenöffnung und Kathodenschluss meist
erst bei viel stärkeren Strömen die Pupille sichtbar
beeinflussen. — Eine anscheinend sehr schnell ein¬
tretende Ermüdung des Reflexes macht übrigens auch
bei der gewöhnlichen Reizung durch Anodenschluss
oft schon nach der vierten oder fünften Schliessung
des Stromes eine Erhöhung der Stromstärke erforder¬
lich. Länger dauernde Kathodenschliessung schien
zuweilen eine Erholung, Anodenschluss eine nach¬
haltigere Erschöpfung zu bewirken.
B. hat nun versucht, den galvanischen Lichtreflex
für die Entscheidung der Frage zu verwerthen, ob und
welche Unterschiede zwischen der directen und der con¬
sensuellen Lichtreaction bestehen; das Resultat ist
kein eindeutiges: es giebt Individuen, bei denen der
Reflex an dem direct gereizten Auge früher eintritt,
als an dem anderen, bei einer etwas grösseren Anzahl
dagegen ist ein solcher Unterschied, auch mit dieser
Methode, nicht festzustellen.
Dann wurde die galvanische Licht- und Reflex¬
empfindlichkeit bei Untersuchungen benutzt, die das
Verhalten der Pupille in Erschöpfungszuständen be¬
trafen. Es wurden insgesammt 104 Einzelbeobach¬
tungen an 13 Gesunden (Pflegern und Pflegerinnen
der Klinik) vorgenommen und zwar abwechselnd nach
je einer normal durchschlafenen oder einer durch¬
wachten Nacht. Die Ergebnisse waren folgende: Die
Pupillen aller Untersuchten waren am Morgen nach
einer durchwachten Nacht regelmässig weiter (um ca.
1,0 — 1,5 mm) als zu der gleichen Zeit an anderen
Tagen. Die Reaction auf Licht und ebenso die bei
der Convergens war bei der Prüfung mit den ge¬
wöhnlichen Untersuchungsmethoden gegen die Norm
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HARVARD UNiVERSITY
1 9 ° 4 -]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
179
nicht verändert, dagegen die Empfindlichkeit der Iris
gegenüber sensiblen Reizen meist entschieden gesteigert,
„die Papillenunruhe“ vermehrt. — Bei der galva¬
nischen Untersuchung nun zeigte sich zunächst,
dass die galvanische Lichtempfindlichkeit in
diesen Erschöpfungszuständen etwas erhöht ist; die
Ref lex empfind lieh k eit dagegen wird durch die
gleiche Schädlichkeit vermindert. Während nor¬
malerweise, um einen directen oder consensuellen
galvanischen Lichtreflex auszulösen, nur 1V2 bis 4
mal so starke Ströme erforderlich sind, als wie um
einen Lichtblitz hervorzurufen, verhalten sich in der
Ermüdung Licht- und Reflexempfindlichkeit unter
Umständen wie 1 zu 40. —
(Die ausführliche Veröffentlichung erfolgt demnächst
in der Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der
Sinnesorgane.)
23. Spielmeyer-Freiburg i. B.: Ueber eine
epileptische Form der Grosshirnencephalitis.
Von dem gewöhnlichen klinischen Typus der Gross¬
hirnencephalitis zweigen nach drei verschiedenen
Richtungen Reihen von Krankheitsbildern ab, die
durch das Prävalieren eines mehr weniger um¬
schriebenen Symptomes (des comatösen Allgemeinzu¬
standes, der Lähmungssymptome oder der motorischen
Reizerscheinungen) charakterisirt sind. Die epilep¬
tische Encephalitis ist die seltenste von diesen kli¬
nischen Formen, die sich rein nosographisch, nicht etwa
den Ausgängen oder den pathologischen Befunden nach
abgrenzen lassen.
Die Krampferscheinungen sind auch bei der En¬
cephalitis von zweifacher Art: sie treten als allgemeine
oder als lokalisirt bleibende, resp. lokalisirt be¬
ginnende Anfälle auf. Sie addiren sich in den um¬
schriebenen Fällen der epileptischen Form zu einer
„acuten passageren Epilepsie“.
Die differentialdiagnostischen Erwägungen, die hier
in Betracht kommen, weichen von den sonst üblichen
nicht ab; sie fordern in erster Linie eine Abgrenzung
vom Hirntumor.
(Eine eingehendere Abhandlung über dieses Thema
erscheint im Juniheft des Gaupp’schen Centralblattes.)
(Autoreferat.)
24. Dr. Starck-Heidelberg: Ueber Vorder¬
hornerkrankung nach Trauma. Fälle, in
welchen mit einiger Gewissheit ein Trauma als Ur¬
sache von chronischen, progressiv verlaufenden Läsionen
des Rückenmarks angesehen werden darf, sind in der
Literatur sehr spärlich verzeichnet.
Speciell über Poliomyelitis ant. chron. nach Trauma
hat als erster Erb Ende der qoer Jahre eine Publication
gemacht unter Erwähnung von zwei klinisch beobach¬
teten Fällen.
Stark berichtet über eine 47). Frau, die unmittelbar
nach einem Fall von einem Wagen auf Rücken und rechte
Schulter mit Schmerzen und zunehmender Schwäche
im rechten Arm erkrankte; baldfolgende Atrophie der
Oberarmmuskulatur. Am 23. Tage fibrilläre Muskel¬
zuckungen der rechten Schulter und Oberarmmus¬
kulatur, starke Atrophie in denselben Muskeln, part.
EaR in thenarund hypothenar. Vollständige Unbrauch¬
barkeit des rechten Armes. Bald Muskelzucken und
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Schwund der linken Schulter und Oberarmmuskulatur,
und fortschreidende Atrophie der Brust-, Rumpf- und
Bauchmuskeln, Oberschenkelmuskulatur und schliesslich
Exitus an Zwerchfelllähmung 9 Monate nach dem Un¬
fall. Fehlen jeder Sensibilitätsstörung, jeder Sphinc-
terenschwäche. Reflexe kaum vom Normalen ab¬
weichend. In den atropbirten Muskeln theils herabge¬
setzte Erregbarkeit, theils partielle Ea R, in der rechten
Oberarmmuskulatur cornplette Ea R. Mikrosk. Unter-
suchg.: Fast ausschliesslich parenchymatöse Ver¬
änderungen, Untergang der nervösen Elemente,
fast nichts von Entzündung.
Hochgradige Degenerationen in den Vorder¬
hörnern, Rarification der Ganglien, Gestalts-Struk¬
turveränderung, schlechte Färbbarkeit derselben, un¬
deutliche Umgrenzung. Markhaltige Nervenfasern
entsprechend rarificirt. Markscheiden vielfach
degenerirt, verdickt, blasig, eingeschnürt. Achsen-
cy lind er meist normal, nur vereinzelt verdick t t ge¬
trübt, blasig. Glia in der ganzen grauen Substanz
enorm gewuchert. Ganz spärliche schwer sichtbare
herdweise Degenerationen in Vorderhömern.
Entzündliche Processe fehlen fast ganz; in Gefäss-
scheiden kein Fett. Seltene kleine Infiltrate, keine
Haemorrhagie. Pia verdickt, nicht entzündlich, nur
hyperplastisch.
25. Dr. Heinrich Stadelmann-Würzburg:
Das Wesen der Psychose. Allgemeine Princi-
pien kommen aus der Analyse specieller Erscheinungs¬
formen; diese ersteren sind fernerhin maassgebend für
die Beurtheilung weiterer Phänomene.
Die von den Naturwissenschaften aufgefundenen
NothWendigkeiten bei speciellen Lebenserscheinungen
können mit diesem Recht auf alle Lebenserscheinungen
im Princip angewandt werden.
Das normale sowie das krankhafte veränderte
psychische Leben des Menschen unterliegt den Noth-
wendigkeiten, die von den Naturwissenschaften, der
Chemie und der Physik, gefunden wurden.
Die verschiedenartigen Bewegungsvorgänge (Licht-,
Luft- u. s. w. Bewegung) müssen sich zwecks Asso¬
ciation zu einer einheitlichen Energie im Gehirn um¬
wandeln , von wo aus sie sich zu den Muskeln ab¬
leiten; daraus resultirt ein Handeln, eine Drüsense-
cretion u. s. w.
Wenn auch der Annahme, diese Energie möge
die elektrische sein, mancherlei Ein wände entgegen-
gestellt werden können, so bestehen doch andererseits
wieder Thatsachen, die gerade diese Annahme recht-
fertigen.
Die Psychose hat zum Grunde eine irgendwie
chemisch und physikalisch constituirte Anlage und
ein Erlebniss (das stets chemischen oder physikalischen
Nothwendigkeiten gehorcht) als Ursache; als Drittes
erscheint im Sinne einer Reaktion des Grundes mit
der Ursache die Psychose.
Krankhaft verändertes psychisches Geschehen setzt
eine Alteration des Gehirnes voraus (durch Vergiftung
irgendwelcher Art, Uebermüdung, mechanische Ein¬
flüsse), die zur Folge Dissociationen haben.
Anatomisch nachweisbare Veränderungen am feinen
Bau sind secundärer Natur, entstanden durch chemische
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
i8o
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 20.
oder physikalische Einwirkungen. Es kommt hier die
Frage der mehr oder weniger leichten Restitutio ad
integrum in Betracht.
Aus der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise
der Psychose ergeben sich grundlegende Sätze:
Bei der gesunden wie bei der kranken acuten
oder chronischen Gehimconstitution unterliegen die
Bewegungsreize gleichen NothWendigkeiten bei ihrer
centralen Verwerthung; bei der Psychose erscheint in¬
folge veränderten Grundes das psychische Geschehen
als Zerrbild des Normalen; jedes psychotische Geschehen
findet wenigstens seinem Wesen wenn auch nicht der
Form nach ein Analogon im normalen psychischen
Geschehen; für das Zustandekommen einer bestimmten
Psychose muss ein bestimmter äusserer Bewegungsreiz
auf die zu psychotischem Geschehen gewissermaassen
vorbereitete Anlage wirken; dieser Bewegungsreiz wird
ein Theil der Psychose; die geistige Gestörtheit ist
ein Theil der Psychose, die einen grössem Symptomen-
complex umfasst.
— Ueber die Resultate der Behandlung von
Kretins mit Schilddrüse veröffentlicht in der Wiener
Klin.Wochenschr. v. 28. VII. der Wiener Psychiater Pro¬
fessor Wagner v. Jauregg einen ausführlichen Be¬
richt. Der Gelehrte, von dem die Anregung zu dieser
wissenschaftlich probablen Behandlungsweise ausging,
ist nach praktischer Erprobung seines Heilverfahrens
der Ansicht, dass die Schilddrüsenbehandlung zweifel¬
los auf die körperliche und geistige Entwickelung von
Idioten und Kretins einen ausserordentlich günstigen
Einfluss ausübe. Wagner behandelte 52 Kretins aus
Judenburg in Steiermark, im Alter von zwei bis dfrei-
undzwanzig Jahren — schon nach drei Monaten ist
bei den Kindern Wachstum, Abmagerung, Besserung
der Blutbeschaffenheit festgestellt worden. Viele holten
alles Versäumte in kurzer Zeit nach, es stellte sich
bald Sprechvermögen ein, die Kinder sangen und
wurdeu zum Schulbesuch geeignet, auch die Kröpfe
verschwanden bald; die Kinder sollen sich nach zwei
Jahren nicht mehr viel von normalen Dorfkindern
unterschieden haben.
— Von der Zunahme der Geisteskranken in
Berlin. In der städtischen Irrenpflege befanden sich
Ende Juni dieses Jahres 6854 Kranke, während Ende
Juni vorigen Jahres die Zahl dieser Kranken erst 6589
gewesen war. Die Zunahme beträgt wieder 265
Kranke. Von den Kranken des laufenden Jahres
wurden Ende Juni nur 3941 in den eigenen Anstalten
der Stadt, in Dalldorf, Herzberge und Wuhlgarten,
verpflegt. 2330 Kranke waren in den zur Aushilfe
mitbenutzten Privatanstalten und 583 in Familien¬
pflege untergebracht. Ende Juni vorigen Jahres hatten
sich 3932 Kranke in den eigenen Anstalten, 2114 in
privaten Anstalten und 543 in Familienpflege befunden.
Fast der ganze Zuwachs an Kranken, den die städ¬
tische Irrenpflege seit dem vorigen Jahre hatte, hat
wieder den privaten Anstalten und der Privatpflege
zugeführt werden müssen. Namentlich die Be¬
nutzung privater Anstalten nimmt immer mehr zu,
weil die eigenen Anstalten der Stadt seit langem
voll besetzt sind. Wenn die Irrenanstalt in Buch
fertig ist, wird auch sie nur die Hälfte der in pri¬
vaten Anstalten oder in Familienpflege untergebrach¬
ten Kranken aufnehmen können.
— Bonn. Geheimrath Prof. Dr. Pelm an, der
Direktor der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt, hat
am 1. August zum letzten Male den klinischen
Unterricht in der psychiatrischen Klinik abgehalten.
Seine Hörer hatten aus diesem Anlass den Saal mit
Blumen und Pflanzen reich geschmückt und be-
grüssten den scheidenden Lehrer beim Eintritt in
studentischer Weise. Stud. Eichelberg dankte Herrn
Geheimrath Pelman für seineThätigkeit als akade¬
mischer Lehrer und wünschte ihm, dass er im Ruhe¬
stände noch eine lange Reihe von Jahren in geistiger
und körperlicher Rüstigkeit verleben möge. Geheim¬
rath Pelman entgegnete sichtlich bewegt, es sei eine
besondere Ehre für ihn, dass am Ende des Semesters
noch eine so grosse Zahl von Studirenden zu ihm
gekommen sei und es sich nicht habe nehmen lassen,
zu seiner Ehrung den Hörsaal so schön zu schmücken.
Er sei den Studirenden dankbar, dass sie zu einer
nicht sehr geeigneten Zeit, zwischen 3 und 4 Uhr
nachmittags, immer in grosser Zahl erschienen und
mit grossem Interesse den Vorlesungen gefolgt seien,
sodass er dem Sprecher wohl glaube, dass die Hörer
etwas gelernt hätten. Er denke nicht daran, völlig
in den Ruhestand zu treten, sondern er gebe nur
die Leitung der Anstalt und der Klinik auf. Wenn
seine Hörer ihn also weiter hören wollten, stehe er
gern zur Verfügung.
Referate.
— Dr. Hermann Kornfeld, Verbrechen
und Geistesstörung im Lichte der altbibli¬
schen Trad i tion. Halle a.S. 1904. Carl Marhold.
Verf. erweist sich in dieser Abhandlung als ein
ausgezeichneter philologischer Kenner und grosser
Verehrer der altbiblischen Schrift. Zuerst analysiert
er den ersten Kriminalfall, den Sündenfall Adams und
Evas in allen Einzelheiten; als Schlussfolgerung er-
giebt es sich, dass das Verbrechen von der mosai¬
schen Lehre als Ungehorsam gegen Gott aufgefasst
werde, dass allen Gesetzen ein göttlicher Ursprung
innewohne. Im zweiten Theile wird das Verhältniss
zwischen Geist und Körper behandelt; nach altbibli¬
schen Anschauungen sei der Sitz der Persönlichkeit
im Blute, das Herz das Centrum der geistigen Vor¬
gänge, jedes Organ hätte besondere Beziehungen zu
geistigen Vorgängen. Eine Geistesstörung bestände
nur, wenn die Seele, die Persönlichkeit des Menschen
erkranke ohne Komplikation mit körperlicher Krank¬
heit Verbrechen und Seelenstörung seien prinzipiell
verschieden und bieten keine Übergänge.
Dr. Fritz Hoppe. Tapiau.
— Prof. Hoche, Zur Frage derZeugniss-
fähigkeit geistig abnormer Personen. Mit
einigen Bemerkungen dazu von Prof. Finger. Juri¬
stisch-psychiatrische Grenzfragen. Bd. * 1 , Heft 8.
Verf. greift die Bestimmung des § 56, I der Str.
P. O. an, indem er darauf hin weist, dass manche
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Original frnm
HARVARD UNiVERSITY
1904.]
PSYCHIATRBCH.NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
181
schwer oder auch nur leicht geistig erkrankte Per¬
sonen sehr wohl ehe genügende Vorstellung von
dem Wesen und der Bedeutung des Eides hatten,
dass aber trotzdem ihre Aussagen bedingt durch
krankhafte Einflüsse materiell ganz unbrauchbar
wären. Als Illustration giebt er die Geschichte eines
Falles, in dem eine Verurtheilung hauptsächlich auf
eine durch Vereidigung bekräftigte Aussage eines
Epileptikers erfolgte und späterhin nicht wieder auf¬
gehoben werden konnte. Verf. hatte bei diesem Epi¬
leptiker eine hochgradige Gedächtnisschwäche, Erin-
nerungsverfälschungen» kurz alle Eigenschaften nach¬
gewiesen, die die Verwerthung einer Aussage mit so
schwerwiegenden Folgen höchst bedenklich für das
Rechtsgefühl machen musste. Verf. hält eine Aende-
rung des § 56 für dringend nothwendig und schHesst
sich dem Vorschläge Aschaffenbuigs an: „unbeeidigt
sind zu vernehmen: Personen, welche zur.Zeit der
Vernehmung das 16. Lebensjahr noch nicht vollen¬
det hatten; ferner solche, deren Aussagungen oder
Wahrnehmungen durch Geisteskrankheit oder Geistes¬
schwäche beeinflusst sind.“ Finger stimmt von seinem
juristischen Standpunkte diesen Ausführungen im All¬
gemeinen zu; nur glaubt er, dass im vorliegenden
Falle weniger die Form des § 56 an dem rechtlich
bedenklichen Urtheile Schuld gewesen wäre als viel¬
mehr die ungenügende, kritische Würdigung des im
Prozesse verwendeten Beweismateriales seitens der
Richter. Dr. Fritz Hoppe, Tapiau.
— Dr. S. Reti, Sexuelle Gebrechen?
deren Verhütung und Heilung. Für Aerzte
und Laien. II. Aufl. Halle a. S. 1904. Carl Mar-
hold.
Verf. erörtert in seiner an Aerzte und Laien
gerichteten Schrift die wichtigsten Abschnitte des
normalen und krankhaften Sexuallebens insbesondere
Impotenz, Onanie, Pollutionen, geschlechtliche Per¬
versitäten, Nothzucht, Defloration, Geschlechtskrank¬
heiten und deren Prophylaxe. Aus seiner langjährigen
Praxis ilhistrirt er seine Ausführungen durch Einfü¬
gung zahlreicher, ausführlicher Krankengeschichten,
von denen einige auch für den Neurologen und
Psychiater schätzenswerthe Beiträge bilden.
Dr. Fritz Hoppe, Tapiau.
— Dr. Hans Stoll, Alkohol und Kaffee
in ihrer Wirkung a u f H erzle iden und ner¬
vöse Störungen.
Verf. sucht nachzuweisen, dass in jedem Falle
durch Genuss von Alkohol und Tropenkaffee ein ge¬
sundheitsschädlicher Einfluss ausgeübt werde, der
eine bedenkliche Höhe bei deren gewohnheitsraässi-
gem Zusammenwirken erreichen könnte. Absolute
Abstinenz beider Genussgifte sei in gewissen Berufs¬
klassen während der Dienstzeit unbedingt zu ver¬
langen wie bei Soldaten, Eisenbahn- und Postbeamten.
Es sei Au%abe des Staates, die Abstinenzbewegung
im allgemeinen Interesse zu fördern.
Dr. Fritz H 0 ppe, Tapiau.
— Dr. A. Kühner, Die N ^ rC ns chwiche
mit besonderer BerücksiQ» ^ e r
Geschlechtsnervenschwäche. 8. Aufl. Berlin
1904. Wilhelm Möller.
Die vorliegende Schrift behandelt in populärer
Darstellung die Ursachen und Krankheitsformen der
Neurasthenie und insbesondere der sexuellen Neura¬
sthenie. Verf. schildert im Anschlüsse daran die Mittel,
diesen Krankheiten vorzubeugen und sie zu heilen.
Dr. Fritz Hoppe, Tapiau.
— Dr. Meinert, Das Rothenkirchner
Eisenbahnunglück und der Alkohol. Die
Alkoholfrage. Bd. 1, H. I.
Verf. unterzieht die Gerichtsverhandlungen wegen
des Rothenkirchner Eisenbahnunglücks einer einge¬
henden Untersuchung, inwieweit Alkobolgenuss der
betheiligten Personen dabei mitwirkte und wie die
typischen Charakter Veränderungen chronischer Alko-
holisten die Aussagen modificirten. Der Process,
der mit der Veiurtheilung des Lokomotivführers Lohse
zu 2V2 Jahren Gefängniss endigte, ergab, dass der
Schuldige ein chronischer Alkoholiker war und im
Zustande von Alkoholintoxikation in sträflichster Weise
dadurch fahrlässig handelte, dass er durch ausser¬
ordentlich schnelles Fahren die Zeit wieder erbrin¬
gen wollte, die er um seines Vergnügens am Zechen
willen dienstwidrig vergeudet hatte. Besonders
weist Verf. darauf hin, wie .gering vom Publikum der
Eipfluss des Alkohols auf das Handeln des Men¬
schen geschätzt wird. Die grosse Masse sei der An¬
sicht, solange der Trinker noch nicht völlig betrunken
sei, hätten dessen Fähigkeiten in keiner Weise ge¬
litten — eine sehr bedenkliche Volksauffassung über
die vermeintliche Unschädlichkeit des Genusses selbst
beträchtlicher Alkoholmengen.
Dr. Fritz Hoppe, Tapiau.
— D r. jur. Eggers, Die Sonderaus¬
stellung zur Bekämpfung des Alkoholis¬
mus in Charl otten bürg. Die Al koho 1 frage
Bd. 1, H. I.
Verf. lenkt die Aufmerksamkeit auf diese Sonder¬
ausstellung, die sich in der Ausstellung für Arbeiter¬
wohlfahrt in Charlotten bürg, Frauenhof erstr. befindet.
Er weist auf die Ziele dar Alkoholgegner, der Mas¬
sigen wie der Enthaltsamen, hin, die Majorität der
Deutschen dahin zu bringen, mit der Bewegung zu
sympathisiren. Die Ausstellung hat den Zweck, die
Waffen, die dem Alkoholgegner in seinem Kampfe
zur Verfügung stehen, allgemein bekannt zu machen.
Verf. bittet für die Ausstellung um Unterstützung
durch Uebersendung von allen Dingen, die auf die
Alkoholbekämpfung Bezug haben, wie Statistiken,
Tabellen, bildlichen Darstellungen, Modellen, Appa¬
raten, Flugblättern, Zeitschriften und Büchern. In
dieser ständigen Ausstellung sollen von Zeit zu Zeit
Unterausstellungen specieller Gebiete veranstaltet
werden. Dr. Fritz Hoppe-Tapiau.
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HARVARD UNIVERSITY
l8 2
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 20.
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Rabaud: L’atavisme et les phenomenes teratologiques.
Bull, de la Soc. d’Anthropol. de Paris 1903, Nr. 4.
Contague: Sur les facteurs elementaires de There-
dite. G. R. des Seances de lAcad. des Sciences.
1903, 2. semestre.
Camus: Accumulation des stigmates physiques chez
un degenere. C. R. hebdomadaire des Seances
de la Societe de Biologie 1903.
Manouvrier: Conclusions generales sur l’anthropo-
logie des sexes et applications sociales. Revue
de TEcole d’Anthropologie 1903, Dec.
Petit: Les alienes dits criminels. These de Paris
I903-
Orth: Die Bedeutung der Erblichkeit für die Patho¬
logie. Vortrag. Ref. Münch, med. Wochenschr.
1904, Nr. 4.
Grueffner: Kerirte Zähne in der Nase als Neben¬
befund bei congenitaler Lues. Ibidem.
Neugebauer: Mann oder Weib? Sechs eigene Be¬
obachtungen von Scheinzwitterthum und „erreur
de sexe“ aus dem Jahre 1903. Centralbl. für
Gynäkologie 1904, Nr. 2.
Fein: 2 Fälle von angeborenem Kehlkopfdiaphragma.
Wiener klinische Rundschau 1903, Nr. 52.
Kleinwächter: Ein bisher noch nicht beobachteter
Defekt im Genitalsystem. Wiener medizin. Presse
1903, Nr. 52.
Kaiser: Wöchnerin mit Polymastie. Ref. Münchner
med. Wochenschr. 1904, Nr. 4.
Strauss: Ueber einen Fall von Atresia vaginae.
Ref. ibidem.
Ranke: Ueber Himmessung und Himhorizontale.
Corresp.-Blatt der deutschen Ges. für Anthrop.
etc. 1903, Nr. 12.
Bi r kn er: Beiträge zur Rassenanatomie der Gesichts-
weichtheile. Ibidem.
Gaupp: Zum Verständniss des Säuger- und Menschen¬
schädels. Ibidem.
Tschepourkovsky: Ueber die Vererbung des Kopf¬
index von Seiten der Mutter. Ibidem.
Waldeyer: Ueber Schädelvariationen. Ibidem.
Klaatsch: Demonstration eines Unterkiefers mit 4
Molaren. Ibidem.
Manheimer - Gomez: The abnormal children in
Italy. The Journal of Mental Pathologie 1903,
Nr. 2—3.
Robinovitch: Suicidal and Homicidal Acts (Forts.)
Ibidem.
Mariani: La degenerazione criminosa nella discen-
denza degli alienati. Riv. mensile di psich. for.
etc. 1903, ottobre.
Coscella: II pelo nella specie unano. Ibidem.
Marandon de Montyel: Obsessions et Impulsions.
Archives d’anthrop. crim. etc. 1904, fevr.
Zarricot: Les degeneres et la determination de la
taille par les procedes osteometriques. Ibidem.
Ingegnieros: Simulation de la folie. Ibidem.
Vaillant: Folie et divorce. Diss., Bordeaux 1903.
Cazenove: Les femmes dans la foule, leur respon-
sabilite criminelle. Diss., Bordeaux 1903.
Lecalve: Le vol au debut de la paralyse generale.
Diss., Bordeaux 1903.
Stoöss: Betrachtungen über Kriminalpolitik. Archiv
für Kriminalanthrop. etc. Bd. 14, H. 3 u. 4.
Kratter: Erfahrungen über einige wichtige Gifte und
deren Nachweis (Forts.) etc. Ibidem.
v. Sehrenck-Notzing: Ein casuistischer Beitrag zur
forensischen Würdigung des Schwachsinns. Ibid.
Hinterstoisser: Meinungsdifferenzen der sachver¬
ständigen Psychiater. Ibidem.
v. Manteuffel: Spiel und Wetten bei Pferderennen
im französischen Strafrecht. Ibidem.
Hahn: Mord an einem 5 jährigen Knaben. Ibidem.
(Fortsetzung folgt)
Personalnachrichten.
— Heidelberg. Ausserordentl. Prof. Dr. Franz
Nissl an der Universität Heidelberg wurde zum
ordentl. Prof, der Psychiatrie und Director der Irren¬
klinik daselbst ernannt.
— Stuttgart. Director Dr. Kölle (Pfullingen)
zum psychiatrischen Referenten bei dem Medicinal-
collegium in Stuttgart ernannt.
Das Nährpräparat Hygiama.
(Fortsetzung.)
K1 e m p e r e r le ) schreibt: Unter den künstlichen
Nährmitteln, welche zur Verbesserung des Ernährungs¬
zustandes mit Vortheil zu verwenden sind, nimmt
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HARVARD UNiVERSITY
184
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 20.
Theinbardt’s Hygiama eine hervorragende Stellung
ein. Mit seinem hohen Gehalt an löslichen Kohlen¬
hydraten (49%) und Fetten (10%) neben beträcht¬
lichen Eiwetssmengen (2 1%) und Mineral bestand theilen
stellt es eine Gesammtnahrüng dar, von der der
Organismus ausschliesslich erhalten werden könnte.
Langjährige Erfahrung hat gezeigt, dass es wohl-
bekömmlich und leicht verdaulich ist, so dass es
sich in ärztlichen Kreisen ziemlich eingebürgert hat.“
Hempt 17 ) hat Hygiama in schweren Krank¬
heiten verschiedenster Art gegeben. Dabei wurde die
Ernährung in den ersten Krankheitstagen fast aus¬
schliesslich mit Hygiama bestritten, hernach wurde es
breiigen Milchspeisen beigemengt, beim Uebergang
zu gemischter Kost als Zwischenmahlzeit gereicht.
Es wurde ausnahmslos gern genommen, selbst bei
Appetitlosigkeit, wo alles andere verweigert wurde,
und gerade bei schwer affidrtem Magen und Darm,
wo andere als flüssige Nahrung ausgeschlossen ist,
konnten die günstigsten Erfahrungen mit Hygiama
gemacht werden. Entgegen der gewöhnlich voll¬
ständigen Geschmacklosigkeit anderer Präparate reizt
es durch seinen Gfchalt an wohlschmeckendem aro¬
matischem Theobromin die Geschmacksnerven und
erzielt ausser dem ernährenden einen sofort con-
statirbaren sümulirenden Effect auf den Oiganismus.
O. Müller 18 ) schreibt über Hygiama:
„Ich habe dieses Präparat seit mehreren Jahren
vielfach angewendet, wo ich eine bestehende Unter¬
ernährung corrigiren und den vorhandenen Verlust
an Fett und Muskelsubstanz ersetzen wollte. Zu
diesen Fällen zählte ich ganz besonders Frauen in
der Schwangerschaft, welche infolge unstillbaren Er¬
brechens in ihrer Ernährung wesentlich herabgesetzt
waren, und fand hierbei das Hygiama unter der Zahl
der übrigen Präparate in dominirender Stellung. Mir
ist speciell ein Fall in der Erinnerung, wo bei
retroflectirtem gravidem Uterus so andauernd das
Erbrechen bestanden hatte, das auch nach der Auf¬
richtung nicht gestillt werden konnte, dass die vorher
wohl und blühend aussehende 26 jährige Patientin voll¬
ständig abgemagert und unfähig war, zu gehen, oder sich
auch nur aus der liegenden Stellung zu erheben. Nach
erfolgloser Anwendung verschiedenster concentrirter
Nahrungsmittel, unterstützt von medikamentöser Be¬
handlung, brachte gerade Hygiama eine auffallende,
fast plötzliche Veränderung hervor. Das Erbrechen
liess nach und die Kranke erholte sich bald so gut,
dass schon nach ca. 6 wöchentlichem Gebrauche alle
übrige Kost gut vertragen wurde, und die letzten
Spuren der bestandenen Abmagerung bald völlig
verschwanden.
Ich komme deshalb in ähnlichen Fällen stets auf
Hygiama zurück und finde diese Wirkung immer
wieder von neuem bestätigt“
Kraus 20 ) Kinderarzt, hat Hygiama mit grossem
Erfolge bei Kindern angewendet; bei zwei Rhachi-
tikera trat eine sichtliche Besserung der Er¬
scheinungen ein, die Craniotabes nahm ab, die
Fontanellen zogen sich zusammen, die Verdauung
regelte sich. Bei Kindern, die an chronischem
Magencatarrh und nervöser Dyspepsie litten, konnte
man bald eine Vermehrung des Appetits beobachten.
Bei anämischen und chlorotischen Kindern besserte
sich nach längerem Gebrauch von Hygiama das
blasse Aussehen der Schleimhäute.
Auch bei stillenden Frauen bewährte sich ihm
das Mittel.
Schürmayer* 2 ) wendet es in ausgedehnter
Weise in seiner Klinik bei Gallen stein kra nken
an; er empfiehlt es aüf Grund mehrjähriger Er¬
fahrungen auf diesem speciellen Gebiete dringend.
Da bei solchen Kranken Fleischdiät die Koliken
vermehrt und die Complicationen steigert, eine
vegetabilische Diät aber bei der Einseitigkeit dieses
Regimes und bei der auffälligen Vermehrung der
ohnedem stagnirenden Ingusta des Darms schwer
durchführbar ist, Milchdiät allein nicht ausreicht und
ihr Einerlei den zumeist nur geringen Appetit ganz
schwinden lässt, so kommt hier Hygiama mit der
Milchkomponente und dem relativ geringen, für alle
Fälle sehr leicht zu verdauenden Fettgehalte sehr
zu statten, zumal sich in die Darreichungsform des
Hygiamas Abwechslung bringen lässt.
„Auch in der Periode der Nachkur erweist sich
bei allen Patienten, die eine Behandlung durchgemacht
haben, die „Hygiama-Diät“ als äusserst zuträglich
und rationell.
Das Schwinden der Magen- und Darmkatarrhe
wird befördert, womit die vom Darm ausgehende
Infecrionsqueile eliminirt wird; sodann macht sich die
günstige Wirkung der vegetabilischen Komponente
des Hygiama sichtlich geltend, indem die Neigung
zu Reddiven entschieden hintangehalten wird.
Schliesslich tritt eine Gewichtszunahme der häufig
sehr entkräfteten Patienten ein, die wiederum indirekt
dem Körper zu Gunsten kommt, indem nach
Kräftigung des Allgemeinzustandes die Disposition zu
Katarrhen des Verdauungstraktes schwindet
Auch scheint trotz des Zusatzes von Kakao in
Hygiama eine stopfende Wirkung nicht allgemein be¬
merkbar zu werden. Wenn sie sich aber in den
ersten Anfängen zeigt, ist sie durch geeignete, nicht
drastisch wirkende Mineralwässer oder noch besser
durch geeignete Spezies-Infuse leicht zu heben; man
kann auch sehr leicht in einem solchen Infuse das
Pulver selbst geben, wenn die Neigung zur Obstipation
habituell geworden ist.“ (Fortsetzung folgt.)
9 V* Diese Nummer enthält einen Prospekt der
Firma:
Camera-Grossvertrieb „Union“ Hugo
Stöckig & Co., Dresden-A.,
worauf wir die geschätzten Leser hierdurch hinweisen.
Für den redactkmellen Tbeil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Br es ler, Lnblinitr (Sch.enen).
Erscheint jeden Sonnabend •*- Srhltss der Inseraten annahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marli old in Halle a. S
Hememann’acbe Bncbdrnckerei (Gebr. Volff) in Halle a. S.
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Psychiatrisch- Neurologische Wochenschrift.
Redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Lublinitz (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834.
Nr. 21. 20. August. 1904,
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten.
Aus der psychiatrischen Universitätsklinik in Zürich (Burghölzli).
Zur Psychologie hysterischer Dämmerzustände und des Ganser’schen Symptoms.
Von Dr. Fr am Rikliti, I. Assistenzarzt.
T n den Arbeiten der letzten Jahre über hysterische
Dämmerzustände und das Ganser’sche Symp¬
tom des Vorbeiredens kommt namentlich die diagno¬
stische Stellung der Fälle — ob Hysterie oder Kata¬
tonie — in Betracht, zweitens die Simulationsfrage
und das Vorkommen der genannten Zustände bei
kriminellen Fällen, endlich die Psychologie dieser
Zustände. Es sei bemerkt, dass einzelne Autoren
den Begriff des Ganser’schen Symptoms in ihren
Arbeiten recht weit ausdehnen.
Wir konnten, seit den Jung’schen Publikationen
aus unserer Klinik 1 ), noch mehrere derartige Fälle
beobachten.
Die diagnostische Stellung derselben, d. h. die
Zugehörigkeit zur Hysterie, scheint mir keinen Zweifel
zuzulassen. (Natürlich finden wir nebenbei das
Symptom des Vorbeiredens bei manchen von unsem
Katatonikern, wie schon früher. Es hat aber einen
andern, weniger systematischen Charakter.)
Ferner ist nur einer der Fälle kriminell, und die
Stellung zur Simulation ist in allen Fällen recht klar
zu bestimmen.
Endlich scheinen die Fälle auch psychologisch
von Bedeutung.
In dieser Beziehung sind mir die Jung ’schen 2 )
Arbeiten vorbildlich gewesen. Bei den Fällen West-
phal’s 3 ), sowie bei vielen in der Litteratur angeführ¬
ten Untersuchungsfällen scheint die den Dämmer¬
zustand auslösende Ursache ziemlich fassbar. Im
ersten Fall von Raecke 4 ) wird durch die Be-
*) s. Litteraturverzeichniss.
? ) 1. c.
3 ) I. c.
4 ) Beitrag zur Kenntniss etc., s. Litteraturverzeichniss.
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Schreibung ohne weiteres ein solcher Zusammenhang
nahegelegt. Im Dämmerzustand spricht die Patientin
von ihrem Mann als von einem Räuber u. dgl., der
ihr Böses anthut. Man erfährt von der Schwester,
dass die Frau von ihrem Mann sehr streng behan¬
delt, auch geprügelt worden ist (auf Anrathen eines
Arztes!); sie war schwanger. Aus der Klinik holte
sie zweimal der Mann heim; sie ging jedesmal ganz
willig mit. Der Fall ist doch am besten im Sinne
einer Freu d’schen 1 ) Verdrängung der unangenehmen
Vorkommnisse mit dem Mann, einer Abspaltung dieser
Vorstellung von denen, die dem normalen Bewusst¬
sein zugänglich sind, zu erklären, wie es Jung 2 ) in
seinem ersten Fall gethan hat. In der gleichen
Arbeit äussert Raecke die Ansicht, dass die ganz
primitive Fragestellung (nach Namen, das Zählen¬
lassen bis auf zehn etc.) im Lauf einer ärztlichen
Untersuchung, namentlich bei Leuten, die in der
Untersuchungshaft erkranken, eventuell die Vorstell¬
ung vom Nichtwissen der einfachsten Dinge sug-
geriren.
Ungefähr das Gleiche sagte Henneberg 3 )
wieder auf der letzten Psychiaterversammlung in
Göttingen: Ein häufiges Fragen nach ganz einfachen
Dingen sei nicht empfehlenswerth, da die betreffen¬
den Personen dadurch zur Simulation oder Aggra¬
vation verleitet werden.
Wir werden sehen, dass die psychologische Ana-
*) Breuer und Freud. Studien zur Hysterie. Wien
1895. s * auc h Freud in Löwenfeld, Psychische Zwangs¬
erscheinungen.
*) Ein Fall von hyster. Stupor etc., s. Litteraturverzeichniss.
*) s. Litteraturverzeichniss.
Original frnm
HARVARD UNIVERSITY
i86
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT
[Nr. 21.
lyse in unsern Fällen andere Deutungen zulässt, was
der obigen Annahme bei manchen andern Fällen
keinen Eintrag thun soll.
Westphal 1 ) legt (pag. 66), wie Siemerling,
den er dort anführt, Gewicht auf die Amnesie für
den Dämmerzustand, um Simulation ausschliessen zu
können. Ebenso wird in Raecke’s dritter Arbeit*)
die Ansicht Siemerling’s 3 ) citirt:
„Es ist unmöglich, in einem solchen Fall (ähn¬
licher Fall von hyster. Psychose) bei jedem einzelnen
Gedächtnissdefekt mit aller Sicherheit entscheiden zu
wollen, wieviel bei seinem Zustandekommen auf
Rechnung eines beabsichtigten Nichtwissenwollens
oder Leugnens zu setzen ist. Die genaueste, ein¬
gehendste Analyse vermag keinen wirklichen Auf¬
schluss zu liefern. Immer müssen wir bei derartigen
Zuständen mit der unumstrittenen Thatsache rechnen,
dass weitgehende Gedächtnissdefekte und Erinnerungs¬
fälschungen als direkter Ausdruck der Geistesstörung
Vorkommen.“
Moeli 4 ) findet in seinem zweiten Fall (Dämmer¬
zustand) das charakteristische Danebenantworten, also
eine Uebereinstimmung mit dem Ganser’schen
Dämmerzustand, erwähnt aber zugleich, dass auch
der absichtlich falsch Antwortende, weil er den er¬
regten richtigen Vorstellungskreis nicht ganz los
werden könne, öfter einen ähnlichen Bescheid gebe.
Auch Vorst er (Stephansfeld) 5 ) nimmt bei einem
seiner Fälle an, dass, neben dem Dämmerzustände,
das Vorbeireden als willkürlich erklärt werden müsse.
In der gleichen Arbeit 6 ) berichtet er eine psycho¬
logische Merkwürdigkeit bei seinem Fall V, dessen
Amnesie sich über 7 Monate erstreckt 7 ): Es gelang^
die Thatsache festzustellen, dass diese (objektiven)
Vorgänge aus der Zeit der retrograden Amnesie
doch, wenn auch unbewusst, zu dem Vorstellungs¬
inhalte des Kranken gehörten: „So hatte er im An¬
fang des Dämmerzustandes, als das Bewusstsein tief
gestört war, in seinen Delirien den Namen seines
Mitgefangenen Schmidt, der ihn zum Diebstahl ver-
') 1. c.
*) Allg. Zeitschr. Bd. 58, p. 445.
8 ) Siemerling in Friedreich’s Blätter f. ger. Med. Heft
3. 1900.
4 ) p. 742, s. Litteraturverzeichniss.
B ) p- > 73 / 74 » I. c.
ß ) p. 177 .
7 ) Vorster meint an jener Stelle, es sei dies die längste
beobachtete hysterische Amnesie. Der N äf’sche Fall von
Amnesie (Zeitschrift für Hypnotismus, 1898) erstreckte sich
aber über 8 Monate; bekanntlich gelang es, dieselbe durch
Hypnose zu heben.
anlasst hatte, sehr häufig laut ausgerufen. Etwas
später, aber noch während des Dämmerzustandes,
gerieth er, als ihm dieser Name Schmidt zugerufen
wurde, plötzlich in grosse Wuth, schrie laut: „Der
gehört tot geschossen“, ein Vorfall, der bewies, dass
dieser Schmidt in inniger Beziehung zu seinem Affekt¬
leben stand.“ Später keine Erklärung, als sich das
Bewusstsein aufgehellt hatte. Der Name Schmidt
Hess ihn ganz kalt; ein Träger dieses Namens hatte
anscheinend zu keinen wichtigen Vorkommnissen in
seinem Leben Beziehung.
Raecke 1 ) citirt die Ausführungen von Jan et 2 ),
welcher berichtet, dass der geschickt abgelenkte
Kranke in der Zerstreutheit manchmal in Schrift
und automatischen Worten volle Erinnerung verräth.
Ganser 3 ) sieht- in seiner letzten Arbeit das
charakteristische der beschriebenen Zustände in den
unsinnigen Antworten und in der Bewusstseinsstör¬
ung. „Eines psychologischen Erklärungsversuchs des
ganzen Symptomenkomplexes“, sagt er 4 ), „enthalte
ich mich heute so gut wie in meinem früheren Vor¬
trage, indem ich offen gestehe, dass mir, nachdem
ich mancherlei Besonderheiten beobachtet habe, jetzt
erst vieles daran räthselhaft ist. Ich muss auch
darauf verzichten, hier auf die Erklärung näher ein¬
zugehen, die Jung 5 ) ganz kürzlich für die beschriebene
Bewusstseinsstörung gegeben hat“ etc.
Jung 6 ) hat in seiner ersten Arbeit die Kennt-
niss dieser hyster. Dämmerzustände mit Gans er¬
schein Symptom namentlich dadurch gefördert, dass
er die Amnesie für den Dämmerzustand durch Hyp¬
nose gehoben hat, mit der bemerkensw r erthen Er¬
scheinung, die den Amnesien mit retrograden Theil
wohl immer zukommt 7 ), dass die Erinnerung an den
retrograden Theil der Amnesie ziemlich leicht zu
wecken war, die Erinnerung an den eigentlichen
Dämmerzustand aber grösserm Widerstand begegnete.
Sie kam aber deutlich zum Vorschein unter Anwen¬
dung zweier Kunstgriffe : Doppelte Hypnotisirung von
J a n e t 8 ) und suggestive Wiederversetzung in die
frühere Situation, die von Forel im Näf’schen
Amnesiefall 9 ) angewendet wurde.
*) Beitrag etc., p. 126, s. Litteraturverzeichniss.
*) Ja net. Sur l’^tat mental des hysteriques.
*) Zur Lehre etc., s. Litt.-Verzeichn.
4 ) 1. c., p. 41.
A ) Ein Fall von hyst. Stupor, p. iioff, s. Litt.-Verzeichn.
«) 1. c.
7 ) In meiner Arbeit über „Hebung epilept. Amnesien durch
Hypnose“. Journ. f. Psychologie u. Neurol. Bd. I. Heft 5
und 6, konnte ich dies auch bei einem Epileptiker nach weisen.
8 ) Janet, L’automatisme psychologique p. 87.
•) 1. c.
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I 9 ° 4 -]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
187
Es Hess sich in dieser Hypnose nachweisen, dass
die Annahme einer unbewussten, aber sichern Orien-
tirung auch in der Zeit des tiefsten Dämmerzustandes
richtig war und dass die anscheinend schwere Stör¬
ung des psychischen Processes bei solchen Dämmer¬
zuständen nur den Bereich des Bewusstseins betrifft,
während die unbewusste Geislesthätigkeit wenig oder
gar nicht in Mitleidenschaft gezogen ist
Der psychologische Mechanismus des Zustande¬
kommens solcher Störungen Hess sich im Sinne einer
Verdrängung von Breuer und Freud erklären.
Das Nicht-mehr-wissen war ein theils unbewusstes,
theils halbbewusstes Nicht-wissen-wollen.
In seiner Arbeit über Simulation von Geistes¬
störung zeigt Jung namentlich am Fall J., dass die
anfänglich gewollte Simulation eines Exploranden
selbständig, von der bewussten Correktur unabhängig
wurde. Jung bezeichnet den dadurch zustandekom¬
menden Ganser-Raecke ’schen Dämmerzustand
sehr treffend als eine „ins Unterbewusste gerathene
Simulation“.
Er weist in der Arbeit nach, dass Affekte das
Auftreten von psychischen Automatismen im weite¬
sten Sinne begünstigen, und dass wahrscheinlich auf
gleiche Weise auch der Ganser’sche Komplex bei
Untersuchungsgefangenen zu erklären und
als eine der Simulation nah verwandte, aber auto-
matisirte Erscheinung anfzufassen sei.
Fall I.
Ich möchte unsere letzten Beobachtungen mit
einem Fall beginnen, der einen Untersuchungs¬
gefangenen betrifft.
Wir bekamen zur Begutachtung am 9. Juni 1904
den 41jährigen Fuhrhalter Johann S., verheirathet,
Vater von 5 Kindern, nicht vorbestraft, nachdem er
sich seit 4. Juni wegen Betrug und Pfändungsbetrug
in Untersuchungshaft befunden hatte.
S., dessen Fuhrhalterei seit dem Züricher Bau¬
krach 1897 zurückgegangen war, und der an Miethem,
Baumeistern, die in Concurs geriethen, sowie durch
Unglück im Stall viel Geld verloren hatte, kaufte im
Juli 1903 einem Pferdehändler — dessen Ehrlichkeit
auch nach den Akten dem nicht umsonst be¬
kannten Ruf entspricht — zwei Pferde ab. Als
Theilzahlung gab er diesem Händler M. ein älteres
Pferd, für den Restbetrag stellte er Wechsel aus, die
er später nicht einlösen konnte. Dass er die Pferde
gekauft habe zu einer Zeit, wo er wusste, dass er
bald zahlungsunfähig sein werde, wie der Kläger,
der andere Pferdehändler, behaupten wollte, ist
wahrscheinhch falsch, hingegen suchte er das bessere
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der beiden Pferde durch einen Scheinverkauf im
August 1903 der Pfändung zu entziehen. Verhaftet
wurde • S. erst, als dieser Thatbestand schon ziemlich
fest stand, S. aber und sein Mitangeschuldigter P.,
ein Pferdehändler und Metzger, den Thatbestand
noch leugneten. Ueber die übrigen Vorfälle zur Zeit
der That gab S. zum Theil sehr genaue Auskunft,
so dass z. B. ein Dämmerzustand zur Zeit der That,
oder etwas ähnliches, gar nicht in Frage kommt.
Das Delikt selbst wollte er nicht zugeben; er ver¬
drehte den Sachverhalt zu seinen Gunsten.
Noch in der Haft (am 5. Juni) und bei den
Verhören fiel bei Johann S. keine geistige Veränder¬
ung auf. Am 7. Juni machte der Mitangeklagte ein,
freilich nur theilweises, Geständniss in Gegenwart
unseres Exploranden. Am 8. Juni wurde P. allein
verhört und legte ein vollständiges Geständniss ab.
Ob unser Explorand davon erfuhr, resp. mehr er¬
fuhr, als was P. schon am 7. Juni zugab, weiss ich
nicht. Am 9. Juni morgens fiel er dem Gefangen¬
wart durch sein Benehmen auf und als er am Nach¬
mittag verhört werden sollte (man erinnere sich der
üblichen Fragen nach den Personalien im Beginne
eines Verhörs), gab er ganz „verkehrte“ Antworten.
Der Untersuchungsrichter hat darüber — im Akten¬
stil — folgendes sehr werthvolle Protokoll aufge¬
nommen :
JohannS.: „Ich habe gar kein Pferd gekauft von
einem Pferdehändler M. in W. Ich kenne keinen
M. Ich habe noch nie Pferde für mich gekauft.
Ich bin ja Knecht (!), gegenwärtig an der Badener¬
strasse (stimmt nicht; er wohnt aber im Stadtkreis,
in dem sich diese Strasse befindet). Wie mein Meister
heisst, weiss ich nicht. Ich heisse Johann. Meinen
Familiennamen weiss ich nicht. Ich bin nicht ver¬
heirathet (!), ich war noch nie verheirathet. Eine
Elise A. (Name der Frau) kenne ich nicht. Ich habe
keine Kinder.“
Nach Vorführung des Mitangeschuldigten P.:
„Ich kenne diesen Mann nicht. Ich weiss nicht wie
er heisst. Ich glaube nur, ich habe ihn schon ge¬
sehen, er kommt mir bekannt vor. Ich weiss nicht
in was für einem Hause wir hier sind. Wir sind in
Zürich. Wir haben jetzt Februar, ich glaube 1898
(es ist der 9. Juni 04). Ich weiss nichts davon,
dass ich S. heisse. Ich weiss nicht an welchem
Tage ich geboren bin, auch nicht in welchem Jahr.
Ich weiss nur, dass ich 28 Jahre alt bin“ (er ist
41 Jahre alt).
Explorand weiss also hier Dinge nicht, über die
er auch beim Untersuchungsrichter schon oft und
richtig Auskunft gegeben hat. Es ist also nicht ein
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i88
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 21
simulirtes Nichtwissen zur Verheimlichung eines That-
bestaudes, was S. bisher gesagt hat. Es könnte sich
nur um Simulation von Geistesstörung überhaupt
handeln, sofern man den Simulationsverdacht auf¬
recht erhalten wollte.
Gehen wir auf die Vorgeschichte zurück.
Der Vater und der Grossvater sollen an ganz
ähnlichen transitorischen Bewusstseinstrübungen
gelitten haben, wie wir sie bei unserm Exploranden
sehen, während Anfälle epileptischer Natur oder
andere geistige Veränderungen entschieden in Ab¬
rede gestellt werden. Ein Vatersbruder beging mit
70 Jahren Suicid, bald darauf auch dessen Sohn,
letzterer, nachdem er seit dem Suicid des Vaters,
1V2 Jahre lang geisteskrank gewesen war. Eine
Schwester des Exploranden war in jüngeren Jahren
4 Wochen lang Patientin in einer Irrenanstalt; seit¬
her ist sie Krankenschwester, ohne Reddiv. Eine
zweite Schwester hatte nach einem Verdruss während
längerer Zeit Anfälle von Bewusstseinstrübungen, die
dann jahrelang aussetzten, sich jedoch letzthin nach
einem neuen Verdruss wiederholt haben sollen. Eine
dritte Schwester, jetzt verheiratet und angeblich ge¬
sund , war als Mädchen zwei Jahre lang „verstört“,
konnte aber zu Hause verpflegt werden. Eine Tochter
der Vatersschwester wurde in jungen Jahren geistes¬
krank und befindet sich seither in einer Pflegeanstalt
Für Imbecillität, Alkoholismus, Epilepsie, auch für
Katatonie, resp. Dementia praecox geben weder die
Anamnese, noch die Untersuchungen, seit Explorand
wieder klar ist, irgendwelche Anhaltspunkte. Nega¬
tivismus im Sinne der Dem. praecox kann nicht
nachgewiesen werden, auch nicht Katalepsie; Vorbei¬
reden kam nur im Dämmerzustand vor, und in einer
ganz genau fassbaren Form, wie wir noch sehen
werden.
Der Hausarzt des Exploranden, der ihn seit
Jahren ziemlich genau kennt, berichtet, dass der sehr
arbeitsame und nüchterne Explorand wohl körper¬
M i t t h e i
— XI. Versammlung des Nordostdeutschen
psychiatrischen Vereins, zu Danzig am 27. Juni
1904. (Referent Dr. Wickel- Dziekanka.)
Anwesend die Herren: Berg-Neufahrwasser,
Eschricht-Danzig, Firnhaber-Zoppot, Freymuth-Danzig,
Gluszszewski-Conradstein, Hankeln-Wormditt, Heinke-
Lauenburg, Heinze-Neustadt W.-Pr., Herse-Neustadt
W.-Pr., Kayser-Dziekanka, Köstlin-Danzig, Krebs-
Allenberg, Krömer-Conradstein, Meschede-Königsberg,
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licher Arbeit, aber nicht den geistigen Anstrengungen
der letzten Jahre gewachsen sei.
Die Frau berichtet von einer Abnahme des Ge¬
dächtnisses des Exploranden in den letzten zwei
Jahren, in welche das Delikt fällt. Sie ist aber
Partei in der Untersuchungsangelegenheit. Der Haus¬
arzt will nichts von einer solchen Abnahme des Ge¬
dächtnisses wissen j und eine schwere Prügelei vor
3 Jahren soll den Exploranden in seinen geistigen
Fähigkeiten nicht beeinträchtigt haben. Wir glauben
der Frau gerne, dass ihn die ökonomischen Sorgen
unbesinnlicher gemacht haben, aber sonst konnten
auch wir keine organischen Gedächtnissstörungen
naehweisen, im Gegentheil konnte er in den Ver¬
hören recht genaue Auskunft geben über das Meiste,
was z. B. zur Zeit der That passirt ist. Für eine
Paralyse haben wir auch im körperlichen Befund
keinen Anhaltspunkt.
Am 1. Septbr. 1903 — also in der Zeit nach
Begehung des Betrugs, musste Explorand in Schuld-
beitreibungssachen vor dem Friedensrichter erscheinen.
Nach Angaben der Frau war, als er wegging, nichts
Abnormes an ihm zu bemerken. Beim Friedens¬
richter gerieth er in einen Dämmerzustand, ähnlich
dem in der Untersuchungshaft ausgebrochenen. Der
Hausarzt berichtete mir (am 27. Juni 04) darüber
folgendes: Der Zustand dauerte etwa 14 Tage. In
den ersten Tagen war Explorand aufgeregt, w r ollte
fortlaufen, schlief nicht. Nachher sass er mehr
stumpf brütend im Lehnstuhl. Er gab verworrene
und unsinnige Antworten. Er w r ar oft nicht orientirt.
Er meinte z. B. mitten am Tage, es sei morgen früh,
er müsse aufstehen und die Pferde füttern und vieles
Aehnliche. Nach Ablauf dieses Zustandes war nichts
Auffallendes mehr am Exploranden zu bemerken.
Hingegen besteht für diesen Dämmerzustand seither
Amnesie mit einem retrograden Theil, so
dass er z. B. auch an die schriftliche Vorladung vor
den Friedensrichter sich absolut nicht erinnert.
(Fortsetzung folgt.)
1 u n g e n.
Meyer-Königsberg, Mootz-Schwetz a. W., Pow-els-
Kortau, Puppe-Königsberg, Rabbas-Neustadt W.-Pr.,
Rausch-Conradstein, Reinhardt-Conradstein, Sander-
Graudenz, Schauen-Schwetz a. W., Siemens-Lauen¬
burg, Squar-Kortau, Stoltenhoff-Kortau, Tomaschny-
Treptow a. R., Wickel-Dziekanka.
Den Vorsitz führen: K ays er-Dziekanka und
Stoltenhoff - Kortau. Wickel • Dziekanka wird
zum Schriftführer bestimmt.
Original frnm
HARVARD UN1VERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
189
1904.]
Kayser-Dziekanka begrüsst die Versammlung
und gedenkt der Verdienste des so plötzlich verstor¬
benen Geheimrath Professor Dr. Jolly um die Psy¬
chiatrie. Der Verein hat einen Kranz mit Schleife
und Widmung am Sarge niedergelegt Die Ver¬
sammlung erhebt sich, um das Andenken des Ver¬
storbenen zu ehren.
Ihr Ausbleiben haben entschuldigt und Grüsse
gesandt: von Blomberg-Dziekanka, Dubbers-Allenberg,
Heise-Kulm, Knust-Dziekanka, Kruse-Danzig, Lewald-
Obemigk, Plange-Dziekanka, Scholz-Meseritz, War-
schauer-Inowrazlaw, Westphal-Greifswald.
Es folgen geschäftliche Mittheilungen.
Meyer-Königsberg schlägt vor, die Versamm¬
lung im nächsten Jahre in Königsberg abzuhalten.
Sander- Graudenz schlügt Graudenz vor. Es wird
als nächstjähriger Versammlungsort wieder Danzig an¬
genommen.
Als Geschäftsführer für 1905 werden vorgeschlagen
und gewählt: Dubbers-Allenberg und Schauen-
Schwetz.
Vorträge:
I. Mesched e- Königsberg: Ueber eine
eigenthü mlich cyklische Verlaufsweise
psychotischer Symptome.
(Erscheint in dieser Wochenschrift als Original.)
Discussion:
Krömer-Conradstein fragt, ob auch regelmässige
Temperaturmessungen stattgehabt haben, welches Er-
gebniss dieselben etwa hatten, ob auf Plasmodien
untersucht, ob Chinin gegeben wurde.
Meschede -Königsberg hat Temperaturerhöh¬
ungen bei der Kranken, abgesehen von gelegentlichen
Febricitationen infolge intercurrenter Unpässlichkeit,
nicht beobachtet. Plasmodien wurden nicht gefunden.
Chinin war ohne Erfolg.
Siemens-Lauenburg: Ein gewisser mehr oder
weniger regelmässiger Anstieg und Nachlass, ein
Wechsel zwischen Erregung und Verworrenheit einer¬
seits und Ruhe und grösserer Orientirtheit anderer¬
seits kann bei verschiedenen Psychosen zur Beob¬
achtung kommen. Nicht selten geschieht dies bei
der Dementia praecox. Um einen Fall von Dementia
praecox dürfte es sich in dem mitgetheilten Falle
handeln. Aehnliches beobachten wir z. B. auch bei
der Dementia paralytica. Hier kommt mitunter ein
täglicher Wechsel zwischen erregter Euphorie und
Depression vor. Es ist bei diesem Symptom vielleicht
an Toxinwirkung zu denken. Die Ansammlung der
Toxine ruft die Revolution hervor, die Wirkung der
Körperschutzmaassregeln, die Antitoxinbildung offen¬
bart sich in den Besserungen. Alle diese Fälle
mit „cyklischen Phasen“ können verschiedenen Krank-
heitskategorieen angehören. Sie stellen nicht etwas
Besonderes für sich dar. Es ist bekannt, dass in
früheren Zeiten der Einwirkung der Mondphasen
(Koster) eine Bedeutung zugeschrieben wurde.
Meschede - Königsberg betont dem gegenüber
die Besonderheit seines Falles, der sich von dem in
den gedachten Krankheitsforinen nicht selten zu
beobachtenden Symptomenwechsel durch die Regel¬
mässigkeit des Turnus doch wesentlich unterscheide und
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fragt, ob von den anwesenden Herren Collegen ähnliche
Fälle beobachtet worden seien.
Krömer-Conradstein will nicht an der Richtig¬
keit des vorgetragenen Falls zweifeln, jedoch wäre
es möglich, dass nicht alle Daten bei dem weit zu¬
rückliegenden Falle genau registrirt seien. Er hat
vielfach ähnliche Zustände gesehen. Es kommt oft
vor, dass im Verlaufe einer Psychose in gewissen
Abständen einmal ein besserer Tag oder mehrere
sich einstellen. Eine besondere Form ist aus
Meschede’s Fall nicht zu construiren.
M esched e - Königsberg. Die Eigenart der
von ihm mitgetheilten Verlaufsweise bestehe gerade
darin, dass es sich dabei nicht um die vom Herrn
Vorredner erwähnte mehr oder weniger un bestimmte
Periodicität des Auftretens gewisser Symptome und
Symptomencomplexe gehandelt habe, wie sie im
Verlaufe verschiedener Formen von Geisteskrank¬
heiten häufig genug zu beobachten sind, zumal in
der Epilepsie, insofern in deren Verlaufe die Einzel¬
anfälle auch in Gruppen und nach Intervallen perio¬
disch wiederkehren, wobei aber sowohl die
Dauer der Intervalle, als auch die Zahl
und Reihenfolge der Einzelanfälle in den
periodischen Gruppen sich sehr variabel
zu gestalten pflegen — bei allen solchen Perio-
dicitäten bestehe im Einzelnen grosse Irregularität
und charakterisirten sie sich somit als irregulär-
cyklische Verlaufsweisen. In dem von ihm mit¬
getheilten Falle habe es sich dagegen um eine
scharf ausgeprägte Jahre lang in grosser
Gleichmässigkeit erfolgende Wiederkehr
einer ganz bestimmten Reihenfolge ganz
bestimmter Symptome gehandelt und sei die
Beobachtung durch Jahre lang festgesetzte
tägliche Aufzeichnungen sicher gestellt.
Frey m u th-Danzig: Die Kranke litt an mania-
kalischen Anfällen, welchen Schlaf folgte. Es han¬
delt sich nach seiner Ansicht um eine Psycho-Neu-
rose, Migräne mit Aequivalenten, beruhend auf Auto¬
intoxikation.
Meschede- Königsberg: Die bei der Patientin
beobachteten Symptome haben keinerlei Anhalts¬
punkte für eine solche Annahme ergeben. Bei der
Patientin sind weder Anfälle von Migräne, noch sonst
Anomalien auf dem Gebiete des sympathischen Nerven¬
systems hervorgetreten. Gerade diejenigen Organe,
welche in näherem Connex zu dem sympathischen
Nervensystem stehen, die Verdauungs-, Athmungs-
und Circulationsorgane sind bei der Patientin durch¬
aus normal gewesen und haben in der Regel vor¬
trefflich funktionirt, wie denn die Constitution der
Patientin im Allgemeinen auch keineswegs eine
schwächlich-nervöse, vielmehr eine recht kräftige ge¬
wiesen ist.
II. Wie k e 1 - Dziekanka: Zur Frage der sta¬
tionären Paralyse.
Unter stationärer Paralyse sind Fälle von Para¬
lyse zu verstehen, welche auf einer mehr oder weniger
weit vorgeschrittenen Stufe der Erkrankung zum
Stillstand gekommen und einen längeren Zeitraum
(Jahre) hindurch auf dieser Stufe ohne nachweisbare
Original from
HARVARD UNIVERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT
[Nr. 21.
190
Aenderung stehen geblieben sind. Es wird über 3
Fälle berichtet, welche seit 8V2, 7 V2 und 5^2 Jahren
stationär sind. Differentialdiagnostisch wird alko¬
holische , posttraumatische und postsyphilitische De¬
menz ausgeschlossen. Die Fälle bestätigen, dass auch
bei echter Paralyse in der That Stillstände für viele
Jahre eintreten können. Vorwiegend scheint dies der
Fall zu sein, wenn die Demenz erst einen nicht un¬
erheblichen Grad erreicht hat. Bei der Vorhersage
muss mit der Möglichkeit des Stationärbleibens ge¬
rechnet werden.
Zwei der Kranken (7V2 und 5V2 Jahre stationär)
werden vorgestellt. (Ausführliche Veröffentlichung
folgt.)
Discussion:
F rey m u t h - Danzig bemerkt, speciell im Hin¬
blick auf den einen der mitgetheilten Fälle, in wel¬
chem das Leiden mit einem apoplektiformen Anfall
einsetzte, dass ähnliche Krankheitsbilder auch durch
wiederholte kleine Apoplexieen zu Stande kommen
können. Er glaubt, dass Stillstände und Remissionen
bei Paralyse öfter Vorkommen.
Wickel-Dziekanka: In dem betreffenden Fall
sprechen Verlauf und Befund gegen die Annahme
mehrfacher apoplektischer Insulte.
M eyer-Königsberg: „Stationäre Paralysen“, wie
die, über welche der Vortragende berichtet hat,
ebenso wie Jahre lang anhaltende Remissionen sind
im Verhältniss zu der enormen Gesammtzahl der
Paralysen recht selten.
Einen besonders langsamen Verlauf beobachtet
man auch bei den Paralysen, welche unter dem
Bilde einer chronischen progressiven Augenmuskel¬
lähmung sich entwickeln.
Freymuth-Danzig weist auf den langsamen
Verlauf der Tabes-Paralyse hin.
W i ck el - Dziekanka: Der Fall mit Fehlen der
P. S. R. (8V2 Jahre stationär) kann nicht als Tabes-
paialyse im strengen Sinne aufgefasst werden. Er¬
scheinungen der Tabes und ausgesprochene para¬
lytische Erkrankung traten in dem betr. Fall gleich¬
zeitig auf.
Siem e ns - Lauenburg : Fälle von stationärer
Paralyse sind nicht so ganz selten. Berichtet ist
weniger oft über dieselben. In Anstalten sieht man
sie öfters. Auch in Lauen bürg ist zur Zeit ein Fall
in Behandlung, welcher der stationären Paralyse zu-
gehört.
Meschede - Königsberg fragt Siemens-Lauen¬
burg nach seiner Ansicht über ein Aufsteigen des
tabischen Degenerationsprocesses vom Rückenmark
zum Gehirn in der paralytischen Geisteskrankheit.
Siem eil s- Lauenburg: Es ist eine auf- und ab¬
steigende paralytische Erkrankung zu unterscheiden.
In dem einen Fall geht die Tabes der Paralyse vor¬
aus. Auch bei der Tabes können intercurrent
manische und depressive Zustände eintreten, welche
sich wieder verlieren. Schliesslich kommt es, wie bei
der gewöhnlichen Paralyse, zur Demenz. In den
Fällen von Paralyse, bei denen die Himsymptome
zuerst auftreten, erkrankt das Rückenmark ebenfalls,
aber meist in der Form der gleichzeitigen Degene¬
ration der Hinterstränge und der Keilstränge.
Meschede - Königsberg weist darauf hin, dass
die erste Beobachtung von Rückenmarkdegene¬
ration in den mit psychischen Symptomen be¬
ginnenden Fällen von allgemeiner Paralyse von ihm
im Jahre 1865 gemacht und im Januar 1866 im
Centralblatt veröffentlicht sei und bemerkt des Wei¬
teren : Die jetzt mehr und mehr zu Tage tretende
Gepflogenheit, die paralytische Geisteskrank¬
heit (allgemeine fortschreitende Paralyse der Irren)
einfach mit „Paralyse“ zu bezeichnen, kann leicht
zu Missverständnissen führen. Vor längerer Zeit,
vor ca. 45 Jahren, ist allerdings von einem s. Z.
renommirten Verfasser eines psychiatrischen Lehr¬
buchs, Prof. Neumann-Pöpelwitz, der Vor¬
schlag gemacht worden, die paralytische Geistes¬
krankheit schlechtweg „die Paralyse“ zu nennen;
aber es ist doch unlogisch, zur Bezeichnung einer
Special form (eines Special begriffs) das dem all¬
gemeinen Begriff zukommende Wort zu gebrauchen,
also beispielsweise eine bestimmte Form der
Paralyse mit Paralyse schlechtweg zu bezeichnen,
obwohl doch noch eine grosse Zahl yon anderen
Formen von Lähmungen unter den Begriff der Para¬
lyse fallen und der Leser daher ohne einen näher
determinirenden Zusatz nicht wissen kann, welche
Form von Paralyse gemeint ist. (Fortsetzung folgt.)
Bibliographie
über Kriminal-Anthropologie und Verwandtes.
I. Quartal 1904.
Von Medicinalrath Dr. P. Näcke in Hubertusburg.
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Zaleski: Comc possa l’antropologia criminale rilevare
la colpcvolezza e rinnoecnza di un uomo auche
dallo scheletro. Archivio di psichiatria etc. 1904,
fase. I u. II.
San na-Salaris: La delinquenza negli alienati sardi.
Ibidem.
Giuffrida-Ruggeri: Una spiegazione del gergo dei
criminali al lume dell' etnografia comparata. Ibid.
Gonzales: Due casi di pervertimento sessuale. Ibid.
Bergonzoli: La fossetta occipitale media nei pazzi
e nei pazzi epilettici. Ibidem.
Bertini: Contributo allo Studio della pazzia simulata.
Ibidem.
Roncoroni: Epilessia psichica con amnesia ritardata.
Ibidem.
Strassmann: La ,.Rassomiglianza fisica“ in Tribunale
Ibidem.
Original from
HARVARD UNIVERSITY
192
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 21 .
Foä: II processo al Senators d'Antona. Ibidem.
Tovo: L’Errore di persona nella Giurisprudenza.
Ibidem.
Tovo: Deformita congenita per l’influenza psiöhica
nella gravidanza. Ibidem.
de Blasio: La secrezione lattea nei pederasti passivi.
Ibidem.
Mamo: Sopra le varie disposizioni le quali posseno
osservarsi nei solchi e nelle creste che canvergono
nelle „pretuberantia occipitalis internes“. Archivio
di Anat. et di Embriol. 1903, fase. I.
Lesbre et Porcherel: Variations morphologiques
de la tete sous l’influence du regime Valimentaire.
Bull, de la Soc. d’Anthrop. de Lyon 1903.
(Schluss folgt.)
Personalnachrichten.
— Kierling-Gugging. Dr. Anton Hockauf,
ordinirender Arzt der n. ö. Irrenanstalt Kierling-
Gugging wurde zum Primarärzte an derselben
Anstalt ernannt.
Das Nährpräparat Hygiama.
(Fortsetrung.)
Hirschlaff 23 ) hat mit Hygiama jahrelange Ver¬
suche meist an Nervenkranken angestellt und vorzügliche
Resultate erhalten. Bei seinem zusagenden Geschmack
wurde das Mittel auch von den empfindlichsten
Patienten monatelang gern genommen. Er sah in
allen Fällen als Wirkung der Verordnung, Hebung
des Appetits und der Verdauung und Zunahme des
Körpergewichts, sowie eine bemerkenswerte Besserung
des Allgemeinbefindens. Er verordnete 2—6 Ess¬
löffel Hygiama pro Tag, meist in Milch. Bei Ver¬
stopfung durch die Milch wurde das Präparat
(3—4 Esslöffel) mit Schlagsahne zusammengerührt
gegeben. Eine grosse Zahl der Patienten, denen das
Mittel verordnet worden war, nahm es später zu
dauerndem Gebrauch, weil sie sich von der
günstigen Wirkung überzeugt hatten.
Godart-Danhieux 24 ) verwendete Hygiama
auch als Nährmittel in zwei Fällen.
Es handelte sich um in der Ernährung sehr
heruntergekommene Personen, die lange Zeit an
Magengeschwüren, begleitet von einer äusserst stark
prononcirten Hyperchlorhydrie litten. Bei beiden
Kranken wurde Hygiama zuerst während einiger
Tage als Nährklystier per rectum gegeben, sehr gut
vertragen und namentlich der betreffende Kranke sehr
gut bei Kräften damit erhalten, so dass sich der
Autor sogar veranlasst sieht, am Schlüsse seines
Referats (wörtlich übersetzt) zu bemerken:
.. Diese Nährklystiere wurden voll¬
ständig absorbirt und sind, wie man aus Obigem
ersieht, vollkommen fähig, den Patienten während
einer gewissen Zeit im Gleichgewicht zu erhalten.
Dieses Verfahren bildet ein werthvolles Hilfsmittel
bei der Behandlung des Ulcus ventriculi und es
wäre zu wünschen, dasselbe in viel ausgedehnterer
Weise, wie dies bis heute geschieht, in der medicin.
Praxis eingeführt zu sehen.“
Nach dem Gebrauch als Nährklystier wurde
Hygiama in beiden Fällen für längere Zeit neben
Milch und Eiern als ausschliessliches Nährmittel zur
Diät verordnet.
Im ersten beschriebenen Falle verordnete Dr.
Godart dem Kranken eine Diät von 1 Liter Milch,
3 Eiern und 2 Suppenlöffel Hygiama täglich —
und bemerkte dazu wörtlich: „Dieses strenge Regime,
welchem der Patient unterworfen wurde, zog keinerlei
Abmagerung nach sich.“
Im zweiten Falle verordnete Dr. Godart dem be¬
treffenden Patienten (bei Bettruhe) 2 Suppenlöffel
Hygiama in Milch, 2 Eier und 2 Liter Milch täglich
— später wird diese Diät erweitert und 5 Eier,
Milchreis, Erbsenpuree und Brot daneben gegeben —,
wobei der Patient sich ausgezeichnet gut befindet;
er ist, wie Autor ausführt, sehr gut wieder hergestellt
und hat stark an Gewicht zugenommen.
Schnürer 25 ) hat in seiner Praxis Hygiama be¬
sonders bei schwangeren und stillenden Frauen als
vorzügliches Mittel bewährt gefunden. Auch er hebt
hervor, dass es mittelst Hygiama gelingt, die Ab¬
neigung gegen Milch zu überwinden. Die laktogene
Wirkung war in mehreren Fällen eine unzweifelhafte.
Er lobt ferner die Möglichkeit grosser Abwechslung
in der Darreichung des Hygiamas.
Rosen 80 ) machte seine Versuche mit Hygiama
hauptsächlich bei Kranken, die an Lungentuberkulose
litten, um ihnen recht viel Nährmaterial zuzuführen.
Ein Tuberkulöser, der Milch allein wegen danach
auftretenden Durchfalls nicht vertragen konnte, ertrug
sie mit Hygiama gut; eine Tuberkulöse nahm die
Milch, die sie nicht mehr trinken wollte, unter Zusatz
von Hygiama wieder auf, sodass die Ernährung nicht
gänzlich stockte. Auch bei einem Kranken mit
Lebercirrhose und Ascites, bei einem mit schwerer
Myocarditis und einem mit chronischer Nephritis
wurde *die Ernährung durch Hygiama günstig be¬
einflusst.
K ei bei 26 ) sah ebenfalls schöne Erfolge von der
Verordnung des Hygiama bei Tuberkulösen.
Desgleichen ferner v. Szaboky 28 ). Dieser
konnte bei Tuberkulösen — auch bei vorgeschrittenen
Fällen — mit hohem Fieber, ausgebreiteten In¬
filtrationen, Cavemen fast immer durch längeres
Darreichen des Hygiama eine Gewichtszunahme
constatiren; in diesem Falle vertrugen die Kranken
das Hygiama gut und nahmen es gerne. Auch
Kranke mit Hämoptoe nehmen unter Hygiama an
Körpergewicht zu. In zw r ei Fällen von Magen¬
geschwür nahmen die Patienten unter ausschliesslicher
Ernährung mit Hygiama an Gewicht zu und ver¬
ringerten sich die Schmerzen. — (Schluss folgt.)
I'iir den redactionellen 'J heil verantwortlich : Oberar/.t Dr. J. 11 res ler, Lublinitr (Sch esien).
l.rsrheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inscratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Ileynemann’scho Buchdruckerei (Gebr. ’VVoiiT) in Halle a. S.
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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift.
Redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Lublinitx (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834.
Nr. 22, 7 ~""~ 27. August. 1904.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitx (Schlesien), zu richten.
Aus der psychiatrischen Universitätsklinik in Zürich (Burghölzli).
Zur Psychologie hysterischer Dämmerzustände und des Ganser’schen Symptoms.
Von Dr. Franz Riklin , I. Assistenzarzt.
(Schluss.)
Bei der Aufnahme am Abend des 9. Juni 04
bot Johann S. noch das gleiche Symptomenbild, wie
es nach dem mitgetheilten Protokoll schon am Nach¬
mittag des gleichen Tages bestand, nämlich ein
schematisches Nichtwissen, resp. Danebenantw’orten,
so dass vom Kranken beständig falsche Angaben ge¬
macht wurden, aus denen aber ersichtlich war, dass
die Fragen richtig aufgefasst worden waren. Dabei
war Explorand meistens über Zeit und Ort nicht
orientirt und zeigte wechselnde Hautanästhesien.
Das Krankheitsbild wird ergänzt durch die Beob¬
achtung, dass Explorand, seitdem er klar ist, sich
schwer auf das Delikt und jene Zeit besinnen kann,
trotzdem er dazwischen frappante Stichproben dafür
giebt, dass die Sachen der Erinnerung unter andern
Umständen zugänglich sind.
Wir lassen kurz einige Beispiele von Antworten
des Exploranden am Aufnahmetag folgen:
Ref.: Wo sind Sie? Expld: Im Dolder (das be¬
kannte Hotel auf dem Zürichberg), sein Begleiter
habe ihm das unterwegs gesagt.
Ref.: Das ist das Burghölzli! Expld.: So?
Ref.: Wissen Sie, w f as das Burghölzli ist?
Exp.: Ich habe schon gehört davon.
Ref.: Wie heissen Sie? Expld.: Johann.
Ref.: Geschlechtsname?
Expld.: Ich weiss nicht, wir haben einmal dort
bei der Mühle gewohnt. (Stimmt für die Jugend-
zeit.) (i) 1 )
Ref.: W r oher sind Sie?
1 ) Die Zahlen (1) bis (10) beziehen sich auf verschiedene
einander ablösende Vorstellun^skomplcxe im Verlauf des Dämmer¬
zustandes.
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Expld.: Von Schaffhausen. (Ein andermal: Ich
bin noch ein ehrlicher Züricher. Explorand ist an
beiden Orten Bürger).
Ref.: Heissen Sie nicht S. ?
Expld.: S. So ?
Explorand giebt unterdessen dem Oberwärter, der
ihn zwischenhinein bittet, was er in der Tasche habe,
abzugeben, all es richtig ab. (2)
Ref.: Wie alt sind Sie?
Expld.: 21 Jahre (er ist 41 Jahr alt).
Ref.: Wann geboren?
Expld.: Ich weiss den Jahrgang nicht recht, ich
glaube fast anno 71. (1863.)
Ref.: Welches Jahr ist jetzt? Expld.: 97. (1904.)
Ref.: Heutiges Datum? Expld.: Weiss es nicht.
Ref.: Monat? Expld.: April. (Juni.)
Vorgestreckte Finger zählt Explorand richtig, ruft
dann aber, wie um die ganze Fragerei abzulenken:
Bekomme ich noch kein Wasser? Diese Frage
wiederholte er im Lauf der Untersuchung noch mehr¬
mals, w r enn er sich für die Fragen nicht zu inter-
essiren schien.
Es werden ihm Gegenstände vorgezeigt, die er
benennen soll:
Eine Brieftasche, worauf gedruckt steht: Taschen¬
kalender.
Explorand: Eine Mappe.
Ein Schlüssel: richtig benannt.
Ein Portemonnaie: Geldbeutel.
Ein Zweifrankenstück: Explorand liest nach langem
Herumdrehen auf dem Geldstück, hochdeutsch: Zwei
Franken.
Ein Fünflire: Explorand nach langem Herum-
Original frnm
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94
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 22.
drehen des Geldstücks: Ein Geldstück. Liest darauf:
Fünf Franken.
Ein Zehnrappenstück: Nach langem Drehen in der
Hand: Münz.
Ref.: Wie viel ist es werth?
Expld.: Das weiss ich nicht.
Ref.: 5+10? Expld. (studirt lange herum: 5
. 17 -
Ref.: Zählen Sie von 1 bis 10.
Expld.: 1, 2, 4, 7, 9, 11 . . .
Das ABC könne er nicht sagen.
Man zeigt ihm eine Uhr, er benennt sie richtig.
Man fragt ihn, wie viel Uhr es sei (die Uhr zeigt
5V4 U.). Explorand behauptet: Halb vier, nicht
ganz. Er hat also einfach den grossen Zeiger für
den kleinen genommen.
Aehnlichen Umstellungen begegnet man bekannt¬
lich beim Ganser’schen Symptomenkomplex immer
wieder.
Man zeigt ihm eine Zündholzschachtel: Expld.:
Ich weiss nicht was das ist.
Ref.: Machen Sie das auf!
Explorand drückt an der Längsseite der
Schachtel herum, dann am Deckel und Boden der
Schachtel, und wie man bei der Aufforderung ver¬
harrt, drückt er immer stärker, bis plötzlich die
Schachtel bricht.
Man giebt dann dem Exploranden einen Schlüssel,
er solle die Thüre schliesscn. Er macht die Thüre
auf und sagt, nochmals zum Schlicssen aufgefordert:
Ich kann ja nicht schlicssen; wie sollte ich denn
schliesscn können.
Auf Befehl steckt er endlich den Schlüssel ins
Loch.
Ref.: So, jetzt müssen Sie doch umdrehen.
Explorand, ganz erstaunt: Umdrehen?
Ref. frägt weiter: Woher kommen Sie?
Expld : Ein Herr fuhr mit mir in einer Droschke
herum, spazieren. (Er wurde in Begleitung eines
Polizisten in einer Droschke gebracht.)
Explorand will nicht wissen, wo er eingestiegen
sei. Er wollte nichts vom Sclnau ( Untersuch ungs-
gefängniss) wissen, nicht wissen wo, bei welchem
Hause er eingestiegen sei. Er habe halt wie ein
Loch im Kopf, er könne sich gar nicht mehr recht
besinnen.
Ref.: Morgen müssen Sie das alles wissen.
Expld. erstaunt: So, morgen?
Gleichen Abends 9 Uhr wurde Explorand noch¬
mals untersucht, als er im Wachsaal zu Bette lag.
Ref.: W o sind Sie f
Expld.: Im Burghölzli. Der Mann da (der Wärter)
habe ihm das auch gesagt.
Ref.: Woher sind Sie gekommen?
Expld.: Ein Herr ist mit mir Droschke gefahren.
Ref.: Wo eingestiegen?
Expld. nach einigem Besinnen: In der Selnaustr.
Er will aber nicht wissen, bei welchem Haus.
Dann fragt er plötzlich: Haben Sie telephonirt nach
Aarau, dass der Möbelwagen, der heute Morgen
hingefahren ist, nachts 2 Uhr dort ankomme? Ich
sagte doch, man solle telephoniren: ich sagte es
einem Herrn, der dort sass. — Es war am Morgen,
als wir wegfuhren; in Brugg bin ich selber halt zu¬
rückgefahren.
Die Hallunken dort im Kreis III droben haben
mir in den letzten 2 Jahren 45000 Frk. gestohlen;
ich hatte 100000 Frk. Jetzt bin ich nur noch
Knecht. (5)
Ref.: Sind Sie verheirathet?
Expld.: Nein.
Ref.: Wie alt sind Sie ?
Expld.: iS.
Ref. : Haben Sie die Sekundarschule besucht?
Expld.: Nein, das Polytechnikum; ich wollte
Doctor werden. Explorand beharrt auf dieser Aus¬
sage, trotzdem man ihm erklärt, am Polytechnikum
könne man gar nicht Doctor werden.
Explorand hört einem nebenanliegenden Patienten
zu, der unverständlich für sich murmelt, und meint,
derselbe rede mit ihm; er fällt dann plötzlich mit
den Worten ein: Ja, ja, das ist wahr, traurig, traurig,
traurig.
Während dieser Luiterhaltung reagirt Explorand
zeitweise gar nicht auf tiefe Nadelstiche, zeitweise
reagirt er darauf.
Ref.: Wie heissen Sie ?
Expld.: Johann S. (sagt jetzt den Geschlechts¬
namen auch). Pu- will aber absolut nicht verheirathet
sein. (4)
Ref.: Warum sind Sie eigentlich im Bett?
Expld.: Ja, wenn ich nicht hier sein kann, gehe
ich anderswo hin, ich komme schon unter. (5)
Er steht auf, will sich anziehen, geht an die Thüre,
klopft an dieselbe. Nachher sagt er wieder: Ich
gehe nicht zu diesen Toten da. (Er sieht die schla¬
fenden Mitpatienten.) (6)
Ref.: Warum sind Sie eigentlich vorhin aus dem
Bett gegangen?
Plxpld.: Pis war mir halt zu heiss. Er hat also
wohl schon wieder die Vorstellungen von vorher ver¬
gessen. (7 j
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Original fram
HARVARD UNIVERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
J 95
1904.]
Ref.: Aber was macht denn ihre arme, arme
Frau, wenn Sie gar nicht heimkommen und so tage¬
lang herumlaufen etc. ?
Sobald man versuchte, auf diesem Wege des
Gemüthes, die Erinnerung an die Frau wachzu¬
rufen, statt im Tone der Untersuchung, gegen den
er sich immer ablehnend verhielt oder falsch ant¬
wortete, gelang es. Jetzt ist er auf einmal ver-
heirathet, ebenso energisch, ja sogar mit drohender
Geberde, als er vorher nicht verheirathet sein wollte.
Er lobt seine Frau und erzählt mit entzücktem Ge¬
sicht Erinnerungen von der Hochzeitreise. (S)
Im nächsten Moment fragt ihn Ref. wieder im
Untersuchungston: Wie heissen Sie? Sind sie ver¬
heirathet ? etc. (9)
Ebenso prompt und ebenso energisch behauptet
Explorand wieder, er sei nicht verheirathet, er habe
keine Frau.
Den Vorwurf, er sei ja tagelang nicht heinige¬
gangen, ob er wohl herumgelumpt habe u. dgl.,
lässt er sich absolut nicht gefallen und droht thät-
üeh zu werden.
Im Momente, wo Explorand verheirathet sein
wollte, konnte er über den Namen der Frau, Zahl
der Kinder, Herkunft des Eherings und ähnl. richtig
Auskunft geben, hingegen malte er sich die Situation
von zuhause noch mehr aus, .glaubte, er sei dort,
hielt Ref. für den „Karl aus dem Laden drüben“,
duzte ihn, meinte die Frau sei in der Nähe, pfiff in
den Hof hinunter, rief dem Knecht, wo sie sei,
wollte ihr „grad telephoniren“.
Will nicht im Burghölzli sein, nichts vom Selnau
wissen. In diesem Zusammenhang will er
auch von der Droschke, die ihn hergebracht
hat, absolut nichts wissen! (10)
Heben wir die Hauptpunkte dieses Zustandes
hervor:
Im Vordergrund steht das systematische Daneben¬
antworten, dann das Nichtwissen von ihm sehr be¬
kannten Personen und Sachen.
Das Nichtwissen ist am stärksten, wo es sich
um die Untersuchungshaft im Selnau handelt. Man
sieht z. B. sehr gut, dass das Nichtwissen sich gleich
wieder mehr ausdehnt, wenn man vom Selnau spricht,
es erstreckt sich dann auch auf die vorher zugegebene
Droschkenfahrt von der Selnaustra sse aus.
Die zeitliche und örtliche Orientirung ist meistens
gestört.
Bei veränderter Frageart sind Vorstellungen wieder
zugänglich, von denen Explorand vorher nichts wissen
wollte (Frau, Kinder, Namen). Sobald man von
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neuem den Untersuchungston anschlägt, w r eiss er diese
Dinge wieder nicht.
Auffallend ist, dass in Erinnerung gebrachte
Situationen sofort ganz plastisch hervortreten, und
dass Explorand gleich die ganze Umgebung im Sinne
der augenblicklichen Vorstellung umdeutet (Situation
von zu Hause z. B.).
Im nächsten Moment geschieht das gleiche mit
einer andern Vorstellung. Explorand vergisst dann
ganz, w*as eben da war, und was er eben gesagt hat.
Er hat z. B. vergessen, warum er aus dem Bett ge¬
stiegen ist und braucht dann die Ausrede: Es w f ar
mir zu heiss u. s. f. Es bestehen nacheinander, an¬
geregt durch die wachgerufene Situation, verschiedene
Zustände, die alle als kleine Dämmer zustande
mit eingeengtem Bewusstsein charakterisirt
sind, w'o die Umgebung danach gedeutet wird. Im
Moment, wo sich Explorand der Frau erinnerte, war
er nicht klarer als vorher, denn er glaubte jetzt auch,
er sei zu Hause, suchte und pfiff die Frau, hielt in
diesem Zusammenhang den Ref. für „den Karl“ etc.
Ich habe versucht, durch in Klammer nebenan¬
gesetzte Zahlen eine Serie der eben genannten Vor¬
stellungskomplexe des Dämmerzustandes zu markiren.
In Wirklichkeit sind es noch mehr. Am meisten
tritt derjenige hervor, der durch die Untersuchungs¬
situation immer wieder suggerirt wurde, d. h. das
systematische Nichtwissen.
Am folgenden Morgen (10. Juni 04) schon war
Explorand klarer, orientirt, gab richtige Auskunft über
Name, Alter, Personalien, Geburtstag von Frau und
Kindern etc., über seine Eltern und seine Vor¬
geschichte. Er wusste, dass er mit einer Droschke
hergekommen sei; den Ref. verwechselte er noch
mit einem andern Arzt, der in der Morgenfrühe zu
ihm gekommen war.
Hingegen besass er für die Erlebnisse der letzten
Tage eine umschriebene Gedächtnisslücke: Er meinte,
es sei der 6. oder 7. Juni 1904 (es war der 10.)
wollte sich nicht ans Selnau erinnern. Er sei die
letzten Tage zu Hause gewesen, es sei ihm etw'as
schlecht im Kopf. Wie er von zu Hause weg-
gekommen sei, wisse er nicht.
Im Uebrigen giebt er aber wieder richtig an, er
habe ein eigenes Geschäft, sei nicht Knecht; in den
letzten Jahren habe er schlechte Erfahrungen ge¬
macht (weint!). Durch Rossschäden, an Konkursiten,
Baumeistern und an Miethern etc. habe er im ganzen
45000 Frk. verloren.
Er habe einigeraale „vor Untersuchung“ gehen
müssen (d. h. vor der Verhaftung schon) wegen
Pfandunterschlagung, man habe nichts gefunden.
Original from
HARVARD UNIVERSITY
196
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT
[Nr. 22.
An die Verhaftung besteht, wie gesagt, keine Er¬
innerung.
Diese retrograde Amnesie, überhaupt der geschil¬
derte Dämmerzustand ist dem vom Vorjahr (1. Sept.
1903) durchaus analog, nur dass er diesmal in Unter¬
suchungshaft und nicht bei einer einfachen Vorladung
vor dem Friedensrichter eingetreten ist
Der Verlauf des Krankheitsbildes ist seither fol¬
gendes gewesen:
Explorand benahm sich auf der Abtheilung in
der Folge nicht auffällig, war hier und da gedrückter
Stimmung, namentlich nach Besuchen der Frau, und
sah dann nachdenklich brütend vor sich hin. Er
ging mit zur Feldarbeit, wo er im Anfang verhält-
nissmässig recht munter war. Die Aussicht auf Be¬
strafung hat ihn seither wieder mehr deprimirt.
3 Wochen nach dem Eintritt nahm er an einem
Anstaltsfest theil; als einige sentimentale Lieder ge¬
sungen wurden, fing Explorand plötztlich zu weinen
an, wurde dämmrig und rief: „Ach, ich bin doch
verloren“, und wollte sich aus Taschentüchern einen
Strick drehen. In einen Wachsaal gebracht, war er
noch dämmrig und stieg mehrmals aus dem Bett.
Bald fiel er jedoch in einen ruhigen Schlaf und war
am folgenden Morgen wieder ganz klar und ruhig.
Wir gaben unser gerichtliches Gutachten dahin
ab, dass Explorand Hysteriker sei. Nach all
dem Gesagten mag es überflüssig sein, auf eine
differentialdiagnostische Besprechung zurückzukom¬
men. Geisteskrank im Sinne des Gesetzes sei er
weder zur Zeit der Begehung des Pfändungsbetruges
gewesen, noch sei er es jetzt. Hingegen haben wir
die Straferstehungsfähigkeit breit discutirt und darin
auf leicht mögliche Recidive hingewiesen, die dann
unbedingt sofort sachverständige Behandlung erfor¬
dern, auch wegen der Suicidgefahr. Hingegen muss¬
ten wir sagen, dass manche Fälle nach Erledigung
des Processes beruhigt sind und in der Strafhaft
keine Bewusstseinsstörungen mehr zeigen etc. (Ge¬
fahr der Wiederholung ähnlicher Delikte im Fall der
Freisprechung wegen Straferstehungsunfähigkeit; Schutz
dagegen durch Bevormundung.)
Unser Fall ist ein neuer Beweis dafür, dass die
I ncom ptabilität eines stark unlustbe¬
tonten Vorstellungskomplexes mit dem
gegenwärtigen Bewusstseinsinhalt zur Ab¬
spaltung desselben vom Bewusstsein führt. Im Mo¬
ment, wo Explorand sieht, dass die Sache schief
geht, gewinnt der Gedanke des Nichtwissens resp.
Nichtwissenwollens vollständig die Oberhand. Er
beherrscht, in einer von den gewöhnlichen bewussten
Vorstellungskomplexen unabhängigen Weise, also selb-
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ständig, automatisch arbeitend, die Situation und
beantwortet die an ihn gestellten Fragen. Er wird
allerdings beeinflusst durch die andern Vorstellungs¬
komplexe, so die durch die Untersuchungsfragen an¬
geregten : deshalb kommt das systematische Daneben¬
antworten mit einer bewusst wohl unnachahmlichen
Virtuosität. Dieser Gedanke des Nichtwissenwollens
wird suggerirt und fortwährend unterhalten durch
den Untersuchungston der Fragen. Er wird selbst¬
ständig und verbreitet sich auch über Gebiete, die
über das Nichtwissen wollen des Delikts hinausgehen
(Personalien, Frau). Das Nichtwissenwollen ist aller¬
dings dort am intensivsten, wo es die Untersuchungs¬
haft und das Delikt selbst betrifft (s. das Nicht¬
wissen von der Selnaustr., wenn man fragt, ob er im
Selnau gewesen sei). Diese Absperrung der Er¬
innerung an das Delikt besteht in einem gewissen
Grade auch nach Ablauf des Dämmerzustandes.
Auf emotivem Wege und durch Sug¬
gestion anderer Situationen statt der
Untersuchungssituation werden die Vor¬
stellungsgebiete (Frau, Geschäft etc.), die
unter der Herrschaft einer andern Situa¬
tion nicht erinnert werden, zugänglich,
um unter der Suggestion der Untersuchungssituation
gleich w-ieder abgesperrt zu werden.
Das Ganser ’sche Symptom ist also auf den
Vorstellungskomplex des Nichtwissenwollens lokalisirt;
es gelingt, andere Komplexe emporzuheben, mit
pathologischer Plastizität (Situation von zu Hause).
Das Bewusstsein wird durch die affektiv bewirkte
Spaltung eingeengt, nichts wird zugelassen, was das
Delikt selbst betrifft. Indessen zeigt derjung’sche
Fall 1 ) und unser folgender, dass auch diese Vor¬
stellungsgruppe, z. B. in Hypnose, zugänglich ge¬
macht werden kann.
Dieser so formulirten Auffassung entsprechen die
Darstellungen Jung’s, wenn er sagt, beim Ganser-
schen Symptom betreffe die Störung nur das (momen¬
tane) Bewusstsein und wenn er in seiner Arbeit
über Simulation das Ganser’sche Symptom bei
Untersuchungsgefangenen als Simulation iin Unbe¬
wussten (unter der entfesselten Herrschaft der affekt¬
erfüllten Vorstellung des Nichtwissens) aufgefasst haben
will.
Allerdings ist in unserm Fall (wie z. B. auch im
Jung’schen Untersuchungsfall), das Nichtwissen viel
ausgedehnter, als es zur Simulation nöthig wäre, geht
sogar auf Dinge über, die der Explorand schon oft
*) Ueber einen Fall von hyst. Stupor etc.
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
IQ 04 -]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
197
erzählt hat (darin besteht das automatisch wuchernde
Weiterwirken der Vorstellung vom Nichtwissen).
Andererseits kann das Nichtwissen durch Ein¬
schleichen auf emotivem Wege, durch suggestives
Einschmuggeln eines Vorstellungskomplexes (Frau,
Familie, Daheim) ausgeschaltet oder eingeschränkt
werden.
Damit ist auch die Simulationsfrage erledigt.
Eigentlich „simulirt“ Explorand sich selbergegen-
über, d. h. das Nichtgewünschte — resp. das von
starkem Unlustaffekt Begleitete — wird abgespalten
( = verdrängt).
Diese letztere Auffassung kommt namentlich in
den Fällen zur Geltung, wo es sich um nicht
kriminelle Fälle handelt und somit bewusste
Simulation beim Auftreten des Ganser’schen Symp¬
toms und Komplexes gar nicht in Frage kommt.
Fall II. Nicht kriminell.
Eintritt am 21. April 1904. Die mit Tuberkulose und
Hysterie erblich belastete, selbst tuberkulöse und
hysterische 26jährige Frau Maria C. hat vor vier
Jahren einen rechtschaffenen Taglöhner geheirathet,
unter Protest der Familie, weil der Mann Italiener
sei. Pat. wurde sogar enterbt, was für sie und ihren
Mann sehr empfindlich war; immerhin brachte sie
eine früher ererbte Summe von 800 Frk. mit in die
Ehe. Nun gab sie vor 3 Jahren diese 800 Frk.
leihweise einem Nachbarsmädchen, das auch trotz
Protestes des Vaters heirathen wollte, resp. sie be¬
stellte für diesen Betrag Möbel etc. Die Rückzahl¬
ung sollte in 2 Monaten stattfinden, wo das unter¬
dessen volljährig gewordene Mädchen über ihren
Vermögenstheil verfügen konnte. Das Mädchen er¬
hielt auch ihren Vermögensantheil, verreiste aber
gleich mit ihrem Geliebten nach Amerika. Die arme
Frau Maria C., welche damals wegen ihrer Tuber¬
kulose krank lag, erfuhr das zu spät. Dem Manne
w'agte sie von dem für sie grossen Verlust nichts zu
sagen und trug das Geheimniss 3 Jahre mit sich
herum. Sie trat im Januar 1904 in die Universitäts¬
frauenklinik ein und gebar dort am 20. März. Wegen
einer Venenthromböse verlängerte sich ihr Aufent¬
halt in der Frauenklinik. Laut ärztl. Aufnahme-
zeugniss erhielt die sonst im ganzen sehr muntere
Pat., die in ihren Mädchenjahren allerdings von Zeit
zu Zeit leichte hysterische Anfälle gehabt hatte, am
20. April von ihrem Mann einen Brief. Sie fing
heftig zu weinen an, wurde verwirrt, verdeutete die
Umgebung als Verfolger. Der Arzt mit rothem
Schnurrbart wurde zum „rothen Mann“, Männer
verfolgten sie hauptsächlich. Sie reagirte prompt auf
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Nadelstiche, meinte dabei, man wolle sie tödten, er¬
stechen , glaubte im Essen sei Gift, glaubte sich im
Gefängniss und ähnl.
Im Briefe steht aber ungefähr folgendes: Marie !
Schon längst hätte ich meinem Herzen Luft gemacht,
wollte Dich aber vor den Leuten (in der Klinik)
nicht beschämen. Nun musst Du aber wissen: unter
uns zweien gehts nicht mehr; ich habe alles ver¬
nommen (die Geschichte mit den 800 Frk.) etc.
Jetzt enthüllst Du Dich so! Habe ich nicht, wenn
ich abends von der Arbeit müde heim kam, Dir
noch alles gethan, was Du wünschtest, Dir sozusagen
die Hände unter die Füsse gelegt? etc.
Nun hast Du mir zur schweren Arbeit noch
solche Bürde und Bekümmemiss aufgeladen. Das
ist keine Liebe mehr (etc. Klagen über Haushalt¬
ungssorgen, Verpflegungskosten) und nun noch dieser
Verlust! Du bekümmerst Dich um kein Haar, wie
ich alles bestreite, wenn Du es nur gut hast. Nun
kannst Du meinetwegen Deine Sachen verkaufen
zum Schulden zahlen. Wenn Du heim kommst,
kannst Du Deine Kinder noch einmal sehen, aber
dann ists fertig.
So weit hast Du es gebracht mit Deinem
Franz.
Die Frau wurde noch gleichen Abend in unsere
Klinik gebracht und gab bei der Aufnahme folgender-
maassen Auskunft:
Frage: Wo sind Sie?
Antw.: Daheim, gelt Franz! (Verkennt den Arzt
als Mann, beantwortet die Frage im Sinn der Wunsch¬
erfüllung.)
Fr.: Wo ist ihr Mann?
Antw.: Da (zeigt auf einen Arzt).
Vom Briefe will Pat. gar nichts wissen; sie
habe keinen Brief oder ähnl. bekommen.
Fr.: Aber Sie sind ja nicht daheim ; Sie liegen
auf einer Tragbahre.
Antw.: Nein, nein, ich lasse mir das nicht nehmen,
ich liege daheim im Bett; der Mann hat mich heim¬
geholt (weiss also vom Aufenthalt in der Klinik)
und ich bin halt noch müde; darum liege ich im
Bett.
Fr.: Wie spät ist hier auf der Uhr? (V4 6 U.)
Antw.: 3 Uhr (also beide Zeiger in entgegen¬
gesetzte Richtung umgestellt).
5 Finger: Die ganze Hand.
1 „ : Ein Finger.
4 „ : Die ganze Hand.
4 „ : Keiner.
Schlüssel: Das ist Eisen (wiederholt).
Original from
HARVARD UNIVERSUM
iq8 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 22.
Ein 20- Rappenstück: Das ist ein Ring.
Ein Messer: (ängstl. Ausdruck) Nein, nein, um
Gotteswillen; töten lasse ich mich nicht. (Weint
heftig.)
Man zeigt ihr das Aufnahmezeugniss.
Fr.: Was ist das? Ein Brief?
Antw.: Nein, Papier.
Fr.: Ist es eine Photographie?
Antw.: Nein, es ist Papier, Druckpapier.
Nadelstiche: Pat. wird sehr ängstlich und bittet
lebhaft: Nein, nicht töten.
Fr.: Monat?
Antw.: 20. Februar (April!), ich habe heute
morgen geboren.
Fr.: Nein, Sie haben doch am 20. März geboren?
Antw.: Nein, das ist eine Lüge! Ich war doch
im Gebärsaal, Frl. S. (Oberhebamme) hat mich doch
entbunden. (Stimmt).
Fr.: Datum?
Antw.: Ich komme gerade von droben (Frauen¬
klinik). Morgens 7 Uhr habe ich geboren, weisst
Du?
(Verkennung des Arztes als Mann.)
Pat. behauptet, sie habe noch nie aufstehen
dürfen; sie stand aber die letzten Tage auf. Das
Kind sei gestorben, darum habe sie ge¬
weint. (Das Kind lebt.)
Vom Kind aus associrt sie aber den Mann
und sagt in diesem Zusammenhang: „U n d der
Mann kam nicht mehr zu mir, weil ich
ihm nicht gehorcht habe, ich habe viel
Geld ausgeliehen hinter seinem Rücken,
jetzt will er mich nicht mehr haben“.
Wir sehen hier ganz ähnliche Folgen von kleinen
Dämmerzuständen, wie im vorhergehenden Fall, und
hier, auf einem ganz bestimmten Associationswege,
kommen wir sogar zur Kenntniss der sonst „ver¬
drängten“ Erinnerung an den Brief, während vor-
und nachher die Erinnerung an den Brief abge¬
schnitten ist.
Bald duzt sie den Arzt; dann, auf sein Aeusseres
aufmerksam gemacht, sagt sie: Nein, mein Mann hat
schon graue Haare. (Richtig.)
Eine Streichholzschachtel nennt sie: „Schmuck-
kästlein“.
„2 Streichhölzer“ : 2 Hölzchen.
„Was für Hölzchen?“ Antw.: Ich weiss nicht,
was ihr damit macht.
„Datum ?“ Oktober 1906.
Also: Oktober statt April, 1906 statt 1904, stark
vordatirt; vorher sagte sie, es sei Februar, ca. am
20. Februar (in Wirklichkeit am 20. März) habe sie
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geboren. Sie verlegt also das Datum möglichst weit
vor das richtige hinaus oder zurück.
„Datum?“ Nächstes Jahr ist 1904!
„Ehering“: Ein Ring.
„Was für einer?“ Zum Anstecken.
Frage: Bedeutet er nichts Besonderes?
Antw.: Ja weisst Du, ich habe meinen Ehering
zerbrochen, als ich Breiumschläge bekam. (Er wurde
damals etwas verdorben.)
Am folgenden Morgen Amnesie für die Auf¬
nahme. Sie erinnert sich nur, wie sie nachts er¬
wachte und von der Pflegerin über ihre neue Situation
orientirt wurde. Klarer. Gegenstände werden richtig
benannt. Die Aerzte kennt sie, entsprechend der
Amnesie, nicht: „Sie waren nicht in der Frauen¬
klinik“. Giebt das Datum von der Geburt des
Kindes richtig an. Ist im Tagesdatum um 2 Tage
zurück.
Erinnert sich jetzt an den Brief. Ob die hallu-
cinirten rothen Männer Wirklichkeit hatten oder
nicht, kann sie noch nicht angeben. Hat an die
Hallucinationen Erinnerung, z. Th. aber nur un¬
scharf.
Abends noch klarer.
In der darauffolgenden Nacht glaubte sich Pat.
daheim, rief dem Mann, war dabei anscheinend wach,
redete mit offenen Augen mit der Pflegerin. Am
Morgen Amnesie dafür.
Es wurden bei der Pat., wie bei allen in dieser
Arbeit erwähnten Fällen, Associationsversuche
gemacht, über welche später in einer Arbeit über
die Associationen Hysterischer im Zusammenhang
berichtet werden soll.
Wenige Tage nach dem Eintritt erhielt Pat. Be¬
such vom Manne, der uns einen sehr guten Ein¬
druck machte und ihr verzieh. Nachdem auch diese
Spannung beseitigt war, machte die Genesung rasche
Fortschritte; nur Hess sich eine deutliche Hysterie
noch nachweisen. Eine Woche nach der Aufnahme
konnte Pat. vom Dämmerzustand geheilt entlassen
werden. Die Diagnose unterliegt wohl keinem
Zweifel; ebenso deutlich ist die ausIösende Ur¬
sache des Dämmerzustandes der affektiv bedingten
Abspaltung der Erinnerung an den unseligen Brief.
Das automatisirte Nichtwissenwollen kann hier nicht
als unbewusste Simulation vor einem Unter¬
suchenden , sondern nur als Nichtwissen wollen dem
eigenen Bewusstsein gegenüber, als „Verdrängungs¬
erscheinung“ aufgefasst werden. Dabei'ist es
unter bestimmten SituationsVorstellungen
(Kind — Mann) möglich, dass sogar die Er-
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
iQ<> 4 ]
innerung an das psychische Trauma zum
Vorschein kommt (ob mit aller Neben Vorstellung
und seinem ganzen Affekt, ist nicht mehr zu eruiren).
Die Amnesie nach wiedererlangter Klarheit ist
schwankend und nicht vollständig.
Der Fall muss als etwas leichter betrachtet werden,
als der vorhergehende.
Fall III. Nicht kriminell.
Frau Verena D., 43jährig, war vor 10 Jahren
schon einmal eines hysterischen Dämmerzustandes
wegen einen Monat lang in unserer Klinik, wurde
geheilt entlassen und war in der Zwischenzeit ge¬
sund und arbeitsfähig. Nichts katatonisches; keine
Verblödung. Die Krankheit war damals in der
Nacht nach einer Geburt ausgebrochen, nachdem
eben der Mann betrunken nach Hause gekommen
war; Pat. erzählt jetzt noch, dass dieser Umstand
sie zur Verzweiflung und Verwirrung gebracht habe.
Für den damaligen Zustand trat nach dessen Ab¬
lauf Amnesie ein.
Vor kurzem ist ihr Mann gestorben und vor
einigen Tagen erkrankte noch ihr einziges Kind, um
das ihr nun erst recht bange wurde. Sie gerieth in
einen sehr starken Aufregungszustand, wollte auf
den Friedhof gehen, getötet werden. Sie kam
sch weissgebadet und auf die Tragbahre gebunden in
der Anstalt an.
Sie macht richtige Angaben, ausgenommen
über ihr Kind. Sie konnte nur mit grösster
Mühe ins Bad gebracht werden. Hingegen war trotz
ihrer Aufregung das Schamgefühl erhalten. Sie hatte
die Menses und deckte sich rasch wieder, wenn sie
sich tobend und Opisthotonus machend entblösst hatte.
Am folgenden Tage klarer: an die Aufnahme nur
ganz unscharfe Erinnerung. Amnesie für die
ganze Erkrankung des Kindes, Pat. setzt das
Datum um etwa 8 Tage zuiück. Abends hallucina-
torischer Traumzustand, mit symbolischen Erinner¬
ungen an ihr Eheleben. Schläft die zweite Nacht
nach einer Hvoscininjektion. Tagsüber klar; am
darauffolgenden Abend nochmals aufgeregt, stereotyp
rufend: Ich bin der Herr, Dein Gott. Du sollst
ausser mir keine andern Götter haben. Folgenden
Tags wieder klar; erinnert sich an das Geschehene
wie an einen Traum. Es sei ihr die Erinnerung an
einen Sektenprediger gekommen, den sie abgewiesen
habe, der vor einer Woche gesagt habe, er erscheine
wieder, zum Guten oder zum Bösen. Sie habe sich
in ihrer Trauer so vor diesem Ausspruch gefürchtet.
Aus suggestiven Gründen Hess man Pat. darauf
eine Nacht in der Zelle schlafen. Von da an auch
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190
nachts im Wachsaal ganz ruhig, sie konnte bald auf¬
stehen. Gute Berichte vom Kind brachten die Am¬
nesie für dessen Erkrankung immer mehr zum
Schwinden und ein Besuch des Mädchens beruhigte
die Patientin vollständig. Nach 20tägigem Anstalts¬
aufenthalt wurde Pat. geheilt entlassen.
Im Krankheitsbild steht weniger das Vorbeireden,
das sich nur auf die Erkrankung des Kindes erstreckt,
im Vordergrund, als der hysterische Wahnsinn und
die, allerdings nur temporäre Amnesie für die Er¬
krankung des Mädchens. Dass auch hier der Affect
die Ursache der Krankheit und Amnesie war, ist
wohl klar. An Katatonie denkt man nach dem Ver¬
lauf und dem Mangel an Verblödung wohl kaum,
trotz vorübergehender katatoner Symptome in einem
Traumzustand.
Auch hier wird das Nichtwissen wollen und der
ganze Zustand nie als s i in u 1 i r t betrachtet werden.
Ein vierter Fall betrifft eine hysterische, sehr
tüchtige Pflegerin, die nach einer Zahnextraction in
Narkose, während welcher sie Arc-de-cercle und
plötzliche Entweichungsversuche machte, einen leichten
hysterischen Dämmerzustand mit Ganser’schen
Symptomen bekam. Sie hatte vorher Angst, sie
werde in Narkose ihre Geheimnisse, die auch ein
Vergiftungsconamen in sich schlossen, ausplaudem.
Nach der Narkose Desorientirtheit, systematisches
Vorbeireden wie in den ersten beiden Fällen. Pat.
floh nachher in den Garten und war noch über einen
Tag lang dämmrig. In der Narkose wiederholten
sich gewisse in ihrer frühem Stelle aufgetretene Angst-
scenen.
Das Ganser sehe Symptom war hier wahrschein¬
lich dadurch ausgelöst worden, weil Pat. ursprünglich
Angst gehabt hatte, sich zu verrathen.
Die Fälle 2, 3 und 4, alle nicht kriminell, geben
uns über die auslösende Ursache solcher Däm¬
merzustände und den Grund des Ganser’schen
Symptoms, namentlich über die Simulationsfrage,
Auskunft und bestätigen die bei Fall 1 angeführten
Eröiterungen. Es ist zu hoffen, dass namentlich die
Analysen der Fälle 1 und 2, zum Verständniss der
Psychologie hysterischer Dämmerzustände und speciell
des Ganser’schen Symptoms einen weiteren Bei¬
trag geleistet haben.
Meinem hochverehrten Chef, Herrn Professor
Bleuler, bin ich für die Uebcrlassung der Fälle,
und ihm, sowie meinem verehrten Freund und Ge¬
legen Dr. C. G. Jung, für die fortgesetzte Anreg¬
ung, welche ich bei dieser Arbeit in gemeinsamer
Diskussion gefunden habe, zu herzlichem Dank ver¬
pachtet.
Original from
HARVARD UNiVERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
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[Nr. 22.
Litteraturverzeichniss.
Binswanger: Ueber einen eigenartigen hysterischen
Dämmerzustand (Ganser). Monatsschrift für Psy¬
chiatrie und Neur. Bd. III, p. 175. 1898.
Bresler: Die Simulation von Geistesstörung und
Epilepsie. Halle 1904.
Cramer: Gerichtl. Psychiatrie. 1900.
Ganser: Ueber einen eigenartigen hysterischen
Dämmerzustand. Archiv f. Psychiatrie. Bd. 30,
p. 633. 1897.
— Zur Lehre vom hyster. Dämmerzustände. Arch.
f. Psych. Bd. 38, p. 34.
Henneberg: Ueber das Gansersche Symptom.
Vortrag in der Jahressitzung des Deutschen Ver¬
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Neisser: Casuistische Mittheilungen. Allg. Zeitschr.
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Ra ecke: Beitrag zur Kenntniss des hysterischen
Dämmerzustandes. Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd.
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Bd- 59 . P- 777 - l 9 ° 2 .
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Vorbeireden. Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 61,
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W e r n i c k e: Grundriss der Psychiatrie. 1900. p. 516.
Westphal: Ueber hyster. Dämmerzustände u. das
Symptom des Vorbeiredens. Neurolog. Central¬
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— Ein Fall von traumatischer Hyst. mit eigenart.
Dämmerzust. u. dem Sympt. des Vorbeiredens.
Deutsche med. Wochenschrift 1903 No. 1.
Ueber Dauer-Nachtwache.
(Aus der Landes-Heil- und Pflege-Anstalt Uchtspringe.)
Tu Nr. 15 und 17 der Psychiatrisch-neurologischen
* Wochenschrift bringt Wickel einige Notizen
über die seit Januar 1901 in Dziekanka eingeführte
Dauernachtwache. Es ist nicht recht zu verstehen,
dass trotz der günstigen Resultate, die von den
meisten Anstalten, in denen Dauernachtwache einge¬
richtet ist, berichtet werden, und trotz der mannig¬
fachen Vorzüge, welche dies System bietet, doch
manche Anstalten sich immer noch nicht entschliessen
können, ein besonderes Nachtpersonal für die Wach¬
abtheilungen anzustellen. In Uchtspringe besteht ein
Dauer-Nachtwachdienst seit etwa 9jahren. Schon
im Mai 1S90 konnte Direktor A 1 1 gelegentlich eines
im Verein der Irrenärzte Niedersachsens und West¬
falens gehaltenen Vortrages „Beitrag zur Wärterfrage
mit Berücksichtigung der familiären Irrenpflege“*) über
die in hiesiger Anstalt eingeführte Dauernachtwache
*) Monatsschrift für Psychiatrie und Neuiologie 1896.
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und über die Erfahrungen, welche hier mit dieser
Einrichtung gemacht waren, eingehender berichten.
Er hob damals u. A. hervor: „Ich halte diese Ein¬
richtung sowohl im Interesse der Kranken wie
des Personals geboten. Es kann unmöglich vor-
theilhaft für das Befinden der neuaufgenommenen
und aus irgend welchen Gründen während der Nacht
besonderer Beobachtung und Wartung bedürftigen
Kranken sein, wenn jede Nacht andere ihnen fremde
Wärter den Dienst auf der Wachabtheilung versehen,
oder wenn gar mitten während der Nacht ein
Wechsel des Personals stattfindet. Wer den Ver¬
such macht, eigenes Nachtpersonal auf der Wach¬
abtheilung anzustellen, der wird bald mit uns die
Beobachtung machen, wie erheblich die Aufregungs¬
zustände , Verwirrungen und sonstigen unliebsamen
nächtlichen Vorkommnisse abnehmen, und wie weit
bessere und exactere Meldungen über die Vorgänge
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HARVARD UNIVERSUM
iqo 4 .J PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 201
während der Nacht erstattet werden. Auch im
Interesse des Personals bietet eine derartige
Einrichtung unverkennbare Vortheile. Es ist eine
überaus harte und in sich durchaus nicht gerecht¬
fertigte Forderung, von einem Menschen, der den
ganzen Tag über schweren verantwortlichen Dienst
verrichtet hat, zu verlangen, dass er auch noch die
halbe Nacht Wachdienst versieht und womöglich
noch die zweite Hälfte der Nacht mitten unter auf¬
geregten und unruhigen Kranken schläft. Gerade
die gehäuften Nachtwachen, ferner das Hinüber¬
nehmen des Verantwortlichkeitsgefühls in den Schlaf
hinein etc. verschleissen die Kräfte des Pflegeperso¬
nals vorzeitig und unaufhaltbar. Es ist geradezu
grausam von Menschen, die tagsüber schweren Dienst
ausgeübt haben, auch noch nächtliche Arbeit zu ver¬
langen; es ist ungerecht und unsinnig einem schlafen¬
den Menschen Verantwortung aufzunöthigen.“
In der Uchtspringer Anstalt, die z. Z. abgesehen
von rund 200 Familienpfleglingen mit etwa 1050
Kranken belegt ist, wird an 10 verschiedenen Stellen
des Nachts gewacht. In dem geschlossenen Hause
der Frauen- wie Männerabtheilung III. Klasse be¬
findet sich je 1 Doppelwache, während auf den
übrigen Abtheihingen nur eine Pflegeperson wacht;
mithin sind hier im Ganzen 12 Personen vom Pflege¬
personal im Nachtdienst beschäftigt. Die zweite
(Hilfs-)Wache in den beiden geschlossenen Häusern
wird von neu eingetretenen Pflegern, bezw. Pflege¬
rinnen versehen. Damit nach Möglichkeit jeder zu
Anfang seiner Ausbildungszeit diesen Dienst kennen
lernt, findet bei diesem Posten der Wechsel monat¬
lich statt. I111 Uebrigen wechselt die Wache viertel¬
jährlich. Zu den Einzelwachen, wie auch zu dem
Hauptdienst bei der Doppelwache werden nur solche
Pflegepersonen herangezogen, die den Dienst auf
den betreffenden Abtheilungen bereits gründlich
kennen, die in der Krankenpflege genügend Erfahr¬
ung besitzen und sich in ihrer Thätigkeit hier be¬
währt haben. Diejenigen, welche einen besonders
schweren und verantwortungsvollen Posten bekleiden,
erhalten eine Functionszulage von 3 bis 6 Mark
monatlich, ähnlich wie dies auch bei dem am Tage
beschäftigten Personal der Fall ist. Der Direktor ist
hier ermächtigt dem vierten Theil des im Kranken-
dienst beschäftigten Personals Functionszulagen in
der genannten Höhe zu gewähren, die durch Er¬
sparnisse auf dem Besoldungstitel gedeckt werden.
Das Nachtpersonal beginnt den Dienst Abends V29
bezw f . 9 Uhr und bleibt bis V29 bezw. 9 Uhr Mor¬
gens auf der Abtheilung. Die Zeit von V29 bezw.
9 Uhr Morgens bis 11 Uhr (auf den Männerablheil-
ungen bis 12 Uhr) steht den im Nachtdienst be¬
schäftigten Personen zur freien Verfügung. Von 11
bezw\ 12 Uhr an bis zum Abend dürfen sie jedoch
ihr Zimmer ohne besondere ärztliche Erlaubniss nicht
verlassen. Die Nachtwache erhält eine warme Mahl¬
zeit (ähnlich der Mittagskost II. Klasse), die nach
Belieben Mittags oder Abends eingenommen werden
kann. Ausserdem erhält die Wache für die Nacht
Kaffee, Brod, Butter und Aufschnitt. Nur selten ist
es in den neun Jahren hier vorgekommen, dass das
Personal sich an die neue Lebensweise nicht ge¬
wöhnen konnte und daher von dem Posten abbe¬
rufen werden musste. Im Allgemeinen übernimmt
das Personal den Nachtwachdienst sehr gern und
fühlt sich auch bei dieser Thätigkeit sehr wohl.
Oberarzt Dr. Sch mid t-Uchtspringe.
Mitthei lungen.
— XI. Versammlung des Nordostdeutschen
psychiatrischen Vereins zu Danzig am 27. Juni
1904. (Referent Dr. Wiek el- Dziekanka.) (Fort¬
setzung.)
III. Gl uszszewsk v-Conradstein: Ueber ali¬
mentäre Behandlung der Epileptiker.
Auf Anregung meines verehrten Chefs, Herrn
Medicinalrath Direktor Dr. Krömer, habe ich eine
Reihe von Fällen genuiner Epilepsie der salzfreien
Behandlung unterzogen. Es wurden neun der schwer¬
sten Fälle herausgesucht und Curven angelegt, die
die Zahl der Anfälle, die Erregungsstadien und den
Ernährungszustand graphisch darstcllen. Der besseren
Uebersicht wegen wurden auch Curven angelegt, die
das Jahr vor der salzfreien Behandlung und das
Jahr nach derselben betrafen. Die salzfreie Kost
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wurde ein ganzes Jahr lang gereicht und daneben
I g Kali bromati verabfolgt, das wir nicht in das
Brot einbackten, sondern mit Wasse; in Lösung
gaben. Es ergaben sich unerwartete und über¬
raschende Erfolge, w ie sie übersichtlich in den Curven
zu Tage treten. Bei sämmtlichen Fällen nahm das
Körpergewicht ganz erheblich zu, oft bis 10 — 24
Pfund in einem Jahr und hielt sich auch nach Aus¬
setzen der salzfreien Kost auf ziemlich gleicher Höhe.
Die Anfälle nahmen wesentlich ab, in einigen Fällen
blieben sie auch ganz aus, ihre Intensität und Dauer
war herabgemindert, die sich daran anschliessenden
Dämmerzustände — nur in wenigen Fällen traten
sie auf — waren von kurzer Dauer und gingen ohne
besondere Erregung und ohne Gewaltthätigkeiten
gegen die Umgebung vorüber. Ueberluiupt war nur
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HARVARD UNIVERSITY
202
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 22.
einmal kurz nach Beginn der salzfreien Behandlung
ein schwerer mit Suicidversuch einhergehender Er¬
regungszustand zu constatiren, während sonst nur ge¬
ringe oder gar keine Erregungszustände sich ein¬
stellten. Ganz besonders werthvoll war es auch,
dass ein grosser Theil der Leute wieder arbeitsfähig
wurde und bis zum heutigen Tage geblieben ist.
Auch hinsichtlich der Sauberkeit machten wir gute
Erfahrungen. Ein Knabe, der sonst andauernd ein¬
nässte, blieb ständig sauber. Hinsichtlich der Psyche
waren bei der Schwere des Versuchsmaterials und
den bereits bestehenden Ausfallerscheinungen bezw.
Charakterveränderungen und Wahnbildungen nur ge¬
ringe oder gar keine Erfolge zu beobachten. Die
guten Wirkungen hielten auch nach Aussetzen der
salzfreien Kost oft bis 6 Monate an und ermuthigen
zu weiteren Versuchen. — Die Arbeit mit Tabellen
und Krankengeschichten wird demnächst veröffentlicht.
(Autoreferat.)
D isc uss io n.
Freymuth-Danzig hat bei dem gleichen Vor¬
gehen keine Erfolge gesehen, will jetzt nochmals
Versuche machen.
K r ö m e r-Conradstein : Es wurden nur die schwer¬
sten Fälle genuiner Epilepsie zu der Kur ausgewählt,
damit im Falle einer ungünstigen Einwirkung der
Schaden nicht sehr gross sei. Die erzielten Erfolge
w-aren aber gut und zweifellos. Nur einmal trat als
unangenehme Complication eine katarrhalische Pneu¬
monie auf, welche günstig verlief. Das Verfahren
wurde nach einem Jahre unterbrochen. Einmal
wegen der Unbequemlichkeit bei der Speisebereitung,
vor allem aber um zu erproben, wie sich die Ver¬
hältnisse nach Aussetzen der Kur gestalten würden.
Ein weiteres Jahr hindurch wurde gewöhnliche Kost
mit Brom gegeben. Der günstige Einfluss der Kur
dauerte an. Die Versuche wurden nun so modifidrt,
dass auch das Brom weggelassen wurde. Es erfolgte
ein ungeheuerer Rückschlag. Durch Brom wieder
Besserung. Nach einem Jahr sollen im Anschluss
an die alten graphischen Darstellungen der ver¬
gangenen 3 Jahre neue Tabellen den Einfluss, wel¬
chen diese neue Versuchsanordnung hinsichtlich Zahl
der Anfälle, Erregung und Ernährung ausübt, ver¬
anschaulichen.
Freymuth-Danzig erwähnt die Flechsig’sche
Kur, bei welcher er Erfolge hatte.
M e y er-Königsberg bemerkt betr. Opiura-Brom-
Kur, dass Dr. Wick el-Dziekanka und er früher in
der Tübinger Klinik dieselbe mehrfach mit befriedi¬
gendem Resultat angewandt haben, spez. bei Fällen,
wo Brom allein keinen guten Erfolg erzielte. Vor¬
bedingung für die Durchführung der Kur war aus¬
reichender Kräftezustand der Kranken, sowie das
Fehlen schwerer körperlicher Erkrankungen, Herz¬
fehler und dergl. Die Kur kann nicht in der Privat¬
praxis durchgeführt werden, sondern nur im Kranken¬
haus. Unter solchen Voraussetzungen kann M. den
Versuch einer Opium-Brom-Kur durchaus empfehlen.
R a b b as - Neustadt: Die F 1 e c h s i g’sche Opium-
Brombehandlung ist auch in der Anstalt zu Neustadt
angewandt worden. Die Resultate, welche mit der¬
selben erzielt wurden, sind von ihm in einer der
ersten Vereinssitzungen bekannt gegeben und können
als gute bezeichnet werden. Seitdem ist die Flech-
sig’sche Kur in Neustadt noch wiederholt in An¬
wendung gekommen und zwar in einzelnen Fällen
nicht ganz ohne Nutzen. Eine auffallend gute Wirk¬
ung hat dieselbe bei einem 23 jährigen Epileptiker
gehabt, bei dem alle anderen Mittel vollständig ver¬
sagt hatten. Dieser Kranke, der seit dem ^.Lebens¬
jahre häufig an Krämpfen und später an Erregungs¬
und Verwirrtheitszuständen litt, geistig sehr stumpf
war, dasselbe Verhalten in der Anstalt zeigte, ist
nach der Flechsig’schen Behandlung unter Weiter¬
nahme von Bromkalium frei von Anfällen, ist ge¬
ordneter und ruhig in seinem Verhalten, geistig reger
und- klarer, hat körperlich sich sehr erholt und geht
täglich zur Arbeit, wozu er früher vollständig unfähig
war. Bei elenden und schwachen Kranken ist die
Anwendung der Kur nicht zu empfehlen. Bins-
wanger empfehle dieselbe besonders bei Epilep¬
tikern, welche in der Pubertätszeit erkrankt sind.
Krömer-Conradstein betont noch den Einfluss,
welchen die Anstaltsbehandlung (Ruhe, gute Verpfleg¬
ung, Rücksichtnahme p. p.) überhaupt auf die Epi¬
lepsie ausübt.
Rabbas-Neustadt hat dies besonders auffallend
in reinen Epileptiker-Anstalten gesehen.
(Schluss folgt.)
— Die Heilstätte für Alkoholkranke bei
Fürstenwalde a. d. Spree. Die ärztliche Leitung der
„Heilstätte Waldfrieden“, deren Bild wir auf
Seite 117, Jahrgang No. IV, brachten, ist dem Herrn
Dr. med. Knust übertragen worden; derselbe wohnt
seit 1. Juli a. er. in der Heilstätte selbst. In allen
ärztlichen Fragen, welche die Kranken der Heil¬
stätte betreffen, wolle man sich ausschliesslich an
Herrn Dr. Knust, dir. Arzt der Heilstätte Waldfrieden
bei Fürstenwalde a. d. Spree wenden. Mit dem
Augenblicke, wo die Leitung dieser Trinker-Heilstätte
in die Hände eines abstinenten Psychiaters gelegt ist,
ist ein wesentlicher Schritt vorwärts in der sachgemässen
Behandlung der anvertrauten Kranken gethan. Die
Heilstätte Waldfrieden wird dadurch die einzige Special¬
anstalt für Alkoholkranke sein, welche diesen Vorzug
besitzt. Wir empfehlen die Heilstätte der warm¬
herzigen Förderung seitens der Aerzte, wie der Be¬
hörden, Landesversicherungsanstalten, Berufsgenossen¬
schaften und Krankenkassen. Die näheren Beding¬
ungen sind aus den Prospecten, welche von der
Heilstätte zu beziehen sind, ersichtlich. Zur Auskunft
ist wie bisher der vom Verwaltungsausschuss bevoll¬
mächtigte Stadtrath Dr. Wa 1 d schm i d t, Charlotten¬
burg Westend, Lindenallee 33, bereit. Den Verwaltungs¬
ausschuss bilden: Geh. Med.-Rath Dr. Sander, Vor¬
sitzender. Ingenieur Quitmann, Kassenführer. Stadt¬
rath Dr. Waldschmidt, Schriftführer. Pastor Fritsch.
Landesrath Gerhardt. H. Gorella. Professor Dr. Grawitz.
Dr. Oestreicher. Dr. Wegscheider.
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HARVARD UNIVERSITY
19 ° 4 -]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
203
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204
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Personalnachrichten.
— Baden. Den Med.- Räthen Dr. Feld bausch
und Dr. Nadler, Oberärzten an der Heil- und Pflege¬
anstalt Emmendingen wurde das Ritterkreuz des
Bad. Ordens des Zähringer Löwens verliehen.
Das Nährpräparat Hygiama.
(Schluss.)
„In 70 beobachteten Fällen, darunter viele schwere
konnte ich bei 80% eine Gewichts- und Kräfte
Zunahme constatiren. Die Kranken, bei denen ich
Hygiama verordnete, nahmen im Durchschnitt täglich
um ca. 8 deka zu. Ich hatte Kranke, die unter
3—4 Wochen 2—3 kg Zunahmen, einige aber noch
mehr. Eine Kranke z. B., die einen Spitzencatarrh
hatte, nahm innerhalb 25 Tagen 4,30 kg zu; eine
andere, die dasselbe Leiden hatte, nahm in 30 Tagen
5,30 kg zu; als ganz besonderes Resultat ist noch zu
verzeichnen, dass in einem Falle bei Apexinfiltration
die Patientin in 20 Tagen 5 kg zunahrn. Ich gebe
zu, dass in meinen Fällen die diätetischen, hygienischen
und climatischen Verhältnisse zu den guten Erfolgen
beigetragen haben; aber es ist auch Thatsache, dass
in den Fällen, wo ich Hygiama nicht verordnete,
ich eine Gewichtszunahme in oben bezeichneter Zeit
nicht constatirt habe.“
Hager 27 ) hat das Hygiama an der Universitäts-
Klinik zu Budapest in 45 Fällen versucht (2 Chlorose,
2 Magengeschwür, 4 Typhus, 4 Magenkrebs, 5 Herz¬
fehler, 2 Pneumonia-Reconvalescenz, 2 Neurasthenie
und 24 Lungentuberkulose). Alle vertrugen es sehr
gut, nahmen an Körpergewicht zu mit Ausnahme
der Krebskranken. Abführen oder sonstige un¬
angenehme Erscheinungen wurden während der Ver¬
abreichung des Hygiama nie bemerkt.
Abgesehen von den vorstehenden Publicationen
spricht sich die empfehlende Anerkennung des
Hygiamas in zahlreichen Attesten von medicinischen
Autoritäten, dirigirenden Krankenhausärzten und
anderen Praktikern aus: Ewald, Litten, Boas, Länderer,
Siemerling, von Jürgensen, Ungar, Vierordt, Kussmaul,
Leichtenstern, Eulenburg, Schulz, Pelman, Flechsig,
v. Fetzer, Biedert, die es für ihre Patienten seit
vielen Jahren mit bestem Erfolg verordnen.
Bei meinen eigenen Erfahrungen mit Hygiama
fand ich die Empfehlungen seitens Anderer bestätigt.
Dr. B res ler.
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medicinische Presse 1902, No. 43.
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mittel. Therapeutische Monatshefte 1902, No. 12.
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Der Grossbetrieb 1902, Nr. 1.
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in der ärztlichen Praxis. Deutsche Praxis 1903, No. 4.
2S ) Hirschlaff, Leo, Ueber Theinhardt’s Hygiama. Zeit¬
schrift für pädagogische Psychologie, Pathologie und
Hygiene 1902, Heft No. 5/6.
?4 ) Godart-Danhieux, Sur un point interessant de la
pathog^nie de l’ulc&re de l’estomac. Policlinique 1902,
No. 24
Jf> ) Schnürer, J., Erfahrungen über' Dr. Theinhardt’s lösliche
Kindernahrung und Hygiama. Aerztliche Reform-Zeitung
1903, No. 7.
2<; ) Keibcl, Ueber Anwendung des Hygiama bei Tuberkulose.
Therapeutische Monatshefte, Fcbr. 1904.
* 7 ) Hager, P., Klinischer Bericht über Nährpräparate.
Budapester Aerzte-Zeitung 1904, No, 10.
?s ) Szaboky, J. v., Ueber Dr. Theinhardt’s Hygiama. Orvosok.
Lapya, März 1904.
■ 9 ) Deutsch , E., Therapeutische Erfahrungen aus der Kinder¬
praxis. Centralblatt für Kinderheilkunde 1904, März.
;J0 ) Rosen, R , Versuche mit dem Nährpräparat „Hygiama“.
Medicimsrhes Correspondenzblatt 1903, Nr. 7, Juli.
;,l j Scherbcl, Ueber den Werth von Dr. Theinhardt’s
Hygiama für Gesunde und Kranke. Aerztlicher Rath¬
geber 1902, Nr. r.
Diese Nummer enthält einen Prospekt
der Firma
E. Merck in Darm Stadt,
worauf die geschätzten Leser besonders hingewiesen
werden.
]• iVr den red.n lioneHen Theil verantwortlich : Oberarzt Dr. J. IJresier, Lublinitr (Sch.esicn).
Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Vertag von Carl Marhold in Halle a. S
Heynemann’schc Buchdmckerei (Gcbr. Wo’ffl in Halle a. S.
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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift.
Redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Lublinitx (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adresse: Marhold Verla*, Hallesaale. Fernsprecher 2834.
Nr. 2& 3. September. 1904.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die ßspaltige Petitaeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermäasigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitx (Schlesien), zu richten.
Ein sociales Sondergebilde auf psychopathischer Grundlage.
Berichte und Urtheile
gesammelt von A. Grohmann , Zürich.
T m weltentlegenen Fischerdorfe N., in einem der
* nördlichen Nachbarländer Deutschlands, war vor
etwa 15 Jahren ein junger Mann angekommen, im
einzigen, sehr bescheidenen Wirthshause abgestiegen
und dann sofort an die Erledigung eines Geschäftes
gegangen, wie solches bisher noch niemals von einem
Fremden an diesem Orte besorgt worden war: er
miethete eines der stattlichsten Wohnhäuser des
Ortes, erklärte, dass er dies für eine ‘befreundete
Familie thue, mit der er hier bleibend zu wohnen
gedenke und traf eine Reihe von Anordnungen zum
Wohnlichmachen des ländlich-primitiven Gebäudes.
Wenige Wochen später traf die angezeigte Familie,
ein Herr R. mit Frau und Kindern, ein. Auch sie
erklärten, ihren bleibenden Wohnsitz hier nehmen zu
wollen und alle ihre Veranstaltungen wiesen darauf
hin, dass das wirklich ihre Absicht war, so neu und
auffallend dies den Dorfbewohnern auch sein mochte.
Noch niemals war es vorgekommen, dass Leute von
auswärts ins Dorf gezogen waren. Die neuen An¬
siedler waren weder Fischer noch Landwirthe — der
Junggeselle, etwa Mitte 20er, hatte sich als Litho¬
graph, der Verheirathete, Mitte 40 er, als ehemaliger
Rittmeister der deutschen Armee ausgegeben. Dass
sie keinen Beruf hatten, der ihren Aufenthalt in N.
erklärte, fiel natürlich auf. Die Leute schienen wohl¬
habend zu sein, an ihrer Lebensweise war nicht das
Mindeste auszusetzen, ihr Benehmen war stets gleich¬
bleibend zuvorkommend und liebenswürdig. Das
Dorf war schon seit Jahren im Sommer gelegentlich
von Malern und Touristen, aber immer nur vorüber¬
gehend, besucht worden und diese Fremden wussten
so viel des Lobes über das schöne Dorf, seine idyl¬
lische Lage, die Schönheit seines Strandes und der
benachbarten Wälder, dass die Dorfbewohner sich
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allmählich mit der Vorstellung abfinden mussten: die
deutsche Familie sei gekommen, um sich bleibend
diesen von Stadtbewohnern so geschätzten Genüssen
hinzugeben und hier ein beschauliches Leben zu
führen. Anders war die Sache einstweilen nicht zu
erklären. „Privatiers! — und doch sonderbar.“ Auf¬
fallend blieb es, dass die Familie des Rittmeisters
sich zur bleibenden Niederlassung entschlossen hatte,
bevor Eines von der Familie den Ort auch nur ge¬
sehen hatte. Schon wenige Wochen nach dem Ein¬
zug der Fremden waren viele Beziehungen zwischen
ihnen und den Dorfbewohnern in bester Weise an¬
geknüpft. Zuerst hatte R. sich beim Pfarrer, dann
beim Dorfvorsteher und beim Schullehrer vorgestellt.
Dem Pfarrer hatte er sofort erklärt, dass er und die
Seinen „ihren eigenen Glauben“ hätten. Mit dem
Pfarrer und dem Schullehrer verabredete er, dass
seine Kinder die Dorfschule besuchen sollten, zu¬
nächst um das ihnen unverständliche Plattdeutsch zu
lernen. Voraussichtlich würden sie es bald dahin
bringen, dem Unterricht folgen zu können. Die wohl¬
erzogenen , gesunden und liebenswürdigen Kinder
waren bald die gleichberechtigten Gespielen ihrer
Altersgenossen und in kürzester Zeit auch gerngesehenc
Besucher der Nachbarfamilien geworden. Dass R.
und seine Familie andern Glaubens waren als die
Dorfbewohner, war nicht gern gesehen worden, doch
schien R. diese Sache in bester Art anzufassen und
keinerlei Schwierigkeiten erwuchsen in dieser Sache.
Verabredet wurde, dass die Kinder vom Religions¬
unterricht der Schule auszuschliessen seien. Die
Mutter werde ihnen zuhause Religionsunterricht er-
theilen. Es war so verstanden worden, dass die
Kinder während des Religionsunterrichts das Schul¬
haus verlassen sollten. Doch war es durch den
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206
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 23.
eigenen Willen der Kinder bald dazu gekommen,
dass sie auch während dieser Stunde im Schulzimmer
blieben und Niemand wendete etwas dagegen ein.
Als besonders willkommen zeigten sich die Frem¬
den in ihrer Eigenschaft als noble Zahler. Ohne
Luxus zu treiben — besonders fiel auf, dass sie
keine Dienstboten hielten — verzehrten sie doch ein
schönes Stück Geld, die Lebensmittellieferanten ver¬
dienten gut an ihnen und so war man nach allem
bald darüber einig, dass sich das Dorf zu den neuen
Bewohnern beglückwünschen durfte. Auch die Aus¬
weispapiere der Fremden waren in bester Ordnung be¬
funden worden.
Die gute Stimmung zu Gunsten der Fremden
nahm noch zu, als die unerwartete Nachricht durchs
Dorf zog, R. habe das zuerst nur gemiethete Haus
von seinem Besitzer gekauft. Es war ein stattliches
Haus mit grossem Grundstück, am Rande des Dorfes
gelegen. Der Kaufpreis, den R. sofort voll zahlte,
war ein guter, etwa l i\ oder Va höher als den im
Orte üblichen Preisen entsprach. Ein reges Leben
begann, das gekaufte Haus wurde umgeändert und
verbessert, neue Fussböden gelegt, moderne Oefen
eingesetzt, Wege wurden gebaut und ein Garten an¬
gelegt. Handwerker wurden vom Ort und von aus¬
wärts bestellt und die ärmeren Dorfbewohner erhielten
Verdienst als Taglöhner, auch zu einer Zeit, in der
sie sich sonst nur schwer durchzubringen wussten.
Besonders anerkannt wurde, dass R. bei Verdienst¬
gelegenheiten stets bemüht war, den Dorfbewohnern
die Vorhand zu lassen.
Auffallend gross war die Zahl von Besuchern,
die die Fremden erhielten. Englisch, holländisch,
dänisch und deutsch hörte man da reden und man
sah manche dieser ausländischen Herren und Damen
in regem Gespräch mit R. und B. durch die Dorf¬
strassen gehen und mehrere von ihnen blieben dann
bei R. wohnen, dessen Haushalt vergrössernd, der,
wie es schien, nach feststehender Regel ohne Dienst¬
boten weiter bewirtschaftet wurde.
Unter den Besuchern war den Dorfbewohnern
bald ein Herr A. aufgefallen, der ihnen noch be¬
deutender als R. erschien. Man war bald darüber
einig, dass A. die vornehmste Stellung in der allmäh¬
lich anwachsenden Gesellschaft der Fremden ein¬
nehme. Alle schwiegen und hörten auf ihn, wenn
er sprach — und er sprach sehr viel. Scherz und
Vertraulichkeit, die die Fremden unter sich und im
Verkehr mit den Dorfbewohnern bei passender Ge¬
legenheit zeigten, waren wie aufgehoben, wenn A.
anwesend war. In wichtigeren Entscheidungen wurde
meist seine Bestimmung eingeholt und man erlauschte
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gelegentlich Worte und beobachtete Situationen, aus
denen hervorging, dass A. das Haupt der kleinen
Fremdenkolonie sei, ihr Führer in geistigen Dingen
und ihr nie widersprochenes Oberhaupt Er müsse
jedenfalls eine höhere Persönlichkeit sein. Mit den
Dorfbewohnern kam A. in wenig Berührung, alle
wirtschaftlichen Angelegenheiten wurden nach wie
vor von R. besorgt. Es ging aus gelegentlichen Be¬
merkungen hervor, dass er als Bevollmächtigter des
A. handle und dessen rechte Hand sei. Er hatte
auch während A.’s öfteren Abwesenheiten dessen
sehr zahlreich einlaufende Briefe zu besorgen. Immer
wieder war A. wieder w'eggereist. Damals, etwa 2
Jahre nach dem Eintreffen der ersten Ansiedler, hatte
R. zum Erstaunen des Dorfes einem seiner Bürger
einen sehr vorteilhaften Antrag gemacht auf Ankauf
eines grossen Landstückes mit mehreren darauf
stehenden Häusern. Ohne sich viel auf Feilschen
einzulassen, schloss R. den Handel glatt und rasch
ab. Ein Bankhaus in der nächsten Grossstadt M.
zeigte 4 Tage später dem glücklichen Verkäufer an,
dass die gesammte Summe baar eingezahlt und ihm
„zur gefl. Verfügung gutgeschrieben worden“ sei. Der
Kaufpreis für dieses zweite Grundstück war, ungleich
dem ersten, ein bedeutendes Kapital und er war
ganz wesentlich höher als der Werth des Verkauften
wie er von den jetzt begierig gewordenen Dorfbe¬
wohnern geschätzt wurde: Viel zu hoch, hiess es
allgemein.
Ein lebhaftes Tempo trat jetzt ein in den Er¬
lebnissen der kleinen Fiemdenkolonie. Zunächst war
A. nach mehrmonatlicher Abwesenheit wieder zurück-
gekehrt, diesmal nicht allein, sondern mit Frau und
Kindern, aus Amerika, wie es hiess. Die Frau schien
wie ihr Mann eine ganze Anzahl Sprachen zu sprechen,
die Kinder sprachen englisch und deutsch. Bald
trafen auch noch andere Familien und auch einzelne
Männer und Frauen, Wittwen und Mädchen ein
und für sie wurden mit grossem Eifer und Eile die
Häuser eingerichtet, die mit dem zweiten Grundstücke
gekauft worden waren. Bei der behördlichen Namens-
Eintra^uno- des neuen Besitzers war nur der Name A.
genannt worden. Tiotzdem verbreitete sich durch
eine unrichtige Zeitungsnachricht das Gerücht, es
handle sich um eine Genossenschaft und als Name
dieser Genossenschaft war der Name des ersten ge¬
kauften Hauses genannt. So erhielt die Kolonie die
Bezeichnung „zum Holderhof“ und sie hat ihn von
da ab behalten. Die gekauften Häuser wurden ohne
irgend welchen übertriebenen Luxus, entsprechend
den Bedürfnissen wohlhabender Stadtbewohner, weit¬
gehend umgeändert und verschönert — wie es schien
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1904.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 207
ohne alle Rücksicht auf die Kosten. Die Zahl der
Kolonisten und ihrer Gäste wurde immer grösser,
denn von den Vielen die auf Besuch kamen, blieb
der Eine oder Andere, wenn auch meist nur auf
einige Monate. Immer neue Grundstücke wurden
hinzugekauft und immer höher wurden die Land¬
preise der Dörfler, für die jetzt die Sache zu einer
Glückslotterie wurde. R., der alle Geldgeschäfte für
den Holderhof besorgte, schien es in allem sehr eilig
zu haben und nur weniger Unterhandlungen bedurfte
es, bis er sich zur Zahlung von Summen entschloss,
die als erstes Angebot genannt oder nur wenig nie¬
driger waren. Zuletzt war es zu Preisen gekommen,
die etwa dem 3fachen Werthe entsprachen.
Immer weniger konnten sich die neugierig ge-
w» >rdenen Beobachter und Kritiker erklären, was diese
splendid zahlenden Ausländer bewogen haben mochte,
gerade N. als bleibende Wohnstätte zu wählen und
vor allem so viel Land zu kaufen. Lieferanten und
Geschäftsleute der nächsten Städte erkundigten sich
über die Fremden und die Zahl der Neugieriggewor¬
denen wuchs immer mehr an. Das häusliche Leben
der Fremden wurde jetzt das Ziel der Erkundigungen
und Ausforschungen. Von Handwerkern, die in die
Häuser gekommen waren, erfuhr man, dass A. an
seine Genossen, meist nach beendeter Mahlzeit,
lange Ansprachen halte. Fast immer nur er spreche,
selten nur entwickle sich ein Hin und Her der Rede,
niemals eine allgemeine Betheiligung. Aber keiner
der ausgeforschten Leute schien im Stande zu sein,
zu berichten, was der Inhalt dieser auf Hochdeutsch
geführten Reden sei, von denen sie immer nur wenige
Worte aufgefangen hatten. Alle, selbst die niedrig¬
sten Verrichtungen des Haushalts sollten von den
Genossen selbst besorgt werden, die sich mit vor¬
gebundenen Schürzen lustig an die Arbeit machten.
Alles gehe wie am Schnürchen, ohne Hast und Streit,
Jeder wisse, was ihm zukomme, heiter, gesund und
nüchtern lebten sie dahin. Gearbeitet werde nicht
übermässig viel, im Gegentheil müssten es mehr gei¬
stige Interessen und Unterhaltungen über wichtige
Themata sein, die das Centrum dieser sonderbaren
Sache seien. In den Läden des Ortes und des
nächsten Städtchens beziehe jeder „Holderer“ was er
wolle, auf Kredit, „auf Rechnung des Holderhofes“,
die jeden Monat bezahlt werde. Alles ins Handwerk
fallende wurde an Handwerker vergeben. Für die
Arbeiten des Feldes und der Viehwirthschaft wurden
Knechte angestellt und zu ihrer Leitung einer der
früheren Besitzer angestellt.
Eine kleine Zahl der Gesellschaft zum Holderhof
waren Männer aus den untern Ständen und diese,
darunter ein Kutscher und ein Viehknecht, arbeiteten
zusammen mit den Taglöhnem und Knechten aus
N. Besonders diese suchte man auszuforschen. Doch
bald sah man, dass sie keinem Spione dienen wollten
— „oder selber nichts wussten“.
Ungefähr 3 Jahre nach der Ansiedlung der ersten
Holderhofleute, hatte ich zum erstenmale von dieser
Gesellschaft durch einen Besucher ihrer Gegend ge¬
hört. Ich wandte mich brieflich an die Behörde in
N. mit der Bitte um Auskunft über die Fremden,
ihre Absichten, ihre Lebensweise etc. Es sei schwer,
so war die Antwort, die gewünschte Auskunft zu er-
theilen. Die Leute hätten viele und grosse Lände¬
reien gekauft, alles sofort baar bezahlt Was sie mit
diesen Besitzthümem beabsichtigten, sei unbekannt,
da bei Erkundigungen jedesmal etwas anderes ver¬
laute und niemals hätten die Kolonisten ihre Absichten
für die Zukunft angegeben. Die meisten von ihnen
— ich hatte auch nach diesen Punkten gefragt —
tränken keine Spirituosen und einige ässen kein
Fleisch. *) Sie seien weder Protestanten noch Katho¬
liken, aber welcher Religion sie angehören, habe man
nicht erfahren können.
Bald nach dieser Auskunft kam ich auf mehrere
Monate nach der von N. nur wenige Stunden ent¬
fernten Grossstadt M. und las hier zum ersten Male
von der Gesellschaft des Holderhofes in Zeitungen.
Eine ganze Anzahl von ihnen schien plötzlich Inter¬
esse für sie gewonnen zu haben. Die Berichte, be¬
sonders die allerersten, waren unter sich sehr im
Widerspruch. Ich gebe hier einen Auszug aus dem
am wenigsten abenteuerlich klingenden:
„Ueber die Ansiedlung einer geheimnissvollen
deutschen Kolonie zu N. sind in der Presse ziemlich
sensationelle Mittheilungen verbreitet worden, die an
verschiedenen Uebertreibungen leiden. Nach unsern
Erkundigungen ist die Kolonie nicht so gross noch
so märchenhaft reich, wie man ausgestreut hat. Es
scheint sich bei dieser Kolonie um eine der zahl¬
losen Sekten zu handeln, an denen Nordamerika so
reich ist. Einzelne Mitglieder der Kolonie kamen
faktisch direkt von Amerika herüber. Die ganze Be¬
wegung hat einen christlich-kommunistischen Anstrich.
Gründer der Kolonie ist Herr A., welcher schon vor
*) Vorwegnehmend, möchte ich dem Leser berichten, dass
weder A. noch R., noch die meisten ihrer dauernden Anhänger,
Vegetarier waren. Doch wurde die Gesellschaft fast nur von
Vegetariern besucht — Naturgesetz — und dieser Umstand
mag zur obenstehenden Mittheilung geführt haben. In Bezug
auf Alkoholabstinenz entdeckte ich die merkwürdige Thatsache,
dass die Holderer, umgekehrt dem Verhalten Anderer, prak¬
tisch Abstinenten, in der Theorie aber das Gegentheil waren.
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208 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 23.
zwei Jahren das Gut „Holderhof“ in N. käuflich er¬
warb und sich dort häuslich niederliess. Bald kamen
andere Familien wie auch einzelne Personen nach.
Sie bilden eine Gemeinschaft. Tritt jemand ein, so
muss er sein ganzes Besitzthum hergeben. Dafür
aber ist der „Holderhof“ seine Heimath. Ebenso
ist der Austritt gestattet und das eingelegte Gut wird
zurückgegeben, allerdings ohne Zinsen. Die Mahl¬
zeiten werden gemeinsam gehalten. Jeder kann seinen
Beruf weiter treiben. So wird u. a. ein Haus für
Künstler eingerichtet. Einer soll für den andern leben.
Sie wollen ein „Christenthum der That“. Deshalb
geben sie auch keine Schriften heraus und predigen
nicht, ebenso werden keine Sakramente anerkannt.
Gott ist, wie sie sagen, in der Natur allüberall, auch
im Menschen, denn Natur und Mensch sind aus
derselben Materie. Der Mensch kann nichts aus
sich selbst und es geschieht auch absolut nichts, das
Gott nicht zulässt, darum ist auch das Gebet nicht
nöthig. Alles was Gott schickt, dient zu unserm
Besten. Die Verehrung der Heiligen und der Maria
muss sein. Sie wollen sich auch katholische, d. h.
allgemeine Kirche nennen. Sie drängen sich Nie¬
mandem auf, machen keine Propaganda, jeder, der
kommt, wird getrieben dazu. Ein Lehrer aus einem
katholischen Seminar soll, wenn es die Regierung er¬
laubt, den Unterricht der Kinder übernehmen. Die
Leute haben grosse Bibelkenntn iss. Von Christus
sagen sie, dass er ein Mensch war und zwar bis jetzt
der einzige, der sich vom göttlichen Willen absolut
leiten liess. Die ganze Kreatur, alle Geister in der
Luft, deren es Millionen giebt, wie auch die Ver¬
storbenen, sie warten auf einen neuen Christus, und
der wird kommen. Er wird in N. sein Reich auf¬
richten zu Ostern nächsten Jahres. Bis jetzt ist alles
nur Vorbereitung. Er wird Frieden bringen. Die in
Waffen strotzende Welt wird die Waffen niederlegen.
Die Mächtigen der Erde werden bei ihm Rath suchen.
Die Zeit ist da nach der Offenbarung, dass auch die
Erdoberfläche sich erneuern wird etc. etc.“
Einiges — und doch wieder nichts — erfuhr
ich über die Gesellschaft zum Holderhof aus einem
kleinen Blatte, das den Interessen der Spiritisten,
Theosophen und Vegetarier dient. Ein Herr E.
schreibt dort: Ihm sei in seinem Wohnorte, einer
weitentfernten Weltstadt, das Gerücht von einem be¬
deutenden Manne mit bedeutenden Fähigkeiten aus-
gestattet, zugetragen worden, der im entlegenen
kleinen N. eine Kolonie zur Förderung des radikalen
Idealismus errichtet hätte. Mit zwei Freunden kommt
er nach N. Der Verfasser erklärt, von jeher von
Projecten nicht sonderlich berührt zu sein, deren
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Grundlagen in alle» lei Mystik und Religionssystemen,
für die praktische und kühle Welt nicht greif- und er¬
kennbar, in nebelhafte Feme gehüllt sind etc. etc ,
und er berichtet, was er in N. gesehen: • „Nicht dass
sie in büsserischer Einförmigkeit und Noth hier in
harter Arbeit und Beten, wie frühere Orden und
Sekten, ihre Tage verbringen werden, sondern in
Fülle leben sie, ihrem „radikalen Idealismus“ zu
Nutz.“ Den grössten Theil des Aufsatzes lasse ich
weg und schreibe nur noch folgendes ab. Von A.
schreibt er: „Er ist ein weit das preussische Garde-
maass überschreitender Mann von schönem gl eich-
massigen Wuchs und Ebenmaass der Glieder. Er
trägt sich in Kleidung und Haltung etwa wie ein
ostpreussischer Landedelmann, den man auf Schritt
und Tritt nicht nur die Sicherheit in der Beherrsch¬
ung weltlicher Formen ansieht, sondern auch die Ruhe,
welche ihm sein vom Staate garantirter Besitz ver¬
leiht und eine Sorge für das Morgen nicht aufkommen
lässt.“
„Das Gespräch war hauptsächlich von A. be¬
herrscht. Wenn ich nun schildern soll, was A. an
jenem Abend gesagt, so komme ich an den schwie¬
rigsten Theil meiner Darlegung. Zweifellos verfügt
dieser Mann, der etwa im 40. Lebensjahre steht,
über einen ungewöhnlichen Schatz des Wissens. Es
passirten an jenem Abend alle Geistesheroen der
Menschheit, nicht dem Namen nach, jedoch den
Geistesprodukten nach, den kleinen Esssaal. Er
spricht wechselnd, nicht in gebundener Vortragsform,
sondern in einer bilder- und an Beispielen reichen
Art. Seine Rede wechselt auch im Tonfall der
Stimme. A. spricht ruhig, seiner Sache gewiss, um
dann eindringlich seine Stimme warnend werden zu
lassen, bis sie seinem zweifellos schnellen Gedanken¬
flug nicht mehr zu folgen vermag und in Misstönen
sich verliert — er schweigt eine Weile, wie nach dem
Faden suchend, er entschuldigt sich, und das Spiel
beginnt von neuen\ seinen Lauf.“
„Was er will? Um es in kurzen Worten zu
sagen: Er möchte die Menschen lehren, hinter die
Dinge dieser Welt zu sehen. Er glaubt, oder viel¬
mehr er hofft, dass wir am Anfänge einer neuen Art
der Erlösung stehen, wo wir im Gegensatz zur heu¬
tigen Erscheinungswelt zu der Erkenntniss einer gei¬
stigen Weltensphäre gelangen werden. Er will das
A1 1 i c h im Gegensatz zum heutigen persönlichen
Ich lehren.“
„Da es mir kaum gelingen würde, mich unsern
Lesern in der Art, wie A. es thut, verständlich zu
machen, will ich es bei dieser kurzen Andeutung be¬
wenden lassen.“
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
209
I 9 ° 4 *]
r Es mag sein, dass ich in meiner Entwicklungs¬
stufe noch zu weit zurück bin, genug, mein Innerstes
hat A. nicht für sich zu gewinnen vermocht. Frei¬
lich kann ich nicht den Standpunkt der öffentlichen
Presse theilen, die ihm zum Theil, wie auch seine
Verwandten, die bona fides aberkennen und ihn in
wenig schmeichelhafter Weise einen Phantasten und
Volksverführer nennen, aber ich kann auch seiner
Person und Sache eine grössere Bedeutung nicht ohne
weiteres zuerkennen.“
„Vom niedem Standpunkte, also rein volkswirt¬
schaftlich und menschlich social gedacht, hat sein
Kolonie-Projekt, wie mir auch unser kühl wagender
Freund H. beipflichtete, wohl kaum eine Bedeutung.
Denn es ist doch keine That, mit reichlichen Geld¬
mitteln ausgerüstet, in einer landschaftlich schönen
Gegend einige Wohnstätten auszurüsten, um dann
dort künstlerisch begabte und religiös gestimmte
Menschen anzusiedeln, in deren Lebensprogramm
Geburts- oder sonstige Zufälle die Noth um das
Lebensminimum noch nicht auf kommen Hessen.“ —
-Dann ist noch die Rede von N. als „neuem
Bayreuth“ und einer „vielleicht zu erlangenden er¬
höhten Daseinsberechtigung.“
Bei passender Gelegenheit besuchte ich nun die
Gesellschaft zum Holderhof, am Hin- und Rückwege
Erkundigungen über sie einziehend bei Leuten, die
in der Nähe wohnen. Das Land- und Fischervolk
erklärte mir die Gesellschaft als ein höchst geheim-
nissvolles Ding, das Niemand durchschauen könne.
Ein gebildeter Mann in der Nähe von N. sagte mir,
es könnten vielleicht Mormonen sein, oder Freimaurer,
wer weiss was, jedenfalls seien es Leute, die sich
schon die Finger verbrannt hätten, ihre Absichten
verbergen, vielleicht an andern Orten vertrieben
worden seien. Auch politische Flüchtlinge u. dgl.
hörte ich von Andern. Im Ortswirthshaus steige ich
ab. Die von mir befragte Kellnerin: Was das für
Leute sind, kann man nicht wissen, man weiss sogar
nicht einmal, was für eine Religion sie haben; einige
sagen, ihre Religion sei der „Oklatismus“, aber wer
soll das wissen, was das für eine Religion ist. Von
andern wurde die Gesellschaft als geldspendende
Quelle gerühmt, da sie manche Handwerker be¬
schäftige, dann die Besteuerung ihrer Reichthümer,
darunter ihr Land im Werthe von, in deutsches Geld
umgerechnet, V3, nach andern Angaben bis 2 h Mil¬
lionen Mark, etc. etc. Gelobt wurde mir die Mora¬
lität der Ansiedler. Auch beschäftige A. keine Ar¬
beiter, die sich unanständig benehmen und wer flucht,
werde entlassen.
Ich komme in den Holderhof, einem stattlich
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renovirten Fischerhause. Nach einer Begrüssung
von zwei Damen, Frau A. und Frau R., von ihnen
zum Nachmittagskaffee eingeladen, der in einer Stunde
eingenommen werde, werde ich gebeten, mir bis da¬
hin alles anzusehen. Einer der Herren erklärt sich
sofort bereit, mir in Abwesenheit des bis zum Abend
verreisten A. die Honneurs zu machen, führt mich
in den Ländereien der Gesellschaft umher, wo eine
Anzahl ehemalige Fischer- und Bauernhäuser in be¬
queme Wohnstätten umgebaut werden, spricht sich
aber anfänglich bei meinen Erkundigungen etwas
reservirt aus. Auf meine Frage hiess es: Der Be¬
richt der Zeitungen über das Erscheinen Christi im
nächsten Jahre ist eine Zeitungsente. Es sind schon
mehrere Zeitungsberichterstatter hier gewesen, die
dann allerlei unwahre Nachrichten hinausbringen.
Man muss leider vorsichtiger sein, als man möchte.
Zu verbergen haben wir hier nichts.
Ich: Sie leben hier alle in Gütergemeinschaft?
Er: Ja, Jeder giebt, was sein ist, und eine Kasse
verwaltet das Ganze. Wir haben Mitglieder, die früher
ganz arm waren und wir haben auch solche, die
früher reich waren. Jetzt sind sie alle gleichgestellt.
Ich: Nimmt Herr A. Theil an den Arbeiten in Feld
und Werkstatt? Er: Nein, er hat genug zu thun mit
der Auslegung der Symbole. Ich: Welche Symbole?
Er schweigt lange; dann: Es ist das neue EvangeHum,
das geistige. Es ist nicht eine Religion. Es ist mehr
als eine Religion. Ich: Haben die andern Genossen
zu arbeiten? Er: Das ist Jedem überlassen. Hier
herrscht Freiheit. Ich: Was für Bauten sind noch
geplant? Er: Vorläufig soll nur ein Tempel gebaut
werden von dreien die geplant sind, die Kronenburg.
Gegen die zwei andern wird dann später die Ge¬
meinde N. wohl auch nichts einwenden. Die Kronen¬
burg wird den Namen Marienkapelle tragen. Ich:
Haben Sie schon Baupläne? Er: Das Nähere kenne
ich nicht. Diese Sache ist in guten Händen, ich
aber bin nicht sachverständig in Bausachen. D., ein
deutscher Bildhauer aus Florenz, der unser Genosse
ist, wird die Pläne ausarbeiten. Drüben im Hulder-
hof können Sie Zeichnungen davon sehen.
Eine Glocke ruft uns in den Holderhof, wir
kommen in einen Speisesaal, wo sich eine gesund
und fröhlich aussehende Gesellschaft mit den besten
Umgangsformen nach und nach einfindet. Mit an¬
dern, die auf einer Altane sitzen, etwa 40 Personen,
nach der Sprache meist Norddeutsche, ein Holländer,
einige Amerikaner etc.
Ein geschäftig beweglicher Herr — er war es,
der die Gesellschaft herbeigeläutet hatte — sieht
mich, geht strammen Schrittes auf mich zu, stellt
Original fram
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210
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 23.
sich vor, nimmt meinen Namen entgegen und eilt
wieder geschäftig weg. Meinen Bekannten von vor¬
hin frage ich, wer und was dieser Herr sei. Er ist
der Koch, heisst es. Ich: Wirklich ? (Eher hätte
ich ihn für einen preussischen Officier in Civil an¬
gesehen.) Doch nicht Koch von Beruf? Er: Nein!
Er ist Doctor der Theologie.
Während des Kaffees rechts und links mit der
äusserst liebenswürdigen Gesellschaft Beziehungen an¬
knüpfend, schweift mein Blick gelegentlich an den
Wänden des Saales entlang. Zwei grosse Felder
zwischen Fenstern enthalten eines ein aufrecht
stehendes Kreuz, das andere ein umgekehrtes. Ueber
einer Thür ein umgekehrtes Herz (mit der Spitze
nach oben) mit einem Auge in der Mitte. Hinter
dem Stuhle zu Häupten der Tafel, dem Platze des
jetzt abwesenden A., ein altarähnlicher Aufbau mit
symbolischen Zeichen in Goldstickerei auf violettem
und schwarzem Damast. Im Hintergrund das für
mich ominöse Harmonium.
Ich suche Gelegenheit, dem Bildhauer D. vorge¬
stellt zu werden, erreiche dies und erfahre, dass er
sich bleibend in N. als Genosse des Holderhofes
niedergelassen habe. Auf meine Bitte, mir die Ent¬
würfe zu den Tempeln zu zeigen, bringt er mir eine
Mappe. Mit dieser begebe ich mich zu einer der
Bänke und Tische im Garten. Da blättere ich in
der Sammlung, die eine Reihe von Entwürfen zu
Tempelbauten enthält, von einer phantastischen Art,
wie ich sie noch nicht gesehen hatte, und begleitende
Notizen: Ein „Weisser Tempel“, ein „Tempel des
stillen Wassers“, ein „Drachentempel mit goldener
Kuppel und schwarzeisernen Gitterdrachen“. Dann
kommt ein „Akustischer Musiktempel (Tonhalle und
Concertsaal) mit irisirendem Centrallicht“. Ein Tem¬
pel der „Eisernen Krone, mit zehn getrennten Wander¬
gängen. Diese führen zur Halle der Anschauung.
Die Front zeigt das Bild des ,TAT‘, umzingelt von
den zehn Tugenden. Die zehn Eingänge sind flan-
kirt von zw'ei Drachen und überspannt von einem
Riesenbogen in Stcinmasswcrk und ganzen Kathe-
dralscheiben weiss verglast; erst in den Kuppeldecken
der innern zehn Wandergänge ist farbige Verglasung
mit nöthiger Verbleiung, derart, dass das Licht der
Gänge in der Tonleiter des Regenbogens sich unter¬
scheidet. Sie sind getrennt durch Sockelmauern,
über denen plastisch durchbrochene Wände aufragen
und Pfeilersäulen die bunte Decke tragen. Das
grosse Tonnengewölbe ist aus Beton, das Dach aus
glasiiten Ziegeln ohne Oberlichter“. Zu diesem
Tempel führt eine schiefe Ebene, „da eine lange
Treppe eimüdend und dem Schauen im Schreiten
hinderlich wäre“, wie der hinzugesetzte Text lautet.
Dann ein „Tempel der Erde“, untgeben von einem
„heiligen Haine“ und einem Wassergraben. Dieser
Tempel hat eine giosse Zahl von Sälen, jeder mit
farbigem Oberlichte, um bestimmte Stimmungen her¬
vorzurufen. Da sind: zwei Vorkammern mit gold¬
gelbem, resp. schwefelgelbem Licht, dann ein Saal der
Lust (orange Licht), eine Halle der Gefühle (rothes
Licht), Saal der Sehnsucht (violettes Licht), Halle
der Ergebung (blaues Licht), Saal der Liebe (blau¬
grünes Licht), Halle des Wissens (grünes Licht), Saal
des Ehrgeizes (gelbgrünes Licht), ein Centralraum
mit dem Bilde des Herrn der Erde (weisses Ober¬
licht), eine Kammer des Schweigens (dunkelblaues
Licht), flankirt von zwei Kapellen mit je einem
Wächter, dann eine kleine Vorkammer, genannt:
„Das Dunkle“, und zuletzt ein kreisrunder Saal: „Das
Heiligthum“. Der siebente und letzte Tempel end¬
lich heisst der „Tempel des Lucifer“ und ist mit
Drachen, Sphinxen etc. verziert.
Nur mit getheilter Aufmerksamkeit konnte ich
mir die merkwürdigen Zeichnungen ansehen und die
oben wiedergegebenen Notizen abschreiben, denn
bald nachdem ich mich in die Gartenanlage begeben
hatte, kam eine Gesellschaft, die die benachbarten
Bänke einnahm und eine lebhafte Unterhaltung be¬
gann. Die Wortführerin war eine der ältern Damen,
die ich in der Kaffeegesellschaft gesehen hatte. Sie
schien da fremden Besuchern Einblick in die Ver¬
hältnisse des Holderhofes zu geben. In lebhafte
Gemüthsstimmung schien sie zu gerathen, als sie des
A. und seines Wirkens gedachte. Folgende Stelle
kam da vor: „Ich bin kürzlich mehrere Monate in
Berlin gewiesen. Mir hat diese vielgerühmte Stadt
einen unangenehmen Eindruck gemacht: das Volk
dort ist gemein. Alles hastet und jagt dort
nach Profit, Vortheil und Gewinn, rücksichtslos für
die Gefühle der Mitmenschen. Dieses Gethue ist
ihnen zur zweiten Natur; es ist auch da zu finden,
wo es ihnen nichts nützt: z. B. In die Tram- und
Eisenbahnwagen stürzt sich das Volk, jeder hat da
nur den Gedanken, wie komme ich zu einem Platze,
mit den Ellbogen rudern sie dahin, um nur ja recht
viele Mitmenschen zurückzustossen: Was des Andern
Nachtheil, ist mein Vortheil, denken sie. Aber man
sicht: Zuletzt hat doch jeder Platz gefunden, ob nun
stark oder schwach, ob rücksichtslos oder nicht: Alle
kommen ans Ziel, keiner braucht zurückzubleiben.
Wozu also das Gedränge, wozu die Rücksichtslosig¬
keit, wozu die Gemeinheit ? Aber das ist ihr Trieb,
ihre Anlage. Dass sie nun in dieser selben Stadt
Berlin nicht wissen, wie genug Irrenanstalten zu
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I 9 ° 4 -]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
2 I I
bauen, das darf uns nicht Wunder nehmen. Das
kommt von diesem Geiste der Gemeinheit. Wie an¬
ders hier! Welcher Friede, welche Ruhe! Wir alle,
die Sie uns hier sehen, wir bilden eine Familie.
Unserm A., diesem Einzigen, verdanken wir das
alles. Hier in dieser schönen friedlichen Natur ver¬
wirklicht er seine Ideale: Friede auf Erden predigt
er uns und er bewirkt ihn. Der Einzige! Da ist
in diesen Tagen eine vollständig verarmte Familie
K. hier eingetroffen, sehen Sie: der Mann dort
drüben mit seiner Frau und den 2 kleinen Kindern
nebenan. Abgebrannt, sag ich Ihnen, waren sie,
keinen Groschen im Sack, aber auch gar nichts
hatten diese Leute, als sie hier ankamen. Jetzt haben
sie dasselbe wie wir, kein Unterschied wird gemacht,
und die Leute fühlen sich wohl und zufrieden. Es
ist den Armen zu gönnen.“
Spät Abends an diesem Tage ist mir ein merk¬
würdiger und schöner Anblick geworden: der Em¬
pfang des heimkehrenden A. Von der Gesellschaft,
die, wie man mir sagte, sonst um 9 Uhr zu Bette
zu gehen pflegt, dachte keiner daran, sich von der Be-
grüssung des A. auszuschliessen, trotzdem seine Ankunft
auf ungefähr 11 Uhr Nachts angezeigt war. (A. war,
zusammen mit R., nach einer Viehausstellung gereist
mit der Absicht, vielleicht einen Zuchtstier zu kaufen.)
Einige gingen ihm, wie im Wettlauf um die Ehre,
bis auf eine Stunde zu Fuss entgegen, andere bis
zur entfernten Eisenbahnstation. Ich war mit dem
grössten Theil der Leute auf der Strasse eine viertel
Stunde weit gegangen, wo mir nun in der Vollmond-
Herbstnacht der Anblick des mit zwei Schimmeln
bespannten Wagens mit A. und R. wurde. A. war
nur 3 Tage abwesend gewesen, aber in dichter Schaar
umschwärmten jetzt seine Anhänger und Anhänge¬
rinnen den geliebten Führer mit Gruss und Anrede
und Fragen. „Es ist ein okkulter Stier, den ich Euch
gestern eingekauft habe“, war ein Satz, den ich von
A. auffing. „Dem Volk hier werden wir zeigen, wie
ihre Viehrasse verbessern.“ Nachdem sich etwas
Ruhe eingestellt, ging ich auf A. zu, stellte mich vor
und erklärte: Ich bin gekommen in der Hoffnung,
dass Sie mir gestatten werden, Sie und ihre Sache
kennen zu lernen. Eine ruhige Verbeugung der
eleganten Erscheinung, ein sehr fester, herzlicher
Händedruck, eine bedeutende, gewährende Geberde
und er ward wieder von andern in Anspruch ge¬
nommen. Gleich drauf stellte sich mir R. vor:
Officierserscheinung.
Am nächsten Morgen betrat ich gleich nach dem
beendeten Frühstück der Gesellschaft den Esssaak
A. war schon in Mitte einer Absprache an seine An¬
hänger. Aus dieser Rede habe ich mir noch am
gleichen Vormittag mehrere Sätze notirt, die ich hier
wiedergebe. Ich nummerire sie, da ich mich weiter
unten auf einzelne beziehen will.
„Wir haben fünf Welttheile, entsprechend den
fünf Sinnen. Jedem Welttheil entspricht ein be¬
stimmter Sinn. Aber das war nur so bis heute.
Von jetzt ab wird dies anders werden. Es ist näm¬
lich jetzt ein neuer Sinn im Entstehen begriffen, der
sechste, oder sogenannte Omega-Sinn. Wenn die
Entwicklung dieses sechsten Sinnes vollendet sein
wird, so wird sich manifestiren, dass es an dem ihm
zukommenden Welttheile fehlt. Wenn aber dieser
Tag anbricht, dann-— das sage ich Ihnen
meine Freunde (klopft auf den Tisch) — — —
dann werden wir froh sein, dass wir nicht mehr
existiren!“ (Hierauf folgt die mit drastischen Ge¬
berden begleitete Beschreibung des bald bevorstehen¬
den Weltunterganges.) I.
Im Verlauf des gleichen Gespräches war das
Wort Urtheil vorgekommen. „Nun müssen wir
verstehen, was heisst Urtheil ? Ur — und: theil.
Ur heisst so viel als Ursprung oder Chaos. Theil
kommt von Theilen oder Gerechtigkeit Also auch
hier wieder: der deutlichste Beweis von der Existenz
des im Bewusstsein des Weltgeistes liegenden Triebes:
Aus dem Chaos empor zur Gerechtigkeit!“ II.
Später kam das Wort Wacht vor. Wie in Pa¬
renthese, mit veränderter Stimme, ermahnt A. seine
gespannt aufmerksamen Zuhörer. „Beachten Sie wohl:
Das W(eh) und die Acht!“ III.
Später: „Wir können uns vierdimensional bewegen,
oder auch dreidimensional, ganz wie wir wollen, aber
immer nur eins von beiden!“ IV.
Später: „Ueberhaupt und allgemein gefasst: Wir
bestehen aus einem innern und aus einem äussern
Menschen. Dieses ist die Zweiheit. Verbinden
wir diese mit der Dr eieinigkeit, so kommen wir
zur Sechs, welche liegt neben der Sieben!“ (Ge¬
berde des Schreckens.) Dann mit erleichtertem Aus¬
druck: „Legen wir nochmals die Zweiheit hinzu, so
kommen wir zu Neun, welche liegt neben der
Zehn, welche ist die Verbindung der Einheit
mit dem absoluten Nichts.“ V.
Auch unterwies uns A. in einer Art kabalistischer
Geheimkunst: Wie wir uns helfen könnten, gar
mannigfaltig im Leben aus allerlei Zweifel und Un¬
kenntnis, bloss mit Hülfe von zwei mondförmig ge¬
krümmten Gegenständen: ) ), z. B. auch mit den
gekrümmten Händen. Dreifach sei die Lage in der
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2 12 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 23.
wir diese zwei Dinge zu einander bringen können:
so als 3: so als S: so als o: (). Zu 3, S
und o gab er uns die verschiedenen Bedeutungen,
die sie haben könnten, je nach dem, und erklärte,
man brauche nur die richtige Interpretation zu finden,
um sich zu helfen, wie er einmal im Walde, als er
den Weg verloren hatte:
Am Schluss dieser Rede, der ich von 8 1 /-* bis
10 Uhr zugehört hatte, stand A. auf und die ganze
Gesellschaft defilirte an ihm vorüber und Jeder gab
ihm die Hand.
Eine ältere Dame während der sehr kurzen Pausen
in der Rede: Das ist die höchste und beste Religion.
Unter den Leuten, die nach der Rede verschie¬
dene Gruppen im Saal bildeten, waren einige, die
den untern Volkskreisen anzugehören schienen, be¬
scheidener als die andern, aber sauber gekleidet. An
sie, als die Nächststehenden, wandte ich mich, lerne
einen sehr treuherzig aussehenden Tyroler und einen
Badenser kennen, die mir berichten, dass sie für
Besorgung der Pferde etc. da seien und Genossen
der Gesellschaft seien. Ich : Verstehen Sie, was Herr
A. predigt? Der Tyroler: Nein! Und zum Collegen
Badenser: Gelt, du, net war, den Herr A. verstehst
du a net? G’steh’s nur! Wissens, dem sind seine
zwa weissen Rösseln wichtiger wie alle die G’schichten
vom Herrn A. Ueberhaupt: Mir geht das Ding hier
a viel zu klösterlich zu.
An einen Herrn, der sich mir als Stud. med.
vorgestellt hatte: Verstehen Sie den Herrn A.? Er:
O ja, warum nicht, es ist doch eigentlich weiter
nichts als die Descendenztheorie, die er lehrt.
Ueber das Verhältniss zu Besuchern mich er¬
kundigend, erfahre ich von einer Gruppe von Herren:
A. fühlt sich, wie er auch selbst sagt, mächtig ange¬
zogen vom Geiste der Personen, die neu herkommen,
und er nimmt stets Rücksicht auf die Bildung und
den Beruf von neuen Zuhörern. Der Geist wird ihm
viel mehr von auswärts zugetragen als von hier am
Platze selbst. Er kommt Jedem entgegen, der nach
seinem Geiste strebt und ladet auf seinen Reisen
die hervorragendsten Persönlichkeiten ein, hierher zu
kommen.
In mein Wirthshaus zurückgekehrt, suche ich die
Ansicht des Wirthes zu erforschen, was nicht so
leicht ging, als bei der den Tag vorher von mir be¬
fragten, etwas internationalen Kellnerin. Soweit ich
das mir ungewohnte Platt verstehen konnte, hat er
mir folgendes gesagt: Es wäre gut, wenn die Men¬
schen das thäten, was Herr A. sagt. Aber dazu
müssten wir wissen, wie’s zu machen sei, und dazu
müssten wir den Herrn A. verstehen. Wir hier im
Orte verstehen ihn aber nicht. Er spricht zu eng¬
lisch. Auf mein genaues Befragen bekomme i»l.
dass hier unter englisch gemeint ist: i. das zu
schnelle Sprechen des A., 2. dass dem Wirthe wenig
geläufige Hochdeutsch, 3. die vielen wissenschaftlichen
Bezeichnungen.
Nach M. zurückgekehrt, suchte ich während des
viertel Jahres meines dortigen Aufenthaltes Leute auf,
die A. kannten und begann bei ihnen die nach¬
folgend dargestellte Umfrage. Meist theilte mir ein
Angefragter Namen und Adressen Anderer mit, die
den Holderhof besucht hatten. Ich treffe bei der
Wiedergabe meiner Umfrage keine Auswahl unter
den Besuchten, sondern führe sie alle auf.
Besitzer einer Naturheilanstalt, Vegetarier. —
Ich: Lassen Sie sich berichten, was ich Herrn A.
sagen hörte. (Citire die Sätze II und V.) Was
halten Sie davon ? Er: Ja, das ist wahr. Aber Sie
müssen nicht glauben, dass das der A. aus sich selbst
hat. Das steht schon in unsern ältesten Weisheits¬
büchern. Im Uebrigen berichtet er: Den A. habe
ich erst kürzlich nach 3 Jahren wiedergesehen. Er
hat mir nicht mehr so gut gefallen wie früher. Er
hat sich sehr zum Nachtheil verändert. In seinen;
Auge liegt etwas Krankhaftes. Die Veranlassung
die mich zu ihm nach N. führte, war die: ich wollte
meine Anstalt und mein Gut verkaufen. Ich reise
also nach N. und sag zu ihm: Ich hab gehört, dass
Sie so viel Land kaufen. Wenn Sie nicht principiell
dagegen sind, auch ausserhalb von N. zu kaufen, su
offerire ich Ihnen mein Gut und will Ihnen in den
Bedingungen entgegenkommen. Er hat aber sofort
gesagt: Nein! Es ist mir ganz unmöglich, Ihr Land
zu kaufen. Das liegt nicht an meinem guten Willen,
das will ich Ihnen beweisen; bitte kommen Sie mit
mir. Er führt mich zu ein paar Felsen und sagt;
Sehen Sie diese Felsen hier, sie bilden die einzige
Stelle, die beim Weltuntergang überbleibt. Und es
kann keine zehn Jahre mehr dauern, bis das kommt.
Deshalb hab ich mich ja in N. niedergelassen, um
in der Nähe zu sein, wenn es losgeht. *) Und da
können Sie doch nicht erwarten, dass ich Ihr Land
kaufe, so weit weg von hier. — Ich hab gleich ge-
*) Als ich diese Worte gehört, glaubte ich — unbekannt
mit dem, was der Leser jetzt aus den ersten Seiten weiss
— dass ich die Erklärung gefunden hätte, warum gerade N
der Sitz der Holderer geworden sei. Doch hat sich später
herausgestellt, dass die Sache mit den Felsen eine der vielen
von A. so beliebten nachträglichen Auslegungen war. Man¬
chem seiner Anhänger wurden diese zu „Prophezeiungen“, die
fleissig herumcolportirt wurden.
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
213
1004.]
sehen, dass er nicht kaufen will, nun, das ist seine durch alle seine Handlungen: Als einmal seine Frau
Sache, und so bin ich wieder heim. Aber, wissen
Sie, das mit dem Weltuntergang, das ist so eine
Sache, in der Bibel steht nichts davon. Gar nichts
ist da zu finden, das man so auslegen könnte. Ueber-
haupt, ich hab bald an A. herausgemerkt, was er
geworden ist: ein indischer Philosoph ist er jetzt,
ganz complett. Ich: Sie können sich also nicht mit
ihm verstehen. Er: Verstehen? Warum nicht, aber
wir sind getrennt wie Tag und Nacht. Ich stehe
auf dem Standpunkt der neuen oder christlichen
Theosophie, er auf der indischen. Uebrigens hat er
mir schon vor Jahren einmal gesagt, dass er ein
Weisser Bruder geworden ist. Da können Sie sich
denken, wie es mit seiner Sache stehen mag.
Vegetarier, ehemaliger Theosoph. — Er berichtet,
dass er bei einem Besuche in N. ungefähr Dinge
wie ich angehört und gesehen und dass er sich nicht
habe überzeugen können. Um uns auf gleiche Basis
zu stellen, citire ich den Satz V. Was halten Sie
von diesem Ausspruch? Er: Das sind Redensarten.
Nachdem ich ihm erklärt, was Redensarten sind,
scheint er sich etwas beengt zu fühlen und erklärt:
Mit dem Manne kann es noch schlecht kommen, so
viel weiss er und so viel hat er gelesen. Er ist in
einem Zustand von zu grosser Spannung. Uebrigens
der Satz (V) erklärt sich aus dem jüdischen Schriften-,
Buchstaben- und Zahlenwesen.
Pensionirte Schullehrerin, Theosophin, Vegetarierin,
kennt A. genauer, der einmal zu ihr gekommen war,
um sie als Anhängerin zu gewinnen. Ich citire die
Sätze II und V. Was halten Sie davon? Sie ath-
met auf, wie vor einer grossen Aufgabe. Ja, sehen
Sie, daraus lässt sich machen, was Sie wollen. Je
nach der Auslegung, die man den Worten und Be¬
griffen giebt. Sie trägt grosse Manuskriptpackete
herbei, blättert in Notizen über Wortauslegungen,
mit denen die völlig vereinsamte, jahrelang magen¬
leidende Naturheilkunde-Studierende ihrer Existenz
den geistigen Inhalt gegeben. Endlich findet sie die
gesuchte Stelle, die ungefähr so lautet: Bund, Band,
Bündniss, binden, borgen, bürgen, Bach, Buch; das
hängt alles zusammen. Mein Vater selig hat diese
Sachen anders behandelt. Er hat sie Christ-philo¬
sophisch bearbeitet. Sie holt einen Folianten mit
vergilbten Papieren in Gross-Aktenformat mit Datum
aus den 40 er Jahren. Das sind die hinterlassenen
Schriften meines Vaters selig. Diese Sache hat
er studirt, genau! Nach einer flüchtigen Ein¬
führung in diese Schriften frag e ich sie um ihre Mein¬
ung über A. Sie : Das steht fegt: Der Mann spricht
wachmedial. Diese Eigensc^^ zieht sich überhaupt
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in Amerika und er in Europa war, hat er nicht
nöthig gehabt, ihr Briefe zu schreiben. Sie waren
in Seelengemeinschaft.
Bericht eines vegetarischen Naturarztes, der A.
besucht hatte: Ich habe dem A. gesagt, dass ich
nichts an seiner Sache aussetze, dass mir aber sein
Fleischessen nicht gefalle. A. hat mir darauf gesagt:
Ich kann alles essen! Es ist wahr, dass die Vege¬
tarier über den anderen, dem Mittelgut der Men¬
schen, stehen, aber über die Vegetarier hinaus giebt
es eben noch eine kleine Zahl, die, eben weil sie
höher stehen, den Vegetarismus nicht nöthig haben.
— R. hat mir gesagt, dass A. ein äusserst mächtiger
Mann sei, der auch Beweise seiner Einwirkung auf
die Elemente gezeigt habe. Einmal sei vorübergehend
der Baarbestand in der Cassa knapp gewesen, und
doch waren eine grössere Zahl Arbeiter zu ent¬
löhnen, die sie nicht gerne entlassen hätten. Da
kam plötzlich ganz unerwartete Hülfe: Es fing an
zu schneien, die Bauarbeiten mussten also eingestellt
werden und das rettete sie aus der Verlegenheit.
Auf meine Zweifel, dass das von A. gemacht worden
sei, fühlte sich der Herr beleidigt, und wortkarg wies
er mich an A., der mir die Sache selbst bestätigen
könne.
Ich: Was halten Sie von folgendem Satz, den
Herr A. über die Bedeutung des Wortes Urtheil an¬
gab (citire Satz II) ? Er, nach langem Nachdenken:
Das ist eine Philosophie, die nach rückwärts geht.
Er forscht nach, aus was für Theilen das Wort sich
gebildet hat, denn jedenfalls waren die Theile eher
da als das Ganze. Versteht man die einzelnen
Theile, so kann man das Ganze verstehen. Es ist
eine ganz interessante Untersuchung, aber von wenig
Nutzen.
Eine Dame, Vegetarierin, die A. besucht und
mehrere Reden von ihm gehört und mit dem Vor¬
erwähnten 2 Tage bei den Holderhofleuten gewohnt
hatte, schreibt mir ihre Meinung über A. Sich ein
Urtheil über A. und sein Beginnen zu bilden, halte
ich für verfrüht. Es steckt viel Gutes, Aneiferndes
in ihm, vor allem das unerschütterliche Vertrauen in
das eigene Wollen, welches da Kraft giebt, zu haben,
zu erhalten, was man ernstlich wünscht und mit Aus¬
dauer anstrebt etc. etc.
Die Ansicht eines andern Vegetariers, der mehrere
Reden des A. gehört hatte, wird mir brieflich so
mitgetheilt: Sein Urtheil über A. ist ziemlich das¬
selbe wie das im .... (in dem mitgetheilten Aufsatze
von E.). Er hält A. für eine Kraft, bewundert seinen Muth
und das grosse Vertrauen, das er in der Erreichung
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HARVARD UNIVERSUM
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 23.
seines Zieles hat, wird aber aus seinem Wollen und
seinem Wesen nicht klug.
Eine Anzahl Zeitungen brachte nun, fast gleich¬
lautend, folgendes:
In N. hat sich bekanntlich unter dem Namen
Holderhof eine Kolonie angesiedelt, die als religiöse
Sekte mit Gütergemeinschaft und gemeinsamem Haus¬
halte nach dem Vorbild der ersten Christengemeinde
geschildert wird. Es wurden eine Anzahl Ländereien
in schöner Lage zu sehr guten Preisen käuflich er¬
worben und baar bezahlt. Wiesen und Gärten werden
mit Werken der Bildhauerkunst geschmückt. — —
— Die Fischer- und Bauernhäuser werden moderni-
sirt und in schöne Wohnstätten umgewandelt. Ferner
sollen Pläne existiren für mehrere neue Kunstbauten.
Unter anderen soll auch ein Tempel geplant sein.
Chef der Kolonie ist Herr A., gebürtig aus . . .
Geboren wurde er in Amerika, von wo aus der
Vater auf das deutsche Bürgerrecht Verzicht geleistet
haben soll, ohne das amerikanische Bürgerrecht zu
erwerben. Demnach wäre Herr A. heimathlos und
ist nun bestrebt, das Bürgerrecht in N. zu erwerben.
Herr A. wünschte nun für sich und seine Familie
das Bürgerrecht in N. und oflferirte eine blanke Mil¬
lion. *) Die Bürger von N. trauten zuerst ihren
Augen und Ohren nicht. Ueberdies sind sie nicht
nur streng.sondern auch erzconservativ und
haben noch niemals einem Fremden das Bürgerrecht
gegeben. Aber eine Million ist eine Summe, die
auch in N. zugänglich macht. Letzten Sonntag war
Gemeindeversammlung, um die freigebige Offerte an¬
zunehmen oder abzulehnen. Die Opposition ver¬
stummte, besonders nachdem auch Herr Pfarrer ....
dargethan hatte, dass der Bewilligung des Gesuches
vom kirchlichen Standpunkte aus nichts entgegenstehe,
indem man es hier offenbar mit gebildeten, sittlichen
Leuten zu thun habe. Dem Gesuch wurde in der
Abstimmung sozusagen einstimmig entsprochen. Auf
Grund freier Vereinbarung zwischen Herrn A. und
dem Gemeinderath wurde folgende Vertheilung der
Million stipulirt: (es folgen die Details nach Ge¬
meinde, Armen, Kirche und Schule geordnet). Die
Freigebigkeit des Herrn A. steht so einzig da und
das Ganze hört sich so sehr wie ein Märchen aus
Tausend und eine Nacht an, dass die volle Freude
über den unerwarteten Goldregen sich bei den Bürgern
von N. erst dann entwickeln wird, wenn das Bürger¬
recht in Kraft erwächst, bezw. wenn die Million
wirklich bezahlt ist. Für einstweilen werden auf
dieses Erbe hin von den N.ern noch keine neuen
Ausgaben decretirt.
Der dortigen Geldeinheit.
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Bald darauf brachte eine sehr angesehene Zeit¬
ung folgendes : Die stark besuchte Gemeindeversamm¬
lung in N. vom.hat in Sachen der Forder¬
ungen von Herrn A. folgende Beschlüsse gefasst:
1. Herr A. erhält die Erlaubniss zum Bau einer
monumentalen Muttergotteskapelle in Weiss-Marmor
in N., die nach Fertigstellung der Gemeinde geschenkt
werden soll, während Herr A. die Unterhaltungspflicht
übernimmt. 2. Herr A. erhält auf 99 Jahre Con-
cession für Bau und Betrieb einer monumentalen
Halle in der Nähe des Dorfes N. und Herstellung
eines Weges dorthin (wird einer der grossartigsten
Wege werden). Es soll im Umkreise von 3000 qm
kein anderes Gebäude gebaut werden dürfen und
auch kein Wirthshaus errichtet oder betrieben werden.
Am Bau dürfen keine Statuen angebracht werden,
die gegen gute Sitte oder das religiöse Gefühl ver-
stossen. 3. Es wird an Herrn A., seine Frau und
deren zwei Kinder das Bürgerrecht von N. ertheilt.
4. Als Entschädigung hierfür bewilligt Herr A. eine
Million., für die die Gemeinde sich zu fol¬
gender Verwendung gegenüber Herrn A. verpflichtet:
(Details wie oben), zahlbar in baar vor der Aus¬
händigung des Bürgerrechtsbriefes. Die obigen Be¬
schlüsse wurden mit 260 gegen 5 Stimmen gefasst.
Herr A. begiebt sich demnächst nach den Vereinigten
Staaten behufs Beschaffung der Mittel etc. etc.
Noch vor diesen Zeitungsberichten hatte ein Herr
Heizmann *), einer der Begleiter des schon erwähnten
E. auf der Reise nach N., einen Aufsatz für das gleiche
Blatt verfasst, der nun erschien. Von ihm gebe ich
nur einzelne Bruchstücke:
Vor einigen Wochen erschien hier ein Reisebe¬
richt E.'s über N. und A. Je länger und mehr ich von
dem Pulsschlag des grossen und einzigen Willens,
der diesen Mann beseelt und von seinem Thun zu
hören und selbst zu erfahren Gelegenheit hatte, desto
mehr zwingt es mich, neben die in jenem Reisebe¬
richte geschilderte Auffassung, meine Anschauung zu
stellen. — — — Ist dieser doch in bisher unerhörter
Kühnheit am Werke, Erfüllung der Gedanken zu
bringen, die auch unseren Bestrebungen den Unter¬
grund geben. Was suchen wir denn anders im
Menschen, in uns, zu wecken, als die „Idee des
Menschen“, das Ringen nach höchster Vollendung,
als die Erkenntniss des gleichen Wesenkemes, der
uns alle zum Lichte treibt. Der grosse Wunsch der
Harmonie des Thuns, des Wollens und Könnens, die
*) Ich ersetze den wahren Namen in diesem und mehreren
spätem Fällen durch fingirte, die es mir ermöglichen, gewisse
Beziehungen darzustellen, die nach den Vorstellungen des A
durch diese Namen gegeben sein sollen.
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
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kraftvolle Persönlichkeit des unerschrockenen Willens
für ihr Lebensideal, der wahre über sich hinausge¬
staltende Uebermensch in seiner Herrlichkeit und
Schönheit ist doch das Ziel unserer Hoffnung.-
— Was ringt denn nach Ausdruck in diesen Ver¬
schiedenen, den Asketen aus Angst, den Sektirern,
den ruhigen Arbeitern an der Entwickelung? Es ist
der Wille zur Lebensbejahung.-— Da kommt
nun ein kühner Mensch, A., durchleuchtet von dem
Bewusstsein, dem Impuls der grossen Liebe, über¬
zeugt, die Zeit sei da, in der Erfüllung möglich sei
für das Sehnen der Menschen nach persönlichem
Leben, nach Freiheit und Harmonie ihres Wollens
und Müssens. Er bietet den Suchenden, die der
Erfüllung entgegenharren, den Raum auf der Erde,
wo sie befreit von der niederdrückenden Sorge, sich
selbst zu finden vermögen. —-- Zur Befreiung
vom niedern Ich und von seiner Qual, sucht A.
Menschen und will für sie und mit ihnen in N. eine
Stätte bereiten, auf der sie selbst alles Göttliche,
Grosse in sich lebendig werden lassen und fördern
können. — — — Es soll in diesem Geiste N.’s das
was wir mit vielen Führern der Menschheit erst in
generationsferner Zukunft als möglich zu erhoffen
wagten, Wirklichkeit werden und sein. Jetzt
und heute! Und zwar nicht vollendet mit einem
Male, aber begonnen! Nicht mit Worten und
durch Beispiel will man dabei „wirken“, sondern mit
dem einfachen „Dasein“ der That sich selbst befreien.
—-Das ist gewiss radikaler, unerhörter Idealis¬
mus für unsere Zeit, hier endlich einmal That werden
zu lassen, worauf alle Worte und Theorien, all
das hier ausgesprochene Streben als auf die kom¬
mende wahre Kultur, als auf das Seiende ira Men¬
schen hinweisen. — -- — Die Suchenden mögen
selbst kommen und schauen. Denn mit flüchtigen
Linien nur kann ich andeuten, wie vor meinem Auge
die Menschen vom Holderhof am Meeresstrande
stehen. Nichts Absonderliches an Aeusserlichkeiten
findet hier Boden, also nichts was an „Naturmenschen¬
thum“, an den Sonnenkultus, an Vieles sich anlehnt,
wohl aber Einfachheit und Muse. —-
Anderer Zeitungsbericht: Herr A., der den
Bewohnern von N. für die Verleihung des Bürger¬
rechts und verschiedener Concessionen eine Million
.versprochen hat, will für N. eine neue Aera
wirtschaftlicher Entwicklung herbeiführen; er plant
u. a. den Bau einer Eisenbahn nach N.
(Schluss folgt.)
Ueber Bewusstseinsgrenzen.
Eine theoretische Betrachtung.
\\Term wir unter „Bewusstsein“ die Summe aller
* * zu einem bestimmten Zeitpunkt im Gedächt-
niss lebendigen Vorstellungen verstehen, so können
wir alle die Vorstellungen als „Selbstbewusstsein“
bezeichnen, welche irgendwie das eigene Ich be¬
treffen. Eigentlich zwar ist unser gesammtes Be¬
wusstsein ein „Selbstbewusstsein“. Denn sämmtliche
Eindrücke der Aussenwelt, sämmtliche auf unsere
Psyche wirkenden Reize werden durch die Apper-
ception in mehr oder weniger fester Verbindung
unserem Ich einverleibt und setzen in ihm eine
merkbare Veränderung.
Da nun die Reize, welche auf uns wirken, in
jeder Sekunde wechseln und in ständigem Flusse
sind, muss auch das Bewusstsein in dauerndem Fluk-
tuiren begriffen sein: Es ist somit kein dauernder,
fixirter Zustand, sondern eine ganz nach den
Reizen wechselnde Fähigkeit. Am besten
lässt es sich als eine „V ibrationswelle“ veran¬
schaulichen, welche der Aussenwelt beständig neue
Impulse entnimmt und sich in den verschiedensten
motorischen Richtungen und Qualitäten nach innen
oder aussen entlädt.
Die Ausdehnung und Schwingungsintensität dieser
in dauernder Veränderung begriffenen „Welle“ ist
nicht nur in verschiedenen Situationen, sondern natui-
gemäss auch bei verschiedenen Menschen eine ganz
verschiedene. Hier spielt nicht nur die Feinheit
unserer Sinne eine bedeutende Rolle, — ein scharf¬
sichtiger und hellhöriger Mensch bemerkt viel mehr
Aussen Vorgänge als ein kurzsichtiger und halbtauber,
— sondern in erster Linie kommt es auf die Cen¬
trale an, welcher die Sichtung und Verarbeitung der
durch die Sinnesorgane assimilirten Eindrücke obliegt:
auf das Gehiin!
Ich kann einen Wilden vor das schärfste Fern¬
rohr setzen und ihm die Planetenkreise oder die
schauerweckenden Wunder der Milchstrasse einstellen:
er wird blöde lächeln und gamicht wissen, was er
sieht. Was ihm -fehlt, das sind eben jene korrespon-
direnden centralen Elemente, jene Bahnen, durch
deren Vermittlung die neuen Eindrücke nach tausend
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 23.
Richtungen mit anderen, älteren Erfahrungen in
Beziehung gesetzt, d. h. „gedeutet“ werden können.
— Im günstigsten Falle fasst ihn ein ungeheures
Staunen über das Ungeahnte, Unbekannte. Dieses
Staunen des Urmenschen ist ja gerade das Gefühl,
aus dem sich seine charakteristische Neugierde und
hieraus in jahrtausendlanger Evolution jener ernste
und feurige Wissensdrang, jener Drang nach Erkenn t-
niss, entwickelt hat, der in moderner Zeit den Geist
des Menschen durch Verstehen und schliesslich Be¬
herrschen der Natur von Sieg zu Sieg getrieben hat.
Aber nicht nur diesen Keim des Erkenntniss-
dranges brachte der Mensch aus seiner jahrhundert¬
tausendalten Vergangenheit mit herauf. Er besitzt
noch eine andere Gabe, welche ihrerseits den Werth
des reinen Erkenntnisdranges häufiger in Frage stellt,
als ihm Vorschub leistet: die Gabe des Affekts!
Wir sprachen vorhin von der Bewusstseinsbreite
des Gelehrten im Gegensätze zu der des Wilden.
Es bedarf keiner Erörterung, dass zwischen diesen
beiden Extremen unzählige Zwischenstufen existiren,
von denen eine jede sich in der Welt zu behaupten
vermag.
Wie wirkt nun ein Affekt — auf die Art des¬
selben kommt es hier nicht an — auf die Bewusst¬
seinsbreite eines Durchschnittsmenschen ein! ? Wir
stellten uns diese Bewusstseinsbreite unter der Form
einer „Vibrationswelle“ vor, die in ihrer Gesammt-
heit normaliter eine ganz bestimmte Schwingungs¬
intensität besitzt. Gelangt nun das Individuum unter
den Einfluss eines Affekts, so erlangen gewisser-
maassen die Einzelelemente, welche der Affekt
angeht, eine erhöhte Sch wingungsintensität,
und zwar geschieht das stets — dies ist der springende
Punkt — auf Kosten der übtigen Bewusst-
seinselemente! Es findet also gewissermaassen
eine Einengung der Wellenbreite statt. Ein gewisses
Maass von Nervenenergie steht nur zur Verfügung
und dieses wird vorwiegend im Interesse des Affektes
absorbirt.
Da die Gehimtheile eine ganz verschiedene
Werthigkeit haben, und die zuerst eingeprägten
Funktionen am festesten haften, werden von diesem
Funktionsausfall zunächst die phylogenetisch jüngsten,
d. h. zuletzt erworbenen Funktionen betroffen werden.
Das aber sind die Mechanismen der logischen Ueber-
legung, der Kritik, mit einem Wort: der höhere gei¬
stige Mensch überhaupt!
Je nach der Stärke des Affekts treten auch in
den entwicklungsgeschichtlich älteren und ältesten
Funktionen deutliche Störungen auf. Das Wort:
,,Er ist blind vor Leidenschaft, taub für jeden ,ver-
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nünftigen 4 Einwand“ — ist nicht .ohne tiefe Bedeu¬
tung! Und wer kennt nicht den Krampf der Ge-
fässe, der sich im plötzlichen Erblassen äussert, w r er
kennt nicht das unüberwindliche Lähmungsgefühl
beim heftigen Schreck! Die übermässige Inanspruch¬
nahme eines Theils der Bewusstseinswelle lässt andere
Theile leiden. Denn nicht allein aus Reizen der
Aussenwelt rekrutirt sich der Ersatz des geistigen
Lebens. Auch aus sämmtlichen Regionen des eigenen
Körpers strömen unausgesetzt Reize ins Centralorgan,
welche uns äusserst wichtige Componenten des Ich-
Bewusstseins liefern.
Ist irgend eine periphere Funktion gestört, ver¬
ändert, so schickt sie natürlich auch einen von der
Norm abweichenden Reiz ins Gehirn. Abnorme
innere Reize bedeuten aber Krankheit, und man
kann also, streng genommen, sagen, dass jeder
körperlich kranke Mensch auch geistig
krank ist!
Wir wissen, dass die Handlungen, d. h. die mo¬
torischen Aeusserungen des gesunden Bewusstseins,
sich unter der Kontrolle der hochwerthigen Asso¬
ciationsgruppen abrollen, deren Schaffung ja über¬
haupt das Ziel einer jeden Erziehung ist. Diese
Associationen, phylogenetisch spät entwickelte Fähig¬
keiten, verlieren im Affekt ihre Herrschaft mehr oder
weniger vollständig. Die Folge ist, dass ein ver¬
schied engradiger Zustand der Anarchie in den
motorischen Impulsen zum Ausdruck kommt. Je
mehr ein Individuum unter dem Einfluss des Affektes
steht, d. h. je grösser seine Bewusstseins-Einengung
ist, um so unsinniger, kritikloser werden seine Hand¬
lungen sein.
Ein Bild von besonderem psychologischen Inter¬
esse in dieser Richtung bietet uns aber der Alkohol¬
rausch. Auch der Alkohol hat die Fähigkeit, eine
Bewusstseinsverengerung hervorzurufen. Ein Berausch¬
ter lebt in einem kontinuirlichen künstlichen
Affekt. Er ist heiter oder traurig über die Norm,
je nach der ursprünglichen Gemüthsanlage. Wie
auffällig hier die motorischen Störungen hervortreten
können, weiss jeder. Es handelt sich nicht nur
um kritiklose Handlungen im weitesten Sinne; son¬
dern auch die gröberen und gröbsten motorischen
Funktionen können bis zu völligem Versagen lädirt
sein. Die verschiedensten Abstufungen kommen hier
vor.
Das Bild der vollendetsten Anarchie, der aus¬
gesprochensten Incoordination, bietet aber der bei
Alkoholikern ja gar nicht so seltene epileptische
Anfall. Die eingeengte, aber mit vermehrter Inten-
Original frnm
HARVARD UNIVERSUM
1004.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
sität schwingende Bewusstseinswelle des Epileptikers
hat natürlich auch eine vermehrte Tendenz, sich
nach aussen zu entladen, abzufliessen. Nach
physikalischen Gesetzen kann sie dies nur nach der
Richtung des geringsten Widerstandes. In gelinden
Stadien des Rausches dokumentirt sich dies Bestreben
in den lebhaften Gestikulationen, in der Geschwätzig¬
keit, in der Pseudo -Thatkraft und in allerhand
thörichten Streichen, wie sie z. B. bei Studenten zur
Genüge bekannt sind.
Beim typischen epileptischen Anfall ist es die
sogenannte Aura, in welcher die Bewusstseinswelle
gleichsam vorsichtig tastend in der Richtung ver¬
schiedener Sinnesgebiete Abfluss sucht, bis sie schliess¬
lich die motorische Region findet und hier auf offen¬
bar leicht gangbaren Bahnen sich entlädt. Je voll¬
ständiger die Entladung, umso tiefer die Bewusst¬
losigkeit. Denn die letzten Bewusstseinsreste sind es
ja eben, welche im Anfall aus dem Associationsgebiet
abfliessen in das rein motorische.
Nicht nur der Alkohol kann beim Epileptiker das
auslösende Moment des Anfalls sein, sondern es ge-
nügt gar oft eine geringfügige Gemüthserregung, um
die Welle zum Ueberfliessen zu bringen. Die er¬
höhte Reizbarkeit ist gerade ein Hauptcharak¬
teristikum des Epileptikers wie des Alkoholikers. Ja,
wenn wir den Begriff modificiren, des modernen
Menschen überhaupt.
Ohne diese erhöhte Reaktionsfähigkeit auf Reize
w'äre das Schnelltempo unseres heutigen Kulturfort¬
schritts ganz unmöglich. Aber nicht jedes Bewusst¬
sein vermag sich der erhöhten Zahl der Reize in
diesem Tempo anzupassen. Die zunehmende Ziffer
der Geisteskranken beweist das zur Evidenz. Jede
psychische Erkrankung, jeder Fall von Alkoholismus
bedeutet ein Versagen der Anpassungskraft, ist sozu¬
sagen ein Flüchten der Psyche in engere Bewusst¬
seinskreise, die ihr noch konform sind.
Im tiefsten Grunde ist ja alles Leben ein Erleiden,
d. h. ein Verändertwerden durch äussere Eindrücke.
Naturen, deren Reaktionsfähigkeit auf die Spitze ge¬
trieben ist, 1 eagiren auf Reize, welche den physio¬
logischen Schwellenwerth noch nicht erreichen, und
beantworten den physiologischen Reiz selbst mit ab¬
normen Reaktionen. Leider birgt diese Fähigkeit
gar zu tiefer Eindrücke für das Individuum den Keim
des Todes in sich. Seine Stoffe können nur in einer
bestimmten Anordnung, einer bestimmten Wechsel¬
wirkung die Funktionen des ,Lebens* ei füllen. Durch
die zahllos einlaufenden Reize muss diese Anord¬
nung schliesslich erschüttert und mechanisch ver¬
ändert werden. So kommt es, dass sich die mensch¬
liche Organisation und auch die Bewusstseinsfähig¬
keit am Ende nicht mehr in der complicirten, von
uns ,Leben* genannten Form zu bethätigen vermag
und die complicirte gegen eine einfachere Form ver¬
tauscht.
Dies sind die Erscheinungen des sogenannten
»Todes*. Jenes Todes, welcher im Grunde nichts ist,
als die Summe aller Lebensreize, die im Laufe langer
Jahre ein Individuum treffen. Welcher im Grunde
nichts ist, als die selbstverständliche Conse-
quenz alles Lebens überhaupt.
Dr. Georg Lomer,
Assistent der Proviniial-
anstalt Neustadt (Holstein).
M i t t h e i
— 76. Versammlung deutscher Naturforscher
und Aerzte in Breslau vom 18. bis 24. September
1904. 21. Abtheilung: Neurologie und Psychiatrie.
I. Bielschowsky (Berlin): Demonstration mikro¬
skopischer Präparate aus der normalen und patholo¬
gischen Histologie der nervösen Zentralorgane nach
neuen Imprägnationsmethoden. — 2. Fisch er (Prag):
Nur Cytodiagnose des Liquor cerebrospinalis. — 3.
Foerster (Breslau): Das obere Längsbündel des
menschlichen Grosshirns. — 4. Fuchs (Wien): Thema
Vorbehalten. — 5. Liepmann (Berlin): Ueber Apraxie,
mit Demonstration von Gehirnschnitten. — 6. Mann
(Breslau): Ueber einige elektrotherapeutische Fragen.
— 7. Rosenfeld (Strassburg): Stoffwechselversuche
bei abstinierenden Geisteskranken. — 8. Pfister
(Freiburg): Thema Vorbehalten. 9. A. Pick (Prag):
Beitrag zur Pathologie des Schläfelappens. — 10. F.
Pick (Prag): Ueber Erkrankungen der Cauda equina.
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1 u n g e n.
— ii.Rothmann (Berlin): Ueber neue Theorien der
hemiplegischen Bewegungsstörung. — 12. Saenger
(Hamburg): Referat über die Lehre von der Stauungs¬
papille. — 13. Storch (Breslau): Physiologie des
Wollens und Denkens. — 14. Stransky (Wien):
Zur Lehre von der Amentia.
— Mit der allgemeinen Ausstellung in St. Louis ist
auch ein internationaler Kongress über Tuber¬
kulose verbunden. Der Vorsitzende des Comitees
und Präsident der Medico-Legal Society in New’-York,
unter deren Auspicien der Kongress am 3., 4. und
5. Oktober abgehalten werden soll, veröffentlicht
folgendes Rundschreiben: Die leitenden Fragen be¬
ziehen sich auf vorbeugende Gesetzgebung zum Still¬
stand und zur Abwehr der Verbreitung der Tuber¬
kulose, nämlich a) in wie weit ist eine solche Ge¬
setzgebung möglich? b) wie kann die öffentliche
Meinung zu der Nothwendigkeit einer solchen ge-
Original from
HARVARD UNIVERSUM
218 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 23.
wonnen weiden? — Ein Zusammenwirken der Juristen
und Mediziner ist erforderlich. Der Kongress will
nicht über ärztliche Fragen per se diskutiren. Das
Publikum verlangt die bez. Mittel und Methoden
nicht blos von Seiten der Aerzte, und Staat und Ge¬
meinde sollen daher zur Organisation der Erziehung
der Massen veranlasst werden. Alle welche hiermit
sympathisiren, werden gebeten, schleunigst einen
schriftlichen Beitrag in beliebiger Sprache einzusenden
per Adr. Herrn Dr. Clark Bell, New-York, 30 Broadway.
Psychiater wollen ihre Ansichten bez.
des Zusammenhangs zwischen Geistes¬
störung und Tuberkulose, welcher beson¬
ders diskutirt werden soll, einsenden.
— Neue Wandtafeln für den Pflegerunter¬
richt. Die Geschäftsstelle des deutschen Samariter¬
bundes, Leipzig, Nikolaikirchhof 2, versendet gegen¬
wärtig die Düms’schen neuen anatomischen An¬
schauungstafeln zur Ansicht. Die Zweckmässigkeit
der kurzen anatomisch-physiologischen Einleitung für
unsere Pflegerkurse wird ja noch von manchen Seiten
angefochten. Es ist indessen nicht recht einzusehen,
weshalb Personen, deren berufsmässige Verpflichtung
es ist, den kranken Menschen auch mit körperlicher
Pflege zu umgeben, nicht dasjenige vom Bau und
den Verrichtungen des menschlichen Körpers
erfahren sollen, was jetzt jedem Schulknaben gelehrt
wird. Die Düms’schen Tafeln, welche das preussische
Kultusministerium zur Ausstellung in der Lehrmittel¬
sammlung in St. Louis bestimmt hat, sind in der That
ausserordentlich klar und übersichtlich. Sie stellen
die in Betracht kommenden Verhältnisse farbig, in
Lebensgrösse, z. Th. noch grösser dar und wählen
für verwickeltere Gebiete die schematische Zeichnung.
Die 6 grossen Tafeln kosten gebrauchsfertig auf Lein-
wahd und Holzrollcn aufgezogen 20 Mark. Sie sind
mit anderen dem gleichen Zweck dienenden Tafeln
in Vergleich gestellt als ein hervorragendes, dabei
pieiswerthes Unterrichtsmittel zu empfehlen.
Mercklin.
— XI. Versammlung des Nordostdeutschen
psychiatrischen Vereins zu Danzig am 27. Juni
1904. (Referent Dr. Wickel-Dziekanka.) (Schluss.)
IV. Kay ser-Dziekanka : Die Entwicklung
von Dziekanka in den ersten zehn Jahren.
M. H.! Nachdem nahezu 10 Jahre verflossen
sind seit der Eröffnung der Anstalt Dziekanka, dürfte
es gerechtfertigt sein, einen Rückblick zu werfen auf
ihre Entwickelung in dieser Zeit und auf die mannig¬
fachen Veränderungen, welche inzwischen eingetreten
sind. Der Bau war für 600 Kranke projektirt. Die
Männer- und Frauenseite völlig symmetrisch je 10
Pavillons, zu welchen später neben den Gutsgebäuden
noch ein kleiner Pavillon für auf dem Gute und auf
dem Rieselfelde beschäftigte Kranke hinzukam. Die
grössten Pavillons sollen 40 Kranke haben, die An¬
zahl der Kranken in den kleinsten beträgt 12—14.
Das Anstaltsgebiet, auf welchem sie vertheilt sind,
umfasst rund 90 Morgen und ist rings umgeben von
dem Anstaltsgute. V3 der Kranken sollten in Häusern
mit Offenthorsystem untergebracht werden und die
Hälfte der Fenster der Krankenpavillons war unver¬
gittert.
Gleichsam als Aequivalent für die gegen die
frühere Anstalt Owinsk in umfangreicherem Maasse
eingeführte, freie Behandlung, war eine grosse An¬
zahl von Isolirzimmem (62) in den meisten Pavil¬
lons vorgesehen, sozusagen ein Nothauslass. Diese
Anzahl erwies sich erfreulicherweise als nicht er¬
forderlich und konnten diese Isolirzellen bald zu
anderen Zwecken umgeändert werden. Bei dem in
Anstalten vorhandenen Mangel an Raum ist dies als
vortheilhaft zu betrachten. In den 6 Häusern für
ruhige Kranke haben wir Kleiderkammem daraus
gemacht und die dadurch frei werdenden Kleider¬
kammem umgestaltet in Wohnungen für den 2. Ober¬
pfleger und die 2. Oberpflegerin, in ein Pflegerinnen¬
heim , in welchem die Pflegerinnen bei Urlaub sich
aufhalten, auch Näharbeiten etc. ausführen können.
Endlich in sogen. Honoratiorenstübchen für Patienten
der 3. Klasse, welche nach ihrem Bildungsstande in
eine bessere Umgebung gehören und doch nur die
Mittel für die 3. Klasse besitzen. In den Siechen-
abtheilungen haben wir durch Wegnahme der Wände
zwischen je 2 Zellen und Hinzunahme des davor
liegenden Korridors je einen grossen Krankensaal
geschaffen und eine noch verbliebene Zelle als L T nter-
suchungs- und Verbandszimmer für den Abtheilungs¬
arzt eingerichtet. Ebensolche Zimmer sind in den
Aufnahmeabtheilungen für die dort beschäftigten
Aerzte eingerichtet. Eine andere Zelle im Pensionat
ist zu einem Bureau für den 1. Oberpfleger ge¬
worden , während andere als Einzelwohn- und
Schlafzimmer für Unsociale oder des Nachts durch
Schnarchen störende Kranke dienen. Vom Isoliren
der Kranken sind wir mehr und mehr abgekommen
und haben auch in der unruhigen Abtheilung noch
einen 2. mit dem 1. durch eine grosse Flügelthür
verbundenen Saal zur Bettbehandlung eingerichtet.
Ein immer grösserer Gebrauch wird von Dauer¬
bädern bei der Behandlung von Unruhigen gemacht,
sodass unser Verbrauch von Narkoticis ein sehr ge¬
ringer ist.
Wenn wir auch officiell zur zellenlosen Behand¬
lung nicht übergegangen sind, so ist doch die Zahl
der wegen Unruhe isolirten Kranken sehr klein, etwa
1—3 in 24 Stunden, trotz der zur Zeit starken Ueber-
füllung der Anstalt.
Da die Isolirbaracken auf der Männer- und
Frauenseite, für ansteckende Krankheiten bestimmt,
bis jetzt glücklicherweise nur einmal für diesen Zweck
Verwendung fanden, als uns aus Gnesen eine kleine
Typhusepidemie eingeschleppt war, so haben wir diese
Baracken vor allem mit schwindsüchtigen Kranken
belegt, für welche sie nach ihrer Bauart besonders
geeignet sind. Eine gedeckte Veranda ermöglicht es,
die durch untergeschobene Räder fahrbar gemachten
Betten, direkt auf die, als Liegehalle dienende Veranda
zu fahren. Beide Baracken, sowie der bei dem Gute
errichtete Pavillon haben Offenthorsystem, somit im
ganzen 9 von 21 Pavillons.
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Original frnm
HARVARD UNIVERSITY
1904.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
In derselben Weise werden die Veranden der
Siechen- und Aufnahmehäuser benützt.
Einzelne Pavillons, die bei dem Bau noch keine
Veranda erhalten hatten, erhielten sie nachträglich,
so dass jetzt alle damit versehen sind.
Von den Fenstergittern, die bei Eröffnung der
Anstalt für die Hälfte aller Kranken vorgesehen
waren, haben wir nach und nach soviele entfernt,
dass zur Zeit von 21 Pavillons nur noch 2 ganz
vergittert sind und 2 andere zur Hälfte. Auch bei
diesen hoffen wir, die Gitter entfernen zu können,
wenn die zur Zeit starke Ueberfüllung mit unruhigen
und fluchtverdächtigen Elementen, insbesondere gei¬
steskranken Zuchthäuslern, durch Eröffnung der neuen
Anstalt in Meseritz gehoben wird.
Ein sogen. Ueberwachungshaus, für geisteskranke
Zuchthäusler bestimmt, ist in Meseritz errichtet.
Da die Fenster der sogen. Nebenräume, Korridore,
Spülküchen, Waschzimmer, Bäder und Closetts nur
einfache Fenster hatten, bei unserer Centralheizung
aber jedes Haus als Ganzes geheizt wird, so haben
wir einen Theil dieser Räume bereits mit Doppel¬
fenstern versehen und weiden die zur Zeit noch
fehlenden anbringen.
Als Abtritte waren bei Eröffnung der Anstalt
überall Wasserclosetts eingerichtet mit selbstthätiger
Spülung bei Niedersitzen und Wiederaufstehen, da
aber bei dem gewählten System häufige Ausbesserungen
nöthig sind, so ersetzen wir die schadhaft gewordenen
durch Tornados und hoffen in 1 *— 2 Jahren damit
zum Abschluss zu kommen.
Da die Closetträume neben den grossen Sälen
belegen sind, so haben wir nach Einführung der Tor¬
nados von der Aufstellung tragbarer Closetts in den
Wach-, Siechen- und Unruhigen-Abtheilungen fast
ganz Abstand nehmen können.
Für die neue Anstalt in Meseritz ist sogar im
Wachsaal der Aufnahmeabtheilung ein Tornado auf¬
gestellt und soll durch einen niedrigen Bettschirm
verdeckt werden.
Die Einrichtung von Wachabtheilungen, die zu
Beginn nur in der Aufnahmeabtheilung eingerichtet
war, machte sich mit der steigenden Krankenzahl
auch in den Pavillons für Sieche und Unruhige nöthig.
Seit einigen Jahren haben wir hierbei Dauer¬
wachen eingeführt, wobei dieselben Pfleger 4 Wochen
hindurch den Nachtdienst übernehmen und bei Tage
dienstfrei sind. Diese Einrichtung hat sich sehr be¬
währt. Wägungen des Personals ergaben, das das¬
selbe nur in der ersten Woche wenig an Gewicht
verlor, während die Meisten in den folgenden Wochen
nicht unerheblich an Gewicht Zunahmen.
Die Kleidung und Kost der Kranken erwies sich
als gut und reichlich, so dass auch eine genaue
wissenschaftliche Prüfung der letzteren auf ihren Ge¬
halt an Eiweiss, Fett und Kohlehydraten durch Dr.
Wickel nur geringe Abänderungen als wi'msrhens-
werth ergab.
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219
Als praktisch erwies sich die Einführung von
Fleischhackmaschinen, durch welche die ganze Kost
(Fleisch, Gemüse, Kartoffeln etc.) für Paralytiker und
dem Verschlucken leicht ausgesetzte Kranke, in einen
gemeinsamen Brei verwandelt wird. Ein dänischer
College machte mich auf diese in seiner Anstalt
eingeführte Bereitung der Paralytikerkost aufmerksam.
Nachdem wir auf dem Gute Einrichtungen ge¬
troffen haben, um alles für die Anstalt erforderliche
Fleisch selbst produciren zu können, haben wir ein
eigenes Schlachthaus eingerichtetund die Fleischkammer
mit einer Kühlanlage nach dem Muster der in Galk-
hausen bestehenden ausgestattet. Neben dem peku¬
niären Vorteil haben wir vor Allem noch den, dass
nur junges ausgesuchtes Vieh geschlachtet wird.
Die Einrichtung einer eigenen Bäckerei wurde
von der Behörde bis jetzt abgelehnt.
Die Krankenpfleger können nach 10 Jahren
definitive Anstellung mit Pensionsberechtigung er¬
halten und ein Pflegerhaus mit 12 Familienwohn¬
ungen, bestehend aus Stube, Kammer und Küche,
sowie besonderem Keller und Dachkammer, ist er¬
baut worden und nahe dabei ein Stallgebäude mit
12 Ställen für 1 Schwein oder eine Ziege. Dazu
gehören für jede Familie 3 A Morgen Land und ein
kleiner Hausgarten. Ein solches Haus mit 12 Wohn¬
ungen ist allerdings als eine Kaserne zu bezeichnen
und war von uns in dieser Form nicht gewünscht.
Da die Wohnungen zum Theil an Handwerkerfamilien
der Anstalt gegeben werden, so ist ihre Anzahl zu
klein und haben wir ihre Vermehrung durch Doppel¬
familienhäuser wiederholt, aber bis jetzt vergeblich,
beantragt. Sie sollen nach dem Muster der in
Meseritz erbauten auch 1 Zimmer enthalten, um 2
bis 3 Kranke in Familienpflege unterzubringen. Wenn
auch bei der geringen Anzahl der Kranken der
Nutzen nur gering ist, so hoffen war dadurch leichter
die Doppelfamilienhäuser zu erlangen. Die Aus¬
dehnung einer Familienpflege auf benachbarte Dörfer
war in Owinsk sowie bisher in Dziekanka wegen
Mangels eines dazu geeigneten Bauernstandes nicht
möglich. Nachdem in unserer Nähe aber verschiedene
Ansiedelungsdörfcr eingerichtet sind, beabsichtigen
wir, dazu Oberzugehen, sobald sich die Verhältnisse
in diesen Ansiedelungsdörfern genügend consolidirt
haben.
Die Anzahl der Aufnahmen beträgt bis jetzt 2083
Kranke, im Jahre 200—250, und der jetzige Bestand
787, was einer Ueberfüllung von rund 130 entspricht.
Diese ist nur dadurch möglich, dass je eine Etage
der Pensionate mit zusammen 30 Plätzen der III.
Klasse belegt ist, während die andern überzähligen
Kranken auf die übrigen Pavillons vertheilt sind.
In einer Reihe derselben (Aufnahme, Sieche und
Unruhige) sind neben dem erforderlichen Tageraum
33—35 cbm Schlafraum vorgesehen, sodass sie eine
stärkere Belegung vertragen, doch soll sie nur bis
zum 1. Oktober dieses Jahres, d. h. bis zur Eröffnung
von Meseritz dauern.
Der Abgang beträgt 120Ö, darunter sind ent¬
lassen als
Original fram
HARVARD UNIVERSUM
220 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 23.
geheilt 287, ungeheilt 298,
gebessert 253, nicht geisteskrank 27,
gestorben 431.
Der Procentsatz der Sterbefälle betrug im letzten
Jahre 5,15, durchschnittlich 4—5% der Verpflegten.
Die Zahl der arbeitenden Kranken beträgt z. Z.
5°°/o-
Wie Sie sehen, sind die Aenderungen in Bau
und Anstalt mannigfach und nicht unerheblich und
ich bin der Ansicht, dass eine grosse Anstalt auch
ein flüssiges Moment enthalten soll, da hier wie über¬
all Stillstand mit Rückgang gleichbedeutend ist, und
bin ich meinen Mitarbeitern, die mich mit Rath und
That dabei unterstützt haben, zu Dank verpflichtet.
(Autoreferat.)
Discussion.
Stoltenhoff -Kortau fragt nach der Verhältniss-
zahl, in w-eicher in Dziekanka Pflegepersonal und
Kranke sind.
Kay s er - Dziekanka: Das Verhältnis ist 1:8.
K r ö m e r - Conradstein: Hat auch einen Versuch
mit der Dauer-Nachtwache in Conradstein gemacht.
Bei den Pflegerinnen fand das Verfahren keinen An¬
klang, so dass damit wieder ausgesetzt wurde. Auf
der Männerseite ging es nicht, weil eine zu grosse
Zahl von Pflegern nöthig war, welche dann am Tage
fehlten. Krömer lässt das Personal jetzt 4 Stunden
vor und 4 Stunden nach der gewöhnlichen Wache
schlafen.
K a y s e r - Dziekanka: In Dziekanka hat sich bei
der Dauer-Nachtwache ein Mangel an Personal im
Tagesdienst nicht ergeben.
K r ö m e r - Conradstein fragt wegen besonderer Be¬
suchszeit.
Kay s e r-Dziekanka: In Dziekanka ist Besuchs¬
zeit mit Ausnahme der Sonn- und Feiertage täglich
von 9—12 und 2—6 Uhr, doch werden im ge¬
gebenen Fall stets Ausnahmen gemacht.
Eine Umfrage in der Versammlung ergiebt, dass
fast durchweg Besuche jederzeit statthaben können
mit Rücksicht auf weite Entfernung der Besucher,
Zugverbindung u. s. w. Wickel-Dziekanka.
— München. Die neue Psychiatrische
Klinik an der Nussbaumstrasse wird am 15. Oktober
1904 als beziehbar durch das Baugeschäft Heilmann
und Littmann dem Staate übergeben; in der neuen
Klinik wird auch der Vorstand derselben, Professor
Dr. Kräpelin, Wohnung nehmen.
— Preussen. (Fürsorge für Geisteskranke.) Im
Interesse einer gesicherten Fürsorge für Geisteskranke
sind vom Minister des Innern die Polizeibehörden an¬
gewiesen worden, dass sie in Fällen, in denen ihnen
ein hilfsbedürftiger gemeingefährlicher Geisteskranker
zugeführt oder ermittelt wird, den vorläufig ver¬
pflichteten Ortsarmenverband zur schleunigen Unter¬
bringung des Kranken in eine geeignete Anstalt auf-
zuforden haben. Diese Aufforderung ist nicht lediglich
mit sicherheitspolizeilichen Massnahmen zu begründen,
sondern es ist dabei vor allen Dingen zu betonen,
dass die Noth wendigkeit der Unterbringung des
Kranken in eine Anstalt wegen seiner Anstaltspflege¬
bedürftigkeit auch in seinem eigenen Interesse und
wegen seiner Hilfsbedürftigkeit zu erfolgen habe.
Referate.
— Zur Prognose und Therapie der
schweren Neurosen. Von H. Oppenheim.
Halle a. S., Verlag von Carl Marhold, 1902. 37 S.
Verfasser zeigt an der Hand von 5 Krankenge¬
schichten , dass auch bei hartnäckigen funktionellen
Neurosen, wie z. B. bei Akinesia algera durch geeig¬
nete Behandlung gute Heilerfolge erzielt werden
können.
— Karl Lange: Sinnesgenüsse und Kunstgenuss.
Beiträge zu einer sensualistischen Kunstlehre. Heraus¬
gegeben von Hans Kurelia. Grenzfragen des Nerven -
und Seelenlebens, XX. Heft. Wiesbaden, Bergmann,
1903 (2 Mk.).
Verdienstlich ist die von Kurelia besorgte Aus¬
gabe der geistvollen Schrift von Karl Lange. So
kühn auch die Ableitung der Physiologie des Ge¬
nusses von den Einflüssen auf die nervösen Leitungs¬
bahnen, auf die chemische Zusammensetzung des Blutes
und auf die mechanischen Cirkulationsverhältnisse an-
muthen mag, ungemein anregend wirkt die Darstellung
der Affecte, Freude, Zorn, Trauer, Bewunderung, Ent¬
täuschung u. s. w., dann der Abwechslung und der
Sympathierverhältnisse in ihrer Bedeutung für die Ge¬
nusserregung. Niemand wird den gedankenreichen
Essay über die Kunst, der die 2. Hälfte der Broschüre
füllt, ohne Gewinn studiren, welchen Standpunkt immer
der Leser auch einnehmen mag. W.
— Freund: Ucber Neurasthenia hyste-
rika und die Hysterie der Frau. Berlin. Simion
IQ04.
Verfasser sucht den von den Neurologen schon
längst verlassenen Standpunkt, nach dem die Hysterie
eine in den weiblichen Genitalorganen örtlich bedingte,
(Parametritis chronica atrophicans) auf dem Reflex¬
wege zu Stande kommende Neurose sei, mit der all¬
gemein geltenden Theorie, dass die Hysterie eine
zentrale psychisch begründete Affection sei, dadurch
in Einklang zu bringen, dass er die These aufstellt,
es würden zwei ganz verschiedene Krankheitsprocesse
mit „Hysterie“ bezeichnet. Ob diese Theorie als eine
befriedigende Lösung der Frage bezeichnet werden
kann, erscheint recht fraglich, im übrigen hat sich
der Verfasser die Beweisführung in sehr glücklicher
Weise dadurch erleichtert, dass er sie als Arbeitsauf¬
gabe anderen Nachuntersuchern überlässt.
Für den rcdactioncllen Theil verantwortlich : Oberarzt IFr. J. Iiresler, Lublinitr (Sch'esien).
Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseratonannahme 3 Tage vor der Ausgal»«*. — Verlag von Carl ’M’arhold in Halle a. S
Ileynemann’sche Buchdruckt?rt*i (Gebr. Wolflh ir- Halle a. S.
□ igitized by Go ole
Original frorn
HARVARD UNIVERSITY
Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift.
Redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Lublinitz (Schienen).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adrene: Marhold Verla«. Hallesaale. Fernsprecher 2834.
Nr. 24. 10. September. 1904.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Erroässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten.
Ein sociales Sondergebilde auf psychopathischer Grundlage.
Berichte und Urtheile
gesammelt von A. Grohmann , Zürich.
(Schluss.)
Details aus dem Berichte eines Gelehrten *) in M.,
der A. schon seit vielen Jahren kennt. A. hat schon
mit 7 Jahren im Elternhaus die Kabala gelesen. —
Die Weissen Brüder sind eine kleine Zahl von
Fakiren im Himmalava. — A.’s Logik ist eine rein
akustische, mit der er schon seit Jahren immer die
gleiche siegreiche suggestive Wirkung auf seine Um¬
gebung au§geübt hat.- Er war schon «mehrmals m
Irrenanstalten, aber immer wieder entlassen, da die
Irrenärzte sich überzeugt haben, dass er nicht geistes¬
krank ist und sie ihn gerne wieder los wurden, da
sie für sich selbst die verwirrende Wirkung seiner
Wortauslegungen fürchteten.
Höherer Beamter, hat vor 3 Jahren A.’s Vor¬
träge angehört. Ist der damaligen Lehre A/s gegen¬
über „etwas sceptisch“ und sagt: A. ist ein hoch¬
gebildeter Mann, der aber zu viel studirt und ge¬
lesen hat.
Eine Ausnahme machte ich bei dem Folgenden.
Ich hatte einem alten Bekannten von mir, einem
Naturarzt in der Nähe von M., brieflich vorgeschlagen,
er möge den Holderhof besuchen, wenn er auf einer
seiner Touren in dessen Nähe käme; auch würde
es mich interessiren, zu erfahren, wie er über A. und
seine Sache urtheile. Darauf schrieb er mir um¬
gehend :
Das Anerbieten einer Million.für Auf¬
nahme in das Bürgerrecht von N. erweckt in mir
den Glauben, dass wir es bei A. nicht mit einem
praktischen Reformer, der irgend einen bestimmten,
nüchternen und realisirbaren Plan verfolgt, zu thun
*) auf dem Gebiete der exacten Naturwissenschaften. Hat
einmal ein Colleg über Psychologie gehört. Seine Mutter ist
Spiritistin.
haben, sondern mit einem religiösen Schwärmer, der
vielleicht gerne ei was Gutes und Grosses schaffen
möchte, ohne dabei auch nur die geringste Spur von
volkswirtschaftlichem Wissen und Können zu ent¬
wickeln. Denn es ist doch völlig unverständlich,
warum A. eine Million für das Bürgerrecht einer als
arm bezeichneten Gemeinde bezahlt, das man sonst
überall 'für- eine- ganz - bülign Gebührensumme be¬
kommen kann, sofern man nur eine ehrliche Haut
ist; das heisst denn doch mit Kanonen nach Spatzen
schiessen. Dazu kommt, dass A. die Million noch
gar nicht hat, sondern erst in Amerika collectiren
muss. Für den Volksfreund ist eine solch unver¬
ständliche und geradezu kindische Verschwendung
umso schmerzlicher, als man damit bei kluger, spar¬
samer Verwendung etwas ganz Werthvolles hätte
schaffen können, z. B. eine ländliche Kolonie für
Tuberkulose oder Trinker, für Nervenkranke, kurz
alle jene, denen das Stadtleben einen langsamen,
aber sichern Tod bereitet. Dazu bedarf es aber
einer sorgfältigen Organisation und enormen Arbeit.
Von alle dem höre ich bei A. nichts. Darum hat
sein Auftreten für mich kein Interesse und ich sehe
nicht ein, warum ich ihn besuchen soll.
Redakteur Sonnenfels. — Zur Zeit seines Be¬
suches bei mir, war er daran, eine communistische
Gesellschaft zu gründen. Dieser Sache galt sein Be¬
such bei mir, bei welcher Gelegenheit ich erfuhr,
dass er A. kenne. Er berichtet:
A. hatte mich aufgesucht, um mich für seine
Sache zu gewinnen. Er kam aufgeregt auf mich zu,
schüttelt mir die Hand und frägt wie in freudiger
Erwartung: Merken Sie nichts? Nein, sage ich, ich
merke nichts. Gar nichts? Nein, absolut gar nichts!
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222 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 24.
Als ich bald darauf zu einem Vortrag nach M.
gekommen war, folgte ich der Einladung A.’s und
besuchte ihn in N. Nachdem ich ihn eine Ansprache
an seine Gesellschaft hatte halten hören, wollte ich
mir die Erlaubniss erbitten, den Anwesenden meinen
Standpunkt auseinandersetzen zu dürfen. Es wurde
mir aber unter grosser Aufregung bedeutet, dass dies
nicht angehe.
Ich: Was halten Sie von seiner Lehre? Er: Von
dem, was ich selber mit eigenen Ohren gehört habe,
hat nichts einen Sinn gehabt. Ich: Damit wir bei
der Beurtheilung A.’s auf gleicher Basis stehen, hören
Sie, was er in N. in meiner Gegenwart seiner Ge¬
sellschaft gesagt hat: (citire Satz V.) Was halten
Sie davon? Er: Ganz ähnliches hat er auch vor
mir ausgesprochen. Es hat gar keinen Sinn. Ich:
Und die Symbole an den Wänden? Er: Ja, diese
zwei Kreuze und das Herz mit dem Auge, alle
diese Dinge im Esssal, — nun die haben doch eben¬
sowenig einen Sinn. *)
*) Aber auch in Dingen des Weltuntergangs stimmen
die Ansichten von A. und von Sonnenfels nicht überein. Das
lehrt ein Vortrag Sonnenfels’ in M., den ich selber angehört
habe. Er wurde in einem grossen öffentlichen Lokal gehalten
und die Einladung hierzu im Lokalblatt hatte gelautet: „Be¬
vorstehende Ausscheidung eines zweiten Erd-Mondes und in¬
folgedessen: Untergang der Erdmenschen bis auf einen kleinen
Rest.“ Der Text ist bald in Sonnenfels eigenem Blatte, das
den Untertitel „Organ des Seclenbundes“ führt, erschienen.
Ein Stück davon lautet:
Ich könnte auch das Datum der Geburt des zweiten
Erdmondes angeben, beschränke mich aber hier auf die Fest¬
stellung, dass der grösste Theil der gegenwärtig existierenden
Erdenmenschen Zeugen der grössten Erdkatastrophe sein wird.
Weiter soll bezüglich der veränderten Gestalt und Stellung
der Erde zur Sonne und dem „erstgeborenen“ Kinde, dem
Mond, bekannt gegeben werden, dass die grössten und höchsten
Gebirgsketten ein mehr ebenes Trümmerfeld und infolge der
UeberHutungen des Indischen Ozeans, den Charakter von
Inseln erhalten werden, während durch die Verrückung der
Erdachse ein neuer Kontinent das grosse Centrum des Ozean-
Beckens einnehmen wird. Die Binnenländer am Atlantischen
Ozean mit den Inseln werden desgleichen ein Chaos von
Seen und Inseln bilden. Es wird mehrere Jahrhunderte
brauchen, bis der dichte Nebel sich verzogen hat, der auf den
Gegenden des heutigen Asien und Amerika und Theilen von
Afrika infolge der Katastrophe sich senken wird.
Durch die schon erwähnte Schleuderung aus der alten Erd¬
bahn wird unser Planet in eine nahezu senkrechte Stellung
zu jener gebracht und infolge dessen die Einwiikung der
Sonnenstrahlen für nicht unbeträchtliche Strecken erheblich ab-
gesclnväckt. Die heutigen Aequatorial- und subtropischen Ge¬
genden sinken auf das Temperatur-Niveau desjenigen Gürtels
hetab, der zwischen dem 46. und 60 Breitegrad (nördlich und
südlich vom Aequator) sich erstreckt, während unsere heutigen
Breiten ein subtropisches und die Polargegenden ein tropisches
Klima haben werden.
Ueber die Vorgeschichte des Unternehmens im
Holderhofe erfuhr ich bei einem zweiten kurzen Be¬
suche folgendes von R., dem Generalbevollmächtigten
des A.
Nach ihm baut sich die Geschichte des Unter¬
nehmens auf zwei Dinge auf: auf einem Buche, das
er mir zur Einsicht übergab und auf einem spiri¬
tistischen Zirkel, der jahrelang in P. bestand.
Das Buch, ungefähr 700 Seiten Grossoctav, führt
einen merkwürdigen Titel, sodann als Untertitel die
Worte „Geistes-Ehe“, das Motto: „Nur das höchste
Ideal auch am vollsten real! — Dem Ewigen ge¬
weiht“, und eine Jahreszahl, nach welcher es unge¬
fähr 12 Jahre vor dem Erscheinen der ersten An¬
siedler in N. erschienen sein muss. Das Buch trägt
keinen Autornamen. Als Verfasser nannte mir R.
den Vater des A. Ein allgemeiner Theil bringt die
mit allen Hülfsmitteln moderner Wissenschaft aufge¬
baute Theorie. Als Beispiel führe ich etwas Mathe¬
matisches an: „Doch gehen wir einen Schritt weiter,
betrachten wir die anorganischen und organischen Er¬
scheinungen nur als einfache und complicirtere Be-
wegungsproces.se der ponderabeln und imponderabcln
Moleculargruppirung, von denen bei den Organismen
uns wieder die zwei grossen Sphären der vegetativen
und animalischen Bewegungscomplexe, jener de:
Pflanzen und Thiere entgegentreten, so wird, wenn
wir eine Analogie wollen, die anorganische Beweg¬
ung mit der graden Linie und den Curven des
zweiten Grades in Entsprechung stehen (Ellipse, Pa¬
rabel und Hyperbel-kosmische und tellurische Gravi¬
tationsbewegung) , die vegetative mit den Curven
höherer Grade (z. B. der Kyssoide, Epheulinie —
der Cordoide, Herzlinie, dessen Gleichung 4r [xv 2
+ x 3 -f- ry 2 ] = [x 2 4- y 2 ] 2 etc.), die animalische
mit den transccndenten Curven (deren Gleichung al¬
gebraisch nicht zu lösen — Cycloidc, Spirale etc.).
Die Behandlung der Theorie vom Standpunkte
der Bibelwissenschaft ist eine besonders ausführliche.
Hier kommt auch eine Bemerkung, die sich auf A.
bezieht: „Die ganze Bibel wird gegenwärtig in obiger
Weise nach dem angegebenen organischen Prineip
von des Verfassers ältestem Sohne übersetzt und sind
schon einzelne Theile, wie Propheten, Psalmen etc.
v« »llendet.“
Und nun das Verhältnis der zusammengeschrumpften Erde
zu ihren beiden Kindern: Mond Nr. 1 und Mond Nr. 2. Nr. 1
ist der Erde um einige Tausend Kilometer näher gekommen,
während der „feurige“ Jüngstgeborene so ein halbes Milliön¬
chen Kilometer hoch sich empor geschwungen und in jenen Höhen
von der „Mama“ festgehalten wird, um sie in der Folge all¬
nächtlich „schief“ zu beleuchten.“
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19 ° 4 -]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Nach dem theoretischen Theil kommt eine Ueber-
sicht über Heroen der Weltgeschichte, deren Ansichten
dem Verfasser des Buches von Bedeutung sind.
Swedenborg wird besonders ausführlich behandelt.
In einem folgenden Theile werden praktische Fragen
behandelt, die für das Wohl des Einzelnen wichtig
sind. Aus diesem Theile entnehme ich folgendes,
das sich auf den Verfasser des Buches bezieht: „In
seiner Jugend widmete er, durch der Studien gün¬
stige Verhältnisse, drei Jahre der Mathematik und
den Naturwissenschaften (arbeitete ein Jahr in che¬
mischen Laboratorien), dann drei Jahre der Philo¬
sophie und drei der Theologie. Und zwar war sein
Studierzimmer seine Welt. Abgeschlossen von allem
gesellschaftlichen Verkehr, lebte er nur dem Dienste
der Wahrheit und strenger Geistesarbeit. Während
der naturwissenschaftlichen Studien war sein Stand¬
punkt der skeptische. Da zog er sich durch zu
grosse Anstrengung eine heftige Gehirnentzündung
zu. Trotz der besten allopathischen Hülfe“ etc. (es
kommt nun eine lange Krankheitsgeschichte). ^End¬
lich rief ihm sein neuer Arzt, ein christlicher Theist:
„Beten Sie!“ Nach langen Zweifeln, die sich hieran,
für ihn, den Skeptiker, anschlossen, ward ihm eine
Erleuchtung von oben: „Ein Strahl des ewigen Lichtes
erhellte das Dunkel und fest, unerschütterlich fest,
gegenüber denen alle bisherige Sinneskenntniss nur
ein schwankendes, schwindendes Nichts, erfüllte die
Empfindung das ganze endliche Bewusstsein : Ich
bin, Ich der Unendliche, und du bist nicht, du nur
die endliche Schranke, das arme Schattenbild meines
lebendigen Seins! Die Wurzel des Lebens war ge¬
funden und der lebendige Contact im innen) Gebet
mit dem Absoluten hergestellt.“
Endlich der Aufruf zur Gründung eines ,Welt-
b u n d e s der Huinanitas*.
Es folgen dann Gedichte und eine Fussnote:
„Man kann es an maassend finden, wenn Verfasser
hier auch noch kleine Beiträge seiner Kinder bietet.
Die organische Ehe und Familie wird aber erst durch
Mann, Weib und Kind gebildet, die nur so die Reali-
sirung des Lebens in seinem Grundbegriff erschöpft,
auch dürfte eine nähere Betrachtung der einzelnen
Relationen von psychologischem Interesse sein. Der
erste Beitrag ist eine Bibelübcrsetztingsprobe des
Aeltesten, die drei mittleren Gefühle und Phantasien
seiner Schwestern, und der Schluss ist von dem
jüngeren Bruder.“
R.: Dieses Buch zeigt die theoretische Ilcrleitung
für das, was jetzt A. praktisch unternimmt. Der
Vater hat nur die Theorie gege^jj, dein Coline
223
kommt die viel schwierigere praktische Ausführung
zu.
Sodann berichtet R.: In den Jahren 1874 bis
1885 bestand in P. ein spiritistischer Zirkel, in
welchem sich ein Schneider, sowie ein Gärtner L.
und eine Frau U., die letztere als Medium, hervor*
thaten. Unter den medial gewonnenen Kundgeb¬
ungen aus diesem Kreise kamen auch genaue An¬
gaben über den Ort in Italien, wo durch Bohrungen
Petroleum zu gewinnen sei. Diese Bohrungen wurden
in Angriff genommen, mit grossen Kosten, circa 200
Franken per Tag, die lange fortgesetzt, aber ohne
Ergebniss verliefen. Sodann ging man an den Bau
eines Humanitas-Tempels in P., auf dem Grundstück
des Gärtners L. Später wurde der Bau aufgegeben.
Die untern Mauern, die 30000 Mark gekostet haben,
sind dort noch zu sehen, in unmittelbarer Nähe der
Villa des Königs von.. der sich dort oft
aufhielt und zu den Theilnehmem des spiritistischen
Zirkels gehörte. *) Der König hat sich so auf media¬
lem Wege manche politischen Aufschlüsse und Prophe¬
zeiungen geholt. Gärtner L. arbeitete mit dem Me¬
dium Frau U. und war Leiter für viele solche An¬
gelegenheiten , für die er ein grosses Geschick und
Berühmtheit hatte. Schon Napoleon III. hatte er in
dieser Weise gedient. Sogar sein eigenes Todesdatum
hat er vorausgesagt, auf den Tag genau. In diesem
Kreise war es, wo er A. kennen gelernt. Der Ein¬
druck, den dieser Mann auf ihn gemacht habe, sei
derart gewaltig gewesen, dass er sofort gewusst habe,
dass er es sein werde, dem er sein Leben zu wid¬
men habe. Seine Anfangs voreingenommene Frau
habe auch nur einer einzigen Begegnung mit A. be¬
durft, um gleicher Ansicht zu werden. Darauf habe
er — als Rittmeister — seinen Abschied vom Militär
genommen. Dann sei vor 4 Jahren in einem früheren
Bischofssitze, nicht weit von P., ein Weltkongress
von 71 > Mitgliedern der Humanitas aus allen Thcilcn
Europas abgehalten worden. Hier fand eine Spalt¬
ung statt: A., R. und 2 Mitglieder der Familie der
Frau U. neben Andern auf der einen, Frau U. und
ein Tlieil ihrer Familie neben andern Personen auf
der andern Seite. — Diese letzteren haben sich vor
wenigen Monaten in einem kleinen Dorfe wenige
Stunden nördlich von N. niedergelassen und ent¬
wickeln dort ihre Humanitas weiter. — Die ersten
grösseren Mittel, die dem A. für die Installirung
seiner Humanitas zur Verfügung gestellt wunden, sind
von einem Baron von Hofreiter bezahlt worden.
*1 Vieles von den hier notirten positiven Angaben ist mir
schriftlich von der Ortsbehürde bestätigt worden.
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224
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 24.
Dass die Mittel von diesem kommen würden, hat A.
vorausgesagt, gestützt auf die Herleitung: „Innerer
Vorhof der Humanitas“ und Hof reit er. Er, R.,
sei dann vor 3V2 Jahren von A. nach N. gesandt
worden, um mit den Vorarbeiten, Haus- und Land¬
käufen etc. in N. zu beginnen. Während dieser
Zeit habe A. gelegentlich dort nachgesehen und 2
Jahre später habe er sich mit seiner aus Amerika
herübergeholten Familie ebenfalls in N. niederge¬
lassen. Seit diesem Zeitpunkt sei alles mit Riesen¬
schritten der Entwicklung entgegengeeilt. Aus ganz
Europa seien Menschen mit dem Verständniss für
die Humanitas herangekommen.*) Neben manchen
Unbrauchbaren seien es gewaltige Naturen und Men¬
schen von grosser Kraft gewesen, die R. so kennen
gelernt habe. Unter seinen vielen Schilderungen
während eines ganzen Nachmittags ziehe ich nur
einige hier heran. Ein Mann sei da zum Holderhof
gekommen und habe hier länger verweilt, der täglich
die gefährlichsten Willensübungen vorgenommen habe.
Bei seinem concentrirten Anblicken und Anwünschen
sei man da täglich in grosser Gefahr gestanden. Er
sei froh gewesen, dass der Herr nach einigen Wochen
weggereist sei. Ein Anderer hätte bei Gelegenheit
eines Vorwurfes erklärt, er brauche nicht speciell
irgend Gutes zu thun, da er jeden Abend vor zu
Bette gehen mit erhobenen Händen die ganze Welt
segne. Auch unangenehme Gäste seien schon ge¬
kommen und mehrere von ihnen habe A. oder R.
mit der Hundepeitsche wegjagen müssen.
Dann erzählte R. mir von der riesigen Zahl von
Bettelbriefen aus allen Theilen Europas, die an A.
einliefen und die R. alle besorgen müsse. Einige
las er mir vor. Die grösste Summe, um die A. an¬
gebettelt worden, sei 50000 Mark gewesen.
Unsere Unterhaltung kam auf die persönlichen
Eigenschaften des A. Als dieser einmal das Buch
eines gewissen Jacob Lorber gelesen hatte, seien im
Garten zwei Lorbeerbäume umgefallen.
Am nächsten Morgen schloss ich mich bei einem
Rundgang des R. in den ausgedehnten Ländereien
der Gesellschaft an. Er zeigte mir die Stellen, wo
die Tempel errichtet werden sollen, wobei er die
Zeitungsnachrichten sowie die Angaben, die mir bei
meinem ersten Besuche von einem weniger gut In-
formirten gemacht worden, berichtigte. Nicht einer,
oder 3, sondern alle 7 Tempel, deren Zeichnungen
ich gesehen zu haben ihm mittheilte, sollen errichtet
werden. Die 7 Tempel sollen so vertheilt werden:
*) Dass A. sehr viele aufsuchte und ein lud, hat R.
mir nicht berichtet.
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Der eine, der von Wasser umgeben sein müsse
werde unten am Strand erbaut werden, wo sie auch
schon Land gekauft hätten. 5 andere kommen auf
Land der Gesellschaft zu stehen. Eine horizontal
angelegte breite Strasse mit 2 grossen eisernen Brücken
über die 2 Bäche werde vom Holderhof hinüber zur
östlich gelegenen, etwa 1 km entfernten Felsenpartie
führen. Am Ende dieser Strasse komme der Tempel
des Lucifer zu stehen. Westlich vom Holderhof,
auf einem Felsen, komme der „Tempel ohne Thor“,
und zwar auf Boden der Gemeinde. Auf meine Frage
nach der Möglichkeit des Hineinkommens erklärte mir
R.: Für die Aussen weit soll der Tempel nur ein
Symbol sein. Die vom innem Zirkel werden durch
einen geheimen unterirdischen Gang hineinkommen.
Wir kamen in eines der Fischerhäuser, die für
die Gesellschaft umgebaut wurden. Die Fussböden
wurden herausgenommen und durch neue in erhöhter
Lage ersetzt. (Die Häuser in N. haben sehr niedrige
Stockwerke.) Die Folge war, dass auch Fenster,
Thüren, Baikone höher zu legen, hier zu entfernen
und zu verdecken, dort neu einzuschneiden waren.
Dies zusammen mit Treppen- und OefenVersetzungen
ergab die Lösung eines sehr interessanten Problems
auf dem Gebiete der Architekturumwandlungsmöglich¬
keiten. In einem der Zimmer nagelten zwei Hand¬
werker Holzgetäfel auf eine alte Holzwand. Ich frug
R., ob er nicht befürchte, Ungeziefer aus den alten
Theilen mit in den Kauf zu nehmen. Ja, hiess es,
auch in dem Haus, das ich mit meiner Familie be¬
wohne, hatten wir anfangs sehr viele Wanzen. Wir
haben uns so beholfen, dass wir eine 3 fache Lage
Makulatur aufklebten. Doch es lag nicht an dem :
die Wanzen wären auch ohnehin weggezogen, wegen
des Geistes, den wir ins Haus gebracht haben. Nach
diesen Worten hatten wir die beiden Handwerker
verlassen. Vielleicht, setzte R. jetzt die Aufklär¬
ung fort, kommt das davon: Die Wanzen sind Un¬
geziefer; das kommt von Ziffer. Ich: Verstehen Sie
diesen Zusammenhang? Er: Nein. Da fragen Sie
am besten Herrn A. Er kann Ihnen das erklären.
Uebrigens, wenn uns vorhin die Leute haben reden
hören, so werden sie sich denken, das sei ein Un¬
sinn, den ich da ausgesprochen habe, aber es ver¬
gehen keine 4 oder 5 Jahre, so sind sie in Allem
auf unserer Seite.
Als den Zweck dieses Hauses gab mir R. an:
Es ist für die Familie des Dr. Sachterer, die näch¬
stens kommt. Das Haus und ein daneben zu er¬
bauendes Gesellschaftshaus soll eine Art vegetarisches
Sanatorium und Unterkunftshaus für kürzer Verweilende
bilden. Die bisherige Art, für diese Personen zu
Original from
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i9°4-]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
225
sorgen,- nimmt mir zu viel Zeit weg, die ich für
wichtigere Dinge benöthige. Ich: Also wohl ein
Hotel? Er: Nein. Wenigstens nicht ganz. Wir
nehmen nicht Geld an, wie Hotelwirthe. Ich: Wie
soll dann die Entschädigung für das Genossene er¬
folgen ? Er: Jetzt ist das noch nicht festgesetzt. Das
überlassen wir getrost der Zukunft. A. wird auch
hier das Richtige finden.
Bei einer anderen Gelegenheit. Ich: Redakteur
Sonnenfels war ja kürzlich bei Ihnen. Weshalb hat
denn A. diesen Herrn cingeladen, sich ihm hier an-
zuschliessen ? R.: Es lag ihm nur daran, dass der
Name Sonnenfels hier bei uns vertreten sei. *)
Später: „Dass wir überhaupt nicht zu sterben
brauchen, wenn wir nicht wollen“, erfuhr ich auch
von R. Ich versäumte es leider, mir die Bestätigung
zu holen, dass er dies von A. habe.
Später. R.: Die Tempel, das haben wir dem
Gemeinderath gesagt, die bauen wir nur, wenn sich
das Fischervolk gut aufführt. 7 Stück sollen es
werden. Und was wir anfangen, wollen wir gut
durchführen. Das Stück dürfte so auf 20 Millionen
kommen. Auf meine Frage nach der Eisenbahn, von
der die Zeitungen berichtet hatten, gab er mir die
Linie an. Uebrigens brauchen wir die schon, um
das schwere ausländische Baumaterial für die Tempel
herzuschaffen.
Später: Der Gemeinderath von N. hatte uns zu¬
erst eine andere Verwendung für die Million vorge¬
schlagen : Deichbau und Küstenschutz u. dgl. Davon
hätten aber manche, die weiter drin im Lande wohnen,
keinen Vortheil gehabt und so wollten sie eine andere
Theilungsart. Die vorgeschlagene Aenderung war
uns auch recht.
Später: Wir bilden hier den Kessel, von dem
aus die Funken sprühen und den unbewussten Weg¬
weiser. (Später haben mir mehrere der andern
Herren des Holderhofes ohne mein Fragen von
diesem Kessel berichtet.)
Später: Von einer kurz vorher in den Zeitungen
breitgetretenen Hofscandalgeschichte berichtete mir
R.: A. hat diese Sache erledigt und zur Ruhe ge¬
bracht. Ich: Wie? R.: A. entwickelte uns seine
Ansichten über die Sache und 2 Tage später berich-
*) Später erfuhr ich, dass wenige Tage nach dem Besuche
von Sonnenfels bei A. und dessen vergeblichen Bemühen,
Sonnenfels für die Gesellschaft des Holderhofes zu gewinnen
(siehe oben), A. nach M. gereist war und einem gewissen
Sonnenbach den gleichen Antrag gemacht hatte, wie vorher
dem Redakteur Sounenfels. Dies erfuhr ich aus dem Munde
von Sonnenbach selbst.
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teten die Zeitungen, dass., upd so war die
Sache zu Ende.
Auf meine Erkundigung nach dem Bildhauer D.,
den ich bei meinem zweiten Besuche vermisste, be¬
richtete mir R.: Sie werden ihn morgen sehen. Er
hat seine Familie nach M. gebracht. Es ging nicht
mehr mit seiner Frau, die absolut kein Verständniss
hatte für unsere Gütergemeinschaft, und mit ihrer
Familie eine eigene kleine Insel hier bilden wollte, ge¬
sellschaftlich und ökonomisch losgetrennt von uns. Wir
erklärten dem D.: Für dich giebt es nur die Wahl
zwischen folgenden 3 Dingen: Entweder du gehst
weg mit deiner Familie. Oder du bleibst bei uns,
bringst aber die Familie in einem andern Orte unter,
oder endlich, du zwingst deine Frau, mit uns zu
halten. Er hat seine Familie nach M. gebracht und
dort für sie Wohnung genommen.
Nach dem Eintreffen des D. am nächsten Tage
erhielt er vor der versammelten Tischgesellschaft und
mir, dem Fremden, einen Verweis von R., wegen
seines Zauderns in der Angelegenheit der Trennung
von der Familie. Unter Anführung von Bibelstellen
wurde ihm sein Verhalten als Schwäche vorgeworfen.
Darauf D.: Er habe sich ja von der Familie getrennt,
ct hoffe j man werde ihm das anrechnen. Weg¬
werfenden Tones erklärte R.: Das hast du doch für
dich gethan und nicht für uns. Tags darauf erhielt
er vor der versammelten Gesellschaft beim Abend¬
essen vom zurückgekehrten A. einen Verweis. Beim
Versuch einer Entgegnung wurde er durch nur wenige
Worte und Geberden von A. zum Schweigen gebracht.
(Weiter unten wird der Leser erfahren, was für einen
Ausgang D.’s Genossenschaft nahm.)
Mit dem Doctor der Theologie, den ich bei meinem
ersten Besuch getroffen, hatte ich diesmal eine kurze
Unterhaltung. Er theilte mir mit, dass er jetzt nicht
mehr als Koch *) thätig sei, sondern als „Mädchen
für Alles“ in der Familie R. Er rühmte den Holder¬
hof als den Ort, wo ein Jeder durch Selbsterniedrig¬
ung in der dem Menschen so wohlthätigen Selbst¬
zucht geübt werde. Früher habe er grosse innere
Anfechtungen erlitten. Ist jetzt unbesorgt um die
Zukunft; hat sich durchgerungen.
Der von einer 12 tägigen Reise über ungefähr
2000 km Bahnfahrt zurückgekehrte A. während des
Abendessens: Die Namen der zwei Herren, die mich
am Bahnhof in München erwarteten, sind hochbe¬
deutungsvoll : I leizmann und Sachterer: Heizmann
wird ein Meister sein im Heizen des Feuers unter
*) Diese Bezeichnung war ein Euphemismus: Gemüse¬
putzen und Geschirrwaschen war seine Aufgabe gewesen.
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226 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE^WOCHENSCHRIFT. [Nr. 24.
unserm Kessel, und Sachterer wird die Dinge sachte
anzufassen wissen. Auch hier wieder: Der Gegen¬
satz! Das All im Einen!
(Die beiden Herren Heizmann und Sachterer
waren berufen, eine hervorragende Rolle in der ferne¬
ren Entwicklung der Gesellschaft des Holderhofes zu
spielen: Dr. med. Sachterer und seine Familie soll¬
ten das vorhin erwähnte Sanatorium und Hotel ohne
Bezahlung führen, Heizmann dagegen — mein Leser
hat (oben) einen Auszug seines Aufsatzes gelesen
— hatte sich nach Mittheilungen R.’s als Genosse
der Holderer angemeldet und seine Aufnahme ist
ihm zugesagt worden. Er soll als Publizist der Sache
dienen. R. sagte mir: Von Allen, die bis jetzt über
unsere Sache geschrieben haben, ist er der Einzige,
der sie erfasst hat.)
Mit dem Bildhauer D. hatte ich in seinem Atelier
in N. eine Unterhaltung. Ich: Viele behaupten, A.
mache das Wetter. D.: Es dürfte dies nicht der
richtige Ausdruck sein. Nicht „er macht das Wetter“,
sondern: die äusseren Naturereignisse laufen parallel
und in Harmonie mit den Ereignissen im Holderhof,
was ich selbst stets beobachtet habe.
Später: Ich möchte nicht so weit gehen, wie A.,
der die sämmtlichen im Tagesverkehr vorkommenden
Zahlen als nothwendigerweise bedeutungsvoll für unser
Schicksal ansieht: z. B. die Zahl der Stühle in einem
Zimmer, oder wie gestern Abends: die Quersumme
der Zahl auf seinem Eisenbahnbillet Aber natür¬
lich: einen Zufall giebt es nicht. Die richtigen Be¬
ziehungen zwischen allen Zahlen und den Ereignissen
herauszufinden, ist oft unmöglich. Jedenfalls ist aber
A. mit seinem riesig schnellen, blitzartigen Denken
und Empfinden uns Andern voraus im Erkennen
alles Gesetzmässigen. Ich: Ein höherer Beamter in
M. hat mir gesagt: es sei ihm gesagt worden, dass
A. das viele Geld, das er hier ausgiebt, von Roth¬
schild bekomme. D.: So, ist ihm dies gesagt worden ?
Ich hatte A. so verstanden, als ob er das Geld von
Rothschild noch erwarte.
Gespräch mit einem der anderen Herren vom
Holderhof, einem Schlosser aus Schleswig-Holstein,
der viele Philosophen gelesen hat. Ich: Sehen Sie
nur, bitte, hier hinaus! Was für ein schönes Wetter!
Gestern Abend ist Herr A. bei Regenwetter ange-
koramen, und heute dieses Prachtwetter! Er (mit
freudigem Erstaunen): Ach ja! Es muss wohl
auch so sein. Als A. abreiste, kam sofort schlechtes
Wetter.
Später: Ich bin von jeher für die Erkenntniss-
theorie gewesen. A. spricht mir nur zu schnelle.
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Ich komme nicht leicht nach, aber es wird schon
besser kommen. Ich verstehe fast alles, was er sagt,
aber eben doch nicht alles. Nächstens mache ich
nach Algier, wie die andern Herren*), aber darnach
mache ich schnell auch noch nach Aegypten. Nach
etwa 3 Wochen werde ich zurück sein, dann wird es
wohl besser gehen mit dem Verstehen.
Interview mit dem Herrn Schullehrer von N.
Ich: Was ist Ihre Ansicht über die Gesellschaft vom
Holderhofe ? Er: Dass sie eine Sekte seien, wie die
Zeitungen berichtet haben, glaube ich nicht Mich
dünkt, es seien Leute, die sich als Künstler zu be-
thätigen wünschen**), die Kritik scheuen und sich
deshalb in diese Einsamkeit zurückgezogen haben.
Es ist ein Irrthum unserer Fischer und Bauern, wenn
sie meinen, dass die Leute vom Holderhof hierher¬
gekommen seien, um den Boden zu vertheuern. —
Im Uebrigen sind es rechte Leute.
Bei der Fortsetzung meines Spazierganges im
Dorfe N. wurde mir allgemein die Gesellschaft vom
Holderhof gerühmt Z. B. habe A. eine Geldsumme
(= 1450 M.) geschenkt für den Ankauf von Schul¬
bänken , und viele andere Aufmerksamkeiten habe
er der Gemeinde und Einzelnen erwiesen. Die Leute
vom Holderhof seien manirlich, friedliebend, verläss¬
lich, höflich etc. etc. und keinen bessern neuen Mit¬
bürger könnten sie sich wünschen als A. und alle
seine Leute seien ihnen recht. Kurz, sehr viel Lob
hörte ich.
Wirth in S., einem Orte unweit von N.: A. sagt,
Kaiser und Könige werden zu ihm kommen.
Im Lauf einer Unterhaltung mit der Frau des
Wirthes, fällt das Wort Religion. Plötzlich ertönt ein
donnerartiger Ausbruch knapp neben mir: einer jener
Flüche von der kräftigsten Sorte — wie sie A. so
sehr verabscheuen soll — aus dem Munde eines
grossen kräftigen Mannes mit dem „Südwester“ auf
dem Kopfe, eines alkoholisch angeheiterten Fischers
aus N. „Das ginge uns nichts an“, so lautete das
*) Was es für eine Bewandtniss hatte mit der Reise von
2 jüngern Mitgliedern des Holderhofes nach Algier, jeder ftir
sich und auf nur wenige Tage, kurz vor meinem 2. Besuche,
habe ich nicht mehr ermitteln können.
**) Dies kann sich nur auf folgendes beziehen: Die Ge¬
sellschaft vom Holderhof hatte eine Villa im benachbarten S.
gekauft, und A. liess im Garten dieser Villa eine Anzahl
Statuen in Cementguss aufstellen, minderwerthige Waare, die
aber für A. wichtig sind als Dinge mit symbolischer Bedeut¬
ung. Auch auf den Ländereien des Holderhofes waren solche
Sculpturen angebracht, darunter besonders bemerkbar, weil an
der Frontraauer des wichtigsten Gesellschaftshauses knapp an
der Landstrasse: ein Marienbildniss und die Statue eines Natio¬
nalhelden.
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1004.]
Commentar zum Fluche, „was die Leute im Holder¬
hof für eine Religion hätten; die Million kommt!“
Geistlicher: Hat bei A. in N. 2 Tage gewohnt
und ihn mehrmals reden gehört. Urtheil: Interessant
aber verworren. Sodann: Schade, dass Heizmann
sich dieser Sache anschliesst; er ist ein klarer Kopf
und ein besonders tüchtiger Mensch.
Frühere Genossin des Holderhofes: Ich und mein
Mann waren im Holderhof bei A. Mein Mann hat
geschreinert und ich habe Zimmer aufgeräumt und
Stiefel geputzt. Wir sind weg, weil A. zu viel regieren
will. Auch die Familie K.*) ging mit uns fort; sie
haben dort sehr viel zu erdulden gehabt. Ich: Was
ist ihnen denn geschehen? Die Frau: A. sagte zu
Herrn K.: Deine Ehe ist ungültig, denn eine zweite
Ehe ist niemals gültig. Sie ist eine Sünde. Du
musst dich von deiner Frau trennen und zu deiner
ersten Frau zurück: Reise nach Stuttgart und suche
die Versöhnung mit deiner ersten Frau zu erlangen
und lebe weiter in der Ehe mit ihr. Ich: Was hat
denn die zweite Frau K. dazu gesagt? Die Frau:
Die Frau K., weil sie eine aufrichtige Seele ist, hat
geglaubt, dass A. Recht hat und dass er in die Zu¬
kunft blicke und sehe, was da kommen müsse. Da¬
rauf ist Herr K. nach Stuttgart gereist und dazu hat
ihm A. 100 M. gegeben. In Stuttgart hat er seine
erste Frau wieder aussöhnen und zu einer neuen
Verbindung bewegen wollen. Doch sie sagte: Daraus
wird nichts. Ich bin von dir geschieden. Gehe du
nur zurück zu deiner zweiten Frau; sie ist deine
Frau jetzt. Darauf hat nun A., als der Herr K.
zurückgekommen war, von ihm verlangt, dass er die
100 M. zurückzahlen muss. Aber der Herr K. hatte
kein Geld, schon von Anfang an nicht. Wie konnte
er es dann dem A. zurückzahlen? Der A. kann
sehr gut sein, aber auch schlimm. Er will der Welt
helfen. Das ist wahr. Aber er will gar zu sehr
seinen eigenen Willen. Von mir hat er verlangt,
dass ich in ein anderes Haus einziehe, weiter oben
vom grossen Holderhofe, zur Herstellung der Har¬
monie. Doch ich wollte nicht gehen und das habe
ich auch dem A. gesagt: Das ist nicht möglich; die
Harmonie ist nur bei den Reichen möglich, nicht
bei uns, die wir arm sind.
Geistlicher an einem andern Orte, der A. niemals
hatte reden hören, aber dessen ganze Sache von An¬
fang an knapp beobachtet hat: A. kommt mir vor
wie Mohamed, genau so.
Ich wollte erfahren, wie sich w f ohl A. verhalten
werde, wenn ich ihm meinen Entschluss, über ihn
•) Von der der Leier schon gehört hat.
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und seine Gesellschaft zu publiziren, inittheilen w’ürde.
In einer Beilage zu einem Briefe an ihn, gab ich
ihm meine Notizen über R.’s Mittheilungen und
meine Auszüge aus dem Buche seines Vaters an.
Ich erhielt folgende Antwort:
Werther Herr Grohmann!
Ich ersuche Sie in Ihrem besten Interesse wie
Dem Der Wahrheit in Keiner Weise über uns und
Die Sache, die wir verkörpern, etwas zu schreiben,
wenn es Zeit ist, wird dies von berufener Seite aus
geschehen. Gestatten Sie mir, Ihnen zu sagen, dass
Ihre „Beilage“ uns beweist, dass Sie von Dem, was
uns so einzig Alles in Allem ist, noch keine rechte
Ahnung haben und haben können, — doch mag es
einmal anders sein!
Mit aufrichtigem Gruss A.
Kunstschriftsteller, der 2 bis 3 Monate der Ge¬
sellschaft des Holderhofes angehört hatte. — Er er¬
klärt, dass er nach N. gekommen sei, um, mit D.
zusammen, Antheil am Bau der Tempel zu haben.
