IV. Jahrgang September-Oktober 1932 Heft 5
Psych oanalytische
Bewesuns
Erscheint zweimonatlich
Multaretuli . . Goethe über die Psychoanalyse
Edmund Bergler. Das Plagiat
Marie Bonaparte Der Untergang des Hauses Usher
H. Gilay . . Psychoanalyse und sozial=kulturelle Erneuerung
Hanns Sachs . . Kitsch
M. J. Eisler . . Psychologische Randbemerkungen
Freud und Bergson — Karl Vossler — C.G. Jung ist mit sich unzufrieden —
Kann ein Psychoanalytiker (religiöser) Christ sein? — Ariost und Freud —
Roman einer Analyse — Zu Goethes Liebesleben — Da betreibe ich doch
lieber Psychoanalyse
Preis des Heftes Mark &-
;*
„Psychoanalytische Bewegung“
Erscheint zweimonatlich
Schriftleiter: Dr. Eduard Hitschmann
NN
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Psychoanalytische
Bewegung
IY. Jahrgang Sept.— Okt. 1932 Heft 5
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Mitteilung an die Leser:
Indem ich auf Wunsch von Herrn Professor Freud die Schrift-
leitung der „Psychoanalytischen Bewegung“ übernehme, liegt es
mir als Erstes ob, dem Begründer, sowie bisherigen Herausgeber
und Redakteur dieser Zeitschrift namens der Psychoanalyse wie
zahlreicher Leser zu danken. Herr A. ]J. Storfer hat vor drei
\ Jahren mit richtigem Instinkt das weit verbreitete Bedürfnis nach
einem Organ erkannt, das aus dem Kreise der engeren Fach-
genossen der psychoanalytischen Wissenschaft hinausstrebend,
ein Verbindungsglied zu den Gebildeten aller Interessengebiete
darstellt, und es auch den Abseitsstehenden ermöglicht, sich über
die Fortschritte der psychoanalytischen Lehre und der psycho-
"analytischen Bewegung fortlaufend zu unterrichten. Herr Storfer
hat diese sich gesteckten Ziele voll erreicht, indem er einen großen
Kreis wertvoller Mitarbeiter zu sammeln verstand und auch durch
‚eigene Mitarbeit das Blatt zu einem lehrreichen und interessanten
gestaltete.
Es sei ferner dem Wunsch Ausdruck gegeben, daß die Mit-
"arbeiter an diesem Blatte ihm weiter treu bleiben, und das Bild
der psychoanalytischen Bewegung, durch Berichte aus allen Zen-
.tren der Psychoanalyse und auch von kleineren vorgeschobenen
_ Posten her, ein vollkommenes darstelle.
Wien, ı. August 1932.
| Dr. Eduard Hitschmann.
) INTERNATIONÄL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
PsA. Bewegung IV — 385 —
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
Goethe über die Psychoanalyse
(Bericht Eckermanns über ein Gespräch mit Goethe,
den 22. März 1932)
Von
Multaretuli
Goethe trat aus seinem Zimmer aufrecht und heiter; sein Blick schien wie
nach innen gerichtet nach aufmerksamem Studium oder längerem Lesen,
„Also hat auch Sie die Phantasie treuer Anhänger heute zum Leben
erweckt“, sagte Goethe freundlich. „Ich bin nun hundert Jahre tot,
Was hat nicht Alles unterdessen die Welt bewegt! Wie mag die
Menschheit in Wissenschaft und Technik fortgeschritten sein!“
Ich entsinne mich der Sicherheit, sagte ich, mit der Sie .auf die
Unsterblichkeit Ihrer Seele rechneten: Wenn ich bis an mein Ende
rastlos wirke, so ist die Natur verpflichtet, mir eine andere Form
des Daseins anzuweisen. ;
„Nein“, sagte Goethe darauf, „so sicher war ich meiner Sache
nicht. Ich entsinne mich auch, zu Ihnen einmal gesagt zu haben: Die
Beschäftigung mit Unsterblichkeitsideen ist für vornehme Stände und
besonders für Frauenzimmer, die nichts zu tun haben. Ein tüchtiger
Mensch aber, der schon im Leben etwas Ordentliches zu sein gedenkt
und der daher täglich zu streben, zu kämpfen und zu wirken hat,
läßt die künftige Welt auf sich beruhen und ist tätig und nützlich in
dieser. Ferner sind Unsterblichkeitsgedanken für solche, die in Hin-
sicht auf Glück hier nicht zum besten weggekommen sind. Nur der
Wunsch nach Fortdauer ließ mich hoffen, was meine fromme
Mutter immer geglaubt hat. Aber jetzt, da ich hundert Jahre tot bin
und nur von der Phantasie eines Jüngers scheinbar materialisiert Ihnen
entgegentrete, mein Kind, weiß ich, daß der geistreiche Franzose recht
hat, der sagte: sö l’on mort, c’est pour longtemps !
Und hundert Jahre Wissenschaft, bedenken Sie, sind seither ver-
gangen. Wie glaubt man, noch glauben zu können, als habe sich
nichts geändert!?“
Ich bewunderte das Feuer seiner ungestümen Rede und entsann
mich seines nimmermüden Forschungstriebes sein Leben lang; und
daß sein Glaube an einen persönlichen Gott, an einen christlichen
Gott nicht immer absolut feststand. Wir werden alle nach und nad
aus dem Christentum des Worts und Glaubens immer mehr zu einem
— 386 —
Christentum der Gesinnung und der Tat kommen, so. höre ich ihn
ankündigen. Und wer könnte des Verses vergessen: Wer Wissenschaft
und Kunst besitzt, der hat auch Religion.
Goethe, der neu Verwandelte, ein Goethe des zwanzigsten Jahr-
hunderts fuhr fort, mich zu belehren.
„Ich sehe, die Menschen können fliegen, drahtlos über die
Meere hören und so vieles Wunderbare mehr: aber hat sich ein Be-
weis mehr für die Existenz eines Gottes ergeben ? Eben hielt in Wien
ein Dichter, ein begnadeter Dichter, einen hitzigen Vortrag mit dem
Titel: ‚Kann der Mensch ohne Gottesglauben leben?‘ Und auf welche
Beweise stützt er sich? Auf das Gefühl vom Göttlichen bei Natur-
genuß, bei mitleidigen Handlungen. Er will die Gnade erlebt haben.
Ach, wie genau habe ich einst das Gleiche empfunden !
Nämlich wir Produktiven empfinden bei der Inspiration, wenn uns
etwas einfällt, wenn uns ohne unser Verdienst ein Werk wird, ja,
wir empfinden dieses rätselhafte Erleben wie ein Wunder. Und es
liegt nahe, sich dann entsprechend der religiösen Tradition, wie wir
sie ins Leben von der Umwelt mitbekommen, für von Gott aus-
gezeichnet zu halten. So habe ich mich zuweilen getrieben gefühlt,
Gedichte instinktmäßig und traumartig niederzuschreiben, die plötzlich
über mich kamen. So empfand auch ich mich narzißtisch als ‚ein wür-
dig befundenes Gefäß zur Aufnahme eines göttlichen Einflusses und
glaubte in jedem produktiven Menschen ein Werkzeug einer höheren
Weltregierung zu sehen. Ich fühlte Gott in der Natur, er tönte mir
aus den Werken der Musik, der großen Dichter und aus den Groß-
taten der politischen Genies.
Aber jetzt, hundert Jahre später, soll da die zu meinen Lebzeiten
noch so junge Wissenschaft nicht weiter in der Erkenntnis von Gott
und Welt gekommen sein!? Es gibt doch nun eine Religionspsychologie,
die weiß, wie der Mensch zu seinem Glauben gekommen ist. Hier auf
dem Gebiet der Seelenkunde ahne ich die bedeutsamsten Erkenntnisse.“
Goethe schwieg und sann. Er schien mir wieder allen Anderen
vorausgeeilt, wie ich ihn so oft bewundert habe. Er schien mir in
diesem kurzen Wiederleben, wie es uns beiden geschenkt war, mit
übermenschlichen Kräften begabt, den geistigen Gehalt des neuen Jabr-
hunderts in sich aufgenommen zu haben. Wie zu seiner eigensten
Natur zurückgekehrt, war es nicht Dichtung und Kunst, was er nun
am wichtigsten nahm, sondern die Wissenschaft, die Wahrheit.
Und Goethe fuhr fort: „In Wien, las ich eben, lebt ein Ge-
— 387 Fe 26
lehrter, dessen Werk ich, mit meiner ‚Metamorphose der Pflanzen‘
vergleichend, als die ‚Metamorphose der Libido‘ bezeichnen möchte.
Eine ganz neue Methode der Seelenuntersuchung des Einzelnen hat
derselbe angegeben, von einer unerhörten Geduld und Gründlichkeit.
Er macht seine Psychoanalyse oft ein Jahr lang, und der Analysierte
sagt ungefragt Alles, was ihm einfällt. Und so hat er gefunden, wie
der Einzelne geworden ist, aus Angeborenem und früh Erlebtem,
Welche Bescheidenheit und Nachsicht lehrt diese Determiniertheit der
Seele des Einzelnen aus seinem seiner Willkür, seinem Bewußtsein
ganz entzogenen Werden. Wie kann jener erwähnte Dichter so
unduldsam sein, gerade die religiösen Menschen für die besseren
zu erklären? Warum will er bekehren? Ihm fehlt der große Respekt
vor dem Wissen um das Werden der Seelen, vor der Wissenschaft.
Ferdinand Bruckner, auch ein begabter Gegenwärtiger, sagt mit Recht:
Warum sträuben sich noch so viele Schriftsteller vor einer Bekannt-
schaft mit Freud ?... Weil sie sich einreden, sie hätten es nicht nötig,
die Seele zu studieren, sie hätten selbstverständlich ihr eigenes ‚Gefühl’.
Nein, man kann nicht mehr den Wert eines Individuums nach
seiner Gläubigkeit einschätzen, das ist ein mittelalterlicher Standpunkt.
Ich habe immer am israelitischen Volk, dem auch jener vom Dämon
erfüllte Gelehrte angehört, seine Selbständigkeit, seine Festigkeit ‘und
Tapferkeit bewundert; an Zähheit sucht es seinesgleichen. So auch
dieser konsequenteste aller Denker. Wie mutig hat er das "Triebhafte
in der seelischen Unterwelt nachgewiesen. Ich bin stolz darauf, selbst,
das Gleiche ahnend, gesagt zu haben: Die Welt gleicht einer Orgel,
auf der Gott Vater spielt; aber der Teufel tritt die Bälge.
Habe ich doch auch einmal gesagt, ich fühlte in meiner Natur die
Fähigkeit zu jedem Verbrechen!“
„Wollte ich mich ungehindert gehen lassen, lautet ein Bekenntnis
von Ihnen, so läge es wohl in mir, mich selbst und meine Um-
gebung zu Grunde zu richten. Die Hauptsache sei, daß.man lerne,
sich selbst beherrschen.“
„Ich war zwar auch ein sorgsamer Selbstverhüller; aber auch
ein Bekenner. Doch kennt man sich denn selbst!? Wenn ich heute
lebte und jünger wäre, ich könnte meinen Wissensdrang nicht zähmen,
ehe ich selbst mich einer Analyse unterzogen hätte, und dann genau
wüßte, wie ich geworden bin. Dieses ewige Mitschleppen der Kind-
heit, die unvergleichliche Stärke der ersten Gefühlsbindungen habe
ich immer geahnt. Z. B. in der ‚Zueignung‘ im Faust:
— 388. —
rn
‚Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten,
Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt,
Versuch’ ich wohl, euch diesmal festzuhalten ?
Gleich einer alten, halbverklungnen Sage
Kommt erste Lieb’ und Freundschaft mir herauf.’
Habe ich die stärkste Liebesanziehung, die ich als reifer Mann er-
fuhr, nicht analytisch gedeutet, wenn ich an die Stein dichtete:
‚Ach, du warst in abgelebten Zeiten meine Schwester oder meine
Frau.‘ Sie hat meine Mutter, Schwester und Geliebten nach und nach
geerbt, habe ich ihr nachgesagt. Ja, diese unvergänglichen ersten Nei-
gungen nehmen wahrhaftig Personen des eigenen Familienkreises zum
Objekt.“
„Wie oft“, stimmte ich Goethen zu, „haben Sie mir von der großen
Bedeutung der Jugendeindrücke gesprochen. Der Mensch kann seine
Jugendeindrücke nicht los werden, sagten Sie, und dieses geht so weit,
daß selbst mangelhafte Dinge, woran er sich in solchen Jahren ge-
wöhnt und in deren Umgebung er jene glückliche Zeit gelebt hat,
ihm auch später in dem Grade wert bleiben, daß er darüber wie ver-
blendet ist und er das Fehlerhafte daran nicht einsieht.“
„Ja, Sie haben es richtig behalten. Daher kommt es auch, daß
mit einer erwachsenen Generation nie viel zu machen ist, in körperli-
chen wie in geistigen, in Dingen des Geschmacks wie des Charakters;
seid aber klug und fangt in den Schulen an und es wird gehen.
Nach der neuen Lehre ist das allerdings etwas spät.“
„Sie haben immer voll Liebe über Kinder gesprochen; Sie ver-
glichen die Unarten der Kinder mit den Stengelblättern einer Pflanze,
die nach und nach von selber abfallen, und wobei man es nicht so
genau und streng zu nehmen brauche. Sie sprachen sich dagegen aus,
die liebe Jugend frühzeitig zahm zu machen und alle Natur, alle Ori-
ginalität und alle Wildheit auszutreiben, so daß am Ende nichts übrig
bleibt als der Philister.“
„Was die Kinder anlangt*, fuhr Goethe fort, „so geht von der
Psychoanalyse geradezu ein neues Evangelium der Liebe aus, denn
grausame Härte, Prügel und Einschüchterung werden als schädlich
verworfen. Liebe und Aussprache, rechtzeitige beruhigende Aufklärung
aber werden empfohlen ; man versteht nun das Seelenleben der Kinder.“
„Sie haben mir einmal von einem Knaben erzählt, der sich über
einen begangenen kleinen Fehler nicht habe beruhigen können und
3839
waren davon unangenehm berührt: es zeuge von einem zu zarten
Gewissen, welches das eigene moralische Selbst so hoch schätzt, daß
es ihm nichts verzeihen will.“
„Ja, Sie haben dies wohl angemerkt! In Freuds Terminologie
würde es heißen: Der Knabe hatte ein zu strenges Über-Ich, er neigte
zu Schuldgefühlen.“
Goethe nickte befriedigt und fuhr fort, mich aufmerksam zu machen
auf Ähnlichkeiten in seinen Ansichten und denen dieses weltbekannten
Psychologen, der in streng naturwissenschaftlicher Methode einen Zu-
gang zu den Triebkräften der Seele gebahnt habe; und nicht nur die
ärztliche Wissenschaft, sondern auch die Vorstellungswelt der Künstler
und Seelsorger, der Geschichtsschreiber und Erzieher aufgewühlt und
bereichert habe.
„Belesene Schüler des Meisters haben schon vor Jahren konsta-
tiert, daß ich so etwaswie Verdrängung und Abreagieren ge-
kannt habe. In Wilhelm Meisters theatralischer Sendung habe ich
den seelischen Konflikt Mariannens zwischen ihren zwei Liebhabern,
dem unwürdigen und dem idealen, ihr durch eine Art Verdrängung
erleichtert. ‚Ihr anderer Liebhaber war abwesend‘, schrieb ich, ‚und sie
schob das Verhältnis mit ihm im Gedächtnis seitwärts, wie man das
Andenken von irgend einer Schuld aus dem Reiche der lebhaften Er-
innerungen in das Fach der historischen Kenntnisse verscheucht.‘
Auch in meiner Antwort auf einen Kondolenzbrief Schillers — da
mir wieder ein kaum geborenes Söhnchen dahingegangen war — habe
ich mich ein wenig ‚freudisch‘ geäußert: Man weiß in solchen Fällen
nicht, ob man besser tut, sich dem Schmerz natürlich zu überlassen,
oder sich durch die Beihilfen, die uns die Kultur anbietet, zusammen
zu nehmen. Entschließt man sich zu dem letzten, wie ich. es immer
tue, so ist man dadurch nur für einen Augenblick gebessert und ich
habe bemerkt, daß die Natur durch andere Krisen immer wieder ihr
Recht behauptet.“
„Ich entsinne mich auch, daß Sie, von Exzessen Byrons sprechend,
etwas Ähnliches, wie Verdrängung, im Auge hatten; Sie nahmen an,
er habe im Parlament seine Einwände gegen die englische Nation nicht
abreagiert, und es ist ihm, um sich davon zu befreien, kein anderes
Mittel geblieben, als es poetisch zu verarbeiten und auszusprechen. Sie
nannten einen großen Teil der negativen Wirkungen Byrons — ver-
haltene Parlamentsreden.“
„Ja, ich entsinne mich, liebes Kind“, fuhr Goethe fort. „Die
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Ei
ganze Konzeption des Unbewußten, der Verdrängung, des Widerstan-
des und der Übertragung habe ich die letztere nicht umschrieben,
mit den Worten: Man lernt nur von dem, den man liebt, hat für mich
das Sicherwerden über stets Geahntes. Den Eros habe ich immer hoch-
gehalten und nie zu verkleinern versucht.
Ich erwäge, wie oft ein einziger Gedanke ganzen Jahrhunderten
eine andere Gestalt gab, und wie einzelne Menschen durch das, was
von ihnen ausging, ihrem Zeitalter ein Gepräge aufdrückten, das noch
in nachfolgenden Geschlechtern kenntlich blieb und wohltätig fort-
wirkte.
Ich habe auch Freuds Schrift ‚Das Unbehagen in der Kultur‘ gelesen,
der so Viele Pessimismus. nachsagen;; sie schließt mit einem skeptischen
Ausblick, daß die Welt nicht gesunden könne, solang Feindseligkeit
und Aggression herrschen und nicht Eros, der Lebens- und Liebes-
trieb, die Oberhand gewinnt.
Aber 1824 schon habe ich ganz ähnlich gesprochen: Könnte man die
Menschheit vollkommen machen, so wäre auch ein vollkommener
Zustand denkbar; so aber wird es ewig herüber- und hinüber-
schwanken, der eine Teil wird leiden, während der andere sich wohl
befindet, Egoismus und Neid werden als böse Dämonen ihr Spiel
treiben, und der Kampf der Parteien wird kein Ende haben. —
Wenn die Gegner gar nichts von seinem Werk gelten lassen, so
anerkennen sie doch Freuds hervorragenden Stil; mit Recht hat ein
gar tüchtiger Literaturhistoriker eine bewundernde Abhandlung über
Freud als Schriftsteller geschrieben, der Schweizer Walter Muschg.*“
Ich aber erinnerte Goethen an Worte, die er einmal über den
Zusammenhang von Stil und Charakter mir gesagt hatte. Im Ganzen
ist der Stil eines Schriftstellers ein treuer Abdruck seines Innern: will
jemand einen klaren Stil schreiben, so sei es ihm zuvor klar in sei-
ner Seele; und will jemand einen großartigen Stil schreiben, so
habe er einen großartigen Charakter.
„Jawohl“, stimmte Goethe zu. „Auch die Bildung dieses Mannes ist
hervorragend und es tut mir wohl, zu sehen, wie genau er meine
Schriften kennt.
Daß ich mich selbst wiederholt in psychischer Hilfeleistung versucht
habe, weiß Freud wohl und findet sogar, daß das Verfahren, das
ich an dem Professor Plessing, von dem ich in der ‚Campagne in
Frankreich‘ erzählt habe, anwendete, sich in merkwürdigen Einzel-
heiten mit der Technik seiner Psychoanalyse berührt. Auch mein
— 391 —
psychologisches Kunststück an der Herder, über dasich an die Stein be.
richtet habe, führt Freud an: ‚Ich ließ mir alles erzählen und beich.
ten, fremde Unarten und eigene Fehler mit den kleinsten Umständen
und Folgen und zuletzt absolvierte ich sie und machte ihr scherzhaft
unter dieser Formel begreiflich, daß diese Dinge nun abgetan und in
die Tiefe des Meeres geworfen seien. Sie ward sehr lustig und ist
wirklich kuriert‘.
Wer wollte zweifeln, daß die Erkenntnis über die Neurosen nicht
durch die Psychoanalyse weitgehend gefördert wurde! Meine arme
Schwester würde man als einen Fall von Hysterie und Frigidität dia.
gnostiziert haben. Ihr hätte die Psychoanalyse helfen können; sie war
ein merkwürdiges Wesen, sie stand sittlich sehr hoch und hatte nicht
die Spur von etwas Sinnlichem. Der Gedanke, sich einem Manne
hinzugeben, war ihr widerwärtig; sie war daher in der Ehe nicht
glücklich und so widerriet sie leidenschaftlich meine beabsichtigte Ver.
bindung mit Lili. Daß sie bei bevorstehenden Festlichkeiten und Bällen
gewöhnlich von einem Ausschlag im Gesicht heimgesucht wurde, hätte
den Fall für die Analyse noch interessanter gemacht.“
(Schluß Folgy)
III
Theodor Reik
WARUM
VERLIESS GOETHE
FRIEDERIKE?
In Ganzleinen Mark 8.-
Inhalt: Dichtung und Wahrheit - Ein alter Mann erzählt die Geschichte
seiner Liebe - Die Gründe der Trennung - Die Verkleidung - Der Kind-
taufkuchen - Chronologische und andere Verwirrung - Die Kußangst -
Sexualität und Gewissensangst - Der junge Goethe erzählt ein Märchen -
Der Dichter über die „Neue Melusine” - Der Schatten des Vaters - Der
Text der Zwangsbefürchtung - Capriccio doloroso - Freundliche Vision -
„Frohe und dankbare Gefühle nach dem Sturm” - Coda
Internationaler Psychoanalytischer Verlag
Wien |
ULM
— 392 —
Das Plagıat
Deskription und Versuch einer Psychogenese einiger Spezials
formen
(Vortrag, gehalten in der Wiener psychoanalytischen Vereinigung am ı. Juni 1932)
Von
Dr. Edmund Bergler
Wien
Wie würde Dich die Einsicht kränken :
Wer kann was Dummes, wer was Kluges denken,
Das nicht die Vorwelt schon gedacht ?
Mephistopheles in Faust II.
Tout est dit, et l!’on vient trop tard
depuis plus de sept mille ans qu’il y a des
hommes... et qui plagient.
La Bruyere.
Die Schwierigkeiten der Plagiatfrage' beginnen bereits bei der De-
finition. Es gibt eine Reihe solcher Definitionen, die für unsere Zwecke
wertlos sind, weil sie lediglich de bewußten Motive berücksichti-
gen und im Plagiat eine mehr oder weniger planmäßige und ge-
schickte Gaunerei sehen. So sagt etwa das österreichische Gesetz:
„Wer in der Absicht zu täuschen, ein fremdes Werk
mit seinem eigenen Namen oder ein eigenes Werk mit dem
Namen eines anderen versieht, um dasselbe in Verkehr zu
setzen, oder wer wissentlich ein solches Werk in Ver-
kehr setzt, macht sich, auch wenn kein Eingriff in ein Ur-
heberrecht vorliegt, eines Vergehens schuldig, insoferne nicht
strengere Bestimmungen des Strafgesetzes eingreifen.“
Nun ist es für jeden analytisch Denkenden heute auf Grund der
Freudschen Forschungen einleuchtend, daß unbewußte Motive
beim Plagiat eine große, wahrscheinlich die entscheidende Rolle spielen,
Gibt es doch eine ganze Reihe von Plagiatformen, die unter vollkom-
mener Ausschaltung des Bewußten zustande kommen. Ferner spielen
mit großer Wahrscheinlichkeit auch bei den, unter Mitbeteiligung des
Bewußten entstandenen Plagiaten, unbewußte Motive eine Rolle. Bei
einem Erklärungsversuch zeigt es sich sogar, daß diese Gruppe
ee Fe re BE Er ER EEE
ı) In dieser Arbeit werden, mit einer Ausnahme, ausschließlich das literarische und
wissenschaftliche Plagiat untersucht.
— 393 —
des Plagiats unserem Verständnis unzugänglicher ist, als die
reinen unbewußten Plagiate.
Stellt man aber die unbewußten Motive beim Plagiat in Rechnung,
so ergibt sich deshalb noch lange keine eindeutige Definition. Die
Abgrenzung fällt nach wie vor schwer. Eine allen Möglichkeiten ge-
recht werdende Definition kann es — bei der Vielfältigkeit der Pla-
giatformen — gar nicht geben. Jeder Fall muß individuell begutachtet
werden. Dies schon deshalb, weil es gutgesicherte Beispiele gibt, bei
denen die gleiche Idee in zwei verschiedenen Köpfen unabhängig von-
einander entstanden ist. Eine weitere, theoretisch einfache, praktisch
schwer lösbare Schwierigkeit liegt in der Frage: Ist der betreffende
Fall eine Bearbeitung, Modifikation oder neue Anwendung eines
Stoffes, (einer Idee) oder ein Plagiat? Häufig, nicht immer ist die wört-
liche Wiedergabe ein Fingerzeig für einen Plagiatverdacht. Als vor-
läufige Definition dürfte folgendes brauchbar sein: Unter einem Pla-
giat verstehen wir das Ausgeben fremden geistigen Eigen-
tums für daseigene ohne Zitierung des wahren Urhebers,
wobei — je nach Art des Plagiats — der Anteil unbe-
wußter Motive, der immer vorhanden ist, größer oder
geringer ist.
Die Frage: Warum plagiiert der Schriftsteller X, warum stiehlt er
gerade Gedanken und nicht anderes, kann — wenn überhaupt —
schwer beantwortet werden. Man könnte (und auch das nur, wenn
man hunderte von Plagiatoren analysiert hätte, was ja niemand bisher
gemacht hat) dazu nur sagen, daß lediglich Vermutungen über die
Ursachen tatsächlich stattgefundener Plagiate, mit größerer
Sicherheit als jetzt, vorgebracht werden könnten. In dieser Arbeit
wird lediglich auf einzelne Spezialformen des Plagiats aufmerksam ge-
macht und bei einigen von den zwei Dutzend aufgezählten Plagiatformen
werden — mit dem Index des Vorläufigen — Vermutungen
bezüglich der Psychogenese vorgebracht. Verf. ist sich der Lücken-
haftigkeit des schon gesicherten Materials und der Tatsache, daß es
sich um einen tastenden ersten Versuch handelt, durchaus bewußt.
Einige Vermutungen bezüglich der äußeren Stigmata seien doch
genannt: Beim Plagiat handelt es sich um ein Produkt einer Berufs-
krankheit von wissenschaftlich, literarisch oder künstlerisch schaffenden
Menschen. Deshalb ist das Plagiat ein Vorrecht dieser Berufskategorien.
ı) Eine Berufskrankheit ohne Krankheitseinsicht, Ich hörte noch nie, daß ein Plagia-
tor, deshalb weil er plagiiert oder gar erwischt wurde, in Psychoanalyse ging,
— 394 —
|
-
—
1
Die anderen haben, selbst wenn sie wollten, keine Möglichkeit zu
plagiieren. Das Plagiat ist offenbar die dem Schriftsteller, Wissen-
schaftler und Künstler gemäße, sozial angepaßteste und relativ unge-
fährliche Form des Delikts.
Zum Zustandekommen des Plagiats gehört Publizität: Man muß
ein Forum haben, um plagiieren zu können. Ein nicht öffentlich vor-
gebrachtes Plagiat ist eine contradictio in adjecto.
Ferner ist zu berücksichtigen, daß der erwischte Plagiator wohl Un-
annehmlichkeiten hat, daß aber das Plagiat — nicht wie andere
Delikte — sozial diffamiert‘,
Endlich gehört zum Plagiat das Nichtzitieren der Vorgänger, d.h.
wissenschaftliche oder literarische Vorbildung. Man erwar-
tet ja vom Autor, daß er sich — im Rahmen des Möglichen — über
das Material informiert.
Die vier angeführten äußeren Stigmata:
ı) Berufskrankheit literarisch, wissenschaftlich und künstlerisch schaf-
fender Menschen,
\ 2) Publizität,
\ 9) keine soziale Diffamierung,
4) literarische oder wissenschaftliche Vorbildung,
machen es verständlich, daß das Plagiat auf einen relativ kleinen
Kreis beschränkt ist. Die Anderen — die auch plagiieren möchten —
haben einfach keine Gelegenheit dazu. Um Gelder eines Bankhauses
‚ unterschlagen zu können, muß man mit diesen Geldern in irgend
einer Weise in Berührung kommen.
Eindeutiger als die Definition und Spezifität des Plagiates läßt sich
das Alter des Plagiats angeben: Wahrscheinlich ist das Plagiat gleich-
altrig mit aller literarischen und wissenschaftlichen Produktion’. Plagiat-
\ beschuldigungen im Altertum sind häufig. Z. B. Euripides wird von
" Platon vorgeworfen, in seinen Chören die philosophischen Ansichten
des Anaxagoras entlehnt zu haben. Plato selbst wurde ungerechter-
ı) Es kommt selten vor, daß ein Plagiator vor Gericht zitiert wird. Immerhin gibt
es — in nicht deutschen Ländern — eine Reihe von Verurteilungen auf Grund des
Plagiatsparagraphen. Vielfach handelt es sich um unbewußte Plagiate, die Verurteilun-
gen sind also ungerecht.
2) Keinesfalls muß man so weit gehen, wie dies etwa ein Skeptiker tun würde,
der — in Analogie zur Frage: Was war früher da, die Henne oder das Ei — behaup-
‚ ten würde, beim Werk und Plagiat sei das ebenfalls unentschieden. Das Plagiat folgt
‚ jedenfalls dem Werk auf dem Fuße.
| — 395 —
buch. Von Marcus Valerius Martialis' sind eine Reihe boshafter Ver
spottungen der Plagiatoren bekannt:
„Dichter denkst du zu sein durch meine Verse,
Fidentinus, und wünschest, daß man’s glaube ?
So hält Aegle sich durch erkaufte Knochen
Und durch Indisches Horn für wohl bezahnet,
So gefällt sich, die schwärzer ist, als reife
Maulbeerfrüchte, Lycoris, trägt sie Bleiweiß.
Auf die Art, wie Du Dichter bist, so wirst du,
Während kahl dir der Scheitel ist, behaart sein.“
I. Buch. Epigramm 72
weise des Plagiats von Timos von Lokros beschuldigt, der selbst Plato
plagiierte. Über Vergil schrieb Perillus Faustinus ein eigenes Plagiad
„Fidentinus, es ist ein Blatt in unseren Büchlein,
Deines, bezeichnet jedoch mit dem kenntlichen Bilde des Herren,
Welches deine Gedichte bezeiht handgreiflichen Diebstahls.
So befleckt's, wenn darein der Lingonischen Bardenkaputze
Fettige Zotte sich mengt, Roms veilchenfarbenen Purpur,
So entweihet Krystall ein Arretinischer Scherbel,
So wird, schweift er vielleicht in der Schaar Ledäischer Schwäne
An des Cayster’s Strand, ein schwarzer Rabe verlachet,
So stört frech, wo vom Klang der Gesänge spendenden -Atthis
Brauset der heilige Hain, die Cecropischen Klagen die Elster.
Nicht Angebers, noch Richters bedarf’s für unsere Bücher,
Gegen dich erhebt sich dein Blatt und rufet dir ‚Dieb: zu.“
I. Buch. Epigramm 33.
f
„Meine Bücher empfehl’ ich, Quintian, dir —
Darf ich nämlich die Bücher meine nennen,
Die Dein Dichter, als wären’s seine, vorliest — :
Klagen über die schwere Sklaverei sie,
Tritt als Retter hinzu und leiste Bürgschaft,
Und wenn jener sich ihren Herren nennet,
Sag’, es seien sie mein und freigelassen,
Dreimal rufe du dieses aus und viermal,
Und du wirst, daß der Dieb sich schämt, ihn zwingen.“
I. Buch. Epigramm 52°.
ı) Zitiert nach Martialis. Übersetzung von Dr. Alexander Berg. Krais & Hoffmann,
Stuttgart 1865.
2) In diesem Epigramm kommt die Bezeichnung plagiarius vor. Nach Stowasser
ist plagiarius ein griechisches Lehnwort mit lateinischem Suffix: rAdytos — hinterlistig;
mAoy!eCo = täuschen, Plagiarius hieß ursprünglich Menschenräuber, Seelenverkäufer.
— 396 — |
|
„Fidentinus, der Ruf sagt aus, daß meine Gedichte
Du nicht anders dem Volke liesest, als wären sie dein.
Schenken will ich sie dir, wenn du mein willst nennen die Verse
Sollen sie mein nicht sein, kaufe sie, deine dann sind’s.“
I. Buch. Epigramm 29.
„Fidentinus, das Buch, das du verliesest, ist meines ;
Aber es wird, da du schlecht liesest, das deinige jetzt.“
I. Buch. Epigramm 98
Zur Frage der Abgrenzung des Plagiats sei folgendes disku-
tiert: Man könnte behaupten, daß wir alle täglich und stündlich
ununterbrochen Plagiate begehen.‘ Vieles von dem, was uns so selbst-
verständlich ist wie ein Axiom, wäre Plagiat. Wir hätten nur deshalb
nicht das Gefühl, ein Plagiat zu begehen, weil gewisse Ansichten als
allgemein gültig anerkannt werden. Es ist eine Tatsache, daß das
Bekannt- und Anerkanntwerden von Ideen und An-
schauungen den Urheber eliminiert. Die Formel „das
weiß doch jeder“ ist anonym.” Man könnte vom „alltäg-
lichen Plagiat“ sprechen. Man denke etwa an die Malaria. Wie viele
Ärzte — also Fachleute — können das halbe Dutzend Männer auf-
zählen, das an der Entdeckung des Entwicklungsganges der Infektion
. mitgearbeitet hat.
