Digitized by
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
ITY OF MIC
Digitized by
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
REPERTORIUM
FÜR
KUNSTWISSENSCHAFT
REDIGIERT
VON
KARL KOETSCHAU
DIREKTOR BEI DEN KÖNIGE. MUSEEN ZU BERLIN
XXXV. Band.
BERLIN W. 35
DRUCK UND VERLAG VON GEORG REIMER
1912.
Digitized by
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
t
HNB ARTS
Digitized by
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Inhaltsverzeichnis
Seite
Eine chinesische Kunsttheorie. Von Otto Fischor .i r 143
Perspektive und Bildarchitektur bei Jan van Eyck. Von G . Joseph Kern . Mit
27 Abbildungen... 27
Die Engel am französischen Grabmal des Mittelalters und ihre Beziehungen zur
Liturgie. Von K Eicher ... 97
Studien zur Altfrankfurter Malerei. II. Von Karl Simon . Mit 2 Abbildungen . . 120
Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst mit ihren neuen Pfad¬
findern. Zur Kritik und Ergänzung der Forschungen J. Strzygowskis und
L. v. Sybcls. Von O. Wulff (Fortsetzung).193
Leonardo da Vincis Entwurf eines Madonnenbildes für S. Francesco in Brescia
(1497). Von Emil Möller . Mit 4 Abbildungen.241
Nochmals die Perspektive bei den Brüdern van Eyck. Eine Entgegnung von
Professor Dr. Doehlemann (München). Mit 2 Abbildungen.262
Antwort auf die Entgegnung des Herrn Professors Doehlemann. Von G. Joseph Kern .
Mit 1 Abbildung.268
Verkannte Sternbilder und Ketzer Vorstellungen in der mittelalterlichen Kunst. Ein
Beitrag zur neueren Kunstgeschichte. Von Karl Borinski . Mit 1 Abbildung . 291
Zum Thema der Darstellung des zweiköpfigen Adlers bei den Byzantinern. Von
Nixog A . Bfrje . .321
Der Codex Bruchsal 1 auf seine Herkunft untersucht. Von Dr. Sichert .331
Buffalmacco- und Traini-Fragen. Einige Randbemerkungen zu Peleo Baccis Buftal-
macco-Publikation. Von J\ Kurawelly .337
A. Dürers »Pfeifer und Trommler«. Ein Beitrag zur Konstruktion der Figuren und
zur Datierung des Bildes. Von Dr. H von Ochenkowski .363
Hans Holbein d. J. und Dr. Johann Fabri. Von Hans Koegler .379
Der Bauer in der deutschen Malerei von ca. 1470 bis ca. 1550. Von Berthold
Haendcke .385
Neue Dubroeucqstudien. Von Robert Hedicke .402
Eine neue archivalische Notiz Uber Hans Pleydenwurflf? Von Albert Gümbel . . . 412
Johann Rudolf Rahn f (24. April 1841 bis 28. April 1912). Von Josef Zcmp . . 414
Surp Hagop (Djinndeirmene), eine Klosterruine der Kommagene. Ein Beitrag zur
Bewertung und Datierung der nordmesopotamischen Kunst. Von S . Guy er.
Mit 12 Abbildungen.483
Der »Fürst der Welt« in der Vorhalle des Münsters von Freiburg i. B. Von
Rudolf Asmus .509
Künstlerbriefe aus dem Archiv des Domes von Cremona. Von Benno Geiger . . 513
Beiträge zur Biographie Hugos van der Goes und zur Chronologie seiner Werke.
Von Hjalmar G . Sander .519
Das Gothaer Liebespaar und der Hochaltar zu Blaubeuren. Von V . C. Habicht.
Mit 1 Abbildung.546
Digitized by
C* Original from
UNlVER^ITYOF MICHIGAN
IV
Inhaltsverzeichnis.
Notizen.
Seite
Lukas Moser. V % C, Habicht . 65
Urkundenauszttge über Maler- und Bildhauemamen in Freiburg i. Br. Helmuth
Th. Bossert . 66
Eine verlorene Kreuzigung von Michel Wolgemut. Mit 1 Abbild. Erich Abraham 159
Be sprechungen.
W. Pinder. Mittelalterliche Plastik Wttrzburgs. Habicht . 69
Sascha Schwabacher. Die Stickereien nach Entwürfen des Antonio Pollaiuolo in der
Opera di S. Maria del Fiore zu Florenz. Hanns Schulst . 76
Alfred Gudemann. Imagines Pbilologorum. 160 Bildnisse aus der Zeit von der
Renaissance bis zur Gegenwart. Gustav Au »Jena. 77
Eberhard Hanfstaengl. Hans Stethaimer, Kunstgeschichtliche Monographien XVI.
Eich. Hoffmann .. . . . . 163
Fritz Hoeber. Die Frührenaissance in Schlettstadt. Baum .164
Marius Vachon. La Renaissance^francaise, l'architecture nationale, les grands maitres
magons. /Conrad Eschcr .165
J. Rohr. Der Straßburger Bildhauer Landolin Ohmacht. K. Simon .171
Curt H. Weigelt. Duccio di Buoninsegna. Vitzthum .174
Aug. L. Mayer. El Greco, eine Einführung in das Leben und Wirken des Domenico
Theotocopuli genannt cl Greco. Hugo Kehrer .178
Wilhelm Rolfs. Geschichte der Malerei Neapels. August L . Mayer .180
Robert Bruck. Die Sophienkirche in Dresden, ihre Geschichte und ihre Kunst¬
schütze. Karl Steinacker .181
A. E, Brinckmann. Deutsche Stadtbaukunst in der Vergangenheit. FritzHo eher 273
Paul Drey. Die wirtschaftlichen Grundlagen der Malkunst. Versuch einer Kunst¬
ökonomie. R . Oldtnbourg .278
Konrad Escher. Barock und Klassizismus; Studien zur Geschichte der Architektur
Roms. Horst .281
Catalogue of early Italian engravings preserved in the department of prints and
drawings in the British Museum. Engelbert Baumeister .283
Wilh. Ostwald. Monumentales und dekoratives Pastell. E. Berger .285
August Schmarsow. Juliano Fiorentino. Ein Mitarbeiter Ghibertis in Valencia.
F. SchotHnüller .287
Richard Müller-Freienfels. Psychologie der Kunst. Ailcsch .419
M. Liefmann. Kunst und Heilige. J ’. B. Kißling .421
Mainzer Zeitschrift. F. R. .422
Kunstdenkmäler der Schweiz. Ernst Cohn»Wiener .423
J. L. Fischer. Ulm. Habicht .430
J. A. F. Orbaan. Rijks geschiedkundige publication. Weizsäcker .431
Karl Woermann. Von Apelles zu Böcklin und weiter. W. v. Seidlitz .438
Julius Vogel. Bramante und Raffael. F. Schottmüller .444
Herrmann Egger. Römische Veduten, Handzeichnungen aus dem XV.—XVIII. Jahr¬
hundert. — Architektonische Handzeichnungen alter Meister. Horst .... 446
l)r. Alfred Lauterbach. Die Renaissance in Krakau. Max Lossnitzcr .450
Walter Fricdländer. Das Kasino Pius IV. F. Schottmüller .453
Karl Lohmever. Saarbrücken. Habicht .457
Digitized by
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Inhaltsverzeichnis.
v
Seite
G. Leidinger. Verzeichnis der wichtigsten Miniaturen-Handschriften der Kgl. Hof- und
Staatsbibliothek Manchen. — Miniaturen aus Handschriften der KgL Hof- und
Staatsbibliothek in München. Ernst Cohn-Wiener .459
Paul Buberl. Die romanischen Wandmalereien im Kloster Nonnberg in Salzburg.
Paul Clemen .460
August L. Mayer. Die Sevillaner Malerschule. Ernst Kühnei .463
Siegfried Weber. Die Begründer der Piemonteser Malerschule im XV. und zu Be¬
ginn des XVI. Jahrhunderts. Gronau .465
Paul Frankl. Die Glasmalerei des XV. Jahrhunderts in Bayern und Schwaben.
//. Schmitz . 469
Willy Hes. Ambrosius Holbein. Glaser .471
C. Hofstede de Groot. Beschreibendes und kritisches Verzeichnis der Werke der
hervorragendsten holländischen Maler des XVII. Jahrhunderts. Eduard
Plietzsch .473
Dr. Peter P. Albert. Der Meister E. S., sein Name, seine Heimat und sein Ende.
Beth .477
Harald Brising. Antik Konst i Nationalmuseum. Urval och beskrifning. John
Kruse .549
Theobald Hofmann, Walter Amelung und Fritz Weege. Raffael in seiner Bedeutung
als Architekt. Ernst Steinmann .553
Corrado Rici. Baukunst und dekorative Skulptur der Barockzeit in Italien. Horst 555
Robert H. Hobert Cust. Benvenuto Cellini. F. Schottmüller .557
W. H. James Weale und Maurice W. Brockwell. The van Eycks and their art.
Max J. Friedländer .557
Frederick Mortimer Clapp. On certain drawings of Pontormo. Fritz Goldschmidt 559
Kurt Freise. Pieter Lastmann, sein Leben und seine Kunst. Kurt Erasmus . . 361
Collection des Grands Artistes des Pays Bas. Gerard Terborch par Franz Hellens.
Eduard Plietzsch . 562
Josef Kern. Karl Blechen, sein Leben und sein Werk. Beth .564
Paul Kristeller. Kupferstich und Holzschnitt in vier Jahrhunderten. — Hans
W. Singer. Unika und Seltenheiten im Kgl. Kupferstich-Kabinett zu Dresden.
Walter Gr äff . . 1 .566
J. L. Fischer. Alte Glasgemälde im Schloß Hohenschwangau. Leo Balot . . . 568
Ausstellungen und Auktionen.
Die Grafton-Ausstellung in London. W. von Seidlitz . 81
Die Sammlung Weber. Curt Glaser . 87
Erwiderungen.
Erwiderung.»83
Erwiderung.4$ 2
Repertorium für Kunstwissenschaft, XXXV.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die chinesische Kunsttheorie
Ein Versuch
von Otto Fischer
Die chinesische Kunst und vorzüglich die chinesische Malerei, als das
Höchste, was Asien in der bildenden Kunst geschaffen, ist der Gegenstand
eines immer stärker erwachenden Interesses. Von europäischer wie von ja¬
panischer Seite ist es versucht worden, über das Wesen und die Geschichte
jener Bildkunst einen allgemeinen Überblick und durch den Vergleich mit
der Weise westlicher. Schöpfungen in ihr besonderes ästhetisches Gesetz
einen Einblick zu geben. Zugleich scheint die kunsthistorische Forschung
die ersten Schritte zu tun, auf dem Wege der kritischen Einzeluntersuchung
die Entwicklung des Stils, oder vielleicht der Stile, einer klaren Erkenntnis
näher zu bringen. Eis ist endlich die Fülle der chinesischen Kunstliteratur
durch mehrere, zumeist englische Publikationen dem europäischen Leser
zugänglich gemacht. Diese eigene chinesische Kunsttradition ist zwar
hier und dort schon verwertet, aber noch nie zum Gegenstand einer besonderen
systematischen Untersuchung gemacht worden. Es scheint mir aber für
die historische Forschung, sobald sie die Daten der chinesischen Über¬
lieferung benutzt, unerläßlich, zunächst einmal über die Art dieser Tradition
Klarheit zu besitzen und über die kunstgeschichtlichen Ergebnisse allge¬
meiner Art, die aus ihr allein schon zu entnehmen sind, unterrichtet zu sein.
Eis scheint mir ferner für jede ästhetische Untersuchung über jene uns fremde
Kunst von ganz besonderer Wichtigkeit, zu wissen, was die Chinesen selber,
ihre Schöpfer und eifersüchtigen Genießer, über Kunst gedacht und ausge¬
sprochen haben, d. h. die chinesische Kunsttheorie zu kennen. Das Material,
das wir besitzen, ist überreich.
Bei dem Versuche, den ich hier unternehme, kann es sich nur um
eine Vorarbeit handeln. Wir besitzen bis heute und wohl in absehbarer Zeit
noch keine vollständige und philologisch genaue europäische Publikation
chinesischer Kunstliteratur. Hirth und Giles haben uns nur eine wie es
scheint ausgezeichnete und reiche Auslese der wertvollsten Nachrichten
vermittelt, der sich ergänzend einige kleinere Arbeiten anschließen. Es
fehlt also die Vollständigkeit des Materials. Auf der andern Seite erschwert
Repertorium für Kunstwissenschaft, XXXV. *
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
2
Otto Fischer,
cs die Übersetzung dem Nichtkenner des Chinesischen, den Sinn der Über¬
lieferungen mit Gewißheit zu erfassen. So vorzüglich die Übertragungen
der bewährten Sinologen sein mögen, so legen die Chinesen selbst auf die
Exaktheit der Bezeichnungen einen so großen Wert, daß es manchmal
entscheidend wäre, den genauesten Wortlaut zu besitzen, und es läßt hier
gerade die etwas allzu freie und europäische Wiedergabe von Giles manchmal
im Stich. Trotz dieser Schwierigkeiten glaube ich, ist es möglich und
nützlich, den wesentlichen Gehalt der chinesischen Kunsttradition, soweit
sic die Malerei betrifft, systematisch zusammenzufassen, darzustellen und
zu erörtern. Die Beschäftigung mit der gesamten chinesischen Kultur in
ihren zugänglichen Denkmalen und die Bemühung speziell um die Kunst¬
werke selber mag jenen Mängeln vielleicht ein Ausgleich sein. Jedenfalls
sei cs versucht, die Richtlinien eines Systems zu ziehen, die andere sei es
verbessern, sei es ergänzen und füllen werden.
Die Quellen.
Die chinesische Kunstliteratur läßt sich in verschiedene Gruppen teilen.
In erster Linie stehen Abhandlungen über die Malerei. Ihr Umfang ist zu¬
meist nicht groß, ihr Inhalt allgemeiner und prinzipieller Art, sei es, daß es
sich mehr um ästhetische Betrachtungen oder um praktische Ratschläge
und Erörterungen handelt. Ihre Verfasser sind die literarisch hochgebildeten
Maler selbst. Es ist möglich, daß schon die Aussprüche, die von dem gelehrten -
Ku K'ai-chi überliefert sind (er ist nachweisbar von 365—405 n. Chr. tätig)
auf eigene Aufzeichnungen zurückgehen mögen. Die erste mit Sicherheit
überlieferte und teilweise erhaltene Abhandlung rührt von dem älteren
Wang Wei, der unter der früheren Sung-Dynastic blühte (420—479 n. Chr.).
Nach ihm käme der Kaiser Yüan-ti (regiert 552—555), dessen Bemerkungen
über die Malerei jedoch Hirth die Authentizität bestreitet. Es folgt endlich
der große Wang Wei (699—759), wie jener Kaiser zugleich Dichter und
Maler, und nach ihm haben bis in die späten Zeiten manche der bedeutend¬
sten Meister ihre Ansichten über Kunst in kurzen Schriften niedergelegt.
Chang Tsao (um 780) scheint als erster speziell über die Landschaft ge¬
schrieben zu haben, von Li K'an (Anfang des 14. Jahrh.) sind zwei Bücher
über Bambusmalerei erhalten. Von anderen beträchtlichen Namen seien
Ching Hao und Li Ch’öng aus dem 10., Kuo Hsi und Su Tung-p’o aus dem 11.,
Huang kung-wang aus dem 14. Jahrh. genannt.
In zweiter Linie stehen die eigentlichen kunstgeschichtlichen Werke,
zumeist umfassende Matcrialsammlungen über Maler und Malerei. Diese
Werke sind nach verschiedenen Prinzipien angelegt. Die älteste Form ist
die einer ästhetischen Klassifikation der Künstler, die ohne Rücksicht auf
ihre historische Stellung nach einem wertenden Prinzip in verschiedenen
Digitized by
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Eine chinesische Kunsttheorie.
3
Klassen aufgeführt werden. Hsi6 Ho, der unter der südlichen Ch’i-Dynastie
(479—502) lebte und selbst ein bedeutender Maler war, hat in seinem klassi¬
schen Ku-hua-p'in-lu diese Gattung begründet; dieses urteilsreiche Werk
ist die Schöpfung eines hohen, klaren und gerecht wägenden Geistes. Sein
Buch fand im 6. Jahrh. und noch einmal unter der T'ang-Dynastic eine Fort¬
setzung und Ergänzung. Ein weiteres wichtiges Werk dieser Gattung ist
das T'ang-chao-ming-hua-lu des Chu-King-yüan, der im 10. Jahrh. lebte
und die Meister der T’ang-Dynastie (618—907) nach einem von Hsie Ho
abweichenden principium divisionis behandelt.
Die zweite und spätere Form der kunstgeschichtlichen Werke ist nun
endlich die historische oder besser biographische. Es handelt sich hier um
möglichst vollständige Malerlisten, um eine möglichst umfangreiche Samm¬
lung biographischer Notizen. Die Nachrichten über das Leben der Maler
werden mitgeteilt, wichtige Werke genannt, bezeichnende Aussprüche an¬
geführt und der Charakter vorzüglich durch Anekdoten geschildert. Es
ist aber bezeichnend für die Gesinnung auch dieser Schriftsteller, die zumeist
Gelehrte und Sammler waren, daß dem historischen Teil ihres Werkes fast
immer ein einführender Teil vorausgesandt ist, in welchem Fragen allge¬
meiner Kunsteinsicht oder die praktischen Gesichtspunkte des Sammlers
in zahlreichen Exkursen behandelt werden. Die Anfänge der Malerei, Blüte
und Verfall der Kunst, die Hauptregeln der Malerei, der Stil der alten Meister,
die Vererbung der Stileigentümlichkeiten, die Signaturen, die Erhaltung und
die Preise alter Bilder sind die Gegenstände solcher Abhandlungen. Das
älteste dieser kunstgeschichtlichen Werke scheint das Ming-schöu-hua-lu
(um das Jahr 618 n. Chr. entstanden) in einem Buche gewesen zu sein,
das wichtigste der frühen erhaltenen Werke ist das Li-tai-ming-hua-ki des
Chang Yen-yüan, das in 10 Büchern bis zum Jahre 841 sich erstreckt. Eine
Fortsetzung dieses grundlegenden Werkes für die Zeit von 841—1074 ist
das T'u-hua-kien-wön*chi des Kuojo-hü, eine weitere Fortführung bis 1167
das Hua-ki des Töng Ch'un. Diesen Werken der zu ihrer Zeit angesehensten
Kenner schließen andere, sei es auf eine bestimmte Periode sich beschränkend,
sei es die gesamte Geschichte umfassend, seit dem Ende der T'ang-Zeit bis
auf den heutigen Tag in immer steigender Zahl sich an. Bedeutende Namen,
wie der des Shön Kua und Mi Fei, des Han Cho, des Ou-yang Hsiu und
T’ang Hou befinden sich unter ihren Verfassern.
Es bilden endlich eine dritte Gattung der Kunstliteratur die Gemäldc-
verzeichnisse berühmter Kunstsammlungen. Solche Kataloge sind späte¬
stens für das 6. Jahrh. (Galerie der Liang-Dynastie für die Periode T'ai-
ts’ing) bezeugt und in der Kunstliteratur verwertet. Das älteste erhaltene
Verzeichnis ist das Chöng-kuan-kung-hsi-hua-shi des P'ei Hsiao-yüan vom
Jahre 639, das sich nicht nur auf die kaiserlichen, sondern auch die privaten
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
4
Otto Fischer,
Sammlungen dieser Zeit erstreckt, allerdings aber auf eine Auslese des Besten
sich beschränkend. Der wertvollste und umfassendste dieser Kataloge ist
das Hsüan-ho-hua-p’u vom Jahre 1120, das Verzeichnis der Galerie des
Kaisers Hui-tsung, der größten und kostbarsten, die China besessen hat.
Die späteren Werke dieser Art gestatten es, viele der älteren Werke bis ins
18. Jahrh., bis in die Sammlung Kien-lungs, mit Sicherheit zu verfolgen.
Das Material, das wir zur Kenntnis der Geschichte und Theorie der
Malerei besitzen, ist somit das denkbar authentischste. Aus allen großen
Perioden der Malerei sind uns zeitgenössische Nachrichten in reichem Maße
und oft in größerem Umfange als beglaubigte Werke erhalten. Die Verfasser
dieser Werke sind zum einen Teile die Maler selbst, zum andern die aufge¬
klärtesten und unterrichtetsten Kenner. Berühmte Schriftsteller, ange¬
sehene Gelehrte und hochgestellte Beamte befinden sich unter ihnen. Allen
gemeinsam ist die große Tradition einer einheitlichen, immer verfeinerten,
doch nie veränderten alten Kultur, ihnen die gleichen Maße, die gleichen
Ziele steckend.
Das Ziel der literarischen Beschäftigung mit der Kunst ist auf der einen
Seite die historische Feststellung. Ein umfassendes Registrieren jeder wert¬
vollen Nachricht, eine genaue, doch pietätvolle Kritik der Überlieferung
und die vollkommene Unterdrückung jeder subjektiven Tendenz gegen die
objektive Gewalt des Tatsächlichen sind die vornehmsten Eigenschaften
dieser Geschichtschreibung. Dieses Streben nach Objektivität äußert sich
aber über das Historische hinaus in der überall spürbaren Bemühung um eine
ästhetische Einsicht. Wir begegnen ihr in den Versuchen einer klassifizieren¬
den Wertung der Kunstschöpfungen, in der Aufstellung praktischer Rat¬
schläge, Regeln und Normen der Gestaltung und endlich in der Einfügung
des künstlerischen Schaffens und Genießens in das große geistige System
der überlieferten Kultur. Ihr feinsinniges und innerliches Verständnis der
Kunst als Schaffende, als Dilettierende oder Genießende hat diese Schrift¬
steller jedoch niemals der Verführung preisgegeben, ein Erleben dem System
zu opfern. Die Ehrfurcht vor der großen Überlieferung hat sie verhindert,
ein nur persönliches Empfinden zum allgemeinen Gesetz erheben zu wollen.
Und so hat sich durch die Jahrhunderte eine Kunsttheorie entwickelt, die
zwar niemals zu einem umfassenden kanonischen Ausdruck gekommen ist,
• •
deren einzelne Äußerungen aber trotz aller Mannigfaltigkeiten sie zu einem
einheitlichen System zusammenzuschließen erlauben. Wie die chinesische
Malerei, wie die Kultur selber, so bildet auch die chinesische Kunsttheorie
eine geistige Einheit. Sie besitzt eine Entwicklung nur in dem Sinne, wie
die Pflanze aus dem Keim zur Blüte und zur Frucht sich entwickelt, im
Sinne einer steten Verfeinerung, nicht aber in unserem Sinne einer geistigen
Entwicklung, wo neue Ideen und neue Ziele eine fortwährende Veränderung
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Eine chinesische Kunsttheorie.
5
wirken. Es gilt für sie, was Hsie Ho für ihren Gegenstand aussprach: daß
in der Kunst die Worte alt und neu keine Stelle haben.
Die Aufgaben.
Die ältesten Nachrichten über die chinesische Malerei weisen auf die
Existenz umfangreicher Wandgemälde, welche die Ehrenhallen fürstlicher
Paläste, die Opferhallen und alten Tempel schmückten. Sie sind mit Wahr¬
scheinlichkeit seit dem 4. Jahrh. v. Chr. und bis in die spätere Han-Zeit
nachzuweisen. Ihre Gegenstände sind die alten Entstehungsmythen, die legen¬
däre und die tatsächliche Geschichte des chinesischen Reichs, die sie in
figürlichen Darstellungen illustrieren, ihr Zweck ist ein moralisch-didakti¬
scher. Über ihre Technik wissen wir nichts, und die einzigen Hinweise ver¬
danken wir einer gelegentlichen historischen Notiz und zwei Dichtungen,
welche uns die erhaltenen Grabskulpturen aus der Provinz Schantung zu
illustrieren geeignet sind, nicht aber der eigentlichen Kunstliteratur, welche
uns bis zum Ende der Han-Zeit nicht wesentlich mehr als eine Anekdote
und die halbmythischen Namen einzelner Maler überliefert.
Die ältesten Werke, von denen uns die kunstgeschichtliche Tradition
berichtet, sind Bildnisse. Es ist von Bildnissen Lebender und vorzüglich
von schönen Frauen die Rede, daneben aber, und mit größerer historischer
Wahrscheinlichkeit, von kaiserlichen Edikten, welche die Bilder verdienter
Verstorbener zu malen und an Ehrenstellen aufzuhängen befahlen. Dies
gilt zum mindesten für die ältere Han-Zeit vom Ende des 2. Jahrh. v. Chr.
ab. Ich möchte vermuten, daß diese Bildniskunst ihre Entstehung dem
Totenkultus verdankt, und daß die noch heute herrschende Sitte, das Bildnis
des Verstorbenen als Sitz für die Seele beim Begräbnis mitzuführen und
* •
später in der Halle des Hauses aufzubewahren *), schon jenen frühen Zeiten
entstammt; die strenge Faceansicht und starre Haltung läßt auf eine alte
Tradition schließen. Ob freilich jene ältesten Bildnisse schon wie die heutigen
auf Seide gemalt und als Rollbilder montiert waren, darüber läßt sich einst¬
weilen kein Aufschluß gewinnen. Gewiß ist, daß Porträts seit jenen frühesten
Zeiten immer wieder erwähnt sind.
Wenden wir uns nun aber zu den Nachrichten, die uns über Bestim¬
mung und Ausführung der Gemälde genauere Auskunft geben, so werden
wir am besten nach ihren Aufgaben die Werke in zw r ei Gruppen abteilen.
Auf der einen Seite handelt es sich um eine Ausschmückung von Wand-
flächen, die meist, wie es scheint, in großen Maßen zu geschehen hatte. Die
erste Erwähnung findet sich zu Anfang des 4. Jahrh. n. Chr., zu einer Zeit
also, wo buddhistische Darstellungen bereits erwähnt werden, sie bezieht
*) de Groot, The Religions System of China, I, S. 113 und 172.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
6
Otto Fischer,
sich jedoch auf die Bilder des Kung fu-tse und seiner 72 Schüler, auf die
mythischen Kaiser und sämtliche Weisen und Großen der Vorzeit bis auf die
Han-Dynastie: Chang Shou hatte sie auf die Wände der Ehrenhalle zu
malen, die dem Chou Kung in Ch’öng-tu geweiht war. Wir haben hier viel¬
leicht die Verbindung mit jenen ältesten Wandmalereien vor uns. Die nächste
Erwähnung führt uns zum Buddhismus hinüber: Ku K’ai-chis berühmtes
Bild Vimalakirti in einem buddhistischen Kloster (364), und von jetzt ab
werden die Darstellungen des Buddha, der buddhistischen Legende und des
buddhistischen Pantheons ein dauernder Vorwurf der religiösen Wandmalerei.
Lo Pin-wang, ein Dichter des 7. Jahrh., berichtet nun freilich, daß Wand¬
malereien zum ersten Mal unter der Liang-Dynastie (479—557) eingeführt
worden seien, allein diese Nachricht ist wahrscheinlich dahin zu deuten,
daß Wandbilder, die bisher auf die Ahnenhallen und religiösen Gebäude
beschränkt geweesn waren, von dieser Zeit ab auch in den Palästen des Kaisers
und der Großen in Aufnahme kamen. Es hat sich diese Malerei gewiß auch
auf profane Gegenstände erstreckt. So finden wir um die Mitte des 8. Jahrh.
die legendarischen Geschichten von Wu Tao-tzes, Landschaftsbildern, die
große Wände des Palastes bedeckten, aus dem Jahre 828 die beglaubigte
Nachricht von einer Serie historischer Episoden auf den Wänden eines
kaiserlichen Kiosks. Marco Polo berichtet im 13. Jahrh. von den chinesi¬
schen Kaiserpalästen, daß sie ganz ausgemalt waren mit Farben und Gold,
und daß in ihren Hallen die Geschichten der früheren Könige, vielerlei Men¬
schen, Ritter und Frauen, Jagdgetier und Vögel, mannigfache Bäume und
Blumen mit ausgesuchter Kunst sich abgeschildert zeigten.
Was die Technik dieser Wandbilder betrifft, so eröffnet sich eine
schwierige Frage, eine Frage, die schwerlich zu entscheiden sein wird, solange
wir nicht von der Innenarchitektur des alten China eine genauere Kenntnis
haben. Auf der einen Seite ist in vielen Fällen ausdrücklich überliefert,
daß die Maler jene Bilder auf die Wände von Sälen, und zwar vielfach auf
eigens hierzu präparierte Wände gemalt haben, und wir besitzen Fresken
sowohl aus Turfan als aus Japan, welche beweisen, daß eine eigentliche
Freskomalerei während des 1. Jahrtausends in Ostasien bekannt war und
geübt w'urdc. Auf der anderen Seite aber spricht vieles für Hirths Ver¬
mutung, daß es sich bei diesen Bildwänden (hua-pi) um abnehmbare und
transportable Malereien, möglicherweise auf seidenen oder papierenen Rollen,
handelt. Wir hören von Ts'ao Pu-hsing aus der I. Hälfte des 3. Jahrh.,
daß er ein Bild, wohl ein Kultbild und vielleicht einen Buddha, auf eine
50 Fuß hohe Seidenrolle malte. Wir lesen ferner in Jao-Tzu-jans Kunst
der Malerei (Yüan-Dynastie) folgende Vorschrift für den Landschafts¬
maler: Wenn die Seide sich über eine größere Zahl Abteile erstrecke oder
die Wand für ein Bild (Gilcs sagt »fresco«) über hundert Fuß lang sei, so
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Eine chinesische Kunsttheoric.
7
solle er erst mit einem Stück Kohle auf einem langen Stabe das Ganze an*
legen. Ich möchte ferner an die Schiebewände des alten Japan erinnern,
von denen wir ja durch die Bildrollen der Tosa-Meister eine deutliche Vor¬
stellung haben, und endlich an Marco Polos Beschreibung von dem trans¬
portablen Gartenpalast des Kublai Khan.
Hierher gehört auch die Erwähnung von Wandschirmen. Im Jahre
745 erhält Li Ssu-shün den Auftrag, für den Kaiser einen «Türschirm» zu
malen, und der Vorwurf scheint ein landschaftlicher gewesen zu sein. Im
Jahre 1068 malte Kuo Hsi das Mittelstück eines dreiteiligen Setzschirmes
für den Palast. Die erste Alternative der oben zitierten Vorschrift bezieht
sich wohl ebenfalls auf derartige Werke, von denen uns zwar keine chinesi¬
schen, doch zahlreiche japanische Beispiele bekannt sind. Die Überlieferung
weist, wie diese letzteren, auf die Landschaft als das vorzügliche Thema.
Die andere Möglichkeit, neben der monumentalen und dekorativen
Wandmalerei, ist die des intimen Bildes. Das Material ist von den frühegten
Zeiten her, d. h. nachweisbar seit der älteren Han-Zeit, die Seide, daneben
seit dem 4. Jahrh. n. Chr. nachweisbar auch das Papier, die Ausführung
geschieht mit Pinsel und Tusche und bei den kolorierten Werken mit Aquarell-
oder Gouache-Farben. Diese Malerei hat sich höchst wahrscheinlich aus
der Illustrierung von Handschriften entwickelt, und sie hat noch bis in
späte Zeiten die ursprüngliche Tradition der langen und in einer Folge
nebeneinandergesetzter Bilder sich entwickelnden Rolle bewahrt. Zunächst
hat es sich wohl um die Einfügung einzelner Bilder in einen gegebenen
Text gehandelt, daraus entstand die Folge selbständiger, nur ein gemein¬
sames Thema behandelnder Bilder, die nun ihrerseits ein kurzer, daneben
gesetzter Text erläuterte — wir besitzen ein Beispiel aus dem 4. Jahrh. —,
woraus dann endlich mit der Entstehung der Landschaftsmalerei die Dar¬
stellung eines vom Anfang bis zum Ende der Rolle durchgehenden Geländes,
sei es als Ort der abgebildeten Szenen, sei es als eigener und wesentlicher
Vorwurf sich entwickelt hat. Eine authentische Kopie nach Wang Wei
(699—759) gibt das Beispiel einer solchen Landschaftsrolle. Diese Bild -
rollen, die Urbilder der japanischen Emakimonos, wurden ursprünglich mit
den Schriftrollen der Bücher in den Bibliotheken aufbewahrt, und so mögen
sie schon einen Bestandteil der berühmten Sammlung des Kaisers Wu-ti
(140—86 v. Chr.) gebildet haben, anderthalb Jahrhunderte später be¬
gründete der Kaiser Ming-ti (58—76 n. Chr.) für sie das erste Bilderhaus
(hua-shi), die erste der großen kaiserlichen Galerien. Bis in die Sungzeit-
hinein scheinen diese Rollen der einzige und noch später der wesentliche
Bestandteil jeder Bildersammlung gewesen zu sein; erst aus diesen Streifen-
bildern entwickelte sich die Form jenes Rollbildes im Hochformat, an das
wir heute zuerst zu denken gewohnt sind, wenn von chinesischer Malerei
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
8
Otto Fischer,
die Rede ist. ■ W ahrscheinlich ist die Bezeichnung chie-hua, d. i. »begrenzte
Bilder«, auf diese neue Art der Malerei zu beziehen, dann wären nach der
chinesischen Tradition Ma Yüan und Hsia Kuei ihre Schöpfer. Diese Land¬
schafter lebten gegen das Ende der Sung-Dynastic, um die Wende des 12.
und 13. Jahrh., und es wird ausdrücklich berichtet, daß sie beide aus den
westlichen barbarischen Ländern stammten. Diese neue Art der Bildrollcn
im Hochformat scheint dann in der Yüan-Zeit vor allem in Aufnahme ge¬
kommen zu sein und überwiegt heute jene ältere aus der Schriftrolle ent¬
standene Weise. Es ist allerdings hinzuzufügen, daß auf der einen Seite
vielleicht das Bildnis, auf der anderen die Mode der abgetcilten Wandschirme
ihr schon früher den Weg gebahnt haben mögen. Und es mag endlich hier
noch erwähnt sein, daß eine andere Art »begrenzter Malerei«, die Malerei
auf Seidenfächern, in China eine sehr alte ist. Die früheste Erwähnung
stammt aus dem Anfänge des 3. Jahrh., von W'ang Hsi-chi (321—379) und
Ku K'ai-chi (um 364—405) wird berichtet, daß sie Bildnisse und Figuren
auf Fächer malten, und zu Ende des 11. Jahrh. malte Chao Ta-nien Land¬
schaften auf Fächer, während sein Verwandter, der Kaiser Chö Tsung, auf
die Rückseite die entsprechenden Verse schrieb. Es handelt sich hier —
dies sei angemerkt — nicht um den in Japan entstandenen Faltfächer, der
erst im 15. Jahrh. nach China kam, sondern um die altchinesische blatt¬
ähnliche Form.
Man hat behauptet, daß die chinesische Kunst das merkwürdige und
vielleicht das einzige Beispiel einer bildhaften Kunst biete, die nicht aus
der Religion, sondern aus der rein historischen und tatsächlichen Darstellung
erwachsen sei. Es ist richtig, daß die ältesten Bilder vorzüglich Darstellun¬
gen aus der Geschichte der chinesischen Menschheit und des chinesischen
Reichs gewesen zu sein scheinen, aber cs ist hierbei sehr zu beachten, daß
die Religion dieser Chinesen nicht eine Verehrung übermenschlicher Götter,
sondern eben der Kultus der eigenen Ahnen, der eigenen Geschichte, bis
hinauf in die Urzeit aber und bis zu den weltcrschaffenden Göttern und Ur-
cinheiten war. Es fehlen denn auch unter diesen angeblich historischen
Darstellungen nicht die Gestalten des Chaos und die halb menschlichen,
halb phantastischen Dämoncnbildungen der mythischen Urkaiser, es fehlen
ebensowenig die Werwölfe, Phönixe und Drachen, die Geister der W'asser
und der Berge, der dreibeinige Rabe der Sonne und der Hase, der das Geheim-
mittel der Unsterblichkeit braut, es fehlen die Dinge guter Vorbedeutung,
die sagenhaften Kraniche und die seligen Inseln der Geister nicht. Viele
der Gegenstände der chinesischen Kunst haben ihre uralte mystische und
symbolische Zauberbedeutung bis auf den heutigen Tag bewahrt. Es ist
ebenso das Porträt wahrscheinlich aus dem Totenkultus entstanden. Es
ist endlich die ganze buddhistische Götter- und Heiligendarstellung, die
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Eine chinesische Kunsttbeorie.
9
das große Jahrtausend chinesischer Kunst zum guten Teile beherrscht hat,
von den wieder auf buddhistische Anregung hin geschaffenen Bildern taoisti-
scher Gottheiten und Genien zu schweigen, es ist all dies zweifellos religiösen
Ursprungs. Es ist also zum einen Teil die Aufgabe der chinesischen so gut
wie jeder andern Kunst, die Darstellung göttlich verehrter Wesen in mensch¬
licher Gestalt gewesen.
Jene Behauptung träfe jedoch in einer anderen Beziehung einen
wesentlichen Punkt. Es hat sich nämlich eben das, was uns als das Be¬
sonderste, Wesentlichste und Eigenste der chinesischen Malerei erscheint,
nicht aus dieser Menschendarstellung und überhaupt wohl nicht aus spe¬
zifisch religiösen Anregungen und Zwecken entwickelt. Es ist zugleich
eben jene Malerei, die sich aus der Illustration der Schriftrollen herausge-
bildet zu haben scheint. Betrachten wir ihre Gegenstände! Rollen mit
Bildnissen des Kung-fu-tse und seiner Schüler, Bilder zu Sun Wus Kriegs¬
kunst, Bilder des Urvolks der Miao-tze werden zur Zeit der älteren Han-
Dynastie erwähnt. Von Ts'ai Yung (133—192 n. Chr.) ist ein Buch der
Lehren, und ein anderes von tugendhaften Frauen gerühmt. Abbildungen
von Trunkenen und von Gelagen wurden als warnende Bilder gemalt. Fische
und Drachen, fremde Tiere: Löwen, Elephanten, das Rhinozeros werden zu
Anfang des 4. Jahrh., himmlische Schönheiten, Weise der Vorzeit, W'ürfel-
spiel, Lautenmachen und Schafschur, ja selbst Landschaften als Werke des
Ku K'ai-chi, ein alter Fischer, berühmte Rosse, Tiertributc von Tartaren
als solche seines Zeitgenossen Tai K'uei genannt. Von Lu T'an Wei (5. Jahrh.)
sind neben Landschaften und buddhistischen Szenen BHder von Rossen,
von Affen, von »Grille und Sperling« und kämpfenden Enten überliefert,
von Tsung Ping als sein Meisterwerk ein Album aller Tiere, Vögel, Pflanzen
und andere Dinge, die je in China als wunderbare Vorzeichen gegolten
hatten. Gegen Ende des 5. und zu Anfang des 6. Jahrh. wird der Kriegszug
eines Kaisers der Han-Dynastie, eine Fasanenjagd, Blumen und Insekten,
und fremde Völkertypen als Tributträger abgeschildert; Abbildungen von
Gebäuden und berühmten Palästen werden schon früher erwähnt. Wir
finden somit schon in dieser frühen Zeit so gut wie alle Gegenstände aufge¬
führt, deren Darstellung jemals die Aufgabe chinesischer Maler gewesen ist.
Die Entstehung dieser Malerei ist jedoch nicht religiöser Art. Die Absicht
der Darstellung ist zunächst eine didaktische: es werden Beispiele darge¬
boten, wie man handeln oder nicht handeln soll, bekannte Anekdoten und
Figuren als Vorbilder oder Warnungen; auf der andern Seite ein rein ob¬
jektive, man möchte sagen wissenschaftliche des Konstatierens, Fcsthaltens
und Sammelns. An dieser objektiven Darstellung aller Dinge hat sich dann
der Sinn für die jedem innewohnende Schönheit geschult und entwickelt,
jene begeisterte Freude an der ganzen Fülle und Macht der Natur, die schon
Digitized by
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
IO
Otto Fischer,
aus der ältesten aller erhaltenen Schriften eines Malers spricht. Wang Wei
sagt: Den Herbstwolken zuzuschauen mit entzücktem Aufschwung der Seele,
den Frühlingswind zu fühlen, wie er wilde und irre Gedanken weckt, und
dann die Rolle zu entfalten und die Seide auszubreiten, und die Pracht von
Ebbe und Flut, die grünen Wälder, die wehenden Winde und das weiße
Wasser des niederrauschenden Gießbaches festzuhalten: dies seien die Freuden
des Malers. Diese Worte aus der Mitte des 5. Jahrh. enthalten alles, was
die spätere chinesische Malerei als Aufgabe sich setzte und als Erfüllung
der Menschheit geboten hat. Nicht die Handlungen der Menschen, sondern
die Fülle der Welt zu malen, war ihr großes, beherrschendes Ziel. Das künst¬
lerische Schaffen fand von nun ab in sich selber seine eigene Rechtfertigung,
die Kunst war, in einer solchen Anschauung, nicht mehr Dienerin, sondern
Herrin im eigenen Reich.
Wie die Vorwürfe der Darstellung in einer traditionellen Gliederung
und Ordnung verharrten, werden wir später sehen.
Bild und Schrift.
Nach der chinesischen Überlieferung ist der Erfinder der Malerei Shi
H oang, der Genosse des Tsang Ki£, des Regierungsgehilfen des ersten mythi¬
schen Kaisers Fu Hi. Nach einigen Quellen ist Shi Hoang nur ein anderer
Name jenes Tsang Ki£, nach andern dieser selbst nicht der Minister, sondern
der Nachfolger des sagenhaften Fu Hi. Daraus geht mit Sicherheit soviel
hervor: Erstens daß die Chinesen die Erfindung von Schrift und Bild
in den ersten Anfang aller Kultur verlegten, zweitens daß ihnen die Kunst
des Malens und die des Schreibens zum mindesten in ihrem Ursprung als
zusammengehörig und als eine innere Einheit erschienen. Die chinesische
Auffassung von dieser Einheit kennzeichnen am besten zwei Stellen der
Kunstliteratur. Die erste, deren Quelle Giles nicht angibt, lautet:
Zeichnen ist eine der sechs Schriften. Die Alten pflegten ihre erzenen
und steinernen Glocken und Rauchfässer mit Inschriften im Siegelcharakter
zu bedecken, die gleich Zeichnungen aussahen. Auf der andern Seite ent¬
leihen die Maler, wenn sie das Wasser oder das Laub zeichnen, oder den Bam¬
bus, die Pflaumenblüte, die Trauben, ein gut Teil von der Kunst des Schrei¬
bens. So beweisen sie, daß Schrift und Zeichnung in Wahrheit Eines sind.
Sung Lin (1310—1381) sagt in seinem Versuch über den Ursprung
der Malerei: Shi Hoang und Tsang Kie waren beide inspirierte Männer der
Vorzeit. Dieser erfand die Schrift, jener die Malerei. Schreiben und Malen
sind nicht getrennte Künste, ihr Ursprung war ein und derselbe. Als Himmel
und Erde zuerst sich schieden, gingen alle Dinge hervor, ein jegliches von
eigener Farbe und Form, doch alles war in Verwirrung, denn da war kein
Name. Auch Himmel und Erde selber wußten nicht, wie sie benennen,
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Eine chinesische Kunsttheorie.
11
bis ein Mann der Eingebung aufstand und allen Dingen ihre Namen gab, so
daß Unten und Oben, bewegliche Wesen und sprießende Pflanzen so von
einander geschieden wurden. Oben war Sonne und Mond, Wind, Donner,
Regen, Tau, Eis und Schnee, unten waren die Flüsse und Seen, Berge und
Hügel, Kräuter und Bäume, Vögel und vierfüßige Tiere, in der Mitte waren
die Dinge des Menschen mit seinem Kommen und Gehen, den Grundsätzen
der Dinge, bald offenbar, bald verborgen, gebildet durch die Einflüsse von
Geistigkeit und Wandlung. So ward das Bedürfnis der Menschheit erfüllt
und jedes Verhältnis der Dinge fand Beachtung; aber ohne die Schrift gäbe
es keine Erinnerung eines Geschehens, und ohne Malerei keine Auffassung
der Form. Diese beiden sind Straßen, die verschiedene Wege gehen und
doch zu demselben Ziele führen. Darum sagte ich, sie seien nicht getrennte
Künste, sondern ihr Ursprung sei ein und derselbe gewesen.
Aus diesen Stellen entnehmen wir auf der einen Seite die historische
Erinnerung, daß Schrift und Bild in ihrer Entstehung nichts anderes als
ein und derselbe Modus einer Dinge festhaltenden Bezeichnung war. In
der Tat hat das Element bildhafter Hieroglyphen in der ältesten chinesischen
Schrift eine Rolle gespielt, wenn es auch allmählich durch das Prinzip einer
abstrakten Formulierung unterdrückt und vollkommen verdrängt worden
ist. Auf der andern Seite enthüllt sich in jenen Ausführungen die tiefe
philosophische Einsicht, daß die Dinge der Erscheinung für den Menschen
erst dann unterschieden und also zu Wirklichkeiten werden, wenn das Wort
sie festzuhalten und ihre Vorstellung wieder wachzurufen erlaubt, und wenn
das wiedergebendc Bild eine anschauliche Vorstellung ihrer Sichtbarkeit
zu entwickeln anhebt. Es sind demnach Bild und Schrift in ihrem innersten
Wesen, d. h. in ihrem immanenten Ziele eine wahrhafte Einheit, indem sie
die Welt der Vorstellung formen, bewahrend und entwickelnd, durch welche
die äußere Welt der Erfahrung zu einer inneren Welt und aus einem Chaos
zum Kosmos sich gestaltet.
Eis vermitteln uns jene Stellen endlich die richtige Beurteilung des
Verhältnisses von Schriftkunst und Malerei in Ostasien, das von Europäern
so vielfach schon mißverstanden worden ist. Beide Künste werden, und
in gleichem Grade, als Kunst betrachtet, beide bedienen sich im wesent¬
lichen derselben Materialien, der Seide oder des Papiers, des Pinsels und
der Tusche, beide sind häufig von ein und demselben Meister ausgeübt und
zur höchsten bewunderten Vollendung gebracht worden. Eis ist kein Zweifel,
daß die Übung in der einen Kunst auch in der andern als förderlich galt,
man findet zum Überfluß in der Kunstliteratur hier und da die Bemerkung,
daß der oder jener Maler eine Stilisierung in der Manier der oder jener Schrift¬
art bevorzugt habe, und die Vergleiche mit der Schreibkunst in der Charak¬
terisierung und Wertung malerischer Kunstwerke fehlen nicht. Aus alledem
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Otto Fischer,
I 2
hat sich vielfach die Ansicht entwickelt, als ob die Stilbildung der ostasiati¬
schen Malerei von den Ideogrammen der Schreibkunst beeinflußt, ja bedingt
worden wäre. Diese Ansicht ist, soweit sie China betrifft, völlig falsch.
Wenn von Wu Tsung-yüan oder von Lin Liang berichtet wird, sie hätten
den Pinsel geführt, als ob sie >>im Grascharakter« schrieben, so soll damit
nichts anderes als die erstaunliche Geschwindigkeit ihres skizzierenden
Pinselzugs bezeichnet sein — die Grasschrift ist eine abkürzendc und ver¬
bindende Schnellschrift der komplizierten Wortzeichen —, und die Anführung
der Schwesterkunst ist immer nur im Sinne eines Analogienvergleichs
gemeint. So ist es auch zu verstehen, wenn bei der formelhaften Zeichnung
der Wasscrwellen oder des Laubwerks an die Schriftsymbole erinnert wird.
Wohl war sich der Chinese der tieferen Einheit der beiden Künste bewußt,
aber er wußte auch, daß die Bildkunst als eine anschauliche aus der An¬
schauung allein ihre Gesetze zu schöpfen habe, während die Schrift die Kunst
einer abstrakten Symbolik blieb: die beiden Künste gehen verschiedene
Wege, doch nach demselben Ziel. Erst den Japanern war es Vorbehalten
in einer virtuosen Spielerei beide Künste zu vermengen; der Chinese hätte
solche Witzigkeit für unwürdig gehalten.
Die Künstler.
Von den ältesten Malern, deren Namen genannt sind, ist nichts anderes
berichtet als eben, daß sie Maler waren. Allein schon von den ersten Malern
der östlichen Han-Dynastie (25—221 n. Chr.) ist es überliefert, daß sie auf
der Höhe einer allseitigen Bildung standen, und die meisten bekleideten als
Beamte hohe Stellungen. Chang Höng war von Jugend auf berühmt für
seine Kenntnis der klassischen Bücher und seine Geschicklichkeit in den
sechs freien Künsten: den Kultgebräuchen, der Musik, dem Bogenschießen,
dem Wagenlenken, der Schreibkunst und der Mathematik. Ts’ai Yung
(133 —192) war berühmt als Staatsmann und als Gelehrter, er galt als gleich
vollendet in der Schreibkunst, in der Musik und in der Malerei. Liu Pao
war Statthalter und Chun-ko Liang groß als Feldherr. Der Urenkel Ts’ao
Ts’aos, der vierte Kaiser der Wei-Dynastie (254—260) ist der erste Herrscher
Chinas, der unter den Malern genannt wird; Kaiser Yüan Ti (geb. 508, reg
552—555) und Hui Tsung (reg. 1100—1125, gest. 1135), der unglückliche
Sung-Kaiser, sind hierin seine berühmtesten Nachfolger. Yüan Ti ist zu¬
gleich der erste bedeutende Dichter, der als Maler bekannt ist; von späteren
seien nur Wang Wei und Su Tung-po hier genannt. Und endlich sind die
ersten, die über Kunst geschrieben haben, ebenfalls aus den Reihen der Maler
selbst gekommen: hier ist noch einmal Kaiser Yüan Ti zu nennen, die beiden
Wang Weis und der grundlegende Hsi6 Ho. Die Malerei galt somit seit
jenen frühesten Zeiten schon als Glied und Ausdrucksform einer allgemeinen
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Eine chinesische Kunsttheorie.
13
künstlerischen Bildung, deren andere Bestandteile vorzüglich die schriftliche
Äußerung in Dichtung und Prosa, die Schreibkunst und die Musik gewesen
sind, und dies ist bis in die neuesten Zeiten hinein Anschauung und Übung
geblieben. Fast jeder Gebildete war ein Dilettant in der Malerei, fast jeder
Maler war ein Gebildeter. So kam es, daß gerade in den höchsten Kreisen
der Geschmack und die Kenntnis der Kunst am verfeinertsten waren, und
in ihren großen Zeiten sind viele, ja die meisten der führenden Maler zugleich
die geistigen und oft die tatsächlichen Häupter des Reichs gewesen. Ja
eine eigene Landschaftschule, die desWang-Wei, der die größten chinesischen
Landschaftsmaler angehört zu haben scheinen, galt speziell als eine Kunst¬
richtung der Literaten. So gehörten auch manche der besten Kunstkenner
und Archäologen zu den Malern: Li Lung-mien wohl das berühmteste Bei¬
spiel. Ob solche kunsthistorische Bemühung freilich — Hsi6 Ho soll der
erste gewesen sein, der die alten Meister kopierte, was später ungemein im
Schwange war —, ob dies der Kunst eher förderlich oder eher schädlich ge¬
wesen sei, läßt sich nicht sagen. Jedenfalls aber hat jene alte Verbindung
und lebendig geübte Einheit der Künste bis zur Yüan-Zeit hinab das Größte
und Eigentümlichste geschaffen, was wir von chinesischer Malerei kennen:
jene tiefbeseelten Landschaften und Naturbilder bis ins Kleinste und Un¬
scheinbarste, die zugleich das Unmateriellste, Geistigste sind, was jemals
eine Kunst hervorzubringen vermocht hat.
Erst von der Ming-Zeit ab (1368—1644) scheint die Malerei mehr und
mehr ein Spezialistenfach geworden zu sein, nachdem bereits zu Ende der
Sung-Dynastie eine kaiserliche Akademie gegründet worden war, deren Ein¬
fluß auf die Kunst von den Chinesen selber nicht günstig beurteilt wurde.
Es ist zugleich aber diese Zeit der Spezialisierung auch die der vorschreitenden
Formalisierung und Erstarrung einer immer äußerlicheren Virtuosenkunst.
Es ist nun allerdings auch in früheren Zeiten die Malerei nicht nur in den
Händen der Gebildeten gewesen, sondern sie muß daneben auch als eine
Handwerkskunst und als ein je nach dem Erfolg mehr oder minder geehrter
Beruf geübt worden sein. Als solcher freilich scheint sie nicht dasselbe An¬
sehen genossen zu haben wie die Kunst der Gebildeten: so beklagte sich
Yen Li-pön (um 668), der zugleich Staatsminister und Gelehrter war, daß
man ihn immer nur den Maler heiße, so bezeugt es um 1012 eine Äußerung
T'ung Is, daß die Bildnismalerei nicht als hohe Kunst betrachtet wurde,
und Kuo Hsis, eines der größten Landschafters, Sohn soll als Minister die
Werke seines Vaters aufgekauft haben, um seine Herkunft von einem Maler
in Vergessenheit zu bringen (Ende des 11. Jahrh.). Von den größten Meistern
bis zum Ende der T’ang-Dynastie sind Ku K'ai-chi und Wang Wei als Ge¬
lehrte und Dichter bekannt, Lu Tan-Wei und Chang Söng-yu, Wu Tao-tse,
und Han Kan dagegen scheinen nichts anderes als große Maler gewesen zu
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
»4
»
Otto Fischer
sein. Daneben sind in diesen früheren Zeiten mehrere Maler genannt, die
zugleich als Plastiker, als Holzschnitzer und Bildgießer tätig waren: Tai
K'uei (gest. 395) und seine Söhne, Yang Hui-chi und Yüan Ming, Wu Tao-
tscs Zeitgenossen (8. Jahrh.), und noch gegen Ende des II. Jahrh. Tsung-tao
von Ch'ang-an.
Hier sei des ferneren angemerkt, daß mehrere Maler zugleich Religiösen
und Priester waren: so sind unter der Sui-Dynastie (581—618) zwei Inder:
Po-mo und Ka-fo-t’o, zur Tang-Zeit der Bonze Hui als Maler bezeugt; von Liu
Shang, der Staatssekretär war, daß er der taoistischen Magie ergeben war
und als ein Einsiedler sich in die Berge zurückzog; sein Zeitgenosse Chang
Su-ch'ing (um 780) soll ein taoistischer Priester gewesen sein und ebenfalls
in den Wäldern gelebt haben. Endlich werden mehrfach Ausländer oder
Männer fremdländischer Abknuft genannt, die als Maler Bedeutung und
Ansehen hatten. Neben jenen indischen Mönchen steht Ts'ao Chung-ta,
ebenfalls wahrscheinlich ein Inder, der unter der nördlichen Ch'i-Dynastie
in einem den Chinesen fremden Stile malte (550—570). Wei-ch'i Po-chi-na
aus Khotan und sein Sohn Wei-ch'i J-söng, sind Maler tatarischer Abkunft,
deren Stil im 7. Hahrh. von Einfluß gewesen sein muß. Chin Chung-i, zu
Anfang des 9. Jahrh., war Koreaner und brachte seine heimatliche Kunst
nach China, wo er eine Stelle am Hof erhielt. Im 10. Jahrh. kamen wiederum
tatarische Maler nach China: Li Tsan-hua (931) und Hu Huan, die besonders
für ihre Reiter - und Jagdbilder aus ihrer Heimat geschätzt waren, und ebenso
sind zu den Zeiten der Sung- und erst recht der Yüan-Dynastie manche Künst¬
ler mongolisch-nomadischer Abkunft bezeugt. Ho-li-ho-sun war Hofmaler
des Kublai Khan (um 1278) und vorzüglich als Bildnismaler beschäftigt
Unter diesen kunstliebenden Mongolenkaisern scheint denn auch die Sitte
aufgekommen zu sein, den Malern allerhand symbolische Beinamen zu er¬
teilen, die oft an die Kriegsnamen nordamerikanischer Indianer erinnern.
Verkünder von Tannen und Schnee, der Mann vom Jadeteich und heulenden
Wasserfall, die einsame Wolke, der einzelne Gipfel, der gebrechliche Ein¬
siedler, der gelbe Kranich, und Wolken-Wald sind solche Namen der Yüan-
Periode.
Wesentlicher für uns als diese mehr äußeren Daten ist das, was
wir den chinesischen Schriftqucllen zur Charakterologie der Maler ent¬
nehmen können. Die Psychologie der Anekdote ist in vielen Fällen sehr
fein; gewisse typische Züge kehren darin immer wieder. Dies ist auf der
einen Seite die Vorliebe zum Trunk, die von den meisten der großen und
kleineren Künstler wie etwas Unerläßliches berichtet wird, ebenso übrigens
wie von den großen Dichtern und Musikern. Der berühmte Ts’ai Yung
(133—192), genannt der trunkene Drache, ist unser ältestes Beispiel, Wu
Tao-tse, von den Chinesen als der größte ihrer Meister verehrt, Li Ch’öng,
Digitized by
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Eine chinesische Kunstthcoric.
15
einer ihrer bedeutendsten Landschafter, der am Delirium tremens starb.
Fan K’uan, Kao K’o-kung, Wu Wei und Kao Ku stehen in dieser Liste.
Auf der andern Seite erschien der Künstler überhaupt dem geordneten
würdevollen Chinesen als ein exzentrisches und unberechenbares Wesen:
ein Mensch, der ein staatliches Amt nicht für das höchste erstrebenswerte
Gut achtet, der die Gunst der Fürsten und Großen verschmäht, auf ein
sicheres Wohlergehen verzichtet und oft selbst die zahllosen Regeln der
gesellschaftlichen Liebenswürdigkeit vergißt — nur um dafür ein ungebunde¬
nes Leben nach Lust und Laune, die Einsamkeit, ein zielloses Wandern und
oft gern.die ertragene Not eines genialen Zigeunertums einzutauschen — ein
solcher Mensch war dem Chinesen genau wie dem europäischen Bürger ein
Fremdes, Gegenstand eines geheimen Grauens wie des heimlichen Neids,
und je nachdem seine Leistungen ihm die Achtung abnötigten, einer scheuen
erstaunten Bewunderung. Die Freiheit von jeder als Fessel empfundenen
Konvention und die volle Hingabe an die Natur, an ein natürlich ungehemm¬
tes Leben ist für sehr viele der chinesischen Künstler die Norm ihres Han¬
delns gewesen, und zu keiner Zeit fehlt es an lustigen Geschichten und origi¬
nellen Aussprüchen, die dies bezeugen. Wang Möng (4. Jahrh.) sagte: Ich
esse gern, trinke gern und male gern. Wer mir gute Speisen, guten Wein
und feine Seide gibt, dem schlag ichs nicht ab. Ku K'ai-chi galt als Meister
in dreien Künsten: als der größte Gelehrte, der größte Maler und der größte
Narr seiner Tage; er soll sehr gutmütig und sehr abergläubisch gewesen sein.
Tsung Ping (5. Jahrh.) liebte es, in die Berge zu wandern und nicht mehr
heimzukehren, gern ging er allein und weckte das Echo mit seiner Laute.
T’ao Hung-ching (6. Jahrh.) widerstand allen Versuchen des Kaisers, ihn
an den Hof zu bringen, er sandte ihm endlich als Antwort ein Bild mit zwei
Rindern; das eine streifte nach Lust umher zwischen Wiesen und Büschen,
das andere war prachtvoll aufgezäumt, aber es mußte der Leine und der
Peitsche der Hirten folgen. Sun Wei (9. Jahrh.) hatte ein wildes und leichtes
Herz und liebte den Wein, doch ohne Übermaß. Luden ihn Vornehme und
Reiche ein und begingen den kleinsten Verstoß gegen die Sitte ihm gegenüber,
so brachte ihn kein Gold der Welt dazu, ihnen etwas zu malen. Li Kuei-chön,
ein taoistischer Priester des 10. Jahrh., lebte in den Schenken, und fragte
man ihn um Rechenschaft über sein Betragen, so sperrte er den Mund auf
und sog an seinen Fingern, ohne ein Wort. Auch der Kaiser stellte ihn zur
Rede; Li sprach: Mein Kleid ist dünn und ich mag den Wein. Den Wein
trink ich, um mich zu wärmen, und Bilder male ich, um den Wein zu bezahlen. *
Von Li Ch'öng und Fan Kuan lesen wir ähnliche Anekdoten. Shi K’o
verlachte die würdevollen Konventionen des Landes und liebte jedes Ernste
in Scherz zu verkehren, er scheint auch einer der wenigen Karikaturenmaler
der chinesischen Kunst gewesen zu sein (Ende des IO. Jahrh.). Von Kao
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
i6
Otto Fischer,
K’o-ming heißt es andererseits: er war freigebig und ritterlich; diese Tugenden
sind nicht häufig bei Malerleuten. Von andern Malern dieser Zeit wird es
berichtet, daß sie in Berg und Wald unter den Tieren, oder selbst im Wasser
wochenlang gelebt hätten, um sich ganz in die Natur zu versenken. Mi Fei,
ein Reinlichkeits-Monomane, nannte einen seltsamen Felsblock seinen Bruder
und wollte einst sich ertränken, wenn ihm nicht eine seltene alte Handschrift
geschenkt würde. Ni Tsan (1301—1374) verteilte sein großes Vermögen
seinen Anverwandten und wanderte in Armut die Ufer der Seen und Flüsse
entlang. In bescheidenen Klöstern pflegte er eine Woche zu rasten und gab
seine Skizzen jedem, der eine mochte. Einst brachte ein Diener ihm ein
Geldgeschenk und Seide mit der Bitte um ein Bild; er wurde zornig und rief,
er sei kein Bettelkünstler und Parasit bei Reichen, zerriß die Seide und
schickte das Geld zurück. Kuo Shöng endlich, ein Landschafter der Tang-
Dynastie, pflegte folgendermaßen zu malen: Zunächst breitete er die Seide
auf den Boden und mischte die Farben. Dann ließ er eine Anzahl Musikanten
Trompeten blasen, Trommeln schlagen und einen w r irrcn Lärm verführen;
währenddem legte er ein gesticktes Kleid an, setzte eine kostbare Kopf-
0
bedeckung auf und trank, bis er halb berauscht war. Dann begann er die
Umrisse zu ziehen und die Farben anzulegen; Berghöhen und Inselränder
entstanden auf eine wundervolle Weise.
Das Schaffen.
Die zuletzt erwähnte Anekdote der Tang-Zeit führt uns nun auf einen
weiteren Punkt, der uns endlich der chinesischen Kunsttheorie selber nahe
bringen wird. Sie bezieht sich auf die Psychologie des künstlerischen
Schaffens. Zu allen Zeiten ist der Chinese der Überzeugung gewesen, daß
es sich hier, bei der Entstehung des Kunstwerkes, um einen geheimnisvollen
und mit dem Verstände nicht durchaus zu erklärenden menschlichen Vorgang
handle, einen Vorgang, der eine ganz besondere seelische Disposition des
Schaffenden zur Voraussetzung habe. Es ist dies jedoch nicht allein seine
theoretische Überzeugung, sondern ebensosehr praktische Übung gewesen,
und nicht selten sind die Angaben, auf welche Weise die Maler sich in jenen
psychischen Zustand zu versetzen pflegten, in dem sie ihre unvergänglichen
Werke geschaffen haben.
Die eine dieser Weisen ist der Rausch. Von Wu Tao-tse, der als der
größte chinesische Maler gilt, heißt es, daß er den Wein und starke Speisen
liebte und daß er, bevor er sich an die Arbeit machte, sich stets zu berauschen
pflegte, ebenso wie es Li Tai-po, Chinas unsterblicher Dichter, hundertmal
ausspricht, daß erst in der Trunkenheit ihm so recht die Verse entströmten.
Von Chi-Hui, einem buddhistischen Priester (10. Jahrh.) lesen wir: Wenn
der Wein ihn begeisterte, so hielt er die Wolken und die Berge in seiner
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Eine chinesische Kunsttheorie.
17
hohlen Hand. Über Li Ch’öng (10. Jahrh.) wird berichtet: Erst mußte man
mit Getränk ihm zusetzen, bis er berauscht war, dann, und nicht eher,
regte sich sein Pinsel, dann gingen Nebel und wunderbare Landschaften von
tausend Formen hervor. Ähnliche Stellen ließen sich noch manche anführen.
Unmittelbar von der Natur sich begeistern zu lassen, zur Schaffung
ihres freien geistigen Abbildes — dies ist die andere Möglichkeit, und auch
für sie fehlen die Zeugnisse nicht. Des älteren Wang Weis Hymnus über
die Freuden des Malers ist schon angeführt worden. Fan K'uan (um 1000)
lebte in den Bergen und Wäldern; oft saß er einen ganzen Tag über auf
einem Felsen und sah sich rings um, die Schönheit des Landes zu genießen.
Ja, selbst in Schneenächten, wenn Mondschein war, pflegte er auf- und
niederzuschreiten, starr vor sich hinblickend, damit ihm die Eingebung
käme. I Yüan-chi (10. Jahrh.) wanderte weit umher in ferne Lande und be¬
suchte die berühmten Berge und großen Ströme, und wo er dann eine be¬
sonders schöne Landschaft fand, da blieb er und trieb sich umher, als wäre
er der Genosse der Affen, des W'ildes und der Bären dort. Und gelang es ihm
dann, was er im Herzen und in den Augen erfahren, auszudrücken, so waren
es Dinge, von denen die Alltagswelt nie einen Schimmer hatte fassen können.
Kao K’o-ming, sein Zeitgenosse, war ein Liebhaber von Dunkel und Schwei¬
gen, er pflegte in wilden Gegenden umherzuschweifen und tagelang, sich
selbst entrückt, in die Schönheit von Berg und Wald zu starren. Wenn er
dann heimkehrte, so zog er sich zurück in einen stillen Raum, entfernte von
sich alle Sorgen und ließ seine Seele den Schranken dieser Erde entfliehen. In
diesem Zustande, so scheint es, schuf er seine Bilder. Auch von andern
Künstlern wird es endlich berichtet, daß sie nur in der Einsamkeit zu malen
fähig waren. Schon von Ku Chün-chi (5. Jahrh.) heißt es: Er richtete sich
eine Art Boden im Hause ein, den er als Arbeitsstätte benutzte. An stürmi¬
schen oder schwülen Tagen rührte er keinen Pinsel an, doch an warmen und
heiteren Tagen war er stets bereit, ihn in Farben zu tauchen. Dann pflegte
er auf seinen Boden zu steigen, zog die Leiter hinter sich hinauf, und Frau
und Kinder sahen ihn nicht so bald wieder. Und von Ch'ü Cho (15. Jahrh.)
ist es überliefert, daß er nicht zu malen imstande war, wenn irgend jemandes
Gegenwart ihn störte.
Das Ziel und Ende aller dieser Vorbereitungen ist die Eingebung. Die
Inspiration: jenes schöpferische Entzücktsein des Künstlermenschen, jenes
plötzliche Aufflammen, in dem das Werk auf einmal im Geiste Gestalt wird,
wie durch eine spontane Geburt, und als hätte es eigenen Willen und eine
eigene präexistente Lebendigkeit, sich seines Schöpfers, eben indem er es
schaffen muß, vollkommen bemächtigt. Daß das Werk ein eingegebenes sei,
gilt zugleich als das höchste mögliche Lob. Einige Zitate mögen dies deut¬
licher machen:
Repertorium Air Kunstwissenschaft, XXXV. 2
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
i8
Otto Fischer,
Von Chang Söng-yu (um 500) heißt es: Seine Ideen entströmen ihm
wie eine springender Quell, von einer unsichtbaren Macht emporgetrieben,
und mit zwei Pinselstrichen ist die Verwirklichung vollendet. Über Chan
Tse-ch’icn (um 600): Werke göttlicher Eingebung, wenn sic zertrennt sind,
kommen mit Notwendigkeit immer wieder zusammen. Über Hsie Chi
(um 700): Seine Bilder sind nicht anders als Werke der Eingebung zu nennen.
Von Wu Tao-tses Nirwanabild heißt es: Wie konnte der Maler also die Ge¬
heimnisse von Leben und Tod ergründen? Die Antwort lautet: Es war
ihm eingegeben. Von Wang Wei (699—759): Die Idee blitzte ihm durch
den Sinn, und schon hatte die Hand sie vollendet — eine Eingebung des
Genius. Auf der andern Seite lesen wir über Wang Weis Schule: Es charak¬
terisiere sic eine vage Harmonie und gesänftigte Wildheit, ein Ergebnis
geistiger Arbeit und nicht der Eingebung. So heißt cs von Kuan T'ungs
Landschaften (Anf. d. io. Jahrh.): Die Leute sagten, sie seien künstlich,
nicht eingegeben. Sung Ti (Anf. d. II. Jahrh.) gab dem Chön Yung-chi
den Rat, seine Landschaftsbilder nach den Anregungen einer zerfallenden
Mauerwand in der Phantasie zu gestalten. Dann, sagt er, magst du deinen
Pinsel nach Gelüsten spielen lassen, und das Ergebnis wird wie vom Himmel,
nicht wie von Menschenhand sein. T’ang Hou, ein Kritiker der Yüan-Zeit,
sagt: Die alten Meister bargen einen tiefen Sinn in ihren Bildern und brachten
nie den Pinsel auf die Leinwand, wenn sie nicht von einer Idee ganz beherrscht
waren. Ein Maler derselben Dynastie: Die Leute sagen gewöhnlich, Land¬
schaft sei ein leichtes Ding. Ich finde sie sehr schwer. Denn willst du eine
Landschaft schaffen, so mußt du zunächst die Einzelheiten Zusammen¬
tragen, dann sic im Sinne ausarbeiten, ein paar Tage lang, bevor du den
Pinsel in die Hand nimmst. Es ist genau so wie bei der Figurenkomposition:
da ist zunächst eine Zeit bitteren Brütens über den Vorwurf, und bis da
alles gelöst ist, bist du in Fesseln und Bande geschlagen. Wenn aber die
Eingebung kommt, so brichst du los und bist frei. Von Chung Li endlich
(15. Jahrh.) wird berichtet: Die Tür seines Hauses lag den Südbergen gegen¬
über. Hier saß er Tag auf Tag mit gekreuzten Beinen im Schatten einer
üppigen Tanne und betrachtete die wechselnden Farben der Gipfel und
Wolken. Wenn dann die Eingebung über ihn kam, dann zog er schleunigst
den Pinsel heraus. Ebenso hieß es schon von Fan K'uan (Anf. d. 11. Jahrh.):
Er ging in den Bergwald; hier betrachtete er die veränderlichen Valeurs
der Wolken und Nebel, die schwierigen Effekte von Wind und Mondschein,
Schatten und Licht, bis endlich seine Seele voller Eingebung war und aus
seinem Pinsel tausend Felsen und zehntausend Abgründe kamen.
Man wird bemerken, daß in den angeführten Stellen der Begriff der Ein¬
gebung, der Inspiration, in einer doppelten Färbung, ja in einer doppelten
Bedeutung erscheint. Auf der einen Seite bezeichnet er, psychologisch
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Eine chinesische Kunstthcorie.
»9
gefaßt, jenen ganz besonderen und wesentlichen Vorgang im Ablauf des
künstlerischen Schaffens, wie er schon oben zu kennzeichnen versucht worden
ist. Es handelt sich hierbei nur um ein analytisches Konstatieren: Der Künstler
sucht sich zum Schaffen zu begeistern. Wodurch und wie er dies zu tun
pflegt, das führt uns dem Wesen der chinesischen Kunst schon einen Schritt
näher: er sucht sich in einen möglichst innigen Kontakt mit der Sache zu
bringen. Eine Dichterstellc regt ihn an oder ist ihm als Vorwurf gegeben,
und er sucht aus ihrem innersten Wesen heraus eine Situation zu schaffen
oder ein paar Assoziationen zur notwendigsten Einheit zu binden. Ein
Göttliches ist sein Thema, und er wird sich bemühen, dies Göttliche rein in
sich werden zu lassen, bis es ihn ganz beherrscht, und wie von ihm aus dann
sein Bild zu gestalten: gewisse buddhistische Bilder sollen den Malern ge-
offenbart worden sein. Oder endlich, und dies ist bei weitem der häufigste
Fall: Sein Vorwurf ist die Natur, so gibt er ihren tausend Reizen sich hin
und sucht sich mit ihr zu erfüllen, bevor er den Pinsel ergreift. Stets und
überall schafft er nicht von sich, sondern von den Dingen aus. Wie er sie
erfaßt, wie ihm die Natur erscheint, das wird uns weiter unten noch des
näheren beschäftigen.
Auf der andern Seite erscheint die Eingebung, und gerade in den ältesten
Schriften am deutlichsten, als eine Art kunsttheoretisch-ästhetischer Be¬
griff, als ein Begriff der Wertung. Der Begriff besitzt hier nicht eine sub¬
jektive psychologische, sondern eher eine objektive und man möchte sagen
theologische Bedeutung. Die künstlerische Produktion erscheint nicht
mehr als menschlicher Vorgang des Schaffens, sondern als ein mystisches
Gewaltgewinnen und Offenbarwerden größerer Dinge. Der Künstler ist
nicht mehr Schaffender, sondern Instrument. So ist es zu verstehen, wenn
von unsichtbaren Mächten und von göttlicher Eingebung die Rede ist oder
wenn die eingegebenen Werke den künstlichen, mit dem Verstand geschaffe¬
nen gegenübergestellt w'erden. So ist es wohl auch aufzufassen, wenn der
ältere Wang Wei von der Freude spricht, die wunderbaren Naturerscheinungen
auf die Seide zu bannen, und sagt, daß dann mit einer Handbewegung eine
göttliche Macht auf das Bild niedersteige. Und hierher gehört endlich ein
merkwürdiger Passus, der dem Kaiser Yüan Ti (reg. 552—555) zugeschrieben
wird: Von allen Dingen im Himmel und auf Erden ist das am göttlichsten
Inspirierte die Natur. Sie ruft ins Leben die Formen wunderbarster und
zartester Gestalt, sie zieht die Umrisse sich überschneidender Hügelreihen,
sic erhebt sich von tiefen Versenkungen zu erhabenen Höhen, oder sie malt
mit leichtem Pinsel das unendlich Kleine. Von ihr erst kommen wir zum
Bild auf den Wänden und übertragen auf diese durch die Kraft des Genies
das atmende Gebirge (wörtl. den Herzschlag des Gebirgs) und den heulenden
Wassersturz. — Hier ist die Natur selber als Künstlerin und ihre Erscheinungen
2 •
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
20
Otto Fischer,
als eingegebene Werke dem menschlichen Künstlerschaffen als gleichartiges
Vorbild an die Seite gestellt. Wir werden auch dies wie die ganze Theorie
der Inspiration erst richtig verstehen, wenn uns die chinesische Auffassung
von der Natur und den Dingen wird klar geworden sein.
Die Dinge: Inspiration und Zauber.
VVang Wei malte das Bild eines großen Felsens für einen der kaiserlichen
Prinzen so natürlich, daß der Prinz es sehr hoch hielt und allein davor zu
sitzen und es anzuschauen pflegte, bis er ganz das Bewußtsein seiner selber
verlor und glaubte, in den Bergen zu sein. Wie die Jahre hingingen, schien
das Bild an Feinheit und in den Farben noch zu gewinnen, bis eines Tages
ein großer Sturm kam mit Wind, Regen, Donner und Blitzen, der den Felsen
plötzlich von seiner Stelle riß und das Gemach zertrümmerte. In der Folge
entdeckte man eine leere Rolle, woran man erkannte, daß der Fels davon¬
geflogen war. Unter der Regierung Hsien Tsungs (über ein halbes Jahrhundert
nach Wang Weis Tode) berichtete ein Gesandter von Korea, daß ein merk¬
würdiger Fels auf dem heiligen Sungberge niedergefallen sei, und da er die
Signatur des Wang Wei trage, so wage der König nicht, ihn zu behalten
und habe infolgedessen seine Rücksendung beschlossen. Der Kaiser bat
seine Beamten, die betreffende Signatur mit einer beglaubigten von Wang
Wei zu vergleichen, und es fand sich, daß zwischen beiden nicht der kleinste
Unterschied war. Von da ab erkannte der Kaiser, daß Wang Weis Bilder
inspirierte waren und sammelte sic aus allen Teilen des Reiches im Palast.
Wir haben hier die typische chinesische Künstlerlegende. Die Auf¬
fassung des Verhältnisses von Naturding und Kunstwerk, die ihr zugrunde
liegt und die, sei es wörtlich geglaubt, sei es figürlich angewendet, in allen
legendarischen Anekdoten wiederkehrt, erlaubt uns hier einen Schluß auf
die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs der Eingebung. Zur Kennzeich¬
nung dieser Anschauung, die einen zauberkräftigen Zusammenhang von
Gegenstand und Abbild, von Kunst und Wirklichkeit annimmt, müssen wir
auf die Art dieser Legenden noch näher cingehcn.
Wir finden erstens eine Reihe von Anekdoten, bei denen cs sich um
die Abbilder fabelhafter und übernatürliche Kräfte symbolisierender Tiere
handelt, vor allem um den Drachen. Sie beziehen sich auf Ereignisse von
der Zeit der früheren Han-Dynastie bis in die Mitte des 8. Jahrh. — Ein
Mann liebt es, Drachen auf alle Türen und Wände zu malen, bis eines Tages
ein wirklicher Drache zum Fenster hcreinschaut und ihm diese Manie ver¬
leidet. — Ein Kaiser sah einen Drachen, der vom Himmel herabfuhr und
beauftragte Tsao Pu-hsing, ihn zu malen (238 n. Chr.). 200 Jahre später,
während einer großen Dürre, beschließt man, dies Bild in Wasser zu tauchen.
Sogleich erhebt sich ein dichter Nebel, und darauf stürzt ein Regenstrom
Digitized by
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Eine chinesische Kunsttheorie.
2 I
io Tage lang nieder. Von diesem Drachen soll Chang Söng-yu verächtlich
gesprochen haben, um darauf einen eigenen wundervollen auf eine Tempel*
wand zu malen; allein da erhob sich ein Gewitter über dem Bau und zer¬
störte die Drachenwand vollständig. Ein andermal malte er 4 Drachen
in einen Tempel, weigerte sich aber, ihnen die Augen zu malen. Auf das
Drängen der Leute gab er endlich bei einem Tiere nach. Sogleich zerschmet¬
terte Blitz und Donner die Wand, und man sah einen Drachen hinwegsausen,
während die drei andern unberührt blieben. Ein anderer Drache von ihm
schien bei Wind und Regenwetter auf- und abzuhüpfen; darauf malte ihm
Chang eine Kette um den Hals, und von da ab hielt er sich ruhig. — Um
einen Drachen des Yang Tse-hua sammelten sich Wolken, sowie er gemalt
war. Ebenso malte Wu Tao-tse in einem Zimmer des Palastes 5 Drachen
so lebendig, daß sie zu leben schienen, und immer wenn es regnete, erhob
sich ein dicker Nebel von dem Bilde. Endlich soll Föng Shao-chöng ein paar
Drachen gemalt haben, die einer großen Dürre ein Ende machten: auf vier
Wände zeichnete er zuerst die Drachen, sich krümmend, als wollten sie
berstend in einen Regenguß sich verwandeln; bevor dann die Farben halb
angelegt waren, schien der Pinsel Wind und Wolken zum Entstehen zu
bringen und der Kaiser samt seinem Gefolge sah Wasser auf den Drachen-
schuppen stehen. Kurz darauf erhob sich ein weißer Drache aus der Wand
und Regen stürzte wie ein Wolkenbruch nieder. Zum Verständnis dieser
Zaubergeschichten mag es dienen, daß dem Chinesen der Drache die Ver¬
körperung des flüssigen Elements und der Gewalt des Wassers ist.
Ein anderer Aberglaube, der schon oben in Verbindung mit den Drachen
berührt war, wird zuerst von Wei Hsi6 (3. Jahrh.) berichtet. Dieser »in¬
spirierte Maler« soll es nicht gewagt haben, die Pupille in die Augen göttlicher
Wesen zu setzen, aus Furcht, sie möchten lebendig werden. Ebenso soll
Ku K’ai-chi bei seinen Bildnissen verfahren sein. Es handelt sich jedoch
hier wahrscheinlich nur um einen kurzwährenden Zauberglauben des 3. und
4. Jahrh. Ein Schriftsteller des 9. Jahrh. erwähnt noch ausdrücklich: Die
Augen der Buddhapriester und übermenschlichen Wesen, die auf den Tempel-
wänden gemalt waren, folgten dem Beschauer überall nach, so genau waren
stets die Pupillen eingesetzt. — Daß Bilder, die einen anschauen, auf
Geistesgestörte eine furchtbare Wirkung haben, ist bekannt, es handelt sich
aber bei den erwähnten Stellen nicht allein um eine kunsthistorisch inter¬
essante Notiz, sondern auch von neuem um den Glauben, daß Bilder wirklich
pnd wahrhaftig lebendig werden, d. h. eine lebendige Gewalt üben können.
Daß das Auge der Sitz des seelischen Ausdrucks sei, ist eine oft angeführte
Wahrheit der chinesischen Kunstliteratur.
Eine dritte Kategorie von Anekdoten handelt von der zerstörenden oder
heilenden Wirkung gemalter Abbilder, einer Wirkung, die bei uns gemeinhin
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Otto Fischer,
mit dem Worte Sympathie bezeichnet wird und die in der Zauberkunst,
ja in der Medizin aller Völker und Zeiten eine größere oder kleinere Rolle
spielt. So soll Ku K’ai-chi das Bild eines Mädchens gemalt haben, das er
liebte. Er heftete cs an die Wand und ein Dorn ging dabei durch die Stelle,
wo das Herz ist. Das Mädchen befiel sogleich eine gefährliche Krankheit
im Herzen, und nur die Entfernung des Dorns vermochte sic zu heilen.
Etwa um die gleiche Zeit wird der Fall einer Frau erwähnt, die von einer
schweren Krankheit dadurch geheilt wurde, daß man das Bild eines wilden
Bären in ihr Schlafzimmer hing. Ein Maler des 5. Jahrh. heilte einen Freund,
indem er ihm einen Löwen auf die Zimmertür malte. Man sprach Gebete
vor dem Bilde und am nächsten Morgen fand man die Löwenklauen blut¬
bedeckt: offenbar hatte er einen feindlichen Dämon zerrissen. Wu Tao-tse
endlich, um sich für einen üblen Empfang zu rächen, malte einen Esel auf
eine Tempelwand, der in der Nacht die ganze Ausstattung und die Gegen¬
stände der Priester in Stücke schlug. Die Priester waren überzeugt, daß
dies des Malers Werk sei, auf ihre Bitten zerstörte er die Zeichnung und es
geschah kein Unfug mehr.
Diese Geschichte führt uns endlich zu denen hinüber, die allein vom
Lebendigwerden besonders meisterhaft und suggestiv abgebildetcr Wesen
handeln und uns zuletzt auch zu einer philosophischen Ausdeutung dieser
magischen Erklärungen bringen werden, wenn es nicht anders jene philo¬
sophische Anschauung selber ist, der die Anekdote ihre Entstehung ver¬
dankt. Es sind Anekdoten, die dazu dienen sollen, die Leben schaffende
Meisterschaft einzelner Künstler zu verherrlichen. Von Yang Tse-hua
heißt es so, er habe ein Roß auf eine Wand gemalt, das man in der Nacht
soll stampfen und wiehern gehört haben. Li Ssu-Hsün (7. Jahrh.) malte
einen Fisch, als ein Besucher ihn abrief. Das Bild war unterdes verschwunden
und wurde in einem Teiche wiedergefunden, wohin es der Wind geweht
hatte; von dem Fisch aber war keine Spur mehr darauf. Er wiederholte
nun mit Willen den Versuch, aber die Fische blieben auf der Seide. Hierher
gehört auch die Legende von dem wunderbaren Ende des Wu Tao-tse, der
vor den Augen des Kaisers in der aufgetanen Höhle einer Landschaft ver¬
schwindet, die er zuvor auf eine Wand des Palastes gemalt: hinter ihm
schließt sich das Tor und bevor der Herrscher einen Schritt tut, ist das ganze
Gemälde verschwunden, und die Wand weiß wie zuvor. Ebenso merkwürdige
Dinge werden von dem Rossemaler Han Kan erzählt: Im Jahre 780 erkun¬
digte sich ein Mann, der ein Pferd am Zügel führte, nach einem Tierarzt.
Dieser besah das Tier und rief unter Lachen: Das sieht ja aus wie eines von
Han Kans Rossen; so sehen wirkliche Rosse doch niemals aus! Han Kan
selber kam hinzu und sagte mit Staunen: Ja, dieses Pferd habe ich wahr¬
haftig gemalt; ihr wißt, was immer wir hier oben schaffen, das wird sogleich
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Eine chinesische Kunsttheorie.
23
in der Welt dort, unten nachgebildet. Dann streichelte er das Roß und fand,
daß es von einer Verletzung am Vorderfuß lahmte, und entdeckte zu seiner
Überraschung zu Hause, daß das Roß auf seinem eigenen Bild eine kleine
Beschädigung eben an der Stelle hatte. So erfuhr er, wie die Bilder uns
mit der Welt der Geister in Verbindung setzen. — Ein andermal besuchte
ihn ein Mann und sagte, er sei ein Gesandter der unteren Welt und bitte
den Maler, ihm ein Roß zu verschaffen. Han Kan malte das verlangte Bild,
verbrannte es und nach ein paar Tagen kam der geisterhafte Besucher auf
eben demselben Rosse angeritten, sich bei Han Kan zu bedanken. So stark
war sein Einfluß sogar im Reiche der Geister. — Eines Tages träumte der
Herrscher des Staates Shu, daß ihm ein seltsamer, fremdartig gekleideter
Mann erschien, der hinkte und bat, ihn zu heilen. Am nächsten Tage fand
man ein Bild eben dieses Mannes, in dessen linkem Fuß ein Dorn stak. Ein
Maler wurde befohlen, es zu untersuchen, fand, daß es ein Bild des Fieber-
gottes von Wu Tao-tse war, und setzte es sorgfältig wieder in Stand. Darauf
erschien der Gott abermals im Traum und dankte seiner Hoheit. — Endlich
wird es von Li Lung-mien berichtet, daß er in seiner Jugend die kaiserlichen
Rosse, die als Tribut aus Khotan kamen, mit besonderer Vorliebe malte.
Ja, als sechs von diesen Rossen cingingen, kurz nachdem sie Li abgeschildert
hatte, so hieß es, der Künstler sei dabei so tief in den inneren Sitz des Lebens
eingedrungen, daß er ihnen die Lebenskraft (das Prinzip des Lebens) aus
dem Leibe entzogen habe. Dies ist die späteste derartiger Anekdoten, die
mit Wahrscheinlichkeit noch wörtlich gemeint ist.
Alle diese Geschichten beweisen nun das Folgende. Die chinesische
Auffassung von darstellender Kunst ist bis tief in die historische Zeit hinein,
bis in die Zeiten einer höchst verfeinerten Kultur und einer durchaus be¬
wußten und reflektierenden Kunstübung von den Anschauungen eines
primitiven Zauberglaubens beeinflußt. Diese Anschauung geht dahin, daß
zwischen dem Bilde, das der Maler schuf, und dem wirklichen Ding, dessen
Abbild cs ist, ein magischer Zusammenhang besteht, kraft dessen entweder
das von dem Maler Geschaffene eine geistige und vorübergehend in der
realen Erscheinung wirksame Existenz gewinnt — das Bild selber kann
•
dabei verschwinden oder bestehen bleiben — oder doch das Schicksal eines
wirklichen Urbildes durch das ihm selbst, dem gemalten Abbild, widerfahrende
Schicksal sympathisch beeinflußt. Nach diesem Glauben haben die Künstler
eine Art von Zauberkraft, und sie üben diese entweder mit Absicht aus oder
erfahren sie doch durch die merkwürdigen Wirkungen ihrer Werke. Die
Maler, die so mit dem magischen Geisterreich oder mit den inneren Kräften
der Natur in einem geheimnisvollen Zusammenhang stehen, werden als
inspiriert bezeichnet, und diese Zauberkraft ist wohl die ursprüngliche Be¬
deutung des Wortes Eingebung.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
24
Otto Fischer,
Die Dinge: Geist und F o r m.
Die Anekdote des Li Lung*mien führt uns auf einen weiteren Punkt.
Dieser Künstler, der nach Wu Tao-tsc von den Chinesen als ihr größter
Maler angesehen wird, soll das Prinzip des Lebens selber seinen Urbildern
entnommen und in seine Abbilder übertragen haben. Es ist dies ein äußerstes
Vermögen der Wirksam-, Suggestiv-, ja Lebendigmachung, das den Chinesen
als das Höchste in der Kunst erscheint, und wir werden sehen, wie sich hier
wiederum jener Glaube eines innersten Zusammenhangs von Naturwerk
und Kunstwerk, von Naturschaffen und Kunstschaffen wie zuvor im Zauber¬
glauben, nur gereinigter, nur geistiger dokumentiert. Es mögen zunächst
die bezeichnendsten Stellen sprechen 1
Im Anschluß an Wang W'ei sagt Shön Kua (u. Jahrh.): In der Schrift-
kunst und in der Malerei ist Seele wichtiger als Form. Die meisten Leute,
die Bilder ansehen, bemerken die kleinen Fehler in der Form, in der Lage,
in der Färbung, aber damit ist es auch getan. Die andern, die tiefer in das
Grundsätzliche dringen, die sind schwer zu finden. — Und später: Sagt
nicht der Dichter: Die alten Meister malten den Geist und nicht die Form.
Die aber die Form verlassen und den Geist erfassen, sind wenig. Ebenso
Huang Po-ssu (Anf. d. 12. Jahrh.). In den alten Zeiten erfaßten die in
der Kunst der Malerei Gewandten den Geist und wußten nichts von der
Form. — Über ein Bildnis Chou Fangs (um 780—805) im Vergleich mit
einem andern von Han Kan, das dieselbe Persönlichkeit darstellte, wird
anekdotisch geäußert: Dies ist das Bild des Geheimsekretärs, soweit Form
und Gestalt gehen mag, aber jener Meister erfaßte noch überdies die wahr¬
haftige Seele des Mannes, daß es scheint, als lachte und spräche er mit uns. —
Über Hsü Hsi (um 950) heißt es: In der Blumenmalerei streben die Leute
gewöhnlich nach genauester Ähnlichkeit, nicht so Hsü Hsi. Und der Maler,
der solche Ähnlichkeit gering achten darf, der wird, was Se-ma-ts’ien unter
den Prosaisten und Tu Fu unter den Dichtern. Shön Kua sagt über ihn:
Er malte, den Pinsel voll Tusche und in äußerst rauher Manier; er beschränkte
sich darauf, die grauen Töne anzulegen, um dem geistigen Ausdruck Relief
zu verleihen und so die Wirkung der Lebensbewegung zu erreichen. — Von
dem Landschafter Fan K'uan (Anf. d. 11. Jahrh.) ist folgender Ausspruch
überliefert: Die Methode meiner Vorgänger war nicht die, in die allernächste
Beziehung zu den Dingen zu gelangen. Besser als den Stil eines Meisters zu
studieren, wird es sein, die Dinge selber zu studieren, und noch besser als die
Dinge selber das Innere der Dinge zu erfassen. — Über einen Blumenmaler heißt
cs: Andere Künstler suchen die genaueste Ähnlichkeit der Blumen, die sie
malen, aber Chao Ch'angs (Anf. d. 11. Jahrh.) Kunst erreicht nicht nur
diese genaue Ähnlichkeit, sondern übermittelt einem auch noch die Seele
der Blume mit ihr. — Über Li Lung-mien (Ende d. II. Jahrh.) sagt sein
Zeitgenosse Su Tung-po: Wenn er in den Bergen ist, so konzentriert er sich
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Eine chinesische Kunsttheorie.
25
nicht auf einen Gegenstand, sondern seine Seele tritt in Gemeinschaft mit
allen Dingen und sein Herz durchdringt die Geheimnisse aller Künste. Doch
muß man sowohl Genius als Technik in Betracht ziehen. Hat einer den
Genius, aber ermangelt des Könnens, so mögen sich die Dinge zwar in seinem
Herzen gestalten, aber sie werden unter seinem Pinsel nicht die Form ge¬
winnen. — Schon Wu Tao-tse hatte gesagt, als er ohne Skizzen von einer
Studienreise zurückkam: Ich habe die Landschaft in meinem Herzen. —
Über Sun Kan (15. Jahrh.) endlich heißt es: Er liebte die Chrysanthemen
sehr und pflegte sie in seinem Garten. Morgens und abends sah er nach
seinen Blumen, und die Folge war, wenn er sie abmaltc, so malte er ihre Seele
und gab seinen Bildern ein Etwas, das andere Bilder nie gewonnen haben.
Hierher gehört es auch, was hier und dort über Bildnismalerei gesagt ist.
So heißt es von Ku K'ai-chi: Seine Bildnisse seien ausgezeichnet durch Tiefe
und Geistigkeit, und wenn andere Künstler seiner Zeit ihn übertrafen in Fleisch
und Bein, so stehe er doch im Ausdruck hoch über ihnen. »Und da der
Ausdruck von geheimnisvoller Natur ist und außerhalb dessen, was von
Malern gelernt werden kann, so nenne ich Ku den ersten unter ihnen.«
Ku K'ai-chi soll auch gesagt haben, beim Bildnis komme es nicht auf die
Form an, sondern darauf, daß man einen geistig Großen von einem Kleinen
und einen Edlen von einem Gewöhnlichen unterscheiden könne. So malte
er das Bild eines Großen vor einen Hintergrund von hohen Berggipfeln und
tiefen Abgründen, um so sein Geistiges auszudrücken. Und wir lesen endlich
bei Hu Ch'üan (gest. 1172): Nichts ist so schwer wie das Porträtfach. Nicht
die Wiedergabe der Züge ist schwierig, sondern die Schwierigkeit liegt darin,
daß es gilt die Quellen des Handelns zu malen, die im Herzen verborgen
sind. Und solchen Stellen antworten andere, wo vom Herzschlag des Ge¬
birges die Rede ist und vom Geistigen, von der Seele, vom Prinzip des Lebens
in der ganzen Natur, vom Größten zum Kleinsten hinab: dies gelte cs im
Bilde festzubannen.
Dem Gegensätze von Geist und Form in der Kunst entspricht in der
gesamten Wirklichkeit der einer inneren Wesenheit, des Lebensprinzips,
wie der Chinese sagt, zur äußeren materiellen Erscheinung. Dieses innere
Prinzip erscheint in unseren Übersetzungen bald als Geist, bald als Seele
und ist vielleicht am besten mit dem Worte Inbegriff wiederzugeben. Bis
ist hier nicht unsere Aufgabe, uns in die Tiefen der chinesischen Spekulation,
die in diesem Punkte durchaus von der taoistischen Philosophie bestimmt
scheint, einzulassen. Es sei nur soviel angedeutet, daß dieses Lebensprinzip,
sei es der Welt, sei cs eines einzelnen Wesens, sich doch mit dem Begriff
des europäischen Platonismus durchaus nicht deckt. Es ist viel unpersön¬
licher als dieser und in keiner Weise anthropomorph zu fassen. Es ist etwas
absolut Außerzeitliches, gleichsam die Mitte aller Möglichkeiten, gleichsam
der Inbegriff aller Qualitäten, beweglich, aber nicht bewegt, vielfach doch
Digitized by
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
26
Otto Fischer, Kine chinesische Kunsttheorie.
nur wie ein Keim, nichtseicnd und doch das reine Sein. Dieses geheimnisvoll
Wesenhafte im All und in jedem Ding, dieses innere Sein, das nicht mit
den Sinnen wahrzunehmen ist, divinatorisch zu erfassen, das galt dem Chi¬
nesen von je her als die Aufgabe des Künstlers. Dieses in seinem Werke
wiederzugeben und jedem mit Notwendigkeit spürbar zu machen, als das
Höchste, was er in seinem Werke zu erreichen vermochte. Die Frage des
Naturalismus hat für den Chinesen nie existiert, er hat nie das Ding mahn
wollen, sondern den Geist, die Seele des Dings, nie die Welt, sondern das
Prinzip und das Herz der Welt.
Aus dieser Auffassung von der Natur und von dem Wesen der Kunst
erklärt es sich, daß der Chinese durchaus keine Wertung der Gegenstände
und Vorwürfe kennt und daß ihm das Unendliche, Tiefgeistige und der In¬
begriff alles Lebens ebenso im kleinsten Ding, in einem Blatt, einer Blume,
einem Schmetterling ausdrückbar erscheint wie in irgendeinem menschlichen
Gegenstände, ja er findet es dort ungehemmter, unmittelbarer als hier.
Hieraus erklärt es sich ferner, daß für ihn keine Schönheitswerte und kein
formaler Kanon der Kunst existiert, da die Schönheit, wenn wir dieses Wort
behalten wollen, etwas durchaus Inneres ist, und da das Wesentliche der
Kunst keinem Verstand und keinen Prinzipien zugänglich ist. So kommt es,
daß die chinesische Kunst in ihrem Grunde etwas durchaus Arationales, ja
Antirationales bleibt, sowohl im Bewußtsein des Schaffenden als in der Auf¬
fassung des Genießers. Das Schaffen selbst wird zur Trance, und es geschieht
in einem fast unbewußten Zustande, der durch die vollkommenste Versenkung
und Hingabe an den allgemeinen Strom des Seins, durch ein Verlieren des
bewußten Selbst und Einswerden mit der unendlichen Natur erreicht wird:
es ist dies, was der Chinese die Eingebung nannte. Das Kunstwerk wird ihm
so eine Offenbarung der Natur durch ein menschliches divinatorischesMedium,
und was er Geist nennt, ist nicht etwas vom Materiellen getrenntes, sondern
nichts anderes als das abstrakteste Prinzip alles Seins und alles Lebens,
ein Prinzip, das ebenso im Werke des inspirierten, d. h. mit ihm sich eins
fühlenden Menschen wie in jedem Größten und jedem Kleinsten der Natur
sich wirksam erweist.
Diese Identifikation von Natur- und Kunstschaffen hat denn auch in
der Wertung der Kunstwerke zu bestimmten Äußerungen und Lobesformeln
geführt, die sich uns jetzt erklären. So ist es eine in der Kunstliteratur
geläufige Redewendung, daß der Pinselzug eines Malers gleich dem Ziehen
der Wolken oder dem Strömen des Wassers sei. So heißt es von Ku K'ai-chi,
sein Schaffen sei wie das Spinnen des Seidenwurms im Frühling, seine Ge¬
danken seien gleich Wolken, die durch den Himmel ziehen, oder gleich einem
forteilenden Strom: vollkommen natürlich. L T nd von andern wieder: ihre
Bilder seien, als ob die Natur selber sie geschaffen hätte.
(Schluß folgt.)
Digitized by Google
J
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Perspektive und Bildarchitektur bei Jan van Eyck
Von G. Joseph Kern
Das Ergebnis der Untersuchungen, die ich in meiner Schrift über die
Grundzüge der linearperspektivischen Darstellung in der Kunst der Brüder
van Eyck und ihrer Schule (Leipzig, E. A. Seemann, 1904) niedcrlegte,
gipfelt in folgenden Sätzen:
1. Jan van Eyck konstruiert einzelne Begrenzungsebenen des
Raumes unter Anwendung des Fluchtpunktes für diese einzelnen Ebenen.
2. Im Werke des Jan van Eyck und des Petrus Cristus läßt sich ein
Fortschritt von dieser primitiven Konstruktion zur Konstruktion des Raumes
nach einem Fluchtpunkt feststellen.
3. Die Auffindung dts Fluchtpunktgtsetzes, bezw. seine erstmalige An¬
wendung auf den Raum durch Jan van Eyck oder Petrus Cristus fällt höchst¬
wahrscheinlich in die Jahre 1436—1453.
4. Das erste bisher bekannt gewordene datierte
Bild der nordeuropäischen Malerei, in dem sich ein
Fluchtpunkt für die Zeichnung des Raumes mit
Sicherheit nach weisen läßt, ist das 1457 entstan¬
dene Frankfurter Bild des Petrus Cristus »Die
Madonna mit den beiden Heiligen«.
5. Den flandrischen Künstlern der Frührcnaissancc ist das perspek¬
tivische Gesetz von der Distanz nicht bekannt.
In mehreren Aufsätzen hat der Münchener Mathematiker Professor
Karl Doehlemann zu meiner Arbeit, die zum Abschluß zu bringen *) mich
dienstliche Verpflichtungen und die Beschäftigung mit anderen dringenden
Arbeiten hinderten, Stellung genommen. 1905 erschien in der Zeitschrift
für Mathematik und Physik (Bd. 52, Heft 4) eine Abhandlung Doehlemanns,
betitelt: »Die Perspektive der Brüder van Eyck«, 1906 aus der Feder des¬
selben Verfassers in der Zeitschrift: »Die Graphische Kunst« (Wien) ein Auf¬
satz: »Die Verwertung der Linearperspektive zur Datierung von Bildern« und
endlich vor kurzem im Repertorium eine ausführliche Untersuchung Doehlc-
manns: »Die Entwicklung der Perspektive in der altniederländischen Kunst«.
*) Vorliegende Arbeit mag bis auf weiteres als Ergänzung angesehen werden.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
28
Joseph Kern,
Die Doehlemannschen Darlegungen zeichnen sich vor ähnlichen da¬
durch aus, daß der Verfasser das Gebiet, über das er schreibt, technisch
beherrscht und sich nicht in ästhetischen Deduktionen verliert, die zur auf¬
geworfenen Frage in keiner Beziehung stehen. Eine Auseinandersetzung wird
dadurch in jedem Falle erleichtert. Sic scheint vielleicht angebracht, da
die Ansichten über das Wesen und die historische Bedeutung der Eyckschcn
Linearperspektive heute weiter als je auseinandergehen und cs sich anderer¬
seits um ein für die Geschichte der Kunst wie der Perspektive gleich bedeut¬
sames Problem handelt. Es dürfte aber auch ein Meinungsaustausch über
die Prinzipien erwünscht sein, nach denen Bilder auf ihre perspek¬
tivische Zeichnung hin zu untersuchen sind.
Doehlemann leugnet, daß die Brüder van Eyck theoretische Kennt¬
nisse auf dem Gebiete der Perspektive besessen haben, und präzisiert seine
Auffassung dahin, daß sie das Gesetz vom Fluchtpunkt der Tiefenlinien
weder für eine Ebene noch für den Raum kennen. Bei der Begründung
seiner Behauptung verwickelt er sich jedoch in arge Widersprüche. So
stellt er z. B. fest, daß das System der Tiefenlinien des Fußbodens im Flügel-
bilde des Genter Altars mit dem Ausblick auf die Straße »mathematisch
richtig konstruiert« ist (Zeitschrift für Mathematik und Physik, Bd. 52,
Heft 4, Seite 422). »Dieses Liniensystem«, schreibt er im Repertorium
(Bd. XXXIV, Heft 5, S. 401), »kann direkt als mathematisch richtig gelten«.
Diese Erkenntnis hindert Doehlemann nicht, für die Erklärung der Zeich¬
nung den Zufall in Anspruch zu nehmen (Repertorium, Bd. XXXIV, Heft 5,
S. 401). Dabei handelt es sich bei dem Bilde nicht etwa um eine kleine Tafel,
bei der eine ungenaue Zeichnung ein noch immerhin günstiges Ergebnis
für die perspektivische Nachprüfung ergeben müßte, sondern um ein Bild
von erheblich großen Abmessungen, bei dem ein Zufall gänzlich ausge¬
schlossen ist. Den Fußboden im Flügel mit dem Ausblick auf die Straße
habe ich in meiner Schrift über die Eycksche Perspektive nicht erwähnt,
worüber sich Doehlemann wundert. Die Erwähnung unterblieb aus dem
einfachen Grunde, weil das benachbarte Bild mit der Wandnische, dessen
Fußboden analog dem ersten gezeichnet ist, austührlich besprochen wurde.
Von sieben Linien konvergieren sechs in einen Punkt. Die Konvergenz
von dreien oder vieren würde wohl zum Beweise meiner oben, unter 1, an¬
geführten Behauptung genügen, vielleicht hätte noch besonders erwähnt
werden sollen, daß dieser Punkt der Fluchtpunkt des ganzen Liniensystems
auch für die benachbarte Tafel links ist. Fassen wir die beiden Tafeln als
Einheit auf, so ergibt sich, daß von fünfzehn Linien sich
nicht weniger als vierzehn genau in einem Punkte
schneiden. Mathematisch, wenn der Ausdruck bei gezeichneten Linien
überhaupt zulässig ist. Dieser Tatsache gegenüber besagt die Abweichung
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Perspektive und Hildarchitektur bei Jan van Eyck.
29
einzelner Linien im Fußboden der beiden äußeren Flügel des Verkündigungs¬
bildes nichts. Es liegt eine Unachtsamkeit des Künstlers vor, die um so ent-
schuldsamer erscheint, als die Linien in den seitlichen Flügeln doch zum
größten Teil durch Figuren verdeckt sind. Von den Tiefenlinien der Decke
liegen nur wenige in einer Ebene; sie konvergieren gegeneinander, »drehen«
sich aber lediglich um einen größeren Fluchtpunktbezirk. Als Ganzes ist
die Decke unter einem Horizont gesehen, der tiefer liegt als der Horizont
des Fußbodens.
Der Genter Altar wurde 1432 vollendet. Zwei Jahre später entstand
das Londoner Bild des Kaufmanns Arnolfini und seiner Frau. Bezug¬
nehmend auf seine Darlegungen betreffend die Perspektive im Genter Altar
führt Doehlemann über die perspektivische Anlage dieses Werkes aus:
»Besser stimmt wieder der Fußboden im Bilde des Arnolfini und seiner Frau,
aber hier kann man nur wenig Tiefenlinicn verfolgen. Die Tiefenlinien
der Decke zeigen nach der Kernschen Tafel keinen gemeinsamen Flucht¬
punkt (die Decke ist so dunkel, daß ich auf der Photographie diese Linien
nicht mehr sehe)« (Zeitschrift für Mathematik und Physik, Bd. 52, Heft 4,
S. 423). In dem erwähnten Aufsatze der Graphischen Kunst schreibt der
Verfasser: »Das Fußbodenmuster in dem Bilde des Kaufmanns Arnolfini
und seiner Frau« stimmt . . ziemlich genau mit der Theorie überein«.
In Wirklichkeit ist für ein Bild die Übereinstimmung vollkom¬
men. Doehlemann würde wohl zu demselben Schlüsse gelangt sein, wenn
er neben meiner Zeichnung das Originalbild statt der Photographie geprüft
und dem Umstand Rechnung getragen hätte, daß das Bild eine erhebliche
Größe aufweist. Je größer aber ein Bild, desto größer sind die »Ungenauig¬
keiten«, »die bei einer Rekonstruktion in Betracht zu ziehen sind«. Das
Werk mißt 84 cm Höhe und 73 cm Breite (lichte Maße). Ich habe das
Original mehrfach und nach verschiedenen Methoden untersucht und bin
immer zum gleichen Ergebnis gekommen: Decke und Fußboden sind je
nach einem Fluchtpunkte konstruiert. Wenn Doehlemann aus meiner
Tafel IV (siehe »Grundzüge« und hier Figur 1) beweisen will, daß der Zeich¬
nung der Decke kein gemeinsamer Fluchtpunkt für die Tiefenlinien zugrunde
liegt, so muß ich diese Art von Beweisführung ablehnen. Meine Tafel ergibt
in Übereinstimmung mit dem Original, nach der sie angefertigt ist, das
typische Bild einer perspektivischen Konstruktion einzelner Ebenen nach
gesonderten Fluchtpunkten. Fußboden und Decke heben sich aus der
Zeichnung als die beiden Hauptebenen des Raumes klar hervor. Vermut¬
lich stützt sich Doehlemann bei der Ablehnung meiner Hypothese auf die
Zeichnung des dritten Deckenbalkens von rechts, der sich in der Tat in das
System der übrigen Balken nicht einfügt. Es wäre hierauf zu erwidern, daß
weitaus die Mehrzahl der Orthogonalen der Decke einen gemeinsamen
Digitized by
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
3 °
Joseph Kern,
Fluchtpunkt aufweist. Für alle Einzelheiten verweise ich auf die Zeichnung.
Man sollte denken, daß Doehlemann, der mir den Vorwurf macht, meine
Abb. i. Jan van Eyck: Giovanni Arnolfini und Frau, London, National-Gallery.
Anforderungen an die Genauigkeit einer perspektivischen Zeichnung für
ein Bild seien zu geringe, seinerseits in allen Fällen mit strengeren Anforderun¬
gen an die Konstruktion eines Bildes herangeht. Das Gegenteil ist der Fall,
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Perspektive und Bildarchitektur bei Jan van Eyck.
3 1
wie am Beispiel des Dirk Bouts gezeigt werden soll. Vom »Gottesurteil
vor Kaiser Otto III.«, Brüssel, Museum, heißt es (Repertorium, Bd. XXXIX’,
S. 418): »Die Tiefenlinien des Fußbodens bestimmen ziemlich gut (so !j
einen Fluchtpunkt, die der Decke — wenn man die nur ganz ungenau zu
bestimmenden links außen wegläßt — einen zweiten davon verschiedenen.
Am Bilde selbst wären die Mittelpunkte der beiden Kreise fast 8 dm von ein¬
ander entfernt. Außerdem lassen sich noch durch entsprechende Punkte
der vorderen und der hinteren X'crzierung oben an der Decke zahlreiche
Tiefenlinien legen. Diese laufen aber ziemlich verwirrt und geben kaum
zu einem Fluchtgcbiete X’eranlassung; wegen der zweifelhaften Natur der
vorderen Verzierung sollen diese Tiefenlinien unberücksichtigt bleiben.
Der Thron des Kaisers ist nicht einheitlich für einen Fluchtpunkt kon¬
struiert, höchstens könnte man für die Linien des Sockels einen solchen
angeben ... Da bei dem Gottesurteil nun die Fluchtpunkte des Bodens
und der Decke wieder getrennt erscheinen, so bleibt kaum etwas anderes
übrig als anzunchmcn, daß die Einheitlichkeit der linearen Konstruktion
beim Abendmahl *) doch mehr zufälliger Art ist, indem der Künstler den
Fluchtpunkt der Bodenfläche nur sehr nahe mit dem der Decke zusammen-
fallen ließ. Doch bleibt immer noch die Tatsache bestehen, daß Bouts
die Tiefenlinien der Boden- und Deckenflächen
ganz sicher (so!) unter Benutzung eines Flucht¬
punktes konstruiert hat (so!). Die Abbildung bietet übrigens
noch eine andere Überraschung: in dem quadratischen Fußbodenmustcr
sind nämlich die Diagonalen als Gerade durchgezogen, wenigstens für die
Haupteinteilung und diese Linien gehen so ziemlich (so !) durch einen Flucht¬
punkt, der nahe unter dem Horizont durch den Fluchtpunkt der Decke
liegt. Dieser neue Fluchtpunkt wäre der Distanzpunkt, wenn er als in dem
Horizont der Decke gelegen angesehen werden dürfte. Allem Anschein
nach (so!) liegen hier die Spuren weiterer theoretischer Kenntnisse vor.«—Bei
diesem Bilde hindert also den Verfasser die eine oder andere kleine Un-
genauigkeit nicht, eine Konstruktion anzunehmen, wie ich sie bereits für die
Orthogonalen des Arnolfini-Bildes beansprucht habe. Warum leugnet Doehle-
mann, für den nach seinen Messungen in beiden Fällen die Voraussetzungen
analoge sein müssen, beim Arnolfini-Bilde das Vorhandensein einer Kon¬
struktion, während er sie für das Boutssche Bild in Brüssel annimmt?
Vermutet er doch, trotz aller Ungenauigkeiten, daß der Fußboden des
Boutsschen Werkes mit Hülfe der Distanzkonstruktion gezeichnet ist!
Über die Frage der Perspektive des Dirk und Aelbrecht Bouts, die
uns hier nur aus methodischen Gründen interessiert, habe ich mich in einer
*) War vorher besprochen.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
3 2
Joseph Kern,
Notiz der »Monatshefte für Kunstwissenschaft« 1910, Heft 7, S. 289, geäußert.
Doehlemann scheint die Mitteilung entgangen zu sein 1 ). Es wurde ausgeführt,
daß im Werke der beiden Bouts Bilder ohne Konstruktion Vorkommen,
Bilder, die zum Teil, und Bilder, die ganz nach dem Fluchtpunktgesetze
konstruiert sind. Ich behalte mir vor, auf die Frage zurückzukommen.
Um einen Maßstab dafür zu gewinnen, welchen Grad von Genauigkeit
man billigerweise von Gemälden verlangen kann, bei denen man eine Kon¬
struktion vermutet, empfiehlt es sich, zu untersuchen, wie die Zeichnungen
in den ältesten uns erhaltenen Lehrbüchern der Perspektive beschaffen sind,
die den Malern für ihre Konstruktionen Anweisung geben sollten. Als passen¬
des Vergleichsobjekt bieten sich da die Figuren in dem Werke des Jörg
Glogkendon »Von der Kunst Perspectiva« an, die als deutsche Ausgabe der
Perspektive des gelehrten Toulcr Mönches Jean Pölerin, alias »Viator«, 1509
in Nürnberg erschienen ist. Es gibt drei französische Ausgaben; sie stammen
aus den Jahren 1505, 1509 und 1521. Anatole de Montaiglon hat dem Lehr¬
buch P^lerins und seinen verschiedenen Ausgaben in der Einleitung zur
Pilinskischen Veröffentlichung der Ausgabe von 1509 (Paris 1860) eine histo¬
rische Studie gewidmet. Viators Buch ist das erste perspektivische Lehr¬
buch, das, soweit bekannt, diesseits der Alpen für Maler geschrieben wurde,
und beansprucht noch besonderes Interesse dadurch, daß Künstler wie Alb-
recht Dürer sich seiner bei ihren Studien bedient haben (das Nähere s. Licht-
wark, Der Ornamentstich der deutschen Frührenaissancc, Berlin 1888,
S. 129 ff.). Man führe nun eine Probe der genannten Art an einer Zeichnung
aus, wie etwa dem Grundriß der Renaissancehalle mit den zahlreichen Figuren
auf Tafel 10 der Glogkendonschen Ausgabe. Die Diagonale, die rechts in das
kleine Quadrat eingezeichnet ist, schneidet in ihrer Verlängerung keine
einzige Ecke der in ihrer Richtung liegenden, sich folgenden größeren
und kleineren Quadrate ! Das äußerste »schwarze« Quadrat oben links
zeigt sogar eine Überschneidung durch das benachbarte größere Quadrat.
Ähnlich liegen die Dinge bei dem Grundriß auf Tafel 19, die eine zweiteilige
gotische Halle vorstellt. — Bei Bildern, deren Entstehungsdaten um
rund 70 Jahre gegen das Erscheinen des Viatorschen Lehrbuches zurück¬
liegen, wird man somit überaus vorsichtig mit der Ableugnung von Kon¬
struktionen sein müssen, wenn wichtige Gründe, wie wir sie für den Genter
Altar und das Arnolfini-Bild nachwciscn konnten, für das Vorhandensein
von Konstruktionen sprechen.
Bei dem Verkündigungsbildc des Isenheimer Altars von Matthias
Grünewald, das um 1509 entstanden ist, konnte jüngst Heinrich Alfred
*) Professor Doehlemann schreibt mir soeben auf eine diesbezügliche Anfrage, daß
er das an ihn gesandte Exemplar des Heftes nicht erhalten und die Notiz nicht gekannt hat.
Digitized by
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Perspektive und Bildarchitektur bei Jan van Eyck.
33
Schmid durch die Auffindung eines in die Holztafel eingebohrten
Fluchtpunktes eine Konstruktion nachweisen, trotzdem die Tiefenlinien,
auf die sich die Konstruktion bezieht, unter sich zum Teil verschiedene
und ziemlich weit auseinanderliegende Schnittpunkte zeigen. Er kam bei
der Untersuchung des Werkes zu dem interessanten und für uns schwer¬
wiegenden Ergebnis, daß auch Grünewald bei seiner Darstellung
des Raumes für die Flucht verschiedener Ebenen und
Raumteile verschiedene Fluchtpunkte zugrunde
legt. Die auf den Fall bezüglichen Mitteilungen seien hier, wegen ihrer
Wichtigkeit, im Wortlaute wiedergegeben:
»Richtig ist die Linearperspektive nicht. Aber es ist auch völlig aus¬
geschlossen, daß es sich hier lediglich um die rein impressionistische Wieder¬
gabe eines Raumes handeln könnte, bei der die Linien annähernd nach dem
Augenmaß wiedergegeben wurden.
»Im Fußboden sind die hellen Plättchen mit dem dunklen Vierblatt
in der Mitte offenbar als Quadrate gedacht. Die Seiten dieser Quadrate sind
nun, wie es auch in der Natur nicht anders sein konnte, nicht genau gezogen,
wo aber zwei oder gar vier Quadrate hintereinander zu sehen sind, wie
rechts unter den Füßen des Engels, da läßt sich aus dem Durchschnitt der
verschiedenen ungenauen und meist nicht einmal völlig geraden Linien
feststellen, welche Richtung für die Fluchtlinie gemeint ist, und hier ist es
nun unverkennbar, daß diese alle nach einer Stelle in der Abschrägung des
Fensters zustreben. An dieser Stelle befindet sich nun in
der Flolztafcl ein kleines Loch 1 ), weit genug, daß einst darin
eine Nadel oder ein dünnerer Nagel gesteckt haben kann. Natürlich ist es
heute mit Farbe, Firnis oder Staub fast ganz ausgefüllt. Die Stelle ist in
unserer Abbildung 3 ) durch den Punkt im obersten der drei kleinen Kreise
angedeutet. Nimmt man nun an, daß in der Vorzeichnung des Fußbodens
die Linien alle nach diesem Punkte ausgerichtet waren, und prüft man die
Linien des Fußbodens nochmals auf diese Vermutung hin nach, so ergibt
sich sofort, daß die Abweichungen tatsächlich aus der ungenauen Ausführung
zu erklären sind. Diese Ungenauigkeiten sind nun aber nicht größer, als es
notwendig war, wenn der Eindruck des Zufälligen und Natürlichen sollte voll¬
kommen gewahrt bleiben. Außerdem läuft auch noch die Linie der Ober¬
kante am Schränkchen nach diesem Punkte. Für die unteren Teile
des Bildes ist also ein Fluchtpunkt vorhanden und
im Prinzip einheitlich durchgeführt.
*) Diese wie die folgenden durch den Druck hervorgehobenen Stellen von mir ge¬
sperrt. D. V.
a ) Heinrich Alfred Schmid, Die Gemälde und Zeichnungen von Matthias Griincwald,
Straßburg, 1911, S. 169.
Repertorium fiir Kunstwissenschaft, XXXV. 3
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
34
Joseph Kern,
»Aber auch das Gewölbe und seine Kämpfer, das
heißt die Punkte, wo die Gewölbe ansetzen, sind nach einem ein¬
heitlichen Fluchtpunkte gezeichnet, nur liegt die¬
ser weit tiefer. Zieht man nämlich durch den Scheitel der Gewölbe
und durch die Stellen, wo die Kapitelle der beiden Seiten zu sehen oder zu
denken sind, Linien, so treffen sich diese über dem Knie des Engels in den
Falten des flatternden Gewandes. Auch hier findet sich dicht über der Stelle,
v IV III II I t a 3 4 s
Abb. 2 . Jan van Kvck: Madonna des Kanonikus l’ala, Brügge, Akademie.
wo nach unserer Meinung der Schnittpunkt der Fluchtlinien anzunehmen
wäre, ein grauer Fleck in der Purpurfarbe der Gewandung, allem Anschein
nach eine Stelle, wo der Kreidegrund wegen einer Besehädigung die Farbe
nicht annahm. Der Fleck ist gleich groß wie das Loch in der Fensterbrüstung
und dürfte vom selben Instrumente herrühren. Er ist auf unserer Abbildung
in der Mitte des untersten Kreises zu denken. Er befindet sich senkrecht
unter jenem oberen Fluchtpunkte.
»Die Fluchtlinien der Kapitelle selber sind nun aber sämtlich nicht
nach diesem Punkte ausgerichtet, wie es nach unserer heutigen Vorstellung
doch selbstverständlich wäre. Sie streben fast unverkennbar nach einer
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Perspektive und Bildarchitektur bei Jan van Eyck.
35
Gegend, die zwischen den beiden gefundenen Fluchtpunkten liegt, und es
scheint, daß der Künstler also für die Wände noch einen mittleren Flucht¬
punkt annahm. Auf unserer Abbildung ist eine etwas größere schadhafte
Stelle im Mantel des Engels angezeichnet, in der sich wenigstens zwei der
genauer zu kontrollierenden Linien vereinigen. Mit Sicherheit ist die Sache
hier nicht festzustellen. Doch erheben die übrigen Beobachtungen an der
Decke und am Fußboden und der Umstand, daß sich auch sonst drei Horizonte
bei Grünewald und anderen finden, die Wahrscheinlichkeit zur Gewißheit 1 ).«
Verhältnismäßig ungenau ist die perspektivische Zeichnung im Bilde
der Pala-Madonna, des Dresdener Reisealtärchens und der Madonna des
Abb. 3. Innere Ansicht der Rundkirche von St. Benigne in Dijon.
(heutiger Zustand)
Kanzlers Rolin. Meine Anmerkung auf Seite 10 der »Grundzüge« bezieht sich
nur auf die Schärfe der Linien.
Für die Erklärung des Pala-Bildes (s. Figur 2, Seite 34) liegt die
Hauptschw-icrigkeit in der perspektivischen Zeichnung des Sockels der Säule
rechts und der benachbarten Partien des Fußbodens. Der Fall lehrt, zu
welchen wichtigen kunstgeschichtlichen Fragen perspektivische Unter¬
suchungen an alten Bildern führen können. Als Grundriß des Innenraumes habe
ich ein gleichseitiges, in den Kreis beschriebenes Yicrzchneck angenommen
(»Grundzüge«, S. 11 und Fig. 2 daselbst, hierFig. 10). Doehlcmann setzt ein
Halbrund von im ganzen sieben Säulen voraus. Die beiden vorderen Säulen
seien als frontal zu der Bildebene stehend gedacht. Die Erklärung läuft
auf den halbrunden Chor einer Basilikalanlagc hinaus. Wie erklärt aber
» - • 1 ■■ ■
*) H. A. Schmid, Matthias Grüncwald, S. 168 ff.
3 *
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Joseph Kern,
36
Doehlemann den romanischen »Chor« mit der Säule in der Mitte? Chöre
dieser Art gibt es meines Wissens nicht, höchstens vereinzelte Chöre ohne
Umgang, in deren Mitte zwei Fenster aneinanderstoßen. Dieser Fall liegt
z. B. beim Naumburger Dom vor. Als Vorbild für Jans Architektur kann
jedoch nur ein Chor mit Umgang angesehen werden. Damit erledigt
sich auch Weales Einwurf, daß das Vorkommen von Chören mit sechs
Fensteröffnungen wenigstens die Möglichkeit einer Beeinflussung der Bild¬
architektur durch einen basilikalen Chor bestehen lasse 2 ). Als Muster für
sie kommt nur ein romanischer Rundbau mit innerem Säulenkreis in Betracht.
Nur im Rundbau, der als Raum keine Tiefenachse kennt, ist eine Ansicht
denkbar, wie sie das Gemälde vorführt.
Andererseits kann sowohl ein Rundbau
mit gerader wie mit ungerader Säulenzahl
dem Künstler, der durch die Architektur
an keine Richtung gebunden ist, als Vor¬
bild gedient haben. Kirchliche Zentral¬
bauten der genannten Art hat es in Nord¬
europa zu Jans Zeiten, und zwar in grö¬
ßerer Zahl, gegeben. Ein Teil dieser Ar¬
chitekturen geht auf die Grabeskirche
in Jerusalem (Grundriß der Gesamtanlage
nach Dehio und Bezold, Kirchl. Baukunst
des Abendlandes, hier Fig. 5), ein anderer
Teil auf den Felsendom zurück, in dem
man den salomonischen Tempel erblickte.
Die Vermittlerrolle zwischen Orient und
Okzident hatten die Kreuzfahrer über¬
nommen. Sie brachten aus dem Heiligen
Lande Ansichten und Beschreibungen von den heiligen Stätten und ihren
Bauten mit. Der Templerorden errichtete an zahlreichen Orten des Abend¬
landes Rundkirchen und -Kapellen nach dem Muster der beiden genannten
Jerusalemer Tempel.
Zu den romanischen Zentralbauten, die durch die Grabeskirche in Jeru¬
salem angeregt wurden, gehört der Tempel von Neuvy-St. Sepulcre (Fig. 7
und 8). Der Ort liegt in Mittelfrankreich (Departement Indres) und ist
nach der Kirche benannt. Gestiftet wurde der Bau im Jahre 1045 »ad
formam Sancti Sepulcri Jerosolimitani« von Geoffroy, Vicomte de Bourges 1 );
*) \Y. H. James Wealc, Hubert and John van Eyck, their lifc and work. I.ondon 190S,
S. >89, Arm. 3.
*) E. Viollet-le - Duc, Dictionnaire raisonnö de l’arehitecture fran$aise du XI e —
XVI C siede, Bd. VIII, S. 287.
Abb. 4. St. Benigne in Dijon,
(Nach Dehio und Bezold)
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Perspektive und Bildarchitektur bei Jan van Eyck.
37
in diese Zeit fällt auch die Entstehung des Untergeschosses mit elf Säulen.
Das zweite Geschoß mit einem Innenkreis von vierzehn Säulen wurde im
Jahre 1120 errichtet. Das unmittelbare Vorbild, auf das die Kirche von
Neuvy zurückgeht, hatte die freie Wiederholung der Jerusalemer Grabes¬
kirche St. Benigne in Dijon (Fig. 3) abgegeben, die dem Patron und National-
. heiligen von Burgund, dem hl. Benignus, gewidmet war und in einem be-
Abb. 5. Heilige Grabeskirchc in Jerusalem. (Nach Dehio und Bezold)
sonderen, dem größeren (s. Figur4) angefügten kleinen Rundbau das Grab
des Heiligen umschließt.
Zwischen der Bildarchitektur des Pala-Bildes und dem Tempel von
Neuvy-St. Söpulcre bestehen Beziehungen, die cs als unzweifelhaft erscheinen
lassen, daß Jan van Eyck diese Kirche oder eine ihr ganz ähnliche gesehen,
studiert und für die Zeichnung des Werkes benutzt hat. Die Bögen, die
die Säulen des Innenkreises miteinander verbinden, sind in beiden Fällen
gestelzt, das Verhältnis der Abstände zwischen den Säulen zur Scheitelhöhe
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
38
Joseph Kern,
der Arkaden ist nahezu das gleiche; in St. Söpulcre beträgt es i : 3,5, beim
Pala-Bilde I : 3,75. Die hohen viereckigen Sockel 1 ) unter den Säulen im
Abb. 6. Das Innere der Anastasis nach der Zeich¬
nung von P. Elzearius Horn aus dein Jahre 1725.
(Cod. Yaticanus lat. 9233).
Abb. 7. Neuvv-St. Se-
pulcre. (Nach Dehio und
Bezold)
*) Eine Variation des Sockelmotives zeigen das Mittelbild des Dresdener Reise-
altärchens, die Rolin-Madonna und das bald dem Jan van Eyck, bald dem Petrus Cristus
zugeschriebene Bild der Madonna mit den beiden weiblichen Heiligen bei Baron Roth¬
schild in Paris. Die Sockel in den beiden erstgenannten Werke sind wesentlich schlanker
gebildet. Der Rumpf steht auf einem gotisch profilierten Fuße, der obere Abschluß weist
ebenfalls ein gotisches Profil auf. Die Seiten des Rumpfes sind durch gotisches, aus
dem Rechteck entwickeltes Maßw r erk, im Dresdener Altärchen durch eine achtgliedrige
Blendarkade, im Rolin-Bilde durch vier vertieft gearbeitete Vierpässe aufgelöst. Bei dem
Rothschildschen Bilde zeigen die Sockelflächen je zw r ei fast quadratische Felder als
Dekorationsmotiv. Diese ungewöhnliche dekorative Aufteilung der Seiten des Sockels
in je zw'ei rechteckige Felder kommt aber bei dem Sockel der Säule im Felsendom von
Moriah vor! Die vertieften Felder sind von einem Vicrtelstab umrahmt. Der offen¬
sichtliche Zusammenhang zwischen Details der Bildarchitektur und der Omar-Moschee
erklärt sich m. E. nur, wenn angenommen wird, daß Jan van Eyck nach Skizzen gear¬
beitet hat, die in Jerusalem selbst, am Bauwerk aufgenommen waren. — Bei der Be¬
schaffung von Photographien nach den Jerusalemer Bauten hat mich Herr Professor
#
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Perspektive und Bildarchitektur bei Jan van Eyck.
39
Pala-Bilde finden sich in der Grabeskirchc von St. Sepulcre nicht vor,
hingegen ähnlich, nur in mehr antiker Formenbildung, bei ihrem Vorbilde,
Abb. S. Neuvy-St. Sepulcre. (Nach Dehio und Bezold)
M. Brockhaus in Florenz auf das liebenswürdigste unterstützt. Seiner Freundlichkeit
danke ich auch die Kenntnis mehrerer wichtiger Abhandlungen über die Omar-Moschec.
Die Möglichkeit, eine Abbildung des Inneren der Grabeskirchc nach der Zeichnung von
E. Horn aus dem Jahre 1725 (Cod. Vaticanus, lat. 9233) zu bringen (s. Seite 38), war mir
durch das Entgegenkommen des Herrn P. Golubovich, des Herausgebers der E. Homschen
Beschreibung der Grabeskirche, gewährt. Herr Architekt Otto Stein aus Karlsruhe
unterzog sich auf meine Bitte der Mühe, die Bildarchitektur der Pala-Madonna mit
dem Rundbau von Neuvy-St. Sdpulcre seinerseits kritisch zu vergleichen und gelangte
zu Ergebnissen, die im wesentlichen mit meinen Feststellungen übereinstimmten.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
40
Joseph Kern,
Abb. 9. Der Innenkreis von Neuvy-Saint Scpulcre, gegen die Zeichnung des
Aufrisses bei Dehio und Besold um einen Winkel von 32,7° gedreht.
der Grabeskirchc von Jerusalem (Fig. 6). In St. Benigne stehen die Halb-
säulcn des äußeren Umganges auf gestelzten, abgeschrägten Sockeln, von
den freistehenden Säulen hingegen, soweit sich noch erkennen läßt, nur
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Perspektive und Bildarchitektur bei Jan van Eyck.
Abb. io. Architektur des Pala-ßildes. Grundriß-Rekonstruktion I.
Abb. ii. Architektur des Pala-Bildes. Grundriß-Rekonstruktion II.
d i c Säulen des äußeren Umganges, die den Austritt aus der alten Haupt -
kirche in die Grabkapelle des hl. Benignus vermitteln.
Die Gewölbe des Umganges der Bildarchitektur und dessen Mauer¬
dienste, die aus Halbsäulen vor Pilastern gebildet werden, stimmen mit
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
42
Joseph Kern,
den Gewölben und Diensten der Grabeskirche von Neuvy überein. Am
merkwürdigsten ist aber die Übereinstimmung der Mittelsäule des »Chors«
im Pala - Bilde mit der Säule, die man, in den Innenkreis von St.
Söpulcrc eintretend, am Ende der Diagonale erblickte. Man sah immer,
Abb. 12. Inneres von Santo Sepolcro (S. Stefano) in Bologna
mit dem Grab des h. Petronius.
durch welche Arkade man auch nach der Mitte des Baues schritt, bei der
ungeraden Zahl der Säulen sich einer Säule gegenüber (Fig. 8) ! ). Die An¬
sicht, die sich für das Bild bei einer geraden Zahl der Säulen, einen Rundbau
vorausgesetzt, zwanglos ergibt, wird bei einer ungeraden Zahl von Säulen
zur absoluten Notwendigkeit. W ir nahmen eine Zahl von vierzehn Säulen
') Die Kapitelle der Zeichnung entsprechen nicht dem Original; genaue Aufnahmen
nach den Kapitellen konnte ich erst anfertigen, als vorliegende Arbeit sich bereits im Druck
befand. D. V.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Perspektive und Bildarchitektur bei Jan van Eyck.
43
ursprünglich bei der Rekonstruktion der Bildarchitektur an (hier Fig. io,
»Grundzüge« S. 11); einer Änderung des Grundrisses in einen Kreis mit drei¬
zehn Säulen (Fig. n) steht aber die Zeichnung des Bildes nicht im Wege *).
Es würde sich somit ein Rundbau ergeben, der dem der Rotunde von Neuvy
in der Verteilung der Säulen nahezu entspräche. Ein Grundriß von elf
Säulen, wie ihn die Kirche zu Neuvy zeigt, läßt sich freilich wegen der
neun sichtbaren *) Säulen des Bildes nicht mehr erreichen. Der Abstand
der beiden vorderen Säulen voneinander ist zu groß, als daß das Polygon
durch zwei Säulen ergänzt werden könnte. Im äußersten Falle dürfte man
auf ein Zwölfeck zurückgehen. Das Santo Sepolcro in Bologna (S. Stefano),
eine der ältesten, wenn nicht die älteste Nachbildung der Jerusalemer Grabes¬
kirche, entwickelt die Säulcnstellung des Innenkreises aus dem Zwölfeck
(vergl. Fig. 12).
Eine Frontalstellung der beiden vorderen Säulen des Pala - Bildes
hingegen ist als ausgeschlossen zu betrachten. Eine solche ungeheuerliche
Verzeichnung, wie sie die Darstellung der Seitenansicht im Sockel der
rechten Säule aufweisen würde, wenn Doehlemanns Voraussetzung zuträfe,
kann man Jan van Eyck wirklich nicht zumuten; Punkt S der Figur 2
(^»Grundzüge«, Tafel V) würde beim Originalbilde in Folge mangelhafter
Beobachtung des Malers weiter als um im von Punkt F entfernt liegen! 3 )
Ist diese Annahme ausgeschlossen, so läßt sich um so leichter vorstellcn,
daß der Künstler bei der Anfertigung der Vorzeichnung, oder bei der
Übertragung des Entwurfes auf das Bild den sehr spitzen, bzw\ stumpfen
perspektivischen Winkel übersehen hat, in dem bei Schrägstellung des
Sockels die wagrechten Kanten der Vorderseite mit den Breitlinien des
Fußbodens sich schneiden müßten. Die Divergenz zwischen den Tiefen-
linien des Fußbodens und des Sockels macht sich bei einer Schrägstellung
des Sockels in der Wirklichkeit natürlich immer stärker bemerkbar als die
Divergenz zwischen den entsprechenden Breitlinien. In den Figuren 13
und 14 sind die Maße der in Betracht kommenden geometrischen Winkel
für das Dreizehn- und für das Vierzehneck angegeben.
Der Sockel der beiden mittleren Säulen im Rolin-Bilde Fig. 22 kann
für die Perspektive zum Vergleiche mit dem erwähnten Sockel des Pala-
Bildes nicht herangezogen werden. Er ist bei dem kleinen Format des Bildes
an sich sehr klein und dazu in größerem Abstand von der Bildebene darge-
stellt. Mit solchen Werten läßt sich nicht mehr arbeiten, da von vornherein
') Vergl. »Grundzüge#, S. 12. oben.
2 ) Die Säule hinter dem Thron der Madonna kann als »sichtbar» gelten, trotzdem
sie ganz verdeckt ist. Vergl. »Grundzüge», S. 11.
3 ) Die Figur 2 gibt das Schema der Doehlemannschen Rekonstruktion in den
punktierten Linien an. F.ntsprechend Figur 22.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
44
Joseph Kern,
anzunehmen ist, daß nicht winzige Details in den Bildern von Jan van Eyck
konstruiert sind. Die Tiefenlinien der Kapitelle im Pala-Bilde, besonders
aber die Stellung der zweiten Säule links, die nach derselben Seite hin aus¬
gerückt erscheinen soll und von Doehlemann als Beweismittel gegen die
Richtigkeit meiner Rekonstruktion benutzt wird, würden m. E. gegen Doehle-
manns Ansicht sprechen. Für den Kreis von vierzehn Säulen w r äre die Stel¬
lung der Säule annähernd richtig, würde man ein Halbrund von sieben
Säulen annehmen, wie Doehlemann es voraussetzt, so ließen sie sich über¬
haupt nicht mehr unterbringen.
Abb. 13. Vierzehneck: Stellung des
Sockels gegen die Bildebene.
Abb. 14. Dreizehneck: Stellung des
Sockels gegen die Bildebene.
Auf meine Deutung der Bildarchitektur als Rundbau Bezug nehmend,
führt James Weale in seinem Werke über Hubert und Jan van Eyck, S. 189,
einige Rundbauten an, die dem Künstler als Muster für seine Darstellung
gedient haben könnten. Er nennt S. Costanza an der via Nomentara bei
Rom, das Baptisterium in Pisa und die Taufkirche in Parma. Die drei
Bauten zeigen aber so große Abweichungen von der Architektur des Pala-
Bildes, daß sie zu deren Erklärung schwerlich herangezogen werden dürften.
Im Innenkreise von S. Costanza stehen je zwei Säulen vor-, bzw. hinter¬
einander, beim Baptisterium in Pisa wechseln
nicht allein Pfeiler mit Säulengruppen ab, son¬
dern auch die Einteilung der Wand des Um¬
ganges ist von der Wandgliederung im Pala-
Bildc grundverschieden, dem Bau in Parma
fehlt vollends jeder Umgang. Wenn hingegen
Weale von der Möglichkeit spricht, daß Jan
van Eyck die Idee des Baues von einer Be¬
schreibung der Heiligen Grabeskirche einge¬
geben worden sei, so hat diese Vermutung große
Abb. 15. Mittelbau der Tempel- Wahrscheinlichkeit für sich. Freilich wäre die
anlage in der Petersburger Kreu- Architektur des Pala-Bildes nur dann befrie-
zigung. Grundrißschema. digend zu erklären, wenn sich zwischen die
Digitized by
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Perspektive und Bildarchitektur bei Jan van Eyck.
45
Beschreibung und gemalte Architektur ein ausgeführter Bau als Binde¬
glied einschalten ließe, der der Bildarchitektur im wesentlichen entspricht.
Ein solcher Bau wäre Neuvy-St. S^pulcre.
Zu den angeführten Gründen, die für die Architektur des Pala-Bildes
die Annahme eines Rundbaues beantragen und sie in Beziehung zur Grabes -
kirche von Jerusalem setzen, treten eine Reihe weiterer wichtiger Anhalts¬
punkte hinzu:
I. Die Petersburger Kreuzigung, die von Jan van Eyck herrührt oder
ihm doch mindestens sehr nahe steht *), enthält in dem Stadtbilde von Jeru-
Abb. 16. Ansicht des Jerusalemer Felsendoms. Detail aus dem Bilde der drei
Marien am Grabe bei Sir F. Cook, Richmond.
salem, das im Hintergründe sichtbar wird, einen runden dreigeschossigen
romanischen Zentralbau, der, trotz einer Reihe teils phantastischer Zu¬
taten 2 ), nach Größe, Grundform und Gliederung nur die Anastasis, die große
•) Über die Möglichkeit einer Zuweisung des Bildes an Hubert van Eyck s. H. G.Hotho,
Die Malerschule Huberts van Eyck nebst deutschen Vorgängern und Zeitgenossen, Bcrlini85.S,
II. S. 169. Vergl. W. Bode, Die Kaiserliche Gemälde-Galerie in St. Petersburg, Paris, 18X3.
l ) Die Flankiertürme von ganz geringem Durchmesser sind echt bur-
gundisch. Sie kommen zahlreich, als Treppentürme wie als rein dekorative Bauglieder,
an der Kirche von Notre Dame in Dijon vor. Vielleicht haben sich in unserem Falle die
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
46
Joseph Kern,
Rotunde der Heiligen Grabeskirche vorstellen kann. (Vergl. Fig. 6 und 15).
Es fehlt das Langschiff (die Basilika), das (die) die Kreuzfahrer an die
Rotunde anbauten >).
2. In Brügge, der Stadt, in der Jan van Eyck seine Haupttätigkeit
entfaltete, war die Grabeskirche von Jerusalem wohlbekannt. Die Brüder
Pierre und Jacques Adornes hatten neun Jahre, bevor Jan van Eyck das
Pala-Bild malte, in Brügge eine Kapelle des hl. Grabes nach dem Vorbilde
des hl. Grabes errichtet l ).
3. Philipp von Burgund, Jans fürstlicher Herr und Gönner, war leiden¬
schaftlicher Anhänger der Kreuzzugsidee; er hatte selbst einen Kreuzzug in
Aussicht genommen und von dem Franzosen Bertandon de da Brocquiörc
Berichte über das hl. Land und die hl. Stätten eingeholt 3 ).
4. Die Grabeskirche von Neuvy stand in größter Verehrung. Sic um¬
schloß kostbare Reliquien, zu denen die Gläubigen wallfahrteten: ein Frag¬
ment des heiligen Grabes und einige Tropfen des hl. Blutes Christi. Kar¬
dinal Eudes de Chäteauroüx, Bischof von Tusculum, hatte die Heiligtümer
dem Domkapitel von Neuvy aus Viterbo übersandt 4 ).
5. Jan van Eyck hat vor dem Jahre 1436, dem Entstehungsdatum
des Pala-Bildes, außer der Reise nach Portugal nachweisbar größere Reisen
unternommen. Wenngleich sic »in geheimer Mission« und daher offenbar
zu politischen oder persönlichen Zwecken des Herzogs Philipp ausgeführt
wurden, so konnten sie ihn doch leicht mit dem berühmten Wallfahrtsort
Neuvy-St. Sepulcre oder der Grabeskirche des hl. Benignus in Dijon in
Berührung bringen. Die Reise, die Jan im Juli 1426 machte, war, wie die
Urkunde 5 ) ausdrücklich hervorhebt, eine Pilgerreise.
Türme aus einem mißverstandenen Grundriß und zwar der Apsiden der Jerusalemer
Grabeskirche (Anastasis) entwickelt.
*) Eine genaue stilkritische Vergleichung der Bildarchitektur mit den Bauten des
Konstantin, Modestus und der Kreuzfahrer wie den Darstellungen der Grabeskirche auf
der Berliner Kreuzigung und verwandten Bildern soll an anderer Stelle versucht werden.
Vergl. Anm. auf S. 51.
2 ) Vergl. I- Kaemmercr, Hubert und Jan van Eyck. Velhagen u. Klasing, Künstler-
Monographien, Bd. XXXV (189.8), S. 52.
3 ) L. Kaemmerer, Hubert und Jan van Eyck, S. 31. Vergl. die Reisebeschreibung
Bertandons de la Brocquiire: tVoyage d’outrcmcr et retour de Jerusalem en France
par la voie de terre, pendant les cours des annecs 1432 et 1433, Par Bertandon de la
Brocquiere« . . . Auszug veröffentlicht aus einem Manuskript der Pariser National-Biblio-
thek und in modernes Französisch übertragen von Legrand d’Aussy. M6moircs de
1 ‘Institut National des Sciences et Arts. M^moircs de morale et politique. 2. T. 5. Paris,
Boudouin, 1804.
*) Viollet-le-Duc, Dictionaire raisonnc de l’architecturc fran^aLe du XI C —X\T C
siede, Bd. VIII, S. 288.
5 ) Abgedruckt bei J. Weale, a. a. O., S. XXXI und XXXII.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Perspektive und Bildarchitektur bei Jan van Eyck.
Abb. 17. Roger van der Weyden: Darbringung im Tempel.
München, Pinakothek.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
4 s
Joseph Kern,
6. Das Städtebild im Hintergründe des Gemäldes bei Sir Francis Cook
in Richmond (England): »Die drei Marien am Grabe« enthält eine Abbil¬
dung des Felsendomes auf Moriah (Fig. 16), die der Wirklichkeit soweit
entspricht, daß eine ziemlich genaue Beschreibung des Tempels dem
Künstler als Grundlage für seine Darstellung gedient haben muß. Der
Autor des Werkes ist nicht bekannt; es wurde bald dem Hubert, bald dem
Jan van Eyck zugeschrieben, von einigen Forschern als Schulbild des Jan
van Eyck erklärt. In jedem Falle hängt es eng mit Jan van Eyck zu¬
sammen und besitzt somit für die Erkenntnis der Beziehungen des Jan
van Eyck zu Jerusalem hohen dokumentarischen Wert 1 ).
Die Lage der Fliesen im Bodenbelag der Pala-Madonna hat mit dem
Grundriß der Architektur an sich nichts zu tun. Die Richtung scheint aber
anzudeuten, daß der Rundbau, auf den Jans Zeichnung nach unserer An¬
nahme zurückgeht, den Abschluß eines älteren Lang¬
baues bildete. Die Fliesen im Rundbau wären dann, im Anschluß
an den Fußboden des Langbaues, in dessen Richtungsachse gelegt worden.
Die Verbindung von Langbau (Basilika) und Rundbau, die die Voraus¬
setzung für diese Hypothese bildet, kommt gerade bei Neuvy-St. Scpulere
vor. Auf Neuvy träfe auch zu, daß die Rotunde nachträglich an den Lang¬
bau angebaut wurde. Übrigens stünde die Darstellung eines romanischen
Rundbaues im Pala-Bilde, der mit einem Langbau in Verbindung gestanden
hätte, nicht ohne Gegenstück in der altniederländischen Malerei da. Eine
ihrer interessantesten Bildarchitekturen ist der »Jerusalemer Tempel« mit
der »Darbringung« im rechten Flügel des Dreikönigsaltars des Roger van der
Weyden (Fig. 17). Die Tafel befindet sich heute in der alten Münchener
Pinakothek. Der Grundriß (Fig. 17) *) zeigt, wenn man die Rotunde allein
*) Bei dem »Grab Christi« im Vordergründe des Bildes sollte man eigentlich
eine Darstellung der Grabeskirchc im Hintergründe erwarten. Vor einigen Jahrzehnten
wurde noch die Frage heftig erörtert, ob nicht das Grab des Herrn im Schoße der Höhle
gelegen habe, über der sich der Felscndom auf Moriah wölbt, ferner, ob die Rotunde der
hl. Grabeskirche nach dem Felsendom oder der Fclsendom nach der Anastasis gebaut
worden ist? Sollte etwa der Maler des Bildes in der *Kubbet-es-Sachrah« den Ort ver¬
mutet haben, an dem Christus bestattet worden ist ? ? Eine genauere Untersuchung der
Frage und der mit ihr zusammenhängenden Probleme gibt vielleicht wertvolle Aufschlüsse
zur Geschichte des Bildes und seines Urhebers.
l ) Der Deutlichkeit halber wurden die konstruktiv unwichtigen, in den einsprin¬
genden Ecken stehenden Dienste in den Grundriß nicht eingezeichnet. D. V. — Der
Tempel im Ouwaterschen Bilde mit der Auferweckung des Lazarus (Berlin, Kaiser-
Fricdrich-Museum), den Jantzcn in seinem Buch über das niederländische Architektur¬
bild (Leipzig, Klinkhardt und Biermann, 1910), zu meiner Rekonstruktion des Baues
aus dem Pala - Bild in Beziehung bringt, geht ebenfalls allem Anscheine nach auf die
Anastasis, die »Auferstehungskirche« der Jerusalemer hl. Grabeskirche, als Vorbild
zurück. Es würde sich in diesem Falle zwischen dem geschilderten Vorgang und der Ar-
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Perspektive und Bildarchitektur bei Jan van Eyck.
49
ins Auge faßt, große Ähnlichkeit mit dem Grundriß des Felsendoms (Fig. 18),
im übrigen wieder Verwandtschaft mit dem Schema von Neuvy-St. S^pulcre:
Rundbau in Verbindung mit Langbau oder doch
langgestreckten, aus der Rotunde weit heraus*
tretendem Chor. Sehr beachtenswert ist das Portal
im Rundbau, das sich nach der Straße öffnet. Bei
der Kirche von Neuvy fand sich ein Portal fast an
der gleichen Stelle. Die nebenstehende Zeichnung
versucht über die Einzelheiten des Grundrisses der
Bildarchitektur genaueren Aufschluß zu geben (Fig.
iq). Eis zeigt sich, daß der Maler die vorderen
Felsendoms, nach Frie-
Partien des Rundganges völlig unterdrückt. Der drjch WUhelm ünger
Zeichnung des Gemäldes zufolge springt die äußere
Mauer des Umganges vom Punkt A des Grundrisses plötzlich nach Punkt
Z des Innenkreises über.
Abb. 18. Grundriß des
Abb. 19. Roger van der Weydcn: Darbringung im
Tempel, München. Grundriß der Bildarchitektur.
Wenden wir uns
wieder der Zeichnung
des Pala-Bildes zu.
Nach dem Gesagten
scheidet der Sockel der
Säule rechts aus der per*
spektivischen Betrach¬
tung des Fußbodens aus.
Wir haben nun zu unter¬
suchen, ob und wie weit
das eingezeichnete Qua¬
dratnetz denAnforderun-
gen an eine Konstruktion
entspricht. Doehlemann
weist das Vorhandensein
von zehn Schnittpunkten
bei Verlängerung von je
zwei aufeinander folgen¬
den Tiefenlinien nach.
Sogleich aber gibt er zu,
daß sechs der konstru¬
ierten Punkte wegen der
chitektur eine symbolische Beziehung ergeben, wie sie zwischen der Nachbildung der
Grabeskirche in Bologna, San Sepolcro (vergl. S. 43 und Figur 12) und dem Grab des
in der Kirche bestatteten hl. Petronius (starb 430) besteht. Das Grab selbst ist eine
Nachbildung des hL Grabes und wurde im 12. Jahrhundert errichtet. Nach dem Bericht
des Johannes-Evangeliums ist Lazarus in Bethanien begraben worden.
Repertorium für Kunstwissenschaft, XXXV. a
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
5°
Joseph Kern,
geringen Abstände voneinander als zwei betrachtet werden können.
Aus den zehn Punkten werden somit bereits sechs. Diese Zahl läßt
sich wiederum vermindern, nämlich dann, wenn man bei der Prüfung
der Perspektive nach einem anderen Verfahren vorgeht. Würde z. B.
Doehlemann die Schnittpunkte der Linien V und I, V und VI, i und 7 (die
Zahlen beziehen sich auf Doehlemanns Figur in der Zeitschrift für graphische
Kunst; vergl. die Figur auf S. 34 dieses Heftes) festgestellt hat, so würde er
etwa bei Punkt F als
gemeinsamem Flucht -
Zentrum bzw. -Punkt für
fünf bis sechsTiefenlinicn
angelangt sein. Eis lassen
sich die Orthogonalen
auch nach anderen Kom¬
binationen verlängern, so
daß ein von der Doehle-
mannschen Rekonstruk¬
tion vollkommen ver¬
schiedenes Bild der Per¬
spektiveentsteht. Meine
Behandlung des Falles
ging von der wohl be¬
rechtigten Voraussetzung
aus, daß der Nachweis der Konstruktion erbracht ist, wenn gezeigt wird, daß
eine größere Zahl von Orthogonalen einer Ebene sich in einem Punkt oder
dessen Nähe schneidet. Falls Doehlemann den Grundsatz nicht gelten lassen
will, so ist er im analogen Falle sicher nicht berechtigt, die Tiefenlinien der
Decke und des Fußbodens im »Gottesurteil« des Dirk Bouts, die der von
ihm angenommenen Konstruktion nicht genau entsprechen, außer Acht
zu lassen.
Mit dem E'ußboden des Dresdener Altärchens verhält es sich ähnlich
wie mit dem Boden im Bilde der Pala-Madonna. Es sei daher bloß auf
Tafel VI der »Grundzüge« und die Darlegungen auf S. 13 der Schrift ver¬
wiesen.
Das Petersburger Bild zeigt wieder deutlich eine Orientierung der
Orthogonalen nach einzelnen Ebenen. Anläßlich der Ausstellung des Golde¬
nen Vließes in Brügge konnte ich das Original auf meine früheren Beobach¬
tungen und Messungen hin nochmals prüfen. Die Untersuchung ergab drei
Konvergenzzentren für drei Ebenen, von denen das Zentrum für die Flucht
der Kirchenwand rechts außerhalb der Bildebene liegt. Zwei dieser Kon¬
vergenzzentren, nämlich die für den E'ußboden und die Wand des Kirchen-
Abb. 20. Triforium im Bilde der Petersburger
»Verkündigung«.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Perspektive und Bildarchitektur bei Jan van Eyck.
5 1
schiffes, sind als punktuelle zu bezeichnen. Ob der Engel eine wunde Stelle
der perspektivischen Zeichnung »verdeckt«, wie ich im Gegensatz zu Doehle-
mann annehme, ist eine Frage von untergeordneter Bedeutung; um so
wichtiger scheint die deutlich erkennbare Zusammenfassung der Ortho¬
gonalen in drei Büschel. Überaus merkwürdig ist die Architektur der Kirche,
besonders der gradlinige »Chor«-Abschluß mit Umgang und die Bildung des
Triforiums mit den schlanken Säulen (Fig. 20). Eine nur einigermaßen
befriedigende Erklärung ist bisher nicht gefunden worden, doch steht fest,
daß der Raum eine Erfindung des Malers ist. Die einzelnen Architekturteile
stammen von verschie¬
denen Bauten. Be¬
kanntlich soll das
Bild von Herzog Phi¬
lipp III. an eine
- Kirche in Dijon ge¬
stiftet worden sein:
die zierlichen
Säulen der Gale¬
rie dürften von
der Fassade von
Notre Dame in
Dijon (Figur 21)
übernommen sein,
wo sie, zu einer ähn¬
lichen Arkade gereiht,
in entsprechender
Höhe auftreten; der
gradlinige Abschluß
des Querschiffes die¬
ser Kirche hat dem
Künstler vermutlich
die Idee des gradlinig abschließenden »Chores« eingegeben. *) — Eine verwandte
perspektivische Anlage wie das Petersburger Werk bekundet die Berliner
Kirchen-Madonna. Man vergleiche mit dem Bilde die »Kopie« in Feder¬
zeichnung aus der Sammlung Robinson (London) vom Anfang des 17. Jahr¬
hunderts. Hier sind alle Tiefenlinien nach einem Zentrum
bestimmt. Die Zeichnung ist im übrigen perspektivisch nicht genauer als die
>) Eine Erklärung der Eyckschen Bildarchitektur vom Standpunkte der vergleichen¬
den Architekturforschung zu geben, liegt nicht in der Absicht dieser Arbeit, vielmehr
sollen im wesentlichen nur die Beziehungen der Bildarchitektur zur perspektivischen Dar¬
stellung behandelt werden.
4 *
Abb. 21. Notre Dame in Dijon, Galerien der Fassade.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
5 2
Joseph Kern,
Zeichnung des Berliner Bildes. Wie kommt es nun, daß das Eycksche Bild
drei Fluchtzentren, bzw. -Punkte aufweist, während die Kopie des 17. Jahr¬
hunderts sich mit einem Zentrum, bzw. Punkte begnügt? Wenn die Künstler
nicht beide bewußt nach ihnen vorschwebenden und zwar verschie¬
denen Prinzipien gezeichnet hätten, wäre dieser Unterschied ganz
undenkbar. Das Prinzip kann aber im ersten Falle nur in der Annahme eines
Fluchtpunktes für je eine Ebene, im zweiten Falle nur in der Voraussetzung
eines Fluchtpunktes für den Raum zu suchen sein. Als Vorbild für die Archi¬
tektur dieses Werkes wurde von M. Hulin *) die Kathedrale von Gent, von
K. Voll*) St. Denis in Vorschlag gebracht. Eine Quelle, aus der Jan Details
übernahm, dürfte aber jedenfalls in der Hauptkirche von Burgund, St. Be¬
nigne in Dijon, zu suchen sein: Die Durchbrechung der Wandpfeiler inner¬
halb der Triforien-Arkade und oberhalb derselben im Hauptschiff, die Bil¬
dung der Sockel an den Vierungspfeilern, das sechsteilige Triforium in der
ersten Trav6e hinter der Vierung und die Ausgestaltung der Chorfenster
lassen Beziehungen zwischen dem gotischen Bau von St. Benigne und der
gemalten Architektur deutlich erkennen. Da andererseits der alte, roma¬
nische Bau von St. Bönigne mit der Architektur im Bilde der Pala-Madonna
Berührungspunkte 3 ) aufweist, ferner, wie gezeigt wurde, Teile aus der
Architektur des Petersburger Bildes und ähnliche Raumgestaltungsprin¬
zipien an der Kirche Notre Dame in Dijon wiederkehren, so ergibt sich
mit Gewißheit, daß Jan van Eyck in Dijon gewesen ist.
Die Madonna des Kanzlers Rolin (Fig. 22) gehört zu den am meisten
umstrittenen perspektivischen Darstellungen des Jan van Eyck. Würde
Doehlemann auf dieses Bild das Verfahren anwenden, das ihn bei dem
»Gottesurteil« des Dirk Bouts eine Konstruktion für die Führung der
Tiefenlinien finden und die Vermutung aussprechen läßt, daß auch die
Einteilung der Orthogonalen auf einer Konstruktion fußt, so würde
er logischerweise beim Rolin-Bilde zu einem ähnlichen Schlüsse kommen
müssen. Mein verstorbener Lehrer Guido Hauck war der Meinung, daß das
Rolin-Bild im Prinzip nach einem Fluchtpunkte konstruiert sei, er hat diese
Ansicht außer in persönlichen Gesprächen wiederholt im Kolleg geäußert.
Seine Meinung teilen Chr. V. Nielsen, Seeck, Dvoräk und andere. Nielsen
führt aus: »In dem Bilde liegt der Horizont in zwei Drittel Höhe über der
Grundlinie. Die Distanz ist gleich der Grundlinie des Bildes, und die Dia¬
gonalen in allen perspektivischen Quadraten passen genau dazu, s o d a ß
kein Zweifel darüber besteht, daß die Grundzüge
in diesem Bilde wirklich konstruiert sind.« (Filippo
') Congres de Bruges, 1902, Compte rendu, S. 21.
J ) Altniederländische Malerei, S. 39.
3 ) Siehe oben, S. 35, 37.
Digitized by
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Perspektive und Bildarchitektur bei Jan van Eyck.
53
Brunellesco og Grundlaeggelsen af Theorien for Perspektiven, Kabenhavn
1896.) Ich gehe nicht so weit wie Nielsen, sondern behaupte in Überein¬
stimmung mit den oben Genannten nur, daß sich die Flucht der Tiefenlinien
im Prinzip nach einem Punkte richtet. Doehlemanns Ausführungen und
%
seine figürlichen Erläuterungen halten zum Beweise des Gegenteils nicht stand.
vt v rv III l( I 1 a 3 4 s 6
Abb. 3 2. Jan van Eyck: Madonna des Kanzlers Rolin, Paris, Louvre.
Mit seiner Rekonstruktion der Zeichnung der Rolin-Madonna verhält es
sich-ähnlich wie mit seiner zeichnerischen Erläuterung des' Pala-Bildes.
Es werden nicht die Schnittpunkte gesucht und hervorgehoben, die
zusammenfallen, oder doch möglichst nahe bei einander liegen, wie etwa die
Schnittpunkte der Linien VI, II, I, 1, 2 der Doehlemannschen Figur (vergl.
Fig. 22, die in den Schnittpunkten der punktierten Linien einige von Doehle*
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
54
Joseph Kern,
mann festgestellte Fluchtpunkte zur Verdeutlichung des D.sehen Schemas
vorführt), sondern »die Schnittpunkte je zwei aufeinanderfolgender Tiefen-
linien«. Hierbei ergibt sich natürlich ein verhältnismäßig sehr ungünstiges
Bild. Diese Art der Untersuchung hat aber nur dann ihre Berechtigung,
wenn es sich um die mathematische Nachprüfung einer zu mathematischen
Zwecken ausgeführten Zeichnung handelt. Man beachte, daß bei der An*
Wendung der Doehlemannschen Methode die geringste Verschiebung des
Lineals genügt, um außerordentlich große Verschiebungen der Fluchtpunkte
herbeizuführen. Aber selbst gesetzt den Fall, daß es stets technisch möglich
wäre, dem Lineal die ideale Richtungsachse einer gradlinig gezeichneten
Linie — mehrere Linien lassen die Gradlinigkeit vermissen — bei deren Ver¬
längerung zu geben :die Fehler, die durch den Auftrag der Farbe auf die Zeich¬
nung entstanden sind, durch die Veränderungen, die das Holz des Malgrundes
im Laufe der Jahrhunderte erlitten hat, die Ungenauigkeiten, die sich bei der
photographischen Aufnahme durch das Negativ, durch die Veränderlich¬
keit des Papiers wiederum für die Abzüge usw. J ) ergeben, werden sämtlich
zu Quellen enormer Abstände für die Schnittpunkte der Tiefenlinien von-
einander. Um es allgemein zu sagen :Je näher die Orthogonalen
beieinander liegen, die man verlängert, desto un¬
genauer ist das Resultat, je weiter sie auseinander
liegen, desto genauer. Die Tiefenlinien, auf die Doehlemann
seine Beweisführung stützt, folgen unmittelbar »auf einander«. Es wird
schwerlich ein einziges Bild auf der Welt geben, das, nach der Doehlemann¬
schen Art untersucht, perspektivisch fehlerfrei wäre. Auch die Orthogonalen
des Berliner Bildes aus der Botticelli-Schule, der »Madonna mit den sieben
Engeln«, schneiden sich, wenn man sie nach dem Doehlemannschen Ver¬
fahren untersucht, nicht genau in einem Punkt. Und doch liegt die Kon¬
struktion offen zutage 3 ).
Die Untersuchung muß, wenn sie sich »von jeder Pedanterie fern halten
möchte«, nach anderen Grundsätzen vorgenommen werden als den von
Doehlemann angewandten, falls sie überhaupt zu einem Ergebnis gelangen
will. Die im ersten Augenblick unbegreiflich erscheinenden Widersprüche
zwischen den Ansichten über die Perspektive des Rolin-Bildes finden ihre
einfache Erklärung in der Verschiedenheit der Untersuchungsmethoden.
Durch sie wird offenbar auch die Verschiedenheit in den Auffassungen
über das Wesen der linearen Perspektive bei Petrus Cristus begründet.
Doehlemann hat 1906 selbst die Ansicht ausgesprochen, Petrus Cristus scheine
das Gesetz vom Fluchtpunkt der Tiefcnlinien, und zwar in seiner Bedeutung
•) Doehlemann, »Graphische Kunst«, Wien 1906, Heft 1, S. 2.
2 ) s. Jahrbuch der Königl. Preußischen Kunstsammlungen, Bd. XXVI, S. T37 f-
Digitized by
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Perspektive und Bildarchitektur bei Jan van Eyck.
55
für den Raum, zu kennen (Zeitschrift für Mathematik und Physik, Bd. 52,
Heft 4, S. 423), heute tritt er dieser Ansicht mit Entschiedenheit entgegen
(Repertorium, Bd. XXXIV, 6. Heft, S. 503). Nach seinen letzten Ausführun¬
gen lassen die Frankfurter Madonna mit den beiden Heiligen (Fig. 23),
die Berliner Verkündigung des Petrus Cristus und die kleine Berliner Ma-
Abb. 23. Petrus Cristus, Madonna mit dem hl. Hieronymus und dem hl. Franziskus.