Diese seien ihm eine heilige Sache und seine Hin¬
gabe und Begeisterung für sie sei so, dass er sich,
wenn nöthig, als Erster begeistert in die Fundamente
eines der Tempel einmauem lassen würde. Ich:
Was halten Sie von folgendem Satze des A. (citire
Satz II). Er: Das ist weiter nichts wie eine dilet¬
tantisch-philologische Spitzfindigkeit.
Seinen Standpunkt gegenüber der Sache des A.
im Allgemeinen präcisirt er so: Ich habe die Ueber-
zeugung, dass die rein materialistische Weltanschau¬
ung sehr in die Brüche gegangen ist, obwohl sie uns
ja auch die grössten Vortheile in mancher Beziehung
gebracht hat. Und ich habe wohl Ehrfurcht für das,
was für uns bis jetzt Geheimniss in der Schöpfung
ist. Aber ich glaube, dass man mit diesem Geheim¬
niss nicht spielen kann, wie es die Art der dilettan¬
trischen Sektier ist, die mit geringem Gefühl für Ver¬
antwortlichkeit in diesen Geheimnissen wühlen, und
ohne Sinn herausreden, was sich dem schwatzhaften
Munde zudrängt. Es ist mehr Feinheit nöthig und
wenn der Feinheit meistens Thatensinn abgeht, so
müssen w r ir eben so lange warten können, bis sich
zur Feinheit vielleicht auch einmal That gesellt, und
uns Formen und sichtbaren Ausdruck für unser
Innerstes schafft, w'ie es in heiligen Kunstwerken,
besonders im Tempelbau, denkbar ist.
Medium Frau U. (schon erwähnt), circa 70 Jahre
alt, giebt an: Hat vor etwa 20 Jahren angefangen,
Stimmen zu hören. Sie notirte das Gehörte und diese
Notizen brachten eine Freundin dazu, in ihr ein
spiritistisches Medium zu erblicken. Hatte dieses
Original fram
HARVARD UNIVERSUM
228
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 24.
Wort früher nie gehört. Ist dann ein sehr gutes
Medium geworden. Was sie im Trans sagt, weiss
sie nicht. Auf Grund der Stimmen zum Gärtner L.
nach P. (schon erwähnt) gereist. Hat anfangs Miss¬
trauen zu L. gehabt wegen seines vielen Geldver-
dienens durch Spiritismus. L. entschuldigte sich im
Sinne des Verdienenmüssens. Ihr Misstrauen schwand,
als L. sie von einer 15jährigen Kontraktur geheilt.
Nach dieser wie ein kleines Kind gehen lernen
müssen. Dann grosse Reisen mit L. zu einer Reihe
hoher Herrschaften. Deutet auf viele mystische Be¬
ziehungen unter den Menschen, Träumen, Ahnungen,
Prophezeiungen. Auf meine Frage, wie sie A.
kennen gelernt: Der junge T. hat ihn mir in Q. zu¬
geführt, nachdem ich schon Jahre vorher A.’s Gestalt
in Träumen gesehen hatte, auch war nur seine An¬
kunft gemeldet worden in Gesprächen verschiedener
Menschen, von denen ich nicht weiss, was sie mit
A. etwa zu thun haben. Aus ihren Erinnerungen
bei einem spätem Verkehr mit A. im Herrensitze
eines frühem Bischofs: In der Nacht soll dem A.,
wie er sagte, der Bischof erschienen sein und er habe
ihm die Insignien seiner Macht übergeben. Auf ihre
Frage bei A.’s schlechtem Aussehen habe A. gesagt:
Wenn er in der Nacht die ganze Menschheit zu
retten gehabt, so sei das selbstverständlich, dass man
nicht aussehen könne wie sonst. Ferner: Sich ans
Kreuz schlagen lassen, sei keine Kunst, da stehe er
denn doch höher und habe Grösseres geleistet.
T. („Naturmensch“). Junger Vegetarier, mir als
wahrheitsliebend bekannt, berichtet: Der jüngere
Bruder des A. ist Anhänger des Dr. Dowie in Chi¬
cago („Zionisten“) geworden. Zwei jüngere Schwestern
des A. und sein Vater ähnlich veranlagt.
T., der zu verschiedenen Malen mit A. verkehrt
habe, berichtete mir, dass sein letzter Besuch bei
ihm in N. (wenige Tage nach meinem 2. Besuche
dort) den Abfall des Bildhauers D. zur Folge gehabt
habe: Nach dem Frühstück blieben wir sitzen und,
wie das dort immer so geht, nur A. sprach. Mich
schien er auf dem Korn zu haben und er stichelte
mehrmals auf mich und erklärte zuletzt: Für dort
sei nur reif, wer zu gehorchen wisse. Als ich ihm
Einiges vorhielt, sagte er, wir wollen sehen, wer un¬
seres Geistes ist. Er befahl, dass Fleisch gebracht
werde. Da frug ihn D.: Du wirst es doch nicht auf
das ankommen lassen ? Ja gewiss, ich will, sagte A.,
worauf D. bös wurde und hinausging. Das Fleisch
wurde gebracht und nun hielten die ungefähr 50
Personen, die da sassen, eine Art heiliges Abendmahl:
Jeder ass etwas Fleisch um zu zeigen, dass er sich
zum Geiste A.’s bekenne. Ich sagte : A., mach doch
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keine Komödie. Da seht Ihr! brauste er auf. Was
uns heilig ist, ist für ihn Komödie. Ich reiste dann
weg, und D. ist nun auch weg von dieser Gesell¬
schaft.
Ich: Was halten Sie von A.’s Prophezeiungen?
T.: Ich habe nicht gemerkt, dass sie eintreffen. Z. B.
die zwei Prophezeiungen, die er einst in ... . ab¬
gab , sind nicht eingetroffen: nach ihnen sollte jetzt
die Geldwirthschaft aufgehört haben und der damalige
Papst der letzte gewesen sein.
Früherer Genosse des A. im Holderhofe, Vege¬
tarier. Urtheil über A.: Er ist ein Nitscheaner und
weiter nichts als ein äusserst gewandter Mathematiker.
Versteht alles zu beweisen, was er will.
Bericht einer jungen Dame, mehrere Monate Ge¬
nossin im Holderhof: Ich kam nach N. auf Veran¬
lassung meines Bräutigams. Als ich ihm sagte: ich
verstehe den A. nicht, sagte mein Bräutigam: Bleibe
nur dort, du wirst ihn schon verstehen lernen. Be¬
richtet auch von einer Reise des A. nach Monaco
während ihres Aufenthaltes in N.: Wir alle mussten
Geld zusammenthun, damit er hinreise, um dort zu
spielen nach den Prophezeiungen, die er uns erklärte.
Aber er kam ohne Geld zurück.
B., erster Ansiedler in N., junger Lithograph.
Langjähriger Freund des A. War fast zwei Jahre
Genosse im Holderhof. Berichtet viel, das mir zur
Controlle meiner Notizen dient Sodann: Der Holder¬
hof ist eine ausgezeichnete Schule für Viele Sie
werden in der Aufmerksamkeit geübt und hören
Dinge, die sie nirgends sonst erfahren.
Als ich ihm von der Ableitung Ziffer von Wanzen
erzählte, sagt er: A. treibt viel zu viel solcher Ab¬
leitungen. Das sind Dinge, die jeder selbständig
Denkende selbst finden kann. Jede Entscheidung
und alle Vorsätze und Entschlüsse nur aus Zahlen
und Worten abzuleiten, dazu liegt keine Veranlassung
vor. Bestätigt, dass die Meisten im Holderhof an
das Wetterniachen des A. glauben und erzählt, dass
A. von einem Erdbeben berichtet habe, das im Him-
malaya begonnen und bei ihm geendet habe. All¬
gemeines Urtheil über A.: Zu viel Phantasie, beweist
alles Mögliche aus Zahlen und Worten. Wechselt
mit den Idealen. Prophezeit vielfach erst hinterdrein.
Prophezeit er aber wirklich einmal im Voraus, und
es schlägt nicht ein, so meint er: die Auslegung
hätte eigentlich so und so sein sollen u. dgl. A.
habe einen schweren Auftritt im Elternhause gehabt
und sei daraufhin ins Irrenhaus gekommen. Später
ein zweites Mal. Wechselt sehr im Gesundheitszu¬
stand ; es geht ihm immer schlecht, wenn er wenig
Anhänger hat. Hat höchst merkwürdige Dinge er-
Original from
HARVARD UNIVERSITY
I0O4-]
zählt, die im Irrenhaus passirt sind, weil er dort
eingesperrt war. A. ist nicht verrückt, man hätte ihn
ja sonst im Irrenhaus behalten. Er wird nur bös,
wenn man nicht an ihn glaubt. Auf meine Frage
nach der sog. Seelengemeinschaft des A. mit seiner
Frau, sagt B.: Ich habe in meiner Jugend mit Be¬
geisterung an dieser Idee gehangen. *) Ich hatte die
Vorstellung, so werde alles im Leben einfacher und
man könnte auch die Briefmarken ersparen. Aber
ich habe gesehen, diese Sache ist nicht so einfach
und nur Wenige können es.
*) Mutter Spiritistin.
22g
Ein dreistündiges Gespräch führt mich in die
Fläne dieses strebsamen Menschen ein, er schildert
mir die schon unternommenen Schritte in der Er¬
richtung einer comnumistischcn Gesellschaft, schildert
die grosse Verantwortung, die im gesprochenen Worte
liegt und trägt schön und korrekt das Citat aus
Faust vor:
Da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.
Mit Worten lässt sich trefflich streiten,
Mit Worten ein System bereiten,
An Worte lässt sich trefflich glauben,
Von einem Wort lässt sich kein Jota rauben.
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Mitthei lungen.
— Aus Russland. Die Bezirksirrenanstalt in
Wilna veröffentlicht unter der Redaction des Directors
der Anstalt Dr. Krainski ein „Wissenschaftliches
Archiv“, dessen erster Band (Heft 1/2) soeben er¬
schien. Er enthält ausser verschiedenen officiellen
Nachrichten eine historische Beschreibung der Ent¬
wicklung der Anstalt und mehrere wissenschaftliche
Artikel: Dr. Krainski, „Die Energetiphe Psycho¬
logie“ , Dr. v. F r i c k e n, „Gerichtlich-psychiatrische
Expertisen“, Dr. Maewski, „Zur Frage über die
Akinesia algera“, Dr. Reicher, „Zur Frage über
den Selbstmord u. anderes.
Das Hauptamt des russischen Rothen Kreuzes
hat eine specielle Commission eingerichtet zur Organi¬
sation der ärztlichen Hülfe bei psychischen Erkrank¬
ungen in dem russisch-japanischen Kriege.
Referate.
— Löwenfeld, Die psychischen Zwangs¬
erscheinungen. Wiesbaden 1904, bei J. F. Berg¬
mann. 13 Mk. 60 Pf.
Vergleicht man den bescheidenen Umfang der
ersten Veröffentlichungen über die interessante Frage
mit dem stattlichen Bande, in dem Löwenfeld mit
kritischer Verwertung der bisherigen Arbeiten über
diese Frage, unter Benutzung seiner reichen eigenen
Erfahrungen und einer sehr instructiven Casuistik dem
wichtigen Thema gerecht wird, so bekommt man einen
sehr anschaulichen Begriff von dem überraschenden
Aufschwünge, den die Erkenntniss und Behandlung
der Nerven- und Geisteskrankheiten in den letzten 30
Jahren genommen hat. Die Krankheitserscheinungen
haben ein um so allgemeineres Interesse, als ihre
Wurzeln sich weit bis in das Physiologische hinein
erstrecken; übersieht man, welche Fülle von Symp¬
tomen nach und nach in das Krankheitsbild einrangirt
worden sind, die so häufig im Alltagsleben Vorkommen,
und wie schwierig und häufig unmöglich die Abgren¬
zung des Normalen gegen das Pathologische ist, so
werden wir die grosse Leistung des Buches um so
mehr zu würdigen verstehen.
Während die Kenntniss der Einzelformcn eine
stetige Vermehrung erfahr hat, ist in den Ansichten
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über die nosologische Stellung, die Aetiologie und
den Mechanismus derselben keine Annäherung ein¬
getreten, im Gegentheile sind die Meinungsverschieden¬
heiten über diese Hauptfragen eher bedeutender denn
geringer geworden.
An Stelle der von Westphal angegebenen Definition,
dessen Autorität jahrzehntelang auf der Weiterentwicke¬
lung der theoretischen Betrachtung des Krankheits¬
begriffes lastete, kommt Löwenfeld zu folgender Begriffs¬
bestimmung:
„Zwangsvorstellungen sind Vorstellungen, welche
der normalen Verdrängbarkeit durch Willenseinflüsse
ermangeln. Dieser Mangel, die Immobilität, kann
sowohl einzelne, bestimmte Zwangsvorstellungen als
Associationsreihen einer gewissen Richtung betreffen.
Infolge dieser Immibolität stören sie den normalen
Verlauf der psychischen Processe.“
Auf dieser Grundlage theilt der Verfasser den unge¬
mein umfangreichen Stoff in zwangloser und praktischer
Weise folgendermaassen ein: Er bespricht zunächst
die Zwangserscheinungen der intellectuellen Sphäre, die
er in selbständige Zwangsvorstellungen und associative
Zwangstendenzen gliedert. Der ersteren Gruppe
ordnen sich die Zwangsvorstellungen im engeren Sinne,
die Zwangsempfindungen und die Zwangshallucinationen
unter, der letzteren die Grübel- und Fragesucht, die
Zweifelsucht, Zwangsskrupel und Vorwürfe, der Beach¬
tungszwang, der Erinnerungszwang, Zwangsdenken und
Vorwürfe. Den zweiten Haupttheil bilden die Zwangs¬
erscheinungen der cmmotionellen Sphäre, die wieder
in die Angstzustände (primär inhaltslose Angstzustände
und Phobieen) und andere Zwangsefl'ecte und Zw'angs-
stimmungen sich thcilen. Im dritten Theile finden dann
die Zwangserscheinungen der motorischen Sphäre ihren
Platz: Zwangsimpulse, Zwangstriebe, Zwangsbewegungen
und Handlungen und Zwangshemmungen.
Auf die detaillirte Einthcilung, welc he die Haupt-
theile erfahren, kann hier nicht eingegangen werden,
wohl nichts von dem, was bis jetzt zur Lösung dieser
Frage geschehen ist, ist der Besprechung entgangen.
Sehr ausführlich geht Verfasser auch auf den
Mechanismus der Zwangserscheinungen ein, über den
er sich mit den verschiedenen Thcoriecn, ausein-
Original fram
HARVARD UN1VERSITY
230
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 24.
andersetzt. Die Darlegungen sind zu complicirt, als
dass sie sich im Auszuge wiedergeben Hessen.
Während nach Löwenfeld in der Aetiologie der
Zwangsvorstellungen die Heredität eine ausserordentlich
grosse Rolle spielt, das weibliche Geschlecht besonders
schwer betroffen wird und die Pubertätsentwickelung
sich sehr stark bemerkbar macht, wozu die determini-
renden Momente in bunter Abwechselung treten,
fungirt bei den Angstzuständen die hereditöre Ver¬
anlagung nur selten als ausschliessliche Ursache.
Unter den essentiellen Ursachen der Angstzustände
prävaliren unter den somatischen die sexuellen, unter
den psychischen die emotionellen Noxen, eine speci-
fische Ursache dagegen ist nicht zu ermitteln.
Löwenfeld vermag sich nicht zu entschliessen, die
Zwangserscheinungen von der Neurasthenie im Sinne
Janet’s oder Freud’s abzutrennen, auch bei unbelasteten
Neurasthenischen mangelt es nicht an schweren pho¬
bischen Zuständen. Ebenso bilden bei Hysterischen die
Zwangserscheinungen ein häufiges Vorkommniss, etwas
weniger in der Epilepsie und bei Migräneanfällen.
Unter den Psychosen suchen sie insbesondere die
Melancholie heim, seltener die Paranoia und Imbecillität.
Daneben treten nicht selten die Zwangserscheinungen
ganz isolirt auf, derartige Fälle gehören der Zwangs¬
vorstellungskrankheit an.
„Die Zw'angserscheinungen bilden eine Kette psycho¬
pathischer Symptome, die in der Breite der Gesundheit
beginnend zu den schweren psichischen Störungen
herüberführen, und w enn sie auch von letzteren zumeist
fern bleiben, doch für den Betroffenen wichtig genug
sind, um die volle Aufmerksamkeit des Arztes zu
beanspruchen.“
Nach einer ausführlichen Würdigung der zahlreichen
Momente, die in forensischer Beziehung in Frage
kommen, gelangt Verfasser zu dem Schlüsse, dass es
hierbei nicht genügt, das Vorhandensein eines Zw’angsim-
pulses nachzuweisen, sondern dass auch gezeigt werden
muss, welche besonderen Umstände die Widerstands¬
fähigkeit des Individuums gegen den Impuls aufhoben.
Ausserordentlich umfangreich sind die Aufgaben
der Prophylaxe gegen das vielseitige Leiden. Die
Behandlung der Zw'angserscheinungen im Einzelfalle
ist von der Art des Grundleidens abhängig. Unter
den psychotherapeutischen Aufgaben ist eine der ersten
die sachgemässe Aufklärung des Kranken, unterschätzt
worden ist vielfach die Bedeutung des Sichaussprechens.
Neben der Ablenkung, zweckmässigen Zerstreu¬
ungen ist der Willensgymnastik mehr Aufmerksamkeit
zu schenken. Auch die Suggestivbehandlung, die Hyp-
notherapie haben noch nicht ihren gebührenden Platz
in der Therapie der Zwangserscheinungen gefunden.
Die Vorzüge der Freund’schen psychoanalytischen
Methode erkennt Verfasser rückhaltslos an, wenn er
auch meint, dass sie bei ihrer Eigenart nur einem sehr
beschränkten Patientenkrei.se aus der bestsituirten
Klasse zu Gute kommen kann.
Mönkemöller-Osnabrück.
— Allgemeine Zeitschrift f. Psychiatrie und
psych. ger. Med. Bd. 60, Heft (>.
E. Schultzc ^Bonnj. Ueber krankhaften
Wandertrieb.
Krankhafter Wandertrieb kommt nicht nur bei Epi¬
lepsie vor, wofür Verf. zwei Beispiele bringt, sondern
auch, w ie an 7 ausführlich geschilderten Fällen ge¬
zeigt wird, bei Alkoholismus, Delirium tremens, Ent¬
artung, constitutioneller Verstimmung, periodischen De¬
pressionszuständen , angeborenem Schwachsinn und
schwerer Neurasthenie. Hysterie ist nicht in dem
Maasse betheiligt, wie Heilbronner annimmt, anderer¬
seits ist die Zahl der Epileptiker wahrscheinlich
grösser, als Heilbronner meint, der bei Fugue-Zu¬
ständen nur in 20% epileptische Störungen fand.
Allerdings ist davor zu warnen, auf das alleinige
Symptom der Amnesie hin eine Bewusstseinsstörung
und damit Epilepsie anzunehmen.
Weygandt (Würzburg). Die Fürsorge für
schwachsinnige Kinder in Bayern.
Im Jahre 1901 waren im rechtsrheinischen Bayern
in 15 (resp. 16) Anstalten 2295 Plätze belegt. Die
Anstalten standen fast ausnahmslos unter geistlicher
Leitung, nur 15,8% der Pfleglinge wurden unterrichtet,
Sektionen wurden von den nebenamtlich angestellten
Aerzten fast gamicht gemacht. Verf. entkräftet die
Einw’ände, welche die Leiter der Idiotenanstalten
gegen die Uebertragung der Anstaltsleitung auf Aeizte
anführen und stellt dann folgende Forderungen auf:
Einführung von Hausärzten, welche über eine gewisse
psychiatrische Bildung verfügen, bei Neubauten Konnex
mit dem System der Kreisirrenanstalten, bei kolonia¬
ler Anstalt event. in Form eines Vorwerks und
schliesslich Errichtung von Hilfsschulen im Anschluss
an das städtische Schulsystem, jedoch in* Verbindung
mit einem psychiatrisch gebildeten Schulärzte.
Rüdin (Moabit). Eine Form akuten hallu¬
zinatorischen Verfolgungswahns in der Haft
ohne spätere Weiterbildung des Wahns und
ohne Korrektur.
Unter Anführung von 3 ausführlich wiedergege-
benen Krankengeschichten beschreibt Verf. als akuten
halluzinatorischen Verfolgungswahn das Vorkommen
einer selbständigen, verhältnissmässig selten auf¬
tretenden Psychose. Bei erblich nicht belasteten
Personen treten in der Isolierhaft nach 2—3 jähriger
Inhaftirung lebhafte Sinnestäuschungen, namentlich des
Gehörs auf und Wahnideen der Verfolgung von Seiten
der Personen der Umgebung, wobei das Verhalten
und die Besonnenheit korrekt sind; ein besonders
hervorstehender Zug ist ein starker, gereizter Affekt.
Eine Weiterbildung des duich Halluzinationen be¬
dingten Wahns erfolgt nicht. Die Prognose ist günstig.
— In einem Nachworte bezeichnet Leppmann diese
Fälle als abortive Formen der akuten halluzinato¬
rischen Verrücktheit.
Zahn (Stuttgart). Eine merkwürdige Gedäch t-
nissleistung in einem epileptischen Dämmer¬
zustände.
Ein Epileptiker, einfacher Landmann, hielt bei
vorübergehend schwer gestörtem Bewusstsein mitten
zwischen heftigen Krampfanfällen Leichenreden. Für
diese Leistungen fehlte ihm nicht nur jede Erinnerung,
sondern es erschien ihm nachher der Inhalt dieser
Reden völlig fremd, auch vermochte er im normalen
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Original fram
HARVARD UNiVERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
231
1904.]
Zustand nicht die gleichen Reden zu wiederholen.
Es ergab sich, dass er sehr lebhaft hallucinirte.
A rn e m a n n - Grossschweidnitz.
— Hitzig. Physiologische und klinische
Untersuchungen über das Gehirn. Gesam¬
melte Abhandlungen. Theil I: Untersuchungen über
das Gehirn. Theil II: Alte und neue Untersuch¬
ungen über das Gehirn. Mit 1 Tafel und 320 Ab¬
bildungen im Text. Berlin 1904. A. Hirschwald.
Jeder Vertreter naturwissenschaftlicher Denk- und
Arbeitsweise, vor allem aber unsere Fachgenossen,
werden es freudig begrüssen, dass sich Hitzig ent¬
schlossen hat, seine gesammten Untersuchungen über
das Gehirn in einem Band von weit über 1000 Seiten
unter reicher illustrativer Ausstattung herauszugeben.
Nach dem Vorwort bringt der 1. Band zum grössten
Theil die bereits 1874 in erster Auflage vereinigten
Arbeiten. An die grundlegende, klassische Unter¬
suchung „Ueber die elektrische Erregbarkeit des
Grosshirns“ aus dem Jahre 1870 schliessen sich die
Schriften über weitere Grosshimuntersuchungen, über
experimentelle Epilepsie, über Lähmungsversuche,
über Auseinandersetzung mit Ferrier, über den Streit
mit Goltz, über die Wirkung des Kopfgalvanisirens
u. s. w. an. Die reichen, consequent fortgesetzten
Forschungen der Folgezeit, vor allem die Darlegungen
über seine Operations- und Untersuchungstechnik,
die Ausführungen über das korticale Sehen, über die
Beziehungen der Rinde und subkorticalen Ganglien
zum Sehakt des Hundes, auf experimenteller Basis
unter exacter Schilderung der Casuistik von nicht
weniger als 157 Einzelversuchen, machen den Haupt-
theil des II. Bandes aus.
Die letzten Bogen fassen die Ergebnisse zu¬
sammen. Gegenüber Munk mit seiner Anschauung,
dass beim Säugethier schon der Anfang alles Sehens,
die Lichtempfindung, eine Function des Grosshims
ist, wird eine Beweislast grössten Umfangs aufgebracht,
die das Werk zu folgenden Schlusssätzen führt: „Für
mich besteht der Anfang alles Sehens in der Erzeug¬
ung des fertigen optischen Bildes in der Retina, die
Fortsetzung des Sehens in der Combination dieses
optischen Bildes mit motorischen, vielleicht auch noch
anderen Innervationsgefühlen zu Vorstellungen niederer
Ordnung in den intrakorticalen Centren und die höchste,
an die Existenz eines Cortex gebundene Entwicklung
des Sehens in der Apperception dieser Vorstellungen
niederer Ordnung und ihrer Association mit Vorstell¬
ungen und Gefühlen (Gefühlsvorstellungen) anderer
Herkunft.“ Mag man sich auch vergegenwärtigen,
welche Schwierigkeiten schon der Schluss von den
Wahrnehmungen des Beobachters an dem operirten
Versuchsthier auf die psychischen Vorgänge, auf
etwaige optische Vorstellungen im Bewusstsein dieses
Hundes, mit sich bringt, so wird doch gewiss nie¬
mand dem Forscher die Zustimmung versagen, dass
er, wie er sich ausdrückt, unbesiegt von seinen Geg¬
nern die Waffen aus der Hand legt. Für das ganze
Werk, dessen Ausgangspunkt mit der Entdeckung der
elektrischen Erregbarkeit des Grosshirns schon ein
monumentum aere perennius darstellt, bleibt die
wissenschaftliche Welt dem Forscher zu dauerndem
Danke verpflichtet. Weygandt-Würzburg.
— Weininger, O.: Geschlecht und Charak¬
ter, eine principielle Untersuchung. 1903.
Wilhelm Braumüller. Wien und Leipzig. — 599 S.
W. bespricht in dem ersten, vorbereitenden
Theile seines Buches: die sexuelle Mannigfaltigkeit, in
dem zweiten odei Haupttheil: die sexuellen Typen.
Die einzelnen Themata sind folgende: Im ersten
Theil: Männer und Weiber. Arrhenoplasma und
Thelyplasma. Gesetze der sexuellen Anziehung.
Homosexualität und Päderastie. Anwendung auf die
Charakterologie. Die emancipirten Frauen. Im zweiten
Theil: Mann und Weib. Männliche und weibliche
Sexualität Männliches und weibliches Bewusstsein.
Begabung und Genialität. Begabung und Gedächtniss.
Gedächtniss, Logik, Ethik. Logik, Ethik und das
Ich. Ich - Problem und Genialität. Männliche und
weibliche Psychologie. Mutterschaft und Prostitution,
Erotik und Aesthetik. Das Wesen des Weibes und
sein Sinn im Universum. Das Judenthum. Das Weib
und die Menschheit.
Das Werk W.s zeugt von grossem Fleisse, sehr
grosser Belesenheit und erheblichem philosophischen
Wissen, wie man es bei einem 25jährigen Autor kaum
erwarten sollte.
Das Thatsächliche, welches W. indess vorbringt,
ist bereits von Möbius einfacher und klarer darge¬
stellt, vieles führt W. in übertriebener Weise aus,
manches ist direkt falsch, ja unsinnig. Es sei hier
Vor allem auf die 9 letzten Abschnitte des zweiten
Theils hingewiesen.
Es würde zu weit führen, auf die einzelnen Ab¬
handlungen näher einzugehen, es seien nur einige
Resultate der Deductionen W.s angeführt.
W. stellt als sexuelle Typen einen idealen Mann,
M, und ein ideales Weib, W, auf. Beide giebt es
in Wirklichkeit nicht. Es giebt nur alle möglichen
vermittelnden Stufen zwischen dem vollkommenen
Manne und dem vollkommenen Weibe, Annäherungen
an beide, die selbst nie von der Anschauung erreicht
werden. Es giebt nur männlich oder weiblich. Jedes
Individuum ist nach den Bruchtheilen zu beschreiben,
die es von M und W hat. Wird das Princip der un¬
zähligen sexuellen Uebergangsstufen zwischen M und
W auf alle Stellen des Organismus ausgedehnt, so ist
das Zwitterthum keine Natur Widrigkeit mehr, die sexu¬
ellen Zwischenstufen sind normale Erscheinungen.
Das Gesetz der sexuellen Anziehung, zu welchem
W. gelangt ist, lautet: „Zur sexuellen Vereinigung
trachten immer ein ganzer Mann (M) und ein ganzes
Weib (W) zusammen zu kommen, wenn auch auf die
zwei verschiedenen Individuen in jedem einzelnen
Fall in verschiedenem Verhältniss vertheilt.“ Setzt sich
der Mann zusammen aus 3 / 4 M und 1 / 4 W, so wird
dasjenige Weib ihm am besten gefallen, welches sich
zusammensetzt aus '/ 4 M und 8 / 4 W. — In diesem
Gesetz der sexuellen Anziehung ist nach W. zugleich
die lang gesuchte Theorie der conträren Sexual¬
empfindung enthalten. Bei dem sexuell Invertirten
fehlt auch nie eine anatomische Annäherung an das
andere Geschlecht. Das conträrc Geschlechtsgefühl
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Original from
HARVARD UNIVERSITY
232 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 24.
ist ebenso normal, wie das Zwitterthum. Hinsichtlich
des Charakters einer Person kann nicht mehr gesagt
werden, er ist männlich, er ist weiblich. Auch hier
ist die Frage: wieviel M, wieviel W ist in dem
Menschen.
Das Emancipationsbedürfnissund die Emancipations-
fähigkeit einer Frau liegt lediglich in dem Antheile an
M begründet, den sie hat. Alle wirklich nach Eman-
cipation strebenden, alle mit einem gewissen Recht
berühmten geistig und irgendwie hervorragenden Frauen
gehören zu den vorgerückteren sexuellen Zwischen¬
stufen, verdanken dies ausschliesslich ihrem Gehalte
an M, W hat gar kein Bedürfniss und auch keine
Fähigkeit zur Emancipation.
Trotz allen sexuellen Zwischenstufen ist der Mensch
nun am Ende doch nur eines von beiden, entweder
Mann oder Weib (active und passive Homosexuale).
Das Gesammtdasein der Frau ist immer und durch¬
aus sexuell. W geht im Geschlechtsleben, in der
Sphäre der Begattung und Fortpflanzung d. i. im
Verhältniss zum Mann und zum Kinde vollständig
auf. W ist nichts als Sexualität, M ist sexuell und noch
etwas darüber, W ist fortwährend, M nur intermit-
tirend sexuell.
M lebt bewusst, W unbewusst. W empfängt sein
Bewusstsein von M. Die Funktion, das Unbewusste
bewusst zu machen, ist eine sexuelle Funktion des
typischen Mannes gegenüber dem typischen Weibe,
das zu ihm im Verhältniss idealer Ergänzung steht.
Die Frau ist ungenial. Genialität ist an die
Männlichkeit geknüpft, sie stellt eine ideale potenzirte
Männlichkeit vor.
W verfügt nur über eine Klasse von Erinnerungen,
die mit dem Geschlechtstrieb und der Fortpflanzung
zusammenhängenden.
W besitzt keine Logik, ihm mangelt das intellec-
tuelle Gewissen, man könnte bei ihm von „logical in-
sanity“ sprechen.
Das Weib ist amoralisch und verlogen.
Das logische und ethische Phänomen schliessen
sich beide im Begriff der Wahrheit zum höchsten
Werthe zusammen und zwingen zur Annahme eines
intelligibelen Ich’s oder einer Seele, als eines Seien¬
den von höchster empirischer Realität. Bei einem
Wesen, dem wie W das logische und das ethische
Phänomen mangeln, entfällt auch der Grund zur An¬
nahme eines Ich’s, zur Annahme einer Seele.
Unter den Frauen ist der Muttertypus und der
Dimentypus zu trennen. Es sind 2 angeborene ent¬
gegengesetzte Veranlagungen anzunehmen, die sich
auf die verschiedenen Frauen in verschiedenem Ver¬
hältniss vertheilen: die absolute Mutter und die abso¬
lute Dirne. Zwischen beiden liegt die Wirklichkeit.
Ausserordentliche Annäherungen an die absolute Dime
sind viel öfter zu finden, als solche Grade von
Mütterlichkeit, hinter denen das Dirnenhafte zurück¬
tritt. Für den Muttertypus ist der Coitus Mittel zum
Zweck (Kind), für die Dirne ist er Selbstzweck. Jene ist ein
lebensfreundliches, diese ein lebensfeindliches Princip.
Das Weib ist wahrer Liebe unfähig. Es verlangt
vom Manne nicht Schönheit, sondern volles sexuelles
Begehren. W besitzt keinen freien Willen und kann
daher auch nicht Schönheit in den Raum projiciren.
Das Weib als Ganzes ist Unsinn. Schwachsinn im
gewöhnlichen Sinn ist es nicht. Es besitzt sogar
Schlauheit, Berechnung, „Gescheitheit“ viel regel¬
mässiger und constanter als M, sobald es auf Erreich¬
ung naheliegender egoistischer Zwecke ankommt.
In der Kuppelei d. i. der Thätigkeit im Dienste
des Coitus überhaupt liegt die Wesenheit des Weibes,
sie ist die positive allgemein weibliche Eigenschaft.
Hysterie ist die organische Krisis der organischen
Verlogenheit des Weibes.
Das Weib ist alogisch und amoralisch, es ist nicht
antilogisch, es ist nicht antimoralisch. Es ist nicht
das Nicht, sondern das Nichts, es ist weder Ja, noch
ist es das Nein. Das Weib sündigt nicht, denn es
ist selbst die Sünde, Möglichkeit im Manne.
Der reine Mann ist das Ebenbild Gottes, des
absoluten Etwas, das Weib, auch das Weib .im Manne
ist das Symbol des Nichts: das ist die Bedeutung
des Weibes im Universum, und so ergänzen sich
Mann und Weib. Als des Mannes Gegensatz hat das
Weib einen Sinn und eine Funktion im Weltganzen.
In dem Abschnitt Judenthum wird der Nachweis
versucht, dass viele der für das Weib gefundenen
Punkte auch für den Juden zu Recht bestehen. Auch
ihm mangelt die Grösse in jeder Beziehung, auch bei
ihm ist die Kuppelei eine organische Veranlagung usw.
W ist eine, Funktion von M und will nichts
Anderes sein. Der Mann benutzt die Frau als Ge¬
nussmittel und negirt so immer wieder die Idee der
Menschheit. Der Coitus ist darum unsittlich. Der
Mann muss die Frau zum Verzicht auf ihre unsittliche
Absicht auf ihn zu bewegen suchen. Das Weib muss
bestrebt sein, sich vom Weibe zu emancipiren (wahre
Fraucnemancipation).
Aus dem höchsten Gesichtspunkte des Frauen-als
des Menschheitsproblems, der Aufhebung des Weibes
und der Bildung eines dritten Wesens, welches weder
Mann noch Weib ist, ist die Forderung der Enthalt¬
samkeit für beide Geschlechter gänzlich begründet
Dazu ist es nöthig die Erziehung des Weibes dem
Weibe, die Erziehung der ganzen Menschheit der
Mutter zu entziehen. —
P. J. Möbius hat in „Geschlecht und Un¬
besch e id e n h eit“ (Halle a S., C. Marhold, 1904,
30 S.) das Weininger’sche Buch einer gründlichen
Kritik unterzogen, deren Lektüre jedem empfohlen sei,
der das Buch Weiningcrs liest.
Weininger hat sich das Leben selbst genommen.
Wickel (Dziekanka).
Personalnachrichten.
— Bei der Universität Rostock ist der Privat-
docent der Irren heilkunde Dr. Scheven zum
Professor ernannt worden.
Für dert redactionellen Theü verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Iiresler, LnbHritr (Sch esien).
Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannähme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag Von Carl Marhold in Halle a. S
Heyncmann'sche Buchdruckerei (Gcbr. WVffV in Halle a. S.
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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift.
Redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Lublinitz (Schienen).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. b.
Telegr.-AdreMe: MarhoId Verlag, Halleaaale. Fernsprecher *834.
Nr. 25. _ 17. September. _ 1904
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die 3spaltige Petitxeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten.
Ueber eine eigenthümlich cyklische Verlaufsweise psychotischer Symptome.
(Vortrag, gehalten auf der XI. Versammlung des nordostdeutschen psych. Vereins am 27. VI. 04 zu Danzig.)
Von Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Meschede , Königsberg.
A^ 7 "enn ich mir erlaubt habe, das angekündigte
’ * Thema hier zur Discussion zu stellen, so ist
es nicht allein geschehen, weil ich über eine Beob¬
achtung dieser Art verfüge, die ungemein selten zu
sein scheint, ja vielleicht als ein Unicum zu bezeich¬
nen sein dürfte (denn während meiner 47 Jahre um¬
fassenden psychiatrischen Thätigkeit ist mir eine solche
Verlaufsweise nur in einem einzigen Falle zur Beob¬
achtung gekommen), — sondern auch in der Hoff¬
nung, aus dem reichen Schatz Ihrer Erfahrungen
vielleicht einschlägige Mittheilungen zu erhalten, die
über die pathogenetischen Beziehungen Licht ver¬
breiten könnten.
Die eigenthümliche Verlaufsweise, wie ich sie in
ungewöhnlich scharfer Ausprägung zu beobachten
Gelegenheit gehabt habe, hat nun im Wesentlichen
darin bestanden, dass nicht etwa nur intercurrent,
als gelegentlich auf treten de Irregularität, sondern wäh¬
rend einer ganzen Reihe von Jahren im Verlauf einer
chronisch gewordenen Psychose die psychotischen
Symptome in regelmässig wiederkehrenden, anfangs
3, sodann 4 und endlich 5 Tage umfassenden Perioden
zu Tage traten.
Wie gesagt, machte sich anfangs ein 3 Tage um¬
fassender Cyklus geltend und zwar in der Weise,
dass auf einen Tag tobsüchtiger Erregung —
den ich in der Reihenfolge als „ersten“ oder
„schlechten“ Tag bezeichnen will, ein ganz
durch Schlaf ausgefüllter Tag folgte, der als der
„zweite“ oder der „Schlaftag“ bezeichnet sein
möge, und dass hierauf als dritter oder sogen,
„guter“ Tag ein Tag der Ruhe und Besonnen¬
heit zur Geltung kam. Mit der tobsüchtigen Auf¬
regung pflegten krankhafte Triebe zu Aggressionen,
Schmutzereien, mitunter auch Koprolalie sowie wahn¬
hafte Ideenverworrenheit einherzugehen, während Un
dem guten Tage Nichts von alledem zu bemerken,
das Bewusstsein vielmehr, soweit ersichtlich, klar
war und weder krankhafte Affekte noch perverse
Velleitäten hervortraten, das ganze Verhalten viel¬
mehr durchaus verständig und geordnet erschien
und, abgesehen von einer gewissen geistigen Er¬
müdung und Verlangsamung des Ideenflusses, sowie
von einer massigen Einbusse an Spontaneität und
Initiative des Handelns, vielleicht auch an Gedächt-
niss, sonst keine Störungen des psychischen Ge¬
schehens zu bemerken waren.
Nach dem dritten, dem sog. guten Tag,
pflegte dann unmittelbar wieder ein Tobsuchtstag
— als erster eines neuen Turnus — einzusetzen
um dann wieder durch einen Schlaf- und darauf¬
folgenden „guten“ Tag abgelöst zu werden.
Mit fortschreitender Besserung des Gesammt-
befindens trat an Stelle des 3 tägigen ein 4 tägiger
Turnus, indem statt eines guten Tages deren zwei
zur Geltung kamen und schliesslich zeigte sich noch
eine weitere Besserung darin, dass sich noch ein
dritter guter Tag einschob — in unmittelbarem An¬
schluss an die zwei guten Tage — und die Perioden
somit 5 Tage umfassten, in folgendem Turnus: I. Tag:
Tobsucht, II. Tag: Schlaf, III., IV. und V. Tag:
Besonnenheit und Ruhe.
In dieser Weise ist die Psychose während der
letzten Jahre meiner Beobachtung derselben in auf¬
fallender Regelmässigkeit verlaufen.
Allerdings haben begreiflicher Weise Abweich¬
ungen vom regelmässigen Typus, wie sie ja auch im
Verlaufe anderer cyklisch verlaufender somatischer
Krankheiten Vorkommen, auch im vorliegenden Falle
nicht ganz gefehlt; doch sind sie verhältnissmässig
selten gewesen: so ist es mitunter vorgekommen,
dass der sogenannte schlechte Tag etwas zu früh
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234
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 25.
oder etwas verspätet eingetreten ist; ja einige Male
ist beobachtet worden, dass der schlechte Tag
in einem fünftägigen Turnus ganz ausfiel,
d. h. ganz ohne Störung verlief, und somit in diesem
Turnus vier aufeinander folgende gute Tage zur
Geltung kamen — so dass die Möglichkeit näher ge¬
rückt erschien, es könne durch weitere Zunahme der
guten und Verringerung der schlechten Tage viel¬
leicht doch noch eine Heilung erfolgen —, nach
Analogie des Verlaufs eines allerdings acuten Krank-
heitsprocesses, nämlich der Febris recurrens, bei wel¬
chem die Genesung sich ja auch in der Weise voll¬
zieht, dass sich die Zahl der Fiebertage bei jedem
neuen Anfall vermindert, die Zahl der dann
folgenden fieberfreien Tage aber in ent¬
sprechendem Verhältniss zunimmt. Ich
verweise in dieser Beziehung auf S. 403—404 meiner
im Jahre 1882 in Virchow’s Archiv erschienenen
Arbeit über Recurrens.*)
Wenn nun auch die zur Zeit, als wiederholt ein
gänzlicher Ausfall des schlechten Tages zu beob¬
achten war, sich vorübergehend aufdrängende Hoff¬
nung auf gänzliche Genesung nicht in Erfüllung ge¬
gangen ist, so ist im allgemeinen Seelenzustande
durch allmähliche Abschwächung der tobsüchtigen
Exacerbationen einerseits, und Zunahme der intel-
lectuellen Vermögen andererseits, thatsächlich doch
noch eine weitere auffallende Besserung erfolgt —
bis zu dem Grade, dass Patientin als wesentlich
gebessert aus der Anstaltsbehandlung hat ent¬
lassen werden können.
Die Geschichte dieses Falles umfasst einen
langen Zeitraum, nämlich im Ganzen pptr. 29 Jahre,
von denen fast die Hälfte in meine Beobachtung
fällt. Dieselbe hier auch nur in gedrängtester Kürze
darzulegen, dazu würde die heute zur Verfügung
stehende Zeit in keiner Weise ausreichen und muss
ich mich daher auf eine kurze Mittheilung der für
die vorliegende Frage hauptsächlich in Betracht kom¬
menden Punkte beschränken.
Es sei deshalb erwähnt, dass die in Rede stehende
Psychose sich bei einer bis dahin durchaus gesunden
und geistig hervorragend beanlagten Primipara im
ersten Wochenbett entwickelt und Anfangs die be¬
kannten Symptome der sogen. Puerperalmanie
dargeboten hat; dass Patientin zunächst in ihrer
Familie von einem nicht speciell sachverständigen
Arzte erfolglos behandelt, darauf wegen zunehmender
*) Die Recurrens-Epidemie der Jahre 1879 und
1880 nach Beobachtungen in der Städt. Kranken-Anstalt zu
Königsberg i. Pr., Vireh. Arch. LXXXV 1 .
Verschlimmerung nach einer kurzen Episode* in einem
Seebade, einer renommirten Privatirrenanstalt Über¬
geben und von dort nach längerer ebenfalls erfolg¬
loser Behandlung der städtischen Krankenanstalt in
Königsberg zugeführt worden ist.
Bei der Aufnahme daselbst konnte ich constatiren,
dass die bereits circa 14 Monate ohne jede
Spur von Besserung bestehende Psychose
trotz des bereits eingetretenen hochgradigen Schwäche¬
zustandes auf somatischem und psychischem Gebiete
doch keineswegs die Kriterien eines unheilbaren Zu¬
standes darbot, wie von anderer Seite verlautbart
worden war — da neben einem ausgesprochenen
stuporösen Zustande auch noch negativer Affekt und
Exacerbationen agitirter Melancholie das Seelenleben
beherrschten.
Es ist denn auch schon in den ersten Wochen
der von mir eingeleiteten Behandlung Besserung zu
Tage getreten und stetig fortgeschritten in dem Grade,
dass Pat. schon nach etwa 7—8 Monaten den Ein¬
druck völliger Reconvalescenz machte und von ihren
Angehörigen als bereits wieder ganz gesund betrachtet,
darum auch am Ende des neunten Behandlungs¬
monats aus der Anstaltsbehandlung herausgenommen
wurde — allerdings, wie ich hier bemerken muss,
gegen mein ausdrückliches mündlich und schriftlich
kundgegebenes Abrathen.
Wie berechtigt dasselbe war, zeigte sich denn
auch durch den weiteren Verlauf } insofern nach
einigen Monaten wieder eine Verschlimmerung bezw.
ein Rückfall eingetreten ist. Während der ersten
4 Monate ist der Zustand zwar zunächst befriedigend
geblieben, dann aber sind Zeichen einer Rekrudes-
cenz der Geistesstörung wieder in steigendem Grade
in die Erscheinung getreten, so dass — nach einem
Intermezzo von im Ganzen 25 Wochen — die Wieder¬
aufnahme in die städtische Krankenanstalt erfolgen
musste.
Bei dieser zweiten Aufnahme in meiner Be¬
handlung zeigte sich nun, dass in der Verlaufs weise
der Psychose eine auffallende Veränderung gegen
früher Platz gegriffen hatte.
Während früher der bei der ersten Aufnahme in
die Krankenanstalt neben dem körperlichen Verfall
constatirte mit negativem Affekt und tobsüchtigen
Exacerbationen einhergehende stuporöse Zustand einen
mehr kontinuirlichen Verlauf gezeigt hatte, da¬
bei aber eine fortschreitende fast von Woche zu
Woche zu constatirende Besserung hatte erkennen
lassen — trat jetzt gerade umgekehrt ein diskon-
tinuirlicherV erlauf, nämlich ein immer deutlicher
sich markirender Tertian-Typus, d. h. ein Alter-
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19 ° 4 J
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
235
niren von tobsüchtig erregtem und stuporösem Verhalten
xu Tage, ohne dass jedoch während des ersten Jahres
tine nennenswerthe Besserung zu bemerken gewesen
wäre, die sich vielmehr erst später einstellte —, so
dass erst nach im ganzen 26 Monate umfassender
Behandlung die Patientin als definitiv und voll¬
ständig geheilt entlassen werden konnte, dann
aber auch länger als zehn Jahre geistig
vollkommen gesund geblieben ist.
Als dann, in Folge einer Gemtithsbewegung, ein
kompletter Rückfall erfolgte, ist Pat. sogleich in
fine auswärtige Irrenanstalt modernen
Stiles gebracht und dort circa 18 Monate hehan-
dflt worden. Da dort aber keinerlei Besserung er¬
zielt wurde, Pat. vielmehr 72 Pfund Körperge-
wicht verlor, wurde dieselbe von dort heraus¬
genommen und direkt der städtischen Kranken¬
anstalt in Königsberg zugeführt und in die
psychiatrische Abtheilung aufgenommen —
zunächst allerdings nur provisorisch, da die
Psychose bereits die Kriterien präsumtiver Un¬
heilbarkeit darbot
Hier Hess der Zustand jedoch schon nach wenigen
Wochen eine merkliche Besserung erkennen, wie sie
nach dem bisherigen Verlauf kaum mehr zu er¬
warten gewesen war, zunächst hauptsächlich auf
somatischem Gebiete durch allmähliches Re¬
tablissement des Ernährungszustandes
(Zunahme des Körpergewichts um pptr. 4 Pfund
monatlich), bald aber auch auf psychischem Ge¬
biete, erkennbar sowohl an einem Nachlass der tob¬
süchtigen Exacerbationen nach Intensität und Ex¬
tensität, als auch an der zunehmenden Klärung des
Bewusstseins unter gleichzeitiger Zunahme
des Schlafes.
Nach einiger Zeit trat die solchergestalt fort¬
schreitende Besserung auch darin zu Tage, dass sich
der bereits geschilderte dreitägige Turnus des
Verlaufs ausbildete und dann bei weiterer Besser¬
ung des Allgemeinbefindens schliesslich, wie bereits
erwähnt, ein fünf tägiger Turnus zur Geltung kam,
wobei zugleich auch eine allmähliche Ab Schwäch¬
ung des Tobsuchtszustandes nicht allein nach
Dauer sondern auch nach Intensität und eine Zu¬
nahme des intellektuellen Vermögens deutlich zu er¬
kennen war.
In Anbetracht dieses hier erzielten und auch im
weiteren Verlaufe zwar langsam aber stetig fort¬
schreitenden Retablissements auf psychischem und
somatischem Gebiete ist s. Z. den Bitten der An¬
geh örigen, die Patientin behufs Erzielung weiterer
Besserung in meiner Behandlung zü belassen, von
den zuständigen Behörden willfahrt worden und so
ist es gekommen, dass diese Patientin ausnahmsweise
lange — im Ganzen über 10 Jahre — in Pflege
und Behandlung der städtischen Krankenanstalt bezw.
der psychiatrisch-klinischen Abtheilung derselben ver¬
blieben ist.
Während der letzten Jahre dieser Anstaltsbehand¬
lung ist fast ausschliessüch der fünftägige Turnus
zur Geltung gekommen und auch noch nach der
vor länger als zwei Jahren erfolgten Entlassung der
Patientin in Kraft geblieben und hat sich dabei ge¬
zeigt, dass Patientin an den guten Tagen sehr wohl
im Stande ist, auch rauschenden, bis in den Morgen
des folgenden Tages sich hinziehenden Festlichkeiten,
wie Hochzeiten und ähnlichen Familienfesten, beizu¬
wohnen, ohne im Geringsten aus dem psychischen
Gleichgewichte zu kommen.
Resümirend sei hervorgehoben, dass es sich im
vorliegenden Falle nicht um eine periodische
Wiederkehr kompletter Anfälle von Geistes¬
krankheit handelt; denn die nach verfrühter Ent¬
lassung erfolgte Rekrudescenz und das nach pptr.
10jähriger Genesungsdauer eingetretene Recidiv der
Geistesstörung bieten nicht das Merkmal der Perio-
dicität im logischen Sinne des Wortes (denn man
darf ein Recidiviren nicht ohne weiteres als perio¬
dische Geistesstörung bezeichnen) — periodisch
ist in vorliegendem Falle nur die Wiederkehr einer
gewissen Sy mptomenfolge im Verlaufe
einer chronisch gewordenen Psychose. Der mitge-
theilte Fall ist daher selbstredend nicht unter die
periodischen Geistesstörungen zu rubriciren
und nicht mit diesen in einen Topf zusammen zu
werfen, vielmehr in seiner Eigenart aufzufassen und
zu bezeichnen.
Ich glaube deshalb auch einen Fall, der mir auf
meine Nachfrage nach ähnlichen Beobachtungen von
einem Kollegen mitgetheilt worden ist — bei welchem
nämlich ein Alterniren von maniakalischer, 11 Tage
anhaltender, Aufregung mit ungefähr ebenso langer
Zeit dauernden Intermissionen zu beobachten war
— nicht in dieselbe Kategorie mit dem von mir
beobachteten bringen zu dürfen, wenn auch eine ge¬
wisse Aehnlichkeit zugegeben werden kann.
Mehr drängt sich als Analogon der hier beob¬
achteten typischen Verlaufsweise die Symptomenfolge
auf, wie sie bei Intermittens quartana und tertiana
bekannt ist. (Auch ein gelegentliches Zufrüh- oder
Zuspät-Einsetzen des Fiebers finden wir dort wieder.)
Fragen wir nun nach den Ursachen, auf
welche eine solche cvklische Symptomenfolge zurück¬
zuführen sein möchte, so drängt sich mit Rücksicht
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236
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
|Nr. 25.
auf die erwähnte Analogie und mit Rücksicht auf die
Thatsache, dass der cyklische Verlauf der Inter-
mittens tertiana und quartana im Wesentlichen auf
die Phasen der Entwicklungs- und Lebens¬
geschichte der dieser Erkrankung zu Grunde
liegenden pathogenen Mikroben (der Plasmo¬
dien) beruhen, zunächst der Gedanke auf, für eine
ähnliche Verlaufsweise psychischer Symptome auch
eine ähnliche Ursache in Betracht zu ziehen, zumal
ja ein Abhängigkeitsverhältniss der Gestaltung des
zeitlichen Verlaufs und der Symptomenfolge ja auch
für andere, auf pathogene Mikroben beruhende acute
Infektionskrankheiten bekannt ist und ja auch gerade
die Pathogenesis der Puerperalpsychose auf einen
somatischen Infektionsprocess zurückgeführt worden ist.
Andererseits liegt es aber auch nahe, das Auf¬
treten des Tertiantypus auf den durch verschiedene
Naturgesetze bedingten altemirenden Verlauf der
vitalen Processe überhaupt zurückzuführen. Ich er¬
innere an das Altemiren von Tag und Nacht,
Schlafen und Wachen, Nervenerregung und Ermüd¬
ung, und an das im Wesen der Wellenbewegung be¬
gründete Altemiren von Wellenberg und Wellenthal.
Dafür, dass in vorliegendem Falle Mikroben eine
Rolle gespielt hätten, dafür liegen keine Anhaltspunkte
vor und scheint es daher näherliegend, die Ursachen
des cyklischen Verlaufs in den vitalen Grundgesetzen
der psychischen und nervösen Funktionen zu suchen.
Doch ist hier nicht Zeit näher auf diese Frage
einzugehen und muss ich mir ausführlichere Mittheil-
ungen noch Vorbehalten.
Zum allgemeinen Bauprogramm der Nervenheilstätten.*)
Von Dr. Ernst Beyer , Nervenarzt und Besitzer des Sanatorium Gut Waldhof in Littenweiler bei Freiburg i. B.
\\ 7 enn wir an die Aufgabe herantreten, den Bau-
’ * plan einer neu zu errichtenden Nervenheil-
stätte für hundert oder mehr Kranke zu entwerfen,
so ist es wohl von vorneherein ausser Zweifel, dass
wir nach dem Pavillon- oder Villensystem bauen
werden. Bisher, bei den noch spärlichen Vorbildern,
die wir zu Rathe ziehen können, ist in der That so
verfahren worden. Zunächst in „Haus Schönow“ in
Zehlendorf. Anders ist es allerdings bei der neuen
Anstalt „Rasenmühle“ bei Göttingen; diese kommt in¬
dessen für uns hier nicht in Betracht, weil dort vor¬
handene Gebäude benutzt wurden. Wohl aber finden
wir das gleiche Princip bei der im Bau befindlichen
rheinischen Anstalt in Leichlingen, und einen gleich¬
artigen Entwurf hat Determann kürzlich auf der
in Karlsruhe abgehaltenen Conferenz zur Gründung
einer badischen Volksheilstätte für Nervenkranke vor¬
gelegt
Bei allen diesen Situationsplänen sehen wir die
typische Anordnung, dass die Villen für die Kranken
um ein centrales Verwaltungs- und Wirtschafts¬
gebäude herum gruppirt sind, eben das bekannte
Schema, wie es alle nach dem Pavillonsystem ge¬
bauten Krankenhäuser, Stadtasyle und Irrenanstalten
aufzuweisen haben. Da möchte ich nun die Frage
*) Der Vortrag war für die XXIX. Wanderversammlung
der südwestdeutschen Neurologen und Irrenärzte in Baden-Baden
angemeldet, konnte aber wegen Zeitmangel nicht gehalten
werden.
aufwerfen: müssen wir dies Schema auch bei unsem
zukünftigen Nervenheilstätten beibehalten ?
Determann hat in seinem Referat in Karls¬
ruhe sehr richtig betont, dass man den grössten
Werth auf den behaglichen und gemüthlichen Cha¬
rakter der Heilstätte legen müsse, dass das Anstalts-
mässige möglichst vermieden werde, dass man eine
ViUencolonie bauen solle. Ich will nun nicht ein¬
mal so weit gehen, bin vielmehr der Ansicht, dass
die Insassen schon durch den ganzen äusserlichen
Eindruck der Anstalt darauf hingewiesen werden
dürfen und sich immer dessen bewusst bleiben sollen,
dass sie nicht zum Vergnügen, zur Sommerfrische da
sind, sondern sich als Kranke in ärztlicher Behand¬
lung befinden. Ich bin aber auch der Meinung,
dass das psychische Moment bei unsem Patienten
der wichtigste Faktor ist, in ätiologischer wie in thera¬
peutischer Hinsicht, und dass man ferner w-egen
ihrer nicht nur möglichen, sondern geradezu er¬
wünschten Bewegungsfreiheit andere Anforderungen
an die baulichen Anlagen stellen darf, als sonst an
Krankenhäuser und Irrenanstalten. Auch ich denke
mir die zukünftige Nervenheilstätte als ViUencolonie.
Aber — ist eine solche centralisirt * angeordnete
Gruppe von Villen eine ViUencolonie?
Wenn man auf einem Gelände eine ViUencolonie
erbauen will, so ist doch w'ohl das erste, dass man
Strassen anlegt, eventuell mit Querstrassen, eventueU
mit freien Plätzen, und dass man die Villen in die
so entstandenen Quartiere einordnet. So würde ich
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1904.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
237
nun auch bei der Anlage einer Nervenheilstätte ver¬
fahren. Ich würde damit beginnen, auf dem dazu
bestimmten Terrain zunächst eine Strasse der Länge
nach festzulegen, dann je nach Bedürfniss eine oder
mehrere Querstrassen vorsehen. Den Mittelpunkt
könnte ein freier Platz bilden, vielleicht gerade am
Schnittpunkt der Hauptstrassen. An diesen kämen
die Verwaltungsgebäude, Direktorwohnung und der¬
gleichen zu liegen, und dann reihten sich an nach
der einen Seite die Krankenvillen für Männer, nach
der andern Seite für Frauen, natürlich in „offener
Bauweise“ und jede von einem entsprechenden Stück
Garten umgeben. Die weniger repräsentablen Wirth-
schaftsgebäude könnten an der rückwärtigen Quer¬
strasse liegen. Der ganze Complex kann durch eine
gemeinsame Einfriedigung abgeschlossen werden und
seine Eingänge an den Enden der Strassen erhalten.
Auf diese Weise bekommen wir eine Gruppirung,
die jedem Gebäude seine etwa nothw’endige Abson¬
derung gestattet, bei der aber freier öffentlicher Ver¬
kehr zwischen allen Theilen der Anstalt möglich ist.
Dadurch schon verliert das Ganze gerade den Cha¬
rakter des Ungewohnten, Absonderlichen, Klöster¬
lichen, eben des Anstaltsmässigen, ohne doch das
Gefühl der Zusammengehörigkeit einzubüssen. Es
ist eben mit einem Wort eine Villencolonie.
Vom ärztlichen Standpunkt, wegen der Bedürf¬
nisse unserer Kranken bezüglich des Heilzwecks,
werden wohl keine wesentlichen Bedenken gegen
eine solche Disposition des Situationsplanes erhoben
werden können. Aber auch in technischer Hinsicht
ist wohl kaum viel einzuwenden. Die Wegeanlage
w'ird eher noch einfacher und billiger herzustellen
sein, wenn jedes Haus direkt von einer gemeinsamen
Strasse aus zugänglich ist, als w enn zu jedem einzeln
eine besondere Zufahrtstrasse gebaut werden muss.
Wasserleitung und Kanalisation, elektrische Licht- und
Kraftleitung, Telephon und dergleichen machen keine
Schwierigkeiten. Dampfleitungen von einer Centrale
aus zu den sämmtlichen Gebäuden werden schwer¬
lich Vorkommen, auch nicht zur Heizung, denn bei
kleineren Gebäuden mit zahlreichen Räumen ist aus
verschiedenen Gründen die Wasserheizung der Dampf¬
heizung entschieden vorzuziehen und in jedem Hause
für sich von einem Heizofen im Keller aus ganz
einfach und bequem zu betreiben. Ein intensiver
Verkehr mit dem Wirtschaftsgebäude, speciell der
Hauptküche, wird nicht in dem Maasse stattfinden,
dass er nicht auf der offenen Strasse erfolgen könnte,
denn die überwiegende Mehrzahl der Kranken soll
doch wohl zu den Mahlzeiten in die gemeinsamen
Speisesäle sich begeben. Allein das Speisehaus braucht
also direkte Verbindung mit der Küche; es braucht
aber keineswegs genau central gelegen zu sein.
Es würde mich hier zu weit führen, auf die
Einzelheiten näher einzugehen. Ist es mir ja doch
nur darum zu thun, eine allgemeine Anregung zu
geben. Nur noch einen Punkt möchte ich zu gunsten
meines Vorschlages erwähnen, der vielleicht etw'as
sehr materiell erscheint, der ater bei den geldgeben¬
den Instanzen wohl Anklang finden dürfte.
Wenn jemand ein neues Unternehmen gründet,
oder w’enn ein Kapitalist Geld für eine neue Gründ¬
ung hergiebt, so ist eine der ersten Fragen: was
wird daraus, wenn aus irgend einem Grunde der
Betrieb wieder eingestellt werden muss ? Wie ist
dann das hineingesteckte Kapital wieder herauszu¬
ziehen? Wie sind die aufgeführten Bauten zu ver-
werthen ?
Nun ist ja wohl diese Frage bei einem öffent¬
lichen Unternehmen nicht so brennend, wie bei einem
einzelnen Privatmann, der mit Krankheit und Tod
zu rechnen hat. Aber wir sehen doch so häufig, dass
Staat oder Gemeinden in die Lage kommen, Anstalten
zu verlegen, Krankenhäuser, Kasernen, Bahnhöfe und
dergleichen, oft schon nach verhältnissmässig kurzem
Bestehen. Dann pflegt der Fiskus es sehr gerne zu
sehen, dass er nicht nur aus dem frei gewordenen
Grundstück etwas löst, sondern dass auch das ver¬
lassene Gebäude noch zu verwerthen ist. Und wenn
dies letztere zutrifft, dann erleichtert das ganz wesent¬
lich den Entschluss zu der aus anderen Gründen
nothwendig gewordenen Verlegung. So kann es uns
aber auch mit unserer Nervenheilstätte ergehen. Wir
wissen ja gar nicht, ob diese sich wirklich so und in
dieser Form auf die Dauer bewähren wird, wie wir
das jetzt glauben und hoffen. Wir wissen nicht, ob
nicht in 20 — 30 Jahren schon andere ärztliche Auf¬
fassungen oder neue Methoden ganz andere Forder¬
ungen stellen w r erden. Es können sich aber auch
in der betreffenden Gegend die Verkehrsverhältnisse
in ganz ungeahnter Weise verändern und eine Ver¬
legung erfordern. Jedenfalls sollten wir also meines
Erachtens bei unserer Gründung von vomeherein
den Gesichtspunkt der Verwerthbarkeit nicht ausser
acht lassen.
Eine centralisirt gebaute Anstalt ist aber kaum zu
andern Zwecken zu verwenden; sie ist und bleibt
eben immer eine Anstalt. Man betrachte sich nur
die Situationspläne unserer bestehenden Anstalten,
und frage sich, was sich daraus machen lässt! Selbst
opulent gebaute Privatirrenanstalten lassen sich keines¬
wegs so ohne weiteres parzelliren und in eine Villen¬
colonie vei wandeln. Ihnen allen fehlt eben die
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 25.
238
Möglichkeit, sie durch Strassen zu erschliessen, und
das wäre doch die Grundbedingung, wenn man die
Gebäude anderweitig verwcrthen soll.
Darum meine ich, dass wir unsere zukünftige
Nervenheilstätte so anlegen, dass sie nicht nur im
Aussehen, sondern auch in der inneren Disposition
das spezifisch Anstaltsmässige vermeidet Wenn sie
im Nothfalle jederzeit aufgetheilt und zu beliebigen
Zwecken verwendet werden kann, so vermindert sich
ganz wesentlich das Risiko für das hineingesteckte
Kapital, ja es besteht 8ogar die Möglichkeit, später
einmal einen Vorteil herauszuschlagen. Das wesent¬
lichste Erfordemiss dazu wäre aber die Anlage in
Strassenform.
Bauen wir also nicht nach dem alten Schema,
gruppiren wir nicht um centrale Gebäude herum,
sondern nehmen wir zur Grundlage unserer Anord¬
nung die Verkehrswege, die Plätze und Strassen!
M i t t h e i
— Zur Psychologie des Gefangenen. Eine
Enquete.
Das Aufsehen erregende Buch von Hans Leuss,
„Aus dem Zuchthause“, enthält zweifellos werthvolles
Material für den Criminalisten, wenn auch manches
Naiv - Einseitige und Schiefgesehene abgestrichen
werden muss. Zur Gewinnung wissenschaftlicher
Resultate auf diesem Gebiete ist leider noch sehr
wenig Stoff vorhanden. Dostojewsky’s „Aus einem
todten Hause“ behandelt speciell russische Verhält¬
nisse. Was sonst in Betracht kommen könnte, ist
wohl nur belletristisch, doch wäre Bezeichnung ein¬
schlägiger, vielleicht brauchbarer Arbeiten sehr er¬
wünscht. Es seien nun alle Freunde der Strafrechts¬
reform, nicht am wenigsten auch die Psychiater
und Gerichtsärzte, dringend gebeten, solche
Leute, welche die Wirkung der Untersuchungshaft
sowohl wie der Strafhaft am eigenen Leibe, vor
allem an der eigenen Seele beobachtet haben und
auch nur einigermaassen über die Gabe der Darstell¬
ung verfügen, zu veranlassen, den Einfluss dieser
beiden Arten von Gefangenschaft auf ihr inneres
geistiges und moralisches Leben zu schildern und
diesen Bericht an die Unterzeichnete Adresse zu
senden. Es wird jedem Einsender auf Ehrenwort
die Discretion zugesichert, die er in seinem Interesse
gewahrt wissen will; man möge deshalb eine dies¬
bezügliche Angabe machen und nicht anonym ein¬
senden, letzteres schon um deswillen nicht, weil even¬
tuell zur Klärung und Erläuterung der Berichte nähere
Anfragen nothwendig werden. Es handelt sich darum,
Beiträge zu liefern zur Beantwortung der Fragen,
einmal, ob die Untersuchungshaft in ihrer heutigen,
ausgedehnten Anwendung gerechtfertigt ist gegenüber
den Opfern an seelischer Kraft, die der Verhaftete
(und seine Angehörigen) dabei zu bringen haben,
sodann, wie der heutige Vollzug der Freiheitsstrafe
auf den Charakter, auf die beruflichen und gesell¬
schaftlichen Fähigkeiten des Verurtheilten einwirkt.
Die folgenden Fragen wollen nicht erschöpfend sein,
sondern nur anregen:
Welche Wirkung hatte die Haft auf Ihre geistigen
und seelischen Eigenschaften: auf das religiöse Leben,
auf die beruflichen Fähigkeiten, auf gesellschaftliche
Neigungen, politische Anschauungen, auf Arbeitsam¬
keit, Sparsamkeitstrieb, Familiensinn, Liebesieben, auf
1 u n g e n.
Logik, schriftlichen Stil (Intuition?), auf von Ihnen
zugegebene verbrecherische Anlagen, auch solche, die
vielleicht mit dem vorliegenden Straffall nicht in Ver¬
bindung gebracht werden können ?
Welche Wirkung hatte die Haft in körperlicher
Hinsicht: auf die Verdauungsorgane (Anstaltskost?),
auf das Sehvermögen, auf die Athmungsorgane
(Tuberkulose), auf Blutzusammensetzung (Anämie),
auf das Geschlechtsleben ? Wie ertrugen Sie die
Entwöhnung von geistigen Getränken, von Kaffee etc.
und Tabak ?
Wie wiikte nach Ihrer Ansicht die Einzelhaft,
wie die Gemeinschaftshaft, beide mit einander ver¬
glichen, auf Sie? Welchen Einfluss hatte der An¬
staltsgeistliche, die Anstaltsbeamten, der Lehrer auf
Sie, welchen die Behandlung durch das niedere Per¬
sonal? Welche Förderung oder Nachtheile brachte
Ihnen die Anstaltsarbeit ? Mit welchen Büchern
und Schriften beschäftigten Sie sich in den Ruhe¬
stunden ? Was können Sie mittheilen über Reue,
Fluchtdrang, Langeweile, über Kunstfertigkeiten, die
sich in der Einsamkeit bei Ihnen entwickelten?
Ueber die Wirkung und Umgehung des Schweige¬
gebots (Klopftelegraphie)? Ueber Disciplinarstrafen?
Es gilt den Versuch eines durchaus wissenschaft¬
lichen und ideellen Unternehmens. Eine Enquete
auf anderem Wege wäre mit grossen, wohl unüber¬
windlichen Schwierigkeiten verbunden.
Dr. jur. Fritz Auer, München, Dachauerstrasse 9.
Anm. d. Red. Das Unternehmen des Herrn
Dr. Auer, welcher der Red. von autoritativer Seite
als ein hervorragend strebsamer und exakt denkender
Jurist bezeichnet wurde, verdient besondere Beach¬
tung der Herren Fachkollegen.
— Zu dem Thema: Die strafrechtliche Be¬
handlung der geistig minderwerthigen Personen,
welches auf dem diesjährigen Deutschen Juristen¬
tage in Innsbruck erörtert wurde, waren Gut¬
achten eingegangen vor dem Geheimen Justizrat
Professor Dr. Kahl (Berlin) und Medicinalrath Dr.
Leppmann (Berlin). Der erste Berichterstatter,
Professor Dr. K 1 e i n f e 11 e r (Kiel) fasste seine Aus¬
führungen in folgenden Leitsätzen zusammen:
1. Wer sich bei Begehung einer strafbaren Hand-
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Original fram
HARVARD UNIVERSITY
1904.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 239
lung in einem dauernden krankhaften Zustand bes¬
tanden hat, welcher das Verständnis für die Straf¬
würdigkeit seiner Handlung oder seine Widerstands¬
fähigkeit gegen strafbares Handeln verminderte, ist
nach dem für minder schwere Fälle geltenden Straf¬
rahmen zu bestrafen.
2. Bei jugendlichen Personen mildert unter der
gleichen Voraussetzung der Richter die Strafe inner¬
halb des für Jugendliche geltenden Strafrahmens
nach freiem Ermessen.
3. Die Aussetzung des Strafvollzuges ist unter den
allgemeinen Bedingungen zulässig.
4. Der Vollzug erfolgt in der gewöhnlichen Straf¬
anstalt unter individueller Berücksichtigung des die
geistige Minderwertigkeit begründenden Zustandes;
5. An Erwachsenen, welche sich für den Vollzug
in einer gewöhnlichen Strafanstalt nicht eignen (ins¬
besondere an Gemeingefährlichen), ist die Strafe
(nach Anordnung des erkennenden Strafgerichts) in
einer staatlichen Sicherungsanstalt zu vollziehen.
6. Jugendliche können im gleichen Fall statt in
der für Jugendliche bestimmten Strafanstalt nach
Anordnung des erkennenden Gerichts in einer staat¬
lichen Sicherungsanstalt oder in einer Erziehungs¬
anstalt untergebracht werden.
7. Geistig Minderwertige, welche gemeingefährlich
sind, müssen nach Vollzug oder Erlass der Strafe in
der staatlichen Sicherungsanstalt bis zur Entlassungs¬
fähigkeit verwahrt werden.
8. Die Entlassung kann nur bedingt und, während
eines gesetzlich begrenzten Zeitraumes, widerruflich
erfolgen.
9! Geistig Minderwertige, welche nicht gemeinge¬
fährlich sind, müssen nach Vollzug oder Erlass der
Strafe einer Beaufsichtigung durch Unterbringung in
einer Familie oder in einer Privatanstalt oder durch
Bestellung eines Pflegers unterworfen werden. Die
Dauer der Aufsicht wird innerhalb einer gesetzlichen
Grenze durch das Urteil bestimmt.
10. Zuständig zur Anordnung der Unterbringung
in der Sicherungsanstalt oder zur Anordnung einer
blossen Aufsicht ist das anerkennende Strafgericht.
11. Zuständig zur Entlassung aus der nachträg¬
lichen Verwahrung und zum Widerruf dieser Ent¬
lassung ist ein aus Beamten der Sicherungsanstalt und
Bürgern gebildetes Kollegium.
Geheimer Justizrath Professor Dr. Kahl und Me-
dicinalrath Dr. Leppmann (Berlin) stellten folgenden
Abänderungsantrag: Im Leitsatz 1 des Antrages
Kleinfeller statt: „dauernder“ zu setzen: „nicht bloss
vorübergehender“. An Stelle Leitsatz 2 zu setzen;
„Bei jugendlichen Minderwerthigen ist an dem vom
27. deutschen Juristentag gefassten Grundsätze fest¬
zuhalten, das heisst von dem Erfolg der Strafe durch
staatlich übernommene Erziehung den weitgreifendsten
Gebrauch zu machen“. Leitsatz 5 und 6 sind wie
folgt in eine Ziffer zu fassen: „An geistig Minder¬
werthigen, die sich für den Strafvollzug in einer ge¬
wöhnlichen Strafanstalt nicht eignen, ist die Strafe
in einer staatlichen Sicherungsanstalt, und soweit es
sich um geistig minderwerthige Jugendliche handelt,
in einer Erziehungsanstalt zu vollziehen“. In Leit¬
satz 7 anstatt staatlichen Sicherungsanstalt zu setzen:
„in geeigneten Anstalten“. Leitsatz 9 zu fassen:
„Geistig Minderwerthige, welche nicht gemeingefährlich
sind, müssen nach Vollzug oder Erlass der Strafe
unter staatlich organisirter Gesundheitsaufsicht bleiben.
Daneben kann Unterbringung in eine Familie oder
Privatanstalt verfügt oder Bestellung eines besonderen
Pflegers vorgesehen werden. Die Dauer einer solchen
Aufsicht wird innerhalb der gesetzlichen Grenzen
durch das Urtheil bestimmt“. Anstatt Leitsatz 10 und
11 zu setzen: „Zum Zwecke der Feststellung der Noth-
wendigkeit der Zulässigkeit von Sicherungsmaassregeln
gegen geistig Minderwerthige hat ein besonderes Ver¬
fahren stattgefunden, welches indessen grundsätzlich von
dem Verfahren der Entmündigung getrennt zu halten ist“.
Nach längerer Erörterung gelangten die Leitsätze in
dieser Fassung zur Annahme.
Referate.
— Ueber die schwierigen Verhältnisse der Irrenpflege
in Mähren hat der Direktor der Landes-Irrenanstalt
in Brünn, Dr. A. Hellwig, in der Prager med. Wochschr.
XXVIII No. 43 u. 44: „Zur Lösung der Irrenfrage
in Mähren“ und in der bei C. Marhold 1903 erschiene¬
nen Broschüre: „Der Stand der Irrenpflege in
Mähren, ein Nothstand,“ ausführlich berichtet und
umfassende Vorschläge zur Abhilfe gebracht.
Die Vorschläge gipfeln in der Forderung nach
einer grossen Siechen- und Pflegeanstalt, der Er¬
gänzung der bestehenden Anstalten durch Kolonien
und Familienpflege, der Entfernung der geisteskranken
Verbrecher aus den Irrenanstalten und deren Unter¬
bringung in Adnexen zu Inquisitenspitälem oder
Strafanstalten, der Errichtung von Trinkerasylen und
einer „Anstalt für Nerven- und Gehimkranke“ als
Zwischenglied zwischen Krankenhaus und Irrenanstalt.
Der Director der Salzburger Irrenanstalt, Dr.
Schweighofer, widmet diesen Brochuren eine
Besprechung, in welcher er insbesondere auf die von Dr.
Hellwig eingehend geschilderten Verhältnisse der
Irrenanstalt in Brünn Bezug nimmt und hierbei
zu folgenden Schlüssen gelangt: „587 Betten Normal¬
belag bei einem Stande von 700 Kranken; 400 neue
Aufnahmen im Jahre, somit eine Gesammtziffer von
1100 Verpflegten, gegen 450 Entlassungen; in den
Abtheilungen für „unreine Kranke“ und „Tobende“
eine Vermehrung des Standes um ein Viertel bis
ein Drittel über das Zulässige, somit z. B. 55 Tobende
in einem Raume, in dem 37 schon zu viel sind;
ein Luftcubus für „Unruhige“ und „Unreine“ von
sage siebzehn Cubikmeter; die Wachstationen über¬
füllt, und, helfe was helfen kann, die Epidemiesta¬
tionen mit Siechen belegt
Dabei bedenke man, dass die Aufgenommenen
nur eine Auslese aus den hilfsbedürftigsten Kranken
des Landes sind, somit diejenigen, denen eine see¬
lische Beruhigung und geistige Pflege am nothwen-
digsten ist.
Mehr als die Hälfte des jeweiligen Standes sind
nach dem Jahresberichte für 1902 noch solche, denen
eine Heilungsmöglichkeit nicht abgesprochen werden
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HARVARD UNIVERSITY
240
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 25.
kann. Kein Mensch wird daran zweifeln, dass ein
übermüdetes Gehirn oder ein reizbares Gemüth der
Ruhe in erster Linie bedarf, um zu genesen.
Wie soll es diese in einer Anstalt finden, welche
derart überfüllt ist und dazu noch nach einem System
gebaut wurde, welches heute deshalb allgemein ver¬
lassen ist, weil es den Kranken die nöthige Ruhe
und Sonderung nicht gewähren kann! Ueberfüllte
Abtheilungen sind immer unruhig, daran kann die
beste Pflege nichts ändern.
Was es heisst, in einer Abtheilung für 37 „Un¬
ruhige“ 55 behandeln zu müssen, kann nur der er¬
messen. der sich diesen johlenden Haufen reizbarer,
unreiner, gewaltthätiger Kranker vorstellt, die einer
den anderen aufregen und bei denen das Schreien
eines einzelnen genug ist, um in der Nacht alle an¬
deren 54 wach zu erhalten und so fort Nacht für
Nacht; — das kann nur der begreifen, der mit der
Aufgabe betraut ist, diese Kranken reizlos, zwanglos,
zellenlos zu behandeln, und ihnen unter Vermeidung
von allzuvielen Schlafmitteln den lange entbehrten
Schlaf als das nothwendigste Mittel zur Gehirnruhe
zu verschaffen; — der dabei verpflichtet ist, dafür zu
sorgen, dass sein erschöpftes Personal, welches durch
den steten Lärm, die Verantwortung und die un¬
appetitliche Danaidenarbeit reizbar geworden ist, sich
nicht zu Gereiztheiten oder Ausserachtlassungen hin-
reissen lässt, und der noch obendrein die Aufgabe
hat, jedem einzelnen Kranken in seiner Individualität
gerecht zu werden.
Krankhafte Reizbarkeit durch Medicamente be¬
handeln zu wollen, ist ein Unding, solange man nicht
daneben auch die Individualität des Kranken berück¬
sichtigen kann. Ein kleines Entgegenkommen in
dieser Beziehung ersetzt Zeile, Zwang und Beruhig¬
ungsmittel, während eine Pflege, welche nicht indivi-
dualisiren kann, Reizbarkeiten oft genug bis zur Un¬
heilbarkeit verlängert.
Unter solchen Umständen ist eine erspriessliche
Heilarbeit der Aerzte unmöglich und es wird die
Anstalt und Pfleger sich aufreiben in nutzloser Pflicht¬
erfüllung.
Dass eine solche Anstalt noch in die Lage kommt,
mehr Kranke zu entlassen, als sie aufgenommen hat,
ist ein Zeichen, mit welcher Anstrengung sie ihrer
Aufgabe gerecht zu werden bemüht ist. Es kann
daher kein Zweifel bestehen, dass mit derselben
Arbeit in günstigen Verhältnissen ganz anderes er¬
reicht werden müsste, und dass es hoch an der Zeit
ist, die Dinge zu ändern.
Verbrecher, Säufer und die nach dem heutigen
Strafgesetze deshalb exculpirten Abnormen, weil an
ihnen der „freie Wille“ nicht entdeckt werden konnte,
in einem Krankenhause neben anständigen Leuten
pflegen zu müssen, ist eine Grausaumkeit gegen die
Kranken, das Personal und die Aerzte.
Landstreichende Gewohnheitsdiebe durch Bettbe¬
handlung und prolongirte Bäder, bestialische Säufer,
welche ihre Familie tagtäglich prügeln und bedrohen,
solange sie vor Rausch noch stehen können, mit
gütigem Zuspruche und Brom behandeln zu wollen,
Prostituirte an einen halbwegs anständigen Umgangs¬
ton zu gewöhnen, damit sie nicht die anderen jungen
Mädchen neben sich verderben, und dabei zusehen
zu müssen, wie alle diese zusammen Kranke und
Personal durch ihre verbrecherischen Eigenschaften
bis zur Verzweiflung treiben und sich dennoch tag¬
täglich über ihnen erwiesenes „Unrecht“ beschweren,
ist eine so übermenschliche Aufgabe, dass zur Er¬
kenntnis derselben lediglich Sachkenntniss nothwendig
wäre.
Jede Anstalt wäre dankbar, wenn sie diese Ele¬
mente wegbrächte und die Klagen über widerrecht¬
liche Intemirung angeblich Gesunder in Irrenanstalten
nicht Geständnisse für Leute sein müssten, denen man
mit dem heutigen Strafgesetze nicht ankann, und
die man deshalb der Humanität in die weichen
Arme wirft; denn nur diese sind es, welche die
Substrate für solche Klagen abgeben, gewissermaassen
der Dank für die Arbeit, das Odium und die Gefahr.
Das wäre längst unschwer und zu allgemeiner Zu¬
friedenheit zu ändern gewesen, wenn man maass¬
gebenden Ortes an solche Aufgaben herangetreten
wäre, statt Erlässe über Tuberkulosebehandlung und
Ankündigungen einwandfreier Spucknäpfe an die Irren¬
anstalten zu versenden.
Eine Anstalt ohne Arbeitsmöglichkeit und beson¬
ders ohne koloniale Arbeit ist wie eine Schule, welche
ihre Kinder nur das Sitzen lehren kann.
Wahnideen und Stimmungsüberreste, welche den
Kem zu krankhaften Vorurtheilen bilden, und im
Gefolge derselben zu falschen Anschauungen und
„verrückten“ Ideen über sich und die Umgebung
führen, mit Schlaf- oder Abführmitteln kuriren zu
wollen , ist so lächerlich, dass ‘man unwillkürlich an
das berühmte Heine’sche Recept, über die Her¬
kunft sublimer Gedanken, erinnert wird.
Jeder gesunde Mensch, der die Wohlthat der
Arbeit an sich kennen gelernt hat, wird einsehen,
wie unumgänglich nothwendig gerade für eine Irren¬
anstalt die Beschäftigung der Kranken ist. Selbst¬
beherrschung zu lernen ist psychischen Invaliden
nothwendiger als Brom, und wie lernt man sie leichter,
als durch die Ordnung, welche die Arbeit in ein
Gemeinwesen hineinbringt.
Es ist ein Nonsens ohnegleichen, einen kranken
Geist heilen zu wollen, während man ihn durch Nicht¬
thun zum Verdummen zwingt.
Es ist aber eine allgemeine Erfahrung, dass die
ländliche Arbeit nicht nur für die Landbevölkerung,
sondern gerade für das überreizte Gehirn des Städters
das wirksamste Behandlungsmittel ist.
Daher unser Verlangen nach Kolonien.
Es wäre dem Lande und seinen Kranken herz-
lichst zu wünschen, dass alle diese Fragen baldigst
aus dem Stadium der Enqueten in das der befreien¬
den That treten würden.“
Für den redactioneiien Thril verantwortlich: Oberar/t Dr. J. Bresler, Lublinit? (Schlesien).
Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Hall« a. S
Heynemann’sche Buchdruckerei (Gebr. WV'fF'k jr> Halle a. S.
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Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift.
Redigirt Von
Oberarzt Dr. Joh.. Bresler,
Lublinitz (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834.
Nr. 26. 24. September. 1904
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermissigung ein.
Zuschriften fUr die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinits (Schlesien), zu richten.
Abonnements-Erneuerung.
Wir bitten die Bestellung auf unsere Wochenschrift baldigst zu erneuern, damit die
Weiterlieferung ohne Störung geschehen kann.
Diejenigen unserer verehrl. Abonnenten, welche die Wochenschrift unter
Kreuzband empfangen, erhalten dieselbe weiter geliefert, sofern eine Abbestellung
nicht erfolgt.
Verlag und Expedition der „Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift"
Carl Marhold in Halle a. S.
Erweiterung des Adnexes für geisteskranke Verbrecher an Strafanstalten.
Von Medicinalrath Dr. P. Näcke in Hubertusburg.
TTs dürfte vielleicht einigen Lesern etwas verfrüht
' erscheinen, jetzt schon weitere Reformen be¬
züglich der Adnexe für geisteskranke Verbrecher an
Strafanstalten vorzuschlagen, nachdem diese Unter¬
bringungsart kaum erst durch gute Erfolge die An¬
erkennung der Meisten sich errungen hat und noch
verhältnissmässig recht wenige solcher Institute er¬
richtet worden sind. Und doch wäre Stillstand auch
hier nur ein Rückschritt und fortwährend muss man
auf Verbesserungen sinnen.
Schon wiederholt, zuletzt an dieser Stelle*), habe
ich hervorgehoben, dass, soll eine solche Anstalt
wfrklich ihren Zweck erfüllen, sie vor Allem keine
blosse Durchgangsstation, wie in Preussen,
sein darf, sondern die Kranken so lange behalten
soll, bis sie geheilt oder, wenn unheilbar, bis sie ihre
störenden Eigenschaften der Gemeingefährlichkeit und
Depravation soweit eingebüsst haben, dass man sie
ohne Schaden an die gewöhnliche Irrenanstalt oder
an die Heimath abgeben kann, was bez. der Harm-
# ) Näcke: Specialanstalten für geistig Minderwertige.
Diese Wochenschr. 1904, Nr. 9 u. 10 (J un i).
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losen sofort zu geschehen hat*). Das bedingt
eben weiter, dass der Adnex grösser als
bisher gebaut werden muss, etwa bis zu
150 Plätzen enthält, um die nöthigen Kranken¬
abtheilungen, wie in jeder Irrenanstalt — und eine
solche soll sie ja auch darstellen — bilden zu können.
Raumvermehrung ist besonders dann am Platze,
wenn etwa gleichzeitig auch Frauen mit aufgenommen
werden sollen. Ein grösserer Gartenraum, etwas
Feld wären, neben Werkstätten zur geeigneten Be¬
schäftigung, die gerade hier doppelt nothwendig er¬
scheint, sehr erwünscht. Der ganze Bau muss
natürlich fester als in der gewöhnlichen Irren¬
anstalt sein, namentlich in den Abtheilungen für sehr
Gemeingefährliche, auch das Regime etwas strenger.
Sonst darf nichts an die Strafanstalt er-
*) Auch der so tragische Tod Vorsters durch die Hand
eines geisteskranken Verbrechers ändert nichts an der Sachlage,
dass trotz Schäfers und Anderer die Mehrzahl der geisteskranken
Verbrecher ziemlich harmlose Gesellen sind. Es wird eben
nur dadurch bewiesen, dass solche seltene Ausnahmen, wie jener
Paranoiker, eben entfernt werden müssen, was sich aber auf
die andern nicht bezieht.
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HARVARD UNIVERSITY
242
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 26.
innern, mit der der Adnex nur wirthschaftlich und
administrativ verbunden ist. Unabhängiger Leiter ist
selbstverständlich ein Psychiater, dem am besten
auch, wenn vom Verwaltungsstandpunkte aus an-
gängig, das Wartpersonal disciplinell untersteht. Die
Zahl der Aerzte und Pfleger hat sich nach dem
Materiale zu richten, möchte aber, allgemein ge¬
sprochen , grösser sein, als in einer gewöhnlichen
Irrenanstalt.
Diese Desiderate sind bis jetzt leider nur zum
Teil erfüllt — am besten noch in Waldheim —,
doch sind sie sicher praktisch und auch durchführ¬
bar, wenigstens an den meisten Anstalten. Bei Neu¬
bauten sollte man gleich von Anfang an darauf
Rücksicht nehmen. Wiederholt habe ich weiter an
verschiedenen Stellen, zuletzt in der angegebenen
Arbeit darauf hingewiesen, dass ausser einer
räumlichen Erweiterung noch eine passende
Vermehrung der Kran ken kategorie 11 an¬
zustreben sei. Dies geschieht, wenn man
ausser den Kranken aus der Strafanstalt
noch die gemeingefährlichen und depra-
virten Elemente unter den irren Ver¬
brechern und unbescholtenen Kranken
der gewöhnlichen Irrenanstalt dort mit
unterbringt und zwar so lange, bis die Ge¬
meingefährlichkeit und Depravation, die
freilich oft genug combinirt sind, verschwunden
oder sehr abgeschwächt sind und eine Rück¬
versetzung der Patienten in die Anstalt oder ihre
Entlassung möglich erscheint. Dieser Gedanke, der
schon vor mir wiederholt von verschiedener Seite
angeregt wurde, war meines Wissens noch nirgends
in die Praxis umgesetzt worden. Wohl fanden sich
z. B. in Amerika und England irre Verbrecher und
verbrecherische Irre öfter vereinigt, aber es fehlten
zur Trias noch die unbescholtenen Geisteskranken,
auf die ich gerade hier besonderes Gewicht lege.*)
Nun lese ich zu meiner grossen Genugthuung,
dass an der Korrektionsanstalt zu Tapiau in Ost-
*) Der Provinzialausschuss von Schleswig-Holstein hat
beim Provinziallandtage die Erbauung einer „besonderen Abtei¬
lung für verbrecherische und gewaltthätige Geisteskranke“ als
eignen Bau für 40 — 50 Kranke an die Provinzialanstalt zu
Neustadt beantragt, aber nur für irre Verbrecher und verbreche¬
rische Irre (diese Zeitschrift, 1904, Nr. 12). Dabei ist der
Schaden der geisteskranken Verbrecher in der Irrenanstalt, wie
gewöhnlich, gewiss übertrieben worden. In Berlin wurde im
Stadtverordneten-Ausschusse (diese Zeitschrift, 1904, Nr. 13)
die Errichtung eines Central-Verwahrungshauses für verbreche¬
rische Geisteskranke auf dem Gelände der Irrenanstalt Buch ge¬
plant. Ob nur für diese oder noch andere Katagorien, ist nicht
gesagt.
preussen*) ein Adnex als selbständige Anstalt unter
dem Namen: Pflegeanstalt für geisteskranke Männer
besteht, die auch sehr störende unbescholtene Irre
aufnimmt, neben den irren Verbrechern, die sie frei¬
lich nicht direkt vom Strafhause bezieht, sondern auf
dem Umwege der Irrenanstalten. Sie besteht seit
dem 1. V. 1898 und enthielt am 1. IV. 1904 68
Kranke. Der Bau ist, wie Plan und Beschreibung
erkennen lassen, im Allgemeinen durchaus zweck¬
entsprechend und ganz mit modernen Einrichtungen
versehen, dabei fest genug, um unliebsamen Ereig¬
nissen zu begegnen. Aerzte und Wartpersonal sind
genügend vorhanden, der dirigirende Arzt (ein Psy¬
chiater) ganz selbständig und das Institut steht nur
wirthschaftlich, administrativ und disciplinell unter
dem Direktor**) des Korrektionshauses. Das Ganze
ist jedenfalls nach Bedarf noch erweiterungsfähig.
Sehr wichtig ist es nun, dass der Leiter mit den
Ergebnissen, die sich auf eine Zeit von 6 Jahren
beziehen, durchaus zufrieden ist und für die Provinz
Ostpreussen eine Aenderung in der Unterbringungs¬
art crimineller Geisteskranker und irrer Verbrecher
nicht für wünschenswerth hält. Dadurch wurden in
der That erst die Provinzialanstalten von ihren bös¬
artigsten und beschwerlichsten Kranken entlastet.
Sehr bemerkenswerth ist aber ferner der Passus, dass:
.,. . . die überfüllten Irrenanstalten weit lieber harm¬
lose Verbrecher behalten und dafür im Interesse der
andern Kranken jene unliebsamen Störenfriede ab¬
schieben. . Die Direktoren geben hier also zu,
dass es 1. harmlose Verbrecher in der Irrenanstalt
giebt — welche meinen und anderer Erfahrungen
nach sogar bei weitem die Hauptmasse bilden —
und 2. so manche der andern unbescholtenen oder
vorbestraften Irren ebenso störend sein können,
eventuell sogar noch mehr, als die bösen Elemente
unter den geisteskranken Verbrechern. So kam es
denn, dass Tapiau einen beträchtlichen Procent¬
satz der Insassen zählt, die nicht kriminell sind,
d. h. auch nicht irre Verbrecher.***)
Interessant ist es aber weiter, die Krankheits¬
formen und die Ursache der Ueberführung der
Kranken zu studiren. Unter den 88 Kranken der
ersten 2 Jahre findet sich nämlich nur 1 mal Para¬
lyse und 26 mal echte Paranoia (darunter 7 Queru-
*) Hoppe: Die Pflegeanstalt für geisteskranke Männer.
Diese Wochenschrift 1904, Nr. 11 (12. Juni).
**) Jedoch darf der Direktor „nur auf Antrag und im Ein*
verständniss mit dem Arzte Ordnungsstrafen verhängen“.
***) In dem Bestände der ersten 2 Jahre waren 34°/ 0 £ ar
nicht vorbestraft; in dem jetzigen Bestände von 68 Personen
sind 14 unbescholten, 8 vorbestraft s— 22 nicht Criminelle.
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Original fram
HARVARD UNiVERSITY
1 9 ° 4 *]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
243
lanten); in dem jetzigen Bestände überwiegt eben¬
falls die Verrücktheit und die Paralyse fehlt über¬
haupt. Das ist auch ganz natürlich. Unter den
geisteskranken Verbrechern ist Paralyse bekanntlich
sehr selten, dagegen Paranoia häufig und letzteres gilt
auch bei den Unbescholtenen, da die Verrückten neben
den Epileptikern wohl am meisten Anlass zu grosser
Gemeingefährlichkeit etc. geben. Sieht man jetzt die
Gründe für die Ueberführung Unbescholtener näher
an, so figurirt bei den 14 Unbescholtenen des jetzigen
Bestandes: 1 mal Zerstörungssucht mit hartnäckiger
Widersetzlichkeit, 1 mal Unverträglichkeit mit stören¬
der Unruhe und 1 mal Unreinlichkeit mit pervers
sexuellen Neigungen. Ohne nun freilich die Kranken¬
geschichten dieser Leute zu kennen, scheint es mir
doch, als ob diese 3 Kranken vielleicht doch noch
in der ersten Anstalt hätten bleiben können. Zer¬
störungssüchtige, Widersetzliche, Unverträgliche, Un¬
ruhige, Unreinliche finden sich überall genug vor
und öfters sogar in ziemlicher Zahl. Wollte man
aber alle diese gewiss unangenehmen Gäste abstossen,
so würde der Adnex für geisteskranke Verbrecher
nur zu bald sich füllen und sein Zweck wäre dann
ge m i ssbraucht. Nur d i e S u per lat i ve dieser
E igenschaf ten, welche wirklich trotz aller
Mittel nicht zu beherrschen sind und das
Getriebe der Anstalt sehr empfindlich
stören, sollten Anlass zur Abstossung der
Kranken werden. Die moderne Irrenanstalt hat
überall eine Abtheilung für Unruhige, Widersetzliche,
Unreinliche etc. und muss ihrer Herr werden. Nur
ruhige, gutmüthige und anständige Kranke zu be¬
handeln, wäre freilich ideal, aber keine Kunst! Eher
stören wirklich die sexuell Perversen, aber nicht blosse
Onanisten, die überall verkommen, sondern die sehr
seltenen Fälle von Pseudo-Homosexuellen*), die frei¬
lich das Getriebe der Anstalt auch nicht wesentlich
beeinträchtigen, wie ich dies z. B. von Hubertusburg
sicher behaupten kann. Also gilt es, den Be¬
griff der Gemeingefährlichkeit und Depra-
vation nicht zu weit zu fassen, soll das neue
Institut seinen richtigen Zweck erfüllen. Der wirk¬
lich gefährlichen, alles störenden und
unmoralischen Kranken giebt es in der
*) Echte Homosexuelle dürften in Landesanstalten ganz
abnorm selten sein; ich habe wenigstens keine gesehen! Eher
finden sie sich in Privatanstalten. Schon allein dieser Umstand
beweist, dass bei der immer mehr anerkannten relativ grossen
Ausbreitung des 3. Geschlechts die Homosexualität, wenn
überhaupt eine Degenerationsform, doch lange keine so schlimme
sein kann, wie noch die meisten Psychiater anxunehmen ge¬
neigt sind.
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Irrenanstalt doch nur meist wenige un d
diese müssen allerdings fort Unter ca. 400
erwachsenen Männern zähle ich in Hubertusburg
nicht mehr als 2—3 solcher Elemente, die ich
im Interesse der übrigen entfernt wissen möchte!
Bei den Frauen würde die Zahl natürlich eine
grössere werden, weil hier die gewaltthätigen, sehr
störenden und unmoralischen Kranken viel zahl¬
reicher vertreten sind. Ein gleiches gilt auch von
den Epileptikern, die daher von ihren störendsten
Elementen gereinigt werden müssen.
Tapiau hat also bewiesen, dass die Unterbring¬
ung der 3 Arten von Kranken: irre Verbrecher, ver¬
brecherische Irre und sehr störende, aber unbeschol¬
tene Geisteskranke, sich gut bewährt hat. Das fordert
zur Nacheiferung an. Wo Adnexe schon gebaut sind,
lassen sie sich meist erweitern. Bei Neubauten ist gleich
von Anfang an die Anlage zu vergrössem. Da aber
wahrscheinlich hier und da Recriminationen von Fami¬
lienangehörigen erfolgen werden *), dass die verbreche¬
rischen Irren, d. h. also Unschuldige einerseits und
gar unbescholtene Geisteskranke andererseits mit den
eigentlichen irren Verbrechern — die freilich meist
auch nur verbrecherische Irre sind! — gemeinsam
untergebracht werden sollen, so würde sich der
Name: Anstalt für gefährliche Geistes¬
kranke mehr empfehlen als der: Adnex
für geisteskranke Verbrecher. Dies kostet
ja nichts und würde manche Empfindlichkeiten be¬
seitigen und zwar zum Wohle des Ganzen. Wenn
nun aber jene 3 Kategorien vereinigt werden sollen,
so fragt es sich weiter: in welcher Art am besten.
Getrennt oder nicht getrennt ? Würde man eine
Trennung treffen, so stiege die Zahl der einzelnen
Abteilungen zu sehr an, wäre also wenig praktisch, wie
ich jetzt gegen früher einsehe. Besser ist schon eine
Zweitheilung in Gemeingefährliche und in allein oder
doch vorwiegend Unmoralische. Am einfachsten und
zweckentsprechendsten erscheint es je¬
doch, alle Insassen ohne Unterschied
nach den in der gewöhnlichen Irrenan¬
stalt üblichen Regeln abzuth eilen, was
kaum irgendwie anstossen würde, zumal wenn die
Etiquette der Ansalt eine andere geworden ist.
Gewissen Empfindlichkeiten seitens der Kranken
könnte man eventuell auch Rechnung tragen.
Als Bau empfiehlt sich ein Kasemenbau oder
2 grosse Blocks für zusammen ca. 150 Personen ad
maximum. Müssten Frauen und Männer gemeinsam
*) In dem Berichte über Tapiau ist hierüber nichts mit-
getheilt. Es scheinen also dort keine solche Klagen erfolgt zu
sein.
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HARVARD UN1VERSITY
244
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 26.
Unterkommen finden, so wäre strenge Trennung, am
besten in Blocks, angezeigt. Am zweckentsprechend¬
sten aber ist: nur eine Anstalt für Männer und eine
andere für Frauen an anderem Orte zu bauen. Ob
etwa eine Arbeitskolonie in Frage kommt, kann nur
die Zukunft lehren, doch wird dann auch hier min¬
destens für die Gefährlichsten eine festere Abtheib
ung sich nöthig machen. Für einige festere Zellen
hat man in der Anstalt natürlich Sorge zu tragen.
Freilich wird bei rationeller und ausgiebiger Anwen¬
dung der Bettbehandlung und besonders der Dauer¬
bäder Isolirung sicher immer seltener werden, wenn¬
gleich unter bewandten Umständen nie ganz auf¬
hören.
Wir können zum Schluss aber noch einen Schritt
weiter gehen. Sicher wird es soweit kommen — und
die Saat ist schon reif! —, dass auch der ge-
wöhnlicheGefängnissarztgenügendepsy-
chiatrische Kenntnisse besitzen muss, um
unter den Gefangenen verkannte Geisteskranke recht¬
zeitig zu erkennen, ebenso die Anfänge einer sich
entwickelnden Psychose, nicht weniger auch die
vielen Minderwevthigen. Die Irren wird er gleich
ausschalten und sie, wenn gefährlich etc., an die
Anstalt für gefährliche Geisteskranke, wenn harmlos,
an die gewöhnliche Irrenanstalt, und die Minder-
werthigen an die dafür bestimmten Institute abgeben.
So wird die Zahl der wirklichen geisteskranken
Verbrecher, d. h. also solcher, welche erst während
des Strafvollzugs erkrankten, immer mehr einschmelzen.
Noch mehr geschieht dies aber, wenn, was wohl auch
nur eine Frage der Zeit ist, künftig viel
mehr Angeklagte, als jetzt, namentlich
principiell alle eines schweren Verbrechens
Beschuldigte oder Greise einer psychia¬
trischen Expertise unterworfen werden.
Ist nun einmal dieser Zeitpunkt gekom¬
men — und er wird sicher kommen! — dann
hat der Adnex an der Strafanstalt keine
Daseinsberechtigung mehr, da aus dem
Gefängnisse selbst nur noch sehr wenig
dort erst Erkrankte dahin kommen werden.
Er kann also vom Strafhause ganz losge¬
löst und als eigene, selbständige Anstalt
an eine gewöhnliche Irrenanstalt ange¬
gliedert werden, wo er unter dem Namen:
Anstalt für gefährliche Geisteskranke
erst recht segensreich wirken würde.
Wir nähern uns so dem Plane Colin’s, den ich in
meiner letzten Arbeit darlegte, nur dass hier die In¬
sassen etwas andere sind, aber doch alle das Ge¬
meinsame der Gefährlichkeit und Unmoralität an
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sich tragen und die Hauptanstalt von solchen Ele¬
menten entlasten helfen. Auch die paar echten irren
Verbrecher aus dem Strafhause könnten hier ver¬
pflegt und behandelt, ebenso die einer Psychose
Verdächtigen beobachtet werden. Für unvorher¬
gesehene Fälle müsste das Gefängniss aber in seinem
Lazareth eine Stube mit den nöthigsten Einrichtungen
besitzen. Die Verbindung der Anstalt mit dem Irren¬
hause ermöglicht dann leicht einen Austausch von
Kranken, ferner eine für den Psychiater interessante
fortlaufende Beobachtung, und für den Arzt und den
Wärter, deren Loos an einem solchen Institute für
gefährliche Irre wahrlich kein beneidenswerthes ist,
wäre die Nähe der Schwesteranstalt eine grosse An¬
nehmlichkeit. Aus dem Vorhergehenden erhellt wohl
aber zur Genüge, dass diese Anstalt eine wirkliche,
vollständige Irrenanstalt ist und daher nicht etwa
mit den sog. Adnexen an Irrenhäusern, die sich
wenig bewährten, zu verwechseln ist.
Man strebt schon seit langem mit vollem
Rechte nach einer Trennu n g der Anstalten
in Heil- und Pf lege an stal ten. *) Ein wei¬
teres Desiderat wäre aber, dass die Pflege¬
anstalt möglichst auf dem Areale der
Heilanstalt läge, schon um den beim Publikum
anstössigen Namen: Pflegeanstalt zu vermeiden, da
dann die beiden Anstalten zusammen den Namen.
Heil- und Pflegeanstalt weiter führen oder einen
andern gemeinsamen Namen annehmen könnten.
Die äusserliche Verbindung beider würde sehr grosse
Vortheile haben, auf die ich aber an dieser Stelle
nicht näher eingehen will. Als drittes Glied
könnte dann auf passendem Terrain -—
was wohl nur auf dem platten Lande möglich wäre
— an die eine oder andere Heil- und
Pflegeanstalt die Anstalt für gefährliche
Geisteskranke angeschlossen werden. Jedes
dieser getrennten Institute hätte einen
selbständigen ärztlichen Leiter, könnte
aber, der Billigkeit halber, eine gemein¬
same wirthschaftliche und administrative
Spitze haben. Natürlich würde es im Lande nur
wenig solcher Anstalts-Komplexe geben. Hier wären
dann alle Geisteskranken der verschiedensten Her¬
kunft zentralisirt, was seine grossen Vortheile hätte,
und das Odium der Strafanstaltsadnexe fiele ganz
weg. Eine Gerechtigkeits-Forderung wäre es aber
* Diese wären in Bau, hygienischen Einrichtungen«
Komfort und Diät viel einfacher herzustellen, als die eigent¬
lichen Heilanstalten, wie es die praktischen Engländer schon
längst thun. Kasemenbauten oder grosse Blocks wären viel¬
leicht das Entsprechendste. _
Original fr&m
HARVARD UNiVERSITY
I 9 ° 4 *J
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
245
dann, dass 1. die Aerzte an allen 3 Anstalten regel¬
mässig unter einander wechseln, was auch der Wissen¬
schaft zu gute käme und 2. wenn ein gleiches bei
den Wärtern nicht durchführbar ist, doch dort, wo
grössere Anforderungen an sie gestellt werden, mehr
Gefahren sie bedrohen u. s. f., der Gehalt ein höherer
ist.
Um aber etwaigen Missverständnissen zu begegnen,
erkläre ich nochmals, dass meine alte Forderung:
Adnexe am Strafhanse zu bauen und für die 3 Kate¬
gorien von Kranken einzurichten, am besten unter
Annahme des Namens: Anstalt für gefährliche Gei¬
steskranke, nach wie vor bestehen bleibt. Nur dort,
wo diese Nothwendigkeit durch eben dargelegte
Gründe nicht mehr vorliegt, und nur dann erst,
soll die Anstalt für die gefähi liehen Irren an eine
schon bestehende Heil- und Pflegeanstalt als selbst¬
ständige kleine Irrenanstalt angegliedert werden.
M i t t h e i
— Fortschritte der Familien pflege Geistes¬
kranker.
Der Rath der Stadt Dresden beabsichtigt
männliche und weibliche Pfleglinge des Stadt-
Irren- und Siechenhauses und des Luisenhauses in
der Vorstadt Löbtau, bei denen nach ärztlichem Gut¬
achten von einer ferneren Verhaltung in der ge¬
schlossenen Anstalt versuchsweise abgesehen werden
kann, gegen Gewährung eines von Fall zu Fall fest¬
zusetzenden täglichen, in Monatsraten zahlbaren Pfleg¬
geldes in geeigneten Familien, die in Dresden oder
dessen Umgebung wohnen, unterzubringen. Gefordert
wird, dass gegen das vereinbarte Pfleggeld die Pfleg¬
linge in Kost, Wohnung, Heizung, Beleuchtung,
Reinigung und kleineren Ausbesserungen an der Klei¬
dung, Wäsche u. s. w. vollständig unterhalten werden,
dass sie am Familienleben im Hause, wie bei ge¬
meinschaftlichen Erholungen, insbesondere auch un¬
eingeschränkt am Familientische teilnehmen dürfen,
und dass ihnen ein genügend grosser, möglichst ge¬
sonderter Schlafraum gewährt, sie auch zu geeigneter
nützlicher Beschäftigung angehalten werden. Anmel¬
dungen zur Uebernahme von Pfleglingen sind bei der
Inspektion des Stadt-Irren- und Siechenhauses, Löb-
tauer Strasse 31, zu bewirken, woselbst auch jede
weitere Auskunft erteilt wird und auf mündliches oder
schriftliches Verlangen Abdrücke von den Verhaltungs¬
vorschriften für Pflegefamilien verabfolgt werden.
Einführung der Familien-Pflege Geistes¬
kranker in Wien. Die überraschend günstigen
Erfolge, welche in Mauer- Oehling mit dieser
Verpflegsform erzielt worden sind, haben den Re¬
ferenten für die Irrenanstalten des Landes Nieder¬
österreich , Landesausschuss Leopold Steiner, veran¬
lasst, um einerseits den Wünschen der Psychiater
nach Ausbreitung der Familienpflege gerecht zu
werden, andererseits eine Entlastung der überfüllten
Landes-Irrenanstalt in Wien von den unheilbaren
und harmlosen Geisteskranken herbeizuführen, die
Einführung der Familienpflege auch in Wien in Aus¬
sicht zu nehmen.
Behufs Besprechung der Modalitäten der Durch¬
führung dieses Projektes hat am 15. d. M. im Land¬
hause unter Vorsitz des Landesausschusses Leopold
Steiner eine kommissionelle Berathung stattgefunden,
an welcher Ministerialrath Dr. Ferdinand Illing in
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1 u n g e n.
Vertretung des Ministeriums des Innern, die Statt-
haltereiräthe v. Wagner und Dr. Netolitzky für
die k. k. niederösterreichische Statthalterei, Landes-
Oberinspektionsrath Gerenyi, die Direktoren Regie¬
rungsrath Dr. Tilkowsky der niederösterreichischen
Landes-Irrenanstalt Wien und Dr. Starlinger der
Kaiser Franz Josef-Landes-Heil- und Pflegeanstalt
von Mauer-Oehling, niederösterreichischer Landes-
Sanitätssekretär Dr Wilhelm Lorenz, Polizeichef¬
arzt kaiserlicher Rath Dr. Merta namens der Polizei,
Magistratssekretär Dr. Dont und Bezirksarzt Dr.
Grünberg vom Stadtphysikate in Vertretung der
Gemeinde Wien theilnahmen.
Landesausschuss Steiner verwies darauf, dass die
anlässlich der Errichtung der Kaiser Franz Josefs-
Landes-Heil- und Pflegeanstalt in Mauer-Oehling vom
Lande Niederösterreich freiwillig übernommene Ver¬
pflichtung der Obsorge für unheilbare, harmlose
Geisteskranke, welche bisher der öffentlichen Armen¬
versorgung zur Last fielen, infolge der Wirkungen des
neuen Heimathsgesetzes eine bedeutende Ueberfüllung
der Wiener Irrenanstalt mit sich gebracht hat. Wohl
sei versucht worden, dieser Ueberfüllung durch Ab¬
gabe von Kranken aus Wien an die Landesirren¬
anstalten auf dem Lande abzuhelfen, doch sei der
Zuwachs an unheilbaren Geisteskranken ein so be¬
trächtlicher, dass die Irrenanstalten gegenwärtig einen
Ueberbelag von mehr als tausend Kranken zählen.
Es steht zu befürchten, dass die neue Wiener Irren¬
anstalt, welche für 2000 Plätze berechnet ist, sofort
nach ihrer Eröffnung gefüllt sein wird und müssen
daher, sowohl um dem Bedarfe bis zur Fertigstellung
der neuen Anstalt zu genügen als auch für die Folge
einen Abfluss der unheilbaren, ruhigen Kranken zu
sichern, beizeiten Vorkehrungen getroffen werden.
Als solche erscheinen vorgeschlagen: die provisorische
Einrichtung von Unterkunftsräumen für pflegebedürf¬
tige Geisteskranke und die Einführung der Familien¬
pflege in Wien. Der erste dieser beiden Vorschläge,
welcher umfangreiche Vorarbeiten erfordert, bildet
den Gegenstand von Erhebungen beim nieder¬
österreichischen Landesausschusse. Die Einführung
der Familienpflege jedoch könnte mit Rücksicht da¬
rauf, dass diese Institution in Mauer-Oehling bereits
erprobt sei, sofort in Angriff genommen werden.
Ueber Aufforderung des Vorsitzenden berichtete
Oberinspectionsrath Gerenyi über die Belagsverhält-
Original from
HARVARD UNIVERSITY
246
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 26.
nisse der niederösterreichischen Landes-Irrenanstalten,
die rechtlichen Voraussetzungen für die Einführung
der Familienpflege in Wien und über das vorliegende
Studienmaterial, welchem die diesbezüglich in
Berlin, wo seitens der Irrenanstalten Dallberg und
Herzberge 700 Kranke in Familienpflege gehalten
werden, gewonnenen Erfahrungen zugrunde liegen.
Direktor Dr. Starlinger referirte über die
Familienpflege in Mauer-Oehling, woselbst 135
Kranke bei Landwirten, Gewerbetreibenden, Kauf¬
leuten etc. untergebracht sind. Die Erfolge erweisen
sich infolge der unausgesetzten ärztlichen Ueberwachung
als äusserst befriedigende. Die Anstalt bezahlt für
die Kranken ein Kostgeld und stellt ihnen Kleidung,
Wäsche und Schuhe bei. Allmonatlich müssen die
Kranken in die Anstalt Überstellt werden, woselbst
ihnen ein Bad verabfolgt und ihr Gewicht konstatirt
wird. Die Familienpflege hat sich geradezu als
Kulturträger erwiesen, da die Vorurteile gegen Geistes¬
kranke in der Bevölkerung geschwunden sind und
die hygienischen Verhältnisse in den von Kranken
bewohnten Häusern infolge des Einflusses der visiti-
renden Aerzte sich übei raschend gebessert haben.
Selbstverständlich wird bei der Auswahl der Kranken
mit der grössten Sorgfalt vorgegangen und ist bisher
auch nicht der geringste Anstand vorgekommen.
Regierungsrath Dr. T i 1 k o w s k y berichtete über
die Belagsverhältnisse der niederösterreichischen Landes¬
irrenanstalt in Wien. Er ist entschieden der Ansicht,
dass die Familienpflege Geisteskranker auch in Wien
durchführbar sei, dass jedoch Epileptiker, Paralytiker
und ganz besonders die Alkoholiker von dieser Ver-
pflegsart auszuschliessen sein werden.
Landes - Sanitätssekretär Dr. Lorenz referirte
über die von ihm gepflogenen Studien über die
Familienpflege in Berlin. Dort bestehe diese Ein¬
richtung seit zwanzig Jahren. Es werden mit Aus¬
nahme sexuell erregter, moralisch schwachsinniger
oder Geisteskranker, welche vorbestraft sind, alle
Arien von Kranken in die Familienpflege gegeben.
Schlechte Erfolge hat man nur mit den Alkoholikern
erzielt und wird daher deren Abgabe in die Familien¬
pflege eingeschränkt Die Kranken sind bei Ge-
werbsleuten, Arbeitern, vorzugsweise aber auch bei
alleinstehenden Frauen und solchen Familien unter¬
gebracht, welche sich sonst mit der Vermietung von
Zimmern oder dem Halten von Bettgehern befassen.
Die Bewerbung um Kranke ist eine sehr rege und
auch dort der erziehliche Einfluss der Familien pflege
auf die Kranken unverkennbar.
Polizeichefarzt kaiserlicher Rath Dr. Merta gab
seiner Ansicht Ausdruck, dass er unter der Voraus¬
setzung einer entsprechenden Kontrolle der Kranken
durch die Anstaltsärzte die Einführung der Familien¬
pflege in Wien nicht nur für durchführbar, sondern
sogar für eine wesentliche Verbesserung der gegen¬
wärtig hinsichtlich der ausserhalb der Anstalt befind¬
lichen Geisteskranken bestehenden Verhältnisse halte.
Es stehe heute nach dem Statute der Irrenanstalt
jedermann frei, einen Kranken aus der Anstalt gegen
•Revers zu entnehmen. Die Anstalt schreibt in dem
Reveise die Bedingungen, vor, unter welchen die Ent-
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lassung des Kranken in die Familie erfolgen kann,
und ist es Sache der Polizei, zu prüfen, ob die be¬
treffende Familie in der Lage ist, den Anforderungen
der Anstalt zu genügen. Da kommt es nun öfter
vor, dass in Fällen, wo die Anstalt der Partei die
Bestellung eines eigenen Wärters vorschreibt, die
Partei sich diesen Irrenwärter für die polizeiliche
Revision aufnimmt, nach derselben aber unmittelbar
wieder entlässt, so dass thatsächlich der Kranke ohne
Aufsicht gehalten wird. Eis befinden sich in Wien
in der Familie sehr viele Kranke, welche als unheil¬
bar und harmlos zu betrachten sind, infolge mangel¬
hafter Aufsicht aber für ihre Umgebung belästigend
wirken. Eine ständige Beaufsichtigung durch die
Anstaltsärzte und die Bestreitung des Unterhalts der
Kranken durch die Anstalt würde hierin eine wesent¬
liche Besserung herbeiführen.
Auch die Vertreter des k. k. Ministeriums des
Innern, der Ministerialrath Dr. Illing, und der k. k.
niederösterreichischen Statthalterei, Statthaltereirath v.
Wagner, sind der Anschauung, dass bei sorgfältiger
Auswahl der Pflegestellen und der in die Familien¬
pflege abzugebenden Kranken sowie bei genauer Ein¬
haltung der hinsichtlich der Controlle zu erlassenden
Vorschriften gegen die Einführung der Familienpflege
in Wien keine Bedenken obwalten, dieselbe vielmehr
als ein Fortschritt zu bezeichnen sein dürfte.
Oberbezirksarzt Dr. Grünberg erklärt sich gegen
die Familienpflege überhaupt, insbesondere aber in
Wien; seiner Ansicht nach gehören alle Geisteskranken
in die Irrenanstalten.
Dieser Ansicht traten die Irrenanstaltsdirektoren
Regierungsrat Dr. Tilkowsky und Dr. Starlinger
auf das entschiedenste entgegen. Die moderne
Psychiatrie betrachte die Familienpflege als den
Schlussstein in der Reform des Irrenwesens. Das
Aufgeben der Familien pflege wäre gleichbedeutend
mit einem Rückschritte, ja es hiesse die Ausschaltung
Niederösterreichs aus den modernen Kulturbestre¬
bungen auf dem Gebiete der Irrenpflege, woran die
Irrenärzte nicht betheiligt sein wollen.
Der Vorsitzende resumirte die erstatteten Re¬
ferate und Aeusserungen dahin, dass, un vorgreif lieh
der amtlichen Erledigung dieser Frage im Wege des
sofort einzuleitenden Schriftenwechsels, die Enquete-
mitglicder ihrer persönlichen Anschauung nach die
Familienpflege in Wien unter den besprochenen Vor¬
aussetzungen als durchführbar erachten.
Es wird nunmehr seitens des niederösterreichischen
Landesausschusses mit den kompetenten Behörden in
Verhandlung getreten und nach Erlangung der Zu¬
stimmung die Familienpflege Geisteskranker in Wien in
der Weise zur Durchführung kommen, dass unheilbare,
harmlose Geisteskranke an Private gegen Bezahlung
einer täglichen Verpflegungsgebühr von 80 H. bis 1 K
und Beistellung von Kleidung, Wäsche und Schuhen
seitens der Anstalt abgegeben und diese Kranken fort¬
laufend durch Oberpflegepersonen und Aerzte sowie
durch die Inspektionsorgane des niederösterreichischen
Landesausschusses controllirt werden.
[Deutsches Volksblatt, Wien, 18. IX. 04.)
Original from
HARVARD UNIVERSUM
1904.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
247
Referate.
— W. K. Clifford. Von der Natur der Dinge an
sich. Aus dem Englischen übersetzt und herausge¬
geben von Dr. Hans Kleinpeter. Mit einer Einleitung
über Cliffords Leben und Wirken. Leipzig, Verlag von
Barth, 1903.
Die kleine Schrift zerfällt in die ausführliche Ein¬
leitung des Herausgebers, in der er uns eingehend
mit der Vita und der philosophischen Thätigkeit
Cliffords bekannt macht und in die eigentliche Ab¬
handlung: Ueber die Natur der Dinge an sich. Diese
Lehre fasst Verf. in folgende 2 Hauptpunkte zusammen
I. Die Materie ist ein Gedankenbild, in der Seelen¬
stoff das vorgestellte Ding ist.
II. Vernunft, Verstand, Wille sind Eigenschaften
eines Komplexes, der aus an sich weder vernünftigen,
noch verständigen, noch bewussten Elementen besteht.
Heinicke-Grossschweidnitz.
— Gerichtsassessor Duering, Ist die Unter¬
bringung geisteskranker Verbrecher nach der Vorschrift
des Ministerialerlasses vom 15. Juli 1901 Sache der
Landarmenverbände? Preussisches Verwaltungsblatt
Nr. 25, Jahrgang XXV, 1904.
Verf. weist nach, dass die Kosten der Verpflegung
geistig erkrankter Gefangenen die Justiz- oder Polizei¬
behörden zu tragen hätten, so lange der Kranke
gefangen bliebe, gleichgültig von wem die Verpflegung
ausgefuhrt würde. Das Bundesamt für das Heimaths-
wesen hat entschieden, dass eine formelle Entlassung
der Gefangenen nicht zur Befreiung von dieser Ver¬
pflichtung genügt, wenn die Polizeiverwaltung gewisse
Rechte über den Kranken auch in der Irrenanstalts¬
verpflegung sich Vorbehalten hat. Die diesbezüglichen
Entscheidungen stellen Folgendes fest: Die Justiz¬
oder Polizeibehörde hat für die Verpflegungskosten
aufzukommen, 1. wenn sie die Krankenhausverwaltung
ei sucht hat, den Kranken nach Genesung wieder zur
Haft einzuliefem; 2. wenn sie ersucht hat, vor der
Entlassung des Kranken Nachricht zu geben; 3. die
Gefangenschaft gilt nur dann als aufgehoben, wenn
der Kranke selbst freie Entschliessung darüber hat,
ob er nach Hause zurückkehren oder in einem selbst
gewählten Krankenhause seine Heilung erwarten will;
er darf nicht verhindert gewesen sein, nach seiner
Heilung sich als freier Mann nach jedem ihm belie¬
bigen Orte zu begeben; 4. die Armenpflege ist nicht
zu den Kosten verpflichtet, wenn die Polizeibehörde
ersucht hat, den Kranken nicht ohne Genehmigung
des Polizeipräsidenten zu entlassen.
Der Ministerialerlass vom 15. Juni 1901 ordnet
nun ähnliche Beschränkung der Entlassungsfreiheit
für folgende Gruppen von Geisteskranken an: 1. für
die auf Grund von § 51 R. Strgb. freigesprochenen
oder auf Grund von § 203 Str. P. O. ausser Ver¬
folgung gesetzten Kranken (kürzlich hat ein neuer
Ministerialerlass diese Gruppe noch erweitert, Refer.),
2. für die von der Polizeibehörde eingelieferten Kranken,
bei denen um Mittheilung der beabsichtigten Entlassung
ersucht ist, 3. für sonstige nach Aftsi^ 1 * des Anstalts¬
leiters gefährlichen Kranken. jst der Ansicht,
dass auch für diese Gruppen die Zahlungspflicht von
dem Armenverbande auf die Polizeibehörde übergehe,
namentlich wenn die Polizei gegen die Entlassung
Einspruch erhebe. Verf. glaubt, dass nach den Ent¬
scheidungen der Rechtsprechung künftighin die Polizei¬
verwaltungen für alle geisteskranken Gefangenen die
Kosten werden tragen müssen. Er sucht nachzuweisen,
dass der Erlass vom 15. 6. 01 gewissermaassen eine
polizeiliche Maassnahme durch die oberste Behörde
darstelle, und tritt Einwendungen, die ihn in anderem
Sinne zu Ungunsten der Armen verbände auslegen
wollen, entgegen. Sollten jedoch die kommenden
Entscheidungen des Bundesamts für das Heimaths-
wesen entgegen der Ansicht des Verfassers ausfallen,
so hätte der genannte Erlass eine bedeutende Ver¬
schiebung der den Armen verbänden gesetzlich auf¬
erlegten Kostenlasten zu deren Nachtheile zur Folge;
dann wäre aber auch die Frage nach der Rechts¬
gültigkeit des Erlasses aufzuwerfen, da er in seinen
Bestimmungen über das Gebiet der Verordnung hinaus
in den Bereich der Gesetzgebung eingriffe.
Dr. Fritz Hoppe, Tapiau.
— Archiv für Kriminal-Anthropologie
und Kriminalistik. 15. Bd, H. 2/3.
Ernst Loh sing, Zur Frage des ärztlichen
Berufsgeheimnisses.
Entgegen der Ansicht von Gross, dass der Arzt
dann nicht unbefugt im Sinne des Gesetzes handelt,
wenn er nach bestem Wissen und Gewissen ein ihm
als Arzt anvertrautes Privatgeheimniss eines höheren
Zweckes wegen offenbart, äussert Verf., dass die
Offenbarung eines ärztlichen Berufsgeheimnisses un¬
befugterweise, d. h. dem objektiven Rechte zuwider
erfolgt. Die Widerrechtlichkeit wird aber ausgeschlossen
1. durch die Erlaubniss des Betreffenden, 2. durch
entgegenstehende Rechtspflicht, 3. durch das Verlangen
des gesetzlichen Vertreters des Betreffenden, 4. durch
den Zweck der Berufsausübung.
Ferner hat das Berufsgeheimniss auch für die
Angehörigen und Bediensteten der Aerzte zu gelten.
Es wäre wünschenswert, es auch auf die Besucher
der Kliniken auszudehnen.
Medicinalrath Dr. P. Näcke in Hubertusburg:
Ein Besuch bei den Homosexuellen in Berlin, mit
Bemerkungen über Homosexualität.
Verf. besuchte unter Führung Dr. Hirschfeld’s eine
Monatsversammlung des „wissenschaftlich-humanitären
Comite’s“, ferner einen Privatzirkel und Wirtschaften
besseren sowie gewöhnlicheren Grades, welche meist
von Homosexuellen besucht werden, deren es nach
Dr. Hirschfeld in Berlin mindestens 20—40000 giebt.
Bis auf eine Kussscene sah Verf. nirgends etwas
Ekelerregendes, sondern die Besucher auch der
niedrigsten Lokale verhielten sich durchaus anständig.
Unter den Hunderten von Gästen war wahrscheinlich
eine ziemliche Zahl völlig normal, sodass der Bericht¬
erstatter geneigt ist, die Homosexualität als eine nor¬
male, seltenere Variation des Geschlechtstriebs anzu¬
sehen, höchstens als eine leichte Missbildung, nicht
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Original from
HARVARD UNIVERSITY
248
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 26.
aber als Krankheit.; Nur wenn weitere Stigmen vor¬
handen sind, kann von wirklicher Entartung gesprochen
werden. Deutliche Effemination, auch wenn weitere
Entartungszeichen fehlen, würde Verf. für eine grössere
Störung halten als die gewöhnlichen Fälle von Inver¬
sion, wo jene abgeht. Erwähnenswerth ist noch, dass
selten Homosexualität in der Ascendenz besteht, da¬
gegen relativ häufig bei Geschwistern und Vettern.
Wachsuggestion bleibt meist erfolglos. Urninge
sollten nicht heirathen oder höchstens Uminden ehe¬
lichen. Dost-Hubertusburg.
— Archiv für Psychiatrie und Nerven¬
krankheit en, Bd. 3 8, Heft 1.
Pick (Prag). Zur Pathologie des Ich-Bewusst¬
seins. Studie aus der allgemeinen Psychopathologie.
Verf. berichtet über das gar nicht so Seltene Vor¬
kommen von gewissen Störungen des Persönlichkeits-
betvusstseins, welche zuerst von Krishaber und dann von
Taine beschrieben worden sind. Diebetreffenden Kranken
klagen ziemlich plötzlich über veränderte Sinnes¬
empfindung und über eine, trotz Erhaltenbleibens des
Gedächtnisses und Unheils, daraus resultirende Vor¬
stellung einer Aenderung des Ich. Sie glauben ent¬
weder überhaupt nicht mehr zu sein oder nicht mehr
dieselben Personen zu sein, wie früher (Entfremdung
des eigenen Ichs, Depersonalisation). Bisweilen steht
im Vordergründe das Gefühl, als wären sie nicht
diejenigen, von denen ihre, im übrigen inhaltlich un¬
gestörten, Willenshandlungen ausgehen.
Ganser (Dresden). Zur Lehre vom hysterischen
Dämmerzustände.
Verf. verfügt jetzt über 20 Fälle, welche das von
ihm 1897 beschriebene Krankheitsbild darbieten. Bei
allen Kranken waren die bekannten Symptome (un¬
sinnige Antworten, Bewusstseinsstörungen mit Er¬
innerungsdefekten und Sensibilitätsstörungen) nach¬
weisbar. Gegenüber der Darstellung Nissls, welcher
das Zustandsbild als eine Art katatonischen Negativismus
auffasst, bleibt Verf. bei seiner früheren Ansicht, dass
es sich um einen wirklichen hysterischen Dämmerzustand
handelt und begründet dieselbe eingehend.
Taniguchi (Japan). Ein Fall von Distomum-
erkrankung des Gehirns mit dem Symptomencomplex
von Jackson’scher Epilepsie, von Chorea und Athetose.
Bei einer 17 jährigen Japanerin traten plötzlich
Krampfanfälle auf, welche in der linken Körperhälfte
begannen und als corticale Epilepsie anzusehen waren.
Dann kam es zu schlaffer Lähmung in den linken
Extremitäten und zu choreatischen Bewegungen in
denselben, im weiteren Verlauf zu einer spastischen
Lähmung, und mit dem Zunehmen der spastischen
Lähmung wandelte sich die Chorea in Athetose um.
Anatomisch fanden sich entzündliche Erweichungsherde
im Marklager der rechten Grosshirnhemisphäre, nicht
weit entfernt von der Rinde. In jedem Herde fanden
sich Eier des in Japan sehr häufigen Lungenegels.
Verf. nimmt an, dass von Mutterthieren, die wahrschein¬
lich in der Lunge gesessen haben, Eier auf embo-
lischem Wege ins Gehirn gelangt sind und hier an
verschiedenen Stellen des Marklagers unterhalb der
Rinde kleinere Gefässe verstopft haben.
W i z e 1 (Warschau). Ein Fall von phänomena¬
lem Rechentalent bei einem Imbecillen.
Ein jetzt 22jähriges Mädchen, welches im 6.
Lebensjahr, nachdem es bis dahin gesund und geistig
normal entwickelt war, an Typhus erkrankte, bot im
Anschluss daran „völlige Stumpfsinnigkeit und Idiotis¬
mus mit epileptischen Anfällen“. Im Laufe der Zeit
trat Besserung ein, doch blieb sie imbecill. Nach
einigen Jahren manifestirte sich eine auch jetzt noch
vorhandene einseitige Begabung im Rechnen. Sie
konnte zwar weder lesen noch schreiben, auch keine
Zahlen, doch leistete sie im Multipliziren und Poten-
ziren,namentlich 2 stelliger Zahlen erstaunliches. Auch im
Dividiren waren ihre Leistungen ausgezeichnet, dagegen
im Addiren nnd Subtrahiren auffallend gering. Verf.
beschreibt ausführlich die von der Kranken angewandten
Methoden, welche in Zerlegung der Zahlen in Factoren,
Verwendung von 2 Zahlensystemen, dem decimalen und
demjenigen mit der Grundzahl 16, etc. bestehen,
und giebt dann eine Erklärung für die auffallenden
Leistungen der Rechenkünstler im allgemeinen.
Ferrannini (Palermo). Ueber von der Schild¬
drüse unabhängigen Infantilismus. I. Tuberculose-,
Malaria-, Lungen- und Mitral-Infantilismus. II. Stoff¬
wechselbilanz in einem Fall von Mitralinfantilismus.
Zunächst legt Verf. den Unterschied dar zwischen
dem Infantilismus nach dem Typus Bnssaud und dem
Typus Lorain. Bei äem ersteren, dem Infantilismus
disthyreoideus, handelt es sich um. Individuen, welche
in der Entwicklung auf der Stufe der Kindheit stehen
geblieben sind, bei dem zweiten um einen Menschen
en miniature mit verlangsamter, oder doch fast
vollendeter Entwickelung. Man kann bei dem letzteren
den tuberkulösen, syphilitischen, den Malaria-Infanti-
lismus, den toxischen und schliesslich den pulmonalen
und mitralen Infantilismus unterscheiden.
Im zweiten Theil giebt Verf. die Stoffwechsel¬
bilanz bei einem Fall von Mitralinfantilismus wieder;
dieselbe entsprach im Grossen und Ganzen der Bilanz
bei einer Person, die jünger war, als die untersuchte.
S i k o rs k i (Kiew). Die russische"psychopathische
Litteratur als Material zur Aufstellung einer neuen
klinischen Form, der Idiophrenia paranoides.
Verf. giebt characteristische Titel und kurze Inhalts¬
angaben von Büchern wieder, welche von Psychopathen
geschrieben sind. Er fand bei den betreffenden Autoren
folgende gemeinschaftliche Symptome immer wieder¬
kehrend: Grössenideen, Verfolgungsideen, Zeichen
eigenartigen Schwachsinns, Eigenartigkeit der geistigen
Beschaffenheit und Eigentümlichkeiten im Handeln.
Für diese Fälle glaubt er eine besondere Krankheits¬
form aufstellen zu müssen, die er Idiophrenia
paranoides nennt.
Arnemann - Grossschweidnitz.
Für den redactionellen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Bresler, Luülinitr (Schlesien).
Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Ca f f Marhold in Halle a. S
Heynemann’sche Buchdrucltcrei (Gebr. Wu'lfl in Halle a. S.
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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift.
Redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Lublmitz (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr. -Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834.
Nr. 27. 1. Oktober. 1904.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die jspaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten.
Die negative Suggestibilität,
ein physiologisches Prototyp des Negativismus, der conträren Autosuggestion und gewisser Zwangsideen.
Von Prof. Bleuler- BurghÖlzli.
r^\ie feinere Dosirung und Abstufung einer Be-
wegung wird am besten durch die Combination
zweier entgegenwirkender Kräfte erreicht. Wir wenden
das Prinzip in der Mechanik und im täglichen Leben
bei den Bewegungen unserer Gliedmaassen beständig
an. Ueberall, wo wir fein dosiren wollen, spannen
wir auch die Antagonisten und wirken nur mit dem
Ueberschuss der Kraft der Agonisten.
Bei den feineren physiologischen Mechanismen
sehen wir das gleiche Prinzip fast überall angewandt.
Die Augenbewegungen, das Spiel der Iris sind schöne
Beispiele dazu.
Die Regulirung des chemischen Gleichge¬
wichtes im Organismus muss auf ähnlichen Prin¬
zipien beruhen.
Auch die N erventhätig keit zeigt das näm¬
liche Verhalten. Alle peripheren Mechanismen (Herz,
Darm, Gefässe, Sphinkteren etc.) besitzen ihre Reiz-
und Hemmungsnerven, und die ganze Funktion der
Centren lässt sich geradezu als ein Spiel von Bahn¬
ungen und Hemmungen auffassen. Bei der psy¬
chischen Thätigkeit erkennen wir neben den durch
die einzelnen Reize und Triebe bestimmten Rich¬
tungen sehr gut die Hemmungen, welche sie aufein¬
ander ausüben. Ein beliebiger Bewusstseinsinhalt
hemmt alle andern Vorstellungen , so weit sie nicht
mit ihm durch Association und namentlich durch
gleiche Ziele und Gefühlstöne verwandt sind.
Damit ist aber ein komplizirterer Organismus
noch nicht genügend geschützt. Wenn jeder actuelle
Trieb die entgegenstehenden Strebungen hemmt, so
wird der Organismus der Spielball der momentanen
Reize und der durch sie ausgelösten Triebe. Es
muss etwas vorhanden seif) vvas im Gegen¬
satz zu den bekannten If JU u n g e n aller
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andern Funktionen gerade das Herbei¬
ziehen contrastirender Associationen auto¬
matisch oder zwangsmässig besorgt; sonst
käme der Mensch nur zum Handeln; zum Ueber-
legen höchstens dann, wenn zwei oder mehrere
Triebe gleichzeitig durch äussere Reize in ungefähr
gleich starker Weise angeregt werden.
In Wirklichkeit überlegen wir eine grosse Zahl
unserer Handlungen, und unser Denken zeigt ein
beständiges Spiel von Vorstellungen und Gegenvor¬
stellungen und dabei ist nicht jede beliebige Erfahrung,
nicht jede beliebige Anlage (Ethik, Hass, Liebe), in
jedem Falle aktuell. Wenn ich über eine medicinische
Frage nachdenke, so existiren die meisten meiner
andern Strebungen und Erinnerungskomplexe momen¬
tan nicht, jedenfalls haben sie weder bewusst noch
unbewusst einen Zusammenhang mit der Ueberlegung,
einen Einfluss auf meine Schlüsse. Es ist gar nichts
da, das ihnen Aktualität gäbe; viel eher wird sogar
bei den gründlichsten Ueberlegungen etwas über¬
sehen, was mitsprechen sollte.
Bei jeder Strebung finden wir also nur eine
Auswahl von Mitstrebungen wirksam. Unter den
letzteren spielen die gleichartigen eine besonders
wichtige Rolle nach dem bekannten Gesetz, dass
Affekte, Denkrichtungen etc. die gleichgerichteten
Associationen fördern, die andern hemmen.
Warum spielen nun aber trotz der
Richtigkeit dieses Erfahrungssatzes gerade
die entgegengesetzten Strebungen so stark
mit: warum werden sie oft eine Zeit lang
nicht nur weniger gehemmt als alle andern
Komplexe, sondern geradezu gef ordert?
Man spricht oft von Associationen durch Kon¬
trast , und könnte auch hier auf diese rekurriren
Original from
HARVARD UNIVERSITY
2 5° PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 27.
wollen. Man mag nun eine besondere Kategorie
der Associationen des Gegensatzes aufstellen, oder
diese unter die der Aehnlichkcit oder der Coordi-
nation etc. subsummiren, sicher ist, dass eine Er¬
klärung des Sachverhaltes auf dem Wege der ein¬
fachen Association durch Gegensätzlichkeit nicht ge¬
nügt, es sei denn, dass man der Vorstellung jedes
Handelns die Vorstellung des Nichthandelns an die
Seite stelle, also der des Schreibens die des Nicht¬
schreibens, der des Stehlens die des Nichtstehlens.
Das wäre aber absurd — oder käme, wenig anders
gedreht, auf das heraus, was wir im Folgenden aus¬
führen wollen.
Wären die Gegenvorstellungen nur gleichwertig
mit den sehr viel zahlreichem andern Associationen,
so müssten die Fälle, wo sie gar nicht auftreten, un¬
endlich viel häufiger sein, als solche, wo sie eine
Rolle spielen*), und da die Affekte und Triebe eine
deutliche Neigung haben, gerade die Gegenvorstell¬
ungen zu hemmen, müsste das Verhältniss noch
mehr zu Ungunsten der Letzteren verschoben werden.
Gegenvorstellungen dürften, wenn die bereits be¬
kannten Gesetze allein existirten, nur ausnahmsweise
zur Geltung kommen.
Wenn sie trotzdem fast nie fehlen, so beweist
das, dass ein besonderer Mechanismus existiert,
eine allgemeine Tendenz, zu jeder Vorstellung
auch die Gegenvorstellungen zu associren. Nur da¬
durch wird es erklärlich, dass den meisten Hand¬
lungen eine mehr oder weniger gründliche bewusste
oder unbewusste Uebcrlegung vorausgeht.
Beispiele: Wenn einer unserer Angestellten mich durch
irgend welche Dienstfehler zum so und so vielten Male ärgert,
habe ich den bestimmten Trieb, ihn endlich einmal fortzu-
schickcn. Der Aerger hat wie alle Aflecte die Tendenz sich
auszudehnen und zu verstärken, indem er die entsprechenden
Associationen begünstigt, die andern hemmt. So werde ich in
diesem Moment den Fehler für grösser ansehen als er ist, die
guten Eigenschaften des Menschen mehr oder weniger über¬
sehen, und ich werde mich sehr lebhaft daran erinnern, dass
ich schon oft nahe daran war, ihm zu künden Dennoch werden
mir, wenn der Dienstfchler nicht in ganz undiscutabler Weise
die Entlassung verlangt, ja gewöhnlich sogar auch dann , eine
Menge Gegenvorstellungen in’s Bewusstsein springen: Ent¬
schuldigungsgründe, bedrängte Lage des Mannes, Schwierigkeit Er¬
satz zu bekommen etc. Woher sofort alle diese conträren Vorstell¬
ungen trotz des Aergcrs? Man kann sagen, es Sei Pflicht, alle die?>e
Dinge zu überlegen. Gut: aber Pflicht und Pflichtgefühl er¬
klären das sofortige Auftreten nicht. — Man kann ein werfen,
ich denke nicht blus an den Fehler und seinen Th ater, sondern
an diese Din ge unter bestimmten Verhältnisse n,
*) Kontrastassociationen sind bei Associalionsversuchen
im Laboratorium recht selten, und wenn sie Vorkommen, sind
si«> meist durch Ueluing resp. Gewöhnung bedingt: weiss —
schwatz, gut — böse.
welch letztere immer gedacht werden müssen, und zu denen
die Gegenmotive auch gehören. Gewiss; aber die Gegenvor¬
stellungen stellen sich sofort und primär ein, sobald ich den
Entschluss fassen will den Mann zu entlassen, mit Ueber-
gehung aller andern ausserhalb der Linie: „Entlassung oder
nicht“, liegenden Ideen. — Man könnte vielleicht einwenden,
dass unter den in solchen Fällen primär ausgelösten Associa-
tionscomplexen auch der Zweck meiner Handlung eine
Rolle spielten; die Vorstellung des Zweckes bedingt die Vor¬
stellung des Resultates meiner Handlungen; wenn man den
Begriff Resultat sehr weit fasst, kann man alles Gute und Böse,
was aus meinem Handeln in diesem Falle entstehen kennte, als
Association durch Subordination auftauchen lassen. Es könnte
sich heraussTellcn, dass des Wärters Familie nach der Ent¬
lassung Hunger leiden muss, so gut wie der Wärter, wenn er
hier bleibt, aufs neue einen Kranken misshandeln kann; beides
wäre ein Resultat meines Handelns. Nach so allgemeinen
Gesichtspunkten verlaufen aber gewöhnlich unsere Associa¬
tionen nicht. Das Ziel, dem sich alles unterordnen muss, ist
möglichst gute Pflege der Kranken, also auch Schutz derselben
vor Fehlern der Wärter. Die Gegenvorstellung von den Leiden
der Wär terfamilie etc. müsste also eher niedergedrückt werden.—
Man kann annehmen, die Vorstellung der Entlassung des Wärters
rufe das Mitleid hervor. Kann sein; es muss aber nicht
sein; und unter den gegebenen Umständen wären nach bloss
associativen Gesetzen gerade andere Vorstellungen eher zu erwarten.
Immerhin kann man bei wichtigen Kntschliessungen jedes¬
mal Gründe finden, die mit mehr oder weniger Wahrschein-
sichkeit das Auftreten von Gegenvorstellungen begünstigen
können. Bei den kleinen Entschlüssen fallen auch diese Ueber-
legungen dahin: Ich bin in den Ferien; unterhalte mich ein
wenig mit irgend einer tändelnden Beschäftigung, die ich gern
unterbreche. Ein leichtes Durst- oder Hungergefühl bringt
mich auf die Idee eine Orange zu essen. Irgend einen nur
halbwegs stichhaltigen Grund, die Apfelsine nicht zu essen,
giebt es nicht; dennoch finde ich in mir mehrere Gegenvor¬
stellungen: wir werden bald zu Nacht essen; vielleicht ist die
Frucht, die ich herausgreife, zufällig sauer und ich habe keinen
Zucker; ich möchte einem Kinde, das uns bedient, eine Orange
überlassen u. s. w. u. s. w. Und solche Gründe können
mich unter Umständen abhalten, das Begehrte zu thun. Von
weiteren Zielen, Pflichtgefühl u. dgl. kann ja hier keine Rede
sein.
Dass der zu postulirendc Mechanismus wirklich
existirt, lässt sich auf ganz verschiedene Weise zeigen.
Zunächst findet man ihn meistens sehr ausge¬
sprochen bei Kindern, wo eine anerzogene Association
vollständig ausgeschlossen ist. Schon im ersten
Lebensjahr, in den folgenden Jahren noch auffälliger,
be< »bachtct man, dass Kinder bei Annahme von
Gaben und bei Aufforderungen irgend welcher Art
sehr oft zuerst eine ablehnende Haltung einnehmen.
Man weiss, dass sie ein Spielzeug, ein Stück Confect
gern haben: sobald man es ihnen anbietet, lehnen
sie cs ab, um es nach einigen Sekunden oder Minuten
mit Vergnügen anzunehmen. *) Hierbei ist der
*) So weit ich mich erkundigen und selbst beobachten
konnte . leinen die Kinder in Mimik und Worten früher die
Ablehnung ausdrücken als die Annahme ; in der Sprache er-
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Original fram
HARVARD UNIVERSITY
i qo 4 .]
Affect der Schüchternheit innerhalb der Familie
meistens ausgeschlossen.
Hier springt das primäre der Negation so recht in
die Augen.
Ein anderes Beispiel: Die Sexual i t ä t, nament-
licli die der Frauen. Der Trieb zum andern Ge¬
schlecht ist einer der stärksten Triebe; bei vielen
erwachsenen Mädchen, die nicht durch vernünftige
Beschäftigung abgelenkt werden, besteht das ganze
Denken und Fühlen direkt oder indirekt aus nicht
viel anderm. Und dann, wenn die Gelegenheit
kommt: Sprödigkeit, energische Abweisung, die oft
geradezu direkt proportional ist der Stärke des posi¬
tiven Triebes. Dass das weder anerzogene „mäd¬
chenhafte Zurückhaltung“, noch Schüchternheit, noch
etwas ähnliches sekundäres ist, zeigt die genauere
Beobachtung alltäglich; diese Hemmungen müssten
doch, bevor sich die Gelegenheit bietet, auch in Er¬
scheinung treten, und — worauf ich am meisten
Gewicht lege — bei Säugethieren, Vögeln , Insekten
sieht man genau die gleiche Erscheinung.
Zu negativen primären Vorstellungen werden in
gleicher Weise positive Gegenvorstellungen associirt:
Das Verbotene hat bekanntlich einen besonderen
Reiz; die Gefahr lockt Tausende zu mehr oder
weniger gewagten Abenteuern: eine Wunde, ein
schmerzhafter Zahn muss immer wieder berührt
werden, obgleich — oder weil — die Berührung
schmerzt.
Dass das Auftreten von Gegenvorstellungen nicht
blos nach den Associationsgesetzen vor sich geht,
zeigt sich auch in den zeitlichen Eigentümlichkeiten
ihres Vorkommens. Ihrem Zweck entsprechend sind
sie in viel engerer Verbindung mit dem Handeln
als mit dem Ueberlegen. Es ist etwas alltägliches,
dass man sich irgend etwas zu thun vornimmt, dann
aber, wenn die Zeit des Handelns sich nähert, eine
Menge Gründe dagegen findet und zögert oder ganz
davon abstcht. Diejenigen Menschen, die zum Voraus
das Für und Wider ganz erschöpfen und deshalb,
bevor sie zur That schreiten, die Ueberlegung voll¬
ständig abgeschlossen haben, sind seltene Tvpen.
scheint das Nein viel früher als das Ja. obschon das letztere in
der kindlichen Form ’u leichter auszusprechen ist. Das hängt
wohl auch mit diesem normalen Negativismus zusammen, nuijj
aber noch einen andern Grund haben: Der Ausdruck der
Ablehnung ist viel nöthiger als der der Affirmation. Wenn
das Kind zufrieden ist mit dem, was man ihm giebt, nimmt oder
mit ihm thut, so braucht cs nur geschehen zu lassen, oder an¬
zunehmen. Das Bedürfniss nach einem besondern Ausdruck
für die Annahme wird nur selten empfunden- — Vergl. auch
Baldwin (Entwicklung des Geistes. ^ cr lin 1898 18. 134),
der unsereu Anschauungeil sehr nahe
251
Wenn eine Situation sich scheinbar geklärt hat,
wenn ein Entschluss gefasst ist, wenn irgend eine
Entscheidung gefallen ist, dann treten bei dem einen
Menschen die Gegenvorstellungen erst mit besonderer
Gewalt und in grosser Vollständigkeit auf, bei ande¬
ren (selteneren) sind sie von nun an unterdrückt.
Man hat z. B. eine Anzahl Commissionen vor
und glaubt endlich, trotzdem man zu Flause dringen¬
des zu thun hat, sie nicht länger verschieben zu
dürfen. Auf dem Wege zur Stadt tauchen die
Gründe, zu Hause zu bleiben, mit verstärkter Inten¬
sität und in vermehrter Zahl auf, und die Motivirung
des Ausgehens erscheint ungenügend; es kann sogar
begegnen, dass man gerade das Geschäft, das einen
am lebhaftesten zum Ausgehen veranlasste, noch
weiter verschiebt, um rasch nach Hause zu kommen.
Meist haben indessen die nachträglichen Contrast-
vorstellungen keinen Einfluss mehr auf das Handeln.
Ebenso in wichtigen Dingen. Ein Jüngling, wie ihrer
viele sind, hat sich Monate lang mit aller Gründlich¬
keit das Für und Wider einer Heirath überlegt und
die Gründe addirt und subtrahirt. Er kommt, wie
er glaubt, nach ganz abgeschlossener Erwägung aller
Umstände zum Resultat sich zu verloben, führt den
Entschluss rasch aus und nun fallen ihm eine ganze
Menge von wirklichen oder eingebildeten Schwierig¬
keiten ein, die er vorher eigentlich auch gekannt,
aber ignorirt hatte, und die ihm den Schritt bereuen
lassen. Wenn ein Mädchen sich verlobt, hört man
so oft von andern Herren: ,,Die hätte ich auch ge¬
nommen“.
In solchen Fällen ist die Association der Gegen¬
vorstellungen meist nicht nur unnütz, sondern uner¬
wünscht. Der Entschluss ist gefasst, die Handlung
eingeleitet, zurück kann man nicht mehr. Für uns
aber ist wirhtig zu constatircn, (hiss die Contrast-
associationcn da, wo man sie nach den bisher be¬
kannten Gesetzen am ehesten hätte erwarten sollen,
beim ruhigen Ueberlegen, eine relativ geringe Rolle
spielten, und nun beim Handeln, wo alles darauf
eingerichtet sein sollte, sie zu unterdrücken, mit elemen¬
tarer Gewalt hervorbrechen. Der Mechanismus der
Contrastvorstellungen hat eben beim ruhigen theore¬
tischen Ueberlegen, bei dem man sich Zeit lassen
kann, alle Momente und somit auch die Gegenvor¬
stellungen willkürlich hervorzurufen, keine Bedeutung.
Hier sollen alle Gründe möglichst ihren wirklichen
Werth besitzen. Der Mechanismus soll nur vor
einem überstürzten Handeln schützen und ein Ab¬
wägen von Für und Wider erzwingen. *) Er wird
*) Der Mechanismus, der einen vorläufigen Schutz gegen
Uebereiluug bildet, ist in dieser Beziehung analog den S e h n e n
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
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Original frnm
HARVARD UNiVERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 27.
deshalb fast nur durch die lebhafte Vorstellung des
Handelns und durch das Handeln selbst in Thätig-
keit gesetzt.
Das zeigt sich auch bei vielen Personen, die
während ihres ganzen Lebens viele Dinge sehr eifrig
betreiben, alle einleitenden Schritte zu einer Reise
oder irgend einem andern Unternehmen thun und
dann unmittelbar vor der Ausführung zurücktreten,
„weil ihnen die Sache nun verleidet ist“, weil sie nun
verschiedene Unbequemlichkeiten nicht mehr in den
Kauf nehmen mögen u. dergl.
Die Selbständigkeit des Contrastmechanismus
gegenüber der übrigen Associations- und Denk-
thätigkeit zeigt sich überhaupt in den characterolo-
gischen Unterschieden sehr lebhaft. Ohne jede
Rücksicht auf die intellectuellen Fähigkeiten producirt
der Eine die Gegenvorstellungen früher, der andere
später, beim Einen treten sie leichter, beim Andern
schwerer auf als andere Associationen u. s. w.
Viele können da, wo stärkere Triebe in Be¬
tracht kommen, trotz hoher Intelligenz, einfach keine
Gegenvorstellungen hervorrufen: die Leichtsinnigen;
andere haben deren zu viele und kommen gar nicht
zum Handeln bei sonst ähnlichen Eigenschaften.
Bei einem unerwarteten freudigen Ereigniss tauchen
oft unmotivirte ängstliche oder andere depressive Ge¬
fühle auf.*) Mir ist es zwei Mal begegnet, dass ich
bei Unglücksfällen lachen musste, indem mir etwas
(nachher unauffindbares) Komisches zum Bewusst¬
sein kam.
Auch im Unbewussten lassen sich die Gegen¬
vorstellungen nachweisen, und gerade da haben sie
am häufigsten die Gewalt von gefühlsbetonten Vor¬
stellungen, von Suggestionen. Wenn man fürchtet,
auf einen bestimmten Tag Kopfweh, die Menstruation,
oder etwas ähnliches zu bekommen, so tritt das Un¬
erwünschte sehr leicht ein. Das Hesse sich allenfalls
anders erklären durch die Macht der (allerdings
negativen) Vorstellung von Kopfweh oder Menses.
Dass aber diese Erklärung ungenügend ist, beweist
das eben so häufige Vorkommen des Umgekehrten:
Eine Dame hat eine Reise, einen Ball auf einen
Termin angesetzt, an dem normaliter die Menstruation
vorbei sein sollte. Sie erwartet sie, sei es mit Sicher¬
heit, sei |es mit Aengstlichkeit an einem bestimmten
ref lexen. Diese sollen Schut* gewähren gegen eine zu plötz¬
liche (passive) Dehnung eines Muskels. Dieser antwortet mit
einer leichten Kontraktur und in der Zwischenzeit findet der
Organismus die Möglichkeit, sich durch eine komplizierte Be¬
wegung den Verhältnissen anzupassen.
*) Vielleicht beruhen hierauf die sog. Freudenthränen.
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Tage vorher; die Periode kommt aber nicht, bis an
dem Tag, da sie nicht da sein sollte.
Man hat eine bestimmte Mode im Reden, in
Haltung etc. längere Zeit mit angesehen, fängt nun
an darüber zu schimpfen und zu spotten, und auf
einmal entdeckt man, dass man sie selbst angenommen
hat. —
Viele sind impotent nur gegenüber ihrer Frau
oder zu der Zeit, wo sie das Gegentheil ganz be¬
sonders wünschen (Hochzeitsnacht!); an der Un¬
möglichkeit zu schlafen ist so oft gerade der Wunsch
zu schlafen Schuld u. s. w.
Treppenwitz, Examenstupor und alle diejenigen
Fälle, wo man gerade das nicht zur Verfügung hat,
tt'as man im Moment vor allem haben sollte, sind
Dinge, die jedem vertraut sind und gewiss hierher
gehören. — Auf pathalogischem Gebiet äussert sich,
der Mechanismus bei der Dementia praecox in plötz¬
licher Stockung des Denkens (Gedankenentzug), die
allerdings auch noch andere Gründe hat.
Um blosse Hemmungen im allgemeinen Sinn
kann es sich in diesen Fällen nicht handeln; wie
sollten diese erklären, dass nur gerade das Gewollte
nicht funktionirt. Es müssen Kräfte sein, die speziell
diesem Gewollten entgegen wirken. Die gewöhnlich
zur Erklärung herbeigezogene Furcht oder Angst
vor dem Nichtkönnen ist für sich allein ungenügend,
um die Richtung der Hemmung zu bestimmen.
Es muss etwas sein wie ein unwillkürlicher Gegen¬
befehl, oder die mehr oder weniger bewusste Vor¬
stellung des Nichtkönnens des Gewollten, die sich
im Unbewussten des psychischen Mechanismus be¬
mächtigt.
Alles dies beweist, dass ein besonderer Mechanis¬
mus vorhanden ist, der die Gegenvorstellungen her¬
vorzurufen bestrebt ist.
Tritt nun dieser Mechanismus bei ungewohnten
Gelegenheiten oder quantitativ stärker in Funktion,
so haben wir pathologischen Negativismus.
Noch unter physiologischen Verhältnissen sehen wir
die Gegenvorstellung als eine Art Negativismus oder als
Misstrauen häufig in Verbindung mit einer gewissen
Schwäche der Ueberlegungs- und Willenskraft, mit
zu grosser Suggestibilität sehr lebhaft in Erscheinung
treten. Kinder, viele Frauen, Greise, Wilde, sugge-
stible Leute überhaupt zeigen meist auch am aus¬
geprägtesten den physiologischen Negativismus.
Teleologisch könnte man diese Thatsache so
auffassen, dass das leichte Auftreten der Gegen¬
vorstellung eine Schutzvorrichtung gegen Ueber-
rumpelung bildet, deren gerade solche Personen am
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
IQ 04 -]
PSYCHIATRISCH-NEU.RQLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
253
meisten bedürfen, und die sich alltäglich als sehr
wirksam erweist.
Unter pathologischen Verhältnissen wird diese
Erklärung unmöglich, ünd dennoch sehen wir Sugge-
stibilität und Negativismus in ihrer Entwicklung 9ehr
oft einander parallel . gehen. (Negativismus und
Bcfehlsautomatie, Echopraxie, bei Dementia praecox;
Vertrauensseligkeit und Lenksamkeit neben Miss¬
trauen und Starrköpfigkeit bei Dementia senilis;
Suggestibilität neben unüberwindlichen conträren Auto-
suggestionen bei Hysterie etc.) Daraus ist zu schliessen,
dass Negativismus und Suggestibilität nur verschiedene
Seiten der. gleichen .Grundeigenschaft der 1 Psyche sein,
aus gemeihsamer Ursache entspringen müssen.
Nach unserer Auffassung wäre das leicht zu ver¬
stehen: Wenn die Ueberlegung irgend, wie gehemmt
ist (Affect, enges Bewusstseinsfeld, Sperrung etc.), so
kommt der elementarere Vorgang zur Geltung; die
primär zu jeder Vorstellung associierte Gegenvor¬
stellung bleibt bestehen, und so wird das Individuum
zum Spielball zwischen positiver und negativer Vor¬
stellung.
*
*
>1«
(Schluss folgt.)
Epileptische Schulkinder.
Nach einem auf dem 1. internationalen Kongress für Schulhygiene zu Nürnberg
am 5. IV. 1904 gehaltenen Vortrag.
Von IV Weygandt - WUrzburg.
IV !\ it vollem Rechte wird immer mehr die grosse
** A Krankheitsgruppe der Epilepsie von den Irren¬
ärzten in Anspruch genommen. Mag auch von Alters
her das auffallendste Symptom, der epileptische Krampf¬
anfall, von Seite der Internisten und reinen Neuro¬
logen der Untersuchung unterworfen worden sein,
immer mehr tritt die Ueberzeugung in den Vorder¬
grund, dass es sich dabei nur um ein äusseres Zeichen
eines chronischen Krankheitszustandes handelt, bei dem
die andern Aeusserungen dieses Zustandes ebenso
wichtig oder noch wichtiger sind als der grosse Anfall.
Es geht damit ähnlich wie mit der Haemoptoe bei
der Lungenschwindsucht; der erregende Anblick eines
Blutsturzes mag dies wohl als das augenfälligste
Symptom der schweren Krankheit erscheinen lassen,
aber er trifft keineswegs das Wesen der Tuberkulose,
ja er ist nicht einmal ein Zeichen besonders inten¬
siver Gefahr durch die Infectionskrankheit. Der
Name der Epilepsie beruht wohl auf dem plötzlichen
Erfassen des Kranken durch den Anfall, auf dem
tnikuf.tfidvuv , aber schon den Alten war sehr wohl
bekannt, dass noch andere wichtige Symptome Vor¬
kommen.
Hippokrates sprach von Aequivalenten, so von
Visionen und nächtlichen Schreckbildem der Epileptiker,
von ihren larvirten Anfällen, er erwähnt halbseitige
Erscheinungen, kennt die Kinderepilepsie und die
Schreckepilepsie, nicht minder war ihm der unfrei¬
willige Kothabgang bekannt und schliesslich hatte er
schon Vorstellungen von der Bedeutung der Heredität
für diese Krankheit
Aehnlich war auch Aretäus Kappadocien im
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Klaren über die Vielheit der epileptischen Symptome
neben dem eigentlichen klassischen Anfall. Ein her¬
vorragendes Beispiel eines postepileptischen Dämmer¬
zustandes giebt Euripides in seinem „rasenden Herakles“,
der plötzlich unter Schäumen bewusstlos wird, singend
umherwandelt und seine Söhne ermordet* bis 0t? in
Schlaf sinkt, um später unter Amnesie zu erwachen.
Gerade mit Hinsicht auf das Werk des Euripides
sei auf einen im Jahre 1902 erschienenem Aufsatz
von Harri es „Naturalistische Darstellung seelischer
Affekte in der tragischen Kunst der Griechen-* ver¬
wiesen (erschienen als Beilage zum Jahresbericht der
Lauen burgischen Gelehrtenschule, Ratzeburg). .
Heute müssen wir sagen, der klassische Abfall ist
das augenfälligste Symptom, aber kein^w0g$ das
wesentlichste, ja nicht einmal das wichtigste., fn letzte¬
rer Hinsicht wird er entschieden än Bedeutung über¬
troffen durch die Dämmerzustände, die vielfach Anlass
zu criminellen Handlungen werden, wie auch durch
die so häufig bei Epileptikern sich einstellende Demenz,
die sie erst völlig gesellschafts- und erwerbsunfähig
werden lässt, während die Anfälle, wenn sie nicht zu
gehäuft auftreten, noch sehr wohl den Kranken beruf¬
lich thätig sein lassen. v
Seit Samt haben wir gelernt, auf die Gesammt-
heit der epileptischen Symptome des Kranken zu
achten. Periodische, freilich keineswegs immer regel¬
mässig auftretende Bewusstseinsalterationen mit oder
ohne motorische Erscheinungen irritatiyer oder para¬
lytischer Art, ohne -Stete Abhängigkeit von äusseren
Einflüssen, sind das wichtigste klinische Criterium der
Epilepsie.
Original from
HARVARD UNiVERSfTY
2 54
flStem ATfUSCH ^NEUROLOGISCHE*WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 27.
Der Züfctätid tritt faAer Mehrheit der Fälle schon
während des jvlgOhdKcÄten Alters än den Tag, nach
Lüthhäfcön 15;5 % Aach Latfge 53i4®/o 'Epileptiker
schön * Vtar nfletn ^ 1 o.* : Jahre epileptische Symptome auf-
gfewiegen. Es ergiebfBich daraus * vorrselbst, dass eine
selche üMftfet im jugendKchen Alter auftretende schwere
Krankheit, <Me schätztingswetee 2 tyoo-aler Menschen in
unseren Ländern betrifft, ihre schwerwiegende Bedeutung
•für die "Schule habenmnss.
Wohl haben manche Schulen schon hier und da
versucht, darauf Rücksicht zu nehmen. Gelegentlich
Wird dävön gesprochen, epileptische Kinder vom
Schulbesuch auszuschliessen. Einmal sah ich auf einer
in den Klassenzimmern eines angesehenen Gymnasiums
aushängenden Anweisung an die Lehrer über ihr Ver¬
halten hinsichtlich kranker Kinder als /»ansteckende
Nervenkrankheiten“ Epilepsie und Hysterie aufgeführt.
Welche Stellung die Schule epileptischen Kindern
gegenüber einzunehmen hat, das soll im folgenden
besprochen werden. Zunächst werden die Ergebnisse
der Untersuchung einer bettäChttibhfen Zähl epileptischer
Kinder im schulpflichtigen Alter auseinanderguftetet
Und dhnn eine Reihevon Schlussfolgerungen daraus
erörtert
Hinsichtlich der Zeit des Auftretens bestätigen
Sich bei meiner Statistik die Befunde von Lü th und
Länge, indem eine beiiäthtifche Zahl und zwar fast
derselbe Proceüteätz wie bei Lange (53,4 fl /o) bereits
vor dem 10. Lebensjahr in Erscheinung triat. Bei
meinen 70 Fällen Waren 35 im ersten jahrzehtitund
nur 11 nach dem zweiten, hlso jenseits des"schul-
l^flichtigen Alters an Epilepsie erkrankt
Nicht halb soviel‘wie die Vor dem ro. Jtihr Er¬
krankten waren es, deren Leiden erst im 2J Jahr¬
zehnt ausbrach, und immer «päriichfcr würde die Zähl
der später beobachteten Epilepsiefälle.
Hinsichtlich der hereditären Verhältnisse ist zu
erwähnen, dass wieder mehrfach EpÖeprfe in der As-
zendeftz oder Deszendenz' voHtarn, in einem Falle
waren der Vater und 3 Brüder epileptisch. Dann
ist AlkoholistaUs des Vaters zu erwähnen. Weiterhin
kommen Irrsinnsformen verschiedener Art, nervöse
Störungen Wie Tremor senilis, psychopathisches Tempe¬
rament usw. in Betracht.
MH grösster Vorsicht Sind die'Angaben der Kranken
oder Angehörigen über die Aetiolögie zu verwerten.
Mehrfach 1 wird das Zahnen in der Kindheit ange¬
schuldigt, in 12,i °/o der FäHe der Schreck, einmal
äuch Freude, was nur mit Zweifel aufgenommen werden
kann. Einmal handelt es sich um ein 8-Monatsfcind.
’ Unbegründet' ist dk^BesebuMigung eines ’ Versehens
der Mutter, wohl auch des Impfens. Angaben über
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"Erregtrag als Ursache der Abfälle lassen sich wühl
auch so deuten, dass die Erregung sehen' der Vorbote
des • in 1 Entwicklung begriffenen Anfalls war. Aebnlich
körnten r bei vermeintlichen Stürzen * in der» Jugend die
VerhÄhnizse liegen, indem eben infolge einer Absence
der Stunr eintrat. Die Periode bei weiblichen Personen,
auch "Entbindung ist in ursächlicher Hinsicht nicht
-ganz von der Hand ; zu 1 weisen. Ziemlich grandios
"wird die mehrfach betonte Onanie verantwortlich
gemacht Auch Phimose - Operation raasäte einmal
herhalten. In einem Falle wurde bestimmt behauptet,
dass’ die Anfälle Sich an eine Haadverletznng, - Riss
mit dem Splitter einer Waschschüssel angeschlossen
haben: Zu beachten war wohl, dass als Aura ein
unangenehmes Gefühl in der unschön geheilten Narbe
^flüfttät; nach Ider Exzision dieser Narbe kamen und
vergingen die AnfäUe rascher, aber ^sonst war kein
Effekt zu beobachten, die psychische Verblödung
machte vielmehr ruhig weitere Fortschritte.
Weitaus wichtiger ist die Rolle des Alkohols.
Eine Patientin' war „wägen grosser Schwächlichkeit“ in
früher Kindheit ei&e Zeit lang mit Champagner er¬
nährt worden. Mehrfach (6,9 ^) bekamen die Kinder
in früher Jugend, mit 5 bis 10 Jahren schon reichliche
.Quantitäten Bier, auch Kaffee. Trunksucht des Vaters
Wurde bereits erwähnt Manche Kranke -beobachten
welbst, dass auf Bier die Beschwerden eher Eintreten ;
bei einem ist' während der Weinlese die -Krankheit
• abgebrochen. Auch auf Tabak wollte einer Ver¬
schlechterung sehen.
Von körperlichen Krankheiten, die dem Leiden
vOiangingen ’ünd zum Teil auch wohl zur* Verantwor¬
tung herangezogen -werden ' können, sind in erster
Linie zu nennen eiterige Hirnhautentzündung in der
• Jugend, die mehrmals Vertreten war, Cbenso auch Hydno-
oepbähe, vereinzelt Rkadutis. Den Kinderkrankheiten,
die so ausserordentlich verbreitet sind, darf man im
ganzen keine besondere Bedeutung beimessen , sie
fihden ' sich natürlich reichlich, Masern, • Diphtherie,
Scharlach, Keuchhusten, dann auch Lüngön en tuündung
einmal Brustfellentzündung usw.
Degenerätionszeichen spielen keine besonders, grosse
Rolle; bei einem Mikrocephalen fanden sich Zahn-
■ anomaüen und angewachsene Ohrläppchen 7 ein Patient
zeigte Caput quadratum.
Schwere Anfälle von klassischem Typus, die'nach
heutiger Anschauung ja keineswegs die conditio sine
qua non mehr darstellen, fanden sich auch nur in
rund der Hälfte der'Fälle. Status e p ife p tku ^ war * weht
selten, offenbar da es sich ja vielfach um die begi n nend e
Krankheit handelt, die zum Nervenarzt führt;im Gegen¬
satz ztrdendätiger erkrankten Anstatopatfehttn. Hier
Original from
HARVARD UNIVERSITY
I9Q4-1
PSYÜHIATRISOT-NEUKOlOGISCHK WOCHENSCHRIFT.
255
und da kamen wohl 4—5—8 Anfälle am Tage vor;
em'Ktsd mit epileptischen Reizzusfäaden zeigte seine
zuckenden Handbewegungen oft ein paahwa! in jeder
Stande. Auch Tag für Tag 'wiederkehrende Anfälle
*waren nicht gerade häufig.
Die Ätna macht sich, wie nicht anders zu erwarten,
in mannigfacher Art > bemerklich, wenn auch fast % k
der Kranken nichts davon zu berichten wussten,
■ sondern ganz plötzlich ihre Anfälle erlitten. Möglicher¬
weise ist das kindliche Alter hier zu berücksichtigen:
die Selbstbeobachtung ist auf dieser Altersstufe geringer
als bei psychisch intacten Erwachsenen. Gerade
erwachsene, gebildete Patienten, die von leichten Zu¬
ständen betroffen werden, sind oft von einer minu¬
tiösen Exactheit in der Beobachtung und machen auf
Detailzüge aufmerksam, die man in den wissenschaft¬
lichen Schilderungen der Epilepsie kaum angegeben
findet
Einzelne merkten vorher das Herannahen des
Anfalls, manche Kinder konnten noch der Mutter Zu¬
rufen „ich bekomme jetzt einen Anfall“, öder ^aie
gaben wenigstens Töne von sich; bei einem andern
war es schon zu spät, es merkte den nahenden Anfall,
brachte aber kein Wort mehr heraus. Ein vages
Gefühl ^wird von verschiedenen geschildert. Sensible
Aura fand-sich'mehrfach; ein Knebeln auf der Zunge
mit Speichelfluss oder ein Rieseln oder Schmerz in
der Schulter oder das Einschlafen eines Beines. Oft
auch eine motorische Aura, Augenzwinkern oder Zucken
in Händen und Mund. Einmal trat Erröten oder
Erblassen auf, öfter Abspannung. In 2 Fällen war
Heisshunger zu beobachten. Schwindel oder Verwirrt¬
heit ist zu verzeichnen.
‘ Etwas seltener tritt für einige Tage vorher schon
ein abnormer Ztistand von Nervosität >mit Blässe oder
von Verstimmung ein.
Motorische Reiz- oder Lähmungssymptome fanden
sich ungemein häufig, in der Mehrzahl der Fälle, sowohl
als Vorboten und Begleitumstände eines Anfalls, von
den üblichen tonisch*klonischen Erscheinungen ab-
. gesehen, sowie eines petit mal, als auch isoliert.
Kopfschütteln, Starter Blick, Augenverdrehen, Stra¬
bismus convergens, Schnalzen, lallende oder verwirrte
Sprache, Opisthotonus, Steifwerden aller Art, Mund¬
verziehen, Zähneknirschen, geballte ‘Fäuste, Zittern,
Fmgmappeln, Zuckungen in den Fingern, halbseitig
oder doppelseitig, vielfach Zucken in Händen und
Mund 1 oder in Auge Und Hand oder in Arm und
Mund mit Seitwärtsdrehen des Kopfes, ‘ Einknicken
der Kniee usw. Hierher gehört auch Schreien und
Zusammenzucken im Schlafe.
Bei 16 i Kranken war Urininkowünenz zu konsta-
tiren, mit öder ohne Artfälle, gelegentlich far lange
Zeit als einziges Symptom.
Eigentliche petit mal-Anfälle, also Zustände
von Bewusstlosigkeit in kürzerer Dauer, unter einzelnen
motorischen Reiz- oder Lähmungsersobcinungen waren
fast in der Hälfte der Beobachtungen zu kenstatiren,
bei einer Reihe von Patienten waren es die inten¬
sivsten Störungen, da der klassische Krampfanfall
ganz auSblieb. Kurze Bewusstlosigkeit, vielfach mit
Steifwerden, hinterher Amnesie, gelegentlich Angst¬
zustände dabei. Dann plötzliche Unterbrechung einer
Beschäftigung, etwa eines Gesprächs, vielfach unter
Schnalzen, Erblassen, Zucken oder dem Ausstossen
einiger verkehrter Wörter.
Schwindel fand sich recht häufig, in etwa Vs der
FäHe. 1 Kopfweh in mehr als der Hälfte, vielfach halb¬
seitig oder Schmerzen in der Stime.
Die Sinnesocgane zeigten des .öfteren bleibende oder
vorübergehende Störungen. Mehrere'Patienten waren
schwerhörig, einer taubstumm. Rauschen im Kopf
wurde beobachtet, öfter noch Farbensehen, auch
Doppelsehen und Flimmern vor den Augen, sowie
Mikropsie.
Ein grosser Teil der Kranken (37,9 %) zeigte
-auch ausserhalb der Anfälle zeitweise Verstimmungen,
anfallweises Auftreten depressiven Affectes; es handelt
sich um schlechte Laune, oft schwermütige Gedanken,
Mutlosigkeit, Ekel, Reizbarkeit, Eigensinn, um Lebens¬
überdruss mit Neigung zum Revolver zu greifen, um
die Neigung fortzulaufen usw.
Bei vieler! Patienten war der eigenartige epileptische
Character unschwer zu erkennen, sowohl nach seiner
unangenehmen Seite hin, Egoismus, Retebarkeit, Miss¬
gunst, Undankbarkeit, als auch;die etwas traitableren
Eigenschaften, Fleiss, Genauigkeit, Pedanterie, eine
gewisse Förmlichkeit ’Ein Kind konnte nicht sehen,
wenn ein Teller schief stand oder Bücher verkehrt
lagen.
Unter’den körperlichen Symptomen sei noch her¬
vorgehoben, dass 50% der Kinder in verschieden
hohem Grade« anämisch waren, mehr als die Hälfte hatte
beschleunigten Puls, einige auch Irregularität. In etwa
20% ' waren die PateUarreflexe gesteigert, manchmal
auch ungleich. Fussklonus fand zieh vereinzelt.
All diese Symptome sind nicht besonders bedenk¬
lich, wenn sie sich in der bisher beschriebenen Weise
äussern. Nur unter gewissen Umständen können sie
für den Kranken und die Umgebung misslich werden,
so wenn die Krampfanfälle und Bewusstlosigkeit in
Ausübung eines verantwortungsvollen, in gefährliche
Situationen, führenden Berufs auftritt Eine Ohnmacht
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Original frnm
HARVARD UNIVERSITY
256
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 27.
in der Klavierstunde oder üble Laune beim Mittag¬
essen ist nicht so Schlimm wie ein Krampfanfall etwa
beim militärischen Exerziren, womöglich im Kriegs¬
fälle, oder ein Schwindel beim Dachdecken oder Berg¬
steigen.
Auch kleinere Verletzungen wie Zungenbisse, An-
stossen an Ohr und Nase, Beulen am Kopf sind
nicht gerade bedenklich zu nennen.
Anders ist es, wenn die geistige Leistungsfähigkeit
herabgesetzt wird oder antisoziale Handlungen aus¬
geführt werden. Genau 1 U der Fälle weisen geistige
Schwächen verschiedenen Grades auf, von einer leichten
Beschränktheit bis zu den tiefsten Stufen der Ver¬
blödung und zur Unfähigkeit zu sprechen.
Von antisocialen und gefährlichen Vorkommnissen
ist zu erwähnen eine Brandstiftung, dann der Weg
durchs Fenster, den zwei Kranke nahmen; ein anderer
versuchte wenigstens hinauszugelangen. Manipuliren
mit den Lichte beim epileptischen Zustande im Bett
wurde beobachtet. Weiterhin kamen gelegentlich, bei
einigen wenigen, Anfälle auf der Strasse vor, einmal auch
bei einem Apothekerlehrling in der Offizin.
(Schluss folgt.)
Amtliche Nach Weisung
derjenigen Personen, welche in den Jahren 1901 bis einschl. 1903 auf Grund des § 81 der Strafprozess¬
ordnung und des § 656 der Zivilprozessordnung in Folge Anordnung des Gerichts zur Vorbereitung eines
Gutachtens über ihren Geisteszustand in öffentlichen und Privat-Irrenanstalten*) beobachtet worden sind.
Provinz
Anzahlj
der !
betei¬
ligten
An¬
stalten
2
Erwachsene
Jugendliche
(unter 18 Jahren)
Zusammen
(Spalten 3—6)
7
Hiervon (Spalte 7) wurde
eine krankhafte Störung
der Geistestätigkeit er¬
achtet
männliche
Personen
3
weibliche
Personen
4
männliche
P ersonen
5
weibliche
Personen
6
als vor¬
handen bei
.8
als nicht vor¬
handen oder
unbestimmt
bei
9
Ostpreussen
2
(8) 34
(0 ‘4
2
1
( 9 ) 5 i
( 9 ) 35
16
Westpreussen
4
i 14
7
—
—
2 I
9
12
Berlin (Königliche
Klinik und An-
stalten der Stadt
;
Berlin)
3
(2) 167
(0 22
2
_
( 3 ) ' 9 i
(3)136
55
Brandenburg
5 i
> (2) 49 U)
8
(0 7
—
( 3 ) O ( 1 )
(2) 47
(«> 17 ( 1 )
Pommern
4
' (2) 59
(0 5
_ |
( 3 ) 64
(3) 49
18
Posen
3 1
i (1) 29
5
(1) 34
(1) 12
22
Schlesien
10
! (b) 132
(2) 32
3
3
(8) 170
(8) 139
31
Sachsen
5 :
I (1) 49
(2) 9
—
1
( 3 ) 59
(2) 34
(l) 25
Schleswig-Holstein
1
(3) 28
(1) 4
—
( 4 ) 32
( 4 ) 32
—
Hannover
4
(11) 66
(0 13
1
—
(l2) SO
( 7 ) 45
( 5 ) 35
Westfalen
5
i <5) 79 (ff)
(1) IO
9
0
(6) 104 ( 6 )
(2) 77
(4) 27 (j)
Hessen-Nassau
3 '
(7) 61
(0 7
—
2
(8) 70
(6) 52
(2)18
Rheinprovinz
1 j
:(2i) 121(9)
(5) 21 (3)
2
—
(26) 144 ( 12 )
(24) 95 ( 72 )
(2) 49
Hohenzollem’sehe
Lande
1
I
1
—
—
I
I
—
Zusammen
61
(69)880(7 6*1 (16) 157 (, 9 )
(1) 26
13
( 89 ) 108,5 ( 19 )
( 7 i) 76 o( 72 )|(i 5)325 ( 2 )
*) Die in <len einzelnen Zahlen enthaltenen Angaben über die auf Grund des § 656 der Zivilprozessordnung auf-
genonimerien Personen sind eingcklainmert, über die in Privatirrenanstalten beobachteten Personen schräg gedruckt.
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Original fram
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
257
1004.]
M i t t h e i
— Durch die Tagespresse zieht gegenwärtig eine
Aeusserung, welche der Präsident der Vereinigten
Staaten Rooseveltzu dem Kapitel: Freisprechung
geisteskranker Verbrecher gethan haben soll. Für
Wissenschaft und Rechtsprechung in Amerika ist dieselbe
natürlich irrelevant. Wir drucken sie hier ab mit
dem Bemerken, dass der Tagespresse der im ersten
Satze der Roosevelt’schen Aeusserung enthaltene
augenfällige Irrthum nicht im geringsten zum Be¬
wusstsein gekommen ist. Denn keine Zeitung erhebt
dagegen einen Einwand, vielmehr wird diese Aeusserung
auch von verständigen Blättern als berechtigt, sehr
vernünftig etc. bezeichnet — ein Beweis, wie nöthig es ist,
dass die Presse von fachmännischer Seite über Fragen
des Irrenwesens bei geeigneter Gelegenheit aufgeklärt
wird. Der „Reichsbote“ (16. 9. 04) giebt Roose-
velt’s Ausspruch in folgender keines Kommentars be¬
dürfenden Weise wieder: „Ueber den Unfug der
Irren erklärungen bei moralischen und kriminellen
Verbrechern, die eine gewisse moderne Psychiatrie
schon bis zu verschlagenen Zigeunern, die gemordet
hatten und nun simulirten, erstreckt hat, hat jetzt
auch der amerikanische Präsident ein verständiges
Wort gesagt. „„Ich habe,““ sagt der Präsident, „„wenig
Sympathie dafür, dass ein Mensch für irrsinnig er¬
klärt wird, um ihn vor den Folgen eines Verbrechens
zu schützen, falls es ohne Begehung des Verbrechens
unmöglich gewesen wäre, ihn auf Grund eines sach¬
verständigen Gutachtens als wahnsinnig in eine An¬
stalt überführen zu lassen. Unter den gefährlichsten
Verbrechern, und gerade unter denen, die zu Ge-
waltthaten geneigt sind, sind viele von so bösartigem
und brutalem Temperament, wie es nur mit einem
viehischen Zustand der Intelligenz vereinbar erscheint.
Diese Menschen sind aber nichtsdestoweniger ver¬
antwortlich für ihre Thaten, und nichts ist mehr ge¬
eignet, sie zu Verbrechen zu ermuthigen, als der
Glaube, sie könnten durch die Annahme des Wahn¬
sinns oder durch ein ähnliches Mittel der gerechten
Strafe entzogen werden.““ Merkwürdigerweise druckt
unsere liberale Presse, welche sonst alle die psychia¬
trischen Verirrungen, welche eine gesunde Rechtspflege
auflösen, unterstützt, diese Auslassung als „sehr ver¬
nünftig“ ab; die Erleuchtung über ihre eigene Kurz¬
sichtigkeit muss ihr erst wieder aus dem Auslande
kommen. 4 * So der „Reichsbote“!
Oesterreich. (Eine Zentralbehörde für
Irren wesen in Oesterreich.) Das Ministerium des
Innern hatte den Professor der Psychiatrie Dr. G.
Anton um eine Aeusserung über die Frage ersucht, in
welcher Weise die behördliche Aufsicht über die
Irren zu organisiren w'äre. Professor Dr. Anton hat
in einem ausführlichen Gutachten als geeignetstes
Mittel für die behördliche Ueberwachung der Pflege
der in den Irrenanstalten und ausserhalb derselben
untergebrachten Geisteskranken, insbesondere aber
für die Wahrung der Rechte der Geisteskranken, die
Schaffung einer Zentralbehörde für das Irrenwesen
in Oesterreich in Vorschlag gebracht.
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1 u n g c n.
Berlin. Ueber den Eröffnungstermin der neuen
städtischen Irrenanstalt in Buch sind, wie das Berliner
Tageblatt mittheilt, alle bisher verbreiteten Nach¬
richten unzutreffend. So ist aus der Meldung, dass
eine Anzahl Geisteskranker von Herzberge nach
Buch zum Grossrein machen abkommandirt werden
solle, eine baldige Belegung der neuen Anstalt ge¬
folgert worden. Jedoch kann, da alles unfertig ist,
vorläufig nicht einmal von einer teilweisen Belegung
die Rede sein. Diese wird sich frühestens Mitte
nächstens Jahres ermöglichen lassen, während an den
vollen Betrieb vor dem Jahre 1906 nicht zu denken
ist. Auch die verschiedenen Nachrichten über die
Person des Direktors der neuen Anstalt beruhen
lediglich auf Kombination. Im Schosse der städtischen
Verwaltung ist diese Frage noch garnicht ernstlich
erörtert worden.
— Der Geisteszustand der Prinzessin Luise
von Koburg. Für Fachärzte von Interesse dürfte
es sein, den Wortlaut eines psychiatrischen Commissions-
Gutachtens über den Geisteszustand der Prinzessin von.
Koburg zu erfahien und dadurch zur Beurtheilung /
der verworrenen Verhältnisse einen Stützpunkt zu
gewinnen. Es lautete (nach dem „Pester Lloyd“):
Berlin, 5. December 1903
In Folge Auftrages des Obersthofmarschallamtes
Sr. k. und apostolisch k. Majestät, welcher den Unter¬
zeichneten durch das königlich sächsische Amtsge¬
richt in Meissen übermittelt wurde, haben dieselben
eine Ueberprüfung des Geisteszustandes Ihrer jetzt
in Lindenhof in Coswig sich aufhaltenden k. Hoheit
der Frau Prinzessin Louise von Sachsen-Koburg und
Gotha geborenen k. Prinzessin von Belgien vorge¬
nommen. Ueber das Ergebniss dieser Prüfung wird
im nachstehenden Gutachten berichtet.
Als Unterlage für dasselbe wurde uns das seiner
Zeit bei der Entmündigung Ihrer königlichen Hoheit
abgegebene Gutachten der Herren Gerichtsärzte Regie¬
rungsrath Dr. Hinterstoisser und Professor Dr. Fritsch,
sowie das Fakultätsgutachten der Universität in Wien
zur Verfügung gestellt, ferner die Akten des könig¬
lichen Amtsgerichtes in Meissen, welchen die über
die Entmündigung geführten Akten des Obersthof¬
marschallamtes, sowie das Protokoll über den am
18. September d. J. in Coswig abgehaltenen Termin
und die bei Gelegenheit des letzteren durch Ihre
k. Hoheit übergebenen Schriftstücke beigefügt waren.
Ausserdem wurde uns Gelegenheit gegeben, von den
durch den Anstaltsdirektor Herrn Sanitätsrath Dr.
Pierson erstatteten Berichten über das Verhalten und
den Zustand der Frau Prinzessin während ihres
Aufenthaltes in Lindenhof Kenntniss zu nehmen und
ferner durch Herrn Dr. Pierson und durch die Hof¬
dame Fräulein v. Gebauer eingehende persönliche
Mittheilungen hierüber zu erhalten. Nachträglich
wurden uns dann noch die Berichte zur Verfügung
gestellt, welche Herr Sanitätsrath Dr. Pierson und
Fräulein v. Gebauer über eine in der zweiten Hälfte
Oktober dieses Jahres mit der Frau Prinzessin aus-
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HARVARD UNIVERSITY
258 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 27.
geführte Reise nach Venedig und Mailand erstattet
haben. Die Unterzeichneten vier Sachverständigen
haben an verschiedenen Tagen jeder einzeln die Frau
Prinzessin besucht und hierbei Gelegenheit erhalten,
in vielstündiger Unterredung sich über das Befinden
und den Geisteszustand Ihrer k. Hoheit ein Urtheil
zu bilden, welches in der auf den Termin folgenden
gemeinsamen Berathung sich als ein in allen Punkten
übereinstimmendes ergab.
Vorgeschichte.
Zu der am 3. Juni 1899 erfolgten Entmündigung
Ihrer k. Hoheit hatten folgende Vorgänge Anlass
gegeben. Es war seit den achtziger Jahren des
vorigen Jahrhunderts bemerkt worden (Fakultätsgut¬
achten sub 2 und 3), dass die von Hause aus eine
neuropathische Konstitution zeigende Frau Prinzessin
zu Aufregungszuständen neigte und dass sich eine
zunehmende reizbare missmuthige Stimmung und eine
durch nichts motivirte Abneigung gegen ihren Gemahl
zeigte. Als wahrscheinliche Ursache dieser psychi¬
schen Veränderung ergaben sich ein im August 1882
erlittener Sturz von einer Berglehne herab mit nach¬
folgender mehrstündiger Bewusstlosigkeit, ferner wieder¬
holte, während der achtziger Jahre erfolgte Fehlge¬
burten, endlich die Gemüthserschütterung, welche
durch den Tod Sr. k. Hoheit des Kronprinzen Rudolf
hervorgerufen wurde. Ausser den bereits erwähnten
Eischeinungen der psychischen Veränderung zeigte
sich ein zunehmend exzentrisches Wesen und Neig¬
ung zu sinnloser Verschwendung. Ihre k. Hoheit
ergab sich einer unsteten, ziellosen, abenteuernden
Existenz, verschwendete ungeheuere Summen und
lebte schliesslich in Gemeinschaft mit dem Ober¬
lieutenant Mattasich, den sie zum Kammervorsteher
sich erwählt hatte und aus dessen Händen sie An¬
fangs Mai 1898 unter der Hilfe der Behörden in
Folge Initiative des Prinzgemahls förmlich befreit
werden musste.
Aus den Entmündigungsakten sind noch folgende
Thatsachen über die Entwicklung der Krankheit zu
entnehmen, zunächst aus der Information, welche
Se. kön. Hoheit der Prinz Philipp von Koburg dem
Gerichtsarzt Dr. Hinterstoisser ertheilt hat. Bereits
in der Mitte der siebziger Jahre machten sich bei
Ihrer kön. Hoheit Erscheinungen von Nervosität
geltend. Eine im Jahre 1876 durchgemachte Er¬
krankung an Typhus war von einem auch noch
während anscheinender Gesundheit durch längere
Zeit fortdauernden temporären deliranten Sprechen,
sehr reizbarem und renitentem Benehmen gefolgt.
Nach dem bereits erwähnten Sturz im Jahre 1882
war Ihre kön. Hoheit sichtlich benommen, erkannte
höchstihre Umgebung nicht sofort; die Sprache w'ar
deutlich erschwert, die Zunge wich nach links ab.
Es bestanden lebhafte Schmerzen im Nacken und
Hinterhaupt, an der rechten Seite des Nackens hat
sich in Folge einer Muskelkontiaktur Schiefstellung
des Kopfes eingestellt, die erst nach etwa vier bis
fünf Jahren allmählich nachliess, aber auch jetzt in
den letzten Jahren zeitweilig erkennbar war.
Protokoll der Vernehmung des Leibarztes
k. k. Hofrathes Professor Dr. Braun vom
19. April 1899.
Im Jahre 1884 bestanden eine Zeit lang der
obenerwähnten Information zufolge deutliche An¬
zeichen von Platzangst. Im Jahre 1886 begannen
Aeusserungen ehelicher Abneigung mit sehr reizbarer
missmuthiger Stimmung. Seit 1890 fiel ein stetig
zunehmendes exzentrisches Wesen auf, indem Ihre
königliche Hoheit überaus putzsüchtig und verschwen¬
derisch und im intimen Verhalten höchst auffällig
wurde. Auf ihren Reisen verbrauchte sie in den
folgenden Jahren durch unverhältnissmässigen Luxus
grosse Summen. Seit 1895, nach der Bekanntschaft
mit Mattasich, begann ihre Leidenschaft für Pferde:
sie hielt sich einen Stall, nahm die Pferde mit auf
die Reise von Cannes nach Paris, von dort nach
Karlsbad und Meran, trat mit den verschiedensten
Personen in kompromittirende Verbindung und mani-
pulirte mit dem Badearzt Dr. Schnee in verschiedenen
kostspieligen Engagements.
Aus der Einvernehmung des Hof- und Gerichts¬
advokaten Regierungsrathes Dr. Bachrach in seiner
Eigenschaft als Vertreter Sr. k. Hoheit des Prinzen
Philipp von Sachsen-Koburg und Gotha entnehmen
wir (Protokoll vom 19. April 1899), dass derselbe
beauftragt war, zunächst mit der Frau Prinzessin über
die eventuelle Ehescheidung zu verhandeln und dass
er sodann die Mission erhielt, Ihre königliche Hoheit
in das Domizil ihres Gatten nach Wien zu bringen.
Bei der ersten in Schloss Lobor zur Ausführung ge¬
kommenen Unterredung fiel die Gleichgiltigkeit auf,
mit der die Frau Prinzessin über die so ausserordent¬
lich wichtigen Fragen der Ehescheidung und der
Tilgung ihrer Schulden hinwegging, während sie sich
in ein lebhaftes Gespräch über ihre Toiletten und
ihre Pferde einliess. Der Herr Referent erhielt ferner
den Eindruck, dass Ihre königliche Hoheit keines¬
wegs in gewöhnlicher Gemüthsverfassung sich be¬
findet, dass der Blick der verschleierten Augen regel¬
mässig in das Leere gerichtet ist und dass offen¬
sichtlich ein eigener Wille nicht besteht. Nach der
bald darauf in einem Hotel in Agram erfolgten Ver¬
haftung des Mattasich war die Frau Prinzessin ohne
Schwierigkeit zur Mitreise nach Wien zu bewegen,
nachdem sie die Versicherung erhalten hatte, dass
sie mit ihrem Gemahl nicht Zusammentreffen werde.
Aus der Schilderung ihres Verhaltens im Hotel
und während der Reise ist unter Anderem noch be-
merkenswerth, dass sie die Verhaftung des Mattasich
mit verhältnissmässiger Gleichgiltigkeit behandelte,
aber doch nic ht abzuhalten war, einen Brief an ihn
zu schreiben, obwohl ihr das Kompromittirende dieser
Handlung vorgehalten wurde, ferner, dass sie sich
über die Lage ihrer Geschäfte gänzlich unorientirt
zeigte, nicht im Stande war, über die eingegangenen
Verbindlichkeiten irgend welche klare Auskunft zu
geben und keinen Begriff von der angehäuften Schul¬
denlast hatte, endlich, dass sie die Ueberführung in
die Privatirrenanstalt des Herrn Professors Obersteiner,
wovon ihr unterwegs Mittheilung gemacht wurde,
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Original frnm
HARVARD UNiVERSITY
1904.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
259
ohne Aufregung hinnahin und sich in keiner Weise
derselben widersetzte.
Wie sich aus dem Protokoll über die Einverneh¬
mung des Professors Dr. Obersteiner ergiebt, wurde
Ihre königliche Hoheit in dessen Anstalt vom 9. Mai
bis zum 2. November 1898 behandelt. Als besonders
auffallende Erscheinung wurde von diesem Sachver¬
ständigen bei der Frau Prinzessin die Einengung des
Ideenkreises, die geringe Urtheilsfähigkeit und die
Einsichtslosigkeit in Bezug auf ihre geschäftlichen
Maassnahmen und auf ihre sonstigen auffallenden
Handlungen, ferner ihre völlige Stimmungslosigkeit bei
Verhandlungen über die für sie wichtigsten Vorgänge
der jüngsten Vergangenheit hervorgehoben; die gleichen
Wahrnehmungen wurden durch Dr. Rudinger gemacht,
in dessen Anstalt die Frau Prinzessin bis zu ihrer
Uebersiedlung nach Coswig verblieb. Auffallend war
weiter die seltene gemüthliche Reaktion gegenüber
der für die Kranke unerwartet gekommenen Ueber-
führung nach Purkersdorf, wie gegenüber der plötz¬
lichen Trennung von der ihr bis dahin beigegebenen
Hofdame, der Gräfin Fugger. Hervorgehoben wird
ferner der völlige Mangel an Interesse für andere
Dinge als für die Toilette und den persönlichen Com¬
fort, die Urtheilslosigkeit und Entschlussunfähigkeit,
sowie die mangelnde Empfindung für das Peinliche
der Situation, in welche sich die Frau Prinzessin
durch ihr Verhalten gebracht hatte; besonders deut¬
lich trat dies zu Tage, als sie gelegentlich die Er¬
lau bniss zu einer Fahrt nach Wien erhielt, um ihren
dort versetzten Schmuck im Pfandhause zu recogno-
sciren, wobei ihr nur die Annehmlichkeit des Aus¬
fluges, dagegen in keiner Weise das Beschämende
des Vorganges zum Bewusstsein kam.
Auch der ausführliche Bericht der Gerichtsärzte
Dr. Hinterstoisser und Professor Fritsch vom 21. Mai
i8q8 über die mit der Frau Prinzessin gepflogenen
Unterredungen enthält zahlt eiche Einzelheiten, welche
den bei der Frau Prinzessin bestehenden erheblichen
intellektuellen und ethischen Defekt beweisen, ebenso
die weiteren Berichte der Gerichtsärzte über ihre Be¬
obachtungen bei der späteren Exploration. Es wurde
hierdurch in einwandfreier Weise das Schlussgutachten
begründet, dass die Frau Prinzessin seit Jahren an
Schwachsinn leide, welcher sie unfähig mache, ihre
Angelegenheiten selbst zu besorgen.
Zu dem gleichen Ergebnisse kommt das Ober¬
gutachten der Wiener medicinischen Faculfät, in
welchem auf Grund der persönlichen Beobachtung
des Referenten Hofrathes Professor Dr. v. Krafft-
Ebing eine ausserordentlich klare und erschöpfende
Darstellung der Entwicklung der Krankheit und ihrer
dauernden, die Handlungsfähigkeit ausschliessenden
Symptome gegeben wird.
Verhalten Ihrer königlichen Hoheit.
während des Aufenthaltes in Coswig.
Aus den alljährlich erstatteten Berichten des
Herrn Sanitätsrathcs Dr. Pierson ergiebt sich, dass
die Frau Prinzessin in Coswiu ebenso wie in den
beiden anderen Anstalten sich verhältnissmässig leicht
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in den Anstaltsaufenthalt gefügt und den ärztlichen
Anordnungen keinen erheblichen Widerstand ent¬
gegengebracht hat. Wenn hierzu offensichtlich der
Umstand beigetragen hat, dass ihr in Coswig grössere
Annehmlichkeiten in der Lebensführung zutheil ge¬
worden sind, das Wohnen in einer besonderen Villa,
gesellschaftlicher Verkehr mit der Familie des Direk¬
tors, die Gestattung von Besuchen nächster Ange¬
hörigen, ferner die wiederholten Ausflüge nach Dresden
und der Aufenthalt in Schandau und Bad Elster,
so wird andererseits doch hervorgehoben, dass auch
hier vor Allem die krankhafte Willensschwäche der
Patientin sie verhindert hat, eine Aenderung ihrer
Lage anzustreben und auf die von aussen her (von
Seite des Mattasich) an sie heran getretenen Befreiungs¬
versuche einzugehen, ferner wird in intellectueller
Beziehung die immer weiter gehende Einengung ihres
Interessenkreises hervorgehoben, der sich ganz auf ihr
persönliches Behagen, die Befriedigung einer gewissen
Gefallsucht und Eitelkeit beschränkt; zugleich tritt
wie früher die völlige Unfähigkeit zu einer kritischen
Beurtheilung ihrer Vergangenheit und ihrer durch
diese geschaffenen Lage, sowie zur Gestaltung von
Zukunftsplänen hervor. Auch zeigt sich die allmählich
eingetretene Verkehrtheit ihrer Vorstellungen darin,
dass sie jetzt in Ausdrücken der Selbstvergötterung
von sich spricht, sich für „das Ideal einer Frau, den
Inbegriff von Tieue und Edelmuth“ erklärt, sich „die
heiligste, reinste Jungfrau, die heilige Braut, die un¬
schuldige weisse Lilie“ nennt, die in der Geschichte
eine Rolle spielen wird, wie Elisabeth von England,
Maria Stuart etc. (Bericht vom 23. März 1903).
Von besonderer Bedeutung für die fortdauernd
krankhafte Natur des ganzen Zustandes ist die aus
den Berichten des Herrn Dr. Pierson sich ergebende
Thatsache, dass im Laufe der mehrjährigen Beobach¬
tung mit einer gewissen Regelmässigkeit ein Wechsel
im Befinden der hohen Patientin hervorgetreten ist,
in der Art, dass Perioden völliger Apathie, gänzlich
blöden und interesselosen Verhaltens mit solchen
grosser Gereiztheit und Unverträglichkeit gewechselt
haben, auf welche dann wieder verhältnissmässig
ruhigere und bessere Zeiten gefolgt sind. In den
Perioden der Apathie zeigt die Frau Prinzessin, wie
wir auch aus den eingehenden persönlichen Mit¬
theilungen des Fräuleins v. Gebauer entnehmen, eine
gänzliche Vernachlässigung ihrer Person, sie ist schwer
zum Aufstehen zu bewegen, verunreinigt sich gelegent¬
lich und verliert die ihr sonst am Herzen liegende
Sorge für ihre Toilette und ihr Aussehen. In den
Zeiten der Gereiztheit quält sie unablässig ihre
nächste Umgebung durch launenhaftes, zankendes,
raisonnirendes Verhalten, erregt Anstoss durch un¬
reinliches Essen und durch sonstige ekelhafte Gewohn¬
heiten; auch tritt dann die schon früher beobachtete
Neigung zum sinnlosen Zertrennen und Zerschneiden
werthvoller Kleidungsstücke und Bücher stärker her¬
vor, ein Verhalten, das übrigens auch in den verhält¬
nissmässig guten Zeiten nicht selten an ihr beobachtet
wurde. (Schluss fol?t.)
Original from
HARVARD UNIVERSUM
260
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
LNr. 27.
Referate.
— Taruffi, C.: Hermaphrodismus und
Zeugungsunfähigkeit, eine systematische
Darstellung der Missbildungen der mensch¬
lichen Geschlechtsorgane. Autorisierte deutsche
Ausgabe von Dr. R. Teuscher. (Berlin, 1904, H.
Barsdorf). 417 S.
T. unterscheidet in seiner Monographie einen ana¬
tomischen und einen klinischen Hermaphrodismus.
Den anatomischen trennt er in den Hermaphrodismus
der specifischen Geschlechtsdrüsen (echter Herma¬
phrodismus), in den Hermaphrodismus der aplasischen
Geschlechtsdrüsen (atrophischer oder neutraler Herm¬
aphrodismus) und in den Pseudo-Hermaphrodismus:
(männlicher: Fortbestehen der Müllerschen Canäle,
äusseres weibliches Aussehen; weiblicher: Fortbestehen
der WolfFschen Canäle). — Der klinische Herm¬
aphrodismus zerfällt in äusseren Pseudo-Hermaphrodis-
mus — (beim Manne: Pschio-schisis, perinär-scrotale
Hypospadie, Gynäcomastie, Feminismus; beim Weibe:
Iuvenilismus (virago), Hypertrichose, Elephantiasis
der Clitoris) — in heterotopischen Pseudo-Herm¬
aphrodismus (Taruffi) und in psychischen Herm¬
aphrodismus (conträre Sexualempfindung). Den Schluss
bilden Fälle mit zweifelhaftem Geschlecht. Die ein¬
zelnen Arten werden eingehender besprochen. Den
Besprechungen sind die mit grösstem Fleisse aus der
Litteratur zusammengetragenen einschlägigen Fälle,
sowie eigene diesbezügliche Beobachtungen angefügt.
— Das Buch ist wenig übersichtlich, manches ist
auch nicht sehr klar ausgedrückt.
Wickel, Dziekanka.
— L. Löwenfeld. Sexualleben und Nerven¬
leide n. III. bedeutend vermehrte Aufl. Wiesbaden,
Bergmann, 1903 (326 S.).
Ls. bekanntes Buch ist in neuer, wiederum be¬
deutend erweiterter und bereicherter Form erschienen.
Grosse eigene Erfahrung des Verls., vielseitige Ver-
werthung und kritische Sichtung der Untersuchungen
anderer sichern dem Werke eine volle Beherrschung
des Stoffs und eine klare, übersichtliche Darstellung.
Die Entwicklung und die Erscheinungen der Störungen
des Sexualtriebs werden durch alle Lebensstufen des
Menschen und je nach dem verschiedenen Geschlecht
verfolgt und in der Therapie wie in der Prophylaxe
vernünftige und rationelle Bahnen gewiesen. Der
Zusammenhang der* sexuellen Neurasthenie mit der
neurasthenischen Anlage resp. der allgemeinen Neu¬
rasthenie sind scharf betont. Der Abschnitt XII:
„Erkrankungen der Sexualorgane bei Frauen als Ur¬
sache von Nervenleiden“ scheint mir besonders ge¬
lungen zu sein. Das Kapitel: Die Anomalien des
Sexualtriebs bringt eine einfache Eintheilung und
gewissenhafte Darstellung der verschiedenen Formen
mit Berücksichtigung der Aetiologie.
Wir sehen in dem Buche Ls. die ausführlichste
und beste Darstellung des wichtigen Gebiets der ner¬
vösen Sexualstörungen. M. Fischer.
— Kurelia. Taschenkalender für Nerven- und
Irrenärzte. Vogel & Kreienbrink, Berlin.
Mit unliebsamer Verspätung, doch nicht minder
aufrichtig sei den Kollegen der bekannte, praktische
Taschenkalender in Brieftaschenformat empfohlen, der
in neuester Fassung noch mehr als in den Vorjahren
über die auf engen Raum zusammengedrängte Reich¬
haltigkeit seines Inhalts staunen lässt. W.
— Eduard Müller, Schlaf und Traum, Suggestion
und Hypnose. Leipzig, Jäh und Schunke, 1903.
60 S.
Wenn die lebhaft geschriebene Studie auch gerade
nichts Neues bringt, so bewegt sie sich doch auf dem
Boden der heutigen Kenntnisse und hütet sich vor
allem vor Uebertreibungen und Kritiklosigkeiten denen
die über Hypnose schreibenden Autoren sonst leicht
verfallen. YV.
Personalnachrichten.
— Bonn. Herr Geh. Med.-Rath Professor Di.
Pelmann legte am 30. September die Leitung der
hiesigen psychiatrischen Klinik nach mehr als 15 jähriger
Thätigkeit nieder. —
Unser hochverehrter Herr Mitherausgeber, Professor
Dr. Ernst Schultze in Bonn, hat einen Ruf als
ordentlicher Professor nach Greifswald erhallen
und angenommen.
Kunerol.
Als „Kunerol“ kommt ein von der Pflanzenfettfabrik
Khuner & Sohn in Wien, XIV., aus Kokosnüssen
fabricirtes reines Pflanzenfett in den Handel. Das¬
selbe enthält nach der Analyse der Untersuchungs¬
anstalt für Nahrungs- und Genussmittel des allgemeinen
österreichischen Apothekervereins in Wien, 99 %
reines Fett (Butter, Kunst- oder Naturbutter 83—88% ),
besitzt einen Schmelzpunkt von 25 0 C und ist nahe¬
zu völlig frei von freier Fettsäure. Da jedes Speise¬
fett, dessen Schmelzpunkt unterhalb der Temperatur
des menschlichen Körpers liegt und welches keine
grösseren Mengen freier Fettsäuren enthält, leicht ver¬
daulich ist, so steht auch das Kunerol hinsichtlich
seiner Verdaulichkeit nicht hinter den anderen Speise¬
fetten zurück. Es schmilzt klar, zeigt beim Erwärmen
normalen Geruch und Geschmack und ist frei von
thierischen Fetten. In trockenen, kühlen Lokalen auf¬
bewahrt, hält sich Kunerol mindestens ein Jahr voll¬
kommen frisch. Es eignet sich zur Bereitung jeder
Art Speisen, namentlich auch zum Ausbacken voll¬
kommen, den damit hergestellten Speisen haftet kein
Fettgeruch an. — Durch die bakteriologische Unter¬
suchung w'urde die absolute Keimfreiheit des Kunerols
festgestellt. Nach Dr. Pohl, Nervenarzt in Baden bei
Wien, erscheint es angezeigt, dasselbe zur Zu¬
bereitung der Speisen bei sich mästenden Nerven¬
kranken zu verwenden.
Kür den redaktionellen Theil verantwortlich: Oberarzt ] 3 r. J. Bresler, Lubl.nitr (Schlesien).
Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inscratenannahmc 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Heyncmann’sche Buchdruckerei (Gebr. WVflO in Halle a. S.
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HARVARD UNIVERSITY
Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift.
Redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Lublinitz (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hai lesaale. Fernsprecher 2834.
Nr. 28. 8 . Oktober. 1904.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die 3$paltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Rresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten.
Die negative Suggestibilität,
ein physiologisches Prototyp des Negativismus, der contiären Autosuggestion und gewisser Zwangsideen.
Von Prof. Bleuler- Burghölzli.
(Schluss.)
In eine Discussion der Theorie der negativen
Suggestibilität möchte ich mich an dieser Stelle nicht
einlassen. Anderswo hoffe ich nachzuweissen, dass
die Suggestibilität im gewissen Sinne eine Seite der
Affectivität ist. Die Suggestibilität zerfällt in eine
positive — die bekannte — und eine negative —
die hier beschriebene. — Die Affectivität steht in
viel engerem Zusammenhang mit dem Wollen und
Handeln als mit dem Denken; deshalb die Er¬
scheinung, dass bei Laboratoriumsversuchen, wo das
Willens- und Gefühlsmoment fehlt, Constrastassociatio-
nen sehr selten sind, während im Leben die
Contrastgefühle und wohl sekundär die Contrastvor-
stellungen das Wollen und Handeln regelmässig be¬
gleiten. — Manchmal können wir den Affect, der
mit der negativen Suggestion verbunden ist, sehr
genau kennen: alle Formen von Schüchternheit,
Scheu vor unbekanntem, vor neuem, die namentlich
bei Kindern und Wilden, aber auch bei unsern
misoneistischen Philistern eine so grosse Rolle spielen,
sind Affecte der negativen Suggestion. Bei einer
Hysterischen, deren Krankheit sich zur Zeit beständig
in Contrasthandlungen bewegt, konnten Herr Kollege
Jung und ich ganz unabhängig von einander be¬
obachten, wie der Contrast nur durch gefühlsbetonte
Vorstellungen erzeugt wird.
Ganz abgesehen von dem Zusammenhang der
Affectivität mit der Suggestibilität ist sehr leicht zu
verstehen, dass gerade gefühlsbetonte Ideen am
meisten von negativen Suggestionen begleitet werden
müssen. Gefühlsstarke Gedanken drängen am
meisten zum Handeln und hemmen die Gegenvor¬
stellungen am stärksten. Sie haben deshalb diese
Controlle am nüthigsten.
Mit der positiven Suggestion und mit der
Affectivität teilt die negative Suggestion den enormen
Einfluss nicht nur auf den bewussten und unbewussten
Gedankengang, sondern auch auf die körperlichen
Funktionen.
* . *
*
Die Herren Jung und Riklin werden in den
nächsten Heften des Journals für Psychologie und
Neurologie nach weisen, dass manche der auffallendsten
Symptome der Dementia praecox nur qualitativ oder
quantitativ entstellte Mechanismen des normalen
Seelenlebens sind. Sehr wahrscheinlich wird es mit
dem Negativismus ebenso sein. Es ist die Aufgabe
weiterer Untersuchungen, zu zeigen, ob sich der
pathologische Negativismus aus diesem Mechanismus
der Gegenvorstellungen ableiten lässt. Mir ist wahr¬
scheinlich, dass der elementare Ablehnungsmechanis¬
mus die wichtigste Wurzel dessen ist, was wir unter
dem Namen Negativismus zusammenfassen.
Ich möchte nicht behaupten, dass es nicht noch
andere „Arten“ von Negativismus gebe. (Die Herren
Jung und Riklin werden über eine Art nega-
tivistischer Hemmung durch intercurrente Sinnesein¬
drücke berichten, die die Kranken etwa als ,,Bannung“
bezeichnen). Jedenfalls aber lässt sich durch die
gewonnenen Anschauungen ein grosser Theil der nega-
tivistischen Phänomene erklären.
Man könnte sich z. B. vorstellen, dass durch die Sperrungen
der Dementia praecox das Spiel der verschiedenen Motive,
das wir Ueberlegen nennen, gehemmt werde, dann bleiben wie
beim Gesunden nur noch die primären Triebe und Gegentriebe.
Da bei Geisteskranken die primären Ideen überall mit der
Wirklichkeit in Konflikt kommen (Wahnideen!), erfahren sie
mehr äussere Hemmungen als unter normalen Umständen und
so kommt der diesen entgegengesetzte Trieb häufiger zur
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262 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 28.
Action, und zwar mit um so elementarerer Gewalt als die
Ueberlegung fehlt. Durch die Stereotypierung der Vorgänge
würden nach und nach eine Menge von Vorstellungen und
Aufforderungen „mit Negativismus behaftet.“
Noch an etwas anderes möchte ich erinnern.
Es giebt Zwangsideen, die sich ausschliesslich
in Gegen Verstellungen bewegen: Ein Sohn zweifelt
daran, ob sein Vater wirklich todt sei. Er sucht
eine Anzahl Möglichkeiten, dass der Mann nur
scheintodt sei, beruhigt sich dann aber bei dem Ge¬
danken, der Leiche eine Ader öffnen zu lassen.
Nachdem das geschehen und der Vater beerdigt wird,
kommen wieder neue Gegenvorstellungen, die eine
Möglichkeit offen lassen , dass der Vater doch noch
am Leben sei (Thrombose der geöffneten Arterie etc.)
Er verlangt deshalb unter grossen formellen Schwierig¬
keiten die Eröffnung des Grabes, um sich vom Tod
des Vaters überzeugen zu können. In dem Moment,
wo er glaubt, die Erlaubnis zu erhalten, fallen ihm
eine Anzahl Gründe ein, die dafür sprechen, dass der
Vater’ wirklich todt sei. Wie er von der Ausgrabung
abstehen will oder abgestanden ist, kommen die ent¬
gegengesetzten Vorstellungen mit erneuter Gewalt,
und so wird er Wochen lang- zwischen Entschluss
und Gegenentschluss hin- und hergeworfen, bis ihm
die Behörden seinen Wunsch bestimmt versagen.
Von nun an quärulirt er beständig um die Exhumirung.
Der Mechanismus der GegenvoiStellungen erklärt
auch die Contrasuggestionen (conträren Auto¬
suggestionen) bei Hysterischen. Wenn durch
Einschränkung des psychischen Gesichtsfeldes, wie
es Hysterische so oft zeigen, die Ueberlegung ge¬
hindert ist, kommen nur noch Vorstellung und Gegen¬
vorstellung und secundäre Triebe und Gegentriebe
zur Wirkung. Es kann wahllos eben so gut die eine
wie die andere Tendenz die Oberhand gewinnen,
deshalb das hülflose hin- und hergeworfen werden so
vieler Hysterischen zwischen Suggestion und Contra¬
suggestion.
Genauer auf die Literatur über Negativismus
einzugehen lohnt sich wohl nicht. Folgende Be¬
merkungen mögen genügen.
Am nächsten kommt unserer Auffassung Sante
de Sanctis (cit. Zeitschr. für Physiologie der Sinnes-
org. Bd. 13, pg. 397.), doch spricht er sich wohl zu
vage aus: „Der einem jedem innewohnende Geist
der Verneinung überwuchert den Rest der Wider¬
standskraft des Ich, der sich in Contrastempfindungcn
äussert.“
Wenn Rag hi und Paul ha n (in Camus et
Pagniez, Isolement et Psychotherapie, pg. 225) die
Abulie durch Contrastassociation erklären, so berühren
sich unsere Anschauungen ebenfalls. Sie lassen aber
die Frage unbeantwortet, warum diese Constrast-
associationen eine solche Rolle spielen können.
Ungenügend ist wohl für den psychischen Vor¬
gang die Erklärung Rollers (A. Zeitschr. f. Psych.
4 2. pg. 37), dass der Negativismus ausgelöst werde
durch gleichzeitige Innervation der Antagonisten. Inner¬
vation der Antagonisten bewirkt wohl eine gegenteilige
Bewegung des Gliedes, nicht aber eine gegenteilige
Handlung oder gar eine gegenteilige Denkweise.
Nach L und b erg (Centralblatt für Neur. und
Psych. 1902 pg. 554.) sind verschiedene Arten von
Negativismus anzunehmen. Eine derselben erklärt
sich durch eine der Myotonie ähnliche Störung der
Motilität, welche dem Patienten verhindert das zu thun.
was er beabsichtigt. Diese Ueberlegung könnte höch¬
stens den passiven, nicht aber den activen Negativismus
erklären.
Wern icke nimmt an, der Wille schlage wegen
der innen) Widerstände eine entgegengesetzte Richtung
ein. Es scheint mir aber, die innem Widerstände
können nur eine andere, nicht aber eine entgegen¬
gesetzte Richtung bedingen.
Alter (Neurol. Centralbl. 1904, p. 8) giebt ein
Amendement zu der W ernicke’sclien Ansicht: Mit
den Agonisten werden immer auch die Antagonisten
erregt. Durch Sejunction entsteht in der Agonisten bahn
eine Stauung des Neurokyms; dieses wird dadurch
gezwungen auf die Antagonisten überzugehen. Ab¬
gesehen davon, dass die Sejunction ein unheimlich
weiter Begriff ist (hysterische, paranoische, hebephrene
Sejunktion sind doch wohl principiell stark verschieden),
trifft die gegen Roller gemachte Bemerkung auch
hier zu.
Mit Gross (Monatsschrift f. Psych. 1902,
p. 359) den Negativismus aus der „Affectlage der
Ablehnung“ zu erklären, scheint mir sehr gewagt.
Bei Aeusserungen des Negativismus sind gar nicht
immer Zeichen eines Affectes zu sehen. Ferner ist
die Ablehnung doch w'ohl ein complicirter Vorgang,
von dem ein Affect höchstens einen Theil ausmacht.
Gäbe es normaliter einen Affect der Ablehnung, der
etwa bei Dementia praecox pathologisch verstärkt
wäre, dann müsste dies der Affect (oder einer der
Affccte) unserer negativen Suggestibilität sein, wobei
indessen das Zusammenvorkommen dieser letztem mit
hochgradiger positiver Suggestibilität noch einer be-
sondern Erklärung bedürfte.
* *
*
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Original fr&m
HARVARD UNIVERSITY
i Q 04 -]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
263
Resurae.
Es giebt nicht nur eine positive Suggestion, d. h.
eine Tendenz zur Annahme der von aussen ge¬
botenen Vorstellungen und Gefühle, sondern ganz
analog auch eine negative, das heisst eine Tendenz
zur Ablehnung. Diese ist normaliter eines der wich¬
tigsten Momente zur Erzwingung einer Ueberlegung
vor dem Handeln. Auf pathologischem Gebiete führt
sie zu Negativismus, zu den conträren Autosugge¬
stionen und zu einer gewissen Klasse von Zwangsideen.
In der gesunden wie in der kranken Psyche ist starke
negative Suggestibilität meist verbunden mit starker
positiver, und bildet oft ein Korrigens zu letzterer.
Epileptische Schulkinder.
Nach einem auf dem 1. internationalen Kongress für Schulhygiene zu Nürnberg
am 5. IV. 1904 gehaltenen Vortrag.
Von W. Wcygandt - Würzburg.
(Fortsetzung.)
Was uns nun besonders interessirt, ist die Frage,
inwieweit der Schulbesuch und das Lernen in der
Schule, vor allem auch der Schulbetrieb durch epilep¬
tische Kinder gestört wird. Die ganz blödsinnigen
Kinder sind natürlich nicht fähig die Normalschule
zu besuchen, ebenso die schwerhörigen oder taub¬
stummen. Vereinzelt wurde auch ein Kind wegen
gehäufter Anfälle aus der Schule weggelassen. Andere
wieder sassen wegen geringerer Leistungen ganz unten
in der Schule. Ein Junge litt sei dem 7. Jahre an
häufigen Anfällen ohne Zuckungen; zu Haus, auf
der Strasse und in der Schule, alle 2 bis 3 Tage einmal,
gelegentlich auch öfter, selbst dreimal an einem Tag.
Der Schulbesuch ging aber gut von statten, Patient
lernte ziemlich gut bis zum 12 Jahr. Da Hessen die
Leistungen erheblich nach und er blieb sitzen. Im
2. Jahrgang ging er noch mehr zurück, 2X8 kann
er nicht rechnen, er weiss nicht den Namen des
Prinzregenten. Dazu traten bedenkliche Characterzüge
auf, Patient ist reizbar, äusserst unverträglich, dabei
auffallend geizig und darauf erpicht, Geld zu bekommen.
Die Anfälle sind nachts sehr häufig, bei Tag und
in der Schule äusserst selten. Sie würden jedenfalls
dem Schulbesuch nicht im Wege stehen, wohl aber
hat die Demenz und ganz besonders die Streitsucht
bei den Lehrern Bedenken erweckt, ob sie den Pat.
noch länger in der Schule dulden sollen.
Störungen des Unterrichts jedoch sind nur
recht wenig zu verzeichnen. Bei einem Kinde trat der
allererste Anfall in der Schule auf und dann wieder¬
holten sich noch öfter beim Befragen die Anfälle.
Ein anderes Kind hatte zunächst leichte Anfälle, die
gar nicht auffielen. Allmählich wurden die Anfälle
stärker, dabei sprang die kleine Patientin auf, be¬
schimpfte die Kinder und Hess Urin. Daraufhin wurde
sie für einige Jahre zu Hause gehalten. Als nach
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dem Eintritt in meine Behandlung die bisher ausser¬
ordentlich zahlreichen Anfälle für 1 U Jahr sehr
zurückgetreten waren, wurde wieder ein Versuch
mit dem Schulbesuch gemacht, allerdings vergeb¬
lich, denn gleich in den ersten Tagen trat wieder je
ein Anfall auf. Ein Kind hatte einen leichten Anfall
in der Schule. Ein anderes, dem die unvernünftigen
Eltern Bier zu trinken gaben, lernte mangelhaft, war
müde in der Schule und schlief manchmal ein. Zwei
Kinder hatten mehrfach leichtere Anfälle, kurze Ab¬
sencen, ohne dass der Lehrer oder die Lehrerin etwas
davon merkten.
Viele hatten zu Hause, vor allem im Bette An¬
fälle, während sie in der Schule verschont blieben.
Ein Junge hatte Morgens um 7 Uhr einen Anfall mit
Zusammensinken des ganzen Körpers, Bewusstlosigkeit
und darauffolgendem halbstündigen Schlafe. Sodann
ging er zur Schule und arbeitete ganz ordentlich mit;
nach Haus zurückgekehrt bekam er wieder einen An¬
fall mit Zuckungen. Von mehreren heisst es, dass
sie in der Schule recht ordentlich sind, einer wurde
als bester Schüler bezeichnet. Bei einem Jungen war
von mir ein Attest verlangt worden, dass er nach einer
Zeit mit regelmässigen Anfällen, die allmählich zurück¬
gegangen waren, wieder die Schule besuchen könne-
Ich schrieb, dass, wenn auch die Möglichkeit der
Wiederkehr zwar nicht absolut auszuschliessen sei,
ein Versuch doch gemacht werden könnte und es
nur wünschenswerth erscheine, dass der jeweilige
Lehrer über die Vorgeschichte informiert sei. Der
Versuch ist gelungen.
Ein paar Worte seien noch der Behandlung ge¬
widmet. Von einer bleibenden Heilung ist nur in
wenigen Fällen die Rede. Im ganzen bewährt sich
noch am besten die Bromtherapie in Verbindung mit
diätetischem Verhalten und viel Ruhe. Vor allem die
Original from
HARVARD UNIVERSITY
264
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 28.
verbreitete Anämie, die mindestens die Hälfte der
Fälle betraf, verlangt Berücksichtigung. Im Status
epilepticus leisteten Klystiere mit Amylenhydrat gute
Dienste.
Castoreumbromid sowie Bromipin hatten gelegent¬
liche Besserung zur Folge. Vereinzelt hörten die
Symptome nach Bromgebrauch sofort auf, öfter kam
es vor, dass nach einer mehrwöchigen Pause doch
wieder Anfälle auftraten. Manchmal änderte sich der
Typus der Anfälle, oder es besserte sich ein Symptom,
während andere blieben. Einmal machte das Kind
bessere Fortschritte im Laufen und Sprechen, während
seine Anfälle sich nicht änderten. Gelegentlich sah
man freilich auch Besserungen ohne Medikamente.
Ein Patient war bis zum 20. Jahre in Anstalten für
Schwachsinnige, doch hatten seine Anfälle allmählich
ohne Bromgebrauch nachgelassen und waren schliess¬
lich vollkommen verschwunden. Schwerhörigkeit,
nächtliches Schreien, geringer Tremor und eine gewisse
geistige Rückständigkeit waren noch zu verzeichnen.
Ich unterzog den Fall einer langdauernden, eingehen¬
den Untersuchung unter Zuhilfenahme experimental-
psychologischer Methoden und kam zu der Anschau¬
ung, dass seine psychische Rückständigkeit vorzugs¬
weise auf Mangel an Lemgelegenheit in der Jugend
zurückzuführen sei. Auf mein Gutachten wurde die
Entmündigung aufgehoben. Seit einigen Jahren hält
sich der frühere Patient ohne Vormund durchaus
korrekt, die Lücken seines Wissens hat er mittler¬
weile ausgefüllt.
Was unsere bisherigen Ausführungen von den Re¬
sultaten anderer Autoren unterscheidet, ist einmal
das seltenere Vorkommen einer Demenz. Nur V4
der Fälle sind dement, während Kräpelin z. B. davon
spricht, dass mehr als die Hälfte in geistiges Siech¬
thum verfallen. Dipsomanie ist bei den jugendlichen
Patienten gar nicht zu konstatiren. Auch directe anti¬
soziale Handlungen fehlen, von der ungezogenen
Aufführung mancher Kinder abgesehen, denn der
Brandstifter war schon über die Kindeijahre hinaus.
Es erklärt sich all das zwanglos aus der Eigenart
des Materials, das eben vorzugsweise im Kindesalter
stand und fernerhin vielfach frisch erkrankte Fälle
enthielt Der Schwachsinn ist offenbar in jener Lebens¬
zeit und auch zu Beginn der Erkrankung noch nicht
so stark entwickelt wie bei den Anstaltspatienten, bei
denen Kellner hinreichende psychische Leistungsfähig¬
keit nur etwa in 10% der Fälle fand. Ferner ist
der Drang zum Trinken beim kindlichen Alter von
vornherein doch wesentlich geringer als bei Er¬
wachsenen und auch leichter zu bekämpfen. In ge¬
wisser Parallele zu den dipsomanischen Neigungen
steht der in 2 Fällen beobachtete periodisch auf tre¬
tende Heisshunger, der natürlich viel harmloser ist
als das Zwangstrinken, weil bei diesem der Alkohol
selbst den pathologischen Prozess noch wesentlich ver¬
schlimmert.
Aus all dem ergiebt sich, dass die epileptischen
Schulkinder keineswegs nach einem und demselben
Schema behandelt werden können. Gerade die zahl¬
reichen Fälle mit leichten Symptomen sprechen durch¬
aus dagegen. Wir sind jetzt mit der genaueren
Diagnose der Epilepsie in eine ähnliche Lage ge¬
kommen wie bei der Tuberkulose, wo ja auch die
leichten Fälle die Majorität einnehmen, die keineswegs
alle sofort in Sanatorien untergebracht oder als Todes¬
kandidaten angesehen werden können.
Die erwähnte Bemerkung aus einer Schulvorschrift,
wodurch Epilepsie als ansteckend bezeichnet wird,
brauchen wir kaum eingehend zu widerlegen. Wohl
können hysterische Kinder erregt und auch einmal zu
hysterischen Anfällen provociert werden durch den
Anblick eines epileptischen Krampfanfalles, aber die
Epilepsie als solche ist keineswegs übertragbar. Eine
andere, gelegentlich geäusserte Ansicht von Schul¬
männern , wonach epileptische Kinder vom Schul¬
besuch auszuschliessen seien, kann ebenso wenig auf¬
recht erhalten werden. Mit demselben Recht könnte
man tuberkulöse Kinder aus der Schule verbannen,
freilich müsste man dann fast die Hälfte aller Schul¬
klassen auflösen.
Blödsinnige Kinder gehören, ob mit oder ohne
epileptische Anfälle, in die Idiotenanstalt Da sind
solche Fälle ja auch längst reichlich vertreten, sowohl
mit vorausgegangener cerebraler Kinderlähmung als
auch ohne eine solche. In den bayerischen Idioten¬
anstalten fanden sich 453 Insassen, also 20%, die
als epileptisch bezeichnet wurden. Von den leichter
schwachsinnigen, imbezillen und dabei epileptischen
Kindern trifft man eine ansehnliche Menge in den
Hilfsschulen, durchschnittlich 1,35%. Im einzelnen
treffen wir bedeutende Schwankungen von 0,5 bis zu
10% in Apolda; in kleinen Hilfsschulen manchmal ver-
hältnissmässig noch mehr, so 3 von den 16 Kindern
in Oschatz und 2 von 12 in Stuttgart.
Epileptische Kinder, die antisociale Neigungen
zeigen, zum Stehlen, Brandstiften usw., könnten am
zweckmässigsten in der Fürsorgeerziehung ihre Unter¬
kunft finden. Auch die Kinder mit krankhaftem
Wandertrieb, professionelle Schulschwänzer, finden
dort oder in anderweitigen geschlossenen Internaten
ihren geeigneten Platz. Thatsächlich sind die Leiter
der Fürsorgeerziehungsanstalten vielfach schon ganz
spontan darauf aufmerksam geworden, dass sich unter
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Original from
HARVARD UNIVERSITY
1904]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
265
den Zöglingen einige finden, die periodisch die Neigung
zum Durchbrennen haben; ähnliches findet sich auch
bei Hilfsschulzöglingen.
Kinder mit gehäuften Anfällen, etwa täglich einem
solchen, oder serienweisen Anfällen an einem Tage,
womöglich mit Neigung zu Status epilepticus ohne Er¬
wachen zwischen den einzelnen Anfällen, bedürfen
der intensivsten ärztlichen Behandlung. Sie müssen
selbstverständlich auf Zeit vom Unterricht ausge¬
schlossen werden, aber weder die straffe Zucht der
Fürsorgeerziehungsanstalt ist für sie geeignet, noch
der Betrieb der Idiotenanstalten, die ja leider zum
grösten Theil bei uns noch in pädagogischen Händen
sind. Hier ist zunächst Bettbehandlung am Platze,
die in jedem Krankenhause, vor allem Kinderspitälem,
zur Not aber auch in der Familie durchgeführt werden
kann.
Wie steht es nun mit jenen Kindern, die ganz
vereinzelt einen Anfall oder auch nur eine leichtere
Absence, eine motorische Reiz- oder Lähmungser¬
scheinung bekommen ? Sie können meines Erachtens
ganz ruhig in ihrer Schule verbleiben, unter der
Voraussetzung, dass sie schulärztlich überwacht sind
und der Lehrer über die Eventualitäten informiert
ist. Wir hörten ja schon, dass gelegentlich die Lehrer
gar nicht merkten, was Abnormes mit dem Kinde
vorging. Zweifellos werden sie es in manchen Fällen
auch merken, aber nicht verstehen, und dann mit un¬
gerechten Strafen gegen das Kind Vorgehen. Gelegent¬
lich habe ich im Einvernehmen mit den Eltern die
Schuldirektoren schon informiert über die Sachlage
bei den kleinen Patienten.
Das ist in unserer Zeit der Schulärzte unerlässlich,
dass die Lehrer über das Wesentliche der Krankheit
instiuiert werden , damit sie nicht zu Strafen greifen,
wo verständnisvolle Ueberwachung und mitleidige
Hilfe am Platze ist. Zweifellos können manchmal
krankhafte Zustände gerade dann auftreten, wenn der
Kleine gefragt wird. Einem unverständigen Lehrer
kann dieses Verhalten dann als eine Arglist, eine
freche Simulation des Schulkindes erscheinen. Nicht
nur die psychische Erregung, die bei Epilepsie ja
gerade keine sehr grosse Rolle spielt, wenn sie auch
gelegentlich bei der Auslösung von Symptomen mit-
wirken kann, sondern mehr noch das lange Stehen
mit der erschwerten Blutzufuhr zur Hirnrinde kann
eine Attaque auslösen.
Ist einmal ein Anfall ansgebrochen, so bleibt
nichts übrig, als das Kind ruhig hinzulegen, möglichst
ausserhalb des Schulzimmers, um dieKlassenkameraden
nicht zu sehr aufzuregen. Im ganzen sind kindliche
Epileptiker verträglich, ja häufig von musterhaftem
Fleiss, so dass sie sich in der ruhigen Zeit ganz gut
mit den Schulkameraden vertragen. Ihre Strebsamkeit
erlaubt*vielfach auch rasches Nachholen dessen, was
sie etwa durch die Anfälle versäumt haben. Eine
Verbannung dieser Kinder mit leichten motorischen
Reizerscheinungen oder motorischen Anfällen in
Idiotenanstalten oder eine Ausschliessung vom Unter¬
richt wäre eine harte Ungerechtigkeit. Vereinzelte
epileptische Attaquen sind ja vielfach bei geistig hoch¬
stehenden Menschen vorgekommen, so bei Napoleon I.
wie auch bei Helmholtz. Wie hätte man diese vom
Unterricht ausschliessen dürfen? (Schluss folgt.)
Mitthei lungen.
— Am 23.—24. Oktober findet in Budapest die
III. Landeskonferenz der ungar. Irrenärzte
statt. Auf derselben gelangen folgende Referate zur
Verhandlung: 1. „Geisteskrankheit und Geistes¬
schwäche vom jurid. und ärztl. Standpunkt“, Reff.
Prof. v. Balogh und Prof. Moravcsik. 2. „Das
Verfahren der Entmündigung und der Aufhebung
der Curatel bei Geisteskranken“, Ref. kgl. Tafelrichter
Markus. 3. Die Eintheilung der Geisteskrankheiten
mit Rücksicht auf die Anstaltsstatistik, Ref. Dir. v.
Olah. 4. „Die Neuronlehre vom histol. und pathol.
Standpunkte“, Ref. Prof. Schaffer. 5. „Anstalts¬
behandlung unbemittelter Nervenkranker“, Ref. Doc.
Sa 1 go.
Ferner sind im Programme folgende Vorträge
enthalten: 1. Hajos: „Die Meinungsfreiheit dos Irren¬
arztes“. 2. Gero: Ueber die verminderteZurechnungs-
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fähigkeit“. 3. Doc. v. Sar t n: Ueber die traumatische
Neurose“. 4. Hudovernig u. Guszman: „Das
Verhältnis der tertiären Lues zur Tabes u. Paralyse“.
5. Fercnr z i: „Ueber zwei Formen der Neurasthenie“.
6. Dir. Konrad: „Die Einführung der familiären
Irrenpflege in Ungarn. 7. Dir. N o w ack: „Daten zur
Verpflegung Geisteskranker in kleineren Spitälern“.
8. Ranschburg: „Schwachsinnige als Zeugen.“ 9.
Fischer (Budapest): „Die anstaltliehe Versorgung
Iinbeciller“. 10. Prof. Alexander: „Apperccptions-
nnd Associationspsychologie.“ 11. Gefängnissarzt
Pattantyus: „Der Einfluss des psychischen Lebens
auf die tuberculöse Erkrankung.“ 12. Doc. Donath:
„Zur Psychopathologie des Masochismus.“ 13. Prim.
Fischer: „Ueber die Neurasthenie und das Ein¬
gangsstadium der Paralyse.“ Ausserdem ist eine
Demonstration angemeldet von Petry Poposts:
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
266
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 28.
„Zur Methode der Gehimuntersuchungen.“ Sekretär
des Org. Comites ist Prim. Dr. L. Epstein (Buda-
pest-Lipotmezö).
— 15. Verbandstag deutscher evang. Irren -
Seelsorger. Am 13 Sept. hat der Verband deutscher
evang. Irrenseelsorger seine Jahresversammlung
in Stuttgart 'abgehalten. Als Vertreter der staat¬
lichen und kirchlichen Behörden erschienen waren
Präsident v. Nestle und der neuernannte Referent für
das Irrenwesen Med.-Rat Dr. Kölle, sowie Ob.-Kons.-
Rat Keeser und Mediz.-Rat Dr. Kreuser-Winnen-
thal. Der langjährige Seelsorger von Weissenau,
Dekan Knapp in Ravensburg, hielt einen Vortrag
über die Nothwendigkeit der Irrenseelsorge. Er wies
zuerst die Bedenken zurück, die man gegen die Mit¬
arbeit der Geistlichen, an den Anstalten einwenden
könnte und auch schon eingewendet habe, und zeigte,
wie die Seelsorge nicht nur im Namen der Religion
vom kirchlichen Standpunkt aus nöthig sei, sondern
im Interesse der Kranken selbst und der Anstalten
liege, und darum auch von ärztlicher Seite verlangt
werde. Es habe ja in alter und neuer Zeit eine
grosse Zahl von Aerzten gegeben, die mit religiöser
Wärme selbst ihren Kranken Trost zuzusprechen ver¬
standen hätten. Aber diese Aufgabe sei doch eigent¬
lich Sache des Geistlichen der in der Gedankenwelt
der Bibel zu Haus sei. Die Berechtigung c^r Seel¬
sorge sei auch in allen Staatsanstalten durch die An¬
stellung von Anstaltsgeistlichen anerkannt. Unser
christliches Volk verlange für seine Kranken die reli¬
giöse Tröstung und Berathung. Den Gedanken, dass
einmal ein allgemeiner Humanitätsglaube an Stelle
des Christenthums treten könnte, fürchte er nicht, denn
die Religion sei in den ewigen Bedürfnissen des
Menschenherzens nach Gottesgemeinschaft gegründet.
Der Geistliche müsse mit dem Arzt Hand in Hand
gehen in verständiger Unterordnung und in gegensei¬
tigem Vertrauen.
Es war sehr werthvoll, dass Med. Rat Dr. Kreuser
vom ärztlichen Standpunkt aus die Frage beleuchtete
und zeigte, wie mit der Nothwendigkeit der Seelsorge
überhaupt, also nicht aus einem spezifischen psycho¬
therapeutischen Bedürfnisse, das Recht und die Pflicht
der Irrenseelsorge gegeben sei. Dem Kranken müsse
alles das an religiösem Leben in der Anstalt darge¬
boten werden, was er draussen gehabt und verlangt
habe. Der Arzt fordere, abgesehen von seinem per¬
sönlichen Standpunkt, die Arbeit der Seelsorger beider
Konfessionen für seine Kranken. Der Anstaltsleiter
müsse mit dem Geistlichen beständige persönliche
Fühlung haben, um denselben auf die Kranken auf¬
merksam machen zu können, welche besondere reli¬
giöse Bedürfnisse haben, aber auch auf die Fälle hin¬
zuweisen, in welchen Zurückhaltung durch den Stand
der Krankheit geboten sei. Tm Stadium der Rekon¬
valeszenz und bei den sogenannten abgclaufeneri
Fällen werde die Thätigkeit des Arztes durch die
Mitarbeit des Geistlichen wesentlich unterstützt.
Der zweite Vortrag von Pfarrer Z e 11 er - Schlissen-
ried über die verschiedene seelsorgerliche Behandlung
der einzelnen Psychosen führt in das Arbeitsgebiet
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der Seelsorge selbst mitten hinein. Auf der Grund¬
lage einer prinzipiellen Erörterung über den Begriff
und das Wesen, die Aufgabe und Eigenart, den Um¬
fang und den Erfolg der Irrenseelsorge und ihres
intimen Verhältnisses zu der ärztlichen Leitung gab
Referent zuerst einen Ueberblick über die allgemeinen
Gesichtspunkte und Grundsätze, welche für die seel¬
sorgerliche Behandlung aller Anstaltskranken überhaupt
massgebend sind, zeigte, welche persönlichen, wissen¬
schaftlichen und praktischen Erfordernisse der Irren¬
seelsorger haben müsse, welche Richtlinien in formaler
Weise seine Arbeit modifiziren und welche Grund¬
sätze inhaltlich die psychisch-religiöse Einwirkung auf
die Gemüthsleidenden bestimmen. Sodann wurde der
Versuch gemacht, an der Hand der Mittheilungen
über den Verlauf und die Eigenart der einzelnen
Kiankheiten methodische Winke für die Einzelarbeit
zu geben. Bei den Schwermüthigen wie bei den
Manikalischen müsse der Geistliche anfangs sich zu¬
rückhalten, denn Ruhe sei das grösste Bedürfniss für
das kranke Gcmüth; aber mit dem Eintreten der
Rekonvaleszenz setze auch die Arbeit des Geistlichen
ein ; sehr schwer aber nicht unmöglich sei es, auch
an den mit unheilbarem Wahn Behafteten heranzu¬
kommen, besonders viele Mühe machen die Hyste¬
riker, ebenso müsse man viel Zeit und Teilnahme
dem nach Ablauf des akuten Krankheitsanfalls unge-
heilt in der Anstalt zurückbleibenden, religiös oft sehr
empfänglichen Patienten zuwenden, und endlich auch
bei der schweren Krankheitsform der Paralyse sei
bis zum Erlöschen des letzten Rests geistigen Lebens
seelsorgerliche Behandlung möglich und nothwendig.
Die Arbeit des Geistlichen aber müsse sich aufs engste
der vom ärztlichen Standpunkt aus als richtig er¬
kannten psychischen Handlungsweise anschliessen und
darum sei es unerlässlich, dass der Anstaltsarzt und
der Seelsorger in beständiger gegenseitiger Fühlung
stehen und in harmonischem Einvernehmen bleiben.
— Berlin. Direktionswechsel in den
städtischen Irrenanstalten. Die Stadt Berlin
sieht sich vor die eigenartige Aufgabe gestellt,
spätestens im Laufe des nächsten Jahres für drei ihrer
Irrenanstalten, unter Zuständen sogar für alle vier
neue Direktoren wählen zu müssen. Geheimrat
Sander von der Da Udorf er Anstalt tritt nach mehr
als fünfundzwanzigjähriger Thätigkeit in städtischen
Diensten am 1. April 1905 in den verdienten Ruhe¬
stand Direktor Dr. Hebold von der Anstalt für
Epileptische in Wuhlgarten legt demnächst ebenfalls
sein Amt nieder. Für die neue Anstalt in Buch
muss gleichfalls ein neuer Direktor ernannt werden.
Als solcher wird immer wieder Geheimer Medizinalrat
Moeli von der Anstalt in Herzberge genannt, der
der geistige Erbauer der Anstalt in Buch ist. Bei
den äusserst intimen Beziehungen des Herrn Ge¬
heimrats Moeli zum Kultusministerium rechnen Kenner
der Verhältnisse aber auch mit der hohen Wahr¬
scheinlichkeit, dass der berühmte Psychiater für eine
Staatsstellung in Aussicht genommen ist. Eventuell
müsste also .auch der Direktorposten in Herzberge
neu besetzt werden. (Aus Berl. Tagesblättern.)
Original fram
HARVARD UNIVERStTY
I9°4-]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
267
— Der Geisteszustand der Prinzessin
Luise von Koburg. (Fortsetzung.)
Aus dem Berichte über das Jahr 1902 führen
wir noch besonders an, dass während der im Feber
eingetretenen Erregungsperiode die hohe Patientin
sehr misstrauisch war und glaubte, alle Welt hinter¬
gehe sie. Sie horchte an den Thüren und schlich
leise im Hause auf den Treppen herum. — Auch
die Schilderung ihres Verhaltens im Dezember 1902
lässt erkennen, dass zeitweise ihr Geisteszustand ein
ganz verworrener wird. Auch mehrere Tage kurz
vor Weihnachten erschien sie wie blöd, schwatzte
sinnloses Zeug durcheinander, zog sich nicht ordentlich
an, sass unfrisirt herum, war ausserordentlich schmutzig,
kratzte fortwährend am Kopfe auch vor Fremden.
Ergebniss der persönlichen Beobachtung
durch die Unterzeichneten.
Die im Juli und September abgestatteten Besuche
fielen in eine Periode relativ ruhigeren Verhaltens
Ihrer königl. Hoheit, nachdem im Frühjahre, wie
wir erfahren haben, wieder Zeiten grösserer Gereizt¬
heit und Erregtheit vorgekommen waren. Die Frau
Prinzessin selbst gab uns an, dass sie in diesen
Zeiten wie schon öfter an stärkerer Nervosität ge¬
litten habe; ihre ganze Haltung bei unseren Besuchen
war die der vornehmen Dame, die gewohnt ist,
Konversation zu machen und sich über mancherlei
Themata leicht und gewandt, wenn auch ohne
tieferes Eingehen, auszusprechen; sie hatte sich er¬
sichtlich auf diese Explorationen vorbereitet und war
bestrebt, einen möglichst guten Eindruck zu machen.
Die treffende Angabe des Herrn Dr. Pierson, dass
ein ferner stehender Beobachter auch bei grosser
Sachkenntniss sich nur schwer eine zutreffende Vor¬
stellung von dem Zustande, wie er wirklich ist,
machen könne, fanden wir daher zunächst vollauf
bestätigt. Bei näherem Eingehen auf die früheren
Ereignisse, sowie auf die jetzt bei der Frau Prinzessin
vorhandenen Anschauungen über Gegenwart und
Zukunft entrollte sich uns jedoch das Bild ihres
defekten Geisteszustandes in voller Deutlichkeit.
Trotz der langen Zeit, die inzwischen vergangen ist,
hat sich bei der hohen Patientin keine Einsicht in das
Verkehrte ihrer damaligen Handlungsweise ent¬
wickelt ; der alte Hass gegen ihren Gemahl besteht
unverändert fort und wurde uns gegenüber mit den¬
selben nichtigen Argumenten begründet wie früher.
Auch die Abneigung gegen ihren Sohn wurde ledig¬
lich damit motivirt, dass derselbe zum Vater halte.
Sie betonte dabei wiederholt ihre eigene Reinheit
und Vortrefflichkeit und vermochte nicht einzusehen,
dass lediglich durch ihr Verhalten die bedenkliche
Situation herbeigeführt worden sei, welche schliesslich
ihre Ueberführung in Anstalten und ihre Entmündi¬
gung nothwendig gemacht habe. Ihre Beziehungen
zu Mattasich bezeichnet sie als etwas durchaus Zu¬
lässiges, der Anstand sei nicht verletzt worden und
die Schwierigkeiten hätten ja einfach durch eine
Ehescheidung überwunden werden können. Ueber
den finanziellen Zusammenbruch, der die Folge ihrer
masslosen Verschwendung war, sprach sie sich eben¬
falls in leichtherziger Weise aus. Sie verstehe eben
nicht mit Geld umzugehen, habe von Wechseln keine
Vorstellung, glaube auch jetzt nicht, dass Fälschungen
vorgekommen seien; sie erkenne aber an, dass sie
in finanzieller Beziehung eines Beirathes bedürfe,
müsse jedoch dagegen protestieren, dass man sie für
schwachsinnig erklärt habe. Sie gab der Hoffnung
Ausdruck, dass wir durch unsere Beobachtungen zu
der Ueberzeugung kommen würden, die Entmündi¬
gung müsse aufgehoben werden. Schon die Be¬
sprechung der nächsten Folgen einer solchen Mass-
regel Hess jedoch erkennen, dass die Frau Prinzessin
zu verhältnissmässig naheliegenden Ueberlegungen un¬
fähig ist. Der Vorstellung, dass wenn sie jetzt als
gesund, d. h. von der früheren Krankheit genesen
angesehen werden sollte, sie doch vor Allem ein-
sehen müsse, dass ihr früheres Handeln ein krank¬
haftes gewesen sei, ist die Frau Prinzessin nicht zu¬
gänglich. Wie sie auch in den dem Gerichte über¬
reichten Schriftstücken ausführte, hat sie wohl eine
gewisse Empfindung dafür, dass krankhafte Er¬
scheinungen bei ihr vorhanden gewesen sein können,
sie meint z. B. den Wiener Aerzten seinerzeit einen
unvortheiIhaften Eindruck gemacht zu haben, weil sie
sich damals in Folge der vorangegangenen Ereignisse
in körperlicher und seelischer Depression befand. —
„Ein geheizter Mensch ist unzurechnungsfähig,“ sagte
sie bezüglich ihres Verhaltens im Jahre 1898. Dass
aber dieses Gefühl des Gehetztseins lediglich die
Folge ihrer damaligen Handlungsweise war, und dass
gerade in dieser seit Jahren immer auffallender
werdenden Handlungsweise der Beweis für ihren
krankhaften Geisteszustand zu finden ist, das ist ihr
jetzt ebenso wenig klar zu machen, wie früher.
Die Darstellung in ihrem Schriftsatz ist ungemein
charakteristisch für ihre Unfähigkeit, die Dinge zu
sehen wie sie sind, und für das hierait zusammen¬
hängende Bestreben, ihr Geschick als die Folge
„feindlicher“ Bestrebungen hinzustellen. In ihrem
Schriftsätze findet sich der Satz: „Hätte der Prinz
wirklich die Ueberzeugung gehabt, meine Abneigung
gegen ihn sei eine grundlose, wäre es seinerseits nur
seine Pflicht gewesen, mich mit allen Rücksichten zu
umgeben und nichts unversucht zu lassen, um mich
auf andere Gedanken zu bringen. 4 ‘ In Wahrheit
sind ihr aber während dieser Intemirung alle nur
denkbaren Rücksichten widerfahren und sie selbst
hat mit lebhafter Dankbarkeit uns Allen gegenüber
zum Ausdruck gebracht und dies auch in ihrem
Schriftsatz hervorgehoben, wie sehr sie sich Herrn
Sanitätsrath Dr. Pierson für sein liebevolles Verhalten
und für seine Bemühungen, ihr Erleichterungen und
Annehmlichkeiten zu verschaffen, verpflichtet fühle.
Dass dies Alles aber nur mit Zustimmung ihres Ge¬
mahls möglich war und dass die allmähliche Tilgung
der enormen Schuldenlast, die sie kontrahirt hat, nur
durch grosse Opfer von dieser Seite durchführbar
ist, dafür hat sie kein Wort der Anerkennung und
es bleibt unerfindlich, mit welchen weiteren Rück¬
sichten er sie denn noch hätte umgeben können.
Auch für die Zukunft wünscht sie kein Zusammen¬
leben, hält es aber für selbstverständlich, dass es ihr
gestattet wird, nach Belieben ihren Wohnsitz zu
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HARVARD UNiVERSITY
268
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 28.
wählen und ihr Leben einzurichten. Dabei ist be¬
zeichnend für das bei der Frau Prinzessin selbst be¬
stehende Gefühl ihrer Unsicherheit und Willens¬
schwäche, dass sie (Anhang zu dem Schriftsatz) gern
zunächst noch eine Zeit lang in der Anstalt des
Herrn Dr. Pierson bleiben möchte, „bis meine An¬
gelegenheit in Ordnung ist“, und dass sie weiterhin
gern in die Nähe Dresdens ziehen würde, offenbar
in der Empfindung, dass sie dann noch bis zu einem
gewissen Grade des ärztlichen Schutzes und der
Leitung des Herrn Dr. Pierson theilhaft werden könnte.
Ihrer Zufriedenheit mit dem Aufenthalt in Linden¬
hof hat sie wiederholt im Laufe der mit uns ge¬
führten Unterredungen Ausdruck gegeben und es ist
bei uns der Eindruck entstanden, dass sie sich trotz
ihres Protestes gegen die Internierung ohne Schwierig¬
keit der Verlängerung dieses Aufenthaltes fügen wird,
wenn nur wie bisher durch öftere Besuche ihrer
hohen Verwandten und durch gelegentliche kleine
Reisen und Badeaufenthalte eine gewisse Abwechs¬
lung in ihr Leben gebracht wird. Ebenso sehr ist
aber auch bei uns der Eindruck entstanden, dass es
zu den grössten UnZuträglichkeiten führen müsste,
wenn der Versuch gemacht würde, sie ihrem Wunsche
entsprechend ausserhalb des Bereiches der Anstalt
wohnen zu lassen. Die Art, wie sie sich uns gegen¬
über über Mattasich aussprach, konnte zwar den
Glauben erwecken, dass sie durchaus keine lebhafte
Sehnsucht hege, mit demselben wieder zusammenzu¬
treffen. Auch ergiebt sich aus dem Berichte des
Herrn Dr. Pierson, dass sie sich sehr erleichtert fühlte,
als ihr nach dem Annäherungsversuche des Mattasich
zunächst das Verlassen der Anstalt untersagt wurde,
allein einerseits ihre völlige Kritiklosigkeit bezüglich
der früher mit ihm unterhaltenen Beziehungen und
andererseits die Willensschwäche, die sich dauernd in
ihrem Verhalten zu erkennen giebt und die auch in
den uns gegenüber geäusserten Bestrebungen zu Tage
trat, würde sicher dahin führen, dass sie bald wieder
von ihm umgarnt und zu neuen kompromittierenden
Schritten veranlasst werden würde. Ebenso könnte
sie aber auch bei ihrer Urtheilsunfähigkeit irgend
welchen anderen Menschen in die Hände fallen und
von ihnen ausgebeutet werden. Es war characteristich
für ihre schwachsinnige Auffassung der ganzen Sach¬
lage, dass sie einem der Unterzeichneten, der ihr
solche Möglichkeiten vor Augen hielt, den Vorschlag
machte, er möge sie nach Dresden begleiten und
dort mit ihr eine Conditorei aufsuchen, um sich zu
überzeugen, dass sic sich anständig zu benehmen
wisse. Damit wollte sie beweisen, dass man sie un¬
bedenklich ausserhalb der Anstalt wohnen lassen
könne. (Schluss folgt.)
Referate.
— Pf aff. Die Alkoholfrage vom ärztlichen
Standpunkt. Tübingen. Pietzker. 80 Pf.
Verfasser bringt in seinem im übrigen flott und
eindrucksvoll geschriebenen Schriftchen keine neuen
Gesichtspunkte über die brennende Frage. Wenn
wir die zwölf Vortheile überblicken, welche der Ver¬
fasser am eigenen Leibe infolge strengster Enthalt¬
samkeit w f ahrnehmen konnte, werden wir es verstehen,
dass er zur Fahne der strengsten Abstinenz schwört.
Mönkemöller -Osnabrück.
— Bernin ge r. Ziele und Aufgaben der modernen
Schul- und Volkshygiene. Winke und Rathschläge
für Lehrer, Schulärzte und Eltern. Wiesbaden 1903,
O, Nemreich. 2 M.
Eine populäre Schrift, die vor allem Lehrern zur
Information über ihre schulhygienischen Pflichten
dienen kann. Die Psychohygiene ist etwas zu kurz
gekommen; im übrigen dürfte aber die Abhandlung
angesichts des verarbeiteten Materials auch für Aerzte
manche Anregung bieten. Weygandt-Würzburg.
— Zander. Vom Nervensystem. Mit 27 Figuren
im Text.
Aus Natur und Geisterwelt, Sammlung wissen¬
schaftlich-gemeinverständlicher Darstellungen aus allen
Gebieten des Wissens. 48 Bändchen. Leipzig, 1903,
B. S. Teubner.
Es handelt sich um ein ungemein inhaltsreiches
Büchlein, das in der Quellenbenutzung vielleicht
etwas einseitig ist, im Ganzen aber doch eine Fülle
von Tatsachen in geschickter Zusammenstellung
wiedergiebt, so dass es jedem gebildeten Laien ge¬
trost empfohlen werden kann.
Weygandt-Würzburg.
Personalnachrichten.
— Bonn. Herrn Geh. Med.-Rath Professor Dr.
Pelman wurde der Kronenorden III. Klasse ver¬
liehen. Der hiesige klinische Assistent Dr. Wahr
ist am 1. Oct. ausgeschieden und übernimmt die
Leitung der Irrenpflegeanstalt der Alexianer-Brüder
in Crefeld. An seine Stelle tritt der bisherige
Assistent der psychiatrischen Klinik in Greifswald,
Privatdocent Dr. Kölpin. —
— Posen. Dr. Wickel, bisher III. Arzt an der
Prov.-Irrenanstalt, Dziekanka, als II. Arzt an der
Prov.-Irrenanstalt bei Meseritz angestellt, Dr. PI an ge,
I. Ass.-Arzt in Dziekanka zum III. Arzt in Dziekanka,
Dr. von Domarus, bisher II. Ass.-Arzt ebenda,
zum I. Ass.-Arzt ebenda befördert. Dr. Christoph,
bisher I. Ass.-Arzt in Owinsk, zum III. Arzt an der
Prov.-Irrenanstalt bei Meseritz befördert.
9 ^^ Diese Nummer enthält einen Prospekt der
Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co„
Elberfeld,
auf den die gesehätzen Leser hierdurch besonders
hingewiesen werden.
l'iir tim redai tiondlcn Tlnil verantwortlich : Oberarzt l>r. J. Breslrr, Lubhnitr (Sch esien).
Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannnhme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Heynemann’sehe Buchdruckerei (Gebr. Wo’ffl ir> Halle a. S.
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HARVARD UNIVERSITY
Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift.
Redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Lublinitt (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adresse : M a rbo Id V er I ag, Hallesaale. Fernsprecher 2834.
Nr. 29. 15. Oktober. 1904.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Mar hold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die jspaltige Petitteile init 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten.
Ueber Aufnahmeformalitäten in den staatlichen Irrenanstalten, speciell das
ärztliche Eintrittszeugniss.
Referat, erstattet auf der 35. Jahresversammlung des Vereins schweizerischer Irrenärzte am 2 4. V. 04
von Director Dr. Lisibach in St. Urban Kt. Luzern.
y^nlass zur Besprechung dieser Materie gab ein
Beschluss der Kantonsregierung von Luzern
vom 9. Januar 1904: „Dem Militär- und Polizei-
departemente wird Weisung ertheilt, dafür zu sorgen,
dass zwangsweise Versetzungen in die Irrrenanstalt
St. Urban nur auf Grund eines von den beiden Amts¬
ärzten ausgestellten übereinstimmenden Zeugnisses er¬
folgen und bei zwangsweiser Verbringung in ausser-
kantonale Anstalten zuyor die Bewilligung des Re-
gierungsrathes eingeholt wird“. — Anschliessend an
diese Verfügung erhielt das Staatswirthschaftsdeparte-
ment, dem die Irrenanstalt unterstellt ist, den Auftrag,
die Frage zu prüfen, ob nicht überhaupt bei allen
Aufnahmen von Geisteskranken in eine Irrenanstalt
zwei ärztliche Zeugnisse vorliegen sollten analog dem
Vei fahren bei Bevormundung zufolge § 15 des Vor¬
mundschaftsgesetzes. —
Bis dahin ist das Verfahren durch das Anstalts¬
reglement vom Jahre 1873 in den §§ 3, 6 und 7 in
umsichtiger und klarer Weise geordnet. — Im Ein¬
gänge wird die Frage gestreift, ob die Materie durch
ein Gesetz oder das Reglement oder ein Organisa¬
tionsstatut geregelt werden solle. In den Kantonen
Neuenburg, Genf und Waadt sind es Irrengesetze,
in allen anderen Kantonen der Schweiz ist die Materie
durch Regiemente, Dekrete oder Organisationsstatute
geordnet, wie dies auch in den Preussischcn Provin¬
zialanstalten, in Baden und Württemberg geschieht.
Für eine ferne Zukunft sollte die Materie in der Eid¬
genossenschaft durch ein eidgenössisches Irrengesetz
geordnet werden, wenn vorerst die grossen Fragen der
Rechtseinheit einer Lösung entgegengeführt sein werden.
Bei den bisherigen Vorarbeiten für die Schaffung eines
eidgenössischen Irrengesetzes oder eines interkantonalen
Konkordates gewinnt der Referent den Eindruck, dass
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die Schaffung eines Inspektorates den meist be¬
gründeten Widerstand auch in Fachkreisen hervorge¬
rufen hat. —
Die Motive für das Vorgehen der Regierung bei
Versorgung von Geisteskranken in Irrenanstalten sind
nicht im Beschlüsse mitgetheilt; es sind dieselben in
einer Einsendung im Vaterland Luzern Nr. 140 vom
21. Juni 1903 zu finden: „Die grundlose Versetzung
in eine Irrenanstalt hat für die betreffende Person
unter allen Umständen böse Folgen. Es ist nicht
bloss das Gefühl bittern Unrechtes, das ihr angethan
wurde, das Bewusstsein, auf ungerechte Weise in dei
persönlichen Freiheit beschränkt worden zu sein, was
verletzen und verbittern muss, sondern die Folgen
sind auch in anderer Richtung schlimmer Art. Die
grossen Massen des Volkes stehen immer noch auf
einem sehr engherzigen und kleinlichen Standpunkte.
Jeder, der einmal in einer Irrenanstalt war, wird mit
einer gewissen Scheu betrachtet, welche weder im
persönlichen Verkehr, noch auch in Fällen, wo es
sich um Anstellung, um Uebertragung von Vertrauens¬
sachen etc. handelt, ganz überwunden werden kann.“
Der Zweck, der durch die Verordnung erreicht
werden will, findet bestimmt die Billigung jedes
Irrenarztes, der keine Nicht-Geisteskranken in der
Anstalt internirt haben will. Der Befürchtung, dass
Personen auf ein Arztzeugniss allein widerrechtlich in
die Anstalt gebracht w-erden können, ist bereits im
bestehenden Regiemente durch § 3 Ziffer 5 vorge¬
beugt : „Eine vom Gemeindeamtmann des Wohnortes
des Kranken ausgehende Bestätigung der Thatsache
der vorhandenen Geisteskrankheit, unabhängig vom
ärztlichen Zeugnisse.“ —
Die ärztlichen Eintrittszeugnisse. Inder
Schweiz ist einzig der Ktn. Aargau, der im § 5 des
* Original fram
HARVARD UN1VERSITY
270
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 29.
Reglementes bei polizeilich aufgegriffenen Personen
ein Zeugniss des Bezirksarztes verlangt für die Inter-
nirung in Königsfelden. Herr Direktor Frölich be¬
merkt im Begleitschreiben: „Nach unsern allerdings
sehr alten gesetzlichen Bestimmungen ist für das ärzt¬
liche Zeugniss zum Eintritte in die Irrenanstalt auch
die Unterschrift von zwei Aerzten nöthig. Diese Be¬
stimmung ist aber nie aufrecht gehalten worden.
Auch unseie ältesten Zeugnisse sind alle nur von einem
Arzte ausgestellt. Es steht daher auch nichts von
zwei Unterschriften in unserm Regiemente. Practisch
hat nach meinem Dafürhalten das Gutachten von
zwei Aerzten auch gar keinen Werth, sondern ist eine
vexatorische Maassregel.“ — Herr College Dr. Ser¬
rigny von Marsens, Ktn. Freiburg, lässt sich dahin
vernehmen: „Dans tous les cas dans notre canton
un seul certificat medical suffit. En France aussi.“ —
Das sorgfältig und eingehend ausgearbeitete Statut für
die Irrenanstalten Württembergs vom 20. März 1899
verlangt in § 16 im Falle von Widersprüchen der
nächsten Angehörigen oder Zweifel über die Geistes¬
krankheit ein Gutachten des Oberamtsarztes; da soll
noch das Zeugniss des allfällig behandelnden Arztes
beigefügt werden. Das Statut für die Heil- und
Pflegeanstalt Illenau, Baden, verlangt in § 12 Ziffer 2
eine Krankengeschichte nach Fragebogen und in Ziffer
3 ein Gutachten des Bezirksarztes über die Aufnahme-
qualification: a) ob voraussichtlich heilbar, b) ob
besserungsfähig, c) wenn heilbar, ob der Kranke für
sich oder andere gefährlich oder für die öffentliche
Schicklichkeit anstössig oder gänzlich hilflos ist. —
Das Reglement für die Rheinischen Provinzialanstalten
Preussens vom Jahre 1899 sagt im § 5 beim ärztlichen
Fragebogen: „Für die Aufnahme in eine Provinzial-
Heil- und Pflegeanstalt kann die Beantwortung des
Fragebogens durch einen beamteten Arzt seitens
des Anstaltsdirektors gefordert werden, falls nach
dessen Urtheil das von einem approbirten Arzte ab¬
gegebene Gutachten allein für eine Entschliessung über
die Aufnahme nicht genügt.“ —
Kritik der Forderung zweier Arztzeugnisse und
bei zwangsweiser Versetzung zweier amtsärztlicher Gut¬
achten. — Diese Forderung geht allzusehr von formal
juridischen Gesichtspunkten aus, sieht einseitig die
persönliche Freiheitsberaubung in Frage gestellt und
lässt eine ärztliche Hauptsache für die Versetzung
geisteskranker Personen in die Specialpflege der Irren¬
anstalt: die Heilung bei Seite. In der Forderung
zweier Arztzeugnisse liegt ein Hinderniss für eine
rechtzeitige Unterbringung und die Gefahr ist noch
grösser bei armen Kranken, bei denen durch die
Untersuchung von zwei Aerzten die Kosten erhöht
werden. Für die Familien, welche unter geistes¬
kranken Mitgliedern zu leiden haben, kann die Er¬
schwerung der Aufnahme in eine Irrenanstalt chikanös
werden und üble Folgen zeitigen. Es ist nicht jeder¬
manns Sache, die intimen und zarten Verhältnisse,
die hier mitunter in Frage kommen, gleich zwei
Aerzten anzuvertrauen. — Die Aufnahmefähigkeit einer
Anstalt mit der Forderung zweier Arztzeugnisse ist
gegenüber andern Anstalten, die nur ein Arztzeugniss
verlangen, herabgemindert. Bei dem Studiengange
der Aerzte in der Schweiz hat das Zeugniss des diplo-
mirten Arztes, der mit Sachkenntniss und gewissen¬
haft das ärztliche Attest ausfüllt, die nämliche Autori¬
tät wie das Zeugniss des Bezirks- oder Amtsarztes.
Wir haben in der Schweiz nicht wie in Oesterreich
und Baiern eine sogenannte Physikatsprüfung. —
In Nothfällen und bei den vielfach vorkommenden
zwangsweisen Versetzungen ist das Einholen zweier
amtsärztlicher Zeugnisse gar nicht möglich; gemein¬
gefährliches Handeln oder Selbstmordversuche ver¬
langen ein rasches Vorgehen. —
Schlussfolgerungen. Im Gesetze oder in
den Regiementen soll die Forderung eines von einem
diplomirten Staatsarzte ausgestellten Zeugnisses genügen.
Es giebt allerdings zweifelhafte Fälle, welche eine
peinliche Ueberprüfung der Aufnahmepapiere, eine
Ergänzung durch Polizeirapporte oder Begutachtung
durch amtliche oder Gerichtsärzte verlangen oder bei
denen die Anstaltsleitung vor der Internirung weitere
Aufschlüsse oder Weisung von Regierungsoiganen
verlangen muss. Diese Fälle bilden jedoch die Aus¬
nahme, sind in bedeutender Minderzahl und recht-
fertigen nicht eine allgemein lautende Forderung nach
zwei Arztzeugnissen. Der Referent schliesst mit dem
Wunsche, dass die Sorge für die Kranken der Leit¬
stern bei der Diskussion der aufgeworfenen Frage
bleiben möchte, wie Herr Dr. Greppin, Direktor in
der Rosegg, im Begleitschreiben zum eingesandten
Regiemente bemerkt: „Je leichter die Aufnahme vor
sich geht, desto besser für die Patienten.“ —
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1 9 ° 4 -]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
271
Epileptische Schulkinder.
Nach einem auf dem 1. internationalen Kongress für Schulhygiene zu Nürnberg
am 5. IV. 1904 gehaltenen Vortrag.
Von W. Weygandt - Würzburg.
(Schluss.)
Auf alle Fälle sollte vor einer vollkommenen Aus¬
schliessung vom Unterricht, sofern es nicht durch die
Häufung der Anfälle und das körperliche Befinden
geboten ist, erst ein Versuch mit der Hilfsschule ge¬
macht werden; ebenso kann man Kinder, die wegen
schwerer Zustände einige Zeit dem Unterricht fern¬
blieben, späterhin für geraume Zeit erst in die Hilfs¬
klasse schicken, ln Städten, die sich immer noch
nicht entschliessen können , die Kulturerrungenschaft
der Hilfsschulen für schwächer befähigte und zurück¬
gebliebene Kinder sich nutzbar zu machen, wie
Würzburg, besteht freilich eine Lücke auch für epi¬
leptische Kinder. In Hilfsschulstädten aber kann man
meines Erachtens mit den bestehenden Mitteln aus-
komraen.
Ich bin also auf Grund dieser Erwägungen Gegner
einer generalisierenden Behandlung der epileptischen
Schulkinder. Gerade die Zusammenpferchung in eine
Sonderschule für Epileptiker hätte, von dem Umstande
einer weiteren Zersplitterung der Einschulung abgesehen,
die unangenehme Folge, dass Kinder von der aller¬
verschiedensten geistigen und körperlichen Beschaffen¬
heit vereinigt würden. Ist einmal eine starke Neig¬
ung zu Anfällen vorhanden, so hat auch der Schul¬
weg seine Gefahr und diese gerade würde bei der
centralisierten Epileptikerschule erhöht, da ja dann der
Weg für die in den verschiedensten Stadttheilen
wohnenden Kinder um so grösser würde.
Ich komme also zu dem Schluss:
Angesichts der mannigfaltigen Erscheinungs¬
weise der Epilepsie im kindlichen Alter ist eine
Absonderung des Unterrichts für alle epileptischen
Schulkinder nicht am Platze, sondern es empfiehlt
sich eine Individualisierung , indem geistig Defecte
in Idiotenanstalten oder Hilfsschulen, social Be¬
denkliche in die Fürsorgeerziehung gehören, Kinder
mit gehäuften Anfällen und status in rein ärzt¬
liche Behandlung , während Kinder'mit vereinzelten
Symptomen in der Normalschule unter lieber-
wachimg eines entsprechend informierten Lehrers
verbleiben können .
N&ohtr&g.
In der Debatte zu meinem Vortrage auf dem 1.
internationalen Schulhygiene - Congress wurden einige
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gegentheilige Ansichten laut, die sich dahinaussprachen,
dass doch Sonderschulen für Epileptiker anzustreben seien,
eine Forderung, die vor allem von dem um die Schul¬
bildung nervenkranker Kinder hochverdienten Sanitäts¬
rath Berkhan, Braunschweig, in seinem Vortrage auf¬
gestellt wurde.
So sehr ich auch darin einstimmen möchte, dass
Sonderschulen für einen kleinen Theii epileptischer
Kinder, vor allem solche, die häufig von Anfällen,
Ohnmächten und Verstimmungen geplagt werden, ohne
wegen mehr weniger grossen Schwachsinnes in eine
Hilfsschule oder Idiotenanstalt zu gehören, einen
Vortheil bedeuten würden gegenüber den gegenwärtigen
Verhältnissen, in denen sie entweder zu Hause ge¬
halten werden und wegen der Gefahr eines gelegent¬
lichen Anfalls des gewöhnlichen Schulunterrichtes ver¬
lustig gehen oder aber auch doch in die Schule ge¬
sandt werden und die Gefahr einer Störung des Unterrich¬
tes mit in Kauf genommen wird, so muss ich mich gegen¬
wärtig doch gegen Sonderschulen für Epileptische aus¬
sprechen.
Meine beiden Hauptgründe sind die, dass mir
1. die Nothwendigkeit und
2. die Durchführbarkeit nicht schlagend genug nach¬
gewiesen erscheint.
Die Nothwendigkeit müsste sich vor allem darauf
stützen, dass für den Unterricht der Normalschule er¬
hebliche Störungen aus den epileptischen Anfällen er¬
wachsen. Für die epileptischen Kinder selbst, die
nur durch gelegentliche Krampfanfälle betroffen werden,
macht es verhältnissmässig wenig aus, ob sie in der
Schule oder zu Hause Umfallen, natürlich nur in
Fällen seltenerer Attaquen, die keine Bettbehandlung
noth wendig machen.