‘Eine kurze Überlegung zeigt aber, daß dieser Gedanke eine solche
Erweiterung des Plagiatbegriffes in sich birgt, daß er vollkommen
verwässert wird. Daß wir alle vielfach mit schon gedachten Ge-
danken anderer operieren, ist eine Selbstverständlichkeit.
Ein Dichter — Frank Wedekind — hat das Schicksal aller großen
| Männer : erst totgeschwiegen, dann beschimpft und endlich plagiiert
|
|
|
zu werden, folgendermaßen geschildert: ®
ı) Natürlich nicht im juristischen Sinn.
2) Es ist, als sträubte sich Neid, gekränkter Narzißmus und eine ganz
allgemein bei jedem Menschen im Unbewußten vorhandene Abwehr gegen die
_ Autorität (die ihre letzten Ursachen im Odipuskomplex haben dürfte), gegen das
Anerkennen der Leistung bedeutender Menschen durch Namenszitierung. So kommt es,
daß, wenn schon Namen genannt werden, von vielen hunderten Behauptungen und
Entdeckungen erstens nicht immer die wichtigsten mit dem Urheber in Verbindung
gebracht werden (so wandert z. B. Pythagoras ausschließlich mit dem leichten Gepäck
eines Dreiecks durch die Jahrhunderte), zweitens wird häufig die Entdeckung dem Ent-
decker wegeskamotiert: Amerika wird nicht nach Kolumbus, sondern nach Amerigo
Vespucci benannt,
; 3) „Vier Jahreszeiten“, Herbst“, „An die Kritik“.
— 397: —
„Mir muß die Kritik sich wahrlich
Von den schönsten Seiten zeigen:
Zwanzig Jahr’ war sie beharrlich
Drauf erpicht, mich totzuschweigen.
Jetzt nachdem ich totgeschwiegen,
Mich zum Trotz ans Licht gerungen,
Speit sie rastlos giftige Lügen,
Unversieglich Haß durchdrungen.
Einmal wird sie doch verzichten,
Und die klügere Richtung wählen :
Hilft ihr nichts, mich zu vernichten,
Wird sie mich dann — bestehlen“
Im Verlaufe der letzten 2—3 Jahrhunderte hat sich ein Be.
deutungswandel in der Beurteilung des Plagiats voll.
zogen:‘ War es früher lebensgefährlich, eigene Ideen zu Propagieren,
— man denke etwa an die Gefahr, mit den kirchlichen Dogmen in
Konflikt zu geraten — ist es heute odiös, fremde Ideen als eigene
auszugeben.
Originalität ist in der Achtung der Menschen im Werte gestiegen.’
Das Plagiieren ist daher unleugbar gefährlicher geworden. Man kann
behaupten, daß das Risiko des Plagiators ungemein gewachsen ist. Die
Spekulation „es wird mich niemand erwischen“ ist bei
einem publizierten Plagiat praktisch aussichtslos. Das
viele Lesen, die leichte Zugänglichkeit der Zeitungen, Zeitschriften und
Bücher, in Verbindung mit dem weitverbreiteten Typus des Plagiat-
schnüfflers (siehe Seite 418) ergibt einen Prozentsatz der Erwisch-
ten, auf den die beste Polizei der Welt stolz wäre bei ihren Statisti-
ken der aufgeklärten und nicht aufgeklärten Verbrechen.:
Dazu kommt, daß der Kreis, der auf dem Wege des Plagiats ge-
plündert werden kann, sehr zum Verdruß der Plagiatoren, immer er-
weitert wird. Wie idyllisch waren etwa noch Zeiten, von denen der
Dichter Florian (1755—1794, ein Liebling Voltaires) behaupten
1) Gemeint ist die europäische Kultur. Dr. Kris hat in der Diskussion dieses Vor-
trages in der Wr. Vereinigung mit Recht darauf hingewiesen, daß es andere Kulturen
gegeben hat, in welchen kommentiert und nicht plagiiert wurde, in welchen also das
Plagiat gar nicht existierte.
2) Natürlich gibt es auch heute noch Kreise, in denen „cupidus rerum novarum“ —
sein, ein Vorwurf ist. Z. B. religiöse, politische, manche wissenschaftliche Zirkel.
— 398 —
konnte: „En poesie comme äla guerre, ce qu’on prendä
ses freres, est vol, mais ce qu’on enleve aux etrangers
est conqu£te.“ Freilich kam den Plagiatoren die Schwierigkeit der
Durchführung der Kontrolle sehr zu statten. (Geringe Verbreitung der
Zeitungen und Bücher, Absperrung der einzelnen Länder gegen-
einander.)
So konnte es geschehen, daß der große Psychologe und berüchtigte
Plagiator Stendhal (Henry Beyle) in seinem Buche über Haydn
(unter dem Pseudonym L. A. C. Bombet) den Italiener Carpani be-
stahl und als Carpani protestierte, diesen mundtot machen konnte mit
dem Hinweis auf sein Mozartbuch, das er Barelli „entlehnte“, wovon
aber der arme Carpani nichts wußte. Als Carpani des Plagiats inne
wurde, protestierte er erregt, umso mehr, als Stendhal selbst Anek-
doten und persönliche Erlebnisse Carpanis als die seinen
ausgab. Carpani schleppte ganze Berge von Beweisen herbei: ärztliche
Atteste, Bestätigungen bekannter Persönlichkeiten etc. („Hatten Sie
mein Fieber in Wien im Jahre 1799, sind Sie durch Haydns Musik
geheilt worden ?* apostrophierte Carpani den unsichtbaren L. A. C.
Bombet.) Das half ihm aber gar nichts. Stendhal beschuldigte selbst
Carpani des Plagiats. — Die Tatsache dieses Plagiats wurde in neuerer
Zeit von Romain Rolland verifiziert, der Seite für Seite beide Bücher
verglich und schmerzerfüllt zugeben mußte, daß Stendhal plagiert
hatte.!
In einer aus dem Jahre 1812 stammenden Einteilung des Plagiats
von Charles Nodier („Questions de la litt£rature legale“) ist noch
unterschieden zwischen Plagiaten in- und ausländischer Schriftsteller.
Ein heute kaum verständlicher Standpunkt: wie wenn Diebstahl von
ı) Näheres in Georges Mau’revert „Le livre des Plagiats“, Paris, Arth&me
Fayard & Cie, pg. 157. Aus diesem Buche stammt auch das übrige auf die fran-
zösische Literatur bezügliche Material. Das Buch selbst stellt eine Sammlung von
Plagiaten. folgender Männer zusammen: |
Montaigne — Pascal. — La Rochefoucauld. — Cor-
neille — La Fontaine. — Racine. — Molitre. — Vol-
taire.— Diderot.— Delille, — Chateaubriand.— Lamar-
tine. — Vigny. — Balzac. — Stendhal. — Hugo. — Mus-
set. — Baudelaire. — Sardou — Anatole France —
D’Annunzio. — Rostand. — Jean Lorrain etc. etc.
Es ist mehr feuilletonistisch, als wissenschaftlich geschrieben und stellt das Plagiat nach
dem Typus der eingangs erwähnten Gaunertheorie dar. Aus der wissenschaftlichen
Plagiatfrage wird ein Sport, Plagiatoren zu erwischen, ohne sich um ihre Motive zu
kümmern,
— 399 —
der Sprache abhinge, in welcher der Dieb den Bestohlenen anspricht.
Am deutlichsten zeigt sih die Wandlung des Plagiat-
begriffes etwa an einem Ausspruch von Lessing in der Vorrede zu
seinen Schriften 1758:?
„Anfangs war ich willens, einige kleinere Stücke durch
Zeichen merklich zu machen. Diejenigen nämlich, die ich mir
nicht ganz zuschreiben kann und wovon ich die Anlage aus
dem und jenem französischen Dichter geborgt zu haben, mir
nicht verbergen kann. Doch da dieser Zeichen nur sehr wenige
gewesen wären und ich außerdem überlegte, daß es dem
Leser sehr gleichgültig sei, wem er eigentlich
einen Einfall zu danken hat, wenn er ihm nur
Vergnügen macht, so habe ich es gar unter-
lassen.
Es gibt eine Reihe mehr oder weniger ernst gemeinter pessi-
mistischer Urteile über die Möglichkeit, Plagiate zu
vermeiden. Die Aussprüche von Goethe und La Bruy£re (die
als Motto zitiert sind) sprechen in diesem Sinne. Andere Autoren
besagen ähnliches. Vom witzigen Apergu eines Mannes in Schnitz-
lers „Weg ins Freie“ (im Anschluß an Bielohlawek), „Wissenschaft
ist, was ein Jud vom anderen abschreibt“, über Sardous -Behaup-
tung, es gebe lediglich eine Reihe dramatischer Situationen, die immer
ı) Lessing fand in Paul Albrecht einen strengen Plagiatkritiker. Albrecht begann
unter dem Titel „Lessings Plagiate* im Selbstverlag 1891 ein zehnbändiges
Werk (!) herauszugeben (von dem bloß 6 Bände erschienen. Albrecht beging Suicid),
in welchem er Lessing als „Plagiomane“ bezeichnet und behauptet, Lessings
Werke seien nur Plagiate. Näheres: Bobrzynski „Zur literarischen Plagiatfrage“. 1898,
Ähnlich erging es Voltaire. (M.L. Mayeul Chandron „Des plagiats de Voltaire, ou
des imitations de quelques pieces de divers auteurs que ce potte s’est permises“. 1814
im ı1. Band von Bulletin Polymathique de Bordeaux.)
Auch Vergil hat seinen Plagiographen gefunden. Darüber sagt Chateaubriand:
„Die Argonauten“ von Apollonius aus Rhodos, „Die Medea“ von Euripides, „Der
trojanische Krieg“ von Quintus aus Smyrna (das ist die Meinung von Laserda) wurden
von Vergil geplündert ... Perillus Faustinus schrieb ein ganzes Buch, um alle
Diebstähle Vergils zu sammeln. Octavius Avitu hat mehrere Bände ausschließlich
aus gestohlenen Versen und Stellen der verschiedenen nachgeahmten Autoren dieses
großen Dichters zusammengestellt. Man weiß im allgemeinen, daß Vergil Homer über-
setzte, aber man weiß nicht, bis zu welchem Grade dies nur Gerede ist. Wenn man es
unternehmen würde, die Nachahmungen mit der Feder in der Hand, zu prüfen, ich
glaubenicht, daß zwanzig Verse hintereinander übrig bleiben
würden, nicht allein in der Aeneis, auch in bukolischen Gesängen, Was bedeutet das
alles gegen Vergil? Gar nichts!“
— 40 —
wieder wiederholt werden müssen, über Brissot, der in seinem
Werk „Theorie des lois criminelles“ davon abriet, das Plagiat wegen
seiner Häufigkeit (!) zu verfolgen, bis zu Anatole France, der gar
eine Apologie des Plagiates schrieb („Apologie du Plagiat“, Vie Lit-
teraire 4€ serie) — überall der gleiche Skeptizismus.
Für France ist der Plagiator ein Mensch, der ohne Auswahl und
ohne Geschmack stiehlt:
„Ein solcher Federfuchser ist unwürdig zu schreiben und zu
leben. Wenn aber ein Schriftsteller nur das von anderen
nimmt, was für ihn convenabel und profitabel ist, und auszu-
wählen weiß, dann ist er ein cehrbarer Mensch“ (honn£te
homme).
In seinem Werk „Matinees de la Villa Said“ läßt France eine Per-
son sagen:
„Selten stammt der erste Stoff von ihnen (den Dichtern)
selbst. Sie borgen sich ihn aus und machen nichts anderes,
als daß sie ihm eine neue Richtlinie geben. Man hat übrigens
heutzutage die Tendenz, die Genies herabzusetzen. Das ist
modern. Man sucht nach den Quellen ihrer Werke. Ihre Ver-
leumder denunzieren ihre Plagiate. Ihre Fanatiker machen es
ebenso. Aber sie legen großen Wert darauf, zu sagen, daß
wenn der Pfau dem Häher einige Federn entwendet, um sie
seinem Federnschmuck beizumengen, der Häher sich nicht zu
beklagen hat, denn der Pfau ehrt ihn damit. Und wenn die
Feinde und die Gläubigen eines Kultus sich während zwanzig
Jahren um ein Idol bemüht haben, bleibt, wie es scheint,
nichts als Staub übrig. Was bleibt von Rabelais nach den
Arbeiten seiner Anhänger? Und von Cervantes nach denen
seiner Bewunderer? Und von Molitre? In der Tat glaube
ich, daß sie alle bleiben, was sie waren: sehr große
Menschen.“
In diesem Zusammenhange sei an eine Stelle in Benjamin Disraelis
(Vater des Lord Beaconsfield) „Curiositts de la literature“ hinge-
wiesen, in welcher er vom Plagiarismus eines gewissen Riche-
source (18. Jahrh.) erzählt. Seine Prinzipien legte er in einem
Werke nieder, unter dem Titel „Le Masque des Orateurs ou Manitre
de deguiser toutes sortes de compositions, lettres, sermons, panagyri-
ques, oraisons funebres, dedicaces, discours, etc....“, das geradezu
eine Anleitung zum Plagiat darstellt, wobei der Leitgedanke
PsA. Bewegung IV — 401 — 27
darin besteht, daß der Bestohlene den Diebstahl gar nicht merken
darf. Richesource lehrte:
„Das Plagiat des Redners ist die Kunst, die manche mit
viel Geschick innehaben, alle Arten von Vorträgen (sowohl
eigene wie solche von fremder Feder) zu verändern und der-
art unkenntlich zu machen, daß es für den Autor selbst un-
möglich wird, sein eigenes Werk wieder zu erkennen, seinen
Stil und das Wesen seines Werkes, so geschickt ist alles un-
kenntlich gemacht... Wenn ein Redner z. B. gesagt hat, daß
ein Gesandter drei Qualitäten besitzen muß: Ehrlichkeit,
Tüchtigkeit und Mut, muß der Plagiator sagen: Mut, Tüchtig-
keit, Ehrlichkeit. Das ist natürlich keine allgemeine Regel und
wird nicht häufig in die Praxis umgesetzt, weil die Mittel zu
einfach sind. Man kann aber, indem man alle Ausdrücke aus-
wechselt, zu einem geradezu originellen Plagiat
empoısteigen (!). Der Plagiator wird an Stelle von Mut Seelen-
stärke, Beharrlichkeit oder Charakterstärke setzen. An Stelle
von Ehrlichheit wird er Tugend substituieren“. etc. etc.
Ein anderer Autor — d’Aceilly — meint:
„Dis-je quelques chose assez belle ?
L’antiquit@ toute en cervelle
Pretend l’avoir dite avant moi.
C’est une plaisante donzelle!
Que ne venait-elle apr&s moi?
J’aurais dit la chose avant elle.«
Noch hübscher tröstet sich etwa Paul Scarron (1610—ı660) —
der selbst von Moliere geplündert wurde — wenn er sich selbst
beim Plagiieren persifliert:
„Ges vers sont ici dimportance
Jai fort bien fait de les voler!*
In „L’Almanach des Muses“ von 1791 ist zu lesen:
„Quoi qu’en disent certains railleurs,
Jimite et jamais je ne pille.
— Vous avez raison, monsieur Drille,
Vous imitez..... les voleurs !«
Und Cyrano de Bergerac verhöhnt mit grimmigem Humor:
j „Wenn unser Freund unsere Gedanken stiehlt, ist es ein
Beweis, daß er uns schätzt: er würde sie nicht nehmen, wenn
er nicht glauben würde, daß sie gut sind. Wir haben Unrecht,
uns darüber zu ärgern, daß er in Ermangelung eigener Kinder
unsere adoptiert.“
— 402 —
Am einfachsten wird der Grammatiker Aelius Donatus (4. Jahrh.n. Ch.)
mit seinen Vorgängern fertig:
‚„Pereant illi qui, ante nos, nostra dixerunt.«
”
Nicht uninteressant ist das Verhalten der erwischten Plagiatoren.
Man könnte diese Frage mit dem Bemerken abtun, es sei dies ein
juristisch-kriminalistisches Problem. Dies stimmt nicht. Es kommen
da häufig Geständnisse zum Vorschein, die sonst züchtig verschwiegen
werden. Es sieht manchmal so aus, als müßten manche Menschen
erst beim Plagiieren erwischt werden, um von ihnen ihre wahre
Meinung über das Wesen des Plagiats zu erfahren.'
Die einen berufen sich darauf, daß alles Plagiat sei, die anderen,
daß auch große Dichter plagiiert haben, andere beschuldigen die
Plagiierten des Plagiats. Oder der Spieß wird umgedreht. (So beant-
wortet Sardou eine Plagiatbeschuldigung mit einem Buche „Mes
Plagiats“, in welchem er im Vorhinein mögliche Plagiatbeschuldigun-
gen widerlegte.) Oder: Die Plagiatoren nehmen die große Pose ein:
Etwa d’Annunzio beim Vorwurf, sein „Il piacere* sei „Peladan“
entlehnt.
Am aufrichtigsten ist die Ratlosigkeit der Plagiatoren aus rein un-
bewußten Motiven, die natürlich in der Realität am schlechtesten ab-
schneiden, da ihnen die unbewußten Motive kein Mensch glaubt.
%
Die Plagiatforschung mit den Mitteln der Bewußtseinpsychologie
hat — wie wir sehen — versagt. Sie kommt über die Gaunertheorie
"nicht hinaus. Es entsteht die Frage, ob mit analytischen Mitteln das
Problem lösbar erscheint. Die Frage ist zu bejahen, ein erster Versuch
‚soll im folgenden gemacht werden.
Welche Behauptungen der Analyse sind für die Plagiatforschung
verwertbar ? Die großartigen Entdeckungen Freuds vom Unbewußten,
ı) Den Grundzug der Ableugnungsversuche versteht man am besten, wenn man
sich folg. Anekdote (W. Rode, „Lesebuch für Angeklagte“) zu Gemüte führt: Ein ver-
‚ mögender Mann und seine Geliebte werden mit einem 7jährigem Kinde in einer dem
Wortlaute des Gesetzes nach als unzüchtig zu qualifizierenden Situation ertappt. Ein
‚ bedeutender Verteidiger übernimmt den Fall und sagt etwa: Es sei grotesk, seinem
' Klienten zuzumuten, er hätte sih am Kinde vergriffen. Wahr ist vielmehr, daß sein
‚ Klient Anhänger der Eugenetik und des Aberglaubens sei. Seine Geliebte sei schwan-
\ ger: Er glaube an das „Sich-Verschauen“ und zog das Kind bloß deshalb nackt aus,
damit das Phänomen des Sich-Verschauens zustande komme und seine Geliebte ein
gleich schönes Kind — wie das zur Schau gestellte — zur Welt bringe.
— 403 — ”
der Verdrängung, Identifizierung, unbewußten Schuldgefühl, müssen
herangezogen werden.
Freud selbst hat sich (19298) — indirekt — zum Problem geäußert,
(„Josef Popper-Lynkeus und die Theorie des Traumes* Bd. XI, der
Gesamtausgabe pg. 295 fl.) Es heißt dort:
„Über den Anschein wissenschaftliher Originalität ist
viel Interessantes zu sagen. Wenn in der Wissenschaft eine
neue Idee auftaucht, die zunächst als Entdeckung gewertet und
in der Regel als solche auch bekämpft wird, so weist die
objektive Erforschung bald nach, daß sie eigentlich doch keine
Neuheit ist. In der Regel ist sie schon wiederholt gemacht und
dann wieder vergessen worden, oft zu sehr weit voneinder
entfernten Zeiten, oder sie hat wenigstens Vorläufer gehabt,
wurde undeutlich geahnt oder unvollkommen ausgesprochen.
Das ist zu genau bekannt, als daß es einer weiteren Aus-
führung bedürfte.
Aber auch die subjektive Seite der Originalität ist der Ver-
folgung würdig. Ein wissenschaftlicher Arbeiter mag sich ein-
mal die Frage stellen, woher die ihm eigentümlichen Ideen kom-
men, die er an sein Material herangebracht hat. Dann findet
er von einem Teil desselben ohne viel Besinnen, auf welche
Anregungen er ‘zurückgeht, welche Angaben von
anderer Seite er dabei aufgegriffen, modifi-
ziert und in ihre Konsequenzen ausgeführt
hat. Von einem anderen Anteil seiner Ideen kann. er nichts
ähnliches bekennen, er muß annehmen, diese Gedanken und
Gesichtspunkte seien in seiner eigenen Denkfähigkeit — er
weiß nicht wie — entstanden, durch. sie stützt er seinen An-
spruch auf Originalität.
Sorgfältige psychologische Untersuchung schränkt diesen An-
spruch noch weiter ein. Sie deckt verborgene, längst ver-
gessene Quellen auf, auf denen die Anregung der anscheinend
originellen Ideen geflossen ist, und setzt an Stelle der ver-
meintlichen Neuschöpfung eine Wiederbelebung des
Vergessenen in der Anwendung auf einen
neuen Stoff. Daran ist nichts zu bedauern; man hatte ja
kein Recht zu erwarten, daß das „Originelle« etwas Unableit-
bares, Indeterminiertes sein würde. '
Diese für Originalitätsadepten nicht sehr trostreichen Worte sind
geradezu eine wissenschaftliche Begründung der Meinung Goethes:
1) Unterstreichungen sind nicht im Original.
— 404 —
„Wer kann was Dummes, wer was Kluges denken,
Das nicht die Vorwelt schon gedacht ?*
Andere publizierte analytische Arbeiten zu unserem Thema gibt es
meines Wissens nicht.!
Entsprechend der vorgeschlagenen Formulierung — Plagiat ist Aus-
eben fremden geistigen Eigentums für das eigene ohne Zitierung des
wahren Urhebers, wobei — je nach Art des Plagiats — der Anteil
unbewußter Motive, der immer vorhanden ist, größer oder geringer
ist — wollen wir aus praktischen Gründen zwei Gruppen unterscheiden:
Plagiate mit und Plagiate ohne Beteiligung des Bewußtseins. Es sei
wiederholt, daß beiden unbewußte Motive zugrunde liegen.
Die Genese eines Plagiats mit Beteiligung des Bewußtseins ist sogar
viel undurchsichtiger, als die der zweiten Gruppe, bei der einige Er-
klärungsversuche gewagt werden, während die scheinbar so einfachen
„bewußten“ Plagiate nur beschrieben werden können.
A) Plagiate mit Beteiligung des Bewußtseins.
ı. Das zynische Plagiat. Es ist dies eine Plagiatform, bei der der
Plagiator — wenn er ertappt wird — zynisch zugibt, er mache
zwischen mein und dein keine so strengen Unterschiede, oder behaup-
tet, daß ein vielbelesener Mensch sich nicht erinnern könne, ob er
plagiiere, oder Originelles leiste. Ein anderer 'Typus, der in diese
Gruppe gehört, wäre etwa Stendhal, der trotz des ihm nachgewiesenen
Plagiats an Carpani sein Haydnbuch (das er 1814 ursprünglich unter
einem Pseudonym veröffentlichte, siehe Seite 399) im Jahre 1831
unter eigenem Namen neu verlegte. — Wir wissen nichts über
ı) Nach Abschluß dieser Arbeit habe ich erfahren, daß Dr. Paul Federn vor
ı0 Jahren in der Wr. Psychoan. Vereinigung einen Vortrag über das unbewußte
Plagiat gehalten hat. Der Inhalt des Vortrages, der nicht publiziert wurde, war mir
bis zur Diskussion meines Vortrages in der Wr. Vereinigung unbekannt, und beschäftigte
sich, wie eine Bemerkung Dr. Federns ergab, mit einer anderen Seite des Plagiats.
Aus der Frühzeit der Analyse gibt es eine Arbeit von C.G. Jung aus dem Jahre
1902. Die Arbeit („Zur Psychologie und Pathologie sog. okkulter Phänomene“) ist
vergriffen und war mir nicht zugänglich. Bleuler zitiert sie in seiner Psychiatrie. („Jung
hat Nietzsche eine Kryptomnesie nachgewiesen, indem ein Abschnitt aus der
Seherin von Prevorst in den Zarathustra hineingeraten ist, und zwar in ganz sinnloser
Weise.“ Aus dem Zusammenhang bei Bleuler scheint hervorzugehen, daß Jung von
unbewußten Mechanismen (hysterische Identifizierung ?) spricht,
— 405 —
die Psychologie der zynischen Menschen,‘ zumindest ist in der
analytischen Literatur nichts veröffentlicht. Bemerkt sei, daß der Zynis.
mus dieser Plagiatoren immer erst post festum hervortritt. Ein Plagiator,
der zynisch schon im Vorhinein auf sein Plagiat aufmerksam macht,
ist heute kaum denkbar. Daß dies früher vorkam, beweist der zitierte
Vers von Scarron (siehe Seite 402).
2. Das präventive Plagiat. X plagiiert Y, beschuldigt aber, um den
Verdacht abzulenken, und im Vorhinein die erwarteten Anklagen zu
entwerten, Y des Plagiats. Begreiflicherweise ist diese Plagiatform klipp
und klar niemals zu beweisen, außer durch ein Geständnis X’s,
Dagegen kommt es vor, daß Beschuldigungen — mit Recht oder us
recht kann schwer entschieden werden — dieser Art erhoben werden,
Diese Form des Plagiats — erst Schimpfen dann Plagiieren —
kannte schon Martialis:
„Daß du zu neidisch bist auf meine Bücher, beständig
Schmähest, verzeih’ ich: du bist, Dichter, beschnittener, klug.
Das auch kümmert mich nicht, daß dutrotz Tadelnsdie Verse
Plünderst: du bist auch so, Dichter, beschnittener, klug.
Das nur peiniget mich, daß, in Solyma selber geboren,
Meinen Knaben du mir, Dichter, beschnittener, verführst.
Siehe, du leugnest es ab und schwörst bei des Donnerers Tempel
Schwörs bei Anchialus, sonst glaub’ ich, Beschnittner,. dir nicht.
Buch XI. Epigramm 94.
Manchmal wird ein Plagiat durch herabsetzende Angriffe einge-
leitet, oder der Plagiierte wird im nachhinein herabgesetzt.?
ı) Wohl gibt es in der analytischen Literatur eine Reihe von Untersuchungen über
den zynischen Witz: Freud „Der Witz und seine Beziehungen zum Unbewußten,“
Ges. Werke Bd. IX. — Reik „Über den zynischen Witz“ Imago II. ı913. —
Hitschmann. „Zur Psychologie des jüdischen Witzes“ Psychoan. Bewegung II.
1930. pg. 580 ff. — Ein Vortrag Theodor Reiks über „Psychologie des Zynismus“ am
29. V. 1912 in der Wr. Vereinigung ist nicht publiziert.
2) So erzählt z. B. Maurevert (o. c. pg. 105/106): Eines Abends, als Voltaire
nach dem Abendessen in Begleitung von Mme.du Chätelet im Park von Cirey spazie-
ren ging, begeisterte er sich über die Schönheit des Sternenhimmels. „Dies könnte ein
herrliches Gedicht werden!“ rief die Marquise aus. „Sicher“, antwortete Voltaire,
„Inzwischen sage ich eines aus dem Stegreif.“ Und nach einigem Nachdenken rezitierte
er folg. Verse, die in seinen gemischten Gedichten zu finden sind:
Tout ce vaste oc&an d’azur et de lumiere
Tird du vide m@me et form sans matidre,
Arrondi sans compas, et tournant sans pivot,
A peine a-t-il coüt6 la depense d’un mot.
— 406 —
Den Vorwurf des präventiven Plagiats — allerdings in versteck-
ter Form — erhob Eckhardt gegen Voltelini. (Zeitschrift der Savigny-
Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abt., Bd. 49, pg. 540
und 792. Weimar 1929.) Es liegt folgender Tatbestand zugrunde:
Voltelini besprach eine Arbeit Eckhardts in einer für Eckhardt nicht
sehr schmeichelhaften Form. Eckhardt replizierte: „Eine solche Kritik
ist unverantwortlich. Voltelini muß wissen, daß es für einen Editor
keinen schärferen und vernichtenderen Vorwurf geben kann, als den
der mangelnden Akribie... V. übernimmt (in einer anderen Arbeit
Anm. d. Verf.) meine Ergebnisse ausnahmslos, ohne mich als Urheber
zu nennen, ja er schickt seinen Ausführungen ein Literaturverzeichnis
voraus, indem er meine Schriften einfach verschweigt.... Es wird mir
schwer zu glauben, daß V. diesen Schritt bona fide getan hat... Da
ich trotz allem den Vorwurf doloser Handlungsweise gegen V. nicht
erheben will...“
Der sehr ausführliche Streit (der im Original nachgelesen werden
müßte) macht freilich den Eindruck, daß Eckhart Voltelini Unrecht
tut. Keiner der Gegner weiß etwas von der Macht unbewußter Motive.
3) Das entlarvende oder provokatorische Plagiat : Es handelt sich um
Verwendung von Plagiaten zum Zwecke des „Entlarvens“. Dabei gibt
es einige Spielarten: a)In einer politischen Partei tobt ein Kampf zweier
Fraktionen. Die eine Fraktion hat das Parteiblatt in Händen. Um die
Gegenfraktion hereinfallen zu lassen, wird an prominenter Stelle ein
Aufsatz veröffentlicht, der die Gegenpartei zu Protesten, Resolutionen
etc. veranlaßt. Nachdem dies geschehen, veröffentlicht die Parteiblatt-
Fraktion eine Notiz des Inhalts, daß durch ein Versehen des Setzers
die Unterschrift unter dem betreffenden Artikel weggeblieben, die na-
türlich (Nennung des unantastbaren Parteigottes, am besten eignen
sich Toote dazu) so und so lauten müßte.
Voltaire hatte ein glänzendes Gedächtnis. Es hat ihm auch diesmal geholfen: denn
dieses improvisierte Gedicht war ein Jahrhundert früher gedichtet worden:
Tous ces vastes pays d’azur et de Jumitre,
Tires du sein du vide et formes sans matiere,
Arrondis sans compas et tournant sans pivot
Ont a peine coütd la d&pense d’un mot.
Es ist zu lesen in den poetischen Werken von P. Lemoine, die 1671 herausgegeben
swurden. Denselben Lemoine hatte Voltaire in seinem „Catalogue des £crivains du
siecle de Louis XIV“ abgeurteilt „er hätte weder Geschmack uoch Kenntnis vom Wesen
seiner Sprache“.
— 407 —
b) In einem Buch über Südamerika (von Katz) ist folgende lustige Ge-
schichte zu lesen: In einem südamerikanischen Parlament wird über
die Korruption der Regierungspartei gesprochen. „Es ist etwas faul im
Staate Dänemark!“ deklamiert der Oppositionsredner pathetisch. „Un-
erhört“ antwortet ein Regierungsabgeordneter empört. „Diese Beleidi-
gung einer befreundeten Nation wird uns noch internationale Ver-
wicklungen zuziehen...“ Wenn der Oppositionelle in Kenntnis der
Unkultur und Engstirnigkeit seines Gegners nur deshalb Shakespeare
zitierte, um seine Unbildung zu entlarven, gehört dieses Plagiat in
diese Gruppe.
c) Einiges von dem, was in Wien „Grubenhund“ genannt wird. So
figurierte z. B. vor einiger Zeit ein ganzer Abschnitt von Remarques
„Im Westen nichts Neues“ in einem rechtsradikalen Blatt. Das Blatt
nahm ahnungslos diese Schilderung als Einsendung eines Parteimit-
gliedes in ihren Spalten auf, obwohl es sonst Remarque heftigst
bekämpfte.
d) In den „Blättern des Burgtheaters“ in Wien erschien 1920 ein Auf-
satz von Georg Kulka unter dem Titel „Der Gott des Lachens“. Es
war dies eine fast wörtliche Wiedergabe einer Stelle aus Jean, Pauls
„Vorschule der Ästhetik“. Des Plagiats von Karl Kraus beschuldigt,
erklärte Kulka, er wollte J. Paul wieder in Erinnerung benigen, was
ihm auf anderem Wege nicht gelang.‘
e) Im politischen Kampf werden oft — um den Gegner zu wider-
legen oder zu entlarven — frühere Ansichten des Bekämpften zitiert,
ohne den Urheber zu nennen, mit der Spekulation, der Gegner werde
seine längst aufgegebenen Ansichten nicht als seine eigenen agnoszieren
und gegen sich selbst polemisieren.
4) Plagiat mit Schnelligkeitsrekord. Der typische Fall zweier Kon-
kurrenten — man denke an zwei klinische Assistenten —, die auf
Umwegen einiges vom Arbeitsgebiet des anderen erfahren (vielfach
ist ja gerade die Idee und nicht die Einzelheit das Wichtige). Nun
hebt ein Schnelligkeitsrekord an, bei dem meist der Unfähigere aber
Fixere siegt. Überflüssig zu sagen, daß damit keineswegs die Möglich-
keit geleugnet wird, daß zwei Menschen unabhänig von einander auf
die gleiche Idee kommen.
5) Das autoritative Plagiat. Der Vorgesetzte entwertet dem Unter-
1) Es ist für unseren Zweck unwichtig, ob die Angaben Kulkas richtig oder unrich-
tig sind.
— 408 —
gebenen (wirtschaftlich Abhängigen), eine Idee (Werk), wobei der
Jüngere mit den Worten; „Was daran neu ist, ist falsch, was daran
richtig ist, ist alt“ abgespeist wird. Nach einiger Zeit wird die abge-
lehnte Idee etwas verändert, von autoritativer Seite als der Wahrheit
Jetzter Schluß publiziert.‘ Die unleugbare Existenz dieser Plagiatform
darf nicht darüber täuschen, daß andererseits alle bedeutenden Män-
ner mit geradezu läppischen Plagiatbeschuldignngen von Geisteskranken
oder Neurotikern zu kämpfen hatten.
| 6) Plagiat mit Rückversicherung: Die Grenze zwischen Zitat und
\ Plagiat ist eine schmale und hängt vielfach vom Kultur- und Bildungs-
| niveau der Zuhörer oder Leser ab. Was in dem einen Kreis Zitat
ist, ist im anderen bereits Plagiat. Nun wird vielfach „Bekanntes“
"nicht zitiert. Klopft man solchen ideenreichen Menschen auf die Fin-
ger, antworten sie empört, sie hätten geglaubt, mit gebildeten Men-
schen zu tun zu haben... Oder: Bei einer Buchwidmung zu Ge-
schenkzwecken wird ein Zitat aus diesem Buche vorausgestellt mit der
Unterschrift des Schenkers. Es sieht so aus, als handle es sich um einen
Ausspruch des Spenders ...