Frankfurt, Städelsches Institut.
donna mit dem Karthäuser die Anwendung des Gesetzes vermissen. Bei
dem zuletzt genannten Werk soll höchstens die Möglichkeit bestehen, »daß
in ihm das Gesetz für die Zeichnung des Fußbodens beobachtet ist« (Re¬
pertorium, Bd. XXXIV, Seite 505). Hier läge dann eine Konstruktion
vor, wie ich sie für die Mehrzahl der Werke des Jan van Eyck bean¬
sprucht habe! Es gibt m. E. keinen schlagenderen Beweis gegen die
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
56
Joseph Kern,
Richtigkeit der Hypothese Doehlemanns betreffend die Perspektive bei
Petrus Cristus als sein auf S. 504 des Repertoriums (Bd. XXXIV) abge¬
bildetes Diagramm. Es ist, wie mir Professor Doehlemann brieflich mit¬
teilt, und wie sich bereits aus dem Vergleich der Rekonstruktion mit
dem Original — die Direktion des Städelschen Instituts gestattete mir
entgegenkommenderweise eine eingehende abermalige Untersuchung des
Bildes — ergeben hatte, nach einer Photographie ausgeführt und kann
daher an sich nicht beanspruchen, als unbedingt zuverlässig zu gelten,
die Zeichnung liefert aber trotzdem das typische Schema eines nach
einem Fluchtpunkt konstruierten alten Bildes, das durch kleine Beschädi¬
gungen und Übermalungen geringe Verschiebungen im Liniensystem der
Vorzeichnung erlitten hat. Doehlemann wird zugeben, daß sich auch beim
heutigen Zustande des Werkes noch mindestens sechs Orthogonalen des
Raumes in Punkt F der Tafel XIII aus den »Grundzügen« (vgl. Fig. 23)
zwanglos zu gemeinsamem Schnitt bringen lassen. Das Vorhandensein
des gemeinsamen Schnittpunktes läßt darauf schließen, daß der Innenraum
vom Maler konstruiert ist. Es tritt ein Umstand hinzu, der eine andere
Erklärung unmöglich macht: Punkt F, der Fluchtpunkt der Orthogonalen,
liegt zugleich auf dem perspektivischen Horizont der Landschaft. Das Bild
hat sich aber gezogen, ist verbogen, weist vier größere Sprünge auf und ist
teilweise, dazu ganz roh, übermalt 1 ! Außerdem sind die Linien selbst, auf
die Doehlemann seinen Rekonstruktionsversuch stützt, nicht gezeichnet,
sondern gemalt. Nun ist der feinste Pinsel in geschicktester Hand noch
ein denkbar ungeeignetes Mittel zur Ausführung perspektivischer Kon¬
struktionen. Eine Linie, die in der Vorzeichnung scharf
und gerade ist, wird bei einer Übermalung mit
Farbe unfehlbar unscharf und ungerade. Die Frank -
furter Tafel zeigt wirklich in mehreren Fällen eine Abweichung der gemalten
von den gezeichneten Linien. Daß sich nicht alle Orthogonalen des
Bildes in F schneiden, brauchte von Doehlemann nicht bewiesen zu werden,
da der Beweis bereits durch die Tafel in den »Grundzügen« erbracht war,
hingegen mußte gezeigt werden, daß aus der gemeinsamen Flucht der
Linien, die sich im perspektivischen Horizont der Landschaft schneiden,
kein zwingender Schluß auf das Vorhandensein einer Raumkonstruktion
zu ziehen ist. Dieser Beweis steht aus.
Tafel XI und XII der »Grundzüge« geben die Gründe an, die für die
Annahme einer bewußten Konstruktion in der »Verkündigung« des Petrus
Cristus von 1452 und der dem Maler von den meisten Forschern zugeschriebe¬
nen Berliner Madonna mit dem Karthäuser sprechen. Mutatis mutandis
gilt von der perspektivischen Anlage dieser Arbeiten, was über die Zeichnung
im Bilde der Frankfurter Madonna ausgeführt wurde, mit der Einschränkung
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Perspektive und Bildarchitektur bei Jan van Eyck.
57
vielleicht, daß im Bilde mit dem knienden Mönch der Horizont der Land*
schaft um ein Geringes oberhalb des Horizontes des Innenraumes liegt.
Doehlemann bringt auch gegen die Konstruktion dieser Werke nichts von
Belang vor, was nicht bereits als Abweichung von ihr in meiner zitierten
Arbeit angegeben worden wäre und sich nicht aus der Technik der Ausführung,
dem Alter der Bilder, »Restaurationen« und einer gewissen Lässigkeit des
Künstlers erklären ließe. Mit dem Hinweis auf die Richtung der Tiefen¬
linien am Türmchen der hl. Barbara oder irgend welcher Hintergrund -
architekturen läßt sich die Konstruktion des Innenraumes nicht beseitigen.
Daß ganz kurze Tiefenlinien, die für den allgemeinen Raumeindruck nahezu
belanglos sind, aus freier Hand in sonst konstruierte Bilder eingezeichnet
werden, kommt nicht allein bei Jan van Eyck, sondern auch bei zahlreichen
anderen Künstlern vor; wir erinnern, um aus Hunderten von Beispielen
eines herauszugreifen, an die Zeichnung der Pfeiler in den meisten gemalten
Hallen des Perugino. Außerdem ist die Abweichung der Orthogonalen
von der Richtung auf den Fluchtpunkt des Raumes sehr gering.
Die Verwendung eines Fluchtpunktes für die
Zeichnung horizontaler Ebenen ist bereits in nor¬
dischen Malereien vom Ende des 14. Jahr h. nach¬
zuweisen. Das bekannte Triptychon der Madonna mit der Bohnen-
(Erbsen-)blüte im Wallraf-Richartz-Museum zu Köln zeigt auf der Rück¬
seite der Flügel eine Verspottung Christi. Der Raum wird nur angedeutet,
nicht wiedergegeben, das Bestreben des Künstlers geht jedoch unverkennbar
auf eine Erweiterung des traditionellen Schauplatzes aus. Dem frühen
Mittelalter hätte zur Bezeichnung des Lokals noch ein Torbogen ohne jede
Tiefe und ein schmaler Bodenstreifen genügt, während unser Maler die
Figurengruppe auf einem braunweißen Fliesenfußboden, der sich ziemlich
weit in die Tiefe erstreckt, Platz nehmen läßt. Der Hintergrund ist
neutral gehalten, der Fußboden in starker Aufsicht gesehen; er setzt
sich in gerader Linie gegen den Grund ab, sofern er nicht durch die
Figuren verdeckt wird. Das Ganze in frontal-symmetrischer Ansicht. Die
Zeichnung der Orthogonalen wurde nach dem zentralperspektivischen
Prinzip ausgeführt. Die Tiefenlinien gehen bei der Verlängerung zum Teil
durch einen Punkt, der in Stirnhöhe des sitzenden Christus liegt. Von den
seitlichen Orthogonalen sind einige in leichten Kurven, die sich nach dem
Bildrande hin öffnen, gebogen, was darauf schließen läßt, daß für die
Empfindung des Malers das Fluchtzentrum zu tief angenommen war. Nach
der zentralperspektivischen Methode ist auch der asymmetrisch gesehene
Fliesenboden der Kölner Verkündung, von der die Figur 24 den Flügel
mit dem Verkündigungsengel vorführt, angelegt, wenngleich einige Linien
nach der älteren, antik-byzantinischen Art noch in parallel-perspektivischer
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
58
Joseph Kern,
Projektion erscheinen, ferner sind nach dem zentralen Schema die Fu߬
böden des Münchener Veronika-Bildes aus der Schule des Meisters Wilhelm
Abb. 24. Schule des Meisters Wilhelm, Engel aus einer Verkündigung. K«iln,
Museum-Wallraf-Richartz.
und der »Dornenkrönung« aus dem altkölnischen Triptychon der kürzlich
versteigerten Hamburger Sammlung W : eber gezeichnet. Ob sich in den
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Perspektive und Bildarchitektur bei Jan van Eyck
Abb. 25. Brocderlam, Darbringung im I'empel
Dijon, Museum.
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Digitized by
6o
Joseph Kern,
tivisch orientieren, nicht auf eine Entdeckung
eines der Brüder van Eyck zurückgeht. Sie
übernahmen vielmehr ein bestehendes Schema
und versuchten, mit dem überkommenen, mathe¬
matisch unrichtigen Verfahren neue, zum Teil
ungemein schwierige Aufgaben zu lösen. Hubert
und Jan van Eyck machten unter den nordischen Künstlern zuerst mit
der Wiedergabe wirklicher Räume Ernst; selbst ideale Architekturen, wie
die Loggia des Kanzlers Rolin, bekunden die Absicht auf eine illusio¬
nistisch-räumliche Wirkung. In der Berliner Kirchen - Madonna ist die
Übereinstimmung mit der Wirklichkeit für das Größenverhältnis der Figur
zum Raum ,zwar bewußt, zugunsten der Madonna, aufgegeben, der
Raum selbst aber ist, wie sonst, als Durchschnitt eines wirklichen
Raumes aufgefaßt. Das Prinzip, den Raum zu durchschneiden, gelangt
überall konsequent zur Anwendung: Der Maler befindet sich selbst im
Innenraum, den er darstellt.
Der Versuch, mit Hilfe des alten, unvollkommenen Konstruktionsver¬
fahrens der Schwierigkeiten Herr zu werden, die sich aus den neuen
Motiven der Raumdarstellung 1 ) ergaben, mußte fehlschlagen.
Ja, je enger der Künstler sich an die Vorschrift hielt, die ihm überliefert
war, desto tunnatürlicher« mußte das Bild aussehen. Das Arnolfinibild
und die Petersburger Verkündigung spiegeln die Verlegenheit des Malers,
einen Ausweg aus der Perspektive der Ebene in die Perspektive des Raumes
zu finden. Solange am Prinzip des Fluchtpunktes für die Einzelebene festge-
halten wurde, gab es überhaupt keine Möglichkeit, Verzerrungen zu ver¬
meiden, man mußte denn zu Kompromissen seine Zuflucht nehmen. Hier
kommt Jan das Mittel des Raumschattens als wirksamsten ausgleichenden
Faktors zu Hilfe. Er taucht die Räume und Figuren in ein warmes dämme¬
riges Licht, so daß der Beschauer, gefangen genommen vom geheimnis¬
vollen Zauber des Halbdunkels, über die Härten und Fehler der Zeichnung
hingleitet wie über die Mühen, die der konstruktive Aufbau dem Zeichner
verursacht hatte.
Von der Auslegung des Rolin-Bildes hängt die
Entscheidung der Frage ab, ob wir Jan auf Grund
eines erhaltenen Werkes die Auffindung des Fl ucht-
punktgesetzes für den Raum zu schreiben dürfen.
• •
f ) Uber den prinzipiellen Unterschied zwischen perspektivischer Komposition (per¬
spektivischem Motiv) und perspektivischer Projektion sowie die häufige Verwechselung
der beiden Begriffe in der kunstgeschichtlichen Literatur siehe den Bericht der Sitzung
der Berliner Kunstgeschichtlichen Gesellschaft vom 13. Oktober 1905.
Digitized by
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Perspektive und Bildarchitektur bei Jan van Eyck. 61
Wer das Rolin-Bild nicht als ausreichenden Be¬
weis für die Entdeckung des Gesetzes durch Jan
anerkennen will,muß unter den nordischenMeistern
Petrus Cristus die bahnbrechende Tat zuschreiben.
Die Alternative spricht entschieden zugunsten
des Jan vanEyck, denn wo uns Petrus Cristus entgegentritt, erweist
er sich als ein schwacher, unselbständiger Kopf. Es wäre merkwürdig, wenn
gerade e r das wichtigste perspektivische Gesetz gefunden hätte, da er doch
sonst überall als Nachahmer sich zu erkennen gibt.
Der Umstand fällt auf, daß die nordischen Bilder vom Ende des 14. Jahr¬
hunderts, in denen zentralperspektivisch gezeichnete Fußböden Vorkommen,
ausschließlich oder doch fast ausschließlich dem Kreise der sogenannten
italianisierenden Werke angehören, er legt die Vermutung nahe, daß das
perspektivische Verfahren, das in jenen Werken Anwendung findet, selbst
italienischen Ursprunges ist. Nun hat Wolfgang Kallab gezeigt, daß bereits
in der italienischen Malerei des Trecento zentralperspektivische Darstellungen
Vorkommen, die der Fluchtpunktkonstruktion sehr nahestehen. Kallab
weist nach 1 ), daß schon Duccio »aus dem Gewirr widersprechender Hand¬
werksbräuche«, die aus der antiken Malerei stammten und durch die byzan¬
tinische Kunst dem Mittelalter überliefert waren, »eine Art System« heraus¬
gehoben hat. Das Verdienst Duccios um die Verbesserung der perspektivi¬
schen Zeichnung beruht nach Kallab auf der strengeren Beobachtung des
Horizontes. »Er läuft«, so führt der Verfasser aus, »meist in Augenhöhe der
Figuren. Nach ihm richtet sich die Neigung aller Horizontalen, die nicht
parallel zur Bildebene sind. Sie steigen und fallen von Stockwerk zu Stock¬
werk um einen Winkel, der um einen bestimmten Teil zu- oder abnimmt.
Zum ersten Male seit der Antike und strenger als in dieser gilt die Regel,
daß der Standpunkt des Beschauers und sein Verhältnis zum Bilde durch
Verkürzungen zum Ausdruck kommen müsse. Der genaue Bestimmungsort
derselben, der Hauptpunkt, fehlt und wird nur an den realistischen Interieurs
durch Innenwendung der verkürzten Horizontalen ersetzt.... Bei der
geraden Ansicht treffen die auf der Bildebene senkrecht
stehenden Geraden in ihrer Flucht im Hauptpunkte zu¬
sammen.« In der allgemeinen Fassung möchte dieser letzte Satz viel¬
leicht zu gewagt erscheinen, wir möchten ihn dahin einschränken, daß
sich bei Duccio die Flucht der Orthogonalen inner¬
halb frontal und symmetrisch gesehener Horizon-
') Wolfgang Kallab, Die toscanische Landschaftsmalerei im XIV. und XV. Jahr¬
hundert. Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses,
Wien. 1900, Seite 35ff. Kallabs Arbeit ist m. W. die einzige, die sich mit dem
Problem der mittelalterlichen Projektion beschäftigt hat.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
62
Joseph Kern,
talcbenen nach einem eng begrenzten, zuweilen
punktuellen Zentrum richtet (vgl. Figur 26). Bei asym¬
metrischer Ansicht der Gebäude hingegen laufen die Tiefenlinien parallel 1 ),
der Schein eines Horizontes wird nur dadurch hervorgerufen,
daß die Fluchtlinien des Bodens als steigend, die der Decke als fallend
dargestellt werden.
Das System Duccios wurde von Ambrogio und Pietro Lorenzetti er¬
heblich verbessert. In Ambrogios »circoncisione« der Florentiner Akademie aus
dem Jahre 1342 sind sämtliche längeren Orthogonalen des Bodens nach
dem gleichen Fluchtpunkte ausgerichtet, das Fußbodenmuster inAm-
Abb. 26. Duccio di Buoninsegna: Verkündigung, Siena, Dom-Opera.
brogioLorenzettisMadonna in tronomit Engeln und Heiligen
aus der Akademie in Siena zeigt einen gemeinsamen Flucht¬
punkt für alle Tiefenlinicn der Bodenebene, ebenfalls die
Verkündigung (Fig. 27) aus dem Jahre 1344. Im Werke des Pietro
Lorenzetti aus der Opera des Siencser Doms, das die Geburt der Maria
darstellt, wird der den Fußbodenorthogonalen des rechten Flügelbildes ge¬
meinsame Schnittpunkt sogar von vereinzelten Orthogonalen der Seiten-
wände des Raumes getroffen. Wir nähern uns hier der Perspektive des
Rolin-Bildes, was um so beachtenswerter ist, als das kompositionellc per¬
spektivische Motiv des linken Flügels: eine Durchsicht durch mehrere
•) Auf die merkwürdigen Zusammenhänge zwischen Zentralprojektion und sym¬
metrischer Ansicht, Parallelprojektion und asymmetrischer Ansicht hat schon Guido Hauck
in seinen grundlegenden Untersuchungen Uber die antike Perspektive hingewiesen.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Perspektive und Bildarchitektur bei Jan van Eyck.
^3
hintereinander liegende Innenräume, an die gemalte Durchsicht einer
Miniatur in den tr&s-belles heures de-Milan erinnert, die Georges de Loo
(Hulin) dem Hubert van Eyck zuschreibt , ).
Abb. 27. Ambrogio Lorenzetti: Verkündigung, Siena, Akademie.
Broederlams Flügelbilder zu dem Altar des Jacques de Baerze im
Dijoner Museum stehen ihrem ganzen Stil nach, erwiesenermaßen, unter
dem Einfluß der Sienesen; vergleicht man Broederlams und Ambrogio Loren-
zettis Beschneidungsbilder miteinander, so ist man fast geneigt, einen direkten
Zusammenhang zwischen den beiden Werken anzunehmen, zumal das Werk
*) Heures de Milan, troisieme partie de* tres-belles heures de Notre-Dame, en-
luminees par les peintres de Jean de France, Duc de Berry, et par ceux du Duc Guilleaume
de Baviere ect., avec une introduction historique par Georges de Loo (Hulin), Bruxelles,
G. van Oest et Cie 1911, Tafel II.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
64
Joseph Kern, Perspektive und Bildarchitektur bei Jan van Eyck.
des Ambrogio ungemein häufig nachgeahmt worden ist *). Wir gehen daher
kaum fehl, wenn wir die Zeichnung im Fußboden der Broederlamschen Dar¬
stellung zu den Konstruktionen der Lorenzetti in Beziehung setzen. Träfe
aber die Annahme zu, daß die sienesische Perspektive in die burgundisch-
niederländische Malerei während der beiden letzten Dezennien des
Trecento eingedrungen ist, dann würde die Perspektive des Jan
van Eyck ihren Ursprung aus der italienischen
Kunst ableiten, ohne daß eine Verbindung zwischen
Jan van Eyck und Brunelleschi bestünde.
*) E. von Meyenburg konnte bereits in seiner 1903 in ZOrich erschienenen Disser¬
tation Uber A. Lorenzetti vier Wiederholungen aufzählen. Die Zahl der nachgewiesenen
Kopien hat sich seit 1903 bedeutend vermehrt.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Notizen.
Lukas Moser.
Bei meiner Veröffentlichung *) der Haupteinträge des Ulmer Hütten¬
buches von 1417—1421 habe ich gelegentlich der verschiedenen Erwähnungen
eines meisters lucas, mauler (= maler), dem 1421 ein großes Gemälde in
Auftrag gegeben wird, die Vermutung ausgesprochen, daß es sich vielleicht
um Lukas Moser handeln könne. Ohne das Vermögen, diese Vermutung zu
einer Gewißheit erheben zu können, möchte ich doch eine Bürgeraufnahme
in Ulm vom Jahre 1401 mitteilen, die ich bei einer erneuten Durchsicht
dieses Bürgerbuches 5 ) fand und die doch mit dazu beitragen kann, meine
Vermutung zur Wahrheit zu machen. Bei der außerordentlichen Bedeutung
Lukas Mosers und der über seine künstlerische und bürgerliche Herkunft
noch herrschenden Unklarheit erübrigt es sich, den Wert und die Berechti¬
gung derselben zu betonen. Der Eintrag in dem erwähnten Bürgerbuchc
steht S. VIII (r.) und lautet: anno Dm. (domini) mithno (millesimo) qua-
dringmo (quadringentesimo) p’mo (primo) am mentag vor Galli wurd uns
(unser) mitburg (mitburger) fritz von egern der Kadler jacob des malerstocht-
mann (tochtermann) vnd sol IO iar vns bürg (burger) sin und allie jarß rh. gul-
clinzestewrgebn. hett er aber dehains (irgend eines) iars mer gut dennedie3guld
treffend so man hie gemainl. stewer so vil er och mer verstewren und darumb
ist sin bürg- hans moser der maler vnd sol ietzo vff sant martins
tag anfahn zu stewern.« Es begegnet uns demnach ein hans moser, der
maler ist. Bedenkt man nun die fast durchgängige Vererbung gerade des
künstlerischen Berufes von Vater auf Sohn (ich erinnere nur an das fast
gleichzeitige Beispiel von Konrad Witz); stellt man die Tatsache der An¬
wesenheit eines Hans Moser, Maler in Ulm, fest und begegnet dann 20 Jahre
später einem Meister Lukas in der gleichen Stadt, so ist es wohl nicht zu
gewagt, anzunehmen, daß dieser Lukas der Sohn jenes Hans Moser, des
Malers, ist. Nimmt man noch hinzu, daß es wohl nicht noch mehr Maler
gegeben haben wird, die gerade Moser hießen, so steigert sich die Wahrschein-
') cf. Repertorium f. Kunstw. XXXIII. p. 3I2 ff.
J ) Buch der Bürgeraufnahme von 1327—1427- (Ulm, Stadtarchiv.)
Repertorium für Kunstwissenschaft, XXXV. c
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
66
Notizen.
lichkcit, daß dieser Hans der Vater des berühmten Lukas gewesen ist, noch
wesentlich. Man darf ja wohl noch die Gleichheit des Ortes mitdazunehmen
und als naheliegend schließen, daß cs doch wohl der Sohn des in Ulm an¬
sässigen Moser gewesen ist, der in derselben Stadt beschäftigt wird. Hier¬
nach ist der Ring ziemlich geschlossen, und vermögen einem leise Hinweise
etwas zu sagen, so muß man ohne alles dies bei der besonderen Erwähnung
vom Beschaffen von berggrün in dem Hüttenbuche von 1417—1421
für des maisters lucas gemäld an sich schon an Lukas Moser denken. Ver¬
schließt man sich der Sprache dieser Tatsache nicht und stimmt der Identität
des im Hüttenbuche erwähnten maister Lukas mit Lukas Moser bei, so
ergeben sich hieraus, abgesehen von der Bereicherung unseres Wissens über
Lukas Moser, auch noch weitere Schlüsse. Dann stand vom Jahre 1421 ab
ein — wie nach dem besonderen Vertrage im Hüttenbuche hervorgeht —
umfangreiches Gemälde des Meisters im Münster zu Ulm. Ob Hans Multscher
achtlos an ihm vorübergehen konnte? — Ich möchte nur noch hinzufügen,
daß der in der Bürgeraufnahme von 1401 genannte jacob, der maler, gleich¬
falls verschiedentlich im Hüttenbuche von 1417—1421 genannt wird.
U. C. Habicht.
Urkundenauszüge über Maler- und Bildhauernamen
in Freiburg i. Br.
Als eine kleine Frucht meiner in einer Anzahl von Archiven betriebenen
Nachforschungen über die Hausbuchmeistergruppe ist Nachstehendes zu be¬
trachten. Vollständigkeit zu erreichen war unmöglich, da ich einerseits nur
für die Zeit bis 1520 das Archiv durchforschte und andererseits gedrucktes
Material über diesen Gegenstand so gut wie gar nicht vorlag. Trotzdem
möchte ich meine wenigen Exzerpte der Kunstgeschichte nicht vorent-
halten, da ich cs leider selbst nur zu deutlich erfahren mußte, wie außer¬
ordentlich schwierig es st, wenn man über einen neuen Künstlernamen
archivalischc Nachforschungen anstellen möchte und es fast für keine Stadt
ein ähnliches Register gibt, wie ich es für Freiburg i. Br. unten anzulegcn
versucht habe. Hier wäre gerade ein äußerst verdienstvolles Feld für Lokal-
forscher, wenn sic, da sic meist ihr Heimatsarchiv gut kennen und sich auch
Jahre zum Sammeln vornehmen können, auf ähnliche Veröffentlichungen
ihr Augenmerk richten wollten.
Sachlich bemerke ich noch, daß es mir völlig fern lag, die Unmenge
von Malernamen, die sich in den Malcrzunftbüchern finden, zum Abdruck
zu bringen, da darunter größtenteils Sattler, Müller, Bader, Scherer und
andere Berufe, nur keine Maler verstanden sind. Ich berücksichtigte da-
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Notizen.
67
her nur solche Namen, deren Träger auch durch anderweitige Urkunden
sicher als Maler oder Bildhauer festgestellt werden konnten; dadurch mag
es zuweilen vorgekommen sein, daß ein oder der andere Name wegblieb,
hinter dem vielleicht doch ein Künstler steckte, den ich aber zurzeit in dieser
Eigenschaft noch nicht nachzuweisen vermochte.
Die Hauptquellen, die Steuerbücher, sind, was für das Verständnis
des Folgenden wichtig ist, für nachstehende Jahre nicht erhalten: 1407—1480
inkl., 1487—1489, 1493—1499, 1503—1507, 1509—1518, 1521, 1524—1529,
153 1 —1532, 1537—153 8 ,; von 1539 an vollständiger.
Das Häuserbuch ist in den Veröffentlichungen aus dem Archiv der
Stadt Freiburg IV (1903) publiziert.
Niel aus der Maler. 28. März 1321.
Allen den, die disen brief sehent oder hörent lesen, kinden wir vlrich
famel, der meister vnd die pflegere gemeinliche des heiligen geistes siptales
ze friburg, das katherina, brüder niclaweses des malers ze den prediern
tohter von friburg, vns het gegeben aht Schillinge pfenninge. etc. etc.
Hcintzin von Essclingen der Maler. 16. März. 1353.
Allen den, die disen brief sehent oder hörent lesen, kvnden wir Burckart
Lvtscher, Hcnni vnd Kleinman sin brüder, Burckart lvtschers seligen svne,
das wir vnuerscheidenlich ze kovffende hant gegeben reht vnd redelich eines
rehten kovffes heintzin von Esselingen dem maler die fvnf Schilling pfenninge
etc. etc.
Sifrit Knör der Maler ; gestorb. vor 1392 den 26. März.
Ich heintz man von fürstenborg.tun kunt.dar für mich
kament in geriht werlin zeller ein burger ze friburg mit Thinelin, Vrscllin
vnd hanman, Sifrit Knören seligen des malers kinden, der wissenthaft vogt
vnd pfleger er ist .dar er dem.henselin von Emmetingen ze
kouffen gegeben hette.daz huse »ze dem langen« mit aller zu gehörung
.Ouch stünden in geriht Johans Rütschin vnd Lotschman der messer-
smit der ... kinde ncchsten vatter magen vnd mütcr magen etc. etc.
Heinrich, Moler, 1406 Steuerregister lx lib. lig. xß. molerzunft.
H e n n i Salzman, 1406 Steuerregister II ß; molerzunft.
Clews Bern hart, der Mäler. Undatierter Eintrag im
Bürgerbuch aus der ersten Hälfte des 15. Jahrh.; Häuserbuch 1460: Clewi
Bernhart, der Moler, zer Tannen 10 ; zem Ncgbor 2 zer Segissen 2
Clewi Tanpach, der Maler, Häuserbuch 1460: zur Sichel
3
W e r 1 i n Saltzmann, der Maler, Häuserbuch 1460: zur
Ougenweid . Er ist jedenfalls ein Nachkomme des Hcnni Salzmann.
Theodosius, Bild I10 wer, Häuserbuch 1460: zum Sil¬
stein 6
5 *
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
68
Notizen.
Connrat, B i 1 d h o w e r. Ratsprotok. II (1467—1484) p. 14
recto: Vff frytag vor marie madalene Im lxx iij (sei. 1473) J ar habent min
liern Connrat bildhower vff sin ernstlich pitt, ouch vmb das nucz einer
gemeind von siner handtierung entsten mag, nachgelassen, daz er X Jar
hie sol siezen on sacz, wachen, hüten vnd fronen; säst sol Er In aller pflicht
der zunfft vnd anderer gebott vnd beswerd gehorsam vnd gewertig sin.
Josep Koch, Maler. Steuerregister 1490, 1491, 1492.
Hanns Widitz, Bildhower. Steuerregister 1500, 1501,
1502, 1508 immer V ß; Signatur auf dem Schnitzaltar 1505. Vgl. ferner
Kunstchronik XXI (1910) Sp. 447/448 und Freiburger Münsterblätter
(1. Heft 1910).
Bastion Longingcr, Moler. Steuerregister 1300, 1501,
1502 je VIII ß.
Vlrich Gürtler, Moler. Steuerregister 1500, 1501 je V ß;
1502 IIII ß.
Thcodosius Kouffman, Bildhower. (Vgl. näheres
über ihn in den Studien z. deutsch. Kunstgesch. Heft 137, S. 50—55).
Steuerregister 1490, 1491, 1492 je VII ß; 1500, 1501, 1502 je X ß; 1508,
1519, 1520, 1522, 1523 je XII ß.
Friedrich Ottingcr, der Maler (Häuserbuch); Steuer¬
register 1508V ß; 1519, 1520 je VIII ß; 1522 XII ß; 1523 ohne Stcuer-
angeabc genannt.
Andres Silbernagcl, Malergeselle, 1502 erwähnt im Missivcn-
buch als aus Gemünden im Hunsrück stammend. Über diesen Meister,
der mit wenig Glück mit dem Meister E. S. identifiziert wurde, vgl.
Studien z. deutsch. Kunstgesch. Heft 137.
Hans Baidung. Die neuesten archivalischen Forschungen über
diesen Meister, die alles, was aufzufinden war, enthalten, vergleiche in den
Freiburger Münsterblättern I (1905) S. 42 und III (1907) S. 86. Zum Teil
sind diese Mitteilungen äußerst wichtig für die Biographie des Meisters.
Helmuth Th. Rössert.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
W. Pinder. Mittelalterliche Plastik Würzburgs. Ver¬
such einer lokalen Entwicklungsgeschichte vom Ende des 13. bis zum
Anfang des 15. Jahrhunderts. Würzburg, Curt Kabitzsch (A. Stübers
Verlag) 1911.
Nach einer kurzen Würdigung der Kunst des 14. Jahrhunderts nennt
der Verfasser die literarischen Quellen, an Hand deren wir uns ein ungefähres
Bild des ehemaligen Reichtums der Würzburger Plastik und eine Vorstellung
von der Menge des Zerstörten machen können. Wesentliches ist aus der Zeit
der Monumentalplastik nicht erhalten; P. glaubt auch nicht an einen
selbständigen Anteil Würzburgs an dieser Epoche. An die Spitze seiner
Untersuchungen stellt er eine Analyse des Grabmals Gottfrieds I. von
Spitzenberg, dessen Entstehung um 1200 angesetzt wird, und das trotz
seines künstlerischer Abstandes von den gleichzeitigen sächsischen Bischofs¬
gräbern in der Bildung des Kopfes Qualitäten besitzt. Des Verfassers grund¬
sätzlicher Stellung den Siegeln gegenüber möchte ich außerordentlich
gerne beipflichten. Jedoch solange uns auch nicht für einen einzigen Fall
die Identität der Siegel Verfertiger mit Bildhauern authentisch bezeugt ist,
kann ich dies nicht tun. Ich bezweifle darum auch die Berechtigung einer
eingehenderen Behandlung der Siegel in einer Geschichte der Plastik und
vermag in ihnen nur — was der Verfasser im Grunde ja auch nur tut —•
einen ungefähren Anhalt für den jeweiligen Zeitstil, aber einen nur bedingt
zuverlässigen bei der oft archaisierenden Tendenz in ihrer Anfertigung zu
erblicken. Und vor allem, wer will sich unterfangen, nachzuweisen, daß Siegel
wie der des Bischofs Reginhart 1181 oder der des Bischofs Hermann von Lobdc-
burg 1225 überhaupt Arbeiten von Würzburger Künstlern sind? Und wie
soll es gar erst möglich sein, aus diesen, in jener Zeit doch höchstwahrscheinlich
von umherreisenden Künstlern gefertigten Kleinkunsterzeugnissen auf
eine »Glanzepoche«, eine gewisse, künstlerische Blütezeit Würzburgs zu
schließen? Auf gar keinen Fall aber kann damit das Verhältnis der alten
Bamberger Monumentalkunst zur Kleinplastik, das überhaupt stark zweifel¬
haft geworden ist, noch in irgend einer Weise deutlicher werden. Ist es
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
?o
Besprechungen.
nicht auch merkwürdig, daß man weder in der Großplastik noch auch in
dem Domkapitelsiegel von 1250 den doch in Bamberg um diese Zeit unleug¬
baren westlichen Einschlag fühlt? Als Werke der großen Bauplastik des
13. Jahrhunderts werden der Opferstock von St. Burkhard, der plastische
Schmuck der Deutschhauskirche und der des ehemaligen Augustinerklosters
in einem besonderen Kapitel vorgeführt. Der Opferstock von St. Burkhard
wird etwa 1280 angesetzt, und sein Meister mit Recht als ein Kleinkünstler
angesehen, der sich um die Jahrhundertmitte in Frankreich gebildet haben
muß. Himmelfahrt Christi, Noli me tangere, Trinität und Verherrlichung
Mariae sind auf den vier Seiten dargestellt. Nicht beizustimmen vermag
ich des Verfassers Vergleich der Gewandbehandlung der Verherrlichung
Mariae mit den Chorschranken der Halberstädter Liebfrauenkirche. Die
Gewänder in Halbcrstadt zeigen viele, gekräuselte Falten, wobei das Stoff¬
liche unbetont bleibt. Das Gewand der Maria am Opferstock dagegen hat
verhältnismäßig wenige, einfache Falten, und der dickere, wollige Stoff ist
klar als solcher gekennzeichnet. Auf Grund sehr eingehender baugeschicht¬
licher Vergleiche erblickt der Verfasser in den Plastiken der Deutschhaus¬
kirche einen älteren Wimpfener und einen jüngeren Oppenheimer Haupt¬
meister; den Meister der Konsolen und den der Gewölbeschlüsse. Die
Plastiken werden in die Zeit um 1296—1302 verlegt. Ich gestehe, daß es
weder ein Genuß, noch eine leichte Aufgabe ist, sich durch diese gewiß sehr
zutreffenden, aber an einer virtuosen Gesuchtheit des Stils, wie der Argu¬
mentationen leidenden Untersuchungen hindurchzuarbeiten. In die gleiche
Zeit fallen die — trotz der Vorbilder — merkwürdigen Köpfe mit Baldachinen
. darüber, vom Hauptportal des ehemaligen Augustinerklosters. Auch sie
verleugnen ihren westlichen Ursprung nicht. Ein Vergleich der Siegel von
1304—1330 soll die Vorstellung der Wandlungen der Kunst zu Anfang
dieses Jahrhunderts erhärten. In diese kritische Periode fällt die Entstehung
der Dreikönigsgruppe, die bestimmt niemals zu einem Altäre gehört hat.
Sicher hat auch der Meister dieser Gruppe französische Monumcntalkunst
kennen gelernt. Allerdings gerade zu Amiens vermag ich außer dem doch
nebensächlichen Motiv des Haltens des Kästchens keine Beziehungen zu
finden. Ganz überzeugt bin ich von der frühen Datierung auch nicht. Bei
aller Erinnerung an Monumentalkunst steckt doch schon enorm viel spezifisch
Eigenartiges des 14. Jahrhunderts in ihr. Die Madonna hat mit der sensiblen,
einzigen Mainzerin der Fuststraße nichts mehr gemein, und gar in der auf
Taf. XIII abgebildeten Madonna, ehemals an einem Würzburger Hause
befindlich, eine Replik nach einer Replik der Fuststraßcnmadonna zu sehen,
ist mir schlechthin unerfindlich. Im Gegensatz zu Börger und Rohe wird
die Entstehung des Grabmals des Bischofs Mangold von Neuenburg und zwar
mit durchaus überzeugenden Gründen in die Zeit um 1305 verlegt. Wie
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
7 1
dieses, so wird auch das Grabmal des Johanniterpriors Berthold von Henne¬
berg einem sächsisch geschulten Meister zugeschrieben und mit guten Gründen
werden die unleugenbaren Beziehungen zu dem Grabmal Ludwigs IV. in
Reinhardsbrunn dargetan. Mit sehr viel Scharfsinn und schlagenden Be¬
weisen wird der Grabstein Gottfrieds III. von Hohenlohe als diesem Bischöfe
gehörig zugewiesen und in die Zeit um 1330 verlegt. In ihm dokumentiert
sich der vom Verfasser primitiv genannte Stil, der sich an Typen wie die
Bronzeplattc des Evrard de Feuilloy anschloß. In seine Nähe rückt das
Grabmal des Johann von Stern (1329 f) an der inneren Nordwand der
Bürgerspitalkirche. Als das bedeutendste Werk dieses Stiles stellt sich
aber der seltsame, mit den vor die Brust genommenen Armen und ergreifend
gebildete Christus der Ncumünster Krypta dar, der, etwa 1335—1340 ent¬
standen, in die Endzeit dieser Epoche fällt. Zwei Grabmäler, vornehmlich
das des Ekro von Stern und das des Bischofs Otto von Wolfskehl, bezeichnen
die zwei verschiedenartigen Richtungen der »ersten Stufe des geschwungenen
Stiles«. Beiden zeitlich voraus und innerlich nur dem letzteren verwandt
geht das Monument des Bischofs Wolfram von Grumbach-Wolfskchl (t 1333)-
Der Künstler knüpft an das im Grabmal Mangold von Neuenbürgs schon
Erreichte an und bringt seine im Westen erreichte größere Freiheit der
Gestaltung hinzu. Ein typischer Vertreter des Geschmacks, die Gestalten
in einer nur denkbar zulässigen Weise in der bekannten S-F'orm auszubiegen,
ist der Ekro von Stern. Diese Mode war doch so außerordentlich verbreitet,
daß man sich nicht so sehr wundern darf, sie in einem ungefähr gleichzeitigen
Siegel, wie dem des Hermann von Lichtenberg wiederzufinden. Es steckt
übrigens ungemein viel ornamentales Gefühl in diesem Grabmal des Ekro
und selbst die Bizarrerien sind nicht so unbegründet, wie sie zunächst scheinen.
So ist wenigstens der Anlaß für die starke Ausbiegung durch den unverhältnis¬
mäßig großen, ovalen und stark in die Rahmenfläche hineinragenden Schild
gegeben. Wie fein folgt aber dann die geschwungene Linie des Körpers
dem des Schildes. Mit einem ausgesprochenen Begriff für Stilisierung ist
scheinbar alles aus den Windungen des Widderhorns des Wappens ent¬
wickelt: der Schild selbst, der Körper des Ritters, der doch höchst sonder¬
barerweise quergelegte, als Kopfkissen dienende Helm und dem entsprechend
die Bildung des Hundes, auf dem der Ritter steht. Wie himmelweit ist das
alles von dem einfach dem Zeitgeschmack folgenden Elektcnsiegel des
Bischofs Hermann von Lichtenberg (1333—1335) entfernt! Um 1345—1348
• oll das Grabmal des Bischofs Otto von Wolfskehl (+ 1345) im Dom, entstanden
sein. Ob der Verfasser an die gleiche Hand wie die des Grumbachmonuments
wirklich glaubt, konnte ich aus den Zeilen nicht herauslcscn. Jedenfalls
stimme ich seinen verschiedentlich ausgesprochenen Übereinstimmungen
vollkommen zu; wenn auch der gewaltige Fortschritt in dem Wolfskehl-
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
72
Besprechungen.
Denkmale nicht zu leugnen sein wird. Unzweifelhaft gehört das Monument
zu den besten dieser Zeit, und der Verfasser hat sehr recht, wenn er glaubt,
daß kaum ein zweites Werk dieser Epoche Wucht mit aristokratischer,
gewollter Eleganz so sehr vereint wie dieses. Voll und ganz zustimmen
kann man dem Verfasser auch zu dem, was er über den ehemaligen Türstein
des Bürgerspitals (Mus. Maxstr.), etwa 1350, sagt. Die Analyse wie die Ein¬
reihung dieses hochbedeutenden, plastischen Werkes ist geradezu muster¬
gültig. Es stellt in der Mitte dar: die Trinität, rechts und links oben davon
Johannes und Maria, unten das Stifterehepaar, Mitglieder der Sternschen
Familie. Zweifelsohne sind Beziehungen und zwar auffallende der Trinitäts¬
gruppe zum Wolfskehl-Denkmal vorhanden. Auch ich glaube für sie an die
Hand desselben Meisters, ebenso wie für die ganze Anlage des Monuments.
Die vier übrigen Figuren und das Wappen dagegen könnten nach meinem
Gefühle sehr wohl von anderen Händen herrühren und zwar solchen, die der
Kunstweise des Ekromeisters näherstanden. Ganz überzeugend sind auch
die Beziehungen zu dem Denkmal Friedrichs III. von Hohenlohe (t 1352)
im Dome zu Bamberg. Mit vollem Rechte darf man hier von einem Meister
reden. Leider blieben des Verfassers Versuche, den Namen dieses Meisters
ausfindig zu machen, ergebnislos. Dagegen vermag er die Einwirkung seiner
Kunst in dem Ritterkopf aus Oberzell (Mus. Maxstr.), etwa 1360, und dem
weniger bedeutenden Grabmal des Heinrich von Seinsheim (t 1360) im
Domkreuzgang an der Außenwand der Sepultur darzutun. Als besonderes
Charakteristikum der zweiten Stufe des geschwungenen Stiles ergibt sich
ein erhöhtes Körpergefühl, das sich in der Betonung der Wölbung des mensch¬
lichen Leibes kundgibt. Als erstes Dokument dieser Stufe erblickt der Ver¬
fasser die angeblich aus der Dcutschhauskirche stammende, nun ver¬
schwundene Madonna. So glücklich die Benennung und Charakterisierung
dieser an sich ja allbekannten Eigenarten der Plastik dieser Zeit ist, so
gesucht finde ich den Vergleich mit der Schmedestettschen Madonna der
Erfurter Predigerkirche. Wozu auch? Datierung und Analyse ist unan¬
fechtbar, und Madonnen mit ähnlichem Körpergefühl und gleicher Gewand¬
behandlung gibt es zahllose. Von ähnlichen Absichten, nur mit noch klarerer
Betonung des Körpers, ist die aus Oberzell stammende (im Mus. Maxstr.
befindliche) Madonna gebildet, die sehr richtig als fortgeschrittener an¬
gesehen und in die Zeit um 1370 gesetzt wird. Als Gipfel dieser Stilstufe
stellt sich das Grabmal des Bischofs Albert von Hohenlohe dar, etwa 1375,
im Dom, das der Verfasser ohne zureichende Gründe dem Meister der Madonna
von Oberzell zuschreiben möchte. Als eine Synthese dieser beiden Stil-
stufen erscheint für mich die völlig zutreffend hier angereihte Madonna
der Augustinergasse (etwa 1395). In einem »das nürnbergisch-thüringische
Zwischenspiel« genannten Kapitel werden die Einflüsse von dorther an
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
73
Hand des Votifreliefs der ehemaligen Leprosenkapelle, eines Schmerzens¬
manns aus dem Neumünster (Mus. Maxstr.), einer trauernden Madonna
ebenda und einer roheren Steinmadonna im südlichen Seitenschiff von
St. Burkhard dargetan. Die Arbeiten fallen in die Zeit 1360—1380. 1377
wird der Grundstein zur Marienkapelle gelegt, und damit muß sich auch
eine Bauhütte etabliert haben. Als deren früheste Erzeugnisse sieht der
Verfasser zwei von einer Familie Schwarzburg gestiftete Reliefs, eine Mariac-
Schiedung un^ eine Kreuzigung, an. Der Meister des Marientodes bringt ein
neues Element nach Würzburg, und wird sich —wie auch ich glaube — an der
damals so beliebten Tonplastik — vermutlich im Westen — geschult haben.
Im Verfertiger des Kreuzigungsreliefs wird man wohl einen Würzburger,
in die Hütte aufgenommenen Bildhauer zu erblicken haben und zwar —
wie der Verfasser meint — einen aus der Schule des Albert von Hohenlohe-
Meisters. Von den Portalskulpturen gehören jedenfalls einmal die Marien-
krönung und dann das Weltgericht stilistisch am engsten zusammen. Anstatt
eines Einflusses des Meisters der Kreuzigung möchte ich viel eher einen
solchen des Meisters der Mariae Schiedung erblicken. Schon allein die
Engel auf dieser Marienkrönung verweisen ebenso — wie dies das genannte
Relief tat — auf Schulung an Tonmaterial und auch an ähnlichen Stoffen.
Ich erinnere nur an die Binger Engel, die übrigens ebenso wie diese Würz¬
burger in engstem Zusammenhänge mit einem mir bekannten französischen
Beispiele stehen, das, allerdings aus Holz, die überraschendsten Überein¬
stimmungen aufweist •). Sehr weit her holt der Verfasser die Vorbilder
zum Weltgericht des West-Portals. Ich meine zeitlich. Chartres und Bamberg
liegen doch ein wenig zu weit zurück. Schon eher ließe sich an eine An¬
knüpfung an das jetzt im Domkreuzgang zu Mainz befindliche Relief denken.
Weisen doch auch noch andere Beziehungen lebhaft an den Mittelrhein.
Entschieden die beste Leistung der Hütte ist die Verkündigung vom Nord-Por¬
tal, die der Verfasser in die Zeit etwa 1425 verlegt. Dem prachtvollen Ver¬
kündigungsengel entspricht eine liebliche und hoheitsvolle Madonna. Die
Gewänder der beiden sind von beherrschter Einfachheit und schön gegebenem
Faltenwürfe. Am konventionellsten, wenn auch entwickelter, ist Gottvater
gebildet. Man glaubt die burgundischen Vorbilder mit Händen greifen zu
können, und dies wird wohl auch bei einiger Mühe des Suchens gelingen.
Die mehr oder minder gelungenen Repliken nach den drei Portalen werden
vom Verfasser namhaft gemacht.
Seine Betrachtungen über die männliche Gewandfigur im frühen
über
') Abgebildct in A. Gcrinain: l.cs Neerlandais en
S. 92.
Bmirgngne. Bruxelles 1909. Gcgeti-
Digitized by
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
74
Besprechungen.
[5. Jahrhundert eröffnet der Verfasser mit einer solchen über das Grabmal
des Bischofs Gerhard von Schwarzburg (t 1400), Dom. Wie der Meister
der Madonna der Augustinergasse faßt der Künstler bei der Gestaltung
dieses herrlichen Monumentes alles Gute und alles Entwicklungsfähige der
vorausgegangenen Epoche zusammen. Es ist deshalb nicht zu verwundern,
daß er keine Schule gemacht hat, wenn wir auch noch ein Werk von seiner
Hand, den Konrad von Weinsberg, im Mainzer Dome besitzen. Mehr als sehr
schwaches Ausklingen dieser eindrucksvollen Kunst kann man in den Grab-
mälern des Abtes Hermann Lesch von Hilgartshausen (t 1408), St. Burkard,
des Bischofs Joh. von Egloffstein (t 1411), Dom u. a. nicht finden. Auch
das vom Verfasser gerühmte Grabmal des Abtes Ernfried I. von Vcll-
berg, Groß-Komburg Schenkcnkapelle, ist doch nur ein kümmerlicher
Reflex.
Für die Krühzeit der Entwicklung der Rittergrabmälcr liefert Würz¬
burg direkt keine Vorbilder. Doch ist es hier wohl angebracht, solche aus
der Umgebung der Stadt für die Betrachtung heranzuziehen. Es sind dies
die Denkmäler von: Konrad von Seinsheim (t 1369) außen am Chor der
Schweinfurter Pfarrkirche, Licter von Hohenberg (t 1381) aus der Schlo߬
kapelle der Hohenburg (Homburg a. M.). In ihnen sieht der Verfasser noch
»geschwungenen Stil« und betont mit Recht als das Entscheidende die
vollständige Art der Plattenfüllung und die diagonale Entsprechung der
Arme. Bei dem Grabmal des aus der Kapelle von Gröblingen bei Rollfeld
stammenden Konrad von Bickenbach (t 1393), jetzt im Nat.-Mus. München,
glaubt P. an ein Frühwerk des Schwarzburgmeisters denken zu können.
Zu einem fortgeschrittenen Typ, »der eine stämmige und wuchtige Breite«
zeigt, »die mit ganz symmetrisch wallenden Stoffmassen arbeitet«, gehören
die Denkmäler des Heinrich von Bickenbach ( 1 1403) aus der Hohenberger
Schloßkapelle, im Nat.-Mus. München, und das des Ludwig von Rieneck
(+ 1408) in der Lohrer Stadtpfarrkirche. Ihnen entsprechen stilistisch die
Platten des Ludwig von Hutten (t 1414), im Kreuzgang von Himmels¬
pforten und des Engelhard von Weinsperg (?) - in der Dominikanerkirche
zu Wimpfen. Mehr als es der Verfasser getan, kann man wohl auf die Be¬
ziehungen des Ludwig von Rieneck zu Gerhard von Schwarzburg hinweisen.
Ich glaube sogar an ein und dieselbe Hand. Den Wimpfencr Ritter dagegen
halte ich trotz der offenbaren Beziehungen zum Ludwig von Rieneck seiner
geringeren Qualität wegen eher für ein Werk eines Werkstatt genossen des
Schwarzburgmeisters.
Einem fähigeren Gesellen dieses Meisters verdankt das Grabmal des
Cunz von Haberkorn (+ 1421) im Nat.-Mus. München seine Entstehung.
Einen Rückschritt bedeutet die flaue Platte des Martin von Seinsheim
Digitized by
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Hoprc'oliungcn.
75
(+ 1434) Marienkapellc, die unter dem Einfluß der sich nun mächtig ent¬
wickelnden Malerei entstanden gedacht sein muß.
Aus keiner indigenen Kunst stammen die wenigen Frauengrabmälcr.
Sehr treffend entwickelt der Verfasser das frühst erhaltene aus dem Typ
des betenden Engels vom Grabmal Joh. von Falkensteins (t 1365), außen
an der Chormauer der Arnsburger Klosterkirche, und die späteren wie das
der Margaretha Fuchs (f 1400) Himmelspforten - Kreuzgang, der Elisabeth
von Rieneck in Lohr und der Katharina von Hutten aus den Oppenheimer
Werken. Etwas über diese erhebt sich das der Anna Ziegel (f 1407) Franzis¬
kanerkirche.
Im Anschluß an die Madonna der Augustinergasse ist die am Hause
Johannitergasse 7 geschaffen worden. Wie sich dann aus dieser die der
Vorhalle des Domes entwickelt, wird vom Verfasser sehr klar und über¬
zeugend dargetan. Einige weniger bedeutende Madonnen werden im gleichen
Kapitel besprochen.
In einem mit AVürzburg und der weiche Stil« überschriebcnen Ab¬
schnitte wird gezeigt, daß Würzburg, dessen politische Zustände während
dieser Zeit einer Weiterentfaltung der Kunst nicht förderlich sein konnten,
nur unbedeutende Vertreter dieses Stiles aufzuweisen hat. Durch Analyse
der Madonna der Michaelskapelle, der kleinen Pietä am Hause neben dem
Johanniterbäcken, der Anna selbdritt im Neumünster, der Madonna des
Bürgerspitals und der Dreikönigsgruppe von Ochsenfurt wird gezeigt, wie
mit Abnahme der künstlerischen Kraft das Neue des Stiles unverstanden
bleibt und eigentlich nur das Anorganische desselben nachgeahmt wird
Von gleichem Geiste sind die Grabdenkmäler des Bischofs von Egloffstcin
(+ 1410), das des Abtes Eberhard Lesch von Hilgartshausen (f 1436) in
St. Burkhard und das des Bischofs Joh. von Brunn im Dome. Das einzig
beachtenswerte Werk derZeit die Madonna am West-Portal der Marienkapelle
wird von dem Verfasser mit der Berufung des Eberhard Friedeberger in
Verbindung gebracht und damit als mittelrheinisch angesehen. In einem
besonderen Rückblick werden die Ergebnisse der Einzeluntersuchungen
durch eine knappe, klare Schilderung des Ganges der Entwicklung gezogen.
Ich kann mich nach der Durcharbeit durch dieses mit größtem Verständnisse,
mit Exaktheit und reichem W issen geschriebene Buch eines Bedauerns vor der
tiefen Reverenz, die einer allein seeligmachenden Methode, dem Gipfel unserer
Wissenschaft, gezollt wird, nicht erwehren. Wieviel gewönne dies Werk,
wieviel fruchtbringender und brauchbarer erwiese sich die Fülle von Arbeit
und Können, wenn schlicht und ungesucht chronologisch zusammcngchörcn -
des — natürlich soweit es dies auch künstlerisch tut — besprochen, die
Entwicklung dargetan und die Bezüge aufgedeckt würden, anstatt daß
Digitized by
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
76
Besprechungen.
# • •
unter immer wieder neuen Kapiteln (vgl. die Überschriften) formale-Ten¬
denzen als Hauptsache dargetan werden.
Das Buch ist mit 56 guten Tafeln ausgestattet.
Habicht.
Sascha Schwabacher. Die Stickereien nach Entwürfen
des Antonio Pollai uolo in der Opera di S. Maria
d e 1 F i o re zu Florenz. Zur Kunstgeschichte des Auslandes,
Heft 83. Straßburg. J. H. Ed. Heitz (Heitz & Mündel). 1911.
37 Tafeln.
Die Verfasserin dieser Studie hat nicht versucht, eine Entwicklungs¬
geschichte der italienischen Stickerei, die zu sehr interessanten Ergebnissen
führen könnte, zu geben, um so mehr als bedeutende Künstler wie Botti¬
celli, Raffaellino del Garbo, Squarzione, Bacchiacca, Yasari und andere mit
Stickercientwürfen beschäftigt waren, sondern hat sich darauf beschränkt,
die Stickereien nach Entwürfen des Antonio Pollaiuolo in der Florentiner
Domopera zu besprechen.
Aus den Dokumenten ergab sich, daß Antonio Pollaiuolo der Maler-
Bildhauer von der Arte dei Mcrcatanti in Florenz 1466 den Auftrag erhielt,
für die Taufkirchc S. Giovanni Entwürfe zu Stickereien anzufertigen, die
das Leben des heiligen Johannes zum Gegenstände haben sollten.
Vier Gewänder, und zwar eine Kasel, zwei Dalmatiken und ein Pluviale
aus weißem Brokat, sollten mit den Stickereien verziert werden. Die Zahl
der Stickereien ist nicht überliefert. Schwabacher nimmt durch Rekon-
.'truktion der Gewänder und Benutzung der vorhandenen Stickereien eine
Zahl von 31 Stickereien an, von denen mehrere, darunter die Hauptdar-
stellung der »laufe Christi«, nicht erhalten sind.
1480 erhält Pollaiuolo die letzte Zahlung für die Entwürfe. 1487 wird
der Gesamtpreis für die Gewänder bezahlt.
Neun Sticker arbeiteten an der Ausführung der Arbeiten, der höchst¬
bezahlteste ist ein Flame Coppino, ein Zeichen der Wertschätzung der nieder¬
ländischen Wirkkunst.
Zeichnungen mit Darstellungen der Stickereien sind nur
zwei erhalten, beide keine Vorlagen, sondern Kopien nach den Sticke¬
reien und beide nur als Schul- oder Kopistenarbeiten zu bezeichnen.
»Zacharias tritt aus dem Tempel« im Kupferstichkabinett der Uf¬
fizien in Florenz und »Die Zöllner befragen Johannes« im Berliner
Kupferstichkabinett. Bei letzterer spricht die gute Erhaltung, die mäßige
Zeichnung und die Tatsache, daß die zur Übertragung nötige Durch-
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
77
lochung fehlt, von vornherein dagegen, daß sie als Vorlage gedient
haben könne.
Im Hauptteil geht die Verfasserin nach kurzer Aufführung der Stick -
techniken auf die kunsthistorische Besprechung der einzelnen Stickereien
ein, die sie gründlich und gut durchführt.
Auf Grund der verschiedenen Geschicklichkeit in der Darstellung
der Perspektive auf den Stickereien kommt die Verfasserin zu sehr
plausiblen Datierungen der Arbeiten. Ebenso vermag sie die Re¬
konstruktion der Gewänder und die Verteilung der Stickereien über¬
zeugend darzustellen.
Hanns Schulze.
Alfred Gudemann. Imagines Philologorum. 160 Bildnisse
aus der Zeit von der Renaissance bis zur Gegenwart. Gesammelt
und herausgegeben von A. G. Druck und Verlag von B. G. Teubner
in Leipzig und Berlin. 1911.
Wie der Titel des angezeigten Werkes sagt, handelt es sich um eine
Arbeit sowohl philologischer wie auch kunsthistorischer Art. Die starke
Betonung des Porträts aber in unserer Zeit, die auch zutage tritt in der
Aussonderung einer besonderen Porträtsammlung aus der allgemeinen
Nationalgalerie, veranlaßt mich, über die kunstwissenschaftliche Seite einer
Publikation vorliegender Art mich auszulassen.
B. A. Müller-Hamburg hat in der Berliner Philologischen Wochen¬
schrift vom 14. Oktober 1911 besonders für ein philologisch orientiertes
Publikum Gudemans Arbeitsweise und Zuverlässigkeit mit einer Fülle von
Beispielen durchweg richtig zensiert und nahm dadurch mir manches
voraus, es werden sich darum unvermeidliche Wiederholungen finden. Man
denkt nach dem von diesem Rezensenten beigebrachten Material, die Reihe
der Fehler sei erschöpft, aber Müller beschränkte sich, wie er selber sagt,
auf Beispiele. Ich gebe also der zusammenfassenden kunstwissenschaft¬
lichen Betrachtung folgende Addenda voraus.
Von Richard Porson hätte man unbedingt das Hoppnersche Gemälde
in der University Library von Cambridge photographieren lassen müssen,
denn die beiden Stiche, die wir davon besitzen, zeigen erhebliche Abweichun¬
gen untereinander. Die Angabe, der Stich von Forcellini stamme aus der
Lexikonausgabe, ist eine Ausdrucksmerkwürdigkeit, die Müller wohl dem
Ausländer Gudeman zugute hielt. Warum fehlen bei Guarino die Vornamen
Giovanni Battista?
Schliemann wurde nicht, wie der Verfasser schreibt.
in Neu-Oncken in Mecklenburg geboren, ein Ort, der meines Wissens nach
nicht existiert, sondern vielmehr in Neu-Buckow in M. (Siehe die Selbst -
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
7»
Besprechungen.
biographie von Schlicmann, nach seinem Tode vervollständigt. Heraus-
gegeben von Sophie Schlicmann. Brockhaus. Leipzig 1892.)
Moriz Haupt hielt zu Lebzeiten streng darauf, Moriz, nicht Moritz,
geschrieben zu werden.
Besser als das bei Gudeman gebrachte Porträt von Traube ist das
vor seinen Nomina sacra 1907, dessen Reproduktion allerdings nicht leicht
sein wird. Isaac Casaubonus, nicht Isaak, würde ich schreiben. (Siehe Isaac
Casaubon von Mark Pattison. Second Edition. 1892. Oxford Univcrsity
Press.) Bei Villoisson Bibliothlque nationale et Oeuvres compRt£s müssen
die Accents geändert werden. Ließ sich bei W. I. Sellar der Meister des
(icmäldes nicht fcststcllen? Der Stich von Budäus findet sich z. B. in dem
alten Porträtwerk von Andre Thevet, 15184, S. 351, was die letzte erreichbare
Quelle zu sein scheint.
Für Erasmus brauchte man nicht einen späten Stich zu nehmen, es
liegt das Bild von Quentin Massys vor und der Stich von Dürer, ich verweise
auf die Bildnissammlung des Kupferstichkabinetts in Berlin.
Was aber den Schellhornschen Stich von Hcmsterhusius angeht, so
scheinen mir weder Tracht noch Gesicht der Vorstellung zu entsprechen,
die man sich von einem feinsinnigen Gräcistcn des 18. Jahrh. macht. Hier
scheint ein ähnlicher Fall vorzuliegen wie bei Rcuchlin und Boccacio, von
denen ich später spreche.
Die Zitierweise G.s bei Boissonade ist irreführend. Es muß dort
heißen: Photographie nach dem Gipsabguß der Medaille von David d’Angers
im Musee d’Angers. Ich werde übrigens diesen Fall noch besonders behan¬
deln. Das Winckelmann-Bildnis von Maron, das 1767—68 gemalt wurde,
mußte nach dem Original in der Weimarer Galerie oder mindestens nach dem
besten Stich, dem von L. Sichling, gegeben werden. (Vergleiche hierzu:
O. Jahn, Biographische Aufsätze. 2. Aufl. 66, S. 81—87). Ein besseres
Porträt von August Mau findet sich in der Leipziger Illustrierten Zeitung
vom 18. März 1909 S. 556. Für Sir Richard Jcbb siehe das Titelporträt
in Caroline Jcbb: Life and letters of Sir Richard Jcbb, 1907. Ein sehr gutes
Bild von Jacob Geel befindet sich, wie mir der Direktor der Leidener Biblio¬
thek mit teilt, daselbst in dessen Zimmer. Es ist besser als das hier
gebrachte und ist reproduziert in der Dissertation von Martha S.
Hamakcr: »Jacob Geel naar zijn brieven en geschriften geschetst«.
Leiden 1907. . . .
Ich gehe über zur zusammenfassenden Betrachtung. Für die Bear¬
beitung von Ikonographien und weitergegriffen für die Publikation von
Porträts überhaupt läßt sich eine allgemeine Norm, eine Forschungsmethode
aufstellcn, um einerseits zu dem gesuchten Bilde überhaupt, andererseits zu
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
7Q
dem zu publizierenden Exemplar zu gelangen. Vor allen Dingen muß der
Philologe stets von einem kritisch geschulten Kunstwissenschaftler beraten
werden. Der eine wird suchen, der andere prüfen.
Beginnen wir bei der Moderne, so müssen wir wohl Kunstwerke aus
guten Händen, die wohlgemerkt nach Sitzung gefertigt sein müssen, Photo¬
graphien vorziehen. Es muß aber streng darauf geachtet werden, daß
nach dem Original und nicht nach Kopie oder Gipsabguß reproduziert wird.
Gudeman hat uns so das gänzlich verwaschene Bild von Boissonade gebracht
nach einem Gipsabguß, wo doch das Original mühelos im Musöe de peinture
usw. in Angers, wo das Oeuvre des Meisters zusammengetragen ist, zu er¬
reichen war. Es wird auf Anfrage jederzeit photographiert. Auch die
Medaille von C. Wachsmuth, gefertigt von T. Georgii, hätte der Verfasser
kennen müssen, da diese vor wenigen Jahren in die Öffentlichkeit ge¬
kommen und, wie ich sehe, auch in der philologischen Literatur vermerkt
wurde.
Wenn das Originalgemäldc zugänglich ist, muß man vermeiden, Stiche
zu bringen, besonders solche zweiter oder dritter Hand, da nicht nur das
Ungeschick des Stechers, sondern auch die jeweilige Zeitmode zur Ver¬
änderung beiträgt. Letztere allein bietet schon Handhaben bei der Unter¬
suchung, ob der Stich zulässig ist. Hier liegen bei Gudeman viele typische
Fehler vor. So Gibbon, Bentley und der schon besprochene Winckelmann
und Sellar. Daß die Bestimmung des endlich zu reproduzierenden Bildes
selbst dann noch nicht einfach ist, wenn auch das Original gefunden ist,
kann man ersehen aus Fällen wie Klopstock (vgl. Franz Landsberger:
W. Tischbein, S. 140—141) und J. H. Voß, wo je zwei Familien Anspruch
darauf machen, das Original zu besitzen. Hier muß die Arbeit des Kunst¬
wissenschaftlers einsetzen, der unbedingt dem Philologen stets bei einer
derartigen Arbeit und Auswahl zur Seite stehen muß.
Völlig ausgeschaltet müssen aber alle Porträts werden, für die keinerlei
authentische Belege zu erbringen sind, so vor allein Reuchlin, der Boccaccio
Gudemans und der Chrysoloras, denen man wohl auch den oben erwähnten
Hemsterhusius beirechnen darf. Alle diese entbehren, wie schon Müller
eingehend dargclegt hat, völlig der Zuverlässigkeit. Ich gehe hinweg über
die Unmenge von Druckfehlern, die wohl als solche nicht mehr zu bezeich¬
nen sind.
Um die Aufgabe erfolgreicher bearbeiten zu können, muß der Ver¬
fasser sich eingehend mit den Stechern der jeweiligen Zeiten befassen, dann
werden auch die elementaren Irrtümer in der Feststellung der Künstler¬
namen fallen.
In der zweiten Auflage, von der Gudeman in seiner Einleitung schon
spricht, die aber wohl einer völligen Neubearbeitung unterworfen werden
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
So
Besprechungen.
muß, möchte ich A. Michaelis sehen. (Vgl. z. B. die Leipziger Illustrierte
Zeitung vom )8. August 1910, 3503, S. 276 oder den Katalog 1911 von
E. A. Seemann, Leipzig.) Sollte man nicht auch das Porträt von R. Kekule
von Stradonitz bringen? (Vgl. die Ansprache von Eduard Gerhard. R. von
Kckul£, am 9. Dezember 1910, 1911 zum 70. Winckelmanns-Feste, S. 3.;
Die allerdings erheblich größeren Kosten der neuen Bearbeitung dürften
Autor und Verleger im Interesse des daraus für die Wissenschaft resultieren¬
den Nutzens nicht scheuen.
Gustav .-Im-J ena.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Ausstellungen und Auktionen.
Die Grafton - Ausstellung in London. Oktober bis Dezember
1911. Der reichlich illustrierte Katalog von Roger E. Fry und Maurice
W. Brockwell, in Großoktav, bietet eine gute Übersicht (1 Guinea).
Diesmal waren viele bisher noch nicht gezeigte interessante Bilder aller
Schulen ausgestellt. Der achteckige erste Raum war den frühen Italienern
gewidmet. In dem darauf folgenden quer vorgelagerten großen Saal waren
links die Italiener der Blütezeit, rechts besonders englische Bildnisse des
18. Jahrh. und die Rembrandts untergebracht; in dem langen mittleren Saal
links holländische Landschaften, rechts die nordischen Primitiven; der letzte
Saal macht den Beschluß mit holländischen Zeichnungen links und englischen
Landschaftsaquarellen rechts, am Ende aber den vier Tafeln von Van der Goes
aus Edinburgh. Wir heben nur die besonders beachtlichen Bilder hervor.
Achteckiger Saal: frühe Italiener.
2. Jac. del Sellaio. Cassonemalerei mit Amor und Psyche (C. Brinsley
Marlay). Helle Malerei; ausdruckslose Gesichter.
3. »Giotto«. Halbfigur des segnenden Christus, groß, auf Gold¬
grund (Lady Jekvll). Sehr würdevolles Bild aus der zweiten Hälfte des
14. Jahrh.
5, 6, 8, 9. Duccio. Vier Darstellungen aus dem Leben Christi. Von
dem Altar des Sieneser Doms (R. H. Benson).
7. Masaccio. Thronende Madonna mit vier Engeln, auf Goldgrund.
Mit pseudo-kufischen Inschriften. Mittelbild des Altars von 1426 im Carmine
zu Pisa (Rev. A. F. Sutton). Helle, warmbraune Modellierung; ruhiger Aus¬
druck der Maria; lebendiger der des Christkindes; schöne große weiche Falten;
die Hände etwas einförmig und hölzern gezeichnet, doch voller Ausdruck in
der Bewegung. Der Nimbus des Christkindes sitzt horizontal auf, die übrigen
Nimben vertikal.
Repertorium für Kunstwissenschaft, XXXV. 6
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
82
Ausstellungen
10, 12. Signorelli. Bruchstücke aus einer Taufe Christi (Sir Fred.
Cook, Bart.).
11. Bartol. Vermejo. Hl. Michael mit einem knienden Stifter. Be¬
zeichnet (Sir Jul. Wernher, Bart.).
14. Bartol. Montagna. Madonna, Halbfigur vor feiner Landschaft
(Sir Will. Farrer f, aus der Samml. Bonomi-Cereda).
15. »Gozzoli«. Große Madonna mit Engeln, auf gepunztem Gold¬
gründe (Henry Wagner). Von einem umbrischen Nachahmer Gozzolis
(Berenson).
16. Bramantino. Äußerst anmutige und farbentiefe kleine Madonna,
Kniestück vor einer Brüstung. Hintergrund ein weiter, von Gebäuden um¬
gebener Hof. Über rotem Kleide dunkelblauer, grün gefütterter Mantel
(Graf Golubef, Paris). Aus der späteren Zeit.
21. Daddi. Großes fünfteiliges Altarwerk von 1348. In den Giebeln
Christus und die vier Evangelisten (Sir Hub. Parry, Bart.). Wichtiges
Hauptwerk von vortrefflicher Erhaltung. Schön abgewogene helle Farben.
Untersetzte Gestalten, breite vierkantige Gesichter. Der Meister scheint
aus der Schule Tadd. Gaddis hervorgegangen zu sein.
Großer Saal: Italiener der Blütezeit; Engländer des 18. Jahr¬
hunderts; Rembrandt.
Links.
23. Piero di Cosimo. Hylas mit den Nymphen (R. H. Benson). Gute
Landschaft; sorgfältige Ausführung der Pflanzen und Blumen.
24. Cima. Hl. Hieronymus (Maj. Kennard). Wasser, Pflanzen, Vögel
fein und reizvoll durchgeführt.
25. Sodoma. Hl. Georg im Kampfe mit dem Drachen. Von 1518
(Sir Fred. Cook, Bart.).
26. 28. Filippino Lippi. Zwei wenig erfreuliche späte Cassonemalereicn
(Sir Henry B. Samuelson, Bart.).
27. Fra Bartolommeo. Große heilige Familie mit dem Johannes¬
knaben, in Landschaft. Von 1509, aus dem Besitz der Familie Salviati
(Countess Cowper). Zeigt wie dem Mönch, bei aller Schönheit der Kom¬
position und der Färbung, der Sinn für das Familienleben fehlte.
29. »Altdorfer«. Jesus, von Maria Abschied nehmend. Von großer
Farbigkeit und Plastik, deren letztere in der Reproduktion nicht genügend
hervortritt (Sir Jul. Wernher, Bart.). Sicher von Wolf Huber
wegen der vollständigen Übereinstimmung in Typen, Zeichnung und
Färbung mit dessen Kreuzesaufrichtung Nr. 1417 der Wiener Galerie,
worauf die Gruppe der ohnmächtigen Maria links mit der ent-
\
sprechenden Gruppe des vorliegenden Bildes zu vergleichen ist, und der
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
und Auktionen.
83
Kreuzigung in derselben Galerie. Altdorfers Malweise ist viel fetter, sein
Geschmack überdies ein weit feinerer. Etwas gewöhnliche Typen. Christus
in rotem Gewände, die neben Maria kniende Frau in weißem Gewände mit
blauen Schatten. Johannes in leuchtendem Rot. In dem Ruinenbau sind
stark durchgebildete Reliefs eingelassen; links und rechts davon Durch¬
blicke in eine tiefer liegende Landschaft; links rot gefärbte, sich türmende
Wolken.
30. Battista del Dosso. Szene aus dem Rasenden Roland (Earl
Brownlow). Von leuchtender Farbigkeit und dunkler Modellierung.
31. »Cranach d. Ä.« Venus, klein (Henry Oppenheimer). Cranachd. J.
32. Andrea del Sarto. Cassonemalerei (Countess Cowper).
33 » 35 - Pontormo. Zwei Seitenbilder eines Cassonc (Countess
Cowper).
34. Giampietrino. Magdalena, Halbfigur auf dunklem Grunde (Sir
George Donaldson).
36. Mail. Schule 16. Jahrh. Johannes der Täufer, nach Leonardo.
Klein (Earl of Crawford).
Rechts.
37. Gainsborough. Halbfigur eines jungen Mädchens in großem Hut,
im Freien. Um 1782 (Lord Michelsam).
37 A. Reynolds. Weibliche Halbfigur (Lord Hylton). Zeit der
Vollreife.
38. 40. Guardi. Große venezianische Phantasiereduten, Gegenstücke
(Alfred L. de Rothschild). Frühe Zeit, dekorativ, etwas bunt.
39. Poussin. Bacchanal. Durch Tizians Bild in Madrid beeinflußt.
(F. Cavendish Bentinck.) Von heller Färbung.
41. Romney. Weibliches Bildnis in großem Hut, im Freien sitzend.
Kniestück. Von 1786 (Lord Michelham). Für die kräftige Gestalt erscheint
der Rahmen zu eng abgeschnitten.
42. Watts. Mrs. Bentinck mit ihren drei Kindern. Lebensgroßes
Knicstück. Von 1857 (F. Cavendish Bentinck).
43. »Tizian«. Judith mit ihrer Magd, Halbfiguren auf dunklem
Grunde (Lord Walsingham). Etwas hart; nach dem gelben'Umschlagetuch
der Begleiterin vielleicht von Savoldo.
44. Tintoretto. Der alte Luigi Cornaro in rotem, pelzbesetztcm Ge¬
wände, Kniestück (Earl Spencer). Vorzüglich.
45. Reynolds. Zwei Damen, im Freien sitzend, Halbfiguren. Von
1767/68 (Marquess of Crewe). Schön.
46. Italienische Schule 16. Jahrh. Krieger, ganze Figur in Land¬
schaft. Scheint durch Tizians Bildnis des Davalos in Kassel beeinflußt.
6 *
Digitized by
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
8 4
Ausstellungen
48. Romney. Mrs. Bosanquct mit ihren fünf Kindern, in ganzer Figur
(Major L. A. Bosanquet). Aus der letzten Zeit.
51. Rembrandt. Bildnis seines »Vaters«. Bezeichnet und von 163!
datiert. Bode Nr. 544 (Mrs. Fleischmann).
52. Goya. Die Schauspielerin Zarate in schwarzem Kleide auf gelb
bezogenem Divan sitzend, Kniestück (Otto Beit). Ein Meisterwerk von
sprechendem Ausdruck.
53. Goya. Graf del Tajo, Brustbild. (Galerie von Dublin.) Von feiner
Charakteristik in dem abgestorbenen Blick.
55. Signorelli. Krönung der Maria. Lünette des 1507 für Arcevia
gemalten Bildes (Mrs. Goodden).
57. Gainsborough. David Middleton, Halbfigur. Früher als Benj.
Franklin bezeichnet (Marquess of Lansdowne).
58. »Rembrandt«. Der blutige Rock. Bode Nr. 555 (Earl of Derby).
Von einem Schüler aus der ersten Hälfte der fünfziger Jahre.
59. »Rembrandt«. Die Köchin, Halbfigur. Bode Nr. 465. Von
einem Schüler Rembrandts. Von außerordentlicher Farbigkeit, aber auch
großer Gewöhnlichkeit im Ausdruck .
60. Rembrandt, Katarina Hoogsact, Kniestück, sitzend. Bezeichnet
1657. Bode Nr. 454 (Lord Penrhyn). Eines der vollendetsten und lebens¬
vollsten Bildnisse Rembrandts (Photogravüre am Anfang des Katalogs).
Mittlerer Saal: Holländer; nordische Primitive.
Links.
61. Rubens. Waldlandschaft bei untergehender Sonne. Mittelgroß
(Earl of Northbrook).
62. Alb. Cuyp. Vieh nach dem Regen. Quadratisch. Mittelgroß
(Rt. Hon. Lewis Fry).
64. Hobbema. Landschaft, bezeichnet: M. Hobbema, darunter: fecit
1665 (Alfr. C. de Rothschild).
65. Frans Hals. Brustbild eines Kriegers. Mit dem Monogramm
und 1637 bezeichnet (Sir Edgar Vincent). Wahrscheinlich Studie für ein
Schützenbild, hell gemalt, zu groß für den Rahmen.
66. Turner. Die Windmühle bei der Schleuse. Groß (Sir Fred. Cook).
Hauptbild der früheren Zeit.
67. Kopie nach Rembrandts Mühle bei Mr. Widener. ln Original¬
größe (T. Humphry Ward). Dunkler und etwas weicher gemalt als das
Original. Von einem vorzüglichen englischen Maler aus dem Anfang des
19. Jahrh. Die Bastion mit der Mühle wächst hier besser mit dem andern
l'fcr zusammen. Der Himmel nicht so warm wie auf dem Original, wo die
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
und Auktionen.
85
Zeit gleich nach Sonnenuntergang dargestellt ist, sondern etwa eine Stunde
später; nur noch hoch am Himmel Helligkeit, der Horizont dagegen schon
dunkel.
68. Ph. de Köninck. Sehr große Landschaft. Bezeichnet 1654 (Mrs.
Bischoffsheim).
69. Jak. van Ruisdael. Landschaft. Bezeichnet 1652. Fast über¬
reich an Einzelheiten. Vorzüglich erhalten (Mrs. Fleischmann).
71. *Herk. Segers«. Flußlandschaft (Edward Speyer). Erinnert, ab¬
gesehen von dem blaugrünlichen Ton, stärker an die Art van Goyens, als
bei Segers zu erwarten wäre.
72. Benj. Cuyp. Fischerleute an der Meeresküste. Von leichter
Farbigkeit (H. M. Fitz Herbert, Bart.).
75. «Rembrandt«. Große Flußlandschaft (Lady Wantage, früher
bei Lord Overstone). Schon vom Katalog als ein unzweifelhafter und vor¬
züglicher Köninck bezeichnet.
77, 78. Terborch. Zwei Gegenstücke (Earl of Northbrook).
79. Cavazzola. Bildnis in Halbfigur vor blühendem Myrthenbaum.
Oval. Mit der Inschrift in Goldbuchstaben: Clarior hoc pulcro in corpore
virtus (Sir George Donaldson). Schon die Inschrift spricht dafür, daß es
sich um die Darstellung einer jungen Frau handelt, nicht — wie der Katalog
meint — um die eines jungen Mannes. Von außerordentlich kraftvoller
Wirkung und sorgfältigster Ausführung. Es ist sehr zu bedauern, daß dieses
hervorragende, rätselhafte Bild nicht mit abgebildet ist. Die ernste und
schöngebildete Gestalt in Schwarz hält freilich den Knauf eines Schwertes
und ihr hellbraunes Haar ist kurz geschnitten und fällt frei hinunter; dafür
aber trägt sie ein bis unter die Achseln reichendes Mieder, worunter das
feine Hemd hervorschaut und worin zwei weiße Blüten stecken. Zu den
träumerischen Augen unter hohen Brauen steht der sinnliche Mund mit
seinen vollen Lippen in einem eigentümlichen Gegensatz. Die tiefen Schatten
sind breit, weich modelliert.
80. Nie. Maes. Halbfigur eines Greises in Schwarz, auf dunklem
Grunde (Sir George Donaldson). Um die Mitte der fünfziger Jahre, somit
aus der Blütezeit des jungen Meisters.
Rechts.
81. *Holbcin«. Herzog von Suffolk (f 1545), Kniestück (Lord Wim¬
borne). Gutes Bildnis von einem englischen Schüler Holbeins.
82. »Giorgione«. Bildnis eines Kunstfreundes, nicht des Jac. San-
sovino; Halbfigur (Marquess of Lansdownc). In der Art Carianis oder
dergl.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
86
Ausstellungen
83. Kopie nach Leonardos Mona Lisa (Earl of Malmesbury). Schwach,
mit russigen Schatten, ganz schlecht im Ausdruck. Eine der drei in England
befindlichen Kopien des Bildes.
83 A. Reynolds. Mrs. Hardinge, Kniestück im Freien. Von 1778
(Marquis of Clanricardo).
84. »Rubens«. Brustbild eines jungen Geistlichen. Von 1622. Gutes
Bild der Antwerpener Schule (A. E. G. Pritchard).
85. Frang. Clouet. Diane de Poitiers (f 1566), in der Badewanne
sitzend, der nackte Oberkörper sichtbar. Auf der Badewanne bezeichnet:
Fr. Janetii opus (Sir Fred. Cook, Bart.). An die Art seines Landsmannes
P. Aertsen erinnernd, doch glatter.
86. »Luc. van Leiden«. Halbfigur eines jungen Mannes. Von 1528.
Das »L« falsch (Mrs. Alfred Morrison). Etwas an die Art des Bruyn
erinnernd.
87. »Mabuse«. Madonna in Nische, mittelgroß (Earl of Northbrook).
V on einem Brügger Meister.
88. »Memling«. Triptychon (Mrs. Alfred Morrison). Kopie oder Nach¬
ahmung.
89. J. van Cleve d. j. Männliches Brustbild (Earl Spencer). Kein
Selbstbildnis.
90. *R. van der Weyden«. Brustbild angeblich des Lionello d'Este,
in schwarzem Oberkleid über rotem Rock, mit einem kleinen Hammer in
der Rechten, auf weißem Grunde. Auf der Rückseite ein Sinnbild der Este
(Rt. Hon. Sir Edgar Speyer, Bart.). Trotz vortrefflichen Ausdrucks auf¬
fallend flach, ohne Leuchtkraft in der Farbe. Nicht von Weyden; ob Kopie
nach ihm?
91. Deutsch, 16. Jahrh. Halbfigur eines häßlichen alten Weibes
in braunem Kleide mit gelben Streifen, auf dunklem Grunde (Rt. Hon.
Lewis Fry). Gemahnt an die Zeit der Wiedertäufer in Münster. Von
Aldegreverr
92. »Dirk Bouts«. Der hl. Lukas, die Madonna malend. Nach dem
Katalog wohl mit Recht eher Aalbert Bouts (Lord Penrhyn).
93. Steen. Selbstbildnis, die Mandoline spielend (Earl of Northbrook).
Das bekannte Hauptbild.
94. Mich. Sweerts. Bildhaueratelicr. 1651 (?) (Sir George Donald-
son). Überstarke Modellierung.
95 - Steen. Der Bürgermeister von Delft mit seiner Tochter. 1655
(Lord Penrhyn).
99. Steen. Schlechte Gesellschaft (Mrs. Fleischmann).
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
und Auktionen.
»7
Schluß-Saal: Holländische Zeichnungen; englische Aquarelle;
Hugo van der Goes.
Im Vorraum.
100. Hogarth. Mrs. Fitz Herbert f (1753). Halbfigur ^Sir H. M.
Fitz Herbert, Bart.).
103. »Primaticcio«. Diana und Actäon. (Lord Middleton) Großes
figurenreiches Bild.
104. Alb. Cuvp. Die Belagerung von Breda. Mittelgroß (Lord
Penrhyn).
Im Saale links.
106. Welazquez«. Lachender Trommler. Kniestück (Earl of Ply¬
mouth).
109. Siberechts. Große Landschaft. 1690 (Sir Fred. Cook, Bart.).
Eine Auswahl ausländischer Zeichnungen aus dem Besitz von I. P.
Heseltine.
Rechts.
Eine Auswahl älterer englischer Landschaftsaquarelle, besonders von
Rooker, Gainsborough, Alex. Cozens, John R. Cozens, Girtin, Turner,
Rowlandson, Blake, Will. Pearson, Dav. Cox; besonders die Wharfedale
Drawings, die Turner 1818 für Walter Fawkes ausführte, von Mitgliedern
der Walpole Society dargeliehen.
Am Ende des Saales.
* 53 . •SS- Claude 1 /orrain. Zwei Landschaften (Marquess ot Bute).
154. Tizian. Diana und Aktäon. Groß (Earl Brownlow). Aus
späterer Zeit.
218—221. Van der Goes. Die vie Flügelbilder des für Sir Edward
Bonkil gemalten großen Madonnenaltars. (Aus dem Kgl. Schloß Holyrood
in Edinburgh.) Muß um das letzte Lebensjahr des Künstlers (t 1482)
gemalt sein, da der 1473 geborene Prinz mindestens als neunjährig
erscheint. Die drei fürstlichen Bildnisse offenbar nach Vorlagen, nicht nach
*
dem Leben gemalt. Der Hauptanziehungspunkt der Ausstellung.
W. v. Seidlitz.
Die Sammlung Weber. Mit dem Verkauf der Sammlung des Konsul
Weber in Hamburg hat Deutschland seine umfassendste private Gemälde¬
sammlungverloren. Der museumsartige Charakter, das Bestreben, einen Ge-
samtüberblick über die Geschichte der europäischen Malerei zu geben, ferner
• •
die Liberalität, mit der der Besitzer seine Sammlung der Öffentlichkeit zur Ver-
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
88
Ausstellungen
fügung stellte, und nicht zuletzt der sehr gediegene, wissenschaftliche Katalog
Woermanns haben der Galerie Weber einen Ruf verschafft, der mit der
Qualität des Ganzen nicht mehr in Einklang zu stehen scheint. Eis ist fraglos,
daß es an Meisterwerken nicht fehlte, daß mehr noch kunstgeschichtlich
interessante Bilder vorhanden waren, aber man kann auch nicht verkennen,
daß viel Ballast mitgeführt wurde, manches minderwertige und zweifel¬
hafte dazu dienen mußte, Lücken zu füllen, wo besseres nicht leicht er¬
reichbar war. Eis soll mit dieser Feststellung keineswegs die bewunderns¬
werte Sammeltätigkeit des Konsul Weber herabgesetzt werden, denn es
liegt in den Verhältnissen selbst begründet, daß ein Riesenwerk, wie er
es sich vorgenommen und innerhalb eines Menschenalters vollendet hatte,
heut nicht mehr in idealer Weise zu erfüllen war. So kann man es begreifen
und billigen, daß die Hamburger Museumsleitung es ablehnte, die Galerie
als ganze zu übernehmen, und es vorzog, in der öffentlichen Versteigerung
nach Möglichkeit die wertvollen Stücke der Sammlung zu erwerben und
sic der Stadt, der sie so lange gehörten, nun für immer zu sichern.
Das an Marktwert höchststehende Stück der Sammlung, das Marien¬
bild des Mantegna, wurde um einen so enormen Preis einem Pariser Händler
zugeschlagen, daß es wohl für Europa verloren sein wird und den Weg
nach Amerika gehen muß. Als Kuriosität mag übrigens erwähnt sein, daß mit
590000 Mark, die für das Bild gezahlt wurden, die höchste Summe erreicht
ist, die bisher überhaupt in einer öffentlichen Versteigerung erzielt werden
konnte. Die Preisbemessung war auch sonst recht hoch bis auf wenige
Ausnahmen wie das große, durchaus charakteristische und voll bezeichnetc
Madonnenbild des Marco Palmezzano (No. 31), das um die geringe Summe
von 8200 Mark zugeschlagen wurde. Die Provenienz aus der Sammlung
Weber bedeutete für viele geringere Werke eine Preissteigerung um das
mehrfache ihres Wertes. Trotzdem konnten sich die öffentlichen Samm¬
lungen Deutschlands in vielen Fällen mit gutem Erfolg an der Steigerung
beteiligen. So erwarb das Berliner Kaiser Friedrich-Museum in dem alt¬
französischen Flügelaltärchen (No. 3) das kunsthistorisch vielleicht inter¬
essanteste und wichtigste Stück der Sammlung. Eis gehört in die Gruppe
jener Werke von Künstlern des burgundischen Hofes, die Dvoräk in seinem
»Rätsel der Brüder van Eyck« behandelte, und läßt sich mit Sicherheit in
das letzte Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts datieren. Schwieriger ist die
Feststellung der Provonienz, jedoch hat die angebliche Herkunft aus Dijon
manches für sich.
Der historischen Anordnung des Kataloges folgend kommen wir auf
ein Flügelaltärchen aus der Richtung des sog. Meister Wilhelm (No. 4),
das in Cöln im ersten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts entstanden sein dürfte,
das aber durch weitgehende Übermalungen stark geschädigt und in manchen
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
und Auktionen.
89
Teilen ganz seines ursprünglichen Charakters beraubt ist. Die von Tschudi
als Kopie nach einem verschollenen Werke des Meisters von Flömalle be-
zeichnete Messe des heil. Gregor trägt die Jahreszahl 1510, die sich mit
dem Stil des Bildes, der auf die Mitte des 15. Jahrhunderts zurückweist,
schwer vereinigen läßt. Daß die Komposition erst im Anfang des 16. Jahr¬
hunderts von einem späten Nachfolger des Flömallers geschaffen sein sollte,
wie der Katalog annehmen möchte, scheint ausgeschlossen zu sein. Auf
ein zweites Exemplar der Komposition in Lissaboner Privatbesitz hat Fried -
länder hingewiesen. Die beiden Köpfe der Maria und des Johannes (No. 7
und 8), die Ausschnitte aus einer Kreuzigung Christi sind, gehören gewiß
nach Süddeutschland, jedoch ist ihre Bestimmung auf den Meister der
heiligen Familie, die von Thode ausgeht, nicht genügend sicher begründet.
Eher wird man die stilistische Zusammengehörigkeit der Halbfigur der
heil. Barbara (No. 9) mit den Werken des von Thode fälschlich so genannten
Berthold Landauer anerkennen können. Dieses Bild zeichnet sich übrigens
durch seinen guten Erhaltungszustand aus. Im Gegensatz zu den übrigen
altdeutschen Bildern hat es seinen echten Goldgrund bewahrt. Recht störend
ist der erneuerte Goldgrund bei der Kreuzigung, die zu dem großen Heister¬
bacher Altar gehörte (No. 12) und besonders bei der Himmelfahrt Christi
vom Meister des Marienlebens (No. 13), bei dem die Figuren wie silhouettiert,
und die Konturen natürlich nicht zum Vorteil verändert sind. Der Erzengel
Michael, der sehr wohl von dem Meister des Liesborner Altars herrühren
kann (No. 18), wurde von dem westfälischen Landesmuseum zu Münster
erworben.
Unter den Italienern des 15. Jahrhunderts war der von Knapp
zu Unrecht angezweifelte, späte Mantegna (No. 20) das Hauptstück.
Ziemlich gering waren die beiden florentinischen Madonnenbilder (No. 22
und 23), die Abbildung des letzteren im Katalog erweckt Erwartungen,
die das Original, das in die Stilrichtung des frühen Botticelli gehört,
nicht erfüllt. Erstaunlich war es, daß die große Lünette mit Gott¬
vater (No. 24), ein charakteristisches Werk der Peruginoschule, nur
1400 Mark erzielte. Kunsthistorisch außerordentlich bedeutend- ist das
Bild des Jacopo de’ Barbari mit dem Alten, der ein Mädchen liebkost (No. 26)
Mit Namen und Merkurstab voll bezeichnet und 1503 datiert, in der Formen-
gebung den bekannten Stichen unmittelbar verwandt, bedeutet dieses Bild
das wichtigste Dokument zur Kenntnis des interessanten Meisters, und
es ist zu hoffen, daß eine öffentliche Galerie sich das Werk, das in den Besitz
eines englischen Kunsthändlers überging, noch zu sichern vermag. Ein
sehr sympathisches Werk des Lorenzo di Credi besaß die Galerie Weber
in der Himmelfahrt des heil. Ludwig (No. 32b
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
go
Ausstellungen
Den Beginn der deutschen Gemälde des 16. Jahrhunderts macht die
Darstellung Christi im Tempel (No. 36), die 1500 datiert in des älteren
Holbein Frankfurter Werkstatt entstanden ist. Die Komposition gehört
sicher dem Meister, auch die Typen sind dem Vorrat seiner Skizzenbücher
entnommen, aber die Hand Holbeins selbst ist nirgends zu entdecken. Die
Zugehörigkeit der Tafel zu dem großen Frankfurter Dominikaneraltar, die
von vornherein wahrscheinlich wäre, hat sich bisher nicht erweisen lassen.
Es existiert übrigens auch eine Zeichnung der Komposition, die aus der
Sammlung Habich in Göttinger Privatbesitz überging.. Auch diese kann
aber nicht als Originalarbeit Holbeins angesprochen werden, sondern ist
eine Werkstattwiederholung, die nach dem Bilde angefertigt wurde. Jeden¬
falls ist es mit Freude zu begrüßen, daß das Gemälde in die Hamburger
Kunsthalle überging, und so der Kunstforschung, die sich mit der schwie¬
rigen Frage der Frankfurter Werkstatt des älteren Holbein noch öfter aus¬
einanderzusetzen haben wird, dauernd zugänglich bleibt. Steht dieses Ge¬
mälde dem Meister, dem es zugeschrieben wird, entschieden nahe, so ist
das Marienbild, das der Katalog mit Sicherheit Dürer selbst zuweist (No. 37),
eine Fälschung vom Anfang des 17. Jahrhunderts. Eher noch als dieses
Werk eines späten Nachahmers könnte das Sebastiansmartyrium (No. 38),
das das Berliner Kaiser Friedrich-Museum erwarb, mit Dürer in Verbindung
gebracht werden. Die Bestimmungen auf Altdorfer und Baidung sind mit
Sicherheit abzulehnen. Eis gehört in den Kreis jener aus der Schongauer-
schule hervorgehenden Werke, für die abwechselnd die Namen Dürer
Grünewald, Wechtlin in Vorschlag gebracht werden, und die jedenfalls mit
den Werken des jungen Dürer am meisten Berührungspunkte aufweisen.
An der 1535 datierten Grabtafel des Bürgermeisters Sebastian Welling von
Martin Schaffner (No. 39) ist vor allem der mit der alten Bemalung er¬
haltene Originalrahmen zu rühmen, ein Tabernakel in Renaissanceformen,
das formal und koloristisch mit dem Bilde selbst vorzüglich zusammen-
geht. Daß das kleine, hübsche Bildchen des Amor mit der Honigscheibe
von Cranach (No. 40) nur das Fragment eines Venusbildes ist, darf kaum
bezweifelt werden. Ebenfalls ein Fragment und nicht nur anscheinend
oben beschnitten, ist der Christus am ölberg von Burckmair (No. 45). Das
Berliner Kupferstichkabinett besitzt eine Federskizze der Ölbergszene, die
die ursprüngliche Komposition, die im Gemälde einige Veränderungen er¬
fahren haben würde, zu geben scheint. Recht schlecht erhalten sind die
beiden Portäts des Hans von Kulmbach (No. 46—47). Ein charakteristi¬
sches Werk des Hans Baidung Grien, die 1514 datierte Maria (No. 48), wurde
von dem Freiburger Museum erworben. Fälschlich als »Art Baidungs«
beschrieben ist das kleine Bild mit der Allegorie auf Leben und Tod (No. 49),
Es gehört in den Kreis der Nürnberger Kleinmeister. Das durch Restau-
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
und Auktionen.
91
ration recht entstellte Verkündigungsbild (No. 50) mit dem sicher falschen
Monogramm Altdorfers hat mit dem Meister nichts zu tun. Stilistisch er¬
innert es am ehesten an Jörg Breu. Ebenso trägt das nicht sehr inter¬
essante Frauenporträt (No. 51) zu Unrecht das Zeichen des Regensburger
Meisters. Unter den Bildern von Schäufelein war die späte, 1538 datierte
Anbetung des Lammes (No. 56) entschieden das interessanteste. Um so
mehr mußte es verwundern, daß dieses Bild um den sehr geringen Preis
von 1700 Mark zugeschlagen wurde. Desto höher bewertet waren die großen,
repräsentativen Porträts des 16. Jahrhunderts wie das Bildnis eines Herrn
Riedler von Hans Müelich (No. 58), ein stattliches und sehr charakteristi¬
sches Werk des Meisters (1659 datiert), das die Hamburger Kunsthalle
erwarb. Das männliche Bildnis No. 57 schreibt der Katalog dem Barthel
Beham zu, obgleich nicht bemerkt ist, daß es sich um die gleiche Aufnahme
handelt wie in dem gestochenen Porträt des Kanzlers Leonhard von Eck
(Pauli 94 I. Zustand). Das Verhältnis von Bild und Stich ist nicht leicht
zu bestimmen. Manches spricht dafür, daß das Bild das frühere ist, zunächst
der äußerliche Umstand, daß der Stich die Aufnahme im Gegensinne gibt,
dann daß das gemalte Porträt eine Halbfigur mit Händen gibt, während
der Stich nur ein Brustbild ist, und die größere Aufnahme des Bildes mit
den verschränkten Armen durchaus überzeugend wirkt. Auch daß der
Dargestellte auf dem gemalten Bildnis wesentlich jünger erscheint, könnte
angeführt werden. Dafür daß das Bild der Sammlung Weber das eigent¬
liche Original des Behamschen Eckportäts ist, brauchen alle diese Erwä¬
gungen natürlich noch nicht zu zeugen. Eis könnte Bild und Stich eine
gemeinsame Aufnahme zugrunde liegen. Auch könnte das Original des
übrigens mehrfach vorkommenden Porträts verschollen und auch das
Webersche Exemplar nur eine Replik sein, wofür die nicht eben hohe Qua¬
lität des schlecht erhaltenen und darum schwer zu beurteilenden Porträts
spricht.
Unter den Niederdeutschen des 16. Jahrhunderts stand der große
Passionsaltar des Meisters von St. Severin (No. 62) voran, der bis auf
den neuen Goldgrund nicht schlecht erhalten ist und in dem Bostoner
Museum, an das er verkauft wurde, den Meister gut vertreten wird. Ein
ganz ungewöhnlich gutes und liebenswürdiges Werk des älteren Bartel
Bruyn, die heil. Familie mit dem heil. Gereon (No. 64), ein Werk der mitt¬
leren Zeit des Meisters von großem Reiz der Farbe und ausgezeichnetem
Erhaltungszustand, war eine der besten Erwerbungen des Herrn von Nemes.
Der hohe Preis von 45 OOO Mark war ein Anzeichen für die allgemeine Schät¬
zung, die dem kleinen Bilde zuteil wurde. Ein Spätwerk, das diese nicht
ganz so erfreuliche Zeit des Meisters gut vertritt, mit der Darstellung der
drei Stände (No. 66) erwarb das Bonner Provinzialmuseum. Dasselbe Museum
Digitized by
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
92
Ausstellungen
kaufte das kunsthistorisch sehr wichtige Klappaltärchen mit dem Bildnis
des Peter Ulmer (No. 73), das Bartholomeus Bruyn bezeichnet und 1560
datiert ist. Da der ältere Bartel Bruyn zwischen 1553 und 1557 gestorben
ist, ergab sich aus dieser Datierung die Zuweisung an den jüngeren Meister
des gleichen Namens, den Sohn des älteren, und die Bestimmung seines
Werkes könnte von hier ihren Ausgang nehmen. Der Hamburger Kunst •
halle gelang es, sich das kleine weibliche Bildnis des jüngeren Ludger tom
Ring (No. 72), eines der reizvollsten Bilder der Webersammlung, um den
allerdings recht hohen Preis von 47 500 Mark zu sichern.
Unter den Niederländern des 16. Jahrhunderts waren die beiden dem
Mabuse zugeschriebenen Madonnenbilder (No. 78—79) ziemlich unbedeu¬
tende Repliken häufiger vorkommender Kompositionen. Qualitativ recht
hochstehend ist dagegen das jüngste Gericht (No. 80), das mit Sicherheit
dem Meister des jüngsten Gerichts im Brügger Museum, also Jan Provost,
zugeschrieben werden kann. Auch dieses ausgezeichnete Werk zählt zu den
Erwerbungen der Hamburger Kunsthalle. Interessant durch die nur noch
einmal in dieser Form vorkommende Bezeichnung Jakob Claiss, der identisch
ist mit dem gewöhnlich sogenannten Jakob von Utrecht, ist das weibliche
Bildnis No. 83. Ein Spätwerk vom Meister des Todes Mariae, die Kreuzi¬
gung mit Maria und Johannes (No. 84), erwarb das Bostoner Museum.
Das kleine Bild des Christus bei Martha und Maria (No. 86) dürfte Barend
van Orley mit Recht zugeschrieben werden. Recht gut und bezeichnend
für den Künstler ist die Lautenspielerin des Meisters der weiblichen Halb-
figuren (No. 96). Es ist nicht recht einzusehen, warum sie der Katalog
einem Nachfolger des Meisters zuschreiben will. Wickhoffs Versuch der
Identifizierung mit Jean Clouet ist wohl für erledigt anzusehen. Das männ¬
liche Bildnis Nr. 99 geht mit dem bekannten Porträt in München, das dem
Joos van Cleeve zugeschrieben wird, gut zusammen. Das schöne Bild ge¬
langte um einen hohen Preis in eine Hamburger Privatsammlung, während
die Hamburger Kunsthalle das ebenfalls sehr stattliche Frauenporträt des
Cornelis Ketel fNo. 102) erwerben konnte. Der bekannte Antwerpener
Schnitzaltar (No. 106), den Weber aus der Sammlung des Fürsten Peter
Soltykoff in Paris erwarb, ist durch einen schokoladenfarbenen Anstrich
arg entstellt.
Unter den Italienern des 16. Jahrhunderts begegnet der Name Tizians
in Verbindung mit einer Berglandschaft (No. m), die angeblich eine Sig¬
natur trägt. Sicherlich hat Tizian selbst mit dem Bilde, das in den Kreis
des Schiavonc gehören dürfte, nichts zu tun. In recht schlechtem Zustande
befindet sich der heil. Hieronymus (No. 113), der von Lorenzo Lotto her-
rühren mag. Die Verkündigung des Palma vecchio (No. 115) war auf alle
Fälle mit der Summe von 100000 Mark unverhältnismäßig hoch bewertet.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
und Auktionen.
93
An das Metropolitan-Museum wurde die große Beweinung Christi (No. 128),
ein charakteristisches Spätwerk des Moretto, verkauft. E*n ziemlich flaues
Bild und des Meisters nicht würdig ist das männliche Porträt (No. 133),
das dem Tintoretto zugeschrieben wird. Der sogenannte Greco (No. 139 )
ist sicher italienisch und gehört in den Kreis der Bassano.
War das Interesse für die Seicentisten im allgeminen noch kein bc-
sonders großes, so setzte es um so mehr in Erstaunen, daß ein nicht eben
bedeutendes Kreuzigungsbild des Sassoferrato (No. 148) den hohen Preis
von 30 OCX) Mark erzielte. Dagegen konnte v. Nemes die recht schöne Tötung
Abels von Salvatore Rosa (No. 15Q) um nur 4000 Mark erwerben. Aus¬
gezeichnet war Tiepolo in der Sammlung vertreten mit den zwei Bildern
der Kreuztragung und Kreuzigung (No. 159—160), die durch Abnahme
des oben angesetzten Streifens noch an Wirkungskraft gewinnen dürften,
und ebenso mit dem schönen, lebensgroßen Studienköpf eines Paschas
(No. 162), der sicherlich als originale Arbeit des Meisters anzusprechen
ist. Gegen diese Werke traten die beiden Bilder des Guardi (No. 165—166)
weit zurück.
Das interessante, große Rundbild der Anbetung der Hirten von Ribera
(No. 174) ging in die Sammlung Nemes über. Das Bild ist voll signiert,
und die Zuschreibung dürfte keinem Zweifel unterliegen. Den Stil des Ve-
lasquez vertritt recht gut das sogenannte Porträt der Infantin Maria Teresa
tNo. 176), eine Teilkopie des bekannten Bildes im Prado, das Justi als Bildnis
der Infantin Margarete bestimmte. Weitere Wiederholungen befinden
sich in Glasgow und Wien. Alle diese Repliken sind gewiß im Atelier des
Velasquez entstanden, aber die Qualität des Weberschen Bildes, in dem
übrigens wie in dem Original des Prado der Kopf der künstlerisch geringste
Teil ist, schließt es aus, an die Hand des Meisters selbst zu denken. Von den
beiden sogenannten Murillo schreibt Loga die Maria als Himmelskönigin
(No. 179) dem Sebastian Gomez Mulatto, dem Sklaven des Meisters, zu, die
Rückkehr der heil. Familie (No. 180) dem Esteban Marques. Die dem
Mateo Cerezo zugeschriebene heil. Cäcilie (No. 182) ist eine italienische
Arbeit im Stile des Carlo Dolci. Von den drei Goya-Bildern setzt das erste
der Bestimmung große Schwierigkeit entgegen. Die kleine Maja mit den
roten Schuhen (No. 184) würde man ohne die Signatur eher dem Pietro
Longhi als dem Goya zuschreiben. Der Verdacht der Fälschung ist nicht
ganz von der Hand zu weisen. Das Bildnis des Don Tornas Perez Estala
(No. 185) ist ein sicheres und prachtvolles Meisterwerk Goyas, zu dessen
Erwerb man die Hamburger Kunsthalle beglückwünschen kann. Die Re¬
volutionsszene (No. 186) gehört zu der Gruppe von Bildern in der Art des
Goya, die man sich gewöhnt hat, dem Lucas zuzuschreiben, ohne daß man
eigentlich sichere Gründe für die Attribution hätte, die sogar auf tatsäch-
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
94
Ausstellungen
liehe Schwierigkeiten stößt. Immerhin ist der Farbenauftrag der Art des
Goya fremd, in den grauen Tönen des Hintergrundes ist eine nicht zu über¬
sehende Härte, und die Erfindung hat nicht die Verve und Schlagkraft
der guten Kompositionen Goyas selbst. So wird man zum mindesten das Bild,
zusammen allerdings mit einer ganzen Gruppe anderer, mit einem Frage¬
zeichen zu versehen haben.
Von Rubens besaß die Sammlung ein sehr schönes Porträt der Helene
Fourment (No. 188), eine eigenhändige Arbeit, von deren Reizen die Unger-
sehe Radierung im Katalog, die zumal den besonders schönen Hintergrund
willkürlich verändert, keine Vorstellung gibt. Alle Vorzüge der eigenhän¬
digen Ausführung besitzt ebenso die Farbenskizze zu dem aus dem Frei-
singer Dom stammenden Altarbilde der Münchener Pinakothek (No. 192),
dessen Darstellung neuerdings durch Ludwig Burchard als die Himmels¬
königin Maria gedeutet wurde (Kunstchronik, N. F. XXIII, 330). Das
schöne Bild geht in die Sammlung Nemes über. Im Gegensatz zu Rubens
war Van Dyck mit dem Bildnis der Genevi&ve d'Urfö, (No. 202) das aus
Bienheim stammt, nicht eben glänzend vertreten. Von den Teniers war die
unfreiwillige Rückkehr aus dem Wirtshause (No. 208) das beste Bild, cha¬
rakteristisch für die Frühzeit der trinkende Bauer (No. 210), während der
Bauerntanz (No. 212) recht verdächtig schien.
Die Qualität des männlichen Bildnisses von Franz Hals (No. 223)
rechtfertigt den hohen Preis von 195 000 Mark, um den es v. Nemes erwarb,
in keiner Weise. Das kleine Porträt (No. 224), das angelblich Descartes
darstellt, kommt für den Meister nicht in Betracht. Ein reizendes und kolo¬
ristisch mit seinem frischen Gelb und Rot besonders anziehendes Bild waren
die Zwillingskinder (No. 229), die dem Jakob Gerritsz Cuyp zugeschrieben
sind. Das Bild des Pieter Jansz Saenredam (No. 234) ist vor allem archi¬
tekturgeschichtlich wichtig als Innenansicht der zu Anfang des 19. Jahr¬
hunderts abgebrochenen Marienkirche in Utrecht. Die hübsche Flußland¬
schaft des Salomon Ruijsdael (No. 239) ist sicherlich früh und die Jahres¬
zahl 1632 zu lesen, sie steht den Werken des Jan von Goyen noch sehr
nahe, der mit dem ländlichen Wirtshaus (No. 232) besonders charakte¬
ristisch vertreten war. Ein qualitativ recht hochstehendes und für den
Meister sehr bezeichnendes Bild war auch die Mondscheinlandschaft des
Acrt van der Neer (No. 243). Rembrandt wäre besser vertreten gewesen,
wenn Weber nicht beim Erwerb der Ehebrecherin (No. 250) seinerzeit noch
den wundervollen Pilger in Tausch gegeben hätte, den dann Moritz Kann
besaß. Die Ehebrecherin, die aus Bienheim stammt, und die bei ihrem
Bekanntwerden allgemein sehr günstig beurteilt wurde, kann unter keinen
Umständen mit Rembrandt selbst in Verbindung gebracht werden. Sic
hält dem Vergleich mit den berühmten Spätwerken des Meisters, denen
Digitized by
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
und Auktionen.
95
sie äußerlich nahe steht, in keiner Weise stand. Eine sichere Zuschreibung
ist bisher allerdings nicht gelungen, aber daß es das Werk eines der späten
Schüler Rembrandts ist, kann keinem Zweifel unterliegen. Sicher echt da¬
gegen und eines der besten Werke der Frühzeit, etwa 1628 zu datieren,
ist die Darstellung im Tempel (No. 248), eine sehr durchdachte und mit
großer Sorgfalt vollendete Komposition, dem Paulusbilde von 1627 in Stutt¬
gart nahestehend. Die Hamburger Kunsthalle ist jetzt Besitzerin des aus¬
gezeichneten Werkes. Ebenfalls echt und mit der auf die Leydener Zeit
deutenden Signatur versehen ist das nach 1630 entstandene Jünglings¬
porträt (No. 249). Dagegen hat der andere, mit der ganz unmöglichen
Datierung 1635 versehene Jünglingskopf (No. 251), der mit Spätwerken
Rembrandts verwandt ist und sehr wohl ein Werk des Bernaert Fabritius
sein kann, mit dem Meister selbst nichts zu tun. Unter den Werken des
Ostade stand qualitativ obenan das Spätbild eines Bauern im Fenster
(No. 259), das der Berliner Sammler v. Pannwitz erwarb. Ein recht gutes und
charakteristisches Werk der Frühzeit des Meisters, ein Einsiedler in der Hütte
(No. 257), ging in den Besitz der Wiener Hofmuseen über. Eine falsche
Signatur B. van der Heist trägt die Dordrechter Bürgerwehrversammlung
(No. 262), ein geringes Bild, das schon kostümlich auf eine spätere Zeit
weist und mit dem Meister nichts zu tun hat. Echt, aber recht dürftig war
das kleine Damenbildnis des Terborch (No. 267). Die voll bezeichnete und
1653 datierte Landschaft des Cornelis Gerritsz Decker (No. 275) ist für
den Meister ausgezeichnet und kann als eines seiner besten Werke gelten.
Wichtig zur Charakterisierung des Künstlers ist das lebensgroße Pferde¬
bild, eines der spätesten Werke des Paul Potter (No. 290), peinlich und
trocken und das große Format nicht eben erfüllend. Trotzdem wird man
es verstehen, daß die Hamburger Kunsthalle sich das Werk sicherte, das als
ungewöhnliche Arbeit eines hervorragenden Meisters seine kunsthistorische
Bedeutung besitzt. Ein gutes, wenn auch kompositionell nicht eben an¬
sprechendes Werk des Jan Steen, die Vaterfreuden (No. 291), gehört zu
der kleinen Gruppe der datierten Bilder des Meisters (1668). Pieter de Hoogh
war nur durch eines der wenig sympathischen Spätbilder (No. 303) vertreten.
Durch die seltene Bezeichnung J. Natus interessant war die Bauernstube
(No. 318), ein im übrigen unbedeutendes Bild. Der Name Hobbema begeg¬
nete zweimal. Die Wassermühle (No. 321) ist eine sichere Fälschung des
18. Jahrhunderts. Das Bauernhaus (No. 322) mag echt sein, gehört jedoch
zu den schwächeren Leistungen des Meisters.
L-nter der kleinen Gruppe der späten deutschen Bilder verdient nur
das Herrenporträt des Müncheners Edlinger (No. 353) hervorgehoben zu
werden.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
96
Ausstellungen und Auktionen.
Die kurze Übersicht mag eine Anschauung von der übrigens ja wohl-
bekannten Sammlung geben, deren Gesamtbild allerdings durch eine große
Zahl hier nicht erwähnter Gemälde nicht eben günstig beeinflußt wurde.
Eis ist heut zu spät, eine museumsartig vollständige Sammlung aus dem
Nichts zu schaffen, selbst wenn außerordentliche Mittel zur Verfügung gestellt
werden, was im Falle Webers nicht zutraf. Um so mehr aber ist zu be¬
wundern, was geleistet war, und trotz aller kritischen Einschränkungen, die
hier gemacht werden mußten, sah man nicht ohne einiges Bedauern den
Aufbau dieser Sammlung zerstört, deren einzelne Teile, ‘wie auch Fried-
länder in seinem Vorwort zu dem Versteigerungskatalog andeutet,
nicht in allen Fällen geeignet sein werden, den Ruf des Ganzen zu recht-
fertigen, für die um so mehr aber die schöne Auswahl zeugen wird, die
Lichtwarck für das Hamburger Museum getroffen hat.
Curl Glaser.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die Engel am französischen Grabmal des Mittelalters
und ihre Beziehungen zur Liturgie.
Von K. Escher.
Emile Male hat in seinem für das Verständnis mittelalterlicher Kunst
unentbehrlichen Buch: L’art religieux de la fin du moyen-äge en France,
Paris 1908, der Grabmalkunst ein ausführliches Kapitel gewidmet, dabei
auch die Bedeutung der Engel und die Parallelen mit der Liturgie gestreift.
Folgende Zeilen verfolgen den Zweck einer erweiterten Darstellung dieses
Themas. In keinem Lande bietet die Grabmalkunst so viele Aufschlüsse,
so mannigfaltigen Stoff wie in Frankreich. Die erhaltenen Denkmäler —
es sind wenige im Verhältnis zu dem, was einst vorhanden war — reichen
bis ins XII. Jahrhundert zurück. Der Bilderkreis erweiterte sich im XIII.,
der Blüteperiode französischer Kunst, und erhielt sich bis in den Anfang des
XVI. Jahrhunderts hinein. Was sich durch Bilder- und rcligionsfeindliche
Zeiten bis auf die Gegenwart gerettet hat, würde aber zu einer vollständigen
Darstellung nicht genügen. Gaigniferes umfangreiche Sammlung von Zeich¬
nungen nach Grabmälcrn, z. T. in Oxford, z. T. auf der Pariser National-
bibliothek — ebenda auch die Kopien nach den Oxforder Zeichnungen —
ist daher von ganz unschätzbarem Wert. Ferner sind die Sammlungen von
Millin *), Montfaucon l ), Guilhermy 3 ), Metaycr-Masselin 4) ( Barbat 5 ), Wil¬
lemin 6 ) und die gelegentlichen Abbildungen von Grabmälcrn in den großen
Werken von Taylor zu nennen.
Die Engel finden sich in den verschiedensten Funktionen am einfachen
Grabstein mit eingeritzter Zeichnung, an der Metallplatte, am Sarkophag
oder Tumben — wie am Tisch — und Nischengrabmal,; sie sind der Figur
des Laien, des Klerikers wie des
Heiligen beigegeben.
Sie stützen sein
*) Millin, Antiquites nationales ou Recueil de Monuments. Paris 1791.
l ) Bernard de Montfaucon, Les Monuments de la monarchic frangaisc, qui com-
prennent l’histoirc de la France. Paris 1729.
3 ) M. F. de Guilhermy, Inscriptions de la France, du V e au XVIII C siede.
4 ) M. de M 4 taycr-Massclin, Collection de Dalles tumulaircs de la Normandie. Paris,
Caen MDCCCLXI.
5 ) Barbat, Pierres tombales du moyen-dge.
6 ) Willemin, Monuments frangais inedits pour servir d Thistoire des arts.
Repertorium für Kunstwis* enscl a*t, XXXV. 7
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
98
K. Escher,
Kissen: Grabstein des Bischofs Juba im Kreuzgang von Eine (XH.Jahr-
hundert) 7 ), am häufigsten aber schwingen sie Weihrauchfässer und halten
dabei das Schiffchen mit dem Weihrauch. So knien sie entweder auf der
Oberfläche des Sarkophags neben der Liegefigur des Toten, oder, wenn es
sich um einen Grabstein mit eingeritzter Zeichnung oder mit Reiefskulpturen
handelt, wo der Verstorbene als lebend dargestellt unter einem Bogen
mit Giebel steht, füllen sie, schwebend die Dreiecke neben den Giebelschrägen
aus. Die Abteikirche von Jumi&ges besaß einst eine ganze Serie von Grab*
steinen, alle ziemlich gleichzeitig (XIII. Jahrhundert) für längst verstorbene
Äbte gefertigt, alle mit der nämlichen Komposition 7 8 9 ); in dieselbe Gruppe
gehört mit einer Legion anderer auch der Grabstein des Architekten Hucs
Libergier (f 1261) in der Kathedrale von Reims 9 ), der ein Kirchenmodell
in der Hand trägt, und Winkelmaß und Zirkel bei sich hat. In stärkerem
oder schwächerem Relief finden sich die weihrauchspendenden Engel auf
Metallgräbern: Bronzeplatte des Bischofs Evrard de Fouilloy in der Kathe¬
drale von Amiens zusammen mit kerzentragenden Klerikern, ähnlich wie
einst, wie die Spuren auf der vergoldeten emaillierten Bronzeplatte in
St. Denis zeigen, neben der Figur des Prinzen Jean, des Sohnes des heil.
Ludwig (f 1247) I0 ), zusammen mit 4 Klerikern. 21 Engelchen zeigte einst
die Kupfergrabplatte des Philippe deDreuxet de Braisne, Bischofs von Beau*
vais (f 1217), neben dem Hochaltar der Kathedrale von Beauvais If ). Zwei
Engelchen knien zu Häupten des Prinzen Philipp, Bruders des heil. Ludwig,
stützen sein Kissen und halten jeder sein Weihrauchfaß (Abteikirche von
St. Denis, Abguß im Museum des Trocadero). Die Kirche Notre-Damc
in Pontoise bewahrt das Tumbengrab des heil. Gautier; zu Häupten wie
zu Füßen sind je zwei Halbfiguren von Engelchen mit Weihrauchfässern
7 ) Abb. Vitry und Bri^re, Documents de sculpture fran^aise du moyen-äge. PI.
XXVIII fig. 2. Nach A. Marignan, Histoire de la sculpture en Languedoc du XII*—XIII e
siede, Paris 1902, pag. 132, ist der Grabstein gegen 1200 entstanden. EU scheint, daß die
ikonographisch viel weniger inhaltreiche aber doch von Frankreich abhängige englische
Grabmalkunst, wo sie überhaupt Engel verwendete, das Zurechtlegen des Kissens und
Halten des Wappens (XV.Jahrhundert) bevorzugte. Vgl. Sepulcral Monuments in Great
Britain. London 1886.
8 ) Gaignieres, Collections, rfs. Pe. 1 d. fol. 37—46. Hernri Bouchot, Inventaire
Nr. 2305—2314. Ähnlich: Grabstein des Grafen Guy. I. von L^vis (f 1233) in Notrc-Dame
de la Roche: zu Häupten des Toten zwei Engel, der eine mit dem Weihrauchfaß, der an¬
dere mit dem Schiffchen. Revue de l’art ancien et moderne, XXI. pag. 311.
9 ) Ch. Cerf, Histoire et description de Notre-Dame de Reims. Tome II. pag. 385.
Glicht F. Rothier Nr. 318.
xo ) Willemin, Tome I. 91.
") Stanislas Prioux, Monographie de l’anciennc abbayc royale Saint*Yvecf-de-
Braisnc avec la description des tombes royales et seigneuriales renfermees dans cetteöglisc.
Paris 1859. Tafel in Farbendruck.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die Engel am französischen Grabmal des Mittelalters usw.
99
plaziert; sie kommen nicht herangeschwebt und knien nicht neben dem
Heiligen, sondern sie tauchen aus einem Wolkenkranz hervor 1 *). Die Spende
des Weihrauchs gehört zum Totenritus; Personen, deren Rang im Leben
diese Auszeichnung und Ehre nicht beanspruchen durfte, werden ihrer
teilhaft, sobald die Seele den Körper verlassen hat; er ist wertlose Hülle,
aber bei der leiblichen Auferstehung wird er, gereinigt und geläutert, ihr
wieder als Wohnung dienen; nicht dem irdischen sondern dem auf erstandenen,
neu beseelten Leib, dem der ewigen Seligkeit Würdigen gilt der, demnach
im Voraus von den Engeln gespendete Weihrauch x 3 ). So versehen
die Engel am Grabmal genau denselben Dienst wie die Kleriker
beim Leichenbegängnis; zum Beweis dafür sei wiederholt, daß sich
außer den weihrauchspendenden Engeln sehr oft Kleriker, mit den
Totenritualien beschäftigt, am Grabmal vorfinden, sei es als kleine
Figürchen in den Tabernakeln der gotischen Umrahmung, sei es auch
sogar als gleichbedeutend mit den Engeln selbst, wie an den Sarko¬
phagwänden des schon genannten Grabmals Philipps, Bruders Lud¬
wigs IX., wo unter den zierlichen Arkaden abwechselnd Mönche und Engel
stehen, erstere mit Büchern, letztere mit Weihrauchfaß und Fackeln. Am
Sarkophag für Louis de France, Sohn des heil. Ludwig, stellte der Künstler
das Leichenbegängnis dar, an der einen Schmalseite stehen 2 Engel mit
Leuchtern und zwischen ihnen zwei Klageweiber (Abteikirche von St. Denis).
Am Grabmal des heil. Stephanus in Aubazine (Ende XIII. Jahrhundert)
fungieren sogar die Engel selbst und ausschließlich als Ministranten bei den
Funeralien; als kleine Halbfiguren in den Zwickeln der Dachschrägen halten
sie Buch, Kreuz, Weihrauchfaß, Kerze, Kessel, WeihwedelM). Auch auf ein¬
fachen Grabsteinen finden sich die Engel nicht nur mit Weihrauchfaß und
Schiffchen, sondern auch mit Leuchtern; die französische Archäologie unter¬
scheidet zwischen anges thuriteraires und anges c6rof6raires. Grabstein
eines Abtes von Vallemont: neben dem Toten zwei Engel mit Leuchtern,
,l ) Clichd F. Martin-Sabon. Nr. 725, 726.
* 3 ) Vgl. l’abbd Escarguel, Octave des inorts. Considdrations sur les edrdmonies des
Fundrailles, Carcassonne 1904 p. 35. Anders Guillaume Durand im Rationale divinorum
officiorum, Paris, Caen 1518. Liber septiraus, de officio mortuorum, fol. CCLXXXVI.
»Ipsa autem defunctorum corpora thurificantur et aqua benedicta asperguntur non ut
eorum peccata tollantur, que tune per talia tolli nequeunt sed ut omnis immundorum
spirituum presentia arceatur et fiunt etiam in signum societatis et communionis sacra-
mentorum quam nobiscum dum vixerunt habuerunt. fol. CCLXXVII. Thus vero ibi ponitur
propter fetorem corporis removendum seu ut defunctus creatori suo acceptabiles bonorum
operum odorem intelligatur obtulisse seu ad ostendendum quod defunctis prosit auxilium
orationis. Über die symbolische Bedeutung des Weihrauchs überhaupt siehe ib. Liber
quartus, de missa et singulis quae in missa aguntur fol. LXIV ff.
*«) Abguß im Museum des Trocadero.
7 *
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
100
K. Esch er,
neben dem Giebel die zwei mit dem Weihrauchfaß * 5 ). — Zuweilen halten
die Engel auch das Medaillon mit dem Agnus Dei, als dem Symbol des christ¬
lichen Glaubens: Grabmal der Isabelle de Belthencourt in der Kirche von
Ham (XIV. Jahrhundert) l6 ). Die Engel bitten für die Seele des Verstor¬
benen, damit auch die heilige Jungfrau für sie bitte und der Weltenrichter
ihr gnädig sei. So zeigte der Grabstein des Jacques de Meaux, Abt von
Vauluisant (f 1325) in der Abteikirche von Vauluisant, zwei Engel mit
offenen Schriftrollen und der Inschrift: Virgo mater, ora pro misero isto * 7 ).
Wie erklärt es sich, daß die Engel so häufig — fast immer — die Weih¬
rauchspende vollziehen, an der Bestattung teilnehmen, den Toten (bzw.
Auferstandenen) umgeben? Diese Bedeutung der Engel hängt mit dem
. ganzen mittelalterlichen Glaubensleben aufs engste zusammen. Die Engel
sind nicht allein Diener des Schöpfers, Vollzieher seiner Befehle, sondern
die besondern Schutzgeister jedes einzelnen Menschen 18 ); eine besondere
Messe wird für sie zelebriert x 9 ). »Deus qui miro ordine angelorum ministeria
> 5 ) Gaigniercs, Collections de Tombeaux ä Oxford. Kopien im Cabinet des fistampes
in Paris rfserve Pe 1 d. fol. 138. Inventaire Nr. 2404.
,6 ) Voyages pittoresques et romantiques dans Tancienne France par Taylor, Nodier,
et de Cailleux. Vol. II. Das AguusDei findet sich, nach £mileMäle, op. cit. p. 441 auf
Grabsteinen in der Diözese Liege, und dementsprechend in der Totcnliturgic dieser Ge¬
gend sowie in derjenigen der Diözese Rouen.
x 7 ) Gaignieres, op cit. reserve Pe 1 m. fol. 81. Inventaire Nr. 3486. Zwei Engel mit
offenen Schriftrollcn am Grabmal des Bischofs Hugues de ChAtillon in St. Bcrtrand de
Comminges. (D6p. Haute Garonne). Phot. Mon. hist. 2612, 2613. Ebenso am Grabmal
der hl. Martha in Tarascon. Phot. Mon. hist. 11. in.
,8 ) Ein Kompendium der mittelalterlichen Engellehre schrieb Francois Ximincz
in seinem »Livre des saints anges.« Msc. vom Ende des XV. Jahrhunderts auf der Arsenal-
bibliotlick zu Paris. Katalog Nr. 5213.
* 9 ) Vgl. Guillaumc Durand, Rationale divinorum officiorum, Liber septimus, de
revelatione sancti Michaelis, fol. CCLXXVI V \ Ecclesia facit festum de angelis duplici
rationc. Prima est quia nobis ministrant. Omnes enim sunt administratorii Spiritus id est in
ministcrium missi propter eos qui hereditatem capiunt salutis sicut habetur in epistula
ad Hebreos I. Secunda ratio est quod pugnant pro nobis contra angelos malos nec permit-
tunt nos tentari supra id quod possumus.— Hoc autem ideo dicit ecclesia quia parati sunt
angeli deferre deo orationcs nostras. Semper enim nobis astant et aspiciunt nos et auscul-
tant. Linde in canticis: Qui habitas in hortis amici, idest angeli auscultant te. Bernardus:
lstos scilicet bonos compassio semper illos scilicet malos passio scilicet invidiae cogit ut in nos
aspiciant. Sequitur evangelium: Acccsscrunt et cetera. Matthai XVIII in quo precipitur
vitari scandalum parvulorum: quia ibi fit mentio de angelis. Amcndico vobis: quia angelis
eorum in celis semper vident facicm patris mei qui in cclis est. Quo vero praeparati sunt
deferre orationes nostras in offertorio ostenditur: Stctit angelus iuxta aram templi Apoc.
VIII. Et data sunt ei incensa multa id est orationes accense igne charitatis: et ascendit fumus
aromatum, id est oratio in conspectu dei de manu angeli. — Aus verschiedenen Gründen
wird im Meßkanon der Engel gedacht: vgl. ibidem, Liber quartus, de missa et singulis que
in missa agimtur. fol. LVII: »Die quoque crcdcndum est et sacris authoritatibus compro-
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die Engel am französischen Grabmal des Mittelalters usw.
IOI
hominumque dispensas: concede propicius ut quibus tibi ministrantibus
in coelo semper assistitur: ab his in terra vita nostra muniatur.« Dies Gebet
findet sich in den Missalien sowohl als in den »Heures«. »Hostias tibi domine
laudis offerimus suppliciter deprecantes ut easdem angelico pro nobis inter-
vcniente suffragio et placatus accipias et ad salutem nostram provenire
concedas.« M ) Das Missale von St. Geneviive (XV. Jahrhundert)“) enthält
folgende Benedictiones pro angelis: »Deus qui ad salutem vestram ange-
lprum suorum utitur ministcrio, vos munimine custodiat custodiaque com-
muniat. Amen. Det vobis mentium puritatem et jugem corporis casti-
tatem qui eorum electis omnibus repromisit equalitatem. Amen. Quique
ipsis certissimam sue promansionis tribuit fiduciam ipse vos fidei spei cari-
tatisque perseverabili virtute confirmet atque ad eorum beatitudinis socie*
tatem pcrducat.« Das Missale secundum verum usum insignis ecclesiae
Leonensis (1526) enthält in der Missa de angelis in der postcommunio folgende
Stelle: »Replcti domine benedictione celesti suppliciter imploramus: ut
quod fragili celebramus officio sanctorum angclorum atque archangelorum
nobis prodesse sentiamus auxilio.«
Ein eingehendes und aufschlußreiches Kapitel, das alle Gedanken
bezüglich des Verhältnisses der Engel zu den Menschen zusammenfassend
und erschöpfend angeben dürfte, widmet die Legenda aurea des Jacobus
de Voragine dem Thema 11 ): »Decet namque nos iisdem (angelis) laudem
et honorem impendere multiplici ratione. Ipsi enim sunt custodes nostri,
ministratores nostri, fratres et concives nostri, animarum nostrarum porti -
tores in coelum, orationum nostrarum apud Deum repraesentatores, regis
aeterni nobilissimi milites et tribulatorum consolatores.« Jeder einzelne
Punkt wird dann im folgenden näher erläutert. Dazu ist noch der »Livre
des saints anges des Francois Ximenes« zu nennen (Paris, Arsenal Biblio¬
thek) * 3 ).
batur quod angeli dei comites assistunt orantibus. Juxta illud propheticum: In conspectu
angelorum psallam tibi. Et angelus ad thobiam: Quando orabas cum lachrymis ego
obtuli orationem tuam domino. Sed et in canone misse continetur: Supplices te rogamus
omnipotens deus: iube hec perferri per manus sancti angeli tui in sublime altare tuum.
Praeterea quilibet homo habet suum proprium angelum ad custodiam. Unde dominus in
evangelio loquens de parvulis ait: Angeli eorum semper vident faciem patris. Illos igitur
habemus in oratione participes: quos habebimus in glorificatione consortes.
*•) Gebet enthalten im Sahramentar der Kirche von Senlis, geschrieben wahrschein¬
lich 880. Paris, Bibi. Ste Genevieve. in. BB. 1 . in fol. 20, fol. 79. III. kal. oct. dedi-
catioscti. Michaelis archangeli. Außerdem im Missale der Ludwigskapelle in Notre-Dame,
(XIII. Jahrhundert). Bibliotheque Nationale Msc. lond lat. 8884.
**) Bibliotheque Ste Genevieve. Msc. 91. BB. 1 . in fol. 2.
**) Cap. CXLV. Th. Graesse, ed. III. Breslau 1890. p. 649 f.
* 3 ) Msc. des XV'. Jahrhunderts, Katalog Nr. 5213.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
102
K. Es eher,
Die vornehmste Aufgabe der Engel aber ist, die Seele des Verstorbenen
aufzunehmen und sie ins Paradies zu tragen, und der Wichtigkeit dieses
Momentes für das mittelalterliche Glaubensleben entspricht auch die Zahl
der Grabmäler mit der genannten Darstellung. Das Monument des Erz¬
bischofs Pierre la Iug6e im Chorumgang der Kathedrale von Narbonne * 4 )
setzt sich aus Sarkophag mit Gisant und Baldachin zusammen; an dessen
Rückseite sind zwei Engel gemalt, welche in einem ausgespannten Tuche
die Seele, ein nacktes, aufrechtstehendes Figürchen gen Himmel tragen.
Die Sammlung Gaignifcres enthält Zeichnungen nach prachtvollen Grab-
mälern der Abteikirche von Longpont: drei von ihnen bargen den Sarkophag
in einer Nische a 5 ), an deren Rückwand wieder die Engel gemalt waren,
welche im Tuch die Seele, diesmal nicht nackt, sondern in geistlichem Ornat
bzw. der Mönchskutte, ins Paradies trugen.
Wiederum gibt die Liturgie die entsprechenden Stellen a6 ). Das Missale
der Ludwigskapelle von Notre-Dame enthält * 7 ) »Pro familiaribus defunctis«
folgendes Gebet: »Praesta quaesumus omnipotens deus, ut animas famu-
lorum famularumque tuarum ab angelis lucis susceptas in praeparata habi-
tacula deduci facias bonorum (nach anderen Missalien: bcatorum). In
der Missa pro defunctis des Missale Lexoviense, Caen 1517, wird gebetet
(pro corpore presente): »Deus cui proprium est misereri semper et parcere
tc supplices deprecamur pro anima famuli tui quem hodierna die de hoc
scculo migrare iussisti, ut non tradas cam in manu inimici nec obliviscaris in
hnem sed iube eam a sanctis angelis tuis suscipi et ad patriam paradisi per-
duci et quia in te speravit et credidit non penas eternas sustineat sed gaudia
cterna possideat.« Und im Missale ad usum ecclesiae Parisiensis lautet eine
Stelle der Commendationes defunctorum: (animam) ad te revertentem de
^1 i —
* 4 ) Beschreibung und Abbildung in »Dictionnaire raisonni de Parchitecture fran^aise
du XI C au XVI C siede, par Viollet-le-duc. tome IX. p. 51 ff.
a 5 ) Gaigni&res, op cit. riserve Pe 1 e fol. 94, 95, 97. Inventaire Nr. 2515, 2516, 2518.
a6 ) Guillaume Durand, Rationale divinorura officiorum. Liber septimus, de reve-
latione sancti Michaelis, fo. CCLXXVI V0 . tTertia ratio (venerandi) est ut homines vene-
rantes angelos perveniant ad consortium angelorum et ea de causa in diebus dominicis et
festivis solennitatibus novem psalmi novem lectiones et novem responsoria cantantur,
ut per cantum istorum ad consortium perveniamus novem ordinum angelorum, quorutn
proprium est deo cantare. Congaudendo ergo angelis dicit ecclesia in introitu: Benedicite
dominum omnes angeli eius, et quia angeli laudant et nos similiter deum laudare debemus.
* 7 ) XIII. Jahrhundert. Bibliotheque Nationale, Paris. Msc. fond lat. 8884. —
Gleichlautende Texte bieten Missalien des XI., XIV., XV., XVI. Jahrhunderts. Die
Tapisserien der Kathedrale von Angers mit den zahlreichen Darstellungen aus der
Apokalypse enthalten zu der Stelle Apok. XIV, 13: »Beati mortui qui in domino moriuntur.
A modo dicit Spiritus ut requiescant a laboribus suis. Opera enim illorum sequuntur illose
(bildet einen Bestandteil der Missa pro defunctis) die Darstellung zweier Engel, welche in
einem Tuche sieben Seelen gen Himmel tragen. Vgl. Louis de Farcy, Monographie de la
oatbldrale d’Angers. 1901.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die Engel am französischen Grabmal des Mittelalters usw.
103
e gypti partibus blande leniterque suscipias et angelos tuos sanctos ei obviam
mittas viamque illi iustitiac demonstra: et portas gloriae tue aperi.« Die
offizielle Liturgie enthält den Text: »Subvenite sancti Dei, occurrite angeli
Domini. In paradisum deducant te angeli in tuo adventu suscipiant tc
martyres et perducant te in civitatem sanctam Jerusalem.«* 8 ) Nach der
Legenda aurea * 9 ) geleiten die Engel die Seele auf drei verschiedene Arten
ins Paradies: »honorandi sunt, quia ipsi sunt animarum nostrarum in coelum
portitores, et hoc faciunt triplici modo: primo viam praeparando, M?-
leachi III: ecce ego mitto angelum meum, qui pracparabit viam ante faciem
tuam; secundo per viam praeparatam in coelum bajulando, Exod. XXIII:
ecce ego mitto angelum meum, qui te custodiet in via, et inducat te in terram,
quam promisi patribus tuis; tertio in coelo collocando Luc. XVI 3 °): factum
est, ut moreretur mendicus et portaretur ab angelo in sinum Abrahae.«
Damit ist auch das eigentliche Ziel für die Seelen ausgesprochen: der Schoß
Abrahams, Isaaks und Jakobs, meist derjenige Abrahams allein. In der
Kirche von Mussy-sur-Seine befindet sich das Grabmal des Gilles Vignier
und seiner Frau 3 *); im Giebel, unter welchem die zwei Liegefiguren ruhen,
stellte der Bildhauer den Patriarchen Abraham, umgeben von vier Engeln,
dar, wie er in einem ausgespannten Tuch die Seelen der beiden Verstorbenen
hält (XIV. Jahrhundert). Am Portal der Kirche St. Trophime in Arles
ruhen die Seelen, die ein Engel herbeibringt, im Schoß Abrahams, Isaaks
und Jakobs 3 *). In der Missa pro defunctis wurde schon im 12. Jahrhundert
gebetet: »Subvenite sancti dei, occurrite angeli domini suscipientes animam
eius offerentes eam in conspectu altissimi, Chorus angelorum eam suscipiat
et in sinum abrahae eam collocct.« Alle drei Patriarchen sind im Missale
ad usum ecclesiae Parisiensis in den commendationes defunctorum genannt:
per manus sanctorum angelorum tuorum inter sanctos et electos tuos in
sinu Abrahae, Isaac et Jacob patriarcharum tuorum eas collecare digneris.
Die Ehre der Weihrauchspende durch Engel hatten die Seelen schon
während ihrer Fahrt zum Himmel empfangen. Auf dem Grabstein des
Kanonikers Jean de Visines, f 1273, in derKircheSt. Quiriace zu Provins 33 )
:8 ) ed. Th. Graesse pag. 651.
* 9 ) Nach Leclerq, Anges, im »Dictionnaire d’archeologie chretienne et de liturgie
tome I partie II, publik par le R. P. donc Fernand. Der Parallelismus zwischen Vorstellungen
des Altertums und des Christentums ist evident. Cabrol. Chap. XIV., *Les anges psycha*
gogues.« col. 2125 ff.
3 °) Luk. 27, 23.
3 *) Abbildung bei A. du Sommerard, Les Arts, 9. S£rie. Tf. XIV. Photogr. Com¬
mission des Monuments historiques No. 9587.
3 *) Abbildung, Marcou, Musle de Sculpture comparee. I* Serie planche 14. Vgl.
dazu Didron, Annales archeologiques, XXI, pag. 91.
33 ) Les Monuments de Seine-et-Mame par M. M. Amdd^e Aufauvre et Charles Fichot.
Paris 1858. pag. 112 und 117.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
104
K. Esch er.
schweben die Engel mit der Seele unmittelbar über dem Haupt des Verstor¬
benen; außerhalb der Giebelschrägen schwingen zwei andere die Weihrauch¬
fässer. Während Guillaume de St. Remy auf seinem Grabstein in der Kathedrale
von Meaux 34 ) lehrend dargestellt ist, trägt, vor Rankengrund, ein Engel seine
Seele empor, während ein anderer das Weihrauchfaß schwingt. Ähnlich der
Grabstein des Heude de Montfaucon (f 1299) und seiner Gattin (f 1300) in
der Abtei von Port Royal 35 ). Jedes der Ehegatten steht unter einem Giebel;
in der Mitte zwischen den zwei Giebeln trägt ein Engel beide Seelen empor,
indessen die Engel in den zwei seitlichen Dreiecken den W r eihrauch spenden.
Selbstredend spenden die Engel den Seelen, welche schon der ewigen
Seligkeit teilhaft sind, den W’eihrauch, tragen Leuchter, zollen ihnen Ver¬
ehrung. Diese Darstellung findet sich regelmäßig in kleinen Figuren über
der Gestalt des Verstorbenen in Zusammenhang mit der Architektur, so
nämlich, daß Abraham mit der Seele über dem Scheitel des die Hauptfigur
überwölbenden Bogens oder Giebels auf einer Konsole thront, seitlich die
weihrauchspendenden Engel (Grabstein des Magisters Philippe de Rully
oder Reuilly (f 1440) in der Ste. Chapelle zu Paris) 3 *), oder auch so, daß
der Künstler im oberen Teil des Grabsteins, über dem Bogen eine reiche
Tabernakelarchitektur aufbaute, in die mittlere Nische Abraham mit den
Seelen, in die vier seitlichen die Engel mit Weihrauchfaß bzw. Leuchtern
setzte: so am Grabstein des Jehan de Montmorency (f 1325) in der Pfarr¬
kirche St. Maclou zu Conflans-Sainte-Honorine 37 ) und demjenigen des
Simon de Guillan, Abt von Ste-Barbe und Prior von Longpont, ehemals
im College de Cluny in Paris (Todesdatum: 1349) 38). Am Nischengrab
des Erzbischofs Robert von Rouen, Sohns Richards von der Normandie in
St. P&rc in Chartres waren einst am Giebel Abraham mit der Seele, am
3 «) op. cit. pag. 170.
35 ) F. de Guilhermy, Inscriptions de la France du V c au XVIII C siede. Tome III,
pag. 259. Augustin Gazier, Port-Royal auXVII e siede, Paris 1909, Taf. 30. In dieselbe
Gruppe gehört auch der Grabstein des Jehan Bonnet von Troyes (f 1386), ehemals in der
Ste. Chapelle. Guilhermy op. cit. Tome I, pag. 82. Auf dem Grabstein der Marguerite de
Levis, Dame de Marly (f 1327), ehemals in Port-Royal, schwebten die zwei Engel mit der
Seele unterhalb des Giebels, unmittelbar über der Gestalt der Verstorbenen, während die
zwei »thuriferaircs* den üblichen Platz neben den Giebelschrägen einnahmen. Guilhermy
op. cit. Tome III, pag. 305, — Die Gleichartigkeit der Komposition auf so vielen Grab¬
steinen in und um Paris erklärt sich leicht aus der Tatsache, daß in Paris eine Massen¬
fabrikation von Grabsteinen stattfand, welche auch den Provinzen zugute kam. £milc
Male op. cit. pag. 461.
3 ®) F. de Guilhermy, Inscriptions. Tome I, pag. 85.
37 ) Ders. op. cit. Tome II, pag. 339.
3 ®) Ders. op. cit. Tome I, pag. 595. Grabstein des Guille de Voisins (f 1518), in der
Pfarrkirche St. Remy zu Gif. Abraham zwischen zwei leuchtertragenden Engeln. Guil-
hermy, Tome III, pag. 407.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die Engel am französischen Grabmal des Mittelalters usw.
105
Bogen die Engel, welche sie emportragen, sie anbeten und mit Weihrauch
verehren, gemalt 39). — Den verehrenden und anbetenden Engeln gesellen
sich auch himmlische Musikanten bei: Im Kreuzgang der Abtei von
Orcamp kopierte Gaignieres oder einer seiner Zeichner 9 °) das Grabmal
des Jehan de Honnecourt (f 1325) und seiner Gattin; den Patriarchen be¬
gleiten die Engel; auf den Strebebogen der reichen Architektur sitzen andere,
welche Posaunen blasen, ohne daß damit eine Darstellung des jüngsten
Gerichtes mit den auferstehenden Toten verbunden wäre 4‘). Die übliche,
vielfach wiederholte Darstellung Abrahams zwischen den zwei Engeln wurde
aber noch durch andere Gedanken erweitert: Der Grabstein des Abtes
Wilhelms IV. von Bec-Hellouin (1399—1417), heute in der Kirche Ste. Croix
zu Bernay, zeigt, wie üblich den Toten in reichem kirchlichem Ornat in auf¬
wändiger architektonischer Umrahmung, deren seitliche Nischen die kleinen
Figuren der Kanoniker und der zwölf Apostel als Repräsentanten des Credo
enthalten, während oben Abraham inmitten musizierender Engel erscheint,
einer von ihnen, zur Linken des Patriarchen hebt eine offene Rose gen Himmel
»pen c £e embl&natique de la bonne odeur qu'exhalent les vertus du döfunt,
Offerte au Trfcs-Haut par l'ange gardien de son religieux serviteur«. * l )
Auch der Gedanke, daß die Treue bis in den Tod die Krone des ewigen
Lebens erwerbe 43 ), findet im französischen Grabmal seinen Ausdruck,
auch wenn besagter Spruch nicht in der Totenliturgie vorkommt. Die
Jakobinerkirche von Chälons-sur-Marne enthält einen ikonographisch und
künstlerisch sehr wichtigen Grabstein 44 ). Drei Frauen, eine Mutter mit
ihren zwei Töchtern stehen unter Arkaturen. Unter ihnen, also gleichsam
als Sockeldarstellung, zeichnete der Künstler die Funeralien: die verhüllte
Bahre und den Klerus in Funktion. Zwischen den Giebeln erscheinen
Abraham mit den dre: Seelen im Schoße, zwei Engel mit Weihrauchfässern
3 ») Gaignieres, Collections de tombeaux a Oxford, Paris nfserve Pe 1 u fol. 48. In-
ventaire Nr. 3560.
■ 4 °) Ders. Pe 1 e. fol 68. Inventaire Nr. 2490.
4 1 ) Grabstein des magisters Johannes (f 1350), ehemals in der Kirche Ste. Genevievc
in Paris. Nebst den beiden Namenspatronen die Auferstehung der Toten und Posaunen¬
engel. In den seitlichen Tabernakeln nebst vier Heiligen zwei Figuren, genannt Isabeau
und Jullin. Guilhermy op. cit. I, pag. 361.
4 1 ) M. Le Metaycr-Masselin, Collections de dallcs tumulaircs de la Normandie,
Cae 1861, pag. 8. Ein Seliger mit Blume findet sich auch auf dem Gerichtsrelief der Kathe¬
drale von Bourges.
43 ) Apok. II, 10. Estofidelis usque ad mortem, ed dabo tibi coronam vite. Vgl.
F. Vigoureux, Dictionnaire de la Bible, II. art. couronne II. Les couronnes dans le sens
metaphorique ou symbolique.
44 ) Gaignieres, op. cit. Pe. I m. fol. 48. Inventaire Nr. 3452. Didron, Annales
archeologiques III, 1845, pag. 283 ff., mit Tafel. Der Grabstein entstand wahrscheinlich
gegen 1338, dem Todesjahr der jungem Tochter.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
io6
K. Escher,
und ein dritter mit drei Kronen. Einen kronetragenden Engel zeigt auch
der Grabstein des Mahi de Montmorency (f 1360) in der Pfarrkirche von
Tavery 45 ). Die Engel vollziehen selbst die Krönung der Seele am Grabmal
der Königin Nantilde in St. Denis (XIII. Jahrhundert). Nicht immer
kommen die Seelen zu Abraham; so auf dem Grabstein des Jean Colon
(| 1272), seiner Gattin und Tochter in St. Paul in Sens 4 *): von beiden
Seiten tritt ein Engel zu Christo heran, der die Weltkugel hält und den
Seelen den Segen erteilt; der Engel zur Linken trägt zwei Seelen. Ein
Relief (Fragment XIII. Jahrhundert) vom Grabmal Josserands IV. 1250)
auf Schloß Uxelles (D£p. Sa6ne-et«Loire) bringt ein Engel die Seele zur
thronenden Maria mit dem Christusknaben, indessen ein anderer den Weih¬
rauch spendet 47 ). Man könnte darin eine Abweichung von der liturgischen
Vorschrift erkennen, wenn die Liturgie immer den Schoß Abrahams als
Endziel für die Seele nennte. Aber es sei daran erinnert, daß viele Stellen
allgemein nur von den für die Seelen bereiteten Wohnstätten, vom himm¬
lischen Jerusalem, also von der ewigen Seligkeit überhaupt, sprechen. Es
sei auch an jenes schon zitierte Gebet in den Commendationes defunctorum
des Pariser Missales erinnert: »eam (animam) ad te revertentem de Egypti
partibus blande leniterque suscipias et angclos tuos sanctos ei obviam mittas
viamque illi iustitiae demonstra et portas glorie tue aperi«. Aber aller¬
dings wird vorher und nachher der Schoß Abrahams ausdrücklich ge¬
nannt: Corus angclorum eam suscipiat et in sinu Abrahae eam collocct
offerentes eam. — Corus angclorum te suscipiat et in sinu Abrahae te
collecet cum Lazaro quondam paupere et nam habeas requiem. Unter
diesem Gesichtspunkt ist das unter dem Namen »Pretiosa« bekannte ro¬
manische Portal im nördlichen Querflügel der Kathedrale von Reims zu
betrachten 48); im Tympanon die thronende Madonna, im Bogenlauf zwei
Engel, welche die Seele emportragen und, abwärts, acht andere Engel mit
Leuchtern, Weihrauchfässern, Schriftrollen; außerhalb des Bogens, in den
Zwickeln, zwei große Engel auf Wolken, der eine mit einem Kreuz. Im
» - - - — - - - - —
45 ) Guilhermy, op. cit. Tome II, pag. 318.
4 6 ) Gaignieres, op. cit. Pe. 1 m. fol. 74. Inventaire Nr. 3479. Am Portal von
St. Trophime in Arles stellt ein Relief dar, wie ein Märtyrer gesteinigt wird, während zwei
Engel seine Seele zu Gott emporheben. Vgl. Leclercq in Cabrols Dictionnaire d’archlologie
chr< 5 tienne et de liturgie. Tome I, partie II C , col. 2128, fig. 655.
47 ) Photographie der Sociit6 des amis des antiquitis de Tournus.
4 8 ) Ch. Cerf, Histoire et description de Notre-Dame de Reims. Reims 1861, Tome II.
pag. 3*3 ^ Abguß eines Teiles im Museum des Trocadero. — Große und kleine Engel
finden sich, wohl aus rein künstlerischer Absicht, auf dem Grabstein des mestre Rigaut
Aym... da Aurlhac, f 1347 in St. Martin in Champeaux. Guilhermy, op. cit. Tome V, pag. 22
Die 3 kleinen Musikengel sind als Dekoration der Architektur verwendet; die beiden großen
haben den üblichen Platz und die übliche Funktion des Weihrauchspendens.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die Engel am französischen Grabmal des Mittelalters usw.
107
oberen Teil des Portals, in Malerei, Christus thronend, mit dem Szepter
und segnender Gebärde, begleitet von zwei knienden Engeln. Die
eschatologischen Gedanken, in denen sich naturgemäß die Grabmalkunst
bewegt, kehren also in der Skulptur der Kirchenportale wieder, besonders
W'o es sich um die Darstellung des jüngsten Gerichtes handelt 49).
Einen erheblichen Bestandteil des französischen Grabmals machen die
musizierenden Engel aus; die himmlische Musik ist der Ausdruck ewiger
Seligkeit und der Verehrung gegen die Gottheit. Sobald die Seele in den
Himmel einzieht, vernimmt sie die Musik der Überirdischen, ein Gedanke,
der in die ersten Jahrhunderte christlicher Ära hinaufreicht 5 °). In den
»Vigiles des morts« als Bestandteil der im 15. Jahrhundert sehr verbreiteten
»Heures« lautet eine Stelle: »In conspectu angelorum psallam tibi, adorabo
ad templum sanctum tuum et confitebor nomini tuo.« Die Abteikirche von
Gomer-Fontaine enthielt einst unter drei Spitzbogen ein Relief: in der Mitte
eine Figur mit drei Seelen in einem Tuch, zwischen zwei Engeln mit Harfe
und Geige 5 1 ). Noch viel eingehender ist das Thema auf dem Grabstein des
Guillaume Gu&rin, Abt von Le Bec (f 4. IV. 1515), heute in Ste. Croix zu
Bernay, behandelt 5 *). In den seitlichen Tabernakeln der einfassenden
Architektur Heilige, Apostel, Pleurants, in der Bogenkehle vierflügelige
Cherubim. Darüber baute der Künstler, in zwei Reihen übereinander,
weitere Tabernakel auf, in der untern die zum Himmel emporfahrendc Seele
zwischen Engeln mit Schriftrollen, Leuchtern und Musikinstrumenten
49 ) Vier Engel tragen Seelen zu Abraham: Gerichtsportal am südlichen Quer¬
flügel der Kathedrale von Reims. Am jüngsten Gericht der Kathedrale von Bourges trägt
ein Engel eine Seele zum Paradies, wo Abraham mit andern Seelen im Schoße thront;
darüber schweben drei andere Engel mit je einer Krone. Beide Kompositionen aus dem
XIII. Jahrhundert. Ein Engel, der eine Seele in den Himmel emporträgt, flndet sich auch
am jüngsten Gericht an der Kathedrale von Autun (XII. Jahrhundert). An der Kathedrale
von Laon ist das nördliche Portal der Fassade dem jüngsten Gericht gewidmet. Die innerste
Bogenlaibung gehört kompositioneil noch zum Tympanon und enthält nebst den Auf¬
erstehenden, vier Aposteln, vier Posaunenengeln: sieben Enge), welche Seelen tragen und
Abraham mit den Seligen im Schoß. Die zweite Hohlkehle enthält Heilige und Märtyrer
und im Scheitel einen Engel mit zwei Kronen. Abraham und Engel, welche Seelen tragen,
finden sich auch an den Bogenläufen des Gerichtsportals an der Kathedrale von Amiens
(Photogr. F. Martin-Sabon Nr. 5387, 5388, 5790.
5 °) H. Leclercq in Cabrols Dictionnairc d’archeologic chretienne et de liturgie.
Tome I. Partie II. Col. 2122 ff.
5 >) Millin, Antiquitls nationales. Tome IV. Nr. XLII. Tf. 3. Nr. 3.
5 1 ) Wir verdanken die Kenntnis dieses wichtigen Denkmals der freundlichen Mit¬
teilung von Herrn Deville, Bibliothekar der Biblioth&que d’archlologie et d’art, von M.
J. Doucet, Paris. — Der Grabstein datiert aus dem Anfang des XVI. Jahrhunderts. Vgl.
Por<e, Histoire de l'abbaye du Bec II, pag. 271. Evreux 1901. — Auch die Vorstellung
von der himmlischen Musik reicht ins christliche Altertum zurück. Vgl. H. Leclercq
loc. cit. col. 2124. Verfasser sucht den Ursprung im klassischen Altertum.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
io8
K. Es eher,
(Trommel, Harfe, Geige, Guitarre, Posaune), oben Abraham mit der Seele
im Schoß, zwischen je fünf Engeln mit Leuchtern und Weihrauchfässern.
Eine ganz eigenartige und ungewohnte aber künstlerisch bedeutende
Fassung des Themas der Engel am christlichen Grabmal zeigt ein Nischen¬
grab in St. Pierre in Lisieux (Calvados) 53 ), XIII. Jahrhundert. Ein Fries
von sechs Rundbogen teilt die Rückwand des »enfeu« in zwei Geschosse;
unten sitzen einander gegenüber auf verzierten Bänken drei Gruppen von
je zwei Engeln in Tunika und Mantel, eine Krone oder Diadem auf dem
Haupte, in den Händen Palme und offene Schriftrolle. In der obern Ab¬
teilung fassen zwei Engel in sehr lebhafter Bewegung das Tuch mit der
Seele, um sie gen Himmel zu tragen. Handelt es sich um ein Heiligen- oder
Märtyrergrab ?
Damit ist das Kapitel über die kirchliche Funktion der Engel im all¬
gemeinen erschöpft. Schon im XIV. Jahrhundert werden sie gelegentlich
rein dekorativ, gleichsam als Pagen ihrer Herren aufgefaßt, wie sic Helm
und Wappenschild halten 54 ). W'ir sahen bildende Kunst und Liturgie
in engstem Zusammenhang, wo es sich um den Kern des ganzen eschatolo-
gischen Gedankenkreises handelt: die Seele von den Engeln als besondern
Beschützern der Menschen in das Paradies, in den Schoß Abrahams getragen.
Selbst die äußerliche Funktion des Totenritus, der sich aber sowohl auf
den Toten, als auch den leiblich Auferstandenen bezieht, ist den Engeln,
den Dienern Gottes und der Menschen übertragen, obschon die franzö¬
sische Liturgie keinen ganz genau entsprechenden Wortlaut aufweist.
* • •
Die bildende Kunst hat aber das Äußerliche, den Totenritus, mit vollem
Verständnis für seine Symbolik aufgenommen.
Ging nun die französische Sepulkralkunst auch darin mit der Liturgie
parallel, daß sie die Engel nach ihren verschiedenen Rängen und Chören
unterschied? Der Grabstein des Guillaume Guerin von Le Bec enthielt,
wie soeben gezeigt wurde, neben den musizierenden Engeln auch Cherubim;
aber soweit sich die Grabmälcrstatistik überblicken läßt, kommen solche nur
höchst selten vor (vgl. Nachtrag); trotz seines noch gotischen Charakters
stammt er aus dem XVI. Jahrhundert. Die Liturgie ruft in sehr vielen
Fällen Engel und Erzengel an, die zum Dienste der Lebenden wie der
Sterbenden erschaffen seien. Im Ritual de sacramento cxtrcmac unctionis
des Missale von St. Pol-dc-Löon (1526) werden nach der Trinität und der
heil. Jungfrau die drei Erzengel Michael, Gabriel und Raphael angerufen.
Zahlreiche »Livres d'hcurcs« enthalten unter dem Titel »Suffrages«
5 J) Gliche Monuments historiques 12831; F. Martin-Sabon 9063, 9067.
54 ) Grabmal des Hugucs de Lannoy und Margueritc de Molembais in der Collcgiata
St. Pierre in Lille. Millin, Antiquites nationales. Tome I. No. LIV, PI. 3, pag. 42. Im
XV. und Anfang des XVI. Jahrhunderts allgemein verbreitet.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die Engel am französischen Grabmal des Mittelalters usw.
109
Gebete in der Todesstunde, folgende Stelle: Kyrie eleyson, Christe
eleyson. Kyrie eleyson, Christe audi nos, Christe audi nos. Pater de
celis deus miserere nobis. Fili redemptor mundi deusr miserere nobis.
Spiritus sancte deus: miserere nobis. Sancta trinitas unus deus: miserere
nobis. Sancta Maria ora pro nobis. Sancta dei genetrix ora. Sancta virgo
virginum ora. Sancte Michael ora. Sancte Gabriel ora. Sancte Raphael
ora. Omnes sancti angeli et archangeli dei orate. Omnes sancti beatorum
spirituum ordines orate pro nobis 55 ). Eine Sequenz des Missale von
Lisieux S*) ruft die 9 Engelchöre an: »Plebs angelica phalanx et
archangelica principans turma virtus uranica ac potestas almiphona. Do-
minantia numina divinaque subsellia cherubim etherea ac Seraphim ardentia«
und bittet hierauf die drei Erzengel im besonderen: »Vos o Michael celi
satrapa Gabrielque vera dansverbi nuncia atque Raphael vite vernula trans-
ferte nos intra paradisicola.«
Unter den Heerscharen der Engel gebührt dem heiligen Michael
die erste Stelle 57 ): als praepositus paradisi 5 8 ), princeps militiac angclorum,
Beschützer des Volkes Israel wie der christlichen Kirche, Sieger über den
Satan; am jüngsten Gericht fungiert er als Seclcnwäger. Zwei bedeutende
Heiligtümer sind ihm errichtet: in Süditalien am Monte Gargano und an der
Küste der Normandie: Mont St. Michel. Als seinen Feiertag kennt der
mittelalterliche Kalender den 29. September. Schon seit dem hohen Mittel -
alter galt St. Michael als Schutzherr Frankreichs, besonders aber im hundert¬
jährigen Krieg; seine Stimme soll Jeannc d'Arc zuerst vernommen haben.
Zahlreiche Pilgerzüge kamen nach Mont St. Michel; im Jahre 1469 gründete
König Ludwig XI. den Ritterorden des heil. Michael 59 ).
Nicht geringer
55 ) Heures de Simon Vostrc. Fin du XV- siede. Paris, Bibliotheque nationale
Velins 1597. Heures & Pusage de Rouen 1501 ib. reservc B. 2938, ebenso in den Heures
Inventairc B. 27729, Heures & Pusage de Paris (Velins 2889), Heures de Rome Velins 288S,
Heures de Rome, Thielman Kervcr Inventairc B. 27832, Heures de Rome 1516, reserve,
Velins 2899. Vgl. dazu Artikel von H. Leclercq in Cabrols Dictionnaire, Art. »anges.«.
Chap. XVIII, L’invocation litanique des anges.
5 6 ) Caen 1517. Missa Sancti Michaelis in montc gargano.
57 ) Vgl. Vigoureux, Dictionnaire de la Bible. Vol. 4. Col. 1067 ff. Erwähnt in
der Literaturangabe: Ferd. Wiegand, Der Erzengel Michael in der bildenden Kunst, in 8°.
Stuttgart 1886. Dazu Dutripon, Vulgatac editionis bibliorum sacrorum concordantiac
Paris 1880. 8. Aufl.
58) Als solcher ist er auf einem W andgemälde in der Krypta der Schloßkirchc von
St. Bonnet-le-Chatcau dargcstcllt Anfang XV. Jahrhunderts. Das Paradies ist von Mauern
und Tünnen umgeben. Links erhebt sich das doppelte Tor; das vordere niedrig mit Zinnen¬
kranz. Unter dem Eingang steht St. Petrus, auf der Zinne St. Michael in Rüstung und
Mantel, mit Kreuzstab, an dem ein W’impel befestigt ist, und mit der Wage. Vidc: Lcs
peinturcs murales du moyen-age et de la Renaissance cn Forcz. Tf. XII, XIV, pag. 48.
59 ) Vgl. Paul Gout. Le Mont St. Michel. Histoire de PAbbayc et de la villc. Tome I,
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
IIO
K. Esc her,
ist seine Bedeutung für das Schicksal der Seelen. Vgl. Nachtrag 2. Wie
die Engel im allgemeinen, so wird er gelegentlich im besonderen ange¬
rufen, die Seelen zu beschützen und sie einst ins Paradies zu führen.
Auf den Michaelstag lautet eine Stelle des wahrscheinlich um 880 ge¬
schriebenen Sacramentars der Kirche von Senlis ^) folgendermaßen :
»Beati archangeli tui michaelis intercessione sussulti supplices depre-
camur ut quos honore prosequimur contingamus et mente.« Ein
Sacramentar von Besangon 6l ) (XI. Jahrhundert) enthält, ebenfalls zum
Michaelsfest folgenden Text: »Quamvis enim nobis sit omnis angelica
veneranda sublimitas, que in maiestatis tue consistit conspectu, illa
tarnen est propensius honoranda que in eius ordinis dignitate celestis
militiae meruit principatum per Christum«, und im Anhang von Selig¬
sprechungen wird die Tätigkeit des Erzengels noch viel genauer dar¬
gestellt: »beatum archangelum Michaelem constituit primatem celestis
militiae, eo interveniente perducat vos ad claritatem vitae aeternae. Qua-
tinus eius vallati custodia expulsaque procul delictorum nequitia ab eo de-
ducamini ad celorum regna.« Schon im XIII. Jahrhundert lautet das
Offertorium in der Mis3a 6a ) pro fidelibus defunctis: »Domine Iesu Christe
rex gloriae, libera animas omnium fidelium defunctorum de manu inferni
et de profundo lacu, libera eas de ore leonis ne absorbeat eas tartarus ne
cadant in obscura tenebrarum loca sed signifer sanctus Michael representet
eas in lucem sanctam quam olim abrahae promisisti et semini eius.« Sie
hat sich durch die Jahrhunderte bis auf den heutigen Tag erhalten. In den
commendationes defunctorum hat das Missale Parisiense (1501) folgende
bezeichnende Stelle: »tum de tua confisi gratuita pietate et inolita bonitatc
clementia tua deposcimus ut animam famuli tui et alias omnium fidelium
defunctorum ad tc revertentes cum pietate suscipias: adsit eis angelus
testamenti tui michael et per manus sanctorum angelorum tuorum inter
sanctos et electos tuos in sinu Abrahae, Isaac et Iacob patriarcharum tuorum
eas collocare digneris quatinus liberate de principibus tenebrarum.« In der
Missa de angelis wird gebetet: »Laudate deum omnes angeli eius: laudate
eum omnes virtutes eius. Michael archangele dei te precamur ut eripias
nos a laqueo mortis. Omnes angeli archangeli et virtutes celorum orate pro
nobis.« Wird nun — anscheinend — in den Sakramentarien und Missalien
hauptsächlich vom Beistand im allgemeinen gesprochen, den St. Michael dem
pag 332 ff., pag. 351 ff. — Über St. Michael in der apokryphen Literatur vgl. Leclercq in
Cabrol, Dictionnaire. Tome I, partie II C , col. 2131, Chap. XV. Les anges psychopompes
60 ) Bibliothcque Ste. Genevieve in Paris 111. BB. 1 in fol. 20.
6| ) Bibliothequc Nationale in Paris fond. lat. 10500.
6l ) Missale der Ludwigskapelle in Notre-Dame, Bibliotheque Nationale fond. lat.
8884. Findet sich auch im Sakramcntar von Besan?on (XI. Jahrhundert).
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die Engel am französischen Grabmal des Mittelalters usw.