Für die Mitschüler ist allerdings der epileptische
Anfall kein schöner Anblick. Vor allem hysterische
Kinder können lebhaft erregt werden durch einen
solchen Zwischenfall. Ob man nun solche erregbare
Kinder sorgfältig vor jedem aussergewöhnlichem An¬
blick behüten oder ob man sie auch einmal an eine
Störung gewöhnen soll, ist eine besondere Frage, die
ich im letzteren Sinne bejahen möchte. Das moderne
Leben verlangt vom Nervensystem eine gew isse Uebung
auch im Ertragen ungewöhnlicher Ereignisse, der
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272 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 20
Strassen verkehr, auch das Familienleben bietet doch
gelegentlich den Kindern den Anblick von erregenden
Begebenheiten, von Krankheitszufällen usw., ohne dass
selbst die grösste Sorgfalt die Kleinen davor bewahren
könnte. Viel besser, sie werden bei Zeiten an etwas
derartiges gewöhnt und vor allem, wozu ja die Schule
Gelegenheit bietet, auch darüber aufgeklärt, als dass
sie unnötig lange behütet werden vor Erfahrungen,
die ihnen das Leben über kurz oder lang doch nicht
erspart. In dieser Hinsicht ist es bekanntlich eine
recht traurige Erscheinung, wie heutzutage auch Er¬
wachsene vielfach gerade etwa einem auf der Strasse
im Anfall zusammensinkenden Epileptiker verlegen
und rathlos oder auch hartherzig gegenüberstehen
oder vor einem solchen Anblick die Flucht ergreifen,
statt helfend einzuschreiten. Wenn die Jugend schon
lernt, sich auch in aussergewöhnlichen Situationen zurecht
zu finden und gerade beim plötzlichen Ausbruch eines
krankhaften Zustandes nicht den Kopf zu verlieren,
so kann das für die Erziehung nur ein Gewinn sein.
Vor allem aber ist die Frage noch nicht bejaht,
ob wirklich die epileptischen Anfälle sehr häufig stören.
So zahlreich epileptische Schulkinder an sich sind, so.
tritt doch meines Erachtens ein Krampfanfall in der
Schulzeit verhältnissmässig recht selten ein. Bestimmte
Zahlen lassen sich hierüber nicht geben, aus meinem
obigen Material war wenigstens so viel zu entnehmen,
dass von den 59 im schulpflichtigen Alter erkrankten
Epileptikern doch nur 3 bis 4 in der Unterrichtszeit
durch Krämpfe aufgefallen sind. Um in dieser Rich-
lung Aufschluss zu erhalten, habe ich im vorigen
Winter bereits eine Eingabe an das Köngl. bayr.
Staatsministerium des Innern für Kirchen- und Schul¬
angelegenheiten gemacht mit der Bitte um die Er¬
laubnis, entsprechende Fragebogen an die Mittel¬
schulen versenden zu dürfen. Mein Gesuch um Zu¬
lassung von Fragebogen wurde jedoch abgelehnt in
Uebereinstimmung mit dem Gutachten des obersten
Schulraths und auf Grund der Anschauung des
Medicinalreferenten im Kgl. Staatsministerium. Viel¬
leicht hat ein Irrenarzt in einem andern deutschen
Bundesstaate mehr Glück mit einer derartigen, zur
Klarstellung der Bedeutung epileptischer Anfälle als
eines störenden Momentes beim Unterricht unge¬
mein wichtigen Rundfrage.
So sehr demnach die Nothwendigkeit von Sonder¬
schulen für epileptische Kinder noch des Nachweises
bedarf, ebenso entschieden lässt sich die Frage der
Durchführbarkeit von Sonderschulen für den heutigen
Stand des Schulwesens verneinen. Im Jahre iqoi
enthielten die 326 Hilfsklassen in Deutschland 7013
schwachbefähigte Kinder, darunter waren 1,35% Epi-
□ igitized by Google
leptiker, im ganzen also etwa rund 100 epileptische
Schulkinder. Wie viel epileptische, durch Anfälle
ausgezeichnete Schulkinder in den Normalschulen
waren, entzieht sich, wie gesagt, genauerer Kenntnis*,
doch lässt sich aus jenem Verhältnis schon entnehmen,
dass es auch nicht gerade sehr viel sein werden.
Wir müssen eben immer bedenken, dass von den 2°/oo
der Bevölkerung, die annähernd von Epilepsie be¬
troffen sind, nur ein Th eil durch häufigere Anfälle
und von derartigen Schulkindern wieder nur ein Theil
durch Anfälle gerade in der Zeit des Unterrichts be¬
troffen sind.
Wie viel Epileptische sich unter den 10 616 Hilfs¬
schülern befinden, die voriges Jahr laut Berichts über
den 4. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands zu
Mainz (Hannover 1903) vorhanden waren, ist nicht
angegeben.
Jedenfalls ist die Zahl der epileptischen Kinder,
für die ein Sonderunterricht erwünscht wäre, ver¬
schwindend klein gegenüber der Menge der hilfsschul-
bedürftigen Kinder. Hier muss nun energisch be¬
tont werden: Solange es in deutschen Städten noch
hilfsschulbedürftige Kinder ohne geeignete Versorgung
giebt, sollte nicht an eine weitere Zersplitterung im
Bereich der Specialschuien gedacht werden. Da»
aber die Zahl der Hilfsschulen ausreicht, lässt sich
leider noch nicht behaupten. Gerade in Süddeutsch¬
land bleibt noch vieles zu thun und vor allem in
Würzburg ist vor kurzem ein bedauerlicher Vorstoss
gegen die Errichtung einer Hilfsschule zu Tage getreten-
Der Magistrat dieser 75 497 Einwohner zählenden
Stadt hatte beschlossen, auch hier eine Hilfsschule zu
errichten, nachdem selbst in kleineren Plätzen wie
Pirmasens und Frankenthal in der Pfalz oder Oschatz
in Sachsen, Pössneck inThüringen usw. sich die Einrich¬
tungbewährt hat. Das Gemeindecolleg lehnte jedoch das
Project ab, im wesentlichen aus Bedenken gegen den
simultanen Charakter der geplanten Schule. Wenn
irgendwo, so fällt doch gerade bei schwachbeanlagten
Kindern der confessionelle Unterschied wenig schwer
in die Wagschale. Auch schultechnische Argumente
wurden von mancher Seite in das Gefecht geführt, so
meinte ein Redner, cs müsse Schleppzeug vorhanden
sein, damit die Lehrer nicht über das Ziel hinaus-
schiessen. Nun, die Unterschiede zwischen begabteren
und weniger begabten Schülern werden nicht ver¬
schwinden, wenn auch die durch krankhafte Zustände
geistig schwächeren Schüler entfernt sind; hat man
doch in Mannheim neben den Hilfsklassen noch für
den leichtesten Grad der schwachen Befähigung be¬
sondere Wiederholungsklassen eingerichtet!
Original from
HARVARD UNIVERSITY
1904.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Höchst befremdlich klingt es, wenn in der ganzen,
vorzugsweise technisch zu beurtheilenden Frage, selbst
ein Arzt glaubte, als laudator temporis acti auftreten
zu müssen, und meinte, die Schulen früherer Genera¬
tionen seien von unseren Eltern doch auch recht gut
eingerichtet gewesen. Nach diesem Princip könnte er also
in seiner Praxis sich auch gegen moderne Heilmethoden
ablehnend verhalten und seine Kranken anstatt mit Diph¬
therieserum oder mit antiseptischen Verbandmitteln, viel¬
mehr mit den Schröpfköpfen und Haarseilen unserer
Vorfahren nach Grossväterweise behandeln.
Wenn selbst der segensreichen Einrichtung der
Hilfsschulen gegenüber noch so rückständige, ahnungs¬
lose Anschauungen zur Geltung kommen, dann sollten
alle einsichtigen Schulmänner und Aerzte hier vor
2 73
allem erst ihren Bekehrungs- und Reformeifer einsetzen
und nicht die Kräfte von vornherein zersplittern durch
die Forderung zu vieler Sonderschulen, wozu auch
die Separatklassen für epileptische Kinder gehören
würden.
Ich bleibe dabei, statt der heutzutage nicht allzu
dringlichen und vor allem kaum irgendwo realisir-
baren Forderung einer Sonderschule für Epileptiker
empfiehlt es sich vielmehr, genauer zu diflferenziren,
die epileptischen Kinder je nach der Art ihrer Störung
in den bestehenden Einrichtungen einschliesslich der
Hilfsklassen unterzubringen und bei den geistig
intacten Kindern mit seltenen Anfällen die etwaige
Störung des Unterrichts vielfach lieber mit in Kauf
zu nehmen.
M i t t h e i
— Vereinigung mitteldeutscher Psychiater
und Neurologen. Zu der am 22. und 23. October
d. Js. in Halle a. S. stattfindenden X. Versammlung
mitteldeutscher Psychiater und Neurologen beehren
sich die Unterzeichneten Geschäftsführer ergebenst
einzuladen. Sonnabend, den 22. October, von 8 Uhr
Abends an: Gesellige Vereinigung im Grand Hotel
Bode. Sonntag, den 23. October, I. Sitzung: 9 Uhr
Vormittags in der psychiatrischen und Nervenklinik,
Mühlrain Nr. 7. II. Sitzung: 1 Uhr Mittags. Fest¬
mahl: 4V2 Uhr Nachmittags im Grand Hotel Bode.
Tagesordnung: 1. Förster-Breslau: Referat über die
Gehimfaserung des Stammes mit Demonstrationen am
Projectionsapparat. 2. Liepmann-Pankow: Demon¬
strationen der Gehirnschnitte: a) eines Agnostischen,
b) eines Apractischen mittelst des Projectionsapparat es.
3. Ziehen-Berlin: Untersuchung von Wahlreactionen
bei Geisteskranken. 4. Cramer - Göttingen: Isolirte
Abschnürung des Unterhorns und seine klinischen
Folgen, mit Obductionsbefund. 5. Binswanger-Jena:
Thema Vorbehalten. 6. Boldt-Jena: Ueber Merk-
defecte. 7. Bahrmann-Jena: Ueber Hysterie und
Epilepsie. 8. Alt-Uchtspringe: Sauerstoffbehandlung
bei Kranksinnigen und Nervenkranken. 9. Hoppe-
Uchtspringe: Bedeutung der Jonentheorie für die
Behandlung der Epileptiker. 10. Bartsch-Düsseldorf:
Trophoneurotische Störungen bei peripherer Facialis-
lähmung. 11. Knapp-Halle: Functionelle Kontractur
der Halsmuskulatur. 12. Ganser - Dresden: Ueber
moralisches Irresein. 13. Stegmann-Dresden: Thema
Vorbehalten. 14. Förster-Halle: Ueber die phagocy-
tären Eigenschaften der Hirnrindengefässwandungen.
15. Aschaffenburg-Halle: Die Experimentalpsychologie
als Hilfswissenschaft der Psychiatrie. 16. Weber-
Göttingen: Zur Pathogenese des erworbenen Hydro-
cephalus internus. 17. Kleist-Halle: Ueber Leitungs-
aphasie. 18. Windscheid-Leipzig: Beitrag zur Symp¬
tomatologie der Balkentumoren. — Wenn auch die
Digitized by Google
1 u n g e n.
Zeitdauer für die einzelnen Vorträge nicht bestimmt
ist, so wird doch gebeten, dieselben thunlichst nicht
über 20 Minuten und diejenige der Bemerkungen in
der Discussion nicht über 5 Minuten auszudehnen.
Anmeldungen zu der Theilnahme am Festmahl
(Gedeck 3 Mk.) werden bis zum 18. October an den
I. Geschäftsführer (Wemicke - Halle) erbeten. Die
Herren Theilnehmer werden in der Lage sein, die
Abendschnellzüge in der Richtung Leipzig, Thüringen,
Berlin und Magdeburg zu benutzen. Hotels. Am
Bahnhof: Grand Hotel Bode, goldene Kugel, Con¬
tinental. In der Stadt: Kronprinz, Stadt Hamburg,
Tulpe. Gäste sind willkommen.
Die Geschäftsführer.
Wernicke. Fries.
— 35. Jahresversammlung des Vereins
schweizerischer Irrenärzte in St. Urban. I. Sitzung
23. V. 04. Präs.: Prof. Bleuler-Burghölzli. Actuar:
Dr. Ribary-St. Urban.
Allgemeine Discussion über die Unter¬
bringung verbrecherischer Irrer und
geisteskranker Verbrecher. Referat von Dr.
Fröhlich - Königsfelden und Dr. L. v. Muralt-
Burghölzli.
In Königsfelden sind zahlreiche criminelle Kranke,
darunter viele lästige und gefährliche. Dadurch Er¬
schwerung der freien zwangslosen Behandlung; Un¬
möglichkeit, viele Criminelle passend zu beschäftigen;
viele Intriguen; öfters Entweichungen. Die Ueber-
füllungder Anstalt macht passende Verlegungen unmög¬
lich. An andern Orten sind die Schwierigkeiten je
nach Grösse, Einrichtung, Füllung der Anstalt sehr
verschieden, aber überall fühlbar. Nach einer Enquete
der Referenten beträgt die Zahl der geisteskranken
Verbrecher in den schweizerischen Irrenanstalten
565 Männer und 172 Frauen. Von den 565 Männern
werden 70 als dauernd gefährliche Individuen, 648
Original from
HARVARD UN1VERSITY
274
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 2Q.
als dauernd versorgungsbedürftig bezeichnet; von den
Letzteren sind ein grosser Theil harmlos. — Unter
den 3170 nicht criminellen geisteskranken Männern
sind 57 dauernd gefährlich. Die Gefährlichkeit der
geisteskranken Verbrecher ist also unverhältniss-
mässig grösser als die der nicht criminellen Irren.
In den schweizerischen Straf- und Correctionsan-
stalten finden . sich 64 Geisteskranke, 63 Schwach¬
sinnige, 18 Epileptiker und allermindestens 265
chronische Alcoholiker. Diese Zahlen sind Minimal -
zahlen. Die meisten versorgten Alcoholiker sind sicher
Gewohnheitsverbrecher oder Individuen mit unheil¬
baren Alcoholpsychosen, die weder in die Irrenan¬
stalt noch in die Strafanstalt gehören, sich aber sehr
eignen zur Verdünnung der gefährlichen Elemente
einer Verbrecheranstalt.
In den Irrenanstalten befinden sich ferner an
vermindert Zurechnungsfähigen, Psychopathen, mo¬
ralisch Defecten, sexuell Perversen, unheilbaren
Säufern, die als Schimpfer, Intriguanten, Durchbrenner
sehr lästig sind, 64 Mann und 35 Frauen.
Durch Entfernung all dieser Elemente würden die
Irrenanstalten nicht nur quantitativ erleichtert, sondern
auch qualitativ verbessert.
Da die Straf- und Irrenanstalten kantonal sind,
ist Abhülfe nur möglich durch Schaffung einer
schweizerischen Centralanstalt für gefährliche Geistes¬
kranke aller Arten. Vorläufig würde sie wohl nur
Männer aufnehmen. Momentan sind einer solchen
Anstalt bedürftig 21 gefährliche geisteskranke Ver¬
brecher, 49 gefährliche verbrecherische Geisteskranke,
57 nicht criminelle gefährliche Kranke, 64 vermindert
Zurechnungsfähige etc. und ca. 90 Alcoholiker, zu¬
sammen 281 Männer. Man müsste also für 300 bis
350 Männer bauen, wozu später noch etwa 100 Plätze
für Frauen kämen. Etwa 25% der Kranken ge¬
hören der französischen oder italienischen Schweiz
an. Ihre Zahl ist gross genug, dass man für sie eine
eigene Abtheilung errichten könnte.
Die Referenten stellen den Antrag, dass zum näheren
Studium der Anstalt, zur Ausarbeitung eines detai-
lierten Projectes und zur Propaganda für dasselbe eine
Specialcommission ernannt werde.
Discussion. Ris-Rheinau. Die Irrenanstalten
dürfen sich nicht insufficient erklären, sondern müssen
sich für diese Leute eben einrichten. — v. Speyer-
Waldau. Wodurch soll sich eine solche Anstalt
von andern unterscheiden? Die Statistik kann nicht
ganz ein wandsfrei sein. —
Ko 1 ler-Cery. Die gefährlichen sind dann am wenig¬
sten gefährlich, wenn sie unter andere vertheilt sind. Er
möchte lieber eine centrale Anstalt für vermindert
Zurechnungsfähige und Alcoholiker, für die die Irren¬
anstalten am wenigsten eingerichtet sind.— Schiller-
Wil hatte grosse Schwierigkeiten, solange seine Anstalt
nur 4 Abtheilungen hatte, bei 18 Abtheilungen geht es
ganz erträglich. — Die Versammlung hält die ganze
Frage für noch nicht genügend abgeklärt und wählt
zum weitern Studium eine Commission, bestehend aus:
Fröhlich, v. Muralt, Ris.
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J ung-Burghölzli. Ueber Associationsver-
suc h e.
Vortragender berichtet über seine gemeinsam mit
Ri kl in angesteilten Associationsexperimente bei Ge¬
sunden.
Als einige hauptsächliche Ergebnisse dieser Unter¬
suchungen seien angeführt:
1. Gebildete haben durchschnittlich mehr äussere
Associationen als Ungebildete; dementsprechend sind
2. die Reactionszeiten der Ungebildeten etwas
länger als die der Gebildeten.
3. Eine Hauptquelle der Veränderungen in der
Qualität der Associationen ist das wechselnde Ver¬
halten der Aufmerksamkeit.
4. Die Erschlaffung der Aufmerksamkeit bedingt
besonders eine deutliche Vermehrung aller minder-
werthigen Associationsformen (sprachlicheVerbindungen,
Wortergänzungen, Klangassociationen). Umgekehrt
bewirkt die Anspannung der Aufmerksamkeit im All¬
gemeinen eine Vermehrung der inneren Associationen.
5. Alle psychischen Störungen, die hauptsächlich
durch Mangel an Concentrationsvermögen ausge¬
zeichnet sind, zeigen daher Tendenz zu äussern
Associationen und Klangassociationen. Diese That-
sache wurde bestätigt durch Untersuchungen im Zu¬
stande der Langeweile, der Ermüdung (resp. Erschöpf¬
ung, im Sinne Aschaffenburg’s), nach frisch über¬
standenem schwerem Affekt (wobei die Aufmerk¬
samkeit innerlich auf den überdauernden Gefühlston
gerichtet war), bei gewissen Formen der Neurasthenie,
der Dementia senilis und der progressiven Paralyse
und durch Ideenflucht von verschiedener Herkunft.
6. Die Ursache der Klangassociationen in der
manischen Ideenflucht ist die Aufmerksamkeitsstörung,
und nicht, wie Aschaffenburg meint, die motorische
Erregung.
7. Durch künstliche Herabsetzung (Spaltung) der
Aufmerksamkeit wird ein Associationsmodus erzeugt,
welcher im Experiment von demjenigen der Ideen-
flucht, der Ermüdung, des acuten Alcoholismus etc.
nicht zu unterscheiden ist. (Starke Tendenz zu
äussern Associationen und Klangassociationen.) Moto¬
rische Erregung war dabei durch die Versuchsanord¬
nung völlig ausgeschlossen.
II. Sitzung am 24. 5. 04. Für die Jahresbe¬
richte der Hülfsvereine für Geisteskranke sind zwei
Arbeiten eingegangen, und es wird diejenige des Herrn
Dr. Gelpke, Liestal mit dem Preise von 100 Fr.
gekrönt.
Auf Antrag v. Muralt wird folgender Beschluss
gefasst:
Der Verein schweizerischer Irrenärzte drückt dem
Schweiz. Justizdepartement den Wunsch aus, es möchte
die Fassung des Artikels 16 des Vorentwurfs zu einem
schweizerischen .Strafgesetzbuch vom Juni 1903
durch die frühere vom Irrenärzteverein sanctionirte
Fassung ersetzt werden. (Fassung von 1903: wer zur
Zeit der That ausser Stande war, vernunftgeinäss zu
handeln, wer insbesondere zur Zeit der That in seiner
geistigen Gesundheit oder in seinem Bewusstsein in
Original from
HARVARD UNIVERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
275
1904.]
hohem Grade gestört war, ist nicht strafbar. — War
die Fähigkeit des Thäters, vernunftgemäss zu handeln,
zur Zeit der That vermindert, war insbesondere die
geistige Gesundheit oder das Bewusstsein des Thäters
wesentlich beeinträchtigt, so mildert der Richter die
Strafe nach freiem Ermessen. — Fassung von 1896:
Wer zur Zeit der That geisteskrank oder blödsinnig
oder bewusstlos war, ist nicht strafbar. — War die
geistige Gesundheit oder das Bewusstsein des Thäters
nur beeinträchtigt, oder war er geistig mangelhaft ent¬
wickelt, so mildert der Richter die Strafe nach freiem
Ermessen.)
Elmiger-St. Urban: Ueber die von 1873 bis
1900 in der Anstalt St. Urban verpflegten
Paralysen aus dem Kanton Luzern. Aus
einer Bevölkerung von 140000 wurden 2357 Geistes¬
kranke (1191 Fr. 1166 M.) aufgenommen, davon 91
Paralysen (74 M. 17 Fr.). Als Krankheitsursache
war nur bei 9 (7 M. 2 Fr.) Lues angegeben, in 29
Fällen (28 M. 1 Fr.) Alcoholismus, ausserdem bei
14 Fällen gemüthliche Schädlichkeiten, bei 4 körper¬
liche Krankheiten und bei 5 Schädelverletzungen.
Dem Berufe nach sind aus dem fast ganz agricolen
Kanton nur 12 Landwirthe, davon betrieben nur 5
keine anderen Berufe. Handwerker waren 36,
Kaufleute, Wirthe, Hoteliers waren 14, Gelehrte 12.
Von den Handwerkern waren fast alle in der Fremde,
von den meisten wird angegeben, dass sie ein sehr
bewegtes Leben geführt haben. In 60 % aller Fälle
wurden die Pat. als geistig gut begabt geschildert.
In der Discussion erwähnen alle Redner ähnliche
Erfahrungen; die Paralytiker aus bäuerlichen Kreisen
seien meist in der Fremde gewesen.
Dir. Lisibach-St. Urban. Aufnahmefor¬
malitäten in den staatlichen Anstalten. (Vide
Originalartikel in dieser Nr.)
Discussion. Die meisten Votanten betonen
die Unrichtigkeit von allen Maassregeln, die eine Er¬
schwerung der Aufnahmen bedingen, und erinnern
daran, dass es oft schon gar nicht leicht sei, das eine
Zeugniss zu bekommen, dass aber die Beschaffung
eines zweiten Zeugnisses oft auf praktisch unüber¬
windliche Schwierigkeiten stosse. — Auch Herr
Regierungsrath Vogel, der im Auftrag des Staats-
wirthschaftsdepartements dem Director der Anstalt die
Frage zur Begutachtung übergeben hat, ist gegen eine
Erschwerung der Aufnahmebedingungen. — B e zz o 1 a-
Schloss Hard: Offene Beobachtungsstationen, wo der
für geisteskrank Gehaltene freiwillig zur Beobachtung
eintreten könnte, würden der Schwierigkeit am besten
begegnen. — Bleul er-Burghölzli hält den Werth
offener Stationen in dieser Richtung für illusorisch,
so lange sie mit geschlossenen Anstalten verbunden
seien, so nützlich sie in anderen Richtungen sein
können. —
R i k 1 i n-Burghölzli: Die diagnostische Be¬
deutung der Associationen bei der Hys¬
terie. (Autoreferat.)
Vortragender, der mit Jung gemeinsam Associa¬
tionsversuche gemacht hat, sucht nachzuweisen, dass
Digitized by Google
es einen vom Normalen und von anderen Psychosen
abgrenzbaren hysterischen Reactionstypus giebt.
Die bei Associationen Normaler gewonnenen Resultate
über die Wirkung stark gefühlsbetonter
Vorstellungskomplexe auf die Reactionen
dienten als Grundlage der Arbeit. Der hysterische
Reactionstypus lässt sich aus demjenigen unter den
Normalen ableiten, bei welchem der stark gefühlsbetonte
Vorstellungskomplex (der „Komplex“) im Sinne von
Breuer und Freud verdrängt ist. Er lässt sich
in den Associationen aber noch an verschiedenen
Merkmalen erkennen, die als „Komplexwirkungen“
zu betrachten sind. Unter diesen spielen z. B. die
Verlängerung der Reactions ze it, Zitate,
Perseveration einer angeregten Vorstellung, das
Auftreten von Fehlern (wie das Aussetzen einer
verbalen Reaktion auf ein Reizwort bezeichnet wird),
mimische Begleiterscheinungen anscheinend
unverdächtiger Reactionen etc. eine wichtig Rolle.
Von diesem schon bei Normalen vorkommenden Reac¬
tionstypus unterscheidet sich der hysterische haupt¬
sächlich durch' die Häufung und Intensität der
genannten Erscheinungen, die bei Normalen
nie erreicht wird. Die Curve der Reactionszeiten
eines Hysterischen unterscheidet sich so z. B. ohne
weiteres von der eines Normalen. Durch die Voll¬
ständigkeit der Abspaltung der verdrängten
Vorstellungskomplexe von den bewussten, die eins
der Hauptmerkmale der Hysterie ist, lassen sich diese
Erscheinungen, gerade z. B. die Häufung der „Fehler“,
deren affektiver Grund dem Hysteriker gewöhnlich
gar nicht bewusst wird, sehr gut erklären. In Hyp¬
nose angestellte Kontrollversuche und die Aus¬
nützung der hypnotischen Hypermnesie bestätigen die
gewonnenen Resultate.
Die ausführliche Mittheilung über die Associations-
versuche erfolgt in den „Diagnostischen Asso¬
ciationsstudien“, welche vorerst im „J o u r n a 1
für Psychologie und Neurologie“ und später
in Sonderausgabe erscheinen.
— Paris. Am 4. October wurde im Asile Saint e-
Anne, Dr. Val Ion, Chefarzt der Männerabtheilung
und Docent für gerichtliche Psychiatrie, durch einen
Kranken lebensgefährlich verletzt. Das Ereigniss er¬
innert in vielem an den traurigen Fall Vorster-
Stephansfeld.
Vallon machte um 1 j 2 10 Uhr seine Morgenvisite
in der „Halbruhigen-Abtheilung.“ Als er, begleitet
von seinen Internen, durch den Hof ging, waren dort
etwa 60 Kranke versammelt, von denen ihm einer einen
Brief gab. Vallon begann im Weiterschreiten sofort
zu lesen und neigte dabei den Kopf etwas nach vorn.
Plötzlich holte ein Kranker, an dem Vallon gerade
vorbeiging, aus seiner Mütze, die er vor dem Arzt
gezogen hatte, ein Messer heraus und stiess es mit
grösster Wucht bis zum Griff Vallon in die linke
Nackenseite. „Da hast du dein Theil,“ rief er dabei,
„ich habe es dir lange genug versprochen.“ Der
Vorfall spielte sich so schnell ab, dass niemand ihn
verhindern konnte. Vallon schwankte einen Augen-
Original from
HARVARD UNIVERSITY
27 6
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 29.
blick und stürzte dann zu Boden, er war rechtsseitig
gelähmt, das Bewusstsein hatte er nicht verloren. Er
wurde, nachdem man die Waffe aus der Wunde
herausgezogen hatte, nach dem nahegelegenen Pavillon
de Chirurgie gebracht, wo seine Collegen die ent¬
sprechende Behandlung einleiteten. Die Diagnose:
„Verletzung des Rückenmarks“ und eine ungünstige
Prognose hatte er sich selbst sofort nach der Ver¬
wundung gestellt.
Der Attentäter ist ein 51 jähriger ehemaliger
Küfer, anscheinend Paranoiker, der vor einigen Jahren
von der Polizei festgenommen wurde, als er vor der
Chambre des deputes einige Revolverschüsse abgab
ohne besondere äussere Veranlassung, nur um die öffent¬
liche Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Vallon
begutachtete ihn und erklärte ihn für unzurechnungs¬
fähig; er wurde daher ausser Verfolgung gesetzt und
kam nach St. Anne, wo er anfangs in der „Un-
ruhigenabtheilung“, seit sechs Monaten aber schon bei
den „Halbruhigen“ sich befand. Er drängte unauf¬
hörlich auf Entlassung und erging sich oft in Drohungen
gegen Vallon, die man aber nicht emsf genug nahm.
Dem Untersuchungsrichter, der einige Stunden nach
dem Attentat den Kranken verhörte, erklärte dieser:
„Ich habe mit Vorbedacht gehandelt. Schon seit
sechs Monaten suche ich eine günstige Gelegenheit,
heute habe ich sie gefunden. Immer habe ich von
Vallon meinen Entlassungsschein verlangt, er gab ihn
mir nicht, obwohl er wusste, dass ich kein Narr bin.
Nun habe ich mich gerächt und freue mich darüber.“
Fast wörtlich ebenso hat seiner Zeit der Kranke in
Stephansfeld sich geäussert.
Die Waffe des Attentäters war eine ziemlich
stumpfe, aber sehr kräftige, etwa 10 cm lange, mittels
Kupferdrahtes in einem Holzgriff befestigte Klinge.
Angeblich hatte der Kranke sie gefunden; wahr¬
scheinlich aber ist, dass er sie eines Tags aus der
Küche, wo er zeitweise beim Gemüsereinigen be¬
schäftigt war, mitgenommen, oder dass einer seiner
Mitkranken sie ihm von der Aussenarbeit mitgebracht
hatte. Er hatte das Instrument angeblich in seiner
Nachttischschublade aufbewahrt und am Morgen des
4. October unter seiner Mütze versteckt, um es zur
That bereit zu haben.
Vallon’s Zustand ist natürlich ein zweifelhafter.
Es besteht Lähmung der rechten Extremitäten und
Hyperästhesie der rechten Hand; Anästhesie der
linken Hand. Rechte Pupille lichtstarr (Würzburger
Theorie! Vergl. Rieger-Förster, Wolf, Bach''.
Allerseits nimmt man herzlichen Antheil an dem
tragischen Unglück unseres Collegen.
Paris, 8. 10. 04. E. Hess.
— Nachstehender Fall beweist, dass das vom
14. Juli 1904 datierte „Gesetz, betreffend die
Entschädigung für unschuldig erlittene
Untersuchungshaft“ — Reichs-Gesetzblatt Nr.35
— auch in Fällen Anwendung findet, bei
denen die Ausschliessung der freien
Willensbestimmung ein freisprechendes
Urtheii bedingte.
Es handelt sich um einen in seiner Jugend gänz¬
lich verwahrlost aufgewachsenen Menschen, der
Digitized by Google
„wegen seiner geistigen Schwäche“ auf Veranlassung
des Armenpflegschaftsrathes seines Heimathsortes bei
Gemeindegliedem als Tagelöhner untergebracht war.
Mit 14 Jahren machte er sich der Brandstiftung
schuldig, wurde aber, wegen des durch seine Jugend
bedingten Mangels der Erkenntniss der Strafbarkeit
seiner Handlung, freigesprochen. Zugleich wurde seine
Unterbringung in eine Erziehungs- und Besserungsan¬
stalt angeordnet; von dort wurde er nach einem Jahr ent¬
lassen; die Charakteristik besagte: „tückisches, schaden¬
frohes Wesen, geistig sehr schwach veranlagt, kann
nur schwach zwischen Gut und Böse unterscheiden.“ In
der Folgezeit wurde H. mehrfach bestraft; einmal
„wegen Vergehens der widernatürlichen Unzucht in
Idealkonkurrenz mit einem Sittlichkeitsverbrechen
nach § 183 R. Str. G. B.“ mit vier Monaten Gefängniss,
dann „wegen Sittlichkeitsverbrechens nach § 176
Ziff. 3 R. Str. G.-B.“ mit einer Zuchthausst rafe von
einem Jahr. Neuerdings verübte er an einem sechs¬
jährigen Kinde ein Sittlichkeitsverbrechen; eine Ver¬
urteilung erfolgte nicht, da der Angeklagte „wegen
hochgradigen, seine freie Willensbestimmung aus-
schliessenden Schwachsinns von der in objectiver
Beziehung erwiesenen Anklage eines Verbrechens
wider die Sittlichkeit freigesprochen werden musste
und, weil Gründe für Ausschliessung seines Ent¬
schädigungsanspruches nicht vorliegen“, wurde be¬
schlossen: „es wird die Verpflichtung der Staatskasse,
den Angeklagten für die von ihm erlittene Unter¬
suchungshaft zu entschädigen, ausgesprochen.“ — §§ 1,
2, 3, 4 des Reichsgesetzes vom 14. Juli 1904, be¬
treffend die Entschädigung für unschuldig erlittene
Untersuchungshaft. — Auf polizeiliche Anordnung hin
wurde sodann die Verwahrung des H. in der zu¬
ständigen Irrenanstalt wegen Gemeingefährlichkeit
verfügt.
Zur Orientirung seien nachfolgend die einschlägigen
Paragraphen des fraglichen Gesetzes wiedeigegeben:
§ 1.
Personen, die im Strafverfahren freigesprochen
oder durch Beschluss des Gerichts ausser Ver¬
folgung gesetzt sind, können für erlittene Unter¬
suchungshaft Entschädigung aus der Staatskasse
verlangen, wenn das Verfahren ihre Unschuld er¬
geben oder dargethan hat, dass gegen sie ein be¬
gründeter Verdacht nicht vorliegt
Ausser dem Verhafteten haben diejenigen, denen
gegenüber er kraft Gesetzes unterhaltspflichtig war,
Anspruch auf Entschädigung.
§ 2.
Der Anspruch auf Entschädigung ist ausge¬
schlossen , wenn der Verhaftete die Unter¬
suchungshaft vorsätzlich herbeigeführt oder durch
grobe Fahrlässigkeit verschuldet hat Die Ver¬
säumung der Einlegung eines Rechtsmittels ist
nicht als eine Fahrlässigkeit zu erachten.
Der Anspruch kann ausgeschlossen werden,
wenn die zur Untersuchung gezogene That des
Verhafteten eine grobe Unredlichkeit oder Un¬
sittlichkeit in sich geschlossen hat oder in einem
die freie Willensbestimmung ausschliessenden
Original from
HARVARD UNIVERSITY
1904.3 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 277
Trunkenheitszustande begangen worden ist oder
wenn aus den Thatumständen erhellt, dass der
Verhaftete die Verübung eines Verbrechens oder
Vergehens vorbereitet hatte.
Der Anspruch kann auch dann ausgeschlossen
werden, wenn der Verhaftete zur Zeit der Verhaftung
sich nicht im Besitze der bürgerlichen Ehrenrechte
befand oder unter Polizeiaufsicht stand, oder wenn
gegen den Verhafteten auf Grund des § 181 a oder
des § 362 des Strafgesetzbuchs innerhalb der letzten
zwei Jahre auf Ueberweisung an die Landes-Polizei¬
behörde rechtskräftig erkannt worden ist. Das
Gleiche gilt, wenn der Verhaftete mit Zuchthaus
bestraft worden ist und seit der Verbüssung der
Strafe drei Jahre noch nicht verflossen sind.
§ 3 -
Gegenstand des dem Verhafteten zu leistenden
Ersatzes ist der für ihn durch die Untersuchungs¬
haft entstandene Vermögensschaden. Hat vor dem
Erlasse des Haftbefehls eine Vorführung oder eine
vorläufige Festnahme stattgefunden, so erstreckt
sich der Entschädigungsanspruch auch auf die dem
Haftbefehle vorausgegangene Zeit der Haft.
Unterhaltungsberechtigten ist insoweit Ersatz zu
leisten, als ihnen durch die Verhaftung der
Unterhalt entzogen worden ist.
§ 4 -
Ueber die Verpflichtung der Staatskasse zur Ent¬
schädigung wird von dem Gerichte gleichzeitig mit
seinem den Verhafteten freisprechenden Urtheile
durch besonderen Beschluss Bestimmung getroffen.
Wird auf ein gegen das Urtheil eingelegtes Rechts¬
mittel von neuem auf Freisprechung erkannt, so ist
von dem erkennenden Gerichte nach Maassgabe des
Abs. 1 von neuem Beschluss zu fassen.
Der Beschluss ist nicht zu verkünden, sondern
durch Zustellung bekannt zu machen, sobald das
freisprechende Urtheil rechtskräftig geworden ist.
Er unterliegt nicht der Anfechtung durch Rechts¬
mittel. Wird die Entschädigungsverpflichtung der
Staatskasse ausgesprochen, so soll der Beschluss
auch den Unterhaltsberechtigten, die nicht dem
Hausstande des Verhafteten angehören, mitgetheilt
werden, sofern ihr Aufenthalt dem Gerichte be¬
kannt ist.
Diese Vorschriften finden entsprechende An¬
wendung, wenn der Verhaftete durch Beschluss
des Gerichts ausser Verfolgung gesetzt wird.
Ob die dem vorstehenden richterlichen Entscheid
zu Grunde liegende Auffassung weitere Anhänger findet,
bleibt abzuwarten. Sandner-Ansbach.
— Der Geisteszustand der Prinzessin
Luise von Koburg. (Schluss.)
Wir müssen besonders betonen, dass in den Pe¬
rioden von wechselnder Apathie und Gereiztheit, wie
sie in den letzten Jahren in regelmässiger Wiederkehr
beobachtet worden sind und in welchen zeitweise
ein vollständig delirantes Sprechen beobachtet wurde,
der Aufenthalt ausserhalb der Anstalt zu den bedenk¬
lichsten Folgen führen würde; es ist aber nicht zu
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verkennen, dass auch ausserhalb dieser Anfälle eine
gewisse Neigung zu krankhafter Verkennung des That-
sächlichen und zu phantastischen Vorstellungen sich
bei der Frau Prinzessin bemerkbar macht und dass
in Folge hiervon ihre Auffassung der ganzen Situation
eine mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmende ist.
Entsprechend den in dem letzten Berichte des
Herrn Dr. Pierson hervorgehobenen Aeusserungen der
hohen Patientin, dass sie die heiligste, reinste Jung¬
frau usw. sei, und dass sie in der Geschichte eine
Rolle spielen werde, wie Elisabeth oder Maria Stuart,
war auch ihr Verhalten bei Gelegenheit des gericht¬
lichen Termins in Coswig. Die Art, wie sie hierbei
unter die versammelten Juristen und Aerzte trat, in
eigenthümlich pathetischer Weise sich nach den per¬
sönlichen Verhältnissen der Einzelnen erkundigte und
schliesslich gewissermassen ihre letzten Wünsche in
den überreichten Schriftstücken zu Protokoll gab,
zeigte einen unverkennbaren Anklang an die Abschieds¬
scene der Maria Stuart. Wenn nun auch in diesem
Verhalten ebenso wie in den vorher erwähnten
Aeusserungen zunächst nicht mehr als ein gewisses
Spielen mit phantastischen Vorstellungen erblickt zu
werden braucht, so lässt es doch die Disposition
der hohen Patieritin zu krankhaften Anschauungen
erkennen, welche in gleicher Weise in dem dauernden
grundlosen Hass gegen ihren Gemahl und in der
Idee, von ihm feindselig behandelt zu werden, zum
Ausdrucke kommen, und welche ausserhalb der
Anstalt leicht zu unberechenbaren Entschliessungen
führen könnten.
Wenn es endlich noch eines weiteren Beweises
dafür bedürfte, dass die Frau Prinzessin unmöglich
ausserhalb der Anstalt zu leben vermag, so würde
derselbe aus den Berichten über die in jüngster Zeit
unter ärztlicher Aufsicht unternommene Reise nach
Venedig zu entnehmen sein. Die alte Neigung, sich
rastlos von Ort zu Ort zu bewegen, unsinnige Ein¬
käufe zu machen, in kompromitlirender Weise und
ohne jede Rücksicht auf ihre Umgebung sich ihren
üblen Gewohnheiten beim Essen u. s. w. und ebenso
gelegentlich ihren Zornesausbrüchen zu überlassen,
trat hier wieder in evidenter Weise hervor. Es er-
giebt sich hieraus, dass selbst unter ärztlicher Aufsicht
grössere Reisen für die Prinzessin unzuträglich sind
und dass fernerhin die an und für sich wünschens-
werthen Ausflüge und Badeaufenthalte wie bisher
auf die nächste Umgebung der Anstalt beschränkt
werden mussten.
Bezüglich des körperlichen Befindens der Frau
Prinzessin müssen wir schliesslich noch anführen, dass
die jetzt im Alter von 46 Jahren stehende Patientin
sich eines guten Aussehens erfreut und dass ausser
den Klagen über gelegentlich auftretende Kopf¬
schmerzen und allgemeine nervöse Beschwerden
nichts auf körperliche Störungen Bezügliches berichtet
wmrde. Der seit langer Zeit bestehende Hautausschlag
(psoriasis) war bei unserer Untersuchung nur in ge¬
ringer Intensität und geringem Umfange vorhanden,
irgend welche Zeichen einer organischen Gehirn¬
krankheit waren nicht nachweisbar.
Original frum
HARVARD UNIVERSiTY
2 7 8
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 29.
Schl us sgut achten.
Wir kommen auf Grund des uns vorgelegten
Aktenmaterials, sowie unserer persönlichen Wahr¬
nehmungen zu folgenden Schlüssen:
1. Der bei Ihrer königlichen Hoheit der Frau
Prinzessin Luise von Sachsen-Koburg und Gotha
zur Zeit der Entmündigung konstatirte Zustand von
krankhafter Geistesschwäche besteht unverändert fort
und macht die hohe Patientin nach wie vor unfähig,
ihre Angelegenheiten zu besorgen.
2. Der dauernde Aufenthalt der Frau Prinzessin
in der geschlossenen Anstalt ist auf Rücksicht auf
diesen Krankheitszustand und im Interesse der hohen
Patientin unbedingt nothwendig.
3. Wir haben uns überzeugt, dass in der Anstalt
des Herrn Sanitätsraths Dr. Pierson alle diejenigen
Bedingungen gegeben sind, welche eine möglichst
zweckmässige und schonende Behandlung der Frau
Prinzessin gewährleisten.
Vorstehendes Gutachten nehmen wir auf den bei
dem Termin in Meissen am 18. September d. J. vor
dem Herrn Amtsrichter von jedem Einzelnen von
uns geleisteten Sachverständigeneid.
Prof. Dr. F. Jolly m. p.,
geh. Med.-Rath, Director der psychiatrischen und
Nervenklinik in Berlin.
Dr. Julius Wagner Ritter v. Jauregg m. p.,
k. k. ord. öff. Universitäts-Professor, Vorstand der
psychiatrischen Klinik in Wien.
Dr. L. Mellis m. p.,
belgischer Oberstabsarzt und Leibarzt Se. k. Hoheit
des Grafen von Flandern.
Dr. Med. Guido Weber m. p.,
geh. Medicinalrath, Director d. k. s. Landesanstalt
Sonnenstein.
— Ueber die Irrenfürsorge in der . Stadt
Hannover wird dem „Hannoverschen Courier“ v. 4. X.
geschrieben : „Bereits vor Jahrzehnten hat der bekannte
Psychiater Griesinger die Forderung aufgestellt, man
solle neben meist entlegenen Central-Irrenanstalten
kleinere sogenannte Stadtasyle bauen, geeignet, nicht
nur als Durchgangsstation für chronisch Geisteskranke
zu dienen, sondern vor allem jene mehr acut ver¬
laufenden Fälle aufzunehmen und bis zur Genesung
bezw. Entlassungsfähigkeit zu beherbergen. Die Vor¬
theile solcher Stadtasyle sind offenbar. Bei acutem
Ausbruch der Erkrankung wird es möglich, den
Patienten unter erleichterten Aufnahmebedingungen
schleunigst in geeignete Räume, in sachkundige Be¬
handlung und Bewachung zu bringen. Geht die
Psychose, wie nicht selten, schnell in Genesung über,
so entsteht der weitere Vortheil, dass der Genesende
schon nach kurzem und ohne grosse Formalitäten
seiner Familie, seinem Berufe wiedergegeben wird.
Sehr erleichtert wird ferner durch die grosse Nähe
des Asyls der Verkehr zwischen dem Patienten und
seinen Angehörigen. Dabei hat der Laie häufig Ge¬
legenheit, sich von der humanen Art moderner Irren-
behänd lung zu überzeugen und seine vielfach unzu¬
treffenden Anschauungen in diesem Punkte zu corri-
giren. Für die Aerzte der Stadt aber bietet das
Asyl willkommene Gelegenheit, ihre psychiatrischen
Kenntnisse, sei es in Aerztekursen oder durch häufigen
Besuch, zu vervollkommnen.
Wie steht nun die Stadt Hannover zu dieser
Frage? Im Krankenhause III haben wir, nachdem
man vor einem Jahrzehnt etwa die syphilitische
Station verlegt hat, eine selbständige „Irren - Beobach¬
tungsstation“. Dieser Name betont das Provisorische der
Einrichtung, den Charakter einer Durchgangsstation zu
den grossen Irrenanstalten. Ist damit aber wirklich die
Bedeutung dieser Anstalt gekennzeichnet ? Im Jahre
1899 wurden 327 Fälle aufgenommen. Der Abgang
betrug 319 Fälle. Von diesen wurden 111 in andere
Anstalten, 178 in die Familie entlassen. Der Rest
vertheilt sich auf Entlassungen in Krankenhäuser, Ge¬
fängnisse, sowie auf 13 Todesfälle.
Selbst wenn man berücksichtigt, dass unter den
Aufgenommenen 88 Fälle von Alcoholdelirium waren,
so zeigen diese Zahlen doch mit grosser Deutlichkeit,
dass unser Bult-Krankenhaus nicht lediglich provi¬
sorische Durchgangsstation zu den grossen Anstalten,
sondern mindestens in gleichem Maasse Heilanstalt
für acute Fälle ist, mit anderen Worten, in seinen
Aufgaben genau dem eben gekennzeichneten Stadt¬
asyle entspricht. Die räumlichen Verhältnisse sind
nun allerdings derart, dass diese Aufgaben im Sinne
einer modernen Psychiatrie nur höchst unvollkommen
gelöst werden. Man hat das schon vor Jahren er¬
kannt und einen Neubau geplant, der mit dem
Städtischen Armen- und Siechenhause in Verbindung
gebracht werden sollte. So heterogene Dinge ver¬
einigen zu wollen, ist ein missliches Beginnen, die
Aufgabe dieses Planes daher vom ärztlichen Stand¬
punkte aus keineswegs zu bedauern.
Neuerdings trat die Angelegenheit in eine neue
Phase: es tauchte das Projekt auf, die Station nun¬
mehr der Provinzialanstalt Langenhagen anzugliedern.
Dieser Plan mag der Stadt finanzielle Vorteile bieten,
entspricht aber im übrigen wenig dem grosszügigen
Geiste, der sonst die Stadtleitung auszuzeichnen pflegt.
Zunächst berührt es befremdlich, zu sehen, wie ein
sonst so kraftvolles Gemeinwesen eine so wichtige
Aufgabe wie die städtische Irrenfürsorge gewisser-
maassen zu umgehen sucht, indem sie dieselbe einem
Dritten, der Provinz, in die Hände legt.
Der Hauptnachtheil des Projektes ist jedoch:
Langenhagen liegt zu weit ab von Hannover. Jeder
Arzt weiss die Vortheile zu schätzen, die es hat, wenn
man einen aufgeregten oder Selbstmord verdächtigen
Patienten zu jeder Tages- oder Nachtzeit schnell in
sachkundige Behandlung zu bringen vermag. Dass
Langenhagen das nicht leisten wird, dafür spricht
die in der Sitzung der städtischen Kollegien vom 29.
v. M. gefallene Aeusserung, man werde dann vielleicht
im Krankenhause II eine kleine Station für plötzlich
eintretende Fälle einrichten können. Gerade der
Aufnahme solcher Fälle soll das Stadtasyl dienen,
und mit einer derartigen „kleinen Station“ würde
man das unglücklichste Provisorium geschaffen haben.
Weiter würde durch die Verlegung nach Langen¬
hagen jene andere Aufgabe des Stadtasyls, Aufklärung
über psychiatrische Dinge zu verbreiten, sehr er¬
schwert werden. Hinzu kommt das bedauemswerthe
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Original frnm
HARVARD UNiVERSITY
I 9 ° 4 -]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
2 79
aber schwer zu beseitigende Odium, welches mit der
Anstalt Langenhagen verknüpft ist. Der Hannove¬
raner denkt bei Nennung des Namens sofort an die
unglückliche Erscheinung des Vollidioten und wird
geisteskranke Angehörige nur höchst ungern dort
unterbringen wollen. Dass auch der Zweck des Asyls
als Unterrichtsstätte für die Aerzte durch die Ver¬
legung hinfällig würde, sei nur nebenbei bemerkt.
Möge die Stadt das Langenhagen - Projekt fallen
lassen und sich dazu entschliessen, ein modernes
Stadtasyl für Geisteskranke im nächsten Weichbilde
erstehen zu lassen. Dr. B.“
— Wien. Reform der Behandlung
geisteskranker Verbrecher in Oesterreich.
In der neuen Irrenanstalt, deren Grundsteinlegung
am 27. IX. stattfand, wird sich bekanntlich ein eigener
Pavillon für geisteskranke Verbrecher befinden. Es
ist nun von aktuellem Interesse, dass der Errichtung
dieses Pavillons für geisteskranke Verbrecher ein Gut¬
achten zweier Wiener Universitätsprofessoren, und
zwar des Vorstandes der psychiatrischen Klinik, Ober-
sanitätsrathes Professors Dr. Wagner v. Jauregg und
des Professors Dr. M. Benedikt, vorausgegangen ist,
welche über die ihnen von der Regierung vorgelegte
Frage: „Sind die verbrecherischen Irren oder irren
Verbrecher in besonderen, etwa vom Staate zu er¬
richtenden Anstalten unterzubringen, und sind diese
Anstalten als Heilanstalten oder als eine Art von
Strafanstalten in Aussicht zu nehmen ?“ in einem um¬
fangreichen Referate sich geäussert haben, das kürzlich
im Organ des Obersten Sanitätsrathes publizirt wurde.
In diesem Referate wird gesagt: „Von seiten der
Irrenärzte wurde seit langem die Forderung erhoben,
dass für die kriminellen Geisteskranken eigene An¬
stalten zu errichten seien, und wenn auch hin und
wieder Stimmen laut wurden, welche die NothWendig¬
keit oder Zweckmässigkeit solcher Anstalten bestritten,
so blieb diese Meinung doch in der Minderheit. Dass
die Irrenanstalt das Verlangen hat, der kriminellen
Irren sich zu entledigen, ist in der Beschaffenheit
eines Theiles dieser kriminellen Irren begründet. Die¬
selben Tendenzen, die sie in der Freiheit mit der
bestehenden Ordnung in Konflikt gebracht haben,
lassen sie auch in der Irrenanstalt zu einem störenden
Elemente werden. Dazu kommt noch, dass eine nicht
geringe Anzahl der kriminellen Geisteskranken, bevor
sie in die Irrenanstalt kommen, mehrfach vorbestraft
waren, sei es, dass verbrecherische Anlagen bei ihnen
schon bestanden, bevor sie eine Geistesstörung acquirir-
ten, sei es, dass eine schon von Haus aus bestehende
abnorme Organisation sie zu ihren verbrecherischen
Handlungen trieb, als strafausschliessende Geistesstörung
aber erst nach mehrfachen kriminellen Recidiven an¬
erkannt wurde. Diese Leute bringen nun aus ihrem
Gefängnissieben ein eigenthümliches Element in die
Irrenanstalt, ein gewisses Raffiniment in der Störung
der Hausordnung, in der Vereitlung aller Vorsichts¬
maassregeln und Beschränkungen, in der Demoralisation
des Personals und Verhetzung der anderen Kranken
etc., ein besonderes Geschick in der Vollführung von
Excessen und Durchführung von Entweichungen etc.
Die Störung, welche der Belieb der Irrenanstalt
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durch die Anhäufung solcher Elemente erleidet, wächst
mit der Zahl derselben, und zwar, man kann sagen,
im quadratischen Verhältnisse; denn sie haben eine
Fähigkeit, sich zu assoziiren, sich zu gemeinsamen
Zwecken zu verbinden und zusammenzuwirken, die den
übrigen Geisteskranken fehlt. Die durch die krimi¬
nellen Geisteskranken verursachten Uebelstände sind
aber in Zunahme begriffen, denn die Zahl derselben
nimmt zu oder hat wenigstens die Tendenz, zuzunehmen.
Es ist darin begründet, dass die forensische Psychiatrie
den Fortschritten der klinischen Psychiatrie folgend,
ihren Standpunkt verändert hat. Es werden heute
nicht mehr blos die Geistesstörungen im engeren Sinne
als strafausschliessend angesehen und jene Grade von
Blödsinn, die eine Erkenntniss der Strafbarkeit
einer Handlung ganz ausschliessen, sondern auch
viele stationäre, in der Entwicklung des Indivi¬
duums begründete Zustände, Schwachsinnsformen im
weiteren Sinne des Wortes, darunter auch jene Formen,
die vorwiegend auf ethischem Defect beruhen, gerade
die Tendenz zur Kriminalität bedingen und daher bei
Verbrechern sich häufig vorfinden. Es ist vom Stand¬
punkte des Strafrichters wünschenswerth, dass für die
kriminellen Irren zwischen Irrenanstalt und Strafanstalt
ein neutraler Boden geschaffen werde, auf dem die
Gemeingefährlichkeit des Individuums und die Rück¬
fallsgefahr in höherem Grade berücksichtigt werden
kann, als in der Irrenanstalt. Auch der Strafanstalts¬
beamte ist an der Lösung dieser Frage interessirt.
In der Strafanstalt kommen häufig Geistesstörungen
vor, denn Verrbecher sind im allgemeinen mehr zur
Geistesstörung disponiert.“
Die Referenten erklären nun, dass für die Unter¬
bringung krimineller Irren drei Systeme in Betracht
kommen: Adnexe an die Irrenanstalten, eigene An¬
stalten für kriminelle Geisteskranke und Adnexe an
die Strafanstalten. Von diesen drei Systemen erklären
die Referenten die Errichtung einer eigenen Anstalt
für kriminelle Irre, als einer Mittelstufe zwischen
gewöhnlichen Irrenanstalten und Strafanstalten, für die
geeignete Lösung der Frage. Das Land Nieder¬
österreich hat die Lösung dieser Frage übernommen
und sich für das System des Adnexes an die
Irrenanstalt entschieden. Von den Er¬
fahrungen, die man hier machen wird, wird es ab-
hängen, ob der Staat diesem System zustimmen, oder
ob an die Errichtung eigener staatlicher Anstalten für
geisteskranke Verbrecher geschritten werden wird.
(„Neue freie Presse“ 23. X. 04.)
Referate.
— Th. W. Engel mann, Das Herz und seine
Thätigkeit im Lichte neuerer Forschung. Verlag von
Wilhelm Engelmann, Leipzig 1904.
In dieser am Stiftungstage der Kaiser Wilhelms-
Akademie für das militärärztliche Bildungswesen ge¬
haltenen Festrede führt Verf. die neuen Forschungs¬
ergebnisse in der Herzphysiologie aus. Die ältere,
neurogene Theorie glaubte, dass die Herzreize und
Original fmm
HARVARD UNIVERSUM
280 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 29.
die Koordination der Herztätigkeit von dem intercar-
dialen Nervensystem ausgingen; doch die neueren
Arbeiten (myogene Theorie) hätten die Unmöglich¬
keit jener Auflassung erwiesen. Neuerdings nimmt
man an, dass die Reize zur Herzkontraktion beständig
in den Muskelfasern selbst durch Stoffwechselvorgänge
entstehen. Der Herzmuskel reagirt, gleichgültig wie
gross der Reiz ist, wenn er nur den Schwellenwert
überschritten hat, stets mit höchster Kontraktion unti
darauf folgender Erschöpfung. Bei ständig fort¬
wirkenden Reizen kommt somit eine periodische Kon¬
traktion zu stände. Die Reize gehen normalerweise
von dem Gebiet der Venensinus aus und pflanzen
sich von Muskelfaser zu Muskelfaser fort, was möglich
ist, da die einzelnen Fasern innig mit einander Zu¬
sammenhängen und auch Vorkammern und Kammern
unter sich durch Muskelbrücken verbunden sind,
so dass das ganze Herz gewissermaassen nur eine
grosse verzweigte Muskelfaser darstellt. Durch diese
Einheitlichkeit ist auch die Koordination bedingt.
Die Thätigkeit der intra- wie extracardialen Herz¬
nerven ist nur eine regulirende, die die Herzaktion
entsprechend den Körperbedürfnissen anpasst. Hier
sind entsprechend den 4 Grundfunktionen des Herz¬
muskels 4 Gruppen von Nerven zü unterscheiden, die,
welche die Reizerzeugung und somit das Schlagtempo
beherrschen, die, welche den Schwellenwert des Reizes
ändern, die, welche die Reizleitungsfähigkeit und die,
welche das Kontraktionsvermögen beeinflussen. Je
nach ihrer Wirkung zerfallen diese wieder in Aug-
mentatoren und Inhibitoren, jene stammen vom Sym-
pathicus, diese vom Vagus ab.
Dr. Fritz Hoppe, Tapiau.
— E. Holländer: Die Medicin in der klassischen
Malerei. Sfuttgart, Enke, 1903.
Das vornehm ausgestattete Werk sei auch an
dieser Stelle empfohlen. Es bringt zu den 165 schön
ausgeführten Autotypien einen sehr anziehend geschrie¬
benen Text. Die künstlerischen Darstellungen der
Tanzwütigen, der Zwerge und Hofnarren, der halb¬
seitigen Kinderlähmung, des Myxödem (?), der Me¬
lancholie, dcrFebris amatoria, der Suggestionstherapie,
des Key- oder Steinschneidens am Kopfe, der Heiligcn-
behandlung der Besessenen laden besonders die Nerven¬
ärzte zur Betrachtung ein. Merklin.
Toulouse, Ed. et Fieron, H. : Les Tests en
Psycho-Pathologie. Revue de Psychiatrie et de
Psychologie experimentale, 3. Serie. VII Annee,
Tome VII, 1903. No. 1.
Die Verf. wünschen bei der Wichtigkeit der psycho¬
logischen Untersuchungen eine grössere Einheitlich¬
keit und Zuverlässigkeit der Untersuchungsmethoden,
erst dann sind Vergleiche beiechtigt. Die Verbesse¬
rungsvorschläge der Verf. betreffen insbesondere auch
die Testobjekte. Es muss hier auf das Original
verwiesen werden. Wickel (Dziekanka).
I’iir ih n ieilacn.»neuen Tlu-il verantwortlich : Obe
Erscheint jetten Sonnabend. — Schluss der Insrratenannahmc 3 Tage
Iteynemann’sche Buc.hdruckerei (
Aufruf!
Die Unterzeichneten halten es für wünschenswerth,
dass im Grossherzogthum Hessen eine Völ>
einigung für Criminalpsychologie und
fofensische Psychiatrie gegründet werde, wie
solche bereits mit Erfolg an verschiedenen Orten be¬
stehen. In dieser Vereinigung sollen Juristen, Medi-
ciner, Verwaltungs-, besonders Polizei- und Strafan¬
staltsbeamte gemeinsam die vielen psychologischen
und psychiatrischen Fragen im Rechtsleben, bes. im
Strafrecht, studiren.
Diesem Zwecke sollen Versammlungen an ver¬
schiedenen Orten, ein- oder mehrmals im Jahre mit
Vorträgen, Berichten, Besprechungen, Besichtigungen
und Materialsammlungen dienen. Dadurch werden
die Betheiligten unterstützt und die Reform des Straf¬
rechts und Strafprocesses gefördert. An Stoff zur
Arbeit und an Mitarbeitern whrd es nicht fehlen.
Zu einer ersten Versammlung laden die Unter¬
zeichneten alle, die der Vereinigung beitreten möchten,
auf
Sam stag,. d en 5. November d. J.
nach Giessen ein.
Als Tagesordnung ist in Aussicht genommen:
1. Vormittags 11V-4 Uhr: Sitzung im Universi¬
tätsgebäude :
a) Besprechung über Zweck und Organi¬
sation der Vereinigung. Gründung der¬
selben.
b) Bericht des Herrn Professor Mittermaier
über: „Die Reformfragen auf dem Gebiet
des Strafprocesses.“
2. 1V2 Uhr: Gemeinsames Mittagessen im
„Grossherzog von Hessen“ (Couvert M. 2,50).
3. Nachmittags 3V2 Uhr in der psychiatrischen
Klinik: Bericht des Herrn Professor Sommer
über „Die Forschungen über die Psychologie
der Aussage.“
Anmeldung, auch wegen der Theilnahme am ge¬
meinsamen Mittagessen, w’ird erbeten an die mit¬
unterzeichneten Prof. Mittermaier oder den Privat-
docent Dr. Dannemann.
Darmstadt, Giessen, Mainz, im Oct. 1904.
D a n 11 e in ann, Privatdozent,
Kulimann, Landgenchtspräsident,
v. Bessert, Oberstaatsanwalt, Mittermaier, Prof.,
S o in me r, Professor, Theobald, Oberstaatsanwalt,
P r a e t o r i u s, Generalstaatsanwalt,
Ilaberkorn, Kreisarzt, Schmidt, Oberstaats¬
anwalt.
Dieser Nummer liegt ein Prospekt von
J. D. Riedel, chemische Fabriken,
Berlin N. 39,
bei, worauf unsere Leser besonders hingewiesen seien.
r.'ir/t l)r. J. Urcslcr, Lnbhnitr (Sch csien).
vor der Angabe. — Verlap vr-n Car! Marhold in Halle a. S
Gebr. We*ID i»> Halle a. S.
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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift.
Redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. B realer,
Lublinitx (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr,-Adresse: Marho Id Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834.
Nr. 30, 22. Oktober. 1904.
--asaataasaa - sb -■■■-■ asaaaBBgagaj—sa—~~i■ — ~a" a - - L = aas — — - -
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die 3 spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitx (Schlesien), zu richten.
Die Benennung der Krankenhäuser für Geisteskranke.
Von Oberarzt Dr. Max Fischer-lWtnzu..
A us irrenärztlichen Kreisen geht in den letzten
Jahren eine Bewegung dahin, die Ausdrücke
„Irre, Irrenanstalt, Irrenärzte“ zu tilgen und durch
andere zu ersetzen. Man geht dabei von der An¬
schauung und Ueberlegung aus, dass diese Worte
für das Publikum in allen seinen Schichten einen
durch alte Vorurtheile mannigfacher Art verursachten
schlimmen, verächtlichen Sinn haben, der so einge¬
sessen sei, dass man durch Aufklärung nichts ändern
könne. Man will also diesen Vorurtheilen entgegen-
kommen und durch Neubenennungen die Sache der
Geisteskranken, ihrer Krankenhäuser und Aerzte
fördern.
Ist das auf diesem Wege überhaupt möglich?
Die gemachten Vorschläge sind nun mannig¬
facher Art. Der eine geht radical vor und will das
Kind gleich beim rechten Namen nennen: „Gehirn¬
krankenanstalt, Gehirnkrankenhaus, Gehirnheilanstalt,
Gehirnpflegeanstalt“, sogar abgekürzt in „Gehirnan¬
stalt“ (!). Liegt diesen Wortbildungen auch der
wahre Kern zu Grunde, dass eben das Gehirn das
körperliche Substrat der Geisteskrankheiten ist, so
scheinen sie mir doch insofern unglücklich, als sie
den Gesichtspunkt ausser Acht lassen, dass es sich
um Erkrankungen der ganzen Person handelt und
darum auch um Veränderungen ihrer rechtlichen,
socialen und wirthschaftlichen Stellung. Dies muss
aber auch in der Bezeichnung zum Ausdruck kommen.
Die Zeit für die genannte radicale Umänderung
ist noch weit weg, wird vielleicht nie kommen. Wenn
es aber doch dazu käme, so würden die Vorurtheile
des Publikums an diesen Namen erst recht haften
bleiben. Schon heute gilt im Volksmunde „gehirn-
krank“ womöglich noch schlimmer als „geisteskrank“.
Andere Vorschläge gehen von der entgegenge¬
setzten Absicht aus, nämlich die Benennungen „Irre“
etc. durch milder und harmloser klingende zu er¬
setzen, da doch nicht alle Geisteskranken eigentlich
irr seien. Statt Irrenanstalt will man darum setzen:
Nervenanstalt, Nervenheilstätte; auch die
Zusammensetzung: Gemüths- und Nervenan¬
stalt oder Gemüths- und Nervenheilstätte
hat man empfohlen. Denn beim Geisteskranken seien
immer auch die Nerven afficirt, das Gehirn sei nichts
anderes als Nervensubstanz, sei die Centralstelle der
Nerven. Unter Nervenkranken Verstehe man ohne¬
hin heute schon allgemein auch leichter Gemüths-
oder Geisteskranke. So hofft man durch diese
Sammelbenennung die Vorurtheile der Menge zu
zerstreuen, die Irren aus ihrer Verfehmung zu er¬
lösen.
Wir können uns auch nicht auf den Boden
dieser Lösung stellen.
Unter nervenkrank versteht man nun eben ein¬
mal nach dem richtigen, allgemeinen Sprachgebrauch
nicht die eigentlichen Geisteskrankheiten, trotz
mancher gemeinsamer Beziehungen zwischen beiden.
Der Begriff würde ausserdem bei dieser Subsummir-
ung auch ein viel zu weiter, die Unterscheidung um
so schwieriger. Gerade aber die neuerlichen An¬
läufe, den Begriff nervenkrank weiter zu spannen
und darunter auch die leicht Gemüths- und Gei¬
steskranken zu rechnen, hat in praxi zu dem über¬
aus bedauerlichen und folgeschweren Uebelstande
geführt, dass unter dieser Firma in den meisten
offenen Sanatorien jeder Art eine Unsumme von
mehr oder weniger deutlich ausgesprochenen wirk¬
lichen Psychosen, oft sogar solche im abgeschlossenen
Zustande, geführt werden, auch wenn dort kein
irrenärztlicher Betrieb, keine fachmännische Behand¬
lung gewährleistet werden kann. Hierin liegt für
unsere Kianken eine offenbare grosse Gefahr. Man
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Original fram
HARVARD UNIVERSITY
282
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 30
sieht also, wieweit man mit solchen Halbheiten
kommt.
Ein Geisteskranker bedarf anerkanntermaassen in¬
folge seiner anders gearteten Krankheitsäusserungen
zwar nicht durchaus, aber doch meistens auch anderer
Behandlungs- und Krankenhausverhältnisse als der
leichter Nervöse und Nervenkranke, der Durch¬
schnittskranke der Sanatorien, vor allem aber eines
auf diesem Gebiete völlig vertrauten Arztes, des er¬
fahrenen Irrenarztes, und zwar nicht nur bei aus¬
gebildeten, sondern gerade auch bei leichtern oder
in der Entwicklung begriffenen Formen der Er¬
krankung.
Weit verbreitet ist ferner der Ausdruck Heil-
und Pflegeanstalt für Irrenanstalt. Sehr schön
und wohlklingend! Ich möchte ihn auch nicht
ohne Weiteres in Wegfall decretiren. Aber man soll
doch auch der Bezeichnung selbst an sich schon die
specielle Art der Institution ansehen; sonst hat die
Benennung keinen rechten Werth und Sinn. Ein¬
fach Heil- und Pflegeanstalt kann sich jedes Kranken¬
haus, überhaupt jede Stätte, wo geheilt und gepflegt
wird — es braucht sich nicht einmal um Menschen
als Patienten zu handeln — nennen. Schon aus
diesem Grunde ist die Bezeichnung hinfällig, wenn
man nicht laut oder leise, geschrieben oder unge¬
schrieben: „für Irre, Geisteskranke“ hinzusetzt. Thut
man aber das, so wird der Begriff doch erst dann
von humaner Bedeutung, wenn zuerst die Vorstell¬
ungen über Irre, Irrenanstalten und Irrenärzte sich
geläutert haben, sonst nicht. Das erkennen wir ja
schon aus den auf diesem Gebiete zur Zeit bestehen¬
den Verhältnissen.
Das Gleiche würde für andere Ausdrücke all¬
gemeiner Art, wie etwa „Landespflegeheim,
Landesgenesungsheim“ gelten. Auch hier
kommt es auf die A u s 1 egu n g an, auf die Vorstellungen,
die man allgemein mit deren Pfleglingen, den „Irren“
noch verbindet.
Auch an Zusammensetzungen mit Seele liesse
sich denken. S eel e n stö r un g, seelengestört,
Seelenkrankheit, Seelenheilkunde sind ge¬
wohnte, gutklingende Namen und dazu richtige Bild¬
ungen. Ihnen kann kein odiöser oder ominöser
Beiklang zugemischt werden.
Und gerade die Uebertragungen der Wortbild¬
ungen aus Seele ins Griechische: Psychose,
Psychiater, Psychiatrie, psychiatrische
Klinik gehören zu den alltäglichsten und ge¬
bräuchlichsten in unsern Kreisen und darüber hinaus.
Aber bei se eien krank, Scelenkranken-
haus, Seele n Heilstätte, Seelenheil- und
pflegeheim, ferner gar Seelenarzt, würde sich
doch zu sehr das religiöse und moraltheologische
Element für unser Empfinden vordrängen, so dass
wir wohl auf eine allgemeine Einbürgerung dieser
Bildungen für die von uns gemeinten Begriffe nicht
zu hoffen hätten. An sich wären sie unbedingt zu
bevorzugen.
Auf Zusammensetzungen nicht deutschen Ur¬
sprungs , gerade auch solche mit Psyche, z. B.
„Krankenhaus für psychisch Kranke“ sollten wir, glaube
ich, für den allgemeinen Gebrauch vor dem Publikum
aus dem Gefühle nationaler Würde heraus
überhaupt verzichten. Um verstanden zu werden,
müssten die Ausdrücke ja doch erst ins Deutsche
übertragen werden.
Ein letzter Vorschlag, der an sich sehr annehm¬
bar erscheint, geht dahin, aus dem Holländischen
das Wort kranksinnig zu übernehmen. Er ist
meines Wissens übrigens zum ersten Mal von dem
Ulenauer Anstaltsgeistlichen Fink bereits im Jahre
1852, also schon vor mehr als 50 Jahren („Die
Heilanstalten von ihrer kirchlichen Seite“, S. 3),
gemacht worden. Die Bezeichnung erscheint theore¬
tisch wenigstens vielleicht soweit gerechtfertigt, als die
Berechtigung jdes Spruches: „Nihil est in $ntellectu,
quod non fuerit in sensu“ reicht, also hauptsächlich für
das Gebiet der Associationspsychologie, nicht aber für
das Gesammtgebiet der krankhaften Geistes- und
Nervenzustände. Trotzdem hätte der Ausdruck
immerhin seine Vorzüge. Man könnte ihn auch ira
Deutschen als im allgemeinen richtige Bezeichnung
gelten lassen und es fehlte ihm vorläufig bei
uns jeder verächtliche Beiklang. Ob er freilich
Aussicht hat, sich wirklich einzubürgern, ist noch sehr
die Frage. Insbesondere möchte ich dies bezüglich
der weiteren Bildungen und Zusammensetzungen be¬
zweifeln : Kranksinn für Irresein, Kranksinnigenarzt
für Irrenarzt, Kranksinnigenanstalt, -asyl, -heim, -heil-
stätte für die gleichen Bildungen mit „irre“.
Sehr wichtig ist mir hierzu die Bemerkung Ziehens
in einem Referat von K. Alts: „Die familiäre Ver¬
pflegung der Kranksinnigen“ (Deutsche Med. Wochen¬
schrift No. 34, 18. 8. 1904, S. 1252), wonach in
Holland der Bezeichnung „kranksinnig“ ganz dasselbe
Odium anhaftet wie bei uns den Bezeichnungen „irre“
etc. Ziehen gelangt dabei zu denselben Anschauungen
wie ich in vorliegendem Aufsatze. Ich freue mich
dieser Uebereinstimmung.
Ich glaube leichter ginge es noch mit den uns
sc hon gewohnten Ausdrücken und Verbindungen mit
„ge is t es k r ank“ und „gemü t hskra n k“, die ja das
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Original fram
HARVARD UNiVERSITY
I 9 ° 4 -]
PSYCHIATRISCH-N EUROLOGISCH E WOCH ENSCH RIFT.
283
Gleiche ausdrücken, also: Geisteskrankheit, Geistes¬
krankenasyl, -heim, -heilstätte, -anstalt, -arzt etc.,
ebenso: Gemüthskrankheit etc.
Trennungen der Ausdrücke („Asyl, Anstalt, Arzt
für Kranksinnige, Geisteskranke“) vermeide ich hier
absichtlich, weil es für den Sprachgebrauch und die
praktische Einführung, resp. Einführbarkeit doch auf
den einfachsten und präcisesten Ausdruck des Be¬
griffs ankommen muss.
Wir kommen damit zu dem Hauptpunkte unserer
Erörterung: Haben alle diese Vorschläge,
die an sich gut gemeint sind und von durchaus be¬
rechtigten Motiven ausgehen, auch Aussicht,
wirklich in unsern Wortschatz einver¬
leibt zu werden und erfolgreich die alten
Bezeichnungen mit irre zu verdrängen?
Wir glauben nicht.
Eine echte Begriffsbezeichnung muss deutsch
und möglichst kurz sein und das Wesen, den Kern
treffen, also prägnant sein.
Alle vorgeführten deutschen Bezeichnungen
sind aber zusammengesetzte Worte und sind darum
umständlicher, schwieriger im Gebrauche und vo r
allem länger als irr.
So lange wir aber keinen gleich kurzen, präg¬
nanten tind gut deutschen Ausdruck finden, wird es
meiner Ansicht nach schwer halten mit etwas an¬
derem durchzudringen.
Und die abträglichen Vorurtheile der Menge, die
sich mit den Begriffen Irre, Irrenanstalten, Irrenärzten
jetzt noch verbinden, werden sich auch an die an¬
dern Wortbildungen „geisteskrank, kranksinnig, hirn-
krank“ etc. heften, solange eben diese Vorurtheile
nicht der bessern Einsicht gewichen sind.
Gerade diesen Vorgang können wir ja bei der
Einbürgerung der Wortgruppe mit „Irre“ feststellen,
wo alles Verächtliche, was mit den Ausdrücken „Narr,
Narrenhaus“ etc. verknüpft war, einfach auf die neuen
Bezeichnungen übertragen würde. Sehr langsam findet
erst jetzt eine Abmilderung statt.
Nun sollen wir aber, wo wir uns mit Mühe erst von
den Bezeichnungen „Narr“ etc. freimachen, schon wieder
einen Wechsel des gemilderten „Irre“ etc. duichmachen!
Neue Bezeichnungen nützen nichts, wenn nicht erst
in der Sache eine höhere Kultur und Ethik ganz
allgemein eingesetzt hat.
Uebrigens haben das Wort irre und seine Zu¬
sammensetzungen und Ableitungen durchaus nicht
immer die verächtliche Beimischung gehabt und
haben sie auch heute nicht allgemein.
Man gestatte mir eine kleine ethymologische Ab¬
schweifung, allerdings nicht auf tiefgründigen eigenen
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Untersuchungen, sondern einfach im Verfolg der
Darlegungen des Grimm ’schen Deutschen
Wörterbuchs, dieses Standardwork unserer
Sprache, über diesen Punkt.
Darnach ist das Wort irre von jeher ein Lieb¬
lingswort der deutschen Dichter gewesen; in alter
und neuer Zeit sind eine Unzahl von Zusammen¬
setzungen aller Art von ihnen geschaffen worden.
Sie schwelgen förmlich darin, so besonders Goethe.
Auch in der juristischen Sprache war es sehr ge¬
bräuchlich und hat bestimmte begriffliche Formen
erfüllt; ebenso in der Bergwerkssprache. Verletzende
Beiklänge fehlen vollkommen.
Man verüble mir nicht einige Dichtercitate:
„Es irrt der Mensch, so lang er strebt.“
„Der nicht mehr liebt und nicht mehr irrt, der
lasse sich begraben.“ (Goethe.)
„Aus Einfalt irrt ein Kind, ein Weiser durch
Begierde.“ (Lobenstein.)
Schliesslich: „Irren ist menschlich“, eines unserer
gebräuchlichsten und wahrsten Sprichwörter.
Wenn wir dann den verschiedenerlei Bedeutungen
nachgehen, die das Wort „irre“ gehabt hat und noch
hat, so stossen wir auf folgende:
1. umherschweifend (vom Falken, der Gazelle)
oder ruhelos umhergehend. „Der irre Flug, der irre
Fuss, der irre Wanderer“.
Dass diese Auslegung auf viele Geisteskranke und
ihre Entäusserungen stimmt, bedarf wohl keiner Aus¬
einandersetzung.
2. Verirrt; vom richtigen Weg abweichend, z. B.
„irre werden“; daher dann: „irre gehen, irre führen“,
ebenso in übertragener Bedeutung: „der irre Geist“;
„irre leiten“.
Der Vergleich liegt gleichfalls nahe.
3. Im rechten schwankend, unschlüssig, rath-
los; ferner: „irre machen, irre sein, werden, z. B.
an Jemand, an Gott, an sich“.
Es braucht wohl kaum die Exemplifikation dieser
Begriffe auf die Zustände und Aeusserungen der
Melancholischen, auch vieler nervös-psychisch Er¬
schöpften, ferner der Paranoiazustände gemacht zu
werden.
4. irre = erzürnt.
5. nun folgt die Bedeutung von irre in unserem,
dem irrenärztlichen Sinne — geistig gestört. Es gilt
als milder Ausdruck für „wahnsinnig“, bedeutet aber
ursprünglich so viel als thörieht, närrisch,
dumm. Man verstand darunter insbesondere mehr
die ruhigen, harmlosen Geisteskranken zum Unter¬
schiede von den „Rasenden“ und „Tollen“, d. h.
Original from
HARVARD UNIVERSUM
284
den Unruhigen. Es hatte früher überhaupt keinen
schärferen oder gar verächtlichen Sinn, und so ist es
auch jetzt noch in vielfachen Verbindungen wie auch
in der Anwendung der Dichter, z. B. „etwas Irres
im Blick“; „irrer Ausdruck“; „irre reden“ = deliriren.
,,Gram und Verzweiflung sprach aus meinem
irren Munde.“ (Wieland.)
„Bist Du krank, dass Du irre sprichst.“ (Klinger.)
Versuchen wir festzustellen, seit wann überhaupt
die Bezeichnungen „irre“ und seine Zusammensetz¬
ungen, z. B. „Irrenhaus, Irrenanstalt“, sich in unsrem
Wortschätze für psychiatrische Begriffe finden, so be¬
dauere ich vorerst nur von einer geringen Ausbeute
sprechen zu können. Vielleicht fühlen sich andere
Collegen durch meinen Vorstoss zu eigenen Bestreb¬
ungen angeregt. Ich werde für jede Mittheilung
dankbar sein. Schon jetzt bin ich den Herren Pro¬
fessoren Dr. Kirchhoff-Schleswig, Kluge - Frei¬
[Nr. 30.
bürg und Gombert für ihre Unterstützung zu leb¬
haftem Dank verpflichtet.
Nach den bisherigen Eruirungen findet sich
nun das Wort irre zuerst in einem Reglement der
Stadt Berlin vom Jahre 1702: „Besondere Ordnung
für irre und dolle Leute“; darin steht auch der
sehr bemerkenswerthe Satz: „die etwas irre, aber
nicht rasend, werden in ein gut Zimmer gehalten
und gehen im Hause herum“ (citirt nach: Kirch-
hoff: „Grundriss der Geschichte der deutschen Irren¬
pflege“). Unter den „etwas Irren“, die sich dieser
humanen Behandlung erfreuen, sind offenbar ruhige,
harmlose Geisteskranke zu verstehen. Manche Spi¬
taler und Irrenlokale der Jetztzeit, die für den Aufent¬
halt Geisteskranker nur die Irrenzelle kennen,
dürften sich den Inhalt jener mehr als 200 Jahre
alten Verordnung, wenigstens in diesem Punkte, zu
Herzen nehmen. (Schluss folgt.)
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Die neuen Aufnahmehäuser der Landesirrenanstalt zu Neu-Ruppin.
Von Dr. G. Marthen.
jT\ie vierte Brandenburgische Landesirrenanstalt zu
Neu-Ruppin, welche im Mai 1897 eröffnet wurde,
füllte sich so schnell, dass bereits nach wenigen
Jahren die vorläufig vorgesehene Belegungsziffer von
1000 Kranken erreicht wurde.
Demgemäss musste sehr bald für die von vorn¬
herein geplante Erweiterung der Anstalt auf 1600
Plätze Sorge getragen werden.
Als es sich um den Ausbau der Frauenseite
handelte, erschien es rathsam, um den vorhandenen
verschiedenartigen Bedürfnissen zu entsprechen, von
der weiteren Errichtung grosser Häuser für 80—140
Kranke, welche den Grundstock der Anstalt bildeten,
abzugehen und für die besonderen Anforderungen be¬
sondere, wenn auch kleinere und deshalb vielleicht ver-
hältnissmässig theurere Krankenabtheilungen zu schaffen.
Vor allem handelte es sich um möglichst zweckmässige
Einrichtungen für die Behandlung der neu auf¬
genommenen Kranken, besonders der frischeren
Fälle. In Anbetracht einer zu erwartenden Auf¬
nahmeziffer von 200—300 Frauen im Jahr erschien
es angezeigt, besondere Aufnahrae-Abtheilungen für
ruhige wie unruhige Kranke zu schaffen.
Der Mittelpunkt einer Irrenaufnahme - Abtheilung
ist jetzt der Wachsaal. Die mannigfachen Be¬
dingungen, welche er in sich erfüllen muss bezüglich
Luft, Licht, Uebersichtlichkeit, Sauberkeit, Ruhe usw.
sind zu bekannt, als dass sie des genaueren zu er-
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örtern wären. Wichtig erscheint aber auch seine
Verbindung mit anderen Räumlichkeiten. Hier ist
zuerst der Baderaum zu nennen, welcher dem Wach¬
saal an Bedeutung für die psychiatrische Behandlung
am nächsten kommt. Für diese beiden muss ein
unmittelbarer Zusammenhang verlangt werden. Die
Einrichtung einer besonderen Badegelegenheit im
Aufnahme-Wachsaal selbst erscheint einerseits als ein
unzureichendes Aushilfsmittel, andererseits in einer so
grossen Anstalt, welche nebenbei noch 4 grosse
Doppelwachsäle für je 25 besonderer Pflege bedürftige
Frauen besitzt, nicht erforderlich. Ferner gehören
in die unmittelbare Nähe des Wachsaales ein oder
besser mehrere Zimmer für einzelne Kranke, seien
es solche, welche durch die Nachbarschaft anderer
Kranken und deren Krankheitsäusserungen ungünstig
beeinflusst werden, seien es solche, welche selbst
ihre Mitkranken allzusehr stören.
Weiterhin ist ein naher Zusammenhang mit dem
Wachsaal erwünscht für die Schlafsäle. Die Vorteile,
welche aus der Möglichkeit, alle Kranken der Auf¬
nahmeabtheilungen nachts zu überwachen, erwachsen,
überwiegen den Nachtheil, dass eine nächtliche
Störung mehr Personen beeinträchtige, meiner Meinung
nach bei weitem wenigstens für die besonderen
Verhältnisse Ruppin’s — mit der durch seine Grösse
bedingten Mannigfaltigkeit der Unterbringungsmöglich¬
keiten.
Original from
HARVARD UNIVERSITY
IQ04-]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Der zweite Mittelpunkt der Wachabtheilung ist
der Tagraum. Um ihn müssen sich gruppiren Spül¬
küche, Garderobe, Putzraum oder Besenkammer,
Waschzimmer und Abort. Ausserdem erscheinen
für ein Aufnahmehaus nothwendig ein Aufnahme-
und Besuchszimmer, ein ärztliches Untersuchungs¬
zimmer und eine Wohnung für einen Arzt oder eine
Oberin. Wünschenswerth ist endlich noch eine ge¬
deckte Veranda, welche unseren Kranken die Mög-
Aufnahmehaus für ruhige Frauen.
lichkeit des Aufenthaltes und der Bewegung an der
frischen Luft auch bei der in Norddeutschland nur
allzu häufigen ungünstigen Witterung gewährt.
1 CD CD
9 I QOO
¥ U
Grundriss zum Aufnahmehaus für ruhige Frauen.
I. Garderobe. 2. Aufnahme- und Besuchszimmer. 3. Treppe.
4. Spülküche. 5. Waschnische. 6. Besenkammer. 7. Abort.
8. Tagraum. 9. Untersuchungszimmer. 10. Wasch- und Bade¬
raum. II. Wachsaal (12 Betten). 12. Nebenwachsaal (10
Betten). 13. Schlafsaal (8 B.) 14, 15. Einzelzimmer.
Diesen sich uns aufdrängenden Forderungen ver¬
suchten wir nun in den abgebildeten Grundrissen
gerecht zu werden.
Das Aufnahmehaus für ruhige Kranke besteht
aus 2 Abtheilungen für je 30 Kranke. Wie aus dem
Grundrisse zu ersehen ist, ge/a/^ jjian vom Treppen -
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Google
flur aus zunächst in das Aufnahme- und Besuchs¬
zimmer, von diesem durch das ärztliche Unter¬
suchungszimmer in den Baderaum, wo jede Kranke
zunächst ein Bad erhält, um nun unmittelbar in den
Wachsaal geführt und zu Bett gelegt zu werden.
Das ärztliche Untersuchungszimmer ist ausgestattet
mit einem Instrumentenschrank, zahlreichen Beleuch¬
tungskörpern — einer davon befindet sich unmittel¬
bar über dem Untersuchungsbett —, Waschbecken
mit Kalt- und Warmwasserhahn u. a. m. Störungen
bei den genaueren ärztlichen Untersuchungen, welche
zumeist erst am nächsten Tage vorgenommen werden,
damit die Kranke sich inzwischen erst etwas in die
neue Umgebung einleben und sich beruhigen konnte,
— durch andere dazwischen kommende Neuauf¬
nahmen finden sehr selten statt, da unsere Kranken
zumeist mittelst der Eisenbahn zugeführt werden,
ihre Einlieferung also vorzugsweise in bestimmten
Tagesstunden stattfindet. Ebenso sind Störungen
zwischen dem Reinigungsbad der aufzunehmenden
Kranken und den Dauerbädern aus demselben
Grunde selten. Trotzdem muss natürlich zugegeben
werden, dass die Schaffung besonderer Räume für
diese verschiedenen Badezwecke vortheilhaft ist. Im
Rahmen unseres Planes Hess sie sich leider nicht er¬
möglichen.
Der Baderaum, welcher mit Mettlacher Fliessen
belegt ist, enthält 4 feststehende Badewannen aus
starkem, weiss emaillirtem Eisenblech
Sj — also eine Wanne für 8 Kranke.
^ U Einiger besonderen Worte bedarf die
Wasserzuführung. Die Zuführungsrohre
U steigen alle an einer Wand herab und
sind hier mittelst Schraubhähnen mit
■ Gummidichtung verschlossen. Diese Hähne
§j haben leider den Nachtheil einer gewissen
n U Eigenwilligkeit, sie werden gelegentlich
1 undicht, besonders der Heisswasserhahn.
I Wird ein Heisswasserhahn z. B. nicht ge-
nügend geschlossen, was oft grosser Kraft¬
anstrengung bedarf, sodass längere Zeit,
etwa über Nacht, heisses Wasser ausläuft, so
verliert der Dichtungsgummi seine Elastizität und
es ist überhaupt kaum noch ein vollkommener
Verschluss herbeizuführen. Aber auch bei frischem,
elastischem Dichtungsgummi kann jederzeit durch
Einkeilung eines kleinen Stückchens Kessel¬
stein eine Undichtigkeit des Hahnes herbeigeführt
werden.
Um die daraus sich ergebende Gefahr einer
Verbrühung der Kranken im Bade zu vermeiden,
sind die Zuführungsrohre nebeneinander weiter zum
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HARVARD UNIVERSUM
286
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 30
Fussende der Wannen hingeführt und zwar zunächst
unter dem Fussboden, steigen dann senkrecht empor
und vereinigen sich zu einem kurzen gemeinsamen
Ausflussrohr, welches sich über den Wannenrand
herüber krümmt. Es kann also jeder nachlaufende
Tropfen durch das Auge wahlgenommen werden.
Um nun nicht bei jeder Undichtigkeit eines Hahnes
die betreffende Wanne sofort ausser Betrieb setzen
zu müssen, ist in das Heisswasserrohr kurz vor dem
gemeinsamen Ausflussrohr noch ein sogenannter Ent¬
wässerungshahn eingeschaltet worden, welcher bei
seinem Schlüsse etwa nachdrängendes Heisswasser
zurückhält, andererseits dem Wasser im oberen, d. h.
distalen Rohrtheil durch eine besondere Bohrung Ab¬
fluss gestattet. Wird dieser Hahn nach Füllung der
Wanne geschlossen, so läuft also zunächst das im
gemeinsamen Ausflussrohre stehende Wasser rück¬
wärts durch das Entwässerungsröhrchen ab. Aber
auch das aus dem Kaltwasserrohr bei einer Hahn¬
undichtigkeit nachdrängende Wasser läuft, statt im
gemeinsamen Ausflussrohre über den Wannenrand zu
steigen, in das distale Stück des Heiss Wasserrohres
hinüber und durch das Entwässerungsröhrchen ab.
Ferner enthält der Baderaum unmittelbar über
den Heizkörpern der Niederdruck- Dam pfheizung
Halter füi die Badelaken. (Für ihre eigentliche Trock¬
nung ist ein Trockenapparat im Kellergeschoss be¬
stimmt.) Der Baderaum wird zugleich als Wasch¬
raum benutzt An zwei Wänden sind in Schiefer¬
platten die Waschbecken aus weiss emaillirtem Eisen
eingelassen. Gewiss stehen der Vereinigung von
Wasch- und Baderaum manche Bedenken entgegen.
Namentlich bei den Dauerbädern soll möglichste
Ruhe herrschen und es ist als unzweckmässig zu be¬
zeichnen, wenn häufiger andere Personen diesen Raum
betreten. Es lässt sich diese gegenseitige Störung
jedoch einmal bei entsprechender Einrichtung des
Betriebes erheblich einschränken. Des Morgens
während des allgemeinen Waschens werden fast nie
Dauerbäder gegeben. Ausserdem aber sind zur Be¬
nutzung über Tag noch 2 Waschbecken in einer
Nische des Tagraumes, wie weiter unten beschrieben
werden wird, vorhanden. Jedenfalls kann ich
sagen, dass in der Zeit, in welcher ich dieses
Haus unter mir hatte, sich erhebliche Unzuträglich¬
keiten aus dieser Vereinigung nicht ergeben haben.
(Schluss folgt.)
Mitthei lungcn.
— Polizeiliche Irrenpflege. Es handelt sich
um eine Maniaca, die aus einer Irrenanstalt nach
Hause entlassen worden war und über die der Ehe¬
mann an das Landrathsamt zu B. berichtete. Zum
Schlüsse schreibt der Ehemann:
Für richtig halte ich es, wenn ihr gelegentlich
Furcht eingeflösst wird, und würde ich es für sehr
gut halten, wenn ab und an der Gendarm X., vor
dem sie einen grossen Respekt hat, ihr ruhig, aber
energisch zuredete und sie von ihren thörichten Ideen
abbrächte. Am unruhigsten ist sie Morgens, und
würde dies die geeignetste Zeit sein.
Der Landrath verfügt daraufhin:
Herrn Gendarm X., um gelegentlich dem Schluss¬
sätze gemäss zu verfahren.
Der Gensdarm berichtet dann über die Erledigung
des Auftrages:
Auf vorstehenden Auftrag vom 21. d. Mts. bin
ich am heutigen Morgen zu der Ehefrau Y. gewesen,
um sie in aller Ruhe von ihren Ideen abzubringen,
konnte jedoch mit derselben nicht viel vernünftige
Reden führen, warum ich dieselbe kurz angehalten
habe, alle diejenigen Thaten, die nicht dahin gehörten,
zu unterlassen, da ich sonst wiederkommen würde.
So wie ich von den Leuten höre, soll die p. Y.
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eine grosse Angst für mich haben, und werde ich
daher abwarten, ob mein Auftreten der Y. gegenüber,
zum Nutzen oder zum Schaden sein wird, und werde
ich daher gelegentlich bei derselben wieder vorkehren.
— Wichtige gerichtliche Entscheidung.
München, den 26. Sept. Die Kaufmannstochter
Hess von Nürnberg musste im April 1900 wegen
Gemeingefährlichkeit auf Anordnung des Bezirksamtes
Königshofen in die Kreisirrenanstalt Wemeck aufge¬
nommen werden; die Hess war hochgradig hysterisch
und sexuell leicht erregbar. In der ersten Zeit, so
lange sie noch Anfälle hatte, war sie auf der Abtheil¬
ung isolirt untergebracht, als sich aber im Juni 1900
ihr Zustand bedeutend besserte, wurde sie entsprechend
ihren eigenen Wünschen und ihren Kenntnissen in
der Anstaltsküche und deren Nebenräumen beschäftigt
Sie unterstand dabei der Aufsicht des Küchenpersonals
und wurde morgens und abends vom Pflegepersonal
von der Anstalt zur Küche geführt bezw\ von dort
wieder abgeholt. Auch war das Personal angewiesen,
der Anstaltsleitung sofort Mittheilung zu machen, wenn
sich die Hess einmal längere Zeit aus der Küche
entfernen würde, z. B. um in den Park zu gehen; es
wurden auch thatsächlich mehrere solche Anzeigen
erstattet und die Hess wurde dann jedesmal für
einige Zeit wieder aus der Küche weggenommen und
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HARVARD UNIVERSUM
1904.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
287
auf der Abtheilung behalten. Trotz dieser Vorsichts-
massregeln suchte und fand die Hess aber während
der Zeit, in der sie in der Küche beschäftigt war,
Gelegenheit, sich dem Anstaltsheizer Smilinski zu
nähern und ihn zum geschlechtlichen Verkehr mit ihr
zu veranlassen. Das Kesselhaus, in dem Smilinski
arbeitete, war nämlich nur durch einen Gang von
der Küche bezw. von deren Nebenräumen ge¬
trennt, ferner war die Thüre zum Kesselhaus nicht
immer verschlossen, so dass die Hess das Kesselhaus
unbehindert betreten konnte. Das Küchenpersonal
bemerkte von diesen Exkursionen der Hess nichts,
da letztere immer jene Mittags- bezw. Abendstunden
wählte, in denen das Personal mit der Zubereitung
der Mahlzeiten vollauf beschäftigt war. Wie die
Untersuchung ergab, verhielt sich Smilinski gegen die
Annäherungsversuche der Hess anfänglich ablehnend,
später Iiess er sich aber wiederholt mit ihr ein und
die Folge war, dass die Hess nach ihrer Entlassung
aus der Irrenanstalt Mutter wurde. Smilinski wurde
inzwischen wegen Sittlichkeitsverbrechens nach § 176
Ziff. 2 R. St. G. B. (Missbrauch einer Geisteskranken)
vom Schwurgericht zu drei Jahren Gefängniss verurtheilt.
Nun will aber der Vater der Hess, Kaufmann Adolf
Hess in Nürnberg, den Fiskus für den Schaden
haftbar machen, der seiner Tochter durch das ver¬
brecherische Verhalten des Smilinski erwuchs, und
er beantragte zu diesem Zweck beim Verwaltungsge¬
richtshof, gegen den Direktor Dr. Kaufmann der
Kreisirrenanstalt Vorentscheidung nach Art 7 Abs. 2
des V. G. G. dahin zu treffen, dass sich Dr. Kauf¬
mann der Unterlassung einer ihm obliegenden Amts¬
handlung schuldig gemacht habe. Diese Unterlassung
erblickt Hess darin, dass es die Anstaltsleitung der
Irrenanstalt Wemeck an der nöthigen Verwahrung und
Beaufsichtigung seiner Tochter habe fehlen lassen
und auch nicht für strikte Durchführung des § 44
der Hausordnung der genannten Anstalt gesorgt habe,
inhaltlich dessen die Küchen- und Maschinenräume
nicht allgemein zugänglich sein dürfen, also die
Thüren immer geschlossen sein müssen; wäre diese
Vorschrift befolgt worden, so hätte nach Ansicht des
Hess der folgenschwere Verkehr zwischen seiner
Tochter und dem Smilinski nicht stattfinden können.
Direktor Dr. Kaufmann bestreitet entschieden, dass
er sich irgend eine Unterlassung habe zu schulden
kommen lassen, und auch die gutachtlich gehörte
Regierung von Unterfranken, sowie Obermedizinalrath
Dr. v. Grashey sprachen sich dahin aus, dass sich
Dr. Kaufmann der ihm zur Last gelegten Unter¬
lassung nicht schuldig gemacht habe. Ebenso ent¬
schied der Verwaltungsgerichtshof nach durchgeführter
Verhandlung unter Ueberbürdung der Kosten auf
den Antragsteller Hess, dass sich Direktor Dr. Kauf¬
mann bei Verwahrung und Beaufsichtigung der Hess
der Unterlassung einer ihm obliegenden Amtshand¬
lung im Sinne des Vorentscheidungsantrages nicht
schuldig gemacht hat In den Entscheidungsgründen
wird zunächst in formeller Hinsicht dargelegt, dass
Dr. Kaufmann als Direktor der Kreisirrenanstalt
Werneck die Eigenschaft eines Beamten im Sinne
des Art. 7 des V. G. G. besitzt und eine Thätigkeit
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ausübt, die als Ausübung derb hm an vertrauten öffent¬
lichen Gewalt erscheint Der Vorentscheidungsantrag
sei daher formell zulässig.^Was dagegen die mate¬
rielle Seite anlange, so habe die Würdigung des
Gutachtens des Obermedizinalrathes, sowie die Prüfung
der gesammten Sachlage dahin geführt, dass irgend ein
Verschulden des Anstaltsleiters nicht als gegeben er¬
achtet werden könne. Bei Aufnahme der Hess in
die Anstalt Wemeck sei die isolirte Unterbringung
dieser Kranken nothwendig gewesen und auch that-
sächlich erfolgt. Dagegen war es nach eingetretener
Besserung mit Rücksicht auf den Heilzweck durchaus
geboten und zulässig, die Hess ihrem Wunsch ent¬
sprechend in der Küche zu beschäftgen, und die
Ueberwachung durch das Küchenpersonal genügte
vollständig, da die Hess damals nicht mehr gefährlich
war. Ferner war seitens der Anstaltsleitung mit
Rücksicht auf die hohe sexuelle Erregbarkeit der
Hess Vorsorge getroffen, dass dieselbe nicht mit
männlichen Geisteskranken in Berührung kam, es
wurde ihr zu diesem Zweck auf den Weg von der
Abtheilung zur Küche und umgekehrt stets eine Wärte¬
rin beigegeben und ausserdem war das Küchenper¬
sonal angewiesen, länger dauernde Entfernungen der
Hess aus der Küche der Anstaltsleitung sofort anzu¬
zeigen was auch wiederholt geschah und stets die
zeitweilige Rück Versetzung der Hess in die Abtheilung
zur Folge hatte. Hinsichtlich der Ueberwachung der
Hess in der Küche fand sohin keinerlei Nachlässig¬
keit statt Dagegen bestand für die Anstaltsleitung
kein Grund die Nähe des Heizers Smilinski als für
die Hess gefährlich zu erachten. Smilinski war
seinerzeit als Heizer in der Anstalt Weineck ange¬
stellt worden auf Grund sehr guter Empfehlungen
seitens einer katholischen Lehrlingsanstalt in Tirol,
woselbst er seine Erziehung genossen hatte, und er
war bei seiner Anstellung ausdrücklich aufmerksam
gemacht worden, dass er sich den weiblichen Kranken
der Anstalt ja nicht das Geringste zu schulden
kommen lassen dürfe. Bei dieser Sachlage konnte
die Anstaltsleitung nicht annehmen, dass Smilinski ein
solches Verbrechen begehen werde. Wenn der An¬
tragsteller sagt, man hätte die Hess so intensiv be¬
aufsichtigen sollen, dass sie überhaupt mit keiner
Mannsperson in Berührung hätte kommen können,
so wäre dies in dieser Allgemeinheit gar nicht durch¬
führbar gewesen, schon mit Rücksicht auf die räum¬
lichen Verhältnisse: denn die Anstaltsküche befindet
sich in unmittelbarer Nähe des Kesselhauses, der
Heizer musste täglich 2 mal in der Küche selbst den
Dampf reguliren und hatte zu diesem Zweck den
Schlüssel zu der Verbindungsthüre in seinem Besitze,
so dass ein Verkehr zwischen Smilinski und der
Hess auch dann nicht hätte verhindert werden können,
wenn diese Thüre stets verschlossen gewesen wäre.
Uebrigens war die Bestimmung des § 44 der Haus¬
ordnung zunächst nicht zu dem Zwecke erlassen, die
Kranken vor den Anstaltsbediensteten zu schützen,
sondern vor einer Beschädigung infolge allenfallsiger
Annäherung an den Dampfkessel. Das bedauerliche
Vorkommniss mit der Hess war also nicht die Folge
eines pflichtwidrigen Verhaltens des Anstaltsleiters,
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HARVARD UN1VERSITY
288
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 3a
sondern eines Verbrechens, das nicht verhindert
werden konnte, weil es nicht vorauszusehen war.
(„Augsburger Abendzeitung“ 27. 9. 04.)
Referate.
— Freud. Zur Psychopathologie des Alltags¬
lebens. Berlin 1904, bei itarger. 3 Mk.
Verfasser unterzieht einige der im alltäglichen
Leben so häufig vorkommenden psychopathologischen
Vorgänge einer psychologischen Betrachtung und
sucht die inneren Vorgänge beim Vergessen von
Eigennamen und fremdsprachigen Worten, sowie ihren
Ersatz durch Denkerinnerungen, beim Versprechen,
Verlesen, Verschreiben, beim Vergessen von Ein¬
drücken und Vorsätzen, beim Vergreifen, beim Zu¬
standekommen von Symptom-, Zufallshandlungen und
Irrthümem zu zergliedern und die Handlungen selbst
zu motiviren. Er gelangt zu dem Resultate, dass
gewisse Unzulänglichkeiten unserer psychischen
Leistungen und gewisse absichtslos erscheinende Ver¬
richtungen sich, wenn man das Verfahren der psycho¬
analytischen Untersuchung auf sie anwendet, als wohl-
motivirt und durch dem Bewusstsein unbekannte
Motive determinirt erweisen. So ergiebt sich in
allen Fällen das Vergessen als begründet durch ein
Unlustmotiv. Der Anschein inkorrecter Funktion löst
sich durch die eigenthümliehe Interferenz zweier oder
mehrerer korrecter Leistungen. Der gemeinsame
Character der leichtesten wie der schwersten Fehl-,
Zufalls* und Symptomhandlungen liegt in der Rück-
führbarkeit der Phänomene auf unvollkommen unter¬
drücktes psychisches Material, das, vom Bewusstsein
abgedrängt, doch nicht jeder Fähigkeit, sich zu
äussem, beraubt worden ist.
Die Bedeutung dieser interessanten psychoana¬
lytischen Versuche über die psychopathologischen
Vorgänge, die noch in der physiologischen Breite
liegen, für die Erklärung der entsprechenden Vorgänge
bei ausgesprochenen Krankheiten ergiebt sich von
selbst; die Methoden fordern entschieden zur Nach¬
prüfung und Weiterbildung heraus. Allerdings darf
dabei nicht verschwiegen werden, dass, mag man eine
noch so grosse Selbstzucht und Ucbung im Analysiren
haben, man bei der Rekonstruction seiner Denkvor¬
gänge, besonders wenn sie zeitlich weiter zurückliegen,
und bei der Aufspürung verborgenen Gedanken-
materiais nur zu leicht Erinnerungsverfälschungen und
der Autosuggestion erliegt. Ich befürchte daher, dass
trotz der unbestrittenen Richtigkeit der Methode
manche Leser nicht immer dem Fluge der Deutung
des Verfassers folgen können und bei einzelnen
Erklärungsversuchen mit schwerem Herzen vermuten
werden, dass Verfasser sich „vergriffen 11 hat.
Mönkemöll er-Osnabrück.
— Ueber das von der Firma Tolhausen & Klein
in Frankfurt a. M. in den Handel gebrachte'Pflanzen -
eiweiss-Nährpräparat „Tutulin“ liegt folgendes Gut¬
achten des Professor Dr. Th. Petersen, chemisches
Laboratorium in Frankfurt a. M., vor: „Das fein¬
pulverige, gelblich-weisse, fast geruch- und geschmack¬
lose, homogene Präparat ergab die nachstehende
Zusammensetzung in Procenten:
Beim Trocknen zwischen 100 bis
t.10 0 C entweichendes Wasser . 7,63
Ei weisssubstanz. 86,88
Fett. 1,57
Asche, weiss, phosphorsäurereich . 0,70
Stickstofffreie Extractivstoffe, ein¬
schliesslich sehr wenig Faserstoff 3,22
100,00
In dem bei 100 — iio°C getrockneten Präparat
waren enthalten:
Eiweisssubstanz. 94,06
Fett. 1,69
Asche. 0,76
Stickstofffreie Extraetivsubstanz nebst
etwas Faserstoff. 3,49
100,00
Das vorliegende Präparat ist im wesentlichen Ei-
weisssubstanz (Protein) von sehr hohem Nährwerth.
Die geringe Menge von Neben bestandthei len
stammen aus dem zur Herstellung verwendeten
Weizenmehl.
»
Bemerkenswerth und günstig für die Beurtheilung
des „Tutulin's“ ist die geringe, kaum genau zu be¬
stimmende Menge von Faserstoff in dem Präparat.“
Ueber dasselbe Präparat aus der Agric.-chem.
Kontroll-Station Halle a. S.: „Nach Angaben der
Firma Althen & Mende, Stärkefabrik in Halle a. S.
wird deren neues Erzcugniss der Nahrungsmittel¬
industrie „Tutulin“ ohne irgendwelche chemische
Reagenticn hergestellt. Das an die Agric. - ehern.
Kontroll-Station Halle eingesandte grobgriesige „Tutu¬
lin“, welches in feiner Pulverform in den Handel
kommen soll, zeigt einen leicht gelblichen Schein und
ist fast gänzlich geruch- und geschmacklos. Nach
unseren Untersuchungs-Ergebnissen sind von dem in
dem „Tutulin“ sich vorfindenden 80,60% Rohprotein,
87,30% „wirkliches Eiweiss“, welches zu 99,55%,
also fast gänzlich, verdaulich ist; auf Trockensubstanz
umgerechnet sind von dem 05,35 % Rohprotein
92,50% wirkliches Eiweiss neben 2,45% leicht auf-
nehmbarcr Stickstoff verbind ungen in Amidform, ver¬
daulich. Die Verdaulichkeit selbst wurde auf künst¬
lichem Wege durch Magen- und Darmsaft bestimmt.
Ausser den erwähnten Eiweiss Verbindungen finden
sich in dem „Tutulin“ nur noch gewisse, im engsten
Zusammenhänge stehende Bestandtheile aus dem
Weizenmehle vor. Nach diesen Ergebnissen kommt
•dem „Tutulin“ ein ausserordentlich hoher Nährwerth
und eine vorzügliche Verdaulichkeit zu. I. A. Dr.
Naumann.“
Für «len redactiuuellen Theil verantwortlich J Oberarzt l)r. J. lirrslcr, J.ublinitr t'S« li efen).
Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseratonannahrne 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Heyneniann’sche Buchdruckerei (Gebr. Wo'fD je Halle a. S.
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Gck gle
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift.
Redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. B realer,
Lublinitz (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adresse: Marho Id Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834.
Nr. 31. 29 Oktober. 1904.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten.
Die Benennung der Krankenhäuser für Geisteskranke.
Von Oberarzt Dr. Max Fischer-^ lenau.
(Schluss.)
Allgemeiner findet sich der Ausdruck „Irrer“ und
die ihm angeschlossene Wortgruppe erst um die
Wende des 18. auf das 19. Jahrhundert. In Ade-
lung’s grossem „Wörterbuch der hochdeutschen
Mundart“ heisst „irre » des Verstandes beraubt,
in der höflichen Sprechart des gemeinen
Lebens“; von da an scheint es sich langsam ein¬
zubürgern und die früheren Ausdrücke: „Narren,
Tolle“ zu verdrängen. Durchgedrungen ist es ja,
wie die tägliche Erfahrung beweist, auch bis heute
noch nicht in alle Volkskreise. Nicht nur in hinter¬
wäldlerischen, nein, auch in den gebildetsten Kreisen
kann man „Narr“ noch vielfach für unsere Geistes¬
kranken als Bezeichnung hören. Reil, J. C., in seinen
„Rhapsodien“ (1803) sucht offenbar bewusst „Irrende“
für das verächtliche „Narr 4 * einzuführen. Man wollte
damit („irrende“ = errantes, im Zustande der „Ver¬
irrung“ befindliche) die Irren, die man seither mehr
als strafwürdig mit Zuchthäuslern einsperrte, ent¬
schuldigen, einer milderen Beurtheilung zu¬
führen.
Um dieselbe Zeit wurde auch: „Irrhaus“ (das
vorher mehr für Labyrinth gebraucht wurde) „Irren¬
haus, Irranstalt, Irrenanstalt“ eingeführt, während die
Insassen aber noch als „Wahnsinnige“ oder „Tolle“
bezeichnet werden. Daneben erhält sich allerdings
noch lange „Tollhaus“ und besonders „Närrenhaus“.
Reil scheint unter „Irrhaus“ mehr die Versorgungs¬
anstalt für Irre zu verstehen, zum Unterschied von
der Heilanstalt. Noch 1790 gilt Adelung „Irren¬
haus“ für Tollhaus als selten, „an einigen Orten
gebräuchlich“, während es 1811 als allgemeinüblich
bezeichnet werden kann. In der psychiatrischen
Litteratur ist „Irrenhaus“ seit 1773 aufzufinden ge¬
wesen. In Regierungskreisen und bei Sanitätscollegien
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ist „Irrenanstalt“ bereits im Jahre 1805 zu Recht
bestehend nachgewiesen, während es in der Litteratur
vor 1799 nicht gefunden wurde. Weiteres Nach¬
suchen wird vermuthlich diese vorläufigen Ergebnisse
noch ergänzen und ändern.
Die oben dargelegten fünf Bedeutungen von irre
kehren nun auch in den übrigen Ableitungen von
irr wieder, so in: die Irre als: Umherschweifen,
resp. als Zustand der Verzettelung, Zerstreuung, des
Abweichens vom rechten Wege, ferner =** Irrweg.
„Er zeigte mir, dass grübelnde Vernunft
Den Menschen ewig in der Irre leitet.“
(Schiller.)
Ferner = Zustand der V er wirrung, des Schwan¬
kens, der R a t h 1 o s i g k e i t, und schliesslich =
Irrsinn.
„Die Irre seines Geistes zeigte sich in seinem
starren Blick.* 4
Dann irren, in erster Reihe activ (transitiv)
= irre machen, vom rechten Weg abbringen, falsch
leiten.
„Leidenschaft wird euern Blick nicht irren. 1 *
(Schiller.)
ferner — täuschen in milderem Sinne,
dann = im vorwärts schreiten abhalten, hindern,
hemmen, „lass Dicli nicht irren“,
dann —- in Schaden bringen; schliesslich = ver¬
wirren, stören, beschwerlich, lästig sein, oder -- böse,
zornig machen, oder: etwas irrig, unrecht thun.
Aber auch = sich irren, sich irre mac hen lassen
oder: in Irrthum verfallen, sich täuschen,
„und irr’ ich mich an ihm, so irr’ ich gern.“
(Goethe.)
In zweiter Reihe intransitiv = irre sein, in
Original fram
HARVARD UNIVERSUM
2 90
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 3I .
allen früheren Bedeutungen von irre, also in der 5.
= geistig gestört sein,
„ich irre, rase schon.“ (Goethe.)
Man erlässt es mir wohl, die übrigen Ableitungen
und Zusammensetzungen, in welchen irr durchaus
jeden verächtlichen Charakters entbehrt, hier zu
wiederholen; es sei nur an „Irresein, Irrfahrt, Irr¬
garten, Irrglaube, Irrgeist“, ferner „irrig“ in seinen ver¬
schiedenen Bedeutungen (z. B. = in Irrthum be¬
fangen, rathlos, schwankend, schwer zu entscheiden,
zornig, böse), „Irrlicht, Irrsal („kein Ausweg aus dem
Irreal zeigt sich mir“, Goethe), Irrthum, Irrung, Irr¬
wahn („in des zähen Gemüths Irrwahn“, Platen),
Irrwisch, Irrziel“, erinnert. Irrsinn (daher „irrsinnig“)
gilt = gestörter Sinn, als milderer Ausdruck für
Wahnsinn, früher bedeutete es bloss „verwirrter“
oder „unrichtig denkender Sinn“.
„Irrthum und Irrsinn“ betitelt sich ein feinsinniger
Vortrag unseres unvergesslichen Jolly.
Wir glauben damit hinreichend erwiesen zu haben,
dass dem Ausdruck „irre“ und seinen Ableitungen
der unangenehme und verletzende Beiklang wieder
von Ursprung her noch auch heute nach seinen
verschiedenen Bedeutungen als etwas Wesentliches
zukommt.
Und auch der Anwendung des Begriffs auf die
geisteskranken Zustände wohnt dieser Sinn nicht als
etwas Ursprüngliches inne, sondern er ist ihm künst¬
lich beigemengt worden und zwar infolge der be¬
kannten hartnäckig festgehaltenen Vorurtheile.
Die Beseitigung dieser bringt naturgemäss auch
jene unglückselige Beigabe am sichersten in Wegfall.
Hier liegt der Kern der Sache und hier ist da¬
rum der Hebel anzusetzen. Hat die Aufklärung
jene falschen Auffassungen zerstört, gilt es erst ein¬
mal nicht mehr als Schande geisteskrank zu werden
oder zu sein, weder für den Leidenden selbst noch
für seine Familie, sieht man in dem Irren nur einen
kranken, mitleidsbedürftigen Nebenmenschen , in der
Irrenanstalt nur das Krankenhaus mit durchaus
humanen Behandlungsgrundsätzen und Einrichtungen,
so können die Begriffe irre etc. ruhig fortbestehen;
sie erhalten ganz von selbst die erstrebte mildere
und richtige Auffassung, und zwar ganz allgemein.
Dieser Weg ist der bessere, besser als ein Ausdem-
w ? eggehen, Nachgeben und Paktiren. Dadurch be¬
seitigt man vorgefasste Meinungen nicht. Man gehe
ihnen lieber herzhaft zu Leibe!
Dass es um jede geistige Erkrankung aber eine
sehr ernste Sache ist, bleibt bestehen und muss
auch vom Publikum mit der wachsenden Erken ntniss
nach jeder Hinsicht immer tiefer und ernster ge¬
würdigt werden.
Darum geht unsere Meinung, wenn wir das Ge¬
sagte zusammenfassen, dahin, dass wir diese Begriffe,
welche sich wegen des Vorzugs der Kürze und Präg¬
nanz aus der Sprache des Volks, der Gebildeten
und unserer Wissenschaft nicht so leicht werden
tilgen lassen, lieber, statt sie abschaffen zu wollen,
mit allen Kräften zu stützen und zu halten suchen
sollen.
Wir können sie beibehalten, weil der missliche
und unnatürliche Beiklang auf anderm Wege abgelegt
werden kann, nämlich durch eine offene Bekämpfung,
und wir müssen sie beibehalten, weil es gut
deutsche, unzusammengesetzte, einfache,
weil es die kürzesten und prägnantesten Bil¬
dungen für die Begriffe, die sie bezeichnen
sollen, sind. Sie kennzeichnen ausserdem den
Geisteskranken als Person, umfassen die krankhaft
veränderte Gesammtpereönlichkeit.
Und auch die Zustände leichter psychischer Ver¬
änderung und Erkrankung, der nervös-psychischen
Erschöpfung, der Neurasthenie, der leicht depressiven
Zustände könnten sich sehr wohl, ohne zu erröthen
und ohne zu erbleichen, in diesen Begriff einbeziehen
lassen, besondere wenn wir jene andern Bedeutungen
des Worts (1—4), welche wie geschaffen für die
Bezeichnung dieser Veränderungen erscheinen, hin¬
zunehmen.
Was im Speciellen die vielberufenen Bezeich¬
nungen Irrenanstalt und Irrenarzt betrifft, so
gilt für sie zunächst das im Generellen Gesagte.
Dass dem Begriff der Irrenanstalt weithin
die gehässige Unterlegung in besonders geschärftem
Maasse und so hartnäckig beiwohnt, wird ausser den
Vorurtheilen gegen Irre im Allgemeinen und was
damit zusammenhängt, vor allem auch darin be¬
gründet sein, dass erstens diese Anstalten in aller¬
dings längst vergangenen Zeiten diese harte Beur¬
teilung wirklich verdienten, weil in der That dort
keine humanen Zustände herrschten, sie gegentheils
vielfach Orte des Schreckens waren. Hier hat also
das Publikum die gewaltigen Fortschritte in der An¬
staltsfürsorge der Irren nicht mitgemacht, sondern
hält an den veralteten Anschauungen allzufest, was
bekanntlich durch verschiedenerlei Umstände er¬
leichtert wird.
Zweitens aber muss wohl dem allgemeinen
Empfinden besondere der Ausdruck Anstalt als
ungeeignet erscheinen, weil darin eben der Begriff
des Krankenhauses, der Heilbehandlung,
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Original fram
HARVARD UNiVERSITY
1904.
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
291
wie es zur richtigen Kennzeichnung eigentlich nöthig
wäre, nicht zum Ausdruck kommt.
Wir können und müssen es daher als eine gesunde
und berechtigte Bestrebung anerkennen, dass nach einem
besseren Ersatzausdruck gesucht wird. Der Begriff
„Anstalt“ ist so vielfach anwendbar und wird auch that-
sächlich auf Institute, die mit der Krankenpflege nichts zu
thun haben, häufig angewendet, so auch auf solche,
die sich nicht einmal mit Menschen, sondern mit
Thieren, oder aber abstrakten Dingen als Objekten
befassen. Ganz besonders ist er aber auch für Straf¬
anstalten, Gefangenen-, Verbrecheranstalten, womit
der Mensch mit Fug und Recht einen abstossenden,
unangenehmen Sinn verbindet, gebräuchlich. Darum
möchten wir ihn für unsere Krankenhäuser für Gei¬
steskranke lieber in Wegfall bringen lassen.
s
Höchstens in der Verbindung „Heilanstalt“ oder
„Pflegeanstalt“ ginge er noch an, also: Irrenheil¬
anstalt, Irrenpflegeanstalt, Irrenheil- und Pflege¬
anstalt.
Andere schon empfohlene und in Gebrauch ge¬
zogene Bildungen sind solche mit: Asyl, Heim, Stätte,
Heilstätte, Genesungshaus, Hospital.
Wir würden die Formen: Irrenheilstätte,
Ir renpf legestätte, Irrenheil- und Pflege¬
stätte in erster Linie in Vorschlag bringen, eventuell
Irrengenesungsheim, Irrenpflegeheim oder
noch kürzer Irrenheim für Irrenpflegestätte.
Auch die Nervösen, die hoffentlich recht bald
und allgemein das Aufnahmerecht in die Irren¬
anstalten erhalten, dürften sich mit diesen Bezeich¬
nungen abfinden können. Geht dies allzuschwer, so
müsste man eben an Combinationen wie: Nerven-
und Irrenheil - und Pflegestätte denken.
Ob allerdings einem dieser Vorschläge der Er¬
folg beschieden sein wird, bleibt in Frage. Akade¬
mische Erörterungen haben wenig Einfluss auf den
Gang der Verhältnisse. So wird es auch bei der
Benennung unserer Krankenhäuser sein. Wir können
nur hemmende Einflüsse bekämpfen, fördernde sach¬
liche Momente beiziehen. Von diesem Gesichts¬
punkte schien auch die vorliegende Auseinander¬
setzung berechtigt und gerechtfertigt. Das übrige
schafft die Zeit von sich.
So haben auch alle Vorurtheile zusammen nichts
dagegen vermocht, dass die Irrenanstalten in Wirk¬
lichkeit immer mehr benützt werden, ihre Plätze so
begehrt sind, dass beinahe jede Anstalt unter einem
Zuviel an Krankenandrang und unter Ueberfüllung,
oft beträchtlichen Grades, leidet. Und dies alles,
trotzdem die Zahl der Irrenanstalten gegen früher
Digitized by Google
rapid zugenommen hat, so dass auch jetzt noch Neu¬
erstellungen allenthalben geplant werden müssen.
So wird es auch mit der Vereinigung von Nerven¬
kranken mit Geisteskranken in denselben Anstalten
und zwar den Irrenanstalten ergehen.
Soviel steht aber für mich fest, dass wir Irren¬
ärzte selbst hier in der Sache fest bleiben und einig
gehen müssen. Die selbst von hervorragenden Psy¬
chiatern noch vor wenig Jahren an den Tag gelegte
Scheu, Nervenheilstätten oder -pavillons mit eigent¬
lichen Irrenanstalten zu verbinden, weil infolge der
Vorurtheile gegen Irrenanstalten der Zugang von
Patienten fehlen würde, halten wir für ein unange¬
brachtes Zurückweichen. Wie wollen wir denn sonst
in der Bekämpfung der Vorurtheile vorwärts kommen,
wenn wir selbst schwanken?
Beiderlei Zustände, psychische und nervöse, gehen
in einander über und können in denselben Anstalten,
wenn diese nur fachärztliche Behandlung, geeignete
bauliche Verhältnisse und zweckmässige Einrichtungen
bieten, neben einander gepflegt und behandelt werden.
Ist dies wahr, so müssen wir es durch die That be¬
weisen, dürfen uns nicht durch vorgefasste Mein¬
ungen und Schlagworte schrecken lassen. Jedenfalls
passen die meisten Nervösen ihrem Zustande nach
besser in die Irrenanstalt, resp. in geeignete, derselben
angegliederte Abtheilungen, als wirklich psychisch Er¬
krankte in die nicht psychiatrisch geleiteten
allgemeinen und Nervensanatorien.
In den Irrenkliniken besteht ja vielfach ohne¬
hin schon lange die Verbindung mit der Nerven-
klinik. In eigentlichen Privatirrenanstalten
finden sich neben den Irren auch zahlreiche Ner¬
vöse. Und in Wirklichkeit — allerdings meist nicht
officiell — beherbergt auch jede öffentliche Irren¬
anstalt eine ganze Reihe von schweren Nervenfällen,
psychisch Nervösen und Grenzfällen, aus dem
Zwang der Verhältnisse heraus, die auch
hier sich als die stärkeren erwiesen haben. Der
Modus wartet also nur noch auf die Bestätigung.
Hoffentlich kommt denn nun auch jede Irren¬
anstalt bald in den Besitz ihres Nervenpavil-
lons, erhält die Licenz zur freien Aufnahme
Nervöser und richtet sich auch eine Poliklinik
für Nervöse ein. Um den Zulauf braucht einem
nicht bange zu sein. Auszuschliessen dürften höch¬
stens die reinen Irrenpflegeanstalten sein.
Die Frage selbständiger Nervenheilstätten
ist eine Frage für sich, mehr eine solche der Zweck¬
mässigkeit im einzelnen Falle, keine Principienfrage.
Beide Institutionen werden sehr wohl nebeneinander
Platz finden und bestehen können.
Original from
HARVARD UN1VERSITY
202
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 31.
Schon die ausserordentliche Verschiedenartigkeit
und Verschiedengradigkeit der Krankheitszustände
wird hier eine Scheidung eintreten lassen und den
beiderlei Anstalten das entsprechende Material sichern,
d. h. den Irrenanstalten mehr die Formen der Psy¬
chisch-Nervösen.
Was zum Schlüsse unsem Titel Irrenarzt be¬
trifft, so habe ich ihn immer gern und mit Stolz
getragen, nie mich durch ihn beschwert gefühlt;
hoffentlich noch recht viele Collegen mit mir. Ich
möchte ihn auch gar nicht geändert haben.
Was er uns an Ungemach und Verkennung
unsrer Mühen und Bestrebungen seitens der blinden,
in Vorurtheilen befangenen oder auch böswilligen
Menge einbringt, müssen wir, im Bewusstsein unsre
Pflicht jederzeit zu thun, eben hinnehmen. Unsere
Kranken müssen unter diesen Zuständen leiden und
wir müssen es mit ihnen und für sie mitmachen.
Das Einzige was wir dagegen thun können, aber
auch mit nie erlahmender Energie des guten Zwecks
wegen thun sollen, ist, jeder Zeit den Kampf
immer wieder von neuem aufzunehmen gegen jene
finstern Mächte, keinen • Anhieb hingehen zu lassen
ohne kräftigeren Gegenhieb und vor allem
keinerlei Concessionen zu machen. Damit
allein, wenn jeder seinen Mann stellt, werden wir
schliesslich zum Siege gelangen. Wir verhehlen uns
allerdings nicht, dass darüber manche Decennien
verstreichen werden; sich in dieser Hinsicht Illusionen
hinzugeben, wäre das allerverkehrteste. Ebenso
unrecht aber wäre es am Erfolge zu verzweifeln.
w r eil die Fortschritte bisher nur langsame und mühe¬
volle waren.
Die neuen Aufnahmehäuser der Landesirrenanstalt zu Neu-Ruppin.
Von Dr. G. Marthen.
(Schluss.)
Weiter befinden sich im Baderaum noch je ein
Zapfhahn für Kalt- und Warmwasser mit ‘Ausguss¬
becken, welcher zur Entnahme von Wasser theils für
Wirthschaftszwecke (Aufwaschen am Morgen) theils
zum Nachfüllen der Dauerbäder dient. Ein Abdruck
sämtlicher Badevorschriften auf wasserdichtem Perga-
moidpapier hängt in diesem, wie in jedem anderen
Baderaum der Anstalt aus.
Der 12 Krankenbetten enthaltende Wachsaal ist
80 qm gross, sein Luftcubus fasst 320 cbm. Die
Fenster sind ohne Gitter, dreitheilig, die Seitenflügel
um ihre Mittelaxe drehbar. Ihr Glas ist von ge¬
wöhnlicher Stärke (in den Einzelzimmern 10 mm
stark). Die Fenster schliessen bindig mit der Wand
ab. Fenstervorhänge fehlen aus sanitären Gründen
in den Betträumen, was jedoch kaum auffällt, infolge
des gleichmässig weissen Anstrichs der Fenster und
der oberen Wandhälfte. Der Lichtschutz wird ge¬
währt durch zieh- und ausstellbare Brettchen-Jalousien.
Die Beleuchtung geschieht durch Gasglühlicht in
Wandlatemen mit dickem Glas. Zur Nacht werden
kleine grüne Vorhänge, soweit nöthig, vorgezogen.
Ein herunterklappbarer Reflektor von polirtem Blech
koncentrirt dann weiter das Licht auf die nächste
Umgebung der Laterne, damit dort dem Wachper¬
sonal event. eine einwandfreie Beschäftigung sich er-
□ igitized by Google
mögliche. Als Sitzgelegenheit dient dem Personal
ein einfacher Würfel aus fester Rosshaarpolsterung mit
gefirnisstem Scgeltuchbezuge. Endlich befinden sich
anstelle beweglicher Nachtstühle in diesem Saale 2
freistehende Spülclosets mit Steingutbecken. Die
Spülung wird in Gang gesetzt durch einen in der
Wand befindlichen Druckknopf. Bewegliche, leichte
etw r a 1 V2 m hohe Schirme entziehen ihre Benutz¬
ung, soweit angängig, den Blicken.
Mit diesem Wachsaal ist ein Nebenwachsaal ver¬
bunden mit 9 Kranken- und einem Wärterinbett und
70 qm Grundfläche. Die Verbindung wird hergestellt
durch eine Doppelschiebethür von 2 m Breite.
Jeder Flügel ist offen oder geschlossen durch ein
in der Thürfüllung gelegenes Schloss feststellbar.
Hinter diesem Nebenwachsaal liegt dann noch ein
Schlafsaal für 9 Kranke und 2 bis 3 Wärterinnen.
Für diese beiden Säle steht ein Spülcloset im Neben¬
wachsaal zur Verfügung.
Neben dem Wachsaal liegen ferner 2 Einzel¬
zimmer von solcher Geräumigkeit (22 qm Fläche,
89 Cubus), dass sie nöthigenfalls auch 2 bis 3 Kranken
zur Unterkunft dienen können. Zur besseren Ueber-
wachung besteht ihre Thür in ihrer oberen Hälfte
aus 10 mm starkem Glase. Die Schallisolirung durch
dieselbe ist eine vortreffliche, wie bei zeitweiliger
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
1 . 904 -]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
293
im Aufnahmezimmer, wenn sie nicht das in einem
andern Hause belegene Wärterinnenheira benutzen.
Die Eintheilung des ersten Stockes entspricht der
Hauptsache nach der des Erdgeschosses. Nur be¬
findet sich hier statt Aufnahmezimmer und Garde¬
robe eine Wohnung wen zwei Zimmern für einen
Arzt oder Oberin. Als Garderobe dient nebenbei
Unterbringung recht unruhiger Elemente in ihnen
festgestellt werden konnte. Ihre Beleuchtung em¬
pfangen sie durch ein Glühlicht in einer Nische über
der Thür.
Besondere Erwähnung mag noch eine Einrichtung
des Wachsaales finden: ein Wandschrank mit Thüren
auf jeder Mauerseite, welcher zum schnellen Wegstellen
der nothwendigsten Reinigungsgeräthe (Schrubber,
Eimer, Kehrichtschaufel) dient, damit diese nie den
Kranken in die Hand gerathen können.
Mit dem Wachsaal steht wiederum in un¬
mittelbarer Verbindung der Tagraum. In Anbetracht
der ausgedehnt anzuwendenden Bettruhe bei den
frisch aufgenommenen Kranken erscheint sein Inhalt
von 80 qm ausreichend. Ein mannshohes Oelpaneel
von blassgrüner Farbe mit einer Bordüre von
Kastanienblättern giebt ihm ein freundliches Aussehen,
welches belebt wird durch rothe Farbe der Möbel und
der übrigen Holztheile. Die Beleuchtung besteht aus
3 Glühlampen mit Dauerbrennern — eine grosse
Annehmlichkeit für die nächtlichen Revisionen des
Arztes. Eine Lampe davon ist tief herunterziehbar,
ein Vorzug wieder für abendliche Beschäftigung,
während Unzuträglichkeiten sich kaum gezeigt haben.
Die zweitheiligen Fenster haben Ueber - und Zug¬
gardinen, Eine Glasthür führt hinaus auf die 21,6 ra
lange, 2,3 m breite Veranda, welche den Kranken
nicht nur Bewegung, sondern auch Bettbehandlung in
frischer Luft ermöglicht. Zu diesem Zwecke führt
eine andere Glasthür in den Neben wachsaal.
Die Hausecke neben dem Tagraum
ist eingenommen von Spülküche, Abort
und Besenkammer. Um
Aufnahmehaus für unruhige'Frauen.
das Untersuchungszimmer, welches als solches hier
weniger benutzt wird ; zu diesem Zwecke sind mehrere
Schränke noch aufgestellt worden. In den Unter¬
suchungsbetten schlafen übrigens — natürlich unter
Benutzung anderer Bettwäsche — nachts die Ab¬
theilungswärterinnen.
den Abort y ' | 3
unmittelbar vom Tagesraum aus zu-
gängig zu machen, tritt die Thür der Spül- j» ^ fl 3*
küche zurück und es bildet sich so eine IT T
Nische. Der der Abortthür gegenüber- tl t ^
liegende tote Winkel ist ausgefüllt durch
ein Doppelwaschbecken, dessen bereits U_ y ^
Erwähnung gethan wurde. Es bietet ^&
ausserdem den Kranken Gelegenheit, m
sich selbst jeder Zeit frisches Trinkwasser
zu entnehmen. Auch im Abort finden wir wieder Spiil-
closets. Durch den Abort ist die Besenkammer zugängig.
Die Spülküche hat Glasthür, Spülbecken mit Kalt- und
Warm Wasserleitung, Wandschrank mit Heizschlange zum
Warmhalten der Speisen und enthält den Fernsprecher
des Hauses. Die Garderobe befindet sich hinter dem
Aufnahmezimn3e r
Von eine/q besonderen Wärterinnenzimmer in
diesem Hause r tihig e Kranke wurde Abstand ge¬
nommen. Dl - e Wärterinnen sitzen gelegentlich kellern, endlich im
Grundriss zum Aufnahmehaus für unruhige Frauen.
1. Zimmer für Wärterinnen. 2. Aufnahme- und Besuchszimmer.
3 a Vorflur. 4. Treppe. 5. Spülküche. 6. Waschnische. 7. Klei¬
derablage. 8. Abort und Besenkammer. 9. Tagraum. 10 Schlaf¬
zimmer der Wärterinnen. 11. Zimmer für 3 Kr. 12. Neben¬
wachsaal (8 Betten). 13. Wachsaal (14 Betten). 14, 15, 16.
Einzelzimmer. 17. Zellenflur. 18. Wasch- und Baderaum.
19. Schlafsaal (5 Betten).
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
* 94
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 31.
kammem noch 4 zweifenstrige Dachzimmer für ge¬
legentliche Benutzung.
Das Aufnahmehaus für unruhige Kranke ist nach
einem anderen Typ gebaut. Es ist verhältnissmässig
selten, dass Aufnahmen unmittelbar hier hineinkommen.
Erfreulich oft sehen wir es ja, dass Kranke, die sich
vorher in grosser Erregung befanden, sowie sie in
unsere Pflege gelangen, sich sofort erheblich beru¬
higen. Wenn irgend möglich, wird deshalb zunächst
die Aufnahme in das ruhige Haus versucht. Aus
diesem Grunde konnte auf die unmittelbare Ver¬
bindung „Aufnahmezimmer-Bad-Wachsaal“, verzichtet
werden. Es findet sich zwar auch hier zunächst ein
Aufnahmezimmer, welches von der Treppe durch einen
kleinen Vorflur zugänglich ist, aber es dient mehr als Be¬
suchszimmer. Dahinter liegt ein Zimmer fürWärterinnen,
namentlich für erkrankte, während sich daneben ein
Zimmer für ärztliche Untersuchungen befindet.
Von dem Vorflur wie dem Treppenflur gelangt man
in einen Tagesraum, welcher durch die ganze Breite
des Hauses durchgeht. Auch hier ist ja mit einer
grossen Zahl Bettlägeriger zu rechnen; der unruhigen
Art der Kranken wegen ist er jedoch mit 105 qm
erheblich grösser, als der Tagraum des ruhigen Hauses.
Auf der anderen Seite der Treppe findet sich auch
hier die Spülküche mit einer Vomische, um den
Zughng zum Abort freizulassen. Hier ist jedoch bei
den etwas grösseren Raumverhältnissen des ganzen
Eckbaues hinter den Abort noch das Garderoben¬
zimmer gelegt worden, welches seinen Zugang von
der Spülküche aus hat. Als Besenkammer dient
dagegen ein Verschlag im Abortraum. Die der
Abortthür gegenüberliegende Nische enthält auch hier
eine zweifache Waschgelegenheit.
Aus dem Tagraum gelangt man weiterhin in einen
etwa die Hälfte der Tiefe des Hauses einnehmenden
(Neben-) Wachsaal für 8 Kranke. Die andere Hälfte ist
nochmals getheilt Hier findet sich zunächst ein Schlaf¬
zimmer für 3 Wärterinnen. Dieses Zimmer hat, damit
abends vom Ausgang heimkehrende Wärterinnen die
Ruhe des Wachsaales nicht stören, noch einen besonderen
Zugang vom Tagraum. Daneben befindet sich noch
ein Zimmer für 3 Kranke. Aus dem Neben wachsaal
führt eine Doppelflügelthür in den Hauptwachsaal,
welcher bei 105 qm Fläche 14 Krankenbetten enthält.
An ihn schliesst sich ein unmittelbar zugängliches
Einzelzimmer. Zwei weitere, für besonders laute
Kranke bestimmte Einzelzimmer haben einen kleinen,
als Schallfänger dienenden Vorflur. Neben diesem be¬
findet sich der Wasch- und Baderaum mit 3 Badewannen
und der nöthigen Anzahl Waschbecken. Die letzte
Hausecke endlich nimmt ein Schlafsaal für 5 Betten
Digitized by Google
ein. Für diese Wachsäle sind Doppel wachen bestimmt,
während alle anderen Wärterinnen in dem oben er¬
wähnten Zimmer schlafen, bessere Ruhe dort findend,
doch für den Fall der Noth leicht erreichbar.
Entsprechend der Art der hier zu behandelnden
Kranken sind die Fenster durchweg mit starkem
(10 mm) Glase versehen. Durch Dreitheilung und
Drehbarkeit der Seitenflügel wurde dagegen eine eigent¬
liche Vergitterung selbst hier entbehrlich gemacht.
Auch die Einzelzimmer sind möglichst fest construirt
Sie haben das Paetz’sche Fenster. Auf eine Ve¬
randa ist in diesem Hause verzichtet worden in An¬
betracht des Umstandes, dass den unruhigen Kranken
doch wohl nur zum geringen Bruchtheil ihre Be¬
nutzung würde gestattet werden können.
Im übrigen ist die Einrichtung der Abtheilungen
wie im anderen Hause, namentlich auch inbezug auf
feststehende Spülclosetts in den Wachsälen. Auch hier
ist ira ersten Stock eine Wohnung für einen Arzt oder
Oberin. Im Dachgeschoss befinden sich Schlaf- und Wohn-
räume für sämmtliche Nachtwachen der Frauenseite.
Fast von Eröffnung der Anstalt an wurde das System
der ständigen Nachtwachen eingeführt, stets beibe¬
halten und erweitert Aus dieser Thatsache ergiebt sich
ohne weiteres unser Urtheil über seinen Werth. Nur
die zweite Person der Doppelnachtwachen wird als
Wechselwache von dem Personal des Tagesdienstes
gestellt und zwar mit halbnächtiger Ablösung. Bereits
bei meinem Abgänge am 1. April v. Js. bestanden bei
einer Zahl von 640 Kranken (Frauen) 10 ständige
Nachtwachen, welche ihre Thätigkeit auf 240 bis
250 Kranke erstreckten.
Zur Beurtheilung dieser beiden Neubauten der
Ruppiner Anstalt dürfte endlich der Kostenpunkt
heranzuziehen sein. Die ausserordentliche Höhe der
Anforderungen, welche für die Provinz Branden¬
burg der nicht genug anzuerkennende Giundsatz ihrer
Verwaltung, sämmtliche Geisteskranke, Epileptische
und Idioten in eigenen, ärztlich geleiteten Anstalten
zu verpflegen, mit sich bringt, rechtfertigt und fordert
andererseits möglichste Sparsamkeit. Wenn mir
auch der Rechnungsabschluss für die Neubauten
nicht zur Verfügung steht, so ist doch nach mir ge¬
wordenen Mittheilungen anzunehmen, dass der Kosten¬
punkt des einzelnen Krankenbettes in ihnen mitsammt
der inneren Ausstattung 3000 M. nicht übersteigt.
Zum Schluss ist es mir eine angenehme Pflicht,
Herrn Director Dr. Sei 1 e für die mir gestattete Mitarbeit
bei dem Entwürfe dieser Häuser ifnd die Erlaubniss,
sie zu beschreiben, sowie dem Herrn Landesbaurath
Professor Göcke für die Ueberlassung der Pläne zu
danken.
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
I 9°4-]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
*95
M i t t h e i
— Die 74. ordentliche Generalversammlung
des Psychiatrischen Vereins der Rheinprovinz
findet am Samstag, den 12. November, Nachmittags
1 V2 Uhr in Bonn im Hotel Kley statt. Tages¬
ordnung: Geschäftliche Mittheilungen; Aufnahme
neuer Mitglieder. Vorträge: a) Foerster-Bonn, Psy¬
chiatrische Streifzüge durch Paris. b) Thomsen-
Bonn, Klinisches über Zwangsvorstellungen, c) Rumpf-
Bonn, Ueber Arteriosklerose, d) Steiner-Cöln, Ueber
eine Neubildung im oberen Halsmark.
— Die höchst beklagenswerthen Zustände
der Irrenfürsorge in Belgien schildert Dr. Lentz,
der Nestor und zugleich der erfahrenste unter den belgi¬
schen Irrenärzten, Inspecteur adjoint des asiles
d’alienes de Belgique, gelegentlich eines im Laufe
dieses Jahres in der Academie royale de medecine
zu Brüssel gehaltenen Vortrages über Volksheilstätten
für arme Tuberkulöse und über die private Initiative
bei der Gründung solcher. Zur Darlegung der
Schattenseiten der Privatwohlthätigkeitsinstitute führt
er die belgischen Irrenanstalten als Beispiel an und
schreibt*):
II existe en Belgique un Service tres important
qui a ete completement abandonne k l’initiative
privüe**): c’est celui de l’hospitalisation des alienes; je
dis completement, car sur les cinquante etablissements,
si Ton en excepte le depot de l’höpital Saint-Jean,
il n’y en a pas un, meme ceux de l’Etat, qui soit
exclusivement gere par les pouvoirs publics. L’ini¬
tiative privee a donc ete lä maitresse absolue; eile a
meme ete stimulee par les inspections de l’Etat. Eh
bien, voyons ce que vaut le Service ainsi remis ä
Pinitiative privee, surtout au point de vue medical,
car c’est en definitive celui-ci qui en constitue la
caracteristique et qui donne sa valeur a l’ensemble
de Porganisme; voyons si l’organisation medicale de
nos asiles repond reellement aux exigences de la
Science moderne et aux progres qu’elle a realises
ailleurs.
Et tout d’abord je ne parlerai pas de l’appreci-
ation peu flatteuse qu’en ont emise les medecins alle-
mands, hollandais et fran9ais qui ont pris part au
Congres de Passistance des alienes a Anvers; je ne
parlerai pas des considerations encore moins flatteuses
qui ont paru dans certain joumal etranger, et qui
sont loin d’etre k Peloge de notre medecine mentale
et de nos medecins alienistes: je ne desire citer que
des faits dont la realite et la valeur ne puissent etre
contestes.
Le premier de ces faits est relatif au nombre des
medecins attaches ä nos differents asiles. Alors que
dans la plupart des pays, PAllemagne, PAngleterre,
la Hollande surtout, les etablissements comportant
une population de 500 k 1,000 malades possedent
*) Um dem Eindruck seiner Schilderung nicht durch die
Uebersetzung Abbruch zu thun, geben wir hier den Urtext
wieder.
**) nämlich den kirchlichen Genossenschaften.
Digitized by Google
1 u n g e n.
tous de cinq a dix medecins, tous alienistes, tous
residant ä l’asile et s’occupant exclusivement de son
Service, ces memes asiles, avec une population ä peu
pres identique, ont, en Belgique, un seul medecin,
non resident et la plupart du temps livre ä une sur-
menante clientele privee; il y a meme teile localite
oü deux grands asiles n’ont qu’un seul specialiste.
Que peut faire un seul medecin, — j’omets le mede¬
cin adjoint, qui n’est pas alieniste, ne s’occupe pas
de la specialite et ne traite que quelques malades
incidents, — quel bien peut faire un seul medecin
ayant Charge de 500 k 900 alienes ? Que peut valoir
un Service ainsi reduit? Aussi, voyez les resultats;
trois grands progres ont caracterise ces demieres
trente annees de Pevolution psychiatrique: le nores-
traint, le traitement par Paütement avec bains pro-
longes et Pextension du Systeme familial. L’Allemagne,
la Hollande, l’Angleterre, la France meme, souvent
si retive aux innovations etrangeres, ont toutes rivalise
de zele dans Papplication de ces principes de traite¬
ment aux malades de leurs asiles. La Belgique seule
est restee inerte et, je dirai plus, eile s’est montree
retive: des alienistes beiges ont fait une Opposition
sourde aux progres des pays voisins.
Depuis de longues annees, PAngleterre, PAlle¬
magne et la Hollande ne connaissent plus une en-
trave: il y a ä peine une annee qu’en Belgique un
seul asile a introduit le no-restraint, et encore dans
des conditions materielles qui semblent laisser ä
desirer; partout ailleurs, le restraint reste en pleine
vigueur.
Depuis de longues annees, le traitement par
Palitement avec bains prolonges est devenu general
en Allemagne, en Angleterre et en Hollande, et a
donne dans ces differentes contrees les meilleurs
resultats, tout en susritant les plus grands eloges. Pas
un medecin beige n’a encore eu la volonte, le courage
ou meme le pouvoir de Pintroduire dans son asile;
ou plutot, je me trompe, un seul confrere a eu cette
audace, et, ä considerer Popposition qu’a suscitee, les
difficultes qu’a rencontrees sa tentative, on se de-
mande comment il a eu Penergie necessaire pour
persister dans la voie oü il s’est engage et oü encore
il n’avait fait que quelques essais bien timides et
bien anodins.
Enfin, Pextension et le developpement du Systeme
familial forment le demier faisceau de cet ensemble
de progres realises par la psychiatrie moderne dans
le traitement de la folie. Si un pays devait tenir a
honneur de defendre le Systeme, c’est certes la
Belgique, eile qui a vu naitre la colonie de Gheel,
oü Paliene vivait deja en liberte alors que partout
ailleurs l’asile lui-meme n’existait pas encore et que
la prison etait le seul refuge de la folie! Eh bien!
chose triste k dire, il a fallu que des etrangers vinssent
chez nous, dans la patrie meme de Gheel, prendre
la defense du patronage familial, alors que nos propres
alienistes n’ont eu pour le Systeme que de l’indiffe-
Original frnm
HARVARD UNIVERSUM
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 31.
■2Q 6
rence, des critiques, voire meine du bläme. Et ce
spectacle triste et navrant, ce sunt les medecins de
l’initiative privee qui, avec une .penible unanimite,
l’ont donne aux etrangers stupefaits. Alors que ceux
ci n’avaient pour notre Organisation familiale que de
l’admiration et des eloges, il a fallu que nos mede¬
cins vinssent en amoindrir la valeur et en contester
les avantages. Jamais l’initiative privee ne m’a paru
plus insuffisante; plus partiale et plus mesquine. II
faut lire les comptes rendus du Congres de l’assis-
tance des alienes tenu ä Anvers en 1901 pour se
rendre compte de l’esprit etroit qui domine la Science
mentale beige et de la sourde hostilite qu’y a ren-
contree le Systeme familial beige. Et cela, c’est
l’ceuvre de 1 ’initiative privee! Je n’oserais vous donner
moi-meme l’explication de ce fait, certes etrange,
d’une des plus belles conquetes de la psychiätrie
pratique discreditee, presque vilipendee dans le propre
pays qui l’a vue naitre, se developper, prosperer, et
d’oü eile a servi de modele aux autres nations; je
me permettrai cependant de vous rappeier ici les
paroles d’un des assistants au Congres qui, avec une
franchise tout a fait scientifique, quoique bien tudes-
que et peut-etre trop brutale, a ecrit les lignes qui
suivent: „II est donc evident que les communautes
clericales s’aehament de toutes leurs forces contre le
Systeme familial, car l’extension de celui-ci ne peut
que leur faire perdre une partie de leurs malades et
_en tout cas diminuer les entrees dans leurs asiles —
et ainsi le Capital engage sera beaucoup moins remu-
nere. En consequence, le pere A... et Tun de ses
medecins en chef ont fait une violente Opposition au
Systeme familial en general, et en particulier a son
extension a un plus grand nombre de malades.“
Voilä ce que vaut l’initiative privee dans les
questions d’organisation hospitaliere du Service des
alienes; je ne crois pas exagerer en affirmant que, en
ce qui conceme la valeur du traitement medical pro-
prement dit, eile a en grande partie fait faillite.
Partisan fanatique de liberte et d mdividualisrae,
c’est ä regret que j’emets cette opinion; venant d’un
adversaire de l’interventionnisme, eile n’en acquiert
que plus d’importance.
Dans un discours prononce dans cette enceinte en
1899, a propos de l’assistance des epileptiques, j’avais
encore conserve mes illusions : l’experience est mal¬
heureusement venue depuis lors les dissiper une a
une.
Ainsi, dans le domaine si abandonne de l’hospi-
talisation des epileptiques, qu’a produit l’initiative
privee? Rien ou preque rien, car le petit asile pour
enfants epileptiques qui s’est fonde durant un laps de
plus de dix annees, n’est lä que pour attester son
lamentable echec; et en plus, ^Organisation medicale
de cet etablissement n’est certes pas a la hauteur de
celle des instituts similaires des pays voisins.
Je puis donc conclure que si, dans le Service des
alienes, l’initiative privee a peut-etre foumi la quantite,
die n’a certes pas foumi la qualite; l’organisation
medicale et scientifique des asiles beiges est de beau¬
coup inferieure a celle des asiles allemands, anglais,
hollandais et meme fran^ais. Et nous ne sommes
malheureusement pas seuls de cet avis : un des pro-
cureurs du Roi qui ont le plus consciencieusement
rempli leur mission d’inspection et de surveillance
abonde dans notre sens: „Je croirais manquer a tous
mes devoirs, ecrit-il, si je m’abstenais d’ajouter que
j’ai la conviction la plus absolue que les alienes inter¬
nes dans la majeure partie des asiles s’y trouvent
dans les conditions les plus deplorables au point de
vue de leur traitement medical. Ce Service, tel qu’il
est actuellement organise, est totalement insuffisant
pour ne pas dire completement nul. L’unique medecin
— et l’adjoint n’est qu’un praticien de fa^ade —
auquel est confie le sort de centaines d’alienes, ne
peut suffire a sa täche d’autant moins que la clientele
civile absorbe la plus grande partie de sa journee et
qu’il ne consacre ä celle de Pasile que le surplus, c’est-
a-dire ä peine deux heures par jour: aussi se borne-
t-il ä prodiguer ses soins aux maladies incidentes des
pensionnaires, sans se preoccuper de l’aflfection dont
ils peuvent etre atteints et moins encore du regime
moral dont l’importance dans les asiles d’alienes est
cependant tres considerable.“ Et M. le procureur du
Roi termine en disant: „Ce n’est pas la premiere
fois que je Signale cette Situation qui constitue un
veritable scandale, mais toujours avec le raeme insuc-
ces.“ Or, comme la perfection du Service medical
doit etre le but principal de l’oeuvre sanatoriale, j’ai
donc le droit d’affirmer que l’initiative piivee est inca-
pable de l’assurer dans les conditions requises par la
science.
Personalnachrichten.
— Halle a. S. Dr. med. Gustav Aschaffen-
burg, leitender Arzt der Abteilung für geisteskranke
Verbrecher am Strafgefängniss, erhielt einen Ruf als
ord. Mitglied und Prof, für Psychiatrie an die Aka¬
demie für prakt. Medizinin Köln und als ärztl. Direktor
der Krankenanstalt in Lindenburg.
PERHYDROL.
Um der mehrfach constatirten Thatsache vorzu¬
beugen, dass Aerzte und Patienten im Zwischenhandel
statt des gewünschten und für viele therapeutische
Zwecke allein geeigneten, absolut chemisch reinen,
30°/oigen Wasserstoffsuperoxyd es ein anderes Wasser¬
stoffsuperoxyd erhalten, hat die ehern. Fabrik von E.
Merck in Darm Stadt sich für ihr Produkt die Be¬
zeichnung „Perhydrol“ schützen lassen. Das Merck’sche
Präparat gelangt nun mit der Etiquette: „Perhydrol,
Wasserstoffsuperoxyd Merck absolut säurefrei, chemisch
rein, 30 Gewichtsprozente H2O2 = 100 Volumpro¬
zente enthaltend“ in Verkehr. Wenn der Arzt in
Zukunft nur die kurze Bezeichnung „Perhydrol“ an¬
wendet, so ist jede Substituirung des absolut chemisch
reinen, hochprozentigen Wasserstoffsuperoxydes durcli
ein minderwertiges, mehr oder minder säurehaltiges
Produkt ausgeschlossen.
J*ur den rciLutionollcn 'J lit-il v»*r.iiu\vottii« li : Oberarzt l)r. J. Hres 1 er , LubJinit? (Schlesien).
Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Heynemann’sche Buchdruckerei (Gebr. Wc'lb je Halle a. S.
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Original fr&m
HARVARD UNIVERSITY
Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift.
Redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. BreBler.
Lublinitz (Schlesien'.
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale Fernsprecher 2834.
Nr, 32, 5 November. 1904.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die ßspaltige Petitzeile init 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten.
Carl Pelman.
se * ner Zeit bereits berichtet wurde, schied
* ’ der Direktor der Rheinischen Prov.-Heil- und
Pflege-Anstalt und der psychiatrischen Klinik in Bonn,
Geheimer Medicinalrath
Prof. Dr. Carl Pelman, mit
Oktober d. J. aus dem
rheinischen ■ Provinzial -
dienst.
Am 22. Oktober hatten
sich die Beamten und
Aerzte, sowie eine statt¬
liche Zahl der früheren
Assistenten und Schüler
des Genannten im festlich
geschmückten Hörsaal der
Klinik versammelt. Nach¬
dem derLandeshauptmann
der Rheinprovinz Dr.
Renvers dem Scheidenden
für seine hervorragenden
Verdienste während so
langer Jahre gedankt und
den neuen Direktor der
Anstalt Prof. Dr. Westphal
aus Greifswald in sein Amt
eingeführt hatte, über¬
reichte Oberarzt Dr. Brie-
Grafenberg Herrn Geh.-
Rath Pelman im Namen
der früheren ärztlichen
Mitarbeiter als Zeichen
ihrer aufrichtigen Dank¬
barkeit und Verehrung
eine Plakette, welche der Meisterhand von Gustav Rutz
in Düsseldorf entstammt. Ein Abguss des Bronce-
reliefs wird als dauerndes Denkmal in den Räumen
der Bonner Anstalt angebracht werden.
□ igitized by Goosle
Bei dem sich anschliessenden Festmahle, zu dem
sich über 70 Theilnehmer vereinigt hatten, betonte
der Landeshauptmann Dr. Renvers, wie schmerzlich
die Provinzial Verwaltung
den Rücktritt Pelmans
empfinde, da sie sehr
wohl wisse, was von ihm
im Laufe der vielen Jahre
auf allen Gebieten der
Anstaltspflege geleistet
worden sei, und sehr wohl
wisse, mit welcher Liebe
und Hingabe er seinem
schweren Berufe gelebt
habe. Aber er wolle diese
Gelegenheit, wo der Herr
Geheimrath sich im Kreise
seiner Collegen und seiner
Bonner Freunde befinde,
nicht vorübergehen lassen,
ohne ihm nochmals zu
danken für alles, was er
für die Anstalt gethan
habe, um sie auf die heut¬
ige Höhe zu bringen.
Prof. E. Schultze-Greifs¬
wald dankte sodann dem
Scheidenden im Namen
der jetzigen und ehema¬
ligen Assistenten für das
jederzeit an den Tag ge¬
legte Wohlwollen und
feierte in warmen Worten
die bedeutungsvolle wissenschaftliche Thätigkeit
Pelmans.
Aber auch die Kranken hatten es sich nicht
nehmen lassen, dem geliebten ärztlichen und väter-
Original from
HARVARD UNIVERSITY
208
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 32.
liehen Berater zum Abschiede ihren tiefgefühlten Dank
darzubringen; gegen Abend fand in dem Festsaale
der Anstalt noch eine besondere Feier statt, bei der
ein Patient einen Prolog vortrug und ein Festspiel
mit Declamation, lebenden Bildern, Chorliedem und
Orchestermusik aufgeführt wurde.
Carl Pelman wurde am 24. Januar 1838 in
Bonn geboren. Er widmete sich dem Studium der
Heilkunde in seiner Vaterstadt, promovirte dort am
10. August 1860 auf Grund seiner Dissertation „Die
medicinische Topographie der Stadt Bonn“ und er¬
langte im folgenden Jahre die Approbation als Arzt.
Seine erste Berührung mit der Irrenheilkunde geht
in das Jahr 1860 zurück, in dem er sich nach der
damaligen Anstalt Siegburg begab, um einen vier¬
wöchentlichen Cursus der Psychiatrie durchzuraachen.
1861 kam er als Assistent nach Siegburg und ein
Jahr später an die Privatanstalt von Reimer nach
Görlitz. Er diente hierauf dem Vaterlande als Arzt
und mit der Waffe — auch am Sturm auf Düppel
nahm er teil — und wurde bald darauf II. Arzt der
Anstalt Siegburg unter F. Hoffmann’s und später
W. Nasse’s Leitung. Nachdem Pelman seit 1871
fünf Jahre lang Direktor der Bezirksirrenanstalt für
Untereisass in Stephansfeld gewesen war, wurde er
am I April 1876 mit der Leitung der neuerrichteten
Provinzial-Irrenanstalt Grafenberg bei Düsseldorf be¬
traut, der er 13 Jahre hindurch Vorstand. Er blieb
seiner Vorliebe für die Psychiatrie getreu und schlug
die Direktorstelle des Hamburger Allgemeinen
Krankenhauses aus, welche man ihm angetragen hatte.
Am 17. Juni 1889 übernahm Sanitätsrat Pelman an
Stelle des am 19. Januar 1889 verstorbenen W. Nasse
die Direction der Provinzial-Irrenanstalt Bonn, nach¬
dem er am 9. Mai des gleichen Jahres zum ordent¬
lichen Professor der Psychiatrie an der Universität
Bonn ernannt worden war unter gleichzeitiger Ver¬
leihung des Charakters als Geheimer Medicinalrat.
Im December 1889 wurde er Mitglied des Medicinal-
collegiums der Rheinprovinz.
Der Gefeierte hat es in seltener Weise verstanden,
allen den ungewöhnlichen Anforderungen gerecht zu
werden, welche die Leitung einer grossen Provinzial¬
anstalt und sein Amt als Lehrer an der Universität
an ihn stellten. Seine Thätigkeit geht weit über die
Grenzen der Anstalt hinaus; dies beweisen seine
zahlreichen Vorträge, seine Abhandlungen in Sammel¬
werken, sowie seine vielseitigen Arbeiten und Be¬
sprechungen in den verschiedensten Fachzeitschriften.
Er ist Mitherausgeber der Allgemeinen Zeitschrift für
Psychiatrie und der Zeitschrift für Psychologie und
Physiologie der Sinnesorgane. Seine gewandte und
anregende Feder stellte er mit Vorliebe in den Dienst
reformatorischer Bestrebungen, namentlich auf dem
Gebiete der praktischen und forensischen Psychiatrie
und überall da, wo es galt, den Zusammenhang der
Irrenheilkunde mit der sozialen Hygiene zu betonen.
Auch die Giündung des Hülfsvereins für Geistes¬
kranke in der Rheinprovinz ist sein Werk. Mehre¬
ren Reisen ins Ausland und seiner umfassenden
Litteraturkenntniss verdanken wir interessante Berichte
über den Stand der Irrenpflege auch jenseits der
Grenzen unseres Vaterlandes. Bereits gegen Ende
der 70 er Jahre legte er wiederholt und eindringlich
den Aerzten die Aufgabe ans Herz, dahin zu wirken,
dass die Ansicht von der krankhaften Natur der
Trinker zum Allgemeingut auch des grossen Publi¬
kums werde. Schon früh würdigte er in kritischer
Weise die Licht- und Schattenseiten der Lehre Lom-
brosos und gab als einer der ersten den Anstoss 2ur
Vertiefung des Studiums der Kriminalanthropologie
in Deutschland. Seine Schrift über „Nervosität und
Erziehung“ erschien in zahlreichen Auflagen. Seit
langen Jahren gehört er dem Vorstande des Deutschen
Vereins für Psychiatrie an, und am 22. Juni 1889
wurde er zum Vorsitzenden des Psychiatrischen Ver¬
eins der Rheinprovinz gewählt, der er bis zum heutigen
Tage ohne Unterbrechung geblieben ist.
Geheimrath Pelman hat sich nunmehr entschlossen,
seine Stelle als Anstaltsleiter niederzulegen. Er wird
in körperlicher und geistiger Frische fürderhin seine
Befriedigung finden in der Ausübung der akademischen
Lehrthätigkeit, in seinen Fachstudien und im Genüsse
der schöngeistigen Litteratur des In- und Auslandes,
deren feinsinniger und sprachkundiger Kenner er ist.
Wir wünschen ihm von ganzem Herzen, dass ihm ein
friedliches otium cum dignitate beschieden sein möge.
Wahrlich, er hat es verdient Ad multos annos!
F.
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Original from
HARVARD UNIVERSITY
1904.
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
299
Das Wahnproblem.
Von Dr. Robert Neupert , kgl. Oberarzt der Kreisirrenanstalt Erlangen.
AISTenn ich obiges Wort zur Ueberschrift für die
* " folgenden Ausführungen nahm, so hat mir hier¬
bei nicht zufüllige Ideenassociation oder momentane
Eingebung die Feder geführt, vielmehr habe ich mit
gutem Bedacht die Bezeichnung so gewählt und nicht
anders. Denn durch den Titel schon wollte ich
kritisch zum Ausdruck bringen, welches Resultat wir
auf dem Gebiet der bisherigen Wahnforschung zu
verzeichnen haben und bis zu welchem Punkte wir
vorgedrungen sind. Der Wahn ist uns ein Problem
geworden. Ein jedes Problem aber birgt wie Jo-
kastens Schoss in sich ein feindseliges Brüderpaar:
den Fortschritt und den Zweifel. So will ich denn
zunächst vom Fortschritt handeln, der die eine wesen¬
hafte Eigenschaft jedweden Problems darstellt End¬
lich sind wir auf dem Gebiete der Wahnforschung
aus jenem naiven Stadium herausgekommen, von dem
man ohne Uebertreibung behaupten konnte, es habe
hierbei als Leitmotiv der l berühmte Rath gegolten:
„Im Ganzen — haltet euch an Worte, dann geht
ihr durch die sichere Pforte zum Tempel der Gewiss¬
heit ein“» Treffliche Arbeiten aus dem letzten Jahr¬
zehnt haben uns nunmehr eine schärfere Umfassung
und Formulierung des Wahnproblems gebracht und
ihre fruchtbare Wirkung auch schon in manchem
psychiatrischen Lehrbuch gezeitigt. Mit der präciseren
Problemstellung wurde auch jene einseitig-intellektu-
alistische Auffassung der Wahnpsychogenese schwer
erschüttert und ihre Situation ist gegenüber der Wucht
der gegen sie zu Felde geführten psychologischen und
klinischen Thatsachen eine recht kritische geworden.
So halte ich die Einsicht, dass bei dei Entstehung
jedweden Wahns das Gefühl eine unentbehrliche,
wenn nicht überhaupt die einzig maassgebende Rolle
spielt, für eine werthvolle Errungenschaft, die wohl
kaum mehr aufgegeben werden dürfte. Für „die Um-
werthung psychiatrischer Werte“, auch auf dem Ge¬
biete des paranoischen Wahnes, tritt unter Anderen
Specht in einer hervorragenden Arbeit ein. Er führt
aus, dass auch beim paranoischen Wahn Affectzu-
stände zugrunde liegen, und zwar ist es seiner
Meinung nach ein Mischaffect, das Misstrauen, welches
als die auslösende psychopathologische Ursache erscheint.
Nun wollen wir freilich — und damit kommt der Zweifel
zum Worte — dahingestellt sein lassen, ob das Miss¬
trauen einen Affectzustand im landläufigen Sinn darstellt.
Unseres Erachtens ist das Misstrauen ein Schluss,
dem allerdings ein bestimmter, vorerst freilich noch
nicht näher analysirbarer Affect zugrunde liegt; es
ist nicht der Schöpfer, sondern bereits das Geschöpf.
Auch wäre weiterhin noch zu untersuchen, ob bei
der Erklärung des paranoischen Wahnes wirklich
Mischaffecte, an deren Existenz an sich ja wohl kein
Zweifel ist, heranzuziehen sich als nothwendig erweise.
Warum sollte auf der „schwanken Leiter der Gefühle“
nicht auch ein Unlustgefühl von ganz bestimmter
Intensität und Dauer jenes paranoische Misstrauen
erzeugen können ? Endlich käme noch als eine letzte
Frage: „Wie ist die Kluft zwischen Affect und Wahn
zu überbrückenj?“ Es bringt demnach die neu ge¬
wonnene Einsicht deswegen noch keine definitive
Lösung, so erfreulich auch die Thatsache ist, dass
bei der Wahnpsychogenese auf der ganzen Linie der
Nachweis einer affectiven Grundlage versucht, wenn
nicht erbracht wird. Für den Zweifel steht also
noch ein weites Gebiet offen und die letzte Wahrheit
bleibt uns verschlossen. Aber schon das Suchen
nach Wahrheit ist von einem eminenten positiven
Werth. Der eigentliche Fortschritt einer jeden Wissen¬
schaft liegt ja immer nur in der neuen Fragestellung
und so dürfen wir auch in der Wahnforschung nicht
erlahmen. Gerade hier ist mehr als eine Frage zwar
strittig, aber der Lösung fähig.
Haben sich die Arbeiten der letzten Jahre auf
dem Gebiet der Wahnlehre mehr mit der quästio
juris beschäftigt, so möchte ich nunmehr wieder ein¬
mal, wenigstens zunächst, der quästio facti mein
Augenmerk zuwenden. Um mit einer Aeusserlichkeit
zu beginnen, so finde ich, dass in der Terminologie
sehr wenig Consequenz herrscht. Wenn man über
das Wahnkapitel, sei es in einem Lehrbuch, sei es
in einer Abhandlung, liest, dann dauert es meistens
nicht lange und man stösst auf das Wort Wahn¬
vorstellung. Soll aber der sprachliche Ausdruck
für den Inhalt eines Begriffes nicht als ein reiner
Flatus vocis gelten, dann darf er, streng genommen,
keine contradictio in adjecto enthalten. Es war bereits
Aristoteles bekannt, dass Wahrheit nicht eigentlich
in den Vorstellungen, sondern immer nur in den
Urtheilen liegt, und Kant schreibt m seiner Logik:
„Irrthum sowohl als Wahrheit ist nur im Urtheil“.
Die Wahmehmungselemente als solche sind weder
wahr, noch falsch, sondern thatsächlich. Die Vor¬
stellungen sind nichts Anderes, als bestimmte Be¬
wusstseinsphänomene und immer nur das Material,
aus dem die Erkenntniss sich aufbaut. Erkenntniss
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Original fram
HARVARD UNiVERSITY
300
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 32.
können wir nur aus den Urtheilen schöpfen, mit
ihnen beginnt sie und mit ihnen schreitet sie fort.
So ist es also durchaus unlogisch, von Wahnvor¬
stellungen zu sprechen. Streng genommen könnte
immer nur von Wahnurtheilen die Rede sein, und
wenn man diese Bezeichnung nicht beliebt, dann
müsste man eine indifferente wählen, die nichts präju-
dizirt, z. B. den Ausdruck „Wahnidee“. Die Wahn¬
ideen sind also Urtheile, keine Vorstellungen. Freilich,
solange die Urtheile nur in einer Verknüpfung oder
Zerlegung der Associationen und Begriffe bestehen, so
besitzen sie selbst einen rein vorstellungsmässigen
Character und würden sich als solche von den Vor¬
stellungen wenig oder gar nicht unterscheiden. Wir
wären somit in Wirklichkeit nicht von der Stelle ge¬
rückt Allein überall da, wo es sich um Wahrheit
handelt, tritt beim Urtheil zum blossen Verknüpfen,
Beziehen, Zerlegen noch ein weiteres Element, das
ausserhalb der rein vorstellungsmässigen Sphäre liegt
und das bereits im Alterthum als jedem Urtheil in¬
härent erkannt wurde. Nach der Lehre der Stoa
löst die greifbare Vorstellung ((pavzaoia xot aXtnnxij)
gewissermaassen nur unsere Thätigkeit aus, nämlich
die Zustimmung (ovyxardd-foig), kraft deren wir ihr
Wirklichkeit oder Unwirklichkeit zusprechen. Es wird
somit die Anerkennung der Wahrheit ein Akt des
Willens. Aehnliche Auffassungen begegnen wir in
der Scholastik bei Duns Skotus und Wilhelm von
Occam. Letzterer lehrt, in den complexen Gedanken
sei ein actus judicativus als eine Zustimmung oder
Nichtzustimmung enthalten. Weiterhin war es Des-
kartes, der vom actus judicandi behauptete, dass er
in Bejahung oder Verneinung bestehe und der das
theoretische Urtheil als Sache des Willens hinstellte.
In der neuesten Geschichte behauptete zuerst S igw art,
dass im negativen Urtheil die Abweisung einer Zu-
muthung bestehe. Brentano betrachtete ebenfalls das
Urtheil als einen elementaren psychischen Act des
Anerkennens oder Verwerfens eines Bewusstseinsin¬
haltes. Während Lotze Affirmation und Negation
nur als Nebengedanken in der primären Synthesis
des Urtheils auffasst, geht Bergmann einen Schritt
weiter und erklärt Bejahung und Verneinung nicht
als Nebenuftheile, sondern als das „kritische Verhalten“,
das die bloss vorgestellte Beziehung zwischen Subject
und Prädicat überhaupt erst zum Urtheil macht.
Nach ihm ist das Urtheil nicht bloss ein theoretisches
Verhalten, sondern eine „Aeusserung der Seele, an
welcher ihre praktische Natur, das Begehrungsver¬
mögen, betheiligt“ sei. Das Urtheil ist die Entscheid¬
ung über die Geltung einer Vorstellung, es ist ein
interessirtes Verhalten, zugleich ein Fühlen und Be¬
gehren, es billigt und missbilligt die Vorstellung.
Windelband unterscheidet Urtheile und Beurtheilun-
gen, erstere sind theoretische Vorstellungsverbindungen,
die erst durch Beurtheilung als wahr oder unwahr cha-
racterisirt werden. „Alle Sätze der Erkenntniss ent¬
halten somit bereits eine Combination des Urtheils
mit der Beurtheilung: sie sind Vorstellungsverbind¬
ungen, über deren Wahrheitswerth durch die Affir¬
mation oder Negation entschieden wird“. Nach
Riehl tritt der eigentliche Act des Urtheilens zu der
Vorstellung, über die er ergeht, hinzu. Aehnlich
sieht auch Lipps im Urtheil ein Anerkennen, ein
Vorstellen mit dem Bewusstsein der Wirklichkeit
Rickert endlich giebt seiner Ueberzeugung dahin
Ausdruck, dass Erkennen seinem logischen Wesen
nach bejahend oder verneinend sei. Ich wüsste nicht
wie man die ganzen Verhältnisse treffender kenn¬
zeichnen sollte, als dies Rickert in seiner klassischen
Abhandlung, „Der Gegenstand der Erkenntniss“, thut
wenn er sagt: Wenn wir wollen, so begehren wir ent¬
weder etwas oder wir verabscheuen es. Wenn wir
fühlen, so fühlen wir entweder Lust die uns ange¬
nehm, oder Schmerz, der uns unangenehm ist Es
handelt sich also beim Wollen und Fühlen- stets um
ein Entweder-Oder, um ein Stellungnehmen zu einem
Werthe, das nicht vorhanden ist, wenn wirjnor vor¬
stellen. Aus dem Vorangegangenen aber ergiebt sich,
dass dieses Entweder-Oder nun auch beim Urtheilen
vorliegt, welches sich im ausdrücklichen Bejahen oder
Verneinen voll entwickelt hat. Ein solches Urtheil
geht demnach nicht auf in einem theilnahmslosen
Betrachten, sondern es kommt in dem Bejahen oder
Verneinen ein Billigen oder Missbilligen, ein Stellung¬
nehmen zu einem Werthe zum Ausdruck. Solange
Vorstellungen nur vorgestellt werden, kommen und
gehen sie, ohne dass wir uns um sie kümmern. Aber,
wie wir sie als angenehm oder unangenehm fühlen,
wie wir sie begehren oder verabscheuen, wenn wir
wollen, so stimmen wir ihnen zu oder weisen sie ab,
wenn wir urtheilen. Während also die geläufige Ansicht
im Denken und Erkennen das Urtheilen und das
Vorstellen als zusammengehörig fasst und dem Fühlen
und Wollen gegenüberstellt, so meinen wir, dass,
wenn eine solche Eintheilung der psychischen Vor¬
gänge überhaupt gemacht werden soll, das Vorstellen
in die eine Klasse und das bejahende und vernein¬
ende Urtheilen in die andere Klasse gebracht werden
muss. Es liegt auch im vollentwickelten Urtheil und
zwar als das für seinen logischen Sinn Wesentliche,
ein „praktisches“ Verhalten, das in der Bejahung etwas
billigt oder anerkennt, in der Verneinung etwas ver¬
wirft. Weil nun, was für das Urtheil gilt, auch für
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1904.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
301
das Erkennen gelten muss, da alles Erkennen sich in
vollentwickelten Urtheilen bewegt, so ergiebtsich aus der
Verwandtschaft, die das Urtheil mit dem Wollen und
Fühlen hat, dass es sich auch bei dem rein theo¬
retischen Erkennen um eine Stellungnahme zu einem
Wert he handelt. Es ist nicht nöthig, dafür noch
einen besonderen Nachweis zu führen. Nur Werthen
gegenüber hat das alternative Verhalten des Billigens
oder Missbilligens einen Sinn. Was ich bejahe, muss
mir gefallen, was ich verneine, muss meinen Miss¬
fallen erregen. Das Erkennen also ist ein Vorgang,
der bestimmt wird durch Gefühle, und Gefühle sind
psychologisch betrachtet stets Lust oder Unlust. So
fremdartig es auch klingen mag, dass Lust oder Un¬
lust alles Erkennen leitet, so ist es doch nur die un-
bezweifelbare Consequenz der Lehre, dass im voll¬
entwickelten Urtheile zu den Vorstellungen eine Be-
urtheilung, das heisst eine Bejahung oder Verneinung,
hinzutritt, durch welche aus den Vorstellungen über¬
haupt erst Erkenntniss wird.“
Wir sehen also, dass zu allen Zeiten eine ganze
Reihe der hervorragendsten Denker an der nicht rein
vorstellungsmässigen Art des Urtheils festhalten, so
entschieden auch in der Psychologie diese Anschauung
von anderer Seite bekämpft wird. Meiner Meinung nach
erhältfjaber gerade durch die Psychogenese rdes Wahns
jene Anschauung, die dem Urtheil keinen rein syn¬
thetischen Character zuerkennt, eine weitere Stütze.
Wie durch blosses Verknüpfen, Zerlegen und Be¬
ziehen ein Wahn entstehen soll, ist absolut unerfind¬
lich und müsste erst noch bewiesen werden. Der
Vorwurf, den man der Associationspsychologie macht,
dass £ie unfähig sei, das Auftreten herrschender Ele¬
mente in den Verbindungen zu erklären, dieser Vor¬
wurf, meine ich, tritt noch mit viel eindringlicherer
Schärfe zu Tage beim Versuche, die Entstehung des
Wahns zu erweisen. Denn dass der Wahn im
Bewusstsein ein herrschendes Element darstellt, ja
noch mehr, dass er ein Tyrann ist, so despotisch und
grausam, wie ihn sonst die Weltgeschichte nicht kennt,
wer wollte das leugnen? Hier versagt die Associa¬
tionspsychologie vollständig, aber auch die volunta-
ristische Psychologie im Sinne W u n d t s ist
nicht im Stande, das Räthsel zu lösen. So
führen nicht blos apriorische Erwägungen, sondern
noch in höherem Grade die Macht der psycholo¬
gischen und klinischen Thatsachen dazu, der 3. psychi¬
schen Componente, dem Gefühle, diese Rolle zuzu¬
erkennen, und trotz der bisherigen Unmöglichkeit, das
Gefühl deutlich abzugrenzen und zu analysiren, müssen
wir dasselbe als den Grundfaktor alles psychologischen
Geschehens betrachten. Speziell die Psychopatho¬
logie des Wahns ist es, bei der ohne Heranziehung
des Gefühls eine nur halbwegs befriedigende Er¬
klärung meiner Meinung unmöglich ist. Das Urtheil
aber liegt, wie wir gesehen haben, soweit es sich um
Beurtheilung, das heisst Wahrheit handelt, durchaus
innerhalb des Gefühlsrayons, Ist nun das Gefühl
krankhaft verändert, dann muss auch ein krankhaft
verändertes Urtheil die nothwendige Folge sein und
erst in dem Augenblicke, in dem wir das Urtheil
aus der rein intellectualistischen Sphäre herausheben
und seinem innersten Wesen nach als dem Gefühl
zugehörig betrachten, reduzirt sich das Wahnproblem
wirklich auf „eine einheitliche und psychologisch durch¬
sichtige Formel“.
So würde ich denn den Wahn als ein aus einem
pathologischen Affect entsprungenes und darum un-
corrigirbares Urtheil auffassen, das weder mit den
subjectiven Urtheilen anderer noch mit allen Urtheilen
desselben Subjectes zu einem in sich widerspruchs¬
losen Ganzen sich vereinigen lässt. Bei dieser De¬
finition wird mancher als wesentliches Kriterium des
Wahns seine egocentrische Steilung vermissen. • Allein
eine Cardinaleigenschaft des Wahns vermag ich hierin
nicht zu finden. Theoretisch ist ja ohne weiteres zu¬
zugeben, dass alle Acte unseres Bewusstseins in letzter
Linie mit dem Ich zusammenfallen und zusammen¬
fallen müssen. Piactisch jedoch werden wir öfter
nicht in der Lage sein, den engeren Nachweis des
Zusammenhanges eines Wahnurtheils mit dem Ich
zu liefern und eben durch diese Thatsache glaubte
BleulerSpechtindie Zwangslage versetzen zu können,
entweder unzweifelhafte Wahnideen als solche preis¬
geben zu müssen oder sich in eine Diallele zu ver¬
stricken. Allein in letzter Instanz dürfte ein derarti¬
ges Dilemma, wie gesagt, überhaupt nicht existiren.
Um so grösseres Gewicht lege ich dagegen als noth-
wendiges und characteristisches Merkmal des Wahns
auf dessen Uncorrigirbarkeit. Dabei fasse ich freilich
den Begriff „uncorrigirbar“ nicht in jenem relativen,
dehnbaren Sinne, unter dem sich zum Schlüsse Alles
darunter verstehen lässt, sondern in einem absoluten,
und ich stehe nicht an, freimüthig zu bekennen, dass
ich alle uncorrigirbaren Irrthümer als Wahn betrachte.
Andreiseits will ich bei dieser Gelegenheit betonen,
dass auch manche als Wahnideen aufgefasste Aeusser-
ungen von Geisteskranken, namentlich bei vorhandenem
Schwachsinn, hie und da aber auch bei gewissen Be¬
wusstseinstrübungen noch den psychologischen Irr-
thümern einzureihen sein dürften.
Damit bin ich zum Schlüsse meiner Ausführungen
gekommen. Es war von mir ursprünglich beabsichtigt,
diese meine Betrachtung über das Wahnproblem auf
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302
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 32.
breiterer Basis der Oeffentlichkeit zu übergeben, allein
Üeberhäufung mit practischen Berufsgeschäften, dazu
noch ein bestimmter persönlicher Abhaltungsgrund
haben mich auf diese Darlegungen beschränkt, bei
denen ich öfters nur andeuten konnte, was ich gern
näher ausgeführt hätte. Sollten jedoch diese Zeilen
eine weitere kleine Anregung auf dem Gebiete der
Wahnförschung gegeben haben, dann wäre ihr Zweck
erreicht
Mittheilungen.
— Hilfsbedürftigkeit im armenrechtlichen
Sinne liegt auch bei einem gemeingefährlichen Irren
vor, wenn dieser einer Irrenanstalt nicht um seiner
Gemeingefährlichkeit willen, sondern wegen seiner
Hilfsbedürftigkeit von der Polizeibehörde überwiesen
worden ist.
Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, III.
Senats, vom 21. Januar 1904 (III 146). [Kläger
und Revisionskläger: ein Ortsarmenverband; Beklagte
und Revisionsbeklagte: eine Ortskrankenkasse].
Der seit Jahren an chronischer Verrücktheit mit
Verfolgungs- und Beeinträchtigungsideen leidende
Gustav K. arbeitete vom August bis Dezember 1900
beim Malermeister Robert J. in B. und war Mitglied
der Beklagten. Am 8. Dezember 1900 bei einem
Einbruchsdiebstahle ertappt, befand er sich bis zum
15. Februar 1901 in Untersuchung, wurde aber an
diesem Tage mit Rücksicht auf seinen Geisteszustand
ausser Verfolgung gesetzt, dem Königlichen Polizei¬
präsidium in B. zugeführt, von diesem der[ Direction
der städtischen Irrenanstalt daselbst überwiesen und
in der letzteren vom 16. Februar bis 15. April 1900
verpflegt. Der Kläger hat unter, Ermässigung seiner
ursprünglichen Klageforderung beantragt, die Beklagte
gemäss § 57 des Krankenversicherungsgesetzes zur
Erstattung von 50 M. Armenpflegekosten nebst 4%
Zinsen seit der Klagebehändigung an ihn zu ver-
urtheilen.
Der Bezirksausschuss hat jedoch durch Ent¬
scheidung vom 10. Juli 1902 die Klage abgewiesen,
weil K. in der städtischen Irrenanstalt am 16. Februar
1901 nicht wegen Hilfsbedürftigkeit, sondern wegen
Gemeingefährlichkeit untergebracht worden sei und
somit ein Fall armenrechtlicher Fürsorge, wie ihn der
§ 57 a* a. O. voraussetzt, nicht vorliege.
Der hiergegen vom Kläger eingelegten Revision
war der Erfolg nicht zu versagen.
Die Feststellung des Vorderrichters, dass K. nur
im polizeilichen Interesse in die städtische Irrenan¬
stalt zu B. aufgenommen worden sei, ist nicht zu¬
treffend. Mag auch die Staatsanwaltschaft die Unter¬
bringung des K. wegen Gemeingefährlichkeit für
wünschenswerth gehalten haben, so wird doch in dem
Ersuchen des Polizeipräsidenten an die Anstaltsdi-
rection vom 16. Februar 1901 die Aufnahme auf
Kosten des Armenpflegefonds und auf Grund des
ärztlichen Gutachtens vom 5. Februar 1901 bean¬
tragt, welches von einer Gemeingefährlichkeit des K.
nicht spricht. Auch hat sich die Polizeibehörde die
weitere Verfügung über den letzteren nicht Vorbehalten,
dieser ist vielmehr nach Inhalt des Schreibens des
Magistrats vom 22. Februar 1901 seit dem 16. des¬
selben Monats in der Anstalt aus Armenfonds ver¬
pflegt und, wie die Akten ergeben, später nach er¬
folgter Besserung vom Kläger aus der Pflege entlassen
worden. Dass K. einer Anstaltspflege bedurfte und
sich diese aus eigenen Mitteln zu verschaffen nicht
in der Lage war, auch als Geisteskranker vom Kläger
nicht abgewiesen und sich selbst überlassen werden
konnte, ist zweifellos. Bei einer solchen Sachlage
kann aber das Vorliegen einer Armenfürsorge im
gesetzlichen Sinne auf seiten des Klägers nicht in
Abrede gestellt werden. Die Entscheidung des Vorder¬
richters unterlag daher der Aufhebung — § 94 d. LVG.
vom 30. Juli 1883.
Bei freier Prüfung erscheint die Sache spruchreif,
da K. nach dem ärztlichen Gutachten vom 6. Februar
1901 bereits während seiner Beschäftigung erkrankt
war und eine Bemängelung der Höhe des ermässigten
Klageantrages durch die Gegenpartei nicht stattge¬
funden hat Die Beklagte war nach dem letzteren
zu verurtheilen.
(„Preuss. Verwaltungsblatt“ 8. X. 04.)
Bibliographie
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303
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(Fortsetzung folgt )
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HARVARD UNIVERSITY
304
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
|Nr. 32.
Buch erschienen mit: Der Entwickelungsgedanke in
der gegenwärtigen Philosophie. Leipzig, Joh. Ambr.
Barth. 1903.
St. lehnt den Monismus in den verschiedenen
Auffassungen (Spinoza, Fechner, Mach u. a.) als un¬
zutreffend ab. In der Parallelitätslehre kann er statt
des Monismus nur einen Dualismus finden. Zwischen
Psychischem und Physischem muss ein dauernder
Causalzusammenhang angenommen werden.
Einmal könnte man das Psychische als eine An¬
häufung von Energien eigener Art ansehen. Gewisse
psychische Funktionen würden mit einem fort¬
währenden Verbrauch, andere mit einer ebenso
fortgehenden Ergänzung physischer Energie verknüpft
sein. In der näheren Fassung der Gehimprocesse,
welche als unmittelbare Ursache oder Wirkung be¬
stimmter Seelenthätigkeiten anzusehen wären, würden
sich allerdings einige ungewohnte Vorstellungen bei
der weiteren Verfolgung dieser Sätze eigeben.
Die psychischen Zustände könnten aber auch in
anderer Weise Wirkungen und Ursache physischer
Vorgänge sein. Ein bestimmter Nervenprocess in
bestimmter Gegend der Hirnrinde ist die regelmässige
Vorbedingung für das Zustandekommen einer be¬
stimmten Empfindung. Diese geht als nothwendige
Folge neben den physischen Wirkungen aus ihm
hervor. Ein bestimmter Process in den motorischen
Centren der Rinde kommt nicht nur durch physio¬
logische Bedingungen zu Stande, sondern stets unter
Mitwirkung eines bestimmten Zustandes (Affekt,Willen).
In keinem der Fälle wird physische Energie absorbiert
durch die Einwirkung auf die Psyche bezw. von
Seiten der Psyche.
Die Annahme eines Causalitätszusammenhanges
zwischen Psychischem und Physischem begründet erst
eine monistische Anschauung im wahren Sinn.
Wickel (Dziekanka).
Personalnachrichten.
— Bonn. Der I. Oberarzt Dr. Brie ist zum
Direktor der zum 1. April 1905 zu eröffnenden 7.
Prov.-Heil- und Pflegeanstalt der Rheinprovinz Jo¬
hannestal bei Süchteln, Kreis Kempen er¬
nannt An Stelle des nach Greifswald berufenen
Prof. E. S ch ul tz e ist der bisherige III. Arzt der Prov.-
Heil- und Pflege - Anstalt Andernach, Dr. Deiters,
als Oberarzt nach Bonn versetzt worden.
Maggi’s Würze und Bouillonkapseln.
Prof. Dr. Liebreich bat, wie er in den „Therapeutischen
Monatsheften“ 1904 Nr. 2 mittheilt, den Einfluss der be¬
kannten volkstümlichen M aggi’sch en Suppen- u. Speisen-
Wilrze auf Circulation, Respiration und Verdauung untersucht,
um zu ermitteln, ob sie ungünstige Nebenwirkungen im Orga¬
nismus entfaltet. Selbst nach Einspritzung der Substanz in die
Jugularvene von Tieren hielt sich der Blutdruck in normaler
Höhe; auch die subcutan eingespritzten concentrirten Lösungen
führten zu keiner irgendwie nachtheiligen Beobachtung, nicht
einmal zu localen Reizerscheinungen. Bei den Verdauunga-
versucben zeigte sich, dass in dem reinen Chemismus der
ausserhalb des Organismus herbeigeführten Verdauung nichts
geändert wird, „aber wir wissen von allen gewürzigen Sub¬
stanzen, dass sie zur Verdauung durch vermehrte Secretion des
Magensaftes beitragen und in dieser Richtung als verdauungs-
fördernd betrachtet werden können* 4 .
Nach Liebreich kommt der Maggi*schen Würze ein
allgemeinerer Würzungscharakter zu als anderen, auch un¬
schädlichen Gewürzen, da sie mit allen Substanzen für den
Geschmack verträglich ist. —
Da die Bestandteile der Maggi-Würze vorwiegend dem
Pflanzenreich entstammen, so empfiehlt sich seine Verwendung
besonders bei Nieren- und Gichtkranken, bei welchen die
Fleischextraktivstoffe vermieden werden sollen. —
Dr. He im-Bonn schreibt in „Die künstlichen Nährpräpa¬
rate und Anregungsmittel“ (Berlin 1901, A. Hirschfeld):
„Nach der Analyse von Prof. König aus dem Jahre 1897
und einer neueren aus der Lebensmitteluntersuchungsanstalt der
Stadt Konstanz enthält Maggi-Würze:
Wasser 57 —58 %
Trockensubstanzen 42,99 „
Gesammtstickstoff 3,19 „
Stickstoffsubstanz 19,93 *
Mineralstoffe 21,85 „
mit Chlor 11,59 „ entsprechend
mit Kochsalz 19,12 „ „
mit Phosphorsäure 0,69 „ „
Maggi-Würze ist ein wenig säuerlich, stark würzig und
erinnert an Suppenkräuter. Maggi bewährt sich als gute, reiz¬
lose Würze, wenn es in wenigen Tropfen bis zu 1 Teelöffel
voll Suppen zugesetzt wird. Wenn man es Speisen, Braten,
Bratensaucen, Pasteten, Ragoüt-fins und grünen Gemüsen zusetzt,
werden dieselben würziger und angenehmer. Eintönig oder
fade schmeckende Speisen werden durch die Maggi-Würze an¬
sprechender gemacht. Durch dieselbe wird der Appetit ange¬
regt, indem zugleich deutlich Speichelabsonderung hervorgerufen
wird, was man jederzeit beobachten kann , wenn man einige
Tropfen der reinen Würze probirt. . . . Maggi-Würze findet
denn heute auch in der Krankenküche einer sehr grossen An¬
zahl von Krankenhäusern und Verpflegungsanstalten in der
Krankenkost eine vortheilhafte Anwendung. — Die Maggi-Ge¬
sellschaft bringt auch gebrauchsfertige „Bouillon-Kapseln“ in
den Handel, die durch blosses Uebergiessen mit kochendem
Wasser ohne weitere Zuthat die Herstellung einer guten Kraft¬
brühe ermöglichen, wovon ich mich selbst sehr oft überzeugt
habe. Auch Küster und Friz berichten günstig über die Ver¬
wertung von Maggi’s Bouillon-Kapseln (Allgem. med. Centr.-
Zeit., Dezember 1899). Maggi’s Bouillon-Kapseln besitzen einen
angenehmen Wohlgeschmack, sind nach Angabe der Fabrik mit
bestem Fleischextrakt hergestellt und enthalten feinste Gelatine
(also Eiweisssparen, sowie Gemüseauszüge und Kochsalz. Da
sich die Bouillon-Kapseln bei trockener und möglichst kühler
Aufbewahrung lange halten, so dürften dieselben wegen ihrer
bequemen Handhabung ir. der Ernährung von Gesunden und
Kranken sich bald grosser Beliebtheit erfreuen, was zum Theil
jetzt schon der Fall ist. Für letzteres gilt dies besonders da,
wo die geschwächte Magenverdauung angeregt und dem Blute
Nährsalze zugeführt werden sollen.'
Die Verwendung dieser Bouillonkapseln dürfte sich ganz be¬
sonders bei dem nach t w a ch en t huenden Kranken¬
pflegepersonal sehr zweckmässig erweisen, ja auch für des
Schlafs entbehrende Kranke lässt sich aus diesen
Bouillonkapseln leicht ohne nächtliche Inanspruchnahme der
Anstaltsküche ein angenehmes Getränk und eine kräftige Brühe
herstellen.
Dieser Nummer liegt ein Prospekt der
Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co.,
Elb erfe ld,
bei, worauf unsere Leser besonders hingewiesen seien.
Für den redaktionellen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Bresler, Luol.mtr (Schlesien).
Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl M&rhold in Hall« a. S.
Heynemann "sehe Buchdruckerei (Gcbr. Wo’fD in Halle a. S.
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Oberarzt Dl*. Joh. Br 08 l©T.
Lublinitz (Schlesien'.
Verlag von CARL MARHOLD in H h i i r ... v
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Nr. 33, _ 12 . November. _ _ 1904,
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die 5spaltige Petitzeile mit 40 Plg. berechnet. Be» Wiederholung tritt Ermäßigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten.
Material zu § 1569 B. G. B.
(No. 17.)
Von Privatdocent Dr. Dannemann- Giessen.
T^Ver in folgendem dargelegte Fall verdient inso-
fern Interesse, als er lehrt, dass die Auffassung,
es sei nur dann die Grundbedingung des § 1569
erfüllt, wenn auch die Entmündigung wegen Geistes¬
krankheit erfolgt sei oder doch die Anregung der
Entmündigungsfrage zur Lösung in diesem Sinne
führen würde, nicht überall auf juristischer Seite ge-
theilt wird. Bekanntlich liegen Entscheidungen vor
(siehe Cramer’s forensische Psychiatrie), nach denen
es unzulässig sein soll, auf Ehescheidung zu er¬
kennen, wenn der erkrankte Gatte nur als geistes¬
schwach in rechtlichem Sinne erachtet wurde
bezw. zu erachten sein würde. *) Wir werden
uns von psychiatrischer Seite dagegen zu verwahren
haben, dass diese Ansicht bestimmenden Einfluss
auf die Praxis der Gerichte gewinnt. Vielmehr gilt
es klar zu stellen, dass trotz der Belassung einer
beschränkten Geschäftsfähigkeit, bezw. trotz der An¬
nahme einer Geistesschwäche in rechtlichem Sinne,
die Begutachtung bei der Erörterung der Scheidungs¬
frage eventuell dahin resümiren darf, dass ein Gei¬
steszustand vorliegt, der dem entspricht, was der Ge¬
setzgeber im § 156c) als erste Bedingung der Schei¬
dungsmöglichkeit im Auge hatte. Kurz: Es kann
unter Umständen jemand in Bezug auf § 6 B. G. B.
geistesschwach genannt werden, der bei einer Ana¬
lyse seiner Persönlichkeit geisteskrank zu erklären
ist, wenn Scheidung gegen ihn beantragt würde.**)
Der betreffende Fall stellt sich folgendermaassen
dar:
*) cf. Reichsgerichtserkenntniss vom 5. V. 1902, abgedruckt
in: Rechtspraxis der Ehescheidung bei Geisteskrankheit und
Trunksucht. Von J. Bresler. 1903. S. 14.
**) ähnlich auch Bresler a. a. O. S. 9-
Die Begutachtung war eine doppelte, sie hatte
sich einerseits darüber auszusprechen, ob Geistes-
krankheit oder Geistes schwäche in rechtlichem
Sinne bei dem A. Fl. von B. vorliege, und weiterhin
war Stellung zu nehmen in einer gegen ihn seitens
seiner Ehefrau eingereichten Ehescheidungsklage
wegen Geisteskrankheit. Indessen lagen in Bezug
auf die erste Prozesssache die Verhältnisse etwas
complicirt. Fl. lebte ausserhalb einer Anstalt, war
Vor Jahren zwar wegen Geisteskrankheit entmündigt,
strebte aber sehr energisch gegen den Entmündigungs¬
beschluss an und hatte es erwirkt, dass die Entmün¬
digung wegen Geisteskrankheit aufgehoben und an
ihrer Stelle die Entmündigung wegen Geistesschwäche
ausgesprochen war.
Der damals etwa 50jährige Fl. kam 1897 zum
ersten Male in die Irrenanstalt zu H., konnte aber
schon nach Monatsfrist entlassen werden. Im Be¬
ginn der Störung bot er allgemeine nervöse Er¬
scheinungen, dann traten Wahnideen in den Vorder¬
grund, die sich speciell gegen seine Ehefrau im Sinne
ehelicher Untreue derselben richteten. Starker Alko¬
holist war Fl. nicht gewesen, auch in den späteren
Jahren excedirte er nicht, so dass man berechtigt
war, eine reine Paranoia zu diagnosticiren.
Unter heftigem Widerstand in die Anstalt ge¬
bracht , nachdem Aeusserungen seinerseits gefallen,
welche Schlimmes für die Ehefrau befürchten Hessen,
war er daselbst sehr reizbar, labil in seinen Stimm¬
ungen , bot oft heftige Affectzustände. Misstrauen
und Antipathie gegen die neue Umgebung beherrsch¬
ten ihn dauernd und führten häufig zu Reibungen.
Selbstüberschätzung, krankhafte Einsichtslosigkeit ver¬
vollständigten den Symptomenkomplex. Schon da-
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3°6
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 33
raals füllte das pathologische Moment dominirend
den Vorstellungskreis des Fl. aus, alle anderen Inter¬
essen in den Hintergrund drängend, so dass zur
angeregten Entmündigungsfrage der Gutachter sich
dahin aussprach, dass eine chronische, irreparable
Geistesstörung anzunehmen sei.
Vom 8. V. 1899 bis 12. IV. 1900 war Fl. aber¬
mals in der Anstalt zu H. intemirt nach wieder¬
holten häuslichen Erregungszuständen. Die nach¬
giebige Ehefrau bewirkte jedoch wieder seine Ent¬
lassung und stellte ihm sogar unter dem Einfluss von
Vorwürfen seinerseits ein günstiges Zeugniss im Sinne
der Besserung aus, als er vor dem Amtsgerichte Z.
seine Entmündigung anfocht. In mehreren Terminen
war Fl. ruhig, scheinbar einsichtig, bezvv. er dissimu-
lirte in sehr geschickter Weise. Dass er jedoch an
seinen Ideen festhielt, bewiesen Beschimpfungen
seiner Frau, Benennungen seiner Kinder mit den
Namen von ihm gemuthmaasster Väter und gelegent¬
liche Erregungszustände zur Genüge. Gleichwohl
wusste der inzwischen in durchaus geordneter Weise
einem Erwerb nachgehende und darum von vielen
Bekannten für gesund angesehene Mann es zu er¬
zielen , dass seine Entmündigungsanfechtung Erfolg
hatte, freilich nicht ganz in seinem Sinne.
Von zwei als Sachverständige hinzugezogenen
Kreisärzten sprach sich der eine dahin aus, dass er
nicht an der Diagnose zweifle, indessen Entmündigung
wegen Geistes schwäche befürworte. Der zweite
Herr College drückte sich dahin aus, dass Fl. zwar
nach medicinisehem Sprachgebrauch geisteskrank
sei, dass ihm aber die Rechte eines wegen Geistes-
schwäche Entmündigten ohne Gefahr für seine
wirthschaftlichen Umstände gelassen werden könnten.
Hierauf entschied das Amtsgericht zu Z. am 10.
Oct. 1901 in oben schon angedeutetem Sinne, d. h.
die Entmündigung wegen Geistes k 1 a n k h e i t wurde
aufgehoben unter gleichzeitigem Ausspruch einer
Entmündigung wegen Geistes s c h w ä c h e. Diese
letztere focht jedoch der Anwalt des Fl. sofort an
unter dem Einwand, dass ein solches Verfahren un¬
zulässig sei. Einer Entmündigung wegen Geistes¬
schwäche habe ein neuer Antrag auf Eröffnung des
Entmündigungsverfahrens wegen Geistesschwäche vor¬
angehen müssen, nach vorheriger ordnungsmässiger
Aufhebung der Entmündigung wegen Geisteskrank¬
heit.
In der nun anhängig gemachten Klage des Fl.
gegen die Staatsanwaltschaft wegen Anfechtung eines
Entmündigungsbeschlusses wurde Referent zum Gut¬
achten aufgefordert und hatte sich darüber auszu¬
sprechen, ob Fl. am 10. Oct. 1901 geisteskrank
oder geistesschwach im Sinne des § ö B. G. B.
gewesen sei, und ob damals Entmündigungsmöglich¬
keit bestanden habe, bezw. ob noch in der Gegen¬
wart die Sachlage die gleiche sei.
Da FI. nicht zu bewegen war, sich einer Anstalts¬
beobachtung zu unterziehen, so war Referent ge¬
zwungen, auf Grund des reichhaltigen Aktenmateriales
und der Beobachtungen, die er an Fl. in zwei mehr¬
stündigen Terminen zu machen Gelegenheit hatte,
sein Urtlieil abzugeben. Da zeugenmässig erwiesene
Feststellungen aus den verschiedensten Zeitperioden
bis zur Gegenwart Vorlagen, auch eine eingehende
Befragung Fl.’s stattgefunden hatte, so glaubte er
ohne Bedenken so verfahren zu dürfen.
Das Gutachten erging in dem Sinne, dass der
in medicinisehem Sinne unzweifelhaft geisteskranke
Fl. auch als geisteskrank im Sinne des § 6 B. G. B.
anzusehen sei, bezw. dass bei ihm völlige Geschäfts¬
unfähigkeit vor liege, und dass zur Zeit der Aufheb¬
ung der Entmündigung wegen Geisteskrankheit,
also am 10. Oct. 1901, die Sachlage die gleiche
gewesen sei. Nach einer Betrachtung der Para¬
graphen des B. G. B., in denen die Rechte des
beschränkt Geschäftsfähigen tixirt sind, und ein¬
gehender Exemplificirung auf den vorliegenden Fall,
wurde dahin geschlossen, dass, wenn in Fällen aus¬
geprägter svstematisirter Wahnbildung die Fähigkeit
zur Wahrnehmung der eigenen Angelegenheiten über¬
haupt beeinträchtigt sei, dann auch volle Geschäfts¬
unfähigkeit angenommen werden müsse, da die Wahn¬
ideen jederzeit auch auf einen dem Kranken be¬
lassenen Rest von Geschäftsfähigkeit Einfluss ge¬
winnen könnten.
Ehe noch ein Urtheil erging, zog der klägerische
Anwalt die Klage zurück, Fl. fügte sich in die durch
den Entscheid vom 10. Oct. iqoi geschaffene Rechts¬
lage, galt somit als wegen Geistesschwäche
ent m ü n d i gt. Nun hatte aber im Herbst 1903
die Ehefrau Scheidungsklage auf Grund des § 1509
eingereicht und in dieser Processsache wurde Referent
ebenfalls mit der Erstattung des Gutachtens betraut,
welches folgenden Wortlaut erhielt:
Aufgefordert in rubricirter Sache ein ärztliches
Gutachten darüber abzugeben, ob die in dem $ 1500
des bürgerlichen Gesetzbuches geforderten Beding¬
ungen im vorliegenden Falle gegeben sind, unter¬
breitet der Unterzeichnete dasselbe dem Grossh.
Landgerichte Civilkammer II wie folgt.
Es ist zunächst festzustellen, dass bei dem Adam
Fl., Cigarrenarbeiter zu B., eine Geistesstörung von
dreijähriger Dauer besteht. Das Beweismaterial hier¬
für entnehmen wir den Entmündigungsacten des Be-
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I9°4-]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
307
klagten unter gleichzeitiger Beziehung auf unsere
gelegentlich zweier Termine in der Sache Fl. contra
Staatsanwaltschaft gemachten Beobachtungen. Nach
ersteren unterliegt es keinem Zweifel, dass bei Fl.
nach früher friedlichem, geordnetem Zusammenleben
mit seiner Familie seit dem Jahre 1897 Wahnideen
in die Erscheinung getreten sind, welche seither ihn
dauernd beherrschen und seine Stellungnahme zu
den Seinen erheblich geändert haben. Seit nunmehr
6 Jahren sieht er in seiner keineswegs mehr be-
gehrenswerthen, abgehäimten und schwächlichen Ehe¬
frau eine Person, die ihm die eheliche Treue ge¬
brochen haben soll, macht ihr ohne Scheu und ohne
jede Rücksicht die schlimmsten und dabei durchaus
unzutreffenden Vorwürfe, dass sie sich für Geld preis¬
gegeben, soviel Geld „zusammengehurt“ habe, dass
sie jedem ihrer Kinder eine Villa kaufen könne.
Diese letzteren will er nicht als die Seinen aner¬
kennen, sondern behauptet, sie seien aus ehebreche¬
rischen Verhältnissen entsprossen. In dieser An¬
schauung hat er sie, wie aus den Entmündigungs¬
acten zu entnehmen ist, häufig sogar mit den Namen
fremder Personen, eben der von ihm gemuthmaassten
Väter, gerufen und damit ihrer Ehre Abbruch ge-
than. In seinem Eifersuchtswahn ging Fl. sogar so¬
weit , dass er auch den Aerzten, mit denen seine
Frau in Berührung kam, unlautere Motive unterschob:
ganz Hessen habe es mit ihr zu thun und der
Doctor in Pf. auch, äusserte er einmal zu ihr.
Bei Worten Hess er es indessen nicht bewenden,
sondern flocht auch schwere Drohungen gegen seine
Ehefrau ein und erging sich in Thätlichkeiten gegen
sie, welche recht schwerer Art gewesen sein müssen,
denn die Tochter gab am 6. October an, dass nach
ihrer Ansicht die Mutter nicht mehr am Leben
wäre, wenn nicht der Bruder bei einer ihr erinner¬
lichen Scene hinzugekommen wäre und Schlimmes
verhütet hätte.
Wenn es auch verschiedentlich bei Vernehmungen
des Fl. den Anschein hatte, als seien zeitweilig die
bei ihm bestehenden Wahnideen abgeblasst, und
wenn er auch des öfteren bei solchen Gelegenheiten
auf Befragen es in Abrede gestellt hat, dass er seine
Frau für untreu, seine Kinder für die Nachkommen
anderer Personen halte, so ist er doch später stets
wieder mit den gleichen festwurzelnden Ideen her¬
vorgetreten und hat durch seine gesammte Lebens¬
führung, durch die fortgesetzt feindselige Stellung¬
nahme zu den Seinen hinreichend den Beweis an
die Hand gegeben, dass er völlig unter der Herr¬
schaft von Wahnideen steht. Es ist somit auf
Aeusserungen f ^- e solche Fl. noch im Juli dieses
Jahres zu Protocoll gab, dass er seine Frau nicht
mehr für untreu halte, sie um ihre Verzeihung bitten
wolle, seine Kinder als die eigenen anerkenne etc.
nicht das geringste zu geben, denn an späteren Zeit¬
punkten erging er sich abermals in Beschuldigungen
in gleichem Sinne, wie früher solche von ihm er¬
hoben wurden. Noch im September fielen beispiels¬
weise wieder Aeusserungen, wie: es sei doch ein
Hurenhaus, er werde es in die Zeitung setzen.
Das Verhalten im Termin am 7. Juli, ebenso
wie das früher im April 1901 gezeigte, sowie ferner
die Art und Weise, wie Fl. sich wieder am 6. October
dieses Jahres gerirte, beweisen eben nur, dass das
bei jedem noch einigermaassen überlegungsfähigen
Paranoiker bald mehr, bald weniger entwickelte Dis¬
simulationsvermögen auch bei Fl. eine Rolle spielt
Er hat zur Genüge die Erfahrung gemacht, dass
seine Ansichten nicht als zutreffend angesehen werden,
dass ein Festhalten daran vor Gericht bestimmen
kann, seine Entmündigung aufrecht zu erhalten. Und
so richtet er seine Antworten ganz darnach ein, ohne
aber sein Handeln im geringsten mit einer solchen
angeblich eingetretenen Aenderung seiner Anschau¬
ungen in Einklang zu bringen.
In Bezug auf seine Familie ist er vielmehr noch
ganz genau derselben Ansicht, wie bezüglich seiner
Verbringung nach H. und des erzwungenen Aufenthaltes
in der Anstalt daselbst. Eine Aeusserung von ihm
ist ein deutlicher Beweis dafür, dass er zu einer
sachlichen Würdigung der Gründe seiner Unterbring¬
ung in der genannten Anstalt absolut ausser Stande
ist, und dass unter Umständen sogar Gewaltacte
gegen den früher mit seiner Begutachtung betrauten
Herrn Dr. K. zu erwarten sind: „wenn ich nur den
K. hätte, dem thäte ich die Haut in lauter Riemen
schneiden.“ — Wer als Arzt eine Meinung äussert,
welche nicht zu seinen Gunsten ist, der gilt ihm
eben , wie es ja characteristisch für den Paranoiker
ist, als Gegner. So erklärt es sich auch wohl, wenn
er nach anfänglich bewiesener grössester Bereitwillig¬
keit (er kam im April nach Giessen, wurde
aber, da eine Aufforderung zur Begutachtung
von gerichtlicher Seite nicht vorlag, abgewiesen)
später doch nicht dem Referenten Gelegenheit zur
Beobachtung gewähren wollte, weil er auch gegen
ihn Misstrauen geschöpft haben dürfte.
Nach allem, was uns von ihm bekannt geworden
ist, steht Fl. unter dem Einfluss fixirter Wahnideen.
Weiterhin liegt hinreichend Grund vor zu der An¬
nahme, dass zeitweilig auch Sinnestäuschungen sich
bei ihm geltend gemacht haben. Seiner Frau hat er
den Vorwurf gemacht, er habe ,,die Kerle schnaufen“
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3°B
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 33.
hören, die es mit ihr zu thun hätten. Sie habe ihm
Gift unter die Nase gehalten, deswegen habe er dann
nicht zu sich kommen können. Dies erscheint
dringend verdächtig auf Hallucinationen des Gehörs
und des Geruchs. Damit würde auch die Mittheil¬
ung, dass er nachts im Zimmer umhergegangen sei
und laut gerufen habe: „dir weis’ ich’s!“. sehr gut
in Einklang zu bringen sein.
Wie ungemein intensiv die krankhafte Animosität
des Mannes gegen seine Familie ist, prägt sich auch
durch die neuerliche Aeusserung aus: wenn er die
ganzen Fl’s. erwischen könne, thäte er sie in ein Oel-
fass und sprengte sie in die Luft. Es muss ange¬
sichts derartiger Drohungen als sehr leicht möglich
bezeichnet werden, dass Fl. gelegentlich sich zu Ge-
walthandlungeu schlimmster Art hinreissen lassen
kann. Jedenfalls hat seine Gefährlichkeit für die
Seinen im Laufe der Jahre eher zu- wie abgenommen,
und das Fehlschlagen seiner Bestrebungen, aus der Ent¬
mündigung zu kommen, der eventuelle Erfolg seiner Ehe¬
frau mit der Ehescheidungsklage, beide Momente können
sehr wohl verhängnisvoll werden, indem sie Ent¬
ladungen einer pathologischen Antipathie heraufbe¬
schwören.
Fl. leidet somit an paranoischer Geistesstörung
feit etwa 6 Jahren. Hiermit sind die beiden ersten
Grundbedingungen des § 1569 erfüllt.
Wir haben in der Sache Fl. contra Staatsanwalt¬
schaft auseinandergesetzt, dass nach unserer Ansicht
der Ausspruch einer Entmündigung wegen Geistes-
schwäche im Jahre 1901 nicht gerechtfertigt w'ar,
sondern dass damals Geisteskran kheit auch im recht¬
lichen Sinne angenommen werden konnte. Dem¬
gegenüber können wir uns Erörterungen sparen be¬
züglich der Frage, ob bei einem rechtlich nur Geistes¬
schwachen, wenn auch in medicinischem Sinne Geistes¬
kranken, doch eine pathologische Geistesbeschaffenheit
von der Stärke vorhanden sein kann, wie sie erforder¬
lich ist zur Erfüllung der Grundbedingung des § 1569.
Von psychiatrischer Seite müsste man unseres Er¬
achtens diese Frage unbedingt bejahen, auch wenn
bei Fl. nur beschränkte Geschäftsfähigkeit angenommen
wäre. Dabei ist uns w r ohlbekannt, dass in der ge¬
richtlichen Praxis die Ansicht Befürworter gefunden
hat, dass die Begriffe Geisteskrankheit in den §§ 6
und 1569 identisch zu setzen seien, und dass die
Grundbedingung des letzteren nicht erfüllt sei, wenn
in einem Entmündigungsverfahren nur „Geistes¬
schwäche bezw. beschränkte Geschäftsfähigkeit“
für vorliegend erachtet wairde.
Zu prüfen ist nunmehr, ob die bei Fl. bestehende
Geisteskrankheit einen solchen Grad erreicht hat,
dass sie die geistige Gemeinschaft zwischen den
Ehegatten ausschliesst. Die Definition dessen, w r as
man unter geistiger Gemeinschaft zu verstehen hat,
ist eine verschiedenartige. Nach den Einen ist sie
gleichbedeutend mit der Fähigkeit des Verständnisses
und der Empfindung für das eheliche Verhältniss so¬
wie für die aus diesem Verhältnisse entspringenden
sittlichen Pflichten. Lenel, der bekanntlich diesem
Gegenstände seine besondere Aufmerksamkeit zuge-
w'endet hat, begreift darunter die Familieninteressen,
das übereinstimmende Bewusstsein, dass man an dem
Wohle des anderen Ehegatten und der Kinder in-
teressirt sei und den übereinstimmenden Willen habe,
diesem Wohle zu dienen. Die geistige Gemeinschaft
ist nach Leppmann aufgehoben, wenn „ein Mangel
des Bewusstseins gemeinsamer Interessen und der
Fähigkeit sowie des Willens, dieselben zu fördern, be¬
steht.“
Theoretisch kann man zwei Möglichkeiten unter¬
scheiden, bei denen die richtige Auffassung von dem
Wesen der Ehe und die Bethätigung des Interesses
am Wohle der Familie schwindet Dies kann erstens
bedingt sein durch eine Vernichtung der früheren
Persönlichkeit, d. h. durch völligen geistigen Ruin
bis zu dem Grade, dass der kranke Gatte intellectuell
und ethisch dem Nullpunkte nahe gerückt ist. Das
findet zum Beispiel bei vorgeschrittener Paralyse statt.
Oder zweitens durch eine Veränderung der früheren
Persönlichkeit des Kranken, wie sie speciell durch
fortschreitende Wahnbildung zu stände kommen kann.
Hier ist speciell die Paranoia in Betracht zu ziehen,
aber nur in solchen Fällen, in denen sich ein dele¬
tärer Einfluss der Wahnbildung auf die Beziehungen
zum gesunden Gatten nachweisen lässt.
Ein solcher Fall liegt hier vor, darüber braucht
man sich wohl nicht dem geringsten Zweifel hinzu¬
geben. Seit Jahren sieht Fl. in seiner Gattin eine
Gegnerin, die bestrebt sein soll, ihn unschädlich zu
machen, ihn ins Irrenhaus zu bringen. Er beschimpft,
misshandelt und bedroht sie, schädigt durch den
tiefen Zwiespalt, den er dadurch heraufbeschworen
hat, das gemeinsame Interesse in höchstem Maasse.
Der Wille und die Fähigkeit, dasselbe zu fördern, ist
gänzlich zurückgetreten hinter seine Wahnideen, diese
lassen ihn eine Activität hervorkehren, welche dem
Familieninteresse Schädigung über Schädigung zufügt.
Der pathologische Process hat ihn in eine Situation
gebracht, in welcher er den Seinigen und speciell der
Ehefrau nichts mehr ist. Diese werden sich erlöst
fühlen, wenn sie die letzte Fühlung mit ihm aufheben
können, und andererseits wird es für ihn keine Härte
bedeuten, wenn der de facto seit langem bestehende
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1904.
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
309
völlige Zerfall zwischen jenen und ihm nun auch noch
durch den Ausspruch einer Scheidung deutlich zum
Ausdruck gebracht wird.
Die geistige Gemeinschaft ist aber nicht nur seit
mindestens drei Jahren aufgehoben, sondern es
fehlt auch die Aussicht auf eine Wiederherstellung
derselben, denn erfahrungsgemäss sind Störungen der
Geistesthätigkeit, wie eine solche bei Fl. uns entgegen¬
tritt, chronischer Art. Der Kreis der Wahnideen
w’ird ein immer weiterer (vergl. die Einbeziehung der
Aerzte!), aber der Ausgangspunkt bleibt immer der
gleiche; was einmal infolge der bestehenden Störung
der Verstandesthätigkeit in falscher Weise verarbeitet
und in den Vorstellungsschatz aufgenommen wurde,
erfährt keine Correctur mehr. Und somit kann es
nach menschlichem Ermessen als ausgeschlossen er¬
achtet werden, dass Fl. bezüglich der Treue seiner
Gattin, der Abstammung seiner Kinder, der Recht¬
mässigkeit seiner Verbringung in eine Anstalt jemals
anderer Meinung werden wird, wie er es bisher ge¬
wesen. — Seit 6 Jahren tritt in seiner Wahnbildung
entschieden etw^as progressives hervor. Auch verdient
erwähnt zu werden, dass es bei Fl. neuerdings
anscheinend seltener wie früher zu Affectausbrüchen
kommt Beachtenswerth war in dieser Beziehung die
Ruhe, welche er bei der Verhandlung vom 6. October
bewahrte. Nicht ein einziges Mal liess er sich da
hinreissen, weder beim Anhören der gravirenden An¬
gaben, welche Frau und Tochter machten, noch wenn
er seitens des Vorsitzenden darauf hingewiesen wurde,
dass diesen gegenüber sein Inabredestellen doch einen
nicht glaubwürdigen Eindruck mache. Aeusserlich
ruhig erklärte er nur die ihm unbequemen Angaben
jener für eitel Lüge und verhielt sich sonst reservirt.
— Dieses Zurücktreten des Aflfectes ist prognostisch
bedeutungsvoll und im Sinne der Unheilbarkeit zu
verwerthen.
Fassen wir nunmehr zusammen, so sehen w'ir uns
berechtigt, dahin zu schliessen:
Adam Fl. von B. leidet seit über drei Jahren an
einer Geisteskrankheit. Es besteht bei ihm eine Wahn¬
bildung, welche ihn in eine feindselige Stellung zu
seiner Ehefrau und seinen Kindern gebracht hat und
noch in der Gegenwart täglich bringt. — Die geistige
Gemeinschaft der Ehegatten ist aufgehoben, denn
Fl. hat infolge seiner Krankheit völlig die Fähig¬
keit eingebüsst, das wahre Wohl der Seinen zu er¬
kennen, geschweige denn, dass er es noch zu fördern
vermöchte. — Da die vorliegende Geistesstörung
erfahrungsgemäss eine unheilbare ist, so darf auch
eine Wiederherstellung der geistigen Gemeinschaft für
ausgeschlossen erachtet werden.
Das unter dem 17. Mai 1904 ergangene Urtheil
schied die Ehe unter Verurtheilung des Beklagten in
die Kosten des Rechtsstreites. Im Tenor heisst es
unter den Gründen:
„Nach dem erstatteten Gutachten muss ange¬
nommen werden, dass der Beklagte geisteskrank ist,
er konnte deshalb in diesem Rechtsstreit nicht selbst¬
ständig einen Vertreter bestellen. Der Rechtsstreit
musste vielmehr, da Beklagter nach § 104 II. B. G. B.
geschäftsunfähig ist, durch den gesetzlichen Vertreter
geführt werden (§ 612 C. Pr. O.), als welcher nunmehr
A. D. in B. bestellt ist. —
Nach dem ausführlich begründeten Gutachten, auf
dessen Inhalt im einzelnen hier Bezug genommen
wird, kann es keinem Zweifel unterliegen, dass der
Klagegrund des §1569 gegeben ist. Bei dem Be¬
klagten sind bereits seit dem Jahre 1897 Wahnideen
in die Erscheinung getreten, die sich zunächst darin
äusserten, dass Fl. die eheliche Treue der Klägerin
bestritt, und die sogar zu Thätlichkeiten gegen dieselbe
führten. Es erscheint vorliegend die geistige
Gemeinschaft zwischen den Streittheilen aufgehoben,
d. h. die Empfindung für das eheliche Verhältniss
zum Ehegatten und die aus diesem Verhältniss ent¬
springenden Pflichten ist erloschen. — — Es erscheint
auch nach menschlichem Ermessen jede Aussicht auf
Wiederherstellung der ehelichen Gemeinschaft aus¬
geschlossen.“
Nach Ausgang des Scheidungsprozesses ist somit die
Sachlage in diesem Falle die, dass Fl., der nach wie
vor auf freiem Fusse ist und einem Erwerb nachgeht,
wegen Geistesschwäche entmündigt bleibt, wohin¬
gegen seine Ehe w’egen Geisteskrankheit geschieden
ist. Beide Processe wurden vor der gleichen
Civilkammer geführt. Der Richter hat sich somit
bei der Entscheidung in der Ehescheidungssache nicht
im mindesten dadurch beeinflussen lassen, dass der Be¬
klagte noch im Besitze der Rechte eines Minder¬
jährigen, bezw. in Ansehung des § 6 zur Zeit nur als
geistesschwach anerkannt ist.
Es dürfte sich empfehlen, die in dieser Zeitschrift
erscheinende Sammlung von Begutachtungsfällen bezl.
der Ehescheidungsfrage bei Geisteskrankheit grade
auch nach der Richtung dieser Mittheilung (geistes-
s ch wach im Entmündigungsurtheil und geistes¬
krank in Bezug auf den § 1569) weiter durch Ver¬
öffentlichung von Entscheidungen noch zu bereichern
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3io
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 33
M i t t h e i
— Deutscher Verein für Psychiatrie. Am
14. October fand in Berlin eine Sitzung des Vor¬
standes statt. Es wurde als Ort der nächsten Jahres¬
versammlung Dresden und als Zeit die Tage vom
28. und 29. April 1905 bestimmt. Zum Vorsitzenden
des Deutschen Vereins für Psychiatrie wurde Moeli
gewählt. Behufs Erlangung der Rechtsfähigkeit des
Vereins müssen die Satzungen einer Revision unter¬
zogen werden: eine Vorberathung fand statt. Die
gerichtliche Eintragung wird nothwendig werden durch
die Einrichtung der Heinrich Laehr - Stiftung,
welche der Verein in Göttingen beschlossen hat.
Herr Geheimrath Laehr hat 50000 Mark für die
Stiftung ausgesetzt. Wahrlich ein königliches Ge¬
schenk für die Deutsche Psychiatrie! Vivat sequens!
S.
— Posen. Am 2. November fand die Ein¬
weihung der vierten Provinzial-Irrenanstalt in Obra-
walde bei Meseritz statt
— Jena. Die Binswanger’sche Irrenklinik in
Jena beging am Dienstag das Jubiläum ihres 25jäh¬
rigen Bestehens. Die Feier wurde im engsten Kreise
unter den Aerzten und Anstalts-Insassen begangen.
Referate.
— Archiv für Psychiatrie und Nerven¬
krankheit. Bd. 38, Heft 2.
M eyer (Kiel): Ueber acute und chronische Alkohol¬
psychosen und über die ätiologische Bedeutung des
chemischen Alkoholmissbrauches bei der Entstehung
geistiger Störungen überhaupt.
Verf. giebt eine grössere Anzahl von Fällen von
Paranoia resp. Dementia paranoides wieder, bei
denen der chronische Alkoholmissbrauch aetiologisch
in Frage kam. Er kommt dann zu folgenden Resul¬
taten. Man kann von alkoholischen Psychosen
(speziell von chronischen Psychosen paranoischer
Färbung) nur dann sprechen, wenn eine direkte Ent¬
wicklung aus den typischen Erkrankungsformen, Deli¬
rium tremens oder acuter Alkohol-Paranoia, vorliegt,
oder wenn wenigstens vielfach nervöse und psychische
Störungen der Geistesstörung vorangegangen sind.
Sonst wird man in dem chronischen Alkoholmiss¬
brauch nur eine Hilfsursache für die Entstehung von
Geistesstörungen (spec. chronisch paranoiden) sehen.
Kalberlah (Halle): Ueber die acute Commo-
tionspsychose, zugleich ein Beitrag zur Aetiologie des
Korsakow’schen Symptomencomplexcs.
Die unmittelbar und zeitlich untrennbar nach
einer Gehirnerschütterung resp. dem auf dieselbe fol¬
genden Coma auftrctenden acuten geistigen Stö¬
rungen bilden ätiologisch und klinisch eine einheit¬
liche Gruppe, die sich vorwiegend durch qualitativ
und quantitativ mannigfaltige Störungen des Gedächt¬
nisses charakterisiren und ihrer Ex- und Intensität
nach sehr verschiedenartig zur Ausbildung kommen
1 u n g e n.
können. In der voll ausgebildeten Form erkennt man
den auch nach anderen Schädlichkeiten auftretenden
Korsakow’schen Symptomencomplex in seinen wesen-
lichsten Zügen wieder.
Pathologisch-anatomisch handelt es sich bei Ge¬
hirnerschütterung um einen organischen diffusen
destructiven Prozess vorwiegend der Hirnrinde.
Welche feineren, spezifischen organischen Verände¬
rungen dagegen den auf diesem Boden erwachsenden
geistigen Störungen zu Grunde liegen, entzieht sich
unserer Kenntniss.
Tschirjew (Kiew): Ein Fall vollständig geheilter
Blindheit (Hemianopsie). (Mit Abbildungen.)
Bei einem 22 jährigen Studenten trat ca. 7 Jahre
nach einem Sturz auf den Kopf eine Abnahme der
Sehkraft beider Augen ein in Form der Hemianopsia
sinistra, die allmählich fortschritt und auch auf die
rechte Hälfte überging. Später traten noch hart¬
näckige Kopfschmerzen hinzu, blitzartige Schmerzen im
linken Auge, Ameisenkriechen, Unfähigkeit längere
Zeit zu stehen, Schwäche der rechten Körperhälfte und
Fehlen der Patellarreflexe. Verf. nahm die allmähliche
Entwicklung eines Glioms an (Lues und Tuberculose
waren auszuschliessen) und erreichte durch tägliche
Quecksilbereinreibungen und warme Bäder das
Schwinden aller Krankheitserscheinungen.
Brat z und Falke nberg (Wuhlgarten): Hysterie
und Epilepsie.
Verf. haben durch Nachprüfung von 2500 Krampf¬
kranken der Anstalt Wuhlgarten festgestellt, dass eine
Hystero-Epilepsie als besondere Krankheitsform, die
zwischen der Epilepsie und Hysterie steht, nicht an¬
erkannt werden kann. Stets gelang es nachzuweisen,
dass entweder Epilepsie, oder Hysterie, oder Epi¬
lepsie und Hysterie Vorlagen. Eine einwandfreie
Diagnose ist freilich in einzelnen Fällen nur bei ge¬
nauester Kenntniss der Anamnese und jahrelanger
Beobachtung event. in einer Anstalt möglich. In
zweifelhaften Fällen darf nicht zu viel Werth auf den
einzelnen Anfall gelegt weiden, welcher nur die Be¬
deutung eines einzigen Symptoms hat. Entscheidend
ist der Verlauf des Gesammtleidens.
Ausserdem constatirten Verf., dass gar nicht selten
ein getrenntes Nebeneinander-Vorkommen von Epi¬
lepsie und Hysterie bei demselben Kranken nach¬
weisbar ist (Neurosenaddition): unter 724 Anstalts¬
kranken (386 F. und 338 M.) litten 31 Frauen und
7 Männer an Epilepsie und Hysterie. In den beob¬
achteten Fällen ging stets die Epilepsie der Hysterie
voraus.
A 1 1 (Uchtspringe) und Vors te r (Stephansfeld).
Gutachten über die Bezirksirrenanstalt zu Saargemünd.
Das ausführlich erstattete Gutachten kommt zu dem
Resultat, dass in der im Jahre 1880 eröffneten An¬
stalt vielfache Reformen notwendig sind. Es wird
u. A. empfohlen: das Niederlegen von Mauern, Be¬
pflanzen der Höfe, Offenlassen der Thüren, Verbesse¬
rung der Wasserzufuhr, die Abwässerung und die Be-
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1904.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
3 11
leuchtung, Errichtung von Neubauten ev. Einführung
der Familienpflege, vermehrtes Heranziehen der
Kranken zur Arbeit in den Werkstätten, Vermehrung
und bessere Besoldung der Aerzte und des Pflege¬
personals, Verbesserung der eintönigen Kost und der
gesammten Ausstattung.
Arnemann - Grossschvveidnitz.
Bibliographie
über Kriminal-Anthropologie und Verwandtes.
II. Quartal 1904.
Von Medicinalrath Dr. P. Näcke in Hubertusburg
(Fortsetzung.)
Movnihan: Congenital hypertrophic Stenosis of
the pylorus. Med. News, 1903, p. 700.
Silberberg: Ueber angeborene Colonerweiterung.
Central-Bl. für Grenzgeb. d. Med. u. Chir. 1903,
VI, 2—3.
Ri viere: Vice de position du rein et de l’uretere
du eöte gauche. Lyon med. 1903, der. 20.
Maclennan: Case of congenital defonnitv of the
nose associated with a degree of median harelip.
Brit. med. Journ. 1903, dec.
Owen: Cleft-palate and harelip etc. Lancet, 1903
dec.
Putnara: Hare-lip and its treatment. Pust-Graduate
1903, oct.
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geborener Rückgratsverkrümmung etc. Mon.-Schr.
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[Nr. 33 -
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Mehrlingsgeburten. Ztschr. f. Geburtsh. u. Gvnäkol.
1903, H. 1..
Scholz, Friedrich: Die moralische Anaesthesie.
Leipzig, Mayer, 1904. (Fortsetzung folgt )
Personalnachrichten.
— Unser sehr verehrter Herr Mitherausgeber,
Privatdocent Dr. Weygandt, wurde vom ärztlichen
Verein zu München in der Generalversammlung vom
12. X. zum korrespondirenden Mitgliede ernannt.
— Die Stelle des leitenden Arztes an der Heil¬
stätte „Waldfrieden“ bei Fürstenwalde hat am
15. X. Dr. med Danckwarth, vorher II. Arzt in
„Tannenhof“, übernommen.
Die bei empündlichen Patienten, daher besonders bei
Geisteskranken und Neurasthenikern als Abführmittel wegen
ihres angenehmen Geschmackes sehr empfehlenswerthen
Kanoldt’schen Tamarinden, welche in der Hauptsache Apfel-,
Wein- und Citronensäure enthalten, werden nach Angabe
von C. Kanoldt’s Nachfolger (O. Reyher). Apotheker in Gotha
nach folgendem Rezept hergestellt: 3,0 Apfel-Citronen-Wein-
säure und Weinstein enthaltendes Tamarinden-Extrakt werden
mit 0,25 kohlensaurer Magnesia, 0,5 entharztem Senna-Pulver,
2,0 Zucker zur Latwerge gebracht, schmackhaft gemacht, mit
2,0 Schokolade überzogen und darauf überzuckert, und sind
um die Hälfte billiget als die Arzneitaxe zu berechnen ge¬
stattet. Sie erzeugen eine reiz- und schmerzlose Entleerung
des Darmes, stören nicht nur nicht die Verdauung, sondern fördern
sie und werden auch, wo wiederholter Gebrauch nöthig ist,
gut vertragen.
9 ^^ Dieser Nummer liegt ein Prospekt von
J. D. Riedel, Chemische Fabrik, Berlin N. 39
bei, worauf unsere Leser besonders hingewiesen seien.
Für den redaction eilen Tluil verantwortlich: Oberar/t Dr. J. ÜresLc-r , Luhl.mt? (Schlesien).
Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Heynemann’sche Buchdruckerei (Gebr. Wr’fft in Halle a. S.
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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift.
Redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. B realer,
Lublinitx (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adresse: Marho Id Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834.
Nr. 34. ~ 19. November. '_ 1904.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagshuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten.
Die badische Volksnervenheilstätte.
1. Organisation und Finanzirung der Badischen Volksheilstätte für Nervenkranke.
Von Dr. Walter /'ttrAj-Emmendingen.
1 ?s hat immerhin lange gewährt, bis im Gross-
herzogtum Baden, dem sonst stets voraus¬
schreitenden, die Bestrebungen zur Errichtung einer
Volksheilstätte für Nervenkranke sich zu einem ersten
Ergebniss zusammengeschlossen haben, und auch
jetzt noch sind die zur Verfügung stehenden Mittel
erst bescheidene; die badischen Camegie’s verharre^
bisher in Heimlichkeit. Höchst erfreulich dagegen
und geradezu vorbildlich ist das Mitrateu und Mittun
der Staatsregierung; ihr ist es zu danken, wenn die
Conferenz im Mai d. Js. umfassende Beteiligung fand
und zur Gründung des Vereins ,,Badische Volksheil¬
stätte für Nervenkranke“ führte. Damit ist eine
Instanz geschaffen, an welche der Staat und die
Verbände ihre Zuschüsse abführen können, nun ist
ein Centrum da, welches die Organisation leitet,
Aufklärung in’s Volk trägt und Bau wie Betrieb
der Heilstätte rasch, sachkundig und mit Sparsamkeit
in die Wege lenkt.
Eine Heilanstalt ist auf keinen Fall etwas Billiges.
Man bedarf eines Grundstückes, und zwar eines
nicht ganz kleinen, da wir keinen mehrstöckigen
Block brauchen können, sondern nach modernen
Principien detachirt bauen müssen, da ferner
reichlich genügendes Gelände für Gartenarbeit und
dergl. vorhanden sein soll. Zu der Bausumme
gesellen sich die Kosten für die innere Ein¬
richtung. Und endlich kommen die Betriebs¬
kosten im weitesten Sinne des Wortes.
Die verschiedenen Geldquellen, die für ein gemein¬
nütziges Unternehmen, wie die Nervenheilstätte, in
Frage kommen können, sind der Staat, die Kreise, die
Gemeinden, die Vereinigungen (j er Arbeiterschutz-Ge¬
setzgebung, die Einzelwohlthätigkeit und schliesslich die
Anstalt selbst. Es fällt auf, dass die staatlichen Ver¬
bände als direkt unterstützende Faktoren sich bisher
zurückgehalten haben. Nur das Grossherzogthum Baden
hat die Verpflichtung zur Versorgung wie der Geistes¬
kranken so der Nervenkranken im Princip anerkannt,
und wir dürfen hoffen, dass für die Nervenheilstätte
eine nicht unerhebliche Unterstützung gewährt werden
wird. Aehnlich verhält sich übrigens das Gross¬
herzogthum Sachsen - Weimar gegenüber der neuen
Thüringer Nervenheilstätte. Die Kreise bezw. die
Provinzen bleiben vorläufig auch noch abwartend;
einzig die preussische Provinz Hannover hat seit
kurzem eine eigene Provinzialheilstätte in Betrieb,
und zwar in der klar ausgesprochenen Ejrkenntniss,
dass eine solche, vorbeugend wirkende Anstalt die
Zahl der Geisteskranken und damit die Ausgaben für
die Irrenanstalten zu vermindern berufen ist.
Die grossen socialen Institutionen dagegen
stehen der Sache sympathischer gegenüber. Wir werden
gleich sehen, mit welch hohen Beträgen namentlich
die Landes - Versicherungs - Anstalten der privaten
W o h 11 h äti g k e i t zu Hilfe gekommen sind.
In der That ist es die letztere, die private
Wohlthätigkeit, die den Hauptruhm in der
Ncrvenheilstättenbewegung für sich in Anspruch nehmen
darf, sowohl was frische Initiative, wie beharrliches
treues Weiterarbeiten anbetrifft. In ausgezeichneter
Weise hat sich das bei der Nervenheilstätte Haus
Schönow in Zehlendorf bei Berlin bewährt, deren
Erfolge und Erfahrungen uns für unseren Plan Muth
und reiche Belehrung geben können. Die Gründer
von Haus Schönow waren von vornherein entschlossen,
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HARVARD UNIVERSUM
3i4
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 34 -
sich an die private Wohlthätigkeit zu wenden. Aber
freilich verfügte man von vornherein über ein ge¬
schenktes Gelände von 7 ha und über ein Kapital
von 232000 M. Das war schon viel, wenn auch noch
annähernd nicht genug; denn- man hatte sich auf
eine Anstalt von 70—80 Kranken geeinigt, die aber
bis zu 100 Plätzen erweiterungsfähig sein müsse. Da
nun die hierfür nöthige Bausumme plus innerer
Einrichtung auf 450000—500000 M. beziffert wmrde,
so blieben noch weit über 200000 M. aufzubringen.
Das ist in kurzer Zeit möglich gewesen: die
Alters- und InvaliditätsVersicherungsanstalt zu Berlin
gab dazu eine erststellige Hypothek von 200000
Mark zu 3 Prozent, und hierzu addirten sich
die Beiträge der Mitglieder des ad hoc ge¬
gründeten Vereins „Heilstätte für Nervenkranke
Haus Schönow“: einmalige Beiträge von mindestens
je 200 M. und Jahresbeiträge von mindestens je 6 M.
Es blieb also nur noch die Sorge um die Betriebs¬
kosten inclusive der Kosten der Unterhaltung und
Entwicklung, und die hat man sich leider entschliessen
müssen durch die Pflegesätze zu decken. Haus
Schönow nimmt für Kopf und Tag durchschnittlich
4 M., bei nachgewiesener Bedürftigkeit allerdings nur
3 oder 2 M., dagegen 7 bezw. 6 M. von bemittelteren
Kranken in einer besonderen Abtheilung. Und zwar
zahlten den vollen Pflegesatz im Jahre 1903 69,5%
der Kranken und nur 30,5% wurden zu einem er-
mässigten Pflegesatz behandelt. Freibetten besitzt
Haus Schönow nur eins, erst neuerdings hat sich
dazu noch ein 8 A-Freibett erstellen lassen. Das ist
also für wirklich Bedürftige wenig tröstlich, trotzdem
es nach dem Jahresbericht möglich war, bei Nachweis
der Bedürftigkeit jedes Gesuch um Herabsetzung des
Pflegesatzes zu berücksichtigen. Es ist dieser durch¬
schnittliche Pflegesatz auch unverhältnissmässig höher
als beispielsweise in unseren Heil- und Pflegeanstalten,
wo er auf noch nicht eine Mark pro Kopf und
Tag sich beziffert. Dieses Missverhältnis muss
schädlich genannt werden. Denn in den Nervenheil-
stätten ersteht ja ein Instrument der Vorbeugung,
welches mit der Zeit die Zahl der Seelenstörungen
vermindern und die Staatsirrenanstalten entlasten soll,
welches also durch eine zweimonatliche oder vielleicht
auch viermonatliche Kur eine Irrenanstaltsversorgung
von mindestens 9 Monaten, meistens aber von
Jahren oder gar Jahrzehnten unnöthig machen kann.
Hierbei sei bemerkt, dass Haus Schönow seine
Kranken nach durchschnittlich nur 54 Tagen entlässt
und trotzdem 75%, bei den Neurasthenikern sogar
89% Heilungen resp. Besserungen hat. Aber das
Gute allerdings haben die höheren Pflegesätze für
Haus Schönow gehabt, dass diese Heilstätte den
ganzen Betrieb incl. der Zinsen durch die laufenden
Einnahmen zu decken vermochte. Ich fürchte, dass
auch wir von dem Ideal der Wohlfeilheit manches
werden streichen müssen. Jedenfalls würden Millionen
nöthig sein, wollte man auch nur überwiegend Frei¬
plätze schaffen.
Für die gedeihliche Entwicklung von Haus Schönow
sprechen die Jahresberichte: der Verein hatte im
vorigen Jahre 487 Mitglieder mit z. Th. sehr hohen
Beiträgen. Seine Damengruppen verfügen über ein
Kapital von über 10000 M. und ausserdem erheb¬
liche Baarmittel. Direkt geschenkt wurden: Das Geld
zur Vergrösserung des Treibhauses, das auf 22 000 M.
bewertete Grundstück für einen neuen Pavillon, zahl¬
reiche Werthgegenstände und baare Summen in
Einzelgaben von hunderten von Mark; dazu kommen
baare Zuwendungen von Magistraten, Gemeinden,
Kreisen, Stiftungen, Ortsvereinen. Zwei Rechts¬
anwälte gewährten unentgeltlichen Rechtsbeistand.
Abermalige Darlehen gaben die Kreissparkasse
und die Landes Versicherungsanstalt in Höhe von
80000 und 100000 M. Sehr schön ist es, dass
man auch an die Schaffung eines Pensionsfonds für
langjährige Pflegeschw’estem hat herangehen können.
So dürfen wir sagen, dass die Heilstätte „Haus
Schönow“ in vorbildlichem und beneidenswertem Flor
steht, und zwar ohne jegliche Staatsbeihilfe.
Die anderen Neuschöpfungen der Art haben sich
zum Theil anders organisirt.
Das Provinzial-Sanatorium für Nervenkranke „Rase¬
mühle“ bei Göttingen ist wie gesagt eine Einrichtung
der Provinz Hannover und damit in der Lage, seine
Kranken zu täglichen Pflegesätzen von 4 M. in der
1. und 2,50 M. in der 2. Klasse zu verpflegen. Das
ist also billiger als Haus Schönow, aber wahrscheinlich
wird, so schreibt mir der leitende Arzt, ein
kleiner jährlicher Zuschuss nöthig sein. Die Anstalt
ist erst vorigen Herbst eröffnet worden, es fehlt also
noch an gründlichen Erfahrungen.
Besonders interessant und in mancher Hinsicht
vorbildlich ist die Bewegung, die in der Rheinprovinz
für die Nervenheilstättensache mit grosser Energie
und Kapitalkraft eingesetzt hat Hier hat sich nach
einer constituirenden Versammlung eine Gesellschaft
mit bcschr. Haftung gebildet, mit einem aus den
volleingezahlten Stammeinlagen bestehenden Stamm¬
kapital von ursprünglich 61000 M., seit November
vorigen Jahres 121000 M.. Diese Gesellschaft will
„Heilstätten für würdige und bedürftige Nervenkranke
aus den minderbemittelten Klassen, vornehmlich aus
dem Arbeiterstand der Rheinprovinz“ errichten. An
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HARVARD UNIVERSITY
I 9°4-
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
3i5
Geldgeschenken stehen ihr 24000 M. zur Ver¬
fügung, den weiter erforderlichen Beitrag zur Bau¬
summe bis zur Höhe von 600000 M. (also ca.
480000 M.) hat der Vorstand der Landesversicherungs¬
anstalt Rheinprovinz gegen 3 % Zinsen und 1 °/o Amor¬
tisation darlehnsweise hergegeben. Ein Grundstück
von 100 Morgen im Werte von ca. 40000 M. ist
der Gesellschaft geschenkt worden. Das alles ist
heute schon, ein Jahr nach jener constituirenden
Konferenz, erreicht und fertig. Die Tilgung der
Betriebskosten, Zinsen und Steuern ist durch die
Pflegesätze gedacht, eine Gewährung von Freistellen
nicht beabsichtigt Der Pflegesatz pro Tag und Kopf
beträgt voraussichtlich 3,50 M. Das Hauptkontingent
von Nervenkranken wird wohl die Versicherungsanstalt
liefern. Beachtenswerth sind einige Bestimmungen
des Statuts: „der Ueberschuss der Aktiva über die
sämmtlichen Passiva, letztere einschliesslich des Grund¬
kapitals, des Reservefonds, etwaiger Emeuerungsfonds
und Stiftungsfonds bildet den Reingewinn. Der er¬
mittelte Reingewinn ist einem Reservefonds gutzu¬
schreiben, bis solcher die Höhe von 25% des
Stammkapitals erreicht hat. Von da ab kann eine
auf höchstens 2% jährlich sich bemessende Verzinsung
stattfinden. Wieviel von dem Buchwerth der Im¬
mobilien, Mobilien und Aussenstände abgeschrieben
werden soll, beschliesst der Aufsichtsrath.“
Besonders beachtenswerth bei dieser kraftvollen
Unternehmung ist ihre Entstehung gerade in der
industriell so blühenden Rheinprovinz und die Ziel¬
klarheit, mit der gleich eine Vielheit von Nerven-
heilstätten als erstrebensbedürftig ins Auge ge¬
fasst ist.
Noch mehr an eine Aktiengesellschaft erinnert
die in der Schweiz sich bildende Colonie Friedau,
bei welcher der Schöpfer der ganzen Nervenheilstätten-
bewegung, Möbius, persönlich betheiligt ist. Dieser
Verein „Colonie Friedau“ konstituirt sich aus ordent¬
lichen Mitgliedern, die mindestens einen verzins¬
lichen Anteilschein zu 100 Fr. erwerben, und
aus ausserordentlichen Mitgliedern mit einem Jahres¬
beitrag nicht unter 5 Fr. Ein grosser Theil des
Geldes wird in Grund und Boden angelegt, ist also
gesichert, während Zinsen nicht sofort zu erwarten
sind. Es handelt sich, wie Möbius sagt, um beschränkte
Wohlthätigkeit. Der Verein errichtet eine alkohol¬
freie Genossenschaft, die geistesgesunde Nervenkranke
und leichter Alkoholkranke umschliessen soll.
Die Aufgabe, Volks-Nervenheilstätten zu errichten,
ruft uns also nicht vor ein Experiment in’s Dunkle
hinein. Es handelt sich erwiesenermaassen um eine
notwendige, nützliche und zugj e jch dankbare Auf-
Di gitized by Google
gäbe, für die deshalb auch viel und gern gegeben wird.
Die Resultate, die andere vor uns schon erzielt haben,
müssen wir prüfen und das Beste daraus für uns
verwerten.
Was das Anstaltsgrundstück betrifft, so würde es
das billigste sein, wenn auch wir es uns schenken Hessen.
Sollten wir es kaufen müssen, so wäre zu bedenken,
dass Grundstücke in der Nähe grösserer, hilfsquellen¬
reicher Städte teurer sind, als solche in ländlicher
Einsamkeit. Andererseits hätte man bei letzteren
weniger Aussicht auf Erleichterung der Zufuhr, An¬
schluss an Wasser- und Beleuchtungsanlagen und
Aehnliches, sodass der ursprüngliche Nutzen sich mit
der Zeit in’s Gegenteil verkehren könnte. Jeden¬
falls muss ein in jeder Beziehung möglichst billiger
Platz, allerdings unbeschadet vitaler sonstiger Ge¬
sichtspunkte, gewünscht werden. Es ist ferner zu
wünschen genügende, d. h. reichliche, namentlich für
Gartenbau raumgebende Grösse und ergiebige Boden¬
art. Davon hängt der Ertrag der Arbeitstherapie ab
und somit die Höhe der Einnahmen, wie der Grad
der Herabminderung der Ausgaben.
Die Bausumme würde aus Einzelgaben der
privaten Wohlthätigkeit und aus den Vereinsbeiträgen
sich combinieren müssen. Die Letzteren wollen wir,
um weiteste Betheiligung zu gewinnen, auf 200 M.
Mindesteinzelbeitrag und 6 M. Mindestjahresbeitrag
festsetzen. Auch an Ausgabe von Obligationen nach
Muster Kolonie Friedau würde zu denken sein.
Bei genügender Betheiligung und genügendem
Opfersinn könnte das eine stattliche Summe aus¬
machen. Ueberdies planen wir die Abhaltung von
Wohlthätigkeitsbazaren in den grösseren Städten des
Landes und werden uns auch nicht scheuen, durch
Wandervorträge für die gute Sache zu wirken und zu
werben, soweit das Beruf und Dienst uns erlauben.
Endlich könnte man eine Lotterie in’s Auge fassen.
Es wird indessen wohl nicht mehr als recht und
billig sein, auch bei uns in Baden die Hilfe der
Landesversicherungsanstalt anzurufen, die in
Form von ersthypothekarisch gesicherten Darlehen sich
zu betheiligen haben würde. Auch die Stadtgemeinde,
auf deren Terrain die Anstalt etwa zu liegen käme,
würde hoffentlich pekuniäre Beihülfe leisten. Hierfür
freilich fehlt uns noch jede Gewähr. Dagegen dürfen
wir eine baare staatliche Beihülfe, vielleicht bis zu
v 8 des Bauaufwandes, wohl bestimmt erwarten. Hier¬
her gehört auch die Frage nach der Stellungnahme
der Kreise. Bekanntlich haben nicht alle Kreise
eigene Kreispflegeanstalten und wenn, so werden
diese nicht nach gleichen Gesichtspunkten geleitet.
In dieser Ungleichartigkeit, die von erfahrenen Kreis-
Original frnm
HARVARD UNIVERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 34.
3i6
anstaltsleitern selbst am meisten empfunden wird,
liegt etwas Rückständiges, unter dem sowohl die
Pflegebedürftigen, wie auch die Kreise und Communen
leiden müssen. Das könnte einigermaassen ausge¬
glichen werden bis zur späteren gründlichen Regelung
durch eine zielbewusste Betheiligung der Kreise
an der Nervenhei lstättengründ ung.
Bei der Frage der Betriebskosten haben
wir gesehen, dass Haus Schönow diese aus dem
Pflegesatz, der aber durchschnittlich 4 M. hoch
ist, reichlich bestreitet, dass dagegen die „Rasenmühle“,
deren Kranke zu 8 / 4 nur 2,50 M. und nur zu 1 / i
4 M. bezahlen, auf einen Zuschuss sich gefasst
macht. Auch wir werden also, wenn wir es nicht
besser treffen sollten wie unsere Paradigmata, an
eine sehr billige Nervenkur nicht denken dürfen.
Das ist im Interesse der minderbemittelten Nerven¬
kranken noch mehr zu bedauern als in dem der gar-
nicht bemittelten; für die findet sich schliesslich eine
Versicherungsanstalt, Krankenkasse oder dergleichen,
welche bezahlt, für die Minderbemittelten aber, die kleinen
Beamten, Kaufleute, Professionisten, Lehrer und sehr
viele Frauen nicht. Hier ist nun, wie ich glaube,
ein Punkt, wo die Grossherzogliche Staatsregierung werk-
thätig helfen könnte. Falls staatlicherseits als
Zuschuss zu den Betriebskosten ein jährlicher Bei¬
trag zugesichert würde, dann könnten wir, je
nach dem, eine grössere oder geringere Zahl von
halben oder viertel Freistellen für jene eines Schutz¬
gesetzes noch entbehrenden Nervenkranken an der
künftigen Anstalt schaffen. Eine ganz unentgeltliche
Behandlung unterliegt gewissen Bedenken, wird auch
im Allgemeinen nicht nöthig sein, kann ja aber für
bedürftige Kranke jederzeit gewährt werden. Wenn
wir die Kurzeit, natürlich ohne bindende Limitierung
für den Einzelfall, auf 60 Tage bemessen, so könnten
bei 12 000 M. jährlichem Staatszuschuss 50 Kranke
unentgeltlich, 100 bezw. 200 zum halben oder viertel
Pflegesatz Aufnahme finden. Etwas Aehnliches an
zuverlässiger Stütze besitzen die anderen Nervenheil-
stätten noch nicht.
Vielleicht könnten wir aber noch in etwas anderem
uns vorbildlich zeigen. Wie aus den Haus Schönower
Berichten hervorgeht, figurieren in der Betheiligung
an der Zuführung von Kranken ausser den Landes¬
versicherungsanstalten noch eine ganze Reihe anderer
Institutionen, wie Eisenbahndirektionen, Armendkek-
tionen, Ortskrankenkassen, Berufskrankenkassen, mit
relativ hohen Ziffern — ein Beweis für das grosse,
im allgemeinen stabile und höchstens noch wachsende
Bedürfniss. Falls nun die entsprechenden Ver¬
einigungen bei uns, unter denen ich die Berufsver¬
bände nicht vergessen möchte, je nach ihrem zu be¬
rechnenden Durchschnitts-Bedürfniss sich an der
Finanzierung unseres Unternehmens betheiligten, statt
auf jeden einzelnen Fall des Bedürfnisses zu warten,
so wäre das eine gewichtige Unterstützung und
doppelt erfreulich deshalb, weil diese Verbreiterung
unserer pekuniären Basis zugleich eine grosse Ver-
volksthümlichung des Heilstättengedankens bedeuten
würde. Ganz und gar im Sinne das Gesetzes würde
es sein, wenn die grossen Summen, welche die Re¬
servefonds der Kassenverbände darstellen, zum
Teil als Hypothekendarlehen für Volksnervenheil-
stätten Verwendung fänden.
Die Einnahmebilanz unserer präsumptiven Heil¬
stätte wird, das dürfen wir mit Sicherheit Voraussagen,
eine feste Stütze in den Erträgnissen der Arbeit
unserer Pfleglinge finden. Haus Schönow blickt auf
die besten Nutzerfolge. Die Arbeitsprodukte dienen
dem Betrieb der Anstalt, werden auch zum Theil an
Kranke und an Freunde der Heilstätte verkauft Betrieben
wird Gartenarbeit, Schreinerei, Schnitzen, Buchbinden,
Haushalt, Hausarbeit, Bürstenmacherei, Bureauarbeit,
Photographieren. Zu erwägen wäre, ob wir nicht mit
einer höchst praktischen Einrichtung, zu der Haus
Schönow jetzt erst gelangen will, gleich von vorn¬
herein beginnen sollen, nämlich mit einem besonderen
Arbeitsbetrieb ausserhalb der eigentlichen Heilstätte,
also einer Zwischenstation zwischen Heilstätte und
selbständiger Stellung im Erwerbsleben. Der Kranke
würde hier einige Monate noch, zwar ohne beständige
ärztliche Aufsicht aber in verbürgt hygienischen
Lebensverhältnissen, seine Kräfte üben können; er
würde vollen Lohn für seine Arbeit erhalten, aber
auch die Kosten seiner Verpflegung selbst tragen.
Gärtnerei und Schreinerei haben sich als besonders
nützlich erwiesen, sowohl finanziell, wie therapeutisch.
Wenn die Einrichtungskosten nicht oder nur zum
kleinsten Theil zu verzinsen sind, kann man mit
ziemlicher Sicherheit darauf rechnen, dass die Unter¬
haltungskosten einer reichlich und vollkommen aus¬
gestatteten Gärtnerei durch den Betrieb voll gedeckt
werden.
Die Schreinerei allein produciert in Haus Schönow
im Werthe von 1600 M., das entspricht fast genau den
Ausgaben für sämmtliche Gewerke zusammen; unter
anderem wurden 162 Stühle für’s Haus im Werthe
von 1167 M. angefertigt. Auch die Gärtnerei brachte
reiche Erträge, die grösstentheils in der Heilstätte ab¬
gesetzt wurden. Wir in der H eilanstalt Emmen¬
dingen haben aus einem Gemüsegarten von 3 ha
16 ar in den letzten drei Jahren Gemüse erzielt im
Werthe von zusammen 22 865 M., im Durch-
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Original fram
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1904 .]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
schnitt also 7621 M. jährlich. Das sind auf
Hektar und Jahr berechnet über 2400 M.! Aller¬
dings ist das der beste Boden, den wir in Emmen¬
dingen haben.
Zur Zeit, da noch so wenig Sicherheit für
Fundamentirung wie Hochbau unserer Heilstätten¬
gründung gegeben ist, wird man eine detaillierte
Kostenberechnung nicht verlangen. Wir dürfen aber
wohl auf die mehrjährigen Erfahrungen von Haus
Schönow hinweisen, die mutatis mutandis bei unserm
verwandten Unternehmen sich wiederholen werden.
Zu dem schon gesagten sei noch ergänzend berichtet,
dass die Betriebskosten, auf die es später ankommen
wird, von 93000 M. bei 22 270 Verpflegungstagen
im Jahre 1900 auf über 115 000 M. bei 27668
Verpflegungstagen im vorigen Jahre angewachsen sind.
Das macht auf den Tag etwas mehr als 4 M.
Wenn wir überlegen, was alles zu den Betriebskosten
gehört: die verschiedenen Zinsen, die ganze Kranken¬
behandlung, Beköstigung, Extradiät, Bekleidung,
Wäsche, Betrieb und Instandhaltung des Hauses,
Ausgaben für den Arbeitsbetrieb, Belohnungen und
Unterstützungen, Löhne und Gehälter, wobei wir
nicht knausern dürfen, insbesondere auch das Wart¬
personal und den selbständigen ärztlichen Direktor
317
reichlich und standesgemäss honorieren müssen —,
wenn wir diese Fülle der Ausgaben schätzungsweise
berechnen, so werden auch wir mindestens den Satz
von 4 M. Kosten pro Tag und Kopf veran¬
schlagen müssen.
Es ist nicht zu bestreiten, dass das Ziel, das wir
erstreben, grosse Opfer und Kosten erfordert, denn
auch der Krieg gegen die Krankheiten ist ohne Geld
und wieder Geld nicht aussichtsvoll zu führen. Fürst
Bismarck, der grosse Socialstratege, hat das wohl
gewusst und daher die Instrumente seiner Social¬
politik, die Berufsgenossenschaften, Versicherungsan¬
stalten und Krankenkassen finanziell kampffähig
fundirt. Die runde Milliarde, über die die drei ge¬
nannten Arten von Institutionen schon im Jahre 1900
verfügten, kann als Kriegsschatz mächtig genug genannt
werden. Und dass diese Summen wechselnde, nur
vom praktischen Bedürfniss abhängige Verwendung
finden dürfen und sollen, das ist ausgesprochen
durch die Rubrik über die Nothwendigkeit besonderer
Behandlungsmaassnahmen, die die Möglichkeit einer
Weiterentwicklung der staatlichen Krankenfürsorge
parallel mit dem Weiterschreiten der ärztlichen Er¬
kenntnis und der ärztlichen Kunst gesetzlich sicherstellt.
Mitthei lungen.
— Oesterreich. Wenn man von der Südbahn¬
strecke oder noch besser über Speising und Lainz
gegen Wien fährt, so sieht man das Häusermeer
gegen Nordosten durch das waldbekränzte Mittel¬
gebirge des Wiener Waldes umsäumt, darunter den
Galizinberg mit dem neuerbauten Schlosse des Erz¬
herzogs Rainer und seinen im dichten Waldesgrün
verstreuten Villen.
Der Galizinberg fällt gegen Südosten sanft ab;
hier sind geräumige Wiesenflächen, welche bisher
der Tummelplatz der Jugend von Ottakring, in den
Abendstunden aber auch der Sammelort für manche
lichtscheue Elemente gewesen sind.
Seit einiger Zeit herrscht auf diesen Plätzen
reges Leben; ein Gewirre von Strassenzügen durch¬
schneidet das Terrain nach allen Richtungen, Loko¬
motiven keuchen, lange Material züge hinter sich
schleppend, den Berg hinan, und von der Höhe er¬
tönt das kreischende Geräusch einer Maschine,
welche die im nahen Steinbruche gewonnenen Steine
zu Schotter und Sand zermahlt.
Hier ist der Bauplatz für die neue Wiener
Irrenanstalt oder vielmehr für die drei neuen
Anstalten, welche als Ersatz für die der Demolirung
anheirafallende alte Irrenanstalt am Brünnlfelde ge¬
schaffen werden.
Der Neubau des k. k. allgemeinen Krankenhauses
auf der Area der Irrenanstalt und des Versorgungs-
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hauses, hat bereits die Verlegung des letzteren aus
der Spitalgasse zur Folge gehabt. Nunmehr ist die
Reihe an der Irrenanstalt, die in neuer, wesentlich
veränderter Form auf den sogenannten „Spiegel¬
gründen“ am Galizinberge erstehen wird.
Die neue Anstalt wird sich aus drei Th eilen, einer
Heilanstalt, einer Pflegeanstalt und einem Pensionate
zusammensetzen und im ganzen für 2000 Kranke
Raum bieten, doch sind die Wirtschaftsgebäude,
insbesondere die Küche und Wäscherei, in so reich¬
licher Weise angelegt, dass die Pflegeanstalt noch
eine bedeutende Erweiterung erfahren kann.
Man hat geglaubt, dass mit der Errichtung der
neuen Irrenanstalt in Mauer-Oehling der Gipfel
des Schönen und Zweckmässigen für eine Irrenanstalt
erreicht worden sei, die Pläne für den Neubau der
Wiener Irrenanstalt zeigen aber, dass es auch darin
noch eine Steigerung giebt und steht man be¬
wundernd vor den Plänen des Riesenwerkes, welches
mit dem Baue dieser Anstalt geschaffen werden wird.
Vor allem imponirt der kolossale Grundbesitz der
neuen Anstalt, welcher ein Ausmaass
von rund.I 440000 qm
aufweist.
Hiervon werden eingefriedigt circa 1 070000 „
die eigentliche Anstaltsarea beansprucht 660000 „
wovon verbaut sind. 445000 „
die geschlossenen Irrengärten umfassen 230000 „
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318
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 34.
die offenen Parkanlagen .... 284500 qm und halbruhige Sieche und einen Pavillon für geistes-
Strassen, Wege und Plätze rund . . 100000 „ kranke Verbrecher.
Auf diesem Komplexe werden etwa 60 Gebäude An ein« zweite, im spitzen Winkel zu der Haupt-
von zum grössten Theile sehr ansehnlichen Dirnen- achse verlaufenden Seitenachse gliedert sich das
sionen aufgeführt. Pensionat, welches für 300, den vermögenden Stän-
Die Krönung der ganzen Anlage wird eine Kirche den angehörende Geisteskranke eingerichtet wird und
mit einem Fassungsraume für 500 Personen bilden, an Bequemlichkeit und Geschmack die Einrichtungen
deren vergoldete Kuppel als ein neues Wahrzeichen aller bestehenden Sanatorien übertreffen soll.
Wiens in weite Fernen hinausleuchten wird. Das Pensionat wird enthalten: 2 Pavillons für
Die Mittelachse der neuen Anstalt bilden das Aufnahme und Halbruhige, 2 offene Pavillons, 2 so-
fllriin Allgemeinr Anlagen. flU Heilanstalt Pflegeanstalt i 1 Pensionat.
LAGEPLAN für den Bau der n.-ö. Landes-Heil- und Pflegeanstalten für Geisteskranke in Wien.
Allgemeine Anlagen: AA, Pförtnerhäuser. BB t Beamten-Wohnhäuser. C Direktionsgebäude D Gesellschaftsbaus.
E Küche. F Kirche. K Leichenhaus. L Pferdestall und Wagenremise. M Wirthschafts wohn haus. N Schweinestall und
Brückenwage. O Beschäftigungshaus. P Wäscherei und Bäder. Q Kesselhaus. R Glashäuser und Gärtnerei.
Heilanstalt: l, 2* Aufnahme. 3, 4, 8, 9, 12 Halbruhige. 5, 6, 11, 14 Unruhige. 7, 10 Ruhige.
Pflegeanstalt:'13, 16 Ruhige. 15, 18, 20, 21 Pflegebedürftige und Bettlägerige. 17, 24 Unruhige Pflegebedürftige und halb¬
ruhige Sieche. 19, 22 Tuberkulose und Infektionskranke. 23 Kriminelle Kranke.
Pensionat: G Verwaltungsgebäude. H Kurhaus. J Küche. 25, 26 Offene Pavillons. 27, 28 Aufnahme und Halbruhige.
29, 30 Gesellschaftshaus. 31, 32 Unruhige Unreine. 33, 34 Unreine Sieche.
* Die Krankenhäuser mit ungeraden Nummern für Männer, die geraden fiir Frauen.
Directionsgebäude mit den Wohnhäusern für Aerzte genannte Gesellschaftshäuser, 2 Pavillons für unruhige
und Beamte, das Gesellschaftshaus zur geselligen Ver- und unreine Kranke, Pavillons für unreine Sieche
einigung der leichter Kranken, die Küche und und ein Kurhaus mit hvdro-, elektro- und raechano-
Wäscherei und obenan die Kirche. Die rechts von therapeutischen Einrichtungen, Dampf-, Schwitz-,,
der Mittelachse gelegenen Gebäude dienen zur Unter- Douche- und Vollbädern, Massageräumen, Sonnen¬
bringung von Frauen, die links befindlichen für Männer. bädern etc.
Die untere zweite Reihe von Häusern bildet die Ausserdem enthält der Anstaltskomplex 2 Pavil-
Heilanstalt, die obere die Pflegeanstalt. Ions für tuberkulöse Kranke, ein Beschäftigungshaus,
Die Heilanstalt enthält zwei Aufnahmegebäude, ein Leichenhaus, Bad und Wäscherei, ein Kesselhaus,
5 Pavillons für halbruhige, 4 Pavillons für unruhige Gewächshäuser, Pförtner- und Gärtnerhäuser, Wirth¬
und 2 Pavillons für ruhige Kranke. schaftswohnhäuser, Stallungen für Pferde und Schweine,
Die Pflegeanstalt enthält 4 Pavillons für pflege- Wagenremisen etc.
bedürftige, Pavillons für unruhige, pflegebedürftige Längs der Einfriedung der Anstalt wird die zu-
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1904.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
319
künftige neue Gürtelstrasse, der Gürtelring, laufen,
der von der elektrischen Tiamway befahren wird.
Die Stadt Wien, die an Wohlthätigkeitsanstalten
so manches aufzuweisen hat, und erst kürzlich durch
das Versorgungsheim im XIII. Wiener Gemeind e-
bczirke einen neuen, grossartigen Musterbau erlangte,
wird mit den neuen Heil- und Pflegeanstalten für
Geisteskranke — wie in Abänderung des veralteten
Titels Irrenanstalt die neue Anstalt heissen soll —
eine Sehenswürdigkeit mehr erlangen.
Eine heute noch wenig nutzbare Gegend wird
in prächtiger, das Stadtbild dauernd verschönernder
Weise umgestaltet und was besonders hervorgehoben
werden muss, es wird durch die geplanten gross¬
artigen Parkanlagen ein Luftreservoir geschaffen, das
für den so dicht bevölkerten Bezirk Ottakring einen
nicht zu unterschätzenden Vortheil bedeutet
Die Baukosten für die neue Irrenanstalt sind mit
18 Millionen Kronen veranschlagt, wovon 13 Millionen
durch den Kaufschilling für die alte Wiener Irren¬
anstalt gedeckt sind, während die restlichen 5 Mil¬
lionen durch ein Darlehen beschafft werden, dessen
Verzinsung und Amortisation der Betrieb des Pen¬
sionates reichlich zu decken verspricht.
Das Programm für den Bau dieser Anstalt ist
durch ein Comite entworfen worden, welches, unter
Vorsitz des Landesausschusses Steiner, aus folgen¬
den Fachleuten und zwar:
Landes - Ober - Inspectionsrath Gerenyi, Irrenan -
stalts-Directoren Regierungsrath Dr. Tilkowsky und
Dr. Starlinger und Ober-Verwalter Bertgen bestand.
Als technischer Beirath dieses Comites fungirte
n. ö. Landes-Ober-Baurath von Boog, welcher auch
die gesammten Pläne mit Ausnahme des Kirchen¬
projektes entworfen hat.
Demselben leisteten k. k. Ober-Baurath Professor
Wagner und der als Autorität auf dem Gebiete des
Stadtregulirungswesens bekannte Bau-Inspector Golde-
mund bei der Anlage der Hauptdispositionen der
Gebäude künstlerische Beihilfe.
Das Kirchenprojekt stammt im Grossen und Ganzen
von Professor Otto Wagner.
Die Anstaltskirche verspricht in der Kunstge¬
schichte eine besondere Rolle zu spielen, weil es
sich um den ersten Fall der Anwendung des
modernen Stiles auf einen grösseren Kirchenbau
handelt.
Zur Wahrung der liturgischen Forderungen bei
diesem Kirchenbaue hat das fürsterzbischöfliche Ordi¬
nariat über Ersuchen des niederösterreichischen Lan¬
desausschusses den Professor an der theologischen
Fakultät der k. k. Universität, Hofkaplan Dr. Swoboda,
eine bekannte Kapazität auf dem Gebiete der kirch¬
lichen Kunst, delegirt, welcher im Einvernehmen mit
Professor Wagner bei der Ausarbeitung der Details
für die innere Ausschmückung der Kirche thätig war.
Grundsteinlegung für die neue Wiener
Landes-Heil- und Pflegeanstalt für Geistes¬
kranke. Trotz des strömenden Regens, der seit
den frühesten Morgenstunden niederging und Strassen
und Wege grundlos machte, fand am 27. September
die Feier der Grundsteinlegung hn Beisein Seiner
Majestät des Kaisers programmmässig statt. Pünkt¬
lich um 10 Uhr erschien der Kaiser und wurde am
Portale des Festplatzes durch den Landmarschall,
durch den Landesausschussreferenten Steiner, die
Minister, die Chefs der Centralstellen, die Landes¬
chefs und die Generalität empfangen. Nach einer
Ansprache des Landesmarschalls, Prälat Schmolk,
der einen Rückblick auf die Zeit von der Eröffnung
des Wiener Irrenhauses am 19. April 1784 bis zur
Gegenwart gab und der zukünftigen Anstalt einige Worte
der Weihe widmete, und nach einer kurzen Er¬
widerung des Kaisers verlas Herr Landesausschuss
Steiner die Grundsteinlegungsurkunde, welche fol¬
genden Wortlaut hatte:
„Im Jahre des Heils 1904, im 56. Jahre der
glorreichen Regierung Seiner k. und k. Apostolischen
Majestät Franz Josef I., Kaiser von Oesterreich,
Apostolischer König von Ungarn etc., am 27. Tage
des Monats September ward dieser erste Stein zu
einem mächtigen Baue, bestimmt zur Pflege und
Heilung leidender Menschen der niederösterreichischen
Landes-Heil- und Pflegeanstalt für Geisteskranke in
Wien, in den Grund gelegt. Da das bisherige den
gleichen Zwecken dienende und seit einem halben
Jahrhundert (1853) bestehende Gebäude der nieder»
österreichischen Landes-Irrenanstalt im 9. Bezirke der
Stadt Wien dem Baue anderer grossen Wohlfahrts¬
anstalten , der medicinischen Unterrichtskliniken,
weichen muss, seine Mauern deshalb der Demolirung
anheimfallen, so wird die seit 1865 in der Ver¬
waltung des Landes Niederösterreich unter der Enns
stehende Landes-Irrenanstalt in Wien in erweiterter,
allen Anforderungen der Wissenschaft, Hygiene und
Humanität entsprechender Ausgestaltung an dieser
neuen Städte im 16. und 13. Bezirke der Stadt
Wien sich erheben. Möge auch dieser Neubau unter
dem Schutze und Segen des Allmächtigen stehen,
möge er glücklich begonnen und ebenso glücklich
vollendet werden, und so kommenden Jahrhunderten
zum Zeugnisse dienen von der Opferfreudigkeit,
mit welcher der Staat, das Land und die Stadt
Wien zu seiner Errichtung zusammen gewirkt haben.
Urkund dessen die allergnädigste Unterfertigung
Seiner k. und k. apostolischen Majestät, welche über
allerunterthänigste Bitte des Landmarschalls und des
Landesausschusses des Erzherzogthums Oesterreich
unter der Enns geruhte, die heutige Feier durch
allergnädigst Ihre Gegenwart auszuzeichnen; ferner
die Unterfertigungen der nachstehenden höchsten
Mitglieder des allerhöchsten Kaiserhauses, der hoch¬
ansehnlichen Würdenträger, welche an dieser Feier
theilgenommen, sowie des Landmarschalls und des
Landesausschusses des Erzherzogthums Oesterreich
unter der Enns!“
Nach Verlesung der Urkunde richtete Landes¬
ausschuss Steiner an Seine Majestät die Bitte, die¬
selbe zu unterfertigen. Nach der Fertigung der Ur¬
kunde durch den Kaiser wurde dieselbe in eine
Glaskapsel und diese in eine reich verzierte Metall¬
kapsel gelegt. Zwei Spengler in altdeutscher Tracht
verlöteten die Kapsel, die sodann in die für die
Einlagerung der Urkunde bestimmte Nische gelegt
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320
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 34.
wurde. Zwei Maurer verschlossen die Nische mit
dem Grundsteine und mauerten dann denselben ein.
Während dieser Zeremonie sang der Männer¬
gesangverein Beethovens „Die Ehre Gottes“ und den
Chor „Veni sancte spiritus“.