7) Feindschaftsplagiat : Man zitiert oder publiziert einen Ausspruch
des Autors Y. und gibt ihn als seinen eigenen aus. Auf erregten Pro-
test wird vom Betreffenden nonchalant zugegeben, Z. (ein anderer
Autor) hätte Ähnliches auch schon gesagt. Mit sophistischer Spitz-
‚ findigkeit wird bewiesen, daß die Behauptung doch von Z. stamme.
Nach einiger Zeit ist es so weit, daß eine heillose Konfusion entsteht,
die hervorgerufen wird, um den Tatbestand zu verdunkeln. Eine
andere Modifikation besteht darin, daß das Plagiat nicht zum Zweck
‚ der Selbsterhöhung vorgebracht wird, (also: man gibt sich nicht als
Autor aus) sondern nur um jemand anderen herabzusetzen, resp.
dessen Verdienste zu schmälern. Das in manchen Kreisen übliche falsche
Zitieren gehört hierher.
, An der Grenze zwischen bewußtem und unbewußtem Plagiat °
‚ können sich einige der geschilderten Fälle abspielen, insoferne als das
1) Ähnliches geschieht, wenn eine anerkannte Autorität (auch ohne persönlichen Kontakt)
\ Meinungen eines Unbekannten publiziert, So wurde z. B. Lombroso wegen eines Plagiats
an dem damals wenig bekannten Crepieux Jamins verurteilt. Näheres siehe Dr. Georg
Meyer „Die wissenschaftlichen Grundlagen der Graphologie* 1925, $. ı1. Fußnote 8.
2) In der Diskussion dieses Vortrages in der Wr. Vereinigung machte Frl. Anna
Freud auf eine an der Grenze zwischen bewußtem und unbewußtem Plagiat liegende
Plagiatform aufmerksam, die sie „moralisches Plagiat“ zu nennen vorschlug.
| — 409 —
ursprünglich bewußt vorgebrachte Plagiat nach einiger Zeit vom
Plagiator geglaubt wird und er nicht mehr weiß, daß er plagiiert,
Ein anderer Grenzfall ist :
8) Das Plagiat mit Reservatio mentalis. Bei dieser Plagiatform kann
man geradezu das Plagiat in statu nascendi beobachten. Voraussetzung .
Ein Mensch (X), über den Y. sich lustig macht, hätte eine Behaup.
tung aufgestellt, die von Y. als blanker Unsinn angesehen wird. Die
Meinung des X. wird nun von Y. — noch im vollen Bewußtsein,
es handle sich um X. — ironisch vorgebracht. Nach einiger Zeit ent.
puppt sich die verhöhnte Ansicht als richtig. Beiläufig zu gleicher Zeit
ist sie bereits die Ansicht Y’s geworden.
B) Plagiate ohne Beteiligung des Bewußtseins.
Beim heutigen Stand des analytischen Wissens ist die Behauptung,
es handle sich beim unbewußten Plagiat um eine unbewußte par-
tielle Identifizierung beinahe eine Banalität. Die Schwierigkeit
beginnt erst, wenn man sich klar macht, daß Identifizierung nichts
einheitliches ist, daß es sehr verschiedene Arten der
Identifizierung gibt und daß wir bei jeder Identifizierung beim Plagiat
uns über das Motiv, ferner die Form der Identifizierung und end-
lich die Unterbringung des Schuldgefühls Rechenschaft
geben müssen. Es ist klar, daß alle Schwierigkeiten ‘der Identifizie-
rungslehre Schwierigkeiten auch beim Verständnis des Plagiats ergeben
werden, da es mindestens so viele Formen des unbewuß-
ten Plagiats gibt, als unbewußte Identifizierungsfor-
men existieren.
Charakteristisch für das unbewußte Plagiat ist die unbewußte, par-
tielle Identifizierung‘ (dabei natürlich Verdrängung des Ur-
hebers!) und Projektion des Über-Ichs nach außen. Zum
Nach Ferenczi mache das Kind beim Aufbau seines Über-Ichs ein Stadium der Heuchelei
mit, in welcher die Ansichten der Erwachsenen vorerst nur scheinbar akzeptiert wer-
den. Im weiteren Verlaufe schreite das Kind gewissermaßen vom bewußten zum un-
bewußten Plagiat vor. Vielleicht könnten die Menschen das Plagiieren deshalb so schwer
lassen, weil es von ihnen in einer gewissen Phase der Entwicklung direkt verlangt
werde.
ı) Freud faßt die Identifizierung als früheste Äußerung einer Gefühlsbindung an
eine andere Person auf.
— 40 —
Über-Ich, das die strafende Funktion übernimmt (Strafe: Ent-
larvt werden), wird eine kleine Gruppe von Personen, manchmal
nur eine Person, ernannt. (Beim Literaten sein Literatenzirkel, beim
Wissenschaftler die Kollegen etc.) Die Identifizierung ist im Vor-
hinein ambivalent* und enthält neben positiven Strebungen (Bewunde-
rung) auch oral-sadistische Elemente. Man „verspeist“ und eliminiert
dadurch den Urheber. („Le genie assassine ceux qu’il pille“ sagte
Sainte-Beuve in einem anderen Zusammenhang.) Der Plagiator
entledigt sich seines Schuldgefühls, indem er sein
Über-Ich nach außen projiziert und unbewußt von der
Außenwelt Strafe erwartet. (Entlarvung des Plagiats.) Das
erklärt vielfach die Plumpheit vieler Plagiate.
Woher stammt der Lustgewinn (und in Konsequenz das
Schuldgefühl) beim Einfall oder Schaffen des Plagiats? Es ist ein
Gemisch von narzißtischem Selbsterhöhungsgefühl (der
Plagiator ist ja der große Mann, mit dem er sich identifiziert), von
Angstersparnis (der Plagiator erspart sich die Angst mit seinen
Ansichten Konflikt zu erregen, der Bestohlene hat ja die Verantwor-
tung) und sadistisch gefärbter, fast könnte man sagen — akti-
ver Kastrationslust. Endlich dürfte auch die magische Bedeutung
der Worte von Wichtigkeit sein.
Die Zahl der unbewußten Plagiate — vor allem die Ursachen dieser
Plagiate — sind so verschieden, daß Näheres erst bei den Spezial-
formen besprochen werden kann. Es wäre verlockend, vom unbe-
wußten Plagiat als Einheit zu sprechen. Doch macht es die Viel-
heit der Identifizierungsformen und Identifizierungsursachen un-
möglich.
9) Das verhinderte oder selbstentlarvende Plagiat. Dieser Plagiatansatz
passiert ausnahmslos jedem. Es fällt einem etwas ein (Gedanke, Idee,
Projekt, wissenschaftliche These, musikalisches Motiv), der fürs Plagiat
typische Lustgewinn stellt sich ein und einige Zeit darauf merkt man
1) „Die Identifizierung ist von Anfang an ambivalent, sie kann sich ebenso zum
Ausdruck der Zärtlichkeit, wie zum Wunsch der Beseitigung wenden. Sie benimmt sich
wie ein Ahkömmling der ersten oralen Phase der Libidoorganisation, in welcher
man sich das begehrte und geschätzte Objekt durch Essen einverleibte und es dabei
als solches vernichtete. Der Kannibale bleibt bekanntlich auf diesem Standbunkt stehen ;
er hat seine Feinde zum Fressen lieb und er frißt die nicht, die er nicht irgendwie
lieb haben kann“. Freud in „Massenpsychologie und Ich-Analyse“. Ges. Werke.
B. VI, pg. 304.
— 411, —
selbst, daß die „große Entdeckung“ von jemand anderem
stammt. '
Die Folge ist immer ein starkes Unbehagen, das bis zur kurz-
dauernden Depression sich steigern kann. Hier wird also das Über-
Ich noch nicht nach außen projiziert, sondern waltet seines Amtes
intern. Das Strafbedürfnis wird in Form der Depression erledigt. Als
Motiv können alle beim unbewußten Plagiat aufzuzählenden Ursachen
in Betracht kommen. Diese Form des rechtzeitig ver-
hinderten Plagiats ist gewissermaßen ein Torso,
Dem ersten Akt folgt kein zweiter: Zum Plagiieren
gehört ja das Veröffentlichen in irgend einer Form (Rede, Schrift).
Wer bestreitet, diese Form des intendierten, aber nicht
ausgeführten Plagiats aus eigemer Anschauung zu ken-
ken, für den gilt das viel zitierte Wort von der Onanie: Wer leug-
net, jemals onaniert zu haben, tut es noch.
12) Plagiat auf Grund des gleichen ätiologischen Anspruchs. Der
Identifizierungsmechanismus ist der von Freud unter diesem Titel be-
schriebene. ® Es ist eine partielle Identifizierung auf Grund des sich
in die gleiche Lage Versetzenkönnens oder -wollens, wobei vom
Objektverhältnis zur kopierten Person abgesehen wird. In diese Gruppe
gehören viele unbewußte Plagiate, die „denen es just passieret“, im
Nachhinein so unverständlich sind. Interessant ist, daß das Zustande-
kommen keineswegs an eine Hysterie gebunden ist.
Das Plagiat dieser Gruppe kann auch als passageres Symptom bei
praktisch Gesunden vorkommen. ®
ı) Daß solche „selbstentlarvende“* Plagiate auch im Traum verarbeitet werden
können, beweist die Mitteilung eines älteren Kollegen, der mir nach Anhören des
Vortrages erzählte, er hätte vor vielen Jahren, als er noch Gedichte verfaßte, einen
Traum gehabt, in welchem ihm eine Person sagte: „Du hast heute ein schönes Ge-
dicht von Gottfried Keller gemacht.“ J
2) Freud Ges. Werke VI — „Massenpsych. und Ich-Analyse“, pg. 305 ff. Freud
gibt das Beispiel des Pensionatsmädchens, das einen Brief vom geheim Geliebten be-
kommen hat, der ihre Eifersucht erregt und auf den sie mit einem hysterischen Anfall
reagiert. Einige ihrer Freundinnen werden diesen Anfall auf dem Wege der psychi-
schen Infektion übernehmen. Die anderen möchten auch ein geheimes Liebesverhältnis
haben und akzeptieren unter dem Einfluß des Schuldbewußtseins auch das damit ver-
bundene Leid.
3) Ein Beispiel dieser Art ist möglicherweise die Plagiatbeschuldigung gegen den
Nobelpreisträger Barany. (Acta Oto-laryngologica, Stockholm 1922, Vol. III, Fasc. 4.
„Barany und die Wiener Universität.“) Gegen Barany wurde 1916 u. a, der Vorwurf
erhoben, „er habe sich unberechtigterweise als Entdecker des Kalorischen Nystagmus und
— 412 —
13) Plagiat aus entlehntem Schuldgefühl. Der Identifizierungsmecha-
nismus ist der von Freud beim entlehnten Schuldgefühl beschriebene.‘
Es werden z. B. häufig Ansichten krampfhaft und gegen bessere
Einsicht festgehalten und öffentlich verfochten, von denen die Außen-
stehenden mit Recht behaupten, sie können unmöglich die wirklichen
Ansichten des Betreffenden sein, er sei längst darüber hinausgewach-
sen. Dabei handelt es sich meist um Ansichten, die die Person, der
die Objektbeziehung galt, längst als irrig oder überholt aufgegeben hat.
Identifizierungen mit dem erfolgreicheren Rivalen, zu welchem eine
libidinöse Bindung besteht, mit konsekutiven Plagiaten, gehören
hieher.
14) Plagiat nach Typus : Erledigung einer Objektbeziehung. Wir wissen
von Freud, daß die Identifizierung die Art ist, wie das Es Objekt-
des Naturgesetzes der Abhängigkeit der Fallrichtung von der Kopfhaltung bei vestibu-
laren Reizen ausgegeben.“ Im Spruch der Fakultät heißt es wörtlich :
„Dr. Barany hat sich als Entdecker des Naturgesetzes der Abhängigkeit der Fall-
richtung vor der Kopfhaltung bei vestibularen Reizen ausgegeben, obgleich er wissen
mußte, daß dieses schon von Purkinje gefunden und dann von Mach und Breuer
genau erforscht war,
In der Tat, sagt die Verteidigungsschrift der Herausgeber der „Acta“, hat Barany
in seiner ersten zusammenfassenden Arbeit (M. f. ©, 1906, p. 36 des Separatabdrucks)
bei der Beschreibung der Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Fallrichtung und Kopf-
richtung und Kopfhaltung angegeben, daß die diesbezüglichen Tatsachen aus Purkinjes
Beobachtungen zwingend folgen und von Breuer bereits 1874, $. 25, mitgeteilt wur-
den. Dagegen hat er auf dem Budapester Kongreß 1909 und in späteren Publikationen
sich selbst die Entdeckung dieses Gesetzes zugeschrieben.
In seiner Verteidigungsschrift gesteht Barany, daß er sich einen Irrtum habe
zuschuldenkommen lassen, indem er die Arbeit Breuers total
vergessen habe. Zu seiner schmerzlichen Betroffenheit habe
er dieses aus der Anklageschrift ersehen. Er wäre jedem Autor sehr
dankbar gewesen, der ihn auf diesen historischen Irrtum aufmerksam gemacht hätte, es
hätte dies aber nicht in einer geheimen Sitzung geschehen müssen. Breuer selbst habe
niemals einen Anwurf gegen ihn erhoben. Auch werde Breuer gewiß gern bezeugen,
daß ihm (Barany) keine mala fides zuzutrauen sei
In einem Brief an Barany teilt Breuer mit, was er in der Senatssitzung zu dieser
Sache bemerkt hat. „Da liegt“, habe er gesagt, „allerdings eine Priorität meinerseits
vor, aber es ist ausgeschlossen, daß Sie die Anerkennung derselben absichtlich unter-
lassen hätten. Nicht bloß weil Sie viel zu gut gegen mich sind, sondern auch weil
mein Anteil an der Erforschung der Labyrinthfunktion so bekannt und anerkannt ist,
daß eine Verschleierung desselben durch Unterlassung des Zitats unmöglich wäre.“
ı) Freud. Ges. Werke, Band VI, pg. 395 „Das Ich und das Es“: „Entlehntes
Schuldgetühl ist das Ergebnis der Identifizierung mit einer anderen Person, die einmal
Objekt einer erotischen Besetzung war. Eine solche Übernahme des Schuldgetühls ist
oft der einzige, schwer kenntliche Rest der aufgegebenen Liebesbeziehung“.
— 413 —
beziehungen aufgibt.‘ Beispiele: Identifizierung mit dem Analytiker
am Ende der Analyse, oder: Ende von normalen Liebesbeziehungen.
(„Bei Frauen, die viel Liebeserfahrungen gehabt haben, glaubt man,
die Rückstände ihrer Objektbesetzungen in ihren Charakterzügen leicht
nachweisen zu können.“ (Freud „Ich und Es“, pg. 373.) Das gleiche
gilt für Männer. Wird etwa am Ende einer Beziehung publiziert, ist
der „Rückstand“ der Objektbeziehung nachweisbar.
15) Plagiat nach dem Typus: Angstüberwindung. Voraussetzung ist
eine vom künftigen Plagiator als überwältigend empfundene Persön-
lichkeit, die ihm imponiert und vor der er Angst hat.® Plötzlich wird
er aber — durch Identifizierung mit dem „Zauberer“ — vorüber-
gehend angstfrei. Das Strafbedürfnis äußerst sich im unbewußten Er-
wischtwerdenwollen. Häufig wird die Strafe provokatorisch herbei-
geführt.
Ich glaube, daß in den Anfangsstadien der Analyse® diese Form
des Plagiats häufig zustande kommt. ®
So erklärt sich z. B. daß nicht nur Ansichten des Analytikers als
eigene ausgegeben werden, wobei der Patient keine Ahnung hat, daß
sie vom Analytiker stammen, ® sondern auch provokatorisch der
ı) Freud, Ges. Werke, Band VI, pg. 373. „Das Ich und das Es“: „Soll oder muß
ein solches Sexualobiekt aufgegeben werden, so tritt dafür nicht selten die Ichverände-
rung auf, die man als Aufrichtung des Objekts im Ich wie bei der Melancholie be-
schreiben muß; die näheren Verhältnisse dieser Ersetzung sind uns noch nicht bekannt.
Vielleicht erleichtert oder ermöglicht das Ich durch diese Introjektion, die eine Art
von Regression zum Mechanismus der oralen Phase ist, das Aufgeben des Objekts.
Vielleicht ist diese Identifizierung überhaupt die Bedingung, unter der ‚das Es seine
Objekte aufgibt“.
2) Hinter jeder Bewunderung steckt bekanntlich auch ein Stück Angst.’
3) Viele Formen des Plagiats, natürlich psychologisch und nicht juristisch gemeint,
können wir in der Analyse studieren. Es gibtkaum eine solch günstige
Gelegenheit, das Entstehen eines Plagiats zu verfolgen, wie
gerade die Psychoanalyse. Der Ausgangspunkt dieser Arbeit sind Beobach-
tungen während der Analyse an Neurotikern. In der Diskussion dieses Vortrages
in der Vereinigung meinte Dr. Federn, daß man geradezu die Fortschritte der Analyse
beim Patienten an seinen Plagiaten beobachten kann, daß also das Plagiat in der
Analyse etwas Erfreuliches sei.
4) Überflüssig zu sagen, daß andere Motive der Identifizierung mit dem Arzt da-
durch nicht geleugnet werden. Es ist eben nur eine Determinante mehr.
5) Diese Form des Plagiats hat nichts mit einer anderen, ebenfalls in ‚der Analyse
studierbaren zu tun, bei welcher der Patient, ohne zu sagen, daß er in Analyse ist,
plötzlich in der Außenwelt ein aggressiver Verteidiger analytischer Thesen wird und
infolge seiner Widerstände die Gegenargumente, die er scheinbar aufgegeben hat, vom
— 414 —
Spieß umgedreht wird und mit diesen Ansichten gegen die Analytiker
polemiser wird: Z. B. Ich sagte einem Patienten einmal scherzweise,
sein Masochismus sei ein Perpetuum mobile. Er ließ sich das erklären.
atient war wegen Pseudodebilität in Analyse!) Einige Wochen darauf
wiederholte er die Behauptung und antwortete auf meine Frage, wo-
her er das Wort „Perpetuum mobile“ kenne, ein Musikstück von
"Strauß (er meinte eines von Johann Strauß) hätte diesen Namen. Der
"Name sei ihm aufgefallen und er hätte seinen Freund R. gefragt, was
er bedeute. Eine andere Patientin, die schwer oral fixiert war und in
Zeiten ihrer Depression nicht arbeiten konnte, und sich von der
"Mutter erhalten ließ, sagte einmal zu Beginn der Ordination: Es ist
ganz falsch, wenn Sie behaupten, Arbeit sei für viele Menschen un-
angenehm. Sehen Sie denn nicht, daß ich an die Mutter fixiert bin
und deshalb nicht arbeiten kann, weil ich mich von ihr wie ein Kind
"ernähren lassen will ?“
(Gerade die orale Bindung an die Mutter wurde ihr seit Monaten
gedeutet, die Bemerkung, Arbeit sei für die meisten Menschen nichts
| " Angenehmes, war eine — anläßlich der stereotypen Klagen der Patien-
in — gelegentlich geäußerte Feststellung.) Es ist klar, daß jnssa
anderen Motiven (sadistische Übertragung, aktive Kastrationslust) ', e
"deutlich provokatorischer Charakter — Wunsch bestraft zu en _
der Äußerungen nicht zu verkennen ist.
16) Plagiat nach dem Typus : Captatio benevolentiae. Ausgangspunkt
‚ähnlich wie bei Fall 15. Man will von einer als imponierende Per-
‚ sönlichkeit empfundenen Person geliebt werden, hat aber den Ein-
‚druck der Unzugänglichkeit. Die Identifizierung erfolgt und man bietet
sich dem „Zauberer“ quasi zur narzißtischen Objektwahl dar, etwa
‚nach der Formel: „Du mußt mich lieben, denn ich bin wie du, und
‚dich liebst du doch!“ Auch diese Form ist im Anfangsstadium der
‚ Analyse studierbar.
17) Anlehnungsplagiat. Ein zwangsneurotischer Patient — ein Musiker
|
anderen zu hören erwartet und gewöhnlich auch zu hören bekommt. Es hat dann sein
\ „Loyalitäts-Alibi* („ich habe die Analyse verteidigt“), anderseits berichtet der Patient
| mit kaum verstellter Schadenfreude die „vernichtende Kritik“ der Anderen. Es handelt
| sich um eine Form des Widerstandes.
\ 1) Die Frage, ob dieses Motiv gerade bei Plagiaten von Frauen eine größere
Rolle spielt, ob es nicht etwas der Kleptomanie ähnliches gibt, wäre
der Untersuchung wert. Es ist vielleicht nicht überflüssig hinzuzufügen, daß diese Ver-
mutung nichts gegen die geistige schaffende Frau, deren Ideen oft origineller sind als
die der Durchschnittsmänner, aussagen will.
— 415 —
— begann in einer bestimmten Phase der Analyse zu komponieren
und hatte mit seinen Kompositionen Erfolg. Es fiel aber auf, daß die
ersten "Takte meistens mehr oder weniger anderen Komponisten „ent.
lehnt“ waren. Als er einmal bei einer Publica sich einiges notierte,
machte er die Entdeckung, daß in diesem Falle alles gestohlen war,
Der Patient war in allem „der Zweite“. „Der Erste“ durfte er _
aus seiner damals ungelösten Odipusbeziehung zum Vater — nicht
sein. Er wich — unter dem Drucke der Kastrationsangst und seiner
passiv-homosexuellen Hingabe zum Vater — dem Konflikte aus. !
Es ist eine interessante Frage, ob nicht vieles von dem, was bei
Schriftstellern „Anlehnung an Vorbilder“ genannt wird, ähnliche Mo.
tive zur Ursache hat.
18) Plagiat als Ersatz einer Deckerinnerung. Voraussetzung ist eine
verdrängte, nicht bewußtseinsfähige Erinnerung. Man hört, sieht, liest
in der Außenwelt irgend etwas, was — unter anderen Umständen —
eine Deckerinnerung sein könnte und schnappt danach, weil es
bewußtseinsfähig ist. Dabei hat man aber das Gefühl, man produ-
ziere etwas Eigenes, weil ja der unbewußte Tatbestand gemeint ist?
19) Plagiat bei Liebenden. Auf den Höhepunkt positiv getönter Be-
ı) Bzgl. der Einzelheiten sei auf eine spätere Publikation dieser Krankengeschichte
verwiesen.
2) „Fausse reconnaissance“, Freud, Band VI, pg. 76: „Ein Patient erzählt im Laufe
seiner Assoziationen: „. .. Wie ich damals im Alter von fünf Jahren im Garten mit
einem Messer gespielt und mir dabei den kleinen Finger durchgeschnitten habe, oh,
ich habe nur geglaubt, daß er durchgeschnitten ist —, aber das habe ich Ihnen ja
schon erzählt,“ Ich versicherte, daß ich mich an nichts Ähnliches zu erinnern weiß. Er
beteuert immer überzeugter, daß er sich darin nicht täuschen kann.‘ Endlich mache ich
dem Streit in der eingangs erwähnten Weise ein Ende, und bitte ihn, die Geschichte
aul alle Fälle zu wiederholen. Wir würden ja dann sehen: „Als ich fünf Jahre alt
war, spielte ich mit einem Taschenmesser an der Rinde eines jener Nußbäume, die
auch in meinem Traum eine Rolle spielen. Plötzlich bemerkte ich mit‘ unaussprechlichem
Schrecken, daß ich mir den kleinen Finger der rechten oder linken Hand so durch-
geschnitten hatte, daß er nur noch an der Haut hing. Schmerz spürte ich keinen, aber
eine große Angst. Ich getraute mich nicht, der wenige Schritte entfernten Kinderfrau
etwas zu sagen, sank auf die nächste Bank und blieb da sitzen, unfähig noch einen
Blick auf den Finger zu werfen. Endlich wurde ich ruhig, faßte den Finger ins Auge
und siehe da, er war unverletzt.“ Wir einigten uns bald darüber, daß er mir diese
Vision oder Halluzination doch nicht erzählt haben könne. Er verstand sehr wohl, daß
ich einen solchen Beweis für die Existenz der Kastrationsangst in seinem fünf-
ten Jahre doch nicht unverwertet gelassen hätte. Sein Widerstand“ gegen die Annahme
des Kastrationskomplexes war damit gebrochen, aber er warf die Frage auf: Warum
habe ich so sicher geglaubt, daß ich diese Erinnerung schon erzählt habe? Dann fiel
— 416 —
ziehungen findet bekanntlich eine Identifizierung statt. Bei Plagiaten,
die aus solchen Stimmungen geboren sind, ist häufig „mein“ und
„dein“ unentscheidbar. Das gleiche gilt manchmal auch für sublimierte
| unbewußte Homosexualität in Form von Freundschaft. „Wir bringen
“einander die Stichworte so geschickt, man nennt das Freundschaft“ —
" jäßt Schnitzler einen Mann sagen.
| 20) Plagiat bei Haßliebe: Gleichzeitig mit dem oben besprochenen
| Plagiat kann bei Liebenden folgende Form auftreten :
|
|
|
|
|
August Strindberg, „Gläubiger“, entstanden 1889. Zitiert
nach Scherings Übersetzung („Elf Einakter“), pg. ‘54:
Adolf... Meine Frau ist eine selbständige Natur. Worüber
lächelst Du ?
| Gustav... Nur weiter ! — Sie ist eine selbständige Natur ...
| Adolf... Die nichts von mir annehmen wollte...
| Gustav... Aber von anderen!
| Adolf (nach einer Pause): Ja! — und es schien, als ob
| sie besonders meine Ansichten haßte, weil sie von mir kamen,
| und nicht, weil sie ungereimt waren. Denn oft konnte
| es geschehen, daß sie mit meinen Ideenälte-
renDatumsherausrückte undsie.als die ihren
| forcierte; ja, es konnte geschehen, daß einer
| von meinen Freunden ihr meine Ideen ein-
flößte, die direkt von mir geholt wurden, und
dann mundeten sie. Alles mundete, ausge.
nommen, was von mir kam.
21) Plagiat des Alternden. Nur das Typische des Vorganges recht-
‚ fertigt die Aufstellung einer eigenen Gruppe, da er sonst unter die
‚ Gruppe „Plagiat auf Grund des gleichen ätiologischen Anspruchs“
‚ einzureihen wäre. Ein Beispiel wäre etwa die Mutter der Heldin in
Schnitzlers „Therese“, die als alternde Frau die Briefe, die ein Lieb-
uns beiden ein, daß er wiederholt, bei verschiedenen Anlässen, aber jedesmal ohne
Vorteil, folgende kleine Erinnerung vorgetragen hätte: „Als der Onkel einmal ver-
, reiste, fragte er mich und die Schwester, was er uns mitbringen solle. Die Schwester
\ wünschte sich ein Buch, ich ein Taschenmesser.“ Nun verstanden wir diesen vorher
aufgetauchten Einfall als Deckerinnerung für die verdrängte Erinnerung und als
‚ Ansatz zu der infolge des Widerstandes unterbliebenen Erzählung vom vermeintlichen
‚ Verlust des kleinen Fingers (eines unverkennbaren Penisäquivalents). Das Messer,
welches ihm der Onkel auch wirklich mitgebracht hatte, war nach seiner sicheren Erin-
nerung das nämliche, welches in der lange unterdrückten Mitteilung vorkam.“
\ Die vom Patienten mitgeteilte Deckerinnerung hätte — unter anderen Umständen —
| Plagiat werden können.
BA, Bewegung 1V — 417 — 28
i
m
haber der Tochter vor Jahren geschrieben hatte, in einem Roman
plagiiert.
Eine andere Spezialform dieser Gruppe wäre die, bei der von der
Objektbeziehung zur plagiierten Person nicht abgesehen wird und
eine libidinöse Besetzung vorhanden ist.
22) Plagiat nach dem Typus: Angst vor der eigenen Courage,
X. äußert eine Meinung, die im Widerspruch zu einer im betreffen.
den Kreise als Autorität geltenden Persönlichkeit steht. Aus Angst
unterschiebt X. dieser Persönlichkeit seine eigene Meinung und weiß
nach einiger Zeit nicht mehr, wessen Ansicht es eigentlich ist. !
23) Der Eklektiker. Eine psychoanalytische Arbeit über diesen T'ypus
gibt es nicht. Eine der Formen des Eklektikers (es gibt deren viele)
ist ein exquisiter Plagiator mit einem an Größenwahn grenzenden
Narzißmus, der sich wie ein Cäsar benimmt, dem ein Sklavenhalter
hunderte Mädchen zur Auswahl vorführt. Die unbewußte Stimme des
Gewissens wird damit befriedigt, daß der Eklektiker ja nicht ganz
direkt plagiiert, sondern nur das „Beste aussucht“ und ein wenig ver-
ändert. Innerlich halten die Menschen alle Schaffenden für Idioten,
deren Leistung erst durch den Eklektiker geadelt wird. (Nach einem
Ausspruch eines Kollegen: Die „geistige Baronie“ verliehen wird.)
Das indirekte Plagiat
24) Der Zitaterich ist das Negativ des Plagiators. Der Zitaterich ist
ständig auf der Flucht vor seinen Plagiatwünschen und befriedigt sein
Strafbedürfnis durch ständiges, manchmal recht quälendes Zitieren und
Finden der richtigen Autoren zum Zitat. Vielfach zitieren sie falsch
Trotzdem — nach einem Ausspruch Goethes — gebildete Menschen
das beste Konversationslexikon sind und Zitateriche meist gebildet
sind, „verwechseln“ sie ständig alle Autoren.
25) Der Plagiatschnüffler. Ein Mann, der ständig, und zwar
zwanghaft aut der Suche nach Plagiaten der anderen ist, ist im
vorhinein verdächtig, daß er gerne selbst plagiieren möchte. Es gibt
da zwei Gruppen. Zur ersten gehören manche der paranoid einge-
stellten Plagiographen, die ganze Bücher über wirkliche oder
vermeintliche Plagiate eines Menschen schreiben. Die zweite Gruppe
ist psychiatrisch harmloser. Das sind Menschen, die im Plagiator, den
ı) Interessant ist, daß man sich selbst plagiieren kann, wobei der Wiederholungs-
zwang eine große Rolle spielt. Diesen Hinweis verdanke ich Dr. R. H. Jokl.
— 418 —
sie erwischen, den Anteil der eigenen Persönlichkeit bekämpfen, die
gerne plagiieren möchten, während sie sich selbst zum Sprachrohr des
Über-Ichs machen. Das gute Gewissen des Plagiatschnüfllers erinnert
— mutatis mutandis — ein wenig an das des Henkers, der empört
wäre, wenn man ihm Sadismus vorwürfe. Er sei lediglich ein Exe-
kutor des Rechts... .!
%
Als vor einigen Monaten in Wien in einem kleinen Theater die
Komödie „Leutnant Komma“ von Rose Meller aufgeführt und in einer
größeren Tageszeitung besprochen wurde, bekam der Kritiker eine
große Anzahl von Zuschriften, in denen er darauf aufmerksam ge-
macht wurde, daß das Stück ein Plagiat von Tynjanows „Sekonde-
leutnant Saber“ darstellt. In Wirklichkeit war es kein Plagiat, son-
dern eine Bearbeitung der Novelle, wobei die Verfasserin ausdrück-
lich im 'T'heaterzettel feststellte „Nach einer Idee von Tynajow“. Der
Kritiker hatte das in seinem Referat nicht angegeben, und daraus er-
gab sich der Irrtum.
Diese kleine Episode beweist, wie ubiquitär der furor plagiati-
cus und seine Repräsentanten, die Plagiatoren und Plagiatschnüffler,
sind. Er ist, als wollte unbewußt jeder plagiieren? und verzichtete
darauf, von mangelnder Gelegenheit abgesehen, nur unter der Be-
dingung, daß auch die anderen sich diese Beschränkung auferlegten.?
Der Einwand, daß doch nicht alle plagiieren, trifft ins Leere (siehe
„Das selbstentlarvende Plagiat“) und sagt nichts über die unbewuß-
ten Motive aus. Der Einwand erinnert ein wenig an die possierlichen
Debatten in der Vor-Freudschen Traumdeutung, ob moralische
Menschen nur „moralische“, oder auch „unmoralische“ Träume hätten.
Baudelaires Wort „Ein Mensch, der nur Wasser trinkt, ist mir im
ee sn un un un A nn,
1) Es sei ausdrücklich hervorgehoben, daß natürlich nicht jedes Aufdecken
eines Plagiats Plagiatschnüffelei ist. Wenn z. B. ein Freudschüler die
schamlose Plünderung Freuds, wie sie jetzt in wissenschaftlichen und literarischen
Kreisen üblich ist, aufzeigt, ist das noch lange keine Plagiatschnüffelei. Das Aufdecken
eines Plagiats kann unter Umständen ein notwendiger und rühmenswerter Vor-
gang sein.
2) In diesem Zusammenhang sei auf eine interessante Form des legalen Plagiats
verwiesen: Das Nachahmen zum Zwecke der Verspottung (Parodie), z. B. „Mit frem-
den Federn‘ von R. Neumann.
3 Ähnlich wie bei allen anderen kriminellen Delikten. Siehe Alexander und Staub.