III
Sterbenden angedeihen lassen soll, indem er die Seele von den Mächten der
Finsternis befreit, so betonen die der privaten Andacht gewidmeten Bücher,
die Heures und Suffrages ganz speziell, daß Michael die Seelen ins Paradies
geleiten möchte. Die im Jahre 1488 zu Paris gedruckten Suffrages 6 3 ) ent¬
halten für jeden Tag Anrufungen eines Heiligen, für den 29. September die
Gebete an St. Michael: »Princeps gloriosissime Michael dux exercituum
susceptor animarum, debellator malorum spirituum ecclesiae dei,
post Christum dux abmirabilis grandis excellentiae et virtutis omnes recla-
mantes ad te ab omni libera adversitate: et in cultu dei facias proficere tuo
precioso officio et dignissima pace. Ora pro nobis beate Michael princeps
in ecclesia dei, ut digni efficiamur promissionibus Christi. Ora omnipotens
sempiterne deus qui saluti humane nature ex summa clementia tua gloriosum
principem ecclesiae tuae beatum Michaelem archangelum mirabiliter depu-
tasti concede propicius ut eius salutari subsidio hic mereamur a cunctis
hostibus cfficacissime tueri et in futuro nostro obitu ab omni tentatione
liberati tue excelse maiestati beatifice praesentari. Per christum dominum
nostrum, Amen 6 4 ).« Und die 1492 in Paris gedruckten Heures ä l'usage
6 3 ) Paris, Bibliotheque Nationale Velins 1653. — Vgl. dazu den »Hortulus animae«
de la Bibliotheque Palatine de Vienne 2706. Reproductions photo-mlcaniques par Pim-
primerie imperiale et royale de la couret de l 9 6tat de Vienne, publiels avec une priface du
comte Paul Durrieu et des explications concemant f histoire d’art sous la direction de
Friedrich Dörnhöffer. Jos. Baer, Frankfurt a. M. Livraison 7. Das Gebet an St. Michael
lautet: »Du heiligher ertzengel sant Michael ein für weser des paradeises kumme zu hilff
dem volck gottes: und wöilest uns beschirmen vor gewalt des feindes und mit dir fueren
in die geselschaft des herren.« — Der Inhalt der an St. Michael gerichteten Gebete erlaubt
auch u. E. eine bestimmte Deutung einer Miniatur Horae Nr. 33. Msc. Icole frangaise et
moiti£ du XV C siede, Tf. XVIII, Manuscrits sur velin avec miniatures du X c au XVI C
siede soigneusement d^crits et mis en vente par le commendeur Leo S. Olschki, Florencc
1910: der Sterbende im Beisein des Todes auf seinem Bett; die Seele flüchtet sich zu einem
Engel — Michael — der, mit Kreuz und Schild bewaffnet, den Teufel besiegt; seinen Kopf
schmückt ein Diadem mit Kreuz.
64 ) Vgl. Francois Ximenes, Le livre des saints anges. XV. Jahrhundert, Paris
Bibliotheque de V Arsenal Nr. 5213: fol. 125^°. Le chapitre XV C met le V c office de saint
michiel lequel est de recevoir les bonnes ames quant ilz trespassent de ce monde. »Grant
et souverain sur tout notre entendement est le V c office comande de notre seigneur a saint
Michiel des le commencement de ce monde enca cest de recevoir les ames de ceulx qui
passent de ceste vie en lautre. Et ainsi chante sce eglise parlant alui en la personne de
Ihü Christ. Archangele Michael constitui te principem super animas suscipiendas. Et veult
dire ainsi notre seigneur: O archangele Michael actens a lofficc que ie tav donnc car ie tay
constituay et ordonne a recevoir les ames qui de ceste vie passent. — Le XVII C chapitre
met par quelle manierc saint Michel recoit nos ames: [Der Befehl Gottes geht von den
Seraphim durch die Cherubim, Throne, Dominationes zu den Principatus, und zu diesen
gehört, nach Francois Ximenes, der heil. Michael.] et puis saint Michiel le revelle a sesanges
selon quil est nccessaire pour accomplir la voulente de notre seigneur sur le iugement qui
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
112
K. Es eher,
de Rome geben demselben Gedanken Ausdruck: »De sancto Michael angelo.
Michael archangele paradisi praeposite veni in adiutorium populi dei et
velis nosdefendere a potestate inimici et tecum ducere in societatem domini.
Gibt es nun innerhalb der noch im Original oder wenigstens durch
Kopien erhaltenen französischen Grabmäler solche, auf welchen nicht nur
Engeln im allgemeinen, sondern dem Erzengel Michael im besondern die
Funktion zugcteilt ist, die Seelen des bzw. der Verstorbenen ins Paradies
zu tragen? Soweit wir den Denkmälervorrat überblicken können, müssen
wir die Frage verneinen, nur in dem Sinne allerdings, daß zwar nirgends die
Person Michaels inschriftlich beglaubigt ist, daß sich aber trotzdem einzelne
— bis jetzt deren zwei — Grabsteine nachweiscn ließen, bei denen die
Annahme, es handle sich um St. Michael als »susceptor animarum« gerecht¬
fertigt werden kann. . •
Die Kirche Notre-Dame zu Melun enthält einen Grabstein mit den ein¬
geritzten Figuren des Denis de Chailly und seiner Frau Denise Pisdo£ »qui
trespassa l'an mccccquarante et deulx le VI jour de mars«. Der überlebende
Gatte ließ den Grabstein mit figürlichem Schmuck und Inschrift meißeln;
aber sein Todesdatum wird nicht genau angegeben: »lequel trespassa l’an
incccc ... Bei seinem Ableben sorgte niemand dafür, auch dessen Datum
einschrcibcn zu lassen. Die Gesamtkomposition ist die übliche: die Ge¬
stalten der Verstorbenen von hohen Pfeilern mit Tabernakel begleitet,
welch letztere die Figurinen der zelebrierenden Kleriker enthalten. Den
obern Abschluß bilden acht Sockel in Form von Kapitellen, für ebenso viele
Figuren von Engeln, in zwei Gruppen von je vier Gestalten geteilt. In jeder
Gruppe hält ein Engel Weihrauchfaß und Schiffchen, ein zweiter eine der
beiden Seelen, die übrigen tragen Kerzen oder musizieren. Derjenige Engel,
welcher die Seele des Mannes trägt, unterscheidet sich sehr auffallend von
allen übrigen, auch von seinem Partner; tragen sieben dieser Engel nur
die gegürtete Tunika und hinter dem Kopf den Nimbus, so ist er außerdem
mit einem Mantel bekleidet, den eine Horte schmückt und eine Agraffe
vor der Brust zusammenhält; ein Diadem (nicht eine Krone, wie die Be¬
schreibungbehauptet) schmückt seine Stirne. Außer der Seele trägt er noch
sc a affaire des ames ct tout ce cst fait en ung point. El dit saint denis ou livre de lange-
lique iherarchie que ainsi veult notre seigneur; qui se face par tant de moyens pour con-
server lordonnancc quil a fait entre les anges des maicurs aux mineurs, les maieurs attienguent
ce quil appartient au Service qui appartient a nous. Le second point cst, que saint Michicl
recoive les ames si non en la maniere que dcllcsdoit faire selon lctemclle providcnce divinc
misc en lauctoritc ct empirc en excecution. Ainsi commc sc lame soit aler en gloire ou en
peine que de present soit iouxte lc merite ou la causc. Ainsi pour lame qui sc doit iuger
par saint Michiel ou par ses souverains commc dit cst. — Durandus, Rationale divinorum
officiorum. VII. über. De revclationc sancti Michaelis: Ipse est praepositus paradisi
et custos et cst susceptor animarum ct princcps ecclcsiae.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die EDgel am französischen Grabmal des Mittelalters usw.
11 3
ein langes Kreuz. Es ist die Aufnahme der zwei Seelen in den Himmel,
aber die Beschreibung 6 5 ) irrt u. E., wenn sie den durch reichere Kleidung,
Diadem und Kreuz ausgezeichneten Engel als Raffael deutet. Wohl werden
in der Liturgie die Erzengel, zu denen ja auch Raffael zählte, als Beschützer
und Geleiter der Seelen angerufen. Das Missale von St. Pol-de*L6on (1526I)
enthält ein Offizium für St. Raffael, aber dieses bittet nur um Vermittlung
bei Gott 66 ). Die Darstellungen Raffais sind überdies in der französischen
Kunst so überaus selten, daß sich keine ikonographischen Beweise für die
Richtigkeit jener Annahme erbringen lassen. In viel höherem Maße aber ist
der Erzengel Michael, der Fürts des Himmels und aller Engel, der Schützer
der Gläubigen gegen die Anfechtungen; das Offertorium der Totenliturgie
bittet ihn, die Seelen zu retten und ins Paradies zu bringen. Liegt es also
nicht näher, in dieser vor den andern so herausgehobenen Engelsfigur den
Erzengel Michael zu sehen, der vielleicht überdies zu den besondern Schutz¬
heiligen des Verstorbenen gehörte?
Ein ähnlicher Grabstein befindet sich nach Guilhermy 6 7 ) in der Pfarr¬
kirche von Le Mesnil-Aubry. Unter einem Pavillon steht die Verstorbene
Blanche de Poppaincourt, f 1422, neben ihr zwei Kinder, in den seitlichen
Tabernakeln die Kleriker. Oben wieder eine Reihe von sieben Engeln,
fünf von ihnen musizierend, der sechste mit einem Schwert (?). Der Kiel¬
bogen, welcher die Gestalt der Verstorbenen überwölbt, trägt eine Konsole;
auf ihr steht der Engel mit der Seele, in Tunika und Mantel und mit einem
langen Kreuz. Es liegt sehr nahe, ihn entsprechend als St. Michael zu
deuten.
Die Annahme, es handle sich auf den zwei genannten Grabsteinen
um St. Michael als Geleiter der Seelen, soll nun, soweit möglich, auch auf
ikonographischem Wege gestützt werden. In erster Linie sind die Fragen
zu beantworten: in welchem Zusammenhang kennt die gotische Kunst
Frankreichs den heil. Michael, wie stellt sie ihn dar und pflegt sie ihn von den
andern Engeln zu unterscheiden? Als Drachentöter und Seelenwäger ist
er ohne weiteres erkennbar; im ersteren Falle schon im XIII. Jahrhundert
gerüstet (Sockelrelief an der Westfassade von Notre-Dame in Paris 68 );
* 5 ) Les Monuments de Seine-et-Mame. Tafel zu pag. 14.
**) Jubilus summe laudis resonet in ore omnium ad laudem beati Raphaelis archangeli:
ut ipse cuius memoria agitur in terris ad deum pro nobis intercedat in ctlis alleluja. Dirigere
dignare domine deus in adiutorium nostrum Raphaelem archangelum et quem tue maiestati
semper assistere credimus, tibi nostras exiguas preces benedicendas essignet.«
* 7 ) op. cit. Vol. II pag. 509.
ä8 ) Zwei benachbarte Reliefs der Porte de la Vierge zeigen je einen Engel, der mit
Lanze und Schild bewaffnet, einen Teufel bzw. Drachen tötet. Im ersten trägt der Engel
Tunika und Mantel, im zweiten geht die komplizierte Tracht auf byzantinische Vorbilder
• •
zurück: über dem Unterkleid eine Art Dalmatika, dann ein Oberkleid mit Ärmeln und
Q
Repertorium Air Kunttwiuenschaft, XXXV. °
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
U4
K. Escher,
die Kunst zeichnet ihn gelegentlich vor seinen Begleitern aus, wo es sich
nach der apokalyptischen Erzählung um den Kampf der Engel gegen den
Satan handelt. Namentlich die Miniaturen des XV. Jahrhunderts legen
auf seine schöne Erscheinung, die prachtvolle Rüstung, den bunten Mantel
und die Flügel großes Gewicht. In der Gerichtsdarstellung zeichnet er
sich als Hauptfigur gelegentlich durch seine Größe vor den andern aus
(Kathedrale von Bourges), nur in bedingter Weise durch seine Tracht (Bour-
ges); Paris 7 °). Bei der Auferstehung Mariä überreicht Michael Christo
die Seele seiner Mutter 7 1 ), während sich deren Körper, schon neu beseelt,
mit Hülfe der übrigen Engel aus dem Sarkophag erhebt: es sind
mir nur Portalreliefs des XII.—XIII. Jahrhunderts mit dieser Dar-
dem Loros. Abguß im Museum des Trocadero. Marcou, Mus£e de Sculpture comparee.
S6rie II, planche u.
**) Les tresrichesHeuresdeJeande France, duc de Berry, v. Chan¬
tilly, ed. von Paul Durrieu. 1904. Tf. LXIV. St. Michael schwebt über Mont St. Michel.
Heures de Milan (Besitz des Fürsten Trivulzio), von den Malern des Herzogs von
Berry, 1412. Historische Einleitung von Georges H. de Loo. Tf. XVII*. St. Michael trägt
Tunika, Mantel, Krone, Lanze mit Fahne und Kreuz, Schild; in den Flügeln Pfauenfedern.
Auf demselben Blatte erscheint er in der Initiale B als Seelenwäger, darunter mit andern
Engeln — alle in Rüstung — die Dämonen besiegend. Auch das XIV. Jahrhundert kennt
den Drachentöter Michael mit Krone: Elfenbeindiptychon. Collection £tienne Moreau-
Ndaton. Expos, r^trospective du Petit Palais 1900. No. 120.
7 °) Auf dem Gerichtsrelief der Kathedrale von Bourges (Mittelportal der West¬
fassade, XIII. Jahrhundert) nimmt Michael dieselbe Höhe ein wie neben ihm zwei Figuren¬
reihen übereinander. Sein Unterkleid ist nur an den Handgelenken sichtbar, darüber
trägt er eine ungegürtete Tunika. Ausschließlich mit einer ungegürteten Ärmeltunika ist
derjenige Engel bekleidet, welcher, in der hintern Reihe, nächst dem Paradies eine nackte
Seele trägt, während derjenige links neben Michael mit gegürteter Tunika und Mantel
bekleidet ist. VgL Marcou, Mus6e de sculpture comparle. S6rie II, planche 62 und 63
Im »jüngsten Gericht» am Mittelportai von Notre-Dame in Paris ist Michael (sofern die
erneuerte Figur genau der ursprünglichen entspricht) kaum größer als die andern; er trägt
gegürtete Tunika und Mantel, während die Engel mit den Passionswerkzeugen entweder
nur die Tunika tragen oder ganz in den Mantel eingehüllt sind. Am Gerichtsrelief der
Kathedrale von Chartres (Mitteltüre des südlichen Querflügels) überragt St. Michael ab
Mitteifigur der untern Zone alle andern, unterscheidet sich aber in der Tracht nicht. Am
Gerichtsportal der Kathedrale von Amiens ist Michael nicht größer ab die andern Figuren,
unterscheidet sich aber in der Kleidung von den ihm zunächst gruppierten Engeln. (Vgl.
Georges Durand, Monographie de P£glise Notre-Dame, cathldrale d’Amiens. Vol. I. Tf.
XXXVI.) Am Gerichtsrelief von Reims fehlt Michael.
7 X ) Vgl. Jacobus a Voragine, Legenda aurea, cd. Th. Graesse, pag. 509. Christus
erscheint mit Engebcharen beim Grab Mariae, um seine Mutter zu erwecken. »Quo annu-
ente Michael archangclus continuo affuit et Mariae animam coram domino praesentavit.
Tune salvator locutus cst dicens: surge proxima mea, columba mea, tabemaculum gloriae,
vasculum vitae usf. Statimque anima ad Mariae accessit corpüsculum et de tumulo prodiit
gloriosum sieque ad aethereum assumitur thalamum comitante secum multitudine ange-
lorum.* Vgl. £mile Mile, L’art rdigieux du XIII e siede en France p. 292.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die Engel am französischen Grabmal des Mittelalters usw.
1 *5
Stellung bekannt: Mantes und Laon, aber auf keinem von ihnen unter¬
scheidet sich Michael äußerlich von den übrigen Engeln. Auch am
Tympanon eines Portals des nördlichen Querflügels der Kathedrale
von Chartres ist die Auferweckung Mariä dargestellt »Les archanges
Michel et Gabriel tiennent sur une nappe l'äme trbs pure de Marie
qui va se röunir ä son corps afin d'fitre 61ev6e en corps et en äme ä la
droite de son divin Fils.« Gerade die nördlichen Portale sind seit langer
Zeit der Gerüste wegen unzugänglich; soweit aus Photographien zu
schließen ist, befinden sich diese beiden »Erzengel« als kleine Halbfiguren
in einer Art Hohlkehle, die sich über der ganzen Komposition hinzieht.
Eine Untersuchung, ob sich diese beiden Engel wirklich von den übrigen
unterscheiden, ist also hier unmöglich. Man kann sich also fragen, wie die
erwähnte Stelle in so bestimmter Weise von Michael und Gabriel sprechen
kann 73).
Im *P61erinage de Tarne des Guillaume de Deguilleville 7«) wird die
Seele, um gerichtet zu werden, von ihrem Schutzengel vor St. Michael
mit seinen Beisitzern geführt, während die Sinderesis, d. h. der Gewissens¬
wurm, die Anklage vertritt und der Teufel sein Recht auf die Beute geltend
macht. Auf der uns vorliegenden Darstellung thront Michael zwischen
zwei genau gleich gekleideten Engeln: weiße Tunika und weißer Mantel,
nur daß er ein Diadem mit Stirnschmuck trägt. Er ist also wenigstens da¬
durch von den andern Engeln unterschieden. Das Manuskript fond frangais
12465 der Pariser Nationalbibliothek 75) gibt eine etwas abweichende Dar¬
stellung dieser Szene. Michael richtet allein, trägt nur die gegürtete Tunika,
rote Flügel, goldenen Nimbus, keinen besonderen Kopfschmuck, ist aber
7 *) Monographie de la cathldrale de Chartres, par l’abbl Bulteau, Tome II, pag. 188.
Dazu Photogr. F. Martin-Sabon, 4842, 5028. Ähnlich sind Engel und eine Osterszene an¬
gebracht am Chor der Kirche von Le Bourget (Ain). XIII. Jahrhundert. Abb. bei Vitry
und Bri&re op. cit. Tf. LXXVII, fig. 4.
73 ) Ähnlich sind weihrauchspendende Engel am Gerichtsrelief der Kathedrale von
Bourges, über der ersten Zone, gruppiert. Auf der betreffenden Darstellung der Porte de la
Viirge an Notre-Dame in Paris steht je ein Engel zu Häupten und zu Faßen des Sarkophages
und beide fassen die Enden des Leichentuches, um den Körper Mariae herauszuheben.
In Senlis erscheint der Körper schon neu beseelt: Maria erhebt sich aus dem Sarkophag
und streckt den Engeln die Hände entgegen. Am Westportal der Kirche von Longpont
(Seine-et-Oise) war möglicherweise auch dargestellt, wie Michael Christo die Seele über¬
reicht. Andernfalls würde dies Relief mit demjenigen von Amiens übereinstimmen. Pbotogr.
F. Martin-Sabon, Nr. 3793, 3795.
74 ) publiziert von J. J. Stürzinger, Ph. D. printed for the Roxburghe Club, London
1895. Vgl. Gustav Ludwig, Giovanni Bellinis sogen. Madonna am See in den Uffi¬
zien, eine religiöse Allegorie. Jahrbuch der kgL preußischen Kunstsammlungen.
Vol 23. Berlin 1902. p. 163 ff.
73 ) fol. 91.
8 *
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
K. Esch er,
116
größer als der andere Engel. Auf fol. 9100 erscheint neben ihm ein roter
Cherub. Michael ist also genau wie die anderen Engel gekleidet, allein da
nur er das Richteramt vollzieht, somit ohne weiteres durch den Text genannt
wird, konnte der Künstler auf eine besondere Charakterisierung verzichten 7*);
die Cherubim sind ohnehin meist völlig verschiedene Wesen, so daß Michael
auch ihnen gegenüber nicht besonders kenntlich gemacht werden mußte.
Wo Michael allein dargestellt ist, braucht er nicht besonders charakterisiert
zu werden, auch wenn er nicht als Drachentöter oder Seelenwäger erscheint;
tritt er aber mit andern Engeln zusammen auf, so wird er schon im XIV.,
wie auch im XV. Jahrhundert zuweilen als Hauptperson irgendwie heraus¬
gehoben 77). Es versteht sich aus dem einleitungsweise Gesagten von selbst,
daß die französische Kunst den Erzengel Michael hauptsächlich und vor¬
wiegend als den gerüsteten Krieger, den Führer der hifhmlischen Miliz dar-
stellt, und zwar meist im Kampf mit dem Drachen. Viel seltener erscheint
er dagegen in friedlicher Mission, in unkriegerischer Kleidung. In diesem
Falle nur als persönlicher Schutzpatron. So im Missale der Karmeliter von
Nantes 7 8 ). St. Michael als Patron der Herzogin Maria von der Bretagne
trägt Tunika und Mantel nebst Kreuz; ihm gegenüber Gabriel als Patron
der Herzogin Jeanne de France ist als Diakon gekleidet, führt aber eben¬
falls den Kreuzstab. Das XV. Jahrhundert liebte es, die Engel, mögen
sie nun als Musikanten fungieren oder Wappenschilde halten, in reiche Ge¬
wänder, namentlich in Alben, Dalmatiken, Pluviales usw. zu kleiden und ihre
Stirn mit Diadem und Kreuz zu schmücken; doch war die Wahl und Verwen-
7 *) In ähnlicher Eigenschaft und durchaus übereinstimmend kommt St. Michael
noch vor auf fol. 93, 95’°, 96, 96™, 98, 98™, 103, 103’°, 104’°, 105, 105™.
77 ) An der Annunziatenkapelle der Kathedrale von Amiens (etwa 1302) sind die
drei Erzengel dargestellt, Gabriel mit Maria, Michael als Drachentöter und Raffael mit
Szepter oder Spatel in der Linken; trug auch auf der r. Hand einen Gegenstand. Alle sind
in Tunika und Mantel gekleidet, aber nur bei Michael wird der Mantel in deutlich sichtbarer
Weise durch eine Agraffe zusammengehalten. (Vgl. Georges Durand, Monographie de
l’6glise Notrc-Dame cathldrale d’Amiens. Tome I. pag. 475. Auch auf den die ganze
Apokalypse in ursprünglich 90 heute noch 67 Bildem darstellenden Tapisserien wird in der
Kleidung der Engel gewechselt. Michael erscheint nur im Kampf gegen den Satan, zu¬
sammen mit seinen Engeln (vgl. Louis de Farcy, Monographie de la cath6drale d’Angers,
1901, und Separatabdruck: M. L. de Farcy, Les Tapisseries de la cath^drale d’Angers).
Die Apokalypse entstand zwischen 1377 und 1379, und 34 der 67 noch erhaltenen Kompo¬
sitionen sind mit Miniaturen identisch.) Die vier begleitenden Engel tragen eine weiße
Tunika mit Kragen, Lanze, Schwert oder Spruchband; Michael allein trägt überdies noch
einen Mantel und als Waffe ein langes Kreuz (Apokal. XII, 7).
7 8 ) Illustrations of one hundred manuscripts in the library of Henry Yates Thompson.
Vol. I. London 1907. Plate XXX, No. 34. fol. 7. Die Herzogin Maria war die Gattin des
Herzogs Johanns IV., f 1399. und Tochter Eduards III. von England. Vgl. ib. Tf. XXXII,
No. 34, fol. 20 vo .
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die Engel am französischen Grabmal des Mittelalters usw. I 17
düng dieses Schmuckes anscheinend dem Belieben des Künstlers bzw. Auf¬
traggebers unterstellt 79). Auch Michael trägt Diadem mit Kreuz; dagegen
•
ist die Form des Diadems, wie es der eine Engel auf dem Grabstein in Melun
trägt: Kronreif, der sich über der Stirn zu einer Spitze erhöht — in Frank¬
reich sehr selten zu treffen, in Italien dagegen sehr gebräuchlich *°) m
Auch ikonographisch läßt sich die Deutung jener zwei Engel auf
St. Michael wenn nicht strikte beweisen, so doch rechtfertigen. Der Erz¬
engel wurde im XV. Jahrhundert vorwiegend, aber nicht ausschließlich
als Krieger dargestellt; wo er in friedlicher Mission erscheint, wird er zu¬
weilen durch irgendein Abzeichen von den andern Engeln unterschieden;
das XV. Jahrhundert verfügte über eine größere kostümliche Mannigfaltig¬
keit bei der Engeldarstellung, ohne dabei übrigens mit den Unterschieden
im Ornat notwendigerweise immer Unterschiede im Rang der Engelgattungen
gemeint wären 81 ); nur wo ein einziger Engel unter mehreren so auffallend
79 ) Inden »Heures d* Anne de Bretagne# von Jean Bourdichon, Paris, Bibi. Nationale
Msc. fond lat. 9474, sind zwei Miniaturen den Erzengeln Gabriel und Michael, eine dem
Schutzengel gewidmet; Michel in Rüstung, mit Kreuzstab, Schild und Schwert, Gabriel
in gegürteter weißer Tunika mit Szepter und Spruchband; unter dem Schutzengel in
Dalmatika, mit Reisetasche und Schwert, ist wohl Raffael verstanden. Alle drei tragen
zudem ein Diadem mit Kreuz, das auch den den hl. Michael begleitenden Engeln gegeben
ist, dagegen den Engeln, welche sonst reich gekleidet, das Reliquiar mit der Dornenkrone
halten, nicht.
80 ) z. B. Hlg. Jungfrau mit Engeln in der Florentiner Uffizien, von Pietro Lorenzetti,
Madonna Giottos in der Florentiner Akademie. Mehrere Engel der Hierarchie am Grabmal
des Pietro Martire in St. Eustorgio in Mailand (Abbildungen bei Venturi, Storia deiT arte
italiana, IV und V). Mehrere der Engelfiguren an der Porta della Mandorla am Florentiner
Dom. Die Beispiele wären leicht zu vermehren. In Frankreich: Engel auf dem sogen,
fvitrail de St. Thibault ou de Tarcheveque 1409—1410 in der Kathedrale von Bourges
(Vitraux peints de la cathidrale de Bourges, post^rieures au XIII e siede, planche 7). Vgl.
auch: Les tres riches Heures de Jean de France duc de Berry ä Chantilly, par Paul Durrieu,
1904, Tf. LXIV, p. 159. Michael im Kampf gegen den Drachen; in kleinen Medaillons
Halbfiguren von Engeln in grünen goldgestickten Dalmatiken und mit dem entsprechenden
Diadem.
81 ) Die strenge Unterscheidung zwischen den einzelnen Chören ist nur literarisch,
nicht ikonographisch festgehalten. Am weitesten geht darin die »Legende de St. Denis#,
1317 (Msc.Biblioth&que Nationale de Paris, fond frangais 2090—2092 ed. Henri Martin,
Paris 1908, planche XIX. Ohne Beischriften wären die Unterschiede zwischen den Chören
nicht erkennbar; alle Engelchöre sind genau gleich gekleidet. Die Seraphim, Virtutes und
Engel musizieren, die Cherubim und Potestates tragen Kronen, die Throne und Principatus
beten an, die Dominationes und Erzengel spenden Weihrauch. In einer Handschrift des
Pelerinage de l’äme# des Guillaume de Deguilleville, Paris, Bibliothique Nationale, Msc.
fond fran^ais 12 465, XIV. Jahrhdt. fol. 139™ erschienen Christus und Maria über den Engel¬
chören thronend: Das Bildfeld ist in neun Zonen mit abwechselnd blauem und rotem Grund
geteilt: nur die erste Ordnung, die Seraphim, sind unterschieden: Kopf zwischen vier roten
Flügeln; alle andern Chöre sind durch anbetende Halbfiguren von Engeln dargestellt.
Selbst die Unterscheidung zwischen Cherubim und Seraphim ist keineswegs sicher. (Vgl.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
118
K. Es eher,
heraus gehoben ist, wie es die beiden in Frage stehenden Grabsteine zeigen,
ist man berechtigt, eine beabsichtigte Unterscheidung anzunehmen, und eine
solche erklärt sich zudem bei Michael, dem »praepositus paradisi« am besten.
Der Häufigkeit der liturgischen Stellen entspricht die Zahl der Denk¬
mäler mit Engeln, welche die Seele des Toten ins Paradies, in Abrahams
Schoß tragen; auch von Michael ist schon im früheren Mittelalter die Rede,
daß er die Seelen in die ewige Seligkeit einführe; aber vorläufig ließen sich
keine Denkmäler nachweisen, welche, über das XV. Jahrhundert zurück¬
reichend, die Annahme einer solchen Darstellung rechtfertigten. Damals
tritt, vielleicht in Verbindung mit der allgemeinen Michaelverehrung in
0 . Wulff, Cherubim, Throne und Seraphim, Ikonographie der ersten Engelshierarchie in der
christlichen Kunst I. Lpz. Dissert. Altenburg 1894, pag. 66 und pag. 88, 90. Im Manu¬
skript fond. latin 9471 der Bibliotheque Nationale, Heures du XV C siede sind selbst die
Cherubim der Bundeslade zweimal verschieden dargestellt: fol. 195™ mit Körper, zwei
Flügeln und zwei Armen, aber ganz rot, fol. 205™ als Kopf zwischen sechs roten mit gold
gehöhten Flügeln. Es scheint, daß allgemein die roten vier- und sechsflügeligen Wesen
ohne Füße als Cherubim gedeutet werden. Vgl. Le comte A. de Laborde, Les manuscrits
k peintures de la Cit6 de Dieu de St. Augustin. Er spricht von sechsflügeligen roten Cheru¬
bim bei Nr. 54 (Paris, Bibi. Nat. Msc. fond. fr. 18 und 19. und Genf, Bibi, de la ville, Msc.
frangais 79.). Zweiflügelige Wesen (Farbe?) auf einer Darstellung der Trinität in Msc.
fond fr. 22, (ca. 1432) in Bibi. Nat. zu Paris werden als Seraphim gedeutet, während bei
Nr. 58 (Msc. 322 in Musie Cond 4 in Chantilly, ca. 1484), nebst der troupe rouge des Chi-
rubins nur von der cour azuree des cohortes Celestes gesprochen wird. — Häufig erscheint
in französischen Miniaturen des XV. Jahrhunderts die Trinität von roten und blauen
Engelwesen umgeben. (Vgl. Jehan Fouquet und Paris, Bibi. Nat. fond. lat. 9471, fol. 143™,
fol. 210). Selten aber dürfte um diese Zeit eine genauere Spezialisierung der Engelchöre
vorgenommen worden sein; wo sie sich findet, fehlen die erklärenden Beischriften. A. de
Laborde, Les manuscrits k peintures de la Cit6 de Dieu de St. Augustin, deutet bei Nr. 3
(Paris, Bibi. Nat. Msc. fond. fr. 22. beim Sturz der bösen Engel die sie bekämpfenden
Engel, weiß gekleidet und mit Lanzen bewehrt, als Erzengel. Sehr eingehend ist die himm¬
lische Hierarchie in Msc. I (1480) der Bibi. Municipale zu Mäcon geschildert. (A. de La¬
borde, op. cit. Nr. 57. Tf. CXXVII.) Auf jeder Seite der Trinität reihen sich etwa 8 Ränge
von Engeln auf: die innersten sind vierflügelig und mit Federn bedeckt, die folgenden ein¬
farbig, aber mit Tunika, Stirnband mit Kreuz; andere erscheinen gerüstet, andere in
Diakonengewändern. — Die Seraphim wurden im XIII. Jahrhundert sechsflügelig mit
unbedeckten Armen und Füßen dargestellt: Sockelrelief an der Fassade der Kathedrale
von Amiens (Darstellung von Jesaja VI 2—6); Kathedrale von Reims: Giebelrelief über
dem Hauptportal: Krönung Mariae, daneben zwei Seraphim. Bogenkehle am Mittelportal
der Kathedrale von Bourges; sie tragen kein Attribut, stimmen aber sonst mit den Vor¬
schriften des Malerbuches vom Berge Athos (Didron, Manuel de Piconographie chr^tienne
grecque et latine, Paris 1845, pag. 71—74) und den Malereien von Iviron auf Athos (Didron
op. cit. pag. 75) überein. W. H. v. d. Mülbe, Die Darstellung des jüngsten Gerichtes
an den romanischen und gotischen Kirchenportalen Frankreichs, Leipzig 1911, be¬
zeichnet sie pag. 53 als Seraphim. Solche finden sich auch am Gerichtsportal in
Chartres, v. d. Mülbe, Taf. V, und am Mittelportal der Kathedrale von Nantes
(XV. Jahrhundert).
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die Engel am französischen Grabmal des Mittelalters usw. % j g
Frankreich, dieser Gedanke auch in den Heures und Suffrages häufiger und
stärker hervor. — Auch auf ikonographischem Wege läßt sich die Hypothese,
Michael sei auch als susceptoranimarum dargestellt worden, stützen. St. Mi¬
chael ist als geflügelter Drachentöter, besonders wenn er (seit dem XIV. Jahr¬
hundert) gerüstet erscheint, vor den andern Engeln ohne weiteres kenntlich,
ebenso auf den Szenen der Auferstehung Mariae, auch wenn er in der Tracht
nicht von den andern Engeln unterschieden ist. Am häufigsten erscheint
er mit andern Engeln zusammen auf Darstellungen des jüngsten Gerichtes,
ist auch dort als Seelenwäger ohne weiteres erkennbar, vielfach durch seine
Größe, gelegentlich auch in seiner Tracht wenigstens von den ihm zunächst
stehenden Engeln unterschieden. Mehr oder minder auffallende Merkmale
der Unterscheidung Michaels gegenüber andern ihn begleitenden Engeln
lassen sich leicht auch bei andern Szenen nachweisen, in welchen St. Michael
vorkommt (z. B. P&leringe de l'äme). Im XV. Jahrhundert kam St. Michael
auch in friedlicher Mission und unkriegerischer Kleidung — als Schutzpatron —
vor. Da nun auf den beiden Grabsteinen von Melun und Le Mesnil-Aubry
die Unterschiede in der Tracht der Engel so auffallend sind, so muß eine
Unterscheidung im Rang der Engel beabsichtigt sein; eine Figur ist beson¬
ders herausgehoben; die zahlreichen angeführten Stellen der Liturgie und
der durch ikonographische Untersuchungen gewonnene Schluß lassen nur
eine Deutung auf den Erzengel Michael zu.
Nachtrag. I. Cherubim finden sich, nebst anbetenden und weih¬
rauchspendenden Engeln, auf dem Grabstein des Antoine de la Haye,
Abtes von St. Denis, (t 1504 ) 8l ). 2 . Michael an der Spitze der Engel
in einem Manuskript der Bodleiana, X. Jahrhundert. Michael gegen den
Drachen kämpfend und zugleich Seelen beschützend in einem Manuskript
des britischen Museums, XII. Jahrhundert 8 3).
**) Guilhermy, Inscriptions II. planche III. pag. 182.
* 3 ) Fr. Wiegand, Der Erzengel Michael, pag. 36 und 37.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Studien zur Altfrankfurter Malerei *).
Von Karl Simon.
II. Die Darstellung im Tempel.
Die Darstellung im Tempel, die sich im Frankfurter Historischen Mu¬
seum befindet, hat die Forschung schon mehrfach beschäftigt. In dieser
Zeitschrift haben zuerst Rieffel (Bd. XV (1892), S. 297) nach Scheiblers
Vorgang, dann Weizsäcker (Bd. XXV, S. 82 f.) Werke, die diesem Bilde ver¬
wandt sind, zusammengestellt. Letzterer nennt als solches das unbekannte,
früher Dürer zugeschriebene Porträt in v. Holzhausenschen Besitz (seit
kurzem als Leihgabe im Städelschen Institut); die Anbetung der Könige und
die Steinigung des Stephanus in Mainz, und den Christus in der Kelter in
der Gumbertuskirche zu Ansbach. Der Katalog des Münchener National¬
museums gab demselben Künstler dann noch die Darstellung aus der Le¬
gende des h. Jacobus. Dazu fügte Carl Gebhardt in dieser Zeitschrift
(Bd. XXXI, 1908, S. 444) die Kreuzesfindung im Nürnberger Germanischen
Nationalmuseum, und endlich brachte Flechsig a ) vier Darstellungen aus
dem Leben des Paulus und Petrus Martyr in der Leipziger Paulinerkirche
unter Beistimmung von Dornhöffer in Zusammenhang mit der Darstellung.
Ganz kürzlich hat sich Fr. Rieffel noch eingehend mit der Gruppe beschäftigt
‘) Vgl.Bd.34Heft4dieserZeitschriftS. 333 b; leiderist bei der Korrektur der zumTeil
Irrtümliches enthaltende letzte Satz stehen geblieben. Drei der dort besprochenen Bilder
hatte inzwischen, worauf nicht mehr hingewiesen werden konnte, auch C. Gebhardt zu
einer Gruppe zusammengestellt (Monatsh. f. Kunstw. IV (1911), S. 416!.). Frz. Rieffel
macht mich freundlicherweise darauf aufmerksam, daß auch in Mainz ein Träger des
Namens Fyol kürzlich nachgewiesen worden ist: ein Petter Fyol wird in einem Bruder¬
schaftsbuch (im Pfarrarchiv der Sebastianskirche in Mainz) mit Frau, Tochter, Knecht und
Magd in den Jahren vor 1505—' 5 M als Mitgliedern genannt. 1514 tritt er von seinem
Amt zurück und muß bald darauf gestorben sein. (Frz. Theod. Klingelschmitt im Mainzer
Journal 1911, Nr. 84, 8. April 1911). Sein Stand ist nicht angegeben, doch deutet die
Bezeichnung »ersam« auf einen Handwerker; ob er etwa Maler gewesen, steht also dahin;
ebenso natürlich, ob er in diesem Falle mit dem Dreikönigsbild in irgendwelchen Be¬
ziehungen steht. Zu Konrad Fyol ist noch nachzutragen, daß er bereits 1448 Bürger
von Frankfurt geworden ist. (Bürgerbuch IV 65 V.)
J ) Sächsische Bildnerei und Malerei. Lief. 1, Leipzig 1909.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Studien rur Altfrankfurter Malerei.
I 2 I
und ein größeres Material in höchst lehrreicher Weise verarbeitet 3 ). Ich
halte mich hier nur an die wichtigsten Bilder.
Gebhardt glaubte auch den Namen des Meisters nennen zu können,
insofern er glückliche Urkundenfunde, die den von Dürer genannten Martin
Heß betrafen, auf den Meister der genannten Bilder bezog. Freilich m. E.
nicht in zwingender Weise; es fehlt jede Verbindung zwischen den Urkunden
dort und den Werken hier, wenn man nicht die rein zeitliche Koinzidenz
als solche ansehen will. Auch Weizsäcker hatte schon früher den Gedanken
gehabt, ihn aber ausdrücklich abgelehnt.
Ich glaube nun, es läßt sich nicht nur indirekt, sondern auch direkt
Abb. i: Ausschnitt aus der Darstellung; im Tempel, Frankfurt a. M., Städtisches
Historisches Museum.
nachweisen, daß der Meister der Frankfurter Darstellung nicht Martin
Heß ist. In dem Miedereinsatz der Frau mit den Tauben rechts von Maria
finden sich nämlich in zarten Linien eingestickt zwei durch einen Punkt
getrennte Zeichen, die man kaum anders wird lesen können als S. A. (S.
Abb. I.) Obgleich sic garnicht undeutlich sind, das A sogar recht klar
hervortritt, scheint sie noch niemand beachtet zu haben. Was sie bezeichnen
sollen, ist mit Sicherheit schwer zu sagen; es könnte die Bezeichnung
einer Heiligen sein; Sancta A . . ., aber in dieser Form wäre sic ungewöhn¬
lich, und die Frau ist auch keine Heilige. Wäre sie ein Porträt, so könnten
die Buchstaben auf den Namen der Dargestellten deuten, aber auch das
wäre ungewöhnlich, und den Eindruck eines Porträts macht das Gesicht
5 ) Monatshefte für Kunstwissenschaft IV' (1911), S. 341 f.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
122
Karl Simon,
auch nicht. Jedenfalls könnte auch der Maler selbst die Initialen seines
Namens hier angebracht haben, wie es etwa Dürer auf dem Berliner weib-
liehen Porträt, gleichfalls auf der Stickerei der Brust getan hat, wenn man
das A. D. nicht als »Agnes Dürer« auffassen will.
Es ist wohl noch nicht möglich, einen bestimmten Künstler für diese
Initialen in Anspruch zu nehmen. Eine Durchsicht der Bürgerbücher
dieser Zeit berechtigt uns auch zu der bestimmten Behauptung, daß der
Maler S. A. nicht Frankfurter Bürger gewesen ist. Sehr wohl aber kann
er natürlich in der Werkstatt eines hiesigen Malers tätig gewesen sein. Be¬
stünde der Name des Simon von Aschaffenburg zu Recht, d. h.
wüßten wir nicht nur, daß seine Witwe in Aschaffenburg gewohnt, sondern
daß er sich selbst so genannt habe 4 ), so läge die Versuchung nahe, an ihn
zu denken.
Daß der Meister S. A. vielleicht mit der Werkstatt der Fyol in engerer
Beziehung gestanden hat 5 ), brauchte daran nicht zu hindern: in der zweiten
Hälfte des 15. Jahrhunderts hat es in Frankfurt von Aschaffenburgern
geradezu gewimmelt. Außer dem Zusatz »von Aschaffenburg« finden wir
in den Bürgerbüchern auch die Benennung »Aschaffenburger«. Die erstere
Bezeichnung bleibt auch unter Umständen den Söhnen dieser Leute, die
schon als Frankfurter Bürgersöhne geboren werden. Gerade ein Maler
Friedrich von Aschaffenburg ist urkundlich bereits zum
Jahre 1459 bezeugt; er liefert nämlich in diesem Jahre für die Frankfurter
Sebastiansbruderschaft in die Dominikanerkirche »eynen Sebastianum mit
zweyne schuczen und eynem gehuse«, der Preis beträgt 180 Gulden 6 ).
Sonst ist das Bild, zu dem wir jetzt zurückkehren, ja allgemein be¬
kannt 7 ), nur einzelnes sei hervorgehoben. Die Komposition ist sehr ge¬
drängt; nur der Hohepriester und Maria sind in ganzer Figur sichtbar,
einigermaßen noch die Frau mit den Tauben. Sonst überschneiden sich
die Figuren, sodaß nur Teile, schließlich nur Köpfe übrig bleiben, für deren
zugehörende Körper kaum Platz zu denken ist.
So gedrängt die Komposition, so zerstreut ist die Aufmerksamkeit der
dargestellten Personen. Nur die Hauptgruppe ist einigermaßen bei dem,
was sie tut; die Blicke der übrigen fahren hierhin und dorthin aus dem
Bilde heraus, ja zwei der Köpfe rechts wenden sich, der eine sogar in scharfem
•*) Vgl. Niedermayer im Repert. 1884 S. 253, Anm.
5 ) S. den Aufsatz in Bd. 34 Heft 4 dieser Zeitschrift S. 347.
6 ) S. R. Jung im Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst 3. F. Bd. 7. (1910).
S. 306. — Der Maler war übrigens, wie sich aus dem BUrgerbuch ergibt, bereits 1448
durch die Heirat mit einer Burgerstochter oder -witwe Bürger geworden.
7 ) Abb. u. a. bei G. v.Tirey: DieGemälde des Hans Baidung Grien. Bd. IITaf. 114.
Kunsthist. Ges. f. photograph. Publ. II.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Studien zur Altfrankfurter Malerei.
123
Profil, wie ostentativ von der Handlung ab. Es ist eine Addition von ein¬
zelnen Personen, die einander nicht das mindeste angehen. Wie die Figuren
zusammenkleben, nicht voneinander losgehen, so wirkt auch das Ganze
flach. Zwar wird versucht, unten durch die Stufen zum Altar, durch den
Läufer, oben durch das Gewölbe die Tiefenillusion zu erwecken, aber nur
mit geringem Erfolge. Schwer und patzig drängt der Altaraufbau mit
dem vielen Gold wieder nach vorn.
Überhaupt ist die ganze Raumdarstellung unverstanden. Die Längs -
wand des Tempels rechts weicht aus, um einen Ausblick in eine Landschaft,
die freilich noch goldenen Lufthintergrund aufweist, zu ermöglichen. Auch
sonst trägt nichts dazu bei, den Raum als Innenraum glaubhaft zu machen.
Ebenso wirkt im einzelnen alles flach, silhouettenhaft, und manches geradezu
falsch. So z. B. der bauschige Ärmel des Hohenpriesters, der nicht das
Geringste über das Gewand, vor das er sich legt, hervorragt, sondern in
einer Ebene mit ihm liegt. Auch die Säume des Gewandes vorn, die über
dem Ärmel erscheinen, treten nicht zurück, sondern laufen sich an dem
Ärmel tot.
Im Gegensatz zu diesen, ich möchte sagen primären Mängeln, die sich
auf die Ökonomie des Bildes als Ganzes beziehen, steht die vorzügliche
technische Behandlung des Einzelnen. Die überaus sorgfältige, liebevolle,
dabei durchaus nicht kleinliche Behandlung der Malerei, die sich nicht nur
auf alles prächtige Beiwerk, die Goldzieraten, die Frauenhauben und Ko¬
stüme, sondern auch auf die Gesichter mit den Licht- und Schattenflächen,
die feinen, in geschwungenen Strichen weiß gehöhten Haare, die Hände
mit den genau angegebenen Adern erstreckt. Einzelne Köpfe sind in ihrer
Art meisterhaft, so der würdevolle Hohepriester mit der stark gebogenen
Nase und besonders der kniende Mann hinter ihm, der die Schleppe seines
Mantels trägt, und in dem wir vielleicht das Selbstporträt des Künstlers
sehen dürfen, während der Patrizier über ihm vielleicht den Stifter des
Bildes darstellt.
Diese unleugbare Zwiespältigkeit in der Erscheinung des Ganzen läßt
zwei Erklärungen zu: der Maler, der eine ausgezeichnete technische Schu¬
lung besitzt, ist entweder ein älterer Mann, der sich von dem Neuen, das
er überall her um sich entstehen sieht, noch soviel aneignet, wie er irgend
kann, oder er ist ein jüngerer Mann von geringer, im eigentlichen
Sinne künstlerischer Begabung.
In dieser Hinsicht sind die Bemerkungen Ed. Flechsigs bezüglich der
Beziehungen des Bildes zu Dürer wichtig 8 ). Man habe bisher aus diesen
®) a. a. 0 . Zu den mit großei Sorgfalt nachgewiesenen Entlehnungen wüßte ich
nur den freilich veränderten Wandleuchter oberhalb des Kronleuchters hinzuzufügen
(B. 77: Joachims Opfer zurückgewiesen), ebenso den in Aufsicht gegebenen Standleuchter;
Digitized by
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
124
Karl Simon,
Beziehungen auf ein Schülerverhältnis des Malers zu Dürer geschlossen;
die zahlreichen Entlehnungen von Dürer zeigen aber nur, daß Dürersche
Stiche und Holzschnitte verwendet worden sind, ja gerade aus diesem
addierenden Verfahren könne man fast mit zwingender Notwendigkeit
folgern, daß kein direktes Schulverhältnis stattgefunden hat.
So kommt Flechsig dazu, in dem Maler nicht einen Schüler Dürers,
sondern Hans Baidungs sehen zu wollen. Das ist an sich sehr einleuchtend
und würde überzeugend sein, wenn sich die Entlehnungen nur auf Stiche
und Holzschnitte Dürers bezögen. Eis sind aber auch Beziehungen zu
dessen Gemälden vorhanden. So besteht eine Ähnlichkeit zwischen dem
Kopftuch der Maria der Darstellung und dem der in der gleichen Drei*
Viertelstellung gesehenen auf dem Dürerschen Dresdener Altar: man ver¬
gleiche links die kleine, dann die unmittelbar ansetzende große Falte, den
freibleibenden Teil des Kopfes, das Faltennest auf dem Kopfe. Und die Hand
des Sakristans ist, von einer einzigen Abweichung abgesehen, fast identisch
mit der Hand auf dem Porträt des alten Dürer von 1490. So hat doch wohl
der Maler nähere Kenntnis, gleichviel welcher Art, von der Dürerschen
Werkstatt gehabt, ohne freilich in Dürers Geist eindringen zu können.
Gerade das Wichtige und Neue bei diesem, wie er etwa einen Innen¬
raum glaubhaft macht, oder seinen Figuren trotz scheinbarer Überfülle
Platz schafft, und auch die Entfernteren in Beziehung zur Haupthandlung
zu bringen versteht — gerade das scheint ohne Eindruck geblieben zu sein.
Die Färbung ist im ganzen hell und leuchtend: Gold, Rot und Weiß
wird vor allem viel verwendet. Bei dem Hohenpriester tritt dazu noch ein
Blau-Grünlich im samtenen Kragen mit dem weißen Hermelinbesatz und
Rosa-Gelblich-Grün wechselnd in den Fransen; Maria erscheint in blau¬
grünem Gewand mit rosa Innenseite, die Frau mit den Tauben in Gold und
dunklem Moosgrün mit changierendem Futter, das in diagonalen Strich¬
lagen schattiert wird. Moosgrün auch in dem Futter eines Gewandes in
gebrochenem Rot, ähnlich moosgrün und blaßrot in der Kleidung des vor¬
ausgesetzten Stifters. Schwarz endlich in Barett und Gewand des als
Sakristan fungierenden Malers, das nur rote Fransen zeigt.
★ *
*
Ich wende mich nun zu einzelnen der Bilder, die mit unserer Dar¬
stellung in Beziehung gebracht werden sind, um sie, soweit ich mir ein
Urteil über sie habe bilden können, daraufhin zu prüfen. Die Beziehung
man vergleiche auf dem Blatt der Apokalypse B. 62 von den drei Leuchtern links den am
weitesten rechts mit dem — ijn Gegensatz zu den anderen — ruhig gehaltenen Fuß und dem
schuppengemusterten Schaft.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Studien zur Altfrankfurter Malerei.
,2 5
zu dem Frankfurter Bilde ist in diesem Zusammenhang allein maßgebend:
bei den Werken, wo diese Beziehung m. E. nicht besteht, ist daher auf Neu-
Attribution verzichtet worden.
Die Anbetung der Könige in Mainz ; städt. Gemäldesammlung Nr. 414 und 4159).
Ähnlichkeiten im einzelnen sind gewiß zwischen den beiden Bildern
in Fülle vorhanden: so in den Typen der Männer mit den gebogenen Nasen,
dem krausgelockten Haar, der Vorliebe für abgestreckte oder merkwürdig
gekrümmte Finger, ihre weit auseinanderstehenden Knöchel, die wie ge¬
schwollen aussehen, die unverhältnismäßig kleinen Nägel, gerade geschnitten
und mit aufgesetztem Glanzlicht; die in ganzen Flächen von Hell und
Dunkel modellierten Gesichter, die Behandlung von Bart und Haar in
einzelnen Büscheln: die Haare werden in einer Form gegeben, die sich dem
Halbkreis nähert, während von der entgegengesetzten Richtung in gleicher
Weise einzelne Haare über diese Büschel gelegt werden; die Runzelbil¬
dung an Augen und Nacken; die Bildung der Ohren, wo die obere Ein-
tiefung der Muschel gern halbkreisförmig an den oberen Rand stößt, die
vortretenden Adern u. a. m.
Wichtige Grundgefühle sind aber entschieden anders. Das Mainzer
Bild ist weiträumig; die einzelnen Figuren haben Platz, nirgends herrscht
Gedränge. Die Steinigung des Stephanus, bei der ein großes Aufgebot
von Menschen nahe liegen konnte, kommt mit wenigen aus. Es ist Interesse
für kräftige ausgreifende Bewegung; die Standmotive werden stark betont,
bis in die Figur auf der Fahne. Gerade das Interesse und das Verständnis
für Ponderation ist ein unterscheidendes Merkmal für die neue, fortschritt¬
lich gesinnte Generation. Dürer ist, man möchte sagen, mit wenigen
Sprüngen zur Stelle, langsamer der ältere Peter Vischer, aber überall regt
sich der Stolz darauf, eine Figur richtig, dabei mit Nonchalance auf die Füße
stellen zu können. Der Meister der Darstellung interessiert sich mehr für
die Köpfe, als für die Standmotive seiner Figuren. Man sage nicht, die
Gewandung hinderte ihn daran: es stand nichts im Wege, in Nebenfiguren
zu zeigen, was er konnte.
Auch die Draperie der Darstellung zeigt ein fast selbständiges Leben,
etwa in dem Windeltuch des kleinen Christus, dem freilich das Schleiertuch
der Maria in der Anbetung ähnlich ist. Beide sind wohl ohne Dürer kaum
möglich; es sei nur an seine Stiche: die vier Hexen und den Traum des Dok¬
tors erinnert. Die Ärmel an der Hand und auch die Enden sonst werden
auf der Darstellung sorgfältig gelegt, dabei doch an einzelnen Stellen un¬
natürlich: bei dem Hohenpriester und der Maria fällt der lange Ärmel nicht
9 ) Abb. in G. v. T£rcy, a. a. O. Bd. II, Taf. 113. Repert. a. a. O. (1892), zu dem
Aufsatz von Rieffel.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
126
Karl Simon,
bis auf die Hand herab, sondern ist oberhalb ihrer erstarrt, schmiegt sich
auch nicht den Formen der Hand an, sodaß ein beträchtlicher Luftzwischen¬
raum bleibt. Ähnlich bei dem Kopftuch der Maria, das den Hals in einem
Bogen umzieht. Es ist fast, als seien Gewohnheiten einer Schnitzwerkstätte
hier wirksam gewesen: der Ärmel zuerst fertig und dann die Hand nach¬
träglich angestückt. Oder auch Gewohnheiten des Holzschnittzeichners.
Auch der Armansatz wird gern auf diese Weise versteckt. Beides ist auf
dem Mainzer Bild nicht in dem Maße der Fall; der Armansatz wird gern
zur Verdeutlichung der Funktion betont (vgl. den auspackenden Knecht
— der übrigens sein Vorbild auf der Schongauerschen Anbetung der Könige
(B. 6) findet —, den Engel am weitesten links auf dem Dreikönigsbilde und den
Engel des Stephanusbildes; selbst den Stephanus oder den Hohenpriester
hinter ihm).
Dagegen stimmen beide in einer Eigentümlichkeit überein, die für die
Gemälde von wahrscheinlich Frankfurter Herkunft, vielleicht aber auch
für einen größeren Umkreis typisch ist: die Ruhe in den Ärmelenden nahe
der Hand. Mag der Ärmel sonst noch so bewegt sein, nach unten ebbt die
Bewegung ab, um mit einer glatten Fläche, durch keine Umschläge oder
Falten getrübt, abzuschließen. So ist es auf der Darstellung bei dem Hohen¬
priester und der Maria, so auf dem Mainzer Bild bei Joseph, auch bei Ste¬
phanus, vor allem bei dem Verkündigungsengel der Rückseite. Diese Art
mag dem milden mittelrheinischen Temperament besonders entsprechen,
jedenfalls unterscheidet sie sich scharf von Nürnberger und Dürerscher
Tradition, der auch Hans Baidung durchaus folgt.
Daß der Typus der Maria und ihrer Genossinnen auf den beiden
Werken gänzlich voneinander abweicht, muß doch hervorgehoben werden.
Sonstige Abweichungen in Einzelheiten sind weniger wichtig: daß die so
reich ausgebildeten Schlagschatten der Darstellung auf dem Mainzer Bilde
gänzlich fehlen, daß dem altertümlichen Nimbus mit den zwei roten Streifen
ein Strahlenkranz in Mainz entspricht. Stephanus zeigt freilich wieder den
festen Nimbus; wie hier wohl überhaupt ein anderer Maler am Werke gewesen
ist, der die Elemente seiner Landschaft, wie Flechsig nachgewiesen, Dürer
entlehnt.
Wichtiger ist wieder die dunklere Gesamtfärbung in Mainz; die reichere
Skala, dunkelgrüner Sammet, violette Ärmel usw., während in Frankfurt
helle Farben und das Rot-Gold vorherrschend sind. Sie wirken hier zu¬
weilen, wie Weizsäcker sehr richtig hervorhebt, fast branstig, in Mainz
dagegen transparent. Man hat das entschiedene Gefühl, daß der Maler S. A.
den Seidendamast so wie auf dem Mainzer Bild nicht habe malen können.
• •
Ähnliches könnte man von dem flotten Engelterzett in der Höhe sagen, wo
reines Profil, Dreiviertel- und Vorderansicht — diese in einer Verkürzung,
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Studien zur Altfrankfurter Malerei.
127
wie sie schon bei dem Tucheraltar in Nürnberg (Augustus und Monika)
versucht wird — in den mannigfaltigst individualisierten Gestalten er¬
scheinen. Das Gleiche gilt von dem aller materiellen Schwere entkleideten,
in dem wallenden Haupthaar versinkenden Kreuz bei dem Verkündigungs-
engel der Rückseite oder von den lang und vornehm herabhängenden
Ärmeln; das alles sind Zeugnisse einer ganz anderen Kultur, als sie der
Meister S. A. aufbringen kann.
Hier ein schweres, an Dürer genährtes, fast monumentales
Pathos, vereint mit einem sehr ausgesprochenen Zug für Noblesse;
dort das Getümmel einer an künstlerisches Disponieren noch nicht recht
gewöhnten, aber achtungswerten Provinzialkunst, die die Löwenhaut des
Monumentalen freilich nicht recht ausfüllt und aus Dürerschem Schmaus
ein Ragout zusammenbraut. Dabei ist auch der Künstler des Mainzer
Bildes kein Gestalter ersten Ranges, sondern was er besitzt, verwendet er
wieder; so wiederholt der Hohepriester des Stephanusbildes im linken Fuß
die Stellung des Mohrenkönigs, und der Verkündigungsengel ist in Typus,
Stellung, Haltung, Gewandung bis in Einzelheiten hinein nur eine sinn¬
gemäße Abwandlung des Johannes unter dem Kreuz.
Die Übereinstimmungen mit der Darstellung betreffen Dinge, die sehr
wohl lehr- und lernbar sind; die Verschiedenheiten sprechen m. E. für ver¬
schiedene künstlerische Temperamente. Das Frankfurter Bild ist alter¬
tümlicher im einzelnen nicht nur, sondern in grundlegenden Dingen, eine
Entwickelung etwa zu dem Mainzer Bilde erscheint nicht möglich. Dieses
selbst stammt wohl aus derselben Schule, aber von einem moderneren,
wahrscheinlich jüngeren Künstler.
Was die Datierung angeht, so hat Rieffel scharfsichtig darauf aufmerk¬
sam gemacht, daß die Figur des Mohrenkönigs »in Stellung und Bewegung
und sogar bis in die kleinsten Eigentümlichkeiten der bizarren Modetracht
hinein« auf zwei Darstellungen der Mainzer Liviusausgabe des Johann
Schöffer von 1505 wiederkehren (Bl. 286 Antiochus hält Landtag, Bl. 403
Demetrius wird erdrosselt I0 ). Der Zeichner müsse also das Bild gekannt
haben. Die Übereinstimmung ist in der Tat sehr weitgehend, wenn auch
einige Verschiedenheiten in der Tracht, so in denÄrmeln • Vorkommen. Nur
,0 ) Noch ähnlicher in der Energie der Bewegung erscheint mir der gleichfalls, wie
der Mohrenfürst, das Barett in der Hand haltende Mann auf dem zweimal vorkommenden
Holzschnitt Blatt 331 b und 386; nur ist er von der Gegenseite gegeben. (Übrigens werde
ich bei dem Formschnitt auf Bl. 283 den Gedanken an die Komposition des Stephanus¬
bildes nicht los.) Stellung und Tracht sind dann weiter sehr ähnlich bei dem Mann in dem
Titel-Holzschnitt von Eucharius Rösslin: Der Swangeren Frauen Rosengarten. Stra߬
burg bei Martin Flach und Hagenau bei Heinrich Gran 1513. Auffallend ist hier das
Monogramm, das dem Grünewalds sehr ähnlich ist. (Abb. bei H. A. Schmid, M. Grüne¬
wald, Text S. 387.)
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
128
Karl Simon,
aus Gründen der Vorsicht möchte ich auf die Möglichkeit hinweisen, daß
für beide Darstellungen ein Archetypus vorliegen könnte, gerade auch da
das Bild nachweisbar mit Entlehnungen arbeitet. Für die Stellung möchte
ich wenigstens auf den frühen Dürerstich der Türkenfamilie (B. 85) hin-
weisen, wo die Frau genau in der gleichen Schrittstellung erscheint. Sonst
kommt diese allerdings im ganzen gemalten und gedruckten Dürerwerk nicht
wieder vor.
Die Bilder aus dem Leben des Paidus und Petrus Martyr in der Leipziger
Paulinerkirche 1I ).
Einzelnes ist der Darstellung wohl ähnlich: so die Vorliebe für charak¬
teristisch gebogene Nasen, auch der Typus des Paulus, der an den Hohen¬
priester erinnert; freilich ist er nicht so monumental, sondern kleinlicher.
Selbst bei scheinbaren Ähnlichkeiten fallen aber Verschiedenheiten auf:
so bei den Händen, denen das Verkrümmte fehlt. Haare und Bart sind
nicht weiß, sondern fast ausschließlich leicht gelblich gehöht, und die Striche
verlaufen nicht gekrümmt, sondern gerade. Stand- und Spielbein sind
stark betont, auch unter der Gewandung scharf angegeben; die Proportionen
sind zuweilen unmöglich. Das Inkarnat ist durchgehends dunkel oder
schmutzig braun, hier und da auch grau, nirgends gesund und rötlich wie
in der Darstellung. Bei letzterer begegnet einmal ein leises öffnen des Mundes,
in Leipzig ist dieses öffnen des Mundes, in dem die Zähne zum Vorschein
kommen, geradezu typisch geworden: auf dem einen Bilde zwei, auf einem
anderen gar viermal: Stephanus, der Henker, sogar der Entfliehende, alle
blecken die Zähne. Die ganze Arbeit ist gröber, handwerksmäßiger; man
vergleiche etwa die Haube der Frau rechts auf dem Bilde: Paulus und die
Schlange, oder etwa den Ärmel des Stephanus, oder die Kopftücher, wie da
die Falten muldenförmig ängstlich, wie aus Papier gelegt sind. Die Details
sind gern verschwommen und verwaschen. Davon ganz abgesehen, daß
nirgends Goldluftgrund, sondern der Himmel über ausgeführterer Land¬
schaft erscheint. Schlagschatten erscheinen auf dem Bilde des Wunders
am Altar des h. Petrus Martyr einige Male.
So kann ich nur eine ganz entfernte Verwandtschaft mit unserer Dar¬
stellung zugeben, die sich auf wenige Äußerlichkeiten stützt, und die doch
vielleicht die Einreihung auch in einen anderen Zusammenhang gestatten.
Männliches Porträt in der Holzhausensammlung zu Frankfurt. 12 )
Das interessante Bildnis ist bekanntlich von Thode nach dem Vorgang
von Donner-von Richter Dürer, von Fr. Haakh dann Hans Baidung zu-
**) Flechsig a. a. 0 . S. 4, Taf. 17—21.
n ) Abb. zuletzt Monatsh. f. Kunstwiss. IV (1911) Taf. 70.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Studien zur Altfrankfurter Malerei.
I 29
geteilt worden. Weizsäcker dagegen hat mit vollem Recht unter den sonstigen
Frankfurter lokalen Dingen Umschau nach Verwandtem gehalten. Freilich
ist der Vergleich eines Porträts mit anderen Darstellungen besonders schwierig,
weil man nicht immer mit Bestimmtheit entscheiden kann, wo der Künstler
unter dem besonderen Zwang des besonderen Modells gestanden, und wo er
frei hat schaffen können. Aber es besteht ja zweifellos ein gewisser Zu¬
sammenhang des fraglichen Porträts mit der ganzen Gruppe; auch mit der
Darstellung, was Weizsäcker näher ausführt.
Soweit die Übereinstimmungen rein technischer Art sind, muß aller¬
dings darauf hingewiesen werden, daß sie wohl für den Schulzusammenhang,
aber nicht für die Zuweisung an den gleichen Künstler sprechen müssen.
Die Übereinstimmung in den Handformen und der Handhaltung des Un¬
bekannten und des Sakristans der Darstellung ist allerdings weniger zweifel¬
los; daß die Hand des letzteren — der übrigens keinen Rosenkranz, sondern
den Gewandsaum des Hohenpriesters hält — überaus ähnlich der Hand
auf dem Dürerschen Porträt seinesVaters von 1490 ist, wurde schon erwähnt.
Dagegen stimmt noch in etwas anderem die Darstellung mit dem Holz-
hausenporträt. Bei einer der Frauen rechts in Dreiviertelansicht sind die
Augen, wie bei dem Porträt, nach außen gestellt, so daß sie sich fest auf den
Beschauer heften. Aber auch das ist Dürersche Tradition in seinen frühen
Bildnissen; auch bei denen, wo sich die Dreiviertelansicht schon der Vorder¬
ansicht nähert, (Selbstbildnis von 1493, Friedrich der Weise, Bildnis seines
Vaters von 1497, Selbstbildnis von 1498, Felicitas Tücher, Krell), eine Gewohn¬
heit, die bei dem Holzschuher mit unerhört gesteigerter Kraft noch einmal
aufgenommen wird. Beide Eigentümlichkeiten kämen also zu den oben
bereits angeführten Spuren des Dürerschen Einflusses noch dazu. Aller¬
dings ist bei Dürer in diesem Falle das Auge immer voll geöffnet, nicht halb
geschlossen, wie bei dem Unbekannten.
Eine Abweichung zwischen den Bildern könnte stutzig machen: bei
der Darstellung, auch bei den Mainzer Bildern ist der Mund ausnahmslos
voll und üppig gebildet, wobei die Unterlippe besonders betont wird. Das
ist auch für ältere, wahrscheinlich aus Frankfurt stammende Bilder und
auch noch für einen weiteren Umkreis, der abgegrenzt werden müßte, gerade¬
zu typisch, und auch wo Porträtähnlichkeit angestrebt wird, begegnet man
dem immer wieder. Übrigens auch noch in den Porträts des späteren Con¬
rads von Kreuznach. Demgegenüber möchte man bei dem Porträt des Un¬
bekannten fast sagen: seine Lippen glänzen durch Abwesenheit—so fest
und energisch geschlossen, so dünn liegen sie aufeinander. Der Sakristan
der Darstellung ist, wie gesagt, ganz gewiß ein Porträt, und die Oberlippe
ist auch eingezogen, der Mund soll energisch geschlossen sein, aber die
Unterlippe quillt doch wieder hervor. Es ist doch fraglich, ob ein sonst in
Repertorium für Kunstwissenschaft, XXXV. 0
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
130
Karl Simon,
dieser abweichenden Gewohnheit wurzelnder Maler, selbst bei einem noch
so scharfen Anreiz des Modells dazu, von dieser Gewohnheit würde abgehen
können. Auch sonst steckt etwas Grämliches in dem Porträt, das man auf
der Darstellung vergebens sucht. Die Kamation ist anders, fleckiger, leb¬
hafter als auf letzterer; die Haarbehandlung operiert hier mit größeren
Massen als auf dem Porträt. Aber all diese Dinge brauchen nicht entschei¬
dend zu sein. Immerhin bin ich bei diesem Porträt doch nicht ganz sicher,
ob es von dem Maler S. A. herrühren kann.
Votivbild im Germanischen Museum in Nürnberg. Katalog Nr. 332.
Das Bild war von H. v. Tschudi mit der Frankfurter Darstellung in
Verbindung gebracht worden * 3 ); er hatte es in Venezianer Kunsthandel
gesehen, aus dem es später das Germanische Museum erworben hat. Eis
stellt dar die thronende Maria mit dem Kinde, von Engeln umgeben und
gekrönt. Auf der untersten Thronstufe kniet ein vom Pferd gestiegener
Ritter mit zwei Söhnen, Gemahlin und Tochter. Der Katalog des Museums
(H. Braune) bezeichnet es als oberdeutsch um 1510. Tatsächlich sind bei ge¬
nauerem Zusehen die Unterschiede gegen die »Darstellung« recht beträchtlich;
nur die in großen hellen Flächen herausmodellierten Gesichtern erinnern aller¬
dings stark an sie. Ganz anders aber ist, von anderem abgesehen, die tiefe
dunkle Gesamtstimmung des Ganzen; die Farben sind freilich an mehreren
Stellen geronnen. Die Wirkung ist fast clair-obscurartig und erweckt mehr
den Gedanken an augsburgische oder tiroler Tradition. Das sehr interessante
Bild hat größere künstlerische Qualitäten als die Darstellung. Man ver¬
gleiche den lieblichen Engel links oder die linke Hand Mariä, die den Christus-
körper umfaßt und außerordentlich gut verstanden ist.
Halbfiguren Christi und Mariä im Germanischen Museum. Kat. Nr. 197—198.
In derselben Sammlung schreibt der Katalog zwei Gegenstücke frage¬
weise dem Martin Heß, also dem Meister der Darstellung zu: Halbfiguren
des Schmerzensmannes und der Schmerzensmutter. Ersterer in rotem
Mantel, die Hände mit sprechender Geste erhoben; Maria in blau-grün¬
lichem Mantel, der über das weiße Kopftuch gezogen ist. Nähere Be¬
ziehungen zur Frankfurter Darstellung vermag ich nicht zu entdecken.
Das Gesicht Christi ist markig herausmodelliert, die Nase gerade und knochig,
auch die nur ganz wenig gebogene der Maria. Die rückwärts gelegenen
Augen besonders groß und rund; die Lider stoßen an der Außenseite im
Winkel aufeinander. Die Finger der Maria lang und dünn mit Angabe der
kleinen Fältchen um die Gelenke; die Christi knochig, die gekrümmten
*J) Bd. 25 dieser Zeitschrift S. 85, Anm. 5.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Studien zur Altfrankfurter Malerei.
13 *
Finger der rechten Hand gut verstanden, die einzelnen Gelenke von ein¬
ander abgesetzt und in sich etwas gebogen, fast nervös anmutend. Die
Daumen ungewöhnlich breit. Also jedenfalls ganz anders als die fleischigen
und in sich wenig beweglichen Hände und Finger auf der »Darstellung«.
Die Ärmelenden des Mantels liegen richtig unmittelbar auf dem Hand¬
gelenk, an dem ebenso, wie bei der Maria, die Armansätze deutlich gemacht
sind. Auch kleinere Einzelheiten sind anders: der Nimbus geht unmittel¬
bar in den von je einer silbernen Säule flankierten schwarzen Grund über,
ohne Trennungslinie, übrigens von dem goldnen Rankenwerk zum Teil durch-
schnitten. Dagegen wären Beziehungen zu den noch zu nennenden 14 Not¬
helfern eher zu entdecken, die Benennung »mittelrheinisch« also vielleicht
aufrecht zu erhalten.
Kreuzfindung im. Germanischen Museum. Kat. Nr. 190 x 4 ).
Das Bild ist nacheinander dem Hans von Kulmbach (Koelitz), dem
Meister des Heilsbronner Hochaltars (Thode), dem Wolf Traut (Rieffel),
dem Hans Traut (Chr. Rauch), endlich von C. Gebhardt dem Meister der
Darstellung zugeschrieben worden. Die Ähnlichkeit zwischen beiden Bil¬
dern liegt zunächst mehr im allgemeinen Eindruck als in den Einzelheiten;
aber sie fehlen auch hier nicht. Bei beiden ist die Komposition gedrängt;
auch der Mangel an Aufmerksamkeit, den die Dargestellten zur Schau
tragen, ist bei der Kreuzfindung groß; und zwar wird er vor dem Original
noch fühlbarer, als es nach der Photographie scheint; keiner kümmert sich
recht um den eigentlichen Vorgang. Die drei Frauen vorn wenden sich von
dem eben zum Leben Erweckten rechts ab; die Gruppe hinter ihm beachtet
ihn garnicht. Ebenso steht der Kreuztragende für sich allein. Der eine
Mann im Profil sieht vom Schauplatz geradezu weg, wie die Frau auf der
Darstellung. Offenbar hat man Dürer darin mißverstanden, der solche
Profile nahe den Rändern gern verwendet, um einen Zusammenhang zwi¬
schen der Haupthandlung und außerhalb des Bildes zu denkenden Zu¬
schauern herzustellen. So fällt die ganze Komposition auseinander, wenn
auch eine Gruppenbildung versucht wird, die bei der Darstellung ganz
fehlt.
Wie dort, fehlt auch bei dem Nürnberger Bilde das Interesse für
Ponderation oder ausgreifende Bewegung, wie sie uns bei der Mainzer An¬
betung so ausgeprägt entgegentritt. In den Köpfen ist dagegen etwas mehr
Beweglichkeit, besonders in den weiblichen; Kopf und Gesichtsform ab¬
weichend. Was die Körperbehandlung sonst anlangt, so begegnen auf
beiden Bildern die gebogenen Nasen, der Mund ist, vielleicht mit Aus-
*«) Abb. bei Chr. Rauch: Die Traute. Straßburg 1907. (Stud. z. deutschen Kunst-
gesch., H. 79) Taf. 9.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
132
Karl Simon,
nähme der stehenden zweiten Frau links immer fest geschlossen. Die Kreuz-
findung zeigt die Ohren ungern, lieber werden sie durch Haare und Kopf¬
bedeckungen versteckt. Auf der Darstellung werden sie bei den Haupt¬
personen vollkommen deutlich. Das Abstrecken der Finger von einander
geschieht auf der Kreuzfindung fast gar nicht oder nur zaghaft.
Die Enden der Ärmel schmiegen sich den Armen und Gelenken, die
übrigens gern, wenn auch nicht immer gezeigt werden, völlig an, ohne
Zwischenräume. Die Kleidung hängt schwer herunter, nirgends ein flattern¬
der Zipfel. Der Faltenwurf ist ähnlich, aber nicht identisch; einmal wird
der Bausch unter dem Ärmel durchgezogen, wie bei der Maria der Darstellung.
Die Kleidung des einen Mannes im Turban, fast in der Mitte, zeigt Gold¬
quadrierung mit Punkten in der Mitte, ähnlich wie das Kleid der Frau mit
den Tauben auf der Frankfurter Darstellung. Das Gewand des sitzenden
Auferweckten erscheint wie sorgfältig in Ton modelliert, sehr im Gegensatz
zu den tiefen Röhrenfalten der Mainzer Maria. Auffallend ist das Fassen
von frei hängenden Tüchern usw. mit den Händen, wie es noch später bei
Grünewald der h. Antonius des Isenheimer Altars tut.
Über das Koloristische läßt sich ja leider bei dem Zustand des Bildes
kaum etwas aussagen; der Eindruck ist jetzt wesentlich vorherrschendes
helles Grün, Gold und Gelb; Rot und Blau in verschiedenen Abtönungen.
Auch der oben schwebende Engel erscheint ganz in Gold mit ganz roten
• •
Flügeln. Ähnlich befangen könnte man sich einen von dem Meister der
Darstellung gemalten Engel vorstellen, niemals diesem die Kantilene der
Gewandung bei den Mainzer Engeln Zutrauen. Die Festons und der blaue
Lufthintergrund mit den weißen Wolken verändern für den Eindruck natür¬
lich viel gegen den Goldgrund des Frankfurter Bildes. Von Schlagschatten
ist kaum eine Spur, nur bei den Steinen vorn. Wie bei dem Frankfurter
Bilde erscheint der Durchblick durch ein Tor mit Architektur; über dem
Tor ein zum Teil sichtbares Fenster.
So besteht auch für mein Gefühl eine engere Verwandtschaft zwischen
der Kreuzfindung und der Darstellung, ohne daß ich geradezu Identität
der Meister annehmen möchte ' 5 ).
Das Kelterbild in Ansbach , St. Gumberiuskirche ,6 ).
Die Komposition des auf Goldgrund gemalten Bildes ist bekannt:
in der Mitte die Kelter mit Christus, aus dem Gottvater, links stehend, das
Blut herauspreßt; in Hostien verwandelt, wird es vom Papst im Kelch auf-
* 5 ) Daß von einem Maler das Nürnberger Bild und die Karlsruher Altarflügel
herrühren können, erscheint mir ausgeschlossen, wo dasselbe Thema so von Grund aus
sich widersprechende Lösungen erfährt.
I6 ) Abb. bei Schricker, Kunstschätze in Elsaß-Lothringen 1896.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Studien zur Altfrankfurter Malerei.
*33
gefangen. Den rechten Arm Christi unterstützt die von fünf Schwertern
durchbohrte Maria mit der linken Hand. Rechts vor ihr kniet der geist¬
liche, klein gebildete Stifter. Rechts in halber Höhe schweben neben der
Kelter Engelknaben. Über das Ganze verteilt Inschriftbänder. Die Ge¬
samtfärbung ist licht: der Goldgrund, die goldenen Nimben, die weißen
Schriftbänder, Tücher und Untergewänder. Dazu kommt ein verschieden
abgestuftes Rot: Ziegelrot bei dem Mantel des Papstes und Gottvaters,
Pfirsichrot im Ärmel des Stifters, Dunkelrot in seinem Barett, Purpur bei
dem zweitobersten der Engel. Blau ist der Mantel der Maria und das^ Ge¬
wand Gottvaters, das aber hellgrüne Ärmel zeigt.
Zu der Komposition existiert bekanntlich eine Zeichnung, die doch
wohl Dürer zugehört (Lippmann I 28), aber freilich merkwürdig verschieden
von dem Bilde ist. Bei letzterem drückt links die Gestalt Gottvaters sehr
stark auf die der Maria, während auf der anderen Seite nur die luftige Engel¬
schar das nicht ganz zureichende Gegengewicht bildet. In dem Entwurf
steht Maria auf der rechten Seite, wodurch ein besseres Gleichgewicht
hergestellt wird; folgerichtig kommt Christus auf die Seite Gottvaters
herüber, aber da er i n der Kelter steht, schräg unter diesen; direkt unter
Gottvater dagegen die Engelglorie, wohin sie gehört. Auch der Papst
wechselt den Platz: er kommt mit Gottvater und Christus, dessen Stell¬
vertreter er ist, auf dieselbe Seite, wo jeder seine bestimmte Aufgabe hat.
Nicht mehr wälzt er sich würdelos vor der Kelter mit dem klotzigen Schlüssel
bewaffnet, wo seine Figur nicht einmal mehr ganz zu sehen ist.
Bei Dürer eine würdevolle Haltung: das Pontifikalgewand breitet sich
in vornehmem Wurf nach hinten aus. Rechts dann die nur unterstützende
Maria und der Stifter, der nur rechts an das Bild herangeschoben, nicht
zwischen Papst, Maria und Christus eingeklemmt ist. Sein Wappen verdeckt
nichts von seinem und Marias Gewände, sondern füllt den Raum zwischen
ihm und dem Papste. Sein Gewand wird von dem Rand der Zeichnung zum
Teil abgeschnitten, wie bei dem Papst des Bildes. Dadurch wirkt er
kleiner, durch rein künstlerische Mittel, ohne daß er tatsächlich kleiner
gebildet wäre. Das Kelter-Postament ist deutlicher hervorgehoben, die
Seitenteile sind nicht verdeckt, wie zum Teil auf dem Bilde, sodaß eine
klarere Raumbildung erreicht wird, und mehr Luft als in dem Bilde ist.
Drei Inschriftbänder anstatt sieben. Wir sehen: so viel Abweichungen,
soviel Verbesserungen gegen das Bild.
Es fällt außerordentlich schwer zu glauben, daß das Bild nach dem
Entwurf als Vorlage gefertigt ist. Der Maler müßte von allen guten Geistern
verlassen gewesen sein, wenn er veränderte, nur um zu verschlechtern.
Höchstens könnte man glauben, daß ein Schüler Dürers den Entwurf seines
Meisters ganz flüchtig gesehen und nach langer Zeit das Bild nach dieser
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
*34
Karl Simon,
flüchtigen Erinnerung gemacht hätte. Dem widerspricht aber die vielfach
sehr genaue Übereinstimmung in Einzelheiten, die sich doch schwerer
merken als etwa die Verteilung der Massen. Daß der Maler die Dürersche
Werkstatt gekannt hat, möchte man aus einem bisher unbeachtet geblie¬
benen Umstande schließen: die Maria der Kelter stimmt im Gesichtstypus,
in Stellung und zum großen Teil auch in den Falten fast Zug um Zug mit
der Maria der Verkündigung auf der Flügel-Rückseite des Paumgärtner-
schen Altars überein, mehr noch als mit der h. Anna auf dem Stich B. 29.
Möglich, daß der Dürer-Schüler diese Maria selbst gemalt und auf seinem
Bilde der Kelter einfach wiederholt hätte. Der Papst könnte in seiner Un¬
behilflichkeit etwas dem Joseph der Geburt, auf dem Mittelbilde desselben
Altars, gleichen. Das Lendentuch Christi erinnert einigermaßen an die
Darstellung der Kreuzigung, noch mehr des ungläubigen Thomas in Dürers
kleiner Holzschnittpassion (B. 40 und B. 49) und die Kreuzigung der Kupfer¬
stich-Passion (B. 24). Es sind die einzigen Male, daß Dürer auf die Breiten¬
ansicht mit flatternden Zipfeln usw. verzichtet. Lang und schwer hängt
bei B. 49 der übergeschlagene Bausch herab; nur nicht so spitz endigend
wie auf dem Kelterbild.
Eine weitere Möglichkeit wäre die: Dürer hat, wenn nicht in Nürn¬
berg, vielleicht auf einer Reise das Kelterbild gesehen, das ihn interessierte,
von der Hauptsache sich eine flüchtige Skizze gemacht und dabei gleich
die ihm notwendig erscheinenden Korrekturen angebracht. Wann und
wo das geschehen sein soll, ist freilich schwer zu sagen; ist das Bild in Frank¬
furt entstanden, was allerdings nicht wahrscheinlich, so darf daran erinnert
werden, daß Dürer Jakob Heller versprochen hat, einige Zeit nach Fertig¬
stellung seiner Himmelfahrt Mariä dorthin zu kommen, um das Altarwerk
selbst zu firnissen * 7 ) Ob es dazu gekommen, wissen wir freilich nicht; doch
wird Dürer nicht ohne zwingenden Grund sein Versprechen nicht gehalten,
und Heller, so wie wir ihn kennen, nicht freiwillig darauf verzichtet haben.
Ungerne denkt man auch Dürer selbst für die Komposition verant¬
wortlich; die fünf Schwerter der Maria mögen noch hingehen, obgleich
auch sie in seinen ausgeführten Werken nicht begegnen, aber das Anpacken
der Maria an Christi rechten Ellenbogen ist doch gar zu massiv und hand¬
greiflich.
Eine letzte Möglichkeit wäre die, daß Dürer eine uns nicht erhaltene
Komposition gefertigt hätte, nach der der Maler arbeitete. Das könnte
vor der italienischen Reise gewesen sein. Auf der Nürnberger Beweinung
und dem Mittelbild des Paumgärtner-Altars schneiden Wappenschilde ähn¬
lich wie auf dem Kelterbild in Figuren und Gewandung ein; nach der ita-
>') Cornill, Jacob Heller und Albrccht Dürer, Frankfurt a. M. 1871 S. 30.
Digifized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Studien zur Altfrankfurter Malerei.
135
lienischen Reise wäre Dürer noch einmal an die Komposition gegangen, in
der uns erhaltenen Zeichnung. Sie erscheint nicht möglich vor dem Rosen*
kranzbild. Auf dem Heller-Altar stehen dann die Wappenschilde ganz
ähnlich wie auf der Zeichnung, von den Figuren getrennt.
Als Maler der Bildes hat man bisher an Hans Baidung oder den Meister
der Darstellung gedacht. An beide zugleich erinnern einige Äußerlichkeiten:
so die Hand Gottvaters mit dem Abstrecken des Zeige- und kleinen Fingers,
die stark gebogene Nase Christi u. a. m. An Mittelrheinisches bzw. Frank-
furterisches die geschweifte Form der Augen Christi und Mariä, bei der
außerdem das untere Lid etwas nach oben gezogen ist. Gerade zum Aus¬
druck des Schmerzes kommt das allerdings auch sonst vor. Die Nimben
werden durch zwei Streifen jenseits einer durch kleine Halbkreise gebildeten
Begrenzung in Rot abgeschlossen, fast genau wie bei dem Christus der Dar¬
stellung, nur daß sich hier zwischen den roten Streifen und den Halbkreisen
noch ein weißer, bei Maria zwei weiße Streifen schieben. Auffallend ist das
scharfe, rechts gewendete Profil des Stifters, auffallend gerade für das
deutsche Porträt jener Zeit l8 ), das in den Profilen auf der Darstellung und
der noch zu nennenden Jakobuslegende, freilich auch im Dürerschen
Rosenkranzfest, seine Parallele finden würde.
Von der Darstellung unterscheidet es sich aber doch wieder in Einzel¬
heiten. die hier allein in Frage kommen können, in sehr bestimmter Weise.
Der reiche Perlenschmuck zeigt keine Schlagschatten; nur an der Kordel,
die den Pelzbehang des Stifters zusammenhält, tritt er in bescheidener
Weise auf. Die Hände des Papstes sind faltig, wie aus Leder an den Ge¬
lenken gegeben, während sie an der Darstellung ausgezeichnet charakteri¬
siert sind. Die Neigung, den Mund leise zu öffnen, besteht nicht. Die Enden
der Ärmel sind überall stark geknittert und bis in die letzten Enden in Falten
bewegt, auch das, wie gesagt, zu Dürer durchaus passend. Die Schwere des
Stoffes ist überall richtig betont; der Ärmel des Stifters schmiegt sich der
Handform vollkommen an, ohne einen Zwischenraum wie bei dem Hohen¬
priester der Darstellung. Das schwer herabhängende Lendentuch Christi
wurde bereits erwähnt.
So kann ich hier nicht diejenigen Übereinstimmungen finden, die zu
der Annahme zwängen, daß das Bild vom Meister S. A. gemalt sein müsse;
ganz abgesehen von dem doch in gewisser Weise großartigen Zug, der hier
und da durchbricht — so in dem hochgerichteten Profilkopf des Stifters —,
den man aber auch auf den freilich noch nicht geklärten Einfluß Dürers
schieben mag.
,8 ) Vgl. »Vorderansicht und Seitenansicht«, Zs. f. Ästhetik und allgem. Kunst
Wissenschaft Bd. II S. 406 f.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
136
Karl Simon,
Legende des H. Jacobus. München. Nationalmuseum. Kat. Nr. 383.
Das Bild, auf streifigem und Wolken andeutenden Goldgrund gemalt,
zeigt, im oberen Teil von gotischem Astflerk umrahmt, drei Szenen der
Abb. 2: Martyrium Jacobi, München, Bayerisches National-Museum.
Legende (s, Abb. 2). In ruinösem gotischen Gewölbebau links Jacobus voi
dem König; im Mittelgründe rechts eine Mauer mit rundem Torbogen,
davor Jacobus auf dem Gang zur Hinrichtung, den Zauberer Hermogenes
taufend; im Vordergründe die Enthauptung, in nur fragmentarisch erhal¬
tenen Figuren; der untere Teil des Bildes fehlt. Die Ausführung ist nicht
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Studien zur Altfrankfurter Malerei.
137
sehr fein, besonders nicht im Hinter- und Mittelgründe, im Vordergründe
dagegen besser.
An die Frankfurter Darstellung erinnert manches Einzelne: so die
Vorliebe für kräftige gebogene Nasen, für das Abstrecken des kleinen
Fingers, die starken Schlagschatten der Halsschnur, die der von vorn ge¬
sehene Zuschauer mit den gepufften Ärmeln trägt. Unter den Zuschauern
links finden wir zwei scharf nach rechts gewendete Profile. . Die Farben
changieren gern wie auf der »Darstellung«: grün-gelb, rötlich-grau-blau,
gelblich-rot usw. Bei dem Henker sind die unteren Lider etwas in die Höhe
gezogen, wie es auch bei anderen Frankfurter Bildern und freilich allgemeiner
bei mittelrheinischer Kunst öfter vorkommt. Der Armansatz wird auch
hier ungern gezeigt, die wenigen weiten Ärmel haben ganz glatte Endigungen.
Ausgesprochenes Stand- und Spielbein-Motiv zeigt nur der Knabe im
Vordergrund.
Auffallend ist der Nimbus des Jacobus; eine feste goldne Scheibe,
mit rotem Abschlußstreifen, der ungefähr auf dem höchsten Punkte nach
rechts in Schwarz übergeht. Ganz genau das Gleiche ist der Fall bei der
Darstellung, sodaß die beiden Bilder auch hierdurch in engere Beziehung
treten. Diese auffallende Eigentümlichkeit schließt nämlich noch einige
Bilder Frankfurter Provenienz zusammen, während sie sonst selten zu
sein scheint.
Das eine der Bilder ist die große, aus der Frankfurter Dominikaner¬
kirche stammende Tafel mit den vierzehn Nothelfern (jetzt im Städtischen
Hist. Museum, Inv. B. 305) mit den Wappen des Frankfurter Patriziers
Karl v. Hynsperg (gest. 1472) und seiner Gattin Guda v. Heringen (gest.
1500), wohl um 15CO entstanden. Durch die bisher übersehenen Initialen
I. H. auf dem Mantelkragen des h. Erasmus veranlaßt, habe ich kürzlich
die Vermutung geäußert, daß wir hier ein Werk des aus Urkunden bekannten
Johannes Hess(e) vor uns haben, der möglicherweise der Vater des sattsam
bekannten Martin Hess gewesen sei. Jedenfalls bestehen auch Beziehungen
zu den Formschnitten der Mainzer Sachsenchronik, deren Signatur 1 ) dann
vielleicht auf Hans Hesse zu deuten wäre J 9 ). Die Nimben auf diesem Bilde
sind scheibenförmig und durch einen roten Streifen begrenzt, der auf der
höchsten Höhe nach rechts herunter in Schwarz übergeht, genau wie bei
der »Darstellung« und dem Jacobusmartyrium.
Dieselbe Eigentümlickeit findet sich bei dem aus Nieder-Erlenbach
♦
* 9 ) Vgl. Alt-Frankfurt, Vierteljahrsschrift für seine Geschichte und Kunst. Frank¬
furt a. M. Verl. H. Minjon. Jahrg. 3 (1911) H. 2, S. 60. Mit Abb. Die Signatur Ij findet
»ich außer an den von Leo Baer, Die illustrierten Historienbücher des 15. Jhs. Stra߬
burg 1903, S. 170 genannten Stellen auch noch bei dem sonst nie wieder vorkommenden
Brustbild der Hildegardt: Fol. 22 des Exemplars der Frankfurter Stadtbibliothek.
Digitized by
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
13 »
Karl Simon,
stammenden Altar von 1497, der Schongauersche und Hansbuchmeister-
Elemente zeigt (Darmstadt, Landesmuseum) 20 ). Die Kirche wurde 1346
dem Frankfurter Liebfrauenstift übergeben, so daß die Frankfurter Pro¬
venienz des Bildes nahe läge. In ganz gleicher Weise findet sich dies
an den Nimben einer ebenfalls aus dem Dominikanerkloster stammenden
kleinen Kreuzigung mit Maria und Johannes d. Ev., Johannes d. T.
und dem h. Hieronymus (Städt. Hist. Museum Inv. B. 290). Diese
offenbar vollkommen absichtliche Eigenheit ist vielleicht so zu erklären:
bei den sämtlichen Bildern kommt das Licht von links, so daß auf der
rechten Seite Schatten ist; wenn auch nur sehr gemäßigter. Demgemäß
verschwindet rechts der rote Streifen des Nimbus im Dunkel. Die
zuletzt erwähnte Kreuzigung gilt für oberrheinisch; m. E. würde sie
gut in den mittelrheinischen Kreis passen. Die Auffassung ist freilich
pathetischer; die Hände von Maria und Johannes sind in ihrer Be¬
wegtheit wie eine, wenn auch nur leise Vorahnung Grünewalds. In den
Köpfen eine für die an sich ziemlich handwerksmäßige Malerei erstaunliche
individuelle Verschiedenheit: durchgehend eine reiche Runzel- und Falten¬
bildung, die sie den Nothelfern des Meisters I. H. und den Formschnitten
der Sachsenchronik nähert, letzterer auch insofern, als der Johannes d. Ev.
einen kleinen in Grübchen endigenden Mund zeigt, der, in Formschnitt über¬
tragen, diese kurz abgeschnittenen Mundwinkel ergeben würde, wie sie in
der Sachsenchronik so vielfach Vorkommen. Die grüne Dornenkrone, die
später bei Grünewald wiederkehrt, findet sich ebenso gut hier, wie auf einem
aus der Frankfurter Dominikanerkirche stammenden Passionszyklus, bei
dem mehrere Darstellungen nach Schongauerschen Stichen als Vorbildern
komponiert sind (Städt. Hist. Museum Inv. B. 251—258) und einem zweiten
Passionszyklus, der aus dem Nachlaß Dr. Fr. Böhmers stammt, also wohl
gleichfalls aus einer Frankfurter Kirche herrührt (Städt. Hist. Museum
B. 981—902). Sie begegnet ja auch auf der Kreuzigung des Mainzer Drei-
könig-Altars. Übrigens finden wir hier wie auf dem Nothelferbild auch das
Abstrecken der kleinen Finger, aber auch die geschwollenen und weit aus¬
einanderstehenden Fingerknöchel, die so charakteristisch sind für die mit
der Darstellung zusammenhängende Gruppe und darüber hinaus für eine
20 ) Abb. Kunstdenkm. des Großherzogt. Hessen. Kr. Friedberg. Darmstadt 1895.
Wieder begegnet Veilchenkraut und drei auffallend hohe blähende Veilchen fast in der
Mitte des Bildes hier, außerdem ein Frosch: Anspielung auf die Frankfurter Patrizierfamilie
Frosch? Das Bild weist, zum ersten Mal kürzlich bei guter Beleuchtung gesehen, auch
sonst engste Beziehungen zu dem genannten Nothelferbilde auf; das Messer des hl.
Bartholomaeus zeigt ein verschlungenes Monogramm I. F (?) (= Johannes Fyol?);
der Hieronymus des Mittelbildes ist auf der genannten Kreuzigung des Hist. Museums
in Frankfurt (B. 290) Zug für Zug kopiert.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Studien zur Altfrankfurter Malerei.
*39
Anzahl von Bildern und Glasgemälden, bei denen nichts für einen Import
von auswärts, aber alles für eine Entstehung in Frankfurt selbst spricht.
m
So dürfen wir auch in dieser Kreuzigung ein Werk sehen, das in Frank¬
furter Gewohnheiten fest verankert scheint, deren eine sie auch mit dem
Jakobusmartyrium verbindet. Dieses selbst wird höchst wahrscheinlich
in der Werkstatt des Meisters S. A. entstanden sein, der allerdings eigen¬
händig wohl nur das wenigste daran gemacht hat. Noch etwas spricht dafür;
die skrupellose Entlehnung aus einem Dürer-Holzschnitt. Das ganze Stück
des rechten Abschlusses: der Flechtwerkzaun, das Tor mit Überdach, das
Haus, der Torbogen und die Backsteinmauer sind wortwörtlich aus der
Ruhe auf der Flucht nach Ägypten (B. 90) herübergenommen.
Unwillkürlich drängt sich bei dem Thema: Enthauptung des Jacobus
der Gedanke an den Flügel von Dürers Heller-Altar mit der gleichen Dar¬
stellung auf. Es wäre möglich, daß derselbe Jacob Heller auch bei einem
Frankfurter Künstler ein Martyrium seines Schutzheiligen bestellt
hätte. Wie dem sei, es scheint jedenfalls, daß die Frankfurter Provenienz
des Bildes sich sogar mit größter Wahrscheinlichkeit nachweisen
läßt. Hüsgen erwähnt in seinem Artistischen Magazin an der Stelle, wo er
die damals noch unzerstreuten Schätze des Dominikanerklosters bespricht,
das Folgende: »ferner in diesem Zimmer (Refektorium) S. Johannes der
Täufer, S. Sebastian, S. Antonius von Padua, S. Jacobus, wie er zu seiner
Marter geführt wird, die Beschneidung Christi und der weinende Petrus
über der Tür, alle diese Bilder sind von mehr erwähnter Meisterhand, in
Albrecht Dürers Manier überaus schön gemalt und durch so lange Jahre
wohl erhalten* 21 ).
Die Beschneidung Christi dürfen wir wohl mit unserer Darstellung
identifizieren; nun wird unmittelbar vorher ein von demselben Meister her¬
rührendes Martyrium Jacobi genannt. Es liegt nahe, dies Bild mit dem
Münchener zu identifizieren, das schon auf Grund bloßer Stilvergleichung
dem Meister der Darstellung zugeteilt wurde. Auch nach den Maßen
scheint es ein genaues Gegenstück zur Darstellung zu sein; die Maße der
letzteren sind nach Höhe und Breite 1,50 m und 0,886 m, des Münchener
Bildes, das um ein Drittel gekürzt ist 1,033 und 0,875 m. Johannes der
Täufer, die Heiligen Sebastian und Antonius von Padua sowie der wei¬
nende Petrus würden also noch zu suchen sein — ein Unternehmen, das
keineswegs aussichtslos erscheint.
* *
*
JI ) Frankfurt a. M. 1790, S. 562 und schon früher in seinen »Nachrichten von
Frankfurter Künstlern« 1780, S. 269. Über die Provenienz des Bildes ist, wie mir die
Direktion des Bayr. Nationalmuseums freundlichst mitteilt, nichts Näheres bekannt.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
140
Karl Simon,
Die minutiösen Untersuchungen waren nötig, wenn fast allgemein
■
anerkannte Dinge nicht nur mit einigen Allgemeinheiten oder subjektiven
Geschmacksurteilen bestritten werden sollten. Welches ist das Ergebnis?
Mit Sicherheit gehören einem Meister S. A. zwei Bilder: Die Frankfurter
Darstellung und das Jacobusmartyrium. Das Dreikönigsbild nennt Rieffel
mit Recht das bedeutendste der Gruppe, nur ist es m. E. so bedeutend,
daß es nicht mit den beiden andern zusammen genannt werden kann.
Was schon bei der Darstellung hervorgehoben wurde, besonders im
Vergleich zum Dreikönigsbilde gilt auch für das Jakobusbild: die Lahm¬
heit der kümmerlichen und schlürfenden Bewegungen, die Unsicherheit in
den Stellungen. Der Maler scheint selbst ein Gefühl für diese Schwäche
gehabt zu haben, denn fast überall erspart er es sich durch Überschneidungen,
seine Standmotive klar durchzuführen; schade, daß gerade die Figur des
Henkers hier im Stich läßt. Wie anders die Freiheit in dem Mainzer Bilde,
dies Paradieren mit der Lösung selbst auferlegter Schwierigkeiten und nicht
nur in den kleineren Figuren des Hintergrundes, sondern in einer der Haupt¬
figuren vorn. Wie überzeugend kräftig selbst noch im Stephanusbilde das
Dastehen des linken Steinigenden.
Eine Rückenansicht findet sich weder auf der Darstellung noch dem
Jakobusbilde, nur Profile hart neben Vorderansichten gesetzt. Bei Meister
S. A entspricht die Richtung des Kopfes fast immer der Richtung des
Körpers; nur im Hintergründe des Jakobusbildes wird eine Abweichung
versucht; im Dreikönigsbilde dagegen nicht nur bei den Neben-, sondern
bei zwei der Hauptfiguren, die dadurch in nahe Beziehung gebracht werden.
Durchaus verschiedene Lebensgefühle sprechen aus dem allen, die
nicht in einem Künstler vereinigt sein können. Engere Beziehungen
bestehen vielleicht auch zwischen dem Meister S. A. und der Nürnberger
Kreuzfindung, weniger enge zu dem Unbekannten der Holzhausen-Samm¬
lung und zum Ansbacher Kelterbilde. Die übrigen besprochenen haben mit
ihm überhaupt nichts zu tun.
Zum ersten Abschnitt der «Studien zur Altfrankfurter Malerei« (Heft 4,
Band 34) schickt der Redaktion Herr Dr. J. von Derschau in Heidelberg
folgende Notiz;
In dem Aufsatz von Karl Simon, Studien zur Frankfurter Malerei
(Heft 4, Bd. 34) weist der Verfasser auf die Möglichkeit hin, ver¬
schiedene von ihm besprochene Bilder mit der Künstlerfamilie Fyol aus
Frankfurt a. M. in Verbindung zu bringen. Hierbei spricht er die Ver¬
mutung aus, die in jenem Bilderkreis dekorativ verwandten Veilchen (viola)
könnten die redende Signatur eines Mitgliedes der Familie Fyol sein. Be¬
züglich der Veilchen im engeren Sinne ist die Möglichkeit zuzugeben, nicht
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Studien zur Altfrankfurter Malerei.
141
so leicht bezüglich des Stiefmütterchens, das sich auf einem Altarbild mit
einer Anna selbdritt im Städtischen Historischen Museum in Frankfurt a. M.
an hervorragender Stelle findet und auf dessen mögliche Auffassung als
Signatur der Fyols Karl Simon hinweist, da das Stiefmütterchen eine
Veilchenart sei und sein lateinischer Name viola triplex. Über die Mög¬
lichkeit dieser Annahme entscheidet die Frage, ob zu jener Zeit — Karl
Simon setzt das Bild um 1490 — das Stiefmütterchen schon den Namen
viola trug. Dies scheint nun nach Forschungen des schwedischen Botanikers
Veit Brecher Wittrock nicht der Fall zu sein. Dieser Forscher hat in den
Acta horti Bergiani Bd. 2 Nr. 7 einen Beitrag zur Geschichte des Stief¬
mütterchens (Bidrag tili de odlade pens^ernas historia) veröffentlicht. Dem
schwedisch geschriebenen Aufsatz ist eine englische Inhaltsangabe angefügt,
aus der ich zitiere:
»The botanists of ancient days knew of only one kind of Viola, viz.
Viola odorata L., and those of the Middle Ages were acquainted with no
other.
The heartsease or wild pansy, Viola tricolor L. was first mentioned
and described by O. Brunfels (1536), and L. Fuchs (1542), both Germans,
ohe latter relates that »Herba trinitatis« — the name by which the heartsease
was then known — was not only found wild, but was also cultivated as an
Tmamental plant in the gardens of Germany.
R. Dodonaeus, from the Netherlands, is the first to use the
nameViola tricolor for the heartsease.
Das Werk des Letzteren, in dem nach Wittrock zuerst der Name Viola
auf Stiefmütterchen angewendet wird, ist nach Wittrock: Stirpium hi-
storiae pamptades sex. Antwerpiae 1583.«
Das Werk des Brunfels »Herbarum vivae eicones per Otho Brunf.
recens editae. Novi herbarii Tomus II. Argentorati 1536«. Das Werk des
Fuchs (Leonhartus Fuchsius) »De historia stirpium commentarii insignes,
Basiliae 1542«.
Nun weist Karl Simon mit Recht darauf hin, daß das Stiefmütterchen
auf dem Altarbild der Anna selbdritt im Städtischen Historischen Institut
in Frankfurt fast in der Mitte des ganzen Bildes vorn auf dem Thron als
besonders schönes und großes Exemplar liegt. Kaum ist anzunehmen, daß
hier Zufall waltet. Aber welche Beziehung könnte den Künstler bestimmt
haben, wenn wir die zwischen dem Namen des Künstlers und dem Stief¬
mütterchen fallen lassen? Aus den Forschungen Wittrocks ist zu ent¬
nehmen, daß das Stiefmütterchen, bevor gegen Ende des XVI. Jahrhunderts
der Name viola tricolor aufkam, herba trinitatis hieß. Nun liegt die Blume
dieser herba trinitatis in besonders großem Exemplar vorne mitten auf dem
Thron der Anna selbdritt jenes sonderbaren einer Dreieinigkeit ähnlichen
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
142
Karl Simon, Studien zur Altfrankfurter Malerei.
Vorstellungsgebildes. Diese Deutung wäre eine Stütze für die Annahme
Karl Simons. Denn wir hätten es mit einem Künstler zu tun, dem die
Spielerei der Blumensprache nahe liegt, und die vermutungsweise Annahme
Karl Simons, das auf demselben Bilde angebrachte wilde Veilchen und die
Veilchendekoration des mit der Anna selbdritt in nahem künstlerischem
Zusammenhang stehenden Bildes des Schmerzensmannes in der Deutsch-
Ordenskirche in Frankfurt a. M. deute auf den Namen Fyol, wäre, wenn
auch nicht erwiesen, so doch wahrscheinlicher gemacht.
Die freundliche Anteilnahme, mit der, von andrer Seite kommend,
Herr Dr. J. v. Derschau meine Fyol-Hypothese bespricht, ist mit leb¬
haftem Dank zu begrüßen; auf Grenzgebieten kann das Zusammenarbeiten
von Forschern verschiedener Disziplinen nur von größtem Vorteil sein. •
Zur Sache nur eine Frage des Nicht-Botanikers: wäre es möglich, daß
im Volke das Stiefmütterchen als fiol bezeichnet wurde, lange bevor
diese Bezeichnung in der Wissenschaft üblich, vielleicht gerade aus dem
gewöhnlichen Sprachgebrauche übernommen wurde? Auch beim Goldlack
(cheirantus cheiri) hat das Volk doch offenbar eine Beziehung zum
Veilchen ausdrücken wollen: Gelbveigelein; die von der Wissenschaft nicht
angenommen worden ist. Das schließt in unserem Fall natürlich nicht
aus, daß der fragliche Fyol nicht auch mit der sehr interessanten Be¬
ziehung der »herba trinitatis« auf dem Bilde der h. Anna selbdritt sein
Spiel getrieben haben kann. K. Simon.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Die chinesische Kunsttheorie
Ein Versuch
von Otto Fischer
(Schlufi.)
Die Wertung.
Es wurde schon angedeutet, daß diese Auffassung der Kunst in der
taoistischen Naturphilosophie begründet liegt, die zu allen Zeiten die Welt¬
anschauung der Chinesen bestimmt hat, nachdem sie Lao-tse aus dem
primitiven Zauberglauben zur Bewußtheit des metaphysischen Denkens
erhoben hatte. Diese mystische Philosophie beherrscht die Theorie des
Schaffens ebenso wie das Schaffen selbst. Eis hat sich indessen der dem
Chinesen zugleich innewohnende Sinn für verstandesmäßige und klare Ord¬
nung auch der Betrachtung der Kunst bemächtigt, und wenn sich die ta-
oistische Anschauung in der praktischen Übung und in der psychologisch-
ästhetischen Erklärung ausspricht, so hat sich das konfuzianische Element
dafür ein System der Wertung und Ordnung der geschaffenen Kunst auszu-
bilden gesucht. Dieses System ist auf die Kunst selber in ihren schöpferi¬
schen Zeiten ohne wesentlichen Einfluß gewesen und wäre für sich allein
durchaus ungeeignet, sie zu erklären, allein es zeigt uns dafür, welche Hierar¬
chie und welche Deutung der Werte die Kritiker, Ästhetiker und Historiker
ihr entnommen und für sie aufgestellt haben. Eis ist bezeichnend, daß die
Grundlage selbst dieses rationalen Systems eine arationale ist. Wir haben
es zunächst mit zwei verschiedenen Theorien einer klassifizierenden Kunst¬
wertung zu tun.
Die ältere von beiden sind die sechs Prinzipien des Hsi6 Ho (6. Jahrh.).
Eis ist eine Aufstellung von sechs wesentlichen Gesichtspunkten, in welchen
ein Kunstwerk eine größere oder geringere Vollkommenheit erreichen kann.
Eis handelt sich jedoch, und dies ist ja nicht außer Acht zu lassen, nicht um
Gesichtspunkte für den Maler, die ihm Ziele setzen würden, nach deren Er¬
reichung er streben soll, es handelt sich nicht um Vorschriften und nicht um
gleichwertige Vollkommenheiten, sondern lediglich um eine Skala der Kunst¬
werte für den urteilenden Betrachter. Das erste Prinzip bezeichnet das
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
144
Otto Fischer,
Höchste, was ein Künstler erreichen kann, das zweite die nächst hohe Stufe
usw., bis zum sechsten Grad. Die Ausdrücke, die in ihrer änigmatischen
Kürze schwer zu deuten sind, bestehen aus je vier Ideogrammen und werden
folgendermaßen übersetzt. Nach den vorangehenden Ausführungen wird
uns ihr prinzipielles Verständnis keine großen Schwierigkeiten mehr machen.
Das liu-fa lautet:
1. wörtlich: Geist-Element, Lebens-Bewegung,
2. Gerippe-Zeichnung mit dem Pinsel,
3. Übereinstimmung des Umrisses mit der Natur,
4. Farbe entsprechend dem Wesen des Gegenstandes,
5. genau übereinstimmende Teilung des Raumes,
6. Nachahmung eines Vorbildes (Hirth). Nach Giles: Finish.
1. Nach Giles: rythmische Lebendigkeit, nach dem Japaner Okakura
Kakuzo: die Lebensbewegung des Geistes durch den Rythmus der Dinge.
Wir übersetzen vielleicht am besten: der Ausdruck des Geistigen durch die
Lebensbewegung. Gemeint ist mit der ersten Hälfte der Formel jener geistige
und innerliche Charakter des Kunstwerkes, der aus der Einheit mit dem
Sinn und Prinzip der Welt, aus dem, was der Chinese Eingebung nannte,
entsteht. Sehr wichtig und sehr bezeichnend für seine Kunst aber ist die
zweite Hälfte, die es ausspricht, wodurch jenes Geistige in der Malerei vor¬
züglich zum Ausdruck kommt: durch die lebendige Bewegtheit, den voll¬
kommensten Lebensschein. Dieses innere Pulsieren und Atmen der Dinge
ist es denn auch, was die reife chinesische Kunst wie keine andere auf das
erstaunlichste ausdrückt, ebenso wie sie schon in ihren ersten uns bekannten
Anfängen durch die frappicrendsten, suggestivsten Formeln für die äußere
Bewegung überrascht.
2. Nach dieser obersten Kategorie, die das geistige Prinzip der Dinge
als ein alle durchwirkendes und allen gemeinsames faßt, bezeichnet die zweite,
wie uns scheint, sein Hcrabsteigen zur Individuation im einzelnen Ding, in
welchem es sich als innere Form und grundlegenden Charakter kundgibt.
Wir schreiten von der Konzeption zur Ausführung. Hier handelt es sich
also zunächst um das Begreifen des Wesens eines Dinges von innen, von
seiner Struktur aus, sodann um die Festlegung dieses Wesentlichen mit dem
Pinsel. Da nun das Wesentliche bei gleichartigen Dingen notwendig ein
Gleiches ist, so haben sich hier die charakteristischen wesenbezcichnenden
Formeln gebildet, etwa für Wasser, für Feuer, für Laubwerk, für Berg- und
Fclsbildungen, die das konventionelle Element in der chinesischen Kunst
ausgemacht haben.
3. Erst jetzt, nach dem inneren Rythmus und nach der inneren Charak¬
teristik der Dinge, figuriert die äußere Ähnlichkeit und Genauigkeit in der
Nachbildung der natürlichen Vorbilder. Jetzt erst, nach dem inneren Wesen,
Digitized by
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Eine chinesische Kunsttheorie.
*45
kommt die äußere Erscheinung, die Oberfläche, in ihrer Umschreibung durch
den Umriß zur Geltung.
4. Alle diese Kennzeichnung war als eine zeichnerische, durch Schwarz
und Weiß ausdrückbare gedacht. Jetzt erst nach dem Umriß rangiert die
Farbe auf dieser Tafel der Werte. Es scheint überdies noch wesentlich, daß
nicht ihre abstrakte ornamentale Schönheit, sondern ihr innerlicher Aus¬
druckswert für die Bezeichnung des Gegenstandes, d. h. ihr Charakter als
immanente und bleibende Qualität den Maßstab abgibt.
5. Hier endlich scheint es sich, nachdem sich alle früheren Kategorien
ausschließlich auf das Eindringen und Einfühlen in die Welt der Gegen¬
stände bezogen, um ein Element der künstlerischen Souveränität zu handeln:
um die Anordnung der Gegenstände im gegebenen Raum, um die künstle¬
rische Komposition, wie Giles übersetzt. Es handelt sich freilich auch hier
noch nicht um eine willkürliche Verteilung, sondern um eine dem Wesen
und Rang der Gegenstände entsprechende, wenn anders in Hsi6 Hos Formel
nicht bereits eine Forderung der perspektivisch-räumlichen Bildgliederung
zu erblicken ist.
6. Endlich die niederste Stufe künstlerischer Betätigung: sei es die
Nachahmung eines Vorbildes, sei es die äußere letzte Glättung des Werkes.
Nachdem wir von dem Freien und Geistigsten einer divinatorischen Kon¬
zeption ausgegangen waren, sind wir hier durch alle Grade der vorschreitenden
Materialisation zum rein Mechanischen einer manuellen Geschicklichkeit
hinabgelangt.
Ein zweites System der Wertung wurde von Chu King-huan
um das Jahr IOOO für die Malerei aufgestellt und zur Klassifizierung der
Meister der Tang-Dynastie verwendet. Seine Ursprünge sind jedoch wesent¬
lich älter: sie gehen auf einen Ausspruch des Kung-fu-tsc selber zurück.
Nach seinem Wortlaut hatte zuerst der Historiker Pan Ku im I. Jahrh. n. Chr.
eine Skala der Verdienste ausgebildet. Diesem zufolge stehen am höchsten,
die mit dem Wissen geboren sind, ihnen folgen, die Wissen durch Fleiß er¬
warben, dann kommen die Strebenden, die Fleiß anwenden im Gefühl ihres
Unwissens, und endlich, die das Gefühl ihres Unwissens haben und keinen
Fleiß anwenden. Danach hatte Pan Ku neun Klassen eingeteilt, von shang-
shan, der höchsten Höhe der shöng, der großen Weisen, unter denen die
mythischen Kaiser und Lao-tse und Kung-fu-tse sind, bis hinab zu hia-hia,
der niedrigsten Niedrigkeit. Dieses System wurde dann im 8. Jahrh. von
Li Ssi-chön und Chang Huai-Kuan in ihren Werken über die Schriftkunst
zur Klassifikation der Kalligraphen verwertet. Sie unterscheiden drei
Klassen: I. shön die Genies, 2. miao die Talente, 3. nöng die handwerklich
Geschickten. Diese Stufenfolge wiederum bildete das Vorbild für Chu King-
huans Gradation der Maler. Er stellte ebenfalls drei Klassen auf: 1. shön-
Repertorium für Kunstwissenschaft, XXXV. IO
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
146
Otto Fischer,
p'in, die Klasse der Inspirierten, 2. miao-p’in die Klasse der Talentierten,
3. nöng-p’in die der handwerklich Geschickten; jede dieser Klassen gliederte
er wieder in eine obere, mittlere und untere Abteilung. Endlich aber fügte
er eine 4. Klasse: i-p’in hinzu, deren Bedeutung nicht ganz klar ist. Giles
nennt sie die Klasse der Gefälligen, Hirth meint, es sei die Klasse der ander¬
weitig nicht Registrierbaren, und diese Meinung scheinen die chinesischen
Autoren zu bestätigen, denn während diese Klasse hier an der 4. Stelle
erscheint, so wird sie anderwärts an die erste und von wieder andern an die
2. Stelle, d. h. vor oder nach shön-p'in gesetzt. Offenbar aber sprengt diese
Klasse wieder das ganze sorgsame Schema und beweist, wie für die eigent¬
liche Kunsteinsicht fruchtlos und wie rein gelehrtenhaften Bedürfnissen
entsprungen diese ganze Klassifizierung ist. Sie ist es besonders den Katego¬
rien des Hsi6 Ho gegenüber.
Dennoch birgt sich in der praktischen Anwendung beider Systeme
vieles und oft tiefsinniges Nachdenken über Wesen und Verdienst der einzel¬
nen künstlerischen Erscheinungen und für uns mancher bemerkenswerte
Hinweis. Es ist sehr interessant, daß Ku K'ai-chi z. BL der i. A. mit dem
höchsten Lob unter den inspirierten Malern genannt wird, bei Hsi6 Ho erst
in der dritten Klasse unter den getreuen Zeichnern der äußeren Form er¬
scheint. Ebenso ist in der Tafel des Chu King-huan der berühmte Land¬
schafter Wang Wei erst als das Haupt der miao-p'in, der Klasse der Talen¬
tierten angeführt, während Künstler wie Lu Tan-wei und Wu Tao-tse als
unbestrittene Meister überall an der ersten Stelle stehen. Die Gründe jener
von der Tradition abweichenden LJrteile sind uns freilich zunächst noch
verborgen; es scheint aber, daß manche in den Werken jener Maler den Atem
des mystischen Einsseins vermißten. Gerade sie aber sind merkwürdiger¬
weise die einzigen aus jener frühen Zeit, von deren Schaffen sich mit Wahr¬
scheinlichkeit eine anschauliche Vorstellung gewinnen läßt.
Die Ordnung der Gegenstände.
Die Neigung des Registrierens und Klassifizierens erstreckte sich natur¬
gemäß auch auf die Gegenstände. Ihre Einteilung unter bestimmte Katego¬
rien lag um so näher, als die Aufstellung der Gemäldekataloge schon von
den frühesten Zeiten ab auf den Gedanken führen mußte. Schon Ku K’ai-chi
gibt eine Liste nach der Schwierigkeit der Darstellung für den Künstler:
zuerst die menschliche Figur, dann die Landschaft, dann Hunde und Pferde
und endlich Bauwerke. T’ang Hou, ein Autor der Yüan-Dynastie, teilt
eine Stufenfolge der Gegenstände mit, wie es scheint, nach ihrem bildenden
und erhebenden Werte geordnet: Beim Sammeln von Bildern stehen taoisti-
sche und buddhistische Vorwürfe an erster Stelle, denn die alten Meister
wandten viel Arbeit auf diese, da sie durch sie Ehrfurcht, Liebe und eine
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Eine chinesische Kunsttheorie.
M 7
Neigung zu den heiligen Gebräuchen einzuflößen wünschten. Sodann
kommen Figurenbilder, die als Vorbilder oder warnende Beispiele dienen
können. Darauf folgt die Landschaft mit ihren unerschöpflichen Genüssen,
nach ihr die Blumen und dann die Pferde, die unter die göttlichen Tiere
gehören. Bildnisse von Herren und Frauen und Abbildungen fremder
Völkerschaften, mögen sie noch so geschickt ausgeführt sein, sind kaum zur
Bildung des Geistes geeignet. — Endlich enthält das Hsüan-ho-hua-p'u
(1120) das denkbar vollständigste Verzeichnis der Gegenstände, da hier die
in der kaiserlichen Sammlung vertretenen Meister nach den Vorwürfen
geordnet erscheinen, in denen sie nach der allgemeinen Anschauung das
Vorzüglichste geleistet hatten. Seine zehn Kategorien sind folgende: 1. Tao¬
isten und Buddhapriester, d. h. die religiöse Malerei, die altchinesische
Mythologie und das Pantheon des Buddhismus verbildlichend. 2. Mensch¬
liche Dinge, d. i. die profane Figurenmalerei. Hierher gehört alles, was wir
Porträt, Historie und Genre heißen, Sittenbilder, Anekdotisches, Muster¬
beispiele hoher Tugend, Weise des Altertums und komische Gestalten.
3. Palast und Haus, d. h. die Architekturmalerei, zumeist Abbildungen der
berühmten Lustgärten mit ihren Schlössern und Pavillons; auch die Schiffs¬
und Wagenbilder werden anhangsweise hier aufgeführt. 4. Fremde Stämme,
sittenbildliche Darstellungen fremder Volkstypen und Beschäftigungen.
5. Drachen und Fische, d. h. die ganze Welt der Wassergeschöpfe. 6. Berge
und Wasser, die chinesische Bezeichnung der Landschaft; es dürfte sich in
der Tat kaum eine chinesische Landschaft finden lassen, die nicht aus jenen
beiden Grundelementen bestünde, besonders wenn man bedenkt, daß auch
der Nebel als Manifestation des Wassers gerechnet wurde. 7. Haustiere und
wilde Tiere. 8. Blumen und Vögel, zu welchen hier auch die Schmetterlinge
und Bienen gezählt sind. Es handelt sich um Darstellungen entweder der
Blumen oder der geflügelten Welt allein oder aber in den weitaus meisten
Fällen um Gruppierungen beider Wesen zu einem Bilde. 9. Tuschbambus.
»Damit werden die in der Schwarzweiß-Manier ausgeführten Skizzen von
Bambuszweigen und Bambusgruppen bezeichnet, die gewissermaßen als
Gelehrtensport seit dem 10. Jahrh. in der gebildeten Welt Ostasiens eine
hervorragende Rolle spielen« (Hirth). 10. Gemüse und Früchte, denen sich
die Pflanzeninsekten anschlicßen.
Es läßt sich in dieser Anordnung kaum mehr ein Bedürfnis der Wertung,
sondern nur ein solches der Ordnung erkennen, man möchte jenes denn
darin erblicken, daß nach altem Herkommen das Göttliche vor dem Mensch¬
lichen und dieses wieder vor dem Außermenschlichen aufgeführt ist. Höch¬
stens könnte man cs vielleicht beachten, daß die barbarischen Sujets nach
allem speziell Chinesischen, und daß die Drachen und Fische von der übrigen
Tierwelt getrennt und vor der Landschaft erscheinen, vielleicht weil jene
10*
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
148
Otto Fischer,
Wasserwesen noch immer einen gewissen dämonischen Charakter zu haben
schienen. Die Rosse und andern Tierbilder erscheinen dagegen, der histori¬
schen Entwicklung nicht entsprechend, erst nach der Landschaft.
Wohl aber äußert sich hier, in diesen Klassifikationen der Vorwürfe,
eine Art Kanonisierung der Malerei, die keine Vermischung und Gruppierung
der Dinge, keine Wahl der Gegenstände nach der Willkür einer frei schaffen¬
den Phantasie zuläßt, sondern nach welcher schon durch die Wahl des
Themas eine gewisse traditionelle Einschränkung des Darstellbaren, ja mit
der Zeit sogar der Gruppierung und Anordnung des Darzustellenden statt hat.
Es hat sich diese Kanonisierung im wesentlichen offenbar schon in der T’ang-
Zeit vollendet, und nur die Landschaft scheint noch später unter der Sung-
und Yüan-Dynastie eine weitere Ausgestaltung erfahren zu haben. Was
die Gruppierung bestimmter Gegenstände, z. B. in den Zusammenstellungen
von Pflanzen und Tieren, angeht, so scheint es, daß diese entweder ganz
einfach traditionell waren, d. h. auf irgendein, sei cs legendarisch überliefertes
oder gänzlich unbekanntes Vorbild der frühesten Malerei, eventuell auch
auf eine geschichtliche Anekdote oder die Anregung einer Dichterstellc
zurückgingen. Oder aber sie entsprangen bewußt einem symbolischen Be¬
streben, das auch wieder in zwei Formen sich äußern konnte. Einerseits
nämlich ließen sich Gegenstände gleichartigen inneren Charakters und
gleicher Ausdrucksbedeutung zusammenstellen, andererseits konnte eine
Gruppierung verschiedenartiger Dinge von gleicher äußerer, z. B. auguraler,
Bedeutung erfolgen, Dinge, die z. B. langes Leben oder Glück oder geistigen
Fortschritt u. dgl. bedeuteten. Wir kommen so zu der speziell japanischen
Gattung der Wunschbilder. Es bedarf hier jedoch noch genauerer Unter¬
suchungen und eines umfangreicheren Materials, um zu endgültigen Fest -
Stellungen zu gelangen.
Als Beispiel sei die Zusammenstellung von Grille und Sperling genannt,
die ausdrücklich als die Erfindung des Ku Chün-chi (Mitte des 5. Jahrh.)
bezeugt ist, oder die der weit offenen Blüten der Rosenmalvc mit einer Katze,
deren Pupille spaltförmig geschlossen ist, als ein Bild der Mittagshitze (sie
ist im 11. Jahrh. als sehr alt erwähnt und erklärt) oder endlich die des Hahns
mit der purpurroten Blüte des chinesischen Hahnenkamms (Celosia cristata).
Als Beispiel traditioneller Vorwürfe in der Landschaft erwähne ich die soge¬
nannten acht Motive, die zuerst im n. Jahrh. als ein Werk des Sung Ti
erscheinen, später aber in China und in Japan zahllose Nachschöpfer gefunden
haben.
Der Stil.
Die Chinesen haben seit den frühesten Zeiten den Begriff des Stils
gekannt. Des Stils als einer ganz bestimmten fest geprägten Form des
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Eine chinesische Kunsttheorie.
149
künstlerischen Ausdrucks, der künstlerischen Gegenstandsbezeichnung, als
eines besonderen in sich geschlossenen Systems, einer Idee den bildhaften
Ausdruck zu geben. Schon von Ku K'ai-chi heißt es, er habe verschiedene
Landschaftsbilder gemalt, um die Mannigfaltigkeit seiner Stile zu zeigen.
Von vielen Malern wird berichtet, daß sie in einem bestimmten Felde einen
eigenen und neuen Stil geschaffen und ausgebildet, von andern, daß sie
den Stil eines bestimmten Meisters oder einer bestimmten Zeit angenommen
und in ihm gearbeitet hätten.
Wollen wir nun zunächst die allgemeine Grundlage für die Stilbildung
der chinesischen Malerei festlegen, so geht es aus den Schriftquellen aufs
deutlichste hervor, daß diese in der Ausdruckskraft der Zeichnung liegt,
in der Linie oder besser in dem, was der Chinese den Pinselstrich, den Pinsel -
hieb, das Pinselwerk nennt. Wo immer wir nähere Ausführungen über den
Stil finden, da ist dieses als das Wesentliche im Bilde und als der eigentliche
Träger der Idee oder des Ausdrucks bezeichnet. Wo immer wir Anweisungen
oder Bemerkungen über das Verfahren des Malers finden, heißt es, daß das
erste die grundlegende Linienzeichnung, die Anlegung des Gerippes im Bilde
ist; erst dann kommt, sei es die sorgfältige, ebenfalls lineare Ausarbeitung,
sei es die Anlegung der Tuschetöne, sei es das Kolorieren mit Farbe. Die
Linie entwickelt sich, wie schon aus der Kunstliteratur ziemlich deutlich
hervorgeht, von der einfachen umschreibenden Konturlinie zum form- oder
schattenbezeichnenden saftigeren Pinselhieb, ja die schwarze Tusche wird
oft sogar mit den Fingern aufgetragen oder endlich verdünnt als Lavierung
über die Fläche gelegt. Wir gelangen so von der linearen zur tonalen Zeich¬
nung: Das monochrome Tuschebild kam in der Sung-Zeit in Aufnahme und
machte seither einen sehr beträchtlichen Teil des künstlerischen Schaffens aus.
Die Farbe wird der Zeichnung gegenüber immer nur an später und oft an
letzter Stelle genannt. Sie diente ursprünglich dazu, die Umrißlinien der
Bilder bunt zu füllen — der alte Ausdruck für Malerei: Rot und Blau bezeugt
es — allmählich aber, und vorzüglich mit der Ausbildung des tonalen Ele¬
ments scheint sie immer mehr in den Hintergrund getreten zu sein. Sie
blieb stets an gewisse überkommene symbolistische Konventionen gebunden
und war dazu bestimmt, dem Bilde eine gewisse mehr sanfte, gehaltene als aus¬
drückliche Harmonie zu geben. Die Färbung soll nach bestimmten Gesetzen
erfolgen: lautet die letzte der 12 Malerregeln des Jao Tse-jan (Yüan).
Im übrigen spielt der dekorative Gesichtspunkt, nach allem was wir
lesen, in der chinesischen Stilbildung keine irgendwie anerkannte Rolle. Der
Stil wird als die Ausdrucksform der Dinge, keineswegs aber des Materials
oder einer Absicht der Verwendung betrachtet. Er erscheint ebensowenig
als ein Ausdruck der Persönlichkeit oder als historisch an eine bestimmte
Zeit gebunden. Wohl ist die Entstehung der Stilform eine zeitlich und per-
f
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Otto Fischer,
>50
sönlich bedingte, aber einmal geschaffen, ist sie absolut existierend und
jedem zugänglich und zu allen Zeiten verwendbar. Aus dieser Anschauung
von der absoluten zeitlosen Existenz und Bedeutung der geschaffenen Stile
erklärt es sich, daß, was wir Eklektizismus oder Archaismus nennen würden
oder ganz einfach Nachahmung, dem Chinesen als das selbstverständlichste
Ding der Welt erscheint. Chou Shun, ein Maler der Sung-Dynastie, folgte
in der Landschaft dem Stil des Li Ssu-hsün (8. Jahrh.) im Gewandstil und
den Kopfbedeckungen dem Ku K'ai-chi (4. Jahrh.) und bei buddhistischen
Figuren dem Li Lung-mien (il. Jahrh.). Von Wang Meng, einem Maler der
Yüan-Zeit, heißt es, er hätte die Landschaft in mehr als zehn verschiedenen
Weisen behandelt und für Bäume speziell noch eine weit größere Zahl von
Manieren beherrscht. Der Stil ist dem Chinesen nichts anderes als die not¬
wendige Ausdrucksform für eine ganz bestimmte Seite, einen ganz bestimmten
Aspekt der Dinge, er kommt erst in zweiter Linie nach dem allgemeinen
Gedanken und Gefühl, die in dem Bilde schöpferisch werden, und wenn
diese eine neue und andere Konzeption der Dinge, oder nach chinesischer
Anschauung, eine neue immanente Qualität der Dinge ausdrücken, so wird
ganz von selber auch der Stil danach sich modifizieren. Tatsächlich ist dies
auch in allen schöpferischen Zeiten der chinesischen Kunst der Fall gewesen,
bis zur Erschöpfung unter der Ming-Dynastie.
Wollen wir also an der Hand der Schriftquellen dem Wesen der chi¬
nesischen Stile einen Schritt näher kommen, so brauchen wir nur nach dem
zu fragen, was in den Dingen selbst als wesentlich genannt wird und wessen
Ausdruck in der Kunst vor allem gesucht und gepriesen erscheint. Dies
ist naturgemäß nach dem Gegenstand und der Aufgabe ein verschiedenes.
Bei religiösen Gegenständen finden sich nur die allgemeinen Qualitäten
der Göttlichkeit und Erhabenheit erwähnt. Bei einem Höllenbild eine
solche Lebendigkeit der Qual, daß es den Beschauern bis ins Mark hinein
schauerte und rohe Schlächter sich bekehrten. Bei Bildnissen gilt der
geistige Ausdruck und der verborgene Charakter, die Quellen des Handelns
im Herzen als das Wesentliche und ihre Äußerung, im Blick des Auges kon¬
zentriert, andererseits wird aber auch die spezielle Lebendigkeit der Haltung,
der Geste, des Umrisses betont, da oft schon ein zufälliger Schattenriß den
ganzen Menschen enthülle. Überhaupt scheint bei allen figürlichen Dar¬
stellungen die Äußerung des Inneren durch die frappante Bezeichnungs¬
kraft der äußeren momentanen Bewegung vor allem gesucht; die Lebensbe¬
wegung der Dinge steht bei Hsiö Ho in der ersten Kategorie. Ein Ausspruch
des Ou-yang Hsiu (11. Jahrh.) gibt eine weitere Illustration: Fliegen oder
Gehen, schnell oder langsam sind seichte Einfälle und leicht auszudrücken,
aber schwieriger ist es und wesentlicher, Ideen wie Annehmlichkeit,
Harmonie, strengen Ernst oder tiefe Stille anschaulich zu machen, die tiefer
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Eine chinesische Kunsttheorie.
I 5 I
in den Dingen liegen. — Eine andere Stelle des Li Chi (n.—12. Jahrh.)
mag uns dann vom Menschen zur allgemeinen Welt hinüberführen: Wenn
die Menschen auf einem Bilde, schaut man sie an, zu sprechen scheinen,
wenn die Blumen und Früchte im Winde schwanken und mit Tau betropft
sind, wenn die Vögel und das W'ild lebendig sich zu rühren scheinen, wenn
die Hügel und Ströme und Wälder und Quellen durchsichtig, ruhevoll,
dunkel und ferne sind, wenn die Gebäude in die Tiefe gehen, wenn die Brücken
herüber- und hinüber- sich schwingen, wenn man den Grund eines Berges
unter der klaren Wasserfläche zu seinen Füßen sieht und wenn der Ursprung
und die Herkunft der Bäche deutlich erkennbar ist — der Mann, der solche
Bilder malt, mag sein Name bekannt sein oder nicht, der ist ein großer
Künstler —. In der Landschaft handelt es sich nach allen chinesischen Auto¬
ren auf der einen Seite um den möglichst überzeugenden Eindruck der
Räumlichkeit und Ferne, um die Klarheit der Disposition, um die überzeu¬
gende Wiedergabe aller, auch der subtilsten atmosphärischen Erscheinungen,
der Jahres- und Tageszeiten und der Wetterphänomene und endlich um den
suggestivsten Ausdruck bestimmter allgemeiner Empfindungs- und Stim¬
mungsqualitäten, deren Tiefe dem Europäer bis heute noch so gut wie un¬
zugänglich blieb, da sie nur der vollkommensten Entäußerung und Ver¬
senkung in die außermenschliche Natur erfaßbar sind. Ein paar Zitate
mögen, dies bezeugend, den Abschnitt beschließen. — Kuo Hsi (11. Jahrh.)
sagt: Landschaft ist ein großes Ding und sollte aus der Entfernung gesehen
sein, damit man das Schema von Berg und Strom erfaßt. — Ferner: Berge
haben drei Entfernungen. Vom Fuß nach dem Gipfel sehen heißt Höhe.
Von der vorderen Seite nach der abgewandten sehen heißt Tiefe. Von nahen
Höhen zu fernen Bergen sehen heißt Ferne. Die Farbe für den Höhen¬
unterschied soll hell und klar sein, für den Tiefenuntersehicd schwer und
dunkel, für den Fernenunterschied entweder hell oder dunkel. Berge ohne
Wolken scheinen leer, ohne Wasser haben sie keinen Reiz, ohne Pfade sind
sie unbelebt, ohne Bäume scheinen sie tot. Ohne Tiefenunterschiede sind
sie flach, ohne Fernenunterschied nah, ohne Höhenunterschied sind sie
niedrig. — Wang Chön-p’öng war, wie es heißt, sehr genau in der Be¬
zeichnung von rechts und links, hoch und niedrig, Hinabblicken und Hinauf¬
schauen, gebogen und gebrochen, vierkantig und rund, eben und steil. —
Ferner die 12 Malerrcgeln des Jao Tse-jan (Yüan): I. Die Komposition
darf nicht überladen sein. Man breitet die Seide aus und legt mit Kohle
zunächst die Umrisse der Berge an, hoch und niedrig, dann der Bäume,
klein und groß, dann der Bauwerke und Menschenfiguren, jedes an seiner
Stelle. Dann tritt man zurück und prüft das Ganze genau. Ist es güt, so
mag man beginnen, eine dünne Lavierung aufzutragen. 2. Man versäume
ja nicht die Unterscheidung des Entfernten und des Nahen deutlich zu
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
* 5 *
Otto Fischer,
machen. 3. Die Berge müssen Atem und Pulsschlag haben. 4. Die Flüsse
müssen von einer bestimmten Quelle kommen. 5. Die Landschaft muß auf-
und absteigen. 6. Die Wege müssen Anfang und Ende haben. 7. Von den
Felsen darf man nur eine Seite sehen. 8. Die Bäume sollen zum mindesten
vier Äste haben. 9. Den Figuren müssen die Köpfe auf den Schultern sitzen.
IO. Die Gebäude müssen unregelmäßig zerstreut sein. II. Die Wirkungen
von Hell und Dunkel sollen angemessen verwendet sein: eine Schneewirkung
darf man nicht mit einer Regenwirkung verwechseln. 12. Die Farbengebung
erfolge nach bestimmten Gesetzen. — Ein anderer Autor sagt, es sei leichter,
schönes Wetter zu malen, wenn ein Gewitter drohe, als Regenwetter, das
sich aufzuklären anschicke. — Endlich noch einmal Kuo Hsis »Edle Bildun¬
gen von Wald und Strom«, das von Entfernung und Tiefe, Wind und Regen,
Licht und Dunkel handeln soll, sodann von den Unterschieden von Nacht
und Morgen in den vier Jahreszeiten, und wie im Bilde die Frühlingshügel
wie lauter Lächeln schmelzen sollen, die Sommerhöhen sein wie ein Strahlen
von Blau und Grün, die herbstlichen Hügel klar und rein erscheinen wie
Honigkuchen und die Winterberge gleichsam in tiefem Schlaf. Oder er sagt,
daß ein hoher Berg die niederen Höhen königlich beherrsche, und wie eine
schlanke Tanne den andern Bäumen ein herrliches Beispiel gebe.
Die historische Betrachtung.
Die kunstgeschichtliche Betrachtung und Feststellung erscheint in
der chinesischen Kunstliteratur unter zwei Formen: auf der einen Seite als
Beobachtung einer allgemeinen Wandlung in Gehalt, Gesinnung, Stimmung
der Kunstwerke, auf der andern Seite als historische Fixierung des Auf¬
kommens bestimmter Motive und bestimmter Stilneuerungen.
Jene Beobachtung der allgemeinen Zeitwandlungen am konkreten
Beispiel der Kunstwerke tritt fast immer in der Form einer Erhebung des
Alten und einer Klage über die Dekadenz der Neueren auf. Schon in der
T’ang-Zeit werden die Werke der älteren Zeiten hochgeschätzt und über die
neueren gestellt, aus der Sungzeit ist uns schon das Beispiel eines Kaisers
überliefert, der seinen Besitz an zeitgenössischen Meistern überdrüssig bei¬
seite warf, um ausschließlich die alten zu sammeln. Es ist dies wohl nicht
allein durch den größeren Raritätswert und auch nicht allein durch die jedem
Chinesen angeborene Verehrung des Vergangenen zu erklären: man erblickte
vielmehr bei den älteren Meistern Vorzüge, die man über die Leistungen der
neueren zu stellen sich für genötigt hielt. Unter der Yüan- und der Ming-
Dynastie finden wir dann ausführliche Äußerungen. Hsia Wön-yen (Yüan)
sagt: Religiöse Gegenstände, menschliche Figuren, Ochsen und Pferde sind
in den neueren Zeiten nicht so gut gemalt worden als von den alten Meistern;
andererseits aber sind Landschaften, Bäume, Felsen, Blumen, der Bambus,
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Eine chinesische Kunsttheorie.
>53
Vögel und Fische in neueren Zeiten besser dargestcllt worden. Unter den
Vertretern der alten sind Ku K’ai*chi, Lu T'an-wei, Chang Söng-yu, Wu
Tao-tse, Yen Li-tö und Yen Li-pön, Chou Fang, Han Kan und Tai Sung
als die besten genannt, von den neueren Li Ch’öng, Kuan T’ung, Fan K'uan,
Tung Yüan, Hsü Hsi und Huang Ch'üan. Sung Lien (14. Jahrh.) schreibt:
Zur Zeit der Alten, da pflegten die in der Malerei Bewanderten das Buch
der Lieder (das Shu-king) zu illustrieren, oder das Buch der kindlichen Er¬
gebenheit, oder das Erh-ya oder die Analekten des Kung-fu-tse oder das
Buch der Wandlungen, auf daß der Inhalt fieser Werke von der Zeit nicht
verdunkelt werde; später noch, bis zu den Zeiten der Han, Wei, Chin und
Liang-Dynastien (6. Jahrh.) wurden Bücher über Erziehung, Staatsge¬
bräuche, tugendhafte Frauen usw. stets mit Bildern ausgeziert, um die
Lehren des Kung-fu-tse den Menschen besser einzuprägen. Allein mit der
Zeit trat hier ein Verfall ein und die Künstler fesselte nun der Glanz der Wagen,
Rosse, Krieger und Damen, und endlich wandte sich ihr Sinnen der Schön¬
heit der Blumen, Vögel, Falter und Fische zu, und sie gaben ihren Erregun¬
gen Ausdruck in der Darstellung von Berg und Wald, Strom und Felsen,
bis die alte Auffassung der Malerei vollkommen verloren war. Die erste
große Wandlung geht auf Ku K'ai-chi und Lu T’an-wei zurück, die nächste
auf Yen Li-pön und Wu Tao-tse, die letzte endlich auf Kuan T'ung, Li Ch'öng
und Fan K'uan. — Wang Shi-chöng (16. Jahrh.) gibt uns weitere Daten:
Zwischen der Zeit des Ku K'ai-chi und Lu T’an-wei und derjenigen des
Chang Söng-yu und Wu Tao-tse erfuhr die Kunst der Figurenmalerei eine
große Wandlung. Der ältere und der jüngere Li (Li Ssu-hsün und Li Shöng)
schufen eine entsprechende Wandlung in der Landschaftsdarstellung. Eine
fernere Wandlung schufen Ching Hao, Kuan T'ung, Tung Yüan und Kü Jan,
eine weitere Li Ch’öng und Fan K'uan, eine fernere Liu Yüan, Li Lung-mien,
Ma Yüan und Hsia Kuei, eine weitere endlich Huang Kung-wang und Wang
Möng. — Ku Ning-yüan (17. Jahrh.) schreibt: Vom Ende der Yüan-Zeit
ab bis zum Beginn der Ming-Dynastie schien der künstlerische Genius er¬
schöpft zu sein. Zwischen 1465 und 1567 war eine Zeit des Wiederauflebens
in der Provinz Kiangsu, aber bis zum Jahre 1620 war auch dies vollkommen
zu Ende. — Ku Yen-wu (17. Jahrh.) bemerkt: Die Alten bestrebten sich
in ihren Zeichnungen und Bildern stets Ereignisse darzustellen, die dem
Beschauer zur Bewunderung oder zur W'arnung dienen sollten, allein mit
der Entwicklung des Monochroms und der Landschaft verschwand jener
Gesichtspunkt, den die Alten hochgehalten hatten. Endlich eine Äußerung,
die mehr auf das Innerliche der Stilbildung geht, anläßlich einer Bemerkung
über Chao Möng-fu (13. Jahrh.): er habe das Suggestive der T'ang-Zeit
ohne ihre sorgfältige Ausarbeitung, und zugleich die männliche Kraft der
Sung-Zeit, doch nicht ihre Zwanglosigkeit. Und zum Schluß zwei Dichter-
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
*54
Otto Fischer,
stellen, die ein Kritiker zusammenstellt, um die Kunst der Sung- und der
Yüan-Zeit in einer krassen Antithese zu bezeichnen, und die uns noch einmal
den Geist der gesamten chinesischen Kunst vergegenwärtigen mögen:
Wer ein Bild nach seiner Ähnlichkeit wertet,
Der unterscheidet nicht besser als ein Kind.
Wer ein Gedicht schreibt nach vorgebildetem Muster,
Hat gewiß auf den Ruhm des Dichters kein Recht.
Dagegen:
Die Kunst schafft etwas, was über die Formen hinausgeht,
Liegt auch ihre Größe in der Gestaltung der Form.
Dichtung schenkt uns Gedanken, die über die.Kunst hinausgehen,
Liegt auch ihr Preis in der Gesetzlichkeit der Kunst.
Es ist die Klage, die immer wiederkehrt: Die Alten suchten den Geist
und achteten die Form gering. Die Neueren suchen die Form und haben
den Geist vergessen.
Was nun die zweite Form der kunsthistorischen Betrachtung angeht,
den allgemeinen gegenüber die spezielleren und konkreten Daten, so gibt uns
die chinesische Kunstliteratur zunächst bei weitaus den meisten und jeden¬
falls bei fast allen Malern, die seit dem 5.—6. Jahrh. in der Entwicklung
eine Rolle gespielt haben, die Herkunft ihres Stiles an. Wir erfahren, welches
älteren Meisters Stil der spätere zunächst »angenommen« hat, wir hören,
ob er hierzu selbständig etwas Neues zugefügt oder gar selbst etwas wesentlich
Eigenes geschaffen hat, und es wird uns bei den eklektischen Künstlern nicht
verschwiegen, aus welchen Elementen sie ihren Stil zusammengesetzt haben.
Es lassen sich so fast durch die gesamte Kunstgeschichte bestimmte Stil¬
genealogien und Filiationen verfolgen, die zwar anderer Art sind als die
europäischen Schulgenealogien, weil sie auf einer zeitlosen Freiheit der
künstlerischen Wahl beruhen, aber doch für den Historiker einen ebenso
großen, für den Ästhetiker vielleicht einen größeren Wert besitzen, weil sie
unbedingterer Entstehung sind.
Wir sind ferner über manche gegenständlichen Motive unterrichtet,
wann sie zum erstenmal dargestellt wurden oder ihre klassische Prägung
empfingen. Die buddhistische Gottheit Kuan Yin scheint von Tai K'uei
im 4. Jahrh. zuerst in China, und zwar in männlicher Gestalt, dargestcllt
worden zu sein, seit dem Anfang des 12. Jahrh. wird ihre weibliche Dar¬
stellung üblich. Vaisravana wurde im Jahre 725 von Chö Tao-chöng nach
China gebracht. — Die in China so beliebten Kraniche scheinen zum ersten¬
mal durch Hsiö Chi (gest. 713) eine klassische Darstellung gefunden zu haben,
im io. Jahrh. wurde diese jedoch durch die berühmten sechs Kraniche des
Huang Ch’üan verdrängt. Die Erfindung des Themas: Grille und Sperling
im 5. Jahrh. ist schon erwähnt worden, ebenso war von Katze und Malven
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Eine chinesische Kunsttheorie.
*55
die Rede. Wang Wei war der Erfinder des berühmten Motivs: Banane im
Schnee. Von Ni Tsan wird es zuerst berichtet, daß er Landschaften ohne
menschliche Staffage gemalt habe (1301—1374). Von Ma Yüan und Hsia
Kuei ist die Einführung der »begrenzten Landschaftsbilder« überliefert.
Die mannigfaltigen Erscheinungsformen des belebten Wassers soll Sun Wei
(9. Jahrh.) in die klassisch-lebendigen Linienformeln gebannt haben, und
sein Zeitgenosse Tung Yu malte besonders überzeugend den sturmdurch-
wühlten Ozean. Zu gleicher Zeit war Chang Nan-pön für seine Meisterschaft
in der Bezeichnung des Feuers berühmt.
Wir mögen endlich fragen, wann die großen und grundlegenden Wand¬
lungen des künstlerischen Sehens stattgefunden haben, die spätestens in der
Sung-Zeit zu einer von den ältesten uns noch zugänglichen Werken prin¬
zipiell und vollkommen verschiedenen Stilbildung geführt haben. Es sind
uns hier allerdings nur Andeutungen und mit Vorsicht zu verwertende Hin¬
weise überliefert. Es handelt sich in erster Linie um die Wandlung vom
linearen zum tonalen Stil; hier muß die Änderung der Linienformung eine
der bezeichnendsten Äußerungen sein. In der Tat erfahren wir zuerst von
Lu T’an-wei (5. Jahrh.): Sein Pinselstrich war kraftvoll und scharf wie mit
der Ahle geschnitten, so daß ein gefühltes und bewegtes Bild entstand, vor
dem der Betrachter erstaunt als wie vor einem Wunder stand. Seine Land¬
schaften, Pflanzen und Bäume waren nur andeutend ausgeführt. Er soll
zuerst ein Bild mit einem einzigen Pinselstrich vollendet haben. Von Wu
Tao-tse (8. Jahrh.) heißt es: In seinen Bildern war es nicht so sehr die Be¬
deutung des einzelnen, was den Betrachter verblüffte, sondern seine außer¬
ordentliche Gewalt, seine Wirkungen durch eine meisterhafte Pinselführung
zu erzielen. Und andersw r o: In seinen früheren Zeiten gebrauchte er einen
feinen Pinsel, aber in seiner mittleren Lebenszeit nahm er einen so dick wie
ein Kohlkopf. Eine Aureole soll er mit ein paar raschen Hieben gemalt
haben, die wie von einem Wirbelwind getrieben schienen. Schon von Chang
Söng-yu (6. Jahrh.), dem Vorbilde Wu Tao-tses, hatte es geheißen: Mit
ein, zwei Pinselstrichen ist die Verwirklichung vollendet. Von Tung Yüan
wird später berichtet (10. Jahrh.), er habe im Gebrauch der neutralen Töne
in der Landschaft dem Wang Wei (8. Jahrh.) sich angeschlossen; von ihm
und Kü Jan heißt es bei Shön Kua: Die Werke dieser beiden Maler müssen
aus der Entfernung gesehen werden, so rauh ist ihr Pinselwerk. Aus der
Nähe sieht man in ihren Bildern nichts als formlose Massen, doch von weitem
betrachtet tut sich die Landschaft in ihren großen Zügen wundervoll auf,
als schaute man in ein seltsam fremdes Land. Und als Beispiel führt er
einen Sonnenuntergang an. Von den meisten späteren Landschaften ist es
überliefert, daß sie ihren Stil nach Tung Yüan oder naeh Kü Jan gebildet
haben. Eine genauere Untersuchung der Quellen und speziell der chinesischen
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Otto Fischer,
*5 6
Bezeichnungen kann hier gewiß noch zu weiteren Aufschlüssen führen; es
wird dann auch die traditionelle Unterscheidung der nördlichen und der
südlichen Landschaftsschule eine präzisere Formulierung finden.
Dasselbe gilt von einer andern großen Wandlung, die sich in der
chinesischen Malerei vollzogen haben muß. Sie bezieht sich auf die Raum¬
darstellung und betrifft die Frage der umgekehrten Linearperspektive, die
in China mindestens seit dem 4. Jahrh. im Schwange gewesen sein, und auf
der andern Seite, mit dem vorher behandelten Problem sich berührend, der
Luftperspektive im europäischen Sinne, die seit der späteren Tang-Zeit sich
entwickelt haben muß. Das Problem der Raumdarstellung in der Land¬
schaft hat seit den ältesten Zeiten, aus denen wir Zeugnisse besitzen, die
Künstler beschäftigt. Schon Wang Wei (5. Jahrh.) spricht davon, daß der
Maler Berge aufzurichten und Ebenen hinzubreiten habe, schon Chan Tse-
ch'ien (6. Jahrh.) muß einige perspektivische Kunst besessen haben, und
von den Zeiten des späteren Wang Wei ab (8. Jahrh.) ist oft die Rede von
den Bergreihen der Bilder, die Reihe hinter Reihe das Auge in eine unend¬
liche Ferne locken. Wang Wei selbst sagt: Ferne Menschen haben keine
Augen, ferne Bäume keine Äste, ferne Höhen keine Felsen, sondern sind
unbestimmt wie Augenbrauen; fernes Wasser hat keine Wellen, sondern
steigt auf bis an die Wolken. Chang Tsao, der Erfinder der »Fingermalerei«
(vgl. den vorigen Abschnitt), der ebenfalls noch dem 8. Jahrh. angehört
und sich an Wang Wei anschloß, muß in der Raumdarstellung fernere Fort¬
schritte gemacht haben. Li Ch'öng, der eine weitere Stufe repräsentiert
(10. Jahrh.), sagt: In der Landschaftsmalerei ist es das Erste, die Lage
von Wirt und Gast (d. h. der beherrschenden und der untergeordneten For¬
men) festzulegen, sodann die Entfernungen zwischen diesen. Die ausführ¬
lichsten und wertvollsten Notizen endlich verdanken wir dem Schriftsteller
Shön Kua (1030—1093). Zunächst eine Bemerkung, die für die Linear¬
perspektive interessant ist: Wenn die Maler Buddhas Aureole malen, so
stellen sie sie flach und rund wie einen Fächer dar. Wenn sein Leib verkürzt
gesehen ist (wörtlich: »gebeugt«), so machen sie den Nimbus ebenfalls ver-
t
kürzt — ein bedenklicher Fehler. Denn sie nehmen Buddha wie ein ge¬
gossenes Standbild und bedenken nicht, daß sein Nimbus übernatürlich und
darum ewig rund ist. — Dann über Li Ch'öng: Wenn dieser Pavillons,
Pagoden und andere Bauten in die Berge seiner Landschaften setzte, so malte
er sie mit aufgekrempten Dachrändern, so daß der Beschauer sie von unten
erblickte und so ihr Inneres sah; denn, meinte er, der Augenpunkt des Be¬
schauers ist unterhalb des Gegenstandes, und ebenso sieht ein Mann unter
einer Pagode die Dachsparren von unten. Diese Überlegung ist falsch. In
der Landschaft nämlich gibt es eine Methode, große Dinge zu sehen, als wären
sie klein. Würde man nun die abgebildeten Höhen ebenso betrachten, wie
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Eine chinesische Kunsttheorie.
*57
man die wirklichen ansieht, nämlich von ihrem Fuß aus nach dem Gipfel
blickend, so könnte man unmöglich mehr als einen Höhenzug zugleich
erblicken, nicht aber Bergreihe hinter Bergreihe, und ebensowenig könnte
man die Schluchten und Täler in den Bergen überblicken. Ebenso
könnte man den Mittelhof einA Hauses nicht sehen, noch was in den Rück¬
gebäuden sich zuträgt. Man kann unmöglich die Regel aufstellen, daß,
wenn ein Mensch auf der Ostseite des Berges steht, dessen Westseite sodann
die entferntere Landschaft verbergen muß; unter solchen Bedingungen
könnte überhaupt kein Bild gemalt werden. Li Ch’öng kannte die Methode
nicht, nach der große Dinge als klein erscheinen. Mit dieser Methode aber
kann man Wirkungen von Höhe und Ferne besser wiedergeben als mit dem
Aufkrempen von Häuserecken. — Solche Stellen geben Zeugnis von einer
ernsthaften und eindringenden Bemühung um die Probleme der perspek¬
tivischen Darstellung und sic werden, sobald sie in einem größeren Zu¬
sammenhang überblickbar sein werden, sobald wir auf der andern Seite mit
einem größeren Anschauungsmaterial versehen sind, als uns zunächst noch
vorliegt, für die chinesische Kunstgeschichte von Bedeutung sein.
Die ästhetische Betrachtung.
Die ästhetische Betrachtungsweise, die sich in den chinesischen Schrif¬
ten über die Kunst äußert, ist, wie wir sahen, von zweierlei Art. Auf der
einen Seite steht die von der taoistischen Weltanschauung ausgehende Be¬
mühung, das Wesen der Kunst als eine Offenbarung des großen Weltwesens
durch ein menschliches Medium zu begreifen. Diese Anschauung bekräftigt
die psychologische Beobachtung, daß das künstlerische Schaffen in einem
abnormen, dem Alltagsbewußtscin fremden Zustande, deni Zustande der
Eingebung, vor sich geht. Da sic diesen Zustand nur als den einer ekstati¬
schen Hingabe an das All kennt und da die chinesische Kunst in der Tat die
Sichtbarmachung des Alllcbcns in der gesamten Natur zu ihrer wesentlichsten
Aufgabe gemacht hat, so mußte ihr die Kunst als eine geistige Offenbarung
der Natur erscheinen. Die Kunst ist ihr die Dokumentation des Ewigen
und Zeitlosen in jeder Erscheinung, der durchwaltcnden Lebensbewegung
aller Dinge und des geheimnisvollen Prinzips der Welt. Die Kunst wird in
ihrem grundsätzlichen Wesen etwas absolut Unpersönliches wie etwas absolut
Zeitloses. Auf der andern Seite hat auf die Kunstbetrachtung das kon¬
fuzianische Element des chinesischen Geistes, das Gesetz und Regel suchende,
eingewirkt, indem es zunächst eine moralistischc Anschauung von der Kunst
als einer Helferin der guten Sitten durch ihre Vorbilder inaugurierte, dann
aber, nachdem diese gefallen war, in der Wertung der Kunst, in der Klassi¬
fizierung und Kodifizierung ihrer Schöpfungen seinen systematischen, ana¬
lysierenden und erstarrenden Geist bewährte. Und als die lebendigen Im-
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
158 Otto Fischer, Eine chinesische Kunsttheorie.
pulse erloschen waren, blieb nichts als dieses tote Formelgebäude bestehen.
Jedes Alte wurde bewahrt, aber mit seiner unbedingten Anerkennung war
auch jeder Keim eines Neuen erstickt.
Jene beiden konstituierenden Elemente haben sich endlich auch in
den chinesischen Anschauungen von den Zielen der Kunst, von ihrer Lebens¬
berechtigung und immanenten Bedeutung ausgesprochen. Ein Ausspruch
des Kunsthistorikers Chang Yen-yüan (841) sagt alles Wesentliche: Die
Maler tragen zur Sittigung der Menschen bei, sie zeigen die mannigfaltigen
Erscheinungen geistiger Mächte und sie bewähren das Geheimnisvolle wie
das Unendliche. — Daneben halten wir die Worte des berühmten Land¬
schafters Kuo Hsi (um 1068): Nichts Entzückenderes als zu wandern und
die schöne Landschaft zu genießen; allein nicht jeder ist imstande, sich diesen
Genuß zu verschaffen. Daher tritt die Kunst hervor und gibt allen ein Mittel,
die Größe der Natur ahnend zu erfassen, ohne auch nur vor ihre Haustüre
zu treten. Und so verschafft die Malerei uns edlere Genüsse, indem sie
das ungeduldige Verlangen fernhält, in die Wirklichkeit hinauszueilen. — Und
endlich die beiden Verse des Chao I-tao, die hier wörtlich angeführt seien:
Die Kunst schafft ein Etwas über die Form der Dinge hinaus,
Obgleich ihre Bedeutung in der Bewahrung der Form der Dinge liegt.
Es ist dies die Anschauung eines Volkes, dem jedes Gesetz in einer
Verehrung begründet ist und dem jede Erregung, jeder Genuß und jeder
Impuls zu schaffen, allein aus der Hingabe fließt.
Literatur.
Friedrich Hirth: Über die einheimischen Quellen zur Geschichte der chinesischen Ma¬
lerei von den ältesten Zeiten bis zum 14. Jahrhundert. München 1897.
Herbert A. Giles: An Introduction to the history of Chinese pictorial Art. Shanghai 1905.
Friedrich Hirth: Scraps from a Collectors note-book. Leiden 1905 (Sonder-Abdruck
aus T’oung Pao).
(Passim:) Hirth: Über fremde Einflüsse in der chinesischen Kunst. München 1896.
Hirth: über Entstehung und Ursprungslegenden der Malerei in China.
Leipzig 1900.
Giles: A Chinese Biographical Dictionary.
Conrady: Studien Uber die ältesten Erwähnungen einer figürlichen Kunst
in China. (In Münsterberg, Chinesische Kunstgeschichte I S. 78—89. E߬
lingen 1910.)
Okakura Kakuzo: The Ideals of the East. London 1904.
Sei-ichi Taki: On Chinese Landscape-painting. Kokka, Heft 191, 193,
196. April—Sept. 1906.
Eduoard Chavannes in verschiedenen Beiträgen der Zeitschrift T’oung
Pao. (Leiden.)
Endlich gibt Raphael Petrucci: La Philosophie de la Nature dans l’art d’Extreme Orient.
Paris (191t) eine der vorliegenden z. T. parallel laufende Untersuchung, die
jedoch bei der Abfassung dieses Aufsatzes noch nicht benutzt worden ist.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Notizen.
verlorene Kreuzigung von Michel Wolge
Ein Hauptdenkmal Nürnberger Malerei des 15. Jahrhunderts ist einzig
in einem bisher unbeachteten Linienstiche von Fleischmann erhalten.
Er erschien im »Deutschen Unterhaltungsblatt für gebildete Leser
aus allen Ständen auf das Jahr 1816/17« bei Campe in Nürnberg 1 ). Das
einzige bekannte Exemplar im Abbildungsrcpertorium des Kupferstich¬
kabinetts im Germanischen Museum. Der zugehörige Text, auf den an
der Abbildung verwiesen wird, fehlt in dem unvollständigen Exemplar
des Unterhaltungsblattes auf der Nürnberger Stadtbibliothek.
Der Stich trägt die Unterschrift: Die Kreuzigung. Nach dem großen
Original Gemälde von Albrecht Dürer in der Campeschen Sammlung zu
Nürnberg. Höhe 4' io ,f , Breite 4' 10”. Mehrere Bilder der Campeschen
Sammlung sind heute in Kopenhagen, die Kreuzigung ist verschollen. Sie
zeigt unten auf einem Stein das schon wegen seiner aufdringlichen Größe
unechte Monogramm Dürers und auf dem kleinen Becken des Kriegsknechtes
die Jahreszahl 1521, die gleichfalls nicht irreführen kann. Plastisch aufge¬
setztes Bogenornament gab dem Bilde einen Korbbogen als oberen Abschluß.
Die Tafel stellt den Kreuzigungstypus dar, wie er von Hans Pleyden-
wurff geschaffen worden ist, steht dem Münchener Werke näher als dem
Breslauer.
Auch hier die Breitenerstreckung der Tafel und eine ähnliche Rahmen¬
füllung, die Verbindung des Gekreuzigten mit den bequem entwickelten
Gruppen zu Füßen, zwischen denen Magdalena vermittelt, und zwar so,
daß ihr Kopf wie dort in dem Messingnapf des Kriegsknechts seine symme¬
trische Entsprechung erhält. Die hochgewachsenen Leute beidseits in kreis¬
förmiger Anordnung, wobei der Abschluß mit den Köpfen am Rahmen
*) Die Herkunft läßt sich dadurch fcststellen, daß Nagler in seinem Künstlcrlexikon 4
S. 372 unter Fleischmanns Blättern folgendes anfuhrt: Christus am Kreuz von Dürer aus
der Kampeschen Sammlung, im deutschen Unterhaltungsblatt 1816. In den ersten, sehr
seltenen Abdrücken hat die rechte Hand des Gekreuzigten sechs Finger. Der Künstler
verbesserte bald den Fehler, daher die Seltenheit.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
i6o
Notizen.
der gleiche ist wie beim Münchener Pleydenwurff, dessen linke Gruppen -
komposition für dies Bild maßgebend war. Und im besonderen hier gegen¬
über der Unruhe der »Schönbornschen« Kreuzigung jene Parallelismen in
der Bewegung Mariens und ihrer haltenden Nachbarin, wie sie auch in der
Wolgemut-Werkstatt bei der Zwickauer Kreuzigung konserviert worden
sind. Gegenüber der »Schönbornschen« Kreuzigung stellt dann, von der
Kreuzigung, früher in der Catnpeschen Sammlung zu Nürnberg.
Gehaltenheit der Bewegungen abgesehen, der Aufbau der Komposition
ganz vorn am Bildrand — doch ist auf der Abbildung die Tafel unten wohl
etwas beschädigt — die Verbindung mit der Pleydenwurff-Wolgcmut-Gruppe
her, vor allem aber der Landschaftshintergrund. Da ist die ritterliche
Staffage im Mittelgründe links unter Christi Schamtuch wie auf dem Mün¬
chener Bilde, da der Aufbau des Hintergrundes auf der einen Seite mit dem
breiten Felsabschluß, die maucrumschlossenc Stadt hinter Christus, rechts
die Baumgruppen. Die über den schnell ansteigenden Mittelgrund schleifen-
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Notizen.
16 i
förmig geführten Wege, die mit Hilfe der Staffage glücklich erreichte Ver¬
kürzung des Hintergrundes verraten dasselbe perspektivische Können.
Aber überall ist ein wenig über Pleydenwurff in der Richtung hinaus¬
gegangen, in der sich die Entwicklung des Wolgemut zum Zwickauer Altar
hin bewegt hat. Was in dem Münchener Bilde allzu locker schien im Ge¬
füge, wird festgeschraubt, jedenfalls stillgestellt. Lange gerade Linien und
rechtwinklige Entgegensetzungen von solchen rühren nicht allein von der
stechenden Hand des 19. Jahrhunderts. Unter der großen Wagerechten
des Krcuzbalkens ist die andere Wagerechtc des Horizontes stärker kon¬
serviert als bei den Überschneidungen Pleydenwurffs, die vielen aufsteigen¬
den Linien der Baumstämme und Felsen stellen mit Wolgemutischer Rektan-
gularität dazwischen die Verbindung her. Breite große Kulissen ziehen
sich von der Seite tief ins Bild hinein. Und auch vorn in den Figuren¬
gruppen sind mit boutsischer Geradlinigkeit immer erneut die langen Linien
der Waffen, des Kreuzstammes durchgezogen.
Wohin aber die Entwicklung führt, ist gerade fort von der scharfen
und geraden Aufreihung der Einzelmotive, hin zu einer Zusammenflechtung
zu Formknäueln. Die am wenigsten Pleydenwurffische Gestalt des Bildes,
Magdalena, gibt dafür das Beweisstück: stärker vom Rücken gesehen als in
allen älteren Kreuzigungen, mit dem Mantel, der in großem Bogen von
der einen Schulter herabrauscht, in ein rippenförmig zugespitztes End-
motiv wie in eine kleine Kräusehvelle ausläuft, aber in diesem Hinabgleiten
plötzlich unterschnitten wird von einer entgegengesetzt fallenden breiten
Gewandbahn, so daß hier ein mächtiges Formendreieck entsteht — von
dessen sprudelndem Motivgehalt der Linienstich Fleischmanns ebenso¬
wenig eine Anschauung geben kann wie die von Quandt veröffentlichte
Lithographie der Zwickauer Verkündigung. Diese aber enthält im Marien -
mantel die im Hauptmotiv übereinstimmende, nur nicht ganz so reich durch¬
gebildete Prägung jenes großen Mantelfallthemas 2 ).
Der gleiche Sinn im komplizierten Ineinanderführen der Motive spricht
aus jedem Formkomplex: wie Johannes zur Maria geordnet ist, wie sein
Mantel im Bausch abflattert, sich überschlägt und in seinem spitzen Ende
gerade Magdalenens Stirn berühren muß, wie strudclig die Massen von
Christi Schamtuch sich blähen.