Hierauf erfolgte die Vorstellung des Landesaus¬
schusses Steiner, des Oberinspectionsrates Gerenyi
und des Bauleiters Ingenieurs Woraczek. Landesaus¬
schussreferent Steiner erörterte nun die Baupläne.
Der Kaiser sprach seine Anerkennung aus und
bemerkte, dass ihm die Dispositionen ausserordentlich
glücklich zu sein scheinen. Hoffentlich werde diese
herrliche Anstalt ihren Zweck voll erfüllen. Zum
Schlüsse dankte der Landmarschall dem Kaiser für
sein Erscheinen am heutigen Tage und richtete an
die Anwesenden die Aufforderung, ihrer Ehrfurcht
und Liebe für Seine Majestät durch ein dreifaches
Hoch- Ausdruck zu verleihen. Unter den brausenden
Hochrufen der Festgäste und der angesammelten
Menge verliess der Kaiser nach mehr als halbstün¬
digem Aufenthalt den Festplatz.
— München. Am 7. November wurde die neu¬
errichtete psychiatrische Klinik offiziell eröffnet
und ihrer Bestimmung übergeben.
Referate.
— Dr. Georg Ilberg, Sociale Psychiatrie.
Monatsschrift für sociale Medizin. Bd. I. S. 321.
Verf. umgrenzt in kurzen Zügen das Gebiet der
Lehre von den für die geistige Gesundheit der Ge-
sammtheit verderblichen Umständen und den zu deren
Abwehr nützlichen Massregeln, die er „soziale Psy¬
chiatrie“ nennt. Zuerst wird auf die Bedeutung der
Vererbung und auf die dadurch nöthige Vorsicht bei
Eheschlüssen hingewiesen, um eine geistig defekte
Nachkommenschaft zu verhüten. Eine eingehende
populäre Schilderung erfahren die praktisch so wich¬
tigen Geisteskrankheiten der Dementia paralytica und
der alkoholischen Seelenstörungen, bei denen eine
geeignete Prophylaxe grossen Segen bringen kann.
Sache der sozialen Psychiatrie ist es auch, ein ge¬
wisses Maass irrenärztlicher Kenntniss bestimmten Be¬
rufsklassen zu verschaffen. Hierzu gehören in erster
Linie die practischen Aerzte, die ihren Patienten,
wie deren Familien oft schweres Leid durch recht¬
zeitiges Erkennen einer geistigen Störung ersparen
können. Nicht weniger thut psychiatrisches Wissen
den Juristen besonders für die Leitung von Strafan¬
stalten und in ihrer strafrechtlichen Thätigkeit noth.
Auch Geistliche, Lehrer und Offiziere haben viel¬
fach Gelegenheit, eine gewisse, allgemeine Kenntniss
von Geisteskrankheiten in ihrem Berufe zum Vortheile
der Allgemeinheit, wie des Einzelnen zu verwenden.
Mit der Bitte an alle Fachgenossen an dem weiteren
Ausbau der socialen Psychiatrie auch ihrerseits mitzu¬
wirken, schliesst Verf. seinen verdienstvollen Aufsatz.
Dr. Fritz Hoppe, Ta]hau.
Bibliographie
über Kriminal-Anthropologie und Verwandtes.
II. Quartal 1904..
Von Medicinalrath Dr. P. Näcke in Hubertusburg
(Fortsetzung.)
Matiegka: Ueber die Bedeutung des Hirngewichts
beim Menschen. Anatomische Hefte, 1904,
Heft 73.
Jung: Aerztliches Gutachten über einen Fall von
Simulation geistiger Störung. Schweizerische Zeit-
schr. für Strafrecht, 1904.
Penta: La follia nelle carceri. Rivista mensile di
psich. for. etc. Aprile 1904.
Gember: Hygienische Bedeutung der Ehe. Aus
Krankheiten u. Ehe. München, Lehmann, 1904.
Orth: Ererbte u. angeborene Krankheiten u. Krank¬
heitsanlagen. Ibidem.
Kraus: Blutsverwandtschaft in der Ehe und deren
Folge für die Nachkommenschaft. Ibid.
Fürbringer: Sexuelle Hygiene in der Ehe. Ibid.
Nylander: Beitrag zur Lehre von der erblichen
Polydaktylie. Hygiea 1904, Nr. 2.
Linde mann: Casuistischer Beitrag zur Frage der
angeborenen klappenförmigen Verengerung der Pars
prostatica urethrae. Diss. Jena, 1904.
Benöhr: Ersatz der fehlenden Vena cava inferior
teils durch die rechte, teils durch die linke er¬
weiterte Kardinalvene. Diss. Kiel 1904.
Fischer: Ein Fall von congenitaler Atresie des
Konus der Arteria pulmonalis, verbunden mit
Tricuspidalstenose und Insufficienz. Diss. Leipzig
1904.
Parsons: Staphvloma anterius congenitale. Ref.
Münchner Medicin. Wochenschr. IQ04, Nr. 16.
Fla tau: Fall von persistirendem Gärtnerischen Gang
bei einer Erwachsenen. Demonst. Münchner
Wochenschr. 1904, Nr. 17.
Axenfeld: Cataracta congenita auf Grund ange¬
borener Syphilis etc. Demonstr. Ibidem.
A sc h a f f e n b u rg: Querulanten und Pseudoqueru¬
lanten. Vortrag. Ref. Ibidem.
Flügge: Ueber das Bewahrungshaus in Düren. All-
gein. Zeitschr. für Psvch etc. 61. Bd., 3. H.
Näcke: Ueber den Werth der sog. „Kurven-Psy-
chiatrie“. Ibidem.
Fischer: Schwangerschaft und Diebstahl. Ibidem.
51 r o h maver: Ziele und Wege der Erblichkeits¬
forschung in der Neuro- und Psychopathologie.
Ibidem.
K re u s e r: Beobachtungen und Bemerkungen über
retrograde Amnesie. Vortrag. Ref. ibidem.
Hess: Retrograde Amnesie nach Strangulationsver¬
such u. nach Kopftrauma. Vortr. Ref. ibidem.
Weygandt: Beitrag zur Lehre von den psychischen
Epidemien. Vortrag. Ref. ibidem.
Thoma: Ueber den Bewusstseinszustand sog. Medien.
Ibidem.
(Fortsetzung folgt.)
J'ür dvtt redactiunelien Thcil verantwortlich : Oberarzt lJr. J. Iiresirr, Lunl i.tz . Schlesien).
Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag vcn Carl Marhold in Halle a. S
Heynemann’sche Buchdruckerei (Gebr. Wr'fD in Halle a. S.
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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift.
Redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. B realer,
Lublinitx (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telejfr.-Adr esse : Marhnld Verlag. Hallessale Fernsprecher 2834.
N7T357 26. November. 1904.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die 3 spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten.
Die badische Volksnervenheilstätte.
2. Character der Anstalt und des Anstaltslebens, Behandlung, Lage, Platz, Plan
und Einrichtung der Anstalt.
Von Privatdozent Dr. Determann % St Blasien-Freiburg.
T 7 s müssen zur Feststellung aller dieser Punkte be-
stimmte Erfordernisse von uns berücksichtigt
werden, welche bei sehr vielen der schon jetzt existi-
renden Sanatorien für bemittelte Nervenkranke vor¬
liegen, und welche auch für uns maassgebend sein
müssen, da unsere Fürsorge fast der gleichen Kategorie
voll Kranken wie in jenen Sanatorien gilt? Das*
neue Anwesen sollte sich deshalb nach meiner Idee
in Lage, Aussehen, Anordnung und Art der Gebäude
mehr einem möglichst idealen Sanatorium
nähern als jenen Krankenanstalten, wie sie für innere
Kranke und besonders Geisteskranke etc. in muster¬
gültiger Weise geschaffen sind. Während für diese
letztgenannten Kranken ein strenger Anstaltscharacter
nothwendig ist, brauchen die Insassen unseres neuen
Anwesens, wenn sie die günstigsten Heilungsbeding¬
ungen vorfinden sollen, eine etwas freiere, gemüth-
lichere Gestaltung ihres täglichen Lebens, die ausser
auf der Führung der ganzen Anstalt, auf der Art
der Gesammtanlage, auf der Wahl des Klimas, der
Landschaft, des Platzes, Stil und Gruppirung’ der Ge¬
bäude, Art und Ausstattung der Wohnräume beruht.
Alle diese Erfordernisse lassen sich sehr gut mit einer
billigen Bauart vereinigen.
Da die Art des Zusammenlebens, der Ver¬
pflegung und der Behandlung bestimmend für
die Wahl des Platzes und des Planes sein muss, so
möchte ich erstere zunächst besprechen.
Zunächst dieFrage nach der Z ahl der Patienten.
Dieselbe stösst schon auf Schwierigkeiten. Einerseits
fällt es auch dem erfahrensten und geschicktesten Arzt
schwer, mehr als jo —So Patienten mit genügender
Genauigkeit zu beaufsichtigen, andererseits giebt es
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viele Gründe, die das Zusammenleben einer grösseren
Anzahl von Insassen räthlich erscheinen lassen.
Wenn die später zu besprechende, für die Patienten
noth wendige und für die Anstalt nützliche Arbeit in
richtiger Organisation und Vertheilung vorgenommen
werden soll, so darf man kaum unter eine Zahl von
100—1*0' Insassen - gehen. Sodann lehrt die Er¬
fahrung, dass sich bis zu 150 Patienten hinauf die
Verpflegungskosten für den Einzelnen im Grossbetrieb
noch vermindern, während darüber hinaus keine
wesentliche weitere Verbilligung mehr eintritt. Man
wird also, wenn man beiden Indicationen, der ärzt¬
lichen Behandlung und den praktischen Gesichts¬
punkten gerecht werden will, auf ca. 100—150 In¬
sassen die Anstalt einrichten müssen. Darunter sind
Direction und Angestellte nicht gerechnet. Dem
leitenden Arzte würden dann mindestens 2 Assistenz¬
ärzte beizugeben sein, wovon vielleicht einer als ab-
kommandirter Militärarzt von der Anstalt nicht zu
besolden wäre. Die Ableistung des Practikanten-
jahres würde weiterhin die Möglichkeit einer weiteren
ärztlichen kostenlosen Kraft geben.
Dass ein Zusammenleben der beiden
Geschlechter sich in einer Volksheilstätte für
arme Nervenkranke, welche naturgemäss in Bildung,
Stand und Krankheitsart sehr verschieden sind, er¬
möglichen lässt, haben die Erfahrungen in Haus
Schönow gezeigt. Allerdings hat sich dort eine
Trennung der Geschlechter in Bezug auf Wohnhaus,
Essen, Arbeit, theilweise auch in Bezug auf Unter¬
haltung als nothwendig erwiesen. Es ist eben bei
dem vorwiegend grossstädtischen Krankenpublikum eine
etwas schärfere Controlleund Aufsicht unvermeidlich. In
Original fram
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 35.
322
der Rasemühle bei Göttingen, in weicherein vorwiegend
ländliches Krankenmaterial zur Behandlung kommt, lebt
man durchaus gemeinsam bei Arbeit, Essen und Unter¬
haltung, ohne dass irgend welche Unzuträglichkeiten
entstanden wären. Ja, das Wohnen beider Geschlechter
in demselben Hause hat bis jetzt nicht zu Störungen
geführt, allerdings sind die Erfahrungen nur recht kurz¬
dauernde. Ich halte esfürwünschenswerth, im’Gegensatz
zu den strengeren Anstalten, in unserer Volksheilstätte
auch in Bezug auf das Zusammenleben der Ge¬
schlechter möglichst den Sanatoriumscharacter hervor¬
zukehren. Kleine Schwierigkeiten lassen sich bei ge¬
schickter Handhabung seitens des Arztes und eines
intelligenten Aufsichtspersonals beseitigen oder er¬
tragen. Im allgemeinen nehmen sich die männlichen
Nervenkranken in Gegenwart von Frauen sogar mehr
zusammen; sie klagen nicht so viel und sind mehr
auf den Eindruck eines mehr oder weniger grossen
Restes von vorhandener Männlichkeit erpicht Hy¬
sterische Frauen würden allerdings ein Publikum zur
Producirung ihrer Erscheinungen finden, aber auch
dieser Missstand lässt sich durch richtige psychische
Behandlung abschwächen. Häufig werden auch Ver¬
wandte der Kranken, gesunde Begleiter, Frauen oder
Männer hinzugenommen werden müssen. Eine solche
Durchmischung der Gesellschaft mit wenigen Gesunden
ist vielleicht nur von Vortheil.
Die Verpflegung soll gut aber einfach sein,
Fleisch sollte es für die meisten Patienten nur ein¬
mal täglich geben; natürlich unter Berücksichtigung
des Einzelfalles. Im übrigen muss durch Einrichtung
einiger Kostformen den verschiedenen Patienten¬
gruppen die richtige Ernährung geboten werden, be¬
sonders spielt hierbei die Berücksichtigung des so oft
empfindlichen Magens und Darmkanals eine grosse
Rolle. Auch kann man durch Quantität und Art
der Kost, durch Zurückstellung oder Hervorhebung
gewisser Nahrungsmittelgruppen den Stoffwechsel und
damit nicht selten die ursprüngliche Krankheit beein¬
flussen.
Wenn ich auch in Bezug auf die A 1 k o h o 1 a b-
stinenz kein Fanatiker bin, so glaube ich doch, in
unserer Anstalt sollte der Alkohol für gewöhnlich
vermieden und nur in besonderen vom Arzt be¬
stimmten Fällen gestattet weiden. Die Nervenkranken
gewöhnen sich übrigens ganz ohne Schwierigkeiten
an die Abstinenz, ja, viele vertragen den Alkohol
schon von vornherein nicht. Als Getränke dienen
dann Milch, Wasser, Molken, alkoholfreie Frucht¬
weine, Fruchtsäfte, Kefir, Kumys etc. Es ist schade,
dass der in Russland gebräuchliche Kwass, ein Ge¬
tränk aus Mehl und Malz ohne Hopfen, welches
sehr gesundheitsförderlich und dabei wohlschmeckend
ist, keine Verbreitung bei uns gefunden hat. Kaffee,
Thee, Tabak sind in massigem Grade zu erlauben.
An der Spitze des Anwesens sollte- ein
Arzt stehen, der für diese Art des ärztlichen Be¬
rufes besonders veranlagt ist, denn es wird sehr
schwer sein, diese verschiedenartige Gesellschaft mit
allen ihren Leiden und Klagen, mit ihren verschiedenen
Meinungen, mit ihren Vorurtheilen, mit ihrer Em¬
pfindlichkeit, bei jdem täglichen Zusammensein auf
einem engen Raume richtig zu leiten, zu be¬
schäftigen, zu behandeln. Der ärztliche Leiter kann
also nur ein Mann sein, der neben den rein ärzt¬
lichen Pflichten sich mit grossem Takt, mit vollem Emst
und Interesse auch dem socialen Theil der Behand-
ung widmet, der sich durch kleine Misserfolge und
Enttäuschungen nicht entmuthigen lässt, der bei alle¬
dem zugleich den Schwierigkeiten der Verwaltung
und der Organisation gewachsen ist, kurz, der ein
ganzer Arzt und ein ganzer Mann ist.
Ausser dem psychischen Einfluss, welcher
jeden Verkehr des Arztes mit den Patienten durch¬
flechten muss, sollen ihm alle die Heilmittel
physikalischer Art, welche sich in so vielen
Nervenheilanstalten für Bemittelte vorfinden, zur Ver¬
fügung stehen. Vor allem müsste eine grössere
hydrotherapeutische Abtheilung und zwar
getrennt für Männer' und Frauen, vorhanden sein,
sodann reiche Gelegenheit zu einfachen, Mineral-
und medicamentösen Bädern, weiter Apparate zur
Anwendung von Elektrizität, ein elektrisches Lichtbad,
ein grösserer Raum zur Vornahme von einfacher und
Apparatengymnastik. Von Apparaten brauchten jedoch
nur die allereinfachsten vorhanden zu sein. Complicirte
maschinelle Einrichtungen sind nicht nöthig. Auch die
Einrichtung eines Luftbades halte ich für zweckmässig.
Neben den physikalischen und diätetischen Heil¬
mitteln müssen auch diejenigen der inneren Medication,
der Gebrauch von Mineralwässern etc. zur Verfügung
stehen.
Ueber die Arbeit als Behandlungsmittel
muss ich mich etwas ausführlicher aussprechen, da sie
erst in neuerer Zeit als solches ärztlich in Betracht
kommt und da sie sich gerade bei unseren Kranken
sehr oft als äusserst nützlich und segensreich erweist.
Nach Möbius haben sich noch viele andere
Autoren über den Werth der Arbeit für Nerven¬
kranke ausgesprochen und an einigen Heilanstalten
hat man die Durchführung dieses neuen Princips
practiseh eq)robt und zwar besonders in der Anstalt
von Grohmann in Zürich, in Haus Schönow bei
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Original fram
HARVARD UNIVERSITY
1904.
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
323
Berlin und in der Rasemühle bei Göttingen*). In
allen diesen Anstalten wird von den meisten In¬
sassen gearbeitet und zwar regelmässig, ernst und er¬
folgreich. Bei den> Patienten stösst man dabei offen¬
bar auf geringere Schwierigkeiten, wie man meinen
sollte. Die Arbeit hebt die Standesunterschiede auf,
sie nähert den Menschen dem Menschen und sie
trägt so viel zur Ausgleichung der Vorurtheile bei.
Laehr, der dirigirende Arzt des Haus Schönow,
äussert sich im zweiten Jahresbericht folgendermaassen:
„Nur wenige Kranke verschlossen sich der Erkenntniss
des Nutzens der Arbeit; die meisten gingen gern an
dieselbe, anfangs vielleicht nur der ärztlichen Vor¬
schrift und dem Beispiele der anderen folgend, zur
Bekämpfung der sich sonst merkbar machenden Lange¬
weile, oder auch durch den Reiz der Neuheit ver¬
lockt“ Bei den Frauen war diese Einsicht im
ganzen schwerer zu erzielen. Grohmann, der aller¬
dings ein sehr einseitiges Patientenmaterial hat (be¬
sonders Degenerirte, Psychopathen, Hypochonder,
auch leicht Schwachsinnige etc.), ist nicht so zufrieden.
Er findet, dass Arbeitsscheu und Faulheit, Unge¬
schicklichkeit, körperliche Ungleichheit oft recht
hinderlich sind; auch so viele unangenehme Eigen¬
schaften der Nervösen: Kritiksucht, sociale und andere
Vorurtheile, Launen, Gezänke, Verweichlichung,
Mangel an Schulung und Pflichtgefühl machen dem
Leiter der Anstalt oft Schwierigkeiten. — Es erfordert
gewiss eine Himmelsgeduld, immer und immer wieder
alle diese Hindernisse zu bekämpfen und wir müssen
uns darin ganz verlassen auf den Arzt, der Berather,
Freund, Schiedsrichter, Ermahner, Verweiser, der
alles sein muss. Unterstützt muss er werden durch
tüchtige, verständige Hilfskräfte auf den verschiedensten
Beschäftigungsgebieten.
Natürlich eignet sich die Arbeit nicht für alle.
Wenn jemand durch Uebermaass von Arbeit krank
geworden ist, so ist er erschöpft und solche soll man aus¬
ruhen lassen. Aber nicht auf zu lange Zeit! Länger
dauernde Beschäftigungslosigkeit wirkt schädlich bei
allen functiönellen Nervenkrankheiten. Wenn die Er¬
schöpfung einer Ermüdung gewichen ist, wenn die
Patienten nur leicht müde werden, aber nicht mehr
durch Arbeit in einen schweren Schwächezustand
hineingerathen, dann ist es Zeit, wieder eine Be¬
schäftigung anzufangen, aber eine, im Gegensatz zu
der früheren erschöpfenden, leichte Arbeit. Die
richtige Eintheilung von Ruhe und Thätigkeit zu
treffen und im rechten Augenblick auch wieder zu
der früheren Arbeit überzugehen, endlich zur rechten
# ) Auch Herr Dr. Bartels ijj Bad Kreischa hat eine
Abtheilung in seinem Sanatorium, in dem das Princip befolgt wird.
Zeit den Anstaltsaufenthalt abzubrechen, sowie unter vor¬
sichtiger Lebensweise den Uebergang zum vollen
Beruf zu bewerkstelligen, damit der Betreffende nicht
ganz 'demselben entfremdet wird, das alles ist'die
Sache eines verständigen und geschickten Menschen¬
kenners und Anstaltsarztes. '*
Die Arbeit erweist sich (nach Grohmann) als
günstiges Behandlungsmittel in drei Be¬
ziehungen:
1. lenkt sie ab von den traurigen Gedanken, von
der Beschäftigung mit dem eigenen Gesundheitszustände,
falschen ungesunden Ideen, von Phantastereien, von
hoch fliegenden Plänen;
2. schafft sie das Gefühl der Befriedigung an
sich. Sie ist für die Dauer auch bedeutend werth-
voller für die Nervenkranken als Zerstreuung, Genuss,
Vergnügen. Diese lenken nur ab, jene befriedigt.
Ich habe oft zu meinem Erstaunen gesehen, dass
die Patienten bei der Arbeit sich viel besser fühlten
und eher viele ihrer Beschwerden verloren, als wenn
sie sich „pflegten“, „ausruhten“. Selbst Patienten mit
Schwächezuständen und solche mit heftigen Schmerzen
sind nicht gänzlich von der Arbeit auszuschliessen;
3. ist ganz besonders bei nervösen Kranken mit
ihrem empfänglichen, zum Enthusiasmus neigenden
Wesen, die Freude über ein greifbares Resultat der
Arbeit gross. Dass bei vielen der Sinn für Ordnung
und Regelmässigkeit durch die Arbeit geweckt wird,
dass die Zunahme des Gewichts, Resistenz gegen
Witterung und Geräusch, Hebung der Zuversicht,
Selbstvertrauen etc. meistens günstige Folgen der
Arbeit sind, will ich nur nebenher erwähnen. Dafür
müssen natürlich die richtigen Arbeiten für die
richtigen Kranken ausgewählt werden — „der Arbeiter
muss fröhlich sein in der Arbeit“ (Möbius). Fast
immer wird man den Sieg über alle theoretischen
Erwägungen davontragen und als überraschendes
Resultat sehen, dass die Patienten ohne irgend
welchen Schaden Arbeit leisten.
Oft ist ein Wechsel in der Beschäftigung
nach einiger Zeit angezeigt, oft auch sind verschiedene
Arbeiten zu verschiedenen Tageszeiten vorzunehmen.
Alle diese Variationen ergeben sich aus dem ärzt¬
lichen Taktgefühl. Selbst wenn einigen die Arbeit
gamicht besonders nützt, wird sie schon des guten
Beispiels wegen besser mitgemacht.
Wie wir gehört haben, sollen die Arbeiten auch
der Anstalt zum Nutzen dienen und daher werden
wir möglichst diejenigen darunter bevorzugen, welche
sich auf Feld, Garten und Hof bewegen. La ein- be¬
richtet über seine Erfahrungen: „Das Garten- und
Ackerland bot begreiflicherweise reichlich Gelegenheit
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324
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 35.
zur Arbeit; die Bestellung des Feldes, die Anlage der
Gemüsebeete, die Pflege der Bäume, das Umgraben
des Gartenlandes,, die Blumenpflege innerhalb und
ausserhalb des Treibhauses, das Oculiren von Rosen,
das Ernten der Früchte, die Instandsetzung der
Wege u< s. w. beschäftigen beständig einen grösseren
Theil der Kranken. Im Winter ersetzte das im all¬
gemeinen von Männern und Frauen gern betriebene
Schneeschaufeln das sonst sehr beliebte Graben im
Freien.“ Neuerdings interessiren sich im Haus
Schönow viele Kranke für Bienenzucht.
Grohmann, der erste Autor auf diesem Gebiete,
bevorzugt besonders die Gartenarbeit, zumal das
Graben; ferner die Tischlerei, besonders die Roh¬
tischlerei und die Arbeit mit dem Ziehmesser. Auch
das Zeichnen, Modelliren in Thon, Tapeziren, Bucji-
binden hält er für empfehlenswerth. Schmiede, Stell¬
macher, Drechsler, Schuhmacher, Schneider, Kappen¬
macher, Zimmerleute, Maler, Maurer, Töpfer, Dach¬
decker, Korbmacher, Schlosser finden, wenn erst der
Betrieb im Gange ist, gewiss Beschäftigung. Die
meisten Reparaturen im Haus und um dasselbe sind
so durch die Patienten zu erledigen. Einfache Neu¬
bauten, Ställ§ etc. könnte man mit Hilfe eines Theils
dieser Handwerker herstellen. Auch schwerere
Arbeiten, wie die landwirtschaftlichen, Wegebau,
Steinefahren, Pflügen, Thierpflege erscheinen für eine
gewisse Anzahl von Patienten sich durchaus zu
eignen. In Haus Schönow haben sich die Patienten
eine drehbare Liegehalle, eine Kegelbahn erbaut und
einen Tennisplatz angelegt. Es ist der Umstand hier¬
bei vortheilhaft, dass wir es meistens mit organisch
gesunden, körperlich nicht unkräftigen Menschen zu
thun haben. Für Frauen würden dann die zahlreichen
häuslichen Arbeiten, Nähen, Waschen, Flicken,
Ordnunghalten im Hause, Kleidermachen etc. in Be¬
tracht kommen. Aber auch die Küchen-, Garten-
und Hofarbeiten sind für Frauen geeignet: Gemüse¬
putzen, Kartoffelschälen, Samenauslesen, Rosshaar- und
Wollezupfen, Kochen (helfen), Geschirrwaschen,
Holzkleinmachen, Flechten von Strohmatten, Laub-
Spreu-, Brennholzsammeln. Für solche, welche
irgendwie eine schwere Arbeit nicht leisten können,
oder welche gar keine Neigung dazu haben, ferner
dann, wenn die Witterung und die Jahreszeit mehr
zum Arbeiten im Hause zwingen, muss man anders¬
artige Beschäftigungen wählen, zumal bei Frauen,
welche, wie Laehr sagt, „mehr von individuellen
Neigungen bestimmt werden und in besonderem
Maasse einer persönlichen Anregung und Beauf¬
sichtigung bedürfen, wenn ihr Interesse nicht erlahmen
und eine Stetigkeit der Arbeit erreicht werden soll.“
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Solche anderen, mehr unterhaltenden Arbeiten sind:
Laubsägen, Kerbschnitzerei, Holzbrennen, Zeichnen,
Malen, Photographiren etc. Für Leute, die gern
mechanische Arbeiten verrichten und künstlerisch
gar nicht veranlagt sind, lässt sich durch Einübung
einer „hausindustriellen Thätigkeit“ ein neuer Erwerbs¬
zweig eröffnen, wie: einfache Holzarbeiten (wie in
Bernau etc. im Schwarzwald), Papierarbeiten, Flechten,
Spinnen, Sticken, Weben, Stricken, in neuerer Zeit
sind Bürstenbinden und die Knüpfarbeit im Haus
Schönow sehr beliebt geworden. Für frühere geistige
und Bureauarbeiter sind Schreibarbeiten, Uebersetz-
ungen etc. während einiger Stunden am Tage zuzu¬
lassen. Auch das Ordnen von Kunstblättern, Ein¬
richtung und Ordnen von Sammlungen aller Arten
wird gewiss gern von solchen Leuten in Angriff ge¬
nommen werden. In Haus Schönow sah ich eine
wunderschöne Schmetterlingssammlung, ferner eine
Käfer- und Steinsammlung.
Dass zu den Arbeiten verständige Vor¬
arbeiter, die ihr Fach gründlich verstehen und
dasselbe lehren können, vorhanden sein müssen, liegt
auf der Hand. In Haus Schönow sind Damen der
Damengruppen und die Schwestern die „Vorarbeiter“
nachdem sie ein bestimmtes Fach selbst erlernt haben.
Mit der Zeit wird man häufig aus dem Patienten-
bestande in ihrem Berufe erfahrene oder neu ausge¬
bildete Leute als Hilfskräfte für den Unterricht in
die Anstalt hinein nehmen. Vor allem aber sind
einzelne künstlerisch veranlagte Personen, welche durch
Zufall unter den Patienten sich finden können oder
welche als Gesunde freiwillig Anleitung geben, von
grösster Bedeutung für die Freudigkeit an der Arbeit
und für ihre gute Ausführung. So wird man sich
einen Stamm von Leuten heranziehen, die in Rück¬
sicht auf ihre Gesundheit gegen mässige Bezahlung
in der Anstalt bleiben. Im übrigen hat sich nach Laehr
in Haus Schönow das Bedürfniss nach einer beson¬
deren Bezahlung der einzelnen Arbeitsleistung nicht
geltend gemacht. „Jeder Einzelne muss sich
von vornherein dessen bew r usstsein, dass die ihm
zugewiesene Arbeit lediglich ein Mittel seiner Behand¬
lung ist, dass die Zulassung zu derselben einen be¬
sonderen Vorzug darstellt und dass das, was erschafft,
nicht einem Einzelnen, sondern der Allgemeinheit zu
Gute kommt.“ Laehr richtet jetzt eine Arbeits¬
stätte zur Nachkur und zum Ucbergang in Beruf
und gewöhnliches Leben ein, in welcher die Patienten
für ihre Arbeit bezahlt werden, aber auch für ihren
Unterhalt durch Gegenzahlung aufkommen. Vielleicht
ist es räthlich, bei einer neuen Anstalt, wenn möglich,
schon gleich die Arbeitsstätte mit in den Plan auf-
Original frnm
HARVARD UNiVERSITY
1904.]
ACETYLEN IN WISSENSCHAFT UND INDUSTRIE.
325
zunehmen; jedoch müsste sie, wenn auch in der Nähe
liegend, örtlich und wirthschaftlich ganz getrennt
sein. Der wirtschaftliche Nutzen der Arbeitsstätte
für die Volksheilstätte wäre wahrscheinlich ein er¬
heblicher.
Die Schwierigkeiten der Organisation
dieser Arbeit werden nach vielerlei Richtungen
sehr gross sein: 1. Die Auswahl der richtigen
Patienten für die richtige Arbeit; z, die billige Be¬
schaffung, die richtige Verwendung und Nichtver¬
schwendung des Rohmaterials; 3. besonders im Anfang
die Anstellung von nicht zu teueren aber tüchtigen
Vorarbeitern (Schwestern, Patienten); 4. Arbeits¬
instrumente in Stand und Ordnung, zu halten und
die Kosten der zahlreichen Werkstätten. Jedoch
müssen im Interesse der Behandlung diese Schwierig¬
keiten in Kauf genommen werden.
Aber die Kranken wollen neben der Arbeit auch
mancherlei Unterhaltungen haben. Zunächst
während des Tages. Eis sind da die verschiedensten
Ausübungen des Sports zu nennen, wie Croquet,
Kegeln, Lawn Tennis, Turnen, Billard, Ball- und
andere Spiele; wenn möglich Rudern und Segelfahrt,
Schlittschuhlaufen, eventl. Schneeschuhlaufen, Schlit¬
teln. In geeigneter Jahreszeit werden gemeinsame
Spaziergänge, Ausflüge ins Gebirge unternommen, bei
welchen Verpflegung und eventuelles Uebernachten
ganz einfach sich gestalten sollen. Am besten lässt
man die Kranken nur in Begleitung von Gesunden
ausgehen, da sie dann ihren trüben und unnützen
Gedanken nicht viel nachhängen können. Zu Haus
liegt dazu besonders Abends die Gefahr vor, auch
kann sich dann leicht die beliebte Unterhaltung über
die Krankheiten entwickeln. Das muss verhindert
werden durch leichte Unterhaltungsspiele, durch Ver¬
anstaltung von musikalischen und Vortrag- resp.
Theaterabenden, durch Gesang und Musik, durch
Beschäftigung mit nützlichen Büchern, Sammlungen,
wissenschaftlichen Dingen etc. Eine gute Bibliothek
würde eins der ersten Erfordernisse der Anstalt sein.
Bei der Frage, wo soll eine Volksheilstätte
liegen, müssen wir berücksichtigen, dass Nerven¬
kranke in bedeutend höherem Maasse als andere
Kranke vom Klima, von der landschaftlichen Um¬
gebung, vom Wetter etc. abhängen. Functionelle
Nervenkranke, um die es sich vorwiegend bei uns
handelt, sendet man mit Vorliebe an einen land¬
schaftlich schön gelegenen waldigen Ort, der Möglich¬
keit zu abwechslungsreichen Spaziergängen bietet.
Derselbe kann vortheilhafter Weise in einem mässig
anregenden Klima, besonders im Mittelgebirge, in
Höhen von 4—900 m gelegen sein. Dabei sucht
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n»an im allgemeinen reichliche Besonnung und wind¬
geschützte Lage. Jedoch kommen für unsere Volks¬
heilstätte noch andere Erfordernisse der Behandlung
und des Betriebes in Betracht, welche die Wahl eines
Platzes im Gebirge als unzweckmässig erscheinen
lassen. Wir brauchen für die Behandlung ein Klima,
in dem gärtnerische, landwirthschaftliche und aucl*
handwerksmässige Arbeiten, auch während des grössten
Theils des Winters, im Freien möglich sind; wi*
brauchen ferner eine Lage der Anstalt, in der die
Fruchtbarkeit des Bodens und genügende Besonnung
eine nutzbringende Bearbeitung gewährleistet Das
alles ist im Gebirge nicht in genügendem Maasse zu
finden, und deshalb müssen wir einen Platz
in einer massigen Höhe von etwa 3—500 m
wählen. Allerdings muss derselbe in Folge lokaler
klimatischer Bedingungen eine gewisse Sommerkühle
bieten. Ein solcher Platz wird sich entweder an den
Abhängen oder in einem der Seitenthäler des
Schwarzwildes (letzteres vorzuziehen) in landschaft¬
lich schöner und landwirtschaftlich günstiger Form
in unserem klimatisch reich gestalteten Baden
finden lassen. Er muss sonnig gelegen, also zum
Theil nach Süden zu gerichtet und dann dem
Winde nicht zu sehr ausgesetzt sein. Vor allem aber
ist die Nähe der Eisenbahn, sowie einer grösseren
Stadt anzustreben, wegen der Verbilligung des Baues
und der Erleichterung des Betriebes, wegen der
leichteren Erreichbarkeit von Seiten der Kranken,
zum Absatz der eventuell geschaffenen Arbeitsproducte,
zur Heranziehung von Hilfskräften bei Betrieb, Be¬
handlung und Unterhaltung (Specialärzte, Sachver¬
ständige, Handw'erkslehrer, Lehrmittel, Vortragende,
Künstler etc.).
Eine gewisse Grösse des Anstaltsterrains
ist ausser wegen der wirthschaftlichen Nothwendigkeit
deshalb wünschenswerth, um den Patienten innerhalb
der Anstaltsgrenzen vielfache Gelegenheit zur Be¬
schäftigung und Unterhaltung im Freien zu geben.
Sehr vortheilhaft wäre ferner, wenn ein genügend
grosses Stück Wald sich dicht an oder im Anstalts¬
terrain befände. Gutes Trinkwasser sollte in der
Nähe sein. Wenn auf dem Anstaltsareal oder in der
Nähe eine billige Wasserkraft zu erwerben ist, so
könnte sie zur Erzeugung von electrischem Licht, zu
einer Sägerei oder zu mechanischen Betrieben benutzt
werden.
Vielleicht bietet sich auch die Möglichkeit, ein
grosses Landgut, so wie es ist, oder eine bestehende
Kuranstalt, anzukaufen und z\i einem für unsere
Zwecke geeigneten Anwesen umzuformen.
Ich habe eine Reihe von verkäuflichen Plätzen
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HARVARD UNiVERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 35 .
326
oder Gütern angesehen, aber nur wenige davon
können auf die engere Wahl kommen, da klimatische
oder sonstige Bedingungen für unseren Zweck nicht
passten. Die Frage muss also gründlich weiter¬
geprüft werden, besonders auch müssen die meteorolo¬
gischen Bedingungen während des Winters für die in
engere Wahl kommenden Plätze studirt werden. Der
Preis des Platzes sollte bei der grossen Wichtigkeit
der Angelegenheit zwar eine bedeutende, aber nicht
ausschlaggebende Rolle spielen.
Zur Feststellung des Bauplanes sollte man
sich meiner Meinung nach nicht an die übliche, wenn
auch noch so vervollkommnete Bauart halten, wie
sie für Irrenanstalten, Anstalten für Epileptische und
Krankenhäuser in Betracht kommt. Entsprechend
der Eigenart der Patienten sollten wir uns vielmehr
bemühen, nach Art eines Sanatoriums ein ge¬
mütliches, gerade für Nervenkranke angeorduetes
und eingerichtetes Heim zu schaffen, das neben der
Möglichkeit sehr gesunder, heilsamer Lebensbeding¬
ungen, die einer umfassenden körperliches and psy¬
chischen Behandlung giebt In erster Linie muss es
ruhig am Wohnort von Nervenkranken sein. Die
Gebäude dürfen nicht zu gross sein und, durch Ge¬
büsch und Bäume von einander getrennt, in einer
gewissen Entfernung von einander liegen, die Bauart
muss solide, schall- und wärmesicher und dabei nicht
zu theuer sein. Wir müssen also meiner Ansicht
nach auf einen einheitlichen grossen Anstaltsbau ver¬
zichten und bestrebt sein, mehr den Eindruck
einer Villenkolonie zu erzielen. M. E. wären
folgende Gebäude erforderlich: 1. Hauptgebäude,
für Zwecke der Verwaltung, Wirthschaft, Behandlung,
Krankenstation, Wohnungen für Angestellte; 2. Wohn¬
häuser für die Patienten; 3. Beschäftigungs¬
und Arbeitshaus; 4. Centrale für Heizung,
Beleuchtung, Warmwasser, Dampf etc.; 5. land¬
wirtschaftliche Gebäude. Die Anordnung
der Gebäude geht aus dem beigefügten Plane hervor.
Wohngebäude und Haupthaus müssen durch gedeckte
Gänge miteinander verbunden sein. Ich gehe bei
alledem von der Annahme aus, dass die Anstalt etwa
für 120 Personen beiderlei Geschlechts in Angriff
genommen werden soll.
Um dem Ganzen ein freundliches und eigen¬
artiges Gepräge zu geben, könnte man vielleicht den
Wohnhäusern ohne wesentliche Kostenerhöhung in
Anpassung an die Gegend, in welcher die Anstalt zu
stehen kommt, einen gefälligen, etwas modificirten
Schwarzwaldstil geben. Es tritt dabei die Frage an
uns heran, in welcher Grösse man die Wohnhäuser
bauen soll und ob nach Baracken - oder Pavil-
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lonsystem. Die Baracken haben manche Vortheile,
besonders den grosser Ruhe (beschränkte Anzahl von
Einwohnern, keine Ueberwohner). Sie lassen sich
im Grünen verstecken und bieten so am ersten den
Character eines Dorfes oder einer Kolonie. Ich habe
auch die Doecker’schen Baracken (Christoph und
Unmack), weiche den Vorzug der Transportabilität
mit dem eines gefälligen Aussehens und Billigkeit
vereinigen, gründlich in Berlin geprüft, jedoch bin ich
ebenso wie die Baucommission der Rheinischen
Volksheilstätte zu dem Entschluss gekommen, dass
sie für unsere Zwecke nicht genügend fest- und
schallsicher sind und dass der grösste Vortheil der
Baracken, ihre Transportabilität, für uns wohl kaum
in Betracht kommt. Andere Baracken zu bauen ist
jedenfalls theurer als grössere Bauten bei gleicher
Patientenzahl, auch ist jedcnfaHr der Betrieb kost¬
spieliger und schwieriger (Centralheizung, Aufsicht
und Bedienung). Es scheint mir daher ein System
von kleinen Pavillons, jeder etwa für 25 Kranke, das
Beste zu sein. Bei dieser Grösse liesse sich auch
ein Schwarzwaldstil noch ganz gut inne halten.
Noch einige allgemeine Fragen sind zu
besprechen:
Eine offene Frage muss es noch bleiben, ob man
vorzugsweise aus Holz (Riegelbau, Schindelmantel),
aus Stein, Ziegeln oder Eisen baut Die Möglichkeit,
billiges Holz zu bekommen, die Nähe eines Stein¬
bruches oder Ziegelei, billige Eisenpreise sind dabei
entscheidend. Eine überall durchgeführte Unter¬
kellerung ist kaum nöthig; es genügt an geeigneten
Stellen ein kleiner lufthaltiger Raum unter den Fuss-
böden den hygienischen Anforderungen. Durch An¬
wendung von Korksteinen kann man die Böden
weniger fusskalt machen.
Die Wände und Böden seien stark genug, event.
mit isolirender Schicht versehen. Doppelthüren sind
wünschenswerth, Verbindungsthüren zwischen den
Zimmern möglichst zu vermeiden, die Thüren selbst
seien dick und tadellos schliessend. Grosse Fenster,
feststehende Doppelfenster, und zwar mit gut func-
tionirenden Klappoberflügeln, die in jeder gewählten
Stellung stehen bleiben. Endlich feste Rolljalousien
(zur Verdunklung und zur Abhaltung von Geräusch)
sind nöthig. Abgerundete Ecken sind leicht herzu¬
stellen, Oelanstriche oder Tapeten, Wandleiste zum
Bilderaufhängen, auf den Böden Linoleum. In allen
Wohnhäusern und im Haupthaus ist Centralheizung
einzurichten und zwar entweder Niederdruckdampfheiz¬
ung von einer Centrale aus, oder im Haupthaus Nieder¬
druckdampfheizung und in den Pavillons Warmwasser¬
heizung. Die Beleuchtung sei elektrisch. Aufzug ist
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HARVARD UNIVERSITY
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
327
nicht nöthig, zum Transportiren diene ein Trag- oder
FahrliegestuhL
Als Luftraum würden bei einbettigen Zimmern
für die Person ca. 40 cbm angenommen werden
müssen, bei zwei- oder mehrbettigen Zimmern 30 cbm.
Die Höhe der Rfiume sei in den Pavillons im ersten
Stock 3,5 m, im zweiten Stock 3 m. Alle Zimmer
für eine bestimmte Personenzahl, sowie die Einzel¬
zimmer unter sich sollten annähernd gleich gross sein.
Für die Zuweisung der Patienten in ein einzelnes
oder gemeinsames Zimmer dürfen selbstverständlich
nur ärztliche Gründe maassgebend sein. Es muss
auch schon darin das Princip der socialen Gleich¬
stellung ausgedrückt sein, daff durch die ganze An¬
stalt geht und das seine fernere Bekräftigung durch
die gemeinsame Arbeit findet. In Haus Schönow
bewohnten ein Universitätsprofessor und ein einfacher
Arbeiter dasselbe Zimmer. Die Einrichtung der
Zimmer sei einfach und enthalte nur das nöthigste,
dabei soll aber ein freundlicher, gemüthlicher Ein¬
druck^ gewahrt werden; die Möbel können vielleicht
in einem in manchen Theilen des Schwarzwaldes üb¬
lichen Stil, aus gehobeltem und dann geölten und
lackirten Tannenholz gehalten werden. Auf hygienische
Spitzfindigkeiten, wie sie in einem Sanatorium für
Lungenkranke zu empfehlen sind, würde ich keinen
übertriebenen Werth legen. Alles soll haltbar, solide
und leicht zu reinigen sein. In Haus Schönow dient
für je zwei Patienten ein freistehender Waschtisch
mit Schieferplatte, ein zweitheiliger Schrank und eine
zweitheilige Commode.
Ich komme nun zur Besprechung der ein¬
zelnen Gebäude (Demonstration der Pläne):
1. Das Hauptgebäude dachte ich mir be¬
stehend aus einem zweistöckigen Süd-Mittelbau mit ein-
bis zweistöckigen Seitenflügeln. Küche und Speisesaal
seien auf einer Ebene im Ostflügel. Kochraum und Spül¬
raum könnten ohne Abtrennungen sein wegen der besse¬
ren Beaufsichtigung durch die Küchenwirthschafterin. An
der SW.-Seite des Ostflügels Eingang zur Küche, sowie
Treppe zum Kellerund Dachstock, daneben Speisentages¬
raum. Der Eingang ist hierher verlegt, damit einlaufende
Waaren zugleich vom Bureau aus beaufsichtigt und
manches auch gleich bezahlt werden kann. Im Keller
Kühlräume für Fleisch, Milch, Eier, ferner Platz für
Gemüse, Obst, Compot, Getränke, Kartoffeln, Küchen¬
kohlen, alles in praktischer Anordnung. Kohlen,
Kartoffeln etc. könnten an der NO.-Seite der Küche
direct in den Keller eingeschüttet, Kisten durch eine
„Schleife“ hereingebracht werden. Neben der Küche,
Office, eventuell mit Speisenaufzug nach oben. Die
Anlage muss jedoch so sein, dass Küchengeruch im
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Speisesaal und auch im übrigen Hause mit Sicherheit
vermieden wird. — In Haus Schönow essen die
Patienten nicht in einem grossen gemeinsamen Raum,
sondern in den Tagesräumen ihrer Wohnräume. Die
Speisen werden dann in einer Art Kochkisten, wie sie vom
rothen Kreuz s. Z. ausgestellt wurden, herüber getragen.
Ich bin jedoch dafür, dass man alle Patienten, mit
Ausnahme der bettlägerigen, gemeinsam in einem
grossen Speisesaal essen lässt. Ob zu verschiedenen
Zeiten, oder gleichzeitig in dem durch leichte Wand
getrennten zweitheiligen Speisesaal, nach Geschlechtern
getrennt, oder endlich, wie es in der Rasemühle ge¬
schieht, mit Durchmischung der Geschlechter, muss
noch des Näheren geprüft werden. Zugleich diene
der Speisesaal zum Gottesdienst, sowie zu künstler¬
ischen und anderen Vorführungen. Vor dem Speise¬
saal sei eine Veranda, die zugleich auch als Liegehalle
benutzt werden kann. Der Speisesaal sei wie die
Küche 5 bis 6 m hoch. Es müssten also von ihm, da
er tiefer liegt, zumMittelbau einige Stufen führen. Neben
dem Speisesaal im Mittelbau, nach dem Gang zu, offener
Raum (wegen Belichtung des Ganges), der zugleich als
Garderobe diene. Auf der andern Seite des Ganges
Lesezimmer, daran anstossend Portierloge, gegenüber
das Bureau und zwei Closets mit Waschraum davor, dann
Eingang und Treppe, daneben die gut gegen Geräusch
isotirten ärztlichen Räume, Apotheke, Laboratorium
(Nebenfenstem zum Hineinstellen von Urin etc.). Nach
hinten Wäscheraum und Oberinzimmer. — Im West-
Flügel die zwei grossen Behandlungsräume fQr Männer
und Frauen für Hydrotherapie mit von aussen zu¬
gänglichen Einzelkabinen, zwischen ihnen ein Raum
für Einpackungen, elektrisches Lichtbad etc. Gegen¬
über diesen beiden Räumen einfache, medikamentöse,
kohlensaure etc. Bäder. — Unter diesem Westflügel
Wäscherei und Plätterei, Trockenraum für heisse
Luft, sowie nach W. zu einige Kellerräume für den
ärztlichen Director. Derselbe könnte über der Bäder¬
abtheilung wohnen. Sein abgesonderter Treppenauf¬
gang befände sich an der W.-Seite. An derNW.-
Ecke eine Isolier-Zelle und zwei Isolirzimmer mit
Glasabschlüssen und schallsicher gebaut. Ihnen gegen¬
über Zimmer des] Assistenzarztes und Schwestemzimmer
(jenseits der Treppe). Nach vom die Krankenstation,
nach SO. durch einen Glasabschluss getrennt, Zimmer
für Patienten erster Klasse, mit einem Tagesraum mit
Oberlicht und einem Speiseraum. Zwei Liegehallen
nach vom. Bäder werden hier am besten mittelst
Rollbadewannen gegeben. Im Corridor müssten eine
Reihe von Wandschränken (Wäsche, Verband, Arz¬
neien etc.) sich befinden, auch wäre ein Abstellraum >
sowie eine Veranda zum Bettenlüften zu wünschen
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3*8
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 35 -
Der Transport der Speisen für die Patienten erster
Klasse, sowie über die Krankenstation geschieht durch
Speiseaufzug vom Office, oder vermittelst der Treppe
von der Küche aus. Ueber der Küche sei der von
der i. Klasse räumlich ganz getrennte Dachstock, in
dem Wirthschafterin* Oberwäscherin, Küchen-, Wasch-,
Bade- und Dienstpersonal wohnen könnten, soweit
Platz ist Man sollte möglichst alle Frauen hier
unterbringen. Wenn Mangel an einem geeigneten
Wäschetrockenraum ist, so könnte man über der
Küche auch einen 2. Stock aufführen und darüber
einen grossen Wäschetrockenboden. Im . Dachstock
des Mittelbaues können Verwalter, Buchhalter,
Schwestern und Assistenten, Portier, sowie sonstige
männliche Angestellte wohnen. Ein Theil muss für
Koffer, Kleider und sonstige Sachen reservirt werden.
Der Dachstock über dem Badeflügel müsste dem
leitenden Arzt zur Verfügung gestellt werden. — Der
Mittelbau sei nur unter den ärztlichen Räumen unter¬
kellert. —
2. Pavillons. Dieselben lassen sich natürlich
je nachdem, ob man sehr sparsam oder etwas weniger
sparsam bauen will, sehr verschieden gestalten. Be¬
sonders in Bezug auf Treppenaufgang und eine
eventuelle hallenartige Erweiterung des Corridors.
Ich habe einstweilen das einfachste Projekt gewählt.
Als Princip habe ich dabei festgehalten, dass es da¬
rauf ankommt, möglichst viel gut besonnte Zimmer zu
erzielen. Balkons vor denselben halte ich nicht für nöthig,
da am besten eine gemeinsame gut besonnte, regen-
und windfreie Süd- oder Ost-Liegehalle, in der die
Patienten durch eine Person beaufsichtigt werden
können, an der einen Querseite des Gebäudes auf¬
geführt wird und zwar sowohl im ersten wie im
zweiten Stock. Ausser den Patientenzimmem ist zu
sorgen für einen in der Nähe der Veranda gelegenen
Tagesraum, für das dicht am Eingang zu legende
Schwestemzimmer, ein Wärterzimmer, ein Bad, Office,
Besen- und Abstellraum, sowie Schränke im Corridor
(eventuell eingemauert) für Wäsche, Verband und
Arzneisachen. Die dreitheilige Treppe diene zugleich
am Treppenauge als Garderobe. Unterkellerung ist
nicht nöthig. Ein kleiner Luftraum unter den Fuss-
böden genügt den hygienischen Anforderungen. Am
Eingang sei ein kleiner Holzvorbau.
3. Das Haus für Beschäftigung könnte zu¬
gleich theilweise eine grosse Halle für Gymnastik ab¬
geben. Wenn die Süd- oder Ostseite auch mit einer die
Querseite einnehmenden Veranda ausgeatattet wird,
so könnten an den im 1. und 2. Stock liegenden grossen
Beschäftigungsräumen die Wände zur Veranda zum
Herausnehmen eingerichtet und damit bei geeignetem
Wetter die Möglichkeit des handwerkmässigen Arbeitens
fast im Freien, gegeben werden. Im Ganzen muss
das Gebäude, welches etwas abseits liegt, wegen des
vielfachen Geräusches beim Arbeiten zur möglichsten
Vermeidung gegenseitiger Störung schallsicher ge¬
baut sein. Geräuschempfindliche Personen können
in über dem Gymnastiksaal liegenden Einzelzimmern
arbeiten. Häufig werden allerdings nervöse Leute
nur durch den Lärm, den andere verursachen,
gestört. Selbsterzeugter Lärm stört fast nie* Eine
grosse Reihe von Handwerks- und Reparaturarbeiteo,
von täglichen Aufräum-, Wasch-, Flick-, Näharbeiten
werden ja in den für die Arbeit bestimmten Stellen,
anderwärts innerhalb des Anwesens gemacht werden
müssen.
Eine geeignete Wandelbahn, wie sie besonders
bei schlechtem Wetter oft nöthig sein wird, erhalten
wir durch die Verbindungsgänge zwischen Pavillon
und Haupthaus. Eine Liegehalle im Wald wäre viel¬
leicht gleich vorzusehen, ebenso wie ein Luftbad.
Abseits von den Wohnhäusern können dann die
Stallungen, Remisen, der Hühnerhof. etc. liegen, da¬
mit man nicht durch Lärm, Fliegen, Geruch belästigt
wird.
Die Wohnung der Verwalter, Gärtner, Maschinisten
Handwerker werden sich wohl theilweise im Dach-
stock über dem Arbeitshaus finden.
Desinfectionszimmer und Leichenkammer seien in
der Nähe der Oekonomiegebäude.
Die Lage der Gebäude zu einander ist
natürlich in der verschiedenartigsten Weise möglich.
Wichtig ist dabei zu bedenken, dass die Centrale für
Beleuchtung, Heizung, Warmwasser, Dampf etc. nicht
zu weit von allen Gebäuden sein darf und dass alle
Gebäude untereinander, auch bei schlechtem Wetter
in bequemer Verbindung stehen müssen.
Vielleicht liesse sich auch ein Anwesen erwerben,
auf dem schon brauchbare Gebäude vorhanden sind;
so war es bei der Rasemühle. Immerhin wird man
ohne verhältnissmässig grosse Unkosten nichts passendes
schaßen können und es fragt sich, ob es nicht prak¬
tischer ist, von vornherein an ein ganz neues An¬
wesen zu denken, jedenfalls scheint es mir, dass die
Aenderungen in der Rasemühle sehr viel Kosten
gemacht haben.
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Original fram
HARVARD UNiVERSITY
1904.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 329
Mitthei Iungen.
— X. Versammlung mitteldeutscher Psy¬
chiater und Neurologen in Halle a. S. am. 22.
und 23. October 1904. I. Sitzung. Vorsitzender:
Herr Ganser.
1. Herr Forst er-(Breslau) Referat über die
Gehirnfaserung der Hemisphären mit Ausschluss des
Stammes.
Vortr. führt in Projectionsbildem Hirnschnitte
durch die Hemisphären vor, in denen die ver¬
schiedenen Faserbahnen durch die sogen, partielle
Lappendifferenziening zur Darstellung gebracht sind.
In der Eintheilung hält er sich an die von Meynert
gegebene in Associations-, Projections- und Commis-
surensysteme. Die Demonstration, die sich in der Dar¬
stellung normaler Verhältnisse zum Referat weniger
eignet, beweist, dass auch das Studium von Präparaten
aus dem normalen Gehirn des Erwachsenen wichtige
Aufschlüsse über den systematischen Aufbau desselben
zu geben vermag.
Discussion :
Herr Flechsig und Herr H o e s e 1 vertreten vom
Vortr. abweichende Anschauungen, besonders betreffs
des Türkischen und des unteren Längsbündels.
2. Herr Z i e h e n - (Berlin) über die rückläufige
Association bei Geisteskranken.
Bei der Untersuchung Geisteskranker kommen,
ähnlich wie bei anderen klinischen Untersuchungen
ebenfalls, zwei Methoden in Betracht: 1. Die praktisch*
diagnostische, die auf feinere Specialuntersuchungen
verzichtet. 2. Die heuristisch-psychologischen Metho¬
den, die das Wesen der Psychose überhaupt genauer
erforschen sollen. Von den letzteren verdient die
„rückläufige Association“ Beachtung; sie besteht in
der Fähigkeit, eine bekannte oder vorgesagte Reihe
in umgekehrter Reihenfolge zu reproduciren. Die
Fähigkeit, mit einer Association in einer Richtung
zugleich eine, wenn auch schwächere in umgekehrter
Richtung zu verbinden, fehlt dem 5 jährigen Kinde
noch, und tritt erst nach dem 6. Lebensjahre auf. Für
psychiatrische Zwecke ist es empfehlenswerth, entweder
geläufige Reihen (Monate, Zahlenreihe usw.) zu wählen,
oder besser noch Buchstaben- oder Zahlenreihen ad
hoc zu bilden. Natürlich müssen die anderen psychi¬
schen Componenten, die die Vorbedingung der rück¬
läufigen Reproduction sind, vorher bekannt sein, also
vor allem die Merkfähigkeit und die Aufmerksamkeit;
letztere ist ohne Mühe in für den bestimmten Zweck
genügender Genauigkeit an ihren zeitlichen Schwank¬
ungen zu messen. — Es zeigt sich, dass bei Hemmungs¬
zuständen die rückläufige Association im wesentlichen
qualitativ intact bleibt, d. h. die Fehler sich nicht
vermehren. Bei seniler Demenz dagegen zeigen sich
schon in den ersten Stadien oft deutliche Ausfälle,
die differential-diagnostisch gegenüber heilbaren senilen
Melancholien von Bedeutung werden können. Dämmer¬
zustände und incohärente Formen acuter Psychosen
lassen starke Störungen der rückläufigen Associations¬
fähigkeit erkennen. Defectp$ychosen zeigten ebenfalls
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starke Ausfälle; bei Dem. paralyt. ist zwar meist schon
die Merkfähigkeit gestört; wo diese aber intact ist,
ist es die rückläufige Association meist auch. Früh
schon treten Anomalien bei der arteriosklerotischen
Demenz, ferner in den ersten Stadien der Dem. praecox
auf, was auch differ.-diagnostisch von Werth sein
kann. — Stets ist aber hierbei zu betonen, dass der
Ausfall der Prüfung mit einer einzelnen solchen Methode
nicht genügt zur Diagnosenstellung, sondern dass stets
die anderen psychiatrisch bedeutsamen Factoren mit
beachtet werden müssen.
3. Herr Cr am er (Göttingen), a) Isolirte Ab¬
schnürung des Unterhorns mit seinen klinischen Folgen ;
mit Obductionsbefund. Ein ca. 25jähriger, erblich
nicht belasteter Beamter, der in der Jugend an Pleuritis
gelitten hatte, erkrankte zuerst ca. 1 U Jahr vor seinem
Tode im Anschluss an eine Bandwurmkur an Kopf¬
schmerzen und allgemeiner Mattigkeit. Mitte März 1904
traten deutliche cerebrale Erscheinungen auf, ins¬
besondere Erbrechen, Schwindel, Pulsverlangsamung.
Die Kopfschmerzen wurden vorzugsweise rechts loca-
lisirt, dabei bestand eine lähmungsartige Schwäche
und Ataxie im rechten Arm und Bein. Beginnende
Stauungspapille.
Später folgten leichte Paresen im linken Facialis
und in den linken Extremitäten, während die rechten
Extremitäten Spasmen und beim Beklopfen der rechten
Hinterhauptsschuppe Zuckungen zeigten. Die All¬
gemeinerscheinungen, insbesondere auch die Stauungs¬
papille, nahmen zu. Eine Lumbalpunktion brachte
nur wenig Flüssigkeit zu Tage, die keine diagnostische
Anhaltspunkte gewählte und nur vorübergehend Er¬
leichterung schaffte. Da ein Teil der Symptome auf
eine Affection des Kleinhirns hinwies, wurde wegen
der Zunahme der Benommenheit und der Allgemein¬
erscheinungen ein operativer Eingriff versucht, der
aber weder einen Tumor noch bei der Punktion des
Seiten Ventrikels Flüssigkeit zutage förderte und nur
vorübergehend Erleichterung brachte. Nach der
Operation trat plötzlich der Tod ein.
Die Section ergab Intactheit der übrigen Him-
substanz, dagegen war der rechte Schläfenlappen in
eine grosse, schwappende, dünnwandige Blase ver¬
wandelt, aus welcher sich beim Einschneiden helle
Flüssigkeit entleerte. Bei der Untersuchung des Ven¬
trikelsystems erw'ies sich der Zugang vom Seiten¬
ventrikel zum Unterhorn völlig verlötet, auch für
Sonden nicht durchgängig, sodass durch diese offenbar
entzündliche Verwachsung die isolirte hydrocephalische
Erweiterung des Unterhorns, welches noch die gewöhn¬
lichen Plexusantheile enthielt, erklärt wurde.
Betreffs der histologischen Befunde und der muth-
masslichen Ursache dieser Verwachsung wird auf den
folgenden Vortrag (Web er-Göttingen) verwiesen.
Der Befund ist geeignet, die klinischen Symptome
zu erklären. Was die Reizerscheinungen, insbesondere
die Zuckungen des rechten Armes bei Beklopfen der
gleichseitigen Hinterhauptsregion betrifft, so weist
Original frum
HARVARD UN1VERSITY
330
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 35.
Vortr. darauf hin, dass für diese Erscheinung zwei
Erklärungen möglich sind: Es kann direkt auf mecha¬
nischem Wege durch Contrecoup bei Beklopfen der
rechten Kleinhimgegend eine mechanische Reizung
der linken motorischen Region zu Stande kommen
oder es kann der das rechte Kleinhirn treffende Reiz
auf dem Wege einer Bahn nach der linken motorischen
Region gelangen. In beiden Fällen würden von dem
auf indirektem Weg gereizten Frontalhirn aus die
Zuckungen der rechten, also zuerst betroffenen, der
Kleinhimseite entsprechenden Extremitäten ausgelöst.
Auch die gleichseitige Ataxie musste auf eine Beteili¬
gung des Kleinhirns (durch Druck) zurückgeführt
werden.
Im Anschluss berichtet Vortr. noch kurz über einen
anderen Fall von isolirter hydrocephalischer Erweiterung
des linken Vorderhoms mit entsprechenden klinischen
Symptomen.
In der Discussion erwähnt Flechsig die Möglich¬
keit , dass die gleichseitigen Reizerscheinungen der
Extremitäten durch einen Druck auf den Hirnschenkel-
fuss ausgelöst sein konnten.
Ziehen betont die Häufigkeit isolirter corticaler
Krämpfe, ohne dass man jedesmal eine entsprechend
localisirte anatomische Veränderung der motorischen
Region finde. Er hat solche corticale Krämpfe auf
der gleichen Seite in einem Fall von Kleinhirn -
erkrankung gesehen.
ln einem Schlusswort bemerkt Cramer, dass er
die Spasmen sicher auf eine Reizung des Himschenkel-
fusses zurückführe. (Weber-Göttingen.)
Discussion:
Herr Flechsig glaubt die im ersten Falle beob¬
achteten Reizerscheinungen auf einen Druck des
hydropischen Ventrikels durch das Tentorium hin¬
durch auf die motorischen Bahnen im Slimstamm
zurückführen zu sollen.
Herr Ziehen hat in einem Falle von Kleinhirn¬
aff ection ebenfalls halbseitige homolaterale Jackson¬
artige Zuckungen beobachtet.
Herr Binswanger erinnert im Zusammenhang
mit den vorgeführten Fällen an Zustände recidivirender
Hydrocephalie im Kindesalter, wo vielleicht manchmal
ähnliche Verhältnisse vorliegen.
Herr Cramer hat die Reizerscheinungen im
selben Sinne wie Herr Flechsig aufgefasst sehen
wollen. (Fortsetzung folgt.)
— Giessen. Am 5. November dieses Jahres
fanden sich akademische und praktische Vertreter
von Jurisprudenz und Psychiatrie in Giessen
zu einer Vereinigung zusammen/ deren praktischer
Zweck die Verständigung über die forensischen Streit¬
fragen auf dem Gebiet der CriminalPsychologie
und strafrechtlichen Psychopathologie ist.
Die an dem genannten Tage neugegründete Körper¬
schaft trägt den^Namen „Vereinigung für gerichtliche
Psychologie und Psychiatrie“. Die neue Gründung
erstreckt sich auf das ganze Grossherzogthum Hessen,
es liegt also die grosse Bedeutung des Unternehmens
wesentlich darin, dass sich im Umfange eines ganzen
Staatsverbandes die beiden Parteien, die schon so
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manchmal miteinander im Streite lagen, auf dem
festesten Willen zur Vorurtheilslosigkeit zusammen¬
gefunden haben.
Die geistigen Urheber des Unternehmens waren
die Vertreter des Strafrechts und der Psychiatrie ah
der Universität Giessen, denen sich alsbald eine
Anzahl von Vertretern der Staatsanwaltschaft, des
Richterstandes sowie die Amtsärzte anschlossen. Auf
ihre Einladung fanden sich aus den Reihen der
hessischen Juristen und Aerzte eine sehr grosse An¬
zahl, ca 110 Theilnehmer, ein. Die Tagungen sollen
halbjährlich stattfinden; als Ort der nächsten Tagung
ist Mainz bestimmt. Bei der Organisation der Ver¬
einigung wurde die politische Geographie des Gross¬
herzogthums insofern zur Grundlage genommen, als
für jede der drei hessischen Provinzen je drei Vor¬
standsmitglieder gewählt wurden, sodass der Vorstand
aus 9 Mitgliedern besteht — Die praktische Arbeit
der ersten Tagung wurde geleistet in den Vorträgen
der Professoren Mittermaier und Sommer. Erste-
rer entwickelte- in ausführlichem Vortrage die Noth-
wendigkeit der Reform des modernen Strafprocesses
überhaupt und fand die Verknüpfung seiner Erörter¬
ung mit dep Leitgedanken der Vereinigung in der
Förderung einer psychologischen Vorbildung der
Juristen. Sommer gab in längerer Rede eine Dar¬
stellung der verschiedenen Formen der falschen Aus¬
sage bei Geisteskranken, Criminellen und Normalen.
Der Meineid als bewusste That des Criminellen ist
von der unbewussten falschen Aussage, wie sie bei
moralisch ein wandsfreien Personen vorkommt, zu
unterscheiden. Der Vortragende gab eine Uebersicht
über die verschiedenen elementaren Störungen der
Wahrnehmung und die Veränderungen, die diese
erleiden können, und erläuterte diese psychologische
Thatsache an der Hand eines Versuches. — Eine
ausführliche Darstellung der Tagung erscheint in
den „J uristisch-psy chia tri sehen Grenzfragen“,
Verlag Carl Marhold, Halle a. S.
Dr. Dannenberger.
— München. Wie schon in voriger Nummer
mitgetheilt, fand am 7. d. Mts. die Einweihung der
neuen psychiatrischen Klinik zu München, Nussbaum¬
strasse, statt. Der von Prof. Dr. Kraepelin bei
dieser Feier gehaltenen Festrede entnehmen wir nach
der „Augsburger Abendzeitung“ Folgendes:
. . . Die erste Aufgabe der Anstalt ist der Kranken¬
dienst. Soweit die Hilfsmittel reichten, hat die
Klinik vertragsmässig die Rolle eines Stadtasyls für
München übernommen: d. h. die Verpflichtung, alle
der Anstaltspflege bedürftigen Geisteskranken der Stadt
so lange zu versorgen, bis sie wieder entlassen oder
in einer anderen Anstalt untergebracht werden. Den
Hauptteil des ganzen Gebäudes, im Wesentlichen die
beiden mittleren Stockwerke, nehmen daher die
Krankenabtheilungen mit ca. 100 Betten ein. Diese
Bettenzahl kann dem Bedürfniss der Münchener Hoch¬
schule nur pnter der Voraussetzung eines starken
Wechsels der Kranken genügen. Nach den bisherigen
Erfahrungen im Krankenhaus werde man in der That
schon in nächster Zeit mit einer Aufnahmeziffer von
1500—2000 Erkrankten zu rechnen haben. Damit
Original from
HARVARD UNIVERSUM
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
33i
1904.]
ist natürlich eine Abkürzung der Verpflegszeit für die
einzelnen Kranken verknüpft. Diesem Charakter
entspricht die Ausdehnung der Ueberwachungsab-
theilung. Nahezu zwei Drittel der Kranken, nach
Umständen noch mehr, werden Tag und Nacht einer
fortdauernden, sorgfältigen Ueberwachung bedürfen;
nur ganz leichte Fälle bleiben ohne solche. Die
Zirculation dieser Ueberwachung wird durch eine
elektrische Centralwachuhr gewährleistet. Die Ueber¬
wachung ist derart eingerichtet, dass eine Person
2 Wochen hintereinander Nachtdienst hat, um am
Tage vollständig auszuruhen. . . .
Abgesehen von den Bädern für das Personal und
die Aerzte, sowie 6 Wannen zu Reinigungszwecken,
einem elektrischen Bad und einem Duschraum sind
in der Klinik in 5 Räumen Dauerbäder mit zusammen
18 Wannen eingerichtet; ausserdem sind 5 fahrbare
Wannen vorhanden. Alle Baderäume sind so freund¬
lich und sauber wie möglich ausgestattet, mit Kachel¬
wänden, reichlicher Beleuchtung, Dunkelschaltem für
die Nacht, Holzmattenbelag, Spülclosett, Wäsche¬
wärmer usw.. . .
Redner gedenkt in der Klinik den Grund¬
satz der zellenlosen Behandlung vollständig durch¬
zuführen. Immerhin sind noch einige Isolirzimmer
da für den Fall der Einlieferung von Kranken, bei
deren Gefährlichkeit alle anderen Rücksichten schweigen
müssen und wo Leben und Gesundheit der Mitkranken
in anderer Weise nicht geschützt werden könnten. . . .
Eine gewisse grundsätzliche Bedeutung hat die
Art der Fensterversicherung. Eis ist gewiss ein be¬
rechtigtes Streben, Irrenanstalten den Anschein des
Gefängnisses zu nehmen. Man pflegt in neuerer Zeit
vielfach die Fenster unvergittert zu lassen. Das billigt
Prof. Dr. Kraepelin durchaus, soweit es sich um
Erdgeschosse oder um Kranke handelt, bei denen
jede Selbstmordgefahr ausgeschlossen ist, weil die
Gitter nicht der Verhütung von Entweichungen, sondern
lediglich zum Schutz gegen Selbstmord dienen sollen.
Da nun in der Klinik sich stets zahlreiche „sich selbst¬
gefährliche“ Kranke befinden werden und die Räume
dafür im 1. und 2. Stockwerk liegen, wäre der Verzicht
auf Gitter nur möglich, wenn man den Kranken die
Möglichkeit, selbst zu öffnen und hinauszusehen, ab¬
geschnitten hätte. Dieser Preis erschien dem Redrier
zu hoch, zumal er selbst schon derartige Unglücks¬
fälle erlebt hat. Es sind daher für diese Krankensäle
blumenbesetzte Korbgitter gewählt, welche den Kranken
in Bezug auf Oeffnen und Schliessen der Fenster
völlige Freiheit gewähren. Nur für besondere Anlässe
ist eine Sperrvorrichtung angebracht, die etwa bei
grosser Kälte oder bei erregten Kranken eine will¬
kürliche Oeffnung der Fenster unmöglich macht. In
der Abtheilung für unruhige Kranke sind die Fenster
mit Doppelscheiben aus starkem Glas versehen. Nach
der Strasse zu sind Gitter vermieden, aber die 3 theiligen
Fenster so gebaut, dass ein Hinausstürzen nicht möglich
ist. Ebenfalls vom Gesichtspunkt des Schutzes der
Kranken, wenn auch auf einem anderen Gebiete, zu be¬
trachten ist die grundsätzliche Verbannung des Alkohols
als Genussmittel aus dem Hause. Man wird hier
mit einer ständigen Zahl von Alkoholkranken zu
rechnen haben, denen nur die dauernde Entziehung
dieses Giftes die Gesundheit wiedergeben kann. Wir
müssen daher den Kranken dessen Entbehrlichkeit
vor Augen führen. Zum Ersatz für Alkohol werden
neben Kaffee, Thee und Obst kohlensaures Wasser und
Limonade dienen, zu deren Herstellung leistungsfähige
Apparate beschafft wurden. — Das Pflegepersonal muss
bei Durchführung der zellenlosen Behandlung so reich¬
lich bemessen sein, dass mindestens ein Pfleger auf
drei Kranke trifft Redner hofft mit Hilfe des Ordens
der barmherzigen Schwestern, welche auch die Führung
des Wirthschaftsbetriebes übernommen haben, zu einer
glücklichen Lösung der Frage zu kommen, insbesondere
beabsichtigt er, die Schwestempflege, soweit es irgend¬
wie angeht, auch auf männliche Kranke auszudehnen,
da man sich davon nach den Erfahrungen, nament¬
lich in Holland, günstige Einwirkungen auf den Geist
der Abtheilungen verspreche. Der Klinik werden
nicht weniger als 14 besoldete und unbesoldete Aerzte
zur Verfügung stehen, deren Arbeitskraft allerdings
zuweilen erheblich durch die Aufgaben des Unter¬
richts und der wissenschaftlichen Forschung mit in
Anspruch genommen wird. Einer der Aerzte wird
dauernd Nachtdienst haben. Für unbemittelte Kranke
aus der Stadt werden in der Klinik tägliche Sprech¬
stunden abgehalten; für die Behandlung dieser Kranken
stehen die verschiedensten Hilfsmittel, insbesondere
Elektricität in mannigfacher Form, Vibrationsmassage
und Duscheinrichtungen zur Verfügung. Die Aufgabe
einer Klinik als Stadtasyl erfordert Zugänglichkeit
ohne jede Förmlichkeit; jeder, der der Hilfe bedarf,
muss die Klinik leicht und in dringenden Fällen zu
jeder Stunde des Tages und der Nacht finden. Wenn
einmal ein Nichtgeisteskranker die Klinik aufsuchen
sollte, so wird sachverständige Untersuchung bald
Klarheit schaffen. Natürlich muss auch die Entlassung
aus der Klinik in der Regel rasch erfolgen können.
Freiwilliger Aufenthalt in der Klinik soll nur auf
ärztlichen Rath gewährt werden. Es giebt zahlreiche
Irre, die durchaus der psychiatrischen Behandlung
bedürfen, aber sich nicht entschlossen können die
peinlichen Vorbedingungen für die Aufnahme in eine
Irrenanstalt zu erfüllen. Für solche Kranke enthält
die Klinik eine Abtheilung ohne jede Freiheits¬
beschränkung; man rechnet dabei insbesondere auf
Kranke aus den gebildeten Ständen. . . .
Dr. Kraepelin sprach sich sodann gegen die in
manchen neueren psychiatrischen Kliniken durch¬
geführte Ausdehnung der Behandlung und des Unter¬
richts auf das Gebiet der Nervenkrankheiten aus.
Einmal sei die Neurologie auf dem besten Wege
sich zu einem selbständigen Fach zu entwickeln und
dann braucht die Psychiatrie zu ihrer Fortentwicklung
selbst dringend die volle Arbeitskraft ihrer Vertreter....
Die Klinik wird voraussichtlich vier Hochschul¬
lehrer beschäftigen. Nicht nur wird der schulmässige
Unterricht zu ertheilen sein, sondern ihre Aufgabe ist
auch die Ausbildung junger Fachgenossen aus aller
Herren Länder, die Aufrechterhaltung wissenschaft¬
licher Beziehungen, die Veranstaltung von Versamm¬
lungen, die Abhaltung von Fortbildungskursen und
öffentlichen Vorträgen. Mehr noch als hiefür bedarf
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Gck gle
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HARVARD UNiVERSITY
332
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 35.
die Klinik zahlreicher Arbeitskräfte für die Lösung
ihrer letzten und in gewissem Sinn höchsten Aufgabe,
für die wissenschaftliche Forschung. Mit Stolz darf
man sagen, dass in dieser Klinik der wissenschaft¬
lichen Forschung eine Stätte bereitet ist, wie nirgends
in Deutschland. Redner zählt die Einrichtungen auf,
die für Untersuchung des Blutes und anderer Körper¬
säfte, insbesondere der Cerebrospinal-Flüssigkeit in
der Klinik in mustergültiger Weise getroffen sind,
ferner für anatomische Forschungen, Mikrophoto¬
graphie etc. etc., die Apparate für Messung der
Auffassungs- und Merkfähigkeit, der geistigen Arbeits¬
leistung etc. etc. Es sei also ein grossartiges Rüst¬
zeug, mit welchem die weise Fürsorge der Staats¬
regierung sowie die verständnissvolle Opferwilligkeit
beider Kammern die spät aber doch nicht zu spät
ins Leben gerufene psychiatrische Klinik ausgestattet
hat. Kranke und Leidende, Wissenschaft und Mensch¬
lichkeit wird ihnen dafüi reichlich Dank zollen und
der Segen der schöpferischen That wird nicht aus-
bleiben! ...
Allerdings lehre die Erfahrung, dass die Fülle der
Hilfsmittel noch keineswegs den Erfolg verbürgt; die
Hauptsache ist und bleibt nicht die Waffe, sondern
der Arm, der sie führt. An uns ist es jetzt, schloss
Prof. Kraepelin, die rauhe Form, deren Vollendung
wir heute feiern, mit einem würdigen Inhalt zu erfüllen.
Möchten unsere Kräfte und die Erfolge unseres
Mühens nicht allzuweit hinter unsem Wünschen
Zurückbleiben. (Lebhafter Beifall.) — An die Er¬
öffnungsrede schloss sich eine Besichtigung der Klinik
durch die Ehrengäste und die Studierenden.
Bibliographie
über Kriminal-Anthropologie und Verwandtes.
II. Quartal 1904.
Von Medicinalrath Dr. P. Näcke in Hubertusburg
(Fortsetzung.)
Verster: Ueber hysterische Dämmerzustände u. das
Vorbeireden. Vortrag. Ref. ibidem.
Grohmann: Die V egetarier-An Siedlung in Ascona
und die sog. Naturmenschen im Tessin. Halle a. S.,
Marhold, 1904. 63 S.
Näcke: Ueber den Werth der sog. Degenerations¬
zeichen. Monatsschr. für Kriminalpsychologie etc.
1904, Maiheft.
Ebbinghaus: Zur Casuistik der congenitalen Herz¬
fehler u. deren möglichen Folgen. Münchner
medicin. Wochenschr. 1904, Nr. 18.
Cohn: Ein Fall von angeborenem Herzfehler. Ibid.
Grosmolard: Les jeunes criminels en correction.
Archives d’anthrop. crira. 15. mai 1904.
Vaschide et Vurpas: De l’excitation sexuelle dans
l’emotion musicale. Ibidem.
Dubuisson: Du principe de rimitateur de l’aliena-
tion et de le criminalite. Lyon. Paris, Stork,
IQ04.
Mora che: Naissance et Mort. Paris 1904.
Hubert: De l’epilepsie tardive. Gazette des höpi-
t^ux. 1904, Nr. 47.
Giraud: Note sur les alienes processifs. Journ. de
Neurologie 1904, p. 125.
Guermonprez: L’assassinat medical et la respect de
la vie humaine, Paris, 1904, Rousset.
Cochy de Moncau: Des stigmates de la Criminalite.
L’oeil et la vision chez les criminels. Paris, Jonoe,
1904, 72 S.
Bresler: Die Simulation von Geistesstörung u. Epi¬
lepsie. Marhold, Halle a. S., 1904.
Gtitschow: Zur Kenntnis der weiblichen Epispadie.
Diss. Rostok 1904.
Brunner: Ueber Pulmonalstenose mit foramen ovale.
Diss. . München 1904.
Späther: Die angeborenen Stenosen u. Atresien des
Darmes. Diss. Bonn 1904.
v. Babes: Die angeborenen Anomalien, die Prädispo¬
sition u. die Charaktere der Arten. Ref. Münchner
medicin. Wochenschr. 1904, Nr. 19.
Babes: Ueber Gesichtsanomalien, welche eine
Umwandlung der Extremitäten (Akrometagenese)
zur Folge haben. Ref. ibidem.
Näcke: Specialanstalten für geistig Minderwertige.
Psvch.-Neurolog. Wochenschr. 1904, Nr. 9/10.
Kornfeld: Verbrechen u. Geistesstörung im Lichte
der altbiblischen Tradition. Marhold, Halle a. S.,
, u >° 4 *
Rcti: Sexuelle Gebrechen, deren Verhütung u. Heilr
ung. 2. Aufl. Halle a. S., Marhold, 2 M. 1904.
Weygandt: Verhalten des Gehirns bei Situs viscerum
transversus. Autoref. in Psych.-neuro!. Wochen¬
schrift. 1904, Nr. 7.
Le Damäny: Die congenitale Hüftgelenksluxation.
Revue de Chirurgie. Dec. 1903.
Schallmeyer: Vererbung u. Auslese im Lebenslauf
der Völker. Jena, Fischer, 1903.
Rawitz: Urgeschichte, Geschichte und Politik. Berlin,
Simon, 1903.
Germer: 2 congenitale Tumoren des Vorderarmes.
Diss. Greifswald, 1904.
Heine: Ueber den angeborenem Mangel der Knie¬
scheibe. Berliner klin. Wochenschr. 1904, Nr. 19.
Kier 11 an: Mixoskopic adolescent survivals in art,
literature and pseudo-ethics. (Forts.) The Alienist
etc. 1904, Nr. 2.
Dühren: Neue Forschungen über den Marquis de
Sade u. seine Zeit. Berlin, Harrwig, 10 M.
Lombroso: Atavismus und Civilisation. Politisch-
anthropologische Revue 1904, Nr. 3.
Wirth: Das Gesetz in der Geschichte. Ibidem.
Hartung: Eine Theorie des Völkertodes. Ibidem.
Voretzsch: Lungenaplasie mit Veränderungen ma¬
lignen Charakters. Ref. Münchner medicin.
Wochenschr. 1904, Nr. 21.
Schönborn: Aussterbende Familien. Beiträge zur
Klinik der Tuberkulose 1903, Bd. II.
(Fortsetzung folgt.)
Für den redacticmellen Theil verantwortlich : Oberarzt I)r. J. Iiresler, Lublmilz (Nchesien).
Krscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inscratcnannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Heynemann’sche Buchdruckerci (Gebr. Wo'flO in Halle a. S.
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Original from
HARVARD UNIVERSITY
Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift.
Redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler.
Lublinitx (Schienen).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telejrr.-Adresse: M arho ld Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834.
Nr. 36. 3. Dezember. 1904,
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die ßspaltige petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermüssigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Rresler, Lublinitx (Schlesien), zu richten.
Dritter Bericht über die Fortschritte des Irrenwesens.
Nach den Anstaltsjahresberichten erstattet
von Dr. Deitert in Bonn, früher in Andernach.
A bsichtlich habe ich mit der Erstattung dieses III.
Berichtes etwas länger gezögert. Es liegt in
der Natur der Sache, dass unsere Anstaltsberichte
immer wieder dieselben Dinge besprechen, und der
Referent, der alljährlich das Wissensw'erthe daraus zu¬
sammenstellen will, geräth in Gefahr Wiederholungen
zu bringen.
Nachdem nunmehr aber eine grössere Anzahl von
Berichten vorliegt, als sonst, welche einen erheblich
längeren Zeitraum als i Jahr umfassen, glaube ich
doch wieder genug des Neuen bringen zu können.
Im Uebrigen möchte ich hier das früher Gesagte
wiederholen, dass unsere Anstaltsberichte nicht aus¬
reichen, um uns ein lückenloses Bild von der der¬
zeitigen Gesammtlage der Irrenfürsorge zu geben;
das bitte ich also auch von dem folgenden Referat
nicht zu erwarten. Wohl aber sind sie geeignet uns
über den allmählichen Fortgang der Entwicklung zu
unterrichten.
Verzeichniss der vorliegenden Berichte.
Deutschland.
1. Die deutschen Heilanstalten für Alkoholkranke
im Jahre 1^3. Hrsg. v. P. Kruse.
Preussen.
Provinz Ostpreussen.
2. Bericht über die Irrenanstalten Allenberg,
Kort au und Tapiau für das Jahr 1902.
3. Derselbe 1903.
5. Bericht über die Idiotenanstalt zu Rasten burg
1902/03.
4. Derselbe 1903/04.
6. Jahresbericht des Königsberger Vereins zur
Fürsorge für Schwachsinnige pro 1902.
Provinz Westpreussen.
7. Bericht über die Verwaltung der westpreussischen
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Provinzial-Irrenanstalt zu Con radste in für das
Rechnungsjahr 1902.
8. Bericht über die Verwaltung der westpreussischen
Provinzial-Irrenanstalt zu Sch wetz für das Rech¬
nungsjahr 1902.
Provinz Pommern .
9. Erster Bericht über die pommersche Provinzial-
Irrenanstalt zu Treptow a. Rega für die Zeit
vom 15. II. 1900 bis 31. III. 1903.
Provinz Posen .
10. Bericht über die Provinzial-Irrenanstalt zu Dzie-
kanka für die Zeit vom 1. V. 1902 bis 31. III.
1903.
11. Bericht über die Provinzial - Irrenanstalt zu
Owinsk für die Zeit vom 1. IV. 1902 bis 31.
III. 1903.
12. Bericht über die Provinzial-Irren- und Idioten-
Anstalt zu Kosten für die Zeit vom 1. IV. 1901
bis 31. III. 1902.
13. Derselbe vom 1. IV. 1902 bis 31. III. 1903.
Provinz Schlesien .
14. Bericht über das städtische Irrenhaus zu Bres¬
lau für die Zeit vom 1. IV. 1902 bis 31. III.
1903.
15. Bericht der Provinzial-Irrenanstalt zu Brieg über
das Jahr 1902/1903.
16. Aerztlicher Jahresbericht der Provinzial-Irrenanstalt
zu Bunzlau 1902/03.
17. Derselbe 1903/04.
18. Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalt zu Freiburg
i. Schlesien, zehnter Jahresbericht (Rechnungs¬
jahr 1902).
19. Provinzial-Irrenanstalt zu Leubus. Aus dem
Jahresbericht für 1902/03.
20. Derselbe 1903/04.
21. Aerztlicher Bericht über das Verwaltungsjahr 1902
der Provinzial-Irrenanstalt Rybnik.
Provinz Brandenburg.
22. Auszug aus dem Verwaltungsbericht des Branden-
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 35
334
burgischen Piovinzialausschusses vom 29. Januar
1904.
23. Bericht über die Idiotenbildungsanstalt ,,Wilhelm¬
stift“ und die Provinzialanstalt für Epileptische
zu Potsdam.
24. Verwaltungsbericht des Magistrats zu Berlin für
das Etatsjahr 1902. Nr. 19. Bericht der Depu¬
tation für die städtische Irrenpflege.
25. Schweizerhof. Privatheilanstalt für Nerven-
und Psychisch-Kranke weiblichen Geschlechts.
Dritter Bericht, 50 Jahre nach seiner Gründung.
17. XII. 1853 bis 17. XII. 1903.
26. Fünfter Bericht des Vereins Heilstätte für Nerven¬
kranke „Haus Schönow“ in Zehlendorf bei
Berlin. 1904.
Provinz Schleswig-Holstein.
27. Bericht über das 82. Verwaltungsjahr der Pro-
vinzial-Irren-Heil- und Pflegeanstalt bei Schles¬
wig für die Zeit vom 1. IV. 1902 bis 31. III.
1903.
Provinz Haimover.
28. Jahresbericht der Provinzial-Heil- und Pflegean¬
stalt zu Göttingen für das Jahr 1902.
29. Jahresbericht der Provinzial-Heil- und Pflegean¬
stalt zu Hildes heim für die Zeit vom 1. IV.
1902 bis Ende März 1903.
30. Derselbe 1903/04.
31. Jahresbericht der Provinzial-Heil- und Pflege-An¬
stalt für Geistesschwache zu Lange n h a g e 11
vom 1. IV. 1902 bis 31. III. 1903.
32. Derselbe 1903/04.
33. Jahresbericht der Provinzial-Heil- und Pflege-An¬
stalt zu Lüneburg für das Jahr 1902.
34. Derselbe für 1. IV. 1903 bis 31. III. 1904.
35. Jahresbericht der Provinzial-Heil- und Pflege-An¬
stalt zu Osnabrück für das Jahr 1902.
36. Derselbe, Rechnungsjahr 1903.
Provinz Sachsen .
37. 2Ö. und 27. Verwaltungsbericht der Landes-Heil-
und Pflege-Anstalt zu Rittergut Alt-Scherbitz
und des Siechenasyls Kaiser-Wilhelm-Augusta-
Stiftung 1900/01 und 1901/02.
38. XXX. Jahresbericht pro IQ02 über das Erzieh¬
ungshaus für schwach- und blödsinnige Mädchen
„zum guten Hirten“ zu Hasserode.
Provinx Westpha len.
39. Berichte der Directoren der Provinzial-Irrenan-
stalten zu Marsh erg, Lengerich, Münster,
Aplerbeck, Eickelborn für das Geschäfts¬
jahr 1901.
40. Derselbe 1902.
Rkeinprovinz .
41. Bericht über die Provinzial-Heil- und Pflege-
Anstalten der Rhein pro v in z, Rechnungsjahr
1902/03.
42. Der Tannenhof bei Lüttringhausen, evange¬
lische Heil- und Pflegeanstalt für Gemüths- und
Geisteskranke. Bericht über das 7. Arbeitsjahr
1902/03.
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43. Fünfundvierzigster Bericht über H e p h a ta, evan¬
gelische Idioten-Erziehungs- und Pflege-Anstalt
zu M. Gladbach. 1903.
44. 2. Jahresbericht des Hülfsvereins für Geistes¬
kranke in der Rheinprovinz. Jahrgang 1902.
45. 3. desgl. 1903.
Provinz Hessen - Nassau .
46. Bericht der Heil- und Pflege-Anstalt Eichberg
im Rheingau, betreffend das Rechnungsjahr vom
1. IV. 1902 bis 31. III. 1903.
47. Bericht über die Verwaltung der Irren-Heil- und
Pflege-Anstalt Weilmünsterfür das Rechnungs¬
jahr vom 1. IV. 1902 bis 31. III. 1903.
48. Bericht über die Anstalt für Irre und Epileptische
zu Frankfurt a. M. vom 1. IV. 1902 bis 31.
III. 1903.
Bayer n.
49. Generalbericht über die Sanitäts-Verwaltung im
Königreich Bayern. Das Jahr 1902 umfassend.
50. Erster ärztlicher Jahresbericht der Kreisirrenanstalt
Ansbach für das Jahr 1902.
51. Zweiter desgl. 1903.
52. Jahresbericht der Kreis-Irrenanstalt Bayreuth
für das Jahr 1902.
53. Desgl. 1903.
54. XVII. Jahresbericht der Kreis-Irrenanstalt G aber-
see für das Jahr 1902.
55. XVIII. desgl. 1903.
56. Jahresbericht der Kreis-Irrenanstalt München
über das Jahr 1902.
57. Desgl. 1903.
Württemberg.
58. Bericht über die im Königreich Württemberg
bestehenden Staats- und Privatanstalten für Gei¬
steskranke, Schwachsinnige und Epileptische auf
das Jahr 1901.
59. Desgl. auf das Jahr 1902.
60. Jahresbericht der Heil- und Pflege-Anstalt für
Schwachsinnige in M a ri a b e r g vom Jahre 1902
bis 1903.
61. Jahresbericht der Heil- und Pflege-Anstalt für
Schwachsinnige und Epileptische in Stetten irn
Remsthal. 1902/03.
Sachsen.
62. Das Irrenwesen im Königreich Sachsen im
Jahre 1002.
63. Rath der Stadt Leipzig. Bericht des Hochbau-
Amtes für das Jahr 1902. Neubau der Heil¬
anstalt Döse n betreffend.
64. Heilanstalt Dösen. Bericht des Directors für
1901 und 1902.
Baden.
65. Jahresbericht der grossherzoglich badischen Irren¬
klinik Heidelberg für die Jahre 1901/02.
66. Desgl. für das Jahr 1903.
67. Jahresbericht der grossherzoglich badischen psy¬
chiatrischen Klinik Freiburg für die Jahre
1901/02.
68. Desgl. für das Jahr 1903.
Original from
HARVARD UNIVERSUM
1904.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
335
6g. Jahresbericht der grossherzogl. badischen Heil-
und Pflege-Anstalt Illenau für die Jahre 1901
bis 1902.
70. Desgl. für das Jahr 1903.
71. Jahresbericht der grossherzoglich badischen Heil-
und Pflege-Anstalt Pforzheim für die Jahre
1901/02.
72. Desgl. für das Jahr 1903.
73. Jahresbericht der grossherzogl. badischen Heil-
und Pflege-Anstalt Emmendingen für die Jahre
1901/02.
74. Desgl. für das Jahr 1903.
75. Haus Rocken au, Heilanstalt für Nervenkranke
und Entwöhnungskuren.
76. Erster Jahresbericht der Villa Wilhelma,
Familienpflege für Alkoholkranke, Abstinenz-
Sanatorium in Heidelberg.
Mecklenburg.
77. Verwaltungsbericht der grossherzoglich mecklen¬
burgischen Irren-Heil- und Pflege-Anstalt Gehls-
heim für 1902.
78. Derselbe für 1903.
79. Verwaltungsbericht der grossherzoglich mecklen¬
burgischen Irren-Heil- u. Pflege-Anstalt Sachsen-
* berg für 1902.
80. Derselbe für 1903.
81. Jahresbericht der grossherzoglichen Bildungs- und
Pflege - Anstalt für geistesschwache Kinder zu
Schwerin 1. X. 1902 bis 30. IX. 1903.
82. Sechster Jahresbericht der Landesirrenanstalt bei
Strelitz (Alt-) vom 21. VIII. 1902 bis 1. I.
1904.
Hessen.
83. Bericht der Verwaltung des Hilfsvereins für die
Geisteskranken in Hessen. Rechnungsjahr
1902/03.
84. Derselbe, Rechnungsjahr 1903/04.
Braunschweig.
85. Die herzogliche Heil- und Pflege - Anstalt zu
Königslutter vom 1. IV. 1891 bis 31. III.
1903. Amtlicher Bericht.
Thüringische Staaten.
86. Bericht über das Carl Friedrich-Hospital, Grossh.
Sächs. Landes-Irren-Heil- und Pflege-Anstalt mit
Siechenabtheilung zu Blankenhain (S.-W.) für
die Jahre 1898—1902.
87. Vierundzwanzigste statistische Nachricht über das
Genesungshaus zu Roda auf des Jahr 1902.
88. Fünfundzwanzigste desgl. auf das Jahr 1903.
Hohenzollern.
89. Aerztlicher Jahresbericht über das Fürst-Carl-
Landes - Spital zu Sigmaringen für das Jahr
1902.
90. Desgl. für das Jahr 1903.
Elsass-Lothringen.
91. Bericht über die Verwaltung der vereinigten Be¬
zirks-Irrenanstalt Stefansfeld-Hördt, für die
Verwaltungsperiode 1. IV, 1902 bis 31. III. I 9 ° 3 *
92. Bericht über die Bezirks-Irrenanstalt bei Sa ar¬
ge münd für das Jahr 1902.
Hanse -Städte.
93. Hamburg, Jahresbericht des Krankenhauscolle¬
giums für das Jahr 1902.
94. Desgl. 1903.
95. Briefe und Bilder aus Alsterdorf. 1904.
96. Aerztlicher Bericht über die Wirksamkeit der
Krankenanstalt zu Bremen im Jahre 1902.
97. Bericht über die Wirksamkeit der Privat-Heil-
und Pflegeanstalt für Nervenleidende und Geistes¬
kranke des Dr. med. H. Engelken zu Rock-
winkel im Jahre 1902.
98. Derselbe 1903.
99. Lübeck. Jahresbericht der Vorsteherschafl der
Irrenanstalt über die Verwaltung im Jahre 1902.
Oesterreich-Ungarn.
100. Bericht des niederösterreichischen Lan¬
des-Ausschusses über seine Amtswirksamkeit
vom 1. VII. 1901 bis 30. VI. 1902.
101. Niedernhart, Bericht über die oberöster¬
reichische Landes-Irrenanstalt für das Jahr 1902.
102. Desgl. für das Jahr 1903.
103. Jahresbericht der Landes-Irrenanstalt Val du na
in Vorarlberg für 1902 und 1903.
104. Hellwig, der Stand der Irrenpflege in Mähren,
ein Nothstand.
105. Jahresbericht der mährischen Landes-Irrenanstalt
in Brünn für das Jahr 1902.
106. Desgl. für das Jahr 1903.
107. Bericht der Landes-Irren-Heil- und Pflege-An-
stalt Feldhof bei Graz nebst den Filialen
Lankowitz, Kainbach und Hartberg für
das Jahr 1902.
108. Das Irrenwesen Ungarns im Jahre 1902. —
Beilage dazu: Bericht über die Verhandlungen
der II. Landesconferenz der ungarischen Irren¬
ärzte.
109. Das Irrenwesen Ungarns im Jahre 1903.
Schweiz.
110. Verein schweizerischer Irrenärzte. Zur 34. Jahres¬
versammlung 1. u. 2. Juni 1903.
in. Jahresbericht der Thurgauischen Irrenanstalt
Münsterlingen 1902.
112. Fünfundvierzigster Jahresbericht der Heil- und
Pflegeanstalt St. Pirminsberg pro 1902.
113. Sechsundvierzigster desgl. pro 1903.
114. Elfter Jahresbericht des kantonalen Asyles in
Wil, vom 1. I. bis 31. XII. 1902.
115. Zwölfter desgl. 1903.
116. Elfter Jahresbericht der Direction der kanto¬
nalen Irren- und Krankenanstalt Waldhaus
pro 1902.
117. Zwölfter desgl. pro 1903.
118. Rechenschaftsbericht über die Züricher kanto¬
nale Irrenheilanstalt Burghölzli für das Jahr
1902.
119. Desgl. für das Jahr 1903.
120. Vierzehnter Jahresbericht der Trinkerheilstätte
Ellikon a. d. Thur über das Jahr 1902.
121. Fünfzehnter desgl. über das Jahr 1903.
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HARVARD UNiVERSITY
336
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 36.
122. Siebenundzwanzigster Bericht des Züricher
Hilfsvereins für Geisteskranke über das
Jahr 1903.
123. Achtundzwanzigster desgl. über das Jahr 1903.
124. Bericht über die kantonale Heil- und Pflege¬
anstalt Friedmatt 1902.
125. Siebzehnter Bericht des Basler Irren hilf s-
vereins 1902.
126. Achtzehnter desgl. 1904.
127. Evangelische Heilanstalt „Sonnenhalde“ für
weibl. Gemüthskranke bei Riehen. Dritter
Jahresbericht, 1. IX. 1902 bis 31. VIII. 1903.
128. Jahresbericht der Heil- und Pflegeanstalt Rosegg
pro 1902.
129. Desgl. pro 1903.
130. Jahresberichte der bemischen kantonalen Irren¬
anstalten Waldau, Münsingen und Bei¬
lelay für das Jahr 1902.
131. Desgl. für das Jahr 1903.
132. Jahresbericht der kantonalen Heil- und Pflege-
Anstalt Königsfel den 1903.
133. Elfter Bericht des aargauischen HilfsVer¬
eins für arme Geisteskranke 1903.
134. Maison de sante de Prefargier, exercice de
1902.
135. Desgl. 1903.
136. Asile de Cery, exercice de 1902.
137. Desgl 1903.
Belgien und Holland.
138. Fr. Meeus (Gheel) en F. Ghys (Antwerpen),
Gezinsverpleging der Hulpbehoevenden.
139. Verslag betreffende het Gesticht Meerenberg
over het Jaar 1902.
140. Desgl. 1903.
141. Bericht über die Landes-Irrenanstalt in Buiten-
zorg (Java, Niederländisch-Ostindien) von 1894
bis Anfang Juni 1901.
I. Irren-Gesetzgebung.
Die Frage einer reichsgesetzlichen Regelung des
Irrenwesens steht ja schon seit einer Reihe von Jahren
auf der Tagesordnung und ist zeitweise lebhaft und
temperamentvoll erörtert worden. Man könnte des¬
halb geneigt sein, zu erwarten, dass in unseren Jahres¬
berichten hier und da eine Meinungsäusserung hierüber
anzutreffen sein müsse, weil doch die eigensten
Lebensinteressen der Anstalten davon berührt werden.
Thatsächlich findet sich aber recht wenig darüber,
so wenig, dass ich in den beiden vorigen Berichten
überhaupt nicht in der Lage war, dieses Kapitel be¬
rühren zu können; und wäre ich allein auf die reichs-
deutschen Berichte angewiesen, so wäre es auch in
diesem Jahre mit wenigen Worten abgethan.
Da ist zunächst La ehr zu erwähnen, der einen
interessanten historischen Rückblick mit einem Aus¬
blick in die Zukunft schliesst und dabei zur Frage
des Reichsirrengesetzes seinen bekannten Standpunkt
vertritt. Der Passus sei hier wiedergegeben: „Von
einzelnen Collegen wird ein Reichsgesetz heiss er¬
sehnt, weil sie meinen, dass die Uebelstände, welche
jetzt der praktischen Psychiatrie anhaften, dadurch
beseitigt werden. Noch ist die Psychiatrie aber in
der Entwickelung und die Gefahr liegt vor, dass ein
Gesetz, schon jetzt festgelegt, der Zukunft nicht ge¬
nügt. Ich bin der Meinung, dass jene Uebelstände
auf anderem Gebiete, namentlich aus der Unkennt¬
nis der meisten Laien, entspringen. Ein Ausnahme¬
gesetz scheint mir dem Fortschritte geradezu ein
Hindernis zu sein, nachdem das bürgerliche Ge¬
setzbuch genügende Garantien gegeben hat. Die
Verordnungen in den einzelnen deutschen Staaten
mit ihren mancherlei verschiedenen socialen und
lokalen Verhältnissen, der überall bei ihnen vorherr¬
schende Wetteifer, das Beste in der Fürsorge für
ihre Kranken zu schatten , genügen, um das Miss¬
trauen, soweit dies möglich ist, zu beseitigen, und
die Anstalten für psychisch Kranke andern für kör¬
perlich Kranke gleichzustellen.“
Der Berliner Magistratsbericht theilt mit, dass'
auf eine Anfrage des Oberpräsidenten, „ob ein Be-
dürfniss für die reichsgesetzliche Regelung der Auf¬
nahme- und Aufenthaltsverhültnisse und der Entlass¬
ung von Geisteskranken in bezw. aus den Irrenan¬
stalten anzuerkennen sei“, der . Bescheid gegeben
wurde, „dass wir ein derartiges Bedürfniss nicht an¬
zuerkennen vermögen, und dass auch die drei An¬
staltsdirektionen ein Bedürfniss für nicht vorliegend
erachtet hätten“.
Näheres Eingehen auf diese Dinge finden wir
in einigen ausländischen Berichten. Der Verein
Schweizer Irrenärzte bringt in tabellarischer
Form einen historischen Ueberblick über seine Be¬
strebungen zur Herbeiführung einer Irrenschutzgesetz¬
gebung in der Schweiz. Prof. Brenner, Basel, hatte
schon i86q die Anregung gegeben, dann 1871 einen
Entwurf vorgelegt. Es wurden dann im Lauf der
Jahre eine ganze Reihe v<»n Commissionen gewählt,
welche die Frage nach allen Richtungen erörterten.
Auch mit den Vertretern der Regierungen trat man
in Verbindung und es gelang, eine Einigung sämmt-
licher Kantone herbeizuführen, mit Ausnahme von
Bern und Zürich. Am Widerstande dieser beiden
scheiterte dann das Ganze.
Neuerdings hat Wille die Sache zum Gegen¬
stände eines Vortrages gemacht, welchen der Be¬
richt des Baseler Hilfs Vereins abdruckt. Nach
Schilderung der bisherigen Bestrebungen stellt er die
Aufgaben eines solchen Gesetzes zusammen: 1. Schutz
der Irren vor unpassender Behandlung und Vemach-
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1 9 ° 4 -J
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
337
lässigung. Vorbedingung dazu ist die Anzeigepflicht,
denn das Gesetz kann nur die Irren beaufsichtigen
und schützen, die es kennt. Zur Ausübung dieser
Aufsicht bedarf es aber nicht nur der Macht, son¬
dern auch des richtigen Verständnisses. Die Auf¬
sichtsbehörde soll daher, als wesentlichem Bestand¬
teil, aus Irrenärzten bestehen. Im einzelnen ver¬
langt er dazu: Regelung der Sache durch die Eid¬
genossenschaft, welche die speciellen kantonalen Ge¬
setze zu überwachen hat; einheitliche Bestimmungen
über Aufnahmen und Entlassungen, sowie Einricht¬
ungen der Anstalten und Bedingungen der Familien¬
pflege; endlich ein Gesetz über die Trunksucht —
2. verlangt Wille, dass die civilrechtlichen und 3. die
strafrechtlichen Beziehungen der Geisteskranken im
Irrengesetz geregelt werden.
Diese beiden letzteren Punkte sind doch wohl
anfechtbar. Wenigstens wird von juristischer Seite
zweifellos entgegnet werden, dass diese Dinge in
die allgemeinen Gesetzbücher, das bürgerliche Gesetz¬
buch und das Strafgesetzbuch gehören (cf. Vorster,
Reichsgesetzliche Regelung des Irrenwesens, Vortrag
im deutschen Medicinalbeamtenverein), und auch
vom psychiatrischen Standpunkte sehe ich keinen
Grund, sie zum Gegenstände einer Sondergesetz¬
gebung zu machen. Mögen auch die Bestimmungen
der beiden Gesetzbücher im einzelnen noch nicht
vollkommen sein, im Princip ist die allgemeine
Regelung der Materie durch sie vorzuziehen.
Bliebe also für das Irrengesetz nur Punkt 1, und
das ist in der That ein recht weites Arbeitsfeld, auf
dem noch recht viel geschehen kann.
Freilich wird man sich diese Arbeit nicht so
einseitig vorstellen dürfen, wie jener Grossrath im
Kanton Aargau, der laut Bericht des Vereins
Schweizer Irrenärzte ein Irrengesetz wünscht, „welches
allseitigen Schutz bieten soll vor ungerechtfertigter
Beraubung der persönlichen Freiheit und der per¬
sönlichen Rechte, materieller und moralischer Schä¬
digung, Schädigung der Gesundheit, Gefährdung des
Lebe s tr. jtc. wegen Geisteskrankheit“. Ein Irren-
gesetz, diw lediglich von Misstrauen gegen die An¬
stalten dictirt ist, würde mehr schaden als nützen.
Auch in Ungarn strebt man nach einem Irren¬
gesetz. Dem ungarischen Bericht ist ein Referat
über die II. Landesconferenz der ungarischen Irren¬
ärzte beigelegt, auf welcher dieses Thema verhandelt
wurde. Der Referent Schwartzer trug die Grund¬
sätze zu einem Irrengesetze vor und daran schloss
sich eine lebhafte Discussion. Meinungsverschieden¬
heit entstand schon über die Frage, ob der Begriff
Geisteskrankheit im Gesetze definirt werden solle.
Der Referent hatte es verneint, Moravcsik hielt
es für nothwendig. Konrad erkannte zwar die
Unmöglichkeit an, eine erschöpfende Definition zu
geben, hielt es aber doch für wünsch enswerth, eine
Umschreibung des Begriffes im Sinne des Gesetzes
zu geben, welche es ermöglichen solle, gegen solche
Degenerirte etc., welche sich entschieden dagegen
verwahren würden, geisteskrank zu sein, aber doch
entsprechender Fürsorge bedürfen, eine gesetzliche
Handhabe zu bieten. Als Muster führte er die
Definition des Schweizer Entwurfes an, welche lautet:
„Geisteskrank ist: 1. Wer an einer angeborenen
oder erworbenen Geisteskrankheit leidet. 2. Wer
auch ohne tiefere Störung der Vernunft an (insbe¬
sondere auf konstitutioneller Basis beruhenden) patho¬
logischen Instincten und Neigungen oder schweren
moralischen Defecten leidet. 3. Wer sich durch
narcotische Gifte (Alkohol, Morphium etc.) Schaden
zufügt, sobald er infolge seines Zustandes unfähig ge¬
worden ist über sich selbst zu verfügen, oder die Rechte
anderer zu achten, zum Schutze der eigenen Person
jedoch der Pflege und Aufsicht bedarf oder anderen
bedeutenden Schaden zufügt oder gemeingefährlich
wird.“
Im einzelnen wird man die Definition ja noch
etwas glücklicher fassen können; principiell aber
scheint mir die Konrad’sche ' Ansicht die richtige,
jedenfalls praktisch brauchbarste zu sein. Gewiss ist
es nicht möglich eine wissenschaftlich unanfechtbare
exacte Definition des Begriffes Geisteskrankheit zu
geben. Aber das braucht es auch nicht. Will man
es erreichen, dass nicht nur die an manifesten Psy¬
chosen Leidenden unter das Gesetz fallen, sondern
auch das grosse Heer der Grenzzustände, ferner
die Degenerirten und die antisocialen Imbecillen,
endlich die Trinker etc. einbezogen werden, so bleibt
eben nichts übrig, als dies im Gesetz unzweideutig
auszusprechen.
Der Referent wollte ferner die Intemirung in
Anstalten auf solche Geisteskranke beschränkt wissen,
welche entweder für die öffentliche Sicherheit oder
für sich selbst gefährlich sind. Dem widersprach
v. Ol ah: „Es ist ganz unrichtig, das Recht zum Be-
handeltwerdcn an das Kriterium der Heilbarkeit oder
der Gemeingefährlichkeit zu binden. Die Irrenheil¬
kunde kann auch in jenen Fällen viel leisten, wo
eine Heilung ausgeschlossen ist.“ Sa Igo möchte
den grossen Apparat der Aufnahmen und Entlass¬
ungen dem Arzte ganz abgenommen sehen, weil
dieser dadurch zu sehr von seinen eigentlichen Auf¬
gaben abgezogen würde. Ueber diese Dinge sollten
die Aufsichtscommissionen entscheiden.
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HARVARD UNIVERSITY
338
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 36.
Eine vom Referenten vorgeschlagene Neuerung
fand ungetheilte Zustimmung, nämlich die prophylak¬
tische Maassregel, dass auch nicht Geisteskranke, die
sich freiwillig melden, in die Anstalt aufgenommen
werden dürfen, v. Oh 14 h sieht einen Hauptvortheil
darin, dass die Anstalt dem Publikum in ganz an¬
derem Lichte erscheinen werde, weni^ auch Frei¬
willige aufgenommen werden. „Dieser kleine fromme
Betrug kann in vielen Fällen von grossem Nutzen
sein.“ Lechner will noch weiter gehen und ver¬
langt, es müsse ausgesprochen werden, dass auch
Alkoholiker, Nervenkranke, Gemüthskranke in die
Anstalt aufgenommen werden.
In Deutschland erstreben wir bekanntlich eine
Fürsorge für Alkoholiker und Nervenkranke durch
Schaffung besonderer Heilstätten, und das ist doch
wohl das richtigere. In die Irrenanstalt passen sie
doch nicht recht, sie fühlen sich selbst nicht wohl
darin und erfordern auch einen ganz andern Zu¬
schnitt der Behandlung. Und das Bestreben, durch
Aufnahme Freiwilliger dem Publikum Sand in die
Augen zu streuen, scheint mir schon gar nicht am
Platze. Vorurtheile bekämpft man am besten durch
volle Offenheit, welche es jedem ermöglicht, sich
selbst davon zu überzeugen, dass die Vorurtheile un¬
begründet sind.
Einig war man darin, dass nicht in jedem Falle
ein Entmündigungsverfahren einzuleiten sei, und dem
wird wohl jeder zustimmen. Dagegen soll richter¬
liche Entscheidung angerufen werden, wenn bezügl.
der Entlassung zwischen Anstaltsdirection und Ange¬
hörigen keine Einigung erzielt wird.
Es wäre gewiss wünschenswerth, eine Instanz
zu schaffen, welche in solchem Falle verantwortlich
zu entscheiden hat. Denn der übliche Revers, durch
welchen man den einsichtslosen Angehörigen die
Verantwortung zuzuschieben pflegt, hat doch nur be¬
dingten Werth. Richtet der vorzeitig Entlassene
irgend ein Unheil an, so trifft das Odium doch die
Anstalt, auch wenn sie noch so energisch der Ent¬
lassung widerrathen hat. Eine Illustration dazu be¬
richtet Weilmünster: Eine Kranke hatte kurz
nach der Entlassung zu Hause Selbstmord begangen.
Dem Ehemann war wiederholt die Entlassung der
Frau wegen Selbstmordgefahr verweigert worden. Er
brachte schliesslich die Bescheinigung der Ortspolizei¬
behörde, dass er im Stande sei, die Frau genügend
zu beaufsichtigen, und übernahm durch Unterzeich¬
nung eines Reverses die volle Verantwortung. Dies
alles hielt aber die Zeitungen nicht ab, die Anstalts¬
direction anzugreifen und für das Unglück verantwort¬
lich zu machen.
Eine Art Irrengesetz besitzt Niederländisch Ost¬
indien. Der Bericht von Buitenzorg druckt das
„Reglement für das Irren wesen in Niederländisch
Ost-Indien“ ab. Eigentümlich ist dort das Auf-,
nahmeverfahren. Die Aufnahme wird beim Präsi¬
denten des Bezirksgerichtshofes beantragt; sind die
vorgeschriebenen Beweisstücke vorhanden und aus¬
reichend, so ordnet er die Aufnahme ohne weiteres
an, andernfalls muss er einen Beschluss des Gerichts¬
hofes bewirken. Sympathisch ist für unser Empfinden
diese Einrichtung nicht. Wir streben danach, die
moderne Irrenanstalt in allen ihren Einrichtungen
immer mehr dem gewöhnlichen Krankenhaus zu
nähern; und die Aufnahme eines Kranken in ein
Krankenhaus zum Gegenstände eines, wenn auch
noch so einfachen, gerichtlichen Verfahrens zu machen,
ist nicht richtig. Auch für den weiteren Aufenthalt
des Kranken in der Anstalt bleibt die Gerichtsbe¬
hörde maassgebend. Nach Ablauf der ersten vier
Wochen, während welcher tägliche Joumalnotizen
vorgeschrieben sind, müssen diese, nebst einer Er¬
klärung darüber, ob noch längerer Aufenthalt nöthig
ist, dem Staatsanwalt eingereicht werden, welcher die
Verlängerung beim Gerichtspräsidenten beantragt. Die
Verlängerung darf nur für höchstens 1 Jahr be¬
schlossen werden, dann ist wieder das gleiche Ver¬
fahren erforderlich. Dieses ganze Verfahren ist wohl
etwas umständlich und scheint mir deshalb nicht sehr
zweckmässig; aber der Grundgedanke ist gut. Ueber-
haupt kann ja den Anstalten eine recht genaue
Controlle über die Rechtmässigkeit der Festhaltung
der einzelnen Kranken nur erwünscht sein, weil ihnen
dadurch ein gut Theil der Verantwortung abgenom¬
men wird. Nur soll man das Aufnahmeverfahren
selbst so einfach wie möglich gestalten, diese Forder¬
ung muss im Interesse der Kranken immer wieder
betont werden.
Wo ein eigenes Irrengesetz nicht oder noch nicht
vorhanden ist, werden alle diese Dinge durch be¬
hördliche Verordnungen, Dienstanweisungen für die
Beamten, Statuten für die Anstalten geregelt Der
diesjährige niederösterreichische Bericht theilt
die neuen Statuten der Anstalten Mauer-Oehling
und Ybbs mit. Ybbs ist dem Director von Mauer-
Oehling mit unterstellt und dient als Pflegeanstalt
für letzteres. Die Kranken können vom Director
unmittelbar aus Mauer-Oehling nach Ybbs über¬
wiesen werden, nur ausnahmsweise kann Ybbs Kranke
direct aufnehmen. — Die Statuten beider Anstalten
regeln in äusserst detaillirter Weise den ganzen Be¬
trieb.
Niedernhart fordert gründliche Aenderung
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Original fram
HARVARD UNiVERSITY
1 9°4-]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
339
seines Statuts und darin vor allem die Schaffung der
Stelle eines ärztlichen Directors, an den auch die
Aufnahme der Kranken zu übertragen wäre.
In verschiedenen Berichten ist spedell vom Auf¬
nahmeverfahren die Rede. Die Complicirtheit dieses
Verfahrens hat zur Folge, dass häufig schwer Er¬
krankte vorab, bis zur Erledigung der Formalitäten,
in ein Krankenhaus aufgenommen werden, wo man
sie in der Regel wenig zweckmässig behandelt.
Brandenburg äussert sich darüber: „Wiederholt
trat der Uebelstand hervor, dass die Kranken viel
zu lange und ganz unzweckmässig in den Kranken¬
häusern zurückbehalten wurden. Unruhige Geistes¬
kranke werden darin meist ohne genügende Aus¬
wahl in die Zelle gebracht, das Krankenhauspersonal
ist anderweitig viel zu sehr in Anspruch genommen,
als dass es sich hinreichend um die Geisteskranken
kümmern könnte, auch fehlt ihm die specialistische
Schulung. Die Kranken essen dann in der Zelle
häufig nicht, werden unsauber und kommen in
wenigen Tagen ausserordentlich herunter, während
sie in der Anstalt vielfach von vornherein im allge¬
meinen Saale gehalten und gepflegt werden können
und sich so bald erholen.“
An manchen Anstalten ist aus diesem Grunde
für dringende Fälle ein beschleunigtes Aufnahme¬
verfahren eingeführt, so z. B. in der Provinz Branden¬
burg , wo in solchen Fällen ein einfaches ärztliches
Attest, welches das Vorhandensein von Geisteskrank¬
heit und die Nothwendigkeit der Anstaltsfürsorge
bescheinigt, genügt. Der Bericht theilt mit, dass von
diesem Eilverfahren ein recht ausgiebiger Gebrauch
gemacht wurde, z. B. in Lands b erg in 40% aller
Aufnahmen.
Folge der Ueberfüllung der Anstalten ist es aber,
dass ein solches Verfahren vielfach praktisch auf
Schwierigkeiten stösst. Münsingen z. B. erklärt,
dass es nicht mehr in der Lage sei, auf telephonische
oder telegraphische Anfragen hin Aufnahmen zuzu¬
sagen, vielmehr vorher einen ausführlichen Kranken¬
bericht verlangen müsse, um danach beurtheilen zu
können, ob eine geeignete Unterbringung des Kranken
noch möglich sei.
Auch Prefargier hebt die Schwierigkeiten her¬
vor, welche unangemeldete Aufnahmen verursachen
und bespricht bei diesem Anlass die Anforderungen,
welche an ein Aufnahmeattest zu stellen sind: Es
kommt nicht auf eine bestimmte Diagnose an, die
ja in vielen Fällen der praktische Arzt, der den
Kranken nur einmal sieht, gar nicht stellen kann.
Nothwendig ist genaue Schilderung der Symptome
und des Status, praesens, sowie Mittheilung dessen,
was über Ursprung und Dauer der Erkrankung zu
erfahren ist. Mit diesen Daten kann der Anstalts¬
arzt sich ein Bild machen, um ins klare zu kommen,
auf welche Abtheilung der Kranke gehört und ob
Platz für ihn vorhanden ist.
Ueber die Aufnahmeatteste spricht auch Osna¬
brück und verbreitet sich abfällig über die dabei
üblichen Formulare. Es wird als ein besonderer
Vorzug des hannoverschen Reglements bezeichnet,
dass dort kein Formular vorgeschrieben ist, sondern
eine Anleitung zur Abfassung der Gutachten gegeben
wird. Das wäre ganz gut, wenn man die Sicher¬
heit hätte, dass die Gutachter diese Anleitung auch
studiren und befolgen. Recht häufig erleben wir es
doch, dass solche ohne Formular ausgestellten Atteste
Hauptpunkte unerwähnt lassen. Ein jedes Formular
hat natürlich seine Mängel, aber es giebt uns doch
die Gewähr, dass alle wichtigen Gesichtspunkte in
Betracht gezogen werden müssen. Wären alle Aerzte,
welche solche Atteste ausstellen, psychiatrisch ge¬
schult, dann freilich würden wir ohne Formular besser
fahren. Aber soweit sind wir leider noch nicht.
Ein eigenartiges Aufnahmeverfahren hat Baden.
Von den dortigen Staatsanstalten sind nur 3, nämlich
Illenau und die beiden Universitätskliniken, zu
directen Aufnahmen berechtigt. Die andern sind
zwar nicht reine Pflegeanstalten, bekommen aber
ihre Kranken doch nur aus den 3 Aufnahmeanstalten.
Es scheint, dass dieses Verfahren sich bewährt. A
priori sollte man eigentlich meinen, dass es im Inter¬
esse möglichst schneller Unterbringung der Kranken
besser wäre, jeden Kranken unmittelbar der nächst¬
gelegenen Anstalt zuzuführen.
Schliesslich sei noch als Beispiel dafür, dass die
gesetzliche Beaufsichtigung nicht allein die Anstalten,
sondern mindestens in gleichem Maasse auch die
ausserhalb der Anstalten lebenden Geisteskranken
betreffen muss, ein Fall aus Stephansfeld wieder¬
gegeben: „Unter den Aufgenommenen befand sich
eine ältere Frau, die Jahre lang von ihrer Familie,
um die Verpflegungskosten in der Anstalt zu ver¬
meiden, in einem dunkeln Bretterverschläge unter
einer Treppe eingesperrt war, also schlechter wie ein
Thier gehalten wurde. In völlig verwahrlostem und
anscheinend tief verblödetem Zustande kam die
elende Kranke hier an. Unter unserer Pflege er¬
holte sie sich körperlich und geistig zusehends und
konnte zu leichter Beschäftigung herangezogen werden.“
Aehnliche Fälle finden wir ja in den Tageszeitungen
des öfteren mitgetheilt und zwar sind es nicht immer
die Angehörigen, sondern mitunter auch ländliche
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Original fram
HARVARD UNiVERSITY
340
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 36 .
Gemeinden, welche eine solche Sparsamkeit für löb¬
lich halten.
Sollte einmal ein Reichsirrengesetz zu Stande
kommen, so wäre für dieses die Fürsorge für solche
ausserhalb der Anstalten verpflegte Kranke jeden¬
falls eine mindestens ebenso wichtige Aufgabe wie
die Beaufsichtigung der Anstalten.
II. Statistik.
In meinem vorigen Berichte habe ich die Frage
nach dem Werth der statistischen Mittheilungen un¬
serer Jahresberichte näher erörtert. Das Ergebniss
war kein günstiges. So werthvoll manche statistische
Angaben zur Charakterisirung der einzelnen Anstalt
sein mögen, als Vergleichswerthe zur Gewinnung all¬
gemeiner Resultate eignen sie sich nicht, einmal
wegen ihres unvermeidlichen subjectiven Gehaltes,
und dann wegen der Verschiedenartigkeit der leiten¬
den Gesichtspunkte.
Ich glaube mich deshalb in diesem Jahre über
diese Dinge kurz fassen zu dürfen.
Die Gruppirung der Aufnahmen nach Ge¬
schlecht, Lebensalter, Heimath, Civilstand, Beruf, Con-
fession u. s. w. ist stets die gleiche und giebt zu
keinen Erörterungen Anlass, zumal irgend welche
neuen Gesichtspunkte in diesem Jahre nicht hervor¬
treten.
Von sonstigen ätiologischen Momenten finden
Erblichkeit und Alkoholismus durchweg ein¬
gehende Berücksichtigung, und ohne Frage sind dies
ja Punkte, die einer statistischen Bearbeitung sehr
wohl zugänglich sind. Die Angaben unserer Berichte
leiden nur eben an den im vorigen Jahre erörterten
unvermeidlichen Mängeln.
Im Heidelberger Bericht 1901/02 heisst es:
„Von einer statistischen Bearbeitung der Zahl der
Erblich-Belasteten und Nichtbelasteten wurde absicht¬
lich Abstand genommen, da bei der Unbestimmt¬
heit des Begriffes „erbliche Belastung“, der von dem
einen sehr eng, von dem andern weit gefasst wird,
unser Aktenmaterial keine völlig sichern, statistisch
brauchbaren, nach stets gleichem Gesichtspunkt ge¬
machten Angaben enthält. Es mag genügen hervor¬
zuheben, dass bei mehr als 55% aber weniger als
65% aller 1901 und 1902 verpflegten Kranken Gei¬
stes- oder Nervenkrankheiten bei nahen Verwandten
in der Anamnese angegeben waren.“
Wenn schon die Universitätsklinik, die doch
sicher auf Erhebung genauer Anamnesen grosse Sorg¬
falt verwendet, zu solcher Resignation verurtheilt ist,
wie sollten da die vielgeplagten Aerzte der grossen,
meist überfüllten Anstalten genauere Resultate liefern.
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Bei ihnen kommt eben ausser den von Heidelberg
geäusserten Bedenken noch die Mangelhaftigkeit der
Anamnesen in Betracht. Recht charakteristisch ist
die Aufstellung des rheinischen Berichtes, wonach
die Quote der erblich Belasteten zwischen 14% in
Galkhausen und 50,8% in Andernach schwankt.
Es scheint mir ganz unmöglich diese Differenz an¬
ders zu erklären, als aus einer grösseren Dürftigkeit,
der in den Aufnahme-Fragebögen gelieferten anam¬
nestischen Mittheilungen in Galkhausen, was ja ohne
weiteres verständlich ist, wenn man erwägt, dass die
Aufnahmen in Galkhausen sich zum grossen Theil
aus fluctuirender Grossstadtbevölkerung recrutiren,
während der Andemacher Bezirk meist ländliche und
kleinstädtische Bevölkerung umfasst, wo sich über
die Ascendenz meist unschwer Genaueres erfahren
lässt.
Am brauchbarsten sind noch die Zahlen, die
durch Zusammenfassung eines grösseren Gebietes ge¬
wonnen sind. So rechnet der bayerische Bericht
46,2%, der württembergische 50,5%, der säch¬
sische 51,4% mit nachgewiesener erblicher Belast¬
ung heraus. Sicher sind auch diese Zahlen noch
zu klein, es dürften auch dort nicht wenige Kranke
mit ungewisser Anamnese zur Aufnahme kommen.
Mit Berücksichtigung dieses Umstandes käme man
also zu ähnlichen Zahlen, wie Heidelberg sie ge¬
funden hat. Doch sind vielleicht auch diese Zahlen
noch zu niedrig gegriffen, einige Schweizer Anstalten
(Wil, Pirminsberg) rechnen viel höhere Zahlen
aus.
Wissenschaftlichen Werth würde übrigens diese
ganze Berechnung erst dann haben, wenn man da¬
neben setzte, wieviel Procent der gesunden Bevöl¬
kerung erblich belastet sind.
Beim Alkoholismus pflegt nur kurz die Procent¬
zahl unter den Aufnahmen angegeben zu werden,
ohne weitere Unterscheidungen. Wenn wir hierbei
auf sehr verschiedene Zahlen stossen, so brauchen
wir dies keineswegs nur auf Ungenauigkeit der
Anamnese zurückzuführen. In diesem Punkte sind
zuverlässige Nachrichten doch wohl leichter zu be¬
kommen. Es giebt eben hierbei wirklich sehr grosse
örtliche Verschiedenheiten. Stephansfeld weist
solche sogar innerhalb seines Aufnahmebezirkes nach:
unter den aus dem Unter-Elsass zugeführten Kranken
waren 11,4%, aus dem Ober-Elsass 26,1 % Alkoho-
listen, und zwar ist dies eine alljährlich wiederkehrende
Beobachtung. — Dass sich unter den Männern stets
ein viel höherer Procentsatz von Alkoholikern findet
als unter den Frauen, bedarf kaum der Erwähnung.
Original frnm
HARVARD UNIVERSITY
1904.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
34 i
— Des weiteren wird unten noch auf den Alkoho¬
lismus zurückzukommen sein.
Die Wichtigkeit frühzeitiger Zuführung der Kran¬
ken zur Anstalt im Interesse der Heilung wird wieder
von verschiedenen Seiten betont. Leider ist aber
frühzeitige Zuführung durchaus nicht die Regel.
Sachsen z. B. berechnet, dass nur 25,9% in den
ersten drei Monaten der Erkrankung zur Anstalt
kommen.
Die Beobachtung, dass die Eröffnung der Kieler
Klinik der Anstalt Schleswig nicht in merkbarem
Grade heilbare Fälle entzogen hat, giebt letzterer
Anlass zu folgender Erwägung: „— es ist die Klinik
im Wesentlichen ein neues Aufnahmecentrum, welches
namentlich der nächsten Umgebung zu Gute kommt.
Daher würde voraussichtlich auch die Aufnahme
heilbarer Fälle in Neustadt, weder in Kiel noch
in Schleswig die Zahl der Aufnahmen frisch Er¬
krankter wesentlich verringern; aber die Gesammt-
zahl der Heilungen und Besserungen würde in der
Provinz steigen, d. h. die Zahl der dauernd zu
Verpflegenden würde relativ zur Bevölkerung immer
mehr sinken. Je mehr Centren, je mehr Genesungen,
je weniger Pfleglinge/ 4 Mir scheint diese Ansicht
doch etwas hypothetisch. Zum mindesten werden
wir den Beweis durch die praktische Erfahrung ab-
warten müssen.
(Fortsetzung folgt.)
Mitthei lungen.
— Im Laufe dieses Herbstes ist der Director der
Prov. - Irrenanstalt zu B u n z 1 a u, Herr Sanitätsrath
Dr. Karl Stö v er, in den Ruhestand getreten. Durch
die Verschlimmerung eines langwierigen Gehörleidens
hatte er sich bei voller Rüstigkeit in die schmerzliche
Nothwendigkeit versetzt gesehen, seine Entlassung
aus dem Provinzialdienst und seine Pensionirung
nachzusuchen, die ihm auch gewährt wurden.
Die officielle Anerkennung seiner hervorragenden
Leistungen kam in der Allerhöchsten Verleihung des
Rothen Adlerordens IV. Classe, mit dem Herr Sanitäts¬
rath Dr. Stöver bei seinem Weggange ausgezeichnet
wurde, zum Ausdruck.
Allerseits hat man das Ausscheiden des Herrn
Sanitätsraths Dr. Stöver aus seinem Wirkungskreise
aufrichtig bedauert und er selbst hat sich nur schweren
Herzens von der ihm lieb gewordenen, mit Erfolgen
überaus reich gesegneten Thätigkeit als Irrenarzt und
Anstaltsleiter getrennt.
Unsere herzlichsten und besten Wünsche begleiten
ihn auf seinen ferneren Lebenswegen.
— Zur gerichtlichen Psychiatrie. Im Januar
1902 meldete der Lokomotivführer Sch. der Staats¬
anwaltschaft zu Köslin, dass seit Jahren verschiedene
Personen mit seiner Frau und seinen Kindern in
seiner Wohnung (während er abwesend war) Unzucht
trieben, Orgien feierten, wobei in der raffinirtesten
Weise die Kinder präparirt würden. Die Instrumente
zum Erweitern der kindlichen Geschlechtsteile wurden
beschrieben und abgebildet u. s. w. Es wurden eine
Anzahl Neustettiner Bürger verschiedener Lebens¬
stellung verhaftet, u. A. auch ein schwindsüchtiger
Kaufmann, der im Gefängnis starb, ein Arzt u. s. w.
Die Beschuldigungen wurden immer ungeheuerlicher
und man konnte ausser diesen Behauptungen des
Sch. nichts Objectives ermitteln. In die Kinder hatte
Sch. das ganze verrückte Zeug hineinexaminirt unter
unglaublichen Strafen und Drohungen.
Als nun schliesslich der Mann wegen wissentlich
falscher Anschuldigung verhaftet war, iiess man
endlich seinen Geisteszustand untersuchen. Der Sach¬
verständige, Geh. Med.-Rath Dr. Siemens-Lauenburg,
konnte nachweisen, dass auf dem Boden ererbter An¬
lage und schwerer nervenschwächender Umstände
ein combinatorisches Wahngebäude bei dem Kranken
entstanden w'ar, dass auch Beängstigungen und Illu¬
sionen (vielleicht auch Hallucinationen) Vorgelegen
hatten und dass so die Denunciationen entstanden
waren.
Die Verhaftung Unschuldiger hat in diesem Falle
viel böses Blut gemacht; es sind besonders von dem
betr. Arzt viele Beschwerden an die Ministerien und
parlamentarischen Körperschaften gerichtet worden.
Die unschuldig verhaftet gewesenen Herren sind
nun, wie verlautet, einigermassen für die erlittene
Unbill entschädigt worden. Nachdem nämlich in¬
zwischen das Gesetz in Kraft getreten ist, nach dem
unschuldig verhaftete Personen durch Geldbeträge
schadlos gehalten werden können, hat der Justiz¬
minister, obwohl das neue Gesetz rückwirkende Kraft
nicht hat, in diesem Falle doch den ohne ihr Ver¬
schulden verhaftet gewesenen Männern Geldbeträge
bis zur Höhe von 600 Mk. zahlen lassen.
— Les Alienös en liberte. Comme tous les
ans, les Annales medico-psy chologiques pu-
blient dans le numero de novembre la statistique des
cas d’aüenes en liberte, recueillis dans divers joumaux.
92 cas ont ete publies en 1904. Ces alienes avaient
commis, les uns de simples excentricites; le plus
grand nombre de veritables crimes: homicides, tenta-
tives d’homicide, menaces de mort, incendies, etc.;
enfin les suicides, ainsi que les suicides precedes
d’homicides, foumissent un serieux contingent
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Original fram
HARVARD UNIVERSITY
34-
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCH RIFT.
[Nr. 36.
Tentatives de meurtre, agressions violentes, mena-
ces de mort.27
Suicides et tentatives de suicide.24
Excentricites.15
Homicides.13
Homicides et suicides.10
Incendies.3
Total 9 2
Ainsi sur 92 cas releves, il y a eu 23 homicides,
dont 10 ont ete suivis du suicide de l’aliene apres
l’accomplissement de l’acte meurtricr. Nous ne
parlerons que pour memoire des nombreuses tentatives
d’homicide, des actes delictueux, ainsi que des trois
incendies. Ce qui importe surtout, c’est de compter
le nombre de victimes faites par ces 92 cas d’alie-
nes en liberte. II y a eu:
Blesses grievement.59
Morts par suicide.27
Tues.25
Total 111
Ainsi notre statistique — qui ne saurait avoir
la pretention d ? etre complete — donne 59 personnes
blessees grievement par des alienes en liberte, et un
grand nombre d’entre elles ont succombe ulterieure-
ment ä leurs blessures; 25 ont ete tuees; enfin 27
alienes se sont suicides, dont plusieurs apres avoir
tue soit leur femme 011 leur mari, soit leurs enfants.
Comme tous les ans, nous avons a signaler plusieurs
cas ou les malades ont fait plusieurs victimes; ainsi
il en est quelques-uns qui ont fait deux, trois, quatre
victimes et meme davantage.
Comme toujours, la plupart de ces crimes et de-
lits ont ete commis par des alienes dont la majorit6
etaient malades depuis longtemps et que la simple
prudence aurait du faire sequestrer sans attendre une
explosion violente. Beaucoup avaient ete deja traites
dans les asiles; quelques-uns venaient d’en sortir ou
s’en etaient evades. — Anton Ritti, Charenton.
— X. Versammlung mitteldeutscher Psy¬
chiater und Neurologen in Halle a. S. am 22.
und 23. October 1904. I. Sitzung. Vorsitzender:
Herr Ganser. (Fortsetzung.)
4. Herr Weber (Göttingen): Zur Pathogenese
des erworbenen Hydrocephalus internus.
Vortragender berichtet zunächst über den histo¬
logischen Befund in dem von Cramer (siehe oben)
mitgetheilten Fall. Es fand sich als Ursache der
hydrocephalischen Erweiterung des Unterhorns eine
Verlegung der Eingangspforte desselben durch ent¬
zündliche Adhaesionen. Auf Serienschnitten trifft man
in der Substanz des Ammonshoms nach seiner Um¬
biegung in das Unterhorn eine stecknadelkopfgrosse,
verkalkte Cyste, in deren Umgegend zahlreiche miliare,
perivasculär gelegene, mit Riesenzellen versehene
Knötchen sich befinden. Auch weiter in der Fimbria
und Fascia dentata finden sich ähnlich stets perivas¬
culär gelagerte Knötchen, ebenso unter dem Ependym
der lateralen und oberen Wandung des Unterhorns.
Da, wo hinter dem Thalam. opt. Fimbria und Plexus
chorioid. in das Unterhorn eintreten, sind alle diese
Gebilde durchsetzt und verklebt durch ein Granulations¬
gewebe, an dem sich auch der wuchernde Plexus be¬
theiligt und das den Eingang zum Unterhorn verschliesst.
Der histologischen Struktur nach handelt es sich wahr¬
scheinlich um eine localisirte Tuberkulose, deren
ältesten Herd die verkalkte Cyste darstellt, von der
aus später aus irgendwelcher Ursache eine neue
Dissemination in die Nachbarschaft stattgefunden hat.
Die offenbar schon länger bestehende, durch den
ersten Herd hervorgerufene Verklebung mag durch
diesen neuen entzündlichen Vorgang noch befestigt
worden sein, während gleichzeitig der entzündlich
veränderte Plexus eine grössere Liquormenge ab¬
sonderte.
Vortr. bespricht noch 5 Fälle von erworbenen
Hvdrocephalien, hauptsächlich einseitiger Natur.
I. Fall: 20jähriger Mensch, der im 7. Lebensjahre
zuerst an Epilepsie erkrankte. Die Krampfanfälle
begannen auf der rechten Körperseite; später aus¬
gesprochen rechtsseitige spastische Parese. Schwere
Verblödung. Tod im Anfall.
Befund: Pachymeningitis und Leptomeningitis
chronica und Verwachsung beider Häute. Die Lepto¬
meningitis ist besonders stark und schwielig über dem
linken Stirnhim. Dies ist in eine schwappende Blase
verwandelt. Erweiterung sämmtlich Ventrikel, be¬
sonders aber des linken Seitenvent eis und des
linken Unterhorns. Foramina durch 4 mgig. Plexus
intakt.
Mikroskopisch findet sich die Himsubstanz des
linken Stirnhims fest verwachsen mit der schwieligen
Pia, hochgradig atrophisch und cystös degenerirt,
einzelne Piagefässe obliterirt.
II. Fall: 58 jähriger Ingenieur, hat Lues durch¬
gemacht Im 45. Lebensjahr Schlaganfall mit rechts¬
seitiger Lähmung; später Krampfanfälle. Ausge¬
sprochene linksseitige spastische Parese. Tod an
Pneumonie.
Befund: Chronische Leptomeningitis. Starke
Atheromatose der Basalarterien. Die Hauptäste der
rechten Art. fossae sylv. fast völlig obliterirt. Der
rechte Stirnlappen in eine hydrocephalische Blase ver¬
wandelt. Foramina intakt. Plexus stark entwickelt.
Ependym verdickt.
III. Fall: 48jährige Frau erkrankt an allmählich
zunehmenden Störungen aller cerebralen Functionen,
insbesondere ausgesprochener Seelenblindheit, Seelen-
taubheit und Tastblindheit; daneben noch Lähmungs¬
erscheinungen theils centraler, theils peripherer Art.
Dabei besteht Stauungspapille, die nach Spinalpunktion
mehrmals verschwindet. Tod an Erschöpfung.
Befund : Atheromatose der Basalarterien; Hydro¬
cephalus internus besonders links und zahlreiche, kleine
Erweichungsherde im Hemisphärenmark. Das Epen¬
dym stark granulirt, die Plexus verdickt. Ein erweiterter
und stark geschlängelter, atheromatös veränderter Ast
der Arteria cerebelli posterior liegt auf dem Boden
der Rautengrube in der Gegend des Corpus restiforme
und ist mit dem Ependym des Ventrikels und dem
Dach der Rautengrube verwachsen.
Mikroskopisch zeigen alle kleinsten Himgefässe
starke atheromatöse Veränderungen.
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Original from
HARVARD UNiVERSITY
1904-]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
343
IV. Fall: 21 jähriges Mädchen, wahrscheinlich
hereditär syphilitisch. Seit dem 18. Lebensjahr Anfälle,
die zuerst als hysterische gedeutet wurden. Später
ausgesprochene Lähmungserscheinungen: besonders
spastische Parese rechts. Rasch zunehmender Stupor;
reactionslos auf alle Reize. Tod im Coma.
Befund: Diffuse Leptomeningitis. Mittelstarke
Erweiterung aller Ventrikel. Besonders stark erweitert
der linke Scitenventrikel und das linke Hinterhorn.
Foramina und Ependym nichts Besonderes.
Mikroskopisch starke Encephalitis in Gestalt von
Kernmänteln um die mittleren und kleinen Gefässe.
Starke Endarteritis zahlreicher kleiner Gefässe bis zur
völligen Obliteration. Im Hemisphärenmantel links
zahlreiche sklerotische, kernarme Herdchen und einige
Erweichungsherdchen.
V. Fall: 48jährige Ehefrau hat im 43. Lebens¬
jahr zuerst epileptische Krämpfe, seit dem 45. Jahr
Erregungszustände. In den folgenden Jahren rasche
Verblödung, Spasmen und Lähmungen zunächst links,
die, wie das Verhalten der Pupillen und der Reflexe,
während der dreijährigen Beobachtung häufig an Inten¬
sität wechselten. Tod im Coma.
Befund: Chronische Leptomeningitis. Athero-
matose. Hydrocephalische Erweiterung besonders stark
links, dabei starke Atrophie und sklerotische Ver¬
härtung der Basalwindungen des linken Stirn- und
Schläfenlappens. Foramina intact, Ependym gewuchert.
Mikroskopisch: Ausgedehnte perivasculäre Kem-
mäntel an den Gefässen der Rinde und des Markes
und zahlreiche herdförmige Gliosen im Bereich der
hydrocephalischen Hemisphäre.
Auf die Symptomatologie der geschilderten Fälle
geht Vortr. nicht näher ein und hebt nur die Ein¬
seitigkeit aller klinischen Erscheinungen, den häufigen
Wechsel einzelner objectiver Symptome, z. B. der
Pupillenbefunde, hervor sowie die Beobachtung, dass
in einem Fall die Stauungspapille nach Lumbal¬
punktion verschwand.
In pathologisch-anatomischer Beziehung haben die
geschilderten Fälle etwas Gemeinsames: eine aus¬
gedehnte chronische Erkrankung der Hemisphären¬
wand jeweils im Bereich der hydrocephalischen Er¬
weiterung. Diese Erkrankung wird dargcstcllt in Fall I
durch die chronische schwielige Leptomeningitis und
cystüse Schrumpfung der Hirnrinde, im Fall II durch
die Obliteration der Art. fossae Sylv. und dadurch
gesetzte Ernährungsstörung der Hirnrinde, im Fall III
durch arteriosklerotische Ernährungsstörung und Er¬
weichungsherdehen, im Fall IV durch eine vielleicht
svphilitisch bedingte diffuse Gefässerkrankung mit
sklerotischen Herdchen, im Fall V durch eine diffuse
Encephalitis vom Characler der Paralyse und herd¬
förmige Gliose. Dies legt die Erwägung nahe, ob
beim Zustandekommen derartiger einseitiger Hvdro-
cephalien neben dem Moment der vermehrten Bildung
des Liquor cerebrospinalis und des gestörten Abflusses
als drittes mechanisches Moment eine verringerte
Widerstandsfähigkeit der Hemisphären-
wand infolge derartiger Erkrankungen in Betracht
kommt.
Was die anderen beiden Mumente betrifft, so
weist wenigstens in einigen der geschilderten Fälle
die bestehende chronische Meningitis und Meningo¬
encephalitis auf eine entzündliche Ursache der Ver¬
mehrung des Liquor hin. Ausserdem aber kommt in
den Fällen I, II und III eine Hydropsbildung ex
vacuo in Betracht, da die Schrumpfung der Hemi¬
sphärenwand infolge der cystösen (Fall I) bezw.
arteriosklerotischen (II und III) Hirndegeneration als
der primäre Process aufgefasst werden muss. Für die
Behinderung des Abflusses des Liquor aus den Ven¬
trikeln hat sich nur im Fall III eine localisirte Ursache
finden lassen in Gestalt der aneurysmatischen Erweite¬
rung und Verlagerung eines Arterienastes auf dem
Boden des 4. Ventrikels, wodurch namentlich bei
starker Hyperämie ein ganzer oder theilweiser Ver¬
schluss des Foramen Magendie wohl möglich war.
In den anderen Fällen aber bestand eine chronische
diffuse, im Fall I sogar sehr schwielige Leptomeningitis,
welche durch Verlegung zahlreicher Subaraehnoideal-
räume den Hauptabfluss weg des Liquor aus den
Ventrikeln durch die Subarachnoidealräume und die
Pachionischen Zotten in die Sinus verhindert haben
kann. Dem entspricht auch die Thatsache, dass in
keinem der Fälle ein äusserer Hydrocephalus, ein
erhebliches Piaoedem gefunden wurde. Endlich mag
die Thatsache nicht ohne Bedeutung sein, dass die
in Fall IV und V bestehende starke perivasculäre
Kernanhäufung durch Verlegung zahlreicher, sonst
mit den Arachnoidealräumen communicirender adven-
titieller Gefässscheiden ein Ausweichen der Flüssigkeit
nach dieser Seite hin unmöglich machte.
Vortragender resümirt wie folgt:
1) Bei erworbenen . namentlich einseitigen
Hydrocephalus internus kommen als Ursache der
vermehrten Liquorbildung neben entzündlichen
Veränderungen der Pia und Hirnsubstanx auch
chronisch degeueratire Proresse in Betracht , ivelche
einen Hydrops er vacuo zu erzeugen im Staude
sind.
2) Der Abfluss des Liquor aus den Ventrikeln
kann ausser durch localisirte Verlegung der Fora -
mina auch durch eine chronische diffuse Lepto¬
meningitis und Und u rchgängigkeii der Subarachno¬
idealräume erschwert werden .
3) Als drittes mechanisches Moment bei der
Bildung des einseitigen Hydrocephalus internus
kommt eine verringerte Widerstandsfähigkeit der
Hemisphären wand infolge von verschiedenartigen
Erkrankungen der Hirnsubstanz in Betracht.
(Autoreferat.)
I ) i s c u s s i u n :
Herr B i n s w a n g e r hat schon früher diffusen
Schwund des Hirnmantels als Ursache von secundären
Hydrocephalus internus bei progressiver Paralvse be¬
schrieben.
5. Herr Binswanger (Jena): Ueber den Symp-
tomencomplex der incohäreuten Erregung.
Unter dem genannten Zustandsbilde sollen nur
solche Fälle einbegriffen werden, die ohne Intelligenz-
defect einhergehen. Vortr. giebt zwei casuistische
Mittheilungen.
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Original frnm
HARVARD UNIVERSITY
344
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 36
I. 3 7jähriger Mann, erblich convergent belastet
In früher Jugend wahrscheinlich schon einmal ein
Erregungszustand, im Alter von 21 Jahren sichere
acute Psychose von 2 Wochen Dauer. Gute intellec-
tuelle Veranlagung. Der Kranke fing ohne vorher¬
gehende Prodromalerscheinungen plötzlich an viel zu
sprechen, sah Thier- und Menschengestalten, gerieth in
zornige, zuletzt tobsuchtartige Erregung. Bei der
Aufnahme völlig orientirt, lebhaftes Krankheitsgefühl,
nur summarische Erinnerung für das Vorhergegangene.
Rasche Beruhigung. In der Folge wechselnde
Stimmung, gelegentlich ängstlich und gedrückt, dabei
geordnet. In den nächstfolgenden Tagen anfallsweise
alle paar Stunden heftigste Erregungszustände, inco-
ordinirter Bewegungsdrang, Personenverkennung bei
dauernd gut erhaltener örtlicher Orientirung. Erst auf
dem Höhepunkte der durch kein Mittel zu beein¬
flussenden Erregung ging auch die örtliche Orientirung
verloren. Manchmal stereotype Bewegungen, durch
Motilitätshallucinationen veranlasst, Logorrhoe mit
unverständlichen Wortbildungen und zuletzt nur un-
articulirten Lauten. Dazwischen traten wieder plötzlich
Pausen auf, in denen Patient in Worten und Be¬
wegungen völlig zusammenhängend sich zeigte und
über seine Hallucination Auskunft gab. Dieser Wechsel
besteht mit immer kürzer werdenden ruhigen Perioden
nunmehr seit 13 Monaten.
II. 36jähriger Mann, ebenfalls schwere erbliche
Belastung. Acuter Ausbruch der Psychose: auf der
Fahrt nach der Stadt verlor er plötzlich die Orientirung,
fand zwar noch mit Mühe nach Hause, dort aber sich
nicht mehr zurecht. Er äusserte Wahnideen, fürchtete
ins Irrenhaus zu kommen. Nach kurzer Remission
erneuter Ausbruch in der Nacht; verwechselte die
Personen, führte verwirrende Reden, machte anhaltend
wippende Bewegungen, war in heftiger motorischer
Erregung. Bei der Aufnahme völlig desorientirt, am
nächsten Morgen äusserlich beruhigt, aber einzelne
Hallucinationen und die Desorientirtheit bestanden
fort. Im weiteren Verlaufe ist, wie im Falle I, ein
häufiger Wechsel zwischen Ruhe und Anfällen zu
beobachten; in den letzteren zeigt er Bewegungs¬
stereotypien, grimassirt, verbigerirt. In beiden Fällen
konnte bei Zunahme der Erregung unter wechselnder
Merkfähigkeit eine Hypervigilität constatirt werden. —
Die Unterbringung derartiger Krankheitsbilder in die
gewohnten Diagnosen ist nicht leicht; in beiden Fällen
ging die tiefgehende Incohärenz mit der Erregung
nicht parallel, sondern bestand auch in den ruhigen
Intervallen weiter. Der Manie sind sie wegen des
Fehlens primärer Affectveränderungen nicht zuzuzählen,
ebensowenig der Amentia; am meisten sind sie noch
Wernickes „verworrener Manie“ oder hyperkine¬
tischer Motilitätspsychose verwandt
Discussion:
Herr Wern icke hat solche Krankheitsbilder
nicht selten selbständig auftreten sehen, mit einer
ausgesprochenen Neigung zur Periodicität. Die acute
Anfangsphase bildet gewöhnlich schon eine Häufung
vorangegangener leichterer Störungen. Häufig knüpft
die Wahnbildung als Erklärungswahn an die Motilitäts¬
störung an, wie dies in besonders typischer Weise
bei der hyperkinetischen Menstrualpsychose der Fall
ist. Die vierwöchigen Intervalle derselben sind übrigens
auch bei Männern, wenn sie an dieser Form erkranken,
nicht selten.
Herr Flechsig fragt, ob auf Darmerscheinungen
und Temperaturstörungen im Verlauf der Psychose
geachtet worden ist.
Herr Binswanger bestätigt, dass derartige Vor¬
kommnisse beobachtet wurden, sic waren aber stets
auf Gelegenheitsursachen zurückzuführen und gehörten
nicht zum Wesen des Krankheitsbildes.
Herr Cr am er hat einen entsprechenden Fall
beobachtet, der vor 3 Jahren mit acuter Incohärenz
begann und jetzt in Tagesperioden zwischen Ruhe
und Erregungen abwechselt. Trotz des unveränderten
Fortbestehens des Zustandes ist kein Zeichen ein¬
tretender Verblödung zu bemerken.
— Einladung zur 86. Sitzung des Vereins
Ostdeutscher Irrenärzte am Sonnabend, den 10. De¬
zember 1904, mittags 11V2 Uhr im Hörsaale der
städtischen Irrenanstalt zu Breslau, Einbaumstrasse.
Tagesordnung: 1. Direktor Dr. Neisser,
Bunzlau: Dank an den ausscheidenden langjährigen
Vorsitzenden des Vereins, Herrn Geh. Medicinalrath
Professor Dr. Wern icke in Halle. Vorstandswahl.
2. Prof. Pick, Prag: Neuer Beitrag zur Lehre von
der Mikrographie. 3. Dr. Kramer, Breslau: Ex¬
perimentelle Untersuchungen über Nervenpfropfung.
4. Privatdocent Dr. Förster, Breslau: Hysterische
Hemiplegie mit Demonstrationen. 5. Dr. Schroeder,
Breslau: Neuere Fortschritte der pathologischen Ana¬
tomie der Hirnrinde, b. Dr. Koebisch, Breslau,
Fall von myasthenischer Bulbärparalyse. 7. Dr. G.
5. Freund, Breslau: Thema Vorbehalten.
Der Sekretär: Dr. Neisser, Bunzlau.
Ueber das neue von Töllner in Bremen gefundene Leber-
thranersatzmittel „Fucol“, von dessen Anwendung
Dr. Iiackl und andere bei Rhachitis, Skrophulose etc. günstige
Erfolge gesehen zu haben mittheilten, giebt die nachfolgende
Bemerkung des genannten Arztes in der „Aerztlichen Rund¬
schau“ genaueren Aufschluss: „Als Rohmaterial des Fucols
dienen jodhaltige Algenarten des Meeres, z. B. Lammaiia digitata,
Laminaria saccharina, Fucus serratus, Fucus vesiculosus u. a.
Dabei werden möglichst nur direct am Standort gewonnene
Algen und nicht die aus dem Meere aulgefischten Treibalgen
verwendet, weil letztere einen wesentlich geringeren Gehalt an
Jod aufweisen. Die Algen werden getrocknet, zerschnitten und
dann in eisernen Trommeln so weit geröstet, dass sie sich leicht
zerreiben lassen. Das Röstgut wird lein gemahlen und sofort
mit geeigneten fetten Oelen — Sesamöl und Erdnussöl — ver¬
mischt. Nach achttägigem Stehen und wiederholtem Umschütteln
wird abgegossen, der Rückstand ausgepresst und das nunmehr
gebrauchsfertige Oel filtrirt. Es kommen zehn Theile geröstete
Algen auf neunzig Theile fetten Oeles. Die Untersuchungen
von Dr. Schönjahn, der das Rohmaterial, die Algen, mit Aether
extrahirte, ergaben folgende chemische Konstanten : Säurexahl
52,7, Verseifungszahl 210,9, Jodzahl 104,8. Auffallend ist die
hohe Säurezahl und insofern bemerkenswerth als beim Leber-
thran gerade der hohe Gehalt an freien Fettsäuren bezw. die
dadurch bedingte leichte Emulgirbarkeit am meisten hervor-
gehoben wird. Um zu konstatiren, wie sich Fucol in dieser
Beziehung verhält, wurde dieses, Sesamöl und Leberthran mit
Wasser unter gleichen Bedingungen durchgeschüttelt; beim
Stehen schied sich Fucol am langsamsten wieder aus und über¬
traf in seiner Emulsionsfähigkeit selbst den Leberthran.“ Jod-
und bromhaltige Algen, z. B. Fucus vesiculosus wurden schon in
früheren Zeiten gegen Kropf- und andere Leiden, welche heute
durch Leberthrankuren bekämpft werden, mit Erfolg angewendet.
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Für den redacdonellcn Thcil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Bresler, Lublinit* (Schlesien).
Srscheinftjeden Sonnabend. — Schloss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von C>fI Marhold in Hall« a. S.
VjÜ «QIC HeynemWKho Buchdrackerei (Ci.br. Wo'ff* in Hallo UNIVERSITY
Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift.
Redigirt von
Oberarzt Dr. Joh.B realer,
Lublinitz (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834.
Nr. 37. 10. Dezember. 1904.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die 3spaltige Petitxeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten.
Zur Differentialdiagnostik negativistischer Phänomene.
Von Dr. Otto Gross , Assistenten der neurol.-psychiatr. Klinik zu Graz.
l^ie vorliegende Studie soll die Weiterführung und
Complettirung einiger früherer Beiträge bedeuten,
die ich zum einschlägigen Thema publizirt habe;*)
der Continuität wegen habe ich überwiegend meine
eigenen Vorarbeiten berücksichtigt, obwohl ich weiss,
dass Ähnliches und Werthvolles von Anderen gesagt
worden ist.
Es handelt sich hier hauptsächlich darum, die
differential-diagnostische Abgrenzung des
eigentlichen — „1c atatonen“, „psycho¬
motorischen“ — Negativismus**) von der
Affectlage der Ablehnung durchzuführen.
Diese Gegenüberstellung soll auch durch die Kranken-
geschichten zweier besonders markanten Fälle, die
ich in letzter Zeit zu untersuchen Gelegenheit hatte,
veranschaulicht werden. Für die Ueberlassung des
*) 1. : „Die Affectlage der Ablehnung“, Monatsschrift für
Neurol. u. Psych.
2. : „Beiträge zur Pathologie des Negativismus“, Psych.-
neurol. Wochenschrift, 1903. Jahrg. V. S. 269.
3. : „Ueber Bewusstseinszerfall“, Monatsschrift für Neurol.
und Psych.
**) In meinen „Beiträgen zur Pathologie des Negativismus“
(loc. cit. 2) habe ich von „psychomotorischer Hemmung“
gesprochen, die von der Affectlage der Ablehnung ab¬
zugrenzen ist, aber mit dieser zusammen sich vorfinden
kann und dann das Bild des totalen Negativismus ergiebt.
Ich habe damals den weiteren Begriff statt des engeren gewählt;
heute glaube ich, dass in jener Arbeit „Negativismus“ statt
„Hemmung“ hätte gesagt werden sollen. — Meine Arbeit über
„die Affectlage der Ablehnung“ ( 1 . c. 1) hatte den Zwecke ein
Zustandsbild abzugrenzen, welches sich eben durch seine affec¬
tive Grundlage vom echten Negativismus unterscheidet,
und dieses Zustandsbild dem echten Negativismus gegen¬
überzustellen. Ich hebe diese beiden Dinge hervor, um
einem Missverständniss zu begegnen, welches einen von mir be¬
sonders verehrten Autor zu der Annahme veranlasst hat, ich
hätte den Negativismus überhaupt aus der „Affectlage der
Ablehnung“ erklären wollen.
Materials sage ich meinem verehrten Chef Prof.
Anton meinen ergebensten Dank. —
Hermine B„ 20 Jahre alt, ledig, Grossgrund¬
besitzerstochter, aufgen. 6. VIII. 04. Anamnese.
Patientin soll sich in der letzten Zeit allmählich ver¬
ändert haben; dann begann die eigentliche Psychose
mit Aufregungszuständen, religiösen Wahnideen etc.;
Patientin wendete sich von ihren Angehörigen ab,
schlug dieselben, concentrirte ihre Zuneigung dagegen
auf ganz fremde Personen. In den letzten Tagen,
nachdem sie einige Zejt ruhiger gewesen war, begann
sie plötzlich alle Gegenstände aus dem Zimmer zu
werfen, umgab sich mit Crucifixen, ist in religiöse
Drucksachen vertieft. Schlaflos, verweigert die
Nahrung, geht mit den Geberden höchster Erregung
auf -und ab.
6. 8. 04. Status psychicus b. d. Auf¬
nahme: Patientin steht im Gitterbett, die Füsse vor¬
gestreckt, die Hände auf dem Rücken, den Kopf
vorgebeugt, mit den Schultern an die Rückwand ge¬
lehnt. Dabei werden die Füsse deutlich cyanotisch;
das Gesicht ist bleich mit vasomotorischen Flecken
auf der Wange.
Patientin ignorirt meist die Umgebung, auch den
sie beobachtenden Arzt, schaut starr vor sich hin,
erröthet aber wahrnehmbar, als sie hörte, dass die
Beschreibung ihres Verhaltens diktirt wird.
Die Mimik ähnelt der, das intensive Nachdenken
begleitenden. Von Zeit zu Zeit treten eigentümliche
Bewegungscomplexe auf; Pat. macht windende oder
drehende Rumpfbewegungen, hakt sich mit den
Fingern in die Decke des Gitterbettes, dann wieder
steht sie, ohne sich anzulehnen, aber mit dem Kopfe
gegen die Decke des Gitterbettes gestemmt, macht
einen Schritt vor, einen zurück, dann wieder eine
Kniebeuge, verändert die Frontrichtung, verharrt
dabei meist durch mehrere Minuten in jeder einzelnen
der beschriebenen Stellungen. Dabei bleibt die
Mimik ziemlich unveränderlich mit dem Ausdrucke
gespannter innerer Aufmerksamkeit. Dabei kümmerte
sie sich fast nie um die Umgebung, aber zwischen-
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HARVARD UNIVERSITY
346
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 37-
durch richtet sie hie und da einen aufmerksamen
und interessirten Blick auf den Untersuchenden.
Von Zeit zu Zeit glättet Pat. durch eine Hand¬
bewegung das Haar, wenn es durch Anstützen des
Kopfes in Unordnung geräth. Diese und ähnliche
Bewegungen geschehen einfach und zweckmässig.
Auf Anrufen und Gruss reicht sie die Hand nach
mehreren gehemmten, zögernden, fast gequälten Inten¬
tions-Bewegungen. Der Aufforderung sich nieder¬
zusetzen kommt sie nach, desgleichen einigen ein¬
fachen Anforderungen. Spontan mutacistisch; auf
Fragen antwortet sie kurz, ruckweise, mit verlängerter
Reactionszeit und langen Pausen zwischen einzelnen
Theilen eines und desselben Satzes.
Wie geht's? „Denke . . . jetzt ... an Gott“. (Pausen
bis zu io Sek.)
Warum hergekommen ? „Ich wollte zu den Kreuz¬
schwestern gehen.“
Warum? „Weils mir so gut gefällt“ (nach 5 Sek.).
Was hier für Haus ? ..Ich glaube Nerven-Klinik.“
Wer der Arzt? (richtig.)
Warum hierher? „Ich wusste nicht, dass ich hierher
komme, es ist mir gesagt worden, ich komme.
(ii Sek.) zu den Kreuzschwestern.“
Warum so im Bett gestauden ? „Weil ich doch nicht
gerade stehen konnte.“
Warum überhaupt gestanden? „Ja . . . weil mir nichts
fehlt.“ (Nach 12 Sek., wie geistesabwesend.)
Was sagen die Stimmen? „Höre keine“ (19 Sek.).
Warum beten Sie jetzt so viel ? „Wie ich in Mürz¬
zuschlag war, da hab ich . . (35 Sek.)
Warum beten Sie jetzt so viel? „Ich hab sogar gebetet
. . . . wenig beten können ... und jetzt . . .“
Haben Sie Erscheinungen gehabt? „Ja, Erscheinungen
eigentlich nicht .... aber die Leute sind mir alle so sonder¬
bar . . . und so anders vorgekommen.“
Die Antworten erfolgen mit deutlicher Sperrung,
die ruckweise, nach verschieden langen Intervallen,
überwunden wird. Manchmal sieht man vergeb¬
liche Ansätze hierzu. Ist aber die Sperrung über¬
wunden, werden Sätze oder Satztheile fliessend, fast
hastig vorgebracht. Die Antworten sind sinngemäss
und geordnet: kein Vo rbeired en, kein nega-
tivistisches oder ablehnendes Antworten.
Ist es Ihnen unangenehm, Ihre Gedanken zusammen¬
zuhalten? „Ja, es ist mir auch nicht immer möglich.“
Wodurch wird das gestört? „Ja ich weiss nicht, es ist
mir plötzlich .... Alles aus dem Gedächtniss entschwunden.“
Die Frage nach autochthonen Ideen wird bejaht,
kann aber nicht weiter ausgeführt werden. Pat. fügt
bei, sie könne jetzt gar nichts denken.
Auf die Frage, ob sie mehr Leere oder mehr
Unordnung und Verwirrtheit fühle, antwortete Pat.
sehr decidirt: „leer“.
„Jetzt momentan hab’ ich mehr das Gefühl von Leere,
ein andermal da kommen solche Gedanken.
Stimmung: jetzt nichts Besonders.
Pat. vermag mit guter Auswahl die wichtigsten
Momente von der früher dictirten Beschreibung ihres
motorischen Verhaltens wiederzugeben.
Warum die seltsamen Bewegungen? „Ja ich weiss
nicht, es war mehr so unwillkürlich.“
Weiter befragt giebt sie an, es zwinge sie dazu, es
sei wie ein plötzlicher Einfall, dem sie nach-
kommen müsse, ein Widerstreben empfinde sie
mei stenteils nicht.
„Es kommt mir vor, ich muss es thun, ich muss dann
nachkommen.“
Ist Ihnen das zuwider? „Nein, wenn ich nicht
nachkomme, dann ist es schrecklich. 1 *
Stimmen? „Ja wie meinen Sie? Von aussen oder von
innen? (Nach Erklärung): „Ich habe von aussen und von
innen gehört, jetzt nicht mehr.“ „Die inneren Stimmen
kommen aus der Brust heraus;“ bezüglich der äusseren giebt
sie an: „zu Hause hab* ich Gesänge gehört und die Anderen
haben auf Befragen gesagt, sie haben nichts gehört.“ (Nach
langem Nachdenken): „Eis war so wie aus den Lüften herunter,
ich weiss es nicht zu sagen, so nur eine Melodie.“
Pat. bezeichnet diese Gehörswahmehmungen als
unnatürlich, im Gegensatz zu realen Wahrnehmungen.
Die innere Stimme hat in Worten bestanden,
doch habe Pat. diese Worte nur wahrgenommen, wenn
sie sich die Ohren zugehalten oder wenigstens die
Aufmerksamkeit von der Aussenwelt abgewendet habe.
Die innere Stimme habe gesagt, wie sie sich zu ver¬
halten habe und was sie thun solle.
Die innere Stimme sei entweder Gottes Stimme
oder die des bösen Feindes.
Die Annahme, dass die innere Stimme auf einer
krankhaften Sinnesstörung beruhen könne, lehnt
Pat. ab. —
Pat. giebt an, dass es ihr im Gespräche grosse
Mühe mache, sich zu besinnen, dass es ihr aber
lieber sei, wenn mit ihr gesprochen werde, als wenn
sie allein sei. Es ist auch während des ganzen Ge¬
spräches keinerlei Ablehnung wahrzunehmen,
sondern vielmehr ein ungewöhnlich entgegenkommen¬
des und gewissenhaftes Eingehen auf alle Fragen,
trotz der schweren Sperrung.
Alle Antworten sind vollkommen sinngemäss,
präcise und verrathen eine sehr grosse Intelligenz.
Schriftprobe misslingt wegen schwerer Gegen¬
impulse und offenbar auch wegen durchkreuzender
Hallucinationen. Pat. bleibt vor der Tinte mit
visionärem, etwas exstatischem, gespanntem Ausdruck •
stehen, sieht starr vor sich hin, fixirt ihre Stellung,
behält eine bizarre Haltung der linken Hand bei
und lehnt alle Aufforderungen ab, diese Stellung zu
verändern. Dabei ticartiges Zucken der Gesichts¬
muskel. Beim Versuch, sie nach dem Bett hinzu¬
drängen, zeigt sie sich das erste Mal deutlich nega-
tivistisch; dabei bizarre, markirte Abwehrbewegung.
Die wenigen sprachlichen Aeusserungen bleiben aber
auch jetzt sinngemäss.
Nachmittag: liegt mit dem Gesichte nach unten,
weicht den Berührungen aus.
Status somaticus:
Schlank, sehr pigmentarme erethische Haut, an den
Wangen hyperämische handtellergrosse Flecke; Hände
cyanotisch, die Füsse werden bei längerem Stehen
blau. Anaemie. Auf der Brust fluxionäre Röthung,
sehr starke Darmatographie. Mund facialis und
Zunge symmetrisch. Percussorische Herzgrenzen nicht
verbreitert. Spitzenstoss sehr kräftig, fühlt sich
schwirrend an; ein Geräusch ist nicht nachzuweisen,
doch sind die Töne unrein. Patellarreflex leicht ge¬
steigert, Plantar-Reflex normal configurirt, lebhaft
Kleine Struma, besonders des Isthmus. Es besteht
starke Tachycardie. Nähere Untersuchungen wegen
Widerstandes unmöglich. (Pupillen ?) An den Unter-
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Original frnm
HARVARD UNiVERSITY
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
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schenkein blaue Contusionen, am Rücken mehrere
Kratzeffecte.
6. 8. Pat. bejaht die Frage, ob sie sich gegen
die Untersuchung habe wehren müssen; verneint
die Frage, ob sie geglaubt habe, dass man ihr etwas
habe zuleide thun wollen und ob sie auf den Arzt
böse sei.
Jede körperliche Annäherung löst
negati vistisches Abschütteln aus, doch
macht es nicht den Eindruck, als ob Pat.
erbittert oder gekränkt wäre. Verweigert die
Nahrung, stellt aber in Abrede zu glauben, dass die¬
selbe vergiftet sei. Giebt geordnete Auskunft, dass
sie gestern Mittags zuletzt gegessen habe und jetzt
nicht mehr essen möge.
Ist es Ihnen unangenehm, wenn man sich mit
Ihnen beschäftigt?: „Nein“. Warum wehren Sie
sich denn?: „Weil ich muss“. Warum? „Ich darf
mich nicht berühren lassen“.
7- 8. Kniet im Bette, lässt spontan Urin,
hält die Augen geschlossen und giebt keine Ant¬
wort; die Hand des Arztes, die auf ihrer Schulter
liegt, sucht sie durch windende, ziemlich un¬
zweckmässige Bewegungen des Rumpfes abzuschütteln,
ohne ihre eigene Hand zu verwenden, hält die Hände
krampfhaft gefaltet; ruft später den Arzt zu sich,
bittet ihn ihr die Hand zu geben, reicht ihm die
linke und zieht die rechte angstvoll von jeder Be¬
rührung zurück. Sie hält dann die rechte Hand in
einer gespreitzt manirirten Stellung, mit der linken
hält sie den Arzt fest und weint, als sich dieser end¬
lich losmacht; verweigert die Nahrung.
7. 8. Schwer negativistisch, kniet im Bett, ist
fortwährend in unnatürlichen Stellungen oder Be-
wegungen, dabei aber bemüht, dem Arzt, so¬
weit möglich, freundlich und folgsam ent¬
gegenzukommen. Pat. ist heute stets entkleidet.
Gegen Abend löst sich der Negativismus, Pat. nimmt
auf Bitte des Arztes Nahrung zu sich und zwar
unter fortwährender gewaltsamer Ueber-
windung negati v istischer Gegen im pulse.
8. 8. Heute wesentlich freier, duldet Kleidung,
giebt an, sich gestern entkleidet zu haben, weil
sie es thun musste, da sie von einem inneren
Drang gezwungen war.
Hat dieser Drang auf Ihren Willen eingewirkt, oder auf
Ihre Bewegungen? „Auf den Willen, dann der Willen auf
die Bewegungen.“
Pat. stellt wieder in Abrede, ihre Be¬
wegungen gegen ihren Willen ausgeführt
zu haben, vielmehr habe das ein wirk ende
unbekannte Etwas ihren Willen so ver¬
ändert, dass sich Pat. dann mit diesem
Zwang in Einklang gefühlt habe. Ein
Gegenwille wurde nicht gefühlt. Pat. erklärt
sich die Vorgänge als Einwirkung der höheren
Macht, ist aber der Erklärung als pathologisches
Moment bereits viel zugänglicher.
Nachts (gegen Morgen); Kämmt sich über
eine halbe Stunde lang, endlich bemerkt man, dass
sie sich die Haare büschelweise ausreisst. Von der
Wärterin aufgefordert, den Kamm herzugeben, er¬
klärt sie, nur dem Arzt den Kamm zu geben, thut
dies dann mit sichtlicher Ueberwindung eines
schweren inneren Widerstandes.
Warum die Haare ausgerissen ? „Weil ich muss.* 1
10. 8. Wesentlich freier, heiter, lächelt dem
Arzt freundlich zu. Der Ernährungszustand und das
Aussehen haben sich rapid gehoben. Es bestehen
noch vielfache Parakinesien, doch ist Pat. deutlich
nach Kräften bemüht, dieselben in den
Hintergrund zu drängen. Dabei bestehen aber
noch einzelne Manier-Bewegungen, z. B. Reichen der
linken Hand, Zukneifen eines Auges etc. Beginnende
Krankheitseinsicht.
11. 8. Heute wieder unzugänglich, mutacistisch,
negativistisch, weicht Berührungen aus, athmet un¬
regelmässig und seufzend. Dabei ist der Gesichts¬
ausdruck ein lächelnder.
12. 8. Sitzt nackt in die Decke gehüllt, hält
ein Stück Pflaster in der Hand, weint, als es ihr
genommen wird, äussert klagend :
„Bitte, geben Sie es mir wieder.** Was ? „Das
Pflaster!“ (kläglich.)
Hält dann konstant die Decke vor den Mund ge¬
presst. Verneint leise, dass sie auf den Arzt böse
sei, im Uebrigen fast mutacistisch. Negativismus,
aber sicher keine Affektlage der Ab 1 ehnung.
Keine Tendenz, die Entblössung als solche zu maskiren.
14. 8. Sitzt nackt im Bett, spuckt kontinuir-
lich in die flache Hand, ruft dem Arzt nach:
„Ach ich bitte doch um etwas Zwetschkensaft.“ „Wozu?“
„Zum Trinken.“
Weitere sprachliche Reaktionen sind nicht zu erreichen.
t6. 8. Liegt bei der Visite in die vordere
Kante des Gitterbettes gezwängt, hat das Schlusskleid
über den Kopf gezogen, liegt sonst nackt, kümmert
sich nicht um die Umgebung, wird durch das In¬
dezente der Stellung nicht beeinflusst. Widerstand
gegen alle Maassnahmen, kratzt mit den Fingernägeln,
ohne den Rumpf zu bewegen oder die Augen zu
öffnen. Augen geschlossen. Mimik bizarr verzerrt.
Auf die Frage: „Warum kratzen Sie?“ tritt ein viel¬
sagendes Lächeln auf. Spuckt rücksichtslos um sich
herum. Als Jemand zufällig eine Aeusserung über
„Beissen“ tut, beginnt Pat. sofort zu schnappen.
Vollkommen mutacistisch.
Hautdecken durch die fortwährende Entblössung
kühl; versucht fortwährend, sich die Zähne auszu-
reissen, zerkratzt sich das Zahnfleisch.
17. 8. Alle möglichen Selbstbeschädigungen. Pat.
kratzt sich blutig, rüttelt an den Zähnen, rauft sich
die Haare, beginnt sich an den Fusssohlen die Haut
abzuziehen, dabei streift sie jede Schlussbekleidung
und die Handschuhbekleidung ab.
Nachts hat die Pat. durch fortwährendes Schaben
auf der Matratze sich eine Dermatitsi facialis zuge¬
zogen.
18. 8. Pat. ist ruhiger, ziemlich frei von Be¬
wegungsimpulsen, giebt geordnet, wenn auch gesperrt,
Auskunft. Auf die Frage, warum sie das Alles ge¬
macht habe: „Herr Doktor wissen cs ja, es hat
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HARVARD UNIVERSITY
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 37-
mich dazu getrieben“. Stellt in Abrede,
diesen Zwang unangenehm empfunden zu
haben.
io. 8. Verhält sich ruhig, duldet Kleidung, gibt
gehemmt, aber geordnet Auskunft, benimmt sich bei
der körperlichen Untersuchung sinngemäss, gibt auch
Krankheitseinsicht an (?), bricht aber bald in Thränen
aus. Während der Krankheitshöhe sei ihr vorge¬
kommen, sie sei im Fegefeuer. Sie habe jedoch auch
gewusst, dass sie auf der Klinik sei. Sie habe sich
gedacht, dass Hölle und Fegefeuer auf der Welt
seien. Den Arzt habe sie für Jesus gehalten, dabei
aber den richtigen Namen gewusst, habe ihn auch
für Maria Trost*) gehalten; befragt, wie sie sich
diese Vereinigung vorgestellt habe, versucht sie, die
verworrenen Gedankengänge so gut als möglich zu
reproduzieren; dieselben erscheinen als mystisch-
pantheistische Erklärungsversuche. Sie habe Stimmen
in ihrem Innern gehört, die ihr Befehle gegeben
haben. Die autochthonen Antriebe seien öfters zu¬
gleich als Stimmen im Innern erklungen. Vom
Schlossberg her habe sie Vogelstimmen gehört, die
waren „zwar nicht wie Worte, doch so, dass es einen
Sinn giebt‘‘. Ihre katatonen Handlungen seien ihr
nicht paradox, sondern begreiflich erschienen. Die
Sorgen ihrer Umgebung habe sie bemerkt, trotzdem
jedoch ihre Handlungen für richtig gehalten.
Die Excoriationen habe sie sich wegen Juckreiz
zugefügt, zugleich aber beabsichtigt, dass Blut kommen
solle. Starke Schmerzen waren ihr recht, haben ihr
wohl gethan. Der Schmerz habe sie gefreut, weil
sie abbüssenwollte. (Deutlich secundärc Erklärungs-
ideen. Fat. scheint zeitweise alle Vorgänge im Sinne
ihrer Versündigungs- resp. Selbstkasteiungsideen um¬
gedeutet und assimilirt zu haben). Während der
Unterredung hat sie die linke Hand auf das Auge,
die rechte auf das Herz gepresst.
Sie spricht zögernd unter Tremor, zwischendurch
flüchtig lächelnd.
12. 8. Vollkommen negativistisch, reibt und quetscht
ihre Augen^ zieht sich die Haare kraus vor’s Gesicht,
wickelt sich über den Kopf in die Decke und bringt
konstant Speichel und Schleim vor die Lippen und
verreibt dies zeitweise auf den Unterarmen.
23. 8. In die Irrenanstalt Feldhof transferiert.
Ich glaube, dass die inneren Vorgänge bei kata¬
tonen Krankheitsbildern an diesem Fall, wenn auch
nicht erklärt, so doch wenigstens mit einer gewissen
Deutlichkeit vorstellbar gemacht werden können. Eine
Reihe glücklicher Umstände trägt dazu bei, uns das
Eindringen zu erleichtern. Pat. verfügte über eine mehr
als gewöhnliche Ausdrucksfähigkeit und Gewissen¬
haftigkeit in der Darstellung innerer Erlebnisse. Die
sprachlichen Fähigkeiten waren vom Krankheitsprocess
sozusagen gamicht berührt; die Kritikfähigkeit der
Kranken reichte hin, um wenigstens zeitweise ein
*) Wallfahrtskirche bei Graz.
sinngemässes Eingehen auf die Fragen und ein ent¬
sprechendes Entgegenkommen zu ermöglichen.
Die klinische Erscheinungsform war eine wech¬
selnde, von weitgehenden Remissionen und Exacer¬
bationen zusammengesetzt; dabei traten Cardinal-
symptome der katatonen Psychosen prononcirt hervor.
Es bestand eine Reihe paradoxer Bewegungsimpulse,
die sich im Grossen und Ganzen als Stereotypien
manifestirten; ferner seltsame, oft manierirte Einfälle
und Wünsche, endlich Sperrungen auf allen Gebieten
der Motilität. Dagegen fehlte auch jede Andeutung
von Vorbei reden.
Sehr auffallend war die ausgesprochene Tendenz
zu Selbstbeschädigungen aller Art. Hierbei ist be¬
merkbar geworden, dass sich eine analoge Tendenz
auch in übertragenem, seelischem Sinne geltend ge¬
macht hat. Pat. hat sich nicht nur das Gesicht zer-
scheuert, das Zahnfleisch zerkratzt und Hautfetzen
abgerissen, sie hat sich auch mit Urin gewaschen, sich
selbst und ihre Kleider vollgespuckt, ihren Körper
mit Schleim und Speichel eingerieben, sie hat sich
endlich in tendencirt unästhetischer Weise entblösst,
hat mit nacktem Unterkörper und abducirten Ober¬
schenkeln das Genitale an die vordere Netzwand des
Gitterbettes gepresst — zweifellos ohne die Spur ero¬
tischer Tendenz. Im Gegentheil scheinen alle jene zur
Verhütung von Ekelgefühlen dienenden Instincte, die
ihre teleologische Bedeutung als Schutzmittel für die
Ermöglichung erotischer Reiz Wirkungen erworben
haben, *) hier in ihr Gegenteil convertirt worden zu
sein.
Wir können dies alles dahin zusammenfassen, dass
in der Patientin ein Complcx von pathologischen Im¬
pulsen synergetisch die Unterdrückung aller normalen
Impulse und Hemmungen und deren Umwandlung
in ihr gerades Gegentheil bewirkt hat.**)
Ich glaube annehmen zu dürfen, dass dieser Ein¬
fluss sich auch auf den Verständigungstricb und auf
das Bedürfnis# nach sozialer Fühlungnahme überhaupt
erstreckt haben muss. Diese Überlegung vereinfacht
bereits die Erklärung für das Zustandekommen direct
negativst is< nei Eischeinungsieiben. Es ist zu beden-
*) William Steckei: ,,Der Ekel, eine biologische Studie/*
Wage 1904.
**) In seiner höchst wertvollen Studie „über die negative
Suggestihilität“ (Psychiatr -Neurolog. Wochenschrift 1904)
bringt Bleuler die Entdeckung der physiologischen Prä-
formation für die uegativistische Pervertirung des Trieblebens.
Ich hoffe mich nicht im Gegensatz zum Autor zu befinden,
wenn ich annehme, dass der von Bleuler enthüllte präformirte
Mechanismus in Fällen, wie die hier in Rede stehenden, auf
die abge spa Ite n e n Nebenreihen der Bewusstseins-
thätigkeit einwirkt, nicht auf das Hauptbewusstsein selbst.
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1 9°4-]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
349
ken, dass bei der Pat. das Bedürfniss nach Anschluss
und Aussprache ein sehr lebhaftes gewesen ist; es
ist dies aus der freundlich lächelnden Miene der Pat,
aus ihrer Art, meine Hand festzuhalten und endlich
auch daraus hervorgegangen, dass sich im Gespräch
trotz aller Sperrungen und Gegenimpulse niemals irgend¬
welche Ablehnung bemerkbar gemacht hat und eine
solche stets ausdrücklich in Abrede gestellt wurde.
Pat. hat regelmässig die wegen ihres Negativismus an
sie gerichtete Frage, ob sie auf mich böse sei, deut¬
lich verneint, desgleichen die Frage, ob ihr die Un¬
terredung unangenehm sei.
Wir wiederholen also: eine einheitlich wir¬
kende Komponente im psychischen Mecha¬
nismus der Pat. hat sie zu einer Reihe von
Handlungen getrieben, die ihren ursprünglichen
Wünschen und Instinkten möglichst entgegen¬
gesetzt waren, hat die den natürlichen An¬
trieben conformen Handlungen gesperrt und ins
Gegentheil umgesetzt. Als eine markante Theilerschei-
nung dieser Vorgänge sind die negativistischen
Reaktionsweisen aufzufassen.
Über die Entstehungs- und Wirkungsweise dieses
Complexes von Gegentrieben und paradoxen Impulsen
erhalten wir von der Pat. sehr weitgehende introspec-
tive Aufschlüsse, durch welche auch gewisse bestehende
Streitfragen wenigstens für diesen einen, allerdings
ziemlich typischen Fall in einem bestimmten Sinn
beantwortet werden. —
Für die Deutung katatonischer Erscheinungscom-
plexe sind besonders zwei Erklärungsversuche von
Wichtigkeit. Auf der einen Seite steht die grosszügige
Auffassung Wemicke’s, der die pathologischen Be¬
wegungsphänomene auf eine Störung im Motilitätsbe-
wusstsein als einem Teil des „Bewusstseins der Kör¬
perlichkeit“ zurückführt. Es ist kein Zweifel an dem
hohen Wert dieser Hypothese möglich und zwar wird
sie es sein, von der aus u. A. ein Verständniss der
apractischen, asymbolischen und astereognostischen
Störungen bei Herderkrankungen, der motorischen
Rathlosigkeit bei progressiver Paralyse, ja vielleicht
'auch gewisser agraphischer, alectischer und asemischer
Ausfallsymptome angebahnt werden können wird.
Für die Analyse katatoner Störungen aber stehen
Auffassungen gegenüber, denen zufolge die einschlä¬
gigen Symptome als Störungen jener complicirten Ma¬
schinerie betrachtet werden sollen, die mit dem Schlag¬
wort „Willen“ angedeutet wird und denen zufolge
der Ursprung der katatonen Bewegungsphänomene
höher hinauf, in eigentlich intiapsychisehes Gebiet
verlegt werden müsste.
In diesem Sinne ist an Pat. die Frage gestellt
worden, ob die von ihr geschilderte, zwangsmässige
Beeinflussung ihrer Äusserungen als auf die Bewe¬
gungen direct oder als auf den Willen ein wirkend
empfunden werde. Die Antwort war höchst charak¬
teristisch: „auf den Willen und dann durch
den Willen auch auf die Bewegungen.“
Es muss hervorgehoben werden, dass Pat, so
oft sie nach den Motiven ihrer paradoxen Handlungen
befragt werden ist, stets gleichlautend antwortete, es
zwinge sie „eine Gewalt“ dazu. Sie empfand das
Agens als etwas ihrer ganzen Person fremdes, ausser
ihr Stehendes, erklärte es sich zeitweise als: „ent¬
weder Gott oder der böse Feind“; daneben aber er¬
klärte sie wiederholt und übereinstimmend, mit grosser
Präcision in verschiedensten Formen, dass die Ein¬
wirkungen dieses Agens nicht ihre Bewegungen als
solche reguliere, sondern ihren Willen uniforme;
sie befinde sich, sobald eine Einwirkung erfolgt, dann
stets mit ihrer ganzen Willensrichtung in Einklang
mit derselben; „weil ja eben mein Willen entsprechend
verändert wird“, sagte sie einmal wörtlich. Die Aus¬
führung der entsprechenden Handlungen empfinde
sie dann nicht mehr als mit ihrem Willen in Wider¬
spruch stehend oder als peinlich: „wenn ich es nicht
thue, dann ist es peinlich“. Im Anschluss an ihre
Selbstbeschädigungsimpulse erklärte sie, Schmerzen
haben zu wollen; daran schlossen sich zeitweise
secundäre Bussideen. Auch wegen der Entblössungen
fühlte Pat., — obwohl dieselben offenkundig im schrof¬
fen Gegensatz sowohl zu ihrem Grundcharacter, als
auch zu ihrem momentanen, ganz asexuellen Ver¬
halten standen, — keinerlei Widerwillen oder Ent-
schuldigungsbedürfniss.
Wir sehen also eine Reihe höchst auffälliger und
paradoxer Bewegungen oder eigentlicher Handlungen,
die keineswegs als ungewollt empfunden, vielmehr als
dem Willen entsprechend ausdrücklich dargestellt
werden, zugleich aber Veränderungen des Wil¬
lens selbst durch ein Agens, welches als
ausserhalb der Ichkontinuität gefühlt und
demzufolge als fremde Macht gedeutet wird.
Die Tatsache, dass diese paradoxen Impulse als von
Aussen kommend geschildert werden, dass sie der
dauernden wie der momentanen Hauptpersönlichkeit
der Kranken fremd sind, und dass sie dabei den
Willen der Pat. derart in Besitz nehmen, dass ihre
Ausführung nunmehr ohne inneres Widerstreben rea-
lisirt werden kann, stellt sich dar als eine jeweilige
Substituirung des „Willens“ der Ichkontinuität durch
einen Einschub aus anderen Bewusstseinsreihen.
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[Nr. 37-
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
350
Ich citire hier früher*) Gesagtes: „In’s Psycho¬
logische übersetzt würde das Postulat resultieren, dass
durch eine Schädigung der cerebralen Höchstfunktion
speciell auch die synchrone Einheitlichkeit des Be¬
wusstseins geschädigt wird. Wir müssen uns denken,
dass in solchen Fällen mehrere, wir wollen sagen
Associationsreihen, gleichzeitig und ohne einander
gegenseitig zu beeinflussen, im Bewusstseinsorgan ab¬
laufen können. Von diesen Associationsreihen wird
dann Eine zur Trägerin der Kontinuität des Bewusst¬
seins werden müssen, **j und zwar diejenige, deren
Gliedern die festeste associative Verbindung unter
einander und auch mit dem ganzen übrigen latenten
Bewusstseinsinhalt zukommt und welche dadurch jeder¬
zeit reproductiv in Evidenz gehalten und demzufolge
jederzeit als kontinuirliches Bewusstsein überschaut
und indentificirt werden kann. Die übrigen Associa-
tionsreihen sind dann natürlich „unterbewusst“ oder
besser „unbewusst“. Nun muss es aber jederzeit
möglich sein, dass auch in ihnen, wir wollen sagen:
die Nervenenergie anschwillt und eine solche Höhe
erreicht, dass sich dann plötzlich die „Aufmerksamkeit“
einem ihrer Endglieder zuwendet, d. h. also, dass
unvermittelt ein Glied aus einer unbewussten Associa-
tionsreihe in die Kontiunität der bisher dominirenden
sich einschiebt. Sind diese Piümissen erfüllt, so kann
der begleitende subjective Vorgang nur der sein, dass
irgend eine physische Erscheinung als unvermittelt
ins Bewusstsein tretend und dabei als etwas der Be¬
wusstseinskontinuität vollkommen fremdes empfunden
wird. Es scheint fast unausbleiblich, dass sich die
Erklärungsidee anschliessen muss, die betreffende
physische Erscheinung (Vorstellung) entstamme
nicht dem eigenen Bewusstseinsorgane, sondern
sei von Aussen in dasselbe hi n ei 11 ge worfen
worden. Von den begleitenden Umständen
wird es abhängen, ob die nach aussen projicirten
psvchischen Erscheinungen sich als autochthone Ideen
qualificiren oder als Hallucinationen oder als autoch-
tone Impulse zu Bewegungen oder Hand¬
lungen“.
Der Negativismus stellt sich also wenigstens für
den in Rede stehenden Fall als eine Erscheinung
der Bewusstseinsspaltung dar. Wir müssen uns vor¬
stellen, dass die ganze Bewusstseinsthätigkeit in meh¬
rere functioneile Reihen zerfallen ist, die sich in ihrer
Wirkung auf die biologischen Aeusserungen des Indi¬
viduums ablösen. Die intermittirende Substituirung
der „Willensverfassung“ der eigentlichen Icheontinui-
tät durch die den Nebenreihen angehörigen Complexe
*) Loc. cit. 3.
**) Ich beziehe mich nicht auf Fälle von Verwirrtheit.
erzeugt biologische Aeusserungen, welche als der
Hauptpersönlichkeit fremd und dabei doch als confortn
mit dem jeweiligen gleichfalls veränderten Willenszu¬
stand erscheinen, welche zugleich als gewollt
und als von Aussen eingegeben empfunden
werden. Die negativistischen Impulse gehören der
Neben reihe an und können daher (im Gegensatz
zu den Aeusserungen der Affectlage der Ablehnung!)
nicht aus den in der Ichkontinuität enthaltenen psy¬
chischen Momenten direct abgeleitet werden, können
nicht als Ausdruck der Hauptpersönlichkeit analysirt
werden. Diese Unabhängigkeit der negativistischen
— wie aller entsprechenden katatonen — Aeusserungen
vom psychischen Zustand der Ichcontinuität musste
dazu führen, die entsprechenden positiven oder nega¬
tiven Bewegungen als unabhängig von psychischen
Prämissen überhaupt, als „psychomotorisch“ aufzu¬
fassen. Ich hebe hervor, dass die intrapsychischen Vor¬
bedingungen der „psvchomotorischen“ Phänomene
zwar vorhanden sind, aber ausserhalb der Kontinuität
des Ichbewusstseins gesucht werden müssen.
Die neg a t i v i s tisch e Reaktion stellt sich
demnach als ein biologischer Ausdruck
der psyc h ophysischen Neben reihe dar, u n d
z w a r als j c n e T e i 1 w i r k u n g d e r s e 1 b e n, d u 1 c h
welche die Sperrung oder Invertierung der
normalen Tendenzen und Impulse der
Hauptreihe he rvorg ebrächt wird. —
Wir sind damit darauf zurückgekommen, die
negativistische Reaktion als das Produkt einer Be¬
wusstseinsspaltung zu determinieren. Nunmehr ergiebt
sich die Frage, welcher von den möglichen Mecha¬
nismen der Bewusstseinsspaltung gerade hier voraus¬
zusetzen ist. Dazu bedarf es einer vergleichenden
Nebeneinanderstellung der sehr verschiedenen patho¬
logischen Vorgänge, durch welche die verschiedenen
Arten von Bewusstseinsspaltung hervorgeiufen werden,
und eines Versuches, dieselben auch graduell zu
ordnen. —
Bei der von Breuer und Freud entworfenen
Modalität der Bewusstseinsspaltung handelt es sich
um eine systematisirtefunktionelleTrennung*
von Bewusstseins complexe n. Das Zusammenhalten
des einzelnen Complexes in sich entspricht dein
funktionellen Erwerb; die Tennung der Complexe
voneinander entspricht einer systematischen
Sperrung der verbindenden Associationen und ist
als solche gleichfalls gefestigter functioneller Er¬
werb; das Ausschlaggebende ist die erworbene,
reaktive Unterdrückung der Connexe („Ab¬
wehr“). Eine Unterart dieser systematisirten Bewusst-
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
35i
1904.]
seinsspaltung ist die von Freud analvsirte Trennung
zwischen einem Vorstellungscomplex und seinem
zugehörigen Affect.*) Auch hier handelt es sich um
Sperrung eines Connexes durch einen erworbenen
systematisirten Psycho-Mechanismus, durch dessen
Function bestimmte Verbindungen reactiv gesperrt,
die „Erregungswellen“ in bestimmte falsche Wege
übergeleitet und das Zustandekommen der Bewusst¬
seinseinheit verhindert wird.
Die von Breuer und Freud entworfenen
Spaltungsmechanismen werden von den Autoren
als Mechanismen der Neurosen, speciell der Hysterie
geführt. Im Sinn dieser Autoren könnten wir vielleicht
für diese Modalitäten den Ausdruck gebrauchen „hyste¬
rischer Spaltungsmechanismus“.
Der von mir als Bewusstseinsz er fal 1 postulirte
pathologische Vorgang soll eine wesentlich andere Form
der Bewusstseinsspaltung bedeuten, .die unabhängig
vom functionellen Erwerb auf einer unmittelbaren
Schädigung der Bewusstseinsthätigkeit als solchen
beruht. Das Fehlen einer dem Bewusstseinsinhalt
angepassten Systematisirung unterscheidet den Bewusst-
seinszerfall als eine gröbere Schädigung allgemeiner
hirnphysiologischer Leistungen vonFreud’s hysterischem
Spaltungsmechanismus.
Bewusstseinszerfall in meinem Sinn ist der di recte
Endeffect des einfachen Nachlassens jener cerebralen
Höchstfunction, durch welche die Zusammenfassung
der synchronen psychophysischen Erregungen zur
Synergetik des einheitlichen Bewusstseins geleistet wird.
Ich möchte an dieser Stelle einen Versuch machen,
die verwirrende Mannigfaltigkeit mehr oder minder
ähnlicher Spaltungs-, Zerfalls- und Zerlegungsproresse
etwas übersichtlicher zu gestalten. Ich habe deshalb
ein Schema zusammengestellt, welches neben den
e i ge n 1 1 i c h e n S p a 1 1 u n gsVorgängen überhaupt alle
vorläufig construirbaren Formen umfassen soll, welche
ich gemeinsam unter dem Oberbegriff „Sejunction“
subsummiren zu dürfen glaube.
1. Zerfall des Bewusstseins- I Sejunctionsmechanismus nach
inhaltes: I Wemicke.
2. Systematisierte Zer-
theilung des Bewusssteins-
inhaltes:
I Spaltungsmodus der Neurosen
I nach Breuer und Freud.
3. Zerfall der Bewusstseins-! Bewusstseinszerfall nach
thätigkeit: I Gross.
i
*) Durch die Systematisirung und psychische „Lo-
kalisirung 41 auch scharf unterschieden vom Vorgang der
„Dissociation zwischen Noo- und Tymopsyche 4 * nach Stransky!
4. Systematisirte Zer- 1
theilung der Bewusstseins- 1 entsteht aus 2.!
thätigkeit:
5. Zerfall der Gefühls- I Modus der Dementia praecox
beiordnung : | nach Stransky
6. Sy ste m at i s irt e (und
circum scripte) Zertheilung der ! Affectabspaltung nach Freud.
Gefühlsbeiordnung: J
Von den im Schema enthaltenen Sejunctions-
möglichkeiten bedeuten 3 und 4 den Zerfall oder die
Zerlegung der Bewusstseins thätigkeit in disparate
sy n c li r u n e Vorstellungsgruppen. Der Bewusstseins¬
zerfall und der Modus der Neurosen nach Freud
stehen dementsprechend als Spaltungen des Be¬
wusstseins den anderen Scjunctionsprocessen gegen¬
über. Der fundamentale Unterschied jener beiden
eigentlichen Spaltungsvorgänge voneinander ist
gleichfalls durch das Schema unterstrichen worden.
Dennoch soll eine Möglichkeit angedeutet werden,
die beiden Modalitäten der Bewusstseinsspaltung auch
graduell zu ordnen. —
Soweit es sich nicht um rein psychotraumatische
Aetiologie handelt, muss eine angeborene oder er¬
worbene, acute oder chronische Disposition zu
Bewusstseinsspaltungen allen entsprechenden
Vorgängen zu Grunde liegen. Ich habe dafür die
Worte eingesetzt: „ein Nachlassen jener cerebralen
Höchstfunction, auf deren ungestörter Thätigkeit die
Zusammenfassung aller synchronen nervösen Vorgänge
zum einheitlichen Bewusstsein beruht.“
Stellen wir uns nun vor: ein weitgehendes
Nachlassen dieser „Vereinheitlichungsfunction“ führt
direkt zum Be wuss tse in szerfall als zu seinem
unmittelbaren einfachen Resultat. Es ist zu be¬
denken, dass die „sejunktive Disposition“ eine vor¬
geschrittene sein muss, um unmittelbar und ohne
unterstützende Momente zu diesem schweren Effect
zu führen: geringere Intensität müsste demnach, wenn
keine konkurrirende Faktoren hinzutreten, bis auf
weiteres latent bleiben. Solche konkurrirende Faktoren
aber hat Freud in grosser Fülle aufgedeckt: eine Serie
von inneren Konflikten, von Unlustaffecten, von
„Hypnoiden“ arbeitet der Vereinheitlichungsfunction
entgegen und schaffen auf dem Weg der Abwehr oder
Verdrängung oder der altemirenden Bewusstseins¬
zustände unterbewusstes Material. In Konkurrenz
mit diesen, der Einheitlichkeit des Bewusstseins stetig
entgegenarbeitenden Faktoren kann aber auch eine
geringe — beginnende —- Disposition, die zur Erzeugung
eines directen und einfachen Effectes — Be¬
wusstseinszerfall — noch lange nicht hinreicht, die
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352
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 37-
Entstehung einer systematisirten Bewusstseins-
spaltung begünstigen; den auf Bewusstseinsspaltung
hin wirkenden Reminiscenzen, Affekten, Hypnoiden
wird freie Bahn geschaffen, und es kommt zwar nicht
zum Bewusstseins-Z e r f a 11 , wohl aber zu s y s t e m a t i-
sirter Bewusstseinszertheilung. Demnach ist eben
beim Bewusstseinszerfa 11 der endogenen sejunc-
tiven Disposition, bei der systematisirten Bewusst¬
seinszerlegung den exogenen Factoren die Haupt¬
rolle zugetheilt. Auf Grund dieses quantitativen
Unterschiedes, der beiden Spaltungsformenzu Grunde
liegenden sejunctiven Disposition wäre es möglich,
ohne das Vorhandensein der essentiellen Unterschiede
zu bestreiten, die Erscheinungsformen der Bewusst¬
seinsspaltung auch graduell zu ordnen und die Mög¬
lichkeit von Uebergangsbildern zwischen den ver¬
schiedenen Modalitäten der Bewusstseinsspaltung zu
postuliren.
Versuchen wir nun, in unserm Falle die Mo¬
dalitäten der Bewusstseinsspaltung näher zu ana-
lysiren, so fällt uns die grosse Einheitlichkeit in
den auf die Hauptpersönlichkeit ausgeübten Wirkungen
auf. Die substituirten Impulse haben alle die gleiche
Tendenz und stehen in einem wahrnehmbaren Ab-
hängigkeitsverhältniss von den Impulsen der Haupt¬
persönlichkeit. Dies geht hervor aus der mehrfach
betonten Thatsache, dass alle diese Substitutionen
auf die Invertirung und Contrastwirkung gegenüber
den normalen Impulsen hinauslaufen. Dies lässt an
Wirkung und Rück w i r k u ng zwischen den an¬
genommenen psychophysischen Parallelreihen denken.
Diese letzte Erwägung nun enthält eine Veran¬
lassung, den Symptomencomplex des hier be¬
schriebenen Krankheitsfalles als ein Uebergangsbild
zwischen Bewusstseinszerfa 1 1 und svstematisirte
Bewusstseinsspaltung einzuschieben. Die Substitutions¬
vorgänge, durch welche Willensrichtungen, Impulse,
aber auch Halluzinationen in die Ichkontinuität ein¬
geschoben werden, entsprechen dem Vorhandensein
psychophysischer Parallelreihen, und wir kennen ge¬
rade diese Erscheinungen als Symptome von Be¬
wusstseinszerfall; doch ist ersichtlich, dass diese
Parallelreihen auch wieder in einem gewissen Zu¬
sammenhang in sich und mit der Hauptreihe stehen.
Wir haben gesehen, dass den ausserbewussten Impulsen
und zwar in erster Linie den negativistischen eine
bestimmte Tendenz zugehört, die zu den normalen
Impulsen des Ichkontinuität in der Abhängigkeits¬
relation des Gegensatzes steht. Es zeigt sich hier
also ein systematisirtes Abhängigkeits- und Gegen-
seitigkeitsverhältniss zwischen dem Hauptbewusstsein
und den Parallelreihen. Es werden jeweils und nach
Umständen bestimmte Gruppen von verbin¬
denden Assoziationen ermöglicht, die anderen ge¬
sperrt; wir sehen also auch einen Zerteilungs¬
mechanismus mit bestimmten reguliren-,
den und hemmenden Funktionen hinter dem
Moment der Bewusstseinsspaltung.
Diese Erwägung lehrt uns vielleicht die engen
Beziehungen zwischen acut - katatonischen und
hysterischen Zustandsbildem verstehen, die uns
unter den Erfahrungen der Klinik häufig auffallen. Die
differenzialdiagnostischen Schwierigkeiten in dieser
Richtung sind hinlänglich bekannt; es ist ferner be¬
sonders von N i s s 1 darauf hingewiesen worden, dass
„hysterische“ Symptome bei einer sehr grossen Zahl
von Krankheiten und zwar meist im Beginn derselben
vertreten sind, dass hier gerade die hebephrenen und
katatonen Zustandsbilder den Hauptanteil haben,
und dass zahlreiche Fälle der Dementia präcox-
Gruppe in ihrem Beginn als „hysterische“ Psychosen
passieren. Wenn wii nun annehmen, dass ein und dieselbe
Disposition bei geringer Intensität das Auftreten einer
systematisirten Bewusstseinszertheilung nach dem Modus
der Hysterie begünstigen, bei grösserer Intensität direkt zu
einem regellosen Zerfall der Bewusstseinseinheit führen
könnte, dann ist es nicht überraschend, wenn zahlreiche
Psychosen mit Symptomen beginnen, die auf „hyste¬
rische“ Bewusstseinsspaltung (im Sinne Freuds)
zurückzu führen sind und später in Stadien übergehen,
die durch Bewusstseinszerfall (in meinem Sinn)
als der Dementia sejunctiva zugehörig charakterisirt
sind.
Noch eine weitere klinische Erfahrung rückt nun
vielleicht dem Verständniss etwas näher. Je enger
die systematisirten Beziehungen zwischen den
psychophysischen Parallel reihen und dem Hauptbe-
wusstsein sind, je mehr hier ein Abhängigkeitsverhältniss,
z. B. des Gegensatzes die Erscheinungen beherrscht,
je weniger sich die psychophysische Reihe der Ich¬
kontinuität von den Parallelreihen emanzipirt hat,
desto mehr kann das Phänomen universeller Aliena-
tion, das Bild diffuser allgemeiner Störung zur
Geltung kommen. Wenn dann das sejunctive
Moment weiter vorschreitet, so kann die Ichkontinuität
unabhängiger von den Parallelreihen und damit evtl,
geordneter werden, so dass äusserlich der Eindruck
der Komponirtheit geboten wird. Das Bild der
schweren universellen Störung bei allgemeinem
Negativismus entspricht also einem Zustand, bei
welchem die Bewusstseinsreihen noch in einem durch¬
greifenden Abhängigkeitsverhältniss von
einander stehen und dem entsprechend der Sejunk-
ti< uisprözess noch nicht den höchsten Grad erreicht
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I 9°4*J
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
353
hat. Dies deckt sich mit der, auch für die hier ein¬
schlägigen Fälle geltenden Erfahrung von der
besseren Prognose bei universeller Perturbation.
Wir wissen: je gleichmässiger sich das pathologi¬
sche Moment über das ganze psychische Geschehen
ausbreitet, und je einheitlicher es dasselbe verschiebt,
desto schwerer und stürmischer sind meist die acuten
Erscheinungen, desto besser ist meist die Prognose.
Dies kann nun eintreffen, solange die psychischen
Vorgänge noch in einem gewissen systematisirten Zu¬
sammenhänge stehen, noch immer einen, wenn auch
gespaltenen Connex darstellen. Wenn die „cerebrale
Höchstfunktion“, von der die Coordination gewähr¬
leistet wird, noch weiter nachlässt, wenn es zum com-
pletten Bewusstseinszerfall kommt, so verlieren die
psychophysischen Parallelreihen ihren Zusammenhang
immer mehr, die einheitliche Wirkung des pathologi¬
schen Momentes tritt zurück, die Aufrechthaltung
einer als componirt erscheinenden Ichcontinuität wird
möglich, die Prognose aber verschlechtert sich ent¬
sprechend der höheren Intensität des sejunktiven
Momentes.
Der hier beschriebene Fall bietet gewiss keine ab¬
solut ungünstige Prognose und dementsprechend sehen
wir trotz der erhaltenen Orientirtheit und der Fähig¬
keit zu sinngemässen Ueberlegungen eine universelle
Ausbreitung der pathologischen Verschiebung über fast
alle Reaktionen der Persönlichkeit, so dass der Fall
bei flüchtiger Beobachtung als Amentia imponiren
konnte. Es entspricht dies seiner Stellung als Ueber-
gangsform, in der wir noch die Phänomene der
systematisirten Bewusstseinsspaltung und des
Bewusstseinszerfalls neben- und durcheinander
finden.
Wir müssen uns im Uebrigen eingestehen, dass
es derzeit unmöglich ist, in exakter Weise zu be¬
stimmen, welchen Antheil die systematisirten
Bewusstseinsspaltungen, welchen Antheil der Be¬
wusstseinszerfall an den einzelnen Erscheinungen
negativistisch-katatoner Krankheitsbilder gleich den
unseren hat, in welcher Weise die interferirenden
Spaltungsmodalitäten ineinandergreifen und welche
Mechanismen die Mischsymptome beider regieren.
Zur Behandlung solcher Fragen bedürfte es um¬
fassendster analytischer Untersuchungen, und diese
wieder scheinen, besonders in Erwägung der Schwie¬
rigkeiten im Verkehr mit den hier interessirenden
Kranken, eine vollendetere psychologische Unter¬
suchungstechnik vorauszusetzen, als uns schon heute
zu Gebote steht. Was wir an dieser Stelle festhalten
wollen, ist das für unsere differentialdiagnostische
Untersuchung in Betracht kommende Resultat, dass
wir bei katatonen Zustandsbildern eine Spaltung des
Bewusstseins in psychologische Paralleireihen
voraussetzen, die unter einander in einem engeren oder
lockereren, mehr oder minder systematisirten, auf
jeden Fall aber ausserbewussten, d. h. der
E viden zhaltung durch die continuirliche
Hauptbewusstseinsreihe entrückten Zu¬
sammenhänge stehen. Wo im einzelnen Fall das In¬
einandergreifen getrennter psychophysischer Erregungs¬
reihen zum einheitlichen Bewusstsein nicht durch einen
einfachen Defectzustand unterbleibt, sondern
durch einen systematisirten Mechanismus gesperrt
wird, da liegt dieser zertheilende Mechanismus ebenso
ausserhalb des Bewusstseins als die ursächliche
hirnphysiologische Veränderung, die wir .als Agens für
den Bewusstseins zerfall vorauszusetzen genöthigt
sind. Die Nebenreihen, aus denen heraus die negati-
vistischen Reactionsweisen in das Hauptbewusstsein
sich einschieben, stehen ausserhalb der continuirlichen
Evidenzhaltung durch die Ichcontinuität, die wir Be¬
wusstsein nennen; die negativistischen Vorgänge stehen
in keiner introspectiv wahrnehmbaren — rein psycho¬
logisch gesprochen: in keiner! — Beziehung zu den
psychischen Vorgängen der bewussten Persönlichkeit.
Dies nun unterscheidet den eigentlichen Nega¬
tivismus essentiell von der Affectlage der Ab¬
lehnung. Auch diese kann allerdings bei Spaltungs-
oder Zerfallsvorgängen des Bewusstseins auftreten;
sie ist aher immer und auch dann der Ausdruck
der in der Ichkontinuität, in der bewussten Persön¬
lichkeit sich abspielenden Vorgänge. So können
Halluzinationen, autochthone Ideen und Impulse als
Folgen eines Bewusstseinszerfalles auftreten und dabei
— indem sie rathlos machen! — Bedingungen her¬
beiführen, auf Grund welcher es in der bewussten
Persönlichkeit zur Affektlage der Ablehnung
kommt. Dann kann sich Negativismus und Affect¬
lage der Ablehnung zu einem Bilde des sogen.
Totalen oder Psychischen Negativismus kombiniren.*)
Hier soll als Gegenstück zum „psychomotorischen“
Negativismus ein Fall Platz finden, welcher sich den
loc. eit. i veröffentlichten Krankengeschichten an-
schliesst, bei welchem aber die einschlägigen Momente
viel klarer und eindeutiger zu Tage treten und der
in Folge dessen zur Veranschaulichung der hier
interessierenden differenzialdiagnostischen Kriterien
besonders geeignet erscheint. (Fortsetzung folgt.)
*) Loc. cit. 2 beschrieben.
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354
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 37-
Mitthei lungen.
— X. Versammlung mitteldeutscher Psy¬
chiater und Neurologen in Halle a. S. am 22.
und 23. October 1904. I. Sitzung. Vorsitzender:
Herr Ganser. (Fortsetzung.)
6. Herr Bol dt (Jena): Ueber Merkdefecte.
Nach einer kurzen Critik der Prüfungsmethoden
von Ranschburg, Bernstein und Diehl schildert Vortr.
das von ihm eingeschlagene Verfahren, welches sich
im Wesentlichen mit der älteren Ranschburg’schen
Methode deckt (Zeitschrift f. Psych. u. Neurol. IX).
Geprüft wurde in 7 Gruppen die Merkfähigkeit für
sinnvolle und sinnlose Worte, Zahlen mit und ohne
Verbindung bestimmter Begriffe, Personen und Namen,
Farben und Orientirung im Raume. Die Versuche
wurden an 50 Personen vorgenommen, und zwar an
13 normalen gebildeten und ungebildeten Individuen
und 37 Kranken, darunter 12 Paralytiker, 4 Tabopara-
lytiker, 4 Fälle von Lues cerebri, 5 von epileptischer
Demenz, 1 postdiabetische Demenz, 2 alkoholischer
Demenz, 1 Korsakoff’sche Psychose, 2 Hysterien,
1 Imbecillität, 1 Dementia paranoides. Das Prüfungs¬
material war für Gesunde und Kranke das gleiche,
der Unterschied betraf nur die Methode. Von den
Resultaten sei erwähnt, dass sich als allgemeingültig
feststellen Hess, dass beim normalen Individuum die
Leistungsfähigkeit steigt, indem erst bei der 3. Repro-
duction nach 24 Stunden der Höhepunkt erreicht
wird, während es sich bei Kranken umgekehrt verhält.
Vielfach übt der Lebensberuf einen gewissen conser-
virenden Einfluss auf das Specialgedächtniss aus, dies
lässt sich aber nicht als allgemein gültiger Satz hinstellen.
— Im weiteren werden eine Anzahl Ergebnisse mit-
getheilt, die sich auf das Verhalten der Merkfähigkeit
bei sonst gut erhaltenem geistigem Besitzstand be¬
ziehen: Versuche bei Lues cerebri und Intoxications-
psvchosen. Bei allen derartigen Fällen wird der
schwere Merkdefect hervorgehoben. Im Gegensatz
dazu stehen einige Fälle, in denen bei zum Theil
erheblichem intellectuellem Defect eine ausgezeichnete
Merkfähigkeit bestehen geblieben war; gleichzeitig
wurde an diesen Patienten, durchweg Kindern von
12—14 Jahren, die schon früher gemachte Erfahrung
bestätigt, dass in diesem Alter die rein elementare
Merkfähigkeit am leistungsfähigsten ist. Vortr. kommt
zu dem Schluss, dass am ersten und stärksten das
Zahlengcdächtniss leidet, dann die Merkfähigkeit für
sinnlose Worte und für Namen, und dass diese umso
schwerer behalten werden, je weniger Vorstellungen
associativ damit verknüpft werden können. (Die Ver¬
suche sollen im Rahmen einer Studie veröffentlicht
werden.) (Autoreferat.)
Discussion:
Herr Wern icke hat schon früher wiederholt die
oft überraschend gute Merkfähigkeit der Epileptiker
betont.
II. Sitzung.
Vorsitzender: Herr M oe 1 i - Herzberge.
1. Herr Liepmann (Pankow): Demonstration
der Gehirnschnitte eines Apraktischen und eines
Agnos tischen.
Die wesentlichen klinischen Symptome des ersten
Falles waren die folgenden: 49jähriger Mann, der
vor Jahren Syphilis gehabt hatte. 1899 Apoplexie,
die einen anscheinend tiefgehenden Blödsinn hinter-
liess. Patient kannte anscheinend den Gebrauch der
einfachsten Gegenstände nicht mehr. Genauere Unter¬
suchung zeigte aber, dass dieser „Blödsinn“ ein halb¬
seitiger und zwar rechtsseitiger war. Bei Gebrauch
der linken Körperhälfte entwickelte Patient eine
relativ reiche Intelligenz. Er verstand alle Aufforde¬
rungen, w’enn er sie links ausführen durfte, war nicht
leseblind, nicht agraphisch, sondern konnte links, w r enn
auch mühsam, in Spiegelschrift schreiben. Der Aus¬
fall beruhte nicht auf mangelhaftem Erkennen und
Verstehen, sondern auf einer Intentionslähmung der
rechten Körperhälfte; nur mit der rechten Hand wurden
die Gegenstände verkehrt benutzt, mit der linken
richtig. Er w'ar nicht agnostisch, sondern apraktisch
im engeren Sinne. Zu fordern war zur Erklärung
des eigenartigen Zustandsbildes eine Isolirung der
Centren des rechten Armes und Beines resp. der
ganzen rechten sensomotorischen Zone vom übrigen
Gehirn. Das Fehlen von Worttaubheit, Seelenblind¬
heit und Lähmung deutete auf einen Herd im Parietal-
theil hin. — Im weiteren Verlaufe trat einmal eine
vorübergehende rechtsseitige Hemiparese auf, einmal
eine linksseitige Hemiplegie. Nach 1 Jahr fing der
vorher stumme Patient wieder an zu sprechen, mit
erhaltenem inneren Wortbild, aber mangelhafter Wort¬
bildung; trotz der Complicationen blieb das erste
interessante Symptomenbild unverändert. — Die Haupt¬
punkte des Sectionsbefundes waren:
1. ein subcorticaler Herd in der III. linken Stirn-
windung,
2. eine subcorticale Cyste im gyrus supramarginalis
(vorderen unteren Scheitelläppchen),
3. ein fast vollständiger, nur das hinterste Ende
verschonender Schwund des Balkens durch Verstopfung
der Arteriae corporis callosi infolge Endarteriitis
syphilitica,
4. Cystöse Durchsetzung beider Cingula,
5. ein Herd im rechten Gyrus angularis,
6. eine Degeneration in der linken Insel (sogen,
capsula extrema).
Der 2. Fall betraf einen Seelenblinden (Agnos-
tischen) mit rechtsseitiger Hemianopsie; derselbe bot
klinisch äusserlich ein ähnliches Bild wie der Aprak¬
tisch e, indem er von den ihm gereichten Gegenständen
einen verkehrten Gebrauch machte. Die Analyse
ergab aber, dass er die Gegenstände nicht erkannte,
im Gegensatz zum ersten Falle, und dass seine
motorischen Functionen intact w r aren. Die Unter¬
suchung des Gehirns ergab deshalb auch in gewissem
Sinne das negative Gegenbild zu dem ersteren: eine
Zerstörung der Rinde der fissura calcarina und ihrer
Umgebung, bei Erhaltung der subcorticalen Ver¬
bindungsbahnen.
Der erste Fall bringt also den Beweis für eine
Störung des Handelns, die weder Lähmung noch
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Original frnm
HARVARD UNiVERSITY
1904 .]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
355
Ataxie ist, und doch durch eine organische Herd¬
erkrankung bedingt. Der Vergleich mit anderen
Fällen weitgehender Balken Zerstörung, die nur sehr
wenige klinische Erscheinungen dargeboten hatten,
beweist, dass ein Functionsausfall dabei erst dann
deutlich wird, wenn eine der Hemisphären nicht mehr
intact ist Die sonst nur bei Hysterie beobachtete
psychische Spaltung, dass das eine Sensomotorium
über die Lage und Bewegungen der gegenseitigen
Extremitäten nicht mehr Bescheid weiss, kommt also
auch als Herderscheinung vor.
Discussion:
Hen Flechsig hält die Deutung des klinischen
Befundes infolge der Mehrzahl von Erkrankungsherden
für erschwert; der Herd in der III. linken Stirnwindung
dürfte an dem Zustandekommen des Symptomen-
bildes wesentlich mit betheiligt sein.
Herr Ziehen fragt, wohin die Balkenfasem ge¬
langen, die im Splenium noch erhalten geblieben sind;
ferner, ob der Patient im Stande war, auf Gegen¬
stände in der linken Gesichtsfeldhälfte mit den rechts¬
seitigen Extremitäten zu reagiren ?
Herr Liepmann: Die anatomische Verfolgung
der erhaltenen Balkenfasern steht noch aus. Patient
konnte mit der rechten Hand nach jedem Punkte
des Gesichtsfeldes greifen. Herrn Flechsig gegen¬
über erwähnt Vortr. einen Fall von doppelseitigem
Scheitellappenherd und erhaltenem Balken, der intra
vitam ebenfalls das Bild der Apraxie darbot.
8. Herr A 1 1 (Uchtspringe): Sauerstoffbehandlung
bei Kranksinnigen und Nervenkranken.
Die Sauerstoffbehändlung hat sehr verschiedene
Beurtheilung erfahren, ebenso grosse Hoffnungen er¬
weckt wie Widerspruch hervorgÄrufen. Die meist
gebrauchte Anwendung ist die Inhalation; intravenöse
Einführung ist nicht ganz unbedenklich. Die Frage,
ob eine O-Anreicherung des Organismus durch Inha¬
lation erfolgen könne, kann nach den Untersuchungen
besonders von Zuntz in bejahendem Sinne beant¬
wortet werden. Weniger die Erythrocyten als vielmehr
das Blutserum kann O in erhöhtem Maasse aufnehmen;
die therapeutische Wirksamkeit bei Vergiftungen,
besonders mit Kohlenoxydgas, Anilin u. a. ist ausser
Zweifel. Neuerdings wird Sauerstoff auch von den
Chirurgen in Form der Sauerstoff-Chloroformnarkose
gerühmt. — In der Neurologie ist er noch wenig
beachtet worden. In der Anstalt Uchtspringe ist
Sauerstoff seit mehreren Jahren in Anwendung, und
zwar:
1. bei Vergiftungen: bei einer in selbstmörderischer
Absicht ausgeführten Chloralhydratvergiftung wirkten
Inhalationen nach längeren vergeblichen Versuchen
mit anderen Mitteln lebensrettend, ebenso in 2 Fällen
von schwerer Nicotin Vergiftung, hervorgerufen durch
Verzehren von Cigarrenresten.
2. bei Erschöpfungscollaps: künstliche Athmung
verbunden mit Sauerstoffinhalationen wirkte lebens¬
rettend; bei einer schweren Erschöpfungspsychose
halfen sie über das bedrohlichste Stadium hinweg.
3. bei Epilepsie: in einem Falle, wo durch Zu-
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sammenschnüren des Halstuchs im Anfalle Erstickungs¬
gefahr drohte, wurde O mit Erfolg angewandt; ferner
zur Bekämpfung von Herz- und Athemschwäche und
bedrohlicher Cyanose nach gehäuften Anfällen. Zur
Coupirung des schweren Status epilepticus hat man die
reine Chloroformnarkose wegen der Gefahr für das
Herz oft gefürchtet; die gemischte Sauerstoffchloroform¬
narkose, an die sich Inhalationen von reinem Sauerstoff
anschliessen, wirkt zuverlässig coupirend und gefahrlos
und ermöglicht es, dem Kranken dann per rectum
Chloralhydrat oder andere Schlafmittel beizubringen.
4. bei Hemmungspsychosen, bei denen die all¬
gemeine Herabsetzung aller vitalen Functionen manch¬
mal einen bedrohlichen Grad annehmen kann.
5. bei manchen Angstzuständen wirkten die Inha¬
lationen so erleichternd, dass oft die Patienten selbst
den Ballon verlangten, um über den Anfall schneller
hinwegzukommen.
Im Ganzen steht dem Sauerstoff in einem Anstalts¬
betriebe eine vielseitige und unter Umständen aus¬
schlaggebende Verwendung offen und Vortr. kann
nur warm seine Anwendung empfehlen.
Discuss ion:
Herr Ganser hat seit längerer Zeit auch den
Sauerstoff in der Behandlung Geisteskranker angewandt,
allerdings nicht in Form der Einathmung aus Ballons,
sondern als Liegebehandlung im Freien, und kann
auch diese letztere Form nur empfehlen.
Herr Dums hat im Militärhospital und auf
Rettungswachen Sauerstoffinhalationen mit gutem Erfolg
angewandt. Auffallend war besonders, wie schnell
Leute, die schwer betrunken eingeliefert wurden, dabei
das Bewusstsein wieder erlangten. Auch der „Kater“
nach der Chloroformnarkose wurde dadurch erheblich
verringert. (Schluss folgt.)
Referate.
— Dr. Bruno Drastig, Leitfaden des Ver¬
fahrens bei Geisteskrankheiten und zweifelhaften
Geisteszuständen für Militärärzte. I. Allgemeiner
Teil. Wien IQ04. Josef Safar.
Die vorliegende Arbeit umfasst in eingehender
Darstellung das Gebiet der irrenärztlichen Thätigkeit
im österreichischen Heere. Gestützt auf eine reiche,
praktische Erfahrung und genaue Kenntniss der ein¬
schlägigen Verordnungen und gesetzlichen Bestimm¬
ungen hat es Verf. verstanden, einen zuverlässigen
Rathgeber in allen den Militärarzt interessirenden,
psychiatrischen Fragen zu schaffen. In den einzelnen
Kapiteln wird der Gang der nothwendigen Massnahmen
in der zeitlichen Reihenfolge von der Einbringung
des Kranken an dargestellt. Aus der Art der Be¬
rücksichtigung kleiner Einzelheiten und Eventualitäten
mit zweckentsprechenden Winken ist zu ersehen,
dass Verf. aus der Praxis für die Praxis seine Erfah¬
rungen gesammelt hat. Der Transport in die Sanitäts¬
anstalten, die Spitalaufnahme, der Ueberwachungs-
dienst für in Beobachtung befindliche Militärpersonen
wird auf das genaueste beschrieben. Für die schriftlichen
Original fram
HARVARD UNIVERSUM
356
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
LNr. 37-
Erhebungen und Berichte, die Beobachtungs-Journale
und Gutachten sind geeignete Fragebogen und Muster¬
beispiele eingefügt. Das Verfahren bei Konstatirung
zurückgebliebener, geistiger Entwickelung, bei Antrag¬
stellung behufs Beurlaubung oder Entlassung der
Geisteskranken wird erörtert.
Für gerichtlich-medizinische Fälle, den Zweck der
Beobachtungs-Journale, der Gutachten und der weiteren
Maassnahmen sind specielle Anweisungen aufgestellt.
Zum Schlüsse wird die Zuweisung der geisteskranken
Militärpersonen in die Irren-Heilanstalten, das Kuratel¬
verfahren, die Standesbehandlung mit den zugehörigen
Vorschriften, das finanzielle Verhältniss des Kranken
zu seinen Angehörigen und die Wiedererlangung der
Diensttauglichkeit bei Genesung behandelt. In dem
Werke sind zw>ar nur die Verhältnisse im öster¬
reichischen Heere berücksichtigt, doch dürfte auch
der deutsche Militärarzt und Psychiater darin manche
werthvolle Anregung finden.
Dr. Fritz Hoppe, Tapiau.
Bibliographie
über Kriminal-Anthropologie und Verwandtes.
II. Quartal 1904.
Von Medicinalrath Dr. P. Näcke in Hubertusburg
(Fortsetzung.)
Bernaldo de Q ui ros: Alrededor del delito y de
la pena. Madrid, 1904, Rodriguez Serra, 181 S.
Loh sing: Zur Frage des ärtztlichen Berufsgeheim¬
nisses. Archiv für Criminalanthrop. etc. 15. Bd.
2/3 H.
P ass o w: Die Nothw f endigkeit criminalogischer Einzel¬
beobachtungen. Ibidem.
Pollak: Wiener Gaunersprache. Ibidem.
Näcke: Ein Besuch bei den Homosexuellen in
Berlin. Nebst Bemerkungen über Homosexualität.
Ibidem.
Loh sing: Ein Vorschlag zur Verminderung der Be¬
schäftigungslosigkeit in den Österreich. Gerichts¬
gefängnissen. Ibidem.
Kirsch: Die Lipomatosis als Degenerationszeichen.
Berliner klin. Wochenschr. IQ04, Nr. 21.
Katzenstein: Ueber eine seltene Form der Epi-
spadie, die Eichelepispadie und ihre Entstehung.
Deutsche medic. Wochenschr. 1904, Nr. 21.
Blum: Zur Casuistik der Missbildungen der weib¬
lichen Genitalien. Ibidem.
Russell: Der angeborene Ursprung der Brüche.
Lancet, März 1904.
Gottschalk: Materialien zur Lehre von der ver¬
minderten Zurechnungsfähigkeit. Berlin 1904,
Guttentag. 123 S.
Seiffer: Fall von doppelseitiger Halsrippe. Ref.
Neurolog. Zentralbl. 1904, Nr. 11.
Hudovenig: Fall von Gigantismus. Ref. ibid.
Hudovenig: Fall von Akromegalie. Ibidem.
Giuffrida-Ruggeri: II profilo della pianta del
piede nei degeniati e nelle razze infererori. Archivio
di psich. 1904, fas. II.
Bellini: Delinquente nato. Ibidem.
Capelli: Par la distribuzione regionale della genia-
litä in Italia. Ibidem.
Mariani: Frenastenia congenita. Ibidem.
Negro: La sindrome oculare di Claude Bemard-
Horner, quäle stimmata somatica degenerativa
non rara, specialmente in epilettici. Ibidem.
Neugebauer: Sei nuovi casi die ermafroditismo,
Ibidem.
Gualino: II reflesso sessuale dell’ eccitamento alle
labbra. Ibidem.
Mirabella: Sulla necessitä della relegazione per-
petua dei delinquenti epilletici. Ibidem.
Pellegrini: Razzia e degenerazione fra soldati e
carabinieri reali. Ibidem.
Botti: La delinquenza femminile a Napoli. Napoli,
I 9 ° 4 -
Albanol: Le crime dans la famille. Paris, Rueff.
1904.
Santini: Divisione del parietale in criminale. An-
nali della Facoltä di Medicina di Perugia, 1903.
Brouardel: Malformation des Organes genitaux de
la femme. Annales d’ Hygiene publique etc.
Paris, 1904, mars.
Mingazzini e Serra: Infanticidio in stato di
dormio reglia. Giornale di Medicina legale, 1904,
marzo.
Aschaffenburg: Criminalpsychologie u. Strafrechts¬
reform. Monatsschrift für Criminalpsychologie u.
Strafrechtsreform. 1904, H. 1.
v. Liszt: Schutz fler Gesellschaft gegen gemeinge¬
fährliche Geisteskranke u. vermindert Zurechnungs¬
fähige. Ibidem.
Kohlrausch: Der Kampf der Criminalistenschulen
im Lichte des Falles Dippold. Ibidem.
v. Mayr: Die Nutzbarmachung der Crirainalstatistik.
Ibidem.
Ellen Kay: Ueber Liebe und Ehe. Essays. Berlin,
Fischer.
Schilder: Ueber die Bedeutung des Genies in der
Geschichte. Leipzig 1904. (Schluss folgt.)
Personalnachrichten.
— Innsbruck. Der a. o. Professor Dr. Karl
Mayer ist zum ordentlichen Professor der Psychiatrie
und Nervenpathologie in Innsbruck ernannt.
— Heidelberg. Als wissenschaftlicher Assistent
wurde an der hiesigen Irrenklinik (Director Prof. Dr.
Franz Nissl) aufgenommen Fräulein Dr. med. Olga
v. Leon o \v a.
— Kosten (Posen). Dem Director der Prov.-
Heil- u. Pflegeanstalt, Dr. Dluhosch, wurde der
Character als Sanitätsrath verliehen.
Für den redactionellcn Theil verantwortlich : Oberarzt Dr. J . B regier, Lublinitz (Schlesien).
Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inscratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Wall* a. S
Heyneinann’sche Buchdruckerei (Gebr. VVffl h# Halle a. S.
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Original fram
HARVARD UNIVERSITY
Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift.
Redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. B realer,
Lublinitz (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834.
Nr. 38^ 17. Dezember. 1904.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die ßspaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Rresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten.
Zur Differentialdiagnostik negativistischer Phänomene.
Von Dr. Otto Gross , Assistenten der neurol.-psychiatr. Klinik zu Graz.
(Fortsetzung und Schluss.)
Marie D., 49 J., Professorswittwe, autgen. 8. VIII.
04. Anamnese: Vor etwa 5 Jahren bei Dr. H. in
Behandlung, anscheinend wegen eines hallucinatorischen
Erregungs-Zustandes.
Dieser ging rasch vorüber, doch blieb ein Zug
von krankhaftem Misstrauen mit Neigung zu parano-
etischen Umdeutungen bestehen. In letzter Zeit soll
Pat. sehr vergesslich geworden sein, Dinge verlegt,
sich vernachlässigt haben.
Der jetzige Zustand ist ziemlich plötzlich mit angst¬
voll rathloser Erregtheit ausgebrochen.
Seit mehreren Jahren hat sich Pat-. „über alles
aufgeregt“, Allem „eine übertriebene Bedeutung bei¬
gelegt“, „sich alles mögliche eingebildet.“ Erzählte
allen Besuchen aufregende Geschichten über ihre An¬
gehörigen, bildete sieb z. B. plötzlich ein, ihre Tochter
könne wegen Lungenkrankheit nicht heirathen etc. Dann
wieder, ihre Kinder hätten ihr ganzes Geld verthan;
machte ihren Kindern durch Jahre hindurch Vorwürfe.
So gab es durch Jahre peinliche Scenen; die Töchter
mieden jeden Verkehr infolge der abenteuerlichen
Behauptungen, die Pat. allen Bekannten gegenüber
aufstelite.
Pat. soll bis vor etwa 10 Jahren ungemein heiter
und lebenslustig gewesen sein. Dann folgte die Er¬
krankung ihres Mannes, die ihr durch eine Unvor¬
sichtigkeit des Arztes sehr plötzlich und schonungslos
angekündigt wurde, worüber sich Pat. sehr heftig er¬
schreckte. Dann lange Krankenpflege und Tod des
1 Gatten. Seither stellte sich eine vollständige und
dauernde Characterveränderung ein.
Pat. verlor ihr heiteres Temperament, wurde de¬
pressiv, äusserte Selbstvorwürfe und Verarmungsideen,
wurde reizbar, misstrauisch, schwarzseherisch, nahm
alles übel, bildete sich Schlechtes von ihren Kindern
ein, glaubte sich von diesen geringgeschätzt, vernach¬
lässigt, um ihr Geld gebracht, machte ihnen abstruse
Vorwürfe und äusserte diese auch zu allen Bekannten.
Während der Ehe war der Mann pedantisch spar¬
sam, die Frau liberal in Geldsachen gewesen; seit
dem Tod ihres Mannes ist sie sparsam bis zum Ver-
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armugswahn, excessiv „gewissenhaft“; macht sich Selbst¬
vorwürfe, ihren Mann „nicht verstanden zu haben.“
Aus dieser veränderten Seelen Verfassung heraus
haben sich einzelne psychotische Aufregungszustände
erhoben, vor allem einer vor 5 Jahren und dann
der jetzige, der dem ersten fast photographisch ähn¬
lich sein soll. Zugleich mit gesteigerter Aufregung
tritt jedesmal eine crasse Bigotterie auf, zugleich eine
excessive Steigerung der Schwarzseherei bis zu leb¬
haften Angst- und Unglücksgefühlen, sowie eine phan¬
tastische Übertriebenheit der eingebildeten Vorwürfe
gegen ihre Angehörigen.
Status somaticus:
8. 8. Sehr kräftig, sehr gut genährt, Gesicht etwas ge-
röthet. Pupillen gleich mittelweit, reagiren etwas träge,
besonders die linke. Rechter Mundwinkel bleibt bei
Innervation etwas zurück. Zunge wird nicht vorge¬
streckt. Patellarreflexe auslösbar, nicht gesteigert.
Plantar-Reflexe sehr schwach. Herz-Dämpfung -nicht
verbreitert, Töne rein. Puls regelmässig, kräftig, etwas
gespannt. Zunge wird ungewöhnlich weit und kräftig
vorgestreckt. Kleinwelliger Tremor der Hände, besonders
links. Lungen normal. Spuren von Syphilis nicht
nachweisbar.
Der anamnestische Nachtrag erweist durch
eine eingehendere Schilderung der intimen Lebens¬
führung, dass schon seit vielen Jahren Veränderungen
im Sinne von Beziehungsgefühlen, krankhaften Trieben
und Affecten, sowie weitgehender Wahnbildung be¬
stehen.
Das ganze Affectleben, die Beziehungen zur
Familie, die Lebensführung im Detail, erscheint in
diesem Sinne verschoben.
Seit Jahren besteht Sammeltrieb, so dass sie sich
grösste Quantitäten alten Plunders angekauft hat;
u. A. wurden Dutzende von Photographien gefunden,
die Patientin von sich hatte im Geheimen anfertigen
lassen.
An gewisse typische, an sich indifferente Vorgänge
schiosten sich typische, aber unbegreifliche Affect-
äusserungen an. Patientin behauptete in diesem Sinne
Original from
HARVARD UNIVERSITY
358
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 38 .
z. B., die Tochter sei gefehlt frisirt, schaue sie gefehlt
an, etc.; daran anschliessend schwere Zornaff ecte..
Andererseits wieder pathologische, expansive Freude
über wichtige Vorkommnisse, etc. etc.
Status psychicus:
Das Benehmen der Pat. ist ein eigenthümlich er¬
regtes, widerspruchsvolles, rasch wechselndes. Sie er¬
scheint von den heterogensten Impulsen hin und her
geworfen.
Den Arzt spricht sie richtig an, scheint auch sonst
orientirt. Auf die körperliche Untersuchung geht sie
anfangs sinngemäss ein, dann plötzlich wehrt sie ab,
macht Geberden der Rathlosigkeit, deutet auf ihren
Mund und zuckt die Achseln, als ob sie nicht sprechen
könne. Beim Versuch, die Patellarreflexe zu prüfen,
wehrte Pat. laut und unarticulirt schreiend ab, um
wenige Secunden darauf wieder mit vollem Sinnesver-
ständniss und ruhigem Gesichtsausdruck auf eine Auf¬
forderung einzugehen.
Wie geht es Ihnen denn? ,Ja Hunger hab’ ich, sonst geht’s
mir gut.In der Früh hab ich nicht wollen, geben Sie
mir jetzt zu essen. u (Letzteres zur Wärterin).
Warum hergekommen? „Die Kinder haben mich her¬
gebracht; weil ich so nervös war, haben sie mich gebeten, auf
die Nerven-Klinik zu gehen.“
Getällts Ihnen hier? „Ja legen S ie sich einmal eine Nacht
hierher, dann werden Sie sehen.“ (Lachend.)
Stimmen werden in Abrede gestellt. (Warum früher nicht
gesprochen): „Es gibt eine Zeit, wo man reden muss ....
Das dürfen Sie nicht missverstehen, Gott behüte,.
Dass am Ende hier .... es kommen ja oft Confusionen
heraus nicht zu sagen.“
„Unter einen unnatürlichen Zwang .... ich werde sagen
aus Mitleid, man weiss ja oft nicht die richtigen Worte.“
Stehen Sie oft unter einem solchen Zwang? „Das werde
ich Ihnen unter vier Augen sagen, aber es ist eine solche
Kleinigkeit, dass alle Herren dabei sein können.“
Auf Befragen über die Motive ihrer verschiedenen
Actionen wird Pat. rathlos, beginnt vorbei zu reden,
trachtet das Auffallende in ihrem Benehmen zu mas-
kiren. Später wird sie über die Fragen des Arztes
ungehalten, behauptet, es werde ihr durch diese Kreuz¬
fragen ganz unheimlich zu Muth, auch die Veränder¬
ung der Umgebung wirke so eigenthümlich etc.
Stil probe: (Als Reaction auf die Fragen nach
der Ursache gewisser Auffälligkeiten in ihrem Be¬
nehmen stenographisch mitgeschrieben).
„Das kann ich ja nicht sagen, man schreit halt auf . . .
Wenn mau sich einen Zahn reissen lässt, schreit man halt
auf .... Ich will ja nichts verheimlichen, aber ich kann
nicht die Antwort finden dazu .... Gerade so wie wenn
Ihnen ein Zahn gerissen wird, können Sie ja auch nicht so . . .
ein Schrei oder nicht? — Auf mich hat so vieles cingewirkt,
man denkt halt auch auf alles Mögliche. Die Kinder müssen
sich ihr Brot selbst verdienen. — Eine Wittwe hat halt auch
andere Gedanken als ein verheirateter Mensch. — Wenn man
ins Spital kommt, sieht man viele fremde Gesichter, man wird
ganz nervös. Jetzt soll ich da ein förmliches Verhör mit¬
machen, warum ich das getan habe. Man weiss es ja absolut
nicht, es ist gerade so, wie wenn einem ein Zahn gezogen wird,
man macht einen Schrei und weiss nicht warum. — Die Aerzte
wissen ja auch nicht, warum sie einem einen Schmerz bereiten.
Der vernünftigste Mensch macht oft einen Schrei und ein ver¬
nünftiger nicht ?
Ist halt so, wie wenn man irgend wohin geht, *man wird
halt auch müde.“ — Zu einer Mitpatienten ,,Ein liebes Dirndl
. . . armes Hascherl.*•
□ igitized by Google
Nachts: schwer rathJos; sie wisse nicht was man
von ihr wolle, Alles sei so fremd, so eigenthümlich,
die Gesichter der Leute im Zimmer seien so unheim¬
lich, man müsse ganz verwirrt werden. — Drängt
wild aus dem Bett, blickt verstört umher, will sich
mit einer schlafenden Mitpatientin beschäftigen (ag¬
gressiv?). Sprache in abrupten oft deutlich incohae-
renten Sätzen, bei denen einzelne Wendungen oft
wiederkehren, z. B. „mit Freude“ oder „im Kampf.“
Orientirung kann als intact nachgewiesen werden.
Hallucinationen werden negirt und sind zum Min¬
desten nicht in stärkerem Ausmaass vorhanden. Uri¬
niert in’s Bett, demonstrirt: „Eine ganzen Laken!“
11. 8. Still, rathlos, mit starrem Blick, Lider weit auf¬
gerissen, trachtet sich bei Annäherung der Visite zu
sammeln und möglichst geordnet zu erscheinen. Pu¬
pillen nicht ganz rund, reagiren nur spurweise, beson¬
ders der linke. P. S. R. leicht gesteigert
12.8. Rathlos mit verzweifelter Miene fragt den Arzt,
warum sie eigentlich im Spitale sei, und auf die Er¬
widerung, weil sie etwas aufgeregt gewesen sei, gibt
sie zu, gemüthskrank zu sein; erzählt, dass sie noch
ängstlicher sei wie früher, weint etwas und bittet man
möge mit ihr anfangen was man will, sie habe zu den
Aerzten das vollste Vertrauen, man möge sie gesund
machen, damit sie dann zu ihren Kindern gehen
könne. Nachmittags verunreinigt sich Pat. per arnun,
während sie — ausser Belt — Besuche empfängt;
berichtet nun dies coram publico, spontan und nur
mit dem Ausdruck leichter Verwunderung;
„Denken Sie, Herr Docter, jetzt hab’ ich mich ganz
angemacht!“
13. 8. Begrüsst den Arzt sofort: „Also Herr Doktor,
sagen Sie was ich muss.“
Stilprobe (Stenogramm):
„Herr Docter bleiben Sie bei mir; warum wollen Sie nicht
zu mir kommen? Ja schaun Sie, jetzt werde ich ganz anders
reden, jetzt kommen Sie zu mir her .... Schaun Sie, ich
zweifle ja nicht an Ihnen . . . Thun Sie ganz reden, ich
werde die Fragen beantworten . . . Thun Sie mich ganz ge¬
wöhnlich fragen, ich werde antworten . . .Sie haben immer
gesagt: ich muss, und ich habe immer das Rechte gesagt.
Also kommen Sie her . . .“ Also was wollen Sie von mir?
„Ja ich will ja nichts, es ist eine kolossale Confusion, da will
aber auch jeder lür sich die Verantwortung nehmen.“
Worüber regen Sie sich auf? „Ueber die Confusion, die
hier herrscht.“
In welcher Beziehung Confusionen ? „Da soll jemand
kommen und soll zuschauen kommen wie es hier zugeht. Das
i$t meine Pflicht, ich bin ganz harmlos hereingekommen. u
(In der Nacht und auch Vormittag grosse Unruhe im Zimmer).
Die Fragen: Wo ? und Wer sie hereingebrachl? werden richtig
beantwortet.
. . . „Ich habe immer gewartet und ich habe nicht dürfen
hinausgehen. Und wenn ich hinausgegangen hm, bin ich
immer gehalten worden. Das ist meine heiligste Pflicht, ich
kann nicht anders reden.“ Was wollen Sie? „Ich will gar
nichts.“ Ja Sie haben mich doch hergerufen! ..
^rathlos) ja kommen Sie her.“
Anamnestischer Nachtrag:
Am Tag vor der Hereinbringung stundenlanger
Anfall von Bewusstlosigkeit.
Am 2. Tag nach der Aufnahme ein weiterer An¬
fall vom Character eines paralytischen Insultes mit
schwerer Benommenheit (nicht totaler Bewusstseinver-
lust) und einseitiger Cloni im Facialisgebiet.
Original fram
HARVARD UN1VERSITY
1904-]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
359
14.8. Zeigt sich andauernd rathlos, bes. im Gespräch;
beschuldigt den Arzt, so seltsam zu sprechen, dass
man ihn nicht verstehen könne: „Bringen Sie mir
den Dr. H. oder sonst einen Herrn, die ich ver¬
standen habe . . . mit mir muss man klar und ein¬
fach reden.“ Antwortet auch auf die einfachsten Be¬
merkungen: „Ja wie soll ich da wieder sagen?“ Auf
Aufforderungen: „Ja Sie müssen mir sagen, warum
ich das thun soll.“ Giebt an, ein Gefühl von Furcht
in sich zu haben, weil alles um sie herum so confus
und unverständlich sei, wiederholt dies stets und in
den verschiedensten Arten. Frägt den ganzen Tag
über die Wärterin was sie thun müsse, z. B. in der
Frühe: „muss ich jetzt aufstehen ?“ muss ich mich
jetzt kämmen ?“ etc. Heute entwickelt sich die Rath-
losigkeit zu einer ausgesprochenen Affectlage der Ab¬
lehnung. Weigert sich zornig, dem Arzt die Hand
zu reichen, weist zornig jede Berührung ab.
Hört ihre Angehörigen rufen, behauptet dieselben
seien im Hause. — Das Lachen der Patienten im
Hof „thue ihr so weh, dass sie weinen möge;“ das
Kartenspiel derselben sei ihr „unheimlich:“ „es sei,
als ob jede Karte ihre bestimmte Bedeutung habe.“
Iilusionirt einen Polster als „Viech;“ hallucinirt Ge¬
rüche nach Moschus, Thieren etc. Aus den Stimmen
der Patienten im Hof iilusionirt sie ein „Verhör.“
Dabei stets orientirt.
Folgt schreckhaft jedem Blick des Amtes oder der Wärterin:
„Was ist denn dort? Was schreien Sie denn?“
Dreht sich oft jäh um: „Was schleicht da an mich heran ?“
Erkennt den Professor.
Pupillen reagiren.
Tremor der Hände. — Patellarreflexe normal.
Hören Sie schwer? „Das kann ich nicht sagen, ob ich
schwer höre. Herr Professor dürfen nicht so eigentümlich
fragen!“
Mimik und Geberde der Rathlosigkeit und angst¬
voller Verstimmung.
16. 8. Giebt an Stimmen zu hören, welche mit ihr eine
Art Verhör anstellen. Sie hört Stimmen der Anklage
und der Vertheidigung. Es sind Stimmen ihrer Ver¬
wandten und auch unbekannte Stimmen. Sie kommen
grösstentheils durch das Fenster aus dem Garten her¬
auf. (Thatsächlich hört man fast immer Stimmen
aus dem Hofraum!) Das Reden der Schwester und
der Wärterinnen stehen augenscheinlich damit im Zu¬
sammenhang.
„Bald kommt die heran, bald die, jedes unwissende Kind
müsste ja den Zusammenhang durchschauen.“
Pat. giebt an sie fühle sich „wie niedergebannt
durch einen fremden Willen“, so dass sie sich nicht
recht vom Bett erheben könne.
Anfangs habe sie keinen rechten Zusammenhang
gefunden, jetzt verstehe sie, dass es sich um ein Ver¬
hör handle. Ruft die Wärterin trotz unzähliger
Correcturen „Mitzl“ statt Gertrud.
(Anlässlich eines Gespräches neben ihr über die Familien¬
verhältnisse einer anderen Kranken): „Von wem reden Sie?
Sie reden gewiss von meiner Tochter! ... Es hängt so etwas
in der Luft .... Dass Unschuldige fUr mich leiden müssen,
das fühle ich, das musss jeder fühlen, der ein Herz hat.“
Soeben habe ihre „Tante Lotti“ gesagt: „Da gehe lieber
ich;“ Tante Lotti müsste in der Nähe sein. „Mir ist so schwer,
ich kann Ihnen otyf sagen, wie schwer!“
Hören Sie die Stimmen von den Verwandten? „Ja, da
müsste man ja taub sein, wenn man nicht hören würde. Die
andern müssen doch auch gehört haben?“
Was sagen die Stimmen? „Ja mir kommts vor, als ob
nicht der andern suchen thäte. . . . Oder ist das auch wieder
Einer den richtige Ausdruck?
Warum unheimlich ? „Ja weil jeder ein anderes Gesicht
macht und überhaupt, die Umgebung ist so, dass man muss
auf allerhand Sachen denken. — Das ist alles so successive ge¬
kommen; mir ist es schrecklich, wenn ein anderer für mich
leiden soll. . . . etwa der Onkel Toni. Ich höre unsere Rosa
(so wird die Wärterin gerufen) das ist seine Frau. (Es wird
eine Thüre zugeworfen) Oh Gott, oh Gott, Thüren zuschlagen
und so . . . machen Sie mit mir was Sie wollen!“
Woher die Gedanken, dass andere für Sie leiden? „Diese
Empfindung hab ich, das Gefühl hab ich ... . dass etwas
nicht klar ist zwischen uns . . Was, kann ich nicht sagen,
aber es ist etwas nicht klar zwischen uns!“
„Der Professor Anton hat auch so komisch gesprochen!“
16. 8. 04. (Fortsetzung.) Warum empfinden Sie alles
so fremdartig ? „Ja durch die äusseren Eindrücke“ (erzählt ein
Erlebniss, wo ihr plötzlich eingefallen sei, es müsse ein Un¬
glück geschehen sein.)
(Spontan) „Also was soll ich thun? Soll ein Geistlicher
kommen oder soll — sonst etwas sein? Soll ich beichten gehn
oder soll ich sonst etwas thun?“
(Ueber die HereinveTbringung). „Ich habe so ein Gefühl
gehabt, als ob im Zimmer etwas wäre .... und als ob ich
schnell fort müsse . . . Dann ist der Herr gekommen und hat
gesagt ich muss mitgehen, er ist der Dr. Phleps, hat er
gesagt“ etc. (verschiedene exacte Details) „Es ist immer so,
als ob noch irgend etwas wäre!“
17. 8. Die Stimmen sprechen immer fort, er¬
zählen, dass die Verwandten um ihretwillen verfolgt
werden. —
Aufgefordert ruhig zu liegen: „Ja wenn ich auch ruhig
liege, so komtaen doch die Gedanken oder Stimmen oder wie
ich dann sagen soll.“
Klagt weinend, dass sie ihre Kinder nicht leiden
sehen kann.
„Ich höre alles durch die Musik oder durch die Empfindung
oder wie ich sagen soll; es ist ein Verhängnis über uns, aber
was für eines weiss ich nicht.“
Stereotyp kehrt der Ausruf wieder: „Thun Sie
mit mir was Sie müssen.“
Das Wort „stereotyp“ aus dem Dictat iilusionirt
Pat. „Sterben die Herren?“; fragt weinend, ob ihre
jüngere Tochter noch lebe.
19. 8. „Ueberall schleicht das Unglück um mich herum. Ueber
allen schwebt das Verhängniss. Ich weiss nicht welches —
ich kann es nicht fassen, ich weiss nicht, was es ist, aber es
ist etwas. — Sagen Sie mir, was es ist. Thuen Sie, was Sic
müssen!“
Aus einem Gespräche, in dem die Worte „Husten¬
reiz“, „Mischung“ und „College“ vorgekommen
sind, iilusionirt Pat. heraus: „Die Mischler ist eine
Collegin von der“ und „ein Reiz auf den Gustav;“
bezieht diese Worte mit starkem Affect auf sich und
interpellirt den Arzt spontan. Im Gespräch sucht
Pat. jeder Fassung oder Festhaltung einer von ihr
gethanen Aeusserung auszuweichen, beendet fast jedes
Gespräch mit „ja warum Herr Doctor jetzt sag ich
schon gar nichts mehr.“
Jedes einfachste Wort, jede indifferente Handlung
wird im Sinne eines ängstlichen Beziehungsgefühles
aufgefasst
Nachmittag: (Stenogramm:)
Was sagen die Stimmen? „Ja was soll ich Ihnen denn
sagen? (mehrmals) Ja was? Anklage oder was denn? Wie soll
ich denn wissen, wie ich mich ausdrücken soll?“
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Original from
HARVARD UNiVERSITY
360
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 38 .
Von Angst? „Ich hab keine Angst! Mir ist es wohl un¬
angenehm, über Angst habe ich nicht, greifen Sie mich an,
ich hab keine Angst!“
Was macht Ihnen das für ein Gefühl, wenn man mit
Ihnen spricht? „Ja was für ein Gefühi? ja mein Gott und
Herr, was soll ich denn sagen um Gotteswillen ! Dass ich
Angst um meine Angehörigen habe. — Dass wir auseinander¬
kommen, dass Eines da und Eines dort hinkommt. —
Was sagen die Stimmen? „Das ganze ist eine gegen uns
alle, ich kann nicht anders reden ? „Ich kann nicht sagen, wer
die Anklage macht, der liebe Gott oder wer .... Das kann
ich nicht sagen!“
„Ich höre eine Menge Leute, bald lachen, bald weinen
. . . bald die eine, bald die andere Stimme.grössten-
theils sind es Anklagen.“
„Ich höre Stimmen von Bekannten und Unbekannten,
meist höre ich die Tante Lotti heraus .... Was sie spricht,
höre ich nicht, ich höre höchstens ihr Lachen heraus
.... dann höre ich meinen Bruder.“
Was redet der Bruder? „Mir kommt vor, wie wenn eine
schwarze und eine weisse Kugel wäre ... er oder ich . . .
wie ich Ihnen schon oft gesagt habe. 11
24. 8. Giebt keine Antwort, schaut den Arzt starr
an. zögert angstvoll ihm die Hand zu geben. Ab¬
lehnend: „Mit dem Herrn Doctor geh’ ich mit, mit
Ihnen nicht.“
„Sie wissen ja jeden Gedanken von mir, jedes Wort,
was wollen Sie noch? Ich sage was ich weiss.“
„Sie haben doch die Tante Lotti auch schreien gehört!
Jeder hat sie schreien gehört.“
(Ob Tante Lotti Worte gesagt hat?)
„Brüllen hab ich Sie gehört . . . Ach gehn Sie, fragen
Sie mich doch ordentlich!“
(Nach intensivster Erläuterung, was mit der Frage nach
Inhalt der Stimmen gemeint ist.)
„Ach Herr Docter, das sind so heikliche Fragen.“
Später: „Ich hab sie reden auch gehört, es ist das ganze
eine Anklage, es handelt sich um schwarze und weisse Kugeln
— ich oder das Andere, oder so was!“
Bestimmte Worte? „Bestimmte Worte auch ... ja
schauen Sie, der Docter schreibt jedes Wort auf das ich sage
. . . der weiss ja auch alles, was ich denke!“ (Redet wieder
von ihren Kindern und den pathologischen Sorgen um diese.)
„Mir ist mein eigenes Ich so wenig .... aber meinen
Kindern lass ich nichts thucn!“ (weinend.)
„Jetzt bin ich wohl aufgeregt, schauen Sie an!“ (De¬
monstriert ihre Hände, sehr starker Tremor.)
(Es wird erläutert, dass die Sorge um ihre Angehörigen
grundlos ist.)
„Kann ich mit dem Herrn Dr. Phleps nicht sprechen ?
. . . Der könnte Ihnen Aufklärung geben !*‘
(Ist Dr. Phleps über Ihre Angehörigen informiert?)
„Das nicht . . . aber er weiss, dass ich hier bin.“ (!)
(Vorschlag verschiedener Wege sich über die Familie zu
informiren): Kein Effect.
„Wie kann ich den wissen .... das giebts nicht!“
(Ja wenn Sie über alles infonnirt sind, werden Sic wohl
keine Angst mehr haben!)
Die Angst hab ich doch immerfort!“
Pat. ist nun direct ablehnend geworden, wird es
auch gegen Dr. X., sobald dieser ein längeres Ge¬
spräch mit ihr unterhält.
20. 8. 04. Fortsetzung. Beginnt die Nahrung zu
verweigern!
25. 8. Sehr ablehnend, scheu.
Concentrirt ihre Aufmerksamkeit selten und nur
beiläufig auf das Gespräc h, obwohl sie misstrauisch-
ängstlich Allem eine erhöhte Bedeutung und Eigen¬
beziehung unterschiebt; scheint stets von inneren Vor¬
gängen abgelenkt zu werden und ebenso von inter¬
currenten äusseren Einwirkungen: „reizbare Schwäche
der Aufmerksamkeitsleistungen!“
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Zu irgend einem Eingehen auf die gestellten Fragen
ist Pat. w f egen affectiver Ablehnung nicht zu bewegen;
redet fortwährend in Ausflüchten.
Gegen Abend gelingt es, die Ablehnung etc. zu
durchbrechen, hauptsächlich indem man darauf ver¬
zichtet, irgend eine präcise Auskunft forcieren zu
wollen. Trotzdem aber Pat. nunmehr nicht absicht¬
lich zurückzuhalten scheint (und auch von Negativis¬
mus im eigentlichen Sinne keine Rede ist!), so kommt
doch nur sehr w r enig an verwerthbaren Aufschlüssen
zustande, offenbar weil fast nur Affecte ohne klaren
Vorstellungsinhalt bestehen. Pat. erzählt wieder, dass
sie sich um ihre Angehörigen sorge, weil sie von
diesen getrennt sei; stellt dies als selbstverständlich
hin, fügt aber endlich bei, es müsse wohl ein Un¬
glück geschehen sein: „ich habe so die Empfindung,
dagegen kann man nicht ankämpfen!“
Befragt, ob sie schläfrig sei:
„Ja schläfrig schon, aber ich glaube, ich muss wachen . . .
ich bleibe schon lieber wach!“
Legt sich mit dem Rock bekleidet zu Bett; aufgefordert,
ihn abzulegen:
„Nein, das thu ich nicht, denn wenn was daherkommt in
dei Nacht, dann laufe ich schnell davon ... im blossen Hemd
geht das nicht!“
(Was soll daher kommen ?) Zuckt wortlos die Achseln. —
2ö. 8. Wieder sehr ablehnend; redet nur mehr
mit der Schwester.
Zu dieser äussert sie, Dr. G. frage sie lauter
Dinge, die sie selber nicht wisse, frage anders als alle
anderen Leute, es komme ihr vor, als ob es sich um
den Kopf handle, ihren oder den des Dr. G. Be¬
schuldigt Dr. G., sie heimlich „abmurksen“ zu wollen.
Ueber Stimmen befragt, giebt Pat. jetzt gar keine
Antwort als ausweichende Redensarten — vielleicht,
weil sie keinen concreten Inhalt der Stimmen anzugeben
w'eiss. Es ist zweifellos, dass cs sich viel weniger
um eigentliche Ilallueinationen handelt als um illusio¬
näre Umdeutung realer Stimmen oder um Auslegung
ihres Inhaltes im Sinne angstvoller Eigenbeziehung.
— dies geht daraus hervor, dass Pat. nie einen In¬
halt der Stimmen anzugeben w'eiss, dass sie die Stim¬
men stets in Richtungen projicirt, aus denen that-
sächlich Stimmengeräusch zu hören ist, endlich aus
den zahlreichen Illusionen und Auslegungen, die im
Momente ihres Zustandekommens zur Beobachtung
gelangt sind.
13. 10. 04. Die Tochter der Patientin berichtet
eine Reihe von Auskünften, welche Patientin über
ihre pathologischen Erlebnisse gemacht hat und durch
welche Material über Vorgänge geliefert wird, die
Patientin vor den Aerzten streng geheim hält.
Ilallueinationen: Patientin hört ihren Cousin
im oberen Stockwerke reden, bchaupet, er sei oben
anwesend.
Hört mitten im Gespräche eine Stimme: „Jetzt
ist’s mit der Mutter fertig, jetzt können wir gehen.“
Auch ihre übrigen Verwandten höre sie fast fort¬
während im Nebenzimmer untereinander reden.
C o m j > 1 c x h a 11 u c i n a t i o n e n u n d p h y s i ca¬
lischer Wahn: Durch ein Loch in der Zimmer¬
decke w-ird Patientin mit „Röntgenstrahlen“ beob-
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
1904 .] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
361
achtet, durch ein Loch im Fussboden werden ihre
Gedanken „magnetisch abgeleitet.“
Hier (B. A.) sei eine „Station für astronomische
Beobachtungen.“
Wahnhafte Umdeutungen: Dr. Gross sei
kein Arzt, sondern ein „hoher Herr,“ wahrscheinlich
„Graf Bianti“ „Besitzer vom Schloss Rubia:“ er
wolle sich über Patienten nur lustig machen, frage sie
lauter Dinge die er ohnehin wisse, z. B. hauptsächlich
nach den „Stimmen.* 4
Im Wachzimmer hätten sich damals, als Patientin
herein verbracht wurde, die „Verwundeten von Rade¬
gund“ befunden; an allem Unheil sei Dr. Gross
schuld gewesen, habe seine Schuld auf Patienten ab¬
wälzen wollen. Hier sei alles „in Verbindung mit
Radegund.“
Eine Mitpatientin, Frau M., bezeichnet Patientin
als die „Schauspielerin Renard,“ erzählt eine ganze
Serie romanartiger Confabulationen, welche die an¬
gebliche Lebensgeschichte dieser Patientin zum Inhalt
haben.
Eine Reihe weiterer Wahnbildungen kann nur
aus einzelnen Andeutungen erschlossen werden.
Patientin lacht oft ganz unvermittelt im Gespräch
geheimnisvoll auf; befragt, worüber sie lache, äussert
sie, dass dürfe sie nicht sagen.
Der beschriebene Fall illustrirt mit besonderer
Klarheit den Mechanismus der Ablehnung. Wir
sehen eine schwere universelle Rathlosigkeit mit deut¬
licher Erschwerung in der Verarbeitung von Wahr¬
nehmungen zu Situationsbildein; wir sehen die Steiger¬
ung all dieser Schwierigkeiten und der begleitenden
Unlustgefühle durch Zuwachs neuer Reize; wir sehen
in der Unterredung die ergiebigste Quelle hierfür
und wie sich dementsprechend die Abwehrgefühle
gerade an die Unterredungen anschliessen, wie suc-
cessive alle Persönlichkeiten ausdrücklich abgelehnt
werden, an welche die Aufgabe der gesprächsweisen
Exploration übergeht. Hierfür beweisend ist es, dass
die Kranke ausdrücklich erklärt, sie wolle nicht mehr
mit mir verkehren, sondern mit dem Sekundararzt,
der bisher noch nicht mit ihr gesprochen hat und
dann eine halbe Stunde später, nachdem die Unter¬
redung ihrem Wunsche entsprechend durch den
Sekundararzt geführt worden war, wiederum diesen
ablchnt und einen dritten Arzt verlangt. Immer
wieder begegnen wir der Angabe, man spreche mit
ihr „unverständlich“, „zweideutig“, „anders wie An¬
dere“, so dass sie „nicht weiss, was sie sagen soll“.
Alle diese übereinstimmenden Erklärungsidecn lassen
die Ablehnung als selbstverständliche Folge der
durch das Gespräch herbeigeführten Zunahme von
Auffassungsschwierigkeiten und begleitenden Unlust¬
gefühlen erkennen. Dadurch, dass Pat. diese — ton
mir seiner Zeit *) nur postulirten — inneren Vor-
+ ) 1 . c. Nr. 1.
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gänge in überreicher Menge zum Ausdruck ge¬
bracht hat, erscheint mir der Fall als eine werth¬
volle Bestätigung meiner damals aufgestellten An¬
nahmen. Er illustrirt besonders markant, im Gegen¬
satz zum Negativismus im eigentlichen Sinne, die
Affektlage der Ablehnung als nach fühl barer Aus¬
druck innerer Vorgänge in der bewussten Persön¬
lichkeit.
Ich wiederhole: es soll damit keineswegs be¬
hauptet werden, dass bei der Analyse des Zustands¬
bildes nicht gleichfalls auf Spaltungs- oder Zufalls¬
phänomene des Bewusstseins zurückgegriffen werden
dürfte; nur wirken diese nicht unmittelbar als Ab¬
lehnungsäusserungen, sondern, wenn überhaupt, dann
nur, indem sie das ihrige zum Zustandekommen
der Rathlosigkeit beitragen. Wir werden ihren Wirk¬
ungen also nicht bei der Analyse der Ablehnung als
solchen begegnen, sondern bei der Analyse der
Faktoren, die zum Zustandekommen der Rath¬
losigkeit Zusammenwirken.
Den ersten Rang unter diesen nimmt naturgemäss
die Erschwerung in der Verarbeitung der Wahrnehm¬
ungen ein. Am klarsten verräth sich diese in der
illusionären Auffassung optischer (Polster als „Vieh“
illusii »nirt) sowie aller zufälligen akustischen Reize.
Eine Reihe solcher beiläufigen Auffassungen zufälliger
an ihr Ohr dringender Worte wurde direkt beob¬
achtet; so z. B. hörte Pat.: „auf Gustav ein Reiz“
statt „Hustenreiz“ und vieles Aehnliches. Des wei¬
teren waren alle Beobachter überzeugt, dass die sog.
„Stimmen“ zum grössten Th eil auf Vcrhörung wirk¬
licher Wortreize beruhten. Ferner enthält die Kran¬
kengeschichte den Vermerk, dass Pat. in Folge innerer
Ablenkung trotz ihrer Hypermetainorphose zu einer
Concentrirung der Aufmerksamkeit besonders schlecht
befähigt erscheint. Diese sümmtlichen Auffassungs¬
defekte sind höchst geeignet zur Erzeugung schwerer
Rathlosigkeit als „Folge eines Missverhältnisses zwischen
Orientirungsbedürfniss und Orientirungsfähigkcit“ (1. c.
Nr. 1).
Die Herabsetzung der Auffassung als solche würde
sich ziemlich einfach erklären lassen, wenn man das
ganze Krankheitsbild als ausgelöst von einer pro¬
gressiven Paralyse betrachtet. Hierfür haben sich
Anhaltspunkte thatsächlich gefunden: Tremor, gestei¬
gerte Reflexe, Schwankungen in der Pupilleninner-
vation, suspekte Ohnmachtsanfällc, Sclbstvcrunreinig-
ung; bei diesem Anlass ist die herabgesetzte Rcaction
im Sinne socialer und ästhetischer Gefühle im gleichen
Sinne aufgcfallen. Bewiesen konnte die Annahme
einer Paralyse nicht werden ; es musste daneben vor
Original fram
HARVARD UNIVERSUM
3 Ö 2 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 38 .
Allem die Möglichkeit einer klimakterischen Veränder¬
ung offen gelassen werden.*)
Auf keinen Fall haben diese beiden Möglichkeiten
das Krankheitsbild erschöpft; eine Reihe von Symp¬
tomen ist vielleicht eher so zu erklären, dass die para¬
lytische oder klimakterische Erkrankung mehr oder
minder latentes Material manifest gemacht
h a t. Die hier einschlägigen Symptome erschienen
dann in Uebereinstimmung damit als eine Steiger¬
ung der, laut Anamnese, seit einem Dezennium be¬
stehenden Charakter- und Wesens Veränder¬
ungen. Das interessanteste Symptom aus dieser
Reihe ist das lebhafte Unglücks- und Beziehungs- *
gefühl, das seinerseits nicht aus den oben erwähnten
Prämissen der Rathlosigkeit erklärt werden kann, das
aber als zweitwichtigste Komponente zur Entstehung
der Rathlosigkeit mit beigetragen hat. Dieser Ge¬
fühlskomplex ist ausser Beziehung zum Gespräch
oder anderen Reizkomplexen gestanden, war stets in
Wirksamkeit und hat sich auch seinerseits durch
eine Reihe sehr charakteristischer Aeusserungen ein¬
deutig ausgeprägt: „es ist ein Unglück geschehen,
ich weiss nur nicht, welches“ — „ich habe es in
meinem Gefühl, dass etwas passirt ist“ — „es schwebt
ein Verhängniss über uns, das ich nicht fassen kann,
aber mein Gefühl sagt mir, dass es so ist“ — „sagen
Sie mir doch, was eigentlich los ist“ — und endlich
die unzählige Male wiederholte Aeusserung: „da bin
ich, thun Sie mit mir, was Sie müssen“ — ferner
eine Reihe von Selbstvorwürfen und Versündigungs¬
ideen, inhaltlich unbestimmter Art.
Ich kann den Gedanken nicht abweisen, dass es
sich hier vielleicht um ein altes Abwehrphänomen
im Sin ne Freuds handeln könnte. Die Anamnese
ergibt dafür gewisse Anhaltspunkte: die ominöse
Krankenpflege, der Tod des Mannes und die Re-
miniscenz an Reihen von Confhcten in der Ehe, die
sich vor Allem durch den Gegensatz zwischen der
pedantisch sparsamen Gcldgcbahiung des Mannes
mit der liberalen Auffassung des Tat. ergaben. Nach
dem Tode des Mannes erfolgt eine umwälzende und
dauernde Charakterveränderung: Bat. zeigt das „Symp¬
tom der Gewissen heit“ (Freud), äussert Verarmungs-
ideen, wirel ihrerseits von nun ab pathologisch spar¬
sam und macht ihren Angehörigen unsinnige Vor¬
würfe, Geld verschwendet zu haben. Es erinnert
dies mit einer auffälligen Analogie an die Folgen-
*) Der spätere Verlauf hat den Verdacht .auf Paralyse
entkräftet. Die Krankheit entwickelt sich zu einem chroni^ch-
parnnoidfii Symptomcncomplex. Die auf den Verdacht auf
Paralyse begründeten theoretischen Erwägungen werden aber
durch diese nachträgliche Correctur wenig tangirt
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reihe in dem von Freud analysirten und auf ideo-
gene Ursachen zurückgeführten Paranoiafall; einzu¬
setzen wäre in die Anamnese als möglich, dass in der
durch die Krankenpflege und den Tod des Mannes
veränderten Gemüthsverfassung aus den Reminiscen-
zen an die finanziellen Conflicte Sclbstvorwürfe des
gleichen Inhalts geworden sind und zur Abwehrver-
drängung des ihnen adhärenten Affektkomplexes ge¬
führt haben. Analog dem Falle Freud’s schafft der
Veitlrängungsprocess als sejunktives Moment eine
überwerthige Idee*) mit identischem affektivem
und invertirtem Vorstellungsinhalt. Damit wäre
ein pathogenes Material geschaffen, dessen Inhalt
wir halblatent in der veränderten Persönlichkeit
vor und manifest in den Symptomen nach der
jetzigen Excrcerbation wahrnchincn. Der Inhalt der
überwerthigen Ideen beziehungsweise der Leitaffekte
ist dementsprechend durch das Gefühl determinirt,
eine schwere Verantwortung zu tragen, sich für die
Angehörigen opfern zu sollen, sich Selbstvorwürfe
machen zu müssen, ein vages Unglück und Verhäng¬
niss zu ahnen. Die Lockerung des psychophysischen
Gefühles durc h die neuhinzutretende (vielleicht para¬
lytische) Erkrankung wirkt auf das bereitgehaltene
pathogene Material in ähnlichem Sinne, wie die all¬
gemeine Veränderung im physiologischen Traumzu¬
stande: sie führt zur Manifestirung des ver¬
drängten Materiales. Die Reduction der Ge-
hirnthütigkeit bedeutet eben wieder ein Nachlassen
der cerebralen Höchstfunction, durch welche die
Einheitlichkeit des Bewusstseins gaiantirt wird, es
wird eine sejunktive Disposition geschaffen und das
bisher niedergehaltene verdrängte Material findet nun¬
mehr Gelegenheit, neben der Ichkontinuität an die
*) Es ist interessant, zu vergleichen, wie sich bei Wernicke
und Freud von absolut verschiedenen Ausgangspunkten her
nahezu identische Auffassungen über jenes Phänomen gebildet
haben, das wir mit Wernicke als „überwerthige Idee“ be¬
zeichnen. Nach bieden Autoren erscheint dieses Phänomen
als Folge eines Vorganges, den wir nunmehr, mit Wernickes
Terminologie Sejunction des Bewusstseinsinhaltes nennen.
Wernicke geht aus von der Annahme eines Zerfalles, Freud
von der Annahme einer systematisirten Zerlegung des Be¬
wusstseins! n h a 11 es ; in der Erklärung der „überwerthigen Idee“
unterscheiden sich die Ergebnisse der beiden von einander so
unabhängigen Forschungsrichtungen und geben damit einen
werthvollen Beleg für die Berechtigung der Prämissen und
Folgerungen auf beiden Seiten. — Man vergleiche ferner,
um sich den Unterschied zwischen Sejunktion des Bewusstseins¬
inhalts und Sejunktionen der Bewusstseinst h ä t ig kei t —
Bewusstseinssp a 1 tungen — klar zu machen, die Charaktere
der ,,ü be rw ert h i gen Idee“ und der „au toch tho nen Idee“
und meine Erklärung dieser letzteren als einer Erscheinung
von „B»*wusstseinszerfall".