„Der Verbrecher und seine Richter“.
le u
Vornherein verdächtig, er hat ein geheimes Laster zu verbergen“,
kann für manche Menschen etwa folgend variiert werden: Ein
Mensch, der nur eigene Meinungen hat und sich selbst
nie beim Plagiatwunsch ertappte, ist mir im Vorhinein
verdächtig, er plagiiert zu viel...
SUN
THEODOR REIK
DER
UNBEKANNTE MOÖRDER
VON DER TAT ZUM TÄTER
QUART / 184 SEITEN / GEHEFTET
M 5.50 / IN LEINEN M 7.- /
Rein stofflih schon interessant durch seine Fülle an
Beispielen aus der kriminellen Wirklichkeit, legt dieses
Buch die seelischen Voraussetzungen dar, die einer-
seits für den Verbrecher, anderseits für die strafende
Gesellschaft entscheidend sind. Das Ergebnis dieser
Untersuchung ist in jeder Hinsicht überraschend. Hinter
den scheinbar so logischen Zusammenhängen, die der
moderne Kriminalist aus Spuren und Indizien erfaßt,
tauchen die seelischen Urgründe für die Verfolgung
des Verbrechens auf. Der Ahne des Kriminalisten ist
niemand anderer als der Medizinmann, der in selt-
samen Formeln den »bösen Geist«, der das Verbrechen
verschuldete, zu beschwören sucht, die Vorläufer der
Indizien sind uralte Zauberriten, in denen der Tote
selbst zur Anzeige seines Mörders werden soll. Da
das Buch die Psychoanalyse im Vordringen auf ein
ganz neues Forschungsgebiet zeigt, birgt es auch alle
Reize einer solchen Entdecungsfahrt in sich.
INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG e WIEN I.
INN
— 420 —
„Der Untergang des Hauses Usher“
von Edgar Allan Poe
Von
Marie Bonaparte (Paris)
Im folgenden geben wir ein Kapitel aus der dem-
nächst im Psychoanal. Verlag erscheinenden großan-
gelegten psychoanalytischen Studie von Marie Bonaparte
über „Edgar Allan Poe“ wieder, die in einem 1. Teil
das Leben Poes behandelt, in einem 2. und 3. die Dich-
tung und in einem Schlußteil das Wesen der literari-
schen Schöpfung und die Mission des Dichters. Über-
setzung aus dem Französischen: Dr. Fritz Lehner (Wien).
Als Poe den Untergang des Hauses Usher schrieb, war seine
schwesterliche Frau Virginia, die er wenige Jahre vorher ge-
heiratet hatte, zweifellos schon deutlich vom Tode gezeichnet.
Der Held dieser Geschichte, Roderick Usher, ist dieses Mal
nicht mit dem Erzähler identisch, — die männliche Gestalt ist
hier in zwei Gestalten gespalten und, wie immer, selbstver-
ständlich Poe selbst.
Ein Reisender, der allein und zu Pferd durch eine eigen-
tümliche öde und traurige Gegend „geritten war, befand sich
schließlich, als die Schatten des Abends herniedersanken“,' vor
dem melancholischen Stammschloß der Usher. Dieses Schloß ist
so gebaut und so gelegen, daß die Seele des Reisenden „gleich
beim ersten Anblick dieser Mauern von einem Gefühl uner-
träglicher Trauer“ befallen wird. „Ich betrachtete das Bild vor
mir, das einsame Gebäude in seiner einförmigen Umgebung,
die kahlen Mauern, die toten, wie leere Augenhöhlen starren-
den Fenster, die paar Büschel dürrer Binsen, die weißschim-
mernden Stümpfe abgestorbener Bäume“ und er empfindet es,
wie er sagt, „mit einer Niedergeschlagenheit, die er mit keinem
andern Gefühl besser vergleichen kann als mit dem trostlosen
1) Die Erzählung Poes wird nach der Gesamtausgabe im Propyläenverlag, Berlin,
zitiert.
421 —
Erwachen eines Opiumessers aus seinem Rausche, dem bitte-
ren Zurücksinken in graue Alltagswirklichkeit..... was mochte
es sein, daß der Anblick des Hauses Usher mich so erschreckend
überwältigte?... Ich mußte mich mit der wenig befriedigen-
den Erklärung begnügen, daß es tatsächlich in der Natur ganz
einfache Dinge gibt, die durch die Umstände, in denen sie uns
erscheinen, geradezu drückend auf uns wirken können, daß es
aber nicht in unsere Macht gegeben ist, eine Definition dieser
Gewalt zu finden.“ So ahnt Poe, der Reisefreund Roderick
Ushers, was schon Poe, der Gatte Ligeias geahnt hat, jene aus
unserem Unbewußten hervordringenden mysteriösen „Überein-
stimmungen“, die zwischen den Dingen und den Lebewesen
bestehen und die später Baudelaire auf seine Weise besingen
sollte. Der Reisende, der seiner Beklemmung zu entkommen
versucht, wendet hierauf sein Pferd „dem steilen Rand eines
schwarzen, sumpfigen Teiches zu, der, von keinem Hauch be-
wegt, neben dem Schloß lag“, — er betrachtet „die auf den
Kopf gestellten und verzerrten Bilder der grauen Binsen, der
gespenstischen Baumstümpfe und der wie leere Augenhöhlen
starrenden Fenster.“ 2, \
So beginnt diese Geschichte, in der alles von gleicher grauer
Farbe ist, die Lebewesen, ihr Aussehen, ihre Seele, ihre Be-
|
hausung und der Ort, an dem das Schloß liegt. Wir haben
hier eine Erzählung vor uns, in der ein anderes Element als
in Berenice oder in Morella vorherrscht, ein Element, das be-
reits in Ligeia an den Tag getreten ist: die beseelte Atmosphäre.
Wir haben es hier schon mit einer jener Erzählungen der
Mutter-Landschaft zu tun, von der wir später sprechen werden,
wir analysieren sie nur deshalb hier, weil die Gestalt der Made-
line, die sie auch beseelt, diesen Platz rechtfertigt.
Der Besitzer des Schlosses ist Roderick Usher, letzter Nach-
komme eines alten und morbiden Geschlechts. Er hat in seinem
Brief den Reisenden, einen alten Jugendfreund, mit dem er
seit mehreren Jahren nicht beisammen gewesen ist, herbeige-
rufen. Er hat ihn aus der Ferne zur Hilfe geholt und der
Brief, dessen Schrift das Zeichen einer nervösen Erregung an
— 422 —
sich trug, sprach „von einer heftigen körperlichen Erkrankung,
— von niederdrückender geistiger Zerrüttung.“
Die Familie Rodericks zeichnete sich „seit urvordenklichen
Zeiten durch eigentümliche Reizbarkeit des Temperaments aus“.
Mit diesen Nachkommen von Künstlern, schwerverständlichen
Musikern, „hatte der Stammbaum der Familie Usher, die jeder-
zeit hochangesehen war, zu keiner Zeit einen ausdauernden
Nebenzweig hervorgebracht, mit anderen Worten, die Abstam-
mung der ganzen Familie war in direkter Linie abzuleiten ...
Wahrscheinlich, so sagte ich mir, ist es eben dieser Mangel
einer Seitenlinie, ist es das von Vater zu Sohn immer sich
gleichbleibende Erbe von Besitztum und Familienname, das
schließlich beide so miteinander identifiziert hatte, daß der ur-
sprüngliche Name des Besitztums in die wunderliche und doppel-
deutige Bezeichnung das Haus Usher übergegangen war, —
eine Benennung, die bei den Bauern, die sie anwendeten,
beides, sowohl die Familie, wie das Familienhaus, zu bezeich-
nen schien“. Durch diese Mitteilungen Poes erfahren wir, daß
die männlichen Mitglieder des Hauses vom Vater zum Sohn
das Recht hatten, sich als die richtigen Söhne des nach ihrem
Bilde modellierten seltsamen düsteren Hauses zu betrachten, so
wie das Vaterland schließt auch das Patrimonium (patrimony)
in sich, „was dem Vater gehört“, und der intimste Besitz des
Vaters ist die Mutter, für die das Vaterland nur eine erweiterte,
sublimierte Übertragung ist, mit den weiten Strecken der
mütterlichen und nährenden Erde, die sich in ihm befinden.
Das „Patrimonium“ der Usher ist zweifellos eine analoge
Übertragung.
Hören wir daraufhin unseren Reisenden an: „Ich sagte vor-
hin, daß der einzige Erfolg meines etwas kindischen Beginnens
— meines Hinabblickens in den dunklen Teich — der ge-
wesen war, den ersten sonderbaren Eindruck, den das Land-
schaftsbild auf mich gemacht hatte, noch zu vertiefen... Und
einzig dies mag die Ursache einer seltsamen Vorstellung, die
in meiner Seele erstand, gewesen sein, als ich meine Augen
von dem Spiegelbild im Pfuhl wieder hinaufrichtete auf das
— 423 —
Wohnhaus selbst... Ich glaubte tatsächlich, das Haus und
seine ganze Umgebung seien von einer nur ihm eigentümlichen
Atmosphäre umflutet — einer Atmosphäre, die zu der Himmels.
luft keinerlei Zugehörigkeit hatte, sondern die emporgedunstet
war aus den vermorschten Bäumen, den grauen Mauern und
dem stummen Teich — ein giftiger, geheimnisvoller, trüber,
träger, kaum wahrnehmbarer bleifarbener Dunst.“ Das ist un-
gefähr die Atmosphäre, die einen Leichnam umflutet — und
die Edgar Poe sichtbar macht und später noch deutlicher sicht-
bar machen wird.
„Ich prüfte eingehender das wirkliche Aussehen des Ge.
bäudes.... Die Zeitläufte hatten ihm seine ursprüngliche Farbe
genommen. Ein winzigkleiner Pilz hatte alle Mauern wie mit
einem Netzwerk umzogen, dessen feinmaschiges Geflecht von
den Dachtraufen herabhing. Doch von irgendwelchem außer-
gewöhnlichen Verfall war das Gebäude noch weit entfernt.
Kein Teil des Mauerwerks war eingesunken und die noch voll.
kommen erhaltene Gesamtheit stand in seltsamem Widerspruch
zu der bröckelnden Schadhaftigkeit der einzelnen Steine. Dieses
Haus stand gleichsam da wie ein altes Holzgetäfel, das in irgend-
einem unbetretenen Gewölbe viele Jahre lang vermoderte, ohne
daß je ein Lufthauch von draußen es berührte, und das darum
in all seinem inneren Verfall stattlich und lückenlos dasteht.
Außer diesen Zeichen eines allgemeinen Verfalls bot das Haus
jedoch nur wenige Merkmale von Baufälligkeit. Vielleicht hätte
allerdings ein scharfprüfender Blick einen kaum wahrnehmbaren
Riß entdecken können, der an der Frontseite des Hauses vom
Dach im Zickzack die Mauer hinunterlief, bis er sich in den
trüben Wassern des Teiches verlor.“
So wird uns das Schloß in verschiedenen seiner Einzelheiten
vorgestellt, sein totenblasses Antlitz, der Überwurf eines „selt-
sam gestickten Kleides“, der innere Zerfall, der zur augen-
scheinlichen Unberührtheit im Gegensatz stand, wie das bei
einem Leichnam sein kann, der in irgendeinem vergessenen
Keller fern vom Hauch der äußeren Luft aufbewahrt ist. Und
der Riß, der quer durch das Gebäude hindurchgeht, erinnert
— 424 —
in seiner symbolhaften Art an „den gespaltenen Körper des
Weibchens“, von dem bei Zola’! die Rede ist.
Aber verlassen wir für einen Augenblick das mütterliche
Haus, um zu sehen, welchen Sohn es hervorgebracht hat. Der
Reisende ist in das Innere des Schlosses getreten und nach
langen Irrfahrten durch Gänge und über düstere Stiegen steht
er dem alten Jugendkameraden Roderick Usher gegenüber.
Der hohe und düstere Saal, in dem er sich befindet, ist mit
einem prunkvollen, unbequemen, altmodischen und schadhaften
Mobiliar ausgestattet. „Eine Menge Bücher und Musikinstru-
mente lagen umher, doch auch das vermochte nicht die tote
Starrheit des öden Raumes zu beleben.“ Und dann gab es hier
Fenster, die lang und schmal waren und sich hoch über dem
eichenen Fußboden befanden, daß man sie unmöglich erreichen
konnte; aus ihnen fällt in schwachen Strahlen das dunkelrote
Licht, in dem Roderick Usher erscheint.
„Bei meinem Eintritt erhob sich Usher vom Kanapee, auf
dem er langausgestreckt gelegen hatte... Ich betrachtete ihn
mit einem Gefühl von Mitleid und Trauer. Sicherlich, kein
Mensch hatte sich je in so kurzer Zeit so schrecklich verän-
dert, wie Roderick Usher!.... Seine Gesichtsbildung war immer
merkwürdig und auffallend gewesen — eine leichenhafte Blässe,
große, klare und unvergleichlich leuchtende Augen, Lippen, die
etwas schmal und sehr bleich waren — aber von ungemein
schönem Schwunge, eine Nase von edelzartem, jüdischem
Schnitt, doch mit ungewöhnlich breiten Nüstern, ein schön-
gebildetes Kinn, dessen wenig kräftige Form einen Mangel an
sittlicher Engerie verriet, und Haare, die feiner und zarter
waren als Spinnfäden. Alle diese Züge, verbunden mit einer
massigen Kraft und Breite der Stirn über den Schläfen, bildeten
ein Antlitz, das man nicht leicht vergessen konnte.“ Betrachten
wir die uns überlieferten Porträts Poes, dann sehen wir, daß
sie seltsam mit dieser Beschreibung übereinstimmen, eine Tat-
sache, die mit dazu beiträgt, Usher mit seinem Schöpfer zu
ı) La Terre.
— 425 —
identifizieren. Die großen, weiten und leuchtenden Augen, die
ungewöhnliche Entwicklung der Stirn sind dabei besonders
charakteristisch. Einzelne übertriebene Züge werden allerdings
ins Phantastische verzerrt, so zum Beispiel ist von den Haaren
die Rede, die feiner und zarter waren als Spinnweben, und
die Usher, „ohne es zu bemerken, unaufhörlich hatte wachsen
lassen“ und die „wie ein seltsamer Altweibersommer sein Ge-
sicht umfluteten .. .“
Roderick Usher befindet sich in höchster Aufregung; sein
Freund ist darüber nicht erstaunt, da er das "Temperament der
Usher kennt und den Inhalt des Briefes, der den Ausbruch
einer Krankheit ahnen ließ. „Seine Stimme, die eben noch zit-
ternd und unsicher war,... wurde zu den sonderbar modu-
lierten Kehllauten, die man bei dem sinnlos Betrunkenen oder
dem unheilbaren Opiumesser in den Zeiten ihrer heftigsten
Erregung beobachten kann.“ Poe kannte sich darin aus.
„So sprach er also von dem Zweck meines Besuches .. .“
Roderick Usher erklärt dem Freund seine Krankheit; er leide
an einer krankhaften Überschärfung der Sinne, „nur die ge-
schmackloseste Nahrung war ihm erträglich, als Kleidung konnte
er nur ganz bestimmte Stoffe tragen; jeglicher Blumenduft war
ihm zuwider, selbst das schwächste Licht quälte seine Augen
und es gab nur einige besondere Tonklänge — und diese nur
von Saiteninstrumenten —, die ihn nicht mit Entsetzen erfüll-
ten.“ Der Freund erkennt, daß Roderick der Sklave einer ganz
abnormalen Angst sei. Ich werde zugrunde gehen, sagt Usher,
„ich muß zugrunde gehen an dieser beklagenswerten Narr-
heit... Ich habe wirklich keinen Schauder vor der. Gefahr,
nur vor ihrer unvermeidlihen Wirkung — dem Schrecken. In
diesem entnervten, in diesem bedauernswerten Zustand fühle
ich, daß früher oder später der Augenblick kommen wird, da
ich beides, Vernunft und Leben, hingeben muß — verlieren
im Kampf mit dem gräßlichen Phantom, — der ANGST!“
In solchen Ausdrücken teilt uns Roderick Usher mit, daß er
an einer furchtbaren Angsthysterie leidet, von der auch sein
Schöpfer, dessen Seele Phantome bewohnten, nicht verschont
— 426 —
gewesen war. Und um zu dem Hause zurückzukommen, dessen
Sohn er ist, Roderick verrät uns auch noch, daß er „hinsicht-
lich des Hauses, das er bewohnte und aus dem er sich seit
mehreren Jahren nicht hinausgewagt habe,“ — er verbarg sich
darin wie ein Sohn im Mutterleib — „in gewissen aber-
gläubischen Vorstellungen befangen sei,“ in Vorstellungen,
die sich auf einen Einfluß bezogen, den einige Besonderheiten
in der Form und selbst in dem Baumaterial seines Stamm-
schlosses auf seinen Geist erlangt hatten, ein Einfluß also, den
das Physische der grauen Mauern, der Türme und des trüben
Teichs, in dem sie alle sich spiegelten, schließlich auf das
Moralische seiner Existenz ausgeübt hatten. So fürchtet Usher
die Heredität, mit der sein mütterliches Schloß ihn gezeichnet
hat und die Tendenz dieses Totenschlosses, seinen Besitzer
sich selbst ähnlich zu machen.
Dann beginnt Usher, „nicht ohne zu zögern“, von der ein-
zigen und „zärtlich geliebten Schwester zu sprechen und von
deren grausamer und schon lange Jahre dauernden Krankheit.“
Der Zustand seiner Schwester ist nicht ohne Einfluß auf seine
Melancholie gewesen. „Ihr Hinscheiden“, sagt er..., „wird
mich, den Gebrechlichen und Hoffnungslosen, als Letzten des
alten Geschlechtes der Usher zurücklassen.“
In diesem Augenblick schreitet diese Schwester, die Lady
Madeline, „langsam (durch) den entfernten Teil des Gemachs,“
und sie verschwindet, ohne die Anwesenheit des Freundes
ihres Bruders bemerkt zu haben.
„Die Krankheit der Lady Madeline“, berichtet Poe, „hatte
schon lange der Geschicklichkeit der Ärzte gespottet“, wie das
übrigens bei allen Heldinnen des Dichters der Fall war. So
ohnmächtig stand die medizinische Wissenschaft damals auch
der beginnenden Schwindsucht der Virginia gegenüber, die nach
einem Abstand von zwei Jahrzehnten die Krankheit der Eliza-
beth Arnold‘ reproduzierte. „Eine beständige Apathie, ein lang-
sames Hinwelken und häufige, wenn auch vorübergehende An-
Be... . msi nern nl ah
1) Poes Mutter,
— 427 —
fälle vermutlich kataleptischer Natur, das war die ungewöhn.
liche Diagnose.‘ An Madeline beschreibt uns Poe zweifellos die
Apathie und das langsame Hinwelken seiner Virginia, jenes
Hinwelken, das die Augen des Gatten beobachten konnten,
und er fügt als Vorboten der Eigentümlichkeit, die sein Un-
bewußtes jeder Frau, die er liebte, lieh, jene kataleptischen
Krisen eines Scheintodes hinzu, zu denen Madeline ebenso wie
die „epileptische‘‘ Berenice neigte. Poe sieht beim Klinischen
nicht so genau hin.
Aber Lady Madeline, die bis dahin „tapfer die Last ihrer
Krankheit getragen hatte und noch nicht bettlägerig geworden
war,“ legte sich am gleichen Abend nieder, um nicht wieder
aufzustehen. ‚In den nächsten Tagen wurde ihr Name weder
von Usher noch von mir erwähnt; während dieser Zeit war
ich ernstlich und angestrengt bemüht, meinen Freund seinem
Trübsinn zu entreißen. Wir malten und lasen miteinander;
oder ich lauschte wie im Traum seinen seltsamen Improvisa-
tionen auf der Gitarre.“ Man sieht, Roderick schläfert ganz wie
Edgar seine Angst durch die Zauberbilder der Kunst ein. Aber
seine Improvisationen sind „seltsam“, sie gleichen seiner Male-
rei, jenem Bild, „welches das Innere eines ungeheuer langen
rechtwinkeligen Gewölbes oder Kellers mit niederen, glatten,
weißen Mauern zeigte, die sich ohne Schmuck und endlos hin-
zogen,“ und das sich „sehr, sehr tief unter der Oberfläche der
Erde“ befand, dort, wo man keine Fackel, keine künstliche
Lichtquelle mehr wahrnehmen kann und wo „dennoch eine
Flut intensiver Strahlen von einem Ende zum andern floß und
das ganze in eine gespenstische und unverständliche Helle
tauchte.“ Wir werden später noch ein anderes unterirdisches
Gewölbe sehen und dann von den beiden gemeinsam sprechen.
Roderick Usher improvisierte auch eines Tages bei der Gitarre
das Gedicht vom „Geisterschloß“, aus dem man erfährt, daß
Usher-Poe ‚fühlte, seine erhabene Vernunft wanke auf ihrem
Throne.“ Es ist interessant zu beobachten, daß in unserer Er-
zählung, in der die Mutter unbewußt durch ein Schloß sym-
bolisiert wird, sich der Sohn selbst seinerseits und diesmal
— 428 —
|
|
bewußt, durch einen Palast symbolisiert hat. Und es ist kein
Zufall, daß „Gedanken, die durch diese Ballade angeregt wur-
den, uns auf ein Gespräch führten, in dem Usher eine selt-
same Anschauung kundgab, die ich weniger darum erwähne,
„weil sie etwa besonders neu wäre — denn andere Menschen
haben schon das Gleiche gesagt —, sondern wegen der Hart-
näckigkeit, mit der Usher sie vertrat. Diese Meinung bestand
hauptsächlich darin, daß er den Pflanzen Empfindungswesen,
eine Beseeltheit zuschrieb. Aber in seinem verwirrten Geist
hatte diese Vorstellung einen noch kühneren Charakter an-
genommen, sie setzte sich in gewissen Grenzen auch ins Reich
des Anorganischen fort. Es fehlen mir die Worte, um die ganze
Ausdehnung dieser Idee, den ganzen Ernst, die ganze Hin-
gabe an seinen Glauben auszudrücken. Dieser Glaube knüpfte
sich — wie ich schon angedeutet habe — an die grauen
Quadern des Heims seiner Väter. Die Vorbedingungen für
solches Empfindungsvermögen waren hier, wie er sich einbil-
dete, erfüllt in der Art der Anordnung der Steine, in dem sie
zusammenhaltenden Bindemittel und ebenso auch in dem Pilz-
geflecht, das sie überwucherte, ferner in den abgestorbenen
Bäumen, die das Haus umgaben, und vor allem in dem nie
gestörten, unveränderten Bestehen des Ganzen und in seiner
Verdopplung in den stillen Wassern des T'eichs. Der Beweis
— der Beweis für diese Beseeltheit sei, so sagte er, zu er-
blicken. ... in der hier ganz allmählichen, jedoch unablässig
fortschreitenden Verdichtung der Atmosphäre — in dem eigen-
tümlichen Dunstkreis, der Wasser und Welle umgab.“ Auf
solche Weise drückte Usher-Poe die Wahrheit aus: das ver-
fluchte Schloß mit seinem Teich und seiner Atmosphäre war
nur die Übertragung eines Wesens, das einmal wirklich ge-
lebt hatte, einer in der unbewußten Erinnerung ihres Sohnes
lebendig gebliebenen Toten.
Nun werden die mystischen Bücher — unter denen sich
Vert-Vert befindet! — aufgezählt, Bücher, die der Visionäre
verschlingt, und wir erfahren, daß Usher, „sein Hauptentzücken
bei dem Studium eines sehr seltenen und seltsamen Buches in
ki
gotischem Quartformat fand, bei dem Handbuch einer vergesse-
nen Kirche, den Vigiliale mortuorum secundum Chorum Ecclesige
Maguntinae.“
Eines Abends teilt Usher seinem Freund mit, daß Lady
Madeline gestorben sei und er kündigt ihm zugleich seine Ab- .
sicht an, „den Leichnam vor seiner endgültigen Beerdigung
in einer der zahlreichen Grüfte innerhalb der Grundmauern
des Gebäudes aufzubewahren“, um ihn so einer eventuellen
Neugierde der Ärzte zu entziehen, die durch die seltsame Na-
tur der Krankheit beunruhigt sein könnten, und imstande
wären, die Tote aus dem in „abgelegener und einsamer Lage
befindlichen Begräbnisplatz der Familie“ herauszunehmen. Selt-
sames Argument, aber die Miene des Hausarztes scheint ihm
Berechtigung zu geben. Die beiden Männer legen nun selbst
den Körper auf die Bahre und tragen ihn beide an den Ort,
an dem er nun ruhen soll. „Die Gruft, in der wir ihn bei-
setzten, war so lange nicht geöffnet worden, daß unsere Fackeln
in der drückenden Atmosphäre fast erstickten und uns kaum
gestatteten, ein wenig Umschau zu halten. Sie war eng, dumpfig
und ohne jegliche Öffnung, die Licht hätte einlassen können;
sie lag in beträchtlicher Tiefe, genau unter dem Teil de
Hauses, in dem sich mein eigenes Schlafgemach befand. Augen-
scheinlich hatte sie in früheren Zeiten der Feudalherrschaft
als Burgverlies übelste Verwendung gefunden und später als
Lagerraum für Pulver oder sonst einen leichtentzündlichen
Stoff gedient, denn ein Teil des Fußbodens sowie das ganze
Innere eines langen Bodenganges, durch den wir das Gewölbe
erreichten, war sorgfältig mit Kupfer verkleidet. Die Tür aus
massivem Eisen hatte ähnliche Schutzvorrichtungen. Ihr unge-
heures Gewicht brachte einen ungewöhnlich scharfen, kreischen-
den Laut hervor, als sie sich schwerfällig in den Angeln drehte.“
Hier, an diesem Ort des Grauens legen die beiden Männer
ihre düstere Last auf ein Gestell; sie schieben den Deckel der
Bahre ein wenig zur Seite und blicken das Antlitz des Leich-
nams an. „Eine verblüffende Ähnlichkeit zwischen Bruder und
Schwester fesselte jetzt zum erstenmal meine Aufmerksamkeit;
— 430 —
N
4
und Usher, der vielleicht meine Gedanken erriet, murmelte
einige Worte, denen ich entnahm, daß die Verstorbene und er
Zwillinge gewesen waren und daß Sympathien ganz unge-
wöhnlicher Natur stets zwischen ihnen bestanden haben. Unsere
Blicke ruhten jedoch nicht lange auf der Toten — denn wir
konnten sie nicht ohne Ergriffenheit und Schrecken betrachten.
Das Leiden, durch das die Lady so in der Blüte der Jahre ins
Grab gebracht worden war, hatte — wie es bei Erkrankungen
ausgesprochen kataleptischer Art gewöhnlich der Fall ist — auf
der Brust und dem Antlitz so etwas wie eine schwache Röte
zurückgelassen, und den Lippen ein argwöhnisch lauerndes
Lächeln gegeben, das bei Toten so schrecklich ist.“ So repro-
duziert Lady Madeline auf ihre Art — die an die Art der
Rowena oder der Ligeia‘ erinnert, — den Alp des „Lebens
im Tode“. Die beiden Männer schließen den Sarg und steigen
wieder in die Gemächer hinauf.
Daß Madeline vor allem Virginia ist, bestätigen die Aus-
drücke, in denen von ihr gesprochen wird. Sie ist die Zwil-
lingsschwester Ushers, ganz so wie die „Sissy“ es in der Phan-
tasie Poes war. „Sympathien von einer fast unerklärlichen
Natur‘ vereinten auch den Dichter mit seiner Kind-Frau. Das
Gefühl „des Unerklärlichen“ stammte sicher aus der Tatsache,
daß auf Sissy verdrängte ehemalige Liebe übertragen wurde;
‚das verdrängte inzestuöse Verlangen nach der Schwester und
nn
der Mutter mußte dazu beitragen, den mysteriösen „Sympa-
thien‘“ Poes für Virginia ihren „unerklärlichen“ Charakter zu
geben.
Und dann haben wir die Gruft! Sie ahmt in „Schwarz“ den
weißen unterirdischen Gang Ushers nach. Man begräbt dort
Lady Madeline. Dieses Kellergewölbe im Mutter-Schloß erin-
nert an die mütterliche Kloake, aus der Madeline ebenso wie
Usher hervorgegangen sind. Die Analytiker nennen einen
solchen Einfall die Phantasie von der Rückkehr in den Mutter-
leib und er bestätigt, daß Poe und seine Virginia in der Phan-
tasie Geschwister waren. Das „Weiß“ des Usher’schen Kellers
ı) In anderen Erzählungen Poes.
— 431 —
muß neben die weiße Landschaft am Ende der Abenteuer des
Arthur Gordon Pym gestellt werden und, wie wir später” finden
werden, die gleiche Muttersymbolik enthalten ; das Schwarz des
mit widerhallenden Metallen austapezierten wirklichen Kellers
ist ein Analsymbol und erinnert an die Eingeweide, aus denen
die kleinen Kinder in ihren infantilen Sexualtheorien ihrer
Meinung nach hervorgegangen sind. Mit einer Grausamkeit,
die dem seltsam scheinen mag, der mit dem Unbewußten wenig
vertraut ist, schickt der Bruder seine Schwester dorthin zurück.
Aber Madeline ist nicht nur die Schwester, sie ist zu gleicher
Zeit auch eine Doublette der Mutter, die schon durch das
Schloß repräsentiert worden war. Der Wiederholungszwang, der
unser ganzes Leben leitet, bringt eben selbst Poe dazu, in
jeder Frau, die er liebte, immer wieder, mehr oder weniger
stark die Mutter seiner Kindheit und deren düsteres Schicksal
Körper werden zu lassen.
Poe-Usher muß nun dafür bestraft werden, daß er, wenn
auch nur im Reich der unbewußten Treue, der Mutter seiner
Kindheit untreu geworden war, und dafür, daß er eine andere
Frau als sie hatte lieben können. „Und jetzt, nachdem ‚einige
Tage bittersten Kummers vorübergegangen waren, trat in den
Symptomen der geistigen Erkrankung meines Freundes eine
merkliche Änderung ein. Sein ganzes Wesen wurde ein ande-
res. Seine gewöhnlichen Beschäftigungen wurden vernachlässigt
oder vergessen. Er schweifte von Zimmer zu Zimmer mit
eiligem, unsicherem und ziellosem Schritt. Die Blässe seines
Gesichtes war womöglich noch gespenstischer geworden, .... und
ein Zittern und Schwanken, wie von namenlosem Entsetzen,
durchbebte gewöhnlich seine Worte... , Ich sah, wie er stunden-
lang ins Leere starrte, — mit dem Ausdruck tiefster Aufmerk-
samkeit, als lauschte er irgendeinem eingebildeten Geräusch.“
In einer Sturmnacht — der siebenten oder achten Nacht, in
der Madeline sich in der Gruft befindet — wird der Freund
Ushers in seinem düsteren Zimmer, das über der Gruft liegt,
die Beute einer ständig wachsenden Angst; er kann \nicht ein-
2) In dem Kapitel über die „Abenteuer des Arthur Gordon Pym“.
— 432 —
—s
schlafen. „Alle meine Anstrengungen (diese Angst loszuwerden)
waren fruchtlos. Ein nicht abzuschüttelndes Grauen durchbebte
meinen Körper; und schließlich hockte auf meinem Herzen
ein Alp... Ich setzte mich im Bette auf, ich spähte angestrengt
in das undurchdringliche Dunkel des Zimmers und lauschte...
auf gewisse dumpfe, unbestimmbare Laute, die, wenn der
Sturm schwieg, in langen Zwischenräumen von irgendwoher
zu mir drangen.“ Er erhebt sich, kleidet sich schnell an, geht
im Zimmer auf und ab und versucht auf diese Weise, aus
dem fürchterlichen Zustand herauszukommen, in den er geraten
war. In diesem Augenblick tritt Usher mit der Lampe in der
Hand ein, „sein Gesicht war wie immer leichenhaft blaß —
aber schrecklicher war der Ausdruck seiner Augen; wie eine
irrsinnige Heiterkeit flammte es aus ihm — sein ganzes Ge-
baren zeigte eine mühsam gebändigte hysterische Aufregung.
Sein Ausdruck entsetzte mich: doch alles schien erträglicher als
die fürchterliche Einsamkeit...“ Und mit den Worten: „Du
' hast das also nicht gesehen ?‘“ stürzt Usher sich auf eines der
Fenster und öffnet es weit, so daß der Sturm ins Zimmer
dringen kann.
In dem Schrecken und der Schönheit des Sturmes, während
schnelle und tiefe Wolken beinahe in Höhe der Türme vorüber-
' ziehen, erscheint nun das Mutter-Schloß mit seinem ganzen,
" phantastischen 'Tootenleben. Es scheint die herbeieilenden Wolken
‚ aus allen Richtungen des Horizonts heranzulocken... „und die
‚ unteren Flächen der jagenden Wolkenmassen und alle uns um-
gebenden Dinge draußen im Freien glühten in unnatürlichem
Licht eines schwachleuchtenden und deutlich sichtbaren gas-
artigen Dunstes, der das Haus umgab und wie in ein Leichen-
tuch einhüllte ‘.“ Wir haben hier sogar den Einfall vom Leichen-
tuch. Das Schloß der Usher ist ebenso wie früher einmal die
Mutter Poes in ein Leichentuch eingehüllt und von jenem „gas-
artigen Dunst“ umgeben, der bei einem Leichnam nicht auf
‚sich warten läßt.
ne > 0 Be ne ee a en ne
1) ...the unnatural light of a faintly luminous and distinctly visible gaseous ex-
halation which hung about and enshrouded the mansion.