Diese spitzen Übertreibungen findet man erst bei dem Wolgemut der
Beweinung in der Lorenzkirche voll ausgeprägt, zu der die starre Komposition
2 ) Die Figur scheint dem Veit Stoß für seine Magdalena des Stiches der Lazarus¬
erweckung (S. 9) vorgeschwebt zu haben. Sein erregter Stil treibt da unter Beibehaltung
der Grundform durch ein Zerhacken des Bewegungszuges, durch ein Zusammendrängen
und Ineinandervemcstcln der Form die spätgotischen Elemente der \\ olgcmutischen
Figur auf die Spitze.
Repertorium fiir Kunstwissenschaft, XXXV. II
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
I 62
Notizen.
mit ihrem doch gruppenmäßigen Zusammenordnen der Figurenmassen, zu
der besonders die Typen und die Draperien gut stimmen würden 3 ). Doch
weisen einige Äußerlichkeiten wie die großen runden Brokatmuster im
Kleide Magdalenens und die etwas schlankere, noch nicht so quadra¬
tisch breite Formgebung wieder eher auf die achtziger Jahre (für die Brokat¬
muster vgl. das Krell-Epitaph von 1483 im Germanischen Museum). End¬
lich ist die Schrifttafel des Kreuzes in den auffälligsten Zügen getreu der
des Pleydenwurff in München nachgebildet.
Wir werden nicht fehlgehen, wenn wir in dem hoffentlich nur zeit¬
weilig verschollenen Bilde ein Hauptwerk Wolgemuts aus der Zeit um
1480—90, jedenfalls nach dem Zwickauer Altar und im Anschluß an die
Kunst seines Lehrers, vermuten.
3 ) Für die zeitliche Festlegung dieser Tafel sei auf meine im Druck befindliche
»Nürnberger Malerei der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts« (Straßburg, Heitz) ver¬
wiesen.
Erich Abraham.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
Eberhard Han£staengl. Hans Stethaiijier, Kunstgeschicht¬
liche Monographien XVI. Leipzig 1911. Hiersemann. 50 Seiten,
24 Lichtdrucktafeln
Für den Kunsthistoriker hatte seit der Zeit, da kunstwissenschaftliche
Forschung in Bayern einsetzte, der Name Landshut in erster Linie in Ver¬
bindung mit dem Namen Hans Stethaimers das meiste Interesse. Und in
der Tat nimmt Landshut gerade durch Stethaimer, durch seine Person
sowohl als auch hinsichtlich seines weittragenden Einflusses auf das damalige
künstlerische Schaffen in Altbayern ohne Zweifel eine der bedeutendsten
Stellen ein.
Mögen auch andere reiche Städte des altbayerischen Stammlandes,
wie das in Bayerns Kornkammer gelegene Straubing, dann Neu-Ötting,
Burghausen, das durch seine günstige Lage am Inn im Mittelalter so ver¬
kehrsreiche Wasserburg, sich großer kirchlicher Bauten des vielbeschäftigten
Meisters rühmen, mag auch der Ruf Stethaimers sogar bis in die fürst¬
bischöfliche Residenzstadt Salzburg zur Erbauung des Chores der dortigen
Franziskanerkirche gedrungen sein, der eigentliche Glanz, der von dem
Ruhm Stethaimers auf die niederbayerische Kreishauptstadt abfällt und
diesen Ort vor allen andern Städten so recht mit dem Baumeister in Konnex
bringt, kann Landshut nicht genommen werden.
Als Bestätigung dessen dürfte auch noch ein anderes Moment in Be¬
tracht kommen. Landshut ist durch die zwei Monumentalbauten Stet¬
haimers, der Martinskirche wie der Hl. Geistkirche, in einer ganzen Reihe
architektonischer wie dekorativer Motive, in der Grundrißbildung, in der
Turmlösung, im dekorativen Beiwerk (Spitzbogenfries), in der die Bauten
belebenden Gliederung (Spitzbogenblenden) usf. für das umliegende Land
von maßgebendem Einfluß gewesen. Nicht so verhält es sich bei den oben
genannten Städten mit ebenfalls monumentalen Zeugen der Tätigkeit Stet¬
haimers. Wenn auch da und dort, an Landkirchen im Inn- und Salzach¬
gebiet z. B. die an den großen Stadtkirchen zutage getretene Eigenart Stet¬
haimers sich bemerkbar macht, es sind immerhin nur vereinzelte Fälle. Wie
ii*
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
164
Besprechungen.
ganz anders bei Landshuts näherer und weiterer Umgebung: das weite Tal
isarabwärts mit den großen Dörfern Altdorf, Altheim, Ergolding, Essen¬
bach, mit der Stadt Dingolfing und den um Landau sich gruppierenden Ort¬
schaften, und dann das ergiebige Rott- und Vilstal mit seinen stattlichen
Marktkirchen in Geisenhausen, Vilsbiburg, Reisbach, Eggenfelden, Pfarr¬
kirchen und zahlreichen Dorfkirchen.
Nirgends anders als in diesem niederbayerischen Backsteingebiete ist
Stethaimers künstlerische Eigenart bald in äußerst bescheidener Art, bald
wieder reicher zur Nachahmung gekommen. Für diese Gegend ist Stethaimer
so recht der Lehrmeister gewesen. Es wäre sicherlich eine sehr dankenswerte
Aufgabe, zu erforschen, inwieweit der Einfluß Stethaimers sich im kleinen
auf dieses Baugebict erstreckt. Und die Behandlung dieses Themas wäre um
so interessanter, als die kunstwissenschaftliche Forschung durch Hanf-
stacngls Monographie über Hans Stethaimer in die glückliche Lage der
Kenntnis einerseits der künstlerischen Entwicklung Stethaimers, anderseits
seiner künstlerischen Abstammung gekommen ist.
Die eingehende Vertiefung in die für Stethaimer charakteristische
Eigenart hat durch den Verfasser obiger Monographie eine ganze Reihe von
neuen Gesichtspunkten zutage gefördert, die für das Studium der altbayeri¬
schen Baugeschichte, speziell der spätgotischen Baugeschichte Nieder¬
bayerns von wesentlichem Werte sind. So wird Hanfstaengls Monographie
die Grundlage bilden für den Spczialforscher der niederbayerischen Bau¬
kunst des 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts. Sie wird aber auch
wichtige Aufschlüsse dem bieten, der sich mit der spätgotischen Architektur
der östlich und südöstlich an Bayern grenzenden Länder Österreichs be¬
schäftigen will. Und hier wieder mag von besonderem Interesse sein, nachzu¬
gehen, inwieweit sich etwa in den Grenzgebieten die bauliche Eigenart
Stethaimers sich mit jener der Ostländer vermischte, und umgekehrt, inwie¬
weit Zusammenhänge bestehen, usf.
All diese Forschungen, die der Zukunft überlassen bleiben, \eerden zu
einem guten Teile Nahrung finden in vorliegender Monographie. Hierzu
ist namentlich auch behilflich das auf 24 Tafeln beigegebene Illustrations¬
material, das einerseits glücklich aufgenommene Außen- und Innenan¬
sichten von Stethaimers Bauten zeigt, anderseits auch in sehr übersicht¬
licher Weise sorgfältig ausgeführte Grundrisse vor Augen führt und ver¬
gleichend nebeneinanderstellt. Rieh. Hofjmann.
Fritz Hoeber. Die Frührenaissance in Schlettstadt.
Verlag der Elsässischen Rundschau, Straßburg 1910.
Die vorliegende Schrift zeigt, wie bei liebevoller Versenkung in die
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
1 65
Materie und verständnisvoller Einordnung in den größeren Zusammen¬
hang auch ein Thema von beschränkter, im Grunde nur lokaler Bedeutung
kunstwissenschaftlich bearbeitet werden kann. Aus der Fülle der Schöp¬
fungen der elsässischen Frührenaissancearchitektur greift der Verfasser
drei Bauten in Schlettstadt heraus, den Hof der Abtei Ebersmünster von
1541, das Haus des Stadtbaumeisters Stephan Ziegler, 1538—1545, und
die Johanniterkomturei von etwa 1565. Diese drei Werke analysiert er auf
das sorgfältigste als charakteristische Beispiele dreier Stilnuancen der deut¬
schen Frührenaissance. Die eine hat das Formgefühl der Gotik noch nicht
völlig abgestreift, die zweite strebt, unter Anlehnung an ornamentale Vor¬
lagen der Goldschmiedekunst und des Kupferstiches, nach feinster Zierlich¬
keit, die dritte nach größerer Schlichtheit im Sinne strengerer Form. Man
wird diese Gliederung für die Dekoration gelten lassen dürfen, für die Raum¬
behandlung jedoch nur mit Einschränkung; auch in der Johanniterkom¬
turei, dem spätesten der drei Bauwerke, wahrt die Raumgestaltung, unbe¬
schadet einiger Änderungen zugunsten stärkerer Monumentalität, wie Ver¬
größerung der Fenster, die spätgotische realistische Tradition. Bezüglich
des Ornamentes führt der Verfasser den Nachweis, daß es mehr auf vene¬
zianische, als auf lombardische Vorbilder zurückgreift.
In einem im Anschlüsse an das Buch erschienenen Aufsatze über das
Schlößlein Birkenwald bei Zabern (Elsäss. Monatsschrift II, 687 ff.) stellt
der Verfasser diesen rein deutschen Renaissancebauten den Typus eines
die Einwirkung französischer Renaissanceanlagen verratenden Bauwerks
gegenüber.
Das Schlettstadter Buch ist mit zahlreichen photographischen Repro¬
duktionen, sowie mit Nachbildungen guter zeichnerischer Aufnahmen des
Verfassers reich ausgestattet. Baum.
Marius Vachon. La Renaissance frangaise, l’architec-
ture nationale, les grands maitres m a g o n s . Paris
1910.
Schon der Titel besagt, daß der Verfasser die Baudenkmäler Frank¬
reichs aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts ausschließlich als Werke
einheimischer Meister betrachtet wissen will, daß er somit energisch gegen
den sogenannten Panitalianismus Front macht. Es ist aber nicht nur ein
Kampf gegen die übrigens schon antiquierte Theorie, daß nämlich nur
italienische Baumeister die französischen Kirchen, Schlösser, Rat- und
Wohnhäuser gebaut haben könnten; sondern aus allem geht hervor, daß
sich Vachon auch den modernen Forschungen entgegensetzt, welche die
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
i66
Besprechungen.
Mitwirkung italienischer Künstler als Erfinder von Bauplänen, Modellen
und als Dekorateure nachgewiesen haben.
Der erste Teil ist der »architecture nationale«, der zweite den »Grands
inaitres magons tailleurs de pierre« gewidmet. Zunächst entwickelt der
Verfasser in anschaulicher Weise die enorme Bautätigkeit Frankreichs nach
dem Abschluß des hundertjährigen Krieges, um zu zeigen, daß die Renais¬
sanceperiode nur die unmittelbare Fortsetzung der Spätgotik bedeute, daß
von irgendeinem Verfall der französischen Kunst im 15. Jahrhundert nicht
gesprochen werden könne, daß also der italienischen Kunst eine errettende
und neuschöpferische Rolle nicht zukomme. Vachon verweist auf das
unmittelbare Nebeneinander gotischer und moderner Formen. Daß sich
die finsteren, unwohnlichen Schlösser des Mittelalters in heitere Landsitze
verwandelten, ist einer der stärksten Beweise des nationalen Aufschwungs.
Wenn der Verfasser aber von einer »adaption g^nörale des formules ultra-
montaines« spricht, so gerät er später mit sich selbst in Widerspruch, und
jedenfalls wäre doch in einer Geschichte der französischen Renaissance gerade
darauf das Hauptgewicht zu legen. Die neue Dekoration ist der Antike ent¬
nommen, da gerade in jener Zeit ein lebhaftes Interesse für die Denkmäler
des Altertums erwachte. Anne de Montmorency erließ ein Manifest zum
Schutze der Monumente von Nimes und des Languedoc. Anerkannt wird
auch der Einfluß theoretischer Werke, des Vitruv, Alberti, des Traums des
Poliphilus u. a. Mit Recht wird auf das Vorkommen italienischer und antiker
Bauten und Bauteile in den Malereien eines Foucquet und Bourdichon
und auf Teppichen hingewiesen. Aus den dem italienischen Einfluß durch
die Theoretiker gegenüber gleichgültigen (maitre Pihourd) oder feindlichen
Stimmen (Palissy), schließt Vachon, Frankreich hätte sich ihm gänzlich
verschlossen. Jacques Androuet Du Cerceau, den der Verfasser in 1 \' t Zeilen
erwähnt, obschon er auch noch der ersten Hälfte des Jahrhunderts angehört,
vereinigt gleichsam die ganze komplizierte Bewegung in seiner Person und
seinem überaus reichhaltigen ceuvre. — Die Stellungnahme zum italienischen
Einfluß hängt davon ab, wie man die Künstlerkolonie in Amboise beurteilt.
Karl VIII. hatte sie bekanntlich dort angesiedelt »pour ouvrer de leur mettier,
a l’usaige ct mode d’Ytallie«. Vachon führt sie der Reihe nach vor mit
Angabe ihres Berufes und ihrer Bezahlung, und kommt zum Schlüsse, diese
Meister seien nicht fähig gewesen, eine Revolution in der Entwicklung der
französischen Kunst hervorzurufen. Nicht anders sei es mit den italienischen
Meistern in Paris und Fontainebleau. Dieser Ansicht muß entschieden die
sachliche Würdigung dieser Meister durch Geymüller (Die Baukunst der
Renaissance in Frankreich) entgegengehalten werden (S. 64 ff.). Hoch¬
gestellte italienische Persönlichkeiten als französische Bischöfe und Erz¬
bischöfe hätten keinerlei Einfluß auf die nationale Architektur ausgeübt;
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
167
aber unmittelbar vorher zitiert Vachon einen Ausspruch Delormes dahin
lautend, es liege den Franzosen im Blute, ausländische Künstler höher
einzuschätzen als die heimischen und sie demgemäß zu bevorzugen. Der
»Panitalianismus« bestand also doch, was den Verfasser, der ausdrücklich
darauf hinweist, nicht hindert, dieses Kapitel mit dem apodiktischen Satze
zu schließen: »Ce sont nos maitres magons-tailleurs de pierre qui seuls ont
fait la Renaissance architectural frangaise. L'^tranger n’y a iti pour rien«.
Einem höchst interessanten und bis jetzt noch wenig berührten, aber
auch sehr schwierigen Gegenstand ist das 5. Kapitel des 1. Teiles gewidmet:
Traditions, moeurs et habitudes corporatives et professionnelles. Es handelt
sich um die Erklärung der Bezeichnungen: maitre magon tailleur de pierre,
deviseurs de plans, maitres magons ouvriers, magons maitres des ceuvres
de magonnerie, architecte. Mittels Anführung einzelner Beispiele wird auch
die Bezahlungsfrage gestreift. Nach Vachons Ansicht sind die maitres magons
tailleurs de pierre sowohl die Erfinder des Planes als auch die Bauleiter,
demnach auch die Urheber der hervorragendsten Schlösser. Architecte,
schmückender Beiname zum offiziellen Titel maitre magon, wird erst bei
Delorme, Bullant, Du Cerceau zur Bezeichnung des Berufes, bleibt rein per¬
sönlich, wird nicht korporative Bezeichnung. Architecte bezeichnete vorher
einen Mann, der in architektonischen Fragen und in der Dekoration be¬
wandert war. Auch Bildhauer, z. B. Ligier Richier, tragen die Bezeichnung
»architecte«. Maitre magon wird dann auch dem Begriff Unternehmer gleich¬
gesetzt, unter maitre magon tailleur de pierre versteht Vachon weiterhin
die ausübenden Handwerker. Seit 1546 sind die maitres magons dem sur-
intendant, d. h. regelmäßig einem architecte untergeordnet. Für eine und
dieselbe Person kann in den Urkunden die Bezeichnung je nach der Sache, um
die es sich handelt, wechseln. Von größerem positiven Wert sind die urkund¬
lichen Mitteilungen. Zu annähernd sicheren Resultaten und Schlüssen wird
man jedoch erst gelangen, wenn einmal eine große Menge solcher Rechnungen
gesammelt, übersichtlich auf Tabellen geordnet, die Bezahlungen für de¬
viseurs, maitres magon usf. gruppiert und untereinander verglichen sind. —
Sehr nützlich ist S. 48 der Hinweis auf die bindende Kraft, die solche sehr
genau ausgearbeiteten Pläne für die folgenden Generationen gewannen. —
In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts hatten die »architectes« den
stärksten Einfluß auf die Bauentwürfe und die Bauleitung, während sich
die entrepreneurs immer noch aus den Kreisen der maitres magons rekru¬
tierten. Der Inhalt dieses an positiven Aufschlüssen so reichen Kapitels
führt den Verfasser zu der Schlußfolgerung, die maitres magons, geschult
in den Korporationen, seien die Begründer der französischen Renaissance,
während die Architekten, geschult an der Theorie der Antike, nur das Werk
der maitres magons fortsetzten. Selbst wenn alle die von Vachon später
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
168
Besprechungen.
aufgezählten maitres ma^ons die französischen Renaissancebauten erfunden
und ausgeführt haben sollten, bleibt die Frage nach dem Ursprung der
modernen Formen noch unbeantwortet. Wohl setzten die »Architekten«
das Werk der maitres ma^ons fort; aber um diese vielseitigen Architekten
hervorbringen zu können, durfte die ihnen vorangehende Epoche nicht ein¬
seitig ausgebildet sein. — Sehr wichtig ist im 7. Kapitel die Übersicht über
die königliche Bauverwaltung, in der die surintendants die wichtigste Rolle
spielten. Daß diese auf die Gestaltung der Baupläne nicht den geringsten
Einfluß gehabt haben sollten, ist eine voreilige Behauptung. — Zur Leitung
ihrer Bauten hatten die Fürsten einen maitre magon, die Stadt Paris hatte
zur Leitung ihrer öffentlichen Arbeiten einen »Maistre des oeuvres de magonne-
rie et pavement de la Ville«, der aber seinerseits unter dem Bureau de la
Ville, gebildet aus dem prevot des marchands und den Schöffen, stand.
Vachon prüft dann auch die Verhältnisse in den Provinzstädten, die Bau¬
verwaltung der großen Kathedralen und Kapitel, und schließlich die Stellung
der maitres magons im Dienste Privater.
Es folgen die schönen Kapitel (8 und 9), in denen der Verfasser eine
klare Übersicht über die enorme Bautätigkeit von Ludwig XI. ab bis auf
Heinrich II. gibt, angefangen beim Könige. Vachon führt alle die Schlösser,
Kirchen, Hotels auf, die Könige, Grandseigneurs und Private errichteten.
Der zweite und Hauptteil ist ganz speziell den französischen maitres
ma^ons und ihren Werken gewidmet. In 16 Kapiteln leistet der Verfasser
die enorme Arbeit, alle bedeutenderen und auch die weniger bekannten
Werkmeister vorzuführen und ihnen auf Grund urkundlichen Materials ihre
Werke zuzuweisen. Den Anfang macht Schloß Gaillon, wo Guillaume Senault,
Pierre Fain und Pierre Delorme tätig waren; es folgen Rouen mit Jacques
und Rouland Le Roux, die Lemercier und Grappin im Vexin (Pontoise und
Gisors), Sohicr und die beiden Le Prestre in Caen, Colin Byard als Architekt
des Schlosses Le Verger im Anjou, Charles Viart als Urheber der Rathäuser
von Orleans und Beaugency. Pierre Chambiges ist für Vachon der Architekt
des Hotel de Ville in Paris, der Schlösser Chantilly, Fontainebleau und
St. Germain-en-Laye. Um die Urheberschaft des Hotel de Ville ist seit Jahren
ein erbitterter Streit entbrannt; Marius Vachon, der Autor zweier Mono-
graphien über das Hotel de Ville, hat seine Gründe in einer Streitschrift
niedergelegt: Mömoire ä la Commission du vieux Paris, sur l'origine ex-
clusivement frangaise de l'ancien Hotel de Ville de Paris. Paris, Juli 1911.
Er tritt, wesentlich aus patriotischen Rücksichten, immer wieder dafür ein,
daß Boccadoro ein Hotel de Ville begonnen habe, das man aber als zu gotisch
schleifen ließ, um den endgültigen Auftrag an Pierre Chambiges zu erteilen.
An dieser Stelle kann unmöglich auf den langwierigen Streit eingegangen
werden; es sei nur bemerkt, daß Louis Dimier (Sur le vöritable architecte
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
i 69
de l’Hötel de Ville de Paris. Critique et controverse touchant difförents
points de l’histoire des arts. Paris 1909) und Henri Stein (La v^ritö sur
Boccador, architecte de l'hotel de ville de Paris. Bulletin de la soci^tö de
l’histoire de Paris et de l'Ile-de-France. 1904, S. 171 ff.) mit plausiblen
und sachlichen Gründen für die ausschließliche Autorschaft Boccadoros ein¬
getreten sind. Für Schloß Fontainebleau wird die Mitwirkung Serlios
gänzlich ausgeschlossen; dort war hauptsächlich die Familie Le Breton tätig.
Als Urheber von Schloß Madrid wird Pierre Gadyer genannt, als Bauherren
von Blois haben die Sourdeau, als Architekt von Chambord haben Pierre
Nep veu, dit Trinqueau und Coqueau zu gelten. Sodann werden die Meister der
Touraine, von Toulouse (Bachelier, .Cayla, Picard, Colin), der wichtigste
Baumeister von Angers, Jehan de Lespine, und schließlich mehrere weniger
bekannte der Ile-de-France, Normandie, Bretagne usw. vorgeführt. Und
immer ein und dieselbe Schlußfolgerung: nur die französischen maitres
magons haben die französische Renaissance geschaffen.
Gerade wegen der übersichtlichen Zusammenstellung dieser Werk¬
meister und der zahlreichen dokumentarischen Mitteilungen — die freilich
besser in einem eigenen Bande zusammengestellt als im Texte verstreut
wären — wird Vachons Buch der Forschung gewisse Dienste leisten; in der
Auffassung der französischen Renaissance aber wird sie sich nach wie vor
Geymüllers Auffassung anschließen, der in grundlegenden Kapiteln Ur¬
sprung und Wesen der französischen Renaissance, d. h. dieses Kompromisses
zwischen national-französischer und importierter italienischer' Kunst, dar¬
gelegt hat. Er warnt vor übereilter Interpretation der Urkunden und weist
auf ihre Lückenhaftigkeit hin. Weil zufällig keine der erhaltenen Urkunden
italienische Architekten nennt, ist ihre Teilnahme doch nicht ausgeschlossen.
Frei von nationalen Vorurteilen und als gleichmäßig vorzüglicher Kenner
italienischer und französischer Architektur war Henri von Geymüller am
ehesten befähigt, die Grundlagen für eine sachliche, wissenschaftliche Ge¬
schichte der französischen Renaissance zu legen. Eine einseitige Beschrän¬
kung auf die Baudenkmäler muß notwendig zu falschen Schlüssen über das
Wesen der Gesamtbewegung führen. Jedes Gemälde, jede Zeichnung, das
ganze Gebiet dekorativer Skulptur ist als Quelle wichtig. Als höchst lehr¬
reiches Buch sei auch Vitrys »Michel Colombe« erwähnt.
Vachon mag bei der Fixierung seiner Theorie von der richtigen Emp¬
findung ausgegangen sein, die französische Kunst habe sich in der sogenannten
Frührenaissance die italienischen Formeln einzeln assimiliert, sei aber im
Kern doch Spätgotik geblieben. Selbst in der Periode der Hoch- und Spät-
Renaissance, ja selbst im 17. Jahrhundert verraten gewisse Eigentümlich¬
keiten noch den Ursprung aus der Gotik. Die Architektur, gepflegt durch
einheimische Meister, blieb also national. Man wird darin gewiß mit Vachon
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
170
Besprechungen.
übereinstimmen, daß die Italiener in Frankreich den Grundcharakter der
französischen Baukunst nicht änderten; man wird ihm vielleicht auch darin
recht geben müssen, daß die Italiener keine sehr namhafte Rolle bei der
Erfindung von Bauplänen hatten. Selbst wo sie die Leitung besaßen, mußten
sie sich nationalen Gewohnheiten anbequemen, so Boccadoro am Hotel
de Ville in Paris. Wenn die Verwandtschaft zwischen diesem und dem ehe¬
maligen Schloß Chantilly, dem Werke des Pierre Chambiges, wirklich so
eng ist, wie Vachon behauptet, so braucht daraus nicht der Schluß gezogen
zu werden, Chambiges habe das Hotel de Ville in Paris gebaut, sondern die
Annahme liegt eben so nahe, die Baukommission habe die Pläne von Chan¬
tilly dem Boccadoro empfohlen, wobei.noch nicht erwiesen ist, daß jene das
ausschließende Verdienst des Pierre Chambiges gewesen seien. Die Ein¬
wirkung eines Bauherrn wie Anne de Montmorcncy darf nicht gering an¬
geschlagen werden.
Vachon geht der Frage, woher die neue Dekoration: Putti, Kandelaber-
Säulen, klassische Säulen, Medaillons, Akanthus usw. gekommen sei, kon¬
sequent aus dem Wege. Im Hinblick darauf ist die Rolle der italienischen
Künstler, gleichviel ob Steinmetz oder Maler, leicht zu erraten: sie sind die
Vermittler der Ornamentik. Sie waren nicht dazu berufen, italienische Basi¬
liken, Kuppelbauten oder Paläste auf französischem Boden zu errichten;
ihre Aufgabe bestand darin, mehr im kleinen für die Auftraggeber zu ar¬
beiten: Altäre, Grabmäler, Brunnen sind ihre bedeutendsten Werke. Die
italienischen Formen, gleichviel, ob sie aus der Lombardei oder Toscana
kamen, waren der Spätgotik, die unersättlich nach neuen Ziermotiven
suchte, zur Bereicherung ihres Formenapparates im höchsten Grade will¬
kommen, bis dann allmählich auch Säulenordnungen, Bogengruppen, Tor¬
motive in die französische Renaissance eindrangen.
Eine andere Frage ist diejenige, ob die italienische Baukunst nicht
auch den Aufbau im ganzen, die Proportionen, Verteilung der Fenster usw.
beeinflußt habe. Auch hierin hatte die Spätgotik schon vorgearbeitet; man
beachte die feinen Proportionen am Hotel de Cluny in Paris, den Fries
zwischen dem Erdgeschoß und dem ersten Stockwerk. Eine wundervolle
Folge von Rundbogen auf toskanischen Säulchen zeigt das für Jean de Laval
gebaute Schloß Chateaubriand, aber an der Hofseite des Flügels Ludwigs XII.
an Schloß Blois öffnet sich das Erdgeschoß in gotisch profilierten Korbbogen
auf Säulen mit abwechselnd gotischer und italienischer Dekoration.
Zum Schlüsse ein Wort über die Illustrationen. Auf 80 Abbildungen,
meist ganzseitigen Tafeln, werden die wichtigsten Monumente vorgeführt,
einzelne, die nicht mehr erhalten sind nach alten Zeichnungen (Gailion) oder
nach den Stichen Du Cerceaus (Chantilly). Die Abbildungen geben auch
einen deutlichen Begriff von der Vielseitigkeit der französischen Renaissance-
Digitized by
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
i 7 1
architektur und vermitteln leicht das Verständnis ihrer Entstehung aus der
gotischen. Sie sind auch darum erwünscht, weil der Text ausführliche Be¬
schreibung enthält. Hervorgehoben sei schließlich, daß viele außerhalb
Frankreichs jedenfalls kaum bekannte Baudenkmäler, die bisher nur in der
Sammlung der »Monuments historiques« oder von F. Martin-Sabon aufge¬
nommen waren, weiteren Kreisen vermittelt werden: die Kirche von Gisors,
das Schloß Chäteaubriant, der Manoir d’Ango in Varengeville, das Schloß
von Fontaine-Henri, die Kirche von St. Th^gonnec, das Portal der Kirche
von Guimiliau. Konrad Eschcr.
J. Rohr. Der Straßburger Bildhauer Landolin Oh¬
macht. Eine kunstgeschichtliche Studie samt einem Beitrag zur Ge¬
schichte der Ästhetik um die Wende des 18. Jahrhunderts. Straßburg,
K. J. Trübner, 1911.
Mehr und mehr beginnt die lange mit tiefster Verachtung behandelte
Zeit des Klassizismus die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Unserer
lebendigen Kunst wird er nicht mehr gefährlich werden; so kann die Ge¬
schichte anfangen, sich vorurteilslos um sein Verstehen zu bemühen.
Fast noch weniger bekannt als die deutsche Malerei ist die Pla¬
stik jener Zeit. Auf einen Bildhauer hat freilich schon W. Bode in
einer »deutschen Plastik« als viel zu wenig bekannt hingewiesen:
auf Landolin Ohmacht (1760—1834). Seit kurzem hat gleichzeitig
an mehreren Stellen die Forschung über ihn eingesetzt, und schon
ist eine umfängliche Monographie über ihn von dem Straßburger
Theologieprofessor J. Rohr erschienen; zwanzig Tafeln mit guten
Abbildungen sind beigegeben. Zum Termin des Erscheinens hatte
der Direktor des Straßburger Kunstgewerbemuseums Prof. Dr. Polaczek
im Palais Rohan eine höchst dankenswerte und geschickt angeordnete Aus¬
stellung von allem zusammengebracht, was an Originalen, Kopien oder,
wo diese versagten, Abbildungen Ohmachtscher Werke nur irgendwie zu
erlangen gewesen war.
Das Rohrsche Buch, das sich der Unterstützung der Wissenschaftlichen
Gesellschaft in Straßburgzu erfreuen gehabt hat, behandelt in fünf Kapiteln
den Künstler und seine Schicksale, das Lebenswerk, des Künstlers ästhe¬
tisches Glaubensbekenntnis, des Künstlers Lehrbuch, Archivalien und Nach¬
träge. Kapitel III sucht also den Künstler in die geistige und künstlerische
Atmosphäre einzuordnen, geht aber doch zu sehr ins Breite, ohne unsere
Kenntnis wesentlich zu vertiefen.
Der Titel des vierten Kapitels ist irreführend; es handelt sich nicht
um ein Lehrbuch Ohmachts, sondern um eine freilich sehr seltene, 1781
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
172
Besprechungen.
erschienene Schrift seines Lehrers J. P. Melchior: Versuch über das sicht¬
bare Erhabene in der bildenden Kunst — von der Rohr einen umfangreichen
Auszug gibt. Dankbar muß man dagegen für das Übrige sein, das die mit
liebenswürdiger Bescheidenheit dargebotenen Resultate jahrelangen, sorg¬
fältigen Forschens bringt, sich auch in der ästhetischen Wertung frei von
einer an sich naheliegenden Überschltzung hält. Zu bedauern ist nur, daß
bei der Besprechung der Werke, die sich auf einen Zeitraum von über
60 Jahren verteilen, nicht die chronologische Anordnung gewählt ist, sondern
eine Gruppierung nach an und für sich anfechtbaren Gesichtspunkten:
i. Porträts, 2. dekorative Arbeiten, 3. Denkmalskunst. Auf diese Weise
bleibt das für einen Künstler Wichtigste, seine Entwickelung, im Hinter¬
gründe; es bleibt bei einzelnen, an sich richtigen und feinen Beobachtungen.
So kommen die letzten Porträts von 1829 noch vor den Dunninger Reliefs
(um 1780) zur Besprechung. Aber der Verf. beabsichtigt ja auch nicht,
mit seiner Veröffentlichung das Ohmachtstudium zum Abschluß, sondern
noch mehr in Fluß zu bringen — ein Wunsch, der zweifellos in Erfüllung
gehen wird.
Ohmacht empfängt nach einer handwerklichen Ausbildung, die sich
in den Gleisen des ausgehenden Rokoko und des beginnenden Louis XVI.
vollzieht, entscheidende Anregungen, wie bereits erwähnt, von I. P. Mel¬
chior in Frankenthal. Arbeiten von ihm in der dortigen Porzellanmanu¬
faktur nachzuweisen, wird vielleicht noch gelingen *). Solange dies nicht
geschehen, wird von dokumentarischer Wichtigkeit sein ältestes nachweis¬
bares Alabaster-Porträt Melchiors von 1787 (Frankfurt, Historisches Mu¬
seum), ein liebenswürdiges, technisch mit der größten Sorgfalt ausge¬
führtes Werkchen, dem freilich eine etwa tiefschürfende psychologische
Analyse abgeht. Diese Eigenschaften bleiben den bis zu seiner italieni¬
schen Reise, die etwa 1789—1790 stattgefunden hat, nur in geringer Zahl
nachzuweisenden Arbeiten, von denen einige in Basel entstanden sind.
Die graziöse Antike des Louis XVI. weicht dem wuchtigen Schritt der
echten, und Ohmacht läßt es sich nicht verdrießen, die Juno Ludovisi in
seine kleinere plastische Welt umzumünzen; auch die Renaissance, vor
allem aber Canova, dessen Schüler er gewesen sein soll, hinterlassen ihre
Spuren.
Die umfangreichste Tätigkeit nach seiner Rückkehr entfaltet er wieder
als Porträtbildhauer, die ihn weit herum nach Frankfurt, Hamburg, Lübeck
führt.
*) Das inzwischen erschienene Werk von Hoffmann über das Frankenthaler
Porzellan (München 1911) kann leider auch nichts darüber feststellen; nur 2 Porträt¬
medaillons werden ohne nähere Begründung mit der gemeinschaftlichen Bezeichnung
Melchior und Ohmacht versehen (Bd. II; Taf. 155. Vgl. Text S. 21).
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
173
In der Kleinplastik dieser Zeit sind Unterschiede gegen früher schwerer
zu beobachten; dagegen geht er jetzt zum großen Format über, vor allem
in der wundervollen Büste des Vates poeta Klopstock und im Grab¬
mal (Bürgermeister Peters, Lübeck). Die Arbeiten in Straßburg, wohin er
1803 dauernd übersiedelt, setzen diese Richtung in der Lösung größerer
dekorativer Aufgaben fort, die sich dem erkältendem Hauche des Empire
nicht ganz entziehen können. Sogar in den Dienst protestantisch-kirch¬
licher Kunst stellt er sich (Karlsruhe).
Bedauerlich ist der Verlust oder die Unzulänglichkeit von Werken,
die Ohmacht für den napoleonischen Günstling Schulmeister in
Mainau geschaffen. Die Legende über die von ihm geschaffene Venus wird
endgültig zerstört; sie ist mit der Flora bei der Belagerung Straßburgs 1870
zugrunde gegangen. In dem »Neptun« scheint mir — trotz Antike — noch
etwas von dem Hauche eines großzügig-dekorativen Rokoko zu leben.
Gegen Ende seines Lebens trifft die ursprüngliche Richtung seiner
Begabung, mit der nach dem Biedermeier tendierenden Zeitströmung
wieder mehr zusammen, sodaß die Werke dieser Zeit einen lebendigeren
Eindruck machen. Im ganzen wird man immer zu den Porträts als zu seinen
bleibenden Leistungen zurückkehren; und unter den Dargestellten treffen
wir Leute wie Iffland, Lavater, Klopstock, Th. Sömmerring, Lili v. Türck-
heim, den Erzbischof von Mainz. Sogar Napoleon wollte von ihm sein
Porträt haben; durch einen Zufall zerschlug sich der Auftrag. Am Porträt
kann sich sein an der Antike und Renaissance genährter Schönheitssinn
entfalten, ohne ins Leere zu verfallen. Das Individuelle behält eben doch
gerade hier sein Recht. Sogar bei Frauenporträts kommt bei ihm unter
Umständen eine gewisse Herbheit zustande, wie etwa bei der Frau des
Anatomen S. Th. Sömmerring; und das Lavater-Porträt, die kleine Klop¬
stock-Büste, sowie die zwei Büstchen des Sömmerringschcn Sohnes in ver-
schiedenem Lebensalter J ) zeigen eindringende Beobachtung.
Freilich sind diese besten Porträts fast ausnahmslos in kleinem Format
gehalten, und diese Gebundenheit an das kleine Format ist eine Grenze
seiner Kunst, die aber auch sonst in der Zeit zu beobachten ist. Größere
Arbeiten werden leicht leer; die Summe der individuellen Beobachtung,
über eine größere Fläche verteilt, reichen zur Belebung nicht aus. Ge¬
legentlich erfahren aber auch, was Rohr mit Recht hervorhebt, Züge von
Männern, deren Bedeutung über einen engeren Kreis hinausgeht, mit Ab¬
sicht eine Steigerung und Überhöhung, die ihnen vielleicht einen antiken
*) Vom Ref. neuerdings veröffenüicht in Alt-Frankfurt. Vierteljahrschrift für
lebe Geschichte und Kunst. Frankfurt a. M. Jahrg. 2 (1911)1 Heft 4. Ein weiteres
ebenda Jhrg. 3, H. 4 S. 122 ; die Veröffentlichung weiterer, bisher unbekannter in Vor¬
bereitung. Vgl. neuerdings W. Cohn in Cicerone III. S. 653 f.
Digitized by
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
174
Besprechungen.
Hauch gibt, sich aber leicht auf Kosten der Individualität vollzieht. Das
ist der klassizistische Zug, der seiner tüchtigen, auf die Beobachtung des
Lebens ausgehenden Natur an sich nicht liegt, sich aber unter dem Einfluß
der Zeitströmung eine Zeitlang durchsetzt.
Zu einzelnen Stellen noch folgende Bemerkungen:
S. 7. Die Porzellan-Manufaktur Höchst ist keine Straßburger Grün¬
dung.
S. 40. Die Biskuit-Reliefs bei Dr. Oppenheimer-Mainz hält Verf.
selbst, wie er mir gütigst mitteilt, nicht mehr für Arbeiten Ohmachts.
S. 45. Das Relief-Porträt von Susette Gontard, der Hölderlinschen
Diotima, ist nicht Marmor, sondern Biskuit, und nicht in annähernd natür¬
licher Größe, sondern bedeutend kleiner gehalten. Höhe des Kopfes 0,078 m,
Höhe des ganzen Rahmens 0,122 m.
S. 107 ist wohl irrtümlich Poussin als Künstler des Salons genannt.
K. Simon .
CurtH. Weigelt. Ducciodi Buoninsegna. Studien zur Geschichte
der frühsienesischen Tafelmalerei. Mit 79 Abbildungen auf 67 Licht¬
drucktafeln. Leipzig, Karl W. Hiersemann, Kunstgeschichtliche Mono¬
graphien, Band XV, 1911.
Es ist in diesem Buche viel von »Mischstil« die Rede und viel vom
»Zwischenzweiweltenstehen«. Der hiermit bezeichnete Charakter seines
Gegenstandes ist auf das Buch selbst übergegangen. Bewußter- und ge¬
wolltermaßen. Es sollte die exakteste Behandlung ganz spezieller kunst¬
historischer Probleme bieten und doch zugleich »seinen Weg zu den Lieb¬
habern finden«, ja selbst ad usum delphini dienen und »ein wenig ,sehen*
lehren«, endlich zu einem Ehrendenkmal des Meisters von Siena werden,
ihm »größere Beachtung sichern«, sein Werk weithin bekannt machen.
Ich fürchte, der Verfasser wird seine Absichten, indem er sie vervielfachte,
kaum halb erreichen. Der Liebhaber und der Anfänger werden das Buch
gar bald aus der Hand legen. Denn was ist ihnen Hekuba? Wie sollen
sie sich durch die seitenlangen Erörterungen über die Maniera bizantina ohne
jegliche Unterstützung durch Abbildungen hindurcharbeiten? Der Fach¬
mann wird über manche — vom Verfasser selbst eingestandene — Längen
seufzen. Er hätte das »Dokumentarische über Duccio« lieber in Regesten¬
form geben sollen statt als, trotz aller Bemühungen, doch notwendig farb¬
lose Erzählung. Er wird nicht umhin können, das 3. Kapitel »Duccio als
Erzähler« als für ihn wertlos und im Grunde verfehlt zu empfinden, weil
darin vor der Wirkung von Duccios Bildern auf den heutigen Betrachter
die Leistung des Künstlers in seiner Zeit zu kurz kommt. Das Kapitel
hätte mit der ikonographischen Untersuchung verwoben werden müssen,
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
*75
die nun, dem Liebhaber zuliebe, in den Anhang verwiesen ist. Dann
wären bedenkliche poetische Interpretationen, wie die der Verkündigung,
von selbst fortgefallen, uralte ikonographische Motive, wie die Anrührung
des Blindgeborenen, Petri Gebärde bei der Fußwaschung, nicht dem
Dichter Duccio zugute gerechnet worden. Im Rahmen der mittelalter¬
lichen Kunst dürfen die Wertverschiebungen doch nur mit den aller -
schärfsten und streng auf den Gegenstand eingestellten Instrumenten
gemessen, müssen stets relativ gewürdigt werden.
Ein letztes und gewiß nicht ungewichtiges Bedenken gegen die Anlage
des Buches: es wird bei seinem enormen (sachlich durchaus gerechtfertigten)
Preis kaum so leicht in die Fachkreise dringen, wie es wünschenswert wäre.
Duccio-Interessenten besitzen ja wohl zumeist die hier vollzählig reprodu¬
zierten Lombardi - Photographien. Ihnen wäre mit einem knappen kriti¬
schen Text und einigen Neuaufnahmen zum Siebentel des Preises besser
gedient gewesen.
Diese Kritik der Absichten mußte vorausgeschickt werden. Denn
erst, wenn man sich über die mancherlei Mängel des Buches hinweggesetzt
hat, die sie verschuldet, wird man zu einer gerechten Würdigung des tat¬
sächlich Geleisteten gelangen. Von dem wissenschaftlichen Kern der Arbeit
kann nur mit vollster Anerkennung gesprochen werden. Die Stellung
Duccios in der Entwicklung der italienischen Malerei ist — man darf wohl
sagen zum ersten Male — richtig bestimmt worden. Er erscheint nicht als
der rätselhafte Neuerer, sondern wird als Ergebnis der Dugentomalerei
betrachtet. Sein Stil wird in strenger Analyse aller seiner Elemente aus der
Maniera bizantina abgeleitet. Die umfängliche Charakteristik und ver¬
ständnisvolle Würdigung dieser Entwicklungsphase der italienischen Kunst
beweisen, daß der Verfasser alle Vorurteile Vasarianischer Kunstbetrach¬
tung, die sich gerade in diesem Punkte weit bis in unsere Tage hinein fortge¬
schleppt haben, abgestreift und in ernsthafter, auf weitgehender Denk¬
mälerkenntnis beruhender Versenkung das natürlich auch hier unter der
toten Oberfläche wirkende Leben empfunden hat. Aber wie gern hätte man
nun gerade hier neue, ad hoc zusammengestellte Abbildungen mit Detail -
vergleichen zwischen Maniera bizantina und Duccio und gäbe dafür dessen
ganze schöne Bilderbibel preis !
Das Neue in Duccios Kunst sieht der Verfasser vor allem in einer
freien Naturbeobachtung. Ein Zusammenhang dieses neuen Verhältnisses
zur Natur mit dem religiösen Leben wird in einer etwas posthumen Thode-
kritik grundsätzlich abgelehnt. Es fragt sich, ob mit vollem Recht. Daß die
Verlebendigung der religiösen Vorstellungen Einfluß auf die Konkretisierung
der Bildvorstellung haben kann, ist ohne weiteres doch nicht zu leugnen.
Hier kommen wir gewiß mit einem doktrinären Pro oder Contra nicht
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
176
Besprechungen.
weiter, sondern nur mit eingehender Prüfung von Fall zu Fall. Der Ver¬
fasser aber erklärt sich ausdrücklich außerstande, den Zusammenhängen
zwischen Duccios Kunst und dem seelischen Leben der Zeit weiter nach¬
zugehen.
Es ist jedoch überhaupt fraglich, ob man das Entscheidende bei Duccio
»Naturbeobachtung« nennen darf (W. spricht gradezu von unmittelbarem
Modellstudium, an das man »zuweilen« denken müsse). Verlebendigung der
traditionellen Motive gewiß, aber in welcher Richtung, und aus welcher
Quelle und Kraft?
Die nach Oskar Wulffs in dieser Zeitschrift Bd. 27, 1907 veröffent¬
lichten Untersuchungen besonders drängende Frage des französisch-goti¬
schen Einflusses auf Duccio wird sorgfältig eruiert — und im wesentlichen
verneinend beantwortet: wir finden nach Weigelt wohl vereinzelte gotische
Figuren- und Formmotive, aber zu Duccios »Stilbildung« hat die Gothik
so gut wie nichts beigetragen. Ich halte diese Ansicht für richtig und meine,
daß damit ganz allgemein viel für die Auffassung des Verhältnisses von
italienischer Kunst und Gotik gewonnen ist: die gotischen Formen haben
die Italiener eine Zeitlang und in häufigen Einzelfällen fasziniert, der gotische
Stil aber ist bei ihnen stets auf Widerstand gestoßen. Ich glaube auch,
daß Weigelt mit vollem Recht die gotischen Elemente in Duccios Bildern
von Giovanni Pisano ableitet, also als aus zweiter Hand entlehnt betrachtet.
Hingegen scheint mir Weigelt einen bedeutenden Faktor in Duccios
Stil falsch einzuschätzen: die echte byzantische Kunst. Kallabs und
Berensons Meinungen hierüber dürfen doch wohl nicht so einfach abgetan
werden. Des letzteren Annahme einer Schulung Duccios in Byzanz selbst
schießt freilich über das Ziel hinaus, aber ich kann mir nicht denken, daß
sich der Fortschritt Duccios über die Maniera bizantina ohne starke persön¬
liche Eindrücke von echt byzantinischen Kunstwerken: Miniaturen, Emails,
Kleinmosaiken, Elfenbeinen habe vollziehen können. Das ergibt sowohl
die Technik, deren Abstand von der Maniera bizantina auch Weigelt betont,
als besonders die Figurenbildung, ihre Plastik, die knappe Modellierung in
festem Farbenauftrag. Auch hier kann nur eingehende Spezialuntersuchung
zur vollen Erkenntnis führen; auf einzelnes sei flüchtig hingewiesen: der
Sitz des Kindes in der Franziskaner- und Rucellai-Madonna, der Oberkörper
der Franziskaner-Madonna verglichen mit dem Titelbild in Vat. Reg. 1.
Diese Anknüpfung an die im Vergleich zur Maniera bizantina so viel natur¬
nähere byzantinische Kunstform erklärt m. E. vieles von dem, was Weigelt
auf unmittelbare Naturbeobachtung zurückführt. Die »Natürlichkeit« in
Duccios Kunst beschränkt sich auf eine durchaus nicht realistische (auf Be¬
obachtung beruhende), sondern poetische (auf Einfühlung, mimischem
Nacherleben beruhende) Belebung des byzantinischen Figurentypus — und
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
»77
hieraus gerade erklärt sich der vonWeigelt betonte Mangel des »Natürlichen
im höheren Sinne«. Dann aber wären die treibenden Kräfte nicht in einem
veränderten Verhältnis der Menschen zur Natur, sondern in einer inneren
Umstimmung, einer Verschiebung der Vorstellung aus dem rein begriff¬
lichen in das Poetisch-Dramatische zu suchen. Und so blieben wir denn
doch noch ganz im Rahmen mittelalterlichen Kunstempfindens.
In der lebendigen Anregung zu neuem Nachdenken über diese grund¬
sätzlichen Fragen beruht der hauptsächlichste Wert des Buches. Daneben
aber bringt es eine Fülle einzelner kritischer Fragen zur Sprache. Der
Rucellai-Madonna ist ein ganzes Kapitel gewidmet worden. Weigelt nimmt
sie für Duccio in Anspruch. Die Beweisführung hätte vielleicht etwas straffer
sein können, die Auseinandersetzung gegen die Trinitä-Madonna knapper
(und dabei doch weniger auf die Throne beschränkt), der Vergleich mit
Duccios Madonnen eindringender. Auch hätte man besser mit ihm den
Anfang gemacht. Denn daß das Rucellaibild vom Meister der Akademie¬
madonna, d. h. Cimabue gemalt sei, glaubt heute wohl kein Mensch mehr
— auch Rintelen nicht, wie's scheint, trotz seines merkwürdigen Bemühens,
eine engeVerwandtschaft der beiden Tafeln zu erweisen (Berliner Kunstgesch.
Ges. io. XI. 1911). Sehr dankenswert ist dagegen der Versuch, beide Bilder
im Zusammenhang der monumentalen Madonnendarstellungen des Dugento
zu betrachten, ihre durchgängige Gegensätzlichkeit als den Gegensatz »wi¬
schen Siena und Florenz zu begreifen und damit den sienesischen Charakter
der Rucellai-Madonna zu demonstrieren. Freilich ist auch dieser Gedanke
nicht völlig befriedigend durchgeführt worden, weil die Gesichtspunkte,
nach denen die Reihen gebildet werden, schwanken und die Stellung Coppos
unbestimmt bleibt: er leitet nach Weigelt die florentinische Reihe ein, aber
man wird doch nicht verkennen dürfen, daß die Rucellai-Madonna ein ent¬
scheidendes Motiv, das aufgestellte linke Bein, gerade von ihm entlehnt hat.
Es wird auch nach den von Weigelt in die Debatte eingeführten neuen
Gesichtspunkten noch mancher Zweifelsrest an Duccios Autorschaft be¬
stehen bleiben. Aber die Wagschale neigt sich stark nach seiner Seite: die
formalen Zusammenhänge mit der Franziskaner-Madonna, die Identität des
Stilgefühls mit der Maestä, in der Duccio, »in gewissem Sinne Cimabue
folgt, auf großmonumentale Wirkungen ausgeht, aber doch wieder mehr
mit seinen (seil, in der Rucellai-Madonna bewährten) Mitteln, die kaum über
dekorative Flächenfüllung hinausgehen«. Und so wird man schließlich
doch dem Dokument von 1285 eine ausschlaggebende Beweiskraft für Duccio
zusprechen müssen — auch auf die Gefahr hin, daß dies Verfahren als »inner¬
lich widerspruchsvoll und halb« (Rintelen) gebrandmarkt wird.
Ein Exkurs über die Madonna des Guido da Siena bringt erhebliche
Argumente für ihre Entstehung 1221, die durch eine geschickte Rekonstruk-
Repertorium für Kunstwissenschaft, XXXV. 12
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
i 7 8
Besprechungen.
tion ihres ursprünglichen Aussehens wesentlich bekräftigt werden, daneben
Hinweise auf eine Fülle zugehöriger Werke einer »Guido-Schule«, aus der
Duccio herauswächst. Vitzthum.
Aug. L. Mayer. El Greco, eine Einführung in das Leben
und Wirken des Domenico Theotocopuli genannt
el Greco. München 1911, Delphinverlag, 91 S. mit 50 Abbildungen.
Bei der populären Fassung eines wissenschaftlichen Gegenstandes
läuft der Verfasser leicht Gefahr, von den eigentlichen Problemen abzu-
biegen und in den Fehler einer leicht gefälligen Behandlungsweise unter
Verzicht auf Sachlichkeit und Genauigkeit zu fallen. Nur die ganz Großen
und die ganz Modernen, — Begriffe, die sich nicht immer decken, — dürfen
in solche Darstellungsformen gebracht werden. Bei Grec otreffen beide An¬
forderungen zwar nicht ganz kongruent zu, immerhin ist er doch eine so
starke Künstlerpersönlichkeit, daß kaum einer ohne irgendeine lang-
anhaltende Erregung die Originale verlassen wird. Über Greco ist erst vor
kurzem ein zweibändiges Werk von B. Cossio in spanischer Sprache ge¬
schrieben worden, das freilich den Meisten inhaltlich gänzlich unbekannt
ist, doch bleibt seine Kenntnisnahme conditio sine qua non, um den Maßstab
für die Beurteilung dessen zu gewinnen, was denn Aug. Mayer Neues ge¬
bracht habe 1 Vielleicht tut man aber dem Büchlein und seinem Verfasser
Unrecht, wenn man überhaupt mit dieser Fragestellung kommt, und
schließlich war ja das Neue nicht die Hauptabsicht. Flott und sachlich
sind die beiden ersten Kapitel geschrieben. Nach den Übertreibungen in
Meyer-Graefes »Spanische Reise« (vgl. meine Rezension im Repertorium
Bd. XXXIII, Heft 5) ist das »modus in rebus« recht wohltuend. Von
selbständigerem Werte sind die paar Seiten des dritten Kapitels, in denen
die kunsthistorischc Abrechnung erfolgt. Es sei jedoch auf ein paar Punkte
hingewiesen.
Es ist dem Verfasser um den Nachweis zu tun, daß Greco als Maler
doch nie zum Spanier geworden sei trotz seines erstaunlichen Verständ¬
nisses für spanisches Leben und Wesen. Damit ist aber doch nur eine
Seite seiner Kunst getroffen, diejenige, welche immer venetianisch aus¬
sah. Gerade in seinem Hauptbilde, der Bestattung des Grafen Orgaz in
S. Tom6 und in trefflichen Spätwerken, die den ganzen Greco recht eigent¬
lich zeigen, ist die spanische Eigenart völlig nachweisbar vorhanden, ist
gerade die ernste, schwere und gedämpfte Farbe da, die freilich mit den
rein koloristischen Bildern im Widerspruch steht. Aber aus Widersprüchen
ist der Mensch und Künstler Greco nun einmal zusammengesetzt, und das
ist auch der Grund, warum er nie als ein ganz Großer in der Menschheits-
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
*79
»Mauritius« im Escorial, nur darf man nicht, wie Mayer will, annehmen,
daß bei der Komposition die bekannten »Sante Conversazioni« der Vene-
tianer vorschwebten. Das ist doch nur eine oberflächliche Parallelisierung.
Gerade das unumgänglich notwendige Hauptmotiv der Madonna und des
Jesusknaben fehlt ja. Vielmehr müssen hier die »Disputationen der
Kirchenväter« herangezogen werden, für die etwa Andrea del Sarto im
Palazzo Pitti (abgeb. bei Wölfflin S. 160) zu vergleichen wäre. Ist wirk¬
lich die Beschäftigung mit den Lichtproblemen auf Correggio zurückzu-
führen, den er allerdings auf seiner Reise nach Rom kennen lernte? Dafür
kann doch die eine Tatsache, daß er die »Nacht« kopierte, nicht viel be¬
weisen. Von Byzanz hat Greco etwas Mehr übernommen. Sicher ist,
daß die Auffassung des Evangelisten Johannes als des bärtigen, greisen,
griechischen Philosophen rein byzantinisch ist. Hin und wieder stellt sich
auch in der italienischen Kunst der bärtige Evangelist ein. Er ist dann
aber regelmäßig der Mann in der Vollkraft der Jahre, stark und tem¬
peramentvoll, und diese Vorstellung hat natürlich nicht der Orient von
dem Verfasser des IV. Evangeliums, der von dem Logos spricht (vgl.
meinen Aufsatz in den Monatsheften IV. 9).
Wie nun der Greco auf der Höhe angelangt alle Schrauben anzieht,
die Längenproportionen steigert, Verzeichnungen bringt, ja bringen muß,
ist in Kürze gut entwickelt. Was der Meister an Mystischem leistet, zeigt
seine »Eröffnung des V. Siegels«, eine Deutung, die durch mich durchaus
gesichert ist und nicht nur Wahrscheinlichkeitswert besitzt (vgl. Monats¬
hefte IV. 3). Die Deutung der Ildefonsoszene ist nicht richtig. Eis ist
nicht das Moment vor der Erscheinung der Madonna gegeben, sondern die
eigentliche Erscheinung selbst. Das zeigt ganz deutlich der Heilige Jo-
hannes vom Kreuz in seiner Abhandlung über die substantiellen An-
sprachen, welche dem Geiste innerlich zuteil werden (vgl. Ausgabe von
Gallus Schwab I, S. 293). Die Maria kann reden, ohne daß sie gesehen
wird I Gut ist, was im dritten Kapitel gesagt ist, wo der blinden Begeiste¬
rung in die Zügel gegriffen wird, freilich werden sie zu straff angezogen.
Man dürfe Greco nicht kurzweg als Vorläufer modernster malerischer Be¬
strebungen bezeichnen. Mit Verlaub, wenn einer es gewesen ist, war es
doch wohl Greco, und ich darf mich hier auf den unvergeßlichen Hugo
von Tschudi berufen. Mit Velasquez und C^zanne dürfe man ihn nicht
direkt vergleichen (S. 70), das ist auch meine Ansicht. Grecos Kunst ist
ihrer Wesensveranlagung und ihren Tendenzen nach anders gestempelt.
Er komponiert noch nicht wie C^zanne alles mit Farbe, er verwendet
viel mehr zur Modellierung wie zur Schattenangabe mit großem Raffine¬
ment die bald dunkelbraune, bald mehr ins Rötliche gehende Grundierung
der Leinwand in ganz ähnlicher Weise, wie es später Guardi mit nicht
12*
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
i 8o
geringerer Virtuosität getan hat. Der Künstler komponierte auch noch
nicht wie Clzanne in Flächen. Er erfaßte zunächst dreidimensional die
Gestalten und schwächte dann das Körperliche nach Kräften ab (S. 72). Zum
Schlüsse folgt ein sorgsam zusammengestelltes Verzeichnis der WerkeGrecos.
Das Büchlein wird als Einführung von Forschern und Künstlern
dankbar aufgenommen werden, beweist aber doch zugleich, daß die Greco-
Erkenntnis erst im Anfänge steht. Die Herbeischaffung des Materials
liefert allemal erst den Boden, auf dem die Wissenschaft ihren Bau äuf-
richten kann. Hugo Kehrer.
Wilhelm Rolfs. Geschichte der Malerei Neapels. Leipzig.
E. A. Seemann. 1910. 440 S., eine Heliogravüre, 13 Textfiguren und
138 Abb. auf 112 Tafeln.
Es fällt schwer, ein abfälliges Endurteil über ein Buch zu fällen, in
dem schließlich doch eine ganze Menge Arbeit steckt. Allein, man wird
nicht umhin können, die »Geschichte der Malerei Neapels« von Wilhelm
Rolfs eine in Form wie Inhalt gleich wenig befriedigende Leistung nennen
zu müssen. Rolfs wollte ursprünglich nichts weiter als eine kurzgefaßte
Geschichte der Malerei in Neapel, eine historische Würdigung des Gemälde¬
bestandes von Neapel für einen Band der Seemannschen »Berühmten Kunst¬
stätten« geben. Der Autor baute aber dann seine Arbeit in der ersten Hälfte,
d. h. für die Zeit bis zum 16. Jahrhundert, zu einer großen Geschichte der Malerei
Neapels aus — ohne dies für die zweite Hälfte, die weit wichtigere und inter¬
essantere Barockzeit, zu tun. Allerdings fand Rolfs für die Geschichte des
Primitiven schon einen recht guten Unterbau vor, während er für das 17.
Jahrh. vor allem noch gehörig viel Kärrnerarbeit hätte leisten müssen. So
kommt es, daß das Ganze höchst ungleich geraten ist. Der erste Teil ist
trotz der etwas zu breit geratenen Anlage recht brauchbar, der zweite Teil
aber ganz unzulänglich. Abgesehen davon, daß Rolfs sich hier peinlich
nur auf die in Neapel befindlichen Werke der behandelten Künstler (darunter
Meister wie Ribera, Vacarro, Giordano, Solimena, Rosa) beschränkt, so hat
er weder bei der Würdigung der großen noch der kleineren Maler die ein¬
schlägige ältere Literatur in erschöpfender Weise benutzt. Dadurch ist mehr
als eine Lücke und mehr als ein Irrtum entstanden. Vor allem aber ist zu
rügen, daß R. bei keinem der eben genannten Meister ein wirklich klares,
knappes Bild seiner künstlerischen Entwicklung entwirft. Dies hängt freilich
mit der ganzen, etwas kleinlichen Art des Autors zusammen, der sein Buch
ohne die nötige Gliederung, ohne starkes Hervorheben der Hauptakzente
geschrieben und sich viel zu sehr in nebensächliche Details verloren hat.
Anzuerkennen ist, daß R. stets den Erhaltungszustand der Bilder genau
nachgeprüft hat. Das Fehlen des wissenschaftlichen Apparates entschuldigt
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
i 8 i
er mit der ursprünglichen Bestimmung des Buches für die »Berühmten
Kunststätten«. Daß man de Dominici höchst wenig trauen darf, ist keines¬
wegs eine neue Feststellung. Rolfs hat sich aber dann nicht nur in ver¬
schiedenen Fällen, wie bei der Würdigung von Desiderio und Correnzio,
ausschließlich auf den von ihm so geschmähten Fälscher gestützt, sondern
hat selbst Dinge behauptet, die zu sagen keinem der älteren Schriftsteller
eingefallen ist. So z. B. bei Ribera: Gegenüber der unerläßlich feststehenden
Tatsache, daß dieser Meister nach seiner Übersiedelung nach Neapel nie
wieder nach Spanien zurückgekehrt ist, bemerkt Rolfs wiederholt, daß
Ribera 1631—1636 in Spanien geweilt habe, um die Gemälde für das Augusti*
nerkloster in Salamanca im Aufträge des Herzogs von Monterey auszuführen.
Dies ist keineswegs der Fall gewesen. Ribera hat die Bilder in Neapel gemalt,
und der Herzog schickte sie mit vielen anderen zu Schiff nach Spanien.
Was aber das Gelungenste an dieser Sache ist: Rolfs bemerkt selbst, daß
Ribera in den betreffenden Jahren nicht weniger als vier Kinder in
Neapel geboren wurden!
Wenig Glück hat der Verfasser mit seiner in übertriebener Weise durch¬
geführten Verdeutschung von Fremdworten sowie italienischen Kirchen-
und Eigennamen. »Verlichter« (Iluininator) und »Frischmalerei« (fresco)
sind keine erfreulichen Wortbildungen. Dabei spricht R. selbst zuweilen
nicht nur von »Frischmalerei«, sondern auch von dem »Fresco«. Vollends
ablehnen muß man aber derartige Schreibweisen wie »Jotto«, »Mark von
Siena«, »Kapaccio«, »Zäsar von Sesto«, zumal der Autor selbst auch hier
wieder inkonsequent ist und bei »Chiarini«, »Giannone« usw. die natürliche
Schreibweise bestehen läßt. August L. Mayer.
Robert Bruck. Die Sophienkirche in Dresden, ihre Ge¬
schichte und ihre Kunstschätze. Mit 64 Lichtdrucktafeln.
Dresden, Verlag G. von Keller, 1912. 4 0 .
Der Verfasser hat es verstanden, seinem etwas spröden Stoffe durch
warme Anteilnahme, durch ästhetische und kulturgeschichtliche Hinweise
auch für einen größeren Leserkreis eine lehrreiche Bedeutung abzugewinnen.
In dieser Form liegt der Hauptwert der Darstellung. Der Titel darf da¬
gegen nicht verleiten, ein eigentliches, das Gurlittsche ergänzende Inventar
mit exakt erschöpfender Sachbeschreibung zu erwarten. Zum Beispiel sind
Maßangaben konsequent unterlassen. Aber auch innerhalb der dadurch
vom Verfasser gezogenen Grenzen erregt das Buch lebhaftes Interesse des
Kunstforschers. Zu dem, was über den in seiner Einheitlichkeit merk¬
würdigen Typus einer als solcher gegründeten zweischiffigen Hallenkirche
Franziskanerordens das sächsische Inventar bereits an Tatsächlichem vor¬
gebracht hat, tritt eine jenes mehrfach ergänzende ausführliche Geschichte
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
i82
Besprechungen.
der Kirche, die insbesondere die Wiederherstellungs- und Umbauperioden
des 19. Jahrhunderts vom Standpunkte des erfahrenen Denkmalspflegers
gründlich und vorbildlich behandelt. Als ganz neues Material hinzuge¬
kommen aber sind infolge von Funden gelegentlich der letzten Instand¬
setzung der Kirche 1910 etwa 90 Grabplatten, meist des 17. Jahrhunderts,
die ein geschlossenes Bild der damaligen Grabplastik in Dresden geben und
ersichtlich die eigentliche Veranlassung der Publikation gewesen sind.
Ihre Besprechung zusammen mit den Epitaphien und den Einzelfunden
an Kleinodien in den Gräbern nimmt mehr als die Hälfte des Buches ein,
und von den 64 Tafeln gehören ihnen 35. Diese Grabplastik gab Gelegenheit
zu einer Scheidung verschiedener Künstlerindividualitäten auf Grund einer
vorsichtigen Formalkritik. Es gelang Bruck, von der Persönlichkeit des
Hofbildhauers Nasscin (J1620) als eines Unternehmers, der selbst seine Auf¬
träge nicht im einzelnen ausführte, die seines begabtesten Gehilfen und
Amtsnachfolgers Sebastian Walther (f 1645) durch den überzeugenden
Nachweis bestimmter Werke, nach denen man bisher vergeblich gesucht
hatte, als eigenartige Künstlerindividualität loszulösen und damit zugleich
die seines etwas unpersönlicheren Mitarbeiters Zacharias Hegewald (j* 1639).
Den Versuch einer Zuweisung ähnlicher Art unternimmt Bruck mit dem
goldenen Tor (ursprünglich an der alten Schlokßirche, seit 1757 an der
Sophienkirche, jetzt am Judenhof), das er dem Hans Kramer zuschreibt,
der als Hofsteinmetz in Dresden tätig war und 1565 für den Rest seines
Lebens nach Danzig ging. Freilich ist diese Zuteilung weniger zwingend
als die vorhin besprochene, da die verglichenen architektonischen und de¬
korativen Formen ihrer Natur nach ein weniger individuelles Gepräge haben
als jene figürlichen Arbeiten. So viel ist wohl auf Grund der Bruckschen
Untersuchungen sicher, daß ein Italiener an diesem Werke nicht beteiligt
gewesen sein kann. Es ließe sich dazu unterstützend auch noch darauf
hinweisen, daß 1554, wo das Werk datiert worden ist, diese damals auch in
Oberitalien bereits unmodernen Formen selbst von einem Italiener gerin¬
gerer persönlicher Begabung, und an einen solchen wäre doch nur zu denken,
schwerlich noch verwendet worden wären. Erschöpfend bespricht Bruck
den künstlerischen und kulturellen Wert des kostbaren Leichenschmuckes,
den man 1910 in den Gräbern noch gut erhalten vorfand und der namentlich
an schönen Stücken der Jahrzehnte um und nach 1600 besonders reich ist.
Unter ihnen ragen wieder eine Reihe von Ordensketten durch Qualität
und Seltenheit hervor. Dem Verfasser ist cs möglich gewesen, sie sämtlich
bestimmten und fast verschollenen Ordensgesellschaften zuzuweisen. —
Verzeichnisse der Künstler und Handwerker, deren Namen auf Grabsteinen
und Epitaphien, dei Wappen schließlich erleichtern wesentlich die sachliche
Brauchbarkeit des stattlichen Bandes. Karl Steinacker.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Erwiderung.
Auf die in wissenschaftlichen und andern Kreisen Gebildeter nicht
übliche, unerhörte Tonart einer Buchbesprechung, wie sie Fr. Hoebcr in
Bd. XXXIV, Heft 5 dieser Zeitschrift bot, einzugehen, verbietet mir meine
Selbstachtung. Wenn Mängel festzustellen waren, so bei Datierungen, bei
denen ich mich zum Teil auf Vermutungen beschränken mußte oder auf
die im Denkmalarchiv vorhandenen Belege, welche noch einer Revision
bedürftig sind, oder wobei Nachkontrolle in kurzer Zeit nicht gut möglich
war, zumal auch nicht die Objekte selbst alle verglichen werden konnten,
so konnte Hoeber das sachlich korrigieren. Auch mit einer Reihe von
Druckfehlern war zu rechnen.
Zuvörderst rügt Herr Hoeber den Begriff Volkskunst und volkstüm¬
liche Kunst. Ich habe nun keineswegs diesen Begriff streng abgegrenzt
definieren wollen, mein Buch betraf ja nicht die Geschichte der gesamten
Volkskunst in Elsaß-Lothringen. Mein begleitender Text bezweckte eine
allgemeine Orientierung dessen, was ansprechend war und ist im Lande,
auf Grund der Charakterisierung von Land und Leuten und der geschicht¬
lichen Entwicklung und im Sinne des soeben erschienenen Werkes der
schleswig-holsteinischen Heimatskunst von Dr. Sauerland: »Es ist absichtlich
vermieden worden, das Bäuerliche vom Ständischen oder Städtischen getrennt
zu zeigen. Das Gemeinsame im Charakter tritt doch stärker hervor wie
das Trennende. Vernehmbar soll nur der Klang sein.« Und dies auch auf
Grund der mir zur Verfügung stehenden Abbildungen, von denen Hoeber
diejenigen verschwundener Bauten, welche von besonderem Wert sind, gar
nicht beachtet hat. Die Anordnung des Bildmaterials tadelt er. Hätte
er es, frage ich, besser gemacht? Die Bildfolge von Weißenburg bis Thann
auf gegebener Blattfläche konnte vom Verleger auf Grund einer allgemeinen
Angabe nicht besser gelöst werden. Straßburg habe ich dabei noch möglichst
historisch geordnet. Ja, ganz recht, wer vieles bringt ... Es mußte reichlich
illustriert werden. Und was verschlägt es dabei, wenn neben einem Monu¬
mentalbau ein Bettwärmer als kunstgewerbliches Stück zu stehen kam 1
Was schadet es, daß auch die hohe Kunst zu Worte kam? Hat denn Herr
Hoeber nicht beachtet, daß ich besonderen Wert auf die Erscheinung der
Bauwerke an der Straße, im Straßen- und Ortsbild legte, weil ich ortsbaulichc
Gedanken als zeitgemäß hervorheben wollte? Mußte er denn nur als Histori¬
ker urteilen und fehlt ihm, dem Kunsthistoriker, jede künstlerische Auf-
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
184
Erwiderung.
fassung? Was am verwandten schwäbischen Werk andere Autoritäten als Herr
Hoeber als mustergültig hervorhoben, die Wahl, Gruppierung und allgemeine
historische Datierung der Objekte, das schien mir nur nachahmenswert.
Zu einem rein baugeschichtlichen Werk würde ich nur allgemeine Bildunter¬
schriften nicht gegeben haben. Möge Herr Hoeber wie andere froh sein,
daß noch so viel geboten werden konnte, für verschiedenste Studien, nicht
nur für Historiker! Für Hinweise auf sichere Datierung ist natürlich jeder
dankbar. Zu den noch recht mangelhaften Grundlagen der Entwicklungs¬
geschichte unserer heimischen Profanbaukunst mag Herr Hoeber nun
Material beitragen. Wenn er es sachlich tut, ist man ihm nur Dank
schuldig. Er verwechsle nicht ein populär geschriebenes Werk mit einem
wissenschaftlich tieferen. Er selbst hat sehr nette populär gehaltene Auf¬
sätze veröffentlicht, die aber keineswegs den strengen wissenschaftlichen
Maßstab vertragen. — Wie kleinlich und vorschnell Herr Hoeber über
mein Buch (Er bemängelt meinen Ausdruck „Arbeit“ für dasselbe. Kennt
er keine metapherische Ausdrucksweise?) urteilt (um nur ein Beispielzu
geben), zeigt seine Äußerung über das Bild des Thores zu Sinnheim, welches
ich mit guter Absicht in zwei Darstellungen, einmal von innen, dann von außen
gesehen, gebracht habe, weil ein Mal Steinbau und das andre Mal Holz-
fachwerk sichtbar ist. Ein Versehen meinerseits daraus zu konstruieren,
fällt keinem anständigen Gebildeten ein. Zum mindestens drückt er sich
dann wenigstens als gebildeter Mensch aus. Zu einer persönlichen Äuße¬
rung wie »gedankenlose Lächerlichkeiten« u. a. m. hat Herrn Hoeber mein
stets gegen ihn korrektes Benehmen als Lehrer in keiner Weise Anlaß gegeben.
Was mich betrifft, so muß ich es dem Leser als seltsam gegenüber fest¬
stellen, daß Herr Hoeber, wiewohl er mir alle Wissenschaftlichkeit abspricht
und dazu noch in so widerlicher Form, fast zur gleichen Zeit in seinem Buche
über die Schlettstädter Frührenaissance wörtlich folgendes in der Nachrede
schreibt, nachdem er ein anderes Buch von mir mehrfach inzustimmendem
Sinne zitiert hatte: »Wissenschaftlicher Rat, Hinweis und praktische Unter¬
stützung gewährten die Herren ... Prof. Karl Staatsmann, Straßburg« ...
(und andere) (wozu bemerkt sei, daß mein Rat nicht sein Schlettstädter
Werk betraf!). Herr Hoeber fürchtet irgendwie meine Rivalität, beson¬
ders auch bezüglich der Neubearbeitung des reformbedürftigen Krausschen
Werkes. Und da macht es sich merkwürdig, daß er sieh über mich als
im Elsaß »künstlich geschaffene und gehaltene Autorität« (die er selbst
ausnutzte!) zu Gericht setzt. Er fühlt sich offenbar als Autorität.
Ein bescheidener Ton soll dem eigen sein, der
noch selbst erst etwas leisten soll, dessen Köl¬
le g i e n h e f t e eben trocken geworden sind, und besonders
Herrn Hoeber. Denn zuerst möge er einmal mit sich selbst zu Gerichte
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Erwiderung. 185
gehen. In dem genannten Buche über Schlettstadt (das zu besprechen
er mich wiederholt gebeten hatte!), sind die gröbsten
Verstöße gegen kunsthistorische Definition, De¬
duktion und Methode enthalten, die einem zu Gericht
sitzenden nicht passieren dürfen. So, um die beiden hervor¬
stechendsten zu bezeichnen: Er konstruiert fortwährend einen direkten
(allerdings wahrscheinlichen) Einfluß venetianischer Kunst auf die Schlett-
städter im 16. Jahrh., ohne auch nur irgendeinen bestimm¬
ten Beweis zu erbringen, ja er leitet in der Art der Dilettanten
seine Beweise aus ornamentalen Einzelheiten vorwiegend ab. So soll an
Hotel Ebersmünster die Ornamentik auf andere italienische Einflüsse
schließen lassen als beim Hause Ziegler. Hier fehlt alle Exaktheit wissen¬
schaftlicher Deduktion.
Dann weiter gibt er an mehreren Stellen eine Begriffserklärung des
Wesens des Barock, indem er teilweise die soeben von ihm gehörte
oder gelesene von Dehio repetiert, ohne dabei aber das u. a. Charakteristische
des Stiles anzuführen: Das Absolutistische, Despotische, das über
Kleines, dies fast tötend, hinweggeht. Und nicht einmal an seinen ihm vor¬
liegenden Objekten hat Hoeber dies erläutert. Das durfte nicht Vorkommen.
Endlich, — wenn Herr Hoeber kleinlich nörgeln will, so fange er
bei sich selbst an. In wissenschaftlichen Werken dürfen keine Wörter Vor¬
kommen wie in seinem obengenannten, wo er die Worte »Unmenge«, »kolos¬
sale Einwirkung« und — (das Beste!) »runde Kugel« gebraucht!
Bevor er Männern in dem geschilderten Tone
kommt, deren Werke er benutzte und denen er Dank
schuldet, möge er lernen und still vor seiner Türe
kehren ! Karl Staatsmann.
Für Karl Staatsmann ist es bedauerlich, daß er auf meine sachlich
so gerechtfertigte Besprechung seiner »Volkstümlichen Kunst aus Elsaß-
Lothringen« in einer Replik zu erwidern versucht hat: Seine Antwort
vereinigt nämlich in einzigartiger Konzentration alle jene von mir ge¬
tadelten Eigenschaften der Ungeschicklichkeit, der größten Konfusion,
allgemein eines wenig vorbedachten Dilettantismus. Damit beweist
sie auch für die Leser des »Repertoriums für Kunstwissenschaft« mit
Deutlichkeit, wie sehr meine herbe Kritik seines Buchopus angebracht war.
Wer eine solche Fülle grober Fehler begangen und sich überhaupt in der
Anlage eines Werkes so total vergriffen hat, der darf sich nicht über das
harte, selbstverschuldete Urteil, das ihn notwendig treffen mußte, beschweren,
besonders wenn es ihm nicht gelungen ist, auch nur eine der Aussetzungen
zu entkräften. Da wird auch eine Replik nicht mehr den selbst angerich-
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
186
Erwiderung.
teten Schaden heilen können, und dem von einer dermaßen sachlich ver¬
schuldeten Kritik Betroffenen kann als einzige Rettung nur empfohlen
werden, sich bei künftigen Publikationen mehr zusammenzunehmen.
Staatsmann ist offenbar in seiner Replik bemüht, die Situation zu
verschieben, da er keine andere Möglichkeit sieht, meine Ausstellungen zu
widerlegen: Er fordert die Unterscheidung von populärem und wissen¬
schaftlichem Maßstab, obwohl ich mir keineswegs einfallen ließ,
letzteren an ein für weiteste Kreise berechnetes Bilderwerk zu legen, da
es sich ja auch nur um eine viel einfachere Alternative handelt, nämlich
um falsch oder richtig. Dann sucht er einen leider wenig geglückten Gegen¬
stoß zu führen durch Angriffe auf meine Arbeit über »Die Frührenaissance
in Schlettstadt«, die wirklich nur beweisen, daß Staatsmann dem Wesen
und den historischen Problemen der deutschen Renaissance herzlich ahnungs¬
los gegenübersteht. Und schließlich reitet er mehrere Attaken gegen
meine Person, die für die doch wohl auch »wissenschaftlichen und anderen
Kreisen Gebildeter« angehörigen Leser des Repertoriums zum mindesten
recht neuartig erscheinen müssen. Wenn ich nun trotzdem Punkt für
Punkt auf Staatsmanns Replik cingehe, so soll das nicht etwa bedeuten,
daß ich ihren Inhalt besonders wichtig nehme: Vielmehr sei dadurch nur
nochmals gezeigt, wie sehr meine Rezension der »Volkstümlichen Kunst aus
Elsaß-Lothringen« aus sachlichen, nicht aber aus persönlichen Motiven, die
mir ihr Verfasser unterzuschieben beliebt, erfolgt ist.
Es ist nicht einzusehen, weshalb Staatsmann bei Datierungen, die
am Hause selbst standen und von Kraus regelmäßig notiert waren, sich
auf Vermutungen beschränken mußte. Die in schöner Parallelität er¬
scheinende »Vermutung«, Grünewald gehöre dem 15. Jahrhundert an, hätte
ihm jedes »kunstgeschichtliche Handbuch zum Schul- und Hausgebrauch
für Unterstufe« als nicht ganz zutreffend erwiesen. Daß mit einer Reihe von
Druckfehlern zu rechnen war, ist für den Verfasser höchst beklagenswert.
Nur ist leider der Druckfehlerteufel darin mit einer perfiden Konsequenz
vorgegangen, daß er sämtliche Bauten mit spätgotischen Einzelformen
ins 15. Jahrhundert setzt usw.; scheint’s ein pseudokunsthistorisch gebildeter
Druckfehlerteufel.
Da nun Staatsmann, wie er erfreulicherweise selbst zugibt, für Ver¬
besserungsvorschläge immer dankbar ist, seien noch eine Reihe d$r bösesten
»Druckfehler« nachgetragen, ohne allerdings irgendeine Vollständigkeit
verbürgen zu können, eine für die »Volkstümliche Kunst aus Elsaß-
Lothringen« wohl aussichtslose Sache. — Daß Nachkontrolle außerhalb
Straßburgs in kurzer Zeit nicht gut möglich war, darin kann man
Staatsmann beipflichten, weniger aber, warum dies in der Stadt selbst aus¬
geschlossen war: Die Abbildung S. 9 oben soll die Thomasbrücke darstellen;
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Erwiderung.
187
ein Blick auf den Straßburger Stadtplan genügt, um zu zeigen, daß es in
Wirklichkeit die Martinsbrücke ist, die Staatsmann mit der flußabwärts
nächstfolgenden verwechselt hat. Auf S. 30 ist ein klassizistischer Eck-
pavillon an der »Kestner«-Allee in dem Vorort Ruprechtsau abgebildet;
aber sie hat nichts mit der Gestalt aus Goethes »Werther« zu tun, sondern
ist vielmehr nach dem unterelsässischen Bezirksingenieur Kästner genannt,
der diese Allee zu Anfang des 19. Jahrh.s anlegte, als die angrenzende
Orangerie die heutige Fassung erhielt.
Von »Druckfehlern«, die dem Verfasser mit außerhalb Straßburgs ge¬
legenen Denkmälern untergelaufen sind, seien erwähnt: Der links obenauf
S. 7 zu sehende Palmesel in der Doppelkapelle St. Michaels in Kaysersberg
wurde nach Abb. Nr. 30 des Werkes von Jos. M. B. Clauß, Das alte Kaysers¬
berg (Kaysersberg 1902) verkleinert. Gauß schrieb dazu auf S. 12 des Textes:
»Die Skulptur von der Mitte des 15. Jahrhunderts ist nur gering« usw. Bei
Staatsmann steht natürlich darunter 16. Jahrh. Das auf S. 37 abgebildete
Nordportal der Peter- und Paulskirche in Neuweiler ist mit dem 12. Jahrh.
viel zu früh datiert, da schon sein architektonischer Aufbau das Ecclesia-
portal am Straßburger Münster voraussetzt, ganz abgesehen von seiner
im eigentlichen, d. i. französischen Sinne gotischen Plastik, die mit den
Straßburger Lettnerfiguren auf gleicher Stilstufe steht, so daß man
zeitlich in die Mitte des 13. Jahrh.s gelangt. S. 89. Rufach. Giebel¬
häuser und Torturm: Die beiden Giebelhäuser bilden das in zwei
Bauperioden, 1581 und 1721, errichtete Rathaus, das mit seiner
Hinterseite an die Stadtmauer stieß. Der daneben stehende »Hexen¬
turm« diente nur zur Befestigung der Umwallung, niemals aber zu einem
Tor, von denen die Stadt nur drei hatte, die an ganz anderen Stellen
lagen; an dem Nord- und Südeinlauf der von Mülhausen nach Colmar
führenden Landstraße und nach Westen gegen die Rheinebene hin, von
wo man auch heute, vom Bahnhof herkommend, die Stadt betritt. S. IOI.
Metz. Haus in der Goldkopfstraße. 15. Jahrh. Diese Abbildung stellt eine
Verkleinerung der mit »Renaissancehaus« unterschriebenen Tafel 16 der
Publikation »Lothringische Kunstdenkmäler« von S. Hausmann, M. Wahn
und C. G. Wolfram (Straßburg i. E., Verlag von W. Heinrich, o. Dat.) dar.
Bereits Kraus bildet es auf S. 759 seines dritten, Lothringen behandelnden
Bandes in Holzschnitt ab und teilt dazu auf S. 757 und 758 sein über einer
Türe zu lesendes Entstehungsdatum 1529 mit. Staatsmann hätte also blos
abzuschreiben brauchen, wenn ihn nicht der Augenschein belehrt hätte,
daß diese in virtuosester französischer Renaissance, echtem Stile Frangois I.,
modellierten Halbfiguren über den Fenstern, der üppig ornamentierte
Nischenbaldachin der Hausecke nur der ersten Hälfte des 16. Jahrh.s an-
gehören kann. Mit der dem gleichen Tafelwerk entnommenen Madonnen -
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
188
Erwiderung.
statuc aus Vic auf S. 103 ist es dem Verfasser ähnlich gegangen: Auf S. 14
des Textes der »Lothringischen Kunstdenkmäler« ist diese offenbare spät¬
gotische Arbeit ganz richtig ins 15. Jahrh. gesetzt, die »Volkstümliche Kunst«,
die ja ein populäres, kein wissenschaftliches Werk sein will, datiert sie mit
16. Jahrh.
Wenn Staatsmann die einfachsten feststehenden Tatsachen nicht
ordentlich wiederzugeben vermag, so läßt sich denken, wie er bei einiger¬
maßen problematischen Stücken versagen muß: Dasauf derselben Seite 103
reproduzierte interessante Madonnenrelief aus St. Gangolf in Metz ist mit
dem 9. Jahrhundert viel zu früh angesetzt. Kraus wollte in ihm noch
ein Werk »aus merowingischer oder karolingischer Zeit« ( 1 ) erkennen,
während hingegen schon die Autoren der »Lothringischen Kunstdenkmäler«
auf S. II sehr richtig für die Madonna aus St. Gangolf das 12. Jahrhundert
nennen. Dieser Veröffentlichung ist nun auch das Staatsmannsche Klischee
entnommen, so daß es unverständlich ist,-weshalb er gerade auf die alte,
falsche Datierung zurückgreift. Stilistisch ist es denn auch ganz klar, daß
hier eine romanische Arbeit vorliegt: man betrachte die stachelig aufgerichteten,
der Antike schon stark entfremdeten Akanthusblattformen über dem Kopf
der Madonna, die im Karolingischen sich viel mehr rundlich zusammen -
schließen, ferner die vollen eckigen Kopftypen bei Mutter und Kind;
für beides lassen sich Analogien in der ostfranzösischen Plastik des
12. Jahrhunderts finden. — Erscheint mit derartigen aus »Vermutungen«
hervorgegangenen »Mängeln«, die ich ja, wie der Leser mir zugestehen wird,
schon in meiner ersten Kritik sachlich korrigiert habe, die Volkstümliche
Kunst aus Elsaß-Lothringen in reichster Abwechslung durchsetzt, so stößt
man sich wohl kaum noch an solchen nichtssagenden Unbestimmtheiten
wie auf S. 75, Türkheim, Fachwerkhaus, 17. Jahrh., wo gerade der liebe¬
voll individualisierende Lokalhistoriker die altberühmte Weinkneipe des
1620 errichteten Gasthofes zu den zwei Schlüsseln namentlich bezeichnet
hätte. Man verbessert stillschweigend das auf S. XV zu lesende Neu-
münster, das offenbar mit Neuweiler in Konfusion geraten ist, in Nieder¬
münster am Odilienberg, und man übergeht mit einem belustigten Lächeln
die pseudowissenschaftliche Auslassung auf S. VI der Einleitung über die
»Erwinsrose, diese Radfensterform, wie sie bei romanisch-elsässischen
Kirchen nach dem lombardisch-normannischen Vorbild schon früh er¬
scheint fl). Denn die »Erwinsrose« ist bekanntlich direkt aus Paris, dem
Querhaus von Notre-Dame, importiert und hat also mit den älteren »lom¬
bardisch-normannischen Radfenstern« im Elsaß nichts zu tun.
Derartige Exkurse hätte sich also Staatsmann in einem im guten
Sinne populären Buche schenken können, wenn er nur die tatsächlichen
Fehler vermieden hätte. Seine Ansicht, daß in einem populären Buche
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Erwiderung.
189
eher Fehler Vorkommen dürfen als in einem wissenschaftlichen Werk, kann
ich leider nicht teilen: denn die Verbreitung eines populären Werks steht
bekanntlich im umgekehrten Verhältnis zu den kritischen Fähigkeiten
seiner Leser. Was verschlägt es freilich, wird Staatsmann fragen, wenn
Griinewald im Volk mit der »allgemeinen historischen Datierung« des
15. Jahrh.s erscheint, mußte Herr Hoeber denn nur als Historiker urteilen?
Daß es sich aber für einfache Bilderzusammenstellungen wie die volkstümliche
Kunst aus Elsaß-Lothringen im ganzen gar nicht um historische Probleme
handelt, sondern nur um ordentlich und unordentlich, um das höchst
simple Nachschlagen von einigen Spezialbüchern, ist wohl zur Genüge
dargetan. Warum dies für ein Werk, das 25 Mk. kostet und keinerlei Ak¬
tualität zu berücksichtigen hatte, besonders so sehr schnell geschehen mußte,
wird nicht nur mir rätselhaft bleiben, besondersda ich selber nur zwei Tage für
die reichlichen Verbesserungen in meiner Kritik brauchte. Um wieviel leichter
hätte da eine Autorität von der Bedeutung Karl Staatsmanns diese Unter¬
schriften gleich ordentlich und richtig machen können als ein armer Dilettant,
der noch selbst etwas leisten soll, ja, dessen Kollegienhefte kaum trocken
geworden sind.
In meiner Kritik ward ausführlich gesagt, daß Titel- und Thema¬
stellung der Volkstümlichen Kunst dem Verlage zu Lasten fallen, die schlechte
Lösung der Aufgabe freilich dem Verfasser, und hier soll er sich ja nicht
einreden, das Niveau des schwäbischen Parallelwerkes von Eugen Grad-
mann eingehalten zu haben: Wenn man an diesem vielleicht aussetzen
mag, daß das 1760 ff. von dem Franzosen La Guepi&re erbaute Schloß Monrc-
pos bei Ludwigsburg unter der Volkstümlichen Kunst auch noch mitgeht,
so springt doch als Gegensatz zu Staatsmannscher Arbeit die Vollständig¬
keit und Richtigkeit der Unterschriften und Datierungen, die Ordnung in der
Zusammenstellung der sachlich zueinander gehörigen Objekte in die Augen.
Die Geschmacklosigkeit, daß neben einem Monumentalbau ein banales
kunstgewerbliches Stück, neben einem Riesenklischee ein winzig kleines,
häufig unter Verdrehung sämtlicher natürlicher Proportionen, ungeschickt
genug zu stehen kommt, ist hier vermieden worden, ebenso Architektur¬
ansichten, die, als von einem verkehrten Standpunkt aufgenommen, künst¬
lerisch nicht sprechen: So erscheint z. B. die Aufnahme des Rabenhofes
in Straßburg auf S. 18 ungenügend, da sein architektonischer Haupt¬
inhalt, die sich durch Über- und Ausbauten langsam verengende Perspektive
nicht zur Anschauung gelangt, wie sie überdies eine Ansichtskarte aus dem
Verlag der Elsässischen Rundschau längst trefflich gegeben hat. Will man
in einem solchen Werk künstlerisch sprechende Architekturansichten bieten,
so dürfen freilich Verleger und Autor nicht vor Mühe und Ausgaben zurück-
schrecken und sich mit bereits vorhandenen Photographien und Postkarten
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Erwiderung.
190
begnügen. Als musterhaft in der Auswahl des Architekturbildes und
der malerischen Art der Aufnahme seien deshalb Paul Neff und Staatsmann
die ebenfalls nur populären Werke empfohlen, die bei R. Piper u. Cie. in
München 1911 erschienene Schöne deutsche Stadt, die bei Langewiesche in
Düsseldorf 1909 erschienenen Deutschen Dome und der wundervolle neue
Band über Frankreich aus den von Paul Schmohl herausgegebenen Charakter¬
bauten des Auslandes (Stuttgart, Wilh. Meyer-Dschen, 1912).
Man sieht, in Staatsmanns Opus ist die künstlerische Sorgfalt der
wissenschaftlichen ebenbürtig. Über den ästhetischen Geschmack, den
Naturabguß einer Pestkranken als Produkt der Volkskunst abzubilden,
will ich freilich nicht streiten. Dennoch traue ich nicht nur mir zu, um
auf Staatsmanns famose Apostrophe zu reagieren, diese einfache Zusammen¬
stellung gegebenenfalls selber besser gemacht zu haben, sondern glaube
sogar, jedes erste Semester würde sie geschickter fertig bringen können,
vorausgesetzt natürlich, daß es Karl Staatsmann an Sorgfalt und
Geschmack nur etwas übertrifft. Denn daß etwa eine bewußte Ab¬
sicht bei der doppelten Bezeichnung des Thanner Tors in Sennheim ge¬
waltet habe, geht weder aus der Unterschrift, die durch »Außenseite« und
»Stadtseite« zu vervollständigen gewesen wäre, noch aus der Seitenan¬
ordnung hervor, da über drei Seiten mit anderthalb Dutzend weiteren Ab¬
bildungen zwischen die beiden Ansichten geschoben sind. Und da derselbe
Fehler, ins Groteske gesteigert, gleich daneben bei dem Rathaus von Geb-
weiler wiederkehrt, so wird sich leider Staatsmann auch hier jeglichen
Kredits für seine Verteidigung beraubt haben.
.Um nun auf die persönlichen Vorwürfe des Verfassers der Volkstüm¬
lichen Kunst aus Elsaß-Lothringen zu kommen, so stelle ich einfach fest:
I. Der stereotype Dank im Nachwort meiner Frührenaissance in Schlettstadt,
unter vielen anderen auch an Staatsmann, betraf, wie er das ja auch selbst
schreibt, nicht seinen wissenschaftlichen Rat, sondern die Überweisung
eines für meine Grundrißaufnahmen benötigten Technikers aus der Bau-
gewerkschule, an der Staatsmann Lehrer ist. 2. Staatsmann erteilte früher
an der Straßburger Universität Unterricht im architektonischen Zeichnen,
der leider gar kein Interesse bei den Studierenden finden konnte und deshalb
wieder aufgegeben werden mußte. Vor Jahren glaubte auch ich einmal,
mich diesen kunstpädagogischen Versuchen überliefern zu müssen. Hieraus
nun ein prästabiliertes Wohlgefallen meinerseits an sämtlichen Staats-
mannschen Geisteskindern abzuleiten, erscheint doch als zu viel verlangt.
Staatsmanns größtes Glück bei seinen andern »Werken« ist, daß sie keine
sachverständigen Rezensenten gefunden haben: Wäre das geschehen, so
wäre wohl außer den sehr korrekten zeichnerischen Aufnahmen, auf die sich
auch allein meine Zitate in dem Buch über Schlettstadt beziehen, nicht
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Erwiderung. I q I
viel noch für ihren Verfasser Rühmenswertes übrig geblieben. 3. Das
wissenschaftliche und künstlerische Niveau Staatsmanns verhindert mich,
in ihm eine Konkurrenz zu erblicken.
Dieses beweisen unter allem andern auch seine so belustigenden pole¬
mischen Naivitäten gegen meine Frührenaissance in Schlettstadt: Der
Einfluß der venezianischen Baukunst auf die Schlettstädter Frührenaissance
wurde eingehend auf S. 14 bis 17, 19, 22, 24, 38, 42, 43, 47, 48 und 60 dar¬
gestellt. Evident wurde er in der gesamten Formenbildung des Aufbaus
der einzelnen Architekturstücke wie in der Detaillierung, endlich in der stilis¬
tisch genauen Übernahme von charakteristischen Formmotiven, wie dem Meer¬
weibchen am Balkon des Hauses Ziegler, das aus dem Bellinischen Kreise
hervorgeht (Abb. 51 und 54). Diesem spezifischen Einfluß unterliegt
das Elsaß des 16. Jahrh. genau so wie Basel, für das er längst feststand.
Zwischen dem Haus Ziegler und dem älteren Bau des Hotel Ebersmünster,
besteht ein augenscheinlicher Stilunterschied, eine andere Qualität der
Hände in den geschmückten Teilen, die allerdings auch zu andern histori¬
schen Vermutungen veranlassen kann.
Staatsmanns zweiter Vorwurf des Dilettantismus, daß ich meine
Beweise vorwiegend aus ornamentalen Einzelheiten ableite, fällt leider
auf ihn selbst zurück: Denn wer sich auch nur oberflächlich mit der deutschen
Baukunst des frühen 16. Jahrhund erts beschäftigt hat, weiß sehr gut,
daß der gesamte architektonische Organismus, das eigentliche Raumgebilde,
im Spätgotischen beharrt, und daß für Deutschland die Renaissance vor¬
erst nur eine äußere Dekoration mit dem antikischen Ornament bedeutet.
(Gustav von Bezold: »Die mehr oder minder reichliche Aufnahme von
Renaissancemotiven bezeichnet keinen Bruch mit der Vergangenheit. Die
formbildende Kraft ist gering und das architektonische Ergebnis oft ein
ziemlich unbefriedigendes. Das dekorative Wesen des Stils gestattet keine
organische Entwicklung.«) So muß sich wohl auch die kunstgeschicht¬
liche Filiation auf den Vergleich des ornamentalen Details beschränken,
besonders da der nordisch irrationale Bau der Spätgotik mit der harmonisch
ausgeglichenen Architektur der italienischen Renaissance ganz inkommen¬
surabel erscheint.
Auch der letzte kritische Angriffspunkt vermag keine günstigere
Meinung über die »metaphysische« Urteilsfähigkeit Karl Staatsmanns mehr
zu verbreiten: Mein Rezensent scheint gelegentlich Wölfflins »Renaissance
und Barock« unter die Finger bekommen zu haben. Da nun im römischen
Barock »das Absolutistische, Despotische, das über Kleines, dies fast tötend,
hinweggeht«, wie cs Staatsmann so außerordentlich schön ausdrückt, in der
römischen Baukunst des 16. und 17. Jahrhunderts eine große Rolle spielt,
muß jenes Moment natürlich auch in dem geistig ganz anders gearteten
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Erwiderung.
192
nordischen Barock der spätesten Gotik wiederkehren. Unglücklicherweise
besaß mein Rezensent hier nicht genug Fassungskraft, uni einzusehen, daß
historische Definitionen, falls sie überhaupt einen Wert haben, nur indivi¬
dualisierend Vorgehen können: Denn im spätgotischen Barock drängt sich
gerade das kleine Einzelne ungebührlich über die große Ordnung der archi¬
tektonischen Linie vor, wie ich in meiner Frührenaissance in Schlettstadt
auch genugsam zu zeigen Gelegenheit nahm.
Um sich schließlich für meine Kritik der Stilblüten seiner »metaphorischen
Ausdrucksweise« zu revanchieren, gab sich Staatsmann eine ersichtlich größere
Mühe als die, die er auf die gesamte Abfassung seiner »Volkstümlichen Kunst
aus Elsaß-Lothringen« verwandt hat, auch mir eine Reihe von Schreibfehlern
nachzurechnen. Was die schulmeisterlichen Aussetzungen an den Worten »Un¬
menge« und »kolossale Einwirkung« bedeuten, ist nicht ganz klar; letzterer
Ausdruck erscheint doch nur als eine gesprochene Nonchalance, die, unter
Verwischung des strengen Stilunterschiedes zwischen gesprochener und ge¬
schriebener Sprache, in meinen Text hineinschlüpfte. Und die »runde
Kugel«, auf deren Entdeckung Staatsmann offenbar äußerst stolz ist, be¬
deutet nichts weiter als einen jener Pleonasmen, wie sie häufig eine plastische
Beschreibung, um möglichst augensinnlich zu wirken, als notwendig
erheischt. Denn mein ganzer Satz (auf S. 21 oben) lautet: »Das schwere
Gebälk schließt die Bogenzone nach oben ab. Es wird getragen von drei
Kapitellen, zwei größeren seitlichen, die zu den Pilastern gehören, und
einem kleinen mittleren, das frei gleichsam als Schlußstein des Bogens in
der Mitte schwebt und ursprünglich an seiner unteren Aufsatzfläche eine
runde Kugel besaß, die heute aber abgeschlagen ist«.
Wenn somit die Staatsmannsche Replik in Verteidigung und aggressiver
Anklage als nicht weniger verunglückt sich erwiesen hat, wie das fragliche
Opus selber, so muß sich der Unterzeichnete doch noch entschuldigen,
nicht bei Staatsmann, sondern bei den Lesern des Repertoriums für Kunst¬
wissenschaft wegen des wirklich allzuwcitläufigen Gegackers, das um dieses
im Malheur gelegte Windei der Volkstümlichen Kunst aus Elsaß-Loth¬
ringen sehr unverdientermaßen entstanden ist.
Fritz Hoebcr.
Für die Redaktion des Repertoriums ist hiermit, nachdem b.'iden
Teilen reichliche Gelegenheit zur Aussprache gegeben worden ist, die An¬
gelegenheit abgeschlossen.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
I
• * I
Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst
mit ihren neuen Pfadfindern.
Zur Kritik und Ergänzung der Forschungen J. Strzygowski und L. v. Sybels.
Von O. Wulff.
(Fortsetzung.)
II. Die Fortbildung der alt christlichen Kunst im
s y r i s c h - p a 1 ä s t i n e n s i s c h e n und in den übrigen
KunstkreisendesOstens.
Die vorhergehende Betrachtung *) galt dem Nachweis, dgß der älteste
christliche Bilderkreis, dessen erste Keime in einigen wenigen primitiven
Bildideen des • hellenistischen Judentums der Diaspora zu erkennen sind,
seine Ausprägung in antiker Kunstform Alexandria verdankt»). Ein ge-,
meinsamer Grundstock von Typen liegt in den Katakombenfresken vom
Ende des i. bis um Mitte des 3. Jahrhunderts einerseits und in der frühesten
Sarkophagplastik andrerseits vor, wenngleich der Parallelismus in den
Denkmälern Roms verdunkelt erscheint. Dessenungeachtet führen uns
gegenständliche Zusammenhänge —, besonders im Hirtengenre —, Beziehun¬
gen zur jüdischen und christlichen Gebets- und Erbauungsliteratur, endlich
die spärlichen Überbleibsel der altchristlichen Kunst in Ägypten selbst
noch in ihr Ursprungsgebiet zurück. Je weiter wir aber den Lauf ihrer Ent¬
wicklung verfolgen, desto schwieriger wird es, jüngere Ablagerungen anderer
Zuflüsse von jener alexandrinischen Typenschicht zu scheiden. Denn min¬
destens seit dem 3. Jahrhundert hat die Fortbildung der christlichen Kunst
sich nicht in Alexandria allein abgespielt. Andere Länder, vor allem aber die
*) Die Fortführung meiner Arbeit (s. Repert. f. Kunstwissensch. 19H, S. 281—314)
hat sich Über Erwarten lange verzögert. Das Bedauern darüber verbindet sich mit dem
schmerzlichen Bewußtsein, daß ich diesen Teil nicht mehr in dieselben Hände niederlegen
kann, die den ersten entgegennahmen.
*) Im ersten Abschnitt sind leider infolge der Zwangslage, daß ich die Revisions¬
bogen auf der Reise eiligst zu erledigen hatte, ein paar Versehen unbemerkt geblieben.
Außer einzelnen Druckfehlern auf S. 286 (Z. 6 v. u. »Arcosolien« statt »Arosolien«), S. 307
(Z. 2 v. u. »Paedagogus« statt »Pädagogen«), S. 313 (Z. 7 v. o. »eine« statt »seine«) und 314
(Z. 1. v. 0. »Kultgebäude« statt »Kunstgebäude«) ist vor allem auf S. 292 (Z. 3 ff v. 0.)
die Satzkonstruktion zu berichtigen. Hier war eine Ergänzung vorgesehen, die in Er¬
mangelung meiner Notizen unausgeführt blieb.
Repertorium für KunttwUtenechaft, XXXV. • *3
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
194
O. Wulff,
Großstädte des Ostens, blieben nicht passive Empfänger, sondern begannen
mitzuschaffen. Aus diesen Voraussetzungen erwächst uns die Aufgabe,
ihren Anteil zu umschreiben und festzustellen, in welchem Maß sie selb¬
ständige und führende Bedeutung gewonnen haben. Da wir das haupt¬
sächlichste Material, mit dem solche Fragen zu beantworten sind, zunächst
ebenda vorfinden wie bisher, — nämlich im Abendlande, — so sind die¬
selben Kriterien auch weiterhin anzuwenden. Bald aber kommen uns die
Denkmäler der Kleinkunst in größerer Zahl zu Hilfe, in denen wir zum
größten Teil verstreute Originalarbeiten der Kunst des Ostens vermuten
dürfen. Damit ergibt sich die Möglichkeit, auch nach dieser Seite Zusammen¬
hänge und Parallelen zu suchen, vielleicht sogar innerhalb dieser Denk¬
mälergattungen geschlossene Entwicklungsreihen zusammenzustellen.
Der wichtigste methodische Gesichtspunkt muß dabei sein, die Über¬
einstimmung zwischen stilistischen und ikonographischen Tatbeständen
möglichst klar herauszuarbeiten. Ist doch schon Ainalow auf diesem Wege
zu sicheren Ergebnissen gelangt, auf denen sich weiter bauen läßt. Er hat
gezeigt, daß zwischen den einzelnen Kunstkreisen des Ostens, vor allem in
der Auffassung der menschlichen Gestalt, charakteristische und konstante
Unterschiede bestehen, obgleich im ausgehenden Altertum wie in unserer
Zeit sich die Stilformen und Typen einer mehrhundertjährigen Tradition
dem künstlerischen Schaffen zum Vorbild darboten.
Schon in der jüngeren Katakombenmalerei konnte das Einsetzen einer
lebhaften neuen Entwicklung in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts
der Forschung niemals verborgen bleiben. Kehren wir also zunächst zu ihrer
letzten Phase zurück, die von der vorhergehenden Betrachtung mit Absicht
noch ausgeschlossen wurde (s. a. a. O. S. 304 ff.), um den Parallelismus der
früheren Entwicklungsstufen mit der ältesten Sarkophagplastik deutlicher
hervortreten zu lassen. Etwa seit Mitte des 3. Jahrhunderts n. Chr. ist der
Darstellungsinhalt der römischen Fresken in einem starken Wachstum be¬
griffen, das aus der naiven sepulkralen Symbolik nicht mehr restlos er¬
klärt werden kann 3 ). Auch der übliche Hinweis auf den veränderten Zeit¬
geist bietet keine Lösung. Dem freien Schaffen der römischen Maler darf
man wohl die realistischen Wirklichkeitsbilder gutschreiben, die uns im
4. Jahrhundert öfter begegnen: die Porträtgestalten der Verstorbenen oder
Märtyrer in Orantenstellung, erstere manchmal auch in genrehafter Auf¬
fassung, die Fossoren und die Zunftgenossenschaften 4). Aber so wenig
3 ) S. den Bestand bei Wilpert, Die Malereien der römischen Katakomben 1905,8.151S.
und K. Michel, Gebet und Bild in frühchristl. Zeit. Leipzig 1902. Stud. üb. christl. Denkm.
hsgb. von J. Ficker. N. F. I. Heft, S. 79—84 ff.
4 ) Wilpert, a. a. 0 . S. 456 und 520; L. v. Sybel, Die christl. Antike. Marburg 1906,
I, S. 259 und 299 ff.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw.
*95
wie in der frühchristlichen Zeit deutet die sinnvolle Erweiterung und die
Vermehrung der eigentlichen Bild typen auf eine selbständige Arbeits¬
leistung Roms hin. Und wenn fortan auch keine klaren Beziehungen zu
Alexandria ins Auge fallen, so kann doch die Frage, woher der neue Bild-
stoff kommt, wieder nur aus diesem selbst und aus seinem Zusammenhänge
mit anderen Denkmälerklassen heraus beantwortet werden.
Der Zuwachs entfällt noch zum guten Teil auf den alttestamentlichen
Bilderkreis. Um so bedeutungsvoller erscheint die Tatsache, daß sich in
ihm durchweg ein lebhafter Sinn für den konkreten Vorgang verrät. Mag
zu Daniel der Prophet Habakuk, zu Tobias oder zu den drei Jünglingen
im Feuerofen der Engel, zu Moses am Felsen ein trinkender Israelit hin¬
zukommen, oder mögen bis dahin unbekannte Nebenszenen auftauchen,
wie die Bedrängnis des Moses, seine Berufung und die Sandalenlösung, die
Weigerung der Drei, Nebukadnezars Bildsäule anzubeten, oder gar ein ganz
neuer Vorwurf, wie Elias Himmelfahrt: überall herrscht das gleiche er¬
zählerische, einer vollen Vertrautheit mit dem Alten Testament entsprin¬
gende Interesse 5 ). Das läßt auf ein Kunstzentrum von strengerer juden-
christlicher Richtung, als es Alexandria war, schließen. Und zugleich stellt
sich die Frage ein, ob solche Typen nicht eher dem kirchlichen als dem
sepulkralen Wandschmuck, wenn nicht letzten Endes gar der Buchillu¬
stration, entstammen. Während wir das für die ältere Typenschicht ab¬
lehnen mußten (s. Rep. f. Kunstwiss. 1911, S. 290), scheint Strzygowskis
Hypothese, auf eine juden christliche Kunst bezogen, an Greifbarkeit
zu gewinnen. In mehreren Fällen kann nur gewaltsame Interpretation
immer noch die treibende künstlerische Absicht in der Berufung auf die
Gotteshilfe erkennen 6 ). Mehr Berechtigung hätte schon die antitypische
» —■ ■ ■ 1
5 ) Für das Abendland mit seinen vorwiegend heidenchristlichen Gemeinden ist diese
Vertrautheit auch für das III. Jahrhundert schwerlich vorauszusetzen. Man könnte daraus
noch nicht mit J. Reil, Die altchristl. Bildzyklen d. Lebens Jesu, Leipzig 1910, Stud«,
über christl. Denkm. hrsgb. von J. Ficker, 10. H., S. 10 das fortdauernde Übergewicht
der alttestamentlichen Typen erklären, da den abendländischen Christen die Kenntnis
beider Testamente im wesentlichen nur durch den Gottesdienst vermittelt wurde (die
des Neuen bereits seit etwa 200 n. Chr.). Man darf aber auch nicht mit Verwischung der
zeitlichen Unterschiede zwischen den Denkmälern das »dinglich-geschichtliche Interesse
am Dargestellten« für das Morgenland im allgemeinen in Anspruch nehmen, wie es a. a. 0 .
S. 13 ff. geschieht. Auch den von Reil aufgeführten Malereien in Ägypten, die wohl ins^
gesamt schon dem 4.—6. Jahrhundert entstammen, liegt doch zweifellos die in El-Bagäuat
noch so stark nachklingende rein symbolische Kunstauffassung der älteren Katakomben¬
kunst (vgl. Rep. f. Kunstwiss. 1911, S. 293 ff. und S. 314, Anm. 73) voraus. Wir haben
also darnach zu fragen, von wo die episch ausmalende Bildgestaltung ihren Ausgang ge¬
nommen hat.
*) Das gilt schon von den Darstellungen Hiobs, noch mehr aber von der Berufung
des Moses und wohl auch vom Mannaregen; vgl. die Belege und die Erklärung bei Sybel,
13 *
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
ig6
O. Wulff,
Ausdeutung der einzelnen alttestamentlichen Bilder, da sie jedenfalls vor*
her oder zu gleicher Zeit auch in die Kirchenmalerei Aufnahme gefunden
haben müssen, in der diese Auffassung bald durchdringt 7 ). Die Grund*
tatsache aber bleibt, daß die neuen Szenen und Motive jene lebhafte, rein
geschichtliche Ergriffenheit für den Inhalt des Stoffes bekunden. Da wir
nun die weitere Ausgestaltung desselben nach dieser Seite hin mehrfach,
so z. B. beim Mosesleben wie auch bei der Himmelfahrt des Elias, in Denk*
malern der Plastik oder Kleinkunst syrischen Ursprungs verfolgen können
(s. u.), so liegt es wohl am nächsten, den Ausgangspunkt der ganzen Rich¬
tung in diesem Kunstkreise und seinem ältesten Mittelpunkt, dem halb¬
jüdischen Antiochia, zu vermuten. Trifft doch dieselbe Beobachtung, wie
wir sehen werden, auch für einige neutestamentliche Bilder des vermehrten
Typenbestandes zu.
Was der letztere an weiteren neutestamentlichen Wunderszenen auf¬
genommen hat, findet eine entsprechende literarische Grundlage noch immer
in den exorzistischen Gebeten, und zwar gerade in den pseudocypriani-
sehen, deren Entstehung (in der griechischen Grundredaktion) im antio-
chenischen Schrifttum sehr wahrscheinlich ist 8 ). Außer den auch einzeln
auftauchenden Szenen der Heilung des Aussätzigen (oder des Besessenen)
und des Gespräches mit der Samariterin am Jakobsbrunnen 6 ) gehören
dahin die Heilungen der Blutflüssigen und des Blindgeborenen, sowie die
übrigen an der Decke desselben durch Wilperts Sonderpublikation 9 ) be¬
kannt gewordenen Cubiculum in S. Pietro e Marcellino vereinigten Dar¬
stellungen eines neutestamentlichen (bzw. »christologischen«) Zyklus. Nicht
geringere Bedeutung als die neuen Kompositionstypen der Verkündigung
und Taufe beansprucht unter ihnen als typisches Motiv der syrischen Klein¬
kunst die der Magieranbetung hinzugefügte Nebenszene, wie die Weisen
a. a. O. I, S. 220, 235 und 255. Deutlich tritt der sepulkrale Grundgedanke dagegen noch
bei den etwas älteren Tobiasbildern hervor; a. a. O. I, S. 222; Michel, a. a. 0 . S. 78 ff.
7 ) So vor allem bei der Himmelfahrt des Elias; vgl. Sybel, a. a. 0 . I, S. 222. Die
Aufnahme der Typen in die kirchliche Malerei, sei es aus dem sepulkralen Bilderkreise,
sei es aus der Miniatur, vorausgesetzt, tritt jedenfalls die Beziehung der von den Kirchen¬
vätern gebotenen Deutungen auf dieselben in ihre Rechte, wie sie von Edg. Hennecke,
Altchristliche Malerei und altkirchliche Literatur. Leipzig 1896, zusammengestellt worden
Sind. Umgekehrt bestätigt die ziemlich reiche Ausbeute an verhältnismäßig frühen Zeug¬
nissen dieser Art den sich im 4. Jahrhundert vollziehenden Austausch. Vgl. auch die
Zitate bei V. Schultze, Archäol. Studien. Wien 1880, S. 17.
•) Vgl. Michel, a. a. 0 . S. 17 ff., 31 und 90 ff.; Reil, a. a. 0 . S. 4 ff.
9 ) Wilpert, Ein Zyklus christologischer Gemälde aus der Katakombe der Hll. Petrus
und Marcellinus. Freiburg i. B. 1891. Zur Datierung vgl. Michel, a. a. O. S. 91 ff., der
jedoch ebenso wie Reil, a. a. 0 . S. 6, die typische Bedeutung dieser Bilderreihe verkennt,
wenn er ihren Ursprung aus individueller Initiative erklären will.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw.
197
auf ihrer Reise den Stern erblicken 10 ). Endlich aber steht uns inmitten
• %
dieses geschlossenen Bilderbestandes der jüngeren Typenschicht am Ge¬
wölbe das Zeremonialbild des jugendlichen unter den Aposteln thronenden
Christus vor Augen. Es hängt also zweifellos aufs engste mit ihr zusammen.
Aus früherer Zeit liegt kein einziges sicheres Beispiel desselben vor, aus
dem 4. Jahrhundert hingegen sind mehrere Wiederholungen bekannt, und
zwar eine ganz wie die 0. a. mit sechs, die übrigen mit acht bis zwölf
•
Aposteln “).
In sämtlichen Fällen nimmt Christus die Schriftrolle haltend oder
entfaltend mit lehrender Gebärde die Kathedra ein, von den im Halkbreise
sitzenden (einmal außer Petrus und Paulus stehenden) Jüngern umgeben.
Daß diese Komposition einem hellenistischen Bildtypus von Rats- oder
Philosophenversammlungen auf dem sogenannten Sigma nachgeschaffen ist,
•
haben Sybel (a. a. O. S. 279) und andere erkannt. Auch mag er darin
recht haben, daß das Bild von Anfang an den »erhöhten Lehrer« unter
seinen Schülern in apokalyptischem Sinne darstellt. Gleichwohl wollen die
frühesten Denkmäler schwerlich die sogenannte Parusie (Matth. XIX, 28)
unmittelbar veranschaulichen, vielmehr offenbar nur ein Idealbild der
apostolischen Kirche und ihres Hauptes geben. Hat doch die christliche
Kunst dabei nicht etwa bloß aus Raumgründen anfangs auf die Zwölfzahl
verzichtet, sondern — wohlgemerkt! — zunächst an den antiken Typus
des Hebdomadenbildes XJ ) angeknüpft. Wie und wo kam man dazu ? —
*
Gegeben war schon in der altchristlichen Kunst der ersten Jahrhunderte
die Gestalt des göttlichen Lehrers (s. Rep. f. Kunstwiss. 1911, S. 307 ff.),
des »Pädagogen«, und gewiß nicht nur als Einzelfigur, wie sie die Katakomben
•
anscheinend ausschließlich bewahren, sondern zweifellos auch in vollständigen
Lehrszenen wie auf einzelnen Sarkophagen * 3 ). Am wenigsten werden wir
die mehrfach vertretenen Darstellungen des in Frontansicht mit der Capsa
zu Füßen dasitzenden Christus (vgl. Sybel, a. a. O. I, S. 275 ff.) als die
I0 ) Diese nächstliegende Deutung der Darstellung wird von H. Kehrer, Die Hl. Drei
Könige in Literatur und Kunst, Leipzig 1909, II, S. 14 grundlos angezweifelt. Vielleicht
ist auch die Anbetung der Hirten schon mit Wilpert, a. a. 0 . Taf. 147, S. 201, in einer andern
Freske derselben Katakombe zu erkennen; vgl, Sybei, a. a. 0 . S. 251 und Kehrer, a. a. 0 .
S. 13.
IX ) Vgl. die Zusammenstellung der Denkmäler bei Sybel, a. a. 0 . I, S. 277 ff. und
Michel, a. a. 0 . S. 86.
,a ) Zur Entstehung und zur Nachwirkung des letzteren in der altchristlichen Kunst
vgl. E. Diez, Die Miniat. des Wiener Dioskurides. Wien 1903. (Strzygowski, Byz. Denkm.
III), S. 36.
x 3 ) Ein Gegenbeispiel dazu aus der Malerei scheint die von Sybel, a. a. 0 . I, S. 277
angeführte frühe Freske in Neapel zu bieten; zu den Einzelgestalten vgl. auch Wilpert,
a. a. 0 . S. 251, Taf. 92/3 und Sybel, a. a. 0 . S. 299.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
O. Wulff,
198
Vorstufe des neuen Bildtypus anzusehen haben, sondern nur als eine Ab¬
kürzung desselben. Dieser bedeutet vielmehr eine Neuschöpfung, wenn
auch auf der Grundlage der allgemeinen Vorstellung von dem philosophi¬
schen Charakter der christlichen Lehrtätigkeit. Denn Christus erscheint
hier fast als primus inter pares, und die Belehrten sind die Lehrer der Kirche
selbst. Eine solche Auffassung aber entspricht vor allem dem Geiste, der
auf die apostolische Lehrautorität pochenden antiochenischen Gemeinde.
Und nirgends lag es wohl für die christliche Kunst des 3. Jahrhunderts
m
näher, den geistigen Verkehr des Herrn mit seinen Jüngern im Bilde sich
unterredender Gelehrter darzustellen als in Antiochia mit seiner noch
unter Julian blühenden Rhetorenschule * 4 ). Die Bestätigung dafür, daß die
Ausprägung des neuen Bildtypus diesem Kunstkreise gehört, durch die
Zeugnisse der Plastik und Kleinkunst bleibt denn auch nicht aus (s. u.).
Alles das aber bedeutet nichts Geringeres, als daß Antiochia im 3. Jahrhundert
die Führung in der christlichen Kunst antritt, wie Strzygowski das schon
ausgesprochen hat * 5 ).
Daß die Malereien des besagten Cubiculum in S. Pietro e Marcellino
ein geschlossenes System vertreten, — gerade so wie der um ein halbes
Jahrhundert ältere Freskenschmuck der Sakramentskapellen (s. Rep. f.
Kunstwiss. 1911, S. 306), — ist schon von verschiedenen Seiten erkannt
oder wenigstens gefühlt worden ,6 ). Und weil es als solches nur einmal
in den römisphen Grüften vorliegt, müssen wir eben auf außerrömischen
Ursprung der Typen schließen, die hier vereint, sonst aber mehrfach einzeln
in der jüngeren Phase der Katakombenmalerei verbreitet sind. Muster¬
bücher werden die Vermittlerrolle als Träger des neuen Einflusses gespielt
haben'. Bezeichnend für den Geist des Kunstkreises, der in ihm wirkt,
ist die beginnende Zusammenstellung erzählender Bildfolgen, wie sie das
Jugendleben Christi erkennen läßt, — die Moses- und Danielszenen ver¬
raten dieselbe Neigung, — neben dem Fortleben einer erweiterten exor-
zistisch-sepulkralen Symbolik sowie die Unterordnung beider Elemente
unter eine repräsentative Bildallegorie kirchlicher Lehrautorität. Die letztere
hatte außerhalb der Gräber noch in andern Kompositionen ihren bildlichen
Niederschlag gefunden (s. u.). Schwerlich aber ist es bloßer Zufall, daß
uns in denselben Coemeterien Roms, in denen die jüngere Typenschicht
* 4 ) W. Christ, Gesch. d. gricch. Lit. 4. Aufl. München 1905, S. 833 ff. Hdb* d. Kl.
A. Wiss. VH.
’S) Strzygowski, Oriens Christ. 1902, II, S. 421 und Bull, de La Soc. archfol. d’Alex.
1902, N. V, S. 84 .
16 ) Sybel, a. a. 0 . I, S. 296 ff. Michel, a. a. 0 . S. 92 erscheint er zwar wie ein »erra¬
tischer Block» in der Malerei, der jedoch schon auf Beziehungen zur Sarkophagskulptur
weist. Aber soll letztere sich etwa aus einer vereinzelten Gruft Anregungen geholt haben ?
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw.
199
hauptsächlich eindringt, auch mehrfach die Nachahmung der polychromen
Wandvertäfelung und der ornamentalen Gewölbemosaiken begegnet. Daß
aber der neu j Bilderzyklus hier keine allgemeine Verbreitung mehr gewonnen
hat, erklärt sich aus der Trägheit der handwerklichen Lokaltradition.
Erlauben die hervorgehobenen Tatsachen und Beziehungen eine ge¬
wisse Abhängigkeit der jüngeren Katakombenkunst von der christlichen
Kunstentwicklung Antiochias zu vermuten, so erhebt sich die weitere Frage,
ob und wie diese Wandlung sich auch in den Denkmälern der Plastik spiegelt.
Wieder liegt der Parallelismus nicht überall zutage, was wir bei einem von
außen unbeeinflußten Wachstum der römischen Kunst vollends zu erwarten
hätten. Indem Malerei und Plastik dem neuen Einfluß gesondert erlagen,
haben sie nicht völlig gleichen Schritt gehalten, so daß der vermehrte Typen-
schätz beider sich nur im großen Ganzen deckt. Mit der aus dem Seminar
ererbten Vorstellung freilich, daß sich in der Sarkophagplastik eine lokale
Entwicklung des sepulkralen Bilderkreises »fortsetze« * 7 ), muß entschlossen
gebrochen werden. Es liegt ja doch auf der Hand, daß die Bildnerei es
viel leichter hatte, eine neue Typenreihe in größerer Vollständigkeit auf¬
zunehmen, da zweifellos zum mindesten einzelne fertige Särge jederzeit
aus dem Osten eingeführt worden sind. Der Sarkophagplastik gegenüber
ist es gewiß nicht nur eine lohnende, sondern sogar eine unerläßliche Aufgabe,
der »Syntax der figürlichen Typen« nachzuspüren. Da genügt es freilich
nicht, an einigen herausgegriffenen Beispielen festzustellen, daß ein all¬
gemeiner dogmatischer Gedankenzusammenhang dem Reliefschmuck nicht
zugrunde liege (Sybel, a. a. O. II, S. 160). Darauf kommt es zunächst viel
weniger an als auf die einfache Abgrenzung des Typenschatzes der übrig-
bleibenden Sarkophagklassen unter sich, d. h. auf die Verfolgung der ver¬
schiedenen Synthesen, welche die Bildtypen in ihnen miteinander eingehen,
wie schon betont wurde (s. Rep. f. Kunstwiss. 1911, S. 305). Sie ist noch
niemals ernstlich unternommen worden ,8 ) und kann hier natürlich auch
nicht restlos durchgeführt, sondern nur in gröbsten Zügen eingeleitet
werden.
An Sybels Untersuchung rächt es sich andrerseits immer wieder, daß
die gallischen Särge von gleichem Typus zunächst von der Betrachtung
ausgeschlossen werden. Aus einer ganzen Summe treffender Beobachtungen
werden infolge dieser unglücklichen Klassifizierung des Denkmälerbestandes
nicht die gebührenden Schlüsse gezogen. Und obwohl die in Gallien ge¬
fundenen Sarkophage nach seiner Auffassung von der römischen Sepulkral-
plastik abstammen, sieht er sich (a. a. O. II, S. 208) doch gezwungen, um
* 7 ) Sie spukt sogar noch bei Michel, a. a. 0 . S. 101 ff. und Reil, a. a. 0 . S. 15.
»•) Dieses Versäumnis nimmt auch den »gewissenhaften Zusammenstellungen« von
Michel, a. a. 0 . S. 99 viel von ihrem Wert.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
200
O. Wulff,
ihrer Besonderheiten willen noch ein provinziales Fabrikationszentrum an¬
zunehmen. Allein die andauernde Tätigkeit eines solchen hätte wohl eine
♦
größere allgemeine stilistische und ikonographische Scheidung herbeige¬
führt, während wir in ganz Gallien manche Stücke antreffen, die wie Repliken
römischer Särge aussehen, — wenigstens in der bedeutsamsten und zahl¬
reichsten Gattung der Säulensarkophage. Für diese Verhältnisse, einge¬
rechnet den erheblichen ikonographischen Überschuß des gallischen Ge¬
samtbestandes (s. Rep. f. Kunstwiss. 1911, S. 304) bleibt doch die einzige
unmittelbar einleuchtende Erklärung, daß sowohl Rom als auch Gallien
in den einzelnen Klassen zahlreiche Arbeiten ein und desselben hellenisti¬
schen Kunstzentrums aufgenommen haben (Strzygowski, Kleinasien usw.
S. 195), daß aber solche Sargtypen hier wie dort lange nach- und dabei
mehr oder weniger umgebildet worden sind. Die Masse des Erhaltenen ist
solche Dutzendware bis herab zu den unverkennbaren Erzeugnissen einer
gänzlich verfallenen lokalen Fabrikation.
Unter solchen Voraussetzungen darf man als die älteste von allen
noch nicht näher herangezogenen Sarkophagklassen diejenige mit ein¬
reihigem (bzw. »einzonigem«) friesartigem Reliefschmuck ohne jede äußere
Szenentrennung ansehen. Damit soll freilich nicht einer hohen Datierung
der Mehrzahl der einschlägigen Denkmäler das Wort geredet werden. Im
Gegenteil gibt es von dieser Gattung sowohl in Rom wie in Gallien und
selbst in Spanien eine beträchtliche Anzahl grober und z. T. offenbar ganz
später Repliken. Aber daß sie auf einen einheitlichen Stammtypus ziemlich
früher Entstehung zurückweist, unterliegt ebenso wenig einem Zweifel. Denn
ihr Typenschatz enthält einen einheitlichen Grundstock, der ungefähr dem
Bilderkreise der Katakombenmalerei nach seiner Erweiterung durch mehrere
neutestamentliche Wunder u. a. m. in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts
f
entspricht (s. o. und Rep. f. Kunstwiss. 1911, S. 312 ff.). Die Auswahl
und Auffassung der Szenen ist noch vorwiegend durch den sepulkralen
Symbolismus bestimmt. Die ersten Anzeichen eines erwachenden histori¬
schen Interesses sind jedoch schon in den trinkenden Israeliten beim Quell¬
wunder, in der vermeintlichen Nebenszene der typischen Bedrängung des
Moses und in der Hinzufügung einer Frauengestalt * 9 ) beim Abrahams-
x 9 ) Die letztere wird wie in den Fresken von El Bagäuat als Sarah zu deuten sein;
vgl. W. de Bock, Matör. p. s. k Tarch^ol. de l’Eg. chr£t. St. Petersburg 1901, pl. XII und
p. 23. Bei der erstgenannten Szene glaubt E. Becker, Das Quellwunder des Moses in der
altchristlichen Kunst, Straßburg 1909, S. 86 mit erfreulicher Unabhängigkeit von semi¬
naristischen Vorurteilen die Sarkophagplastik als den gebenden Teil ansehen zu müssen.
Wägt man aber alle von ihm selbst mit vortrefflicher methodischer Klarheit hervorge¬
hobenen Tatsachen ab, — daß nämlich im Gegensatz zum »römischen Vulgärtypus» (bzw.
Werkstattypus) die besser gearbeiteten (also z. T. doch wohl auch älteren) Särge, be¬
sonders in Gallien, eine freiere Gestaltung der Komposition aufweisen und daß die Kata-
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw.
201
opfer wahrzunehmen. Für einzelne Typen, wie die Belebung der Totengebeine
(Ezechiel, Kap. 37), das Gebot der Arbeit und die (vereinzelte) Vertreibung
aus dem Paradiese, fehlen alle Gegenbeispiele in der Malerei. Wenn die
Sarkophagplastik die neuen Typen aus dieser aufgenommen hat, wie das
schon vorher sicher der Fall war (s. Rep. f. Kunstwiss. S. 312), so muß
das also in einem anderen Kunstkreise als dem römischen geschehen sein*
Daß aber die Redaktion des Typenschatzes dieser Sarkophagklasse in Anti-
ochia oder im südlichen Kleinasien entstanden sei, dafür spricht die Tat¬
sache, daß die orientalischen Versionen der pseudocyprianischen Gebete
einen ziemlich übereinstimmenden Bestand und zumal für manche neuen
Typen das literarische Gegenbeispiel bieten 30 ). Andrerseits scheint es dieser
Gattung nicht an jedem Zusammenhänge mit den alexandrinischen Vor¬
stufen des friesartigen Reliefschmucks zu fehlen (vgl. Rep. f. Kunstwiss.
1911, S. 312). Die Jonas- und Danielszenen werden gelegentlich auf unter¬
geordneten Plätzen an den Schmalseiten oder am Deckel bewahrt. Und
vor allem erhält sich die Orans als Mittelfigur des Frieses nicht nur ziemlich
ständig auf gallischen Särgen, sondern sogar noch auf späten römischen
kombenfresken sowohl in der Tracht der Israeliten von den Sarkophagreliefs abweichen
wie auch größtenteils andere Stellungen der Nebenfiguren zeigen, so wird man doch zu
einem weiteren Schluß kommen. Die Erweiterung des frühchristlichen Typus mag sich
in Rom ungefähr gleichzeitig in der Malerei und Plastik vollzogen haben. In dem Kunst¬
kreise aber, der Rom und Gallien jene besseren Sarkophage und neue malerische Vor¬
lagen lieferte, — kann wohl die Malerei damit vorangegangen sein. Auch die Petrus-Moses-
Vorstellung beweist ja noch lange nicht, daß der neue Typus in Rom entstanden sein
muß, — nachdem gerade Becker den wasserschlagenden Petrus durch seine erschöpfende
kritische Untersuchung ein für allemal in das Reich dogmatischer Phantastik verwiesen
und die noch für Sybel, a. a. O. II, S. 123 bestehenden Schwierigkeiten beseitigt hat.
Die auf das Wortspiel n^tpoc und r^epa begründete antitypische Parallele aber ist doch
jedenfalls auf hellenistischem Boden entstanden. Sie berührt sich geradezu mit den Ge¬
dankenreihen, welche auf den antiochenischen Ursprung des Bildtypus der Gesetzes¬
übergabe hinweisen (s. u.). Das eine von Becker, a. a. 0 . S. 143 angeführte syrische Zeug¬
nis wiegt in seiner Schlichtheit mehr als alle abendländischen Kirchenväterstellen. Daß
dann auch die typische Nebenszene der Sarkophage, die man nunmehr »Ergreifung des
Petrus» statt »Bedrängung des Moses» wird nennen müssen, mit den barettragenden
Kriegsknechten im näheren Bereich des palästinensischen Einflusses aufgekommen sein
muß, ist eine naheliegende Folgerung. Vielleicht haben die römischen Steinmetzen sie
nicht einmal immer verstanden. Dadurch würde sich ihre Umbildung auf dem lateranen-
sischen Jonassarkophag, den Becker, a. a. 0 . S. 136, Anm. 1 ausschalten will und .der
keineswegs zu den ältesten gehört (vgl. Rep. f. Kunstwiss. 1911, S. 312, Anm. 68),
erklären; vgl. auch Sybel, a. a. 0 . II, S. 122. Wenn sich wohlbegründete Einzelergebnisse
einem allgemeinen Gesichtspunkt so leicht einfügen, können sie nur seine Richtigkeit
bestätigen.
*°) Vgl. Michel, a. a. O. S. 53 und 58; für einzelne Szenen enthalten auch die S. 33,
Anm. 2 zusammengestellten Erwähnungen bei Ephraim Syrus den Beleg.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
202
O. Wulff,
Repliken 3I ). Der gute Hirte hingegen ist fast ausnahmslos (s. a. a. O.
Anm. 69) durch den Wundertäter verdrängt, dieser aber erscheint auf allen
besseren Denkmälern im Schmuck der langen Locken, ein Typus, den Strzy¬
gowski mit gutem Grunde aus Kleinasien ableitet und in dem neuerdings
Dütschke wohl mit Recht eine Art von Zwillingsbruder des Mithrasideals
erblickt **).
Auf Kleinasien als Stammland der altchristlichen Sarkophage abend«
ländischen Fundorts hat der Erstgenannte (a. a. 0 . S. 199) mit großer Ent¬
schiedenheit hingewiesen. Wenn unsere Nachprüfung seiner Aufstellungen
für die in Rede stehende Klasse zu einer übereinstimmenden Annahme zu
führen scheint, so sei hier klar ausgesprochen, daß ich dabei immer die
kleinasiatische Südküste im Auge habe. Hier, und zwar in Tarsus, hat sich
in der Tat jenes Bruchstück eines Jonascippus gefunden, dessen etwas
flüchtiger Stil sich sehr wohl manchen römischen Sarkophagen des 4. Jahr¬
hunderts vergleichen läßt * 3 ). Wir sind aber a priori berechtigt, dieses Ge¬
biet im wesentlichen dem antiochenischen Kunstkreise zuzurechnen und von
ihm den nördlichen, mit Byzanz Hand in Hand gehenden prokonnesischen
zu trennen. Denn eine einheitliche kleinasiatische Kunst hat es jedenfalls
in christlicher Zeit noch weniger gegeben als in der heidnisch-antiken. Die
Nachbarschaft einer Großstadt wie Antiochia aber konnte unmöglich auf
die Kunstübung an der Südküste ohne Einfluß bleiben.
Eine weitere Beobachtung führt vielleicht am sichersten darauf hin,
daß sich die vorausgesetzte Fortbildung eines alexandrinischen Sarkophag¬
typus in dem bezeichneten Gebiet vollzogen haben dürfte. Zwischen der
Klasse der friesartig verzierten Särge und derjenigen der Säulensarkophage,
die wir mit noch größerer Entschiedenheit für Antiochia in Anspruch nehmen
können (s. u.), bestehen nämlich eigenartige Beziehungen. Während den
J1 ) Le Blant, Les sarc. chr6t. de la Gaule. Paris 1886, pl. IX, XVIII, XXII,
XXIX und XLV, sowie fit. sur les sarc. chr£t. etc. d’Arles. Paris 1878, pl. III, VII,
XXVII; J. Ficker. Die altchristl. Bildw. im christl. Mus. d. Laterans. Leipzig 1890,
N. 116,148,160,161 = (Garrucci, Storia etc. t. 376, 380, 381 u. a. m.); O. Marucchi, Mon.
del Mus. Crist. Pio-Lateranense, Milano 1911, tav XXVI u. XXXIX; vgl. auch Michel,
a. a. 0 . S. 103.
**) Strzygowski, Orient oder Rom, S. 58 ff. und Christus in hellenistischer und orien¬
talischer Auffassung. Beil. d. Allgem. Zeitg. 1903, Nr. 14 (in bezug auf den alexandrin.
Typus kann ich ihm nicht folgen): Kleinasien ein Neuland, S. 196 ff.; H. Dütschke,
Ravennat. Studien, Leipzig 1909, S. 107 ff.
* 3 ) Strzygowski, Kleinasien usw. S. 198, Abb. 143; Lowrie, Amer. Journal of archeol.
1901, p. 51. Ein Relief der Stammeltem im Paradiese (bzw. des Sündenfalles) hat seiner
Zeit J. P Richter, Die Mosaiken von Ravenna, Wien 1878, S. 132, Anm. 1, s. Z. in An¬
tiochia vorgefunden; eine grobe Darstellung der Kundschafter mit der Traube befindet
sich im Besitz des Baron Ustinow in Jaffa.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw.
203
ersteren die jüngsten christologischen Bildtypen und die Apostelmartyrien
der späteren Gattung noch durchweg fehlen, tauchen auf ihnen bereits mehr¬
mals einzelne Szenen auf, die auch zum Typenschatz der letzteren, aber
offenbar zu einer etwas älteren Schicht desselben gehören, wie die Sama¬
riterin am Brunnen, die Ansage der Verleugnung Petri, seine Ergreifung
0
(s. o. Anm. 19) und die Schlüsselübergabe, die Erweckung der Tochter des
Jairus und (auf demselben gallischen Sarge) sogar eine Majestas Christi
mit stehenden Aposteln, die an gewisse, meist als Gerichtsszenen aufgefaßte
Katakombenbilder erinnert *<). Endlich kommen auch die beiden Apostel
mehrfach als Begleitfiguren (»Advokaten«?) der Orans (s. Anm. 21) vor.
Man wird in allen diesen, nicht wie in einzelnen anderen Fällen, auf lokale
Entlehnungen der späten Repliken (s. u.), sondern auf wurzelhafte Zu¬
sammenhänge schließen müssen, um so mehr als solche auch in stilistischer
Hinsicht ins Auge fallen (s. u.). Der Stil der besten Denkmäler * 5 ) mit fries¬
artigem Reliefschmuck geht gleichwohl dem ausgereiften Stil der Säulen-
Sarkophage sichtlich voraus. Die schlanken Proportionen, die rhyth¬
mischere Bewegung und der schöne Fluß der reichen Faltengebung verrät
noch den reineren antiken Geschmack des 3. Jahrhunderts. In den gewöhn¬
lichen späteren Kopien ist dieser Stilcharakter freilich durch fortgesetzte
verständnislose Wiederholung meist völlig vergröbert.
Als jüngere Abart derselben Klasse erscheinen die für zwei Personen
bestimmten größeren Särge mit doppelreihigem (bzw. »zweizonigem«)
Figurenfries. Wenn irgendeine Gattung als lokalrömischer Werkstatt¬
typus angesprochen werden darf, so ist es die Masse dieser Sarkophage.
Außer in Rom, wo sie zum Teil auch demselben Fundbereich bei S. Callisto
angehören (Ficker, a. a. O. S. 47), sind sie nur in Arles mehrfach vertreten,
fehlen hingegen im übrigen Gallien l6 ). Ihre Verwendung an diesem Punkte er¬
klärt sich durch den unmittelbaren Seeverkehr mit Rom ebenso leicht wie
das vereinzelte Vorkommen des Sarges der Adelfia in Syrakus. Dem ent¬
spricht eine ziemlich gleichartige, die Nebenseiten vernachlässigende Be¬
handlung. Der Typenbestand ist außerordentlich reich, aber eklektisch zu¬
sammengesetzt. Neben den typischen Szenen der einreihigen Friese tauchen
einerseits ältere, wenngleich z. T. erweiterte Typen auf, wie Daniel und
Jonas, andrerseits solche, die augenscheinlich von den Säulensarkophagen
entlehnt sind, von alttestamentlichen z. B. Moses Sandalenlösung und die
* 4 ) Le Blant, fitude etc. pl. XVII,XXII; Les sarcoph. chr£t. etc. pl.IX, XVIII, XLV.
* 5 ) Vor allem mehrerer gallischer Särge; Le Blant, fitude etc. pl. III und VII;
Les sarcoph. chr£t. IX, XX, XLV.
**) Schon Le Blant, fitude etc. p. VI hat die engere Verwandtschaft der Arleser Sarko¬
phage mit den römischen bemerkt. Das schließt natürlich nicht aus, daß auch dort manches
aus dem Orient eingeführte Stück besseren Stils der anderen Gattungen erhalten ist.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
204
O. Wulff,
Tötung des Drachens durch Daniel, die drei Jünglinge vor Nebukadnezar* 7 ),
aus dem Neuen Testament die Magieranbetung nebst der nur einmal in den
Katakombenfresken belegten Geburtsszene * 8 ). Dagegen fehlen auch dieser
während des ganzen 4. Jahrhunderts gebräuchlichen Gattung die eigent¬
lichen Passionsszenen mit ein paar bemerkenswerten Ausnahmen. Auf dem
schönsten und anscheinend ältesten Sarge aus S. Paolo (Lateran Nr. 55)
finden wir bereits die Händewaschung des Pilatus in sehr figurenreicher und
trotzdem unvollständiger, also sichtlich entlehnter, Komposition vor J 9 ).
Seinem Stile nach reiht er sich den besten Arbeiten mit einreihigem Friese an
(s. Anm. 25). Das macht es mindestens zweifelhaft, ob die Verdoppelung
•
des letzteren erst in Rom aufgekommen ist, in ihrer ständigen Verbindung
mit dem Doppelporträt in der Muschel (bzw. dem Clipeus) aber bleibt sie
daselbst in ständigem Gebrauch. Die übrigen Denkmäler zeigen den un¬
aufhaltsamen Stilverfall einer handwerksmäßigen Kunstübung. Und doch
bietet noch eine so derbe Arbeit wie der zweite Sarkophag aus S. Paolo,
dem man mit tiefsinnigen Ausdeutungen seines Bildschmuckes gar zu viel
Ehre angetan hat, — in der Szene der Menschenschöpfung einen Bildtypus,
der nur außerhalb Roms seine Gegenbeispiele findet 3 °). Der christlich-
hellenistische Bildstoff strömt eben dem Abendlande durch verschiedene
größere und kleinere Rinnsale zu. Davon zeugen auch die jeder befriedigen¬
den Deutung widerstehenden, also wohl mißverstandenen Darstellungen am
* 7 ) Vgl. Ficker, a. a. 0 . No. 178 (= Garrucci, a. a. O. t. 367, 3) und Le Blant, a. a. O.
pl. VI. Dahin gehört ferner d.r Durchzug d.r Israeliten durch das Rote Meer auf dem
lateranensischen Kindersarkophag bei Ficker, a. a. O. Nr. 212 (= Garrucci, a. a. 0 . t. 358, 1)
und (in unvollständiger Wiedergabe) auf einem Arleser, der auch die drei Jünglinge auf¬
weist; Le Blant, a. a. 0 . pl. VIII.
**) Erstere wieder auf dem o. a. Kindersarkophag und beide auf dem der Adelfia
(s. u.), die Geburt und die Magier im Anblick des Sternes auch auf den späteren strigi-
lierten (vgl. Rep. f. Kunstwiss. 1911, S. 313); Le Blant, a. a. 0 . pl. XVIII und XXI.
* 9 ) Marucchi, a. a. 0 . t. VI, 4; Sybel, a. a. O. II, S. 143 und 178, wo er ihn mit Riegl,
Spätröm. K.-Industrie I, S. 95 noch ins 3. Jahrhundert verweist. Aber Tracht und Haar¬
behandlung lassen wohl bis in die ersten Jahrzehnte des vierten Spielraum, während sie
den späten Ansatz Fickers, a. a. 0 . Nr. 55 ausschließen. Dieselbe Darstellung wiederholt
sich ebenfalls ohne Christus in Arles bei Le Blant, a. a. O. pl. VIII auf dem einzigen
zweireihigen Sarge, der die Apostelmartyrien zeigt, öfter belegt ist hingegen der Einzug
Christi in Jerusalem; Fickei, a. a. 0 . Nr. 189 (= Garrucci, a. a. O. 367, 2; vgl. auch 313, 4);
Marucchi, a. a. O. t. XXXIV, 1 sowie bei Le Blant, a. a. 0 . pl. XVIII nebst Samariterin
(vgl. auch Garrucci, a. a. 0 . t. 313, 3). Ganz für sich steht als ein Beispiel unmittelbarer
Einwirkung antiochenischer oder palästinensischer Vorbilder der trümmerhafte Sarg aus
S* Honorat mit christologischem Zyklus; Le Blant, a. a. O. pl. XXIX.
3 °) Ficker, a. a. 0 . Nr. 104, der schon mit Recht hinter dem Korbstuhl in der Men¬
schenschöpfung eine bloße Füllfigur erkennt; Marucchi, a. a. 0 . t. XIV, 3; Sybel, a. a. 0 .
II, S. 127, 161 und 192, doch genügt die Toga contabulata schwerlich, den Sarg entgegen
den Fundumständen ins 5. Jahrhundert herabzurücken.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw.
205
Deckel des Sarkophags der Adelfia, dessen verkrüppelte und unartikulierte
Figurenbildung ungeachtet ihrer püppchenhaften Zierlichkeit doch viel¬
leicht über alle Bedenken gegen den herkömmlichen Zeitansatz hinweg¬
helfen dürfte 31). Die Vorliebe für hochreliefartige Durchbildung setzt sich
aber an den zweireihigen Friesen bis in solche spätesten Ausläufer hinein
viel entschiedener durch als bei den einreihigen.
Keiner Sarkophagklasse ist wohl die bisherige Forschung so wenig
gerecht geworden, wie den Säulensarkophagen, — auch Sybel nicht trotz
mancher treffenden Beobachtung, — obgleich sie sich gegen die übrigen
Sarkophage am schärfsten als geschlossene Gruppe absondern, die zugleich
in ihren Spielarten und Nebengattungen eine deutliche Entwicklung wahr¬
nehmen läßt. Die gesonderte Durcharbeitung ihrer Ikonographie hätte ihre
hervorragende Bedeutung innerhalb der altchristlichen Skulptur unfehlbar
erfaßt, allerdings nur wenn ihr der Gesamtbestand der gallisch-römischen
Arkadensärge, die den ravennatischen u. a. m. gegenüber eine Einheit bilden,
zugrunde gelegt worden wäre. Für sämtliche Gattungen von Säulensarko¬
phagen einen einheitlichen Stammbaum aufzustellen, scheint hingegen ein aus¬
sichtsloses Beginnen zu sein. Die ältesten heidnischen Vorstufen aber gehören
zweifellos Kleinasien, wo sich auch die Grundvorstellung des Totentempels
(bzw. des »Hadespalastes«) bis in einzelne christliche Typen hinein erhält 3 *).
Als Hauptgattungen scheiden sich schon in der antiken Kunst des 2 ./ 3 . Jahr¬
hunderts n. Chr. die Tabernakel- und die eigentlichen Säulensarkophage
und beide reichen in die christliche Kunst hinein. Wie weit dabei bestimmte
gleichzeitige Bautypen auf die Ausgestaltung der einen oder anderen Art
vorbildlichen Einfluß geübt haben, wird schwerlich sicher zu ermitteln
sein. Nischengliederung der Mauern und der Wechsel des Spitz- und Rund¬
giebels waren als dekorative Motive etwa seit Hadrianischer Zeit für statuen¬
geschmückte Portiken wie für die Fassadenarchitektur u. dgl. üblich 33 ).
Man braucht nicht mit Strzygowski und Wittig in erster Linie an die Bühnen-
3 1 ) J. Führer, Forschg. zur Sizil. sotteranea. München 1897, Taf. XII; vgl. Sybel,
a. a. 0 . II, S. 122 und 192. Die Wiedergabe der Toga, contabulata auf den auf Vor¬
rat gearbeiteten Sarkophagen erscheint mir gewöhnlich nicht klar genug, um in diesem
und anderen Fällen für oder gegen eine Entstehungszeit (also hier gegen das 5. Jahr¬
hundert) geltend gemacht werden zu können. Eine weitere Deutung der problematischen
Szenen versuchte Ainalow, Szenen aus dem Leben der Gottesmutter auf dem Sarkophag
der Adelfia. Moskau 1895 (russisch).
*
3 ») Vgl. Sybel, a. a. 0 . II, S. 50 und 62 und vor allem Dtitschke, a. a. 0 . S. 22 ff.
Die Beibehaltung der Hadestür am Sarkophag von Salona (s. Rep. f. Kunstwiss. 1911,
S. 308) u. a. m. (vgl. Sybel, a. a. 0 . II, S. 52) beweist die Kontinuität der Kunstform,
auf deren Grundlage sich die Bedeutungsverschiebung zur christlichen Vorstellung der
»Himmelshalle# erst vollzogen hat.
33 ) Sybel, a. a. 0 . II, S. 59 ff.; Dütschke, a. a. 0 . S. 126 ff.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
206
O. Wulff,
wand (scaenae frons) und an das Theater von Antiochia zu denken 34).
Am allerwenigsten rechtfertigen dieTabemakelsärge »mit Doppelschnecken«
an den Kapitellen diese Ableitung. Ihrem Verbreitungsgebiet und ihrem
überwiegend heidnischen Charakter nach gehören sie vielmehr dem nord¬
westlichen kleinasiatischen Kunstkreise an 35 ), mögen auch solche Prunk¬
särge gelegentlich an und von der Südküste her in das Innere Eingang ge¬
funden haben (s. u.). Hier aber waren, wie neuere Funde gelehrt haben,
sowohl Tabernakelsarkophage wie die »gewöhnlichen Arkadensärge mit
gleichmäßig gereihten Spiralsäulen« schon im heidnischen Gebrauch ver¬
breitet 3 6 ). Das Fabrikationszentrum, welches dem Abendlande die Masse
der Säulensarkophage geliefert hat, — und das war m. E. Antiochia, —
bevorzugte augenscheinlich den letzteren Typus, weil er für die Eingliede¬
rung des christlichen sepulkralen Bildstoffes die größeren Vorteile bot. Diese
Klasse umfaßt mehrere Spielarten, die sich nach der Zahl der Nischen
(sieben oder fünf) zu zwei größeren Gruppen zusammenschließen. In beiden
kommt nämlich statt des abwechselnden Bogen- und Giebelabschlusses,
von denen der erstere manchmal auch allein für alle Nischen Anwendung
findet, bisweilen glattes verkröpftes Gebälk vor, wofür schon heidnische
Sarkophage des 3. Jahrhunderts die Vorbilder bieten 37 ). Endlich bleibt bei
sonst übereinstimmenden Grundzügen eine gewisse Mannigfaltigkeit in der
Ausschmückung der Giebelzwickel mit Akroterien bestehen. Aber bis
in dieses dekorative Beiwerk hinein herrscht gleichwie im Figürlichen
zwischen einzelnen römischen, gallischen u. a. Särgen öfters eine so weit¬
gehende Übereinstimmung auch der technisch-stilistischen Behandlung, daß
ein einheitlicher Kunstbetrieb daraus hervorleuchtet. Durch Stilverwandt¬
schaft und ikonographische Beziehungen hängen endlich auch einige andere
Sarkophagtypen, an denen die Nischen teils umgebildet oder ausgeschaltet
sind, teils von Anfang an fehlen, mit den Säulensarkophagen eng zusammen.
Die Zahl der eingeführten griechischen Denkmäler scheint bei allen Spielarten
der Säulensarkophage größer zu sein, als in der friesartig verzierten Sarko¬
phagklasse, wenn auch besonders in Rom manches Stück erst an Ort und
Stelle gearbeitet sein mag. In Gallien dürfte die Aufnahme der neuen Gat¬
tung etwas früher, ihre lokale Nachbildung 3 8 ) erst verhältnismäßig spät
M) Strzygowski, Journal of hell. Stud. 1907, p. 119 ff.; J. Wittig, Die altchristl -
Skulpt. im Mus. am Campo Sto. Suppl. d. Röm. Quartalschr. Rom 1906, S. 18.
35 ) Strzygowski, a. a. 0 . p. 115 ff.; vgl. Sybel, a. a. 0 . II, S. 56 und die übrige Lit.
Beschr. d. Bildw. d. christl. Ep. III, 1. Altchristl. Bildw. Berlin 1909, S. 14, Nr. 26.
3 *) Bruchstücke von solchen in Myra, vgl. bei H. Rott, Kleinasiat. Denkm. Forschg.
üb. christl. Denkm. hsgb. v. J. Ficker 1908. Heft 5/6, S. 337, Abb. 127.
37 ) Beide Formen sind schon an den Heraklessarkophagen belegt; Sybel, a. a. 0 . II,
S. 58 ff.; Dütschke, a. a. 0 . S 129 ff.
3 *) In Gallien selbst sind wohl vor allem die Sarkophage mit gereihten Spitzgiebeln
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw.
207
begonnen haben. Enthält doch der reichere Typenbestand der dortigen
Särge von früh an einzigartige Motive 39 ), die nach dem Osten weisen.
Als eine der frühesten weit verbreiteten Spielarten kann der Sieben -
nischentypus mit einzelnen oder je zwei Füllfiguren angesehen werden, der
auch in Nordafrika und Spanien vertreten ist 4 °) und gewöhnlich in der
Wiedergabe der Faltenzüge als Schattenfurchen mit Hilfe des laufenden
Bohrers eine technische Besonderheit des diokletianischen und konstantini*
sehen Zeitalters aufweist 4 *). Wie ihm noch eine den einreihigen Friesen ver¬
wandte, wenngleich sorglosere Figurenbildung eigen ist, so gewährt er auch
den sepulkralen Bildtypen noch reichlichen Einlaß. Und schon hier kommen
nicht nur die auf jenen vereinzelt auftauchenden neuen Szenen (s. S. 203)
ständig vor, sondern als weiterer und bleibender Zuwachs aus dem Alten
Testament, der wieder z. T. in der gleichzeitigen Katakombenmalerei seine
Gegenbeispiele hat: Moses Berufung, Daniel mit dem Drachen und die
drei Jünglinge vor Nebukadnezar 4*). Fast alle Typen aber erfahren unter
dem Zwange des knappen Rahmens die äußerste mögliche Beschränkung
der Personenzahl. Szenen hingegen wie die letztgenannte oder die Jonas-
geschichte, welche das nicht zulassen, werden auf den Deckel (oder die Neben-
oder Rechtecknischen, unter denen Einzelgestalten oder Paare von Aposteln stehen, ent¬
standen (vielleicht unter der Anregung einheimischer Holzarchitektur), da sie nur dort
Vorkommen, und zwar mit Ausschluß von Arles; Le Blant, Les sarc. chr£t. de la Gaule,
pl. XIX, XXII, XXXIV, XXXVII/VIII, XL, XLI—XLVI, XLVIII. Dagegen ahmen
die truhenförmigen aquitanischen Särge wohl orientalische Typen und Ornamentik nach;
Le Blant, a. a. 0 . pl. IV, XXVIII, XXXIII, XXXVI, XLVI; sie werden wohl mit Recht
von Sybel, a. a. 0 . II, S. 216 ff. für jünger gehalten.
39 ) So vor allem die Dioskuren auf einem Tabemakelsarge in Arles; Le Blant, £tude
etc. pl. XXIII. Nur in Gallien belegt sind der Kampf Davids mit Goliath und die Kund¬
schafter mit der Traube von'jEschkol;— der Judaskuß u. a. m. daselbst und in Oberitalien;
Sybel, a. a. 0 . II, S. 142.
4 °) Vgl. den Sarg aus Dellys in Mus6es et Coli. d*Alg<rie etc. G. Doublet, Le Musle
d’Alger, pl. XIII; ein ähnlicher sehr verstümmelter Sarkophag wurde vor mehreren
Jahren im Kunsthandel aus Spanien dem K. Friedrich-Mus. angeboten. Gallische Bei¬
spiele s. bei Le Blant, Les sarc. chr6t. de la Gaule, pl. VII und XLVII. Eine lokal-
römische Arbeit hingegen möchte ich z. B. in dem lateranensischen Sarg Nr. 152 er¬
kennen; vgl. Sybel, a. a. 0 . II, Abb. 28.
4 1 ) Vgl. Riegl, a. a. 0 . S. 45 ff und 82 ff.; Sybel, a. a. 0 . II, S. 180 und 184 ff.
4 ») s. S. 195. Dazu kommen noch, wenn auch der Fünf nischentypus und die groß-
figurigen Prunksärge (s. u.) berücksichtigt werden, Hiob und die Himmelfahrt des Elias.
Diesen und den o. erwähnten Szenen begegnen wir nie auf den einreihigen, wohl aber auf
den zweireihigen Friesen. Die letzteren haben sie also offenbar ebenso wie die Passions¬
szenen von den Säulensarkophagen entlehnt. Dagegen liegt die noch nicht befriedigend
erklärte Darstellung des »lesenden Mannes« einmal, dafür aber in vollständigsterWiedergabe
auf einem einfachen Friese in Arles vor, von diesem wird also die Erklärung auszugehen
haben; Le Blant, a. a. 0 . pl. III; vgl. Becker, a. a. O. S. 108 ff. und Röm. Quartalschf.
1911, H. 3. Nicht ausgeschlossen scheint es mir, daß in ihm der »Leser» (s. Rep. f. K.
Wiss. 191I, S. 306 ff.) in Umdeutung fortlebt.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
208
O. Wulff,
seiten) zurückgeschoben43). Für die einfigurige Nischenfüllung endlich,
wie sie jedenfalls schon bei der heidnischen Grundform dieser Sarggattung
das Gegebene war, hat der christliche Kunstbetrieb alsbald in der Einreihung
der Apostelgestalten einen dankbaren Vorwurf gefunden, wenngleich der
Gedanke der Belehrung durch den in der Mittelnische stehenden Meister sich
gelegentlich noch hinter einem Wundervollzug verbirgt 44).
Der Fünfnischentypus scheint nach dem Stilcharakter der Denkmäler
etwas jüngeren Ursprungs zu sein und mag seine Entstehung eben dem
Bedürfnis verdanken, die schon ausgebildeten dreifigurigen Typen am
Sarkophag unverkürzt und doch mit deutlicher Szenentrennung unterzu-
bringen. An diesen Särgen gewinnen die neutestamentlichen Wunder so¬
gleich das Übergewicht, und zwar treten wieder jene zuerst in den einreihigen
Friesen bemerkten und ein paar weitere neue Typen stark hervor: die
Heilungen der Blutflüssigen, zweier Blinden, sowie des Lahmen am Teiche
Bethesda, Christus und die Samariterin am Brunnen, der Hauptmann von
Capernaum und eine genrehafte Wendung des Weinzaubers (bzw. des Kana¬
wunders), bei der eine Nebenfigur im Begriff steht, das Wasser in die Krüge
einzufüüen 45 ). Die Figurenzahl ist manchmal noch größer, so daß man
sich kaum dem Eindruck verschließen kann, es seien solche Reliefs aus
dem reicheren Bestände andersartiger Vorbilder gleichsam ausgeschnitten
oder zusammengezogen, so z. B. die Doppelszene der Lahmenheilung am
lateranensischen Sarge Nr. 125 (Sybel, a. a. 0 . Abb. 32; Marucchi, a. a. 0 .
t. XIX, 2). Sie bietet zugleich einen vortrefflichen Beleg für die Einheit¬
lichkeit der Tradition innerhalb der römischen und gallischen Särge. An
den letzteren, besonders an einem Fragment in Vienne, ist sie weniger ver¬
einfacht 46). An Stelle der trennenden ornamentalen Wellenlinie erblicken
wir dort noch das bewegte Wasser des Bassins (Joh. V, 2). Derselbe Sarko¬
phag (Lat. Nr. 125) und mehrere andere zeigen auch die bereits vollzogene
Zusammenziehung der Darstellungen des Zachäus und des Einzugs Christi
43 ) Vgl. die Beispiele in Anm. 40. Die Jonasszenen in den Zwickeln bietet der fünf-
niscbige Leydener Sarkophag (römischer Provenienz); vgL H. T. Oberman, De Oud-
Christelijke Sarkophagen en hun Godsdienstige Beteekenis. 's Gravcnhage 1911, Nr. XV;
Wittig, Röm. Quartalschr. 1906, T. II. Zu Elias s. u.
«) Vgl. z. B. zwei Särge in Arles; Le Blant, Etüde etc. pl. X und XIII; Sybel, a. a. O.
II, Abb. 26 und 29.
* 5 ) Vgl. die Zusammenstellung der Beispiele bei Michel, a. a. 0 . S. 103, die jedoch
auch die zweireihigen Friese u. a. m. berücksichtigt und daher im einzelnen nachzuprüfen
ist; zur Samariterin und zum Hauptmann in Capernaum, der keineswegs nur in Gallien
vorkommt, auch Sybel, a. a. 0 . II, S. 133 und 135 sowie Beschr. d. Bildw. usw. III, 1,
Nr. 14 (ncbät Belegen).
4 4 ) Le Blant, Les Sarc. chr£t. etc. pl. V, 4 und XVII, sowie £tude etc. pl. XXXIII;
diese Beziehungen hat Sybel, a. a. 0 . II, S. 131 infolge der Absonderung der gallischen
Repliken nicht durchschaut.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw.
20Q
in Jerusalem, während wir an einem gallischen und einem spanischen Sarge 47 )
beide vollständigen Szenen noch in gesonderten Nischen nebeneinander an-
treffen. Daß eine derartige Verschmelzung nur in einem Fabrikations¬
zentrum eintreten konnte, von dem dann der erweiterte Typus ausstrahlte,
liegt auf der Hand. Da aber die baumbekletternden Knaben, welche einen
typischen Zug dieser Szene in der byzantinischen Ikonographie bilden 48) j
sichtlich vom Zachäus abstammen, so muß jene Umbildung schon in einem
hellenistischen Kunstkreise erfolgt sein. Wenn ferner auf dem heute in
Leyden befindlichen Säulensarkophage die Verleugnung Petri und die
Hämerrhoissa zu einem Bilde zusammengezogen sind 49 ), im Siebennischen-
typus hingegen mehrfach noch getrennt nebeneinander stehen, so bleiben
alle Interpretationskünste einer so offenbaren Contamination gegenüber
müßiges Bemühen 5 °). Zum Überfluß schmücken sie als Gegenbilder die
Nebenseiten eines auch sonst bemerkenswerten römischen Sarges (s. u.) der
letzteren Gattung, auf dem ihre malerischen Architekturhintergründe von
anderer Seite längst zu palästinensischen Denkmälern in Beziehung gesetzt
worden sind 5 1 ). Besagen diese Beispiele nicht genug für die Einheitlich¬
keit der Typenentwicklung innerhalb des Ge^amtbestandes der Säulen¬
sarkophage, und weisen die Begleiterscheinungen nicht mehrfach nach dem
Osten ?
Die zeitliche Stellung des Fünfnischentypus ergibt sich annähernd
aus der stilistischen Verwandtschaft der Durchschnittsarbeiten mit einer An¬
zahl von Sarkophagen, welche die zusammenhängende Reliefkomposition
des Durchzugs der Israeliten durch das Schilfmeer tragen. Es war schon
manchem Forscher aufgefallen 5 »), daß diese an weit auseinanderliegenden
Punkten und größtenteils außerhalb Roms verbreiteten und dennoch unter
sich wenig verschiedenen Särge, von denen einzelne sogar ein paar Nischen
47 ) Der letztere (in Tarragona) bietet im übrigen zugleich eine ziemlich genaue Wieder¬
holung des lateranensischen Sarkophags Nr. 125; Le Blant, a. a. O. p. 63 und pl. XVII,
Sybel, a. a. 0 . II, S. 139 bemerkt die Verschmelzung der beiden Geschichten, über¬
sieht aber wieder aus demselben Grunde die Contamination der Bildtypen, obgleich er
richtig bemerkt, daß der contaminierte Typus nicht gerade für den Bassussarg geschaffen
zu sein braucht.
4 *) So schon im Rossanensis; vgl. Haseloff, Cod. Purp. Rossanensis Taf. II und S. 93.
49 ) Obermann a. a. O. Nr. XV und J. Wittig, Röm. Quartalschr. 1906, t. II.
-°) Vgl. Wittig, Die altchristl. Skulpt. im Mus. am Campo Sto. Rom 1906 S. in ff.;
Ficker, a. a. O. Nr. 152 und Sybel, a. a. 0 . II, Abb. 28; Le Blant, a. a. O. pl. LV.
5 1 ) Sybel, a. a. O. II, Abb. 82/3; Marucchi, a. a. O. t. XXIX, 2 A u. B; vgl. Ainalow,
Die hellenist. Grundlagen usw. S. 91 ff. (bzw. Rep. f. Kunstwiss. 1903, S. 44); in der Neben¬
szene der einen Seite ist dank dem neuesten Nachweise von Becker, a. a. 0 . S. 27 und
133 ff. unzweifelhaft das Quellwunder des Moses zu erkennen. In der Vorlage waren also wohl
mehrere Petrus- und Mosesbilder zusammengestellt.
5 *) Sybel, a. a. 0 . II, S. 191.
Repertorium für Kunstwissenschaft, XXXV.