Original from
HARVARD UNIVERSITY
1904!
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
363
Oberfläche zu kommen; es kommt zur manifesten
Bewusstseinsspaltung — oder zur „Ueberwältigung
der Persönlichkeit“ durch die der Verdrängung ent¬
rinnenden unterbewussten Factoren.
Vom Standpunkt unserer differentialdiagnostischen
Untersuchung aus interessirt nur die Thatsache, dass
die Affektlage der Ablehnung nicht unmittelbar aus
der Bewusstseinsspaltung hervorgeht, sondern höch¬
stens mittelbar, wenn durch die Bewusstseins¬
spaltung das Auftreten eines Zustandes von Rath-
losigkeit begünstigt wird. Die Affektlage der Ab¬
lehnung selbst ist aber immer das consequente Er-
gebniss aus dem psychischen Zustande der bewussten
Persönlichkeit.
Wir gelangen damit zu folgenden differential-
diagnostischen Möglichkeiten und Vermuthungen
causaler Unterlagen:
I. Der echte katatone („psychomoto¬
rische“) Negativismus ist ein Complex von
Phänomenen, welche den Ausdruck einer von
der Ichkontinuität abgetrennten Reihe psy¬
chophysischer Vorgänge bilden, in keinem
Zusammenhänge mit den psychischen Vor¬
gängen der bewussten Persönlichkeit stehen
und damit keiner nachfühlenden introspec-
tiven Betrachtung zugänglich gemacht werden
können.
2. Die Affektlage der Ablehnung beruht
auf dem allgemeinen Zustande der Rathlosig-
keit und der Steigerung dieses Zustandes
durch jede Art von Annäherung; sie ist der
nachfühlbare, introspectiv erklärbare Aus¬
druck der bewussten Persönlichkeit. Spalt¬
ungsvorgänge des Bewusstseins können nur
einen mittelbaren Einfluss auf die Affektlage
der Ablehnung ausüben, wenn sie Symptome
hervorrufen, durch welche der Zustand der
Rathlosigkeit verstärkt wird.
3. Der „psychische“ oder totale Nega¬
tivismus beruht auf dem Zusammentreffen
des katatonen Negativismus und der Affekt¬
lage der Ablehnung.
Dritter Bericht über die Fortschritte des Irrenwesens.
Nach den Anstaltsjahresberichten erstattet
von Dr. Deiters in Bonn, früher in Andernach.
(Fortsetzung.)
Ueber die Statistik der Entlassungen bedarf
es kaum eines Wortes. Zu der Gruppirung nach
Geheilten, Gebesserten, Ungeheiltcn könnten höch¬
stens die im vorigen Jahre gemachten Bemerkungen
wiederholt werden.
Das Verhältniss der Aufnahmen zu den Entlass¬
ungen erläutert die Veränderungen des Bes tan des,
welche sich auch in den Berichtsjahren wieder un¬
entwegt in derselben Richtung, nämlich der einer
beständigen Zunahme, bewegen. Allenthalben über-
wiegen die Zugänge um ein Beträchtliches über die
Abgänge und nichts kehrt in unsem Berichten so
stereotyp wieder, wie die Klagen über Ueberfüllung.
Die zahlreichen neuen Anstalten haben daran bisher
noch nicht viel zu ändern vermocht, und wo einmal
durch Eröffnung einer neuen Anstalt eine alte ent¬
lastet worden ist, da beeilt man sich, hervorzuheben,
dass diese Entlastung nur eine vorübergehende sei,
dass in Kürze die alte Ueberfüllung wieder einge¬
treten oder doch zu erwarten sei.
In den o st p reu ssi sehen Anstalten hatte man
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nach 15 jährigem Durchschnitt eine jährliche Zu¬
nahme von 95 Kranken berechnet. 1902 betrug
die Zunahme 121, ging dann aber 1003 wieder auf
das Normalmaass, 97, zurück.
Brandenburg hat durch seine Familienpflege
nur geringe Entlastung erreicht: „Freilich will das
dem unaufhörlichen Irrenandrang gegenüber nicht
zu viel sagen, und die Anstalten befanden sich theil-
weise schon in recht bedenklichen Platznöthen, so-
dass sie nicht immer alle Kranken ihres Bezirks auf¬
nehmen konnten.“ Durch Eröffnung verschiedener
Neubauten wird Besserung erhofft.
Berlin hat noch viele Kranke in Privatanstalten,
und zwar mehr, als nach Eröffnung von Buch dort
werden Aufnahme finden können. Da in Privatan¬
stalten nur harmlose Kranke untergebracht werden,
so sind die städtischen besonders mit unruhigen und
gefährlichen Elementen überlastet.
Die westp hä lisch en Anstalten berichten fast
alle über abgelehnte Aufnahmeanträge in grösserer
Zahl. Die Zahlen sind so beträchtlich, dass man
Original frnm
HARVARD UNIVERSITY
364 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 38.
zweifeln muss, ob die im Bau begriffene neue Anstalt
es ermöglichen wird, das System der Wartelisten zu
beseitigen.
Auch Hildesheim hat von 274 Anträgen 93
ablehnen müssen, während Osnabrück durch Ab¬
gabe von Kranken nach Lüneburg und an die
Göttinger Familienpflege soviel Plätze frei bekam,
dass allen Anträgen entsprochen werden konnte.
In Frankfurt a. M. ist der Zugang gegen das
Vorjahr um mehr als 200 gestiegen.
In Friedrichsberg-H amburg ist „eine der¬
artige Ueberfüllung eingetreten, dass Erweiterungs¬
bauten in Langenhorn unverzüglich vorgenommen
werden müssen.“ Der neue Bericht stellt wiederum
eine Zunahme von 5,36% fest. „Trotzdem im
vorigen Jahre schon alle Krankenräume überbelegt
waren, musste immer wieder Raum für neu aufzu¬
stellende Betten geschaffen werden. Hierdurch hat
aber die Ueberfüllung derartige Dimensionen ange¬
nommen, dass die provisorische Errichtung von Baracken
bald wird ins Auge gefasst werden müssen.“
Bremen muss schon jetzt für die im Bau be¬
griffene neue Anstalt Erweiterungsbauten in Aussicht
nehmen, weil der in ihr vorgesehene Platz schon für
den jetzigen Bestand nicht ausreicht.
Königslutter hat sich jahrelang bemüht, durch
Entlassung harmloser Unheilbarer der Ueberfüllung
vorzubeugen. Die Bemühungen scheiterten schliesslich
an dem Widerstand der Heimathgemeinden; die zur
Unterstützung verpflichteten Kassen weigerten sich,
für Entlassene Pflegegeld zu zahlen, und selbst die
Kosten zu tragen, waren die Gemeinden nicht geneigt.
Mit Recht scheute die Anstalt davor zurück, den
widerwilligen Gemeinden die Kranken aufzuzwingen,
sie wären schwerlich zweckmässig verpflegt worden.
Man versucht jetzt, durcli Einführung der Familien-
pflege der Ueberfüllung entgegen zu arbeiten.
In Sachsen ist im Gegensatz zu allen anderen
Ländern die Zahl der Aufnahmen zurückgegangen.
Man führt dies zurück auf eine falsc he Auffassung
der gegen die frühere Ueberfüllung gerichteten Mass¬
nahmen : „Zurückweisung der Aufnahmen bei man¬
gelndem, geeignetem Platz und Entfernung der un¬
heilbaren, nicht gefährlichen Kranken, beziehentlich
Erhöhung der Pflegesätze für dieselben“. Infolge
dieser Massnahmen war beim Publikum und bei
manchen unteren Behörden die Auffassung entstanden,
die Anstalten seien überhaupt nur für die gefährlichen
Kranken bestimmt; andere wurden darum vielfach
garnicht angemeldet. — „Eine Ueberfüllung der An¬
stalten, auch eine nur partielle, ist für die Zukunft
dadurch ausgeschlossen, dass für jede einzelne Ab¬
theilung bezw. jedes Haus eine bestimmte Belagziffer
festgestellt und den Directionen zur Pflicht gemacht
worden ist, diese Ziffer unter keinen Umständen zu
überschreiten.“ Das ist eine halbe Massregel; wo
sollen denn die Kranken hin, wenn die Anstalten voll
sind? Besser noch in überfüllten Räumen, als ganz
ohne Anstaltsbehandlung.
Bayreuth giebt seiner Noth kräftigen Ausdruck:
„Immer schreiender, immer dringender, immer drücken¬
der wird das Bedürfniss nach Abhülfe bezüglich der
kolossalen, fast möchte man sagen sanitätswidrigen
Ueberfüllung unserer Anstalt, für deren etwaige ge¬
fährliche Folgen ärztlicherseits eine Verantwortung
kaum mehr übernommen werden kann, nach einer
ergiebigen Erweiterung der Anstalt oder vielmehr nach
Erbauung einer zweiten oberfränkischen Kreisirren¬
anstalt. Bald wird der Zeitpunkt gekommen sein, an
dem unsere Anstalt geschlossen werden muss, d. h.
nur dann noch einzelne neue Kranke aufnehmen
kann, wenn andere Kranke abgegangen sein werden.
Was aber dies für frisch Erkrankte und namentlich
für deren Angehörige oder Gemeinden etc. bedeutet,
das kann nur der ermessen, der solche Kranke draussen
— zumal auf dem Lande — gesehen und die
schwierigen Umstände, unter denen dieselben oft be¬
handelt und gepflegt, um nicht zu sagen — wenn
auch nicht absichtlich — misshandelt werden, kennen
gelernt hat. Darum muss gründliche Abhülfe bald¬
möglichst geschaffen worden.“ Der soeben erschienene
neue Bericht kann mittheilen, dass nunmehr der ober¬
fränkische Landtag die Erbauung einer zweiten Kreis¬
irrenanstalt beschlossen hat.
In Heidelberg war die Zahl der Kranken stets
grösser als die der verfügbaren Betten; häufig mussten
auf den Corridoren „Bodenbetten“ hergerichtet werden.
Auch Elm men dingen war genüthigt, in Corridoren
und Tagesräinnen Betten aufzustellen.
I111 württc mb er gischen Bericht heisst es:
„das schwerste Hemmniss für die staatliche Irren-
fiirsorgc bildete auch im Berichtsjahr wieder die
Ueberfüllung sämmtlicher Staatsirrenanstalten, ins¬
besondere deren Abtheilungen für Uebenvachung und
Bettbehandlung.“ Trotz erheblicher Vermehrung der
Plätze konnten nur 60% der Aufnahmegesuche be¬
rücksichtigt werden. Nach dem soeben erschienenen
neuen Berichte hat sich dies auch 1902 noch nicht
gebessert.
Stephansfeld giebt eine Uebersicht über die
allmähliche Zunahme des Zugangs; er betrug im Jahre
1 893 / 94 : 2 3^, im Jahre 1902: 397. — Saargemünd
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Original from
HARVARD UNIVERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
IQ04.J
klagt über eine Ueberfüllung, „welche die schwersten
Missstände und Gefahren mit sich bringt.“ „Wie
sehr unter diesen Zuständen die Tag und Nacht auf¬
einander gedrängten Kranken leiden, wie viel die
Ruhe und Ordnung der Stationen — trotz der sehr
erheblich gesteigerten Bemühungen des ohnedies
schon schwer genug belasteten Pflegepersonals — zu
wünschen übrig lässt, wie schliesslich die Freudigkeit
der Pfleger und Aerzte über diesen vergeblichen Be¬
mühungen erlahmen, das alles braucht nicht geschildert
zu werden.“ —
Selbst wenn der Gesammtbestand einer Anstalt
sich noch in erträglichen Grenzen hält, kann die
Ueberfüllung der Ueberwachungs-Abtheilungen zu
schweren Missständen führen. Im vorigen Jahre
konnten wir einen Passus aus dem sächsischen
Bericht mittheilen, der dies recht deutlich vor Augen
führt; auch der neue Bericht theilt mit, dass sich
dieses Missverhältniss noch nicht ausgeglichen habe.
Fast noch schärfer spricht sich in diesem Jahre
Rybnik aus; die Anstalt ist im Laufe der Zeit von
600 auf 800 Plätze vergrössert worden, die Zahl der
Unruhigen, Unsozialen ist relativ in noch viel grösserem
Masse gewachsen, dennoch sind die Abtheilungen
für Unruhige weder vermehrt noch erweitert worden.
„Auf diese Weise ist bei uns eine Ueberfüllung der
unruhigen Abtheilungen entstanden, die wir geradezu
als bedenklich und gefahrbringend bezeichnen müssen,
es wird von diesen Abtheilungen eine unverhältniss-
mässige Zahl von Pflegepersonal in Anspruch ge¬
nommen, das Personal dort wird ausserordentlich an¬
gestrengt, und trotzdem sind auf den Abtheilungen
für Unruhige jetzt Prügeleien und alle Arten von
Gewaltthätigkeiten, Komplotte, gemeinschaftliche, unter
Anwendung von Gewalt durchgeführte Fluchtversuche
und Entweichungen sehr viel häufiger als früher.“
Es ist ja ganz natürlich, dass unter der Ueber¬
füllung in erster Linie die Wachabtheilungen, und
zwar besonders die für Unruhige, leiden; auch wir
in Andernach erleben alltäglich das gleiche. In
den ruhigen Abtheilungen kann man durch liberale
Handhabung der Entlassungen meistens unschwer
einige Plätze freihalten. Aber damit ist nicht viel
gewonnen, denn die neu kommenden Kranken sind
fast alle fürs erste überwachungsbedürftig, und zum
grossen Theil recht unruhig, und müssen daher in
den Wachabtheilungen untergebracht werden.
Nach dieser Blüthenlese aus reichsdeutschen Be¬
richten (nb. die leicht vermehrt werden könnte), seien
noch einige Stimmen aus ausländischen Anstalten
hinzugefflgt
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365
Nieder Österreich rechnet aus fünfjährigem
Durchschnitt eine jährliche Zunahme der zu Verpfle¬
genden um ca. 107 heraus. Charakteristisch ist die
Gegenüberstellung von Bestand und Normal belegraum:
Wien.
Normal¬
belegraum
. 900
Kranken¬
stand
1026
Ybbs.
• 450
544
Klosterneuburg . .
. 530
598
Kierling-Gugging .
. 640
0
00
Langenlois . . .
. 184
218
zusammen
: 2704
3° ( )4
Ueber die Zustände in Mähren schreibt Hell-
wig: „Der drückende Raummangel in der mährischen
Landesirrenanstalt datirt schon seit Decennien und
sind die Klagen hierüber immer allgemeiner und
lauter geworden.“ Eingehend schildert er dann die
allmähliche Entwicklung der Missstände, und es ist
characteristisch, wie man immer wieder sich begnügte,
der dringendsten Noth mit kleinen Massregeln zu
begegnen, deren Unzulänglichkeit schon im Voraus
evident war, und das, obgleich von berufener Seite
die Forderungen zur Abhülfe deutlich ausgesprochen
waren. Er schliesst mit den Worten: „der Stand der
Irrenpflege in Mähren ist demnach mehr denn je
ein Nothstand geworden.“
Niedernhart theilt ausführlich Verhandlungen
mit der Vorgesetzten Behörde mit, welche zu dem
Resultat führten, dass man zur momentanen Abhülfe
den Neubau eines Pavillons und zur Vorsorge für die
Zukunft die Schaffung einer landwirtschaftlichen Co-
lonie beschloss.
Der ungarische Bericht spricht von einer „an
der Grenze des Zulässigen angelangten Ueberfüllung“
und theilt mit, dass die Absicht, eine neue grosse
Anstalt in der mittelungarischen Ebene zu errichten
und eine andere Anstalt zu erweitern, „in Bälde zur
Verwirklichung gelangen wird.“ Nach Angabe des
neuen Berichtes sind an 3 öffentlichen Krankenhäusern
Abtheilungen für Geisteskranke eröffnet worden, doch
war die dadurch erreichte Entlastung der grossen
Anstalten nur vorübergehend.
Auch in der Schweiz sind die meisten Anstalten
überfüllt. In der Waldau (1902) hat sich die Zahl
der Abweisungen verdreifacht. „Alle Abtheilungen
sind so überfüllt, dass man sich nicht wundern darf,
wenn die Kranken einander schaden und gelegentlich
ein Unglück vorkommt.“ Auch im folgenden Jahre
sind wieder über 100 Kranke abgewiesen worden.
Das Burghölzli war durch Ueberführungen in
die Rheinau vorübergehend entlastet, hatte aber in
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
366 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 38.
kurzer Zeit wieder die alte Ucberfüllung. „Eine Be¬
wältigung der Mehrarbeit ist für die vorhandenen
Aerzte physikalisch unmöglich, wenn man ein Eingehen
auf die Bedürfnisse der Kranken voraussetzt, wie es
eine richtige Behandlung verlangt.“
Königsfelden muss viele Kranke wochenlang
auf die Aufnahme warten lassen, und hat dabei die
Erfahrung gemacht, dass manche sich dann von selbst
beruhigen und der Aufnahme nicht mehr bedürfen.
Das ist freilich ein schwacher Trost.
Im Kanton Waadt ist man dazu übergegangen,
für Unheilbare, nicht Gemeingefährliche, die Kost¬
gelder zu erhöhen, um dadurch die Zahlungspflichtige
Gemeinde zu veranlassen, solche aus der Anstalt
zurückzunehmen, was in der That in einer Reihe von
Fällen geschehen ist.
Mag es damit genug sein. Fast alle Berichte
enthalten derartige Klagen, aber einer Vermehrung der
Citate bedarf es wohl nicht.
Mehrere Berichte beschäftigen sich mit der Frage,
ob dieses allenthalben beobachtete Anwachsen der
Aufnahmen in die Anstalten auf einer wirklichen Zu¬
nahme der Geisteskranken überhaupt beruhe. Wenn
Hellwig sagt: „Wie überall, ist auch in unserm
engem Vaterlande Mähren eine sich steigernde Zu¬
nahme von Irrsinnsfällen notorisch,“ so kann man
dem doch nicht ohne weiteres zustimmen; zum min¬
desten fehlt für diese Behauptung vorläufig der Beweis.
Eichbcrg ist anderer Meinung. Man hat dort be¬
obachtet, dass die Vermehrung der Aufnahmen haupt¬
sächlich die Unheilbaren betrifft, und schliesst daraus,
dass es sich nicht um wirkliche Zunahme akuter Er¬
krankungen handelt, sondern nur um eine vermehrte
Inanspruchnahme der Anstalten auch für blosse
Pflegefälle, die früher in der Familie gehalten wurden.
Uebiigens möchte ich vermuthen, dass dies nur eine
lokale Beobachtung ist. Von sehr vielen Anstalten
wird doch mitgetheilt, dass sie diese harmlosen Pfleg¬
linge möglichst entfernen, um die Anstalt zu entlasten,
und dass die neu zugeführten grüsstentheils unruhige,
störende Elemente sind.
K ö n i g s 1 u 11 e r widmet der Frage ein eigenes
Kapitel. Da die Aufnahmen der Anstalt ausschliess¬
lich aus dem Hcrzogthum Braunschweig stammen, ist
das Material zur Berechnung der Krankenzahl im
Verhältniss zur Bevölkerung sehr geeignet. Fs ergab
sieh, dass auf 100000 Einwohner im lahre 1871:
43, im Jahre 1 ou 1 : 1 14 Anstaltskranke kamen; also
eine sehr beträchtliche Yennehrung. Wesentlich ino-
dificirt wird aber dieses Resultat durch den Nachweis,
dass der grössere Theil dieser Vermehrung auf nicht
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im Herzogthum Geborene, auf zugewanderte Fabrik¬
bevölkerung entfiel. Da aus der älteren Zeit genaue
Geburtsnachweise fehlten, konnten für diese Berech¬
nung nur die beiden letzten Jahrzehnte 1881 —1901
verwerthet werden. Eine Berechnung der Neuauf¬
nahmen auf 100000 Einwohner ergab im ersten Jahr¬
fünft 12 im Herzogthum Geborene pro Jahr, im
letzten Jahrfünft 15, also nur eine geringe Zunahme,
die wohl nicht als Beweis für eine absolute Ver¬
mehrung der Geisteskranken angesehen werden kann,
sondern sich zur Genüge daraus erklären lässt, dass
die Neigung, Kranke in der Familie zu behalten,
immer geringer wird.
In Württemberg hat sich in 30 Jahren die Zahl
der in Anstalten untergebrachten Geisteskranken ver¬
dreifacht; sie betrug 1872 etwas über 1000, 1902
über 3000, während die Bevölkerung Württembergs
sich in der Zeit nur um etwa Vs vermehrt hat. Aber
auch dabei handelt es sich nur um die Kranken in
Anstalten, wie viele ausserhalb der Anstalt vorhanden
sind, w'eiss man nicht einmal von der Gegenwart,
geschweige vom Jahre 1872.
Im Berichte des Vereins Schweizer Irrenärzte wird
vom Kanton Bern mitgetheilt, dass die Irrenzählung
im Mai 1902 gegen 1871 eine absolute Vermehrung
von 72,1%, im Verhältniss zur Bevölkerungszunahme
eine relative Vermehrung von 50% ergeben habe.
Die Höhe dieser Zahlen wirkt ja sehr suggestiv.
Immerhin scheint mir eine solche summarische Be¬
rechnung zur Entscheidung unserer Frage auch nicht
geeignet. Sind denn beide Zählungen nach genau
gleichen Grundsätzen ausgeführt worden? Oder hat
man nicht doch vielleicht bei der zweiten Zählung
die Grenzen des Irreseins weiter gezogen als früher,
entsprechend der fortgeschritteneren Kenntniss? Ueber-
haupt sprechen da noch mancherlei Faktoren mit,
zumal in einem so verkehrreichen Lande.
Von vornherein werden wir das Material unserer
Anstaltsberichte für recht ungeeignet zur Entscheid¬
ung dieser Frage halten müssen, weil es naturgemäss
unvollständig und einseitig ist. Uüberhaupt ist wohl
eine sichere Entscheidung dieser Frage recht schwer,
bisher jedenfalls nicht gelungen, wenn auch eine
grosse Wahrscheinlichkeit für eine thatsüchliche Zu¬
nahme sich nicht bestreiten lässt.
Für die praktische Iirenfürsorge ist es ausreichend
zu wissen, dass die absolute Zahl der Anstaltspflegc-
bedürftigen Kranken beständig wächst. Um dieses
Anwachsen zu illustriren, möge hier schliesslich noch
eine Tabelle wiedeigegeben werden, die der ost-
prcussische Bericht von 19.62 bringt. In den Jahren
Original fram
HARVARD UN1VERSITY
1904.] ' PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 367
1893 bis 1901 stieg die Zahl der in Anstalten unter¬
gebrachten Kranken in:
Ostpreusssen
von
1466
auf
2 160
Westpreussen
»»
I I IO
tt
1/93
Pommern
»»
1240
ty
1636
Posen
>♦
1031
»
1868
Schlesien
3750
»
4975
Brandenburg
>»
2499
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4895
Hannover
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2334
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Sachsen
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2024
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2676
Schleswig-Holstein
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2007
Hessen-Nassau
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896
•
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L549*
III. Neu- and Umbauten; sanitäre
Einrichtungen.
Die selbstverständliche Folge der oben be-
sprochenen Ueberfüllung ist es, dass man allent¬
halben auf Vermehrung der Plätze für die Geistes¬
kranken bedacht ist, und zwar sowohl durch Erwei¬
terung alter wie durch Erbauung neuer Anstalten.
Beginnen wir mit der Reichshauptstadt. Schon
seit mehreren Jahren ist man dort mit dem Bau
einer grossen städtischen Anstalt bei Buch be¬
schäftigt. Der diesjährige Bericht theilt mit, dass die
Eröffnung dieser Anstalt bis 1905 hat hinausge¬
schoben werden müssen. Zugleich hat man be-
lechnet, dass auch diese Anstalt noch nicht aus¬
reichen wird, um alle von der Stadt zu verpflegenden
Kranken unterzubringen und plant darum sogleich
noch eine weitere Anstalt, die ebenfalls bei Buch
gebaut werden soll.
Auch in verschiedenen preussischen Provinzen
sind neue Anstalten theils geplant, theils im Bau,
so in Posen, wo bei Meseritz eine grosse Anstalt
gebaut wird, in Westphalen, in der Rheinpro-
vinz, deren neue Anstalt bei Süchteln voraus¬
sichtlich im kommenden Frühjahr theilweise dem Be¬
trieb übergeben werden soll. Die Berichte enthalten
darüber nichts.
Leu b us berichtet, dass man auf dem Anstalts¬
gute Städtel-Leubus mit dem Bau einer neuen An¬
stalt für 800 Kranke begonnen habe. Es ist beab¬
sichtigt, diese mit der alten Anstalt unter eine Leit¬
ung zu vereinigen, und zwar soll die öffentliche An¬
stalt in den Neubau verlegt, die alten Anstaltsge¬
bäude zu einer billigen Pensionsanstalt eingerichtet
werden.
Der Münchener Bericht vom Jahre 1902
schildert kurz den Fortgang der Bauarbeiten an der
neuen Anstalt bei Eglfing. . Auch dort hat man die
Eröffnung hinausgeschoben. Im neuen Bericht pro
1903 ist merkwürdiger Weise gar nicht die Rede
davon.
Der niederösterreichische Landesausschuss
berichtet über die Erwerbung eines umfangreichen
Geländes im Wiener Gemeindebezirk zur Erricht¬
ung neuer Anstalten, welche die bisherige Wiener
Landesirrenanstalt ersetzen sollen. Man plante ur¬
sprünglich 2 Heilanstalten zu je 1000 Betten, hat
aber neuerdings beschlossen, die Kranken der I. und
II. Klasse auszuscheiden und für sie eine gesonderte
Anstalt zu bauen. Das Bauprogramm ist fertig ge¬
stellt; man baut eine Heilanstalt mit 800 Betten,
eine Pflegeanstalt mit 900 Betten, und ein Pensionat
mit 300 Betten.
In Ungarn sind an verschiedenen Hospitälern
neue Irrenabtheilungen eröffnet worden. Die Erbau¬
ung einer neuen Staatsirrenanstalt steht in Aussicht.
In der Schweiz wird im Kanton Appenzell
eine neue Anstalt im Krombach Herisau gebaut.
Die Pläne sind ausgearbeitet, mit den Arbeiten soll
alsbald begonnen werden.
Zu diesen z. Z. noch im Bau befindlichen An¬
stalten kommen sodann mehrere bereits vollendete,
welche über die Eröffnung oder das eiste Arbeits¬
jahr berichten.
Da ist zunächst Treptow zu erwähnen, das
zwar schon im Jahre 1900 eröffnet worden ist, aber
jetzt den ersten Bericht herausgiebt. Man hat bei
der Anlage der Anstalt an der üblichen symmetrischen
Gruppirung der Gebäude festgehalten, weil diese die
technischen Einrichtungen, Dampf-, Wasser-, elek¬
trische Leitungen, erleichtert. Durchwehe Uneben¬
heiten des Terrains wird bewirkt, dass die Symmetrie
das Auge nicht stört, sondern doch malerische Wirk¬
ungen erzielt werden.
Das Anstaltsgebiet ist nicht eingefriedigt. Die
Gärten sind mit 1 m hohen Zäunen, nur die der
Unruhigen und Gefährlichen mit Mauern umgeben.
Vorn liegt das Verwaltungsgebäude, dessen Flügel
Wohnungen enthalten, weiter in der Mittelachse das
Wirthschaftsgebäude mit Koch-, Waschküche und
Magazin, dann Kesselhaus und W r asserthurm, Spritzen-
und Desinfectionshaus. Im Wirthschaftsgebäude ist
genügender Raum vorgesehen, um Kranke beschäftigen
zu können. In den Nebenräumen des Kesselhauses
sind die erforderlichen Werkstätten und Maschinen,
Pumpen , Enteisenungsapparat, Hauptkessel für die
Whirmwasserbcreitung, elektrische Beleuchtungsanlage.
Digitized by
Gck gle
Original fram
HARVARD UNiVERSITY
Treptow a. Rega. Ansicht von Nordwesten.
368
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 38.
Ferner auch Centralbäder für Männer und Frauen, liehst ähnlich zu machen, hat man bei ihnen auf
Von der Mittelachse liegen westlich die Männer-, alle Centralanlagen verzichtet, man heizt sie mit
östlich die Frauenhäuser. In der Nähe des Ver- Kachelöfen und beleuchtet sie mit Petroleum.
Dann folgen die Aufnahme-Wachabtheilungen.
Sie enthalten in ihrem einzigen Stockwerk 2 Wach-
säle zu 18 Betten. Besondere Tagesräume sind nicht
vorgesehen. Die Wascheinrichtungen befinden sich
in den Sälen selbst. Jeder Wachsal hat ein Closet,
das in einer nach aussen vorspringenden Nische
steht, welche durch eine Glasthür verschlossen ist,
sodass auch dort die Kranken der Aufsicht nicht
entzogen sind. Bei jedem Wachsaal liegen noch 2
Einzelzimmer. Ferner hat jede Abtheilung 2 Bade¬
zimmer mit je 2 Wannen, und zwar hat man innen
verzinnte Kupferwannen gewählt. An Nebenräumen:
Besuchszimmer, Spülküche, Garderoberaum; Assistenz¬
arztwohnung; Erholungszimmer für Pflegepersonal.
Mit diesen Wachabtheilungen sind die Häuser
für Unruhige durch einen festen Gang verbunden,
um die häufigen Versetzungen zwischen beiden zu
erleichtern. Sonst stehen alle Häuser frei.
Die Häuser für Unruhige haben 50 Plätze. Im
Erdgeschoss befinden sich 2 grosse Tagesräume und
ein Wachsaal für 15 Betten , mit Nischencloset,
Badezimmer und zwei Einzelzimmern. Ferner ein
Corridor mit 4 Isolirzimmern, die aber nicht mehr
benutzt werden und umgebaut werden sollen. Im
obern Stock sind Schlafräume. — Leider ist nicht
gesagt, wie viele Badewannen für die Unruhigen
vorgesehen sind. 15 Wachsaalplätze für Unruhige
ist bei der Grösse der Anstalt wohl etwas wenig.
In den Häusern für Halbruhige mit je 50 Plätzen
sind Tag- und Schlaf räume verteil getrennt.
Die Häuser für Sieche enthalten 80 Betten. Jedes
Haus ist in 4 Einzelabtheilungen getheilt, deren jede,
unter Vermeidung von Corridoren, zwei doppelseitig
belichtete Liegesäle zu 10 Betten, sowie die er¬
forderlichen Nebenräume, enthält. Abseits im Walde
liegen noch 2 kleine Häuser für ansteckende Kranke.
In den Aufnahmeabtheilungen sind die Fenster
vergittert, die Häuser für Halbruhige haben drei-
theilige Fenster. Alle andern Häuser haben Fenster
gewöhnlicher Form mit Dornverschlüssen.
Verwaltungsgebäude und Siechenhäuser haben
Dampfwarmwasserheizung, die übrigen Häuser Dampf¬
luftheizung. — Die Beleuchtung ist elektrisch.
Die Fussböden sind mit Linoleum auf Cement-
grundlage belegt. Die Badezimmer, Aborte etc., so¬
wie die Infectionshäuser haben Terazzofussböden.
waltungsgebäudes liegen zunächst einige offene Land- Das Wasser wird aus 4 Tiefbrunnen in der
häuser. Um sie gewöhnlichen Wohnhäusern mög- Nähe des Kesselhauses gepumpt, und passirt zu.
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1 9 ° 4 -]
nächst eine Enteisenungsanlage, dann einen Filter¬
apparat.
Die Closets haben durchweg Wasserspülung; Fae-
calien und Abwässer werden in einem unterirdischen
grossen Behälter gesammelt und von da auf die
Rieselfelder gepumpt. —
Ihren ersten Jahresbericht veröffentlicht ferner
die neue bayrische Kreisirrenanstalt Ansbach. Die
Inbetriebsetzung, sowie die mancherlei anfänglichen
Schwierigkeiten, werden in diesem Bericht geschil¬
dert. Ueber die bauliche Anlage und die Einricht¬
ungen der Anstalt enthält er jedoch leider nichts.
Württemberg beschreibt ausführlich die neue
Anstalt W e i n s b e r g, welche freilich zur Berichts¬
zeit noch nicht in Betrieb gesetzt war, vielmehr
hat der auf das Frühjahr 1904 festgesetzte Eröff¬
nungstermin wieder verschoben werden müssen, weil
die innere Ausstattung noch nicht fertig war. — Die
Beschreibung und einige Abbildungen der Anstalt
finden sich in Nr. 1—3 dieses Jahrgangs der psych.-
neurol. Wochenschrift.
Sachsen berichtet über die am 1. März 1902
erfolgte Eröffnung der neuen Heil- und Pflegeanstalt
Grossschweidnitz. Bezgl. Bau und Einricht¬
ungen wird auf eine beabsichtigte besondere Publi-
cation des Directors Kreil verwiesen, und im Be¬
richt nur eine summarische Darstellung gegeben.
Die Anstalt ist nach dem kolonialen System er¬
baut und hat in 19 Häusern 524 Plätze. Die Männer¬
abtheilung umfasst:
1 Haus für 18 ruhige Kranke I. und II. Kl.,
1 Haus für 14 überwachungsbedürftige und un¬
ruhige Kranke I. und II. Kl.,
369
3 Häuser für je 30 ruhige Kranke III. Kl.,
2 Häuser für je 30 halbruhige Kranke III. Kl.,
1 Haus für 30 unruhige Kranke III. Kl.,
1 Haus für 20 überwachungsbedürftige und 10
sieche Kranke III. Kl.
Die Frauenabtheilung hat im Allgemeinen die
gleichen Gebäude, nur ist dort noch ein drittes Haus
für Halbruhige vorhanden, und das Haus für Un¬
ruhige hat 40 Plätze.
Man glaubt, dass die Zahl der vorhandenen
Plätze für längere Zeit dem Bedürfniss genügen wird;
doch ist es zweifelhaft ob die Verhältnisszahl der
Plätze für unruhige und überwachungsbedürftige zu
der der Ruhigen richtig getroffen ist.
Die Leitungen der Centralheizanlage liegen in
begehbaren Kanälen von 1800 m Länge. In den¬
selben Kanälen liegen auch die elektrischen Leitungen
für die Beleuchtung. Um diese kostspielige Kanal¬
anlage nicht zu sehr ausdehnen zu müssen, hat man
die Häuser zum Theil etwas näher zusammengestellt,
als sonst wünschenswerth wäre.
Das Wasser wird durch eine Leitung vom Ab¬
hange des Berges Kottmar her geliefert. — Die Ab¬
wässer gehen durch eine Kläranlage nach dem bio¬
logischen Verfahren und werden dann in einen Blich
geleitet.
Ueber die Anstalt Dösen hat das Hochbauamt
der Stadt Leipzig einen reich illustrirten eigenen
Bericht herausgegeben. Die Abbildungen sind von
der psychiatrisch-neurologischen Wochenschrift bereits
zum Theil im Jahrgang 5, Nr. 23, gebracht worden.
Eine Beschreibung der Anstalt konnte ich schon im
vorigen Jahre nach dem sächsischen Jahresberichte
bringen. (Fortsetzung folgt.)
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Mitthei lungen.
— X. Versammlung mitteldeutscher Psy¬
chiater und Neurologen in Halle a. S. am 22.
und 23. October 1904. I. Sitzung. Vorsitzender:
Herr Ganser. (Schluss.)
9. Herr Hoppe-Uchtspringe: Bedeutung der
Jonentheorie für die Behandlung der Epileptiker.
Durch die Arbeiten von van d’Hoff, Alz¬
heimer u. a. ist unsere Einsicht in die Wirkung der
Salzlösungen wesentlich gefördert worden. Da der Zu¬
satz eines neuen Gases auf die Dissociation des ursprüng¬
lich im Raume vorhandenen ohne Einfluss ist, wenn
das neue Gas keines der Dissociationsproducte des
alten enthielt, dasselbe Gesetz aber auch für die
Lösungen gilt, so ist der Zusatz eines neuen Salzes
auf die Dissociation einer Salzlösung ohne Einfluss,
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wenn die beiden Salze keine gemeinsamen
Jonen haben. Diese Thatsache ist für die Wirkung
der Desinfcction und vieler arzneilicher Salzlösungen
von grosser Bedeutung. Der beliebte Zusatz von
Kochsalz zu einer Sublimatlösung (z. B. Angerer’s
Pastillen) lässt die desinficirende Kraft bedeutend
zurückgehen. Ebenso ist z. B. die Combination von
Halogenen mit denselben Alkalimetallen (KBr+KJ),
das Verordnen von Salzen mit anderen verwandten
„brausenden Salzen“ irrationell, da sofort die Disso¬
ciation , d. h. die Zahl der activen Moleküle und
somit auch die chemische Wirkung bedeutend zurück¬
geht. Fügt man zu einer Bromnatriumlösung Chlor¬
natrium, so wird sofort die Dissociation, ,die Br-
Wirkung eine geringere. Je weniger also bei einer
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370
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 38.
Na Br-Verordnung Na CI im Essen verabfolgt wird, genau kennen, besonders auch die Ausscheidungs-
desto stärker ist die Br-Wirkung, desto weniger Na Br fähigkeit seiner Nieren eine Woche lang beobachtet
braucht man, um dieselbe Wirkung zu erzielen. Diese haben, sind wir im Stande, das richtige Mittel m
Thatsache erklärt ungezwungen die Erfolge der geeigneter Form zu verordnen. (Autoreferat.)
Toulouse-Richet’sehen Behandlung, wenn auch x Q . Herr S t e g m a n n - Dresden: Casuistischer Bei-
diese Autoren zunächst von anderen Theorien aus- trag zur Behandlung der Neurosen mittels der kathar-
gingen. — Von den 3 gebräuchlichsten Br-Präparaten tischen Methode (nach Freud).
(NaBr, KBr und Bromalin) erhöht Na Br am meisten Vortr. hat in den letzten Jahren, theils im Dresdner
den osmotischen Druck im Blute, etwas weniger die Stadt-Irrenhause, theils in der Privatpraxis, mehrere
beiden anderen. Um festzustellen, wie die Nieren, Kranke mit verschiedenen Neurosen nach der kathar-
welche in erster Linie die Ausscheidung der Salze tischen Methode behandelt; 3 dieser Fälle erwähnt
zu bewirken und die normale Concentration des Blutes er nur kurz und bespricht einen ausführlicher. Hier
(ausgedrückt durch den Gefrierpunkt Ü) wieder herzu- handelte es sich um eine an Angst Schlaflosigkeit,
stellen haben, sich den verschiedenen Salzen gegenüber Reizbarkeit und gelegentlich auftretenden Sinnes¬
verhalten, erhielten 2 Epileptiker (mit völlig functions- täuschungen leidende Patientin, die zunächst längere
fähigen Nieren) 6 Wochen gemischte Kost 6 weitere Zeit in der Anstalt behandelt wurde, wo jedoch,
Wochen dieselbe Kost mit Zusatz von 2,0 KBr., 2 trotzdem man ihr besondere Sorgfalt widmete, ein
andere Epileptiker unter denselben Bedingungen durchgreifender Erfolg nicht erzielt wurde. Man
2,0 Na Br., endlich 2 weitere entsprechenden Na CI- erreichte zwar, dass sie sich in der Anstalt regel-
bezw. KCl-Zusatz. Während dieser Zeit wurde die mässig beschäftigte, auch Hess sich durch Suggestion
Ausscheidung des N und der Salze sowie der Gefrier- [ m hypnotischen Schlaf vorübergehend ruhigere Stim-
punkt des Urins täglich festgestellt. Es stellte sich mung erzielen, doch blieben die siörendsten Symptome
heraus, dass bei diesen Epileptikern die K-Salze bestehen und auch das Körpergewicht blieb niedrig,
grössere Anforderungen an die Arbeitsleistung der Die Behandlung mit Hypnose wurde, weil sie keinen
Ausscheidungsorgane stellten als die entsprechenden dauernden Erfolg erkennen Hess, nur 3 Monate lang
Mengen von Na-Salzen. Die chemische Untersuchung fortgesetzt und Patientin wurde nach weiteren 6
ergab hierbei, dass die K-Salze schneller und stärker Monaten ungeheilt von ihren Angehörigen aus der
ausgeschieden werden, dass sie sogar dem Körper Anstalt abgeholt, nachdem sie kurz zuvor einen durch
etwas von seinem Salzgehalte entziehen und daher Sinnestäuschungen veranlassten Selbstmordversuch ge-
bei salzarmer Kost durchaus nicht am Platze sind. mac ht hatte. Sie stellte sich bald darauf wegen weiterer
Da sie nur kürzere Zeit im Körper verweilen, wirken Verschlechterung ihres Befindens in der Anstalts-
sie auch bei Kranken (mit gesunder Niere) zunächst Sprechstunde vor und wurde von da ab durch Vortr.
weniger toxisch und plarmakognomisch, mit anderen ambulant weiter behandelt. Durch spontane Mit-
Worten langsamer. Anders ist jedoch die Aus- theilungen der Patientin kam Vortr. auf den Gedanken,
Scheidung bei den vielen Kranken, deren Nieren durch s i e nach der Freud’schen Methode auszufragen und
vieles Mediciniren, Infectionskrankheiten, Herzstö- da dies im Wachen nicht vollständig gelang, wurde
rungen etc. zwar nicht direct erkrankt, aber in ihrer es in tiefer Hypnose fortgesetzt mit dem Erfolg, dass
Leistungsfähigkeit geschädigt sind. Da die K-Salze Patientin umso freier wurde, je weiter die Analyse
grössere Ansprüche an diese Leistungsfähigkeit stellen, fortschritt. Die reproducirten Erinnerungen stellten
bleiben sie hier stärker zurück, wirken deshalb wesent- zum Theil psychische Traumen aus dem sexuellen
lieh toxischer als die entsprechenden NaBr-Mengen. Gebiet dar, zum Theil aber auch — und zwar
Der grösste Theil der eingeführten Br-Salze befindet anscheinend unabhängig von diesen — solche, die
sich im Serum; wird es von dort infolge herabgesetzter aus unglücklichen Verhältnissen im Elternhause ent-
Arbeitsfähigkeit der Nieren nicht genügend ausge- sprangen. Letztere stammten zumeist aus frühester
schieden, so wird es hauptsächlich in 2 Organen: Jugend und wurden bei der Analyse als letzte repro-
Nieren und Gehirn, abgelagert. Solche Kranke zeigen ducirt Vortr. nimmt an, dass hier die auf sexuelle
deshalb leicht Zeichen schwerer Br-Intoxication. Ueber Dinge bezüglichen Gedankenreihen eine Neurose zur
das Wirken und Verbleiben der Br-Salze im Organis- Entwicklung brachten, für welche die früheren Kind¬
mus haben Nenck i, Tessel u. a. werthvolle Arbeiten heits-Erinnerungen nichtsexueller Art den Boden be-
geliefert. Die Resultate dieser Untersuchungen dürfen re itet hatten. Patientin ist seit Herbst 1902 halb,
jedoch nicht ohne weiteres auf den Menschen über- se it Frühjahr 1904 ganz erwerbsfähig und hat bisher
tragen werden. Auch die an einzelnen Menschen keine Neubildung krankmachender Reminiscenzen er-
angestellten Untersuchungen gelten nicht für die All- kennen lassen; das Körpergewicht ist beträchtlich
gemeinheit, da die Ausscheidung individuell sehr ver- gestiegen. — Vortr. bespricht dann eine Kranke,
schieden, in der Hauptsache durch die Nieren t>eein- deren mit Zwangsvorstellungen und motorischen
flusst wird, was in der Lauden heimer sehen Störungen einhergehende Neurose, durch Anwendung
Arbeit zu wenig berücksichtigt ist, weiter aber sehr der Freud’schen Methode, wesentlich gebessert wurde
vom Salzgehalt der Nahrung und schliesslich auch un d weiter einen Fall von migräneartigem Kopf-
noch von der Wahl des Br-Präparates abhängt. Da schmerz, der gleichfalls günstig beeinflusst wurde; in
wir die Br-Salze oft jahrelang in Anwendung bringen, beiden Fällen wurde Arbeitsfähigkeit in sehr an-
können wir uns auch mit der Anordnung Zeit lassen, strengendem Beruf erzielt. Endlich bespricht Vortr.
Erst wenn wir den Kranken nach allen Richtungen einen Kranken, bei dem sich seit 1903 eigentümliche
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I 9°4-]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
37i
Krampferscheinungen im rechten Arm eingestellt hatten
im Anschluss an einen seit 1885 bestehenden Schreib¬
krampf. Hier hat die Behandlung in kurzer Zeit
überraschende Ergebnisse zu Tage gefördert und
schon jetzt eine Besserung der zuletzt aufgetretenen
Krampferscheinungen gebracht.
Vortr. weist auf die Schwierigkeiten des Verfahrens
hin und meint, dass grosse Vorsicht und Zurückhaltung
in der Fragestellung unerlässlich sei. Für einzelne
Fälle scheint ihm aber die kathartische Methode
unentbehrlich und jeder anderen Behandlungsweise
überlegen zu sein. (Eigenbericht.)
Discussion:
Herr Binswanger hat die Methode auch an¬
gewandt, wenn auch nicht mit so günstigem Erfolge
wie Vortr. Wenn der Erfolg eintritt, tritt er bald ein,
jahrelange Fortsetzung der Behandlung führt nach
seiner Erfahrung* nicht zu weiteren Resultaten. Bei
dem intensiven Befragen besteht die Gefahr, dass die
Patienten allerhand Dinge noch dazu erfinden und
eine Art Bekenntnisssucht kriegen, die dann der Arzt
schwer wieder los werden kann.
Herr Stegmann hat besonders betont, dass er
bei den Fragen stets zurückhaltend und vorsichtig
vorgegangen ist und keine Nöthigung angewandt hat.
Seine Erfolge, die noch nach jahrelangen Bemühungen
zu voller Arbeitsfähigkeit führten, sprechen gegen die
ungünstigeren Erfahrungen Binswangers.
H. Haenel-Dresden.
— Russland. Dr. Awtokratow, bevollmächtigter
Arzt am Lazarett für geisteskranke Soldaten, berichtet,
dass vom 23. September bis zum 30. October a. St.
in Moskau 94 Geisteskranke aus dem fernen Osten
eintrafen. An Psychiatern herrsche auf dem Kriegs¬
schauplätze kein Mangel, wohl aber an dem nöthigen
Wartepersonal. Sammelpunkte, resp. Lazarette für
geisteskranke Militärs wurden in Charbin, Tschita,
Omsk und Krassnojarsk eingerichtet.
— Fulda. Für die Provinz - Idiotenanstalt „St.
Antoniusheim“ ist auf dem westlich hochgelegenen
Münsterfeld ein Baugelände von 30000 qm. Grösse
erworben worden; die Anlage der Anstalt ist zur Auf¬
nahme von 450 — 500 Idioten berechnet. Vorläufig
ist erst ein Drittel des Knabenhauses für 50—55
Pfleglinge fertig und gestern durch den Bischof
non Fulda in Gegenwart des Landeshauptmanns
Frhrn. v. Riedesel zu Eisenbach und verschiedener
Vertreter königlicher und städtischer Behörden einge¬
weiht worden. Der dreistöckige Theilbau des Barm¬
herzigkeitshauses kostet bis jetzt rund 100 000 M.
— Rheinprovinz. Der Hülfsverein für
Geisteskranke in der Rheinprovinz hatte auf 1.
Dez. Nachmittag seine Mitglieder in die Lesegesell¬
schaft zur zweiten Hauptversammlung eingeladen. Der
Vorsitzende, Herr Sanitätsrath Dr. Peretti (Grafen¬
berg), eröffnete die Versammlung mit der Begrüssung
des Hm. Oberpräsidenten Nasse, des Hrn. Dechant
Kribb en (Düsseldorf) als Vertreter des Hrn. Kardinals
Fischer, des Hrn.Generalsuperintendenten Umbeck
(Koblenz), des Hrn. Geheimralhs Pelm an n (Bonn)
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und der übrigen Anwesenden. Dem Bericht des
Vorsitzenden über die Thätigkeit des am 8. November
1901 gegründeten Vereins ist zu entnehmen, dass die
Mitgliederzahl auf 5432 sich beziffert, was gegen das
Vorjahr einen Zuwachs von 1121 Mitgliedern bedeutet.
Es sei nicht zu verhehlen, dass leider in den grösseren
Städten das Interesse für den Verein verhältnissmässig
zu wünschen übrig lässt. Wenn dem Vereine gegen¬
über eine ablehnende Haltung schon angenommen
worden sei mit der Begründung, dass die Sorge für
die Geisteskranken und ihre Angehörigen Sache der
Armenverbände sei, so sei dem entgegenzuhalten, dass
der Verein gerade da eintreten wolle, wo gesetzliche
Verpflichtungen der Kommunal verbände nicht vor¬
liegen. An Unterstützungen wurden im Berichtsjahre
8974,84 M. ausgegeben, beinahe 1000 M. mehr als
im Vorjahre; ausserdem wurden aus den Zinsen der
Stiftung des früheren Hülfsvereins für Geisteskranke im
Regierungsbezirk Düsseldorf 1834,30 M. verteilt Das
Vereins vermögen beträgt gegenwärtig 26370 M. Eine
Anregung geht dahin, Anschluss an verwandte Vereine
zu suchen, z. B. an den Verein gegen den Missbrauch
geistiger Getränke, an den Verein für Nervenheilstätten;
ferner sollen Vertraueosmännerversammlungen einbe¬
rufen und auch Frauen zur Thätigkeit als Vertrauens¬
personen herangezogen werden. Der vorgelegte
Statutenentwurf wurde genehmigt. Dem Ausschuss
sollen nach den neuen Statuten der Landeshauptmann
der Rheinprovinz, der Weihbischof von Köln und der
Generalsuperintendent der Rheinprovinz als geborene
Mitglieder angehören. Die Herren Oberpräsident
Nasse, Landeshauptmann a. D. Klein und Geheim-
rath Pelmann (Bonn) wurden zu Ehrenmitgliedern
ernannt. Hr. Dr. Brosius (Sayn) verbreitete sich
hierauf in einem Vortrage über die Geschichte der
Irrenhülfsvereine; der erste wurde im Jahre 1829
vom Vorsteher der Anstalt Eberbach in Hessen
gegründet. Hr. Director Dr. Herting (Galkhausen)
gab durch Verlesung von oft rührenden Dank- und
Bittgesuchen, die an den Verein gerichtet wurden,
interessante Detailbeiträge zum Bericht über die
practische Thätigkeit des Irrenhülfsvereins.
Referate.
— Sommer: Beiträge zur psychiatrischen
Klinik. Bd. I, Heft 2.
Manfred Fuhrmann: Analyse des Vor¬
stellungsmaterials bei epileptischem Schwach¬
sinn.
Verf. stellte an drei Epileptikern Associationsver¬
suche in der Weise an, dass er bestimmte und aus¬
gewählte Worte als Reize auf die associative Sphäre
derselben einwirken Mess. Aus den gewonnenen
Reaktionen ergab sich eine Procentzahl -— die Asso¬
ciationsweite — die ausdrückt, wieviel neue ver¬
schiedenartige Reaktionen bei dem betr. Individuum
auf 100 verschiedene Reizworte bei der durch einen
gewissen Zeitraum getrennten Versuchsreihe zur Beob¬
achtung kamen. Die Associationsweite ist nach
seinen Untersuchungen bei demselben Individuum
eine coustante Zahl und variirt beim Normalen
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372
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 38.
zwischen 80—85%. Bei seinen psychopathischen
Versuchspersonen blieb dieselbe weit unter dieser
Zahl. Man konnte also den Grund des Schwach¬
sinns in Zahlen ausdrücken.
Es ergaben sich bei diesen Versuchen noch einige
Momente, die dem Verf. für den epileptischen
Schwachsinn charakteristisch erscheinen; besonders
interessant ist das Auftreten der sog. „unbewussten
Reaktionen“, die blitzschnell kommen und aufzufassen
sind als das Lautwerden innerster unbewusster Zu¬
stände, die auf irgend einen Reiz ohne sonstigen Zu¬
sammenhang mit diesem ans Licht treten. Ferner
die bedeutende Verlängerung der Reaktionszeit, die
Monotonie der Reaktionen und der Reaktionsweise.
Köster: Zur Frage der Beziehungen
körperlicher und geistiger Krankheiten zu
einander.
Verf. bespricht unter gedrängter Anführung einer
Reihe von Krankengeschichten die prognostische Be¬
deutung dieser Frage. Der erste Theil der Betracht¬
ungen erstreckt sich auf die Beeinflussung psychischer
Krankheitsbilder durch begleitende körperliche Krank¬
heiten : es kann das Krankheitsbild und -Verlauf
durch ein körperliches Leiden völlig modifidrt
werden; die körperliche Erkrankung kann die An¬
fangserscheinungen einer prognostisch ungünstigen
Psychose ganz veischleiern; die Psychose kann durch
die körperliche Krankheit so vermindert werden, dass
ihre Symptome in einem unberechtigt ungünstigen
Licht erscheinen.
Im zweiten Theil wird die Modification körper¬
licher Krankheitsbilder durch Psychosen besprochen:
es kann durch Erschwerung der Diagnose des soma¬
tischen Leidens zu gefährlichen Complikationen
kommen; das körperliche Leiden wird durch Hinzu¬
treten einer an sich als günstig zu prognosticirenden
Psychose so verschlimmert, dass ein ungünstiger Aus¬
gang sich einstellt.
Hornung: Beitrag zur Kenntniss der
Alkoholwirkung auf motorische Funktionen
des Menschen.
Es handelt sich um die Deutung der sogenannten
„Fallkurven“. Der bei den Versuchen zu Tage
tretende Mangel an motorischen Hemmungen wird
vom Verf. übereinstimmend bei erethisch Schwach¬
sinnigen und bei acuter Alkoholintoxikation gefunden.
A. Ilegar.
Bibliographie
über Kriminal-Anthropologie und Verwandtes.
II. Quartal 1904.
Von Mcdicinalrath Dr. P. Näcke in Hubertusburg
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Sommer: Kriminalpsychologie und strafrechtliche
Psychopathologie etc. Leipzig, Barth, 1904.
Personal nachrichten.
— Lublinitz. Dr. Klinke, bisher Oberarzt
an der Prov.-Irrenanstalt zu Brieg, wurde zum
Director der Prov.-IIcil- und Pflegeanstalt zu Lubli¬
nitz ernannt.
— Stephansfeld. Oberarzt Dr. Ran so ho ff
ist zum Direktor der Anstalten Stephansfeld-Hördt
ernannt worden.
J ur den redui tnim-ilen Theil verantwortlich : Oberar/t Dr. J'. Breslt-r, Lubl.riitz i Srh esien).
Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der I nsera t enannuh rar 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag ven Carl Marti old in Halle a. S
Heynetnann’sche Buchdruckerei (Gebr. Wo'fb ir< Halle .1. S.
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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift.
Redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. B realer,
Lublinit* (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hai lesaale. Fernsprecher 2834.
Nr. 39. _____ 24. Dezember. 1904.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die jspaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten.
Abonnements-Erneuerung.
Wir bitten die Bestellung auf die „Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift“ baldigst zu
erneuern, damit die Weiterlieferung ohne Störung geschehen kann.
Diejenigen unserer geschätzten Abonnenten, welche die Wochenschrift
durch die Post empfangen, erhalten dieselbe weiter, sofern eine Abbestellung nicht
erfolgt.
Expedition und Verlag
Carl JWarhold in Halle a. S.
Dritter Bericht über die Fortschritte des Irrenwesens.
Nach den Anstaltsjahresberichten erstattet
von Dr. Deiters in Bonn, früher in Andernach.
(Fortsetzung.)
Die neue Anstalt bei Alt-Strelitz ist am
21. August 1902 bezogen und zugleich die alte
aufgelöst worden. Eine Beschreibung der Anstalt
bringt der Bericht nicht, sondern verweist auf eine
Publication darüber in der allgemeinen Zeitschrift für
Psychiatrie, Bd. 60.
In Nied eröster r eich ist im Juni 1902 die
Anslalt Mauer-Oehling eröffnet worden. Es
wird über die letzten Bauarbeiten und die Eröffnung
berichtet und ausführlich das Statut der Anstalt mit-
getheilt. Eine Beschreibung wird jedoch nicht gegeben.
Eine solche nebst Lageplan und zahlreichen Ab¬
bildungen befindet sich in der Psychiatrisch-Neuro¬
logischen Wochenschrift 1902, Jahrgang IV, S. 251.
Ausser diesen ganz neuen Anstalten ist ferner
noch über zahlreiche Erweiterungs- und Neubauten
von älteren Anstalten zu berichten. Es können hier
natürlich nur die grösseren und wichtigeren Berück¬
sichtigung finden, und auch diese nur in aller Kürze.
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Eberswalde hat neue Aufnahmehäuser eröffnet,
über deren Inbetriebsetzung mit Befriedigung be¬
richtet wird. Sorau hat ein neues Frauenhaus in
Gebrauch genommen und von der Versetzung der
Kranken in freundlichere Umgebung manchen gün¬
stigen Einfluss beobachtet.
Lengerich hat ausser einigen wirthschaftlichen
Neubauten und Beamten wormungen zwei neue Auf¬
nahmeabtheilungen eröffnet, mit Centralheizung und
elektrischer Beleuchtung. Demnächst sollen die alten
Isolirabtheilungen umgebaut werden. — In Münster
ist eine neue Aufnahme- und Wachabtheilung, ein
Haus für halbruhige und eins für ruhige Kranke be¬
legt worden.
In Rybnik wurde in der Kolonie Rudamühle
ein Männerlandhaus für 30 Kranke erbaut.
In Conradstein sind wiederum 2 Häuser
fertiggestellt worden, und zwar Beobachtungs- und
Ueberwachungsabtheilungen im Wesentlichen für chro-
Qriginal from
HARVARD UNIVERSITY
374
PSYCHIATRISCH-NEU ROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 39.
nisch Kranke, je eine für Männer und für Frauen.
„Sie enthalten im Wesentlichen vier Liegesäle zu
je 15 Betten, für je 2 Säle einen Tagesraum und
geräumige Badezimmer zur Anwendung von Dauer¬
bädern für erregte Kranke. Für je 15 Kranke ist
ein Isolirzimmer vorgesehen, es finden sich sonach
4 in jedem dieser Häuser.“ Die Fenster sind un¬
vergittert. Im Bau sind noch 4 Häuser, für Bett¬
lägerige und für Unsociale und Gefährliche.
Kosten berichtet über die Erbauung einer An¬
zahl von Gebäuden für jugendliche bildungs- und
sirung der alten Anstalt. Es wird ein umfang¬
reiches Reformproject mitgetheilt, welches der Haupt¬
sache nach umfasst: 1. den Neubau je eines Pavil¬
lons für unruhige Kranke auf jeder Geschlechtsseite;
2. Gewinnung geeigneter Wachsäle für Ruhige und
Halbruhige durch innere Umbauten in der alten
Anstalt.
Die beiden neuen Pavillons waren zur Zeit des
ersten Berichtes bereits fertig gestellt. Sie sind ein¬
ander ganz gleich. Jeder besteht aus 2 Abthei¬
lungen, von denen die eine der Heil-, die andere der
Winnenthal, Ueberwachungshaus für unruhige weibliche Kranke. Grundriss des Erdgeschosses.
beschäftigungsfähige Idioten und Epileptiker, und
zwar 2 Knaben- und 2 Mädchen-Pavillons, 1 Pavillon
für Kinder unter 9 Jahren, 1 Lazarett und 1 Schul¬
gebäude. Ferner sind dort für die Irrenpflegeanstalt
2 Aufnahmehäuser erbaut worden.
Winnenthal theilt den Grundriss eines neuen
Ueberwachungshauses für unruhige Frauen mit. Ein
früherer Zellenbau ist dort in eine Abtheilung für
Bettbehandlung umgebaut worden. Ferner ist dort
der Bau einer landwirtschaftlichen Kolonie, be¬
stehend aus 2 Wohn- und 2 Stallgebäuden, fertigge¬
stellt worden.
In II len au arbeitet man eifrig an der Moderni-
Pflegeabtheilung angehört. Jede Unterabtheilung ent¬
hält einen kleineren und einen grösseren Wachsaal,
die dun h eine grosse Flügelthür verbunden sind.
Beim grossem Saal liegt ein Einzelzimmer und gegen¬
über ein Bad mit 2 Wannen. Von den kleinern
führt eine Thür direct in den Garten, eine andere
in einen Corridor, auf den 5 Isolirzimmer münden.
Fussböden: Parkett in Asphalt. Niederdruckdampf¬
heizung. Die Gärten haben versenkte Mauern. Jeder
der Pavillons hat 36 Plätze.
Ferner sind noch 2 neue Landhäuser mit im
Ganzen 46 Plätzen gebaut worden, deren Vollendung
der 2. Bericht mittheilt.
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I 9°4-]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
375
In diesem wird denn auch über die durch Um¬
bau gewonnenen Beobachtungsabtheilungen für Ruhige
und Halbruhige berichtet, welche inzwischen auf der
Männerseite zur Ausführung gelangt sind. Auch sie
zerfallen in je zwei Unterabtheilungen für Heil- und
Pflegeabthpilung. Die Halbruhigen sind im ersten,
die Ruhigen im zweiten Stock untergebracht. Jede
Unterabtheilung hat einen grösseren Wachsaal, einige
Einzelzimmer, Spülküche, Bad mit mehreren eisen-
emaillirten Wannen, Besuchszimmer. Bei den Halb¬
ruhigen ist noch ein kleinerer Wachsaal für Kranke
besserer Stände vorgesehen.
einen Wachpavillon mit 21 Betten und ein Haus für
Reconvalescenten und Pfleglinge mit 40 Betten. Um¬
fangreiche Bauarbeiten waren in Königslutter zur
Sicherung gegen Feuersgefahr nothwendig.
In Niedernhart soll auf der Frauenabtheilung
ein Pavillon zu 180 Betten gebaut werden, zu dem
der Bericht die Projecte mittheilt.
Wil beschreibt im Bericht 1902 wiederum ein
neues Gebäude, welches zur Unterbringung ruhiger
Männer bestimmt ist. Im folgenden Bericht wird
die Vollendung eines ganz gleichen Hauses für Frauen
mitgetheilt.
. zu F.INf-W w ach TAVU.l-UN
rt>R cit_
m £üLAN£T£LT KCZNIGAU iTTP.R.
Königslutter, Wachpavillon.
Ausserdem sollen noch die Wirthschafiseinricht-
unsren, Küche, Waschküche und Maschinenhaus
nach aussen verlegt und dadurch im Innern für Ver¬
waltungszwecke Raum gewonnen werden.
Die Freiburger Klinik berichtet über den Neu¬
bau eines Dauerbades mit 5 festen und 2—3 trans¬
portablen Wannen. Die Wannen werden von einer
an der Wand angebrachten verschliessbaren Central¬
mischstelle aus gefüllt.
In Königslutter konnte durch Einführung
der Familienpflege der Ueberfüllung nur vorüber¬
gehend abgeholfen werden. Es musste daher zu
Neubauten geschritten werden, und zwar baut man
gegenwärtig 4 Pavillons, für jede Geschlechtsseite
Burghölzli berichtet über die Eröffnung eines
neues Wachsaales, ohne ihn näher zu beschreiben.
Bei Anstaltsbauten hat die Fussbodenfrage
noch immer keine durchaus befriedigende Lösung
gefunden. Aesthetische Gründe verleiten immer
wieder dazu, Eichenriemenparkett zu wählen, das ja
schön gebohnt und gut gepflegt immer schön aus¬
sieht. Hygienisch ist es leider anfechtbar, weil es
nicht viel Wasser vertragen kann, und nasse Behand¬
lung der Fussböden ist doch wohl in Krankenräumen
ein unbedingtes Erforderniss. Auch haben gehöhnte
Fussböden den Nachtheil, dass sie das Personal mit
übermässig viel Arbeit belasten, und dass sie durch
ihre Glätte den Kranken Gelegenheit zum Fallen geben.
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376 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 39 .
Osnabrück hat mit solchem Boden böse Er- Emmendingen hat man den Eichenriemen -
fahrungen gemacht. Ein neu angelegtes Parkett hat boden mit einer neuen Lackart „Chinoleum“ ver¬
sieh dort „derartig geworfen, dass es vollständig sehen, was den Erfolg hat, dass „er stets feucht auf-
wieder entfernt werden musste. Der Unternehmer genommen werden kann und im Gegensatz zu der
schiebt dies auf übermässige Wasserbehandlung, die sonstigen Behandlung dieser Böden, dem Abschleifen,
Anstalt auf mangelhafte Anlage. Nach dem, was Wichsen und Bürsten, sehr leicht und bequem für
ich von anderen Anstalten gehört habe, kann das ^ as Pflegepersonal zu behandeln ist. Auch fällt bei
Parkett sehr wohl so gelegt werden, dass es ein tüch- dieser Behandlung die oft unangenehme und nic^
ja mir 1
Königslutter, Wachpavillon *
tiges, ausgiebiges Scheuern verträgt. Wäre dies nicht ungefährliche Glätte des Fussbodens weg.“
möglich, so wäre ein Parkett in derartigen Abtheil- Fr ei bürg (Schlesien) hat in einigen Räumen
ungen überhaupt nicht zu gebrauchen.“ Letzteres ist Papvrolithfussböden gelegt, die sich aber nicht be-
auch meine Meinung. währen, sondern schon nach kurzer Zeit Sprünge und
Im Potsdamer Wilhelmstift behandelte man Risse bekommen,
den Fussboden mit „staubfreiem Oel“ (Dustless-Oel) Die Wasserversorgung macht in Rybnik
und ist mit dem Erfolge zufrieden. Ich kann darin ernste Schwierigkeit. Man hat dort getrennte Leit-
nur einen Nothbehelf erblicken. Die Wasserbehand- ungen für Trink- und Wirthschaftswasser und das
lung ist doch wohl vorzuziehen. Letztere ist in hohem Grade anfechtbar. Es ent-
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1904 .]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
377
hält viel Humussäure und Eisen, ist trotz aller Rei¬
nigungsvorrichtungen niemals ganz klar, und greift
die Leitungsröhren stark an. Man plant eine grosse
Anlage zur Enteisenung und Filtrirung, doch sollen
vorher noch Versuche [gemacht werden, auf dem An¬
staltsgebiete anderes Wasser zu finden.
In Münster ist ein neuer Röhrenbrunnen an¬
gelegt und das Wasser verschiedenen Chemikern zur
Untersuchung gesandt* worden. Die Gutachten der
Chemiker werden im Bericht mitgetheilt und es wirkt
Quellgebiet Wasser in einer Menge von 16 Sekunden¬
litern zuführt.
I Henau besitzt seit 93 eine gemeinsame Wasser¬
leitung mit der Stadt Achem, welche einer Grund¬
wasserader im Acherthal entstammt. Auf die Anstalt
entfällt ein Drittel der vorhandenen Wassermenge.
In den letzten Jahren trat bei trockener Jahreszeit
bisweilen Wassermangel ein. Es wurde darum in
der Nähe der alten Quelle eine neue Wasserader
gefasst, und nun ist bis auf weiteres der Bedarf ge-
Aufnahmehaus der Anstalt für Epileptische zu Potsdam.
fast komisch, wie verschieden sie lauten. Auf Grund
zweier Gutachten wurde es in Gebrauch genommen,
doch stellte sich bald heraus, dass es in hohem
Grade zerstörend auf alle Metallbehälter und Rohr¬
leitungen wirkte, was auf seinen hohen Gehalt an
Salpetersäure und salpetersauren Salzen zurückzu¬
führen ist. — Der neue Bericht theilt nun mit, dass
der neue Brunnen wieder ausser Gebrauch gesetzt
werden ist.
In Gabersee ist eine neue Wasserleitung fertig¬
gestellt w’orden, welche aus einem 3 km entfernten
deckt. Sollte mit der Zeit bei höherer Inanspruch¬
nahme die Menge nicht mehr ausreichen, so ist be¬
absichtigt, für Wirthschaftszwecke die alte Grund¬
wasserleitung wieder in Gebrauch zu nehmen.
In Königsfelden ist das vorhandene Wasser
zu beanstanden. Der Umstand, dass es sich nach
starken Regengüssen trübt, weist darauf hin, dass
einzelne Quellen ungenügend gefasst sind. Sach¬
verständige Untersuchung bestätigte dies. Man hat
in der Nähe eine gute und ergiebige Quelle gefunden,
deren Zuleitung beabsichtigt ist. Das beanstandete
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HARVARD UNfVERSITY
37»
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 39.
Wasser soll dann noch zur Speisung der Fontänen
und zur Spülung der Kanäle Verwendung finden.
Für die Abfuhr hat Gabersee ein Projekt für
Schwemmkanalisation ausgearbeitet.
Illenau hat bisher am Tonnensystem festge¬
halten und ist zufrieden. Zur Verhütung des Geruchs
wird eine Saprollösung verwendet. Die andern Ab¬
wässer werden in die Kanalisation von Achern ge¬
leitet.
Im Burghölzli machen sich die alten Jauche¬
gruben unangenehm bemerkbar. Es ist darum ein
Projekt für Kanalisation, im Anschluss an die städtische
Kanalisation, ausgearbeitet worden.
Zur Beleuchtung hat Göttingen in seinen
Neubauten elektrisches Nernstlicht eingeführt, das
sich gut bewährt.
Königsfelden hat in der Küche einen Ent¬
nebelungsapparat angebracht, dessen Princip darin
besteht, dass heisse trockene Luft durch ein an der
Decke befindliches Röhrensystem in die Küche hinein-
gepresst wird.
IV. Gesundheitszustand.
Der Bericht der oberösterreichischen Landesirren¬
anstalt Niedernhart bringt eine statistische Arbeit
von Ganhör über die Verbreitung und Prophylaxe
der Tuberkulose. Nach kurzem historischem
Ueberblick wird darin das Material der Anstalt ver¬
arbeitet und daraus berechnet, dass unter den Todes¬
fällen bei den Männern 17,3, bei den Frauen 25,28%,
im Ganzen also 20,47% der Tuberkulose zur Last
fallen. Auf die Gesammtzahl der Verpflegten be¬
rechnet fanden sich auf 1000 Männer 70,7, auf
1000 Frauen 76,4, für alle zusammen also 73,4 °/oo
Todesfälle an Tuberkulose. Die entsprechenden
Zahlen bei der freilebenden Bevölkerung können ja
nicht mit gleicher Genauigkeit festgestellt werden,
aber das ergiebt sich doch mit Sicherheit, dass „unter
den Anstaltsinsassen die Tuberkulose mehr verbreitet
ist, als unter der Bevölkerung im Allgemeinen“.
Weiter wird zahlenmässig dargethan, dass bei Ueber-
füllung der Anstalten das Verhältniss noch ungün¬
stiger wird. Unter Zugrundelegung der Annahme,
dass die mittlere Dauer der Erkrankung 3 V2 — 4
Jahre beträgt, wird ferner berechnet, dass bei etwa
V3 der Fälle die Infection in der Anstalt erfolgt.
In einem Schlusskapitel wird die Prophylaxe ein¬
gehend besprochen, und, sofern die Errichtung
eines eigenen Tuberkulose-Pavillons nach Starlinger’s
Vorschlag unmöglich ist , zum Mindesten eine eigene
Tuberkulose-Abtheilung gefordert Dem ist entgegen
zu halten, dass in manchen Anstalten die Zahl der
Tuberkulösen so gering ist, dass sie eine eigene Ab¬
theilung bei weitem nicht füllen würden. Das ist
z. B. bei uns in Andernach der Fall.
Schliesslich giebt Ganhör einen Entwurf zu einer
Hausordnung für die Tuberkulose-AbtheiluDg, der
hier wiedergegeben sei:
„1. Rauchen ist in allen Räumlichkeiten der Ab¬
theilung sowohl für Kranke als auch für Wärter un¬
bedingt untersagt.
2. Die Wärter dürfen ihre Mahlzeiten nicht in
den für die Kranken bestimmten Räumlichkeiten ein¬
nehmen.
3. Vor Verlassen der Abtheilung, insbesondere
vor jeder Mahlzeit, wird den Wärtern die peinlichste
Reinigung der Hände zur Pflicht gemacht.
4. Die Kranken sind nach Möglichkeit dazu an¬
zuhalten, ebenfalls vor jeder Mahlzeit Mund und Hände
zu reinigen.
5. Auf der Abtheilung ist überall die peinlichste
Reinlichkeit zu beobachten. Mit besonderer Sorgfalt
ist jede Staubentwicklung zu vermeiden. Fussböden
und Wände sind täglich wenigstens einmal (am besten
mit heisser Seifenlösung) feucht abzuwischen; ebenso
sind die Bettgestelle täglich zu reinigen.
6. Der Kehricht ist zu verbrennen. Die Fuss-
bodenlappen werden täglich in heisser Lauge gekocht.
7. Verspuckter Auswurf ist sofort auf das sorg¬
fältigste aufzuwischen und die Stelle mit Lysollösung
abzuwaschen.
8. Ein von einem Kranken benutztes Bett darf
nur nach vorheriger Desinfection von einem andern
Kranken benutzt werden. Die Desinfection des Bett¬
zeugs erfolgt im Dampfsterilisator.
9. Beschmutzte Bett- und Leibwäsche sowie Sack¬
tücher sind durch wenigstens 5 Minuten in heisser
Lauge zu kochen, bevor sie in die Wäscherei abge¬
liefert werden.
10. Reinigen von Kleidern und Schuhen, sowie
ev. von Teppichen etc., ist nur in dem hierzu be¬
stimmten Raume gestattet.
11. Esszeug und Gläser sind stets mit heissem
Wasser zu reinigen.
12. Spucknäpfe und Closets sind stets mit kochen¬
dem Wasser zu reinigen und täglich einmal mit Lysol¬
lösung auszuspülen.
13. Isolirzimmer sind bei jedesmaliger Verlegung
aufs Gewissenhafteste mit heisser Seifenlösung zu
reinigen.
14. Alle Räume müssen stets (auch nachts) gut
gelüftet und gleichmässig temperirt sein. Zugluft ist
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i go4.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 379
zu vermeiden. Dem Sonnenlichte ist möglichst un¬
gehindert Eingang zu "verschaffen.“
In den Berichten steht bei Besprechung des Ge¬
sundheitszustandes die Tuberkulose im Vordergrund.
Rybnik theilt mit, dass die Zahl der Tuberkulösen
auf der Frauenseite so zugenommen habe, dass eine
strikte Separirung nicht mehr durchführbar sei. Es
ist deshalb die Errichtung einer Absonderungsbaracke
für Tuberkulöse mit etwg, 25—30 Plätzen beantragt
worden, aber vorläufig noch ohne Erfolg.
Wie ausserordentlich verschieden die Zahl der
Tuberkulösen in verschiedenen Anstalten ist, zeigt
anschaulich die Zusammenstellung des rheinischen
Berichtes. Es fand sich Tuberkulose als Todesur¬
sache in
Grafenberg 2,6%
Galkhausen 2,8 „
Andernach 8,8 „
Bonn 17,2 „
Merzig 25,7 „ .
Die Zahlen von Grafen berg und Galk¬
hausen sind so exorbitant niedrig, zumal wenn
man bedenkt, dass Grafenberg unter steter Ueber-
füllung leidet,"dass es interessant wäre, den Ursachen
nachzuforschen.
Eine ähnliche Zusammenstellung bringt der Würt-
temberger Bericht. Dort betrug die Zahl der Todes¬
fälle an Tuberkulose, in Procent der Gesammtmorta-
lität berechnet:
in Weissenau 42%
„ Zwiefalten 30 „
„ Schussenried 19 „
„ Winnenthal 10 „ .
Im sächsischen Bericht wird berechnet, dass
etwa 16,6% der Todesfälle der Tuberkulose zur Last
fielen.
Es ist bekannt, dass in Idiotenanstalten die Tuber¬
kulose besonders häufig ist. Bei den Eigenarten
dieser Kranken ist das verständlich. Kosten theilt
mit, dass unter seinen Todesfällen 44% tuberkulös
waren. Rastenburg klagt, dass dort die Tuber¬
kulosesterblichkeit eine Höhe erieiche, wie nirgends
sonst. In Procent der Gesammtverpflegten berechnet,
beträgt dort die Tuberkulosesterblichkeit 6,25%,
während eine Rundfrage bei andern Anstalten eine
mittlere Tuberkulosesterblichkeit von 1,36% ergeben
hat, und Wulff auf Grund der Berichte von 46
deutschen Idioten-Anstalten 2,1—2,4% berechnet
(Fortsetzung folgt.)
Eine neue Methode der Epilepsiebehandlung.
Von Dr. Alexander B. Szabö , Specialarzt in Budapest.
I~^\ie Behandlung der Epilepsie giebt dem praktischen
Arzt ein schwer zu lösendes Problem auf. Dies
ist leicht zu begreifen, wenn man sich vergegenwärtigt,
dass die Entstehungsbedingungen dieser Krankheit
äusserst complicirte, Sitz und Wesen des Leidens zu¬
meist in Dunkel gehüllt sind, eine causale Therapie
mithin von vornherein nur wenig aussichtsvoll und
selten durchführbar erscheint. Man bleibt also fast
allein auf den therapeutischen Versuch angewiesen.
Und thatsächlich behauptet die Empirie auf diesem
Gebiete der Heilkunde bis heute eine unbestrittene
Herrschaft.
Ein solches auf Empirie gegründetes therapeutisches
Heilverfahren soll im Folgenden behandelt werden.
Es ist allgemein bekannt, dass die Einführung der
Brommetalle eine förmliche Umwälzung in der Epi¬
lepsiebehandlung hervorgebracht hat. Und das ist
durchaus nicht zu verwundern. Man forscht im ganzen
grossen Arzneischatz vergebens nach Mitteln, die an
sedativer Wirksamkeit auf die centrale Nervensubstanz
— dem muthmasslichen Sitze der Epilepsie — an
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diejenige der Bromide heranreichen würden. Wie
kommt es doch, dass in der Laien- und auch in der
ärztlichen Welt so mannigfache Vorurtheile gegen
eine dauernde Verwendung derselben bestehen? —
Wohl nur aus Angst vor den üblen Einwirkungen
der Bromide auf die physischen, psychischen und
sensiblen Functionen des Kranken. Dieser, der Brom¬
therapie anhaftende Uebelstand führte theils zur Suche
nach anderen, angeblich weniger gefährlichen Brom¬
präparaten, theils zur Combination der Bromsalze
mit anderen Antiepilepticis. Es steht nicht in meinem
Programm, all die angepriesenen Verfahren einer
Musterung zu unterziehen und noch viel weniger, sie
zum Gegenstände einer Kritik zu machen. Die Viel¬
heit dieser Experimente lässt darauf schliessen, dass
keines derselben den an sie geknüpften Erwartungen
vollkommen entsprochen hat.
Erwägungen dieser Art und die Erkenntniss der
Unzulänglichkeit der bisherigen Behandlungsmethoden
regten in mir den Gedanken an, — da ich von vorn¬
herein an der Ueberzeugung festhielt, dass das Heil
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HARVARD UN1VERSITY
380
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 39
nur in einer combinirten Behandlung zu suchen sei —
die Combination der Bromide mit anderen Arznei¬
mitteln zu versuchen, mit solchen, deren Bedeutung
für die Epilepsiebehandlung meiner Auffassung nach
bisher nicht die verdiente Beachtung gefunden und
die höchstens nur so nebenher verordnet wurden:
ich meine die grosse Classe der Roborantia und
Stimulantia.
Auch in meinen Verordnungen gegen Epilepsie
nehmen die Brompräparate den ihnen von altersher
gebührenden Platz und Rang ein, sie bilden gleich¬
sam die Achse, das Alpha und Omega, um das sich
die übrigen Arzneimittel gruppiren. Hierbei verfolge
ich einen doppelten Zweck: indem die angegliederten
Arzneistoffe den Heileffect der Bromide aufs Höchste
steigern, erfahren sie durch ihre enge Verbindung
mit denselben gewissermaassen eine Verstärkung ihrer
eigenen Wirkungspotenz. Es scheint eine Art von
Wechselwirkung zu sein, die hier zu Stande kommt.
Um dieser combinativen Verbindung die beabsichtigte
Wirkung voll und ganz abzugewinnen, erscheint es
geboten, alle diese Substanzen in einem Medicamente
zu vereinigen, indem die Erfahrung lehrt, dass eine
Vollwirkung durch getrennte Verabreichung nicht zu
erzielen ist.
Zweck und Sinn der eben gekennzeichneten
Methode werden nachstehende zwei Receptformeln,
die den constitutionellen Haupttypen der Epi¬
lepsie Rechnung tragen, am deutlichsten veranschau¬
lichen.
I.
Rp.:
Spec. lignor.
Fol. Senn.
F. decoct.-infus.
Sacch. pulv.
Kali bromat. |
Natr. „ f
Ammon. „
Liqu. a. Fowl.
Vin. malag.
Aqu. menth. ptt.
ut. f. Solut Ccm.
40,0— 60,0
20,0— 30,0
35o,o
200,0—500,0
aa. 50,0—ioo,o
2 5 >°— 5 °>°
5 >°— 15,0
150,0—250,0
qu. s.
1000
Ds.: Nach Vorschrift.
II.
Rp.: Aqu. d.
Sacch. p.
Kal. bromat. )
Natr. „ J aa
Ammon. „
Sal. Seignett.
Liqu. a. Fowl.
400,0
50,0—100,0
25,0— 50,0
5,0— 15,0
Tinct ferr. pomat 50,0—100,0
Vin. malag. 150,0—250,0
Aqu. m. pt qu. s.
ut f. Solut Ccm 1000
Ds.: Nach Vorschrift
Composition 1 verwende ich vorwiegend bei voll¬
saftigem, robustem und pastösem Habitus, während
Formel II hauptsächlich bei mageren, anämischen,
grazilen und erethischen Naturen in Anwendung kommt
Um eine präcise Dosirung zu ermöglichen, ver¬
wende ich graduirte Maassgläser von 1—30 Ccm. —
Hierdurch ist es in meine Hände gegeben, sowohl
die Einzel- als die Tagesdosis in der durch die Eigen¬
art des Falles und die Individualität des Kranken be¬
dingten Menge auf das Genaueste festzustellen.
Wenn man die oft laxe und unzuverlässige Hand¬
habung der Dosirung in der Privatpraxis betrachtet
und andererseits erwägt, von welch einschneidender
Wichtigkeit eine streng genaue Absteckung der Arznei¬
dosen in der Epilepsie ist, so wird die Bedeutsamkeit
dieser Maassregel von selbst einleuchten. — Von obigen
Mixturen verwende ich 10—15 Theilstriche 3 mal
täglich.
Wie aus obiger Zusammenstellung hervorgeht, ist
die Combination der Bromide mit Liqu. ars. Fowleri
und Vin. malagense beiden Formeln gemeinsam.
Diese Verbindung ist das Stationäre, das Bleibende,
das in allen meinen Verschreibungen wiederkehrt.
Wie erwähnt, bin ich vielleicht mehr aus intuitiver Ein¬
gebung als aus theoretischen Erwägungen auf den
Gedanken gekommen, die Tonica zur Hauptwirkung
in der Epilepsiebehandlung heranzuziehen. Die Ver¬
suche, die ich nach dieser Richtung anstellte und die
günstigen Heilergebnisse, die sie im Gefolge hatten,
bestärkten mich vollends von der Richtigkeit meines
Ausgangspunktes; sie mussten aber lange fortgesetzt
werden, bis ich aus der Reihe der für diesen Zweck
in Betracht kommenden Arzneimittel die geeignetste
Auswahl treffen und das Verfahren für die Praxis
festzulegen vermochte.
Das Endergebniss meiner Experimente und Be¬
obachtungen ist in obigen Combinationsformen aus¬
gedrückt. Entscheidend für die getroffene Auswahl
der Mittel war der grössere therapeutische Erfolg,
den ich mit denselben im Vergleiche zu anderen
Combinationen mit Mitteln dieser Gruppe erzielte.
Seitdem ich diese Methode befolge, kann ich, ohne
eine Uebertreibung zu begehen, behaupten, dass ich
mit derselben einigermaassen sicher operire, ich wage
mich an die schweren und inveterirten Fälle heran,
und habe nachhaltige Erfolge zu verzeichnen, dort,
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Original frnm
HARVARD UNIVERSITY
1904.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 381
wo andere Mittel und Verfahren vollends versagten.
— Doch möchte ich beileibe nicht missverstanden
werden. Auch die Wirkungsfähigkeit meines Ver¬
fahrens hat ihre Grenze — eine natürliche Grenze,
die durch das Mass des durch medicamentöse Behand¬
lung überhaupt Erreichbaren bedingt ist. — Kurz
und prägnant können die Ergebnisse meiner Heilungs¬
methode folgendermassen zusammengefasst werden;
Prompte Sistirung der epileptischen Anfälle, auf¬
fallende Besserung der Psyche und entschiedene
Hebung des allgemeinen Kräftezustandes.
Wie erklärt sich diese tiefgehende Wirkung, wenn
man bedenkt, dass die Verordnung von Brom mit
Arsen nicht neu ist und auch gegenwärtig vielfach
verwendet wird, ohne dass ein solch eclatanter Er¬
folg zu Tage treten würde? Nach meinen Erfahrungen
kann für mich kaum ein Zweifel bestehen, dass erst
durch das Hinzutreten des vin. malag. jener über¬
wiegende Einfluss zur Geltung kommt, der den ge¬
schilderten Heileffekt hervorbringt. Welchen Compo-
nenten die eigentliche Wirkung in diesen Fällen zu¬
zuschreiben ist, vermag ich nicht mit Sicherheit zu
entscheiden. Ob der Vin. Malag. durch seine nutri¬
tive, tonisirende und stimulirende Eigenschaften allein
wirkt, oder vielmehr die Collectivwirkung aller zur
Combination herangezogenen Arzneimittel erst den
Ausschlag giebt, muss ich dahin gestellt sein lassen.
Thatsache ist, dass ich durch diese Composition
ausserordentlich günstige Heilerfolge erzielt habe,
weit bessere, als ich sie durch andere Heilverfahren
herbeizuführen in der Lage war.
Weitere therapeutische, praktische und tactische
Vortheile dieser Methode hebe ich im folgenden hervor:
1. Durch die Einstellung der Spec. lignor Fol.
Senn, und des Liqu. ars. Fowl. verfolge ich den
weiteren Zweck, gegen die im Gefolge der Brom¬
therapie oft genug eintretenden üblen Begleit- und
Folgeerscheinungen in diesen Mitteln ein Gegen¬
gewicht zu schaffen. Ein Blick auf die Gruppirung
der Mittel wird darüber belehren, wie diese Gegen¬
wirkung zu Stande kommt. Die Spec. lignor, und
Fol. Senn, veranlassen durch Anregung einer kräftigen
Diurese und Darmperistaltik die Eliminirung der die
Schädlichkeiten hervorbringenden Bromcomponenten
auf kürzestem Wege, während die Solut. Fowl. der
Entstehung der Bromacne spezifisch entgegenwirkt.
— Wo gegen die Darreichung der Diuretica und
Drastica Bedenken ob walten, suche ich die Secretionen
durch mildere, weniger eingreifende Mittel in Gang
zu erhalten. — Aus dem Umstande, dass ich in
meiner Praxis — obzwar ich vor grossen (8—10 g
pro die) Bromdosen durchaus nicht zurückschrecke
— fast niemals in die Nothwendigkeit versetzt wurde,
die Kur wegen schweren Bromerscheinungen einzu¬
stellen, schliesse ich, dass nebst den erwähnten auch
die übrigen Bestandtheile, also die Gesammtcomposition
auch nach dieser Richtung einen heilsamen Einfluss
entwickeln.
2. Durch meine Kurmethode habe ich in Händen
den Kranken festzuhalten, ihn gleichsam an die Kur
zu binden. Dadurch, dass ich meine Verordnungen
für längere Dauer, in der Regel für Monatsfrist treffe,
also für eine Zeit, die schon halbwegs einen Ueber-
blick und ein Urtheil gestattet — welches nebenbei
gesagt, fast immer zu Gunsten der Kur lautet —
erreiche ich, dass der Kranke mit aller Macht sich
an die ihm augenscheinlichen Nutzen bringende Kur
klammert und nicht von ihr lassen will. Das ist
allerdings nur ein tactisches Moment, aber ein solches,
das dem Heilzweck und dem Kranken in gleicher
Weise zu gute kommt
3. Es ist leider eine bekannte, von Aerzten oft
unangenehm genug empfundene Wahrnehmung, dass
viele Kranke durch vergebliche Heilversuche in ihrem
Glauben an eine mögliche Heilbarkeit ihres Leidens
wankend geworden, eine fast unüberwindliche Ab¬
neigung gegen weiteren Bromgebrauch an den Tag
legen. Solche Kranke, deren Zustand bei richtiger
Behandlung noch Chancen einer Besserung oder selbst
Heilung darbieten würde, greifen willig nach einem
Präparat, in welchem die Bromide gewissermassen
von einem schützenden Wall verschiedener Heil¬
substanzen umstellt Vorkommen — wie ich ähnliches
in meiner Praxis nicht selten erlebt habe.
4. Durch die Corrigentien gewinnt die Mixtur
einen fast angenehm zu nennenden Geschmack, durch
welchen das Salz nur wenig durchschlägt und bei¬
nahe ganz verdeckt wird. Dies ist bei einem für
längeren Gebrauch bestimmten Heilmittel ein nicht
zu unterschätzender Vorzug, der besonders in der
Kinderpraxis sehr in die Waagschale fällt.
Alle die aufgezählten Momente sind leider zum
Nachtheil der Kranken bisher viel zu wenig gewürdigt
worden.
Das grosse Heer der diätetisch-hygienischen,
hydrotherapeutischen, galvanischen und mechanischen
Hilfsmittel ist für eine rationelle Therapie der Epi¬
lepsie ebenso unentbehrlich, wie die medicamentöse
Therapie, wenngleich letztere naturgemäss den Vor¬
rang behauptet. Analog den Indicationen, die für eine
Zweitheilung meiner medicamentösen Verordnungen
— den konstitutionellen Haupttypen entsprechend —
bestimmend waren, lasse ich mich bei Feststellung
des Regimens von den gleichen Gesichtspunkten
382
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
leiten. Speziell bei schwächlichen nervösen, anämi¬
schen, rhachitischen Patienten achte ich darauf, dass
das roborirende Moment parallel mit der medicamen-
tösen Behandlung auf der ganzen Linie der Diätetik
und Hygiene zur vollsten Geltung gelange. Mich
in nähere Details zu ergehen, halte ich nicht für
nothwendig.
Die geschilderten heilkräftigen Eigenschaften und
besonderen Vortheile meiner Kurmethode verleihen
derselben die Eignung zur Anwendung auf einem
räumlichen Gebiete, das gemeinhin als Domäne des
Geheimmittelwesens betrachtet wird, — die Eignung
für die Fembehandlung. Ich stehe nicht an zu er¬
klären, dass ich von derselben Gebrauch mache, je¬
doch nur unter streng umschriebenen Modalitäten
und Vorbehalten. Wo es nur irgend angeht, suche
ich den Hausarzt der Kranken zur Mitwirkung heran¬
zuziehen. In solchen Fällen gehe ich auf die Fem¬
behandlung unbedenklich ein, unter steter Bedachtnahme
[Nr. 39.
darauf, dass die unerlässliche ärztliche Ueberwachung
und Controlle während des ganzen Verlaufes der
Behandlung hinreichend gesichert werde.
Im Vorangehenden war ich bestrebt, die Grund-
principien meiner Behandlungsmethode in möglichst
klarer Anschaulichkeit darzulegen. Die Attribute, die
derselben Werth und Rang einer neuen Errungenschaft
gewährleisten, sind:
I. Die Combination der Brompräparate mit Arznei¬
mitteln aus der Gruppe der Tonica, insbesondere mit
Vin. malagense.
II. Form und Methodik der Anwendung.
Ich übergebe mein Heilverfahren der Beurtheilung
der Fachkreise. Doch möge man sehen, prüfen, er¬
proben und dann erst urtheilen. Ich bin mir dessen
bewusst, durch Veröffentlichung eines überaus kraft-
und wirkungsvollen Heilverfahrens der Epilepsiebe¬
handlung einen neuen Weg gewiesen zu haben.
Mitthei lungen.
— Bericht über die 73. ordentliche Ver¬
sammlung des Psychiatrischen Vereins der
Rheinprovinz am 11. Juni 1904 in Bonn.
I. Geschäftliche Mitteilungen.
Der Vorsitzende Pelman gedenkt zu Beginn
der Sitzung des Todes von Jolly, Vorster-
Stephansfeld und Burghart -Herzberge. Die Ver-
sammlung richtet an das erkrankte Vorstandsmitglied
Oebeke ein Telegramm.
Pelman verliest sodann einen Erlass des
Preussischen Justizministers vom 21. März 04, durch
welchen der Ministerialerlass vom 1. October 02 be¬
züglich der Thätigkeit der Sachverständigen im Ent¬
mündigungsverfahren zu Gunsten der Psychiater ab¬
geändert wird.
Im Anschluss hieran berichtet Fabricius, dass
ein Insasse seiner Anstalt im Entmündigungsverfahren
sämmtliche Anstaltsärzte als befangen ablehnte und
dass das Landgericht diese Beschwerde anerkannt
habe.
II. Vorträge.
1. R. Focrster-Bonn: a) Beitrag zur Pathologie
des Lesens und Schreibens.
Vortr. berichtet über 2 Fälle aus dem Hospital
Bicetre in Paris (Abtheilung von Prof. P. Marie), die
er im vergangenen Winter in der Pariser „Socicte
de Neurologie“ vorgestellt hat. Es handelt sich um zwei
ausgesprochene Imbezille im Alter von 21 und 27
fahren. Der erste Patient, ein typischer Achondro-
plasc, vermag jeden vorgelegten geschriebenen oder
gedruckten Text richtig abzuschreiben, ohne jedoch
dessen Sinn zu verstehen. Beim Copircn zeichnet
er die Buchstaben nicht etwa nach wie die Linien
einer Zeichenvorlage, sondern er kann die Druck¬
lettern recht schnell in die entsprechenden Schrift¬
zeichen umsetzen. Spontan vermag er nur drei ihm
sehr geläufige Namen zu schreiben. Die Zahlen von
1 bis 40 benennt er leidlich richtig und schreibt sie
auch auf Dictat hin. Der zweite Kranke bietet eine
ganz ähnliche Störung; er copirt weniger gut,
buchstabiert aber besser und hat es in der Kenntniss
der Zahlen weiter gebracht.
Foerster führt diesen eigenartigen Symptomen-
complex, der unwillkürlich an die Störungen nach
localen Hirnläsionen erinnert und in der Litteratur
nicht häufig beschrieben ist, auf eine Entwicklungs¬
hemmung in den entsprechenden Centren zurück;
zum Theil liegt die Ursache wohl auch in
der Art des Unterrichts. Nach Ansicht des Vor¬
tragenden werden derartige Zustände als vorüber¬
gehende. Erscheinung in den Schulen für normale
und zurückgebliebene Kinder gar nicht so selten
beobachtet. Man sollte, wie dies bereits geschehen,
die geschilderte Störung nicht als ,,angeborene Wort¬
blindheit“ bezeichnen.
b) Vortr. demonstrirt hierauf:
a) einige von einem Paranoiker mit ungewöhn¬
lichem Geschick angefertigte Mordinstrumente,
ji) die zertrümmerten Porzellan- und Metalltheile
eines Bieiflaschenverschlusses, die ein Katatoniker
verschluckt und ohne Schaden par anum aus¬
geschieden hatte,
y) eine eigenartige Oberkiefer-Missbildung,
(V) die radiographische Aufnahme einer in der
Schädelhöhle befindlichen Kugel.
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1904.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 383
2. Brie- Grafenberg: Zur Kenntniss der Psychosen
nach Strangulationsversuch.
Brie berichtet nach einleitenden Bemerkungen
über die körperlichen und psychischen Störungen nach
Strangulation über einen von ihm beobachteten
interessanten Fall: Der 45jährige, von jeher etwas
beschränkte und dem Trünke ergebene Sammetweber
A. machte einen Nothzuchtversuch bei seiner Tochter.
Nach der Verhaftung versuchte er sich zu erhängen,
wurde jedoch noch rechtzeitig abgeschnitten. Nach
2 ständiger künstlicher Athmung Wiederkehr von
Athmung und Puls; gleichzeitig traten Krämpfe auf.
Bis zum folgenden Morgen Bewusstlosigkeit, noch
nach 4 Tagen Trübung des Bewusstseins. Einige
Zeit später machte eine tobsüchtige Erregung die
Anstaltspflege nothwendig. Dort wurde 2 Monate
hindurch ein eigenartiger Zustand von Benommenheit,
Apathie und Unbesinnlichkeit beobachtet, der einer
fortgeschrittenen Demenz glich und an den Korsa-
koff’schen Symptomencomplex erinnerte. Es trat
völlige Erholung ein, jedoch blieb eine retrograde
Amnesie zurück, die den Zeitraum von etwa zwei
Monaten vor dem Strangulationsversuch einschliesslich
der strafbaren Handlung umfasste; auch die Merk¬
fähigkeit war herabgesetzt. Keine hysterischen
Symptome. In der Hypnose erfolgten die gleichen
Angaben wie im wachen Zustande. Die Amnesie
besteht noch jetzt nach 10 Monaten fort. — A. wird
gleichwohl verurtheilt werden müssen, da bei ihm zur
Zeit der Begehung der That die Bedingungen des
§ 51 St. G. B. nicht zutrafen.
3. Beelit z - Tannenhof: Systematische Atropin-
curen bei periodischen Geistesstörungen.
Vortrag, hat bei 19 chronischen und 15 relativ
frischen Fällen von periodischen (meist katatonischen)
Psychosen die Hitzig’schen Atropininjektionen an¬
gewendet in systematisch steigenden Dosen von 0,2
mg bis höchstens 1,2 mg. Im allgemeinen Hess die
Erregung bei der eingeschlagenen Therapie nach, es
zeigte sich jedoch, dass gleichzeitig eine Verlängerung
der kranken Phase eintrat. Es ist rathsam, mit der
Cur schon vor dem Einsetzen der Erregung zu be¬
ginnen, jedoch ist dies leider nur seltener ausführ¬
bar.
4. T i pp e 1 - Kaiserswerth: Demonstration der Heiss¬
luftdusche nach Bier mit Bemerkungen über die da¬
mit gemachten Erfahrungen.
Nach einer Skizzirung von Bier's Untersuchungen
über die Heilwirkung der Hyperämie demonstrirt
Tippei den nach Bier’s Angaben von Esch-
b a u m in Bonn angefertigten Apparat für Heissluft¬
dusche, der wegen des verhältnissmässig niedrigen
Preises, der bequemen Handhabung und der leichten
Transportfähigkeit sehr zu empfehlen ist. Bei acut
auftretenden Neuralgieen und rheumatoiden Affectionen
hat Vortr. überraschend gute Erfolge zu verzeichnen,
namentlich bei Lumbago und Torticollis. Chronische
Zustände müssen lange behandelt werden.
Bier empfiehlt bei Gelenkaffectionen die An¬
wendung der Kastenapparate.
5. Sieber t-Bonn: Ueber die hypnotische
Wirkung des Neuronais.
Der Vortrag ist in No. 12 (vom 18. Juni 1904)
dieser Wochenschrift in extenso erschienen.
R. Foerster-Bonn.
— 74. ordentliche Generalversammlung des
Psychiatrischen Vereins der Rheinprovinz am
12. November 1904, nachm. 1V2 Uhr in Bonn im
Hotel Kley.
1. Vor der Tagesordnung: Herr Westphal:
Demonstration eines 47jährigen Kranken, der eine
beiderseitige atrophische Lähmung der kleinen Hand-
muskeln und der Peronealmuskulatur zeigte; dieselbe
war acut entstanden im 12. Lebensjahre als Folge
einer mit Convulsionen einhergehenden Krankheit
(Poliomyelitis anterior). Seit ca. 12 Jahren bestehen
bei dem Kranken auch rhytmische ticartige Be¬
wegungen des Kopfes, der Lippen- und Zungen¬
muskulatur, die bei Erregungen stärker werden. Infolge
einer Contraktur des rechten Cucullaris (oberen
Portion) und des rechten Sternocleidomastoideus wird
der Kopf nach hinten gezogen, das Gesicht nach oben
und links gedreht; der Kopf ist indes activ und passiv
frei beweglich. — Psychisch bietet der Kranke seit
vielen Jahren das Bild des manisch-depressiven Irreseins
mit vorwiegender Ausbildung der manischen Phasen.
Der Fall ist interessant wegen der Combination
dieser verschiedenen Erkrankungen, die sämmtlich
das gemein haben, dass sie zur Entwicklung gelangen
auf dem Boden eines von vornherein als minder-
werthig zu bezeichnenden Nervensystems.
Zur Discussion: Herr Fr. Schultze, Herr
H offmann, Herr Westphal.
2. Herr Foerster: Psychiatrische Streifzüge
durch Paris.
Der Vortragende schildert in eingehender Weise
die Verhältnisse an den Pariser Irrenanstalten und
die Eindrücke, die er von dem dortigen Betriebe
während eines längeren Aufenthaltes erhalten hat.
Für ein kurzes Referat ist der Vortrag nicht geeignet.
(Erscheint in extenso in der Münchener Medicin.
Wochenschrift.)
3. Herr Thomsen: Klinisches über Zwangs¬
vorstellungen.
Vortr. macht Mittheilungen über eine Reihe
interessanter Beobachtungen verschiedener Zwangs¬
zustände, darunter auch 2 Fälle von Zwangshalluci-
nationen. Er kommt zu dem Schlüsse, dass, auch
wenn man heute die alte Westphal’sche Definition
durchaus nicht in allen Punkten mehr aufrecht erhalten
könne, doch die neuerdings von Löwcnfeld ge¬
gebene Definition in ihrer sehr weiten Fassung nicht
geeignet sei, um die Zwangserscheinungen gegenüber
anderen psychischen Symptomen mit genügender
Schärfe abzugrenzen. (Der Vortrag wird in extenso
erscheinen.)
Zur Discussion: Herr Westphal, Herr Zach e r.
Herr Rumpf: Ueber Arteriosklerose.
Bei der noch unklaren Entstehungsweise der
Arteriosklerose hat Vortr. sich die Frage zu beant¬
worten gesucht, ob nicht Abweichungen in den
chemischen Bestandtheilen des Blutes und der Ge¬
webe mit den degenerativen Aenderungen der Gefässe
verbunden sind. Die Untersuchungen des Vortr.
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384 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 39.
erstreckten sich auf 13 Fälle, die z. T. mit Nephritis
eomplieirt waren. Bei uncomplicirter Arteriosklerose
fand er in der Aorta eine Vermehrung des Fett- und
Kalkgehaltes, im Blut viel Natrium, Kalium und
lösliches Calcium, dagegen wenig Chlor; einen ähn¬
lichen Befund ergaben Herz und Leber. In anderen
Fällen zeigte einmal das Magnesium, einmal das
Calcium sehr hohe Werthc, in vorgeschrittenen Fällen
trat neben der Vermehrung der Erdalkalien auch eine
Herabsetzung des Wassergehalts des Blutes — theil-
weise auch der Leber und des Herzens — in die
Erscheinung. Die mit Nephritis einhergehenden
Fälle zeigten neben diesem letzterwähnten Symptom
vielfach noch eine Erhöhung des Chlornatriumgehalts.
— Vortr. ist der Ansicht, dass die degenerative Ver¬
änderung der Gefässmuskulatur, die die Ablagerung
von Kalk in derselben ermögliche, vermuthlich zurück¬
zuführen sei auf toxische Einflüsse — bei Nephritis
Erschwerung der Ausscheidung der Erdmetalle! —,
daneben aber spielen wohl sicher auch andere Momente
noch eine grosse Rolle.
Im Anschluss hieran spricht Herr Fischer über
durch intravenöse Einführung von Adrcnalien bei
Kaninchen erzeugte Gcfässerkrankungen. (Demun-
stration von Präparaten.)
Herr Steiner: Ueber eine Neubildung im oberen
Halsrnark.
16jähriger junger Mann. Beginn der Erkrankung
mit Schmerzen bei Kopfbewegungen. Es bestand
Druckschmerzhaftigkeit der Wirbelsäule. Schwäche
der linken Extremitäten. Sehnenreflexe links ge¬
steigert, linksseitiger Fussklonus; in der linken Hand
Klauenstcllung und Contrakturcn. besonders der Streck¬
muskeln. Empfindung etwas herabgesetzt. — 7 Wochen
später auch rechts spastische Erscheinungen Ab¬
weichung des linken Auges und der Zunge nach
links. Beiderseits Stauungspapille. In den letzten
Tagen ante mortem Schluckbeschwerden und vertiefte
Athmung. Puls 100. Intelligenz intact. Die Diagnose
lautete auf Neubildung im oberen Halsmark mit
Metastase im Gehirn. — Bei der Sektion fand sich
ein wahrscheinlich vom 2. Halswirbel ausgehendes
bis hinauf zum Keilbeinrande reichendes Chondro¬
fibrom. Das Rückenmark war in der Gegend des
2. Halswirbels zu Bleistiftdicke eomprimirt. die Medulla
oblongata war nur einfach platt gedrückt. (Demon¬
stration des Präparates.) Kölpin-Bonn.
— Erlass betreffend Anzeigen über Aufnahme
und Entlassung von Ausländern in bezw. aus Privat¬
anstalten für Geisteskranke vom 3. Octobcr 1904.
Nach § <| der Anweisung über Unterbringung in
Privatanstalten für Geisteskranke, Epileptische und
Idioten vom 2 0. März 1901 bezw. dem dazu er¬
gangenen Erlass vom gleichen Tage (Min.-Bl. für
Medicinal- 11. s. w. Angelegenheiten S. 07 fg.), so¬
wie nach den späteren Erlassen vom ib. September
1901 (a. a. O. S. 269) und 27. Februar 1903 (a. a. O.
S. 144) ist die Aufnahme von Angehörigen anderer
deutschen Bundesstaaten oder von Ausländern in
derartige Anstalten und die Entlassung aus solchen
dem zuständigen Regierungspräsidenten und von
diesem gemäss dem Erlasse vom 5. August 1S82 —
M. d Inn. II. 7857 I, M. d. g. A. M. 4061 II —
dem Herrn Minister der auswärtigen Angelegenheiten
an zu zeigen.
Soweit Angehörige anderer Bundesstaaten in Frage
kommen, ist dieses Verfahren, durch welches die
Benachrichtigung des zuständigen Heimathsgerichts
gesichert werden sollte, durch die einheitliche Regel¬
ung des Entmündigungsverfahrens für das Deutsche
Reich in Verbindung mit den preussischerseits ge¬
troffenen Vorschriften über Benachrichtigung des
Ersten Staatsanwalts des für die Entmündigung zu¬
ständigen Gerichts entbehrlich geworden.
Wir bestimmen daher unter entsprechender Ab¬
änderung der genannten Erlasse, dass derartige An¬
zeigen über die Aufnahme oder Entlassung von
Personen in bezw. aus Privatanstalten für Geistes¬
kranke u. s. w. fortan nur noch bei Ausländern,
nicht aber mehr bei Angehörigen anderer deutscher
Bundesstaaten, an den zuständigen Regierungspräsi¬
denten und demnächst weiter an den Herrn Minister
der auswärtigen Angelegenheiten zu erstatten sind.
An die Herren Regierungspräsidenten
und den Herren Polizeipräsidenten in Berlin.
Abschrift theilen wir Ew. Excellenz zur gefälligen
Kenntnissnahme und Nachachtung bezüglich der
öffentlichen Anstalten ergebenst mit.
Berlin, den 3. October 1Q04.
Der Justizminister.
I. V.: K üntzel.
Der Minister der geistlichen, Unterrichls-
und Medicinal-Angelegenheiten.
I. A.: Förster.
Der Minister des Innern.
I. A.: Findig.
An den Herren Oberpräsidenten.
Personalnachrichten.
— Veränderungen bei den Pommcr-
sehen P r o v i n zia 1 - 1 r r en a n st a 1 1 e n :
1. Versetzt sind zum 15. Dezember 1004
der Oberarzt Dr. Encke von Lauen bürg nach
Ueckerm i'i n d e und der Oberarzt Dr. Deutsch
von Ueckermünde nach Dmenburg.
2. Angestellt sind: Dr. Luther, bisher
Assistenzarzt in N eustadt (Holstein) als Assistenzarzt
in Lauen bürg, Dr. Viola als Assistenzarzt in
Treptow a. R., Dr. Stelter als Volontärarzt in
Ue rkerm ü n de.
— Düssei darf-Graf e nberg. Der Assistenz¬
arzt Dr. Ennen ist zum III. Arzt der Prov.-Heil-
und Pflege-Anstalt in Andernach a. Rh. ernannt
worden.
— Bonn. Der Assistenzarzt der Prov.-Heil- und
Pflege-Anstalt, Privatdocent Dr Fo er st er ist zum
auswärtigen Mitglied der Soci e t e medico -psy cho-
logique in Paris ernannt worden. Dem Oberarzt
der Prov.-Heil- und Pflege-Anstalt Dr. Umpfenbach
ist der Charakter des Sanitätsrath verliehen worden.
— Bri eg. Dem Direktor der Prov.-Irrenanstalt
zu Bri eg Dr. Petcrsen ist der Charakter als
Sanitätsrath verliehen worden.
Erscheinlf3e3'en.Sonnabeni|. — S
□igitlzed by VjöOQlC
J ur den redaktionellen Thcil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Brevier, Lubhnitz (Schlesien).
— Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von C ;i ^ ^t.^r h p HaJle a. S
Heyncmann’schc Buchdruckerei (Gebr. \WlD in Halle a. S.
Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift.
Redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. B realer,
Lublinitz (Schlesien'.
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
TVinrr.-.\«lrr®M*: MarhoM V^rlae, Hall««a»ie. Fernsprecher 2834.
Nr. 40. 3 1 Dezember. 1904.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die jspaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ertnässigung ein.
Zuschriften für die Kedaction sind an Oberarzt Dr. T f >h. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten.
Dritter Bericht über die Fortschritte des Irrenwesens.
Nach den Anstaltsjahresberichten erstattet
von Dr. Deiters in Bonn, früher in Andernach.
(Fortsetzung.)
Auffallend viele Anstalten berichten in diesem
Jahre über das Vorkommen von Typhus. Bei den
meisten handelt es sich allerdings nur um vereinzelte
Fälle, und unter diesen konnte bei vielen eine Ein¬
schleppung von aussen nachgewiesen werden. Nicht
so selten lesen wir freilich auch, dass die Quelle der
Infektion nicht festgestellt werden konnte; das ist
immer etwas unheimlich, denn wenn man die Quelle
nicht kennt, kann man sie nicht verstopfen und muss
immer auf neue Fälle gefasst sein. Emmen dingen
berichtet über mehrere Fälle und fügt hinzu: „Der
Infectionsmodus konnte in keinem Falle wissenschaft¬
lich sicher festgestellt werden.“ In Lüneburg er¬
krankte eine schon lange in der Anstalt befindliche
Kranke; „der Weg der Infection ist räthselhaft, zumal
die Kranke sich auch nicht ausserhalb der Anstalt
bewegt hatte.“ Osnabrück hatte 2 Fälle und muss
bekennen: „Die Infectionsquelle ist trotz sorgfältigster
Nachforschung vollständig dunkel geblieben.“ Alt¬
scherbitz konnte mit Wahrscheinlichkeit naeh-
wcisen, dass der Krankheitskeim durch von den An¬
gehörigen mitgebrachte Genussmittel eingcschlcppt
war Auch einige Fälle in Hildes heim waren
wahrscheinlich durch von auswärts geschicktes Obst
entstanden.
In Düren trat wieder Typhus auf in demselben
Hause, das schon früher heimgesucht war, obwohl
inzwischen alles denkbare zur Assanirung geschehen
war. „Die Ursache des Typhus blieb unaufgeklärt.“
In einigen anderen rheinischen Anstalten kamen
nur sporadische Fälle vor.
In Dziekanka trat im Februar 1903 eine Epi¬
demie auf, die 23 Fälle umfasste und in der Mehr-
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zahl das Pflegepersonal betraf. Es konnte Einschlepp¬
ung aus Gnesen nachgewiesen werden.
Illenau berichtet über eine kleine Epidemie,
die schon im Dec. 1900 begonnen hatte und sich
mit einzelnen Ausläufern bis ins Jahr 1902 erstreckte.
„Der Tvphusherd konnte nicht festgestellt werden.“
In der Freiburger Klinik nahm die Seuche einen
solchen Umfang an, dass die Klinik durch ministe¬
rielle Verfügung mehrere Monate hindurch für Auf¬
nahmen gesperrt wurde. Eine systematische Blut¬
untersuchung auch nicht erkrankter Insassen ergab
einen auffallend hohen Procentsatz von Fällen mit
positiver Widal-Rcaction ohne entsprechende klinische
Erscheinungen.
Ga bei sec hatte schon seit längerer Zeit unter
häufigen Typhuserkrankungen zu leiden. 1902 kam
('s nac h kurzer Pause wieder zu einer ausgedehnten
Epidemie. Die Erwägungen führten darauf hin, dass
irgendwo im Boden der Typhuskeim enthalten sein
müsse und dass die unvollkommene Abfuhr (Tonnen-
system) und die nicht ausreichende Wasserversorgung
anzuschukligen seien. In beiden Punkten wurde da¬
her Romedur beschlossen. Der neue Bericht theilt
mit, dass die neue Wasserleitung bereits fertig ge¬
stellt und für Schwemmkanalisation ein Project aus¬
gearbeitet worden sei. Typhus ist im neuen Jahre
nur noch in einem Falle aufgetreten.
In Hördt Hessen sich beim Auftreten von Typhus
in dn überfüllten Anstalt Contactinfectionen nicht
ganz vermeiden. Man hat sich darum zum Bau von
Isolirbaracken, die bisher nicht vorhanden waren, ent¬
schlossen, und hat diese, für jede Geschlechtsseite
eine, bereits fertig gestellt. Auch Saargemünd
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HARVARD UNIVERSUM
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 40.
386
hatte eine kleine Epidemie, konnte aber die Quelle
nicht feststellen.
Der niederösterreichische Landesausschuss
berichtet über eine schwere Epidemie in der Siechen-
anstalt Allentsteig.
Die Influenza ist nun ja seit einer Reihe von
Jahren unser regelmässiger Gast in der rauhen Jahres¬
zeit und natürlicherweise macht sie sich auch in den
Anstalten unangenehm bemerkbar. Manche berichten
sogar über recht ausgedehnte Epidemien.
Aplerbeck berichtet über eine heftige Ruhr¬
epidemie, die sich über mehrere Monate erstrec kte
und im Ganzen 98 Personen befiel. In Bonn,
das im Vorjahre eine ausgedehnte Ruhrepidemie
hatte, kamen im Berichtsjahre nur noch vereinzelte
Fälle vor. Rybnik hatte eine Anzahl sehr hart¬
näckiger Ruhrfälle auf der Frauenabtheilung. Auch
K ie rli ng-G ugg i ng hatte fünf Fälle mit einem
Todesfall.
Kierli ng-G uggi 11g hatte' ausserdem in seiner
Kinderabtheilung eine Sch arl achepidemie. Die
gleiche Seuche hat in \Vuhlgurten die Frauenab¬
theilung heimgesucht.
Meerenberg hatte eine Malariaepidemie. In
Ungarn ist seit einer Reihe von Jahren Pellagra
endemisch aufgetreten, jetzt aber bereits wieder in
der Abnahme begriffen.
Buitenzorg wurde von einer Beri-Beri-
Epidemie heimgesucht. Früher war die Krankheit
in der Anstalt nur sporadisch aufgetreten, nahm aber
im Mai 1901 plötzlich grosse Verbreitung an. Man
machte Versuche mit einem neuen Heilmittel „Kat-
jang-idjoe“, der Bohne vom Phaseolus radiatus, mit
dem Ergebniss, dass das Mittel ohne Schaden längere
Zeit genommen werden kann , dass es sowohl pro-
phylactisch, sowie in frischen Fällen therapeutisch
sehr gut wirksam ist, auf veraltete Fälle dagegen
keinen Einfluss ausübt.
V. Behandlung und Pflege der Kranken.
a) In der Anstalt.
Wir werden nicht erwarten dürfen, über die Be¬
handlung der Kranken in unseren Berichten wesent¬
lich neue Gesichtspunkte zu finden. Die Grundsätze
der Behandlung stehen fest; die gegenwärtige Zeit
ist damit beschäftigt, das Errungene überall in die
Praxis einzuführen und weiter auszubauen. Die sog.
modernen Behandlungsprincipien, um die noch vor
einigen Jahren erbittert gekämpft wurde, sind jetzt
ein gesicherter Besitz, und entgegengesetzte Stimmen,
die das alte System vertheidigen, werden kaum noch
gehört.
Dabei ist es nun nicht ohne Interesse, dass in
der Behandlung unserer Kranken der psychische
Faktor wieder mehr und mehr betont wird. Es gab
eine Zeit, und sie ist noch nicht fern, wo man für
die „psychische Behandlung“ der Geisteskranken nur
ein überlegenes Lächeln hatte. Heute hat man sich
darauf besonnen, dass selbst bei der Behandlung
rein körperlicher Leiden die Psyche eingehende Be¬
rücksichtigung verdient, was erfahrene Practiker schon
immer wussten; und dass man durch psychische Ein¬
wirkungen körperliche Funktionen beeinflussen kann,
ist schon lange nichts neues mehr. Wenn man auch
daran festhält, dass materielle Veränderungen des
Gehirns als Grundlage der Geisteskrankheiten anzu¬
nehmen sind, so hat doch die Vermuthung nichts
unwahrscheinliches, dass Veränderungen, welche sich
in psychischen Erscheinungen äussern, auch durch
psychische Reize beeinflussbar sind.
Zwar der erste Anstoss für die Beseitigung des
Zwanges aus der Irrenbehandlung ist wohl eine all¬
gemeine Humanität gewesen, das Bestreben, auch
im Irren den Menschen zu achten. (Pinel’s viel
citirte That fiel ja ungefähr in die Zeit, in welcher
die „Menschenrechte“ erfunden wurden.) Doch liegt
der Consequenz, mit der man heute immer weiter
daran arbeitet, etwas anderes zu Grunde. Es steht
jetzt mehr der ärztlich-therapeutische Gesichtspunkt
im Vordergrund. Man hat erkannt, dass durch
Zwang die meisten Kranken psychisch ungünstig be¬
einflusst werden, dass umgekehrt durch milde, nach¬
giebige Behandlung viele Ausbrüche von Erregung
und sonstige unangenehme Erscheinungen vermieden
werden können. Bekanntlich sind sogar manche
Irrenärzte soweit gegangen, in allen Erregungszu¬
ständen nur Artefacte zu sehen, die durch unzweck¬
mässige Behandlung entstehen, und es ist behauptet
worden, dass bei richtiger Behandlung alle Psychosen
vollkommen ruhig verlaufen würden. Dass dies nicht
zutrifft, weiss jeder, der Kranke objectiv beobachtet.
Aber es scheint, (hiss Uebertreibungen nöthig sind,
wenn Neuerungen durchgeführt werden sollen. Hätten
unsere Rufer im Streit nicht ihren Enthusiasmus ge¬
habt, sondern sich stets nur an das objectiv Beweis¬
bare gehalten, wer weiss ob wir heute schon so weit
wären.
Es ist also hauptsächlich des psychischen Ein¬
drucks wegen, dass man den Zwang nach Möglich¬
keit vermeidet. Der Kranke soll soweit als möglich
das subjective Gefühl der Freiheit haben; darum ent¬
fernt man Mauern und Fenstergitter, und lässt, wo
es nur irgend möglich ist, auch die ihüren offen,
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iQ04.J PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 387
um dem Kranken das peinliche Gefühl zu nehmen,
eingesperrt zu sein.
Freilich scheitern wir damit oft schon von vorn¬
herein. Wie wenige Kranke kommen gutwillig zur
Anstalt. Den meisten ist schon die Verbringung in
die Anstalt ein verhasster Zwang, gegen den sie sich
aufs äusserste wehren. Da helfen sich denn freilich
die klugen Angehörigen mit mancherlei Kriegslisten,
auf die sie sich oft nicht wenig zu Gute thun, und
locken die Kranken unter den absonderlichsten Vor¬
spiegelungen zur Anstalt. Aber dann kommt der
Moment, wo der Kranke sich überlistet und betrogen
sieht, und dann stellt sich eben in den meisten
Fällen heraus, dass die auf solche Art erreichte Ver¬
meidung des Zwanges mehr geschadet als genützt
hat. Zwangsweise Verbringung in die Anstalt wird
ein Kranker mit der Zeit verzeihen; hat man ihn
dagegen unter falschen Vorspiegelungen hineingelockt,
so ist sein Vertrauen oft für immer zerstört. Also
hier heisst es: Lieber Zwang, als Lüge!
Haben wir den Kranken nun glücklich in der
Anstalt, so setzt zunächst die Bettbehandlung
ein. Darüber sind heute wohl alle einig, dass frisch
Erkrankte, Erregte, Deprimirte, Verwirrte, fürs Erste
ins Bett gehören. Neben den körperlichen Wirk¬
ungen der Bettruhe, die wohl keiner Erörterung mehr
bedürfen, ist es auch hier der psychische Factor,
den man erstrebt, und der auch in unsern Berichten
von vielen Seiten hervorgehoben wird. Dem Kranken,
der oft keine Krankheitseinsicht hat, soll die Bett¬
ruhe suggeriren, dass er krank ist.
Ich darf es mir wohl ersparen, aus unsern Be¬
richten einzelne Stimmen über die Bettbehandlung zu
citiren. Genug, sie ist allgemein anerkannt. Nur
eine sehr richtige Bemerkung aus dem sächsischen
Bericht sei hier wiedergegeben, dass nämlich, wie
jedes wirksame Mittel, auch die Bettruhe sorgfältiger
Dosirung bedarf, wenn sie nicht zum Schaden ge¬
reichen und zu sog. Bettsiechthum führen soll. Es
ist in der That sehr wesentlich, den richtigen und
individuell sehr verschiedenen Zeitpunkt zu treffen,
in dem es angezeigt ist, die Bettruhe abzubrechen
und geeignete Beschäftigung zu verordnen.
Auch die Bäderbehandlung ist allgemein
anerkannt. Die Heidelberger Klinik, deren
Methode ja vielfach vorbildlich gewesen ist, wendet
bei Depressionen und Angstzuständen 1 — 2 stündige
warme Bäder als Schlafmittel an. Bei erregten,
namentlich manischen Kranken kommen die eigent¬
lichen Dauerbäder zur Anwendung, und zwar ohne
zeitliche Beschränkung, auch bei Nacht. Bei kata¬
tonischen Erregungszuständen versagen die Dauer-
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bäder meist, hier haben sich mehr die feuchten Ein¬
packungen bewährt.
Es hat ja nicht an Stimmen gefehlt, welche die
letzteren als mechanische Zwangsmittel verwerfen
wollten. Doch ist ihr therapeutischer Nutzen in
vielen Fällen so ersichtlich, dass man sie ungern
wird entbehren mögen. In der heute üblichen Form
als unbefestigte Einwickelung, aus der der Kranke
sich, wenn er will, leicht selbst losmachen kann, wird
man auch wohl kaum einen Zwang darin erblicken
können, besonders wenn man an dem Princip fest¬
hält, sie nur dann anzuwenden, wenn der Kranke
sie sich ohne Widerstand machen lässt.
In der Freiburger Klinik sind erst neuerdings
die Einrichtungen für Dauerbäder geschaffen worden.
Man hat die Bäderbehandlung sogleich in grossem
Umfang, bei Tag und Nacht, eingeführt, und zwar
mit bestem Erfolge. Der Bericht weist darauf hin,
dass die Wirksamkeit der Dauerbäder besonders
dann deutlich zum Bewusstsein gebracht werde, wenn
einmal wegen einer nothwendigen Reparatur das
Bad einen halben oder ganzen Tag nicht gebraucht
werden kann. Auch dort hat man bei manischen
Zuständen und ausserdem bei Delirien die besten
Erfolge gehabt, während bei katatonischen Erreg¬
ungen die Wirkung ausblieb. Das ist ja die allge¬
meine Erfahrung.
In Freiburg hat man sich auch mit der Frage
einer zweckmässigen Bekleidung der Pflegerinnen
beim Badedienst beschäftigt, die ja, wenn sehr auf¬
geregte Kranke im Bade sind, der Gefahr gründ¬
licher Durchnässung beständig ausgesetzt sind. Von
allen Versuchen mit Gummimänteln und andern
wasserdichten Stoffen ist man wieder abgekommen,
weil alle diese Stoffe der warmen Feuchtigkeit
doch nicht lange widerstehen. Man hat schliess¬
lich den Pflegerinnen einfache leinene Ueberkleider
gegeben, unter denen sie vorn eine wasserdichte
Schürze tragen. -— Wir haben hier in Andernach
in früherer Zeit ähnln hc Versuche gemacht und
wieder aufgegeben; die Wasserdichtigkeit aller dieser
Stoffe (Gummistoffe, Oelleinen etc.) bezieht sich
eben nur auf kaltes Wasser. Wir haben jetzt seit
längerer Zeit Ueberkleider aus leichtem Tyroler
Lodenstoff im Gebrauch, der zwar nicht absolut
wasserdicht ist, aber doch für gewöhnlich hinreichen¬
den Schutz gewährt. Die meisten Pflegerinnen tragen
diese Kleider ganz gern. Manche allerdings ziehen
es vor, in ihrer gewöhnlichen Dienstkleidung den
Dienst im Bade zu versehen. Ein Zwang wird darin
natürlich nicht ausgeübt. Als Schuhbekleidung ist
man in Freiburg nach vielfachen andern Versuchen
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[Nr. 40.
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT
388
bei einfachen Lederschuhen mit paraffingetränkten
Sohlen stehen geblieben. Bei uns haben sich relativ
am besten Lederschuhe mit starken Holzsohlen be¬
währt.
Mit einer lästigen Nebenwirkung des Bades hat
man in Freiburg längere Zeit zu kämpfen gehabt,
nämlich einem eigenthümlichen Eczem, das kleine
rothe erhabene Papeln, oft mit einem kleinen Eiter¬
bläschen, bildete. Durch Monate lang fortgesetzte
systematische Desinfection der gesammten Bade¬
wäsche gelang es, das Leiden zu verhüten. Ausser¬
dem wird Einreibung der ganzen Körperhaut mit
Vaselin zur Prophylaxe empfohlen.
In Illenau ist eine schlimmere Nebenwirkung
der Bäder beobachtet worden, nämlich häufige Fu¬
runkel und selbst schwere Phlegmonen. „Es scheint,
als ob die Hautdecke durch die lange Einwirkung
des Wassers aufgeweicht und empfindlicher würde
für das Eindringen von Entzündungserregern. Ist
nun der Kranke als Inwohner der Wachabtheilung
nur mit dem Hemde bekleidet, und zugleich durch
seine motorischen Entäusserungen häufiger kleinen
Verletzungen ausgesetzt, so ist eben die angedeutete
Gefährdung gegeben, entschieden mehr als früher,
da er im Schutz der Kleidung in den gemeinsamen
Tagesälen weilte. Zudem findet, wenn einmal eine
Phlegmone bei einem Kranken aufgetreten ist, bei
dem ständigen Verkehr desselben im Wachsaal wohl
leichter eine Uebertragung statt, als früher, wo solche
Kranke länger isolirt waren. Andererseits heilen
aber auch wieder in den Dauerbädern solche Ver¬
letzungen rasch.“
Furunkel haben auch wir des öfteren bei den
Dauerbädern beobachtet, wenn auch nicht so häufig,
dass wir, wie Illenau, von einer Endemie sprechen
könnten. Bei gehäuftem Auftreten wäre zu erwägen,
ob nicht auch dabei durch conscquente Desinfection
der Badewannen und der Badewäsche etwas zu er¬
reichen wäre. Dass gleichzeitig hei den ja meistens
zu Unsauberkeiten neigenden erregten Kranken auf
peinlichste Sauberkeit der Bett- und Leibwäsche ge¬
achtet werden muss, versteht sich von selbst.
Auf der Männerscite hatten auch wir längere
Zeit mit einem hartnäckigen Eczem zu kämpfen, das
aber nicht in der Form auftrat, die Frei bürg be¬
schreibt, sondern das typische Bild des Eczema
marginatum zeigte. Auch dieses konnte schliesslich
durch systematische Desinfection der Badew'äsche be¬
seitigt werden.
Wenn ich vorhin sagte, dass die Bäderbehand¬
lung allgemein anerkannt sei, so ist damit natürlich
nicht gesagt, dass sic auch überall in vollem Um¬
fange practisch durchgeführt ist. Aeltere Anstalten
haben eben meist keine zweckmässigen Einrichtungen
dafür, und so lesen wir noch des öftern in Berichten,
dass man darauf verzichten müsse. Andere suchen
sich mit ihren ungeeigneten Einrichtungen zu helfen,
so gut es geht, wieder andere sind bemüht, ihre
Badeeinrichtungen entsprechend umzugestalten und
zu verbessern.
Hier und da lesen wir denn auch noch über
erste tastende Versuche, und wenn auch die meisten
sich dann alsbald befriedigt über die Erfolge äussern,
so kommt es doch mitunter auch vor — Namen
möchte ich nicht nennen —, dass man zu Anfang
durch Misserfolge entmuthigt wird und dadurch zu
dem Schluss kommt, dass die Sache doch überschätzt
worden sei. Das ist nun sicher falsch. Dass die
Bäderbehandlung gelegentlich versagt, ist ja nur natür¬
lich, wo hat man jemals eine stets unfehlbar wirkende
Behandlungsmethode gehabt! Bei consequenter
Durchführung wird man in der Mehrzahl der Fälle
günstigen Erfolg constatiren können, vorausgesetzt,
dass man nicht mit zu hochgespannten Erwartungen
an die Sache herantritt. Wirkliche Misserfolge sah
ich nur bei Katatonikern mit activem Negativismus
und starkem Bewegungsdrang; und dass bei diesen
die Bäder unwirksam sind, ist ja schon lange be¬
kannt.
Wie die Dauerbäder in ihrer Vollkommenheit zu
handhaben sind, lesen wir u. a. im Treptower
Bericht. Vorbedingung ist, dass man das Baden
auch die Nacht hindurch fortsetzen kann. Der
Kranke bleibt dann solange im Bade, bis deutliche
Müdigkeit eintritt. Wird diese beobachtet, gleich¬
gültig ob bei Tage oder bei Nacht, so wird er zu
Bett gebracht. Tritt die Erregung wieder aufs neue
ein, so kommt er wieder ins Bad.
Natürlich ist ein solches Verfahren ganz unmög¬
lich, w*enn Baderaum und Wachsaal weit auseinander
liegen. Am zweckmäßigsten ist cs, w'enn, wie z. B.
in Dösen, das Bad dicht beim Wachsaal liegt
und durch eine Thür direct mit ihm verbunden ist,
so dass beide unter gemeinsamer Uebcrwachung
stehen können.
Programmmässig hätten wir weiter vom Isoliren
zu reden. Es ist hierüber schon so unendlich viel
geschrieben worden, dass wohl schon mancher ge¬
seufzt hat: quousque tanclem. Aber es ist nun ein¬
mal ein actuelles Thema und unsere Berichte sprechen
fast alle davon.
Ein ausführliches Eingehen auf die principielle
Seite der Frage glaube ich mir um so mehr ersparen
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
389
1905-]
zu dürfen, als ich im vorigen Jahre Gelegenheit ge¬
nommen habe, meine Meinung zu sagen.
Unbedingte Vertheidiger des Isolirens giebt es
unter den diesjährigen Berichten nicht. Aber auch
die unbedingten Gegner sind keineswegs so sehr
zahlreich. Einige Anstalten theilen wieder mit,
dass sie gar nicht isoliren (Treptow, Altscher¬
bitz u. a.), aber Altscherbitz betont dabei aus¬
drücklich , dass man sich dem Princip, nicht zu
isoliren, nicht unbedingt anschliesse, da es sehr wohl
Kranke geben könne, denen die zeitweilige Isolirung
zuträglich ist. Man hat nur deshalb dort das Iso¬
liren ganz aufgegeben, „um jeden Verdacht, dass
wir es mit unserer Ansicht von der Entbehrlichkeit
des Isolirens nicht ernst meinten, auszuschliessen“.
Die meisten Berichte sprechen sich dafür aus,
dass man bemüht sei, die Isolirungen möglichst ein¬
zuschränken, sie nur im äussersten Nothfall und auch
dann nur vorübergehend anzuwenden, dass man sie
aber vollständig nicht entbehren könne.
Auch die narkotischen Arzneimittel er¬
freuen sich heute nicht mehr der übergrossen Be¬
liebtheit wie früher. Von allen Seiten wird berichtet,
dass man bemüht sei, ihren Gebrauch einzuschränken,
was eben durch die systematische Anwendung der
Bett- und Bäderbehandlung ermöglicht wird. Aber
ganz beseitigen kann man sie wohl nicht. Selbst
Treptow sagt: „Die gänzliche Beseitigung der Be-
ruhigungs- und Schlafmittel, die von einigen Seiten
gefordert wird, erscheint uns zur Zeit kein zweck¬
mässiges Ziel zu sein.“ Die zur Anwendung ge¬
langenden Mittel sind überall die üblichen. In der
Auswahl unter der grossen Zahl entscheidet wohl
oft mehr der persönliche Geschmack, als strikte In¬
dikation. Etwas neues enthalten die Berichte hier¬
über nicht.
Ein weiterer Hauptfactor unserer Therapie ist
die Ernährung. Besonders bei acuten Erregungs¬
zuständen ist es oft von ausschlaggebender Bedeut¬
ung, den Kranken durch reichliche Ernährung vor
Erschöpfung zu bewahren. Nimmt er von selbst
keine Nahrung und ist er womöglich schon in er¬
schöpftem Zustande in die Anstalt eingeliefert worden,
so tritt die Sondenernährung in ihr Recht.
Die extrem moderne Richtung, welche diese als
„Zwangsmittel“ abschaffen wollte, hat wenig Anklang
gefunden. Sie ist eben bei manchen Kranken un¬
entbehrlich, wenn man sie nicht verhungern lassen
will. Weniger dringlich ist sie bei Deprimirten, die
infolge Versündigungsideen oder dergl. die Nahrung
ablehnen, dabei aber ruhig im Bette liegen. Bei
ihnen ist die Gefahr der Erschöpfung nicht gross
und man kann lange zuwarten, ehe ein Eingreifen
nöthig wird. Meist fangen sie schliesslich von selbst
wieder an zu essen.
Andere Schwierigkeiten macht die Ernährung bei
Siechen und Gelähmten. In der Regel wird für
diese eine besondere Kostform unentbehrlich sein.
Treptow theilt mit, dass man dort eine besondere
Siechenkost im Speisenregulativ vorgesehen habe.
Auch die Ernährung wird zur „psychischen Be¬
handlung“ herangezogen. Göttingen theilt mit,
dass seit Einführung einer Verpflegungsverbesserung
es auf den Abtheilungen entschieden ruhiger zugehe,
und sich der alte Satz bestätige, „dass bei vollem
Magen die Stimmung immer eine friedlichere ist,
als bei leerem.“
Ausser durch die Beköstigung sucht man durch
das gesammte Milieu auf die Stimmung des Kran¬
ken zu wirken; durch wohnliche Einrichtung und
Ausschmückung der Räume will man es ihnen be¬
haglich machen. Oläh, der in der ungarischen Irren¬
ärzteversammlung über die modernen Behandlungs-
principien sprach, wendet sich eifrig gegen die Auf¬
fassung, dass dies unwesentliche Kleinigkeiten seien,
und weist darauf hin, dass auch die Kleidung
der Kranken von grosser Wichtigkeit sei. Das ist
ja auch keine Frage, dass es, besonders bei Frauen,
von günstigster Wirkung auf die Stimmung ist,
wenn man in der Kleidung soweit als möglich ihren
subjectiven Wünschen entgegenkommt. Männer fügen
sich der üblichen Uniformirung im allgemeinen viel
leichter.
In gleichem Sinne wirken dann schliesslich noch
die zahlreichen Unterhaltungen und Vergnüg¬
ungen, welche in allen Anstalten den Kranken dar¬
geboten werden, wie Spaziergänge, Tanzkränzchen,
Theateraufführungen u. dgl. m. Zahlreiche Berichte
sprechen hiervon, doch bringen die Mittheilungen
nichts neues.
Auch die Besuche der Angehörigen sind hier¬
her zu rechnen, die überall mit grösster Bereitwillig¬
keit zugelassen werden.
Die letzte Consequenz der Bestrebungen nach
Vermeidung allen Zwanges ist schliesslich die Be¬
willigung völlig freier Bewegung. Es besteht die
Tendenz, den Kreis der Kranken, denen man un¬
bedenklich freien Ausgang gestatten kann, immer
weiter zu ziehen. In neuen Anstalten, wo für die
grosse Masse der ruhigen Kranken offene Landhäuser
vorhanden sind, ergiebt sich dies ja meist von selbst.
Aeltere Anstalten mit ihrer geschlossenen Bauart
haben dabei mehr Schwierigkeiten. Aber es geht
auch da.
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HARVARD UNIVERSITY
390
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 40 .
Königslutter erzählt in ansprechender Weise,
wie man im Laufe der Jahre zu der Erkenntniss
kam, „dass eine völlig freie Behandlung für weit
mehr Patienten, als bis dahin hier geschehen, zu¬
lässig und damit auch geboten sei“, und wie die
Zahl der frei ausgehenden immer grösser geworden
sei.
Illenau hebt noch in seinem ersten Bericht
hervor, dass nur .sorgfältig ausgewählten“ Kranken,
und zwar meistens solchen höherer Stände, freier
Ausgang gewährt werde, berichtet aber im zweiten
schon von 2 offenen Landhäusern, deren Insassen
sich ganz frei bewegen. Warum die freie Behand¬
lung ein Vorrecht der höheren Stände sein soll, ist
ohnehin schwer verständlich.
Nebenbei sei erwähnt, dass wir hier in Ander¬
nach seit kurzem eine von ca. 60 Kranken be¬
wohnte Abtheilung auf der Frauenseite, die bis dahin
stets geschlossen war, kurzer Hand offen gelassen
haben. Zur Vorbereitung waren nur ganz wenige
Versetzungen nöthig. Nachträglich mussten einige
der Kranken wegen Neigung zu Liebeleien wieder
eingeheimst werden. Sonst ergab sich keine Störung,
die Kranken machen von ihrer Freiheit verständigen
Gebrauch, nur die Obstbäume der Anstalt hatten
einigen Schaden von der Einrichtung.
Was ältere Anstalten mit unzweckmässiger Bau¬
art so mit einiger Schwierigkeit doch durchsetzen,
das fällt neuen, zweckmässig gebauten von selbst in
den Schoss. So konnte Mauer-Oehling sogar
in sein Statut den Satz aufnehmen: „Den Kranken
soll sowohl innerhalb wie ausserhalb der Anstalt
jener Grad von freier Bewegung und Selbständigkeit
gestattet sein, welcher mit ihrem jeweiligen Geistes¬
zustände vereinbar ist."
Es liegt diesem Satze ein sehr richtiger Gedanke
zu Grunde. Man findet bei Irrenärzten noch so
häufig die Anschauung, dass sie mit der Gewährung
freien Ausgangs den Kranken eine Wohlthat er¬
weisen, auf die sie eigentlich keinen Anspruch haben.
Das ist durchaus nicht richtig. Wir sind allerdings
verpflichtet, unsem Kranken das Maass von Freiheit
zu geben, das bei ihrem Zustande zulässig ist. Man
berufe sich nicht darauf, dass der Kranke unter den
vorgeschriebenen Formalitäten rechtmässig in die An¬
stalt aufgenommen sei und dass die Anstalt Deten-
tionsbefugniss habe. Ich kann mich hierin auf eine
Autorität berufen. In seinem Vortrage über die
„Reichsgesetzliche Regelung des Irrenwesens“ führt
Vorster aus, dass es eine Anstalt „mit Detentions-
befugniss“ überhaupt in der Welt nicht gebe. Die
Detentionsbefugniss bezieht sich stets nur auf
den einzelnen Fall, auf das Individuum, dauert
also nur so lange, „als sein individueller Zu¬
stand ein derartiger ist, dass seine Festhaltung
nach den maassgebenden Vorschriften nothwendig
ist“ Es scheint mir einleuchtend, dass sich dies
nicht nur auf die Entlassung aus der Anstalt be¬
ziehen kann, sondern auch auf die Gewährung von
Freiheit während der Anstaltsbehandlung. Wir dürfen
einen Kranken nur soweit in seiner Freiheit be¬
schränken, als sein Zustand es nothwendig macht
Wenn sein Zustand derart ist, dass wir ihn zwar
noch nicht aus der Anstalt entlassen können, weil
er noch unserer Fürsorge bedarf, dass wir ihm aber
ohne Bedenken freien Ausgang gewähren könnten,
so sind wir auch verpflichtet ihm diesen zu geben.
Thäten wir dies nicht, etwa auf Wunsch der Ange¬
hörigen oder aus sonst irgend einem Grunde, mit
andern Worten, hielten wir einen Kranken im Innern
der Anstalt intemirt, obgleich sein Zustand freien
Ausgang zulässig erscheinen lässt und er selbst ihn
verlangt, so würden wir uns gegen den § 239 St. G. B.
verfehlen.
Endüch noch einige Worte über eins unserer
wichtigsten und vielseitigsten Behandlungsmittel, die
Beschäftigung der Kranken. Fast alle Berichte
reden davon mit grösserer oder geringerer Ausführ¬
lichkeit. Im Princip ist es ja überall das Gleiche,
die Männer werden grösstentheils mit landwirtschaft¬
lichen Arbeiten beschäftigt, ein kleiner Theil von
ihnen geht in die verschiedenen Werkstätten. Von
den Frauen findet meist nur eine kleine Anzahl
auch in der Landwirtschaft Verwendung, im
Uebrigen fallen ihnen die Arbeiten in Küche und
Waschküche, in Näh- und Flickstuben zu. Und
dazu kommen dann noch die täglichen Hausarbeiten,
wie Putzen, Spülen u. dgl., die natürlich von beiden
Geschlechtern auf ihren Abteilungen geleistet werden.
Wesentlich neues bringen unsere Berichte nicht.
Im einen oder andern ist einmal die Rede von der
Neueinrichtung irgend einer Beschäftigungsart, die
eine Anstalt hat eine Korbflechterei, die andere etwa
eine Strohflechterei eingerichtet In Illen au und
Emmendingen hat man einige Wärterinnen die
schwedische Handweberei erlernen lassen, unter deren
Anleitung nun eine Anzahl Kranke damit beschäftigt
werden.
Auf die Ziele und Erfolge der Beschäftigungs-
Therapie näher einzugehen, darf ich mir wohl er¬
sparen ; sie sind ja allgemein bekannt und anerkannt
(Fortietzuog folgt.)
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1905.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
39i
Aus der Kgl. Heil- u. Pflegeanstalt Hubertusburg i. Sa., Anstalt B.
Aerztlicher Leiter: Medicinalrath Dr. Matthaes.
Beschreibung des Schädeldaches eines wegen Epilepsie operirten Kindes.
Von Dr. AI. Schmidt , Anstaltsarzt.
T 3 ei der 12 V2 jährigen M. B., die am 28. III. 1904
^ in die hiesige Anstalt aufgenommen wurde und
am 29. IV. an einer Lungenentzündung starb, han¬
delte es sich um eine Idiotie schwersten Grades mit
häufigen epileptischen Krämpfen.
Etwaige aetiologische Aufschlüsse sind aus der
dürftigen Vorgeschichte nicht zu entnehmen. Die
Krämpfe sollen zum ersten Male im Alter von 3 li
Jahren mit dem Durchbruch der Backenzähne auf¬
getreten sein. Wegen dieser Krämpfe wurde das
Kind im jugendlichen Alter — Genaueres war nicht
zu erfahren — operirt, wobei das Gehirn blossgelegt
wurde; nach einer Angabe waren es 2 Operationen.
Auf den Verlauf der Krämpfe und der geistigen
Entwicklung hatte die Operation keinen Einfluss.
Bei der Aufnahme bot der Schädel folgenden
Befund. Auf der Schädeloberfläche fand sich ein
System von geraden, etwas eingezogenen, schmalen
weiss-glänzenden und auf der Unterlage wenig ver¬
schieblichen Narben, wie es die Skizze zeigt.
Abb. 1.
Nur die Narbe c wies eine etwas grössere
Druckempfindlichkeit auf; drückte man hier kräftig,
so hörte das Kind mit seinen sonstigen ziellosen
Bewegungen auf und machte Abwehrbewegungen.
Ein Krampfanfall liess sich von hier aus nicht aus-
lösen. Unter den einzelnen Narben fühlte man
rinnenartige Vertiefungen der Schädelknochen.
Bei der Section erwiesen sich die Schädelweich-
theile als mit den Knochennarben fest verwachsen.
Die Loslösung des knöchernen Schädeldaches war
sehr erschwert, indem die im Ganzen verdickte und
getrübte Dura an den Knochennarben colossal dicke
und feste Auflagerungen auf wies, die mit den Narben
ganz fest verwachsen waren, so dass sie mit dem
Messer abgetrennt werden mussten. Die Gehirnober¬
fläche liess gröbere Veränderungen nicht erkennen.
Abb. 2.
Die Knochenlücken, die man am Bilde des mace-
rirten Schädels mit ihren wie zernagt aussehenden
Rändern, in den Knochenrinnen verlaufend erkennen
kann, waren bei der Herausnahme durch Bindege-
websmassen, die nach aussen mit den weichen
Schädeldecken, nach innen mit der Dura zusammen¬
hingen, geschlossen. Die grössten Durchmesser der
Sägeflächen sind 16/13,5 cm. Rechts finden sich 5
Lücken, deren grösseste 2,3/0,7 cm misst; links
findet sich ganz vorn eine kleine Lücke, während
die breite Rundung der der Narbe c entsprechenden
Lücke für einen dicken Daumen bequem durch¬
gängig ist. Aus dem Vergleich der Hautnarben und
der Knochennarben und -Lücken ergiebt sich wohl,
dass es sich um 2 Operationen gehandelt hat.
Die Unzweckmässigkeit dieser Operationen, von
denen man ja, wenn es sich um eine sogenannte ge¬
nuine Epilepsie handelt, abgekommen ist, illustriren
wohl am besten die dicken Narben der Dura, die
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39 2
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 40.
Folgen einer auf Beseitigung eines Rindenreizes aus¬
gehenden Operation.
Bieten nun diese dicken Bindegewebsverschlüsse
der Knochenlücken einen gewissen Schutz, wie die
Unmöglichkeit durch Druck durch die grosse Lücke
hindurch einen Krampfanfall auszulösen lehrt, so
stellen doch diese grossen Lücken einen „locus mi-
noris resistentiae“ dar, als eigenthümliche „Leibes¬
beschaffenheit“ nicht ohne Interesse für den Gerichts¬
arzt ; ein locus minoris resistentiae, auf den wohl der
§ 199 Abs. 2 b der österreichischen Str. Pr. O. anzu¬
wenden wäre („werden Verletzungen wahrgenommen,
so ist insbesondere zu erörtern, ob diese Handlung
vermöge der eigenthümlichen persönlichen Beschaf¬
fenheit oder eines besonderen Zustandes des Ver¬
letzten den Tod herbeigeführt habe.“). Natürlich
hätte dieser locus minoris resistentiae auch bei Ge¬
legenheit eines Krampfanfalles seine verhängnisvolle
Rolle spielen können.
Schliesslich ist nicht ohne Interesse die Ver¬
knöcherung der rechten Kranznaht auch über den
directen Bezirk der Knochennarbe hinaus. Man
wird sich diese theilweise Verknöcherung damit er¬
klären , dass die von den Meisseischlägen oder
Sägezügen ausgehenden Schwingungen die Zwischen¬
knochenschicht der Naht trafen und als formitiver
Reiz im Sinne Meynert’s wirkend die teilweise vor¬
zeitige Verknöcherung herbeiführten. Am Schädel
selbst ist übrigens besser als auf dem Bild zu er¬
kennen, wie die Verknöcherung mit Verschwinden
der Naht vom Ort der stärksten Erschütterung an,
nach den Seiten allmählich abnimmt.
Mittheilungen.
— 35- Versammlung der stldwestdeutschen
Irrenärzte in Fr ei bürg i. B. am 2Q. und 30.
October 1904. Referent: Dr. Krau ss-Kennenburg.
Professor Hoc he eröffnet die zahlreich besuchte
Versammlung; den Vorsitz übernimmt Hofrath Pro¬
fessor Dr. Fü rstner.
I. Dr. Weygandt: Referat über leicht
abnorme Kinder,
Der Begriff der Abnormität im Kindesalter soll
hier möglichst weit gefasst werden, er umfasst sowohl
die Debilen als die leichteste Stufe geistiger Unzu¬
länglichkeit zwischen Imbecillität und normaler An¬
lage, als auch die psychopathische Minderwerthigkcit
nach Koch und die Degenerirten im Sinne von
Magnan und Möbius. Ferner weichen viele Kinder
in ihrer psychischen Verfassung von der Durchschnitts-
breite ab auf Grund exogener Umstände, schwerer
körperlicher Krankheit und des Milieus. Der Psy¬
chiater ist verpflichtet, sein Interesse dieser grossen
Klasse der leicht Abnormen zuzuwenden, einmal
w'eil ihre Kenntniss das Verständnis^ schwerer Ab¬
normitäten fördert und dann vor allem auch, weil
unter ihnen viele Anwärter späterer Psychosen zu
treffen sind.
So bedauerlich hinsichtlich der Fixirung der Ab¬
normität der Mangel eines Canons auf psychischem
Gebiete ist, so macht sich dies doch noch viel be-
merklicher für das kindliche Alter mit seinen mannig¬
fachen Abstufungen. Zwar ist die Erforschung der
normalen Kindespsyche in erfreulichem Aufschwung
begriffen, aber doch sind bei manchen Vorgängen
noch lebhafte Zweifel berechtigt, ob sie als normal
oder abnorm aufzufassen sind.
Manche Forscher rechnen z. B. die Lüge zu den
normalen Zügen des Kindesalters; in frühen Jahren
sind auffallende motorische Erscheinungen, rhythmische
Bewegungen, Verbigeration, Grimmassiren u. s. w.,
die an katatonische Erscheinungen erinnern, auch
bei gesunden Kindern anzutreffen.
Zu dieser sachlichen Schwierigkeit gesellt sich
noch die andere: Die Beschaffung des Materials und
die Litteratur.
Neben den Insassen der Anstalten für schwer er¬
ziehbare Kinder und den kindlichen Patienten von
Ambulatorien für Psychisch - Nervöse findet sich ein
gut ausgehobenes Kindermaterial in der Mannheimer
Volksschul-Institution der Förderklassen für leicht
zurückgebliebene Kinder. Auch die Litteratur, die
zum grössten Theile pädagogischen Ursprungs ist,
verlangt vielfach besondere Kritik.
Unter den ätiologischen Momenten sind zunächst
die rein äusseren, schädigenden Umstände auszu¬
scheiden, wie Ortswechsel, mangelhafte Pflege; wich¬
tiger sind die Einflüsse der Ueberanstrengung mancher
Kinder durch Gelderwerb, ferner das schlechte Bei¬
spiel herabgekommener Eltern. All das sind exo¬
gene Ursachen vorübergehender Art.
Unter den bleibenden Abnormitäten sind zu¬
nächst die formes frustes der schweren Idiotiefonnen
zu erwähnen. Manche ätiologisch und anatomisch
fixirte Formen, wie Hvdrocephalie, auch Mikrocephalie,
encephalitische Idiotie und Kretinismus, zeigen eine
Abstufung von schweren, tiefblödsinnigen Fällen bis
zu solchen, die psychisch gänzlich oder nahezu nor¬
mal sind.
Nächst den toxisch bedingten Defektzuständen,
besonders Alkoholismus im Kindesalter, sind die
Fälle schwerer Stoffwechselalteration mit Einwirkung
auf das Nervensystem zu erwähnen, besonders die
Erbsyphilis und dann die als type Lorain beschrie¬
benen kindlichen Entwicklungsstörungen mit Zwerg¬
wuchs und geistiger Unzulänglichkeit auf der Basis
schwerer Tuberkulose und Kreislaufstörungen, insbe¬
sondere Pulmonal- und Mitralstenose.
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1904.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Besonders wichtig ist die Frage nach Eigentüm¬
lichkeiten der Kinder, die später an einer Psychose
erkranken, an Dementia praecox, manisch-depressivem
Irresein, auch der originären Paranoia nach Sander;
wenn nicht die Art der Heredität einen Fingerzeig
giebt, sind wir meist ausser Stande, derartige Fälle
von anderen kindlichen Abnormitäten zu scheiden.
Viel leichter möglich, wenn auch nicht immer durch¬
führbar ist die Deutung eines abnormen Kindes als
epileptisch oder hysterisch.
Bei einer Analvsirung zahlreicher Fälle findet sich
oft genug eine Combination mehrerer ätiologischer
Faktoren, so wenn ein Kind von einem alkoholistischen
Vater stammt, von einer hysterischen Mutter erzogen
und frühe schon auf Broterwerb ausgeschickt wird.
Symptomatologisch ist zu konstatiren, dass der
Vorgang der einfachen Empfindungen selten gestört
ist, aber vielfach schon die Perception, die Einreih¬
ung des Empfindungsrohmaterials den Bewusstseins¬
mangel zeigt; dieser Auffassungsakt entbehrt nicht
der associativen Hilfen wie beim Idioten und Im-
becillen, doch ist er gewöhnlich flüchtiger, ober¬
flächlicher als beim Normalen. Als vorübergehende
Abnormität sind die Sinnestäuschungen zu erwähnen,
an denen Kinder bei manchen Infektionskrankheiten
besonders leicht erkranken.
Am leichtesten lassen sich Verstandesstörungen
feststellen, Gedächtnissdefekte und mangelhafte Asso¬
ciationen , doch nicht selten unter einer excessiven
Veranlagung nach manchen Richtungen hin; so
kommt Erschwerung des Urtheilsprocesses beim Sub¬
trahieren vor, während die Gedächtnissleistungen der
Multiplikation sehr gut von statten gehen können.
Als grundlegende Störung ist gewöhnlich die Auf¬
merksamkeitsschwäche zu ernennen. Beim Zusammen-
schliessen von partiellen, bei der Verarbeitung von
Wahrnehmungen aus verschiedenen Sinnesgebieten,
bei der Aneinanderreihung mehrerer Vorstellungen
zu einem Schluss und besonders bei der Bildung
abstrakter allgemeiner Vorstellungen tritt das hervor.
Schwierig zu beurtheilen sind die Abnormitäten
der Phantasiethätigkeit, weil manche Kinder ihr
Seelenbinnenleben selten erschliessen. Complicirte
Vorstellungsrcihcn, Grübeleien , Zwangsvorstellungen,
paranoide Gedankengänge können lange Zeit den
Erziehern verborgen bleiben; leichter zu beurtheilen
sind Kinder, die ihre Phantasiebildungen zum Aus¬
druck bringen und fabuliren.
Von grösster Wichtigkeit sind die Störungen des
Gefühlslebens und der Psvchomotilität. Schwache
Gefühlsreaktion muss ebenso aullällen wie besonders
lebhafte Gefühlsausbrüche, vor allem nach der Un¬
lustseite hin. Die Depressionsäusscrringen des Kindes
können rein reflektorisch veranlassend sein wie beim
Pavor nocturnus, sowie auch durch mehr oder
weniger mangelhafte psychische Motivirung bedingt.
Neben Intensitätsänderungen im psychomotorischen
Verhalten des Kindes treffen wir auch qualitative
Verschiebungen, so die für die frühesten Jahre noch
normalen, rein motorischen Entladungen, dann Mit¬
bewegungen, Zwangsbewegungen, ferner die wichtige
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Erscheinung des Davonlaufens. Neben den Mängeln
der passiven Aufmerksamkeit bei der Auffassung und
Verarbeitung von Eindrücken liegt auch in Störungen
der aktiven Aufmerksamkeit, in der Ungleichmässig-
keit der psychischen Aktivität ein Grundzug der
Minderwertigkeit. Aus einem Missverhältniss zwischen
Gefühlsregungen und Hemmungsvorstellungen, die ge¬
schwächt sind, und hinreichend starker Aktivität er¬
geben sich social bedenkliche Handlungen mancher
Abnormen
Von rein nervösen Symptomen verlangen Krämpfe,
Ohnmacht, Schwindel, ferner Sensibilitätsstörungen,
dann besonders die Schlafstörungen mannigfacher
Art besondere Berücksichtigung.
Rein körperlich kommen Anämie, auch Strabismus,
Nystagmus, ferner Rachitis und Tuberkulose recht
häufig vor; Degenerationszeichen sind nicht gerade
selten.
Aetiologische Gruppen sind schwer zu bilden.
Bei einem Versuch nach klinisch psychologischem
Gesichtspunkte die leicht abnormen Kinder zu grup-
piren, können wir folgende Hauptabtheilungen bilden:
1. Die epileptischen Kinder, von denen nur etwa
die Hälfte klassische Krampfanfälle zeigt und ein
kleinerer Theil verblödet, als sich aus den Statistiken
der in Epileptiker- und Idiotenanstalten befindlichen
Kinder ergiebt. Auch dieser einheitlichsten Gruppe
gegenüber ist zu betonen, dass es zahlreiche leicht
abnorme Kinder giebt, die den Verdacht, aber nicht
den Nachweis der Epilepsie zulassen;
2. die hysterischen und
3. die konstitutionell neurasthenischen Kinder
werden vom Herrn Correferenten einer eingehenden
Würdigung unterzogen.
Von jenen Fällen psychischer Minderwerthigkeit
im Kindesalter, die nicht durch irgend w'elche Syn¬
drome die Rubricirung unter die vorigen Gruppen
ermöglichen, sind zunächst als
Gruppe 4 die Fälle hervorzuheben, bei denen
ziemlich gleichmässig eine leichte Minderleistung der
Aufmerksamkeit mit einer geringen Abstumpfung der
Gefühlssphäre verbunden ist, die Debilen im engem
Sinne.
Als Gruppe 5 können wir die Fälle zusammen¬
fassen, bei denen die intellektuellen Leistungen, die
Aufmerksamkeit, die psychische Aktivität gering ent¬
wickelt sind im Vergleich zu dem regen Gefühlsleben.
Aus dieser Ueberwucherung der aktiven Seite resul-
tiren die phantastischen, träumerischen, überschwäng¬
lichen , reizbaren und lügnerischen Kinder, auch die
Vorstufen jener, die Kraepelin als die „haltlosen“
unter den psychopathischen Persönlichkeiten be¬
schreibt.
Gruppe 0 zeigt im Gegensatz dazu gewöhnlich
eine hinreichende Ausbildung der intellektuellen und
psychomotorischen Sphäre bei einer Minderentwick¬
lung des Gefühlslebens. Es sind die Kinder, die
an den harmlosen Spielen keinen Gefallen finden,
die auf Strafen mit Trotz reagiren, die Thiere quälen,
ihr Spielzeug und Kleider absichtlich ruiniren, keine
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394 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 40 .
Anhänglichkeit und Dankbarkeit kennen und sich
früh schon durch Ränke, Heimtücke, Gewalttätigkeit
und Diebstahl auszeichnen. Es sind die Frühstufen
des geborenen Verbrechers. Nicht bloss das kom-
plicirte Gewebe der moralischen Gefühle ist bei
ihnen abnorm, sondern schon die einfachen Gefühls¬
töne sind bei ihnen gestört. Die intellektuelle Ent¬
wicklung leidet darunter wohl vielfach, aber keines¬
wegs in jedem Falle nothwendig.
Der Arzt hat vorzugsweise die diagnostische, der
Pädagoge die therapeutische Aufgabe. Vor allem
der Hausarzt sollte schon vor dem schulpflichtigen
Alter die Kinder nach dieser Richtung ins Auge
fassen. In grösseren Städten ist die Berücksichtigung
der abnormen Kinder als eines wissenschaftlich werth¬
vollen Materials für Nervenpolikliniken dringend zu
empfehlen. Selbstverständlich sollte der Schularzt
psychologisch und psychiatrisch gebildet sein.
Neben einer Zustandsuntersuchung hat der Arzt
auch auf die Einleitung einer zweckmässigen Ver¬
sorgung zu achten. Bei zahlreichen Kindern dieser
Art führen hygienische Maassregeln und erzieherische
Sorgfalt zu einem guten Resultat, sehen wir doch,
dass manche hochbedeutende Männer, wie Liebig,
auch Helmholtz, in der Jugend nach mancher Rich¬
tung hin von der Norm abgewichen waren.
Bei vielen leicht Abnormen jedoch empfiehlt sich
eine Aenderung in der Erziehung und im Unterricht.
Während die Hilfsklassen im Wesentlichen für nicht
intemirungsbedürftige Imbecille geeignet sind, bietet
sich für solche Kinder, die intellektuell ganz leicht
zurückgeblieben sind, als zweck massigste Einrichtung
das Förderklassensystem nach Sickinger in Mann¬
heim , die Zwischenstufe zwischen Hilfsklassen und
Normalklassen. Repetenten, nervöse, leicht ermüd¬
bare, anämische, schlecht genährte Kinder, auch
solche, die durch längere Sch ul Versäumnisse zurück¬
geblieben sind, werden aus der Normalklasse in eine
Förderklasse versetzt. Hier werden sie durch be¬
sonders geeignete Lehrer, die mit der Klasse auf¬
rücken, unterrichtet, die Schülerzahl ist kleiner als
in den Normalklassen, der Lehrgang ist quantitativ
modificirt, doch in sich geschlossen und führt zu
einem schulmässig abgerundeten Bildungsabschluss
in einem mehrklassigen, den Normalklassen parallel
gehenden System, das Rtickversetzung jeder Zeit
leicht erlaubt. Die bisherigen Erfahrungen in Mann¬
heim, wo 7,7% aller Volksschüler in solchen Förder¬
klassen untergebracht sind, waren in hohem Maasse
befriedigend.
Moralisch schwache Kinder, die konstanter Ueber-
wachung bedürfen, sollten möglichst in Internaten
untergebracht werden. Für Wohlhabende existiren
wohl einige tierartige Pädagogien, die dann vor allem
zu empfehlen sind, wenn sie sich möglichst dem
Familienbetrieb nähern und nicht Massenanstalten
darstellen. Schwere Fälle werden nach § 1666 und
1838 B. G. B. in der Fürsorgeerziehung unterge¬
bracht, gegen deren Durchführung vom ärztlichen
und pädagogischen Standpunkte noch manche Be¬
denken bestehen.
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Für unbemittelte Kinder, die nicht derart ver¬
sorgt werden können, aber doch intensiver Ueber-
wachung bedürfen, fehlt es noch an entsprechen¬
den Einrichtungen.
Für epileptische Kinder Sonderschulen einzu¬
richten, empfiehlt sich nicht so sehr als vielmehr
eine Individualisirung, indem intellektuell Defekte in
Idiotenanstalten oder Hilfsschulen, social Bedenkliche
in die Fürsorgeerziehung gehören, Kinder mit ge¬
häuften Anfällen und Status epilepticus rein ärzt¬
licher Behandlung bedürfen, während Kinder mit
vereinzelten, anfallartigen Symptomen ohne sonstige
Defekte in der Normalschule unter Ueberwachung
durch einen entsprechend informirten Lehrer ver¬
bleiben können.
Störung des Unterrichts durch Anfälle kommen
überraschend selten vor. (Autoreferat.)
(Fortsetzung folgt.)
— Die badische Volksheilstätte für Nerven¬
kranke. Die Entwicklung der Nervenheilstättensache
im Grossherzogthum Baden wird voraussichtlich einen
etwas anderen Verlauf nehmen wie in den Theilen
des Reiches, die mit einer derartigen Wohlfahrtsein¬
richtung schon ausgerüstet sind, einen etwas anderen
Verlauf aber auch, als wir uns es anfangs gedacht haben.
Die im Betrieb befindlichen Nerven-Heilstätten für
Minder- und Unbemittelte — Haus Schönow bei
Berlin, die Rasemühle bei Göttingen, die Rheinische
Nervenheilstätte — haben mit finanziellen Schwierig¬
keiten verhältnissmässig wenig zu kämpfen gehabt, der
brennende Punkt war die Haltung des Staates, und
die Herren von Haus Schönow sind aus ihrer Er¬
fahrung heraus zu der Ansicht gelangt, dass die staat¬
liche Förderung, weil fraglich und erst zu erringen,
die Hauptsache, die Geldbeschaffung dagegen eine
cura minima sei, da die Versicherungsanstalten sich
mit Regelmässigkeit zu betheiligen pflegten. In der
That durften sich die Rheinische und die Berliner
Heilstätte einer Capitalunterstützung von zusammen
über *U Millionen Mark seitens ihrer Versicherungs¬
anstalten erfreuen. Bei uns in Baden scheint sich
der Goldregen nicht so rasch einzustellen, zum Theil
deshalb, weil unsere Landesversicherungsanstalt mit
ihren Colleginnen vom Rhein und von der Spree
sich an financieller Leistungsfähigkeit wohl nicht messen
daif. Dass sie sich ihrer Beitragspflicht nicht ganz ent¬
zieht, dafür freilich haftet neben dem Wortlaut des
socialen Gesetzes die philanthropische Anschauung ihres
Leiters.
Was wir in Baden aber voraushaben vor allen
anderen Gründungen der Art, das ist die sachdien¬
liche und thatkräftige Unterstützung durch die Staats¬
regierung, die überdies in keiner Weise hierzu ver¬
pflichtet gewesen wäre, denn ihr vor Jahr und Tag
dargelegter Plan der Errichtung einer Nervenheilstätte
hat nichts zu thun mit den jetzigen Bestrebungen,
wird vielmehr in selbständiger Weise, im Anschluss
an die bestehenden Staatsirrenanstalten, seine Erfüllung
finden. Die badische Volksheilstätte für Nervenkranke
ist etw r as hiervon ganz unabhängiges, ihre Geschichte
beginnt mit der sammelnden und werbenden Thätigkeit
dreier badischer Collegen, Determann-St. Blasien,M.
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1904.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
395
N e u m an n -Karlsruhe, W. Fuchs -Emmendingen,
die sich privatim als vorbereitendes Comite zusammen¬
schlossen. Aber dies der privaten Initiative ent¬
springende Vorgehen hat sich sofort der lebhaftesten
officiellen Förderung zu erfreuen gehabt. Auch
die constituirende Conferenz im Mai wie die Vereins¬
gründung und nun im November die erste Mitglieder¬
versammlung verdanken Zustandekommen wie gedeih¬
lichen Verlauf dem Mitwirken der Regierung, speciell
des Ministerialreferenten Geheimrath Dr. Glöckner,
der in Vertretung des leider gesundheitlich verhinderten
Vorsitzenden, Geheimerath Schüle-Illenau, die Aus¬
schusssitzungen wie die Plenarversammlungen leitete
und auch in den Kampfpausen die Zuversicht
der Mitarbeiter rege und die Betheiligungsricht¬
ungen zusammen hielt. Zu danken haben wir
Glöckner ferner die klaren und praktischen Vereins¬
satzungen und gewiss manches Vereinsmitglied. Durch
Ministerialverfügung sollen dem Verein die Rechte
einer juristischen Person verliehen werden. Weitere,
direkte und indirekte, Erleichterungen staatlicherseits
sind noch nicht sichergestellt, aber wohl sicher zu er¬
hoffen.
Dies ist die eine Seite der staatlichen Mitarbeit;
die andere, die financielle, nothleidet etwas unter der
schlechten Geldlage Badens (hohe Matrikularbeiträge,
geringes Rentiren der Staatsbahnen, Abneigung gegen
Aufnahme von Anleihen), immerhin steht ein barer
Staatsbeilrag in nicht unerheblicher Höhe (50000 M.)
mit Bestimmtheit in Aussicht. Damit ändern sich
einige Zukunftsbilder: wir hatten ursprünglich den
Staatsbeitrag, den wir uns vorstelllen als unkünd¬
baren jährlichen Zuschuss, zur Verbilligung des Pflege¬
satzes benützen wollen, da wir uns sagten, dass der
zur Vorbeugung eines Deficit unabweisliche Durch¬
schnittssatz von 4 Mark pro Tag zu theuer sei für
die durch kein Versicherungsgesetz unterstützten
Minderbemittelten, Beamte, Kaufleute, Handwerker,
Lehrer und viele Frauen, die doch auch so dringend
der Hülfe bedürfen. Das wird nun in dieser Form
nicht möglich sein, denn vorerst muss der Staatszu¬
schuss dem Bauaufwand zu Gute kommen, da ja
leider anderweitig noch keine genügenden Mittel
zur Verfügung gestellt sind. Vielleicht können wir
statt dessen später, etwa aus Ueberschüssen und un¬
verhofften — wenn auch nichts weniger als uner¬
wünschten! — Zuwendungen, also freilich auf recht
schwankender Grundlage, einen Fonds an 1 egen, der
wohlfeile Anstaltsplätze erlaubt. Von den schönen
Worten Max Neumann’s: ,,Es handelt sich hier um
den Beweis, dass wir der Aufgabe der wahren, höchsten
Kultur gewachsen sind, der Aufgabe, die nicht nur
darin besteht, stets an der Spitze zu marschiren, son¬
dern darin, auch die Schwachen unter uns tragen zu
können und trotzdem an der Spitze zu marschiren! —“
wird hoffentlich nichts zurückgenommen werden müssen.
Zur Zeit steht uns baar zur Verfügung nur eine
lediglich durch private Sammlungen aufgebrachte
Summe von etwa 30000 Mark. Die Bemühungen
sollen fortgesetzt werden, bis die Summe auf 100000
Mark, den Staatszuschuss eingerechnet, angewachsen
ist, dann wird mit dem Bau begonnen. Verheissungs-
voll in dieser Beziehung ist das lebhafte Interesse der
Orts-Krankenkassen, vornehmlich der beiden grössten,
der von Mannheim und von Karlsruhe. Ein Anstalts¬
grundstück besitzen wir zwar auch noch nicht, eine
ganze Anzahl von Plätzen sind uns aber schon zum
Kauf angeboten worden, deren Besichtigung sich
Determann-St. Blasien unterzogen hat. D. konnte
über seine Eindrücke vor der 1. Mitgliederversamm¬
lung Bericht erstatten. Ein Abschluss ist auch in
dieser Frage noch nicht erreicht.
Besonderer Dank gebührt der badischen Tages¬
presse, die der Sache der Nervenheilstätte die un¬
eigennützigsten und bereitwilligsten Dienste gewährt
hat. Walter Fuchs-Emmendingen.
— Die Unterhaltung und Erheiterung der
Kranken bildet ein wichtiges und unentbehrliches
Mittel in der Behandlung der chronischen Geistes¬
störungen. Es finden daher wohl in allen deutschen
Anstalten Musikaufführungen, Theatervorstellungen
u. dergl. statt. Einen grossen Theil dieser Unter¬
haltungen können die Einwohner der Anstalt selbst,
gesunde und kranke, leisten. Ausserdem werden in
den meisten Fällen Freunde und Gönner der An¬
stalten bereit sein, ihre schauspielerischen und musika¬
lischen Kräfte zur Verfügung zu stellen. Es bleibt
jedoch immer noch die Nothwendigkeit vorhanden,
bezahlte Kräfte heranzuziehen, z. B. Taschenspieler,
Sängergesellschaften, Kinematographen u. dergl. Es
hängt jetzt, so weit meine Kenntnisse der Verhält¬
nisse reichen, im Wesentlichen vom Zufalle ab,
welche Leute sich dem Leiter der Irrenanstalt anbieten.
Es giebt einzelne „Künstler“, welche mit besonderer
Vorliebe in den Irrenanstalten auftreten und sich
dort Zeugnisse über zufriedenstellende Leistungen
geben lassen, auch kommt es vor, dass zunächst
eine schriftliche Anfrage an die Anstalt kommt, ob
eine Vorstellung gewünscht wird. Die Besitzer von
Lokalen, in denen herumziehende Gesellschaften auf¬
zutreten pflegen, machen diese zuweilen auf in der
Nähe befindliche Anstalten aufmerksam. Im All¬
gemeinen aber hängt es von dem blinden Zufall ab,
ob die Anstalten passende Angebote zu geeigneter
Zeit und zu massigen Preisen erhalten. Es ist da¬
her die Regel, dass man zeitweise zu starkes Ange¬
bot hat, dann wieder unangenehm lange Pausen,
dass man wohl niemals nach einem gewissen Plane
Vorführungen verschiedener Art in passenden Zeit¬
abständen auswählen kann, sondern nehmen muss,
was gerade der Zufall bringt. Oft muss man dann
noch überflüssige Reisekosten zahlen. Fast immer
hat man keine Garantie für die Brauchbarkeit und
Anständigkeit der angebotenen Vorstellungen, sodass
trübe Erfahrungen nicht ausbleiben.
Dieser Zustand Hesse sich leicht verbessern, wenn
die Anstaltsdirektoren sich vereinigten, um ein Ver¬
zeichniss derjenigen umherziehenden Gesellschaften
aufzustellen, die für Vorstellungen in Irrenanstalten
geeignet sind. Den Unternehmern müsste dann ein
Verzeichniss der Anstalten in die Hand gegeben
werden, welche Angebote wünschen. So Hesse es
sich leicht erreichen, dass die Anstalten eine bequeme
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396 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 40.
Auswahl treffen und zugleich die Unternehmer sich
eine passende Rundreise zusammenstellen könnten.
Vorbedingung für die vorgeschlagene Einrichtung
ist allerdings eine Centralstelle, an welche sich,
wenigstens im Anfang, beide Parteien wenden könnten.
Diese Mühe müsste ein College auf sich nehmen.
Vielleicht könnte man dem Vorstande des deutschen
Vereines für Psychiatrie einen ,,Vergnügungs - Assi¬
stenten“ angliedern.
Zunächst möchte ich über die angeregte Frage
einen Meinungsaustausch in dieser Wochenschrift an-
regen. Snell (Lüneburg).
Referate.
— Archiv für C r i m in a 1 - A nt h r o pol ogi e
und C r i m i n a 1 i s ti k. 15. B., 4 H.
Ueber einen seltenen Fall transitori¬
scher Bewusstseinsstörung. Von Walter
S t e i n b e i s s.
Ein völlig gesunder Wärter einer Irrenanstalt steht
nachts eilig auf, kleidet sich an, verlässt das Haus,
indem er alle Thüren verschliesst. Am nächsten
Tage kehrt er zurück, beschmutzt, nur mit einem
Schuh versehen, und fragt, ob der entflohene Kranke
L. zurück sei. Thatsächlich hatte aber der Kranke
das Haus nicht verlassen. Es stellte sich heraus,
dass der Wärter, dessen Erinnerung an die nächt¬
liche Reise sehr lückenhaft war, aufgestanden war,
in der Meinung, ein Kranker sei eben entflohen.
Er weiss nicht, welchen Weg er eingeschlagen hat,
hat bald den Flüchtigen gesehen, seine höhnischen
Zurufe gehört, stand aber plötzlich bis an den Hals
im Wasser und verlor dann die Spur des Kranken.
Epilepsie, Fieberdelir, Trunkenheit sind auszusrhliesscn.
Wahrscheinlich ist der Fall als Schlafwandeln aufzu¬
fassen , in welchem bei vollkommen aufgehobenem
Selbstbewusstsein durch die Selbstthätigkeit des Gross¬
hirns Vorstellungen und Sinnesbilder gleichwie im
Traum erzeugt werden, ohne aber wie bei. diesem
in ihrem Uebergang in motorische Akte getrennt zu
sein.
Die U e b e r e m p f i n d 1 i c h k e i t gewisser
Sinne als möglicher criininogener Faktor.
Von Medicinalrath Dr. P. Näcke in Hubertusburg.
Verf. beschreibt im Anschlüsse an einen von
Prof. Gross berichteten Fall 2 Psychosen, bei denen
Ueberempfindlichkeit der Sinnesorgane Aufregungs¬
zustände hervorruft, und führte weiter aus, dass auch
bei Epilepsie, Hysterie, Migräne, nach Trauma der¬
artige Hyperästhesien ähnliche Folgen haben können.
Schon beim Normalen ist die Möglichkeit einer un¬
absichtlichen , mehr „refiexoiden“ Handlung durch
Ueberempfindlichkeit gewisser Sinnesorgane, welche
von allen möglichen Faktoren, wie Luftdruck, Er¬
müdung, Kälte, Hunger, Vergiftung, Krankheit, Milieu,
Geschlecht, Alter u. s. w. abhängig sein kann, nicht
ganz auszuschHessen.
iri. Bd., 3. u. ,j. H.
Ein Beitrag zur C a s u i s t i k der Simu¬
lation von Geisteskrankheit. Dr. A. G 1 os ,
Gerichtsadjunkt in Neutitsehein.
Die Wittwe Anna St., welche ihre Gläubigerin,
mit der sie in einem Bette schlief, nachts erwürgt
und den Ehemann derselben zu vergiften versucht
hatte, simulirte nach der That auf eine Frage des
Untersuchungsrichters nach Geisteskrankheit in der
Familie, Geisteskrankheit. Sie hatte früher bei ihrem
Ehemann epileptische Krämpfe gesehen und von
Sinnestäuschungen bei Delirium gehört. Sie simulirte
daher Krampfanfälle und Hallucinationen. Die Simu¬
lation war leicht nachzuweisen, und es erfolgte Be¬
strafung.
Im Anschlüsse daran betonte Verf., dass der
Untersuchungsrichter psychiatrisch vorgebildet sein
müsse, um bei der Entlarvung von Simulanten mit-
wirken und die Akten so gestalten zu können, dass
aus dem Studium des Vorlebens, der übrigen anam¬
nestischen Daten, der Schilderung der verbrecherischen
Handlung, des Verhaltens der Angeklagten nach der
That, der psychiatrische Sachverständige sich wirk¬
lich ein Urtheil über den Fall bilden könne.
Dost- Hubertusburg.
— Enquctes. Intervention du punvoir judi-
ciaire dans le placemcnt des alienes. Revue de
Psvchiatrie et de Psychologie experimentale IQ04.
Nr. 4.
Aus Anlass eines von Dr. Dubcief dem franzö¬
sischem Parlamente eingebrachten Entwürfe eines
Irrengesetzes, veranstaltete die Redaktion der Revue
de Psychiatrie eine Rundfrage unter den ange¬
sehensten, ärztlichen Leitern von französischen Irren¬
anstalten, ob ein Mitwirken der Gerichtsbehörden bei
der Einlieferung von Geisteskranken in die Iricnan-
stalten zweckmässig wäre. Die Antwoiten und ihre
Begründungen sind sehr verschiedenartig ausgefallen.
Von 30 Antworten sprachen sich 13 in jedem Falle
dafür aus, 5 teilweise dafür; die andere Hälfte der
Zuschriften wandte sich aber entschieden gegen diese
beabsichtigte Neuerung. Als einer der Hauptgegen-
gründe wird insbesondere die Befürchtung ange¬
sehen, dass ein Mitwirken der Justiz das Aufnahme¬
verfahren erheblich langsamer gestalten würde zum
Nachtheile der Kranken. Falb aber durc h die Fassung
des Gesetzes die Vermeidung eines solchen Ucbel-
stande.'* sichergestellt werden sollte, wäre es möglich
dass sich späterhin doch die Mehrzahl der franzö¬
sischen Irrenärzte für diesen Reform Vorschlag aus¬
spricht.
Dr. Fritz Hoppe, Tapiau.
Personalnachrichten.
— In Charlottenburg ist nach schwerem
Leiden Dr. ined. Martin Brasch, Irren- und Nerven¬
arzt, im 40. Lebensjahre gestorben.
Itir den redactkmelien Theii vorauf wörtlich : Oberarzt l)r. J. Ilr#fä|,r, Ltlbl.mt« (Sch rsien).
Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme j Tage' vor der Angabe. — Verlag Von Catf Marhold in Halle a. S
Heyncmann’sche BuchJruckerei (Gcbr. in Halle a. S.
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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift,
Redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. B realer,
Lublinitx (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Teleur.-Adresse: Marho Id Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834.
Nr. 41, 7. Januar. _ m
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler. Lublinitz (Schlesien), zu richten.
Dritter Bericht über die Fortschritte des Irrenwesens.
Nach den Anstaltsjahresberichten erstattet
von Dr. Deiters in Bonn, früher in Andernach.
(Fortsetzung.)
Gewisse Schwierigkeiten macht es mitunter, ge¬
fährliche Kranke zu beschäftigen. Treptow be¬
absichtigt besondere Werkstätten im Hause der Un¬
ruhigen einzurichten und hat bisher diese Kranken
mit Schreib- und Zeichenarbeiten innerhalb der Ab¬
theilung, im Sommer mit Gartenarbeiten im ge¬
schlossenen Garten beschäftigt. Meerenberg
spricht sich gegen besondere Werkstätten für solche
Kranke aus und theilt einen Fall mit, in dem es
beabsichtigt war, ihm ein eigenes Lokal anzuweisen,
wo er sich mit Mattenflechten beschäftigen sollte.
Die Maassregel kam aber nicht zur Ausführung,
weil es schliesslich doch noch gelang, ihn unter an¬
dern Kranken zu beschäftigen und zu socialem Ver¬
halten zu erziehen. — Ob das immer möglich ist,
wird man füglich bezweifeln dürfen.
An den meisten Anstalten ist es Sitte, den Arbei¬
tenden irgend welche kleine Vergünstigungen zuzu¬
wenden, etwa in Form von Beköstigungszulagen oder
Genussmitteln, oder auch Spaziergängen, gelegent¬
licher Gewährung von Taschengeld od. dgl. Ueber
eigentliches Arbeitsverdienst in der Form, dass den
Kranken je nach ihrer Arbeitsleistung ein wenn auch
kleiner Geldbetrag zugebilligt wird, sagen unsere Be¬
richte nichts. Eine solche Einrichtung hat ja auch
ihre Schwierigkeiten; denn wenn der zu gewährende
Betrag nur einigermaassen nennenswerth sein soll, so
würden b$i der grossen Zahl der beschäftigten Kran¬
ken die aufzuwendenden Mittel recht beträchtliche
sein müssen.
Mauer-Oehling spricht in seinem Statut den
Grundsatz aus, dass die Arbeit Heilmittel sei und
somit den Kranken kein Anspruch auf Entlohnung
zustehe. Es ist jedoch' eine Arbeitsverdienstkasse
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vorgesehen, in welche am Ende des Jahres ein nach
der Gesammtheit aller Arbeitsleistungen der Kranken
berechneter Pauschalbetrag niedergelegt wird. Die
Kasse bleibt zur Verfügung des Directors, welcher
daraus den Kranken Extravergünstigungen, nach
Bedarf auch Unterstützungen an Entlassene gewähren
kann.
b) Coloniale und Familien-Pflege.
Coloniale Verpflegung ist in Württemberg
schon seit längerer Zeit sehr beliebt und soll noch
weiter ausgebaut werden. Winnenthal hat den
Neubau einer Colonie vollendet und im Jahre 1902
in Betrieb gesetzt. Schussenried hat die Männer-
colonie andauernd voll besetzt und den Bau einer
Frauencolonie begonnen. Zwiefalten, Weissenau,
sowie die Privatanstalten Göppingen und Pful¬
lingen berichten über ungestörten Fortgang des
colonialen Betriebes.
Frankfurt hat ausserhalb der Stadt 2 Filialen,
Prächtershof und Köppern, über deren Arbeiten
berichtet wird.
Niedernhart hat, um der Ueberfüllung ab¬
zuhelfen, die Gründung einer Colonie in Vorschlag
gebracht. —
Die Familienpflege hat jetzt ohne Zweifel
eine Zeit fortschreitender Entwicklung, obgleich ja
von manchen Seiten ihr Werth ernstlich bestritten
wird.
In der Provinz Brandenburg wird sie sehr
gepflegt; im Ganzen sind dort schon ca. 120 Kranke
in Familien untergebracht. An der Spitze steht
Eberswalde, das im Berichtsjahr von 27 auf 56
gestiegen ist und im laufenden Jahre auf 100 zu
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HARVARD UN1VERSITY
398
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT
[Nr. 41.
kommen hofft Auch Landsberg, Neuruppin
und Lübben haben bereits eine grössere Anzahl
Kranker in Familien pflege, während in Sorau die
Versuche bisher fehlschlugen. Selbst die branden-
burgische Idiotenanstalt, das Wilhelmsstift in
Potsdam, macht Versuche mit dieser Verpflegungs¬
form und hat fürs Erste 10 männl. und 4 weibl.
Idioten in Treuenbrietzen untergebracht. Der Bericht
spricht sich aber ziemlich skeptisch aus: „Es ist zu
berücksichtigen, dass die hier hinausgegebenen Pfleg¬
linge besonders ausgesuchte Idioten darstellen, die
auch in der Anstalt gehörig zu leiten waren und
auch hier mehr oder weniger gute Fortschritte
machten/'
Göttingen berichtet eingehend überdas Blühen
und Gedeihen seiner Familienpflege. Es sind wieder
einige Dörfer neu hinzugekommen, und die ange¬
botenen Pflegestellen sind schon so zahlreich, dass
die Anstalt nicht genug geeignete Kranke dafür hat.
Schon mehrfach sind aus andern hannöverschen
Anstalten Kranke zu diesem Zweck nach Göttingen
überführt worden. — Osnabrück kann bisher nur
über misslungene Versuche berichten, die umwoh¬
nende Bevölkerung ist wenig geeignet, doch hat man
die Hoffnung noch nicht aufgegeben.
In Westphalen haben Lenge rieh und
Aplerbeck mit der Einrichtung der Familienpflege
begonnen. Lengerich hat 16 Pfleglinge hinaus¬
gegeben und damit die Zahl der geeigneten Elemente
vorläufig erschöpft; eine Vergrösserung wird nur ganz
langsam erwartet. Aplerbeck hat seine Stellen
nicht vermehrt, und erwartet auch keine weitere Aus¬
dehnung.
Treptow hat bald nach Eröffnung der Anstalt
sich bemüht, die Familienpflege einzuführen, hatte
aber Anfangs mit grossen Schwierigkeiten zu kämpfen,
weil die Bevölkerung der Sache Misstrauen ent¬
gegenbrachte. Man hat bisher nur 13 weibliche
Kranke unterbringen können, doch hofft man auf
weitere Ausdehnung.
In Schlesien hat Brieg einen Anfang mit
der Familienpflege gemacht und hatte am Schlüsse
des Berichtsjahrs schon 20 Pfleglinge hinausgegeben.
Die Einzelheiten der Einrichtung werden mitgetheilt;
sie stimmen im Wesentlichen mit den anderwärts
üblichen überein. Bunzlau berichtet über einige
Störungen in der Familienpflege, wie Gewaltthätig-
keiten, sexuelle Zudringlichkeiten von Kranken u. dgl.
Die Anstalt hat viele ruhige Kranke an andere An¬
stalten abgeben müssen und muss es deshalb in der
Familienpflege auch gelegentlich mit unsicheren Ele¬
menten versuchen.
In Konradstein hat die Familienpflege eine
erhebliche Ausdehnung erfahren. Man hatte im
Vorjahre mit 21 Pfleglingen abgeschlossen und wollte
im Berichtsjahr auf 40 steigen, war aber durch die
Ueberfüllung genöthigt noch weiter zu gehn und ist
bis auf 60 gekommen. Eine Erörterung der Vor¬
züge der Familienpflege führt zu dem Resultat, dass
sie erstens billiger ist als die Anstaltspflege; es wird
berechnet, dass die jährlichen Kosten eines Familien¬
pfleglings sich auf 376,98 M., die eines in der An¬
stalt verpflegten Kranken auf 427,68 M. belaufen.
„Wichtiger noch ist der Umstand, dass die familiäre
Verpflegung für die Kranken selbst ausgesprochene
Vortheile bietet. Die ärztliche Behandlung körper¬
licher Erkrankungen ist zwar weniger leicht durch¬
führbar als innerhalb der Anstalt, indess bei ernsteren
und länger dauernden Krankheitsfällen, sow r ie bei
besonderen Vorkommnissen wird ja ohnehin die
Rückkehr der Pfleglinge in die Anstalt noth wendig.
Dahingegen bietet die Verpflegung in der Familie
den Pfleglingen grössere Möglichkeit einer Berück¬
sichtigung ihrer Eigenart gegenüber den mehr gleich¬
artigen nivellirenden Bedingungen des Anstaltslebens.
Sie haben zudem in der Familie vielfach mehr An¬
regung, leben naturgemässer und in Verhältnissen,
die ihrer ursprünglichen Lebensweise weit mehr an¬
gepasst sind. Es lässt sich das eben nur in einer
fremden Familie ermöglichen, nicht in der eigenen.
In dieser wirken wieder alle jene Schädlichkeiten auf sie
ein, die zuerst ihre Verbringung in die Anstalt nöthig
machten, während dieselben in fremder Familie fort¬
fallen ; dazu kommt dann noch, dass sie hier dauernd
unter ärztlicher Aufsicht stehen.“
Eigenartig war die Entwicklung der Familienpflege
in Königslutter. Der Ueberfüllung wegen führte
man dort im Jahre 1898 sog. „Nachtlogis“ ein, d. h.
man brachte eine grössere Anzahl harmloser Kranker
für die Nacht in Privathäusem in der nächsten Nach¬
barschaft der Anstalt unter; bei Tage kamen die
Kranken wieder in die Anstalt. Diese Nachtlogis
waren ein Nothbehelf. Sie gaben aber einen geeig¬
neten Uebergang zur Familienpflege ab, deren Einfüh¬
rung freilich noch mancherlei Schwierigkeiten machte.
Für die männlichen Kranken ist die Einrichtung jetzt
gesichert, während für die Frauen noch kein end¬
gültiges Ergebniss erzielt ist. Man rechnet darauf,
höchstens 10% des Krankenbestandes in Familien¬
pflege unterzubringen.
Auch in Blankenhain war Ueberfüllung die
Ursache für die Einführung der Familienpflege. Man
hatte früher gelegentlich einzelne Kranke, die aus
irgend einem Grunde nicht in die eigene Familie
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HARVARD UNiVERSITY
1905.]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
399
beurlaubt werden konnten, in Familien der benach¬
barten Ortschaften untergebracht. Ende 1901 wurde
eine officielle Organisation der Familienpflege in die
Wege geleitet, und bis Ende 1902 hatte man 18
Kranke untergebracht.
In Württemberg besteht Familienpflege in
Zwiefalten und in Weissenau. Neuerungen
sind im Berichtsjahre nicht zu verzeichnen.
Unter den badischen Anstalten hat Emmen¬
dingen mit der Einrichtung der Familienpflege be¬
gonnen, obgleich bei der eigenthümlichen Arbeits¬
teilung unter den badischen Anstalten gerade dort
das Krankenmaterial nicht das geeignetste für diese
Verpflegungsform ist. Seitens der Bevölkerung schei¬
nen sich keine besonderen Schwierigkeiten ergeben
zu haben, es waren gleich von vornherein genügend
Bewerbungen vorhanden. Bis zum Jahresschluss
hatte man 18 Kranke — 5 Männer und 13 Frauen
— untergebracht.
In der Schweiz giebt es Familienpflege erst an
wenigen Orten. Die Waldau klagt, dass sie dort
nicht recht gedeihen wolle. Die Ursache liegt darin,
dass die Anstalt stets darauf bedacht ist, zunächst
die eigenen Colonien zu besetzen; da bleiben denn
nicht viele zur Familienpflege geeignete Kranke'übrig.
Das Asile deCery hat „un projet de placement
dalienes chroniques tranquilles k la Campagne“ ins
Auge gefasst.
Im Aargau plant der Hülfsverein sich mit der
Einrichtung der Familienpflege zu befassen.
Der ungarische Bericht pro 1902 theilt mit,
dass, angeregt durch den Antwerpener Congress,
2 ungarische Irrenanstalten die Einführung der Fa¬
milienpflege planen. Der neue Bericht spricht nicht
mehr davon.
Meerenberg, von dem wir im vorigen Jahre
berichten konnten, dass es die Einführung der Fa¬
milienpflege plant, hat 1902 mit der practischen Aus¬
führung begonnen, musste sich aber ijn ersten Jahr
auf eine geringe Anzahl beschränken, weil sich in
einem Fall Schwierigkeiten wegen der Kostentragung
ergaben. Es war strittig, ob ein in Familienpflege ge¬
gebener Kranker noch als „Anstaltskranker“ (gestichts-
kranksinnig) zu betrachten sei. Nach Behebung
der Schwierigkeiten wurde 1903 mit der Ausführung
fortgefahren. An Stelle von V2 Jahr hat man jetzt
die Zeit von 3 Monaten als Mindestzeit festgesetzt,
die ein Kranker in der Anstalt gewiesen sein muss,
bevor er von anstaltswegen in Familienpflege ge¬
geben werden kann. Man plante früher V10 des
gesammten Bestandes der Familienpflege zuzuführen,
hat dies aber jetzt auf V20 vermindert.
Ein auf dem Vlämischen Aerztecongress 1903
gehaltener Vortrag von Meeus und Ghys über
„Gezinsverpleging der Hulpbehoevenden“ beschäftigt
sich hauptsächlich mit der Einrichtung von Gheel,
die ja allgemein bekannt ist. Betont wird der Gegen¬
satz von Gheel, wo die Familienpflege numerisch
weitaus die Hauptsache bildet und die Centrale
zwar nothwendig, aber doch von mehr sekundärer
Bedeutung ist, und anderen Einrichtungen, wo die
Centralanstalt die Hauptsache bleibt und die Familien¬
pflege in grösserem oder geringerem Umfange ihr
angegliedert wird.
c) Fürsorge für Entlassene; Prophylaxe.
Die Irrenfürsorge darf sich nicht mehr darauf
beschränken, für die im engeren Sinne hilfsbedürf¬
tigen Kranken in Anstalten und deren Adnexen ge¬
eignetes Unterkommen zu schaffen. Es ist eine der
schönsten und werthvollsten Seiten unserer modernen
Bestrebungen, dass man sich auch der nicht mehr
oder noch nicht anstaltspflegebedürftigen Kranken an¬
nimmt und ihnen behülflich ist, solange wie möglich
eine selbständige Existenz zu behaupten.
Zwei Wege sind also zu gehen. Der eine für
uns Anstaltsärzte zunächst gegebene ist der, die
Kranken, die wir aus der Anstalt entlassen, im Auge
zu behalten, dafauf 2U sehen, dass sie in zweck¬
mässige Umgebung kommen, ihnen auch ausserhalb
der Anstalt noch unsern Rath zu leihen, und vor
allem sie durch pecuniäre Unterstützungen vor Noth
zu bewahren. Zugleich muss auch das Ziel ins
Auge gefasst werden, den Kreis dieser „Entlassenen“
weiter zu ziehen, d. h. manchen Kranken, die nach
bisherigen Anschauungen noch für anstaltspflegebe-
dürftig gelten, den Weg in die Freiheit zu erschliessen.
Natürlich ist das nur dann möglich, wenn eine aus¬
giebige Fürsorge für sie zweckmässig organisirt ist.
Der zweite, viel schwierigere Weg ist der der
eigentlichen Prophylaxe. Es sollen jene Labilen
oder auch bereits Erkrankten, die unter einfachen
geordneten Verhältnissen noch sehr wohl in Freiheit
leben können, die aber durch jede Störung ihres
ruhigen Lebens in Gefahr gerathen, anstaltspflege¬
bedürftig zu werden, geschützt werden.
Eine allgemeine officielle Organisation dieser Für¬
sorge existirt nicht; vielleicht bringt sie uns später
einmal das Reichsirrengesetz, für welches dies jeden¬
falls eine erspriesslichere Aufgabe wäre, als der thörichte
Kampf gegen das Gespenst der widerrechtlichen In-
ternirung Gesunder. Vorderhand liegt diese Arbeit
der Hauptsache nach in den Händen der Hülfs-
vereine. Leider liegen mir Berichte dieser Ver¬
eine nur in geringer Zahl vor.
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HARVARD UNIVERSITY
400
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 41.
Einer der ältesten und erfolgreichsten dieser Ver¬
eine ist der hessische. In seinem letzten Berichte
werden zunächst die Ziele und Erfolge der Vereins-
thätigkeit erörtert und dabei die Meinung vertreten,
dass eine staatliche Behörde mit ihrer doch immer
etwas schematischen Arbeitsweise niemals in der
Lage sein würde, dem höchst mannigfaltigen Hülfs-
bedürfniss zu entsprechen, dass vielmehr gerade das
organische Zusammenarbeiten des privaten Vereins
mit den Staatsbehörden, wie es sich in Hessen
herausgebildet hat, die beste Gewähr für gedeihliches
Wirken gebe. Weiter wird über einige Neuerungen
berichtet. Man will regelmässige Vertrauensmänrter-
tage einführen, um mit diesen in engerer Fühlung
zu bleiben; auch will man sie zur Besichtigung der
Anstalten einladen, um ihr Verständniss für die Sache
zu heben. Ferner hat man auf die Anregung eines
Vertrauensmannes hin, in grösseren Orten die Zahl
der Vertrauensmänner zu vermehren, den Beschluss
gefasst, es zwar überall bei einem Vertrauensmann
zu belassen, welcher die generellen Arbeiten für den
Verein behalten soll, dafür aber die practische Für¬
sorge für einzelne Hülfsbedürftige bestimmten Per¬
sonen , sogenannten „Helfern“ zu übertragen, mit
denen die Central Verwaltung direct verkehrt, zugleich
aber den zuständigen Vertrauensmann auf dem Lau¬
fenden erhält. In richtiger Erkenntniss, dass die
Bedürfnisse weiblicher Kranker besser von Frauen
beurtheilt werden können, hat man für diese die Be¬
stellung von „Helferinnen“ ins Auge gefasst.
Das schon im vorigen Jahre mitgetheilte Vor¬
haben des Vereins, auch die Nervösen in den Be¬
reich seiner Wirksamkeit zu ziehen und damit ge-
wissermaassen prophylactisch zu wirken, hat bisher
noch geringen Erfolg gehabt.
Gerade die Fürsorge für unbemittelte Nerven¬
kranke wird ja seit einigen Jahren lebhaft erörtert.
Der sächsische Bericht tbeilt mit, dass man vor
einigen Jahren den Plan erwogen habe, an den Irren¬
anstalten Abtheilungen oder Adnexe für Nervenkranke
einzurichten, doch gelangte man zu dem Schluss,
dass aus praktischen Gründen eine solche Vereinig¬
ung unzweckmässig sei, weil dadurch viele Nerven¬
kranke abgeschreckt werden würden, die Anstalt auf¬
zusuchen. Die Gründung selbständiger öffentlicher
Nervenheilstätten ist für Sachsen bisher nicht ge¬
plant. Doch spricht der Bericht den Wunsch aus,
dass es dazu kommen möchte. Wenn der Wunsch
an maassgebender Stelle einmal da ist, wird sich wohl
auch ein Weg finden.
In Lüneburg hat man eine Poliklinik für Nerven¬
kranke eingerichtet, deren Frequenz aber noch nicht
sehr gross ist; eine Stunde wöchentlich genügt bis¬
her dem Bedürfniss. — Wenn die Freiburger
Klinik die Aufnahme Nervenkranker befürwortet, so
gehört dies nur mittelbar hierher, weil es hauptsäch¬
lich mit Unterrichtszwecken begründet wird.
Der junge rheinische Hülfsverein kann über
eine erfreuliche Entwicklung berichten. Mitglieder¬
zahl und Einkommen haben beträchtlich zugenommen,
wenn auch bei weitem noch nicht die Höhe erreicht
ist, die von einer so grossen und reichen Provinz
zu erwarten ist Der Bericht wendet sich gegen den
Standpunkt einer städtischen Behörde, die den Bei¬
tritt abgelehnt hat, weil das Sache der Armenver¬
bände sei, und hebt hervor, dass der Verein gerade
da helfend eintreten wolle, wo keine Verpflichtung
der Armen verbände vorliege. — Für die Vertrauens¬
personen ist eine Anleitung ausgearbeitet worden,
welche ihnen über die Hauptpunkte ihrer Thätigkeit
Auskunft giebt. Auch eine Vermehrung der Ver¬
trauensmänner wird beabsichtigt.
Die Unterstützungen fielen naturgemäss zum
grössten Theil an die aus der Anstalt Entlassenen.
Ausserdem wurden häufig die Familien von Kranken,
besonders Ehefrauen, unterstützt. Zu der Frage, ob
nach dem Tode des Kranken die Unterstützung
der Familie noch fortgesetzt werden solle, wird der
Grundsatz aufgestellt, dass im Allgemeinen dann
wohl keine Unterstützungen mehr zu geben sind,
weil dies eben über die Aufgabe des Vereins hinaus¬
geht; dass aber unter Umständen für das Wohl der
Kinder eine weitere Unterstützung prophylactisch
von Bedeutung sein könne.
Im Bericht der Anstalt Treptow wird raltge-
theilt, dass Mercklin dort die Gründung eines
Pommerschen Hülfsvereins angeregt habe, doch einigte
man sich dahin, vorläufig keinen neuen Verein zu
gründen, sondern den pommerschen Provinzialverein
für innere Mission zu ersuchen, die Fürsorge für
entlassene Geisteskranke in sein Arbeitsprogramm
aüfzunehmen, was dieser bereitwilligst und mit gutem
Erfolg übernahm. Unterstützungen in Geld werden
von der Provinz gewährt.
Von reichsdeutschen Hülfsvereinen habe ich leider
keine weiteren Berichte, dagegen liegen mir einige
solche aus der Schweiz vor.
Der Züricher Verein berichtet ausführlich über
die gewährten Unterstützungen, die z. Th. recht
grosse Noth linderten. Seine Bemühungen, für die
Einrichtung einer Familienpflege zu wirken, haben
bisher keinen Erfolg gehabt. Ein besonderer Zweig
seiner Thätigkeit besteht in der Ertheilung von Hand¬
arbeiten als Nebenverdienst für weibliche Entlassene.
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HARVARD UNiVERSITY
1905]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
401
Auch der Basler Verein berichtet über erspriess-
liche Thätigkeit. Er plant eine Erweiterung seiner
Thätigkeit in der Richtung, dass für manche Kranke
die Verpflegungskosten in der Anstalt vom Verein
übernommen werden, für solche nämlich, welche
nicht so arm sind, dass sie aus öffentlichen Mitteln
verpflegt werden können, deren Familien aber doch
durch die Tragung der Kosten in Bedrängniss ge-
rathen.
Der Aargauer Hülfsverein weist auf die Noth-
lage der dortigen Irrenfürsorge durch die Ueberfüll-
ung der Anstalt Königsfelden hin. Auch er hat
die Einrichtung einer Familienpflege ins Auge ge¬
fasst und hofft dies bei dem Anwachsen seines
Kapitalvermögens bald ins Werk setzen zu können.
Im Jahresbericht des Vereins Schweizer Irren¬
ärzte wird noch kurz über die Thätigkeit des St.
Gallischen und des Luzerner Hülfsvereins be¬
richtet.
Auf Frank’s Antrag wurde im Verein Schweizer
Irrenärzte beschlossen, einen Zusammenschluss sämmt-
licher Schweizer Hülfevereine herbeizuführen und
einen Preis auszusetzen für eine zur Aufklärung des
Volkes dienende populäre Abhandlung über das
Inenwesen. Uebrigens bringen mehrere Hülfsver-
einsberichte solche Abhandlungen. Im Züricher Be¬
richt schreibt 1902 Inhelder über einen „Gang
durch eine Irrenanstalt“, 1903 v. Muralt „Ueber
erbliche Belastung bei Geisteskranken“. Im Basler
Bericht sind Vorträge von Wille über „Ein schwei¬
zerisches Irrengesetz“ und „Ueber Irrsein, Irre und
Irrenanstalten“ abgedruckt. Dem letzten rheini¬
schen Hülfsvereinsbericht liegt eine Abhandlung von
Scholz über „die Grenzen des Irreseins“ bei. Allen
diesen Arbeiten möchte man im Publikum grosse
Verbreitung wünschen.
Ausser von den Hülfsvereinen werden noch oft
von den Anstalten direct Unterstützungen an Ent¬
lassene, oder an Familien von in der Anstalt be¬
findlichen Kranken gewährt. Wohl die meisten An¬
stalten haben irgend einen, wenn auch oft kleinen
Fonds zu diesem Zweck. Die Berichte sagen nicht
viel darüber.
In relativ grossem Umfange scheint diese Ein¬
richtung in Illenau zu bestehen. Allein an Weih¬
nachtsgaben werden dort pro Jahr an 1000 M. und
mehr verausgabt. Unter den verschiedenen Stift¬
ungen, über welche die Anstalt verfügt, befindet sich
auch eine aus mehreren Schenkungen und Vermächt¬
nissen vereinigte, welche für arme Entlassene oder
bedürftige Angehörige von Kranken bestimmt ist.
Die neue „Schüle-Stiftung“, welche Schüle bei
Gelegenheit seines 40jährigen Dienstjubiläums über¬
reicht worden ist, soll „zu Erziehungsbeihülfen für
Kinder von in der Anstalt befindlichen und ehe¬
maligen bedürftigen und würdigen Pflegebefohlenen
der Anstalt Illenau“ verwendet werden.
VI. Alkohol.
An der Alkoholfrage, die in unsern Tagen mit
solcher Lebhaftigkeit erörtert wird, sind wir Irren¬
ärzte mit in erster Linie interessirt Unsere Jahres¬
berichte bringen natürlich keine eingehenden Be¬
sprechungen darüber; aber principielle Meinungs¬
äusserungen dazu finden sich doch in recht vielen.
Vor allem interessirt die Frage, in welchem Um¬
fange der Alkoholmissbrauch an der Aetiologie der
Psychosen betheiligt ist, und viele Berichte geben
in ihren statistischen Berechnungen Aufschluss hier¬
über; freilich von etwas verschiedenen Standpunkten
aus, sodass die mitgetheilten Zahlen nicht direct
vergleichbar sind. — Einige der Zahlen seien hier
wiedergegeben.
Der brandenburgische Bericht theilt mit, dass in
Eberswalde unter den Männern 21,2%, unter den
Frauen 0%, in Neu-Ruppin unter den Männern
16,33%, unter den Frauen 5,32% Trinker waren.
Sachsen berechnet aus seinen sämmtlichen
Anstalten 18,5% der Männer und 2,2% Frauen,
bei denen der Alkoholismus überhaupt ätiologisch
in Betracht kam, während sich wirkliche Alkohol¬
entartung nur in 2,1% der männlichen Aufnahmen
fand.
Württemberg berechnet unter sämmtlichen
Aufnahmen, ohne Trennung der Geschlechter, 10%
Alkoholismus. Unter Hinzurechnung der Fälle, in
denen bei einem der Eltern Trunksucht vorlag,
kommt bei 17% der Aufnahmen der Alkohol als
ätiologisches Moment in Betracht.
Im Burghölzli handelte es sich um Alkohol¬
psychosen bei 16,1% der Männer, 2,3% der Frauen,
im Ganzen bei 10,7% der Aufnahmen.
Die enorme Anzahl von Alkoholpsychosen, welche
in der Frankfurter Anstalt zur Aufnahme ge¬
langt sind, lässt sich mit den anderen nicht ohne
weiteres vergleichen. Es sind unter 742 männlichen
Aufnahmen 415. Charakteristisch ist es, dass da¬
runter 97 Fälle von „acutem Alkoholismus“ sich be¬
finden. Die Anstalt hat eben eine offene Abtheilung
ohne complicirte Aufnahmebedingungen, in die seitens
der Rettungsgesellschaft jeder auf der Strasse be-
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HARVARD UNIVERSITY
402
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 41.
wusstlos gefundene eingebracht wird. „Es kann
keinem Zweifel unterliegen, dass dies die einzig rich¬
tige, humanen und mechanischen Grundsätzen ent¬
sprechende Behandlung des Alkoholismus ist. Nur
in der Anstalt kann entschieden werden, ob es sich
um einfachen Alkoholismus oder um eine Himherd-
erkrankung handelt. Auch können nur hier die ein¬
fachen acuten Alkoholisten von den chronischen
Alkoholisten getrennt werden. Die ersteren werden
baldmöglichst wieder entlassen, die letzteren, soweit
sie dazu geeignet sind, einer längeren Behandlung
unterworfen. Zu allen diesen Maassregeln ist nur
die Irrenanstalt durch ihre Einrichtungen (permanente
Badewache, Einzelzimmer, 'Wachsäle und ärztlichen
Wachdienst) geeignet. u
Die Zahlenbeispiele noch zu vermehren ist wohl
überflüssig. Allgemein gültige Zahlen wird man aus
unsern Berichten nicht gewinnen können, es giebt
darin doch recht grosse örtliche Verschiedenheiten.
Soviel geht aus diesen Zahlen wieder hervor,
dass der Alkohol in der Aetiologie der Psychosen
eine recht beträchtliche Rolle spielt. Und darum
ist es verständlich, dass im Kampf gegen den Alko¬
holmissbrauch! Irrenärzte mit in erster Linie stehen.
Es liegt nahe, diesen Kampf vor allem im
eigenen Hause zu beginnen. Merkwürdigerweise
scheint die Anzahl der Anstalten, welche die volle
Abstinenz bei sich eingeführt haben, noch nicht sehr
gross.
Heidelberg theilt mit, dass dort seit 1893
keine alkoholischen Getränke mehr verabreicht
worden sind, ohne dass daraus Schwierigkeiten ent¬
standen wären. Neu eingefühlt ist die Abstinenz
z. B. in Valduna, wo man sie im Lauf von 2
Jahren ganz allmählich fortschreitend durchführte,
ohne auf Schwierigkeiten zu stossen. „Welche An¬
schauungen man auch sonst immer in der Alkohol¬
frage vertreten mag, so wird doch kaum jemand zu
bestreiten wagen, dass der Alkohol für Geistes- und
Nervenkranke als Genussmittel zum Mindesten ent¬
behrlich ist“ — Mauer-Oehling hat die Abstinenz
sogar gesetzlich festgestellt. Es heisst im Statut: „In
der Anstalt werden geistige Getränke an Kranke
grundsätzlich nicht verabfolgt. Ausnahmen sind nur
im Falle der ärztlichen Verschreibung von Alkohol
als Medikament gestattet.“
Man wendet gegen die Einführung der vollen
Abstinenz in Irrenanstalten ein, dass für viele unserer
Kranken der Alkohol unschädlich sei. Mag das
immerhin sein; aber grösser ist doch jedenfalls die
Zahl deijenigen, bei welchen der Alkohol ungünstig
wirkt und bei vielen ist er sogar contraindicirt
Deren Abstinenz lässt sich kaum mit Sicherheit
durchführen, wenn daneben andere Kranke Alkohol
bekommen. Und dabei lehrt die Erfahrung, dass
die Zahl deijenigen Kranken, welche die Abstinenz
unangenehm oder gar als Härte empfinden, ausser¬
ordentlich klein ist, mit Ausnahme natürlich der
eigentlichen Alkoholisten, welche ja doch keinen
Alkohol bekommen dürfen. Die grosse Mehrzahl
der Kranken, denen der Alkohol unschädlich ist,
hat auch kein grosses Verlangen danach.
Es ist hier nicht der Ort, auf die mannigfachen
gegen den Alkoholmissbrauch gerichteten Bestrebungen
einzugehen. Nui über das Heilstättenwesen bedarf
es noch einiger Worte.
Es liegt ein Bericht über sämmtliche deutsche
Trinkerheilstätten vor, welchen der Leiter der Lin-
torfer Anstalt, P. Kruse, dem Bremer Antialko-
holcongress gewidmet hat. Die Entstehung der Lin-
torfer Anstalt, der ältesten in Deutschland, ist auf
eine Anregung des älteren Nasse zürückzuführen.
Später hat auch Werner Nasse sich der Sache
lebhaft angenommen, und die von ihm aufgestellten
Grundzüge für die Arbeit der Anstalt, welche im
Bericht citirt werden, seien hier wiedergegeben:
„Das innere Leben muss möglichst den Charakter
des Familienlebens tragen, geregelt durch eine Haus¬
ordnung, der Jeder sich zu fügen hat, mit einem
Hausvater oder Inspector an der Spitze, für den
ein höherer Grad von Bildung dringend zu wünschen
ist Ausser den allgemeinen Regeln der Behandlung:
als Enthaltung von geistigen Getränken, Anleitung zu
mannigfachen Beschäftigungen, Beschaffung einer be¬
sonders kräftigenden Kost, Anregung zu zerstreuender
und belehrender Unterhaltung, sittlich-religiöser Ein¬
wirkung durch Hausandacht, Ansprachen, Lectüre
u. s. w. wird hauptsächlich eine individualisirende
Behandlung, ein Eingehen auf die mannigfachen ver¬
schiedenen körperlichen und geistigen abnormen Zu¬
stände und deren Ursprung die Aufgabe derer sein
müssen, die ein solches Asyl leiten. Geistlicher und
Arzt werden in dieser Hinsicht gemeinsam und in
gegenseitigem Verständniss zu wirken haben.“
Diese im Jahre 1877 gesprochenen Worte ent¬
halten ein Programm, das in seinen Hauptpunkten
auch heute noch Gültigkeit hat, und dem die meisten
heute bestehenden und mit gutem Erfolg arbeitenden
Heilanstalten in ihren Einrichtungen entsprechen.
Nur wird man heute für solche Anstalten eine ärzt¬
liche Leitung fordern müssen, entsprechend dem
Grundsatz, dass Alkoholiker Kranke sind.
Von allen wird betont, dass es bei der Trinker¬
behandlung auf eine erziehliche Beeinflussung der
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
403
gesammten Persönlichkeit ankomme, welche durch
Beschäftigung, Unterhaltung, Geselligkeit etc. ange¬
strebt wird. Die vollständige Enthaltsamkeit von
alkoholischen Getränken ist dabei selbstverständlich,
und zwar muss erstrebt werden, diese zu einer
dauernden zu machen. Alle Erfahrungen sprechen
dafür, dass es nicht angeht, dem Trinker nach er¬
folgreicher Kur für sein späteres Leben den massigen
Genuss geistiger Getränke wieder zu gestatten. Der
massige Genuss führt dann stets bald wieder zum
Uebermaass. Der Bericht von Haus Rocken au
sagt: „Bei der Natur des Leidens ist es unmöglich,
auf anderm Wege Heilung zu erzielen, als indem
man den Kranken zum überzeugten und begeisterten
Anhänger der vollständigen Enthaltsamkeit macht,
der fähig ist, wenn er wieder ins Leben hinaustritt,
seinen neugewonnenen Standpunkt zu vertheidigen.“
Kruse bringt, nach ausführlichem Bericht über
die stattliche Zahl der deutschen Anstalten, noch eine
Zusammenfassung, aus der hervorgeht, dass zur Zeit
in Trinkerheilanstalten 532 Plätze für Männer, 140
für Frauen, und 113 in beiden Geschlechtern ge¬
meinsamen Anstalten zur Verfügung stehen. Für
den Bedarf ist das sicher zu wenig. Zudem haben
manche der Anstalten mit finanziellen Schwierig¬
keiten zu kämpfen; denn sie sind durchweg Privat-
untemehmungen, nur ganz vereinzelt haben Behörden
sich der Sache angenommen.
Dass dem Bedarf bisher nicht genügt ist, geht
schon aus der grossem Zahl der Alkoholiker-Auf¬
nahmen in die Irrenanstalten hervor. Denn, ent¬
gegen der oben mitgetheilten Frankfurter Auffassung,
ist man doch im Allgemeinen der Meinung, dass
die einfachen, nicht ausgesprochen psychotischen
Trinker in der Irrenanstalt nicht zweckmässig unter¬
gebracht sind. Die besten Erfolge in der Trinker¬
behandlung werden von kleinen Anstalten mit mehr
familiärem Charakter erzielt
Auf die Dauer werden sich also doch wohl die
zuständigen Behörden der Nothwendigkeit nicht ver-
schliessen können, auch für die Trinker eine offidelle
Fürsorge zu schaffen. Hier und da finden sich
schon Ansätze dazu. So lese ich im b ran den -
burgischen Berichte, dass man der Heilstätte
Waldfrieden die Ueberweisung von Trinkern aus
den Landesirrenanstalten zugesichert habe, „für den
Fall der Herstellung eines entsprechenden Neubaus
und Berufung eines ärztlichen Leiters“. Und Kruse’s
Bericht entnehme ich noch, dass Dresden mit der
Gründung einer städtischen Trinkerheilstätte beschäf¬
tigt ist | (Fortsetzung folgt.)
Einige Bemerkungen zu Prof. Heilbronner’s Aufsatz über die Versorgung
der geisteskranken Verbrecher.*)
Von Medidnalrath Dr. P. Näcke , in Hubertusburg.
r\er Redakteur dieser Wochenschrift bat mich,
zu den Hauptergebnissen der grossen und in¬
haltsreichen Arbeit Heilbronners Stellung zu nehmen.
Ich folge um so lieber dieser Aufforderung, als H.
fast überall zu denselben Resultaten gelangt, wie ich
in meinen verschiedenen Studien über denselben
Gegenstand.
Mit mir und andern fordert H. eine bessere
psychiatrische Vorbildung der Gefongnissärzte, die
durch Kurse an den Gefängnissirrenabtheilungen zu
befördern wäre. Das setzt, meine ich, natürlich
voraus, dass Gefängnisse mit solchen Abtheilungen
entweder in Universitätsstädten oder an Orten sich
befinden, wo erfahrene Psychiater wohnen, um als
Lehrer dienen zu können. Man könnte gleichzeitig
auch, wie schon Lombroso verlangte, Verbrecher-
*) In der Monatsschrift für Kriminalpsychologie etc. 1904
1. Jahrg. H. 5.
kliniken einrichten, an denen Juristen und Aerzte zu¬
gleich, auch Gefängnissbeamte theilnehmen würden.
Gerade das Zusammenarbeiten dieser disparaten
Elemente wäre später sehr wichtig, besonders, wenn
man an die Vorstellung Diskussionen oder eine Art
von Seminar angeschlossen hätte, an dem auch
anthropologische, soziale und statistische Untersuchungen
vorgenommen würden. Dann erst schieden möglichst
bald die für die Strafabsitzung ungeeigneten Elemente
aus dem Gefängnisse, weil sie eben früh als krank
erkannt würden.
Dass diese Gefängnissirrenabtheilungen, wie Heil-
bronner verlangt, den Charakter von vorwiegenden
Beobachtungsabtheilungen haben sollten, wäre weniger
nach meinem Geschmacke, da ich die Abtheilung
eben als eine kleine, aber möglichst vollkommen ein¬
gerichtete Irrenanstalt von 150—«ioo Personen mir
denke, wohin nicht bloss Fälle zur Beobachtung,
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404
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 41-
sondem auch zur Heilung und, wenn unheilbar, auf
unbestimmte Zeit behalten werden sollten, bis die
Gemeingefährlichkeit oder Gefahr inhaltlicher An¬
steckung vorüber ist. Solche grössere Anstalten
würde man selbst in Preussen nur 2 oder 3 brauchen.
Sie erscheinen besser, als mehrere kleine. Sie wären
also keine blossen Durchgangsstationen, wie jetzt
noch dort!
Zentralanstalten für alle Vorbestraften oder mit
den Gesetzen in Konflikt gekommenen Geisteskranken
hält H. nicht für nöthig und das sehr richtig! Ja,
er will sogar nicht die Gefährlichen aus dem Gefäng-
niss in eine besondere Abtheilung versetzt wissen,
und hält dies selbst für sehr bedenklich.
Er sagt wörtlich: „Unter den Kranken, die
der Irrenanstalt aus den Gefängnissen zu-
fliessen, ist — auch unter den ungünstig¬
sten Verhältnissen — der Prozentsatz der
Gefährlichen viel geringer, als vielfach
behauptetund angenommen wird.Bei
entsprechender Vertheilung können die
Irrenanstalten ihrer Aufgabe zur Aufnahme
und Behandlung aller Geisteskranken —
inclusive der gefährlichen Verbrecher —
gerecht werden, ohne dadurch in ihrer Ent¬
wicklung und ihrer Aufgabe gehemmt zu
werden.*)
Ich freue mich besonders, dass Heilbronner obige
Sätze, die so viele aus Voreingenommenheit
nicht annehmen wollen, hinstellte. Sie treffen sicher
im allgemeinen das richtige.
Man versuche also meinetwegen die gefährlichen
unter die gewöhnlichen Geisteskranken zu mischen.
Wo es absolut nicht geht, sollte man sie, wenn nicht
vielleicht besser gleich von vornherein, im Adnexe
der Strafanstalt belassen, bis sie eben den Character
der Gefährlichkeit eingebüsst und dann eben ganz gut
unter die anderen Kranken passen. Wo aber kein
solcher Adnex da ist, bleibt nichts übrig, als
solche Elemente, zu denen dann aber auch die ge¬
fährlichen und pravirenden Elemente unter den
nicht bestraften Geisteskranken gehören, in einen
eigenen, festen Pavillon oder do. Abtheilung einzu-
schliessen, freilich wieder nur ein Nothbehelf.
*) Im Text nicht gesperrt gedruckt!
Mittheilungen.
— Herr Professor Dr. med. et phil. Sommer
(Giessen) ist, wie wir zu unserer besonderen Freude
mittheilen, den Herausgebern dieser Zeitschrift bei¬
getreten. Red.
— 35 . Versammlung der südwestdeutschen
Irrenärzte in Fr ei bürg i. B. am 29. und 30.
October 1904. Referent: Dr. K rau ss-Kennen bürg.
(Fortsetzung.)
1 a. Dr. Thoma-Illenau: Leicht abnorme
Kinder.
Neben den geistesschwachen, den epileptischen
und gemüthsentarteten Kindern, fallen unter den
Begriff der leicht abnormen auch die Kinder mit
Störungen, die den Neurosen Erwachsener nahe¬
stehen , resp. mit diesen identisch sind. Es sind
Störungen, die sich unter den Hauptgruppen der
kindlichen Neurasthenie, Hysterie und Chorea minor
zusammenfassen lassen.
Was zunächst die Neurasthenie betrifft, so steht
hier das von Emminghaus als Neurasthenia
cerebralis der Kinder bezeichnete abgeschlossene
Krankheitsbild an der Spitze. — Meist hat man es
jedoch nicht mit einem solchen zu thun, sondern mit
einzelnen Erscheinungen, die in das Gebiet der Neu¬
rasthenie gehören.
Dies sind zunächst die Zwangsvorstellungen
und Phobieen, die schon bei Erwachsenen, mehr
aber noch bei Kindern auf neuropathische Veranlag¬
ung hindeuten. Manche Phobieen (Furcht vor
Spinnen, Mäusen, Ekel vor gewisser Nahrung) stehen
den Idiosynkrasieen nahe und unterscheiden
sich vom Normalen nur durch die Dauer und In¬
tensität der Reaction. Ihren Ausgangspunkt können
sie von einem einmaligen starken psychischen Ein¬
druck nehmen. Daneben sind die echten Zwangs¬
vorstellungen wie bei Erwachsenen häutig. Auch
die krankhafte Skrupulosität gehört hierher.
Mit den Zwangsvorstellungen verwandt sind die
Tics, die sich bis zur maladie des tics con-
vulsifs steigern können, deren erstes Symptom
aber lediglich in Zerstreutheit und Unaufmerksamkeit
bestehen kann.
Ebenso wie die Tics deuten eine Reihe von vor¬
wiegend vasomotorischen Erscheinungen auf das Vor¬
handensein der neuropathischen Anlage und sind
deshalb alsWarnungssignale wichtig. (Erröthen,
Erblassen, partielle Gefässparesen, Nesselausschläge,
nervöses Herzklopfen und Erbrechen etc.) Die
Therapie ist in allen diesen Fällen in dem Referat nur
kurz angedeutet und wird neben einer allgemeinen
hygienisch diätetischen, stets eine ärztlich pädago¬
gische Behandlung empfohlen.
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
405
An die Tics schliessen sich gewisse mehr im psy¬
chischen Gebiet liegende Erscheinungen an. Die
pathologische Träumerei, in der die Pseudo¬
logia phantastica ihren Ursprung haben kann.
Ferner gehört hierher das trieb artige Davon¬
laufen, der Wandertrieb, Fugues, die Porio-
manie, die den Wanderungen Epileptischer und
Hysterischer ähnlich ist, gerade bei Kindern aber
auch auf Grund einfacher Psychasthenie Vorkommen
kann und sich zuweilen an eine Missstimmung, eine
Dysphorie anschliesst.
Referent wendet sich dann zur Hysterie, die
bei Kindern wohl stets auf erblicher Anlage beruht
und angeboren ist.
Die sichersten Erscheinungen sind Krämpfe, die
früher häufig irrthümlich der Dentition zugeschrieben
wurden, ferner Lähmungen und Contracturen, Zom-
paroxysmen. Ohnmächten, Strabismus etc. Bei zu¬
nehmendem Alter werden die Erscheinungen immer
mehr denen bei Erwachsenen ähnlich, vor Allem
auch die Ausbildung des hysterischen Charakters.
Wichtig sind auch hier die ersten oft sehr vagen
Erscheinungen, die Hysterie in statu nascendi,
die sich bei den Kindern zuweilen nach einem
Schrecken oder im Reconvalescenzstadium von acuten
Krankheiten zeigen und um so leichter ihren hyste¬
rischen Charakter verbergen, als die Hysterie hier
häufig monosymptomatisch auftritt.
Auch bei der Chorea minor, die ebenfalls
meist auf nervösem Boden erwächst, wird die aus¬
gebildete Erkrankung ihrer typischen Muskel¬
unruhe resp. Bewegungen auch von Eltern und Leh¬
rern kaum übersehen. Dagegen sind im Beginn die
Erscheinungen oft wenig ausgeprägt und werden da¬
her oft verkannt, zumal auch stets der Charakter der
Kinder verändert ist.
Bei allen Ausführungen betont Referent die
Wichtigkeit des Beobachtens der Initialsymptome
als Wamungssignale, aus welchen auf das Vorhanden¬
sein einer psychopathischen oder psychasthenischen
Constitution geschlossen werden kann.
Der zweite Theil des Referates behandelt die
allgemeinen Principien, die bei der Bekämpfung dieser
Aeusserungen einer abnormen Anlage im Kindesalter
in Betracht kommen.
Da eine Besserung gewisser ätiologisch wichtiger
Factoren, z. B. die Vermeidung von Ehen consti-,
tutionell kranker Personen vorläufig nicht zu erwarten
sein dürfte, so ist ein möglichst frühzeitiges Erkennen
der kranken Anlage nöthig, da, wenn überhaupt, im
Beginne noch bessernd auf diese eingewirkt werden
kann.
Zur Feststellung der abnormen Kinder wird dann
eine möglichst ausgiebige, auch auf das Land aus¬
gedehnte Controlle durch psychiatrisch und psycho¬
logisch vorgebildete Schulärzte empfohlen.
Die Behandlung selbst richtet sich gegen die
kranke Constitution und soll heilend und erziehend
zugleich wirken. Sie muss daher eine ärztlich päda¬
gogische sein. Neben sorgfältiger Körperpflege, wo¬
bei Ruhe, Diät, Gymnastik, Bewegungsspiele, Hydro¬
therapie eine Rolle spielen, ist vor allem die Er¬
ziehungsmethode wichtig. Man nimmt jetzt allgemein
an, dass der übliche Fachunterricht sich für viele
geistig abnorme Kinder nicht eignet, vielmehr für
solche eine von individual-psychologischen
Principien ausgehende Erziehungsmethode anzuwenden
ist.
Sowohl die ärztliche Behandlung von kranken
Kindern der oben erwähnten Kategorien, als auch
die genannte Erziehungsmethode, wird sich in vielen
Fällen nur in einer entsprechend geleiteten Anstalt
durchführen lassen.
Referent empfiehlt daher in einem Schlusssatz
1. ausgiebige Anstellung psychiatrisch und psycho¬
logisch vorgebildeter Schulärzte;
2. Schaffung von Anstalten nach dem obigen
Princip. (Autoreferat.)
Discussion:
Dr. La quer: Schliesst sich in der Hauptsache
den Ausführungen der Referenten an. Er macht
gegen die Mannheimer Wiederholungsförderklassen
geltend die Vermehrung der so wie so kaum er¬
schwinglichen Schullasten und das Fehlen der Besser¬
befähigten, welche die anderen mit sich reissen.
Schulen für nervöse und hysterische Kinder sind
werthlos; solche sollen zu Hause erzogen und ärzt¬
lich behandelt werden. Epileptiker können in den
Hilfsschulen bleiben.
Sanitätsrath Wildermuth weist die Nothwen-
digkeit eigener Anstalten für nervöse Kinder zurück.
Chorea und Hysterie haben nichts mit einander zu
thun. Er weist auf die Bedeutung der Beobachtung
der Kinder beim zwanglosen Spiel hin.
Professor Pfister- Freiburg wünscht Material
gesammelt zu wissen über den neurologischen Status
geistig abnormer Kinder, insbesondere der psycho¬
motorischen Anomalien und Defecte, das späterhin
in diagnostisch-prognostischer Beziehung Verwerthung
finden könnte.
Medicinalrath Dr. K reu s er-Winnenthal ver¬
misst Vorschläge für die Fürsorge für die abnormen
Kinder über die Schule hinaus. Hier muss besonders
individualisirt werden. Die gemeinsame Erziehung
beim Militär ist ja wohl für einen Theil sehr förder¬
lich, bei dem anderen, der mit der Disciplin in
Conflict kommt, führen die Strafen zu weiterer psy¬
chischer Degeneration.
Dr. Laquer-Frankfurt verweist auf die Arbeits¬
lehrkolonien , wie sie in Breslau im Anschluss an
die Hilfsschulen bestehen und in Frankfurt einge¬
führt werden sollen. Die Listen der Schulentlassenen
der Hilfsschulen, die in vielen Theilen des Reiches
der Aushebungscommission eingereicht werden, sind
sehr von Nutzen.
Professor Fürstner - Strassburg: Bei den zu
Rede stehenden Kranken spielen Entwickelungs-
hemmungen und Krankheiten in der ersten Kind¬
heitsperiode eine grössere Rolle, als von den Herren
Referenten hervorgehoben wurde, wie gewisse Ver¬
änderungen, wie Ungleichheiten der Reflexe auf
beiden Seiten beweisen.
Gegenüber der von Herrn Weygandt als typisch
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Original fram
HARVARD UNiVERSITY
406
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
|Nr. 41.
angenommenen Gemüthsstumpfheit der moralisch De-
fecten weist er auf die bei derartigen Kranken häufig
zu beobachtende sehr lebhafte Affecterregbarkeit hin,
die allerdings in der Reaction von der Norm ab¬
weicht, ja ihr oft genug entgegengesetzt ist. Einen
Wandertrieb ohne Bewusstseinstrübung anzunehmen
ist um so bedenklicher, als damit die Unterscheidung
zwischen pathologischem Wandern und dem Davon¬
laufen gesunder Kinder wegfällt. Manche Erlebnisse
pathologischer Natur in der Anamnese dürften sich
als Erinnerungsfälschungen erweisen.
Fürstner warnt vor der Aeussemng weiterer
Anstaltswünsche.
Weygandt (Schlusswort) äussert sich zustimmend
zu den Discussionsbemerkungen von Medicinal-Rath
Kreusser und Prof. Fürstner und glaubt auch mit
San.-Rath Wildermuth vor übertreibender Specialisirung
im Sonderschulwesen warnen zu müssen. Dennoch er¬
scheint ihm das Mannheimer System empfehlenswerth,
weil es im engsten Zusammenhang mit dem Gesammt-
schulorganismus steht. Keineswegs bedeute es eine
grosse Mehrbelastung des Schuletats, denn ob io
Klassen mit je 35 Schülern von 10 Lehrern unterrichtet
würden oder 9 Normalklassen von je 37 und eine
Förderklasse von 17 Schülern von zusammen 10
Lehrern, das sei für die Kostenfrage ganz dasselbe.
Auch in den Förderklassen seien noch so verschiedene
Individualitäten, dass keineswegs der Anreiz durch
die Leistungsfähigeren fehle. Die bisherigen Erfahr¬
ungen bei Kindern, Eltern und Lehrern sind durch¬
aus ermuthigend.
Thoma (Schlusswort): Der Einwand von Dr.
Wildermuth, dass für eine grössere Anstalt dieser
Art kein Bedürfnis vorliege, wird von Referent da¬
hin beantwortet, dass in dem Referate absichtlich
eine Aeusserung über die praktische Ausführung ver¬
mieden wurde.
Referent habe übrigens, soweit eine öffentliche
Fürsorge in Betracht komme, nur an eine Abtheilung
für.leicht abnorme Kinder vielleicht zusammen mit
wirklich psychisch Kranken gedacht, die einer be¬
stehenden grösseren Irrenanstalt anzugliedem wäre.
Für eine solche bestehe aber allerdings ein Be-
dürfniss.
2. Neu mann-Karlsruhe: Bericht der Ner-
venheilstätten-Commission.
Neu eröffnet wurde die Nervenheilstätte Rase¬
mühle bei Göttingen 1903. Im Bau befindet sich
die Anstalt Leichlingen. Beschlossen sind Anstalten
von der Stadt Essen und vom Grossherzogthum
Baden. Letztere erfreut sich des Interesses der
Krankenkassen. Zu ihrer Förderung wurde von
Privaten ein Heilstätten verein gegründet, der ein
Capital von 25000 M. besitzt und dem von der
Staatsregierung 50000 M. in Aussicht gestellt wurden.
3. San.-Rath Dr. F aus er-Stuttgart: Endogene
Sy mptom enkomplexe bei endogenen Krank-
h eitsforme n.
Redner berichtet zunächst in ausführlicher Weise
über einen von ihm beobachteten Krankheitsfall, bei
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dem über ein Jahr lang ein Zustandsbild bestand,
das nach allen seinen klinischen Erscheinungen,
nach Krankheitsbeginn und Verlauf mit der Manie,
resp. dem manisch-depressiven Irresein sich
deckte, das weder in der geistigen noch in der
körperlichen Sphäre ein paralytisches Symptom er¬
kennen Hess, und das nach mehr als Jahresfrist,
scheinbar in der Nähe der Genesung, einer an¬
scheinend gut fundirten Diagnose zum Trotz, als der
Paralyse zugehörig sich entpuppte.
Bei der pathogenetischen Erklärung solcher Fälle
weist der Vortragende zunächst auf die Thatsache
hin, dass nicht nur bei der Paralyse, sondern auch
bei andern exogenen Krankheitsformen — bei Collaps-
Delirium, Amentia, erworbener Neurasthenie: bei den
katatonischen, präsenilen und senilen Involutions- und
Verblödungsprocessen; bei Hirntumoren und anderen
umschriebenen Gehirnprocessen u. s. f. — neben dem
manisch-depressiven Symptomenkomplex auch
hysterieartige, konstitutionell-neurasthenische, moral-
insanitv-artige Komplexe erfahrungsgemäss zur Beob¬
achtung gelangen.
Durchweg handelt es sich dabei um Syndrome
aus der degenerativen Gruppe. Das Charakte¬
ristische für alle diese Störungen degenerativer Art ist,
dass sie durch eine Brücke psychologischer Zusammen¬
hänge mit dem normalen Seelenleben verbunden,
dass sie introspectiv begreifbar sind: von den aus¬
gesprochen Manischen, Depressiven führt der Weg
über die konstitutionell Erregten, konstitutionell Ver¬
stimmten schrittweise zurück ins Normale; die „rein
psychogene Entstehungsweise“, die wir für die hyste¬
rischen und verwandten Neurosen in Anspruch neh¬
men, ist nichts anderes als der Ausdruck für die
introspektive Begreifbarkeit derselben; Phobieen,
Zwangsvorstellungen und andere konstitutionell-neu-
rasthenische Symptome innerlich zu verstehen und
nachzuerleben fällt uns nicht allzuschwer etc. Es
handelt sich eben bei den degenerativen Krankheits¬
erscheinungen um coordinirte Svmptomenkomplexe,
die beim Gesunden bereits präformirt sind, deren
einseitiges Hervortreten aber beim Gesunden durch
eine Reihe von Momenten, insbesondere durch die
Einflüsse der Uebung, Erziehung, der intellektuellen
Processe ganz oder nahezu ganz verhindert wird.
Je mehr diese letztgenannten Momente an Intensität,
absolut oder relativ, abnehmen, um so mehr
werden jene bisher latenten Syndrome manifest.
Das Auftreten hysterischer, manisch-depressiver etc.
Symptome bei exogenen Krankheitsformen dürfen
wir sowohl als eine Ausfallserscheinung auf¬
fassen , die mit den anderen längst bekannten Aus¬
fallserscheinungen auf den Gebieten der Uebung, der
Erziehung, der intellektuellen Processe auf eine Stufe
zu stellen ist.
Der Vortragende fasst zum Schluss seine Aus¬
führungen in folgende drei Sätze zusammen:
1. Bei vielen (allen?) durch äussere Ursachen
im weitesten Sinn hervorgerufenen Krankheitsformen
finden sich Svmptomenkomplexe aus der degenera¬
tiven Gruppe, die für den Krankheitsverlauf inhalt¬
lich und formal von wesentlicher Bedeutung sind.
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I 9 ° 5 *]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
407
2. Durchweg handelt es sich dabei um psychische
Faktoren, die bereits im gesunden Leben vorgebildet
sind.
3. Ihr einseitiges Hervortreten ist am ehesten
als eine Ausfallserscheinung aufzufassen, analog
den übrigen schon längst als Ausfallserscheinungen
gewürdigten Symptomen. (Autoreferat.)
Discussion:
Prof. Fürstner: Die Erfahrung, dass progressive
Paralysen im Beginne unter dem Bilde endogener
Psychosen mit an Heilung streifender Remission
verlaufen, ist nicht so selten.
(Fortsetzung folgt.)
Referate.
— Allgemeine Zeitschrift f. Psychiatrie
u. psych. ger. Med. Bd. 61, 1. u. 2. Heft.
Ganghör (Niedernhart-Linz): Ein casuisti-
scher Beitrag zur I mbecillität.
Von dem gleichen Sachverständigen waren über
einen 18jährigen, der Schändung, Blutschande etc.
angeklagten Menschen kurz nach einander zwei ganz
verschiedene Gutachten abgegeben worden. Erst
durch die Beobachtung in der Irrenanstalt wurde
Imbecillität festgestellt und zwar lag bei verhältniss-
mässig gut entwickeltem Gedächtniss ausser ethischen
und moralischen Defekten ein auffallendes Versagen
des Schlussapparates und der Combinationsgabe vor.
Jung (Burghölzli-Zürich): Ueber manische
Verstimmung.
Zunächst werden ausführliche Krankengeschichten
von 4 Fällen wiedergegeben, deren Eigenthümlichkeit
in einem chronischen submanischen Verhalten
besteht; ähnliche Zustände sind als sanguinische
Minderwerthigkeit, chronische Manie etc. beschrieben
worden, Verf. zieht aber den engeren Krankheits¬
begriff der manischen Verstimmung vor und kommt
zu folgenden Thesen: Die manische Verstimmung
ist ein dem Gebiet der psychopathischen Minder-
werthigkeit angehörendes Krankheitsbild, welches
charakterisirt ist durch einen meist bis in die Jugend
zurückreichenden, stabilen, submanischen Symptomen-
komplex. Exacerbationen von unsicherer Periodicität
kommen vor. Alkoholismus, Criminalität, Moral in-
sanity, sociale Unbeständigkeit oder Unfähigkeit sind
in diesem Falle vom submanischen Zustande ab¬
hängige Symptome.
v. Grabe (Hamburg-Langenhorn): Ein Fall
von episodischer Katatonie bei Paranoia.
Bei einer 39jährigen Patientin mit ausgebildeter,
schon mehrere Jahre andauernder Paranoia, bildete
sich ziemlich plötzlich ein Zustand von Katatonie
aus, der nach etwa drei vierteljähriger Dauer völlig
schwand und dem alten paranoischen Zustand Platz
machte.
Mönkemöller (Osnabrück): Tortur und
Geisteskrankheit.
Die Gesetzbücher des Mittelalters bestimmten zu¬
vor, dass Geisteskranke von der Tortur befreit sein
sollten, aber die Praxis stand mit der Theorie im
ärgsten Widerspruch. Eine Befreiung von der Folter
*
trat thatsächlich nur selten ein, da einerseits die Psy¬
chosen nicht erkannt wurden und andererseits über¬
all Simulation gewittert wurde. Sobald Hexerei im
Spiele war, fiel überhaupt jede Milde w r eg; die Situa¬
tion dieser Unglücklichen wurde namentlich dann
verschlimmert, wenn das sogenannte Stigma, wonach
eifrig gesucht wairde, gefunden worden war.
Schulze (Sorau): Ueber moral insanity.
Ein Beitrag zur Psychologie des moralischen Irre¬
seins.
Individuen mit theilw f eisem oder gänzlichem Aus¬
fall moralischer Begriffe sind zurückgebliebene Men¬
schen, die gleichsam einen atavistischen Rückschlag
in die Urform der hypothetischen Höhlenmenschen
darstellen; es sind Wesen, die in ein falsches Zeit¬
alter hinein geboren sind und an denen die viele
Jahrtausend alte Erziehung des Menschengeschlechts
durch sich selbst ohne Eindruck vorüber gegangen
ist. Diese Menschenspielart steht ausserhalb der
Principien des ganz auf socialer Basis ruhenden
Rechts; in Rücksicht auf ihre Gefährlichkeit bedarf
die menschliche Gesellschaft des Schutzes vor ihnen,
und es ist zu hoffen, dass der weitere Entwickelungs¬
gang unserer Strafrechtspflege dahin führen wird,
dass diese antisocialen Elemente nicht mehr bestraft,
sondern in einer ihrer Individualität angepassten Form
unschädlich gemacht werden.
König (Dalldorf): Die Aetiologie der ein¬
fachen Idiotie verglichen mit derjenigen
der cerebralen Kinderlähmungen.
Nachdem Verf. in einer früheren Arbeit die prä-
disponirenden und ätiologischen Momente der cere¬
bralen Kinderlähmungen eingehend untersucht hatte,
stellte er nunmehr an 260 Fällen von Idiotie die
gleichen Untersuchungen an und kommt zu dem
Resultat, dass eine grosse Uebereinstimmung der
zu beiden Erkrankungen führenden Momente vor¬
handen ist. Nach Ansicht des Verf. sind zu den
sicheren ätiologischen Momenten nur zu rechnen:
schwere bez. asphiktische Geburt, Kopftrauma und
Infektionskrankheiten, während alle anderen Momente
prädisponirende bez. mitwirkende sind, z. B. erbliche
Belastung, Potus des Vaters, familiäre Kachexie, Lues
u. s. w.
Ludwig (Heppenheim): Ueber die Anlage
besonderer Speisesäle in den öffentlichen
Irrenanstalten.
Verf. hat seit 1883 in Heppenheim einen ausser¬
halb der Abtheilung im Wirtschaftsgebäude dicht
neben der Küche gelegenen Speisesaal eingerichtet
und empfiehlt auf Grund seiner Erfahrungen für
jede Geschlechtsseite die Anlage eines derartigen
externen Speisesaals. Wenn, wie in Heppenheim,
eine gedeckte und geschlossene Verbindung zwischen
dem Speisesaal und allen Abtheilungen durch einen
Untererdgeschoss-Corridor hergestellt ist, können auch
Kranke der unruhigen Abtheilungen zu den gemein¬
samen Mahlzeiten herangezogen werden.
Arnemann, Grossschweidnitz.
— Dr. Georg Ilberg, Oberarzt an der k. sächs.
Heil- und Pflegeanstalt zu Grossschw-eidnitz. Irren-
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408
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 41.
anstalten, Idioten- und Epileptikeran¬
stalten mit besonderer Berücksichtigung
der Thätigkeit des Arztes in denselben.
84 Seiten. Jena, Fischer, 1904.
In verdienstvoller Weise hat Ilberg im 4. Band
des Handbuchs für sociale Medicin das Anstaltswesen
in der Behandlung der Geisteskranken, Idioten und
Epileptiker dargestellt. Die Einleitung entwirft eine
Uebersicht über die Arten der Anstalten, von der
Universitätsirrenklinik, der „wissenschaftlichen Kraft¬
quelle des gesammten Irrenwesens“ an bis zu den
Stadtasylen, Heilanstalten, Pflegeanstalten, Irrenab¬
theilungen an Strafanstalten u. s. w. Wesentlich ge¬
stützt auf die Verhältnisse der musterhaften Anstalt
zu Grossschweidnitz skizzirt das Buch den Bau einer
idealen Heil- und Pflegeanstalt, als deren günstigste
Belegzahl 600 angesehen ist. Wohl sind noch Isolir-
räume, als „Stübchen“ bezeichnet, concedirt; Nach¬
druck ist auf die Dauerbäder gelegt, daneben zeigt
sich eine Vorliebe für das Centralbad. Eine an¬
schauliche Schilderung fand die Bedeutung und der
Verlauf von Anstaltsfesten. Im wirthschaftlichen
Theil ist hinsichtlich der Abwasserbesorgung das
biologische System von V. Schweder befürwortet
Besonders beherzigenswerth bei der Lectüre von
ärztlicher Seite sind die Darlegungen über den Dienst
der Aerzte, der Pfleger u. s. w., wobei sich ein
hübscher Ueberblick über die möglichen Zweige
wissenschaftlicher Bethätigung in der Anstalt eröffnet.
Gesondert dargestellt ist die Versorgung der
Idioten und Imbedllen, die ja gerade in Sachsen
auf vorbildliche Weise von dem Staat in die Hand
genommen worden ist Bei aller Berücksichtigung
des pädagogischen Einflusses spricht sich Ilberg doch
schliesslich dahin aus, dass die Uebertragung der
Leitung der Anstalten an mit genügenden päda¬
gogischen und administrativen Kenntnissen ausge¬
stattete Aerzte grossen Vortheil bringen würde.
Den 3. Theil bildet eine Uebersicht über die
Epileptikeranstalten. Das strenge Gebot der Alko¬
holabstinenz ist hier zu beachten, die freilich für alle
Anstalten mit geistig abnormen Menschen ein Postulat
sein sollte. Beherzigenswerth ist in dem Schlusswort
noch die Mahnung, anstelle der „Inzucht“ einen
„frischen, fröhlichen Wechsel der Anstaltsärzte eines
Landes“ treten zu lassen.
Mag auch das Buch in erster Linie an praktische
Aerzte gerichtet sein, so kommt es daneben doch
nicht nur dem Verständniss von Verwaltungsmännem
entgegen, sondern es weiss auch unseren jüngeren
Specialkollegen zweifellos reiche Anregung und Be¬
lehrung zu bieten. Weygandt-Würzburg.
— E. Hirt- München. Der Einfluss des
Alkohols auf das Nerven- und Seelen¬
leben. Wiesbaden, Bergmann, 1904. 76 S.
Es ist ein erfreuliches Zeichen der Zeit, dass die
Zahl guter Schriften, welche sich mit der Alkohol¬
frage beschäftigen, von Tag zu Tag wächst Auch
in den „Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens“
durfte dieses Thema nicht unbesprochen bleiben und
dem Charakter dieser Sammlung entspricht es, wenn
H. nicht in flammenden Worten, sondern in ruhiger,
eingehender Darstellung der ermittelten Thatsachen
seine Hauptaufgabe sieht und die praktischen Schluss¬
folgerungen kurz an den Schluss stellt Er bespricht
nach allgemeiner Einleitung über Gifte und Gift¬
wirkung zunächst die unmittelbaien reinen Wirk¬
ungen des Alkohols, wobei die acute und die chro¬
nische Vergiftung zur Darstellung kommen. Dass
hierbei besonders die Arbeitsergebnisse Kraepelins
und seiner Schüier herangezogen werden, ist natürlich.
Es folgt die Schilderung der mittelbaren, zufälligen
Alkoholwirkungen. (Complicirte Räusche, acute und
mehr chronische Geistesstörungen der Gewohnheits¬
trinker.) Hier sind besonders Bonhöffer’s Arbeiten
berücksichtigt. Endlich wird Alles wiedergegeben,
was wir über die pathologische Anatomie der Alko¬
holvergiftung wissen. Schon aus dieser Inhaltsangabe
sieht man, dass die Schrift mehr für ärztliche Leser
als für Laien bestimmt ist. Auch die Gründlichkeit
der Schilderung, das Eingehen auf zahlreiche Einzel¬
arbeiten lässt diese Absicht erkennen. In den Schluss¬
betrachtungen bezweifelt H., dass grosse Belehrungen
der Menge allzuviel Zw’eck haben und fordert Um¬
gestaltung der Sitten durch das Beispiel. Von der
Massigkeit hält er wenig, kommt vielmehr zu dem
Schluss, dass die praktische Lösung der Alkoholfrage
Abstinenz fordere.
Die maassvolle und klare Schrift ist Allen zu
empfehlen, die eine übersichtliche Darstellung der
bisherigen Forschung über Alkohol Wirkung und Alko¬
holfolgen zu lesen wrünschen. Mercklin.
— Dr. C. G. Jung, Ueber Simulation von Geistes¬
störung. Journal für Psychologie und Neurologie.
1903. Bd. II.
Verf. behandelt das Grenzgebiet von Simulation
und wirklicher Geistesstörung, wozu er einige kasu¬
istische Beiträge liefert Das Ergebniss der Arbeit
gipfelt in den Schlusssätzen: „1. Es giebt Menschen, die
eine abnorme Nachwirkung starker Affekte (nament¬
lich Schrecken und Angst) in Form einer anhaltenden
Fassungslosigkeit zeigen, welche man als „emotionelle
Stupidität“ bezeichnen kann. 2. Affekte und deren
spezifische Wirkung auf die Aufmerksamkeit begün¬
stigen das Auftreten von psychischen Automatismen
im weitesten Sinne. 3. Aus abnormer Affektwirkung
und Automatisation (oder Autohypnose) ist wahr¬
scheinlich eine gewisse Anzahl von Simulationsfällen
zu erklären und deshalb als krankhaft aufzufassen.
4. Auf gleiche Weise ist wahrscheinlich auch der
Ganser’sehe Komplex bei Untersuchungsgefangenen
zu erklären und als eine der Simulation nah ver¬
wandte, aber automatisirte Erscheinung aufzufassen.“
Dr. Fritz Hoppe, Tapiau.
Für den redactionellen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Bresler, LuMinit* (Schlesien).
Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahmc 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S.
Heynemann’sche Buchdrackerei (Gebar. Wo’ffl ir Halle a. S.
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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift.
Redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bre8ler,
Loblinits (Schieden).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Teley.-Adre—e: Marho Id Verlag, Hai leiaale. Fernsprecher 1834.
Nr. 42. 14 - Januar. 1905.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden fifar die 3 spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermlarigung ein.
Zuschriften für die Redaction dnd an Oberarzt Dr. Joh. Rresler, Lublinitz (Schieden), zu riditen.
Dritter Bericht über die Fortschritte des Irrenwesens.
Nach den Anstaltsjahresberichten erstattet
von Dr. Deiters in Bonn, früher in Andernach.
(Fortsetzung.)
VII. Personal.
a) Aerzte.
Ueber die Aerzte der Anstalten habe ich in
diesem Jahre nicht viel zu sagen. Es ist zur Ver¬
besserung ihrer Stellung in den letzten Jahren allent¬
halben viel geschehen, und nach unseren Berichten
könnte es fast scheinen, dass ein Erfolg dieser Ver¬
besserungen bereits eingetreten wäre. Denn die
Klagen über Mangel an Aerzten, über langes Un¬
besetztbleiben der Assistenzarztstellen, die noch vor
2 Jahren so allgemein waren, sind jetzt bereits recht
spärlich geworden.
Die Mittheilung von Königslutter, dass eine
neugeschaffene Assistenzarztstelle lange Zeit vacant
blieb, und erst nach wiederholter Erhöhung der
Remuneration dauernd besetzt werden konnte, be¬
zieht sich noch auf das Jahr 1898. Seitdem im
Jahre 1901 die Remuneration auf die heute allent¬
halben übliche Höhe festgesetzt worden war, „hatte
die Anstalt nicht mehr über Mangel an geeigneten
Bewerbern zu klagen*'.
Stephansfeld leidet immer noch unter häufigem
Wechsel und hofft von der Anstellung eines weiteren
Oberarztes endgültige Besserung. Auch Schw'etz
konnte monatelang eine Stelle nicht besetzen.
Ansbach hatte sehr unter dem Wechsel zu
leiden und hatte längere Zeit für 400 Kranke nur
2 Aerzte. Durch Erbauung von Wohnungen für 4
verheirathete Aerzte hofft man grössere Stabilität zu
erreichen.
Im Bericht der Waldau heisst es: „Weil die
Assistentenstellen so schwer zu besetzen sind, so hat
die Commission der Sanitätsdireetion von neuem
empfohlen, die betreffenden Besoldungen zu er¬
höhen.“
Und Münsingen schreibt: „Es war nicht mög¬
lich, im Berichtsjahr einen Ersatz für den weggewähl¬
ten Assistenzarzt zu finden, trotzdem durch Inserate
und persönliche Bemühungen das Mögliche geschah,
um die entstandene Lücke auszufüllen.'' Zur Ab¬
hülfe wird Anstellung 'eines IV. verhetratheten Arztes
verlangt.
Das sind, wie gesagt, nur vereinzelte Stimmen,
die noch über Aerztenoth klagen. An den meisten
Anstalten scheinen alle Stellen dauernd besetzt ge¬
wesen zu sein. Es wäre aber doch wohl voreilig,
sich jetzt schon in Sicherheit zu wiegen und alle
Notli für beseitigt zu halten. Die relativ sehr gute
Besoldung der Assistenzärzte lockt jetzt zweifellos
viele jüngere Collegen in die Anstalten. Ob diese
nicht bald wieder abgeschreckt werden, wenn sie
sehen, wie langsam sie weiter kommen, bleibt abzu¬
warten.
In der Schweiz werden von verschiedenen An¬
stalten weibliche Assistenzärzte aufgeführt, z. B.
Waldau, Münsingen, Cery. In Deutschland
ist das meines Wissens bisher nur in Privat-Anstalten
vorgekommen. In öffentlichen Anstalten würde es,
wenigstens für den Anfang, zweifellos einige Schwie¬
rigkeiten machen; aber kommen wird es mit der Zeit.
Ueber pecuniäre Aufbesserungen wird wieder von
verschiedenen Seiten berichtet. In Conradstein
sollen die Assistenzärzte anstatt alle 3 Jahre um 300,
jetzt alle Jahre um 100 M. steigen. Berlin hat
die Assistenzarztgehälter erhöht und begründet dies
so: „Während die Assistenzärzte bei den Kranken¬
häusern nur 2—3 Jahre in ihren Stellungen bleiben,
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Original fram
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4io PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 42.
um sich dann der Privatpraxis zu widmen, sehen die
Assistenzärzte an den Irrenanstalten ihr Specialfach
als Lebensberuf an, weil es im Interesse der An¬
stalten liegt, dass sich die Aerzte durch längere
Thätigkeit die durchaus wünschenswerthe Erfahrung
erwerben, andererseits aber, weil ihnen ihre Beschäf¬
tigung in der Psychiatrie nicht in gleichem Maassc
wie bei den Krankenhäusern den Erwerb derjenigen
besonderen Fertigkeiten und Kenntnisse ermöglicht,
über die frei practicircnde Aerzte verfügen müssen.
Dazu kommt, dass sie früher verhältnissmässig leicht
eine Anstellung als Kreis- oder Gerichtsarzt erhalten
konnten, weil vielfach die Ansicht maassgebend war,
dass ihre besondere Vorbildung sie vorzüglich ge¬
eignet mache, derartige Stellungen zu bekleiden.
Diese Aussichten haben sich aber auch neuerdings
durch das Gesetz über die Indienststellung des Kreis¬
arztes insofern verschlechtert, als Kreisassistenzarzt-
stellen als Vorstufe für die Kreisarztstellen geschaffen
sind. Den Assistenzärzten der Irrenanstalten bleibt
jetzt also nur übrig, entweder die Leitung einer Pri¬
vatirrenanstalt zu übernehmen oder das Aufrücken
in eine Oberarztstelle abzuwarten. Der erste Weg
wird wegen Mangels an den er lorderlichen Kapitalien
nur in den wenigsten Fällen gangbar sein; die Aus¬
sicht auf Erreichung einer (Überarztstelle ist aber
naturgemäss sehr gering. Die Folge hiervon ist ein
immer mehr sich fühlbar machender Mangel an ge¬
eigneten ärztlichen Hülfskräften.“
Zu den Maassnahmen, welche auf eine Besserung
der Lage der Aerzte hinzielen , gehört auch die
Sorge für ihre wissenschaftliche Fortbildung. Audi
in dieser Hinsicht ist ja in den letzten Jahren von
verschiedenen Verwaltungen Erfreuliches geschehen.
Unter unseren diesjährigen Berichten spricht nur
Treptow davon: Es sind dort Mittel bereit gestellt
zur Gewährung von Beihülfen zu Studienreisen ; in
der Anstalt selbst hat man einen zwang!« ivii wissen¬
schaftlichen Abend gegi findet.
An dieser Sielle sei noch erw.ihnt, dass die säch¬
sische Anstalt für Epileptis« he zu H oc h wei t zsr h c n,
an deren Spitze 1 »Fiter ein Vei waUungsbcamter ge¬
standen hat, nunmehr einen ärztlichen Leiter er¬
halten hat.
b) Pf lege p e rs <» n a 1.
Dass ein gewissenhaftes und gut geschultes Pflege¬
personal ein unbedingtes Frfordcrniss ist tür ein er¬
folgreiches ärztliches Arbeiten in der 1 1 renanstalt,
das ist eine Selbst \. ei Ländlichkeit. Denn dem Per¬
sonal sind die Kranken den größten r I heil des Fage<
überantwortet, die Aerzte kommen nur \>>n /eit zu
Zeit, eontrollirend und anordnend. Es ist also wohl
verständlich, dass ,,die Gewinnung guten Pflege¬
personals eine der Hauptsorgen der heutigen Irren¬
pflege bildet und an nicht wenigen Anstalten be¬
trächtliche Schwierigkeiten macht.“
So drückte ich mich in meinem vorigen Berichte
aus und schloss daran eine nähere Erörterung der
Schwierigkeiten, mit welchen sehr viele Anstalten zu
kämpfen haben, und der verschiedenen Wege, die
man zur Abhülfe vorgeschlagen hat. Einige Tages¬
blätter nahmen nun diese Worte zum Anlass, das
Personal der «öffentlichen Anstalten für ganz schlecht
zu erklären und dem gegenüber die Vorzüge des
kirchlichen Personals an den konfessionellen Privat¬
anstalten zu preisen. In denselben Zeitungsartikeln
wurden denn auch diese konfessionellen Anstalten
gegen den (übrigens nicht von mir ausgesprochenen)
Vorwurf in Schutz genommen, dass sie in der
modernen Irrenbehandlung zurückgeblieben seien und
an antiquirten Anschauungen festhielten.
Diesen letzteren Ausführungen wird man gern
beipflichten können. Wenn auch nicht in allen , so
doch gewiss in recht vielen dieser Anstalten ist man
redlich bemüht, den modernen Anforderungen gerecht
zu werden. Aber das miss do. h entschieden be¬
tont werden, dass die Fortschritte in der Irrenbe¬
handlung in der Hauptsache in öffentlichen Anstalten,
mit weltlichem, nur vom Arzt abhängigem Personal
gemacht worden sind; jene kirchlichen Anstalten
kommen damit eist nach. Und wenn, wie man auf
jener Seite zu wünschen scheint, die Irrenpflege
heute noch ganz in Händen jener kirchlichen Ge¬
nossenschaften läge, so wären wir darin wohl noch
nicht viel weiter, als vor 100 Jahren.
Pass das Personal jenet Anstalten sich zum Theil
aus höheren Gesellschaftsscliichten recrutirt, als das
unsere, ist richtig. ( )b aber damit allein eine zweck-
massigere Auslese gegeben ist, wird man bezweifeln
dürfen Was uns die Annahme kin blichen Personals
für die ölh-ntli- hen Anteilen imitier wieder unan¬
nehmbar erscheinen lässt, ist der Umstand, dass
dieses ausser der Anstaltsleitung andere, eigene Obere
hat, dass also der ärztliche Leiter der Anstalt nicht
seli»ständig über Einstellung und Entlassung des Per¬
sonals Verlagen, keine Auswahl treffen kann, sondern
mehr oder weniger von dem guten Willen jener
Oberen anhängig ist. Dass unser Personal zum
Theil noch nicht ganz den hohen Anforderungen
moderner Irrenpflege entspricht, dass wir noch mit
mancheBei S<Te\im iG-cilen zu kämpfen haben, be¬
st leitet niemand. Aber diese Schwierigkeiten sind
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HARVARD UNIVERSITY
1905.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 411
nicht unüberwindlich. Arbeiten wir auf dem be-
schrittenen Wege rüstig weiter.
Soviel zur Abwehr. —
Um nun zu unseren diesjährigen Berichten zu
kommen, so sei gleich vor-weggenommen, dass hier
und da die Bemühungen zur Besserung bereits er¬
folgreich zu sein scheinen. Der W ii r t te m b e rg i soh e
Bericht bemerkt, dass im Berichtsjahre der günstige
Einfluss der eingeführten Verbesserungen sich beieits
gezeigt habe. Potsdam schreibt: „Die ni» ht un¬
erheblichen Gehaltsaufbesserungen der letzten Zeit
haben entschieden eine gute: \\ irkung erzielt; weitere
in Aussicht stehende Yei besseren gen .... werden
zweifellos die günstigsten Folgen zeitigen.“
Im Grossen und Ganzen ist freilich das Bild
gegen das vorige Jahr noch nicht «erheblich geändert.
Von vielen Anstalten wird wieder über grossen
Wechsel geklagt. Ich möchte nicht wieder Zahlen
hersetzen; die Zahlen sind bei den einzelnen An¬
stalten ausserordentlich verschieden, aber die An¬
gaben der Berichte reichen nicht aus, um über die
Ursachen dieser Verschiedenheiten ein Urthcil zu
gewinnen. Genug, dass die Noth noch sehr ver¬
breitet ist.
Es kann nicht wunder nehmen, dass besonders
neu eröffn ete Anstalten Mühe haben, genügendes
Personal zu bekommen. So lesen wir im Treptower
Bericht, dass man anfangs mir mit grossen Schwierig¬
keiten. zum Theil aus grosser Entfernung, beute ge¬
winnen konnte, während jetzt allmählich das Angebot
an geeigneten Kräften auch aus der nährten Um¬
gebung sich mehrt. Auch Dösen hatte anfangs
grosse Schwierigkeiten, ist aber jetzt, nach Einführung
des neuen Regulativs, welches das Personal besser
stellt, zufrieden.
Wie schon im vorigen Jahre ausgeführt wurde,
setzen die Bemühungen, unser Personal zu ver¬
bessern, im Wesentlichen an 3 Punkten ein. Zu¬
vörderst pecuniäre Aufbesserung sowie nac 1 1 längerer
Dienstzeit Sicherstellung für die Zukunft: sodann Er¬
ziehung und Unterricht; und drittens endlich zweck¬
mässige Dienstverthcilung und Gewährung ausreichen¬
der Erholungsstur.den.
Punkt I , die pecuniäre Aufbesserung, ist natür¬
lich eine Grundbedingung, wenn man tüchtige Leute
heranziehen und festhalten will. Und so finden wir
eine solche in recht vielen Berichten erwähnt. Von
Dosen wurde bereits oben mitgctlieilt, dass dort
eine Erhöhung der Pflegerlöhne stattgetunden hat.
Ebenso war oben schon von Württemberg die
Rede, wo eine Erhöhung der Löhne und nach 10-
jähriger Dienstzeit eine Prämie von 500 M. einge¬
führt worden ist.
Königslutter thcilt ausführlich die dort ein¬
geführte Regelung der Lohnfrage mit. Bemerkens¬
werth ist daran, dass verheirathete Pfleger nach 5
Dienstjahren eine jährliche Zulage von 100 M. be¬
kommen. Fenier erfolgt nach 10 Dienstjahren staat¬
liche Anstellung mit Pensionsberechtigung.
Hildesheim berichtet über eine Einrichtung,
die als Wohlthat beabsichtigt war, aller in der Praxis
in das Gegentheil umgeschlagen ist, nämlic h die Ver¬
leihung der Pensionsberechtigung. Früher bekamen
ausgediente Pfleger ein nach den gleichen Grund¬
sätzen berechnetes Ruhegehalt in Form einer fort¬
laufenden Unterstützung und bezogen ausserdem
natürlich noch die Invalidenrente* Nachdem sie
jetzt die Berechtigung auf Ruhegehalt haben, fällt
die Invalidenrente fort, sobald dieses den 7 V2 fachen
Grundbetrag der Invalidenrente übet steigt. Sie sind
also thatsächlich geschädigt. Ob sich ein Weg finden
wird, diese unerwünschte Nebenwirkung zu vermeiden,
ist noch unentschieden.
Stephansfeld hat eine Unterstützungskasse
für Hinterbliebene von Pflegern eingerichtet.
L T eber eine neuartige, dem socialen Zuge der
Zeit entsprechende Einrichtung berichtet Berlin.
Man hat dort bei dein Pen- nal der städtischen
Irrenanstalten Arbeiterausschüsse eingesetzt, „die den
Zweck bähen, dem Personal Gelegenheit zu geben,
durch seil»slgewähiU: Vertreter Anträge, Wünscht und
Besc hwerden vorzutragen, und hierüber, sowie über
sonstige auf ihr Wohl bezügliche Fragen auf Ver¬
langen des Direetors gutachtliche Aeusserungen ab¬
zugeben.“
Dass unser Personal Anleitung und Unterricht
bedarf, bestreitet niemand. Das liegt ja auch auf
der Hand, denn wer als Neuling an den Verkehr
mit Geisteskranken herantritt, trifft so leicht nicht
den richtigen Ton, das will gelernt sein; und auch
in der körperlichen Krankenpflege sollen unsere
Pfleger ja bewandert sein.
Verschiedene Meinungen giebt cs dagegen noch
über die Methode des Unterrichts. Es giebt nam¬
hafte Collcgen , welche der Meinung sind, dass die
regelmässig bei den ärzlichen Rundgängen eitheilten
Anweisungen genügen und systematischer theoretischer
Unterricht entbehrlich sei.
Aber das entspricht nicht der modernen Ström¬
ung, heute verlangt man überall den letzteren. Viel¬
fach ist die Frage erörtert worden, ob man nicht
zweckmässig ausserhalb der Anstalten Pflegerschulen
ei mich ten solle, sodass die Pfleger von dort schon
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HARVARD UNIVERSITY
412 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 42.
fertig ausgebildet zur Anstalt kommen. Diese Ein¬
richtung besteht seit langen Jahren in Sachsen,
und die Berichte sprechen sich stets befriedigt über
die Erfolge aus.
Dennoch scheint anderenorts wenig Neigung zu
bestehen, diese Einrichtung nachzuahmen. Das ist
nicht zu verwundern. Die Anschauungen über prac-
tische Irrenpflege sind heute noch so verschieden,
dass es verständlich ist, wenn jeder es vorzieht, sich
sein Personal selbst auszubilden.
Wir finden also heute fast überall den Gebrauch,
dass in der Anstalt dem Personal von den Abtheil¬
ungsärzten Unterricht ertheilt wird. Zu diesem
Zweck ist in der Regel irgend ein Leitfaden, meist
der Scholz’sche, officiell eingeführt, im Uebrigen aber
die Art der Unterrichtsertheilung den Unterrichtenden
frei gegeben. Viele freilich halten es auch für nöthig,
diese durch genaue Vorschriften und Paragraphen
festzulegen, und manche haben sogar eine Prüfung
eingeführt, welcher sich die Pfleger am Schluss des
Kurses unterziehen müssen.
Viele Anstalten theilen dementsprechend kurz
mit, dass der Unterricht in dieser oder jener Weise
ertheilt wird. Hier seien nur einige dieser Mittheil¬
ungen wiedergegeben.
Treptow hat gleich mit Eröffnung der Anstalt
den Unterricht eingeführt, welcher von den Aerzten
ertheilt wird. Vor dem Director wird dann eine
Prüfung abgelegt Der Unterricht umfasst ausser
der eigentlichen Irrenpflege noch die gesammte
Krankenpflege. Er besteht nicht nur in Vorträgen,
sondern schliesst sich durch Wiederholung und Be¬
fragung der Unterrichtsform der Schule an.
Herz berge berichtet allgemein, dass man mit
dem Unterricht günstige Resultate erzielt habe.
Breslau theilt die Prädicate mit, welche in der
Schlussprüfung gegeben wurden. Auch Kierling-
Gugging führt im Einzelnen die Resultate der
Prüfung auf.
Die Anstalt Buitenzorg, welche in früherer
Zeit examinirte Pflegerinnen aus dem Mutterlande
erhielt, hat seit 1897 eigene Kurse eingeführt, und
theilt ein Unterrichtsprogramm mit, welches das ge¬
sammte Gebiet der Krankenpflege umfasst. Der
Kursus dauert 3 Jahre, am Schluss wird eine Prüf¬
ung abgelegt. — Hier sei noch erwähnt, dass
Buitenzorg, ebenso wie ja auch Meerenberg,
auch auf den Männerabtheilungen zum Theil weib¬
liches Personal hat.
Der dritte Weg zur Verbesserung unseres Per¬
sonals ist zweckmässige Diensteintheilung und Ge-
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Währung genügender Erholungszeit. Er ist vielleicht
der wichtigste von allen, bietet aber auch nicht ge¬
ringe Schwierigkeiten. Vieles ist ja in dieser Hin¬
sicht schon geschehen, aber doch wohl noch nicht
genug.
In der Versammlung der ungarischen Irrenärzte
ist die Wärterfrage gründlich besprochen worden,
und Sa Igo äusserte in der Discussion, der Unter¬
richt habe die daran geknüpften Erwartungen nicht
erfüllt, die pecuniäre Aufbesserung habe wohl den
Erfolg, dass die Leute länger im Dienst bleiben, aber
das sei kein Vortheil, weil sie nach einer gewissen
Zeit doch abgenutzt seien. Dann schloss er: „Am
zweckmässigsten wäre es, anstatt der bisher üblichen
24ständigen Dienstzeit eine Dienstzeit von 8 Stunden
zu systemisiren“. Und Epstein führte das noch
weiter aus: Die Diensteintheilung solle eine solche
sein, dass der Wärter seinem Dienste gewissenhaft
nachzukommen im Stande sei, und ferner solle man
ihn von solchen Arbeiten befreien, die nicht zum
eigentlichen Krankendienst gehören, wie Aufreiben
des Bodens, Reinigung des Zimmers etc. Für diese
Arbeiten sollten eigene Leute angestellt werden.