PsA, Bewegung IV — 433 — 29
"
Der Freund schließt das Fenster und ruft Usher zu, er müsse
das nicht schen. Es seien „elektrische Ausstrahlungen ..., vielleicht
auch verdanken sie ihr gespenstisches Dasein der schwülen
Ausdünstung des Teiches“, sagt er, und er zittert vor Schrecken
selbst. Er nimmt ein Buch in die Hand, den Mad Trist des
Launcelot Canning und beginnt Usher laut vorzulesen, um ihn
von seiner Angst abzulenken. „Ich war,‘ sagt der Freund, „bei
der allbekannten Stelle angelangt, wo Ethelred, der Held des '
Buches, nachdem er vergeblich friedlichen Einlaß in die Hütte
des Klausners zu bekommen versucht hatte, sich anschickt, den
Eintritt durch Gewalt zu erzwingen, Hier lautet der Text,
wie man sich erinnern wird, so: „Und Ethelred, der von Natur |
ein mannhaftes Herz hatte und der nun, nachdem er den kräftigen
Wein getrunken, sich unermeßlich stark fühlte, begnügte sich nicht
länger, mit dem Klausner Zwiesprache zu halten, der wirklich voll
Trotz und Bosheit war, sondern da er auf seinen Schultern schon
den Regen fühlte, und den herannahenden Sturm fürchtete, schwang
er seinen Streitkolben hoch hinaus und schaffte in den Planken
der Tür schnell Raum für seine behandschuhte Hand; und nun
faßte er derb zu und zerkrachte und zerbrach — und riß alles
zusammen, daß der Lärm des dürren, dumpf krachenden Holzes
durch den ganzen Wald schallte und widerhallte.“
Der Freund: hält mit dem Lesen inne, denn es scheint ihm,
„als kämen aus einem ganz entlegenen Teile des Hauses Ge-
räusche her, die ein vollkommenes sehr fernes Echo hätten
sein können von jenem Krachen und Bersten, das Sir Launcelot
beschrieben hatte... .“ Dann setzt erseine Vorlesung wieder fort:
„Aber als der werte Held Eithelred jetzt in die Türe trat, geriet
er bald in Wut und Bestürzung, keine Spur des boshaften Klausners
zu bemerken, sondern statt seiner einen ungeheuren .. schuppen-
rasselnden Drachen mit feueriger Zunge, der als Hüter vor einem
goldenen Palast mit silbernem Fußboden ruhte. Und an der Mauer
hing ein Schild aus schimmerndem Stahl, in den die Inschrift
eingegraben war:
‚Wer hier herein will dringen, den Drachen muß bezwingen,
Ein Held wird er sein, den Schild sich erringen!
— 434 —
M
Und Ethelred schwang seinen Streitkolben und schmetterte ihn
auf den Schädel des Drachens, der zusammenbrach und seinen
üblen Odem aufgab und dieses mit einem so gräßlichen und
schrillen und durchdringenden Schrei, daß Ethelred sich gern die
Ohren zugehallen hätte vor dem schrecklichen Laut, desgleichen
hievor niemalen erhört gewesen war.“
Der Vorleser macht hier eine neue Pause, denn es ist nicht
daran zu zweifeln, daß man in diesem Augenblick „einen
dumpfen und offenbar entfernten, aber schrill, langgezogenen
kreischenden Laut vernommen hatte — das vollkommene Gegen-
stück zu dem unnatürlichen Aufschrei des Drachens...“ Der
Freund hütet sich, „etwa durch eine Bemerkung die Nervosität
seines Gefährten zu steigern“. Inzwischen hat Usher „seinen
Stuhl nach und nach so herumgedreht, daß er nun mit dem
Gesicht zur Tür schaute:... der Kopf war ihm auf die Brust
gesunken, seine Lippen zitterten, er zeigte mir seine weit und
starr geöffneten Augen.“ Der Freund setzt aber fort:
„Und nun, da der Held der schrecklichen Wut des Drachens
entronnen war und sich des stählernen Schildes erinnerte, dessen
Zauber nun gebrochen, räumte er den Kadaver beiseite und
schritt über das silberne Pflaster kühn hin zu dem Schild an der
Wand. Der aber wartete nicht, bis er herangekommen war, son-
dern stürzte zu seinen Füßen auf den Silberboden nieder, mit
gewaltig schmetterndem, furchtbar dröhnendem Getöse.“
Kaum sind die letzten Silben ausgesprochen, da vernimmt
man — „als sei in der Tat ein eherner Schild schwer auf einen
silbernen Boden gestürzt“ — „deutlich, aber gedämpft, einen
metallisch dröhnenden Widerhall“. Der Freund stürzt sich auf
Usher, der wie ein Wahnsinniger leise auf seinem Stuhl schaukelt,
und den Blick „stier geradeaus gerichtet“ hat. Und wie der
die Hand seines Freundes auf seiner Schulter fühlt, „zuckt ein
krankes Lächeln um seinen Mund, und ich sah, daß er leise,
sehr leise vor sich hin sprach“.
„Du hörst nicht?“ sagte er. „Ich höre es wohl und habe es
lange gehört, seit vielen Minuten, vielen Stunden, vielen Tagen
habe ich es gehört — aber ich wagte nicht — oh, bedaure
— e-
mich, den elenden Schurken, der ich bin! — ich wagte nicht —
ich wagte nicht zu reden. Wir haben sie lebendig ins Grab gelegt !',
Und Usher identifiziert nun das Einrammen der Tür des
Eremiten mit dem Zerbersten des Holzes vom Sarg der Madeline
und den Todesschrei des Drachen mit dem! Knarren der
eisernen Angeln ihres Gefängnissess und das Dröhnen des
Schildes mit ihrem furchtbaren Kampf in dem Gefängnisgang
aus Kupfer. „Oh! Wohin soll ich fliehen?“ ruft Usher aus.
„Wird sie nicht gleich hier sein? Kommt sie nicht, um mir
meine Eile vorzuwerfen? Höre ich nicht schon ihren Schritt
auf der Treppe? Kann ich nicht schon das schwere und schreck-
liche Schlagen ihres Herzens vernehmen? Wahnsinniger...!
Wahnsinniger! Ich sage dir, daß sie jetzt draußen vor der
Türe steht !“
Nun öffnet sich vom Wind aufgerissen die schwere Türe
und in ihr erscheint „die hohe, ins Leichentuch gehüllte
Gestalt der Lady Madeline Usher. Es war Blut auf ihrer
weißen Gewandung“ (man denkt an das Blut, das bei der
vermutlichen Hämopto& Elizabeths geflossen) „und die Spuren
eines erbitterten Kampfes waren überall an ihrem abgezehrten
Körper zu erkennen. Einen Augenblick blieb sie zitternd und
taumelnd auf der Schwelle stehen — dann fiel sie mit einem
leisen schmerzlichen Aufschrei ins Zimmer auf den Körper des
Bruders — und in ihrem heftigen und nun endgültigen T'odes-
kampf riß sie ihn tot zu Boden — ein Opfer der Schrecken,
die er vorausempfunden hatte.“
Mittlerweile flieht der von Schreck erfaßte Freund aus diesem
Zimmer und Schloß. Draußen auf der Landstraße, im Sturm,
dreht er sich um, und er sieht, durch den Riß, der dürch das
Haus Usher von oben bis unten hindurchfährt, wie der Voll-
mond rot von Blut untergeht. Ein neuer Sturmstoß. kommt
herbei und die mächtigen Mauern brechen plötzlich auseinander.
„Es folgte ein langes, tosendes Krachen wie das Getöse von
tausend Wasserfällen, — und der tiefe und schwarze Teich
zu meinen Füßen schloß sich finster und schweigend über den
Trümmern des Hauses Usher.“
— 436 —
So reproduziert das Schloß, das ebenso eine Doublette der
Lady Madeline ist, wie ein Symbol für die Mutter Poe-Ushers,
ihr Schicksal, wenn es in plötzlicher Auflösung zusammenstürzt.
Der Freund und Erzähler, ein Doppelgänger Ushers, entrinnt
dem T’od oder besser der Toten, die sich Ushers bemächtigt ;
es mußte wohl jemand übrig bleiben, um die Geschichte zu
erzählen.
Aber der tiefere Sinn dieser düsteren Geschichte ist in dem
Schicksal Ushers verborgen. Poe wird dafür bestraft, daß er
seiner Mutter untreu geworden ist, indem er Madeline-
Virginia liebte. Usher-Poe wird dafür bestraft, daß er es nicht
gewagt hat, die Mutter seiner Kindheit wieder zu suchen und
wieder zu erobern, als Männer sie, wie die „Annabel Lee“,
forttrugen, und dafür, daß er damals durch sein infantiles
Nichtverstehenkönnen des Todes geschwiegen und verzichtet
hatte. Usher-Poe wird für seinen Sadismus bestraft, der durch
das Verhalten Rodericks seiner Schwester gegenüber bezeugt
ist. Und schließlich wird er dafür bestraft, daß er infantile
Inzestwünsche, die sich auf seine Mutter bezogen, gehegt hatte:
alle Zitate, die dem Mad Trist entlehnt sind, beweisen das.
Das Legendenthema vom Drachen, den man tötet, um sich
mit Hilfe eines Schatzes oder auch ohne einen solchen, einer
Frau zu bemächtigen, ist so alt wie die Welt selbst. Das ist
das Oedipusthema par excellence, der Drache, Symbol für den
Vater, wird getötet, die Mutter dadurch frei und die Beute
des siegenden Sohnes. Es ist das Thema der Legende vom
Perseus und der Andromeda, von Siegfried und Brünhilde.
Wohl bleibt die Frau im Hause Usher wegen der großen
sexuellen Verdrängung Poes verborgen, aber wenn Ethelred
in die Behausung des Eremiten — der ebenfalls eine Vater-
imago ist — eindringt (eine Handlung, die auch ein Symbol
der sexuellen Aggression gegen die Mutter” sein kann), wenn
er den Drachen mit der Feuerzunge tötet, wenn er sich des
Zauberschildes bemächtigt, so geschieht das bloß zu dem Zweck,
Be . . 00 100001000 mL Sn una mar usmirasnane
1) In einem Gedicht Poes.
2) Siehe Freud, Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben.
— 437 —
um später eine ihm verbotene Frau zu erobern, wofür man
aber bestraft wird.
So vollführt Lady Madeline, wenn sie als Bevollmächtigte
des Unheilschlosses aus dem Grab aufsteht, um den Bruder
zu suchen, ihre Tat als Rächerin. Aber zu gleicher Zeit ist
die Phantasie von der Rückkehr der Mutter, die kommt, um
ihn mit sich in den Tod zu ziehen (eine Phantasie, die das
ganze unbewußte Leben Poes bis zu dem Tag in Baltimore
bedrängte, an dem sie Wirklichkeit werden sollte), nicht bloß
eine Strafphantasie, sondern auch eine Wunschphantasie.
Übrigens sind alle neurotischen Symptome und Phantasien so
beschaffen: sie bestehen aus zwei einander entgegengesetzten
Komponenten. Denn wenn Madeline, die den entsetzten Bruder
in den Tod hinabzieht, ihn in diesem Leben bestraft, so
beglückt sie ihn zu gleicher Zeit mit jenem anderen „Leben
im Tode“, das von nun an das seine sein wird und in dem
er wie der Liebhaber der Annabel Lee singen kann, indem
er dessen Worte paraphrasiert: „So ruhe ich jede Stunde der
Nacht neben meiner Geliebten, — meiner Geliebten, — meinem
Leben und meinem Gemahl, in diesem Grabe . . .“, in diesem
Teich, in dem Grabe am Boden des schweigsamen Teiches, in
dem auf ewige Zeiten das Haus Usher schlummert, der Bruder
mit der Schwester, die Mutter mit dem Sohn.
NND
PSYCHOANALYTISCHES ZUR
PERSÖNLICHKEIT GOETHES
VON EDUARD HITSCHMANN
Geheftet RM 1.-
Der kleinen Broschüre liegt ein Vortrag des Autors im Wiener Goethe-Verein
zugrunde. Die Darstellung beabsichtigt, den Vater Goethes in seiner Bedeutung
zu würdigen, die Rätsel von Goethes Liebesleben zu erklären und einiges
über des Dichters Selbstbildnertum auszuführen.
INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG, WIEN |.
LITAUEN
— 438 —
Psychoanalyse und
sozialskulturelle Erneuerung
Zugleich eine Auseinandersetzung mit dem historischen
Materialismus
Von
H. Giltay,
Haag.
Ich bin gewiß, daß in nicht allzu ferner Zeit die Völkerbiologie nach
ihrer seelischen Seite hin als mindestens ebenso wichtig, ja weit wich-
tiger erkannt wird, als die heute fast nur nach materiellen Tatsachen
eingerichtete Hygiene und Soziologie.
Oskar Pfister
Der Gedanke einer analytischen Sozialtherapie ist, soviel mir be-
kannt, zuerst von Pfister ausgesprochen. Nachdem er, im Jahre 1914,
in seinem Aufsatz „Zur Psychologie des Krieges und des Friedens“?
die Notwendigkeit betont hatte, den Völkern die unterschwelligen,
affektiven Mächte, die beim Kriege beteiligt sind, zum Bewußtsein zu
bringen, redete er in seiner Schrift „Der seelische Aufbau des klassi-
schen Kapitalismus und des Geldgeistes“ ® einer, auf den von Freud
gelegten Fundamenten aufzubauenden, Sozialhygiene das Wort.
Dieser Gedanke fand dann in späteren Büchern und Aufsätzen
Pfisters* weitere Ausarbeitung und Vertiefung.
In seinem „Unbehagen in der Kultur“ hat sich Freud in ganz
übereinstimmendem Sinne ausgesprochen. Die weitgehende Ähnlich-
lichkeit der Kulturentwicklung mit der des Einzelnen, schreibt Freud,
scheint zur Diagnose zu berechtigen, daß manche Kulturen oder Kultur-
epochen, ja möglicherweise die ganze Menschheit, unter dem Einfluß
der Kulturstrebungen neurotisch geworden sind. Obwohl die analyti-
sche Zergliederung dieser Gemeinschattsneurosen auf besondere Schwierig-
ı) Analytische Seelsorge, Göttingen 1927, $. 135.
2) Zuerst erschienen in „Wissen und Leben“, Heft 4/5 vom Dezember 1914; später
aufgenommen in „Zum Kampf um die Psychoanalyse“, Wien 1920, S. ı7ı f.
3) Bern 1923.
4) Z. B. in „Die menschlichen Einigungsbestrebungen im Lichte der Psycho-
analyse“, Imago, Bd. XII (1926), S. ı26 ff, „Analytische Seelsorge“, Göttingen 1927.
BER. ER
keiten stoßen wird, erwartet Freud doch, daß das Wagnis einer
Psychopathologie der kulturellen Gemeinschaften eines Tages unter.
nommen werden wird, und meint, daß die sich daran anschließenden
therapeutischen Vorschläge auf großes praktisches Interesse. Anspruch
hätten.
Daß diese Gedanken schon Widerhall fanden, ist unleugbar. Ich
denke z. B. an Vergins Buch „Das unbewußte Europa*” und an
Schottländers schönen Aufsatz über „Aggressionstrieb und Ab-
rüstung“.® Aber der Widerhall ist schwächer als man erwartet hätte,
Ja selbst aus psychoanalytischen Kreisen ertönen Stimmen, welche der
Psychoanalyse jede sozialtherapeutische Bedeutung absprechen. Ich be.
ziehe mich hier vor allem auf den Aufsatz Erich Fromms: „Politik
und Psychoanalyse“.*
Im vorliegenden Aufsatz soll nun untersucht werden:
1. welche die tieferen, allgemeinen Gründe der Meinungsverschieden-
heit sind, und
2. welche von beiden, einander widersprechenden, Anschauungen
die richtige zu sein scheint. Es wird sich dabei ergeben, daß eine
solche Untersuchung eine prinzipielle Auseinandersetzung mit den
Grundgedanken des historischen Materialismus unumgänglich macht,
Fragen wir also zuerst: wo liegt der tiefere Grund der Meinungs-
verschiedenheit zwischen Freud und Pfister einer-, Fromm andrer-
seits? Er scheint mir darin zu liegen, daß die erstgenannten die sozial-
und kulturell-psychologischen Probleme ohne jegliche dogmatische
Voreingenommenheit, ohne jegliche Parteibrille, beobachten, während
Fromm, als marxistischer Sozialist, mit einer fertigen, allgemein-
soziologischen Überzeugung, der historisch-materialistischen,
an die Probleme herantritt. Für Fromm steht von vornherein fest,
daß Marx in seiner historisch-materialistischen Auffassung recht hat.
Wo Fromm aber auch Freudianer ist, steht er vor der Aufgabe,
nachzuweisen, daß sich beide Lehren ganz gut miteinander vertragen.
Inwieweit ihm dieser Nachweis gelungen ist, werden wir weiterhin
untersuchen. Jetzt aber sei schon betont, daß man, als rechtgläubiger
Marxist, den Gedanken einer analytischen Sozialtherapie schlechthin
ı) Das Unbehagen in der Kultur, 1930, $. 139, 134,
2) Hess & Co., Leipzig 1931.
3) Diese Ztschr., II. Jahrgang (1991), Heft 5, S. 386 ff.
4) Diese Ztschr., II. Jahrgang (1931), Heft 5, S. 440 ff.
— 440 —
verwerfen muß. Und zwar aus diesem Grunde, daß es für Marx
keine Abnormalität, keine Krankheit im sozialen Geschehen gibt. Die
ganze gesellschaftliche Entwicklung, auch die geistige, wird, nach
Marx, von dem materiellen, ökonomischen „Unterbau“ beherrscht
und bestimmt. Und deshalb können auch die sozial-geistigen Schäden
nicht auf psychotherapeutischem Wege „geheilt“, sondern nur durch
Veränderung des materiellen „Unterbaues“ zum Verschwinden ge-
bracht werden. Moles agitat mentem. Es ist darum keineswegs be-
fremdlich, daß sich gegen den Gedanken einer analytischen Sozial-
therapie ein „marxistischer Widerstand“ erhebt.
In welchem Verhältnis stehen nun historischer Materialismus und
analytische. Sozialpsychologie? Stehen sie als abgeschlossene Doktrinen,
auf demselben Plan, einander gegenüber? Nein. Erstens steht die
analytische Sozialpsychologie noch in ihren Anfängen, während der
historische Materialismus als komplette Theorie vorliegt. Aber es be-
steht zwischen ihnen ein zweiter Unterschied von prinzipiellerer Be-
deutung: die analytische Sozialpsychologie ist eine rein- psycho-
logische Lehre, der historische Materialismus dagegen eine all-
gemein-soziologische. Der historische Materialismus gibt eine
. Erklärung des sozialen Prozesses in seiner Gesamtheit, er will vor
allem den Zusammenhang zwischen den sozialökonomischen und den
sozialpsychischen Phänomenen aufzeigen. Marx’ Lehre ist keine rein-
\ psychologische, sondern eine physio-psychologische Sozial-
lehre.
Bedeutet dies, daß historischer Materialismus und analytische Sozial-
psychologie keinerlei Berührungspunkte haben? Nein. Der historische
Materialismus ist zwar keine rein psychologische Lehre, aber er ent-
hält ein Stück Sozialpsychologie, wo er lehrt, daß es das gesell-
schaftliche, materielle Sein der Menschen sei, das ihr
Bewußtsein bestimmt.!
Ich gebe Fromm zu, daß Marx das Problem, wie das Bewußtsein
vom materiellen Unterbau bestimmt wird, „vernachlässigte“. Aber ich
kann darin keinen Grund sehen für die Behauptung: der historische
Materialismus sei „durchaus keine psychologische Theorie“. Die
Marxsche These tut eine Aussage über die bestimmenden Ursachen
der sozialen Bewußtseinsformen, und eine solche Aussage ist eine
psychologische.
ee nie we ee Ira er re
| ı) Marx, Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie, Stuttgart 1920, (S. LV)
— 441 —
Der historische Materialismus lehrt also, daß das soziale Bewußtsein
von materiellen, außerpsychologischen Faktoren bestimmt wird. Läßt
sich diese Lehre mit den Ansichten der Psychoanalyse vereinbaren?
Um eventuellen Mißverständnissen vorzubeugen, scheint es, bevor
wir uns an die Beantwortung dieser Frage heranwagen, erwünscht,
anzugeben, was hier unter „sozialem Bewußtsein“ zu verstehen ist. Es
ist mit diesem Terminus kein mystisches, die individuellen Psychen
umfassendes, „übergreifendes“ Bewußtsein im Sinne Fechners ge-
meint, sondern die allen Mitgliedern einer bestimmten Gruppe ge-
meinsame psychische Einstellung, oder, wie Fromm es ausdrückt:
„die gemeinsame, gesellschaftlich relevante, seelische Haltung.‘ Eine
Haltung also, die nach außen wohl den Eindruck eines einheitlichen
Seelenvorganges hervorrufen kann, in Wirklichkeit jedoch das Er-
gebnis der vielen, miteinander übereinstimmenden, seelischen Einzel-
vorgänge darstellt.
Nachdem wir dies festgestellt haben, wenden wir uns also der
Frage zu: ist die Lehre von der materiellen Determinie-
rung des sozialen Bewußtseins mit der Psychoanalyse
vereinbarlich?
Zunächst sei bemerkt, daß die Psychoanalyse, wenn sie bestimmte
Bewußtseinsvorgänge eines Einzelindividuums verständlich machen will,
diese zurückzuführen versucht auf andere, ihnen vorangehende, psy-
chische Prozesse. Daß sie dabei fortwährend auch die äußeren, objek-
tiven „Umstände“, die materielle Umwelt also, mit in Betracht ziehen
muß, ist ja selbstverständlich. Besteht doch die psychische Entwicklung
eines Menschen in erster Linie in einer ständigen Anpassung an seine
Umwelt. Allein es wäre verfehlt, die äußeren Umstände als die be-
wirkenden Ursachen des psychischen Prozesses zu betrachten; sie
sind nicht dessen Ursachen, sondern nur die äußeren Reize, welche
im Individuum bestimmte seelische Reaktionen auslösen. Wie diese
Reaktionen ausfallen, wird nicht von diesen Reizen, sondern von der
körperlich-seelischen Konstitution und der ganzen seelischen Vergangen-
heit des betreffenden Individuums bestimmt. Man nehme ein einfaches
Beispiel. ;
Ein Kind geht zum ersten Mal zur Schule. Eine zeitlang verhält es
sich ruhig, dann aber fängt es an heftig zu weinen, und muß schließ-
lich nach Hause gebracht werden, weil es sich nicht beruhigen läßt.
I LLLÜÜÜIIÜIIII
ı) Fromm, l. c. S. 441.
— 442 —
Es sind zweifellos die neuen „Umstände“, die das Kind zu dieser Re-
aktion veranlassen. Aber wäre es richtig, zu sagen, es sei die Schul-
umgebung, welche diese Reaktion „bestimmt“ habe? Nein. Die Reak-
ton des Kindes wurde, außer vielleicht durch eine erbliche Disponiert-
heit, durch rein psychologische, innere Faktoren bestimmt, durch seine
überstarke Mutterbindung, durch seine Ungewohnheit, inmitten Frem-
der zu sein usw.
Nicht anders verhält es sich auf sozialem Gebiete, wo es sich
nicht um die psychische Haltung eines Einzelindividuums, sondern um
die gemeinsame, sozial relevante Haltung vieler Einzelnen handelt.
Wie eine soziale Gruppe — eine Klasse z. B. — auf eine bestimmte
äußere Lage reagiert, wie sie sich auf diese Lage psychisch einstellt,
wird nicht von dieser Lage, sondern von der Gesamtheit ihrer voran-
gehenden psychischen Haltungen bestimmt. Es sind nicht die Um-
stände, welche die seelischen Reaktionen der Menschen
bestimmen, sondern es ist ihre psychologische Ver-
gangenheit, die bestimmt, wie sie auf die Umstände
reagieren.
Damit ist die Sache aber noch nicht erledigt. Ich könnte mir vor-
stellen, daß unser marxistischer Gegner einwende: Gut, es sei zugege-
ben, daß die Art und Weise, auf der eine Gruppe auf die Um-
stände reagiert, von ihrer psychologischen Vergangenheit bestimmt wird.
Aber dadurch wird die Richtigkeit der Marxschen These nicht im
geringsten angetastet. Marx hat nie behauptet, daß die Art und Weise
der seelischen Reaktionen von ökonomischen Faktoren determiniert
würde. Er sagte lediglich, daß der Inhalt des sozialen Bewußtseins
von der realen, sozial-ökonomischen Lage determiniert sei. „Die Ge-
samtheit der Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur
der Gesellschaft, die reale Basis... ., welcher bestimmte gesellschaftliche
Bewußtseinsformen entsprechen.“!
Sehen wir uns diesen Einwand näher an. Zuerst: was ist damit
gemeint, daß die gesellschaftlichen Bewußtseinsformen der jeweiligen
realen, ökonomischen Basis „entsprechen“? Offenbar dies. Es werden
die Menschen in eine bestimmte, sozialökonomische Lage hineingebo-
ten. Sie wachsen in „bestimmten, notwendigen, von ihrem Willen
unabhängigen“ ökonomischen Verhältnissen auf. (Marx.) Ein einzelnes
Individuum mag sich dieser Lage zu entziehen wissen, sich zu einer
1) Vorwort zur Kritik der politischen Okonomie, Stuttgart 1920, ($. LV)
— 443 —
höheren sozialen Schicht emporarbeiten, die Gruppe (Klasse) als
solche vermag dies nicht, wenigstens nicht, solange die ökonomische
Gesellschaftsstruktur unverändert bleibt. Nun sind Menschen aber
denkende, bewußte Wesen. Sie sind nicht nur in einer bestimmten
objektiven Lage, sie werden sich dieser Lage auch subjektiv be.
wußt. Und nicht nur ihrer eigenen Lage, sondern auch des Verhält.
nisses ihrer Lage zu derjenigen anderer Gruppen, und zu der Gesell.
schaft als Ganzem. Dieses Bewußtsein ist, was Marx mit den, der
realen, ökonomischen Basis „entsprechenden“, Bewußtseinsformen ge.
meint hat.
Ich gebe unmittelbar zu, daß diese Marxsche Anschauung ein
großes Stück Wahrheit enthält. Aber doch nicht die ganze Wahrheit,
Um es gleich mit einem Worte zu sagen: die gesellschaftlichen Be.
wußtseinsinhalte „entsprechen“ der realen Basis wohl teilweise, aber
sie entsprechen ihr nicht ganz. Und damit wird die allgemeine Be-
hauptung, daß die reale Basis, die sozial-ökononomischen Umstände,
das soziale Bewußtsein bestimmen, hinfällig. Nun ist es merkwürdig,
daß Marx selbst die Argumente beigebracht hat, welche die allge-
meine Richtigkeit seiner These widerlegen. Erstens hat er anerkannt,
daß das soziale Bewußtsein, der „ideologische Überbau“, oft bei der
Entwicklung des materiellen „Unterbaues“ zurückbleibt, d. h. diesem
nicht mehr „entspricht“. Es ist klar, daß schon diese Tatsache genügt,
um zu beweisen, daß der geistige Überbau nicht von der realen Basis
„determiniert“ wird. Vielleicht wird man entgegnen: es findet in die-
sen Fällen eine Art „Überdeterminierung“ statt. In dem Sinne, daß das
soziale Bewußtsein nicht nur von seinem realen Unterbau, sondern
auch von seiner psychologischen Vergangenheit bestimmt sein könnte,
Aber damit wäre der spezifisch historisch-materialistische Gedanke
preisgegeben. Das gesellschaftliche Bewußtsein wird von dem materiellen
Sein determiniert oder es wird davon nicht determiniert. Die Aner-
kennung von Ausnahmen ist hier ebensowenig gestattet, wie es einem
„materialistischen“ Gehirnpsychologen, der die psychischen Prozesse
nur aus stofflichen, gehirnphysiologischen Prozessen erklärlich erachtet,
gestattet sein würde anzunehmen, daß es, ausnahmsweise, - auch selb-
ständige, vom Gehirn unabhängig gewordene, psychische Prozesse gäbe.
Der Kausalzusammenhang existiert, oder er existiert nicht. Und wenn
er existiert, muß er auch in allen Fällen existieren.
Diese Tatsache des zeitlichen Zurückbleibens des sozialen Be-
wußtseins bei der objektiven Realität ist aber noch nicht die-wichtigste.
— 444 —
Von weit größerer Bedeutung ist das, wiederum schon von Marx
konstatierte, Faktum, daß das gesellschaftliche Bewußtsein kein ehr-
liches, zuverlässiges, sondern ein trügerisches, oder, wie wir
jetzt sagen würden: entstelltes Bewußtsein ist! Es ist eine der
geistigen Großtaten Marx’ gewesen, daß er als Erster erkannte, die
geistigen, ideellen Interessen, wofür die Menschen zu kämpfen glau-
ben, die Ideen der Freiheit, Sittlichkeit usw., seien zum großen Teil
Verkleidungen, schöne Deckmäntel, unter denen sich die wirklichen
Beweggründe, die materiellen Interessen — vor allem die Klassen-
' interessen — verbergen. Man kann nur staunen über die gewaltige,
intuitive Schärfe des Marxschen Blickes, wenn man sieht, wie er, ein
halbes Jahrhundert vor der Geburt der Psychoanalyse, den wahren
Sachverhalt schon geahnt hat. Marx war sich dessen bewußt, daß
die Menschen nicht sind, was sie zu sein glauben, er hat
intuitiv erkannt, daß sich unter dem manifesten Inhalt ihres Be-
wußtseins ein latenter verbirgt, der die eigentlich wirksamen Motive
enthält. Man geht wirklich nicht zu weit, wenn man auch Marx als
Vorläufer der Psychoanalyse hinstellt. Aber die Existenz eines unbe-
wußten Seelenlebens intuitiv erfassen, und dieses wissenschaftlich-
methodisch bearbeiten und ergründen, ist zweierlei: Dies letzte hat
Marx nicht getan, konnte er auch im Rahmen des Wissens seiner
Zeit nicht tun. Es liegt darin eben der Grund, warum Marx das
Problem der Art und Weise, wie die gesellschaftlichen Ideologien
entstehen, „vernachlässigte“. Er mußte dieses Problem beiseite lassen,
weil ihm die zu seiner Lösung unentbehrliche tiefenpsychologische Ein-
sicht fehlte. Es findet sich im berühmten „Vorwort zur Kritik der
politischen Okonomie“ eine in dieser Beziehung hochinteressante Stelle.
Es ist die Stelle, wo Marx handelt von dem Unterschied zwischen
den realen, objektiven, sozialökonomischen Konflikten und den juristi-
schen, politischen, religiösen, kurz ideologischen Formen, worin sich
die Menschen dieser Konflikte bewußt werden. „So wenig man das“,
lesen wir dort, „was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es
sich selbst dünkt, ebensowenig kann man eine (solche Umwälzungs-)
Epoche aus ihrem Bewußtsein beurteilen, sondern muß vielmehr dies
Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens... er-
klären“.
In diesem einzigen Satze liegt sowohl die Stärke wie die Schwäche
|
|
1) S. LV, LVI.
— 445 —
des historischen Materialismus enthalten. Die Stärke liegt in der Be.
tonung der Unzuverlässigkeit, des trügerischen Charakters des gesell-
schaftlichen Bewußtseins, und in der Hervorhebung der großartigen
Bedeutung der materiellen Realkonflikte für das Zustandekommen der
Ideologien. Die Schwäche aber liegt darin, daß Marx ein rein
psychologisches Problem, das Problem des Widerspruchs zwischen
dem manifesten sozialen Bewußtseinsinhalt und den tieferliegenden,
eigentlichen Motiven, auf außerpsychologischem Wege zu lösen ver-
suchte. Weil er die Wirksamkeit unbewußter Seelenmächte
zwar ahnte, aber nicht klar durchschaute, mußte er wohl seine Zu-
flucht nehmen zu seiner materialistischen, ökonomistischen Erklärung,
Ich möchte darum vorschlagen, die Marxsche These von der
Determinierung des sozialen Bewußtseins derart zu ergänzen: Es ist
nicht nur das äußere gesellschaftliche Sein, das den
Bewußtseinsinhalt der Menschen bestimmt, sondern
dieser Inhalt wird auch bestimmt von dem mensch.
lichen Unbewußten, d. h. von den, durch die Kultur
unterdrückten und verdrängten, primitiven Trieben
und Wünschen.
Diese Formulierung scheint in vollkommener Übereinstimmung mit
den Ansichten der Psychoanalyse. Das soziale Bewußtsein entspricht
dem Ich des Einzelindividuums. Es ist, wie dieses, ein Vermittlungs-
apparat zwischen dem Es der Gruppenmitglieder und ihrer. sozialen
Umwelt. Seine Hauptfunktion besteht darin, die großen, aus dem Es
aufsteigenden, organischen Bedürfnisse, in erster Linie das Bedürfnis
nach Nahrungsaufnahme, zur Befriedigung zu verhelfen. Es hat also
auch das soziale Ich ein „Doppelangesicht“: einerseits ist es der
psychischen Innenwelt (dem Es) zugekehrt, andrerseits ist es auf die
materielle Außenwelt eingestellt. Diese Außenwelt aber ist zuerst eine
sozialökonomische, d. h. eine Welt, in der die verschiedenen sozialen
Gruppen auf einer bestimmten, von der jeweiligen juristischen Ord-
nung normierten, Art und Weise, ihren Lebensunterhalt beschaffen
müssen. Primum vivere, deinde philosophari (et amare), dieser römi-
sche Spruch trifft auch hier völlig zu. Es ist deshalb eine vitale Not-
wendigkeit, daß das Gruppen-Ich sich, soviel es nur kann, dem öko-
nomischen Realitätsprinzip unterwirft, sich der sozialökonomi-
schen Realität möglichst anpaßt. Bis hierhin können wir die Marx-
sche Betonung der Bedeutung der realen, ökonomischen Umstände
und Konflikte nur vollauf bestätigen.
— 446 —
Es ist dies jedoch nur die eine Seite der Sache. Die andere ist die
innerpsychische. Das Ich — auch das soziale — ist ein, durch
Einfluß der Außenwelt, modifizierter Teil des Es. Außer Repräsentant
des ökonomischen Realitätsprinzips, ist es somit auch Anwalt des Es,
und hat darum auch mit dem Lustprinzip zu rechnen. Die Gruppe
muß, um sich am Leben zu erhalten, rational-ökonomisch handeln.