Digitized by Google
m
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
2 10
O. Wulff,
%
(bzw. Tore) aufweisen 53), wie wir z. B. eines schon o. a. am Sarkophag
Lat. 125 vorfinden, ihrerseits wieder in engsten Beziehungen zur Darstellung
der Konstantinsschlacht am Triumphbogen in Rom stehen. Dieses Verhält¬
nis hat nunmehr aus einer Stelle des Eusebius eine Erklärung gefunden,
die jeden Zweifel daran ausschließt, daß das Mosesbild wirklich damals in
bewußter Anlehnung an ein hervorragendes Staatsdenkmal, das den Sieg
Konstantins über Maxentius feierte, seine entsprechende Gestaltung er¬
halten haben muß 54). Aber das kann schwerlich das minderwertige Relief
des römischen Triumphbogens gewesen sein, vielmehr hängt dieses gewiß
selbst auch von dem gleichen Vorbild ab, das in Antiochia oder von Antio-
chenern in Byzanz geschaffen sein wird. Also kann die Entstehung der
christlichen Särge mit dem Durchzug der Israeliten nur wenig früher, d. h.
in das dritte oder frühestens in das zweite Jahrzehnt, fallen, und wir dürfen
daraus schließen, daß die im Stil übereinstimmenden Säulensarkophage eben¬
falls etwa im zweiten Viertel des 4. Jahrhunderts ihre Durchbildung ge¬
funden haben. Es wäre jedoch ein zu kurzer Schluß, daß demnach alle
christlichen Sarkophagreliefs von besserem Stil, als ihn der Konstantins¬
bogen zeigt, älter sein müssen 55 ). Die Bedeutung dieses Denkmals als
künstlerischer Maßstab wird damit außerordentlich überschätzt. Gänzlich
übersehen aber wird dabei die Tatsache, daß es in der christlichen
Kunstentwicklung nicht bloß Verfall, sondern auch eine unver¬
kennbare Aufwärtsbewegüng gibt, die zum Stil des 5. und 6. Jahr¬
hunderts hinführt und ohne die sich die Stilwandlung dieser Epoche, wie sie
sich vollends in der kirchlichen Malerei vor unseren Augen vollzieht, über¬
haupt nicht erklären ließe.
Man kann wohl in einer Reihe von Särgen des Siebennischentypus
die Zersetzung des älteren Stils der besseren einreihigen Sarkophagfriese
erkennen, an denen des Fünfnischentypus aber zeigen Körperbildung und
Gewandbehandlung einen ganz abweichenden neuen Charakter (s. u.). Und
dieser offenbart an den besten Arbeiten, wie z. B. an dem Leydener Sarkophag,
einen künstlerischen Läuterungsprozeß. Damit fällt aber —, leider nicht
53 ) Le Blant, Les sarc. chröt. etc. pl. XXX; Garrucci, a. a. 0 . t. 309; vgl. im
übrigen Sybel, a. a. 0 . II, S. 119 und 215,
54 ) E. Becker, Zeitschr. f. Kirchengesch. 1910, XXXI, S. 161 ff. Es wäre paradox,
anzunehmen, daß umgekehrt das Relief des Konstantinsbogens von den christlichen Sar¬
kophagen abhängt, um so mehr als ihm ein allgemeines Kompositionsschema der Schlacht¬
darstellung zugrunde liegt, dem wir schon am Triumphbogen des Galerius in Saloniki
begegnen; vgl. K. F. Kinch, L'arc de Triomphe de Salonique. Paris 1890, pl. VIII.
55 ) Wittig, a. a. O. S. II, während Sybel, a. a. O. II, S. 185 ff. dem schon von Hülsen,
Röm, Mittl. 1902, S. 328 dagegen erhobenen Widerspruch mehr oder weniger Rechnung
trägt; auch Dütschke, a. a. O. S. 101 ff. folgt Riegl, a. a. 0 . S. 93—97 in der allgemeinen
Zurückschiebung der Denkmäler.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw.
2 I I
ohne schon manche irreführenden Nachwirkungen geübt zu haben —, die
ganze Riegl’sche .Zurückdatierungstheorie für diese Gattung der Säulen*
Sarkophage einschließlich des berühmten Bassussarges in sich zusammen«
Die inschriftliche Zeitangabe des letzteren (359 n. Chr.) ist durchaus nicht
unhaltbar geworden, — er kann höchstens um ein paar Jahrzehnte früher
gefertigt sein 5 6 ).
Der Sarkophag des Junius Bassus gehört zu den besten Arbeiten des
Fünfnischentypus, aber er nimmt weder in seinem zweireihigen Aufbau
noch mit seinem Typenbestande eine Sonderstellung innerhalb der Gesamt*
entwicklung ein 57 ). Mit der ansehnlichen Zahl von vier alttestamentlichen
Bildern sind auf ihm schon je zwei Passionsszenen, und zwar der uns schon
früher begegnende Einzug in Jerusalem (A. 29) sowie die vollständige
(bzw. in zwei Nischen verteilte) Händewaschung des Pilatus ,(s. S. 204) und
zwei Apostelmartyrien vereint. In der Verdrängung des sepulkralen Typen¬
schatzes durch ganze Bildfolgen aus diesem Stoffkreise tritt aber, wie schon
Michel (a. a. O. S. 107; s. auch Sybel, a. a. O. II, S. 147 ff.) erkannt
hat, ein Fortschritt der ikonographischen Entwicklung in die Erscheinung,
dessen eigentliche und z. T. ausschließliche Träger eben die Säulensarkophage
sind. Mehrere einander auch in der technisch-stilistischen Behandlung sehr
nahestehende Sarkophage in Rom und in Gallien haben bereits als Gegen¬
bilder der ziemlich übereinstimmenden Pilatusszene in die beiden Nischen
der linken Hälfte die Kreuztragung und die Dornenkrönung (oder Fuß-
waschung) aufgenommen 5 8 ). Die Mittelnische aber füllt bei zweien das
bekannte Sinnbild der Kreuzigung und Auferstehung mit den schlafenden
Wächtern (nach Matth. 27, 36) unter dem monogrammgeschmückten Kreuze.
Diese Komposition in vorkonstantinische Zeit zurückzuschieben, weil das¬
selbe Christusmonogramm schon etwas früher aufzutauchen scheint, hätte
schon die einfache Wahrnehmung verbieten müssen, daß es hier durch den
Kranz, der es umgibt, unzweifelhaft als Siegeszeichen und sogenanntes
Labarum gekennzeichnet ist 59 ). Überhaupt beruht die Hinzufügung der
5 *) A. de Waal, Der Sarkophag des Junius Bassus. Rom 1900 und Röm. Quartalschr.
1908, S. 117, hat mit Recht vorwiegend aus ikonographischen Gründen annähernd an dem
herkömmlichen Zeitansatz festgehalten. Gegen seine allgemeine Interpretation mache
ich freilich dieselben Vorbehalte wie Sybel, a. a. O. II, S. 163, der jedoch S. 179 einer
höheren Datierung zuneigt. Über die Lämmerszenen s. u.
57 ) Sybel, a. a. 0 . II, S. 58 stellt ihn ohne Grund an die Spitze der römischen Särge.
Analogien bieten zur zweigeschossigen Gliederung gallische Särge, z. B. Le Blant t fitude
etc. pl. XXV.
5 *) z. B. Obermann, a. a. O. Nr. XXIV und Le Blant, Les sarcoph. chr 4 t. etc.
pl. XXVIII. Vgl. die Übersicht bei Reil, a. a. 0 . S. 25 ff. sowie Sybel, a. a. 0 . II,
Abb. 33 und 35.
59 ) Der vorbildliche Einfluß der Legionszeichen auf dieses Symbol wird durch die
14 *
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
2 12
O. Wulff,
neuen Szenen schwerlich auf einer freien Erfindung der Sarkophagskulptur,
vielmehr kommt die Anregung so gut wie früher von der Malerei, freilich
nicht mehr von der sepulkralen, sondern von der kirchlichen, die den Pas¬
sionszyklus unter dem Antrieb des aufblühenden Kults der heiligen Stätten
um Mitte des 4. Jahrhunderts geschaffen haben muß. Dahin weist auch
jenes Sinnbild 6o ).
Die Vermehrung der Apostelszenen auf den Säulensarkophagen läßt
sich ebensowenig auf anderem Wege erklären. Besonders die Petruslegende
mußte schon ihre zusammenhängende künstlerische Gestaltung gefunden
haben, als sich auf den Särgen der Ansage der Verleugnung die Fußwaschung
und die Gefangennahme (bzw. die Ergreifung s. o.) und die Schlüsselüber¬
gabe hinzugesellte. Beweist das etwa, daß Rom damit vorangegangen sein
muß, in dessen Fresken wir diesen Bildstoff vermissen? 6l ) Neuere Unter¬
suchungen haben den hervorragenden Anteil, den Kleinasien und Syrien
an der Entstehung der Apostelakten genommen haben, nachgewiesen *»).
Die Tradition über das Martyrium der beiden Apostelfürsten in Rom kann
also ihren ersten künstlerischen Niederschlag und ihre Ausschmückung im
einzelnen sehr wohl im Osten gefunden haben. Überdies sind sie nicht etwa
durch den an gleicher Stätte erlittenen Tod oder gar erst im römischen
Patronat zu einem Paar geworden. Die altchristliche Kunst spiegelt viel¬
mehr ein ganz anderes Polaritätsverhältnis wieder, indem sie sie mit Vor¬
liebe als Vertreter der juden- und der heidenchristlichen Kirche einander
gegenüberstellt. In diesem Sinne umgeben sie später Maria Orans als Per¬
sonifikation der irdischen Gesamtkirche, eine Gruppe, die schon auf den
Anbringung des Adlers über ihm auf einem gallischen Sarge bestätigt. Le Blant v a. a. O.
pl. LV. Der Versuch von O. Schönewolf, Die symbolische Darstellung der Auferstehung
in der frühchristlichen Kunst. Straßburg 1907, dasselbe als symbolisches Kreuzigungs¬
bild zu erklären, ist schon von Reil, a. a. O. S. 23 widerlegt worden, der hier mit Recht
bereits eine Einwirkung des Votivkreuzes von Golgatha erkennt.
60 ) In meiner Besprechung von Heisenbergs tGrabeskirche und Apostelkirche
Byz. Zeitschr. 1908, S. 542, glaube ich aus einer Eusebiusstelle den Nachweis erbracht
zu haben, daß ein solches Kreuz schon zu Konstantins Zeit auf dem Golgathafelsen er¬
richtet war.
6| ) Dagegen erkennt Ainalow, Wizant. Wremennik 1902, S. 22 (S. Abdr.) in einer
Darstellung der Gewölbfresken von El Bagäuat wohl mit Recht die Szene der Abführung
eines Apostels zum Martyrium; vgl. auch die Malerei einer koptischen Gefäßscherbe Beschr.
d. Bildw. usw. III, i, Nr. 1584. Das hohe Interesse der kleinasiatischen Gemeinden für
die Hauptapostel bezeugt ferner eine dort verbreitete Ampullengattüng, die erst neuer¬
dings mehr Beachtung gefunden hat; vgl. a. a. 0 . S. 263 ff., Nr. 1348—1353. Auf
ihnen ist auch das Schlüsselmotiv bereits gegeben. Zu den Sarkophagen vgl. Michel,
a. a. 0 . S. 107.
6a ) C. Schmidt, Acta Pauli und die alten Petrusakten (vgl. B. Z. XIV, S. 337) und
Baumstark, Die Petrus- und Paulusakten in der Überlieferung der syrischen Kirche, 1902,
S. 16 ff. und S. 62 ff.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw.
213
einreihigen Friesen und auf den Säulensarkophagen vorgebildet ist, ohne
daß wir ihre Bedeutung hier klar erfassen können 6 3 ). Einzelne Beispiele
derselben zeigen die ersten Anzeichen individueller Charakteristik, welche
sich auch in den Apostelszenen gelegentlich bemerkbar macht. Und es ist
wohl kein Zufall, daß Paulus zuerst deutlicher charakterisiert erscheint,
gab es doch schon in vorkonstantinischer Zeit einen literarischen Paulus-
typus * 4 ). Die absichtsvolle Wiedergabe der kahlen Stirn geht daher doch
wohl bald über einen bloßen Unterschied »örtlich und zeitlich differenzierter
Haartrachten« hinaus, so z. B. am Bassussarge, — wenngleich Sybel wohl
mit Recht daraus ein gewisses Schwanken des Petrusideals in der Plastik
ableitet und die Auffassung bevorzugt, nach der die Vereinheitlichung der
Typen (Ficker) und nicht ihre Differenzierung (Wittig) später eintritt. Die
schärfere Ausprägung beider Charakterköpfe ergab sich jedenfalls erst durch
die Malerei und die nahezu restlos untergegangene Porträtplastik der Folge¬
zeit in langsamem Ausgleich 6 5 ).
Auf der Stilstufe des Bassussarges und seiner nächsten Verwandten
erfolgt zugleich eine bemerkenswerte Wandlung des jugendlichen Christus¬
ideals. Statt der frei herabhängenden Locken, die es im Siebennischentypus
noch wiederholt aufweist (so z. B. auf Lat. Nr. 152 und 174), umgibt ein halb¬
lang bis zum Nackenansatz herabhängender Lockenwulst den Kopf. Auch
über der Stirn staut sich massigeres Gelock. In dieser noch nicht genügend
gewürdigten Umbildung, stehe ich nicht an, das plastische Spiegelbild des
eigenartigen »Galiläertypus« der Kleinkunst zu erkennen w ) oder z. T. wohl
® 3 ) An Susanna ist dabei keinesfalls zu denken, da die Apostel schon öfter durch
beginnende Individualisierung gekennzeichnet sind. Die Grundbedeutung der Gestalt
(s. Rep. f. Kunstwiss. 1911, S. 301 ff.) ist an den Sarkophagen zweifellos früh durch die
Beziehung auf eine Verstorbene verdrängt worden. Gelegentlich konnten dann leicht
Märtyrerinnenin ihr erkannt werden. In ihrer Zusammenstellung mit den Aposteln aber
wird man am ehesten eine Commendatio zu erkennen haben.
* 4 ) J. E. Weis-Lieberdorf, Christus- und Apostelbilder. Freiburg 1902, S. 106 ff.;
Sybel, a. a. O. II, S. 159. Nicht ohne Einfluß scheint mir auf die künstlerische Ausgestal*
tung des Paulusideals der Sokratestypus gewesen zu sein, an den die sogen. Contomiaten,
der Pauluskopf der Berliner Pyxis (s. u.) und manche Goldgläser auffallend erinnern.
Über ihn vgl. zuletzt R. Kekule v. Stradonitz, Die Bildnisse des Sokrates. Abhdl. d.
Kgl. Pr. Akad. d. Wiss. 1908.
6 i) Sybel, a. a. 0 . II, S. 93 hält die Marmorstatue des Petrus in den Vat. Grotten
wenigstens für altchristlich, — dann aber ist doch wohl der erneuerte Kopf am ehesten
eine Wiederholung des ursprünglichen; mit größerer Entschiedenheit verdiente hingegen
a. a. 0 . II, S. 260 die Bronzefigur der Peterskirche abgelehnt zu werden.
**) Vgl. Weis-Liebersdorf, a. a. 0 . S. 36 ff., ein Typus den Sybel unberücksichtigt
läßt, und Dütschke, a. a. 0 ., S. 107 und 113. Dem schlichten Haar auf den Goldgläsern
und der Lipsanothek von Brescia (s. u.) entspricht es, wenn sich die Lockenmasse auf
manchen Sarkophagreliefs, so vor allem auf dem Leydener (s. o.), unverkennbar glättet.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
214
O. Wulff,
auch eine Art Synthese des letzteren mit dem traditionellen Ideal der
Marmorskulptur. Der nächste Schritt führt dann hier, wie Sybel (a. a. O.
II, S. 158) treffend ausspricht, zur Aufnahme eines antiken bärtigen Ideal -
köpf es ohne ausgeprägte Individualität. Der Übergang zu solcher Auf¬
fassung ist gewiß durch die »dogmatische Höherhebung« veranlaßt, aber
er wird nicht mehr ganz unvorbereitet erscheinen, wenn man sich des bärti¬
gen guten Hirten- und vollends des Pädagogentypus (s. Rep. f. Kunstwiss.
1911, S. 307 ff.) erinnert. Vielleicht stellt dieser sogar seine unmittelbare
Vorstufe dar. Denn der bärtige Christus begegnet uns zuerst in mehreren
Kompositionen, deren Grundgedanken die Belehrung der Apostel bildet.
Die bedeutsamste von ihnen, die sogenannte »Übergabe des Gesetzes«,
kommt auf gewöhnlichen Säulensarkophagen nur in abgekürzter Form, dann
aber in der Mittelnische vor (vgl. die Beispiele in Anm. 58). Sie entfaltet
sich vollständig an der Schauseite mehrerer allenthalben verbreiteter und
trotzdem untereinander in stilistischer Hinsicht aufs engste und mit den
Säulensarkophagen noch sehr nahe verwandter großfiguriger Prunksärge * 7 ).
Die allgemein angenommene Deutung der Darstellung ist durch einen un¬
glücklichen neueren Versuch, sie zu bestreiten, nicht erschüttert worden 6i ).
Dagegen ist von der der früheren Forschung als selbstverständlich geltenden
Annahme, daß die Komposition die Aufrichtung der kirchlichen Lehr¬
autorität des Petrus ausdrücke und demnach eine Schöpfung der
römischen Kunst sei, nur die erste Hälfte richtig. Der Ursprung des Bild¬
typus in der christlichen Kunst des Ostens ist zuerst in das Bereich
der Möglichkeit und dann in das der Wahrscheinlichkeit gerückt
Er muß uns zur Gewißheit werden, sobald wir imstande sind, seine
Entstehung aus dem Gedankenkreise einer orientalischen Metropole zu be¬
greifen. Und das fällt nicht allzu schwer. Antiochia ist es, das durch
die Berufung auf Petrus als ersten Inhaber seines Bischofssitzes sein Primat
über die kleinasiatischen Gemeinden und das Missionsgebiet des Paulus
zu rechtfertigen allen Anlaß hatte, wie ich schon an anderer Stelle ausge-
* 7 ) Vgl. die Beispiele bei Sybel, a. a. 0 . II, S. 64 ff. und S. 155 ff., sowie Abb. 31
und meine Zusammenstellung zu Beschr. d. Bildw. usw. III, 1, Nr. 9.
**) Dütschke, a. a. O. S. 208 ff.; vgl. meine Gegenbemerkungen dazu in der D. Lit.-
Zeitg. 1911, Sp. 680 ff., sowie die Lit. der gesamten Streitfrage bei Sybel, a. a. O. II, S. 152
Anm. 1. — An den inschriftlichen Zeugnissen ist nicht zu rütteln, aber von diesen beweisen
einzelne aufs klarste, daß nicht an die »Übertragung des Kirchenregiments« zu
denken ist, wie S. treffend bemerkt; vgl. auch C. M. Kaufmann, Hdb. d. Christi. Archäol.
Paderborn 1905, S. 324, Anm. 1.
6 9 ) Vgl. Ainalow, Die Mosaiken des 4. und 5. Jahrhunderts, St. Petersburg 1895,
S. 22 ff. (russisch), sowie meine Ausführungen »Die Koimesiskirche in Nicäa und ihre
Mosaiken«, S. 219 ff. und Baumstark, Eine syrische Traditio legis und ihre Parallelen.
Or. Christ. III, S. 173 ff.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw.
2I 5
sprochen habe 7 °). Darum steht Paulus als der staunende Zeuge der Er¬
höhung des Hauptes der judenchristlichen Kirche diesem gegenüber, die
übrige Apostelschar aber bildet den beifallspendenden Chor.
Von der vollständigen Wiedergabe des Zeremonialbildes der antio-
chenischen Kirche an den aufgeführten Denkmälern fällt Licht auf jene
Darstellungen des thronenden, von zwei Aposteln umstandenen Christus, die
an mehreren Säulensarkophagen sowohl des Fünf- wie schon des Sieben¬
nischentypus die Mittelarkade einnehmen 7 1 ). Ohne Zweifel bedeutet der
Stammtypus derselben nur den erhöhten Christus, nahen ihm doch gelegent¬
lich noch wie in den sogenannten Gerichtsszenen der Katakombenfresken,
unten oder in den Nebennischen stehende Verstorbene 7 »). Aber ebenso un¬
zweifelhaft ist es, daß zuerst in schüchterner Andeutung, z. B. am Bassus-
sarge, und dann mit offenkundiger Gebärde die entfaltete Schriftrolle aus
seiner Hand in die des von rechts herangetretenen Petrus übergeht 73 ), ob¬
gleich seine Füße noch immer auf dem bald bärtigen, bald jugendlichen
Kopf des Coelus ruhen. Da gleichzeitig, wie in dem vollständigen Bildtypus,
die Differenzierung der beiden Apostelköpfe einsetzt, so ergibt sich der un¬
ausweichliche Schluß, daß wir einer allmählichen Angleichung des älteren
Typus der Majestas an den der Gesetzesübergabe gegenüberstehen, ein Vor¬
gang, der sich wieder nur innerhalb eines einheitlichen Kunstbetriebes, —
also wohl in Antiochia —, angebahnt haben kann 74). In der Tat liegt uns
ja auch in der kirchlichen Malerei, die sicher mit der Schöpfung des Zere-
7 °) Rep, f. Kunstwiss. 1908, S. 282. Über die auf die Gründung der syrischen
Kirche durch Petrus bezügliche Überlieferung der Pseudoclomentinen vgl. Baumstark
a. a. 0 . S. 16 ff. und 25 ff. Diese Tradition und die ikonographische Typenentwicklung
liegt ganz in der Richtung der kirchlichen Verhältnisse des 3-/4. Jahrhunderts; vgl.
Duchesne, Les origines du Culte chr£t. 4 e £d. 1908 p. 20 ff. und E. Schwartz, Über die
pseudo-apostol. Kirchenordnungen. Straßburg 191°, S. 25 ff.
7 1 ) Vgl. die Sarkophage aus Dellys und in Perugia; Mus. et Coli. etc. G. Doublet,
a. a. O. pl. XIII und Wittig, Röm. Quartalschr. 1906, Taf. I (= Garrucci, a. a. O. t. 321, 4)
sowie Le Blant, Les sarc. chr6t. etc. pl. XIV; die Parallelen aus den Katakombenfresken
bei Michel, a. a. 0 . S. 87.
7 >) Sybel, a. a. 0 . II, S. 151; daß die Gestalt des thronenden Kaisers der römischen
Staatsdenkmäler das Vorbild geboten hat, ist schon von de Waal, a. a. 0 . S. 57 ff- aus¬
gesprochen worden und hat Th. Birt, Die Buchrolle in der Kunst, 1907, S. 79, bestätigt.
Daraus folgt natürlich noch lange nicht die Entstehung des Typus in Rom.
73 ) Vor allem auf dem lateranensischen Sarkophag Nr. 174, auf dem die Apostel¬
fürsten sogar in die Nebennischen gesetzt sind, obgleich die dreifigurige Mittelgruppe
mit unpersönlichen Nebenfiguren in der mittleren bewahrt bleibt, vgl. Sybel, a. a. O. II,
Abb. 18 und 19. Sind auch die Köpfe überarbeitet, so müssen sie doch schon vorher indi¬
vidualisiert gewesen sein.
74 ) Die von Baumstark, a. 0 . S. 187 ff. aufgestellte Unterscheidung eines syrischen
Typus mit stehendem von einem römischen mit sitzendem Christus läßt sich nicht auf¬
recht erhalten.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
O. Wulff,
216
monialbildes der Plastik vorausgegangen ist, ebenfalls eine doppelte Re¬
daktion der Traditio legis mit stehendem und mit sitzendem Christus vor
(s. Schlußartikel).
Die Katakombenmalerei des 4. Jahrhunderts kennt als einzige von den
neuen Kompositionen das oben besprochene Bild des lehrenden Christus im
Kreise der Apostel (s. S. 197). Diese begegnet uns sowohl an den groß-
figurigen Prunksärgen (s. S. 214) als auch an gewöhnlichen Säulensarko¬
phagen, — ihre enge Zusammengehörigkeit bestätigend,—besonders in Gallien,
und zwar manchmal noch mit dem jugendlichen Lehrer 75 ), wie in der Malerei.
Wenn sich nun in einzelnen Beispielen die dekorative Nischenarchitektur
in die zusammenhängende Hintergrundsarchitektur einer Halle verwandelt,
vor der die Versammlung sitzt, so ist das keineswegs bedeutungslos (Sybel,
a. a. 0 . II, S. 212). Vielmehr wird dadurch, wie im Apsismosaik von S. Pu-
dentiana und anderwärts, das himmlische Jerusalem mit Beziehung auf die
konstantinischen Anlagen der hl. Grabeskirche als Schauplatz der Handlung
bezeichnet i 6 ). Die Darstellung hat also hier schon zweifellos wie dort die
Bedeutung der Parusie (nach Matth. XIX, 28) gewonnen. Die Erhebung des
antiochenischen Typus der apostolischen Philosophenversammlung (s. S. 198)
in diese Sphäre wird in Jerusalem erfolgt sein. Mit der Übergabe des Ge¬
setzes ist die Parusie auf dem großfigurigen Mailänder Sarkophag in der
Weise vereinigt, daß jede der beiden Kompositionen eine seiner Langseiten
einnimmt. Wird dadurch ihre gemeinsame Zugehörigkeit zu demselben
Kunstkreise vollends gesichert, so tritt an diesem Denkmal auch der schon
längst bemerkte 77 ) Parallelismus mit der kirchlichen Malerei vielleicht am
augenfälligsten hervor. Ziert doch den Sockel beider der Fries der Apostel¬
lämmer, die der Mitte, d. h. dem Christuslamm auf dem Paradiesesberge,
zuschreiten. Daß aber diese symbolische Dublette der Hauptdarstellung ihre
Entstehung einer Umdeutung des alten Hirtenidylls auf Grund gewisser Evan¬
gelienstellen (Offenb. Joh. XXI, 14; Matth. X, 16) verdankt, lehrt uns ein stil¬
verwandter Sarkophag im Lateran. Hier steht wirklich noch der gute Hirte
inmitten der Apostelschar und der mit ihr auf gleicher Standfläche gepaarten
Lämmerherde, während noch nach alter Weise andere Hirtengestalten
die Eckabschlüsse bilden. Damit ist auch der Gesichtspunkt gefunden, aus
75 ) Vgl. den Sarkophag aus S. Ambrogio in Mailand bei Garrucci, a. a. 0 . t. 329, 1
und die gallischen Beispiele bei Le Blant, £tude etc. pl. IV und Les sarcoph. chr6t. etc.
pl. IV, XIII und XXXI.
7 *) Wie von Ainalow, a. a. 0 . S. 63 ff. erkannt wurde, der Wizant. Wrem. 1902,
S. 15 ff. (S. Abdr.) auch die Hallenarchitektur der Gewölbfreske von El Bagäuat über¬
zeugend in diesem Sinne erklärt hat; vgl. dazu meine Bemerkungen Byz. Zeitschr. 1908,
S. 547.
77 ) Vgl. Ainalow, Die Mosaiken usw. S. 23. und meine Ausführungen »Die Koimcsis-
kirchc von Nicäa«, S. 220; Sybel, a a. O. II, S. 156 ff. geht auf diese Beziehungen nicht ein.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw.
2 1 7
dem die eigenartigen Lämmerszenen in den Zwickeln des Bassussarkophages
zu erklären sind ? 8 ). Einen Zusammenhang mit der antiken Groteske sucht
Sybel (a. a. O. II, S. 6i) mit Unrecht in dieser Bildsymbolik.
Daß die ikonographische Entwicklung, deren Träger die Säulen -
Sarkophage und ihre Abarten sind, sich im antiochenischen Kunstkreise unter
wachsendem palästinensischem Einfluß im nachkonstantinischen Zeit¬
alter abgespielt haben muß, wird schon nach den dargelegten Zusammen¬
hängen kaum mehr bezweifelt werden können. Es kommen aber noch weitere
Hinweise hinzu, die es bestätigen. Jenes Sinnbild der Kreuzigung und Auf¬
erstehung, das sonst Passionsszenen umgeben, rückt manchmal an Stelle
des erhöhten Christus in die Mitte der Apostel, die ihm huldigen. Über
ihnen wird zugleich der gestirnte Himmel wiedergegeben. In anderen Fällen
wachsen Palmen hinter den Gestalten auf 79 ). Schilderungen paradiesischer
Glückseligkeit, welche sich in diesen Bildern spiegeln, bieten vor allem die
Schriften des Kleinasiaten Irenäus 8o ), späteren Bischofs von Vienne und
Lyon, und damit zugleich ein Zeugnis, daß Kleinasien von Antiochia nicht
zu trennen ist, sowie ein Gegenbeispiel auf literarischem Gebiet für das
Eindringen seiner Kunst in Gallien. In die apokalyptische Sphäre dieses
Darstellungskrei:es gehört sowohl die Darstellung des Auferstandenen mit
dem edelsteingeschmückten Siegeskreuz auf dem Paradiesesberge als auch
die Traditio legis. Daraus erklärt sich bei ihr die gelegentliche Ersetzung
der Nischen, — von denen übrigens öfters die mittlere mit reichem Gebälk
hinter Christus erhalten bleibt, — durch Tore wie das Stadttor von Jerusalem
beim Einzug Christi auf dem o. a. lateranensischen Säulensarkophag (Nr. 125)
an den großfigurigen Prunksärgen 81 ). Es sind die edelsteingeschmückten
Tore des himmlischen Jerusalem (Offenb. Joh. XXI, 12), die wir ganz ähn¬
lich auch in den Mosaiken antreffen. Auf palästinensische Anregungen oder
Vorbilder weisen ferner die Szenen aus der Geburtslegende Christi hin 8 »),
die besonders an den Deckeln dieser Sarkophage beliebt und wohl erst von
hier auf die der zweireihigen Doppelsärge (s. S. 203 ff.) übergegangen sind.
Schließlich aber tauchen gar unzweifelhaft palästinensische Szenen, wie die
Frauen am Grabe und der Judaskuß, auf stilverwandten Denkmälern
7 *) Ficker, a. a. O. Nr. 177 (= Garrucci, a. a. 0 . t. 304, 4) oder Marucchi, a. a. O.
t. XXX, 2; vgl. zu dieser Symbolik Dütschke, a. a. O. S. 251 5 . und Sybel, a. a. 0 .
II, S. 157. Die Gestalt des guten Hirten kommt noch mehrfach auf den Rückseiten der
großen Prunksärge vor.
79 ) Le Blant, fitude etc. pl. XIV und Les sarc. etc. pl. II und L; Marucchi,
a. a. 0 . t. XXVIII, 4; weitere Beispiele vgl. bei Sybel, a. a. O. II, S. 145 ff. und 154 ff.
80 ) Vgl. die Hinweise bei Kaufmann, a. a. 0 . S. 231.
•*) Sybel, a. a. 0 . II, S. 155 und 190; vgl. auch Ainalows Erklärung der Mosaiken,
a. a. 0 . S. 99 und meine Bemerkungeh »Die Koimesiskirche in Nicäa« usw. S. 221.
**) Sybel, a. a. 0 . II, S. 137 ff.; Reil, a. a. O. S. 17 ff.; Michel, a. a. 0 . S. 105 ff.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
2 I 8
O. Wulff,
in Oberitalien auf 8 3 ). Daß jedoch der alttestamentliche Typenschatz auch
dieser Denkmälerklasse keineswegs verloren gegangen ist, lehren vor allem
die Schmalseiten des Mailänder Sarkophages aus S. Ambrogio (s. o.), auf
denen wir nicht nur das Abrahamsopfer und die Himmelfahrt des Elias,
sondern sogar noch Noah in der Arche vor der dekorativen Hintergrunds*
architektur wiederfinden.
Fassen wir die stilistische Seite der Säulensarkophage im weitesten
Sinne ins Auge, so wiederholt sich der Eindruck, daß Gallien einen reicheren
Bestand an echtbürtigen hellenistischen Arbeiten aufzuweisen hat. Gleich¬
wohl läßt eine Anzahl römischer Särge eine übereinstimmende Behandlung
erkennen. Die jüngere Stilstufe der Säulensarkophage bezeichnet den vorher-
gehenden Denkmälern gegenüber (s. S. 203 und 207) eine tiefgehende Wandlung
der gesamten künstlerischen Auffassung. Die Gestaltenbildung büßt zu¬
nächst die schönen Proportionen der Antike ein. Sie wird kürzer und zeigt
oft Mängel in der Artikulation. Die Bewegung verliert den antiken Rhyth¬
mus, sie gewinnt eine größere Härte, mitunter aber auch eine gesteigerte
Lebhaftigkeit, so z. B. in der oben hervorgehobenen Doppelszene der Lahmen-
heilung am Teiche Bethesda (s. S. 208 ff.). Neue Stellungen und Schreit¬
motive kommen auf, wie das Sitzen mit übergeschlagenem Bein und der
vorfallende oder schleppende Schritt, und Gebärden, die vor der antiken
Gestikulation eine größere Unmittelbarkeit oder individuellere Färbung vor¬
aushaben. Aber die Entfremdung von der Antike ist im allgemeinen noch
nicht sehr stark und wirkt doch schon neubelebend. Sehr gleichartig er¬
scheint trotz weiter lokaler Trennung der Denkmäler der rundköpfige jugend¬
liche Menschentypus sowie auch manche Haar- und Barttracht, von der
die individualisierenden Bestrebungen ihren Ausgangspunkt nehmen (s
S. 213). Daneben steht, z. B. auf dem Leydener Sarkophag, schon mancher
vortreffliche Charakterkopf. Am augenfälligsten tritt aber die neue Art
in der Gewandbehandlung hervor. Die Gestalt erscheint knapper umhüllt,
und indem der Faltenreichtum mit seinen schönen Linien sich verliert,
erhält das in wenigen großen Motiven geordnete Gewand mehr flächigen und
damit mehr stofflichen Charakter. Überwiegt anfangs der Eindruck des
Weichen, so wird an den großfigurigen Särgen der Zug der gespannten
Falten straffer. Mit ihren gleichmäßigeren Proportionen und durchgearbei¬
teten Köpfen erreichen diese überhaupt einen der Entwicklungsstufe der
Zeichnung in den gleichzeitigen Mosaiken entsprechenden Abschluß dieser
ganzen Stilentwicklung.
Neben den Sarkophagen mit ein- oder zweireihigem Relieffries, so¬
weit sie ebenfalls dem 4. Jahrhundert gehören, steht die eben betrachtete
s 3 ) Sybel, a. a. 0 . II, S. 142 und 146.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw.
219
Klasse in scharf ausgeprägter, durch ein lebendiges positives Kunstwollen
ausgezeichneter Eigenart da. Das Hochrelief hat sie mit den zweireihigen
Friesen gemein, vielmehr haben es diese wohl von ihr übernommen, wie sie
ja auch sonst in einzelnen Motiven durch sie beeinflußt erscheinen (s. S.
204 ff.). Die Säulensarkophage lassen sich jedoch darum so wenig wie jene
in das 3. Jahrhundert zurückschieben * 4 ). Ein solches zeitliches Nebenem-
einander verschiedener Stilarten in Rom ist aber nicht durch wechselnde
Mode zu erklären, sondern nur dadurch, daß die eine Richtung in der lokalen
Werkstatttradition wurzelt, die andere ihren Zuwachs von einem auswärtigen
Kunstzentrum her empfängt, wie sie allein auch in Gallien weitere Ver¬
breitung gefunden hat: —eben diejenige der Säulensarkophage. Als letzte
Spielart hat sich endlich von dieser noch die kleinere Gruppe der Baum-
sarkophage abgezweigt, und zwar offenbar ziemlich früh, da uns außer ver¬
gröberten und späteren Arbeiten wiederum in Gallien ein Sarg erhalten ist,
dessen Figurenstil noch dem der besten einreihigen Friese verwandt er¬
scheint^). So weist er denn auch sieben Baumnischen und darin durchweg
•
sepulkrale Bildtypen auf. Daß fortlebende heidnische Vorstellungen vom
Elysium diese das Paradies vergegenwärtigende Dekoration hervorgerufen
haben, ist neuerdings sehr wahrscheinlich geworden, die Anlehnung an den
architektonischen Sargtypus aber bleibt dabei doch unverkennbar.
Durch die schärfere Sonderung der verschiedenen im Abendlande ver¬
breiteten Sarkophagklassen und ihres Typenschatzes, wie ich sie oben ver¬
sucht habe und wie sie gewiß noch weiter bis in die Einzelbeziehungen fort¬
geführt werden kann, bestätigt sich, was Strzygowski ohne systematische
Begründung und mehr im Hinblick auf verschiedene Denkmäler, wohl auch
um ein gutes halbes Jahrhundert zu weit zurückgreifend, über die führende
Bedeutung Antiochias in der christlichen Kunstentwicklung seit dem 3. Jahr¬
hundert als allgemeine These ausgesprochen hat (s. Anm. 15 und 23). Wenn
er andrerseits die altchristliche Sarkophagplastik vorwiegend aus Kleinasien
ableiten wollte, so hat er wohl, — abgesehen von der Nichtberücksichtigung
der älteren alexandrinischen Richtung (s. Rep. f. Kunstwiss. 1911, S. 305 fr.),
die selbständige Bedeutung des Gebiets überschätzt und den Gegensatz des
südlichen und nordwestlichen Kunstkreises sowie die Abhängigkeit des
m
ersteren von Antiochia außeracht gelassen. Von der antiochenischen Pro¬
vinz ist die frühere und stärkere Einwirkung auf das Abendland ausge-
* 4 ) Daß verschiedene Arten der Reliefbehandlung nebeneinander fortlebten, wird
von Sybel, a. a. O. II, S. 185 treffend bemerkt, wenngleich für den Konstantinsbogen
Hülsen mir zum guten Teil Recht zu haben scheint. Die Zurückbildung von Hochrelief¬
typen in das Flachrelief ist gerade für die spätantike Profanplastik bezeichnend.
8 5 ) Le Blant, fitude etc. pl. V (vgl. auch XLIV) sowie Sybel, a. a. O. II, Abb. 27
und im allgemeinen S. 66 ff.; Dütschke, a. a. 0 . S. 137 ff.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
220
O. Wulff,
gangen, deren Niederschlag in der Plastik sich als eine reichere Parallel¬
erscheinung der Neuerungen in der späteren Katakombenmalerei (s. S. 195 ff.),
zugleich aber auch schon z. T. des kirchlichen Monumentalstils darstellt.
Die Erkenntnis dieser durchgehenden Zusammenhänge muß sich noch mehr
klären und befestigen, wenn es uns gelingt, in den Erzeugnissen der Klein¬
kunst und in den spärlichen Resten altchristlich-orientalischer Plastik, aus
denen wir heute ihre Entwicklung allein zu rekonstruieren hoffen dürfen,
eine verwandte Richtung festzustellen und die jüngeren Denkmäler an diese
Vorstufen anzuknüpfen. Sybels Untersuchung versagt diesen kleineren und
verstreuten Kunstwerken gegenüber gänzlich und wird hier mehr und mehr
zu einer bloßen Materialübersicht. Um so wichtiger wird in der Folge die
kritische Stellungnahme zur Pionierarbeit Strzygowskis.
Unser wichtigstes Kriterium bei der Sichtung des einschlägigen Denk¬
mälerschatzes, die Übereinstimmung des ikonographischen und des stilisti¬
schen Tatbestandes ermöglicht es, einem der frühesten christlichen Elfen¬
beine seine feste Stellung anzuweisen. Die sog. Lipsanothek von Brescia
ist von Strzygowski auf Grund mehrerer äußerer Einzelheiten als kleinasiatische
Arbeit bezeichnet worden w ). Ihr Bilderkreis stimmt nun in beträcht¬
lichem Maße mit dem der Säulensarkophage zusammen, nur bietet er einzelne
Auslassungen, vor allem aber noch einen Überschuß, der den ganzen Reich¬
tum seiner Mutterkunst offenbart. Zugleich entspricht der Figurentypus
und die Gewandbehandlung ungefähr dem Stil der Passionssarkophage, so
weit als es bei einem kleinen und in Flachrelief ausgeführten Bildwerk
nur irgend möglich ist. Und so erblicken wir denn auch zwischen
Apostelköpfen von beginnender, wenngleich von allen Stilgewohnheiten der
Marmorplastik freier Individualisierung den jugendlichen Christus im »Gali¬
läertypus«. Die Hauptfelder des Deckels aber bieten noch ein echtes Heb-
domadenbild (s. S. 197), in dem er im Halkkreise der zuhörenden Jünger
stehend die Schriftrolle entfaltet, in traditioneller Zusammenstellung (s.
Rep. f. Kunstwiss. 1911, S. 306 ff.) mit dem Sinnbild des guten Hirten vor
der Hürde. An der Entstehung der Lipsanothek um Mitte des 4. Jahr¬
hunderts bleibt da kein Zweifel mehr.
Die nächstverwandten, wohl um ein paar Jahrzehnte jüngeren Ar¬
beiten, wie das Mailänder fünfteilige Diptychon und das Werdener Kästchen * 7 ),
Strzygowski, Kleinasien usw., S. 23 ff., sowie im übrigen G. Stuhlfauth, Die
altchristliche Elfenbeinplastik. Freiburg i. B. und Leipzig 1896. Archäol. Stud. hsgb.
v. J. Ficker, 2. Heft, S. 40 ff. mit überzeugender Datierung. Er hat auch die Beziehungen
zur Sarkophagplastik schon richtig erkannt und konnte die Lipsanothek nach den damals
noch herrschenden Anschauungen dann nur nach Rom verweisen. Vgl. auch Reil, a. a. 0 .
S. 32 ff. und 0 . M. Dalton, Byzant. Art and Archaeology. London 1911, p. 179 ff.
* 7 ) Von Strzygowski, a. a. 0 . S. 198 ff. ebenfalls nach Kleinasien, von Stuhlfauth,
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw. 2 2 1
zeigen schon stärkeren palästinensischen Einschlag. Was sich heute für
uns schon aus den Darstellungen des Marienlebens, darunter der aus Lokal¬
tradition stammenden Verkündigung am Quell, ergibt 88 ), bestätigt das
Golgathakreuz aus Glasmosaik auf dem einen Diptychonflügel, während das
Christuslamm auf dem andern den immer noch überwiegenden antiocheni-
schen Elementen zuzurechnen ist. Mit einer Reihe weiterer unter sich wohl
näher als den vorerwähnten verwandter Denkmäler scheint sich aber wirk¬
lich eine palästinensische Schnitzschule abzuzweigen. Die Entwicklungs-
linie geht etwa vom Münchener Himmelfahrtsrelief mit den Frauen am
Grabe über die Trivulzitafel gleichen Gegenstandes zum Diptychonflügel
Mailet und den drei Londoner Passionstäfelchen und nähert sich mit dem
Passionszyklus des zweiten (einfachen) Diptychons des Mailänder Dom-
schatzes der Holztür von S. Sabina * 9 ). Die zunehmende Schwere der
Proportionen läßt den veränderten Zeitgeschmack des 5. Jahrhunderts
erkennen.
Daß die Sabinatür aus der Hand eines syrischen Schnitzers hervor¬
gegangen ist,— ob an Ort und Stelle oder in Palästina, bleibt sich gleich, —
daran kann nach Ainolows Hinweisen 9 °) kein Unbefangener mehr zweifeln.
a. a. 0 . S. 66 ff. mitsamt der Mallet’schen Tafel u. a. m. nach Mailand, verwiesen; vgl.
Sybel, a. a. 0 . II, S. 243 ff. und 246.
M ) Die volle Kenntnis der Marienlegende, über deren Entstehung es noch an einer
grundlegenden Untersuchung fehlt, verrät erst der Patriarch Modestos von Jerusalem
(610—632 n. Chr.), doch weist eine Reihe älterer Zeugnisse auf weit frühere Entstehung
derselben hin; vgl. die Zusammenstellung bei Th. Schmitt, Kahrie-djami. Nachr. d.
Russ. archäol. Inst, in Konstantinopel 1906, XI, S. 127 (russisch).
* 9 ) Stuhlfauth, a. a. 0 . S. 155 ff. rechnet die Mehrzahl der Denkmäler, deren Zu-
♦
sammengehörigkeit er erkennt, der Karolingischen Kunst zu und sondert von ihnen nur die
Münchener Tafel als römische altchristliche Arbeit ab. Neuerdings hat die letztere eine
eingehende Behandlung durch W. Petkovitch, Ein frühchristl. Elfenbeinrel. im Nat.
Mus. zu München (Diss. Halle a. S. 1905) gefunden, der ihre Beziehungen zu einigen
gallischen Sarkophagen hervorhob, was uns nach den vorhergehenden Ausführungen über
die Sarkophagplastik in der Annahme ihres syrisch-palästinensischen Ursprungs nur
bestärken kann. Sie bildet eine Art Mittelglied zwischen dieser und der ersten Gruppe,
wie auch die Täfelchen von Nevers mit der Magieranbetung und das von A. Haseloff, Jahrb.
d. Kgl. Pr. K. Samml. 1903, S. 47 ff. m. Taf. veröffentlichte Elfenbeinrelief a. d. Samml.
Mailet. Der altchristliche Charakter der Trivulzitafel kann nach Ainalows Ausführungen
vollends nicht zweifelhaft sein, er irrte nur in der Zuweisung derselben an Alexandria
(vgl. Rep. f. Kunstwiss. 1903, S. 44). Das Urteil über die ganze Reihe, oie auch Haseloff
noch für römisch ansah, wird mit dem über die Tür von S. Sabina besiegelt. Für die ikono-
graphischen Zusammenhänge und Einzelheiten vgl. auch Sybel, a. a. O. II, S. 240 ff. und
246 ff. sowie Reil, a. a. 0 . S. 67 ff.
*>) Ainalow, Hellenist. Grdl. usw. S. 121 ff. (vgl. Rep. f. Kunstwiss. 1903, S. 56).
Die ornamentalen Felder der Rückseite und die der Tür der Basilika des Katharinen¬
klosters auf dem Sinai entsprechende vertikale Vierteilung bestätigen das zum Überfluß.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
222
O. Wulff,
Im gescheitelten langen Haar des Christusideals ist von anderer Seite eine
durch jüdische Nationalsitte bestimmte Fortbildung beider Typen erkannt
wordene), von denen der bärtige, dem wir auch auf den Monzeser Ampullen
begegnen, offenbar schon die individualisierte Auffassung palästinensischer
Ikonen vertritt. Von den Reliefs geben eins der großen und ein kleines
charakteristische Bildschöpfungen der syrischen Kunst wieder 9 *). Die mehr
oder weniger weit gediehene Auflösung der landschaftlichen Szenerie anderer
Tafeln geht mit der Aufnahme des orientalischen Kompositionsprinzips der
senkrechten Staffelung Hand in Hand 93 ). Die Anwendung desselben aber
auf Gestalten, welche auf ein und demselben Schauplatz gedacht sind, wie
sie besonders in der vielumstrittenen, am ehesten vielleicht auf eine Stif¬
tungslegende der Kirche zu beziehenden Szene stattfindet, teilt die Tri-
vulzitafel (s. o.) mit der Holztür. Auch zeigt ihre ornamentale Umrahmung
die gleiche naturalistische Umbildung der lesbischen Welle, wie die inneren
Rahmenleisten an jener. Die übrigen Elfenbeine der Gruppe aber haben
mit deren Reliefbildern ikonographische Berührungspunkte sowie die Vor¬
liebe für Mauerhintergründe gemein. So lehrt uns diese Denkmälergruppe,
daß der in Palästina seit Konstantins Zeit herrschende Kunstbetrieb noch
w
im ersten Viertel des 5. Jarhunderts sich von der antiochenischen Mutter¬
kunst nicht allzu weit entfernt hatte, obwohl es an Einwirkungen des offi¬
ziellen Stils von Byzanz auf ihn nicht gefehlt haben kann.
Eine echt antiochenische Arbeit steht auch an der Spitze einer zweiten
Denkmälerklasse, deren Entwicklung sich in zwei Hauptrichtungen zu
scheiden und mit der einen wieder in die palästinensische Kunst einzu-
münden scheint. Mit Strzygowski kann ich die berühmte Berliner Pyxis
nur nach Antiochia verweisen 94 ); verhält sich doch ihr Stil zu dem der
großfigurigen Prunksärge, wie die Lipsanothek zu den Säulensarkophagen,
vor allem in der Gewandbehandlung. Demnach wird sie etwa im letzten
9 *) Vgl. N. Müller, Christusbilder. Herzog's Realenzykl. f. prot. Theol. u. Kirche,
hsgb. von Hauck, Bd. IV, S. 75 ff.
9 ») Die schon von Kondakow, Rev. archlol. 1877, p. 368 als symbolisches Himmel¬
fahrtsbild gedeutete Tafel (sogen. Majestas) und das vermeintliche Emmausbild, in dem
die augenfällige Individualisierung die beiden Hauptapostel und somit wohl eine durch
Überarbeitung unverständlich gewordene Traditio legis zu erkennen erlaubt; vgl. Wiegand,
Das altchristliche Hauptportal an der Kirche d. hl. Sabina, 1900, Taf. XVII und XVIII
(mit abweichender Deutung).
93 ) Vgl. Ainalow, a. a. O. S. 125 ff. (bzw. Rep. f. Kunstwiss. 1903, S. 46) und meine
Ausführungen über die »Umgekehrte Perspektive» in den K. Wiss. Beitr. A. Schmarsow
gcwidm. Leipzig 1907, S. 10.
94 ) Strzygowski, Hellenist, u. Kopt. K. in Alexandria. Wien 1902. Bull, de 1 ’Inst,
arch^ol. d'Alex., Fase. V, S. 10 ff.; Vöge, Beschr. d. Bildw. usw. 2. Aufl. Die Elfenbein-
bildw. Berlin 1900, Nr. 1; Taf. I; Stuhlfauth, a. a. 0 . S. 19, hielt noch am römischen Ur¬
sprung des Stückes fest.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw.
223
Viertel des 4. Jahrhunderts entstanden sein. Und so bietet sie auch als
Hauptdarstellung den lehrenden Christus inmitten der Apostel — er ist im
allgemeinen Jünglingstypus wiedergegeben —, aber in einer freier bewegten,
von einer antiken Philosophenversammlung kaum unterschiedenen Kom¬
position, in der Petrus sogar noch den Philosophenstock führt und weniger
ausgeprägte individuelle Züge trägt als sein Gegenüber Paulus 95 ). Palä¬
stinensische Elemente hat Ainalow in der Nebenszene des Abrahamsopfers
nachgewiesen. Diese kehrt noch mehrfach auf den zahlreichen jüngeren
Pyxiden wieder, in denen sich der antike Kunstcharakter schnell verliert 9 6 ).
Wie schon bei früherer Gelegenheit ausgeführt worden ist 97 ), nimmt bei
einer Reihe von ihnen die Gestaltenbildung schwerere Proportionen an und
das Gewand ein reichfaltiges fließendes Aussehen (Pyxiden im Bargello, in
Pesaro, Rouen, bei Figdor in Wien u. a. m.). Mit ihren Ausläufern (in La
Voute Chilhac, Kertsch, Bruchstücke im Mus£e Cluny Nr. 1034 und in
Berlin Nr. 5) kommt sie dem Stil der fünfteiligen Diptychen in Paris und
Etschmiadsin sehr nahe, deren Christus- und Marientypus, sowie die über¬
wiegenden neutestamentlichen Wunderszenen, auf engere Beziehungen zu
Palästina schließen lassen 9 8 ). Eine zweite Gruppe hingegen —, zwischen
beiden gibt es freilich Zwischenglieder, wie die Pyxiden in Bologna, im
Mus£e Cluny (Nr. 1033), im Britisch-Museum (mit Daniel) und die west¬
fälische Pyxis —, vermag ihre geradlinige Abkunft von der Berliner Pyxis
nicht zu verleugnen, welche in den sorgloser ausgeführten Nebenfiguren
schon die Anfänge jener merkwürdig steif bewegten schlanken und dünn-
gliedrigen Gestalten in breitflächigen faltenarmen Gewändern verrät, die
in entschiedenster Durchbildung wieder dem mit ihnen zusammengehörigen
fünfteiligen Diptychon von Murano seine stilistische Eigenart verleihen und
weniger zugespitzt ein unlängst bekannt gewordenes in London 99 ) als Zwi-
♦ •
95 ) Dütschke, a. a. O. S. 103 ff., erkennt hier das früheste Christusideal, aber seine
Zusammenstellung ergibt keinen einheitlichen Typus (vgl. D. Lit.-Ztg. 1911, Sp. 680).
Außer den Hauptaposteln (vgl. Anm. 64) zeigt der Kopf eines stehenden Bärtigen in¬
dividuelle, und zwar die später für Andreas typische Haarbildung.
9 6 ) Ainalow, a. a. O. S. 120 ff. und 204 ff. (bzw. Rep. f. Kunstwiss. 1904, S. 54 ff.);
vgl. Stuhlfauth, a. a. O. S. 29 ff.
97 ) Sitzgsber. d. K. gcsch. Ges. in Berlin 1906. Nr. VI, S. 15 ff. Zur Ikonographie
der Pyxiden vgl. jetzt Reil, a. a. 0 . S. 46 ff. Ihren Zusammenhang mit den Sarkophagen
hebt auch H. Leclercq, Manuel d'arch£ol. chr£t. II, p. 347 hervor.
98) Vgl. Strzygowski, Das Etschmiadsin- Evangeliar. Byz. Denkm. I, S. 31 ff. und
Ainalow, a. a. O. S. 120 ff. u. 204 ff. (bzw. Rep. f. Kunstwiss. 1903, S. 54).
99 ) Vgl. Strzygowski, Hellenist, u. Kopt. K. in Al. S. 85 ff., zum Diptychon von
Murano, gegen dessen Annahme seines koptischen Ursprungs ich mich schon (a. a. 0 .
S. 20 ff.) ausgesprochen habe; zum Londoner vgl. seither 0 . M. Dalton, Cat. of ivory
Carvings of the Brit. Mus. London 1911, Nr. 14, pl. IX und Proceed. of the Soc. of
biblical archaeol. 1904.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
224
O. Wulff,
schenglied der Kette kennzeichnen (Pyxiden in Livorno, Sens, in der Vat.
Bibi., Coli. Schewitsch, die Mindener in Berlin, sowie die Wiener Pyxis mit
übereinstimmendem Ikonentypus Marias). Auffallend reich, aber bei solcher
Abstammung wohl erklärlich ist das Erbgut alttestamentlicher sepulkraler
Bildtypen, besonders auf den Muraneser Tafeln. Zwischen beiden Haupt¬
gruppen bestehen jedoch, abgesehen von ihrem nahezu einheitlichen neu-
testamentlichen Typenschatz, zu enge Zusammenhänge, als daß man die
zweite mit Strzygowski wegen eines in Antinoe gefundenen Kammes (die
Fundorte der Pyxiden reichen von Kertsch bis Karthago) für Oberägypten
in Anspruch nehmen könnte, zumal ihr alle untrüglichen koptischen Merk¬
male fehlen. Wenn diese Richtung nicht in Antiochia selbst fortlebte, so
ist ihr späterer Mittelpunkt am ehesten im mesopotamischen Osten zu
suchen. Gemein haben beide Gruppen den jugendlichen Christustypus mit halb¬
langem Haar, das in dichtem, hier und dort etwas verschieden stilisiertem
zweireihigem Lockenkranz den Kopf umgibt. Aber auch die impressionistisch
gerichtete künstlerische Grundauffassung ist die gleiche im Überlebendigen
der Bewegung bei Vernachlässigung der Artikulation und der Proportionen,
wie in der andeutenden Stoffcharakteristik. Hier wie dort gewinnt der
•%
Blick zuletzt durch Ausbohrung der Augensterne eine stechende Schärfe.
Die völlige Auflösung des antiken Reliefstiles und seiner dekorativen Funk¬
tion ist das in der zweiten Gruppe besonders klar zutage liegende End¬
ergebnis. Darstellungen wie z. B. die Flucht nach Ägypten an der Mindener
Pyxis muten mehr wie gravierte Zeichnung an. Es kann nicht zweifelhaft
sein, daß die treibende Kraft dieser das 5. Jahrhundert beherrschenden
Stilentwicklung von der wachsenden Beteiligung der semitischen Rasse am
christlichen Kunstschaffen herkommt. Der orientalische Geschmack hat
auch das Überhandnehmen der repräsentativen Frontalität in der Dar¬
stellung der Aktion gefördert, wenngleich ihre tiefsten Wurzeln anderswo
zu suchen sind (s. Schlußartikel).
So schonungslos auch das Schicksal mit der Kunstblüte des altchrist¬
lichen Orient aufgeräumt hat, — einige Reste hat es uns übrig gelassen,
aus denen wir erkennen, daß ein gleichartiges Kunstwollen auch die Ent¬
wicklung syrisch-palästinensischer Steinplastik bestimmt hat. Vor allem
muß ein oft hin und her geschobenes Denkmal, dessen Entstehung in diesem
Kunstkreise neuerdings durch eine sorgfältige Einzeluntersuchung gesichert
wurde ,0 °), endlich den ihm zukommenden hervorragenden Platz in der
,0 °) H. v. d. Gabelentz, Mittelalt. Plastik Venedigs. Leipzig 1903, S. 1 ff. Um hier
mit Reil, a. a. O. S. 73 abendländische Einflüsse zu erkennen, reichen die Beziehungen
zum Cambridge-Evangeliar nicht aus, es müßte denn bewiesen sein, daß letzteres keine
altchristlich-orientalische Tradition enthält, was a. a. 0 . S. 77 nicht einmal an¬
genommen wird.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw.
225
kunstgeschichtlichen Betrachtung erhalten. In den vier Ciboriumssäulen
des Hochaltars von S. Marco besitzen wir einen zusammenhängenden neu-
testamentlichen Bilderzyklus der syrischen Reliefplastik, dem unverkenn¬
bar eine Illustration der in Palästina erwachsenen apokryphen Evangelien -
literatur einschließlich der Marien legende, wenngleich nach älteren uns ver¬
lorenen Redaktionen 88 ), zugrunde liegt. Das in je neun Zonen umlaufende
Nischenmotiv, dem sich die Szenen fügen müssen, verbindet die Relief-
Säulen schon äußerlich sowohl mit den Säulensärgen wie mit den Pyxiden,
weisen doch diese beginnend mit der ältesten in Berlin (s. o.) öfters eine
Arkadenreihe als traditionelle Hintergrundsarchitektur auf. Das vereinzelte
Auftauchen einer solchen Nischenfolge im Typus der Lahmenheilung in
• jener Sarkophagklasse (s. S. 208) wird man nun vielleicht doch nicht mehr
ausschließlich als Lokalbezeichnung auffassen dürfen. Und wie mehrfache
ikonographische Beziehungen der Säulenreliefs zu den Pyxiden festgestellt
worden sind ,0, ) ( so fehlt es ihnen auch nicht an charakteristischen Motiven
aus dem Typenschatz der Sarkophage. Die Füllung der Wasserkrüge beim
Weinwunder, der Ziehbrunnen der Samariterin, die Sitzweise Marias in der
Geburtsszene und nicht am wenigsten das Christuslamm, das .hier sogar
den Gekreuzigten vertritt, obwohl bereits die Schächer das Kreuz umgeben,
sind die auffälligsten Bindeglieder. Dagegen zielen Neuerungen wie das
Reiten nach Frauenart beim Einzug in Jerusalem, die Höllenfahrt Christi,
sein Greisentypus in der Majestas, die Tetramorphe u. a. m. schon auf die
spätere byzantinische Ikonographie hin. Und so erscheint auch die künstle¬
rische Auffassung fortgeschritten, und zwar ganz im Sinne des Figuren-
Stiles der Pyxiden, mit denen der jugendliche, von halblangem Haar um¬
kränzte Christuskopf und der auf gleiche Weise (nämlich durch Ausbohrung
des Augensterns) verdeutlichte eindringliche Blick diese Alabasterreliefs noch
enger verknüpft.
Die schon auf den Säulensarkophagen (z. B. Lat. Nr. 125) anklingenden
heftigen Bewegungsmotive (s. S. 218) sind manchmal sogar mittels unmög¬
licher Körperverdrehung zur äußersten Lebendigkeit gesteigert, der Ausdruck
bei der Gefühlsäußerung, wie bei Sinnesempfindungen (Blendung, Nasezuhal¬
ten u.a.m.) individualisiert. Über dem Streben nach charakteristischer Wieder¬
gabe des Innenlebens durch die Gesamtwirkung der Gestalt geht aber das Ver¬
ständnis ihres organischen Zusammenhanges leicht verloren. In der Gewand-
behandlung führt dieser Naturalismus zu schlichter Andeutung des Stofflichen
unter Verzicht auf jede dekorative Faltenbildung, wie vor allem auf den Pyxiden
der zweiten Gruppe (s. o.). Da die Säulen von S. Marco wahrscheinlich durch
die Kreuzzüge nach Venedig gelangt sind, dürfen wir nach alledem in ihnen
,0 ') v. d. Gabclentz, a. a. O. S. 26 ff. und Reil, a. a. 0 . S. 49 *
Repertorium für Kunstwissenschaft, XXXV. 'S
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
226
O. Wulff,
Erzeugnisse auf den Boden Palästinas verpflanzter antiochenischer Kunst
sehen. Nach der wenig fortgeschrittenen Individualisierung der Köpfe sind sie
ungefähr gleichzeitig mit den stilverwandten Pyxiden (so z. B. des Museo
civ. in Bologna), also wohl noch in die erste Hälfte des 5. Jahrhunderts,
anzusetzen. In ihrem Hochrelief erhält sich gleichwohl noch die Relief¬
auffassung der Säulensarkophage.
Aber auch jenes allmähliche Zurücksinken des Reliefs in die Grund¬
fläche bis zum zeichnerischen Verfahren der Pyxiden (z. B. auf der Mindener
in Berlin) läßt sich noch in der Marmorplastik an der Arbeit eines syrischen
Steinmetzen in einem anderen Kunstkreise beobachten. Der heute in Kon¬
stantinopel befindliche Ambon von Saloniki mit der typisch palästinensi¬
schen Doppelszene der Magierhuldigung und der (abgekürzten) Hirtenan¬
betung und einer thronenden Maria, die als »Kathedra« das Kind wie auf
der Muraneser Tafel vor sich hält, verdankt zwar seine Ornamentik einer
prokonnesischen Werkstatt, alle figürlichen in ungleichmäßiger Relief¬
schichtung durchgeführten Motive aber tragen den reinsten syrischen Stil¬
charakter des 5. Jahrhunderts an sich * 01 ).
Ungleich mehr hellenistische Tradition bewahrt das neuerdings mit
Recht als altchristlich-orientalische Arbeit angesprochene Relief bild der
Geburt Christi in S. Giovanni Elemosinario in Venedig (v. d. Gabelentz,
a. a. O. S. 148 m. Abb.), dessen Terrassenlandschaft uns die Entstehung des
byzantinischen Kollektivtypus dieser Szene begreiflich macht und so
weit zurückzuverfolgen erlaubt. Und weitere Überbleibsel dieser
handwerksmäßigen, den kleinfigurigen Maßstab bevorzugenden sy¬
rischen Marmorbildnerei, deren erfindungsreiche Frische doch den Mangel
einer folgerichtigen formalen Kunstentwicklung niemals überwunden
hat, lassen sich noch mehrfach in weitem Umkreise, vor allem in Venedig,
nachweisen ,0 3 ). Im Bunde mit der leichteren Schwestertechnik der Schnit¬
zerei in Holz und Elfenbein I0 4 ), in deren Gefolge sie sich wohl selbst be-
joj) Vgl. die photographischen Reproduktionen bei Duchesne et Bayet, Memoire
sur unc Mission au Mont Athos. Paris 1876.
10 3 ) Von G. Swarzenski, Kunstgesch. Anzeigen 1904, S. 42 wurde schon der Tür¬
sturz des Nordportals von S. Marco als solche angesprochen. Hierher gehören ferner:
ein an der Fassade von S. Giovanni e Paolo eingemauertes Relief, das Daniel in der Löwen¬
grube darstellt, das im 14. Jahrhundert ergänzte (und daher von v. d. Gabelentz, a. a. 0 .
S. 213 verkannte) Opfer Abrahams, sowie das Relief mit dem Christuslamm auf dem
apokalyptischen Thron (a. a. 0 . S. 125) an der Nordseite von S. Marco, aber auch das
Relief der Anbetung der Hirten aus Carthago in den Mus^es et Coli. d'Alg&rie et de la
Tunisie. R. P. Delattre, Le Mus6e Lavigerie ä Carthage. 1900, pl. I.
x ° 4 ) Es bedarf kaum besonderer Hervorhebung, daß auch die Holztür von S. Am-
brogio als syrische Arbeit anzusehen ist, wenngleich ihren Reliefs wohl eine Miniaturen¬
folge alexandrischer Tradition zugrunde liegt; die Ursprungsfrage hätte schon bei ihrer
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw. 227
findet, hat sie die vermehrten und reicher ausgestalteten Typen der christ¬
lichen Ikonographie überallhin getragen. Was in Palästina an neuen symbo¬
lischen Kompositionen entstand, lernen wir zumeist auf ägyptischem oder
anderem fremden Boden, sowie aus kunstgewerblichen Erzeugnissen ,0 5 )
kennen und können nur so von dem schöpferischen Reichtum der christ¬
lichen syrischen Kunst eine annähernde Vorstellung gewinnen. So behält
Syrien noch durch das ganze 5. Jahrhundert die Führung, nur daß sich der
Schwerpunkt des Kunstkreises mehr und mehr nach Jerusalem verschiebt.
Wie haben die anderen Kunstzentren sich mit diesem Einfluß aus¬
einandergesetzt ?
Die Entwicklung der alexandrinischen Kunst im nachkonstantipischen
Zeitalter erscheint auf den ersten Blick dunkel, lichtet sich aber, wenn man
sich ihr von der koptischen Kunst her nähert. Strzygowski, der diesen Weg
beschritten hat, ist auf ihm nur nicht ganz durchgedrungen. Gleichwohl
hat niemand das Wesen des koptischen Stils so richtig erfaßt wie er, und
seine Denkmäler so klar gesichtet ,o6 ). Er hat erkannt, daß derselbe aus
der Umsetzung der raffinierten spätgriechischen Kunstformen Alexandrias
in die dem Hinterlande gewohnte Anschauungsweise entsteht und seinen
Anfang nicht erst in der christlichen Kunst nimmt. Allerdings kommt
dabei weniger die Einwirkung altägyptischer Technik und Stilisierung in
Betracht als die ganz anders gerichtete künstlerische Einbildungskraft der
Kopten, die das im eignen Rassenideal Erschaute in die ihr fremden Typen
hineipträgt. Jener erste Einfluß wirkt stilbildend nur in einer, allerdings
sehr bedeutenden, alexandrinischen Werkstätte, welche nicht bloß die von
Strzygowski mit bestem Recht dorthin verwiesenen kaiserlichen Porphyr¬
sarkophage, sondern auch Statuen der Kaiser fertigte, und zwar vorzugs-
Bekanntmachung durch A. Goldschmidt, Die Kirchentür des hl. Ambrosius, StraBburg
1902, aufgerollt werden sollen.
I0 S) Zu den Elfenbeinschnitzereien kommen die sich (z. T. durch neuere Funde in
Syrien) mehrenden Silberarbeiten hinzu, die ich mit Lauer, Mlmoires et Mon.Fond. Piot.
1906, XIII, p. 229 ff. größtenteils der syrischen Kunstindustrie zurechne. Eine frühe
antiochenische Arbeit vertritt unter ihnen das Reliquiar von S. Nazaro in Mailand, den
älteren Pyxidenstü (des 5. Jahrhunderts) in merkwürdig unvermitteltem Nebeneinander
mit traditionellen hellenistischen Typen der Seegottheiten der Brautkasten der Projecta
im Brit. Museum ( 0 . M. Dal ton, a. a. 0 . Nr. 304), den spätesten Stil die Stroganow'sche
Schale mit der Kreuzeswacht der Engel. Dagegen möchte ich die in den Besitz von J. P.
Morgan übergegangenen cyprischen Silberschalen mit ihrem eklektischen Stil eher mit
Dahon, Archaeologia vol. LX, 1 ff. für byzantinische Erzeugnisse halten.
,0< ) Strzygowski, a. a. O. S.73 ff. und in der Einleitung zum Cat. g6n. des antiquit. £gypt.
du Musle du Caire. Koptische Kunst. Vienne 1904. Seiner mustergültigen Klassifizierung
der Denkmäler bin ich bei der Bearbeitung des Berliner Katalogs gefolgt und nuT in Fragen
der Datierung öfter zu etwas späteren Ansätzen gelangt.
> 5 *
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
228
O. Wulff,
weise bei den letzteren I0 7 ). Dagegen bezeichnet der Verlust natürlicher
Ponderation und die Verdrängung freier Gewandbehandlung durch den Falten*
Schematismus, sowie die allmähliche Verflachung des Reliefs in den kop¬
tischen Bildwerken zwar ein Zurückfallen in primitives Kunstwollen, aber
nicht gerade in den durchgebildeten altägyptischen Stil. Eine Rückwirkung
der Hinterlandskunst auf die christlich alexandrinische ist nicht ausge¬
blieben, der Gegensatz zwischen beiden aber hat sich nie ganz verwischt.
Schon Strzygowski hat hervorgehoben, daß die koptische Kunst an
eignen christlichen Typen ziemlich arm ist. Aus Alexandria hat sie an¬
scheinend nur die Orans aufgenommen. Die Beliebtheit dieses Typus auf
den Grabstelen im Fajum beweist, daß die Beziehung der altchristlichen
Personifikation des Gebets (s. Rep. f. Kunstwiss. 1911, S. 302 ff.) auf einzelne
weibliche Verstorbene nicht etwa erst in Rom, sondern schon im alexan-
drinischen Kunstkreise eingetreten ist, was ihre frühe Verallgemeinerung er¬
klärt. Männliche Oranten bleiben auch auf den Stelen vereinzelt. Schwerlich
läßt sich aber das Verhältnis umkehren ,o8 ), da die überall verbreitete christ¬
liche Gebetsstellung nicht aus einem besonderen ägyptischen, sondern aus
dem antiken Gestus durch Differenzierung entstanden ist. Die Mehrzahl
ihrer christlichen Gestalten verdankt aber die koptische Plastik sichtlich
erst dem Vordringen des palästinensischen Einflusses. Und es ist kein Zufall,
daß uns die Engelwacht am Golgathakreuze, der Apostel oder Evangelist
mit dem Buche, die schwebenden Engel, welche das Brustbild Christi oder
das Kreuz im Kranze tragen, Kompositionen, an deren Ursprung aus Syrien
so wenig ein Zweifel bestehen bleibt, wie an der Umdeutung der Sieges*
,0 7 ) Strzygowski, Orient oder Rom, S. 75 ff. und Beitr. zur Alten Gesch. hsgb. von
C. F. Lehmann. 1902, II, S. 105. Die zwischen Alexandria und Byzanz bestehende
Verbindung haben neuere FundstQcke bestätigt; Beschr. d. Bildw. 2. Aufl. III, i,Nr. 1624/5.
Bei der ZurQckschiebung des Sarkophags der hl. Helena ins 2. Jahrhundert hat Riegl,
a. a. 0 . I, S. 90 ff. über der gleichartigen Reliefauffassung die feineren Unterschiede in
dem Verzicht auf jede Terrainangabe und der härteren Artikulation der Gestalten übersehen.
Der ägyptisierende Einfluß ist bei dem Figurenpaar von S. Marco und der Büste von
Athribis unleugbar; den vermeintlichen Pantokrator des Museums in Kairo kann ich frei¬
lich auch nur für eine Kaiserliche Porträtstatue ansehen; vgl. Strzygowski, Cat. g£n. etc.
Nr. 7256/7 und über diese alexandrinische Schule im allgemeinen L. Passy, Soc. nat. des
antiquaircs. Centenaire 1804—1904, p. 377.
,o8 ) Wie Strzygowski, Eine alexandrinische Weltchronik. Denkschr. d. K. Akad.
d. Wiss. in Wien. Phil.-Hist. Kl. 1905, S. 156 ff. vermutet- Aber das schon Tertullian
bezeugte Ausbreiten der Arme ist nach Angabe von Ägyptologen nicht als spezifisch
ägyptische Gebetstellung anzusehen, dringt vielmehr erst in späte Denkmäler ein; vgl.
Ausführl. Verz. d. ägypt. Altert. Berlin 1899, S. 337, Nr. 2132. Wohl aber erscheint die
abweichende Haltung der zurückgelegten Hände vor der Brust, wie sie z. B. die Euche
in El Bagäuat aufweist, schon in Denkmälern des Neuen Reiches belegt; vgL a. a. O.
S. 158 N. 2276.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw.
229
göttin zum Engel auf syrischem Boden, vorwiegend in Holzschnitzereien
begegnen I0 9 ). Immerhin liegen für die Umsetzung solcher Typen in die
koptische Steinplastik ausreichende Belege vor M0 ). In späteren Wieder¬
holungen —, gelegentlich aber auch schon in Arbeiten der Holzschnitzerei
erfahren sie eine ganz ähnliche Verbildung wie die mythologischen Figuren
m
alexandrinischer Abstammung, so z. B. die von Engeltrabanten umgebene
Gottesmutter mit dem Kinde auf den Knieen im Museum zu Kairo (Strzy-
gowski, a. a. O. Nr. 8758). Daß der altehrwürdige Ikonentypus der Hodi-
gitria, wie Strzygowski annimmt, in Ägypten geschaffen sei, bleibt ange¬
sichts dieser Verhältnisse mindestens fraglich, wenngleich sich nicht be¬
streiten läßt, daß die Beschränkung des Gebetsgestus auf die rechte Hand
auf koptischen Stelen bei der Mutter, die das Kind im linken Arm hält,
vorkommt m ). Andrerseits ist kaum zu bezweifeln, daß die christliche
Kunst Ägyptens Palästina bereits gewisse Typen geliefert hat, — so vor
allem die säugende Gottesmutter (vgl. Rep. f. Kunstwiss. 1911, S. 297),
welche ebenfalls auf den Grabstelen ihre Parallelen hat (vgl. Beschr. d.
•Bildw. III, 1, Nr. 79). Bei einem zweiten, völlig sicheren Beispiel haben
wir es schon mit einer der Neuschöpfungen zu tun, welche die alexandri-
nische Kunst in Umbildung und Umdeutung altägyptischer Göttergestalten
hervorgebracht hat. Bei dem auf dem Löwen und Basilisken stehenden
Christus, für den sicher ein Horustypus das Vorbild abgegeben hat m ),
beginnt also der umgekehrte Assimilationsprozeß, wie bei den hellenisti¬
schen Motiven des koptischen Stils, und zwar schon innerhalb der christ¬
lichen Kunst. Wenn derselbe uns aber auf ravennatischen Sarkophagen
wieder entgegentritt, so geschieht das auf dem Umwege über Palästina
(s. u.). Den gleichen Vorgang der Aneignung ägyptischer Typen hat Strzy¬
gowski für den Reiterheiligen und den heiligen Krieger nachgewiesen.
Allerdings ist das Prototyp des ersteren in den römischen Gigantenreitem
,0 9) Vgl. Beschr. d. Bildw. usw. III, 1, Nr. 253/4 und Strzygowski, Cat. g£n. Nr. 8775/6-
Syrische Gegenbeispiele bieten die Holztür von S. Ambrogio und Steinreliefs; vgl. Gold¬
schmidt, a. a. 0 . Taf. I und die von mir a. a. 0 . gegebenen Belege. Auch die Nike als
Vorbild des Engels mit emporgehaltenem Porträtschild zählt hierher; Strzygowski,
Hellenist, u. Kopt. K. S. 7 ff. und Orient oder Rom, Taf. I
”°) Vgl. die Türpfeiler von Daschlug bei Strzygowski, Hellenist, u. Kopt. K. usw.
S. 40 Abb. 25 und die sogenannte Kathedra des hl. Marcus in Venedig, neben deren apo¬
kalyptischen echt syrischen Motiven das altägyptische Symbol des Wassers, die Zickzack¬
linie, steht, bei A. Pasini, II Tesoro di S. Marco, t. LXIX.
”«) Strzygowski, Eine alex. Wdtchron. usw. S. 159, Abb. 15. Daß aber die Beziehung
dieser Gebärde der Mutter auf das göttliche Kind eine Folge der Nachahmung solcher
Bildwerke ist, bleibt unwahrscheinlich, eher ist wohl der Ikonentypus hier nachgebildet
worden.
m ) Beschr. d. Bildw. usw. III, 1, Nr. 1249 mit Literatur; vgl. auch Leclercq bei
Cabrol, Dich d’archlol. chr<t. et de liturgie II, c. 511 ff. (Basilisque).
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
230
0 . Wulff,
zu erkennen, aber Überwinder des Bösen im weitesten Sinn ist diese Gestalt
jedenfalls auf Grund ägyptischer und gnostischer Vorstellungen geworden ,, 3 ).
Wenn auch Konstantin der Große als Drachentöter dargestellt worden ist,
so ist doch diese Auffassung für ihn nicht bezeugt, vielmehr die des Kriegers
zu Fuß. Und wäre sie es, so braucht er darum noch nicht das Vorbild aller
christlichen Reiterheiligen gewesen zu sein. Daß der Typus in der kopti¬
schen Kunst ungeheure Verbreitung gewonnen hat, gibt andrerseits noch
keinen hinreichenden Grund, ihr den Schöpfungsakt selbst zuzuschreiben.
In Alexandria wird auch der wachende heilige Krieger aus dem Grabes¬
wächter Anubis oder Horus hervorgegangen sein , M). Hatte doch der be¬
rühmteste Krieger- und eigentliche Nationalheilige des christlichen Ägyp¬
tens, Menas, seine Kultstätte nur anderthalb Tagereisen von dort in der
libyschen Wüste. Die Hinterlandskunst hat also wohl auch diesen Typus
erst von Alexandria empfangen und vervielfältigt. Und ebenso dürfte die
übrige christliche Kunst beide Typen der alexandrinischen zu verdanken
haben.
Die Lösung des Rätsels der Aachener Domkanzel durch Nachweis der
beiden eben behandelten Typen und damit der alexandrinischen Herkunft
ihrer Elfenbeinreliefs gehört zu den glücklichsten und sichersten Ergebnissen
der Forscherarbeit Strzygowskis. Außer der unverkennbaren koptischen
Stilfärbung ist aber, besonders in den Frauentypen der zugehörigen Isis
und der ihr verwandten Panthea (Paris), noch ein anderes für die Beur¬
teilung der spätalexandrinischen Kleinplastik wesentliches Stilelement da¬
mit gegeben. Sie bezeugen, daß in ihr selbst auf dieser Entwicklungsstufe
d. h. etwa im 6./7. Jahrhundert, der dekorative Faltenwurf der Antike in
manierierten Formen fortlebt. Sehen wir uns nun unter den älteren Elfen¬
beinreliefs nach antikisierenden Stücken um, so stellt in dieser Beziehung
den stärksten Gegensatz gegen die streng stoffliche Gewandbehandlung der
Lipsanothek von Brescia und der syrischen Schnitzereien bis zu den Pyxiden
herab das aus dem Ende des 4. Jahrhunderts herrührende Hochzeits¬
diptychon mit den Inschriften, »Symmachorum« und »Nicomachorum« dar.
Es mutet uns in seiner linienreinen Schönheit wie die Kopie eines hellenisti¬
schen Reliefbildes an. Die erwünschte Bestätigung dafür, daß wir es als
Arbeit eines alexandrinischen Schnitzers ansehen dürfen, ergibt sich aber
aus dem Vorkommen ähnlicher, wenngleich flüchtig und weniger reich aus¬
geführter verhüllter weiblicher Profilgestalten auf den aus den Schutt-
n 3 ) Strzygowski, a. a. 0 . S. 25 ff. und 31. Das Horusrelief des Louvre und die Salomo¬
amulette sind aus der Entwicklung nicht auszuschalten; vgl. die Belege Beschr. d. Bildw.
usw. III, 1, Nr. 436/7, 827—29, 1120. Der Beziehung des Diptychon Barberini auf Kon¬
stantin d. Gr. kann ich hingegen aus stilkritischen Gründen (s. u.) nicht zustimmen.
Il *) Strzygowski, a. a. O. S. 34 ff.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Eis Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw.
231
hügeln in der Umgebung von Alexandria hervorgezogenen und wieder zu¬
erst von Strzygowski gewürdigten Beinschnitzereien ” 5 ). Sodann stoßen
wir auf den mehr dem Zeitgeschmack des 5. Jahrhunderts für schwere Pro¬
portionen entsprechenden Diptychonflügel von Monza (Venturi, a. a. 0 . I,
p. 392, Fig. 358) mit der Darstellung eines (christlichen?) Philosophen und
einer Muse (s. Rep. f. Kunstwiss. 1911, S. 308 ff.), auf dem das Linienspiel
des Mantels bereits deutliche manieristische Neigungen verrät. Daß aber
die christliche Elfenbeinschnitzerei Alexandrias diesen Manierismus noch
weiter ausgebildet hat, bestätigen die beiden Flügel des Lorscher fünf¬
teiligen Diptychons, von denen der eine den langlockigen jugendlichen
Christus auf dem Löwen und Basilisken stehend zeigt. Denn diese karo¬
lingischen Kopien setzen ein alexandrisches Vorbild voraus“ 6 ). Die zu¬
gehörige Marientafel aber trägt einen in denselben Stil übertragenen palä¬
stinensischen Ikonentypus (bzw. seine Kopie). Wenn nun der Einfluß Pa¬
lästinas auch die alexandrinische Kleinkunst getroffen hat, so werden wir
Denkmäler, die syrische Typen in gleichartiger Stilisierung tragen, dorthin
verweisen dürfen und den etwas verschwommenen Begriff des Syro ägyp¬
tischen in strengerer Bedeutung auf sie zu beschränken haben. In erster
Reihe steht hier, wie schon Ainalow gezeigt hat, die Maximianskathedra,
deren Evangelistengestalten trotz solcher Abstammung manche dekorativen
Faltenmotive aufweisen und in deren neutestamentliche Flachreliefs die
palästinensische Ikonographie hineinspielt “ 7 ). Als weiteres wesentliches
Merkmal unterscheidet die Reliefbilder der Kathedra, zumal die kräftiger
herausgearbeiteten des Josephlebens, eine ungleich besser artikulierte Ge¬
staltenbildung, in der, wie beim Monzeser Philosophen, antike Freude an
schwellenden Muskeln und wohlproportionierten Gliedern mitspricht, während
von impressionistischer Auffassung der Bewegung nichts zu spüren ist.
Diese sorgfältigere Durchbildung der Figuren erlaubt aber auch, einzelne
Pyxiden derselben Schule zuzuteilen, besonders wenn sie zugleich im Gegen¬
ständlichen nähere Beziehungen zu Ägypten erkennen lassen II8 ). Bei allen
n 5) Vgl. Beschr. d. Bildw. usw. III, i, Nr. 366/7 und das o. a. Diptychon bei Molinier,
Hist, d. arts appl. k l’Industrie. Les ivoires, p. 43; Venturi, a. a. 0 . I, p. 384 und 389,
Fig. 354 / 5 .
ll6 ) Vgl. R. Kanzler, Collez. dei pal pontifici. Gli Avori della Bibi. Vat. Roma 1903,
t. IV und Graeven, Byz. Zeitschr. 1901 und Jahrb. d. Kgl. Pr. K.-Samml. 1900, S. 75 ff-
,, 7 ) Ainalow, a. a. 0 . S. 101 ff. (bzw. Rep. f. Kunstwiss. 1903, S. 45); Strzygowski,
Journ. of Hell. Stud. 1907, p. 117 hat m. E. keine ausreichenden Gründe für die Zuwei¬
sung der Kathedra an Antiochia beigebracht.
I,Ä ) z. B. die Menaspyxis des Brit. Mus., die Josephpyxis der Sammi. Basilewski
(Eremitage) und ein Bruchstück aus demselben Darstellungskreise in Berlin; Dalton,
a. a. O. No. 298, pl. 10 u. Cat. of the iv. carv. Nr. 13, pl. VIII; Garrucci, a. a. O. t. 439;
Vöge, Beschr. d. Bildw. usw, 2. Aufl.; Die Elfenbeinbildwerke, No. 4, Taf. III. Eine ein¬
gehende Nachprüfung des Gesamtmaterials würde vielleicht diese Gruppe noch vermehren.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
2?2
O. Wulff,
diesen Stücken ist nicht zu verkennen, daß die Motive und Typen der syri¬
schen Kunst entstammen, — alexandrinisch ist nur ihre organischere Durch¬
bildung. Der jüngeren christlichen Kunst Alexandrias fehlt es, dürfen wir
nunmehr aussprechen, so wenig an ausgeprägter Eigenart wie der kopti¬
schen Bastardkunst. Kosmopolitische Bedeutung hat sie zwar nicht ge¬
wonnen, wie die syrische, doch hat sie gelegentlich noch auf das Abendland,
vor allem aber auf Byzanz eingewirkt (s. u.).
Byzanz hat Strzygowski als das große Sammelbecken bezeichnet, in
das die Kunstschöpfungen des gesamten christlichen Orients einströmen.
Dagegen ist nichts einzuwenden, nur darf man nicht übersehen, daß sie
nicht unverschmolzen und ohne fortzuzeugen darin liegen bleiben. Bei
allem Eklektizimus, dessen Spuren sich in der byzantinischen Kunst nie
ganz verwischt haben, macht sie schon in altchristlicher Zeit eine lebendige
Entwicklung durch, wie sie nur durch selbsttätige Kräfte bewirkt werden
kann n 9 ).
In Byzanz entfaltet sich schon unter Konstantin dem Großen eine auf
das profane Stoffgebiet der kriegerischen und höfischen Staatsaktionen ge¬
richtete rege Kunsttätigkeit. Obgleich wir sie in der monumentalen Malerei
nur aus späteren Überbleibseln kennen, ist mit Recht diese Profankunst
von Millet als richtunggebend für die byzantinische Stilentwicklung an¬
gesehen worden M0 ). Ihr Wesen wird uns sogar in der Plastik verhältnis¬
mäßig früh klar, besonders wenn wir die Vorstufen der wenigen erhaltenen
oder noch mittelbar faßbaren byzantinischen Denkmäler berücksichtigen.
Ihr Reliefstil setzt nicht etwa die letzte Phase lokalrömischer Triumphal¬
plastik aus der Severerzeit fort, wo auch immer diese ihren Ursprung haben
mag, sondern wächst aus einer antiochenischen Schule hervor, deren An¬
fänge bis in Diokletians Epoche zurückreichen, — nämlich bis zu dem bisher
kaum beachteten, ganz und gar unrömischen Triumphbogen des Galerius
in Saloniki, vgl. ,aI ). Daselbst finden wir neben einzelnen typischen Kom¬
positionen der offiziellen Staatskunst, wie dem Opfer der beiden Kaiser
und der Pietas Augustorum (a. a. O. pl. VIII), die durch Münzen und Medaillen
überall Eingang gefunden hatten, eine weit größere Anzahl von Relief-
bildem, welche unverkennbare Anklänge an die altorientalischen Bilder¬
chroniken und dabei eine ganz eigenartige malerische oder vielmehr zeich-
n 9 ) Strzygowski, Byz. Denk. III, S. XI ff.; vgl. dagegen Diehl, Manuel d'art byz.
1910, p. 124 ff.
*“) Millet bei Michel, Hist, del’art. I. p. 177 ff.
”*) Vgl. die Hinweise in Anm. 54 und Kinch, a. a. O. p. 7, 12 und 43 ff. Die Un¬
kenntnis dieses Denkmals macht sich besonders in Riegls Untersuchung geltend. Es be¬
stätigt mit seinen griechischen Inschriften und StileigentUmlichkeiten, was Strzygowski,
Jahrb. d. KgL Pr. K. Samml. S. 326 über die vorbildliche Bedeutung der Seleukiden-
kunst gesagt hat.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw.
233
nerische Reliefauffassung haben. Vielfach stecken die in mehrfachen Deckun¬
gen übereinander geschichteten Gestalten geradezu im Stein und lösen sich
von diesem und voneinander nur durch den »optischen Kontur« (Riegl,
a. a. O.). Hier entspringt die Methode der Häufung flacher Silhouetten
und des laufenden Bohrers, die wir dann an den von Riegl so fein analy¬
sierten Reliefs des Konstantinsbogens auf Hochrelieftypen im Sinne ihrer
Rückbildung in ein optisches Flachrelief angewandt sehen, und zwar noch
entschiedener in der Szene der Ansprache als in der Largitio. Wie die Ein¬
schachtelung der Figuren in einen Architekturrahmen bei der letzteren in
dem Hebdomadenbild der Lipsanothek von Brescia (s. S.220) ein Gegenbeispiel
findet, so berühren sich die beiden Schlachtbilder einerseits mit den christlichen
Sarkophagen (s. S. 210), andrerseits, wenn auch weniger nah, mit assyri¬
schen Kriegsbildern. So macht denn dieser Stil auch von dem orientalischen
Kunstmittel der senkrechten Staffelung neuen Gebrauch. Über Nicomedia
—, bietet doch das benachbarte Nicäa sehr beträchtliche Überreste von
Triumphalreliefs, — mag er zuerst nach Byzanz verpflanzt worden sein.
In den Sockelreliefs des großen Obelisken im Hippodrom aus der Zeit des
Theodosius m ) aber hat er bereits eine Klärung in griechischem Geiste
durchgemacht. Baut sich hier die Komposition noch ungleich kühner in
mehreren Plänen nach dem in Konstantinopel vollendeten System der um¬
gekehrten Perspektive auf, durch das auch die untersten Reliefstreifen mit
der Szene der Aufrichtung des Denkmals und den Zirkusszenen in optische
Beziehung zu dem Bilde gesetzt werden, und wird dadurch eine einzig¬
artige Übersichtlichkeit der figurenreichen Komposition erzielt, so werden
die Gestalten selbst sogar mit Hilfe von Verkürzungen unter feinster Berech¬
nung der Beleuchtung einem noch entschiedeneren, aber vortrefflich abge¬
stuften Flächenabbau unterworfen. Bei fast fehlerlosen Proportionen aber
sind sie ganz der alltäglichen Erscheinung nachgebildet mit weitgehender
Individualisierung auch der Nebenfiguren und auf einfache Stoffcharakte¬
ristik gerichteter Gewandbehandlung. . Mit einem Wort, der syrische Im¬
pressionismus ist durch einen strengeren und stilsicheren Realismus völlig
assimiliert.
Die Stilwandlung der altbyzantinischen Profanplastik weiter zu ver¬
folgen, erlauben uns die Consulardiptychen. Daß man wiederholt versucht
hat, von ihnen bei der Sonderung der Elfenbeinreliefs überhaupt auszugehen
unter der scheinbar selbstverständlichen Voraussetzung, daß sie als ge-
m ) Die keineswegs zwingend begründete Ansicht von A. J. B. Wace, Journ. of
Hell. Stud. 1909, p. 63 ff., daß die Reliefs einer älteren Zeit gehören, vermag ich nicht zu
teilen. Ihr Stil entspricht durchaus dem des Madrider Silberschildes; Venturi, Stoiia etc. p.
497 » Fig-438. Zur Komposition vgl. Kunstwiss. Beitr. A. Schmarzow gewidm. S. 14 ff. Die
Ähnlichkeit der kaiserlichen Frauentracht aber mit der des Kaisers 1 esteht auch später fort.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
234
O. Wulff,
schlossene Gruppe die stadtrömische Kunstübung vertreten xl 3 ), war ein
verhängnisvoller Irrtum. Nachdem wir auf anderem Wege die syrische und
die alexandrinische Richtung geschieden haben, ist nicht mehr zu verkennen,
daß in ihnen beide und noch ein drittes Element zusammenfließen. Aber
auch abgesehen davon, liegt die Annahme näher, daß die oströmische
Kapitale mit ihrem politischen und kulturellen Übergewicht die Typen der
Beamtenporträts geschaffen und auch Rom geliefert habe. Finden wir sie doch
bereits in den Kaisergestalten des Chronographen von 354 vor ** 4 ). Aus der
Tatsache, daß das einzige aus dem 6. Jahrhundert erhaltene weströmische
Diptychon des Orestes (530 n. Chr.) den nächstvorhergehenden oströmischen
des Magnus, Anastasius und Areobindus in der Komposition wie in der
Stilisierung durchaus entspricht, ergibt sich für das 5. Jahrhundert der
Rückschluß, daß wir in den weströmischen vollen Ersatz für die fehlenden
des Ostreichs besitzen. Bestätigt wird er zum Überfluß durch die ganz
gleichartige Auffassung des Consuls Ardabur Aspar (477) auf seinem Silber¬
schild |l S) und durch innere Gründe. Die früheste Phase scheint noch das
Diptychon des römischen Stadtvikars Probianus zu veranschaulichen, das
seine mit der Trivulzitafel übereinstimmende Figurenverteilung (s. S. 222)
wohl den Kompositionsprinzipien eines syrischen Schnitzers verdankt. Die
in wachsendem Abstande nachfolgenden Porträtgestalten des Felix (428
n. Chr.), Asturius (449), Lampadius (480?), Boethius (483) aber verraten
einen immer herber werdenden Realismus mit absichtsvoller Betonung des
Plumpen und Häßlichen. Darin bricht offenbar recht eigentlich das byzan¬
tinische Kunstwollen durch. Und gleichzeitig entwickelt sich jene charak¬
teristische Verbindung der repräsentativen Hauptgestalt mit dem klein-
figurigen Nebenbilde des Zirkusspiels im perspektivischen Gegensinne, wie
sie bereits am Reliefsockel des großen Obelisken in der Steinplastik vor¬
liegt (s. 0.).
Im Anfang des 6. Jahrhunderts sind beide Elemente in ein festes
Schema gebracht, das ihren räumlichen Zusammenhang noch deutlicher
ausdrückt ,l6 ). Zugleich macht sich jedoch ein Stilwechsel bemerkbar, in¬
dem ein bewußtes Streben, die Eleganz der Erscheinung eines Areobindus
und seiner Nachfolger hervorleuchten zu lassen, Platz greift. Daß-dieser
u 3 ) Zuletzt A. Haseloff, Jahrb. d. Kgl. Pr. K.-Samml. 1903, S. 54 ff. und ohne klare
Präzisierung der Ursprungsfrage Sybel, a. a. 0 . II, S. 230 mit vollständiger Literatur.
IM ) Strzygowski, Die Kalenderbilder des Chronographen vom Jahre 354. I. Suppl.
d. archäol. Jahrb. 1888, Taf. XXXIV/V.
u $) Vgl. Venturi, a. a. 0 . I, p. 499, Fig. 439 und dazu etwa das Halberstädter oder
das Diptychon des Asturius.
n6) Vgl. meine Ausführungen in d. K. wiss. Beitr. A. Schmarsow gewidm. Leipzig
1907, S. 17 ff.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw.
235
neue Geschmack, in dem wir bereits das Nahen des Justinianischen Zeit*
alters mit seiner gezierten Klassizität spüren, durch die Heranziehung
alexandrinischer Schnitzer ins Leben tritt, wird um so eher glaubhaft, als
auf einem Diptychon in Wien die typischen Begleitfiguren der Konsuln
des 6. Jahrhunderts, das Alte und das Neue Rom, in selbständiger Wieder¬
gabe koptische Stilinerkmale aufweisen ,a 7 ). Zu dieser jüngeren alexandri*
nisch-byzantinischen Gruppe gehört sichtlich auch nach seinem ganzen Stil
das von Strzygowski auf Konstantin den Großen bezogene fünfteilige Di-
ptychon Barberini als einziger noch vollständiger Vertreter einer offenbar
für christliche Arbeiten, wie das verlorene Original der beiden Lorscher
Flügel (s. o.), vorbildlichen Gattung la8 ). Allein der altbyzantinische Realis¬
mus bricht selbst unter Justinian in dem Diptychon des Philoxenos wieder
mit ungeschwächter Kraft durch und hat sogar hier in der Frauenbüste
der Gerusia ohne jede Anlehnung an antike Typen eine eigenartige Personi-
fikation geschaffen Ia 9 ).
Was sich von den übrigbleibenden Elfenbeinreliefs profanen oder
christlichen Inhalts mit irgendeiner Gruppe der Konsulardiptychen berührt,
kann ebenfalls als byzantinisch angesprochen werden. Mit den hochrelief¬
artigen Darstellungen einer stehenden und einer sitzenden Kaiserin (in
Florenz und Wien) aus dem 5./6. Jahrhundert ist auch das stilverwandte
Trierer Elfenbein dahin zu rechnen, besonders wenn Strzygowskis bestechen¬
der Erklärungsversuch wieder aufgegeben werden muß, — wie auch am
ehesten ein Byzantiner das ähnliche Stück im Louvre mit der Predigt des
Marcus (oder Paulus?) inmitten einer Beamtenschar (in oder für Alexandria?)
ausgeführt haben dürfte * 3 °).
Als vortreffliche byzantinische Arbeit im üppigen dekorativen Stil der
frühjustinianischen Zeit wird ferner vor allem nach wie vor die Tafel
,2 7 ) Vgl. Strzygowski, Hellenist, u. Kopt. K. usw. S. 49, Abb. 34 und 35.
,2Ä ) Strzygowski, a. a. O. S. 29, Abb. 17. Ich muß jedoch Schlumberger, M£m. et
Mon. Fond. Piot VII, 1900 zustimmen und erkenne in dem Kaiser am ehesten Justi¬
nian. Die Viktorien verraten den Stil des 6. Jahrhunderts. Auch trifft Graevens Be¬
merkung, daß der Feldherr die Statuette noch mit unbedeckten Händen trage, bei ge¬
nauem Zusehen nicht zu.
ia 9 ) Vgl. Molinier, a. a. 0 . p. 30, Nr. 26. Sonderbarerweise scheint noch niemand
auf diese schon durch die Widmungsinschrift nahegelegte Deutung der Frauenbüste ver¬
fallen zu sein.
J 3 °) Strzygowski, a. a. 0 . S. 78/9, Abb. 54/5 und Orient oder Rom, S. 65 ff., dem
ich nicht folgen kann. Die Überführung von Reliquien durch zwei Geistliche dürfte mehr
als einmal vorgekommen sein. Eine Kaiserin, die das Kreuz trägt, kann nur Helena, der
Kaiser demnach nur Konstantin sein (natürlich in späterer Auffassung). Ebensowenig
kann ich mich darüber hinwegsetzen, daß die Nebenfiguren des Pariser Elfenbeins Beamten¬
tracht haben.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
236
O. Wulff,
im British-Museum mit dem zepterhaltenden Engel zu gelten habend*),
die ein Bestreben, die syrische und alexandrinische Weise miteinander zu
vermitteln, am deutlichsten im reichen Linienspiel des stofflich charakte¬
risierten Mantels verrät. Mehr äußerlich vereint liegen beide Richtungen
auf den Flügeln des Carranddiptychons nebeneinander. Und nur als Kopien
im Stile und Format der Konsulardiptychen des 6. Jahrhunderts nach
alexandrischen Vorlagen, wenn nicht als Übersetzung palästinensischer
Ikonentypen in denselben, erscheinen mir die beiden Berliner Tafeln mit
den Ansatzresten eines. Monogramms, das auf Maximian als Besteller zu¬
rückschließen läßt, in ihrer äußerlichen Glätte und ihrem bis zum äußersten
getriebenen, mit starken Verzeichnungen bezahlten Flächenzwang * 3 a ).
Ebensoviele, ja noch mehr verschiedene Strömungen fließen in der
christlichen Marmorskulptur Konstantinopels zusammen. Die syrische
Richtung stößt hier mit einer älteren Schule zusammen. Zu den gesicherten
Forschungsergebnissen Strzygowskis gehört der Nachweis, daß die byzan¬
tinische Plastik zuerst aus der kleinasiatischen hervorwächst. Es hat sich
durch neuere Funde von Bruchstücken jener Sarkophagklasse im nordwest¬
lichen Kleinasien immer mehr befestigt, deren einziges unzweifelhaft christ¬
liches und jüngstes Glied, das Christusrelief aus Psamatia im Berliner Museum,
zu einem Eckstein der Kunstgeschichte geworden ist J 33 ). Eine Haupt¬
werkstätte ist darnach mit Strzygowski vielleicht in Kyzikos zu vermuten,
aber andere Umstände, wie das frühe Vorkommen zugehöriger Prachtsärge
im ganzen Süden (Sidamara, Konia, Seleukeia) und sogar in Italien (Rom,
Florenz), scheinen wieder auf ein älteres Kunstzentrum diesseits der Dar¬
danellen hinzuweisen. Der Stil der schönsten Arbeiten mutet wie perga-
menische Tradition an. Am besten wird wohl die ganze Schule, die diesen
tabernakelartigen Sargtypus hervorgebracht hat, vorläufig nach dem mehr¬
fach festgestellten Material als prokonnesische bezeichnet. Vielleicht ist
uns von ihr noch ein zweites christliches Stück, das sich dieser Denkmäler¬
reihe nach der dazu stimmenden Angabe, daß es aus blaugeädertem Marmor
hergestellt ist, sowie durch das Motiv der Hadestür an der einen Schmal¬
seite und durch die anthropomorphe Deckelform anzuschließen scheint, im
früher erwähnten Sarkophag von Salona erhalten (s. Rep. f. Kunstwiss.
1911, S. 308), wenngleich ihm der typische Akanthusdekor fehlt. . Für das
Berliner Relief aber hat sich als bedeutsamste neuere Beobachtung ergeben,
* 3 *) Dalton, Cat. of the ivory carv. etc. pl. VI und p. Nr. 11. Die von Strzygowski,
Jahrb. d. Kgl. Pr. K.-Samml. 1904, S. 276 für antiochenischen Ursprung geltend gemachten
Gründe halte ich nicht für ausreichend.
'3 1 ) Vgl. Vöge, a. a. O. Nr. 2/3, Taf. II; Venturi, a. a. 0. I, p. 148/9, Fig. 383/4*
• 33 ) Strzygowski, Orient oder Rom, S. 40, Taf. II und Beschr. d. Bildw. usw. III, 1,
Nr. 26, sowie weitere Lit. bei Dalton, Byz. Art and Archäol. p. 128 ff.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw.
237
daß das breitovale Christusrelief völlig einem schon für eine jugendliche
Mantelfigur eines heidnischen Sarges (in Villa Colonna) gebrauchten Typus
entspricht. So wird man es kaum unter das 4. Jahrhundert herabrücken
dürfen.
Von seinen sämtlichen Vorgängern unterscheidet sich das christliche
Bruchstück vor allem durch die an ihm bemerkbare stärkere Rückbildung
des Hochreliefs. Darin macht sich anscheinend eine bereits in der Profan -
plastik (s. S. 233) nachgewiesene Neigung des byzantinischen Reliefstils
bemerkbar. Das Eintreten syrischer Steinmetzen in die prokonnesische
(bzw. byzantinische) Schule, wie es durch den Ambon von Saloniki belegt
ist (s. S. 225 ), mußte eine parallele Entwicklung fördern. Für Konstantinopel
selbst liefern neben einem geringwertigen Abrahamsopfer vor allem die
beiden Säulentrommeln im Ottomanischen Museum den Beweis für das
Eindringen einer den Ciboriumssäulen von S. Marco verschwisterten syrisch -
palästinensischen Richtung * 34 ). Die im ganzen Mittelmeergebiet nach¬
weisbaren Bruchstücke solcher weinlaubumsponnenen Säulen bestätigen
die tatsächliche und häufige Verwendung einer schon am Bassussarge und
einem anderen Säulensarkophag (Lat. Nr. 174) nachgeahmten architek¬
tonischen Zierform, nur sind die traditionellen Motive der Weinlese an den
Konstantinopler Stücken durch eine Taufe Christi von fortgeschrittener ikono-
graphischer Zusammensetzung u. a. christliche und profane Darstellungen
ersetzt. Ihr frischer aber etwas flüchtiger Stil verrät alle Vorzüge und
Mängel syrischer Art.
Das selbständige byzantinische Kunstwollen sehen wir erst in der
Denkmälerklasse der ravennatischen Sarkophage mit Entschiedenheit durch¬
brechen, mögen sie nun als Erzeugnisse einer lokalen Kunstübung, in der
dieselben Kräfte tätig waren, oder größtenteils als unmittelbar aus Byzanz
dorthin verschlagene Zeugen dieser synthetischen Stilbildung anzusehen
sein. Da sich mir schon wiederholt Gelegenheit geboten hat, mich aus¬
führlicher über dieselbe auszulassen * 35 ), so genügen hier wohl ein paar
Hinweise. Wenn in Ravenna die älteren Sarkophagklassen nur durch ver¬
einzelte und fragmentarische Stücke vertreten sind, so ist das ein sicheres
Anzeichen dafür, daß sein Denkmälerschatz einer jüngeren Zeit, d. h. eben
seiner Blütezeit, angehört und zugleich eine andere Herkunft hat. Innerhalb
desselben stehen sich anfangs zwei grundverschiedene Richtungen gegen¬
über. Als reinster Vertreter eines kleinasiatischen Typus von Säulensarko¬
phagen mit gereihten einfigurigen Rundnischen ist der Sarg des Erzbischofs
Beschr. d. Bildw. usw. III, 1, Nr. 30 und Strzygowski, Byz. Zeitschr. 1892,
I, S. 576 ff. und Taf. I. Vgl. zum Vorkommen der Weinlaubsäulen im allgemeinen
St. Gsell, Atti del II congr. di archeol. crist. Roma 1902, p. 203 ff.
* 35 ) Rep. f. Kunstwiss. 1908, S. 279 und D. Lit.-Ztg. 1911, Sp. 677 ff.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
238
O. Wulff,
Liberius (II. oder III.?) anzusehen, der noch das Christusideal des Reliefs
vonPsamatia (s. o.) bewahrt, als ausgeprägt syrisch-palästinensisches Haupt«
stück hingegen der Sarkophag der Pignatta —, neben dem andere an dem
Christustypus (s. S. 222) Palmen u. a. m. die gleiche Abstammung erkennen
lassen —, mit seinem ganz andersartigen Figuren- und Gewandstil, dessen
verlorener Deckel wohl der tonnengewölbten orientalischen Form mancher
jüngeren Denkmäler entsprach. Indem sich nun in den letzteren ein Stil¬
ausgleich vollzieht, nehmen die Gestalten mehr und mehr jenen grobschläch¬
tigen, das Häßliche geradezu betonenden Charakter an, der auch auf den
Diptychen des 5. Jahrhunderts die Oberhand gewinnt (s. S. 234) und offen- *
bar im byzantinischen Zeitgeschmack seinen Ursprung hat. Die Vorliebe
für gedrungene Proportionen ergreift sogar die Lämmergestalten auf den
gleichzeitigen Kaisersärgen im Mausoleum der Galla Placidia. Zugleich aber
schreitet die Umbildung des kleinasiatischen Hochreliefs und des isolieren¬
den syrischen Reliefstils zum optischen Flachrelief bis zum äußersten, schon
an den Stuckreliefs des Baptisteriums, die auch im Ikonographischen mit
den Sarkophagen Zusammengehen, erreichten Grade fort *3 6 ). Daß die Ent¬
wicklung in Byzanz denselben Weg vollendet hat, bestätigt nicht nur das
in prokonnesischem Marmor ausgeführte Petrusrelief aus Ajatzam (bei
Sinope) im Berliner Museum, sondern auch ein Paar erst im hohen Mittel-
alter vom Bosporus nach Venedig verschleppter Sarkophage * 37 ). Auch
anderweitige Bildtypen, wie z. B. die aus Konstantinopel herrührende, ver¬
mutungsweise von mir (a. a. O. S. 17, Nr. 28) als Entlarvung Benjamins
gedeutete Darstellung in Berlin, werden einer gleichartigen Reliefbehand¬
lung unterworfen. Die auf das Charakteristische und Häßliche gerichtete
individuelle Stilisierung aber zeigt auch das eindruckvollste Überbleibsel
altbyzantinischer Hochreliefplastik, die Evangelistenbüste im Ottomanischen
Museum * 3 8 ).
Und ist die klassizistische Reaktion, welche wir auf den Diptychen
* 3 *) J. P. Richter, Die Mosaiken von Ravenna. Wien 1878, S. 17 hat schon die
Verwandtschaft der Reliefauffassung mit dem Stil der Sockelbilder des Konstantinopler
Obelisken erkannt.
* 37 ) Strzygowski, Jahrb. d. Kgl. Pr. K.-Samml. 1901, S. 26 ff. und Tat. I und meine
Bern, dazu in der Byz. Zeitsehr. 1904, S. 572 und Beschr. d. Bildw. usw. III, 1, Nr. 29.
Dazu kommen der Sarg des Dogen Morosini und die Sarkophagfront in der Kapelle des
Tesoro di S. Marco (mit überarbeitetem Christuskopf), auf der die Traditio nach ravenna-
tischer Version, d. h. mit Paulus als Empfänger, dargestellt ist. Ongania, La Bas. di
S. Marco. Dett. t. 204 und Pasini, a. a. 0 . t. XCIII; vgl. zum ersteren Ainalow, Wiz.
Wrem. 1902, S. 7 (S. A.).
* 3 ®) Strzygowski, Byz. Zeitschr. 1892, Taf. II. Das Ottoman. Museum bewahrt außer¬
dem die kopflosen Überreste zweier ähnlichen Hochreliefbüsten (Nr. 169/170) und das stark
bestoßene Brustbild eines Propheten (o. Nr.) mit der für Daniel typischen Kopfbedeckung.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw.
239
seit dem 6. Jahrhundert unter alexandrinischem Einfluß zeitweilig die Mode
bestimmen sehen (s.S. 235), auf die Elfenbeinschnitzerei beschränkt geblieben
— Das wäre eine Ausnahme vom Gesetz der »Stetigkeit des Kulturwandels«,
das auch die bildende Kunst beherrscht. In der Tat glaube ich noch ein
bisher verkanntes Bildwerk dieses frühjustinianischen Stils nachweisen zu
können. In den Proportionen, dem breitovalen Kopftypus, der zierlicheren
Faltengebung berührt sich das leider recht schadhafte Marmorrelief eines
zeptertragenden Engels in S. Marco ebenso fühlbar mit seinem elfenbeiner-
nen Gegenbeispiel im British Museum (s. S. 236), wie es sich durch die noch
wohlverstandene Verkürzung der kugelhaltenden Hand und die Fußstellung
augenfällig, wenngleich in feineren Zügen, von den mittelalterlichen abend¬
ländischen Wiederholungen an gleicher Stelle unterscheidet * 39 ). Der op¬
tische Reliefcharakter ist darin festgehalten. Zum Hochrelief ist die alt-
byzantinische Kunst nicht mehr zurückgekehrt, vielmehr verfällt sie bald
völlig in zeichnerische Auffassung x 4 ®). Vorsichtigerweise darf man freilich
aus dem Engelrelief in S. Marco noch nicht auf einen unmittelbaren Einfluß
Alexandrias in der Steinplastik zurückschließen. Wie so oft, kann auch
diese Stilbildung ihre Wurzeln in der Kleinkunst haben, die einer optischen
Reliefauffassung an sich näher liegt. Zum mindesten wird aber durch ein
solches Überbleibsel erwiesen, daß dann die Marmorbildnerei diesen Stil
aufgenommen hat.
Unter unzweifelhaften und nachhaltigen alexändrinischen Anregungen
steht jedenfalls die statuarische Plastik im Byzanz des 4.—6. Jahrhunderts.
Die Rückkehr von der antiken rhythmischen Ponderation und kontra-
postischen Bewegung zur einfachen Klarlegung der Gestalt nach den drei
Dimensionen ist zuerst in Alexandria in Anlehnung an die altägyptische
Plastik durchgeführt worden. Nach diesem Prinzip ist schon der von Riegl
(a. a. O. S. 112) so fein gewürdigte neue Typus der beiden kapitolinischen
x 39 ) v. d. Gabelentz, a. a. O. S. 139, Abb. 3, der es mit den letzteren zusammen¬
wirft. Aber das Verhältnis ist dasselbe wie bei dem trotz seiner lateinischen Inschrift
von griechischer Hand herrührenden mittelalterlichen Demetriusrelief und seiner Kopie
und bei den betenden Madonnen, von denen die am Nordarm eine griechische Arbeit ist.
* 4 °) Die oben angedeutete Auffassung deckt sich, von der Datierungsfrage abge¬
sehen, mit der von Riegl, a. a. O. S. 99 ff. an den ravennatischen Sarkophagen und den
Diptychen nachgewiesenen Entwicklung des Reliefstils. Am Ende derselben stehen Bild¬
werke wie das von Strzygowski, Jahrb. d. Kgl. Pr. K.-Samml. 1893, S. 65 Abb. 1 ver¬
öffentlichte Mosesrelief des Kaiser Friedrich-Museums (Beschr. d. Bildw. usw. III, 1,
Nr. 32) und sein Gegenstück im Ottomanischen Museum. Haben wir es auch im ersteren
mit einem in Stein übertragenen Typus der Malerei zu tun, der uns als solcher auf dem
koptischen gedruckten Mosesstoff (ebenda; vgl. Orient oder Rom, Taf. VI, S. 104 ff.) vor¬
liegt, so erscheint derselbe Typus doch im 5. Jahrhundert an der Tür von S. Sabina in
kleinerem Maüstabe noch mit dem Flächenabbau des echten Reliefs nachgebildet, auf
dem o. a. Denkmal hingegen in ganz flachen Silhouetten wiedergegeben.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
240 O. Wulff, Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw.
Consulstatuen aus dem Reliefstil des Staatsdenkmäler ins Statuarische um¬
gesetzt worden M»). Und am gleichen Aufbau hält noch der Bronzekoloß
von Barletta fest, mag er nun Theodosius oder Arkadius darstellen x 4 >).
Trägerin dieser ägyptisierenden Richtung aber war die spätalexandrinische
Porphyrplastik, deren Übergreifen nach Konstantinopel durch Strzygowski
an den beiden venezianischen Gruppen der sich umarmenden Söhne Kon¬
stantins festgestellt worden ist x 43 ). Auch die eigenartige Stilisierung der
Köpfe in »kristallinisch« regelmäßiger Form wird man darauf zurückführen
dürfen, ohne zu verkennen, daß sich mit ihr eine schlichte und starke indi¬
vidualisierende Naturbeobachtung verbindet, die so charaktervolle Schöp¬
fungen wie den Kopf von Barletta oder unter den sogenannten Porträts
der. Amalaswintha den feinen Frauenkopf des Mailänder archäologischen
Museums entstehen läßt *44). Einer Kunst aber, die so viel naturalistische
und assimilierende Gestaltungskraft besitzt, wie diese altbyzantinische
Rundplastik, wird man auch neben der syrischen eine selbständige Bedeu-
• *
tung nicht absprechen können. Die Zusammenfassung aller aus dem Helle¬
nismus hervorgegangenen christlichen Kunstströmungen des Ostens zu einem
einheitlichen Stil gehört Byzanz.
Es erübrigt, in einem kürzeren Artikel nachzuprüfen, ob sich auch
in der Malerei des nachkonstantinischen Zeitalters die Lokalstile in ent¬
sprechender Weise sondern und mischen und wie weit die ikonographische
Entwicklung in ihr derjenigen der Plastik parallel verläuft. (Schluß folgt.)
Berlin, April 1912. O. Wulff.
* 4 «) Daß der Typus von dieser Richtung geschaffen ist, beweist ein nahverwandter
Porphyrtorso des Berliner Museum mit ägyptisierender Stilisierung einzelner Falten¬
motive; vgl. Riegl, a. a. 0 . S. ui, Abb. 36 und Beschr. d. antiken Skulpt. Berlin 1891,
Nr. 527. Bei aller Feinheit der Analyse irrt R., wenn er den Typus für älter hält. In Relief¬
konzeption bietet ihn noch der Sockel des Obelisken dar. Zu den bekannten Überresten
kaiserlicher Standbilder aus Porphyr ist neuerdings aus Alexandria ein Gegenstück zu dem
der Erzb. Kapelle in Ravenna hinzugekommen; Beschr. d. Bildw. usw. III, 1, Nr. 1624.
m») Venturi, a. a. 0 . I, p. 164, Fig. 154. C. Gurlitt, Antike Denkmalsäulen in Kon¬
stantinopel, Berlin, 1910, S. 4 ff. hat die Entstehung der irrigen Benennung als Heraklius
aufgeklärt und die Beziehung der Statue auf Arkadius verfochten.
M 3 ) Vgl. Strzygowski, Beitr. zur Alten Gesch. hsgb. von C. C. Lehmann, 1902* II,
S. 105 ff.
* 44 ) Graeven, Jahrb. d. Kgl. Pr. K.-Samml. 1898, S. 82 ff ; Venturi, a. a. 0 . I, p. 177,
Fig. 165.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Leonardo da Vincis Entwurf eines Madonnenbildes für
S. Francesco in Brescia (1497).
Von EmU Möller.
J. P. Richter hatte bereits den handschriftlichen Entwurf Leonardos
zu einer Madonna mit II Heiligen aus dem Ms. J.» 59 r (=J. I07 f ) inhaltlich
bis auf zwei Lesefehler getreu wiedergegeben >). Im Jahre 1889 bot Ra-
vaisson-Mollien in seiner Faksimileausgabe der Pariser Leonardomanuskripte
die Nachbildung des Blattes unter dem Titel: tableau ou statues de chapelle
(sic!), jedoch noch mit verschiedenen Mißdeutungen.
Dieses schon nach seinem Gegenstände so interessante Blatt ist bisher
nicht genügend beachtet worden. Müntz, S^aillcs, Gronau, Mc. Curdy und
S ; r6n erwähnen es in ihren Leonardobiographien nicht. Wold. v. Seidlitz
streift es in einem bedenklichen Satze, indem er zwei gar nicht zusammen¬
gehörige Stellen konfundiert *). Nur Marie Herzfeld, die tüchtige Kennerin
der Schriften Leonardos, teilt in ihrem prächtigen Leonardobuch (3. Aufl.
S. LII) wenigstens den Wortlaut dieser Stelle mit, wenn auch nicht in ganz
richtiger Lesung.
Beim Lesen der Notiz in Richters Werk prägte ich für diesen Entwurf
bereits den Titel »Die Franziskapermadonna«. Bei der Prüfung der Faksi¬
milereproduktionen von Ravaisson-Mollien 3 ) erkannte ich sofort die richtige
Form zweier Namen, von denen Ravaisson-M. noch einen, Richter beide
falsch gelesen hatte, die aber für die Ausdeutung des Entwurfes von höchster
Bedeutung sind. Die von Prof. Alfr. R^belliau liebenswürdigst unterstützte
Untersuchung des Originals im Institut de France bestätigte meine Auf¬
fassung.
*) The literary works of L. d. V. London 1883, I, p. 354, n. 679.
*) L. d. V. I *44 »Auf diese Zeit (d. h. den Tod der Herzogin Beatrice) mag sich
auch Leonardos Notiz im Ms. J. 107 beziehen: nostra donna-tavola del Du ca«. Die Worte
tavola del Duca finden sich in Ms. H. 1 46 a als Abschluß einer Reihe von Erinnerungs-
Stichwörtern, deren sechs letztvorhergehende Malutensilien bezeichnen. Dies Heft weist
die Daten 1493 und 1494 auf und hat mit den Aufzeichnungen Uber die Franziskaner¬
madonna aus dem Jahre 1497 im Ms. J * natürlich gar keinen Zusammenhang.
3 ) Les Manuscripts de L. de. V. vol. IV.
Repertorium für Kunstwissenschaft* XXXV.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Abb. 2. Übertragung.
242
Emil Möller,
Zunächst biete ich neben einer Reproduktion des Faksimiles (Abb. 1)
der besseren Anschaulichkeit wegen das Blatt auch in moderner Druck¬
schrift (Abb. 2). Das Original ist 10 x 7,2 cm groß und in vergilbter Tinte
mit minutiös feinen Lettern geschrieben. Die Rückseite und die neben-
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Leonardo da Vincis Entwurf eines Madonnenbildes für S. Francesco usw.
343
stehende, d. i. vorhergehende Seite sind leer gelassen. Die benachbarten
Seiten handeln über die Bewegung von Wasser und Luft. Außerdem finden
sich in dem mit J* bezeichneten kleinen Notizbuch Leonardos (das später
mit J 1 zusammengebunden und fortlaufend numeriert wurde) eine Anzahl
allegorischer Prophezeiungen und Reihen lateinischer Wörter. Das Heft
kann annähernd datiert werden. Auf der Rückseite des ersten Blattes
(J 2 i») notierte Leonardo, daß er am 17. Oktober 1497 46 Ellen Leinwand
zu 13 Lire 14 ! /j S. gekauft hat.
Auf der oberen Hälfte des Blattes erblicken wir ein liegendes Recht¬
eck, in dessen Mitte sich ein kleineres befindet, das einen Thron bedeuten
soll und überschrieben ist: nostra Donna. Links davon steht eine Kolonne
von 6, rechts von 5 Heiligennamen. Unten rechts werden 7 Namen von
Franziskanerheiligen wiederholt, darunter 6 mit ihren Attributen. Alles
weist die bekannte Spiegelschrift auf, mit Ausnahme der obersten Kolonne
zur Rechten, die von links nach rechts in etwas größeren und merklich
weniger flüssigen Buchstaben, wahrscheinlich auch mit der linken Hand
geschrieben wurde.
Zuvörderst erscheint auf der linken Seite (vom Beschauer gerechnet)
der große Stifter des Franziskanerordens, der hl. Franz von Assisi. Ein
Emblem wird ihm nicht gegeben. Wahrscheinlich sollte er durch die Stigmata
seiner Hände charakterisiert werden. Ihm gegenüber steht S. Antonius von
Padua, *il Santo«, im Ruf seiner Wundertaten und Volkstümlichkeit jenen
fast überragend. Er soll Lilie und Buch tragen.
Über diesem mit 36 Jahren verstorbenen Heiligen lesen wir den Namen
Lodovico. Darunter haben wir wegen der 3 Lilien auf seiner Brust, die das
Wappen der Valois bedeuten und wegen der Königskrone zu seinen Füßen,
den nur 24 Jahre alt gewordenen Bischof S. Ludwig von Toulouse zu ver¬
stehen «). Ihm ist gegenübergestellt neben dem »seraphischen« Heiligen
ein zweiter Bischof, der Kardinal S. Bonaventura (1482 kanonisiert),
der durch den Titel des zweiten Stifters des Ordens ausgezeichnet ist und
nach der Legende als Kind durch die Fürbitte des hl. Franz geheilt wurde.
Als »doctor seraphicus« soll er co 1 serafini abgebildet werden, die als Engel*
köpfchen mit 6 Flügeln gewöhnlich seinen Bischofsmantel schmücken. Auf
ihn folgt der hl. Bernardin von Siena, der größte Volksprediger des 15. Jahr¬
hunderts, col Gesfi, d. h. mit dem Monogramm 1 HS, das er seinen Zuhörern
bei der Predigt vorhielt. Er ist ohne ein entsprechendes Gegenüber.
An die genannten 5 männlichen schließen sich 2 weibliche Heilige
des Franziskanerordens an: Links steht S. Elisabeth, die trotz ihrer corona
4 ) Die von Ravaisson-Mollien diesem Namen gegebene Deutung „Ludovic Ic
More" sieht aus wie ein schlechter Scherz. Der Herzog würde hier wirklich unter
die Heiligen geraten sein, wie Pilatus ins Credo.
16*
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
244
Emil Möller,
di regina nicht die erst 1625 heilig gesprochene Königin von Portugal be¬
deuten soll, sondern unsere liebe deutsche Heilige von der Wartburg. S. Eli¬
sabeth von Thüringen, die ebenso wie ihre gleichnamige königliche Gro߬
nichte, Mitglied des III. Ordens vom hl. Franziskus war, wird oft durch die
Königskrone ausgezeichnet, weil sie aus königlichem Geschlechte stammte.
Auf der rechten Seite entspricht ihr die hl. Klara, die erste Schülerin des
hl. Franz. Leonardo schrieb sca ciara, wobei das o statt des a als häufig
bei ihm vorkommende Flüchtigkeit zu nehmen ist. Unten auf der Seite
steht sogar scä ciaro. Die merkwürdige Abkürzung scä, die Ravaisson-M.
Beschwerden machte, ist aus s a n c t a entstanden (wie sco aus sancto) und
hätte eigentlich sca geschrieben werden sollen. R.-M. hatte sehr Unrecht,
diesen Namen auf einen gar nicht existierenden »Saint-Claire« zu deuten 5 ).
Davor hätte ihn schon das der Heiligen zugewiesene Attribut des taber-
naculo, das Sakramentshäuschen, d. h. die Monstranz, behüten sollen, mit
der die Heilige abgebildet wird, weil sie nach der Legende hiermit einen
Überfall der Sarazenen auf ihr Kloster erfolgreich abwehrte.
Auf diese 7 Heiligen des Franziskanerordens folgen die beiden Apostel-
fürsten Petrus und Paulus. Ihre Zsuammenstellung mit den be¬
deutendsten Heiligen der Franziskaner, insbesondere mit Franziskus und
Antonius ist eine sehr bemerkenswerte Eigentümlichkeit der
franziskanischen Ikonographie geworden, seitdem der aus
dem Orden hervorgegangene Papst Nicolaus IV. in den Apsismosaiken des
Laterans und der Kirche S. Maria Maggiore die beiden berühmtesten Heiligen
seines Ordens den beiden größten Aposteln zugesellte, als er durch Jacopo
Torriti das erste Mosaik restaurieren, das zweite neu schaffen ließ 6 ).
Den Abschluß der beiden Heiligengruppen bilden zwei Namen von
weniger bekannten Heiligen. Rechts steht nicht saostino = s. agostino,
wie Richter las, sondern sehr klar »favstino«, was Ravaisson-M. be¬
reits korrigiert hatte. Den entsprechenden Namen auf der linken Seite hat
man bislang allgemein unrichtig gelesen oder vielmehr gedeutet. Richter
übertrug Jobsita, Ravaisson-M. io vta und beide erkannten darin eine Ab¬
kürzung von Johannes Baptista. Nun steht da aber sehr deutlich in Spiegel-
schrift iovta (über dem v noch ein i), sodaß der Name einfach I o v i t a
lautet. S. Jovita wird mit seinem Bruder S. Faustinus fast immer zusammen
dargestellt. Sie stammten aus einer edlen Familie der Stadt Brescia und
wurden nach der Überlieferung um das Jahr 121, unter der Regierung des
Hadrian dortselbst enthauptet. Schon im Jahre 248 errichteten die Bres-
cianer über ihrem Grabe ein Oratorium. Man bildete den Faustinus als
5 ) Bd. VI p. 24 unter Corrigenda.
6 ) Beda Kleinschmidt, 0 . F. M., hat im Arch. Francisc. Hist. III, 620 f. auf diese
auffällige Neuerung zuerst hingewiesen und sie mit Beispielen belegt.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Leonardo da Vincis Entwurf eines Madonnenbildes für S. Francesco usw.
245
Priester, den Jovita als Diakon ab, beide mit Schwertern in den Händen 7 ).
Bei der Anordnung der Heiligenschar war zwar keine Gelegen¬
heit, tiefgründige theologische Wissenschaft anzubringen, aber die kaum zu
übertreffende Geschicklichkeit der Zusammenstellung, die genaue Fest¬
legung der Attribute und die Abwesenheit aller Korrektur des Schreibers
führen uns zu dem Schluß, daß es sich um wohldurchdachte, vorher bereits
schriftlich fixierte Angaben eines theologisch gebildeten Be¬
stellers handelt.
Von großer Bedeutung ist die Auswahl der Heiligen, die
uns instand setzt, die Auftraggeber mit ausreichender Sicherheit festzustellen.
Unter den 11 Heiligen des Entwurfes gehören, wie wir sahen, nicht
weniger als 7 — und zwar sind es die zuerst niedergeschrie¬
benen — dem Franziskanerorden an, und 2 weitere stehen noch ikono-
graphisch mit ihm in Verbindung. Dies beweist ohne Frage, daß das Bild
für eine Franziskanerkirche geplant war. Dieselbe könnte nicht
sehr weit von Mailand entfernt liegen, wo Leonardo 1497 schon seit 14 Jahren
sich aufhielt.
Von größter Wichtigkeit ist die Aufführung der 2 zuletzt hinzugefügten,
so lange mißdeuteten Namen Faustinus und Jovita. Entweder muß die
Franziskanerkirche diese Heiligen als Patrone geführt haben oder sie lag
in Brescia, wo das Märtyrerpaar natürlich in besonderen Ehren stand, weil
es dort geboren und enthauptet war. P. Michael B i h 1 , O. F. M., in
Quaracchi, der ausgezeichnete Kenner der Franziskanergründungen in Italien,
erklärte mir, daß die beiden Santi in keinem Orte Ober- und Mittelitaliens
Patrone eines Klosters der Minoriten gewesen seien. Daraus ergibt sich
die Folgerung, daß die Faustinus und Jovita ihren Ehrenplatz auf dem
Bilde — zuhöchst neben dem Thron der Madonna — als Patrone der
Stadt Brescia einnehmen sollten.
Brescia stand schon wegen seiner Waffenfabriken in regen Beziehungen
zu Mailand. Von dort war Vincenzo Foppa eingewandert. Leonardo selbst
hatte mehrere Jahre früher die berühmten Eisenhütten der Stadt besucht.
In dem nicht genau datierbaren Ms. B. fol. 40» sehen wir nämlich die Skizze
eines Blasebalges, dessen Spitze in einen Ofen mündet und dazu eine Notiz
über Blasebälge aus einem Stück, d. i. ohne Leder, die in den Hütten von
Brescia in Gebrauch waren 8 ).
7 ) S. Acta S. S. Febr. II. 809 ss. ed. Savio in den Analecta Bollandiana XV, Brüssel
1896, p. 5—72; 113—150-
®) A bresscia alla minera del fero. sono . mantaci dunpezo cioe sanza corame
ecquando sileua innalto/ laria entra perla sua finestrella . n . ecquando sabassa laria .
sifugie per Iecane. Ravaisson-M. hatte breccia gelesen und als »brache« gedeutet, was
schon Solmi, L. d. V. 73 berichtigte.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
246
Emil Möller,
Es muß sehr auffallend erscheinen, daß Leonardo, den damals seine
Forschungen und technische Probleme weit mehr reizten, als alle Malerei,
einen so großen Auftrag auf ein Madonnenbild von sehr herkömm¬
lichem Typ und dazu noch außerhalb Mailands übernommen haben
soll. Er stand ja doch auch in den Diensten des Herzogs, der ihn für so
viele Aufgaben heranzog, möchte mancher hinzufügen, und im Juni 1497
mußte er noch eine Mahnung an sich ergehen lassen, das Abendmahlsbild
in S. Maria delle Grazie zu vollenden!
Da ist es nun von großer Bedeutung, daß wir den handschriftlichen
Entwurf in das Jahr 1497 verlegen können. Das ist nämlich jene Zeit, in
der Leonardo von materiellen Sorgen schwer bedrückt war, weil infolge
eines reichlich ein und ein halbes Jahr andauernden Zerwürfnisses mit dem
Herzog alle Aufträge und Zahlungen von dieser Seite ausblieben. Nun hat
zwar Paul Müller-Walde im Jahrb. d. Pr. K. 1897, 107—18
diese tragische Episode im Leben des Meisters in seiner gründlichen Weise
• mit Heranziehung einer Reihe von Dokumenten m. E. ausreichend sicher-
t
gestellt. Dennoch haben die neuesten Biographen Leonardos, W. v. Seid-
litz, L. d. V. I, 250 ff. u. 282 ff. und 0 . Sirön, L. d. V., Stockholm 1911,
62, geglaubt, diese Resultate ablehnen zu sollen. Daher dürfte eine neue,
knappe Darstellung der Ereignisse hier um so mehr am Platze sein, als
einem von Leonardo für Brescia übernommenen Auftrag durch das Zer¬
würfnis mit dem Herzog das Auffällige genommen wird und andererseits
die Deutung Paul Müllers durch den auswärtigen Auftrag eine Bestätigung
erfährt. Um mich nicht in Polemik zu verlieren und die Darstellung klarer
zu gestalten, habe ich die zeitliche Aufeinanderfolge der Geschehnisse ge¬
wählt, wobei zum ersten Male eine feste Einordnung dahingehöriger Nieder¬
schriften Leonardos gewagt wurde. Weil ich einige von Müller-W. nicht
herangezogene Tatsachen verwende, und eins seiner Dokumente aus-
scheiden konnte, ferner überall bemüht war, Einzelnes schärfer auszudeuten,
so hoffe ich, daß das Folgende zur Erkenntnis einer dunklen Lebensperiode
Leonardos nicht ohne Wert sein wird 9 ).
Am 8. Juni 1496 richtete der Herzog von Mailand an den Erzbischof
Arcimboldi, der sich gerade in Venedig befand, in augenscheinlicher Er¬
regung ein Schreiben: »Der Maler, der unsere Camerini malte, hat heute
9 ) Um diesen Abschnitt nicht zu sehr auszudehnen, gebe ich von den Dokumente
nur den wesentlichen Inhalt oder die entscheidenden Stellen und verweise im übrigen
auf den Text im Jahrb. d. Pr. K. 1897. Bei v. Seidlitz stimmen die Übersetzungen bzw.
Inhaltsangaben nicht immer genau.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Leonardo da Vincis Entwarf eines Madonnenbildes für S. Francesco usw.
247
einen gewissen Skandal. gemacht, infolgedessen er sich entfernt hat« ,0 ).
Der Herzog sucht als Ersatz den Perugino, ein Anzeichen, daß der unge¬
nannte Maler nicht von gewöhnlicher Art war. Ersterer aber hatte Venedig
längst verlassen. Von Ende August bis zum 11. Dezember 1496 weilte
Maximilian in Italien. Der Herzog wurde bald in tiefe Trauer versetzt
durch den Tod seiner natürlichen Tochter Bianca (22. Nov.) und seiner
heißgeliebten Gattin (2. Jan. 1497).
Gegen Ende Januar malte Leonardo in Gegenwart mehrerer Edel¬
leute am Abendmahl, als der im Kloster delle Grazie abgestiegene Kardinal
Peraudi, Bischof von Gurk, das Refektorium betrat. Nachdem der Kardinal
die Arbeit des Malers genugsam bewundert, stellte er als guter Finanzmann
die indiskrete Frage nach dem Gehalt des Künstlers. »Für gewöhnlich
eine Pension von 2000 Dukaten (heutiger Wert etwa 100000 Lire!), ohne
die Geschenke und Präsente, die ihm der Herzog täglich mache«, antwortet
Leonardo. Solche Freigebigkeit verwunderte den Kardinal sehr. Aber
diese Angabe über die Höhe der Pension, die uns Matteo Bandello als Zeuge
der Szene in der Einleitung zu seiner 58. Novelle überliefert hat, stimmt mit
der Wirklichkeit — trotz Uziellis gegenteiliger Meinung — absolut nicht
überein. Das Gehalt wird wohl, wie Bugati 1570 schrieb, 500 Dukaten be¬
tragen haben. Leonardo selbst wird uns noch sagen, daß es damals seit
mehr als einem Jahre vollständig ausgeblieben war und daß die üblichen
Geschenke in »qualche vestimento« bestanden (C. A. 335™). Außerdem
bekennt später der Herzog selbst in der Schenkungsurkunde des Weinbergs,
daß er in puncto Präsente etwas wieder gut zu machen hatte. So müssen
wir die Worte Leonardos an den alten Herrn (der als geizig verschrieen war!)
als Ausfluß eines gewissen Galgenhumors auffassen, in welchem der Künstler
über seine damals schon etwas prekäre Lage zu scherzen und den Frager
abzufertigen suchte.
Leonardo hatte bei seinen übermütigen Worten schwerlich beabsichtigt,
des Herzogs zu spotten. Aber wir dürfen annehmen, daß dessen noch nicht
beseitigte Verstimmung aufs neue gereizt wurde, als die Aufschneiderei,
die der Kardinal für bare Münze genommen hatte, durch die dem Gespräche
beiwohnenden Edelleute am Hofe erzählt wurde.
Am 28. März 1497 schreibt Moro an die Baglioni in Perugia, daß er
für gewisse Arbeiten den ausgezeichneten Maler. Perugino wünsche. Sie
möchten ihn bewegen, zu kommen und ihm zu verstehen geben, daß er eine
solche Behandlung finden würde, daß er sich allzeit freuen würde, gekommen
zu sein **).
,0 ) Absentato. Ob das bedeutet: die Arbeitsstätte verlassen oder vorübergehend
auch die Stadt, ist ohne Belang.
n ) Das von Müller-Walde im Mailänder Staatsarchiv aufgefundene Blatt mit der
Digitized by
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
248
Emil Müller,
Im Ms. L. f. 94 r steht unter dem Datum des 4. April 1497 die Rechnung
für den kostbaren Stutzermantel, den Leonardo aus Silberbrokat mit grünem
Samt seinem Lieblingsschüler Salai machen ließ. Von der aufgewendeten
Summe — 26 Lire 5 Soldi — scheint nach der Bemerkung am Schluß (»ecci
di suo grossoni 13«) zwar reichlich die Hälfte von einem Lohnguthaben
des Salai herzurühren. Dennoch läßt die Höhe der Ausgabe für einen solchen
Zweck den Schluß zu, daß der Meister sich damals noch nicht in direkter
Geldverlegenheit befand.
Der Herzog besuchte nach Sanuto noch bis in den Monat August hinein
zweimal täglich das Grab seiner Gemahlin in S. M. delle Grazie und wie ein
Zeitgenosse, P. Rovegnatino berichtet **), frühstückte er damals jeden Dienstag
und Samstag im Kloster, sodaß er das Abendmahlsbild Leonardos häufig
vor Augen hatte. Am 29. Juni wies er den Marchesino Stanga an, den
♦Florentiner Leonardo« zu ermahnen, daß er das angefangene Abendmahl
beende, damit er an der gegenüberliegenden Wand beginnen könne. Es
sollten aber Satzungen von der Hand des Künstlers unterschrieben werden,
die ihn zwängen, innerhalb der vorgesehenen Zeit das Werk zu vollenden.
Auffällig kalt und fremd, ja respektlos, ist hier die Bezeichnung des Malers,
und das Mittel, ihn zur prompten Ausführung zu zwingen, war gerade für
dessen Natur von rücksichtsloser Härte.
Im September oder Oktober scheint, wie weiter unten ausgeführt
wird, das Altarbild für die Franziskaner in Brescia von Leonardo über¬
nommen worden zu sein. Die Aufgabe war als künstlerisches Problem nichts
weniger als verlockend für ihn, und der Gewinn — abgesehen von einer
nach den Verhältnissen des Künstlers wahrscheinlichen Anzahlung — lag
noch in weiter Ferne.
Nach langem Schweigen hat Leonardo an den Herzog einen Brief
gerichtet, dessen Entwurf im Codex Atlanticus f. 315* erhalten ist. Es
tut ihm sehr leid (viermal setzt er mit dieser Wendung die Feder an), daß
er in Notlage ist, aber noch mehr schmerzt ihn, daß die Notwendigkeit,
seinen Lebensunterhalt zu verdienen, ihn gezwungen hat, das Werk
zu unterbrechen, das ihm S. Herrlichkeit einst auf¬
trug. Er hofft in kurzem soviel verdient zu haben, daß er ohne Sorgen *J)
dem Herzog dienen könne, dem er sich empfehle. Wenn S. H. glauben
würde, der Schreiber habe Geld, so würde sie irren. Er habe 6 Personen
36 Monate unterhalten und nur 50 Dukaten in dieser Zeit empfangen. Viel-
Charakteristik der Botticelli, Filippino, Perugino und Dom. Ghirlandajo kann nicht, wie
der Autor annahm, in diese Zeit gehören, weil D. Ghirlandajo bereits 1494 starb!
**) Siehe Pino, Storia genuina del Cenacolo, 104.
* 3 ) Nur dies kann nach dem Zusammenhang der Sinn des Euphemismus »ad animo
riposato« sein!
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Leonardo da Vincis Entwurf eines Madonnenbildes für S. Francesco usw. 24g
leicht habe S. H. dem Gualteri nichts aufgetragen, in der Meinung, Leonardo
besitze Geld.
Der korrekt und gleichmäßig geschriebene Briefentwurf erscheint sorg¬
sam überlegt und von einer auffälligen Kühle in Anbetracht des heiklen
Inhalts. Der Künstler hat nicht das Gefühl, etwas Tadelnswertes getan zu
haben. Er bedauert nicht einfachhin, einen Auftrag des Herzogs unter¬
brochen zu haben, sondern in diese Zwangslage versetzt zu sein. Darin liegt
der im weiteren genauer präzisierte, schwere, wenn auch indirekte Vorwurf
gegen den Herzog, daß er seinen treuen Diener vergessen "hat und in Not
geraten ließ, sodaß dieser gezwungen war, sich anderswo seinen Lebens¬
unterhalt zu erwerben, um dann wieder ohne Nahrungssorgen dem Herrscher
m
dienen zu können. Was unter »l’opera che giä Vostra Signoria mi commise«
zu verstehen sei, ist wohl nicht mit voller Sicherheit zu entscheiden. Das
»Pferd« kann nicht gemeint sein, weil der Herzog, wie aus C. A. 335*» her¬
vorgeht, damals nicht gewillt war, die bedeutende Summe für den Guß
anzuweisen. Aber auch die Ausmalung der Camerini, die dem Maler ehedem
übertragen war, scheint, wie ich abweichend von M.-W. annehme, nicht
darunter verstanden zu sein. Leonardo tut nämlich seine Absicht kund, dem
Wunsche des Herzogs— auf Vollendung des Werkes— bald nachzukommen.
Die Camerini weiter zu fördern, hatte Leonardo aber ohne speziellen, neuen
Auftrag nicht das Recht, denn der Herzog bemühte sich, wie der Brief¬
schreiber wußte, seit langem darum, den Perugino für diese Arbeit heran¬
zuziehen. Somit bleibt wohl nichts anderes übrig, als die Annahme, daß das
Abendmahl gemeint sei, wie auch v. Seidlitz I 284 ohne weitere Be¬
gründung annimmt. In betreff dieses Werkes liegt ja eine Mahnung des
Herzogs vor, die der Künstler in den ersten Tagen des Juli 1497 erhalten
haben muß.
Dieser Briefentwurf Leonardos würde also aufzufassen sein als Er¬
widerung des Künstlers auf die am 29. Juni angeordnete herzogliche Mah¬
nung, das Abendmahl zu vollenden. Weil das Schreiben aber geeignet ist,
eine am 9. November deutlich wahrnehmbare, neue Verstimmung Moros
zu begründen, glaube ich, daß es erst in den Anfang des November
fällt m).
Am 9. November schickt Moro einen Eilboten nach Perugia. Die
Baglioni sollen auf den Perugino einen Druck ausüben, damit er komme.
Dem Maler wird ganz anheimgestellt, ob er sich dauernd oder nur für einige
Zeit dem Dienste des Herzogs widmen wolle, der Herzog nehme ihn ganz
* 4 ) Müller-Walde, a. a. O. 118, verlegte beide Briefentwürfe Leonardos in die Zeit
zwischen dem 9. November 1497 und 9. Februar 1498; wahrscheinlich seien sie noch im
Jahre 1497 aufgesetzt.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
25 °
Emil Möller,
nach Wunsch. Moro erwartet schleunige Antwort und verspricht die Kosten
eines Eilboten zu ersetzen * 5 ).
Nunmehr mußte aber Leonardo erkennen, daß es die höchste Zeit
sei, das Feuer der Zwietracht zu löschen. Auf einem großen Blatt des Codex
Atlanticus (335 r *) in der (Ecke rechts oben hat er sich vergegenwärtigt,
wie die Entfremdung gekommen war: »Der Irrtum in der Aufrechnung l6 ).
Zuerst die Benehzien (Mauteinkünfte) und dann die Arbeiten und dann
die Undankbarkeit und dann die unwürdigen Klagereien und dann . . .
— wohl das, Was der Herzog beliebte »scandalo« zu nennen.
Auf einem kleinen, leider am Schluß aller Zeilen verstümmelten Blatt
des Codex Atlanticus (fol. 335 T * die Rückseite ist leer und zudem auf*
geklebt, es ist durchaus nicht, wie man nach der Numerierung vermuten
möchte, dasselbe Blatt wie das eben besprochene große f. 335*••) ent*
wirft Leonardo an den Herzog einen neuen, für uns noch viel wichtigeren
Brief, der wie ein greller Blitz die damalige Lage des Künstlers erhellt.
Die Schriftzüge sind auch hier fest und die äußere Form von der Leonardo
zur Natur gewordenen Korrektheit, was ein kostbares Zeugnis für die un¬
gewöhnliche Selbstbeherrschung und Sicherheit ablegt, die diesen seinen
Zeitgenossen so weit überlegenen Geist auch in bedrängten Lagen und gegen¬
über Fürstenthronen nicht verließ. Aber die berechtigte, innere Erregung
durchzittert den Inhalt des Geschriebenen von Anfang bis zu Ende:
* 5 ) Den von Müller-Walde noch nicht veröffentlichten, aber nicht unwichtigen Schluß
des Briefes vermag ich hier in der Übertragung von H.Dr. Bombe zu geben .... a tempo
limitato. Perche lo pigliaremo a quäle si vogli partito e si provederemo del modo secundo
che le M. V. ordinarano e gli ne faremo le cautione, dove lui piü se accontenterä: e de
questo expectamo resposta et cum celeritä, etiam se le Mtie V. dovcssero mandare lettere
a posta, perche lo satisfaremo. — Perugino scheint auch'auf diese Aufforderung nicht
erwidert zu haben. Die Angabe bei Fritz Knapp, Perugino, 64 »Dieser dankt jedoch, da
er zu viel zu tun habe« ist, wie ich vermutete und mir H. Dr. Bombe bestätigt, eine Kom¬
bination ohne historische Unterlagen und deshalb auch in ihrer Fassung sehr zu bean¬
standen. — Ich vermute, P. hat wohl gewußt, wozu er gebraucht werden sollte, und da
hat der Respekt vor einem Leonardo denn doch seinen stark ausgebildeten Erwerbssinn
gehindert, den verlockenden Anerbietungen zu folgen. Der Umstand, daß der Herzog
den Namen des zu ersetzenden Malers verschweigt, scheint mir sogar darauf berechnet,
den P. nicht scheu zu machen.
,s ) Im Ms. steht sehr deutlich: erore dell!ta|cho. Paul Müller-W. wagte 1897
die seither von der Leonardo-Literatur übernommene Konjektur »intonaco« und deutete,
daß bei der »Grundierung« der Camerini ein Versehen vorgekommen sei. Ich bin in
der angenehmen Lage, hier mitteilen zu können, daß H. Dr. Müller seine frühere An¬
nahme aufgegeben hat und die Lesung itacho = intacco beibehält, die als »Einkerbung«
in den Rechnungsstab, Rechnung vermittelst des Kerbstockes, auszulegen ist. Dieser
Sinn paßt vorzüglich in den Zusammenhang. Es scheint, daß die Pfennigfuchserei,
durch die das Gehalt Leonardos damals zusammengebracht wurde, zu einer heftigen
Szene geführt hat, vielleicht mit dem Marchcsino Stanga, so daß Leonardo seine Arbeit
in den Camerini verließ.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Leonardo da Vincis Entwurf eines Madonnenbildes für S. Francesco usw. 251
Wenn ihm kein Auftrag mehr auf irgendwelche Arbeit gegeben wird * 7 )
und als Belohnung für seinen Dienst Anweisungen auf Einkünfte, mit denen
er nichts anfangen kann, so will er seine Kunst wechseln. Er sucht nach
Entschuldigungen für den Herzog: der Sinn S. Herrlichkeit ist mit wich¬
tigeren Dingen beschäftigt, als daß Leonardo ihn mit seinen »Bagatellen«
belästigen dürfte. Er hat gehört, daß sein Schweigen die Ursache
der Ungnade sei, aber sein Leben stehe allzeit dem Herrscher zu Befehl. Vom
Pferde wolle er wegen der Ungunst der Zeiten nichts sagen. Aber seit zwei
Jahren habe er kein Gehalt mehr empfangen, und nach Abzug seiner Un¬
kosten und des Unterhalts für zwei Meister seien ihm nur 15 Lire bei ge¬
nanntem Werk (cavallo?) verblieben. Er möchte der Nachwelt durch Werke
von Ruf zeigen, wer er gewesen sei, aber er wisse nicht, wo er sie verausgaben
könne. Daß er darauf bedacht gewesen sei, sich den Lebensunterhalt zu
verdienen, habe den Herzog nur erzürnen können, weil er nicht wußte, in
welcher Lage sich der Künstler befand. Der Herzog möge sich des früheren
Auftrages erinnern, die Camerini zu malen* 8 ).
Dieses verzweifelte Schreiben mag noch gegen Ende des Jahres 1497
an den Herzog gerichtet sein. Irgendwelche Freunde wie Fra Luca Pacioli
werden ein gutes Wort eingelegt haben. Aber das war vielleicht nicht einmal
mehr nötig. ,,Mit der Ausmalung der Camerini von neuem betraut zu
werden“, das war die Bitte, die der Herzog schon lange von Leonardo zu
hören gewünscht hatte. Der Bann war gebrochen. Jedenfalls war vor
dem 9. Februar 1498, dem Tage des wissenschaftlichen Wettstreites in der
Burg der Sforza, eine Aussöhnung erfolgt, da der Künstler nach Paciolis
Bericht bei dieser Gelegenheit eine der glänzendsten Gestalten des Kreises
um Ludovico bildete.
Auf dem vorletzten Blatt des Ms. J* (90») künden uns sehr durch¬
sichtige Allegorien den Wechsel der Stimmung bei Leonardo an: »Moro
in Gestalt der Fortuna . . . Messer Gualtieri faßt ihn ehrerbietig — um ihn
aufmerksam zu machen — am Saume des Gewandes. Die Armut in furcht¬
erregender Gestalt, läuft hinter einem Jüngling her; Moro bedeckt ihn mit
einem Bausch seines Gewandes und bedroht das Ungeheuer mit einer golde¬
nen Rute«. Das sind schmeichelhafte Anspielungen auf das Amt, das der
* 7 ) Daß der Herzog in derselben Zeit hinter einem Perugino herläuft und diesem
goldene Berge verspricht, wenn er in seinen Dienst trete, durfte Leonardo natürlich nicht
wagen, seinem Herrn vorzuhalten.
,8 ) Diese bitteren Klagen über zweijährige Vernachlässigung und die demütige
Bitte am Schluß um neuerlichen Auftrag zur Ausmalung jener Camerini, die der ungenannte
Maler am 8. Juni 1496 unerledigt gelassen, zu deren Fertigstellung der Herzog volle 11/ 2 Jahre
den Perugino unter den nobelsten Bedingungen heranzuziehen suchte, die aber schließlich
doch von Leonardo dekoriert wurden, sind für sich allein schon imstande, die Identität
jenes ungenannten Malers mit Leonardo zu erweisen.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
252
Emil Möller,
Herzog bei Leonardo ausgeübt hat. Die Zeichnung einer Pflanze mit der
Wurzel nach oben, dazu noch die Worte: »Für einen, der daran wäre, die
Huld zu verlieren«, soll das Schicksal versinnbilden, das dem Künstler -
bevorstand.
Am 22. März berichtet Gualteri, daß an den Wölbungen der Camarini
gearbeitet, d. h. der Malgrund aufgetragen wird. Am 20. April schreibt er,
daß Leonardo für die Saletta negra die Abmessungen der Wandbemalung
abgeändert hat. Am 21., daß derselbe die Sala delle Asse bis Ende Sep¬
tember zu vollenden verheißt. Am 23. wird gemeldet, daß in letzterem
Saal das Gerüst, das für den Bewurf gedient hat, entfernt ist. Man sieht:
es wird fieberhaft gearbeitet, um die Erfüllung der lange gehegten Wünsche
des Herzogs zu beschleunigen.
Am 1. Mai 1499 schrieb Moro an seinen florentiner Agenten Taddeo
Vimercati: Die Signoria möge »einem gewissen Perugino« und dem Meister
Filippo (Filippino Lippi) Vorhaltungen machen, daß sie die vor 3 Jahren
übernommenen Aufträge auf zwei Altarbilder für die Certosa zu Pavia noch
nicht ausgeführt hätten. Man möge sie veranlassen, einen bestimmten
Termin für die Ablieferung der Arbeiten anzugeben, widrigenfalls sie die
empfangenen Vorschüsse herauszugeben hätten * 9 ).
Das ist allerdings eine ganz andere Sprache, die der Herzog nunmehr
gegenüber Perugino führt. Seiner Dienste bedarf er jetzt nicht mehr.
Leonardo scheint die Sala delle Asse pünktlich im September beendet
zu haben, weil am 2. Oktober vom Herzog ein Weingarten eingetauscht wird,
den der Künstler am 26. April 1498 unter den glänzendsten Lobpreisungen
erhält.
Ein hochinteressantes Zusammentreffen ist es, daß wir über Leonardos
äußere Erscheinung am Ende des Jahres 1497 zufällig authentisch unter¬
richtet sind durch eben dasselbe Ms. J *. Auf fol. 88 T sehen wir die flüchtige,
aber meisterliche Skizze eines gereiften Männerkopfes mit wallendem Bart,
die von dem nachher geschriebenen Text (über Stoß und Bewegung) nur
wenig geschont ist. Ravaisson-Mollien hatte vollkommen Recht, darin ein
Selbstporträt des Meisters zu vermuten. Einzig Müntz hat später noch von
dieser wichtigen Zeichnung referierend Notiz genommen und sie nach mangel¬
hafter Kopie wiedergegeben (L. d. V. 498). Ich biete sie hier nach dem leider
unscharfen Lichtdruck bei Ravaisson-M. (Abb. 3). Sehr charakteristisch
> 9 ) .. u n o ccrto Perusino et uno magistro Philippo... Et perchi hormai
la longeza i fora del debito... prefigerli qualche honcsto termino ad finire dicte an-
cone, et quando poi al prefixo termino non finiscano dicta opera, che li vogliano fare con-
stringere ad retrodare li dinari che hano havuti.. Et circa questo non mancarite de Studio
perche l'effecto segua... Missive extra dominium, 1498—99 c. 158. Für Mitteilung dieser
Urkunde bin ich Herrn Dr. Bombe zu Dank verpflichtet.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Leonardo da Vincis Entwurf eines Madonnenbildcs fUr S. Francesco usw.
253
sind bei dem Kopf mit der energisch gebogenen Nase der scharf beobach¬
tende, sinnende Blick und der bittere, melancholische Zug um den Mund.
Eine würdevolle, an einen alten Seher gemahnende Erscheinung! Und
doch zählte Leonardo damals erst 45 Jahre! Wir möchten den Dargestellten
eher gegen 60 jährig nennen. Diese Beobach*-
tung ist analog zu machen bei dem herrlichen
Selbstporträt in der Kgl. Bibliothek in Turin, das
Morelli, Charles Löser und Carotti eben wegen
des zu greisenhaften Aussehens nicht als Selbst»
bildnis des Meisters anerkennen wollten. Wenn
das Titelbild zu Florenzios Musica (Abb. v.
Seidlitz I, 105) spätestens 1491 angefertigt ist,
wie es scheint, so ist hier der damals höchstens
39jährige Leonardo ebenfalls sehr männlich-reif
dargestellt. Ant. de Beatis sah den 65jährigen
für älter als 70 an. Wir wissen, daß eine vom
Jünglingsalter an ungeheuer angespannte, viel¬
seitigste Geistestätigkeit dem Meister ganz unge¬
wöhnlich früh die Merkmale des Alters einge¬
prägt hat. Daß auch nicht geringe Sorgen und schmerzliche Erfahrungen
manche Furchen in sein Antlitz gezeichnet und den Zug der Bitterkeit und
Enttäuschung seinen Lippen aufgedrückt haben, hat uns die vorstehende
Untersuchung wieder offenbart.
Abb. 3. Leonardos Skizze
nach sich selbst. Ms. J 2 88
(»36) v .
G. Gronau, i8 f Mc. Curdy, 35, M. Herzfeld, LII, haben in ihren Leonardobiogra¬
phien die Darstellung Müller-Waldes akzeptiert. Dagegen lehnten Solmi, 107, W. v. Seid¬
litz und Sir£n (s. u.) sie ab, allerdings ohne ernstliche Gründe anzuführen und ihrerseits
die Briefentwürfe Leonardos zu erklären. W. v. Seidlitz bekämpft hauptsächlich ver¬
schiedene phantastische Details, für die ich vergebens nach einem Autor gesucht habe.
(I, 250 feine ganze romanhafte Geschichte, Zerwürfnis Leonardos mit dem Herzog — dies
allerdings ist eine Tatsache, wenn sie Herr v. S. auch nicht konstatiert — Flucht aus
Mailand (!), langjähriger (!) Aufenthalt des Künstlers in der Verborgenheit (!)und endliche
Aussöhnung, nachdem er sich demütig zur Rückkehr entschlossen« ( 1 ).) Nach dem Zu¬
sammenhang der Darstellung bei v. S. muß man annehmen, daß der Aufdecker dieser
Lebensepisode Leonardos, Dr. Paul Müller, der als Vertreter der von Herrn v. S. bekämpften
Hypothese allein aufgeführt ist, solche phantasievollen Dinge vorgebracht habe. Aber
dieses Autors ebenso maßvolle wie gründlich fundierte Darstellung (Jahrb. d. Pr. K.-S.
1897) enthält keine Spur derartiger romanhafter Einzelheiten, läßt nicht einmal Raum
dafür! Ich möchte mich nun nicht damit begnügen, auf diese bedauerliche Entgleisung
in dem gelehrten Werk des Herrn v. S. hinzuweisen, sondern ich halte es auch für eine
Pflicht, zu sagen, daß darin eine schwere, unverdiente Kränkung Paul Müllers enthalten
ist, des eminentesten Lconardoforschers, den die Welt bisher gesehen, der in einer un¬
vergleichlich idealen Gesinnung seine seltenen Geistesgaben und sein Vermögen der ein¬
dringlichsten Ergründung jenes komplizierten, einzigen Genius seit 30 Jahren geopfert
hat. In seinem Torso gebliebenen Jugendopus, das naturgemäß noch in manchen künstle-
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
254
Emil Möller,
rischen Fragen wenig kritisch sein konnte, bot er vor einem Menschenalter die wertvollsten
Anregungen, io Jahre später in seinen »Beiträgen♦ bereits gediegenste, bis heute fast
nur in Kleinigkeiten überholte Abhandlungen. Ungezählte harren mit Sehnsucht, dafl
dieser Leonhardokenner ohne Gleichen die ausgereiften Früchte seiner unermüdlichen
Studien, die reich sein werden an kostbarem, neuem und mit der bekannten unübertreff-
liehen Sachkenntnis und Exaktheit verarbeitetem Material, der Welt vorlegen werde.
Ich sehe es natürlich als selbstverständlich an, daß Herrn Geheimrat v. Seidlitz im vor¬
liegenden Falle, wie u. a. auch bei Erörterung der Madonna in der Felsengrotte, wo ver¬
gessen ist zu bemerken, daßM.-W. seine irrige Jugendansicht längst wiederrief, jegliche Ab¬
sicht einer geringschätzigen Behandlung ferngelegen hat. — Nach v. S. soll Leonardo
nur als Ratgeber bei der Ausschmückung der Saletta negra tätig gewesen sein (I, 252).
Aber warum? Wo er doch bei der Sala delle asse die ganze Dekoration entworfen hat!
Von Not und Armut (siel) könne bei L. keine Rede gewesen sein (282). Obwohl diese
Behauptung sofort erheblich eingeschränkt wird, ist dadurch doch dem Meister, der nichts
so tief verabscheut hat als die Lüge, der indirekte Vorwurf der Unwahrhaftigkeit gemacht.
(Allerdings hat Sal. Reinach neuestens dem Künstler sogar direkt betrügerische Geschäfts¬
praktiken zuzuschieben gewagt. Gaz. B.-A. August 1911.) Der Briefentwurf an die Dom¬
verwaltung zu Piacenza (284) gehört in eine frühere Zeit, nämlich als Leonardo noch
eifrig am Reiterstandbild arbeitete. — OsvaldSir6n(L. d. V. 62) betont, daß der
ungenannte Maler der Camerini sich mit Dekorationsarbeiten befaßt habe und deshalb
mit Leonardo nicht identisch sein könne. Aber hat denn Leonardo nicht auch solche
Aufgaben unternommen, ja direkt um die Erneuerung gerade dieses Auftrags gebeten?
War Perugino, der zunächst an die Stelle des Ungenannten treten sollte, denn ein
„Zimmermaler»? Die Behauptung, daß Leonardo vom Herzog immer mit der größten
Rücksicht und Ehrfurcht behandelt sei, hätte Sir 4 n nicht aufstellen dürfen, weil die von
Paul Müller veröffentlichten Dokumente ja den unwiderleglichen Gegenbeweis enthalten
* *
*
Wir hatten oben erkannt, daß die Zusammenstellung der Franzis¬
kanerheiligen mit den Brescianer Märtyrern Faustinus und Jovita mit
Sicherheit auf eine damalige Franziskanerkirche in Brescia
hinweist. In S. Apollonio »extra civitatem« lag nun zwar ein 1422 gegrün¬
detes Kloster der Observanten, das 1519 unter dem Titel S. Giuseppe in
die Stadt verlegt wurde 20 ). Aber als Besteller eines bedeutenden Werkes
bei einem Leonardo kommt nur eine reiche Kirche in Betracht. Die damab
einzige Niederlassung des Ordens innerhalb der Stadt war im Besitz der
Konventualen: das reiche Kloster von S. Francesco d' Assisi.
Treten wir in das Gotteshaus ein, dessen lombardische Gotik durch
Renaissancearchitektur stark verändert ist, so wird unser Auge am meisten
durch den prachtvollen Hochaltar angezogen. Ein überaus reich und höchst
geschmackvoll geschnitztes, vergoldetes Rahmenwerk aus der Hand des
Stefano Lamberti umschließt eine der glänzendsten Schöpfungen
des Brescianers Girolamo Romanino. Der Rahmen trägt das
*°) Paolo Sevesi, O. F. M., Saggio storico... dell’ alma Provincia Minoritica di
Milano, Brescia 1906, 17.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Leonardo da Vincis Entwurf eines Madonnenbildes für S. Francesco usw. 255
Datum 1502; das Gemälde wird gewöhnlich in das Jahr 1511 verlegt. Morelli
(Galerie in Berlin, 115) setzte es auf 1514 an.
Der Gegenstand des Bildes ist Leonardos Entwurf auffällig verwandt:
die Madonna auf dem Throne, hinter dem 2 Engelchen eine grüne Draperie
halten, dazu 2 stehende und 4 knieende Franziskaner. Man hat sie bisher
alle als Heilige bezeichnet, doch kommt nur fünfen dieser Titel zu: Franziscus
und Antonius, Bernardinus und im Vordergrund Bonaventura und Ludwig
von Toulouse. Der links zu den Füßen des hl. Franz, etwas verdeckt von
S. Bonaventura und gegenüber S. Bernardino knieende greise Mönch ohne
Emblem ist der Donator des Altars: der aus Brescia stammende, be¬
rühmte General des Franziskanerordens Fr. Franciscus Nani gen.
S a n s o n , dem Kirche und Konvent die Kostbarsten Stiftungen ver¬
danken 21 ). Auf der unteren Rahmenleiste lesen wir in einem runden Schild
die Inschrift:
F. FRANCISCU/ SANSON DE BRIX/ M M GENERALIS/ AERE SUO/
MDII.
Francesco Nani 21 ) war als Sohn eines aus Siena eingewanderten
wohlhabenden Kaufmann 1414 in Brescia geboren. Er trat 1458 in Siena
in das Kloster der Konventualen ein, die eine mildere Regel als die Obser¬
vanten befolgten und den Brüdern auch Privateigentum gestatteten. Dort
wurde er 1473 Lektor. Papst Sixtus IV. hatte ihm schon vorher wegen einer
glänzenden Disputation über die immaculata conceptio B. M. V. den Namen
»Samson« verliehen, den Nani in der Folge beständig führt. Kaiser Fried¬
rich III. ernannte ihn 1483 zum Kaiserlichen Rat. Von 1475—99, länger
als irgendeiner seiner Vorgänger, war er Minister Generalis des gesamten
Franziskanerordens. Er machte sich durch persönliche Tüchtigkeit, wie
durch Klugheit und Milde überall beliebt und zeigte sich auch als eifriger
Förderer der Wissenschaften und Künste. Was er für S. Francesco in Assisi
getan, ist bei H. Thode zu lesen. Von seiner Fürsorge für S. Antonio in
11) Don Angelo Nazzari, der kunstsinnige Pfarrer von S. Francesco, bestätigte
meine Deutung.