Dieser letzteren Ansicht möchte ich nicht bei¬
stimmen. Es ist sicher nicht zweckmässig, zweierlei
Personal von verschiedenem Rang auf den Abtheil¬
ungen zu haben; die Reinhaltung des Krankenzimmers
gehört eben zum Dienst des Krankenpflegers. Es
wird sich ja ohnehin in der Regel von selbst ergeben,
dass diese gröberen Arbeiten von den jüngeren Pfle¬
gern besorgt werden; auch ist das ja für viele unserer
Kranken eine nützliche Beschäftigung.
Hinsichtlich der übrigen Ausführungen wird man
aber anerkennen müssen, dass sie vieles richtige
enthalten. Die ,,24 ständige Dienstzeit“ ist ja wohl
ein wenig übertrieben; denn wenn auch die Pfleger,
nachdem sie den ganzen Tag Dienst gethan haben,
Nachts auch noch bei den Kranken schlafen müssen,
so schlafen sie doch eben, und erholen sich.
Aber immerhin, da sie bei den Kranken schlafen,
so sind sie doch nicht ganz frei von Verantwortung,
und wenn man auch noch so sehr bemüht ist, alle
störenden Elemente auf die Wachsäle zu legen, hier
und da kommen doch auch in den andern Abtheil¬
ungen nächtliche Störungen vor und rauben dem
Pfleger die Nachtruhe.
Das ist sicher noch ein Mangel in unseren Ein¬
richtungen , und wir müssen auf Abhülfe sinnen.
Dösen hat, von ganz ähnlichen Erwägungen aus¬
gehend, einen guten Schritt vorwärts gethan. Der
betr. Passus aus dem Dösener Bericht sei hier wört¬
lich abgedruckt:
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HARVARD UNIVERSUM
II ■
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
1005.]
,,Die Erfahrung hat gelehrt, dass zwar günstige
materielle Anstellungsbedingungen, gute Geholter
und gesicherte Stellung das erste Erforderniss zur
Gewinnung eines tüchtigen Pflegepersonals bilden,
dass aber auch noch hinreichend Zeit zur Erholung
und gewisse dienstliche Erleichterungen ihm gewährt
werden müssen, um es berufsfreudig und frisch zu
erhalten. Es wird deshalb jeder Pflegeperson wöchent¬
lich eine Freizeit von 24 Stunden , und zwar von Mittag
zu Mittag, gewährt, den verheiratheten Pflegern,
deren Zahl noch gering ist, die Erlaubniss crtheilt,
von Abends V28 Uhr bis Morgens 6 Uhr bei der
Familie zu verweilen, und den Pflegerinnen, soweit
sie nach dem Abendbrote abkömmlich sind, gestattet,
bis zum Schlafengehen das Pflegcrinnenheim aufzu¬
suchen. Ausserdem sind Pflegern und Pflegerinnen
in jedem Krankengebäude mehrere Zimmer über¬
wirsen . in denen sie ihre Sachen aufbewahren, sich
vorübergehend aufhalten dürfen, und ausserhalb der
Krankenräume schlafen können. Um denjenigen,
welche tagsüber Dienst verrichten , nachts die Mög¬
lichkeit eines sorgenlosen Schlafes und der Erholung
vom Tagesdienst zu verschaffen, dürfen sie im Pflegc¬
rinnenheim bezw. in den Pflegerinnenzimmern schlafen,
und es sind auf der Frauenabtheilung 5 ständige
Nachtwachen eingerichtet, die bei den unruhigen
und besonderer Fürsorge und Überwachung be¬
dürftigen Kranken den Nachtdienst versehen, wäh¬
rend die ruhigen und geordneten Patientinnen in
ihren Schlafräumen ohne Pflegerinnen bleiben und
nur in 2 Abtheilungen den gelegentlich Hülfe er¬
fordernden Kranken eine Pflegerin beigegeben ist,
die mit in ihrem Schlafsaale schläft. In der Männer¬
abtheilung schlafen in einer grösseren Anzahl von
Sälen Kranke und Pfleger gemeinschaftlich/ 4
Zweifellos hat Dösen da einen beträchtlichen
Schritt vorwärts getluin, ist aber leider auf halbem
Wege stehen geblieben. Es kommt darauf an, allen,
die bei Tage Dienst gethan haben, die ungestörte
Nachtruhe zu sichern. Und umgekehrt wird man
auch den Einwand nicht von der Hand weisen
können, dass es auch hei „ruhigen und geordneten“
Kranken nicht so durchaus unbedenklich ist, siedieganze
Nacht sirh selbst zu überlassen. Auch bei ihnen können
unvorhergesehene Ereignisse Hülfe erfordern. Da
stehen als«* 2 Forderungen einander schroff gegen¬
über. Die einfachste Lösung scheint mir in der
Einführung einer ambulanten Wache zu liegen, die
in nicht zu langen Zwischenräumen, mit geräusch¬
losem Schuh werk angethan, alle Schlafsäle zu durch¬
wandern hätte. Dann könnte das gesammte Pflege¬
personal in eigenen Zimmern schlafen. Die im eigent¬
413
liehen Sinne überwachungsbedürftigen Kranken würden
natürlich von dieser Einrichtung nicht betroffen, sie
liegen ja in den Sälen mit ständiger Nachtwache.
In K ö n i gs 1 u 11 e r besteht bereits ähnliches.
„Es wird hier als unzulässig angesehen, dass die¬
jenigen, die den ganzen Tag die Kranken pflegten,
des Nachts mit ihnen auch noch das Schlafzimmer
theilen und für die kranken Schlafgenossen verant¬
wortlich sein sollen. Alle Wärter und Wärterinnen
haben liier, was auch für die Neubauten vorgesehen,
besondere Schlafzimmer; die nächtliche Pflege und
Verantwortlichkeit fällt ausschliesslich den Wachen
zu.“ Leider ist nicht genauer mitgetheilt. wie letzteres
diirchgeführt wird.
Die Salgo sehe Forderung einer S ständigen
Arbeitszeit dürfte dagegen zu weit gehen. Wir
dürfen den Dienst unseres Personals nicht mit der
Thütigkeit der Arbeiter vergleichen. Hei letzteren
ist die Arbeitszeit thatsächlich mit unausgesetzter
Arbeit ausgefüllt. Bei unsern Pflegern nicht, da liegt
doch so manche Arbeitspause dazwischen. Die
Aufsicht in einem Wachsaal ist ja gewiss zeitweise
eine üusserst aufreibende und anstrengende Thätig-
keit, aber stundenweise kann sie auch recht beschau¬
lich sein. Und wie häufig besteht der Dienst eines
Pflegers stundenlang nur darin. dass er persönlich
anwesend zu sein hat. Sorgen wir nur für gehörige
Abwechslung in den verschiedenen Zweigen der
Arbeit, besonders für häufige Ablösung von schwereren
Posten , so dürfen wir das Personal unbedenklich
den ganzen Tag im Dienst lassen, wie es ja auch
allenthalben geschieht.
Durchaus nothwendig ist freilich häufiger Er¬
holungsurlaub, der wohl in der Regel sieh auf halbe
Tage erstreckt. Wenn Dösen jede Woche 24
Stunden Urlaub gewährt, so ist es auch darin den
meisten andern Anstalten voraus; es muss recht
zahlreiches Personal vorhanden sein, um das durch¬
führen zu können. Zweckmässig und erstrebenswerth
ist es gewiss. Denn das beständige verantwortliche
Zusammensein mit Geisteskranken wirkt auf nicht
ganz stumpfsinnige Leute stets mehr oder weniger
erregend und aufreibend, und nur durch häufige
Ausspannung können da nervöse Störungen ver¬
mieden werden. Allerhand neurasthenisrhe Be¬
schwerden finden wir ja auch hei unserm Personal
gar nicht so selten und im vorigen Berichte konnte
ich eine ganze Anzahl einschlägiger Mittheilungen
zusammenstellen. In unseren diesjährigen Berichten
finden sich nur einige kurze Notizen hierüber, die
nichts Neues bieten.
Der Nachtwachdienst giebt in diesem Jahr zu
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4 M
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT
[Nr. 42.
weiteren Erörterungen keinen Anlass. Wieder be¬
richten verschiedene Anstalten über die Einführung
des ausschliesslichen Nachtdienstes durch Personen,
die dann bei Tage ganz dienstfrei sind. Strittig ist
immer noch die zweckmässigste Dauer dieser Dienst-
form. Manche plädiren für wöchentlichen Wechsel,
und von i Woche bis zu 3 Monaten finden sich
alle Zwischenstufen. Bei uns in Andernach bewährt
sich nach wie vor ein 3 monatlicher Turnus.
VIII. Klinisches.
Auch in diesem Jahre ist der Gehalt unserer
Berichte an wissenschaftlich-klinischem Material wieder
recht gering. Das ist kein Vorwurf; denn unsere
Berichte haben eben andere Zwecke und können
klinische Mittheilungen höchstens nebenbei bringen.
— Immerhin lohnt es, das wenige, was sie enthalten,
zusammenzustellen.
Die meisten Berichte vertheilen ihre Aufnahmen
nach Krankheitsformen. Sehen wir ganz davon ab,
dass die angewendete Nomenclatur in den verschie¬
denen Berichten eine sehr verschiedene ist, und dass
mitunter auch der gleiche Name von verschiedenen
Berichterstattern in ganz verschiedenem Sinne ge¬
braucht wird; viel bedenklicher noch scheint mir der
Umstand zu sein, dass man den glatten Tabellen
gar nicht ansieht, wieviel Zwang oft dem einzelnen
Falle angethan wird, um ihn bei einer bestimmten
Diagnose unterzubringen. Die Freiburger Uni¬
versitätsklinik erwähnt in ihrem ersten Bericht, dass
„fast 25% der Fälle bezügl. ihrer klinischen Auf¬
fassung sehr strittig waren“. Immerhin wird in der
Mehrzahl dieser strittigen Fälle doch schliesslich eine
bestimmte Diagnose gestellt worden sein. Heidel¬
berg hat in der Zusammenstellung der Krankheit-
formen eine besondere Rubrik „diagnostisch unklare
Fälle“, welche in den beiden ersten Berichtsjahren
die Zahlen 4 und 8, im letzten Jahre die stattliche
Zahl 31 (unter 520 Aufnahmen) aufweist. — Ich
führe diese Zahlen nur deshalb an, weil sie uns recht
eindringlich darauf hinweisen, wie weit wir noch von
einer erschöpfenden Kenntniss der Geistesstörungen
entfernt sind, und dass wir von keinem der vorhan¬
denen Lehrsysteme erwarten dürfen, dass es alles
umfasst,, was vorkommt. Der Inhalt unserer Be¬
richte kann natürlich in keiner Weise zur Förderung
dieser Frage beitragen.
Von Interesse ist in dieser Hinsicht noch die
Zusammstellung des Württemberg ischen Be¬
richtes, welche ergiebt, dass von 1898 bis 1901 die
primären Deinenzformen von 10 auf 15,3% ge¬
stiegen, die chronische Verrücktheit von 17 auf 14%
gefallen ist. Der Bericht hebt selbst hervor, dass
diese Verschiebung lediglich auf eine Aenderung
der diagnostischen Auflassung zurückzuführen ist.
Im Bericht des Züricher Hülfsvereins ist ein
Vortrag von v. Muralt über erbliche Belastung
abgedruckt, in welchem in geschickter Form die an¬
erkannten Thatsachen über dieses wichtige Thema
gemeinverständlich dargestellt sind. — Wille hat im
Verein Schweizer Irrenärzte einen Vortrag über erb¬
liche Uebertragung von Geisteskrankheiten gehalten,
welchem das Material der Pirminsberger Anstalt
zu Grunde liegt. Er fand die Tendenz zu gleich¬
artiger Vererbung viel geringer, als die Untersuch¬
ungen anderer Forscher (Sioli, Vorster) ergeben haben ;
in fast der Hälfte der Fälle fand er bei Eltern und
Kindern differente Krankheitsbilder.
(Schluss folgt.)
Zur Statistik des
Zahl der
I. Kranken Pfleger IV.
I.
Heidelberg
383
128
40
3,2
2.
Friedheim
280
20
7
2,9
3 -
Breslau
-\S8
246
50
4,9
4 .
Freiburg i. B.
220
138
40
3,5
5
Herzberge (Berlin)
128
1171
207
5,7
6.
Wien
92
1026
1 75
5,9
7 .
Friedmatt
85
207
44
6,1
8.
Illenau
69
57 2
149
3,8
9 *
Burghölzli
68
380
9 i
4,2
IO.
Lipotmezö
66
1004
*52
6,6
11.
Gehlsheim
62
290
66
4,4
□ igitized by Google
Pflegepersonals.
12.
Bamberg
Öl
90
24
3,7
13 .
Angyalföld
59
337
57
5*9
14.
Oberdöbling
54
69
44
1.6
* 5 -
Bonn
52
701
87
8,1
16.
Grafenberg
5 *
77 8
Mi
5,9
* 7 -
Galkhausen
48
616
82
7*5
18.
Pirminsberg
47
239
36
6,6
19.
Salzburg
46
'95
38
5 *'
20.
Andernach
42
456
81
5 * 6
21.
Klosterneuburg
38
598
81
7,3
22.
Wil
37
557
65
8,6
* 3 -
Friedrichsberg(Hambg.)
35
1417
214
6,6
24-
Nagy Kal 16
34
297
42
7 ,'
Original from
HARVARD UNIVERSITY
1905-]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
4i5
25. Wuhlgarten
52
1182
159
7,4
26. Waldhaus
30
288
4*
7,o
27. Leubus
29,2
3*2
40
7,8
28. Düren
28,7
*7*5
111
6,4
29. Ueckermünde
28,6
493 ca.
70 ca.
7,o
30. München
28,6
762
**9
6,4
31. Lüneburg
28,3
648
98
6,6
32. Münsingen
28,3
665
83
7,8
33. Merzig
27,6
705
9 2
7,7
34. Rottenmünster
2 7,3
220
41
5,4
35. Alt-Scherbitz
26,3
769
*28
6,0
36. Osnabrück
24,6
39 8
63
6,3
37. Schussenried
24,5
46l
75
6,1
38. Marsberg
24,0
326
73
7,2
3Q. Roda
23,9
373
39
9,6
40. Ansbach
22,6
394
66
6,0
41. Treptow a. R.
22,0
473
69
6,9
42. Uchtspringe
21,8
857
*25
6,9
43. Feldhof b. Graz
2L7
1295
*57
8,4
44. Münster
204
5«3
92
6,3
45 - Nagjr Szeben
19,8
420
66
6,6
46. St. Urban
19,6
459
63
7,3
47. Tannenhof
19.5
371 ca
. 62 ca
.. 6,0
48. Waldau
18,8
577
68
8,5
49. Königsfelden
18,7
661
52
12,7
50. Sachsenberg
18,7.
552
82
6,7
51. Bayreuth
17 , 9 *
679
101
6,7
52. Stephansfeld-Hördt
i 7,9
1460
196
7,4
53. Aplerbeck
i7,5
593
83
7,*
34. Landsberg
i7,3
774
1 *9
6,5
35. Gabersee
16,3
644
82
7,9
36. Zwiefalten
15,7
567
88
6,4
37. Rosegg
i 5,3
300
46
6,5
38. Dziekanka
15,1
736
98
7,5
59. Alt-Strelitz
15,0
161
29
5,6
60. Eichberg
14,i
668
77
7,7
61. Sigmaringen
13,9
122
*3
9,4
62. Brieg
13,0
484
56
8,7
63. Lengerich
13,0
576
82
7,o
64. Ybbs
12,7
544
67
8,1
65. Conradstein
12,7
77 i
99
7,8
66. Owinsk
12,4
7*7
9 *
7,9
67. Neuruppin
12,3
*365
202
6,8
68. Bernburg
12,1
3*4
46
6,8
69. Stetten
11,0
482
81
6,0
70. Weilmünster
10,6
679
101
6,7
71. Pfullingen
IC,4
372
58
6,4
72. Neustadt i. Westpr.
10,3
493
65
7,6
73. Emmendingen
8,8
*348
*85
7,3
74. Blankenhain
8,8
455
39
**,7
73. Schwetz
4,8
463
67
6,9
76. Freiburg i. Schl.
4 ,i
663
72
9,2
77 -
Kosten
3,2
728
84
8,7
78.
Langenhorn (Hamburg)
3 ,o
540
65
8,3
79 *
Langenhagen
2,9
700
89
7,8
80.
Pforzheim
2,8
648
90
7,2
81.
Eickelborn
*.5
5*4
49
10,5
82.
Bellelay
*>3
296
32
9,3
83.
Rheinau
1,0
839
95
8,8
30,4
47448 6886
6,9
Die Zahlen sind den bis zum 1. Oktober 1904
eingegangenen Berichten der dem Laehr’schen Vereine
angehörigen Anstalten entnommen. Wenn nicht alle
Anstalten aufgeführt sind, so liegt das daran, dass
nicht alle Berichte Notizen über das Pflegepersonal
enthalten. Reihe II giebt den Krankenbestand,
Reihe III den Pflegepersonalbestand am Ende des
Berichtsjahres an. Das Oberpflegepersonal ist ein¬
gerechnet. Reihe IV giebt an, auf wieviel Kranke
eine Pflegeperson kommt; Reihe I endlich giebt an,
wieviel Kranke im Berichtsjahre entlassen sind, be¬
rechnet auf 100 des Schlussbestandes. Die Ge¬
storbenen sind unter den Entlassenen nicht mit¬
gerechnet.
Die Ansicht, dass eine Anstalt desto mehr Pflege¬
personal bedarf, je mehr frische Fälle sie biigt, d. h.
je grösser der Wechsel unter den Kranken ist, ist
ällgemein verbreitet und trifft ceteris paribus wohl
auch zu. (Vgl. di6 folgende Tabelle.) Der zahlen -
mässige Ausdruck für den Wechsel unter den Kranken
ist das Verhältniss von Entlassungen zum Kranken-
bestande, wie es Reihe 1 bringt. Nach diesem Ver¬
hältniss sind dämm die Anstalten geordnet.
In sämmtlichen 83 Anstalten mit 47 448 Kranken
und 6886 Pflegepersonen betragen die Entlassungen
30,4 vom Hundert des Bestandes; auf je eine Pflege¬
person kommen im Durchschnitt 6,9 Kranke. —
Des weiteren sind die 83 Anstalten in 5 Gruppen
geteilt worden: A 5 Anstalten mit mehr als 100 Ent¬
lassungen; B 21 mit 30—100; C 18 mit 20—30;
D 28 mit 10—20; E 11 mit weniger als 10 Ent¬
lassungen auf Hundert des Bestandes.
Gesammtzahl der
I
Kranken Pfleger
IV
A
mehr als 100% Entl.
* 75,6
*703
344
5,o
B
30— 100%
44,5
**359
*859
6,1
C
20—30°/o
24,7
10649
*543
6,9
D
10—20%
*5,4
16541
2273
7,3
E
0—10%
4,2
7196
867
8,3
30,4
47448
6886
6,9
Die Zahlen in Reihe I und IV sind Durchschnitts¬
zahlen; ßie verstehen sich wie in der Haupttabelle.
□ igitized by Google
Original from
HARVARD UNIVERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
416
Neben den männlichen Pflegern werden auf den
Männerabtheilungen folgender Anstalten noch Pflege¬
rinnen — barmherzige Schwestern — beschäftigt.
1. R o 11 e n m ii n s t e r, ist Eigenthum der Schwestern.
Auf 90 männliche Kranke kommen hier 11 Pfleger
und 8 Schwestern, mithin ohne die Schwestern auf
8,2 Kranke, mit den Schwestern auf 4,7 Kranke eine
Pflegeperson.
2. S igmaringen. Auf 60 männliche Kranke
kommen hier 4 Pfleger und 3 Schwestern, mithin
ohne die Schwestern auf 15 Kranke, mit den
Schwestern auf 8,0 Kranke eine Pflegeperson.
3. Bernburg. Auf 154 männliche Kranke
[Nr. 42.
kommen hier 15 Pfleger und 6 Schwestern, mithin
ohne die Schwestern auf 10,3 Kranke, mit den
Schwestern auf 7,3 Kranke eine Pflegeperson.
4. Langenhagen. L. ist „Anstalt für Schwach¬
sinnige“, hat 31,7% Kranke unter 15 Jahren, weitere
21,3% unter 20 Jahren.
3. Stetten ist ebenfalls Anstalt für Schwach¬
sinnige.
6. S t eph a n sf el d - H ö rd t. Hier kommen auf
707 männliche Kranke 87 Pfleger, mithin auf 8,1
Kranke ein Pfleger. Daneben sollen noch Schwestern
Dienst thun, jedoch ist aus dem Bericht nicht er¬
sichtlich, wieviele. Dr. Boegc, Sigrnaringen.
Mitt'heil ungen.
— 35. Versammlung der südwestdeutschen
Irrenärzte in Frei bürg i. B. am 29. und 30.
October 1904. Referent: Dr. K r a uss-Kcnnenburg.
(Fortsetzung.)
II. Versammlungstag (in der psychiatr. Klinik).
Vorsitzender: Medicinalrath Dr. K re user-Winnen¬
thal.
4. Privatdocent Dr. R ose n f e 1 d - Strassburg i. E.
V eher De m en z und A pha si e.
R. berichtet über einen £| 2 jährigen nur leicht
dementen, chronischen Alkoholisten, bei dem zu
einer Zeit, in welcher das Gedächtniss, die Merk¬
fähigkeit , Aufmerksamkeit und die zeitliche und
räumliche Orientirung vollständig intact waren, asym-
b(»fische und aphasische Symptome auftraten und im
Krankheitsbilde dominirten , ohne dass der klinische
Verlauf irgend einen Anhaltspunkt dafür hot, dass
eine gröbere, organische Erkrankung vorlag.
Der Kranke hatte das Benennungsvermögen für
fast alle konkreten Gegenstände verloren. Er hatte
für diesen Ausfall vollständige Krankheitseinsicht.
Durch den Tastsinn konnte er die genannte Störung
nicht corrigiren. Für einzelne Gegenstände war er
»symbolisch. Er gebrauchte zahlreiche Umschreib¬
ungen für die ihm fehlenden Begriffe und einzelne
paraphasische Bildungen. Er konnte lesen, schreiben
nach Diktat und spontan ohne Fehler. Dauer der
Beobachtung V2 Jahr. Bis jetzt keine Symptome
einer organischen Gehirnerkrankung. Allmählich zu¬
nehmende Demenz. (Autoreferat.)
5. Professor Dr. W o 11 e n b erg-Tübingen. Ueber
G e h i r 11 c y s t i c e r k e n.
Nach einigen einleitenden Bemerkungen über
Entstehungsweise, Vorkommen und Häufigkeit, sowie
Lieblingslokalisation der Cysticerken im menschlichen
Keuper, geht der Vortragende auf die zuerst von
Zenker erkannte und unter dein Namen „Cysticercus
raceinosus“ beschriebene Form dieses Parasiten ein,
und theilte 6 Fälle mit, die er in den 00er' Jahren
in der Hitzig’schen Klinik untersucht und bis zum
Tode beobachtet hat. — Die Fälle zeigten in ana¬
tomischer Beziehung eine weitgehende Utrberein-
stiinmung, da in 4 von ihnen die charakteristischen,
vielfach verästelten Blasen in der Gegend von Pons,
Oblongata, Hirnschenkeln und Chiasma sich vorfanden,
während in den beiden letzten nur einzelne. aber
grössere und zum Theil in der basalen Hirnsubstanz
selbst gelegene Blasen vorhanden waren. Daneben
wurden in einigen Fällen niembranausgckleidete
Höhlen in den Hirnlappen, ferner Erweichungen in
den grossen Ganglien, endlich ziemlich regelmässig
Epcndymgranulationen, Hydrops ventneulorum und
chronische Verdickung der weichen Häute festgestellt.
— Das klinische Bild kennzeichnet® sich von vorn¬
herein durch Kopfschmerz, Schwindel, meist auch
durch frühes Erbrechen. Ferner waren statische Ataxie,
Veränderungen des Augenhintergrundes! (Hyperämie,
Neuritis optica, seltener Stauungspapille^ Afifectionen
der basalen Hirnnerven, mannigfache Reizerschein¬
ungen im Gebiet der Körpermuskulatur vorhanden,
dazu die den jeweiligen Herderkrankungen ent¬
sprechenden Ausfallerscheinungen. Hervorhebung
verdient eine allgemeine Hyperästhesie, die in 5 von
den o Fällen sehr ausgesprochen war, und das Auf¬
treten von Schmerzen in verschiedenen Körpertheilen,
das in mehreren Fällen schon aus weit vor dem
eigentlichen Krankheitsbeginn liegender Zeit berichtet
wurde. Aus dem weiteren Verlauf ist von besonderer
Bedeutung der frappirende Wechsel in der Intensität
der Krankheitsersoheimingen.
Im Anschluss daran erörtert der Vortragende
die Diagnose der Gehirncystirerken und zwar speciell
im Hinblick auf die hier allein in Betracht gezogene
Form.
Die Feststellung, dass es sich um ein organisches
und raumbeschränkendes Leiden des Schädelinnern
handelte, machte in keinem der besprochenen Fälle
Schwierigkeiten: ebenso wiesen die Symptome mit
hinreichender Deutlichkeit auf eine Affection der
hinteren Schädelgrube und der Gehimbasis hin.
□ igitized by Google
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
1905 .] PSYCHIATRISCH.NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 417
Aber auch die Specialdiagnose könnte in Fällen
dieser Art, auch ohne dass Cysticerken an den
directer Untersuchung zugängigen Stellen (Haut,
Auge, Zunge) vorhanden wären, wohl vielfach wenig¬
stens mit grosser Wahrscheinlichkeit gestellt werden
und wurde in dem zuletzt beobachteten Falle that-
sächlich auch richtig gestellt. Besonders ist dabei
der auffällige Wechsel der Erscheinungen charakte¬
ristisch, der ähnlich höchstens bei specifischen Er¬
krankungen vorkommt. Ausserdem ist vielleicht die
in den mitgetheilten Fällen fast ausnahmslos fest¬
gestellte allgemeine Hyperästhesie von diagnostischer
Bedeutung und endlich verdient wohl das mehrjährige
Vorausgehen heftiger Schmerzen der verschiedensten
Körpergebiete Beachtung.
Der Vortrag, der durch die Projection einiger
Diapositive erläutert wurde, wird im Archiv für Psy¬
chiatrie in erweiterter Form veröffentlicht werden.
(Autoreferat.)
Discussion:
Professor Fürstner, Dr. Thoma, Dr. Laquer,
Dr. Geelvink, Dr. Bayerthal, Professor Dr.
Wollenbe rg.
6. Dr. Spielmeyer-Freiburg: Demonstration
von Encephalitis-Präparaten.
Sp. demonstrirt (mit Hilfe des Projectionsapparates)
Präparate zweier Fälle von G r o s s h i r n e n c e p h a -
litis und eines Falles von acuter hämorrha-
gischer Policen cephalis superior.
Die beiden Grosshirnfälle sind wesentlich von
einander verschieden: in dem einen Falle findet sich
— als einzig nachweisbare Veränderung — eine
Rundzelleninfiltratinn der Gefässe im Hemisphären¬
parenchym und stellen weise auch in den Meningen,
in dem anderen beherrscht ein herdförmiger Ent-
zündungsprocess mit grosszeiliger Hyperplasie das
ganze Hemisphärenmark. Diese Fälle beanspruchen
ein besonderes casuistisches Interesse: der erste kann
die Uebergänge zu den „Encephalitiden“ ohne ana¬
tomisches Substrat illustriren, er erinnert an die Be¬
funde von Krannhals bei seinen meningitisähn¬
lich verlaufenden Fällen; der zweite leitet zu den
indurativen Endausgängen der geheilten Encephalitis
über, zu den Fällen also von sogenannter „secundärer“
oder „entzündlicher Sklerose“.
So different diese beiden Grosshirnencephalitiden
sind, so sind beiden doch exquisit entzündliche Ver¬
änderungen gemeinsam. Bei der typischen Wern ic ke-
sehen Polioencephalitis dagegen vermissen wir diese
echten Entzündungserscheinungen; es handelt sich
dort um eine einfache hämorrhagische Infiltration.
Für deren Genese dürften zwei Momente in Betracht
kommen: die anatomisch-pathologischen und patho¬
genetischen Beziehungen dieser Extravasate im cen¬
tralen Höhlengrau zu den Blutungen bei der hämor¬
rhagischen Diathese und feiner die reichen Gefüss-
neubildungen in den von den Blutungen betroffenen
Gegenden. (Autoreferat.)
Discussion:
Dr. Bayerthal, Prof. Nissl, Prof. Fürstn er,
Dr. Spielmeyer.
Digitized by Go, gle
7. Professor Dr. H oche-Freiburg zeigt die
Dauerbadeinrichtung der Klinik und weist einen
äusserst zweckmässig erscheinenden Mischhahn für
solche vor.
8. Professor Dr. Ho che-Freiburg stellt eine An¬
zahl von Kretinen und kretinoiden Kranken aus der
Kreispflegeanstalt Freiburg vor.
9. Professor Dr. Ho che - Freiburg: Ueber
Zwangshallucinationen.
Eine Kranke fand eine Sublimatpastille und warf
sie ins Closett. Sofort hatte sie die Vorstellung, die
Benützer des Closettes würden vergiftet und seitdem
hallucinirte sie in der Weise, dass sie rothe Flecke,
ähnlich der Sublimatpastille, auf allen Gegenständen
sah. Obwohl die Kranke die Sinnestäuschung für
eine wirkliche Wahrnehmung hielt, hatte sie doch
immer die Einsicht in die Krankhaftigkeit ihres Ein¬
druckes.
Diese Fälle sind selten beschrieben, sie haben
meist Beziehungen zu gewohnheitsmässigen Vorstell¬
ungen. Auch das Gehör kann mitbetheiligt sein.
Disc u ssion:
Prof. Thomsen-Bonn theilt einen analogen Fall
seiner Praxis mit.
10. Dr. Merzbach er-Heidelberg: Zur Bio¬
logie der Nervendegeneration.
M. theilt die Ergebnisse experimenteller Versuche
mit, die an Winterschläfern und bei der Transplan¬
tation isolirter Nervenstücke gewonnen wurden.
Die Degenerationsversuche an Winterschlaf enden
Fledermäusen geben Zeugniss von der grossen Ab-
hängigkeit des Degenerationsprocesses von den Ein¬
flüssen der umgebenden Temperatur. In der Kälte
scheinen wir ein Mittel zu besitzen, um den Eintritt
der Degeneration zeitlich zu trennen von der Wirk¬
ung der Schädigungen, die den Nerven im Augen¬
blick der Durchschneidung treffen.
An den transplantirten Nervenstücken konnte
man zweierlei regressive Processe verfolgen, die
histologisch und biologisch von einander verschieden
sind. Der eine Proccss entspricht der bekannten
typischen Degeneration, der andere Process wird von
M. als ein zur Nekrose frührender Process aufgefasst;
er ist besonders dadurch von der Degeneration aus¬
gezeichnet, dass im Verlaufe desselben die Mark¬
scheiden in toto sich verändern, ohne in Segmente
zu zerfallen. Degeneration trat ein bei der Auto¬
transplantation, d. h. wenn der Nerv eines Thieres
auf dasselbe Thier transplantirt wurde; Nekrose hin¬
gegen spielte sich am isolirten Nervenstück ab bei
der Heteroplastik, d. h. wenn ein Nervenstiick aus
einem Thiere in ein Individuum einer anderen Species
übergepflanzt wurde. In einer anderen Versuchs¬
reihe wurde zu beweisen gesucht, dass die Degene¬
ration als ein Lebcnsprocess aufzufassen sei, d. h.
als ein Vorgang, der nur im lebenden Gewebe sich
abspielt, und ferner nur am überlebenden Nerven.
Der Beweis wurde dadurch erbracht, dass die Nerven-
stiieke auf tote, jedoch warm gehaltene Thiere trans¬
plantirt wurden und ferner dadurch, L dass ;Nerven
aus toten Thieren auf lebende übertragen wurden.
Original from
HARVARD UNIVERSUM
418 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 42.
Bei all diesen Versuchen verlor der Nerv die Fähig¬
keit zu degeneriren; es spielte sich hingegen an
demselben der nekrotische Vorgang ab.
(Autoreferat.)
(Schluss folgt.)
— Verein für Psychiatrie und Neurologie
in Wien. Sitzung vom 8. November 1904.
Dr. Erwin Stransky dernonstrirt einen 35jährigen
Epileptiker. Seit Ende der achtziger Jahre Krampf¬
anfälle, seit 1808 nach Sturz vom Kutschbocke post-
epileptische Delirien, derentwegen Pat. wiederholt auf
der Klinik sich befand. Kein Potus, Ui suche der
Epilepsie nicht eruirbar. In somatischer Beziehung
zeigt Pat. eine linksseitige Hemiparese mit Contrac-
turstellung der oberen Extremität. Die Parese trat
vor Jahresfrist im Anschluss an einen convulsiven An¬
fall auf. Diesem Befunde supponirt Stransky einen
grösseren oder mehrere kleinere Herde im Marklager
unter der Rinde der rechten motorisc hen Region als
anatomische Ursache.
Dr. Otto Pötzl stellt einen 44jährigen Mann vor,
welcher nach einer als Katatonie zu bezeichnenden
Psychose, die vier fahre dauerte, genesen ist. Die
ersten Symptome der Krankheit halten sich im un¬
mittelbaren Zusammenhang mit einer Initialsklerose
entwickelt. 3V2 Jahre war der Kranke stuporös ge¬
wesen. Die Genesung setzte ganz unvermittelt ein
und besteht seit 8 Monaten.
Dr. A. Fuchs stellt zwei junge Mädchen vor. In
beiden Fällen handelt es sich um Myasthenie. In
dem ersteren Falle hat sich eine Atrophie der Spatia
interossea III. und IV., links stärker als rechts, ent¬
wickelt und das Eussphänomen ist auslösbar. Solche
Fälle lassen den Bestand einer reinen Neurose un¬
wahrscheinlich eischeinen. Der zweite Fall weist eine
Pseudohypertrophie der Wadenmuskulatur auf.
Prof. Obersteiner dernonstrirt an mikrosko¬
pischen Präparaten die Veränderungen, die er am
Centralnci vensvstem von Mäusen nach Bestrahlung
mit Radium gefunden hat.
Dr. Pilcz hält einen Vortrag über „Heilversuche
an Paralytikern“, der in den Jahrbüchern für Psychi¬
atrie in extenso erscheinen wird. S.
Referate.
— Kraepelin: P s v c: h litt r i e, 7. vielfach 11m-
geatbeitete Auflage. II. Band, klinische Psychiatrie.
XIV und 802 S. Leipzig 1004.
Kraepolin's klinische Psychiatrie, der 2. Band,
iib< 1 trifft in der neuesten, 7., Auflage den eisten, all¬
gemeinen Theil an Umfang ausserordentlich, fast bis
aufs Doppelte. Das Werk, das in seinen 3 ersten
Auflagen als ( oinpendiiim ging, dann ein grosses,
rasch wachsendes Lehrbuch darstellte, nähert sich
jetzt dem Charakter eines Handbuchs, nicht bloss
wegen des stattlichen, für den Studirenden eigentlich
s« h«01 zu starken Umfangs, sondern viel mehr noch
wegen des ersichtlichen Bestrebens, mannigfache
illustialive Hilfsmittel, wie Patientenbilder, Mikropro¬
gramme, Schriftproben, Diagramme, zu Verwendern
und auch reichlichere Literaturnachweise zu bieten.
Auch der klinische Theil ist völlig neu durchge¬
arbeitet, wenn er schon nicht mehr jene Umwälzungen
erkennen lässt, wie bei dem Uebergang von der 3.
zur 4. und 5. Auflage.
Nach einer Betrachtung über die Klassifikation
der Psychosen wird das infektiöse Irresein dargestellt.
Die Trennung der Fieberdelirien von den infektiösen
hat etwas Problematisches an sich ; in diagnostischer
Hinsicht dürfte bei der Frage eines Typhusinitial¬
delirs doch der Ausfall der Gruber-VidaPschen Serum¬
reaktion wichtiger sein als das psychische Bild. Als
3. Untergruppe sind die infektiösen Schwächezustände,
darunter die Korsakowsche Psychose nicht alkoholo-
gener Art, dargestellt.
Die akuten Kimmen des Erschöpfungsirreseins,
Collapsdelir und acute Verwirrtheit oder Amentia
gehören nach dieser Definirung zu den allerseltensten
Psychosen. Als chronische nervöse Erschöpfung hat
die erworbene Neurasthenie ihren Platz behalten,
der auch Bemerkungen über Hypochondrie beige¬
fügt sind, wenn schon das Gros letzterer Fälle wohl
eher dem Bereich der konstitutionellen Verstimmung
angehört.
Eine ausgiebige Darstellung ist den Alkoholpsy¬
chose u gewidmet, wobei die .Nachgiebigkeit hinsicht¬
lich der Möglichkeit eines Abstinenzdelirs vielleicht
manchem Autor etwas zu weitgehend erscheinen mag.
Nach einer Würdigung des Morphinismus und
G »cainismus wird als thvreogenes Irresein das Myxödem
und der Cretinismus geschildert.
Fast 7 Druckbogen sind der grossen, von Kraepelin
in den Mittelpunkt der klinischen Discussion gerück¬
ten Gruppe der Dementia praecox gewidmet. Als
klinische Formen werden die hebephnmischen, kata¬
tonischen und paranoiden Fälle auseinander gehalten,
ohne dass Uebeigänge damit in Abrede gestellt
würde 1 !!. Es fragt sich, oh es sieh nicht empfiehlt,
neben jenen 3 Gruppen auch die Fälle einfacher
Verblödung auf affectivem und apperceptivem Gebiet
ohne Nebensymptome gesondert hervorzuheben, wie
es u. a. in der von Bleuler angeregten Arbeit
Di eins geschah, da gerade diese leichtesten Formen
wegen ihrer forensischen und auch pädagogischen
Wichtigkeit besondere Aufmerksamkeit verlangen.
Es sclüiesst sich an ein noch stärkeres Kapitel
über die Paralyse. Neben anschaulicher klinischer
Schilderung hat auch die Oytocliagnose eine Stätte
gefunden. Eingehend und unter Heranziehung zahl¬
reiche!* mikrophotographischer Abbildungen wurde
die pathologische Anatomie dem Paralvse ausführlich
geschildert. Besonders eingehend ist die Frage nach
der Ursache behandelt. Angesichts der Seltenheit
der Paralvse in manc hen Lues-reichen Ländern wird
die Möglichkeit einer verschiedenen Giftigkeit des
syphilitischen AnsterkungsstofTes erörtert. Die Auf¬
fassung der Paralvse als einer allgemeinem Ernähr¬
ungsstörung bringt sie in verwandtschaftliche Bezieh¬
ungen zu Myxödem, ferner M Diabetes, Akromegalie,
Osteomalacie, während die Aulfassung der Paralvse
als Folge funktioneller Ueberan.sti engung des Central¬
nervensystems Kr. nicht zu teilen vermag. Es sei
übrigens erwähnt, dass auch diese Auflage noch
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IQ 05 -J PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
(S. 301) die unzutreffende Aeusserung „Schluckpneu¬
monien“ (sog. „hypostatische Pneumonien“) enthält,
während diese Bezeichnungen doch ganz verschiedene
Dinge ausdrücken, die nicht mit einander zu ver¬
wechseln sind.
Im Kapitel über das Irresein bei Hirneikrank-
ungen ist der Hirnlues besondere Aufmerksamkeit,
auch durch NissPsche Mikropin »togiamme, gewidmet.
Ferner fand die arteriosklerotische Ilirnerkrank-
ung eingehende Schilderung. Solche Patienten nehmen
an Gedächtniss und Arbeitskraft ab, die Stimmung
wechselt , ist oft hypochondrisch. Schwindel und
Ohnmachtneigung tritt auf, auch apoplektiforme Zu¬
stände mit vorübergehenden Paresen, Aphasien u. s. w.
Nicht selten ist eine schwere, progressive Form.
Als Irresein des Rückbildungsalters wird die
Melancholie, der präsenile Beeinträchtigungswahn
und der Altersblödsinn behandelt. Die Abgrenzung
des präsenilen Beeinträchtigungswahns von der
Kraepelin’schen Paranoia scheint dem Ref. weniger
tief zu greifen, als die der 2 Unterformen des Alters-
blfuLiuns, der Presbyophrenie und des senilen Ver-
f< »Igungswahns.
Das Kapitel des manisch-depressiven Irreseins
erfreut sich diesmal besonders reicher Anwendung
graphischer Hilfsmittel, auch die Mannigfaltigkeit der
Mischzustände ist durch Curven verdeutlicht. Den
Versuch Th al bi t z e r 's, auc h die Involutionsmelan¬
cholie unter die manisch-depressive Psychose zu sub-
summiren, weist Kr. zuiiick.
Nach dem kurzen Paranoiaabschnitt wird das
epileptische Irresein dargestellt. Sodann treffen wir
als die psychogenen Neurosen das hysterische Irre¬
sein, aus dem auch der G a n s e r'sehe Dämmerzu¬
stand noch nicht definitiv verbannt ist, dann die
„Schreckneurose“ und schliesslich die „Erwartungs¬
neurose“, eine Gruppe, die wohl zunächst noch nicht
viel Gegenliebe finden wird.
Unter den „originären Krankheitszuständen“, zu
denen man auch die Hysterie hätte gruppiren können,
sind die Nervosität, die konstitutionelle Verstimmung
und Erregung, das Zwangsirresein, das schwer von
letzterem zu trennende impulsive Irresein und zu
guter letzt die geschlechtlichen Verirrungen besprochen.
Weiterhin werden als psychopathische Persön¬
lichkeiten der geborene Verbrecher, die Haltlosen,
die krankhaften Lügner und Schwindler, sowie die
Pseudoquerulanten geschildert.
Als die psychischen Entwicklungshemmungen
haben Imbecillität und Idiotie im Schlusskapitel
ihren Platz gefunden. In ätiologischer Hinsicht ist
neben Syphilis, Mikrocephalie, Encephalitis, Hydro¬
zephalie, Hirnddernse, auch der Dementia praecox
gedacht, an deren Symptome ja das renitente Wesen,
die Haltungseigenthümliehkeiten. die Maniren und
Stereotypien der Idioten vielfach erinnern, wobei
freilich nicht zu vergessen ist, dass einzelne Zeichen
dieser Art, z. B. Echosymptome, auch im ganz nor¬
malen Kindesalter auftreten.
Wenn Joll\ r bei der Besprechung einer früheren
Auflage von „schwerflüssigen Stellen“ sprach, die vor
Allem bei der Form des Wahnsinns, bei den Bezieh¬
ungen zwischen Verwirrtheit und akuten sowie chro¬
nischen paranoist hen Zuständen zu finden seien, so
besteht heutzutage einer der Hauptvorzüge des
Kracpeliivschcn Svstems gerade in dem, was es aus
jenen Zuständen gemacht hat, in der scharfen Grenz¬
setzung zwischen manisch-depressiver Psychose und
Dementia praecox, in der Definition des Begriffs der
systematisirenden Paranoia und der engeren Fassung
der Amenlia. Oh auf die Dauer freilich auch jener
Rest der Paranoia unangetastet 1 »leibt, ist zweifelhaft.
Die ersterwähnte Grenzsetzung aber hat voraussicht¬
lich längeren Bestand.
Während die hier immer feiner herausgearbeitete
Diffenmtialdiagno.se bereits bei der ersten Untersuch¬
ung von 2 äusserlich vielleicht recht ähnlich erschei¬
nenden Zustandsbildern oft schon die Einreihung in
2 ganz differente Krankheitsgruppen mit relativ
sicherer Prognose erlaubt, liegt hinsichtlich der er¬
heblichsten Neuerung dieser Auflage, der ausführ¬
licheren Darstellung der psychopathischen Persön¬
lichkeiten im Kap. XIV, doch auch XII und XIII,
der Hauptwerth auf dem Umstand , dass der Blick
des Irrenarztes wieder schärfer auf die Fälle jener
Erscheinungen gelenkt wird, die sonst nur zu häufig
vor das Forum des Neurologen treten und hier
summarisch abgcurtheilt weiden.
Die Schätzung eines Buchs kann nicht von einem
Vergleich mit anderweitigen Bearbeitungen dergleichen
Materie Abstand nehmen. Hier muss nun zweifel¬
los gelten, dass das Werk die inhaltreichste Darstell¬
ung der Psychiatrie repräsentirt, mit der eindringend¬
sten Kritik den mannigfachen Dunkelheiten des Stoffes
begegnet und sich überdies durch eine geradezu
mustergiltige Anschaulichkeit der Darstellung aus¬
zeichn et. Weygan d t - Würzburg.
Wegen der Bedeutung des K ra e p e 1 i n’schen
Lehrbuches erschien es der Redaction zweckmässig,
den Fachcollegen einen Theil der von Möbius in
Schmidt’s Jahrbüchern veröffentlichten Besprechung
dieses Werkes hier wiederzugeben :
Möbius glaubt nämlich, dass das ausgezeichnete
Lehrbuch K.’s poch besser sein würde, wenn die
Kapitel etwas anders geordnet wären. „Jetzt stehen
die exogenen Krankheiten voran und zwischen ihnen
steht die Dementia praecox. Dann folgen die endo¬
genen Zustände und Erkrankungen, aber ohne er¬
kennbare Ordnung. Ob man mit dem Exogenen
oder dem Endogenen anfängt, ist schliesslich ohne
Bedeutung; da die endogenen Erkrankungen doch
den Kern der Psychiatrie bilden, so möchte ihnen
eigentlich der Voirang gebühren, aber aus Rücksicht
auf den Lehrzweck bleibt es vielleicht besser bei
dem Vorausgehen der exogenen Formen. In Hin¬
sicht auf jene ist es nun sehr begreiflich, dass der
Irrenarzt das manisch-depressive Irresein, die Ver¬
rücktheit u. s. w. zuerst bespricht, denn diese Dinge
sind sozusagen sein tägliches Brot, indessen für den
Lernenden wäre es förderlicher, wenn die „originären
Zustände“, d. h. die primären Zustände Magnan’s,
vor den Syndromen kämen. Denn die „Nervösen“,
„Degcnerirten“. „Psychopathen“ sind doch eben
einerseits das Publikum, dass die Irren liefert, sie
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420 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 42.
bilden andererseits die Brücken, die aus dem Ge¬
biete des Normalen in das eigentliche Irresein hin¬
überführen. Die Nervosität ist sozusagen der Stamm,
aus dem die Zweige des psychiatrischen Baumes
herauswachsen; dort sind die Anfänge von allen
Formen, die in ihrer Vollendung einander unähnlich
sind, noch beisammen. Geht der Anfänger durch
dieses Thor ein, so begreift er am ehesten, wie alles
unter einander zusammenhängt. Er mag dann auch
ein Verständniss dafür gewinnen, dass alle endogenen
Formen durch Uebergänge verbunden sind, dass man
im Grunde nicht sagen kann , wo das Eine aufhört
und das Andere anfängt. Das aber ist Dem am
schwersten zu begreifen, der an die strengen Unter¬
scheidungen der gewöhnlichen Medicin gewöhnt ist.
Die Reihenfolge der endogenen Formen des eigent¬
lichen Irreseins kann verschieden gewählt werden,
weil es keine natürliche Reihe giebt. Aber das geht
doch nicht an, dass die Dementia praecox von ihnen
abgetrennt ward. Diese ist von K. zwischen das
Myxödem und die progressive Paralyse gestellt
worden, weil er meint, es müsse bei ihr die Zer¬
störung des Gehirns durch giftige Ergebnisse des
Stoffwechsels stattfinden. Das kann der Fall sein,
aber müssen w'ir nicht bei allen Erkrankungen
chemische Vorgänge im Gehirn voraussetzen? Und
ist der Unterschied nicht nur der, dass die zer¬
störenden Stoffe einmal tiefgreifende grobe Ver¬
änderungen bewirken, das andere Mal aber geringe,
schwer fassbare? Die Hauptsache ist, wo das
Gift herkomme. Bei der Paralyse ist seine Ent¬
stehung an die Einführung eines Giftes von aussen
her geknüpft, bei dem Myxödem ist es die Wirkung
der Atrophie einer bestimmten Drüse. Beide Vor¬
gänge sind bei der Dementia praecox iin höchsten
Giade unwahrscheinlich. Dagegen ist es höchst
wahrscheinlich, dass der abnorme Chemismus bei
ihr auf dieselbe (uns unbekannte) Weise entsteht
wie bei den übrigen endogenen Formen, weil die
Erkrankenden von Haus aus entartet sind und weil
die Dementia praecox auf das Engste mit den
übrigen Formen durch Uebergänge verbunden ist.
Das ist am deutlichsten bei der Paranoia. Gerade
K. hat ja das Meiste, was früher in dem Paranoia-
Kasten war, in den Dementia-Kasten geschüttet,
ja er geht jetzt so weit, die Paranoia completa zur
Dementia praecox zu rechnen. Es ist wohl etwas
wunderlich, läuft aber auf Wortstreit hinaus, wenn
man nur zugiebt, dass keine prinzipielle Trennung
zwischen Paranoia und Dementia praecox möglich
ist. Von der Paranoia w-ieder geht es ohne Spalt
zu den „psychopathischen Persönlichkeiten“ und
zur Hysterie. Aber auch nach der Seite des
manisch-depressiven Irreseins sind die Uebergänge
da. K. selbst sagt (p. 234), dass er manche Formen
der Dementia praecox früher zu jenem gerechnet
habe und dass ähnliche Bilder hier wie dort Vor¬
kommen. Das manisch-depressive Irresein wieder
hängt mit den „originären Zuständen“ auf das In¬
timste zusammen. U. s. f. Bleibt man bei der
Giftvorstellung, so kann man noch sagen, wenn
einer eine grosse Menge Gift bekommen habe, so
breche er zeitig zusammen und leide an Dementia
praecox, trage er aber nur wenig und verdünntes
Gift in sich, so erkranke er später an Paranoia oder
etwa an senilen Zufällen.
An die Spitze der exogenen Formen treten am
besten die Vergiftungen durch eingeführte chemische
Stoße, weil bei ihnen die Verhältnisse am durch¬
sichtigsten sind. Dann mögen die Toxinwirkungen
bei infektiösen Krankheiten, die Organvergiftungen
(z. B. Myxödem), die Metasyphilis und die groben
Gehirnerkrankungen folgen. Schwierig ist es mit
der Epilepsie. Wahrscheinlich liegt ihr immer eine
Gehirnnarbe zu Grunde und deshalb gehört sie
eigentlich zu den groben Gehimkrankheiten. Auch
ist sie wohl immer exogener Natur, denn es ist
kaum anzunehmen, dass es wirklich eine ererbte
Epilepsie gebe. Vielmehr wird w-ohl nur das hin¬
fällige Gehirn ererbt, das dann Sitz einer infantilen
Encephalitis oder anderer Krankheiten w’ird. Aber
wie trotz der verschiedenen Ursachen der Gehim-
narbe (akute Infektion, Syphilis, Trauma, Alkohol
u. s. w.) w'egen der Uebereinstimmung der klinischen
Bilder und des Verlaufes praktische Rücksichten zur
Aufstellung Einer Epilepsie drängen, so nöthigen
diese Rücksichten auch , das epileptische Irresein an
die endogenen Formen anzuknüpfen, weil die von
Kindheit an Epileptischen gar zu viel mit den erb¬
lich Verkümmerten gemein haben. Also mag die
Epilepsie zwischen den exogenen und den endogenen
Formen stehen. Aelmliche Schwierigkeiten kehren
hei der Idiotie wieder: auch hier bewirken praktische
Rücksichten, dass das Congiomcrat erhalten bleibe,
dass degenerativer Schwachsinn , Hydrocephalus,
Porencephalie, Gehirnsklerose u. s. w. unter derselben
Firma stehen. Am besten schlösse sich daher die
Idiotie an die Epilepsie an.“
— F o r e I: Hygiene der Nerven und des
Geistes. Bibi, der Gesundheitspflege Bd. 9. (3 M.)
Stuttgart bei E. H. Moritz.
In meisterhafter Weise hat Forel das Wichtigste
über die normalen Verhältnisse des Centralnerven¬
systems wie des Seelenlebens und über die Nerven -
pathologie zusammengefasst, um daraufhin einen be¬
redsamen und überzeugenden Rathgeber für die
Hygiene des Seelen- und Ncrvenlebcns darzustellen.
Auf einzelne Lieblingsvorstellungen Forers, die
sich noch keiner ungetheilten Anschauung erfreuen,
wollen w'ir hier nicht eingehen.
Das Büchlein ist ausgestattet mit wenigen, doch
treffenden Abbildungen, nur dass in störender Weise
bei der Hirnfigur das Armcentrum die oberste Stelle
der Centralwindung einnimmt.
Als Ganzes stellt die Schrift ein geradezu genial
durchgeführtes Muster für eine gediegene Popularisir-
ung der Lehren unseres Faches dar.
Weygandt - Würzburg.
Personalnachrichten.
— Unser sehr verehrter Mitherausgeber, Herr
Privatdozent Dr. med. et phil. Weygandt ist zum
ausserordentlichen Professor ernannt worden.
□ igitized by
i’iir den icd.urtionell« n Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. llreslt-r, Lllhlnit/ ^Sch esien).
Erscheint jeden Sonnabend. — Schloss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Heynemann’sche Buchdruckerei (Gebr. Wo’ffl ir* Halle a. S.
Original fram
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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift.
Redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. B realer,
Lublinitz (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adresse: Marho Id Verlag, Halletaale. Fernsprecher 2834.
Nr. 43. 21. Januar. 1905.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die 3 spaltige Petitseile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermassigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten.
Zur Frage der Versorgung geisteskranker Verbrecher.
Von Oberarzt Dr. von Kunowski in Leubus.
1 \ yTit einigem Befremden habe ich in Nummer 41
Näckes Referat über Heilbronners Aufsatz
zu obigem Thema*) gelesen. Es ist mir nicht recht
verständlich, wie Näcke schreiben kann, dass „Heil-
bronner fast überall zu denselben Resultaten ge¬
langt“, wie er selbst. Ich finde nur in dem einen
Punkte eine gewisse Übereinstimmung beider, als
Heilbronner Adnexe für geisteskranke Verbrecher
an Irrenanstalten verwirft, während Näcke sie
nur für weniger empfehlenswert!! hält als solche an
Strafanstalten. Aber schon in der Begründung dieser
gemeinsamen Ansicht weicht Heilbronner völlig
von Näcke ab. Jener wendet sich nämlich überhaupt
gegen jede Form der Adnexe, also auch gegen die
von Näcke so warm befürworteten Adnexe an
Strafanstalten, und vertritt soipit einen dem
Näc ke’schenso ziemlich entgegengesetzten Standpunkt.
Er führt, und wie ich glaube mit Recht, aus, dass
jede Absonderung, die sich auf eine Auslese gefähr¬
licher Elemente beschränkt und diese eng zusammen¬
legt, deren Gefährlichkeit nur noch steigert und gerade¬
zu unmögliche Verhältnisse künstlich züchtet. Flügges
Schilderungen in seinem Vortrag über das Bewahrungs¬
haus in Düren **) nennt er „eine abschreckende
Illustration zu seinen Behauptungen“. In Straf¬
anstaltsadnexen, meint er, würden die vereinigten
geisteskranken Verbrecher noch grössere Schwierig¬
keiten bereiten als in den Strafanstalten selbst und
jede psychiatrische Behandlung illusorisch machen.
Diesen Adnexen scheinen ihm aber ausserdem noch
vorläufig unüberwindliche gesetzliche Schwierigkeiten
entgegenzustehen.
Ganz im Sinne dieser Ausführungen verlangt
Heilbronner weiterhin, dass die in Preussen bc-
*) Monatsschr. f. Kriminalpsychol. I. 5.
**) Allg. Zeitschr. f. Psychiatr. LXI, 3.
stehenden staatlichen Beobachtungsstationen
an Strafanstalten wirklich nur der Beobachtung
dienen sollen und nicht auch nur zeitweiliger Ver¬
sorgung als solcher erkannter und aus dem Straf¬
vollzug zu entlassender geisteskranker Verbrecher.
Sie sollen Theile der Strafanstalt selbst bleiben und
sich nicht zu Adnexen auswachsen. Nicht einmal
als Durchgangsstationen sollen sie länger als unbedingt
erforderlich in Anspruch genommen werden, um nicht
ihrer eigentlichen Bestimmung entzogen zu werden.
Hiermit vergleiche man Näckes Worte: „Dass diese
Gefängnissirrenabtheilungen, wie Heilbronner ver¬
langt, den Charakter von vorwiegenden Beobachtungs¬
abtheilungen haben sollten, wäre weniger nach meinem
Geschmack, da ich die Abtheilung eben als eine
kleine, aber möglichst vollkommen eingerichtete Irren¬
anstalt von 150—200 Personen mir denke, wohin
nicht blosse Fälle zur Beobachtung, sondern auch
zur Heilung und, wenn unheilbar, auf unbestimmte
Zeit behalten werden sollten. Sie wären also keine
blossen Durchgangsstationen, wie jetzt noch dort!“
Lässt diese zarte Andeutung einer kleinen
Meinungsverschiedenheit den Leser erkennen, dass
Heilbronner ein prinzipieller Gegner des Straf¬
anstaltsadnexes zum Zwecke der Versorgung geistes¬
kranker Verbrecher ist und diese vielmehr der
allgemeinen den Landarmen verbänden obliegenden
Irrenfürsorge überwiesen wissen will ? In Wahrheit
handelt es sich zwischen Näcke und Heilbronner
um ganz denselben Gegensatz der Meinungen, wie er
zwischen Näcke und mir zu Tage getreten ist.
Ebenso, wie jetzt Heilbronner, hatte auch ich in
Nummer 44 vorigen Jahrganges auf die technischen
Schwierigkeiten der Adnexe überhaupt und auf die
rechtlichen Hindernisse der Adnexe an Strafanstalten
im besondern hinge wiesen.
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422 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 43.
Auf Grund gleicher Erwägungen kommt Ileil-
b rönner daher jetzt auch zu dem gleichen Ergebniss,
wie ich, indem er meint, dass, wenn überhaupt eine
Absonderung platzgreifen soll, rechtlich und technisch
durchführbar nur von den Landarmenverbänden
errichtete eigene Anstalten f ü r geis t eskr an k e
Verbrecher sind, und steht damit wieder im
Gegensatz zu dem von Näcke vertretenen Stand¬
punkte. Mit mir hält er es für einen springenden
Punkt, dass solche Anstalten nicht auf eine Auslese
der gefährlichsten Elemente beschränkt bleiben, sondern
gerade durch die Hinzunahme harmloserer Verbrecher
den Betrieb als Krankenhaus ermöglichen. Er meint
geradezu, dass eine derartige Verbrecheranstalt sich
„verhältnissmässig harmlos“ gestalten Hesse und ein
gewisses Mass freier Behandlung gewähren könnte.
„Einzelne derartige Anstalten scheinen thatsächlich
befriedigend zu wirken.“
Wenn nun aber Heilbronner trotzdem letzten
Endes nicht für solche Verbrechei anstalten eintritt, wie ich
es gethan, so geschieht dies nur aus dem Grunde, weil
er überhaupt jede Absonderung für überflüssig hält.
Er glaubt, dass schon die blosse gleichmässige Ver¬
keilung der verbrecherischen Elemente über die
Provinzialanstalten genügt, um alle wesentlichen
Schwierigkeiten zu beseitigen. Die Begründung
dieser Ansicht bildet den Hauptgegenstand seiner
Abhandlung. Er ist zu ihr nicht direkt durch eigene
Beobachtung der Anstaltsverhältnisse gelangt, sondern
er hat sie indirekt erschlossen. Einerseits hatte er
Gelegenheit, an der Polizeiabtheilung der Breslauer
Gefängnissirrenanstalt zu beobachten, dass nur etwa
20% der Insassen wirklich gefährlich w r ar, während
weitere 60% der Aufreizung zugänglich erschienen.
Andererseits entnahm er einer ihm von der Leitung
des preussischen Strafanstaltswesens zugänglich ge¬
machten Statistik, dass im Zähljahr 1002/03 nur
203 geisteskranke Verbrecher aus den ö preussischcn
Gefängnissbeobachtungsstationen den Provinzialirren¬
anstalten zugeführt wurden. Indem er nun den am Bres¬
lauer Material ermittelten Prozentsatz der Gefährlichen auf
die Gesammtheit der Ueberwiesenen ausdehnt, findet
er, dass jährlich nur ein Zufluss von ca. 40 gefähr¬
lichen Verbrechern einer Gcsammtaufnahmeziffer aller
Irrenanstalten in Prcussen von ca. 10 000 gegenüb er¬
steht. Dies Verhältniss erscheint ihm, auch in An¬
betracht der Thatsache, dass die verbrecherischen
Elemente dauerndere Insassen der Anstalten bleiben
als der Durchschnitt, von vornherein nicht derart,
11m besondere einschneidende Massnahmen nöthig zu
machen.
Heilbronner hat hierbei ubersehen, dass seine
Beweisführung zw'ei bedenkliche Lücken aufweist.
Die den Provinzialanstalten aus den Beobachtungs¬
stationen zugehenden verbrecherischen Geisteskranken
bilden sicher noch nicht die Hälfte dieser Kategorie.
Mehr als die Hälfte gelangt entweder direkt aus dem
Gefängniss und der Untersuchungshaft in die Irrenan¬
stalten oder, und das ist vielleicht ein ebenso häufiger Fall,
die Geistesstörung wurde überhaupt nicht während
einer Strafhaft oder eines Strafverfahrens manifest.
Andererseits besagt die zum Vergleiche herangezogene
Gesammtaufnahmezifler nichts für die Frage Be¬
weisendes. Abgesehen davon, dass sic auch die
Privatanstalten einschliesst, sei nur daran erinnert,
dass eine ganze Anzahl Kliniken und städtische An¬
stalten auf 100 Betten gegen 1000 Aufnahmen im
Jahr haben, während in Provinzialanstalten auf 100
Betten oft nur 10 Aufnahmen kommen, und gerade
auf sie entfallen fast ausschliesslich die geisteskranken
Verbrecher. Ohne eine genaue Differenzirung sind
also solche statistischen Berechnungen werthlos
und durchaus nicht, wie Heilbronner es annimmt,
geeignet, der ganzen Frage ein festeres Fundament
zu geben. Wenn er also hiernach geneigt ist, that¬
sächlich aufgetretene Schwierigkeiten nur auf die
Anhäufung von Verbrechern in einzelnen Provinzial¬
anstalten zurückzuführen, so liegt hier verinuthlich
eine irrige Verallgemeinerung der ihm bekannten Ver¬
hältnisse der Provinz Sachsen vor, mit der die ander¬
wärts allseitig laut gewordenen Klagen im Widerspruch
stehen.
Neben seinen statistischen Berechnungen führt
Heilbronner unterstützend auch noch humanitäre
Erwägungen ins Feld. Er fürchtet, dass besondere
Anstalten für geisteskranke Verbrecher, auch wenn
man ihnen nicht eine solche Bezeichnung giebt, die
Insassen zu Kranken zweiter Klasse herabdrücken.
Hierbei geräth er aber in einen Widerspruch mit
sich selbst. Denn einerseits giebt er zu, dass das
allgemeine Wohl unbedingt voranstellen muss und
z. B. bei Quarantänemassnahmen auch gegen sozial
werthvolle Individuen Härten nöthig macht. Anderer¬
seits weiss er selbst keinen besseren Rath, als den,
einer zu grossen Anhäufung geisteskranker Verbrecher
im Nothfalle durch Zuriickversetzungen in den Straf¬
vollzug abzuhelfen. Ich meine, es giebt thatsäch¬
lich Menschen von verschiedenem gesellschaftlichen
Werth, und diese Thatsache lässt sich nicht übersehen,
sie macht sich unter allen Umständen geltend. Auch
unter andere Kranken gemischt werden Ver¬
brecher trotz humansten Strebens zu Kranken zweiter
Klasse w-erden, vielleicht mehr noch als in eignen
Anstalten. Dort werden sie immer ein Hemmniss
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1905.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
einer allgemeinen möglichst freien Behandlung bleiben
und eigene Sicherheitsmassnahmen erfordern, hier
unterscheiden sie sich nicht von ihrer Umgebung.
Wenn ich auch nie soweit gehen würde, Adnexen
an Strafanstalten das zu Wort zu reden, die trotz
des redlichsten Bemühens der ärztlichen Leitung doch
immer selbst den Charakter von Strafanstalten be¬
halten, so kann ich humanitäre Bedenken gegen
selbständige Anstalten für geisteskranke Verbrecher
innerhalb der allgemeinen Irrenfürsorge nicht theilen.
Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, als
sei Heilbronner’s Arbeit von einer ge wissen Tendenz
beherrscht. Es ist ihm anscheinend darum zu thun,
nachzuweisen, dass, im Gegensatz zu vielfach geäusserten
Forderungen, diepreussische Staatsverwaltung
keine Ver an lassun g hat, den Provinzen die
Versorgung der geisteskranken Verbrecher
abzunehmen. Die Ausscheidung könnte nicht auf
eine wissenschaftliche Begriffsdefinition des geistes¬
kranken Verbrechers als eines geschlossenen Typus
basirt werden, sie müsste vom praktischen Bedürfniss
ausgehen. Die concentrirte Anhäufung Gefährlicher
würde aber erst recht unpraktisch, wenn nicht un¬
durchführbar sein. Dagegen wären die Provinzen
recht wohl in der Lage, durch Errichtung besonderer
Anstalten, in die ,sie nach Bedarf auch Harmlosere
mit hinübemehmen, selbst mit ihren geisteskranken
Verbrechern fertig zu werden. Sow-eit ist, meiner
Meinung nach, der ganze Gedankengang unantastbar,
aber zugleich auch zum Beweise hinreichend. Damit
begnügt sich Heilbronner aber nicht, sondern wirft
auch noch die Bedürfnissfrage auf, die er selbst als
eine „interne* Angelegenheit der Provinzen be¬
zeichnet. Hiermit schiesst er über das selbstgesteckte
Ziel hinaus, das durch die Art der Negierung nur
um so merklicher wird und bei Kennern der Ver¬
hältnisse, eben den Beschwerdeführern, nur zu leicht
auch die Beweiskraft seiner tatsächlich richtigen Aus¬
führungen abzuschwächen geeignet ist.
Die Bedürfnissfrage kann nun einmal nicht rein
vom grünen Tisch aus entschieden werden, und auch
die „Kurvenpsychiatrie“ erweist sich ihr gegenüber
anscheinend als unzulänglich. Dazu bedarf es der
gesammelten praktischen Erfahrungen der Anstalten,
sowohl solcher mit vielen, wie mit wenigen geistes¬
kranken Verbrechern, vor allein aber solcher mit
möglichst freier Behandlung. Aus diesen Erfahrungen
scheint sich schon jetzt zu ergeben, dass die Zahl
der gefährlichen Verbrecher garnicht die Rolle spielt,
die ihr Heilbronner zuschreibt. In den schlesischen
Anstalten befinden sich notorisch mindestens 400
geisteskranke Verbrecher. Mögen davon auch noch
keine 20 °/ G wirklich gefährlich sein, vielleicht sind es
gar nur io°/ 0 , so genügen sie thatsächlich dennoch,
auch bei ziemlich glcichraässiger Vertheilung, um den
Charakter aller Anstalten nachtheilig zu beeinflussen.
Letzten Endes hängt eben die ganze Frage
der Absonderung mit den Zielen zusammen,
die man der Irrenpflege überh au pt stec kt.
Heilbronner hat ja insoweit ganz recht, wenn er
meint, cs Hesse sich schliesslich in jeder Anstalt
irgend eine feste Abtheilung einrichten, in der eine
beschränkte Anzahl gefährlicher Verbrecher unschäd¬
lich gemacht werden könnte. Aus eigener Erfahrung
kann ich nur sagen, dass ich verjähren in Kreuzburg
mit einer ziemlich erheblichen Anzahl dieser Elemente
ganz gut fertig geworden bin und im besonderen
stolz darauf war, durch Jahre hindurch alle gröberen
Conflicte auch mit Kranken vermieden zu haben, die
deretwegen aus anderen Anstalten dorthin versetzt
worden w f aren. Aber man lernt eben schliesslich, an
einen Anstaltsbetrieb andere Forderungen stellen, als
das blosse Schaffen eines modus vivendi. Deshalb
trifft auch Heilbronners Behauptung nicht zu,
dass man nur die jetzt allgemein herrschende Über¬
füllung der Anstalten zu beseitigen brauchte, um aller
Schwierigkeiten mit geisteskranken Verbrechern über¬
hoben zu sein. Wohl muss ich zugeben, dass sie
durch diese misslichen Verhältnisse um so fühlbarer
werden, ihre Hauptquelle haben sie aber in
der Unvereinbarkeit der betreffenden
Elemente mit den modernen Behandlungs-
p r i n c i p ie n. Wer heuzutage eine freie Behandlung,
nach Alt-Scherbitzer Muster, für ein allgemein er-
strebenswerthes Ideal ansieht, der muss auch für die
Absonderung der gefährlichen geisteskranken Ver¬
brecher eintreten. Und dass diese dann aus tech¬
nischen Gründen einen grossen Thcil der mehr oder
weniger harmlosen Verbrecher nach sich ziehen, das
ist eine Consequenz, die mit in Kauf genommen
werden muss.
Diesem innigen Zusammenhang der Verbrecher-
fragc mit der ganzen modernen Reform des Irren¬
anstaltswesens, die unseren Anstalten den früheren
Gefängnisscharacter völlig nehmen und sie zu wahren
Krankenhäusern umwandeln soll, scheint mir Heil¬
brunner nicht das richtige Verständniss entgegen
zu bringen. Darauf deuten auch seine Ausführungen
hin die Frage betreffend, in wie weit die Gemein¬
schaft mit Verbrechern von unbescholtenen Patienten
und ihren Angehörigen als anstüssig empfunden wird.
Er übeiträgt hier seine Erfahrungen aus Kliniken
und Krankenhäusern für körperlich Kranke auf die
anders gearteten Verhältnisse der Irrenanstalten.
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424
Wenn dort schon der ganze Aufenthalt nur von
vorübergehender Dauer und der Procentsatz der
Verbrecher fast unmerklich ist, so liegt der Haupt¬
unterschied doch darin, dass diese Anstalten sich
ganz allgemein im Publikum eines anderen Rufes
erfreuen als Irrenanstalten. Für diese muss alles
gethan werden, um ein thatsächlich leider noch viel¬
fach bestehendes Vorurtheil zu überwinden. Die Ver¬
[Nr- 43 -
brecherfrage spielt daher für sie in jeder Hinsicht eine
ganz andere Rolle als für alle anderen Krankenhäuser,
und das wird in noch höherem Grade als jetzt der
Fall sein, wenn erst, wie Heilbronner es wünscht,
die Beobachtungsstationen an den Strafanstalten
deren Insassen schärfer ausmustem, um alle Geistes¬
kranken dem Strafvollzug zu entziehen und sie der
Irren pflege zuzuführen.
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Dritter Bericht über die Fortschritte des Irrenwesens.
Nach den Anstaltsjahresberichten erstattet
von Dr. Deiters in Bonn, früher in Andernach.
(Schluss.)
In L a e h r ’s 50jährigem Berichte über den
Schweizerhof sind zwei umfangreiche wissenschaft¬
liche Arbeiten abgedruckt:
Hans Laehr theilt ausführlich die Kranken¬
geschichten zweier gut beobachteter Fälle von circu¬
larem Irresein mit, die von der gewöhnlichen Ver¬
laufsart dieser Krankheit nicht unwesentlich abweichen.
Die unregelmässige Aufeinanderfolge der Anfälle giebt
Anlass zu Erwägungen über das von Kraepelin auf¬
gestellte Krankheitsbild des manisch-depressiven Irre¬
seins, das L. jedoch ablehnen zu müssen glaubt.
Die wichtigste Abweichung von der Regel war die,
dass neben den manischen und melancholischen auch
noch exquisit paranoische Zustandsbilder, mit Beein¬
trächtigungswahn und Hallucinationen, sich in den
Verlauf einschoben, deren Entstehung L. psycho¬
logisch analysirt. — Die Mittheilung solcher unge¬
wöhnlich verlaufender Fälle dürfte schon deshalb von
grossem Werthe sein, weil sie darauf hinweisen, jeden
Geisteskranken als Individuum für sich zu betrachten,
mit dessen Rubricirung unter eine bestimmte Diagnose
oft wenig gewonnen ist.
Hohlfeld berichtet über eine Kranke, welche
unter dem Bilde der allmählich fortschreitenden psy¬
chischen Lähmung — Theilnahmlosigkeit, Intelligenz¬
schwäche, Benommenheit, Somnolenz — erkrankt
war und nur unbedeutende körperliche Symptome
bot: auch Kopfschmerz fehlte. Bei der Obduction
fand sich ein Fibrosarkom im Stirnhim, das von der
Dura ausgegangen und beiderseits in die Hirnsub¬
stanz hineingewuchert war.
Im Bericht der Fried matt wird ausführlich
ein höchst interessanter Fall jener eigenartigen Sprach-,
Lese- und Schreibstörung mitgetheilt, welche Wolff-
Basel schon früher beschrieben*), und zu der kürz¬
lich Förster im rheinischen psychiatrischen Verein
einen weiteren Beitrag geliefert hat. Die betr. Kranke
hatte volles Sprachversländniss. Spontan sprach sie
nur wenige Worte,' konnte aber wahrgenommene
Gegenstände benennen. Auf Frage nach Dingen,
die sie nicht sinnlich wahmahm, fand sie meist die
Antwort nicht, Eigenschaftswörter wieder leichter als
Hauptwörter. „Ist sie zur Wortfindung nur auf die
Association ihrer Gedächtnissvorstellungen angewiesen,
so ist sie häufig nicht im Stande, das Wort zu finden.“
Lesen konnte sie nur einige geläufige Haupt- und
Eigenschaftswörter und einige wenige Verba. Eine
Anzahl von Worten las sie falsch und aus ihren
Fehlem ging hervor, dass sie überhaupt nicht buch-
stabirend las, sondern das allgemeine Wortbild auf¬
fasste, das sie dann bei weniger geläufigen Worten
mit einem ähnlichen ihr geläufigeren verwechselte.
Schreiben konnte sie weder spontan noch auf Dictat,
doch schrieb sie richtig alles ab, was ihr in deutscher
Schrift vorgelegt wände. So schrieb sie auch solche
Worte, die sie nicht lesen konnte, und konnte nach¬
her auch die von ihr selbst geschriebenen nicht
lesen. Dabei malte sie nicht mechanisch die Vor¬
lage ab, sondern setzte Druckschrift in Schreibschrift
um. Von den früher beschriebenen Fällen der Art
unterscheidet sich dieser dadurch, dass es sich bei
jenen durchweg um primären Bildungsmangel han¬
delte, während diese Patientin eine früher durchaus
normale Frau war, welche durch Apoplexien im 30.
Lebensjahr (Lues? Herzfehler) den Defect erworben
hatte.
Illenau berichtet über einen Fall von Morbus
*) Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. 60.
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
425
*9<>5-]
Basedowii mit frischer Psychose, welcher mit Merck-
schen Antithyreoidinserum nach Möbius behandelt
wurde. Das Serum wurde 5 Wochen lang in stei¬
gender Dosis bis 3 mal tgl. 4,5 gegeben. „Es heilte
nicht nur die Psychose in auffallend kurzer Zeit ab,
sondern auch die objectiven Zeichen des Basedow
gingen erheblich zurück.“
Ein immer wieder viel bearbeitetes Thema ist
die Epilepsiebehandlung; alle die beständig
auftauchenden neuen Methoden finden alsbald all¬
gemeine Nachprüfung.
ZurZeit steht noch die Ri che t - Toulouse’sche
Methode im Vordergründe. Die Potsdamer An¬
stalt theilt nur kurz mit, dass man sie bei einer An¬
zahl Frauen mit günstigem Erfolge angewendet habe,
die Fortsetzung aber an dem Widerwillen der Kran¬
ken gegen die würzlosc Kost gescheitert sei.
In Schwerin wird dagegen diese Behandlungs¬
weise fortgesetzt mit günstigem Erfolge angewendet,
und manche Kranke werden schon 2V2 Jahre ohne
Unterbrechung so behandelt.
In Zwiefalten wurde die Methode in 4 Fällen
versucht; die Kranken unterzogen sich der Kur
gern, das Körpergewicht nahm zu, vorher bestandene
habituelle Kopfcongestioncn besserten sich ; die Zahl
der Anfälle nahm nicht ab, aber auch nicht zu, ob¬
gleich die Bromdosis auf den vierten Theil ver¬
ringert worden war. —*■ Auch Weissenau hat
Versuche gemacht, die aber noch nicht abgeschlossen
sind.
In Meerenberg entsprachen die Erfolge nicht
den Erwartungen, zu welchen die Erfahrungen des
Vorjahres zu berechtigen schienen.
In der Conferenz der ungarischen Irrenärzte
berichtet Bai int über sehr günstige Erfolge mit der
chlorfreien Diät, doch überwog in der daran an¬
schliessenden Discussion eine skeptische Auffassung.
Meerenberg hat auch die von v. Bechterew
angegebene Methode der Epilepsiebehandlung ver¬
sucht und günstige Erfolge gehabt. Sie besteht in
einer Combination von Brom mit Adonis vernalis
und Codein.
In Hochweitzschen hat man Versuche mit
Cerebrinum-Poehl gemacht, aber mit wenig ermuti¬
gendem Erfolge. — Ferner hat dort Prof. Schön
systematisch die Augen untersucht und in fast allen
Fällen Augenfehler gefunden, welche nervöse Be¬
schwerden machen müssen. Durch Correctur dieser
Fehler hofft er die Krankheit günstig zu beeinflussen.
E£. Forensisches.
Ueber den Umfang der gerichtsärztlichen Thätig-
keit an den Anstalten geben die Berichte kein rich¬
tiges Bild, weil ihre Mittheilungen zu verschieden¬
artig sind; sie schwanken von völligem Schweigen
bis zu ausführlicher Mittheilung der einzelnen Fälle.
Ueber Begutachtungen in civilrechtlichen
Fällen finden sich nur ganz spärliche Angaben, und
doch ist es ja bekannt, dass Entmündigungsgutachten
in den meisten öffentlichen Anstalten zum täglichen
Brot gehören. Auch darüber habe ich keine Notiz
gefunden, ob die Wirkung des vielbesprochenen
Ministerialerlasses sich fühlbar gemacht hat.
In der Regel betreffen die Entmündigungs¬
gutachten ja natürlich Kranke, welche sich bereits
in der Anstalt befinden. Aufnahme zur Beobacht¬
ung im Entmündigungsverfahren scheint ziemlich
selten zu sein. Lüneburg hatte im Jahre 1902
zwei solche Fälle, und erwähnt bei der Gelegenheit,
dass das Aufnahmereglement die Aufnahme nach
§ 656 C. P. O. gar nicht vorsieht und darum die
Genehmigung des Landesdirectors zur Aufnahme
eigens nachgesucht werden musste.
II len au giebt eine kurze Uebersicht über seine
Entmündigungen und constatirt, dass sie an Zahl
zugenommen haben, seitdem durch Ministerialerlass
bestimmt worden ist, dass nach einem Anstaltsaufent¬
halt von 9 Monaten der Staatsanwaltsc haft die Acten
mitgetheilt werden müssen, welche dann von sich
aus die Entmündigung betreibt. Ferner wird im
Illenauer Bericht darüber Klage geführt, dass „die
Kranken oft processual wie Gesunde behandelt
wurden, nicht selten zum Schaden ihrer Gesundheit“.
Gemeint ist die übliche Mittheilung des motivirten
Gerichtsbeschlusses bei Entmündigung wegen Geistes¬
schwäche; dass hierdurch manche Kranke sehr er¬
regt und geschädigt werden können, haben wir ja
alle schon erfahren. Gesetzlich vorgeschrieben ist
ja auch nur die Mittheilung der Entmündigung selbst;
in Illenau ist es in der That wiederholt gelungen,
das Gericht zu bewegen, von der Mittheilung des
motivirten Beschlusses Abstand zu nehmen.
Weiter schreibt Illenau: ,,Eigenthümlieh muthet
es auch an, wenn man manchmal tief verblödeten
Kranken gerichtliche Schreiben übergeben muss, in
denen sie zur Angabe von Beweismitteln aufgefordert
werden.“ Das hat wohl schon mancher empfunden.
Die Schreiben der Gerichte sind meist in einem Stil
abgefasst, dass schon eine besondere Sachkenntniss
dazu gehört, um sie überhaupt verstehen zu können.
Es wird nicht einmal auf das Verständniss des un¬
gebildeten Gesunden Rücksicht genommen, geschweige
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426
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 4 3 .
auf das des Geisteskranken. Man frage doch einmal
einen Bauer, was er sich unter „Beweismitteln“ denkt.
In Königslutter hat man es durchgesetzt, dass
diese Aufforderungen jetzt an die Anstaltsdirection
gesandt und dem Kranken durch den Arzt mitge-
theilt werden.
Von Ehescheidungs gutachten ist nur in
wenigen Berichten die Rede. Königslutter hat
in der ganzen Zeit 7 solche Fälle zu begutachten
gehabt; dabei sind „ausser Betracht gelassen die
nicht eben spärlichen Privatbriefe, in denen ein Ehe¬
gatte dem Wunsch, sich seiner erkrankten Ehehälfte
mit Hülfe des § 1569 zu entledigen, Ausdruck ver¬
lieh.“ Illenau theilt einen Fall mit, wo ein wegen
Geistesschwäche Entmündigter in England eine Ehe
geschlossen hatte, die dann vom heimischen Amts¬
gericht für nichtig erklärt wurde. Gegen diese Ent¬
scheidung erhob er beim Landgericht Klage und
wurde in Illenau begutachtet.
Die im Strafprocess den Anstalten zur Beob¬
achtung überwiesenen Kranken sind der Mehrzahl
nach „interessante Fälle“, d. h. in der Regel keine
typischen Psychosen, sondern Zustände, deren Auf¬
fassung zu Zweifeln Anlass giebt. Es wäre ver¬
lockend, das ganze strafrechtliche Material der An¬
stalten unter gleichen Gesichtspunkten zu verarbeiten.
Leider geht das nicht, wenigstens nicht nach unsem
Berichten. Die Angaben darin sind zu verschieden¬
artig. Vor allem ist es nur ein Bruchtheil der Be¬
richte, der überhaupt Angaben hierüber enthält. Und
unter diesen bringt wieder die Mehrzahl nur ganz
kurze Notizen.
Auffällig ist es bei Durchsicht dieser Mittheil¬
ungen, wie ungemein häufig der Alkoholismus dabei
eine Rolle spielt. Bestimmte Zahlen lassen sich bei
der Unvollständigkeit des Materials natürlich nicht
angeben. Ausserdem wird Epilepsie sehr häufig eon-
statirt und ferner psychopathische Minderwertigkeit,
Imbecillität, Degeneration; reine Psychosen viel
seltener. Bemerkenswerth ist es, dass die Mehrzahl
aller Beobachteten mehrfach vorbestraft war.
Einige Anstalten haben den Vorzug, über be¬
rühmte Fälle berichten zu können. So hatte Hil¬
de s h e i m jenen Matrosen der Loreley zu begut¬
achten, der im Piraeus einen Unterofficier ermordete,
um sich der Schiffskasse zu bemächtigen, aber nur
die Kiste mit den Schiffspapieren erwischte. Er
wurde bekanntlich nicht als geisteskrank befunden
und später hingerichtet — Rybnik beherbergt in
seinen Mauern die Frau, die in Breslau das bekannte
Attentat auf den Kaiser gemacht hat. Sie neigt
auch in der Anstalt sehr zu Gewaltthätigkeiten und
macht viel Mühe durch beständiges Drohen mit
Suicidversuchen.
Begutachtungen in Unfallsachen sind ebenfalls
nicht selten in den Anstalten. Dennoch enthalten
die Berichte wenig darüber. Die wenigen Fälle der
Art, die mitgetheilt werden, bieten nichts Bemerkens¬
werth es.
Bresler hat in seiner kürzlich erschienenen
Bearbeitung der Simulationsfrage*) die Jahresberichte'
zu Rathe gezogen, um über die Häufigkeit des Vor¬
kommens von Simulation ein Urtheil zu gewinnen.
In richtiger Erkenntniss der UnVollständigkeit dieses
Materials hat er darauf verzichtet, bestimmte Schlüsse
daraus zu ziehen, sondern hat sich damit begnügt,
die Fälle tabellarisch zusammenzustellen. Aus dieser
Zusammenstellung scheint immerhin soviel hervorzu¬
gehen, dass die Simulation denn doch etwas häufiger
zu sein scheint, als gemeinhin angenommen wird.
In der herrschenden Lehrmeinung gilt sie ja geradezu
für eine Seltenheit.
Es lag nahe, nunmehr auch die diesjährigen Be¬
richte auf diese Frage hin durchzusehen, und da er-
giebt sich denn, dass wiederum eine ganze Anzahl
Fälle von Simulation constatirt wurde.
Auf eine tabellarische Zusammenstellung möchte
ich verzichten, weil sie ja doch, von vornherein un¬
vollständig und auf verschiedenartigen Angaben be¬
ruhend, nicht viel beweisen könnte.
München theilt kurz mit: „3 Männer konnten
als Simulanten entlarvt werden.“ In Bayreuth
wurden 2 zur Beobachtung Eingelieferte „als gesunde
und geriebene Simulanten erkannt.“
In Königsfelden sind durch die Polizei 2
Simulanten eingeliefert worden, ein wegen Sittlich¬
keitsverbrechen inhaftirter, der im Gefängniss Geistes¬
störung simulirt hatte, und eine Dime, die sich im
Gefängniss bewusstlos gestellt hatte. In der Rosegg
war ein Gewohnheitsverbrecher, der im Untersuch-
ungsgefängniss in ganz plumper Weise simulirt hatte,
um in die Irrenanstalt zu kommen, aus der er leichter
entweichen zu können hoffte. Als er dort das Ent¬
weichen doch nicht so ganz leicht fand, gab er das
Simuliren bald auf.
Folgende Fälle sind etwas ausführlicher mitge¬
theilt: In Altscherbitz wurde ein Barbier beob¬
achtet, der wegen Diebstahl, Betteln, Betrug etc. etc.
mehrfach vorbestraft war, und jetzt wegen verschie¬
dener Betrügereien unter Anklage stand. Er simu-
lirte Blödsinn, wurde aber als Simulant erkannt. Ins
*) Bresler, Die Simulation von Geistesstörung und Epilepsie.
Halle a. S., Carl Marhold. 1904.
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1905.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 427
Gefängniss zurückgebracht, setzte er die Simulation
noch kurze Zeit fort, gab es dann aber auf. Im
Termin vertheidigt er sich „in raffinirt geschickter
Weise“.
Osnabrück berichtet über einen Postbeamten,
der einen Dämmerzustand vorzutäuschen suchte.
Nachdem die Kenntniss solcher Zustände ins Publi¬
kum gedrungen ist, werden solche Versuche in nächster
Zeit wohl häufiger werden. Der Mann hatte eine
grössere Summe unterschlagen und sich damit nach
Amerika begeben. Dadurch, dass seine Frau ihm
nachfolgte, kam man auf seine Spur. Zurückgebracht,
schützte er Geistesstörung vor, und versuchte in der
Anstalt mit Geschick einen Dämmerzustand zu kon-
struiren. Als das nicht gelang, versuchte er es mit
einem Tobsuchtsanfall. Dann gab er die Versuche
auf.
Nach Hildes heim wurde eine Frau gebracht,
welche wegen verschiedener Schwindeleien unter An¬
klage stand. Sie versuchte die Symptome des melan¬
cholischen Stupors vorzutäuschen, wurde aber als
Simulantin erkannt.
In Kosten kam ein Mann wegen „epileptischer
Seelenstörung“ zur Aufnahme. In der Anstalt gab
er an, dass er, um sich dem Militärdienst zu ent¬
ziehen, in den Strassen der Stadt Posen wiederholt
epileptische Anfälle simulirt habe. Man stellte in
Gegenwart sämmtlicher Anstaltsärzte eine Probe an
und es ergab sich, dass er die Anfälle geschickt und
täuschend nachzuahmen wusste.
Stephansfeld berichtet über einen Unter-
officier, der wegen schwerer Misshandlungen seiner
Untergebenen in Anklagezustand versetzt wurde. In
der Untersuchungshaft versuchte er Angstzustände
und Hallucinationen vorzutäuschen. In der Anstalt
wurde nichts krankhaftes beobachtet. Ins Gefängniss
zurückgebracht, machte er nochmals einen Simulations¬
versuch.
Erwägt man, dass nur ein Theil der Berichte
überhaupt von den zur Beobachtung Eingelieferten
spricht, so ward man nicht bestreiten können, dass
die Zahl der beobachteten Simulanten eine recht
beträchtliche ist. Ganz so selten, wie man vielfach
glaubt, dürfte die Simulation also doch wohl nicht
sein. Gewiss ist der Nachweis der Simulation in
vielen Fällen ein recht schwieriger, auch ist sicher
schon mancher Kranke fälschlich für einen Simulanten
gehalten worden. Niemand wird ferner bestreiten,
dass nachgewiesene Simulation noch keineswegs gei¬
stige Gesundheit beweist. Dennoch scheint Bresler’s
Vermuthung richtig zu sein, dass von gesunden Ver¬
brechern Simulation nicht ganz selten versucht wird,
häufiger jedenfalls, als man vielfach anzunehmen ge¬
neigt ist.
Es ist eine alte Klage, dass wir mit unsern
Anschauungen bei den Richtern so oft auf Unglauben
und Ablehnung stossen. Gewiss ist das besser ge¬
worden; das Interesse für psychiatrische* Fragen
nimmt bei den Juristen immer mehr zu, und in der
Criminalanthropologie arbeiten Mediciner und Juristen
Hand in Hand. Aber immer bleibt noch viel zu
thun. Das Verständniss für psychopathische Zustände
muss doch bei unsern Richtern noch viel allgemeiner
werden. Als Beispiel sei nur Stephansfeld citirt,
w'o im Berichtsjahre 2 4 Kranke aufgenommen worden
sind, welche nach der Erkrankung mit dem Straf¬
gesetz in Conflict gerathen waren, und 21 von diesen
24 waren bestraft worden, v. Speyr sagt in seinem
Referat über das bernische Irrenwesen im Bericht
des Vereins Schweizer Irrenärzte: „Mit unsern ge¬
richtlichen Fällen haben wir immer noch unsere liebe
Noth. Ich will den Fehler in erster Linie bei uns
Sachverständigen suchen, dass wir die Krankheit
vielleicht nicht klar und entschieden genug betonen.
Eine grosse Schuld aber muss der Einrichtung der
Geschworenengerichte zugeschrieben werden, und fast
noch mehr unsern Staatsanwälten, die eine geistige
Störung sehr ungern anerkennen und „um des Bei¬
spiels wällen“ durchaus auf Bestrafung ausgehn. So
kommt es immer wieder vor, dass vollkommen un¬
zurechnungsfähige Kranke mit oder ohne Annahme
von verminderter Zurechnungsfähigkeit verurtheilt
werden.“
Der Verein Schweizer Irrenärzte hat sich mit
dieser Angelegenheit befasst und auf einen Vortrag
von Frank hin nach lebhafter Discussion sich auf
bestimmte Postulate geeinigt. Das erste lautet: „Wir
müssen verlangen, dass bei der Ausbildung der Ju¬
risten die Psychologie und Psychiatrie soweit berück¬
sichtigt worden, dass sie als Richter befähigt sind,
den Verbrecher wissenschaftlich zu verstehen und
fachmännische Gutachten zu würdigen. Es sollten
hierzu die Anstaltsdircctorcn, besonders natürlich die
Universitätsprofessoren, besondere practische Curse
ertheilen, wie dies durch Kraepelin in Heidelberg
schon geschieht.“ In Genf ist man denn auch als¬
bald dazu geschritten, psychiatrisch-klinischen Unter¬
richt für Juristen einzurichten und in Zürich ist eine
juristisch-psychiatrische Vereinigung entstanden, „wel¬
cher ca. 40 Richter, Strafuntersuchungsbeamte, An¬
wälte, Docenten der juristischen Fakultät, Psychiater
und Bezirksärzte angehören.“
Solche Vereinigungen sind wohl das beste Mittel,
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HARVARD UNiVERSITY
428
um zu gegenseitigem Verständniss zu gelangen.
Gegenseitig muss dieses sein, denn so gut, wie wir
vom Richter psychiatrisches Verständniss fordern,
ebensowohl muss der Sachverständige mit den Er¬
fordernissen geordneter Rechtspflege vertraut sein.
In Deutschland sind ja seit einigen Jahren mehrere
solche Vereinigungen entstanden und finden viel
Anklang. Wir dürfen hoffen, dass sie sich noch
vermehren werden.
Die Unterbringung der geisteskranken Verbrecher
ist immer noch ein Schmerzenskind unserer Irren¬
fürsorge. Die übliche Methode, sie einfach in die
öffentlichen Irrenanstalten aufzunehmen, führt zu
Missständen, die in unseren Berichten beredten Aus¬
druck finden. Der Blüthenlese derartiger Aeusser-
ungen, die ich im vorigen Jahre wiedergab, kann ich
in diesem Jahre eine ähnliche an die Seite setzen.
Nach Dalldorf kommen so viele, „dass sie in ge¬
fahrdrohender Weise sich wieder ansammeln“. Nach
Herz berge werden sie „in einer solchen Menge
überwiesen, dass ihre Unterbringung fortdauernd auf
fast unüberwindliche Schwierigkeiten stösst“. Weil-
münster schreibt: ,,Das Anwachsen der Zahl der
verbrecherischen Kranken auf der Männerseite, von
denen naturgemäss die wenigsten zur Entlassung
kommen und deren Dislokalisation bei der immer
mehr überhand nehmenden Ueberfüllung der Anstalt
sich stets schwieriger bewerkstelligen lässt, etc. . . .,
machen sich in störender Weise bemerkbar.“
Dass in einer neuen ganz offen angelegten An¬
stalt solche Elemente besonders störend sind, ist be¬
greiflich. Treptow hat bereits eine grosse Anzahl
solche Elemente: „durch häufige Versetzungen, durch
zeitweilige Bettbehandlung der schlimmsten Elemente,
durch möglichst eingehende psychische Behandlung
einzelner und Freiheitsgewährungen, sofern solche
irgendwie gewagt werden konnten, ist es in der Be¬
richtszeit noch gelungen, grösseres Unheil zu ver¬
meiden. Doch nimmt die Ueberwachung dieser
unverbesserlichen Elemente und die Ueberlegung,
wie ihren Ausschreitungen zu begegnen ist, ohne
dass Isolirung angewendet wird und der freie Cha¬
rakter der Behandlung in der Anstalt leidet, für
Aerzte und Pflegepersonal zeitweise eine unverhältniss-
inftssig grosse Zeit in Anspruch, die für andere Pflege-
und Heilzwecke verloren geht.“ Unwillkürlich fragt
man sich, ist es wirklich am Platze, diese Zeit für
andere Zwecke verloren gehen zu lassen, nur um
bei Verbrechern die Isolirung zu vermeiden ?
In JC o nr ad st 4 ei n , das eine grosse Anzahl
solcher Kranken beherbergt, die seit der Einrichtung
der Untersuchungsstation am Zuchthause zu Grau-
[Nr. 43-
denz noch zugenommen hat, kam es gar zu einei
Revolte, bei der mehrere Wärter verletzt wurden.
Beachtenswerth ist folgende Aeusserung der An¬
stalt Münster: „Da die Unterbringung dieser geistes¬
kranken Strafgefangenen in eine öffentliche Irrenan¬
stalt in der erheblich vorwiegenden Mehrzahl der
Fälle erst dann erfolgt, wenn nach Dauer und Form
der Erkrankung eine Heilbarkeit als ausgeschlossen
anzusehen ist, so dürfte es im Interesse dieser Straf¬
gefangenen selbst liegen, sie in der Irrenabtheilung
der Strafanstalt solange zu belassen, bis die Strafzeit
verbüsst ist. Die Unterbrechung der Strafhaft ist
für den geisteskranken Strafgefangenen jedenfalls un¬
günstig, da, falls er wieder strafvollzugsfähig wird,
der Wiederantritt der Strafe und die Inaussicht¬
stellung einer solchen überhaupt nur nachtheilig auf
ihn wirken kann. Die geisteskranken Strafgefangenen
kennen die Dauer ihrer Strafzeit meist ganz genau,
sind aber für ihre Erkrankung, für den Grund ihrer
Verbringung in die öffentliche Irrenanstalt gewöhn¬
lich uneinsichtig, und glauben die ihnen restirenden
Strafen in der Letzteren abbüssen zu können.
In dieser irrigen Voraussetzung befangen, betonen
sie häufig schon Monate vorher den Tag ihrer Ent¬
lassung und regen mit ihren oft drohenden Aeusser-
ungen die übrigen Kranken in ihrer Umgebung auf.
Würden diese Strafgefangenen, deren verbrecherischer
Charakter schlimmer ist als die bei ihnen bestehende
Psychose, und deren Beaufsichtigung in den üflent-
lichen Heilanstalten mit vielen und grossen Schwierig¬
keiten verknüpft ist, erst nach Abbüssung der Straf¬
haft in die Heilanstalt kommen, so würde diese
schliessliche Unterbringung bei ihnen das Krankheits¬
gefühl wecken und günstig beeinflussen können, und
der von ihnen stets vorgegebene Grund, dass mit
Ablauf der Strafzeit auch die Entlassung aus der
Anstalt erfolgen müsse, in Fortfall kommen. Die
Aussicht, die verbliebene Strafzeit noch abbüssen zu
müssen, muss sowohl auf die Besserungsfähigen, wie
auch auf die unheilbaren geisteskranken Stiafgefange-
nen höchst ungünstig einwirken.“
Schleswig tritt für besondere Abtheilungen an
Strafanstalten ein: „Wie im vorigen Jahre, lag die
schwierige Behandlung der geisteskranken Verbrecher,
deren Zahl sich in den letzten Jahren verdoppelt
hat, wie ein Druck auf der Anstalt; eine freie, den
heutigen Anschauungen entsprechende Behandlung
aller geisteskranken Männer wird erst möglich werden
nach Entfernung jener gefährlichen Elemente. Wie
fast in allen andern Provinzen, drängt diese Sachlage
darauf hin, im Anschluss an Straf- oder Corrections-
anstalten besondere Gebäude für geisteskranke Ver-
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
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1905.]
brecher zu errichten; diese Losung würde auch für
unsere Provinz die beste sein.‘ £
In Ungarn besteht eine solche Einrichtung am
Sammelgefängniss zu Ofen-Pest. In der Conferenz
ungarischer Irrenärzte hat Moravcsik, der Leiter
dieser Abtheilung, sich durchaus befriedigt darüber
ausgesprochen.
Es giebt ja auch in Preussen bereits eine ganze
Anzahl von Irrenabtheilungen an Strafanstalten; doch
sind diese noch bei weitem nicht zahlreich genug,
um alle geisteskranken Verbrecher darin unterbringen
zu können. Auch ist ja die Staatsbehörde vorder¬
hand noch gänzlich abgeneigt, diese Aufgabe zu
übernehmen. Brandenburg theilt mit, dass man
429
auf der Landesdirectorenconferenz beschlossen habe,
einen entsprechenden Antrag an den Minister zu
stellen und damit die Provinz Brandenburg zu be¬
trauen.
Vorderhand sind noch die Provinzen darauf an¬
gewiesen, die geisteskranken Verbrecher unterzubringen,
so gut es gehen will, und die meisten haben sie ein¬
fach in den gemeinsamen Anstalten. Das rheinische
Bewahrungshaus bei der Anstalt Düren, das ja an¬
fangs ungemeine Schwierigkeiten machte *), functionirt
jetzt zur Zufriedenheit.
*) cf. Flügge, Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. 61.
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Mittheilungen.
— 35. Versammlung der südwestdeutschen
Irrenärzte in Freiburg i. B. am 29. und 30.
October 1904. Referent: Dr. Kr a uss-Kennenburg.
(Schluss.)
11. Dr. Wilm an ns- Heidelberg: Das Land¬
streicherthum, seine Verhütung und Be¬
kämpfung.
Wir stehen dem professionellen Vagabondenthum
ziemlich machtlos gegenüber. Kurze Haftstrafen und
Nachhaft haben keinen Einfluss darauf gehabt. Das
Fürsorgewesen (Verpflegungsstationen, Wanderarbeits¬
stätten und Arbeiterkolonien) hat seinen Zweck, die
Unterstützung des mehr oder weniger vollwerthigen
und arbeitswilligen Arbeitslosen, verfehlt. Die Aus¬
nutzung dieser Einrichtungen durch Gewohnheits¬
und professionelle Bettler hat ihnen allmählich einen
Charakter verliehen, der die besseren Arbeiterelemente
ihnen entfremdet, so dass sie jetzt vorzugsweise von
mehr oder weniger erwerbsunfähigen und den gröss¬
ten Theil des Jahres auf fremde Unterstützung an¬
gewiesenen, meist vorbestraften Persönlichkeiten auf¬
gesucht werden.
Eine wirksame Verhütung und Bekämpfung kann
nur auf Grund genauerer Kenntniss des Landstreichers
und der Ursachen für die Vagabondage eingeleitet
werden.
Der Vortragende spricht sodann über die gei¬
stigen und köq^erlichen Defecte der im Arbeitshause
detinirten Corrigenden, über den Einfluss von mangel¬
hafter Erziehung und Ausbildung, die Wechselbe¬
ziehungen zwischen Alkoholismus und Vagabondage,
die sociale Lage und Arbeitsgelegenheit für vermin¬
dert Erwerbsfähige und Gelegenheitsarbeiter, über die
Beziehungen zwischen Verbrecherthum und Vaga¬
bondenthum, über die Gelegenheits-, die Gewohn-
heits- und die professionellen Bettler und endlich
über die Ursachen für die mangelhaften Resultate
der Zwangserziehung und der Fürsorgevereine für
entlassene Gefangene.
Als Mittel zur Bekämpfung und Verhütung des
professionellen Landstreicherthums schlägt der Vor¬
tragende vor: Reform der Fürsorge- und Zwangs¬
erziehung unter psychiatrischer Leitung, Bekämpfung
des Alkoholismus, Verwahrung der Unverbesserlichen
in ihrem Defecte entsprechenden Anstalten. Erst
nach Elimination der Unverbesserlichen wird die Arbeits¬
losigkeit, insbesondere durch die Arbeitslosenversicher¬
ung, mit Erfolg bekämpft werden können.
Der Vortrag erscheint ausführlich in der Monats¬
schrift für Criminalpsvchologie und Strafrechtsreform.
(Autoreferat.)
12. Professor Dr. Pf ist e r-Freiburg: Ueber
Störungen des Schlafes.
Pf. giebt eine kurze Uebersicht über unser Wissen
von den physiologischen Ursachen, Begleiterschein¬
ungen, der Psychologie, Anatomie etc. des Schlafes,
weist hin auf die Nothwendigkeit neuer Material¬
sammlung , psychologischer und anatomischer Vor¬
arbeiten, die erst ein systematisches Zusammenarbeiten
der verschiedenen naturwissenschaftlichen Disciplinen
zum Studium des normalen und patholog. Schlafes
ermöglichen werden, und berichtet dann über seine
klinischen und statistischen Untersuchungen einzelner
Anomalien des Einschlafens, Erwachens sowie ge¬
wisser Störungen und abnormer Begleiterscheinungen
des Schlafes selbst. Darnach haben die sog. h,yp-
nagogen Sinnestäuschungen (zumeist richtiger als
Urtheilstäuschungen des einschlafenden Bewusstseins-
organs über die Intensität lebhafter Erinnerungs- und
Phantasiebilder anzusehen) keine pathologische Be¬
deutung, sofern sie nur gelegentlich, nach schwächen¬
den Einflüssen, insbesondere starker Inanspruchnahme
eines Sinnes, auftreten. Zeigen sie sich dagegen
ohne derartige Veranlassungen, mehr chronisch (habi¬
tuell) in einem oder mehreren Sinnen, zeigen sie
besondere Stärke oder Hartnäckigkeit (Zwangscha¬
rakter), wie bei degenerativen Zuständen des Central¬
nervensystems, constitutioneller Neurasthenie, Hysterie
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HARVARD UNiVERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 43.
430
besonders der Fall, so beruhen sie offenbar auf,
wenn auch leichtesten, functioneilen Schwächezu¬
ständen, einem abnormen Erethismus der betr. Sinnes¬
region, und können daher als neuropathisi hes Stigma
betrachtet werden.
Zähneknirschen, Kau-, Augen-, Kopfbe-
wegungen im Schlafe, Schlafspr erben finden
sich in der Vorgeschichte nicht ausgesprochen Er¬
krankter, sowie derjenigen aller möglicher Hirn- und
Nervenleiden. Wohl 90% des Materials waren er¬
heblich erblich belastet, gut die Hälfte bot constitu¬
tioneil neurasthenische Züge, ein Drittel litt an Epi¬
lepsie oder hatte wenigstens in directer Ascendenz
Epilepsie. Bei einer geringen Zahl der Fälle treten
die abnormen Erscheinungen nur sporadisch, kurz¬
dauernd, gewöhnlich in nachweisbarem Zusammen¬
hang mit schwächenden Momenten (nach Krank¬
heiten, lebhaften Gemüthsbewegungen etc.) auf. In
der Mehrzahl der Fälle handelte es sich um ein
mehr chronisches Vorkommen, das vornehmlich im
Kindesalter und während der Pubertät constatirt
wurde; auf der Lebenshöhe sind die Störungen
seltener. Sie häufen sich wieder im Rückbildungs¬
alter. Schlafbewegungen, Schlafsprechen finden sich
dann auch in den (neurasthenischen) Prodromal¬
perioden organischer Hirnkrankheiten, insbesondere
solcher infolge Erkrankungen der Hirngefässe. —
Schlafha n d e I n (Gestikuliren , Aufsitzen, Aufstehen
im Schlaf) und Schlafwandeln kommen vom frühen
Kindesalter an, insbesondere zwischen 14. und 30.
Lebensjahre, meist nur sporadisch, in der Pubertät,
nach erschöpfenden Einflüssen (Infectionskrankheiten
etc.) auch gehäuft vor. Scheinbar stets erheblich
belastete Individuen. Zwei Drittel der Fälle boten
unverkennbar hysterische Züge, ein kleiner Theil
war epileptisch. Die weiblichen Kranken überwiegen.
Von den mit Pa vor nocturnus behafteten,
bezw. behaftet gewesenen Individuen war dagegen
weitaus die Mehrzahl nachweisbar epileptisch' oder
hatte Epilepsieanfälle in der Ascendenz und nächsten
Seitenverwandtschaft: ein Fünftel bot hysterisch
degenerative, noch ein kleinerer Theil konstitutionell
neurasthenische Züge. Ucber die Pubertät hinaus
scheinen ausgesprochene Anfälle nur bei Epileptikern
vorzukommen, z. Th. sehr gehäuft zu gewissen Zeit¬
perioden (oflenbar im Zusammenhang mit Intensitäts¬
schwankungen des epilept. Hiinzustandes).
Vortr. berichtet dann weiter über neue Beob¬
achtungen von E n 11 res i s n o c turna - Fällen und
Störungen des Kr Wachens (spec. verzögerten psycho-
m« »t« »iis( hem Erwachen ), die seine in der Monatsschr.
f. Psychiatr. u. Xcirolog. 1904, sowie Berl. klin.
Wochenschr. 19.03 niedergelegten Anschauungen be¬
stätigen und ergänzen. (Autoreferat.)
D i s c u s s i o n :
Dt. Wevgandt möchte als Symptom nervöser
Erschöpfung auch das vorzeitige psychomotorische
Einschlafen ansehen. Hinsichtlich der Schlummer¬
bilder spielen wohl die Gesichts- und Gehörssphäre
die grösste, aber nicht die einzige Rolle; auch andre
Sinnesgebiete können betheiligt sein.
Director Fra n k-Münsterlingen verspricht sich
wesentliche Aufschlüsse von der Hypnose.
13. Dr. E. B e y e r - Litteweiler : Ueber die Be¬
deutung früher Heirath für die Entsteh¬
ung nervöser Erkrankungen der Frauen.
Im Eheleben kommen als Schädlichkeiten nicht
nur die körperlichen Geschlechtsfunktionen in Betracht,
sondern auch die psychischen Momente (Differenzen
mit dem Gatten, Kummer etc.). Frühzeitige Ehc-
schliessung vor vollendeter Reife vermehrt wegen
der geringeren Widerstandsfähigkeit die Aussichten
auf ungünstigen Einfluss jener Schädigungen. Hinaus¬
schieben der Ehe ist aber rathsam auch deshalb,
weil Psychosen und Neurosen beim weiblichen Ge¬
schlecht überwiegend gerade um das 20. Lebensjahr
beginnen, also gewissermaassen als Quarantäne. In
manchen Fällen ist frühes Heirathen selbst schon
Folge psychischer Abnormität (Schwärmerei, Exaltirt-
heit etc.). Prophylaktisch wichtig ist die Beachtung
solcher nervöser Anomalien, weil durch die ehrt mi¬
schen Neurosen, Neurasthenie, Hysterie etc., das Ehe¬
glück und Familienleben viel gründlicher und nach¬
haltiger zerstört wird, als durch acute Psychosen,
nach deren Ueberstehen die Frau wieder völlig ge¬
sund ist. (Autoreferat.)
Discussion:
Dr. Ransohoff, Med.-Rath Dr. Kreuser.
Die Versammlung beschliesst nächstes Jahr in
Karlsruhe zu tagen und wählt Professor Dr. N i s s 1
und Dr. Neu mann, Karlsruhe, zu Schriftführern.
— Verein Bayerischer Psychiater. Die dies¬
jährige Jahresversammlungfindetam Pfingstdienstag, den
13. Juni und Mittwoch, den 14. Juni er. in der Psychia¬
trischen Klinik zu München statt. An die Verhand¬
lungen wird sich auf Einladung des Herrn Prof. Dr.
Kräpelin eine Besichtigung der Klinik und ihrer
wissenschaftlichen Einrichtungen anschliessen. Die
Anmeldung von Vorträgen wird spätestens bis 20.
April er. an den Unterzeichneten (p. a. Kreis¬
irrenanstalt München) erbeten.
München, 1 1. Januar 1003.
Der Vorsitzende:
Dr. Vocke.
— Zu: ,,Die Unterhaltung und Erheiterung
der Kranken“ in Nummer 40 der Wochenschrift.
Zu der ebenso interessanten wie dankenswerthen
Anregung des Herrn G »liegen Sn eil möchte ich
bemerken, dass ich, obwohl meine Privatklinik für
Nervenkranke und Kranksinnige sehr nahe von
Frankfurt a. Main liegt, auch schon oft den Mangel
einer „Organisation für passende Vergnügungsdar¬
bietungen“ empfunden habe. Als ich noch in Jena
war, hat die dortige Direction der Irrenklinik selbst
grosse Opfer nicht gescheut, um eine gute Sänger-
gesellschaft („Koschatsänger unter Jacob Domhofer“)
für einen Abend zu gewinnen. Wer mit erlebte, wie,
selbst stumpfere Kranke tagelang vorher sich freuten
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1905.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 431
um oft noch länger über das Genossene zu sprechen,
der bedauerte, dass vor allem aus Mangel an geeig¬
neten Anerbietungen den Kranken nicht öfter eine
solche Freude bereitet werden konnte. Sänger, wie
die Damhofergcsellschaft, sind theuer; ein Abend
kostet 80—130 M. Wüsste eine solche Vereinigung,
dass sie in regelmässigen Intervallen in einer Reihe
von Anstalten auftreten, diese auf ihren Kunstreisen
gewissermassen „einschieben“ könnte, dann würden
sie auch billigere Preise verlangen. Und ich kenne
manchen grossen Künstler, der auch aus Menschen¬
freundlichkeit seine Kunst in den Dienst unserer
dankbaren Kranken stellen würde, wenn er von einer
im Snell’schen Sinne zu gründenden Vertretung
hiezu gebeten würde.
Ad. Fried län der (Hohe Mark.)
Wir bitten die Herren Collegen um recht baldige
weitere Aeusserungen zu diesem Gegenstand. Red.
Referate.
— Dr. Magnus Hirschfeld: Das Erg eb¬
niss der statistischen Untersuchungen
über den Procentsatz der Homosexuellen.
Leipzig. Verlag von Max Spolir. 1904.
An Hand der Littetatur weist der auf diesem
Gebiete schriftstellerisch bekannte Verf. nach, dass
alle bisherigen Untersuchungen und Schätzungen über
die Zahl homosexuell veranlagter Personen mehr
oder weniger auf unzuverlässigen Vermuthungen be¬
ruhen. Um sichere, statistische Resultate zu er¬
langen, hat er zwei Methoden angewendet, die der
Stichproben und die der Rundfragen. Zu Stich¬
proben wählte er 30 nicht zu kleine Gruppen von
männlichen Personen der verschiedensten Stände,
die er auf das Vorhandensein von Urningen aufs
Genaueste erforschen tiess. Hierbei erhielt er unter
6611 Personen 132 Homosexuelle — 1,99%. Um¬
fragen veranstaltete er zuerst bei der Studentenschaft
der Charlottenburger Hochschule. Es ergab sich, dass
unter ibqo Studenten 04% heterosexuell, 1,5% homo¬
sexuell, 4,5% bisexuell, 6% abweichend veranlagt
waren. Bei einer Rundfrage unter den Metallarbei¬
tern Berlins bekannten sich unter 1912 Personen
vorwiegend oder rein homosexuell 1,75 °/o. Hierzu
verwerthet er eine Enquete, die v. Römer vor 2
Jahren unter Amsterdamer Studirenden veranstaltete.
Es fanden sich 94,1% Heterosexuelle, 1,9% Homo¬
sexuelle, 3,0% Bisexuelle und 5,8% abweichend
Fühlende. Als Durchschnittszahl aus den Stichproben
und Umfragen ergiebt sich für rein oder vorwiegend
Homosexuelle 2,2%. Verf. nimmt an, dass diese
Zahl sowohl für alle Lebensalter, für beide Ge¬
schlechter, wie für alle Völkerrassen zutrifft. Das be¬
deutet, dass allein in Deutschland 1 Vs Millionen
Homosexuelle leben. Zum Schlüsse giebt Verf. eine
Schätzung über die Häufigkeit der Bethätigung des
gleichgeschlechtlichen Triebes im Vergleich zu den
Bestrafungen und damit über die Unwirksamkeit des
$ 175 R. Str. Gb. Denn von den Thätcrn würden
jährlich höchstens 0,2 ü ,o , von den Thatcn 0,001 °/o
bestraft. Diese Thatsache bilde insbesondere einen
Grund zur Aufhebung des § 175, zumal überhaupt
die Strafbarkeit homosexueller Handlungen zweifel¬
haft sei. Dem eifrigen Forschen und Streben des
Verfassers in dieses bisher noch recht dunkele Ge¬
biet trotz aller Anfeindungen verständnissloser Igno¬
ranten wissenschaftliche Klarheit zu bringen, ist
psychiatrische:seits auch fernerhin der beste Erfolg
zu wünschen. Dr. Fritz Hoppe, Tapiau.
Einer unserer Herren Mitarbeiter hat die Hirschfeld-
sehe Schrift einem erklärten Homosexuellen zur Kritik
übergeben und daraufhin folgende bemerkenswerthe
Aeusserung erhalten:
Sit venia verbo.
Um den Procentsatz der Homosexuellen wenig¬
stens annähernd richtig feststellen zu können, müsste
sich das wissenschaftlich-humanitäre Comite schon
entschliessen, die bewussten Enqueten entweder in
Italien oder wenigstens in jenen Ländern zu ver¬
anstalten, in denen der Code fran^ais noch zu Recht
besteht. In Ländern, w'o die sog. Unzucht wider
die Natur nur dann ein gesetzlich zu ahndendes
Delikt bildet, wenn sie zugleich auch ein outrage
public a la pudeur verursacht, ist es eben weit un¬
bedenklicher, sich als Homosexuellen zu bekennen,
als in Deutschland oder gar in Oesterreich. Dies
muss ja doch Herrn Dr. Magnus Hirschfeld selbst
klar werden, wenn er die fünf sehr verfänglichen
Fragen, die Herr Dr. v. Römer in Amsterdam
völlig unbeanstandet einer Corporation von
505 Studenten vorlegen konnte, mit den relativ
harmlosen Fragen vergleicht, die das Substrat einer
Anklage wider ihn (Dr. Hirschfeld) bilden. Die Er¬
mittlung und Zusammenstellung der in seinem Neuesten
Werke „das Ergebniss der Statist. Untersuchungen
über den Procentsatz der Homosexuellen“ angeführ¬
ten Daten hat Herrn Dr. Hirschfeld zweifellos sehr
viel Mühe gekostet; nichts desto weniger steht das
Resultat der gepflogenen Erhebungen in keinem Ver¬
hältnisse zu dem vorangegangenen Aufgebote von
Fleiss und Geldkosten. Die auf Seite 17 — 26 an¬
geführten Stichproben sind von geringem Werthe,
da in jeder derselben der Zufall eine grosse Rolle
zu spielen scheint. Zudem differiren die Angaben
zwischen 1 °/o und 5,75%! Es ist z. B. gewiss ein
seltener Fall, dass sich unter 52 vierzehnjährigen
Bürgerschülern 3 homosexuelle befinden (Stichprobe
XXII).
Noch grössere Vorsicht ist gegenüber den „Bi¬
sexuellen“ geboten. Neunzig Procent derselben
können mit ruhigem Gewissen den Heterosexuellen
und die restlichen zehn Procent den Homosexuellen
zugezählt werden. Sie liefern das weitaus grösste
Contingent zur männlichen Prostitution und es kann
wohl von keinem derselben behauptet werden, dass
er unter einem unwiderstehlichen Zwange handle.
Wer sich ohne Horror beiden Geschlechtern zur
Verfügung stellen kann, ist bei keinem derselben so
engagirt, dass er eventuellen Lockungen nicht wider¬
stehen könnte.
Uebrigcns kommt es bei Beantwortung der Frage,
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432 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 43
ob § 175 des deutschen, resp. § 129 des österr.
Strafgesetzes, aufgehoben werden soll, darauf gar
nicht an. Die meisten Juristen sind darüber einig,
dass durch den (einverständlichen) homosexuellen
Verkehr zweier erwachsener Personen keines Dritten
Rechte verletzt werden. Die hervorragendsten Aerzte
verschliessen sich der Erkenntniss nicht, dass der
gleichgeschlechtliche Verkehr nicht schädlicher wirkt,
als die solitäre Onanie oder gewisse von zwei Per¬
sonen verschiedenen Geschlechtes begangene wider¬
natürliche Akte, ja dass sogar der heterosexuelle
Verkehr bisweilen ärgere Uebelstände (Lues, Kinds¬
mord , Abtreibung der Leibesfrucht) zeitigt als der
homosexuelle. Schliesslich lehrt die Statistik, dass
in jenen Ländern, in denen gegenwärtig der homo¬
sexuelle Verkehr gestattet ist, die Anzahl der Ehe¬
schliessungen und Geburten deswegen nicht abge¬
nommen hat.
Uebrigens wird kein Gesetz die (ab origine) Homo¬
sexuellen zur Ueberzeugung biingen, dass das andere
Geschlecht in körperlicher und geistiger Hinsicht
dem eigenen gleichwerthig sei. Und hierin
liegt doch der Kernpunkt der ganzen homosexuellen
Frage.
— Dr. v. Mako witz, Präs.-Secr. O.-L-G. Inns¬
bruck : Ein Beitrag zur Casuistik der Schlaf¬
trunkenheit. Arch. f. Orim.-Anthrop. 1904.
Der Angeklagte T. w’ar, nachdem er Tags über
ca. 2 V2 Liter Wein getrunken hatte, Abends ange¬
heitert mit einem Unbekannten in Streit gekommen
und aus der Wirthsstube hinausgeworfen, nachträglich
aber von dem ängstlichen Wirth in ein Zimmer mit
2 Betten für die Nacht untergebracht worden. Dort
war er nach 1 U St. eingeschlafen. 2 St. später, ca.
9V2, wurde einem dem T. unbekannten Arbeiter das
zweite Bett eingeräumt, die Wirth in will etwas später
gelegentlich in der Kammer einige sprechen gehört
haben. Als sie wieder ins Erdgeschoss zurückgekehrt
war, schrie T. um Hilfe; und die hinaufeilenden Leute
fanden auf dem nicht benutzten Bette den halb-
angekleideten Italiener todt, mit einer Stichwunde im
Herzen. Das umgestürzte Nachtgeschirr lag auf dem
Boden. T. w’ar verzweifelt und betheuert von Nichts
zu wissen. Die Geschworenen nahmen Ueberschreit-
ung der Nothwehr an; das Gericht erkannte auf
leichte Arreststrafe.
Vf. weist nun nach, dass hier ein klassischer
Fall von S. vorliegt. Nach Alkohol ca. 1 V 2 Stunde
im tiefen Schlafe sieht sich T., aufgeweckt durch das
Geräusch des Eintretenden, einem Unbekannten
gegenüber. Desorientirt hält er ihn für einen der
früheren Angreifer, gegen den er sich zu vertheidigen
hat. Letzterer, ein mit einem Sprachfehler behafteter,
gutmüthiger Mensch, hatte sich möglicherweise um
das Nachtgeschirr gebückt und dem T. etwas zuge¬
rufen, was dieser missverstand , sofort aufsprang und
mit dem Taschenmesser zustiess. Darauf kam T.
zur Besinnung und, entsetzt, bot er nun das Bild
eines vor etwas Unfassbaren gestellten Menschen.
Ein Anhalt für vorausgegangenen Streit w r ar nicht
gegeben; auch Volltrunkenheit nicht behauptet. Un¬
geachtet der nicht vollkommen sch liessenden Beweis¬
kette wird, wie Vf. mit Recht sagt, der Gerichtsarzt
hier und in ähnlichen Fällen die Annahme der
Schlaftrunkenheit z. Z. der That verantworten können.
Hermann Kornfeld.
Preisarbeit
des Vereins abstinenter Aerzte des Deutschen Sprach¬
gebietes.
Das Preisausschreiben des „Vereins abstinenter
Aerzte vom Jahre 1903 hat ein Ergebniss von be¬
deutendem wissenschaftlichen Werthe gehabt. Von
den eingegangenen experimentellen Arbeiten „über
die Einwirkung des Alkohols auf das
Warmblüterherz“ bedeutet nach dem Urtheil
der drei Preisrichter, Prof. Dr. Hans Meyer in Mar¬
burg, Prof. Dr. Rosemann in Bonn und Dr. Georg
Keferstein in Lüneburg, die des Herrn Dr. Martin
Kochmann in Gent (Belgien) einen entschiedenen
Fortschritt in unserer Kenntniss der Herzwirkung des
Alkohols und ist mit dem ausgesetzten Preise gekrönt
worden.
Eine zweite Arbeit von Herrn Oswald Loeb,
gepr. cand. ined. in Heidelberg, die das gestellte
Thema in engerer Umgrenzung bearbeitet, ist gleich¬
falls ein wissenschaftlich werthvoller, an sich preis¬
würdiger Beitrag zur gestellten Frage, dem die Ver-
einsver'Sammlung auf Antrag der Preisrichter einen
Nebenpreis zuerkannt hat. Die beiden Arbeiten
werden in Kürze von ihren Verfassern in der Fach¬
presse veröffentlicht werden Eine endgültige Ent¬
scheidung der behandelten Frage ist aber auch durch
diese Arbeiten, die zum Theil sich widersprechende
Ergebnisse haben, nicht herbeigeführt. Ihre wissen¬
schaftliche Bedeutung erleidet dadurch jedoch keinen
Abbruch.
Der Erfolg dieses Preisausschreibens hat den
Verein abstinenter Aerzte veranlasst, auf seiner letzten
Jahresversammlung in Breslau am 21. Sept. 1904 vier¬
hundert Mark für eine neue Preisarbeit
auszusetzen, deren Thema lautet : „D i e Beeinflussung
der Sinnesfunctionen durch geringe Alko¬
hol m e n g e n.“ Es soll dabei vor allem die Wirkung
des Alkokols auf die Unterschiedsempfindlichkeit und
die Sch wellen werthe experimentell untersucht werden.
Das Amt der Preisrichter haben übernommen:
1. Prof. Dr. Kraepelin in München, 2 . Prof. Dr.
v. G r ü t z n er in Tübingen und 3. Prof. Dr A s c ha f f en -
bürg in Köln a. Rh.
Den mit Motto versehenen und in deutscher
Sprache abgefassten Arbeiten ist ein das gleiche
Motto tragender Umschlag, der den Namen des Ver¬
fassers enthält, beizufügen.
Die Arbeiten sind bis zum 1. April 1906 an den
Schriftführer des Vereins abstinenter Aerzte, Dr. Georg
Keferstein in Lüneburg einzusenden.
Personalnachrichten.
— Bei der Universität München ist der Privat-
docent für Irrenheilkunde, Dr. Hans Gudden, ein
Sohn Bernhard von Guddens, zum ausserordentlichen
Pmfessor befördert worden.
ii;r den redactionellen Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Brrslcr » Lublinitz (Schlesien).
Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Aasgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S.
Heyneinann’sche Buchdruckerei (Gcbr. Wo'ffl in Halle a. S.
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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift.
Redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. B realer,
Lublinitz (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Tellur.-Adresse: M a rhId Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834.
Nr. 44, 28. Januar. 1905
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die 3spaltige Petitseile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten.
Aus der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Uchtspringe (Director Dr. Alt).
Ueber Bromeigon und Pepto-Bromeigon in der Behandlung der Epilepsie.
Von Dr. H. Ehrcke , ordentlicher Arzt.
r\ie üblen Nervenwirkungen , welche die bei der
Behandlung der Epilepsie so werthvollen Brom¬
salze oft mit sich bringen, haben den Wunsch her¬
vorgerufen, andere Bromverbindungen anzuwenden,
denen diese unangenehmen Eigenschaften weniger
anhaften. Aus diesem Bedürfniss heraus entstand
das Bromalin, das Bromipin, Bromocoll u. s. w.
Die letzten Monate haben uns abermals zwei
neue Brompräparate, die von der Fabrik Helfenberg
A.-G. hergestellt wurden, bescheert. Es sind dies
das Bromeigon, eine Bindung des Broms mit Eiweiss,
welche ca. 11 °/o Brom enthalten soll, ferner das
Peptobromeigon, eine Verbindung zwischen Pepton
und Brom, welche ebenfalls 11 % Brom enthält. Auf
Anregung meines Chefs, des Herrn Director Dr. Alt,
sind in der hiesigen Anstalt mit beiden Präparaten
bei einer Reihe von Epileptikern Versuche über ihre
krampfstillende Wirkung gemacht worden, von denen
berichtet werden soll.
Das Bromeigon ist ein gelbliches, lockeres, in Wasser
unlösliches Pulver von eigenartigem Geruch und Ge¬
schmack, das Peptobromeigon stellt ein bräunliches,
wenig angenehm riechendes, in Wasser lösliches Pulver
dar. Beide enthalten 11 % Brom. Nach Angaben von
Tischer und Beddies sollen 0,12 gr Brom in 1 gr
Bromeigon physiologisch und therapeutisch höher-
werthig sein, als 0,33 gr Brom in 0,5 gr Bromkali,
auch sollen die gleichen M;iximaldosen in Form von
Bromeigon wie von Bromküü ohne Zeichen des Bro¬
mismus vertragen werden.
Von der Fabrik wurden der Anstalt grössere
Mengen von Bromeigon und Peptobromeigon zur
Verfügung gestellt. Mit diesen wurden im ganzen
18 an Epilepsie /eidende Kranke längere oder kürzere
Zeit hindurch behandelt. Ausgewählt wurden vor
allen Dingen solche Kranke, bei denen die Brom¬
salze entweder wirkungslos geblieben waren oder die
Erscheinungen der Bromvergiftung hervorgerufen
hatten. Auch wurde nach Möglichkeit darauf Rück¬
sicht genommen, dass das Leiden noch nicht zu alt
und eingewurzelt war. Nach den Angaben von
Tischer und Beddies müssten 6 gr Bromeigon thera¬
peutisch gleichw'erthig oder vielmehr sogar höherwerthig
sein wie 6 gr Bromkali. Die gewöhnliche Anfangs¬
dosis des Bromkali für einen Epileptiker beträgt 6gr
pro Tag. Aus diesen Gesichtspunkten heraus wurde
die täglich den Versuchspersonen zu verabfolgende
Menge Bromeigon oder Peptobromeigon auf 6 gr
festgesetzt. Es wurden nun im ganzen elf Anfalls¬
personen in der Weise behandelt, dass bei ihnen
eine gleich lange Zeit die gleiche Dosis Bromeigon
und Bromnatrium gegeben wurde. Bei Kindern be¬
trug die Bromnatriumgabe 4 gr. Bei weiteren sechs
Personen musste der Vergleich mit der Wirkung von
6 gr Bromnatrium aus äusseren Gründen aufgegeben
werden. Bei den elf erstgenannten Patienten betrug
die Gesammtzahl der Behandlungstage in beiden
Perioden jedes Mal 560. Die Gesammtsumme der
in dieser Zeit in der Bromeigonperiode beobachteten
Anfälle betrug 221. Die, der in der Bromnatrium¬
periode beobachteten 59. Es ergiebt sich also für
die Zeit der Bromeigonbehandlung ein erhebliches
Mehr von Anfällen. Nach dem Ausfall dieser Ver¬
suche muss also der Ansicht von der therapeutischen
Höherwerthigkeit des Bromeigons widersprochen werden.
6 gr Bromnatrium pro Tag erwiesen sich ungleich
wirksamer auf die Zahl der Anfälle.
Graphisch stellt sich das beobachtete Resultat
wie in Tabelle 1 dar:
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Bei 6 Personen konnte ein Vergleich mit einer
vorangegangenen Periode, in der kein Medikament
verabfolgt wurde, gemacht werden. Das Resultat
stellt sich wie in Tabelle II dar.
Es ist also die Zahl der Anfälle in der Bromei¬
gonperiode nahezu gleich der, in welcher überhaupt
kein Krampfmittel gegeben wurde.
221 Anfälle
566 Behandlupgst^ge
Bromeigon ^ — unter Bromnatrium
Tabelle I.
Ein Unterschied in der Art der Anfälle war nicht
ersichtlich.
Zu bemerken ist noch, dass die übrige Behandlung
bei allen dieselbe war. Namentlich bekamen alle
dieselbe Kost, deren bedeutsamen Einfluss Alt*) ein¬
gehend nachgewiesen, hat. Auch sonst standen alle
Versuchspersonen unter denselben Bedingungen.
Irgendwelche Complicationen, welche von wesent-
*) Zeitschrift für klinische Medicin, Bei. 53.
lichem Einfluss auf das Auftreten der Anfälle hätten
sein können, wurden nicht beobachtet.
Es erübrigt nun noch, über 6 andere Kranke zu
berichten, die in der obigen Zusammenstellung noch
nicht mit berücksichtigt sind. Es geschah dies haupt¬
sächlich deswegen, weil bei ihnen die Vergleichszeit
83 Anfälle
_ ohne Medizin _ — mit Bromeigon —
mit Bromnatrium .
Tabelle II.
nicht genügend abgegrenzt werden konnte. Hierunter
befindet sich ein Kranker, der 64 Tage lang anfangs
mit 6 g Bromeigon, später mit 8 g behandelt wurde.
Der Versuch bei ihm wurde deswegen vorgenommen,
weil unter Bromnatrium ein Zustand von schwerem
Bromismus auftrat. Nachdem das Bromnatrium ent¬
zogen und Patient sich in längerer Pause von seinem
Bromismus erholt, wurden b g Bromeigon, nach 8 Tagen
8 g verabfolgt. Diese Dosis wurde 2 Monate hin¬
durch beibehalten. Eine Besserung in Bezug au! die
Anfälle trat auch hier nicht ein. Dagegen wurden
trotz der Neigung des Kranken zu Bromvergiftung
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I 9 ° 5 -]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
435
diesmal keine Zeichen vom Bromismus beobachtet.
Der Kranke wurde leider in eine andere Anstalt ver¬
legt und dadurch der weiteren Beobachtung entzogen.
Von einer Kranken der Frauenseite wird berichtet,
dass sie sich unter 6,og Bromeigon längere Zeit leidlich
wohl gefühlt Mit dem Einsetzen des Bromnatriums
trat ein Erregungszustand auf, der als Bromismus
gedeutet wurde und zum Aussetzen des Bromnatrium
zwang. Nach Verschwinden der Vergiftungserscheinung
wurde die Kranke wieder unter Bromeigon gesetzt,
ohne dass diese erneut auftraten. Ein sichtbarer Ein¬
fluss auf die Anfälle konnte auch hier nicht constatirt
werden. Bei den übrigen mit Bromeigon behandelten
Kranken wurden Vergiftungserscheinungen nicht beob¬
achtet.
Hinsichtlich des Auftretens von Bromgeschwüren
oder Bromakne waren die Erfahrungen verschieden.
Eine Kranke, welche bei Darreichung von Brom¬
alkalien unter erheblichen Bromgeschwüren gelitten
hatte, bekam auch unter Bromeigon sofort wieder
ausgedehnte Geschwüre, so dass die weitere Dar¬
reichung unterbrochen werden musste. Dagegen kann
von 2 anderen Kranken, die auch unter Bromkali
zu Aknebildung und Geschwüren neigen, berichtet
werden, dass bei ihnen während der Bromeigondar¬
reichung diese nicht auftraten. Im Uebrigen wurde
das Bromeigon wie Brompepton gern genommen und
es wurden keine sonstigen Störungen beobachtet.
Um einen Ueberblick Über die Salzausscheidung
bei Verabreichung der Bromeiweisspräparate zu er¬
halten, werden in 2 Fällen längere Zeit hindurch
täglich quantitative Bestimmungen der im Ham aus¬
geschiedenen Halogenmengen gemacht. Die Versuche
wurden so augeordnet, dass die Kranken in der
Versuchszeit täglich dieselbe Kost, 2 Liter Milch und
6 Zwiebäcke erhielten, also eine immer gleichmässig
zusammengesetzte Kost. Während der ersten Periode
wurde kein Medikament gereicht, in der zweiten
wurden in dem einen Falle pro Tag 8 g Bromeigon,
in dem anderen 8p g Brompepton verabfolgt. Die Be¬
stimmung der ausgeschiedenen Saig m en ge wurde täg¬
lich nach dem Verfahren von Volhard vorgenommen.
Im Falle I betrug die in der arznedosen Periode
durchschnittlich täglich ausgeschiedene Salzmenge 5,3 g,
im Falle II 5,6 g auf Chlomatrium berechnet. Während
der Bromeigonzeit betrug die durchschnittlich täglich
ausgeschiedene Menge 7,8 g. Es ist hier also eine
tägliche Mehrausscheidung von 2,5 g im Durchschnitt
zu verzeichnen.
Im Falle II betrug in der Broropeptonperiode die
täglich im Durchschnitt ausgeschiedene Menge 5,6 g,
also ebensoviel wie in der arzneilosen Zeit. Es muss
also eine Aufspeicherung des Broms im Körper statt-
gefunden haben. Dem entsprechen dann auch die
klinischen Erscheinungen, insofern in diesem Falle
sich bald die Zeichen beginnender Bromvergiftung
bemerkbar machten. Aus diesen einzelnen Beob¬
achtungen kann natürlich noch nicht geschlossen
werden, dass der Körper das Peptobromeigon schwerer
ausscheide. Näher liegt vielmehr die Annahme, dass
dieser Fall zu den von Hoppe geschilderten Kranken
gehört, bei denen überhaupt infolge schlechter Nieren¬
function die Salzausscheidung erschwert ist Eine
Prüfung der Nierenfunction konnte leider nachträglich
nicht mehr ausgeführt werden, da der Kranke nach
Hause beurlaubt werden musste.
Wird das Gesammtresultat der obigen Versuche
zusammengefasst, so ergiebt sich, dass das Bromeigon
und das Peptobromeigon, in denselben Dosen wie die
Bromsalze gegeben, nicht im Stande sind, die Zahl
der Krampfanfälle in sichtbarer Weise zu beeinflussen.
In einigen Fällen haben sie sich nützlich erwiesen,
weniger durch ihre Wirkung auf die Zahl der Anfälle,
als vielmehr durch Ausbleiben der sonst bei Brom¬
salzen sich zeigenden Nebenerscheinungen. Absolut
ist aber bei ihnen das Auftreten von Akne und Bro¬
mismus auch nicht ausgeschlossen. Gleichwohl dürfte
es sich verlohnen, in geeignetem Fabe die genannten
Mittel zu probiren, um die Erfahrungen darüber zu
erweitern und vielleicht zu corrigiren, wobei nament¬
lich die Frage einer höheren Downing m überlegen
wäre.
Nekrolog für Prof. Penta in Neapel
TVToch vor Schluss des Jahres J904 ist in Neapel
in der Blüthe seiner Jahre der ausgezeichnete
Psychiater und Criminalanthropolog Penta gestorben,
und er ist es wohl werth, dass wir ihm einige Zeilen
dankbarer Erinnerung widmen. Ursprünglich Psy¬
chiater und langjähriger Gefängnissarzt, hatte er viele
Gelegenheit, intensiv sich mit Körper und Geist
des Verbrechers zu beschäftigen. Er war in
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Gck gle
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PSYCH 1 ATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCH ENSCHR 1 ET.
[Nr. 44-
436
Italien vielleicht der gründlichste Kenner des Ver¬
brechers und sicher einer der ersten in Europa.
Aber er begnügte sich nicht mit der blossen un-
. fruchtbaren Beobachtung, sondern er fing sehr bald
an, seine reiche Erfahrung in vielerlei Arbeiten nieder¬
zulegen, die sich naturgemäss um Psychiatrie, Crimi-
nalanthropologie und Sexualpathologie, die er bei
den Gefangenen reichlich beobachten konnte, grup-
piren. So erschien 1893 sein ausgezeichnetes Buch:
I pervertimenti sessuali nell* uomo e Vincenzo Verzeni,
Napoli, mit einer Fülle von eigenen Beobachtungen,
feinen klinischen, psychologischen und soeiologischen
Bemerkungen. Dass er die einschlägige, weitschich-
tige Literatur völlig beherrschte, versteht sich von
selbst. Die Sexualprobleme interessirten ihn so, dass
er 1896 als die erste und einzig in ihrer Art bestehende
Zeitschrift für Sexualpathologie eine solche unter dem
Namen: Archiviodellepsicopatologie sessuali herausgab,
die leider, des Verlegers halber, schon nach einem Jahre
einging, ein schwerer Verlust für diesen speciellen
Zweig der Wissenschaft, der hier eine geeignete
Centralstelle gefunden hatte. Freilich suchte er die
Fortschritte derselben in der 1898 von ihm heraus¬
gegebenen „Rivista mensile diPsichiatiia forenseetc.“ zu
verzeichnen, doch nur sehr generaliter, da hier, wie
der Titel schon sagt, hauptsächlich die forense Psy¬
chiatrie, Criminalanthropologie und Gefängnisskunde
gepflegt wurden. Bis zu seinem Tode hat er diese
ausgezeichnete Monatsschrift fortgeführt und darin
eine Menge eigener Arbeiten veröffentlicht. Penta
war seit Jahren a. o. Prof, der Psychiatrie und ver¬
trat zugleich den ersten und einzigen Lehrstuhl für
Criminalanthropologie in Italien. Er that beides in
würdigster Weise und 1900 gab er für seine Studenten
zunächst nur hektographirt ein kurzes Lehrbuch der
Psychiatrie: lezioni di psichiatria, heraus, das später
gedruckt wurde. Alles war bei ihm Klarheit, scharfe
Kritik, Knappheit im Ausdruck, und trotzdem er
seine Sprache wundervoll beherrschte, liess er sich
nie zu tönenden Phrasen verleiten. Höchst werthvoll
sind seine vielen gerichtlich-psychiatrischen Gutachten,
in denen er das psycho- und anthropologische Mo¬
ment vortrefflich hervorzuheben wusste. Sehr gern
beschäftigte er sich mit den Gefängnisspsychosen und
seine Arbeiten über Simulation von Irresein bei
Verbrechern sind geradezu klassisch. Merkwürdig
ist es, dass gerade in Neapel solche Simulation sehr
häufig ist!
Anfänglich war Penta ein begeisterter Anhänger
-—»♦«
Loinbrosos und lieferte eine Reihe eingehender crimi-
nalanthropologischer Untersuchungen. Allmählich aber
sah er die Einseitigkeiten und Uebertreibungen seines
Meisters ein und wahrte seinen eigenen Standpunkt,
weshalb ihn Lombroso von da ab ignorirte. Er er¬
kannte zwar den delinquento-nato noch an, doch in
sehr beschränkter Weise und er leugnete stricte einen
besonderen Verbrechertypus. Auch die Zurückführ¬
ung von Verbrechen auf Epilepsie liess er nicht mehr
gelten und wurde bez. des Wortes: Atavismus vor¬
sichtiger, obgleich er immer noch hierin, wie Unter¬
zeichnetem scheint, zu weit ging. Aber bez. der
praktischen Forderungen stand er ganz auf Seiten
der positiven Schule und verfocht die Sätze mit
flammenden Worten, besonders immer die Igno¬
ranz der Juristen in psychologischen und psychiatrischen
Dingen, sowie ihre Ueberhebung betonend.
Ich habe öfter mit dem seltenen Manne corre-
spondirt und ihn auch Vorjahren in Neapel besucht,
wo er mich in verschiedene Gefängnisse führte und
mir auch seine Arbeitsstätte in der Sapienza, der
Universität, zeigte. Und unter wie bescheidenen Ver¬
hältnissen musste er arbeiten! 2 halbdunkle, leere
Säle standen ihm zur Verfügung und mühselig musste
er sich die nöthigen Lehrobjecte selbst beschaffen.
Ein grosser Haufen von Krankengeschichten, Zeich¬
nungen, Tafeln, Kurven etc., alle von ihm allein her¬
rührend und seinen grossen Fleiss genugsam bekun¬
dend, lagen aufgeschichtet da, der Verarbeitung
harrend, die wohl nun nicht mehr eintreten wird,
was allein schon sicherlich einen schweren Verlust
für die Wissenschaft bedeutet.
Penta war aus dem Neapolitanischen, aus Avellino,
hatte aber wenig vom localen Typus, war ernst, fast
schweigsam und beim Reden gebrauchte er keine
Gesten, wie seine Landsleute. Er hatte eher ein
nordisches Temperament. Er verstand es aber
Freunde zu erwerben und zu erhalten, so dass es
ihm nie an Mitarbeitern gebrach. Bescheidenheit
war eine seiner Hauptzierden und nie drängte er sich vor
oder griff ungerufen in eine Discussion ein. So bot
er denn das Bild eines wahren Mannes, Gelehrten
und echten Streiters für die Wahrheit, der durch
nichts sich einschüchtem, aber auch nicht imponiren
liess. Durch seinen Tod hat die Wissenschaft einen
herben Verlust erlitten, insbesondere aber sein Vater¬
land, in dem solche Männer nicht all zu häufig
sind.
Friede seiner Asche!
Näck e.
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1905.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
437
Mittheilungen.
Irrenrechtliches:
— Ein neuer Kritiker. Der kürzlich in Berlin
vor dem Schwurgericht verhandelte Process gegen
Gehlhaus und Lache diente einem Amtsrichter a. D.
dazu, in der Tagespresse die Sachverständigenthätig-
keit von Irrenärzten in ihrer Bedeutung gegenüber
Richtern und Geschworenen herabzusetzen, einzig
aus dem Grunde, weil die Gutachter nicht zu einem
übereinstimmenden Urtheil gelangen konnten; mit
einem gewissen Genugthuungsgefühl wird den Zei¬
tungslesern auseinandergesetzt, wie „die Geschworenen
im Bewusstsein der völligen Unzulänglichkeit unserer
Irrenheilkunde sich ein eigenes Urtheil zugetraut“
hätten, was „unwiderleglich beweist, dass unsere Psy¬
chiatrie kein Vertrauen im Volke hat“. „So niedrig
schätzt also unser Volk den Stand der heutigen Er¬
kenntnis der Geisteskrankheiten ein, ebenso niedrig
schätzen ihn auch viele Aerzte“ u. s. w.
Nachdem der Kritiker sich noch über die Frage
der Entmündigung, der „leichten Unterbringung und
der lebenslänglichen Intemirung“ des längeren ver¬
breitet hat, wird schliesslich die kühne Behauptung
aufgestellt, dass trotz alledem bis heute „keine
bessernde Hand“ angelegt sei, dass unsere Regierung
„keine Neigung habe, eine grössere Garantie gegen
ungerechtfertigte Entmündigung und Einsperrung zu
schaffen“. Zum Schluss fordert er auf, einschlägiges
Material zu sammeln, die öffentliche Meinung aufzu¬
klären; erste ärztliche und juristische Gelehrte haben
ihre Sympathie mit dem Vorgehen erklärt. Genug!
Soweit der Inhalt, der Unrichtigkeiten in Menge
enthält, die an anderer Stelle bereits gewürdigt sind.
Man fragt sich beim 'Durchlesen immer wieder nach
den Gründen, die den Verfasser, der sonst treffliche
juristische Aufsätze veröffentlicht, zum Niederschreiben
bewogen haben. Sind ihm alle Bestrebungen der
letzten Jahrzehnte unbekannt geblieben, die doch
dazu gedient haben, weiten Kreisen einen Einblick
in das Wesen von Geisteskrankheit zu verschaffen?
Hat er nichts gehört von der wachsenden Antheil-
nahme gebildeter Stände für die Lösung von Problemen
dieser Art? Weshalb das Misstrauen und die offene
Anfeindung eines Standes, dessen Vertreter bislang
keine Veranlassung zu solchem Thun gegeben haben?
Da hilft nur ein Protest gegen den „Vorwurf
von Schurkereien, die sich hinter den Mauern der
Anstalten verbergen“. Wie letzthin im Falle der Louise
von Koburg ist es die zunehmende Sensationslust
und die mangelnde Sachkenntniss, die geradezu eine
Entgegnung erforderlich machen, auf dass cs besser
werdemit der Beurteilung auch bei gebildeten Menschen.
Mehr Licht, solange Kritik und schlechte— in Geltung
ist vor Thun und Produciren, wie Multatuli einmal sagt.
Dr. med. et phil. Meyer, Münster.
Anm. d. Red. Es handelt sich in dem oben
beanstandeten Artikel um einen Aufsatz: „Irrenärzte
vor Gericht“, von« Dr. jur. W. Brandis, Gross-
Lichterfelde, in der „Augsburger Abendzeitung“ vom
19. Dezbr. 1904, Nr. 349. Unter dem gleichen
Titel veröffentlichte Dr. med. C. von Hösslin-Tübingen,
in der genannten Zeitung vom 22. Dezbr. eine Ent¬
gegnung, und als Dr. Brandis noch einmal das Wort
ergriff (Nr. 8 der „Augsburger Abendzeitung“ 1905),
eine zweite Entgegnung in der „Augsburger Abend¬
zeitung“ vom 11. Januar 1905. Ausserdem erfuhren
die Dr. Brandis’schen Artikel eine eingehende Wider¬
legung aus juristischer Feder in derselben Zeit¬
ung vom 17. Januar 1905: „Der Rechtsschutz gegen
ungerechtfertigte Entmündigung in Bayern.“ Wir
messen diesem letzten Artikel eine besondere Be¬
deutung bei und lassen darum Einiges daraus hier
folgen. Der Artikel beginnt:
„Der Aufsatz „Irrenärzte vor Gericht“ (Nr. 349
v. J.) hat hinsichtlich seines psychiatrischen Inhalts
bereits entsprechende Entgegnung aus den Kreisen
der angegriffenen Aerzte gefunden. Er kann aber
auch von juristischer Seite nicht ohne Widerspruch
gelassen werden, weil darin über die vorhandenen
Rechtsgarantien gegen unbegründete Entmündigung
in viel zu oberflächlicher Weise abgeurtheilt und
noch in der Replik (Nr. 8 d. J.) neuerdings behauptet
wird, die gerichtliche Entmündigung wie die Fest¬
haltung vermeintlich Geisteskranker in den Irrenan¬
stalten sei mit „zu grosser Leichtigkeit zu erreichen“.
Hinsichtlich der Entmündigung geräth der Ver¬
fasser beider Aufsätze damit schon zu seinen eigenen
Darlegungen in einen gewissen Widerspruch; denn
er selbst weist ja gerade eindringlich auf den Gegen¬
satz hin, der sich hinsichtlich der psychiatrischen
Gutachten zwischen den Irrenärzten einerseits und
den Laien, insbesondere auch weiten Juristenkreisen,
andererseits gebildet haben soll. Wer anders als
Juristen aber entscheiden denn über die Entmündig¬
ung? Misstrauen dieser gegen die Irrenärzte müsste
also doch eigentlich eher zu einer Erschwerung der
Entmündigung führen.
In Wirklichkeit ist das Entmündigungsverfahren
mit solch ausgiebigen Garantien versehen, wie keine
andere Procedur, Ehe- und Kindschaft nicht ausge¬
nommen. Auch der Laie wird dies aus folgender
kurzer Zusammenstellung der wichtigsten bezüglichen
Vorschriften der Reichscivilprocessordnung entnehmen
«
Es folgen die einzelnen hierhergehörigen Para¬
graphen der Civilprocessordnung*), worauf der Ver¬
fasser fortfährt:
„Das heisst also, practisch gesprochen, jeder
Deutsche, auch der ärmste, hat das Recht und die
Möglichkeit, seine Entmündigungssache von 3 + 5 + 7
*) Speciell betont er, dass dem Entmündigten bei der
Klage gegen die Entmündigung auf Antrag ein Rechtsanwalt
beigeordnet werden muss, gleichgiltig ob die Sache etwa aus¬
sichtslos erscheint (§ 664, 668), — was weit über den Um¬
fang des daneben geltenden gewöhnlichen Armenrechts hinaus¬
geht.
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438
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 44-
= 15 deutschen Richtern nachprüfen zu lassen, und
die Entmündigung hat nur dann Bestand, wenn die
Geisteskrankheit oder Geistesschwäche von mindestens
10 Richtern (1 Amtsrichter, 2 Mitgliedern des Land¬
gerichts, 3 des Oberlandesgerichts und 4 des Reichs¬
gerichts) als vorhanden angenommen wird. In der
That, ein stärkerer Schutz ist gesetztechnisch im
Rahmen der Civil-Process-Ordnung kaum noch denk¬
bar. Wie sich derselbe in der Praxis darstellt, zeigt
die Statistik. Auch hier beweisen Zahlen!
Nach der amtlichen Zusammenstellung des baye¬
rischen Justizministeriums sind im Jahre 1903 bei den
bayerischen Amtsgerichten 1424 Entmündigungsanträge
erledigt worden. Von den Beschlüssen lauteten auf
Entmündigung wegen Geisteskrankheit oder Geistes¬
schwäche 792, wegen Verschwendung 45, wegen
Trunksucht 59. Es wurden also insgesammt 896
Entmündigungen ausgesprochen. Anfechtungsklagen
aber sind bei sämmtlichen bayerischen Landgerichten
im Jahre 1903 nur 40 anhängig gewesen und zwar
einschliesslich derjenigen auf Wiederaufhebung wegen
Genesung. Hievon wurden 21 beendet, aber nur
ein einziges Urtheil hat auf Aufhebung des Ent¬
mündigungsbeschlusses als unbegründet gelautet.
Diese Ziffern beweisen zunächst, dass die Durch¬
setzung der Entmündigung durchaus nicht leicht ist,
denn nahezu 40 Procent aller Anträge führten nicht
zum Ziel. Andererseits ergiebt sich daraus schlagend,
wie triftig begründet die wirklich erlassenen Ent¬
mündigungsbeschlüsse waren; denn nur cirka 2 Proc.
wurden als unbegründet angefochten und auf 896
Entmündigungsbeschlüsse trifft eine einzige Aufhebung.
Jedes weitere Wort zu diesem Ergebniss erscheint
überflüssig.
Nun zur Festhaltung in einer Irrenanstalt! Diese
kann bekanntlich auch ohne Entmündigung geschehen,
ebenso wie umgekehrt zahlreiche Entmündigte auf
freiem Fusse sich bewegen. Die Garantie gegen
ungerechtfertigte derartige Detentionen liegen sowohl
auf dem Gebiete des Strafrechts als des Verwaltungs¬
rechts. Das Reichsstrafgesetzbuch bedroht im § 239
mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren die vorsätzliche
und rechtswidrige Freiheitsberaubung über eine
Woche hinaus; bei kürzerer Dauer tritt Gefängniss-
strafe ein, die bei Beamten nicht unter drei Monaten
beträgt (§ 341). Ausserdem haftet der Beamte und
in Bayern für ihn der Staat wegen allen Schadens
der durch vorsätzliche oder fahrlässige Amtspflicht¬
verletzung verursacht worden ist (§ 83c) B. G.-B.,
Art. bo Ausf.-G. z. B. G.-B). Nach der Gewerbe¬
ordnung § 30 ist der Betrieb einer Privatanstalt ohne
behördliche Konccssion verboten; die Versagungs¬
gründe. z. B. wegen Unzuverlässigkeit, sind gesetzlich
geregelt. Nach Anordnung des K. Staatsministeriums
des Innern vom 3. Dezember 1895 (Justiz-M.-Bl. 1896
S. 36 ff.) müssen die Privatanstalten fortwährend
evidente Zu- und Abgangslisten der Pfleglinge, ferner
Krankengeschichten und Personalacten für dieselben
führen und dürfen ohne jedesmalige specielle Ge¬
nehmigung der Districtsverwaltungsbehörde keinen
Pflegling aufnehmen. Hierbei muss neben dem
Zeugnisse eines deutschen amtlichen Arztes über -die
Geistesstörung eine gleiche Konstatirung der Districts-
polizeibehörde, gegründet auf selbständige, vom ärzt¬
lichen Zeugnisse unabhängige Erhebungen beigebracht
werden. Das ärztliche Zeugniss selbst muss auf
persönliche Untersuchung innerhalb der letzten vier
Wochen gestützt sein. Die Aufhalimeerlaubniss wird
nur nach Einvernahme des Bezirksarztes ertheilt. Bei
provisorischen Aufnahmen ist dieses Verfahren nach¬
zuholen. Die Entlassung muss erfolgen:
a) wenn eine freiwillig eingetretene Person ihren
Austritt erklärt;
b) wenn der Pflegling genesen oder nicht als
geisteskrank befunden wurde ; *
c) wenn der gesetzliche Vertreter bezw. Vormund
oder in Ermangelung dieser die nächsten Angehörigen
die Entlassung des Pfleglings beantragen.
Eine Zurückhaltung kann nur auf Grund Zwangs¬
beschlusses der Verwaltungsbehörde wegen Gemein-
gefährlichkeit (Art. 80 Pol.-St.-G.-B.) geschehen.
Die Privat-Irrenanstalten sind öfters unvermulhet
durch die Districtsverwaltungsbehörde gemeinsam mit
dem Bezirksarzt zu untersuchen und ist hiebei, wo
Veranlassung besteht, dem Rechtsschutze der Pfleg¬
linge , zumal durch Intervention behufs Erwirkung
einer gerichtlichen Entscheidung über den Geistes¬
zustand, die gebührende Bedachtnahme zuzuwenden.
Damit in engstem Zusammenhang steht die ent¬
sprechende Statutenänderung der Kreisirrenanstalten
(Entschliessung des K. Staatsministeriums des Innern
vom 9. Nov. 1803) und die Anweisung des K. Staats¬
ministeriums vom 28. März 1895 an die Staatsanwälte
(Just.-M.-Bl. 1895 S. 70), in allen Fällen den Ent¬
mündigungsantrag zu stellen, wenn eine seit mehr als
sechs Monaten in einer Irrenanstalt wider ihren
Willen verwahrte Person eine gerichtliche Entscheidung
über ihren geistigen Zustand beantragt und zwar
selbst dann, wenn ein anderer Anlass hiezu nicht
bestünde. Damit der Staatsanwalt in Kenntniss von
den bezüglichen Vorgängen gesetzt wird, muss ihm
von der Einschaffung oder dem Eintritt eines Pfleglings
stets Kenntniss gegeben werden, w’enn ein gesetzlicher
Vertreter des Pfleglings nicht vorhanden oder dessen
Vernehmung erschwert oder sonst ein besonderer
Grand zur Verständigung des Staatsanwalts ersicht¬
lich ist
Selbst die amtliche zwangsweise Einschaffung in
eine Irrenanstalt wegen Gemeingefährlichkeit nach
Art. 80 P.-St.-G.-B. erfordert einen förmlichen Be¬
schluss der Districtspolizeibehörde nach erschöpfender
Sachinstruktion und obligatorischer Einvernahme des
gesetzlichen Vertreters, wrenn thunlich, auch des Ein-
zuschaffenden. Dem zu Grunde gelegten bezirksärzt¬
lichen Zeugnisse muss eine persönliche Untersuchung
durch den Bezirksarzt vorangegangen sein; auch der
behandelnde Arzt muss einvernommen werden. Bei
Gefahr auf Verzug müssen diese Amtshandlungen
nachgeholt werden und zwar mit thunlichster Be¬
schleunigung. Die Entlassung erfolgt nach Wegfall
der Gemeingefährlichkeit auf den von Amtswegen zu
stellenden Antrag der Irrenanstalts- Vorstände oder
controllirenden Bezirksärzte, wobei allenfallsige Gesuche
der gesetzlichen Vertreter und Angehörigen unter
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1905.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 439
Umständen auch des Geisteskranken selbst in sach-
gemässe Würdigung zu ziehen sind. (Entschl. des
Staatsm. des Innern vom 1. Jan. 1895, Amtsbl. S. 2.)
Diese Verwaltungsnonnen sind nun gewiss noch
mancher Verbesserung fähig und trotz der besten
Vorschriften können Fehlgriffe überall noch Vorkommen.
Es ist aber nach den vorstehenden Darlegungen einfach
nicht wahr, dass in Bayern Entmündigung oder
Detention wegen Geisteskrankheit „mit zu grosser
Leichtigkeit“ zu erreichen sei. Man darf hiebei auch
die Kehrseite der Sache nicht übersehen. In zahl¬
reichen Fällen acuter Geistesstörung gemeingefährlicher
Art thut augenblicklicher Zugriff absolut noth. Wenn
eine Ehefrau nachts hilfesuchend auf die Polizei¬
station läuft, weil ihr Ehemann, der seit Wochen
z. B. wegen Geldverlust, Tod von Angehörigen ab¬
sonderlich vor sich hinbrütete, nunmehr ein gewetztes
Messer unter das Kopfkissen gelegt und ihr und den
Kindern den Tod angedroht habe, so kann man nicht
lange Vernehmungen pflegen; genug, dass kein Ver¬
dacht fingirter Angaben besteht, und der Mann wird
momentan unschädlich gemacht. Möglich, dass er
selbst hinterher von seinem Geliaben nichts mehr
weiss oder wissen will, ebenso dass die Intervention
der Behörde den Aufregungszustand nach Ueber-
schreitung des Höhepunktes beendet hat, dass er
nach einigen Tagen der Detention das geistige Gleich¬
gewicht wiedergewinnt und dass die Stimmung der
Nachbarschaft mit dem Eintritt der Katastrophe in
der bekannten Weise zu Gunsten des Mannes um¬
schlägt, — das alles ändert aber nichts an der
Thatsache, dass die Behörde lediglich ihre Pflicht
erfüllt hat. Denn das gleiche Recht auf Verhütung
von Gefährdungen wie der Eingeschaffte hat auch
dessen Umgebung, und die Beamten wie der Staat
haften diesen Leuten nicht minder für allen Schaden
aus der schuldhaften Unterlassung einer gebotenen
Einschaffung wie dem Eingeschafften für schuldhafte
Freiheitsberaubung. Die Hauptsache bleibt doch
stets, dass genügend starke Garantien für rasche Fest¬
stellung des wahren Sachverhalts bestehen und diese
sind im eingangs erwähnten Aufsatze mit Unrecht —
wie obige Darlegung für Bayern zeigt — geleugnet
worden.“
— Sitzung des Vereins für Psychiatrie und
Neurologie in Wien am 13. Dezember 1904.
Prof. Redlich demonstirt einen Fall einer
atypischen amyotraphischen Lateralsklerose mit relativ
wenig ausgesprochenen spastischen Phänomenen. Ein¬
zelne Symptome: reflectorische Pupillenstarre, be¬
ginnende Atrophie des N. opticus, Romberg und leichte
locomotorische Ataxie scheinen zur Annahme einer
beginnenden Tabes zu berechtigen. Eine vorausge¬
gangene luetische Infection könnte beiden supponirten
Affectionen zu Grunde liegen.
Dr. Erwin S t r a n s k y demonstrirt einen Fall
von progressiver Paralyse mit einer seit einigen Monaten
bemerkbaren Kombination: einer muskulären Atrophie
von spinalem Typus in der rechten und (später auch)
in der linken oberen Extremität.
Dr. A. Fuchs demonstrirt einen Fall von peri¬
odischer Extremitätenlähinung, einen 30jährigen Mann,
der an zeitweilig auftretenden in ihrer Intensität variir-
enden schlaffen Lähmungen der Extremitäten leidet.
Fehlen der tiefen und cutanen Reflexe während der Zeit
der Lähmung, ebenso Störungen in der electrischen
Erregbarkeit Die Erkrankung ist in diesem Falle
nicht familiär.
Dr. Marburg erörtert in einem Vortrag: „Die
physiologische Function der Kleinhimseitenstrangbahn.
Em Beitrag zur Ataxiefrage“ zunächst die Störungen
in der Motilität, welche bei Hunden nach Durch¬
schneidung der Kleinhimseitenstrangbahn im oberen
Cervikalmark auftreten, bespricht die Beziehungen der
Ergebnisse des Thierexperimentes mit den anatomischen
Verhältnissen sowie die Zusammensetzung der centri-
petaten Bahn für die Principal be wegungen (Munk).
S.
Referate.
— State of New-York, State Commission
in Lunacy, 15. animal Report, Oet. 1, 1902,
to Sept. 30, 1903. Albany, Quayle, 1904. 1011
Seiten.
Es ist höchst interessant zu sehen, wie sehr auch
in Amerika, bes. aber im Staate New-York, praktisch
in der Irrenpflege fortgearbeitet wird. Obiges, reich
ausgestattetes Jahrbuch giebt darüber erwünschte
Auskunft. Es existirten in diesem Staat z. Z. m 14
Staatsanstaften (2 mit ca. 3500 Personen 1) inck
des Matteawan und Dannemora Hospital für irre
Verbrecher mit 860 Personen am 30. Sept. 1903:
24087 Personen. In den concessionirten Privat¬
anstalten kamen weiter 946 hinzu. Ueberall wird
über colossale Ueberfüllung und zu geringe Aerzte-
zahl geklagt. In dem Berichtsjahre betrug die Zu¬
nahme in allen Anstalten 946 P. und 1 Arzt kam
durchschnittlich auf 170 Patienten! Das neue Ein¬
wandrergesetz hat bis jetzt wenig gefruchtet und es
wird vorgeschlagen, den Hafenärzten bei der Land¬
ung von Einwandrern einen Psychiater beizugeben,
der schon manche offenbar Geisteskranke zurück¬
weisen könnte. Der Ueberflutung suchte man überall
durch Umbauten etc abzuhelfen, auch neue Anstalten
sind projectirt. Die hygienischen Verhältnisse waren
meist gut, nur dass noch in dem Utica-Hospitale
viel Diphtherie vorkam, und in einem andern Ery¬
sipel. Typhusfälle im St. Lawrence Hospital Hessen
sich auf Flusseis zurückführen, das Typhusbacillen
enthielt. Die Verbesserungen in den Gebäuden, in
Diät, Pflege etc. sind sehr lobenswerth. Es sind
Adnexe für Tuberkulöse gebaut worden, auch schöne
neue Pavillons für je 100 solche Kranke, und im Man¬
hattan-Hospital nebst 2 andern Anstalten hat man mit der
Zeltbehandlung der Tuberkulösen, Siechen, Unrein¬
lichen und acut Erkrankten sehr gute Erfahrungen
gesammelt. Es werden viele gute Vorschläge und
Bemerkungen gemacht. Von der Zellenlosigkeit, Bett¬
behandlung, no-restraint und open-door wird nach
Kräften Gebrauch gemacht. Es scheint aber, dass
im.Ganzen die eigentliche psychiatrische Behandlung
noch nicht ganz auf moderner Höhe steht. Dr. Meyer
vom Pathologischen Institute in New-York sucht
durch Vortiäge, Anweisungen, Arbeiten im Institute
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Original fr&m
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440 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 44.
etc. das Interesse der Aerzte für die Psychiatrie zu
heben und das mit Erfolg. Schon im vorigen Jahre
haben sehr viele Aerzte Arbeiten veröffentlicht. Ueberall
sind mehr Laboratorien, Bibliotheken etc. geschaffen
worden, und an einer Anstalt wurden allein 21 medi-
cinische Zeitschriften gehalten! Trotz der gestiegenen
Preise aller Art, kam die Person-Verpflegung doch nur auf
172,55 Dollars zu stehen, gewiss für Amerika ein
niedriger Satz, trotz guter und reichlicher Kost. Auch
alle Löhne und Gehälter stiegen. Ueberall giebt es
Wärter-Schulen (schon seit mehr als 20 Jahren), wo
auch Diplome ertheilt werden. Fast alle Anstalten
besitzen einen weiblichen Arzt für gynäkologische
Fälle, doch scheinen grössere Operationen nur von
Specialisten ausgeführt zu werden, wie denn auch an
jeder Anstalt mehrere Specialisten regelmässig zuge¬
zogen werden. Dem Auge und dem Munde wird spe-
cielle Sorgfalt gewidmet und so werden z. B. viele Brillen
verordnet, Zähne plombirt und künstliche Gebisse
verfertigt. In dieser körperlichen Fürsorge sind uns
die Amerikaner entschieden über! Mit Recht wird
darauf hingewiesen, dass die Zunahme der Kranken¬
zahl noch nicht ohne weiteres für Zunahme der
Psychosen überhaupt spreche. Bei den vielen pro-
jectirten Neubauten wird ein Durchschnittspreis von
555 Dollars pro Platz berechnet. Colonialanhänge w'urden
geschaffen. Man will ferner für jedes Hospital 2 Volontäre
einstellen. Man hat es mit Recht aufgegeben, reine
Heilanstalten zu haben; alle sind Heil- und Pflege¬
anstalten. Das Matteawan Hospital für irre Ver¬
brecher hatte am 1. Oct. 1903: 588 Personen (513 M.,
75 W.), mit 46 Aufnahmen (darunter chron. Manie
12, chron. Melancholie 9, Paranoia o, Paralyse 4 und
21 ohne erbliche Belastung). Dannemora-Hospital
hatte 212 irre Verbrecher (nur Männer) mit 49 Auf¬
nahmen. Näcke.
— C o n t ri b u to a 11 o Studio del 1 a simula-
z'io ne della pa zzia, Del dott. Guido Gar bini.
II manicomio. Anno XIX, Nr. 1.
G. berichtet ausführlich über 13 Fälle von Simulation
von Geistesstörung, die er in der Irrenanstalt Messina
während eines Zeitraumes von 4 Jahren beobachtet hat.
Sämmtliche 13 Fälle wiesen schwere erbliche Belastung
auf und w f aren psychopathisch veranlagte Individuen.
Die Form der Geistesstörung, die simuliert wurde, war
entw-eder Verwirrtheit oder Schwachsinn und konnte als
eine Uebertreibung oder Wiederholung der bei den Be¬
treffenden festgcstellten Defccte angesehen werden.
Uebereinstimmend war in allen Fällen die Dauer der
Simulation kurz. Auffallend war, dass, abgesehen
von einem Fall, stets nur eine geringfügige Ursache
für die Simulation vorlag. Mitunter bildete die Simu¬
lation nur ein Vorläuferstadium einer Psychose. G.
schliesst sich der Meinung derjenigen an, welche be¬
haupten, dass ein geistig vollständig Gesunder über¬
haupt nicht oder nur sehr scfover simuliren kann.
Er glaubt, dass die Simulation entweder eine Geistes¬
störung oder ein Symptom einer solchen ist.
Braune, Sch wetz. a. W.
— Dr. Friedrich Scholz: Die moralische
Anästhesie. Für Aerzte und Juristen. Leipzig
I9 ° 4 *
In dieser eingehenden, durch zahlreiche casuisti-
sche Beiträge detailreichen Monographie behandelt
Veif. jene Geisteszustände, die ein Mangel in dem
Empfinden und der Bethätigung der Moral bei sonst
nur geringfügigen oder gar fehlenden nervösen und
psychischen Störungen kennzeichnet und für die
Verf. den Ausdruck „moralische Anästhesie“ ge¬
braucht. Nach einem historischen Ueberblicke über
die Lehre Von der Prichard’schen moral insanity
und einer psychologischen Betrachtung über das Vor¬
stellen, Fühlen und Handeln, ihrer Wechselbezieh¬
ungen zu einander, zu Intellekt und Charakter,
werden die fünf Formen beschrieben. Beim „Typus
des unbewussten Motivs“ wird die Verletzung der
Moral durch plötzlich auftauchende Impulse veran¬
lasst, w r as bisweilen später durch räsonnirende Er¬
klärungsversuche des Thäters verschleiert w ird. Beim
„Typus des Zwangsmässigen“ spielen überwerthige, zu
Handlungen hinreissende Zwangsvorstellungen die
Hauptrolle. Der „Typus des gesteigerten Strebens“
zeigt ein Ueberwiegen der egoistischen Triebe und
des Selbstgefühls zu Ungunsten des altruistischen
Vorstellungskreises, während das Gegenstück, „der
Typus des verringerten Strebens“ Schwäche des Ent¬
schlusses und Handelns charakterisirt. Der „perverse
Typus“ hat seine Domäne im sexuellen Gebiete.
Bei allen Typen kann man die Anfänge der ab¬
normen Geisteszustände oft bis in die früheste Jugend
an bestimmten Eigenthümlichkeiten des Kindes zu¬
rückverfolgen. Nach ausführlichen Erläuterungen
über die Ursachen, Vorhersage und Behandlung der
moralischen Anästhesie, über die Differentialdiagnose
und Zurechnung schliesst die verdienstvolle Schrift
mit dem Verlangen nach einer Aenderung der Straf¬
rechtsgrundsätze und des Strafvollzuges.
Dr. Fritz H oppe-Tapiau.
Personalnachrichten.
— Württemberg. Ernennungen: zum Director
der K. Heilanstalt Schussenried der Director der K.
Heilanstalt Zwhefalten Dr. G ross (1904) zum Director
der K Heilanstalt Zwiefalten Sanitätsrat Dr. K ri m mel
(1904); zum psychiatrischen Referenten beim kgl.
Medizinalkollegium mit dem Titel und der Stellung
eines vollbeschäftigten Medizinalrates der Oberarzt
Dr. Camerer an der K. Heilanstalt Winnenthal
(1905); zum leitenden Arzt der Irrenabtheilung an
der Strafanstalt auf dem Hohenasperg mit dem
Titel Sanitätsrat der seitherige Oberarzt Dr. Starger
an der K. Heilanstalt Weissenau (1905), zum Ober¬
arzt der K. Heilanstalt Zwäefalten der stellvertretende
Oberarzt Dr. Koch an der K. Heilanstalt Schussen¬
ried (1905).
I*«r <U‘« redaction eilen '1 heil verantwortlich: Oberar/.t Dr. J. Bresler» Lublinitz (Schlesien).
Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inscratcnannahinc 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Heynemann’sche Buchdruckerei (Gebr. Wo’FH ie Halle a. S.
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Original fram
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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift.
Redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Brealer,
Lublinitz (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
T**iegrr.-Adresse : M a rho Id Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834.
NrT 457 4. Februar. 1905
Besteilangen nehmen jede Bu<hhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die 3spaltige Petitzeile init 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten.
Frühe Entlassungen.
Von Prof. E. Bleuhrr-BurghölzU.
T> scheint eine ziemlich allgemeine Regel zu sein,
je besser die Versorgungsverhältnisse eines Landes
sind, um so grösser ist die Zahl der bekannten Geistes¬
kranken , und um so mehr spricht man von der
Unzulänglichkeit der bestehenden Anstalten. Lange
Zeit tröstete ich mich — aber ohne rechte Ueber-
zeugung, dass dadurch alles erklärt sei — damit, dass
bei unzureichender Verpflegung in hygienisch schlecht
eingerichteten und schlecht geleiteten Anstalten, und
in Privatmi^hftBdhiB^>ei«i^re 9 sec Thettvdcr&Imn iröh^
zeitig sterbe, während in guten Anstalten die Lebens¬
dauer vielleicht höher ist als bei der entsprechenden
Bevölkerungsklasse draussen.
Die Unterschiede sind doch zu gross, um alles auf
diesen Factor zurückzuführen, da man heut zu Tage
auch in einer weniger empfindsamen Bevölkerung
Geisteskranke nur ausnahmsweise verhungern lässt oder
in Ketten und andere rohe Zwangsmittel schliesst, die
Verletzungen und Wundkrankheiten herbeiführen.
Als ich vor 19 Jahren in die Pflegeanstalt Rheinau
kam, bemerkte einmal der viel zu früh verstorbene
Verwalter Rimathe, der ein ausgezeichnetes Verstand-
niss für die Kranken und ihre Verhältnisse hatte, im
Kanton X werde man wohl bald eine Pflegeanstalt
brauchen, man baue ja eine Heilanstalt. So paradox
cs klang, ich musste ihm recht geben: je mehr und
je besser man für die Irren sorgt, um so mehr Ver¬
sorgungsbedürftige giebt es.
Ich glaubte durch zahlreiche Entlassungen dem
Uebel abhelfen zu können. Aber was nützte es,
wenn ich von einer Bevölkerung von über 700 jährlich
kaum zwei Dutzend fortschickte? Mehr nahm man
mir einfach nicht ab. Um mehr Autorität gegenüber
den Gemeinden und Angehörigen zu haben, liess icli
mir mal von der Aufsichtscommission den Auftrag
geben, 20 anscheinend harmlose Kranke zu exmittiren.
Ich bekam bei 19 derselben so geharnischte Proteste,
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dass ich davon abstand, und der zwanzigste Kranke
kam nach wenigen Wochen Aufenthalt draussen in
recht verwahrlostem Zustande wieder zurück; er war
ein Katatoniker, der vor Jahrzehnten einmal eine
Scheune angezündet hatte, seitdem in einem offenen
Hause der Anstalt eine viel grössere Bewegungsfreiheit
genoss als irgend ein Beamter, den Direktor einge¬
schlossen, und sich durch Gartenarbeit recht nützlich
machte, ohne jemals irgend jemanden zu stören.
&o wusste- wh m der 12 jährigen Thäfctgfeeit in
Rheinau gegen die Calamität der Ueberfüllung und
der ganz ungenügenden Aufnahmsfähigkeit nichts zu
thun, als für Neubauten zu kämpfen, die dann endlich,
einem Drittel des damaligen BedÜrfnissess entsprechend,
erstellt worden sind — um sofort voll belegt zu werden.
Dass wir dennoch mit den Entlassungsbestrebungen
auf dem richtigen Wege gewesen waren, schienen
uns die Anstaltsberichte und Krankengeschichten aus
Gegenden mit weniger Plätzen zu beweisen, wo man
eine Menge von Kranken — meist als geheilt, entliess,
die fortzuschicken wir nicht gewagt hätten.*) — Vor
bald 7 Jahren kam ich in die Heilanstalt des Kantons,
das Burghölzli. Auch da wollte mein Traum sich
nicht realisiren. Die Anstalt war mit Unheilbaren
voll gepfropft, so dass man nur etwa die Hälfte der
angemeldeten Fälle aufnehmen konnte. Die Kranken
mussten einander aufregen; und gerade für die
günstigen Fälle, die bei der Anmeldung Aufgeregten,
war kein Platz, und keine Beruhigungsmöglichkeit.
So kamen wir auch hier nicht dazu, die Entlassungen
wesentlich zu vermehren. Erst nachdem es gelungen
war, das Budget zu erhöhen und mehr Wartpersonal,
mehr Arbeit, mehr Wachsäle zu erlangen, und
namentlich, nachdem durch die Transferirungen von
*) Sehr belehrend ist in dieser Richtung auch die Schilder¬
ung mex icanischcr Irrenverhältnisse durch Grohmann
in: Grohmann, Geisteskrank. Melusine, Leipzig 1902.
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44 *
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 45 -
c. 60 Kranken nach Neu-Rheinau Bewegungsmöglich¬
keit geschaffen worden war, änderten sich auf einmal
die Verhältnisse. Die Kranken wurden rascher ruhig,
viele andere spürten die Repression nicht mehr so
stark und die früheren und zahlreicheren Entlassungen
kamen von selbst. Da wir damit gute Erfahrungen
gemacht hatten, und zwar auch nach den zahlreich
eingeholten Berichten über die Entlassenen, gingen
wir immer weiter, und wir haben uns nun zur Regel
gemacht, jeden Fall von Dementia praecox (ein
Substantiv, das erlaubte, diese Leute mit einem Worte
zu bezeichnen, hat Kräpelin leider noch nicht ge¬
schaffen) so früh zu entlassen, als man ihn uns ab¬
nimmt. Es geht bis jetzt merkwürdig gut, nicht nur
draussen (wo wir es indess nicht zu den Lichtseiten
des Verfahrens rechnen, wenn einzelne „Geheilte“
sich verheiratheten), sondern auch in der Anstalt, wo
wir seit bald einem Jahre auf der Männerseite
beständig freie Plätze haben und zwar lür Unruhige
wie für Ruhige — ein Verhältniss, das in den 34
Jahren der Anstaltsgeschichte unerhört ist. Nur in
den Wachsälen ist der verfügbare Raum fast immer
etwas knapp. Auf der Frauenseite sind die Verhält¬
nisse etwas ungünstiger, theils weil diese von früher
her noch viel mehr mit Entlassungsunfähigen ange¬
stopft ist, theils weil die (spärlichen) Fälle, die uns
Rheinau abnehmen kann, fast lauter Männer sind.
Die Entlassungen (ohne die Todesfälle) stiegen von
durchschnittlich 208 in den Jahren 93—97 auf 273
in 02—04, und dabei nehmen auch die Beurlaubungen
beständig zu (von 30 auf 60).
Wodurch wurde der Unterschied im Wesentlichen
bedingt ?
Das Gros der heilbaren Kranken wird gebildet
durch die Manisch-depressiven. Bei den meisten ist
ein stärkerer Einfluss der Anstaltsbehandlung auf die
Dauer und die Wiederholung der Anfälle nicht zu
constatiren; sie heilen in schlechten Anstalten nahezu
wie in guten — Ausnahmen giebt es natürlich. Bei
den Hysterischen macht allerdings die Behandlung
alles aus, sie bilden aber eine verschwindende Minder¬
zahl in unserem Bestände. Paralytiker, Senile, Epilep¬
tiker leben bei guter Pflege länger als bei schlechter,
werden aber kaum entlassungsfähiger. Es bleiben die
praecociter Dementen, die in jeder Anstalt den
Hauptstock des bleibenden Bestandes ausmachen.
Für diese ist die Anstaltsbehandlung ein
U e b e 1, das sich während der acuten Schübe und
bei allzu argem chronischem antisocialem Verhalten
nicht vermeiden lässt. Die Schädlichkeit liegt einmal
darin, dass gerade diese Kranken durch die Repression
gereizt und verschlimmert werden. Je mehr Freiheit
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sie haben, um so besser geht es ihnen.*) Eine Kranke
z. B. war seit langem in der Zelle gehalten, die wegen
Lebensgefährlichkeit nie von einer Wärterin allein
betreten werden durfte; wir nahmen sie einmal aus
der Zellenabtheilung direct an eine Anstaltsfeier. Ein
paar Tage später sang sie bei einem ähnlichen Anlass
Lieder zur Unterhaltung der Kranken; nach kurzem
wurde sie auf die beste Abtheilung versetzt, erhielt
freien Ausgang, von dem sie einmal erst nach längerer
Zeit zurückkam (nach schriftlicher Abmeldung), um
ihre Kleider zu holen. Sie hatte sich draussen ge¬
halten und ist nun 6 Jahre arbeitsfähig geblieben.
Auch in Rheinau hatte ich mehrmals mit Glück
Hebephrene direct aus der Zelle nach Hause ent¬
lassen.
Katatoniker haben ferner Neigung zu Echo-
praxie, die nicht immer demonstrirbar ist, aber
sich schliesslich doch dadurch äussert, dass die Patienten
um so sociabler sind, je besser die Umgebung sich
verhält und umgekehrt. Sie sind ferner Stereo-
typiker: je länger sie unter abnormen Umständen
gelebt haben, um so mehr bildet sich geradezu eine
Art Bedürfnis nach diesen Zuständen aus, und wenn
sie mal eine Unart angefangen haben, so ist es
schwer, sie ihnen wieder abzugewöhnen, wenn man
nicht dem allerersten Anfang wehrt; die Leute, welche
durch die „Zellenbehandlung“ verkommen, sind be¬
kanntlich fast alles Katatoniker, — kaum je Manisch-
depressive, denen die Isolirung von allen Reizen im
Gegentheil oft die grösste Wohlthat ist Hält man
die „Katatoniker 44 so viel als möglich in normalen
Verhältnissen, so bleiben sie viel eher diesen angepasst
Bei „bessern“ Kranken kommt wohl auch hinzu, dass
sie, einmal an die Bequemlichkeit und Sorglosigkeit
des Anstaltslebens gewöhnt, die Mühsale des Kampfes
ums Dasein zu schwer empfinden, und deshalb immer
wieder der Anstalt zustreben, wenn auch meist
unbewusst.
Der principielle Unterschied zwischen
den Erfahrungen aus der Pflegeanstalt und
denen der Heilanstalt liegt aber darin,
dass man draussen den frischen Fällen
noch ein Interesse entgegenbringt, das
nach wenigen Jahren vollständig schwindet.
Deshalb ist es leicht möglich, den Ange-
gehörigen oder den Gemeinden frische
Fälle zu übergeben, sobald sie sich nur
halbwegs geordnet aufführen, während
*) Wollte ich mich an die gangbaren Schlagwörter an.
schliessen, so müsste ich sagen, für viele Kranke sei die An¬
stalt der empfindlichste Restraint, ev. ich verlange nichts als
Ausdehnung des No-restraint auch auf dieses Zwangsmittel,
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I 9°5-]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
443
nach Jahren auch ein hohes Kostgeld
niemanden mehr zur Aufnahme der Kranken
lockt. Aus all diesen Gründen fort mit den Kata-
tonikem aus den Anstalten, sobald jemand die Mühe
der Besorgung und eventuell die Verantwortlichkeit
übernehmen will, sei es in Form von Entlassung, sei
es in der der Beurlaubungen, welch letztere namentlich
sehr zu empfehlen sind und bei uns meist zu defini¬
tiven Entlassungen führen.
Zur Handhabung des letzteren Satzes gehört
allerdings das granum salis, das man bei jedem
Irrenarzt voraussetzen muss. Es giebt Kranke, sich
selbst und andern gefährlich, die man den Verwandten
nicht übergeben darf; es kann auch eine Katatoniker-
entlassung zu früh ausgesprochen werden, — aber
diese Fälle sind selten; einigermassen vernünftigen
Angehörigen kann man die Kranken früher überlassen
als man nach meinem Dafürhalten gerade in den
guten Anstalten bis jetzt zu thun geneigt war.
Dementsprechend ist aber auch bei den Auf¬
nahmen zu verfahren. Man weiss schon lange, dass
die bald nach der Erkrankung in die Anstalten ein¬
tretenden Fälle in viel grösserem Procentsatz geheilt
und gebessert werden als die „Verschleppten“. Man
war geneigt, daraus ein Lob für die Irrenanstalten
abzuleiten, das seit Jahrzehnten in allen Tonarten
gesungen wird. Es sind aber die rasch herein¬
kommenden Fälle die acuten; hierunter fallen fast
alle heilbaren, und die aufgeregten Katatoniker, die
sehr gute Remissionschancen bieten. Die andern
sind die lange verbleibenden, die quoad sanationem
schon bei der Erkrankung nicht mehr Aussichten
geboten haben als zur Zeit des Eintritts in die
Anstalt. Es ist also nichts mit jenem Beweise der
Vortrefflichkeit der Anstalt. Im Gegentheil, für die
Verblödungspsychosen ist die Anstalt im Grossen und
Ganzen schädlich, und nur als ein nothwendiges
Uebel zu betrachten, das sich während gewisser Zeiten
nicht vermeiden lässt, aber sofort vermieden werden
soll, wenn es nicht mehr nöthig ist. Ueberhaupt ist
die Heilungszahl kein Massstab für die Güte der
Anstalt; sie hängt vielmehr von den Aufnahmever¬
hältnissen ab. Die heilbaren Kranken heilen zum
grössten Theil auch in schlechten Anstalten; und bei
den Unheilbaren möchte ich sagen, kommt es jetzt noch
in erster Linie auf den Begriff an, den der Director mit
dem Worte „Heilung“ verbindet. Vielleicht wird
einmal die Zahl der Besserungen ein brauchbareres
Maass für die Leistungsfähigkeit der Anstalt.
Natürlich bietet die frühzeitige Entlassung auch
etwa Gelegenheit zu einem Unglücksfall. Aber cs
scheint gar ni^ht, dass es mehr Unglücksfälle gebe
als bei der grössten Vorsicht in den Entlassungen,
wobei die Anstalten überfüllt bleiben und die acuten
Fälle aus Platzmangel draussen gehalten werden
müssen. Der Irrenarzt muss sich eben, wenn ihm
einmal Vorwürfe gemacht werden sollten, damit
trösten, seine Pflicht gethan und mehr genützt als
geschadet zu haben. — Zur Illustration des Gesagten
mag dienen, dass ich von einer Irrenanstalt weiss,
wo bei Gelegenheit die Fälle zusammengestellt w erden
sollten, bei denen Kranke gegen den Rath der Aerzte
herausgenommen wurden und dann ein Unglück
angestellt hatten. Sie bildeten eine so geringe Minder¬
zahl, dass man vorzog, das Resultat nicht zu ver-
werthen. Erscheint es nach diesem sicher, dass man
oft zu vorsichtig ist, so möchte ich doch hierin nicht
zu leichtsinnig scheinen. Namentlich bei Manisch-
depressiven kann man kaum zu vorsichtig sein. Aber
allerdings wird die Beurtheilung nahezu unmöglich,
wenn man sich gegenüber der Kräpelin’schen Dia¬
gnostik, welche eben zugleich eine Prognostik ist,
ablehnend verhält.
Nicht ganz das gleiche wie das, was wir anstreben
ist die organisirte Privatpflege. Sobald die
Kranken ,,versorgt“ werden, fühlen sie sich weniger
gut, als wenn sie unter anscheinend normalen Ver¬
hältnissen zu Ihrer Familie oder zu Bekannten
kommen. Das Gefühl eines Zwanges, der Gedanke,
als Mensch zweiter Ordnung zu gelten, tritt zu leicht
auf und hat bei diesen Kranken, deren Gefühlsleben
sonst oft kaum nachzuweisen ist, einen ganz merk¬
würdigen Einfluss. Damit möchte ich gegen die Vortreff¬
lichkeit der Privatpflege für eine Menge von Fällen
nichts gesagt haben — im Gegentheil, ich kämpfe
hier schon seit vielen Jahren um deren Einführung,
scheitere aber vorläufig daran, dass wir kein Geld
haben, eine gesetzlich geordnete Aufsicht über die
privat Verpflegten durchzuführen, und dass uns trotz
aller Anstrengungen niemand, auch gegen hohes
Kostgeld, Geisteskranke abnehmen will, an denen er
kein persönliches Interesse hat, während sich die eigenen
Familienglieder und gute Bekannte ohne Kostgeld der
gleichen Kranken annehmen, und ganz von selbst
dafür sorgen, dass sie zur Arbeit und zu richtigem
Verhalten erzogen werden.
Natürlich giebt es auch noch andere Mittel der
Entlastung unserer Anstalten. Das wichtigste und auf
die Dauer allein wirksame Mittel wäre eine rationelle
Prophylaxe, der aber die Irrenärzte wie die Hygi¬
eniker immer noch aus dem Wege zu gehen scheinen.
Wenn man wollte, so könnte man immerhin in dieser
Richtung recht viel thun durch Bekämpfung des
Alkoholgenusses — man will aber vorläufig noch nicht.
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444 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 45
Viel schwerer wird es sein, die Degenerirten und
Entarteten von der Kinderzeugung abzuhalten; hier
fehlt es nicht nur am Willen, sondern man weiss noch
gar nicht recht, wie man die Sache anpacken könnte.
Wenn in den nächsten Generationen nicht mehr
genug Gesunde sein werden, die Kranken zu pflegen,
wird man wohl diese Fragen auch practisch angreifen.
Jetzt wäre es unsere Pflicht, unsem Nachkommen
wenigstens das theoretische Material zu bieten, das
ihnen ein rationelles Einschreiten ermöglichen wird.
Heilige Dinge aus Ost und West.
Von A . Grohmann ) Zürich.
1. „Buddhistische Keuschheitsehen.“
nter den mannigfachen Ueberbringern der in¬
dischen Ideenwelt nach Europa spielen die
Psychopathen eine hervorragende Rolle, sowohl durch
ihre grosse Zahl als durch die Intensität ihres Wir¬
kens auf das Gemüthsleben und die Lebenshaltung.
Umgekehrt haben die Psychopathen manches aus
Europa den Indiern zugetragen, und da der Vege¬
tarismus dort nicht mehr importfähig w^ar, so ist
unter dem dort Eingeführten neben vielen Bruch¬
stücken aus unsem sämmtlichen Staatsreligionen und
Secten der Spiritismus eines der Glanzstücke ge¬
wesen. Unter den Ueberbringern haben manche,
wie die Russin Blavatzki und der Amerikaner Olkott,
dort eine hervorragende Rolle gespielt in der Ver¬
quickung zweier Ideenwelten, und bei den etw’a 1830
und 1840 begonnenen Reformationen indischer Reli¬
gionen kam es bei Millionen von Indiern zur Aufnahme
von Vorstellungen europäischen Ursprungs. Die
Gegenwelle von dort hat uns besonders den Buddhis¬
mus gebracht, zu dessen Einführung in Europa
dement, excentrisch und paranoid angehauchte Psycho¬
pathen vielleicht mehr gethan haben, als alle Dichter,
Literaturhistoriker und übrigen Gelehrten zusammen.
Eine historisch - wissenschaftliche Schilderung dieser
Bewegungen innerhalb des modernen europäischen
Buddhismus hätte sich ausser mit den hauptsäch¬
lichen Vertretern, wie dem esoterischen Buddhismus
und der Theosophie etc., mit zahllosen andern von
geringem Umfang zu beschäftigen: alles was sich da
an Combination und Variation nur denken lässt,
scheint auch thätlich ausgedacht und ins Practische
übertragen worden zu sein. Aus diesem Riesenge¬
biete greife ich hier die „buddhistischen Keusch¬
heitsehen“ heraus, die in der Gesellschaft der Nor¬
malen und Gesunden noch sehr wenig bekannt sind,
für die sich aber vielleicht Psychiater interessiren
dürften, trotzdem sie nur selten mit Vertretern dieser
Sonderbarkeit zu thun bekommen mögen, da das
Wesentliche an ihnen practisch genommen eine Art
Heiligkeit ist, die nur selten schwere Collisionen her¬
vorruft. Die (europäischen) „indischen Buddhisten
nach der Ordensregel des ersten Buddha“, wie sie
sich auch gern nennen, haben das Gelübde der Ar-
muth, der Keuschheit und des Gehorsams. Buddha
hat gelehrt, dass das Elend der Welt nur durch das
Aussterben des Menschengeschlechts, also nur durch
die Keuschheit zu Ende gebracht werden könne-
Dem so gebotenen Cölibat kommen sie nach, da¬
durch , dass sie auf die gewöhnliche Ehe und jeg¬
lichen Geschlechtsverkehr „Verzicht leisten“ — (viel¬
leicht ihrer nicht bedürfen). Ein Theü von ihnen
will aber nicht auf die übrigen Faktoren verzichten,
die mit unserer Ehe verbunden sind, und deshalb
verbinden sie sich unter der Bezeichnung „Bruder
und Schwester“ oder auch „buddhistische Mönche
und Nonnen“ oder andern ähnlichen Bezeichnungen
zu Güter- und Lebensgemeinschaft. Da giebt es
herzige kleine Psychopathennestchen — aber auch
sehr viel Schönes. Nach den mir bekannten Fällen
und einer Anzahl Erkundigungen zu urtheilen, scheinen
da der Reichthum und das Lebensalter bei der Wahl
des Consors fast gar keine Rolle zu spielen, wohl
aber eine herausgediftelte „ethische Wahlverwandt¬
schaft“. Sie sind alle gegen den Luxus, die Frauen
tragen keinen Schmuck, sie leben meist sehr ein¬
fach und zwar vegetarisch und in Alkoholabstinenz
und helfen sich gegenseitig und auch Andern durch
Almosen. Sie bilden eine Art Orden, wenn auch
nur lose gefügt, denn viele von ihnen schlagen nach
den verschiedensten „Nebenrichtungen“, denen sie
nicht untreu werden möchten. Ihr Centrum ist in
Leipzig und sie wollen ungefähr 50000 Glieder in
Europa zählen — was ich nicht weiter controliren
kann. Eine mir bekannte Dame in Zürich, die erst
seit 2 Jahren mit ihrem buddhistischen Gefährten
lebt, und nur w r enige gesellschaftliche Beziehungen
hat, theilt mir mit, dass sie in dieser Zeit von 7
Paaren in Zürich mit Sicherheit erfahren habe, dass
sie zu den ihrigen zählen und dass sie in buddhistischer
Keuschheitsehe leben, von einem achten wisse sie es
noch nicht bestimmt. Ausser dem Erkennungszeichen
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beim Händereichen, dem Buddhakreuz bei der Unter¬
schrift in vertraulichen Briefen und einigen an den
Zimmerwänden decorativ angebrachten Symbolen
habe ich keine weiteren Abzeichen bei ihnen an¬
getroffen. Sonderbarer Weise haben selbst diese
heiligen Menschen gelegentlich polizeiliche Verfolg¬
ungen durchzumachen. Dies ist zu erklären als
Folge von Verleumdungen durch Hausgenossen,
denen wohl meist das Verständniss für den wahren
Charakter dieser Verbindungen fehlen mag: Man
verdächtigt sie des Concubinats und die Folge ist,
dass sie sich „darnach zu richten gelernt haben“
und gelegentlich wissen sie die einschlägigen Gesetze
und Polizeiparagraphen zu citiren fast wie Prosti-
tuirte, denen w r ohl auch nur dieser Theil der Gesetze
geläufig sein mag. Da sie keine gesetzliche Ehe
schliessen und sich auch nicht als Eheleute ausgeben,
so haben sie auf jene Punkte zu achten. Meist
miethen sie sich, als angeblich unabhängig von ein¬
ander, möblirte Zimmer im gleichen Hause oder die
Frau miethet eine Wohnung und hat den Freund
als Zimmermiether oder dgl.
Wir Europäer haben aber beim Eingehen solcher
Keuschheitsehen den Umweg über Buddha nicht
nöthig: Wir haben Vereinigungen, z. B. unter den
extremeren Tolstoianern und den sog. christlichen
Anarchisten, die auch diese Keuschheitsehen haben,
und ich habe die Ehre den Redakteur eines # 14 tägig
erscheinenden holländischen Blattes zu kennen, das
Propaganda für diese Sache betreibt. Der Herr hat
mich kürzlich besucht, „um mich zu veranlassen, die
Sache in der Schweiz zu verbreiten“; auch wollte
er, dass ich die Herausgabe seiner Propaganda¬
schriften auf Deutsch übernehme. Meine Brochure
über die Vegetarier in Ascona hatte ihn merkwürdiger¬
weise auf die Vorstellung gebracht, dass ich diese
Mission gerne übernehmen würde: Man sollte vor¬
sichtig sein können in der Wahl seiner Leser.
2. Der Verein „Silent Unity.“
In den Vereinigten Staaten giebt es einen Verein
445
„Society of Silent Unity“, dessen Thätigkeit sich auf¬
baut auf der Bibelstelle Matthäi 18, 19 und 20:
„Weiter sage ich euch, wenn euer zwei auf Erden
zusammen stimmen w'erden, um irgend eine Sache
zu bitten, so wird es ihnen zu Theil werden von
meinem Vater, der in den Himmeln ist.“ „Denn
wo Zwei oder Drei in meinem Namen versammelt
sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ Die Mitglieder
dieser Vereinigung haben die Erfahrung gemacht,
— so versichert ihr Organ „Unity“ —, dass, wenn
sehr Viele zugleich dasselbe wünschen, jeder von
ihnen Theil nimmt an der Berührung mit den obem
Mächten. So sei allmählich ihre Vereinigung von
unter einander Unbekannten entstanden, die sich
alle dazu verpflichten, jeden Abend von 9 Uhr ab,
5 Minuten lang ein und dasselbe zu denken. -Was,
das ist in ihrem Organ „Unity“ zu lesen. Dort wird
der sog. „Classengedanke“ ausgegeben, meist eine
Bibelstelle, die vom 20. des einen bis zum 20. des
nächsten Monats zu gelten hat Jedes Mitglied denkt
sich um 9 Uhr Abends diesen Satz, vereinigt sich
dadurch mit allen andern, und: „Alles was ihr immer
im Gebete begehret, glaubt, dass ihr es empfanget,
und es wird auch werden“.
Certificate der Mitgliedschaft giebt der Verein
gratis ab. Ihre Centrale, das „Hauptquartier“, be¬
schäftigt eine Anzahl Angestellter, die auch ein¬
schlägige Literatur gratis versenden, neben dem
monatlich erscheinenden Organ ,,Unity“, das 1 Dollar
pro Jahr kostet und in Kansas City im Staate Mis¬
souri erscheint. Es giebt an, dass es 7500 Abon¬
nenten hat, von denen manche körperlich und geistig
auf diesem Abonnementswege geheilt worden sind.
Unter den Directiven heisst es da: „Neu eintretende
Mitglieder haben meist viele neugierige Fragen, für
deren Beantwortung sie am besten das vom Verein
herausgegebene »Wahrheitsbuch* für 75 Cents kaufen
sollten“. „Die Silentium Stunde ist 9 p. m. Local-
zcit, denn geographische Zeit-Differenzen sind von
keinem Belang in Dingen geistiger Vereinigung.“
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Mittheilungen.
— Errichtung von Schutzmannsschulen.
Die Nothwendigkeit, eine bessere psychologische
Schulung der mit dem öffentlichen Sicherheitsdienst
betrauten Personen in die Wege zu leiten, dürfte jeder
für erwiesen an6ehen, der beispielsweise in forensischer
Thätigkeit Gelegenheit hatte, von Fällen Kenntniss
zu nehmen, in denen Widerstand, Beleidigung, Be¬
drohung etc. aus ungeeigneten Maassnahmen bei der
Sistirung erreglicher Individuen hergeleitet werden
konnten. Der Procentsatz der Psychopathen, Schwach¬
sinnigen, epileptisch Veranlagten ist unter den Rechts¬
brechern ein erheblicher, und eine Bekanntschaft mit
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446
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 45.
ihrer Eigenart seitens der gegen sie Einschreitenden
wird eine bessere Garantie für sachgemässe Behand¬
lung gewähren.
In diesem Sinne wird vom forensisch-psychiatrischen
Standpunkte aus die Errichtung von Schulen, in denen
Schutzleute und Criminalbeamte ausser in practischen
Dingen auch nach psychologischer Seite Unterricht
erhalten, mit lebhaftem Interesse verfolgt werden
müssen. Wohl eine der ersten Gründungen dieser
Art ist die jüngst in Darmstadt ins Leben gerufene
„Schutzmannsschule für das Grossherzog¬
thum Hessen.“ Im November und December
wurde bereits der erste Ausbildungscurs abgehalten.
Man beabsichtigt, demnächst neben Elementarcursen
auch Fortbildungscurse für ältere Schutzleute und
Polizeikommissäre abzuhalten, wobei die Behandlung
der psychologischen Seite in eingehender und wissen¬
schaftlicher Weise erfolgen soll.
Welche Tragweite ein Unternehmen dieser Art
gewinnen kann, liegt auf der Hand. Wir wollen nur
darauf hinweisen, welch ein wichtiger Factor eine
derartig ausgebildete Sicherheitsmannschaft im Kampfe
gegen die zunehmende Gemeingefährlichkeit der
Geisteskranken werden kann. Eine tactvolle Wahr¬
nehmung der Aufsicht über entlassene Geisteskranke,
in den Familien verpflegte Epileptiker und Imbecille
durch derart qualificirte Polizeiorgane dürfte wohl im
Stande sein, manches Unglück zu verhüten. — Hier¬
von ganz abgesehen wird eine gründliche psychologische
Durchbildung auch die beste Gewähr für eine Ueber-
griffe vermeidende Berücksichtigung gerechter An¬
sprüche Inhaftirter, in Untersuchungshaft genommener
Personen bieten.
Noch vieles ist auf diesem Gebiete zu thun, und
es ist Zeit, dass systematische Neuerungen allerorten
in Angriff genommen werden.
Dannemann- Giessen.
— 16. Westfälischer Provinziallandtag. In
der Sitzung vom 19. Januar wurde berathen über die
Abänderung des Anstellungsverhältnisses
der jüngeren Aerzte, des Pflegepersonals
und d er Bureaugch i 1 f en beidenProvinzial-
h eilanstalten und bei der Provinzialpf lege-
anstalt zu Eickelborn.
Berichterstatter Abgeord. Dr. Lö bk er -Bochum
erläutert die Vorlage:
Diese Vorlage verdankt ihre Entstehung der That-
sache, dass es in den letzten Jahren mit grossen
Schwierigkeiten verbunden ist, Assistenzarztstellen in
der irrenärztlichen Laufbahn zu besetzen. So hat auch
die am 1. April d. Js. bei einer Provinzialanstalt ge¬
schaffene 5. Arztstelle trotz aller Bemühungen nicht
besetzt werden können, da es an geeigneten Bewerbern
völlig fehlte. Die Gründe, weshalb sich so wenig
junge Aerzte der Thätigkeit an den Irrenanstalten
widmen wollen, sind verschiedene. Die Besoldung
dieser Aerzte kann nicht unzulänglich genannt werden;
die Oberärzte beziehen einen Gehalt von 4200 bis
5400 Mark bei freier Familienwohnung, die Assistenz¬
ärzte 1,500 M., steigend in 10 Jahren bis zu 2500 M.
bei freier Station 1. Klasse. Die hauptsächlichsten
Gründe sind wohl folgende:
1. die Eigenart der irrenärztlichen Thätigkeit, die
einerseits mancherlei Schwierigkeiten und Unannehm¬
lichkeiten, oft genug auch Gefahren, andererseits aber
nur wenig freudige Eindrücke mit sich bringt. Es
wird immer nur eine beschränkte Zahl von Aerzten
sein, die sich hier ihre Lebensaufgabe suchen;
2. das Misstrauen und die Abneigung, welche
heute in weiten Kreisen gegen Irrenanstalten und
Irrenärzte bestehen, im grellen Widerspruche zu dem
humanen Geist, der unsere moderne Irrenfürsorge
beherrscht;
3. die weltabgeschiedene Lage der meisten An¬
stalten; sie hält oft gerade die regsameren jungen
Aerzte fern, die für ihre wissenschaftlichen und
sonstigen geistigen Interessen in der grösseren Stadt
viel bessere Anregungen finden, als in einer ab¬
gelegenen Anstalt;
4. die stetig zunehmende Zahl von Assistenten -
stellen an städtischen Krankenhäusern und Universitäts¬
anstalten, welche dem jungen Arzte viel günstigere
Gelegenheit zur weiteren Ausbildung für die Praxis
bieten, als die Irrenanstalt. Eine mehrjährige Thätig¬
keit an der Provinzialanstalt hat nur für solche junge
Aerzte wirklichen Werth, die Psychiatrie als Lebens¬
beruf ergreifen wollen, sei es, dass sie über genügendes
Kapital zum späteren Ankauf einer Privatanstalt ver¬
fügen, oder dass sie auf Avancement weiterdienen;
5. gerade in Bezug auf das Avancement sind aber
für die Aerzte, die in den Dienst von Provinzial-
anstaltcn treten, die Aussichten völlig unsicher, für
viele geradezu trostlos. Auch für den tüchtigen Arzt
bleibt es völlig dem Zufall überlassen, ob er nach 2
oder nach 5 oder nach 8 Jahren oder überhaupt
jemals ‘im Anstaltsdienste eine Stelle erreicht, die ihm
die Gründung und Versorgung einer Familie gestattet.
Diese Unsicherheit der Zukunft hält vielfach gerade
die besseren Elemente vom Anstaltsdienste fern, oder
veranlasst sie nach mehr oder weniger kurzer Zeit
ihn wieder zu verlassen.
Hierin Wandel zu schaffen bezweckt die gegen¬
wärtige Vorlage: Den in den Dienst der Provinzial¬
heilanstalten und der Provinzialpflegeanstalt eintreten¬
den Assistenzärzten soll dadurch nicht nur die
Möglichkeit, sondern die Gewähr geboten werden,
dass sie nach einer bestimmten Zeit eine feste,
pensionsberechtigte Stellung mit einem zur Gründung
einer Familie ausreichenden Einkommen erlangen,
wenn sie sich bis dahin als für den Anstaltsdienst
durchaus geeignet erwiesen haben. (Welcher Art die
Aenderungen in den Anstellungsverhältnissen sind,
ergiebt der später folgende Antrag I der Vorlage.)
Da die moderne Irrenpflege auch bedeutend
höhere Anforderungen an das Pflegepersonal in den
Heilanstalten stellt, erscheint es nothwendig, auch
diese Gehälter und Anstellungsverhältnisse zu ver¬
bessern, um besonders bewährte und tüchtige Pflege¬
kräfte, männliche und weibliche mehr als bisher an
den Provinzialdienst zu fesseln und durch die Aus¬
sicht auf derartige bessere Stellen auch geistig höher
stehende Elemente zu diesem Krankendienst heran¬
zuziehen. Ebenso erscheint es dringend wünschens-
werth, die Gehalts Verhältnisse der Bureaubeamten der
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I 9°5-]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
447
Heilanstalten wenigstens der i. Bureaugehilfen ein¬
heitlich zu regeln. In welcher Weise dieses geschehen
soll, zeigen die Anträge II—V.
Die Vorlage geht dahin, zu beschliessen:
I. Die Anstellungsverhältnisse der Assistenzärzte
bei den Provinzialheilanstalten und der Provinzial¬
pflegeanstalt werden nach folgenden Grundsätzen
geregelt:
1. Das Gehalt beträgt im i. Dienstjahre 1500 M.,
im 2. 1750 M., im 3. 2000 M. neben freier Ver¬
pflegung in der 1. Tischklasse. Während dieser
3 Jahre steht beiden Theilen eine vierteljährige
Kündigung zu.
2. Solche Aerzte, welche sich 3 Jahre hindurch
im Dienste der Provinz Westfalen als tüchtig bewährt
haben, werden vom 4. Jahre an als „Abtheilungs¬
ärzte“ fest und mit Pensionsberechtigung angestellt.
Das Anfangsgehalt beträgt dann 3000 M., steigt nach
je 2 Jahren um 300 M. auf 3300, 3600, 3900 M.,
von da ab nach je 3 Jahren um 300 M. bis zum
Höchstgehalt von 4800 M. Daneben wird Unver¬
heirateten freie Wohnung für ihre Person, Verhei¬
rateten freie Familienwohnung nebst Garten oder,
falls eine Dienstwohnung riicht vorhanden ist, ein
vom Provinzialausschusse für die einzelne Anstalt fest¬
zusetzender Wohnungsgeldzuschuss, welcher jedoch
den für die Staatsbeamten der 5. Rangklasse in der
nächsten Stadt geltenden Satz nicht übersteigen soll,
gewährt.
3. Der Provinzialausschuss wird ermächtigt, in
besonderen Fällen ausnahmsweise auch eine an aus¬
wärtigen Heilanstalten verbrachte Dienstzeit ganz oder
theilweise auf die Dienstzeit eines Assistenzarztes an¬
zurechnen.
II. Die Anstellungs- und Besoldungsverhältnisse
des Pflegepersonals an den Provinzialheilanstalten und
der Provinzialpflegeanstalt werden wie folgt geregelt:
1. Der Barlohn der Pfleger bleibt der gleiche wie
er durch Beschluss des 39. westfälischen Provinzial¬
landtages festgesetzt wurde. Er beträgt: im 1. Jahre
500 M., im 2. 550 M., im 3. 600 M., im 4. und 5.
650 M., im 6. und 7. 700 M., vom 8. Jahre ab
750 M. Der Barlohn der Pflegerinnen beträgt im
1. Dienstjahre 300 M. und steigt mit jedem weiteren
Dienstjahre um 20 M. bis zum Höchstbetrage von
420 M. Das Aufsteigen in die höheren Lohnklassen
erfolgt bei Pflegern und Pflegerinnen erst nach Ablauf
desjenigen Vierteljahres, in welchem das höhere Dienst¬
alter erreicht ist! Für das Aufsteigen gilt ordentliche
Führung und befriedigende Leistung als Voraussetzung.
2. Der Landeshauptmann wird ermächtigt, für das
bei den einzelnen Anstalten neu eintretende Personal
eine Probe- und Ausbildungszeit von mehrmonatiger
Dauer anzuordnen. Sofern diese Anordnung getröden
wird, führt das davon betroffene Personal die Be¬
zeichnung „Hilfspfleger“ bezw. ,,Hilfspflegerin“. Die
„Hilfspfleger“ erhalten einen Monatslohn von geringerer
Höhe, als es dem Anfangslohn der Pfleger entspricht.
Diese Höhe wird für jede Anstalt vom Landeshaupt¬
mann bestimmt.
3. Solche Pfleger und Pflegerinnen, welche sich
als besonders tüchtig in ihrem Berufe bewährt haben,
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können vom Landeshauptmann nach Anhörung des
Anstaltsdirectors zu „Abtheilungspflegern“ bezw. „Ab¬
theilungspflegerinnen“ befördert werden. „Abtheilungs¬
pfleger' 1 erhalten einen Lohn von 750 M., 3 mal nach
je 2 Jahren um 50 M. steigend bis 900 M. Der
Lohn der „Abtheilungspflegerinnen“ beträgt 450 M.
und steigt nach je 2 Jahren um 50 M. bis zum
Höchstbetrage von 600 M. Die Zahl der „Abtheilungs¬
pfleger“ und „-Pflegerinnen“ soll nicht mehr als den
vierten Theil des gesammten Pflegepersonals betragen.
4. Allen Pflegepersonen wird neben dem Baarlohn
freie Verpflegung 3. Klasse gewährt, dem ganzen
Personal, mit Ausnahme der Hilfspfleger und Hilfs¬
pflegerinnen, auch freie Dienstkleidung, soweit dieselbe
uniformirt ist.
5. Solche Pfleger, welche verheirathet sind und
mit Genehmigung des Anstaltsdirectors einen eigenen
Hausstand führen, erhalten freie Familienwohnung
oder, soweit geeignete Wohnungen nicht zur Verfügung
stehen, einen vom Provinzialausschusse für die einzelne
Anstalt festsusetzenden Wohnungsgeldzuschuss, der
jedoch den Betrag von 120 M. für das Jahr nicht
übersteigen soll.
6. „Hilfspfleger“ und „Hilfspflegerinnen“ werden
auf 14 tägige, das übrige Personal wird auf V* jährige
Kündigung angestellt.
III. Das Baargehalt des 2. Oberpflegers beträgt
wie bisher 1200—1700 M., steigt 6 mal nach je 2
Jahren um 80 M. und einmal um 20 M. bis zum
Höchstgehalt.
IV. Die Oberpflegerinnen beziehen ein Gehalt
von 600—1000 M., welches 6 mal nach je 2 Jahren
um 60 M. und das letzte Mal um 40 M. bis zum
Höchstgehalte steigt; ausserdem erhalten sie freie
Station 2. Klasse.
V. Die 1. Bureaugehilfen an den Provinzialheil¬
anstalten erhalten das gleiche Baargehalt wie die
2. Oberpfleger: 1200—1700 M., 6 zweijährige Steige¬
rungen von 80 M., eine letzte von 200 M. Unver-
heirathete erhalten daneben Wohnung für ihre Person,
Verheiratheteerhalten Familienwohnung oder, sofern eine
solche nicht zur Verfügung steht, einen vom Provinzial¬
ausschusse für die einzelne Anstalt festzusetzenden
Wohnungsgeldzuschuss, der jedoch den Betrag von
200 M. nicht übersteigen soll. Der Provinzialaus¬
schuss wird ermächtigt, dem 1. Bureaugehilfen nach
dreijähriger einwandfreier Dienstzeit Ruhegehaltsberech¬
tigung zu verleihen.
Referent befürwortet die Annahme der Anträge
I—V namens der Kommission und aus eigenem. In
der Kommission für Haushaltspläne w r ar noch ge¬
wünscht die Erhöhung des Gehaltes der Aerzte sofort,
des übrigen von 190b an eintreten zu lassen.
Die Vorlage wird debattelos angenommen.
(Westf. Merkur.)
Damit sind für die Provinz Westfalen, in der die
Psychiatrie vordem als Stiefkind behandelt wurde,
Verhältnisse geschaffen, wie sie keine Preussische
Provinz bisher aufweisen kann.
Den Umschwung in den Anschauungen, die Ver¬
wirklichung dieser, von der Mehrzahl der deutschen
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448 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 45-
Irrenärzte seit lange erhobenen Forderungen verdanken
wir Männern, deren Namen seit langem in der west¬
fälischen Psychiatrie einen guten Klang haben; wir
meinen, wenn unsere Informationen richtig sind, den
Geh. Medicinalrath Dr. Gerl ach, Director der Prov.
Heilanstalt zu Münster und den neugewählten Director
der Prov. Heilanstalt zu Warstein, Dr. Simon, denen
sich als Referent im Landtag der Führer der deutschen
Aerzteschaft, Prof. Dr. Lobker -Bochum zugesellte.
M. M.
— Württemberg. Irrenanstalt für Straf¬
gefangene. Nach einer Bekanntmachung des
Regierungsblatteswnrd auf Hohenaspergam i. Febr.
die Irrenabtheilung für Strafgefangene in
Betrieb genommen. In dieser Anstalt sollen männ¬
liche Strafgefangene aus den höheren Strafanstalten,
die während des Strafvollzugs geisteskrank geworden
sind oder deren Geisteszustand zweifelhaft erscheint,
untergebracht werden. Die Anstalt bildet eine Ab¬
theilung des Zuchthauses in Ludwigsburg und steht
unter Aufsicht und Verwaltung der Zuchthausdirection,
während die Oberaufsicht dem Strafanstaltencollegium
bezw. dem Justizministerium zusteht. Aus der Haus¬
ordnung ist eine Bestimmung hervorzuheben, nach
der die Zuchthausdirection in geeigneten Fällen befugt
ist, die Begnadigung eines Gefangenen in Anregung
zu bringen. Insbesondere ist dies bei voraussichtlicher
Unheilbarkeit des Kranken statthaft. Ucber die Auf¬
nahme eines Gefangenen in die Abtheilung entscheidet
deren ärztlicher Leiter.
Referate.
— Archiv für Psychiatrie und Nerven¬
krankheiten. Bd. 38, Heft 3.
Fü r s t n er (Strassburg): Neuropathologie und
Psychiatrie.
Im Gegensatz zu denjenigen Bestrebungen, welche
neuerdings wiederum die Zugehörigkeit der Nerven¬
heilkunde zur innern Medicin verlangen (Fr. Schultze),
betont Ref. die Nothwendigkeit der Verbindung der
Neuropathologie mit der Psychiatrie. Sowohl an
den Kliniken, als auch in den zu Unterrichtszwecken
dienenden Provinzialanstalten ist der Anschluss von
neuropathologischen Abtheilungen an die psychia¬
trischen x\btheilungen wünschenswert!!, ferner ist die
Errichtung von Polikliniken für Nervenkranke an den
grossen Anstalten zu empfehlen. Die Vereinigung
beider Fächer ist zunächst erstrebenswert!! im Inter¬
esse des Unterrichts, sie wird ferner dem Lehrer
eine Quelle der Anregung und Befriedigung werden,
sie ist wichtig für die specielle Ausbildung künftiger
Nervenärzte und schliesslich wird sie durch die zahl¬
reichen Berührungen zwischen beiderlei Kranken und
deren Angehörigen viel mehr zur Beseitigung von
allerhand Vorurtheilen bezüglich der Geisteskranken
beitragen, als die Belehrungen der Irrenärzte es ver¬
mögen.
Ein fruchtbringender Austausch wissenschaftlicher
Ergebnisse hat zwar bisher schon zwischen beiden
Fächern stattgefunden, jedoch werden die x\rbeits-
ergebnisse sich noch vortheilhafter gestalten, wenn
dem Psychiater neuropathologisches Material und
dem Neuropathologen psychiatrisches Wissen in
grösserem Umfange zur Verfügung steht.
II o che (Freiburg): Eintheilung und Benennung
der Psychosen mit Rücksicht auf die Anforderungen
der ärztlichen Prüfung.
Obgleich unter den Irrenärzten über die Eintheil¬
ung und Gruppirung der Psychosen durchaus keine
Einigkeit herrscht, sind bei näherer Betrachtung die
Schwierigkeiten nicht allzu grosse, welche sich in
der Praxis bei den ärztlichen Prüfungen ergeben.
Denn über eine grosse Anzahl von Krankheiten
herrscht thatsächlich bereits Uebereinstimmung, wenn
auch nicht bis in alle Einzelheiten; als die eigent¬
lichen Differenzpunkte haben nur zu gelten die Aus¬
dehnung des Paranoia-Begriffs und das Kapitel von
der Dementia praecox. Bei einem gewissen Maass
von Opferbereitschaft von Seiten der Examinatoren
ist jedoch nicht allzu schwer durchzukommen. Zu¬
nächst dürfen, wie das bei anderen Disciplinen längst
üblich ist, diejenigen Punkte nicht als Gegenstand
des Sch ul vortrags dienen, welche noch in das Gebiet
der wissenschaftlichen Forschung gehören, dann wird
sich der Einzelne im Lehrvortrag der Nomenclatur
der Majorität fügen müssen, und endlich dürfen von
Examinanden nur die fin den practischen Arzt
noth wendigen Kenntnisse verlangt werden. Eine
präcise Namensdiagnose wird daher nur in anerkannt
typischen Fällen zu fonlern sein. im Uebrigen wird
es vollkommen genügen, wenn der Examinand im
Stande ist den Symptomencomplex in seinen Haupt-
componenten zu erkennen und daraus die prac-
tischen Schlussfolgerungen abzuleiten.
Arnemann- Grossschweidnitz.
— Pick, A.: lieber eine eigentümliche
Sch r eib 3 töru n g, Mikrographie, in Folge
cerebraler Erkrankung. Prag. Med. Wochen¬
schrift 1903, Nr. 1.
Zwei Fälle von Mikrographie bei Apoplektikern.
P. fasst die Erscheinung auf als Folge von Spann¬
ungszuständen der Muskeln , wie sie bei cerebralen
Herden auftreten.
Zum Vergleich wird herangezogen der trippelnde
Gang bei Paralysis agitans, auch im Stadium des
fehlenden Tremors, die demarche a petits pas von
Dcjcrine bei Pseudo-Bulbärparalyse, nach Rückgang
der eigentlichen Lähmungen. Wickel- Dziekanka.
Personalnachrichten.
— Wien. Der Privatdocent an der Universität
Wien Dr. Heinrich v. Halb an ist zum ausserordent¬
lichen Professor der Irren- und Nervenheilkunde an
der Universität Lemberg ernannt worden.
IVir den redactionelleti Thcit verantwortlich : Oberarzt Dr. J. Brrsler, Lublinitz , Schemen).
Krsclieint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseraten an nah me 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Heynemann’sche Buchdruckerei (Gebr. Wo'ff! in Halle a. S.
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Tabelle IE
Beilage zur Psychiatrisch • Neurologischen Wochenschrift - .
4. Feoruar 1905
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Hysterische Reactionszeiten; Assoziationsversuch bei der Patientin Lina H.
Jede einzelne Kolonne stellt die Dauer einer einzelnen Reaction (vom Moment der Aussprache des Reizwortes
bis zum Beginn der Antwort) dar in Sekunden.
□ igitized by IJÜ Ißraffirten Kolonnen in Tabelle II entsprechen sog. n ^ ,-r
■ARD UNIVER
Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift.
Redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Lublinitx (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.'Adresse : M arho Id Ver lag, Hallesaale. Fernsprecher 2834.
Nr, 46. ii- Februar. 1905.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden filr die 3spaltige Petitseile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten.
Analytische Untersuchungen der Symptome und Assoziationen
eines Falles von Hysterie (Lina H.)
Von Dr. Franz Riklin , bisher 1. Assistenzarzt am Burghölzli, z. Z. Sekundararzt an der Züricher Pflegeanstalt‘Rheinau.
Mit 2 Tabellen.
Oeit ca. 2 Jahren habe ich, hauptsächlich angeregt
^ durch die Arbeiten von Breuer und Freud,
einen Fall von Hysterie mit vorwiegend körperlichen
Symptomen verfolgt, der bei der Analyse durch die
Reichhaltigkeit an analytischem Material, den compli-
cirten Aufbau der Symptome, die fast ausschliessliche
Beschränkung der vielen Symptome aufs Körperliche
bemerkenswerth erschien. Ausser den Arbeiten der
genannten Autoren ist die Litteratur nicht gerade
reich an solchen Analysen, (vd. Cit. vers.) Der Fall
veranlasste mich auch darum zur Publikation, weil
er einige Resultate unserer Assoziationsversuche mit
den Ergebnissen der Analyse zu vergleichen und in
theoretischen Einklang zu bringen gestattet, wobei es
mir nöthig schien, den Begriff der „Conversion“, der
in den klassischen Studien über Hysterie aufgestellt
ist, einer Revision zu unterziehen.
A. Das klinische Bild.
Anamnese. Die Patientin, Lina H. wurde im
Kanton Zürich 1876 geboren. Der Vater ist ein
brutaler heruntergekommener Trinker. Sein Bruder
steht ihm in dieser Beziehung sehr nahe. Die
Mutter ist eine etwas sonderbare Person, die in der
Erziehung der Kinder gleichgültig war und stumpf, hin¬
gegen war sie eine tüchtige Wäscherin. Pat. hatte
4 Geschwister. Die älteste Schwester verunglückte als
kleines Kind. Die 2. Schwester ist verheirathet. Sie
wurde, als Pat. etwa 3—4 Jahre zählte, als 14—15-
jähriges Mädchen vom eigenen Vater missbraucht
und wurde gravid; das Kind starb jedoch kurz nach
der Geburt. Ein Bruder ist Schreiner, und bringt
sich ordentlich durch. Eine weitere Schwester der
Pat. starb mit 18 Jahren an einer langwierigen
Knochentuberkulose. Auch bei ihr machte der
Vater einmal einen Nothzuchtsversuch. Das nächste
Kind war Pat. selbst; mit ihr beging der Vater
ebenfalls Incest, nachdem sie bereits ein uneheliches
Kind hatte. Im August 1902 starb die jüngste
Schwester der Pat. im Wochenbett. Das Familien¬
leben war sehr zerrüttet.
Als Pat. 6 Jahr alt war, wurde der Vater wegen
Blutschande zu 4 Jahren Zuchthaus verurtheilt. Die
Mutter Hess sich von ihm scheiden und zog bald
darauf mit den Kindern in die benachbarte Stadt
W. Gegen das Ende der Schulzeit hin lag Pat.
wegen eines (hysterischen) Herzleidens im Spital.
Von der Schule musste sie öfters abgeholt werden,
weil ihr unwohl wurde. Dabei war sie ganz steif,
verdrehte die Augen, war bewusstlos und musste sich
tragen lassen; sie athmete heftig, als müsste sie er¬
sticken; eigentliche Zuckungen wurden nicht wahr¬
genommen. 13 Jahre alt, wurde sie zur weiteren
Erziehung und Pflege in die Anstalt Tw. gebracht.
Dort traten bald darauf die ersten Menses ein. Mit
17 Jahren kehrte Pat. wieder in ihre Familie zurück.
Unterdessen hatte sich auch der Vater wieder ein¬
gestellt und zum 2. mal mit der Mutter verheirathet.
Zuhause soll Pat. nicht gut behandelt worden sein.
Sie lernte einen jungen Maler kennen und wurde
schwanger. Die Geburt trat zu früh ein, nach einem
Unfall, das Kind starb 3 Jahre alt. 2 Jahre nach
dem ersten Kind bekam Pat. ein zweites; sie war
damals 20 Jahre alt. Sie hatte den Vater desselben,
einen Kaufmann, am eidgenössischen Schützenfest in
W. kennen gelernt; nachher konnte sie ihn nicht
mehr auffinden. Während ihrer Gravidität versuchte
ihr eigener Vater, der betrunken war, sie eines
Morgens zu vergewaltigen! Das zweite Kind, schwach¬
sinnig, ist versorgt. Die Pat. zog nun fort, nahm
Stellen an, war 3 Monate Zimmermädchen in einem
Züricher Hotel, dann in verschiedenen Wirthschaften;
sie fand oder suchte dann keine Stellen mehr, war
oft in Noth und prostituirte sich manchmal. Zuletzt
verkehrte sie mit einem jüdischen Kaufmann, von
diesem wurde sie wieder gravid. Sie nahm nachher
nochmals eine Stelle an, kehrte aber gegen das
Ende der Schwangerschaft nach Hause zurück. Dort
erwarteten sie schwere Vorwürfe. Sie lief von Hause
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HARVARD UNIVERSITY
450
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 46 .
weg, nachdem schon die Fruchtblase gesprungen war,
bekam Wehen und gebar ihr drittes Kind an einem
kalten Herbstmorgen im Walde draussen (31. Okt.
1897). Die Geburt erfolgte um 8 Uhr Morgens, um
V2 3 Uhr Nachmittags wurde Pat. aufgefunden, neben
ihr das noch lebende Kind, welches aber nach einer
halben Stunde starb. Man brachte die Mutter ins
Kantonsspital in W. Nach 14 Tagen wurde sie vom
Schwurgericht wegen fahrlässiger Tötung ihres 3.
Kindes zu 1 Jahr Arbeitshaus verurtheilt. In der
Strafanstalt war sie fleissig, soll oft kränklich gewesen
sein und gegen das Ende der Strafzeit Husten und
Auswurf gehabt haben. Nach der Entlassung wurde
sie vom Verein für Aufsicht über entlassene weibliche
Gefangene in einem Mädchenasil untergebracht. Sie
war dort anfangs sehr fleissig, wurde aber bald
eigensinnig, verfiel in Trübsinn, hatte Selbstmord¬
gedanken und kam deshalb nach einigen Wochen
ins Burghölzli, im März 1899.
2. Status. Lina H. ist eine ziemlich kleine,
zart gebaute Person, immer sehr reinlich gekleidet,
oft etwas auffallend herausgeputzt, doch den Ver¬
hältnissen entsprechend mit sehr einfachen Mitteln.
Das Gesicht ist blass, mager, das Haar roth, die
Lider fallen ziemlich tief auf die blassen, hohlen
Augen; Kleidung, Auftreten und Aussehen stempeln
Pat. zu einer interessanten Figur. Sie spricht ein
etwas affektirtes ,,gewähltes“ Schweizerdeutsch und
vermeidet sorgfältig die plumpen oder rohen Dialekt¬
ausdrücke. Pat. ist nicht sehr intelligent, aber eigent¬
liche Schw'achsinnssymptome lassen sich nicht nach-
weisen.
Ueber körperliche Krankheiten haben wir objek¬
tiv folgende Anhaltspunkte: Nach der Aufnahme
wurde konstatirt: Pat. hustet zeitweise; wenig Aus¬
wurf. Mehrere Untersuchungen der Lungen gaben
keinen sichern Anhaltspunkt für das Bestehen tuber¬
kulöser Veränderungen. Auch für das häufige
Seitenstechen nichts Objektives. Im März 1900:
Kleine, schmerzhafte Drüse vor dem linken Ohr.
Eine gynäkologische Untersuchung im August 1900,
wegen Ovarialschmerzen, ergab leichte Retroflexion
und Retroposition des Uterus und ein kleines Ovulum
Nabothi. Etwas Ausfluss. Eine Untersuchung im
Frühjahr 1903 ergab, obwohl starke Schmerzen in
der rechten Ovarialgegend angegeben wurden, nichts
Besonderes; Ref. meinte eine leichte Resistenz im
rechten seitlichen Scheidengewölbe zu fühlen. Im
Auswurf, der zeitweise vorhanden war, konnten
Tuberkelbazillen nie nachgewiesen werden. Eine
Magensaftuntersuchung während einer appetitlosen
Zeit im Frühjahr 1903 ergab Hypazidität.
Das ist so ziemlich alles, was objektiv Patho¬
logisches herausgefunden werden konnte; es entspricht
keineswegs der kolossalen Menge und Häufigkeit der
subjektiven Beschwerden, ja ich wage den Verdacht
zu hegen, dass bei den Pulmonalbefunden die Menge
der subjektiven Symptome eine leise Suggestion
auf die Untersuchung ausgeübt habe. Der Umstand,
dass nach der Analyse alle Pulmonalsymptome,
Schmerzen, Husten und Auswurf ganz verschwunden
sind, sjnicht für diese Annahme.
Im Uebrigen ergiebt eine neue körperliche Unter¬
suchung nichts von Bedeutung.
3. Kran kheits verl auf. Um ein Bild vom
Krankheitsverlauf zu geben, führe ich hier einige
Notizen aus der Krankengeschichte an. Im allge¬
meinen bietet Pat einen auffallenden Wechsel
zwischen fröhlicher, ausgelassener Stimmung und
Depression; Pat. liegt dann häufig zu Bett, weint
viel, ist mürrisch, giebt wenig Auskunft oder keine.
Die Dauer dieser Stimmungen variirt sehr. Häufige
Klagen über Stechen auf der rechten Seite, Schlaf¬
losigkeit, Appetitraangel. Zeitweise isst Pat fast gar
nichts, man muss ihr mit künstlicher Ernährung
drohen. 30. 3. 99. Husten bei Nacht, wenig Aus¬
wurf. — 9. 7. 99. Bald zu Bett, bald wieder auf,
starke pleuritische Schmerzen. Wickel, Liniment,
volatile, Morphium. Pat. nährt sich fast nur von
Milch, sie nützt die wenige Nahrung ausgezeichnet aus.
magert kaum ab, bleibt beim gleichen Gewicht.
6. 10. 99• Deutliche Periodizität, ein paar
Tage munter und fidel; Pat. singt, lacht, spricht viel
mit dem Arzt, dann wieder eine Reihe von Tagen
zu Bett, stumm, deprimirt, klagt über Seitenstechen
und Kopfweh.
11. 10. 99. Klagt, ihre Augen seien zeitweise
so schlecht, besonders wenn sie nicht schlafen
könne.
29.11.99. Verlangt oft Sch lafmittel. Heroin
gegen den Husten. J od an st rieh gegen Stechen
in der rechten Seite.
20. 12. 99. Wieder deprimirt, zu Bett. Halb¬
seitige Gesichtsschmerzen; dazu die alten Klagen.
Isst nichts.
5. 3. 1900. Schwer zum regelmässigen Essen zu
bringen, man droht ihr mit künstlicher Ernährung.
Man nimmt auf ihre Launen und ihren Geschmack
beim Essen Rücksicht. Gestern beim Fastnachtsball
tanzte sie grösstentheils allein, wie traumverloren.
27. 3. 00. Eine Drüse vor dem rechten Ohr
wird mit Ichthyolumschlägen behandelt. Bald will
Pat. keine Umschläge mehr. Wieder Schwierigkeiten
mit dem Essen.
20. 6. 00. Arbeitet oft auf dem Felde und auf der
Lingerie, sieht besser aus. Oft trübe Stimmung, bei
Anstaltsanlässen aber meist heiter, wie rasend tanzend.
27. 7. 00. Weitere medicamentöse Behandlung
der Drüse vor dem linken Ohr. Ichthyolumschläge;
J odoformsalbe.
25. 8. 00. In der letzten Woche viel zu Bett;
Schmerzen in Brust und Kreuz. Isst äusserst wenig.
Wegen der Kreuzschmerzen gynäkologische Unter¬
suchung. „Fast“ nichts positives zu finden.
16. 10. 00. Bekam Morphium wegen Husten.
2 8. 10. 00. Wird gegen die Schlaflosigkeit hyp-
notisirt, mit Erfolg.
27. 7. 1901. Meinte heute nach zwei richtigen
Elendstagen, sie sei hier nicht am richtigen Platze;
will fort.
13. 12. 01. War lange Zeit ganz unnahbar,
wollte vom Arzt nichts wissen; dann ziemlich plötz¬
licher Umschlag. Sie bittet den Arzt unter Thränen,
sie zu entlassen, schliesslich lässt sie sich doch über-
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
45'
1905]
zeugen, dass dies nach den bisherigen Erfahrungen
unsinnig sei, wird freundlicher. Dieses Hinausdrängen
stellt sich während der schlechten Zeiten oft ein,
nachher ist Pat wieder zufrieden.
28. 5. 1902. Immer wechselnde Stimmung;
meist am Morgen tief betrübt weltschmerzlich zu Bett,
massenhafte Klagen über unzählige Leiden, Magen¬
schmerzen vorherrschend. Abends meist besser.
Pat macht jedes Fest in ausgelassenster Laune mit.
18. 6. 02. Neulich viel Erbrechen. Magenspülung
mit Erfolg.
23. 8. 02. Hustet in letzter Zeit viel. Kein ob-
jectiver Lungenbefund.
1. 10. 02. Klagt seit kurzem über Schmerzen in
der Gegend des Muskelbauches des Supi¬
nator longus am rechten Unterarm. Bei
der ersten Untersuchung war diese Gegend resistenter,
die folgenden Male keine deutlichen Veränderungen
nachweisbar. Zeitweise Klagen über Schmerzen
in der rechten Ovarialgegend; besonders z.
Zt. der Menses; objectiv nichts sicheres nachweisbar.
Hypnosen. Zeitweise wird Pat. wegen Schlaf¬
störung hypnotisirt. Sie eignet sich sehr gut zu hyp¬
notischen Experimenten. Schöne posthypnotische
Wirkungen. Lässt sich leicht in verschiedene Bewusst-
zustände bringen, z. B. wird ihr in Hypnose ein Stück
Seife gegeben und ihr suggerirt sie beisse in einen
guten Apfel. Nach der Hypnose Amnesie. In
einer späteren Hypnose Erinnerung an diese Scene:
Man habe ihr einen guten süss schmeckenden Apfel
gegeben. Sie wird nun in sogen, tiefere Hypnose
versetzt, in welcher sie angeben kann, dass man ihr
ein Stück Seife gegeben habe, welches schlecht, laugen¬
haft schmeckte. Die Sinneseindrücke, welche die Seife
machte, waren also unbewusst alle registrirt worden,
und die unpassenden hatten sich von den für die
Suggestion passenden abgespalten.
9. 4. 1903. An der Fastnacht sehr lebhaft, als
Zigeunerin verkleidet, nachher wochenlang zu Bett.
Fühlt sich nachher 8 Tage lang so schwach, und hat
Schmerzen in den Beinen, dass sie nur schwer gehen
kann und sich an den Wänden hält. Macht fast un¬
erschwingliche Ansprüche an die medicamentöse Be¬
handlung ihrer Leiden, bald verlangt sie Schlafpulver,
bald Pulver gegen Kopfschmerz, Ichthyolumschläge
auf die rechte Ovarialgegend, Wickel wegen Seiten¬
stechen, Bleiwasserumschläge gegen die Schmerzen
im rechten Unterarm, besondere Speisezettel in allen
Nüancen. Isst namentlich kein Fleisch; zeitweise
macht man Magenspülungen; ein Magentumor ist nicht
nachweisbar. Pat. kann zeitweise nicht gehen, klam¬
mert sich an Bett und Stühle, verlangt Kamillenthee
wegen Krämpfen im Unterleib beim Unwohlsein, Ein¬
reibungen mit Campherspiritus gegen die Rücken¬
schmerzen. Gegen den sporadisch auftretenden Husten
giebt man ihr Codein, wegen Hypacidität Salz¬
säure. Sie ist so ein Kreuz für die Pflegerinnen.
Schliesslich musste consequent mit den Medicamenten
abgebrochen werden, was die Pat. zeitweise sehr ver¬
stimmte, da sie meinte man kümmere sich gamicht
mehr um sie, auch das fortwährende Erbrechen bringt
sie sehr herunter, sie klagt viel darüber und hat Angst
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vor Magenkrebs. Als sie im Frühjahr sich oft über
Krämpfe in der Herzgegend beklagte, den Ref. bat,
ihr Herz zu untersuchen und nichts gefunden werden
konnte, wurde die Analyse nach den Freud’schen
Angaben, immerhin meist mit Hülfe eigentlicher Hyp¬
nosen begonnen, deren Resultate die Diagnose: Hys¬
terie erhärteten.
Bei der Analyse hielt ich mich möglichst genau
an die von Breuer und Freud angegebenen Me¬
thoden.
B. Psycho-Analyse der Symptome.
Die folgenden Notizen stammen meist aus den
Protocollen, welche über die einzelnen hypnotischen
Sitzungen geführt wurden.
Das Erbrechen. Zeitweise, eine bestimmte
Periodicität wurde nicht konstatiert, stellte sich bei
unserer Pat. Erbrechen ein, das geradezu beängstigend
werden konnte. Pat. konnte nichts mehr bei sich be¬
halten, alle Diätcuren nützten nichts, namentlich ver¬
trug sie kein Fleisch. Sie lag oft wochenweise im
Bett, war nach jedem Erbrechen sehr verstimmt, oft
unzugänglich, man machte Magenspülungen ohne Er¬
folg; da Hypacidität bestand, wurde Salzsäure ver¬
ordnet, aber die ganze medicamentirte Therapie war
oft machtlos. Es fiel uns auf, dass Pat. bei der that-
sächlich ganz ungenügenden Ernährung im Gewichte
nicht stark zurückging, sie schonte sich allerdings sehr;
dazu liegt die Annahme eines Sparstoffwechsels äus-
serst nahe.
Zusammenhang mit Masturbation. Hinter
diesem Erbrechen nun liegt eine ganze Reihe
psychischer Traumen, welche in der Hypnose gefun¬
den wurden. Pat. gestand nach langem Widerstreben,
dass sie seit 1V2 Jahren oft masturbire, jedesmal
mache sie sich nachher Vorwürfe, sei mürrisch, wider¬
wärtig für die andern Patienten, sie schäme sich sehr,
glaube man sehe ihr ihre Untugend an, sie empfinde Ekel
vor sich selber, sie müsse regelmässig erbrechen.
Es stellte sich später heraus, dass Pat. diese Symp¬
tome nicht nach jeder Masturbation zeigte, sehr oft
stellten sich andere körperliche Symptome ein als
Erbrechen, und zweitens kam es sehr darauf an, wen
sich Pat. beim Masturbiren vorstellte resp. wen sie
halluzinirte. Pat., die das Geständniss der Mastur¬
bation mit vielen Selbstanklagen vorgebracht hat, er¬
zählt weiter, sie habe dann jeweilen ein Gefühl -vom
Unterleib herauf bis in die Schlundgegend und Neigung
zum Erbrechen, ohne eigentliche Schmerzen in der
Magengegend.
Sexuelle Träume. Der Pat. fällt weiter ein,
dass ihr seit geraumer Zeit, besonders seit circa 1V2
Jahren oft träume, sie werde von ihrem Vater sexuell
missbraucht; am folgenden Tage sei sie jeweilen eben¬
so ungeniessbar, und jedesmal müsse sie sich erbrechen,
diese Träume aber traten erst auf, nachdem sie vor
der genannten Zeit einmal vom Vater in der Anstalt
besucht worden war. Bei ihrer Aufnahme, 1899
wurde ihr erklärt, dass sie von ihm nicht besucht
werden dürfe, sie machte darauf eine grosse Scene,
und fühlte nachher lebhafte Schmerzen, Krämpfe in
den Brüsten und der ganzen Brustgegend. Unter¬
dessen hatte ein Arztwechsel stattgefunden, man hatte
Original from
HARVARD UNiVERSfTY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 40.
die früheren Geschehnisse vergessen, und als vor 1
Jahren der Vater einmal zum Besuch erschien, wurde
er zugelassen. Sie traf ihn im Besuchszimmer in
ziemlich unordentlicher Kleidung, w r as bei einem ver¬
kommenen Alcoholiker nicht unerklärlich ist. Beson¬
ders peinlich empfand sie einen Riss in dessen Bein¬
kleidern, sodass an jener Stelle der Schenkel entblösst
war. Sie empfand Scham und Ekel, konnte den Ge¬
danken nicht los werden, dass jeder, der sie beide
jetzt sehe, etwas ungebührliches von ihr denken müsse;
wie von einem Uhrwerk getrieben durchzogen alle
früheren Erlebnisse das Bewusstsein, speciell auch
eine Scene, wo sie von ihrem Vater wirklich missbraucht
worden war. Als sie vom Besuchzimmer nach ihrer
Abteilung ging, musste sie sich heftig erbrechen.
Incest Das nächste war nun, dass Pat. über
jenes sexuelle Attentat ihres Vaters Auskunft gab.
Es war einige Monate nach ihrer ersten ausserehe-
lichen Niederkunft. . Sie konnte oft wenig schlafen,
weil sie ihr Kleines zu besorgen hatte. In jener
Nacht brannte ein Haus in der Nachbarschaft; am
Morgen legte sie sich, da sie sehr müde war, auf den
Rath der Mutter nochmals zu Bette. Unterdessen
war der Vater betrunken heimgekommen, nachdem
er der Feuersbrunst zugeschaut und gezecht hatte.
Er fand die Tochter im Bett. Als sie erwachte,
fühlte sie dessen Körper. Sie empfand grossen Ekel
vor dem brutalen Trunkenbold, von dem sie wusste,
dass er auch Blutschande an ihrer Schwester verübt
hatte. Es war ihr recht übel zu Mute, sie musste
sich erbrechen darob.
Zusammenhang mit Schmerzen in der
Bru9t. Oberbewusste Erklärungsversuche.
Während Pat. beim Geständnisse, dass sie masturbire,
sich selbst schwer anklagte, heftig schluchzte, an einer
Besserung ihrer ganzen Lage verzweifelte und scheinbar
dem Ekel über ihr Laster intensiven Ausdruck gab, wurde
sie bei der Erzählung vom Incest von krampfartigen
Schmerzen in den Brüsten und der Brustgegend er¬
griffen.
Wir werden der Erscheinung, dass ein Symptom
abreagirt, d. h. die Erzählung davon von starken Affect-
äusserungen begleitet und in den Einzelheiten sehr
deutlich vorgestellt wird, während gleichzeitig ein an¬
deres körperliches Symptom — hier Schmerzen in
den Brüsten — auftritt, noch mehrfach begegnen.
Gewöhnlich ist das Abreagiren nicht vollständig,
es liegen noch andere Einzelheiten im Unterbewussten
verborgen, und die neuen Schmerzen verrathen Zu¬
sammenhänge mit der Geschichte, welche ihnen zu¬
grunde liegt.
Pat. giebt an, dass Reizzustände der Genitalsphäre
namentlich zu Beginn der Menses auftreten, so dass
sie dann viel häufiger masturbire. Dann sei sie tage¬
lang unausstehlich, verbissen, weine viel und dränge
auf Entlassung. Sie wisse, dass es gerade dann am
Verderblichsten wäre und sie unbedingt ihr altes
Leben wieder aufnehmen würde. — Wenn man
sie aber zu diesen Zeiten im wachen Zu¬
stand reden hört, so führt sie ihr Weinen auf
ihr Heimweh zurück und das eintönige Anstalts¬
leben ; sie könne nur draussen ganz gesund werden
Digitized by Go, gle
und sich besser pflegen; sie habe in ihrem Leben
jetzt genug erfahren, so dass sie wisse, wie sie sich
verhalten müsse. Von neuen sexuellen Verirrungen
sei keine Rede, dazu sei sie zu alt und durch die Er¬
fahrung gewitzigt.
Das Oberbewusstsein erklärt also das Symptom
ganz anders, und trotzdem anscheinend plausibel.
Hätten wir nicht die Hypnose, so wären wir über
die wahre Ursache des Symptoms ohne richtige Aus¬
kunft. Es ist gerade in diesem Fall sehr auffallend,
wie um das „Conversionssvmptom“ herum ein mög¬
lichst natürlich scheinendes Milieu geschaffen, mög¬
lichst annehmbare Erklärungen gebaut werden.
Exhibition. In einer folgenden Hypnose stos-
sen wir auf eine Schicht neuen Materials. Pat. hatte
sich das letzte Mal auf frühere sexuelle Erlebnisse
nicht besinnen können. Jetzt aber fällt ihr ein, dass
in der Anstalt P., wo sie nach VerbÜssung der Strafe
untergebracht war, an der Fastnacht ein anderes
Mädchen kam und sie aufforderte, in den Hof jenes
Hauses hinunterzusehen. Dort stand ein Mensch, der
exhibirte. Sofort empfand sie Brechreiz.
Pathogene Erlebnisse vor der Pubertät.
Endlich kamen ihr Erlebnisse in den Sinn, die
vor die Zeit ihrer Menstruation fallen. Pat.
war mit ihrer Grossmutter in jenem Dorf und Hause
in J. in den Ferien, das die Familie vor ihrem Weg¬
zug nach der Stadt W. bewohnt hatte. Sie schlief
dort im gleichen Zimmer mit einem verwandten Mäd¬
chen. Abends nun erschien öfters ein verheirathetei
Vetter, der sowohl die Pat., als das andere Mädchen,
mehrmals missbrauchte. Jedesmal musste Pat. er¬
brechen, es war ihr sehr übel zumuthe. Als sie sich
an einem solchen Abend zur Grossmutter flüchten
wollte, wurde sie vom Vater dieses Mannes an den
Haaren in ihre Kammer zmückgebracht Die Gross¬
mutter fand es dann für gut, folgenden Tages mit
ihr nach Hause zurückzukehren.
Pat. war damals etwa 12 Jahre alt, während die
Menses mit 13 Jahren eintraten. Nun aber war sie
vom gleichen Vetter, noch früher, mit ca. 10 Jahren,
einmal missbraucht worden, als sie noch in J.
wohnten. Pat. versichert, dass sie vorher nichts von
den sexuellen Verhältnissen gewusst habe. Als sie
allein zu Hause war, lockte sie der Mann freundlich
in die Scheune. Das Mädchen wollte nicht recht
folgen und empfand ein gewisses Misstrauen, da gab
er ihm 50 cts. In der Scheune drohte er ihm und
sagte, wenn es ihm nicht gehorche und ruhig sei, so
werde er der Mutter schon sagen, wie unfolgsam und
widerspenstig es sei. Hierauf vollführte er sein Vor¬
haben. Pat. berichtet, sie habe starke Schmerzen
und Ekel empfunden, es sei ihr elend zumuthe ge¬
wesen den ganzen Tag, und sie habe sich heftig er¬
brochen.
Das erste Attentat ist unter den in Betracht kom¬
menden das älteste psych. Trauma, dem wir in
der Analyse des Falles auf die Spur kommen, und
es wäre damit ein sexuelles Trauma vor der Puber¬
tät gefunden, wie es in der Hysterietheorie von Breuer
und Freud eine Rolle spielt.
(Fortsetzung folgt.)
~' Original fro m
HARVARD UNIVERSITY
190,5-]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
455
Einiges Neueste aus der fremdländischen Litteratur zur Unterbringungsfrage
der irren Verbrecher und der geistig und social Minderwerthigen.
Von Medizinalrath Dr. P. Nocke in Hubertusburg.
Tn einer Artikeireihe (No. 48, 1904, No. 9 und
10, 1904 und No. 26, 1904) h*tbe ich ziemlich
erschöpfend die Frage nach der Unterbringung der
irren Verbrecher und der geistig Minderwerthigen be¬
handelt Es geschah dies vornehmlich vom Stand¬
punkte des Psychiaters und Psychologen aus, während
ich absichtlich die juristische und verwaltliche Seite
der Frage nicht oder nur gelegentlich berührte, da
ich ja hierin Laie bin und mir in diesen Dingen
folglich kein selbständiges Urtheil anmaasse. Hier
eben müssen Mediciner und Juristen Zusammenarbeiten
und sich zu ergänzen suchen.
Ich hatte zunächst gezeigt, dass in Deutschland
die Meinung Competenter immer mehr sich für die
Errichtung von Adnexen an Strafanstalten*) für irre
Verbrecher ausspricht und von Centralanstalten nichts
wissen will. Auch die Adnexe an Irrenanstalten be¬
gegnen nur wenig Gegenliebe, da sie sich bei uns
nicht besonders bewährten, wie von neuem der Bericht
aus Düren darlegt. Ausdrücklich hatte ich aber hervor¬
gehoben, dass Centralanstalten gut oder wenigstens
leidlich fungiren können, wie es namentlich Broad-
moor in England und Matteawan-Hospital**) in Amerika
beweisen. Dass dort aber die Verhältnisse ganz anders
liegen, als bei uns, hob ich speciell hervor.
Für die Adnexe an Strafanstalten hatte ich aber
einen grösseren Raum, etwa 150 Plätze gewünscht,
um so eine kleine Irrenanstalt darzustellen mit allen
nöthigen Einrichtungen. Wichtig scheint mir weiter
die Forderung, dass dieser Adnex nicht bloss
Durchgangsstation sein, sondern ausser zur Beob¬
achtung und Kur noch die Ueberwachung der ge¬
fährlichen oder depravirenden Elemente unter den
chronischen Fällen auf unbestimmte Zeit be¬
zwecken sollte. Endlich wäre es sehr erwünscht —
und das scheint mir das Wichtigste! — dass er nicht
bloss die irren Verbrecher aus dem Strafhause, sondern
*) Von Kunowsky behauptet in No. 43, 1905, dass ich
die Ausführungen Heilbronners über den fraglichen Gegen¬
stand in meinem kurzen Artikel (No. 41, 1905) falsch auf¬
gefasst habe. Ich bitte den Leser, die Schlusssätze der
Ileilbronnerschen Arbeit, auf welche meine Kritik sich allein
auf baut, aufmerksam zu lesen und mit meinen Darlegungen
zu vergleichen. Ich bin überzeugt, er wird mir nur Recht geben.
**) Der ausserordentlich tüchtige und verdienstvolle Leiter
vom Matteawan-Hospital, Dr. A-llison, der auch gute
Arbeiten lieferte, ist leider kürzlich im besten Maunesalter ge¬
storben. Ehre seinem Andenken!
Digitized by Google
auch diejenigen verbrecherischen Irren und ander¬
seits diejenigen unbestraften Geisteskranken der
gewöhnlichen Irrenanstalt mit aufzunehmen hätte,
welche wegen ihrer Gefährlichkeit oder Depravirung
in die Irrenanstalt nicht passen. Diese 3 Categorien
— denen unter Umständen noch gewisse geistig
Minderwertige beigemischt werden könnten — sind
nach allgemeinen psychiatrischen, besonders aber s o-
cialen Gesichtspunkten, zu ordnen, nicht also
nach der ursprünglichen Kategorie, der
sie zugehören. Am besten würde dann die Anstalt
den Namen: Anstalt für gefährliche Geisteskranke
führen. Endlich ging ich noch einen Schritt weiter
und wollte diese Anstalt für spätere Zeiten an eine
Irren-Heil- und Pflegeanstalt, aber unter selbstän¬
diger Leitung angeschlossen haben, welche dann jedoch
nicht einem Adnexe an Irrenanstalten gleich zu
setzen wäre.
Ein besonderer Artikel behandelte auch ziemlich
eingehend die Art der unterzubringenden geistig
Minderwerthigen und verlangte neben besonderen
Schwachsinnigen-, Epileptiker- und Trinkeranstalten
für die restirenden Elemente, die schlecht ins Irren¬
haus, aber auch nicht ins Gefängnis passen, eigene
Anstalten, der Billigkeit halber im Blocksystem er¬
baut, event. auch als Landkolonieen gedacht. Ich
habe wohl als Erster ziemlich genaue Angaben über
die Bauart und die Einrichtungen dieser Zwischen¬
anstalten gemacht.
Alle diese 3 Artikel dienten zur weiteren Aus¬
führung dessen, was ich in meiner Monographie *)
schon gesagt hatte. Sie bilden damit also ein orga¬
nisches Ganze, dem z. Z. nur wenig noch beizufügen
wäre. Um jetzt wirklich Neues sagen zu können,
haben wir erst die Erfahrungen der neu errichteten
Strafanstalten in Preussen und anderswo abzuwarten,
die hoffentlich nur das schon Gesagte bestätigen werden.
Wir müssen schon froh sein, dass diese Adnexe
zunächst nur als Durchgangsstation dienen. Z. Z.
lagen jedenfalls verschiedene Gründe vor, die diesen
Character nicht abstreifen Hessen. Dass aber recht¬
lich, v e r w a 111 i c h u n d p s y c h i a t r i s c h a u c h
ein grösserer Adnex zu mehr oder weniger
dauernder Verwahrung gefährlicher etc.
Elemente, dienen kann und es d a m i t t rot z A n-
*) Niickc: Die Unterbringung geisteskranker Verbrecher.
Marhold, Halle a. S., 1902.
Original from
HARVARD UNIVERSITY
454
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 46
Häufung solcher Elemente recht leidlich
geht, zeigt der Adnex an der Strafanstalt Waldheim.
Damit ist allen gegentheiligen theoretischen Meinungen
die Spitze abgebrochen 1 Die Kranken sind dort sicher
leichter zu behandeln, als früher im Gelängnisse
selbst. Die harmlos gewordenen irren Verbrecher,
verbrecherischen Irren etc. können ruhig in die ge¬
wöhnliche Anstalt zurückversetzt werden, wo sie gewiss
auch nicht in der Verdünnung, wenn sie sich sonst
anständig betragen, irgendwie zu „Kranken zweiter
Klasse“ werden. Das oberste Princip sei aber
immer in jeder Irrenanstalt: „Verdünnung“
der unangenehmen Fälle, mögen sie nun vorher
bestraft worden sein oder nicht. Erst bei einer
gewissen Anhäufung solcher Kranken oder bei
ganz specieilen Individuen wird die „Ver¬
dünnung“ nichts mehr nützen und den Be¬
trieb der modernen Anstalt schwer schä¬
digen. Solche Patienten müssen dann eben
entfernt und in einen Adnex einer Strafanstalt
gebracht werden, wo ein solcher existirt, sonst in einer
festeren Abtheilung der Irrenanstalt verbleiben.
Heute liegen mir 3 interessante, fremdländische
literarische Erscheinungen vor, die auch unsere Fragen
beleuchten und deshalb hier kurz berührt werden
sollen. Es wird dabei die eine oder andere kritische
Bemerkung fallen und unsere früheren Ausführungen
in diesem oder jenem Falle ergänzen.
Ein junger Jurist, Dr Wüst, schreibt in seiner
Doctordissertation über „Die sichernden Maassnahinen
im Entwurf zu einem schweizerischen Strafgesetz¬
buche.“*) Es ist eine der werthvollsten Dissertationen,
die ich je las; und dass ich mich auch in der juristi¬
schen Bewerthung derselben nicht täuschte, beweist
die sehr Iobenswerthe Besprechung derselbens seitens
Prof. Stoos.**) Es ist wunderbar, wie dieser junge
Mann, der die Praxis noch nicht kennt, durch scharfe
Kritik, eine Art von Intuition und reiche Litteratur-
kenntniss seinen Gegenstand völlig beherrscht, stets
von grossen Standpunkten aus urtheilt und insofern
auch ganz modern ist, als er die Psychiater überall
zu ihrem Recht kommen lässt. Verf. geht auf den
grossartigen schweizerischen Entwurf des Strafgesetz¬
buches, der fast ganz auf Prof. Stoos zurückzuführen
ist, aus, und bespricht mit Vorliebe, aber nicht allein,
schweizerische Verhältnisse. Dort wurden systema¬
tisch zum ersten Male die „sichernden Maassnahmen“
in den Strafgesetz-Entwurf mit aufgenommen, d. h.
die Verweisung von gewissen Personen: 1. in Heil-
*) Zürich,;Alb. Müller, 1905, 246 S.
**) Im Archiv für Kriminalanthropologie, 17. Bd. (1904)
p. 380 usw.
□ igitized by Google
und Pflegeanstalten, 2. in eine Verwahrungs-, 3. Ar-
beits- und 4. Trinkeranstalt, und Verf. tritt mit Stoos
für deren juristische Natur ein. Er statuirt den
Unterschied zwischen Strafe und sichernder Maass-
nahme, hält aber wohl mit Recht daran fest, dass
letztere eventuell gemischter Natur sein könne,
d. h. also Strafe + sichernde Maassnahme. Speciell
Verwahrungs- und Arbeitsanstalt wirken w'ie Strafe
auf den Betreffenden und werden auch als solche
von ihm empfunden. Jede s. M. (= sichernde
Maassnahme) soll „im eigentlichen Sinne die Gesell¬
schaft schützen vor gefährlichen Individuen“, und
zw’ar durch Freiheitsentziehung. Was Verf. über diese
einzelnen Anstalten und ihre Insassen sagt, ist meist
ausgezeichnet. Er ist durchaus für die „verminderte
Zurechnungsfähigkeit“, weist die juristische Berechtig¬
ung hierzu schön auf und zeigt, dass sie durchaus
nicht „mildernden Umständen“ gleich ist Der
Richter soll nach Sachlage der Dinge gleich
die sichernden Maassnahmen bestimmen
und sich nicht mit einer Ueberweisung an die Be¬
hörde begnügen, wenn er keine Strafe decretirt.
Immer hat im allgemeinen die Verwahrung nicht auf
bestimmte Zeit zu geschehen. Ein sehr richtiger
Gedanke des Verf.’s scheint mir ferner der zu sein,
dass, „w'enn der Staat einen Menschen in Arbeits-,
Trinkerheil- und Irrenanstalten einsperrt, er dann
auch die Pflicht hat, seine auf diese Art gesicherte
Ruhe zu bezahlen. Er hat deshalb nicht nur für
den Einzuweisenden selbst zu sorgen, sondern auch
für dessen Familie.“ Der Jurist spricht also hier für
die Zahlungspflicht des Staates, nicht der
Gemeinde, und dehnt sogar dessen Vor¬
sorgepflicht auf die Familie aus. Das letzte
scheint mir allerdings kaum durchführbar. Mit Recht
betont Verf. ferner die Nothwendigkeit eines
Irreng esetzes, die leider noch manche Psychiater
heute nicht anerkennen wollen. Er sagt sehr richtig:
„Nicht nur aus dem Gesichtspunkt des Schutzes für
die Irren selbst, sondern auch . . . zum Schutze
Dritter gegen Geisteskranke ist ein Irrengesetz dringen¬
des Bedürfniss.“ Ich möchte noch hinzufügen: auch
zum Schutz der Irrenärzte. Der vermindert Zu¬
rechnungsfähige ist juristisch zurechnungs¬
fähig, also auch juristisch strafbar, doch
giebt es Fälle, w'ie der Verf. richtig sagt, wo die Be¬
strafung besser aufzuheben ist. „Der Täter ist dann
wohl strafbar, aber er ist nicht straffähig.“*) Der
vermindert Zurechnungsfähige ist nicht (mit gewissen
Ausnahmen) milder, wohl aber anders zu be-
*) „Stoos hat — sagt Verf. — zuerst diesen feinen, scharf¬
sinnigen Unterschied gemacht“.
Original from
HARVARD UNIVERSITY
1905 .] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 455
strafen, bez. zu behandeln. Was Verf. ferner über
Wesen und Zweck der Strafe, über die Verbrecher,
Vagabunden, Trinker etc. sagt, ist sehr beherzigens-
werth. Er findet, dass heute „ein innerer Gegensatz
zwischen Vergeltungsstrafe und Sicherungsstrafe nicht
bestehe.“ Es darf nicht heissen: Vergeltungsidee
oder Zweckgedanke, sondern Vergeltungsidee und
Zweckgedanke. Vermengung des Strafrechts mit
Sozialpolitik ist durchaus verwerflich. In die Straf¬
anstalt gehören die vermindert Zurechnungsfähigen
nicht, in die Irrenanstalt will sie niemand haben.
Hier bemerke ich, dass es doch auch unter ihnen
solche Elemente giebt, die in der Irrenanstalt nicht
stören und nicht complottiren etc., obwohl die Mehr¬
zahl es allerdings thun dürfte. Verf hält eigene An¬
stalten für solche gefährliche, schwer disciplinirbare
Menschen, als ein „Mittelding“ zwischen Gefängniss
und Irrenanstalt, für unmöglich. Wie ich in einem
meiner Aufsätze darthat, halte ich solches trotzdem
mit anderen wohl für möglich, wie auch dort die
Verquickung eines etwas strammen Regimes mit irren¬
ärztlicher Behandlung. Das stramme Regime hätte
um so mehr Daseinsberechtigung, wenn wir mit Verf.
annehraen, dass die Vermindertzurechnungsfähigen
„eine eigene Verbrecherklasse bilden“, wobei aber
die Vergeltungsstrafe diesen Verbrechern gegenüber
zurückzutreten hat. Mit Recht verwirft Wüst die
Theorie v. Liszt’s, dass der unverbesserliche Ge¬
wohnheitsverbrecher unzurechnungsfähig sei, und er
fügt noch bei: „Strafrechtlich unempfindlich für die
Strafe ist noch nicht gleichbedeutend mit unverant¬
wortlich.“ Bez. der irren Verbrecher präconisirt er
die Trennung dieser von den verbrecherischen Irren.
Das zeigt, dass Verf. eben doch diese Verhältnisse
nicht genau kennt, da eine scharfe Trennung beider
Categorien nur selten möglich ist, ja die meisten eben
nur verbrecherische Irre und nicht irre Verbrecher
sein dürften. Die Unterbringung der letzten in
Centralanstalten verwirft Verf. (für die Schweiz zu¬
nächst) und spricht sich für die Errichtung
von Adnexen an Strafanstalten aus, nicht
aber an Irrenanstalten. Verf. rechnet bei Annahme
von 4% geisteskranker Verbrecher ca. ibo solcher
in der gesammten Schweiz. Wenn dann 1 U ruhig
in die Irrenanstalten kommen könnte und ein anderer
Theil in Anstalten für Vermindertzurechnungsfähige
(die er hier gegen früher empfiehlt, allerdings nicht
mehr als „Mittelding“ gedacht), so bleiben ca. 80
bis 100 irre Verbrecher übrig, für die eine Central¬
anstalt zu bauen sich nicht lohne. Dies dürften die
für uns wichtigsten Stellen aus dem schönen Buche
Wüst’s sein.
Noch eingehender behandelt unser specielles Thema
aber eine 2. mir vorliegende Arbeit, und zwar eine
holländische von Schermers*). Eine Commission
von Psychiatern w'ar von der holländischen Regierung
eingesetzt worden, betreffs der Frage nach der Ver¬
sorgung gefährlicher und schädlicher Geisteskranker.
Diese Commission hat sehr gründlich gearbeitet
und die einzelnen Punkte eingehend discutirt. Es
zeigte sich zunächst, dass z. Z. in den niederländischen
Irrenanstalten vcrmuthlich ca. 4—500 Personen ver¬
pflegt w'aren, die früher gerichtlich verurtheilt worden
sind. Davon waren 50— 60 wegen der Schwierig¬
keiten der Verpflegung als „gefährlich“ zu bezeichnen,
und von diesen befanden sich die Hälfte in der
Reichsirrenanstalt zu Medeinblik. In den Ge¬
fängnissen wurden sicher wenigstens 5°'o
von („totaler“) Simulation von Psychosen
festgestellt. Das ist, meine ich, eine sehr hohe
Ziffer, die bei uns sicher nicht erreicht, dagegen in
Neapel noch bei weitem überschritten wird. Mit
Recht macht die Commission darauf aufmerksam, dass
die Simulation nicht stets leicht zu erkennen ist und
oft einer kurzem oder längern Beobachtung in einer
Irrenanstalt oder einer ähnlichen Einrichtung bedarf,
keineswegs aber sollte * dies im Gefängnisse selbst
stattfinden. 3 Wochen Beobachtung sollen genügen,
was mir unter Umständen doch als eine zu kurze
Zeit erscheint. Die Commission ist durchaus und mit
Recht davon überzeugt, dass in Gefängnissen und
verwandten Anstalten die psychiatrische Aufsicht zu
verbessern und zu verschärfen sei und zwar durch
die Inspectoren der Irrenanstalten, welche am liebsten
auch noch die Untersuchungsgefangenen besuchen
sollten. Hier hat jedenfalls, meine ich, das
belgische Beispiel eingewirkt. Besser statt dessen
ist freilich, glaube ich, hier eine möglichst gründ¬
liche psychiatrische Vorbildung des Gefängniss-
arztes, was die Commission nicht fordert. Weiter
wurde festgestellt, dass in den Gefängnissen, Arbeits¬
anstalten etc. unter 7850 Personen (davon 7478 M.)38o
(davon 341 M.) an Epilepsie, Imbecillität, Idiotismus
leiden oder mit andern psychischen Defekten behaftet
sich vorfanden. Von eigentlichen Psychosen ist hier nichts
erwähnt, und sicher befanden sich auch solche dort.
Später ward in der That eingestanden, dass in
den Gefängnissen oft genug Personen mit zweifel¬
haftem Geisteszustände vorhanden sind.
*) Schermers: Het rapport van de *taaUcommissi in
zake de verzorging van gevaarlijke en schadelijke krankzinnigen,
overgedreckt uit het Nederl. Tijdschrift voor Geneeskunde 1904,
Deel II, No. 20.
Digitized by Google
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
456 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 4 .
Mit Recht wird gefordert, dass jeder Untersuchungs¬
gefangene, dessen Geisteszustand zweifelhaft sei, psy¬
chiatrisch untersucht werde, und zwar in einer zu
errichtenden Central - Beubachtungs - Station mit 30
Betten zu Utrecht, eventuelL auch an jeder andern psy¬
chiatrischen Klinik, und auf die Zeit von höchstens
6 Wochen. Diese Station könnte zugleich für den
forensisch-psychiatrischen Unterricht benutzt werden.
Dorthin sollte auch jeder Gefangene kommen, dessen
Geisteszustand dem Gefängnissarzt zweifelhaft ist. Die
Minderheit der Commission will sie aber in den Adnexen
zur Strafanstalt untergebracht wissen. In Parenthese füge
ich hier bei, was ich schon früher betonte, dass principiell
von den Untersuchungsgefangenen alle die, welche
ein schweres oder ein sexuelles Verbrechen begingen,
ferner alle Greise und auch die Weiber (wegen mög¬
licher Einwirkung der Menstruation und des Klimak¬
teriums) psychiatrisch untersucht werden sollten. Es
wird von der Commission der Wunsch ausgesprochen,
dass an allen Gefängnissen und verwandten Anstalten
einfache Krankenabtheilungen geschaffen würden für
diejenigen Patienten, die w-egen ihres Zustandes nicht
anderswohin transportirt werden können oder welche
an sehr vorübergehenden Psychosen leiden. Ausser¬
dem sollten an einigen grossen Straf¬
anstalten besondere Einrichtungen oder
Adnexe zur Beobachtung von Gefangenen oder zur
Kur irrer Verbrechen vorgesehen werden. Das Ge¬
bäude müsste auf dem Terrain des Gefängnisses gebaut
und mit ihm administrativ verbunden sein, doch so,
dass der Gefängnissarzt einen überwiegenden Einfluss
auf die Geschäfte hat. Sobald das Uebergehen des
Irreseins in Chronizität mit einiger Wahrscheinlich¬
keit anzunehmen ist, hat die Verw-ahrung und Be¬
handlung dort ihr Ende erreicht. Der Adnex soll
für ungefähr 30 Personen eingerichtet sein, nach
modernen psychiatrischen Principien und mit den
nöthigen Sachverhaltsmaassregeln. 2—3 solcher Ad¬
nexe würden für Holland vorläufig genügen. In
schwierigeren Fällen soll der Arzt, der kein Psychi¬
ater ist, den Rath anderer einholen. Die Ucber-
führung des Verurtheilten aus dem Adnex
in eine Irrenanstalt soll nur nach richter¬
lichem Spruch, auf ein ärztliches Gutachten hin,
gcsc liehen. Diese Art von Adnexen entspricht
also mehr den prcussischen Einrichtungen und
scheint mir noch nicht zweckentsprechend zu sein.