Aber die Leidenschaften des Es sind nicht immer gewillt, sich der
ökonomischen Weisheit des Ichs zu beugen! Zwar hat die Kultur-
entwicklung im Über-Ich einen mächtigen Vorpösten der gesell-
schaftlichen Realität gegen die Zügellosigkeiten des Es ins Ich statio-
niert, wir wissen aber aus individuellen Fällen nur allzu gut, wie oft
das Es diesen Vorposten zu überrennen, oder, auf neurotischem
Schleichwege, zu umgehen versteht. Und genau so verhält es sich auf
sozialem Gebiete.
Das soziale Bewußtsein ist ja fortwährend bestrebt, der objektiven
Realität gerecht zu werden. Aber es gelingt ihm dies ebensowenig in
aller Vollkommenheit, wie dies dem individuellen Ich gelingt. Daher
stellt auch das soziale Bewußtsein einen durchgängigen Kompromiß
zwischen dem ökonomischen Realitätsprinzip und dem primitiven Lust-
prinzip dar. Die Beschaffung der ökonomischen Güter ist zwar das
erste Nötige, aber das Es enthält auch andere Wünsche, von sexueller
und aggressiver Natur. Und diese, zum großen Teil nicht realitäts-
gerechten Wünsche sind es, welche die ökonomischen Bemühungen
des Ichs kreuzen und stören, ja sie oft gänzlich vereiteln. Dann ist
es gar nicht mehr das gesellschaftliche Sein der Men-
schen, das ihr Bewußtsein bestimmt, sondern es ist ihr
Es, das die Herrschaft über ihr Bewußtsein angetreten
hat und sie nach seinem Willen handeln tut.
Dies ereignet sich z. B. im Falle des Krieges. Vom Standpunkte
des ökonomischen Realitätsprinzips betrachtet, ist der moderne Krieg
wohl die unvernünftigste Massentat, die es gibt. Anstatt ökonomische
Güter zu schaffen, ist der Krieg nur auf deren Vernichtung gerichtet.
Und doch lassen die Massen, auch die historisch-materialistisch ge-
schulten, sich in den Wahnsinn des Mordes und der Vernichtung mit-
reißen. Wie ist diese, ebenso traurige wie befremdende Tatsache zu
erklären? Aus dem Wegfall des Realitätsprinzips und daraus allein.
Der Krieg bedeutet, massenpsychologisch gesehen, den Durch-
bruch der, von der Kultur zwar eingegitterten, aber
ungenügend gezähmten Bestien der menschlichen
— 441 —
Triebnatur, die Ablösung des Realitätsprinzips von
dem Lustprinzip.‘
Die Frage, die wir oben stellten: ist die Marxsche Lehre von der
materiellen, sozialökonomischen Determinierung des sozialen Bewußt-
seins, mit der Psychoanalyse vereinbarlich? ist hiermit, wie mir scheint,
prinzipiell beantwortet. Die Antwort lautet: Marx hat recht, wo er
den Umständen, den „materiellen“ Verhältnissen, eine große Bedeu-
tung für die Bildung des sozialen Bewußtseinsinhaltes zuschreibt. So-
weit das Bewußtsein der Menschen dem ökonomischen Realitätsprinzip
gehorcht, wird sein Inhalt tatsächlich in erster Linie von der sozial-
ökonomischen Realität „bestimmt“, oder, psychologisch genauer: von
der Vorstellung dieser Realität. Aber das soziale Bewußtsein ist,
sowenig wie das individuelle, vollkommen realitätsangepaßt. Sein In-
halt wird daher, außer von realitätsgerechten, auch von nicht-
realitätsgerechten, unbewußten seelischen Kräften und Motiven be-
stimmt. Die Grundthese des historischen Materialismus ist daher, wenn
sie richtig, d. h. psychologisch, interpretiert wird, nicht mit der psycho-
analytischen Anschauung in Widerstreit. Allein sie bedarf, um der
Wirklichkeit völlig gerecht zu werden, einer psychologischen Ergän-
zung, welche die Rolle der unbewußten seelischen Prozesse mit in
Rechnung bringt. |
Kehren wir nun zum Problem zurück, das wir im Anfang dieses
Aufsatzes stellten, das Problem der sozialtherapeutischen
Verwendungsmöglichkeiten der Psychoanalyse. Wie wir
sahen, werden diese Möglichkeiten vom Marxismus geleugnet. Nach
dem obigen wird es schon teilweise klar sein, warum. Wenn das
soziale Bewußtsein wirklich ausschließlich von der äußeren, ökonomi-
schen Realität (bez. deren psychische Repräsentanz) bestimmt würde,
wären sozialpsychische Zustände nie direkt-psychologisch, sondern nur
indirekt, mittels ökonomischer Veränderungen im „Unterbau“, zu be-
einflussen. Das ist klar. Aber es ist ebenso klar, daß, wenn. auch
nicht-ökonomische, unbewußte Determinanten im Spiele sind, eine
direkt-psychische Beeinflussung keine Undenkbarkeit ist. Der Marxis-
mus hat aber noch ein zweites Bedenken gegen eine analytische
Sozialtherapie: er anerkennt überhaupt keine soziale Krankheiten.
Es komme also nicht darauf an, die Gesellschaft zu heilen, sondern
die immanenten Kräfte frei zu setzen, welche die Umsetzung de
ı) Vgl. Freud, Krieg und Tod. (A. d. R.)
— 448 —
kapitalistischen in die sozialistische Gesellschaft zustande zu bringen
berufen sind. Der Kapitalismus, mit all seinen Nöten und Übeln, ist,
nach Marx, keine Krankheit, sondern eine historisch notwendige
Übergangsphase zwischen Feudalität und Sozialismus.
Bei diesem Punkte müssen wir länger stillstehen.
Denn es gilt hier eine Frage, deren praktische Bedeutung schwer-
lich überschätzt werden kann, und über welche, auch in nicht-mar-
zistischen Kreisen, noch vielfach die gröbsten Mißverständnisse herrschen.
Fragen wir zuerst: auf welchen Gründen glaubt der Marxismus, die
Existenz, ja die Möglichkeit sozialer Krankheiten leugnen zu müssen?
Wenn ich recht sehe, liegt der Hauptgrund in der Marxschen, wohl
aus seiner Hegel-Zeit stammenden, Verwirrung der Begriffe „not-
wendig“ und „normal“. Alles gesellschaftliche Geschehen ist für
Marx notwendig, von der Gesamtheit aller vorangehenden Ursachen
vollständig determiniert. Der Zufall existiert sowenig im sozialen
Prozeß wie im großen Naturgeschehen. Es ist klar, daß wir Marx
hierin nur beistimmen können. „Der Zufall ist“, wie es Leo Errera
einst glücklich ausdrückte, „ein Gesetz, das inkognito reiset“. Der
Fehler Marx’ beginnt da, wo er „notwendig“ gleich „normal“ setzt.
Daß diese Gleichstellung unberechtigt ist, ist nicht schwierig einzu-
sehen. Das Prädikat „notwendig“ besagt nichts anderes als die Ein-
sicht, daß etwas nicht anders geschehen könnte, als es geschah. Es
schließt die Anerkennung eines Kausalzusammenhanges in sich, und
nichts weiter. Wenn wir dagegen etwas „normal“ nennen, hält dies
eine Wertung ein; wir geben zu erkennen, daß wir an die Existenz
einer bestimmten Norm glauben, die uns bei der Beurteilung der
besonderen Erscheinungsformen als Maßstab zu dienen vermag. Inso-
fern etwas dieser Norm entspricht, heißen wir es normal, im ent-
gegengeseizten Fall abnormal. Mit der Frage der Notwendigkeit hat
dies nicht das geringste zu tun. Alles was ist, ist notwendig. Aber es
kann ebenso gut normal wie abnormal sein. Ein Mensch, der ohne
Arme und Beine geboren wird, ist zweifellos als notwendige Er-
scheinung zu betrachten. Das Fehlen seiner Extremitäten wurde genau
so von bestimmten Ursachen determiniert wie deren Wachstum bei
seinen... ... normalen Gattungsgenossen. Ich glaube nicht, daß
daran noch etwas zugefügt zu werden braucht.
Ja, wird man vielleicht einwenden, das ist alles ganz richtig, inso-
weit es "Tiere, Pflanzen und Menschen betrifft. Aber auf die Gesell-
schaft läßt sich die Unterscheidung „normal — abnormal“, oder —
PsA. Bewegung IV — 449 — go
was auf dasselbe hinauskommt — „gesund — krank“ nicht anwen-
den, weil die Gesellschaft kein Organismus ist.
Über diese Frage sind Bücher vollgeschrieben worden. Aber man
wäre geneigt sich zu fragen, ob die Verfasser ihre Zeit und Energie
nicht besser gebraucht haben könnten. Denn schließlich läuft der
ganze Streit auf einen Wortstreit hinaus. Die Gesellschaft ist ein Gan-
zes von lebendigen Teilen, die zum Zwecke des gemeinsamen Lebens
miteinander verbunden sind und zusammenarbeiten (sei es denn auf
noch sehr unvollkommener Weise!). Warum sollte man dieses Ganze
keinen Organismus nennen dürfen? Ja, wenn man den Begriff „Or.
ganismus“ von vornherein auf Tier- und Pflanzenorganismen be.
schränkt, so ist die Gesellschaft natürlich kein Organismus. Einige
Autoren haben es vorgezogen, die Gesellschaft nicht als Organismus,
sondern als Mechanismus zu betrachten. Es ist zuzugeben, daß sie auch
manches damit gemein hat. Aber die Betrachtung als Organismus
scheint mir darum den Vorzug zu verdienen, weil die Gesellschaft, im
Gegensatz zu einem Mechanismus, nicht von äußeren, mechanischen,
sondern von inneren, lebendigen Kräften getrieben wird. Es scheint
mir denn auch gegen den organischen Gedanken keinerlei Beschwerde
zu bestehen, wenn man sich nur dafür hütet, die z. B. an tierischen
Organismen gewonnenen Einsichten ohne weiteres auf das Gesell-
schaftsleben zu übertragen.‘ Man muß sich des Unterschiedes zwischen
Analogien und tatsächlichen Identitäten immer bewußt bleiben. Die
Tierbiologie läßt sich ebensowenig direkt auf die Gesellschaft über-
tragen, wie diejenige der Pflanzen auf die der Tiere. Die Gesetze der
Sozialbiologie können nur am sozialen Organismus selbst entdeckt
werden. Die Gesellschaft ist ein Organismus sui generis. Sie ist
weder ein Tier noch eine Pflanze. Aber ihr darum das Prädikat „Or-
ganismus* verweigern, erinnert an den Neger, der in seiner Heimat
als Musikinstrumente nur Tam-tam und Flöte gekannt hatte. Als man
ihm zum ersten Male eine Violine zeigte, meinte er, aus einem sol-
chen Ding könne keine Musik hervorgehen, weil man darauf weder
schlagen noch blasen konnte.
Am wenigsten aber dürfte von Marxisten gegen die organische Auf-
ı) Daß die „organischen“ Theorien oft als wissenschaftlicher Deckmantel schroff re-
aktionärer Tendenzen verwendet sind, z. B. um die Herrschaft des sozialen „Kopfes“
über die „Hände“ biologisch zu rechtfertigen, ist wahr. Aber über die Richtigkeit
der betrefienden Theorien an sich ist damit noch nichts ausgesagt. Vgl. hierzu: Bu-
charin, Theorie des historischen Materialismus, 1922, S. 91, 92.
— 450 —
fassung der Gesellschaft Einspruch erhoben werden. Hat doch ihr
Meister selbst, in unzweideutigster Weise, die Sozietät als organische
Einheit, ihre Entwicklung als eine „der Entwicklungsgeschichte auf
anderen Gebieten der Biologie analoge Erscheinung“ betrachtet.‘
Aber dann ist auch kein Grund, warum die Begriffe normal-abnor-
mal, gesund-krank, nicht auch auf den sozialen Organismus angewandt
werden dürften. Zwar stoßen wir hier auf eine Schwierigkeit, auf die
auch von Freud, mit Hinsicht auf die Gemeinschaftsneurosen, hinge-
wiesen wurde: Die Schwierigkeit des Auffindens eines objektiven
Maßstabes, an Hand dessen wir über den gesunden resp. kranken
Charakter sozialer Erscheinungen entscheiden können.? Es fehlen hier
die normalen Specimina, welche uns auf den anderen Gebieten zum
Vergleich zur Verfügung stehen. Die „normale“ Gesellschaft ist nir-
gendwo da...
Doch scheint diese Schwierigkeit nicht unüberwindlich. Fragen wir
uns: Wann heißen wir einen lebendigen Organismus, z. B. einen
tierischen, gesund, wann krank? Ich möchte antworten: gesund nen-
nen wir einen Organismus, wenn all seine Teile harmonisch zusam-
menarbeiten zum Wohl des ganzen, — krank, wenn dies nicht der
Fall ist, wenn die Funktion der Teile gestört, ihre harmonische Zu-
sammenarbeit unterbrochen ist. Wenn wir nun dieses Kriterium an
den sozialen Organismus anlegen, ist nicht zweifelhaft, wie die Dia-
gnose ausfallen muß. Von einer harmonischen Zusammenarbeit ist
keine Rede. Die Gesellschaft ist zerspalten, und zwar in doppelter
Richtung: einmal horizontal, in Staaten, und zweitens vertikal, in
Klassen. Wer die soziale Realität unbefangen betrachtet, muß schlie-
ßen, daß sie, im biologischen Sinne, krank, schwerkrank ist. Daß sie,
um ein altes Wort zu gebrauchen, einem Hause gleicht, das in sich
selbst verteilt ist.
Es scheint zunächst unverständlich, daß Marx, der die Analogie
der Gesellschaft mit einem individuellen Organismus so klar erkannte,
die pathologischen Züge, den pathologischen Charakter der Klassen-
spaltung vor allem, nicht als solche anerkannt hat. Es wird aber be-
greiflich, wenn wir uns daran erinnern, daß Marx Hegel-Schüler
war, und eben im Klassenkampf einen sozialen Spezialfall der allge-
meinen „Dialektik“ erschaute. So mußte für Marx der Selbststreit der
Gesellschaft, der — mehr oder weniger offene — Kampf der Klassen,
1) Das Kapital, ı. Band, ı. Buch, Stuttgart ıg23, $. XXXIX, XLVI und XLVI.
2) Das Unbehagen in der Kultur, $, ı 34.
— 451 — e
\
der uns als Ausdruck einer fundamentellen, sozialpathologischen Stö-
rung erscheint, als die Hebel par excellence, als der Motor der
sozialen Entwicklung gelten.
Nun werde ich gewiß nicht leugnen, daß in Hegels Dialektik-
Lehre viel Wahres liegt. Daß der Widerspruch sehr viel tut, auch viel
gutes, ist gewiß. Aber ich kann nicht zugeben, daß, wie Hegel be.
hauptet, es überhaupt der Widerspruch ist, „der die Welt bewegt“,
Selbst wenn man zugibt, alle Entwicklung vollziehe sich in Wider-
sprüchen, so liegt in dieser Aussage schon beschlossen, daß dasjenige,
was die Entwicklung treibt, selbst nicht der Widerspruch ist. Aber
es kommt noch etwas hinzu. Auch wenn es wahr ist, daß alle Ent.
wicklung sich in Widersprüchen vollzieht, so ist damit noch keines-
wegs gesagt, daß alle Widersprüche Zeichen von Entwicklung sind,
Wir müssen auch zwischen normalen, gesunden, und abnormalen,
krankhaften Widersprüchen unterscheiden. Auch bei einer gesunden
Entwicklung wird die Harmonie jedesmal gestört, aber um sich jedes-
mal auf höherem Niveau wiederherzustellen. Aller Wachstum geht mit
Krisen gepaart. Aber der Klassenkampf, der unsere Gesellschaft zer-
rüttet, ist, wie der Krieg, kein normales, sondern ein pathologisches
Phänomen. Er ist der Ausdruck der, einmal durch „außerökonomische
Gewalt“ entstandenen, sozial-ökonomischen Krankheit, die Folge der
Spaltung der Gesellschaft in eine Grund und Boden besitzende Her-
renschicht, und eine enterbte, besitzlose Klasse.
Wenn ich den Klassenkampf als Symptom der sozialen Krankheit
betrachte, verkenne ich keineswegs, daß er — wie alle Krankheits-
symptome — gleichzeitig Äußerung einer Selbstheilungstendenz ist.
Der soziale Körper bemüht sich unaufhörlich, „die Schädlichkeit, die
das normale Zusammenspiel seiner Organe und Funktionen gestört
hat, auszustoßen.“* Diese „Schädlichkeit“ ist, meiner Überzeugung
nach, der aus feudalen Zeiten stammende Großgrundbesitz, an den
unsere Gesellschaft „fixiert“ geblieben ist. Ich kann darauf in diesem
Aufsatz nicht näher eingehen, verweise jedoch den Leser, der sich für
die Sache interessiert, aut die Werke Oppenheimers, insbesondere
auf sein „Die soziale Frage und der Sozialismus“, „Kapitalismus, Kom-
munismus, wissenschaftlicher Sozialismus“, seine Broschüre „Die soziale
Forderung der Stunde“, wie auch auf sein großangelegtes „System
der Soziologie“.
ı) Franz Oppenheimer, Kapitalismus, Kommunismus, Wissenschaftlicher
Sozialismus, 1919, $. 190.
— 452 —
Das Ergebnis, wozu obiges uns führt, ist, daß sich gegen die An-
schauung, auch die Gesellschaft könne krank sein, keine triftiige Ar-
gumente anführen lassen. Daß, im Gegenteil, starke Gründe dafür
sprechen, daß unsere Gesellschaft tatsächlich krank ist. Zwar faßten
wir bis jetzt vor allem die körperliche Seite des sozialen Orga-
nismus ins Auge, aber es ist nicht einzusehen, warum es, wenn es
sozialkörperliche Krankheiten gibt, auch keine sozial psychische
geben könne.
Der Schöpfer der Psychoanalyse, wir betonten es schon am Ein-
gang, ist von der Existenz sozialer Neurosen überzeugt. Auf eine
spezielle Untersuchung der sozialen Neurosen und ihrer psychologi-
schen Struktur, sowie auf das schwierige Problem des Zusammen-
hanges zwischen sozialpsychischen und sozialkörperlichen
Krankheitserscheinungen, wollen wir uns hier nicht einlassen. Es bleibe
dies einem folgenden Aufsatz vorbehalten.
Zum Schlusse aber noch einige Worte über einen eigentümlichen
Versuch, der von Fromm in seinem mehrmals zitierten Aufsatz unter-
nommen wurde, um die Existenz sozialer Neurosen zu leugnen. Das
Eigentümliche dieses Versuches besteht darin, daß weitgehende Be-
hauptungen aufgestellt werden, aber ohne jeglichen Beweis. Fromm
dekretiert ganz einfach: „Die Masse ist kein Neurotiker“. Das
Massenverhalten stellt, nach ihm, immer eine „adäquate“, „realitäts-
angepaßte“ Reaktion auf die aktuellen, realen, objektiven, sozialen
Lebensbedingungen dar. Auch der Krieg wird von Fromm. diesen
„adäquaten, realitätsgerechten“ Reaktionen zugerechnet.‘ Ich glaube
nicht, daß wir bei dieser, jedes Argumentes baren, Behauptung lange
stillzustehen brauchen. Nur sei noch hingewiesen auf eine Stelle in
Fromms Aufsatz, welche zeigt, in welchem Grade der marxistische
Widerstand auch einem. Psychoanalytiker Streiche spielen kann. Der
Aufstand einer unterdrückten ‚Klasse gegen ihre Unterdrücker, sagt
Fromm, sei ebenso wenig neurotisch, wie... die Trauerreaktion eines
Individuums auf den Verlust eines geliebten Angehörigen, oder wie die
Wut eines Untergebenen gegen seinen ihn peinigenden Chef... .
In seinem Eifer für Marx scheint Fromm vergessen zu sein, daß
es außer der normalen Trauer auch eine pathologische gibt, die
Melancholie.” Und daß auch die Wut eines Untergebenen gegen
ı) Fromm, I. c. S. 446, 447.
2) Fromm, l. c. S. 446.
3) Vgl. Freud, Trauer und Melancholie, Ges. Schriften, Bd. V, S. 335 ff.
= =
seinen Vorgesetzten normal sein kann, aber ebenso gut neurotisch,
Am Schlusse seines Aufsatzes sagt Fromm dann noch, der Glaube,
daß die Psychoanalyse die Politik ersetzen könne, sei
eine „verhängnisvolle Täuschung“. Und eine "Täuschung, möchten wir
hinzufügen, der kein vernünftiger Mensch unterliegt. Niemand, der
bis jetzt eine sozialtherapeutische Anwendung der Psychoanalyse be.
fürwortete, hat je daran gedacht, die Politik durch die Analyse zu
ersetzen. Die sozialmateriellen Zustände und Verhältnisse lassen sich
gewiß ebensowenig durch reinpsychologische Beeinflussung ändern, wie
man etwa in der Analyse einer unglücklich verheirateten Frau deren
Mann „weganalysieren“* könnte. Die Frage, worum es sich handek,
ist lediglich diese: inwieweit könnte eine tiefere, psycho-
analytische Einsicht in das sozial-kulturelle Geschehen
die Grundlage für eine neue, sozial- und kulturhygieni-
sche Politik liefern? Mit dem Stellen dieser Frage wollen wir
für diesmal enden. In einem folgenden Aufsatz hoffen wir auf die
besonderen Probleme, vor welche diese Frage uns stellt, einzugehen,
IIND
Ende Oktober erscheint der
ALMANACH DER PSYCHOANALYSE 1933
Mit 5 Bildbeilagen. In Leinen gebunden RM 4.-
Aus dem Inhalt:
Lou Andreas-Salomöe . Mein Dank an Freud Eduard Hitschmann . . Werfel als Erzieher
R. Baissette . .. . - Der Sohn Alexanders Ludwig Jekels . . . . Das Schuldgefühl
des Reichen Ernest Jones . . . . . Die Wortwurzel NR
Alfred Frh. v. Berger . Die Dichter hat sie für Melanie Klein . . . . Die Sexualbetätigung
sich! a .. des Kindes
Marie Bonaparte . . . Der Tod Edgar Poes Hermann Nunberg . . Magie und Allmacht
Dorothy Burlingham . . Ein Kind beim Spiel Oskar Pfister... . . » Psychoanalyse unter
M.D, Eder... . . » Der Mythos vom Fort- den Navaho-Indianern
schritt Theodor Reik. .. . . Der Selbstverrat des
E. H. Erlenmeyer . . . Bemerkungen zur „Ge- Mörders 2
winnung des Feuers” Albrecht Shäffer . . .Der Mensch und das
Paul Federn ..... Das Ich-Gefühl im Feuer
Traume Robert Wälder ... . . Die psychoanalytische
Anna Freud ..... Psychoanalyse des Theorie des Spiels
Kindes Arnold Zweig... . .- Odysseus Freud
Sigmund Freud . . . . Libidinöse Typen zur Stefan Zweig... .. . Das ehelihe Mißge-
„Gewinnung des schick Marie
euers”’ Antoinettes
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Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien I.
NEUE
— 454 —
Kitsch
Hanns Sachs
Den Bemühungen der Psychoanalyse um die Lösung ästhetischer
Probleme wird mit einer an Monotonie grenzenden Beharrlichkeit der
Einwand entgegengesetzt, das alles sei zwar interessant, anregend und
sogar fruchtbar, aber letzten Endes doch hoffnungslos, denn die Ästhetik
sei wertsetzend, während die Psychoanalyse als reine Naturwissenschaft
auf alles Werten von vornherein verzichten müsse. Diese Behauptung
ist richtig, der von ihr abgeleitete Einwand falsch. Eher sollte man
aus den erfolgreichen Leistungen der Psychoanalyse wie z. B. aus
Freuds „Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten“ den Schluß
ziehen, auch die Ästhetik habe ein Gebiet, wo sie nicht wertet, sondern
festzustellen sucht, nach welchen Gesetzen die seelischen Reaktionen,
welche den ästhetischen Wertungen unterworfen werden, entstehen
und ablaufen. Auch sollte man bei Wahrung der wertenden Würde
der Ästhetik nicht vergessen, wie sehr alle ihre Werturteile bisher
versagt haben. Die weisesten Systeme verstummen auf ihrem Richter-
stuhle, sobald eine ungewohnte Erscheinung vor sie hintritt — ein
originelles Werk, eine neue Richtung oder gar eine neue Kunstgattung,
wie der Film. Über das Nestroy’sche: „Ja, wenn das schön ist, das
ist freilich schön!“ sind wir noch nicht sehr weit hinausgekommen.
Solange es geschlossene Kulturkreise gab und soweit es sie noch
gibt, war oder ist es ganz müßig, Werturteile aus einer Theorie ab-
zuleiten. Jedermann wußte, was schön sei: was bei ihm und seinen
Volks- (oder Standes-) genossen Wohlgefallen erregte; das Fremdartige
wurde ohne viel Kopfzerbrechen abgelehnt. Mit der Renaissance beginnt
der „völkerverbindende“ Prozeß; durch die neuartigen Produktions-
mittel wurden die geschlossenen Kulturkreise mehr oder weniger gründlich
zerschlagen, ihres Inselcharakters beraubt, ins „Allgemein-Menschliche“
aufgelöst. Und hier beginnt die Notwendigkeit und zugleich die Proble-
matik ästhetischer Werturteile. (Natürlich ist dies nur ein Teil der Ge-
samtentwicklung, die ähnlich auf den Gebieten der Religion, der Ethik,
der sozialen Fragen wirkte.) Die Fähigkeit zum ästhetischen Erlebnis
ist bei dem modernen Menschen unvergleichlich weiter ausgedehnt, als
in irgend einer früheren Epoche: er empfindet die Schönheit des
wüsten Hochgebirges und des Meeres, die der Antike fremd war, und
— 455 —
den Reiz der Kraft und Zweckmäßigkeit der Maschine, der von der
Romantik abgelehnt wurde; griechische Statuen und kultische Masken
der Neger, Gotisches und Ost-Asiatisches vermag er aufzunehmen und
fühlend nachzuerleben. Diese Fülle schafft notwendigerweise eine Ver-
wirrung, das Gedränge des Mannigfaltigen eine Oberflächlichkeit, die
nichts in die Tiefe dringen läßt, und damit eine Urteilslosigkeit, die
sich zum Schutz vor ihrer ständigen Hingabebereitschaft an einen
festen, theoretischen Wertmaßstab anklammern möchte. Da zugleich
die künstlerische Produktion — wie jede andere — durch die neuen
technischen Hilfsmittel einen vorher ungeahnten Umfang und Charakter
angenommen hat, steht unsere Zeit vor einem neuen Problem, das
für die Menschen der geschlossenen Kulturkreise kaum irgendeine
Wichtigkeit hatte, vor der Frage: „Gefällt mir das, was mir gefällt,
wirklich, oder ist mein Mißfallen der Beweis einer stärkeren und neuen
Qualität, der ich noch nicht gewachsen bin, ist also der Vorbote meines
eigentlichen, tieferen Gefallens?* Mit anderen Worten: „Was ist Kitsch ?“
Nachdem wir uns „in drangvoll fürchterlicher Enge“ der Argu-
mentation bis zu unserem Thema durchgezwängt haben, dürfen wir
uns nun die Frage nach dem Geltungsbereich der Psychoanalyse wieder-
holen. Kitsch ist kein „Ewigkeitsproblem“, es entstammt im Wesentlichen
der Eigenart oder, wenn man so will, dem Mangel an Eigenart der
ästhetischen Kultur unserer Zeit. Die Entscheidung, was Kitsch ist und
was nicht, läßt sich also nicht aus den Grundgesetzen psychischen
Geschehens ableiten, denen die Psychoanalyse nachforscht. Aber von
einer Seite her kann sie doch zur Lösung etwas beitragen. Zum Kitsch
gehört doch auch eine ganz besondere Form der Massenwirkung und
was die Psychoanalyse über diese Dinge, die emotionellen Grundlagen
der Massenbildung, lehrt, das läßt sich umso eher anwenden, als hier
schon mannigfache Verbindungen zum Kunstproblem hergestellt
worden sind.
Wir werden uns über das Bedürfnis nach einer Definition dessen,
was Kitsch ist, hinaussetzen müssen. Man meint gewöhnlich, sein
Charakteristikum sei das Süßliche und Sentimentale, das Weglassen
der peinlichen und widerwärtigen Seiten der Realität, aber damit ist
der Begriff noch keineswegs erschöpft, denn neben dem rosafarbenen
Kitsch gibt es auch einen brutalen, mit einem Parfum von Blutgeruch,
einen wilden Originalitätskitsch und einen Edelkitsch, der allen hohen
Ansprüchen zu genügen scheint. Es nützt auch nichts, sich auf den
Mangel wirklicher Originalität als Unterscheidungsmerkmal zu berufen,
— 456 =
denn das heißt nur ein Nichtwissen durch ein anderes zu ersetzen.
Shakespeare würde nach den heutigen Begriffen vom geistigen Eigentum
als der ärgste Plagiator gelten.
Ebensowenig kann die Analyse der Inhalte, die einem Werk zu-
grundeliegen — Tagträume oder unbewußte Phantasien — den
mindesten Fingerzeig geben; sie sind allzu typischer Art, um ein
Unterscheidungsmerkmal liefern zu können. Das talentlose Produkt
eines Pubertätskonfliktes ist ebenso auf dem Odipuskomplex aufgebaut,
wie der Hamlet, und aus der Geschichte vom Findling, der zum Schlusse
mit seinen Eltern vereinigt wird, sind ebenso viele grandiose Mythen
entstanden, wie kitschige Filme. Der Unterschied liegt nicht im Thema,
sondern in der Verarbeitung: das Kunstwerk schafft neue, bisher un-
gekannte Erlebnismöglichkeiten, neue Zugänge zum unbewußten Grund-
stoff, der Kitsch verläßt sich auf gesicherte, längst vertraute Wirkungen.
Ein Blütenbaum unterm Frühlingshimmel ist schön, das Sterben eines
Kindes ist rührend, das wissen wir schon lange, und diesem Wissen
wird kein neuer Zug hinzugefügt. Vielleicht läßt sich hier doch ein
kleines Stück Erkenntnis anschließen. Der Künstler, soviel glauben
wir zu wissen, wird zum Schöpferischen genötigt durch das Schuld-
gefühl, das seinen Tagträumen anhaftet. - Wer Kitsch schafft, hat mit
solchem Schuldgefühl offenbar nicht zu kämpfen, er steht den Phantasie-
inhalten seines Produktes freier, das heißt mit viel geringerer innerer
Anteilnahme, gegenüber. Man könnte — mit einiger Übertreibung,
aber im Wesentlichen richtig — die Formulierung wagen: Kitsch ist
die Verwertung von Tagträumen durch diejenigen, die sie nicht haben.
Deshalb ist es auch möglich, daß ein Werk, das an und für sich
nur als Kitsch gelten kann, den Einen oder Anderen so im Tiefsten
anrührt, wie es eigentlich nur ein echtes Kunstwerk vermag — wenn
nämlich die Tagträume und mit ihnen die „Komplexe“ des Aufnehmen-
den so gelagert sind, daß sie zufälligerweise mit dem völlig überein-
simmen, was das betreffende Werk bietet. Ich habe eine derartige
Wirkung einmal in einer Analyse beobachten und durchaus verstehen
können. Meine Analysandin wurde durch den Film „Der Geiger von
Florenz“, den man trotz der Darstellung und interessanten Einzelheiten
doch wohl als Kitsch einreihen muß, in den Tiefen ihres Wesens
dauernd erschüttert. Der Film enthielt eben fast die gesamte Entwicklung
ihrer verdrängten Kindheit, er behandelte und löste ihre unbewußten
Konflikte: das Streben nach dem Alleinbesitz des verwitweten Vaters,
die Angst, ihn durch seine zweite Heirat zu verlieren, den Versuch
— 457 —
einer Flucht in die Männlichkeit, um der Enttäuschung zu entgehen,
und das schließliche Wiederfinden eines verjüngten Vaters, bei dem
die Maske der Männlichkeit endgültig beiseitegeworfen wird.
Die Distanz vom Unbewußten und den Tagträumen des Urhebers,
die der Kitsch einhält, kann also bei dem Aufnehmenden wegfallen;
immerhin bleibt ein solcher Vorgang eine Ausnahme, die uns die
Frage nahelegt, was denn eigentlich die Regel sei. Läßt sich etwas
darüber aussagen, auf welche Weise der Kitsch auf das Durchschnitts.
publikum, die „manyheaded multitude“, auf die Menge wirkt?
Statt uns bei dem Gemeinplatz aufzuhalten, daß Kitsch und Menge
zusammengehören, wollen wir von einer kleinen Besonderheit aus-
gehen, die für den aufmerksamen Beobachter merkwürdig genug ist,
Da waren z. B. im letzten Jahr im deutschen Film die Militärschwänke,
die sich eine ziemliche Zeit hindurch beim Publikum einer so schranken-
losen Beliebtheit erfreuten, daß es dem Filmliebhaber gar nicht leicht
wurde, ihnen auszuweichen. Diese Filme, wie das Militär selbst, spielen
in zwei verschiedenen Welten: Offiziere und Mannschaften. In der
Offizierswelt gab es einen bärbeißigen Oberst und vor allem einen
unerträglich feschen Leutnant — vom Grafen aufwärts —, der ein
Mädchen aus der „Mannschaftswelt“ liebt und von ihr wiedergeliebt
wird, bis sie Beide entsagen und der Leutnant seine wunderschöne
und tugendhafte Braut — von der Prinzessin abwärts — heiratet,
In der Mannschaftswelt geht es weniger edelmütig und beneidenswert
zu, hier gibt es zwar auch einen Feldwebel mit rauher Außenseite,
vor allem aber einen Ofliziersburschen, der faul, ungeschickt oder ge-
fräßig oder in die Unrechte verliebt ist, und dem dafür übel mitgespielt
wird. Diese Durchschnittsgestalten sind anscheinend leichter zu ver-
spotten, als durch neue zu ersetzen, denn sie haben mit geringen
Modifikationen immer wieder das Publikum gerührt und erheitert.