**) Weil über diese bedeutende Persönlichkeit, die uns im folgenden noch weiter
beschäftigen wird, die historischen Nachrichten sehr spärlich und zerstreut sind, dürfte
hier eine Sammlung des Hauptsächlichen mit Angaben der Quellen nicht zwecklos sein.
Mir waren nur Zanellis verdienstvoller Aufsatz im Bullettino Senese di Storia Patria 1897
Fase. I, Heribert Holzapfels 0 . F. M., Handbuch der Geschichte des Franziskanerordens
und Henry Thodes, Franz v. Assisi und die Anfänge der Renaissance zur Hand. Alles
übrige verdanke ich der unermüdlichen Hilfe unseres gelehrten deutschen Landsmannes
P. M i c h a el B i h 1 0 F. M. im Collegio S. Bonaventura in Quaracchi. Es wäre außer¬
ordentlich wünschenswert, daß ein Historiker des Franziskanerordens das wohl noch
sehr reichlich vorhandene archivalische Material über den in so vieler Beziehung her¬
vorragenden Fr. Sanson sammeln und in einer Monographie verarbeiten möchte.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
256
Emil Möller,
Padua schrieb Bern. Gonzati, La Basilica di S. Antonio di Padova, 2 voL
Pad. 1852—53. Bei weitem der meisten und kostbarsten Zuwendungen
aber hatte sich das Kloster S. Francesco in Brescia zu erfreuen. Schon
1463 stiftete er die mit Intarsien geschmückten Chorstühle und die Schränke
der Sakristei. Dann folgen kostbare Paramente, Silbergeräte, Bücher, Neu¬
bau des Refektoriums (1496), Stiftungen für die infirmaria der Brüder u. a. m.
Nach Zanellis Angabe ( 1 . c. p. 86) hat Sanson als General des Ordens sogar
mehrere Jahre in Brescia residiert. Für letzteres und für häufige Besuche
in seiner Vaterstadt spricht m. E. auch die Aufbewahrung seines außer¬
gewöhnlich reichen, wohl aus dem elterlichen Hause stammenden Tafel¬
schatzes im Kloster von S. Francesco. Am 21. Oktober 1499 machte Sanson
in S. Croce in Florenz sein Testament. Er starb am 27. Oktober. Sein
Epitaph in S. Croce lautet nach Sbaralea, Supplementum ad scriptores
Ord. Fr. Min. Roma 1809, 3. Aufl. 1908, I, 300: Francis(ci) Sanson(is)
Briscian(i)/ probitate vitae et Religion(is) Christia(nae) doctrina/ meruit in
Ordine Mino(rum) Generala(tus) honorem./ Florentiae Vita functus est/
transac(tis) in eo honore vigintiquinque annis./ Sepul(tus) est suor(um)
Frat(rum) desiderio et luctu ingenti/ qui vitae morumque eius memores
pos(uerunt). / Vix(it) an(nos) LXXXV, Obiit die XXVII octobris A(nno)
S(alutis) MCCCCIC/ Clarissima Albertorum familia/ Monumentum hoc
dicavit.
Montag, den 4. November 1499 wurde im Kloster zu Brescia ein
Inventar der dortigen Hinterlassenschaft Sansons aufgenommen, die außer
annähernd 6000 Dukaten eine Menge Kleinodien, und kostbaren Tafelzeuges
aller Art enthielt, darunter bemerkenswert 78 silberne Gabeln * 3 ).
Bildnisse des Sanson sind in Padua, Capella del Santo, ein
Flachrelief, ohne Namen, aber am Wappenschild mit dem aufrechten,
gekrönten Löwen erkennbar. (Gonzati II, 152.) Petrus Rodulphius Rossi-
nianensis, Historiarum seraphicae ordinis libri III, Venetiis 1586 gibt fol. I94 r
einen Holzschnitt als vera effigies, der mir vorliegt und den Eindruck
eines vornehmen Prälaten in mittleren Jahren macht. Ich halte die Zeichnung
für im Zeitgeschmack stilisiert. Kostbar aber und von einem eklatanten Streben
nach größter Naturtreue ist ein I n t a r s i o von den Chorstühlen in der
Oberkirche von S. Francesco zu Assisi, das ich hier nach Ad. Venturi, La
Basilica di Assisi, Roma 1908, p. 145 durch gütige Vermittlung von P. Bihl
geben kann (Abb. 4). Am 5. August 1491 schloß Sanson den Kontrakt
über die Chorstühle mit Maestro Domenico da San Severino (in den Marken).
2 3 ) Das kulturgeschichtlich hochinteressante Verzeichnis ist bei Zanelli, 1 . c. 94 ff.
abgedruckt, aber vom Autor irrig als Teil des Testamentes aufgefaßt. Sanson heißt ja
auch schon Rmus q.(ondam) d.(ominus) frater Franciscus, und das Jahr steht durch
Angabe des Wochentages fest.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Leonardo da Vincis Entwurf eines Madonnenbildes fUr S. Francesco usw.
2 57
Die Inschrift »M. F. Samson Generalis fieri curavit«. Dominicus de Sancto
Severino me fecit MCCCCCI bezeugt die Vollendung erst nach dem Tode
des Generals (vgl. Thode, 1 . c. 302). Unter dem Bilde des Generals steht
M. R. (Magister) FRANC . SÄSON .
GENEALIS. Das Porträt stammt
also jedenfalls aus den letzten Lebens¬
jahren Sansons. Ein kluger Kopf, mit
vorgewölbter Stirn und Adlernase,
klarem Auge und feingeschnittenem
Mund. Der Haarkranz ist grau, aber
noch von kräftigem Wuchs. Man emp¬
fängt den Eindruck eines bis ins höchste
Alter ruhig und sicher schaffenden,geistig
bedeutenden Mannes.
Eine Vergleichung mit dem
Porträt bei G. Romanino ergibt zwar
sichere Ähnlichkeiten, aber keine zur
Identifizierung direkt zwingenden Mo¬
mente. Sicherlich hat der Maler auch
nach einem anderen Vorbild gearbeitet,
das in S. Francesco in Brescia gewesen
sein muß * 4 ).
Es muß sehr auffallcn, daß der
am 27. Oktober 1499 verstorbene Sanson als Stifter auf einem Bilde
dargestellt ist, das nicht vor 1511 gemalt sein kann. Desgleichen ist sehr
merkwürdig, daß der Rahmen des Gemäldes bereits 1502 vollendet war.
Meines Wissens hat bisher niemand diese chronologische Differenz zwischen
Rahmen und Bild zu lösen gesucht. Das Porträt auf dem Altarbild ist
aber in der Literatur überhaupt unbemerkt geblieben. Don Angelo Nazzari
glaubt, daß der Konvent von S. Francesco seinem größten Wohltäter eine
posthume Ehrung habe zuteil werden lassen wollen. Aber in dem Ausdruck
Franciscus Sanson . . a e r e s u o scheint doch zu deutlich ein Leben¬
der als Auftraggeber zu uns zu sprechen * 5 ).
* 4 ) Zur Literatur wären noch nachzutragen: Wadding, Annales Minorum ed. II
Romae 1736; von demselben: Scriptores Ordinis Minorum, Romae 1650; 3. Aufl. 1906.
Marianus Florentinus (f 1523) Compendium Chronicarum Fratrum Minorum, erstmalig
ediert im Archiv. Francisc. Histor. vol. I—IV. Papini, Etruria Francescana, vol. I. Siena
1797. Luigi Fe, II padre Francesco Sanson e la chiesa di S. Francesco in Brescia, Brescia
1867. Das sehr reiche Archiv von S. Francesco hat nach Aussage von Don P. Guerrin)
arch. vesc. in Brescia eine unglaubliche Zerstreuung erfahren. Im Staatsarchiv zu B.
seien nur wenige Stücke über Sanson, die Zanelli vielleicht schon sämtlich ediert hat.
2 5 ) Diese Inschrift ist zweifellos alt und ursprünglich, wie Don Nazzari versichert.
Repertorium für Kunstwissenschaft, XXXV. *7
Abb. 4. F. Franciscus Nani gen. Sanson.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
258
Emil Möller,
Natürlich konnte Sanson dem nach Don Carlo Finarolis Feststellung
erst 1485 geborenen Gir. Romanino keinen Auftrag erteilen. Er hat seine
Abmachungen vielmehr mit einem älteren, angesehenen Meister getroffen,
der aber trotz jahrelanger Frist den Auftrag nicht ausgeführt hat.
Ich stelle die Behauptung auf, daß die Bestel¬
lung im Jahre 1497 bei Leonardo erfolgte und mit
dem oben besprochenen handschriftlichen Entwurf
der »Franziskanermadonna« des Ms. J * zusammen¬
fällt.
Einen annähernden Termin für den Auftrag des Sanson können wir
aus der Datierung des Rahmens erschließen. Weil dieser 1502 fertig war,
kann er bei dem Reichtum der Arbeit schwerlich später als 1500 in Auftrag
gegeben sein. Ein Rahmen kann aber erst begonnen werden, wenn der
Maler die Abmessungen des Bildes angegeben hat.
Aber hat Sanson nicht etwa in seinem Testament die Anfertigung
des neuen Hochaltars angeordnet? Wo sich das Original des Testamentes
befindet, ist weder Zanelli noch P. Bihl bekannt. Jedoch liegt ein Auszug
aus demselben bei Gonzati, 1. c. I. app. LVIII—LIX vor, nämlich ein Ver :
zeichnis der Stiftungen und Vermächtnisse des Sanson, entnommen aus
Liber omnium introituum et expensarum gloriosi S. Antonii, geschrieben
1499—1500. Hier werden der Sakristei von S. Francesco in Brescia gegen
6000 Dukaten vermacht und zwar zur Anfertigung eines großen, genau be¬
schriebenen Prozessionskreuzes! Von einem Altar oder einem Bilde ist in
dem ganzen Verzeichnis keine Rede, wie P. Bihl gütigst feststellte.
Daher muß der Auftrag zur Herstellung eines neuen Hochaltars in die
letzten Lebensjahre des Sanson fallen!
Unter den wenigen Urkunden, die bislang über diesen bedeutenden
Mann veröffentlicht sind, befindet sich eine über die Verschönerung von
S. Antonio, die in Padua 1497 »die Jovis secunda Martii« in der Ratskammer
des Podest^ in Gegenwart des Generalministers ausgefertigt wurde (Gonzati,
1. c. I, 76 u. app. doc. LII). Dort heißt es, daß der General »die crastino est
recessurus.« Wohin die Reise ging, wird allerdings nicht gesagt, doch glaube
ich mit Bezug auf eine andere Urkunde annehmen zu dürfen, daß Sanson
sich noch längere Zeit in Oberitalien und zwar hauptsächlich in seiner Vater¬
stadt und in seinem Lieblingskloster S. Francesco aufgehalten hat. Am
12. September beantragte nämlich die Stadtverwaltung von Brescia bei
der Signoria in Venedig Steuerfreiheit für ein Haus mit Grundbesitz, das
Sanson aus seinem Familienerbe dem Konvent von S. Francesco geschenkt
Diejenige auf dem oberen Rahmen: A./MDCCCL/ TEMPLI/CURATORES/IN MELIUS
RESTITU(ERUNT) ist in denselben Formen nachgebildet, und ich glaube, daß durch
sie eine andere Inschrift verdrängt wurde.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Leonardo da Vincis Entwurf eines Madonnenbildes fllr S. Francesko usw.
2 59
hatte und am 26. September gewährte der Doge Augustinus Barbadico das
erbetene Privileg 26 ). Diese Stiftung setzt die Anwesenheit des Sanson in
Brescia für den Monat September voraus.
In dieser Zeit, etwa im September oder Oktober, wird der General -
minister sicher auch das Kloster im nahegelegenen Mailand (Brescia gehörte
zur Ordensprovinz Mailand) visitiert haben. Hier traf er den seit 1496 in
den Diensten des Herzogs stehenden Mathematiker Fra Luca Pacioli, der
an einer Stelle seiner Summa (von 1494) auf ein besonderes Vertrauens¬
verhältnis zu den Wissenschaften und Künste liebenden Ordensgeneral hin¬
zuweisen scheint 27 ). Wir wissen andererseits aus Paciolis Divina Propor-
tione, mit welcher Bewunderung der Franziskaner zu seinem genialen Freunde
Leonardo emporschaute, der gerade in jenem Jahre 1497 ihn mit Zeichnungen
für sein Werk unterstützte 28 ). So war dem Frate auch die damalige be¬
drängte Lage des Künstlers wohl genauer bekannt als irgendeinem anderen.
Was liegt nun näher als der Gedanke, Pacioli habe den kunstliebenden
Generalminister auf den großen Leonardo aufmerksam gemacht, ihn nament¬
lich vor das Abendmahlsbild geführt, das damals mit seinem Ruhme schon
ganz Italien erfüllte und ihn angeregt, dem Maler, der damals in Geld¬
nöten war, einen Auftrag zu einem Gemälde zuteil werden zu lassen!
Gegner wird ja der Künstler im Kloster der Franziskaner noch besessen
haben, weil bei Ablieferung des Madonnenbildes für die Capelia della Con-
cezione ein peinlicher Streit entstanden war: Leonardo und A. Preda hatten
eine sachlich gerechtfertigte, aber vertragswidrige, bedeutende Erhöhung des
Preises verlangt. Doch darf man annehmen, daß die Aussicht, durch
ein hochbedeutendes Kunstwerk der Kirche in Brescia einen, ähnlichen
Ruhmestitel zu verleihen, wie ihn das Kloster der Dominikaner in Mailand
durch das einzige Abendmahl gewonnen hatte, den hohen Kunstsinn des
Sanson, der testamentarisch 6000 Dukaten für ein Vortragekreuz seinem
Lieblingskloster bestimmte, unschwer zu einem Auftrag bewogen haben.
So spräche denn alle Wahrscheinlichkeit dafür, daß der Franziskaner¬
general persönlich unter Vermittlung des Pacioli die Bestellung gegeben
hat. Leonardo trug den Gegenstand des Gemäldes im Beisein des Bestellers
mit Feder und Tinte säuberlich in sein Notizbüchlein ein, indem er die
Namen der gewünschten Heiligen in der ihm wohl schriftlich überreichten
Gruppierung neben dem Thron der Madonna anordnete. Darauf führte er
die 7 Ordensheiligen, auf welche die Besteller das meiste Gewicht legten,
*6) Die Urkunde bei Zanelli, 1 . c. 93.
2 7 ) Pars I f. 67*; s. Uzielli, Ricerche intorno a L. d. V. I 2 386.
**) Der erste Teil der Div. Prop. schließt: Finis adi 14 dccebre in Milano nel
nostro almo conveto MCCCXCVII.
• 7 *
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Emil M öller,
260
noch einmal auf, mit Angabe ihrer Attribute, für die auf dem oberen Entwurf
kein Raum war.
Der Besteller hatte so ziemlich alle Heiligen zusammengetragen, die
ihm die Pietät gegen seinen Orden und seine Vaterstadt, sowie das Verlangen
nach einem recht stattlichen Bilde eingeben konnte. Dadurch aber erwuchs
dem Maler bei dem Mangel eines wirksam variierenden Motivs eine wenig
interessante Aufgabe. Die Anbringung von II Assistenten des Thrones
legte naturgemäß ein Breitformat der Komposition nahe, wie es Leonardo
auch skizziert hat. Weil aber der 1502 vollendete Rahmen ein Hochformat
aufweist, scheint Leonardo später eine Beschränkung der Zahl der Figu¬
ren 19 ) anheimgegeben zu sein, die ihm gestattete, eine wirkungsvollere
Hochkomposition zu schaffen.
Der Auftrag ist ebensowenig wie manche andere, die Leonardo über¬
nahm, zur Ausführung gelangt. Wahrscheinlich blieb er schon in der Bild¬
skizze stecken. Aber nicht einmal von einer solchen ist etwas auf uns ge¬
kommen. Die anstoßende Seite des Notizbüchleins ist leer geblieben. Zu
Anfang des Jahres 1498 war der Künstler wieder in Gnaden beim Herzog
aufgenommen, denn auf der erlauchten Versammlung der Gelehrten, Künst¬
ler und Ingenieure, die Moro am 9. Februar um sich sah, war Leonardo
zugegen als würdigster Vertreter einer jeden Gruppe dieser Geisteshelden.
Da gab es auch sofort wieder Aufgaben die Fülle, auf deren Erledigung
fürstliche Ungeduld wartete, und der Künstler zeigte allen Eifer, um die
Vergangenheit vergessen zu machen.
Am 10. August 1499 fallen die Franzosen ins Land, und wahrschein¬
lich am 15. Dezember verläßt Leonardo seine zweite Heimat. Wir begegnen
seinen Spuren in Mantua und Venedig. Am 24. April 1500 weilt er wieder
in seiner Vaterstadt, bald mit wenigen künstlerischen Arbeiten, intensiver
aber jedenfalls mit seinen Studien beschäftigt. Als Kriegsingenieur des
dämonischen Cesare Borgia durchzieht er Italien, nun wieder steht er in
den Diensten der Signoria von Florenz.
Die Väter des Konvents zu Brescia müssen noch manche Jahre auf
eine Ausführung ihres Altarbildes durch den berühmten Meister gehofft
haben, zumal wahrscheinlich ist, daß der 1497 in Not befindliche Künstler
einen, wenn auch geringen Vorschuß empfangen hatte. Vielleicht war es
auf der Reise nach Venedig — also im Dezember 1499 — oder auf der Rück¬
kehr von dort, als Leonardo die Abmessungen des Rahmens dem Bild¬
schnitzer Lamberti angab. Seit 1502 harrt das kostbare vergoldete Schnitz-
werk seines Inhaltes. Eitle Hoffnungen! Im Jahre 1506 gelingt es dem
* 9 ) Auch das Altarbild für die Capella della Concezione mußte sich bei der Aus¬
führung eine Reduktion der Figurenzahl gefallen lassen. Vgl. G. Biscaro, Arch. stör,
lomb. 1910, fase. XXV.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Leonardo da Vincis Entwurf eines Madonnenbildes für S. Francesco usw. 261
Statthalter von Mailand, Charles d’Amboise, dem glühendsten Bewunderer
von Leonardos Genius, ihn an den Dienst des französischen Hofes zu fesseln.
Schließlich haben sich die Mönche — keinesfalls vor 1510 — an einen
brescianer Künstler, den jungen, glänzenden Girolamo Romanino gewandt,
der als flotter Arbeiter ihnen auch bald das Prachtstück geliefert hat, das
wir in S. Francesco bewundern 3 °).
Der Wert des Notizblattes mit dem Entwurf der Franziskanermadonna
besteht — abgesehen von den m. E. zweifellosen Beziehungen zu S. Fran¬
cesco in Brescia und Francesco Nani — hauptsächlich in dem Licht,
das dadurch auf eine düstere Lebensperiode Leonardos fällt. Wir erhielten
ein neues Beispiel dafür, daß seine künstlerischen Unternehmungen durch
die Kompliziertheit seines hochstrebenden und so vielseitigen Genius ge¬
wöhnlich nicht zum Abschluß gelangten.
3 °) Die Datierung auf 1511 gebt möglicherweise auf eine natürlich ganz unbe¬
rechtigte Lesung von MDII zurück I Früher setzte man auch das Gemälde in das Jahr 1502.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Noch]
als die Perspektive bei den Brüdern van Eyck.
Eine Entgegnung von Professor Dr. Doehlemann (München).
• • t _
In mehreren kleinen Arbeiten habe ich mich mit der Perspektive der
• • *
Brüder van Eyck beschäftigt und weiter im 34. Band dieses Repertoriums
• • a
auf Seite 392—422 und 500—535 eine Gesamtdarstellung der Entwicklung
der Perspektive bei den Niederländern gegeben. Diesen meinen Entwick¬
lungen ist Herr Dr. Joseph Kern in einer Arbeit entgegengetreten: Per¬
spektive und Bildarchitekturbei Jan van Eyck, dieses Repertorium, Band 35,
Seite 27—64. Er zeigt aber so wenig Verständnis für die meinen Schlüssen
zugrunde gelegten Gedankenreihen und läßt meine Folgerungen so konfus
erscheinen, daß ich mit einigen Worten darauf zurückkommen muß, wobei
ich mich jedoch darauf beschränke, die von Kern beanstandeten Punkte zu
erläutern.
I.
In einer Hinsicht ist die Untersuchung bereits so weit geführt, daß die
prinzipielle Auffassung von uns beiden, die durch Gründe wohl nicht mehr
verändert werden kann, feststeht. Dies bezieht sich auf die Genauigkeit
einer perspektivischen Konstruktion. Jede perspektivische Darstellung, ja
auch jede mathematische Zeichnung, mag sie auch mit den exaktesten
Hilfsmitteln durchgeführt sein, ist ungenau. Es fragt sich nun, wie groß
der Grad dieser Ungenauigkeit sein darf, wenn man immer noch voraus¬
setzt, daß der Konstrukteur das ideale Gesetz gekannt hat. Ich kann das
an zwei Bildern jedem sofort zur Anschauung bringen. Es handelt sich
bei den in Frage stehenden Betrachtungen naturgemäß um die einfachsten
Probleme der Perspektive, um Systeme von Linien, die auf der Bildebene
senkrecht stehen und die ich Tiefenlinien nenne. Die Bilder dieser Tiefen-
linien müssen dann durch einen Punkt gehen. Nun bitte ich Abbildung I
(Abbildung 7 auf Seite 504 meiner früheren Arbeit) und Abbildung 2 (Ab¬
bildung 5 auf Seite 414 meiner früheren Arbeit) zu vergleichen. Die erste
Figur zeigt einen Verlauf der Tiefenlinien, bei dem ich noch nicht von der
Kenntnis eines Gesetzes spreche. Gerade aber in diesem Bild sieht Kern
bereits das typische Beispiel eines Fluchtpunktes: »Die Zeichnung liefert
das typische Schema eines nach einem Fluchtpunkt konstruierten alten
Bildes, das durch kleine Beschädigungen und Übermalungen geringe Ver-
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Nochmals die Perspektive bei den Brüdern van Eyck.
263
Schiebungen im Liniensystem der Vorzeichnung erlitten hat« (Kern, a. a. O.
Seite 56}. Dagegen sieht meiner Anschauung nach ein nach einem Fluchtpunkt
konstruiertes Bild etwa aus wie die Abbildung 2. Die Kontrolle an Bil¬
dern, von denen man von vornherein weiß, daß sie streng konstruiert sind,
muß hier das richtige Beurteilungsvermögen liefern. Weiter bemerke ich
noch, daß natürlich bei der Untersuchung der perspektivischen Konstruk¬
tion mit der größten Unvoreingenommenheit vorgegangen werden muß,
d. h. die zu kontrollierenden Geraden sind erst sämtlich so genau als mög¬
lich und ohne jede weitere Rücksicht einzutragen, und dann ist das so ent¬
stehende »Diagramm« zu charakterisieren. Daraus wird mit hinreichender
Deutlichkeit hervorgehen, was ich unter den höheren Ansprüchen an
perspektivische Genauigkeit verstehe.
II.
»
Ein weiterer Grundsatz, den ich bei meinen sämtlichen Überlegungen
zur Anwendung brachte, war die Rücksicht auf die Gesamtleistung eines
Künstlers. Eis kann sein, daß ein Künstler im Lauf seines Lebens eine Ent¬
wicklung in seiner perspektivischen Darstellung zeigt; dann sind die letzten
Werke maßgebend für das Urteil, das man sich über ihn bilden wird. Ist
aber eine solche aufsteigende Linie in der perspektivischen Kenntnis nicht
zu verfolgen, so muß das Urteil über den Künstler mit dem Gesamtwerk in
Übereinstimmung gebracht werden. Bei den Brüdern van Eyck liegt nun
die Sache so: der Fußboden auf der linken Hälfte des Genter Altars ist,
wie ich selbst erwähnt habe, a. a. O. Seite 399, richtig gezeichnet. Der Fu߬
boden im Arnolfini Bildnis ist ebenfalls richtig. Wären von Eyck keine
andern Bilder als diese beiden vorhanden, so müßte man zu der Ansicht
kommen, daß er das Gesetz von der Flucht der Tiefenlinien einer Boden-
fläche gekannt habe. Nun stehen aber diesen zwei richtig gezeichneten
Bodenflächen eine ganze Reihe anderer gegenüber, für welche ein Gesetz
sicher nicht zu konstatieren ist; so der Fußboden der »Rolin-Madonna«,
der der »Pala-Madonna« und des »Dresdener Reisealtärchens«. Da es aber
unmöglich ist, die beiden gut gezeichneten Böden an das Ende von Eycks
Tätigkeit zu setzen — das Arnolfini-Bildnis stammt vom Jahre 1434 —
so ist man hier in einer äußerst schwierigen Lage. Ein Künstler vom Range
eines Eyck wendet aber nicht ein Gesetz einmal an, um es ein zweites Mal
zu ignorieren; auch die ganze zunftmäßige Behandlung der Kunst spricht
gegen ein solches Hin- und Herschwanken. Demgegenüber habe ich folgen¬
den Ausweg vorgeschlagen. Die Brüder Eyck haben aus der Beobachtung
das Fluchtpunktgesetz für Tiefenlinien zum Teil abstrahiert; sie lassen
die Tiefenlinien im ganzen und großen leidlich richtig von außen nach innen
verlaufen. Statt eines Fluchtpunktes tritt unter Umständen bei ihnen
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
264
Doehlemann,
9 Ä •
ein Fluchtgebiet auf, d. h. man kann auf der Bildfläche ein Gebiet fixieren,
in das alle Tiefenlinien eindringen. Mit dieser Voraussetzung kann man
nun auch die beiden gut gezeichneten Böden in Übereinstimmung bringen,
denn wenn Jan van Eyck die Tiefenlinien nach einem Fluchtgebiet orien¬
tierte, so konnte dies Gebiet auch zufällig einmal ein Punkt werden.
Abb. 1. Petrus Cristus: Maria mit dem h. Hieronymus und dem h. Franciscus.
Frankfurt, Städclsches Institut.
III.
#
In der Zeitschrift »Die graphische Kunst« 1906 habe ich die Rolin-
Madonna und die Pala Madonna auf ihre Perspektive untersucht. Ich habe
dabei folgenden anderen Weg eingeschlagen: ich konstruierte die Schnitt-
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Nochmals die Perspektive bei den Brüdern van Eyck.
265
punkte aufeinander folgender Tiefenlinien und zeigte, wie zerstreut dieselben
im Bilde liegen. Natürlich ist das nur ein Mittel der Veranschaulichung
und keine exakte Methode. Auch auf diese beiden Bilder muß selbstverständ-
Abb. 2. Dirk Bouts: Das Abendmahl. Löwen, Peterskirche.
lieh das eben geschilderte Verfahren angewendet werden. Man wird finden,
daß man nie zu einem Fluchtpunkt gelangt, wohl aber laßt sich bei der
Rolin-Madonna ein Fluchtgebiet für den Fußboden angeben (a. a. 0 . Seite 401).
Ebenso bildet sich bei der Pala-Madonna zur Not ein Fluchtgebiet für die
Tiefenlinien des * Bodens aus. Die oben erwähnte Art der Konstruktion
der Schnittpunkte aufeinander folgender Tiefenlinien habe ich auch nie als
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
266
Doehlemann,
eine Methode bezeichnet. Sie wird indes, vernünftig verwendet, keinen
Schaden anrichten können. Denn man sieht folgendes ein: Ist ein System
von Linien genau oder auch nur annähernd genau nach einem Fluchtpunkt
konstruiert, so liegen jedenfalls auch die Schnittpunkte aufeinander folgen¬
der Tiefenlinien nicht weitauseinander. Liegt freilich nur ein Fluchtgebiet vor,
so brauchen die Schnittpunkte aufeinander folgender Tiefenlinien nicht in
dieses Gebiet zu fallen. Bei Berücksichtigung dieser beiden Grundsätze
wird man auch die letzte Methode zur Veranschaulichung verwenden können.
Eine gewisse Kritik setze ich dabei allerdings immer voraus, so z. B. daß
man nicht ganz ungenügend kurze Stücke zur Bestimmung einer geraden
Linie verwendet oder ganz ungenaue Schnittpunkte benützt. Nur nebenher
sei bemerkt, daß das Durchlaufen der Tiefenlinien in einem gewissen Sinne
immerhin eine Bedeutung haben kann. Denn abgesehen davon, daß man
praktisch die Linien in einer gewissen Reihenfolge zeichnet, könnten gewisse
Eigenschaften derselben dadurch erschlossen werden, so etwa die Konver¬
genz nach einzelnen Gruppen.
IV.
Den gleichen Grundsatz, den Künstler nach seinem ganzen Werke zu
beurteilen, habe ich auch bei Bouts durchaus logisch und konsequent fest¬
gehalten. Das »Abendmahl in Löwen« ist sicher als Ganzes einheitlich nach
einem Fluchtpunkt konstruiert. Da er aber im »Passahmahl« wieder Fu߬
boden und Decke getrennt behandelt und ebenso im »Gottesurteil«, so habe
ich ihm in meinem Resum6 (a. a. O. Seite 421), ganz aus dem gleichen Grunde
wie bei Eyck, nur die Kenntnis des Satzes vom Fluchtpunkt der Tiefenlinien
einer Bodenfläche oder einer Decke zugeschrieben aber nicht die Kenntnis
des Satzes der Flucht der sämtlichen Tiefenlinien des Raumes.
Herr Kern bekrittelt nun weiter die Folgerungen, die ich an das
»Gottesurteil« geknüpft habe. Es sieht in diesem Bilde in der Tat so aus,
als gingen die Diagonalen durch einen Fluchtpunkt. Eine sichere Folgerung
habe ich selbst nicht zu ziehen gewagt. Ich schreibe a. a. O. Seite 419:
»Dieser neue Fluchtpunkt wäre der Distanzpunkt, wenn er als in dem Hori¬
zont der Bodenfläche gelegen angesehen werden dürfte. Allem Anschein
nach liegen hier die Spuren weiterer theoretischer Kenntnisse vor.« Die
deutsche Sprache bietet mir kein Mittel, um eine Vermutung vorsichtiger
auszusprechen. Aus dieser Bemerkung zieht nun Kern die merkwürdige
Folgerung, daß ich überhaupt im Gegensatz zu ihm an die perspek¬
tivische Konstruktion geringere Anforderungen stelle. Ich kann es ruhig
dem Leser meiner Arbeit überlassen, sich darüber selbst ein Urteil zu bilden.
Was endlich den im Hintergrund der »Pala-Madonna« dargestellten
Kirchenraum betrifft, so muß ich gestehen, daß ich der Frage keine so weit-
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Nochmals die Perspektive bei den Brüdern van Eyck.
26 7
gehende Bedeutung beimesse, wie Kern. Namentlich aber scheint es mir
doch nicht ausgeschlossen, daß Eyck einfach eine Kirche malte, wie sie in
seiner Phantasie existierte, ohne dafür ein Vorbild zu haben. Denn wenn
man auch bei vielen Bildern für die architektonischen Hintergründe die
Motive, d. h. die wirklichen Architekturen angeben kann, so folgt daraus
doch noch nicht, daß es für jedes Bild ein solches architektonisches Vorbild
geben muß.
Nach alle dem veranlassen die Ausführungen des Herrn Kern mich
nicht, die von mir aufgestellten Folgerungen irgendwie zu ändern.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Antwort auf die Entgegnung des Herrn
Professor Doehlemann.
Von G. Joseph Kern.
Auf die vorstehenden Ausführungen habe ich folgendes zu erwidern *):
Ad I.
In der Zeichnung auf Seite 504 (hier Seite 264) sind unnötigerweise
die Tiefenlinien über deren Schnittpunkte hinaus verlängert, wodurch für
ein perspektivisch ungeübtes Auge leicht ein irreführendes Bild der
Anlage entsteht. Mit dem Doehlemannschen Diagramm bitte ich neben*
stehendes Diagramm (Fig. 1) sowie die Ausführungen auf S. 54, 55 und
56 des betreffenden Heftes dieser Zeitschrift zu vergleichen. Es wird
sich bei dem Vergleich zeigen, daß ein prinzipieller Unterschied zwischen
den beiden Figuren gar nicht vorhanden ist. Andererseits fehlt der Beweis
gegen die Richtigkeit des Schlusses, der aus dem gemeinsamen Schnitt von
mindestens sechs Orthogonalen des Innenraumes im perspektivischen
Horizont der Landschaft für das Frankfurter Bild abgeleitet wurde.
Schließlich hat Doehlemann früher selbst geäußert, Petrus Cristus scheine
das Gesetz von der Flucht der Orthogonalen im Raum zu kennen
(Zeitschrift für Mathematik und Physik, Bd. 52, Heft 4, Seite 423); er
konnte zu diesem Ergebnis nur gelangen, wenn er annahm, daß der
Raum in dem Frankfurter Bilde nach einem Fluchtpunkt ange*
‘) Es seien einige kleine Druckfehler und Ungenauigkeiten, die bei der Korrektur
des Aufsatzes über die * Perspektive und Bildarchitektur bei Jan van Eyck« stehen
geblieben sind, bei dieser Gelegenheit berichtigt. Man lese:
Seite 36, Zeile 8: „lasse 1 « statt: »lasse*«,
«. 36. 37 : »Bourges*« „ »Bourges 1 «,
„ 42, „ 6: »(Fig. 9)« „ »(Fig. 8)«,
„ 48, „ 26: »(Fig. 19)« „ »(Fig. 17)«,
„ 5°i .. 7: »haben« „ »hat«,
in der Unterschrift zur Abbildung auf Seite 40: » J ’ _« statt: *32,7°.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Antwort auf die Entgegnung des Herrn Professor Doehlemann.
269
legt sei. — Bei der Abbildung auf Seite 414 (hier Seite 265) besteht gar kein
einheitlicher Fluchtpunkt in dem von Doehlemann sonst geforderten Sinne.
Er ersetzt kurzerhand den Punkt durch eine kleine kreisförmige Scheibe. Es
liegen aber bei weitem nicht alle Schnittpunkte der Orthogonalen inner*
Abb. 1. Petrus Cristus: Maria mit dem h. Hieronymus und dem h. Franciscus.
Frankfurt, Städelsches Institut.
halb der Scheibe ! Eine Scheibe, die a 1 1 e Schnittpunkte umfassen würde,
würde sofort erkennen lassen, daß die Perspektive der beiden von Doehle¬
mann als verschieden gegenüber gestellten Werke im Prinzip völlig gleich ist.
Ad II.
Wie Doehlemann zugibt, ist der Fußboden in der linken Mitteltafel
des Genter Altars und im Amolfini-Bild »richtig«. Für die Erklärung greift
Doehlemann wieder auf einen Zufall zurück, nachdem er in der Zeitschrift
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
G. Joseph Kern,
27O
für Mathematik und Physik (Bd. 52, Heft 4, Seite 422) ausdrücklich fest¬
gestellt hat, daß der Fußboden im Genter Altar mit dem Ausblick auf die
Straße omathematisch richtig konstruiert« ist. Wenn dieser
Fußboden »konstruiert« ist, muß logischerweise auch der Fußboden des Arnol-
fini-Bildes »konstruiert« sein; »konstruiert« ist dann ebenfalls die Decke des
Raumes, die Doehlemann in seiner Replik nicht mehr erwähnt. Nach dem
gleichen Prinzip wie die Architektur dieses Werkes ist ferner der Raum in
der Petersburger »Verkündigung« angelegt. Hier sind drei Ebenen nach
drei Konvergenz-Zentren gezeichnet. In nichtweniger als sechs
Fällen also läßt sich innerhalb des Kreises un¬
zweifelhaft »echter« Eyckscher Bilder das gleiche
System mit Sicherheit nachweisen. Da es bereits bei
Broederlam, einem niederländischen Maler aus der Zeit vor Jan van Eyck,
auftritt, dürfte Jan das System übernommen haben. Auf diesem Wege
weiter zurückgehend, kamen wir bis zu Ambrogio Lorenzetti, den wir als
den Erfinder der Fluchtpunktkonstruktion für die Einzelebene ansprechen
möchten. — Den Eyckschen Bildern, die die erwähnte Konstruktion zeigen,
treten nun innerhalb der Kunst des Jan und seiner Werkstatt zwei Gruppen
von Bildern gegenüber. Die erste Gruppe umschließt die Bilder, aus deren
Zeichnung sich eine Konstruktion nicht mit Sicherheit nachweisen läßt:
das Pala-Bild, das Dresdener Reisealtärchen, die Madonna bei Baron Roth¬
schild in Paris und die Rolin-Madonna. Die zweite Gruppe umfaßt die
Werke, aus deren Zeichnung eine Verwendung des Flucht¬
punktes für die Darstellung des Raumes hervorgeht: die
Madonna mit dem Kartäuser in Berlin, die Berliner Verkündigung des
Petrus Cristus und seine Madonna mit den beiden Heiligen in Frankfurt.
Es findet also in den Werken des Jan von Eyck und
seiner Schule eine »Entwicklung« der Perspektive
statt, nur läßt sie sich nicht an allen Bildern mit
gleicher Deutlichkeit verfolgen. Die Entwicklung
erreicht indes, soweit erhaltene und bekannt ge¬
wordene Werke des Eyckschen Kreises ein Urteil
gestatten,im Frankfurter Bilde des Petrus Cristus
von 1457 ihren Höhepunkt. So bleibt nur übrig, anzunehmen,
daß die Ungenauigkeiten in der perspektivischen Zeichnung der Werke,
die bei einer mathematischen Untersuchung kein sicheres Resultat ergeben,
auf einer verhältnismäßig wenig sorgfältigen Ausführung der betreffenden
Bilder beruhen. Dies fordert die Rücksicht auf die Ge¬
samtleistung des Jan van Eyck und des Petrus
Cristus; sie fordert darüber hinaus, daß wir Jan van Eyck die Auf¬
findung des Fluchtpunktes für den Raum zuschreiben.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Antwort auf die Entgegnung des Herrn Professor Doehlemann.
271
Ad III.
Wenn ein System von Linien nur annähernd genau nach einem Flucht¬
punkt konstruiert oder genau konstruiert ist, jedoch geringe Verschie¬
bungen durch Veränderungen der Bildtafel, infolge des Alterns, er-
■ »
litten hat, so liegen fast immer die Schnittpunkte aufeinander folgender
Tiefenlinien • weit auseinander. Immer dann, wenn der Horizont relativ
hoch bezw. (für die Decke) tief und die Ausgangspunkte der Tiefenlien auf
der Grundlinie (bzw. oberen Abschlußlinie) des Bildes nahe beieinander
liegen. Je spitzer der Winkel ist, unter dem die Tiefenlinien sich schneiden,
desto unzuverlässiger wird das Resultat. Bei Jan van Eyck liegen die Fuß-
punkte der Orthogonalen im Verhältnisse zur Durchschnittshöhe des Hori¬
zontes viel zu nahe beieinander, als daß das von Doehlemann methodisch
angewandte Verfahren genaue Ergebnisse liefern könnte.
Ad IV.
Die Ausführungen Doehlemanns über die Perspektive bei Dirk Bouts
wurden nur insofern beanstandet, als er die Bilder des Dirk Bouts und des
Jan van Eyck auf ihre perspektivische Genauigkeit hin mit verschiedenem
Maßstabe mißt. Es mag sein, daß im »Abendmahl« des Dirk Bouts die
Fluchtpunkte von Decke und Fußboden zusammenfallen. Wenn aber Doehle¬
mann bei diesem Werk des Dirk Bouts und dem »Gottesurteil« zur An¬
erkennung des Prinzips von der Flucht der Einzelebenen nach gesonderten
Fluchtpunkten gelangt, muß es unverständlich erscheinen, warum er dem
Maler des Arnolfini-Bildes die Kenntnis des Gesetzes abspricht. — Auf die
prinzipiellen Bemerkungen über die Rekonstruktion der Architektur im
Pala-Bilde näher einzugehen, erübrigt sich durch den Nachweis der
zahlreichen Analogien zwischen der Bildarchitektur und den Bauten vom
Typus Neuvy-Saint Söpulcre. Bei dieser Gelegenheit möchte ich auf die
Ergebnisse der Untersuchungen über die Kirche von St. Donat (Donas)
hinweisen, die der um die Lokalgeschichte Brügges hochverdiente Forscher
Ad. Duclos in seinem 1910 erschienenen Werke »Bruges, histoire et
Souvenirs« auf Seite 314, 316, 444 und 445 niedergelegt hat. Es ergibt sich
übrigens aus der Abbildung des Chores bei Wijdts, Chronijke van Vlanderen
(1725), tom. I, pag. 153, mit Gewissenheit, daß die Bildarchitektur des
Pala-Bildes mit der Kirche St. Donat nicht das Geringste zu tun hat.
Auch der Grundriß bei Gaillard, Inscriptions fun^raires et monumentales
de la Flandre occidentale, Bruges MDCCCLXI, tom. I, PI. II, pag. 6 ,
und der Grundriß in der Handschrift von L. P. de Molo: »Collection de
plans, tombeaux, epitaphes, pierres söpulcrales, blasons fun^raires se trou-
vant autrefois dans l’dglise cath^drale de Saint-Donatien ä Bruges«, 1786,
(Brügger Stadtbibliothek, nr. 595, 2 vol. in fol.) beweisen, daß keinerlei
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
272 G. Joseph Kern, Antwort auf die Entgegnung des Herrn Professor Doehlemann.
Verbindung zwischen der Architektur des Pala- Bildes und der Kathedrale
besteht. Die von Baudouin erbaute Kirche war zur Zeit des Jan van Eyck
nicht mehr vorhanden.
Herr Professor Doehlemann gibt, wie er erklärt, seinen Standpunkt
nicht auf. Die Gründe, die er anführt, berechtigen ihn doch wohl nicht,
seine Theorie über die Entwicklung der Perspektive in der niederländischen
Kunst aufrechtzuhalten.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Besprechungen.
A. E. Brinckmann. Deutsche Stadtbaukunst in der Ver¬
gangenheit. 160 Seiten in 8° mit 39 Lageplänen und 78 Ansichten.
1911. Verlag Heinrich Keller. Frankfurt a. M
Das erste Buch Brinckmanns »Platz und Monument«, Berlin, bei
Wasmuth, 1909, war eine Erfüllung, der literarische Ausdruck vieler Gleich¬
gestimmter, die, sei es zu den klaren stereometrischen Bestrebungen der
modernen Baukunst selbst konkrete Beziehungen hatten, sei es aus der
raumästhetischen Schule Adolf Hildebrands und Wölfflins hervorgegangen
waren. Es war, kurz gesagt, das ersehnte eindeutige Bekenntnis zu
einem wieder architektonischen Stil im Städtebau, die Entgegnung auf
Camillo Sittes berühmtes Buch, das zwar ungeheuer anregend auf
Theorie und Praxis gewirkt hatte, die bisherige vollkommene Indifferenz
für das Problem als solches allgemein beseitigend, das aber auch in bedenk¬
lichem Maße den historischen Romantikern im Städtebau mit ihren »maleri¬
schen Motiven« und räumlich kleinen Empfindungen, mit ihren Stimmungen
der Enge und des irrationalen Zufalls, des Unihythmischen und des räumlich
Vereinzelten, Unzusammenhängenden, Vorschub geleistet hatte.
Die Habilitationsschrift Brinckmanns für das Fach des Städtebaus an
der Technischen Hochschule in Aachen war eine geschichtliche Untersuchung
über die regelmäßigen Stadtneugründungen des 12. und 13. Jahrhunderts
im Süden Frankreichs, die in Einzelaufsätzen in der Deutschen Bau-
zeitung 1909 erschien, und an sie schließt sich sein wieder mehr ästhetisch
gerichtetes neuestes Buch »Deutsche Stadtbaukunst in der Vergangenheit«
darin an, daß es den architektonischen und plastisch-räumlichen Reichtum
vor allem in den ganz regulären Grundrissen der Fürstenstädte des 18. Jahr¬
hunderts zu finden sucht, die der Unverstand früher als »souveräne, will¬
kürliche Produkte« und als »öden Schematismus ohne Phantasie« abzutun
beliebte.
Die Einleitung wendet sich in ihren »Grundsätzen für die Betrachtung
älterer Stadtbaukunst« zuerst gegen einen nachahmenden Historizismus,
gegen die Versuche moderner Romantik, alte Städtebilder in unseren heutigen
Repertorium fUr Kunilwiitentchaft, XXXV. Io
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
274
Besprechungen.
Großstädten mit ihren so spezifischen, künstlerischen wie Tagesförderungen
auf leben zu lassen. Es wird die Frage gestellt: »Wie weit kann kritischer
Eklektizismus jenen alten Schöpfungen gegenüber heutiges Schaffen fördern ?m
und darauf als Antwort, die zugleich das Programm zu den Ausführungen
Brinckmanns enthält, erteilt, nicht die zufälligen Motive, die reizenden
Einzelheiten sollen in unseren alten Städten den modernen Städtebauer
aufzusuchen besonders reizen, sondern die Gesetzmäßigkeit
der künstlerischen Ausdrucksform, die dem Gesamt -
Organismus, dem höheren Ganzen, innewohnt.
Der nächste Abschnitt handelt über die Relationen im Stadt¬
bild. Er entwickelt sie ästhetisch aus den Hildebrandschen Theorien
über die Gewinnung der dreidimensionalen Raumvorstellung. Wie mir
scheint, geht hier Brinckmann, ähnlich wie Hans Cornelius in seinen
bekannten »Elementargesetzen der bildenden Kunst«, in den Ausführungen
über die Maßverhältnisse in der Ebene und im Raum, doch etwas zu weit:
Die Erfahrung der wirklichen Größe eines Baues, die er durch die
Einführung eines Vorder- und Hintergrund vereinigenden Maßstabes, z. B.
eines hier wie dort vorkommenden, in der Wirklichkeit gleich dimen¬
sionierten Fensters, gewinnen will, ist doch wohl mehr ein intellektuelles
als ein den Gefühlen der künstlerischen Stimmung, aber auch der spontanen
Anschauung, dienendes Bedürfnis. Die Relationen im Stadtbild beschränken
sich nicht auf die Größen Verhältnisse, sondern sie beziehen natürlich alles
untereinander, Farbe, plastisches Relief, die mannigfaltigen Tiefenwirkungen
der Perspektive und der Weiträumigkeit, das Verhältnis des Hauskubus
zum Block und dadurch auch die Stellung des Einzelhauses im großen
Stadtplan. Sehr treffend äußert sich gerade über diese letztere Relation Brinck -
mann auf S. 23 und 24: »Zwischen dem architektonischen Stil des Haus¬
baues und dem Stadtbau bestehen die innigsten Beziehungen; mit der Art
und Weise des Wohnens ändert sich die Form des Stadtgebildes. Dieses
unterliegt daher stetig Veränderungen; jeder Fortschritt im Wohnungs¬
wesen bringt eine Umwandlung im Stadtbild mit sich. Hieraus folgt, daß
von uns die Erscheinung einer älteren Stadt wohl schön gefunden, nie aber
als vorbildlich betrachtet werden kann. Es folgt daraus auch, daß unser
Stadtbau erst wieder eine sichere Form finden wird, wenn das einzelne
architektonische Gebilde sich abgeklärt hat. Bis dahin ist alles Stadtplan¬
machen Arbeit des Verstandes, der nützliche Resultate erzielen kann, dem
jedoch die überzeugende Lebenskraft des architektonischen Instinktes fehlt«.
Das dritte Kapitel, über die Ausbildung des Baublocks,
wendet sich, den in den vorigen entwickelten, raumvereinigenden Grund¬
sätzen gemäß, gegen den Individualismus im Hausbau. Es verlangt unter
Hinweis auf viele alte Beispiele der deutschen Renaissance, Donauwörth,
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Besprechungen.
*75
Miltenberg, Hildesheim, entweder eine harmonische Zusammenstimmung
der Teilstücke des Baublocks vor allem in den Proportionen, in der Fassaden¬
teilung, der Dachbildung und in der Verwendung eines gleichen Bau¬
materials, oder, als von noch höherem architektonischen Sinn, wie er sich
in den schönen einheitlich auf gebauten Städten des 18. und beginnenden
19. Jahrhunderts, in Crossen a. 0 ., Karlsruhe, den neueren Teilen Würz-
burgs und Münchens, in Erlangen, in der Dresdener Neustadt, in Ludwigs¬
burg, bewährt findet, den von vornherein als bauliche Einheit gedachten
Häuserblock, der nach denselben rhythmischen Mitteln der Steigerung,
der künstlerischen Unter- und Überordnung zusammengefaßt ist, wie man
das auch von dem architektonisch durchgebildeten Einzelhaus her kennt. Hier
möchte ich den Verfasser noch auf ein ausgezeichnetes Beispiel aufmerksam
machen, den von Friedrich Joachim Stengel um 1760 in höchst differen¬
zierter rhythmischer Steigerung angelegten Ludwigsplatz in Saarbrücken:
Auf die als breites Kreuz inmitten des langgestreckten Tiefenplatzes hin¬
gelagerte Zentralkirche führt eine kurze Straße. Der Platz wird an. der
hinteren Schmalseite durch die mit beherrschendem Mittelrisalit ausge¬
stattete Dragonerkaserne abgeschlossen, während seine beiden Längsseiten
von je einer Reihe symmetrischer Gebäude, die sich völlig einander ent¬
sprechen, in äußerst künstlicher Abstufung von Dominierendem und Sub¬
ordiniertem eingefaßt werden, so daß z. B. die gleichen Eckpavillons viermal
wiederkehren. Leider existiert von diesem Platz bisher noch gar keine
Grundrißaufnahme, auch nicht in dem sonst sehr verdienstvollen, aber mit
Grundrissen mehr als sparsamen Werke von K. Lohmeyer, F. J. Stengel,
Düsseldorf 1911.
Bei der Zusammenfassung des Baublocks spielt natürlich das Dach,
das dem Kubus als solchem die ästhetisch schließende Spitze verleiht, eine
Hauptrolle. » Eis ist nicht übertrieben, zu sagen, daß die Wiederbelebung
der deutschen Stadtbaukunst mit dem Dach beginnen muß. Zeichnet sich
doch auch jeder Grundriß einer Stadt noch ein zweites Mal in den Linien
der Dächer ab. Wird hier Beruhigung und Klarheit gewünscht, so muß der
Grundriß solche bereits vorbereiten. Ein zeriissener Blockgrundriß ergibt
auch eine zerrissene Dachform« S. 32 und 33).
Befassen sich die drei ersten Abschnitte dieses Buches mit dem
Elementaren des Städtebauproblems, so gehen die vier letzten Kapitel
auf die eigentlichen raumgestaltenden Fragen ein, den Rhythmus
des Raumes, auf Straße und Perspektive, die Funk¬
tionen des Platzraumes und die Stadt als einheit¬
lichen Organismus. Bereits Theodor Fischer hat den Lehr¬
satz ausgesprochen *): » Gliederung der Massen nach Herrschendem und Be*
>) Stadterweitcrungsfragen mit besonderer Rücksicht auf Stuttgart.
18*
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
276
Besprechungen.
herrschten! ist eines der wichtigsten Kunstmittel im Städtebau «, den er
dann näher erklärt: » Nicht das Beherrschen an sich scheint übrigens das
eigentlich ästhetisch Wirksame, sondern die Zusammenfassung
aller Teile in eine Einheit, welche nur durch diese Gliederung
erreicht werden kann und in der alle Teile vom Geringsten bis zum Haupte
ihre eigenste Bestimmung haben und schön sind dadurch, daß sie diesen
ihren Zweck im ganzen erfüllen«.
An einer Reihe von Abbildungsbeispielen, wieder vor allem von An¬
lagen des 18. Jahrhunderts, legt uns Brinckmann diesen gesetzmäßigen
Wechsel zwischen den verschieden abgestuften Hauskuben und dem Frei*
raum des Platzes und der Straße, den horizontal und vertikal gerichteten,
den eine Perspektive schließenden und öffnenden Bauwerken dar. Er ana¬
lysiert Plätze und vor allem logisch zueinander gedachte Platzgruppen
auf ihren klärenden Raumwert, ästhetische Betrachtungen, die, auf die
Straße angewandt, auch noch das folgende Kapitel ausfüllen. Eis ist sehr
treffend, was Brinckmann über das Dorf sagt, das keine Straßen, nur Wege
kennt und dessen impressionistischer Reiz in dem Durcheinander von Ge¬
formtem, dem Einzelhaus, und Lockerem, der ungeregelten Natur, besteht.
Für die Stadt aber ist der Straßenraum in organischem Zusammenhang mit
dem Bauwerk, architektonisch synthetisch, nicht malerisch auflösend zu
empfinden (S. 97 und 98): Das wird für die eine Straßenperspektive in alter
Zeit schließenden Stadttore bewiesen, für das frühere und heutige Ver¬
hältnis der Brücken zu den Häusern und Häusergruppen des Flußufers.
In dem Abschnitt VI, Funktionen des Platzraumes, wird das in spe¬
ziellem ausgeführt, was das IV. Kapitel, Rhythmus des Raumes, im allge¬
meinen vorgezeichnet hat. Dieser kommt natürlich in seinem Inhalt sehr
dem ersten Buche Brinckmanns »Platz und Monument« nahe, besonders
in der auf S. 125 und 126 ausgesprochenen Tendenz: »Wo der einzelne Bau
in seiner Gesamtform zur Regelmäßigkeit neigt, ist auch Regelmäßigkeit
des Bebauungsplanes Voraussetzung seiner Wirkung. Der Architekt, der
Bebauungspläne ausarbeitet, hat dieser Richtung nachzugeben, denn töricht
wäre es, Architekturen für einen Plan zu erfinden, wo doch der Plan als um¬
fassendere Einheit nur die einzelnen Bauten ihrem Charakter nach disponieren,
Möglichkeiten ihrer Anordnung gewähren soll«. Als architekturgeschichtlich
besonders wertvoll sei hier der Vergleich von dreierlei Gestaltungen der
Platzgruppe am Dom in Metz, des Projekts einer Place Royal von Jean Antoine
von 1752, der Umgestaltung durch J. E. Blondel von 1764 und des heu¬
tigen, künstlerisch beträchtlich verschlechterten Zustandes hervorgehoben *).
Ein Vortrag von Theodor Fischer. Mit 32 Abbildungen. Stuttgart, Deutsche
Vcrlagsanstalt, 1903. S. 8 und 9.
*) An dieser Stelle, S. 115, bezeichnet Brinckmann irrtümlicherweise Metz als
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Besprechungen.
277
In dam Schlußkapitel Uber die Stadt als einheitlichen Organismus
werden die Plananlagen besprochen. Die regelmäßigen erhalten den Vor¬
zug. Die Unregelmäßigkeiten in den Bebauungsplänen unserer alten süd¬
deutschen Städte gefallen uns nur als der folgerechte Ausdruck in der Er¬
scheinung des Alten, des historisch Gewordenen (S. 141). Aber es ist ein
künstlerischer und praktischer Irrtum, die Unregelmäßigkeit nun auch
wieder mit Willen zum Schaffensprinzip im modernen Städtebau zu
erheben, wie dies z. B. bei einem Plan für die Erweiterung von Pforzheim
(Abb. 103 auf S. 143) geschah, der deshalb auch von englischer Fachseite
her Mißbilligung fand: »Städtebauen, von künstlerischem Gesichtspunkt
aus betrachtet, heißt mit dem Hausmaterial Raum gestalten. Den klarsten
Raumeindruck übermittelt die regelmäßige Formation und darum wird
diese stets das Element auch des städtebaulichen Gestaltens sein. Der sym¬
metrische Monumentalplatz, die gerade breite Straße müssen das Gerüst
für größere Stadtpartien abgeben, in das sich dann das Gewebe freierer
Bildungen einhängen kann« (S. 136 und 137). Als ein ausgezeichnetes Bei¬
spiel wird hierauf der Stadtplan von Erlangen analysiert. Daß dieses
Prinzip auch der Sinn wahrhaft architektonischer Stadtregulie -
r u n g e n sein muß, davon könnte dem Verfasser auch noch der prachtvolle
städtebauliche Entwurf desselben J. F. Blondel, der den Domplatz in Metz
umgestaltet hat, von 1765 für Straßburg ein Beispiel sein, der noch ganz
unveröffentlicht in zwei Großquartbänden des Straßburger Stadtarchivs
vorliegt: er sucht erstens die Fluchten der mittelalterlichen Gassenanlagen
geradlinig auszugleichen, dann aber auch eine Reihe räumlich aufs feinste
abgestufter Plätze und Platzfolgen zu schaffen, von denen, nur vorläufig,
das Projekt für den heutigen Kleberplatz, den Münsterplatz und den Ste¬
phansplan genannt seien.
Wenn also Brinckmann mit sehr bewußter Absicht gerade dieser
Städtebaukunst des 18. Jahrhunderts vor dem Städtebau des 16. den Vor¬
zug gibt (S. 46, 159 und 160), so geschieht dies auf Grund der streng rhyth¬
mischen Gestaltung jenes. Er sieht in der großen und entwickelten Stadt-
architektur des 18. Jahrhunderts, analog ihrer ja jetzt von unserer Genera-
tion so bewunderten Hausarchitektur, »ungehobene Möglichkeiten, die in
der Richtungslinie der deutschen Stadtbaukunst lagen, die aber verschüttet
wurden«. Diese Vorbilder sollen uns freilich nur im Geist, nicht im Detail
nachahmenswert sein. Schon auf S. 46 schreibt er: » Sehr beklagenswert
ist, daß viele Architekten ahnungslos an diesen Städten des 18. Jahrhunderts
vorübergehen, daß das Publikum in dem Glauben gehalten wird, der Gipfel
deutschen Boden: Aber bereits um 1200 — das genaue Datum ist mir augen¬
blicklich nicht gegenwärtig — verbietet der Papst seinen Einwohnern den Gebrauch
der Bibel in französischer, d. i. volkstümlicher Sprache.
Digitized by
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
278
Besprechungen.
deutscher Stadtbaukunst sei mit Nürnberg erklommen, jener Stadt, in der
eine aufrichtige und klare Gesinnung sich bedrückt and nicht hingehörig
fühlen muß, die eine kunsthistorische Merkwürdigkeit ist, aber kein Vorbild
für eine selbständige, moderne Kunst sein kann. Nahe stehen uns diese
Städte des 18. Jahrhunderts, weil sie besonnen und abwägend sich ge¬
stalteten, Gefühl für architektonische Konsequenzen bis ins kleine zeigen,
und weil der moderne Architekt die gleiche geistige Disziplin von sich
verlangt «. —
Dem so ausgezeichneten und lehrreichen Buch A. E. Brinckmanns
wollen wir die gleiche Popularität wünschen wie dem ihm an architek¬
tonischem Geiste ja bedeutend nachstehenden älteren Werke Camillo Sittes.
Es eignet sich deshalb besonders für Übungen im architektonischen Unter¬
richt, besonders, weil es ja auch aus diesem hervorgegangen ist, wie seine
lockere Fügung an vielen Stellen beweist. Mag dieses auch die formale
Wissenschaftlichkeit monieren, mir erscheint das nicht als Nachteil, sondern
als ein Mehr an Lebendigkeit und reicher Anschauung.
Straßburg i. Eis. Fritz Hoeber.
Paul Drey. Die wirtschaftlichen Grundlagen der Mal¬
kunst. Versuch einer Kunstökonomie. Cotta sehe Buch¬
handlung, Stuttgart und Berlin 1910.
Der organische Aufbau dieser in erster Linie volkswirtschaftlichen
Arbeit kann hier keine Beurteilung finden, sondern es soll bloß auf die reiche
Anregung verwiesen werden, die jeder, der sich mit Kunst praktisch oder
theoretisch beschäftigt, in Dreys Buch finden wird. Mit seinen scharfen,
geistvollen Beobachtungen prinzipieller Natur greift der Autor weit über
die ursprünglich gesteckten Grenzen der zeitgenössischen Malerei hinaus und
bereichert auch die Betrachtung der alten Kunst, indem er zum ersten Male
den Zusammenhang der wirtschaftlichen Verhältnisse mit der künstlerischen
Produktion systematisch klarlegt ;danach wäre zu wünschen,daß er gelegentlich
in einer noch spezielleren Untersuchung die Tragweite des gesellschaftlichen
und wirtschaftlichen Milieus für das Schaffen des Künstlers nachwiese.
Nach einer Einleitung psychologischen Charakters über das »Kunst¬
bedürfnis« bringt Drey eine aufschlußreiche Schilderung des Künstlergewerbes
in Vergangenheit und Gegenwart, um dann zu dem wichtigen Kapitel der
wirtschaftlichen Verwertung des Kunstwerkes überzugehen. Diese mit vor¬
züglicher Sachkenntnis angestellte Untersuchung führt zu dem traurigen
Geständnis: »Wir schulden der Kunst viel, doch bezahlen wir sie nicht«,
mit dem sich der Verfasser dem positiven Teile seiner Kritik, der »Kunst¬
politik« zuwendet.
Die Lösung der kunstwirtschaftlichen Frage liegt in einer künstlerischen
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Besprechungen.
279
Kultur unseres Wirtschaftslebens, die dahin zielt, »jede künstlerische Kraft
nach Maßgabe ihres Könnens und Leistens dem Zwange wirtschaftlicher
Hemmungen so weit zu entziehen, daß sie zu voller Entfaltung gelangen
kann, und sie bis zu den letzten Möglichkeiten dem Wirtschaftsleben und
der Kultur nutzbar zu machen«. Zwei Wege führen zu diesem Ziel: eine
Steigerung des Kunstkonsums, mit der eine qualitative Besserung der Nach¬
frage Schritt zu halten hätte, und eine rationelle Organisation nicht nur der
Künstlererziehung, sondern der Künstlerschaft überhaupt, um engere Be¬
ziehungen zwischen dem Produzenten und dem Käufer anzubahnen.
.Was zunächst die Popularisierung der Kunst betrifft, so verspricht
sie nur dann den rechten Erfolg wenn sie „nicht nur eine Ausbreitung der
Kunst liebe, sondern eine Erziehung zum Kunstverständnis im Auge
hat«. Es muß also das Material, das unsere Volksbildungs- und ähnliche
Vereine propagieren, mit besonderer Sorgfalt gewählt werden; vor allem
sollte man von mechanischen Reproduktionen so weit als möglich absehen
und dafür den Erzeugnissen unserer Graphik als billigen Originalwerken mehr
Interesse zuwenden. In dieser Hinsicht wäre also der Erfolg, den Drey der
reproduktiven Verbreitung von Kunstwerken verspricht, wenig wünschens¬
wert, wenn er auch der wichtigste und beste Notbehelf bleibt, so lange die
Graphik nicht, so wie in Frankreich, auch bei uns billiger produziert.
Die Erziehung des Kindes zur Kunst, die unsere Zeit mit besonderem
Eifer betreibt, trägt zwar zur Hebung des Kunstkonsums unmittelbar wenig
bei, jedoch verhilft sie vielleicht der kommenden Generation zu mehr Sinn
und Empfänglichkeit für künstlerische Eindrücke, als sie heute die Regel
ist. Denn der nachdrücklichen Fürsorge, mit der man der Kunst in der
Wohnung des Arbeiters und in der Kinderstube Geltung zu schaffen sucht,
entspricht in keiner Weise das Kunstverständnis der sogenannten gebildeten
Kreise, die den Balken im eigenen Auge nicht zu gewahren scheinen, während
sie um den Splitter im Auge des Nächsten bemüht sind; allein schon hierbei
müßte ihnen aber das Bewußtsein der Verantwortlichkeit ein ernstes »Kenne»
dich-selbst« zurufen. Drey weist zwar mit Nachdruck auf diesen Punkt,
er hätte aber noch näher auf ihn eingehen sollen, denn auS diesen Kreisen
rekrutiert sich das kaufende Publikum, dessen Nachfrage für das künstle¬
rische Niveau des Marktes bestimmend ist.
Eis ist weniger die Indifferenz des Publikums, die der Bezahlung des
Gemäldes nach seinem künstlerischen Wert entgegensteht, als vielmehr das
unsichere und verbildete Urteil und ein beklagenswert schwerfälliges Ver¬
ständnis für die aktuellen Probleme der Malerei. Während jede neue Er¬
rungenschaft der Technik staunend und dankbar begrüßt wird, verdrängt
der dogmatische Konservativismus, in dem der allgemeine Geschmack
schlummert, die Einsicht, daß sich die Kunst mit derselben Notwendigkeit
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Besprechungen.
*80
wie jedes andere Erzeugnis des menschlichen Geistes weiterentwickelt und
daß es absurd ist, dieser ,,ewig regen, der heilsam schaffenden Gewalt« ent¬
gegenzuarbeiten. Ohne ihr Einhalt gebieten zu können, wirken reaktionäre
Bemühungen nur dahin, bei weiterstrebenden Talenten Widerspruch und
Übertreibung herauszufordern und ihre Anhängerschaft zu erbittertem, ein¬
seitigem Aburteilen aufzureizen. Die Vorbedingungen zur vollen Ent¬
faltung unserer zeitgenössischen Malerei können nicht erfüllt sein, so lange
noch in dem Begriff »moderne Malerei« für Tausende etwas Verdächtiges,
ja Verabscheuenswertes liegt, weil dadurch der wirtschaftliche Boden der
lebendigen »Evolutionskunst« schwer geschädigt wird. Da nun das
Publikum Anspruch auf Kunstverständnis erhebt, indem es einer gewissen
Richtung oder einem Lieblingskünstler huldigt und sich nicht gern mehr
über elementare Begriffe aufklären läßt, so erwächst den Museen und sonsti¬
gen öffentlichen Ausstellungen die Aufgabe, durch Vorführung geeigneter
Werke den Ausgangspunkt jener vorausgeeilten zu beleuchten, bzw. die Ent¬
wicklung bis zu einem vom Publikum anerkannten Punkte zurückzuver¬
folgen, um auf solche Weise das ebenso ungesunde als folgenschwere Mi߬
verständnis zwischen Produzenten und Konsumenten auszugleichen.
Noch mehr als von der Hebung der Nachfrage verspricht sich Drey
von der unmittelbaren Einwirkung auf die Produktion, die zunächst in der
Künstlererziehung nachdrücklicher auf das Gewerbsmäßige des Berufes zu
weisen hätte und zugleich für eine vielseitigere Bildung Sorge tragen müßte.
Nach seinem Programmentwurf für Kunsthochschulen käme der Schüler
erst nach einer kunstgewerblichen Vorbildung, in der er die künstlerische
Idee der praktischen Forderung anzupassen lernt, zur Ausübung der freien
Künste und könnte sich endlich — vorausgesetzt, daß er Hervorragendes
verspricht — schon beinahe selbständig in einem Seminar zur vollen Ent¬
wicklung seiner Fähigkeiten weiterbilden. Drey verhehlt sich nicht, daß
diese auf eine sachkundige Kritik des Künstlerlehrganges gestützten Vor¬
schläge doch nur der besseren »Typware« zugute kommen können, und er
würde von der Einwirkung auf die Produktion wohl kaum so viel er¬
warten, wenn ihn nicht vom volkswirtschaftlichen Standpunkt aus auch
die Sicherstellung des Proletariats interessieren müßte. Ein starkes Talent
dagegen oder das Genie, das zu spät kam zur Teilung der Erde, und dessen
Wirken, »weil Zukunftswerte schaffend nicht zur Grundlage einer Erwerbs¬
tätigkeit gemacht werden kann«, pflegt sich gerade im Widerspruch zu
akademischen Traditionen autodidaktisch zu entwickeln und hat gewöhnlich
noch mehr vom Verständnis gebildeter Amateure als vom Entgegenkommen
seiner Kollegen zu erwarten.
Der schon in dieser Hinsicht so wichtigen Organisation der Künstler¬
schaft, die auch zur allgemeinen Hebung der kunstwirtschaftlichen Verhält-
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
281
nisse von eminenter Bedeutung wäre, wird ein besonderes Kapitel gewidmet.
Der subjektive Charakter des Berufes und der daraus resultierende Parti¬
kularismus unter den Künstlern bildet jedoch einen wenig empfänglichen
Boden für Orgnisationsversuche, und so muß auch Drey erst ein einträchtiges
Zusammentreten postulieren, ehe er eine Reihe für das wirtschaftliche Ge¬
deihen der Kunst sehr wertvolle Direktiven gibt.
Die zahlreichen »Proteste« und »Gegenproteste« in denen die deutschen
Maler erst jüngst ihr Bekenntnis über Kunst abgelegt haben, bedurften bei
ihrem meist ganz persönlichen Charakter einer objektiven Stütze, und so
hoffte man denn auch auf beiden Seiten, an Dreys vortrefflicher Arbeit
eine Lanze gegen den Widerpart schärfen zu können. Anstatt sich aber
durch seine ernsten Mahnungen zu einer wirtschaftlichen Organisation der
Künstlerschaft und die verständnisvollen Vorschläge zu ihrer Realisierung
beruhigen und belehren zu lassen, führte man voll Kampflust das sta¬
tistische Material ins Treffen, das besonders das Kapitel über die »kunst-
politische Tätigkeit der gemeinwirtschaftlichen Körperschaften Deutsch¬
lands« und die beigegebenen Tabellen enthalten. Es muß deshalb dem
Verfasser um so höher angerechnet werden, daß er die Tragweite der
Statistik, in der die Schöpfung des Genies mit zahllosen Erzeugnissen, die
mit Kunst nichts zu tun häben, wahllos zusammengeworfen wird, nie
überschätzt, sondern daß er mit Takt zwischen Qualitätsbegriffen und
Quantitätsangaben unterscheidet, entsprechend dem Prinzip seiner Kunst¬
politik : die Arbeit nach ihrem künstlerischen Verdienst, ohne Ansehen
ihrer Herkunft oder der Nachfrage seitens des Publikums zu bewerten.
R. Oldenbourg.
Konrad Escher. Barock und Klassizismus; Studien zur
Geschichte der Architektur Roms. Klinkhardt und Biermann,
Leipzig 1910.
Daß das wichtigste Zentralorgan für Kunsthistorie und -Wissenschaft
erst nach einem geraumen Jahre Auskunft geben kann über dieses Buch,
scheint mir ein Zeichen dafür zü sein, wie wenig man trotz der nachdrück¬
lichen Hinweisungen durch Wölfflin, Strzygowski, Riegl, Schmarsow,
Schmerber, Weibel noch immer vorbereitet ist auf eine richtige Würdigung
dieses Zeitphänomens und seiner Bedeutung für unsere heutige Entwick¬
lungsphase in der Kunst. Das ist nicht nur im Sinne dieses vergleichend
zeitgeschichtlichen Interesses zu bedauern, sondern auch im Hinblick auf
den Stand der Methodik in unserer Disziplin der philosophischen
Fakultät. Unser Fachmann kann sich, so dünkt mich, nicht deutlich genug
des systemsichernden Zusammenhanges seiner Spezialgelehrsamkeit mit der
führenden, das methodische Arbeiten auch im Sonderstudium begründenden
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
3 g 2 Besprechungen.
Wissenschaft bewußt halten. Es ist aber kaum ein Abschnitt — ich will
die Bezeichnung lediglich rein zeitlich gefaßt wissen — außer unserer neuesten
Entwicklung und dem Übergange von der Antike zur christlichen Kunst,
der mehr anregte, ja hindrängte zu genauer Rechenschaft über die systemati¬
schen Grundbegriffe für Subsumption und Kritik der einzelnen Erscheinun¬
gen, wie für methodisch gerechte Sonderung von »Stileinheiten«. Aus dem
Erkennen dieser Anforderungen und aus dem Zugestehen dieses entsprechen¬
den Bedürfnisses gerät man leicht in die von der neutralen Kunstphilologie
nicht gutgeheißenen rein methodologischen Überlegungen über die Gewähr
für das Urteil. Und in der Nötigung dazu steht wohl der Barock obenan.
Dafür hat ihn schon die »Anleitung zum Genüsse der Kunstwerke in Italien«
ausgezeichnet; dessen hält uns die umfängliche Darstellung des Denkmäler -
bestandes durch Gurlitt beständig.bewußt. Und daran gemahnt aufs nach¬
drücklichste, anregend und fruchtbar, das vorliegende Buch, vielleicht eben
weil es jene verhängnisvollen Klippen methodologischer Untersuchung
glücklich meidet. Ich habe ihm für die Ausarbeitung meines Buches, das
nicht um sie herumkonnte, doch noch mancherlei zu danken, obgleich jenes
mir erst zugänglich-wurde, als dieses im letzten Stadium war. Rezensierend
tritt man aber auch in eine sittliche Beziehung zu Werk und Autor: die der
Freude an dem Geleisteten und an der Arbeitsgemeinschaft. Auch in Eischer
ist das Buch aus einem anhaltenden und liebevollen Verkehr mit der römi¬
schen Kunstwelt erwachsen, die noch aus dem 16.—18. Jahrhundert bild¬
bestimmend in die wenig erfreuende Gegenwart hereinragt. Aus dieser liebe¬
vollen Beteiligung macht er kein Hehl, und sie ist der durchklingende Tenor
der Arbeit, wenn er es auch vermeidet, sich in einer Definition festzulegen.
Er wahrt sich vielmehr den unbefangenen freien Blick für die einzelne Er¬
scheinung und vermag so auch das Unbedeutende aus den organischen Be¬
dürfnissen zu rechtfertigen. Das gedeiht dem analytischen zweiten Teile —
2. Hauptteil, 4. Kapitel — zum Vorteil, in dem »die Monujnente als Ent¬
wicklungsfaktoren« besprochen werden. Hier wird durch alle Kategorien
baukünstlerischer Betätigung hin die bildnerische Einheitstendenz verfolgt.
Der unumgänglichen Erschwerung der Anschaulichkeit solcher Darstellungen
wird geschickt entgegengearbeitet in einem durchgehenden Gegenüber-
steilen der Gestaltungsweisen aus der barocken und der folgenden Zeit.
Gefördert wird die Anschauung durch eine Reihe von Tafeln (21 mit je 2
Abbildungen), die vorzüglich aus der Zeit des Zusammentreffens der beiden
sogenannten Stile gut gewählt sind. Im Interesse besonders dieses Teiles
ist es zu bedauern, daß kein Namenregister das Wegweisen durch die zu¬
sammengedrängte Menge des historischen Materials übernimmt. Ver¬
wunderung erwecken wird bei andern Lesern wie bei mir die Mühe, die sich
der Verfasser mit der achtteiligen Fassade macht.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Besprechung*!^
285
Die sogenannte Kritik an der Verwilderung und Willkür des Barock —
welche Definition neuestens wieder in diesen Blättern als etwas ganz Neues
aufgenommen worden ist — gibt Escher den Autoren des Klassizismus
(zumal des Milizia) anheim. Und gerade damit bringt er einen neuen Vorzug,
den bedeutendsten, in sein Werk: in gedrängtester Kürze (S. 47—60 und Ex¬
kurs II) stellt er ihre Theoreme zusammen, zeigt an ihnen auf, wie sie, in
der scharfen Absage an die »bis zur Sinnlosigkeit sich steigernde Willkür« des
Barock erzeugt, zu einer positiven Lehre erhoben werden — zu einer Doktrin
von zweifelhafter Fruchtbarkeit — weil sie eine erste historisierende war.
Hier läßt Escher auch, bei aller Anerkennung für die Ehrlichkeit des reforma-
torischen Abzielens — die die Absicht von geschichtlichen Studien ihm ab¬
nötigte — deutlich seinen Gesinnungs-, um nicht zu sagen: Geschmacks¬
anteil an dem Wesen der beiden Stilcharaktere durchscheinen. Wirklich
eine erste historisierende? Hier habe ich eine Verwunderung zu bekennen:
als ich die Anzeige des Buches las, glaubte ich in ihm die schon längst ge¬
wünschte Auseinanderlegung jener beiden Baugesinnungen finden zu sollen,
die während der ganzen Renaissance- und Barockzeit nebeneinander her-
laufen: die eine geht von dem heimatlichen Entwicklungsstadium der ro¬
manischen Baukunst und der gotischen aus und gewinnt durch das Hinein-
nehmen antiker Formelemente dig Möglichkeit harmonischer Proportio¬
nierung, der Erweiterung und Vollendung des alten Systems; die antiken
Teile werden ihm assimiliert, eingeordnet. Die andere Richtung ist die,
welche die antikische Formgerechtigkeit an die Spitze ihrer Kombinationen
stellt und das moderne Bedürfnis in die Bedingungen, die jene an sich hat,
hineinzuzwingen strebt. Die am meisten strittige Stelle in dieser Ausein¬
andersetzung würde Alberti einnehmen. In meinem Buche habe ich mich
zu entscheiden versucht: ich sehe die Wurzeln des sogenannten Barock bis
in sein baukünstlerisches Denken hinabreichen. Von anderer autoritativer
Seite aber ist er zu einem Urbilde des antiquarischen Klassizisten gestempelt
worden. Wieviel jene zweitgenannte Richtung, etwa in Palladios Denken
und Schaffen, von klassizistischer Gesinnung in sich trage, wäre nachzu¬
weisen und daraus gerade die mächtige Wiederaufnahme seiner Stilistik
als das positive Resultat jener Absage an den Barock zu entwickeln. Das
fand sich nicht in Eschers Buche; aber da der Rezensent nicht das Recht
hat, seine eigenen Ideen im Werke eines andern zu suchen, sondern die
Pflicht, die seinen zu erkennen, so leidet der Wert dieser »Studien zur Ge¬
schichte der Architektur Roms« nicht darunter, daß ich nicht fand, was
mir erwünscht gewesen wäre, um doch durch soviel Vortreffliches reichlich
entschädigt zu werden. Horst.
Catalogue of early Italian engravings preserved in the department of prints
and drawings in the British Museum by Arthur Mayger Hind, edited
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
2$4
Besprechungen.
by Sidney Colvin, Band I: Text mit 20 Tafeln, 627 S., Band II: Illustra¬
tionen. Verlag des Britischen Museums, 1910.
Das alte Katalogunternehmen des Department of prints and drawings
in the British Museum — vor etwa 40 Jahren wurde es ins Leben gerufen —
hat nach langem Schlummer durch ein neues Geschlecht von Museums -
beamten eine erfreuliche Wiederbelebung und Wiederverjüngung erfahren.
Dodgson hat in seinem »Catalogue of early German and Flemish woodcuts«
(Band I, 1903, II, 1911) die Ergebnisse vieljähriger Forschungen in glänzender
wissenschaftlicher Durcharbeitung niedergelegt. Der Verfasser des ange¬
führten Werkes ist nahe daran, ihm gleichzukommen.
Als wichtige Vorarbeit für seinen Katalog konnte Hind R. Fishers
»Introduction to a catalogue of the early Italian prints in the British Museum
(1886)« benutzen. Ferner unterstützte ihn Sidney Colvin, der auch die Ein¬
leitung verfaßt hat, mit seinem in langer Amtstätigkeit erworbenen Wissen.
Das Britische Museum ist außerordentlich reich an frühen italienischen
Grabstichelarbeiten. Der Katalog beschreibt nicht nur die vorhandenen
Originale, sondern auch die Reproduktionen von Stichen, die sich in andern
Sammlungen befinden. Dadurch wächst er sich zu einem umfassenden Werk
über den italienischen Kupferstich des 15. Jahrh. aus. Die Beschreibungen
9 ind sehr ausführlich, die Literatur ist mit größter Gründlichkeit von ihren
frühesten Anfängen bis zur Gegenwart zusammengetragen. Am meisten
interessiert am Schlüsse jeder »Nummer« die wissenschaftliche Untersuchung,
die in einer jedem Kapitel vorangehenden allgemeinen Übersicht schon
anklingt. Fassen wir die Einzelfälle zusammen, so ergibt sich, daß die
italienische Graphik im 15. Jahrh. vorwiegend ihr Leben zieht aus der ita¬
lienischen Monumentalkunst. Die Kupferstecher schöpfen mit vollen Eimern
aus dem Formenreichtum der Frührenaissance. Besonders die Malerei,
aber auch die Plastik und die Architektur wird ausgeschlachtet. Nicht nur
Botticelli und A. Pollainolo, Mantegna und Leonardo, deren vorherrschenden
Einfluß man schon lange erkannt hatte, lassen sich als Vorbilder nachweisen,
auch die Beziehungen zu Fra Angelico, Filippo Lippi, Castagno, Baldovinetti,
Pesellino, Antonio da Murano u. a. sind offenkundig. Dabei handelt es sich
fast immer um freie Verwertung von Anregungen, nur selten ist wirklich
kopiert worden, wie z. B. das jüngste Gericht von Fra Angelico (Florenz,
Akademie und Berlin, Kaiser-Friedrich-Museum) oder die Dante-Darstellung
von Domenico di Michelino (Florenz, Dom ) l ).
An der Gliederung des vorliegenden Stoffes ist Sidney Colvin beteiligt.
Die Trennung in zwei Hauptabschnitte: frühe unbekannte Stecher und spätere
l ) Daß man gelegentlich auch bei nordischen Meistern Anleihen machte, (Meister
E. S., I. A. v. Zwolle) ist bei den engen Beziehungen zwischen Deutschland und Italien
nicht verwunderlich.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
285
Stecher, deren Namen bekannt sind, war gegeben. Der Einteilung dereinzelnen
Kapitel und Unterkapitel wird man im allgemeinen beipflichten können:
der einschneidende Gegensatz zwischen Florentinern und Norditalienern ist
klar hervorgehoben, und innerhalb der Florentiner Meister der anerkannte
Unterschied zwischen den Stichen der »feinen und breiten Manier« dargelegt.
Gewagt erscheint nur der Abschnitt: Finiguerra and his school. Sidney
Colvin ist es trotz lebhafter Beweisführung und trefflicher Ausbreitung eines
umfangreichen Materials nicht gelungen, die Fachwelt davon zu überzeugen,
daß in der »Florentine Picture-Chronicle« des Britischen Museums eigen*
händige Zeichnungen von Finiguerra vorliegen. Finiguerra bleibt nach wie
vor eine dunkle, rätselhafte Erscheinung, ein von Vasari überlieferter Name,
mit dem wir mit Sicherheit kein graphisches Werk verbinden können. So
ist auch alles, was in Hinds Katalog mit Finiguerra in Zusammenhang
gebracht wird, ankerlos.
Mehr Vorsicht bekundet der Verfasser, wenn er den Stich G. Campa-
gnolas »Leda und der Schwan« in die Beeinflussungszone der Campagnolas
rückt und an Stelle von Antonio da Monza »Master of the Sforza Book of
Hours« setzt.
Hat man sich in den praktisch durchdachten Organismus des Werkes mit
seinen zahlreichen Registern und Tabellen einmal eingelebt, so wird man
sich leicht in dem sonst schwer zu übersehenden Gebiete zurechtfinden und
Fragen, die von den verschiedensten Gesichtspunkten aus gestellt sind,
bequem lösen können.
Die im ersten Bande eingestreuten Abbildungen befriedigen durchaus;
die stark verkleinerten Photolithographien des zweiten Bandes, der nur II*
lustrationen enthält, können zwar in keiner Weise eine Vorstellung von
dem künstlerischen Werte der Stiche geben, unter Umständen aber als
Fingerzeig und Gedächtnisstütze sich sehr nützlich erweisen.
Engelbert Baumeister.
Wllh. Ostwald, Monumentales und dekoratives Pastell.
Leipzig 1912. Akad. Verlagsgesellschaft m. b. H. Preis geb. Mk. 2,40,
geb. Mk. 3.—.
Unter den für Werke großen Stils geeigneten Malweisen hat bi6 jetzt,
trotz aller ihrer bekannten Schwierigkeiten, immer noch die Freskotechnik
als beste gegolten. Ihr haben wir die erhabensten Schöpfungen der Re¬
naissance zu danken, ohne sie wären die kühnsten Kompositionen des
Michelangelo, der Carracci und anderer nur als schemenhafte Überreste
auf uns gekommen. Selbst die späteren Freskanten von Tiepolo bis Martin
Knoller haben, dank der fortgesetzten Übung, noch das Technische des
Fresko in vollkommenster Weise zu beherrschen gewußt.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
286
Besprechungen.
Heute ist dies anders geworden. Nur selten bietet sich einem unserer
Künstler Gelegenheit zur Ausführung in dieser Technik, und wenn dies der
Fall ist, dann muß er sich erst schnell in die ihm ungewohnte Malart hinein*
arbeiten. Denn gar so einfach ist es nicht. Die Herstellung der Kartons
in Originalgröße vorausgesetzt, erfordert das tageweise Arbeiten auf dem
nassen Grunde mit Kalkfarben, deren Wirkung erst nach dem völligen
Trocknen sichtbar wird, eine ungemeine zeichnerische Sicherheit und das
Vorausberechnen jeden einzelnen Farbentoncs. Dazu kommt noch die Ein¬
schränkung der Palette, da nur bestimmte, wenige Farben der Ätzkraft des
Kalkes widerstehen. Nicht Gelungenes muß unnachsichtlich abgeschlagen
und ganz neu gemacht werden, weil durch Retuschen wenig zu ändern
möglich ist. Selbst erste Meister, wie Böcklin, sind an diesen Schwierig¬
keiten gescheitert. Künstler, die von Jugend auf, wie es früher war, stets
in Fresko tätig und nur darauf geschult waren, gibt es heute nicht.
Diese Umstände haben zu den Surrogattechniken für Wandmalerei
geführt, zur Kaseinmalerei, zur Enkaustik, zur Stereochromie und zur
Mineralmalerei.
Neuestens tritt zu diesen Malarten die Pastellmalerei, oder vielmehr
eine Methode, nach der‘das Bild in der Art des Pastells hergestellt und
hernach durch geeignete Mittel befestigt wird.
Es ist bekannt, daß der Erfinder dieser Methode, einer unserer besten
Gelehrten, Geh. Rat Prof. O s t w a 1 d , sich seit längerer Zeit auch mit
Malerei beschäftigt und in einem viel beachteten. Buche »Malerbriefe«
(Leipzig, S. Hirzel, 1904) wichtige Beiträge zur Theorie und Praxis der
Malerei gegeben hat. Neu war darin die Behauptung, daß die haltbarste
von allen die Pastelltechnik sei, weil diese keinerlei Bindemittel bedürfe,
die durch die Atmosphärilien dem Verderben ausgesetzt werden. Und als
die wenigst haltbare Malart bezeichnet er das Fresko, weil es durch die Atmo¬
sphärilien, besonders durch unserer »Großstadtluft« (Kohlendioxyd) in kurzer
Zeit verdorben würde. Ja, er bezeichnet es wegen der unausweichlichen
Schwierigkeiten der Herstellung als eine veraltete Manier, die man auf geben
sollte und auch aufgegeben habe, »aus demselben Gründe, aus dem man die
Postkutsche aufgegeben hat, weil zweckmäßigere Verfahren es verdrängt
haben«. Vor allem erachte er es für unvernünftig, Bilder auf eine Unter¬
lage zu malen, die mit dem Gebäude unverrückbar verbunden ist.
In seinem neuen Büchlein, das die Technik des monumentalen und
dekorativen Pastells beschreibt, ist er aus Utilitätsgründen freilich davon
abgegangen, denn wie ließe sich auch für gewölbte Flächen oder bei großen
Abmessungen geeignete Unterlagen, wie Zementplatten u. a. beschaffen,
und er empfiehlt einen Grund von Mörtel oder Gips, dem zum bessern Haften
des Pastellfarbenstaubes eine gewisse Menge von Bimssteinpulver zugesetzt
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
287
werden soll. Dieser Zusatz kann auch bei Leinwandgrund gemacht werden,
sofern die fertigen Gemälde erst hernach auf die Wandfläche geklebt werden
müßten. Die Malerei mit den Farben, in Form der üblichen Pastellstifte
am einfachsten selbst hergestellt, gestatten ein ungemein leichtes und
schnelleres Arbeiten als jede Pinselmalerei, sie kann jeden Moment unter*
brochen und beliebig wieder fortgesetzt werden. Als Farbenpulver dienen
alle Pigmente, die lichtbeständig genug sind. Das Befestigungsmittel, eine
wässerige Kaseinlösung, wird mit dem Zerstäuber in mehreren Schichten
aufgetragen, dann die Oberfläche mittels einer verdünnten Lösung von
essigsaurer Tonerde überspritzt, wodurch das Bindemittel gegerbt, also
wasserunlöslich gemacht wird. Überdies kann noch ein Übriges getan
werden durch das Paraffinieren der vollendeten Malerei, das einen völligen
Abschluß gegen die Einflüsse der Atmosphärilien bildet.
Das sind freilich eine Menge Vorteile gegenüber der alten Fresko¬
technik, und die Künstler, die sich der neuen Methode bedient haben,
sprechen sich sehr befriedigt, j a fast begeistert über die einfache Manipulation
und die Leichtigkeit der Ausführung aus. Bisher sind Arbeiten bekannt
von W. von Beckerath (Hamburg), Meinhard Jakoby (Schulaula in Weißen¬
see bei Berlin), Ad. Schinnerer (Erlöserkirche in Mannheim), Rieh. Amsler
(Außenbilder und Saaldekoration in Schaff hausen), und von Saschä Schnei¬
der (Aula der neuen Universität Jena), das letztere Gemälde auf Leinwand.
Daß mit der Eroberung der Wand durch die Pastellmanier neue Mög¬
lichkeiten, neue Effekte in Aussicht stehen, soll nicht geleugnet werden.
Für moderne Farbenstimmung und impressionistischen Farbenauftrag ist
das Pastell sehr geeignet. Ob jedoch die neue Malart, die doch nichts an¬
deres ist als eine Kase’inmalerei, für längere Dauer der Werke Gewähr leistet,
als es die alte Freskotechnik getan hat, wird erst die Zukunft lehren.
E. Berger.
August Schmarsow: Juliano Fiorentino. Ein Mitarbeiter Ghibertis in
Valencia. — Des XXIX. Bandes der Abhandlungen der philologisch¬
historischen Klasse der Königl. Sächsischen Gesellschaft der Wissen¬
schaften Nr. 3. Mit 13 Tafeln und 2 Textillustrationen. Leipzig. Bei
G. B. Teubner 1911, 41 S.
Durch Urkunden und zeitgenössische Berichte ist's längst bekannt,
daß italienische Künstler schon zu Beginn der Renaissance im Ausland
jenseits der Alpen und in Spanien tätig waren, und manch befruchtender
Einfluß muß hinüber und herübergegangen sein. Aber den Werken, die sie
dort hinterließen, ist man kaum jemals ernsthaft nachgegangen; deshalb
bedeuten Schmarsows Forschungen über die Alabasterreliefs am Lettner der
Kathedrale von Valencia eine wirkliche Bereicherung der italienischen
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
288
Besprechungen.
Kunstgeschichte. Man hatte sie schon längst mit einem von Ghiberti ab¬
hängigen Künstler in Verbindung gebracht, ist doch der Stilzusammenhang
mit florentinischem Chuattrocento nicht zu übersehen. Freilich bezog man
irrtümlich die Nachrichten über die Fertigstellung des Lettners 1466 auf sie;
Schmarsow hingegen weist ihre Entstehung zwischen 1418 und 1423 mit
Sicherheit nach. Des Meisters Können und Bedeutung rückt dadurch in
ein ganz anderes Licht; und durch scharfsinnige Kombinationen wird der
in Spanien Juliano Fiorentino genannte Bildner mit Giuliano di Giovanni
da Poggibonsi (detto il Facchino) identifiziert; einem Gehilfen Ghibertis,
der 1407 bei den Vorarbeiten zu seiner ersten Bronzepforte des Baptisteriums
genannt wird.
Er hatte in Italien nur die ersten Anfänge der Frührenaissance erlebt;
und seine Werke in Valencia knüpfen unmittelbar an die florentinische
Kunst vor 1416 an; d. h. an die ersten Arbeiten Ghibertis und Nannis di
Banco wie die frühesten Denkmäler Donatellos. Er baut auf dieser Basis
weiter; und seine Alabasterreliefs erscheinen durch die verschobene Da¬
tierung nicht mehr als altertümclnde Schöpfungen eines Zurückgebliebenen,
vielmehr als tüchtige Arbeiten ihrer Zeit, die nur durch die wenig späteren
Skulpturen Donatellos, Ghibertis »Paradieses-Pforte« und Luca della Robbias
Glasuren in den Schatten gestellt werden. Freilich in einem überragen seine
Leistungen die älteren Arbeiten von jenen: in der intimen Darstellung des
Beiwerks. Mit großer Liebe schildert er alles Landschaftliche, die archi¬
tektonischen Hintergründe und die Tierwelt. Sollten spanische Arbeiten,
die er in der neuen Heimat sah, hier von Einfluß gewesen sein, oder — eher —
seine eigne Begabung in dieser Richtung gelegen haben? Vielleicht sind
hellenistische Reliefs, die er in Italien studierte, auf ihn von stärkerem Ein¬
fluß gewesen, wie auf die florentinischen Bahnbrecher, denen die Darstellung
des Menschen und die perspektivisch richtige Schilderung der Umwelt mehr
und mehr das Wichtigste wurde? Auf jeden Fall ist er nicht blind an alter
Kunst vorübergegangen; das beweist schon das Pegasus-Gespann als Wagen
des Elias zur Genüge. Jenen spezifisch florentinischen Errungenschaften
der folgenden Jahre blieb er hingegen fern und dadurch ganz und gar Gotiker.
Manche seiner Arbeiten sind über das kunsthistorisch Interessante hinaus
auch künstlerisch sehr reizvoll; wie die Krönung Mariae und der Besuch der
Königin von Saba bei Salomo.
Die Bildner des vierzehnten und frühen fünfzehnten Jahrhunderts
verdanken der zeitgenössischen Malerei vielfache Anregung. So ist es gut,
daß Schmarsow neben der Plastik jener Jahre auch die Gemälde zum Ver¬
gleich heranzieht. Sehr einleuchtend ist der vom Autor betonte Einfluß
Lorenzo Monacos; doch ist es schade, daß er nicht auch die älteren Arbeiten
der Jacopo Rosselli Franchi und Giovanni da Ponte besprochen hat. Der
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
289
letztgenannte war ohne Zweifel damals die interessanteste Malerpersön¬
lichkeit neben Lorenzo Monaco, ihm im Formalen oft unterlegen, aber in
der Betonung des Dramatischen und in der psychologischen Ausdeutung
ihm weit voraus. Und das waren Dinge, die Juliano Fiorentino zweifellos
sehr interessierten.
Hoffentlich bedeutet diese wertvolle Arbeit einen Anfang, der ita¬
lienischen Kunst außerhalb Italiens nachzuspüren, wie ja die römische
Jubiläums-Ausstellung des letzten Jahres auch die antik-römischen Werke
außerhalb der apenninischen Halbinsel in den Mittelpunkt des Interesses
rückte und wichtige Denkmäler und Ergebnisse ans Licht gebracht hat.
F. Scholtmüller.
Repertorium filr Kunntwissentchaft, XXXV.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Verkannte Sternbilder und Ketzervorstellungen in der
mittelalterlichen Kunst.
Ein Beitrag zur neueren Kunstarchäologie.
Von Karl Borinski.
Die Wandmalereien der Chornische des kleinen romanischen Kirch¬
leins von St. Jakob in Tramin (Süd-Tirol) geben uns im folgenden Anlaß
und Ausgang zu einer Rekognoszierungsfahrt durch ein nach unserer Meinung
noch dunkles und darum wohl gelegentlich ganz falsch aufgefaßtes Gebiet
mittelalterlicher Ikonographie.
Seit Dahlkes Aufsatz im Repertorium für Kunstwissenschaft (V 134 ff.)
gelten jene phantastischen Gebilde in der Kunstgeschichte (vgl. Janitschek,
Gesch. der deutsch. Malerei S. 158) für Darstellungen des »Kampfes böser
Mächte und Leidenschaften«. Als Illustration zu einem bedeutenden Ka¬
pitel der speziellen mittelalterlichen Literaturgeschichte, des Kampfes
zwischen Geist und Körper, Tugenden und Lastern, interessierten sie den
Verf. Allein schon der Anblick der Dahlkeschen Abbildungen brachte ihn
zu der Einsicht, worin ihn das Studium seiner Abhandlung bestärkte, daß
die Bilder mit diesem Kapitel nichts zu tun haben können.
Könnten wir uns eine mittelalterliche Kunstrichtung denken — denn
die Bilder stehen nicht für sich allein, sondern in weiteren Zusammen¬
hängen —, die gleich Shakespeares Theater an der Darstellung der bösen
Leidenschaften unter sich, zunächst ohne jede Rücksicht auf das
Gute, auf Belohnung oder Bestrafung, ein psychologisch dramatisches
Interesse nähme, so wären diese Wandbilder wirklich ihr monumentaler
Ausdruck. Nichts in ihnen deutet auf den Widerstreit des Geistigen und
des Körperlichen, auf den Gegensatz von Tugenden and Lastern. Sollen es
derartige Allegorien sein, so sind es zuversichtlich lauter Laster. Laster
unter sich, in wütendem Kampfe oder schnöder Vertraulichkeit unterein¬
einander begriffen. Was aber sollte den mittelalterlichen Maler bewogen
haben, in einer kleinen Dorfkirche in den Alpen ein solches Thema ohne
jeden Hinweis auf das ihm geziemende Höllenlokal und wachthabende
Teufelsgendarmerie anzubringen. Statt dessen ergeht er sich in lauter
antiken Motiven, die mit »Zentauern und Sirenen«, den hierfür handbuch-
Repertorium für Kun«twi«»en*chaf», XXXV. 20
Digitized by
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
292
Karl Borinski,
gerechten repräsentativen Typen im Mittelalter, bei weitem nicht erschöpft
sind. Auch die hier kunstgeschichtlich nahe angrenzenden Randbilder der
Decke des kleinen. Kirchleins von Zillis an der Via mala des Splügen gehen
über diese 2 antiken Typen hinaus. Allein sie stehen, zufällig herausgegriffen,
je für sich allein. Sie stehen weder so auffällig in enger, sogar dramatischer
Verbindung miteinander, noch fallen sie durchschnittlich so aus der ge¬
wohnten Reihe, wie hier dieser ganz selbständige, offenbar eine ganz selb¬
ständige Bedeutung gemeinsam ausdrückende Typenkreis. (J. R. Rahn,
Die bibl. Deckengemälde i. d. Kirche von Zillis im Kanton Graubünden,
Mitteil. d. Antiq. Gesellsch. in Zürich. Bd. XVII (1872), H. VI. Ders.
darüber in v. Zahns Jahrbüchern f. Kunstwiss. IV (1871) S. 105 ff. und
Repert. f. Kunstw. V 406 ff., vgl. auch J. R. Rahn, Gesch. d. bild. Künste
i. d. Schweiz (Zürch 1876) S. 290—93.)
Diese Überlegungen bewogen den Verf., die Fragestellung zu ändern
und von dem Thema des Kampfes der Leidenschaften gänzlich abzusehen.
Leider sind die Veröffentlichungen über diese Denkmäler, so sehr man
ihnen die vorläufige Beschreibung und zeichnerische Festhaltung eines wohl
halb zerstörten Bildmaterials zu danken hat, weder vollständig noch photo¬
graphisch genau. Man halte es also dem Interesse des Gegenstandes zugute,
wenn hier auf Grund so wenig genügenden Materials sich aufdrängende Ver¬
mutungen ausgesprochen und begründet werden sollen.
Zunächst die inneren Nischenwände zu Tramin (a. a. 0 . S. 133 ff.),
an denen rechts und links (durch den Altar und das Fenster »von Anbeginn
an unterbrochen« vgl. S. 137, Z. 14T5 von unten) zwei Gruppen von phan¬
tastischen Gestalten unter (späteren) Folgen von Aposteln (von anderer
Hand ! s. Repert. V 142 f.) dargestellt sind. Die rechte Gruppe (a. a. O.
S. 139, Abb. VI) ist leider nicht vollständig skizziert wiedergegeben. Sie
besteht aus vier Figuren, von denen die äußerste rechts nur ein gekrümmtes,
mit Schuh und Strumpf bekleidetes Bein im Bild vorschiebt und auch
in der Beschreibung (auf S. 139) zu kurz gekommen ist.
Halten wir uns an die drei mitgeteilten: ein flammenspeiender Mann
mit spitzer Haube, eine Schlange in der rechten Faust in der Mitte haltend,
mit ganz unklarem, fisch-vogelartigem Unterleib, dabei aber zwei Füßen,
den rechten Fuß aufgesetzt, den linken (mit Klauen ausgestatteten, aber
so wenig als der abbreviierte rächte ganz sicher definierbaren) von einem
Angreifer, den er am Schopf faßt, aufgehoben. Es ist ein von ihm weg nach
rechts sprengender Zentaur, mit den gleichen, schwer definierbaren (Hunde ?)-
Pfoten ausgestattet, wie die linke des Flammenspeiers. Als wirklicher
»Hundezentaur« —• mit menschlichem Oberkörper und Hundeleib — er¬
schien er uns als ebensolche Seltenheit, wie die Hundsköpfe »cynocephali«
(sogar als ganzes Volk bei den Antipoden) damals auf Erden und am
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Verkannte Sternbilder und Ketzcrvorstellungen in der mittelalterlichen Kunst. 293
Himmel häufig erschienen. (Vgl. weiter unten K. Dyroff a. a. 0 . S. 500 f.
und den liber monstrorum c. 16 bei Haupt Op. II 228.) Der Flammen-
speier wird noch anderweitig angegriffen: von der dritten Figur, einem
Schützen mit gespanntem Bogen. Auch er ist ein Mischgeschöpf, ein Fisch¬
mensch, sich als solcher schon im Oberleib scheinbar ankündigend und in
einen regulären Flossenunterkörper auslaufend.
Ich gestehe gleich, daß es eben diese Zusammenstellung war — eines
Schlangenhalters, eines Zentauren und eines Schützen — die mich ver-
anlaßte, trotz ihrem seltsamen Auftreten und ihrer noch seltsameren Equi¬
pierung alsbald an Tierkreisbilder zu denken. So stehen sie auf der Stern¬
karte beisammen, zwischen Äquator und Wendekreis des Steinbocks: der
Ophiuchos mit der Schlange, der Sagittarius und (auf der südlichen Himmels¬
sphäre) der Zentaur. Die spitze Mütze, sonst dem Kepheus eignend, trägt
der Ophiuchos auch in der berühmten Münchener astronomischen Wenzel-
handschrift (Clm. 826 fol. 34—41), wo er auch, wie hier, die Schlange
hinter sich hält. Demnach müßte das schwer definierbare nach hinten
gekrümmte Doppelschwanzgebilde, auf dem der Ophiuchos offenbar ritt¬
lings steht, wie es der Zeichner auch wiedergegeben haben mag, das unter
ihm (südlich) stehende Sternbild des Skorpion sein:
aüx&v iirrppdaaato cpatvo(x£vov ’Ocptou/ov.
rocra'tv iirtöXt'ßei Ö7jptov ap/potepom
Sxopiriov . . . •
ipßo? . . . Aratus, v. 76 sq.
Noch näher unserer Darstellung schildert es eine mittelalterliche Kunst-
beschreibung (des mit der himmlischen Sphäre ausgemalten Betthimmels
der Adele, Tochter Wilhelms des Eroberers) von dem Abt Baudri von
Bourgueil, wie sie (nach M6m. de la Soc. des antiqu. de Normandie III
$6rie XXVIII p. 20 sq.) E. Maas (Comment. in Aratum Berol. 1899, p. 609 sq.)
mitteilt (V. 637 sq.): Scorpio subsequitur, quem Serpentarius angens et
vclut infestans calcat utroque pede.
Dann gehörte das sich ins Bild vorschiebende gekrümmte Knie mit dem
Jagdstiefel dem nördlich angrenzenden Sternbilde des Herakles ingenicu-
latus (»rfpvaaiv«), der wohl die Keule und die mit »Schweif und wul¬
stigen Kopf« ausgestattete Löwenhaut trägt. So wäre die mangelhafte
Beschreibung verständlich, die Dahlke von den Rudimenten dieser vierten
Figur gibt und als beginnende »tierische Form« ihres gekrümmten Ober¬
körpers interpretiert. Daß der Arcitenens, eigentlich ein Zentaur, den Fisch¬
unterkörper zeigt, ergibt für die Komposition die Erleichterung, daß er
unmittelbar mit dem andern südlichen im Bild zusammengebracht werden
kann. Der zweite Pferdeleib war (noch dazu solchen Zeichnern) schwer,
20 *
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
294
Karl Borinski,
wenn nicht unmöglich der Komposition einzufügen. So stellt sich dafür
der strahlartig gerad ausladende Fischleib ein.
Aber warum gerade dieser? Den Pferdeleib zu vermeiden berechtigten
den Künstler andere Vorstellungen. Die Darstellung des Schützen
nicht als Zentaur wird auch von den maßgebenden antiken Stern(Kata-
sterismen)büchem des Mittelalters bezeugt (s. Georg Thiele, Antike Himmels*
bilder . . . mit Beiträgen zur Kunstgeschichte des Sternenhimmels (1898)
S. 155. Franz Boll, Sphaera. Untersuchungen zur Gesch. der Sternbilder
S. 131). Boll bringt a. a. O. eine Illustration aus lateinischen Handschriften
»als zweibeiniger Silen (Krotos) mit Pferdefüßen und Roßschweif«.
J. H. Voß in seinem Aratus (Heidelb. 1824 S. 60 f., zu v. 299—301 der
<Datvofteva) will aus dem Schwanken über den Begriff Zentaur bei diesem
Satyr-Schützen schließen, daß sich überhaupt erst an dem Sternbild
die alte Vorstellung der Zentauren als zweibeiniger wilder Männer zu der
von Roßmenschen entwickelt habe. »Offenbar orientalischer Sphäre ange¬
hörend» erklärt Boll (a. a. 0 . S. 262) Abweichungen des Schützenbildes mit
dem Kopfe eines Hundes und Wolfes (Schakals!) Soll man an eine »jener
Mischgestalten denken, die sich auf ägyptischen Himmelsbildern häufig
finden«? Er weist auf einen (weiblichen) Schützen mit menschlichem Kopf
in eng anliegendem Gewände auf dem (ägyptischen) Rundbild von Dendera,
bei dem er freilich einen Zusammenhang bezweifelt. In dem berühmten
Steinbuche (Lapidario) des Königs Alfons X. von Castilien aus demXIII. s.,
einem Erzeugnis der alchymistischen Astrologie, finde ich (Lapidario del Rey
D. Alfonso X. Codice original in 50 Abdrücken (der Madrider Akademie
1883] fol. 96) einen Schützen (mit menschlichem Antlitz) in eng anliegenden
Schuppenpanzerkleide; denselben öfters in der Münchener Wenzelhandschr.
(Clm. 826) so fol. 12 verso, mit gegen ihn ansprengendem Hunde fol. 13 ib.
den Fisch neben sich, auf den er deutet. Abt Baudri (v. 639 r.) setzt an
Stelle des Schuppen- ein Federnkleid: »imminet architenens pedibus caudaque
ferinus *pen n a coaptat a vem, sed facies hominem«. Allein der aufschlu߬
reiche Verfolger des Übergangs des griechischen Sternenhimmelsbildes in die
abenteuerlichen Mischgestalten der »Sphaera barbarica« gibt (a. a. O. S. 423 ff.)
einen andern — grundsätzlichen — Fingerzeig für ihre methodische Er¬
klärung. Er bezieht sich auf die Freiheit, weitauseinander liegende Stern¬
bilder nach den gemeinsamen Aufgehen am Sternhimmel (wobei das eine
das etwa verdunkelte andere für die Orientierung vertreten kann) zu kom¬
binieren : »so daß z. B. wenn nach dem Text (des Sternbuchs) der Ober¬
körper einer Frau und der Rücken eines Stieres auf geht, diese zu einer aben¬
teuerlichen Mischgestalt vereinigt werden« (a. a. 0 . S. 424).
Inwiefern dies Prinzip auf die zodiakale Deutung unserer Kompositionen
exakt anwendbar ist, dies zu entscheiden, muß ich ihren speziellen Be-
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Verkannte Sternbilder und Kctzervorstellungen in der mittelalterlichen Kunst
295
arbeitern überlassen. Außer traditionellem Zusammenhang stehen die
Gruppen nicht, wenn Janitscheks Anmerkung (a. a. 0 . S. 158) sich bestätigt:
er habe »in genauester Übereinstimmung die einzelnen Vor»
Stellungen und Gruppen wiedergefunden in einem (welchem?) byzan¬
tinischen Kodex der Vaticana aus dem elften Jahrhundert, der einen Hiob¬
kommentar enthält«. Einige der Vorstellungen, auf die wir noch zu sprechen
kommen, jedoch nicht die Gruppen kehren auch wieder an dem schon
berührten Orte in Zillis.
Wie dem auch sei, ob wegen ihrer astronomischen Bedeutung als
»Paranatellonta« oder ihrer rein künstlerischen (oder irgendwie super-
stitiösen: ketzerischen?) Anziehungskraft, in jedem Falle kehren im Traminer
Bilderkreis die Zusammensetzungen mit Fischschwänzen, bzw. hybride'Bil¬
dungen von Wasser geschöpfen auffallend wieder. Ebenso ist es in
Zillis. Auch die m. a. Bildhauer bevorzugen sie ja in ihren »Phantasie¬
spielen« an Säulenkapitellen u. ä. Die technisch leichte und vielseitige
Verwendbarkeit des elegant und plastisch zusammengefaßten Fischleibes
vor anderen tierischen Bildungen hat hierzu künstlerisch wohl das ihrige
beigetragen. Am wenigsten einleuchten will nun auch hier die von der
Leidenschaftstheorie versuchte Interpretation des Fisches »als Symbol des
Bösen« (Rahn in v. Zahns Jahrb. f. K. IV in nach Otte, Handb. der kirchl.
Kunstarchäol., S. 869 ff.) inmitten einer Anschauungswelt, in der fy&u? das
Heilsymbol selber ist. Das Gegenteil ist jüdisch. Wohl aber können Levia¬
than u. Behemmoth, rein phantastisch als Meerungetüme vorgestellt, freie
Vorstellungen von allen möglichen Meermonstren bei den Künstlern sank¬
tioniert haben.
Keinen so offen kundigen Bezug auf zusammenstehende Sternbilder
zeigt in Tramin die linke Gruppe. Die Abbildung (a. a. 0 . S. 141) soll voll¬
ständig sein. In vertraulichem Gespräch begriffen ist ein Paar rechts, ein
Delphinreiter mit einer Binde auf dem Kopfe, der sich im Zuhören durch
einen ihn in die Waden beißenden Meerhund nicht stören läßt und sein ge¬
stikulierender Partner mit wunderlich zusammengewachsenen hoch an die
Schulter gezogenen Beinen, die als Klumpen oben wieder »in einen Gänse¬
kopf ausgehen« sollten. Er hält diesen Stumpf mit dem linken Arm um¬
faßt und fingiert mit der Hand darauf herum. Die Wiedergabe durch den
Zeichner darf wohl Zweifel erwecken. Vielleicht ist der pfeilerartige
Klumpen vom Körper abzutrennen, oben eine Lyra? Das Paar interpretiert
der Veröffentlicher als verschiedenen Geschlechts. Dazu liegt auf seiner
Zeichnung kein zwingender Grund vor. Eher fällt die Ähnlichkeit
in der Bildung auf, die in den Gesichtern noch mehr hervortreten würde,
wenn sie (an ein Fenster anstoßend) nicht zum Teil abgebröckelt wären.
Sollte man hier eine phantastische Ausmalung des Sternbilds der »Zwillinge«
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
2 QÖ
K arl Borins ki,
sehen dürfen, so wäre in dieser Sphäre weder die Zweigeschlechtlichkeit
(Boll S. 300 f.), noch die Hineintragung anderer Auffassungen (als Amphion
und Zethos, Herakles und Apollon) ein Hindernis. Auf dem Zodiakus der
Herrad von Landsberg (PI. V der Straßburger Brandschadenausgabe) werden
die gemini kämpfend mit Speer und Schild vorgestellt: als »gemini Aloidae«?
vgl. den liber monstrorum (s. unt.) c. 55. Hpt. p. 236. In der »großen Ein¬
leitung« des arabischen Astronomen Abu Ma‘Sar (f 886, über ihn Boll s. 413,
Karl DyrofT, sein Bearbeiter in Beilage VI ib. S. 482 f.) heißt es (s. 507 oben):
»Im dritten Dekan der Zwillinge steigt Apollon auf; er hat eine Binde auf
dem Kopf und eine Leier..., ferner steigt ein bellender Hund auf, ein
Delphin, d. i. ein Meertier . . .«
Der Delphinreiter, nach Usener (Sintflutsagen S. 149 ff.) ursprünglich
Melikertes (der tyrische Melquart) = Palämon hat ja von alters als ve«öv
?uXa 5 eine funktionelle Beziehung zu den Dioskuren (Euripides, Iph. Taur.
v. 270 sq.). Dürfen wir daran hier noch denken? Das Mittelalter kennt
seinen Namen wohl nur aus den Eklogen des Virgil (III v. 50) und hat seine
Funktion mit dem Ruder in der Hand (nach Münzen mit dem Taras-Jüng-
ling?) so verschleiert oder mißverstanden, daß es auf den Rheimser Mo¬
saiken des 13. Jh. (s. Piper, Myth. u. Symb. I I, 28. 2, 103) darin die E r d e
auf dem Meere schwimmend (durch die Beischriften terra, mare)
erkannt wissen wollte. Jedenfalls brauchen wir ihn uns nicht äußerlich
abzuleiten aus der Figur mit dem »Meertier« zwischen den Füßen, wie sie (als
Andromeda, Boll. s. 431) das Steinbuch des Königs Alfons gleich eröffnet.
In keinem Falle tritt der Delphinreiter auch in diesem Kreise vereinzelt auf.
In Zillis kehrt er wieder mit einer Axt über den Schultern. Die Axt findet
sich auch in den Händen eines Negers, als ersten Dekans des Widders auf
fol. 94 des Steinbuchs Königs Alfons *) (Abbildung bei Boll S. 433) >). In
Zillis tritt auch ein Widder mit Delphinschweif und ein Affe als Delphin-
reiter auf. Die Affen sind am ägyptischen Sternenhimmel heimisch (Ideler,
Antike Sternramen p. 413), ebenso wie die unter den »Scherzen« der
m. a. Plastiker besonders auffallenden Kamele. Einen Affen als Dekan
weist Dyroff bei Boll s. 270 nach.
Hunde mit Fischleib (»Scylla«) sind unter dem Eindruck der Seehunde
damals teratologisch belegbar (s. unt. liber monstrorum c. 20. Hpt. 242).
Was soll man aber aus dem vogelartigen Geschöpfe machen, das neben dem
*) Vgl. S. 8: *6 xtrr^yiov jriXexuv« in der Überlieferung Tenkros »des Babyloniers«.
Diese Axt in der Hand des ersten Dekans als Führer der 36 Dekane, analog Zeus dem
ersten und Führer der Zwölfgötter, — eigentlich ein Doppelbeil — hat Boll (Neue Jahrb.
f. d. klass. Alt. 1908, XXI S. 120 f.) bis auf den kretischen Blitzgott (als späteres Attribut
des Jupiter Dolichenus) zurückverfolgt; worauf mich Herr Dr. Heeg fr. aufmerksam
macht.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Verkannte Sternbilder und Ketzervorstellungen in der mittelalterlichen Kunst. 297
beißenden Hunde (Prokyon) an der Spitze des linken Fußes des Delphin -
reiters aufsteigt und seinen gewaltigen gekrümmten Schnabel dessen Partner
fast ins Gesäß stößt?
Der Halbmensch mit dem Hunds(Schakals)kopf links, der eine gehörnte
Schlange zwischen den Zähnen hat, wäre gleichfalls durch Abu Ma‘$ar
(bei Dyroff a. a. O. 505 cf. 501) zu erklären. Dort steigt ein solcher im
ersten Dekan der Zwillinge zugleich mit dem »Kopf der gehörnten Schlange«
auf. Es ist die Hydra. Die Schlangen auf unseren Bildern erinnern in der
gestreckten Haltung und den knotigen Windungen (bei der Schlange des
Ophiuchos zwei, bei dieser eine) an die des Steinbuchs des Königs Alfons.
Beim zweiten Dekan der Zwillinge verbindet Abu MaԤar (a. a. O. 505)
noch einmal »die Mitte der gehörnten Schlange und einen Schakal, an dessen
Vorderfuß ein Zeichen ist«. Ein solches Zeichen führt unser Schakalmensch
an seinem linken Vorderfuß in Form eines Knotens mit Gänsefuß.
Dieser Gänsefuß entschuldige einen naheliegenden Exkurs. Er findet
sich noch bei dem großen fliegenden Schwein am H imm el, das Rabelais
(Pantagruel IV chap. 41) beschreibt: les pieds blancs, diaphanes et
transparens comme ung Diamant et estoient largement pattez,
comme sontlesoyeset comme jadis ä Tholose les portoit la
Royne Pedaucque. Die commentaires de Le Duchas weisen hier
(s. v. Pedauque) auf die Ketzer sekte der »Caignars«, die in Languedoc
und Bearn gezwungen waren, auf ihrer Kleidung das Zeichen eines Gänse -
oder Entenfußes zu tragen. Für diese Seite verweisen wir hier gleich auf
den zweiten Teil dieser Abhandlung.
Die gänsefüßige Königin in mittelalterlichen Gedichten (Schade,
geistl. Gedichte des XIV. und XV. Jh. vom Niederrhein, s. 304 f.) und an
französischen und burgundischen Kirchenportalen ist eine crux der Literar¬
und Kunsthistoriker (Simrock, Handb. d. deutsch. Myth .3 s. 375. Vogt,
Paulu. Braune Beitr. IV 93, Gaster, Germania XXV 292. Vöge, Die Anfänge
des monumentalen Stils im Ma. s. 354 ff.). Sie gilt für die Königin von
Saba als Sibylle (vgl. H. Herzog, Der Gänsefuß der Sibylle, Anz. f. Schweiz.
Altertumskunde 1892, Nr. 1 s. 2) und hat als solche W. Herz (Gesamm.
Abhdlg. s. 443) zu der verzweifelten Konjektur pedes anserinos für asininos
beim ersten Auf tauchen der Legende (um 1150, in der Windberger Hs. des
Honorius Augustodunensis) angeregt. Denn der Freundin des Salomo
werden im Midrasch und der muselmännischen Sage haarige, ja Eselsfüße
nachgesagt (Herz a. a. O. 418, 425 u. ö.). Hier aber werden wir auf Isis
als »hundsköpfige Göttin des glanzvollsten Fixsterns des Himmels, des
Sirius oder Hundsterns« (Boll s. 208) geführt. Die Gänse-, Enten- und
Schwanenfüße der Wolkenfrauen, nächtlich hilfreicher Zwerge, wie der
Heinzelmännchen, die sich im Sande verraten (Heine: sie haben nämlich
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
298
Karl Borinski,
Gänsefüße und wollen nicht, daß das jemand wisse . . . ) rufen sich bei un¬
serem Gänsefuß als Sternzeichen von selbst in Erinnerung. Es sind ent¬
weder geistliche Diskreditierungen oder anderweitige Vermengungen ur¬
sprünglicher Sternenfüße. Die Symbolik in dem deutschen Gedichte Von
der Sibyllen Weissagung (v. 249 f.) spricht deutlich genug; daß, als sie aus
Scheu vor dem Kreuzholz durchs Wasser (der Taufe) watet,
wart der gensevoiz gestalt
eines minschen voiz dem andern gelich:
des erfreute do Sibilla sich.
Was soll nun aber neben der hundsköpfigen Gestalt die prototypische
Form der mittelalterlichen Fischsirene mit dem leierartig emporgehobenen
Schwanzpaar? Ich gestehe, daß sie mich lange irre machte und an meiner
Deutung sogar zweifeln ließ. Eis soll uns veranlassen, fußend auf der sorg¬
fältigen Bearbeitung des beziehungsreichen Themas in der klassischen Phi¬
lologie (H. Schräder, Die Sirenen nach ihrer Bedeutung und künstlerischen
Darstellung, Berlin 1868, dazu jetzt O. Crusius, Die Epiphanie der Sirene,
Philologus 50, 97 ff.) uns spezieller um das Auftreten des gerade für die
romantische Dichtung und Kunst so anziehenden modernen Typs der
odysseischen Versucherinnen zu erkundigen. Viel zu gleichmütig nimmt
man meines Erachtens in der modernen Archäologie den Ersatz des antiken
Vogelleibes der Sirene durch den Fischunterleib hin, der schließlich so fest
ward, daß die (bis ins spätere Mittelalter schon durch überdauernde antike
Monumente, wie die 12 Sirenenstatuen in Konstantinopel s. Piper I 1, 386
fortlcbende) antike Form der Sirene heute selbst von Kennern nicht mehr
verstanden, sondern mit den »Harpyen« verwechselt wird. Das Festhaften
der antiken Form bei Unterrichteten des Mittelalters (so z. B. bei der Herrad
von Landsberg) warJ veranlaßt durch ihre Überlieferung bei den kirchlich
approbierten Mytho- und Etymologen (Fulgentius, Isidor). Wann, wie und
wodurch ist sie eigentlich verdrängt worden? Der Vogeltypus paßt ja doch
weit mehr zu der Vorstellung, welche die Übersetzung der Siebzig von den
hüpfenden Wüstengespenstern des Jesaias, Hiob, Micha durch »Sirenen«
mit ihnen verknüpfte. (Vgl. jetzt den Herausgeber der LXX E. N e s 1 1 e
bei Crusius a. a. O. s. 97. Anm. 6. Könnte nicht auch eine Art Gespenster,
vor denen sich die Rabbinen des Talmud durch bestimmte Gebete zu
hüten haben und die der Herausgeber des babylonischen Talmud Lazarus
Goldschmid [Lpz. 1906 ff.] mit »Die Schwirrenden« übersetzt, darauf
zurückgehen?) Eine spätantike Vermengung dieser alten »Todesdämonen«,
der Verkünderinnen der Hadesgesetze bei Sophokles (Fr. 777 N.) mit den
Nereiden und Najaden des Hades (vgl. E. Maaß, Orpheus s. 270 A. und 275
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Verkannte Sternbilder und Ketzervorstelludgen in der mittelalterlichen Kunst. 399
fnit A.), wie sie bei den todverkündenden Meerfrauen der deutschen Nibe¬
lungen (st. 1473—8oLachm.) z. B. hervortritt, könnte schwerlich erst so spät
und dann erst seitdem 13. Jahrh. durchgreifend diese radikale Veränderung des
Typus in den Fischleib bewirkt haben. Er müßte dann weit früher und
entschiedener auftreten. Denn gerade bei solchen Anlaß zeigt sich doch sehr
markant die alte Vogelsirene, Nib. str. 1476: Sie swebent sam d i e v 0 g e 1 e
vor im üf der flüt ! Vom Fischleib ist nicht die Rede, dagegen von den
Kleidern, unter denen sie offenbar ihre antiken Vogelbeine verstecken wollen.
Hagen stiehlt sie ihnen beim Baden und lockt damit nur eine falsche Glücks¬
weissagung hervor. Als er sie ihnen daraufhin wiedergibt, erhält er von
den tückischen Wesen erst die wahre: »daz ir sterben müezet in Etzelen
land«. Der Dichter hat offenbar genau das gleiche Bild der Sirenen (mit
Flügeln und Vogelfüßen, aber in langen Gewändern, die diese verstecken
sollen) in der Vorstellung gehabt, wie im Hortus deliciarum der Herrad von
Landsberg (PI. LVII und LVIII der Straßburger Nachbilderausg.). Die
älteste Datierung der Fischsirene in das 7. Jahrhundert (so bei Baumeister
mit Beziehung auf eine selbst auf der Münchener Staatsbibi, unbekannte
Schrift von Bolte: »De nonnullis ad Odysseam pertinen tibus«) geht doch
wohl nur auf die chronologische Ansetzung der mittelalterlichen Urkunde
zurück, die von der neuen Form (NB. in der griechischen Lautgebung
»sirine«) zuerst berichtet. Und das ist der (in Handschriften des X. Jh.)
erhaltene Traktat eines Anonymus, über monstrorum de diversis generibus,
den sein philologischer Herausgeber Moritz Haupt (Opuscula II s. p. 228,
c. 16) wegen seiner krassen Barbarei und Unwissenheit vor die »karolingische
Renaissance« zurückschieben zu müssen glaubte. Nach Manitius (Gesch.
der lat. Lit. des MA. I [München 1911 ] s. 115) »erheben sich jedoch Stil und
(irisch anklingende s. 114) Orthographie« (die er gegen Haupts Normali¬
sierung restituiert wissen will) über die der Merovingerzeit. Er setzt die
Schrift daher in den Anfang der karolingischen Epoche. Gegen das 6. Jh.,
das der erste Herausgeber J. Berger de Xivray (Traditions teratologiques,
Paris 1836, p. XXXIV) annahm, spricht schon die Benutzung des Isidor.
Piper, der meines Wissens zuerst das Auftreten der Fischsirene hier (in Ber¬
gers Ausgabe) nachwies, getraute sich überhaupt nicht, es zu datieren. In
der Tat ist im 10. und II. Jh. (bei Notker und im alemannischen Physio-
logus s. Müllenhoff-Scherer, Denkmäler D 263 f.) die Vogelsirene noch ohne
jede Vermengung mit Fischattributen. In solcher Übergangsmisch -
form, zugleich mit Adlerflügeln und -krallen und mit Fischschwänzen
ausgestattet, führen sich die »neuen Sirenen« ein sowohl in der bildenden
Kunst, wie in dem Psalter der Isabelle de France (abgebildet bei E. P. Evans,
Animal Symbolism in ecclesiastical Architecture p. 314), an der Fassade der
Johanniskirche in Schwäbisch-Gmünd, als in der Literatur bei Konrad von
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
300
Karl Borinski,
Megenberg (Thomas von Cantinprd) noch im 14. Jh. (Buch der Natur, hersg.
von Fr. Pfeiffer, Stuttg. 1862 s. 240, 6 ff.).
Die Fischsirene bei dem teratologischen Anonymus, gehöre sie selbst
schon ins 7. Jh., tritt jedenfalls außer Zusammenhang auf und beweist bei
dem idiotischen Charakter dieses Privatschriftstellers nicht viel. Da er
nämlich (c. 44, Hpt. p. 233) zugleich die Harpyen beschreibt, so können
wir hier weiter nichts konstatieren, als das Bedürfnis der Differenzierung
der beiden gleichartigen Mischgestalten. Als ein bloßes und zwar indisches
»Meerwunder« wie der Anonymus ( 1 . c. »in India nasci«) hatte schon Plinius
(H. N. X 136) die Sirenen in der römischen Welt auffassen gelehrt. Für
unser prototypisches Sirenenbild mit den beiden frei und schön oben zu¬
sammengefaßten Fischschwänzen kommt der Anonymus schon deshalb
nicht in Betracht, weil bei ihm die Sirenen den Fischschwanz in Schlamme
versteckt halten. Es ist der verführerische Hinterhalt des kirchlichen
Symbols, der bei unserer offenen, ruhig in sich zusammengefaßten Fisch -
sirene ganz mangelt.
Gerade ihr zusammenhangloses Auftreten unter den Sternbildern neben
dem Hundskopf, der dieWasserschlange frißt, könnte Fingerzeige geben über
den wirklichen Zusammenhang. Wir werden hier nach einer ganz andern Seite
gewiesen, die am deutlichsten und zugleich am weitesten sichtbar zum Aus¬
druck kommt in dem locus classicus für alle diese Dinge im Mittelalter bei Virgil
(Aen. V v. 844 adderTat, fin.). In es scheint die leuchtend-glühende Grundbe¬
deutung des Namens der Seirenen (G. Curtius, Grundzüge d. griech. Etym.«
s. 541 Nr. 6Ö3), die hier zum Seirios die Serena stellt, die verführerisch
einschläfernde, in die Fluten ziehende Ruhe des Himmels und des Meeres
(o nimium c a e 1 o et pelago confise sereno . . . Aen. V 870. c a e l i totiens
deceptus fraude sereni ib. 851). Crusius sieht in ihr das verführerische
Gespenst der »Mittagsstimmung« (»In diesem Sinne haben die Sirenen
mit der Schwüle des Hochsommers wohl in der Tat etwas zu schaffen«
a. a. O. 106 f.). Sie lauert jetzt an den »einst gefährlichen, von vielen Ge¬
beinen weißen Felsen der Sirenen« (v. 864 f.). Ihre Absicht ist nicht mehr,
die Schiffer zur Lust ans Land zu locken, sondern melodisch einzuschläfern
und dann (wie der Magnetberg, mit dem sie zusammengestellt werden)
die Schiffe zu vernichten (scheitern zu lassen), die Schiffer herabzuziehen
(Lorelei 1 ). Schon Fulgentius glaubt den Namen so von uopeiv trahere ab-
*) »Über den Namen Lorelei« hat Wilh. Hertz (Gesam. Abhdlg. Stuttg. 1905,
S. 456-491) eine umfassende Spezial-Untersuchung angestellt mit dem sehr allgemeinen farb¬
losen Ergebnis, daß »Lorelei als Elbenfels, Zwergfels zu erklären sei« (S.473), Ui rhein. =
Fels. spez. des dortigen schimmernden Schiefergesteins; Uie Schiefertafel der rheinischen
Kinder. Um wie viel bestimmter im Sinne der Sage wirkt die aus unserer Darlegung her¬
vorgehende Deutung, für die man sich nur an den Grund begriff des Wortes luren, lauem
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Verkannte Sternbilder und Ketxervorstellungen in der mittelalterlichen Kunst. 301
leiten zu müssen. Daß die singende Sirene hierbei von oben, dem »fun¬
kelnden Felsen« herab, wirkt, wie eben in der Loreleisage, erklärt sich aus
ihren musikalischen Himmelsbeziehungen, wie sie weiter unten noch zur
Sprache kommen. Unter welchem Bilde konnte sich die verführerische
Wirkung der Gluthitze auf dem Meere natürlicher darstellen, als in der Form
des zum Untertauchen in die Fluten einladenden, einschläfernden, »feuchten
Weibes«, nicht mehr des an das Land lockenden, lustigen trügerischen Vogels.
Doch ist -das Maskulinum (etwa nach den Wortformen bei Virgil Sireni
Sireno ?) zunächst nicht ausgeschlossen. Wie kunstgeschichtlich am Kreuz¬
gang des Großmünster in Zürich (s. Abb. bei Vögelin, Mitt. d. Ant. Gesellsch.
in Zürich I Heft 6 Tafel IV Nr. 6) und neben der weiblichen Sirene im
Psalter der Isabelle de France der männliche Siren zu belegen ist, so sollte
er auch literarhistorisch (vgl. den Artikel Sirene im DWB.) nicht einfach
wegkonjiziert werden! Hat er doch seine Analogie am männlichen »nicchus«,
Nix, Neck ! Übernimmt ja doch im Norden am Ende der Meer mann
vornehmlich die Musikkunde der Sirenen (worüber weiteres unten).
Für die sternbildliche Vermittlung der Fisch-Metamorphose der Sirene
gibt gleich Zillis einen ebenso interessanten als anschaulichen Beleg. Hier
treffen wir auf ein nicht bloß hundsköpfiges, sondern sozusagen nilpferd-
artiges Monstrum mit zwei Fischschwänzen, wie die Sirene, die
einen nackten Menschen, dessen emporgehobene Hände gefesselt sind,
an einem Seile zu sich herabzieht. Boll beschreibt (s. 163) die »Nilpferd¬
gestalt« der Isis (Rerets. 215), deren Amt es ist, den gefesselten Set (Typhon)
— als Stier oder Stierschenkel — an einem Stricke zu hüten. Dies tropische
Tiersternbild scheint hier mit der schreckenden Vorstellung von der doppel-
fischleibigen Serena verbunden,' die die schlafgefesselten Schiffer zu sich
herabzieht. Wie eine solche Verbindung erfolgen konnte, möchte ich ver¬
suchen wenigstens durch eine Kombination zu erklären.
Unter den verschiedenen Sternbildern, zu denen »das königliche Ge¬
stirn« der Isis verkörpert in Beziehung tritt, ist das vornehmste das der
Jungfrau (s. Boll II 6 »Isis als Hundstern und Jungfrau Eileithyia« bes.
s. 209 f.). Bei den phantastisch Namen ausdeutenden Arabern ist nun die
zu halten braucht. Dieser »geht (Heyne im DWB. VI304) von einer augenthätigkeit aus,
etwa des starrsehens . . . altnord. Iura, to doze, nap (Vigfusson) zunächst von dem starren
blicke eines schlaftrunkenen; danach schwed. Iura, dän. Iure ein Schläfchen halten;
holländ. loeren auch connivere (Kilian) vielleicht auch elsässisch: »o wie oft hastu uff-
gethon die ougen (erwachend) . . . aber du sitzst noch zu luren u. etwan entschlost du
widertlmb« (Keisersberg christenl. bilger 153 b.). Die Hypnotisierung durch den be-
glänzten Felsen im Wasser tritt also zum mindesten in seinem volkstümlichen Namen
ursprünglich hervor; und ist die darauf gegründete Sirenensage (übereinstimmend in allen
betreffenden Zügen bei Brentano, Eichendorff, Heine) wirklich eine »Kunstsage«, so kann
sie nicht echter erfunden sein!
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
3 02
Karl Borinski,
himmlische »Jungfrau, die keinen Mann gesehen« die Andromeda
(vgl. Dyroffs Abu Ma'äar a. a. O. s. 497). Vermengung mit der Isis-Jung¬
frau (ib. s. 513) lag also dieser Sphäre nahe und wurde (vgl. Boll 428 f. und
Anm.) im Zeichen der Fische vollzogen, mit denen die Andromeda zugleich
aufgeht. Die zwei Fische sind daher ihre stehenden Attribute. Jene Figur
im Steinbuch des Königs Alfons, die einen Fisch zwischen den Beinen und
einen vor der Brust hat, ist die Andromeda. Diese zwei Fische finden sich
aber auch noch in den ausgebreiteten Händen der Fisch-Sirene, %. B. in der
Kirche von Cunault-sur-Loire (abgebildet bei Evans a. a. O. 316.) Wie
sollte es aber, nach dem über die Mischbildungen mit den Paranatellonten
Gesagten, noch überraschen, die Andromeda zur fischleibigen Jung¬
frau werden zu sehen, zumal die Araber den glänzenden Stern in der Andro¬
meda geradezu den »Bauch des Fisches« nennen!
Ausgebreitete Arme, nackter Oberkörper und langes Haar (Aratus
v. 197 sq.) kennzeichnen die Bildung der Andromeda-Jungfrau, die, wie wir
annehmen, zur Fischsirene wurde. Ihr gemeinsamer Hintergrund ist von
Haus aus jener leuchtende Felsen, an den beide — die eine gefesselt, die
andere fesselnd — gebannt sind. DasBängliche des Inhalts dieser ganzen
Sternbildgruppe, der Umstand klagender, die Arme jammernd aufwerfen¬
der Teilnehmender (Kepheus, Cassiopeia) teilt das Sirenenbild von seiner
Herkunft als Totenvogel der attischen Grabstclen bis auf seine ganz analoge
mittelalterliche Funktion als Herabzieher der Schiffer auf Nimmerwieder¬
kehr. Buttmann hat das Ganze als dramatisiertes Apotropaion aus dem
Medusenhaupt des Perseus (des Algol in seinem Sternbild) ableiten wollen
(s. Thiele, a. a. O. s. 7.). Die Unglücksjungfrau hätte danach von Anfang
an die Anwartschaft gehabt, aus der Geopferten dieOpfrerin zu werden und
die Funktionen des Meerungetüms zu ihren Füßen zu übernehmen.
Daß das Meerungetüm in der neuen Konzeption des Sirentypus vor-
schlägt, ersieht man daraus, daß die ahd. Glossen (1, 348, 51. 355, 22) mit
der Urform von Nix nicchus, nichus (im ahd. Physiologus neutral daz n.)
cocodrillus übersetzen. Ein solches nicchus als Meerungetüm ist der Siren
vom Münster in Zürich Abb. IV. 6 a. a. O. Neuerdings hat Weinhold (Zs. f.
Volksk. 5, 112) die deutschen Nixen prinzipiell »auch« aus den bild¬
nerischen Darstellungen der Fischsirene an den romanischen
und gotischen Bauten seit dem X. Jh. hervorgehen lassen. J. Grimm (D.
Myth.« 404 ff.) setzt jedenfalls schon die Ausdrücke gleichbedeutend. Von
der isländischen haffrü, dem Mädchenfisch (meyfiskur), berichtet Golther
(Hdb. d. germ. Myth. 1895 s. 147), ohne chronologische oder Quellenangabe.
Bekanntlich haben die Fischsirenen, als Nixen der nordischen Sage
ein lebhaftes Erlösungsbedürfnis, das sic menschlichen Gatten in die Arme
treibt, um von .ihnen Mutter zu weiden und dadurch eine Seele zu er-
Digitized by
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Verkannte Sternbilder und Ketzervorstellungen in der mittelalterlichen Kunst.
3 °3
langen (Undine, Melusine). »Es schimmert« auch hier noch die alte
»Ahnung davon, daß Sirenen und Menschenseelen verwandt seien« (s. Crusius
a. a. O. 102.) Dieser christliche Psyche-Charakter der neuen Fischsirenc
ist nun schon in der frühesten christlichen Zeit nachweislich wieder ebenso
dem Sternbild der Andromeda vermittelt worden, wie denn »die schöne Ge¬
schichte von der Psyche in Apuleius Metamorphosen in manchen Einzel¬
heiten an die Andromeda der griechischen Heldensage zurückerinnert«
(E. Maaß, Orpheus s. 253 vgl. Wolters Archäol. Zeitg. XLII 1 ff.). Die
peratischen Gnostiker, eine urchristliche Sekte, die auch in dem Ophiuchos
Christus — als den Bändiger der Teufelsschlange — sah, interpretierte die
Sternbildergruppe Kassiopeia-Andromeda-Perseus auf ihre Weise. Es ist
der christliche Logos in Perseus, welcher die gefesselten, dem Seeungetüm
preisgegebenen Seelen erlöst. »Woher stammt aber die Ausmalung dieses
christlichen Himmelsbildes? Aus griechischer Quelle, die sogar genannt
wird, so daß nicht der leiseste Zweifel mehr aufkommen kann: aus den
Phainomena des Aratos ! Der Beweis, daß griechische Sternmythen zu
apokalyptischen Zwecken von den Christen benutzt wurden, ist erbracht«.
(E. Maaß. Orpheus s. 253.) Wir glauben ihn weiter unten vervollständigen
zu können.
Daß die Fischsirene zu den Himmelsbildern gehört, wird endlich durch
die analoge Erscheinung nahegelegt, daß auch ihr antikes Original, die
Vogelsirene, mit einem Pendant aus dem Zodiakus in unserem Bilderkreis
vertreten ist. Auf den Vorderflächen der Chornische ist rechts und links
ein Mann und ein Weib (Adam und Eva) dargestellt, über denen sich unsere
Tierkreisbilder fortsetzen. Die Vogelsirene befindet sich auf der einen Seite
der Nische über dem Mann. Die typische Darstellung des Capricornus
als Ziegenfisch (Alfox^pu)») auf der anderen Seite über dem Weib geht aus
Dahlkes genauer Beschreibung (s. 137 oben) unzweifelhaft hervor, dem
»die Bedeutung dieses seltsamen Geschöpfes kaum zu enträtseln« ist. Auch
in den Feldern des Umrings der Decke von Zillis tritt er mit den Sirenen
zusammen auf. Dort hat sein Fischschwanz allerlei Nachbilder angeregt:
Elefant, Pferd, Wolf mit Fischschwanz, letzterer sogar in dramatischer
Aktion gegen ein anderes Nicchus (Seeungeheuer) wie in Zillis. Auch das
sog. örjpiov des Zentauren scheint durch ihn zum Hirschfisch geworden.
Es wird von der Zentaurin (einem Weibchen) aus einer Schale getränkt. Auch
im Steinbuch des Königs Alfons sind die Zentauren Weibchen. Sie tragen
Zweige in den Händen, aus denen vielleicht das Geweih ihres tbjpiov hier
hervorgegangen ist. Mit einer Lanze bewaffnet tritt die Zentaurin im Kreuz -
gang des Züricher Großmünster auf (Abb. a. a. 0 . Taf. VII Nr. 1), als Pen¬
dant zum männlichen Schützenzentauren. Doch enden die Beine ihres
auch abweichend geformten quadrupedischen Körpers nicht in Hufe, sondern
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
304
Karl Borinski,
in Pfoten, wie in Zillis. Sie kämpft mit einer Schlange, die sie vorn um-
ringelt. Die Sirenen in Zillis sind ausgeprägt musikalisch. Sie spielen,
jedoch für sich und ohne jede Gelegenheit zur Verführung musikalische
Instrumente. Eine bläst das Horn, eine andere spielt Violine.
Es ist schon nach der Natur dieses ganzen Deckenschmucks, den
Rahn in seiner letzten Veröffentlichung darüber (im Repert. f. K. V 406 ff.)
völlig mißkannt hat, mehr als wahrscheinlich, daß wir es hier mit den Planeten¬
sirenen der Sphärenharmonie zu tun haben 3 ). Rahn hat in seiner ersten
Veröffentlichung darüber ganz richtig gesehen, daß hier wenig kirchen¬
gemäße, apokryphe Erzählungen die evangelischen Geschichten durch¬
setzen. Es scheinen mir aber noch ganz andere Züge darin zu sein, die
durch die Versetzung mit Sternbildern und vermutlichen Planetendar¬
stellungen eine besondere Färbung erhalten.
Die Sirenen, die nach Plato (Rep. p. 617) als Stimmen des tönenden
Umschwungs der Planeten auf ihren Zyklen sitzen und je nach dem Charakter
des Planeten, wie man es ausmalte, ein anderes Instrument (in Zillis Hom
und Geige) spielen, sind sogar noch von antiker Seite — vielleicht schon
unter christlichem Einfluß — bei dieser ihrer erhabenen Funktion bean¬
standet worden. »Platon handelt abgeschmackt«, bemerkt ein Peripatetiker
bei Plutarch (Q. S. IX 5), »daß er die ewigen und göttlichen Kreisläufe nicht
den Musen, sondern den Sirenen als Sitz zuweist, die keine Freunde der
Menschen und keine glückbringenden Geister sind . . . Die Notwendig¬
keit hat nichts mit den Musen gemein, dagegen die Peitho liebt die Musen
und haßt deshalb, wie ich glaube, die unerträgliche Notwendigkeit noch viel
mehr als die Charis bei Empedokles.« Wie gleich hier alles getan wird, um
diesem Einwurf zu begegnen und sowohl die Stimme der Sirenen, wie die
göttliche Notwendigkeit (im Walten der Gestirne !) vor den Vorwürfen des
Unheilvollen, bzw. Unerträglichen (Fatalistischen) zu rechtfertigen, so
wächst es sich im Mittelalter aus. Auf diesem Wege, durch Erhöhung der
Sirenen in die tönenden Sphären des Himmels und nicht etwa durch Herab-
ziehung der Musen in trügerisch lockenden Schlamm ist die Gleichsetzung
der Musen und Sirenen entstanden, die — im Altertum in des Wortes Be¬
deutung unter ihnen selbst »strittig« — im Mittelalter (Alanus ab Insulis:
Anticlaudianus) fest ward. Gottfried von Straßburg beschreibt (v. 4860 ff.)
den Helikon als Himmel, zu dem er sein Gebet sendet, von dem die brunnen
diezent . . und wo auf neunfachem Throne »Apollo und die Camßnen — der
•
3 ) Piper hat (schon 1847 in seiner Mythol. u. Symb. d. ehr. Kunst und — kürzer! —
in einer besonderen Schrift Berlin 1850) ausführlich »von der Harmonie der Sphären»
in der neuen Kunst- u. Literaturgesch. gehandelt. Jedoch ohne Rücksicht auf ihre (ketze¬
rische) Bedeutung in unserem Kreise; daher wir hier und besonders unten noch einmal,
in aller Kürze ergänzend, darauf eingehen.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Verkannte Sternbilder und Ketzervorstellungen in der mittelalterlichen Kunst.
oren niun Sirenen« der Gaben pflegen und ihre Gnaden austeilen. Der Neu-
platonismus (Proclus zu Platos Kratylos 157 p. 94 Boiss.) sorgte für Unter¬
scheidung einer himmlischen (oopcivtov, xaöotpttxov analog der Venus Urania)
und irdischen (zeugungslustigen •’evzütoopK’ov) Sirenenart, von denen die
beiden ersteren der Herrschaft des Zeus bzw. des Hades, die letzte der des
Poseidon (also unsere Meerfrauen !) untersteht: »'Doch ist es ihnen allen
gemeinsam, durch ihr harmonische Bewegung alles ihren herrschenden
Göttern zu unterwerfen«. Die Vogelsirene über dem Manne in Tramin soll
nach der schönen und edlen Bildung ihres Gesichts wohl als himmlische
Sirene chrarakterisiert werden. Ja, es finden sich selbst in dem vorliegen¬
den Material verschiedene Anzeichen der Absicht, in sie das Sternbild der
Jungfrau hineinzutragen. Dies wird ja geflügelt vorgestellt und trägt (nach
seiner Beziehung zu Demeter) eine Ähre (den Stern Spica) in der linken
Hand. Unser Flügelweib trägt seine wie eine volle Ähre gestaltete goldblonde
Haarflechte in der Linken. Sein Vogelleib läuft unten wieder in einen Vogel¬
hals mit Vogelkopf aus, der mit seinem Schnabel eine Beere pickt. Könnte
man darin das angrenzende Sternbild des Raben sowie eine Beziehung auf
den sog. Vorwinzer (vindemiator, •jrpoxpo‘]fTjrr J p) im Sternbild der Jung¬
frau sehen?
Nötig ist das nicht. Wir haben noch eine andere Erklärung für die
Doppclvogelsirene als Pendant des Capricornus über den Gestalten von
Adam und Eva, über deren mögliche Bedeutungen im Sinne der Leiden¬
schaftstheorie sich Dahlke (s. 135 f.) vergebens abmüht. Was uns daran
aber wichtig scheint, ist seine Schilderung des abschreckenden Aussehens
des Weibes (Eva) im Gegensatz zum Manne (Adam); Im Vereine mit den
monströsen Mischgestalten über ihnen führt es uns auf eine Vermutung,
die diese Darstellungen nicht bloß im astrologischen Lichte (wonach Mann
undsFrau etwa das regierende Himmelszeichen ihres Horoskops über sich
hätten), sondern noch in einem andern Lichte zeigt.
Arabischer Bezug ist für Zillis (wo die Bilder des »Heidentums« Ein¬
fälle der Sarazenen in Erinnerung halten und durch die christlichen da¬
zwischen »gesühnt« werden sollten) schon früh in Anschlag gebracht, aber
zurückgewiesen worden. Jene Bilder, die in S. Jakob zu Tramin den Ein-
tretenden zu beiden Seiten der Chronische begrüßen, führen auf eine näher
liegende Fährte. Warum hat man noch nie an die vielen, zahl- und bis in
die Geistlichkeit (s. bes. unten Döll. I 98) selber einflußreichen Ketzergemein¬
den gedacht, die in den Jahrhunderten der vermutlichen Ausführungszeit
unserer Malereien (XII. XIII s.) gerade die Alpenländer von der Provence
bis Slavonien und Bulgarien erfüllten. Die Lombardei war ihre Zentrale
— daher sowohl das Ziel ihrer rituellen Wallfahrten (aus Languedoc s. Döl-
linger, Beitr. z. Sektengesch. des Mittelalt. I 217. A.) als der Titel des geist-
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
3° 6
Karl Borinski,
liehen Inquisitionsgerichts für sie (auch z. B. in Florenz s. Döllinger II 586.
592 u. ö.) Sogar die originär französische Sekte des Petrus Waldes von
Lyon, die »Pauperes Lugdunenses seu Valdenses« schieden sich ausdrücklich
in »Pauperes vocatos Lombardos« und »Pauperes citramontanos« (Döl¬
linger II 8 s. auch II 320). Die Häretisierung des Languedoc von der Lom¬
bardei aus ersieht man z. B. aus den dortigen Inquisitionsakten (bei Döll.
II 251). Die »boni Christiani (d. s. Ketzer!) morabantur in Lombardia«
heiÖt es dort. Zwischen den Ketzern des Westens und des Ostens, wo ihre
Heimat (Döll. I 242, daher der franz. Fluch bougre aus Bulgare} Döll. I 131.
Anm.) und sogar — in Bosnien ! — der Sitz eines ihre Bischöfe ordinierenden
Papsttums war (s. Döll. I 201), bildete die Lombardei die Brücke. Nirgends
können sich unauffälliger solche Spuren des Einflusses ihrer Ideenkreise
erhalten haben, als an diesen abgelegenen Stellen der einsamen Alpen-
Straßen, die ihre Zugänge abgeben. Der Schweizer Historiker Joh. von
Müller will sie sogar zu ihrem Mittel- und Ausgangspunkt machen: »Dazu¬
mal wurden mystische Vorstellungen der Religion bekannt, welche seit
uralterZeit(!)indenTälernderAlpen (Sitzen alter Denkungs¬
art) sich erhalten (!) hatten und von Schwytz, von der Wadt, von Waldenser¬
dörfern und aus den Cevennes sich verbreiteten« (24 Bücher allg. Gesch.
XV c. 5). In Arnold von Brescia sieht er ihren politischen Vorkämpfer, den
Friedrich Barbarossa verbrennen ließ, weil seine republikanischen Ideen
nicht in seinen cäsarischen Regierungsplan paßten. Auch er war ein Lom¬
barde. In den Dokumenten — vornehmlich zur Geschichte der »Valdesier
und Katharer« — die Döllinger als II. Bd. seinem Werke beifügt, spielen
Verona, Pinerolo und ihre alpine Umgegend (s. besonders II 264) als Haupt-
sitze der Ketzerei Hauptrollen. Es sind die lombardischen Provinzen, in
die jene Alpenstraßen ausmünden. (Bei Döll. II255: »in illa synagoga praedi-
cavit ille qui facit (?) bergamenos« wollte ich, mit var. pascit für facit,
zunächst an einen Prediger aus Bergamo denken. Ducange (s. v.)
bringt jedoch eine Stelle bei, wonach »bergameni« auch eine Waffenart be¬
deuten kann. Der Prediger kann also auch ein Waffenschmied sein).
Nun gehört Verachtung des kirchlichen Bilder- und Tempeld ien-
s t e s <) zwar zu den gemeinsamen Kennzeichen fast aller dieser Ketzer-
sekten, die ihre »Synagogen«, wie die urchristlichen 4 ) Gemeinden in Privat¬
häusern (»Bußkellern« 5 )) und auf freiem Felde abhielten. Allein äußerliches
4 ) S. den Abschnitt *de crucc ct tcmplis matcrialibus« des antihäretischen Buches
»Suprastella« cod. Flor. Laurent« (13 Mugell.) bei Döllinger, Dokum. II 56 ff., vgl. auch
II 334 (Türme, Orgeln) u. ö. als Ergänzung zu Pipers (Einl. i. d. monum. Theol.)§ 140 über
diese Polemiker. Der Verf. ein »Bürger von Piacenza« »nomine Salve Burce« schreibt
5 Jahre vor dem Dominikaner Moneta (1240).
5 ) Ad loca subterranea, quac communiter »Buskeller« quod nescio interpretare dicun-
tur, convenicnt. Cod. Bavar. Nlonac. 329 f., p. 215 sq. bei Döll. II 341.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Verkannte Sternbilder und Ketzervorstellungen in der mittelalterlichen Kunst. 307
zur Schau tragen ihres Bruches mit der katholischen Kirche war, schon
wegen der inquisitorischen Folgen, unter ihnen verpönt. Sie hatten Freunde
ja Spione in der Geistlichkeit, selbst unter Dominikanern (Döll. II 244, 251).
Ein (Kirchengeistlicher?) »Presbyter S. Mariae de Nonareto« wird in den
Akten der Inquisition der oberen Lombardei (bei Döll. II 255) aufgeführt.
Der Besuch bestimmter Kirchen in jeder Region war sogar vorgeschrieben,
in jedem Falle durch die inquisitorischen Behörden: Item frequentant
ecclesias et praedicationes et in omnibus se religiöse et composite exterius
se gerunt. Item faciunt multas orationes (kirchliche?) in die et instruunt cre-
♦
dentes suos, quod faciant similiter sicut ipsi et cum ipsis. (Akten der Inquisition
zu Carcassone auf der Pariser Bibi. Coli. Occitana I. VII. fol. 192 ff. bei Döll.
II. 11. Aus der Anmerkung Döllingers II233 zu den Inquisitionsprotokollen
von Languedoc in Rom [Cod. Vat. 4030] geht nicht deutlich hervor, ob es
sich um ketzerischer oder inquisitorischer Vorschrift gemäß zu besuchende
Kirchen handelt: Item suadent credentibus suis ire ad communionem ecclesiae
. . et sic colorant se quasi sint etiam Christiani ib. I 339.) Unauffällige
Propaganda für ihren Ideenkreis durch die große Masse ihrer (im Gegensatz
zu den auserwählten »Vollkommenen«) sehr weltfreundlichen »Gläubigen«
(s. Döllinger I 21 if.) an andere nicht schriftkundige Neophyten erscheint
auch an solchen Orten in dieser Form nicht ausgeschlossen. Vermittelst
Einschmuggelung an Stelle der ritualen kirchlichen Kunst konnte im Gegen¬
teil die protestierende Verachtung ihres liturgischen Zweckes besonders
schroff zum Ausdruck gebracht werden. Unsere Aufgabe ist es jedenfalls,
hinzuweisen auf die auffallenden Übereinstimmungen unserer Bilderkreise
mit ausdrücklich bezeugten Vorstellungsreihen der großen und vielgestaltigen
ketzerischen Bewegung am Anfänge des zweiten Jahrtausends der christ¬
lichen Zeitrechnung. Mußte doch das Ausbleiben des erwarteten Welt,
Untergangs nach Ablauf des tausendjährigen Reiches viel zu ihrer Aus¬
breitung beitragen, wie das Erwarten der letzten Dinge im Jahre 1000 zu
ihrem Einsetzen.
Jene Übereinstimmungen bestehen in charakteristischen Vorstellungs¬
weisen der Häresie und dem fast allen diesen Sekten (zumal den im Kerne
manichäischen !) eignenden Glaubensbezügen auf die Astrologie.
Unser Ausgangspunkt sei das Menschenpaar unter der Vogelsirene
und dem Capricornus zu beiden Seiten des Chores im Tramin. Ist es Adam
und Eva, dann muß uns, wie schon Dahlke die monströse, sichtlich gewollt
abschreckende Häßlichkeit der dabei zeugungskraftstrotzenden Eva gegen¬
über der sympathischen Zeichnung des Adam auffallen. Grade die Vogel¬
sirene über ihm zeigt, daß diese Kunst schöne Frauengesichter zu zeichnen
imstande ist. Nun ist in der pessimistisch-dualistischer Lehre dieser Ketzer,
wie in ihrem buddhistischen Ursprung und seitdem in allen Derivaten, das
Repertorium für Kunstwissenschaft, XXXV'. 21
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
3o8
i
Karl Borinski
Weib, als Fortpflanzerin der gefallenen Seelen in der Welt des bösen
Gottes, das Übel in Person. Schon seine leiseste Berührung (selbst in den
nächsten weiblichen Verwandten !) muß der die Wiedergeburt scheuende
»Vollendete« fliehen (s. besonders Döllinger I 211: er durfte nicht mit ihr
auf einer Bank sitzen, quantumque longa esset. Dokum. II 157): auch
eine diesseitige Anregung für das spätmittelalterliche mystische Mönchs¬
tum !
Seit Eva, die sich der böse Gott (Satan) zum Werkzeug seiner Ab¬
sichten auf die Menschheit ausersehen, steht jedes schwangere Weib unter
unmittelbarem dämonischen Einfluß. (Döll. I 163.) Daher Verhütung der
Konzeption eine alte manichäische Praxis ist (»Docent conjuges ut con-
ceptum vitent«, De Secta Manichaeorum, Clm. 2714 bei Döll. II 2 7 < 5 ) und
ihre fühllose Barbarei gegen kranke Kinder an den alten Molochdienst ge¬
mahnt (Döll. I 222). Dagegen ist in Adam und den (männlichen) Aus¬
flüssen seines Geistes der gute Engel beschlossen, der diesen Absichten ent¬
gegenwirkt. Und zwar nicht bloß für die gefallenen Menschen, sondern
auch für die gefallenen Engel. Eine dieser ketzerischen Lehren, die den Fall
Lucifers und die Schöpfung des Menschen in unmittelbare Verbindung bringt,
findet nun auf unserer Darstellung des ersten Menschenpaares mit den
hybriden Bildungen aus Mensch, Vogel, Quadruped und Fisch über sich,
eine mindestens auffällige Illustration. Es heißt da nämlich von diesem
Vorgang: In der unteren Welt war ein ungeschaffener Geist (spiritus sine
principio) mit einem vierfachen Antlitz (habens quatuor facies) eines Men¬
schen, eines Vogels, eines Fisches und eines vierfüßigen Tieres. Als Lucifer
vom Himmel herabstieg und dieses Wesen sah, bewunderte er es und ließ
sich von ihm verführen. . . . Lucifer und jener Geist wollten . . Menschen
bilden, aber es gelang ihnen nicht, bis Gott auf Lucifers Flehen ihm einen
guten Engel sandte, mit dessen Hilfe sie es zustande brachten. In Adams
Leib schloß Lucifer den ihm zu Hilfe gesandten guten Engel ein (vgl. Döll. I
159, Anm. f.; Dokumente Nr. XLIX, II 612 f. Aufzählung der Sätze der
Albigenser, der Sekte de Bagnolo und der Sekte de Concorreggio qui haben t
haeresim suam de Sclavonia. Cod. Scot. Vienn.)
Die kosmogonische Bedeutung dieses Tetramorphs — als des chao¬
tischen Tieres vor der geordneten Weltschöpfung — spricht in dieser ketzeri¬
schen Legende.für sich selbst. Doch ist er auf unserer Darstellung geteilt
in zwei Dymorphe 1 Wir weisen daher nur mit Vorbehalt, wegen der un¬
mittelbaren Beziehung zur Schöpfung des ersten Menschenpaares, daraut
hin. Die Teilung des chaotischen Weltstoffes, den der Tetramorph vorstellt,
soll ja nach unserer ketzerischen Lehre erst bei der Schöpfung des ersten
Menschenpaares (Urdifferenzierung ins männliche und weibliche Prinzip?)
durch den himmlischen Geist in Adam gelungen sein. Dieser legendarische
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Verkannte Sternbilder und Keuervorstellungen in der mittelalterlichen Kunst.
3°9
Mythus kann mindestens leicht die oben behandelten astrologischen
Mischformen beeinflußt haben — den unteren Vogel köpf in der Vogel¬
sirene ! — wie er von dergleichen Vorstellungen eingegeben sein mag. Die
planetarische Bedeutung der Sirene in der platonischen Lehre von
der Sphärenharmonie ist oben berührt worden. Daß sie auch auf der Decke
von Zillis gemeinsam mit dem Capricornus auftritt, ist für uns merkwürdig.
In den astrologischen Lehren unserer Ketzer ist er gemeinsam mit der
Wage das Geburtsgestirn Christi. (Die Wage hält die himmlische Jung¬
frau mitden Flügeln, Platos Astraea.) In dem Inquisitionsprozesse
v. J. 1327 gegen den Meister Cecco Stabili da Ascoti in Florenz (Cod. Mag-
liab. 459 bei Döll. Dokum. XLV), der ein »häretisches und dummes Buch
von sich« (eretico e brutto libretto fatto da lui) »sopra la s.fera Ce¬
leste« sogar in den öflentlichen Schulen verbreitete, wird , daraus mit¬
geteilt: »Weil Christus in seiner Nativität das Zeichen der Wage hatte
(und den zehnten Grad von ihr in der Aszendenz), mußte sein Tod gerecht
sein und nach der Vorhersagung (mediante la predicazione) und er mußte
den Tod sterben, den er starb, und weil Christus im Winkel der Erde (nell’
angolo della terra) das Zeichen des Capricornus hatte, mußte er in einem
Stalle geboren werden« usw. (bei Döll. II586 f.) Eigentümlich und ganz konse¬
quent für diese Ideenwelt erscheint es, daß das Glücksgestirn desWeltkaisers
(Augustus und nach ihm typisch für denrömischen Kaiser, vgl. Piper, Myth. u.
Symbolik der christl. Kunst. II 282 f. Eckhel, Doctr. numm. IV 109) für die
Geburt des himmlischen Königs Unglück und Erniedrigung bedeuten muß.
Auf der Decke von Zillis ist bei der Verkündigung der Engel an die Hirten,
in gleicher Größe wie der verkündigende Engel, tatsächlich der Capricornus
dargestellt, wie er in einem Winkel am (gradlinig ausgedrückten) Horizonte
aufsteigt. (Abgebildet bei Rahn a. a. O. Taf. II Nr. 4.) In Tramin, über
der Eva, kann er den Hinweis auf die Erlösung vertreten.
Die fatalistische Ausbeutung durch ungläubige (jüdische und sara¬
zenische) wie ketzerische Astrologie, brachte die ganze Sphäre damals
in der Kirche in Mißkredit. Besonders deutlich zeigt sich das an unserer
planetarischen Sirene als Vertreterin der platonischen Sphärenharmonie.
Ihre zunehmende Verbreitung in jenen ketzerischen Jahrhunderten ver¬
dankt sie der Sphärenharmonie. Als Übereinstimmung Platos mit der Bibel
(Ps. 19, 1, 5; Hohelied 6, 10 [nach der Übersetzung des Aquila]; Ezechiel 1,
24; Hiob 38, 37 [nach der Vulg.]), Philos (de vita Mos. III, T. II 151, 3)
tönender siebenarmiger Planetenleuchter des Himmels (2. Mos. 25, 31 f.),
ward die Sphärenharmonie seit den Platonikern des christlichen Altertums
(Origenes, Clemens, Synesius, letztere in ihren hierfür besonders einflu߬
reichen Hymnen) mit Begeisterung in der Kirche aufgenommen. Isidor
hat sie nach den im Mittelalter geltenden bzw. antiken Autoritäten (Macro-
21 *
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
3io
Karl Borinski,
bius im Sonnium Scipionis, Marcianus Capella, Boethius, Cassiodor) nicht
bloß in seiner antiken Enzyklopädie (Orig. III 17), sondern vorgeblich in
einer besonderen Schrift (de harmonia et caelesti musica) den Enzyklopä¬
disten des 12. Jh. Anselm von Canterbury, Honorius von Autun, ja selbst
noch des 13. Jh. Vincenz von Beauvais ausführlich übermittelt, der aber
schon dagegen opponiert. Alanus ab Insulis (12. Jh.) führt die Prudentia
auf dem Wege durch die Himmelssphären auch an den Sirenen vorbei, die
die Töne hervorbringen. (Anticlaud. IV c. 6—9). Die früher vereinzelte,
wohl wegen solcher Ketzereien auffallend schroffe Ablehnung der Sphären-
harmonie durch den Kirchenvater Basilius wird aber im 13. Jh. durch
Albertus Magnus und Thomas von Aquin (in Job. c. 38) mit einem Male
Schuldogma. Die Inthronisierung der Autorität des Aristoteles (de coelo,
c. 9 p. 290 sq.) gegen Plato hat wohl auch in diesem Punkte tiefere Beweg¬
gründe als die physikalische Frage (der Möglichkeit als Tonerzeugung durch
nicht selbst, sondern vermittelst der Sphären bewegte Körper). In der
grande Encyclopddie der Zeit, bei Vincenz von Beauvais (Spec. natur.
XV c. 32) wird diese bereits mit dem modern physikalischen Grunde abgelehnt,
daß im reinen (luftlosen) Äther kein Ton entstehen könne. Wichtiger aber
scheint ihr die Gefahr des götzendienerischen Sternen -
g 1 a u b e n s , der die Sterne zu lebendigen Wesen mache, die
an der Gottheit teilhaben. Dies also ist der Grund, daß der, lebhaft gegen
den platonischen Sternenglauben (des Timeo) polemisierende Dante (Purg.