Bei so kleinen Adnexen lassen sich vor allem die
w üns< henswerthen Abtheilungen der Kranken nicht
durchführen. Zu tadeln ist ferner, dass der Arzt
kein Psychiater zu sein braucht. Sehr richtig wird
von der Commission festgestellt, dass die meisten
Digitized by Google
irren Verbrecher keine grösseren Anforde- j
rungen an die Verpflegung stellen als die |
anderen Irrsinnigen. Die wenigen anderen, ge¬
fährlichen, sollen in besondere Abtheilungen der Irren¬
anstalten kommen, also in Adnexe zu solchen. Diese
wünschte ich aber, wie ich früher ausführte, gleich¬
falls in den Adnex der Strafanstalten verwiesen zu
sehen, ebenso w'ie auch die gleichen Elemente unter
den verbrecherischen Irren und den unbestraften, aber
gefährlichen Irren. Die Entlassung irrer Ver- |
brecher aus den gewöhnlichen Irrenan¬
stalten soll, nach Meinung der Commission, nur
auf richterlichen Beschluss geschehen,
basirend auf ein ärztliches Gutachten, was jedenfalls
nur zu loben ist. Für Centralanstalt eil kann
die Commission nicht stimmen, da die Erfahr¬
ungen in England, Nordamerika und Italien nicht
besonders aufmunternd seien. Ich habe aber schon
früher gesagt, dass dies eigentlich nur von Italien gilt.
während in England und Nordamerika die Sache I
jetzt ganz leidlich zu gehen scheint und sicher noch
besser gehen würde, wenn die Anstalten dort nicht
so überfüllt wären und w ? enn sie mehr und besserem
Pflegepersonal hätten. Mit Recht wird das Be¬
stehen einer besonderen Gefängniss-
psychose geleugnet. V ielmehr kämen alle )l
Irrsinnsformen vor, wenngleich, wie ich erwähnen
will, manche häufiger, andere (z. B. die Paralyse!
seltener und ausserdem mit gewissen Färbungen
versehen, die durch die individuelle Anlage und
das lokale Milieu bedingt erscheinen. Ferner wird
richtig festgestellt, dass für die Gefährlich¬
keit eines Kranken weniger das Ver¬
brechen als solches, als vielmehr die
Art der Psychose entscheidend ist. Für
die Epileptiker, Imbezillen und Alkoholisten seien
am liebsten eigene Einrichtungen zu schaffen, ebenso
für die übrigen geistig minderwerthigen, so¬
fern sie gefährlich sind, da sie weder in eine Irren¬
anstalt noch in ein Gcfängniss passen. Eine
Anstalt mit dem Charakter eines Arbeits¬
hauses wäre am besten für sie. Das Ver¬
mischen irrer Verbrecher mit unbe¬
straften Kranken hat keine besonderen
Nachtheile (natürlich nach Abzug der gefährlichen
und depravirciulen Elemente), meint die Commission.
Sie glaubt, dass es „f ür d ie A n s t a 1 1 sä rzt e gerade
eine besondere Ehre sein müsse, auch
diese Elemente an freie Behandlung zu
gewöhnen und womöglich an das no-restraint
Bei den Meisten geschieht dies ohne viel
Schwierigkeit . . .“ Man sieht hier also einen
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1905] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 457
Satz ausgesprochen, den ich wiederholt betonte! Die
Commission will aber nicht etwa, dass alle gefähr¬
lichen und schädlichen Irren (d. h. unter den Be¬
straften) in einen Adnex kommen sollen. Sie hält
eine grosse Zahl solcher für bedenklich und spricht
sich mehr für Verdünnung dieser Elemente aus.
Letzterer ist ja stets zunächst anzustreben, wie ich
oben ausführte, aber wo es nicht mehr geht, muss
man die Kranken eben entfernen, und auch in
grösserer Anzahl in einem Adnex, sogar in einer
Centralanstalt können sie sicher * ohne besondere
Schwierigkeiten verpflegt werden.
Das wären die Hauptpunkte dieser Arbeit, die
mit unseren Ansichten meist harmoniren. Man
sieht, dass Holland jetzt am meisten f ü r die Adnexe
an Strafanstalten ist und speciell die Harmlosigkeit
der meisten irren Verbrecher betont. Früher waren
dort gegenteilige Meinungen vorherrschend. So ändern
sich eben die Ansichten! Auch in Oesterreich-Ungarn
ist die meiste Stimmung für solche Adnexe und
Dänemark hat sich, wenn ich nicht irre, gleichfalls
dafür ausgesprochen. Aus der Schweiz haben wir
eben die Stimme eines Juristen vernommen, die um
so wichtiger erscheint, als sie juristisch die Einrichtung
eines Adnexes an die Strafanstalt mit allein drum
und dran für durchaus möglich hält, was ja übrigens
die Praxis bei uns und anderswo schon lange bewiesen
hat, ebenso wie die Ueberwindung technischer Schwierig¬
keiten. Njir in romanischen Ländern will man z. Zt.
noch wenig von solchen Adnexen wissen und schwärmt,
trotz trauriger Erfahrungen, immer noch sehr für die
Centralanstalten. Aber auch hier lassen sich schon
jetzt verschiedene Stimmen dagegen vernehmen und
es steht zu erwarten, dass allmählich ein Umschwung
zu Gunsten der Strafanstaltsadnexe eintreten
wird. So scheint denn auch ausserhalb
Deutschlands immer mehr Stimmung für
diese Art der Unterbringung sich zu ent¬
wickeln!
An dritter Stelle will ich hier endlich noch kurz
einige Bemerkungen hinstellen, die Tanzi, Prof, der
Psychiatrie in Florenz, in seinem grossartigen neuen
Lehrbuche der Psychiatrie *), dem, meiner Ansicht
nach, geistreichsten nach dem Meynert’schen, macht.
Er schimpft mit Recht auf die italienischen Central¬
anstalten für irre Verbrecher, den manicome giudiziari,
die er für nicht besser als Gefängnisse hält. Leider
*) Tanzi: Malattie mentali. Milano 1905. Ich werde das
Werk demnächst ziemlich eingehend in der allgemeinen Zeit¬
schrift fUr Psychiatrie etc. besprechen.
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spricht er sich nicht darüber aus, was an deren Stelle
zu setzen wäre. Ausführlich behandelt er die Zustände,
die man gemeiniglich unter dem Namen: mdral
insanity zusammenfasst Er schlägt dafür aber den
Namen: immoralitu costitäzionale vor. Hier will er
nun verschiedene Klassen unterschieden wissen, die
mit meinen „Activen und Passiven“ *) so ziemlich zu¬
sammenfallen. Ausserdem spricht er noch von einer
Klasse, von „Impulsiven“, die weniger aus Neigung
Verbrechen begehen als vielmehr aus einer Art aktiver
„Exuberanz“. Hier würde eine richtige Wahl des
Berufs sehr wichtig sein. Für die „Activen“ —
Verf. nennt sie die „Impulsiven“ — geben Korrektions¬
anstalten etc. schlechte Resultate. Da man nun einmal
die Centralanstalten habe, solle man sie hinein sperren,
aber nur die „criminali lucidi e anomali“, und zwar
vertheilt und zur Arbeit angehalten; bedingten Urlaub
könne man hier versuchen. Von besonderen An¬
stalten für sie sprach er oben nicht. In Irrenanstalten
passen sie aber nie, eher schon in Gefängnisse.
„Wenn man, sagt Tanzi, jene geistesklaren Amphibien
(anfibi lucidi), die moralisch defect sind, nicht in die
Centralanstalten einsperren will . . ., ebenso gut wäre
es, sie im Gefängnisse zu belassen. Die angeborene
Iramoralität ist eine Anomalie, nicht eine Krankheit“.
Gegen den letzten Ausspruch Hesse sich wohl streiten,
da Entwickelungsstörungen, wie sie hier oft vorliegen,
wohl sicher mehr von Krankheitsprocessen abhängen,
also die Reste von solchen sind und keine blosse Ano¬
malie oder Variation darstellen. Für manche Fälle,
meint Verf., ist die bedingte Verurtheilung sehr gut.
Er wendet sich gegen die Anwendung der Kastration
als ein mögliches Heilmittel dieser Zustände — worin
ich ihm nicht ganz Recht gebe**) — und ist mehr für
Lagaro’s theilweise Schilddrüsenexstirpation, die mir
sehr problematisch erscheint.***) Interessant endlich
ist folgende Bemerkung: „. . . Niemand kann den
evidenten Nutzen des Strafcodex auf die Menge der
mittelmässig Equilibrirten bestreiten und auf den
Haufen der unempfindlichen, aber vernünftigen Immo¬
ralen . . . Die Verbrecher aus immoralitä constituzio-
nale .... sind nicht weniger zu verurtheilen und gefähr-
*) Näcke: Ueber die sogen, moral insanity. Wiesbaden,
Bergmann, 1902.
**) Näcke: Die Kastration bei gewissen Klassen von
Degenerirten als ein wirksamer socialer Schutz. Archiv für
Kriminalanthrop. etc. Bd. 3. 1899.
***) Näcke: Chirurgische Therapie bei gewissen moralisch
Schwachsinnigen. Kleinere Mittheilung im Archiv für Kriminal¬
anthrop. etc. 16. Bd. 1904.
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458
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT
[Nr. 46.
lieh, als die gewöhnlichen Verbrecher, und es ist eine sie, meine ich, keineswegs in das Gefängniss, sondern
Ungerechtigkeit, sie in Gefängnissen oder sonstwo mit in eine besondere Anstalt. Das Gefängniss wäre für
jenen zu vermischen.“ Hält man diese Personen aber sie eine Ungerechtigkeit und nur die äusserste Noth
für krank und nicht bloss für anomal, dann gehören sollte sie dahin bringen.
M i t t h e i
— Sachsen. Unterbringung von Geisteskranken
in Privatanstalten. Das sächsische Ministerium hat
in einer Verordnung bestimmt, dass die Vorschriften,
welche hinsichtlich der Unterbringung von Geistes¬
kranken für die nach § 30 der Gewerbeordnung con-
cessionirten Piivatirrenanstalten gelten, auch auf alle
anderen nicht unter der Verwaltung des Staates
stehenden und zur Aufnahme Geisteskranker oder
Geistesschwacher bestimmten Anstalten sinngemässe
Anwendung zu finden haben. Die privaten Anstalten
dürfen somit nicht mehr ohne weiteres Geisteskranke
zur Behandlung aufnehmen, sondern die Behandlung
darf nur erfolgen auf einen von den Angehörigen,
dem gesetzlichen Vertreter oder der Polizeibehörde
gestellten Antrag, sowie auf Grund eines mit aus¬
führlicher Krankengeschichte versehenen Zeugnisses
eines approbirten Arztes. Durch das letztere ist zu
bescheinigen, dass der Aufzunehmende an Geistes¬
krankheit oder Geistesschwäche leidet und der Pflege
in einer Anstalt bedarf.
Richtigstellung.
Mit Bezug auf die Angabe über die neugeregelten
Aerztegehälter bei den westfälischen Irrenanstalten
in voriger Nr., S. 447, rechte Spalte unten, sei da¬
raufhingewiesen, dass der pommerschen Provin¬
zial-Verwaltung das Verdienst gebührt, in dieser
Richtung bahnbrechend vorangegangen zu sein.
Näheres siehe in Nr. 52 Jahrgang V, 1904 dieser
Zeitschrift, Seite 558 und 559, wonach sich die Ober¬
ärzte an den pommerschen Anstalten noch ein ganz
Theil besser stehen als an den westfälischen.
Referate.
— O. Klinke, E. T. A. Hofl'manns Leben und
Werke vom Standpunkte eines Irrenarztes. Braun¬
schweig, Sattler, 239 S.
Amadeus Hnffmanns Erzählungen haben wir alle
in lesehungrigen Jugendjahren in uns aufgenommen
und der phantastisch-dämonische Zug dieser Werke
war es, der uns sie aufsuchen Hess. In späteren
Lebensjahren jedoch sind nur wenige von uns wieder
zu Huffmann zurückgekehrt. K.’s Buch ist nun von
dem Wunsche getragen, dass wieder mehr reifere
Leser und besonders Psychiater den Werken Hoflf-
manns näher treten möchten. Er sucht nachzuweisen,
dass die bisherigen Biographen Hofl'manns, da sie
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1 u n g e n.
nicht Aerzte waren, der Eigenart dieses genialen,
erblich belasteten und nervösen Mannes nicht gerecht
werden konnten, der hoch begabt als Musiker, Maler
und Jurist, als Schriftsteller selbst in Krankheitszeiten
bis zu seinem Tode von bewunderungswürdiger Frucht¬
barkeit blieb. Hoffmann schildert mit Vorliebe Traum¬
erlebnisse, pathologische Charactere, Grenzzustände,
Geisteskranke. Er entnahm die Anregung hierzu der
Selbstbeobachtung (er litt an der Zwangsvorstellung,
einen Doppelgänger zu haben und an der Furcht,
geisteskrank zu werden\ dem Umgang mit hervor¬
ragenden Irrenärzten seiner Zeit, dem Studium
psychiatrischer Werke (Reil, Schubert u. a.) und der
direkten Beobachtung von Geisteskranken. Klinke
legt besonderes Gewicht darauf, festzustellen, dass
Hoffmann zahlreiche psychopathologische Vorgänge,
cjie in der Gegenwart erst wieder genauer beschrieben
und untersucht worden sind (Wachträume, Gedanken¬
lautwerden, Wurzeln der Wahnbildung, combinirte
Hallucinationen, scenenhafte Hallucinationen p. p.)
bekannt waren und dass er sie besonders schön ge¬
schildert hat.
Zweifellos ist das auf eingehende Vorarbeiten
gegründete Buch Klinkes geeignet, eine richtigere
Bewerthung der Persönlichkeit Hoffmanns und seiner
Werke herbeizuführen. Mercklin.
— Ralf Wich mann, Die Ueberbürdung der
Lehrerinnen. Halle, Marhold. 1904. 24 S.
W. hat Fragebogen bezüglich Ueberbürdung und
anderer Umstände an 10000 deutsche Lehrerinnen
versandt, 780 Antworten erhalten, \on welchen 416
das Bestehen einer Ueberbürdung bejahen (= 53%).
Bei Prüfung aller Antworten kommt er zu dem Er¬
gebnis: Eine allgemeine Schulüberbürdung der Lehre¬
rinnen besteht in Deutschland nicht, als Ausnahme¬
erscheinung ist sie ziemlich häufig Die Gründe
liegen nur zum Theil in der Schule selbst (mangel¬
hafte Anfangsbesoldung, welche zu Nebenerwerb zwingt,
Ueberfüllung der Klassen, hohe wöchentliche Stunden¬
zahl, zu viel Correkturen und Vertretungen), zum
anderen Theil in den Familienverhältnissen der
Lehrerin (unangenehme häusliche Pflichten und
Lasten), aber auch in der Lehrerin selbst (ehrgeiziges
Streben, Vergnügungssucht, schon ursprünglich vor¬
handene nervöse Anlage). Mercklin.
— A 1 lg em eine Zei tsch rift f. Psychiatrie
und psych.-gerich 1 1 . Medicin. Bd. 61, H. 5.
Henneberg (Berlin): Ueber das Ganser'sche
Symptom.
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IQ05.J PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 459
Am häufigsten tritt das Ganse rische Symptom
nach den Beobachtungen des Verf., von denen er
eine grössere Anzahl wiedergiebt, bei protrahirten
Formen des hysterischen Irreseins auf. Der Nach¬
weis desselben beweist aber keineswegs das Bestehen
eines hysterischen Dämmerzustandes, es kann also
nicht etwa für die Diagnose ausschlaggebend sein.
Das Symptom kommt etwa 5 mal so oft bei crimi¬
nellen, als bei nicht criminellen Fällen vor; bei den
ersteren empfiehlt es sich sehr, bei der Prüfung auf
das Ganserische Symptom Vorsicht walten zu lassen,
denn es hat sich ergeben, dass dasselbe bei Unter¬
suchungsgefangenen um so häufiger und ausge¬
sprochener auftritt, je intensiver man nach dem¬
selben forscht.
Marc (Würzburg): Ueber familiäres Auftreten
der progressiven Paralyse.
Verf. berichtet über einen Fall, in welchem in 4
Generationen 9 Mitglieder einer Familie von Para¬
lyse befallen wurden und zwar vorwiegend die männ¬
lichen Mitglieder. Aeussere ätiologische Momente
spielten keine Rolle, speciell fehlte jeder Nachweis
von Lues. Durch Absterben der geisteskranken In¬
dividuen regenerirt sich die Familie wieder. Sodann
referirt Verf. noch über einige Familien, wo auch
gehäuftes Auftreten von Paralyse zu beobachten war,
wo aber eine kleinere Anzahl von Mitgliedern be¬
troffen wurde.
Nach den gemachten Beobachtungen kommt Verf.
zu der Ansicht, dass die Paralyse unter Umständen
die Rolle einer endogenen Geistesstörung spielen
kann und dass exogene Ursachen durchaus nicht
immer erforderlich sind. Vielleicht lassen sich auch
die nachweislich endogenen Formen der Paralyse im
Krankheits verlauf und pathologisch-anatomisch als
eigene Krankheitsgruppe abgrenzen.
Schmidt (Alt-Scherbitz): Ueber einen Fall von
Hirnabscess bei katatonischem Krankheitsverlauf.
Bei einem hereditär belasteten, von Jugend auf
etwas sonderbaren, beschränkten Mädchen traten in
der Pubertätszeit geistige Störungen ein, welche zu¬
nächst die Diagnose Hysterie vermuthen Hessen,
dann aber während des ganzen Verlaufs das Bild
ausgesprochener Katatonie darboten. Die Section
ergab das Vorliegen eines Hirnabscesses im Mark
des linken Parietallappens. Die Diagnose auf ein
organisches Leiden war nicht gestellt worden, da
einerseits Heerdsymptome nicht beobachtet wurden
und andererseits diejenigen psychischen Erscheinungen
fehlten, welche sich bei Hirnabscessen und ähn¬
lichen schweren organischen Hirnleiden zu zeigen
pflegen.
Sklarek und van Vleutcn (Dalldorf): Gleich¬
zeitiges Auftreten einer geistigen Erkrankung bei drei
Geschwistern.
Drei Geschwister, welche in Abhängigkeit von
einander geistig erkrankten, wurden wegen äusserst
gemeingefährlicher Handlungen in die Irrenanstalt
gebracht. Der eine war und blieb deutlich geistes¬
krank, er hatte Halluzinationen und Wahnideen im
Sinne der Verfolgung, sein Bruder und seine Schwester
hatten seine Wahnideen kritiklos übernommen (folie
imposee der französischen Autoren). Da die beiden
letzteren sofort nach dei Trennung vom Bruder ein
Abblassen der Wahnideen erkennen Hessen, konnten
sie bald entlassen werden; ein leichter Grad von
Schwachsinn hatte begünstigend auf das Zustande¬
kommen der psychischen Infection gewirkt.
Koller (Lausanne): Ueber die Rolle der Statistik
in den Jahresberichten der Irrenanstalten.
Die statistischen Tabellen in den Jahresberichten
der Irrenanstalten taugen in ihrer gewöhnlichen Form
nach Ansicht des Verf. aus verschiedenen Gründen
nichts, hauptsächlich, weil ihre Zahlen viel zu klein
sind. Die Anstalten sollten deshalb alljährlich nur
die wichtigsten Angaben über Bestand, Zuwachs¬
und Abgangsverhältnisse u. s. w. wie bisher mit¬
theilen und nur alle 5—10 Jahre oder sogar über
noch grössere Zeiträume zusammenhängende stati¬
stische Tabellen veröffentlichen. Alljährlich aber
könne die Art und Weise des ärztlichen Betriebes
besprochen werden, wobei aber das Verhältniss der
einzelnen Behandlungsfactoren zu einander und zum
Gesammtkrartkenbestand zum Ausdruck kommen
müsse. Zur Erläuterung giebt Verf. für die Anstalt
Cery die entsprechenden Zahlen für die Winter¬
monate 1903/04 wieder, indem er für jeden Monat
den mittleren Bestand aus den Gesammtzugang er¬
mittelte, ferner die tägliche, mittlere absolute Anzahl
der Isolirungen, der mit Narcoticis behandelten
Kranken, der in Bett- und Badbehandlung befind¬
lichen und der arbeitenden Patienten berechnete
und für jede Categorie noch das procentische Ver¬
hältnis zum mittleren Monatsbestande hinzufügte.
Arnemann- Grossschweidnitz.
— Heinrich Rudolph: Der Ausdruck der
Gemüthsbewegungen des Menschen, dar¬
gestellt und erklärt auf Grund der Urformen und
der Gesetze des Ausdruckes und der Erregungen.
Atlas und ein Textband. Dresden 1903. Gerhard
Kühtmann.
Der Bedeutung der Ausdrucksbewegungen wird
von psychiatrischer Seite heutzutage unverkennbar
mehr Beachtung gezollt, als vor 15 — 20 Jahren, als
Meynert durch seinen Kölner Vortrag die Auf¬
merksamkeit auf diese Fragen zu lenken versucht
hatte. Vor allem die wichtige Unterscheidung der
manisch-depressiven Psychosen mit der Vielseitigkeit
ihrer den gesteigerten Affccten entsprechenden Aus¬
drucksformen gegenüber der Dementia praecox mit
ihrer mehr weniger tiefgreifenden Lähmung der Aus¬
drucksbewegungen erheischt dringende Berücksichtig¬
ung jenes Kapitels.
Die litterarischen Hilfsmittel sind jedoch noch
recht dürftig; vor allem sind manche guten Weg¬
weiser, wie das Buch von Hughes oder die ein¬
schlägigen Kapitel in Wundt's Völkerpsychologie,
Band 1 , noch in etwas mangelhafter Weise ausge-
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460 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
stattet. Da muss jeder Beitrag freudig begrüsst
werden, der zu jenem Kapitel neues, brauchbares
Material darbietet.
Kunstmaler Rudolph ist mit grosser Gründlich¬
keit zu Werke gegangen, die Früchte iojähriger
Arbeit sind es, die er in den umfangreichen Atlas
und einem kleinen Textband niedergelegt hat. Der
bekannte Kunstverlag von Kühtmann hat dem Werke
eine äusserst opulente Ausstattung gespendet, so dass
der Tafelband nicht weniger als 183 Lichtdruck¬
tafeln mit 680 Köpfen, der Textband 44 Abbild¬
ungen, meist Figuren, enthalt.
Den Bildern liegen künstlerische Skizzen zu Grunde,
die entworfen sind nach einem Modell, das jeweils
künstlich den betreffenden Gesichtsausdruck anzu-
nehraen hatte. Es ergab sich so eine riesige Fülle
feiner Variationen, deren genaueres Studium sich
lohnt. Als besonders gelungen muss die Serie des
den Hass ausdrückenden Porträts bezeichnet werden.
In einfacher Technik, schwarzer Kreidezeichnung mit
einigen weissen Lichtern, sind die Köpfe offenbar
unter grosser Naturtreue hingeworfen. Vor allem
sprechend sind die Augen gerathen; für die scharfe
Beobachtung spricht die exacte Wiedergabe des Spitz¬
ohrs mit Darwinscher Spina. •
Bedenken erregt jedoch die Beschränkung auf
ein einziges Modell, einen Mann gebildeten Standes
und mittleren Lebensalters, die nun all diese vielen
Hunderte von Nuancen der Ausdrucksbewegungen
darstellen soll. Da ist es kein Wunder, dass man¬
ches Gezwungene mit unterläuft, so bei einer grossen
Reihe von Bildern, bei denen die Aufgabe gestellt
war, folgendes auszudrücken: „Das Bedenkliche;
Lachen über das Fatale, welches humoristisch wirkt“
oder „ . . . satyrisch wirkt“. Gequält sind schon die
4 Bilder eines Lachens unter Thränen. Vollends
unnatürlich muss es wirken, wenn nicht weniger als
19 Bilder verschiedene Formen des Abscheus durch
Heraüsstrecken der Zunge repräsentiren sollen; das
ist eben eine Ausdrucksbewegung, die bei einem
solchen Modell in normalem Geisteszustand über¬
haupt nicht Vorkommen wird; auch der Zusatz
„vulgär“ macht es nicht verständlicher, denn auch
der Mann aus dem Volk übt nicht diese Ausdrucks¬
bewegung, sondern höchstens die Kinder ungebil¬
deter Eltern. Der erläuternde Text wie auch die
Anordnung haben manches Gekünstelte; eine ein¬
gehendere Benützung der oben erwähnten Werke
wäre hier am Platz gewesen.
Die Vielfältigkeit des Gesichtsausdrucks zu schil¬
dern, dazu genügt unter keinen Umständen ein ein¬
ziges Modell. Eine grössere Anzahl muss herange¬
zogen werden, vor allem auch Kinder. Ferner ist
die Wahl eines vollbärtigen Mannes nicht besonders
glücklich, weil dabei doch manches verdeckt wird.
Der Schauspieler Bore ist da mit seinen physiogno-
mischen Bildern vorsichtiger gewesen.
[Nr. A f,
Immerhin ist das Gesammtmaterial so reichhaltig
und es schliesst so manches Gute ein, dass sehr
wohl der Psycholog und Psychopatholog mit Nutzen
nach dem Werke greifen wird und auch Kliniken,
die über stattliche Mittel verfügen, die Anschaffung
empfohlen werden kann. Weygandt- Würzburg.
Personalnachrichten.
(Um Mittbeilung von Peraonalnachrichten etc an die Redaction
wird gebeten.)
— Veränderungen an den rheinischen
Anstalten: Oberarzt Dr. Brie an der Prov.-Heil-
und Pflegeanstalt Grafenberg zum Director an der
Prov. - Heil - und Pflegeanstalt zu Johannisthal bei
Süchteln ernannt; Oberarzt Dr. Buddeberg ander
Prov.-Heil- und Pflegeanstalt Merzig zum Director
dieser Anstalt an Stelle des in den Ruhestand ge¬
tretenen Directors Sanitätsraths Dr. Gottlob. Zu
Oberärzten wurden ernannt die bisherigen III. Aerzt<
Dr. Stall mann (für Andernach), Dr. Neu (fü:
Galkhausen), Dr. Schröder (für Grafenberg), Dr
Lückerath (für Merzig), Dr. Siebert (für Johannis¬
thal); zu III. Aerzten die bisherigen Assistenzärzte:
Dr. Förster (für Bonn), Dr. Geller (für Düren), Dr.
Rade mac her (für Galkhausen), Dr. Becker (für
Grafenberg), Dr. En neu (für Merzig). Oberarzt D:
Adams wurde von Galkhausen nach Johannisthal
versetzt. Die III. Arztstelle in Andernach wurde it
eine Oberarztstelle unigewamlelt. — Die Anstellung
der Aerzte erfolgt am 1. April dieses Jahres au
Lebenszeit. —
Infolge obiger Veränderung sind an den rhei¬
nischen Prov.-Heil- und Pflegeanstalten
vom 1. Ap ri 1 d i eses J a hre s a b mehrere Assi¬
stenzarztstellen zu besetze n (vergl. die Aus¬
schreibung derselben durch den Herrn Landes¬
hauptmann der Rheinprovinz auf dem Um¬
schlag dieser Zeitsehr.).
Das von Ernst Schultze in die Therapie eingeführte
„Neuronal“ wurde von Dr. Rixen an der Berliner städl
Anstalt für Epileptische zu Wuhlgarten bei Epileptischen
angewendet. Er kommt auf Grund seiner Beobachtungen zu
folgendem Urtheil: „Das Neuronal ist bei epileptischen Er-
regungs- und Verwirrtheitszuständen ein wirksames Beruhigungs¬
und Schlafmittel; meistens genügen 1,0—2,0 g zur Beruhigung,
bei grosser Erregung und motorischer Unruhe wird in der
Regel durch 3—4 g pro die Erfolg erzielt. Insbesondere wirkt
Neuronal günstig auf die nach epileptischen Anfällen auftreten¬
den heftigen Kopfschmerzen, sowie auf nervöse Menstruations¬
beschwerden. Unangenehme Nebenwirkungen kamen bisher
nicht zur Beobachtung.
(Münch, med. Wochenschr, 1904, Nr. 48.)
Dieser Nummer liegt ein Prospekt der
Firma
E. Merck in Darmstadt über „Veronal“
bei, welchen wir geneigter Beachtung empfehlen.
Für den redactionellen Theil verantwortlich: Oberarzt I)r. J. Iiresler, Lublinitz (Sch esien).
Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseratcnannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl M arhold in Halle a. S
Heynemann’sche Buchdruckerei (Gebr. WVfD i»' Halle a. S.
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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift.
Redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. B regier,
Lublinitz (Schienen).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adreve: Marhold Verlag, Halleaaale Fernsprecher 2834.
Nr. 47. 18 . Februar. __ 1905.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die 5spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermäasigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten.
Ein Beitrag zur Frage der Dauerbadeeinrichtungen.
Von Oberarzt Dr. Tomaschny , Treptow a. R.
( elegentlich einer im Laufe des letzten Sommers unter¬
nommenen Reise, die mich durch mehrere der
neuesten Anstalten Deutschlands und Oesterreichs führte,
hatte ich mir die Aufgabe gestellt, die überall vor¬
handenen Einrichtungen für Dauerbäder einem be¬
sonderen Studium zu unterziehen, und bei der grossen
Bedeutung, welche diese Frage für die praktische
Psychiatrie hat, möchte ich es nicht unterlassen, von
meinen unterwegs genommenen Anschauungen sowie
den im Anschluss hieran gemachten Erwägungen
einiges hier niederzulegen. Was zunächst die Lage
des Bade raum es anlangt, so kann es gar keinem
Zweifel unterliegen, dass derselbe unbedingt unmittel¬
bar an den Wachsaal angeschlossen sein muss. Nur
dann, wenn diese Forderung erfüllt ist, kann der
Segen dieser modernen Behandlungsweise der Auf¬
regungszustände voll zur Geltung kommen, und ich
habe in der That sehr gut eingerichtete Baderäume
vorgefunden, die nur wenig benutzt wurden aus dem
einfachen Grunde, weil sie zu entfernt lagen.
Ganz selbstverständlich ist es wohl, dass man
nicht Wannen zur Ertheilung von Dauerbädern auf¬
stellt, ehe man sich davon überzeugt hat, ob man
auch genügend warmes Wasser haben wird, um die
Bäder in dem gewünschten Umfange unterhalten zu
können. Ich sehe aber den Anschluss der Dauer¬
badanlage an eine zentrale Warmwasserversorgung
nicht für so unbedingt nöthig an und glaube, dass
eine lokale Warmwasserversorgung auch ihre
Vorzüge hat, zumal wenn dieselbe noch mit einer
lokalen Heizanlage verknüpft ist. Wachabtheilung
und Dauerbad bilden nach der jetzt wohl all¬
gemein gütigen Anschauung ein unzertrennliches
Ganze. In beiden gestaltet sich aber der Betrieb
so wesentlich anders als in den übrigen Häusern
einer Anstalt, dass es gar nicht so unvorteilhaft ist,
wenn diese Räumlichkeiten in Bezug auf Heizung
und Warmwasserversorgung von einer etwa vorhandenen
zentralen Anlage unabhängig sind. Wo Dauerbäder
gegeben werden sollen, muss warmes Wasser un¬
unterbrochen Tag und Nacht zur Verfügung stehen,
es müssen aber auch die Baderäume und Wachab¬
theilungen Tag und Nacht geheizt werden und zwar
häufig schon oder noch zu einer Jahreszeit, wo eine
Heizung der übrigen Pavillons der Anstalt nicht
nöthig ist. Um dieser Forderung aber gerecht
werden zu können, muss man etwas Bewegungsfreiheit
haben und nicht abhängig sein von dem ja sonst vor¬
teilhaften aber immerhin etwas schwerfälligen Betriebe
einer zentralen Anlage. Ich glaube deshalb, dass die
Frage nach einer lokalen Anlage für Heizung und
Warmwasserbereitung in den Wachabtheilungen resp.
Dauerbaderäumen wenigstens einer Erwägung werth
ist. Den hygienischen Anforderungen in Bezug auf
Licht und Wärme kann man sehr zweck¬
mässig in folgender Weise nachkommen. Für die
Erhellung des Baderaumes erscheint sehr geeignet
das Oberlicht. Hierdurch kann man den ganzen
Raum in sehr ausgiebiger und gleichmässiger Weise
erhellen, die Kontrolle über die genügende Reinigung
der Badewannen wird hierdurch sehr erleichtert, und
mit dem Fehlen der Fenster in den Wänden sind
viele Ecken und Nischen beseitigt, in welche das von
den Kranken verspritzte Wasser oder auch sonst die
Luftfeuchtigkeit in unliebsamer Weise eindringt.
Bei Anlage der Heizvorrichtungen erscheint es nicht ganz
abwegig, an eine Fussbod e nh e i z u ng zu denken.
Der Fussboden, der am zweckmässigsten in Terrazzo
oder Fliesen ausgeführt wird, ist natürlich immer sehr
kalt, was für die Kranken, die nicht immer leicht
zum Anziehen einer Fussbekleidung zu bewegen sind,
sehr unangenehm ist und Erkältungen nach sich
ziehen kann. Holzlattenroste zu legen, ist nicht ge¬
rade sehr zu empfehlen, denn durch das umher-
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462 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 47.
gespritzte Wasser werden dieselben dauernd sehr
glatt erhalten und Kranke sowie Pfleger kommen dann
leicht in die Gefahr zu fallen. Auch das Belegen
des Fussbodens mit Matten aus Stroh oder ähnlichen
Stoffen hat seine Nachtheile, weil alle diese Matten
unter dem steten Einfluss der Feuchtigkeit rasch
schadhaft werden. Allen diesen Uebelständen kann
man aus dem Wege gehen, wenn man den aus
Fliesen bestehenden Fussboden durch einige darunter
geführte Warmwasserschlangen erwärmt. Man kann
dann die Kranken ruhig auch mit nackten Füssen
den Boden betreten lassen. (Terrazzo würde sich
in diesem Falle nicht für den Fussboden eignen,
weil dadurch etwaige Reparaturen an der Heizanlage
sehr erschwert würden.) Für die Erwärmung des
Fussbodens kann man sehr gut das zur Bereitung
der Bäder dienende Warmwasser benutzen, indem
man es vor Eintritt in die Wanne durch die unter
dem Fussboden angelegten Heizschlangen leitet.
Sollte sich diese Art der Heizanlage bei stärkerer
Kälte für die Erwärmung des Baderaumes als un¬
genügend erweisen, so kann diese ja noch immer
nebenbei durch eine der sonst üblichen Eimichtungen
erfolgen.
Ob eine Trennung der einzelnen Badewannen
d urch halbhohe Zwischenwände zweckmässig
ist, darüber lässt sich streiten. Im allgemeinen
sind nach unserer Erfahrung solche Wände nicht
erforderlich, sie erschweren auch sehr die Auf¬
sicht über die Badenden. Da mitunter aber recht
unsociale Kranke Vorkommen, welche ihre Nachbaren
unablässig durch Spritzen, Schimpfen und Drohen be¬
lästigen, so mag man immerhin 1 oder 2 halbhohe
bewegliche Wände bereit halten, durch deren Auf¬
stellung man dann solche unsociale Elemente optisch
isoliren kann. Unbedingt nothwendig gehören zur
Ausstattung eines Baderaumes auch eine Anzahl
Bademäntel sowie mehrere Paar B as t s c h u h e.
Die Bademäntel brauchen die Kranken auf dem
Wege nach dem Bade und auf der Rückkehr ins
Bett, beim Aufsuchen des Abortes und besonders
auch beim Wechsel des Badewassers. Bei Aus¬
führung letztgenannter Dienstleistung wird noch immer
sehr viel gesündigt. Man verfährt am zweckmässigsten
so, dass man den Kranken ganz aus der Wanne
herausnimmt, ihm den Bademantel umhängt und ein
Paar Bastschuhe anzieht. Er kann dann ruhig die
wenigen Augenblicke, welche das Erneuern des Bade¬
wassers erfordert, neben der Wanne stehen. Eine
Gefahr, dass er sich hierbei erkältet, ist nicht vor¬
handen, wenn nur das Badezimmer genügend warm
ist. Ganz unstatthaft ist es aber, den Kranken
während der Erneuerung des Wassers ganz uni*,
kleidet und zähneklappernd auf dem Wannenra&tf*
sitzen zu lassen oder ihn gar in der Zwischenzeit zu
einem andern Kranken in die Wanne zu setzen.
Zur Technik des Badens möchte ich, sowe.t
diese Frage nicht schon bei den vorstehenden Aus¬
führungen gelegentlich berührt wurde, namentlich
einen Punkt besonders hervorheben. In einzelnen
Anstalten ist es üblich, bei Kranken, welche sich
schwer im Bade halten lassen oder durch ständiges
Umherspritzen des Wassers störend sind, Decken vor.
Segeltuch oder ähnlichem Zeug zu verwenden und
zwar in der Weise, dass diese Decken an einen um
die Wanne gelegten Reifen oder an Ringen befestigt
werden und so den Kranken erheblich in seiner Be¬
wegungsfreiheit beschränken. Eine durch eine der¬
artige Vorrichtung in ein kleines Gefängniss verwandelte
Wanne ist für den modernen Psychiater kein schöner
Anblick, und soweit meine Erfahrung reicht, kann
man durch ein vorübergehendes Zurückbringen des
Kranken ins Bett, durch ein Narcoticum, durch
eine feuchte Einpackung und andere Maassnahmen
diese Zwangs maassregel mit Sicherheit immer umgehen
Aber auch noch aus einem anderen Grunde möchte
ich eine feste Decke über der Wanne als unzweo
mässig verurtheilen. Ich habe in einer Anstalt gesehen,
wie ein Kranker, ob durch Zufall oder mit Absicht
ist gleichgültig — plötzlich unter der Decke verschwand
und in Gefahr kam zu ertrinken. Schon eine solche
Möglichkeit ist Grund genug, diese unschöne Ein¬
richtung der fest angebrachten Decken zu vermeiden.
Dagegen darf es wohl als statthaft gelten, wenn inan
aus ästhetischen Gründen oder auch um eine
zu rasche Abkühlung des Badewassers zu verhüten,
ein Laken ganz lose über die Wanne legt.
Soweit man auf keinen Widerstand von seiten der
Kranken stösst, empfiehlt es sich — namentlich bei
den Frauen — dieselben im Hemde baden zu
lassen. Es hat sich auch bei uns die Maassnahme
sehr bewährt, zur Vermeidung einer übermässigen
Maceratiun der Haut, Hände und Füsse der Badenden
mit Vaseline einzufetten.
Einige Bemerkungen über die Wirkung der Dauer¬
bäder möchte ich mir für später Vorbehalten.
Die Wände des Baderaumes müssen in ihrer
ganzen Ausdehnung ebenso wie die Decke einen An¬
strich erhalten, der keine Feuchtigkeit annimmt, also
einen von Oel oder Emaillefarbe. Ein einfacher
Kalkanstrich an irgend einem Theil der Wand oder
an der Decke ist entschieden zu verwerfen, denn der
Umstand, dass ein Kalkanstrich die Wasseraufnahme
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
463
1905O
aus der Luft begünstigt — was Oswald *) lobend her¬
vorhebt, — ist nicht als ein Vortheil, sondern als ein
erheblicher Nachtheil anzusehen. Eine feuchte Wand,
in der es zu Schwamm- und Schimmelbildung kommt,
können wir in einem Baderaum ebenso wenig ge¬
brauchen wie in irgend einem anderen Zimmer. Den¬
selben wasserundurchlässigen Anstrich müssen auch
Thür und Thürpfosten, ebenso alle in dem Baderaum
befindlichen Holztheile erhalten, weil das Holz sonst
unter dem Einfluss der starken Luftfeuchtigkeit rasch
in Fäulniss übergeht, wie dies häufig in älteren Bade¬
zimmern, die nun zu Dauerbädern verwendet werden,
beobachtet wird.
Das Material, aus dem die Wannen herzu¬
stellen sind, kann sehr verschieden sein. Wer nicht
zu sehr mit dem Geldpunkt rechnen muss, mag
Wannen von Fayence anschaffen; dieselben sehen
vorteilhaft aus und sind auch sonst ganz zweckent¬
sprechend. Hier in Treptow a. R. verwenden wir
verzinkte Kupferwannen und sind damit sehr zufrieden.
Wannen von emaillirtem Eisenblech werden infolge
stellenweisen Abspringens der Emaille nach kurzer
Zeit unansehnlich. Gar nicht zu empfehlen sind
Kunstwannen (Terrazzo). An ihnen kann anhaftender
Schmutz leicht übersehen werden, sie bekommen leicht
durch Abspringen kleiner Teilchen eine rauhe Innen¬
fläche, und schliesslich haben sie noch den Nachtheil,
dass der über dem Wasserspiegel liegende Theil der
Wanne immer sehr kalt bleibt.
Was die Form der Wannen anlangt, so halte
ich es für zweckmässig, wenn man wenigstens einige
Wannen vorräthig hat, welche am Kopfende gegen
die Horizontale eine Neigung von ca. 35—40 0 be¬
sitzen. Die so gestalteten Wannen eignen sich be¬
sonders für schwächliche Kranke, welche wegen drohen¬
den Druckbrandes oder aus ähnlichen Gründen baden
und in einer solchen Wanne bequem und -ohne jede
Anstrengung längere Zeit hindurch die liegende
Stellung innehalten können. Darauf, dass die Kranken
in einer solchen Wanne ev. auch schlafen können,
möchte ic h nicht so viel Gewicht legen. Die Bäder¬
behandlung soll doch nur eine Ergänzung der Bett¬
behandlung sein, und wenn sich ein aufgeregter
Kranker im Bade beruhigt hat und das Bedürfniss
nach Schlaf empfindet, so sehe ich nicht ein, warum
man ihm dann die Bettruhe vorenthalten soll. In
der Wanne wird der Schlaf für ihn nicht so erquickend
sein wie im Bette, schon aus dem einfachen Grunde,
weil sich der ermüdete Körper in der Wanne nicht
*) Oswald, über Dauerbadeinrichtungen grösseren Stils.
Nr. 19 und 20 der Psychiatrisch-Neurologischen Wochen¬
schrift.
nach Belieben die für ihn gerade bequemste Lage
aussuchen kann. Auch deshalb scheint es mir nicht
zweckmässig, einen Kranken in der Wanne schlafen
zu lassen, weil derselbe durch die im Laufe von
mehreren Stunden doch unbedingt nothwendige Er¬
neuerung des Badewassers unnöthigerweise im Schlafe
gestört wird.
In Bezug auf die Grösse der Wannen wird
es wohl niemanden schwer fallen, das richtige Maass
zu finden. Man darf sich nur nicht von dem Ge¬
sichtspunkte leiten lassen, dass eine Wanne gross ge¬
nug sein müsse, um unter Umständen auch 2 Kranke
gleichzeitig aufnehmen zu können. *) Ein solches
Verfahren ist einfach als unstatthaft zu erklären und
bedarf wohl nicht erst einer besonderen Widerlegung
durch ausführliche Gründe. Wenn der Arzt zwei
Kranke gleichzeitig in einer Wanne baden lässt, dann
wird ein Pfleger nicht einsehen, warum er nicht auch
2 Kranke hinter einander in demselben Wasser baden
dürfte. Mit demselben Rechte könnte man schliess¬
lich sagen, man solle ja recht grosse Betten an¬
schaffen, damit man unter Umständen auch 2 Kranke
in einem Bett unterbringen könne. •
Ueber die erforderliche Anzahl der Wannen
sind die Erfahrungen noch gering, und es hängt diese
Frage eng zusammen damit, wie man sich zur Iso-
lirung und zum Gebrauch der Narcotica stellt. Hier
in Treptow, wo schon seit Jahren »nicht mehr isolirt
wird und nur wenig Narcotica gereicht werden, ver¬
hält sich auf der unruhigen Wachabteilung die Zahl
der Badewannen zur Zahl der Kranken wie 1 :5.
Bisher erschien uns diese Anzahl von Wannen als
ausreichend. Es giebt aber neuere Anstalten mit sehr
guten Dauerbadeinrichtungen — Leubus (Neubau),
Dösen — wo die betreffenden Zahlen sich wie 1 :4
resp. 1 13 verhalten.
Was die Art der Zuleitung und Ableitung
des Badewassers anlangt, so muss man dafür
sorgen, dass ein Oeffnen und Schliessen der Hähne
den Kranken selbst unmöglich ist und dass das Zu¬
flussrohr möglich nahe am Boden in die Wanne ein-
mündet. Bei einiger Aufmerksamkeit des Personals
werden sich dann leicht Unglücksfälle und Unzuträg¬
lichkeiten vermeiden lassen. Bei uns in Treptow sind
alle Hähne, auch die des Abflussrohrs, nur mittels
eines Vierkants zu öffnen. Es giebt aber sonst noch
verschiedene andere und recht brauchbare Einrich¬
tungen. Auch Mischhähne, welche das Wasser gleich
in der erforderlichen Badetemperatur in die Wanne
eintreten lassen, bewähren sich wie ich mich über-
*) vergl. Oswald.
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464"'
PSYCHIATRISCH-NEU KO LOG ISCHE WOCHENSCHRIFT
[Nr. 47 .
zeugt habe, gut. Dass von den Wannen jede mit
einem besonderen Abflussrohr direct an die Kanali¬
sation angeschlossen wird — wie Oswald will —, ist
gar nicht nöthig. Man kann sehr gut die Abflussrohre
der einzelnen Wannen in ein gemeinsames grösseres
Rohr leiten und braucht keine Rückstauung zu be¬
fürchten, wenn dieses grössere Rohr nur weit genug
ist. Eine einfache Rechnung ergiebt, dass man durch
6 Rohre von 3 cm lichter Weite gleichzeitig Wasser
in ein gemeinsames Abflussrohr von 8 cm Durch¬
messer leiten kann, ohne dass Rückstauung eintritt
Im ungünstigsten Falle wird vielleicht bei gleichzeitiger
Entleerung sehr vieler Wannen in der einen oder
anderen Wanne der Abfluss des Wassers etwas lang¬
samer erfolgen als erwünscht ist.
Unter den sonstigen Einrichtungen resp.
Gegenständen, mit welchen ein Baderaum unbedingt
ausgestattet sein muss, ist zu erwähnen erstens ein
Closetsitz. Das Vorhandensein eines solchen im Bade¬
raum selbst ist, ein ganz unabweisbares Erfordemiss.
Wenn kein Abort zur Stelle ist, lassen die meisten
Kranken zum mindesten den Urin in die Wanne und
zwar fast cfurchweg auch selche Kranke, die sonst
selbst in der Erregtheit regelmässig den Abort aus
eigenem Antriebe aufsuchen, wenn sie ihn leicht
erreichen können also z. B. so lange sie sich im Wach-
saale befinden. Das Fehlen eines Abortes gestaltet
auch den ganzen Betrieb viel umständlicher, indem
die im Baderaum befindliche Wache jedesmal zum
Abführen eines Kranken erst eine andere Pflegeperson
zur Unterstützung herbeirufen muss.
Ferner ist eine Wasch Vorrichtung im Bade¬
raum nicht zu entbehren. Es ist aber wichtig, dass
diese Einrichtung auch wirklich nur für diejenigen
Kranken und Pfleger bestimmt ist, welche sich auf
Grund ärztlicher Anordnung im Baderaum aufhalten
sollen. Wenn dies nicht der Fall ist, dann bietet
das fortwährende Kommen und Gehen von Personen
für verschiedene Kranke, die sonst vielleicht ganz
ruhig im Bade sitzen, ständig einen Anreiz zu neuer
Aufregung. Es ist überhaupt streng darauf zu halten,
dass niemand das Badezimmer betritt oder sich in
demselben aufhält, der nicht am Bade betheiligt ist.
Ganz zweckmässig ist auch das Vorhandensein eines
Ruhebettes. Im allgemeinen kommen Ohnmächten
oder ähnliche Unglücksfälle im Dauerbade äusserst
selten vor, falls sie sich aber doch einmal ereignen,
dann ist es immer ganz gut, wenn man für die erste
Hülfeleistung rasch eine Liegestelle zur Hand hat.
Analytische Untersuchungen der Symptome und Assoziationen
eines Falles von Hysterie (Lina H.)
Von Dr. Franz Rikltn , bisher 1. Assistenzarzt am Burghölxli, z. Z. Sekundararzt an der Züricher Pflegeanstalt Rheinau.
(Fortsetzung.)
Frühjahrssymptome. Abortversuche. Da¬
mit sind aber noch nicht alle Ursachen des Erbrechens
erschöpft Die bis jetzt enthüllten Einzelheiten kamen
in den Hypnosen vom Mai 1903 zum Vorschein.
Als Pat. anfangs Juni in Hypnose über ein anderes
Symptom (Rückenschmerzen) befragt wurde, fiel ihr
ein, dass sie auch ein Jahr vorher, ebenfalls im Früh¬
jahr und zur Zeit der Menses, Erbrechen und Rücken¬
schmerzen nacheinander gehabt habe. Man machte
Magenspülungen. Zu jener Zeit half Pat. bei der
Feldarbeit, aber ein Zusammenhang war nicht zu
eruiren — auch nicht mit den damals aufgetretenen
Beinschmerzen (bes. in den Oberschenkeln, die sie
nach einer Erkältung durch Sitzen ins kalte Gras er¬
worben haben will. Sie hatte damals die Menses).
Alle Bemühungen, hier weiter zu kommen, scheiterten.
Beinahe ein Jahr verging, ohne dass Pat. mehr
erbrochen hätte. Appetit etc. waren sehr gut, die
hauptsächlichsten Symptome waren verschwunden, als
Pat. Ende April 1904, also wieder im Frühjahr, einige-
male erbrach; gleichzeitig nahm die Masturbation
wieder zu, und Pat. klagte mehrmals über intensive
Leibschmerzen. Im übrigen litt ihr Allgemeinbefinden
wenig unter diesen Erscheinungen.
Dass nach allem ein psychischer Grund hinter
diesem Symptomencomplex stecken müsse, gab das
Oberbewusstsein der Pat. keineswegs zu. Die Hyp¬
nose brachte ihn zutage:
Die Masturbation nahm zu nach den Besuchen
von einer Freundin (einer ehern. Pat der Anstalt),
die kürzlich als Submaniaca sich blindlings in ein Ver-
hältniss mit einem zweifelhaften Coiffeur gestürzt hatte.
Dieser verduftete, nachdem er der Pat. ziemlich viel
Geld entlockt und sie gravid gemacht hatte.
Diese Erzählungen regten unsere Pat. sexuell auf,
nachts träumte sie von ähnlichen Situationen aus
ihrem Leben und masturbirte wieder. Statt Erbrechen
oder dgl. stellten sich diesmal nach dem Masturbiren
Schmerzen in den äusseren Genitalien ein. Wir wer¬
den darauf zurückkommen.
Bald darauf kam doch Erbrechen. Das Oberbe¬
wusstsein der Pat. konnte angeben, sie habe sich er-
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
465
kältet. Die Menses seien im Anzuge, und da sei sie
heute zum erstenmal im Garten ins Gras gesessen.
Letztes Jahr sei ihr das auch einmal so gegangen.
Also geht aus einer Reihe von Einzelerfahrungen
hervor, dass Pat. jedes Frühjahr, wenn die Menses
heranrückten, einmal ins feuchte Gras sass und dann
Erbrechen bekam.
Durch die Hypnose war es möglich, zur unter¬
bewussten Maschinerie zu gelangen, welche da im
Spiele war:
Wenn die Pat. im Frühjahr zum erstenmal ins
Gras sass — offenbar hatte sie einen förmlichen Drang,
dies jeweilen zu thun; denn wieso soll jeder Mensch
gerade jeden Frühling ins feuchte Gras sitzen, nament¬
lich nach so schlechten Erfahrungen — weckte sie
im Unbewussten die Erinnerung an die Zeit ihrer
ersten Schwangerschaft; das war auch im Frühjahr;
die Schwangerschaft war nicht mehr zu verheimlichen,
sie theilte die Sache zu Hause mit und bekam dafür
Prügel! Dann musste sie auf Befehl der Angehörigen
eine Abort kur machen: man liess sie heisse Sitzbäder,
resp. „Dämpfe“ für den Unterleib nehmen, dann, ohne
sich abtrocknen zu dürfen, wurde sie geschickt um
selbst die Pflanzen auf der Wiese zu suchen, die als
Abtreibemittel galten und in ihre Dampfbäder gethan
wurden. Man glaubte, das Mittel verbunden mit der
bezweckten Erkältung und Kongestion des Unter¬
leibes werden ihre Wirkung thun. Pat. fühlte sich
bei der Procedur keineswegs wohl, sie gehorchte
widerwillig, denn sie wusste, dass die Schwangerschaft
doch schon zu weit fortgeschritten sei, und oft setzte
sie sich ins Gras und weinte. Ungeführ nach dem
fünften Mal fing das Mittel zu wirken an: Pat. be¬
kam sehr heftige Leibschmerzen, der Abort drohte
sich einzustellen, aber schliesslich kam er doch nicht
zustande.
Damit hätten wir den Grund für die hysterischen
Leibschmerzen aufgedeckt.
Für das gleichzeitige Erbrechen besteht eine weitere
Determinirung, ein Grund, warum Pat. bald nach dem
ins Gras sitzen, unmittelbar nach einem Besuch jener
Freundin, wieder erbrach: die Freundin hatte ihr er¬
zählt, dass sie kürzlich nach einer starken Anstrengung
abortirt habe und nun glücklicherweise die Folgen
ihres Verhältnisses nicht weiter gehen.
Das Unterbewusste unserer Pat. erinnerte sich da¬
bei, und beim ins Gras sitzen, einer zweiten Abtreib¬
ungsgeschichte. In der zweiten Hälfte der zweiten
Schwangerschaft, wieder im Frühjahr, erzählte sie zu¬
erst ihrer Schwester was ihrer harre. Die Schwester
liess sie — als Abtreibemittel, einen Absud von Tabak
und Cigarren trinken. Die Wirkung des Nicotins
zeigte sich bald: Furchtbares Erbrechen und intensive
Leibschmerzen. Iu den folgenden Tagen hatte Pat.
noch eine Menge Ohnmächten. Die Abtreibung kam
indessen nicht zustande.
Andere hysterische Verdauungsstörungen,
Ekel vor Milch und Fleisch. Bis jetzt gab unsere
Analyse der Ansicht von Breuer und Freud, dass
das hysterische Erbrechen gewöhnlich ein symbolisches
körperliches Symptom für hysterischen Ekel sei, voll¬
ständig recht. Es war daher nahe liegend, hinter
dem Ekel vor Milch und Fleisch, der bei unserer
Pat. vorhanden war, ähnliche Ursachen zu suchen.
Nachdem die Hauptpunkte über die Ursachen des
Erbrechens festgestellt waren (Mai, Juni 1903), fiel
es auf, dass Pat., die lange Zeit keine Milch mehr
ertragen hatte, dieselbe ohne weiteres trank und so¬
gar bat, man möchte ihr statt des Nachtessens Milch
verabreichen,
Mitte August wurde die Pat. hypnotosirt und um
Aufschluss über ihre frühere Abneigung gegen die
Milch gebeten.
Zuerst giebt Pat an, im Mädchenasyl P. habe
sie zur Stärkung viel Milch trinken müssen; die an¬
dern haben ihr das missgönnt, das habe sie sehr ver¬
stimmt, und seither sei ihr ein Widerwille gegen die
Milch geblieben.
Dann erinnert sie sich, dass sie in der Erziehungs¬
anstalt in P. früher auch Mich erbrochen habe, als
sie eine Milchkur machen sollte. Einmal besonders
musste sie erbrechen, als sie die frische Milch im
Stall holen musste; die Milch sei damals schlecht ge¬
wesen !
Plötzlich taucht eine neue Erinnerung auf. (Meistens
erkennt man das Eintreten verdrängter Erinnerungen
ins Bewusstsein der Hypnotisirten in einer plötzlichen
Veränderung des Gesichts: Pat wird blass oder roth;
an Stelle der eines ruhig Schlafenden treten verzerrte,
erbitterte Gesichtszüge; die Lippen werden zusammen-
gepresst und Pat. wendet sich ab, schüttelt den Kopf,
sagt: „Nein“, oder „Lassen sie mich in Ruhe; quälen
sie mich doch nicht“ und dgl. Es geht dann oft
noch einige Zeit, bis Pat wirklich Auskunft giebt.
Man wird lebhaft an die sog. mimischen Reac-
tionen in den mit meinem Collegen Dr. Jung ge¬
meinsam ausgeführten *) Associationsversuchen erinnert,
wo ein Reizwort oft eine auffallende Aenderung der
Mimik hervorruft, und besonders an die Fehler, wo
ähnliche Hemmungen — resp. Sperrungen — Vor¬
kommen.)
Widerwillen gegen die Milch: Kurz nach
jenem ersten Attentat des Vetters geschah ein ähn¬
liches. Pat war geschickt worden, Milch im Stalle
zu trinken und zu holen, da sie schwächlich war (der
betr. Vetter hatte inzwischen das Heimwesen und
die Viehhabe gekauft.)
Ibi homo puellam coagere conatus est, ut semen,
quod masturbatione effluebat, ore reciperet
Seither musste sie sich oft erbrechen, wenn sie
Milch sah oder trinken wollte. Die Woche nach
dieser Hypnose war Pat. schlechter. Sie erbrach fast
immer die Milch und producirte noch verschiedene
andere Symptome, besonders Herzklopfen und Ohren¬
schmerzen. Zwistrhen hinein war sie einen ganzen
Tag lang auffallend fröhlich und wollte tanzen — „zum
letztenmal in ihrem Leben“, meinte sie!
Der Grund dieser Verschlechterung lag im un¬
vollständigen Aufschluss über die letzte Angelegenheit.
Aber erst in der zweitfolgenden Hypnose gelang es
weiter in diesem Sumpfe vorzudringen.
*) Jung und Riklin, Ueber Asiociationen Gesunder; Journal
f. Psych. u. Neur. Bd. III.
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I
466 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Der Vetter hatte damals eben die Kühe gemolken.
Als sie kam, Schloss er die Tennthüre hinter ihr ab
und zog sie in die Tenne ins Stroh, und stellte das
genannte Ansinnen an die Pat Sie sträubte sich und
schlug ihn, wobei er strauchelte und mit seinem ent-
blössten Penis in den Milchkessel fiel. Pat. lief weg,
mit grossem Ekel; abends wollte sie dann begreif¬
licherweise keine Milch trinken, und als man sie mit
Schlägen dazu zwang, erbrach sie sich heftig.
Dass das Erbrechen, nach dem uns jetzt bekannten
Mechanismus, unter ähnlichen Situationen, bei Milch¬
kuren etc. jeweilen wieder hervortrat, ist leicht ver¬
ständlich.
Bei der Analyse dieses Symptoms beobachten wir
wieder, wie zuerst die neuern und unbedeutendem
„Determinanten“ zuerst bewusst werden, und die
letzten Dinge die wichtigsten sind. Das Abreagiren
erfolgte ziemlich stürmisch; Pat. schämte sich vor dem
Ref., leistete heftigen Widerstand, so dass die Ana¬
lyse erst in einer zweiten Sitzung möglich war, weinte
schwer u. s. f.
In der Folge hat Pat. täglich mehrmals Milch ge¬
trunken, und zwar ganz ohne Beschwerden. Magen¬
spülungen sind nie mehr nöthig geworden.
Die Symptome von Seite des Magens bilden zu¬
sammen eine einheitliche Gruppe symbolischer
Ekelsymptome, sexueller Natur. Um jedes herum
associirt sich später eine Reihe weiterer, weniger wich¬
tiger Determinanten, je nach den ursächlichen Er¬
eignissen.
Schlechtes Fleisch. Im Mädchenasyl P.
soll Pat. einmal schlechtes Fleisch (!) bekommen haben.
Sie habe von da an kein Fleisch mehr gegessen bis
zum Eintritt in unsere Klinik und hier habe sie sich
öfter deswegen erbrechen müssen.
. Dann: Ekel vor dem Fleisch habe sie empfunden,
seit sie in jenem Mädchenasyl ein geschlechtskrankes
Mädchen besorgt habe! Das Leiden verursachte einen
sehr üblen Geruch. Pat. dachte sich damals, es hätte
ihr bei ihrem Leben ebenso gehen können Wie diesem
Mädchen; sie könnte jetzt auch mit solch einem ab¬
scheulichen Leiden zu Bette liegen.
Die andern fanden damals das Fleisch nicht
schlecht, auch nicht dass es übel rieche. Pat. aber
war unmittelbar vorher beim betr. Mädchen gewesen!
Der Portier. Im Hotel S. in Zürich, wo Pat.
vorher 2 Jahre lang gedient hatte, war der Portier
krank. Er bekam ein tiefes Geschwür im Mund, die
Pflege war ekelhaft; er wurde in das Kantonsspital
gebracht. Sein Nachfolger erzählte unserer Patientin
beim Essen, der Vorgänger hätte eben eine Geschlechts¬
krankheit.
Im weiteren Verlauf des Gespräches wurde er
aggressiver und entblösste seine Genitalien; zum Coitus
kam es nicht, Pat. empfand im Gegentheil in diesem
Zusammenhänge starken Ekel und konnte nicht mit¬
essen. In der Folge sah sie beim Essen, besonders
beim Fleischessen, immer wieder diesen Penis vor
den Augen.
Im Mädchenasyl wurde gleich an jenem Tage
auch diese Geschichte (unbewusst) erinnert.
[Nr. 4;.
Besuch vom Vater. Eines Tages (23. VI. 031
verlangte Pat. plötzlich wieder Eier statt Fleisch, die
sie erbrechen musste; sie wusste nicht recht warum.
Am folgenden Tage Hypnose:
Pat. hatte Besuch von der Schwester erwartet.
Sie kam nicht; Pat. meinte, wahrscheinlich habe sie
erfahren, dass sie vom Vater besucht worden sei und
sei erbost darüber. Dieser Gedanke rief unbewusst
den Gedanken an die Blösse des Vaters wach, an
die Exhibition des Portiers etc., und sie konnte*kein
Fleisch essen.
Der Gedanke an die Blösse des Vaters, der sonst
zu denen gehörte, die allgemein Erbrechen, Mastur-
biren etc. hervorrief, associirte sich hier mit dem ex-
hibirenden Portier, und so kommt es, dass diese
Constellation hier zur Production des andern körper¬
lichen Ekelsymptoms: Ekel vor Fleisch, mithilft. Pat.
musste sich darob erbrechen.
Bevor die Analyse dieses Punktes erledigt war.
hatte Pat. hier und da mehr Milch an Stelle des
Fleisches verlangt. Seither hat sich nie mehr Ekel
vor der Fleischkost eingestellt.
Masturbatorische Schmerzen. Es wurden
verschiedene Symptome analvsirt, die alle zur Mastur¬
bation der Pat. in Beziehung stehen. Dass die
Masturbation selbst als Symptom und nicht blos als
Ursache von andern Symptomen aufgefasst werden
muss, haben wir schon erklärt.
Wir haben auch gesehen, dass die sexuellen
Träume der Pat., die mit Masturbation verbunden
waren, häufig Erbrechen im Gefolge hatten. Die
Ursache des Erbrechens war dem Oberbewusstsein
der Pat. meist verhüllt.
In anderen Zusammenhängen verursacht die Ma¬
sturbation mit ihren eigenen Ursachen andere körper¬
liche Symptome, die Bestandteile eines weitem
Symptomenco m p 1 ex es sind im gleichen Sinne, wie
das Erbrechen einerseits, der Ekel vor Milch und
Fleisch, welche die Symptomengruppe der Magen¬
besch werden gebildet haben.
Zuerst ergab sich, (8. VI. 03) immer unter An¬
wendung der gleichen Methode, ein Zusammenhang
mit den Rückenschmerzen der Pat., die sich als
Prodromal- und Begleitsymptome der Menses einstellen.
Da bei vielen Frauen die Menses von stärkern oder
geringem Schmerzen begleitet werden, war besonders
schwierig, das organische an diesen Schmerzen zu
eliminiren; nur der Mangel an einem wichtigem patho¬
logischen Genitalbefund musste Verdacht erwecken,
und am Ende der Analyse fanden sich eben keine
Unterleibsschmerzen mehr vor, auch zur Zeit der
Menses nicht.
Um die menstruellen gruppirt sich eine’ ganze
Menge secundärer Genitalsymptome und Schmerzen
im Rücken, wieder ein Mittel, um dem Beobachter
und dem Oberbewusstsein der Pat. den wahren Sach¬
verhalt zu verdecken und eine gute Verdrängung zu
ermöglichen.
Pat. bekam einmal bei der Analyse der Magen¬
schmerzen, unmittelbar bevor sie ihre Masturbation
eingestand und die Analyse nicht weiter gehen wollte,
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCH K1 FT.
467
intensive Schmerzen im Rücken, besonders beim
Liegen; dann wieder am folgenden Morgen; es hatte
ihr vorher geträumt, sie masturbire. Dann fiel ihr
ein, dass dieses Masturbiren sie an die dritte Schwan¬
gerschaft erinnere; der Vater des dritten Kindes hatte
ihr intensive Schmerzen verursacht, nachher trat eine
starke Blutung ein. Es zeigt sich später, dass die
Masturbationssymptome verschieden sind, je nachdem
sich Pat. den Vater, den Vetter, den ersten Geliebten
resp. hier den Vater des dritten Kindes vorstellt;
dass letzterer hauptsächlich im Zusammenhang mit
der menstruellen Blutung erscheint, ist nach der uns
jetzt bekannten Symbolik erklärlich.*)
*) Auffallender weise traten, wenn sich Pat. beim Mastur¬
biren ihren ersten Geliebten, den Maler, vorgcstellt hatte,
keine Symptome vor; Pat war dann guter Laune. Nicht
etwa moralische Entrüstung ist also der tiefere Grund, warum
Pat. nach der Masturbation in übler Laune ist, sondern die
Bindung an bestimmte, oft unbewusste Erinnerungen, vielleicht
ist die Reproduction so vieler Symptome überhaupt eine Folge
der ganzen Lage der Pat. Das Masturbieren unter Vorstellung
des ersten Geliebten ist eine Art Wunscherfüllung. Ihn hat
sie wirklich geliebt.
Wir sehen hier, dass bei der Analyse des Brech-
symptomes nicht nur der Complex „Masturbation“
erregt wurde, sondern auch das damit ebenfalls ver¬
bundene Symptom Rückenschmerz, besonders beim
Liegen (Coitus), und zwar in dem Maasse, dass Pat.,
bevor sie den verdrängten Grund, die Masturbation,
gefunden und abreagiit hatte, bat, man möge sie doch
aus der Hypnose wecken, da unerträgliche Rücken¬
schmerzen sie quälen. (Pat. lag während der Hypnose
zu Bett.)
In den folgenden Tagen (n. VI.), zu einer Zeit
wo weder das Erbrechen noch die masturba-
torischen Symptome fertig analysirt waren,
war Pat. verstimmt, scheu, missmuthig, widerwärtig,
verlangte entlassen zu werden und erbrach sich, alles
mit der Masturbation zusammenhängende Symptome.
Die Menses waren im Anzuge, Pat. war sexuell er¬
regt (dann verlangte sie immer entlassen zu werden).
Die Menses traten 2 Tage später wirklich ein, be¬
gleitet von den oben erwähnten Symptomen, die wir
ira Lauf der Analyse werden verschwinden sehen.
(Fortsetzung folgt.)
Mittheilungen.
— Berlin. Die Bestimmungen über die
Unterbringung von Geisteskranken auf
Kosten der Stadt Berlin in Privatanstalten haben hin¬
sichtlich der Entlassung gebesserter Kranker zu Miss¬
verständnissen geführt. Die Deputation für die
städtische Irrenpflege hat deshalb folgende An¬
ordnung getroffen: Erscheint die Entlassung eines
Kranken möglich, so ist sie unter Berücksichtigung
der staatlichen Anweisungen (eventuell also nach
Anzeige an die zuständigen Behörden) alsbald ein¬
zuleiten. Sofern zur Entlassung oder Beurlaubung
eines Kranken eine einmalige Unterstützung
oder die Empfehlung zu fortlaufender Unter¬
stützung an die Armendirektion erforderlich ist,
oder falls der Zustand die Familien pflege unter
Aufsicht der Anstalt gestattet, ist der Direktion der
Hauptanstalt sofort Mittheil ungbehufs weiterer Maass-
nahmen zu machen.
Jubiläum der Irrenanstalt Dalldorf.
Die Irrenanstalt Dalldorf und mit ihr zahlreiche Be¬
amte, darunter der Direktor der Anstalt Geh. Medizinal¬
rath Dr. Sander, der Oberarzt Sanitätsrath Dr.
Ri chterund verschiedeneVerwaltungsbeamte,konnten
am 15. d. Mts ihr 2 5 jähriges ] u biläum feiern.
An diesem Tage waren seit dem Bestehen dieser
ersten städtischen Irren- und Idioten-Anstalt 25 Jahre
verflossen.
Die dritte städtische Irrenanstalt Berlins
in Buch soll ausser den projektirten Häusern noch
ein besonderes Gebäude zur Unterbringung ver¬
brecherischer Geisteskranken erhalten. Die Depu¬
tation für die städtische Irren pflege ist der
Ansicht, dass durch die Anwesenheit solcher geistes¬
kranker Personen in der Anstalt Sicherungsmaassregeln
erforderlich sind, die mit den wesentlichen Grund¬
sätzen der Behandlung der übrigen Geisteskranken
im Widerspruch stehen. Das Gebäude soll
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deshalb ausserhalb der eigentlichen Anstalt errichtet
werden und Raum für 50 Kranke bieten. Für das
erforderliche Pflegepersonal soll ein besonderes Wohn¬
haus errichtet werden, das im Erdgeschoss Wohn-
räume für 16 Pfleger nebst den nöthigen Aufent¬
halts- und Speiseräumen und im Obergeschoss eine
Wohnung für einen verheiratheten Pfleger enthalten
soll. Nach dem Verwaltungsbericht des Magistrats
sind die Kosten für das Verwahrungshaus auf 270000
M. und für das Pflegeihaus auf 76100 M. veran»-
schlagt werden.
Referate.
— Hirschfeld, Magnus: Der u mische
Mensch. Leipzig, Verlag von Max Spohr.
Hirschfeld hat irn Laufe der letzten 7 Jahre ca.
1500 Homosexuelle sorgfältig beobachtet. Auf diesem
Beobachtungsmaterial sind die Ausführungen des
Verf. begründet. Bei den germanischen und angel¬
sächsischen Völkern linden sich verhältnissmässig
mehr Homosexuelle, wie bei den Romanen. 3,6%
der Fälle II.’s waren Juden. Die echte Homo¬
sexualität ist angeboren. Den Momenten, welche
gewöhnlich als Ursachen der Homosexualität genannt
werden, kommt lediglich oceasionelle Bedeutung zu.
Wie Gelegenheitsursachen aller Art den normalen
Trieb auslösen, lösen auch äussere Einwirkungen oft
den schlummernden, aber doch deutlich vorhandenen
homosexuellen Trieb aus. Nur aus dem geborenen
Urning, aus dem urnischen Kinde entwickelt sich
der homosexuelle Mann und das homosexuelle Weib.
Weder ein männliches oder weibliches Wesen kann
sich in ein gleichgeschlechtlich empfindendes ver¬
wandeln, noch ist das Umgekehrte möglich. Varia¬
tionsbedürf n iss, Reizhunger, pathologische Associa¬
tionen , choc fortuit etc. etc. sind nicht im Stande,
eine solche Umgestaltung der ganzen körperlichen
Original fram
HARVARD UMVER5ITY
4 68
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 47 .
und geistigen ^Beschaffenheit hevorzurufen, wie sie bei
den Homosexuellen besteht.
Urning und Uranierin stehen als durchaus harmo¬
nische, abgeschlossene Persönlichkeiten in körper¬
licher und geistiger Beziehung zwischen Mann und
Weib, ein drittes Geschlecht darstellend.
Ueberall in der Natur giebt es Uebergänge. Auch
der Uranismus ist als ein solcher aufzufassen und ist
somit eine Naturnothwendigkeit.
Bei der homosexuellen Empfindung handelt es
sich um wirkliche Liebe, welche in allen ihren Details
ein vollkommenes Aequivalent der heterosexuellen
Liebe ist. Wie bei den Heterosexuellen giebt es
auch bei den Homusexuellen solche, bei denen der
Geschlechtstrieb im engeren Sinn nur eine mehr oder
weniger untergeordnete Rolle spielt und andere, die
von ihrer Leidenschaft völlig beherrscht werden.
Auch bei dem Homosexuellen steht das Traum¬
leben unter dem Einfluss seiner Triebrichtung. Schon
vor Eintritt der Reife sind die angenehmen Träume
der Urninge von gleichgeschlechtlichen Vorstellungen
erfüllt. Der Trieb der Arterhaltung mangelt gänzlich.
Der homosexuelle Trieb kann durch gewisse Um¬
stände in seiner Gewalt beeinflusst werden, an und
für sich ist er unausrottbar. Die zuweilen mit Hyp¬
nose erzielten Erfolge beruhen, wie bereits Krafft-
Ebing betonte, „nicht auf wirklicher Heilung, sondern
auf suggestiver Dressur“.
Heredität spielt nach den Beobachtungen H.’s
eine geringe Rolle. Sie bestand in höchstens 20 bis
25%. Nur bei diesen waren fast durchgängig Zeichen
von Degeneration nachweisbar. Auffallend ist das
verhältnissmässig sehr häufige Vorkommen homo¬
sexueller Geschwister. Unter 100 Urningen finden
sich durchschnittlich 8, deren Bruder oder Schwester
ebenfalls homosexuell sind.
Rein für sich betrachtet kann von dem Homo¬
sexualismus höchstens als von einer besondern Art,
nicht aber von einer Anomalie im pathologischen
Sinn gesprochen werden.
Auch unfruchtbar ist er nicht. H. weist darauf
hin, dass der Zweck des Geschlechtstriebs auch nur
die Liebe sein könnte, die Liebe, die stets fruchtbar
ist, zeugt und gebiert, auch wenn ihr keine neuen
Lebewesen entspriessen. Man kann auch productiv
sein, ohne sich fortzupflanzen — das hat nach H.’s
Ansicht der Uranismus bewiesen. Aufhebung des
§ 175 ist anzustreben.
Es dürfte angebracht sein, den Ausführungen
H.’s die Ansicht Jolly’s, welche im Wentlichen die
Auffassung einer Reihe hervorragender und kritischer
Psychiater und Neurologen wiedergiebt, gegenüber¬
zustellen.
Jolly führt in seiner Abhandlung, „Perverser
Sexualtrieb und Sittlichkeitsverbrechen“ (Klinisches
Jahrbuch, XI. Band, Heft 1, Gerichtliche Medicin,
12 Vorträge, Jena, Verl. v. Gustav Fischer, 1903,
p. 199 ff), aus: Die Homosexualität tritt vielleicht
in einer ganz kleinen Zahl der Fälle als wirklich an¬
geborene Erscheinung auf. In den weitaus meisten
Fällen ist sie ganz sicher eine erworbene, zum Theil
in früher Kindheit, zum Theil erst im späteren Leben.
In der Jugend Bildung fester Association zwischen
sexueller Empfindung und der bestimmten Vorstell¬
ung der Befriedigung, wie es auch bei den anderen
Perversitäten, Sadismus, Masochismus, Fetischismus.
Exhibitionismus der Fall ist Die grosse Mehrzahl
der zunächst Befallenen geht' in der Zeit der vollen
Geschlechtsreife auf die normale Bahn über und wird
die „weibliche Seele“ wieder los.
Eine nicht unbeträchtliche Minderzahl bleibt
dauernd mehr oder weniger unter der Nachwirkung
der Jugendeindrücke stehen. Unter dieser Minder¬
zahl befindet sich eine nicht geringe Anzahl von
psychopathischen Naturen, bei welchen die Wider¬
standsfähigkeit vermindert ist und die deshalb be¬
sondere Neigung zeigen zu solchen pathologischen
Verknüpfungen. Auch eine ganze Menge gesunder
Individuen behält diese Neigung bei.
Bei Erwachsenen ist die Entstehung der Perver¬
sität ganz besonders häufig da zu beobachten, wo
die Betreffenden von der normalen Geschlechtsbe¬
friedigung abgeschnitten sind. Auch hier zufällige
Erwerbung einer Perversität, welche eine ganz isolirte
sein und bleiben kann, neben der ein durchaus
normales sonstiges Seelenleben möglich ist.
Die Theorie, dass die ursprünglich bisexuelle An¬
lage des Embryo auch auf eine bisexuelle Anlage
der Gehirn centren hin weise, dass bei einzelnen Indi¬
viduen zufällig das männliche Centrum verkümmere
und nur das weibliche erhalten bleibe, ist als positiv
falsch zu bezeichnen.
Der Umstand, dass die Perversität der Homo¬
sexualität in ganz übereinstimmender Weise sich ent¬
wickelt, wie alle anderen Perversitäten in sexueller
Beziehung, beweist, dass alle Erklärungsversuche,
welche nur für die einzelne Perversität zugeschnitten
sind, von vorneherein hinfällig sein müssen.
Für die practische Begutachtung, für die Auf¬
fassung des Psychiaters und des Gerichtsarztes, der
solchen Fällen gegenübergestellt wird, kann allein in
Frage kommen, zu ermitteln, ob geistige Krankheit
vorhanden ist oder nicht, eventuell ob neben dieser
perversen Sexualität etw^a andere Momente vorhanden
sind von krankhafter Art, welche die Widerstands¬
kraft des Individuums ausserordentlich herabsetzen.
Jolly ist für Aufhebung des § 175.
Die Gründe dafür sind folgende: Es werden da¬
durch Scandalprocesse vermieden, welche Niemanden
zu Nutzen sind, insbesondere nicht der öffentlichen
Moral. Weiterhin verfallen noch der practischen
Rechtsprechung nur ganz bestimmte sexuelle Prac-
tiken, die unter Männern geübt werden, der Strafe,
während andere Practiken straflos bleiben, speciell
die mutuellle Masturbation.
Solange der § 175 besteht, müssen es sich die
Homosexuellen gefallen lassen, mit demselben Maasse
gemessen zu werden, wie die anderen Sexualper¬
versen. Auch von den Homosexualen ist zu ver¬
langen , dass sie, soweit sie nicht unter den Begriff
der eigentlich Geisteskranken fallen, wie jeder sitt¬
liche Mensch bestrebt sind, ihre Triebe zu be¬
herrschen. Thuen sie es nicht, so haben sie die
Folgen davon zu tragen. W ickel-Dziekanka.
Für den redactionclk-n Theil verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Brt-sler, Lubhnitz (Schlesien).
Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl M arhold in Halle a. S.
Heyneznann’sche Buchdruckerei (Gehr. Wo’fn in Halle a. S.
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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift.
Redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Lublinitx (Schlesien).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adresse: Marhold Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834.
Nr. 48. 25. Februar. 1905.
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagshuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die 3 spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten.
Analytische Untersuchungen der Symptome und Assoziationen
eines Falles von Hysterie (Lina H.)
Von Dr. Franz Riklin , bisher 1. Assistenzarzt am Burghölzli, z. Z. Sekundararzt an der Züricher Pflegeanstalt Rheinau.
(Fortsetzung.)
Schmerzen im rechten Arm. Pat. klagte
öfter, namentlich bei verdriesslicher Laune, über Schmer¬
zen im rechten Vorderarm, besonders in der Gegend
der Supinatoren.
Der Arzt, dem sie diese Schmerzen zum ersten¬
mal klagte, fand damals eine Schwellung und Druck¬
empfindlichkeit dieser Muskeln. Bei den späteren
Untersuchungen wurde jeweilen noch Druckempfind¬
lichkeit, aber nicht mehr Schwellung konstatirt. Pat.
selbst meinte in der Folge, die Schmerzen kommen
dann, wenn sie sich beim Glätten überarbeite und
ähnl. Man verordnete feuchte Umschläge. In der
Hypnose wird der Pat. zur Unterstützung der Analyse
suggerirt, sie empfinde jetzt lebhaft diese Schmerzen.
Pat. erzählt hierauf: Am Morgen des Tages, wo diese
Schmerzen, verbunden mit deutlicher Schwellung des
Vorderarms sich einstellten, war sehr schlechtes Wetter
und ich sehr verdriesslich. (Man merke sich diese
scheinbare Begründung) dann: „Ich war sehr gereizt
(sexuell), denn erst zwei Tage vorher war die Periode
eingetreten. Ich quälte mich selber (masturbirte ;
„quälen“ braucht Pat. auch im Sinne von Coitus erleiden,
spec. vor der 3. Schwangerschaft oder im Sinne von
missbraucht werden) mit der rechten Hand. Nach¬
her verwünschte ich diese Hand: wenn sie nur ver¬
faulen oder abgehauen würde! In dieser Entrüstung
ging ich hin und klemmte die Hand (resp. den ganzen
Vorderarm) zwischen Bett und Mauer ein (am Morgen
als Pat. ihr Bett rüstete!) sodass sie nachher ge¬
schwollen war. Abends kam Dr. M., ich klagte ihm
über die Schmerzen im Arm“. Pat. wusste in diesem
Momente schon nicht mehr, woher die Schmerzen
und die Schwellung rührten. In der Folge stellten sich
die gleichen Schmerzen jeweilen wieder ein, wenn Pat.
masturbirt hatte und nicht eine andere Constellation
ein anderes masturbatorisches Symptom verlangte —
z. B. Erbrechen, wenn gleichzeitig andere Magensymp-
tome schon da waren, Rückenschmerzen wenn die
andern Determinanten für Rückenschmerzen schon
vorhanden waren u. s. f. (möglicherweise stellte sic
sich beim Masturbiren mit Armschmerz dem Ab¬
theilungsarzt vor).
Dieses Symptom des Armschmerzes ist eines der
wenigen, die im Laufe der Beobachtung neu entstan¬
den sind.
Der Umstand, dass Pat. am Abend des genannten
Tages schon nicht mehr wusste, woher die Schmerzen
im Arm kamen, dass also schon wieder eine starke
Spaltung zwischen Symptom und Ursache stattgefun¬
den hatte, lässt daran denken, Pat. habe sich im
Moment der Entstehung in einem hypnoiden Zustand
befunden. Beweisen lässt sich diese Annahme nicht
Während der ganzen Zeit der Beobachtung konnte
ein hypnoider Zustand, in dem Pat. z. B. ein deut¬
lich eingeengtes Bewusstsein gehabt, falsch oder schwer
aufgefasst oder Vorgänge in ihrer Umgebung nicht
wahrgenommen hätte, nicht nachgewiesen werden, aus¬
genommen wenn es sich um posthypnotische oder
intrahypnotische Suggestionen handelte, die Pat. aller¬
dings musterhaft realisirte.
Nach dem was wir von der Pat. wissen, sind wir
nicht berechtigt, die Entstehung der „Conversion“ der
Abspaltung vom Bewusstsein, bei ihr in hypnoide
Zustände zu verlegen, sofern wir nicht annehmen,
dass im Zustande des Affects immer eine gewisse
Bewusstseinseinschränkung auf das Object des Affects
entsteht.
Zeitweise war die Masturbation wieder von einem
andern Symptom gefolgt, Husten; derselbe hat im
Zusammenhang folgende Aetiologie:
Als Pat. in unsere Anstalt kam, klagte sie über
Schmerzen auf der Brust und auf der Seite (Schmerzen
in den Brüsten). Sowohl die einweisende Aerztin
als der Arzt, der den Aufnahmestatus besorgte, fanden
nichts Objectives; letzterer fragte sie noch, ob sie
vielleicht eine Brustfellentzündung durchgemacht habe.
Er fragte sie auch, ob sie Husten habe. Als er aber
auch nichts fand, und sie doch über Schmerzen in
der Seite geklagt hatte, machte es ihr den Eindruck,
als glaube man ihr nichts. Im übrigen regte sie die
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 4.8
47°
gleichzeitig vorgenommene gynäkologische Unter¬
suchung sexuell stark auf. Denn sie erwartete die
Menses, vor deren Eintritt die sexuelle Erregung bei
ihr immer stärker war. Innerhalb 8 Tagen stellten
sich dann die Menses ein und damit auffallender
Husten. Seither hustet Pat. oft bei sexueller Erregung.
Im Frühjahr 1901, als ein ärztlicher Vertreter die
Abteilung besorgte, klagte Pat. eines Abends über
Schmerzen in der Ovarialgegend. Der Ver¬
treter nahm eine gynäkolog. Untersuchung vor, welche
die Pat. sehr stark sexuell erregte. Sie bekam einen
kleinen Anfall, wurde blass, die Pupillen erweiterten
sich stark, sie zuckte etwas mit den unteren und
oberen Extremitäten, verlor jedoch keineswegs das
Bewusstsein. Die Untersuchung wurde sofort unter¬
brochen. Gleich nachher heftiger nervöser Husten,
hervorgerufen durch die sexuelle Erregung, welche
durch eine unbewusste Erinnerung an die frühere
gynäkolog. Untersuchung verknüpft war. Es fiel zur
Zeit der Analyse besonders auf, dass Pat. vom 31. V.
03 an wieder merklich hustete; man verschrieb ihr
vorher, wie schon oft, Codein; der Husten legte sich
nach 8 Tagen, nachdem die Menses eingetreten war.
Einen wichtigen Grund für das Auftreten des Hustens
hatte Pat. nicht. Bei der Analyse ergab es sich
aber, dass Pat. am Tage des Auftretens von Husten
die Menses erwartete, die erst 8 Tage später kamen.
Gewöhnlich kamen in der letzten Zeit die Menses
regelmässig alle 3 Wochen, diesmal waren es 4 ge¬
worden. Den Husten begleiteten während der letzten
8 Tage vor der Menstruation die z. T. schon berührten
gürtelförmigen Rücken- und Kreuzschmerzen. Seit
dem 6. VI. (Eintritt der Menses) hustete Pat. noch
vereinzelte Male ; jedesmal Hess sich nachweisen, dass
sie sexuell erregt gewesen war und masturbirt hatte.
Die während der Masturbation vorgestellte Person —
jener Hilfsarzt — hat dabei das Symptom des Hustens
determinirt. Dieses Symptom hat ein ziemlich eigen¬
tümliches Genese: Bei der ersten Untersuchung war
Pat. sexuell erregt; Husten aber hatte sie gar nicht,
sondern man fragte sie nur darnach, und so bildete
sich die Coexistenz der sexuellen Erregung mit der
Vorstellung des Hustens. Bei der folgenden Steige¬
rung der sexuellen Erregung durch den Eintritt der
Menses, trat merklich starker Husten ein. In Zukunft
trat Husten jeweilen auf:
1. Kurz vor dem Eintritt der Menses, indem sich
Pat. an die damalige Untersuchung unbewusst er¬
innerte.
2. Seit der spätem Untersuchung durch den Hilfs¬
arzt, oft wenn Pat. masturbirte, und soviel sich nach¬
weisen lässt, stellte sie sich dabei gewöhnlich den
betr. Hilfsarzt voi.
So hat sich die Masturbation unter besonderen
Umständen dieses Hustens als „Conversionssymptom“
bedient.
Gleichzeitig haben wir den Aufbau des Symptoms
Husten durch Angliederung an ein schon vorhandenes,
Schmerz in der Seite und auf der Brust, verfolgen
können. Der Husten ist, wie die meisten Symptome,
durch Anlagerung neuer ähnlicher Ursachen, mehr-
ach determinirt.
Masturbation und Herzsymptome. Das
Weinen. Am 6. Juli 03, nachdem die Analyse
des Hustensymptoms erledigt war, suchte sich Pat
bei der ärztl. Morgenvisite zu drücken, ebenso bei
der Abendvisite. Sie weinte, tagsüber immer, fühlte
sich sehr unglücklich, gab schliesslich (in Hypnosci
zu, sie habe in der Frühe masturbirt und habe des¬
halb den Arzt nicht anzusehen gewagt. Erbrechen
oder Schmerzen im Arm waren nicht mehr
aufgetreten. In der folgenden Nacht hatte sie
Schmerzen in der Herzgegend, einen „Herz¬
krampf“. Ueberhaupt ist das psychische Befinden
eigentlich ziemlich schlecht. Die letzten Symptome
gehören zu einer grösseren Symptomengruppe mit
Lokalisation in der Brustgegend, die schwer aus¬
einander zu lesen sind.
Am 12. Juli 03 Menses (nach genau 4 Wochen
Intervall; vorher alle 3 Wochen). Die Rücken-
schmerzen, die sonst den Anzug der Menses an¬
kündigten, blieben diesmal aus, nachdem sie
inzwischen analysirt und abreagirt worden war. Pat.
war die letzten 8 Tage immerhin labiler und sexuell
erregter und onaniite mehrmals. Auch hustete sie
diese 8 Tage ein wenig, aber viel weniger heftig als
früher. Eigenthümlicher weise traten nochmals
Schmerzen im rechten Arm auf, und zwar
ohne dass Pat. den Grund kannte. Es ergab
sich, dass noch nicht alle mit der Masturbation ver¬
bundenen hysterischen Symptome aufgedeckt waren,
und nach der vollständigen Analyse traten sie meines
Wissens nicht mehr auf.
Die Hypnose vom 13.. Juli 03 ergab, dass sich
Pat. beim Masturbiren neben den bis jetzt bekannten
Männern noch einen anderen vorstellt (von den übrigen
ist ihr erster Geliebter der Unschuldigste; denn wenn
sich Pat. ihn vorstellt, erscheint ihr die Masturbation
nicht als etwas Abscheuliches, sondern etwas An¬
genehmes, Physiologisches, d. h. soviel als: die un¬
angenehme Reaction auf die Masturbation ist secundär,
beruht auf einer oberflächlichen Erklärung; wenn die
sexuelle Erregung zur Vorstellung von unange¬
nehmen Situationen und Menschen führt, dann
macht die Masturbation unangenehme Symptome,
sonst nicht.)
Dieser vierte Mann ist der Schwager der Pat.,
den sie sonst als soliden Mann darstellt. Auch er
pflegte sexuellen Verkehr mit ihr. Das eistemal war
sie etwa 12 Jahre alt, noch nicht menstruirt, und
wohnte bei ihm mit ihrer Mutter. Er war schon
verheiiathet. Pat. hatte seit dem ersten Angriff von
Seite des Vetters neben dem Erbrechen auch hie und
da Herzklopfen, fühlte sich überhaupt oft nicht ganz
wohl und blieb ab und zu einen Tag im Bett. An
einem solchen Tag befand sich ausser ihr nur der
Schwager zu Hause. Als sie eingeschlummert war,
missbrauchte er sie. Sie hatte nachher nicht Er¬
brechen, sondern, was zur Ueberraschung viel eher
passt und sich zu dem schon angedeuteten durch
ähnliche Ursachen bedingten Herzklopfen recht natür¬
lich gesellte: Sie bekam ganz intensives Herz¬
klopfen. Dasselbe stellte sich nun jedesmal wieder
ein, w'enn sie bei einer Erinnerung an diesen Angriff
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I 9°5-]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
47 1
von seiten des Schwagers zur Zeit sexueller Erregung
masturbirtc.
Nach dem ersten Missbrauch durch den Schwager
wurde Pat. wegen einer „Herzkrankheit“ ins Kantons¬
spital in W. geschickt und neun Wochen behandelt.
Die übrigen Ursachen für diese Herzkrankheit, die
nach allem, was w*ir wissen, rein hysterischer Natur
war, werden wir noch anführen.
Nach der Geburt des ersten Kindes verkehrte der
Schwager häufig mit ihr. Pat. behauptet, sie hätte
nach der schlechten Behandlung, welche sie bei dieser
Gelegenheit erfahren hatte, nicht mehr zu protestieren
gewagt; einmal habe sie es den Angehörigen gesagt,
da habe sie Prügel bekommen. Sie weinte sehr,
namentlich vor Entrüstung. Dies war auch die fol¬
genden Male die einzige Reaction. (Oberbewusst
giebt Pat. ganz andere Erklärungen für ihre Wein¬
anfälle: Man ärgere sie überall, sie möchte entlassen
werden u. s. f.)
Der gleiche Schwager fand sie als erster nach der
Geburt des 3. Kindes im Walde.
Als sie dann später in jenem Mädchenasyl P. vom
Schwager besucht wurde, brach sie in Thränen aus
und war nicht zu beschwichtigen. Nicht der Besuch
an sich, sondern die Errinnerung an jene sexuellen
Geschichten mit dem Schwager waren der Hauptgrund
dieser intensiven Reaction. In der Folge gab cs
Geschichten wegen ihres Heimathscheines, der beim
Schwager liegen musste. Jedesmal, wenn vom Heimath-
schein die Rede war und dadurch die Erinnerung an
den Schwager wieder wach wurde, gab es Wein¬
anfälle. ' Etwas später brachte ihr der Schwager einen
Brief ihres ersten Geliebten : Wieder grosser Thränen-
ausbruch. Pat. las diesen Brief oft durch, jedesmal
mit der gleichen Wirkung. Sie erinnerte sich dabei
an die letzte Geburt, an den Schwager etc. und ergoss
sich in Thränen. Man nahm ihr dann den Brief weg,
sie weinte erst recht; dieses Verhalten gab den Aus¬
schlag zur Ueberführung in unsere Klinik. Während
Pat. dies erzählte, brach sie oft in Thränen aus.
Das Weinen functionirt in diesem Zusammenhang
ganz gleich wie ein anderes körperliches Symptom.
Es tritt eigentlich nur dann auf, wenn die Ursache,
welche es in dieser Form zum erstenmal auslöste, und
die spätem secundären Ursachen in Form von (meist
nicht bewusst werdenden) Erinnerungen wieder wirk¬
sam werden.
Viele unbewusste Erinnerungen, welche an ebenso
traurige, aber mit anderen körperl. Begleiterscheinungen
verbundene Ereignisse geknüpft sind, lösen eben keine
Weinanfälle, sondern andere Symptome aus. Auch
haben diese Weinanfälle, wie übrigens der Husten
und ähnliche für den Beobachter sofort etwas Auf¬
fallendes, Gekünsteltes, Uebertriebenes an sich, wenn
auch ihre Verwendung an recht geschickten, fürs
Bewusstsein plausiblen Orten erfolgt, wie die Analyse
zeigt.
Das Weinen ist komplicirter als manche der
andern Symptome. Bei den verschiedenen Schmerzen
handelt es sich darum, dass eine mit der Ursache,
welche nur unterbewusst erinnert wird, ursprünglich
coöxistente Schmerzempfindungsvorstellung, in hallu¬
zinatorischer Deutlichkeit wieder auftaucht, natürlich
mit einem mehr oder weniger intensiven aber gewisser-
raassen localisirten Unlustaflekt. Man kann mit der
Pat. in diesem Zustande sehr wohl eine angenehme
Unterhaltung führen, wie oft mit einem körperlich
Leidenden.
Beim Weinen handelt es sich um die Repro-
duction einer complicirten Stimmung mit einer Aus¬
lösung motorischer, vasamotor. undsecretor. Phänomene.
Trotz dieser Unterschiede functionirt das Symptom:
Weinanfall in ganz gleichem Sinn als körperliches
ConVersionssymptom wie alle andern. Zusammen¬
fassend sehen wir, dass das Herzklopfen nach dem
ersten Missbrauch (Vetter) einsetzte, beim folgenden
(Schwager) den Umständen angepasst in den Vorder¬
grund trat und die „H erzkrankheit“ des Mädchens
von damals bedingte, die wir noch zu verfolgen haben.
In einem bestimmten Momente, als nämlich Pat., nach¬
dem sie vom Schwager wieder missbraucht worden
w f ar, auf die Anzeige hin noch Prügel bekommen
hatte, trat das sehr begründete Weinen auf, das in
der Folge als Conversionssymptom fortdauerte, sodass,
wenn das Masturbiren mit der Erinnerung an den
Schwager verbunden ist, Herzklopfen und Weinanfälle
auftreten. Oberbewusst erklärt Pat. diese Symptome
anders: Sie glaubt, sie habe sich das Herzklopfen
durch Ueberanstrengung zugezogen oder sie habe
einen Herzfehler, und weinen müsse sie, weil sie von
Mitpatientinnen oder Pflegerinnen geärgert worden
sei; sie sucht und findet dann natürlich Gelegen¬
heiten, sich zu ärgern.
Wenn Pat. masturbirt, so bekommt sie ganz
leichten Fluor albus, eigentlich kaum der Rede
werth. Dieser fast hypothetische Fluor lagert sich
als körperliche Beschwerde an die übrigen Genital¬
symptome. Oberbewusst weiss Pat. die Ursache nicht
anzugeben. Erst die Hypnose ergiebt, dass die Mastur¬
bation und die dahinterliegenden Gedankencomplexe
dieses Symptom als Beschwerde bedingen. Wenn
Pat., wie sie verlangte, jeweilen Ausspülungen machen
durfte, war der Fall für ihr Oberbewusstsein erledigt.
Die Ursache für den Fluor verlegte sie in ihr angeb¬
liches Genitalleiden, das selbst aus lauter ähnlich
entstandenen Symptomen besteht, denen keine körper¬
liche, aber eine psychische Ursache zu Grunde liegt.
8 Tage bevor im Frühjahr 1904 die Hypnose
Aufschluss über die intensiven mit Erbrechen ver¬
bundenen Leibschmerzen brachte (Abortversuche!),
hatte Pat infolge Masturbirens auch wieder „Ausfluss“;
sie habe sich erkältet, weil sie im Grase gesessen sei.
Trotzdem eine Hypnose den Zusammenhang ergeben
halte, behauptete sie am Tag vor der folgenden Hyp¬
nose (19. III. 03) wieder, wenn man sie vor 8 Tagen
hätte Ausspülungen machen lassen, so hätte sie jetzt
auch keine so intensiven Leibschmerzen! Erst die
folgende Hypnose, welche die Geschichte von den
Abortversuchen zu Tage förderte, machte ihr den
Zusammenhang auf’s neue klar. Seither hat Pat. die
gleichen Schmerzen noch einmal* vorgebracht, ohne
über den Zusammenhang klar zu sein. Es zeigt
dieses Beispiel wieder, dass in einer neuen Constel-
lation die Genese der alten, vermeintlich abreagirten
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
4/2
[Nr. 4 :
Symptome dem Oberbewusstsein wieder entschwinden
kann, und dass der Automatismus in Form des
körperlichen Symptoms durch den noch nicht analy-
sirten Complex ausgelöst werden kann.
Ganz ähnlich wie die Schmerzen im rechten
Arm entstanden solche in den äusseren Geni¬
talien. Im Frühjahr 1904, ungefähr in der gleichen
Zeit, wo die Erzählungen jener Freundin über ihr
Verhältniss und ihren Abort spielten, und neuerdings
Erbrechen, Leibschmerzen und Fluor albus auftraten,
klagte Pat. über intensive Schmerzen in den Genitalien.
Leider wurde erst an einem der folgenden Tage eine
Inspection vorgenommen, die nichts Positives ergab.
In der Hypnose stellte es sich heraus, dass sich Pat.
im Aerger über ihr Masturbiren in die Labien
gekniffen hatte.
Theoretisch ist dieses neue Symptom den Schmerzen
im Arm gleichzustellen. Ursprünglich wollte Pat. den
Arm übrigens nicht quetschen, sondern hinein-
beissen, aber sie hat schon frühzeitig die Zähne
verloren und besass noch keine künstlichen! Beissen
ist aber ein mimisches Symbol der Wuth und hätte
der Stimmung der Pat. durchaus entsprochen.
Quetschen und Kneifen dienen also zum Ersatz des
Beissens.
Wir haben damit die durch die Masturbation
(die selbst mit den vielen sexuellen Schädigungen der
Pat. zusammenhängt) bedingten körperlichen Symptome
wohl annähernd erschöpft. Sie sind auch sehr selten
geworden, ob ganz und für dauernd, wage ich nicht
zu sagen. Wer weiss, ob nicht bei irgend einer neuen
Constellation das eine oder andere Symptom wieder
auftritt und es sich herausstellt, dass noch nicht alles
„erledigt“ ist. Das Erbrechen z. B., das bis auf die
Geschichte von den Abortversuchen analysirt war,
blieb richtig mehr als ein halbes Jahr ganz aus. Eine
intensive Constellation: Das ins Gras sitzen im Früh¬
jahr plus die Erzählung einer Bekannten von ihren
sexuellen Abenteuern und ihrem Abort, waren nöthig,
um das Symptom manifest zu machen, und dessen
weitere Ursache an den Tag bringen zu können.
Weitere Analyse der pectoralen Symp¬
tomengruppe. Zur Gruppe der pectoralen Symptome
gehören: die Herzkrankheit im 12. Lebensjahr (z. T.
analysirt), „Herzkrämpfe“. Schmerzen in den Brüsten
und in deren Umgebung, Dyspnoe, Seitenstechen,
Hitz- und Frostgefühl, der Husten (analysirt) und
Blutspucken.
Die „Herzkrankheit“ im 12. Jahr war ausser
den schon angeführten noch durch folgende Punkte
determinirt:
Nach dem ersten Missbrauch durch den Vetter
hatte Pat. wieder Herzklopfen, als sie vom Lehrer
mit dem Lineal Schläge auf die Finger bekam, weil
sie im Heft so viele Fehler hatte. (Der Vetter hatte
ihr s. Z. Prügel versprochen, wenn sie der Mutter
etwas sage.) Das wiederholte sich, so oft sie Schläge
bekam. Weil sie in der Schule ihrer Herzgeschichten
wegen oft fehlte, half ihr der Vetter zu Hause im
Rechnen nach; dabei drohte er ihr wieder mit Schlägen,
wenn sie in der Schule zurückgesetzt werde. So
wiederholte sich bei jeder Züchtigung zu Hause oder
in der Schule dieses Herzklopfen, und es entstand
ein förmlicher circulus vitiosus: Wegen ihres Herz¬
klopfens blieb sie in der Schule aus, wegen des Aus¬
bleibens kam sie im Lernen zurück und bekam mehr
Schläge, die wieder Herzklopfen auslösten.
Als sie den übrigen Angehörigen von der Ver¬
gewaltigung durch den Schwager mittheiite, bekam
sie auch wieder Schläge, worüber sie sehr empör:
war; damals begannen die Weinanfälle. Gleichzeitig
lösten diese Schläge wieder Herzklopfen aus.
Dazu kam ein zweites:
Als Kind wollte ihr der Vater einmal Schnap*
zu trinken geben (vor dem ersten sexuellen Trauma
und als sie nicht trinken wollte, gab er ihr einen
Stoss in die Brustgegend, rechts. Die gleiche Stelle
berührte ihr Schwager in der Zeit, als sich das Herz¬
klopfen entwickelte, einmal plötzlich mit der kalten
Hand, sodass sie erschrak und einen förmlichen Er¬
stickungsanfall bekam. Als sie mit der Grossmutter
in jener Zeit einmal in den Ferien in ihrer alten
Heimath in J. war, wo der Vetter noch wohnte, kam
abends öfter, wie schon erzählt, der Vetter und miss¬
brauchte sie. Sie erbrach sich nachher, fühlte sich
schlecht. Sie beklagte sich bei der Grossmutter, welche
ihr rieth, sie solle das nächstemal weglaufen, und
unterdessen die Geschichte in der Nachbarschaft
herumkolportirte. Das kam dem Vetter und dessen
Vater zu Ohren, beide waren wüthend über diese
Schädigung ihres Ansehens x\ls die Pat. das nächste¬
mal dem Vetter entfliehen wollte, trat ihr unter de:
Hausthüre dessen Vater entgegen und versetzte ih
einen Stoss in die Brust. Er tiaf sie ungefähr an der
gleichen Stelle wie s. Z. der Vater und dann der
Schwager, unter der rechten Brust, so dass sie rück¬
lings auf die Schwelle fiel und Schmerzen oben im
Rücken an der Stelle bekam, die auf die Schwelle
fiel. (Bei späterer Wiedererweckung der Brustschmerzen
taucht ab und zu auch diese Art Rückenschmerzen
wieder auf) Sie bekam dann von dem Manne
Schläge mit der Hand auf die für Prügel prädestinirten
entblössten Körpertheile, was sie ebenso sehr indignirte
wie die Schläge, als sie den Schwager verklagt hatte.
Als sie letzterer mit der kalten Hand anfasste,
wmrde auch — unbewusst — die Erinnerung an die
schlagende nackte Hand jenes Vaters des Vetters
wachgerufen.
Die Grossmutter reiste nach dem oben genannten
Vorfall mit der Pat. heim. Eigenthümlicher Weise
wiederholten sich bei späteren Schlägen nicht die
Schmerzen in der Glutäalgegend; sie w-urden immer
ersetzt durch solche in der rechten Brustgegend. Kurz¬
um: so oft Pat. später Schläge bekam oder durch
irgend ein Ereigniss im Unterbewussten die Erinne¬
rung an solche Scenen erweckt wurde, stellten sich
neben Herzklopfen und Weinen auch Schmerzen
in der rechten Brustgegend ein.
Im Kantonsspital in W. verbot man den Eltern,
das Kind in Zukunft wieder zu schlagen. Die Symp¬
tome besserten sich auffallend; wenn aber Pat., etwa
beim Spielen, von einem anderen Kind einen Schlag
auf den Rücken erhielt, trat jeweilen eine Verschlimme¬
rung ein.
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1905 ]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
473
Nach der Gebart des zweiten Kindes kam einmal
der Vater — der sonst getrennt von der Mutter
lobte — un&afechimpfte mit ihr Wegen dieses Kindes,
wobei er ihft /Wieder einen Stoss an die gleiche Stelle
versetzte. Ge¬
während der Erzählung der letzten Geschichten
weinte Pat häufig.
Längere Zeit, nachdem Pat. den Sachverhalt über
die Schmerzen in der rechten Brustgegend erzählt
hatte, ging sie eines Abends früher zu Bett und klagte
am folgenden Morgen, wie wenn sie von der ganzen
Analyse nichts wüsste, wieder über Schmerzen unter
der rechten Brust; wie selbstverständlich fügte sie bei,
auf der linken Seite habe es jetzt auch angefangen
weh zu thun, so dass sie schlecht geschlafen habe.
Letzteres Symptom war neu, und die Hypnose ergab,
dass Pat. tags zuvor von einer Pflegerin mit etwas
derber Veranlagung und grossem Heirathsbcdürfniss
auf die Abtheilung begleitet worden war. Die Pflegerin
fasste die Pat. scherzweise fest um die linke Hüfte,
und als Pat., wie es üblich ist, schrie, sagte die Pflegerin
lachend, so bekomme Pat. ja nie einen Mann, wenn
sie so laut schreie, wenn er sie um die Hüfte fasse. Pat
erwiderte: Der würde mich doch nicht so drücken?
Darauf die Pflegerin: Ja, was meinen sie denn, wenn
er sie aufs Bett hindrückt? Pat. lachte über diesen
massiven Scherz. Doch fühlte sie gleichzeitig den
Schmerz in der rechten Brustgegend, desgleichen
auf der linken Seite, wo die Pflegerin sie gefasst
hatte. Sie hatte früher eben vom Schwager noch
nicht alles erzählt: Als er sie s. Z. mit der kalten Hand
angefasst hatte, stiess er die sitzende Pat. aufs
Bett zurück (mit sexuellen Absichten?); sie bekam
damals auch Gefühle von Frost und Hitze, die sich
auch jetzt wieder eingestellt haben.
Die Anlagerung eines neuen körperlichen Symp¬
toms an ein altes, von ähnlicher symbolischer Be¬
deutung, zeigt sich hier überaus hübsch.
Interessant ist der Moment der Entstehung; vom
hypnoiden Zustand nichts nachweisbar; oberbewusst
nicht einmal ein bedeutender Affekt, nur unterbewusst
wirkt die Erinnerung an die entsprechende Scene mit
dem Schwager. Zum gleichen Affekt hat sich in
diesem günstigen Moment ein zweites, symmetrisches
Symptom associirt.
Das Oberbewusstsein lacht, während der
gleichzeitig angeregte, verdrängte, noch unvollständig
abreagirte Coraplex die Schmerzempfindungen im
Oberbewusstsein auslöst.
Damit war die Analyse dieser Schmerzen in der
Hauptsache erledigt und Pat. in der Folge davon be¬
freit — ob ganz und auf die Dauer, ist noch eine
Frage.
Die Schmerzen in der Herzgegend, welche Pat,
empfand, wenn sie geschlagen wurde, wobei sie
gewöhnlich auch weinte, sind nicht ganz identisch
mit dem Herzklopfen, das sich beim Erschrecken
über die ersten Vergewaltigungen einstellte und fixirte.
Die Herzschmerzen beim Aerger über die ungerechte
Behandlung, der ja oft mit dem Herzklopfen aus
Angst (Prügel!) zusammen sich einstellte, trat in der
Folge fast bei jedem Aerger auf, erscheint trotz
aller Mühe von Zeit zu Zeit bei neuem Aerger wieder.
Es würde viel zu weit führen, die Unmenge von
einzelnen ärgerlichen Ereignissen anzuführen, die mit
Herzkrämpfen, wie Pät. diese differencirte Art
von Herzschmerzen nennt, verbunden sind.
Als Pat. nach der dritten Geburt im Spital in
Anwesenheit anderer Kranker wegen der angenom¬
menen Kindestötung verhört wurde, sich schämte und
alle alten Erinnerungen im Verhör theils bewusst,
theils unbewusst erwachen und anklingen mussten,
stellten sich gleichzeitig eine Unmenge dieser körper¬
lichen Symptome ein.
Das gleiche geschah vor der Analyse und während
derselben, oft zur Zeit der Menses. Die Menses
waren jeweilen die Brücke zu allen möglichen patho¬
genen Erinnerungen: Geburten, Masturbation, Incest,
Vergewaltigung, überhaupt alles, was direct und indirect
mit dem Sexualcomplex zu thun hatte. Dement¬
sprechend war das Befinden der Pat. meist schlecht,
sie klagte über alles mögliche.
Es stellte sich heraus, dass „Seitenschmerzen u und
die Schmerzen unter der rechten Brust identisch sind;
Die Grenze der schmerzhaften Gegend ist, entsprechend
den Ursachen, nicht scharf.
Es würde zu weit führen, alle kleinem Symptome,
die sich noch an grössere Gruppen anlagern, aufzu¬
zählen. Hingegen haben wir noch einige Haupt¬
gruppen von Interesse zu analysiren.
Die Abasie. Im Frühjahr 1903 lag Pat. wegen
Abasie 8 Wochen lang zu Bett. Als sie versuchte
aufzustehen, musste sie sich überall stützen und än-
klammern, doch gelang es ihr allmählich, zum Essen,
aufzustehen, und die nöthigsten Gänge innerhalb der
Abtheilung zu machen. Immerhin hielt sie sich fast
stets an der Wand und hatte noch einen wankenden
Gang. Die Beine waren zu „schwach 4 ‘.
Pat kam bei der Analyse zuerst auf eine Seiten¬
fährte. Sie erinnerte sich in Hypnose, dass sie
einmal Schmerzen auf der Vorderfläche der Ober¬
schenkel hatte, nachdem sie am Morgen jenes Tages
im nassen Gras auf dem Bauch gelegen war.
Es dauerte ein Jahr, bis der Zusammenhang
dieser Beinschmerzen gefunden wurde: Sie war eben
wie jedes Frühjahr ins Gras gelegen und hat sich so
der Abortgeschichten imbewusst erinnert. Im Früh¬
jahr 1903 war die „Sperrung 41 (ich brauche hier nicht
ohne Grund einen Begriff, der im Symptomenbild
der Dementia praecox eine wichtige Rolle spielt)
resp, der Widerstand zu gross, um zu diesem Vor-
steUungscomplex zu gelangen. Die Erzählung vom
Abort der Freundin rief ihn wieder wach, mit Er¬
brechen, und nun war es möglich, die Spur zu finden.
Mit dem ins Gras liegen stellten sich Leib¬
schmerzen ein, dazu gesellten sich jetzt secundäre
Schmerzen der gleichzeitig den Boden berührenden
Oberschenkel. Diese Schmerzen auf der Vorderfläche
der Oberschenkel haben sich, ähnlich wie die
Schmerzen auf der linken Seite zu denen auf der
rechten Seite, den Leibschmerzen recht natürlich
angelagert. Möglicherweise hat ein Scherz mit
sexuellem Hintergrund diese Addition bedingt Pat
erzählte einmal, dass an jenem Morgen auf dem Feld
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[Nr. 4 ?.
474
solche Scherze gemacht wurden (wegen einer Ver¬
lobung). Einen ähnlichen Fall liefert die Analyse
der Ohrenschmerzen der Pat. (s. unten).
In einer andern Richtung führt die Analyse zu
folgenden Ursachen der Abasie:
i An der Fastnacht 1903 hatte Pat. gerade die
Menses. Sie wollte sich aber den Anstaltsball nicht
entgehen lassen und tanzte, wie üblich, eifrig mit.
Einen Herrn wollte sie demaskfren, sie lief, als sie
ihn erkannt hatte, weg, glitt im Saal aus und fiel zu
Boden. Sie schämte sich, weil ihre Kleider in Un¬
ordnung geriethen und sie denken musste, die gegen¬
über sitzenden Herren sehen sie entblösst und müssen
ihr Unwohlsein bemerken. Auch schmerzte sie der
Fall, und obwohl keine Quetschungen Vorlagen, setzte
eine Abasie ein, die in den folgenden Tagen schon
deutlich ausgesprochen war.
Die unterbewusste Ursache dieser Abasie lag
darin, dass sich Pat. — unterbewusst, sie sagt aus¬
drücklich, dass sie den Grund damals nicht wusste
— erinnerte, dass sie gegen das Ende ihrer ersten
Schwangerschaft, die sie durch alle Mittel zu ver¬
bergen suchte, zu Hause im Estrich die Estrichtreppe
hinuntergefallen war. Ein Pensionär, der ihr nach¬
stellte, hatte scherzweise die Estrichthüre, welche die
Treppe unten abschliesst, zugeschlossen; Pat. etwas
erregt, strauchelte, als sie mit dem Holz herunter¬
steigen wollte, fiel mit Gepolter die Treppe hinunter
und stiess an die Thüre. Ihre Kleider waren ganz
in Unordnunggerathen, die Beine z. T. entblösst; über¬
dies folgte dem Fall eine heftige Blutung aus den
Genitalien, wie denn auch zwei Tage später die Ge¬
burt, und zwar zu früh, einsetzte. Abgesehen von
den Schmerzen war ihr dieser Augenblick furchtbar;
sie glaubte, durch das Gepolter alarmirt sei der
Pensionär, welcher sie ja eigentlich eingeschlossen
hatte, der erste, der öffne und sie in diesem Zustand
sehe; er wusste vorher nicht einmal, dass sie schwanger
sei, und jetzt müsse er es sehen.
Der Fall beim Tanz, während der Menses, hatte
als analoge Situation den ersten Fall zur Erinnerung
gebracht und als symbolisches Symptom die Abasie
hinterlassen. Beim ersten Fall konnte sie wirklich
nicht mehr gehen. Statt der bewussten Erinnerung
daran, stellte sich jetzt das für das Oberbewusstsein
plausible Symptom der Abasie ein.
Nach einiger Zeit versuchte Pat. aufzustehen und
in den Garten zu gehen; mitten auf einer kleinen
Treppe, die ins Freie führt, befiel sie plötzlich wieder
die Abasie in verstärktem Maasse. Die Konstellation
der kaum verschwundenen Abasie erklärt hier den
Zusammenhang, der in Hypnose gefunden wurde, sehr
gut. Auf der Treppe wurde unbewusst zum zweiten¬
mal die Erinnerung an den Fall auf der Estrichtreppe
wachgerufen. Das Ietztemal war der Fäll im Tanz¬
saal , jetzt die Treppe die auslösende Vorstellung.
Gemeinsam ist aber beiden Abasieanfällen, dass Pat
gerade die Menses hatte. Diese vielfältige Konstel*
lation mag auch erklären, warum Pat. eben nicht
jedesmal, wenn sie die kleine Treppe in den
Garten hinunter geht, eine Abasie bekommen hat
Sie ist seither nie mehr eingetreten. Hingegen
bekam Pät früher zur/ Zeit *ls sie Äbef frische
Schmerzen in den Oberschenkeln Wagte und der Ara
bei det Inspektion die Thüre nicht recht geschlossen
hatte, eine kurzdauernde Abaste; sie fürchtete, jemand
könnte sie vom Korridor aus sehen, und das hatte
eine ähnliche, aber nicht so intensive Wirkung wie
die eben berührten andern Ursachen.
Unterleibssymptome. Wie gesagt, häuften
sich um die Menses herum eine Menge von Symp¬
tomen, speziell von solchen, welche mit den weib¬
lichen Organen in Beziehung zu stehen schienen.
Wir haben den Ursprung einer Reihe solcher Symptome
kennen gelernt. Ein neuer Mechanismus ist bei den
übrigen nicht zu beobachten. Von Interesse ist viel¬
leicht noch eines: Pat. hatte zur Zeit der Menses
meist gürtelförmige Schmerzen, verursacht durch eine
unterbewusste Erinnerung an einen Gürtel, * den sie
fast seit Beginn der dritten Schwangerschaft trug, theils
weil sie sich seit dem Verkehr mit dem Vater da
dritten Kindes im Rücken „ohne Halt‘ f fühlte (sie
hatte als Kind in der Erziehungsanstalt eine ähnliche
Bandage wegen schlechter Körperhaltung getragen),
später um die Schwangerschaft zu verbergen, was ihr
sehr gut gelang. Der Untersuchungsrichter vermuthete
zuerst sogar, Pat. habe den Gürtel getragen, damit
das Kind absterbe.
Symptome von seiten des Ohres. Ab und
zu klagte Pat. über Schmerzen im rechten Ohr, ver¬
bunden mit Kopfschmerzen, und zwar meistens be
der Morgenvisite an kalten Tagen; zu diesen Be¬
schwerden kamen dann ab und zu Klagen, sie hör.
schlecht im rechten Ohr. Es liess sich je weilet
objectiv nichts nachweisen. Mehrmals wurde der
äussere Gehörgang mit lauer Borlösung ausgespült und
das vorhandene Cerumen entfernt, andemmale wurde
Oleum Hyosciami eingeträufelt Pat. erklärte, sie habe
sich erkältet, Schnupfen bekommen, ohne dass viel
davon zu sehen war. Auch in der Hypnose suchte
sie sich vorerst mit dieser Erklärung zu begnügen.
Doch verhielt sich die Sache anders:
Ohren- und Kopfschmerzen traten immer zusammen
auf und datiren zurück auf jenen sehr kalten Herbst¬
morgen, wo sie draussen im Walde ihr drittes Kind
gebar. Sie trug eine wärmere graue Bluse als sonst,
und diese Bluse befand sich zur Zeit der Analyse
noch unter ihren Kleidungsstücken. Pat. trug sie nur
sehr selten, gewöhnlich, weil sie wärmer war, nur an
recht kalten Morgen, bis Toilette und Zimmer in
Ordnung waren, oder ganz ausnahmsweise, wenn sie
momentan keine andere anzuziehen hatte. Jedesmal
empfand sie dann Ohren- und Kopfschmerzen. Für
das Oberbewusstsein war jeweilen ein plausibler Grund
zur Hand: Erkältung. Der wahre Grund war Pat.
oberbewusst unbekannt, dass nämlich das Tragen
dieser Bluse und die Erinnerungen den Ohren-
und Kopfschmerz hervorriefen, konnte Pat. erst in
Hypnose angeben. Die Ohrenschmerzen richtetet! sich
nicht etwa nach der Kälte selbst, sondern nur nach
dem Tragen der Bluse. Eine Verifikation war gerade
bei diesem Symptom nach der Krankengeschichte
und den Erinnerungen des Personals leicht möglich.
Man sieht an diesem Beispiel wieder, wie gewandt
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4?5
sich dieser^ fhysterische Mechanismus hinter gans -plau¬
sible Gründe versteckt ■ (Erkältung. I) Es ist so viel
leichter für das Oberbewtisstsein, eine Brücke zu dem
Symptom zu finden ; um nicht den unangenehmen
Weg über die wirklichen, unterbewussten Ursachen
desselben suchen und aufdecken zu müssen. '
Pat., der Entstehüngsweise der Schmerzen nicht
bewusst, verlangte nun einmal (1901/62) -vom Arzte
Kopfwehpulver. Der Arzt schlug die Bitte ab, worauf
Pat. 1—2 Tage auf dem rechten Ohr schlecht hörte.
Seither hörte Pat. immer dann schlecht auf dem
.rechten Ohr, wenn aus den genannten Gründen
Schmerzen im Ohr und Kopf vorhanden waren und
man der Pat. gerade dann, unter diesen besonderen
Umständen, einen Wunsch abschlug. Hier lagert sich
dieses Symptom an die andern an, Wie um ja dem
Oberbewusstsein nicht aufzufallen. Beim letzten, dem
Ref. sehr erinnerlichen Pall, weigerte er ach* der Pat**
die eb&n ihre Ohrenschmerzen hatte* Schwarzbrod
anstatt des gewöhnlichen Hausbrodes zu verschreiben.
Darauf hörte sie 1 — 2 Tage schlecht. Ein andermal
war ihr Butter zum 4 Uhr-Essen verweigert -worden;
sie solle lieber ihre Milch trinken* :
• Wenn der Pat. zu andern Zeiten etwas verweigert
werden musste, so stellten sich gewöhnlich andere
Symptome ein, z. B. Herzkrämpfe (Aerger!)
Die in Frage stehende .Bluse wurde entfernt
Seither sind auch die Ohrenschmerzen nie mehr
aufgetreten.
(Fortsetzung folgt.)
M i t t h e i
— Fürsorge ftlr gemeingefährliche Geistes¬
kranke. Bericht*) der verstärkten Gemeindekommission
des preussischen Abgeordnetenhauses über den Antrag
des Abgeordneten Schmedding (Münster) auf gesetz¬
liche Regelung der Fürsorge für mittellose geistes¬
kranke und schwachsinnige Personen, Drucksache
Nr. 152. Berichterstatter: Abgeordneter Schmedding
(Münster).
Der Abgeordnete Schmedding (Münster) hat
unterm 2t. März 1904 den Antrag gestellt:
Das Haus der Abgeordneten wolle beschliessen:
die Königliche Staatsregierung zu ersuchen, schleunigst
im gesetzlichen Wege die Fürsorge für diejenigen
mittellosen geisteskranken und schwachsinnigen Per¬
sonen, welche nur behufs des Schutzes anderer Per¬
sonen gegen ihre Ausschreitungen der Unterbringung
in Anstalten bedürfen, zu regeln.
Der Antrag gelangte am 3. November 1904 in
der 96. Plenarsitzung des Abgeordnetenhauses zur
Berathung mit dem Erfolge, dass er der um sieben
Mitglieder verstärkten Gemeindekommission überwiesen
wurde.
Diese Kommission verhandelte am 6. Dezember
1904 über den Antrag. Dabei waren zugegen als
Vertreter des
£. Justizministeriums: Dr. Hamier, Geh. Ober¬
justizrath, Plaschke, Geh. Justizrath;
TI. Ministeriums der geistlichen usw. Angelegen¬
heiten: Frhr. v. Zedlitz und Neukirch, Geh. Re¬
gierungsrath, Dr. Moeli, Professor, Geh. Medizinalrath ;
III. Finanzministeriums: Dr. Conze, Geh. Ober-
finanzrath;
IV. Ministeriums des Innern: Dr. Krohne, Geh.
Oberregierungsrath, Dr. Maubach, Geh. Oberregierungs¬
rath, Dr. Freund, Geh. Oberregierungsrath.
Der vorliegende schriftliche Bericht wurde in einer
weiteren Sitzung der Kommission am 23. Januar 1905
festgestellt
Zur Begründung des Antrages wurde folgendes
angeführt:
Der Antrag bezieht sich nicht auf die sog. geistes-
*) Abdruck aus dem amtlichen Bericht.
1 u n g e n.
kranken Verbrecher (weiteren Sinnes) im allgemeinen.
Unter ihnen pflegt man zu verstehen:
1. die Strafgefangenen, welche während der
Strafzeit geisteskrank werden, und
2. die verbrecherischen Geisteskranken, d. h. dier
jenigen Irren, welche verbrecherische Neigungen
zeigen, z. B. zu Körperverletzungen, Unsittlichkeiten usw.
neigen.
Er bezieht sich vielmehr nur auf eine ganz ber
stimmte Art dieser Geisteskranken, wie sich unten
näher ergiebt.
Die Fürsorge für geisteskranke Verbrecher im
allgemeinen hat das Abgeordnetenhaus schon früher
einmal beschäftigt und zwar aus Anlass einer Petition
der Landesdirektoren der preussischen Monarchie.
Dieselben hatten unterm 27. November 1896 den
Antrag gestellt:
„auf die Königliche Staatsregierung geneigtest dahin
ein wirken zu wollen, dass zur Verwahrung und Be¬
handlung irrer Verbrecher baldigst besondere staatliche
Einrichtungen getroffen und die Irrenanstalten der
Kommunalverbände — nötigenfalls unter Mitwirkung
der Gesetzgebung — von diesen Geisteskranken ent¬
lastet werden.“
Begründet war die Petition hauptsächlich mit
dem Hinweis, dass die freie Behandlung der Geistes¬
kranken, wie sie die moderne Psychiatrie verlangt, für
die geisteskranken Verbrecher sich nicht eigne, und
dass, wenn gleichwohl die Provinzialanstalten ge¬
zwungen sein würden, diese Leute aufzunehmen und
sicher zu bewahren, hieraus verschiedene Uebelstände
entständen, besonders die übrigen Pfleglinge der An¬
stalten benachtheiligt würden.
Obwohl verschiedene Vertreter der Königlichen
Staatsregierung sich gegen den Antrag der Petenten
ausgesprochen hatten — wobei namentlich von einem
Kommissar des Ministeriums des Innern geltend ge¬
macht wqrden war, dass die gesammte Irrenfürsorge
ohne Ausnahme durch das Dotalionsgesetz vom Jahre
1875 und das Gesetz vom 11. Juli 189 ij betreffend
die ausserordentliche iVrmenlast, den Provinzen über-
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 48 .
tragen sei —> beschloss doch die Justizkommission,
dem Abgeordnetenhause vorzuschlagen:
„die Petition der Landesdirektoren der Königlichen
Staatsregierung zur Erwägung zu überweisen.“
Massgebend für diesen Beschluss war die Er¬
wägung, dass das Vorhandensein von Uebelständen
bezüglich der Unterbringung und Pflege der geistes¬
kranken Verbrecher nicht wohl bezweifelt werden
könnte, und dass die Frage wichtig genug sei, um
einer eingehenden Prüfung unterstellt zu werden.
Das Abgeordnetenhaus ist diesem Beschlüsse in
der Plenarsitzung vom 7. April 1897 beigetreten unter
Verwerfung eines weitergehenden Antrages auf Be¬
rücksichtigung. Die Erwägungen der Königlichen
Staatsregierung haben sodann dahin geführt, dass sie
wenigstens theilweise den Wünschen der Landes-
direktorea nachgekommen ist nämlich dadurch, dass
sie bei den Strafanstalten zu Breslau, Graudenz, Halle,
Moabit und Münster sogenannte Irrenabteilungen
eingerichtet hat, in welche diejenigen Strafgefangenen
aufgenommen werden, welche während der Verbüssung
der Strafe dem Verdacht der Geisteskrankheit ver¬
fallen.
Wenn jetzt trotz dieser Vorgänge das Abgeordneten¬
haus abermals mit dieser Materie beschäftigt und der
vorliegende Antrag eingebracht ist, so hat das darin
seinen Grund, dass neuerdings Umstände eingetreten
sind, welche die öffentliche Sicherheit zu schädigen
geeignet sind. Hervorgerufen sind dieselben durch
zwei Thatsachen:
1. durch einen Streit zwischen den betheiligten
Kommunalbehörden einerseits und den staatlichen
Behörden andererseits über die Frage: wer die Für¬
sorgepflicht für die in Frage kommenden Geistes¬
kranken zu erfüllen habe, und
2. durch die Folgen der eben erwähnten Irren¬
ab theilungen in den Strafanstalten.
Was die Frage der Fürsorgepflicht anbelangt, so
sind darüber in neuester Zeit Urtheile, einmal des
Bundesamts für Heimathwesen und sodann des Ober¬
verwaltungsgerichts eigangen, wodurch dieselbe wenig¬
stens nach gewissen Richtungen hin geklärt ist
Zum besseren Verständniss dieser Urtheile muss
daran erinnert werden, dass das vorerwähnte preussische
Gesetz vom 11. Juli 1891 die Fürsorge für die
Geisteskranken und Idioten dann den Landarmen¬
verbänden überträgt, wenn diese Personen hilfs¬
bedürftig und anstaltspflegebedürftig sind; hilfs¬
bedürftig müssen sie sein im Sinne der Armengesetze;
denn jenes Gesetz ist nur ein Ausführungsgesetz zum
Reichsgesetz vom 6. Juni 1870 über den Unter¬
stützungswohnsitz. Nun hat der in Armenrechts¬
streitigkeiten die höchste Instanz bildende Gerichtshof,
das Bundesamt für Heimathwesen, in dem Urtheil vom
24. Oktober 1903 (Anlage A)*) ausgeführt:
„Durch das erwähnte Gesetz ist nach den all¬
gemeinen Grundsätzen des preussischen Armenrechts
den Landarmenverbänden keine über die öffentliche
Armenpflege hinausgehende Aufgabe zugewiesen
worden. Die Verpflichtung der Landaimenverbände
*) Erscheint in der nächsten Nummer.
zur Gewährung der Anstaltspflege tritt .daher nur ein,
wenn der Geisteskranke oder der Schwachsinnige ihrer
zu seinem Schutze gegen Gefahren oder zu seiner
Heilung bedarf, aber nicht schon dann, wenn der
Schutz anderer Personen gegen Ausschreitungen des
Geisteskranken oder des Schwachsinnigen seine Unter¬
bringung erfordert“
In ähnlichem Sinne hatte bereits ein früheres
Urtheil desselben Gerichtshofs vom 8. Dezember 1900
ausgeführt:
„Wen die Kostenlast trifft, hängt nach dem
grundsätzlichen Standpunkt des Bundesamts für
Heimathwesen (vergl. Wohlers-Krech, Note 15 B e zu
§ 28, Unterstützungswohnsitzgesetz) davon ab: in
welchem Maasse im Einzelfalle einerseits das öffentliche,
sicherheitspolizeiliche Interesse und andererseits das
persönliche, gesundheitliche Interesse des Geistes¬
kranken betheiligt ist; insbesondere auch davon, in¬
wieweit die Polizeibehörde während des Aufenthalts
in der Anstalt ihre Hand über den Geisteskranken
hält und ihn weiter bewacht“ (Anlage B.)*)
Hiernach muss also nach der jetzigen Judikatur
als feststehend angenommen werden, dass jedenfalls
die Landarmen verbände als solche für diejenigen
Irren, welche nur behufs des Schutzes anderer Per¬
sonen gegen ihre Ausschreitungen der Unterbringung
in Anstalten bedürfen, nicht zu sorgen brauchen.
Diese Irren sind nun aber die Personen, auf welche
sich der vorliegende Antrag bezieht. Dass das
Bundesamt für Heimathwesen bei einem ferner an
dasselbe heran tretenden gleichen Falle anders ent¬
scheiden wird, lässt sich nicht annehmen; denn die
beiden vorbezeichneten Urtheile enthalten eine durch¬
aus konsequente Entwicklung der in der Judikatur
des Armenrechts festgewurzelten Grundsätze über die
Grenze zwischen öffentlicher Armenpflege und den
Polizeiaufgaben, und es würde das Bundesamt für
Heimathwesen mit all seinen früheren Grundsätzen
in Widerspruch gerathen, wenn es später anders ent¬
scheiden wollte. Zur Zeit ist also mit der festen
Judikatur des Bundesamts für Heimathswesen zu
rechnen, wonach die Landarmenverbände keine Pflicht
zur Fürsorge für die im Anträge bezeichneten Per¬
sonen tragen. Es fragt sich jedoch, ob nicht sonst
jemand vorhanden ist, der für diese Personen ein¬
zustehen hat.
Wie aus einem Erlass des Ministers des Innern
vom 13. Juli 1904 II a 7562 sowie aus einem zur
Zeit zwischen dem Oberpräsidenten und der Provinzial¬
verwaltung der Rheinprovinz schwebenden Prozesse
bekannt geworden ist, steht die Königliche Staats¬
regierung auf dem Standpunkt, dass die gesammte
öffentliche Fürsorge für das Irrenwesen ohne jede
Einschränkung durch die Bestimmung der Provinzial¬
ordnung und des Dotationsgesetz vom 8. Juli 1875
den Provinzen übertragen worden sei.
Was indessen zunächst die Provinzialordnung an¬
belangt, so findet sich darin keine Bestimmung, die
eine Unterstützung der Ansicht der Staatsregierung
bilden könnte. In Betracht können nur kommen
die §§ 6 und 120 der Provinzialordnung; sie lauten:
*) Siehe nächste Nummer.
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477
1905]
§ 6
Die Provinzialangehörigen sind berechtigt:
1. zur Theilnahme an der Verwaltung und Ver¬
tretung des Provinzialverbandes" nach näherer Vor¬
schrift dieses Gesetzes;
2. zur Mitbenutzung der öffentlichen Einrichtungen
und Anstalten des Provinzialverbandes nach Massgabe
der für dieselben bestehenden Bestimmungen.
§ 120.
Der Genehmigung der zuständigen Minister be¬
dürfen ferner die von dem Provinziallandtage gemäss
§ 8 Nr. 2, §§ 35 und 95 für folgende Provinzial¬
institute und Verwaltungszweige zu beschliessenden
Reglements:
2. Irren-, Taubstummen-, Blinden- und Idioten-
anstalten.
Dieser Genehmigung unterliegen jedoch die ge¬
dachten Reglements nur insoweit, als sich die Be¬
stimmungen derselben beziehen:
in Betreff der zu 1 und 2 gedachten Anstalten
auf die Aufnahme, die Behandlung und Entlassung
der Landarmen, Korrigenden, Irren, Taubstummen,
Blinden und Idioten, bezw. auf den Unterricht der¬
selben.
Dass diese Bestimmungen schon ihrem Wortlaute
nach nichts über die Pflicht zur Aufnahme der geistes¬
kranken Verbrecher enthalten, wird näherer Ausfüh¬
rungen nicht bedürfen.
In Bezug auf das Dotationsgesetz mag zugegeben
werden, dass dasselbe bei oberflächlicher Prüfung für
die Ansicht der Königlichen Staatsregierong angezogen
werden kann; in demselben heisst es im § 4:
§ 4 .
Die Ueberweisung der in den §§ 2 und 3 ge¬
dachten Summen an die im § 2 unter Nr. 1 bis 12
genannten Communalverbände erfolgt zur Verwendung
für folgende Zwecke:
1. Fürsorge für den Neubau von chaussirten
Wegen und Unterstützung des Gemeinde- und Kreis¬
wegebaues, .
4. Fürsorge bezw. Gewährung von Beihilfen für
das Irren-, Taubstummen- und Blindenwesen,
5. Unterstützung milder Stiftungen, Rettungs-,
Idioten- und anderer Wohlthätigkeitsanstalten,
6. Leistung von Zuschüssen für Vereine, welche
der Kunst und Wissenschaft dienen, desgleichen für
öffentliche Sammlungen, welche diese Zwecke ver¬
folgen, Erhaltung und Ergänzung von Landesbiblio¬
theken, Unterhaltung von Denkmälern,.
Bei näherer Prüfung ergiebt sich jedoch, dass die
Provinzialverbände nicht verpflichtet sind, unter allen
Umständen Fürsorge zu treffen, dass sämmtliche
Geisteskranken und Geistesschwachen ihres Bezirks
Unterkommen in geeigneten Anstalten finden.
Die Richtigkeit dieser Behauptung folgt zunächst
hinsichtlich der Geistesschwachen (Idioten) schon
daraus, dass die Provinzialverbände nach der Be¬
stimmung unter Nr. 5 auf eine Unterstützung der
Idiotenanstalten sich beschränken dürfen. Aber auch
in Bezug auf die Geisteskranken setzt das Gesetz
keine allgemeine Fürsorgepflicht fest. Hierfür sprechen:
1. der Wortlaut der Bestimmungen; danach sollen
die Provinzen die Fürsorge beziehungsweise die Ge¬
währung von Beihilfen für das Irrenwesen übernehmen.
Die Provinzialverbände dürften hiernach auch jetzt
noch in der Lage sein, sich ganz oder theilweise auf
Beihilfen an bestehende private Irrenanstalten zu
beschränken, wie namentlich die westlichen Provinzen
(Westfalen und Rheinprovinz) in mehr oder minder
grossem Umfange bis in die neueste Zeit gethan
haben. Sie haben es also nicht nöthig, selbst Irren¬
anstalten zu errichten. Hieraus ergiebt sich aber
dann von selbst die Folgerung, dass sie nicht für
jeden geisteskranken Verbrecher freien Platz zu
schaffen haben.
2. Will man gegentheiliger Ansicht sein und den
Wortlaut des Gesetzes im Sinne der Ansicht der
Königlichen Staatsregierung interpretiren, so muss man
in gleicher Weise den Ausdruck Fürsorge auch in
Nr. 1 interpretiren und zwar dahin, dass die Provin¬
zialverbände auch angehalten werden können, alle
irgendwo nöthigen Wege neu zu chaussiren. Ferner
müsste man dann folgerichtig bei Nr. 6 und 7 des
Gesetzes annehnien, dass die Provinzial verbände ver¬
pflichtet wären, sämmtliche milden Stiftungen der
Provinz zu unterstützen und allen der Kunst und
Wissenschaft dienenden Vereinen Zuschüsse zu leisten.
Wenn so weit gehende Interpretation, wie wohl ohne
weiteres einleuchtet, bei Nr. 1, 5 und 6 verfehlt sein
würde, so darf man folgerichtig auch die Interpretation
der Königlichen Slaatsregierung bei Nr. 4 nicht auf¬
recht erhalten.
3. 'Auf die nebenbei sich aufwerfende Frage: wie
weit die Verpflichtung der Provinzialverbände reicht,
dürfte zu antworten sein, dass sie nur so weit geht,
als die den Provinzialverbänden überwiesenen Dota¬
tionen reichen Das ergiebt sich:
a) aus den Motiven des Dotationsgesetzes, in dem
es in der Einleitung Abs. 3 am Ende S. 19/20 heisst:
Es ist der Zw'eck der gegenwärtigen Gesetzes¬
vorlage, zugleich die Aufgaben zu bestimmen, welche
die Verbände mit den ihnen zu überweisenden Jahtes-
renten und Fonds zu erfüllen haben werden,
b) aus der Erklärung des Regierungskommissars
Röttger in der Sitzung vom 22. April 1875 bei Be-
rathung des Dotationsgesetzes; derselbe sagte:
„Das Gesetz setzt voraus, dass die Summe, die in
dem § 1 gewährt wird, vollständig ausreicht für alle
diejenigen Verwendungszwecke, welche im Gesetze
aufgeführt sind.“
4. Die Königliche Staatsregierung hat bisher selbst
die hier vertretene Ansicht getheilt.
So hat sie in der Begründung zum Gesetze vom
11. Juli 1891, betreffend die ausserordentliche Armen¬
pflege, ausdrücklich erklärt:
Da hiernach als festgestellt angenommen werden
darf, dass der im § 31 des Gesetzes vom 8. März
1871 vorgesehene Weg nicht zum Ziele führt, so
erscheint es angezeigt, diesem Ziele nunmehr durch
eine entsprechende Aenderung des § 31 cit. näher
zu treten, und die gegenwärtige Befugniss der Land¬
armenverbände und Kreise mit den in dem Erlass
vom 30. September v. Js. und weiter unten ferner
erwähnten Maassgaben in eine Verpflichtung umzu-
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478
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 48 .
wandeln. Es ist dies zugleich ein bedeutungsvoller
Schritt auf der Bahn einer festeren Abgrenzung der
den einzelnen engeren und weiteren Communalver-
bänden obliegenden öffentlichen Verpflichtung. Wenn
insbesondere bei Erlass der Dotationsgesetze den
dotirten Verbänden vielfach nur die Befugniss bei¬
gelegt worden ist, die überwiesenen Summen für
gewisse öffentlich-rechtliche Zwecke zu verwenden,
ohne ihnen gleichzeitig die Verpflichtung aufzuerlegen,
diese Verwendung in einem dem Bedürfnisse ent¬
sprechenden Umfange eintreten zu lassen, so hat sich
dies als ein Uebelstand erwiesen, welchem bezüglich
der hier in Rede stehenden Frage der ausserordent¬
lichen Armenlast im Wege der Gesetzgebung Abhilfe
zu geben, dringend geboten erscheint.
Hiermit stehen in Uebereinstimmung
a) der Erlass des Ministers des Innern vom 15. Sept.
1891 (M. Bl. für innere Verwaltung S. 166) lautend:
In § 31 des Gesetzes vom 8. März 1871 (Gesetz-
samml. S. 130) ist den Landarmenverbänden die
Befugniss beigelegt worden, die Kosten der öffent¬
lichen Armenpflege, welche die Fürsorge für Geistes¬
kranke, Idioten, Taubstumme, Sieche und Blinde
verursacht, unmittelbar zu übernehmen. Diese Be¬
fugniss hat — soweit es sich nicht um Sieche handelt
— der Artikel I des Gesetzes vom 11. Juli d. Js.,
betreffend Abänderung der §§ 31, 65 und 68 des
ersterwähnten Gesetzes (Gesetzsamml. S. 300), in
eine Verpflichtung umgewandelt. Nach dem neuen
Gesetze haben die Landarmenverbände vom 1. April
1893 ab unter Betheiligung der Kreise und Orts¬
armenverbände an den erwachsenden Kosten für
Bewachung, Kur und Pflege der bezeichneten Kate¬
gorien von Hilfsbedürftigen — mit Ausnahme der
Siechen — soweit sie der Anstaltspflege bedürfen, in
geeigneten Anstalten Fürsorge zu treffen. Die gleiche
Verpflichtung ist den Landarmenverbänden hinsicht¬
lich der im § 31 des Gesetzes vom 8. März 1871
nicht besonders aufgeführten hilfsbedürftigen Epilep¬
tischen, für welche die Anstaltspflege unentbehrlich
erscheint, auferlegt worden;
b) die Erklärung des Ministers des Innern im
Herrenhause am 24. Januar 1891; derselbe führt aus:
Sodann möchte ich mich noch einmal gegen die
Annahme des Antrages des Herrn Grafen Zieten-
Schwerin erklären. Meine Herren, es ist gesagt
worden .... „wir machen ein ganz neues Gesetz für
eine neue Verpflichtung der Provinzialbehörden, und
da könnten wir auch das noch aufnehmen, was sonst
in der Fürsorge für Hilfsbedürftige nicht liegt. . . .“
So liegt die Sache nicht. Es war schon nach dem
bisherigen Ausführungsgesetz zu dem Gesetz über den
Unterstützungswohnsitz eine Vorschrift über die ausser¬
ordentliche Annenlast im § 31 vorhanden, und die
ist hier nur dahin abgeändert, dass aus der Befugniss
der Landarmenverbände zur Uehernahtne jener Last
eine Verpflichtung gemacht worden ist. Im übrigen
hält sich dieses Gesetz ganz in dem Rahmen des
Gesetzes vom 8. März 1871. Es hat zur Voraus¬
setzung die Definition der Hilfsbedürftigkeit, welche
im § 1 dieses Gesetzes in Uebereinstimmung mit dem
Reichsgesetz gegeben ist, und bezieht sich, .... nur
auf die nach den Bestimmungen dieses Gesetzes als
hilfsbedürftig anzusehenden Personen;
c) die Erklärung des Berichterstatters im Herren-
hause vom 24. Januar 1891, lautend:
Durch den vorliegenden Gesetzentwurf soll die
Fürsoige für eine gewisse Klasse von Kranken, näm¬
lich für die hilfsbedürftigen Geisteskranken, Idioten.
Epileptiker, Taubstummen und Blinden, in anderer
Weise geregelt werden, als es bisher der Fall war.
Die Fürsorge für diese Kranken lag ja bisher, den
allgemeinen gesetzlichen Bestimmungen entsprechend,
den Ortsarmenverbänden ob, während nebenbei den
Landarmen verbänden und den sonstigen grösseren
Communalverbänden die Befugniss zustand, auch
ihrerseits die Sorge für diese Kranken zu übernehmen
Nun soll gewiss nicht verkannt werden, dass die
Landarmenverbände und insbesondere die Provmzial-
verwaltungen von dieser Befugniss einen recht aus¬
reichenden Gebrauch gemacht haben. Davon geben
die zahlreichen Irrenanstalten, welche von den ver¬
schiedenen Provinzen gegründet worden sind und
erhalten werden, und die sonstigen Pflegeanstalten
ein recht schlagendes Zeugniss. Trotzdem haben sich
bei dem jetzigen Verfahren in den verschiedenen
Landestheilen recht erhebliche Uebelstände heraus¬
gestellt, wie solches in den Motiven zu dem Gesetz¬
entwurf auch des näheren ausgeführt worden ist. So
haben sich diese Lasten rscht ungleich vertheilt, indem
einzelne Ortsarmenverbände mit Pflegekosten für
Geisteskranke und Idioten überlastet worden sind
während andere von denselben ganz frei blieben. Die
Nothwendigkeit, einen oder mehrere Kranke in einer
Irrenanstalt unterzubringen, konnte geradezu den
financiellen Ruin einer kleinen Gemeinde herbeiführen.
Aus diesem Grunde gingen dann solche Ortsarmen¬
verbände nur in dem äussersten Nothfalle dazu über,
einen solchen Kranken den betreffenden Anstalten
der Provinz zu überweisen, und das hatte wieder zur
Folge, dass viele dieser Kranken in den Gemeinden
übrig blieben zur grossen Benachteiligung ihrer
Familien und zur Belästigung der ganzen Gemeinde.
Diese Uebelstände sind vielfach und oft recht empfind¬
lich gefühlt worden. Aber, meine Herren, es zeigte
sich noch ein weiterer Uebelstand; denn wenn auch,
wie ich bereits erwähnt habe, die Provinzen von der
Befugniss w T ohl einen recht umfangreichen Gebrauch
gemacht haben, die Fürsorge für die genannten
Kranken zu übernehmen, so war doch damit dem
Bedürfnisse noch in gar keiner Weise genügt worden,
und es blieben noch immer sehr viel Kranke dieser
Art in den verschiedenen Gemeinden übrig, nicht
nur deshalb, weil die betreffenden Gemeinden vor
den Kosten der Unterbringung scheuten, sondern
auch deshalb, weil die Kranken eine Unterkunft in
der betreffenden Anstalt nicht finden konnten, und
daher die Anträge, die aus den Gemeinden dieserhalb
gestellt werden, zurückgewiesen werden mussten. In
Erwägung dieser Verhältnisse ist dann die Königliche
Staatsregierung zu der Ueberzeugung gelangt, dass
eine Aenderung der bestehenden Gesetzgebung ge¬
schaffen werden müsste, und zwar dadurch, dass die
in dem §31 des Gesetzes vom 8. März 1871 den
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»9°5-]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
479
Landarmen verbänden eithelltc Befugniss, die Fürsorge
für die genannten Kranken zu übernehmen, in eine
Verpflichtung verwandelt würde, und dass ferner
auch grössere Verbände als die Ortsarmen verbände,
welche bisher durch die ihnen obliegende Fürsorge
für die genannten Kranken oft zu sehr überlastet
wurden, verpflichtet werden sollten, einen Theil dieser
Kosten zu übernehmen, nämlich die Kreise.
Ihre Kommission, meine Herren, ist nun diesen
Anschauungen der Königlichen Staatsregierung überall
voll und ganz beigetreten und hat sich dahin aus¬
gesprochen, dass auch sie vollständig das Bedürfniss
anerkenne, auf andere Art, und zwar in der von der
Königlichen Staatsregierung vorgeschlagenen Weise,
die Fürsorge für die genannten Kranken zu regeln.
5. Ferner sprechen verschiedene Entscheidungen
des Bundesamts für Heimathwesen für die Ansicht
des Antragstellers, z. B. die Entscheidung in Heft 27,
Seite 54, worin es heisst:
„namentlich sind dadurch (sc. Gesetz vom 11. Juli
1891) nicht etwa den Landarmen verbänden in B?zug
auf Armenfürsorge Aufgaben zugewiesen worden,
welche nach den allgemeinen Grundsätzen des
preussischen Armenrechts im übrigen dem Gebiete
der Armenpflege fremd sind Eine Aenderung ist
nur darin cingetreten, dass, während der § 31 des
Ausführungsgeselzes vom 8. März 1871 die Land¬
armenverbände für befugt erklärte, die Kosten der
Fürsorge für hilfsbedürftige Geisteskranke, Idioten,
Taubstumme und Blinde zu übernehmen, den land¬
armen vei bänden jetzt gemäss dem durch das Gesetz
vom 11. Juli 1891 abgeänderten § 31 in betreff der
daselbst aufgeführten Categorien von Hilfsbedürftigen
eine Verpflichtung zur Fürsorge obliegt, soweit diese
im Wege der Anstaltspflege zu gewähren ist. Für
die Auffassung, dass die nunmehrige Verpflichtung
der Landarmenverbände nicht ebenfalls innerhalb der
allgemeinen Grenze sich zu halte'. habe, welche im
§ 1 des Ausführungsgesetzes der Armenpflege gezogen
ist, fehlt es an einem Anhalt“.
Wenn trotz aller dieser Thatsachen weiter be¬
hauptet werden möchte, dass die Provinzialverbände
die Fürsorge für dasgesainmte Irrenwesen übernommen
haben, so folgt hieraus doch noch nicht, dass die¬
selben auch alle Geisteskranken, die mittellos sind,
auf ihre (der Provinzen) Kosten in die Anstalten auf¬
nehmen müssen. Hierauf kommt es aber gerade an;
denn die ganze Frage ist mehr eine Geldfrage als
eine allgemeine Fürsorgefrage. Dass aber die Pro¬
vinzen nicht die Kosten zu tragen haben, folgt aus
der Gegenüberstellung der Bestimmungen in Nr. 3
und der Nr. 4 des Dotationsgesetzes. Während
nämlich in Nr. 3 den Provinzen die Bestreitung der
Kosten des Landarmen- und des Korrigendenwesens
auferlegt ist, spricht Nr. 4 nur von der allgemeinen
Fürsorge für die Irren. Hieraus folgt doch, dass sie
die Kosten für das Irrenwesen nicht in allen Fällen
zu tragen haben. Sodann ist aber auch nicht zu be¬
streiten, dass die Provinzen auf keinen Fall die ihnen
im Dotationsgesetz übertragenen Lasten in ungünstigerer
Weise übernehmen sollten, als wie bis dahin der Staat
dieselben getragen hatte. Wie aber der Staat vor
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Inkrafttreten des Dotalionsgesetzcs seine Irrenanstalten
nicht unentgeltlich zur Unterbringung von Geistes¬
kranken dargeboten hatte, so durften später auch die
Provinzen von den Aufgenommenen Pflegekosten in An¬
spruch nehmen und dürfen solches auch jetzt noch
thun mit der Maassgabe, wie sie sich aus dem Ge¬
setze vom 11. Juli 1891 ergiebt. Daher der § 6 der
Provinzialordnung, auf Grund dessen alle Provinzen
Reglements entworfen haben, wonach sie die Geistes¬
kranken regelmässig nui gegen Zahlung von Pflege¬
geld in ihre Anstalten aufnehmen. Für die Hilfsbe¬
dürftigen müssen die Ortsarmenverbände und der
Landarmen verbände gemäss Gesetz vom 11. Juli 1891
zahlen. Da aber in den hier in Rede stehenden
Fällen keine Hilfsbedürftigkeit vorliegt, und * somit
weder Orts- noch Landarmenverbände einzutreten
haben, so bleibt also immer die hier in erster Linie
interessirende Frage offen: Wer hat für diese Kranken
die Zahlungspflicht? Hierauf hat nun in neuester
Zeit das Oberverwaltungsgericht in dem in Anlage C*)
abgedrucklen Urtheilc vom 29. April 1904 für gewisse
Fälle eine Antwort gegeben und zwar dahin, dass die
Kosten zur Beseitigung des gemeingefährlichen Zu¬
standes des Geisteskranken als mittelbare Polizeikosten
anzusehen sind und demgemäss nach dem Polizei¬
gesetz von 1850 den Gemeinden obliegen. In dem¬
selben Urtheil ist übrigens in Bestätigung der obigen
Deduktion nebenher auch ausgeführt, dass in den
fraglichen Fällen kein Armenpflegefall vorliegt, und
dass daher der sonst verpflichtete Armenverband nicht
haftbar gemacht werden kann. (Fortsetzung folgt.)
— Darmstadt. Nach einer kürzlich erlassenen
Verfügung des Ministeriums der Justiz können für
die Folge kriminelle Irrsinnige, deren als¬
baldige Unterbringung mit Rücksicht auf die Art
ihrer Geisteskrankheit geboten ist, ohne Verzug
in eine Landesirrenanstalt untergebracht
werden, ohne da^s die seither vorgeschriebenen Auf¬
nahmebelege, deren Beschaffung stets längere Zeit
in Anspruch nahm, beigebracht zu werden brauchen.
— In Hildburghausen fand am 11. Februar
eine Berathung der Vertreter der thüringischen Justiz¬
verwaltungen und irrenärztlicher Autoritäten statt,
welche die Errichtung einer besonderen Ab¬
theilung zur Unterbringung von geistes¬
kranken Verbrechern an einer der thürin¬
gischen Irrenanstalten bezweckt. Dabei wurde
die dortige Irrenheil- und Pflegeanstalt von den
Herren besichtigt. Es soll ein geeignetes Haus für
geisteskranke Verbrecher gebaut werden.
Referate.
— Th. Tiling: Individuelle Geistes¬
artung und Geistesstörung. Wiesbaden, Berg¬
mann, 1904. 58 S.
T. begründet in dieser Schrift ausführlich noch¬
mals seine Anschauungen über die Entstehung der
Psychosen, die er schon wiederholt in früheren
Arbeiten (über die Entwickelung der Wahnideen,
über den Charakter, zur Paranoiafrage, zur Aetiologie
- *) Erscheint in der nächsten Nummer.
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
480 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr.
der Geistesstörungen) niedergelegt hat, Anschauungen,
die sich mit der Auffassung anderer Forscher (u. a.
Möbius, Bresler) nahe berühren. T. sucht die Patho¬
genese der Geistesstörungen so viel als möglich aus
der ursprünglichen Charakteranlage der Erkrankten,
aus der disproportionalen Anlage der Gemüths- und
Geisteskräfte abzuleiten. Er beschäftigt sich deshalb
mit der Psychologie der verschiedenen Charakter¬
typen, die noch als der Gesundheitsbreite angehörig
angesehen werden und sucht eingehend darzulegen,
wie sowohl für den Ausbruch des Irreseins, als auch
für seine Gestaltung und Weiterentwickelung die psy¬
chischen Grundqualitäten des Individuums das Wich¬
tigste sind, während die äusseren Ursachen an Be¬
deutung zuiücktreten. Man wird die Ausführungen
T.’s um so mehr mit Interesse lesen, als hier nicht
nur eigene grosse Erfahrung zur Begründung dient,
sondern auch die neuesten psychiatrischen Veröffent¬
lichungen wie reiche Lesefrüchte auf nicht psychia¬
trischem Gebiet kritische Verwerthung finden. Zu¬
stimmung wird T. für viele Krankheitsformen, be¬
sonders für die Paranoia, viele Fälle melancholischer,
manischer, hysterischer, hypochondrischer Verstimm¬
ung, für das Gebiet des inducirten Irreseins finden.
Ob aber — bei aller Anerkennung der hervorragen¬
den Bedeutung der Prädisposition — die Bewerthung
der äusseien Ursachen der Psychosen durchweg
eine so geringe w’ird sein dürfen, wie T. (auch unter
Anziehung einer Arbeit von Martius) besonders auf
S. 52 und 54 ausspricht, erscheint mir zweifelhaft.
Ziehen wir den Kreis dessen, was als Psychose zu
bezeichnen ist, nicht zu eng, so ist nicht nur die
Möglichkeit, sondern wohl auch die Erfahrungsthat-
sache gegeben, dass äussere Schädlichkeiten von
grösserer Höhe auch das Gehirn des gut organisirten
Individuums zu anormalen Lebensäusserungen bringen.
Im Uebrigen enthalten gerade auch wieder die letzten
Seiten der Schrift, auf welchen auch die Schwank¬
ungen der Disposition während des Einzellebens be¬
sprochen werden, anregende Betrachtungen und
Hypothesen, welche weitere Untersuchungen veran¬
lassen dürften. In Allem bringt T.’s Schrift für eine
der schwierigsten „Grenzfragen des Nerven- und
Seelenlebens“ eine jedenfalls sehr beachtenswerthe
Darstellung. M e r c k 1 i n.
— A. Kowalewski - Königsberg. Studien
zur Psychologie des Pessimismus. Wies¬
baden, Bergmann, 1904. 122 S.
Der Pessimismus, die Anschauung, dass die Lust¬
summe in unserer Welt von der Unlustsumme über¬
wogen wird, ist nicht ein blosses Erzeugniss philo¬
sophischer Reflexion. Sie zeigt sich, wie K. in den
einleitenden Abschnitten seiner Schrift darlegt, in
der Religion, in der Poesie, in der Volksweisheit, im
Volksaberglauben und in der Volkssitte. Es liegt
hierin ein Hinweis, dass sich in der normalen mensch¬
lichen Gefühlsweise natürliche Ansatzpunkte für die
Entwickelung einer pessimistischen Seelen Verfassung
finden müssen. Die Vermuthung liegt nahe, dass
die Lust- und Unlustfunctionen des normalen Gei¬
steslebens nicht gleichmüssig entwickelt sind, sondern
dass hier Asymmetrien bestehen. Der Prüfung dieser
Annahme, der Symmetrieprüfung der Lus*.-
und Unlustfunction, sind die experimentell-
psychologischen und statistischen Untersuchungen
gewidmet, welche den Kern der vorliegenden Arbeit
bilden. Die zahlreichen Methoden, mit welchen K
seine Aufgabe angreift, können hier nicht wieder¬
gegeben werden, nur die wichtigsten Ergebnisse seien
erwähnt. Die angenommene Asymmetrie der Lu>t-
und der Unlustfunction besteht in der That. K.
zeigt, dass die Häufigkeit der Luststimraungen sid
zu der der Unluststimmungen verhält wie 2:3, da^
im durchschnittlichen Stimmungsverlauf eines Tagt*
das Unlustquantum das 2 bis 5 fache des Lustquai*
tums beträgt. Er findet weiter, dass in der Auflad¬
ung von Intensität und Innigkeit bei Lust- und Un¬
lusteindrücken, in der zeitlichen Seite der Lust- und
Unlusteindrücke, in der sprachlichen Charakteristik
der Lust- und Unlust, in der Catalogisirung der
Leiden und Freuden Asymmetrien bestehen, welche
auf die Wurzeln für pessimistische Anschauungen im
normalen Geistesleben Hinweisen. Diesen pessimisti¬
schen Ansatzpunkten stehen jedoch mächtige Faktoren
gegenüber, welche in antagonistischem Sinne wirken,
und unter den gewöhnlichen Lebensbedingungen
nur vorübergehend pessimistische Krisen zulassen
(Abwehrlust, Erinnerungsoptimismus, Hoffnung, teleo¬
logische Reflexionen). Alle Feststellungen K.’s be¬
ziehen sich, wie er im Schlusswort nochmals hervor¬
hebt, auf ein Beobachtungsmaterial von Personen,
die dem ausgesprochenen Pessimismus ebenso ferr
standen, wie dem ausgesprochenen Optimismus. Eine
besondere mehr individual-psychologische Untersuch¬
ung würde die Entstehungsbedingungen des ausge¬
sprochenen dauernden Pessimismus festzustellen
haben. K. deutet diese abnormen Bedingungen an
und streift die nahen Beziehungen der Neurasthenie
zum Pessimismus.
Es braucht kaum ausgesprochen zu werden, dass
die bedeutsame Untersuchung und die feinen psycho¬
logischen Beobachtungen, welche sich überall ein¬
gehend finden, die Schrift K.’s zu einer für den
Psychiater sehr beachtensvverthen machen.
Mercklin.
Personalnachrichten.
— Dziekanka (Posen). — Dem Sanitätsrath
Dr. Kavser, Direktor der Prov.-Irrenanstalq wurde
der Rothe Adlerorden 4. Klasse verliehen.
Berichtigung.
Bei der Drucklegung meines in Nr. 47 dieser Wochenschrift
veröffentlichten Aufsatzes über „Dauerbadeeinrichtungen* ist
durch ein Versehen des Setzers die Disposition erheblich ge¬
stört. Der Abschnitt auf Seite 462 von den Worten: „Ob eine
Trennung“.bis ... . „für später Vorbehalten“ — ge¬
hört naturgemäss an den Schluss der Abhandlung.
Tomaschny, Treptow a. R.
Der heutigen Nummer liegt ein Prospekt der
Firma
C. Kanoldt Nachfolger (O. Reyher)
Apotheker in Gotha
bei, welchen wir geneigter Beachtung empfehlen.
Digitized
Ersc heint |cd|:r
den rcdactiouciieu '1 heil Verantwortlich : Oherar/t Dr. J. Bresler, Lublinitz (Schlesien).
- Schluss der Inseratcnannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von G^rl •MififhPffd * n Halle a. S
Heynemann'sehe Buchdruckerei (Gebr. Wo’fD in Halle a. S.
Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift.
Redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Lublinitz (Schienen).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adrette: Marho Id Verlag, Hallesaale. Fernsprecher 2834.
Nr. 49. 4 - März. 1905.
• Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die 3spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten.
Analytische Untersuchungen der Symptome und Assoziationen
eines Falles von Hysterie (Lina H.)
Von Dr Franz Riklin , bisher 1. Assistenzarzt am Burghölzli, z. Z. Sekundararzt an der Züricher Pflegeanstalt Rheinau.
(Fortsetzung.)
B. Allgemeines.
Wenn man sich an die Erzählungen Pseudo-
logischer erinnert, so könnte man leicht Zweifel in
die Glaubwürdigkeit der geradezu abschreckenden
Fülle von Angaben über sexuelle Traumata der Pat.
setzen.
Indessen liess sich vieles nachprüfen, und das
übrige entfernt sich durchaus nicht aus dem Bereich
dessen, was nach Analogie des Kontrollirbaren sehr
wahrscheinlich ist.
Der Vater wurde wegen Incestes, begangen an
einer Schwester der Pat., mit Zuchthaus bestraft und
ist nachweislich schwerer Potator. Man hatte ihn
auch in Verdacht, der Urheber der zweiten Schwanger¬
schaft der Pat. zu sein und setzte ihn in Untersuch¬
ungshaft. Wegen Mangels an Beweisen wurde er
wieder entlassen. Die Pat. wurde den Eltern weg¬
genommen und in eine Erziehungsanstalt gebracht.
Diese Daten charakterisiren einigermaassen die Zu¬
stände zu Hause. Ueber den Character der „Herz¬
krankheit“ mit 12 Jahren konnte leider nichts Sicheres
mehr erhoben werden, indem das Spital sich damals
noch nicht in kantonaler Verwaltung befand und
noch keine Krankengeschichten geführt wanden. Die
Angaben über Vetter und Schwager entziehen sich
für die Zeit bis zur dritten Geburt einer genauem
Controle. Hingegen gab die Mutter über die Herz¬
krankheit der Pat. eine ausführliche Beschreibung;
sie schildert die Anfälle von Herzklopfen und Dys¬
pnoe, sowie die spätem Anfälle von Abasie recht
plastisch. Ueber die Ursachen wurde sie damals
nicht gefragt und hätte sie schwerlich gewusst. Ueber
die Vorgänge vor und nach der dritten Geburt, ihr
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Leben als Zimmermädchen, Maitresse etc., geben die
gerichtlichen Akten im Kindsmordprocess Auskunft,
ebenso die Berichte des Schutzaufsichtsvereins für
entlassene Sträflinge. Auch über ihr Verhalten im
Mädchenasyl haben wir ziemlich genaue Auskunft,
die ganz mit den Angaben der Pat. übereinstimmt.
Z. B. wird berichtet, dass sie eigentlichen Nega¬
tivismus (der Arzt, welcher die Anamnese besorgte,
hatte Verdacht auf Dementia praecox) nur beim
Essen zeigte. Sie wollte keine Milch etc. nehmen.
Wollte man sie doch zum Essen zwingen, so wurde
sie verstimmt, sonst war sie lenksam. Einzelne ab¬
sonderliche Handlungen fielen auf. Sie lief während
des Essens öfter im Hause auf und ab, ohne dass
man einen Grund dafür ausfindig machen konnte.
Fragen über ihre Vergangenheit wich sie aus
und verstummte.
Die Krankengeschichte, meine eigenen Beobacht¬
ungen und die nachträglichen Erhebungen über
viele Einzelheiten bei den Aerzten und dem Pflege¬
personal ergaben für viele und ganz verschiedene
Punkte ausreichende Belege für die Richtigkeit der
Angaben der Pat. in Hypnose.
Wir haben infolgedessen wirklich keinen Grund,
an den Angaben der Pat. zu zweifeln. Auf der
Abtheilung ist sie keineswegs als lügenhaft oder un¬
zuverlässig bekannt.
Dazu kommt, dass die Analyse den von Breuer
und Freud aufgestellten Gesetzen bis in viele kleine
Eigenthümlichkeiten folgt, was schwer ohne Wider¬
sprüche zu phantasiren wäre.
Kurzum, ich betrachte die Controlle der Zuver¬
lässigkeit der Pat. für genügend. Widersprüche
haben sich nicht gefunden.
Original from
HARVARD UNIVERSITY
482
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 40
Unvollständigkeit der Analyse. Die
Analyse ist leider noch nicht vollständig, obwohl sie
eine gewaltige Summe von Zeit gekostet hat. Ich
verzweifle nachgerade an der Möglichkeit, sie in
diesem Fall zu erschöpfen. Nicht nur ist die Summe
der Symptome sehr gross, sondern namentlich die
Zahl der sie bestimmenden psychischen Traumata.
Z. B. verschwanden viele Symptome längere Zeit
vollständig, um plötzlich, nach irgend einem Anlass
wieder aufzutauchen, wenn Pat. unbewusst an etwas
erinnert wurde, was auch mit diesem Symptom zu¬
sammenhing, aber noch nicht erzählt war. Sie hat
z. B. Symptome, die sowieso nur alljährlich
wiederkehrten, z. B. die Leibschinerzen im Frühjahr,
so dass jeweilen erst nach einem Jahr beobachtet
werden konnte, ob sie verschwunden seien oder
nicht. Die analytische Arbeit war zeitweise sehr
mühsam: Oft brauchte es 2 — 3 Hypnosen, um
schliesslich über einen einzigen Punkt Aufschluss zu
bekommen, indem die ersten Hypnosen wegen
starker Absperrung des zu Erzählenden resultatlos
verliefen.
Pat. produzirte auch neue Symptome (Arm¬
schmerzen u. s. f.), und es schien zeitweise, als ob
die Analyse der alten weniger rasch fortschreite als
das Auftauchen neuer.
Es wurde dann noch eine andere Methode ver¬
sucht: da ich mehrere Wochen Militärdienst zu
machen hatte, gab ich der Patientin meine Visiten¬
karte und versicherte sie in der Hypnose, sie werde,
wenn sie einen Schmerz spüre und die Karte an¬
sehe, von selbst in Hypnose verfallen und dann den
Grund des Schmerzes finden. Indessen war Pat.
mcni sehr productiv und hat die Methode selten
angewendet. Sie scheute sich auch, das Gefundene
dem Papier anzuvertrauen; sie wollte es lieber münd¬
lich machen.
Mehrere kleinere Symptome: Zeitweise Schmerzen
in den Augen, „Krkälten“ beim Erdbeerenessen (jähr¬
lich im Sommer) mit et welchen Leibschmerzen, ein
plötzlich auftretender Schmerz in der einen Ferse
(als Pat. einer Pflegerin im Scherz davon lief und
diese eine witzige Bemerkung über Liebesgeschichte
machte), hie und da Uebelwerden in der Nacht, die
ich vorher nie beobachtet hatte, die aber wohl zu
den seltener auftretenden Symptomen gehören, ferner
ab und zu etwas Schlaflosigkeit und etwas Schmerzen
im Unterleib zur Zeit der Menses, gewisse Verstimm¬
ungen, das sind Dinge, die noch etwa eintreten und
der weiteren Analyse harren — und ob dann nicht
noch andere, z. B. alte Symptome ab und zu —
nie ohne Grund — wieder einmal auftreten werdet,
wie bis jetzt, weiss ich nicht.
Prognose. Wahrscheinlich hat Pat. von Jugend
auf, nachweisbar seit dem 10. Jahre, den Mechanis¬
mus des Abspaltens und „Convertirens“ geübt, ur.c
schliesslich fast alles Unangenehme so zu verdränget
gesucht. Und da ist es begreiflich, wenn die lang¬
same Analyse der schnellen Abspaltungstechnik nicht
Schritt hält.
Breuer und Freud unterscheiden in deo
„Studien zur Hysterie“ eben auch zwischen erwor¬
benen Hysterien, die nur ein oder wenige Male in ,
Leben dazu kommen, den hysterischen Verdrärig-
ungs- und Conversionsprocess anzuwenden , und sei- j
chen, wo diese Anlagen mehr oder weniger ange¬
boren sind. Die beiden Autoren haben auch Fälle
ohne vollständige Heilung (z. B. Frau Emmy von N
Beobachtung II).
Es sind eben schwerere Fälle, mit starke'
hereditärer Belastung und tiefer gehender hy¬
sterischer Disposition, und stärkerer Tendenz
zum Zerfall des psychischen Organismus in autonome !
Vorstellungscomplexe („Dissoziation“ von Forel). j
Ich habe auch den Eindruck, dass unsere Pai
ein viel weniger starkes Heilungsbedürfniss hat ä- ,
andere Fälle, und dass die praktischen Erfolge eU I
viel weniger glänzend sind, als bei andern Fällen |
wo einem die Therapie grössere Freude macht
z. B. bei einzelnen Pflegerinnen, die nachher zum
leistungsfähigsten Personal gehören.
Allmählich ermüden Arzt und Pat. bei der Be- f,
handlung, kurzum, die praktischen Erfolge stehen in jj
so schweren Fällen nicht recht im Verhältniss zur '
angewandten Mühe.
Trotzdem ist das Resultat erfreulich: Die Stimm¬
ung der Pat. ist dauernd besser, ebenso der Schlaf,
Pat. hat sehr guten Appetit, ist viel leistungsfähiger
als früher; nur ganz ausnahmsweise ist sie einmal
einen halben oder ganzen Tag arbeitsunfähig; früher
waren es Wochen und Monate. Pat. hat auch ent¬
sprechend zugenommen, etwa 15 kg in einem halben
Jahr, während man früher in dieser Beziehung immer
in Sorgen war.
Wichtig ist, dass man weiss, dass die Pat. an
Hysterie leidet, dass man sie als Hysterie behandeln
muss, dass bis jetzt sozusagen alle ihre körperlichen
Symptome hysterische gewesen sind und dass man
die medicamentöse Behandlung ganz aus dem Spiele
lassen kann.
Mit Rücksicht auf ihr sexuelles Vorleben wagten
wir bis jetzt noch nicht die Pat. zu entlassen, wir
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I 9°5-]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
483
konnten ihr aber, seitdem die Besserung anhält,
freien Ausgang gestatten.
Freud hat seither, in einem Buche Löwen-
feld’s*) resumirend seine jetzigen Anschauungen,
die Technik und Indikation für psycho-analytische
Methode niedergelegt.
Er verlangt demnach gewöhnlich keine Hypnose
sondern nur noch Concentration des Pat. in Ruhe¬
lage und fordert ihn auf, sich in seinen Mittheilungen
gehen zu lassen und was ihm in den Sinn kommt,
zu sagen, ob es ihm auch als unwichtig, störend oder
beschämend Vorkommen möge. Es stellen sich dann
schon bei der Erzählung der Krankengeschichte
Lücken heraus, und drängt man den Patienten, sich
darauf zu concentriren, so merkt man, dass die
hierzu sich einstellenden Erinnerungen von ihm mit
allen Mitteln der Kritik zurückgedrängt werden, bis
er endlich das direkte Unbehagen verspürt, wenn
sich die Erinnerung wirklich eingestellt hat. Aus
dieser Erfahrung schliesst Freud, dass die Am¬
nesien das Ergebniss eines Vorgangs sind, den er
Verdrängung heisst und als dessen Motiv er Un¬
lustgefühle erkennt. Die psychischen Kräfte, welche
diese Verdrängung herbeigeführt haben, meint er in
dem Widerstand, der sich gegen die Widerherstellung
erhebt, zu finden.
„Das Moment des Widerstandes ist eines der
Fundamente seiner Theorie geworden. Die sonst
unter allerlei Vorwänden beseitigten Einfälle be¬
trachtet er als Abkömmlinge der verdrängten psy¬
chischen Gebilde (Gedanken und Regungen), als Ent¬
stellungen derselben infolge des gegen ihre Reproduction
bestehenden Widerstandes.
Je grösser der Widerstand, desto ausgiebiger diese
Entstellung. In dieser Beziehung der unbeabsich¬
tigten Einfälle zum verdrängten psychischen Material
ruht nun ihr Werth für die therapeutische Technik.
Wenn man ein Verfahren besitzt, welches ermöglicht,
von den Einfällen aus zu dem Verdrängten, von den
Entstellungen zum Entstellten zu gelangen, so kann
man auch ohne Hypnose das früher Unbewusste im
Seelenleben dem Bewusstsein zugänglich machen.“
„Freud hat darauf eine Deutungskunst
ausgebildet, welcher diese Leistung zufällt, die gleich¬
sam aus den Erzen der unbeabsichtigten Einfälle
den Metallgehalt an verdrängten Gedanken darstellen
soll. Object dieser Deutungsarbeit sind nicht allein
die Einfälle der Kranken, sondern auch seine Träume,
die den direktesten Zugang zur Kenntniss des Unbe-
*) L. Löwenfeld: Die psychischen Zwangserscheinungen.
Wiesbaden, Bergmann, 1904. pag. 545 ff.
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wussten eröffnen, seine unbeabsichtigten, wie plan¬
losen Handlungen (Symptomhandlungen) und
die Irrungen seiner Leistungen im Alltagsleben (Ver¬
sprechen, Vergreifen und dergl.). Die Details
dieser Deutungs- oder Uebersetzungsteclmik sind von
Freud noch nicht veröffentlicht worden.“
„Ein umfangreiches Buch über die „Traumdeut¬
ung“, 1900 von Freud publicirt, ist als Vorläufer
einer solchen Einführung in die Technik anzusehen.
„Die Aufgabe, welche die psychoanalytische Me¬
thode zu lösen bestrebt ist, lässt sich in verschiede¬
nen Formeln ausdrücken, die aber ihrem Wesen nach
äquivalent sind Man kann sagen: Aufgabe der Cur
sei, die Amnesien aufzuheben. Wenn alle Erinner¬
ungslücken ausgefüllt sind, alle räthselhaften Effekte
des psychischen Lebens aufgeklärt sind, ist der Fort¬
bestand , ja eine Neubildung des Leidens unmöglich
gemacht. Man kann die Bedingung anders fassen:
Es seien alle Veränderungen rückgängig zu machen;
der psychische Zustand ist dann derselbe, in dem
alle Amnesien ausgefüllt sind. Weittragender ist eine
andere Fassung: es handle sich darum, das Unbe¬
wusste dem Bewusstsein zugänglich zu machen, was
durch Ueberwindung der Widerstände geschieht. Man
darf aber dabei nicht vergessen, dass ein solcher
Wachzustand auch beim normalen Menschen nicht
besteht und dass man nur selten in die Lage kommen
kann, die Behandlung annähernd so weit zu treiben.
So wie Gesundheit und Krankheit nicht principiel,
geschieden, sondern nur durch eine praktisch be¬
stimmbare Summationsgrenze gesondert sind, so wird
man sich auch nie etwas anderes zum Ziel der Be¬
handlungselzen als die praktische Genesung des Kranken,
Herstellung seiner Leistungs- und Genussfähigkeit.
Bei unvollständiger Cur oder unvollkommenem Er¬
folg derselben erreicht man vor allem eine bedeu¬
tende Hebung des psychischen Allgemeinzustandes,
während die Symptome, aber mit geminderter Be¬
deutung für den Kranken fortbestehen können, ohne
ihn zu einem Kranken zu stempeln.“
„Am günstigsten für die Psychoanalyse sind die
chronischen Fälle \on Psychoneurosen mit wenig
stürmischen oder gefahrdrohenden Symptomen, also
zunächst alle Arten der Zwangsneurose. Zwangs¬
denken und Zwangshandeln und Fälle von Hysterie,
in denen Phobien und Abulien die Hauptrolle spielen,
weiterhin aber auch alle somatischen Ausprägungen
der Hysterie, insofern nicht, wie bei der Anorexie,
rasche Beseitigung der Symptome zur Hauptaufgabe
des Arztes wird. Bei acuten Fällen von Hysterie
wird man den Eintritt eines ruhigeren Stadiums ab¬
zuwarten haben: in allen Fällen, bei deinen die
nervöse Erschöpfung obenan steht, wird man ein
Verfahren vermeiden, welches selbst Anstrengung er¬
fordert, nur langsame Fortschritte zeitigt, und auf die
Fortdauer der Symptome eine Zeit lang keine Rück¬
sicht nehmen kann.“
„An die Person, die man mit Vortheil der Psy¬
choanalyse unterziehen soll, sind mehrfache Forder¬
ungen zu stellen. Sie muss erstens eines psychischen
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Normalzustandes fähig sein; in Zeiten der Verworren¬
heit oder melancholischer Depression ist auch bei
einer Hysterie nichts auszurichten. Man darf ferner
ein gewisses Maass natürlicher Intelligenz und ethischer
Entwicklung fordern; bei wcrthlosen Personen lässt
den Arzt bald das Interesse im Stiche, welches ihn
zur Vertiefung in das Seelenleben des Kranken be¬
fähigt. Ausgeprägte Charakterverbildungen, Züge von
wirklich degenerativer Konstitution äussern sich bei
der Cur als Quelle von kaum zu überwindenden
Widerständen. Insoweit setzt überhaupt die Kon¬
stitution eine Grenze für die Heilbarkeit durch
Psychotherapie. Auch eine Altersstufe in der Nähe
des fünften Decenniums schafft ungünstige Beding¬
ungen für die Psychoanalyse. Die Masse des psy¬
chischen Materials ist dann nicht mehr zu bewäl¬
tigen, die zur Herstellung erforderliche Zeit wird zu
lang und die Fähigkeit, psychische Voigänge rück¬
gängig zu machen, beginnt zu erlahmen.“
Gesammtbild. Das Krankheitsbild unserer
Pat. ist in dem Sinne ungemein einheitlich, geradezu
schematisch, als es zum grossem Teil aus körper¬
lichen „Conversionssymptomen“ mit starker Deter-
minirung durch eine Reihe psychischer Traumen —
meist sexueller Natur — besteht. Das erste, vor die
Zeit der Pubertät fallend (Missbrauch durch der.
Vetter, mit 10 Jahren), entspricht also ganz der
Freud’schen Annahme von den sexuellen Traumen
vor der Pubertät als Hauptursache der Hysterie.
Die Mehrzahl der Symptome ordnet sich in
Gruppen zu Symptomenkomplexen. Wir können
einen Symptomenkomplex von Seite des Magens
(Erbrechen, Widerwillen gegen Milch und Fleisch ,
der Brust (Herzklopfen, Herzkrämpfe, Husten, Dis-
pnoe, Schmerzen in der Seite), des Unterleibs (Leib¬
schmerzen, Ovarialschmerzen, „Ausfluss“, Schmerzen
der äussern Genitalien etc., Rückenschmerzen), der
Beine (Astasie — Abasie, Beinschmerzen, Schmerzen
in der Ferse) und des Gehörs (Ohrenschmerz.
Nichthören, angebliche „Drüsen**' vor dem Ohr
unterscheiden. (Fortsetrung folgt.)
Mittheilungen.
— Fürsorge für gemeingefährliche Geistes¬
kranke. (Schluss.)
Es erhebt sich nun die weitere Frage, ob durch
dieses Urtheil der vorliegende Antrag überflüssig ge¬
worden ist. Diese Frage dürfte mit Entschiedenheit
zu verneinen sein; denn vor allem würde es für viele
namentlich ländliche Gemeinden eine grosse Härte
bedeuten, wenn sie für diese gefährlichen Geistes¬
kranken sorgen sollten. Es bedarf keiner Ausführung,
dass sie, vielleicht von Berlin, Breslau und anderen
grossen Städten abgesehen, nicht in der Lage sind,
die besonderen höchst kostspieligen Einrichtungen
zu treffen und zu unterhalten, welche die Verwahrung
gefährlicher Geisteskranker nöthig macht. Sic würden
sich daher an schon vorhandene Anstalten wenden
müssen und an dieselben, wenn Aufnahme erfolgt,
recht hohe Pflegekosten zu zahlen haben, die bei der
vielfach vorhandenen schweren Belastung mit Ge¬
meindeabgaben den völligen Ruin der Gemeinde
herbeiführen können. Sodann w-ird es aber auch im
Einzelfalle leicht zweifelhaft sein, welche Gemeinde
die Fürsorgepflicht übernehmen soll. Das Urtheil des
Obcrverwaltungsgerichts giebt hierüber keinen hin¬
reichenden Aufschluss. Es geht von einem Fall aus,
w'o ein in Breslau geborener und dort bis zu
seiner Verhaftung wohnhafter Mann in der Strafan¬
stalt daselbst geisteskrank wurde und, dieserhalb ent¬
lassen, der Polizei in Breslau zugeführt wird, also
eine in jeder Beziehung in Breslau ortsangehörige
Person, und es führt in dieser Hinsicht wörtlich
weiter an:
„Ob eine Ausnahme von der Regel, dass die
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Kosten der Unterbringung Geisteskranker in Irren
anstalten sich als Kosten der örtlichen Polizeiver-
w-altung darstellen, sofern sie nicht Armenpflegekosten
sind, dann eintritt, wenn sich der Geisteskranke früher
solange er in Freiheit gelassen w'urde, ausserhalb des
Ortes aufgehalten hat, von dem aus er in die Anstalt
gebracht wurde, und erst infolge seiner Überführung
in ein an diesem Ort befindliches Gefängniss und in
unmittelbarem Anschluss an die Entlassung aus diesem
der Oltspolizei überw r iesen wird, bedarf es in der vor¬
liegenden Streitsache keiner Erörterung, denn ein Fall
dieser Art ist nicht gegeben. Otto Brieger hat sich
nach dem Inhalt der bei der mündlichen Verhandlung
vor dem Gerichtshof vorgelegten Polizeiacten schon
seit der am 5. Mai 1899 verfügten Entlassung aus
der Provinzialirrenanstalt zu Plagwitz in Breslau auf¬
gehalten, ist erst infolge eines am Orte verübten Ein¬
bruchsdiebstahls in Untersuchungshaft genommen
und nach der alsbald verfügten Entlassung aus dieser
dem Polizeipräsidenten zu Breslau zugeführt worden.
Es kann daher keine Rede davon sein, dass die
Ueberweisung an die Ortspolizeibehörde lediglich auf
der Lage des Untersuchungsgefängnisses in der Stadt
beruhe oder Folge einer im Interesse weiterer Ge¬
biete ergriffenen Maassregel sei, denn es handelt sich
nicht um eine ortsfremde, sondern um eine durch
jahrelangen Aufenthalt, anscheinend auch durch Ab¬
stammung und Wohnsitz der Stadt angehörige Person.
Für eine Zurechnung der streitigen Kosten zu denen
der Landespolizeiverwaltung fehlt es daher an jeder
Unterlage.“
Wenn es sich also um sogenannte ortsfremde
Personen handelt, so deutet das Urtheil an, dass
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möglicherweise anders zu entscheiden gewesen wäre,
und dass diese Kosten als Landespolizeikosten anzu¬
sehen seien. Und in der That! Warum soll denn
bei solchen ortsfremden Personen gerade die Gemeinde
dauernd ein treten, in der die krank gewordene Person
sich vielleicht nur ganz kurze Zeit aufgehalten hat?
Die Gemeinde des vorübergehenden Aufenthalts hat
gar kein andauerndes Interesse an der Verwahrung
des Kranken, wohl aber das ganze Land. Daher
liegt hier eine landespolizeiliche Angelegenheit vor,
deren Kosten der Fiskus zu tragen hat Wollte man
dies nicht annehmen, so bleibt die Frage offen, welche
Gemeinde dann aufzukommen hat, wenn eine geistes¬
kranke, gemeingefährliche Person einen Unterstützungs¬
wohnsitz noch nicht erworben hat und in der letzten
Zeit vor ihrer Inhaftirung im Lande herumgewandert
ist. Dazu kommt die weitere Frage: was berechtigt
die Gemeinde, welche die Unterbringung der gemein¬
gefährlichen Person bewirkt hat, diese Person, obwohl
sie sjch selbst nicht mehr gefährlich und dieserhalb
auf Grund ärztlichen Gutachtens nach einiger Zeit
entlassungsfähig geworden ist, trotzdem wegen ihrer
fortdauernden Gemeingefährlichkeit hinter Anstalts¬
mauern zu halten? Hier liegt eine so grosse, das
Wohl der Gemeinden stark berührende Lücke in der
Gesetzgebung vor, dass es dringend geboten erscheint,
mit thunlichster Beschleunigung für Abhilfe zu sorgen.
Wenn man mit Rücksicht auf den zur Zeit
schwebenden Process zwischen der Rheinprovinz und
der Königlichen Staatsregierung einwenden möchte,
es sei zunächst der Ausgang des Processes abzuwarten,
so dürfte es nicht ohne Bedeutung sein, auf den
Process kurz einzugehen: Vor diesem Processe hatte
sich der Provinzialausschuss der Rheinprovinz unterm
5. März 1904 auf Vortrag des Landeshauptmanns
einverstanden erklärt, dass ein seinerzeit der Provin¬
zial Heil- und Pflegeanstalt Grafenberg überwiesener
Geisteskranker, trotz des Widerspruchs des Ober¬
bürgermeisters in Düsseldorf und des Landraths in
Solingen, auf das Gutachten der Anstaltsärzte hin aus
der Irrenanstalt zu entlassen sei, weil es sich bei
seiner Festhaltung nur um eine im öffentlichen Sicher¬
heitsinteresse gebotene Maassgabe handele, und der
Kranke zu seinem eigenen Schutz gegen Gefahren
oder zu seiner Heilung der Anstaltspflege nicht be¬
dürfte. Diesen Beschluss hat der Oberpräsident der
Rheinprovinz unterm 5. März 1904 beanstandet, wo¬
gegen die Provinzialverwaltung unterm 15. März 1904
Klage beim Oberverwaltungsgericht eingelegt hat mit
dem Anträge, den Beanstandungsbeschluss aufzuheben.
Nach allbekannten Processgrundsätzen hat der Richter
nur über die Anträge zu entscheiden und kann hier¬
über nicht hinausgehen. Das Oberverwaltungsgericht
hat also in diesem Falle nur darüber zu entscheiden,
ob die Rheinprovinz berechtigt war, den Geistes¬
kranken zu entlassen, nicht aber darüber, wer, falls
derselbe nicht entlassen werden durfte, die Kosten der
Verwahrung zu tragen hat. Aber gerade auf diese
Frage kommt es, wie schon vorhin bemerkt, hier an.
Der Rheinprovinzprocess präjudicirt also durch¬
aus nicht dem vorliegenden Anträge. Mit Rück¬
sicht hierauf, da ferner dargelegt worden ist, dass
nach wiederholten höchstinstanzlichen Entscheidungen
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des Bundesamts für Heimathwesen jetzt als festgestellt
angesehen werden darf, dass in allen fraglichen Fällen
die öffentliche Armenpflege nicht einzutreten braucht,
und dass andererseits nach der angezogenen Ent¬
scheidung des Oberverwaltungsgerichts eine polizei¬
liche Aufgabe in Frage steht, so wird ein Abwarten
des Rheinprovinzprocesses überflüssig erscheinen, und
zwar um so mehr, als Gefahr im Verzüge liegt. Die¬
selbe ist gegeben durch den schon oben bezeichneten
Erlass des Ministers des Innern vom 13. Juli 1904;
hierin wird nämlich nach einer voraufgegangenen
Rechtsbelehrung, die mit der oben geschilderten In-
dikatur des Bundesamts für Heimathwesen schwerlich
in Einklang zu bringen sein dürfte, den Ortspolizei-r
behörden zur Pflicht gemacht, in vorkommenden
Fällen der in Rede stehenden Art mit Zwangsmitteln
gegen die Ortsarmenverbände vorzugehen. Die Poli¬
zeibehörden haben den Anweisungen des Ministers
zu entsprechen. Die Folge wird demnach sein, dass
jede Gemeinde in die Lage kommen kann, in Fällen
der vorliegenden Art einem Zwangsverfahren unter¬
worfen zu werden. Um solchen Zuständen vorzu¬
beugen, dürfte hinreichender Anlass gegeben sein,
von der Königlichen Staatsregierung zu verlangen,
dass sie zur Beseitigung der bestehenden Missstände
und Lücken in der Gesetzgebung recht bald ein ent¬
sprechendes Gesetz vorlegt, inhalts dessen die Grenzen
zwischen Armenpflege und Sicherheitspolizei auf dem
Gebiete des Irrenwesens näher festgesetzt werden.
Seitens eines Vertreters des Ministers des Innern
wurde folgende Erklärung abgegeben:
„Die Herren Ressortminister theilen mit den
Antragstellern das Bedauern über die unerfreulichen
Zustände, welche in den einzelnen Provinzen der
Monarchie in letzter Zeit auf dem Gebiete der öffent¬
lichen Fürsorge für Geisteskranke, insbesondere hin¬
sichtlich der Unterbringung von gemeingefährlichen
Irren in öffentlichen Anstalten zu Tage getreten sind.
Mit Besorgniss hat sie namentlich die Wahrnehmung
erfüllen müssen, dass vielfach Armen verbände an der
Hand und in unberechtigter Verallgemeinerung einer
bei der Rechtsprechung des Bundesamts für das
Heimathwesen hier und da zum Ausdruck ge¬
kommenen Unterscheidung zwischen den lediglich im
sicherheitspolizeilichen Interesse zum Schutze anderer
Personen und den in ihrem eignen gesundheitlichen
Interesse in einer Anstalt unterzubringenden Geistes¬
kranken das Bestreben gezeigt haben, in weiterem
Umfange die Fürsorge für die gemeingefährlichen
Geisteskranken von sich ab und auf andere Schultern
zu wälzen, was zur Folge hatte, dass die durch das
Gesetz über die ausserordentliche Armenpflege vom
11. Juli 1891 geschaffene Wohlthat der Kostenver-
theilung auf verschiedene Communalverbände für eine
grosse Anzahl von Fällen, in welchen an sich die
Voraussetzungen dieses Gesetzes gegeben waren, ausser
Anwendung blieb und dass an deren Stelle eine zum
Theil schwer drückende Belastung einzelner Gemeinden
mit mittelbaren Polizeikosten gemäss der Recht¬
sprechung des Oberverwaltungsgerichts eintreten musste.
Abweichend aber von der dem Anträge zu Grunde
liegenden Auffassung vermögen die betheiligten Herren
Minister nicht zu erkennen, dass die beregten Miss-
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stände auf das Vorhandensein einer Lücke in der
Gesetzgebung zurückzuführen sind, müssen vielmehr
den Grund dafür lediglich in einer irrthümlichen
Auslegung und in einer missverständlichen Anwendung
des bestehenden Rechts erblicken.
Sie werden, was die Beurtheilung der Rechtslage
hinsichtlich der Fürsorge für das öffentliche Irren¬
wesen anlangt, von folgenden Erwägungen geleitet:
Zunächst müssen sie an der von der Königlichen
Staatsregierung stets vertretenen Auffassung festhalten,
dass durch die Dotationsgesetze der 70er Jahre ohne
jede Einschränkung die bis dahin dem Staate ob¬
gelegenen Verpflichtungen auf diesem Gebiete auf
die Provinzen und die übrigen diesen gleichstehenden
höheren Communalverbände übergegangen sind. Sieht
man von den ausserhalb des Rahmens der Fürsorge
gelegenen, lediglich wissenschaftlichen und Unterrichts¬
zwecken dienenden psychiatrischen Kliniken bei den
höheren Lehranstalten, sowie von den Einrichtungen
für die Beobachtung und Behandlung von der Geistes¬
krankheit verdächtigen, noch im Strafvollzüge befind¬
lichen Strafgefangenen ab, so beschränkt sich die
Thätigkeit des Staates auf dem in Rede stehenden
Gebiete gegenwärtig ausschliesslich auf die Hand¬
habung der Aufsicht über die mit der Fürsorge für
Geisteskranke gesetzlich befassten Selbstverwaltungs¬
körper.
Der Auslegung der bezüglichen gesetzlichen Be¬
stimmungen, insbesondere des § 4 des Dotations¬
gesetzes vom 8. Juli 1875, wie sie der Berichterstatter
zum Ausdrucke gebracht hat, kann die Königliche
Staatsregierung nicht bei treten. Nach ihrer Auffassung
muss für die Auslegung dieses Gesetzes, wie auch
aus dem § 1 hervorgeht, als leitender Grundsatz
gelten, dass auf den der Selbstverwaltung überwiesenen
Gebieten die dem bisherigen Rechtszustande ent¬
sprechenden Aufgaben und Verbindlichkeiten vom
Staate auf die dotirten Verbände übergegangen sind.
Wendet man diesen Grundsatz, aus welchem heraus
sich auch die Verschiedenheit der Fassung in den
einzelnen Ziffern des § 4 des Gesetzes erklärt, auf die
hier in Frage stehende Materie an, so gestaltet sich
die durch das Gesetz geschaffene Rechtslage wie folgt:
Wie vor dem Inkrafttreten der Dotationsgesetze
der Staat entsprechend seinen allgemeinen Aufgaben
und in Gemässheit der besonderen Bestimmungen des
Allgemeinen Landrechts (vergl. § 344 II 18) für die
Unterbringung von Irren in öffentliche Anstalten Sorge
zu tragen hatte, für deren als nothwendig erkannte
Bewahrung und Heilung in einer geeigneten Anstalt
sich sonst keine Gelegenheit fand, so liegt diese Ver¬
pflichtung seit Erlass jener Gesetze den erwähnten
Communalverbänden ob. Diese Verpflichtung ist
eine uneingeschränkte und wird als solche in keiner
Weise dadurch beeinflusst, dass es sich in den Einzel¬
fällen um heilbare, einer Kur zuzuführende, in anderen
um unheilbare, lediglich der Bewahrung und Pflege
bedürftige Geisteskranke handelt; auch ist, was die
Verpflichtung anlangt, weder im Gesetze, noch in
langjähriger Praxis ein Unterschied zwischen den
gemeingefährlichen und nicht gemeingefährlichen und
ebensowenig zwischen solchen Geisteskranken gemacht
worden, welche mit den Strafgesetzen in Conflikt
gekommen, und solchen, welche als unbescholten zu
bezeichnen sind. Vielmehr bildet die Grundlage
für die Verpflichtung einzig und allein die Noth-
wendigkeit, der Bewahrung in einer Anstalt, um zu
verhüten, dass sie sich oder anderen Schaden zufügen
(§341 II 18 A. L. R.).
Nur nach einer Richtung hin ergiebt sich aus
dem Gesetze eine Verschiedenheit, nämlich hinsicht¬
lich der Kostenfrage, indem für die hilfsbedürftigen,
d. h. für diejenigen Irren, welche weder aus eigenen
Mitteln, noch unter Heranziehung alimentations- oder
erstattungspflichtiger dritter Personen die Kosten der
nothwendigen Anstaltspflege zu bestreiten in der Lage
sind, die Armenverbände in dem durch das Gesetz
geregelten Umfange einzutreten haben, während bei
nicht hilfsbedürftigen Irren diese Kosten entweder
aus ihrem eigenen Vermögeu oder aus dem Vermögen
der verpflichteten Dritten zu erstatten sind. Da es
sich, abgesehen von der geringen Anzahl solcher
vermögender Irren, welche aus irgend einem Grunde
in Privat anstalten kein Unterkommen finden, im
wesentlichen um die Versorgung von hilfsbedürftigen
Geisteskranken handelt, so hat sich auch vor dem
Inkrafttreten der Dotationsgesetze die staatliche Thätig¬
keit vornehmlich der Regelung der Fürsorge für die
hilfsbedürftigen Geisteskranken zugewendet und die
Gründung von öffentlichen Irrenanstalten seitens der
Landarmenverbände in der Regel im Anschlüsse an
die Landarmenhäuser vermittelt mit der Bestimmung,
sowohl den landarmen Irren, wie den von den Ge¬
meinden, später von den Ortsarmen verbänden unter¬
zubringenden Irren Aufnahme zum Zwecke der
Bewahrung, Kur und Pflege zu gewähren, wobei es
nicht ausgeschlossen war, dass diese Anstalten, ebenso
wie die auf Stiftungen beruhenden und staatlich ver¬
walteten, demnächst aber gemäss den Dotationsgesetzen
den Provinzen überwiesenen Irrenanstalten auch ver¬
mögenden Geisteskranken, soweit der Raum es
gestattete, gegen entsprechende Vergütung offen¬
standen. Die Reglements über die Einrichtung und
Verwaltung dieser Anstalten lassen keinen Zweifel
darüber, dass es sich dabei vor allem auch um die
Unterbringung von gemeingefährlichen Irren zur Ver¬
hütung der von deren Ausschreitungen für die All¬
gemeinheit und für die Kranken selbst zu befürch¬
tenden Gefahren handelte.
Nachdem diese Einrichtungen bezüglich der
mittellosen Geisteskranken durch das Gesetz vom
11. Juli 1891 eine abschliessende Regelung dahin
erfahren haben, dass den daselbst näher bezeichneten
Landarmen verbänden die Verpflichtung auferlegt
worden ist, allen hilfsbedürftigen Geisteskranken,
welche der Anstaltspflege bedürfen, Bewahrung, Kur
und Pflege in dazu geeigneten Anstalten zu gewähren,
— vorbehaltlich der Erstattung der Kosten in dem
von dem Gesetze bestimmten Umfange seitens der
dazu verpflichteten Communalverbände — ist auf
dem Gebiete der öffentlichen Fürsorge für das Irren¬
wesen nach allen Richtungen hin eine klare und
ausreichende Rechtslage geschaffen, welche einer
Ergänzung nicht bedürftig ist.
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Auch das Gesetz vom n. Juli 1891 macht keinen
Unterschied zwischen heilbaren und unheilbaren,
zwischen gemeingefährlichen und nichtgemeingefähr¬
lichen und ebensowenig zwischen beschoitenen und
unbescholtenen Geisteskranken, sondern stellt als
Voraussetzungen für seine Anwendbarkeit lediglich die
Hilfsbedürftigkeit und die Anstaltspflegebedürftigkeit
des Kranken hip. Dafür, dass gemeingefährliche Irre
oder irre Verbrecher nicht als Kranke zu betrachten
und dass für diese Categorien von Geisteskranken,
auch wenn die obigen Voraussetzungen zutreffen, die
Bestimmungen hinsichtlich der Verpflichtung der Land¬
armenverbände und der Ortsarmenverbände keine
Geltung haben sollen, findet sich im Gesetze nirgend¬
wo auch nur der geringste Anhalt. Wenn gleichwohl
neuerdings von verschiedenen Seiten der Versuch
gemacht worden ist, die in den vorerwähnten Gesetzen
zweifelsfrei niedergelegte Rechtslage zu verschieben
und die den Provinzen und Landarmenverbänden,
sowie den übrigen Communalverbänden überwiesenen
Verpflichtungen auf andere Schultern zu wälzen, so
kann diesem Vorgehen nur eine missveistündliche
Auffassung der gesetzlichen Bestimmungen zu Grunde
liegen. Allerdings findet diese Auffassung anscheinend
eine Unterstützung in einzelnen Entscheidungen des
Bundesamts für das Heimathwesen. Diese Unter¬
stützung ist aber im wesentlichen nur eine scheinbare,
jedenfalls wild dadurch die verallgemeinerte Anwen¬
dung gewisser Entscheidungsgründe nicht bedingt
Auch das Bundesamt hat es wiederholt ausgesprochen,
dass die Gemeingefährlichkeit eines hilfsbedürftigen
Geisteskranken das Eintreten der Armenpflege keines¬
wegs ausschliesst, dass ein solches Eintreten vielmehr
auch dann zu erfolgen habe, wenn neben dem eigenen
Interesse des Irren auch das öffenüiche Sicherheits¬
interesse bei der Beurtheilung der Anstaltspflege¬
bedürftigkeit konkurrire. Diese Konkurrenz wird aber
in allen Fällen vorliegen, in welchen die NothWendig¬
keit der Unterbringung eines Geisteskranken in eine
Anstalt aus dem Grunde sich ergeben hat, weil dem
Kranken gemeingefährliche Neigungen innewohnen.
Ein Geisteskranker, welchem die freie Bewegung in
der menschlichen Gesellschaft nicht gestattet werden
kann, weil er durch die bei ihm zu befürchtenden
Ausschreitungen anderen Personen gefährlich werden
kann und der aus diesem Grunde in einer Anstalt
bewahrt werden muss, bedarf dieser Bewahrung auch
in seinem eigenen Interesse, nicht nur deshalb, weil
er sich selbst ebenfalls gefährlich ist, sondern auch,
weil sein eigenes gesundheitliches Interesse es verbietet,
ihn der freien Bethätigung seiner auf Geisteskrankheit
beruhenden gefährlichen Neigungen in der Aussen w'elt
zu überlassen. Die oft versuchte Unterscheidung,
ob im einzelnen Falle das gesundheitliche Interesse
des Kranken oder die Rücksicht auf den Schutz
anderer Personen bei der Frage nach der Begründung
der Anstaltspflegebedürftigkeit überwiegt, muss schon
um deswillen verworfen werden, weil sie einer sicheren
Prüfung und Beurtheilung sich überhaupt entzieht
Was endlich die Frage der Hilfsbedürftigkeit bei der
Anwendung des Gesetzes vom 11. Juli 1891 anlangt,
so kann es auch nach der Rechtsprechung des
Bundesamts für das Heimathwesen keinem Zweife
unterliegen, dass sie in allen Fällen zu bejahen ist
in welchen der Geisteskranke weder aus eigenem
Vermögen, noch mit Hilfe verpflichteter Dritter die
Kosten der Anstaltspflege bestreiten kann.
Hiernach kann die bestehende Rechtslage dahin
zusammengefasst werden,, dass in allen Fällen, in
welchen Hilfsbedürftigkeit in dem vorstehend ange¬
gebenen Sinne vorliegt, die Armen verbände, wo dies
nicht der Fall ist, die Provinzen oder die ihnen
gleichstehenden Communalverbände für die Unter¬
bringung der gemeingefährlichen Geisteskranken zu
sorgen haben, mit der Maassgabe, dass die letzt¬
gedachte Verpflichtung der Provinzen pp. sich auf
die Fälle beschränkt, in welchen anderweitig die
ordnungsmässige Unterbringung nicht zu ermöglichen
ist, und mit der weiteren Maassgabe, dass, während
die Kosten der Fürsorge für die hilfsbedürftigen
Geisteskranken nach den Vorschriften des Gesetzes
vom 11. Juli 1891 aufzubringen sind, für die aus der
Unterbringung von zahlungsfähigen Kranken erwach¬
senden Kosten das Vermögen der Kranken bezw.
das ihrer alimentationspflichtigen Angehörigen haftbar
ist.
Wären die vorstehenden Gesichtspunkte bei Be¬
handlung der in der Praxis vorgekommenen Fälle
überall beachtet worden, und wären bei den Verhand¬
lungen darüber nicht der Natur der Sache fremde
Momente hineingetragen worden, so hätten die zur
Begründung des Antrags herangezogenen Vorgänge
wohl vermieden werden können und es hätten sich
die fraglichen Fälle in gleicher Weise, wie andere
armenrechtlichen Fälle abgespielt, ohne dass dadurch
die bemängelten, unerfreulichen Missstände hervor¬
gerufen worden wären.
Auf eine den Gesetzen entsprechende zukünftige
Behandlung dieser Angelegenheit seitens der Selbst¬
verwaltungsbehörden hinzuwirken, war der Zw r eck
mehrfacher Erlasse des Ministers des Innern aus
letzter Zeit und des weiteren einer Reihe von münd¬
lichen Besprechungen mit den maassgebenden Leitern
solcher Behörden. Es kann mit Befriedigung constatirt
werden, dass sich jetzt bereits ein beachtenswerther
Theil dieser leitenden Stellen der vorhin dargelegten
Auffassung angeschlossen hat und es muss in alle
betheiligten Stellen der Selbstverwaltung das Vertrauen
gesetzt werden, dass sie an der ordnungsmässigen
Regelung der Frage im Sinne der bestehenden Gesetze
mitzuwirken bereit sind. Inwieweit der Ausgang des
gegenwärtig bei dem Oberverwaltungsgericht anhängig
gemachten Rechtsstreites einen weiteren Beitrag zur
Klärung der Rechtslage liefern wird, kann dahin¬
gestellt bleiben. Jedenfalls vermögen die betheiligten
Herren Minister gegenwärtig ein Bedürfniss zu einer
anderweitigen Regelung der vorliegenden Materie im
Wege der Gesetzgebung nicht anzuerkennen. Sollte
eine solche sich dennoch als nothwendig oder zweck¬
mässig erweisen, so würde sie nach Auffassung der
Herren Minister nicht in der Richtung anzustreben
sein, dass nunmehr wieder ein Theil der öffentlichen
Fürsorge für das Irrenw-esen auf den Staat zu über¬
nehmen wäre, sondern dahin, dass die Kosten der
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Unterbringung von etwa nicht unter das Armengesetz
fallenden gemeingefährlichen Geisteskranken in gleicher
Weise, wie dies in dem Gesetze vom n. Juli 1891
vorgesehen ist, auf die daselbst bezeichneten Communal-
verbände vertheilt werden. Mit einer solchen Regelung
würden die bestehenden Meinungsverschiedenheiten
und die daraus sich ergebenden Schwierigkeiten am
einfachsten beseitigt werden.
Die bei der Plenarberathung über den Antrag
zur Sprache gebrachte Frage, ob die Unterbringung
bescholtener Geisteskranker — nämlich der irren
Verbrecher — in die von den Provinzen und Land¬
armenverbänden unterhaltenen Irrenanstalten ange¬
messen und zweckmässig sei, erscheint bei der vor¬
liegenden Erörterung von untergeordneter Bedeutung
und ist Sache der Ausführung, nicht der gesetzlichen
Regelung. Sind Sachverständige und Verwaltung
darüber einig, dass gewisse Categorien von Geistes¬
kranken, namentlich solcher mit gemeingefährlichen
Neigungen, der Unterbringung und Behandlung in
besonderen Abtheilungen oder in besonderen Anstalten
bedürfen, so werden die verpflichteten Verbände sich
dem nicht entziehen, Einrichtungen zu schaffen, welche
diesem Zwecke zu dienen geeignet sind.“
Hiergegen befürworteten verschiedene Commissions¬
mitglieder den Antrag, indem sie ausführten:
Es könne dahingestellt bleiben, ob den Provinzial¬
verbänden durch das Dotationsgesetz vom 8. Juli 1875
die Fürsorge für das gesammte Irrenwesen übertragen
worden sei; denn jedenfalls werde durch dieses
Gesetz nicht die Frage geregelt, wer die Kosten der
Verwahrung und Pflege der in die Irrenanstalten
eingebrachten Kranken zu tragen habe. Auf diese
Frage komme es zur Beurtheilung des vorliegenden
Antrages allein an. Durch das Urtheil des Bundes¬
amts für Heimathwesen vom 24. Oktober 1903 sei
nun zunächst festgestellt, dass die Landarmenverbände
auf Grund des Gesetzes vom u.Juli 1891 nicht für
die im Antrag bezeichneten Geisteskranken und Geistes¬
schwachen aufzukommen haben. Dass das Bundes¬
amt bei weiteren vorkommenden Fällen zu einer
anderen Auffassung kommen werde, sei um so weniger
anzunehmen, als dasselbe schon bei früherer Gelegen¬
heit im gleichen Sinne entschieden habe, z. B. am
8. December 1900 in Sachen Berlin wider Provinz
Brandenburg. Es sei unverständlich, dass die König¬
liche Staatsregierung, die bei anderen Gelegenheiten
sich gern auf die ihr günstigen Entscheidungen stütze,
jetzt die ihr unbequeme Judikatur des höchsten
Gerichtshofes in Armensachen ausser acht zu lassen
empfehle. Aus diesem Grunde müsse es auch be¬
dauert werden, dass der Minister des Innern in dem
Erlasse vom 13. Juli 1904 sich offenbar in Wider¬
spruch zu jener Judikatur gesetzt habe. Die Durch¬
führung dieses Erlasses bringe grosse Härten hervor;
denn nach ihm sollen die Polizeiverwaltungen die
Ortsarmenverbände zwangsweise zur Unterbringung
der in Rede stehenden Kranken anhalten, obwohl
diese Sache nach der Judikatur des Bundesamts die
Armenverbände nicht angehe. Wenn daher ein Orts¬
armenverband dem ihm angedrohten Zwange folgend
einen Geisteskranken, der nicht in seinem Bezirk den
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Unterstützungswohnsitz besitze, in einer Anstalt unter¬
bringe, so laufe er Gefahr, eine Erstattung seine:
Auslagen von dem Ortsarmen verbände des Unter¬
stützungswohnsitzes nicht erlangen zu können. Möchte
nun auch in solchen Fällen der Landarmen verband .
sich bereit finden, das Gesetz vom 11. Juli 1891 zur
Anwendung zu bringen, so bleibe doch immer ein
Drittel der Pflegekosten auf dem Armen verbände zu
Unrecht haften. Solche Aussicht werde zu mancherlei
Streitigkeiten zwischen den betheiligten Ortsarmen¬
verbänden führen, und es sei dringend gebotr-%
solchen Streitigkeiten vorzubeugen. Da eine zue- i-
entsprechende Aenderung des Unterstützungswohnsi; -
gesetzes nicht zu erhoffen sei, so müsse auf andere 1
Wege auf Abhilfe Bedacht genommen werden.
In ähnlichem Sinne sprachen sich noch andere
Commissionsmitglieder aus, wobei insbesondere au
auf das Urtheil des Oberverwaltungsgerichts vom
29. April 1904 hingewiesen wurde. Indem in diesem
Urtheil die erforderlichen Maassregeln, die auf Al - 1
Wendung der von gemeingefährlichen Geisteskranken
ausgehenden’ Gefahren abzielen, zu den Aufgaben 1
der Ortspolizei gerechnet seien, werde den Trägem j
der Ortspolizeikosten, d. h. den Gemeinden, eine Last t
zugemuthet, die die meisten zu tragen ausser Stande
seien. Es sei gerade das Getz vom 11. Juli iSftt
gegeben woiden, um die Gemeinden auf dem Gebiete
des Irrenwesens zu entlasten. ' Da nun aber nach
dem bundesamtlichen Urtheil die Wohlthat des Ge¬
setzes vom 11. Juli 1891 in den im Antrag bezeich* |
neten Fällen versage, so müsse jetzt auf anderer j
Wege das Ziel der Entlastung der Gemeinden erstreb: I
werden. Da übrigens die Gemeingefährlichkeit eines
geisteskranken Verbrechers sich in der Regel nicht
nur einem bestimmten Orte gegenüber, sondern auch
in Bezug auf eine umfangreiche Gegend geltend mache,
so erscheine es gerechtfertigt, dem Staate als Träger
der Landespolizei die Kosten der Fürsorge zu über¬
tragen, wie es denn auch schon jenes Urtheil de*
Oberverwaltungsgerichts für den Fall andeute. d;>"
nicht ortsangesessene Geisteskranke in Frage kämen.
Gegenüber dem Einwande eines Vertreters des
Ministers des Innern, dass die ganze Frage um des¬
willen keine grosse practische Bedeutung besitze, weil
einzelne Landarmenverbände trotz der Judikatur des
Bundesamts für Heimathwesen doch auf die in Rede
stehenden Fälle das Gesetz vom 11. Juli 1891 zur
Anwendung brächten, wurde von Commissionsmit-
gliedern geltend gemacht, dass die Vertreter der Land¬
armenverbände zu dieser Maassnahrae nur vorüber¬
gehend gegriffen hätten in der Absicht, die Orts¬
armenverbände nicht in Noth gerathen zu lassen.
Dieselben könnten jederzeit sich anders entschliessen
und die Judikatur des Bundesamts für Heimathwesen
zur Durchführung bringen; eine solche der gesetzlichen
Basis entbehrende und ungewisse Praxis könne aber
in einem geordneten Staatsleben nicht länger aufrecht
erhalten werden. Der vorliegende, im Interesse aller
Gemeinden liegende Antrag sei daher wohl zu em¬
pfehlen.
Die alsdann folgende Abstimmung ergab die ein¬
stimmige Annahme des Antrages.
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I 9 ° 5 -]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
489
Hierauf stellte der Berichterstatter zum Zwecke
der Durchführung des angenommenen Antrages fol¬
genden weiteren Antrag, wodurch jener Antrag von
selbst seine Erledigung findet:
Die Staatsregierung zu ersuchen, einen Gesetz¬
entwurf vorzulegen, wonach folgendes bestimmt wird:
Soweit die Landarmenverbände nicht gemäss dem
Gesetze vom 11. Juli 1891, betreffend die ausser¬
ordentliche Armenpflege, verpflichtet sind, die Kosten
der Unterbringung derjenigen mittellosen Geisteskranken
und schwachsinnigen Personen zu übernehmen, welche
nur oder vorwiegend behufs des Schutzes anderer
Personen gegen ihre Ausschreitungen der Unterbring¬
ung in Anstalten bedürfen, hat der Staat diese Kosten
auf die Staatskasse zu übernehmen.
Zur Begründung wurde ausgeführt: Wenngleich es
an sich wünschenswerth sei, dass der Staat, der am
besten in der Lage sei, alle geisteskranken Verbrecher
in zweckentsprechender Weise in Verwahrung zu
nehmen, die ganze diesbezügliche Fürsorge übernehme,
so gebiete doch die bisherige Entwicklung des Irren¬
wesens in Preussen sowie die bisherige ablehnende
Stellung der Königlichen Staatsregierung zu dem vor¬
erwähnten Anträge eine Beschränkung auf das unbe¬
dingt Nöthige. Dies ergebe sich aber aus den mehr¬
erwähnten bundesamtlichen Urtheilen, indem darin
ausgesprochen sei, dass die Armen verbände für die¬
jenigen mittellosen geisteskranken und schwachsinnigen
Personen, welche nur oder vorwiegend behufs des
Schutzes anderer Personen gegen ihre Ausschreitungen
der Unterbringung in Anstalten bedürfen, nicht zu
sorgen brauchen. Da man aber diese Fürsorge den
meistentheils ohnehin schwer belasteten Gemeinden
nicht zumuthen könne und ebensowenig der schon
über das Maass der Dotationsrenten hinaus in An¬
spruch genommenen Provinzial verbänden, so bleibe
nur übrig, auf den Staat zurückzugreifen.
Hiergegen wurde von einem Vertreter des Ministers
des Innern bemerkt, dass die Uebertragung der frag¬
lichen Kosten auf den Staat einen Bruch mit deip
hinsichtlich der Polizeikosten bestehenden System
bedeuten würde, weil es sich nicht um Landes-,
sondern um Ortspolizeikosten handle, als deren Träger
grundsätzlich die Gemeinden zu gelten haben.
Ein Commissar des Finanzministers gab hierzu
folgende Erklärung ab:
„Nach dem geltenden Rechte scheidet der Staat
für die Kostenfrage völlig aus. Denn entweder handelt
es sich um eine Unterbringung aus armenrechtlichen
Gründen; dann greift das Gesetz vom 11. Juli 1891
Platz, wonach die verschiedenen Communalverbände
zur gemeinsamen Kostentragung verpflichtet sind.
Oder die Internirung erfolgt aus sicherheitspolizei¬
lichen Gründen; dann hat die Gemeinde als Trägerin
der mittelbaren Polizeikosten die entstehenden Aus¬
gaben zu übernehmen. Dass es sich dabei, wie
behauptet, nicht um einen orts-, sondern um einen
landespolizeilichen Akt handle, dessen Kosten der
Staatskasse zur Last fallen, findet in den bisher vor¬
liegenden höchstinstanzlichen Entscheidungen keine
rechtliche Unterlage und muss daher bis auf weiteres
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um so mehr bestritten werden, als in dem durch das
Erkenntnis des Obervenvaltungsgerichts vom 29. April
1904 zur Entscheidung gebrachten Falle die Inter-
nirungskosten ausdrücklich als mittelbare Polizeikosten,
welche die Gemeinde zu tragen habe, anerkannt sind.
Zugestanden mag werden, dass in der Belastung
einer einzelnen Gemeinde mit diesen Kosten eine
gewisse Härte liegt; solche Härten werden aber auch
auf anderen polizeilichen Gebieten Vorkommen, ohne
dass der Staat sich verpflichtet hält, alsbald mit seinen
Mitteln einzugreifen. De lege ferenda wäre es jeden¬
falls höchst bedenklich und würde zu weitgehenden
Berufungen führen, wenn der Staat hier ortspolizeiliche
Lasten übernehmen wollte. Dazu kommt aber, dass
die Entscheidung der Frage, ob ein Irrer im Interesse
seiner Person oder im allgemeinen Interesse anstalts¬
pflegebedürftig ist, sich nach allgemeingültigen kon¬
kreten Merkmalen kaum treffen lässt und daher stets
mehr oder minder den Schein der Willkür an sich
tragen wird. Zwischen den verschiedenen Verpflich¬
teten würde deshalb nur nach sehr schwierigen
psychiatrischen Untersuchungen und durch unendliche
Prozesse im einzelnen Falle zum Austrag zu bringen
sein, wer ersatzpflichtig wäre, ob die armenrechtlich
verpflichteten Verbände nach dem erwähnten Gesetz
von 1891, oder der Staat als Träger der ihm über¬
wiesenen Polizeikosten. Soll daher aus Billigkeits¬
erwägungen der einzelnen Gemeinde die für sie zu
drückende Last abgenommen und auf breitere Schultern
gelegt werden, so würde zur Vermeidung jener Rechts¬
unsicherheit und der daraus folgenden Streitigkeiten
kaum etwas anderes übrig bleiben, als in beiden
Arten von Fällen die Kosten demselben Verpflichteten
aufzuerlegen, d. h. also nicht den Staat, sondern die
bereits nach dem Gesetz von 1891 aus armenrecht¬
lichen Gründen verpflichteten Verbände an Stelle der
einzelnen Gemeinde treten zu lassen.“
Dieser Auffassung traten mehrere Commissions¬
mitglieder entgegen, indem sie darauf hinwiesen, dass
es sich bei der vorliegenden Frage um Schutz vor
gemeingefährlichen Leuten für das ganze Land, mithin
um eine landespolizeiliche Angelegenheit, handle. In
diesem Sinne sei auch das Urthcil des Oberveiwaltungs-
gerichts vom 29. April 1904, wenigstens in Bezug
auf die nicht ortsangehörigen Geisteskranken, zu ver¬
stehen.
Andere Commissionsmitglieder meinten, dass selbst
dann, wenn es sich hier um eine ortspolizeiliche An¬
gelegenheit handle, die Uebertragung der bezüglichen
Aufgabe auf den Staat gerechtfertigt sei, weil ihre
Durchführung für die Gemeinden eine zu grosse Härte
bilden werde. Einig war die Commission darin, dass
cs sich nicht empfehle, über den Rahmen des zweiten
Antrages hinauszugehen, und die ganze Fürsorge für
verbrecherische Irre bezw\ geisteskranke Verbrecher
einzubeziehen.
Auf den Einwand der Vertreter der Königlichen
Staatsregierung, dass es in der Praxis nicht möglich
sei, die Geisteskranken, welche lediglich der Aussen -
welt Gefahren mit sich brächten, von denjenigen zu
unterscheiden, die sich selbst gefährlich würden, und
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490
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 40 .
dass deshalb die gesetzliche Festlegung solcher Unter¬
scheidung den Anlass zu vielen Streitigkeiten geben
würde, zumal nicht feststehe, wer über die Unter¬
scheidung entscheiden könne und solle, wurde von
Commissionsmitgliedern entgegnet, dass dieses Be¬
denken deshalb keine Berücksichtigung verdiene, weil
schon jetzt — wie die oben wiederholt angezogenen
Urtheile des Bundesamts für Heimathwesen ergeben
— in armenrechtlichen Procesßen die nöthige Auf¬
klärung ohne grosse Schwierigkeiten durch Anhörung
von sachverständigen Aerzten gewonnen worden sei.
Die Abstimmung ergab schliesslich die einstimmige
Annahme des zweiten Antrags.
Der Antrag der Commission lautet demnach:
Das Haus der Abgeordneten wolle beschliessen:
die Königliche Staatsregierung zu ersuchen, einen
Gesetzentwurf vorzulegen, wonach folgendes bestimmt
wird: Soweit die Landarmen verbände nicht gemäss
dem Gesetze vom n. Juli 1891, betreffend die ausser¬
ordentliche Armenpflege, verpflichtet sind, die Kosten
der Unterbringung derjenigen mittellosen Geistes¬
kranken und schwachsinnigen Personen zu über¬
nehmen, welche nur oder vorwiegend behufs des
Schutzes anderer Personen gegen ihie Ausschreitungen
der Unterbringung in Anstalten bedürfen, hat der
Staat diese Kosten auf die Staatskasse zu übernehmen.
Berlin, den 23. Januar 1905.
Die verstärkte Commission für das
G emeinde wesen:
Hausmann, Vorsitzender. Schmedding (Münster), Be¬
richterstatter. Albers. Brütt. v L'ülow (Homburg).
Fischbeck. Dr. Hauptmann. v. Heyking. Klausener.
Dr. Krüger (Marienburg). Meyenschein. Pless. Reck.
Reinecke (Sagan). Schmidt (Warburg). Schulze-Pelkum.
Stackmann (Wetzlar). Vorster. Westermann. Wilckens.
Wolff (Biebrich).
(Fortsetzung folgt.)
— Aus russischen Anstaltsberichten. Dem
Verein zum Austausch der Anstaltsberichte sind mehrere
grössere russische Anstalten beigetreten. Von den ein¬
gesandten Jahresberichten für 1903 sucht der eine
(Anstalt Pokrowskoje; Dir. Jakowenko) deutschen
Lesern das Verständniss zu erleichtern, indem vielen
Tabellen Bezeichnungen in deutscher Sprache beigefügt
sind. Aus den umfassenden Berichten können an
dieser Stelle nur einige Fragen berücksichtigt werden.
Die Irrenfürsorge in Russland leidet vielfach an
zu starker Centralisation, welche den gewaltigen Ent¬
fernungen nicht Rechnung trägt. Wir erfahren, dass
der Pirogow-Co’ngress der russischen Aerzte von 1904,
als er das Thema der Irrenfürsorge in Russland ver¬
handelte, zu dem Schluss kam, dass eine möglichst
weitgehende Decentralisation der Anstaltsfürsorge pp.
die wichtigste Aufgabe für den Fortschritt sei, die
Selbstverwaltung der Landschaften (Semstwo) und die
Städte hätten diese Aufgabe zu lösen.
Das Verhältniss der Anzahl der Aerzte zur Kranken¬
zahl ist fast durchweg ein sehr günstiges; eine Tabelle,
welche der Odessaet Bericht (nach Angabe für 1902)
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zusammenstellt, giebt dies wieder.*) Es kamen (den
Director nicht mit eingerechnet) in Pokrowskuje
(Moskauer Semstwoanstalt) auf 1 Arzt 50 Kranke,
in St. Petersburg (Panteleimon) . . . 1 : 70
in Ssaratow. 1: 80
in Odessa . 1 : 84
in Pensa. . 1: 00
in Pskow. 1 : 95
in Charkow und Nischni-Nowgorod .... I : 96
in Smolensk . 1:109
in Kursk.... 1 : r ro
in Woronesch. . 1 : 1 So
in Nowgorod. 1:216
in Tschernigow. 1:230
Die Verhältnisszahl bezüglich des Pflegepersonals
schwankte zwischen 1:33 Kr. (Pokrowskoje) und
1 : 7,5 Kr. (Nowgorod). Bezüglich der Kranken¬
behandlung finden wir denselben Fragen die Auf¬
merksamkeit zugewendet, wie bei uns.
In Ufa sind die* Versuche, acute Psychosen, bei
welchen eine Intoxication angenommen wurde, syste¬
matisch mit Infusionen von physiol. Kochsalzlösung
zu behandeln, wieder aufgegeben worden, da höch¬
stens symptomatische Erfolge zu bemerken waren,
ein Einfluss auf den weiteren Krankheitsverlauf aber
ausblieb. Zur ausgedehnten Anwendung von Dauer¬
bädern wurden dort die nothwendigen baulichen Ver¬
änderungen getroffen, feuchte Einpackungen werden
nur ausnahmsweise bei hochgradigen Erregungszu¬
ständen angewendet.
Isolirungen sind in Ufa seit 1902 nicht mehr
angewendet worden, die Zellen wurden zu gewöhn¬
lichen Krankenzimmern mit grossen Fenstern umgebaut.
In der (NB. überfüllten) Anstalt zu Odessa haben
Isolirungen in einzelnen Fällen stattgefunden, der
Berichterstatter (Dr. Worotynski) erklärt sie auch für
gewisse Fälle für ein nützliches therapeutisches Mittel,
wobei er mit Hinweis auf die Berichte von Pokrows¬
koje, Kostroma, Ssamara, Kursk, St. Petersburg hervor¬
hebt, dass er in dieser Anschauung nicht allein steht.
Er führt folgenden Ausspruch des Direktor Jakowenko
an: „Eine richtig verstandene Isolirung d. h. die Ge¬
währung von Stille, Ruhe, Absonderung für den
Kranken bei sorgfältiger Aufsicht, erscheint im höch¬
sten Grade wünschenswerth für sehr zahlreiche Fälle“.
Hier scheint mir doch wieder zwischen Einschliessung
und Separirung nicht mit genügender Schärfe unter¬
schieden zu werden, wie auch bei einer vorangehenden
Bemerkung Worotynski’s, dass viele seiner Kranken
selbst um Versetzung in ein Einzelzimmer baten, ,,utn
sie vom Lärm und der unangenehmen Nachbarschaft
zu befreien“. Zu einem unbefangenen Urtheil in der
Frage der Isolirung wird man erst kommen, wenn
längere Perioden von Verzicht auf Isolirung mit
solchen, in welchem isolirt wurde, an derselben Anstalt
verglichen werden können. Einen Versuch mit
zeitweiligem Verzicht auf die Isolirungen sollten daher
noch mehr Anstalten machen. Uebrigens ist auch
von Deiters auf die Nothwendigkeit einer derartigen
*) Aufnahmeziffern sind der Tabelle nicht beigegeben
Prokowscoje batte 1902 = 457, Odessa 1902=417 Zugänge.
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* 905 -]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
49 1
vergleichsweise!! Entscheidung der Frage hingewiesen
worden (vergl. diese Wochenschrift 1903, S. 132)*).
Die Blutserumbehandlung der Epilepsie nach Ceni
wurde von Dr. Ssokalski in Ufa an einer Reihe von
Kranken versucht. Das Serum wurde durch Aderlass
von Epileptikern gewonnen, in deren Blut zur Zeit
die Anwesenheit von Antitoxinen vermuthet werden
durfte (Uebergang eines Dämmerzustandes in Klarheit,
eben überwundener Status epilepticus), bei den
Injectionen wurde bis zu 200 ccm Serum eingeführt.
Ein Erfolg war weder auf den Gesammtzustand, noch
auf das psychische Verhalten, noch auf die Häufigkeit
der Krampfanfälle bei den Behandelten zu ver¬
zeichnen. Mercklin.
*) In seinem dankenswerten kritischen Bericht Uber die
Fortschritte des Irrenwesens (diese Wochenschrift 1905) hat
Deiters der Auschauung Ausdruck gegeben (S. 428), dass wir
hier in Treptow bezüglich der Vermeidung der Isolirung bei
Verbrechern wohl zu weit gingen. Pro domo muss ich anfiihren,
dass, was bei unserem bisherigen Bestände an freierem Ver¬
fahren gewagt werden konnte, nicht geschah, „nur um bei Ver¬
brechern die Isolirung zu vermeiden“, sondern weil der Ein¬
druck unabweislich ^ar, dass wir bei den bisher beobachteten
Einzelfäilen so doch verhältnissmässig besser fuhren und
schlimmere Vorkommnisse umgingen. Dass auch wir uns
bestimmte Grenzen gesetzt haben und übermenschliches weder
unserem Personal noch der Umgebung der zu verbrecherischen
Ausfällen neigenden Kranken zumuthen werden, ist selbstver¬
ständlich. Ich habe das schon am Schlüsse meines Vortrages
in Jena ausgeführt und darf auf das dort Gesagte verweisen,
(s. diese Wochenschrift Jahrgang V, Seite 81.)
Referate.
— R. S. Stewart: The Mental and Moral
Effects of the South African War 1899 bis
1902 on the British People. (Journal of
Mental Science 1904, Jan.)
Stewart behauptet einen in die Augen springenden
Einfluss des Burenkrieges auf den Sittenzustand der
in Europa lebenden Briten. Drei Perioden des
Krieges werden auseinander gehalten. Die erste
umfasst die letzten drei Monate des Jahres 1899,
in welcher die Engländer im Nachtheil waren, in
der zweiten, in den darauf folgenden vier Monaten,
wird der Feind allmählich bezwungen, während die
dritte Periode, die zwei letzten Jahre des Krieges,
in denen die Buren keinen organischen Widerstand
mehr leisteten, einschliesst.
Die erste Periode, die Zeit des Unglücks, zeichnet
sich durch das Hervortreten von Selbstlosigkeit und
Opferwilligkeit in England aus, die sittliche Führung
ist im Allgemeinen deutlich gehoben. In der Freude
über die errungenen Vortheile lässt aber schon in
der zweiten Periode die Opferwilligkeit nach. Eine
Verschlechterung der sittlichen Führung für die Zeit
der beiden letzten Perioden ist die Folge davon.
Stewart stützt sich auf statistische Erhebungen
für die Zeit des Krieges über Verbrechen, Geistes¬
krankheiten, Heirathen, Conceptionen und uneheliche
Geburten.
Die Zahl der im Jahre 1899 in England ver¬
übten schweren Verbrechen ist an und für sich be-
merkenswerth niedrig. Auffallenderweise aber ist die
Abnahme der Verbrechen in den letzten drei Mo¬
naten, und hier wiederum im allerletzten Monate —
„in jenen düsteren Decembertagen“ — sehr deutlich.
Diese Abnahme erreicht in den ersten 9 Monaten
1899 eine Höhe bis zu 6,9 % im Vergleich mit dem
vorhergehenden Jahre, steigt für die letzten 3 Monate
des Jahres bis zu 10% und für den December allein
bis zu 17,8%. In den ersten drei Vierteljahren
1900 hält die Abnahme der Verbrechen noch an,
im letzten Vierteljahr zeigt sich eine Zunahme von
8,1%, für das ganze Jahr eine Zunahme von 2,5%.
Wales zeigt 1899 eine Abnahme von 10,2% und
eine Zunahme von 6,3% im folgendem Jahre.
Im Gegensätze hierzu weist Schottland im letzten
Vierteljahre von 1899 eine Zunahme von 5,4% bei
einer Abnahme von 0,9 in den ersten 3 A Jahren
auf. Die Zunahme beträgt hier 1900 bis zu 7,6%
und zwar 8,3% für die ersten drei Vierteljahre, 5,4%
im letzten Vierteljahre.
In Irland erreicht die Abnahme der Verbrechen
1899 8,4% (8,5 für die ersten drei Vierteljahre,
7,3 für das letzte Vierteljahr, 23,5 für December
allein). Im folgenden Jahre erreicht die Abnahme
hier nur 1,6%, für den December allein berechnet
findet sich eine Zunahme von 19,3%, für 1901 eine
Zunahme um 0,3%. Das Gesamtergebniss erfährt
einige Modifikationen bei einer Einteilung in Ver¬
brechen, die mit Ueberlegung begangen wurden, (vor¬
nehmlich Eigenth ums verbrechen) und der im Affekt
begangenen Verbrechen (Gewalttätigkeiten, Tot¬
schlag, Sittlichkeitsverbrechen, Selbstmord). Eigen-
thumsverbrechen zeigen in England (im engeren
Sinne) 1899 eine Abnahme von 8,4% (7,3 für die
ersten drei Vierteljahre; 10,1 für das letzte Viertel¬
jahr; 17,1 für den December allein), 1900 dagegen
eine Zunahme um 3,3% (1,3% für die ersten drei
Vierteljahre; 9,7 für das letzte Vierteljahr; 25,8 für
December allein). Auch in Wales findet eine Ab¬
nahme bis ii,i°/o statt für 1899, dagegen eine Zu¬
nahme dieser Verbrechen bis zu 7,5% für 1900.
In Irland beträgt die Abnahme 1899 bis 8,7%
(23% für Dezember allein) gegen eine Zunahme
von 0,4% für 1900 und 0,5% für 1901. In
Schottland hingegen zeigt sich schon 1899 eine
Zunahme von 2,6, die 1900 auf 10,6% steigt.
Auch die Affektverbrechen zeigen die gleiche
Erscheinung; eine allgemeine Abnahme im Jahre
1899, die sich im letzten Vierteljahr auffallend stei¬
gert und im December ihren Höhepunkt erreicht,
wird im Jahre 1900 allmählich geringer und endet
im gleichem Jahre mit einer Zunahme dieser Ver¬
brechen. Die Zahl der Morde fällt 1899 um 16%,
nimmt 1900 um 2,1% zu. Darunter zeigen die
Morde an Neugeborenen einen Abfall von 37,7%
für 1899 und eine Zunahme von 6,1% für 1900.
Sittlichkeitsverbrechen nehmen in Eng¬
land (im engeren Sinne) um 4,3% ab (0,7 % be¬
trägt die Abnahme in den ersten drei Vierteljahren
16,4% für das letzte Vierteljahr, 24,7% für den
December allein). Auch Irland zeigt für diese Ver¬
brechen eine Abnahme von 5,6% für 1899 (3,9%
für die ersten 9 Monate, 11,1 für die letzten, 37,5
für den December). Im Gegensätze hierzu zeigen
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr |
Schottland und Wales eine Zunahme für 1899 um
17,4% bezw, 4,5%. Dedenkt man aber, dass die
Zunahme dieser Verbrechen in Schottland im Oc-
tober 56,2, dagegen für die letzten zwei Monate nur
20% zeigt, so sieht man hieraus, dass doch auch in
diesen Zahlen ein ähnlicher Einfluss wie in England
und Irland zum Ausdrucke kommt. Dieser Einfluss
wird aber 1900 allmählich abgeschwächt, die Ab¬
nahme dieser Verbrechen fällt in den ersten 9 Mo¬
naten von 1900 und weicht einer Zunahme in den
letzten drei Monaten wenigstens für England und
Schottland (1,4 bezw. 35,2% Zunahme gegen das
Fallen einer Abnahme von 26,3 % auf 8,3 % in Irland).
Die Selbstmorde wiesen eine Abnahme auf
(2,4% für England und Wales, 6,5 für Schottland,
11,7 für Irland), diese Abnahme hält 1900 in Schott¬
land und Irland weiter an, während in England und
Wales sich eine Zunahme bis zu 1,8 bezw. 5,5 be¬
merkbar macht.
Auch die S elbstmordversuche nehmen 1899
ab und dies wieder besonders in den letzten drei
Monaten (bis 4,0%). Diese Abnahme steigert sich
noch 1900 bis zu 15,1% in den ersten neun Monaten,
fällt auf 12,1 in den letzten drei Monaten und auf
3,4% im December. 1901 aber zeigt sich eine Zu¬
nahme der Selbstmordversuche von 17,8%.
In ähnlicher Weise lassen die statistischen Zahlen
für die unbedeutenden Vergehen und Trunkenheit
eine Abnahme für 1900 und eine Zunahme für
1901 erkennen. Auch die Erklärung für diese That-
sache findet St. in einem sittlich bessernden Einflüsse
des Krieges, der sich anfangs zeigt, später aber allmäh¬
lich abnimmt und zuletzt in das Gegentheil umschlägt.
Die Geisteskrankheiten zeigen eine stetige Zu¬
nahme im Königreiche in den Jahren 1898—1902
(nach Erstaufnahmen in Anstalten auf je 100000
Einwohner berechnet 1898: 51,7, 1899: 52,2, 1900:
52,6, igoi: 55,4, 1902: 60, 2.)
(Gleiche Schwankungen wie bei den Verbrechen
finden sich also nicht. Ref.)
Die Zahl der Heirathen nimmt in England im
Dezember 1899 ab, erhebt sich auch 1900 nur
wenig und erreicht eine absolute Zunahme erst im
Jahre 1901 wieder.
Die Zahl der Conceptionen nimmt 1899 nament¬
lich in den letzten drei Monaten ab, was sich be¬
sonders in England und Schottland bemerkbar macht,
wo 1900 die bisher geringste Anzahl von Geburten
registrirt werden. Die Zahl der Conceptionen stei¬
gert sich dann wieder in den Jahren 1900 und 1901.
Die Zahl der unehelichen Geburten, die für 1899
eine Abnahme zeigt, weisst eine Zunahme in den
folgenden Jahren auf.
Stewart fasst am Schlüsse dahin zusammen:
Die Widerstandsfähigkeit und die sittliche Halt¬
ung nehmen unter dem Einflüsse des Krieges sicht¬
lich zu. Dieser gute Einfluss verliert sich jedoch
allmählich so sehr, dass gegen Ende des Krieges der
sittliche Stand des Volkes ein tieferer ist, als zu Beginn.
In einer Diskussion über die Resultate Steward
bezweifelt Dr. Jones, ob der gegenwärtige Zeitpum;
schon ein endgültiges Urtheil über den Einfluss
Krieges gestatte. Alle grossen öffentlichen Frager,
und Aufregungen pflegen ihren Ausdruck in
Haltung des Widerstandsünfähigen im Lande m
finden. Nicht der Krieg allein als solcher, sonder:
auch die grosse plötzlich geforderte Kriegsuinfa^
hatte eine Aenderung der Verhältnisse im Land
geschaffen. Nach Jones’ Ansicht wirkten mehre-
Ursachen bei dem Zustandekommen des Wechsel'
im sittlichen Verhalten der Bevölkerung mit. J> no
ist geneigt, der Witterung einen Einfluss auf d>
Statistik der Selbstmorde zuzuschreiben. Vor allen
sieht Jones in dem „Pro Boerism“ mit seinen die
Patrioten verletzenden Begünstigungen der Buren einer
mächtigen Faktor zurStärkungdesnationalen Rückgrates
Dr. Andriezen ist der Ansicht, dass jeder Krie;
die verbrecherischen Instinkte der Menschen, die
durch die Civilisation nur gedämpft seien, ent¬
fessele, und dass auch dieser Krieg bezüglich der
sittlichen Verhältnisse im Lande nur eine Verschlech¬
terung gebracht habe. Den grössten Einfluss übte
nicht der Krieg als solcher, sondern die Erschütte¬
rung der Vermögensverhältnisse und die Stockung iin
Handel, die er mit sich brachte.
Im Schlusswort hält Stewart Dr. Jones entgegen,
dass in den letzten Monaten des Jahres 1899, *>-
wie in den ersten des Jahres 1900 ausser den
Kriege keine andere öffentliche Frage das Volk ; r
Spannung erhielt und dass daher wohl der Kric
allein für die oben ausgeführten Wirkungen verant¬
wortlich zu machen sei. Ihm sei es darum zu thur
gewesen, zu zeigen, dass die eigenartige Erschütter¬
ung, welche das Reich durch den Ausbruch cie>
Krieges erlitt, eine Abnahme von Geisteskrankheit
(? vergl. oben, Ref.) und Verbrechen herbeigeführt
habe. Die Liste der Selbstmorde in den grossen
Städten der Monarchie, welche die Times wöchent¬
lich bringt, würde Dr. Jones belehren, dass unter
dem Einflüsse ungünstiger Witterung keine Zunahme
der Selbstmorde erfolge.
Stewart schliesst mit der Bemerkung, dass Präsi¬
dent Krüger ein Standbild in der Westminster Abtei
verdiene; denn er sei es gewesen, der den imperia¬
listischen Gedanken im englischen Volke wachge¬
rufen habe. H orstmann-Treptow a. Rega.
Personalnachrichten.
— Uchtspringe: Dem hiesigen Assistenzarzt
Dr. Holthausen ist die 4. Arztstelle in Tapiau
übertragen worden.
Dieser Nummer liegen zwei Prospekte der Firmen
Camera-Grossvertrieb „Union“
Hugo Stockig & Co., Dresden-A., Fürstenstr. 43
und Chemische Werke F r i t z F r i e d 1 ä n d e r G. m. b. H.
Berlin W. 64, Unter den Linden 8 bei, welche wir
geneigter Beachtung empfehlen.
Für den redactionellen Thetl verantwortlich: Oberarzt Dr. J. Bresler, Lublinitr (Schlesien).
Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inscratcnannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle 3. S
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Redigirt von
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Nr. 50. xi- Marz . 1905.
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Inserate werden für die 3 spaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Rresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten.
Analytische Untersuchungen der Symptome und Assoziationen
eines Falles von Hysterie (Lina H.)
Von Dr. Franz Riklin , bisher 1. Assistenzarzt am Btirghölzli, z. Z. Sekundararzt an der Züricher Pflegeanstalt Rheinau.
(Fortsetzung.)
Ueber angebl. „Drüsen“ vor dem Ohr klagte
Pat. einmal, als sie gerade ihre Ohrenschmerzen hatte
und eine Pflegerin Nasenbluten bekam. Es waren
unbewusste Erinnerungen an Fälle aus der Erzieh¬
ungsanstalt, wo sie einen Schlag ins Gesicht und da¬
her Nasenbluten bekam, und an eine Ohrfeige,
die ihr der Hausvater gegeben hatte; sie habe nach
jenem Schlag oft Nasenbluten gehabt und man habe
gemeint, sie bekomme die Auszehrung. Die Nach¬
ahmung tuberkulöser Symptome steht wohl im
Zusammenhang damit, dass ihre Geschwister z. Th.
an Tuberkulose litten — ein Bruder an Drüsen und
Abscessen, eine Schwester an Knochen- und Lungen¬
tuberkulose. In der Erziehungsanstalt waren wahr¬
scheinlich viele tuberkulöse Kinder. Wahrscheinlich
ist der Zusammenhang der „Drüsenschmerzen“ am
Ohr noch nicht genügend analysirt.
Im Ganzen folgen die Schmerzen einer ziemlich
durchsichtigen Genealogie Mit dem ersten sexu¬
ellen Attentat des Vetters verband sich Erbrechen,
das Symbol psychischen Ekels, und Herzklopfen.
Zum Theil differencirte sich das Erbrechen in Wider¬
willen und Erbrechen beim Genuss von M i 1 c h und
Fleisch, die Veranlassungen dazu haben wir schon
besprochen. Der erste Missbrauch durch den Schwager
entwickelte neben dem Erbrechen hauptsächlich das
Symptom des Herzklopfens und der Dyspnoe, die
um jene Zeit nach den Angaben der Mutter geradezu
als Anfälle, ohne Zuckungen und ohne völligen
Bewusstseins Verlust, auftraten. Das Erbrechen er¬
hielt in der Folge einen Zuwachs an Determinanten
(Exhibitionen, Abortversuche u. s. f.).
An diese Gruppe von M a ge n sy in p t o m e n
ketteten sich neue. An das Herzklopfen gliederten
sich die pektoralen Symptome, mit den sexuellen
Ursachen zusammenhängend. Die Symptome brei¬
teten sich allmählich aus auf andere allgemeinere
Ursachen. Die pektoralen Schmerzen und das
Weinen wegen Prügelns (im Zusammenhang mit den
früheren sexuellen Traumen) treten schliesslich auf bei
jedem Aerger. Die Schmerzen haben eine gewisse
Neigung, zu Stereotypien oder Tics zu werden (vgl.
auch Breuer und Freud, loco cit. p. 81). An das
Erbrechen gliedert sich auf der andern Seite eine
Reihe von masturbatorischen Symptomengruppen,
je nach dem Vorstellungsinhalt beim Masturbiren.
Bezeichnenderweise macht der erste Geliebte keine
Symptome. Von den Abortversuchen, von sexuellem
Verkehr und den Geburten aus werden die Genital-
symptome determinirt, ferner die Astasie und
Abasie, die dritte Geburt weckt den Ohrschmerz-
komplex u. s. f. ,
Mit Vorliebe lokalisiren sich neue Symptome um
alte herum, Schmerzgebiet gliedert sich an Schmerz¬
gebiet und täuscht eine Einheit von Symptomen vor.
Die Schmerzen am Arm und an den äussern
Genitalien haben einen gleichartigen Entstehungs¬
modus (Quetschen, Kneifen nach Masturbation); sie
sind darin symbolisch, dass sie Wuthäusserungen
sind, nicht nur Metamorphosen einer primitiven Art
von Wuthreaction, dem Beissen. (Pat. wollte sich
zuerst in den Arm beissen, hatte aber keine Zähne.)
Das Nichthören trat als Reaction auf verweigerte
Wünsche auf, wenn der Ohrkomplex schon vor¬
handen war. Dieses Anlagcrungssymptom stellt sich
also nur in bestimmten Fällen ein und wird sonst
ersetzt durch das Acrgersymptom: Herzkrämpfe.
Solche Anlagerungssymptome können also
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494 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 50.
durch andere ersetzt werden, je nach den vorherr¬
schenden Hauptsymptomen, sndass sich dem Ober¬
bewusstsein ein möglichst einheitlicher Sympt«»men¬
komplex vorstellt.
Die Unterleibs- und Genitalsym ptomc
haben wie die Astasie — Abasie ihre Haupt-
wurzel in den Schwangerschaften, A b o r t -
versuchen und Geburten der Pat. Sie grup-
piren sich hauptsächlich um die Menses und scheinen
ganz natürlich durch die Menstruation bedingt zu
sein. Die Menstruation wirkt als Erregerin von
Erinnerungen an diese Traumata im Unbewussten.
Oberbewusst werden dann mehr Schmerzen wahr¬
genommen. Auch die masturbatorischen Symptome
gruppiren sich sekundär hauptsächlich um die Menses
— das Husten etc. Z. Th. sind es direkte Anlager¬
ungen an den Genitalkomplex (Schmerzen in den
äussern Genitalien).
Die Menses führen also ziemlich regelmässig
eine allgemeine Exacerbation der Beschwerden
herbei, indem dann sozusagen der ganze traumatisch
wirkende zusammengesetzte Vorstellungskornplex an¬
geregt und thätig wird, und im Oberbewusstsein
Symptome verursacht.
Eine andere Häufung der Beschwerden zeigte
sich gewöhnlich im Frühjahr, bedingt durch Erinner¬
ungen an Schwangerschaften, Aborte (ins Gras sitzen!)
den Aufenthalt im Mädchenasyl etc., Dinge, die im
Frühjahr stattfanden.
Solchen hysterischen Gedenkfeiern begegnet man
häufig. Eine unserer Pat. beging allmonatlich den
Todestag ihres Geliebten, den siebenten, mit einem
Anfall oder Dämmerzustand. Breuer und Freud*)
geben sehr schöne Beispiele von „nachholendem
Abreagiren“, das sich in ähnlicher Weise an be¬
stimmte Erinnerungstage knüpft.
Der Grad der Abspaltung zwischen körper¬
lichen Symptomen und deren ursächlichen, durch
irgend welchen Anlass angeregten Vorstellungskom¬
plexen ist verschieden.
Oft geht die Trennung sehr weit, so dass Pat.
oberbewusst gar keine Kenntniss von der Veranlass¬
ung der Symptome hat; das ist der häufigste Fall,
z. B. beim Husten, bei dem Fall im Conccrtsaal und
bei vielen andern.
Manchmal ist das Symptom von der Stirn in 11 ng
begleitet, welche mit dem ursächlichen Vorstellungs-
komplcx verbunden ist (wenn Pat. die graue Jacke
trug, war sie z. B. traurig gestimmt und musste etwa
*) loco dt. p. 142—143.
an ihre Gesc hichte denken, ohne indess zu wissen,
dass die Jacke diese Stimmung auslöste).
Später gelang es, dass Pat. auch im Wachen
gewisse Zusammenhänge fand, allerdings meist nur
d^e oberflächlichen.
Sehr auffallend war das Verhalten der Pat., wenn
nach theilweiser Analyse ein Symptom sich wieder
einstellte; dann wusste Pat. selten den Grund anzu¬
geben: gewöhnlich benahm sie sich, wie wenn sie
von der Analyse nichts wüsste. Z. B. verlangte sie,
während die Analyse der Herzsymptome noch nicht
vollständig war, mehrmals, man möge doch ihr Herz
untersuchen, sie müsse doch einen Herzfehler haben.
Sie verlangte auch wieder Spülungen wegen des
Fluors und behauptete, wenn sie solche hätte machen
dürfen, so hätte sie keine Leibschmerzen — lange
nachdem der Zusammenhang von Fluor und Mastur¬
bation bekannt war; ähnlich verhält es sich mit an¬
dern masturbatorischen Symptomen. Einmal — nach
weitgediehe 1 er Analyse — gab sie, im Wachen über
den Husten befragt, die Antwort: „Ich weiss es nicht
und habe keine Zeit darüber nachzudenken.“
Als sie über ihr Ohr klagte, glaubte sie, sie habe
vor dem Ohr „eine Drüse, die wohl schon eitere'*.
Wie wir schon gesehen haben, ist überhaupt die
Neigung zu oberbewussten, anscheinend plausiblen Be¬
gründungen für die durch unbewusst erweckte Vor¬
stellungskomplexe hervorgerufenen Symptome sehr
gross (Ohrschmerz und „Erkältung“, Genitalschmerzen
u. s. f.). Breuer und Freud*) nennen diese
Bildungen „falsche Verknüpfungen“.
In andern Fällen, z. B. bei der Entstehung des
Widerwillens gegen Fleisch bildete sich eine Decke
über den wahren Sachverhalt in der Annahme, das
Fleisch sei schlecht gewesen, worauf sich heraus¬
stellt, dass nur die Pat. es schlecht fand, die an¬
dern nicht.
Als Pat. einmal wegen Herzschmerzen ein Pulver
verlangte und sie auf den schon weitgehend analv-
sirten Theil des Zusammenhangs aufmerksam gemacht
wurde, konnte sie sich bald darauf besinnen. Sie
fühlte sich aber nicht wohl, und offenbar hätte ihr
ein Pulver grössere suggestive Hülfe gebracht.
Nach jeder Wiederholung eines Schmerzes fing
sie an von neuem zu behaupten, es sei alles er¬
ledigt, was oft nicht stimmte. Anderseits glaubte sie
immer wieder, ihre Schmerzen seien organisch, durch
irgend ein körperliches Leiden bedingt.
Gerade das Gefühl, es sei alles erledigt, machte
der Analyse Schwierigkeiten; wenn nämlich Pat. ein
*) loco cit.
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
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determinirendes Erlebniss nicht vollständig erzählt,
abreagirt hatte, so blieben nach der Hypnose die
Schmerzen meist bestehen und Pat. fühlte sich
schlechter als vorher; war aber ein Punkt, ein
determinirendes Erlebniss erzählt, so hörte das Con-
versionssymptom oft auf, bis ein weiterer Punkt bei
irgend einer Gelegenheit den gleichen Schmerz
wieder belebte und nachwies, dass noch mehr deter-
minirende Erlebnisse hinter diesem körperlichen
Symptom stecken. So konnte man in der Zwischen¬
zeit glauben, das Symptom sei erledigt.
Ein Beispiel: Nachdem die mit Erbrechen zu¬
sammenhängenden Geschichten zum Theil erledigt
waren, stieg der Appetit der Pat. bedeutend, sie ver¬
langte sogar viel Milch zu trinken. Dann nach der
Analyse weiterer Punkte fing sie plötzlich seit einer
bestimmten hypnotischen Sitzung die Milch wieder
zu erbrechen an, so dass jene Sitzung direkt eine
Verschlimmerung hervorrief. Tn der folgenden Sitz¬
ung kam dann die Erzählung von dem speciellen
Fall, wo sie der Vetter veranlassen wollte, seinen
Penis in den Mund zu nehmen etc. Nachher war
das Symptom verschwunden. Auch das Erbrechen
w ar etwa für ein halbes Jahr verseil wunden und
Pat. glaubte alles erledigt, bis das Frühjahr kam und
Pat. im Gras sass und die Freundin vom Abort er¬
zählte. Erbrechen und Leibschmerzen traten wieder
auf und erst die Erzählung der einzeln Abortge¬
schichten in Hypnose* führte zum Verschwinden der
Symptome.
Eine recht eigenthümliche Spaltungserscheinung
ist der inadäquate Affekt, den Pat. wie andere
Hysterien manchmal zur Schau trägt. *) Wenn Hy¬
sterische z. B. ein körperliches „Conversions“-Symp-
tom darbieten, ohne dass gleichzeitig der Affekt der
verursachenden Vorstellung auftritt, wenn nach der
Anschauung der „Studien über Hysterie“ die Con-
version vollständig ist, so ist nach unserer An¬
sicht eine Abspaltung der mit dem entsprechenden
Affekt verbundenen Hauptvorstellungen des patho¬
genen Vorstellungskomplexes vorhanden. In andern
Fällen ragt auch noch ein Theil dieser Vorstellungen
mit ihrem Affekt, mit ihrer Gemüthsstimmung ins
Oberbew'usste hinein (Unvollständige Conversion).
Oft ist nun das Conversionssymptom begleitet von der
allgemeinen Stimmung des pathogenen Vorstellungs¬
komplexes im Oberbew'usstsein. Wir wissen aus den
Erfahrungen des Traumlebens, dass uns gewisse un¬
angenehme Traumvorstellungen, die uns nach dem
*) Der Ausdruck stammt eigentlich aus der Symptomen-
terminologie der Dementia praecox.
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Erwachen rasch aus dem Bewusstsein entschwinden,
die Stimmung den ganzen Tag über verderben kön¬
nen. Oft erinnern wir uns tagsüber der Ursache
nicht, die Stimmung bleibt, ob die ursächliche Vor¬
stellung im Bewussten oder „unter der Schwelle“
resp. ausserhalb des Bewusstseins sich befindet. Ich
glaube zwischen der „unvollständigen Con\ersion“
und dieser Wirkung von Träumen lässt sich unbedingt
eine Parallele ziehen. Es existiren nämlich auch
Beispiele von „inadäquatem Affekt“ bei Hysterie,
wo man nicht behaupten kann, dass eine „Con¬
version“ vorhanden sei.
„La belle indifference des hysteriques“, gehört
schon zu dieser Art von inadäquater Affektäusserung.
Sie tritt auch zu Zeiten auf, wo kein Conversions¬
symptom activ ist.
Zu einer Zeit (am 26. IV. 03) wo vielleicht ein
Viertel der Analyse bereits gemacht und die Auf¬
klärung für verschieden e Symptome angeschnitten
war, versuchte ich mit der Pat. im Wachen das zu
Tage Beförderte zu besprechen, einestheils um den
Erfolg, die Ueberführung, Zugänglichmachung des
Abgespaltenen für das Oberbewusstsein zu controliren,
anderseits das etwa nicht vollständige Abreagiren be¬
sorgen zu lassen. Ich glaubte mich schon viel näher
dem Ziele, als es thatsächlich der Fall war. Da ver¬
hielt sich Pat. recht sonderbar. Sie wusste zw r ar
ziemlich alles bisher zu Tage Geförderte, aber der
Affekt war ganz inadäquat: keine Freude am Er¬
reichten, nur halbes Interesse, von Abreagiren keine
Spur, kurz, eine grosse Indifferenz. Trotzdem ich
meinerseits auf alle bisher bekannten Details und
Traumata einging, konnte ich weder Interesse noch
körperliche Con Versionssymptome auslösen.
Pat. war auffallend zerstreut, liess sich be¬
ständig durch die Umgebung ablenken, sprach
zwischen hinein von allen möglichen Nebensachen,
von den Blumen im Zimmer, von ihrer Stickarbeit,
die sie gerade machte, vom gleichgültigen Hausklatsch,
in einem Grade, der bei einem Gespräch unter an¬
dern Umständen nicht vorgekommen w’äre.
Es scheint mir, dass hier die Con Versionstheorie
ungenügend ist. Ein Conversionssymptom oder ein
Eingehen, eventuell abreagiren, oder im Falle der
analytischen Erledigung der Symptome, ein Gefühl
der Zufriedenheit, hätte vorhanden sein sollen. An¬
statt dessen sehen wir nur eine ungeheure Gleich¬
gültigkeit und krampfhafte Ablenkung auf die Um¬
gebung.
Letzteres Symptom, dem man unter bestimmten
Bedingungen in den Reactionen bei Associätionsver-
suchen w'ieder begegnet, möchte ich noch am Bei-
Original fram
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PSYCHIATRISCH-NEU ROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT
[Nr. 50.
spiel eines etwa 5jähr. Knaben erläutern, den der
Hausarzt, in der Nacht gerufen, in einer Art Delirium
mit schreckhaften Hallucinationen traf, das bis in
den folgenden Tag hineindauerte. Der Kleine war
Nachts in diesem Zustand erwacht; was für andere
Ursachen etwa vorausgegangen waren, konnte ich
nicht ermitteln.
Als ich den Kleinen nachmittags mit dem Haus¬
arzt besuchte, schien er schläfrig zu sein, gähnte und
wollte über das Erlebte nicht recht Auskunft geben.
Dagegen war er sofort mit einer frischen prompten
Antwort bereit, wenn man nach seinen Spielsachen
etc. fragte. Gegen weitere Inquisitionen über seine
Hallucinationen, an die er sich erinnerte, wie auch
an den nächtlichen Besuch des Hausarztes, ver¬
teidigte er sich auf zwei Arten: entweder that er,
als ob er recht schläfrig oder gar eingeschlafen sei,
um so tiefer, je eindringlicher das Fragen war, oder
er wich ihnen dadurch aus, dass er selbst immer
Fragen stellte: „Mutter, wo ist mein Büchlein?
Mutter, giebst du mir Wasser? Mutter, wo ist mein
Fünfer (Fünfrappenstück) ?“. Dieses Symptom ging
zurück, sobald man ein Gesprächsthema wählte, das
sich nicht um die Hallucinationen der vergangenen
Nacht drehte.
Es ist mir auch aufgefallen, dass bei Fällen mit
Ganser’schem Dämmerzustand die Ablenkung auf
die Umgebung im Momente eingehender Exploration
sich häufig in der wiederholten Frage äussert: „Kann
ich nicht etwas Wasser bekommen — ein Glas Wasser,
bitte — Wasser, Wasser!“
Achnlich benahm sich unsere Patientin, als sie,
wie gesagt, „keine Zeit“ hatte, über ein Symptom
weiter nachzudenken.
Eine andere schwer hysterische Patientin, eine
Studentin, deren Krankheit hauptsächlich durch den
Selbstmord des Geliebten ausgelöst worden w'ar,
wagte , nachdem ich mühsam die Zusammenhänge
ihrer Anfälle und Dämmerzustände mit dieser Ur¬
sache herausgearbeitet hatte, eines schönen Tages
lachend und zerstreut über die ganze Geschichte zu
sprechen, die bei ihr, sobald alle dazu associirten
Vorstellungen lebendig waren, die schwerste Reaction,
Anfäl e, Dämmerzustände und Verstimmungen aus¬
löst. Ein andermal beging die gleiche Patientin
einen ihrer oben genannten hysterischen Gedächtniss¬
tage statt mit einem Dämmerzustände, der einzu¬
setzen drohte, damit, dass sie uns privatissime mit
unvergleichlicher Nachahmung eine Vorstellung von
Liedern und Tänzen gab, die man nur im Variete
zu sehen und zu hören bekommt. Es war ein Hohn
auf ihre traurigen Gedanken und Erlebnisse, und
ihre Lieder waren lauter „Complexcitate“*), z. B.
*) Experimentelle Untersuchungen über Assoc. Gesunder.
Journal f Psychologie und Neurologie, Bd. III.
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Liebeslieder, in denen der Name ihres verstorbenen
Geliebten die Hauptrolle spielte u. dgl.
Diese „falsche“ Fröhlichkeit, die ich noch mehr¬
mals beobachten konnte, vertrat vermuthlich direkt
einen Dämmerzustand.
Bei der Analyse unseres Falles begegnete ich
den gleichen Widerständen, auf die Freud ein
so grosses Gewicht legt. Manchmal waren sie so
gross, dass man die weitere Analyse des Symptoms
auf die folgende Sitzung versparen musste. In sol¬
chen Momenten empfand Pat. jedes weitere Wort,
jede Berührung sehr unangenehm und rief gleich:
„Nicht, nicht quälen“, wurde blass, oder es bedeckte
sich die Stirn mit Schweiss; sie konnte, auch in
Hypnose, ganz ablehnend werden und verstummen:
wie wenn es sich um einen katatonischen Negativis¬
mus handeln würde. Man sah es der Pat. an ihren
mimischen Veränderungen an, ob ihr wieder
ein neuer wichtiger Punkt zur Analyse eingefallen
war oder nicht, aber sie brachte dann der Aussprache
meist noch grossen Widerstand entgegen, und so
bedeutete der Widerstand meist auch einen grossen
Aufwand an Zeit.
Man konnte oft an der Mimik w'ahrnehmen.
dass ein Gedanke auftauchen wollte, um wieder zv.
verschwinden : dann glättete sich das Gesicht wieder,
und Pat. konnte nichts mittheilen.
Wir werden bei der Besprechung der Asso-
c i a t i o n s v e r s u c h e bei dieser, sowie späteren
hysterischen Versuchspersonen auf Reactionsfonnen
stossen, die direkte Parallelen zu diesen eben be¬
schriebenen Erscheinungen sind (Fehler, mimische
Reactionen, lange Reactionszeitcn, Citate, oberfläch¬
liche Complexreactionen und dgl. *)
Einmal klagte Pat., das Denken falle ihr,
wenn sie (wegen unbewussten Erinnerungen) sich
so schlecht befinde, so schwer, es falle ihr nichts
mehr ein, bis sie sich den Kopf drücke: (Tech¬
nisches Hilfsmittel, das nach Breuer und Freud
zur Erzielung von Erinnerungen in Hypnose ange-
wendet wurde).
Mehrmals wurden in Hypnose Träume der
Pat. reproducirt, meist von stark somnambulen Cha¬
rakter, sehr schöne Paradigmata zu Freud’s Traum-
*) Die vorläufige Mittheiluug darüber siehe in meinem
Vortrag über „ Diagnostische Bedeutung von Associationsver¬
suchen bei Hysterischen“. Ein Autoreferat über den an der
Versammlung des Vereins schweizer Irrenärzte vom 24. V.
1904 in St. Urban (Luzern) gehaltenen Vortrag s. z. B. im
„Centralblatt für Neuiologie und Psychiatrie“ von Gaupp,
Heidelberg, Jahrg. 1904.
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
I 9°5]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
deutung.*) Der Sinn'einer dieser Träume war
der, dass sich Pat. in einer katholischen Kirche mit
ihrem ersten Geliebten vermählte. Sie ist Protestantin,
er war Katholik, zugleich Deutscher, und das waren
die wesentlichen Gründe, welche die Heirath mit
dem ersten Geliebten, die beiderseits ernstlich in
Betracht kam, zum Scheitern brachten. Ein anderes
Mal erzählte Pat — es war zur Zeit als die mastur-
batorische Symptomengruppe analysirt wurde —, sie
sei heute Morgen so schwer erwacht, sie habe ge¬
meint, mich ins Zimmer eintreten und wieder hinaus¬
gehen zu hören. (Ich war nicht dort.) Sie hatte
gewünscht ich hätte sie geweckt, wegen eines un¬
angenehmen Traumes. Sie will nicht sagen was für
ein Traum das gewesen sei, wird nachdenklich, will
sich besinnen und fängt plötzlich an zu weinen
(masturbator. Symptom). Ich hatte ihr am Abend
vorher in Hypnose Schlaf für die Nacht suggerirt,
da er in den letzten Nächten nicht gut gewesen war.
In einer neuen Hypnose gab sie an, sie habe
sich im Schlaf zum Masturbiren gedrängt gefühlt
und sei sexuell erregt gewesen. Da sei ihr gewesen,
als höre sie mich eintreten und sie habe gehofft, ich
wecke sie.
Leider drang ich damals nicht weiter in sie, um
den Grund des Weinens zu entdecken. Ich be¬
gnügte mich ohne Argwohn mit der oberflächlichen
Auskunft, sie habe geweint, weil sie sich vor mir
hätte schämen müssen, das zu sagen; bei genauerem
Fragen hätte ich wahrscheinlich den weitern Traum
und dessen männliche Hauptperson entdeckt, welche
am Symptom des Weinens schuld gewesen ist.
Mehrmals kam es vor, dass sie nachts anschei¬
nend wach hallueinirte, z. B. hörte sie rufen, sah
den Vater und ähnl.; ich konnte beobachten, dass
diese Hallucinationen dann eintraten, wenn durch
die Analyse Erinnerungen aus dem betr. Gebiet,
z. B. an Geschichten mit dem Vater wachgerufen
worden waren.
Zustand zur Zeit der Bildung neuer
Symptome. Während der fünf Jahre, welche Pat.
bis jetzt in der Anstalt zugebracht hat und speciell
während der letzten zwei Jahre, wo ich mich der
Analyse halber genauer mit der Pat. beschäftigt
habe, ist es nie gelungen einen hysterischen An¬
fall, einen Dämmerzustand oder dgl. nachzuweisen.
*) Freud: Die Traumdeutung 1900. Wien.
497
Sie hatte meines Wissens nie Momente, wo sie die
Umgebung verkannte, falsch auffasste und dgl., ab¬
gesehen von den in Hypnose gegebenen suggestions
ä echeance.
Der am besten beobachtete Moment der Ent¬
stehung neuer Schmerzen ist der, als sie bei der
sexuellen Anspielung der Pflegerin, welche sie um
die linke Hüfte gefasst hatte, auch Schmerzen links
bekam. Aber weder vor- noch nachher, noch in
jenem Moment fiel irgend etwas weiteres an ihr auf.
Ebensowenig giebt die Analyse selbst Anhaltspunkte
für die Annahme, dass Pat. ihre Symptome in
Dämmerzuständen erworben oder überhaupt Dämmer¬
zustände gezeigt. hätte. Ein traumhafter Gedanken¬
gang während des Wachens konnte nie beobachtet
werden. Zum Unterschied von vielen andern Fällen
wird beim unsrigen das Krankheitsbild vollständig
beherrscht durch den Mangel an Bewusst¬
seinstrübungen, wofür sich aber die Krank¬
heit in einheitlicher Weise, in körper¬
lichen „Conversionssymptomen' 4 geltend
macht.
Die systematische Abspaltung kann sich also bei
Hysterischen jedenfalls, wie Breuer und Freud
angenommen haben, auch im Wachen vollziehen,
sodass ein Vorstellungskomplex aus dem Bewusst¬
sein verdrängt wird und nur noch bestimmte An-
theile im Bewusstsein als dessen „Vertreter“ vor¬
handen sind. Der Affekt scheint bei der Ent¬
stehung der Symptome doch immer die Hauptrolle
zu spielen.
Es ist möglich, dass bei der einseitigen Ausbild¬
ung körperlicher Symptome in unserm Fall das
Milieu, das Krankenhaus und die ärztliche Behand¬
lung eine Rolle spielen. Indessen ist das sicher
nicht das einzige Moment. Pat. hatte ebensoviel
Grund, den Aerzten Dämmerzustände und ähnliches
darzustellen; überdies hat sich ein wichtiger Theil
der körperlichen Symptome schon vor dem Eintritt
in die Anstalt ausgebildet. Es ist aber wohl mög¬
lich, dass Pat., wäre sie nicht in einer Anstalt, im
Sinn der Absicht gesprochen, eine geringere ,,Sorg¬
falt“ auf den Ausbau des körperlichen Symptomen-
bildes verwendet hätte.
Jedoch scheint es an und für sich eine bestimmte
Anlage zu sein, dass Pat. einen fast rein körper¬
lichen Symptomenkomplex ausgebildet hat und nicht
Anfälle und Dämmerzustände.
(Fortsetzung folgt.)
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498
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 50.
Mittheilungen.
— Programm des 5. internationalen Congresses
für Psychologie zu Rom vom 26.—30. April 1905,
in der Poliklinik der königl. chirurgischen Klinik.
(Eröffnung am 26. April, 10 Uhr, im Campidoglio.
Beitrag für Herren 20 Fr., für Damen 10 Fr. —
Eisenbahnfahrpreisermässigungen etc. Congresssprachen:
Italienisch, deutsch, englisch , französisch. Näheres
durch den Generalsecretär Prof. Dr. Sante de
Sanctis, Rom, Via Depretis Nr. 92. Weitere
Vortraganmeldungen möglichst bis 30. März.)
I. Allgemeine Sitzung:
1. Prof. Th. Lipps, München: Die Wege der
Psychologie.
2. Prof. Ch. Ri chet, Paris: L’avenir de la Psychologie
et la Metapsychique.
Discussion.
II. Allgemeine Sitzung:!
1. Prof. Paul Flechsig, Leipzig: Himphysiologie
und Willenstheorien (Projectionen).
2. Prof. Leonardo Bianchi, Napoli: La zona
corticale del Linguaggioe rintelligenza(Projectionen).
3. Prof. Ezio Sciamanna, Roma: Funzioni psichiche
e corteccia cerebrale (avee presentation de quelques
singes operes).
Discussion.
III. Allgemeine Sitzung.
1. Prof. R. Sommer, Giessen: Die Methoden der
Untersuchung von Ausdrucksbewegungen (Projec¬
tionen).
2. Prof. P. Jan et, Paris: Les oscillations du niveau
mental.
3. Dr. P. Sollier, Paris: La conscience et ses
degres.
Discussion.
IV. Allgemeine Sitzung.
1. Prof. James Sully, London: Relations of Psycho-
logy to Pedagogy.
2. Prof. Th. Flournoy, Genf: La Psychologie de
la religion.
— Aufbesserung der Bezüge bei den ost-
preussischen Anstaltsärzten. Der Provinzialland¬
tag von Ostpreussen hat in der Plenarsitzung vom
27. v. Mts., gemäss dem Anträge des Prov.-Aus-
schusses, die nachfolgende Vorlage des letzteren ge¬
nehmigt:
I. Das ärztliche Personal an den Provinzialan¬
stalten zu Allenberg, Kortau und Tapiau hat —
ausser den Directoren der Anstalten Allenberg und
Kortau — für die Folgezeit zu bestehen aus: je
zwei Oberärzten , je zwei Anstaltsärzten und der
durch die Anstaltsetats bestimmten Anzahl von Assi¬
stenzärzten und Volontärärzten.
II. Die Anstellung der Oberärzte und Anstalts¬
ärzte erfolgt unter Vorbehalt eines beiden Theilen zu¬
stehenden sechsmonatlichen Kündigungsrechts, die
Anstellung der Assistenzärzte unter Vorbehalt eines
beiden Theilen zustehenden dreimonatlichen Kün¬
digungsrechts. Die Annahme der Volontärärzte er-
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folgt gegen eine beiden Theilen zustehende vierzehn¬
tägige Kündigung.
Der Provinzialausschuss ist unter den in Ziffer 2
Seite 3 der Vorlage *) angegebenen Voraussetzungen
befugt, die Oberärzte und Anstaltsärzte nach fünf¬
jähriger zufriedenstellender Dienstleistung auf Lebens¬
zeit anzustellen.