Wer ist nun eigentlich dieses Publikum, das sich so leicht und schnell
mit den Figuren der Offiziers- und Prinzessinnenwelt identifiziert und
an der Verhöhnung des gemeinen Mannes so viel Freude hat? Man
sollte meinen, lauter Menschen aus der „gehobenen Sphäre“, Männer,
die Leutnants hätten sein können, Mädchen, die der Prinzessin die
Brautschleppe tragen dürften. Wie wir wissen, ist dies keineswegs der
Fall; der Erfolg beim großen Publikum beweist schon, daß es in der
überwiegenden Mehrzahl die Leute sind, die es zum Ofliziersburschen
hätten bringen können, und die Mädchen, die bestenfalls von einem
Leutnant verlassen worden wären und gerade diese nehmen im Kino
— 458 —
begeisterten Anteil. Man könnte einwenden, das liege an der politischen
Stimmung, die für solche, wie für viele andere Verzerrungen verant-
wortlich ist. Aber es ist anderswo dasselbe, wenn auch nicht mit der-
selben Kraßheit. Nehmen wir ein Musterbeispiel für den amerikanischen
Kitsch, den „Shanghai Expreß“. Besteht etwa der weibliche Teil der
amerikanischen Kinobesucher (der Film hat übrigens auch in Deutschland
großen Erfolg gehabt) zu einem nennenswerten Prozentsatz aus Mädchen,
die hoffen dürfen, sich eines Tages in Kurtisanen von makelloser
Tugend zu verwandeln, die zunächst mit Geschenken und geschmack-
vollen Toiletten überhäuft und schließlich von einem Heldengemüt
zum Altar geführt werden ?
Auf solche Fragen läßt sich zunächst vom soziologischen Gesichts-
punkt aus antworten, daß die niedrigeren, unterdrückten Klassen,
insoweit sie nicht zum selbständigen Klassenbewußtsein erzogen sind,
die Ideale der höheren, sie beherrschenden Klasse annehmen und zähe
festhalten. Dieser soziologische Satz hat, deutlich sichtbar, einen psycho-
logischen Hintergrund, der unserem Thema angehört. Gewiß, wo
fremde Ideale entlehnt und nachgeahmt werden, da liegt die Möglich-
keit von Kitsch besonders nahe. Wir möchten aber gerne Genaueres
über die Mechanismen erfahren, durch die, was immer die Situation
sei, — und es geschieht gewiß nicht ausschließlich in der Situation des
entlehnten Klassenideals — die Phantasie-Einfühlung, oder anders aus-
gedrückt, die Befriedigung der ästhetischen Bedürfnisse sich als Massen-
erscheinung am ehesten auf dem Wege des Kitsch vollzicht.
Wenn Einer gemäß den Idealen einer ihm fremden Lebensform
sich verlieben möchte, oder ein Held werden oder, sonstwie eindrucks-
voll und interessant sein, so fällt ihm dies zweifellos schwerer, als
wenn er sich in seiner eigenen, ihm durch den Alltag vertrauten
Sphäre bewegt. Eine aus so gerichteten Einzelnen zusammengesetzte
Menge braucht also ein größeres Maß von Hilfe, sie wird es dankbar
annehmen, wenn ihrem Einfühlungsstreben der Weg mit größerer
Deutlichkeit gewiesen wird. Die Tendenz, sich diese besondere Art
von Dankbarkeit des Publikums zu erwerben, ist der unfehlbare Weg
zum Kitsch, obgleich sie natürlich durch sehr verschiedene, feinere und
gröbere Mittel verwirklicht werden kann. Immer handelt es sich um
die Anbringung von mühelos verständlichen Zeichen, sozusagen von
leicht lesbaren Wegweisern, die durch das ganze Werk zerstreut vom
Anfang bis zum Ende vorhanden sind und die Einfühlungsmöglichkeiten
in bestimmte Bahnen lenken. So z. B. kann und darf die Identifizierung
— 459 —
des Publikums nur mit bestimmten Figuren und von einem bestimmten
Gesichtspunkt aus gelingen — dort aber mit der größten Leichtigkeit,
Wer oder was gut und schön oder häßlich und verwerflich sei, wer
auf beneidenswerte Weise leide und bei wem der Schmerz nur komisch
sei, daß muß mit einer Eindringlichkeit klargemacht werden, die auch
der stumpfsten Auffassungsgabe gewachsen ist. Es liegt auf der Hand,
daß oft bewährte Mittel und längst feststehende Wertungen diesem
Zweck am besten dienen. Für den Kitsch ist also das Neue, an dem
inneren Erleben des Urhebers Gebundene nicht nur überflüßig, wie
bereits festgestellt wurde, sondern direkt schädlich; er darf sich nicht
damit begnügen. es nicht aufzusuchen, sondern muß bestrebt sein, es
um jeden Preis zu vermeiden. Nichts darf zu spüren sein von der
vielfältigen Möglichkeit psychischer Entscheidungen, durch die beim
Kunstwerk erst der Schöpfer und dann — in geringerem Maße —
die Aufnehmenden sich durchringen müssen, nichts ist zu hören vom
Zweifel und der bangen Frage: „Seele, wohin hast Du mich verführt
— wo bin ich hingeraten?*, und sollte sie trotz allem auftönen, so
antwortet schnell und deutlich eine beruhigende Stimme: „Zu guten
Leuten“.
Bei alledem dürfen wir die Bedeutung der Erkenntnis der „Weg-
weiser“-Technik als objektives Merkmal für die Einordnung als Kitsh |
nicht überschätzen. Wo die Grenzen zwischen dem künstlerischen Drang
nach Klarheit und Gestaltung und der zum Kitsch gehörigen Weg-
weisung liegen, wird im Einzelfall oft genug strittig bleiben. Vielleicht
kommen wir durch Betrachtung der Wirkung, die in dem einen oder
anderen Fall bei der aufnahmswilligen Menge erreichbar ist, den Unter-
scheidungsmerkmalen ein kleines Stück näher.
Der Kitsch hat für das Publikum den Vorteil, daß er ihm den
Genuß so mühelos wie möglich macht, ihm Unsicherheit und An-
spielung auf unliebsame Erinnerungen erspart. Es ist kein Wunder,
wenn die Meisten ihn bedingungslos bevorzugen — doch'sind mit
diesem Vorteil gewisse Einschränkungen und Schwächen untrennbar
verbunden. Durch die Behendigkeit, mit der die Gefühlsverteilung
vorweggenommen wird, bleibt dem Publikum freilich manche Qual,
auch die der Wahl, erspart, aber zugleich wird ihm .die Freiheit seiner
Affektbildung eingeengt, die Möglichkeit, sie stufenweise aus dem
eigenen Unbewußten herauszuheben und voll ausschwingen zu lassen,
wird ihm benommen. Der Vorgang muß mit sehr geringer seelischer
Aktivität ablaufen und wird nirgends festgehalten. Daher kommt es,
— 460 —
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daß der Kitsch, der sich im Grunde auf das bewährte Alte stützt, in
seiner Erscheinung den Reiz des Neuesten und Allerneuesten nicht
entbehren kann: Ein Schlager folgt auf den anderen, jede Saison bringt
ihre Operetten und Revuen — in der Erinnerung sehen sie sich alle
zum Verwechseln ähnlich. Die Film-Producer aber, wenn sie der Ehrgeiz
ankommt, begeben sich auf die Suche nach einem „originellen Milieu“.
Kitschwirkung auf ein aufnahmsfreudiges Publikum läßt sich demnach
leicht charakterisieren: sie tritt schnell ein und ist bald vorbei. Die
ausgelösten Affekte sind in ihrer Allgemeinheit und Oberflächlichkeit
von dem Einzelwerk unabhängig. Es wird bejubelt und vergessen, wie
sein Vorgänger und seinem Nachfolger ergeht es ebenso: eigentlich
haben nur alle zusammen den Gefühlswert eines einzigen Werkes.
Künstlerische Wirkung muß nicht notwendigerweise langsam sein, aber
sie darf es sein, und dort, wo sie sich einmal durchgesetzt hat, ist sie
unzerstörbar. Nichts Geringeres als eine totale Umstellung der Persön-
lichkeit ist — von Intensitätsschwankungen abgesehen — dazu not-
wendig, um den Eindruck, den ein Kunstwerk hinterlassen hat, wieder
auszulöschen; die Veränderungen, die es bewirkt hat, sind zu stark,
um es je wieder gleichgültig werden zu lassen. Man kann noch hinzu-
fügen, daß dieser Sachverhalt, wie allbekannt, sich in den vergrößerten
Dimensionen des historischen Geschehens wiederspiegelt. Die An-
erkennung, die ein Kunstwerk gefunden hat und die Fähigkeit es
nachzuempfinden, wird durch den Ablauf der Jahrhunderte nicht ver-
ringert; der Kitsch findet in seinem Zeitalter ebensowenig eine dauernde
Stätte wie in der Seele des Einzelnen.
EINNINUNNNUNNUUUNUNUNNNNNNND
DER 12.INTERNATIONALE
PSYCHOANALYT ISCHE
KONGRESS
fand vom 4.-7. September d. J. in
Wiesbaden statt. Der Bericht darüber
wird im 1. Heft der Intern. Zeitschrift
für Psychoanalyse 1933 erscheinen.
NINO
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Psychologische Randbemerkungen
Von
Michael Josef Eisler
Budapest
Was der Vater schafft, nimmt dem Sohn die Kraft.
Mit dem Glauben an sich gewinnt oder verliert der Mash eine
Welt.
Welch kluger Schachzug der Selbstliebe, daß sie uns dürch das
Beispiel des Bösen verleitet, das Gute an uns vortreten zu lassen.
Ein natürlicher Hang zur Trägheit läßt uns so manches im Gedanken
ausleben, das eigentlich durch Tätigkeit verwirklicht hätte werden
müssen.
Nichts trübt unsere Empfindungen so sehr als Ungeduld und Hoffnungs-
losigkeit.
Was der Mensch nicht zu seinem Vorteil lenken kann, läßt er oft
zum eigenen Schaden über sich ergehen.
Ein unruhig Herz wird selbst durch Ruhe noch beunruhigt.
Überstandene Gefahr kann wie eine dauernde in uns fortwirken.
Neigungen kann man nicht ablegen, doch ihnen dann und wann
untreu werden.
Was einem Kind widerfährt, wird bei ihm erst später zur Erfahrung;
Kinder haben nur die Ahnung des Kommenden.
Man vergißt leicht, aber am schwersten aus Vorsatz.
Das Interesse für die eigene Person kann bei manchem zur wahren
Leidenschaft anwachsen, die dann Stürme hervorruft, gleich einer un-
erwiderten Liebe.
Pfützen haben mehr Glanz als reines Gewässer.
Wenn die Vernunft ein leidenschaftliches Gefühl unterdrückt, kommt
sie leicht in Gefahr, selbst dabei ihre Freiheit einzubüßen.
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Ein neuer Schmerz reißt alte Schmerzen auf, neue Freude läßt die
alten in Vergessenheit geraten.
Selbstverleugnung ist ein seltenes Talent und wird auch dann meist
stümperhaft ausgeübt.
Ein zweitesmal stolpert man leichter über das gleiche Hindernis.
Soll man verlogene Leute widerlegen? Am Ende lügen sie noch
unsere ehrlichen Absichten weg.
Eine gute Erziehung bildet im Menschen den Willen zur Anpassung
heran, aber sie bringt es meist nur dahin, daß er auf den Umgang
mit seinesgleichen verzichten kann.
Wie schnell erfaßt der Geist eine Wahrheit, die zu befolgen der
Wille fort und fort zögert. j
Die Natur hat dem Menschen die alleinige Freiheit zugebilligt, das-
jenige, was wesentlich an ihm ist, auch gegen die Widerstände einer
ganzen Welt zu steigern und bis ins letzte auszubilden.
Das Schmeichelhafte, von den Erfolgreichen beachtet zu werden, er-
widert man nicht gerne damit, daß man ihren Erfolgen Achtung schenkt.
Ein moralischer Mensch ist gegen sich und andere streng, aber das
Maß von Selbstkritik und Tadel ist bei ihm kaum je ein gleiches.
Du kannst die Menschen zwingen dich anzuhören, aber nicht, dich
zu verstehen.
Durch nichts läßt sich der Erfolg einer Wahrheit so leicht streitig
machen, als durch eine zeitgemäße Halbwahrheit.
ÄNINNNUGLT
— 463 —
NINE
DAS ECHO DER
PSYCHOANALYSE
LUNGEN
Freud und Bergson
Der französische Arzt C. D. Dausse (Paris) beschäftigt sich mit .einem
in „La R£publique“ veröffentlichten Artikel „Trente ans ou l’apoth&ose de
quelques erreurs“ hypothetisch mit den Ereignissen in den nächsten dreißig
oder vierzig Jahren, die zu einem „renouvellement des valeurs“ führen und
deren historische Bedeutung darin liegt, daß sie gleichsam eine Apotheose der
vorhergehenden Epoche darstellen werden. Der Ausgangspunkt seiner Be-
trachtungen sind zwei Bücher, die in allerletzter Zeit in Frankreich erschienen
sind und dort großes Aufsehen erregt haben: die französische Übersetzung
der „Zukunft einer Illusion“ von Freud‘ und der ethische Traktat Bergsons,
„Les deux sources de la Morale et de la Religion.“?
Freud macht sich, referiert Dausse, an sein Problem mit dem Erkenntnismittel
der Psychoanalyse heran, gibt in dem ersten Kapitel ein durch seine Tiefe und
Universalität in Erstaunen versetzendes Resum& der Entwicklung seines Problems,
diskutiert den Wert der Erkenntnisse, die er zur tieferen Erfassung seiner
Materie beibringt, und kommt zu dem Schluß, die religiöse Ära der Mensch-
heit sei mit der Ära der „infantilen Neurose“ identisch. Freud fürchtet nicht
nur die schmerzhafte Loslösung von der mystischen Illusion nicht, er zeigt
sogar die ersten Zeichen dieser Erscheinung auf und kündigt die Befreiung
an. Dieses Buch, auf das jeder Mensch lebhaft reagieren muß, denn es ver-
setzt das Problem in die sensibelsten Zonen unseres Seins, bringt den
ganzen inneren Kampf in bewundernswertem Schwung zum Ausdruck, und
dabei ist es von so vollkommener Ehrlichkeit, daß keine Überzeugung ver-
letzt werden kann; wir haben es allerdings nicht mit dem hochmütig ver-
neinenden Monolog eines Menschen zu tun, der keinen Glauben anerkennt,
sondern mit dem Zwiegespräch, das ein Ungläubiger mit dem Gläubigen führt.
Zu diesem Werk Freuds steht nun die Arbeit Bergsons in einem derart
seltsamen Gegensatz, daß man glauben könnte, Worte aus einer andern
Welt zu hören; dabei gehen beide Bücher die gleichen Fragen an. Das
Buch Bergsons aber verwendet zu seiner Deutung die komplexen Gegeben-
heiten der klassischen Psychologie und erklärt, auf Moral und Religion an-
gewendet, die Ergebnisse der beschreibenden Forschung, die ja
1) Übersetzt von Marie Bonaparte, bei Denoäl et Steele, Paris 1932, _
2) Verlag Felix Alcan, Paris 1932.
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selbst eine Repräsentantin der untergehenden Welt, die sie beschreiben will,
ist; Freud hingegen bedient sich nur eines einzigen Instrumentes außer der
„raison commune“;: der Psychoanalyse „Und da das moral-
religiöse Problem gleichzeitig den ins Tiefste hinabführenden und auf das
Bezeichnendste lossteuernden der innern Kreuzwege darstellt (die durch das
Studium des Unbewußten entdeckt wurden), kann man den letzten Essay
Freuds — und den über den Tod — als den bedeutendsten Ausdruck seines
sih mit unserer tiefsten Unruhe beschäftigenden Genies ansehen. Seine
Philosophie ist dadurch gekennzeichnet, daß von ihr der Eindruck einer in-
skriptiven Einheit ausgeht; die innere Synthese kann nur auf seinen Wegen
realisiert werden und nur seine Wege scheinen uns die natürlichen
zu sein. Eine neue Welt beginnt mit dem Meister von Wien. Dieses Jahr-
hundert wird sein Jahrhundert sein. Eine Bemerkung, die man jedoch so
lange zurückhalten muß, bis der Snobismus an Freuds Lehren nicht mehr
interessiert ist!“
Aber diese beiden Meister werden von Dausse nicht deshalb einander
| gegenübergestellt, um nur das Gegensätzliche aufzuzeigen; das wäre schon
darum schief, weil Bergson ein weiteres Gebiet darzustellen hat als Freud,
und dann auch, weil oft beide derselben Meinung sind. Dausse interessiert sich
für Bergson und Freud zu gleicher Zeit, weil beide ihn in seiner Auffassung
bestärken, daß wir am Beginn einer neuen Epoche in der Geschichte der
Menschheit stehen. Auch Bergson, der die Vergangenheit richten will, kann
der Versuchung nicht widerstehen, Prophet zu sein; er faßt „eine mögliche
Rückkehr zum einfachen Leben“ ins Auge, zeigt dann, daß unser „Körper
durch den Maschinengeist übermäßig groß geworden ist“, während die Seele
blieb, „was sie war. Sie ist daher zu klein, um ihn auszufüllen, zu schwach,
um ihn zu lenken. Daraus entsteht die Leere zwischen ihm und ihr. Daraus
entstehen die fürchterlichen sozialen, politischen, internationalen Probleme, die
nichts anderes als vielfache Definitionen dieser Leere sind und ebensoviele
ungelenkte und unwirksame Anstrengungen provozieren, damit sie ausgefüllt
werde: neue Reserven an potentieller, diesmal aber moralischer Energie
wären von Nöten.“
Diese „Ergänzung der Seele“ erwartet Bergson von einem Impuls, der
unserer Entwicklung durch ein neues „mystisches Genie“ gegeben wird; aber
in den Gedanken, die von hier aus zu der Entdeckung einer gegenwärtig
nicht wahrnehmbaren — metapsychishen — Welt führen und zu der
Möglichkeit des Weiterlebens wird Freud sicher die Genesis der Ansätze
einer neuen Illusion aufzeigen können. Freud zeigt uns eine näher
bevorstehende Zukunft und bleibt bei der kritischen Lösung des Konfliktes
zwischen Religion und Wissenschaft stehen, die dadurch hervorgerufen wird,
daß die Wissenschaft durch die Analyse hindurchgeht. Es liegt ihm ferne,
eine Wiedergeburt der Mystik vorzubereiten, im Gegenteil, er läßt uns in
der Seelenlage des Kindes zurück, das Mann wird, sich zu diesem Zwecke
PsA. Bewegung IV — 465 — gı
“
radikal umformt, das heißt nichts von seinen Illusionen behielt und seien
sie noch so 'süß und sei die Prüfung, die jene Wandlung, Häutung mit sich
bringt, noch so hart. Dausse persönlich bekennt sich zu Freud; die Haltung
Bergsons ist ihm zu traditionsbewußt, zu sehr durch mystische Strömung
beeinflußt. Bergson findet von der Vergangenheit in die Zukunft nur auf
der Moralgrundlage religiöser Bedürfnisse, während Freud sagt: „Dadurch
daß er (der Mensch) seine Erwartungen vom Jenseits abzieht und alle frei
gewordenen Kräfte auf das irdische Leben konzentriert, wird er wahrscheinlich
erreichen können, daß das Leben für alle erträglich wird und die Kultur
keinen mehr erdrückt.“
Von der Krisis der Religion findet Dausse zur Krisis der sozialen Zu.
stände — der Mensch, der nicht mehr ans Jenseits glaubt, beschäftigt sich
mit der Diesseitssituation seines Lebens —, zur Krisis der Moral und Religion
kommt also die ökonomische und soziale, und schließlich durch vielerlei
Gegensätze genährt, die politische Krise. Dausse versucht dabei, einen Ver.
gleich zwischen der Psychoanalyse und dem Marxismus durchzuführen, etwa
so: „Die Hervorhebung der determinierenden Komplexe durch die Psycho-
analyse korrespondiert wirklich (und symbolisch) mit der Bezwingung des
Politischen durch das Ökonomische. Die Libido — und der Hunger,
ein Begriff, aus dem man noch nicht genug Folgerungen im analytischen
Sinn herausgeholt hat — entsprechen für uns den ökonomischen ‚Faktoren im
Leben der Gruppen. Diese zwei Methoden, die beide auf (historischer und
psychologischer) Beobachtung beruhen und auf materialistischen Experimenten,
führen zu analogen Situationen.“ Dr. F. L.
Karl Vossler, der führende Sprachforscher,
Professor der romananischen Philologie in München, bezieht sich in seinen
in Madrid 1990 gehaltenen Vorträgen „Metodologia filolögica‘
vielfach aut die Psychoanalyse.
In einem höchst interessanten Vortrag (VI. Las teorias de Sigismundo Freud
en su alcance linguistico ; Seite 36—44) befaßt sich Karl Vossler mit der
Anwendungsmöglichkeit analytischer Betrachtungsweisen auf die Spradı-
forschung. Die vorhandene Literatur betrachtet er wohl sehr kritisch. Den
ersten bahnbrechenden Arbeiten auf diesem Gebiet, den Forschungen Sper-
bers, läßt der Autor nur mit halbem Herzen Gerechtigkeit widerfahren.
Aber Vossler begnügt sich nicht mit der Überprüfung des Vorhandenen, er
beweist selbst die Tragfähigkeit analytisch unterfütterter Fragestellungen in
seinem Forschungsgebiet. Er giebt eine Psychogenese des Begriffes Em-
phase und führt im wesentlichen folgendes aus: „Der Rethoriker ver-
wendet Emphase, wenn er seinen Worten durch eine starke und suggestive
Leidenschaftlichkeit Nachdruck verleihen will. Es giebt auch "die unter
— 466 —
a
drückte latente Emphasis, in der Ton und Wort gedämpft und
ersterbend gesenkt werden, um ein unterirdisches Feuer zu malen. Einen
Teil der Rede in besonderen Worten ausdrücken, ist eine Methode, um
hervorzuheben ; man verwendet auch die umgekehrte Methode, indem man
Worte ausläßt oder in Paranthese stellt. All dies sind Kunstmittel, die der
geschmackvolle Stilist mit Sparsamkeit anwendet, um seine Hörer nicht zu
ermüden. Aber hinter der Emphase als rethorischem Stil steht ein ursprüng-
licher, unmittelbarer seelischer Zustand: die Besessenheit. Die Besessenheit,
in der das Bewußtsein durch die Leidenschaft verdunkelt und überschwemmt
wird, war ohne Zweifel das Vorbild für die rethorische Emphase. Beim
Besessenen verlieren und verwischen sich die Grenzen der Persönlichkeit,
und ein derartiger Seelenzustand überträgt sich leicht auf die Personen, die
mit dem DBesessenen in Kontakt kommen. Es bildet sich eine Gefühls-
gemeinsamkeit, in der sich die Effekte verdoppeln und Motive ein über-
individuelles Echo finden. Dieser Zustand der Vermischung des Einzel-
bewußtseins mit einem Massenbewußtsein ist der wirkliche und ursprüng-
liche Boden, aus dem die wahre und ursprüngliche Emphase stammt. Sie
kehrt jeden Tag aufs neue dort hin zurück, so oft sie, ohne es zu wissen,
sich vergißt und mit suggestiven und wiederhallenden Tönen ihren Worten
einen Sinn gibt, den Jeder kennt, weil er ihn selbst schon oft gemeint hat.
Das Massenbewußtsein, die Gefühlsgemeinschaft, die unbewußte und vor-
bewußte Ansteckung, eine Atmosphäre aus übereinstimmenden Hoffnungen
und Befürchtungen, Liebe und Haß, Erinnerungen und Erwartungen: das
ist es, was die ursprüngliche Emphase schafft. Das Wort martyr z. B. be-
deutete im Griechischen Zeuge und sonst nichts. Dank der ununterbroche-
nen Emphase, mit der es die erste Chhristengemeinschaft ausstattete, bekam
es seinen heroischen und blutigen Sinn; und wurde zur Bezeichnung für
Einen, der um seines Glaubens willen sein Blut vergießt.
Alle Idiome zeigen Beispiele, wie sich die Wortbedeutung auf dem Wege
der Emphase wandelt. Wenn die Bedeutung verstärkt, spezialisiert und
individualisiert werden soll, dann wird die Emphase gebraucht. Als allge-
meine Regel könne man aufstellen, daß dieEigennamen so entstehen : Wenn
man ein Kind Rosa nennt, so will man es nicht in die botanische Gat-
tung Rose einreihen, sondern durch ein magisches Band wollen wir das
Kind mit unserer Lieblingsblume verbinden. Da es im allgemeinen Sprach-
gebrauch so viele feststehende emphatische Ausdrucksweisen gibt, ist es
selbstverständlich, daß es ebenso viele augenblicklich geborene gibt. Der
geborene Redner lebt in der Emphase wie der Fisch im Wasser. Das meint
auch Hegel, wenn er sagt: „Der gute Redner ist der, der uns mitteilt, was
wir alle wissen und hoffen.“
Vossler hat ein methodologisches Idealbild von der Arbeitsweise und den
Ergebnissen, der „positiven, historisch fundierten Wissenschaft“. Wenn ich
den Autor nicht mißverstehe, deckt sich dies „positive und historisch fun-
= 467 — 3ı?
=
dierte“ sehr weitgehend mit den bewußten und durch das Bewußtsein kon-
trollierbaren Inhalten und Ableitungen. Wo die logische Verstehbarkeit auf-
hört, da fängt das Unbehagen an. Dieses Unbehagen ist anscheinend auch
dafür verantwortlich zu machen, daß Vosslers Verständnis für Freuds Traum-
deutung so eingeengt ist. Trotz dieser Hindernisse, die sich aus gefühls-
mäßigen Gründen immer ergeben müssen, wenn ein logisch geschulter Fach-
wissenschaftler sich auf das Gebiet der Analyse begiebt, erweist Vosslers
Arbeit die Fruchtbarkeit analytischer Gedankengänge auf analysefremdem
Boden. Seine Pionierarbeit verdient den Dank jedes Interessierten.
Hedwig Schaxel (Wien).
C. G. Jung ist mit sich unzufrieden’
Es bedarf keiner Tiefenpsychologie, um festzustellen, daß Unzufrieden-
heit mit dem eigenen Erfolg gar oft dazu führt, daß man andere herab-
setzt, namentlich solche Personen, die in irgend einem Sinne an unserer
Wiege gestanden sind, also anscheinend an unserem Mißerfolg, z. B. unserer
Unproduktivität, irgendwie schuld sind oder schuld zu sein scheinen. So
wälzt nicht selten der Sohn oder Schüler in einer Laune die Schuld aut
den Vater oder Lehrer, und gibt dann das Bild einer häßlichen und un-
gerechten Undankbarkeit.
Solche aus der Verstimmung über die eigene Kleinheit entspringende
Vorwürfe verraten ihre Geburt aus Affekt nur zu deutlich: sie verleugnen
— da sie einmal ins Schimpfen und Entwerten geraten sind — auch das,
was sie einst dankbar angenommen und begeistert vertreten haben.
Härte und Strenge mögen da besonders stark hervorgehoben werden :
und so macht denn Jung Freud den „Fanatismus eines Ketzerrichters“, sei-
nem System „Absolutismus“ und „Starrheit des Dogmas“ zum Vorwurf.
Er klärt dann Freud, den Betoner der Determiniertheit alles Seelischen,
darüber auf, daß auch seine Lehre „nicht vom Himmel gefallen“ sei. Die
Psychoanalyse sei nur die Reaktion auf das Victorianische Zeitalter und
habe nicht etwa neue Wege und Wahrheiten gekündet.
Bei seinen Ausführungen über diese Entdeckung passiert Jung das Mal-
heur, das Victorianische Zeitalter als ein „Zeitalter der Verdrängung“ zu
bezeichnen: die Verdrängung aber sollte ihm nie eine „neue Wahrheit“
gewesen sein!?
Wenn Jung aber die Verdrängung anerkennt, wie kann er sich wun-
dern darüber, daß Freud oft nachgewiesen hat, daß etwas „dahinter stecke“ !?
Ferner sind bei dergleichen aus Enttäuschung geborenen faktiösen Schü-
lereinstellungen Übertreibungen, Benützung aus unreinen Quellen bezogener
1) C.G. Jung „Sigmund Freud als kulturhistorische Eırschei-
nung“, in Vierteljahresschrift „Charakter“, 2. Heft. Berlin, Panverlag, 1932.
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Argumente und Generalisierungen in Anwendung, die sie später manchmal un-
gesagt machen möchten.
So wird Freud z. B. insinuiert, gesagt zu haben, Kunst, Philosophie und
Religion seien „nichts als“ Verdrängung des Sexualinstinktes.
Die Freud in die Schuhe geschobene Ansicht, „jede positive Gabe oder
Schöpfung beruhe auf einem infantilen Minus“, scheint viel eher von Alfred
Adler zu stammen. Auch die „Wirkung auf ein breites Publikum“ hat nie
Freud angestrebt, vielmehr Alfred Adler; Freud wurde vielmehr Exklusivität
nachgesagt. Jungs Stellung zu Adler ist eine gleichfalls zweideutige: man
hat nicht den Eindruck, daß Jung an dessen Neurosentheorie glaubt. Aber
wo es gegen Freud geht, wird Adlers „unleugbarer Erfolg“ registriert; als
ob nicht das Verzichten Adlers auf die Tatsachen der Psychosexualität und
des Unbewußten, die rasch erlernbare Simplizität seiner drei Sätze, sein für
die Pädagogen so wünschenswerter Optimismus und sein Menschenwerben ihm
und seiner suggestiven Methode mit den Erfolg gebracht hätten.
Welcher Neurosentheorie huldigt also Jung? Wo findet sich denn seine
eigene, die „auch die Hysterie der Maoris erklären“ kann? Oder auch nur
ein Beitrag dazu ?
Ist die Sexualtheorie der Zwangsneurose z. B. tatsächlich so unzulänglich ? Ist
Freuds und Jones’ Feststellung der anal-sadistischen Disposition der Zwangs-
neurose nicht ohne Ausnahme bestätigt worden, obwohl das Victorianische
Zeitalter längst vorüber ist? Sind die hinzugekommenen Feststellungen über
die Ichpsychologie der Psychoanalyse, * das strenge Über-Ich bei der
Zwangsneurose, nicht überaus aufklärend? Und nach solchen Entdeckungen
und Verständlichmachungen, erklärt doch Freud in seiner, Jung in tiefen
Schatten stellenden Bescheidenheit: „daß das Problem der Zwangsneurose
noch unbezwungen ist.“
Hiezu noch eine analoge Äußerung Freuds aus letzter Zeit: „Die ätio-
logischen Bedingungen der Neurose sind bekanntlich noch nicht sicher er-
kannt.“ Es liegen zwar bedeutsame Erkenntnisse über die Veranlassungen
vor, aber „was diese dem normalen psychischen Ablauf zugehörigen Vor-
gänge pathogen macht, bemüht sich, die Neurosenpsychologie zu ergründen.“
Es steht also Jung frei, „in jene tiefere Schicht des allgemein Menschli-
chen“ vorzudringen, auf eigene Faust vorzudringen, in die Freud nicht vor-
gedrungen sein soll; er mag dann alle neurotischen Probleme lösen, die
Probleme von Totem und Tabu dazu, auf die sich „die Einseitigkeit und
Unzulänglichkeit“ der Freudschen Theorie — „auch wenn dies in sehr ge-
schickter Weise gemacht wird, schlecht anwenden läßt“. Andere haben frei-
lich Freud hier — eine bessere Note gegeben.
Daß die Psychoanalyse auf dem verderbten Boden von Wien? nur ent-
ı) Diese wird überhaupt nicht erwähnt, sondern einfach unterschlagen.
2) „Einsichten, die aus der Empirie von Wiener Neurosen zwischen 1890 und 1920
gewachsen sind“ ...
— 469 —
stehen konnte — einer der ältesten, böswilligsten und bei dem Weltecho
der Psychoanalyse haltlosesten Einwürfe —, auch dieses Argumentes bedient
sich der Autor. Freud ist ihm „einseitig aufs Negative gerichtet“,. er „be-
deute kein Programm“, „es interessiere ihn nicht, wohin die Dinge gehen“.
Aus diesen Ent- und Aufstellungen Jungs ist seine anscheinend aus frü-
heren Jahren t stammende, von Ressentiment erfüllte Abtuung Freuds genü-
gend charakterisiert.
Jung ist so gnädig, anzuerkennen, daß erst seit Freud die Medizin in
der Lage ist, die Neurosenfälle individuell zu behandeln, und daß durch ihn
„die Wissenschaft mit einer Methode bereichert ist, welche es erlaubt, die
individuelle Seele als Forschungsobjekt zu bearbeiten“. Aber er selbst
zieht es vor, das Zweimütterproblem als mythologisches Motiv selbst dort
haftbar zu machen, wo im realen Erleben eine uneheliche und eine Stief-
mutter da waren, z. B. bei Lionardo.
Gegen alle psychoanalytische Erfahrung hält Jung die Sublimierung für
„ein frommes Wunschgebilde“. Aus der respektlosen Aggressivität, mit der
er hier anstrebt, Freud lebendig zu begraben, ist allerdings ersichtlich, daß
es ihm selbst nicht gelungen ist, alles Triebhafte zu sublimieren.