30, 92) die Sphärenharmonie »der Musen und Sirenen« durch die Engel
begleiten, ja mit deutlicher Spitze durch den Gesang der Seligen im Himmel
vergessen werden läßt (Par. 12, 8). Die Sirene ist ihm nur, wie jetzt definitiv
in der allgemeinen Vorstellung (Purg. 31, 45), die süßtönende, an sich grä߬
lich stinkende Verführerin zum »Verliegen«: Purg. 19, 7—33, die »improba
Siren desidia« des Horaz.
Die ketzerische Bedeutung des Platonismus reichte in jenem Zeitalter
tatsächlich weiter und tiefer, als man annimmt und als selbst Döllinger im
Einleitungsbande zu seinen Dokumenten vermuten läßt (S. z. B. a. a. 0 . I
160 1 ). Nicht nur, daß die Ketzer ihre manichäische Grundlehre von den
zwei feindlichen Prinzipien durch die platonische Auffassung von der Materie
stützten 6 ), seine Theorie vom Vergessen (und Wiedererinnern) des Urstandes
der Idee in dem in die Welt versunkenen und durch sie getrübten mensch-
6 ) Dicunt diabolum creasse hylen, sive primum ordinem mundi; materiam, quam
Plato ctiston vocat, unde et ipsi eundem diabolum Caput ctisios apellant
etc. Aus der Summa contra Catharos G. Bergomensis (Coli. rer. Occitan. der Pariser
Bibi.') in Döllingers Dokumenten XXXV (II 374). Sie begründeten damit ihre Verwerfung
des alten Testaments und ihre absolut doketische Anschauung von der (immateriellen)
Existenz Christi (ib. p. 375).
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Verkannte Sternbilder und Ketzervorstellungen in der mittelalterlichen Kunst, i
liehen Geiste auf ihre Interpretation der biblischen Lehre von den gefallenen
und unter die Gewalt des andern Gottes (Satan) geratenen himmlischen
Geister übertrugen 7 ). Was uns daran unmittelbar interessiert, ist die eigen¬
tümliche Gestirndämonologie, die sie aus Platos Lehre von der Heimat der
verschiedenen Seelen auf den verschiedenen Gestirnen in die biblische Er¬
zählung vom Sündenfall hinein interpretierten. Lucifer, der Erstgefallene,
»verführte nach seiner Rückkehr in die obere Welt die Gestirne des Himmels,
d. h. eine große Anzahl Engel, denn sie sind die Gestirne, von denen nach
Paulus (i. Kor. 15, 4) eine das andere an Herrlichkeit übertrifft .. . . Die
Gestirne des sichtbaren Himmels sind Dämonen, welche nur mit dem dem
(unsichtbaren, himmlischen) Geiste Adams geraubten Lichtglanz, prangen
und Unzucht miteinander treiben, wovon die Ausgießung des Taues auf
der Erde herrührt«. (Döll. I 158). Denn Adam ist der unschuldig leidende
Mensch der Parabel, der von Jerusalem d. h. aus der oberen Welt hinab-
stieg und unter Räuber fiel, die ihn auszogen, d. h. unter die Gewalt der
bösen Engel, der Geister der Gestirne, der Sonne, des Mondes und der Sterne,
welche vorher finster waren, nun aber mit dem Lichte, das sie dem Adam
geraubt, leuchteten . . . (vgl. Döll. I 161). Die Schläge, die ihm die Räuber
erteilen, sind die Sünden. Halb tot lassen sie ihn liegen. Denn so wird
sein Zustand jetzt in der Welt der Materie genannt, der aber doch noch
als der anderen Welt sich (im Glauben) erinnernd, nicht ganz tot ist und
durch den Samariter (Christus) wiederbelebt wird.
Am weitesten und für uns merkwürdigsten ging in dieser Identifizie¬
rung (des Lebenslichts I) der menschlichen Geister mit den Lichtern der
Gestirne die Sekte der Melchiscdekianer oder Athinganer. Diese durch eine
Abschwörungsformel aus dem elften Jahrh. (bei Bandini, Graecae ecclesiae
vetera monumenta, Flor. 1762. II 109) noch belegbare alte gnostische Sekte,
gehört also (nach Döll. I31) »auch zu denen, deren Einfluß sich bis nach
dem Occident hinüber erstreckte.« Ihren speziell astrologischen Charakter
bewährt sie schon darin, daß sie ihren Sohn Gottes, den Melchisedek Abra¬
hams, dessen Verkünder Christus nur war, (nach Epiphanius, Panaria II, 1,
haer. 55, Petav. p. 469) von Sonne und Mond (Herakles und Astaroth) ab¬
stammen läßt. Sie scheinen zu den hauptsächlichen Fortpflanzern der
Mondbeschwörung aus dem Altertum in das Hexenwesen der Neuzeit zu
gehören. »Die Geschicke der Menschen, behaupteter sie, seien an die Ge-
7 ) Sathanas sagt zu den noch der himmlischen Harmonie sich erinnernden Geistern:
»Et estis adhuc memores de canticis Sion ? Et ipsi respondebunt quod sic; et tum Sathanas
dixit eis: Ego ponam vos in terram oblivionis, in qua obliviscemini illa, quae dicebatiset
habebatis in Sion; Et tune fecit eis tunicas, id est corpora de terra oblivionis (der Materie 1 ).«
Confessio Joannis Maurini de monte Alionis super crimine haeresis aus den Inquisitions¬
protokollen von Languedoc (Cod. Vat. 4030) in Döllingers Dokumenten Nr. VIII (II201 f.).
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
312
Karl Rorinski,
stirne geknüpft und dieseineinem KampfundAntagonis-
mus gegen einander begriffen, von dessen Ausgang der Erfolg
menschlicher Bestrebungen abhänge, so daß, wenn das Gestirn des einen
'den Stern des andern verdunkele oder auslösche, der erste notwendig stärker
und glücklicher werde als der zweite«. (Döll. a. a. O. p. 33.) Hier hätten
wir also eine sehr plausible Erklärung für das eigentümliche dramatische
Verhalten unserer kämpfenden Gestirnbilder in Tramin.
Und auch ihr angebliches Wiederauftreten in einer byzantinischen Hiob-
handschrift eben dieser Zeit (s. ob.) würde sich so hinreichend erklären.
Denn das Buch Hiob, das geeignetste unter den biblischen Büchern zur An¬
knüpfung astrologischer Gedankenreihen und Vorstellungen, gehört zugleich
zu den wenigen im Alten Testament, welche diese — es sich entweder (wie
auch die Passagier) radikal anpassenden oder wie die meisten anderen ebenso
(als Offenbarung des Satan) verwerfenden — Sekten ausnahmslos gelten
ließen (vgl. Döll. I 148).
Einen auffallenden Bezug zur alten, manichäischen Gnosis,
an dem Döllinger seltsamerweise vorübergeht, zeigen nordfranzösische
Neumanichäer des 12. Jh. Es sind die E o n i t e n , angeblich nur so ge¬
nannt nach ihrem Führer, der »neuen Inkarnation der Gottheit« E o n de
l’Etoile. In diesem Namen »Eon« vermuten wir mehr, als eine bloße Ent¬
stellung (!) des Namens Eudo, gestempelt durch eine nasalierende Aus¬
sprache des »Eum« qui venturus est im Exorcismus (Döll. I 102, 103 Anm. 2).
Näher liegt es, an den »uranfänglichen Gott der Orphiker« (Zoega, Abhand¬
lungen Nr. V ed. Welcker Gött. 1817) zu denken: den im späten Altertum
sogar viel (als löwenköpfiger, schlangenumwundener Mann mit vier Flügeln
auf einer Kugel) dargestellten A e o n. Diese Gottheit der nie alternden
Zeit (xpovo? oY^paoc) spielte im Lichtreich der alten Manichäer die füh¬
rende Rolle (s. Baur, Das manichäische Religionsystem s. 18). Sie be¬
deutet die Weltzeiten (von je 12000 Jahren), in deren zwölfter sich der
Kampf des guten und bösen Prinzips abwickelt. Der jeweilige Aeon vertritt
den Vater des Lichts in dieser Welt und bekränzt ihn nachdem seine Zeit
abgelaufen. Schon Piper hat (a. a. 0 . I 2, 393) dies auffallende gnostische
Bild der Zeit in seine »Mythologie der christlichen Kunst« aufgenommen,
obwohl er ihre Darstellung im christlichen Altertum vermißt. Ihre Be-
ziehung zu byzantinischen Darstellungen der Zeit als gekröntem blumen-
tragenden Jüngling (a. a. O. 396) wagt er vielleicht nur nicht ausdrücklich
zu betonen, wohl weil er die Annahme ketzerischer Einflüsse auf mittelalter¬
lichen Bildern für zu gewagt hält. Der Zusatz dfcl ’Etoile bei unserem Eon
der Bretagne weist auf eine bestimmte astrale Beziehung dieses Aeon.
Sollen wir sie in jener apokalyptischen suchen, die das antihäretische Buch
»Suprastella« (s. ob.) eines »Bürgers von Piacenza« (v. J. 1235) dem »liber
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Verkannte Sternbilder und Ketzervorstellungen in der mittelalterlichen Kunst.
3*3
haereticorum qui Stellae nomine praetitulatur« entgegenhält: »Durch
den Stern wird der Absynthius der Apokalypse (c. 8, n) figürlich bezeichnet«
(Per stellam enim Absynthium dicitur in Apocalypsi figuratum s. Döll. II52) ?
Also der bittere Wermutstern des gegenwärtigen Aeon !
Die Decke von Zillis könnte wohl dazu auffordern, ihren vielen Un¬
begreiflichkeiten systematisch von dieser Seite beizukommen, wenn von ihr
ein vollständiges Anschauungsmaterial vorläge, das zugleich authentischer
wäre, als die sparsame Auswahl der Rahnschen Zeichnungen.. Auf Grund
seiner (nur all zu knapp beschreibenden) Übersichtstabelle der aus 9x17
Feldern bestehenden Deckenmalerei wagen wir hier gleichwohl noch einige
Hinweise auf Parallelen in unseren astrognostischen und ketzerischen Vor¬
stellungen. Wir gehen aus von zwei Deutungen Rahns, die er selber durch
beigesetzte Fragezeichen als fraglich kennzeichnet. Links und rechts von einem
Felde (ze der tabellarischen Einteilung), auf dem er die Begrüßung Mariae und
Elisabeth sieht, treten je eine weißgekleidete Frau aus dem verhangenen
Tore einer getürmten, ummauerten Stadt. Man könnte an Stadtgottheiten
denken, wenn die Städte »Nazareth und Juda« (Lukas 1, 26. 39) diese Alle-
gorisierung vertrügen und je mit ihr bedacht worden wären, was ich nicht
weiß. Rahn sieht in ihnen Synagoge und Kirche — noch vor ihrer Be¬
gründung 1 Er’sieht das Kreuz auf dem Torgiebel der einen, aber die Mond¬
sichel auf dem Kopfe der anderen übersieht er. An Mond und S o n n e zu
denken, wäre hier unstatthaft, da die an und für sich seltene weibliche Dar¬
stellung des Sol in dieser ungermanischen Umgebung nicht anzunehmen
ist und einen männlichen Mond voraussetzte (vgl. übrigens die Gleichsetzung
von Sol, id est princeps (mundi) und luna id est lex Moysi stellae spiritus
sui ministri bei Döll. II 91 Anm.) Aber an die Venus, den Abendstern, in
der Renaissancekunst (Salone zu Padua), direkt vertreten durch das Bild
der Madonna mit Kind, darf man denken, dessen Konjunktion mit dem
Monde zu den auffallendsten Erscheinungen am Himmel gehört. Die
Burgen im Hintergrund wären dann die Häuser der beiden Planeten, aus
denen sie heraustreten, um der bedeutsamen Begegnung der beiden Mütter
zu assistieren. Als Burgen weiden die Häuser der Planeten bei den Arabern
gedacht (Ideler s. 239); übrigens auch das für unsere Ketzer so wichtige
»Pieroma«, die Stätte des höchsten Gottes, was dann nach einer anderen Seite
in der Deutung der beiden Frauen führen würde; als Personifikationen der
(irdischen und himmlischen?) Weisheit, die uns aber weniger wahrschein¬
lich dünkt.
Noch einmal tritt eine Beziehung auf einen Planeten an der Decke
hervor, insofern zwischen Christi Gefangennahme und Dornenkrönung
— die Kreuzigung fehlt! — die für Saturn charakteristische Sense in
den Händen eines Mannes auftaucht. Er erscheint aber nach der Über-
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
314
Karl Borinski,
sichtstabeile (15 d) mit drei anderen vergesellschaftet, die wie die Häscher
Christi »mit Tunika und Schnürstiefeln bekleidet sind und Fackeln und
Beile tragen«. Über diesen Szenen: ein aus einem Buche lehrender Mann
auf dem Throne, vor ihm ein halbnackter Knabe. Ein Feld mit »willkürlich
zusammengestellten alten Fragmenten«. Zwei Felder mit je einem Mann
in weißer Tunika und roter Toga unter Tabernakel bzw. Säulenarchitektur.
Auch die zusammenhangslos — ohne Christus — auf einem Felde
auftretende Auferweckung des Lazarus — aus einem viereckigen Sarge, den
zwei Knaben öffnen — ließe in dieser Umgebung an ihre arabische Bedeutung
als Sternbild (des Vierecks im großen Bären (Ideler s. 21) denken. Des¬
gleichen der Hirt mit der Herde (Ideler 410) unter dem Capricornus und
die heiligen drei Könige, die (nach Ideler 333) »bei den deutschen Astro-
gnosten« für die 35 Sterne im Gürtel des Orion gelten, auch als Jakobsstab
(s. Jak. Grimm, D. Myth.* 331). Der Stab, den auf unserer Decke der heil.
Joseph auf der Flucht nach Ägypten trägt (5 g, abgebildet auf Taf. III Fig. 3),
ist aus (neun) kreisrunden Gebilden zusammengesetzt. Unter den mancher¬
lei biblischen und legendarischen Szenen, die an den christlichen Himmel
versetzt worden sind (s. Jak. Grimm a. a. O. 688 ff.), könnte diese mit der
Maria und dem »Issa« (der Araber) am frühesten so erhöht worden sein.
Denn bereits die libri Carolini (IV c. 21) heben hervor, daß die Flucht nach
Ägypten meist auf Decken abgemalt werde.
Gleich Rahn ist die unverhältnismäßige Bevorzugung der Heil, drei
Könige auf der Zilliser Decke (16 Felder der Mitte !) aufgefallen. Die hei¬
ligen drei Könige haben eine hervorragende liturgische Bedeutung für die
Ketzer, die sich mit der astrologischen ihres weisenden Sternes eng berührt.
Nur die Vollkommenen unter ihnen (domini qui sunt in via veritatis) durften
nämlich das »Vater unser« beten. Für die übrigen (credentes) war es eine
Todsünde (quando dicimus Paternoster, mortaliter peccamus). Statt dessen
beteten sie: Dominus Deus, qui direxit Reges Melchior etc. . . dirigat me
sicut direxit eos . . . (Aus den Protok. von Languedoc. Dokum. II 159). Die
Legende, die sich bei ihnen findet, daß der eine König für das Vorrecht, vor
den beiden anderen dem Kinde seine Geschenke darbringen zu dürfen,
seine Jugend opfert (a. a. 0.161), könnte auf der Decke angedeutet sein; inso¬
fern nur e i n König (gesondert von den beiden andern auf dem hinteren Felde),
vor dem Kinde erscheint. Auch den Gegensatz, in den das Ev. Matthäi
{2, 3. 12) den jüdischen König Herodes zu den 3 Magi setzt, malt wie der
ketzerische Bericht die Zilliser Decke auf 16 Feldern (!) breit aus, indem sie
die Könige erst den Herodes besuchen, dann diesen feindliche Maßregeln
treffen (6 b. c.), dann einen Engel die Magi warnen (6 d. e.) und sie fern
von Herodes zurückführen läßt. Diesen Zug verstärkt die Deckenmalerei
durch die frei erfundene (? vielleicht gleichfalls ketzerische) Idee, die Christ-
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Verkannte Sternbilder und Ketzervorstellungen in der mittelalterlichen Kunst. 315
liehen drei Könige durch drei offenbar jüdisch gedachte, mit Messern in
der Hand thronende, die auf die angrenzenden Felder mit der Circumcisio
und mit Herodes weisen, zu analogisieren.
Zu den antijüdischen Ideen der manichäischen Ketzer gehört die
Verwerfung der Taufe, die sich gelegentlich bis zur Anathemisierung des
(noch unter dem Gesetze stehenden) Johannes Baptista steigert. Rahn
m
sieht in einem vor einer Strohhütte stehenden bärtigen Manne mit Nimbus
(hauptsächlich wegen seines zottigen Gewandes, das er mit zwei gleich*
charakterisierten Gestalten auf dem zweitvorhergehenden Felde teilt), Jo¬
hannes den Täufer, als »letzten der jüdischen Propheten« (s. von Zahns
Jahrbücher f. Kunstw. IV 111 f.). (Die Hütten erklären sich vielleicht nach
Ebr. 9, 2. 11 !) Er trägt eine runde Scheibe in seiner linken Hand und weist
mit der rechten auf sie hin. Darauf ist auf rotem Grunde ein weißer Vier¬
füßler eingezeichnet, der auf der ersten Abbildg. (Mitt. d. Ant. Ges. Taf. II 5)
wie ein anlaufendes weißes Pferd (genau wie von einer antiken karthagi¬
schen Münze) aussieht, auf der zweiten (v. Zahns Jahrb. f. K. IV 112 Fig. j)
aber einem Lamm mehr angeähnelt und auch so interpretiert wird. Ist
es nun der Johannes des »ecce agnus dei« aus Ev. Joh. I, 36, so wären die
beiden anderen Pelzträger mit Nimbus keine Propheten, sondern die beiden
discipuli (fia&Tjral) des vorhergehenden Verses, die bei Johannes standen,
als er des Lammes Gottes ansichtig wurde. Es sind aber gleichfalls greise
Männer, wie er. Als alte Propheten angesehen aber, wird der dritte, der auf
das Lamm im Bilde hinweist, nur J e s a i a s sein können mit seiner
Grundstelle über das Lamm 53, 7. Daß wir ihn wirklich dafür ansehen
können, dafür spricht das sprießende Reis zu seinen Füßen (auf Rahns Abb.
Taf. II 5): Et ascendet sicut virgultum coram eo et sicut radix de terra
sitienti Jes. 53, 2.
Wie kommt aber nun Rahn darauf, in den 7 + 5 »profan gekleideten
Männern ohne Nimben«, die (10 c u. e seiner Übersichtstabelle) das Feld
des Lammträgers von beiden Seiten flankieren, »Apostel« zu sehen (v. Zahns
Jahrb. IV in)? Selbst wenn sie das hier ante actum, d. h. v o r dem Auf¬
treten Christi sein könnten, so wäre ihre Teilung in Gruppen von 7 + 5
wenig apostolisch. (Die Gruppierungen in den Evangelien sind: Matth.
10,2 ff. 4 + 6 + 2; Mark. 3, 16 ff.i (Petrus) +2 + 8 + 1 (Judas)). Die
Gruppierung 7 + 5 deutet nach der Zahlensymbolik auf eine Spaltung.
Eine solche scheint auch in der Haltung zum Ausdruck kommen zu sollen,
mit der sie auf den Taufakt im Jordan (auf Feld 10 f.) teils hinweisen, teils nicht
und dafür die geöffnete Hand gen Himmel halten (s. unt.). Von demTaufakt
berichtet die Übersichtstabelle leider nur, daß ihm ein »Engel mit Trocken¬
tuch« assistiert, nichts über die Darstellung des Täufers. Seine Abwesen¬
heit auf der Zilliser Decke müßte im höchsten Grade auffallen. Man ver-
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
3*6
Karl Borinski,
gleiche einmal die Rolle, die seine Geschichte in den gleichzeitigen Bilder¬
folgen der Herrad von Landsberg spielt! Sollen nun die 7 + 5 »profanen
Männer« die kleinen Propheten sein ? Dürfen wir nicht vielleicht in der
ganzen Anordnung, wie an andern Stellen der Decke (16 h offenbar eine
Ordination) eine hierarchische Anspielung erblicken? In der Tat bestand
die Hierarchie der Ketzer aus ein, zwei oder drei Oberen, Heiligen oder Voll¬
kommenen (vgl. Döll. II 98 aus einer Zeugenaussage in Languedoc: »non
voluit dicere, si Major est unus, vel duo, vel tres), denen eine Kongregation
von Diakonen und Presbytern wohl nach der Zahl der Jünger zur Seite
stand (s. ebda.).
Die ketzerische Symbolik der Tunika als Zeichen des menschlichen
Leibes, der Inkarnation, kehrt auf der Zilliser Decke wieder. Der dar¬
bringende König überreicht seine Gabe (ein Gefäß) dem Christkinde i n
sein Kleid eingefaßt! Die« Anfassen des Geweihten (heiliger Körper)
mit dem eigenen Kleide findet sich auch sonst: an klassischer Stelle in der
Pietä Michelangelos in S. Peter (vgl. Monatshefte f. Kunstw. I 822 b). Eine
symbolische Erklärung hierfür, wie sie sich hier darbietet (und durchaus
in ihr System paßt),.ist mir noch nicht begegnet. Der Engel trägt mit einem
Kreuz bezeichnet ein Kleidungsstück in der Hand bei der Botschaft der
• • _
Geburt Christi an die Hirten. Soll man etwas Ähnliches erkennen bei der
Verkündigung des Engels an Maria, die Spinnerin (nach dem Frotoevange-
lium Jacobi)? Da wäscht ein Mädchen zu ihren Füßen eifrig, ein Kleidungs¬
stück in einem Gefäß (2 h. Abb. bei Rahn, Taf. II Fig. 3). Damit wäre
wenigstens eine Erklärung für diesen rätselhaften Zusatz gewonnen, an der
Rahn verzweifelt. Es ist die natürliche Wiedergeburt der Seelcnwanderungs-
lehre, die den Leib in dieser despektierlich selbstverständlichen Form als
Hemd, als U n t e r gewand auffassen lehrte. Doch auch die tierische Wieder¬
geburt beschäftigte diese Ketzer sehr folgenreich für ihr Verhalten (Vege¬
tarismus, Verbot Tiere zu töten, Schibolet im Krieg gegen die Albigenser!).
Den besonderen Wiedergeburtsglauben (vielleicht dadurch im ma. Volks¬
glauben und Liede .so lebendig) in bezug auf P f e r d e wollen wir hier wegen
des häufigen Auftretens dieser Tiere für sich allein auf der Zilliser Decke
auch wenigstens anmerken. Antikatholisch bzw antikirchlich könnte noch
manches gedeutet werden. Das kreisrunde Medaillon findet sich noch ein¬
mal (b. 13), diesmal schwarz in der Hand des Teufels, der Christus
versucht, mit der weißstrichigen Zeichnung von »Türmen, Pokalen u. dgl.«
(Rahn, Gesch. d. bild. K. i. d. Schweiz, Zürich 1873 s. 292), als Inbegriff
der Herrlichkeit der Welt. Die Ketzer sahen nun in den Kirch¬
türmen und Abendmahlskelchen die Hauptzeichen der verweltlichten,
prunkenden Kirche. Es wäre ein ebenso feines als starkes Stück von Insinua¬
tion, wenn sie dies hier in dieser Form die Maler zum Ausdruck bringen
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Verkannte Sternbilder und Ketzervorstellungen in der mittelalterlichen Kunst. 3 j 7
hießen ! Ist cs gleichfalls nach diesem Schema aufzufassen, daß gerade bei
Christi Einzug in Jerusalem (13 h) Priester mit Rauchfaß undWeihwedel auf-
treten? Noch etwas verdient angemerkt zu werden Das ist die durch¬
gehende Betonung von Handgesten auf der Zilliscr Decke. Am merk¬
würdigsten erscheint neben dem Gestus des Zeigens der der offen nach
oben ausgestreckten Hand. Nun hat die Hand im Glauben und Ritual
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
318
Karl Bori nski,
fast aller Ketzer eine besondere, nur dem Heiligen verliehene, mystische
Kraft. Diese steigert sich in ihrem höchsten Ritus, dem sog Consolamen-
tum (vor dem Tode) zur absolut seelenerlösenden Gewalt, für die die größten
asketischen Opfer (der sog »Endura«) gebracht wurden. Ist es nun Zufall,
daß Christus im Moment der Gefangennahme durch zwei neben ihm stehende
Männer die Hand auf das Haupt gelegt wird, worin eben das Zeichen des
Consolamentum bestand ?
In die Blütezeit unserer Ketzersekten, die den Kreuzzug des französischen
Königs herausforderte, 12.—13. Jh., werden die (im übrigen technisch von
einander offenbar abweichenden) Malereien in Tramin und Zillis gewiesen.
Es ist zugleich die Bauzeit des sich in seinen plastischen Phantasien mit ihnen
berührenden Kreuzgangs am Züricher Großmünster. Der eigentümlich
verdeckte Fuß des Lahmen am Teich Bethesda aus Zillis (9c. Taf. IV 1)
kehrt sogar dort wieder. Die Kirche S Giacomo bei Tramin wird in einer
Urkunde des Bischofs Gerard von Trient 1223 erwähnt (Dahlke im Repert. V
146). Für Zillis zieht Chr. Kind (Dtsch. Blätter 1874, Neue Alpenpost III
Nr. 46. IO) die Reformation des Klosters Catzis 1160 als künstlerische An¬
regung heran, dem (schon 940 !) Zillis als Ersatz für sarazenische Verwüstung
übergeben worden war. Nach Rahn (v. Zahn IV 116. Gesch. d. b. K. 293)
waren es keine einheimischen Künstler, sondern durchreisende — erst ent¬
schied er sich für Italiener, dann für Deutsche —, die die Zilliser Decke
ausmalten Für letztere sprechen ihm die Tracht, Abwesenheit antiker
Reminiszenzen und »die manchmal bis ins zufällige Detail gehende Über¬
einstimmung mit gleichzeitigen Miniaturen«, insbesondere der Herrad von
Landsberg (1175). Die Tracht erkennt er nun selbst früher bei den heiligen
Personen als die übliche antike Idealtracht, bei den übrigen als die im 12. Jh.
allgemeine. Auf Antikes im Ornament z. B. (Mäander als oberer Abschluß)
weist er gleichfalls, in Realien ist es uns möglich gewesen. Detailüberein¬
stimmungen mit dem hortus deliciarum haben wir nach dem uns vorliegen¬
den Vergleichsmaterial eigentlich nur in dem Erel der Flucht nach Ägypten,
entdecken können. Doch kann dergl. auf verbreitete Clichös zurückgehen,
wie sie bei der Herrad wahrscheinlich und in ihrer Taufe Christi als byzan¬
tinisch nachgewiesen sind (Janitschek a a. O. S. 110). In Zillis weist schon
die spezialisierende Feldereinteilung auf dergleichen hin. Durchwegs weichen
in Zillis die Körperformen ab ins Gedrungene, Breite, Plumpe, während sie
bei der Herrad länglich, schmal, geistig : ind. Der ihnen eigene schmachtende
devote Zug scheint in Zillis gerade ins Gegenteil verkehrt. Das hastige,
gelegentlich Komische der Gebärden merkt Rahn an. In keinem Falle
haben wir es hier mehr mit karolingischer Buchkunst zu tun, deren bekannte
Eigentümlichkeiten sonst die mittelalterlichen Illustrationen der antiken
Sphära charakterisieren (Thiele a. a. O. s. 84 ff.) In Tramin scheint es breite
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Verkannte Sternbilder und Ketzer Vorstellungen in der mittelalterlichen Kunst. 319
romanische Flächenkunst. Sarazenische Einflüsse und, wie oben von
Anfang wahrscheinlich gemacht ward, byzantinische Vorbilder, haben wohl
hier wie in Zillis die seltsamen Bibeldarstellungen und abenteuerlichen
Fratzen der »Sphaera barbarica« auswirken helfen. Die damalige Beliebt¬
heit des letzteren Vorwurfs, auch bei so privater Dekoration als die eines
Betthimmels, ist uns oben bei der Tochter Wilhelms des Eroberers begegnet.
Die stark persönliche und esoterische Note, die darin vorschlägt und jeden¬
falls zu dieser besonderen Beliebtheit mitwirkte, ins Licht zu setzen, war
an ebenso auffallenden, wie dunkeln Vorwürfen unsere Aufgabe.
Daß diese Monstrositäten der ma. Kunst den Frommen verdächtig
schienen und mehr als bloß allgemein-weltlichen Anstoß gaben, könnte der
große Rügebrief Bemards von Clairvaux vermuten lassen (Migne Bd. 182,
p. 885—918 = 526—540, gerichtet an den Abt Guilelmus Sancti-Theodorici
(i. e. Saint-Thierry) bei Reims, (»apud Remos«, gegr. 553; an seinem Orte
später 1777 das großartige Schloß des Kardinals Talleyrand-P^rigord,
von dem jetzt nur noch ein Pavillon steht). Er wendet sich in der Form
einer Verteidigung (»Apologia«) gegen seine Verdächtigungen als Hetzer der
Cistercienser wider die Cluniacenser heftig gegen deren Verweltlichung
ganz besonders in Amüsements (»cachinni«), Pracht- und Kunstliebe: ihre
Bauwut (intemperantia ... in construendis aedificiis Cap. VIII. [ 16J), Freude
an kostbarem Gerät (ponuntur dehinc in ecclesis gemmatae, non coronae,
[Druckausfall: sed] rotae circumseptae lampadibus etc. Cemimus et pro
candelabris arbores quasdam erectas, multo aeris pondere, miro artificis opere
fabricatas . . . cap. XII [28]), schönen farbigen Bildern (ostenditur pul-
cherima forma sancti vel sanctae alicujus et eo creditur sanctior
quo coloratior ib.) Für den Schluß aber (cap. XII [29]) verspart er
sich eine Philippica gegen unsere Vorwürfe der damaligen Kunst, aus der
hervorgeht, daß sie gerade innerhalb der Klöster (in den Zellen oder Biblio¬
theken?) überaus häufig gewesen sein müssen: »Caeterum in claustris
coram legentibus fratribus quid facit illa ridicula monstruosi-
tas, mira quaedam deformis formositas, ac formosa deformitas? Quid ibi
immundae simiae? quid feri leones? quid monstruosi centauri? quid
semihomines? quid maculosae tigrides? quid milites pugnantes? quid
venatores tubicinantes ? Videas sub uno capite multa Corpora et rursus in
uno corpore capita multa. Cernitur hinc in quadrupede cauda serpentis,
illinc in pisce caput quadrupedis. Ibi bestia praefert equum, capram tra-
hens retro dimidiam; hic cornutum animal equum gestat posterius. Tarn
multa denique, tamque mira diversarum formarum ubique varietas apparer,
ut magis legere libeat in marmoribus quam in codicibus,
totumque diem occupare singula ista mirando quam in lege Dei meditando.
Proh Deo! si non pudet ineptiarum, cur vel non piget expensarum ?« Es
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
^20 Karl Borinski, Verkannte Sternbilder und Ketzervorstellungen usw.
waren also kostbare Marmorskulpturen wohl hauptsächlich an Säulenbasen
und Kapitellen. Wir haben hier gleich eine kleine Übersicht hauptsächlich
beliebter Motive. Ehe wir eine solche aufstellen könnten, müßte jedoch
ein Inventar des heute noch Vorhandenen und Bekannten vorliegen. Inner¬
halb deutscher Sprachgrenzen kommt meines Wissens zunächst in Betracht:
Frauenmünster-Zürich (Kreuzgang); Schloß Tirol bei Meran, Freiburg i. Br.,
Gnesen, Schottenkloster-Regensburg (Portale). Erst dann ließe sich durch
Vergleichung feststellen, was an diesen Bildungen Sach-, was Formmotiv
darstellt; was feststehende oder mindestens wiederkehrender Typus, Phy¬
siognomie, und was abgeleitete oder frei künstlerische Variation und Arabeske
bedeutet. Von all dem ist obiger Hinweis auf augenscheinlich Altes, Ur¬
wüchsiges und Zusammenhängendes noch weit entfernt. Möge
er zu erneuter Untersuchung dieser Dinge anregen, denen man ja wohl schon
früher in gleicher Richtung, wenn auch auf unzulänglichen Wegen (als
Zeugen des Mithraskults im 12.—14. Jh. ?) beikommen wollte.
>
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Thema der Darstellung des zweiköpfigen Adlers
bei den Byzantinern.
Von N1K02 A. BEH~, Athen-Berlin.
In einem speziellen Artikel des Professors Dr. Spyridon Lambros über
die Darstellung des zweiköpfigen Adlers hat sich nach genauen Unter¬
suchungen der ihm bekannten literarischen Quellen und künstlerischen
Denkmäler ergeben, daß bei den Byzantinern diese Darstellung nicht so
alt sei, wie allgemein angenommen wird, sondern erst nach der Eroberung
Konstantinopels durch die Kreuzfahrer erscheine *). Als älteste Beispiele
für den Gebrauch des zweiköpfigen Adlers bei den Byzantinern erwähnt
Professor Lambros») eine Münze des Kaisers von Nikäa Theodor Las-
karis 3 ) — das Zeugnis dieser Münze ist etwas zweifelhaft — und ein Minia¬
turbild desselben Kaisers, das im Kodex 442 (XIV.Jahrhundert) der Mün-
chener Staatsbibliothek abgebildet ist 4).
Diese Meinung von Lambros über das älteste Vorkommen der Dar¬
stellung des zweiköpfigen Adlers entspricht jedoch nicht der Wirklichkeit.
Die Darstellung ist in der Tat viel älter als die Epoche des Reiches von Nikäa.
Als älteste« Beispiel dieser Darstellung betrachte ich ein Relief des archäolo-
gischen Museums von Andros, das, seinem Stil nach zu urteilen, der Zeit
Kaiser Justinians zuzuschreiben ist. Aus der gleichen Zeit stammen
wohl auch andere Denkmäler mit der Darstellung des doppelköpfigen Adlers
in den alten Kirchen der Ägäischen Inseln Paros und Tinos, obwohl diese
Denkmäler allgemein als neueren Ursprungs und Nachahmung russischer
Vorbilder gelten 5 ). Ich möchte hier auf dieselben nicht näher eingehen, da
•) S p. P. Lambros, *0 oixitpoXo; irzti toü ByJovtfo’j, in der Zeitschrift
»Mo;'KXX t(VO|av/ ( ijwuv« Bd. VI (1909), S. 433—73, VII (1910) S. 338—41, und VIII
(1912) S. 235.
*) Ebenso Bd. VI (1909) S. 447 ff.
3 ) O c t a v i i de Strada, De vitis imperatorum et caesarum Romanorum,
tarn occidentalium quam orientalium. Francfurte 1615, S. 350 — Vgl. S p. P. L am¬
bro s , »Mo; l EX).T)vo{iv^fta>v€ Bd. VI (1909) S. 447 ff.
4 ) Über die verschiedenen Reproduktionen dieser Bilder siehe S p. P. Lambros,
»N^oc'EAXqvopv^fiiov« Bd. VI (1909) S. 449 ff.
5 ) Vgl. S p. P. Lambros, »Mo;' EAXTjvo;jM ( uujv« Bd. VI (1909) S. 468—9.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
322
N i x o ; A. B « t) {,
Herr Dr. J. Bojiazides eine besondere Abhandlung über die Denkmäler des
zweiköpfigen Adlers von Andros, Tinos und Paros usw. mit Abbildungen
vorbereitet 6 7 ).
Ich möchte jetzt über ein anderes Denkmal sprechen, das, weil es
offenbar zwei oder drei Jahrhunderte älter ist als das Reich Nikäa, die vor¬
besagte Meinung von Professor Lambros als nicht stichhaltig erscheinen läßt.
Es ist dies eine in Lamia von Phtiotis gefundene, sehr gut erhaltene und
von K. Konstantopulos genau beschriebene Bleibulle, die jetzt im Numis¬
matischen National-Museum zu Athen aufbewahrt wird 7 ). Auf der
Vorderseite dieser Bleibulle ist ein doppelköpfiger Adler mit ausgebreiteten
Flügeln abgebildet, auf dessen Brust sich ein nicht genauer festzustellendes
Ding befindet. Auf der Rückseite steht die Inschrift:
... — . PA . — . A0APIU» — S CTPAT — . TWEAA — AAOC
= ... ß(aatXtxq>) d [<J7t]aöapup xat <rcpaT[7]]i’<ji ‘EXXaSo?
Die Bleibulle stammt aus dem 9. oder 10. Jahrhundert. So datiert
Konstantopulos, der sehr viel Erfahrung über die byzantinische
Sigillographie bewies, das Denkmal 8 ). Diese Datierung ist meines Er¬
achtens auch sicher. Allerdings ist die genannte Bleibulle des numis¬
matischen National-Museums zu Athen älter als die Epoche des Reiches
von Nikäa (XIII. Jahrhundert), d. h. älter als die Zeit, die der Professor
Lambros den ältesten byzantinischen Denkmälern mit der Darstellung
des zweiköpfigen Adlers zuschreibt. Da die Bleibulle einem crcpcmj^j»
‘EkXdSo? (d. h. öspatoc 'EXXa'Soc) gehört und wir keine «npoTrj^oö 'EXXaSoc
Bleibulle haben, so stammt dieselbe aus der Zeit, die nach der Er¬
oberung Griechenlands durch die Kreuzritter kommt. Nachdem existierten
in den von den Franken eroberten Ländern Griechenlands die sogenannte
dejAaxixol arpaTTftol der Byzantiner nicht mehr, wenigstens in der Zeit
der fränkischen Eroberung in diesen Ländern.
Außer dieser oben genannten Bleibulle haben wir noch ein anderes
Denkmal mit der Darstellung des zweiköpfigen Adlers, welches aus dem
XI. Jahrhundert stammt, d. h. älter auch als die Epoche des Reiches von
Nikää. Prof. Bury hat neulich eine schöne Abbildung dieses Denkmals mit
der beifolgenden Beschreibung publiziert: »Silk Textile of the eleventh
Century, with the two-headed eagle which became the Imperial Symbol.
The stuff formed the shroud of S. Beruardo calvo, of Vieh. Fragments of
6 ) Vgl. »BuCavrljc Bd. II (1910—11) S. 269.
7 ) K. M. Konstantopulos, BoCxmaxd poX’j t 3 o< 5 ßo’jXXa £v Tijü ’Eövixq» No|m-
cuattx(j) Mouaefrj) ’Alhjvwv. In dem Journal International d’Archäologie Numismatique. Bd.
V (1902) S. 163, Nr. 47.
8 ) Ebenso.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Zum Thema der Darstellung des zweiköpfigen Adlers bei den Byzantinern. 323
the original are in the Archiepiscopal museum at Vieh, and in the Kunst¬
gewerbe Museum at Berlin (Nr. 91, 153)« 9 ).
In seinem Artikel erwähnt Professor Spyridon Lambros auch noch
verschiedene aus der byzantinischen Epoche und der Zeit der türkischen
Herrschaft stammende, mit der Darstellung des doppelköpfigen Adlers
versehene Denkmäler, welche bei den unterjochten Griechen als heiliges
byzantinisches Erbe und zugleich als Symbol der politischen Wiedergeburt
sehr beliebt gewesen sind. Zu diesen Aufzeichnungen des Professors Lambros
möchte ich folgendes nachtragen:
1. Etwas weiter von dem Städtchen Portaria auf dem Berge Pelion
liegt das in der mittelalterlichen Geschichte sehr bekannte Prodromos-
kloster 10 ), das, trotzdem es nach dem 19. Jahrhundert zum größten Teil neu
erstanden ist, noch viele byzantinische Denkmäler in sich birgt. An der
südöstlichen Seite dieses Klosters sieht man ein schönes Relief mit der Dar¬
stellung des zweiköpfigen Adlers in einem besonderen Stil graviert. Meiner
Ansicht nach gehört dieses Denkmal der Zeit des 13.—14. Jahrhunderts.
2. In Saloniki sieht man im Hofe des Hauses v. Georgios Petsiras auf
dem alten Hippodromion, nicht fern von der Porta Kassandreotiki (Hopta
t? ( c KaXatxaptä?), an der östlichen Mauer ein Kapitell, das als Stütze eines
Balkens dient, mit der Darstellung des zweiköpfigen Adlers. Das Denkmal
ist sehr interessant und stammt aus der Paläologenzeit, was durch drei
andere Kapitelle, die mit dem obigen korrespondieren und von denen eines
XT
das Monogramm: I 1 A [=■ II0X010X070?] trägt, bewiesen wird n ). Es ist
bekannt, daß viele Denkmäler aus der Zeit der Paläologen zweiköpfige
Adler tragen IZ ). (Siehe Abbildungen der oben genannten Kapitelle von
Saloniki bei P. Papageorgiu * 3 ).)
3. Auf der Burg von Mytilene, rechts von der porta meridionalis, steht
in großer Höhe die Darstellung des zweiköpfigen Adlers * 4 ). Die weiße
Platte, auf welcher der Adler graviert ist, liegt zwischen zwei anderen, von
xr
denen die eine das Monogramm: HA [■= riaXotoXoYO?] trägt, die andere einen
9 ) Gibbon — J. B. Bury, The Historv of the deciine and fall of the
Roman Empire. London 1912, S. 134. — Herr Dr. P. Maas hat mich in dankens¬
werter Weise auf dieses Denkmal hingewiesen.
,0 ) Vgl. Miklosich-Müller, Acta et Diplomata. Vol. IV, S. 330—430.
M ) Petros N. Papageorgiu, Unedierte Inschriften von Mytilene. Leipzig
1900, S. 26, Nr. 103.
n ) Vgl. Sp. P. Lambros, »N^o;'EWvT|VO|xv^|a(ov« Bd. VI (1909) S. 451 ff.
* 3 ) Petros N. Papageorgiu, Unedierte Inschriften von Mytilene. Taf. VI,
Nr. 43.
> 4 ) Ebenso S. 11, Nr. 35.
Repertorium für Kunstwissenschaft, XXXV. 2 2
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
324
N t x o { A. B11) 4,
einköpfigen Adler zeigt. Auf der Platte mit der Darstellung des zwei¬
köpfigen Adlers sieht man die zwei 9 B die gewöhnlich in den Wappen der
Paläologen sich befinden und auf verschiedene Weise erklärt werden * 5 ).
Die Abbildung dieses Denkmales, das ein anderes als das von Hasluck l6 )
beschriebene zu sein scheint, hat P. Papageorgiu * 7 ) publiziert.
4a. Auf dem Pergament des aus dem Jahre 1439 stammenden und
der Nationalen Bibliothek zu Paris aufbewahrten 18 ) Dekretes, durch
welches der Kaiser Johannes Paläologos dem Florentiner Jagob De Mo-
relliis verschiedene Ehren zubilligt, ist ein Wappen, offenbar das Wappen
des genannten Jagob de Morelliis, abgebildet, worauf der byzantinische
zweiköpfige Adler zu sehen ist * 9 ).
4 b. In dem Dorfe Ano Bolo auf dem Berg Pelion sieht man über dem
spiralförmigen Bau der hl. Dreifaltigkeitskirche unter anderen Reliefs aus
der byzantinischen Zeit auch einen zweiköpfigen Adler eingemauert. Dieses
Denkmal stammt, soviel bekannt ist, aus der Zeit vor der Eroberung Kon¬
stantinopels (1453) “).
5. Auch in der Friedhofskirche des vorgenannten Dorfes Ano Bolo
kommt ein Relief mit dem doppelköpfigen Adler vor, das von sehr feiner
Kunst zeugt und aus der Zeit vor dem Jahre 1453 der byzantinischen Epoche
stammt 11 ).
6. In Attika, in der Kapelle der heiligen Paraskevi, auf der Besitzung
der Familie Pristi liegt nach der Mitteilung des Prof. G. Lambakis ein Stein
mit der Darstellung der Hälfte eines zweiköpfigen Adlers. Dieses Denkmal
scheint sehr alt zu sein, doch ist nicht erwiesen, ob es sich hier wirklich um
die Darstellung eines zweiköpfigen Adlers handelt 21 ).
7. Auf der ehernen Platte des Grabes von dem in Landulph be¬
erdigten Theodor Paläologos (dieser ist einer der Nachkommen des letzten
Kaisers von Byzanz Konstantin Paläologos) sieht man in der oberen
* 5 ) Vgl. J. Svoronos, Journal International d’Archlologie Numismatique.
Bd. II (1899) S. 363 ff.
,6 ) F W Hasluck, Monuments of the Gattelusi. Im The Annual of the British
School at Athens. Nr. XV. Session 1908—1909, S. 263 ff. — Vgl. S p. P. Lam br o s ,
»Niot'EXXqvopv^fwov« Bd. VI (1909) S. 446.
* 7 ) Unedierte Inschriften von Mytilene. Tafel V, Nr. 35.
**) Codex Supplement grec 821.
• 9 ) Vgl. S p. P. Lambros, *Nfoc 'EAXqvop.vVjfMov«. Bd. IV (1907) S. 188—194.
In S. 19t Faksimile des Wappeus.
*°) A. Arvanitopullos, ’Avaoxacpal xal Iptuvai £v 0 co 3 aX<a xarrd tö fto;
1910 (S. Ab. aus npoxTixd tt,; £v ’Aö^vatj ’ApyaioXoyixfj; 'F/ratprfac toü Itoj; 1910)
Athen 1911, S. 201.
**) Ebenso S. 202.
*») Ae/-fov A' der christlichen archäologischen Gesellschaft zu Athen. Athen
1904, S. 10.
Digitized by
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Zum Thema der Darstellung des zweiköpfigen Adlers bei den Byzantinern. -525
Seite der Grabinschrift die Darstellung eines zweiköpfigen Adlers, dessen
Füße auf zwei Pforten ruhen * 3 ).
8. In der Andreaskirche von Patras, — früher ein schönes byzan¬
tinisches Gebäude, im Jahre 1770 durch die Albanesen fast vollständig
zerstört — ist eine Platte mit einer kunstlosen Darstellung des zweiköpfigen
Adlers erhalten geblieben. Stephanos Thomopulos, welcher dieses Denk¬
mal beschrieben hat, sucht nachzuweisen, daß die obenerwähnte Darstellung
aus der Zeit der Paläologenherrschaft zu Pelponneses stammt a *), obwohl
aus der auf der Platte stehenden Inschrift zu ersehen ist, daß sie einer
späteren Zeit angehört. Diese Inschrift lautet:
O ATTOSOAOC ANAP6AC CneTA €«C TA OYPANIA WCAN
O A6TOC €IC TA YYH KAI BAClTei KA
©APA TO KAAAOC TOY 06OY
TO AMHXANON
Dieser Text erinnert mich recht an eine Stelle der Akten des Apostels
Adreas: »’Evxaüfta irapaTejovu»* 6 xou e&orpfeXixoö xijpujpaxoc u^rjicstr)? xai
pefaXo<pu>voc dex&c x&v X 7 j; euaeßefac* Xojov xarr^jeiXe . . . .« 2 5 ). — Siehe ein
Bild dieses Denkmals der Andreaskirche von Patras bei Archimandrit
Antoninus a6 ).
9. In der Paraskevikirche unterhalb der Burg von Geraki zu Lake-
dämon sieht man auf eingebautem Tuffstein die Darstellung eines zwei¬
köpfigen Adlers. Diese gehört jedoch nicht, wie einige anzunehmen geneigt
sind * 7 ), dem byzantinischen Zeitalter, sondern der Zeit der türkischen Herr¬
schaft an.
10. Über der Türe der Kirche navajia TpouX).u>xf ( des Dorfes 0eppr ( j
von Lesbos sieht man auf weißem Marmor einen zweiköpfigen Adler, auf
dessen Brust X(piaxoc) N(i)K(a) geschrieben steht **). Das Denkmal
ist vielleicht aus dem 16.—18. Jahrhundert.
* 3 ) S. Zampelios, ’^Opara orjpoxtxä xfjc 'EXAdoo;. Korfu 1852, S. 581. — D.
Bikelas in der Zeitschrift »Ilavotopa«, Heft 241, S. 23 (Vgl. D. Bikelas, AtaXf;et;
xal dvapv^atic. Athen 1893, S. 430). —Vgl. P. Lambros in der Zeitschrift »Ilav&bpa«
Bd. XI, Heft 269, S. 98. — Vgl. J. Svoronos, Journal International d’Archfologie
Numismatique. Bd. II (1899) S. 365.
**) Stephanos Thomopulos, Xpioxtavtxal iv ücrrpai; imypatpaf. Im AtAxfov
xfj« 'Iaxoptxrj; xal ’ EUvoXoytxfj; ' Exatptfas xrj; ' EXXdSo;. Bd. I (1883—4) S. 525.
2 5 ) Acta Andreae Apostoli cum laudatione contcxta edidit Max Bonnet. In
Analecta Bollandiana, Bd. XIII (1894) S. 330, V. 3—4.
*) APXHMAimPHTA AHTOHHHA, Hab PyMeJiin. St. Petersburg 1886. Tafel.
* 7 ) S p. P Lambros, EXXt^vojjlv^[jlü>v« Bd. VI (1909) S. 452.
**) Petros N. Papageorgiu, Unedierte Inschriften von Mytilene. S. 11.
Nr. 36, Tafel V. Nr. 36.
22*
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
326
N ixos A. ßti]«,
11. Auf der Insel Andros sieht man über den Türen und Fenstern der
Schlösser zweiköpfige Adler, die ein Wappen halten, eingraviert » 9 ). Auch
in den Kirchen dieser Insel sieht man speziell als Boden-Ornamente viele
Reliefs mit zweiköpfigen Adlern 3 °), so in der Kirche des Erzengels von
Messaria 3 i), in der sehenswerten Agiamoni, die zahlreiche ältere und neuere
Nachahmungen dieser Darstellung bringt 3 *), in der Metamorphosiskirche
des Panachrantosklosters (Datum 1757) 33 ) und in der Kirche des Klosters
der hl. Marina (Datum 1771) 34 ).
12. Auch auf der Insel Amorgos begegnet man vielfach der Darstellung
des zweiköpfigen Adlers z. B. in der Kirche des Zoodochos Pigi in dem Städt¬
chen Amorgos; auf einem Grabe ist mit anderen Ornamenten ein zweiköpfiger
Adler mit der Inschrit »Ev erst 1683 pijvl jiapTup...« auf Stein graviert 35 ). In
der Mitte der Kirche des hl. Georgios, des sogenannten Balsamitb befindet sich
auf einem Bogen ein Relief mit der Darstellung des doppelköpfigen Adlers 3 6 ),
ebenso auf einer Steinplatte des Grabes des Bischofs Nikodemos Baba-
tenos mit der Inschrift: »1730 ^oyootjzoo I Tüjj-ßo; sv&otSe xnjTe 0 trpu) 7 ( v
eXooc Ntxooijfioj«. 37 )
13. In der Athanasioskirche zu Kalamata von Messenien, die man für
einen Bau des 13. Jahrhunderts hielt, während diese erst nach dem
17. Jahrhundert entstanden ist, befindet sich ein Türgiebel, dessen Spitze
mit einem zweiköpfigen Adler unter einem Kreuz geschmückt ist. (Siehe
ein Bild dieses Denkmals nach einer Photographie, gezeichnet und heraus-
gegeben von K. Konstantopulos 3 S ).
14. Am Dom des thessalischen Städtchens Palamas (das eine gewisse
Zeit im Besitz der berühmten byzantinischen Familie Palamas war) sieht
man ein ummauertes Relief mit der Darstellung eines zweiköpfigen Adlers.
Diese stammt vielleicht aus dem 17.—18. Jahrhundert.
* 9 ) Ant Meliarakis, ’Yzopv^putta jrcpcypsftx£ twv KuxXdoan» v^stov xatä
pipo?. Avopo;. kt<u;. Athen 1880, S. 67.
3 °) Ebenso, S. 90.
3 1 ) Ebenso, S. 91.
3 ») Ebenso, S. 92—93.
33 ) Ebenso, S. 97.
34 ) Ebenso, S. 103 ff.
39 ) A. Meliarakis, ’Wopy< 5 ;. In dem AeXtfov ' Inopufj; xxl ’EOvoAoytxfjj
T'.?atpcfac tt,; 'KXXaSo;, Bd. I (1883—4), S. 597.
3 6 ) Ebenso, S. 604.
37 ) Ebenso, S. 594. —Über denBischof von "EXo; Nikodemos Babatenos s. Nfxou A.
'F.x'fpan; xtbSixo; T?j; pTjTpondXtto; Movsußxcffx« xat KaXapdTa; [S. Ab. aus AeXxfov tt ( ;
I jToptxf ( ; xat FövoXoytxijc 1 Exaipcfa; rfj{' EXXctoo; Bd. VI]. Athen 1903, S. 188.
3 8 ) K. Konstantopulos im »ßuCovrfc« Bd. I (1909) S. 477 ff.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Zum Thema der Darstellung des zweiköpfigen Adlers bei den Byzantinern. 327
15. In der Kirche der Familie Latinos zu Zanthe befindet sich ebenfalls
ein Relief mit dem zweiköpfiger Adler 39 ).
16. Bei derBurg von Assos auf Kephalonien steht eine Marienkapelle, die
sogenannte llavorpa xoo Axafitoroo, welche der Familie Antipa gehört. Auf
einer Bodenplatte dieser Kapelle ist das Wappen der vorgenannten Familie
und ein zweiköpfiger Adler eingraviert 4 «>).
17. In der Metamorphosiskirche des thessalischen Städtchens Makry-
niza auf dem Berge Pelion befindet sich eine Steinplatte mit dem gravierten
Datum: 1771 und einem Adler, von dem es jedoch nicht sicher ist, ob es
ein ein- oder zweiköpfiger ist 4 *).
18. Bei dem Orte Ao'poxaoxpo, auf dem Berge Pelion ist eine Quelle
die ripivo? genannt wird. Über derselben ist eine türkische Inschrift
mit griechischen Buchstaben und der Darstellung eines zweiköpfigen Adlers
und dem Datum 1777 auf Stein graviert 4 »).
19. Auf einer Steinplatte des dem Erzengelkloster auf der Insel
Serifos gehörigen Xenodohion ist ein zweiköpfiger Adler mit dem Datum
1781 43).
20. Auf der Platte des Grabes von Panagiotis Sotirianos Alexandros
Gerontas (f 1789), die sich jetzt in dem Epigraphischen Museum zu Athen
befindet, sieht man die kunstlose Gravüre eines zweiköpfigen Adlers 44 ).
Auch die Familie Benizelos zu Athen hat den doppelköpfigen Adler als
Wappen gewählt 45 ).
21. In der Hauptkirche von Kardamyle (Lacedämon), die im
18. Jahrhundert gebaut wurde, sieht man auf einem weißen Steine
oberhalb eines angemauerten Fensters eine interessante Darstellung des
zweiköpfigen Adlers, deren Abbildung man bei Traquair 4 6 ) findet.
22. In dem Meteoronkloster zu Thessalien sieht man ein im Anfänge
39 ) K. M. Z c s i u, »2'ifjLfjLixTo« (S.-Ab. aus der Zeitschrift »’Afrrjvi«) Athen 1892, S. 5,2.
9 °) Ant. Meliarakis, reuiypa^pla roXmxi) vfa xal dpyala toü voaoü KttpaAAr,-
vtas. Athen 1890, S. 56—7.
4 1 ) A. Arvanitopulos, ’Avaoxa^pal xal fpcuvat fv BeaaaXt'a xn~i ~b froj 1910,
S. 208.
4 *) Ebenso, S. 223.
43 ) T. E v a n g e 1 i d e s , 'II vfjoo « Xfpupos xal al ~epl airojv vTjaioti. Hermupolis
1909, S. 99.
44 ) D. Gr. Kampuroglus, 'lo-copfa tu»v ’Albjva(<uv. Toupxoxpatfa. Bd. II.
Athen 1890, S. 201.
45 ) D. Gr. Kampuroglus, Mvrjpeta tt j; 'laropfac Ttöv ’Alb)va<<ov. Athen
1891, s. 394—5-
4 ( ) R.Traquair, The churches of Western Mani. Im Annual of the British School
at Athens. Nr. XV: Session 1908—1909, Tafeln XVII (Vgl. S. 193, 213).
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
328
N tstoc A. B ttjt,
des 19. Jahrhunderts graviertes Relief mit einer Darstellung des doppel-
köpfigen Adlers, dessen Darstellung ich bereits publiziert habe 47 ).
23. In der Kirche des thessalischen Dorfes Botßovxa (lt. mittel*
alterlicher Urkunde) bei der Stadt Kalabaka (im Mittelalter 2 xorpl) sieht
man über dem Haupteingang das Relief eines zweiköpfigen Adlers. Ich
nehme an, daß dieses aus dem Beginn des 19. Jahrhunderts stammt.
24. Auch in der Prodromoskirche von Lagada auf der Insel Zanthe
ist in der Mitte eines Bogens ein zweiköpfiger Adler mit einer Inschrift
graviert, die das Datum 1818 trägt 4 8 ).
25. Auf einem silbernen Reliquienkasten des Klosters Tatarna zu
Eurytanien ist ein Basrelief, welches einen zweiköpfigen Adler mit dem
Datum 1824 zeigt 49 ).
26. In Halmyros zu Thessalien ist auf einer Platte, die in der Fassade
der Meierei des sogenannten Eevia Klosters eingebaut ist, ein zweiköpfiger
Adler eingraviert 5 °).
Zum Schlüsse sei gesagt, daß ich die Darstellung des zweiköpfigen
Adlers außer in den Siegeln verschiedener kirchlicher Personen und Laien
auch als Ornamente der Handschriften und Deckel der Bücher aus der
Türkenherrschaft gefunden habe. So sind z. B. in der Handschrift Nr. 81
des Klosters Mega Spiläon (17. Jahrhundert) im Anfänge der verschiedenen
Titel viele große Buchstaben, die einen zweiköpfigen Adler bilden oder mit
einer solchen Darstellung geschmückt sind. (F. 30 b , 72 b , 74 b , der Buch¬
stabe O, F. 77 b ein 0 , F. 78 b ein A, F. 82 a ein T). — Auch in meinem
noch im Druck befindlichen Verzeichnisse der Handschriften aus den Me-
teorenklöstern habe ich viele Hss. notiert, die, besonders auf dem Deckel,
mit Ornamenten zweiköpfiger Adler versehen sind.
Zu dem Verzeichnisse der verschiedenen Denkmäler mit der Darstel¬
lung des einköpfigen Adlers in dem Artikel des Herrn Prof. Sp. P. Lambros
möchte ich hier noch ein sehr interessantes Denkmal erwähnen, das aus
W.-Syrien stammt und mit einer Inschrift aus dem 1. Jahrhundert n. Chr.
versehen ist. Dieses Denkmal ist von dem Herausgeber Viktor Chapot 5 1 )
wie folgt beschrieben: »Aigle auostö de deux bras humaines; les bras sont
levds, les mains ouvertes, les doigtes öcartes, la paume en avant. On ne
47) Nfxou A. B^r J( 1'jvTOYp.a irrj’pacpixtüv pvrjptiiuv Mrreu)f»u>v xal rr fi irtpi; yiupac.
In »BuCavrlc« Bd. I (1909) S. 598, Nr. 67.
4*) Daniel Quinn, T«üv TtXeoxa (u>v ahuvutv i-'.fpacpal Zax'jvftiaxa l. Im Appovla
(Zeitschrift von Athen.) Bd. III (1902) S. 574, Nr. 54.
49 ) N. Giannopulos, 'Iuxopta xal Iff patpa ttjc povfj; Eevid;. Im AtXxlov ttjc
I stoptXT)? xal ’EftvoXoytxijc 'Exaipcia; tt ( « 'EXXaSo?. Bd. IV (1892—95) S. 657.
5 °) Bulletin le Correspondence Helllnique. Bd. XXVI (1902) S. 175.
5 ‘) Mitteilung des Richters Dr. S. Pulitzas.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Zum Thema der Darstellung des zweiköpfigen Adlers bei den Byzantinern. 329
voit pas clairement, s’ils sont attachls aux corps des oiseaux ou inddpen-
dants.« (Siehe das Bild des Denkmals von V. Chapot publiziert.)
Nachträglich möchte ich auf einige literarische Quellen, welche obschon
sehr wichtig für das'fragliche Thema, von dem Prof. Lambros ganz unein¬
gesehen geblieben sind, aufmerksam machen: In einem nämlich aus dem
Jahre 1142 stammenden Verzeichnisse, das verschiedene Güter und Geräte
eines nicht mehr existierenden Klosters auf dem Berge Athos, des soge¬
nannten SoXoupYoo, liest man *izepa ßXaxtfa 5 3 ) e^ovxa aexobc SntXoo?« 53 ).
Die Rede ist hier auf einem Stoff, der auf sich Adler als Zierde, vielleicht
gestickt, trug. Ob unter dem Ausdruck SnrXobc aerobe zweiköpfige oder
einköpfige Adler zu verstehen sind, kann man nicht mit Sicherheit sagen.
Meines Erachtens aber ist eher anzunehmen, daß auch diese literarische
Quelle auf die Darstellung des zweiköpfigen Adlers sich bezieht. Zu dieser
Erklärung führt mich die Bemerkung, daß bis heutzutage in der Um¬
gangssprache an vielen Orten Griechenlands SiirXb? dtxb^ = zweiköpfiger
Adler bedeutet. Diesen Volksausdruck habe ich selbst vielmals in den
Meteoren klöstern und dem übrigen Thessalien gehört. Eis ist noch zu
erwähnen, daß es auch ein neugriechisches Volkslied gibt, welches beson¬
ders zum Tanze gesungen wird, dessen Anfang lautet:
AixXbc dtxbc xaöoxave....
wo man statt StirXbc dito?, die Versionen Evac aixbc, ßaaiXatxbc
[= ßaaiXixbc dixbc] nach den verschiedenen Orten, hören kann.
Und eine andere noch wichtigere literarische Quelle, wo sogar die Rede
ausdrücklich vom zweiköpfigen Adler ist, hat Prof. Spyridon Lambros
ganz übersehen: nämlich eine von Stavraki Aristarchi veröffentlichte
alte griechische Übersetzung der XI. Novelle von Justinianus über die
Privilegien des Erzbistums von Achrida, welche Übersetzung voll von
willkürlichen Einschaltungen und Fälschungen ist. Nun liest man in
dieser Übersetzung und 3ogar in dem gefälschten Teile derselben folgendes:
»’Eitl xouxotc 8X iraatv opi'Copsv, Sioovx«; aoi aoetav j(p^<jflat a^pa-pot, 2 v xiva
xpoitov xd vöv xcepqpaipexai' <joi* StjXov oxt oxoooov xe^tuptapivov Iv S7txd pipeatv,
■i)XOi xi bf piacu (jxouoov ^puobv, xai dv auxtp eytuv xbv SixdcpaXov peXava
5 2 ) Über das Wort s. Du Cange, Glossarium ad scriptores mediae et infimae
Graecitatis. — Vgl. die Bemerkungen von Du Cange zur Alexias (Ausgabe von
Paria S. 275, von Venedig S. 45) und Joan Jac. Reiskii zum Buch De Ceremoniis
in Migne Patrologia Graeca, Bd. CXII, S. 148, 870.
53 ) Acta, praesertim Graeca, Rossici in monte Athos monasterii — AKTbl
PYCCKATO HA CBHTOMT) AöOH'B MOHACTbIPfl CB. BEJIHKOMyMEIIKA H
IVBJIHTEJIH IIAHTEtTEHMOHA. Kiev 1873, S. 52.
J 4 ) Nach diesen Belegen ist die Darstellung des zweiköpfigen Adlers nicht absolut
fremd in dem Schatz der neugriechischen Volkspoesie, wie Prof. Spyridon P. Lambros
(N<oc t EXXr)vo|iv^|iLü)v Bd. VI, 1909, S. 465—6) behauptet.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
33 ° Ntxoc A. Bcrj;, Zum Thema der Darstellung des zweiköpfigen Adlers usw.
dexov, 37)patvovxa xo ßastXtxdv IpßXr^pa, oxetpaveupivov xat; ooal xsoaXat;
aoxoo pexa rcoptpopou ßaatXtxoö otaor^paxo; • xd oi ivtuxepa 8uo pip7], iv t«ö
S e$uu, OTrsp jrjpatvet xb xpaxo; xvj; aptpoxspa; Aaxta;, ipobpXv xai iv aoxtp
icup*]fov' Iv xtp dptaxsptjj iteStov xudvetov, xai iv aoxtp ypooi; StitXöc' axaopd;
aTjpaivtov ttjv 8eoxipav riavowiav, xai aoöt; iv xtp 02$«p aepei TteStov xodveiov,
xat iv aoxtp ßdpet; xpet; ixaxiptoöev Xeoxd?, f ( os peaaia ypodr,, jrjpatvouua;
xtjv dvtoxsptn ’AXßavtav xai sxt iv xtu aptcrreptp, reSt'ov ipoöpov, xat iv aoxtp
3yr ( pa afyo;, tnfjpatvov xijv Maxsoovtav • xai itaXtv iv xtp ds£tu> pipst, 7:e8iov
XsoxXv eyov Xsovxa, OTjpatvovxa xr ( v * Hiretpov • ev xe x«p dptaxepa», irsStov irpdatvov,
xai iv aoxtp yetpe; 860 ßaaxaCooaat ypoaoov crcippa pexa pap^apixapttov
iirxa, arjpatvooaai xtjv 0 exxaXi'av. ’E/itl iravxtov oe axaopov xptpopcpov, iv psv
xtp 8e;t«> pipet poptpata, cnjpatvooja xo xpdxo; xai iraaav xoaptxijv roXtxixrjv
i$ooatdv • iy 8e xtp dptaxsptp r t 7rotpavxoptxi) pdßSo; arjpatvooaa xr ( v ixxXifjata-
dxtXTjv i£oo<Jtav* 6 8e axaopd; TrepixaXüirxsxat psxd xpavxoptxoo otaor ( paxo;, xai
iir aoxtp 7 i£xa<J 3 o; xdxxtvo; auv xpoaatooxot; ypoarot;, tpirep imxaXoTrcexai 300 r 4
xecpaXr 4 , irepyopsvo; TtappT]<Jiaaxixti>; iv rg ixxXTjaia 55 ).« Nach dem Herausgeber
Stavraki Aristarchis 5 6 ) ist diese alte Übersetzung der XI. Novelle von
Justinianus ein Werk des XIII. Jahrhunderts, meines Erachtens aber des
XIV.—XV.; in jedem Falle gehört diese Übersetzung einer Zeit vor der
Eroberung Konstantinopels durch die Türken an. Man darf sie daher
unter den seltenen byzantinisch'literarischen Quellen, die sich auf die
Darstellung des zweiköpfigen Adlers beziehen, rechnen.
— - ‘ »
55 ) H 3 BBCTIH PyCCKAFO APXEOJIOPHHECKATO IIHCTHTJfTA B'l»
KOHCTAHTIIHOIlOJrt» Bd. VI (1900—1901). Heft 2—3, S. 237—252.
5 S ) Ebenda S. 250.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Der Codex Bruchsal 1 auf seine Herkunft untersucht.
Von Benefiziat Dr. Sichert, Kuppenheim (Baden).
Das Evangeliar, das unter diesem Namen auf der Hof- und Landes¬
bibliothek zu Karlsruhe auf bewahrt wird, hat seit drei Jahrzehnten das
lebhafteste Interesse der Kunsthistoriker wachgehalten, ohne daß es aber
bis jetzt gelungen wäre, die Prachthandschrift näher zu bestimmen. Springer
und Lübke, Woltmann-Wörmann und Janitschek nehmen sie zusammen
mit dem Psalter des Landgrafen Hermann als Repräsentanten jener ganzen
Periode *). Haseloff hat sie in seiner Arbeit über die thüringisch-
sächsische Malerschule des 13. Jahrhunderts fleißig beigezogen*) und vor
wenigen Jahren wurde in einer Dissertation 3 ) die Handschrift stilkritisch
untersucht, aber ein sicheres Resultat war auch dabei nicht herausgekommen.
Nun ist es mir gelungen, gelegentlich einer Arbeit über die alte Liturgie
im Speyrer Dom auch einen Anhaltspunkt zur sicheren Bestimmung des
Codex Bruchsalensis zu gewinnen und damit die alte Streitfrage wohl ent-
gültig zu lösen.
Schon vor jahren, als ich noch an der Stiftskirche in Bruchsal amtierte,
habe ich die Handschrift überprüft, die durch ihren Namen mein Interesse
geweckt hatte. Ich hielt sie für ein Erbstück aus dem alten Ritterstift Odm-
heim, das im Jahre 1507 in die Bruchsaler Stiftskirche transferiert worden
war und bei der Säkularisation seine Bestände nach Karlsruhe abgegeben
hatte 4). Sichere Beweispunkte für diese Annahme konnte ich aber nicht
finden. Doch war eine Zurechnung des Evangeliars zur alten fürstbischöflich -
speyerischen Bibliothek, die ehedem auch in Bruchsal sich befand, ganz
ausgeschlossen, da es unbedingt das ex libris des Fürstbischofs August
von Limburg-Styrum hätte aufwe.sen müssen, das heute noch sämtliche
•) Springer, Handbuch, 7. Aufl. Leipzig ( i904, Bd. 2, 222. Lübke, Gesch. d. deutschen
Kunst, Stuttgart 1890, S. 295. Woltmann-Woermann, Gesch. der Malerei, Leipzig 1879,
Bd. 1, 275. Janitschek, Gesch. der deutschen Malerei, Berlin 1890, 136.
*) Studien zur deutschen Kunstgeschichte, Heft 9, Straßburg 1897.
3 ) E. Cohn, Über den Codex Bruchsal 1 der Karlsr. Hof- und Landesbibi, und
eine ihm verwandte Handschrift. Karlsruhe 1907.
♦) Vgl. Remling, Gesch. der Bischöfe v. Speyer, Bd. 2, Mainz 1854, 225.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
332
Sichert,
aus der bischöflichen Bibliothek stammenden Werke zeigen 5 ). Als ich nun
im verflossenen Jahre das registrum camerariorum des Speyrer Domes
(15. Jahrhundert) 6 ) für die Drucklegung bearbeitete, ergab sich zugleich
auch eine Spur zur sicheren Bestimmung des Codex Bruchsalensis, die in
ihrem Verfolg zu einem sicheren Resultate führte. Das registrum enthält
nämlich für die Prozession, die an den Hochfesten wie Weihnachten, Ostern,
Pfingsten, Mariä Himmelfahrt und Kirchweih im Kreuzgang des Domes
abgehalten wurde, die regelmäßige Anweisung: »der Episteler soll das silbern
buch dragen, das vbergult ist.« Diese Angabe weckte in mir lebhaft die
Vorstellung des Codex Bruchsalensis, dessen Deckel mit Silber belegt und
vergoldet ist, und ich vermutete, er könnte identisch sein mit dem im
registrum genannten Buche. Ein Dominventar aus dem 18. Jahrhundert
bestätigte wenigstens teilweise die Richtigkeit dieser Vermutung. In seiner
Sitzung vom 20. Jänner 1781 hatte das Domkapitel zu Speyer den Auftrag
zur Fertigung eines Dominventars gegeben und nach Jahresfrist, am 17. Jänner
1782, vorgelegt erhalten 7 ). In diesem Inventar ist unter den beim Gottes¬
dienst nicht mehr gebrauchten, aber ihrer Kostbarkeit halber zum Dom-
schatz gerechneten Beständen unter Nr. 23 verzeichnet: »Ein altes, auf
Pergament geschriebenes Evangelienbuch mit beigefügten mysteriis evangelii
in Figuren, dessen vorderes Blatt in der Mitte Christum den Herrn von Silber
und vergoldet, oben in einem viereckigen Blatt agnum dei, unten aber in
gleicher Figur einen Geistlichen cum inscription: Conradus custos vor-
gestellet, so rings herum mit farbigen Steinen besetzt ist.« Diese Angaben
treffen nun so genau beim Codex Bruchsalensis zu, daß kein Zweifel bleibt,
das im Dominventar beschriebene Evangelienbuch ist identisch mit dem
Codex Bruchsalensis, der also ehedem zum Speyrer
Dom gehörte.
Die aus dieser Feststellung folgende Frage: Wie kam das Evangeliar
nach Karlsruhe und zu seinem Namen, war aus der Geschichte des Speyrer
Domkapitels leicht zu beantworten. Im November 1793 hatte das Kapitel
mit dem gesamten Domschatz vor den andringenden Franzosen sich über
den Rhein geflüchtet und in der bischöflichen Residenz Bruchsal sich nieder¬
gelassen 8 ). Im v. Rollingenschen Hause, das vor dem Schloßbau 9 ) schon
J) Die Bibliotheken zu Karlsruhe, Heidelberg und Freiburg teilten sich in die Be¬
stände.
6 ) Manuskriptband des Generallandesarchivs Karlsruhe. Die Drucklegung hat
giitigst für den Historischen Verein der Pfalz Herr Kreisarchivar Dr. Oberseider zugesagt.
7 ) Protocolla Capituli Spirensis der Jahre 1781 und 1782, Generallandesarchiv
Karlsruhe.
8 ) Rcmling S. 786.
«) Über das Bruchsaler Schloß vgl. jetzt die von Oberbauinspektor Dr. Hirsch
im Auftrag der Großh. Regierung herausgegebene Monographie, Karlsruhe 1910.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Der Codex Bruchsal i auf seine Herkunft untersucht.
333
den Fürstbischöfen Wohnung geboten hatte, hielt das Kapitel seine Sitzungen
und verwahrte hier auch seine Pretiosen bis zur Säkularisation. Als diese
hereinbrach, beschlagnahmten die Kommissäre des Kurfürsten Karl Friedrich
die Wertschaften des Kapitels zugunsten der badischen Regierung. Von
dieser wurde dann unser Evangeliar mit noch anderen liturgischen Büchern 10 )
der Hof- und Landesbibliothek überwiesen und hier seiner nächsten Herkunft
nach Codex Bruchsalensis genannt.
Man könnte nun noch zu allem hin die Frage stellen, ob das Evangeliar
auch alter Besitz des Speyrer Domes war und wirklich identisch ist mit dem
im registrum camerariorum genannten. Die Frage muß bei Berücksichtigung
der geschichtlichen Verhältnisse unbedingt bejaht werden. Ein späterer
Ankauf aus literarischem oder antiquarischem Interesse ist bei der schwierigen
Lage des Speyrer Kapitels seit Ausbruch der Reformation völlig ausge¬
schlossen. Im ganzen 16. und 17. Jahrhundert hatten Bistum und Kapitel
zu Speyer so schwer unter den andauernden Kriegswirren zu leiden, daß
geradezu ihr Bestand in Frage gestellt war. Als mit Beginn des 18. Jahr¬
hunderts am Rhein ruhigere Zeiten anbrachen, da lag der Kaiserdom in
Trümmern und sein Kapitel war zerstreut. Die dringenden Forderungen
für die Existenznotwendigkeiten verboten dem Kapitel jegliche freihändige
Ausgabe. Es ist auch in den Kapitelsprotokollen dieser Jahrzehnte kein
Anzeichen irgendwelcher literarischer Interessen im Domkapitel zu finden.
Der Codex Bruchsalensis muß demnach als Erbstück aus der mittelalter¬
lichen Blütezeit des Domes und als identisch sowohl mit dem im registrum
camerariorum des 15. Jahrhunderts wie im Dominventar des 18. Jahr¬
hunderts genannten Evangeliar betrachtet werden.
Mit dieser Feststellung dürfte auch die richtige Erklärung gegeben
sein für die Figur, die auf der unteren Randleiste des Deckels angebracht
ist und die Aufschrift Cvnrad Cstos trägt, was wohl sicher als Conrad Kustos
zu lesen ist. Man hat bisher immer angenommen, es sei die Figur eines
Mönches. Aber diese Erklärung verbietet sich schon durch die Beischrift,
«
denn das Kloster kennt diese Würde des Kustos nicht, sie ist nur heimisch
in den Dom- und Stiftskapiteln. Die Figur kann nur die eines Kanonikers
in Chorkappe sein, der in seinem Kapitel die Dignität des Kustos bekleidete.
Nun hatte der Speyrer Dom in der Reihe seiner Kustoden nur einen Conrad,
nämlich Conrad von Frauenberg, der von 1399—1401 zugleich Generalvikar
des Bischofs Rhaban v. Helmstadt war und 1425 gestorben ist, wie das
Necrologium novum des Domes meldet: A. Dom. 1425 die Omnium Sanctorum
obiit honorabilis dominus Cunradus de Frawenberg, custos et canonicus
,0 ) Hierzu gehört auch ein Evangeliar mit Elfcnbeinrelief, das ich nach Reichenau
verweise.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
334
Sieben,
huius ecclesiae« 11 ). Sonach wäre die Figur auf der Randleiste des Deckels
das Bild des Conrad v. Frauenberg, der wohl als Donator des reichen Deckel¬
schmuckes oder gar der ganzen Handschrift anzusehen ist, wie er ja auch
andere reiche Vermächtnisse dem Dome zugewendet hat.
Nachdem die Zugehörigkeit unseres Evangeliars zum Speyrer Dom
erwiesen ist, bleibt aber immer noch die Frage: wo ist der Künstler zu suchen,
der die Prachthandschrift geschrieben und ausgeschmückt hat? Die Hand¬
schrift selber trägt keinerlei Vermerk, der auf den Ursprungsort schließen
ließe. Speyer scheidet von vornherein aus, da es nie ein Kloster von irgend¬
welcher Bedeutung in seinen Mauern hatte. Die stilkritische Untersuchung
aber ist nur hinsichtlich der Entstehungszeit zu einem Resultat gelangt,
indem die Zeit um 1200 angenommen wird **). Für den Ort der Entstehung
verweist man an den Oberrhein. So bleibt nur mehr der eine Weg, aus dem
Inhalt der Handschrift den Ursprungsort. zu suchen. Ihr Inhalt aber ist
bis jetzt immer falsch bestimmt worden. Das Verschulden liegt an der
fehlerhaften Beschreibung der Handschrift durch Ehrensberger, der in dem
Katalog der liturgischen Handschriften der Karlsruher Bibliothek > 3 ) den
Inhalt unseres Evangeliars in drei Abschnitte gliedert und Hochfeste des
Herrn, Hochfeste der Heiligen und ein Commune Sanctorum unterscheidet.
Diese Inhaltsangabe trifft nicht zu, sondern der Inhalt ist geordnet nach
dem Verlauf des Kirchenjahres. Angefangen von der Vigil des Weihnachts¬
festes (24. Dezember) bis wiederum zum Feste des Apostels Thomas
(21. Dezember) folgen sich Evangelien für die Hochfeste, für einzelne Sonn¬
tage und für Heiligenfeste ohne bestimmte Einordnung nach dem Rang
des Festes. Nachgetragen ist Conversio sancti Pauli. Von den Heiligenfesten
sind, abgesehen von den Marientagen, folgende aufgenommen:
Stephanus, Johannes Ev., Innocentes, Benedictus, Philippus et
Jakobus, Johannes Bapt., Petrus et Paulus, Commemoratio Pauli,
Maria Magdalena, Jakobus Major, Vincula Petri, Ciriacus, Laurentius,
Bartholomaeus, Decollatio Johannis Bapt., Matthaeus, Michael Archang.,
Gallus, Lucas, undecim milia virgines, Symon et Juda, Omnium Sanc¬
torum, Martinus ep., Andreas, Nicholaus, Thomas, Conversio Pauli.
") Die Notiz bei Rcmling ii, Anm. ist unvollständig und ungenau. Der Eintrag
im Necrologium novum über Conrad lautet vielmehr vollständig: obiit C. de Fr.
in cuius anniversario dantur 6 tt. cum dimidia hin usual. de anno gratiae suae, medietas
ad vigil. et reliqua pars in missa animarum. Item legavit 2 ü hin ad commemorationem
patrum, pro se et sorore sua Margaretha de Frawenberg, religiosa, pro quibus dedit viginti
quatuor florenos anno (14)24. Necrol. novum, tom. II, 247. Generallandesarchiv Karlsruhe.
") Woltmann-VVoermann S. 275 um 1170, Goldschmidt in seinen Beiträgen zur
Gesch. der sächsischen Plastik um 1200 (Jahrbuch der Kgl. Preuß. Kunstsamml. Bd. 12, 236.
Berlin 1900).
* 3 ) Bibliotheca liturgica manuscripta, Karlsruhe 1889, 42.
Digitized by
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Der Codex Bruchsal i auf seine Herkunft untersucht.
335
In dieser Heiligenreihe sind nur auffällig die undecim milia virgines mit
Ciriacus und wiederum Benedictus und Gallus, alle anderen Namen gehören
Heiligen, deren Feste als gebotene Feiertage galten oder deren Verehrung
im mittelalterlichen Deutschland allgemein war. Die Aufnahme der 11000
Jungfrauen und St. Ciriaks läßt sich auch ohne Betonung lokalen Charakters
leicht erklären, wenn man die Entstehungszeit der Handschrift berück¬
sichtigt. Um 1200 war die Verehrung der Kölner Jungfrauen und ihres
Papstbegleiters geradezu modern, denn die Grabungen auf dem Kölner
Ager Ursulanus seit 1155 und die Erhebung der Gebeine hatten um die Wende
zum 13. Jahrhundert den Kölner Lokalheiligen eine so große Popularität
verschafft * 4 ), daß ihre Aufnahme in einen Heilige'nkatalog von nur hoch¬
verehrten Namen kein Befremden erregt. Anders liegt die Sache mit
St. Benedictus und Gallus. Wenn auch St. Benedikt in Brevier und Missale
der ganzen abendländischen Kirche gefeiert wurde, so gehörte er doch außer¬
halb der monastischen Kreise nicht zu den Heiligen von Rang, und noch
weniger St. Gallus, dessen Feier durchaus nur lokalen Charakter hatte.
Wenn nun beide Namen in unserem Evangeliar zusammengestellt sind mit
Heiligen von hervorragender Bedeutung, so ist das ein Fingerzeig, daß der
Heiligenkatalog unseres Evangeliars in einem Kloster gefertigt wurde,
dem St. Benedikt und St. Gallus zugleich Heilige ersten Ranges waren und
das kann nur zutreffen beim Kloster St. Gallen. Damit wäre das Resultat
der Untersuchung unseres Evangeliars durch die Kunsthistoriker, die es
dem Oberrhein zuweisen, bestätigt und genauer präzisiert und der Codex
Bruchsalensis als Produkt der Nachblüte der
St. Galler Buchmalerei anzusprechen *4).
»
Nachdem oben der bisher fälschlich weitertradierte Inhalt der Hand¬
schrift berichtigt worden ist, möge hier auch noch eine Richtigstellung der
Ausstattung folgen, da der letzte Bearbeiter der Handschrift sich die gröbsten
Irrtümer und Unterlassungen zuschulden kommen ließ ’ 6 ). Vor allem
hat er die geschnittenen Steine des Deckelschmuckes völlig übersehen,
die ihrer Arbeit nach sicher aus klassischer Zeit stammen. Eine der Gemmen
hat nach meiner Auffassung als Schnitt einen thronenden Juppiter, eine
zweite den geflügelten Merkur und die dritte zeigt einen Opferdreifuß, darüber
Vogel mit Zweig im Schnabel und seitwärts einen Köcher und Bogen. Die
Gemmen wie die anderen Ziersteine können aus dem Speyrer Domschatz
stammen, von dem ein Inventar aus den Jahren 1051—1056 * 7 ) meldet (
• 4 ) Boiland. Octob. IX, 240—251.
’S) Vgl. zu dieser Nachblüte: Weidmann, Gesch. der Bibliothek St.Gallen, 1841 S.32 ff.
’ 6 ) E. Cohn, S. 12 ff.
’ 7 ) Aus der Zeit des Bischofs Arnolphus, in Anonymi series abbatum monasterii
Weissenburgensis, herausgeg. von Schannat, Vindemiae Liter., collectio prima, Lipsiae
» 723 , P- 9 -
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
336
Siebert, Der Codex Bruchsal i auf seine Herkunft untersucht.
daß er »gemmae aliquot et fragmina aurea et argentea« besessen habe. Da
der Deckel der Handschrift nach meinem Dafürhalten einer späteren Zeit
angehört als die Handschrift, so mögen bei seiner Anfertigung, vielleicht
in Speyer, die Steine des Domschatzes vom Kustoden beigesteuert worden sein.
Bei der Erklärung des Bilderschmuckes vermißt man die Kenntnis
der mittelalterlichen Symbolik. So erklärt Cohn das Bild der Porta clausa
zum Feste Mariae Verkündigung als Allegorie auf die unbefleckte Empfängnis,
eine Erklärung, die an sich schon und in Berücksichtigung der mittelalter¬
lichen Theologie absolut ausgeschlossen ist. Die Vision des Propheten Ezechiel
Kap. 44, 2 von der Porta clausa geht auf die jungfräuliche Geburt des
Heilandes! Beim Abendmahlsbild wird erklärt, dem Judas fahre ein
schwarzes Teuf eichen aus dem Mund, während bei genauerem Zusehen
leicht ersichtlich ist, daß die Fahrtrichtung des Teufelchens gerade um¬
gekehrt ist, der Teufel fährt in den Judas als Illustration zu Johannes 13, 27:
da fuhr der Satan in ihn. Beim Pfingstwunder nennt Cohn den Apostel
Paulus schon anwesend und verdrängt damit Jakobus Major von seinem
Platze. In der Initialzierde zum Allerheiligenfeste findet er gar eine Dar¬
stellung der Bergpredigt, läßt Christus auf einem Hügel sitzen und scheidet
zur Rechten die Laien, zur Linken aber die Kleriker (sic!). Dabei ist es eine
Darstellung des Heilandes als rex Sanctorum! Der Herr thront auf Wolken,
zu seiner Rechten stehen die Apostel, zur Linken aber Papst, Kaiser und
Bischof.
Auch die Initialzierde zum Feste des Apostels Andreas ist falsch erklärt,
wenn sie Cohn als Bild des reichen Fischzuges auffaßt. Beim reichen Fisch¬
fang Petri saß der Herr im Schifflein, das Bild unseres Evangeliars zeigt
ihn aber am Ufer stehend. Es ist demnach die Illustration der Berufung
des Simon und des Andreas zum Apostolate mit dem Herrenworte: venite
post me, faciam vos piscatores hominum. Matth. 4, 18.
St. Nikolaus trägt auch keine weiße Stola mit Kreuzen, noch hat er ein
rotes Cingulum. Dagegen trägt er ein Pallium und eine rote Stola!
Die Initialzierdc zum Michaelsfeste wußte Cohn sich nicht zu erklären.
Und doch ist es eine sehr schöne Darstellung des aus der Liturgie der Toten¬
messe bekannten signifer sanctus Michael, der den Menschen vor dem Satan
rettet, der jenen am Fuße zu erhaschen sucht.
Andere kleinere Ausstellungen, die sich noch machen ließen, seien hier
übergangen. Immerhin legt die bisherige nicht entsprechende Behandlung
des für die Kunstgeschichte, speziell Buchmalerei, so wertvollen Codex
Bruchsalensis den Wunsch nahe, er möge einmal in einer den heutigen
wissenschaftlichen Forderungen genügenden Edition neu bearbeitet werden.
Vielleicht entschließt sich auch die Großherzogliche Regierung für eine
solche Arbeit die nötigen Mittel zur Verfügung zu stellen.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Buffalmacco- und Xraini-Fragen.
Von J. Kurzwelly.
Einige Randbemerkungen
zu P M e o Baccis Buffalmacco-Publikation.
In seinem im Januarheft des römischen »Bollettino d'Arte« von 1911
veröffentlichten Berichte über die von ihm selbst angeregte und mit so
glänzendem Erfolge durchgeführte Wiederaufdeckung der Freskenreste der
einstigen Familienkapelle der Giochi und Bastari in der Badia-Kirche zu
Florenz sowie über die als jedenfalls urkundensicher begründet anzusehende
Zuweisung dieser Fresken an Buffalmacco in Vasaris zweiter Viten-Ausgabe
von 1568 hat Pfcleo Bacci unter anderen dankenswerten Feststellungen zur
Biographie Buffalmaccos auch den nunmehr endlich zur Wiederbeglaubigung
der Vasarischen Buffalmacco-Lebensdaten zurückführenden Nachweis dafür
erbracht, daß die seit Baldinucci und Gualandi in deren noch dazu unexakter
Lesart von allen neueren Autoren für authentisch hingenommene Eintragung
Buffalmaccos in das erste Mitgliederverzeichnis der Florentiner St. Lukaisgilde
in der Tat als eine Fälschung des 16. Jahrhunderts zu betrachten ist.
Dieses in Gualandis »Memorie inedite* (VI 176 ff) abgedruckte,
alphabetisch angeordnete Künstlernamen Verzeichnis, das der jetzt im Floren¬
tiner Staatsarchiv auf bewahrten Pergamenthandschrift der »Capitolit et ordi-
namenti 1 ) für die unter Loslösung der Florentiner Künstlerschaft von der
x ) Zuerst publiziert von Baldinucci (Notizie etc., Ausg. Ranalli I, 237 ff.), der —
im Gegensätze zur neueren, auf 1339 lautenden Deutung Gayes (Carteggio, Bd. II, S. 32 ff.) —
die schon zu seiner Zeit durch einen Ätzfleck halb zerstörte Zeitangabe zur Abfassung
des ältesten Teiles der fCapitoli et ordinamenti« der Compagnia di San Luca — «et fu
trovata et cominciata nelli anni Domini. XXXVIIII a dl XVII d’ottobre« — auf
1349 deutete, und zwar vermutlich mit Recht, da ja die Jahresangabe zu den ältesten
Künstlernamen-Eintragungen des angehängten alphabetischen Mitgliederverzeichnisses
ursprünglich durchgängig MCCCL lautete und erst von verschiedenen späteren Händen
bei einzelnen Künstlernamen auf frühere Jahreszahlen herabgemindert oder auf spätere
aufgehöht wurde (in der Regel wohl auf das Todesjahr des betreffenden Künstlers, worauf
namentlich das den betreffenden Künstlernamen vorangesetzte f schließen läßt). Außer¬
dem enthält die Pergamenthandschrift des Florentiner Staatsarchivs noch mehrere zwischen
letzteres Mitgliederverzeichnis und jene ältesten «Capitoli et ordinamenti« von 1349 ein¬
geschobene spätere Ordinamenti-Nachträgc (datiert 1386 und 1404).
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
338
J. Kurzwelly,
alten Compagnia dei mcdici c speziali wohl 1349 gegründete Compagnia di
San Luca angehängt ist,-enthielt nämlich auf Zeile 13 der Rubrik B laut
Feststellung P. Baccis ursprünglich die deutlich den Schriftcharakter des
14. Jahrhunderts aufweisende Eintragung
Bonanno Cristofani. MCCCL,
die dann erst durch Korrekturen und Zusätze im Schriftstile des 16. Jahr¬
hunderts abgeändert wurde in
Bonamjco Cristofani do Buffalmacco ... MCCCXLI. *)
Diese absolut willkürliche Eintragsänderung würde also augenschein¬
lich auf einen Buffalmacco-Forscher des 16. Jahrhunderts zurückzuführen
sein, der — in der Annahme, daß der in den Novellenbüchern Boccaccios
und Sacchettis so häufig erwähnte und von letzterem wie auch von Lorenzo
Ghiberti (im zweiten seiner »Commentarj«) so hoch gerühmte, im iö. Jahr¬
hundert noch durch mancherlei mehr oder minder wohlerhaltene Malwerkc
so sicher beglaubigte Florentiner Meister doch jedenfalls als Mitglied der
Florentiner Malergilde nachweisbar sein müsse — anstatt in der Matrikel
der alten Compagnia dei medici e speziali irrigerweise in derjenigen der erst
beinahe ein Jahrzehnt nach Buffalmaccos Tode gegründeten Compagnia
di San Luca nachsuchte 3 ) und den dort registrierten Namen »Bonanno
Cristofani« als aus »Bonamico Cristofani« verschrieben auffaßte:
Bona fide mag der betreffende naive Cinquecento-Historiker daraufhin die
oben angegebene Eintragsänderung vorgenommen und unter Voransetzung
eines f vor den Künstlernamen das ihm offenbai aus einer anderen urkund¬
lichen oder doch urkundensicheren Quelle bekannt gewordene, um ein De¬
zennium früher lautende Todesjahr Buffalmaccos in das für jenen Bonanno
J ) Nicht MCCCLI, wie in P. Baccis Aufsatz (p. 20) entgegen den nachfolgenden
ausführlichen Auseinandersetzungen eben dieses Autors versehentlich wiederum gedruckt
steht. Augenscheinlich wurde das dritte C bei jener Eintragsänderung nicht etwa zu einem X
umgeschrieben (was ja die unmögliche Jahreszahl 1241 ergeben würde), sondern aus Platz¬
mangel mit dem einzuschiebenden X überschrieben. Ob das dem Schluß-L der alten
Jahrcsangabc angehängte I als gleichfalls etwa vom Eintragsfälscher urkundlich fest¬
gestellt und damit als Korrektur des von Vasari angegebenen Buffalmacco-Todesjahres
(1340) angesehen werden darf, muß vorläufig dahingestellt bleiben. Die Frage, ob die
Punkte hinter einigen der den Jahresangaben angehängten Monatsinitialen *g, f, m, a«
usw. vielleicht auf den Sterbemonat des betreffenden Künstlers zu deuten seien, mußte
auch P. Bacci unentschieden lassen; da bei der gefälschten Buffalmacco-Eintragung laut
P. Baccis Angabe sowohl das f wie das a mit einem Punkte versehen erscheint, dürfte
der eine der auf diese Weise markierten Monate febbrajo und aprile vielleicht als Auf¬
nahmemonat (von 1350) für Bonanno di Cristofano, der andere als Sterbemonat (von
1341 alias 1340) für Buffalmacco zu deuten sein.
3 ) Vermutlich unter irrtümlicher Verlesung der wohl damals schon in gleicher Weise
wie auch bereits zur Zeit Baldinuccis halb zerstörten Jahresangabe der Gildengründung
bzw. der Capitoli-Abfassung im Sinne Gayes (auf 1339 — vgl. Fußnote 1 dieses Aufsatzes).
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
BufTalmacco- und Traini-Fragen.
339
di Cristofani vorgemerkte Mitgliedsjahr MCCCL hineinzuschreiben versucht
haben. «) Da nun Vasari — der doch noch in seiner ersten Viten-Ausgabe
von 1550 für unseren Meister nur die von Boccaccio (»BufTalmacco«), Sac*
chetti (»Bonamico« — nur in Nov. 161 auch bereits »Bonamico che per
sopranome fu chiamato BufTalmacco«) und Ghiberti (»Bonamico«) über¬
lieferten Namen kannte — erst in seiner zweiten Viten-Ausgabe von 1568
dem Taufnamen BufTalmaccos (»Bonamico«) das offensichtlich aus jener
(wohl inzwischen erst abgeänderten) Registereintragung herübergenommene
Patronymicum »di Cristofano« anhängte, muß man wohl oder übel zu der
Vermutung gelangen, daß wohl gar Vasari selbst 5 ) oder allenfalls sein Mit¬
arbeiter an der zweiten Viten-Ausgabe, der Florentiner Lokalgeschichts¬
forscher Vincenzo Borghini, jene irrige Eintragsänderung im alten Mit¬
gliederverzeichnis der Florentiner St. Lukas - Gilde vorgenommen haben
könnte, durch die dann der unter dem Jahre 1350 ursprünglich dort registrierte
Künstler Bonanno di Cristofano auf Jahrhunderte aus dem Gedächtnis der
Nachwelt eliminiert, der Meister Bonamico genannt BufTalmacco aber mit
dem von der Kunstgeschichtschreibung seither als urkundlich feststehend
hingenommenen falschen Patronymicum »di Cristofano« belastet wurde.
Dazu kommt noch, daß die bei jener Eintragsänderung allerdings undeutlich
genug aus MCCCL zurechtgestutzte Jahreszahl MCCCXLI nicht nur bereits
von Baldinucci (Notizie etc., Ausg. Ranalli I, 178), sondern auch noch von
Gualandi (Memorie VI, 178) versehentlich als MCCCLI gelesen wurde,
woraufhin dann Milanesi (in seiner Vasari-Ausgabe I, 519 n. 3) und nach ihm
sämtliche neueren Autoren die offenbar auf urkundensicherer Überlieferung
basierende Zeitangabe Vasaris für BufTalmaccos Tod als irrig betrachten
und — da auch das bei jener Eintragsänderung dem Künstlernamen aus¬
drücklich Vorgesetzte Todeskreuz von Gualandi ignoriert wurde — unseren
Meister als ein im Jahre 1351 noch am Leben befindliches Mitglied der
Florentiner St. Lukasgilde und demzufolge bisweilen geradezu als einen
erst dem Kreise der Florentiner Giotto - Nachfolger angehörenden
Künstler ansprechen konnten.
Daß Vasari seine detaillierten und völlig präzisen Angaben über
den Tod BufTalmaccos aus urkundensicheren Quellen schöpfte — und zwar,
wenn nicht gar aus datierten Buchungen der Florentiner Compagnia della
«) Daß auch andere Eintragsänderungen von seiten späterer Benutzer dieses Mit*
gliederverzeichnisses der Florentiner St. Lukas-Gilde auf Angabe des Todesjahres des
betreffenden Künstlers abzielten, konstatierte P. Bacci aus der mit dem nachweislichen
Todesjahre Taddeo Gaddis übereinstimmenden Aufhöhung der hinter dessen Namen ur¬
sprünglich vermerkten Jahreszahl MCCCL auf MCCCLXVI.
5) Vasaris eigene Handschrift glaubt Herr M. H. Bemath (laut persönlicher Mit¬
teilung) in den Schriftzügen der betreffenden Eintragsänderungen wiedererkannt zu haben.
Repertorium für Kunstwiseenschaft, XXXV. 23
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
340
J. Kurzwelly,
Misericordia oder des Hospitals von S. Maria Nuova, so doch vielleicht aus
einer damals auf dem Armenfriedhofe des letzteren Hospitals noch vorhande¬
nen Grabschrift Buffalmaccos —, ist mit ziemlicher Sicherheit zu schließen
aus dem Wortlaute seiner Schlußnotizen zur Vita des Buffalmacco: ».. . mori
d’anni settantotto 6 ), e fu dalla Compagnia della Misericordia — essendo
egli poverissimo.— sowenuto nel suo male in Santi Maria Nuova,
spedale di Firenze; e, poi morto, nell' Ossa [cosl chiamano un chiostro dello
spedale, ovvero cimitero] come gli altri poveri seppellito, l’anno 1340«: Also
»als völlig mittelloser 78 jähriger Greis schwer erkrankt, wurde Buffalmacco
auf Kosten der Florentiner Armenpflegschaft ins Hospital von S. Maria
Nuova gebracht und, nachdem er daselbst gestorben war, auf dem in einem
Hofraume dieses Hospitals gelegenen Armenfriedhofe beerdigt, und zwar
geschah dies alles im Jahre 1340«.
Die gleiche Jahreszahl 1340 scheint nun auch Ghiberti bereits als für
Buffalmaccos Tod feststehend gekannt zu haben. Allerdings müßte man,
soll der von »Commentarj-Verfasser mit den Worten »Fece moltissimi lauorii
a moltissimi signori per insino alla olimpia 408« ausgedrückte Schlußtermin
für Buffalmaccos Leben und Schaffen auf das Jahr 1340 deutbar sein, die
zunächst wohl recht gewagt erscheinende Hypothese zulassen, Ghiberti habe
seine naive »Olympiaden«- (recte Lustren-) Zeitrechnung »dalla edificazione
di Roma« [ 7 ) ] versehentlich ab 700 a. C. n. normiert, anstatt ab 753 a. C. n.
(408 x 5 = 2040—700 = 1340). Einen absolut deckenden Analogiefall zu
diesem Zeitrechnungsversehen Ghibertis bietet jedoch in der Tat die Schluß-
notiz zur Biographie seines großen Vorgängers an den Bronzetürarbeiten
für das Florentiner Dom-Baptisterium — »fu grandissimo statuario, fu
[morto] nella olimpia 410« —, deren Todesjahrangabe nach dem hier vor¬
geschlagenen Berechnungsmodus die Zahl 1350 ergibt (410 X 5 = 2050 —
700 = 1350): In der Tat ist Andrea Pisano — zum letzten Male urkundlich
erwähnt am 26. April 1348 als Capomaestro am Domfassadenbaue zu
Orvieto und schon am 22. Oktober 1349 in diesem Amte ersetzt durch seinen
Sohn Nino Pisano 8 ) — gegen Ende des letzten Lustrums vor 1350 ge¬
storben und in der Florentiner Domkirche S. Maria del Fiore zur Ruhe be¬
stattet worden 9 ). Die einzige diesen beiden Zeitangaben zum Tode des
6 ) In der ersten Viten-Ausgabe von 1550 liest man »sessantotto«; mit Milancsi
wird man das »settantotto« der zweiten Viten-Ausgabe von 1568 wohl mit Recht als Be¬
richtigung der früheren Lesart auffassen dürfen.
7 ) Mit diesen Worten gibt Ghiberti selbst in der Einleitung zum zweiten seiner
»Commentari« den Lustrenschlüssel zu seiner »Olympiaden«-Rechnung.
®) Vgl. L. Fumi, II Duomo di Orvieto (Roma 1891) S. 476.
9 ) Vgl. A. Venturi, Storia d. Arte Italiana vol. IV (1906), S. 468. — Nur den Tod
des Meisters konnte Ghiberti in der Schluß notiz zu seinen Angaben über Andrea
Pisano mit der Lustrenangabe »olimpia 408« datieren wollen. Vermutlich kannte er das
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Buffalmacco- und lraini-Fragen.
34*
Andrea Pisano und des Buffalmacco in Ghibertis Comment. II vorausgehende
Olympiadenangabe, nämlich diejenige am Schlüsse des ersten Kapitels,
wo das Wiedererwachen der italienischen Malkunst nach »600 jährigem«
Todesschlummer fixiert wird auf »olimpie 382« (»dalla edificazione di Roma«),
ergibt schließlich gleichfalls nur von besagter Berechnungsbasis aus eine
plausibel erscheinende Jahreszahl, und zwar — sollte der Kopist der Ghi-
bertischen Originalhandschrift die Schluß-2 in 382 etwa noch als Q aus O
verlesen haben — geradezu die runde Zahl 1200 (380 X 5 = 1900 —
700 = 1200), wonach also der naive Historiker Ghiberti die Zeit Gregors
des Großen (um 600) als Schlußtermin der römisch-altchristlichen Fresko -
und Mosaikkunst betrachtet haben, dagegen als Anfangstermin für das
Wiederaufblühen der griechisch-byzantinischen Kunstübung (»maniera
greca«) in Italien die Zeit Innocenz' III. und Franz' von Assisi angenommen
haben würde. — Die einzige außerdem noch im Commentario II vorkommende
» 01 ympiaden«-Zahl I0 ), nämlich diejenige für den »zur Zeit Papst Martins
jV. [«, also erst zu Ghibertis Lebzeiten erfolgten Tod jenes rätselhaften
Kölner Bildhauers »Cjusmin«, der um 1420—30 für den »Duca d'Angiö« eine
so hervorragende und vielseitige Tätigkeit entwickelt haben soll, ergibt sich
als aus 1432—1437 nach Lustren richtig ab 753 a. C. n. berechnet IX ). Ver-
Todesjahr dieses seinem engeren Interessenkreise besonders nahestehenden Meisters
aus dessen damals in S. Maria del Fiore wohl noch vorhandener Grabschrift, ebenso wie er —
gleich Vasari — das Todesjahr Buffalmaccos noch von dessen Grabstein bei S. Maria Nuova
abgelesen haben mag. Übrigens hat der Anonymus Magliabecchianus das Todesjahr des
Andrea Pisano aus Ghibertis falsch berechneter > 01 . 410« ab 753 a. C. n. ungefähr richtig
umgerechnet in >01. 420«.
10 ) Die wirklichen und zugleich auch richtig berechneten
Olympiadenangaben in Ghibertis Commentario I (zur Kunstgeschichte des griechisch-
römischen Altertums) sind — mitsamt ihren Transkriptionen in die römische Lustren-
zeitrechnung >ab urbe condita«— direkt aus Plinius' >Historia Naturalist herübergenommen;
vgl. K. Rathe, Der figurale Schmuck der alten Domfassade in Florenz (Wien 1910), p. 124.
X1 ) Vgl. K. Rathe, a. a. O., S. 126. — Die übrigen von K. Rathe einfach ab 753
a. C. n. aus Ghibertis >01 ympiaden«-Angaben errechneten Jahreszahlen erweisen sich
ab völlig unbrauchbar; die Olympiadenangabe zu Buffalmaccos Todesjahr wurde von
K. Rathe überhaupt ignoriert. Die Worte >nella olimpia quattrocento quaranta« im
Kap. 3 des dritten der >Commentarj« Ghibertis wurden wohl vom Kopisten des Ghiber-
tischen Originalmanuskriptes willkürlich abgeändert aus >Nelli anni [di Cristo Mille]
quattrocento quaranta« (also 1440). Die Zeitangabe >1400«, die F. Hermanin in seiner
Cavallini-Publikation (in der römischen Kunstzeitschrift >Le Gallerie Nazionali« 1902,
V. S. 81 f.) aus dieser vermeintlichen «Olympiaden«-Angabe für Ghibertis Romaufenthalt
auf ungemein kompliziertem Wege herausrechnen wollte (wobei ihm selbst außerdem noch
ein notorischer Rechenfehler mit unterlief, da sich nach seinem Berechnungsmodus aus
«olimpia 440« nicht 1400, sondern 1384 ergeben würde), wird von vornherein ad absurdum
geführt durch Ghibertis eigene Angabe, daß er «nelli anni di Cristo 1400« von Florenz nach
Pesaro gereist (Comment. II, Cap. XIX) und von dort zur Teilnahme am Wettbewerb
* 3 *
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
342
J. Kurzwelly,
mutlich hatte Ghiberti die richtige Berechnung gerade dieser auf den Tod
eines seiner eigenen Zeitgenossen bezüglichen Lustrenangabe einem be¬
freundeten Humanisten zu verdanken. Bei dieser Gelegenheit mag er sich
dann der Fehlerhaftigkeit seiner früheren »Olympiaden«-Berechnungen
wie auch seiner naiven Olympiaden- und Lustrenverwechslung mit einem
Male bewußt geworden sein, so daß er — ohne sich dabei der Notwendig¬
keit einer Richtigstellung jener früheren » 01 ympiaden«-Anlagen zu er¬
innern — diese unzeitgemäße und mißverständliche Zeitrechnungsspielerei
nunmehr gänzlich aufgab und in seiner an die Notizen über den »Kölner
Bildhauer« direkt sich anschließenden Selbstbiographie von Anfang an
— »Nella mia giouenile etä, nelli anni di Christo 1400, mi part ... da
Firenze« — für seine chronologischen Angaben die landläufige christliche
Zeitrechnung anwandte. An sich wird der kunstgeschichtliche Quellenwert
des zweiten der Ghibertischen »Commentarj« durch den Nachweis der Fehler¬
haftigkeit jener » 01 ympiaden«-Angaben keineswegs geschmälert; im Gegen¬
teil haben sich damit die hinter jenen bisher so rätselhaften »Olympiaden«-
Angaben versteckten Ghibertischen Datierungen des Todes Buffalmaccos
und Andrea Pisanos geradezu als urkundensicher begründet erwiesen. Daß
vollends den kunstkritischen Äußerungen Ghibertis wahrer Autoritätswert
beizumessen sei, dafür zeugt von neuem die Übereinstimmung der hoch-
künstlerischen Qualitätswerte und der spezifisch naturalistischen Stileigenart
der nunmehr wieder zutage geförderten Badia-Fresken Meister Buffalmaccos
mit den die künstlerische Persönlichkeit des letzteren ebenso knapp wie
treffend charakterisierenden Ghiberti-Aphorismen: »Ebbe harte da natura«,
»Colorl freschissimamente«, »Quando metteva l’animo nelle sue opere, pas-
sava tutti gl’ altri pictori«.
P&leo Bacci hatte sich in seiner Buffalmacco-Publikation darauf be¬
schränkt, nach Darlegung seiner Fälschungsentdeckung im Buffalmacco -
Eintrag des Mitgliederverzeichnisses der Florentiner St. Lukas-Gilde, hin¬
sichtlich des von der gleichen Fälscherhand nachgetragenen, von Baldinucci
und Gualandi außerdem noch falsch gelesenen Buffalmacco-Todesjahres 1 34 1
noch auf Sacchettis Novelle 136 hinzuweisen bzw. auf das dort wiedererzählte,
kurz nach 135Q zu datierende Kunstgespräch zwischen Andrea Orcagna,
um die Bronzttüren für das Florentiner Dombaptisterium nach Florenz zurückgekehrt
sei. (Vgl. hierzu auch Jul. v. Schlossers ausführliche Monographie über »Lor. Ghibertis
Denkwürdigkeiten« im Wiener »Kunstgcschichtl. Jahrbuch der K. K. Zentralkomm.«
1910, IV, 141, sowie desselben Autors neuerlich erschienene gleichnamige Sonderpublika¬
tion (Berlin 1912) II 108 ff., 131, 187, wo sämtliche Lustrenberechnungsfehler Ghibertis
als Schreibfehler des Kopisten der Originalhandschrift gedeutet werden — trotz der offen¬
kundigen Gemeinsamkeit der irrigen Bercchnungsbasis 700 a. C. n. für die 3 ersten Olym¬
piadenangaben des Commentario II'
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Buffalmacco- und Traini-Fragen.
343
Taddeo Gaddi und Alberto Arnoldi in San Miniato al Monte, wo Buffalmaccos
als eines seit langen Jahren nicht mehr zu den Lebenden zählenden, einer
längst vergangenen Blüteepoche der Florentiner Malkunst angehörenden
großen Meisters gedacht wird. In meinen vorstehenden Ergänzungsnotizen
habe ich nun den — notgedrungenerweise etwas weitschweifig geratenen —
Nachweis dafür zu erbringen versucht, daß Vasari wie auch bereits Ghiberti
aus gemeinsamer Quelle — und zwar vermutlich aus einer Buffalmacco-
Grabschrift auf dem Armenfriedhofe von S. Maria Nuova — über Buffal-
# maccos Todesjahr bereits sehr wohl unterrichtet waren, falls nicht etwa die
-jener ominösen Matrikeleintragsänderung angefügte Jahreszahl 1341 als
geringfügige — vielleicht auf schärferer Lesung besagter wohl dereinst
schon halb verwitterten Buffalmacco-Grabschrift basierende — Korrektur
der Vasarischen Todesjahrangabe 1340 anzusehen wäre.
Wird diese Festlegung des Todes Buffalmaccos auf 1340—1341 in
meinen später folgenden Darlegungen sich noch als ausschlaggebend erweisen
für die Früherdatierung des bisher erst nach 1350 angesetzten Kreuzigungs¬
freskos im Pisaner Camposanto, so muß andererseits der Hinweis darauf,
daß Vasaris Angabe »mori d’anni 78« ,a ) offenbar gleichfalls nur besagter
Buffalmacco-Grabschrift in S. Maria t Nuova entnommen sein kann, nicht
minder bedeutungsvoll erscheinen für die endgültige Fixierung der zeitlichen
Stellung unseres Meisters zu seinem großen Florentiner Kunstgenossen
Giotto di Bondone. Wird doch Buffalmacco, der nach jener gefälschten
und dazu außerdem noch von Baldinucci wie von Gualandi falsch gelesenen
Eintragung des ersten Mitgliederverzeichnisses der Florentiner St. Lukas-
Gilde im Jahre 1351 ja vermeintlich noch am Leben gewesen sein sollte und
demgemäß nur zu leicht als ein Angehöriger der jüngeren Florentiner Giotto -
Nachfolge betrachtet werden konnte, nach nunmehriger Neufestlegung
seines Geburtsdatums auf 1262—1263 wiederum zum ungefähr gleichaltrigen
bzw. sogar um einige Jahre älteren Zeitgenossen Giottos zurück¬
datiert * 3 ). Erst damit gewinnt man die Aufklärung der unwillkürlich sich
auf drängenden Frage, weshalb wohl der so hochbegabte junge Buffalmacco
nicht zum großen Malkunsterneuerer Giotto in die Lehre gekommen sein
mochte, sondern vielmehr — laut Erzählung Franco Sacchettis (in dessen
Novellen 191 und 192) — zu dem altertümlich gebundenen Mosaizisten
Andrea di Rico genannt Tafo, der, vermutlich um 1240 geboren und noch
1320 als lebendes Mitglied der Florentiner Compagnia dei medici e spezialL
aufgeführt, laut Vasaris Angabe das schwerfällig byzantinisierende Welt¬
richtermosaik an der Kuppelwölbung über der Hochaltarnische des Floren-
•*) Korrigiert aus den tanni 68« der ersten Viten-Ausgabe; vgl. Fußnote 6.
* 3 ) Vasaris falsches Giotto-Geburtsjahr 1276 anstatt 1267 ist wohl nur als Schreib¬
oder Drucksatzfehler anzusehen.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
344
J. Kurzwelly,
tiner Dombaptisteriums geschaffen haben soll. Aus den erwähnten humor¬
reichen Erzählungen Sacchettis ergibt sich fernerhin auch die zur Erklärung
von Buffafmaccos so auffällig spätem Hervortreten mit selbständigen Mal-
werken höchst wertvolle Tatsache, daß der junge Künstler weit über seine
eigentliche Lehrzeit hinaus eben jenem so weidlich von ihm genasführten
alten Lerhmeister noch lange Zeit höhere Gehilfendienste leisten mußte;
wurde er doch (laut Sacchettis Novelle 191) von Andrea Tafo noch mit der
— doch sicherlich nur für einen bereits fertig geschulten Künstler geeigne¬
ten — Aufgabe betraut, eine von seinem Brotherrn selbst für die Benedik¬
tinerabtei Buonsollazzo bei Florenz zur Ausführung übernommene Altar¬
tafel zu malen oder mindestens zur Vollendung zu bringen: erst recht spät
also fand Buffalmacco Mittel und Wege, sich aus seiner abhängigen Ge¬
hilfenstellung zu befreien und in Florenz in einem Hause an der »Via del
Cocomero« (der jetzigen »Via de’ Ricasoli«, zwischen Piazza del Duomo und
Piazza di S. Marco) eine eigene Malerwerkstatt zu eröffnen. Aus derselben
Novelle IX der achten Decamerone-Giornata, in der uns Giovanni Boccaccio
*
die letztgenannte Werkstattadresse Meister Buffalmaccos überliefert hat,
geht auch hervor, daß der »Decamerone«-Dichter selbst während seiner bis
1330 in Florenz verlebten Knaben- und Jünglingsjahre den um seiner Kunst
wie um seines Humors willen offenbar stadtbekannten Maler noch persönlich
gekannt zu haben scheint, da er ihn in eben dieser vom echten Vorschmack
des Geistes Rabelais' erfüllten Novelle ausdrücklich als »grande et aitante
della persona« zu schildern weiß. Daß übrigens die hier wie auch in den
Novellen III und IV der achten sowie III und V der neunten Decamerone-
Giornata wiedererzählten burlesken Streiche Buffalmaccos und Brunos nicht
als Übermutäußerungen einer »giovinezza spensierata« zu betrachten sein
können — wie Peleo Bacci annehmen möchte —, sondern vielmehr als
genialische Temperamentsausbrüche ungezügelter, aber gleichwohl bereits
im reiferen Mannesalter stehender »Bohfcme«-Naturcn im Sinne von Rabe¬
lais' »bon raillard . .. aymant ä boyre net«, ist daraus zu ersehen, daß beide
Maler — im ausdrücklichen Gegensätze zu jüngeren Spießgesellen wie z. B.
dem »giovane« Maso del Saggio (Decam. VIII, 3) und dem »gio-
v a n e « Filippo di Niccolö Cornacchini (Decam. IX, 5) — von Boccaccio
immer nur als » u o m i n i sollazzevoli« oder » u 0 m i n i burlevoli«
charakterisiert werden.
Aus den soeben angeführten Decamerone-Novellen Boccaccios sind wir
dann auch über die Anfangsjahre der selbständigen Künstlerlaufbahn Buffal¬
maccos so weit unterrichtet, daß P&leo Bacci durch Vergleichung der in diesen
Boccaccio-Erzählungen enthaltenen konkreten Tatsachenangaben mit dem
vorhandenen Urkundenmateriale die Arbeiten dieser ersten Periode des selb¬
ständigen Malerschaffens unseres Meisters chronologisch exakt datieren
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Buffalmacco- und Traini-Fragen.
345
konnte. Buffalmaccos Wersktattgenosse und Hauptarbeitsgehilfe war in
dieser ersten Schaffensperiode unseres Meisters jener ihm wohl »in Baccho«
gleichgesinnte, dagegen »in Apolline« augenscheinlich keineswegs kongeniale
und darum von ihm selbst gelegentlich grimmig aufgezogene Maler Bruno
di Giovanni, der — von Baldinucci als schon 1301 in Florenz tätig nach-
gewiesen und noch 1350 im Mitgliederverzeichnis der dortigen St. Lukas-
Gilde aufgeführt — laut Vasaris Angabe von Buffalmacco sich die Ent¬
würfe zeichnen ließ zu einem vom Florentiner Condottiere Guido Campese
(t 1312) testamentarisch gestifteten Freskogemälde in S. Maria Novella zu
Florenz (darstellend die Enthauptung des hl. Mauritius sowie die thronende
Madonna mit dem im Gebet vor ihr knienden, bildnisgetreu wiedergegebenen
Stifter *«), und von dessen Hand die laut Vasaris Mitteilung für S. Paolo
a Ripa d’ Arno zu Pisa gemalte, Buffalmaccos Spötteleien so deutlich recht¬
fertigende Ursula-Tafel des Pisaner Museo Civico herrührt * 5 ). Gelegentlich
beteiligte sich an der gemeinsamen Malertätigkeit Buffalmaccos und Brunos
auch der von beiden so vielfältig gefoppte alte Dekorationsmaler Nozzo di
Perino genannt Calandrino — laut Baldinuccis Feststellung 1301 in Florenz
urkundlich als Maler erwähnt und laut einer auch in D. M. Mannis »Veglie
piacevoli« (II, 1) bereits mitgeteilten Florentiner Zeugenunterschrift seines
Sohnes Dominicus »olim« Calandrini vor dem 17. II. 1318 verstorben —,
sowie fernerhin auch ein mit Calandrino verschwägerter Dekorationsmaler
namens Nello di Bandino; und zwar waren beide (laut Decam. IX,
Nov. V) Buffalmaccos und Brunos Gehilfen bei der Ausmalung eines
bei Camerata auf den Fiesolaner Hügeln gelegenen, sjetzt nicht mehr
existierenden Landhauses des reich begüterten Florentiner Bürgers Niccolö
Cornacchini.
Als vermutlich um 1314—1315 entstanden fixierte P&leo Bacci jene
Freskomalereien, die Buffalmacco und Bruno laut Boccaccio (Decam. VIII,
Nov. III) in der seit 1297 im Bau vollendeten Vallombrosaner-Nonnenkirche
*«) Laut Milanesis Anmerkung »übertüncht«.
* 5 ) Zufolge P. Baccis chronologischer Feststellung der Pisaner Tätigkeit Buffal¬
maccos und Brunos dürfte diese Ursula-Tafel (Abb. in Supinos »Arte Pisana« S. 287) wohl
gleichfalls um 1320 von Bruno gemalt worden sein. Vgl. dazu die Notizen Vasaris (Ausg.
Milanesi 1 512), wonach Bruno erst auf Buffalmaccos spöttischen Rat hin den beiden allzu
ausdruckslos ausgefallenen Hauptfiguren dieses Bildes (der hl. Ursula und der in Seenöten
um Hilfe flehenden »Pisa«) nach altmodischem Brauche jene erläuternden Spruchbänder
beigegeben haben soll, wie sie noch jetzt auf der übrigens mehrfach übermalten Tafel des
Pisaner Museo Civico zu sehen sind. — Laut Boccaccios Nov. IX der achten Decam.-
Giornata betätigte sich Bruno auch in dem der Werkstatt Buffalmaccos an der »Via del
Cocomero« benachbarten Hause des närrischen »Arztes« Simone (vgl. auch Decam. IX,
Nov. III) als Maler zweier Andachtsbilder, einer Mäuse- und Katzenschlacht sowie eines
drastischen ärztlichen Firmenschildes.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
346
J. Kurz wel ly,
S. Giovanni Evangelista l6 ) bei Porta a Faenza zu Florenz ausgeführt haben
sollen, und zwar gewann Bacci diese Zeitermittlung aus der Boccaccioschen
Erwähnung Calandrinos im Zusammenhänge mit besagter Freskanten-
tätigkeit Buffalmaccos in S. Giovanni Evangelista sowie mit einem laut
urkundlicher Nachricht im Jahre 1313 von Lippo di Benivieni mit Malereien
geschmückten und »non molta tempo avanti« (also wohl Anfang 1314) im
Florentiner Dombaptisterium aufgestellten Altartabernakel. Schon Vasari
wußte über diese noch von Ghiberti als »molto mirabile« gepriesenen Buffal-
macco-Fresken von S. Giovanni Evangelista, die bereits während der Floren¬
tiner Belagerungsängste vom Jahre 1529 mit samt der Kirche und dem
Kloster zerstört worden waren und ihm daher höchstens noch aus schwachen
Jugenderinnerungen gegenwärtig sein konnten, nichts weiter zu berichten,
als daß an den Wänden der Kirche Szenen aus dem Leben Christi dargestellt
gewesen seien, sowie daß er selbst die durch hohe Ausdruckskraft der natura¬
listischen Darstellungsweise ausgezeichnete Originalskizze Buffalmaccos zu
dem auf einem jener Wandbilder dereinst dargestellten »Bethlehemitischen
Kindermord« besitze. Auch diese ehedem in Vasaris Besitz befindliche
Buffalmacco-Zeichnung ist längst verschollen.
Nach Vollendung dieser Arbeiten in S. Giovanni Evangelista bei Porta
a Faenza soll Buffalmacco dann laut Vasaris Angabe zunächst die auch von
Ghiberti bereits unserem Meister zugewiesenen Fresken der Cappella di
S. Jacopo in der westlich von Florenz zwischen Casellina und S. Donnino
nahe am linken Arnoufer gelegenen Badia di S. Salvatore a Settimo gemalt
haben, und zwar an den Wänden dieser jetzt von einer Seitentüre des süd¬
lichen Choranbaues der Klosterkirche aus zugänglichen einstigen Kreuzgang¬
kapelle fünf Szenen aus dem Leben des Apostels Jacobus, in den Dreiecks-
feldern der beiden Kreuzgewölbe die thronend dargestellten Einzelgestalten
der vier Patriarchen und der vier Evangelisten. Die Jacobus-Fresken sind
bis auf einige spärliche, in der schlichten Natürlichkeit der Landschaftsauf¬
fassung jedoch um so interessantere Landschaftsreste durch Arnoüber¬
schwemmungen völlig zerstört, leidlich erhalten dagegen und jedenfalls
sorgsamster Konservierung würdig 'ie Gewölbemalereien, von denen nament¬
lich die vier Evangelistcngestalten — trotz der miserablen Belichtung des
Kapellenraumes durch das einzige kleine Fenster in der Schutzvermauerung
des einstigen Ostzuganges der Kapelle — in der Stileigenart und Stilgröße
ihrer Umrißlinien sich ohne weiteres als Werke des Schöpfers der durch P&leo
Baeci neu aufgedeckten Passionsfresken in der Florentiner Badia-Kirche
zu erkennen geben; der am besten erhalten gebliebene hl. Lukas läßt sogar
**) Das Nonnenkloster selbst wurde schon 1282 von der Beata Umilti di Faenza
gegründet; vgl. hierzu die am Schlüsse dieses Aufsatzes folgenden Notizen über den Umilti-
Altar der Florentiner Akademie (S. 17 ff.).
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
BuffaJmacco- und TraLni-Fragcn.
347
die schon von Vasari gerühmte Natürlichkeit in der Wiedergabe der für
diesen Evangelisten von altersher traditionell gebliebenen Gebärde des An¬
blasens der Schreibfeder deutlich genug wiedererkennen. Für die Richtig¬
keit der Behauptung Vasaris, daß diese Fresken in direkter Zeitfolge nach
den um 1314—1315 von Buffalmacco in S. Giovanni Evangelista bei Porta-
a Faenza ausgeführten Freskomalereien entstanden seien, zeugt mit absoluter
Sicherheit eine am Sockel der Nordwand besagter Jacobus-Kapelle ange¬
brachte Weihinschrift, die nach G. Caroccis Transkription J 7 *) den nach¬
folgenden Wortlaut aufweist:
Anno Domini MCCCXV tempore Domini Grazie abbatis
depicta est et ornata hec chapella ad honorem beati
Iacobi apostoli pro anima quondam Lapi de Spinis —,
wonach also die Jacobus-Fresken dieser Badia-Kapelle im Jahre 1315 —
wohl im Aufträge von Mitgliedern des Florentiner Geschlechtes der Spini —
gemalt wurden zur Sicherung des Seelenheils des im selben Jahre in der
Schlacht bei Montecatini gefallenen Ser Lapo degli Spini. , 7 h ).
Vermutlich verdankte Buffalmacco beide Freskenaufträge, denjenigen
von S. Salvatore a Settimo wie den von S. Giovanni Evangelista bei Porta
a Faenza, direkten Weiterempfehlungen seiner Kunst durch die Benedik¬
tinermönche der von ihm in Andrea Tafos Auftrag mit Malwerken ver¬
sorgten Abtei Buonsollazzo an die ordensverwandten Religionsgenossen¬
schaften beider Florentiner Vorortabteien * 7 °).
Nach übereinstimmender BehauptungGhibertis und Vasaris soll Buffal¬
macco fernerhin in S. Paolo a Ripa d' Arno zu Pisa sowie auch im Pisaner
Camposanto zahlreiche Fresken gemalt haben, von denen jedoch diejenigen
der erstgenannten Vallombrosaner-Abteikirche (Historien aus der Genesis-
Legende des Alten Testamentes und aus der Legende der hl. Anastasia an
den inneren Frontwänden des Kirchenquerschiffs, von Buffalmacco und
Bruno di Giovanni gemeinsam ausgeführt, und zwar laut P. Baccis Fest-
* 7 “) Durch Vermittlung des Herrn Prof. Dr. H. Brockhaus von Herrn Prof. G. Carocci
mir freundlichst handschriftlich zur Verfügung gestellt.
• 7 b ) Vgl. Delizie degli Eruditi Toscani XI, 215.
* 7 °) Ursprünglich Cluniacenser- und später Cistercienser-Abtei, stand die Badia
a Settimo. deren Mönche im Jahre 1320 auch die oben erwähnte Benediktiner-Abtei von
Buonsollazzo als Besitztum überwiesen erhielten, in nahen Beziehungen zum Vallem-
brosaner-Orden, da der Begründer dieses letzteren Benediktiner-Zweigordens, -der hl. Gio¬
vanni Gualberto selbst, um 1073 vorübergehend in der Badia Settimo als Disziplinator
wirkte; vgl. Giulianellis Nachrichten bei Richa, Not. istor. d. Chiese Fiorentine, vol. IX
(1761), S. 200 f. und 234. — Selbst in Giulianellis Notizen über Buffalmaccos Jakobus-
Fresken in der Badia a Settimo (a. a. O., S. 216 f.) findet sich übrigens die oben zitierte
Weihinschrift von 1315 nicht angegeben, ebensowenig in N. Baccettis »Septimaniae Hi-
storiae« (Rom 1724, III 90 f.).
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
348
J. Kurzwelly,
Stellung um 1320) schon zu Vasaris Zeit kaum noch erkennbar waren und
heute gänzlich verschwunden sind ,8 ). Von den bei Vasari dem Buffalmacco
zugeschriebenen Camposanto-Fresken dagegen wurden die vier Genesis-
Bilder der Nordhalle schon durch Ciampi * 9 ) als erst um 1390 begonnene
Werke des Orvietaners Pietro di Puccio urkundlich nachgewiesen, die vier
Passions- und Wiederkunftsdarstellungen der Osthalle hinwiederum von
der neueren Stilkritik als Arbeiten verschiedener, gleichfalls erst der zweiten
Hälfte des Trecento angehörenden Sienesen angesprochen, wobei man die
stilistisch in der Tat augenscheinlich isoliert stehende Kreuzigung dem Maler
der drei Wiederkunftsfresken gänzlich absprach, diese letzteren dagegen —
Auferstehung, Wiederkunft und Himmelfahrt Christi — mitsamt den in der
Tat stilverwandten, von Vasari jedoch dem Andrea Orcagna zugeschriebenen
berühmten Hauptfresken der anstoßenden Südhallenmauer — Triumph des
Todes, Weltgericht, Hölle und Thebais — einem unbekannten und späteren
Sieneser Schulnachfolger der Lorenzetti zuwies. Im Gegensätze zu dieser
im Anschluß an Crowe-Cavalcaselle und Berenson noch von Adolfo Ven-
turi 20 ) vertretenen Anschauung glaubte Supino 2I ) für den gesamten Fresken¬
schmuck des Südendes der Ostmauer (mit Ausnahme der Kreuzigung) und
des Ostendes der Südmauer des Camposanto den von 1322 bis Anfang 1345
in Pisa urkundlich nachweisbaren Francesco Traini als Schöpfer in Betracht
,8 ) Von der gesamten Trecento-Ausmalung dieser Abteikirchc sind nur am ersten
Gewölbepfeiler zur Linken die Freskofiguren zweier Heiligen erhalten geblieben, die jedoch
in ihrer plumpen und starren Gesichts- und Körperbildung wie auch in ihrer archaisch¬
konventionellen Posierung und in ihrer summarischen und schwerfälligen Gewanddrapierung
mit Buffalmaccos ausdrucksvollen und großzügig-naturalistischen Freskofiguren in der
ehemaligen Giochi- und Bastari-Kapelle der Florentiner Badia-Kirche ebensowenig gemein
haben, wie mit Brunos kleinlich ausdrucksleeren, affektiert grazilen FrauenfigÜrchen auf
der Ursula-Tafel des Pisaner Museo Civico.
* 9 ) S. Ciampi, Notizie ined. della Sagrest. Pist. del Camposanto Pisano (Florenz
1810), S. 98.
*°) A. Venturi, Storia d. Arte Ital. (1900 ff.) V, 738.
2t ) I. B. Supino, Arte Pisana (Florenz 1904) S. 265 ff., 274 ff. — G. Trenta
suchte in seiner Monographie »L'Inferno etc. del Camposanto di Pisa« (1894) die besagte
SüdwandfreskengTuppc dem Maler Francesco da Volterra, seinem Sohne Jacopo und
seinen Gehilfen Neruccio di Federigo, Berto di Argomento und Cecco di Pietro sowie dem
Letztgenannten —, der doch nur zum niedrigsten Tagelohne von 15 bis 18 Soldi vom
3. VIIL 1371 bis zum 30. VI. 1372 im Caposanto als untergeordneter Malgehilfe mit¬
arbeitete — speziell das Inferno-Fresko zuzuweisen, an dem eben dieser Cecco di Pietro
dann im Jahre 1379 einige durch Steinwürfe spielender Kinder verursachte Beschädigungen
auszubcssern hatte. Den in Supinos »Camposanto«-Buch von 1896 (S. 27 u. 165) ver¬
öffentlichten Angaben zufolge können jedoch jene urkundlichen Nachrichten von 1371—1372
Über Malarbciten Francescos da Volterra und seiner Gehilfen im Camposanto sicherlich
nur auf die Südwand fresken aus der Hiobslcgende zu beziehen sein, da deren Aus¬
führung laut urkundlicher Sondernotiz in der Tat am 4. August 1371 begonnen wurde.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Buffalmacco- und Traini-Fragen.
349
ziehen zu dürfen, während hinwiederum Henry Thode **) im Vertrauen auf
Ghibertis kategorische Behauptung »[Bonamico] dipinse in Campo Santo
a Pisa moltissime istorie« Vasaris Zuschreibung der Ostwandfresken an
Buffalmacco wenigstens hinsichtlich der Auferstehung, Wiederkunft und
Himmelfahrt Christi als jedenfalls nicht unbedingt widerlegbar zu verteidigen
suchte und damit den rätselhaften Florentiner Meister auch als mutmaßlichen
Schöpfer der anstoßenden großen Südwandfresken mitangesehen wissen wollte.
Nun hat diese Thodesche Buffalmacco-Hypothese wohl ihre endgültige Wider¬
legung, Supinos Traini-Hypothese dagegen ihre so gut wie vollgültige Be¬
stätigung erfahren durch Nello Tarchianis neuerliche Wiederaufdeckung
eines wundervollen Fragmentes der von Vasari dem Andrea Orcagna zuge¬
schriebenen Freskodarstellung des Trionfo della Morte in S. Croce zu Flo¬
renz, — eines jener drei Freskogemälde »ne' frati minori«, die auchGhiberti
bereits unter den Werken des Meisters Orcagna aufführte als »tre magnifiche
istorie [dipinte] con grandissima arte« * 3 ). Ergibt sich doch aus diesem
Freskenfunde Tarchianis mit Sicherheit, daß der Pisaner Trionfo della Morte
»unter Nachahmung der Erfindung, der Manier und der Inschriften« *4) der
gleichen Darstellung auf dem Freskobilde von S. Croce zu Florenz von einem
Werkstattgehilfen Orcagnas gemalt sein muß, und zwar vielleicht geradezu
im Aufträge bzw. in Vertretung und nach Entwurfskizzen des Florentiner
Meisters, der durch anderweitige reichliche Aufträge an der eigenhändigen
Ausführung der von den Pisanern wohl ihm selbst übertragenen Camposanto-
Malereien verhindert gewesen sein mag: — als Werkstattgehilfe Orcagnas
ist aber in der Tat Francesco Tralni schon von Milanesi nachgewiesen worden
aus einer nicht näher datierbaren Eintragung im Rechnungsbuche der
Bauhütte von S. Giovanni fuorcivitas zu Pistoia (vgl. die Fußnote 53 am
Ende dieses Aufsatzes). Nimmt man dazu noch die mannigfachen stilisti¬
schen Verwandtschaftsbeziehungen und Detailanklänge, die Supino zwischen
den Wiederkunfts- und Weltgerichtsfresken des Pisaner Camposanto einer¬
seits und den um 1344 für die Kirche S. Caterina zu Pisa von Francesco
Traini gemalten Altarwerken der Heiligen Thomas von Aquino und Do-
**) Im Repertorium für Kunstwissenschaft 1888, S. 17 ff., 1897, S. 68 f.
* 3 ) Vgl. W. B 0 m b e s Bericht über die bisherigen Resultate der in S. Croce
zu Florenz vorgenommenen Wiederaufdeckungsarbeiten N. Tarchianis in Dr. Biermanns
Kunstzeitschrift »Der Cicerone«, 1911, Oktoberheft, S. 784 ff. (mit Abb.) sowie N. Tar¬
chianis eigenen Bericht im Florentiner »Marzocco« vom 21. VIL 1911.
*♦) Wortsinn der bekannten, von Vasari freilich im entstehungsgeschichtlichen
Gegensinne niedergeschriebenen Angabe in der Orcagna-Biographie der 2. Viten-Ausgabe
des AretineT Künstlerbiographen, der damit jene augenscheinlich weit richtigere Behaup¬
tung seiner 1. Viten-Ausgabe verfehlterweise auf den Kopf stellte, wonach ein Werkstatt¬
gehilfe Orcagnas (vermeintlich dessen Bruder Bernardo) »fece l’Infemo di Camposanto
mitando le invenzioni dello Orcagna [in S. Croce di Firenze]«.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
35°
J. Kurzwell y.
minicus andererseits so scharfsichtig herausgefunden hat * 5 ), sowie ferner
die Tatsache, daß Traini als Maler des Dominicus-Altares — dessen seit¬
liche Legendenszenen ihren Schöpfer so deutlich auch als den Maler der
Einsiedlerszenen auf den Camposanto-Fresken der »Vita contemplativa«
und des »Trionfo della Morte« wiedererkennen lassen — während seines Auf¬
enthaltes in Orcagnas Werkstatt zu Florenz jedenfalls den von Vasari dem
Ambrogio Lorenzetti zugeschriebenen Nikolaus-Altar in der Kirche S. Pro-
colo *) gesehen haben bzw. geradezu als Vorbild benutzt haben muß zu
seinem Dominicus-Altäre für S. Caterina zu Pisa, — so kann es nunmehr
wohl kaum noch zweifelhaft erscheinen, daß Supino mit der Zuschreibung
der Wiederkunftsfresken an der Ostwand und der Weltgerichtsfresken wie
auch der Sopraporten-Assunta an der Südwand des Pisaner Camposanto
an Francesco Traini das Richtige getroffen hat. Die Ausführung dieser
Fresken durch Franc. Traini dürfte in den Jahren zwischen 1337 (vgl. die
Traini-Angaben am Schlüsse dieses Aufsatzes, S. 21 ff. und 1344 erfolgt sein,
in denen dieser Pisaner Lokalkünstler auch einen Gonfalone für den Sänger¬
chor des Pisaner Domes zu malen hatte (1341, jetzt verschollen; vgl. Supinos
»Camposanto« von 1896, S. 63).
Für Buffalmacco würde also von den »moltissime istorie«, die er nach
Ghibertis Zeugnis im Pisaner Camposanto gemalt haben soll, nur das von
Trainis Wiederkunfts- und Weltgerichtsfresken durch eine so weite Stilkluft
getrennte Kreuzigungsfresko der Ostwand übrig bleiben * 7 ), und dieses hat
nun in den leidenschaftlich bewegten Gestalten des zum Zerschmetterungs-
a 5 ) Daß diesen Stilkoinzidenzen gegenüber die aus der Verschiedenheit der Mal¬
techniken mit innerer Notwendigkeit sich ergebenden Stildiskrepanzen zwischen den Tafel¬
bildern Trainis und seinen Camposanto-Fresken in der Tat nichts zu besagen haben, hat
Graf Vitztum mit Recht hervorgehoben in seinem im Repert. f. Kunstwiss. 1905, S. 199 ff.,
veröffentlichten Aufsatze »Von den Quellen des Stils im Triumph des Todes«. Durch
spätere Restaurierungen der Wiederkunfts- und Weltgerichtsfresken, namentlich aber
durch Zaccheria Rondinosis Restaurierungsarbeiten von 1667—1669 (vgl. Supinos »Campo¬
santo« von 1896, S. 47 u. 51), mußten diese Stildiskrepanzen natürlich noch wesentlich
verschärft werden, ohne daß jedoch dabei die besagten Verwandtschaftszüge zwischen den
Camposanto-Fresken und den Tafelbildern Trainis völlig verwischt worden wären.
*) Nur vier der seitlichen Legendszenen dieses Nikolaus-Altares von S. Procolo
sind im Akademie-Museum zu Florenz erhalten geblieben (Katalog Nr. 132 u. 136). Am¬
brogio Lorenzeti soll diesen Altar während seines urkundlich beglaubigten Florentiner
Aufenthaltes von 1332—1334 für S. Procolo gemalt haben, und zwar gleichzeitig mit einem
jetzt verschollenen Madonnenaltare, der (laut Bocchi-Cinellis »Bellezzc di Firenze« von
1677, S. 389) signiert war »Ambrosius Laurentij de Senis MCCCXXXII«. Weitere Be¬
merkungen über den Nikolaus-Altar sowie über den gleichfalls von ihm abhängigen Umiltä-
Altar der Florentiner Akademie siehe am Ende dieses Aufsatzes (S. 358 ff.).
* 7 ) Schon G i o v. R o s i n i hat diese Stilkluft zwischen der Kreuzigung und den
anstoßenden Wiederkunftsfresken deutlich erkannt; vgl. seine »Descrizione delle Pittu er
del Camposanto di Pisa« (1816) S. 14.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Buflfalmacco- und Traini-Fragen.
35»
hiebe gegen die Beine des einen der gekreuzigten Schächer ausholenden
Schergen (naturalistisch konzipierte Prachtfigur zur Linken des von unge¬
schickter späterer Hand neu gemalten Christus am Kreuze) und der im
Gegensätze zu den plumpen Engelfiguren der benachbarten Himmelfahrts-
darstellung Trainis so leicht schwebenden Passionsengel wie auch in den
naturalistisch durchgebildeten Aktfiguren der gekreuzigten Schächer, in den
prachtvoll lebendigen Gruppen von Greisen, Frauen und Kindern am linken
Bildrande und in den robust volkstümlichen Typen berittener Kriegsknechte
am rechten Bildrande eine so unverkennbar nahe Stilverwandstchaft mit
mit den von P. Bacci neu aufgedeckten Freskenresten der Florentiner Badia-
Kirche aufzuweisen und erinnert andererseits in der schlichten Natürlich¬
keit der weit und groß gesehenen bergigen Landschaftsszenerie so lebhaft
an die Landschaftsreste der Wandfresken in der Jacobus-Kapelle der Badia
a Settimo bei Florenz, daß ohne jeden Zweifel nur Buffalmacco der Schöpfer
dieses Prachtwerkes frühnaturalistischer Darstellungskunst gewesen sein
kann. Stilfremde Einzelheiten, wie z. B. der langweilig hölzerne Christus
am Kreuz und die zu Füßen der Greisengruppe am linken Bildrande sichtbare
Reihe von routiniert modernen Frauenköpfen, sind auf das Konto späterer
Restauratoren zu setzen, wahrscheinlich auf dasjenige Zaccheria Rondinosis,
der im Jahre 1667 auch den Auftrag erhielt, die augenscheinlich schon zu
Vasaris Zeit bis zur Unkenntlichkeit zerstörten übrigen Passionsfresken
Buffalmaccos (am nördlichen und mittleren Teile der Ostwand des Campo-
santo) vollends abzuschlagen »per esser malissimo andate« * 8 ). Die von
Supino in seinem Camposanto-Buche von 1896 (S. 25) und hiernach auch von
anderen Autoren * 9 ) aus baugeschichtlichen Gründen auf etwa 1350 fixierte
• ,8 ) Vgl. S u p i n o s »Camposanto« von 1896, S. 47 u. 51. — Auf dem einzig erhalten
gebliebenen Kreuzigungsbilde, das von A. Venturi (Storia d. Arte Ital. V, S. 724) dem um
»377 an den S. Ranieri-Fresken der Südhalle beschäftigten Andrea di Firenze zugeschrieben
wurde, läßt uns die schon von Vasari färben technisch begründete Leichtvergänglichkeit
der Fresken Buffalmaccos (vgl. P. Bacci, a. a. O., S. 24) das fast gänzliche Verlöschtsein
der am linken unteren Bildrande noch schwach erkennbaren Frauengruppe mit der ohn¬
mächtig zusammenbrechenden Maria besonders lebhaft beklagen. — Auf Trainis Aufer¬
stehungsfresko sind z. B. die Grabeswächter sicherlich von Rondinosi neu gemalt (vgl.
Supino, Camposanto, S. 51).
* 9 ) Vgl. W. Bode in Burckardts Cicerone, Ausgabe 1910, S. 648; sowie P. Schub¬
ring, Pisa (Leipzig 1902), S. 71. — Daß der Zeitpunkt für die Vollendung des Rohbaues
des Camposanto übrigens noch nicht einmal aus Supinos Urkunde von 1349 (über Vergebung
der Steinmetzarbeiten »pro complemento laborerii Campi sancti« an Cellino di Nese und
Genossen sowie über Errichtung von Maler- oder Anstreichergerüsten durch den Zimmer¬
meister Stefano di Orlando) zu folgern ist, geht aus einer weiteren Bauurkunde von 1359
(Uber Fundamentierungs- und Maurerarbeiten im Camposanto »ex latere murorum pisanae
civitatis») sowie gar noch aus solchen von 1388 und 1393 deutlich genug hervor. (Vgl.
Supino, Camposanto, S. 7—9.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
35 2
J. Kurzwelly,
Zeitgrenze für den Beginn der Arbeiten am heutigen Freskenschmuck des
Pisaner Camposanto wurde vom ersteren Autor selbst in seiner »Arte Pisana«
von 1904 (S. 264) bereits auf die »prima metä del secolo XIV« zurückgescho¬
ben, steht also der Angabe Vasaris wie auch Ghibertis, daß der schon um
1340—1341 verstorbene Buffalmacco im Pisaner Camposanto »moltissime
istorie« gemalt habe, keineswegs mehr als Widerspruch im Wege. Finden
wir doch schon 1299 die Maler Vicino aus Pistoia und Giovanni Apparecchiati
aus Lucca sowie 1301 den Pisaner Nuccaro mit der Ausführung von Madonnen¬
fresken im Camposanto beschäftigt 3 «). Jedenfalls bezeugen diese urkund¬
lichen Nachrichten über so ungemein frühe (späterhin freilich durch andere
Malwerke ersetzte) Freskomalereien in der Ostkapelle wie über einem der
Südportale des Camposanto mit Sicherheit, daß die Ost- und Südgalerien
dieser Friedhofsanlage bereits um 1300 im Rohbau vollendet waren, und daß
man schon damals deren malerische Ausschmückung in Angriff nahm; nur
sind eben leider sämtliche Urkunden über die zwischen 1301 und 1368—1369
in der Ostgalerie und im östlichen Teile der Südgalerie ausgeführten Mal¬
arbeiten bei einem Pisaner Archivbrande zugrunde gegangen 3 * a ). Man wird
also den jetzt freilich nur noch nach seinem Schlußstück, dem einzig erhalten
gebliebenen Kreuzigungsfresko, zu beurteilenden Passionszyklus der Ost-
halle, mit dessen Ausführung die Pisaner den Florentiner Meister Buffal¬
macco nach dessen erfolgreicher Malerbetätigung in den Passionsfresken
von S. Paolo a Ripa d' Arno (um 1320) nur zu gern betraut haben werden,
geradezu als den Ausgangspunkt der gesamten noch heute vorhandenen
Freskoausmalung der Camposanto-Hallen zu betrachten haben. Daß übri¬
gens schon altpisaner Chronistentraditionen gerade das Kreuzigungsfresko
als kurz nach 1320 entstandenes Werk des Buffalmacco gekannt haben
müssen, ergibt sich aus der unter dem Jahre 1322 ( 1 ) in Paolo Tronci’s
»Annali Pisani« figurierenden Notiz: »Et allora da Buffalmacco Pittore fu
dipinto il suo ritratto (seil: del crocifisso !) in Campo Santo« 3 lb ).
Gänzlich zum Opfer fielen dem Vernichtungsverhängnis, das unter den
Malwerken Buffalmaccos mit so hartnäckiger Konsequenz gewütet hat,
die Freskomalereien des Meisters in Cortona (diejenigen der Palastkapellc
des Bischofs Aldobrandino schon zu Vasaris Zeit völlig zerstört), in Perugia
(große Freskofigur des hl. Bischofs Ercolano an der Piazza del Comunc,
3 °) Supino, Camposanto S. 16 u. 25.
3 ,a ) Supino, Camposanto S. 26 f.
3'b) Vgl. Rob. Papinis Inventar der Kun6tdenkmäler Pisas (CataL delle cose d’arte
etc. d’Italia, Rom 1912, Ser. I, Fase. II) 1 , p. 102, und zwar das unter den Notizen über das
Trccento-Holzkruzifix am Grabtabernakel des Erzbischofs d’Elci im Dom zu Pisa (angeblich
von der 1311 vollendeten einstigen Domkanzel des Giovanni Pisano dorthin verpflanzt).
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Buflfalmacco- und Traini-Fragen.
353
schon von Sacchetti erwähnt 3 >) und in Arezzo (ausgeführt um 1325—1326
für den Bischof Guido Tarlati, der sich mit Buffalmacco so weidlich an den
tölpischen Streichen seines pinselgewaltigen Hausaffen ergötzte, um so
weniger dagegen erfreut sein konnte über BufTalmaccos eigenen, die politi¬
schen Gegensätze jener Zeit so charakteristisch illustrierenden Geniestreich,
mit dem der Künstler den bischöflichen Auftrag auf eine Fassadenfresko¬
darstellung des Kampfes zwischen den Wappentieren der Guelfen und der
Ghibellinen im politischen Gegensinne auszuführen sich erkühnte — vgl.
Sacchettis Novellen 161 und 169). Ebenso spurlos zugrunde gingen — neben
verschiedenen kleineren von Vasari aufgezählten Florentiner Fresko- und
Tafelbildmalereien Buffalmaccos — endlich auch jene Passionsfresken unse¬
res Meisters in der (gleich der Nonnenklosterkirche S. Giovanni bei Porta
a Faenza während der Florentiner Belagerungsnöte von 1529 gänzlich zer¬
störten) Kirche S. Giovanni fra 1 ' Arcore bei Florenz, die nach Vasaris Schilde¬
rung — namentlich der dort als besonders ausdrucksvoll gerühmten natura¬
listischen Darstellungen der wehklagenden drei Marien und des an einem
Baume erhängten Judas — den in unseren Tagen wieder ans Licht gekomme¬
nen Passionsfresken der Badia-Kirche an der Via del Proconsolo zu Florenz
so nahe verwandt gewesen zu sein scheinen.
Erst PNeo Baccis so ungemein verdienstvoller Wiederaufdeckung und
3 ») Die von Vasari dem Buffalmacco gleichfalls zugeschriebenen Fresken der Cap¬
pella Buontempi in S. Domenico zu Perugia können als Darstellungen aus dem Leben der
hl. Katherina von Siena keinesfalls vor Ausgang des 14. Jahrhunderts gemalt sein; in
A. Brigantis «Guida di Perugia« von 1907 (S. 50) werden sie wohl mit Recht dem
Sienesen Taddeo di Bartolo zugewiesen. — Als weitere Anachronismen unter
Vasaris Butfalmacco-Zuschreibungen ergaben sich die erst 1408 in Auftrag
gegebenen Freskomalereien der Cappella Bolognini in S. Petronio zu Bologna (erst seit
1390 erbaut) sowie diejenigen der nach Milanesis Vermutung erst 1382 ausgemalten,
jedenfalls aber kurz vor 1367 im Ausbaue vollendeten Albomoz-Kapelle in der Unterkirche
von S. Francesco zu Assisi (vgl. A. Venturi, La Basilica di Assisi, Rom 1908, S. 140). Die
allerdings schon vor 1329 entstandenen Magdalenenfresken der Pontani-Kapelle in der
letztgenannten Kirche, die Milanesi laut Anmerkung in seiner Vasari-Ausgabe (I, 519, Nr. 2)
in einer ungenannten älteren Quelle gleichfalls dem Buffalmacco zugeschrieben fand,
wurden von Crowe und Cavalcaselle als sichere Werke der Giotto-Schule, von A. Venturi
(a. a. 0 ., S. 124 ff.) sogar als eigenhändige Schöpfungen Giottis angesprochen. — Eine in
Bocchi-Cinellis «Bellezze di Firenze« von 1677 (S. 70, vgl. Richa I, 31) dem Buffalmacco
zugeschriebene lebensgroße «Grablegung Christi« (mit kleinfiguriger Passions-Predella),
die aus S. Carlo bei Orsanmichele in das Florentiner Akademie-Museum gelangt ist, findet
sich in Vasaris Vita des Taddeo Gaddi (Ausg. Milanesi I, 574) unter dessen Werken auf¬
geführt, ist jedoch jetzt allgemein als Werk des Spinello-Schülers Niccolö di Pietro Gerini
anerkannt, der 1395—1401 mit seinem Sohne Lorenzo di Niccolö und seinem Lehrmeister
Spinello Aretino für das Kloster S. Felicita zu Florenz den jetzt gleichfalls im dortigen
Akademie-Museum befindlichen Marienkrönungsaltar gemalt hat (vgl. Crowe und Ca*
valcaselle, Hist, of Paint. in Italy, Neuausg. von L. Douglas, London 1903» H, 267)
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
4
354
J. K u r z w e 11 y ,
Publizierung der Freskenreste der einstigen Giochi- und Bastari-Kapelle
der letztgenannten Florentiner Badia-Kirche verdanken wir also die eigent¬
liche — durch Baccis kritische Nachprüfung der Vasarischen Überlieferung
zugleich auch so gut wie dokumentarisch gesicherte — Erkenntnis des künst¬
lerischen Wesens jenes merkwürdigen Giotto-Zeitgenossen, der schon in
Sacchettis Novellen l6l und 169 so enthusiastisch gerühmt als »grandissimo
maestro« und »dipintore in superlativo grado«, laut Lorenzo Ghibertis prä¬
gnanter und auf eine Künstlerindividualität von so markant naturalistischer
Eigenart und Ausdrucksgröße hindeutender Charakteristik »ebbe 1 ' arte da
natura«, — »quando metteva 1' animo nelle sue opere, passava tutti gli
altri pittori«. Nach Maßgabe der urkundlichen Feststellungen P. Baccis
über den Ausbau der Familienkapelle der Giochi und Bastari augenscheinlich
erst nach 1330 von dem damals bereits beinahe siebzigjährigen Meister
Buffalmacco ausgeführt, ließen uns erst diese Badia-Fresken in den unter
der Übertünchung aus der Zeit des Badia-Umbaues von 1627—1628 in einem
vermauerten schmalen Raume neben der jetzigen Cappella di S. Bernardo
(mit Filippino Lippis herrlichem Altarbild) in leidlicher und jedenfalls stil¬
reiner Verfassung erhalten gebliebenen spärlichen Resten (Verspottung,
Geißelung und Kreuztragung Christi sowie Selbstrichtung des Judas Ischa-
rioth nebst Gefangensetzung des Pilatus) ihren Schöpfer in der Tat nunmehr
endlich wiedererkennen als einen seiner Zeit weit vorausgreifenden Vorahner
der Kunst eines Masolino und Masaccio: — als einen von den archaisch-
byzantinisierenden Schulvorbildern seiner Jugendlehrzeit wie vom klassischen
Zeitvorbilde Giottos gleich unbeeinflußt gebliebenen, robust-temperament¬
vollen Naturalisten, der, begabt mit scharfem Beobachtungs- und spontanem
Gestaltungsvermögen und gestützt durch ein hochentwickeltes zeichnerisches
und malerisches Können, seine bei absoluter Originalität der Erfindung und
Auffassung so ungemein wuchtig und großzügig aufgebauten biblischen
Kompositionen — ähnlich wie etwa jener bei seinen Florentiner Zeitgenossen
als »scimmia della natura« verschriene Meister Stefano (Vater des Giot-
tino) — mit erstaunlich scharf und ausdrucksvoll individualisierten, lebendig
bewegten Figurentypen aus dem Volksleben seiner Zeit zu bevölkern liebte,
dabei aber namentlich in seinen Christusfiguren gleichwohl Idealgestalten
von eigenartigster Schönheit, Ausdruckskraft und Stilgröße zu schaffen
vermochte.
Im Anschluß an diesen im wesentlichen aus Peleo Baccis Buffalmacco-
Publikation gewonnenen und nur hie und da durch Nachtragsschlußfolge¬
rungen aus Boccaccios, Ghibertis und Vasaris Buffalmacco-Mitteilungen
kritisch ergänzten Überblick über den Bestand unserer derzeitigen Buffal-
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Buffalmacco- und Traini-Fragen.
355
macco-Kenntnisse möchte ich schließlich noch mit einigen Worten eingehen
auf die Erwähnung einer gemeiniglich wohl erst für neueren Datums gelten¬
den, jedenfalls aber längst als irrig erwiesenen Buffalmacco-Zuschreibung
in der vermutlich erst nach 1541 verfaßten handschriftlichen Künstlern ten-
sammlung des Florentiner Vasari-Zeitgenossen Giovanni Battista Gelli
(t *563) 33 ), der in seiner kurzen Notiz über den vermeintlichen Agnolo
Gaddi-Schüler »Buonamico« neben »non so che storie in Camposanto« und
neben den zugrunde gegangenen Fresken im einstigen »munistero fuori della
Porta a Faenza« — offenbar zur ostentativen Ergänzung der Angaben in
Ghibertis »Bonamico«-Kapitel — als Werk Buffalmaccos noch aufführt: »et
in San Bancazio una fighura di santa Humiliana fondatrice di detto mon-
esterio«. Da nun nicht die schon vor 1246 in S. Croce zu Florenz beigesetzte
Terziariernonne beata Umiliana de' Cerchi 34), sondern vielmehr die Val-
lombrosanernonne beata Umiltä di Faenza (mit dem weltlichen Namen
»Rosanese« getauft, Gattin des Faentiner Nobile Ugolotto de' Caccianemici)
die »fondatrice di detto monesterio.fuori della Porta a Faenza«
gewesen war 35 ), so kann mit jenem zur Zeit Gellis in S. Pancrazio zu Florenz
auf bewahrten und dem Buffalmacco — als dem aus Boccaccios »Decame-
rone« von jeher allbekannten Freskenmaler besagter Klosterkirche vor
Porta a Faenza — zugeschriebenen Heiligenbilde nur das bekannte, im
Jahre 1841 aus S. Salvi in die Florentiner Akademie übergeführte vierzehn¬
teilige Altarwerk der beata Umiltä gemeint sein, von dem eines der dreizehn
Randbildchen schon 1821 (mit der Sammlung Solly), ein zweites erst 1888
noch in die Berliner Königliche Gemäldegalerie gelangte 3 $).
Laut Angabe der von Richa (a. a. O., I, 398) mitgeteilten, den »Schrift-
Charakter des 14. Jahrhunderts aufweisenden« alten Sockelinschrift des
Altarwerkes 37 ) war dieses ursprünglich auf dem die Gebiene der B. Umiltä
bergenden Grabaltare aufgestellt, — also in der ehemaligen, dem Evange¬
listen Johannes (als dem »diletto avvocato« der B. Umiltä) geweihten Kirche
33 ) Von G. Mancini in Florenz 1896 in Buchform sowie gleichzeitig auch im Archivio
Storico Italiano (ser. V, tom. XVII, S. 47 ff.) veröffentlicht; vgl. C. v. Fabriczys Bericht
hierüber im Repertor. für Kunstwissensch., 1896, S. 351 ff.
34 ) Vgl. Bocchi-Cinelli, Le Bellezze di Firenze(1677), S. 341 f., sowie Richa, a. a. 0 .,
I. 75 <*•
35 ) Vgl. Richa, a. a. 0 . I, 357 ff, 363 ff.
3 ®) Vgl. die Angaben in den Katalogen des Florentiner Akademie-Museums und des
Berliner Kaiser Friedrich-Museums. (Die Berliner Kataloge sind durchgängig mit dem
Druckfehler *S. Servi« belastet.)
37 ) Die jetzige Inschrift des Florentiner Umiltä-Altares wurde augenscheinlich erst
um 1841 nach Richas Wiedergabe der Originalinschrift unter Verschiebung der alten Zcilen-
anordnung völlig neugemalt und fälschlich in das Mittelfeld der Predella eingerückt. —
Vgl. die hierauf bezüglichen Angaben auf S. 357 dieses Aufsatzes.
Repertorium für Kunstwissenschaft, XXXV. 24
Digitized by
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
356
J. Kurzwelly,
des Vallombrosaner-Nonnenklosters bei Porta a Faenza zu Florenz, das
von der B. Umiltä selbst im Jahre 1282 gegründet wurde, und in dem sie
dann im Jahre 1310 starb und ihre letzte Ruhestätte fand 3 8 ). Nachdem
sodann im Jahre 1529 — aus Anlaß der die Stadt Florenz bedrohenden Be¬
lagerung durch die Söldnertruppen Papst Clemens' VII. — gleich anderen
Florentiner Vorstadtklöstern auch das Vallombrosaner-Nonnenkloster bei
Porta a Faenza von den Florentinern selbst aus Stadtverteidigungsrück-
sichten abgebrochen worden war 39 ) und die damit obdachlos gewordenen
Nonnen im Jahre 1531 durch ihre seit Mitte des 13. Jahrhunderts auch in
S. Pancrazio zu Florenz ansässigen männlichen Vallombrosaner-Ordens-
genossen das noch von S. Giovanni Gualberto selbst gegründete, im Jahre 1529
aber ebenfalls von den Florentinern halbzerstörte Vallombrosanerkloster
S. Salvi als Zufluchsstätte angewiesen erhalten hatten 44), fand das aus der
Zerstörung von S. Giovanni Evangelista gerettete Altarwerk der B. Umiltä
offenbar provisorische Unterkunft in S. Pancrazio, wo es G. B. Gellis Angabe
zufolge jedenfalls noch um 1540 aufgestellt gewesen zu sein scheint. Die
von den Nonnen aus S. Giovanni Evangelista gleichfalls mit fortgeführten
Gebeine der Klostergründerin waren allerdings schon 1534 in das inzwischen
wieder bewohnbar gemachte Kloster S. Salvi übergeführt worden; ver¬
mutlich erfolgte dann die Überführung des Umiltä-Altarwerkes aus S. Pan¬
crazio nach Salvi im Jahre 1542 (also ganz kurze Zeit nach der Abfassung
von G. B. Gellis Buonamico-Notiz), da in diesem Jahre laut Feststellung
Richas (a. a. O., I, 365) die Gebeine der B. Umiltä auf dem bisherigen
Nativitä-Altäre der neuen Klosterkirche von S. Salvi öffentlich ausgestellt
wurden 4 «). Als in der Tat in S. Salvi befindlich wird der von G. B. Gelli
noch um 1540 in S. Pancrazio registrierte Umiltä-Altar jedenfalls erst wieder¬
erwähnt in der im Berliner Galeriekataloge von 1912 zitierten Umiltä-
Biographie vom Jahre 1632, und ebenda sah es dann um 1750 auch der Pater
Giuseppe Richa, und zwar augenscheinlich noch unversehrt. Die im Floren¬
tiner Akademie-Kataloge vermerkte Zersägung des Altarwerkes in seine
3 8 ) Also nicht in dem von S. Giovanni Gualberto gegründeten Stammkloster
zu Vallombrosa, wie in den Berliner Galeriekatalogen (1906, S. 213 f., — 1912,
S. 241) angegeben ist, ebenso auch in A. Venturis »Storia d. Arte Italiana«, vol. V (1907),
S. 668, sowie in Langton Douglas’ Neuausgabe von Crowe und Cavalcaselles »History of
Painting in Italy«, vol. III (1908), S. 92, Anm. 1.
39 ) An seiner Stelle wurde bald darauf die »Cittadella di S. Giovanni Evangelista«
(jetzt »Fortezza da Basso«) errichtet.
4 °) Vgl. Richa, a. a. 0 . I, 361.
4 *) Allenfalls könnte man als Termin der Überführung des Umiltä-Altares nach
S. Salvi noch das Jahr 1625 annehmen, in welchem die Vallombrosaner-Nonnen — wohl
zur Vierhundertjahrfeier der Geburt der B. Umilet&r — für deren Gebeine eine eigene Grab¬
kapelle nebst besonderem Grabaltar in S. Salvi errichten ließen (vgl. Richa, a. a. 0 . I, 365).
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Buffalmacco- und Traini-Fiagen.
357
vierzehn Einzelbilder 4 ») und die Veräußerung der beiden jetzt im Berliner
Kaiser Friedrich-Museum befindlichen Predellentäfelchen erfolgte zu Anfang
des 19. Jahrhunderts wohl bei Gelegenheit der durch die Franzosen veran-
laßten Aufhebung des S. Salvi-Klosters, das dann späterhin der Florentiner
Kunstakademie als Magazin diente, — die Wiederzusammensetzung der noch
vorhanden gebliebenen zwölf Einzelbilder endlich bei deren Überführung
aus S. Salvi ins Florentiner Akademie-Museum im Jahre 1841. Bei dieser
Wiederzusammensetzung hat man dann das ursprünglich von der (jetzt in
Berlin befindlichen) Breitbilddarstellung eines. Krankenheilungswunders der
B. Umiltä eingenommene leere Mittelfeld der Predella auszufüllen gesucht
durch die nach Richas sicherlich originalgetreuer vier zeiliger Wiedergabe
der ursprünglichen Sockel inschrift in »gotischem« Frakturstil völlig neu
gemalte fünf zeitige Inschrifttafel, — das dereinst die Berliner Hochbild¬
darstellung des Todes der B. Umiltä beherbergende linke Eckfeld der Pre¬
della dagegen gänzlich leer belassen müssen. Die bei besagter Wiederzu¬
sammensetzung des Altarwerkes auf die Fußleiste der neugotischen
Umrahmung des Umiltä-Mittelbildes aufgemalte Datierungsinschrift »A.