III. Das Diensteinkommen besteht aus:
1. Für die Oberärzte:
a) Gehalt 3500 bis 5500 Mark, steigend von 3 zu
3 Jahren um je 500 Mark (Höchstgehalt nach 12
Jahren),
b) Dienstwohnung im Jahreswerthe von 500 Mark,
c) Heizung und Beleuchtung im Jahreswerthe von 200
Mark,
d) Gartennutzung im Jahreswerthe von 30 Mark.
Der mit der ständigen Vertretung des Anstalts¬
direktors beauftragte erste Oberarzt erhält ausserdem
eine ruhegehaltsberechtigte Amtszulage von 500 Mark
jährlich.
2. Für die Anstaltsärzte:
a) Gehalt 3000 bis 5000 Mark, steigend von 3 zu
3 Jahren um je 400 Mark (Höchstgehalt nach 15
Jahren),
b) Dienstwohnung im Jahreswerthe von 450 Mark,
c) Heizung und Beleuchtung im Jahreswerthe von 200
Mark,
d) Gartennutzung im Jahreswerthe von 30 Mark bezw.
Entschädigung für Gartennutzung mit 30 Mark.
Bezieht ein Tapiauer Anstaltsarzt aus Anlass
seiner Verheirathung eine Miethswohnung in der Stadt,
so wird ihm bis zur Bereitstellung einer Familien -
dienstwohnung ein Wohnungsgeld von 600 Mark
jährlich (ruhegehaltsberechtigt mit 450 Mark) gewährt.
3. Für die Assistenzärzte:
a) Gehalt 1800 bis 2400 Mark, steigend von 2 zu
2 Jahren um je 200 Mark (Höchstgehalt nach 6
Jahren),
b) Dienstwohnung im Jahreswerthe von 100 Mark,
*) „Wie uns bekannt ist, hält der Vorbehalt der Kündigung,
sowie eine zehnjährige Wartezeit bis zur lebenslänglichen
Anstellung der Aerzte vielfach davon ab, auf die Dauer ira An¬
staltsdienste zu verbleiben, — weil sie — und nicht mit Un¬
recht — Bedenken tragen, sich zu verheirathen, so lange sie
sich in einer kündbaren Stellung befinden. Soll daher der
Zweck dieser Vorlage, die Aerzte durch Gewährung eines aus¬
kömmlichen Gehalts und einer gesicherten Lebensstellung
dauernd an die Anstalten zu fesseln, erreicht werden, so muss
die gegenwärtige zehnjährige Wartezeit für die lebensläng¬
liche Anstellung abgekürzt weiden, und schlagen wir, dem Vor¬
gänge in der Provinz Pommern folgend, vor, diese Wartezeit
für die Oberärzte und „Anstaltsärzte“ auf 5 Jahre abzukürzen.
Die Aerzte selbst sollen nicht berechtigt sein, ihre lebensläng¬
liche Anstellung nach 5 jähriger Dienstzeit zu verlangen, sie
sollen vielmehr wie bisher auf Kündigung angestellt werden,
was ausdrücklich in der Anstellungsurkunde festgestellt werden
soll. Nur soll der Provinzialausschuss die Befugniss haben,
einen Oberarzt oder „Anstaltsarzt“ in geeignet erscheinendeu
Fällen, also namentlich wenn der betreffende Arzt sich ver¬
heirathen will, bereits nach fünfjähriger zufriedenstellender
Dienstleistung auf Lebenszeit anzustellen.“
Original from
HARVARD UNIVERSITY
1905]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
499
c) Heizung und Beleuchtung im Jahreswerthe von 75
Mark,
d) Beköstigung I. Klasse im Jahreswerthe von 600
Mark,
e) freie Wäsche im Jahreswerthe von 45 Mark.
IV. Der Provinzialausschuss ist ermächtigt, die
Oberärzte und Anstaltsärzte jederzeit von einer An¬
stalt an die andere zu versetzen.
— Aus Obrawalde (hierzu siehe die illustrierte
Beilage). Wie bereits in Nr. 33 dieser Wochenschrift
kurz erwähnt ist, wurde die vierte Irrenanstalt der
Provinz Posen bei Meseritz am 2. XI. 1904 feier¬
lich eingeweiht Die Anstalt erhielt den Namen
Obrawalde.
Näheres über die Anstalt, insbesondere über Anlage,
über Bau der einzelnen Häuser, Grösse der Be¬
legungsfähigkeit, Kosten p. p., findet sich in der Ver¬
öffentlichung von Nötel (diese Wochenschrift 1901.
Nr. 25 und 26).
Es seien heute 2 Abbildungen der Anstalt ge¬
bracht, sowie ein grösserer Lageplan, welcher u. a.
noch die Lage der Klär- und Filteranlage wieder-
giebt. Die für spätere Vergrösserung der Anstalt vor¬
gesehenen Bauten sind schraffirl. Bild l zeigt die
Anstalt von Südwesten aus gesehen, Bild II zeigt
eine Vorderansicht der Anstalt
In der Zeit vom 8. bis zum 14. XL 1904 wurden
aus den 3 anderen Anstalten der Provinz je 100 Kranke
aufgenommen . . . . : 150 Männer 150 Frauen
Neuaufnahme . . : 16 „ 7 „
Entlassen.: 7 „ 2 „
Gestorben.: 2 „ 1 „
Bestand am 23. II. 95
157 Männer 154 Frauen
Sa: 311 Kranke.
Die Aufnahme der 300 Kranken ging rasch und
glatt von Statten.
Klinisch interessant war das Auftreten von ver¬
worrenen hallu cinatorischen Erregungszu¬
ständen ängstlichen Charakters bei einigen
Idioten und Dementen (vorwiegend Endzustände der
Dementia präcox), welche vorher jahrelang ruhig ge¬
wesen und z. T. zur Arbeit gegangen waren. Diese
Zustände dauerten 2—3 Wochen. Sie sind ent¬
schieden auf die veränderte Lage, die ungewohnten
neuen Verhältnisse zurückzuführen, mit welchen
sich die invaliden Hime nicht abfinden konnten. So
sprach ein Idiot, welcher seit Jahren ruhig und
fleissig als Hausarbeiter in Dziekanka sich bethätigt
hatte, in der Erregung anhaltend von Dieben, vom
Totschiessen, „fort fort, Dziekanka, Schuheputzen!“
In dem Bewahrungshaus hat sich Verdünnung
mit harmlosen Idioten und ruhigen sehr vorgeschritte¬
nen Demenzen gut bewährt. Das Pflegepersonal ist
hier 1 : 4, sonst 1 : 8.
Demnächst soll mit der Familienpflege in den
Pflegerfamilien begonnen werden.
Anfang April 1905 werden der Anstalt nochmals
Kranke aus den anderen Anstalten der Provinz zu¬
geführt und zwar 225, zur Hälfte Männer, zur
Hälfte Frauen.
Ausführlichere Mittheilungen sind für später in Aus¬
sicht genommen. Dr. C. Wickel.
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Gck gle
— Entscheidung des deutschen Bundesamts
fttr das Heimathswesen.*)
Im Namen des Deutschen Reichs!
In Sachen des Ortsarmenverbandes Kirchberg,
Klägers und Berufungsklägers, wider den Landarmen¬
verband der Rheinprovinz, Beklagten und Berufungs¬
beklagten, hat das Bundesamt für das Heimathwesen
in seiner Sitzung vom 24. Oktober 1903, an welcher
theilgenommen haben:
der Präsident Dr. Kelch,
der Geheime Regierungsrath Dr. Krech,
der Oberverwaltungsgerichtsrath Genzmer,
der Geheime Oberregierungsrath v. Sydow,
für Recht erkannt:
die Berufung des Klägers gegen den Bescheid
des Bezirksausschusses zu Düsseldorf vom 17. April
1903 wird zurückgewiesen, die Kosten der Berufungs¬
instanz werden dem Kläger auferlegt.
Gründe.
Dem Bezirksausschuss muss darin beigetreten
werden, dass eine Unterbringung des schwach¬
sinnigen Albert Frank in seinem eigenen Interesse
nicht nothwendig ist, und dass daher eine Verpflich¬
tung des beklagten Landarmenverbandes auf Grund
des preussischen Ausführungsgesetzes vom 11. Juli
1891 auch dann eintrete, wenn die Bewahrung eines
Geisteskranken oder Idioten in einer Anstalt nicht
in seinem eigenen, sondern ausschliesslich im Inter¬
esse der öffentlichen Sicherheit erforderlich ist, er¬
scheint unzutreffend. Durch das erwähnte Gesetz ist
nach den allgemeinen Grundsätzen des preussischen
Armenrechts den Landarmenverbänden keine über
die öffentliche Armenpflege hinausgehende Aufgabe
zugewiesen worden. Die Verpflichtung der Land¬
armenverbände zur Gewährung der Anstaltspflege tritt
daher nur ein, wenn der Geisteskranke oder Schwach¬
sinnige ihrer zu seinem Schutze gegen Gefahren oder
zu seiner Heilung bedarf, aber nicht schon dann,
wenn der Schutz anderer Personen gegen Aus¬
schreitungen des Geisteskranken oder Schwachsinnigen
seine Unterbringung erfordert.
Im vorliegenden Falle ist in dem Gutachten des
Dr. Bickenbach vom 2. Oktober 1900 erklärt worden,
dass Albert Frank blödsinnig, aber nicht bildungs¬
fähig sei, dass er ziemlich willig, gesellig und ver¬
träglich sei, keine auffallenden Gewohnheiten, Sonder¬
barkeiten oder Abneigungen habe, dass von Leiden¬
schaften bei ihm nichts bekannt sei, und dass seine
Unterbringung in eine Anstalt erforderlich sei, um
unsittliche Handlungen des Frank gegenüber anderen
Personen, wie sie schon vorgekommen, zu verhüten.
Hiernach hat der Bezirksausschuss mit Recht ange¬
nommen, dass nicht das eigene Interesse des Frank,
sondern vielmehr das polizeiliche Interesse seine
Unterbringung in eine Anwalt erfordere, dass aber
die Fürsorge für dieses Interesse nicht dem Beklag¬
ten obliege (vergl. Ent.sch. des Bundesamts Heft 30,
S. 135/176 und Heft 32, S. 61/62). Der vom
Kläger in der Berufungsschrift beantragten Einholung
'■■) Siehe die Mittheilung: Fürsorge für gemeinschaftliche
Geisteskranke in Preussen, Seite 475 und 484.
.
HARVARD UNIVER3ITY
5oo
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 50.
eines Gutachtens des Kreisarztes Dr. Lanke bedarf
es nicht, weil dieser bereits am 5. November 1900
dem Gutachten Dr. Bickenbach beigetreten und vom
Kläger nicht behauptet worden ist, dass seitdem eine
Aenderung in dem Zustande des Albert Frank ein¬
getreten ist.
Die Berufung des Klägers gegen den die Klage
abweisenden Bescheid des Bezirksausschusses musste
daher zurückgewiesen werden.
Vorstehendes Erkenntniss wird hierdurch zum
Öffentlichen Glauben ausgefertigt.
Berlin, den 29. Oktober 1903..
(Siegel)
Das Bundesamt für das Heimathwesen.
gez. K eich.
Im Namen des Deutschen Reichs!
In Sachen des Landarmenverbandes Provinz
Brandenburg, Beklagten und Berufungsklägers, wider
den Ortsarmen verband Berlin, Kläger und Berufungs¬
beklagten, hat das Bundesamt für das Heimathwesen
in seiner Sitzung vom 8. Dezember 1900, an welcher
theilgenommen haben:
der Präsident Weymann,
der Geheime Regierungsrath Dr. Krech,
der Geheime Oberregierungsrath Dr. Hoffmann,
der Geheime Regierungsrath v. Jonquieres,
der Oberverwaltungsgerichtsrath Genzmer,
für Recht erkannt:
dass die Entscheidung des Bezirksausschusses zu
Potsdam vom 14. August 1900 dahin abzuändem:
dass der Kläger mit seiner Klage abzuweisen und
schuldig, die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Gründe.
Der Beklagte hat in der Berufsinstanz aus zwei
Gründen die Entscheidung des Bezirksausschusses an-
gefochten, durch welche er zur Erstattung der Pflege¬
kosten für den in der Irrenanstalt Dalldorf unter¬
gebrachten geisteskranken Schiffer Richard Erpel und
zur Uebernahme desselben in eigene Fürsorge ver-
urtheilt worden.
Der Beklagte vermisst einerseits eine nähere, die
richterliche Nachprüfung auf Schlüssigkeit ermöglichende
Begründung der von dem Bezirksausschuss zur Grund¬
lage seiner Entscheidung gemachten amtlichen Aus¬
kunft der Direktion der Irrenanstalt zu Dalldorf vom
27. Juli 1900, laut welcher Erpel sich vom Beginn
seiner Einlieferung an in einem die Anstaltspflege
nothwendig machenden Zustande befunden hat, und
sein Aufenthalt in der Anstalt ebenso sehr, ja noch
mehr mit Rücksicht auf seinen persönlichen Krank¬
heitszustand, als aus Gründen öffentlicher Sicherheit
zur Verhinderung weiterer Gewaltthaten geboten ge¬
wesen. Sodann — hierauf wird das Hauptgewicht
gelegt — ist der Beklagte der Meinung, dass Hilfs¬
bedürftigkeit im armenrechtlichen Sinne nicht vorliege,
weil eine effective Entlassung des Erpel aus der
Strafgewalt des Staates nicht stattgefunden habe.
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Dies folge aus dem von den Königlich preussischen
Ministem des Innern und der Justiz bei Genehmi¬
gung der Haftentlassung gemachten Vorbehalte: dass
die Verwahrung Erpels in einer Irrenanstalt gesichert
sei, — ferner aus den Anordnungen, welche der
Königliche Oberpräsident der Provinz Brandenburg
dahin erlassen habe, dass besondere Vorkehrungen
zur Verhinderung des Entweichens des Kranken aus
der Anstalt zu treffen seien, und dass die Anstalts-
verwaltung die Strafvollzugsbehörden in dem Be¬
streben, den Erpel zur weiteren Verbüssung seiner
Strafe heranzuziehen, insoweit zu unterstützen habe,
dass sie vor der Entlassung aus der Irrenanstalt die
Strafvollzugsbehörde rechtzeitig von der Absicht der
Entlassung in Kenntniss setze. Für die Richtigkeit
dieser seiner Auffassung beruft sich der Beklagte auf
die — bei Wohleis - Krech in Anmerkung 14 c zu
§ 28 Unterstützungswohnsitzgesetz angezogenen —
Entscheidungen des Bundesamts für das Heimath¬
wesen, Band 22 S. 108, Band 24 S. 104, Band 30 S. 40.
Dieser zweite und Haupteinwand des Beklagten
trifft freilich nicht zu. Denn weder durch die von
den Ministern des Innern und der Justiz bei der Ge¬
nehmigung der Haftentlassung in dem Erlasse vom
9. Mai 1899 gemachten Vorbehalte, noch durch die
zur Ausführung dieser Vorbehalte getroffenen Anord¬
nungen des Oberpräsidenten wurde Erpel während
seines Aufenthalts in der Irrenanstalt zu Dalldorf trotz
formeller Unterbrechung des Strafvollzugs thatsächlich
zur Verfügung der Justizbehörden gehalten. Auf den
— nach der Entscheidung des Bundesamts Band 24
S. 105 bedeutungslosen, übrigens gemäss dem Erlasse
des Ministers des Innern vom 28. Juli 1900 künftig
überhaupt nicht mehr zu machenden — Vorbehalt,
nach welchem die Minister die Haftentlassung vor¬
behaltlich der Wiedereinziehung im Falle der Ge¬
nesung genehmigten, ist der Beklagte selbst nicht
eingegangen. Aber auch der weiteren Einschränkung
des Einverständnisses mit der Haftentlassung Erpels: so¬
fern seine Verwahmng in einer Irrenanstalt gesichert
ist, — kann die ihr von dem Beklagten beigelegte
Bedeutung nicht zugestanden werden, denn dieser
Vorbehalt solle weder ausschliesslich noch vornehm¬
lich die Fortsetzung des Strafvollzuges sichern.
Erpel ist nach Lage der Akten aus der Straf¬
anstalt zu Moabit entlassen w’orden, weil er nach
den mehr als i5monatigen Wahrnehmungen des
dortigen Anstaltsarztes, Sanitätsrathes Dr. Leppmann.
welche die Annahme einer Simulation ausschlossen, in
solchem Grade geisteskrank war, dass er voraussicht¬
lich dauernd strafvollzugsunfähig erschien, zumal da er,
seit der Wiedereinbringung nach einer kühn und
durchdacht ausgeführten h lucht, aus Sicherheitsgründen
in der Strafanstalt dauernd isolirt gehalten werden
musste. Die Uebergabe an eine Irrenanstalt wurde
von diesem Arzt wegen seiner Gemeingefährlichkeit
beantragt. Auch der Königliche Polizeipräsident
empfahl in seinem, die Haftentlassung und die Unter¬
bringung in einer Irrenanstalt betreffenden Be¬
richte an den Minister des Innern vom 11. April
1899 die Anordnung einer besonders sicheren Ver¬
wahrung wegen der grossen Gemeingefährlichkeit des
Original fram
HARVARD UN1VERSITY
1905.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 501
sehr schweren Verbrechers. Diese Gemeingefähilich-
keit Erpels ergab sich daraus, dass nicht nur der
über ihn verhängten 15 jährigen Zuchthausstrafe nebst
Zulässigkeit von Polizeiaufsicht, Raub, schwerer Dieb¬
stahl und vorsätzliche Körperverletzung mit tödlichem
Ausgange zugrunde lagen, sondern dass er auch sonst
Neigung zur Begehung von Verbrechen an den Tag
gelegt hatte. Verfällt ein solcher Verbrecher in Irr¬
sinn, so muss im öffentlichen Sicherheitsinteresse auf
seine Verwahrung in einer Irrenanstalt Bedacht ge¬
nommen werden, einerlei ob und in welchem Um¬
fange er, wenn gesund, die ihm zuerkannte Strafe
noch zu verbüssen hätte, oder ob etwa eine Verur¬
teilung wegen der begangenen schweren Straftaten
noch gar nicht hatte erfolgen können, weil wegen vor¬
herigen Ausbruchs der Geisteskrankheit das Verfahren
gemäss § 203 Strafprozessordnung vorläufig eingestellt
werden musste. Der Bericht des Polizeipräsidenten
hob denn auch bei Erpel das Maass der noch nicht
verbüssten Strafe als Grund für die Nothwendigkeit
einer sicheren Verwahrung in der Irrenanstalt nicht
hervor. Wenn daher bei der in rechtlich zweifelloser
Form erfolgten Haftentlassung Erpels von den Ministern
der Vorbehalt sicherer Unterbringung und Verwah¬
rung in einer Irrenanstalt gemacht wurde, so kann
darin nicht ohne weiteres die Absicht erblickt weiden,
ihn zur Fortsetzung der Strafvollstreckung im Falle
der Genesung zur Verfügung der Justizbehörden zu
behalten.
Auch das von dem Oberpräsidenten der Provinz
Brandenburg in Ausführung des Ministerialei lasses
zunächst an den Landesdirektor, später in gleicher
Weise an den Magistrat zu Berlin gerichtete Ersuchen,
Erpel einer Irrenanstalt zu überweisen, deren even¬
tuell zu verbessernde Einrichtungen ein Entweichen
verhindern, wurde keineswegs durch die noch unver-
büsste langjährige Strafzeit bedingt. Stand doch nach
dem gutachtlichen Bericht des Moabiter Anstalls¬
arztes Dr. Leppmann überhaupt dahin, ob Erpel je
wieder strafvollzugsfähig werden würde. In seinem
erläuternden Schreiben an den Landesdirektor vom
5. August 1S99 deutete der Oberpräsident auch an,
dass nur die Gemeingefährlichkeit und die verbreche¬
rische Neigung Erpels als solche den Anlass zu diesem
Ersuchen gegeben, denn er hob hervor, dass letzteres
nicht über den Rahmen der Verpflichtung der Ver¬
waltung der Irrenanstalten hinausgehe, Vorkehrungen
dahin zu treffen, dass gemeingefährliche Geisteskianke,
insbesondere Geisteskranke, deren Krankheit in der
Neigung zur Begehung strafbarer Handlungen be¬
steht, nicht in die Aussenwelt zurückzukehren, bezw.
dass deren Entweichung aus der Irrenanstalt mög¬
lichst verhütet würde. Wenn der Oberpräsident in
demselben Schreiben der Ansicht Ausdruck gab, dass
die Anstaltsverwaltung die Strafvollzugsbehörden in
dem Bestreben, Erpel wieder zur Verbüssung seiner
Strafen heranzuziehen, wenigstens insoweit zu unter¬
stützen habe, dass sie die Strafvollzugsbehörde vor
der etwaigen Entlassung Erpels aus der Irrenanstalt
von der Absicht der Entlassung rechtzeitig in Kcnnt-
niss setzt, so ist dies im unmittelbaren Anschlüsse an
einen Satz geschehen, in welchem der Oberpiäsident
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der Ansicht entgegentritt, dass Erpel nach seiner
Ueberführung in eine Anstalt zur Verfügung der
Justizbehörden verbleibe. Der Oberpräsident hat
auch ein direktes Ersuchen um solche vorherige Mit¬
theilungen weder dem Landesdirektor noch dem
Magistrat zu Berlin gegenüber an die bezügliche Be¬
merkung geknüpft (vergl, Entscheidung des Bundes¬
amts Band 30 S. 46).
Hiernach muss bei der Erörterung der Verpflich¬
tungsfrage der Gesichtspunkt ausscheiden, dass die
Absicht bestanden habe und Vorkehrungen getroffen
seien, um Erpel zur Verfügung der strafvollstreckenden
Justizbehörden zu behalten. Deshalb können auch
die von dem Beklagten herangezogenen Entscheidungen
des Bundesamtes für die Beurtheilung des vorliegenden
Falles nicht ausschlaggebend verwerthet werden.
Wohl aber ist anzuerkennen, dass Erpels Unter¬
bringung in die Irrenanstalt in hohem Maasse durch
das sicherheitspolizeiliche Interesse veranlasst wrnrde,
weil er ein höchst gemeingefährlicher Geisteskranker ist.
Wen in einem solchen Falle die Kostenlast trifft,
die Polizeiverwaltung oder die Armen Verwaltung?
hängt nach dem grundsätzlichen Standpunkte des
Bundesamts für das Heimathw’esen (vergl. Wohlers-
Kicih Note 15 B e zu § 23 Unterstützungswohnsitz-
gesetz) davon ab, in welchem Maasse im Einzelfalle
einerseits das öffentliche sicherheitspolizeiliche Inter¬
esse und andererseits das persönliche gesundheitliche
Interesse des Geisteskranken betheiligt ist, insbesondere
auch davon, inwieweit die Polizeibehörde während
des Aufenthalts in der Anstalt ihre Hand über den
Geisteskranken hält und ihn weiter überwacht.
Nun ist zwar auf Grund der Auskunft der An¬
staltsdirektion zu Dalldorf vom 27. Juli 1900 und
der von dem Moabiter Anstaltsarzt, Sanitätsrath
Dr. Leppmann wiederholt erstatteten Berichte anzu¬
nehmen, dass Erpel auch in seinem persönlichen
Gesundheitsinteresse der Anstaltspflege bedarf; in¬
dessen überwiegt doch das sicherheitspolizeilichc Inter¬
esse an seiner Vci Währung in einer Irrenanstalt in
dem Maasse, und es ist dieses Interesse von den zu¬
ständigen Behörden auch so weitgehend bethätigt
worden, dass dasselbe für die Entscheidung der Frage:
ob ein Akt der Armenpflege oder eine polizeiliche
Maassnahme vorliegt, unbedingt den Ausschlag geben
muss. Die Aeusserung der Anstaltsdirektion zu Dall¬
dorf über das Verhältnis der beiderseits betheiligten
Interessen ist unerheblich. Die Beurtheilung dessen
ist nicht Sache der Aerzte, sondern des Richters.
Wenn nun schon bei Würdigung des persönlichen
gesundheitlichen Interesses des Geisteskranken nicht
ausser acht gelassen werden darf, dass nach den Be¬
lichten des Sanitätsraths Dr. Leppmann die Ursache,
oder doch die allmählich eingetretene Verschlimme¬
rung der Geisteskrankheit Erpels in enger Beziehung
mit seiner Strafhaft, insbesondere mit der Noth-
wendigkeit einer dauernden Isolirung steht, sodass
Erpel bei der Wiederergreifung nach der Flucht aus
der Mcabiter Strafanstalt infolge des Genusses einer
iBtägigcn Freiheit sich verhältnissmässig wohlerfühlte,
— dass deshalb die Frage offen bleibt: ob er überhaupt
je der Pflege in einer Irrenanstalt bedurft hätte oder noch
Original frnm
HARVARD UNIVERSITY
5 02
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCIIK WOCHENSCHRIFT [Nr. 50.
bedürfte, wenn er nicht wegen seiner Strafthaten in
strenger und thunlichst isolirter Verwahrung gehalten
werden müsste? so sind es auf der anderen Seite —
abgesehen von der Schwere der von Erpel bethätig-
ten verbrecherischen Neigung — insbesondere zwei
Momente, welche dessen Unterbringung in der Anstalt
den vorwiegend polizeilichen Charakter aufprägen: zu¬
nächst das Verlangen der Aufsichtsbehörde, dass
eventuell besondere Vorkehrungen zur Verhinderung
des Entweichens getroffen werden möchten, in Ver¬
bindung mit dem Hinweise darauf, unter welchen er¬
schwerenden Umständen ein solches Entweichen aus
der Irrenabtheilung der Moabiter Strafanstalt möglich
geworden war, sodann ferner: dass aus einer Regi¬
stratur in den Akten der Dalldorfer Irrenanstalt sich
ergebende, von dem Königlichen Polizeipräsidium
(Abtheilung IV) unterm 5. September 1 899 an die
Anstaltsdirektion dahin gestellte Eisuchen:
den im höchsten Grade gemeingefährlich geistes¬
kranken Erpel nicht ohne diesseitige Zustimmung
verlegen, beurlauben oder entlassen zu wollen.
Durch diese Maassnahmen haben die polizei¬
lichen Behörden auf das unzweideutigste, bekundet,
dass sie die Verfügung über Erpel für die gesammte
Referate.
— Archiv für Psychiatrie und Nerven-
krankheiten. Bd. 30, Heft 1.
K ö 1 p i n - Greifswald: Klinische Beiträge zur Me¬
lancholiefrage.
Verf. berichtet eingehend über die Krankenge¬
schichten von 18 klinisch gut beobachteten Fällen
von Depressionszuständen und kommt zu folgendem
Resultat. Es lassen sich zwei wohl charakterisirte
Grundformen aller melancholischen Zustandsbilder
aufstellen, die reine Melancholie und die acute Angst¬
psychose. Die letztere kommt vor auf dem Boden
des Alkoholismus, der Epilepsie, des Klimakteriums
und des Seniums. Zwischen den beiden Grund¬
formen existiren aber alle möglichen Combinationcn
und fliessende Ucbcrgänge. Diese Mischformen fasst
Verf. zusammen unter der Bezeichnung Angstmelan¬
cholie. Im Allgemeinen nähern sich die im jugend¬
lichen Alter auftretenden Mischzustände der reinen
Melancholie, dagegen stehen diejenigen des höheren
Lebensalters mehr der Angstpsychose näher.
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Dauer seines Aufenthalts in der Irrenanstalt behalten
wollen, dass daher nur mit ihrem Einverständniss —
ganz unabhängig von der Frage: inwieweit der per¬
sönliche Gesundheitszustand dessen weitere Belassung
in der Anstalt erfordere? — die Anstaltsdirektion die
Entlassung Erpels solle bewirken dürfen.
In Betracht aller dieser Umstände muss die Ver¬
wahrung Erpels in der Irrenanstalt als eine wesentlich
im öffentlichen Sicherheitsinteresse getroffene polizei¬
liche Maassregel, nicht aber als ein Akt der Armenpflege
angesehen werden. Infolgedessen fehlt es an einer
Verpflichtung des beklagten Landarmenverbandes zu
den in dem Klageanträge von ihm beanspruchten
armenrechtlU hen Leistungen. Die Klage war daher
unter Abänderung der Vorentscheidung kostenpflichtig
abzuweisen.
Vorstehendes Erkenntniss wird hierdurch zum
öffentlichen Glauben ausgefertigt.
Berlin, den 27. Dezember 1900.
(Siegel)
Das Bundesamt für das Heimathwesen
gez. Weymann.
H e rmk es-Kiel : Ueber den Werth chirurgischer
Behandlung von Neurosen und Psychosen.
In der vorliegenden Arbeit wird über operative
Eingriffe berichtet, welche bei genuiner Epilepsie,
Rindenepilepsie etc. gemacht werden sind; besonders
interessant sind die Angaben über die bei Hysterie
ausgeführten Operationen. Von der chirurgischen Be¬
handlung war auch nach der suggestiven Seite hin
niemals ein Erfolg, oftmals aber eine wesentliche
Verschlimmerung zu sehen. Verf. empfiehlt daher
bei Psychosen und Neurosen eine chirurgische Be¬
handlung nur dann, wenn eine genau festgestellte
Indieation besteht: meist werden nur solche Fälle zur
Operation kommen, welche auch ohne das Bestehen
der Psychose chirurgisches Eingreifen erfordern würden.
Zur Bekämpfung der in der Schwangerschaft auf¬
tretenden Neurosen und Psychosen (Chorea gravi¬
darum, Eclampsie, Hvperemesis, Depressionszustände)
ist zuweilen die Einleitung der künstlichen Entbind¬
ung indicirt.
S trauss-Obernigk: Ueber angiospastische Gangrän
(Raynaud'sehe Krankheit).
Original from
HARVARD UNIVERSITY
Paul Brie f.
Am 3. März verschied nach längerem Krankenlager zu Bonn, w-<» er sich wegen eines Carcinoma
recti einer Operation unterziehen musste, der Oberarzt der Rhein. Pmv.-Heil- u. Pflegeanstalt Grafen¬
berg Dr. Paul Brie im 43. Lebensjahre.
Er w'ar vom 1. XII. 86 an Rheinischen Prov.-Anstalten thätig, zuerst als Assistenzarzt in Bonn,
dann als II. Arzt in Andernach und Düren und seit dem 1. April 1898 als Oberarzt in Grafenberg.
Sein allzufrühes Dahinscheiden, das ihn mitten aus seinem unermüdlichen, von hohem Pflicht¬
gefühl getragenen Arbeiten hinwegraffte, ist um so tragischer, als er am 1. April dieses Jahres das ihm
durch das einstimmige Vertrauen des Provinzial-Ausschusses übertragene Amt des Direktors der dem¬
nächst zu eröffnenden Prov.-Hcil- und Pflegeanstalt Johannistal bei Süchteln antreten sollte
Die Psychiatrie verliert in ihm einen wissenschaftlich und praktisch gleich hervorragenden Ver¬
treter, und unsere Zeitschrift einen geschätzten Mitarbeiter.
1905 ] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Das 1862 von Raynaud unter dem Namen sym¬
metrische Gangrän veröffentlichte Krankheitsbild führt
diese Bezeichnung mit Unrecht, da es bald einseitig,
bald doppelseitig, kaum jemals aber streng symme¬
trisch auftritt. Die Krankheit, welche meist Finger
und Zehen, nächstdem auch Nasen, Ohren und Wangen
betrifft, wird nach der Ansicht des Verf. durch einen
Gefässkrampf hervorgerufen und ist daher als Angio¬
neurose aufzufassen, die bald als selbständiges Leiden,
bald auf der Basis anderweitiger Erkrankungen des
Nervensystems sich entwickelt. Zur Unterscheidung
von anderen Formen der Spontangangrän wird die
Bezeichnung angiospastische Gangrän vorgeschlagen.
Kufs-Sonnenstein: Beitrag zur Syphilis des Ge¬
hirns und der Hypophysis und zur Differentialdiag¬
nose zwischen der Tuberkulose und Syphilis des
Centralnervensystems.
Bei einer 47 jährigen Frau mit dem Krankheits¬
bild der dementen Form der Dementia paralytica
wurde mit grösster Wahrscheinlichkeit Himlues diag-
nosticirt, da eine charakteristische Erkrankung der
Leber vorlag. Antiluetische Behandlung war ohne
Erfolg. Die Section ergab die Richtigkeit der
Diagnose: Lues cerebri convexitatis combinirt mit
Gumma der Hypophysis und Gummata in einer
cir rhotisch gelappten Leber. Die Tumoren des
Gehirns und der Hypophysislumor hatten grosse
Aehnlichkeit mit Solitärtuberkeln.
Scheven - Rostock: Ueber den Einfluss der
Anämie auf die Erregbarkeit der weissen Substanz
des Centralnervensystems.
Auf Grund von Versuchsergebnissen an Kanin¬
chen und Hunden erscheint die Annahme berechtigt,
dass bei der Anämisirung des Centralnervensystems
die weisse Substanz in ähnlicher Weise wie die graue
ihre Erregbarkeit durch den Indicationsstrom ein-
büsst.
R e n tsch - Sonnenstein : Ueber zwei Fälle von
Dementia paralytica mit Hirnsyphilis (Pseudopara¬
lysis syphilitica nach Jolly).
Bei den Sectionen von zwei Fällen, die klinisch
vollständig das Bild der allgemeinen progressiven
Paralyse geboten hatten, fanden sich specifische Ver¬
änderungen als Nebenbefunde: das eine Mal Arte¬
riitis gummosa der basalen Hirnarterien, das andere
Mal ein Gumma zwischen Chiasma und Carotis in¬
terna. Es handelte sich beide Male um gleichmässig
fortschreitende Verblödung, die Krankheitsdauer be¬
trug 2 resp. 1 1 h Jahr.
Meyer- Königsberg: Ueber Autointoxications-
psychoSen.
Bei verschiedenen Krankheiten, besonders nach
Magendarmerkrankungen, kommen Fälle vor, bei
denen das psychische Krankheitsbild im Verein mit
den körperlichen Erscheinungen auf eine Autointoxi-
cation hinweist. Eine specifische Autointoxications-
psvchose giebt es jedoch nach Verf., der 8 Fälle
ausführlich mittheilt, nicht. Ein Teil der Fälle ge¬
hörte dem Delirium acutum an, ein anderer verlief
unter dem Bild einer nicht agitirten, traumhaften Be¬
nommenheit mit Ineohärenz, erschwerter Auflassung,
Neigung zu Perseveration und Stereotypie, sowie
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vielfach mit eigenthümlich wechselnden hvsteriformen
Zügen.
Reichardt - Würzburg: Das Verhalten des
Rückenmarkes bei reflectorischer Pupillenstarre.
Verf. hat bei 35 klinisch gut beobachteten und
später mikroskopisch untersuchten Fällen gefunden,
dass für die Pupillenstarre als charakteristisch anzu¬
nehmen ist: eine bestimmte (endogene) Degeneration
im ventralen Theil der Zwischenzone, vorwiegend des
dritten Cervicalsegmentes. Die reflectorische Pupillen¬
starre ist also Symptom einer Rückenmarks er-
kran kung. Arnemann - Grossschweidnitz.
Bibliographie
über Kriminal-Anthropologie und Verwandtes.
III. Quartal 1904
Von Medicinalrath Dr. P. N äcke in Hubertusburg.
Ward: Sociologie von heute. Innsbruck 1904.
Laurent: Sexuelle Verirrungen. Sadismus und Maso¬
chismus. Deutsche Ausgabe. Berlin, Barsdorf
1904. 5 M.
Lauertz: Der Kampf um den Darwinismus. Polit.-
anthropol. Revue 1904, No. 4.
de Lapouge: Grundfragen der historischen Anthro¬
pologie. Ibid.
Penka: Cultur und Rasse. Ibid.
Woltmann: Ursprung und Blüthe der italienischen
Malerei. Ibid.
Gernandt: Aus dem Hindu-Gesetzbuch des Manu.
Ibid.
de Blasio: Polimastia perivulvare. Rivista mensile
di psich. for. etc. 1904. No. 5.
Penta: Anomalie mammarie nei delinquenti mino-
renni. Ibid.
H offmann: Ein Beitrag zu den angeborenen Sakral-
geschwülsten. Diss. Leipzig 1904.
Engelmann: Ueber Vererbung und Anpassung.
Vortrag. Ref. in d. Münchener medic. Wochen¬
schrift No. 26. 1904.
Reichard: Angeborener totaler Defect beider Fibulae.
Nach. Ref. Ibid.
Ganter: Untersuchungen auf Degenerationszeichen
bei 251 geisteskranken Männern. Archiv für
Psych. Bd. 38, H. 3.
Wechsel mann: Ueber Dcrmoidcysten und para¬
urethrale Gänge der Genitoperinäalraphe. Archiv
f. Dermatol, und Syphilis. 1904, pag. 123.
E. Schultze: Bemerkungen zur Paranoiafragc. Dtsche.
medic. Wochenschr. 1904, 3. 4.
Oliva: Due casi di inversioni sessuali. (Contin.) Annali
di’ freniatria etc. 1904. fase. 2.
Oliva: Una proposta riguardo ai Penitenziarii. Ibid.
Accinelli: Le stimmate degenerativi negli „Uomini
Illustri“ di Plutarco (Contin.) Ibid.
Bayou: Beitrag zur Diagnose und Lehre vom Kreti¬
nismus etc. Wiirzburg, Stüber, 1903.
Shukowski: Das Gehirn eines Mikrokephalen. Revue
de psych. et de neurol. 1903.
Larion ow: Die anatomischen Grundlagen der Lehre
von den Associationszentren des Menschenhirns.
Ref. Zentralbl. f. Anthropol. 1904, H. 4.
Origmal fram
HARVARD UNIVERSITY
504 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Sasse datel e w: Ueber Missbildungen des äusseren
Ohres. Ref. 1903. Ibid.
Zander: Riesen und Zwerge. Naturwissenschaft!.
Wochenschau 1904, No. 25.
Rosanow: Ueber gesteigerte und verlangsamte Ent¬
wickelung des menschlichen Körpers. Ref. i. Zentr.-
Blatt f. Anthropol. 1904, H. 4.
Uschakow: Ein Beitrag zur Frage der erblichen
Uebertragbarkeit erworbener Eigenschaften. Ref.
Ibid.
Zander: Die Zwergvölker. Naturwissensch. Wochen¬
schau 1904, No. 27.
Ammon: Beiträge zur Erforschung der Vererbung
und Auslese beim Menschen. Ibid. No. 23.
Hörschelmann: Ueber die Form der Mamma bei
der Estin etc. Zeitschr. f. Morph, u. Anthrop. 1904.
Doroschewicz: Ssachalin und die Zwangsarbeit.
1903. Ref. im Zentralbl. f. Anthrop. 1904, H. 4.
Adacki: Häufigeres Vorkommen des Musculus stcr-
nalis bei Japanern. Zeitschr. f. Morph, u. Anthrop.
r 9°4» Pag- 133-
Forster: Das Muskelsystem eines männlichen Papua¬
neugeborenen. 1904. Ref. im Zentralbl f. Anthrop.
1904, H. 4.
Dünger: Zur Lehre von der Cystenniere mit be¬
sonderer Berücksichtigung ihrer Heredität. Zieglers
Beiträge zur pathol. Anatomie. 1904, H. 4.
Poscharissky: Ueber zwei seltene Anomalien der
Sehnenfäden im menschlichen Herzen. Ibid.
Müller: Zur Lehre von den angeborenen Herz¬
krankheiten. Korrespondenzbl. f. Schweizer Aerzte
1904, No. 12.
Greef: Kind mit verschiedenen Missbildungen infolge
amniotischer Verwachsungen etc. Vorstellung. Ref.
Münchener medic. Wochenschr. 1904, No. 27.
Buttermilch; Fall von Hermaphroditismus spurius
masculinus. Ref. Ibid.
Swoboda: Ueber Zwitterbildung. Ref. Ibid.
Dewey: A Case of Circular Insanity, studied from
Chinical, Differential, and Forensic Standpoints.
Journal of the Americ. Medicin. Association,
April 30. and May 7., 1904.
Spitzka: Hereditary resemblanccs in the brains of
three brothers. Americ. Anthropologist 1904, No. 2.
H e i d 1 e n : Vormundschaft oder Pflegschaft. Vortrag,
gehalten auf der Vcrsamml. von Juristen und
Aerzten in Stuttgart 1903. Jurist.-psvrhiatr. Grenz¬
fragen, Halle, Marhold, 1904.
Kreuser: Ueber Paranoia. Ibid.
Wollen berg: Ueber das Queruliren Geisteskranker.
Ibid.
Gaupp: Ueber moralisches Irresein und jugendliches
Verbrecherthum. Ibid.
Fauser: Ueber die Bedeutung der neueren Ent¬
wickelung der Psychiatrie für die geiichtliche
Medicin. Ibid.
Wildermuth: Ueber die Zurechnungsfähigkeit der
Hysterischen. Ibid.
Daiber: Statistische Erhebungen über die forensischen
[Nr. 50.
Beziehungen der württembergisehen Irrenanstalts¬
pfleglinge. Ibid.
A limaras: Ein Fall von Situs transversus partialis.
Diss. Freiburg 1904.
Lugaro: Una proposta di terapia chirurgica nella
pazzia morale. Rivista di patologia nervosa e
mentale. Luglio 1904.
Schi'il e : Ueber die Frage des Heirathens von früheren
Geisteskranken. Leipzig 1904, Hiozel.
Capanove: Les femmes dans la foule et leur
responsabilite criminelle. These de Bordeaux. 1904.
Hey: Das Ganser’sche Symptom, seine klinische und
forense Bedeutung. Berlin, Hirschwald, 1904.
He gar: Das Stottern vor dem Strafrichter. Allgem.
Zeitschr für Psych. etc. Bd. 61, H. 4.
Reichardt: Ueber acute Geistesstörungen nach
Hirnerschütterung. Ibid.
^Fortsetzung folgt.)
Unter den vielerlei Kaffeeersatzmitteln hat sich der
„Natnral-Malzkaffee**
der Firma L. Rübsam in Bamberg, Bayern, einen hervor¬
ragenden Platz errungen. Er findet in vielen Piovinzial- und
Privat-Irrenanstalten, Sanatorien, Hospitälern und Kranken¬
häusern ständig Verwendung. Von den drei zur Herstellung
gelangenden Sorten derselben scheint Nr. II den meisten An-
ktang zu linden. Eine Analyse dieses Malzkaffees seitens des
öffentlichen Untersuchungslaboratoriums für die Brauindustrie
Dr. Karl Scholvien, Mühlhausen i. Thür., vom November
v Js. ergab:
O
a e
+-* —
4> G
a
~ G
§
Bezeichnung
Ui
<D
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s
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2 j- 3
Geschmack
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S-S "
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%
°/0
%
%
Nr. I aus
Süssmalz-
Caramclmalz
5> ! 4
94,86
45,9
48,4
geschmack
Nr. II aus
Grünmalz
4. 2 3
95,77
44,5
46.5
\ Sehr angenehm
Nr. III aus
> kaffeeartiger
Grün malz
6,57
93,43
4i,3
44,2
j Geschmack
Bohnenkaffee
Reiner Kaffee-
ä Pfd. 1,60 M.
4,2i
95,79
24.0
■
24,7
geschmack
.... Der Nährwerth der 3 Naturell-Malz kaffees beläuft
sich fast aufs doppelte von dem des Bohnenkaffees, ohne die
schädlichen Eigenschaften des letzteren zu besitzen ....
Alles in Allem sind Ihre Produkte, besonders aber No. II,
als „hervorragend“ zu bezeichnen. Die vollen üppigen Körner
weisen auf Verarbeitung von nur prima Gersten hin, die Röstung
ist eine äusserst gute, da verbrannte Körner in Ihren Proben
nicht zu finden waren.“
___•_
Dieser Nummer liegt je ein Prospekt
über
„Kan ol d V s Tama ri n d en‘‘ aus Gotha,
sowie der Firma
C. F. Boc h rin g er & Söhne, Waldhof-Mannheim,
bei, die wir geneigter Beachtung empfehlen.
1 ür di*n 1 rd.u tioiUM i' :i ’l lu-il \t-r.uitvMi: ii.i h : Obi rar/t l)r. J. r, I.ublini*# (Schreien).
Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Iuscratenannuhme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag vi n (. a 1 I M;;rt .j j in Hallt t c
Ilevneniann’sche Burhdruckerei Wc’fO Halle a. S.
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HARVARD UNIVERSITY
Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift.
Redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Lublinitz (Schlesien}.
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adrei««*: Marho Id Ver lag, Hallesaale. Fernsprecher 2834.
Nr. 51.
8 März.
Bestellungen nehmen jede ßuehhandlnng. die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die jspaltige Petitzeil« mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Ermäßigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten.
Analytische Untersuchungen der Symptome und Associationen
eines Falles von Hysterie (Lina H.).
Von Dr. I 4 ranz Riklin , bisher 1 . Assistenzarzt am Burghölzli, z. Z. Sekundararzt an der Züricher Pflegeanstalt Rheinau.
(Fortsetzung.)
C. Experimenteller Theil.
( A s s ociations versuche.)
In einer vorläufigen Mittheilung*) über die Asso¬
ciationsversuche bei Hysterischen wurde der Ver¬
such gemacht, den hysterischen Reactionstypus von
jener Form des- normalen -Co mp le K l ypu » abauWi*#»*,
wo der in den Associationen wirksame gefühlsbe¬
tonte Complex „verdrängt“ ist.**) Wir haben dort
gefunden, dass z. B. Anwendung von Citaten, Reac-
tionen in Satzform, Perseveration einer angeregten
Vorstellung, Assimilation der Reizwörter im Sinne
des Complexes, halbbewusstes oder unbewusstes Miss¬
verstehen des Reizwortes, das den „Complex“ an-
regen würde, öftere Wiederholung einer Reaction im
Laufe des Versuchs***), Auftreten von Fehlern,
*) Ueber die diagnostische Bedeutung von Associations¬
versuchen bei Hysterischen, von Dr. F. Riklin.
Siehe Autoreferat, L. c.
**) Siehe z. B. Versuchsperson 1 der ungebildeten Frauen
in den Experiment. Untersuch, über Associationen Gesunder,
von Jung und Riklin. Journal, Bd. III.
***) Eines dieser Merkmale ist die Entstehung von Stereo¬
typien in den Reactionen, die vielleicht einmal in der Psycho¬
logie der Dementia praecox eine gewisse Bedeutung erlangen
wird. Inunserer Arbeit „Exper. Untersuch, über Assoc. Gesunder“
finden wir ein Beispiel angeführt: (Versuchsperson 5 , gebildete
Männer).
Die Reaction
Küssen — gestern
lieben — gestern (Aus dem Zusammenhang
schon (verstand: schön) — gestern > herausgenommeu nnd zu-
Wunder — gestern sammengestellt.)
beten — gestern
bezogen sich alle auf den gleichen erotischen Complex. Die
Reaktion „gestern“ wäre unsinnig, wenu nicht die Erinnerung
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d. h. Mangel einer verbalen Reaction auf das Reiz¬
wort, infolge einer plötzlichen bewussten oder unbe-
an ein kleines Geschenk von der Dame, welche von der Versuchs¬
person verehr wurde, aus den letzten Tagen darangeknüpft wäre.
Bei „Wunder“ und „beten“ spielten bekanntlich religiöse Motive
mit, die in engstem Zusammenhänge mit der Liebesgeschichte
standen.' Bei einer andern Versuchsperson (No. 4 der gebildeten
Männer in unserer Arbeit über Assoc. Gesunder) hat die
Reaction „böse“ eine ähnliche Funktion. Sie vertritt eine
Sanze glückliche Liebesgeschichte.
Zuerst trat diese Reaction auf beim Reizwort freundlich :
freundlich — böse.
Dann in einem neuen Versuche bei
React. No. 14 trotzig — böse 0,8 sec. Vp. dachte sich: Mein
Schatz ist nicht trotzig, aber selbstbewusst.
„ „ 19 stolz — böse 0.8 sec. Sie ist stolz.
„ „22 bös — böse 0,3 sec. Mit deutlicher Vorstellung
seiner Geliebten.
„ „ 74 wild böse 0,8 sec. Weckt einfach die Erinne¬
rung an die Geliebte.
„ „78 fremd — böse 1,0 sec. „Wir sind uns nicht
mehr fremd“.
Die React. böse ist nur noch sprachmotorische
Vertreterin des Gedankens an die Geliebte, wäre
sonst sinnlos.
„ „ 86 falsch — böse 1,3 sec. Weckt die Erinnerung an
den erotischen Complex.
„ * 87 Angst — böse 1,0 sec. Angst vor unangenehmen
Folgen bei früheren Liebesgeschichten. „Böse“
vertritt also einen erweiterten erotischen Complex
„ „ 94 still — böse 1,0 sec. Weckt den erotischen
„ „130 schlimm — bös 1,0 sec. Complex; das Reizw.
„ „ 170 gut — böse 0,8 sec. -ist gleichsam die un-
„ «174 hart — böse 1,2 sec. deutlich gestellte
„ „188 fein — böse 1,1 sec. Frage: „Wie verhält
sich mein Schatz?“ schliesslich kommt ja die
React. „böse 11 bei jedem Adjektiv.
„ «189 Liebe — böse 1,1 sec. Perseverat. zur vorigen
Original ffom
HARVARD UNIVERSITY
506
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 51.
wussten Hemmung; mimische Reactionen (Er-
röthen, Erblassen, Lachen, Weinen, bestimmte Be¬
wegungen, Leisesprechen etc. bei bestimmten Reiz¬
wörtern), sowie verlängerte R eactionsze i ten,
Merkmale für die Existenz verdrängter,
gefühlsbetonter Complexe sind. Wahrschein¬
lich sind die Symptomhandlungen Freud’s
ähnliche motorische ,,Complexerscheinungen“. Es ist
sogar gelungen, nachzuweisen, dass bei Versuchs¬
personen , deren Associationen anscheinend recht
objectiv, frei von Complexwirkungen scheinen, kleine,
innerhalb enger Grenzen (etwa zwischen 1 — 3 Se-
cunden) schwankende Verlängerungen der Reactions-
zeit, die bewusst meist nicht wahrgenommen werden,
auf die Wirkungen verdrängter Complexe zurückzu¬
führen sind.*)
Die hysterischen Associationen boten bis jetzt
hauptsächlich eine starke qualitative und quantitative
Vermehrung der bei Gesunden mit verdrängten Com-
plexen — es sind das fast alle Gesunden — vor¬
kommenden Complexmerkmale.
An unserem Falle lässt sich nachweisen, dass
sich diese Complexerscheinungen der Hysterischen
mit den übrigen besprochenen hysterischen Erschein¬
ungen in Parallele setzen lassen.
Eine erste Associationsreihe (156 Assoc.) wurde,
in gleicher Weise, wie wir es in den Versuchen über
Associationen Gesunder beschrieben haben, im Nov.
1902 aufgenommen, damals leider noch ohne Zeit¬
messungen. Nur auffallend lange Reactionszeiten
wurden durch ein Zeichen vermerkt.
Die zweite Hälfte der zu diesem Versuche die¬
nenden Reizwörter wurde folgenden Tags zu einem
neuen Versuche in Hypnose benutzt.
Werth voller ist ein Versuch vom 25. IV. 04,
wo 100 Associationen mit Zeitmessungen aufgenommen
und dann ein Versuch mit den gleichen 100 Reiz-
React, zeigt wieder den direkten Zusammenhang
mit dem, erotischen Complex.
Unser Material enthält noch eine Anzahl solcher Beispiele.
Gegenüber der einfachen Wiederholung der Reaction treten diese
Stereotypien auch da auf, wo sie sinnlos geworden sind, resp.
der Sinn nur noch durch die Analyse der Entwicklung festzu¬
stellen ist. Es braucht nur eine leise Anregung, um das den
Complex vertretende Reaktionswort auszulösen.
Diesem Phänomen einigermassen verwandt ist das Auf¬
treten der Symptome Herzschmerz und Weinen bei unserer Pat.
Zuerst haben sie eine ganz bestimmte Ursache, später können
sie durch alle Vorstellungen ausgelöst werden, die nur von
ferne den ursächlichen Complex berühren.
*) Dr. Jung wird noch ausführlich über das Verhalten
der Reactionszeiten in dieser Beziehung berichten.
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Wörtern in gleicher Art in Hypnose gemacht
wurde.
Es würde zu weit führen, in dieser Arbeit eine
vollständige Untersuchung dieser Associationen wieder¬
zugeben. Ich möchte nur die Momente erwähnen,
welche uns einen Vergleich erlauben zwischen dem,
was die Analyse ergeben hat, und dem, w r as in den
Associationen auffällt.
Um zu zeigen, wie viel intensiver die Complex¬
wirkungen bei Hysterie sind als bei Normalen, sind
der Arbeit zwei Reactionszeitentabellen beigegeben.
(Siehe Beilage bei Nr. 46 dieser Zeitschrift.) Jede
einzelne Säule entspricht der Dauer einer einzelnen
Reaction. Die erste Tabelle stammt von einem
Gesunden*), die zweite von unserer Patientin. Beides
sind also nicht Durchschnittstabellen; indessen ist
das Bild der Durchschnittstabellen von Normalen ein
ganz ähnliches wie Tabelle I, und Tabelle II ist der
Typus einer hysterischen Reactionszeitentabelle.
In Tabelle I entsprechen die stärkeren Erheb¬
ungen, d. h. längere Reactionen, immer Reizwörtern,
die den „Complex“ der Versuchsperson getroffen
haben. Bei Tabelle II ist das gleiche der Fall, wie
w ir noch sehen w’erden; nur ist das Bild ein viel
^yffaljendefes. . ..
Wir finden in Tabelle II se hs Colonnen, die
nicht in Schwarz angegeben sind und alle andern
überragen. Sie entsprechen sog. Fehlern (d. h.
auf das Reizwort erfolgte überhaupt keine verbale
Reaction). Es traten Fehler ein bei den Reiz¬
wörtern: lang, bös, drohen, reich, stinken.
Beim Reizwort lang sagte Pat. nach 15 Sek.: Es
fällt mir nichts ein; ich habe Sie nicht verstanden.
Ref. wiederholte das Reizwort — aber es fiel
der Pat. wieder gar nichts ein, worüber sie erstaunt
war.
In der Hypnose associirte Pat. an der gleichen
Stelle: lang—sam
eine Wortergänzung, also eine äussere, oberflächliche
Reaction. Dann gab sie folgende Auskunft: Sie
konnte bei lang nicht reagiren, weil sie durch eine
Geschichte vom Maler Lang, die sie eben gelesen
und die sie durch vieles ganz lebhaft an ihr erstes
Verhältnis mit dem Flachmaler (siehe Anamnese)
mahnte, an eine ganze Menge von „traumatischen
Cmiplexen* 4 erinnert wurde.
Der zweite Fehler trat beim Reizwort bös ein,
und Pat. rief erstaunt: Ja, was ist denn das, ich
habe ja keine Gedanken, Herr Doctor?
*) Experimentelle Untersuchungen über die Assoc. Ge¬
sunder. Versuchsperson No. 5, geh. Männer.
Original frnm
HARVARD UNiVERSITY
1905]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
507
Die Hypnose gab bei diesem Reizwort folgende
Auskunft:
Im Moment kam das Wort „artig“, das aber
sofort vergessen wurde; dann kam nichts mehr.
Ich dachte an mich selber, da ich so böse, unver¬
träglich war in letzter Zeit, weil mich alles reizte.
Pat. meinte die Zeit ihrer letzten Menses, wo sie
von neuem sexuell sehr gereizt war und masturbirte.
Es war gerade die Zeit einer neuen Exacerbation
durch die Erinnerung an die frühem, weiter oben
angeführten Abortversuche.
Beim Reizwort drohen seufzte Pat. und es
fiel ihr nichts ein. Die Erklärung kam erst bei der
Association in Hypnose: Es fielen ihr Drohgeschichten
von zu Hause ein, namentlich jene mit dem Vetter,
der sie unter Drohungen zum sexuellen Verkehr
zwang.
Das Reizwort reich musste Ref. nach 3 Sekunden
nochmals wiederholen, als wenn sie es nicht recht
verstanden hätte. Aber es fiel ihr auch dann gar
nichts ein. Sie wollte die Sache nicht verstehen:
„Ich weiss absolut nicht, wie Sie das meinen!“
Auch dieser Fehler ist sehr begründet. Das
Reizwort war auf einen Complex gestossen, der sich
auf ihre dritte Schwangerschaft bezog. Schon ihr
Vater hatte in den kräftigsten Ausdrücken über diese
Reichen geschimpft, die die schlechtesten Kerle seien.
Er bewies seine Meinung an Fällen, wo der kleine
Dieb gehängt und der grosse laufen gelassen worden
war. Als Pat. mittellos hemmlief und sich der
Prostitution ergab — was sie wirklich nur in Geld¬
nöthen that — dachte sie lebhaft an diese Ausführ¬
ungen des Vaters und die Gemeinheit der Reichen.
Ganz besonders ging ihr der Gedanke an den Vater
des dritten Kindes, jenes Kaufmanns, im Kopf her¬
um, der sie beim Verkehr so furchtbar „geplagt“
hatte. Pat. hat nie über seinen Namen Auskunft
geben wollen. Dieser ganze Complex wurde also
durch das Reizwort „reich“ geweckt, kam aber nicht
ins Bewusstsein.
Beim Reizwort „stinken“ drehte sich Pat. um
und vergrub einen Moment den Kopf im Kissen;
es falle ihr nichts ein.
Hypnose: Sie brachte es nicht fertig, „Jauche“
zu sagen und es entschwand ihr wieder, ohne dass
sie etwas anderes fand. Ob nicht die noch unange¬
nehmere Geschichte von jener Geschlechtskranken
dahinter steckt? Ich unterliess leider eine zweite
Untersuchung.
Diese „Fehler“, die wir bei Associationen
Hysterischer viel häufiger finden als bei Normalen,
nach bisherigen Zählungen mindestens im Verhält-
niss von 1 : 2 (das aber wahrscheinlich noch zu
niedrig ist), haben also etwas ganz ähnliches zu
bedeuten, wie die in der Analyse beobachteten, ab¬
gespaltenen Vorstellungen, die automatischen Com-
plexe. Sie wirken, indem sie einfach keine zuge¬
hörige Vorstellung ins Bewusstsein treten lassen. Die
Versuchsperson ist z. B. in ihrem (Ober-)Bewusstsein
ganz erstaunt, dass ihr nichts einfällt.
Oder der Widerstand, den ein abgespaltener,
verdrängter Vorstellungskomplex der Association zum
Bewussten entgegensetzt, ist so gross, dass die betr.
Vorstellung einfach nicht bewusst wird.
In diesem oberbewussten Erstaunen über das
Fehlen einer Association, dem „Nichtverstehen“ eines
Reizwortes, dem raschen Verschwinden einer auf¬
tauchenden Reaction (z. B. bös — artig) haben wir
eine Erscheinung, die uns schon bei der Analyse
unseres Falls begegnet ist. Eine Vorstellung will
auf tauchen, wird aber rasch wieder aus dem Bewusst¬
sein gerissen. Bei Dementia praecox finden
wir ein ganz analoges Symptom, dem ein von Jung
untersuchter Kranker unserer Anstalt den ganz cha¬
rakteristischen Namen „Gedankenentzug“ ge¬
geben hat. Der betr. Kranke hat sich damit um
die psychiatrische Terminologie sehr verdient ge¬
macht, und einen Ausdruck geschaffen, den die mit
diesem Symptom behafteten Kranken sofort ver¬
stehen. Frägt man einen solchen Pat.: „Leiden Sie
an Gedankenentzug?“, so versteht er die Frage so¬
gleich und giebt es durch die Antwort kund, so gut
wie wenn er, falls er Gehörshallucinationen hat, so¬
fort die Frage nach „Stimmen“ versteht.
Eine Art von Gedankenentzug, der selber unter
den Begriff der Sperrung gebracht werden muss,
haben wir also auch bei der Hysterie, wenn auch
nicht in dem absoluten, oft unüberwindlichen Grade
wie bei Dementia praecox.
Dass auch die verlängerten Reactionszeiten, auf
die wir in unserer Arbeit über die Associationen
Gesunder hingewiesen haben, gleichbedeutend sind
mit dem von Breuer und Freud in ihren Ana¬
lysen hervorgehobenen Widerstand, den die ver¬
drängten Vorstellungskomplexe der Entdeckung, dem
Bewusstwerden entgegensetzen, beweisen wieder die
Associationsversuche in Hypnose. Zwischen ver¬
längerten Reactionszeiten und Fehlern ist nur ein
Intensitätsunterschied.
Z. B. Assoc. No. 15 (Tabelle II):
Stengel—Lilien, 8,8 Sec.
In Hypnose macht Pat. die gleiche Association,
wobei sie gleichzeitig die Mimik ändert und gesteht,
es sei ihr eine unangenehme sexuelle Geschichte bei
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Original fram
HARVARD UNiVERSITY
508 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 51
Stengel eingefallen. (Das Reizwort „Stengel“ ruft,
namentlich bei Frauen, leicht eine Verlängerung der
Reactionszeit hervor. Eine Reihe von Analysen lässt
uns vermuthen, das Reizwort stosse dabei u. a. auf
die unterbewusste Vorstellung von Penis.) Der
Polizist, der sie verhaftet habe, habe diesbezügliche,
unanständige, sie äusserst hart berührende Anspiel¬
ungen gemacht. Dass als Deckwort im Bewussten
gerade Lilie, das Symptom der Unschuld, gebraucht
wird, ist gewissermaassen charakteristisch als Verdräng¬
ungsphänomen.
Assoc. 18 (Tabelle II):
Krank — das ist Blödsinn! 4,4 Sec.
Pat. will Ref. im Scherze schlagen.
In Hypnose: „Ich selber bin krank, ich bin böse,
dass man mir, wenn ich fortgehen will, immer unter
die Nase reibt, ich sei geisteskrank.“
Stolz — Dummheit, 12,2 Sec.
In Hypnose: „Dummheit und Stolz wachsen auf
einem Holz. Ich dachte an eine Pflegerin, über die
ich mich kürzlich sehr ärgerte“ (Liebeshändel).
malen — Wand, 4,8 Sec.
In Hypnose: „Mein Schatz war Wandmaler“.
Storch: (Pat. wollte das Reizwort nicht verstehen
und sagte nach 10 Sec. (!): Wie? Ich habe nicht
recht verstanden!).
Nach Widerholung des Reizwortes durch Ref.
kommt die Association :
Storch—Nest, 3,4 Sec.(!).
In Hypnose erzählt Pat. zögernd genirt, es sei
ihr nämlich die Geschichte eingefallen vom kleinen
Fritz, der noch ans Christkind, St. Niklaus und den
Storch glaubte, der die Kinder bringt. Als er er¬
fuhr , dass der Vater den Christbaum bringe und
der Vater der St. Niklaus gewesen sei, der ihn
erschreckt hatte, kam er zum Vater und sagte als
enfant terrible: Ich weiss jetzt alles; Du bist das
Christkind, Du bist der Samichlaus und Du bist
auch der Storch!
Das Reizwort stiess hier auf den Complex „Vater“
und die kleine Geschichte hat für die Pat. eine be¬
sondere Bedeutung und kam nicht von ungefähr
(ihr Vater!).
Auch hier sahen wir eine eingeübte, oberflächliche
Reaction den Grundgedanken verdecken.
Ein Theil der im Wachen gemachten ober¬
flächlichen Associationen sind Deckassocia-
tionen über Complexen, die abgespalten sind.
Z. B. verachten — kann ich nicht, 3,8 Sec.
In der Hypnose, nach noch längerer Reactions¬
zeit, sagt Pat.: „Ich bin selber nicht besser“.
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Oder z. B. Monat—Mai, 1,2 Sec.
Association in Hypnose, nach recht langer Reac¬
tionszeit: „Im wunderschönen Monat Mai“ (nochmals
oberflächl. Citat) — im Mai war die erste Geburt
(Erinnerung an die ganze damalige Lage).
Oder z. B. schlagen — Pferd, 2,4 Sec.
In Hypnose kommt mit sehr langer Reactionszeit
(ca. 20 Sec.) die Antwort: Ich bin geschlagen —
genug geschlagen worden (vergl. Anamnese).
Diejenigen Associationen in Hypnose, die anders
lauten als im Wachen, verändern sich meistens im
Sinne einer deutlicheren Constellafion, z. B.:
Reizw.
Reaktion im Wachen:
j Reaktion in Hypnose:
Kopf i
1
zerbiechen 2,0 Sek.
Kopfzerbrechen wegen
der Entlassung.
stechen
Biene 1,4 Sek. 1
!
bestechen (lange Reak¬
tionszeit).
freundlich
!
bin ich nicht, 3,0 Sek.
Ich war die letzten Tage
so unfreundlich.
tragen
Holz 1,2 Sek.
schwer.
singen
ist schön 5,8 Sek.
Ein sentimentales Volks¬
lied aus dem letzten An-
staltskonzert. .
Sitte
los 3,0 Sek.
Ich bin sittenlos gewesen.
Dumm
Nichts dergleichen sagen!
8,6 Sek.
Ich f ich bin dumm ge¬
wesen.
Zahn
weh 1,2 Sek.
1
Ich habe keine Zähne
(möchte gern künstliche
Zähne haben).
Gesetz
los 3,0 Sek.
1 i
l
1
i
— los. Pat. will nicht
weiter antworten; erst
nach langer Zeit sagt sie:
ich selber, früher.
Die Hypnose wirkt also hier wie bei der Ana¬
lyse der körperlichen Symptome: die anscheinend
gleichgültigen Associationen im Wachen decken die
Beziehungen, welche sofort zwischen Reizwort und
eigenen, manchmal verdrängten Complexen sich bilden.
Zur Vervollständigung möchte ich aus Versuchen
bei einigen andern Fällen von Hysterie noch Bei¬
spiele von Verdrängungserscheinungen in den Asso¬
ciationen anführen, resp. Fälle, wo das Reizwort auf
einen verdrängten Complex stösst (immer im Sinne
von Vorstellung plus dem entsprechenden Affekt ge¬
braucht), .und wo die Reaction eine ähnliche Rolle
spielt, wie z. B. die körperlichen Symptome bei
unserer Patientin. Die körperlichen Symptome sind,
wie schon gesagt, zum verdrängten Complex, meist
Orig mal fram
HARVARD UNIVERSITY
1905 ]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
509
durch Coexistenz (Ohrenschmerz in unserm Fall,
Geruch von verbranntem Mehl im Fall Lucy R. von
Breuer und Freud) oder als Symbole
(d. h. durch Aehnlichkeit), associirte Neben Vorstell¬
ungen, die an Stelle und zur Deckung dieses Com-
plexes im Bewusstsein erscheinen.
Ganz entsprechende Erscheinungen treffen wir
bei Associationsversuchen, wo die Reactionen in
Form von Citaten, Sätzen, Klangassociationen oder
sog. mimischen Reactionen (d. h. das Reizwort löst
statt einer gewöhnlichen verbalen Reaction neben
oder ohne diese mimische Veränderungen, Lachen,
Weinen, Zittern, Blasswerden, Unruhebewegungen,
Glänzen der Augen, Aenderungen des Ausdrucks,
aus) auftreten.
Die eben genannten Reactionskategorien ver¬
treten und verdecken, wie wir schon in unserer Ar¬
beit über Associationsversuche bei Gesunden *) nach¬
zuweisen versucht haben, den abgespaltenen Vor¬
stellungskomplex. Die sog. „Fehler“ in den Asso¬
ciationen Gesunder und Hysterischer endlich ent¬
sprechen starken, fast vollständigen Abspaltungen
des vom Reizwort getroffenen Vorstellungskomplexes
vom Bewusstsein, wie ich oben ausführte.
Ich sehe davon ab, weitere Beispiele von Fehlern
zu bringen, hingegen möchte ich einige andere Fälle
zur Erläuterung der obigen Behauptungen mittheilen.
Die schon mehrmals erwähnte Studentin, deren
Geliebter sich ihretwegen erschoss, worauf sie anfalls¬
weise hysterische Dämmerzustände bekam, glaubte
fast bei jedem Anfall oder Dämmerzustand, auch bei
leichten, wo man sich mit ihr unterhalten konnte,
Blut an der Schläfe des Arztes zu sehen (Schuss¬
wunde !) und wollte das Blut abputzen, abwischen.
Beim Reizwort putzen associirte Pat. Gummi¬
schuhe, sie brauchte 7,2 Sec. (!) dazu, eine stark verlän¬
gerte Reactionszeit, dabei lachte sie. Es ging aus An¬
gaben in Hypnose und aus Besprechungen hervor,
dass bei ihr das Reizwort putzen im Unterbewussten
sofort die Erinnerung an das Blut etc. angeregt hatte.
Gummischuhe ist also nur eine oberflächliche, ober-
bewusste Deckassodation, und die Abtrennung ist
auch so gut gelungen, dass Pat sogar oberbewusst
einen andern Affect äussert, sie lacht. Es entspricht
das ganz den angeführten Beispielen von „inadä¬
quatem“ Affect bei Hysterischen. Die gleiche Pat.
sang mit Vorliebe eine Stelle aus einem Kinderlied,
das mit den Worten anfing: „Putzen, putzen, putzen
. . . .“ Wenn ich die Ausführungen Freud’s in
Löwen fei d’s Zwangserscheinungen richtig versiehe,
*) L. c. Journal f. Psychologie u. Neurologie Bd. III.
Digitized by Google
ist das wahrscheinlich auch eine Art Symptom¬
handlung.
Eine Patientin*), der nach dem Tode des Mannes
noch ihr einziges Kind schwer erkrankte, weswegen
sie in einen hysterischen Dämmerzustand gerieth,
bildete beim Associationsversuch hauptsächlich schein¬
bar ganz objective Sätze nach Art eines Schülers.
Besonders häufig kamen Sätze mit „die Kinder“ als
Satzgegenstand, z. B.:
Bös — Die Kinder sind etwa bös, 4,8 Sec.
Anstand — Die Kinder sollen Anstand lernen,
1,8 Sec.
danken — das Kind dankt der Muttet, 2,6 Sec.
schicken — die Mutter schickt das Kind (und
ähnl.), 4,6 Sec.
Unter „Kind“ ist, wie sich herausstellte, immer
ihr Kind, namens „Roseli“ verstanden.
Nun hat sie daneben noch andere bemerkens-
werthe Deckassociationen, z. B.:
1. Schlagen — Böse Buben schlagen ein¬
ander, 6,0 Sec.
(„Was fiel Ihnen denn in der langen Zeit erst
ein ?“)
Man schlägt den Baum,
Das Roseli ist auch so wild!
Endlich: Bei Schlagen fiel ihr zuerst ein, dass
sie ihr Roseli einst, als sie Besuch hatte,
schlug, worüber sie sich jetzt Vorwürfe macht.
AehnlicHte Associationen:
2. Schlecht — Es giebt schlechte Men¬
schen, 15,4 Sec.
(„Was zuerst gedacht?“)
Es giebt auch schlechte Sachen, Gemüse.
Endlich: Ach, wenn mirmein Mann (Potator)
versprach, er wolle früh heimkommen!
3. Treue — Dienstboten sollen treu
sein. 8,0 Scc.
Analyse: Die Frau soll treu sein ihrem Mann.
Pat. hatte Angst, wenn der Mann so lange
ausblieb, er sei ihr nicht treu.
Die Pat. Frau Marie C., Fall II meiner Publi¬
kation über Ganser ’sche Dämmerzustände **), Tag¬
löhnersfrau, die auf unvorsichtige Art um 800 Frk.
kam .und deren Mann, als er es später erfuhr, sie
laut Brief verstossen wollte, worauf sie einen Ganser-
schen Dämmerzustand bekam, associirte u. a.:
*) Fall III in meiner Arbeit „Zur Psychologie hysterischer
Dämmerzustände und des Ganser \chen Symptoms* 1 . Psychiatr.
neurol. Wochenschrift, August 1904.
*•) 1. c.
Original from
HARVARD UNIVERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 51.
5io
Weiss — ist der Schnee, (2,2 Sec.) und
weisse Kleider, weisse Linge (sie lächelt, im nächsten
Augenblick bricht sie in Thränen aus): „ Leichen -
k 1 e i d e r fiel mir ein**.
Sie dachte an Suicid, wenn ihr der Mann nicht
verzeihe.
Auffallend ist, was man allerdings aus diesen Bei¬
spielen nicht schliessen kann, welche Beziehungen
sich der pathogene, so gut als möglich abgespaltene
Complex dienstbar macht. Alle möglichen Reizworte
w r eiss er auf sich zu beziehen.
D. Die hysterische (Konversion.
Breuer und Freud vergleichen die motorischen
(bei den sensiblen Symptomen, Anästhesien z. B„
hinkt der Vergleich), überhaupt körperlichen Symp¬
tome der Hysterie mit Erscheinungen, die durch
„Kurzschluss“ entstehen. Anstatt dass die intracere¬
brale Erregung einen Affect, resp. eine stark affect-
betonte Erinnerung auslöst, entladet sie sich in ein
körperliches Symptom. Der ursprüngliche Affect hat
sich nicht in einem normalen, sondern abnormen
Reflex entladen, und jede Erinnerung, welche sonst
den Affect wachrufen würde, ruft nur noch den ab¬
normen Reflex wach.
Abnorme Bahnungen, Kurzschlüsse, körperliche
Symptome können z. B. eintreten, wo ein bestimmter
Reflex durch somatische Krankheit bereits gebahnt
ist (organisch bedingte Schmerzen), oder wenn eine
bestimmte Muskelinnervation (Strecken des Armes
z. B.) im Moment des Affects willkürlich intendirt
wurde.
Es sind dies Determinirungen eines Symptoms
durch Gleichzeitigkeit. Eines der schönsten
Beispiele dafür ist das Symptom des Geruchs nach
verbranntem Mehl bei Miss Lucv R. *) Er existirte
zufällig im Momente, als die Vorstellung ins Be¬
wusstsein kam, die dann verdrängt wurde. Später
trat er an Stelle dieser verdrängten Vorstellung
auf, obwohl nicht eine innere, sondern nur eine
äussere Verbindung durch Coexistenz im Bewusst¬
sein diesen Geruch und die verdrängte Vorstellung
verknüpft.
Bei unserer Pat., Lina H., haben wir eine Menge
ähnlicher Beispiele. Die Schmerzen im Ohr existirten
gleichzeitig, als Pat. zum dritten Mal gebar. Ihre
graue Jacke weckt aber nicht die Erinnerung an jene
Geburt, sondern die Vorstellung des Ohrenschmerzes
wird wach.
Eine andere ist die Determinirung durch Sym¬
bolik, Wortspiele und Klangassociationen.
♦) Studien zur Hysterie.
Z. B. ist Erbrechen das Symbol des Ekels,
seine Genese und sein Verschwinden begründen diese
Auffassung. Dem Bewusstsein gegenüber aber ist
das Erbrechen nicht eindeutig. Die bewusste Per¬
sönlichkeit erklärt es darum gewöhnlich anders, aus
einem Magenübel z. B. Das Gleiche lässt sich von
der Abasie sagen.
Leider wissen wir nicht genau, was für Anschau¬
ungen Freud*) jetzt über die Conversionstheorie
hat Es scheint mir aber nach den Mitlheilungen
in Löwenfeld **), dass sie jetzt weniger anatomisch
sind.
Ich möchte versuchen, die körperlichen
Symptome der Hysterie andern, allgemei¬
nem Erscheinungen unterzuordnen und
den Begriff der Conversion im Sinne eines
abnormen Reflexes, einer Umwandlung psychi¬
scher Erregung in körperliche, zu umgehen, um
ihn durch einen associativen zu ersetzen.
Einmal ist schwer zu erklären, warum die con-
vertiite Erregung immer wieder eintreten muss, wenn
die ursprüngliche traumatische Affektvorstellung ge¬
weckt wird. Warum hat das Convertiren nicht den
gleichen Effect wie das Abreagiren, wenn doch ein¬
mal die Entladung als Conversionssymptom erfolgt ist?
Dann aber ist durch das Abreagiren keineswegs
der Widerstand völlig beseitigt, der auf den nun ins
Bewusstsein gezogenen traumatischen Vorstellungen
lag. Unsere Associationsversuche bei Normalen und
Hysterischen lehren, dass unter der Form von ver¬
längerten Reactionszeiten (= Widerständen) trauma¬
tische Vorstellungen auch nach wirken, die wirklich
abreagirt sind. Diese Widerstände können sich viel¬
leicht verkleinern, abstumpfen, aber keine unange¬
nehme Erinnerung kann vollständig vergessen
werden; sie macht sich z. B. im Associations¬
versuch durch verschiedene Zeichen in der Reac-
tion bemerklich. Auch abreagirte unangenehme
Erinnerungen behalten meist noch ihren peinlichen
Gefühlston.
Ich möchte die ,,traumatischen Complexe“
d. h. diejenigen unlüstvollen Erinnerungen, die kör¬
perliche Symptome auslösen, mit diesen Symptomen
zusammen als a utom atische Complexe auffassen,
die vom Bewusstsein wegen ihrer Inkomptaibilität
mit dem Bewusstseinsinhalt sich abspalten und die
aus der Vorstellung sarnmt Affect bestehen (also
ohne Conversion der intrapsychischen Erregung).
*) Breuer uud Freud: Studien p. 90.
*•) Löwenfeld: Die psychischen Zwangserscheinungen.
Leipzig uud Wien 1904. pag. 545 ff.
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Original from
HARVARD UNIVERSITY
1905.J
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Werden sie wieder erregt, so ragt ein mehr oder
weniger grosser Theil dieses abgespaltenen Complexes,
das Freud’sche Retentionsphänomen, ins Bewusst¬
sein hinein, und wird dort nicht als Antheil des
betr. Complexes, sondern als etwas Selbständiges
empfanden, für dessen Auftreten plausible Gründe
im Oberbewusstsein gesucht und gefunden werden.
(Oberbewusste Erklärungen. Falsche Verknüpfungen.)*)
Das beweist nicht, dass nicht auch der abgespal¬
tene Theil des als Automatismus ins Bewusstsein
einbrechenden Complexes erregt wird.
Z. B. hatte eine hysterische Pat., welche ich
*) Die sekundären Erklärungen automatischer Phänomene
bei Dem. praecox sind wahrscheinlich ein Analogon.
5*1
sammt ihrer Leidensgeschichte bei einem befreun¬
deten Director eines Nervensanatoriums kennen
lernte, Kältegefühle von bestimmter Form und Aus¬
dehnungsart an den Beinen. Die empfundene Kälte
war keineswegs intensiv, und doch brachten diese
Gefühle die Pat. zu Suiridgedanken; letztere sind
motivirt, wenn man die hysterische Genese des
Kältegefühls einigermaassen kennt und somit weiss,
was für ein verdrängter Vorstellungskomplex im Spiele
ist. Die Suicidgedanken werden begreiflich, wenn
die Kältegefühle, die-sich auf die bei einer gynäkolog.
Untersuchung entblössten Körpergebiete beschränken,
mit sexueller Erkaltung in der Ehe, Kinderlosigkeit
und ähnl. Zusammenhängen. (Schluss folgt.)
Der Fall Otto Weininger.
Eine principielle Untersuchung.
D ie jüngere Vergangenheit hat uns mit einer neuen
Gattung kritischer Arbeiten beschenkt: dem all¬
gemeinverständlich gehaltenen psychiatrischen Gut¬
achten über hervorragende Persönlichkeiten der Lite¬
ratur. Die unmittelbare Veranlassung für die Wahl
gerade dieses Objectes mochte der Umstand abge¬
geben haben, dass in den Arbeiten eines Schrift¬
stellers das symptomatische Material für die psychia¬
trische Untersuchung gewissermaassen öffentlich bereit
liegt; der tiefere Grund dafür, dass diese Untersuch¬
ungen überhaupt in die Erscheinung traten, liegt
jedenfalls in dem Bestreben, weiteren Kreisen eine
wenigstens ungefähre Einsicht in das Wesen geistiger
Erkrankung oder Abnormität zu vermitteln Und
dieses Bestreben selbst dient wieder einem allgemein¬
eren Bedürfniss unserer Tage: dem Bedürfniss, der
Psychologie beim Erklimmen derjenigen dominirenden
Stellung behilflich zu sein, die sie als exacte Basis
unserer Allgemeinbildung — als solche gilt sie heute
— zu beanspruchen hat, aber noch lange nicht ein¬
nimmt Von der pathologischen Seite aus hofft man
mit Recht, das Verständniss auch für die normale
psychische Function anzubahnen.
Möbius war der erste, der in grösserem Um¬
fang derartige Untersuchungen in populärer Form
unternahm. Wir verdanken ihm eine Anzahl fein¬
sinniger Analysen einer Reihe von bedeutenden Per¬
sönlichkeiten. Und es ist ein Verdienst von ihm,
sich dieser Aufgabe mit derjenigen Delikatesse ent¬
ledigt zu haben, welche die Pietät gegen jene Säulen
der Vergangenheit zu verlangen berechtigt war. Neben
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jenem formalen Vorzug — des litterarischen Tactes
— ist ihm ein zweiter wesentlicherer nachzurühmen:
er hat sich nie verleiten lassen, eine Grenzlinie ob-
jectiv-materiellen Charakters zu überschreiten, die
jeder derartigen Discussion gezogen ist.
Das psychiatrische Gutachten kann nichts
anderes sein wollen als ein Anhang zur
Biographie. Als solcher kann es insofern von
hervorragendem Interesse sein, als jede Nachricht
von Belang über einen Autor im Stande ist, einen
Lichtstrahl auf seine Production zu werfen. Es kann
über bisher vielleicht unverständliche Eigentümlich¬
keiten des Denkmodus Klarheit verbreiten, die patholo¬
gische Wurzel sonderbarer, verworrener oder überstie¬
gener Behauptungen aufdecken, für den Ausbruch un¬
begreiflicher Affecte die Erklärung finden und so die
Geschlossenheit des Charakterbildes gerade an den
Stellen retten, wo sie verloren zu gehen drohte.
Hier aber ist der kritische Punkt, wo es füi den
Psychiater gilt, einer naheliegenden Verführung aus¬
zuweichen: nachdem er fj zum guten Theil durch
kritische Betrachtung des litterarischen Nachlasses,
Einsicht in den pathologischen Zustand des Autors
gewonnen hat, darf er nie und nimmer auf jene
Litteralien zurückschliessend ein Werthurtheil über
sie abgeben. Das ist schon logisch unzulässig; man
darf nicht am Schluss einer Beweisführung das Ge¬
wicht seiner Beweismittel alteriren. Man könnte
sonst in einen Kreisprocess gerathen, aus dem es
kein Entrinnen giebt. Der schriftlich niedergelegte
Gedanke lebt sein eigenes Leben; er hat sich vor
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
512
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 51 .
aller Welt aus eigener Kraft zu verantworten; er
steht ausser allem Zusammenhang mit seinem Er¬
zeuger und seine Abkunft kann ihn weder heben
noch verkleinern. Das ist das Grundgesetz aller
Kritik; auch der kritisirende Psychiater kann sich
seiner Macht nicht entwinden. Ueberhaupt kann
die Kritik des Psychiaters ihrem Object immer nur
mit den Waffen zu Leibe gehen, die ihm adäquat
sind; handelt es sich um Philosophie, so kann man
ihr bloss mit philosophischen Argumenten beikommen,
einer Dichtung bloss mit ästhetischen. Dann wird
aber der Psychiater nur da Gelegenheit zu Bean¬
standungen finden, wo sie die besonnene Fachkritik
auch schon fand; womit gesagt sein will, dass
der Psychiater hier überhaupt nichts Neues produ-
ciren kann; dass vielmehr seine ganze Thätigkeit
in der Subsumirung bekannten kritischen Materials
unter neue Gesichtspunkte aufgeht. Und sofeme
er mit seinen Gesichtspunkten immer nur von dem
Werk weg nach dem Autor hinüber reflectirt, also
subjectivirend verfährt, kann er auch mit diesen Ge¬
sichtspunkten nichts Neues an objectiver Kritik ge¬
winnen.
Vor Kurzem ist ein actueller Fall, der Fall „Otto
Weininger“, der psychiatrischen Untersuchung unter¬
worfen worden.*) Misst man die Behandlung des
Falles an den im Vorstehenden aufgestellten Nonnen,
so zeigt sich, dass der Verfasser die Grenzen seines
Machtbereichs nicht erkannt, vielmehr ohne Scrupel
überschritten hat. Sonst würde er nicht glauben,
den Philosophen durch sein psychiatrisches
Urtheil gerichtet zu haben, würde er nicht dem
„Blitzeschleuderer“ den „Geisteskranken“ gegenüber¬
stellen. Ein Psychiater kann unmöglich bestreiten
wollen, dass ein Geisteskranker Blitze schleudern
könne; es ist verkehrt, gegen die Aeusserungen
eines Geisteskranken wegen seiner Krankheit vorein¬
genommen zu sein. Hier ist also unbesonnener
Weise der Rückschluss aus der Diagnose auf den
Werth der Gedanken gezogen worden. Dieselbe
Confundirung ist daran schuld, dass von „pathologi¬
schen Schlussfolgerungen“ gesprochen wird. Es giebt
keine pathologischen Schlüsse, sondern nur richtige
und falsche; allerdings kann ein falscher Schluss auf
einen pathologischen Zustand des Autors schliessen
lassen.
Dieser Schrift kann also der Vorwurf der Unklar¬
heit über Zweck, Ziel und Grenzen des psychiatrischen
•) Der Fall Otto Weininger. Eine psychiatrische
Studie von Dr. Ferd. Probst. Heft XXXI der „Grenzfragen
des Nerven- und Seelenlebens.“
Vorwurfs nicht erspart bleiben, weil sie aus ihrem
diagnostisch positiven Resultat falsche Schlüsse zieht
Es muss aber noch eine zweite, gegen primitivere
Forderungen der Gerechtigkeit verstossende Versün¬
digung aufgedeckt werden. Die Arbeiten Weininger’s
werden nicht erst nach dem Urtheilsspruch executirt,
sondern schon vorher. Die ganze Exploration hat
nicht den Charakter einer objectiven Untersuchung
seitens eines exacten Fachmannes, sondern den einer
erbitterten Polemik seitens eines Gegners. Von allem
Anfang an macht der Verfasser Stimmung gegen
Weininger; indem er seine „Lehre“ in Anführungs¬
zeichen setzt; indem er sein übertriebenes Selbstge¬
fühl nie erwähnen kann, ohne es mit feindseligen
Beiworten zu belegen, obwohl doch gerade hier dem
Psychiater, der wohl vor einem Symptom der Krank¬
heit stand, Objeetivität geziemt hätte; indem er sich
über Weininger’s Logik lustig und traurig macht,
anstatt unter Vermeidung jeden Affectes den Mangel
an logischer Schärfe bei hoher Stufe der Intellec-
tualität exact zu verwerthen; indem er in seinem Aus¬
zug nur Stellen citirt, die er mit Ausrufzeichen ver¬
sehen kann, so dass man die Auslassungen eines
frechen Schwachkopfes zu vernehmen glaubt und am
Schluss erstaunt ist, wenn Weininger ein Zug von
Genialität zugestanden wird. Dass diese Animosität
mitunter auch Gedanken auf den Index, setzt, die
richtig oder mindestens sehr gut discutabel sind, wie
den von der „logical insanity“ des Weibes oder den
vom unkeuschen Anpacken der Dinge durch die
Juden, sei nebenbei bemerkt. Man hat im ganzen
den Eindruck, dass die Philosophie Weininger’s vor¬
her mit allen Mitteln schlecht gemacht werden musste,
vielleicht weil die kurze psychiatrische Discussion sich
nachher kaum mit einem Worte auf die breite litte-
rarische Darlegung bezieht, vielmehr merkwürdiger¬
weise ausdrücklich constatirt, dass „Verstand und
Gedächtniss niemals Störungen zeigten“.
Der Grund aber, warum das kritische Resultat
so ganz negativ ausfallen musste, leuchtet von anderer
Seite her ein. Die resignirte Erklärung wird mehr¬
fach wiederholt, dass die Arbeit „lediglich Wider¬
spruch und heftigen Vorwurf erfahren werde“. Das
sollte allerdings bei einer Auseinandersetzung, die
lediglich einer objectiven Feststellung dienen will,
keine Rolle spielen. Wenn es trotzdem nachdrück¬
lich betont wird, so ist damit gesagt, dass die ob-
jective Feststellung in der That gar nicht der Zweck
war, sondern im stillen, vielleicht nur. halb bewusst,
beabsichtigt wurde, eine bestimmte Wirkung auszu¬
üben nämlich der — vermeintlichen oder wirklichen
— Gefahr, welche die Weininger’schen Ideen in sich
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Original fram
HARVARD UNiVERSITY
£ 9°5]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
5*3
bargen, zu begegnen. Die Vermuthung, dass dieser lassen, so war der psychopathologische Maassstab
Zweck nicht erreicht werden würde, inspirirte jene erst recht ungeeignet, zur Vergleichung einer Philo-
resignirte Erklärung. Die psychiatrische Discussion sophie mit irgend welchen anderen von wem immer
zu diesem Dienst zu zwingen, war aber ein höchst sanctionirten geistigen Werten und damit zur Dis¬
unglückliches Unterfangen: war es schon ein unum- qualification Weininger’s zu dienen,
gängliches Gebot der Objectivität, den absoluten Otto Volck.
Werth der Gedanken Weininger’s unangetastet zu
M l t t h e 1
— Berlin. Beihilfe bei Entweichung gemein¬
gefährlicher Geisteskranker. Der jetzige Heilge¬
hilfe Robert Bleckerts, der kürzlich wegen Gefangenen¬
befreiung vor der Strafkammer des Landgerichts II
zur Verantwortung gezogen wurde, war früher Offizier
der Heilsarmee und versah eine Zeitlang das Amt
eines Hilfswärters in der Irrenanstalt Herzberge. Als
solcher hatte er auch die Obhut über den dort we¬
gen Geisteskrankheit intemirten Kaufmann Kirsch,
der im öffentlichen Sicherheitsinteresse von der Polizei
der Irrenanstalt überwiesen worden war. Dieser
wollte gern aus der Anstalt heraus uud wusste das
Herz des Angeklagten dermaassen zu rühren, dass er
schliesslich sein Ziel erreichte. Er verstand es, dem
Angeklagten klar zu machen, dass er absolut nicht
geisteskrank, sondern nur das Opfer schlechter Men¬
schen geworden sei, die ihn in eigensüchtigem In¬
teresse unschädlich machen wollten und deshalb in
die Irrenanstalt gesperrt hätten. Er wusste seine
Leidensgeschichte so glaubhaft zu gestalten, dass der
Angeklagte schliesslich tiefes Mitleid mit dem Armen
empfand und dessen immer wiederholte Bitte um
Befreiung Gehör gab. Eines Tages Hess der Ange¬
klagte einen grossen Reisekorb in die Anstalt bringen,
den er angeblich dazu verwenden wollte, um ihm
gehörige Kleidungsstücke und andere Sachen wegzu¬
befördern. I n Wirklichkeit kroch aber Kirsch
in den Korb und liess sic h als Gepäckstück
aus der Anstalt hinausfahren (!). Er harrte auch in
dem etwas unbequemen Raume so lange aus, bis der
Korb an seinem Bestimmungsort, einem Hause der
Frankfurter Chaussee, angelangt war. Vor dem
Schöffengericht hatte sich herausgestellt, dass der An¬
geklagte sich bei seiner thörichten Handlung keines¬
wegs von eigensüchtigen Motiven, sondern lediglich
von seinem Mitgefühl für einen Unglücklichen, dessen
Worten er geglaubt, hatte leiten lassen. Das Schöffen¬
gericht hielt daher eine Strafe von 3 Tagen Ge-
fängniss für eine ausreichende Sühne. Hiergegen legte
der Staatsanwalt Berufung ein, indem er das Vorgehen
des Angeklagten für um so strafwürdiger erachtete,
als diesem der Kirsch als gemeingefährlich geistes¬
krank zu ganz besonderer Obhut übergeben worden
sei. Dies bestritt der Angeklagte entschieden und
behauptete, dass ihm von einer Gemeingefährlichkeit
des Geisteskranken, der nach seiner Behauptung in¬
zwischen als geistesgesund erklärt worden sei, nichts
mitgetheilt worden sei. Der Gerichtshof hielt eine
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1 u n g e n.
weitere Aufklärung nach dieser Richtung hin für noth-
wendig und vertagte deshalb die Verhandlung. (Nach
Berliner Zeitungen).
— Jena. Die letzte Sitzung der staatswissenschaft¬
lichen Gesellschaft befasste sich mit dem Thema der
Vorsorge für di ekrimine 11 enMinderjährigen.
Professor Dr. Binswanger, Direktor der psychiatrischen
Klinik, stellte folgende sieben Thesen auf:
I. Heraufsetzung des bedingt strafmündigen
Alters auf 14 Jahre. 2 . Der § 56 ist im Sinne des
schweizerischen Entwurfs zu ergänzen: Bei Ange¬
schuldigten zwischen 15 und 18 Jahren muss die
nothwendige sittliche und geistige Reife erlangt sein,
um sie für ihre Handlungen strafrechtlich verantwort¬
lich zu machen. 3. Jeder Bestrafung soll eine er-
ziehungs- und vormundschaftsamtliche Behandlung
des Falles vorausgehen; die straffälligen, bedingt
strafmündigen Personen sollen von dieser Behörde
beurtheilt und je nach dem Befunde dem Strafrichter
oder der Zwangserziehung überwiesen werden. 4. Der
Strafvollzug hat bei den Jugendlichen in besonderen
Anstalten zu geschehen, in welchen der Zweck der
Erziehung und Besserung der Sträflinge in erster
Linie steht. Alle kurzen Freiheitsstrafen, Haft und
Gefängniss sind als zwecklos zu verwerfen. 5. Die
einzige verlässliche, vorbeugende Maassregel gegen die
auffällige Vermehrung krimineller Minderjähriger ist
die Fürsorge nicht nur für die sittlich verwahrlosten,
sondern auch für die sittlich gefährdeten Kinder
durch den weiteren Ausbau der Fürsorgeerziehung.
Es gilt dies nicht nur für die materiell, sondern auch
für die moralisch verlassenen Minderjährigen. 6. Die
Strafverfolgung eines in Zwangserziehung befindlichen
kriminellen Jugendlichen ist nur nach Einholung eines
Gutachtens der Anstaltsleitung und ihrer Einwilli¬
gung zulässig. Die Zwangserziehung kann unter
gleichen Voraussetzungen bei verurtheilten Jugendlichen
durch die Strafhaft ersetzt werden. 7. Handelt es
sich um sittlich gefährdete oder verwahrloste Kinder,
bei welchen Erziehungsversuche sowohl in intellectu-
eller als moralischer Beziehung aussergewöhnlichen
Schwierigkeiten begegnen, so hat die Anstaltsleitung
eine fachärztliche Untersuchung und Beobachtung
dieser Insassen in die Wege zu leiten. In^gleicher
Weise muss schon in der Voruntersuchung, falls es
sich um die strafrechtliche Beurtheilung eines bedingt
strafmündigenjugendlichen handelt, ein s a chverständiger
Arzt hinzugezogen werden, sobald d a s Vorhanden-
Original frnm
HARVARD UNIVERSITY
5*4
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 51.
sein einer krankhaften geistigen Minderwerthigkeit einer¬
seits durch die Art der Straf handl ungen, andererseits
durch den Entwicklungsgang und das Verhalten des
Angeschuldigten wahrscheinlich gemacht wird.
In der Diskussion wurde das Beispiel anerkannt,
das die Stadt Frankfurt a. M. in der Fürsorgeerzie¬
hung gegeben hat, und gewünscht, dass sich die Kom¬
munalbehörden grösserer Städte anschliessen, so lange
der Staat eine abwartende Haltung einnimmt.
(National-Zeitung.)
— M arburg. Der Direktor der hiesigen Irrenheil¬
anstalt, Medizinalrath Professor Tuczek, machte kürz¬
lich nach einem von ihm gehaltenen Vortrag über
moderne Fürsorge für Geisteskranke die Mitteilung,
dass im hiesigen Regierungsbezirk die Gründung
eines Vereins für entlassene Geisteskranke im Werke
ist.
— Brandenburgischer Provinziallandtag.
Auf den Antrag des Landesdirektors Frhrn. von
Manteuffel wählte der Landtag den ersten Oberarzt
und stellvertretenden Direktor der Landesirrenanstalt
zu Neu-Ruppin Dr. med. Knörre zum Direktor der
neu zu erbauenden Landesirrenanstalt zu Teu p i tz mit
der Maassgabe, dass er vom 1. April 1907 ab Direktor
ist, die Funktionen des Direktors aber schon vom
1. April 1905 ab ausüben soll, damit er den Bau der
Anstalt vom Standpunkt des Irrenarztes aus
überwachen kann.
— Die französischen Irrenärzte über Luise
von Koburg. (vrgl. Seite 257). Soviel über das Er-
gebniss der Begutachtung der Prinzessin Luise von
Koburg seitens der französischen Irrenärzte (Gar¬
nier und Magnan) bisher in die Öffentlichkeit ge¬
drungen ist, sollen die beiden Aerzte übereinstim¬
mend zu dem Schlüsse gekommen sein, dass Luise
von Koburg nicht so gestört sei, dass sich eine fer¬
nere Einschliessung in einer Anstalt rechtfertigen
Hesse; eine solche Maassnahme wäre vielmehr unge¬
recht und unzweckmässig und vor allem durch die
Verhältnisse keineswegs geboten. (??) Dagegen erkann¬
ten die Herren ohne weiteres an, dass sie es mit
einer nicht mehr normalen, sondern „erblich stark
belasteten“, exzentrischen, capriziösen und extrava¬
ganten Person zu thun hatten.
— Entscheidungen des deutschen Bundesamts
für das Heimathswesen. (Fortsetzung s. S. 499).
Im Namen des Königs!
In der Verwaltungsstteitsache
der Stadtgemeinde Breslau, vertreten durch den
dortigen Magistrat, Klägerin
wider
den Königlichen Regierungspräsidenten zu Breslau,
Beklagten,
hat das Königliche Oberverwaltungsgericht, Erster
Senat in seiner Sitzung vom 29. April 1904,
an welcher der Präsident Peters und die Ober-
verwaltungsgerichtsräthe: v. Templhoff, Genzmer,
Dr. Scholz und Lohsec theilgenommen haben,
für Recht erkannt,
dass die Klage gegen die Xwangsetatisiiungs-
verfügung des beklagten Königlichen Regierungs-
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Präsidenten vom 28. September 1903 abzuweisen
und die Kosten, unter Festsetzung der Wertbe
des Streitgegenstandes auf 275,95 Mk., der
Klägerin zur Last zu legen.
Von Rechts wegen.
Gründe.
Der zu Breslau geborene und dort wohnhafte An¬
streicher Otto Brieger ist während der Verbüssung
eine? gegen ihn verhängten Zuchthausstrafe in Geistes¬
krankheit verfallen, zunächst in die Irrenanstalt zu
Dalldorf, dann in die zu Plagwitz gebracht worden
und aus der letzteren am 5. Mai 1899 als „gebessert“
aber „noch nicht haftfähig und geistesgesund“ nach
Breslau entlassen worden. Dort wurde er wieder¬
holt wegen Diebstahls verhaftet, die Strafverfolgung
aber stets nach kurzer Zeit wieder eingestellt, weil
die Fortdauer der Geisteskrankheit durch gerichts¬
ärztliches Gutachten festgestellt wurde. Insbesondere
wurde Brieger am n. September 1902 bei einem in
Breslau verübten Diebstahle betroffen und in das
dortige Untersuchungsgefängniss eingeliefert. Nach¬
dem er am 3. und 10. Oktober 1902 vom Gerichts¬
arzt untersucht worden war, und dieser sich für die
Fortdauer der Geisteskrankheit, aber auch der Ge¬
meingefährlichkeit ausgesprochen hatte, verfügte der
Staatsanwalt bei dem Königlichen Landgericht in
Breslau am 10. Oktober 1902 die Einstellung des
Strafverfahrens und beantragte bei dem dortigen
Amtsgericht die Aufhebung des am 15. des vorher¬
gegangenen Monats erlassenen Haftbefehls. Den am
11. Oktober 1902 gefassten Aufhebungsbeschluss über*
sandte er am selben Tage der Inspection des Unter¬
suchungsgefängnisses mit dem Ersuchen, Otto Brieger
dem Königlichen Polizeipräsidenten zu Breslau zuzu¬
führen. Den Polizeipräsidenten selbst ersuchte er,
Otto Brieger, den er als gemeingefährlichen Geistes¬
kranken bezeichnte, in einer Irrenanstalt unterzu¬
bringen und aus dieser nicht ohne vorgängige Ver¬
ständigung mit ihm zu entlassen, theilte auch dabei
mit, dass er die Entmündigung Briegers herbeizu¬
führen beabsichtige. Der Polizeipräsident hörte hier¬
auf zunächst den Kreisarzt und ordnete, als auch
dieser sich dafür aussprach, dass Brieger fortdauernd
geisteskrank und gemeingefährlich sei, am 12. Oktober
1002 dessen Zuführung an die Direktion des König¬
lichen Strafgefängnisses zu Breslau zum Zwecke seiner
Aufnahme in die damit verbundene Irrenabtheilung
an, die durch Erlass des Ministers des Innern zur
vorläufigen Aufnahme polizeilich unterzubringender
Geisteskranker bestimmt war. Gleichzeitig benachrich¬
tigte er den Magistrat zu Breslau von der getroffenen
Maassregel und ersuchte ihn, entweder den Geistes¬
kranken in eigene Fürsorge zu übernehmen und in
einer geeigneten Anstalt unterzubringen oder doch
die Pflicht zur Tragung der bisher erwachsenen und
künftig noch etwa erwachsenden Kosten anzuerkennen,
wobei er begründend bemerkte, dass nach seiner
Ansicht ein Fall der öffentlichen Armenpflege vor¬
liege, dass aber auch dann, wenn die Unterbringung
des Kranken als eine im sicherheitspolizeilichen Inter¬
esse erfolgte Maassregel anzusehen sei, dennoch ihre
Original from
HARVARD UN1VERSITY
*9°5-D
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
515
Kosten von der Stadtgemeinde zu tragen seien. Die
städtische Armendirektion lehnte jedoch das Er¬
suchen ab. Weitere Versuche des Polizeipräsidenten,
die Aufnahme Otto Briegers in eine der Provinzial¬
irrenanstalten zu erreichen, scheiterten, er wurde des¬
halb in der Irrenabtheilung des Strafgefängnisses bis
zum 2. Februar 1903 belassen, und an diesem Tage
auf Anordnung des Polizeipräsidenten entlassen, nach¬
dem sich der ärztliche Leiter der Irrenabtheilung da¬
hin geäussert hatte, dass eine psychische Besserung
eingetreten sei und ärztliche Bedenken der Ent¬
lassung aus der Anstalt nicht mehr entgegenständen.
Wegen Erstattung der durch seinen Aufenthalt in der
Irrenabtheilung erwachsenen Kosten' nahm der Polizei¬
präsident die Stadtgemeinde in Anspruch und wandte
sich, da die städtischen Behörden die Zahlung
weigerten, an den Königlichen Regierungspräsidenten
zu Breslau. Dieser stellte durch Verfügung vom 30.
Juli 1903 die Pflicht zur Erstattung der streitigen
Kosten mit 275,95 M. an die Kasse der Königl.
Polizeiverwaltung zu Breslau als eine der dortigen
Stadtgemeinde gesetzlich obliegende Leistung unter
Bezugnahme auf § 7 des Zuständigkeitsgesetzes vom
1. August 1883 und § 25 des zur Ausführung des
Reichsgesetzes über den Unterstützungswohnsitz er¬
lassenen Landesgesetzes vom 8. März 1871 fest und
führte begründend aus, dass die streitigen Kosten
entweder als Armenpflegekosten oder als mittelbare
Kosten der örtlichen Polizei Verwaltung anzusehen, in
einem wie im anderen Falle aber von der in An¬
spruch genommenen Stadtgemeinde zu tragen seien.
Die Stadtgemeinde beharite jedoch bei ihrer Weiger¬
ung. Deshalb ordne'.e der Regierungspräsident durch
Verfügung vom 28. September 1903 auf Grund des
§ 19 des Zuständigkeitsgesetzes vom 1. August 1883
an, dass die festgestellte Leistung mit 295,95 M. in
den Haushaltsvoranschlag des laufenden Jahres ein¬
zutragen oder als ausserordentliche Ausgabe aufzu¬
bringen sei, und begründete die Verfügung durch
Bezugnahme auf die voraufgegangene Feststellung
und Wiederholung ihrer Begründung, die er durch
Ausführungen darüber ergänzte, dass die Unterbringung
des Geisteskranken nicht lediglich im sicherhcitspoli-
zeilichen Interesse erfolgt, sondern auch zum Zwecke
der Fürsorge für ihn selbst erforderlich gewesen sei.
Gegen diese Verfügung hat die Stadtgemeinde
Breslau geklagt und ihre Aufhebung beantragt. In
erster Reihe rügt sie unzureichende Begründung der
angegriffenen Verfügung. Die getroffene Anord¬
nung werde allein auf die §§ 7 und 19 des Zu-
ständigkeitsgesezes vom 1. August 1883 und § 25
des zur Ausführung des Reichsgesetzes über den
Unterstützungswohnsitz erlassenen preussischen Landes¬
gesetzes gestützt. Aus diesen Bestiu mungen aber
folge nur die Aufsichtsbefugniss des beklagten Regier¬
ungspräsidenten; ihre Anführung könne also als
eine sachliche Begründung der gestellten Anforderung
nicht betrachtet werden. Eine solche sei auch in der
Feststellung, dass die streitigen Kosten entweder
mittelbare Kosten der örtlichen Polizeiverwaltung oder
Kosten der öffentlichen Armenpflege seien, nicht zu
finden, denn die rechtlichen Folgen seien verschieden,
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je nachdem der eine oder andere Fall vorliege.
Handle es sich um Kosten der öffentlichen Armen¬
pflege, so richte sich der Erstattungsanspruch gegen
die Klägerin als Landarmen verband. Handle es sich
dagegen um mittelbare Kosten der örtlichen Polizei¬
verwaltung, so werde die Pflicht der Klägerin aus
ihrer Eigenschaft als Aufenthaltsgemeinde hergeleitet.
Im ersteren Falle stehe der Klägerin der Rückgriff
auf andere Armenverbände zu, im anderen aber
nicht. Deshalb sei die Angabe, ob die Erstattungs¬
pflicht aus dem einen oder dem anderen Rechts¬
grunde hergeleitet werde, zur Begründung der an¬
gegriffenen Verfügung unbedingt erforderlich. Aus
dem Fehlen dieser Angabe folge daher die Auf¬
hebung der angegriffenen Verfügung wegen dieses
formalen Mangels gehöriger Begründung.
In zweiter Reihe stellt die Klägerin in Abrede,
dass die geforderte Zahlung eine ihr gesetzlich ob¬
liegende Leistung darstelle. Sie bestreitet, dass die
Kosten für Unterbringung des geisteskranken Brieger
sich als Kosten der öffentlichen Armenpflege dar¬
stellen. Im einzelnen führt sie aus, dass Brieger aus
dem Polizeigewahrsam nicht ohne Zustimmung des
Staatsanwaltes, und aus der Irrenanstalt nicht ohne
Zustimmung des Polizeipräsidenten habe entlassen
werden dürfen, dass auch seine Detention vorwiegend
wegen seiner verbrecherischen Neigungen erforder¬
lich gewesen und in keinem Stadium der Verhand¬
lung die Rücksicht auf den Geisteskranken selbst,
sondern immer nur das öffentliche Interesse maass-
gebend gewesen sei. Daraus zieht sie den Schluss,
dass es sich in der ganzen Angelegenheit nicht um
Fürsorge für einen hilfsbedürftigen Geisteskranken,
sondern um Verwahrung eines Polizeigefangenen ge¬
handelt habe, und demnach die Annahme, dass die
zu erstattenden Kosten durch einen Akt der öffent¬
lichen Armenpflege erwachsen seien, völlig ausge¬
schlossen erscheine.
Die Klägerin sucht ferner darzuthun, dass die
streitigen Kosten nicht zu den mittelbaren Kosten
der örtlichen Polizeiverwaltung gehören und bezeichnet
sie als Kosten der Landespolizei. Die Anordnung
über die Entlassung Geisteskranker aus der Strafhaft
und ihre Weiterverpflegung in Irrenanstalten würden
nicht von den Ortspolizeibehörden, sondern von den
Landespolizeibehörden, ja sogar von den Zentral¬
behörden getroffen. Sie würden auch nicht im Inter¬
esse eines örtlichen Theiles des Landes, sondern im
allgemeinen Interesse des ganzen Landes erlassen;
denn die Einsperrung eines gemeingefährlichen Geistes¬
kranken diene nicht den Interessen des Ortes, in dem
er zufällig gefangen gehalten werde, sondern der All¬
gemeinheit. Mindestens müsse es für ausgeschlossen
erachtet werden, dass die Staatsverwaltung Kosten,
die durch Verhaftung von Geisteskranken an andern
Orten entständen, dadurch zu Kosten der örtlichen
Polizeiverwaltung der Stadt Breslau mache, dass sie
die verhafteten Personen nach dem Gefängniss in
Breslau schaffe und der dortigen Polizeibehörde die
weitere Fürsorge überlasse. Die Fürsorge für derartige
Personen gehöre nicht zu den in $ 1 des Gesetzes
vom 11. März 1850 begrenzten Aufgaben der Orts-
Original frnm
HARVARD UNIVERSITY
516 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 51
polizei, sondern liege nach § 13 Nr. 2 der Verord¬
nung wegen verbesserter Einrichtung der Provinzial¬
behörden vom 30. April 1815 den Regierungen ob.
In betreff der Ausländer sei dies in einem gleich -
liegenden Falle durch Erlass des Ministers des Innern
vom 24. Dezember 1901 anerkannt worden. Für
den Fall, dass die streitigen Kosten indess zu denen
der örtlichen Polizeiverwaltung zu rechnen seien, be¬
hauptet die Klägerin, dass sie nicht mittelbare
sondern unmittelbare Polizeikosten seien und beruft
sich auf die Aufzählung in § 2 des Gesetzes vom
20. April 1892, in der unter anderem auch Polizei-
gefängnisskosten aufgeführt sind.
Der beklagte Königliche Regierungspräsident be¬
antragt Abweisung der Klage. Er hält die Begrün¬
dung der angegriffenen Verfügung formell für aus¬
reichend und sachlich für zutreffend, weil die gesetz¬
liche Pflicht zur Erstattung der streitigen Kosten die
Klägerin sowohl dann treffe, wenn sie Kosten der
öffentlichen Armenpflege seien, wie dann, wenn sie sich
als mittelbare Kosten der örtlichen Polizeiverwaltung
kennzeichneten, und weil seine Zuständigkeit zur Fest¬
stellung der streitigen Leistung in einem wie im anderen
Falle begründet sei. In erster Reihe behauptet er indess,
dass ein Fall öffentlicher Armenpflege voriiege. Brieger
sei als mittelloser Geisteskranker der Armenpflege und
insbesondere der Anstaltspflege bedürftig gewesen. Da
die Klägerin die Uebemahme der Fürsorge ver¬
weigert habe, so habe der Polizeipräsident die
nöthigen Anstalten von Armenpolizei wegen treffen
und zu diesem Zwecke die Unterbringung in der
Irrenabtheilung des Königlichen Strafgefängnisses herbei¬
führen müssen, da sich ein anderer Ausweg nicht ge¬
boten habe. Wenn auch Brieger sich vor der Zu¬
führung an die Polizeibehörde in Untersuchungshaft
befunden habe, so sei doch die Ueberführung in die
Irrenabtheilung des Strafgefängnisses in seinem eigenen
Interesse erfolgt, da bei ihm, wie bei jedem ähn¬
lichen Geisteskranken, auch Angriffe auf seine eigene
Gesundheit zu erwarten gewesen und er vor der Be¬
gehung von Strafthaten habe gehütet werden müssen.
Deshalb kennzeichnet sich seine Unterbringung in
der Irrenanstalt als eine Maassregel der öffentlichen,
ausserordentlichen Armenpflege. Daran ändere auch
nichts, dass die Maassregel wegen seiner Gemein¬
gefährlichkeit auch dem öffentlichen Interesse diene,
denn dies schliesse die Armenpflege nicht aus. Eine
entgegengesetzte Auffassung könne auch aus dem von
der Klägerin angeführten Ministerialerlass vom 15.
Juni 1901 nicht hcrgeleitet werden. Dieser bestimme
nichts weiter, als dass den Polizeibehörden vor Ent-
assu ng gemeingefährlicher Geisteskranker aus öffent¬
lichen Irrenanstalten Gelegenheit zur Aeusserung zu
geben sei, lege ihnen aber nicht die Befugniss zur
Entscheidung über die Entlassung bei, sondern über¬
lasse die Entschliessung, ob die Voraussetzungen für
eine Fortsetzung der Armenpflege in öffentlichen An¬
stalten noch vorliegen, auch bei gemeingefährlichen
Geisteskranken den verpflichteten Landarmenverbänden.
Deshalb könne auch daraus, dass bei der Unter¬
bringung des Brieger Rücksichten auf die öffentliche
Sicherheit mitbestimmend gewesen seien, nicht ge-
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folgert werden, dass die Kosten seiner Unterbringung
nicht als Kosten der öffentlichen Armenpflege anzu-
sehen seien.
Selbst wenn aber diese Frage verneint werde,
so bleibe doch die Pflicht zur Erstattung der streitigen
Kosten für die Klägerin” bestehen; denn diese seien
insoweit, als sie nicht Armenpflegekosten seien, zu
den Polizeikosten zu rechnen, und * zwar nicht zu den
Kosten der Landespolizeiverwallung, sondern zu den
mittelbaren Kosten der örtlichen Polizeiverwaltung.
Mit der Aufhebung des Haftbefehls und der Ein¬
stellung des Strafverfahrens sei die Aufgabe der
Landespolizei beendet und die weitere Fürsorge für
die Unterbringung des entlassenen Geisteskranken
auf die Ortspolizeibehörde übergegangen. Diese habe
die streitigen Kosten zur Herstellung eines polizei-
mässigen Zustandes verausgabt, der nicht durch ihre
eigenen Beamten, sondern durch Dritte, nämlich den
Leiter der Irrenabtheilung des Königlichen Strafgefärig-
nisses herbeigeführt sei. Derartige Aufwendungen
seien aber nach der Rechtsprechung des Oberver¬
waltungsgerichts als mittelbare Polizeikosten im Sinne
des Gesetzes vom 20. April 1892 anzusehen und des¬
halb von der Klägerin zu tragen.
Eis war, wie geschehen, zu erkennen.
Die Rüge, dass die angegriffene Verfügung einer
ausreichenden Begründung entbehre, war für verfehlt
zu erachten. Der § 19 des Zuständigkeitsgesetzes
vom 1. August 1883 schreibt freilich vor, dass der
Regierungpräsident die Eintragung in den Etat der
Stadtgemeinde beziehungsweise die Feststellung der
ausserordentlichen Ausgabe „unter Angabe derGründe' 1
verfügt. Daraus folgt jedoch nur, dass die Zwangs*
etatisirungsverfügung nicht jeder Begründung ent¬
behren darf, aber nicht, dass eine mangelhafte oder
unvollständige Begründung die Aufhebung der ge¬
troffenen Anordnung nach sich zieht Eis war aber
auch nicht einmal anzuerkennen, dass die Begründung
der angegriffenen Verfügung eine nicht schlüssige isL
Die Vorschrift, dass die Zwangsetatisirungsverfügung
zu begründen ist, hat nur den Zweck, der in An¬
spruch genommenen Stadtgemeinde erkennbar zu
machen, auf welchen thatsächlichen Voraussetzungen
und rechtlichen Erwägungen die gestellte Anforde¬
rung beruht und ihr die Möglichkeit zur Begründung
eines Angriffs gegen die Grundlage der Zwangs-
etatisirung zu gewähren. Diesem Zwecke genügt die
Feststellung,' dass die streitigen Kosten der Klägerin
gesetzlich obliegen, weil soviel unzweifelhaft sei, dass
sie entweder Armenpflegekosten oder mittelbare
Kosten der örtlichen Polizei Verwaltung seien, voll¬
kommen. Stellt die Erstaltungspflicht in dem einen
wie in dem anderen Falle eine der Klägerin gesetz¬
lich obliegende Leistung dar, und ist in beiden die
Zuständigkeit des beklagten Regierungspräsidenten zur
Feststellung begründet, wie dieser annimmt, so ist es
unerheblich, welcher von beiden Fällen vorliegt, also
auch eine Angabe hierüber zur Begründung der
Zwangsetatisirung nicht erforderlich. Wenn die
Klägerin ausführt, dass die Kosten der ausserordent¬
lichen Armenpflege den Landarmenverband treffen,
Pohzeikosten aber der Ortsgemeinde zur Last fallen,
Original fram
HARVARD UN1VERSITY
ioo 5 .] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT, •
soweit sie nicht vom Staate zu tragen sind, in ersterein
Falle auch die Möglichkeit eines Rückgriffs gegen
andere Armenverbände gegeben ist, im anderen aber
nicht besteht, so ist dies verfehlt, denn unstreitig und
unzweifelhaft wird der Landarmenverband der Stadt
Breslau durch den Stadtbezirk allein gebildet (zu
vergl. v. Brauchitsch, Verwaltungsgesetze Band III,
Anmerkung zu § 28 des Gesetzes vom 8. März
«871, Seite 609 und 610, 15. Auflage). Der Land¬
armenverband des Stadtkreises Breslau und dieser
Stadtkreis selbst sind keine von dieser Ortsgemeinde ver¬
schiedene Rechtssubjecte. Vielmehr stellen die Worte:
Landarmenverband, Ortsai men verband, Stadtkreis, Orts¬
gemeinde“, w r enn sie auf dieselbe Stadt anzuwenden sind,
nur zusammenfassende Bezeichnungen für die verschiede¬
nen Beziehungen dar, unter denen dasselbe einheitliche
Rechtssubject „die Stadtgemeinde“ als Träger von
Rechten und Verbindlichkeiten anzusehen ist. Er¬
scheint aber die Verpflichtung dieses einheitlichen
Rechtssubjects zu der geforderten Leistung sowohl
dann begründet, wenn die streitigen Kosten Armen¬
pflegekosten sind, wie dann, wenn sie sich als mittel¬
bare Polizeikosten darstellen, so ist ein Grund, wes¬
halb die Feststellung, ob das eine oder das andere
zutrifft, zur Begründung der angegriffenen Verfügung
unerlässlich sein sollte, nicht erfindlich. Mögen auch
die rechtlichen Folgen, die sich an die Erfüllung der
geforderten Leistung durch die Klägerin knüpfen
würden, verschiedene sein, je nachdem es sich um
Armenpflegekosten oder um Polizeikosten handelt,
so folgt doch daraus nicht, dass die Klägerin den
Anspruch auf eine Darlegung, ob das eine oder
das andere zutrifft, gegen den zwangsetatisirenden
Regierungspräsidenten geltend machen kann, denn
die Voraussetzung der Zwangsetatisirung ist nur die
Feststellung ihrer eigenen Leistungspflicht, nicht aber
die Entscheidungen darüber, in welche Beziehungen
sie durch die Erfüllung dieser Pflicht zu Dritten
treten würde. Diese liegt ausserhalb des Rahmens
der Zwangsetatisirung, ja selbst des zur Anfechtung
dieses gegebenen Streitverfahrens. Auch in diesem
bedarf es einer Erörterung jener Frage nur insoweit,
als von ihrer Beantwortung die Entscheidung, ob
die geforderte Leistung der Stadtgemeinde gesetzlich
obliegt und die Zuständigkeit des Regierungs¬
präsidenten zu ihrer Feststellung begründet ist, ab¬
hängt. Um so weniger konnte daraus, dass die Frage
der FeststellungsVerfügung und der darauf folgenden
Zwangsetatisirungsverfügung unentschieden gelassen ist,
ein formaler Mangel der angegriffenen Verfügung, der
zu ihrer Aufhebung nöthigte, hergeleitet werden,
vielmehr war zu prüfen, ob die Anforderung sach¬
lich berechtigt und von der hierzu befugten Behörde
festgestellt ist.
Bei dieser Prüfung aber war den Ausführungen
des beklagten Regierungspräsidenten, dass die Unter¬
bringung des Geisteskranken Otto Brieger in der
Irrenabtheilung des Strafgefängnisses sich in erster
Reihe als ein Akt der Armenpolizei darstelle, dessen
Kosten von dem zur Fürsorge verpflichteten Armen-
verbande zu tragen seien, und dass sowohl hieraus die
Pflicht der Klägerin zur Erstattung der streitigen
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Kosten, als auch die Zuständigkeit der Aufsichts¬
behörde über die Verwaltung der Angelegenheiten
der Gemeinde und des durch diese gebildeten Armen¬
verbandes zu ihrer Fesstellung folge, nicht beizutreten.
Allerdings gehört die Ausübung der Armenpolizei zu
den Aufgaben der örtlichen Polizei Verwaltung, allein
daraus erfolgt nur die Befugniss der Ottspolizei-
behörde, in dringenden Fällen den zur Fürsorge ver¬
pflichteten, aber in ihrer Ausführung säumigen Armen¬
verband zur Gewährung der Armenpflege mit polizei¬
lichen Zwangsmitteln anzuhalten (zu vergh die Ürtheile
vom 13, Juni 1876* Oktober Und * 4 - November
1880 in der Sammlung der Entscheidungen des Öte a
richtshofs Bd. I S. 337 flg., Band VII S. 129 flg. und
1 33 flg.). Liegen die Voraussetzungen vor, unter
denen ein polizeiliches Einschreiten Zütn Zwecke der
Herbeiführung öffentlicher Armenpflege geboten er¬
scheint, ist namentlich die schleunige Unterbringung
einer geistig Und körperlich erkrankten und zugleich
armenrechtlich hilfsbedürftig gewordenen Person in
einer Krankenanstalt in deren eigenem Interesse
dringend erforderlich, so hät die Polizeibehörd® den
zur Fürsorge verpflichteten Armen verband durch
polizeiliche Verfügung zu den erforderlichen Maass¬
regeln aufzufordern und deren Ausführung mit den in
§ 132 des Landesverwaltungsgesetzes vom 30. Juli
1883 gegebenen Zwangsmitteln durchzusetzen. In
Anwendung dieser darf sie auch die Unterbringung
des Hilfsbedürftigen in einer von ihr bestimmten An¬
stalt, vorausgesetzt, dass diese will, ausführen, aber
nur, nachdem sie die Anwendung des Zwangsmittels
der Ausführung ihrer Anordnung durch einen Dritten
auf Kosten des verpflichteten Armenverbandes durch
schriftliche Verfügung zuvor angedroht hat. Ist dies
geschehen, so können die Kosten der Unterbringung
des Kranken, gleich anderen Kosten der Ausführung
polizeilicher, gegen Gemeinden gerichteter Vet**
fügungen zum Gegenstände einer Zwangsetatisirung
gemacht werden, aber die Feststellung der Erstattungs¬
pflicht hat nicht von der Aufsichtsbehörde über die
Verwaltung der Angelegenheiten der Gemeinde und
des durch diese gebildeten Armenverbandes auszu¬
gehen, sondern von der Polizeibehörde, die, wie zum
Erlass der Anordnung und zur Androhung der ZU
ihrer Durchsetzung dienenden Zwangsmittel, so auch
zu deren Festsetzung und Ausführung nach §§ 132
und 133 des Landesverwaltungsgesetzes allein zu¬
ständig ist (zu vergl. Urtheil vom 18. Oktober 1901
in der Sammlung der Entscheidungen des Gerichts¬
hofs Band LXI Seite 189 flg.).
Dagegen war eine Berechtigung der Polizeibehörde
ohne weiteres und ohne vorgängigen Erlass einer
gegen den verpflichteten Armenverband gerichteten
polizeilichen Verfügung die Fürsorge für einen Hilfs¬
bedürftigen an Stelle des Armenverbandes zu über¬
nehmen, nicht anzuerkennen. Thut sie dies, so tritt
sie dem Armenverband gegenüber in die Stellung
eines Dritten, der die Unterstützung eines Hilfsbe¬
dürftigen ohne Auftrag des hierzu verpflichteten Orts¬
armenverbandes übernommen hat. Daraus können
für den zur Tragung der Amtsunkosten der Polizei¬
behörde Verpflichteten, hier der Staat, Ansprüche auf
Original frnm
HARVARD UNIVERSiTY
[N r. 51
«
518 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Erstattung der aufgewendeten Kosten entstehen, die
im Rechtswege zu verfolgen sind (zu vergl. v. Brauchitsch,
Die neuen preussischen Veiwaltungsgesetze Bd. III
S. 665, Anmerkung 3 zu § 62 des zur Ausführung
de» Reichsgesetzes über den Unterstützungswohnsitz
erlassenen preussischen Landesgesetzes vom 8. März
1871 nebst dem dort angeführten Plenarbeschluss
des Reichsgerichts vom 27. Juli 1898 in den Ent¬
scheidungen dieses Gerichtshofs in Zivilsachen, Band
XLI S. 267). Daraus folgt aber nicht die Zuständig¬
keit des Regierungspräsidenten, die Erstattungspflicht
in solchen Fällen vorläufig festzustellen, denn diese
Befugniss der Aufsichtsbehörde ist nur dann anzuer¬
kennen, wenn ein öffentliches, von ihr wahrzunehmendes
Interesse an Erfüllung der streitigen Verbindlichkeit
vorliegt. Dies ist zwar gegeben, wenn die ordnungs-
mässige Führung der Gemeindeverwaltung oder der
örtlichen Polizeiverwaltung die Leistung der Gemeinde
erfordert, wie dies bei der Erstattung von Kosten der
Polizeiverwaltung zutrifft, die den Gemeinden zur
Last fallen, aber nicht schon daraus herzuleiten, dass
der Staat oder ein anderer öffentlich rechtlicher Ver¬
band als Forderungsberechtigter in Fällen auftritt, in
denen auch ein Dritter den gleichen Anspruch er¬
heben und im Rechtswege geltend machen könnte.
Im vorliegenden Falle hat nun der Königliche Polizei¬
präsident zu Breslau zwar den dortigen Magistrat
am 12. Oktober 1902 von der Aufnahme des Geistes¬
kranken Otto Brieger in die mit dem Königlichen Straf-
gefängniss verbundene Irrenabtheilung benachrichtigt
und ihn ersucht, die Fürsorge für den Geisteskranken,
den er für hilfsbedürftig im armenrechtlichen Sinne
ansehe, selbst zu übernehmen, aber er hat die Ab¬
sicht, seine Aufforderung mit dem im § 132 des
Landes Verwaltungsgesetzes gegebenen Zwangsmittel
durchzusetzen, keinen Ausdruck gegeben und jeden¬
falls eine solche nicht in erkennbarer Form angedroht.
Vielmehr ergiebt der Zusammenhang der ganzen
Verfügung, dass ihm eine derartige Androhung völlig
fern gelegen hat, dass er vielmehr nur die Ueber-
nahme in eigene Fürsorge als eine im finanziellen
Interesse der Stadtgemeinde liegende Maassregel hat
empfehlen wollen, wie namentlich daraus hervorgeht,
dass das Schreiben vom 12. Oktober 1902 das
Hauptgewicht auf die Ausführung legt, die Kosten
der Unterbringung Briegers in einer Irrenanstalt seien
auch dann, wenn seine Hilfsbedürftigkeit im armen¬
rechtlichen Sinne nicht anzuerkennen sei, doch von
der Stadtgemeinde als mittelbare Kosten der örtlichen
Polizeiverwaltung zu übernehmen. Danach kann in
dem Schreiben vom 12. Oktober 1902 nicht eine
polizeiliche, gegen die Klägerin gerichtete Verfügung,
welche ihr die Uebernahme der Fürsorge für Otto
Brieger auferlegt, gefunden werden, sondern nur eine Be¬
nachrichtigung, dass die Polizeibehörde diese Fürsorge
selbstthätig an Stelle der Stadtgemeinde übernommen
habe und den Anspruch auf Erstattung der er¬
wachsenden Kosten seinerzeit gegen die Stadtgemeinde
geltend machen werde. Wollte man aber auch in
jenem Schreiben eine polizeiliche Anordnung finden,
so würde es doch an jeder Androhung eines Zwangs¬
mittels fehlen, und deshalb ist es ausgeschlossen, in
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den späteren Verfügungen des Polizeipräsidenten, mit
denen er die Stadtgemeinde zur Erstattung der durch
die Unterbringung Briegers in der Irrenabtheilung er¬
wachsenen Kosten mit zusammen 275,95 M. aufge¬
fordert hat, die Festsetzung angedrohtef Zwangsmittel
und damit eine innerhalb der Zuständigkeit der ört¬
lichen Polizeibehörde liegende Feststellung der Ersatz¬
pflicht der Stadtgemeinde als Ortsarmenverbandes zu
finden, die der Zwangsetatisirung zur Grundlage dienen
könnte. Hiernach aber bedarf es keiner Erörterung,
ob Otto Brieger zur Zeit der Aufnahme in die
Irrenabtheilung des Königlichen Strafgefängnisses armen¬
rechtlich hilfsbedürftig war. Auch wenn dies zu be¬
jahen ist, so folgt daraus doch nicht die Zuständigkeit
des beklagten Regierungpräsidenten zur Feststellung der
Pflicht des Armen verbandes, die durch seine Unter¬
bringung erwachsenen Kosten dem Staate oder der
staatlichen Polizeibehörde zu erstatten. (Schluss folgt.)
Referate.
— Die Entwicklung des menschlichen
Gehirns während der ersten Monate, Unter¬
suchungsergebnisse von Wilhelm H i s. Leipzig,
Verlag von S. Hirzel, 1904.
Mit gewohnter Gewissenhaftigkeit hat Verf. in der
vorliegenden Abhandlung die Entwicklungsge¬
schichte des Centralnervensystems bis
zum Schluss des ersten Monats, die Ent¬
wicklung der G e h i r n h e m i s p h ä r e n von
ihrem frühesten morphologischen Auf¬
treten bis zum vierten Monat und die intra-
medullären Faserbahnen mit besonderer
Berücksichtigung der Reihenfolge ihrer
Entwicklung beschrieben. His hat fortlaufende
Schnittreihen vom Nervensystem von Embryonen an¬
gefertigt, hat seine Schnitte photographirt und ver-
grössert, die Constructionsmethode mit Likisopapier
und Zirkel zu Hilfe gezogen und durch Anfertigung
von Glasmodellen körperliche Bilder von inneren
Gehirnstrukturen erreicht. Alle Resultate sind mit
grösster Präcision wiedergegeben und durch nicht
weniger als 115 meisterhafte Abbildungen erläutert:
die neuesten histologischen Ansichten von Bethe,
Nissl und Heuser werden berührt. Besonderes Inter¬
esse verdient der Abschnitt über die Schichten
der Hemisphärenwand und deren histo¬
logisches Verhalten. Bei einem 8 Wochen
alten Embryo fand His die Anfänge einer mit Pyra¬
miden zellen ausgestatteten Rindenschicht; die
aus der Matrix stammenden Nervableiter sind hier
in Umbildung zu Pyramidenzellen begriffen.
Mit dieser gediegenen Abhandlung hat der ehr¬
würdige Forscher Abschied von seinen Schülern und
Mitarbeitern genommen. Er hoffte seine Studien
noch erweitern zu können, bald jedoch nach Ver¬
öffentlichung des vorliegenden Werkes ist er aus
einem überaus arbeitsreichen, aber auch an wissen¬
schaftlichen Erfolgen reichen Wirken für immer ab¬
berufen worden. In der Entwicklungsgeschichte des
Gehirns wird sein Name stets einen ehrenvollen Klang
behalten! G. Ilberg.
Original fr&m
HARVARD UNIVERSITY
1 9°5-l
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
— Allgemeine Zeitschrift f. Psychiatrie
und psych.-gerichtl. Medicin. Bd. 61, H. 3.
Fuchs- Emmendingen : Ungewöhnlicher Verlauf
bei „Katatonie“.
Bei einem erblich nicht belasteten Mann, der
wahrend der Verbüssung einer Zuchthausstrafe im
47. Lebensjahre acut einen katatonischen Zustand
von l /4jähriger Dauer durchmachte, zeigte sich später
ein gleicher Zustand von 3 Ajähriger Dauer, an dem
der Kranke zu Grunde ging. Zwischen beiden kata-
tonen Schüben lag eine paranoische Zeit von über
10 Jahren, während welcher keinerlei Zeichen von
Verblödungspsychose erkennbar waren.
Flügge-Grafenberg: Ueber das Bewahrungshaus
in Düren.
Verf. berichtet über die Erfahrungen, welche in
dem für 48 Kranke eingerichteten Bewahrungshaus
zu Düren im Zeitraum von fast 3 Jahren gemacht
worden sind. Nach wenigen Wochen der Ruhe
traten schwere Zeiten ein, in denen wüstes Zerstören,
zahlreiche Entweichungen, Ausbruchsversuche und
Revolten sich in erschreckender Weise häuften;
Aerzte und Pfleger konnten sich wiederholt nicht
anders helfen, als dass sie mit der Feuerspritze vor¬
gingen. In baulicher Beziehung machten sich um¬
fassende Verstärkungen an Gittern, Sicherungen,
Thüren, Thoren und Fenstern nöthig. Auf Grund
seiner üblen Erfahrungen spricht sich Verf. dahin
aus, dass eine jede Anstalt, auch die modernste,
sich mit widerspenstigen Elementen abfinden müsse,
und dass nur da die Versetzung in das Bewahrungs¬
haus zu beantragen sei, wo nichts mehr zu ver¬
derben sei, aber andere schuldlose Kranke verdorben
würden.
Näcke-Hubertusburg: Ueber den Werth der
sogenannten „Kurven-Psychiatrie“.
Unter Kurvenpsychiatrie versteht Verf. die Ge-
sammtheit dessen in der Psychiatrie, was sich in
Zahlen und Kurven ausdrücken lässt und somit den
höchsten Grad der Exactheit erreicht. Sie steht im
Gegensatz zu der noch jetzt vielfach üblichen Ein¬
drucks-Psychiatrie. Er wünscht nun in Zukunft ver¬
mehrte Anwendung der ersteren und erwartet davon
Gewinn sowohl für die wissenschaftliche, als auch
für die praktische, nicht am wenigsten die forense
Psychiatrie, schliesslich auch für die Anstaltsein¬
richtungen.
Wend e-Kreuzburg : Ein Fall von traumatischer
Psychose.
Bei einem vorher gesunden 33jährigen Arbeiter
entwickelte sich im Anschluss an eine Kopfverletzung
geringfügiger Art eine rein traumatische Seelenstör¬
ung. Sie war, abgesehen von einer sich zeitweise
steigernden psychischen Depression, charakterisirt
durch eine bedeutende Verlangsamung bczw. Hemm¬
ung des Denkprocesses, die zu Ausfallserscheinungen
im Bereich der Willenssphäre, des Gedächtnisses, der
Merkfähigkeit u. a. führte. Daneben bestand auch
zeitweise das Symptom, welches von Ganser als„Vur-
beireden“ bezeichnet worden ist.
Fischer- Illenau: Schwangerschaft und Dieb¬
stahl.
519
Eine 29jährige Landwirthsehefrau beging während
ihrer 5. Gravidität im Verlauf weniger Stunden Dieb¬
stähle, welche sich durch ihre Schwere und Massen-
haftigkeit auszeichneten. Es Hess sich bei der erblich
belasteten Frau, welche während der Zeit der
Schwangerschaften jedes Mal psychische Abnormi¬
täten dargeboten hatte, nachweisen, dass bei ihr
während der Diebstahlshandlungen psychopathische
Momente mit im Spiele waren, welche als Nach¬
wirkung einer affectiven Verstimmung in einem leichten
Dämmerzustand des Bewusstseins bestanden und
ihren Handlungen den Charakter des Triebartigen,
nicht des frei Gewollten verliehen. Beachtenswerth
war, dass der Tag der That mit einem supponirten
wirklichen Menstrualtermin zusammenfiel. Sie wurde
freigesprochen.
Strohmayer-Jena: Ziele und Wege der Erb¬
lichkeitsforschung in der Neuro- und Psychopatho¬
logie.
Die fast allgemein übliche Massenstatistik, welche
nach dem Grundsatz verfährt: Geisteskrankheit resp.
Nervenkrankheit in der Blutsverwandtschaft, ergo
erbliche Belastung, bezeichnet Verf. als eine statistische
Misswirthschaft, gegen die Front gemacht werden
muss. Er verlangt für die zukünftige Erblichkeits¬
forschung eine auf der Grundlage der Ahnentafel
basirende Familienforschung, welche die psychischen
Gesundheitsverhältnisse eines Geschlechts über eine
Reihe von Generationen hin überschaut. Zur Unter¬
suchung geeignet erscheint nur eine leicht überseh¬
bare, wenig fluktuirende Bevölkerung einer umschrie¬
benen medicinal politischen Einheit (Stadt, Kreis,
Provinz). Als Quellen sollen benutzt werden die
Aufnahmelisten der zuständigen Irrenanstalten, die
Kirchenbücher und die Register der Standesämter;
die Mitarbeit der Hausärzte ist als unentbehrlich
nicht zu vergessen.
Meitzer- Grosshennersdorf: Die staatliche Schwach-
sinnigenfürsorge im Königreich Sachsen. I. Ihre Ent¬
wicklung und Einrichtungen.
Nach einer kurzen historischen Einleitung giebt
Verf. ein Bild von den Einrichtungen und dem Be¬
trieb der Anstalten Grosshennersdorf (für Knaben)
und Nossen (für Mädchen). Der Durchschnittsbe¬
stand von G. beträgt 250 bei einer jährlichen Auf¬
nahmeziffer von 50 Kindern, deijenige von N. 175
bei einer Aufnahmeziffer von 30. Es werden die
Aufnahmebedingungen, die Beköstigung, der Tages¬
plan, die ärztliche Thätigkeit etc. eingehend geschil¬
dert. Zum Schluss berichtet Verf., in welcher Weise
die Anstalt den Schwachsinnigen auch nach dem
Austritt aus dem Anstaltsleben Schutz und Unter¬
stützung gewährt. Arnemann - Grossschw'eidnitz.
Bibliographie
über Kriminal-Anthropologie und Verwandtes.
III. Quartal 1904.
Von Medicinalrath Dr. P. Näcke in Hubertusburg.
(Fortsetzung.)
Herting: Beiträge für die statistische Kommission.
(Ignorirung von Gutachten. Entlastung krimineller
Geisteskranker.) Autoreferat. Ibid.
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Original fram
HARVARD UNiVERSITY
520 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 51.
Berze: Zur Frage der partiellen Unzurechnungs¬
fähigkeit. Monatsschr. f. Kriminalpsvch. etc. 1904,
Bd. I.
Palante: Combat pour l’individu. Paris 1904.
Pasturel: Paralytiques generaux persecutes et dan-
gereux. Archives de Neurologie 1904, Juin.
Toulouse et Vurpas: Rapport entre l’intensite
des reflexes et l’organisation nerveuse. C.-R.
hebdom. des Seances de l’Academie des Sciences,
r 9° 4 -
Fe re: Note sur l’interet de quelques equivalents des
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Neurol. Centralbl. 1904, No. 15.
(Schluss folgt.)
Personalnachrichten.
— Tübingen. Für das Fach der Psychiatrie
habilitirte sich Dr. Johannes Finckh, Assistenzarzt
an der hiesigen Irrenklinik. Seine Habilitationsschrift
behandelt die Epilepsie.
ln einer, aus dem „Kindlein Jesu-Hospital“, Warschau stam¬
menden Arbeit „Ueber SanatOfcen*’ (Kronika Lekarska
1904, 2) hat Dr. Otto Czlane an einem umfangreichen Untersu-
cliungsmaterial—es sind ca. 60 Fälle beobachtet— die Eigen¬
schaften des Sanatogcns in verschiedener Richtung geprüft. Er
berücksichtigte zunächst die Resorbirbarkeit des Präparates
vom Magen aus und fand, dass es sowohl bei chronischen
Magenerkrankungen wie auch bei anderen Affektionen stets
schneller — ca. */ 2 Stunde früher resorbirt wurde als Hühner -
eiweiss, ohne dass später Milchsäure nachweisbar war.
Ferner hat Verfasser bei einer Anzahl von Fallen von
Nierenerkrankungen, acuter und chronischer Art, Sanatogen
verabfolgt und hat stets die völlige Reizlosigkeit desselben con-
statiit, wobei er auch nie eine Erhöhung der Eiweissausschei-
dung fand; er zieht es aus diesem Grunde auch dem Fleisch-
eiweiss bei weitem vor, das er durch Sanatogen ersetzen will.
Bemerkenswerth sind auch die in den meisten Fällen erzielten
Gewichtszunahmen, die oft eine recht beträchtliche Höhe in
relativ kurzer Zeit erreichen.
Aehnlich günstige Erfolge erzielte Verfasser bei Typhus
abdominalis, Scrophulose und Chlorose; bei letzterer gab er
cs sowohl allein als auch gleichzeitig mit Eisenpräparaten und
hat dann eine leichtere Aufnahme der letzteren constatirt.
lür den rcdaetionc 1 « n ’I iu ii verantwortlich : Oberarzt I )r. J . Brcslrr, Luühnitz iSrli esien).
Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannahme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag von Carl Marhold in Halle a. S
Ileynemann’sche Buchdruekerei ((»ebr. We’tT* b> Hallo a. S.
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Psychiatrisch - Neurologische Wochenschrift.
Redigirt von
Oberarzt Dr. Joh. Bresler,
Lablinitx (Schieden).
Verlag von CARL MARHOLD in Halle a. S.
Telegr.-Adreae: Marhold Verlag, Halletaale. Fernsprecher 2834.
Nr. 52. 25. März. 1905
Bestellungen nehmen jede Buchhandlung, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung von Carl Marhold in Halle a. S. entgegen.
Inserate werden für die jspaltige Petitzeile mit 40 Pfg. berechnet. Bei Wiederholung tritt Erniässigung ein.
Zuschriften für die Redaction sind an Oberarzt Dr. Joh. Bresler, Lublinitz (Schlesien), zu richten.
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Wir bitten die Bestellung auf die „Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift“ baldigst zu
erneuern, damit die Weiterlieferung ohne Störung geschehen kann.
Diejenigen unserer geschätzten Abonnenten, welche die Wochenschrift
durch die Post empfangen, erhalten dieselbe weiter, sofern eine Abbestellung nicht
erfolgt.
Expedition und Verlag
der „Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift“.
Analytische Untersuchungen der Symptome und Associationen
eines Palles von Hysterie (Lina H.).
Von Dr. Franz Riklin , bisher 1. Assistenzarzt am Burghölzli, z. Z. Sekundararzt an der Züricher Pflegeanstalt Rheinau.
(Schluss.)
Der ins Bewusstsein ragende Theil kann mehr
oder weniger umfangreich sein — bald ganz
ins Bewusstsein treten —, dann tritt oft ein
Dämmerzustand ein, mit eingeengtem Bewusst¬
sein, in welchem der traumatische Complex isolirt
bleibt, so dass eigentlich die Trennung von den dem
normalen Bewusstsein zugänglichen Complexen er¬
halten bleibt; bald ist z. B. durch eine unbewusste
Erinnerung geweckt, das körperliche Symptom
plus der entsprechenden Stimmung im Be¬
wusstsein (Jacke — Ohrenschmerz mit trüber
Stimmung: Weinen plus körperliches „Conversions-
symptom“). Die Stimmung besteht ja aus Gefühlen
mit einer Menge nicht deutlich bewussten einzelnen
Vorstellungselementen. Das im Bewusstsein ver¬
tretende Symptom ist dann vom gleichen affectiven
Grundton begleitet, der der abgespaltenen Vorstellung
zukommt. Auch in diesem Fall wird für die Stimm¬
ung oft eine oberbewusste Erklärung gesucht, weil
der wahre Grund der Stimmung nicht im Bewussten
liegt, sondern es sind abgespaltene Vorstellungen.
Der Affect ist gerade in diesen Füllen deutlich nic ht
convertirt.
In andern, gut abgetrennten Fällen ist nur das
körperliche, zur Zeit der Entstehung des abge¬
spaltenen Complexes mit diesem coexistente Symp¬
tom (z. B. Geruch von verbranntem Mehl bei Freud’s
Lucy R., oder verschiedene Schmerzen in meinem
Fall) im Bewusstsein vorhanden, wenn der Complex-
automatismus ausgelöst wird.
Die Stimmung im Bewusstsein kann dann sogar ganz
das Gegentheil von derjenigen sein, welc he ausgelöst
würde, wenn der ganze abgespaltene „Complex“ be¬
wusst würde. So erklären sich die angeführten Bei¬
spiele von „inadäquaten“ Affecten bei Hysterie und
die „belle indift'crence“ der Hysterischen. Aehnlich
müssen wir die mit Vorliebe betriebenen Spielereien der
erwähnten Studentin erklären, wenn sie an der Schläfe
des Arztes Rosenblätter mit Knall zerquetschte oder
Varietelieder mit dem Namen ihres erschossenen
Geliebten sang u. dgl. Letzteres sind keine directen
„Conversionssvmptomc“, denn sie entstanden nicht
direct im Moment des psychischen Traumas, aber
es sind symbolische, vom abgespaltenen traumatischen
Complex in Dienst genommene, unterhaltene und
beeinflusste Vorstellungen (wahischeinlich „Symptom¬
handlungen“ von Freud), im Bewusstsein vorhan¬
dene Functionen des unbewussten Complexes, die
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522
den Conversionssyraptomen sonst in jeder Beziehung
gleichen.
Endlich kann der Complex ganz abgespalten sein
(„Gedankenentzug“, Fehler in den Associationen).
Der „Complex“ kann also das Bewusstsein bloss
berühren oder mehr oder weniger mit ihm inter-
feriren.
Einen Unterschied zwischen ConVersionssymptom
und den übrigen im Bewusstsein nachweisbaren Func¬
tionen des verdrängten, abgespaltenen Complexes
müssen wir indessen feststellen :
Das Conversionssymptom trägt die Zeichen eines
Automatismus: Wird der verdrängte Complex
auf associativem Wege im Unbewussten erregt, so
tritt im Bewusstsein das Conversionssymptom auf.
Wir können das vergleichen mit dem Einbrechern
eines abtrünnigen Vasallen in das Gebiet seines
Königs. Auch die Entstehung des Conversions-
symptoms knüpft sich an ein ganz bestimmtes Er¬
eigniss.
Die übrigen im Bewusstsein vorhandenen An¬
zeichen eines verdrängten Complexes („Svmptomhand-
iungen“, „Complexreactionen“, in den Associations¬
versuchen , die Rosenblätter und Varieielieder der
erwähnten Studentin) sind nicht durch die gleiche
Entstehungsart fest, als Automatismus an den ver¬
drängten Complex gebunden, sondern sie sind das
Resultat von Einwirkungen des verdrängten Com¬
plexes auf den bewussten Vorstellungsablauf. Wenn
die genannte Studentin Varietelieder singt, so liegt
kein Automatismus vor ; sie singt wahrscheinlich auch
wenn kein abgcspaltener Complex sie treibt. Aber
Art und Inhalt des Singens zeigen einen Einfluss
des Complexes. Fs lässt sich dies vergleichen mit
den Beziehungen. welche sh h zwischen dem ange¬
nommenen Königreich und dem abtrünnigen Vasallen¬
staat ausbilden.
Das Abreag i ren bestände hauptsächlich in der
Zugänglichmachung des abgespaltencn Complexes, in
der Ueberführung ins Bewusstsein; dann kann er
sich eben nicht mehr als Automatismus geberrien,
er tritt in Verbindung mit korrigirenden Vorstell¬
ungen, er verfällt der „Usur“ (Freud). Das kann
auch geschehen ohne Convcision im Sinne von Breuer
und Freud. Das Abreagiten andern Personen
<re< r enüber, das viel bessei wirkt als das Ausmalen
sich selbst gegenüber, muss noch auf besondern Ge¬
setzen beruhen, nicht bloss in der Uebeifiihrung ins
Bewusstsein. Man empfindet die Wohlthat des Er¬
zählens aiu*h dann, wenn man über nicht abge¬
spaltene., nicht „convertirte“ traumatische: Erinner¬
ungen einem andern das Herz ausschüttet.
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[Nr. 52
Warum aber diese „Retentionsphänomene“ und
diese Complexanzeichen in den Associationen, diese
hysterischen Spielereien , diese Complex Vertreter im
Bewusstsein ?
Folgende Ueberlegungen zeigen vielleicht einen
Weg.
Die Schmerzen etc. sind mit dem traumatischen
Complex associirt durch C o exi st en z, nicht inhalt¬
lich. Die Symbole sind keine Symbole, sondern
banale Aehnl ichkeitsassociati onen, als solche
den ebenso oberflächlichen, nicht begrifflich, sondern
nur äusserlich an das den „Complex“ auslösende
Reizwort gebundenen Klangassociationen gleich¬
zustellen. Im gleichen Sinne oberflächlich an den
Complex associirt sind Lieder, Citate, allgemeine
Sätze etc., die wir gleichsam als Deckassociationen
über den Complexen in unsern Associationsversuchen
treffen. Kurzum, es sind meist Vorstellungen, die
nicht innig an den abgespaltenen Complex asso¬
ciirt sind und an und für sich sehr gut selbständig,
ohne den Complex, gedacht werden können. Darum
war es schwer, aus den Schmerzen auf die wahre
Ursache zu sch Hessen, und darum fallen die Com-
plexmerkmale in den Associationen erst dann auf,
wenn man nach einiger Uebung den Vogel an seinen
Federn erkennen gelernt hat. Es besteht zwischen
Con Versionssymptomen und den andern Complex¬
anzeichen, w r ie gesagt, eigentlich nur ein Unterschied
in der Entstehung und festem Bindung an den
Complex.
Freud hat sich in ähnlicher Weise die Traum¬
deutung ausgebildet und seine jetzige Methode zur
psychischen Analyse ohne Hypnose baut sich nach
den Mittheilungen bei Löwenfeld*) aus einem
ähnlichen System con Merkmalen auf.
Da von einem Complex zum andern, vom ab¬
getrennten Complex zum bewussten immer Associa¬
tionswege führen, so muss die Abspaltung darin be¬
stehen, dass als Zwischenstationen zwischen Vorstell¬
ungen des einen und andern Complexes solche
indifferente, unverdächtige Vorstellungen: Coexi-
stenzen, Klänge, Symbole, eingeschaltet werden.
Man kann sich also den abgetrennten Complex
vorstellen umgeben mit einem* Wall solcher ober¬
flächlich associirter Vorstellungen. Trifft in den
Associations'versuchen ein Reizwort einfen abgespal¬
tenen Complex, so trifft er in erster Linie nur diese
um den Complex „herum liegenden“ oberflächlich
äusserlich associirten Vorstellungen, die nur der
*) 1 c.
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
Kundige als Complexmerkmale erkennt, die Versuchs¬
person selber gewöhnlich nicht.
Wird ein abgespaltener Complex angeregt, so
wird im günstigen Fall nur der Theil bewusst, der
dem bewussten Vorstellungsinhalt nicht als Complex-
merktnal auffällt. Wie gut dies gelingen kann, zeigen
die oberbewussten Erklärungen („falsche Verknüpf¬
ungen“ von Breuer und Freud)
Je wirksamer ein abgespaltener „verdräftgter“
Complex ist, um so mehr hat er solche Zeichen im
Bewusstsein.
In veralteten Fällen wird es viel schwieriger,
diese durch „Ueberdeterminiiung“ in fortwährende
Uebung festgebannten eingeübten Automatismen aus¬
zurotten, weshalb jetzt auch Freud die Prognose
der psychoanalytischen Behandlung vom Alter, von
der Hochgradigkeit des Symptoms etc. abhängig
macht.
In unsenn Fall (Lina H ) hätten wir es mit
einem gut ausgebauten System von automatisirten,
abgespaltenen Complexen zu thun, als deren Vertreter
ein ebenso wohlgefügtes System von körperlichen
Symptomen im Bewusstsein erscheint, und zw r ar so,
dass diese Symptome in wa>hlbegründete Symptomen-
komplexe sich vereinigen. Daneben zeigt uns Pat,,
z. B. gerade in den Associationen, eine Menge durch
den Complex beeinflusste Rtactionen, die mit den
Conversionssymptomen das gemein haben, dass ihre
Bindung an den Complex eine äussere und dadurch
dem Bewusstsein auch weniger auffällige ist.
Wir hätten somit die vielen Krankheitserschein¬
ungen, die wir bei unserer PaL finden und die
gegenüber andern Fonnen der Hysterie (Somnam¬
bulismus, Dämmerzustände, Bewusstseinstrübungen)
unter ein Hauptmerkmal der Hysterie: Disso-
ciation und automat isches« selbständiges
Walten der dissociirten Komplexe, eingereiht.
Versuchen wir andererseits die bekannteren klini-
schen^ Formen der Hysterie und die verwandten
Zustände unter dem Gesichtspunkte des vorherrschen¬
den, ursächlichen oder auslösenden^ Complexes zu
betrachten, der gewöhnlich von den übrigen abge¬
spalten ist:
Bei der Hysterie mit körperlichen Symp¬
tomen (ConVersionssymptome) ist der Complex ab¬
gespalten und dem Bewusstsein gegenüber abgegrenzt
durch die mit ihm äusserlich associirten, dem Be¬
wussten “ gegenüber gleichsam unauffälligen körper¬
lichen Symptome und Complexmerkmale, resp. Symp¬
tomhandlungen, wie wir im vorliegenden Falle sehen.
Die Associationen bei Hysterischen zeigen
immer ein ganz ähnliches Bild; die Reactionen sind
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zwischen Complex und Bewusstsein eingeschaltete,
mit ersterem äusserlich verbundene Vorstellungen.
Bei den Zwangsneurosen ist wieder der ur¬
sprünglich traumatische Complex abgespalten, im
Bewusstsein existirt der ihm entsprechende Gefühls¬
ton, die gleiche Affectlagc, verbunden mit Complexen,
die dem abgespaltenen verwandt, mit ihm eng asso-
ciirt sind (Freud’sche Auffassung). Die Abspaltungs¬
grenze ist für das Individuum in diesen Fällen un¬
günstiger, als bei Hysterien mit körperlichen Symp¬
tomen, indem nur der traumatische Complex, nicht
aber der entsprechende Affect aus dem Bewusstsein
geschwunden ist; das Unbehagen ist entschieden
grösser, die Folgen schwerer.
Bei den hysterischen Dämmerzuständen in
Form von Wunschpsychosen wird der trau¬
matische Complex abgcspalten und durch einen ange¬
nehmen im Sinne einer Wunscherfüllung ersetzt, sodass
die Kranken gerade das Gegentheil von dem erleben
oder träumen, was Inhalt der traumatischen Vorstell¬
ung ist. Die verstorbenen Angehörigen leben, der
Untersuchungsgefangene wird unschuldig erklärt, Pat.
spaziert während einer schmerzhaften Operation auf
blumiger Wiese (Jung), einem hyster. Visionär, der,
weil er ein w’enig herumgelumpt hat, sich fürchtet,
zur strengen Ehefrau heimzugehen, erscheint im
Augenblicke, wo ihn die Frau in einer Schenke un¬
erwartet überrascht, seine verstorbene Mutter mit
freundlicher, liebevoller Aufforderung, zu ihr zu
kommen etc.; in diesem Zustand nimmt Pat. von der
Gegenwart seiner Frau nichts mehr wahr etc. (Fall
in unserer Klinik). Die Beispiele liessen sich beliebig
vermehren.
Die in Anfällen auf treten den hysterischen
Delirien oder Dämmerzustände haben meistens
den traumatischen Complex zum Inhalt, indem er
vom normalen Bewusstsein abgespalten ist, und Am¬
nesie für den Anfall besteht. Eine den Complex
treffende Vorstellung löst den Anfall aus.
Beim hyster. Dämmerzustand mit Ganser-
schem Symptom tritt die Vorstellung des Nicht¬
wissens zwischen Bewusstsein und abgespaltenen Com¬
plex und trennt sie vollständig; die systematische
Abwehr gegen das Bew'usstwerden des Complexcs
geht dabei automatisch weiter, über das nächste Ziel
hinaus, sodass auch die in der Nähe und ferner
vom Complex gelegenen Vorstellungen in den Be¬
reich des Nichtwissens gezogen werden.
Bei Somnambulen mit Trances und während der¬
selben automatisch auftretenden Persönlichkeiten han¬
delt es sich gewöhnlich um abgespaltene Complexe,
die sich z. B. zu einer zweiten Persönlichkeit, die
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PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
524
sich in diesen Zuständen äussert, entwickeln. (Siehe
Flournoy und Jung.)
In der Hypnose isoliren wir künstlich Vorstell¬
ungen und Cornplexe gegenüber andern Vorstellungen.
In der pathologischen Hypnose collidiren
die durch abgespaltene Cornplexe bedingten und die
vom Hypnotiseur gewollten Abgrenzungen. So kann
es dann kommen, dass es sehr schwer ist, eine be¬
stimmte Vorstellung zu suggeriren, weil sie einem
abgespaltenen Complex angehört, anderseits ist es
oft viel schwieriger, den einmal wachgerufenen abge¬
spaltenen Complex wieder wegzusuggeriren und den
manchmal dadurch hervorgerufenen Anfall oder Däm¬
merzustand zu beschwören.
Bei Schreckneurosen, wie z. B. den von
Möbius beschriebenen mit Abasie einhergehenden
Fällen, wo die Abasie allmählich schwindet, ist wohl
die als Leistung des Affects bekannte starke, schwer
korrigirbare Bindung zwischen Symptom und „Com¬
plex“ im Spiele; nur braucht zwischen „Complex“
und Bewusstsein keine absolute Trennung zu be¬
stehen. Es wäre dies eine Zwischenstufe gegen die
Fälle mit körperlichen Symptomen, wo die Trennung
vollständig sein kann.
Ich hoffe, die angefühlten Ueberlegungen können
vielleicht zwischen den Ergebnissen der Psychoana¬
lyse, der Associationsversuche und der Erscheinungen
bei schweren Psychosen (z. B. Dementia praecox),
wo ähnliche Erscheinungen eine grosse Rolle spielen,
eine Brücke schlagen.
Ich verhehle mir nicht, dass die dargelegte An¬
schauungsweise vielleicht lückenhaft ist und noch an
vielem Material nachgeprüft werden muss; soweit es
mir möglich war, habe ich es gethan. Es mag auch
Erscheinungen geben, die mit der alten Breuer
und Freud’schen Theorie bis jetzt allseitiger erklärt
werden können (vielleicht das Abreagiren). Aber
dennoch scheint mir der Begriff der Conversion im
alten Sinne nicht haltbar.
Meinem frühem hochverehrten Chef, Herrn Prof.
Bleuler, bin ich für die Ueberlassung des bearbei¬
teten Falles zu Dank verpflichtet, ebenso meinem
verehrten Freund, Dr. C. G.Jung, für seine Dienste
bei unsern gemeinsamen Vorarbeiten.
Literatur.
Bin sw* an ge r, O.: Die Hysterie. Wien 1904.
Breuer und Freud: Ueber den psych. Mechanis-
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Rai mann, E.: Die hysterischen Geistesstörungen.
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schrift Nr. 21 u. 22, 1904. (Mit einem Verzeich¬
niss der Ganser-Literatur.)
Vogt, O.: Zur Kenntniss des Wesens und der psy-
cholog. Bedeutung des Hypnotismus. Zeitschr. f.
Hypn. Bd. III. 1894/95*
Original from
HARVARD UNIVERSITY
1905.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 525
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tralbl. 1898, pag. im.
— Zur Methodik der ätiolog. Erforschung der Hysterie,
Zeitschr. f. Hypn. Bd. VIII. 1899.
— Norrnalpsycholog. Einleitung in die Psychopatho¬
logie der Hysterie. Zeitschr. f. Hypn. Bd. VIII.
— Zur Kritik d. psvchogenet. Erforschung d. Hysterie.
Ibid. Bd. VIII.'
War da, R.: Ein Fall von Hysterie, dargestellt nach
der kathart. Methode von Breuer und Freud.
Monatschr. f. Psych. u. Neur. Bd. VII, pag. 301.
1900.
Ein Fall von Cysticercus racemosus des Gehirns und Rückenmarks.
Von Dr. Boege, Assistenzarzt am Fürst Carl - Landesspital in Sigmaringen.
T m Fürst Carl-Landesspital wurde kürzlich bei einer
Section ein Cysticercus racemosus gefunden. Im
folgenden sei der Fall mitgetheilt.
Ein 55jähriger lediger Knecht litt seit dem Jahre
1901 an starkem Kopfweh. Am 19. August 1902
wurde er deswegen ins Spital aufgenommen. Das
Kopfweh wurde stärker, P. begann über Schwindel
zu klagen, fiel mitunter vor Schwindel hin, konnte
sich dann nur mit Hilfe erheben. Er war nachts
öfters unruhig, wollte einmal zum Fenster hinaus; wie
er nachher sagte, weil er es für die Thür gehalten
hatte. Merkfähigkeit und Erinnerungsvermögen liessen
nach. Nachher Hess er öfters Urin unter sich.
Am 28. November 02 wurde seine Ueberführung
in die Abtheilung - für Geisteskranke nöthig. Hier
konnte er zunächst noch ausser Bett gehalten werden.
Doch war er auch tagsüber meist leicht benommen,
zeigte Neigung zum Einschlafen. Sein Gang war
unsicher, taumelnd. Anfangs seltener, später häufiger
traten Bewusstseinsstörungen von verschieden langer
Dauer auf. P. fiel um, Krämpfe traten zunächst
nicht auf. Erst später wurden die Bewusstseins¬
verluste von epileptiformen Krämpfen begleitet. —
Währenddes Hess die Sehkraft nach. — P. musste
dauernd im Bett bleiben.
Am 15. Okt. 03 sah Ref. den P. zum ersten Mal.
Es handelte sich um einen kräftig gebauten Mann
in schlechtem Ernährungszustände — die inneren
Organe ohne abweichenden Befund.
Soweit sich das bei der Trübung des Sensorimus
feststellen Hess, war die Sensibilität überall intact.
Die Musculatur war durchweg stark atrophisch, die
Muskelkraft dementsprechend herabgesetzt. Der Gang
war unsicher taumelnd. Mit den Händen einen festen
Halt suchend, konnte P. sich mühsam fortbewegen;
ohne Stütze fiel er zu Boden.
P. selbst war der Meinung, er könne Personen
unterscheiden und erkennen. Thatsächlich jedoch
war das Sehvei mögen auf die Unterscheidung von
Hell und Dunkel beschränkt; selbst die Loralisation
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leuchtender Punkte war durchaus unvollständig. —
Die Pupillen reagirten unsicher, zögernd auf Licht¬
einfall, die linke Pupille war etwas grösser als die
rechte. Der intraoeulare Druck war nicht erhöht.
Hornhaut und brechende Medien intact. — Die Ge-
fässe des Augenhintergrundes von normaler Füllung,
die Grenzen der Papilla nervi optici leicht verwaschen.
Das Sensorium war meist etwas benommen.
Doch konnte P. durch Anreden auf längere Zeit
fixirt werden. Er zeigte sich über Ort und Zeit nur
ungenügend orientirt. Sein Gedächtniss wiess grosse
Lücken auf, die Merkfähigkeit war stark herabgesetzt.
Das Urteil war unsicher, P. widersprach sich oft.
Die Stimmung war deprimirt, doch dabei eigenartig
humoristisch gefärbt.
In unregelmässigen Intervallen traten die bereits
erwähnten Anfälle auf. Apoplectiform ohne Aura
schwand das Bewusstsein. Gleichzeitig setzten tonische
Krämpfe ein, die gewöhnlich sehr bald klonisch
wurden. Doch blieb die Amplitude der Zuckungen
gering. Meist begannen die Krämpfe in der linken
Hand, blieben auf die linke Körperhälfte beschränkt
oder verbreiteten sich über die gesammle Körper-
musculatur. Nur selten setzten die Krämpfe sofort uni¬
versal ein. Auf der Höhe des Anfalls bestanden sehr
starke, ebenfalls clomsche Krämpfe dei äusseren
Augenmuskeln. Während des Anfalls oft Abgang von
Harn und Koth. Das Krämpfestadium dauerte nur
wenige Minuten, die Bewusstseinsstörung dauerte länger,
bis zu einer halben Stunde.
Die Nahrungsaufnahme des Pat. war ungenügend;
dagegen das Flüssigkeitsbedürfniss erheblich gesteigert.
P. war nur unvollkommen über seine Lage orien¬
tirt. Er klagte vornehmlich über Schwindel und Ab¬
nahme der Sehkraft. Von den Anfällen wusste er
nichts.
Das Krankheitsbild als genuine Epilepsie aufzu¬
fassen — woran zunächst zu denken war — erschien
nicht angängig. Einmal war auffallend, dass die
Krämpfe oft auf die linke Seite beschränkt blieben.
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HARVARD UN1VERSITY
526
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
[Nr. 52
Dazu bot P. nichts von den Characteränderungen,
die die Epileptiker meist zeigen. Er war ein gut¬
mütiger, phlegmatischer biederer Kerl. Endlich hätte
dann die Sehstörung einer eigenen Erklärung bedurft.
Auch die dauernde Bewusstseinstrübung, das Kopf¬
weh, der Schwindel wurden durch die Annahme einer
genuinen Epilepsie nicht erklärt.
Es erschien vielmehr die Annahme begründet,
dass es sich um einen Tumor handelte. Kopfweh
und Schwindel, die epileptiformen Krämpfe, der Ver¬
lust der Sehkraft, die psychische Alienation fanden
dadurch eine einigermaassen befriedigende Erklärung.
Der nur einmal aufgenommene ophthalmoscopische
Befund war nicht eindeutig genug, als dass mit
Sicherheit die Entscheidung zwischen Stauungspapille
und Sehnervenatrophie getroffen wurde. Und da sich
bei dem meist benommenen P. die Untersuchung
sehr schwierig gestaltete, musste es bei der einen
Exploration des Augenhintergrundes bleiben. — Aus¬
gesprochener Hirndruck bestand nicht, wenigstens
war der Puls kaum verlangsamt. Ueber die Locali-
sation des vermutheten Tumors konnte allerdings
nichts Bestimmtes angenommen werden ; die epilepti¬
formen Krämpfe deuteten auf die Rinde, die Augen¬
symptome auf die Hirnbasis.
Der weitere Verlauf bot keinerlei Ueberrasehungen.
Da an die Möglichkeit luetischer Aetiologie gedacht
wuide, wurde Jod gegeben (Jodkalium, Jodipin), je¬
doch ohne dass eine Aenderung im Befinden erfolgte.
P. ging langsam, aber ständig zurück. Kopfweh
und Schwindel nahmen zu. Die Anfälle kamen
häufiger und verliefen intensiver. Die Lichtempfindung
schwand völlig. Die psychische Entfremdung wurde
immer ausgesprochener. Das Sensorium war zum
Schluss dauernd benommen P. reagirte nicht mehr
auf Anreden oder schmerzhafte Reize; war ständig
unrein. Die Flüssigkeitsaufnahme blieb stets vermehrt.
Anfangs Mai 1904 war trotz sorgfältiger Hautpflege
Decubitus aufgetreten.
Nach längerer Agonie erfolgte am 27. VI. der
Exitus letalis.
Die Autopsie ergab folgenden Befund.
Die Meningen getrübt, doch überall spiegelnd.
Hydrocephalus internus.
Ueber dem Chiasma nervorum opticorum sass
eine rundliche bohnengrosse schwappende Blase mit
undurchsichtigen trüben Wänden. Der Querschnitt
der Sehnerven unterhalb des Chiasma auf h'h — V2
des normalen reduciit. — Nachdem die SchlälVlappen
aus den mittleren Schädelgruben herausgehoben waren
und die vordere Fläche des Hirnstamms sichtbar
wurde, zeigte sich ringsum die Medullu oblongata und
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auch an der Vorderseite des Pons eine gallertig aus¬
sehende bläulichgraue Masse von unregelmässiger Ge¬
stalt, die nach oben bis zu den Himschenkeln, nach ab¬
wärts bis in den Wirbelkanal hineinreichte und diesen
völlig von der Schädeldecke abschloss. Ohne dass
ein stärkerer Zug ausgeübt wrnrde, liess sich diese
Masse von ihrer Unterlage ablösen. Sie wurde
jedoch nicht in toto sondern in vier Einzelstücken
erhalten, jedes etwa 3—4 cm in die Länge und Breite.
Obgleich nun die Einzelstücke deutlich von einander
abgesetzt waren, so blieb doch wahrscheinlich, dass
sie in situ zusammengehangen hatten und nur bei
der Präparation an dünneren Stellen von einander
gerissen waren. Die Einzelstücke erwiesen sich als
vier schlaffgefüllte Blasen. Ob jede von ihnen in
sich abgeschlossen gewesen, oder ob sie untereinander
communicirt hatten, das war nicht sicher zu ent¬
scheiden. Nur die eine von diesen Blasen hatte eine
verhältnissmässig glatte, wenn auch leicht gefaltete
Oberfläche. Die Oberfläche der anderen 3 Blasen
sah durch zahlreiche Her vor Wölbungen unregelmässig
höckerig und hügelig aus. Während die meisten
Hervorwölbungen sich nach Oeffnung der Blasen als
breit mit dem Hauptraum communicirende Aus¬
buchtungen erwiesen, wurde ein beträchtlicher Theil
der Hervorwölbungen durch kleinere selbständige
Blasen gebildet, die in die Wand der grossen Blase
gleichsam eingefügt waren. Andere kleine Blasen
endlich sassen der Wand mit mehr oder minder engem
und langem Stiel auf. I111 ganzen wurden von diesen
kleineren Blasen, die mit dem grossen Blasenrauin
nicht communicirten, sondern von ihm abgeschnürt
waren, etwa 30 gezählt. — Gehirn und Rückenmark
wurden i toto nach der Pickschen Methode eon-
servirt.
Nach beendeter Conservirung wurde die Unter¬
suchung noch vervollständigt. Nach Spaltung des
spinalen Duralschlauchs wurde nämlich in Höhe des
siebenten und achten Cervicalsegmenles auf der
Hinterseite der Medulla unter der Aradmoidea eine
weitere Blase gefunden; oder genauer eine grosse
Blase mit mehreren kleineren. Die grosse war etwa
2 cm breit und 3 cm lang, seitwärts waren ihr zwei
kleinere pfefferkorngrosse hintereinander angefügt,
denen dann noch einmal eine erbsengrosse Blase wie
ein Kopf seinem Halse aufsass. An der Seitenwand
dieser letzten wiederum befanden sich nebeneinander
zwei kleinste stecknadelkopfgrosse Bläschen.
Das Rückenmark war in der Höhe des siebenten
Cervicalsegmentes in seiner linken Hälfte in der
Richtung von vorne nach hinten etwas zusammen¬
gedrückt ; die Fiss. long. ant. et post, waren infolge
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HARVARD UN1VERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT
IQ05.J
5 2 7
dessen nicht sagittal gerichtet, sondern schräg von
links vorne nach rechts hinten gestellt. Im übrigen
waren Hirn- und Rückenmarksubstanz frei von Ver¬
änderungen. In der linken Niere fanden sich drei
Cysten, in der rechten eine. Die weitere Section er¬
gab keine Abweichungen von der Norm. Die
Darmsection wurde aus äusseren Gründen nicht
gemacht.
Dass die beschriebenen Gebilde in der Arach-
noidea der Himbasis und des Rückenmarkes Cysti¬
cercusblasen waren und zwar Cysticercus racemosus,
das war beim ersten Anblick sicher. Die Eigentüm¬
lichkeiten, die die microscopis« he Untersuchung er¬
gab, bestätigten die Diagnose: die Gefässlosigkeit der
Membran und die Beschaffenheit der Aussenfläche,
die Zenker sehr treffend mit „jenem nachgerade
etwas altmodisch gewordenen, aus unbehauenen rund¬
lichen Steinen zusammengesetzten Strassen pflastert
verglichen hat. Ein Finnenkopf wurde in keiner der
zahlreichen Blasen gefunden. Jenes kopfartig der im
Rückenmarkkanal gefundenen Blase aufsitzende Ge¬
bilde wurde anfangs für einen Kopf gehalten, doch
wurden bei näherem Zusehen Hakenkranz und Saug¬
näpfe, auch in der Anlage, vermisst. Einzelne Haken
wurden ebenfalls nirgends gefunden. — Die microsko-
pische Untersuchung von Medulla oblongata und
Rückenmark ergab keine Abweichungen von der Norm.
Zenker hat nach der äusseren Gestaltung drei
Formen von Cyst. racem. unterschieden: eine buchtige,
eine mehrblasige und eine traubige Form. Unser
Fall wäre in keine dieser Gruppen einzureihen.
Die erste Veröffentlichung über Cyst. racem.
stammt von Zenker. Er konnte im Jahre 1882
15 Fälle zusammenstellen, 5, die er selbst beobachtete,
10, die er aus der damaligen Litteratur gesammelt
hatte. Seitdem ist Cyst. racem. öfters bei Sectionen
gefunden worden. Soweit ich die Litteratur *) über¬
sehen kann, haben Bi tot urdSabrazes 189020
Fälle und Max Richter 1891 25 Fälle (davon
3 eigene) zusammengestellt. 1902 veröffentlichte
Durst einen Fall, 1903 Fischer**) 2 Fälle.
Da mir die Originalien nicht zui Verfügung standen
konnte ich nicht prüfen, ob etwa in Richters und
*) Prager med. Wochenschrift. XVI. 16. 1891. Dr
Max Richter. Ueber einen Fall von Cysticercus racemosus
in den inneren Meningen des Gehirns und Rückenmarks.
Bordeaux. Gaz. de Par. LXI, 27 — 30, 32—34. 1890.
— Etüde sur les cysticerques en grappe de l’enc£phale et de
la moelle che* Phomme. Par. Em. Bitot et Jean Sabraz&s.
Liecinicki viestnik XXIV, 7. 1902. — Dr. F. Durst-
Ein Fall von Cysticercus racemosus cerebri.
Citirt nach Schmidts Jahrbüchern.
•*) Siehe benutzte Litteratur !
Bi tot s Casuishk gleiche Fälle verwerthet sind. Zu
seltenen Befunden gehört Cyst. racem. immerhin, und
L. Bruns schreibt mit Recht: „Der Trauben¬
cysticercus ist ein seltenes Vorkommniss.“
Noch viel seltener als im Hirn ist Cyst. racem.
im Rückenmark gefunden worden. Vielleicht liegt
das zum nicht geringen daran, dass die Section des
Rückenmarkes aus mancherlei Gründen nur selten
gemacht wird, jedenfalls nur wenn klinisch diag¬
nostische Momente dafür sprechen.
Was unseren Fall etwas auszeichnet, ist nicht die
verhältnissmässige Giösse — Heller hat einen von
25 cm Länge beobachtet, der unsere war viel¬
leicht 12—15 cm lang —, sondern einmal die grosse
Zahl der kleineren Blasen, über 30, dann die Blase
im Rückenmark. Zenker selbst hat in seinen Fällen
keine besonderen Neben- oder Tochterblasen gefunden,
deren Höhlen mit der Hauptblase nicht ccmmuni-
ciren und die sich als Vacuolen in der Dicke der
Blasenwand bilden. Nach ihm spielt „diese echte
Blasenproliferation, die an die Tochterblasenbihlung
des Echinococcus erinnert“, nur eine Nebenrolle.
Klinisch bot der Fall insofern einige Abweichungen
von dem gewöhnlichen Symptomenbild des Czvst.
racem., als auch Störungen der Sinnesorgane zur Be¬
obachtung kamen, die sonst zur Seltenheit gehören
(unter Zenkers 15 Fällen nur einmal). Die Herab¬
setzung des Sehens bis zur Amblyopie und völligen
Amaurose fand ihr anatomisches Correlat in der
Atrophie des Sehnerven, die wohl zweifellos durch
die dem Chiasma aufsitzende Blase bedingt war.
Leider ging sie bei der Conservirung verloien, oder
konnte wenigstens nicht wiedererkannt w'erden. -■ I111
übrigen jedoch war auch bei uns das Symptomenbild
so undeutlich, so reichhaltig, wie es für Cyst. racem
characteristisch ist.
Dass alle die einzelnen Symptome, deren einheit¬
liche Deutung im Leben grosse Schwierigkeiten machte:
Kopfschmerz, Schwindel, epileptiforme Anfälle, Dia¬
betes insipidus (?), die Sehnervenatrophie, die Be¬
nommenheit des Sensorium, die psychische Aliena-
tion, lediglich durch den Cyst. racem. bedingt w r aren
unterliegt wohl keinem Zweifel.
Die physiologische Erklärung der Symptome
durch die anatomische Lucalisation allerdings er¬
scheint im einzelnen nicht möglich. Bemerkt sei mit
Rücksicht auf die Blase im Spinalkanal, dass intra
vitam an eine Rückenmarksläsion nicht gedacht
worden war. Ob sie ganz symptomlos geblieben
oder ob die Symptome infolge der Trübung des Sen-
soriums nur nicht zur Beobachtung kamen, das mag
dahingestellt bleiben. Da das Rückenmark an der
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Gck gle
Original fr&m
HARVARD UNIVERSITY
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 52.
52S
Stelle, wo die Blase bei der Autopsie gefunden wurde,
bereits eine bleibende Formveränderung erlitten hatte,
so muss der Cysticercus immerhin schon einige Zeit
dort etablirt gewesen und kann nicht erst gegen Ende
des Lebens dorthin gerückt sein.
Meinem verehrten Chef, Herrn Sanitätsrath Dr.
Bilharz, spreche ich für die gütige Plrlaubniss, den
Fall zu veröffentlichen, meinen verbindlichsten Dank aus.
Benutzte Litteratur.
1. Die Parasiten des Menschen. Von Rudolf
Leuckart. I Bd. I. Abt. Leipzig 1879—1886.
2. Ueber den Cysticercus racemosus des Gehirns.
Von F. A. Zenker. — Beiträge zur Anatomie und
Embryologie. Bonn 1882.
3. Handbuch der Pathologischen Anatomie des
Nervensystems. — I. Band. Berlin 1904. — L. Bruns.
Hirngeschwülste und Hirnparasiten.
4. Klinische Mittheilungen. Prof. Dr. H. Fisch er.
I. Cysticercus racemosus cerebri. — Archiv für klinische
Chirurgie LXIX. Berlin 1903.
Mittheilungen.
—- Ansbach. Auf Anregung des ärztlichen Be¬
zirksvereins Ansbach veranstalten die Aerzte der Kreis¬
irrenanstalt Ansbach, Director Dr. Herfeldt, Dr.
Sandner, Dr. O etter, einen Fortbildungskurs in
der Psychiatrie vom 4. April ab.
— Sudwestdeutsche Neurologen und Irren¬
ärzte. Diesjährige Versammlung am 27. und 28.
Mai m Baden-Baden.
— 15. Congress der französischen Irrenärzte
und Neurologen vom 1.—7. August in Rennes.
Tagesordnung: Hypochondrie; Neuritis ascendens;
Balneotherapie und Hydrotherapie bei Geisteskrank¬
heiten.
— Entscheidungen des deutschen Bundesamts
für das Heimathswesen. (Schluss).
Die Befugniss des beklagten Regierungspräsidenten
zur Feststellung der streitigen Leistung ergiebt sich
indess aus einer anderen Erwägung. Die Unter¬
bringung des Geisteskranken Otto Brieger in der
Irrenabtheilung des Strafgefängnisses ist nicht allein
deshalb erfolgt, weil er als hilfsbedürftig angesehen
wurde, sondern vor allem deshalb, weil er nach den
wiederholten Gutachten beamteter Aerzte, insbesondere
des Gerichtsarztes und des vom Polizeipräsidenten
zugezogenen Kreisarztes als „gemeingefährlich“ anzu¬
sehen war. Seine Unterbringung in der Irren¬
abtheilung des Strafgefängnisses erweist sich daher
als eine nicht gegen die Klägerin, als Armenverband,
sondern gegen einen Dritten, den Geisteskranken
selbst, gerichtete und alsbald im Wege unmittelbaren
Zwanges durchgesetzte polizeiliche Maassregel; ihre
Kosten kennzeichnen sich daher zunäc hst als Polizei¬
kosten und zwar selbst dann, wenn zugleich armen¬
rechtliche Hilfsbedürftigkeit Vorgelegen haben sollte.
Denn aus dem Vorliegen dieser Voraussetzung würde
nur folgen, dass die Polizeibehörde befugt gewesen
wäre, die Unterbringung in Anstaltspflege dem zur
Fürsorge verpflichteten Armenverbande aufzugeben,
aber nicht, dass sie die Abwendung der von dem
Geisteskranken ausgehenden Gefahren nur auf diesem
Wege erreichen konnte, und eine gegen ihn selbst
gerichtete Anordnung nicht treffen oder durchführen
durfte. Zur Feststellung der Pflicht einer Stadtge-
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meinde, Polizeikosten zu tragen, ist aber der Regierungs¬
präsident, der die Aufsicht über die städtische Polizei¬
verwaltung und die über die Verwaltung der städti¬
schen Gemeindeangelegenheiten in sich vereinigt, un¬
zweifelhaft befugt (zu vergl. Urtheil vom 26. November
1890 in der Sammlung der Entscheidungen des Ge¬
richtshofs Band XX S. 65 flg.). Daher ist die an¬
gegriffene Verfügung trotz ihrer nicht überall zu¬
treffenden Begründung als rechtmässig anzuerkennen,
wenn die streitigen Kosten zu denjenigen Kosten
der örtlichen Polizeiverwaltung gehören, die auch
nach Erlass des Gesetzes vom 20. April 1892 den
Städten, in denen die Polizei von einer Königlichen
Behörde geführt wird, verblieben sind, mit anderen
Worten, wenn sie als mittelbare Kosten der örtlichen
Polizeiverw f altung anzusehen sind. Diese Frage aber
war, entgegen den Ausführungen der Klägerin, zu be¬
jahen.
Ohne Grund behauptet die Klägerin, dass die Ab¬
wendung der Gefahren, die von einem Geisteskranken
ausgehen, Aufgabe der Landespolizei sei. Zur Be¬
gründung dieser Auffassung hat sie sich zwar auf § 13
Nr. 2 der Verordnung über die verbesserte Einrich¬
tung der Provinzialbehörden vom 30. April 1815
(Gesetzsammlung S. 85) berufen, ferner geltend ge¬
macht, dass die Unterbringung gemeingefährlicher
Geisteskranker in Irrenanstalten nicht den Interessen
des Orts, an dem sie zufällig festgehalten würden,
sondern der Allgemeinheit diene und endlich an¬
gegeben, dass die Maassregel der Unterbringung
nach der bestehenden Verwaltungspraxis nicht von
den örtlichen Polizeibehörden, sondern von den
Landespolizeibehörden, ja sogar von den Zentral¬
behörden zu treffen sei. Von diesen Ausführungen
war jedoch keine als richtig und zutreffend anzuer¬
kennen. Allerdings beginnt die angeführte Gesetzes¬
stelle mit den Worten: „Die Regierung verwaltet:
1. . 2. die Landespolizei der allgemeinen
Sicherheit, der Lebensmittel und anderer Gegen¬
stände“; allein aus dieser Vorschrift w ? ürde, selbst
wenn die §§ 13—19 der Verordnung vom 30. April
1815 nicht schon durch die §§ 1 flg. der Regierungs¬
instruktion vom 23. Oktober 1817 ersetzt wären,
doch nichts für die Beantwortung der Frage, ob
Original fram
HARVARD UNIVERSITY
1905.] PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. 529
eine sicherheitspolizeiliche Maassregel einen landes¬
polizeilichen oder ortspolizeilichen Charakter an sich
trägt, entnommen werden können. Einerseits ist der
Zweck, der in den Anfangsworten des § 13 Nr. 2
der Verordnung vom 30. April 1815 enthaltenen
Aufzählung nicht die Abgrenzung zwischen den Zu¬
ständigkeiten der Landes- und Ortspolizeibehörden,
sondern die Aufführung derjenigen Zweige der Polizei¬
verwaltung, auf die sich die landespolizeilichen Be¬
fugnisse der Regierung beziehen, andererseits fehlt es
an einer gesetzlichen Definition des Begriffs der all¬
gemeinen Sicherheit, im Gegensatz zu der Sicherheit
der einzelnen Ortschaften. Es kann daher auch auf
dem Gebiete der Sicherheitspolizei die Unterscheidung
zwischen den Funktionen der Landespolizei und
denen der Ortspolizei nur danach vorgenommen
werden, ob die polizeilich zu schützenden Interessen
in erster Linie solche der nachbarlichen örtlichen
Gemeinschaft sind oder über die räumliche Be¬
schränkung hinaus in weiteren Bezirken, vielleicht als
unmittelbar einheitliche Interessen des Staates hervor¬
treten (zu vergl. Urtheil vom 6. Januar 1894, in der
Sammlung der Entscheidungen des Gerichtshofs Band
XXVI, S. 87). Diese Unterscheidung aber führt
dahin, Maassregeln, die auf Abwendung der von ge¬
meingefährlichen Geisteskranken ausgehenden Ge¬
fahren abzielen, zu den Aufgaben der Ortspolizei zu
zählen. Freilich dient die Unterbringung von Geistes¬
kranken in Irrenanstalten nicht den besonderen
Interessen desjenigen Orts, an dem diese festgehalten
werden, denn das ist der, wo sich die Irrenanstalt
befindet, wohl aber denen des Orts, von dem aus
der Geisteskranke in die Irrenanstalt gebracht wird.
Diesen bedroht ein gemeingefährlicher Geisteskranker
zunächst und zuerst, eine Ausdehnung der von ihm
ausgehenden Gefahr auf einen weiteren Bezitk ist
zwar nicht unbedingt auszuschHessen, aber doch nur
deshalb anzuerkennen, weil die Möglichkeit eines
Wechsels seines Aufenthalts bei einem sich selbst
überlassenen Geisteskranken stets gegeben ist. Des
halb mag die Unterbringung eines Geisteskranken in
einer Anstalt mittelbar auch den Interessen weiterer
Bezirke dienen, aber dieser nur mittelbar eiutretende
Erfolg vermag nichts daran zu ändern, dass sie als
eine Maassregel erscheint, die den Schutz von Inter¬
essen der örtlichen, nachbarlichen Gemeinschaft in
erster Reihe und unmittelbar zum Zweck hat. Wenn
die Klägerin endlich angiebt, dass die auf Unter¬
bringung von gemeingefährlichen Geisteskranken in
Irrenanstalten gerichteten Anordnungen von den
Landespolizeibehörden, ja sogar von den Central¬
behörden zu treffen seien, so ist auch dies vet fehlt.
Handelt es sich um solche Personen, deren Geistes¬
krankheit und Gemeingefährlichkeit hervorgetreten ist,
ehe sie eine strafrechtlich verfolgbare Handlung be¬
gangen hatten, so wird eben nur die Ortspolizei-
behördc mit den zur Abwendung der Gefahr er¬
forderlichen Maassregeln befasst. Eine Mitwirkung
anderer Behörden aber ist ebensowenig erforderlich,
wie bei anderen polizeilichen Anordnungen, die zur
Abwendung einer dem Publiko oder einzelnen Gliedern
desselben drohenden Gefahr getroffen werden. Nament-
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lieh tritt eine Mitwirkung des zur Verwaltung der
Landespolizei zuständigen Regierungspräsidenten nur
ausnahmsweise ein, wenn er durch Beschwerde über
die von der Ortspolizeibehörde getroffenen Maass¬
regeln oder über die Versagung polizeilichen Ein¬
schreitens zu einer Entschliessung angerufen wird.
Trifft er in einem solchen Falle die Anordnung, dass
der Geisteskranke in eine Irrenanstalt unterzubringen
ist, so hat doch diese Verfügung nicht den Charakter
einer landespolizeilichen, sondern den einer an die
Ortspolizeibehörde gerichteten Anweisung zum Erlass
einer ortspolizeilichen Verfügung. In denjenigen
Fällen, in denen die Geisteskrankheit und Gemein¬
gefährlichkeit erst während der Untersuchungshaft oder
der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe hervortritt oder
mit Sicherheit festgestellt wird, erfolgt freilich die
Unteibringung in einer Irrenanstalt im unmittelbaren
Anschluss an die Entlassung aus der Untersuchungs¬
oder Strafhaft und auf Antrag der zur Bestimmung
über die Entlassung zuständigen Behörde. Daraus
folgt aber nicht, dass der Antrag dieser Behörde den
Charakter einer landespolizeilichen Anordnung hat,
welche die angerufene Ortspölizeibehörde im Aufträge
der Landespolizeibehörde auszuführen hat, wie die
Klägerin anzunehmen scheint. Vielmehr kann dem
Ersuchen nur die Bedeutung einer Ueberweisung des
Geisteskranken an die Ortspolizeibehörde zum Zwecke
der ihr zustehenden Entschliessung über die zur Ab¬
wendung der Gefahr nöthigen Anstalt beigemessen
werden, namentlich gilt dies in denjenigen Fällen, in
denen es sich um Geisteskranke handelt, die aus den
Gerichtsgefängnissen entlassen werden, denn hier wird
die Bestimmung über die Entlassung allein von Justiz¬
behörden getroffen, denen polizeiliche Befugnisse
nicht zustehen. Nur in denjenigen Fällen, in denen
geisteskranke Sträflinge aus Gefängnissanstalten ent¬
lassen werden sollen, die unter der Aufsicht des
Regierungspräsidenten . und des Ministers des Innern
stehen, tritt eine Mitwirkung von zur Verwaltung der
Landespolizei zuständigen Provinzial- und Central¬
behörden ein. Denn hier soll nach den Erlassen
vom 26. Oktober 1858 und 8. März 1866 (Ministerial¬
blatt der inneren Verwaltung Jahrgang 1858, S. 237
und Jahrgang i8ö6, S. 8q) von den Regierungen an
den Minister des Innern „zur eventuellen weiteren
Communication mit dem Justizminister“ berichtet
werden, sobald sich die Nothwendigkeit einer Ein¬
stellung oder Unterbrechung der Strafvollstreckung
gegen einen in Geisteskrankheit verfallenen Sträfling
herausstellt Aus dieser Mitwirkung der Regierungen,
jetzt der Regierungspräsidenten, und des Ministers
des Innern an der Bestimmung über die Entlassung
geisteskranker Sträflinge folgt indess nicht, dass die
infolge dieser Entlassung erforderlich werdenden An¬
ordnungen über die Unterbringung des Geisteskranken
in einer Irrenanstalt den Charakter landespolizeilicher
Verfügung haben. Mögen auch in den die Ent¬
lassung anordnenden oder genehmigenden Verfügungen
Bestimmungen über die künftige Behandlung des zu
entlassenden Geisteskranken getroffen werden, so haben
diese doch nicht den Charakter polizeilicher Ver¬
fügungen des Regierungspräsidenten oder gar des ihm
Original frnm
HARVARD UNiVERSiTY
530 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 52.
Vorgesetzten Ministers des Innern, sondern den von
Anweisungen, die mit Rücksicht auf die übergeordnete
Stellung der verfügenden Behörde im Verhältnis zur
Ortspolizeibehörde nicht nur für die Verwaltung des
Strafgefängnisses, sondern auch für die Ortspolizei¬
behörde maassgebend sein mögen. Vielmehr bleiben
die gegen den Geisteskranken zu treffenden Maass¬
regeln Verfügungen der Ortspolizeibehörde, auch wenn
sie auf Anordnung der ihr Vorgesetzten Polizeiauf¬
sichtsbehörde getroffen werden. Die Ausführung der
Klägerin über die bestehende Verwaltungspraxis ist
daher haltlos und beruht theils auf einer Verall¬
gemeinerung der Verhältnisse, die bei der Entlassung
geisteskranker Sträflinge aus den unter der obersten
Aufsicht des Ministers des Innern stehenden Straf¬
gefängnissen entstehen, teils auf einer Vermengung
derjenigen Bestimmungen, welche die Entlassung des
Geisteskranken aus der Strafanstalt betreffen, mit den
polizeilichen Anordnungen, die infolge der Entlassung
erforderlich werden. Hiernach aber konnte aus den
Ausführungen der Klage der Schluss, dass die Kosten
der im Interesse der öffentlichen Sicherheit polizei¬
lich angeordneten Unteibringung Geisteskranker in
Irrenanstalten stets Kosten der Landespolizei seien,
nicht gezogen werden, vielmehr war auch ihnen gegen¬
über an der Rechtsauffassung festzuhalten, dass jene
Maassregel Aufgabe der Ortspolizeibehörde und folg¬
lich ihre Kosten, soweit sie sich nicht als Armen¬
pflegekosten darstellen, Kosten der örtlichen Polizei¬
verwaltung sind.
Eine entgegengesetzte Auffassung ist auch nicht,
wie Klägerin will, aus § 344 Tit. 18 Teil II des
Allgemeinen Landrechts herzuleiten, denn diese Vor¬
schrift enthält eine Bestimmung darüber, wem die
Koslen der Unterbringung Geisteskranker in öffent¬
lichen Irrenanstalten obliegen, überhaupt nicht, sondern
bezeichnet es nur als eine Aufgabe des Staates und
der von ihm mit Wahrnehmung der öffentlichen
Sicherheit beauftragten Behörden, die Aufnahme
Geisteskranker in die dazu bestimmten Anstalten
herbeizuführen. Ob eine Ausnahme von der Regel,
dass die Kosten der Unterbringung Geisteskranker
in Irrenanstalten sich als Kosten der örtlichen
Polizeiverwaltung darstellen, sofern sie nicht Armen¬
pflegekosten sind, dann cintritt, wenn sich der Geistes¬
kranke früher, so lange er in Freiheit gelassen wurde,
ausserhalb des Ortes aufgchalten hat, von dem aus
er in die Anstalt gebracht wurde, und erst infolge
seiner Ueberführung in ein an diesem Orte befind¬
liches Gefängniss und im unmittelbaren Anschluss an
die Entlassung aus diesem der Ortspolizei überwiesen
wird, bedarf es in der vorliegenden Streitsache keiner
Erörterung, denn ein Fall dieser Art ist nicht ge¬
geben. Otto Brieger hat sich nach dem Inhalt der
bei der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichts¬
hof vorgelegten Polizeiacten schon seit der am 5.
Mai 18Q9 verfügten Entlassung aus der Provinzial¬
irrenanstalt zu Plagwitz in Breslau aufgehalten, ist
erst infolge eines am Orte verübten Einbruchsdieb¬
stahls in Untersuchungshaft genommen und nach
der alsbald verfügten Entlassung aus dieser dem
Polizeipräsident zu Breslau zugeführt worden. Es
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kann daher keine Rede davon sein, dass die Uebcr-
weisung an die Ortspolizeibehörde lediglich auf der
Lage des Untersuchungsgefängnisses in der Stadt be¬
ruhe oder Folge einer iin Interesse weiterer Gebiete
ergriffenen Maassregel sei, denn es handelt sieb
nicht um eine ortsfremde, sondern um eine durch
jahrelangen Aufenthalt, anscheinend auch durch Ab¬
stammung und Wohnsitz der Stadt angehörige Person.
Für eine Zurechnung der streitigen Kosten zu denen
der Landespolizeiverwaltung fehlt es daher an jeder
Unterlage.
Nicht minder verfehlt ist die weitere Ausführung
der Klägerin, dass die streitigen Kosten Gefangenen-
kosten und deshalb, sofern sie zu den örtlichen
Polizeiverwaltungskostcn zu rechnen seien, nicht mittel*
bare, sondern unmittelbare Polizeikosten darstellten.
Wenn die Klägerin sich darauf beruft, dass der Staats¬
anwalt in dem die Zuführung des Otto Brieger
begleitenden Schreiben vom 11. Oktober 1902 ersucht,
den Geisteskranken .,unter keinen Umständen ohne
vorherige Verständigung mit ihm aus der Irrenanstalt
zu entlassen“ und hieraus den Schluss zieht, dass die
Haft auch nach der Entlassung aus dem Unter-
suchungsgefängmss fortgedauert habe, so legt sie diesem
Ersuchen eine Bedeutung bei, die es nicht hat 11ml
nicht haben soll. Wie aus der zwar nicht im Original
wohl aber in einer von der Polizeibehörde aus den
Acten entnommenen und deshalb völlig glaubwürdigen
Abschrift vorliegenden Verfügung vom 10. Oktober
1902 hervorgeht, hat der Erste Staatsanwalt die Ein¬
stellung des Ermittelungsverfahrens auf Grund der
Annahme verfügt, dass Otto Brieger zur Zeit der
That nicht zurechnungsfähig gewesen, und zugleich
die Absicht ausgesprochen, seine Entmündigung zu
betreiben. Mit der Einstellung der Strafverfolgung
aber ist die Annahme, dass dieses Ersuchen vom
folgenden Tage in der That eine Fortsetzung der
Untersuchungshaft in der Irrenanstalt zum Ziele habe,
völlig unvereinbar. Dagegen erklärt es sich aus¬
reichend durch die auch in der Verfügung vom
11. Oktober 1902 dem Polizeipräsidenten gegenüber
wiederholt ausgesprochene Absicht, die Entmündigung
des Geisteskranken herbeizuführen, denn für die
Durchführung dieses Verfahrens war die fortdauernde
Kenntniss von dem Aufenthalte des Geisteskranken
schlechthin erforderlich. Zudem mochte der Staats¬
anwalt beabsichtigen, im Falle der Entlassung aus der
Irrenanstalt selbst Anträge auf Grund des § 686 der
Civilprocessordnung zu stellen oder das durch die
weitere Beobachtung während der polizeilichen Unter¬
bringung gewonnene Material für die Entmündigung
zu verwerthen. Was aber die Klägerin sonst noch
für ihre Auffassung, dass die streitigen Kosten Polizei-
gefängnisskosten im Sinne des § 2 des Gesetzes,
betreffend die Kosten Königlicher Polizeiverwaltungen
in den Stadtgemeinden vom 20. April 1892 seien,
vorbringt, gipfelt in dem Satze, dass jeder, dessen
Freiheit durch polizeiliche Anordnungen beschränkt
worden ist, als ein Polizeigefangener zu betrachten
sei. Dieser Satz ist indessen nicht als richtig anzu¬
erkennen und in dem Urtheil vom 10. Oktober 18qg
(Preussisches Verwaltungsblatt Jahrgang XXI S. 538)
Original from
HARVARD UNIVERSITY
1905Ü Psychiatrisch-neurologische Wochenschrift. 531
widerlegt worden. Wenn auch in dem angeführten
Erkenntniss zunächst nur über die Natur der Kosten
für Verpflegung und Kur von Prostituirten, die behufs
zwangsweiser Heilung von Geschlechtskrankheiten in
Krankenanstalten untergebracht waren, entschieden
worden ist, so treffen doch die gleichen Erwägungen
auch bei der Beurtheilung von Kosten, die durch
eine im polizeilichen Interesse angeordnete Unter¬
bringung von Geisteskranken in Irrenanstalten er¬
wachsen, zu. Auch hier handelt es sich nicht, wie
Klägerin annimmt, lediglich um eine „Einsperrung“
zu dem Zwecke, den Geisteskranken an seine Um¬
gebung gefährdenden Handlungen zu verhindern,
sondern vor allem darum, ihm eine seiner geistigen
Krankheit angemessene Pflege und Behandlung zu
gewähren und seine Heilung oder doch Besserung,
namentlich die Beseitigung gemeingefährlicher Er-
regungszustände herbeizuführen. Diesem Zwecke
dient die Ueberführung in die Irrenanstalt und die
mit dieser nothwendig verbundene Freiheitsentziehung.
Deshalb wird der Geisteskranke nicht zum Gefangenen
und die Irrenanstalt nicht zum Gcfängniss. Daran
kann auch nichts ändern, dass im vorliegenden Falle
die Irrenanstalt an ein Strafgefängniss angegliedert ist;
denn der Geisteskranke ist in diese nicht deshalb
aufgenommen worden, weil er Strafgefangener, sondern
weil er Geisteskranker ist. Man kann auch nicht
ein wenden, dass die Ueberführung des Geisteskranken
in die Irrenanstalt deshalb anders beurtheilt werden
müsse, wie die eines körperlich erkrankten, ins¬
besondere einer mit Geschlechtskrankheit behafteten
Prostituirten in die Krankenanstalt, weil den polizei¬
lich zu schützenden Interessenten schon durch eine
Ausschreitungen verhindernde Einsperrung des Geistes¬
kranken genügt werde und deshalb diese als das
Hauptsächlichste für den Charakter der gegen ihn
ergriffenen Maassregeln bestimmende Moment er¬
scheine, denn das Gleiche trifft auch bei der Prosti¬
tuirten zu, da schon die Einsperrung diese an einem
die Uebertragung der Krankheit bedingenden Ge¬
schlechtsverkehr behindert. Dass aber die auf Heilung
oder doch auf Beseitigung gemeingefährlicher Erregungs¬
zustände Geisteskranker abzielenden, polizeilichen
Maasstegein die Herstellung eines den polizeilich zu
schützenden Interessenten entsprechenden Zustandes
in der Aussen weit zum Gegenstände haben, bedarf
keiner näheren Begründung. Daher war auch den
Ausführungen der Klägerin gegenüber an der im
Urtheil vom 12. Juni 1900 (Sammlung der Ent¬
scheidungen des Gerichtshofs Band NXXVIII S. 150)
zu Grunde gelegten Rechtsauffassung, dass die Kosten
der Unterbringung Geisteskranker in einer Irrenanstalt
sich dann, wenn sie nicht der Beobachtung und Fest¬
stellung halber, ob gemeingefährliche Zustände vor¬
handen sind, sondern zum Zwecke der Beseitigung
dieser Zustände erfolgt, als mittelbare und nicht als
unmittelbare Polizeikosten darstellen, festzuhalten.
Hiernach aber war die Pflicht zur Erstattung der
streitigen Kosten als eine der Stadtgemeinde gesetzlich
obliegende Leistung anzuerkennen und deshalb die
Klage abzuweisen, woraus folgt, dass der Klägerin
auch die Kosten gemäss § 103 des Landesverwaltungs¬
gesetzes vom 30. Juli 1883 zur Last zu legen waren.
Urkundlich unter dem Insiegel des Königlichen
Oberveiwalturigsgerichts und der verordneten Unter¬
schrift.
(Siegel)
(gez.) Peters.
Referate.
— 1. Sickinger, Dr., Stadtschulrath: Der
U n terrich ts betrieb in grossen Volksschul¬
körpern sei nicht schematisch-einheitlich
sondern di fferenzirt-ein heit lieh. (3,20 M.)
2. Sickinger: Organisation grosser Volks¬
schulkörper nach der natürlichen Leist¬
ungsfähigkeit der Kinder. (0,80 M.)
3. Moses, Dr. med.: Das Sonderklassen¬
system der Mannheimer Volksschule. Ein
Beitrag zur Hygiene des Unterrichts. (0,80 M.)
Sämmtlich erschienen zu Mannheim, A. Bong-
heimer, 1904.
Immer mehr Beachtung findet die Mahnung an
unsere Fachgenossen, sich nicht allein auf die psy¬
chisch schwer abnormen Insassen der Anstalten zu
beschränken, sondern ihr Interesse jeder irgendwie
gearteten Abweichung von dem normalen psychischen
Verhalten zuzuwenden. Ein besonders reiches Ge¬
biet, das auch hinsichtlich der Pathogenese späterer
Geisteskrankheiten von grosser Bedeutung ist, stellen
die Zustände geistiger 'Unzulänglichkeit im Kindes¬
alter vor.
Den bedeutsamsten Versuch, der unendlichen
Mannigfaltigkeit psychischer Minderwerthigkeit gerecht
zu werden und für jede Stufe die geeignete Behand¬
lung zu finden, repräsentirt das Sonderklassensystem
des Mannheimer Volksschulkörpers, der vom Stadt¬
schulrath Dr. Sickinger in weitblickender und ener¬
gischer Weise reformirt worden ist.
Angesichts der mannigfachen Unterschiede in der
Befähigung der Kinder erscheint es unmöglich, alle
Volksschüler nach einem Plan zu dem gleichen
Lehrziel zu bringen. Thatsächlich wird das Volks¬
schulziel noch nicht in 2 h der Fälle glatt erreicht.
Während die Bildungsunfähigen in die Idiotenanstalt
gehören, sind für die Schwachbefähigten Hilfsklassen
einzurichten; die Gutbefähigten gehören in die Nor¬
malklassen, aber für die unter Mittel Leistungsfähigen
bedarf es noch einer besonderen Fürsorge. Für sie
wurden nun in Mannheim sogenannte Förder¬
klassen geschaffen, und zwar für die unteren Schul¬
jahre Wiederholungsklassen, für die oberen Abschluss¬
klassen, die zusammen zum Hauptklassensystem eine
um 2 Stufen kürzere Parallelklassenreihe darstellen.
Auch Kinder, die auf Grund körperlicher Beschwerden,
Sinneskrankheiten, sowie durch längere Verhinderung
am Schulbesuch, z. B. infolge Zuzugs, zurückgeblieben
sind, gehören in diese Klasse. Ihre wichtigsten
Förderungsmittel bestehen einmal in der geringeren
Schülerzahl, dann in den ausgesuchten Lehrkräften;
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Original fram
HARVARD UNiVERSITY
532 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 52.
im Aufsteigen mit dem Klassenlehrer, in einem
quantitativ modificirten Unterrichtsstoff, in succes-
sivem Abtheilungsunterricht und in bevorzugter Be¬
rücksichtigung bei Wohlfahrtseinrichtungen, wie Schul¬
bädern, warmes Frühstück, Ferienkolonien, Kinder¬
horte u. s. w. Dringend zu wünschen ist schulärzt¬
liche Mitwirkung.
Der Schöpfer dieses weitsichtigen Systems hat
in der ersten Schrift eine zusammenfassende Dar¬
stellung des Ganzen, vor allem auch nach seiner
Genese geliefert, während die beiden andern Schriften,
die auf dem I. internationalen Congress für Schul¬
hygiene zu Nürnberg, IV. 1904, gehaltene Referate
über das System darstellen, das eine von Stadtschul¬
rath Dr. Sickinger selbst, das andere von einem ärzt¬
lichen Autor. Alle 3 Schriften, vor allem die ärzt¬
lich gehaltene, die in der Litteratur vielleicht etwas
knapp gefasst ist, seien der Aufmerksamkeit unserer
Leser angelegentlich empfohlen.
Wer, wie Referent, Gelegenheit halte, die Mann¬
heimer Einrichtung eingehender durch eigene An¬
schauung kennen zu lernen, dem wird alsbald jede
Skeptik schwinden und dafür die Ueberzeugung er¬
wachsen, dass es sich hier um einen lebenskräftigen,
vielversprechenden Organismus handelt, dessen Ge¬
deihen und vorbildliches Walten auch von uns im
Interesse der Erforschung der Psychopathologie und
Psychologie des Kindesalters lebhaft zu begrüssen ist.
Weygandt - W r ürzburg.
— Ueber die Frage des Heirathens von
fiüher Geisteskranken. Vortrag, geh. auf d.
Jahresvers. d. deutsch. Psych. in Göttingen am 26.
Aoril 1904 von H einr ich Schüle. Leipzig 1904.
Vedag v. G. Hirzel. Preis 0,60 M.
Die Freiheit des Einzelnen bezüglich einer Ehe¬
schliessung muss eine Grenze haben, wenn eine
Schädigung der Allgemeinheit zu befürchten ist. Verf.
hält daher ein Eheverbot für angebracht bei Para¬
lyse in allen Formen und zwar in einem möglichst
frühen Stadium der Krankheit, ferner bei degene-
lativen Cyklikem nach mehrfachen Anfällen, bei
ethisch degenerirten Epileptikern und Hysterischen
und bei chronischen Alkoholisten mit pathologischer
Charakterveränderung, schwereren, functioneilen, event.
auch organischen Nervenstörungen. Bei den übrigen
Scelenstörungen ist unsere Kenntniss vorläufig noch
nicht so weit gediehen, dass Eheverbote verlangt
werden könnten; da muss erst das Studium der
Ei blichkeitsfrage, zu dessen Durchführung Verf. ein
Schema mittheilt, wieder mehr in den Vordergrund
gerückt werden. Jetzt kann indessen schon der
Schutz der Nachkommenschaft bewirkt werden durch
prophylactische Entmündigung und durch die ge¬
eignete Thätigkeit des Arztes bei der Anfechtung
von Ehen. Arnemann - Grossschweidnitz.
— Der Alkohol als Nahrungs st off. Von
Prof. Dr. Rud. Rosemann in Bonn. Bonn 1904.
Verl, von Martin Hager. Preis 0.80 M.
Der Alkohol ist, wie Verf. auf Grund eigener
Versuche wieder bestätigen kann, sicherlich ein Nahr¬
ungsstoff, aber wegen seiner giftigen Nebenwirkungen
kann er für die Er n ähr u ng des Ges u n d en prak-
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tisch nicht in Frage kommen. Anders liegen die
Vcihältnisse beim Kranken: hier lassen sich durch
den Alkohol ernährende Wirkungen erzielen, die
durch die anderen Nahrungsstoffe nicht erreicht
werden können. Ebenso lässt sich die eigenartige
Wirkung des Alkohols als Genussmittel durch keinen
anderen Stoff ersetzen. Verf. steht auf dem Stand¬
punkt, dass derjenige auf den Genuss alkoholischer
Getränke nicht zu verzichten braucht, der bei nor¬
maler Veranlagung die geistige Kraft in sich fühlt,
die dazu nöthig ist, im Genuss das richtige Maass
zu finden und zu halten.
Arnemann-G rossseh weid n i tz.
— Der Alkoholismus. Zeitschrift zur wissen-
schaftl. Erörterung der Alkoholfrage Organ d. Verb,
der Trinkerheilstätten des deutschen Sprachgebietes.
Herausgegeb. von Dr. med. J. Walds chm i d t. Neue
Folge, Heft 2.
In den Originalarbeiten dieses Heftes spricht sich
Fabrikinspector Dr. Fuchs-Karlsruhe für Beschränk¬
ung des Flaschenbierhandels aus, Dr. La quer schil¬
dert in einem Reisebericht die vorbildlichen Ein¬
richtungen, welche zur Bekämpfung des Alkoholismus
in der Schweiz getroffen sind (Trinkerheilanstalten.
Alkoholfreie Wirtschaften, Absiinenzsccrctariat etc.)
und Pastor Dr. Stubbe berichtet kurz über das
Thema „Höhere Schule und Alkohol“.
Arnemann - Grossschweidnilz.
— Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie
und psych. ger. Medicin. Bd. 61, IV.
H e gar - Illenau: Der Stotterer vor dem Straf¬
richter.
Ueber einen zu 6 Monaten Gefängniss verurtheff-
ten stotternden Soldaten erstattete Verf. ein Gut¬
achten dahin, dass derselbe die Erklärung über die
Annahme der Strafe in einem Zustande krankhafter
Störung der Geistesthätigkeit abgegeben habe; denn
es habe bei ihm unter dem Einfluss des Angstafl'ectes
eine mehr oder minder grosse Bewusstseinsstörung
mit unklarer Auffassung der Vorgänge, sowie eine
Lähmung im Denken und Handeln Vorgelegen. Das
Gericht trat zwar den Ausführungen bei, da aber
der Verurtheilte trotz geistigen. Schwächezustandes
nicht als unzurechnungsfähig begutachtet werden
konnte, so wurde das frühere Urtheil bestätigt —
Irn Allgemeinen empfiehlt Verf., dass Stotterer vor
Gericht niemals ohne Rechtsbeistand erscheinen.
G e i s t - Zschadrass: Tuberkulose und Irrenan¬
stalten.
Die Zahl der in Zschadrass an Tuberkulose Ver¬
storbenen ist ganz wesentlich grösser als im Lande
sonst, es zeigte sich, dass die Disposition zur Tuber¬
kulose durch die höheren Grade geistigen Verfalls
geschaffen wurde. Zu fordern ist sowohl im Inter¬
esse der nicht tuberkulösen, wie der tuberkulösen
Geisteskranken die Errichtung besonderer Abtheil¬
ungen für Letztere. Grössere Anstalten hätten be¬
sondere Tuberkuloseabtheilungen zu bilden, im
Uebrigen ist für 2, 3 oder mehr Anstalten an einer
von diesen Anstalten eine Abtheilung zur Aufnahme
solcher Kranken einzurichten. Die Zuweisung müsste
möglichst früh erfolgen.
Original from
HARVARD UNIVERSITY
1905]
PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT.
333
Abraham-Dalldorf: Ueber einige seltene Zu¬
standsbilder bei progressiver Paralyse.
Verf. wünscht, dass Fälle von Paralyse mit so¬
genannten „Herdsymptomen“ mehr als bi>her studirt
werden. An einer Casuistik von 4 sehr genau be¬
obachteten Kranken zeigte sich, dass einerseits sich hinter
ähnlichen Erscheinungen ganz verschiedenartige Zu¬
stände verbergen können und dass andererseits ver¬
schiedene Möglichkeiten der Entwicklung und des
Verlaufs der sogenannten paralytischen Herderkrank¬
ungen existiren. Die 4 Fälle betrafen 1. Vorüber¬
gehende Apraxie im Anschluss an einen apoplecti-
formen paralytischen Anfall, 2. Vorübergehende
transcorticale sensorische Aphasie nach einem apo-
plectiformen Anfall, 3. Subcorticale sensorische Aphasie
nach paralytischen Anfällen und endlich 4. sensorisch-
motorische Asymbolie (totale Aphasie, schwere Seelen¬
taubheit, Apraxie, Agraphie, Alexie).
Reichardt-Würzburg: Ueber acute Geistesstör¬
ungen nach Hirnerschütterung.
Verf. liefert eine Reihe von casuistischen Bei¬
trägen für das Auftreten acuter Geistesstörungen
nach Himerschütterungen bei vorher geistig absolut
gesunden Personen. Die Psychose entwickelte sich
einige Male aus einem delirösen oder somnolenten
Stadium, hatte eine Dauer bis zu 5 Wochen und bot
je nach dem verschiedenen Sitz der muthmaasslichen
Himläsion ein verschiedenes klinisches Bild. Nach
Ansicht des Verf. ist der Sitz der Läsion nicht in
die Gesammthirnrinde zu verlegen, sondern es han¬
delt sich um Herderkrankungen des Gehirns, die
durch acute anatomische Veränderungen, hauptsäch¬
lich der Hirnrindengebiete hervorgerufen werden.
Weygand t- Würzburg: Ueber Beerdigungsatteste
bei Selbstmördern.
Bei Beerdigungsattesten kann der Arzt eine jede,
wenn auch fern liegende Möglichkeit eines Schlusses
auf Geistesstörung betonen und damit eine humane
Entscheidung der Geistlichkeit in der Frage des
kirchlichen Begräbnisses erreichen. Wenn es sich
dagegen um einen Rechtsstreit handelt, muss der
strikte Beweis für Geisteskrankheit entweder aus
dem früheren Verhalten oder aus dem Hirnbefund
geführt werden. Zur Illustration führt Verf. den sehr
interessanten Fall eines Selbstmörders an, der auf
Grund eines vom Obduzenten ausgestellten Attestes
mit kirchlichen Ehren begraben wurde, dessen Ange¬
hörige al^r die bei einer Lebensversicherungsgesellschaft
versicherte Summe nicht erhielten, da derselbe Arzt er¬
klärte, er könne nicht beweisen, dass X. geistesgestört war.
Meltzer-Grosshennersdorf: Die staatlicheSchwach-
sinnigenfürsorge im Königreich Sachsen. II. Die
Grundsätze der Schwachsinnigenerziehung in der
Landesanstalt Grosshennersdorf i. Sa.
Verf. betont zunächst mit Nachdruck die Noth-
wendigkeit schwachsinnige Kinder möglichst zeitig,
d. h. im 7.—9. Lebensjahre der Anstalt zuzuführen,
sodann führt er dem Leser in sehr anschaulicher
Weise bis ins Detail vor, in wie mühevoller Weise
sich der Bildungsgang der Zöglinge, die er nach ihren
geistigen Fähigkeiten in 4 Gruppen theilt, gestaltet.
Das Ziel der Anstalt ist nicht die Schüler auf eine
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einzelne Handfertigkeit zu trainiren oder sie mit
Schulweisheit vollzupfropfen, sondern sie will sie zu
Menschen erziehen, die in der Aussenwelt brauchbar
sind. Arnemann-Grossschweidnitz.
— Wollenberg. Die Hypochondrie.
Wien, Hölder, 1904. (Aus Nothnagel, Specielle
Pathologie und Therapie).
Nachdem Verfasser die historische Entwickelung
des Krankheilsbegriffes der Hypochondrie geschildert
hat, der im Laufe der Jahrhunderte ganz ausser¬
ordentlichen Wandlungen unterworfen gewesen ist
und auch jetzt sich keiner unangefochtenen Um-
schriebenheit erfreut, schildert er die vielgestaltige
Symptomatologie der konstitutionellen und acciden-
tellen Hypochondrie. Er gelangt zu dem Schlüsse,
dass die Bezeichnung Hypochondrie in dem allgemein
gebräuchlichen Sinne kein einheitliches Krankheits¬
bild bedeutet, sondern sehr verschiedenartige Zu¬
stände deckt, und dass sie als eigentliche Krankheit
nicht aufrecht erhalten werden kann, sondern aus
einen psychopathologischen Zustand, eine krankhafte
psychische Disposition besonderer Art darstellt. Neu¬
rasthenie und Hysterie geben einen vorzugsweise
günstigen Boden für die Entstehung hypochondrischer
Zustände ab. Neben der psychischen Behandlung
gelangen die physikalischen Heilmethoden vorzugs¬
weise zur Anwendung, differente medikamentöse
Mittel dürfen nur bei dringender Indikation und in
grösseren Zwischenräumen gegeben werden.
Mönkemöller - Osnabrück.
— Die Hysterie im kindlichen und
jugendlichen Alter. Von Dr. med. P. Bezy,
Prof. a. d. Kinderklinik zu Toulouse und Dr. med.
V. Bibent, übersetzt von Dr. med. Brodtmann.
Nach Abgrenzung des Begriffes der Hysterie
geben die Verfasser zunächst einen historischen
LTeberblick über die Entwickelung der Erkenntniss
von dem Vorhandensein der Hysterie bei Kindern,
wobei in erschöpfender Weise chronologisch die ein¬
schlägigen Arbeiten französischer und anderer Autoren
besprochen werden. In der Folge wird dann in
gesonderten Kapiteln ausführlich der allgemeine
Krankheitsverlauf, die specielle Symptomatologie,
Diagnose, Prognose und Therapie der Krankheit
unter Anführung zahlreicher casuistischer Beispiele
in mustergültiger Weise abgehandelt. Den Schluss
bildet ein vollständiges chronologisch geordnetes
Litteraturverzeichniss.
Die Arbeit ist mit ihrer vollständigen und über¬
sichtlichen Darstellung des genannten Gegenstandes
als sehr lesenswerth zu bezeichnen. Dr. Thoma.
Bibliographie
über Kriminal-Anthropologie und Verwandtes.
III. Quartal 1904.
Von Medicinalrath Dr. P. Näcke in Hubertusburg.
(Fortsetzung.)
Stein: Ein Fall von Himbruch auf degenerativer
Grundlage. Ref. Ibid.
Bartels: Uebei den Eintritt der vicariirenden
Frontaliscontraction bei congenitaler Ptosis, Zeit¬
schrift für Augenheilkunde 1904, Mai.
Original from
HARVARD UNIVERSITY
534 PSYCHIATRISCH-NEUROLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 52.
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Original fram
HARVARD UNIVERSUM
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normaler Grundtrieb des Menschen und als Grund¬
lage der Sociabilität. Ibid.
von Neugebauer: 103 Beobachtungen von mehr
weniger hochgradiger Entwickelung einer Gebär¬
mutter beim Manne (Pseudo-Hermaphroditismus
masculinus internus). Ibid.
von Neugebauer: 58 Beobachtungen von perio¬
dischen genitalen Blutungen menstruellen Anscheins,
von pseudomenstruellen Blutungen etc. bei Schein-
zwittcrn. Ibid.
von Römer: Vorläufige Mittheilungen über die
Darstellung eines Schemas der Geschlechtsdifferen-
cirungen. Ibid.
Frey: Aus dem Seelenleben des Grafen Platen. Ibid.
Praetorius: Die Bibliographie der Homosexualität
für das Jahr 1903. Ibid.
Protiwenski: Der Mord an Barbara Smreck. Arch.
für Kriminalanthrop. etc. Bd. 16, H. 3, 4.
Finkelnburg: Die Autobiographie eines Sträflings.
Ibid.
Marko wich: Gedicht eines Raubmörders. Ibid.
Siefert: Zur Frage der Schlaftrunkenheit. Ibid.
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Original fram
HARVARD UNiVERSITY
536 PSYCHIATRISCH-NEUKOLOGISCHE WOCHENSCHRIFT. [Nr. 52.
Glos: Ein Beitrag zu Casuistik der Simulation von
Geisteskrankheit. Ibid.
Junk: Die Trunkenheit im Militärstrafverfahren. Ibid.
Schneickert: Beobachtungen aus dem Raubmord -
process Lackner-München. Ibid.
Ein Fall von Leichenschändung. Ibid.
Wenger: Strafprocesse vor dem römischen Statt¬
halter in Egypten. Ibid.
Oberwinter: Ein Fall von angeborener Communi-
cation zwischen Aorta und Arteria pulmonalis mit
gleichzeitiger Aneurysmabildung des gemeinschaft¬
lichen Septums. Münchener medic. Wochenschr.
1904, No. 36.
Stein: Ein typischer Fall von Menstruatio praecox.
Deutsche medic. Wochenschr. 1904, No. 35.
G r o h m a n n: Ein sociales Sondergebilde auf psycho¬
pathischer Grundlage. Psych.-neurol. Wochen¬
schrift 1904, No. 23, 24.
Lomer: Ueber Bewusslseinsgrenzen. Ibid.
Meyer von Schauensee: Zur Frage der „geistig
Minderwerthigen.“ Luzern, Eisenring, 1904.
Gross: Die Degeneration und das Strafrecht. Ver¬
handlung des 27. deutschen Juristentages. Berlin
1904, Guttentag.
Tuczek: Ueber das pathologische Element in der
Kriminalität der Jugendlichen. Zeitschr. f. klin.
Medicin 1904.
Zwanziger: Ein Fall von angeborener perinealer
Dislocation des Testikels. Diss. Kiel 1904.
Cunningham: Riesen und Zwerge. Kef. Münchener
medic. Wochenschr. 1904, No. 37.
Smith: Die Kriminalistische Verantwortlichkeit
geisteskranker Mörder. Ibid.
Mercier: Kriminalistische Verantwortlichkeit und
Degeneration. Ibid.
Bl e i b t r e u: Die Milieu - Entstehung des Sozialismus.
Wartburgstimmen, Sept. 1904.
La Cara: Su di un caso di libidiue sanguinaria.
Riv. mens, di psich. for 1904, No. 7, 8.
Monzardo: Contributo allo Studio delle inversioni
sessuali. Fortsetz, und Schluss. Ibid.
Penta: Documenti umani. ibid.
Duhuisson: Essai sur la folie au point de vue
medico-legal. Arch. d’anthrop. crim. 1904, Sept.
Personalnachrichten.
— Zürich. Dr. K. G. Jung aus Basel, stell vertr.
Sekundararzt an der Irrenanstalt Burghölzli, hat sich
an der Universität Zürich als Privatdozent für Psy¬
chiatrie habilitirt. Seine Habilitationsschrift hat den
Titel „Ueber das Verhalten der Reactionszeit beim
Associationsexperimente“.
— Wern eck. Zum 1. Assistenzarzt der Kreis¬
irrenanstalt Werneck wurde der 3. Assistenzarzt der
Heil- und Pflegeanstalt Deggendorf Dr. Harlan der
ernannt.
Neuere Ergebnisse über Veroual.
P. Kleist*) hat io dem Pharmazeutischen Institut der
Universität Berlin, von dem Leiter des Instituts Professor Dr.
Thoms beauftragt, die physiologische Prüfung der Wirkung
des Veronals bei Fröschen, Hunden, Kaninchen auf Bacterien
und auf Blut vorgenommen.
Veronal bewirkt an den Blutgefässen der Niere in einer Kon¬
zentration von 0,125 6 au f 1 Liter Blut schon bei sehr kurzer
Einwirkungsdauer eine wenige Minuten nachhaltige, bei länger
dauernder Einwirkung eine sehr kräftige GefässerWeiterung.
Bei Warmblütern wird das ungelöste Veronal durch die
Alkaleszenz des Darmes bald gelöst und nach Verlauf etwa
einer halben Stunde nach der Eingabe beginnt die Resorption
und mit ihr die Wirkung. Veronal gelöst eingeführt, sei es
per os oder subkutan wirkt schneller. Die Ausscheidung durch
den Organismus beginnt bald nach der Aufnahme, jedoch nur
sehr langsam und ganz allmählich, infolgedessen ist auch die
Wirkung eine sehr lange.
„In kleinen Dosen erweist sich das Mittel als ein aus¬
gezeichnetes Hypnoticum.“
Nach sehr grossen Dosen taumelten die Versuchsthieie vor
dem Einschlafen herum; der Schlaf war unruhig, nach dein Er¬
wachen schienen die Thicre von Unlust befallen zu sein Nach
grösseren Dosen fiel ein starkes Zittern während des Schlafs
auf, als ob die Thiere sehr frören. Da nach den Untersuchungen
von C. Trautmann nach Veronalgebrauch eine ziemlich be¬
trächtliche Verminderung der Stickstoffausscheidung stattfindet
uud infolge dieser negativen Stoffwechselbilanz die Körper¬
temperatur herabsinken muss, (bei grösseren Dosen Veronal
bis zu 3 0 im Thierversuch) so ist möglicherweise der unruhige
Schlaf nach grossen Dosen nnd das nach dem Erwachen unter
Stöhnen und Umherwerfen auftrelende Unlustgefühl, zum
Theil durch diese Temperaturerniedrigung bedingt.
Gemäss dem Ablauf der Temperatureroiedrigung ist die
Wirkung des Veionals etwa 3 Stunden nach der Einnahme
am stärksten.
Da irgend welche Veränderung der Niere nach Veronal-
gaben sich nicht feststellen Hess, kann von einer Nierenreizung
durch Veronal doch nicht die Rede sein. Die geringen nach
sehr grossen Veronalgaben im Urin gefundenen Spuren von
Eiweiss muss man darauf zurückführen, dass bei der verstärkten
Transsudation infolge der Getässerweiterung und unvollkommener
Filtration auch gelöst s Eiweiss transsudiert.
Das starke Zittern nach grösseren Veronalgaben während
des Schlafs dürfte als ein künstlicher Schüttelfrost aufgefasst
werden, hervorgerufen durch ein intensives Frostgefühl infolge
Kontraktion der Hautgefässe.
Bakterizide Eigenschaften besitzt Veronal nicht
Eine Auflösung von Veronal in physiologischer Kochsalz¬
lösung in einer Konzentration von 1 °/ 0 , 10 ccm auf 10 ccm
Blutlösung wirkt weder auf Blutfarbstoff noch auf Blutkörperchen
ein, sobald sie neutralisirt ist. Nicht abgestumpfte Vetonal-
lösung laugt wegen des sauren Characters die Blutkörperchen aus.
Wegen seiner eiweisssparenden Wirkung bei fieberhaften
Zuständen und zehrenden Krankheiten ist es anderen bekannten
Schlafmitteln vorzuziehen. Einer uach Veronalgebrauch auf¬
tretenden Polyurie sei keine grosse Bedeutung beisumesseu.
Ob bei Nephritiden Veronalgebrauch schädlich, müssten Versuche
am Krankenbett lehren.
*) Ueber die physiologische Wirkung des Veronals. (Aus
dem Pharmazeutischen Institut der Universität Berlin.) „Therapie
der Gegenwart“, August 1904.
W 9 F DieseNummerenthältjeeineBeilagederFirraen:
Meister, Lucius & Brüning, Höchst a. M.
über „Valyl“,
und E. Merck, Chemische-Fabrik Darmstadt
über „Thyreoid-Serura“,
worauf wir besonders aufmerksam machen.
Kür den redactionellm Theil verantwortlieh; Oberar/t Dr. J. Bresler, Lubhnitz (Sch esien).
Erscheint jeden Sonnabend. — Schluss der Inseratenannähme 3 Tage vor der Ausgabe. — Verlag vc.n Carl Marhold in Halle a. S
Heynemann’sche Buchdruckerei (Gebr. Wo'fD in Halle a. S.
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Sachregister.
(Die Zahl» bedeuten die Seiten.)
(Die Bibliographie über Criminalanthropologie und Verwandtes von Medizinalrath Dr. P. Näcke befindet sich auf den Seiten
182, 190, 203, 30*, 3 11 » 3*o, 33*, 35*, 37*, 5<>3, 5*9. 533 )
Ablehnung, Affekt der A. 345
Abnorme Kinder 392, 404
Abstinenz, sexuelle und Frauenfrage 11
Abstraktion, Versuche 120
Addison’sche Krankheit bei Morb. Basedowii 98
Adrenalin 384
Affenhim 98
Agnosie 354
Akusticus-Tumor 162
Aloohoiabstinenz in Irrenanstalten 402
Alcohol und Eisenbahnunglück 181
Alcoholfrage 268, 340, 401
Alcohol und Geisteskrankheiten 426
Alcohol-HaHucinose 98
Alcoholheilstätten 402
Alcohol und Herzleiden 181
Alcohol als Nahrungsstoff 532
Alcoholpsychosen 310
Alcoholwirkung auf motorische Funktionen 372
Alcoholwirkung auf Warmblüterherz 432
Alcoholwirkung auf Sinne (Preisarbeit) 432
Alcoholwirkung auf Nerven- und Seelenleben 408
Alcoholismus, Sonderausstellung zur Bekämpfung des
181
Anstalt Waldfrieden 202
Alcoholismus und Vagabondage 429
Alcoholismus, Zeitschrift 532
Ammonshom 162
Amyrtrophische Lateralsklerose 439
Anämie, Einfluss auf die Erregbarkeit des Nerven¬
systems 503
Anästhesie, moralische 440
Ansbach 140
Antithyreoidinserum 423
Aphasie und Demenz 416
Apoplexia spinalis 163
Apraxie, Gehimschnitte 108, 354
Arteriosklerose 383
Associationen, experim. 120, diagnostische Bedeutung
bei Hysterie 275, rückläufige Ann. bei Geistes¬
kranken 329, analyt Untersuchungen der
Associationen bei Hysterie 449, 464, 469, 481,
493, 505, 52i
Atheromathose des Gehirns 114
Atrophie des Gehirns 114
Atropincuren bei periodischen Geisteskrankheiten
383
Attentat, auf Irrenärzte 66 Vorster, Vallon 275
Aufmerksamkeitsumfang 120
Aufnahmeformalitäten 269, 275, 339, 396
Aufnahmehäuser in Neu-Ruppin 284
Ausdrucksbewegungen, in Form von Licht- und
Farbenerscheinungen 121
Ausdruck der Gemüthsbewegungen 459
Ausländische Geisteskranke, preussisch. Minist.-Erlass
vom 3. X. 04 384
Aussageforschung 122, 330, 341
Autointoxikationspsychosen 503
Bäderbehandlung 165, 387, 417, 461, 490
Basedow’sche Krankheit 98, Antithyreoidinserum 425
Bauchdeckenreflexe 177
Beerdigungsatteste bei Selbstmördern 533
Belgien, kirchliche Irrenanstalten 295
Bellelay, Beilage zu Nr. 15
Berlin, Zunahme der Geisteskranken 180, Anstalt
Buch 257, 467. Unterbringung von Geistes¬
kranken in Privatanstalten 467
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538
SACHREGISTER.
Berufsgeheimniss u, 46, 47, 48, 54, 247
Berufswahl und Nervenleben 132
Bewusstsein, 35, 248, Bs.-Umfang 120, Spaltung 353
Bewusstseinsgrenzen 215
Bewusstseinsstörung, transitorische 396
Blindheit, geheilte, (Hemianopsie) 310
Blutsverwandte, Eheverbote 68
Brie, Nekrolog 502
Bromeigon 433
Brünn, Anstalt, Beilage zu Nr. 15, 239
Buddhistische Keuschheitsehen 444
Centralnervensystem, mikroscop.-typograph. Atlas 12,
Einfluss d. Anämie auf d. Erregbarkeit 503
Cerebrale Kinderlähmung 407
Cerebrinum-Pöhl 425
Cerebrospinalflüssigkeit, cytologisch 161, 162
Charakter und Geschlecht 231
Chirurgische Behandlung der Neurosen und Psychosen
502
Chloreton 98
Chorea, progressive Heredität 67
Cholin 154
Circuläres Irresein 98, 424
Coloniale Pflege 397
Commission, statistische, 65
Commotionspsychose 310, 533
Congress s. Versammlungen
Conversion, hysterische 510
Coordination der Bewegungen 120
Correlationen, psychische, exper. 120
Cretinismus 417, Schilddrüsenbehandlung 180
Cyklische Verlaufsweise von Psychose 189, 233
Cysticerken, Gehirn- 416, 525
Cytodiagnose 99
Dauerbäder 165, 387, 417, 461, 490
Degeneration, Nerven-, 417
Degenerirter, Mord durch solchen 148
Delirium alcohol. febril. 163
Demenz und Aphasie 416
Dementia präcox 39, 67, 131
Deutung, Psychologie der D. 120
Didaktik, experim, 121
Diebstahl bei Schwangerschaft 108
Dietz, Nekrolog 112
Dippold, Randglossen zum Fall D., 12
Dipsomanie 68
Distomumerkrankung des Gehirns 248
Dortmund, Anstalt 163
Dösen 369
Düren 519
Dziekanka 218
Ehescheidung (§ 1339. *344) 1353, «567. '5^8,
1569, 1571 B. G. B.) 31—34; Gutachten 69,
137. 305. 426
Eheverbote bei Blutsverwandten 68
Elektrodiagnostik 145
Emminghaus, Nekrolog 37
Encephalitis 417, Epilepsie dabei 179
Endogene Symptomencomplexe bei exogenen Krank¬
heiten 406
Entlassungen, frühe 441
Entmündigungsverfahren 425, Liquidation der Vor¬
besuche 12, E. b. Geisteskrankheit und Geistes¬
schwäche 17, Anfechtungsklage 62, Wiederauf¬
hebung 62, Ueberweisung an ein anderes Ge¬
richt 62, „Angelegenheiten“ bei entmündigter
Mutter 63, bei Trunksucht 66, gesetzlich.
Schutz gegen unbegründete E. 436
Entscheidungen s. gerichtl. Psychiatrie
Entweichung, Beihilfe, 513
Enuresis nocturna 437
Epidemien des relig. Fanatismus im 20. Jahrhundert
11, in Irrenanstalten 385
Epilepsie, Augenuntersuchung 425, Behandlung 379,
ohne Brom 77, 425 Wandertrieb 230, alimentäre
Behandlung 91, 201, 425, Bromeigon und Pepto-
Bromeigon 433, E. bei Encephalitis 178, Ge-
dächtnissleistung im epilept. Dämmerzustand 230,
E. u. Hysterie 310, Befund nach Operation
am Schädeldach 391, Ionentheorie, Bedeutung
der I. bei der Behandlung der E. 369, Vor¬
stellungsmaterial 371, E. mit Hemiplegie 418
Epileptiker, Anstaltseinrichtungen 108, 408, Merk¬
fähigkeit 354
Epileptische Schulkinder 253
Erbliche Belastung 414
Erblichkeitsforschung 519
Erkennen, optischer und acustischer Typus 116
Erlasse f. Verfügungen
Facialislähmung, Thränenträufeln 146
Familienpflege 397, Gardelegen 117. Dresden 245,
Wien 245
Farbenblindheit 115
Farbenschwäche 115
Farbentheorie 115
Fettsubstanzen im fötalen und kindlichen Rücken¬
mark 55
Fortschritte des Irrenwesens 333, 363, 385
Frauenfrage und sexuelle Abstinenz 11
Freiheitsberaubung, unverschuldete, Pflicht zur Auf¬
hebung derselben (§ 239) 7
Fucol 344
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HARVARD UNIVERSITY
SACHREGISTER.
539
Furunkel bei Dauerbädern 388
Fürsorgeerziehung (§ 1666 B. G. B.) 34, 513
Fussböden 375
Gangrän d. Zehen 114, angiospastische 502
Ganser’sches Symptom 83, 185, 458
Gardelegen 117
Gebührenordnung, Entscheidung 18
Gedächtnissuntersuchungen 119 (ungewöhnliches Ge¬
dächtnis»), bei affectiven Eindrücken 120; im
epilept. Dämmerzustand 230; Merkdefekte 354
Gefangene, Psychologie, 238
Gefässerkrankung nach Adrenalin, experimentell 384
Gefühle, Generalisation 121
Gehirn-Abscess mit katatonem Verlauf 459; G., Ab¬
schnürung des Unterhorns 329; G.-Ammonshom
162; G.-Anatomie, Scheitellappen, Ocdpitallappen
170; G. eines Apractischen 108; G.-Atrophie
und Atheromatose 114; G.-Chirurgie 144; G.,
Distomumerkrankung 248; G.-Cytoarchitektonik
der Rinde 106; G.-Cysticerken 416, Cystic.
racemosus 525; G.-Einfluss von Hunger und
Schlaflosigkeit auf die Rinde 171; G.-Entwicklung
während der ersten Monate 518; G. experimen¬
tables 116; G., Faserung 329; G., Hydroce-
phalus erworbener 342; G., physiolog. und
klinische Untersuchungen 231; G. bei Situs
transversus 73; G.-Syphilis 503 ; G.-Tumoren,
Symptome 162, 424; G.-Zerstörung des Schweif-
kems 114
Gehörschärfe, Bestimmung 116
Geistesartung, individuelle 479
Geisteskranke, bestrafte 427; Ätiologie, Alcohol 340,
401; Beaufsichtigung d. G. ausserhalb der An¬
stalten 339; G., Behandlung 389; Entlassung
(Min.-Erlass vom 20. V. 04) 153; frühe Ent¬
lassungen 441; Entscheidung über Internierung
130, 131, 171, 396; Entweichung, Beihilfe
513; Fürsorge für gemeingefährliche G. 23, 24,
87, 101, 113, 123, 171, 220, 241, 273,341 (in
Frankreich); 475,484,499,514,528 (in Preussen);
519 (Düren); 479 (Hessen, Thüringen); Gesetz¬
gebung 336, 396; Haftpflicht bei Schwängerung
einer Anstaltskranken 286; Heirathen früher G.
100, 106, 532; Hilfsbedürftigkeit in armen¬
rechtlichem Sinne (Entscheidung) 302; Hilfs¬
verein Rheinprovinz 371, 399, 514; Zeugniss-
fähigkeit 180, 330, 341; Seelsorge 266;
Statistik 340, 459; Erblichkeit 340; rückläufige
Association 329; unbekannte G, Beilage zu Nr.
11, 20, 23, 32, 43; Zunahme d. G.en 366, in
Berlin 180
Geisteskranker Verbrecher, ob Strafgefangener? (§
120) 6; Unterbringung 65, 87, ioi, 113, 123,
241, 247, 257, 273, 279, 403, 407, 421, 428,
453» 467, 475. 479. 484, 499. 5*4. 528; 448
(Hohenasperg)
Geisteskrankheit und Tortur 407
Geisteskrankheiten , in altbiblischer Tradition 180;
Behandlung in Japan 147; Beziehungen zu
körperlichen K. 372; Individualität 479; phy¬
sikalische Therapie 141, 389; Sauerstoftbehand-
!ung 355
Geistesschwäche als Entmündigungsgrund 46, 147, 148
Geistesstörung, individuelle 479
Gemeinschaft, eheliche und Entmündigung, 62;
geistige 124
Gemütsbewegungen, Ausdruck 459
Geschäftsfähigkeit (§ 104, 113, 114 B. G. B.) 17,
18,45
Geschlecht, Entstehung des Gs., 36; G. u. Charakter
231; G. u. Unbescheidenheit 232
Gesetzgebung, Irren-, 336
Giessen, experimental-psychologisches Laboratorium,
19
Grossschweidnitz 369
Haftpflicht, gerichtl. Entscheidung, 18, 30, 63; 286
(bei Schwängerung)
Hallucinationen, Zwangs- 417
Hallucinatorischer Verfolgungswahn in der Haft 230
Halsmark, Neubildung 384
Hallucinose, Alcohol-H., 98
Handfertigkeitsunterricht in Idiotenanstalten 133
Hannover, Irrenfürsorge 49 (Geschichte); (Stadt),
Irrenfürsorge 278
Harnblase, corticale Innervation 162
Hautsinnesempfindungen 116
Heirathen, früher Geisteskrankef 100, 106, 532, frühes
Heirathen und Neurosen 430
Heissluftdusche 383
Hemianopsie, geheilte 310
Hemmung und Intensitätscontrast 118
Hermaphrodismus 260
Herzleiden und Kaffee 181
Herzthätigkeit, physiologisch 278
Hilfsvereine 399, 371, 514
Hitzig, E., Jubiläum 10
Hoff mann, E. T. A., Biographie 458
Homosexuelle 247, Statistik 431
Hydrocephalus internus, erworbener 342
Hygiama 140
Hygiene des Rauchens 36, Schul-H. 268; der Irren¬
anstalten 3Ö7
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HARVARD UNIVERSITY
540
SACHRBGISTKR.
Hypnagoge Sinnestäuschungen 429
Hypenose 260
Hypnotische Wirkung und chemische Constitution 91
Hypochondrie 533
Hypophysentumor 147; H.-Syphilis 503
Hysterie, der Frau 220
H. u. Epilepsie 310
Hysterisches Irresein 74, 82, 83
Hysterische Analyse der Associationen 449, 464,
469, 481, 493, 505, 521; Conversion 510; H.-
Dämmerzustände 185, 248, 458; H., diagnos¬
tische Bedeutung der Associationen 275
Java, Psychiatrisches 129
Idiophrenia paranoides 248
Idiotenanstalten 408, Handfertigkeitsunterricht 133,
St. Antoniusheim 371
Idiotie, anatomische Grundlagen 138, Fürsorge in
Bayern 230, in Sachsen 519, 533, I. u. cerebrale
Kinderlähmung 407
Imbecillität 407, Rechentalent 248, Lese- und Schreib¬
störung 382
Incohärenz 343
Individuelle Geistesartung und Geistesstörung 479
Individualpsychologie 115, 479
Inductives Irresein bei 3 Geschwistern 459
Infantilismus, unabhängig von Schilddrüse 248
Irrentheorie bei Epilepsiebehandlung 369
Internirung, Entscheidung über I. Geisteskranker 130,
131
Irrenanstalten 408, Arbeitsverdienst 397, Aufnahme¬
formalitäten 269, 275, 339, Benennung 281,
frühe Entlassungen 441, Entweichung 513, Epi¬
demien 385,forense Thätigkeit(in Preussen 1901 bis
03) 256, Fussböden 375, Haftpflicht bei Schwän¬
gerung einer Geisteskranken 286, kirchliche I.en
in Belgien 293* Nachtwachen 136, 152, Neu-
und Umbauten 367, Revolte 43, sanitäre Ein¬
richtungen 367, Speisesäle 407, Statistik 459,
Tuberkulose 217, 378, 532, Überfüllung 363,
Unterhaltung und Erheiterung der Kranken 395,
430, Wasserversorgung 376. — Ansbach 140,
528, Bellelay (Ansicht) Beilage zu No. 15, Brünn
desgl. und 239, Buch 257, 467, Dortmund 163,
Dösen 369, Dziekanka 218, Grossschweidnitz
369, Hohenasperg 448, Java 129, Königslutter
375 (nebst Abbild.), München (Klinik) 330, Neu-
Ruppin, Aufnahmehäuser 284, Neustadt (Hol¬
stein) 113, Obrawalde 499 (nebst Abbild.), Pots¬
dam (nebst Abbild.) 377, Saargemünd 24, 310,
Treptow (nebst Abbild.) 368, St. Urban, Beilage
zu Nr. 15. Valduna desgl., Weinsberg (Beschrei¬
bung nebst Plänen) 1, Wien 317, 319, Winnen¬
thal (nebst Abbild.) 374
Irrenärzte 409, Fortbildungskurse 65, Attentate auf
I. 66 (Vorster), Vallon 275, Reisevergütungen 140,
410, Gehaltsaufbesserungen 446, (Westfalen), 458
(Pommern), 498 (Ostpreussen), Irrenärzte in Russ¬
land 490
Irrenfürsorge Berlin 467, Geschichte d. I. in Hanno¬
ver 49, Belgien 295, in Russland 490, im rus¬
sischen Kriege 371, Java 129, Bayern 130, 131,
Rheinprovinz 371, New York 439, Österreich
Centralbehörde 257, Württemberg 448, Paris
383, Hannover (Stadt) 278, „polizeiliche“ 286
Irrengesetzgebung 336
Irren wesen, Fortschritte des, I. Bericht von Deiters
333» 303.373.3S5.409 .424
Isopral 98
Jubiläum Hitzig 10, Pelman 180, 297, Sander 467,
Richter 467, Klinik in Jena 310, Laehr’s An¬
stalt Schweizerhof 424, Dalldorf 467
Juristen, Ausbildung in Psychiatrie 427
Kaffee- und Herzleiden 181
Katatonie 363, episodische K. bei Paranoia 407, Ge¬
nesung 418, ungewöhnlicher katatonischer Ver¬
lauf bei Hirnabscess 459, Verlauf 519
Katatoniker, verschluckte Scherben 382
Kathartische Methode bei Neurosen 370
Keuschheitsehen, buddhistische 444
Kinderlähmung und Idiotie 407
Kinder, psycholog. Experiment 121, Sprachentwick¬
lung 122, leicht abnorme 392, 404
Kleinhirnseitenstrangbahn, Funktion 439
Knochensensibilität 68
Koburg, Luise von, Gutachten über dieselbe 257,
5M
Kochsalzinfusionen 490
Königslutter 375 (nebst Abbild.)
Körperliche Krankheiten, Beziehungen zu geistigen
372
Korsakow’sche Psychose (s. a. polyneuritische) 67,
98, 310
Krieg, südafrikanische, Einfluss 491
Kunerol 260
Kunst, Anfänge der K. und Darwinsche Theorie 121
Kurvenpsychiatrie 519
Lähmung periodische 439
Laehr-Stiftung 65, 310
Landstreicherthum 429
Lateralsklerose 439
Lehrerinnen Überbürdung 458
Leicht abnorme Kinder 392, 404
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Original frnm
HARVARD UNIVERSITY
SACHREGISTER.
541
Lesestörung 38 2
Lichtreflex galvanischer 178
Lumbalpunktion, diagnostisch und therapeutisch 153,
154, 161, 162
Mähren Irrenfürsorge 239
Maggi’s Würze 304
Malerei in der klassischen Medizin 280
Manische Verstimmung 407
MalzkafFee 504
Melancholie 67, 502
Merkdefekte 354
Mikrographie 448
Militärgefangene, Psychosen 10
Minderjährige, criminelle Fürsorge 513
Minderwerthige, strafrechtliche Behandlung 55, 238
Spezialanstalten 87, 453
Missbildungen d. Rückenmarks 106,
Misshandlung, körperliche, Begriff 7
Moralische Anästhesie 440
Moral insanity 407, 440
Mord durch degenerirten Alkoholiker 148
München, psychiatr. Klinik 65, 330 (Einweihung)
Musikalisches, Psychologie des M. 121
Muskelatrophie spinale 147
Muskelbewegungen, Zustandekommen 162
Mulkelphänomen 145, ein wenig beachtetes (Muskel¬
ton)
Myasthenie 418
Myotonie 147
Nachahmung, Bemerkungen über 121
Nachtwachen, Körpergewicht 136. 152, 200
Narcotica 389
Negativismus, negative Suggestibilität 249, 261
Negativistische Phänomene 345, 357
Nekrolog: Emminghaus 37, Vorster 76, 85, Dietz
112, Penta 435, Brie 502
Nematoden im Maulwurfshim 98
Nervendegeneration Biologie 417
Nervenheilstätten (Volks-) 10, 65 rheinische; 40, 108,
Rasemühle; 92, 313, 321, 394, 406, Baden;
338 Bauprogramin 236
Nervenkrankheiten, physikalische Therapie 141, Sauer-
stoffbehandlung 355, der Lehrerinnen 458
Nervenleben und Berufswahl 132
Nervensystem 268, Beiträge zur Physiologie des N.
und der Sinnesorgane 35, Veränderung nach
Radiumbestrahlung 418
Neurasthenie 181, 220
Neuronal 92, 109, 157, 383, 460
Neuropathologie und Psychiatrie 71, 84, 89, 90,
448, N. und innere Medizin 147
Neurose, bei Telegraphisten 67, Prognose und The¬
rapie 220, kathartische Methode 370, bei frühen
Heirathen 430, chirurgische Behandlung 502
Neuruppin Aufnahmehäuser 284
Nikotinunschädliche Cigarren 36
Obduktion, Recht auf O. bei Versicherten 63
Obrawalde 310
Optische Täuschungen 115
Pädagogik und Psychiatrie 74
Paralyse progr. bei berühmten Leuten 9, stationäre
189, Statistik in Luzern 275, P. mit Atrophie
439, Heil versuche 418, familiäres Auftreten 459
P. nebst Hirnsyphilis 503, seltene Zustands¬
bilder 533
Paranoia, P. oder Dementia präcox? 39, Stirnersche
Ideen bei P. 67, periodische P. 170, episodische
Katatonie 407
Paranoiker, Mordinstrumente eines P. 382
Paris, psychiatr. Streifzüge 383
Patellarreflexe, Physiologie 73
Pavor noctornus 430
Pelman Jubiläum 180, 297 (Porträt)
Penta, Necrolog 435
Pepto-Bromeigon bei Epilepsie 433
Perhydrol 296
Periodische Lähmung 439
Periodische Psychosen Atropinkur 383
Pessimismus Psychologie des P. 480
Pflegepersonal 410, Unabkömmlichkeit bei Mobil¬
machung 125, 129, Wägungen und Körperpflege
175, Unterricht 218, 411, Urlaub 413, Statistik
414, materielle Aufbesserung 447 (Westfalen),
in Russland 490
Pflegschaft 44, 45
Physiologie des Nervensystems und der Sinnesorgane
35
Poliamylitis anterior 383
Polizeiliche Einweisung Geisteskranker 131
Polyneuritische Psychose 48
Potsdam Epileptikeranstalt 377 (nebst Abbild.)
Primordialdelirien 55
Privatanstalten, Begriff 63, Zuverlässigkeit des Be¬
sitzers 64, Minister.- Erlass in Sachsen 459
Communalkranke in Privatanstalten 467
Psychiatrie und Pädagogik 74, und Neuropathologie
71, 84, 89, 90, 448; in Java 129, vergleichende
Ps. 163, sociale Ps. 320, Lehrbuch von Krae-
pelin 418, Kurvenpsychiatrie 519
Psychiatrie, wichtige gerichtl. Entscheidungen 5, 16,
30, 44, 54, 61; §§ 5 L 56» 120, 175, 176, (No.
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Original from
HARVARD UNIVERSITY
542
SACHREGISTER.
3) 185, 223, 230, 239, St. G. B. §§ 66, 73, 79,
83, 243, 249, 255, 267, Str. Pr. O. §§ 6, 104,
113, 114, 157, 612, 618, 823,828, 1339, 1344,
1353» 15 67» 157 L 1568, 1631, 1569, 1666,
1786, 1793, 1906, 1908, 1909, 1910, 1911 B.
G. B. § 210 Kinführungsgesetz zum B. G. B.
— §§ 42, 406, 52, 91, 241, 287, 372, 373,
383, 402, 404, 406, 410, 414, 445, 475, 568,
575, 619, 646, 648, 649, 676, 679, 650, 650,
664, 671, 679, C. P. O. § 172 Gerichts-Verf.-
Ges. § 12, 36, 37, 43, 52, 57, 59, 60 R,-G.
freiw. Gerichtsbarkeit. §3 Haftpflichtgesetz; § 11
Versicherungsrecht; § 30 R Gewerbe-Ordnung
— Begutachtungen in Preussen in den Jahren
1901-03, 256. Justizirrthum 341, Leitfaden für
Begutachtung geisteskranker Soldaten 355, straf-
rechtl. Begutachtungen in Anstalten 426, 427
Psychische Epidemien 11
Psychische Vorgänge, Einfluss auf Puls und Athmung
121
Psychische Zwangserscheinungen 229
Psychologie experimentelle, Laboratorium in Giessen,
Ausstellung psychophysischer Apparate 122, Con-
gress 19, 115, 131, Methoden 106, Individualps.
115, 479, P. der Deutung 120, 247, P. des
Schlafes 120; P. bei Kindern 121, P. der Aus¬
sage 122, P. der Gefangenen 238, Leib und
Seele 303, P. d. Pessimismus 480, international.
Congress in Rom 1905, 498
Psychopathische Literatur in Russland 248
Psychopathische Sekten 444
Psychopathologie objective 122, individuelle 479, Pr.
der Hysterie 449, 505, Untersuchungsmethoden
280, sociales Sondergebilde 205; Ich-Bewustsein
248, P. des Alltagslebens 288, Wahnprobiem
299, Incohärenz 343, endogene Symptomen-
complexe bei exogenen Krankheiten 406
Psychosen, Autointoxicationspsychosen 503, bei Base¬
dowscher Krankheit (Antityreoidinserum) 425,
Behandlung 490; chirurgische Behandlung 502,
Benennung und Eintheilung 72, 90, 91, 414,
448; circuläre 98, 189, 233; Commotionspsy-
chosen 310, 533; Kochsalzfusionen 490; induk¬
tive Psychosen bei 3 Geschwistern 459: bei
Militärgefangenen 10 (E. Schultze); periodische,
Atropinkur 383; polyneuritische 48, 67, 98,
310; nach Schädel Verletzungen 67, 519; Sauer¬
stoffbehandlung 355; Serumbehandlung 490;
Wesen der Psychose 179
Puls Umsetzung des Puls in Töne 121
Pupillenstarre traumatische reflectorische 145, reflec-
torische, Verhalten des Rückenmarkes 503
Radium, Veränderung der Nerven nach R.-Bestrah¬
lung 418
Rauchen, Hygiene des R. 36
Reactionsversuche 122
Rechentalent bei Inbecillität 248
Reproduktion experim. 120
Rückenmark, Fettsubstanzen im kindlichen und fö¬
talen R. 55, Missbildungen 106, Vorderhomer¬
krankungen nach Trauma 179, Neubildungen
im Halsmark 384
Rythmus der Prosa 121
Saargemünd 24, 310
Sachverständigenthätigkeit in Preussen bei Entmündi-
gungen 64, 75, 382; § 66 73, 79, 83, 243
249, 255, 267, Strafprozessordnung 6, 7, 8, 9,
Liquidation von Vorbesuchen 12, Schaden¬
ersatzpflicht bei fahrlässigem Gutachten 18, Ab¬
lehnung 45, 55, 46, 54, 61; Information 62,
Bekritelung 437
Sanatogen 520
Schadenersatzpflicht gerichtl. Entscheidungen 18
Schädelbasis röntgenologische Untersuchung 162
Schädelverletzuhgen psych. Störungen 67
Schlaf, Psychologie 120, biologische Theorie 120,
Schl, und Traum 260
Schlafmittel, Wirkung und chemische Constitution oi
Schlafstörungen 429
Schlaftrunkenheit 432
Schreibstörung 382
Schulhygiene 268
Schulkinder epileptische 253
Schwachsinn, forensisch 147, 148, 407, Rechentalent
248, Vorstellungsmaterial 371, 392, 404
Schwachsinnigenfürsorge in Bayern 230, Sachsen 519,
533
Schwangerschaft, Diebstahl bei 108, 519
Schweifkem, exper. Zerstörung 114
Schutzmannschulen Unterricht über Geisteskranke
445
Seele Leib und S. 303
Seelsorge bei Irren 266
Sekten, psychopathische 444
Selbstmörder Beerdigungsanst. 533
Serumbehandlung 491
Sexualleben und Nervenleiden 260
Sexuelle Abstinenz 11, Gebrechen, Verhütung 181
„Silent Unity“ 445
Simulation von Geistesstörung 124, 396, 408, 426,
440 , 455
Sinnesgenuss und Kunstgenuss 220
Situs transversus, Gehirn dabei 73
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Original frnm
HARVARD UNIVERSITY
SACHREGISTER.
543
Sondenernährung 389
Speisesäle in Irrenanstalten 407
Spiritistische Medien, Begutachtung 68
Sprachentwicklung des Kindes 122
Sprachstörung Fall von eigenartiger 424
Statistik in den Anstaltsberichten 459
Statistische Kommission 65
Status epilepticus (Fehlen der Anfälle) 68
Stimersche Ideen bei Paranoia 67
Stottern vor dem Strafrichter
Stöwer, Ausscheiden aus dem Dienst 341
Strafausschliessung (§ 51) für jede Einzelhandlung bei
Delictseinheit zu prüfen 5
Strafgesetz deutsches, Revision 108, 330, schweize¬
risches (Reform) 274
Strafunmündigkeit (§ 56,2) 6
Strangulationsversuche, Psychosen danach 383
Suggestibilität negative 249
Suggestion 260
Syphilis, Gehirn und Hypophyse 503
Syringomyelie, Traumen und Blutungen als Ursache
66, Knochen 147
Tabes dorsalis Frühdiagnose 155
Tamarinden 312
Tapiau 101
Täuschungen optische 115
Telegraphisten, Beschäftigungsneurose 67
Tetanie 114, T. und Psychose 114
Teupitz, neue Anstalt 514
Thomsensche Krankheit 162
Thränenträufeln bei Facialislähmung 146
Tiefen Wahrnehmungen 116
Tortur und Geisteskrankheit 407
Transitorische Bewusstseinsstörung 396
Traum und Schlaf 260
Trauma, Vorderhomerkrankungen 179
Traumtänzerin Madeleine G. 35
Treptow (Abbildung) 368
Trunksucht, Entmündigung 66 s. a. Alkohol
Tuberkulose in Anstalten 378, 532
Tutulin 288
Typhus in Irrenanstalten 385
Überbürdung der Lehrerinnen 458
Überempfindlichkeit der Sinne als criminogener Fac¬
tor 396
Unfall Beziehung zum Tod 63
Unterhaltung und Erheiterung der Kranken 395,
430
Untersuchungshaft, Gesetz über unschuldig erlittene
U. auch auf Geisteskranke anwendbar 276
Unzüchtige Handlungen, Begriff (§ 175) 6, Beleidi¬
gung durch solche (§ 185) 7
Urban, St., Beilage zu No. 15
Umische Mensch 467
Vagabondenthum 429
Valduna Beilage zu Nr. 15
Vallon, Opfer eines Attentats 275
Verantwortlichkeit, Einsicht für diese 18, 30
Verbrechen und seine Bekämpfung 124, V. in alt¬
biblischer Tradition 180, Überempfindlichkeit
der Sinne als criminogener Factor 396
Verbrecher geisteskranke s. Geisteskranke
Vererbung 36, 414, 519
Verfügungen, preussische minister, vom 14. 5. 04 betr.
Behandlung Geisteskranker in Anstalten mit
mehreren Verpflegungsklassen 152, vom 20. 5.
04, betr. Entlassung verbrecherischer Geistes¬
kranker aus denöffentl. Irrenanstalten 153, betr.
Gemeingefährliche 220, preuss. Min. Erlass betr.
Ausländer v. 3. 10 04, 384
Veronal 57, 98, 536
Versammlungen: jurist.-psychiatrische in Stuttgart 20.
III. 04 46, Verein für Psychiatrie und Neurolo¬
gie in Wien 12. I. 04 55, 9. II. 04 98, 8. III.
04 114, 10. V. 04 147, 10. VI. 04 161,
deutsch. Ver. f. Psychiatrie 25-27. IV. 04 64, Con-
gress f. exper. Psychologie in Giessen 115, 131,
psychiatr. Verein d. Rheinprovinz 11. VI. 04
382, 12. XI. 04, 383, Göttingen psycholog.-
forens. Vereinigung 137, Südwestdeutsche Neu¬
rologen und Irrenärzte 28. und 29. V. 1904
144, 153, Nordostdeutscher psychiatr. Verein
27. VI. 04 188, ungar. Irrenärzteverein 1904
265, deutsche Irrenseelsorger 266 schweizerische
Irrenärzte 273, V. für Criminalpsychologie und
forens. Psychiatrie in Giessen 280, 330, mittel¬
deutsche Psychiater und Neurologen 329, süd¬
westdeutsche Irrenärzte 392
Verstimmung 154, manische 407
Vibrationsgefühl 68
Volksbücherei medicinische v. Witthauer 48
Vormundschaft (Ablehnung wegen Führung einer
anderen V.) 34, Pflichten bei Kindern 34, vor¬
läufige 44, 62, für Ausländer 62, Zuständigkeit
62, bei entmündigten Ehefrauen 62
Vorsätzliche Selbstbeschädigung nicht vorhanden, wenn
die Folgen nicht bewusst sind 7
Vorstellungsmaterial bei epilept. Schwachsinn 3 71
Vorster Nekrolog 76, 85
Wahnproblem 299
Waldbröl 56
□ igitized by Google
Original from
HARVARD UNIVERSITY
SACHBBCKSngL
5*
Waldfrieden, Heilstätte f. Alkoholiker 202
Wandertrieb krankhafter 230
Wasserversorgung in Anstalten 376
Weininger 511
Weinsberg (Beschreibung nebst Abbildungen) 1
Wien neue Irrenanstalt 317, 319
Willensthätigkeit, experiment, 121
Winnenthal (nebst Abbildungen) 374
Zähneknirschen im Schlaf 430
Zellenlose Behandlung 43, 389, 490
Zeugnissfähigkeit geistig Abnormer 180, 341
Zeugnissverweigerung 46, 47, 48
Zurechnungsfähigkeit verminderte 12, 55, 238
Zwangserscheinungen psychische 229
Zwangshalludnationen 417
Zwangsvorstellungen 383
□ igitized b
v Go* gle
Original fram
HARVARD UNIVERSUM
Namenregister.
(Die Zahlen bedeuten die Seiten.)
Abraham 533
Ach 121
Alexander 162
Alrutz 116
Alt 91, 310, 355
Alter 68
Alzheimer 89, 100, 138,
163
Amant 121
Anton 84
Aschaffenburg 124
Auer 238
Axenfeld 145
Becker 157
Beelitz 383
Beling 47, 48
Benussi 115
Berger 147
Berkhan 148
Beminger 268
Berae, J., 39
Beyer 236, 430
Bezy 533
Bibeat 533
Binswanger 330, 343, 344,
37i. 513
Bleuler 249, 261, 441
Böge 416, 521
Boldt 354
Bonhoeffer 98
Borst 122
Bratz 310
Bresler 124
Brie 383
Brodmann 107, 533
Bruns 84
Bumcke 178
Bunzl 98
Cammerer 46
Clifford 247
Cloparede 120
Cramer 90, 91, 137, 138,
329i 330, 344
Cronbach 67
Dannemann 305, 446
Dannenberger 330
Dees 125, 131
Deiters 333, 363, 373, 385,
397, 409, 434
Determann 92, 155, 321,
394
Detmold 138
Diem 67
Dietz 1
Dinkler 163
Dobrschansky 98
Drastig 355
Dürns 355
Düring 247
Ebbinghaus 115
Eckhard 131
Edinger 144
Eggers 181
Ehrenberg 138
Ehrke 433
Elmiger 275
Elsenhaus 120, 121
Endemann 66
Engelmann 279
Erb 147, 153, 154
Esposito 48
Ettlinger 121
Exner 116
Falkenberg 310
Fauser 406
Feldkirchner 131
Ferranini 248
Fischer 100, 281, 289,
384. 5*9
Flechsig 329, 330, 344, 355
Flügge 519
Forel 420
Förster 329, 382, 383
Frank 427, 430
Frankl-Hochwart, v., 162
Freymuth 189, 190, 202
Freud 288
Freund 220
Friedländer 431
Fröhlich 98, 273
Fuchs 92, 98, 114, 147,
161,162,313,395,418,
439.519
Fuhrmann 371
Fürer 35
Fürstner 71, 90, 91, 100,
106,147,405,407,448
Ganghör 407, 378
Ganser 248, 355
Garbini 440
Gaupp 154
Geist 532
Gelpke 274
Gerenyi 245
Gerhardt 153
Gerlach 108
Gessler, v., 47
Gierlich 170
Glöckner 92
Glos 396
Gluszcwesky 201
Goldmann 144
Gordon 120
Grabe, v., 407
Grohmann 205, 444
Groos 121
Gross, Hans, 11
Gross, Otto 345, 357
Grützner 162
Guttmann 115
Hahn 148
Halmi 78
Hauser 92
Hegar 532
Heilbronner 67, 403
Heinroth 138
Hellwig 239
Henneberg 68, 83, 458
Henri 115, 120
Herfeldt 140
Hermkes 502
Hess 276
□ igitized by
Google
Heymanns 118
Hirschfeld 431, 467
Hirschl 98, 114
Hirt 408
His 518
Hitzig 91, 106, 144, 147,
231
Hoche 65, 72, 84, 147,
153» *8o, 417, 448
Hoffmann, A., 132
Hoffmann, v., 146
Hohlfeld 424
Holländer 280
Hopf 133
Hoppe, F., 101
Hoppe 369
Hornung 372
Hösel 329
Husen, van, 57
Jamin 177
Ilsberg 320, 407
Jolly 468
Jung 274, 275, 407, 408
Kahl 55, 238
Kalberlah 310
Karrer 124
Kate 120
Kayser 218, 220
Kiene 47*
Kleinfeiler 238
Klinke 458
Knapp 266
Kochmann 432
Koller 274, 459
Kölpin 502
König 407
Kornfeld 108, 180
Köster 372
Kowalewsld 480
Kraepelin 129, 131, 163,
330.418
Krauas 47, 144
Kreuser 47, 48, 266, 405
Krömer 189, 202, 220
Original frnm
HARVARD UNIVERSUM
540 NAMENREGISTER.
Kufe 503
Kühner 181
Külpe 120
Kunowski 421
Kurelia 229
Laehr 66, 424
Landauer 46, 47
Lange 220
Laqueur 147, 405
Lay 121
Lentz 295
Leppmann 238
Liegmann 108, 354, 355
Link 131
link (Freiburg) 145
Lisibah 269, 275
Loeb 432
Lohsing 247
Lomer 215
Lorenz 245
Löwenfeld 229, 260
Ludwig 407
Mainzer 47, 48
Makowitz 432
Marbe 121
Marburg, O., 12, 439
Marc 459
Marthen 284, 292
Marti us 121
Meinert 181
Meitzer 519, 533
Mendel 91, 106
Merklin 491
Merzbacher 417
Meschede 189, 190, 233
Meyer 67, 190, 202, 310,
437, 503
Mittermaier 330
Möbius, P. J. 9, 232, 419
Möli 91
Monakow 170
Mönkemöller 49, 141, 407
Moses 53
Müller-Göttingen 115, 119
Müller (Strassburg) 120
Müller, E., 260
Muralt 273, 274
Nücke 11, 87, 241, 247,
396, 403, 421, 43
453,519
Naunyn 147
Neisser 43
Neumann 92, 395, 406
Neupert 299
Nonne 153, 162
Obersteiner 418
Okada 147
Oppenheim 220
Orchansky 36
Oswald 69, 165
Pelmann 68, 90, 382
Pfaff 268
Pfister 405, 429
Pick 68, 248, 448
Pilcz 418
Pieron 280
v. Planck 138
Pötzl 55, 418
Habbas 202
Raecke 67, 74, 82, 100
Raimann 98
Ransohoff 86
Redlich 439
Reichardt 503, 535
Rentsch 503
Reti 181
Ricklin 185, 274, 275,
449, 4ö4,48i,493, 505:
521
Ris 274
Ritti 342
Robinsohn 162
Rosenfeld 154, 416
Rosemann 532
Rosenthal 161
Rüdin 230
Rudolf 459
Rumpf 383
Ruppel 115, 132
Rydel 68
Sandner 131, 277
Sänger 144, 147
Schäfer 100
Schermers 455
Scheven 73, 503
Schmidt 200, 391, 459
Scholz, F., 440
i, Schönbom 153
Schott 67
v. Schreck-Notzing 147
Schuhmacher 35
Schüle 90, 92, 100, 106
532
Schüller 114, 147, 162
Schulze 407
Schultze, E., (Greifswald) 5
10, 12, 17, 30, 44, 54
61,67,91,153,230
Schultze, Bonn, 147
v. Schwab 48
Schweighofer 239
Seiffer 68
Sickinger 531
Siebeck 121
Siebert 109, 383
Siemens 76, 189, 190
Siemerling 90, 91, 99
Sikorski 248
Sklarek 459
Snell 396
Sommer 19, 84, 106, 115,
121, 122, 280, 330, 371
Spearmann 120
Speyr 427
Spielmeyer 179, 417
Spitzka 11
Stadelmann 179
Stackemann 108
Stark 179
Starlinger 246
Stegmann 370, 371
Steinbeiss 396
Steiner 245, 384
Stern 122
Stewart 491
Stoll 181
Stolper 100
Stoltenhoff 220
Stransky 114, 418, 439
Strauss 502
Strohmaier 519
Struycken 116
Stumpf 303
Szabo 379
Talesko 147
Taniguchi 248
Tanzi 457
Taruffi 260
Thoma 404, 406
Thomsen 383
, Tiling 479
Tilkowsky 346
Tippei 383
Tobler 154
, Tomaschny 175, 461
, Toulouse 280
Tschermak 116
Tscheijew 310
Turczek 513
Viedenz 67
van Vleuten 459
Vocke 130, 131
Volck 511
Vorster 24, 310
Wagner v. Jauregg 180
Wanke 74
Watt 122
Weber 329, 342
Weininger 231
Weisser 48
Wende 519
Wemicke 90, 91, 344,
354
Westphal 66, 106, 383
Weygandt 73, 84, 91, 120,
171, 230, 253,
392, 406, 430, 533
Wichmann 458
Wickel 117, 127, 152,
189, 190, 499
Wiedersheim 162
Wildermuth 405
Wilmans 429
Wirth 120
Witthauer 48
Wizel 248
Wollenberg 47, 48, 90,
100, 416, 533
Wreschner 120
Wüst 454
Zahn 230
Zander 268
Zappert 55
Zeller 266
Ziehen 90, 329, 330, 355.
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