Jung enthält sich hier auch nicht effekthaschender Bemerkungen voll Ba-
nalität, die dem wirklich vorliegenden Problem in weitem Bogen aus dem
Wege gehen; z. B. wenn er sagt: „Wissenschaftlich hat die Theorie der
Säuglingssexualität wenig Wert, denn es ist auch der Raupe gleichgültig, ob
man ihr sagt, sie fresse ihr Blatt mit gewöhnlichem Vergnügen oder mit
Sexualvergnügen“. Vor allem aber ist die Grundvoraussetzung der. Darstel-
lung Jungs ein Irrtum. Denn eine wissenschaftliche Beobachtung und Theorie
kann sich als allgemein richtig erweisen, selbst wenn sie unter ungewöhnlich
krassen Bedingungen zuerst augenfällig geworden ist; selbst wenn die
Psychoanalyse als Reaktion auf ein prüdes Zeitalter entdeckt und aufgestellt
wurde, kann sie für alle Zeiten richtig sein.
Man hat schon anläßlich der Kriegsneurosen die Unzulänglichkeit der
psychoanalytischen Neurosenlehre nachweisen wollen, was nicht gelungen ist.
Die Psychoanalyse hat die Kraft, Jung Lügen zu strafen, der behauptet,
„sie sei für die Wissenschaft von zum Mindesten untergeordneter Be-
deutung“.
Gerade jetzt sind eine allgemeine? und eine spezielle ® psychoanalytische -
Neurosenlehre erschienen, welche die bisherigen Resultate ausgezeichnet
zusammenfassen und die unklaren Punkte nicht verbergen.
Die Ärzteschaft ist also in der Lage, Freuds Verdienste zu würdigen,
ohne von Jungs Verkleinerung irregetührt zu sein. E. H.
ı) Vgl. Anmerkung ı, Seite 469.
2) Von Nunberg, Verlag Huber, Bern—Berlin.
3) Von Fenichel im Int. psa. Verlag.
— 470 —
„Kann ein Psychoanalytiker (religiöser) Christ sein ?“,
so fragt Dr. W. Gutkelch anläßlich von Buchbesprechungen in der „Täg-
lichen Rundschau“, Berlin, ı0. Juli 1932.
Er nennt diese Frage eine brennende Gegenwartsfrage. Sowohl die natur-
wissenschaftlichen als auch die soziologischen Theoreme materialistischer
Prägung würden die religiöse Denkhaltung nicht bedrohen, wenn sie nur
sie selber wären; in Wahrheit sind sie aber Palastrevolutionen innerhalb
des religiösen Bezirkes, dialektische Akzentverschiebungen im Sprachgebrauch
des Frommseins, und erst in zweiter Linie ein Ansturm von außen, gegen
den alsdann der „Glaube“ zu mobilisieren ist.
An die vier, gesondert erschienenen Krankengeschichten! Freud’s an-
knüpfend, erklärt der Autor vor allem die Deutung der pathologischen
Phänomene aus der „Verdrängung“ für wichtig für die religiöse Fragestel-
lung. „Wenn in dem Mechanismus der paranoischen Symptombildung das
Weltuntergangsgefühl als Projektion einer inneren Katastophe begriffen wird,
die darin besteht, daß der Kranke den Personen der Umwelt die Libido-
besetzung entzieht, so schließt der solcher Mythik nachgesagte „Rekonstruk-
tions“-Charakter doch deren irrationale Realität aus. Das „Nur“ der. analy-
tischen Entlarvung gibt der paranoischen Religiösität ebenso wie der halluzi-
natorischen Psychose das Vorzeichen nicht nur der Täuschung, sondern der
Unwirklichkeit ...“
Damit sei aber nun noch keineswegs das Christentum diagnostisch
entwertet, allenfalls das Christentum als religiöser Mythos, nicht aber als die
vor die Alternative stellende Gnadenbotschaft von Golgatha...“ Ist das
„Nur“ des analytischen Verfahrens biologisch und mythologisch berechtigt, so ist
das Mehr, das in dem Risiko des Glaubens liegt, nur für den erkennbar,
der sich willentlich zu ihm entschließt (Joh. 7, ı7). Am Anfang aller ver-
tieften Erkenntnis steht das sich Beugen unter den göttlichen Entscheidungs-
anspruch, das sich Beugen unter die apostolische Autorität. Der Intellek-
tualismus der Analyse hat keines von beiden, gerade die Gehorsamshaltung
ist als infantiles Trauma disqualifiziert. Das heißt praktisch: der psycho-
analytische Mensch (d. i. der eigentliche „Zivilisationseuropäer* Thomas-
Mann’scher T'ypologie) hat — nach menschlichem Ermessen wenigstens — kaum
eine Möglichkeit, ein Christ zu werden, ihm fehlt die Grundvoraussetzung dazu:
die Demut; dahingegen ist dem Christen der Zugang zur Psychoanalyse
insoweit gegeben, ja aufgegeben, als er zwischen dem mythischen und dem
gegenwärtigen Gott, zwischen dem legendären Faktum und der ihn persön-
lich angehenden Heilsbotschaft, zwischen der Religiosität und dem
Ultimatum des Evangeliums zu scheiden gelernt hat...
Für die Ausgangsfrage, ob ein Psychoanalytiker Christ sein kann, ist die
1) Sigm. Freud: Vier Psychoanalytische Krankengeschichten, Internat, Psycho-
analytischer Verlag, Wien 1932.
— 41 —
Antwort gegeben; sie lautet: schwer. Für die Gegenfrage, ob ein Christ
Psychoanalytiker sein kann, ist sie ebenfalls gegeben ; sie lautet: Durchaus,
soweit ı.) die Versuchlichkeit des psychoanalytischen Materialismus als
innerreligiöses Spannungselement begriffen wird, soweit 2.) die analytische
Methodik auf Funktionszusammenhänge beschränkt bleibt und die Frei.
heit der „anderen“ Betrachtungsweise, die da Glaube heißt, nicht angreift.“
Das rein Persönliche des Weltanschaulichen zeigt sich ja auch praktisch,
indem wir unter den Psychoanalytikern alle Schattierungen von Glauben,
Unglauben, Skepsis und Unentschiedenheit finden können. So mag es dem
Einzelnen sogar nicht immer leicht sein, sich konsequent auszudrücken,
Selbst der ganz unabhängig gewordene C. G. Jung erfährt von L. Paneth
Vorwürfe wegen Verschwommenheiten bei religiös-philosophischen Über.
legungen : „z. B. wenn es sich um die objektive Existenz Gottes handelt,
An vielen Stellen spricht Jung von den Ideen des Göttlichen als von Projektionen
unbewußter Inhalte, völlig seiner sonstigen Psychologie entsprechend. (Vgl. Psych,
Typen S. 352 : „daß die Seele die Geburtsstätte Gottes ist“.) Wenn es aber mit
einemmal heißt, die Existenz Gottes sei als psychische Realität ebenso irrational
und ebenso real, wie die Existenz eines Elefanten, so sehe ich nicht ab, mit welchen
Gründen man dann irgend einer Halluzination eines Geisteskranken, ja
auch nur einer irrtümlichen Vorstellung eines Gesunden, die objektive Realität
bestreiten dürfte. Am unerfreulichsten mutet es an, daß an ‘den meisten
Stellen dieser Art der an sich klaren und fundamentalen Unterscheidung:
Gott als objektive Realität und Gott als endopsychisches Phänomen — ganz
offenkundig ausgewichen wird. Dann aber sollte man besser überhaupt nicht
davon reden.“ („Der Nervenarzt“, 1932, H. 5.)
Wie klar und zu Ende gedacht, wie sicher und ehrlich ist hingegen der
Gedankengang Freud’s in „Die Zukunft einer Illusion“; folgerichtig schließt
sich ihm die Mehrzahl der Psychoanalytiker an. FE. H.
„Können wir ohne Gottesglauben leben ?“
Daß unser berühmter Dichter Franz Werfel gottesgläubig ist, hätte
nicht der Erwähnung bedurft; hat doch jedermann das Recht, unbehelligt
nach seiner Fagon selig zu werden. i
Der Dichter ist aber in diesem seinem Vortrag! so unduldsam, so eifrig
drauf aus, Proselyten zu machen ; und scheint ganz zu vergessen, — was ein echter
Dichter wissen muß —, daß es auch edle Menschen gibt, geben muß, ge-
rade unter den größten Geistern gibt und gegeben hat, welche ohne Gottes-
glauben leben konnten und können: aus Tradition, frühem Erleben und
angeborener Eigenart kommen eben auch Ungläubige zustande! Gott kann
ı) Paul Zsolnay-Verlag, Berlin, Wien, Leipzig, 1932.
— 472 —
|
es nicht verhindern. Auch Werfel kann es nicht verhindern; obwohl er
hier von einem Selbstgefühl erfüllt erscheint, als wüßte er Alles besser, und
wäre verpflichtet, aus seinem narzißtischen Rausch heraus, die Menschen
an ihre, richtiger seine Ideale zu mahnen, wobei denn auch die Psychoanalyse
angerempelt wird.
Wir wissen, welches Überlegenheitsgefühl die echte künstlerische In-
spiration verleiht; woher soll sie stammen, wenn nicht von Gott !?
Die Sphäre des Schaffens hat sich bisher jeder Analyse entzogen, weil
sie ihr Prestige im Glauben an das Wunder und Unerklärliche besser zu
verteidigen gemeint hat. _
Aber gar Vieles, von dem man im Lauf der Zeiten annahm, es sei
ein Geschenk Gottes, haben wir nüchterner ableiten gelernt. Es ist zu be-
denken, auch die Tiefenpsychologie ist — wie alle Wissenschaften — noch
sehr jung; auch noch zu jung, um zu wissen und sagen zu können, was
die dichterische Inspiration ist, und was das ozeanische Gefühl, das Gefühl
von Gott ist. Aber sie wird es erkennen; lassen wir ihr Zeit! Vielleicht
muß der Mensch nicht gerade „die Ewigkeit haben, um etwas von der
Seele zu wissen“, wie Voltaire es ausgedrückt hat.
Warum ist Werfel gerade auf dem Gebiet des Glaubens des Maßes
und der Weisheit des Alle umfassenden Dichters verlustig gegangen, des
duldsamen Wissens um die Psychogenese jeder Persönlichkeit aus ihren
eigenen Bedingungen ?
Hier ist er blind, weil-er von einem Vaterkomplex erfüllt ist, der ihn
in seinen Werken nur böse Väter darstellen und sie ihre Strafe finden läßt ;
reuig aber, in Schuldgefühl und Todesangst, kehrt er im Glauben zum
Vater zurück, indem er ihn als Gottvater wieder auf den Thron _ setzt.
Daher die Maßlosigkeit im Kampf für den Glauben, das Zutreibenwollen
noch weiterer Schäflein in Gottes Hürde. E. H.
Ariost und Freud
In der Ariost gewidmeten Vortragsreihe, die anläßlich der Ottava d’oro
(Goldenen Woche) im Juni dieses Jahres in Ferrara stattfand, sprach der
Psychiater Prof. Gaetano Boschi über die „Diagnose von Orlando’s Wahn“.
In seinen Ausführungen, die in der ferraresischen Tageszeitung „Corriere
Padano“ vom ı4. Juni abgedruckt sind, weist er darauf hin, daß die Dar-
stellung des Dichters einer exakten Diagnose zwar keine Handhabe biete,
wohl aber Einsichten enthalte, die im „Jahrhundert Freuds“ gewürdigt zu
werden verdienen, und die sich mit denen der Psychoanalyse berühren.
Der Darstellung dieser Übereinstimmungen ist der Hauptabschnitt des Vor-
trags gewidmet, der unter dem Titel „Von der Intuition des Ariost zu den
Theorien Freuds“ einige Gedanken der Psychoanalyse einem breiten Publi-
kum in literarisch gewandter Darstellung vorführt. Dr. E.K.:
— 413 —
Zehn Jahre Wiener psychoanalytisches Ambulatorium
Der im Heft 2 der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse 1932 ab-
gedruckte Bericht über die Geschichte dieses Institutes und seine Tätigkeit
hat in der Tagespresse von Wien und Bundeshauptstädten ein anerkennen-
des Echo gefunden. Die Unentbehrlichkeit des reichlich frequentierten Am-
bulatoriums für Unbemittelte ist nun seit Jahren bewiesen ; Lehrinstitut zur
Ausbildung von Ärzten, Erziehungsberatungs-Stelle und Abteilung für Grenz-
fälle und Psychosen ergänzen die Wirksamkeit. Die städtischen Jugend-
Fürsorgestellen, die Eheberatungsstelle u. a, Krankenkassen, Gerichte und
gelegentlich die psychiatrische Klinik senden Patienten zur Begutachtung oder
Behandlung. Trotzdem aber bekennt sih — wie die öffentliche Meinung
kritisch hervorhebt — weder der Staat noch die Stadt zu der klaren Ver-
pflichtung, dieses humanitäre und wissenschaftliche
Institut, welches auch ausländische Schüler nach Wien zieht, materiell
zu fördern. Die mit anerkanntem Opfermut von Professor Freud und
den Mitarbeitern beigestellten Summen sind nicht mehr imstande, die Wei-
terführung des wissenschaftlihen Lehr- und Wohltätigkeits-Institutes im
bisherigen Umfange zu gewährleisten, geschweige die den Bedürfnissen
entsprechende Vergrößerung möglich zu machen.
Wer, wie wir, von der Kultur-Mission der Psychoanalyse durchdrungen
ist, muß bedauern, daß noch nicht genügend Menschen, der gleichen Über-
zeugung huldigend, bereit sind, uns über die jetzige wirtschaftliche Not hin-
wegzuhelfen. Unsere Taktik muß bleiben, die Überzeugung von dieser
Kultur-Mission weiter zu verbreiten. E.H.
Fine Individualpsychologin über
Aichhorn „Verwahrloste Jugend”
Frau Dr. A. Rühle-Gerstel besprach im „Mitteldeutschen Rundfunk“,
Leipzig, Aichhorns Buch und sagte u. a.:
In der Verwahrlostenerziehung ist die Psychoanalyse ein gelegentlich wert-
volles Hilfsmittel. Die Hauptsache ist immer die diesseits aller Theorie wirk-
same lebendige Einfühlung des Erziehers in den zu betreuenden Menschen.
Hier bietet Aichhorn eine unübertreffliche Fülle von konkretem Anschauungs-
Material... Oft gibt er ganze Gespräche zwischen ihm und den Kindern,
ihm und den Eltern wieder. Das ist eine wahre Herzensfreude. Man möchte,
wenn man liest, sogleich in ein Aichhornsches Erziehungsheim gebracht wer-
den!,.. Die Geduld und Liebesfähigkeit dieser Erzieher setzen einen in
Erstaunen und Bewunderung. Aber sie ist offenbar die richtige Methode...
Die Wirksamkeit erzieherischer Maßnahmen beruht auf der Gefühlsbindung
an den Erzieher, „Übertragung“ genannt, und auf der Identifizierung mit
sittlich hochstehenden Personen. r
=
Psychoanalyse und Literaturwissenschaft
Die Richtung gebende, in dieser Zeitschrift (1930, Heft ı und 2) dankbar
anerkennend referierte Schrift von Dozent Walter Muschg „Psycho-
analyse und Literaturwissenschaft“ fand auch im „Philosophi-
schen Jahrbuch der Görresgesellschaft“, Band 44, eine Besprechung durch
H. Fels. Diese Besprechung ist ein so charakteristisches Beispiel einer
faktiösen, die Wahrheit entstellenden Darstellung, daß wir nicht unterlassen
wollen, sie niedriger zu hängen.
Es wird nur der kritische Teil referiert, der für die Psychoanalyse
lobende aber unterschlagen! Gibt es keine Objektivität für den Referenten ?
Geht die Wahrheit, .wenn sie dem Referenten voll vorgefaßter Meinung
auch gegen den Strich geht, nicht vor ?
Daß Muschg im Schluß-Appell seiner Arbeit die Stunde für gekommen
erklärt, wo die Literaturwissenschaft nicht länger darauf verzichten sollte,
sich in Ehren und zu ihrem eigenen Gewinn auf die Auseinandersetzung
mit ihrem Rivalen Psychoanalyse einzulassen, wird ebenso verschwiegen, wie
das Eingeständnis drohender Entfremdung der Literaturwissenschaft vom Le-
ben der eigenen Epoche, gegen die empfohlen wird, auch die Stimme der
Psychoanalyse als die der lebendigen Gegenwart zu hören. Die Psychoanalyse
wird ja hier vielfach auch gerühmt und gegen Mißverständnisse in Schutz
genommen, z.B. heißt es: Freud habe die Grundvoraussetzung aller wissen
schaftlichen Kunstbetrachtung klar und schön ausgesprochen. Die Förderung der
Symbolik sei dankbar anzuerkennen ; die Frage des künstlerischen Realismus sei
durch die Psychoanalyse auf einer neuen Grundlage zur Diskussion gestellt,
womit sich die Wissenschaft von der Dichtung noch ausgiebig beschäftigen
werde. Freuds Werk sei zum mindesten als Ferment in der Entwicklung
der modernen Dichtung für die Literaturhistoriker interessant geworden etc.
All dies verschweigt Herr Fels hartnäckig und schließt sein Referat mit der
Bemerkung, die Schrift interessiere mehr den Philologen als den Philosophen,
„da der philosophische Wert der Psychoanalyse nicht mehr zur Diskussion
steht“. Philologe steht hier irrtümlich für Literaturhistoriker, vermutlich, um
letztere fernzuhalten. Wenn eine Wissenschaft keinen Wert für die Philo-
sophie hat, dann ist sie offenbar nach Ansicht Fels’ überhaupt wertlos.
Vielleicht kommt über die Uhniversitäts-Philosophie auch einmal ein so
feinfühlender, unabhängiger Reformator wie Muschg ! E.H.
Dank eines Dichters
Der Autor des Aufsatzes „Franz Werfel als Erzieher — der Väter“ in
dieser Zeitschrift, ı992, Heft ı, hat von dem Dichter folgendes Dank-
schreiben erhalten:
„Ihr so schöner und warmer Aufsatz über die ‚Geschwister von Neapel,
= I =
hat mich aufrichtig beglückt. Das tiete psychologische Verständnis, das Sie
dem Inspirations-Akt entgegenbringen, sowie Ihr klarer Blick für den ver.
borgenen Erziehungs-Sinn meines Buches bilden für den Autor Freuden,
die ihm nur höchst selten begegnen. Dank von Herzen Ihr
Franz Werfel.“
IT
BÜCHER UND
ZEITSCHRIFTEN
HNINUINNNNNNNNNNN
Dr. M. DORFR. Historische Grundlagen der Psycho-
analyse. F. Meiner, Leipzig 1932.
„Was fruchtbar ist, allein ist wahr.“
Freud, der immer wieder die Determiniertheit alles psychischen Geschehens
hervorhebt, hat wohl in der „Traumdeutung“ geschrieben, er habe „bisher
Psychologie auf eigene Faust getrieben“ ; aber er ist sich gewiß immer klar
gewesen, daß sein psychologisches Gedankengut auch auf der Athmosphäre
seiner Zeit, den Einflüssen seiner Lehrer und Freunde beruhen muß. Wenn
also hier in dankenswerter Weise Herbart, Fechner, Griesinger und Meynert,
auch Breuer und Lipps als Anreger nachgewiesen werden, mag das Manchen
interessieren. Bei Herbart finden sich z. B. schon die Begriffe Unterschwellig-
keit, Hemmung und Verdrängung ; die Auffassung von einem psychischen
Mechanismus usw. Aber erst ein schöpferischer Kopf wie Freud hat daraus
fruchtbares Neues geschaffen. Ein grundlegender Fehler dieser Darstellung
Dorers ist ihr Titel, denn die Psychoanalyse ist in ihm mit der psa. Psycho-
logie gleichgestellt, mit der Arbeitshypothese Freud’s, mit der Metapsycho-
logie. Nicht auf dieser beruhen die Leistungen der Psychoanalyse, ihre Ent-
deckungen, ihre medizinische Bedeutung, ihre allgemeinen Auswirkungen. Daß
Freud’s Methode, besser die Theorie der Methode, dem deterministischen
Positivismus und Materialismus des ausgehenden Jahrhunderts verpflichtet
ist, ist gewiß richtig; aber das Originelle der Psychoanalyse sind ihre medi-
zinischen Leistungen, ihre Förderung der Wissenschaft vom Unbewußten,
vom lebendigen Menschen, nicht mehr nur durch Versuche im psychologischen
Laboratorium. Wenn der Autor in seiner Kritik hervorhebt, die Auffassung
des Seelischen als eines Mechanismus genüge nicht, es gäbe darüber hinaus
noch Seelischgeistiges, z. B. die Welt der Werte; die Psychoanalyse sei
nicht tragfähig genug, um das Seelische in seiner Totalität zu erforschen ;
den Trieben komme zwar im Seelenleben eine Bedeutung zu, aber nicht
F
— 416 —
ihnen allein; endlich daß die Psychoanalyse in der Wahl ihres Forschungs-
gegenstandes die Grenzen ihrer Kompetenz überschritten habe — so ver-
schwinden alle diese Einwände als nebensächlich: „besser ein lebendiger
Irrtum, als eine tote Wahrheit!“ Solche Untersuchungen, wie die Dorers,
sind keine fruchtbaren; sie befriedigen wohl den Sinn für Vollständigkeit
und Ordnung, und mögen das vortreffliche Buch von Heinz Hartmann über
„Die wissenschaftlichen Grundlagen der Psychoanalyse“ historisch ergänzen.
Wie anders gefördert aber legt man Hartmann’s Buch aus der Hand, das
auf einer Kenntnis des ganzen Gebietes der Psychoanalyse beruht, wie
dankbar all dem Neuen und Tiefen, das die Analyse auf mannigfachen Ge-
bieten gebracht hat; während die Kühle und Trockenheit des Dorer’schen
Buches wieder beweist: wer die Psychoanalyse nicht erlebt hat, weiß sie
nicht zu würdigen. Es klingt eher mißgünstig, als wohlwollend, wenn her-
vorgehoben wird, daß „der Laie sich freut, bei Freud eine Psychologie zu
finden, die nicht im Gewande abstrakter Theorien einhergeht. Die Hinter-
gründe und Untergründe dieser Psychologie dagegen sieht er nicht.“ Sollen
wir ihn deshalb bedauern !? Die Resultate der Untersuchung dieses Buches
sollen übrigens eine Waffe schmieden zu einer umfassenden Kritik der
Psychoanalyse und ihres Schöpfers. Am Ende wird man einem erfolgreichen
Tiefseeforscher vonseite der Maschinen-Ingenieure die geförderten Schätze
entwerten wollen, weil die Förder-Maschine den engeren Fachleuten nicht
vollkommen erscheint! ? E. H
Der Roman einer Analyse
Ren& Laforgue, der französische Psychoanalytiker, welcher sich bereits
öfters für künstlerische Persönlichkeiten vom Standpunkt der Analyse aus
interessiert hat (L’&chec de Baudelaire, Le cas de Jean-Jacques Rousseau),
veröffentlicht nun (bei Denoel et Steele) eine Erzählung „Misere de l,homme‘“,
die weniger durch ihre Form (sie ist, als Tagebuch, ein Monologue inte-
rieur), als durch ihren Inhalt und ihre Absicht aus der Romanliteratur her-
ausfällt. Der Held unserer Geschichte, ein leidenschaftlich in sein Unglück
verliebter und auf dieses Unglück immer wieder lossteuernder Mensch, ist
die Beute toller Zwangshandlungen ; er ist unfähig, in Gesellschaft leben zu
können, unfähig zur Liebe — er hat den Kontakt mit der Familie ver-
loren, sich von der Frau scheiden lassen müssen und vegetiert in der
Einsamkeit dahin. Der Zufall, ein guter Freundesrat, und „un reste de vi-
talite“ führen ihn zu einem Analytiker; das Tagebuch, das hier veröffent-
liht wird — le cas decrit dans ce journal est un cas fictif, betont La-
forgue — erzählt die Geschichte einer Heilung, es ist das Tagebuch, das
der Kranke gerade während der Zeit niedergeschrieben hat, in der er in
— 477 —
%
Analyse war. Man erkennt natürlich deutlich den eingestandenen Zweck der
Arbeit: „alle jene mit den Problemen unseres Seins vertraut zu machen,
die es nötig haben, die nackte Wahrheit zu kennen, sei es, um sich, oder
um andere zu verstehen und zu heilen“ ; und ist trotzdem nicht verstimmt,
weil diese Absicht, wie man wünschen muß, tatsächlich hinter dem künstle-
rischen Können zurücksteht, das sie verwirklichen will. Man hat es, bis auf
einige undichte, zu sehr mit Theoretischem belastete Stellen, wirklich mit
einem Roman zu tun und nicht mit einer Tendenzschrif, zu der „Misere
de I’homme“ leicht hätte werden können; von der Heilung des Kranken
wird daher beinahe nirgends gesprochen, wohl aber wird sie darge.
stellt, das heißt, wir fühlen aus den Ereignissen heraus, daß der Kranke
sich von seinem Zwang löst, daß er nach bitteren Zwischenfällen den Weg
zur Frau, zu sinnvoller Tätigkeit, zur Gesellschaft wieder gefunden hat. Die
besondere Eigenheit dieses Romans ergibt sich dann von selbst: wir haben
den Bericht einer Neurose vor uns, die anders als die Romane von Du-
hamel, Baillon, Green mit einem Happy end schließt. Da er die Geschichte
einer Analyse ist, wissen wir natürlich auch, warum. Dr, Fritz Lehner.
Zu Goethes Liebesleben
In der „Zeitschrift für Sexualwissenschaft uud Sexual.
politik“, ı8. Band, 8. Heft, erklärt sich H. Vorwahl (Harburg) in
einem Aufsatz „Zu Goethes Liebesleben“ mit den Feststellungen
der Psychoanalytiker über dasselbe Thema sehr einverstanden und bringt
weiteres Material. Schon der Philosoph Simmel betonte bei Goethe „eine
lebenslang geübte und verkündete Entsagung als positives Formprinzip seines
Lebens“. Bestätigungen ergeben sich aus einer Reihe lateinisch geschriebener
Aufzeichnungen Goethes, die wenig bekannt sind (Weimarer Ausgabe Bd. 53,
Nachträge). Sexuelle Minderwertigkeitsgefühle reagiere Goethe in den „Be-
merkungen zu der Sammlung Priapeia“ ab und in der römischen Elegie IV 109;
den Umfang seiner Beschäftigung mit der T'heorie des Sexuallebens zeigen
seine Bemerkungen zu Augustinus’ Notizen über die erotischen : Gottheiten
der Römer. j
Vorwahl weist auch auf das interessante sprachliche Problem in Goethes
Briefwechsel mit seiner Frau hin, wo die Menstruation als „Besuch von
Meerweibchen“, die Schwangerschaft als „Pfuiteufelchen“ bezeichnet wird, zu-
gleich bezeichnende Gefühlreaktionen ausdrückend.
Auch nach C. G. Carus, der aus nächster Nähe ein unschätzbares Bild
vom Menschen Goethe gegeben hat, „war die Liebe als Bestimmungsgrund
der ganzen Existenz der Individualität Goethes nicht bestimmt, und dieser
Mangel war es, der ihn der Entsagung fähig machte“.
— 478 —
Fin tschechischer Almanach
Das verdienstvolle Komitee, das im Oktober 1931 am Geburtshause Prof.
Freud’s in Freiberg in Mähren (tschechoslowakische Republik) eine Gedenk-
tafel angebracht hat, ließ auch unter dem Namen eines Psychoanaly-
tischen Almanachs ein Buch in tschechischer Sprache erscheinen, das
einen Bericht über die Feierlichkeit bringt, sowie eine Reihe von populären
Aufsätzen, redigiert vom Prager Nervenarzt EE Windholz.
In der Einleitung verteidigt Windholz die Psychoanalyse als Wissenschaft
und rechtfertigt ihre Methodik durch Vergleich mit den Naturwissenschaften.
Er verweist ferner auf Freuds Ideenverwandtschaft mit Dostojewski.
Primarius Stuchlik (Kosice) betont in seinem Aufsatz „Die Tie-
fen der Seele“ die Notwendigkeit der Annahme unbewußter seelischer Vor-
gänge. Freud habe die kausale Psychotherapie begründet.
Dozent Osipov (Prag) bringt einen schon mehrfach von ihm gehaltenen
Vortrag über „die Psychopathologie des Alltagslebens“, worin er auch eigene,
sehr beweisende Beispiele berichtet, Er hebt den Wert und die Unschäd-
lichkeit der psychoanalytischen Behandlung hervor.
Einen mehr philosophischen Beitrag bringt der Röntgenologe Slabihou-
dek (Mährisch-Ostrau): „Freudismus und der Mensch“. Er vergleicht Freud
mit Bergson, Driesch und James.
Nervenarzt Frank (Sanatorium Theresienbad in Eichwald) schreibt über
„Psychoanalyse und Psychiatrie“ : die beschreibende Psychiatrie sei nun erst
zu einer verstehenden geworden, nachdem Freud die Sprache der Seele ent-
deckt hat.
Große Vertrautheit mit der Psychoanalyse verraten auch die beiden Aufsätze
von Windholz über „Die psychoanalytische Therapie“, sowie „Die
Struktur der Seele und die Anwendung der Psychoanalyse“. Namentlich der
zweite Aufsatz ist sehr anregend und instruktiv und behandelt auch die
Anwendung auf Biographik, Dichtung und Kunstwerk.
Es besteht die Absicht, im Winter 1992/33 einen weiteren Sammelband
herauszugeben. E. H.
„Da betreibe ich doc lieber Psychoanalyse“,
schreibt uns ein Arzt. „So langwierig auch meine Ausbildung zum regel-
rechten Psychoanalytiker war, so mühsam oft der Kampf gegen die Wider-
stände der Patienten in der Analyse ist, — man blickt doch jedesmal tief
in die Seele eines Menschen, genießt immer wieder die Anagnorisis (das
Wiedererkennen) der Entdeckungen eines der größten Psychologen, vertieft
seine Überzeugungen über das Unbewußte, betreibt selbst Forschung und
findet vielleicht ein kleines Neues! Der bloße Psychotherapeut bei seiner
— 479 —
Wachsuggestion aber hat nur öde immer dieselben Worte zu wieder-
holen. Wie hält man das aus!? In einem medizinischen Blatt fand ich
neulich folgenden tragikomischen Prioritätsstreit um eine groteske Methode
der seelischen Behandlung in einem Brief an die Redaktion ganz ernst
genommen:
Ich ersuche höfl. um Kenntnisnahme, daß die von Herm Dr. S.
publizierte „Methodik“ von mir insoferne schon seit Jahren
geübt wird, als ich geeigneten Patienten immer wieder den Rat gebe, sub-
jektiven seriösen Beschwerden gegenüber „den Götz von Berlichingen-
Standpunkt“ einzunehmen, id est: zweckbewußte Vernachlässi-
gung ihnen gegenüber zu trainieren, sofern eine organische Grundlage nicht
gefunden werden kann. Ich gebrauche zur Illustration da auch oftmals den
Hinweis auf den bellenden Hund, der meist zu bellen aufhöre, wenn man
sein Gebell zielbewußt nicht beachte. Diese kleinen Hilfstricks — mehr sind
sie ja nicht, denn sie dürfen ja nur als Einbau in eine breiter angelegte
Psychotherapie, bezw. oft auch damit kombinierte somatisch angreifende Be-
handlung verwendet werden — bewähren sich in der Tat meist gar nicht
übel; jedoch darf man darin keine Panazee erblicken ; daß sie, drastisch
vorgebracht, gelegentlich im Sinne einer Überzeugung wirksam sein können,
liegt ja auf der Hand (auch im Sinne der SAR secundum me).
Mit koll. Hochachtung
Prof. St.“
Wahrhaftig eines der sonderbarsten Bekenntnisse zu Goethe im Jahr
seines 100. Todestages. {
IIINNNNNNNNNNDNNNNNNDNUNUNNND
SOEBEN ERSCHIEN:
MELANIE KLEIN
| DIE PSYCHOANALYSE DES KINDES
324 Seiten BROSCHIERT M 10.—. IN LEINEN M 12.—
INHALT: 1. Teil. Die Technik der Kinderanalyse : Die psychologischen
| Grundlagen der Kinderanalyse. Die Technik der Frühanalyse. Die
| Zwangsneurose eines sechsjährigen Mädchens. Die Technik der
| Analyse im Latenzalter. Die Technik der Analyse im Pubertätsalter.
Die Neurose des Kindes. Die Sexualbetätigung des Kindes.
Il. Teil. Frühe Angstsituationen und ihre Auswirkung auf die Gesamt-
| entwicklung: Frühstadien des Odipuskonfliktes und der Über-Ich-
| ‚ Bildung. Die Beziehung zwischen der Zwangsneurose und den Früh-
stadien der Über-Ich-Bildung. Die Bedeutung früher Angstsituationen
I! für die Ichentwicklung. Die Auswirkungen früher Angstsituationen
| auf die weibliche Sexualentwicklung. Die Auswirkungen früher Angst-
I! situationen auf die männliche Sexualentwicklung.
- nhang: Grenzen und Möglichkeiten der Kinderanalyse.
ET
Eigentümer, Verleger und Herausgeber: 3
Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Ges. m. b. H., Wien, 1,, Börsegasse ı1
Schriftleiter und verantwortlicher Redakteur: Dr. Eduard Hitschmann, Wien, IX., Währingerstraße-24
Druck: Johann N. Vernay A.-G., Wien, IX., Canisiusgasse 8—10
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Können wir ohne Gottesglauben leben? . 2.2. 2 2 en nen. 99 + 472
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Das vorige Heft enthielt u. a. folgende Beiträge
Theodor Reik . Grenzland des Witzes
G. Bychowski . Marcel Proust als Dichter der psychologischen Analyse
L. Jekels . . . Das Schuldgefühl
Karl Bachler . . Das Theater als Abwehr und Wunscherfüllung
. „
A. J. Storfer . „Etwas erinnern” — „An etwas vergessen
EEE
INN
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