MCCCXVI« ist schließlich als vollkommen apokryph nachzuweisen aus dem
Fehlen dieser offenbar willkürlich errechneten Datierung in Richas
absolut zuverlässigen Notizen über den Umiltä-Altar von S. Salvi, da ja
dieser so ungemein gewissenhafte Historiograph der Florentiner Kirchen
sich keinesfalls auf die ganz allgemein gehaltene paläographische Bestim¬
mung der trecentesken Entstehung des Altarwerkes aus der von ihm am
Altarsockel Vorgefundenen und sogar in der Originalorthographie und in der
Originalzeilenfolge in extenso kopierten Inschrift »Hec sunt miracula
beate Humilitatis ... et in isto altari est corpus ejus« beschränkt haben
würde, wenn das Altarwerk außerdem noch mit irgendwelcher Datierungs¬
inschrift versehen gewesen wäre 43 ). Offenbar hat man also zur Zeit der
4 ») Vgl. Richa, a. a. 0 . I, 398, wonach die aus einer falschen Angabe der Umiltä-
Biographie von 1632 abgeleitete Annahme von ursprünglich 15 Einzelbildern, von denen
also ein Randbild völlig verloren gegangen sein sollte, mit Sicherheit als irrig nachzuweisen
ist: »S. Umiltä £ dipinta col diadema di Beata, ed intorno vi sono tredici storie«.
43 ) Die neuzeitliche Entstehung der falschen Datierungsinschrift »A. MCCCXVI*
dürfte auch aus dem Fehlen des obligaten D[omini] nach dem Afnno] bereits mit genügender
Sicherheit zu schließen sein. — Übrigens ist in dem Worte »Venerabilis« der in ihrem Ge¬
samtcharakter so typisch tneugotischen« Predellainschrift des neu zusammengesetzten
Umiltä-Altares dem Abschreiber des Richaschen Inschrifttextes bezeichnenderweise ein
deutliches römisches Antiqua-V mit unterlaufen anstatt des sonst so konsequent von ihm
durchgeführten gotischen Fraktur-V. — Die von P. Schubring in der »Zeitschr. f. Christ).
Kunst« 1901, S. 375 vorgeschlagene Lesart 1346 für die falsche Datierungsinschrift des
Umiltä-Altares ist ebensowenig stichhaltig wie die im illustrierten Berliner Museumskataloge
von 1909 angegebene Lesart 1341; denn keinesfalls etwa kann das scharf markierte »gotische«
V in der Schlußziffer als L gedeutet werden — so viel lieber man auch ein so offenkundig
spätes Schulwerk des Lorenzetti-Stiles MCCCXLI oder MCCCXLVI datiert sehen möchte.
» 4 *
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
358
J. Kurzwelly,
Wiederzusammensetzung des Umiltä-Altares (in der wohl durch G. B. Gellis
Notiz traditionell gewordenen irrigen Voraussetzung, daß Buffalmacco als
schon von Boccaccio erwähnter Freskendekorator der einstigen Vallombro-
saner-Nonnenkirche S. Giovanni Evangelista auch das Altarwerk für die
Grabkapelle der Kirchen- und Klostergründerin gemalt haben möge) die
Jahreszahl 1316 vollkommen willkürlich neu errechnet aus dem schon aus
Mannis »Veglie Piacevoli« (Florenz 1815, Bd. II, S. 1 ff.) bekannt geworde¬
nen Grenzalter des (laut einer urkundlichen Zeugenunterschrift seines Sohnes
Dominicus »olim« Calandrini vor dem 17. II. 1318 verstorbenen) Calan-
drino, des Besuchers Buffalmaccos in besagtem Nonnenkloster (laut Boc¬
caccios »Decamerone« VIII, Nov. III) sowie vielleicht auch aus der oben
erwähnten, wohl auch früher schon von so manchem Florentiner gelesenen
und wohl gar in älteren Florentiner Guiden bereits veröffentlichten Weih-
inschrift von 1315 in der St. Jacobus-Kapelle der Badia a Settimo bei Florenz.
Jedenfalls also ist die Datierungsinschrift »A. MCCCXVI« am Umiltä-
Altare des Florentiner Akademie-Museums ebenso sicher als in toto gefälscht
zu betrachten, wie dieses Altarwerk selbst — dessen stilistische Grundnote
ja außerdem längst als ausgesprochen sienesisch erkannt und anerkannt
wurde — nicht eine Spur von Stilverwandtschaft mit den jetzt neu auf-
gedeckten Buffalmacco-Fresken der Florentiner Badia-Kirche aufzuweisen
hat. Da jedoch eben jene somit absolut unglaubwürdige Datierungsinschrift
— die man dabei doch in der Regel als »jedenfalls erneuert« nur mit einem
gewissen Mißtrauen aufnimmt — von den meisten Autoren gleichwohl noch
jetzt als für die Datierung des Umiltä-Altares maßgebend betrachtet wird,
so fragt es sich nunmehr, ob die auf dieser irrigen Datierung basierende Zu¬
schreibung des Altarwerkes an Pietro Lorenzetti — bzw. die selbst
noch von A. Vcnturi * 4 ), W. Bode 45) und Langton Douglas 46) vertretene
Annahme, der Umiltä-Altar repräsentiere »die früheste erhaltene Ar¬
beit« des besagten Sienesen — auch fernerhin aufrecht zu erhalten ist.
Im Gegensätze zu der auch von ihm noch gutgläubig festgehaltenen
Einreihung des Florentiner Umiltä-Altares unter die eigenhändigen Früh-
werke des Pietro Lorenzetti hat A. Venturi 47 ) am Schlüsse seiner Betrach¬
tungen über dieses von ihm auf Grund der Datierungsinschrift »A. MCCCXVI«
gleichfalls allen übrigen Lorenzetti-Gemälden vorangcstellte Altarwerk offen
cingeräumt, daß letzteres in der Tat doch recht handgreifliche Stil- und
Qualitätsunterschiede aufweist gegenüber besser beglaubigten Frühwerken
44) In seiner »Storia d. Arte Italiana«, Bd. V (1907), S. 668.
45 ) In seiner letzten Ncuausgabe des Burckhardtschcn »Cicerone* (1910), II, S. 668 g.
4 *) In seiner Ncuausgabe von Crowe und Cavalcasclles »History of Painting in Italy*.
Bd. III (1908), S. 92.
47 ) A. a. O., V, S. 672.
Digitized by
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Buffalmacco- und Traini-Fragen.
359
eben jenes großen Sienesen, — so insbesondere gegenüber dem in der Pieve
von Arezzo befindlichen vielteiligen Madonnenaltare von 1320, dessen ebenso
scharf und ausdrucksvoll wie mannigfaltig individualisierte Einzelfiguren in
ihren wechselreichen, naturwahr beobachteten und sorgsam durchgeführten
Gewanddrapierungen in so offensichtlichem Gegensätze stehen zu den sche¬
matisch gleichförmigen, unpersönlichen und ausdrucksleeren, sämtlich in
sackartig schwerfallende und dickfaltige Gewänder gehüllten Figurentypen
der mit schulmäßiger Routine heruntergepinselten Umiltä-Historien. Weit
näher als diesem und anderen Frühwerken des Pietro Lorenzetti stehen nun
unsere Umiltä-Historien jenen vier jetzt gleichfalls im Florentiner Akademie-
Museum aufbewahrten kleinfigurigen Historien aus der Legende des hl. Niko¬
laus von Bari, die laut Vasari (Ausg. Milanesi I, 523) zusammen mit einem
jetzt verschollenen, laut Bocchi-Cinelli 48) dereinst »Ambrosius Laurentij de
Senis MCCCXXXII« signiert gewesenen Madonnenaltare für die Florentiner
Benediktinerklosterkirche S. Procolo gemalt wurden von dem in den Jahren
1332—1334 auch als Mitglied der Florentiner »Arte de' medici e speziali«
nachweisbaren Sieneser Meister Ambrogio Lorenzetti, dem wohl
eben darum schon G. F. Waagen 49) das im Jahre 1821 mit der Sammlung
Solly in die Berliner Königliche Gemäldegalerie gelangte Predellenstück des
Florentiner Umiltä-Altares zuschrieb. A. Venturi 5 °) möchte angesichts
dieser unverkennbaren Stilverwandtschaft der Umiltä-Historien aus S. Gio¬
vanni Evangelista und der Nikolaus-Historien aus S. Procolo die archi¬
tektonischen Hintergrundszenerien der letzteren als aus denjenigen der
ersteren Heiligenhistorien weiterentwickelt betrachtet wissen. In der Tat
jedoch dürfte das umgekehrte »svolgimento»; als das richtigere anzu-
sehen sein, da ja die — gegenüber jenen ungemein reich und sorgsam durch-
gebildeten Architekturperspektiven der Nikolaus - Historien — ziemlich
dürftig erfundenen und mit summarischer Oberflächlichkeit behandelten
Architekturfolien unserer Umiltä-Historien doch wohl mit mehr Recht auf
das Konto eines schwächlichen Schul nachfolgers und Nach¬
ahmers zu setzen sind als auf dasjenige eines vorbildlich wirkenden
Schul führers, — ebenso wie auch die mit bloßer Schulroutine in einem
matten und bläßlichen Kolorit heruntererzählten, lediglich durch triviale
Genrezüge amüsant belebt erscheinenden Umiltä-Historien selbst weit eher
als schwächliche Nachahmungen denn als Vorbilder jener höchst lebendig,
originell und geistreich vorgetragenen Nikolaus-Historien sich kenntlich
4 1 ) Bellezze di Firenze (1677), S. 380. — Auch bereits in Ghibertis Comment. II,
Cap. XII, finden sich eine »tavola« und eine »cappella« in S. Procolo zu Florenz als Mal¬
werke Ambr. Lorenzettis angemerkt.
49 ) Im Berliner Galerie-Kataloge von 1851, S. 368.
5 °) A. a. O., V, S. 701.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
3 Öo
J. Ku rz w elly,
machen 5 1 ). Da aber die schon zu oft hier zitierte, als in toto gefälscht anzu¬
sehende Datierungsinschrift »A. MCCCXVI« am Florentiner Umiltä-Altare
einer entsprechend späteren Datierung eben dieses Altarwerkes jetzt nicht
mehr im Wege steht, so darf letzteres nunmehr getrost als die jedenfalls erst
nach Ambrogio Lorenzettis Nikolaus-Altar von etwa 1333 entstandene Auf¬
tragsarbeit eines schwächlichen Lorenzetti-Nachahmers angesprochen werden,
der wohl auf ausdrücklichen Wunsch der Nonnen von S. Giovanni Evan-
gelista besagtes Altarwerk von S. Procolo für seine Arbeit als Mustervorlage
benutzt haben mag.
Nun besitzen wir eine weitere, und zwar nicht minder offensichtliche
Nachahmung dieses Lorenzettischen Nikolaus-Altares von S. Procolo zu
Florenz in dem mit Francesco Trainis vollem Namen signierten und laut
urkundlicher Überlieferung 1344—1345 (April-Januar) von besagtem Künst¬
ler in Pisa gemalten Dominicus-Altäre aus S. Caterina zu Pisa, dessen Mittel -
tafel mit der Einzelgestalt des hl. Dominicus (und der Halbfigur des segnen¬
den Erlösers im bekrönenden Spitzbogenfelde) jetzt im dortigen Museo
Civico aufbewahrt wird, während die vier Seitentafeln mit acht Szenen aus
der Legende desselben Heiligen (und den Halbfiguren der vier Evangelisten
in den bekrönenden Spitzbogenfeldem) im Erzbischöflichen Seminar zu
Pisa Aufnahme fanden. Dieser Pisaner Dominicus-Altar aber erweist sich
im Gesamtaufbaue wie auch in den Einzelkompositionen und deren zeich¬
nerischer und malerischer Detailbehandlung dem Florentiner Umiltä-Altäre
als stilistisch so nahe verwandt, daß sich dem Beschauer beider Altarwerke
wohl oder übel die Vermutung aufdrängen muß, der Umiltä-Altar aus
S. Giovanni Evangelista könnte wohl gleichfalls von Francesco Traini gemalt
sein: hier wie dort die gleiche temperamentlose und innerlich leblose Be¬
fangenheit in Ausdruck, Haltung und Drapierung der mittleren Hauptfigur
wie der Einzelfigürchen auf den seitlichen Legendenbildern, — die gleiche
genrehaft gefällige und routiniert leichtflüssige, im Kompositionsprinzip den
Nikolaus-Legenden Ambrogio Lorenzettis abgelauschte, im figürlichen
Detail freilich recht geistlose, schematisch typisierende Art der Legenden-
erzählung auf den begleitenden Bildtäfelchen, — die gleichen schwerfällig
nüchternen, von den viel reicheren und zierlicheren Architekturperspek¬
tiven Lorenzettis in ihrer summarisch-flächenhaften Behandlungsweise
so unvorteilhaft abstechenden Hintergrundarchitekturen. Dabei ist jedoch
5 1 ) Man vergleiche z. B. das prächtig lebendige Figiirchen des staunenden Mönchs
auf der Florentiner Besessenenheilungs-Legende des St. Nikolaus von Bari mit dem in
der Gebärdensprache an sich jenem Mönchsfigürchen augenscheinlich nachempfundenen
und doch an Lebendigkeit des Ausdrucks und der Bewegung so wesentlich geringeren Figür-
chen des ratlosen Arztes auf der Berliner Krankenheilungs-Legende der B. Umiltä von
Faenza.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Buffalmacco- und Traini-Fragen.
361
in Ausdruck, Bewegung und Gruppierung der Einzelfigürchen wie auch in
der koloristischen Durchführung der Pisaner Dominicus-Legenden gegen¬
über den Florentiner Umiltä-Legenden immertiin schon ein merklicher Fort¬
schritt nach der Seite lebendigerer Gestaltungs- und Ausdrucksfähigkeit zu
konstatieren, woraus also auf einen erheblichen Zeitabstand zwischen der
Ausführung des noch anfängerhaft schwächlichen Umiltä-Altares und des
wesentlich reiferen Dominicus-Altares von 1344 zu schließen wäre. Unab¬
weisbar erscheint jedenfalls die Voraussetzung, daß der Maler des Floren¬
tiner Umiltä-Altares so gut wie der des Pisaner Dominicus-Altares Loren-
zettis Nikolaus-Altar von etwa 1333 in S. Procolo zu Florenz gesehen und
als direktes Vorbild studiert haben muß 5 *), ebenso wie ja der Maler des
Trionfo della Morte im Pisaner Camposanto ohne Zweifel Andrea Orcagnas
Freskodarstellung des gleichen Bildvorwurfs in S. Croce zu Florenz —
deren kostbare Reste durch Nello Tarchianis verdienstvolle Bemühungen
kürzlich wieder aufgedeckt wurden — gesehen und als Vorbild studiert haben
muß. Nun hat schon Milanesi — wie bereits bei Besprechung der Campo¬
santo-Malereien Francesco Trainis (S. 348 f.) erwähnt wurde — aus einer
urkundlichen Notiz im Rechnungsbuche der Bauhütte von S. Giovanni fuor
Civitas zu Pistoia 53 ) nachweisen können, daß Vasaris Angabe, Francesco
5 ») Daß übrigens Ambrogio Lorenzettis Nikolaus-Altar von S. Procolo auch viel
später noch — und zwar vermutlich auf eigenen Wunsch der Auftraggeber, nach den so
häufigen Analogiefällen in italienischen Künstlerurkunden des Tre- und Quattrocento zu
schließen, — für andere Altarwerke als Mustervorlage benutzt wurde, beweist das unter
der Katalognummer 1097 im Berliner Kaiser Friedrich-Museum (Kat. 1912 p. 240) befind¬
liche Bildtäfelchen, auf dem eine Hafenszene aus der Legende einer unbekannten Heiligen
(St. Helena ?) geradezu als genaue Wiederholung des Kompositenschemas der Hafenszene
vonMyra aus der Nikolaus-Historienfolge von S. Procolo sich darstellt, nur daß die Vorder-
grundfigürchen auf dem Berliner Einzeltäfelchen bereits in der Modetracht des beginnenden
Quattrocento paradieren.
53 ) Vgl. Vasari-Milanesi, I, 613, Anm. 2. — Nach A. Chiappellis Dar¬
legungen im »Bollettino Storico Pistoiese« von 1900 (Bd. I, S. 2 f.) wäre die betreffende
Eintragung im Rechnungsbuche der Bauhütte von S. Giovanni fuor Civitas zu Pistoia —
Vorschläge verschiedener über Bestellung eines Altarbildes für S. Giovanni fuor Civitas
beratenden Kommissionsmitglieder hinsichtlich der eines solchen Auftrages am würdigsten
erscheinenden Florentiner Malkünstler — erst um 1347 zu datieren. Damit würde jedoch
Francesco Traini keineswegs als ein in letzterem Jahre noch immer in Orcagnas Floren¬
tiner Werkstatt als Gehilfe beschäftigter Anfänger seiner Kunst hingestellt erscheinen,
da ja der auf ihn abzielende Sondervorschlag sehr wohl auf einer um mehr als ein Jahrzehnt
zurückgreifenden Florentiner Reminiszenz des betreffenden Pistoieser Kommissionsmit¬
gliedes basieren könnte, die in dem Zusatze »ehe istae in bottegha dell'Andrea« für die
Zeit der Kommissionsberatung selbst gar nicht mehr zu traf. Vermutlich wird das betreffende
Kommissionsmitglied bei seinem Traini-Vorschläge geradezu den meiner Hypothese zu¬
folge um 1335 in Orcagnas Florentiner Werkstatt von Francesco Traini gemalten Umiltä-
Altar von S. Giovanni Evangelista bei Florenz als seinem Geschmacke nach mustergültige
Kunstleistung im Auge gehabt haben.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
362
J. Kurivelly, R uffalma rrn- und Traini-Fragen.
Traini sei ein Schüler Andrea Orcagnas gewesen, wenigstens insofern zutrifft,
als besagter Pisaner Lokalkünstler jener Pistoieser Urkundennotiz zufolge
in jüngeren Jahren jedenfalls eine Zeit lang als Gehilfe Orcagnas in dessen
Florentiner Werkstatt tätig gewesen sein muß. Da aber einem Urkunden -
funde Simoneschis zufolge 54 ) Francesco Traini, der ja außerdem schon 1322
bis 1323 im Pisaner Kommunalpalaste Malarbeiten auszuführen hatte,
bereits im Jahre 1337 in Pisa als Inhaber einer eigenen Lehrwerkstatt nach¬
weisbar ist, würde seine Gehilfentätigkeit in Orcagnas Florentiner Werkstatt
offenbar in die Jahre 1334—1336 zu verlegen sein, also in die Zeit kurz nach
Aufstellung des Nikolaus-^ltares Ambrogio Lorenzettis in S. Procolo zu
Florenz: somit dürfte die Ausführung des Umiltä-Altares für S. Giovanni
Evangelista bei Florenz — mit der Francesco Traini vielleicht in Vertretung
seines vielbeschäftigten Brotherrn Orcagna betraut wurde — etwa ein volles
Jahrzehnt früher erfolgt sein als diejenige des Dominicus-Altares für S. Cate-
rina zu Pisa. Jedenfalls aber wird der Berliner Kaiser Friedrich-Museums¬
katalog bei Aufzählung der Berliner Teilstücke des Florentiner Umiltä-
Altares, dieser schwächlichen Epigonenleistung eines gleichzeitig floren-
tinisch und sienesisch beeinflußten Nachahmers des Nikolaus-Altares Am¬
brogio Lorenzettis, den stolzen Autornamen Pietro Lorenzetti in Zukunft
getrost unterdrücken dürfen, wenn anders der gutgläubige Berliner Museums-
besucher vor geringschätzigen und somit falschen Vorstellungen vom künst¬
lerischen Können eines der bedeutendsten Sieneser Trecentomaler bewahrt
bleiben soll.
54 ) Vgl. L. Simoneschi, Notizic e Questioni intorno a Francesco Traini
(Pisa 1898) und I. B. Supino, Arte Pisana (1904), S. 265 fr.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
A. Dürers »Pfeifer und Tro
lllll
ler«.
Ein Beitrag zur Konstruktion der Figuren und zur Datierung des Bildes.
Von Dr. H. von Ochcnkowski.
Literaturverzeichnis.
1. Thausing Moritz, Albrecht Dürer, G.schichte seines Lebens und seiner Kunst.
2. Aufl. Leipzig 1884 (E. A. Seemann) S. 184.
2. Lübke Wilhelm, Geschichte der deutschen Kunst. Stuttgart 1890 (Ebner und
Seubert) S. 608.
3. Weizsäcker Heinrich, Katalog der Gemäldegalerie des Städelschen Kunst¬
instituts in Frankfurt a. M. Frankfurt a. M. 1900. S. 92.
4. Wölfflin Heinrich, Die Kunst Albrecht Dürers. München 1908 (F. Brückmann).
S. 152 Anm. 4, S. 130.
5. Justi Ludwig, Konstruierte Figuren und Köpfe usw. Leipzig 1902.
6. Weizsäcker Heinrich, Kunstwissenschaftliche Beiträge A. Schmarsow gewidmet.
1908. S. 153 ff.
7. Heidrich Emst, Albrecht Dürers schriftlicher Nachlaß. Berlin 1908 (J. Bard).
S. 252.
8. Meder Joseph, Die grüne Passion. Rep. f. Kunstwiss. Berlin 1907. Bd. 30 -
9. Klaiber H., Beiträge zu Dürers Kunsttheorie, Blaubeuren o. J. 1903. (Fr. Man*
gold). (Diss.)
10. Leonardo da Vinci, Das Malerbuch. Zusammenstellung von W. v. Seydlitz.
Berlin 1910 (J. Bard). S. 41 ff.
11. Leonardo da Vinci, Das Buch von der Malerei. Nach dem Codex Vaticanus
übersetzt von Heinrich Ludwig. 3 Bde. Wien 1882 (W. Braumüller). In »Quellenschriften
für Kunstgeschichte...«, Bd. 1 Buch III § 264.
12. Dürer Albrecht, Vier Bücher von menschlicher Proportion. Nürnberg 1528
(J. Formschneider). S. VNIIII.
In der Hauskapelle des »alten Jabachschen Hauses« in Köln befand
sich einst ein Flügelaltar, dessen Hauptteil wahrscheinlich aus einer jetzt
verschollenen Schnitzerei bestand (Thausing); die beiden Flügel waren innen
und außen durch eine Malerei von Albrecht Dürer geschmückt.
Die Holzbretter der Flügel wurden zwischen den beiden bemalten
Oberflächen durchsägt und die Bilder gelangten — voneinander getrennt —
in verschiedene Museen: Die einstigen Innenbilder kamen in die Münchner
Pinakothek, wo sie bis jetzt aufbewahrt werden. Sie stellen je zwei Heilige
dar und zwar links die Gestalten des Joseph und Joachim, rechts die des
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
364
H. von Ochenkowski,
Simeon und Lazarus. Bei geschlossenen Flügeln war ein Gemälde zu ge¬
wahren, welches durch Komposition und Farbenpracht besonders auffiel;
es stellte den leidenden Hiob dar und war durch eine Leiste der Einrahmung
•«
mittendurch in zwei Teile getrennt. Jetzt befindet sich der linke Flügel
im Städelschen Institut in Frankfurt, der rechte im Wallraf Richartzmuseum
zu Köln. Einmal vom ganzen getrennt, wurde dann auch noch die ursprüng¬
liche Form des linken Flügels durch ein abgerundetes Dreieck im oberen
Teile verändert (der rechte Flügel ist oben durch ein Halbrund abgeschlossen).
Sicher war zur Zeit der Entstehung des Bildes die Form der Umrahmung
bei beiden Flügeln gleich; denn die ersichtlich angestrebte sorgfältige Ein¬
heitlichkeit der Komposition des dargestellten Gegenstandes läßt eine der¬
artige Willkür in der Form als ausgeschlossen erscheinen. Was daran ver¬
ändert wurde, vermag ich mit voller Sicherheit nicht zu entscheiden, da
ich keine Gelegenheit hatte, die Bilder ohne Rahmen betrachten zu können;
jedoch will ich die Vermutung aussprechen, daß der linke Flügel, erst nach
seiner Lostrennung vom Altäre, mit dem jetzigen Rahmenabschlusse im
oberen Teile versehen wurde.
Das Bild ist trotz der Leiste in der Mitte als untrennbar komponiert,
wie es die bis zu den zwei Musikanten herüberreichende Gewandschleppe
der Frau und die einheitliche Gebirgs- und Waldlandschaft im Hintergründe
augenscheinlich machen. Die beiden Flügel, nebeneinander gesetzt, stellen
Hiob dar, wie er von seinem Weibe und von zwei Musikanten verspottet
wird. Das Weib leert über die Schulter des nackt sitzenden Alten einen
Eimer voll Wasser aus; ein zuschauender Musikant pfeift dazu auf einem
klarinettenartigen Instrumente, während ein anderer, der am Gürtel eine
kleine Trommel trägt, mit beiden gehobenen Stäben innehaltend, aufmerk¬
sam der Melodie des Pfeifers lauscht, um mit seiner Begleitung zur rechten
Zeit einzufallen. Hiobs Haus steht in Flammen; ein Diener läuft auf die
vordere Gruppe zu, hebt schreiend die Hände, um die schlimme Nachricht
von weitem anzukündigen; die rechts hinausziehende Karawane von be¬
ladenen Kamelen wird von einigen sie verfolgenden Reitern angegriffen.
Für unser Thema bildet die Gestalt des Trommlers ein seltsames
Interesse. Dürer hat sich selbst darin abgebildet und zwar zum ersten
und einzigen Male in seiner fast halblebensgroßen ganzen Gestalt. Alle
übrigen Selbstbildnisse Dürers in ganzer Gestalt sind von kleinen
Dimensionen. In den Zügen des Gesichts: der feinen gebogenen Nase, den
kleinen Augen und dem breiten Munde erkennen wir sein naturwahres,
gar nicht oder nur wenig idealisiertes Bildnis *) und darin weicht es von
*) Dasselbe ist in dem Selbstbildnisse aus dem Allerheiligenbilde (Wien) und in
der Zeichnung *... do ist mir weh« (Bremen) L. 130 wahrzunehmen.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
A. Dürers »Pfeifer und Trommler«.
365
den drei bekannten idealisierten Selbstbildnissen Dürers ab. So sah er
in dem vierunddreißigstem Jahre seines Lebens aus; denn das Bild des
leidenden Hiob muß im Jahre 1504/5 entstanden sein; zu dieser Anschau¬
ung berechtigt außer der Konstruktionsweise der Figuren die Betrachtung
des Stiles und der Malweise, die auf eine zweifelsohne im wesentlichen eigen •
händige Ausführung deutet *).
Das Bild des leidenden Hiob ist ausgezeichnet erhalten und — außer
einigen Retouchen an den Händen des Trommlers und an der Linken des
Pfeifers — ist es gar nicht oder nur ein weniges am Himmel übermalt.
Seine Eigenhändigkeit, sowie die der inneren Figuren der vier Heiligen
wurde vielfach in Frage gestellt. Thausing (L.-V. 1) sprach den Zweifel
aus, ob Dürer selbst die Zeichnung zu diesen Bildern geliefert habe; auch
die Malweise scheint ihm eher an Kulmbach, als an die eigene Hand des
Meisters zu erinnern. Aus dem Gesamtton seiner Äußerungen läßt sich
schließen, daß er geneigt ist, Dürer ebenso die zeichnerische Komposition
wie die Ausführung der Farbenfläche abzusprechen. Lübke (L.-V. 2) ver¬
wirft nur die vier Heiligengestalten aus der Münchner Pinakothek; das
»flüchtig aber geistreich« gemalte zweiteilige Bild des leidenden Hiob spricht
er mit Sicherheit dem Meister selbst zu. H. Weizsäcker (L.-V. 3) zieht
das Monogramm auf dem Stabe Josephs (München) als echt an und findet
die Bilder »insgesamt von Dürers eigener Hand«. H. Wölfflin (L.-V. 4)
äußert sich über den Altar wie folgt: »Der Jabachsche Altar (München,
Frankfurt, Köln) kann nur in einem Werkstattzusammenhang mit Dürer
genannt werden. Die Datierung auf 1500 ist sicher zu früh, er weist in
allen Motiven auf die Zeit von 1503/5, verliert aber sehr bei der Konfron¬
tation mit den gesicherten Werken«.
Es wird aus obigem ersichtlich, wie sehr sich die Meinungen über
des Meisters Anteil an den aus seinem Atelier stammenden Altarflügeln
kreuzen und widersprechen.
Ich beabsichtige nicht die geringere Qualität des Jabachschen Altares
gegenüber anderen gesicherten Leistungen Dürers hervorzuheben, jedoch
wird ihm, meines Erachtens, unrecht getan, wenn er allzu oft und von ver¬
schiedenen Kunstforschem nur als Werkstattbild angesehen wird. Er ent-
*) Von den italienischen Einflüssen, die das künstlerische Schaßen Dürers von
Zeit zu Zeit durchziehen, fällt einer auf das Jahr 1504 (bekanntlich durch Jacopo de Bar¬
bari verursacht). Dieser Einfluß läßt sich — außer den antikisierenden Bauten in der
Grünen Passion — auch in dem Bilde des leidenden Hiob nachweisen und zwar in der
Figur des Weibes — linker Flügel —, die in ihrer heftigen Bewegung an eine der Nereiden¬
statuen (British Museum) auffallend erinnert. Ein Zusammenhang — wenn vielleicht
auch ein indirekter, da das Nereidendenkmal (zu Xanthos in Lykien) erst im Jahre 1842
von einer englischen Expedition freigelegt wurde — ist in der Bewegung des gesamten
Körpers, ausgenommen die Arme, zweifellos sichtlich.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
366
H. von Ochenkowski,
hält im wesentlichen nichts, was dazu berechtigen könnte. Vielmehr ist
der Vorrang der Außenseite zu geben und zwar wegen der einfachen Kom¬
position und geringeren Ausführung der Innenseiten, deren Farben Wirkung
allerdings nicht zu leugnen ist. Ferner wird oft die angeblich flüchtige
Malweise hervorgehoben, die richtiger als flüssig und breit in der Aus¬
führung, keineswegs als flüchtig zu betrachten ist.
Das gesamte Bild ist für eine bestimmte Entwicklungsperiode Dürers
von Interesse und Bedeutung. Durch das böse Schicksal, das die beiden
Teile des Bildes voneinander getrennt und in zwei verschiedene Museen
gehängt hat, wird der Gesamteindruck bedeutend beeinträchtigt; könnten
wir die zwei Teile nebeneinanderhängend betrachten, so würde die wunder¬
bare Schlichtheit der Komposition ganz anders wirken, obwohl sie freilich
von vornherein durch die trennende Leiste gestört wird.
Um meine Meinung über die Bedeutung des Bildes richtig einzuführen,
will ich zuerst die Komposition der Einzelfiguren besprechen. Eis ist vor
allem zu erwähnen, daß sämtliche Figuren konstruiert sind und zwar weisen
sie eine Konstruktion auf, welche als aus den von Justi (L.-V. 5) nach-
gewiesenen Konstruktionen entwickelt betrachtet werden muß. Eis bedürfte
einer Reihe von geometrischen Figuren, die ähnlich wie bei den dem Justi-
schen Werke beigegebenen Abbildungen auf eine Wiedergabe des Bildes
des leidenden Hiob aufgetragen werden müßten, um die Konstruktion klar¬
zulegen; allein das würde uns bei einer Betrachtung des einen Flügels des
Gemäldes zu weit führen 3 ). Eis genüge hier zu erwähnen, daß die Konstruk¬
tion der Figur des Pfeifers und die der Frau sich nicht mit dem Schema
für die Frontalkörper deckt (die Apollogruppe, Adam und Eva (Lanna)
1504, L. 173, Adam und Eva-Stich, 1504, B. I (sämtl. Abb. bei Justi). Jedoch
hat sich das hier angewandte Schema aus dem vorigen entwickelt. Für
■
unser Thema ist nur das Bild: Pfeifer und Trommler (Köln) von Interesse;
über das Vorhandensein einer Konstruktion bei diesen beiden Figuren sei
gesagt, daß die einzelnen Maße der Körperglieder sämtlich auf der Körper-
länge abgemessen sind (z. B. beträgt der Kopf des Pfeifers */ 8 » das Gesicht
>/io, die Hand ohne Finger 1/16, die Schulterbreite 1/5 = 2 / 10 = zwei Gesichts¬
längen, der Spalt 3/6 = */* usw.). Bei den beiden Figuren dieses Bildes
ist der Abstand von der Begrenzung der Kopftracht bis an das Fußgelenk
als Körperlänge angenommen. Die Ausführung der Einzelheiten der sehr
komplizierten Konstruktion wäre hier nicht am Platze. Doch will ich nicht
unterlassen darauf hinzuweisen, daß der Figur des Pfeifers ein Parallelo¬
gramm, der des Trommlers ein Dreieck zugrunde liegt. Ein derart durch-
3 ) Verfasser will eine ausführliche Besprechung der Konstruktionen für den Jabach¬
altar, wie für manche frühere Werke Dürers einem späteren Aufsatz Vorbehalten.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
A. Dürers »Pfeifer und Trommler«. 3^7
gedachtes und in Einzelheiten kompliziertes Schema konnte in Deutsch¬
land nur von Dürer stammen und nicht vor 1504 entstehen.
Die Möglichkeit des Vorhandenseins einer Konstruktion bei Drei-
viertelansicht der Dürerschen Figuren wurde von Justi abgelehnt, noch
entschiedener von Klaiber (L.-V. 9). Ich glaube jedoch bei der entgegen¬
gesetzten Meinung, die ich anderenorts (Rep. f. Kunstwiss. Bd. 34, S. 433 ff.)
flüchtig berührt habe, bleiben zu müssen. Allerdings fehlt mir immer noch
ein unanfechtbarer Beweis, der in einer eigenhändigen Zeichnung einer Drei-
viertelfigur mit von Dürer selbst hineingezeichneten geometrischen Linien
bestünde.
Jedoch bin ich fest überzeugt, daß Dürer bei sämtlichen von
ihm ausgeführten Figuren in jeder Drehung und Stellung eine Konstruktion
angewandt hat. Und gerade war nicht das »freie« Schaffen — was er aller¬
dings ohne Schwierigkeiten konnte —, sondern das Gestalten eines ideellen
Körpers und einer ideellen Körperbewegung das höchste Streben seiner
Kunst (L.-V. 4, S. 130).
Ein etwaiger Hinweis auf- Konstruktionen für Körper in Dreiviertel¬
ansicht ist in den »Vier Büchern von menschlicher Proportion« nicht ent-
halten. Aber das Buch gibt in seinen sämtlichen Teilen nur die Grund¬
lagen zu der Theorie Dürers, ohne den erfinderischen Geist an der Erwei¬
terung der angegebenen Schemata zu hemmen. Die Anwendung dieser
Regeln und die Erfindung von Abweichungen steht jedem reifen Künstler
frei, wie es Dürer selbst und auch diejenigen Maler bewiesen haben, denen
das Buch Dürers im Original oder in den vielen Übersetzungen bekannt
war. Etwaige deutliche Anknüpfungen an die Dürerschen Konstruktionen
— außer bei Lucas van Leyden — glaube ich bei vielen Malern des 16. Jahr¬
hunderts wiederzufinden (z. B. bei »Adam und Eva« von C. Cornelisz van
Haarlem. Amsterdam. Rijcksmuseum und bei der nacktliegenden Frauen-
gestalt von Hendrick Golzius in »Vertumnus und Pomona«. Daselbst.)
Es ist sehr wahrscheinlich, daß diese Meister direkt aus dem Dürer¬
schen Buche geschöpft haben, obwohl der im 16. Jahrhundert stark ent¬
wickelte italienische Einfluß auch auf andere im Süden verbreitete theore¬
tische Schriften hinweisen kann. Denn Dürer war nicht der Alleinerfinder
der Proportionslehre und der damit eng verbundenen komplizierten Kon¬
struktionen für Einzelfiguren und Gruppenbilder. Seine Grundsätze schöpfte er
aus den Schriften des L. B. Alberti, die damals noch nicht gedruckt waren,
aber in zahlreichen Abschriften und mündlicher Überlieferung sehr ver¬
breitet gewesen sein müssen. Eine weitere Ausbildung und Vervollkomm¬
nung seiner Grundsätze verdankt Dürer den Studien Leonardo da Vincis.
In allerengster Anknüpfung an dieselben steht eben unsere Figur des Pfeifers,
worüber das folgende Zitat aus dem Malerbuche Leonardo da Vincis (S. 45)
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
368
H. von Ochcnkowski,
in der Zusammenstellung von W. v. Seydlitz (L.*V. io) genauere Auf¬
schlüsse erteilt.
»Ruht eine Figur auf einem Fuß, so wird die Schulter der Stand-
seite stets niedriger sein, als die andere, und die Halsgrube wird
sich mitten über dem Standbein befinde n.« Wenn wir
nun eine Vertikale über die Halsgrube des Pfeifers führen, so geht dieselbe
durch die Mitte seines linken Knies. Weiter unten steht folgendes: »Die
Körperlast eines Mannes, der auf einem Beine steht, wird stets über dem
Mittelpunkt der Schwere so verteilt sein, daß die Gewichtsteile hüben und
drüben gleich sind. Streckt er z. B. einen Arm vor die Brust, so muß er
ebensoviel von seinem natürlichen Gewicht nach hinten ausladen.« Der
ideelle Mittelpunkt der Schwere liegt hier ungefähr auf der eben erwähnten
Vertikalen. Es ist deutlich zu sehen, wie stark die Figur mit dem Ober¬
körper nach rückwärts ausladet. »Reckt man einen Arm nach vorn, so
tritt die Halsgrube über den Standfuß zurück; wird aber das eine Bein
nach hinten gestreckt, so tritt die Halsgrube nach vom vor. Um so viel
als die eine Seite durch das Ruhen kürzer wird, wird die gegenüberstehende
länger.Pflege den Kopf nie ebendahin gewendet sein zu lassen, wohin
sich die Brust dreht, noch den Arm in gleicher Richtung mit dem Bein
gehen zu lassen.... Steht die Brust gerade nach vorn, so mach daß am
Kopfe, wenn dieser sich zur Linken wendet, die rechtsseitigen Teile höher
stehen, als die linksseitigen.... und steht er auf dem rechten Bein, so
laß das Knie des linken sich einwärts biegen und den linken Fuß sich an
der Außenseite etwas vom Boden erheben.« — Falls wir den letzten Satz
auf den Pfeifer anwenden, der auf dem linken Bein ruht, so ist diese
Gestalt durchwegs treu nach den eben zitierten Vorschriften Leonardos
konstruiert. Somit kann kaum angenommen werden, daß diese Regeln für
die zeichnerische Gestaltung einer auf einem Beine ruhenden Figur Dürer
unbekannt waren; er hat sie wahrscheinlich durch Jacopo de Barbari im
Jahre 1504/5 zur Kenntnis bekommen, was zu meiner Datierung des Bildes
des leidenden Hiob einen weiteren Beitrag liefert.
Zu den eben auf S. 366 flüchtig angegebenen Proportionsmaßen sind
noch einzelne von Leonardo angegebene Maße hinzuzufügen, um die Ab¬
wesenheit von jeglichem »freien Schaffen« bei dieser Dürerschen Dreiviertel¬
figur vollends zu beweisen. Auf S. 41 der Seidlitzschen Zusammenstellung
steht folgendes: »In der ersten Kindheit des Menschen ist die Schulterbreite
gleich der Gesichtslänge; weiterhin gleich der Entfernung von der Schulter
bis zum Ellbogen, bei gebogenem Arm; und ebenso gleich der Entfernung
vom Daumen bis zum gebogenen Ellbogen. Sie ist gleich der Entfernung
vom Ansatz der Scham bis zur Mitte des Knies, sowie der Entfernung zwi¬
schen diesem Kniegelenk und dem Fußgelenk. Diese Maße entsprechen
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
A. Dürers »Pfeifer und Trommler«.
369
beim Kinde jedesmal einer Kopflänge... beim Erwachsenen aber ent¬
sprechen sie zwei Kopflängen... Hat aber der Mensch erst das äußerste
Maß seiner Größe erreicht, so hat jede der (beim Kinde) genannten Ent¬
fernungen ihre Länge verdoppelt....«
Wie wir im Verlaufe der weiteren Darstellung ersehen werden, hat
Dürer nicht nur die von Leonardo vorgeschriebene Konstruktion für die
allgemeine Stellung der Figur des Pfeifers, sondern auch die eben zitierten
einzelnen Maße benutzt. Bei meinen Bemühungen dies, trotz der Tracht,
möglichst genau nachzuprüfen, habe ich durch die Mitte der Schulter¬
breite der Figur eine Vertikale geführt, deren oberer Endpunkt auf die
Einbiegung in der Kontur der Kappe fällt (ungefähr auf die Mitte des
Schädels). Der untere Endpunkt fällt dann auf die Mitte des linken Fu߬
gelenkes. Vom obersten Endpunkt dieser Linie bis auf die Grenzlinie der
Kappe nach unten — d. h. bis an den Hals — abgemessen, ergibt die von
Dürer fürdiese Figur angenommene Kopflänge mit voller Sicherheit,
da: 1. dieser Abstand — gleich der Höhe der Kappe — auf der Körper¬
länge achtmal nach unten abgemessen, auf das Fußgelenk fällt, 2. von der
Schulter, oberhalb des violetten gezackten Bandes, zweimal längs des Ober¬
armes nach unten abgemessen, auf den Endpunkt des Ellbogens trifft,
(übrigens beträgt diese Kopflänge zweimal die größte Breite der linken
Hand, auf einer Horizontalen abgemessen). Somit liegt in Punkt 2 eine
Probe für die Richtigkeit der unter Punkt 1 angenommenen Kopflänge vor.
Diese Kopflänge zweimal vom Ellbogen, dem Unterarme entlang, nach
oben abgemessen, fällt auf einen Punkt, der bei dem gerade ausgestreckten
Zeigefinger der linken Hand auf dessen Spitze fallen würde. Bei diesem
Maße vermutete ich Variationen, wegen der Haltung der beiden Hände.
Eine von diesen Variationen in der Unterarmlänge ist: Die Gesichts-
länge (von der Kokarde der Kappe bis an die Kokarde des Bandes unter
dem Kinn = 1/10 der Körperlänge) zweimal vom Ellbogen, dem Unterarme
entlang, nach oben abgemessen, fällt auf den »Knorren« des Zeigefingers
der linken Hand. Jetzt aber finden sich einige Schwierigkeiten, den als
Ansatz »der Scham« angenommenen Punkt zu finden. Da Dürer die Ansatz- •
punkte seiner Messungen durchweg durch eine Besonderheit der Kontur¬
führung in den äußeren, wie auch in den inneren Konturen seiner Figuren
angibt, habe ich als Ansatz der Scham einen Punkt angenommen, der auf
der unteren Kontur der Jacke liegt und zwar auf der untersten Ausbuchtung
derselben. Wenn man von diesem Punkte zwei Kopflängen nach abwärts
aufträgt, so fällt der Endpunkt derselben auf die Mitte des Knies (immer
auf der Vertikalen der Körperlänge); zwei weitere Kopflängen nach unten
aufgetragen fallen auf das Fußgelenk. Dasselbe gilt für das Spielbein. ■
Somit ist die Figur des Pfeifers in den letztgenannten Maßen nach
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
37 °
H. von Ochenkowski,
den Vorschriften Leonardos konstruiert, die übrigen Maße dagegen scheinen
von Dürer selbst erfunden und angewandt zu sein 4 ). Sein reger Geist war
in dieser Hinsicht unermüdlich. Je nach der Kopfbedeckung und Körper¬
tracht bestimmte er die Einzelheiten in den Proportionen seiner Figuren
jedesmal anders. Die Anführung eines markanten Beispieles wäre nicht
ohne Interesse. So beträgt die Brustweite, bzw. Schulterbreite des Pfeifers
nur 1/5 der gesamten Körperlänge (= zwei Gesichtslängen) der Verkürzung
der Körperbreite wegen, die bei einer Dreivierteldrehung geringer ist, als
bei einer Frontalansicht; denn bei einer Frontalansicht beträgt die Schulter¬
breite, nach den in dem Dürerschen Buche dargelegten Maßen, zwei Kopf-
längen (= 2 x 1/8 - 1/4 der gesamten Körperlänge: *vund die prust mach
ich ober die achsel preit ein 4 teil«), im Gegensatz zu Leonardo, der bei
einem erwachsenen Manne die Schulterbreite, bei Frontalansicht, auf «/s der
Körperlänge bestimmt (L.-V. 11). Manche andere Variationen und Zu¬
sammenklänge lassen sich dadurch erklären, daß Dürer, nachdem er die
Kopflänge, den Spalt, die Kniee u. a. für eine gewisse Figur bestimmt hatte,
mit diesen Maßen im Zirkel mehrere Bögen beschrieb, um damit Anhalts¬
punkte für das Hineinzeichnen der Einzelheiten der Körperglieder und der
Tracht zu erhalten. Dasselbe Verfahren ist auch bei der Komposition von
den Details des Kopfes und der Kopftracht zu vermuten. Diese Ver¬
mutung basiere ich auf einigen seltenen Überresten von Bögen in manchen
eigenhändigen Zeichnungen Dürers für seine Proportionsfiguren (Abb. L.
120, L. 226 u. a.). Es ist mir jedoch nur in einzelnen Fällen gelungen, die
Ansatzpunkte dieser Bögen zu-ermitteln, z. B. bei der Komposition der Ein¬
zelheiten des Kopfes und der Falten des Gewandes bei der Figur des
Trommlers.
Mein Hinweis auf Leonardo scheint in diesem Falle das Vorhanden¬
sein eines Schemas für die Figur des Pfeifers deutlich zu beweisen. Falls
nun diese Gestalt aut eine mit der größten Mühe an eine Dreiviertelfigur
angepaßte Proportionenausrechnung deutet, so ist damit schon eine Wahr¬
scheinlichkeit gegeben, daß auch die übrigen Figuren in dem Bilde des
leidenden Hiobs konstruiert sind. Bei den von mir vorgenommenen Messun¬
gen habe ich bei der Figur Dürers (der Trommler) die Entfernung von der
») Damit sei auf die Proportionszcichnung Dürers hingewiesen, die in seinen »Vier
Büchern» auf S. VNIIII abgebildet ist: »Ein bewrischer man von siben haübt lengen«.
(L.-V. 12.) Die sechs Linien, die die Beugung der Schulter nach unten und der Schenkel
nach oben angeben, spielen auch bei der Figur des Trommlers eine wichtige Rolle und
sind durch die Achsel zu führen, durch die Schulterblätter, die beiden Gürtel, weiter durch
den Rand der Jacke und die Faltierung der Hose am Gesäß. Jedoch vermochte ich bis
dahin nicht zu ermitteln, wo die Endpunkte dieser Linien zu bestimmen wären, da die
Glieder von der Kleidung bedeckt sind.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
A. Dürers »Pfeifer und Trommler«.
371
äußersten Begrenzung des Kinnes (Teilpunkt des Bartes) bis zur äußersten
Begrenzung des Schädels (die durch eine dunkle Linie quer an der Kappe
angegeben ist) als Kopflänge angenommen. Diese Kopflänge achtmal von
der obersten Begrenzung der Kappe abgemessen, fällt auf das Fußgelenk
des Standbeines und ergibt somit die Körperlänge. Die Mittellinie des Ge¬
sichtes nach oben verlängert bildet mit der Begrenzung der Kappe den
obersten Punkt der Vertikallinie der Körperlänge.
Aus dem Obigen ergibt sich, daß in den Konstruktionen für einzelne
Figuren überall Variationen zu den, in den »vier Büchern von menschlicher
Proportion« angegebenen Grundrissen vorhanden sind. Somit ist das rich¬
tige Schema schwer zu ermitteln, es bedeutet aber keineswegs, daß ein
»nicht passen« der von Dürer beschriebenen, oder in Zeichnung ausgeführten
Proportionen der vollständigen Abwesenheit eines Schemas gleichkomme.
Vgl. Leonardo (L.-V. 10, S. 41): »Wolltest du aber alle deine Figuren nach
einem Maß anfertigen, so sieht man das in der Natur nicht«. Überhaupt
liegt die größte Mannigfaltigkeit in der Gestaltung einzelner Glieder und
Bewegungen dem Buche Leonardos zugrunde. Diese Mannigfaltigkeit ist
auch aus sämtlichen von Dürer ausgeführten Figuren abzulesen 5 ).
5 ) Die von Justi erwähnten und von Klaiber ausführlich besprochenen Schwierig¬
keiten, die sich bei dem Nachprüfen und Nachmessen der Dürerschen Konstruktionen
ergeben, sind nicht zu leugnen. Sie bestehen in der Tat, sind jedoch nicht unüberwind¬
lich. Eine der größten Schwierigkeiten bietet der große Maßstab der Gemälde, die als
direktes Material zum Nachmessen nicht benutzt werden dürfen, sondern nur zum Nach¬
prüfen der an kleinen Abbildungen vorgenommenen Messungen dienen können. Manche
Irrtümer sind dabei nicht zu vermeiden, da die kleinste Differenz, von 1 mm oder weniger,
die auf einer kleinen Abbildung ohne jede Bedeutung ist, bei dem Nachprüfen am Original
oder gar an einer Photographie großen Maßstabes zu einer ersichtlichen Ungenauigkeit
wird.
Infolgedessen behauptet man dann, daß das von Dürer angegebene oder von einem
Messenden vermutete Schema hier nicht zutrifft, oder gar nicht vorhanden ist. Das sei
keineswegs der Fall. Der Irrtum liegt am fehlerhaften Nachmessen und ein wiederholtes
Nachprüfen, Heraussuchen und Erfinden der richtigen Anhaltspunkte für den Zirkel er¬
gibt schließlich positive Resultate. Ich habe die ersten Messungsversuche an diesen Zeich¬
nungen von Dürer und Leonardo vorgenommen, auf denen eine gewisse Anzahl von An¬
haltspunkten, welche die beiden Künstler selbst aufgetragen haben, noch jetzt ersicht¬
lich ist. Diese Punkte sind verhältnismäßig zahlreich, sind aber oft vom Zeichner weg¬
gewischt oder durch Linien und Schatten verdeckt worden und erst für ein durch längere
Übung geschultes Auge auffindbar. Da wo sie gänzlich verwischt oder weggewischt sind,
sind sie durch eine Absonderung in der Linienführung bezeichnet (einen Schnörkel, oder
eine Einbiegung in der Kontur, einen ansetzenden Schatten usw.).
Ein Beweis dazu, daß Dürer auch in den komplizierten Stellungen und Drehungen
seiner Figuren ein Konstruktionsschema benutzte, liegt in der Zeichnung der »Liegenden
Nackten», auch »Amymona« genannt, (Albertina) vom Jahre 1501 vor (Justi S. 13).
Diese Zeichnung weist eine gewisse Anzahl von Zirkelpunkten auf, die der Deutlichkeit
Repertorium für Kunstwissenschaft XXXV 25
Digitized by
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
372
H. von Ochenkowski,
Etwaige Versuche einer, der bei der Figur des Trommlers angewandten,
ähnlichen Konstruktion (außer der links vorne in dem Stiche die »Sechs
Landsknechte« B. 88 stehendea Gestalt) sind bei dem jungen Dürer nicht
••
nachzuweisen; erst im Jahre 1504 entsteht der in Dreiecken konstruierte
Mohrenkönig aus der »Anbetung der Könige« (Uffizi). Dagegen sind häufige
Versuche eines geometrischen Schemas für die in Dreiviertelansicht ge¬
drehten Figuren — wie die des Pfeifers und des Weibes (Jabachaltar) —
schon an dem nackten Körper der Venus vom »Traum des Doktors« B. 76,
an der zur äußerst Rechten stehenden Figur der »Sechs Landsknechte«
B. 88, am Jüngling aus dem Stiche »Der Spaziergang« B. 94 und anderen
nachzuweisen, sowie in sämtlichen Gemälden, Holzschnitten und Zeich¬
nungen, deren Entstehung zwischen 1495 und 1504 gesichert ist. Jedoch
läßt sich dort nur ein undeutliches Schema nachweisen, welches an den
»bewrischen man« anknüpft; die oben erwähnten sechs Querlinien aus der¬
selben Zeichnung und, ferner, ein ausgesprochenes Parallelogramm als
Konstruktion des Oberkörpers, kommen zum ersten Male bei den Figuren
des Pfeifers und^des Weibes vor und bei einigen Gestalten aus der Grünen
Passion (1504 und 1505) 6 ).
Im Jahre 1504 kam Dürer — vielleicht mit der Hilfe Jacopo de Bar¬
baris (L.-V. 7) — zu der ersten Lösung des Problems der Proportionen
eines männlichen und weiblichen Körpers; der Beweis für die sorgfältig
ausgerechneten Längs- und Breitemaße für die Vorderansicht liegt in der
Lannaschen Zeichnung L. 173 (datiert 1504 und signiert) und in dem Stiche
»Adam und Eva« B. 1 aus demselben Jahre. Gleich darauf erfand Dürer
die Tiefenmaße für einen Körper in Dreiviertelstellung und sollte dieselben
triumphierend bei der Komposition der Gestalten des »Leidenden Hiob«
anwenden.
An Stelle der unbeholfenen Versuche, das Dreidimensionale wiederzu¬
wegen mit einem kleinen Kreis umgeben sind. Augenscheinlich wurde diese Zeichnung
von Dürer zu Konstruktionsstudien benutzt. Eine nicht geringere Anzahl von Punkten
erhalten die Tafeln der »Grünen Passion«. Als ich, von den entsprechenden Figuren der
Grünen Passion ausgehend, die Sicherheit bekam, daß auch die Flügel des Jabachschen
Altars konstruiert sind, zog ich die »Vier Bücher« von Dürer und das »Malerbuch« Leonardos
zur Hilfe heran; nicht genau passende Messungen prüfte ich solange nach, bis ich
auf das richtige, ohne Zweifel diesen Figuren zugrunde liegende Schema stieß. Nun scheint
mir der Text dieses Aufsatzes mit Sicherheit nachzuweisen, daß das Verhältnis der Kopf
und Gesichtslänge zur Körperlänge, ferner zur Länge der Arme und Beine und zur Schulter¬
breite kein »freies Schaßen« ist und daß die Analogie der Breitmaße mit den, auf die
Proportionszeichnung des »bevrischen mannes« (L.-V. 12 , S. VNIIII) von Dürer auf¬
getragenen Maßen einen weiteren Beleg für meine Behauptung bildet.
*) Die Eigenhändigkeit der Ausführung und die Datierung der Grünen Passion
wurde von J. Meder bewiesen (L.-V. 8).
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
A. Dürers »Pfeifer und Trommler«.
373
geben, treten nun im Jahre 1504 die in kühner Drehung in die Tiefe gehen¬
den Figuren auf den Stichen: »Apollo und Diana« B. 68 und die »Satyr-
familie« B. 69 (1505). (Vgl. mit B. 29 »Hl. Anna und Maria« und B. 87
»Der Fahnenträger«.) Bei der Anwendung der neuerfundenen Konstruk¬
tionsschemen erreichte Dürer den Höhepunkt in den Figuren der »Grünen
Passion« i 5 ° 4/5 (Albertina). Da wurde abwechselnd ein Rechteck (z. B.
die Figur des Heilands in der Geißelung L. 486), ein Dreieck (z. B. der
rechts vom stehende Soldat in der Kreuzigung L. 487) und ein Parallelo¬
gramm (der Henker rechts vom in der Kreuztragung L. 485) angewandt.
Für unser Thema sind die zwei letzterwähnten Figuren von Interesse, be¬
sonders die des Henkers, welcher der Drehung des Körpers, sowie der Tracht
und den Zügen des Gesichtes nach, dem Pfeifer aus dem Jabachschen Altäre
sehr nahesteht. Der Konstruktion dieser beiden Figuren liegt dasselbe
Prinzip eines mit Trapezoiden verbundenen Parallelogrammes zugrunde,
welches bei der Figur des Henkers eine äußerst glückliche Lösung fand.
Auf diese Weise bildet das Gemälde des leidenden Hiob eine Grenze
von zwei Epochen in dem Dürerschen Studium über die menschlichen Pro¬
portionen, die er mit Ausdauer und Genialität sein ganzes Leben lang ver¬
folgte. Eine weitere Bedeutung des Bildes für die eigenartige Entwicklung
Dürers erblicke ich in der Art, wie er die Züge des Trommlers zu individu¬
alisieren verstand, obwohl der Kopf durch die Strenge der Konstruktion
mit dem Körper auf eine Art verbunden ist, die jeden integralen Zusammen¬
hang scheinbar verhindern könnte; wenn auch die einzelnen Gesichts¬
teile streng in das aus Spitzwinkeln zusammengestellte Konstruktions¬
schema hineingezeichnet sind, ist doch das Gesichtsspiel nicht zu verkennen:
Der Trommler lauscht der Melodie des Pfeifers, um ihn richtig auf seinem
Instrument begleiten zu köhnen. Nicht weniger auffallend sind der Aus¬
druck, ja die gänzlich verschiedenen Gebärden bei den andern drei Ge¬
sichtern und geradezu genial erscheint die Konstruktion des nackten, kom¬
pliziert gekrümmten Körpers des Hiob.
Falls Dürer auf diese seine Leistung stolz war, hatte er hierzu volles
Recht; die Lösung der Probleme, die er sich hier stellte, überwand er nur
mit Mühe, dennoch befriedigte ihn auch diese Leistung nur für kurze
Zeitdauer. Die Art der Konstruktion des Brustkorbes wechselt schon in
der Skizze zum linken Schächer (Lasierte Federzeichnung. 1505. Albertina
L. 491), die Winkelpunkte des Parallelogramms setzen hier anders an und
zwar in einer Weise, die ihrerseits wieder als Entwicklung der neu erfundenen
und im Jabachschen Altäre und in der Grünen Passion zum ersten Male
angewandten Konstruktion zu betrachten ist. Aus dem zu der Figur des
Pfeifers angewandten Schema kommt mit einigen Variationen und bedeu¬
tender Vereinfachung der Adam des Prado (1507) heraus. (Die ganze Ge-
25*
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
374
H. von Ochenkowski,
stalt, von den Schultern bis zu den Füßen, ist in ein Parallelogramm ein¬
geschlossen). Der Figur des nacktsitzenden Hiob folgt die der Nymphe
in der Satyrfamilie (1505) B. 69, bald darauf erfindet Dürer die kompli¬
ziertesten Konstruktionen für nackte, in Verkürzung gegebene Körper im
»Marter der Zehntausend« (1507).
Außer des Konstruktionschemas für die Figuren des Bildes des leiden¬
den Hiob sind auch in der Linienführung manche Anklänge an gesicherte
Werke Dürers nachzuweisen; die Körpersilhouette des Pfeifers, besonders
aber sein rechter Umriß ist ähnlich charakterisiert, wie die entsprechenden
Momente in der Gestalt des Henkers im »Marter der hl. Katharina« (Holz-
schnitt) B. 120, oder in den Stichen: »Die Eifersucht« B. 73 (der rechte
Umriß der Herkulesgestalt) und »Die kleine Fortuna« B. 78. Besonders
zu beachten ist bei diesen drei Figuren, wie bei der Figur des Pfeifers, die
lineare Behandlung der Gürtelgegend mit dem stark ausgebuchteten schiefen
Bauchmuskel (abdominis obliquus externus). Wie gänzlich anders die
Schüler Dürers arbeiteten, ist aus der Figur des Henkers, auf dem
rechten Flügel des Helleraltares, »Marter der hl. Katharina« (Frankfurt,
Städtisches Museum), die in der Stellung den eben erwähnten ähnlich
ist, ersichtlich.
Die Art der Behandlung der Köpfe des Pfeifers und des den Eimer
leerenden Weibes ist in der Linienführung durchaus Dürerisch (vgl. mit
dem Laute spielenden Engel (1497, L. 73), mit dem Kopfe eines bartlosen
Mannes (Zchng. Bremen, Abb. Dürer Society Bd. 8, Taf. 9), mit Elsbeth
Tücher (Cassel) oder mit der Nürnberger Trachten-Figur (Albertina L. 463).
Es scheint damit bewiesen zu sein, daß die zeichnerische Komposition
des Bildes von Dürers eigener Hand stammt und daß das Bild des leidenden
Hiob nicht vor 1504 entstehen konnte.
Ich möchte nochmals darauf zurückkommen, daß wir in der Figur
des Trommlers wirklich ein Selbstbildnis vor uns haben, und da ist es doch
kaum anzunehmen, daß Dürer, welcher mit der Konstruktion zu der Zeich¬
nung dieses Bildes einen Triumph seines Könnens feierte, die farbige Aus¬
führung gänzlich seinen Schülern überwiesen hätte. Eine genaue Unter¬
suchung weist das Gegenteil auf, was man sogar aus den Details von minderer
Bedeutung, wie dem Eimer oder den am Boden zerstreuten Strohhalmen be¬
urteilen kann.
Es ist nicht zu leugnen, daß die flüchtige, breite Malweise etwas be¬
fremdend wirkt, jedoch ist es andererseits eine Tatsache, daß Dürer seine
Behandlungsart der malerischen Fläche sehr oft änderte. So gibt er z. B.
im »Marter der Zehntausend« (1508) die Licht- und Schattenunterschiede
in breiten Flächen an — soweit es die Miniaturgestalten gestatten —, ob-
Digitized by
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
A. DUrers »Pfeifer und Trommler«.
375
wohl er drei Jahre später im »Allerheiligenbilde« bei größeren Gestalten
wieder zum fleißigen Stricheln und feinstem Zeichnen der Schatten mit dem
Pinsel zurückkehrt. Ich beabsichtige nicht zu behaupten, daß der Anteil
eines Gehilfen bei der Ausführung des Bildes des leidenden Hiob gänzlich
ausgeschlossen wäre. Ein solcher ist schon an den sorgfältig in mehreren
Schichten aufgetragenen Untermalungen der breiteren Flächen zu ver¬
muten, so bei dem hellroten Mantel Dürers, bei der Hose des Pfeifers, an
den Kappen usw. Doch in der Hauptsache glaube ich hier Dürers eigene
Hand nachweisen zu können.
In der Kappe des Trommlers erkennen wir die von Dürer beliebte
Kopfbedeckung (eine altertümliche Kappe mit herabfallendem Zipfel und
einer Frange über dem linken Ohr). Die Art der farbigen Wiedergabe des
mitteldicken, dunkelgrauen Stoffes deutet auf eine der Kopfbedeckung
Wohlgemuts (Das Bildnis Wohlgemuts von A. Dürer. Nürnberg. Ger¬
manisches Museum, früher München, Pinakothek) ähnliche Behandlung.
Dürer benutzt hier ein eigenes Verfahren, indem er die Lichter nicht mit
heller Farbe dick auflegt, sondern die lichtere Grundierung durchschimmern
läßt, wie es beim Temperaverfahren üblich ist; eine Neuerung, die verein¬
zelt in Dürers Technik bleibt, sind die feinsten Schattierungen mit einem
feingespitztem Holz oder mit einer Nadel in der nassen Farbfläcbe. Das
Gesicht Dürers ist hier einige Jahre älter, als auf dem Madrider Selbst¬
bildnisse (1498), die Locken fallen freier auf die Schulter herab, der Mund
ist breiter, treuer nach dem Modell wiedergegeben, nicht etwa so, wie er
ihn, in seinen Selbstbildnissen vom Jahre 1493 und 1498, in einer etwas
zierlichen Weise zusammenzog. Und doch ist der Ausdruck des Mundes
mit dem aus dem Madrider Selbstbildnisse identisch. Der Bart ist länger,
dünner und weniger sorgfältig gekämmt, auch nur mit wenigen Einzel¬
strichen auf der braunen Untermalung angegeben. Über dem linken Auge
ist die seidenweiche Augenbraue in geschwungenen Bogenlinien mit dem
Pinsel gezeichnet (die rechte ist etwas härter behandelt); es ist die feine
Dürersche Technik, die von seiner Jugend ab,' bis auf die Porträtzeich¬
nungen aus der niederländischen Reise nachzuweisen ist. Der stark ge¬
bogene Nasenrücken ist deutlich angegeben, soweit es bei einer en face-
Ansicht möglich ist, ja fast noch deutlicher, als bei dem berühmten Münch¬
ner Selbstbildnisse. Die Hände sind nicht die Dürerschen, die bekanntlich
auffallend schön gewesen, sie sind sichtlich ohne ein sorgfältiges Natur¬
studium, vielmehr nach dem ausgerechneten Maße der Proportion gebildet.
Der hellrote Mantel Dürers ist etwas steif in den Falten, besonders an der
Brust, was auch auf die von Dürer angewandte Konstruktion zurückzu-
führen ist, da die Endpunkte der einzelnen Falten in gewisse festgegebene
Punkte der geometrischen Vorzeichnung fallen. Das Selbstbildnis entbehrt
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
376
H. von Ochenkowski,
auch nicht der gewöhnlichen Fehler des Meisters; die beschattete Gesichts¬
hälfte liegt tiefer, was besonders am Auge störend wirkt, die Irissterne
sind unrichtig eingesetzt, wodurch der Blick schielend wirkt.
Wenn auch für unser Thema die Figuren des Pfeifers und Trommlers
das hauptsächliche Interesse bieten, halte ich es dennoch nicht für un¬
wichtig, einige weitere Beobachtungen über das Gesamtbild folgen zu lassen.
So ist bei der Figur des Pfeifers, in der ich das Bildnis von Dürers Schwager
Hans Frey zu erkennen glaube, die meisterhafte Wiedergabe des durch¬
sichtigen Hemdes zu beachten, welches aus dem am Ellbogen geschlitzten
Ärmel herausschlüpft; ferner das dünne Kopf- und Schultertuch der Frau,
welches die Fleischfarbe in der feinsten Weise durchschimmern läßt. Es
sind weiter als unverkennbar eigenhändig zu betrachten: Die Wiedergabe
des Holzes der Faßdauben, die, in der nächsten Nähe betrachtet, das Geäder
des Holzes in staunlicher, miniaturartiger Ausführung aufweist, der durch¬
sichtige auf den Schultern Hiobs brausend zersteubende Wasserstrom —
der allerdings auch nur in der Nähe betrachtet zur vollen Geltung kommt.
Schließlich fällt auch die malerische Ausführung der frei und kühn hin-
geworfenen ährentragenden Halme am Boden auf. Dies konnte weder ein
Gehilfe, noch ein Maler von der Begabung eines Hans von Kulmbach, auch
nicht ir^ der reifsten Periode seines Schaffens (Johanneszyklus, Krakau,
Florianikirche) leisten.
Obwohl Dürer sekundäre Gegenstände in seinem Bilde derart fleißig
und gewissenhaft ausführte, ist es kaum anzunehmen, daß er für den Körper
Hiobs, der, rein kompositionell genommen, schon durch die gekrümmte
Stellung seinem damaligen Können fast unüberwindliche Schwierigkeiten
bot, nur die Zeichnung geliefert hätte; die Malweise, die von der farbigen
Ausführung des Kölner Bildes zu unterscheiden ist, deutet auf einen Anteil
der Schüler, deren Arbeit der Meister allerdings selbst stark übergangen
hätte. So ist das dünne Haar Hiobs mit feinen Pinselstrichen gezeichnet,
ohne Untermalung, was an sich eine Schwierigkeit bietet; diese Technik
hatte Dürer öfters bei Kinderhaaren angewandt. Einige mit dem Pinsel
gezeichnete liniierte Schatten auf der Nase und am Kinn des Weibes, am
Unterkörper Hiobs und einige Überreste von Häkchen an seinem linken
Arm, deuten auf die eigenhändige Technik Dürers, wie er sie schon in den
neunziger Jahren in seinen Federzeichnungen benutzte. Stellenweise ist
die Technik in der Pinselführung sehr geübt, so an den abwechselnd mit
tiefem und hellem Braun übergangenen Umrissen, besonders aber an den
eigentümlichen Schnörkeln der inneren Handfläche Hiobs.
Freilich steht das gesamte technische Verfahren weit hinter der Fein¬
heit eines »Allerheiligenbildes«, womit eben »der Jabachsche Altar ein treffen¬
des Beispiel für eine weniger gut bezahlte, darum auch weniger ausgeführte
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
A. Dürers »Pfeifer und Trommler«.
377
Arbeit« (H. Weizsäcker L.-V. 6) ist, aber »Dürer bleibt Dürer — sagt Weiz¬
säcker weiter —, und in der Sicherheit und Leichtigkeit, wie in dem echten
künstlerischen Feingefühl, womit auch hier die Hand dem schaffenden
Ingenium gehorcht, zeigt sich nicht destoweniger das positive Leistungs¬
vermögen des Meisters in seinem ganzen Umfang, gerade so, wie etwa in
einer leichten Federskizze von Dürers Hand, die Gewalt seiner Zeichen-
kunst vollauf zum Ausdruck kommen kann«.
Ich habe nicht Gelegenheit gehabt, die zwei Bilder aus der Münchner
Pinakothek, je zwei Heilige darstellend, ohne Glas zu untersuchen; dennoch
glaube ich auch hier dasselbe »schaffende Ingenium« zu erkennen: Der Ent¬
wurf scheint den erfinderischen Geist des Meisters selbst aufzuweisen, ob¬
wohl die Figuren weniger geistreich als in dem Bilde des leidenden Hiob
9
komponiert sind; die Farbenpracht der Gewänder kann nicht von einem
Schüler oder Gehilfen herrühren. Der Einteilung von Licht und Schatten
liegt dasselbe Farbenproblem zugrunde, welches später in den sog. »Vier
Aposteln« 1526 (München, Pinakothek) zu einer vollkommenen Durch¬
führung kam. Hier entwickelt Dürer die ganze Tiefe des Raumes mittels
der Helligkeitsunterschiede, indem er von dem Schatten links — dem Ge-
wände des Hl. Johannes — ausgehend, in die Helligkeit gelangt, die ihren
höchsten Grad im Schlüssel des Petrus und in den gehöhten Lichtern seines
Schädels erreicht. Dasselbe Problem ist in dem Gegenbilde umgekehrt be¬
handelt; da arbeitet Dürer von der Helligkeit — Rücken des Marcus —
allmählich in die Dunkelheit hinein. Treffend eingesetzte einzelne Lichter
mitten im Bildraume gleichen die Licht- und Schattenunterschiede aus.
Das gleiche koloristische Prinzip ist auf den Innenflügeln des Jabach-
schen Altars angestrebt. Auch hier sind die Helligkeitswerte nicht innerhalb
einer Figur, sondern auf je zwei Figuren verteilt gedacht. Von dem schweren
Schatten des Lazarusgewandes rechts nimmt die Leuchtkraft der Farben
gegen die Tiefe des Bildes allmählich zu. Das Umgekehrte ist in dem Gegen¬
bilde der Fall, wo das Grün vom Gewände Josephs am stärksten leuchtet
und am Goldgewande des Joachim in braune Schatten übergeht (deren
Tiefe, nach der Restaurierung des Bildes, etwas abgenommen zu haben
scheint).
Indes zeigt die mangelhafte Verteilung der Zwischenlichter, daß das¬
selbe Problem hier nicht mit derselben Klarheit und Sicherheit durch¬
geführt ist, wie in den Bildern der »Vier Apostel«; die helle Farbfläche an
der Brust des Lazarus fällt zu sehr nach rechts, ebenso ist der mittlere grüne
Schatten im Gegenbilde zu tief, wodurch die Assimilation zwischen Licht
und Schatten in beiden Gemälden undeutlich erscheint.
Alles dieses bestimmt mich, sowohl die zeichnerische, wie auch die
farbige Komposition in den sämtlichen Teilen des Jabachschen Altares (Köln,
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
37 »
H. von Ochenkowski, A. Dürers »Pfeifer und Trommler«.
Frankfurt, München) für eine eigenhändige Leistung Dürers zu halten. Ich
glaube nachgewiesen zu haben, daß die farbige Ausführung des Bildes
»Pfeifer und Trommler« und die der Innenflügel von Dürers eigener Hand
herrührt. Der Anteil des Meisters an dem vierten Bilde ist so beträchtlich,
daß eine Einreihung dieses Gemäldes in die Zahl der Werkstattbilder un¬
begründet erscheint.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Hans Holbein d. J. und Dr. Johann Fabri.
Von Hans Koegler.
Das einzige, was bisher über Beziehungen Holbeins zu Dr. Johann
Fabri, Generalvikar von Konstanz, später Bischof von Wien, ermittelt
werden konnte, ist, daß Holbein mit Dr. Johann Fabri im Herbst 1523 an
einem bisher noch nicht genauer bekannten Orte zusammen war und daß
ihm Fabri einen Brief oder Gruß oder ein Geschenk an Erasmus von Rotter¬
dam nach Basel mitgab und daß aus diesem Anlaß von Erasmus ein freund¬
liches Wort über Holbein gefallen ist, das zeigt, daß das Verhältnis des Eras¬
mus zu Holbein ursprünglich ein gutes war. Der Briefwechsel Fabris, dem
jetzt in Dr. Ignaz Staub in Einsiedeln ein Biograph *) erwächst, soll aus
der uns interessierenden Zeit noch nicht vollständig erforscht sein, aber es
kann jetzt schon für sehr wahrscheinlich gelten, daß Fabri seinen Brief oder
Gruß an Erasmus von irgendwo aus der Bodenseegegend schickte.
Ganz ausdrücklich ist es zwar nicht gesagt, daß es der Maler Holbein
war, der den Gruß an Erasmus überbracht hatte, der Überbringer erscheint
nur unter dem latinisierten Namen »Olpeius« und wird gleichzeitig von
Erasmus als Freund, »homo amicus«, bezeichnet. Wir wissen aber, daß
Erasmus einerseits den Maler Holbein »Olpeius« schrieb, und daß anderseits
ein zweiter Olpeius, der in der Korrespondenz des Erasmus gelegentlich
auftaucht, nämlich der Severinus Olpeius, hier nicht in Betracht kommen
kann.
Die Nachricht, die uns interessiert, steht in einem Briefe des Erasmus
an Johann Fabri, der in den Basler Ausgaben des Opus Epistolarum Erasmi
Roterodami von 1529, 1538 und 1558 fehlt. Der Brief ist zwar von Adalbert
Horawitz in seinen »Erasmiana II.« in den Wiener Sitzungsberichten 95
(1880), Seite 6oo, als Nr. V veröffentlicht worden, aber nach einem auch
sonst deutlich mangelhaften Manuskript in dem Gothaer Kodex A. 399,
wo der für uns wichtige Name des Überbringers des Grußes an Erasmus
»Oporinus« lautet. Horawitz notiert dazu: Oporinus, der bekannte Basler
*) Ein Teil, bis August 1532, als Dissertation der Universität Freiburg in der Schweiz
1911 erschienen. Pater I. Staub verdanke ich mehrere freundliche Mitteilungen über Fabri.
«
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
380
Hans Kocglcr,
Verleger. Johannes Oporinus stand aber damals erst im 17. Lebensjahr,
ihn hätte Erasmus nicht Freund genannt. Oporinus ist aber überhaupt eine
falsche Lesart, denn, wie ich der wertvollen und ausführlichen Mitteilung
von Mister P. S. Allen in Oxford verdanke, gibt es in Gotha in dem Kodex
B. 26 noch ein besseres Manuskript, das von Vitus Warbeck geschrieben
wurde und worin der Name des Überbringers »Olpenus« lautet. Außer¬
dem gibt es von dem Briefe schon einen alten, offenbar ziemlich gleichzeitigen
Druck, der Horawitz entgangen ist und worin der Name des Überbringers
auch nicht Oporinus, sondern mit leichter Abweichung vom Kodex B. 26
*> O 1 p e i u s « heißt. Der Titel des alten Druckes lautet: »Iudicium /
Erasmi Alberi, de Spongia / Erasmi Roterod.... / Epistola Erasmi Ro-
tero. / ad Fabrum Const. Vicarium. / Epistola M. Lutheri ad / amicum« ...
Das Büchlein trägt weder Druckort noch Druckjahr, ist von Oktavformat
und acht Blätter stark (Exemplare Zürich Stadt B. und London, Brit. Mus.).
Da der Brief im Gothaer Manuskript A. 399 auch sonst mangelhaft ist (es
fehlen zweimal ganze Zeilen), so scheidet die Lesart Oporinus aus; würde
die Lesart Olpenus die richtigste sein, so würde das ja nur noch viel mehr
für Holbein sprechen; ich halte mich aber an die mir in dem alten Druck
vorliegende Lesart Olpeius. Als Datum des Briefes steht in dem alten Druck:
Basilaeae Kal. Decemb. Anno M. D. XXIIII, also 1524, wenn nicht der erste
der vier römischen Einser überhaupt nur eine unbeabsichtigte Unreinheit
des Typensatzes ist. In den beiden Gothaer Manuskripten steht: XI. Kal.
Decemb. 1523, also der 21. November 1523. Daß dieses Datum richtig ist,
kann aus dem Inhalt des Briefes, aus den Angaben des Erasmus über teils
erledigte, teils begonnene, teils beabsichtigte schriftstellerische Arbeiten
bewiesen werden, auch die Nachricht über Murners Rückkehr aus England
stimmt dazu.
Uns interessiert hier nur der Anfang des Briefes des Erasmus, der nach
dem alten Druck zitiert sei: »Reverendo Domino, Joanni Fabro, Canonico
et Vicario Constaptien. domino meo plurimum obseruando.« — »Salutem J ),
vir amantißime, ex tua salutatione quam mihi per Olpeium misisti,
melius habui. Erat enim accurata, et veniebat ab amico, et per homi •
nem amicum. Spongiarum rursus tria milia sunt excusa, sic Visum
est Frobenio. . . .« etc.
Ist nun der Überbringer Olpeius wirklich Hans Holbein? Wie sprach¬
lich aus Olpenius oder Olpenus, das man eher erwarten würde, Olpeius werden
konnte, weiß ich freilich nicht, aber man nimmt in der Fachliteratur die
Erasmische Schreibweise Olpeius für Holbein mit guten Gründen an. P. S.
2 ) In dem Gothaer Kodex A. 399 (siehe auch bei Horawitz) heißt es: »Salve vir
optime. Ex tua salutatione, quam mihi per Oporinum misisti, melius habui. . . .♦
9
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Hans Holbein d. J. und Dr. Johann Fabri.
3*»
Allen teilt mir mit, daß er die Schreibweise Olpeius für Hans Holbein d. J.
handschriftlich nur aus einer Stelle kenne, aus einem Briefe des
Erasmus an Bonifacius Amerbach in dem Basler Manuskript A. N. III, 15
S. 47. Der Brief ist aus Freiburg vom 10. April 1535 datiert, doch soll das
Datum unrichtig für 1533 stehen. Die Stelle mit den höchst unfreundlichen
Äußerungen des Erasmus über Olpeius ist von Dr. C. Chr. Bernoulli in
Nr. 296 der Basler Nachrichten 1902 veröffentlicht und in der Erläuterung
auf Hans Holbein bezogen worden, was sehr viel Wahrscheinliches für sich
hat, denn von einem anderen Olpeius wissen wir nicht, daß er in Antwerpen
und in England gewesen sei. Erasmus schreibt da an Amerbach: *Sub-
ornant te patronum, cui uni sciunt me nihil posse negare. Sic Olpeius per
te extorsit litteras in Angliam. At is resedit Antuerpiae supra mensem,
diutius mansurus, si invenisset fatuos. In Anglia decepit eos, quibus fuerat
commendatus.« In der Verdeutschung von Bernoulli: »Dich stellen sie als
Fürsprecher an, denn sie wissen, daß du der Einzige bist, dem ich nichts ab-
schlagen kann. So hat mir Olpeius (= Holbein) durch dich einen (Emp-
fehlungs-) Brief nach England abgerungen; aber er verweilte doch in Ant¬
werpen einen Monat und wäre noch länger geblieben, wenn er (dort) Toren
gefunden hätte. In England hat er die getäuscht, an die er empfohlen
worden war.« — Wenn hier die Deutung auf Hans Holbein sehr wahr¬
scheinlich war, so ist sie dagegen ganz gewiß in einem Briefe des Erasmus
an Thomas Morus, der von Freiburg i. B. Non. Septemb. 1529 datiert und
in der Basler Ausgabe des Opus Epistolarum Erasmi (1558) auf Seite 1022/23
steht. Erasmus schreibt da dem Thomas Morus, warum er Basel den Rücken
gekehrt habe und wie er sich in Freiburg in dem ihm angewiesenen Hause
wenig wohl fühle. Darauf folgt der Seufzer: »Utinam liceat adhuc semel
in vita videre amicos mihi charissimos, quos in pictura quam Ol¬
peius exhibuit, utcunque conspexi summa cum animi mei voluptate.
Bene vale cum tibi charissimis omnibus.« Hier ist also ganz deutlich von der
berühmten Basler Holbeinzeichnung der Familie des Thomas Morus die
Rede als dem Gemälde, das Olpeius = Holbein dargestellt habe. Mit diesem
sicheren Nachweis der Erasmischen Schreibweise Olpeius für Hans Holbein
d. J. wären wir auch für unseren ursprünglichen Brief des Erasmus an Fabri
schon am Ziele, wenn nicht noch ein anderer Olpeius, der Severinus Olpeius,
in der Korrespondenz des Erasmus vorkäme. Was ist's mit diesem Seve¬
rinus Olpeius, und ist er oder Hans Holbein in dem Briefe des Erasmus an
Fabri gemeint?
Von Severinus Olpeius schreibt H. Dal ton im III. Bande seiner Bei¬
träge zur Geschichte der evangelischen Kirche in Rußland, Seite 110, An¬
merkung i: »Er war aller Wahrscheinlichkeit nach ein Angestellter und
Briefbote des Buchhändlers Koberger (in Nürnberg).« Nähere Anhalte für
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
382
Hans Koegler,
diese Vermutung habe ich in der Literatur nicht gefunden. Severinus Olpeius
wird nun zweimal in Erasmus-Briefen 3 ) des Jahres 1527 erwähnt, sonst
kommt er, wie Mister P. S. Allen mitteilt, im Verkehr mit Erasmus nicht
mehr vor. Einmal wird Severinus Olpeius auch 1528 in einem Briefe des
Johann a Lasco 4) an Bonifacius Amerbach genannt.
In dem Briefe, den der Arzt Johannes Antoninus 5 ) am I. April 1527
von Krakau aus an Erasmus nach Basel richtete, stellt Johann Antoninus
dem Erasmus den Jüngling Severinus Olpeius, der den Brief überbringt,
wie eine bisher unbekannte Persönlichkeit vor. Der Briefschreiber sagt,
er habe nicht alles zu schreiben für Tätlich gehalten, das übrige werde Seve¬
rinus mündlich mitteilen. »Caetera dicet amplitudini tuae Severinus hic,
juvenis ad studia natus, qui mecum magnam partem hyemis domi meae
vixit.« Da also Severinus Olpeius einen großen Teil des Winters in Haus¬
genossenschaft mit Herrn Antoninus wohnte, so ist es ganz undenkbar, daß
dieser Jüngling, als er mit Briefen zu dem weltberühmten Erasmus nach
Basel geschickt werden sollte, seinem Auftraggeber und Hausherrn nicht
gesagt haben sollte, daß er Erasmus ja bereits kenne und sogar schon
einige Jahre früher von diesem Freund genannt worden sei. Also kann
Severinus Olpeius nicht jener Überbringer des Grußes von Fabri an Erasmus
gewesen sein, dann bleibt aber nur Hans Holbein übrig.
Einen Augenblick lang konnte Bedenken erregen, daß Fabri ungefähr
um die kritische Zeit des Jahres 1523, die uns hier interessiert, nach Nürnberg
reist, wo Dalton in seinen Beiträgen ja auch den Severinus Olpeius angestellt
vermutet. Aber der Gruß Fabris an Erasmus kann noch nicht von Nürnberg
aus geschickt sein, denn Fabri hat noch am 16. November von »Lienz« 3 4 5 6 )
3 ) Brief des Erasmus von 1527 (ohne Monatsangabe) aus Basel an Johannes a
Lasco, Praepositus Gnesensis, im Opus Epistol. Erasmi 1558, p. 654. — Erasmus schreibt:
»Quae misi proximis nundinis, videntur ad te nondum perlata. Itemque scripsi per Seve-
rinum Olpeium, qui se praedicabat istuc proficisci.«
4) Brief von Johannes a Lasco vom 20. Februar 1528 aus Petrikau an Bonifacius
Amerbach, abgedruckt bei Dalton, Beiträge III, S. 109, Nr. 15. — Joh. a Lasco schreibt:
»Accepi omnia quae per Severinum miseras, Amerbachie carissime ... .4
5 ) Brief des Johannes Antoninus vom 1. April 1527 aus Krakau an Erasmus nach
Basel, abgedruckt bei J. Förstermann und 0 . Günther: Briefe an Desiderius Erasmus
von Rotterdam (Beiheft XXVII zum Zentralblatt für Bibliothekswesen, 1904),
S. 70, Nr. 65.
6 ) Freundliche Mitteilung von Dr. J. Staub. Der Brief aus Lienz ist abgedruckt
bei Joh. Strickler, Actensammlung zur Schweizerischen Reformationsgeschichte I, Nr. 703.
Unter »Lienz« kann nach allem, was man von Fabris Leben weiB, nur Linz an der Donau
gemeint sein. — Erzherzog Ferdinand, dessen Rat Fabri seit kurzem war, traf am
29. November 1523 in Nürnberg ein, am 4. Dezember folgte ihm sein Rat Salamanca.
(Dr. Staub.)
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Hans Holbein d. J. und Dr. Johann Fabri.
383
aus einen Brief an Bürgermeister und Rat der Stadt Zürich geschickt. Eis
ist unmöglich, daß er von diesem Orte so schnell nach Nürnberg hätte kommen
und von dort aus den Olpeius so schnell nach Basel hätte schicken können,
daß Erasmus in Basel schon am 21. November darauf antworten konnte.
Unter »Lienz« kann kein anderer Ort gemeint sein, als Linz an der Donau.
Fabri hielt sich, wie man aus einem Brief von ihm an Bernhard Cles,
Bischof von Trient, erfährt, am 10. September 1523 in Wien auf. Seinen
Brief vom 16. November aus Linz (an der Donau) schrieb er offenbar
auf dem Weg von Wien zum Nürnberger Reichstag (Mitteilungen von
Dr. Staub). Anderseits geht aus manchen Nachrichten hervor, daß sich
Fabri noch Ende August oder Anfang September in
Konstanz befand. (Nach Dr. J. Staub). Fabri hat also, nach aller
Wahrscheinlichkeit, seinen Gruß an Erasmus nach Basel um jene
Zeit noch aus der Bodenseegegend geschickt; gewiß nicht erheblich
früher, weil in dem Gruß oder Brief offenbar schon die Mitteilung
enthalten war, daß Fabri demnächst nach Nürnberg verreisen werde,
wie man eben aus dem Antwortschreiben des Erasmus erkennen
kann, denn es steht eine Empfehlung an Bilibald (Pirckheimer) darin,
außerdem trägt die von Horawitz publizierte Fassung dieses Schreibens
schon Nürnberg in der Adresse. Fabris Anwesenheit in Nürnberg ist erst
vom 17. Januar 1524 bezeugt, aber schon früher wahrscheinlich (Dr. Staub).
Trotzdem kann sein Gruß an Erasmus nicht aus Nürnberg sein, wie wir sahen,
und somit scheidet Severinus Olpeius auch nach dieser Hinsicht aus.
Für Holbeins Leben hätten wir also die Nachricht gewonnen, daß er
etwa Anfang September 1523 aus der Bodenseegegend nach Basel unterwegs
war und daß er den sehr einflußreichen Konstanzer Generalvikar Dr. Johannes
Fabri kannte; beides kann gegebenenfalls auch für sein Werk wichtig sein.
Holbein konnte Fabri, der aus Leutkirch im Allgäu ein näherer Lands¬
mann des Augsburger Malers war, zunächst ganz gut aus der Zeit von Fabris
Basler Offizialamt kennen, das dieser am Gerichtshöfe des Basler Bischofs
Christoph von Uttenheim von Ende 1513 bis Anfang 1518 innehatte. Ob
die Bekanntschaft weiter zurückliegt, kann nicht direkt vermutet werden,
wenn sich auch gewisse entfernte Möglichkeiten denken ließen. Fabri hatte
seit etwa 1511 das Vikariat, seit etwa 1516/17 das richtige Pfarramt an der
Stadtpfarrkirche St. Stephan in Lindau inne. Daß er auch gelegentlich von
Basel nach seiner Pfarrei gekommen sei, ist denkbar. Unter den Kirchen,
deren Kirchenzehnt zu den Einkünften der Stadtpfarrei St. Stephan in
Lindau gehörte, war auch die von Rickenbach. In der Maria-Wallfahrts¬
kirche in Rickenbach wurde das früheste Gemälde Hans Holbeins d. J.,
die Basler Madonna von 1514, gefunden. Dies Gemälde war von dem Kon¬
stanzer Domherrn Johann von Botzheim bestellt worden. Botzheim und
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
3 8 4
Hans Koegler, Hans Holbein d. J. und Dr. Johann Fabri.
Fabri haben sich später gut gekannt, vielleicht auch damals schon. Es wäre
immerhin denkbar, daß Fabri von Holbeins Tätigkeit schon während dessen
Wanderzeit in der Bodenseelandschaft gehört oder gewußt hätte und daß er
und Johann von Botzheim vielleicht irgendwie in Holbeins Entschluß nach
Basel zu kommen, mit hineinspielten. Aber das wären nur ferne Möglich¬
keiten, sind keine direkten Vermutungen.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Der Bauer in der deutschen Malerei
von ca. 1470 bis ca. 1550.
Von Berthold Haendcke.
Es ist eine bekannte Tatsache, daß das Tun und Treiben der deutschen
Bauern seit dem späten 15. Jahrhundert häufiger dargestellt wurde, ohne
daß inan bisher ernstlich versucht hat, die zwei Fragen zu beantworten:
1. warum dies gerade damals geschah, und 2. ob der deutsche Künstler
zu einer künstlerisch abgerundeten Schilderung gelangt ist *). Mit all¬
gemeineren Hinweisen auf den Bauernkrieg oder auf den der Umwelt zu-
gewandten Renaissancegeist und ähnlichen Redewendungen ist so gut wie
nichts getan. Eine jede starke künstlerische Regung geht aus dem innern
Drängen der betreffenden Zeit hervor. Der Kunsthistoriker darf also über
die Künstlergeschichte und über feinsinnige Betrachtungen von Kunst¬
werken hinsichtlich Raumwirkung, Farbenwerten, Bildformat und ähn¬
lichem mehr nicht vergessen, daß die Geschichte der Kunst als ein Teil der
Entwicklungsgeschichte der Völker betrachtet werden muß. Deshalb ist es
also in diesem speziellen Falle erlaubt zu fragen: warum tritt der deutsche
Bauer seit etwa 1470 in den Blickpunkt der Künstler? Die Beantwortung
dieser Frage wifd nur durch kulturgeschichtliche Erwägungen möglich sein.
Wir haben deshalb zunächst unser Augenmerk auf die Entwicklung der
bäuerlichen Verhältnisse in Deutschland oder, schärfer Umrissen, in Süd¬
deutschland zu lenken. Ich betone dies deshalb, weil die Situation der Bauern
in Pommern, wie sie etwa C. Fuchs schildert, oder in Kursachsen, wie sie u. a.
Haun darstellt, eine wesentlich andere als im Elsaß und im heutigen Süd¬
deutschland ist.
Im Laufe des 14. Jahrhunderts war eine starke Zersplitterung des
Landbesitzes eingetreten, so daß im späten Mittelalter der Schwerpunkt
der Landwirtschaft in den kleinen bäuerlichen Betrieben lag; jedenfalls
muß dies gelten für die Gebiete des Taubertals, des Bruhrams, der Ortenau,
des württembergischen Neckartales und des Elsaß. Da im späteren 14. Jahr-
*) Dies geschieht auch nicht in der Monographie »Der Bauer« von A. Bartels.
Jena 1900.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
3 86
Berthold Haendcke,
hundert das energische Emporwachsen der Städte dem flachen Lande viel
Menschenmaterial entzog, so erhielt hier das Tagwerk hohen Lohn. Auch
als im späten 15. Jahrhundert eine Zunahme der Bevölkerung auf dem
Lande erfolgte und die letzte Möglichkeit in die östlichen Kolonien Deutsch¬
lands abzuwandern, geschwunden war, andererseits die Landsknechts¬
werbung noch nicht oder nicht genügend Erleichterung verschaffen konnte,
da änderten sich diese günstigen Verhältnisse insofern für die Bauern zu¬
nächst nicht, als die Städte konsumfähiger geworden waren. Dem entgegen
war aber durch die Steigerung der Grundrente und durch die Geldwirtschaft
der Bauer ständig in eine schwierigere Lage gegenüber den Herren, d. h.
dem Adel und den Klöstern, gekommen. Zu alledem hatten sich gerade
um die Wende des 15. Jahrhunderts zum 16. auch unter den Bauern offen¬
sichtlich die Anforderungen an das »gute Leben«, das ja überall in Deutsch¬
land damals sehr gepflegt wurde, erheblich gesteigert. Ein Fastnachtsspiel
des 15. Jahrhunderts »DerPauer« sagt: »Daz die ritter und ire kind / anders
denn sie gekleidet sind / Die nemen gar scr ab / an tugenden alle tag / Die
pauerschaft hoch steiget«. Diese Üppigkeit herrschte besonders in den
Ländern, in denen der Bauer reicher geworden war, im Rheintal, im Breisgau
und im Elsaß, wo unter dem Bundschuh die ersten Vorboten des Bauern¬
krieges sich bemerkbar machten. Die beste Schilderung hiervon gab un¬
streitig Sebastian Brandt in seinem »Narrenschiff«. Natürlich kamen viele
Bauern auch durch dies Leben in Schulden. »Kein einfalt ist me in der Welt,
die Bauren stecken ganz voll gelt, die Bauren tragen siden Kleid, gülden
Ketten an dem Leib.«
Der Luxus auf dem Lande war so groß geworden, daß der Reichstags -
abschied 1497 bestimmt, »daß der gemaine Pauersmann und arbaitend
Leut in Stätten oder auf dem Land kain Tuch machen oder tragen soll, daß
die Eie über ainen halben Gulden kostet; auch sollen sie kainerlay Gold,
Perlen, Sammet, Seiden noch gestückelt Klaider tragen noch ihren Weibern
noch Kindern zu tragen gestatten«. Eine Dichtung des 15. Jahrhunderts
»Der Ring« des Heinrich von Wittenweiler führt das grobüppige Leben
der Bauern vor. Wimpheling bemerkt in »De arte impressoria«: »Der Reich¬
thum und der Wohlstand haben die Landleute aus ihrer Einfachheit heraus¬
treten lassen. Ich kenne deren, welche bei der Hochzeit ihrer Söhne und
Töchter oder bei Taufen so gewaltige Ausgaben machen, daß man dafür
ein Haus mit Zubehör und noch ein Rebstück kaufen könnte«. Zu diesem
bei der ganzen Sachlage, möchte man sagen, selbstmörderischen Lebens¬
wandel — selbst wenn wir auch 50 Prozent von den Erzählungen abziehen —
kam das stetig mehr hervortretende Bestreben der süddeutschen Herren,
den hörigen Bauern, der in großer Mehrzahl vorhanden war, in die eigent¬
liche Leibeigenschaft zu drängen. Auch die freien Bauern wurden an der
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Der Bauer in der deutschen Malerei von ca. 1470 bis ca. 1550.
387
Freizügigkeit möglichst gehindert. Die Markgenossenschaft, lehrt der wohl
beste Kenner dieser Lande, Gothein, die oft die Untertanen verschiedener
Landesherren verband, sollte zerrissen werden, die Bauern sollten alles
aus des Herrn Hand nehmen. Der gelehrte Richterstand stand dem Bauern
und dessen althergebrachten Ordnungen nicht nur hochmütig, sondern mit
den nun einsetzenden Rechtsanschauungen, die dem römischen Rechte
entnommen waren, in geradezu gefährlicher Weise entgegen. Maurer spricht
offen aus (Fronhöfe 4, Seite 484), daß vom nationalen Standpunkt die
Aufnahme des römischen Rechts als ein Nationalunglück zu betrachten
sei. Dem Bauern wurde nämlich tatsächlich der freie Gerichtsstand ge¬
nommen. Zu alledem kamen Einzelheiten, wie die überaus stark zunehmende
Jagdlust der Herren, die Menschen wie Felder in unbekanntem Maße be¬
anspruchten. Dazu trat das noch gefährlichere Sinken der Landesprodukten-
preise seit etwa 1500 und auf der anderen Seite das Steigen der Preise aller
anderen notwendigen, wie erstrebten Dinge. Die Folgen der zunehmenden
Vermögensansammlungen in verhältnismäßig wenigen Händen mußte
weiterhin in erster Linie die in ihrer Handlungsfähigkeit beengten Bauern
bedrücken. Diesen volkswirtschaftlichen Erscheinungen gesellen sich aber
Imponderabilien zu, die nicht zum mindesten dazu beigetragen haben, die
Psyche des Bauern in Erregung zu versetzen und auch die Künstler zur
Verdolmetschung des Sollens und Wollens der Bauern anzuregen. Die
Bildung der Bauern war zwar auf einem recht mittelalterlichen Niveau
stehen geblieben, aber völlig unberührt hatte sie das leise Verschmelzen
aller Stände auch nicht gelassen, und so war doch ein Strahl vom Geiste
des Reformationszeitalters, der nach Persönlichkeitsbetätigung drang,
auch in die Seele des Bauern gefallen.
Gott peschuf den edeln Ackermann;
Besse« freuntz ich nye gewan;
#
Der hat mir vater und muter ernärt
Got hat yn der werlt peschert,
hören wir in der »Bawrn lob« im späteren 15. Jahrhundert. (Mutet nicht
der Martin Wörnle zugeschriebene Holzschnitt, der bäuerliche Gerätschaften
zu einer Männerbüste zusammengestellt zeigt, wie eine Illustration zu diesen
Worten an?) Das ständig wachsende Eindringen der Herrenrechte und die
immer drohender werdenden Versuche auch mittels des neuen Rechtes
hatte anderseits eine starke Empörung des sozialen Bewußtseins im Bauern
wachgerufen, in ihm und in der Seele derjenigen, die sein Los nicht mit
dem Auge des landbesitzenden Herrn betrachteten. Die »Außenbürger«
bildeten hier eine wichtige Verbindung zu einer breiten Schicht der städtischen
Bevölkerung und damit zur städtischen Kultur. Zu alledem kam die Re¬
formation, die ja nicht nur eine religiöse Freiheit der Christen verkündete,
Repertorium für Kunstwissenschaft, XXXV. 26
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
388
Berthold Haendcke,
nicht nur einer viele Jahrhunderte alten Tradition herausfordernd gegenüber¬
stand, sondern die auch sehr reale Befreiungen wie Rechte den Herrschenden
zugestand. Die Begehrlichkeit der Laienkultur, die in den Städten seit
langem eine gute Stätte gefunden hatte, sie griff auch auf das Land hinüber.
Der Bauer, ob arm, ob reich, wünschte nun auch seinen »Platz an der Sonne«
zu haben. In zahlreichen kleinen Gedichten äußert sich jetzt der Bauer
über die religiösen Fragen seiner Zeit, wie etwa in »Ain schöne auslegung
über das göttlich Gebet Vaterunser, das uns Gott selbst gelernt hat. Das
hat betracht ain armer Bauer, der weder lesen noch schreiben kan« (1523)
oder in dem Fastnachtsbrief von 1524 von Bavo von Minden: »Claws Bur
bin ick genannt; en vastelavendes Kind gebaren; min Vader heft mi utgesant;
de warhfit tö verklären.«
Der Bauer wurde geradezu gleichbedeutend mit »Volk«. Er repräsen¬
tierte das Volk, denn der Karsthans, d. h. der Hans, der mit dem Karst
arbeitet, eben der Bauer, ist eigentlich nichts anderes als eine Verkörperung
der Volksmasse und ihrer Wünsche. In den vielen Satiren und Pasquillen
dieser Tage ist es immer der Bauer, dem die Angriffe auf die »Gült« nehmenden
Städter, auf die Geistlichkeit und die ihre Gewalt mißbrauchende Obrigkeit
in den Mund gelegt werden. Es wird aber auch immer bestimmter von ihm
ausgesprochen, daß er sein Recht der Selbsthilfe oder Selbstverteidigung
kenne. Nach theoretischer Betrachtung dieser ganzen Periode hätte der
Bauernkrieg eigentlich schon wesentlich früher kommen müssen. Die poli¬
tische Stellung der Schweizer bestimmte, ich folge hier Gothein, in Süd-
und Mitteldeutschland über die Gefährlichkeit der Bauern. Der Sieg über
den Herzog von Burgund rief überall in den Hütten Selbstbewußtsein hervor,
um so mehr, als Maximilian die Politik verfolgte, mit Hilfe nationaler Be¬
geisterung den Reichstagen und ihrem hochsinnigen Führer Berthold von
Mainz Schach zu bieten. Seit den 70er Jahren des 15. Jahr¬
hunderts erwartete der Bauernstand eine große politische Entwicklung,
und diese Erwartung äußerte sich in konvulsivischen Bewegungen, als sie
getäuscht wurde. Damals entstand der Schwäbische Bund, in dem sich Adel,
Bürgertum und Landsknechte gegen die allen gefährliche Bauernrevolution
verband. Die ganze in weitem Wortsinne politische Atmosphäre war also,
darf man sagen, erfüllt von dem Bauern und seinem Geschick. Die Kunst
greift aber bekanntlich stets im Augenblick kurz vor der Expansion der
Kräfte zu. Für die Maler der 20er Jahre des 16. Jahrhunderts kam außerdem
noch ein höchst persönlicher Antrieb hinzu, sich eines Stoffes wie der Bauern
Leid und Kampf anzunehmen. Auch die Künstler waren plötzlich Enterbte
geworden. In einem Aufsatze in den Monatsheften für Kunstwissenschaft
(1911) habe ich über die wirtschaftliche Lage der bildenden Künstler etwas
eingehender gehandelt. Eine Bemerkung gehört hierher. Der Bruch mit
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Der Bauer in der deutschen Malerei von ca. 1470 bis ca. 1550.
389
der Kirchenlehre hatte, um mich kurz zu fassen, die Schilderung der gesamten
überÜeferten religiösen Vorstellungswelt überflüssig gemacht, den Christen
allein auf den geistigen Gehalt der Heiligen Schrift verwiesen. Luther hatte
sich zwar in einem, wie wir heute sagen würden, freikonservativen Sinne
Ob«r die Bilder religiösen Inhalts ausgesprochen; aber der Anthropomorphis¬
mus, der die mittelalterliche Religiösität in der Christenheit beherrscht
hatte, war beseitigt, und damit der Grund für das Malen und Meißeln
der religiösen Legend*im engeren und weiteren Sinne soweit sie der Erbauung
dienen sollte. Dies tatsächliche Ergebnis der hier im Wortsinne protestieren¬
den Lehre brachte die Maler und Bildhauer in eine schwere finanzielle Not¬
lage, aus der sie nur eine Erweiterung des Stoffgebietes erretten konnte.
Man muß dabei in Erinnerung behalten, daß bis in die 30er Jahre des 16. Jahr¬
hunderts fast ganz Deutschland von der Nordsee bis an die Bayerischen
Alpen protestantisch war. Der Große Kurfürst v»n Bayern, Max I., sagte:
»Hätten nicht Unsere in Gott ruhenden Eltern mit solchem Eifer und Ernst
ob der Religion und Priesterschaft gehalten, durch die geistliche Obrigkeit
wären dieselben wegen ihrer Konnivenz und Kaltsinnigkeit nit erhalten
worden.« Im Jahre 1564 sollen sich sogar in Österreich nur ein Drittel Katho¬
liken befunden haben 1 ). Die Gebrüder Beham haben in jenen oft zitie»ten
Verhandlungen vor dem Nürnberger Rat am klarsten für uns erkenn¬
bar und ganz einwandfrei die wirtschaftliche Lage der Künstler in dieser
Zeit gekennzeichnet. Es hieß einfach, neue Erwerbsquellen öffnen. Die
Morgengabe der neuen Zeit an die Kunst bestand in dem Hinweis, die
Welt des Alltags um ihrer selbst willen zu schildern. Und zwar mittels des
Zeichenstiftes, der armen und doch so reichen Schwarzweißkunst. Es war
unstreitig das gegebene Material. Arm genug, um diesen der religiösen
Historienmalerei so weit nachstehenden »Fächern« dienen zu dürfen und
andererseits so geeignet, die nachschaffende Phantasie des Beschauers
anzuregen, um die leichten Andeutungen zu lebensstarken Bildern zu er¬
gänzen.
Wie sich dies im einzelnen vollzogen hat, kann die Bauernmalerei
dieser Zeiten, die neben der Landsknechtsschilderei im Vordergründe des
Interesses stand, lehren. Der Bauer war der deutschen Kunst bis ins
späte Mittelalter ein Fremdling geblieben. Als im 15. Jahrhundert die
deutsche Malerei die alltäglichen Erscheinungsformen fester zu fassen begann,
da stattete sie zuerst die »Monatsbilder«, den alttraditionellen Stoff, mit all
den Einzelheiten aus, welche die gesteigerte Beobachtungsfähigkeit wie die
erweiterten technischen Mittel erlaubten. Hier, wie in anderen Bildern
f ) Vgl. dazu auch Haendcke, Deutsche Kultur im Zeitalter des 3oj. Krieges E. A.
Seemann, Leipzig 1906. S. 211 fg., 429 fg.
26*
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
39 °
Berthold H^cndcke,
aus dem bäuerlichen Leben, finden wir im Grunde zunächst nichts als
Illustrationen der bäuerlichen Arbeiten in den einzelnen Monaten, aber
schon frühe begegnen wir Werken von nicht verächtlicher künstlerischer
Kraft, wie etwa in den Zeichnungen zum »Defensorium Mariae« vom Bruder
Antonius von Tegernsee (1459), wo trotz einer recht mangelhaften Form¬
behandlung »dei Hirte« einen »selbstständigen Naturalismus in den hübsch
zum Bilde gerundeten Darstellungen zeigt« (Riehl). Auf dieser Stufe steht
auch das etwas ältere Blatt mit den pflügenden und mähenden Bauern in
»Deutsches Kalendarium« Passau 1445 (Kautsch, Rep. f. Kunstwissensch. 20,
S. 32). Als ein für uns frühes Beispiel sei ferner das um 1470 zu datierende
Blockbuch von »Wirkung der Planeten« erwähnt (Berlin). Wesentlich
lebensvoller ist der trotz mancher Unrichtigkeiten frei gezeichnete ackernde
Bauer im Buche vom »Leben des hochberühmten Fabeldichters Aesopii«
von 1475. Von frei gestaltender Künstlerschaft kann aber noch lange nicht
gesprochen werden. Man darf höchstens sagen, daß eine Anzahl gut ge¬
sehener und empfundener Eindrücke mehr oder weniger geschickt zueinander
gesetzt s*nd. Die Literatur, die novellistische wie die wissenschaftliche,
brachte neue Anregung, stellte weitergehende Forderungen auf. So erwarb
der Historiker in Werken wie in der »schwäbischen Chronik« von Th. Lirer
(Ulm, Dinkmuth, i486) dem Künstler ein von der Überlieferung freies Feld,
den Bauern in seiner Arbeit zu schildern. Es sei z. B. an die Darstellung
der Erzählung erinnert, nach der König Lucius von Schotten einen in den
Viehstand eingefallenen Bären zur Strafe angespannt hat und mit diesem
•
pflügen läßt. Links sehen wir eine Burg auf Felsen, rechts zurück eine Kirche
und vorne den Pflüger, wie den erschlagenen Ochsen. Ein vorzüglich lebens¬
volles Bauernbild, wohl etwas illustrativ behandelt, aber bis zu den Vögeln
in der Luft gut gesehen und auch einigermaßen in sich abgerundet. Ganz
losgelöst von irgendeiner literarischen Überlieferung ist Schongauers Blatt
»Bauern zum Markte ziehend«. Von derselben Auffassung, wenn auch nicht von
derselben Qualität, ist etwa der »Bauerntanz« in Diebold Schillings Schweizer¬
chronik (Handschrift, Luzern Bürgerbibliothek, 1484). Das Bild ist offenbar
frischweg von der Dorfstraße genommen. Hier wäre ferner die Studie mit
einem Bauerntanz in Weimar anzuschließen, die zirka 1490 datiert wird.
Wir haben in diesem Falle offenbar eine Skizze vor uns, die vor der Natur
gewonnen und gezeichnet ist. Überall aber ist, wie auch in dem »Bauern-
turnicr« in Erlangen im Grunde nur ein Entwurf gegeben, kein Bild. Dieselbe
Frische der Beobachtung und den nämlichen naiven Erzähkrton finden wir,
um ein weiteres Beispiel von dieser Entwicklungsstufe zu geben, in Schedels
Wcltchronik von 1493 (S. 187), wo ein Tanz von vier Paaren nach der Musik
zweier Musikanten, die rechts stehen, aufgeführt wird. In die weite ebene
Landschaft sind diese von der Tanzlust gepackten, im Gehtanz dargestellten
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Der Bauer in der deutschen Malerei von ca. 1470 bis ca. 1550. 391
Bauern in angenehmen Bewegungen derartig dargestellt, daß das Motiv
als künstlerisch erkannt betrachtet werden darf, aber es fehlt trotz des klar
ersichtlichen Strebens nach Raumfreiheit und Raumausfüllung das bild¬
mäßige Zusammensehen und Differenzieren der Teile im Hinblick auf ein in
sich abgerundetes Ganze. Dasselbe ist zu bemerken von den Holzschnitten in
P. de Crescentius' »Von der Nutz der Ding« (Straßburg 1493). Das Werk
erklärt in stieng wissenschaftlicher Weise die Tätigkeit des Landbebauens
im weiteren Sinne. Der Künstler hatte nach Angabe des Textes und nach
seiner Beobachtung die charakteristischen Einzelheiten der jeweilig zu
schildernden Tätigkeit darzustellen. Einzelne Blätter, wie der »Schnitter
mit Frau«, haben eine intime Abgeschlossenheit erhalten, die trotz des recht
mäßigen Schnittes an Ludwig Richter erinnert. Man spürt ein naives, tiefes,
aber noch unbeholfenes künstlerisches Einfühlen in die kleinen Szenen.
Diese emsige Einzelbeobachtung baute den Weg der letzten Endes zu
einem wirklichen Bauernbilde führen konnte. Die Aufgabe des 15. Jahr¬
hunderts bestand auch in diesem Falle dann, eine Unmenge kleiner und
kleinster Einzelheiten mit höchstem Fleiße zusammenzutragen und sie in
übersprudelnder Fülle und Hast darzustellen. Eine der besten Leistungen
verdanken wir Norddeutschland. Die niederdeutsche Bibel, die in Lübeck
1494 erschien, bietet hier und da Bauerndarstellungen, wie etwa im »Verkauf
Josephs«. Das Bild ist natürlich durch die Erzählung orientiert, aber, ab¬
gesehen von der Kleidung des Kaufmanns, erhalten wir eine Handlung dar¬
gestellt, wie sie sich in Deutschland ereignet haben könnte. Die Bauern zur
Rechten, zwischen ihnen der gefesselte Knabe, erscheinen wie in dieser
Situation gesehen. Wir bekommen geradezu einen Bildeindruck. Und was
nicht minder beachtenswert ist, de Köpfe sind vortrefflich charakterisiert.
Eis ist ein niedersächsischer Typus unverkennbar.
Als allgemein für unser Thema wertvoll sei in Parenthese eingefügt, daß
die Literatur ganz ähnliche, nur nicht so sicher ausgetretene Wege gegangen
ist. Das 15. Jahrhundert bietet nur allgemeine Redensarten über die Tätig¬
keit des Bauern, erst das 16. Jahrhundert bringt Schilderungen, wie die
Hans Rudolf Manuels »Am Morgen frue vom Bett ufstahn, die Kühe
melchen, den Süwen misten, die Benck faegen, Kasten und Kisten und
Sorg zehan in anderen Dingen: darhinder mag ich sy nit bringen.« Auch
Hans Sachs hat dann in »Jacob Ruf« (1539) derartiges geboten.
Die Malerei des 16. Jahrhunderts faßte alles bestimmter zusammen
und schied die Spreu von dem Weizen. Aus dieser Auffassung heraus ent¬
standen die Arbeiten Albrecht Dürers, Holbeins, Schäufelins, Weiditz',
Burgkmairs usw., die den Typus »Bauer« schufen.
Dürer führte als Zeichner vor allen anderen in Deutschland das Studium
der Physiognomik des Bauern ein. Allerdings hat er nicht als Erster Köpfe
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
392
Berthold Haendcke,
von Bauern in größerem Maßstabe gezeichnet, wie das Einzelblatt im Berliner
Kupferstichkabinett beweist. Aber seine drei berühmten beieinander
stehenden Bauern versinnbildlichen nicht mit angehäuften Einzelzügen
den bäuerischen Rüpel, sondern den Mann, der sich über die Lage seines
Standes und seiner Situation Rechenschaft gibt. Es sind geistig belebte
Menschen, die Dürer uns vorstellt. Offenbar setzt der eine von den drei
Bauern in kraftvoller Erregung dem scharf nachdenkenden, zu einer spitzig¬
verbitterten Bemerkung geneigten Alten und dem erstaunt-cholerischen
Mann mittleren Alters eine Sache von allgemeiner Wichtigkeit auseinander.
Dürer beweis auch diesmal, daß er stets und in jedem Falle der beste Schürfer
im Geistesleben seiner Zeit als Künstler war, und deshalb das lebensstark
erwachende Denken und Streben des Bauern in charakteristische Formen
faßte. Eis lebt ein Stück Zeitgeschichte in diesen Köpfen, und gleichzeitig
geben sie als einzige uns eine klare Vorstellung von der Bildung des Antlitzes
der deutschen Bauern in diesem Zeitabschnitte — sonst bleibt man bei dem
Typus eines grobschlächtigen Menschenantlitzes stehen. Dürer suchte
die Persönlichkeitswerte im Bauern zu fassen und gab uns gleichzeitig
einen allgemeinen Maßstab für das Individuum »Bauer«. Hätten hier die
deutschen Maler energisch eingesetzt, so hätten wir in Deutschland ebensogut
wie in Holland einen Mann, wie etwa Pieter Aerzten erleben können. Aber
der Deutsche betrachtete und betrachtet die Kunst eben nicht in erster
Linie als eine Vorstellungskunst, sondern er erzählt am liebsten. Dann
stehen aber Formgedanken bekanntlich in zweiter Linie. Es war von Dürer
auch sehr richtig gehandelt, diese Bauern vor einen neutralen Grund zu
stellen. Er verlieh dadurch diesen Dreien eine gewisse Monumentalität,
jenen Marktbauern von 1512 und jenem tanzenden Bauernpaar von 1514
aber eine gesteigerte Lebensenergie, weil die körperliche Aktion dieser
Menschen uns ganz uneingeschränkt vor die Augen gebracht wird. Dürer ist
andererseits als Bauernmaler nicht zu abgeschlossenen Genrebildern, auch
nicht in Federzeichnungen, gekommen, sondern bleibt bei der skizzierenden,
nur leichthin das Motiv erfassenden Weise stehen. H. Holbein d. J. geht
in anderer Hinsicht über die älteren Bauerndarsteller hinaus. Das Fresko
am Hause »zum Tanz« gab nicht nur tanzende Bauern, die toll und voll sind,
sondern Holbein charakterisierte bäuerische Fröhlichkeit schlechthin. Die
Grobheit ist hier zum Stil erhoben. Auch der ackernde Bauersmann in den
»Todesbildern« ist erfüllt von der Menschheit Größe. Holbein besiegte das
verstandesmäßige Motiv, die Macht des Todes zu schildern, indem er einen
Bauern darstellte, dessen Sinnen und Trachten von der Arbeit seines Standes
erfüllt und gestärkt war und der, bis die Sonne seines Lebens sich neigte,
dieser Standespflicht sich schlicht und voller Hingabe gewidmet hatte. Kein
anderer hat damals neben diesen beiden Malern das Sein und Wollen des
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Der Bauer in der deutschen Malerei von ca. 1470 bis ca. 1550.
393
Bauern mit so großen Augen sehen können, aber weiter im Stoff haben
andere Mitarbeiter auf diesem Gebiete um sich gegriffen. Zu dieser mehr
alltäglichen Schilderung, wie ich sagen möchte, führt Holbein selbst hinüber
in dem »Bauernkirmes* im Alphabet. Anton von Worms tritt weniger als
monumental gestaltender, denn als frisch erzählender Meister an die bewegte
Welt seiner Tage heran. In diesem Zusammenhänge möchte ich an das Titel¬
blatt zum »Landfrieden durch Kaiser Carol den Fünften uff den Reichstag
ze Worms anno 1521« erinnern, auf dem unter anderem Ritter dargestellt
werden, die mit einem Trupp Fußsoldaten, wie es mir scheint, im Walde
auf Beute lauern; im unteren Streifen können wir wohl die Weiterführung
der Erzählung in dem Dorfbilde mit gehenden und fahrenden Bauern ver¬
muten. Anton von Worms erhebt sich hier schon weit über den Illustrator.
Es pulst das Leben in dieser kleinen Arbeit. Auch Georg Pentz bringt bei
der Parabel von den Arbeitern im Weinberg (P. 36) und vom Säemann
(P. 37) nur ein schlichtes Alltagsbild. Hier versinkt das religiöse Moment
bereits in den Alltag, aber es war immer noch der Anreger. Pentz möchte ich
Nikolaus Manuel, genannt Deutsch, an die Seite stellen, dessen verhältnis¬
mäßig geringe Anzahl von Arbeiten auf diesem Gebiet — ihn wie Urs Graf
interessierte der Landsknecht weitaus mehr, dafür die Schweiz die Bauern-
frage ja längst gelöst war—eben dieses Zuges sprudelnden Lebens voll sind 1 ).
Unmittelbar in den Bauernkrieg führen uns die verschiedenen Titel¬
blätter zu den Aufrufen der Bauern, oder Holzschnitte, auf denen wie in
Livius’ römischen Historien (Mainz 1523) gefesselte Bauern von Reitern
eskortiert werden. Auch*Einzelblätter, wie die aus diesen Jahren von den
Behams gelieferten, sind aus der Teilnahme aller an diesem Kampfe ent¬
standen; aber alle diese Arbeiten kommen über den Charakter einer mehr
oder weniger geschickten Illustrierung der Zeitereignisse nicht heraus. Am
meisten bildmäßig gesehen und gezeichnet ist der Holzschnitt Hans Sebald
Behams (P. 184), auf dem Bauern, die aus einem brennenden Dorf geflohen,
von den nachsetzenden Landsknechten überfallen werden, geschildert sind,
Ritter halten im Walde, wo sie zwei nackte Männer an einen Stamm gebunden
haben. Diese Kraft der Schilderung muß um so mehr betont werden, als
das Blatt, für die Folge der Planeten bestimmt, leicht einen lehrhaften
Zug hätte erhalten können. Wir werden hier in der Tat mit künstlerischer
Formkraft in das Geschehnis hineingeführt und nur der etwas mangelhafte
Schnitt beeinträchtigt die Wirkung. Hätte Beham das Blatt im Kupferstich
ausgeführt, so dürften wir mit bestimmten Einschränkungen eine künstlerische
Parallele zu Callot ziehen.
In das friedvolle Leben führt uns etwa ein Schlußbild des Titus Livius
*) Vgl. meine Geschichte der Schweiz. Malerei im XVI. Jahrh. 1893, S. 15 u. 641g.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
394
Berthold Haendcke,
(S. 16), wo wir einen Einblick in ein Dorf erhalten, dessen einfache Natur¬
schilderung mit den paar Häusern, dem mitten hindurch fließenden Bach,
der Dorfmühle, den zwei plaudernden Männern und den grunzenden
Schweinen geradezu künstlerisch abgerundet wirkt. Von derselben hohen
künstlerischen Kraft zeugen Blätter, wie etwa die Schnitte in »Petrarka:
Von der Artzney bayder Glück, des guten und widerwertigen (Angeb. 32)«,
auf denen das Pflügen und Eggen und, noch bildmäßiger gefaßt, Männer
und Frauen bei der Ernte geschildert sind. Hier kommt ein bedeutender
Künstler Hans Weiditz, zu Worte. Gesehen und erlebt, heißt es, vor diesen
künstlerisch abgerundeten Blättern, trotzdem dieses und jenes etwas ver¬
einfachter hätte gegeben werden können. Man darf hier ruhig von einer
Bauernmalerei sprechen, die der eines J. Brueghel d. Ä. gleichwertig ist;
allerdings stehen sie nicht überall auf derselben Höhe. Manchmal drängen
sich zu viel prätentiöse Züge hinein, wie etwa auf S. 59 (Ausg. 1539) »Wer
ein Hofe einen Bauren verleihet, der muß ser vyl von ihm leyden«; oder
»Pawren seind aus den bös elenten zu letst die allerbösesten worden«. Auf
einen verwahrlosten Hof sind hier zwei Ritter gekommen, offenbar die Guts¬
herren, die den Meier zur Rede stellen wollen und von diesem mit einem
Prügel behandelt werden. Das Bild leidet etwas an Überfülle der Motive,
gibt aber die Szenerie gut und treffend wieder; da auch das Fernbild sicher
abgeschlossen wird, so entsteht ein intimer Bildeindruck. Vorzüglich beob¬
achtet sind die verschiedenen Haustiere, und brillant ist der freche Überfall
des Bauern wie die Haltung der sich duckenden Herren geschildert. Auf
derselben Linie begegnen sich Weiditzens Zeichnungen zu »Cicero offfcia,
deutsch von Schwarzenberg« (Augsburg, Steyner, 1531). Einzelne Blätter,
wie das mit den drei Bauern, die abends im Wirtshause beim Kartenspiel
sitzen, sind hinsichtlich der übersichtlichen freien Komposition, der Kraft
und Schlichtheit des Erzählertones nicht nur für diese Zeit vortrefflich
gearbeitet, während andere Schnitte, wie »Bauer vor dem brennenden Hause«
u. ähnl. m. von dieser Höhe eines vorgestellten Bildes zu einer Illustration
herabsinken.
Im allgemeinen möchte ich Röttingers Charakteristik, die er in
Weiditzens Monographie (1904) gegeben hat, annehmen: »aber die Schilde¬
rungen des Lebens seiner sozialen Schichten dürfen als vollgültige kultur¬
geschichtliche Dokumente betrachtet werden« und »... eine derartig um¬
fassende Schilderung des Volkes .... und die gerade dabei entfaltete Stärke
seines Könnens muß einer Würdigung seiner Bedeutung zugrunde gelegt
werden .er besaß einen Blick für die Vorgänge des ihn um¬
rauschenden Lebens und eine Kunst, das Geschaute fesselnd wiederzu-
erzählen«. *
Entwicklungsgeschichtlich interessant sind weiterhin die Illustrationen
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Der Bauer in der deutschen Malerei von ca. 1470 bis ca. 1550.
395
zu »Polidorus Vergilius von den Erfindern der Dyngen* (Steyner, Augsburg,
1537). Es werden hier nämlich die verschiedenen Arbeiten des Bauern
geschildert, und zwar als bäuerliche Tätigkeiten, nicht als Illustrationen
zu einer bestimmten Jahreszeit. Auf einem Blatte (S. 69) mit einer Stadt
im Hintergründe, auf die eine Karawane zuzieht, sehen wir auf dem Felde
arbeitende Bauern. Elin, darf man sagen, künstlerisch gesehenes Bild bäuer¬
licher Arbeit. In ebendemselben Buche finden sich aber auch Schnitte, auf
denen das Dorf leben, mit einer, ich möchte sagen, literarisch limitierten Auffas¬
sung dargestellt ist. Solche Bilder lenken uns immer wieder darauf hin, daß wir
uns in der Entwicklungsperiode der Genremalerei befinden, und ferner
darauf, daß deutsche Künstler mit ihrer besonderen Lust am Erzählen hier
am Werke sind. Der Bauer, der dem Jagdherrn den Wildschaden beweglich
klagend schildert, in »das Büchle memorial, das ist ein Angedänckung der
Tugend von Herren Johannes von Schwarzenberg« (1534, Steyner, Augsburg,
S. 138) bietet gleichfalls eine Darstellung in freier, gut distanzierter Land¬
schaft, muß aber trotzdem als literarisch begrenzt, als didaktisch erzählend
qualifiziert werden. Es hing eben überall noch von der suchenden künstleri¬
schen Kraft des einzelnen Zeichners ab, inwieweit die TextinterpretJition
zum abgerundeten Kunstwerke werden konnte.
Selbst der Meister, der uns in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts
meiner Ansicht nach das reichste und schließlich auch reifste allgemein
gehaltene Abbild bäuerlichen Tun und Treibens bietet, Hans Sebald Beham,
schwankt zwischen lehrhafter Illustration und künstlerischer Gestaltung
seines Stoffes hin und her. Seine Planetenbilder sind keineswegs tendenziöse
Schilderei, aber sie nähern sich bereits einer unbefangenen Darstellung.
Wir müssen allerdings gerade bei diesen Blättern die Schwerkraft der Über¬
lieferung sehr bestimmt einschätzen. Wenn sich aber, müssen wir weiterhin
folgern, in solchen Genrebildern die freischaffende künstlerische Darstellung
der Interpretation gegenüber durchzusetzen vermag, so muß der Künstler
eine sehr beachtenswerte Persönlichkeit sein. Hans Sebald Beham hat sich,
wie wir wissen, mit vollem Bewußtsein als Genremaler etwas leisten zu
müssen und zu wollen, auf dies Gebiet begeben. Er scheint übrigens eine
persönliche Vorliebe für die Bauernschilderei gehabt zu haben, denn unter
die Inhaltsangabe zu »Kunst und Lehrbuch« setzt er als Schmuckbild einen
Bauern und eine Bäuerin. Bei einer wieder etwas freieren Behandlung
der Chronologie gehe ich zunächst auf Behams Kupferstiche »Die Bauern¬
feste« und den »Bauernhochzeitszug« ein, und zwar deshalb, weil hier das
Steckenbleiben im Material stärker als in den sofort zu erwähnenden Holz¬
schnitten ist. Die Studie ist allerdings auch in den Stichen überwunden,
aber die Bildwirkung nicht genügend erreicht. Die Menschen erscheinen
bei aller Lebhaftigkeit der Bewegung wie Automaten. Beham strebt eben nicht
Digitized by Google
1
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
39 6
Berthold Haendcke,
Charakteristik des Einzelindividuums an, wie Dürer, sondern nach Schilde¬
rung einer Handlung, die aber ohne gleichzeitige Raumillusion eine künstle¬
rische Bildkraft nicht erhalten konnte. Von derselben Art sind auch die
kleinen Kupferblätter wie »Haust Du mich, so stich ich Dich«; da der
Schilderer das novellistische Motiv nicht rein in Formwerte übersetzen und
auch Figuren wie Umwelt nicht fest zusammenschließen konnte. Auch
das sonst einfach gesehene Bild, das bäuerliche Liebespaar von 1521, ist
hiervon nicht ganz frei geblieben. Die Kirchweih zu Megeldorf (etwa 1537)
geht im großen und ganzen über jene Stiche nicht hinaus. In den großen
Holzschnitten von 1535, in der Bauernkirmeß und in dem ziemlich gleich¬
zeitigen Bauernfest hatte der Meister m. A. n. bereits viel klarer das Ziel
erkannt, und war ihm in der Bewältigung des Illustrativ-Dekorativen auch
schon wesentlich näher gekommen. Auch der von H. Meldemann geschnittene,
von Beham gezeichnete »Nasentanz zu Hümpelsbrunn« ist in diesem Zu¬
sammenhang zu erwähnen. Die laut lachende und derb zufassende Fröhlich¬
keit des Bauern seiner Zeit ist an sich ohne Widerrede mit einer den besten
s
niederländischen Bauernmalern des 16. Jahrhunderts sogar ebenbürtigen
künstlerischen Darstellungskraft geschildert worden. Beham gibt in der Tat
eine künstlerische Übersetzung, nicht eine Illustration des Vorwurfes. Etwas
anders steht es mit der Frage nach der künstlerischen Einzeldurchführung.
Hier kann man zunächst eine gewisse Häufung der Motive nicht in Abrede
stellen; aber ist diese nicht vielleicht im Charakter des deutschen Künstlers,
der ja nicht in erster Linie FormvoiStellungen folgt, begründet? Jan Steen
und Ludwig Richter sind auch keineswegs immer von diesem Zuviel frei.
Es ist zudem nicht zu vergessen, daß diese Koordinierung diesseits der Alpen
damals überall gebräuchlich war. Trotzdem dürfen, da .ich soeben hoch-
entwickelte Meister zum Vergleiche heranzog, die teils reliefartige Kom¬
position und die anderenteils planlos bzw. für die Tiefenanordnung wirkungs¬
los auf den anderen Gründen zerstreuten Figuren nicht übersehen werden.
Denn dadurch wird der Bildeindruck im höheren Sinne des Wortes zweifels¬
ohne stark herabgesetzt. Weiterhin befremdet auf den ersten Blick die
geringe Abwechslung in den Typen, aber hier scheinen alle Bauernmaler
sich beschränken zu müssen, wie wir wiederum mit einem Seitenblick auf die
niederländische Bauernmalerei des 16. (und auch des 17.) Jahrhunderts
betonen dürfen. Die Absicht, einzelne hervorstechende Züge des groben
Sinnenlebens zu schildern, setzt hier offenbar schnell die Grenzsteine, und
zwar natürlicheiweise. Das Einzelindividuum muß sich dem Gesamtleben
der Komposition unterordnen und deshalb auf die persönlichen Besonder¬
heiten verzichten. Die großen Kirmeßszenen und der vortrefflich disponierte
»Nasentanz« bieten, sei nochmals betont, nach Frische der Beobachtung,
nach Sicherheit in der Wiedergabe des Gesamtvorwurfes und der einzelnen
L
Digitized by
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Der Bauer in der deutschen Malerei von ca. 1470 bis ca. 1550.
397
Bewegungsmotive echte kleine Kunstwerke und rechte Bilder deutschen
Bauernlebens in der Reformationszeit. Das klassische Werk Meister Behams
ist a“ber meiner Auffassung nach seine leider nicht gut geschnittene »Spinn¬
stube« (etwa 1535). Da wir in diesem Falle wissen, daß sich aus der Art
der Vereinigung der verschiedenen Altersgenossen und der Geschlechter
eine drängende Fülle von Einzelzügen auf kleinem Raume ergeben mußte,
so ist diese zunächst aus der Sachlage heraus zu erklären. Beham hat aber
diesmal alles zu meistern gewußt. Die grobsinnliche, die lautlachende Lust
des späten Abends in einer Spinnstube, wie sie die Fastnachtsspiele schildern,
hat einen überzeugenden Ausdruck gefunden, der um so stärker packt,
als Beham mit den schlafenden Männern am Tisch und in der Nähe des
Ofens wie in dem sich behaglich-ruhig wärmenden Mann vor dem Ofen die
glücklichsten Gegensätze zu jenem Jubel gefunden hat. In vorzüglicherWeise
hat der Künstler auch die mannigfaltig bewegten Figuren auf der Bildfläche
verteilt und den Raum vortrefflich gegliedert, soweit dies einer Technik möglich
ist, die noch nicht gelernt hatte, Tonwerte zu verwenden. Es war Beham
um so schwieriger, eine Raumwirkung zu erzielen, als die einzelnen Teile
bei der absoluten Kleinheit des Zimmers nahe aufeinander folgen. Dadurch,
daß Beham jede Einzelheit, selbst die an der Wand befindlichen Dinge
in diese Berechnung einzog, erzielte er eine Raumdarstellung, die von aller
Enge frei ist. In einem Punkte folgte er allerdings der Beschränktheit
seiner Zeit. Das Gemach ist parallel der Bildfläche angeordnet und alle
Personen sind trotz reicher Bewegungsmotive mehr oder weniger in Profil -
haltung gebracht. Diese frontale Anordnung, diese Manier, den Raum
von vorne in die Tiefe zu entwickeln, wird aber bekanntlich erst im späteren
17. Jahrhundert besiegt. Innerhalb der zeitlichen Beschränkungen ist
Behams Werk ein tadelloses Genrebild. Von hohem Interesse ist es ferner,
daß sich die Szene in einem Innenraum abspielt. Die deutsche Bauern¬
malerei hat vor Weiditz, Burgkmair und H. S. Beham, soviel ich weiß,
in kompositionell irgendwie durchgeführter Art den Nahraum nicht ver¬
wendet. Leicht erklärlicherweise; denn das Leben des Landmannes spielt
sich für den Beobachter zunächst nur im Freien ab. Erst der tiefer in den
Stoff eindringende Künstler sucht den Bauern auch in seinem Heim auf.
Beham empfand offenbar die Stärke der Intimität des geschlossenen Raumes
für die Genremalerei. Das kleine Große des Alltages erhält dadurch den
angemessenen und betonenden Rahmen. H. S. Beham erwies gerade damit
seine Befähigung als Genremaler. Unter den unmittelbaren Nachfolgern auf
diesem Stoffgebiete sei gleich der Zeichner des Schnittes »Der Brautschmaus«,
erwähnt, der wohl ohne Berechtigung dem N. Solis zugeschrieben wird
(Wien), zu nennen. Dieser »Brautschmaus« ist von bäuerischer Völlerei
ganz erfüllt. Man hört förmlich das Gröhlen und trunkene Schönreden,
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
39 8
Berthold Haendcke,
aber das Bild hat trotz alledem etwas von einer Illustration. Später ver¬
flachen solche Schilderungen unter dem Zwange der fremden Zeichenweise
ganz zu schematischen »Bauerntölpeleien«. Aber auch das arbeitende Leben
der Bauern hat Meister Beham fein und doch fest zugreifend in künstlerische
Formen zu fassen verstanden, und zwar selbst dann, wenn er zu illustrieren
hatte. Man betrachte daraufhin den ackernden Bauersmann und seine ganze
Umgebung im Hintergrundbilde des verlorenen Sohnes. Dorf und Acker,
Bauersmann, Bildstock und Bauernhof, alles das geht völlig zusammen,
und niemand denkt an anderes als an »Illustration« des arbeitsamen Land¬
volkes; das religiöse Motiv scheidet als Anreger ganz aus.
Was durch rund 70 Jahre erstrebt worden war, nämlich im Kunst¬
werk das Leben und Wirken des Bauern im Alltage und am Sonntage zu
schildern, wurde von H. S. Beham im großen und ganzen erreicht. Die
deutsche Kunst hat zwar ihrer Art nach diese Stufe nicht als Malerei, sondern
als Zeichnung erstiegen, nimmt also das Auge nicht in dem Maße in Anspruch,
wie die stammverwandte und demselben Ziele zustrebende niederländische;
aber ich glaube, man wird Beham nicht zu hoch setzen, wenn man ihn als
Bauernmaler, der allerdings nicht gleichzeitig ein hervorragender Land¬
schafter war, der Nähe Jan Brueghels d. Ä. würdigt.
Bleiben wir bei der Betrachtung größerer Gruppenbilder stehen, so
hätte Daniel Hopfer ein Recht, erwähnt zu werden. Dieser Augsburger ist
unstreitig ein geschickter Mann, der auch einen Blick für Situationswerte
hat, aber ihm fehlt die Kraft des inneren Schauens. Er führt von der Höhe
wieder etwas herab. Hopfer bleibt ein nicht einmal immer geschmackvoller
Abschreiber der Natur. Ich möchte sein »Kirmesfest« nicht ausnehmen,
obwohl der Mittelteil dieses Blattes gut gelungen ist. D. Hopfer erinnert
in etwas vorweg an Teniers d. J., womit aber auch die routinierte Geschick¬
lichkeit und in sich schwächliche Rhetorik gekennzeichnet ist. Von technisch
noch glanzvollerer, aber in der Auffassung ähnlicher Art sind etwa die
Arbeiten eines Vergil Solis, eines Amman, Tobias Stimmer, A. Möller, Maurer
u. a. mehr, nur daß bei diesen der Begriff der Illustration wieder enger gefaßt
werden muß. Die Zeit der Bauernmalerei hatte gegen die Mitte des Jahr¬
hunderts in Deutschland ihre Sonnenhöhe erreicht. Rein kunsthistorisch
ist dies erklärlich durch das Eindringen der italienischen bzw. niederländisch-
italienischen Formgebung. Allerdings dürfte dies auf den ersten Blick hin
nicht als ein Hindernis erklärt werden, da ja Hans Sebald Beham selbst
zu den italienisierenden Kleinmeistern zählt, die mittels der Zeichnung
die plastische Formwirkung der Italiener erstrebten. Er und die ihm ver¬
wandten, wie etwa Brosamer, Meister J. B. (Jörg Bentz [Pentz?]), Alde-
grever usw. fußten aber letzten Endes trotz allem auf heimatlichem Boden.
Ganz anders die späteren, die mit der neuen Mode groß geworden waren. Wie
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Der Bauer in der deutschen Malerei von ca. 1470 bis ca. 1550.
399
sollte man mit der Linie, die für die Monumentalkunst gefunden war, deutsche
Bauernbilder umreißen? Gewiß, man versuchte es. Tobias Stimmer und
all die anderen neben ihm, sie schilderten Bauern, aber ohne Wucht und
Kraft der Sprache. Und als um 1570 eine formale Reaktion an der Hand
eben der Künstler vom Beginn des 16. Jahrhunderts 1 ) einsetzte, da war diese
einesteils zu schwach und andernteils ging sie von der Zeichnung aus. Man
verlangte aber jetzt nach der Pracht der Farbe. Diese war jedoch der älteren
deutschen Schule bei der fast einzig betonten Harmonisierung der Buntfarbig¬
keit schlechterdings nicht zu entnehmen; denn Grünewald oder die Regens¬
burger waren in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nicht mehr entwick¬
lungsfähig. Hier mußte man zu einer in dieser oder jener Abart italienisieren-
den Methode greifen. Weiterhin und nicht zum mindesten sprach ein ab¬
lehnendes Wort die allgemeine kulturelle Entwicklung Deutschlands. Der
deutsche Bauer lag besiegt, mühsam atmend am Boden. Der Bürger erwarb
jetzt fast nur noch als beengter Handwerker oder als Kleinkaufmann seine
Existenzmittel und kämpfte als Reichsstadtbürger seinen politischen Todes-
kampf. Der Fürst wollte trotz schwerer Geldbedrängnisse prunken und
strebte in gefahrvollem Ringen zu höheren politischen Errungenschaften,
und die geistigen Mächte des Reformationszeltalters wollten nicht mehr die
Befreiung und die Erhebung der Seele, sondern die Herrschaft über diese.
Die Scheidelinie zwischen den Herren und der misera plebs wurde mit jedem
Jahrzehnt bestimmter gezogen. In solchen Zeiten, in denen der Geist des
Volkes sich nicht über die Schranken der Gegenwart zu erheben vermag,
kann auch der Künstler nicht von innen her das Leben und Sein in künstle¬
rische Form bringen. Er ist höchstens imstande, es in trocken belehrender
Art abzuzeichnen. Das geschah auch, wie erwähnt, in fleißiger alltäglicher
Werkstattarbeit.
Wenn die deutsche Genremalerei der behandelten Periode sich an der
Zeichnung Genüge sein ließ, so haben wir auch dazu noch ein Wort zu sagen.
Diese Tatsache ist erklärbar. Dem deutschen Künstler lag die Farbe nicht
(und sie liegt ihm auch heute noch nicht). Das sei trotz Grünewald und der
Donauschule gesagt. Es zeugte also nur von feinem künstlerischen Takt,
daß die Maler sich die vielfarbige Welt intellektuell vereinfachten, sich auf
die einfarbige, aber trotzdem lichtreiche Zeichnung zurückzogen. Dürer
blieb bei der einfach modellierenden Strichzeichnung stehen, welche andere
Zeichner wie Burgkmair und Beham mittels ihrer Technik mit der licht¬
vollen Schönheit der farbenreichen sonnenüberglänzten Umwelt zu um¬
kleiden versuchten. Dazu kommt, daß im wesentlichen das Genre, auch
*) Dieses Thema habe ich in einem im August in der Zeitschrift für bildende Kunst,
Kunstchronik S. 579 fg. erschienenen Aufsatz behandelt: »Die Stellung der deutschen
Maler vom Beginn des 16. Jahrhunderts am Schlüsse dieses Zeitraumes.«
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
400
Berthold Haendcke,
die Bauerndarstellung von der Buchillustration, nicht von dem Tafelbilde
herkam. Dadurch war dem an den Intellekt sich wendenden Strich von
vornherein das bestimmende Wort gegeben. Man darf sich trotz alledem
die Frage vor legen, warum in unserm Vaterlande nach solchen Erfolgen
der Bauernschilderung das Ölbild den Holzschnitt und den Kupferstich
nicht verdrängt hat. Es bleibt hierfür nur noch die Antwort übrig, daß
die besitzenden Stände ein nicht genügend starkes Verlangen nach Kunst¬
werken besaßen. Man muß dabei erwägen, daß die doch schon zum selb¬
ständigen ölbilde entwickelte Landschaftsmalerei schließlich an derselben
ablehnenden Haltung scheiterte. Der vermögende Bürger und der besitzende
hohe wie niedrige Adel nahm jedes Interesse an der reichen Entwicklung des
Kunsthandwerkes, weil dieses ihm ziemlich direkt persönlich zugute kam.
Auch das Porträt trat zu ihm In ein Verhältnis von Person zu Person, aber
Bilder allgemeinen Inhaltes boten an sich nichts, besaßen eben nur künst¬
lerischen Wert, und den vermochten nur einzelne Verständnisvolle, am meisten
die Sammler, einzuschätzen. Solche Leute kreieren aber keine künstlerische
Entwicklung. Die Wertschätzung des Alltagslebens war noch nicht hoch genug
gestiegen, um es künstlerisch verklärt um sich sehen zu wollen. Diese aschen¬
brödelhafte Erscheinung der Alltagsdarstellung hat der Genremalerei dieser
Zeiten sogar bis in unsere lebende Stunde hinein das ihr gebührende Maß
der Beachtung genommen. Die ständig wiederkehrende Betonung der
genreartigen Schilderungen des Hausbuchmeisters oder auch der wenigen
Genrebilder Schongauers, Dürers usw. beweisen, wie unbeachtet im allgemeinen
die vielen Hunderte von Szenen dieser Art, die in der reichen Zahl von
»Prachtwerken« aus jenen sieben bis acht Jahrzehnten, von etwa 1470—1550,
unsern Augen dargeboten werden, geblieben sind. Tatsächlich ist der Haus¬
buchmeister nur einer von vielen, wenn er auch die meisten an künstlerischer
Qualität hinter sich läßt. Die Zeichnungen für die erwähnten »Prachtwerke«
sind überdies weit mehr, meine ich, als die Naturstudien auch für die Heiligen¬
bilder, die Erzieher der Maler dieser Periode geworden. Denn hier hieß es,
schnell sehen und schnell zeichnen, wollte man die eilends vorübergleitenden
Bewegungsmotive festhalten. Nur diese sofort zufassende Beobachtung
konnte die für das künstlerische Schaffen wertvollsten Erinnerungsbilder
bringen. Hier lag die »Natur« verborgen, von der Dürer spricht. In diesem
Falle bot zudem die Tradition nur sehr geringe Hilfen. Im Gegensätze zur
Atelierkunst der religiösen Malerei konnte der Künstler seine sorgfältig und
langsam nach dem Modell gezeichneten Studien nicht den in der Komposition
wie in den Einzelheiten ziemlich bestimmt festgestellten Vorwürfen ein-
fügen, sondern er mußte Gruppierung wie Detail hurtig aus der im raschen
Flusse befindlichen Umwelt selbständig herausnehmen. Solches Tun schult
aber erst Blick wie Hand und macht innerlich reich und frei. Wir stehen
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Der Bauer in der deutschen Malerei von ca. 1470 bis ca. 1550.
401
hier auf demselben Boden, der für die architektonischen wie rein landacftaft-
lichen Hintergründe der religiösen Malerei so köstliche Ergebnisse gezeitigt
hatte. Die realistische Auffassung in den großen religiösen Gemälden (Por-
träts) fand mit einem Worte in diesen kleinen Studien vor und nach dem
vielgestalteten alltäglichen Dasein ihren vorzüglichsten Nährboden. Deshalb
müssen wir auf diese bescheidenen Illustratoren das sorgsamste Augen¬
merk haben und je ferner der von diesen bearbeitete Stoff den überlieferten
Aufgaben stand, wie etwa die Bauemmalerei, um so wertvoller dürfte er
kunstgeschichtlich sein. Die wenigen erhaltenen Skizzenbücher, wie das des
Hausbuchmeisters, das Holbeins des Älteren, das Manuels, genannt Deutsch,
u. a. m. oder auch die Handzeichnungen in Chroniken wie die Richenthals
vom Konstanzer Konzil ») beweisen, wie sehr jene Holzschnittzeichnungen
dem Leben entnommen sind. Der Kunsthistoriker, der sich diese emsige
Kleinarbeit der Künstler recht eindringlich vor Augen führen will, muß also
in jenen illustrierten Werken eifrig blättern. In ihnen ist von der Empfängnis
des Lebens an bis zum Abscheiden aus dem irdischen Dasein sozusagen
jede Lebenslage in Krieg und Frieden für Mann und Weib aller Stände in
prägnanter Weise mit ständig schärferem Auge und geschickterer Hand
inteipretiert worden. Der Reichtum an Sittenbildern im weitesten Wort¬
sinne, der während dieser etwa 70/80 Jahre uns geboten wird, ist so groß,
#
daß man einstweilen noch vom Material erdrückt wird. Einzelstudien
werden aber bald dem bürgerlichen Genre der vornehmen religiösen
Historienmalerei gegenüber die ihm bislang nicht in zureichendem Maße
eingeräumte kunstgeschichtliche Wertung verschaffen können. Jedenfalls
wird man dann nicht mehr Fromentins Wort über die Sittenbildmalerei des
17. Jahrhunderts in der niederländischen Malerei in seinem vollen Umfang
aufrecht erhalten: »Nimmt man alles zusammen, so hat man vor sich die
Elemente einer ganz neuen Kunst, mit einem Inhalt, der so alt ist wie
die Welt.«
*) Die Gefälligkeit Dr. Maurers, mir die Photographien nach dieser Chronik gesandt
zu haben, sei auch hier dankbar hervorgehoben.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Neue Dubroeucqstudien.
Von Robert Hedicke.
I.
Die Ausstellungen von Lüttich, Charleroi und Tournai der letzten
Jahre haben das Interesse für südniederländische Kunst neu belebt. Zwar
gab es schon längere Zeit einen kleinen Kreis von Archäologen und Histo¬
rikern, welche sich um die Sammlung und Erforschung der Denkmäler
des Moseltals, Hennegaus, Cambr&is, Tournlsis und der übrigen zum Teil
heute mit Frankreich vereinten früheren Provinzen der Niederlande be¬
mühten, aber diese Bestrebungen blieben im kleinen Kreise der Kunst¬
freunde und fanden keine Resonanz in den weiteren Kreisen der wallonischen
Bevölkerung. So ist die wallonische Kunst neben der mit Eifer und Erfolg
auf breitester internationaler Basis behandelten viamischen Kunst von
van Eyck bis Rubens das Stiefkind der Forschung geblieben, so ist auch
der Plan einer Dubroeucqmonographie von Devillers-Pinchart an der Interesse¬
losigkeit der Zeitgenossen gescheitert. Erst die neuere politische Bewegung
hat das Interesse weiterer Kreise für wallonische Kunst aufgerüttelt. Die
Ausstellung Arts Anciens du Hainaut in Charleroi vcn 1911 führte zum
erstenmal Dubroeucqs erhaltenes Werk möglichst vollständig vor und war
für die weitesten Kreise eine erste Offenbarung. Man entdeckte einen neuen
großen Meister, der bisher unerkannt im Herzen des Hainauts geruht hatte.
Man bemerkte plötzlich auch, daß in einem Brüsseler Museum eme fast
vollständige Sammlung von Gipsabgüssen seiner Werke vorhanden war,
an der man bisher blinden Auges so oft vorübergegangen war. Nun auf
einmal ist während einer Ausstellung ein großer Meister entdeckt worden
und wird allenthalben verkündet.
Als wir im Jahre 1901 auf einer Orientierungsrei&e durch Belgien
und Holland zum erstenmal St. Waudru besichtigten, drängte sich uns die
Bedeutung dieser Skulpturen mit der Kraft einer Offenbarung auf, und je
vollständiger unsere Kenntnis der Werke der Zeit wurde, um so bestimmter
wurde unsere Überzeugung, daß hier das erheblichste plastische Talent
des 16. Jahrhunderts in den Niederlanden vor uns stünde, und daß der-
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Neue Dubroeucqstudien.
403
jenige, welcher die Plastik dieser Zeit beschreiben wollte, mit Dubroeucq
beginnen müßte. Da wir rein wissenschaftliche Ziele verfolgten, so bedeutete
die allgemeine Interesselosigkeit der Landsleute keine Abschreckung für
uns und, begleitet vom warmen Beifall eines Leopold Devillers und Henri
Hymans, wuchs unser Interesse am Gegenstände beständig. Als das Werk
mit frohem Wagemut beendet, kam allerdings eine Enttäuschung: Ab¬
lehnung, freundliches Achselzucken, eisiges Schweigen. Die belgischen
Archäologen können kein deutsches Buch lesen aus Sprachunkenntnis und,
da auch Berufene schwiegen, so war der einzige freundliche Ruf in der Wüste
die warme Besprechung von Max Rooses. Selbst Mons blieb — trotz Devillers
— ohne Widerhall, fast in Ablehnung: vous avez 6rig6 un monument, mais
je ne sais lire votre livre, so schrieb man uns.
Doch: qui vivra verra. Es ist das Verdienst von Emile Dony in Mons,
mit warmer Begeisterung für Person und Werk des alten Bildhauers Hand
angelegt zu haben und in selbstloser und ausdauernder Arbeit den
französischen Dubroeucq *) geschaffen zu haben. Nun kam Charleroi,
nun las man die Nachrichten über den Meister, lernte alle bekannten Werke
kennen, Politiker setzten sich für die wallonische Sache ein, nun scheint
mit einem Schlage der Künstler von Mons bekannt und gewürdigt zu werden.
II.
Dony hat von neuem die Archive des Hainaut durchforscht, Altes
nachgeprüft, Neues gesucht. Leider war die Ausbeute gering. Dubroeucq
hat 1544 den Plan für ein Rathaus in Bavai geliefert, von dem heute nichts
mehr vorhanden ist. Ein Plan für den. Wiederaufbau des Schloßturms von
Mons 1549 wurde nicht ausgeführt. Der Meister hat außer in Mons auch in
Morlanwelz und Binche Häuser besessen. Einige Details über Wohnhaus,
Werkstatt und Straßennamen in Mons hat Dony berichtigt, sonst das
Gegebene als richtig bestätigt. Also ist im ganzen wesentliches Neues nicht
hinzugekommen.
Wichtiger sind die vier neuen Skulpturen aus Privatbesitz, die in
Charleroi ausgestellt waren und von denen die französische Ausgabe will¬
kommene Abbildungen bietet. Das Medaillon mit Gottvater (20 cm hoch)
aus den Sammlungen des Schlosses Mariemont von Raoul Warocqu^ stammt
— wir glauben es gern — aus den Trümmern der Kapelle von Mariemont.
>) R. Hedicke, Jacques Dubroeucq von Mons, Straßburg, Heitz, 1904; R. Hedickc,
Jacques Dubroeucq de Mons, trad. de l’allemand par Em. Dony, pr^face de Jules Destr^e,
avant-propos de Em. Dony, 8 planches et un plan, Supplement: un album in 4 0 de 42 photo-
typies: Annales du Cercle Archlologique de Mons, tome 40, Mons 1911 et Bruxelles,
G. van Oest, 1911.
Repertorium für Kunstwissenschaft XXXV. 27
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
404
Robert Hedicke,
Schon Dony weist auf die Inventarstelle hin: ung tableau d’alebastre, oü
est le cruxifiement de Nostre Seigneur et Dieu le p&re par dessus, enchassl
au bois dor£, estant dedans une custode paincte de noir servant sur l’autel
(D 14 Anhang). Danach befand sich auf dem Hauptaltar von Mariemont
eine Kreuzigung mit Gottvater darüber in Goldrahmen und schwarzem
Kasten. Es überrascht, daß Gottvater in Medaillonform erscheint. Bestand
der Altar nun aus zwei getrennten Alabastertafeln oder ist das allein erhaltene
Fragment später als Rundmedaillon zurechtgeschnitten worden ? Wenn das
letztere der Fall ist, so kann man die Tafel nicht als Rundkomposition be¬
urteilen, dann ist die schöne Füllung des Runds nur zufällig entstanden;
ist dagegen das Relief ursprünglich als Rundkomposilion gearbeitet, so
müßte man diese als vortrefflich rühmen. Da wir keine Bedenken gegen die
Attribution an Dubroeucq und die Provenienz haben, so folgt, daß der Gott¬
vater um 1552 (D 5) von Dubroeucq gearbeitet sein wird. In der Formen-
gebung ist die stärkere malerische (optische) Behandlung gegenüber der takti¬
schen Tektonik der Lettnerkompositionen bemerkenswert. Zwar ist die Mittel-
senkrechte der beiden Köpfe noch eingehalten, wenn auch die Mittellinie
des oberen Kopfes schon leicht umsinkt, aber schon in den Armen ist weder
symmetrische noch kontrapostische, sondern frei malerische Anordnung
angewendet. Der freie weiche Fluß der Gewandsäume, das rieselnde Leben
des Haares, die beginnende optische Auflösung der taktischen Gesichts¬
formen, die teigigen Wölkchen, das Weichfließende der gesamten Kom¬
position: das sind sämtlich Anzeichen barocker, d. i. optisch-fernsichtiger,
disharmonischer Tendenzen *), wenn auch der streng symmetrisch gestellte
und sockelartig wirkende Cherubim bis auf die verschwommenen Gesichts¬
züge eine Renaissanceschöpfung ist. Dieses Medaillon. Dubroeucqs würde
also aussagen, daß der Meister um 1552 neben den reinen Renaissance¬
tendenzen auch barocken Neigungen huldigte.
Gegenüber den beiden Relieffragmenten der »Mannalese«, die, wenn
ich recht verstehe, der Sammlung des Abb£ Puissant in Herchies entstammen
und die Dony unter die menues tailles d’albätre des Lettners von Mons
einreihen will, kann ich allerdings Bedenken nicht überwinden, sachliche
und stilistische. Im ersten Entwurf des Lettners waren die Hauptreliefs
dem Alten Testament (Genesis) entnommen; in der Ausführung findet man —
ausschließlich — Geschichten des Neuen Testaments. Wie soll man also
die Mannalesc cinreihen? Oder ist sie der einzige Rest einer älteren Reihe
aus dem Alten Testament, die später verworfen wurde? Dem widerspricht
der Stil dieser Fragmente; denn hier steht man vor malerischen Flachreliefs
einer reifen routinierten Hand, welche Dubroeucq — wenn überhaupt —
*) t'ber die hier angewandte schästhetischc Terminologie vgl. den Fünften Teil
meines Floriswcrks (im Druck).
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Neue Dubroeucqstudien.
405
erst nach 1550 zuzutrauen ist. Verhältnis von Figur und Grund, sowie fort¬
geschrittene fernsichtig verschwommene Formenbehandlung in duftigem
Flachrelief zeigen an, daß man hier barocke plastische Gemälde späterer
Zeit vor sich hat. Hand und Form des Meisters von Mons ist und bleibt
bis ins Alter eher taktisch gediegen als optisch routiniert, und er schafft eher
Renaissance als Barock. So glauben wir diese Fragmente einem unbekannten
lokalen Meister der Nachfolge .Dubroeucqs aus der Zeit des Beklagungs-
reliefs von Mons um 1600 zuschreiben zu müssen.
Ebenfalls vor interessante stilistische Probleme führen die beiden
Kapitelle der Sammlungen Warocqu^ und Puissant, deren Provenienz aus
den Trümmern von Mariemont wir ebenfalls nicht bezweifeln. Die Frage
nach dem Kapitell Dubroeucqs wird dadurch neu angeregt und kompliziert.
Die genannten Stücke zeigen nämlich eine ausgesprochen struktive — also
gotische — Behandlung der antikischen Formen: Trennung von struktiv
wirksamen und füllenden Teilen, zu dünne Stengel für breite durchbrochene
Voluten, spätgotisches Blattwerk im Übergang zu arabeskem Blattwerk,
noch keine Harmonie zwischen taktischer und tektonischer Form, sondern
struktiv optische spätgotische Formenbehandlung. Also führen diese
Kapitelle das erste Übergangsstadium vom spätgotischen zum italienischen
Kapitell vor Augen. Die nächste Stufe findet man in zwei Kapitellen aus
Boussu, heute in Ste. Waudru (Taf. 25) mit ausgesprochen arabesken 3 )
Eckfüllungen und Blättchen in rein taktischer Formgebung auf einer rein
antikischen Säule. Das ausgebildete Renaissancekapitell Dubroeucqs ist
dann im Geißelungsrelief, im Magdalenen- undWaltrudisaltar in rein taktischer
italienischer Gestalt erhalten. Also läge in den beiden Stücken aus Mariemont,
dem spätesten Werk, die stilistisch früheste Stufe des Dubroeucqkapitells
vor. Wir vermögen diese chronologische Schwierigkeit nicht aufzulösen.
Vielleicht liegen hier doch frühe Kapitelle aus Binche vor!
Was die Neuauflage des Stichs Onghena (mit Retouchen von L. Greuze)
betrifft, so hat der Stich vor dem verwischten Original des Staatsarchivs
den Vorzug größerer Deutlichkeit. Und doch hätte ich persönlich eine große
Reproduktion des Originals lieber gesehen, das doch selbst in meinem kleinen
Lichtdruck ziemlich viel sagt, weil ich auf dem Standpunkt stehe, daß
Dokumente ohne Zwischenhand mechanisch zu reproduzieren sind.
III.
Im folgenden seien einige zufällige Beobachtungen und Neuforschungen
angereiht, welche zum Teil schon in der französischen Ausgabe als Addenda
de l'auteur gegeben sind.
3 ) Auch für meine Bezeichnung »arabesk« muß ich auf den Vierten Teil meines
Floriswerks verweisen.
*
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
406
Robert Hedicke,
Zur Genesis des Stiles Dubroeucqs in seinen Lettnerskulpturen scheinen
mir zwei Werke der 70er Jahre des 15. Jahrhunderts in Rom, die kürzlich
näher bekannt geworden sind, nicht ohne Bedeutung. Es handelt sich um
das Grabmal Pauls II. und das Tabernakel Sixtus’ IV., dessen Fragmente
sich heute noch schwer zugänglich in den Grotten des Vatikans befinden,
und welche jetzt von Burger *) nach Tschudis Vorgang der Forschung in
guten Abbildungen vorgelegt worden sind. Danach scheint es, als ob
Dubroeucq diese Werke gekannt und Skizzen danach sein späteres Schaffen
• • •
beeinflußt hätten. Nicht als ob Einzelfigur, Bewegungsmotiv und Gruppen-
bildung als solche direkte und wörtliche Entlehnungen aufwiesen, vielmehr
ist es der Menschentypus, die Gesichtsstruktur, das Kriegerkostüm, Arm-
und Beinbildung, Gesichtsausdruck, der Reliefstil, welche charakteristische
Verwandtschaften erkennen lassen. So findet sich auch hier (Ib. XXVIII Taf.
S. 102, 150) das für einzelne Reliefs des Meisters von Mons so bezeichnende
öffnen des Mundes. Vergessen wir nicht, daß hinter diesen Bildungen eines
Mino, Dalmata und Pietro Paolo d'Antonisio die Reliefs der Trajanssäule
als Muster stehen, und daß in Dubroeucqs Stil der rafaelische Ausdruck,
sowie Anatomie und Bewegung des Michelangelo wesentliche Elemente
der neuen Legierung sind. Irr dieser Verschmelzung verschiedener italienischer
Stile und heimischer Tradition zeigt sich so recht das Wesen des Eklektikers
und Akademikers Dubroeucq und ein charakteristischer Zug dieser Zeit der
niederländischen Renaissance. Im Paulsgrab findet sich auch ein Auf¬
erstehungsrelief, das die Komposition Dubroeucqs im Gewände italienischer
• - •
Frührenaissance gibt. Gewiß, das Relief des Lettners hat die Architektonik
der Hochrenaissance in der Gruppenbildung, barocke Züge im schräg ge¬
stellten Sarkophag und in der absichtlichen michelangelesken Bewegung
Christi 5 ) erhalten. Vielleicht hat aber eine solche Reliefskizze Dubroeucqs
Arbeit als Ausgangspunkt gedient (Florent. Grabmal Taf. XXVI). Sind
doch auch die Engeltypen der Glorie des oberen Aufsatzes (Ib. XXVII Taf.
S. 132 und 136 f.) in der Gesamtbildung möglicherweise Vorbilder für die
Engel des Madonnenreliefs von St. Omer. Sicherlich: die Madonna dieses
Werkes ist stark rafaelisch, in der Gesamtkomposition ist bodenständige
Tradition aus Plastik (Votivrelief) und Malerei (Davidschule) verarbeitet,
4 ) Fritz Burger, Das florcntinische Grabmal, Straßburg 1904, S. 244 ff.; Ib. preuß.
Kunstsammlungen XXVII 1906 S. 129 ff., XXVIII 1907 JS. 95 ff., 150 ff. Dort die ältere
Literatur.
5 ) Im Gegensatz zu Text S. 94 f. möchte ich das Michelangeleske heute in der ab¬
sichtlichen Übertreibung des Bewegungsmotivs sehen, welche barocken Geistes ist. Vgl.
auch den Stich des Dirk Volkaert Coomhert nach Heemskerk in der Albertina (Nieder¬
lande Bd. VII), welcher die Auferstehung in ähnlichem Geiste darstellt.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Neue Dubroeucqstudien.
407
endlich gibt es noch manche italienische Engelsbildungen 6 ), welche als
Vorbilder mit demselben Recht genannt werden könnten. Aber-die Gesamt¬
heit der Anklänge und Zusammenhänge läßt es als möglich erscheinen, daß
diese Frührenaissancewerke für den Stil des Meisters von Mons anregend
gewesen sind. Auch hier erkennt man, wie die niederländischen Meister
dieser Zeit nicht wörtlich nachahmen, sondern im Sinne einer Stilver¬
schmelzung arbeiten deren Elemente oft sehr merkwürdig und zufällig sind.
Man kann diese Elemente aufdecken und verstehen, ohne ein Gesetz für
diese Neubildungen zu finden. Jeder einzelne Fall ist wieder neu und eigen¬
artig in seiner Synthese.
IV.
Zum Beklagungsrelief (Text S. 99 f.) habe ich nachzutragen, daß
dieses Relief nicht in den Kreis des Dubroeucq gehört, sondern eine Stil¬
verschmelzung zwischen niederländischer Tradition (Rogiers Kreuzabnahme
• •
u. a.) und der Behandlung des Themas durch Goujon (Lettner von St. Germain
♦
l'Auxerrois, jetzt Louvre) und Germain Pillon (Bronze, Louvre no. 245)
ist. Goujon und Pillon sind wiederum durch venezianische Vorbilder, wie
das im Text genannte Santorelief Sansovinos und das Bronzerelief des Louvre
von Andrea Riccio (Gaz. Beaux Arts XIV p. 513 Abb.) stilistisch angeregt
worden. Was den Meister des Reliefs von Mons betrifft, so vermag ich nicht
zu sagen, ob Louis Ledoux in Betracht kommt. Ich würde einen nieder¬
ländischen Künstler um 1600 als Bildhauer vermuten. Nach einem flüchtigen
• •
Reiseeindruck, den ich seither nicht nachprüfen konnte, scheint es dem
Bronzerelief Pillons - am nächsten zu stehen.
#
\
V.
Bei Gelegenheit meiner Florisstudien fand ich, daß Dubroeucq sich
auch an einem epochemachenden Unternehmen jener Zeit beteiligt hat,
allerdings ohne Erfolg: ich meine den Wettbewerb um das Antwerpener
Rathaus von 1560, bei dem Cornelis Floris Sieger blieb. Es ist bedauerlich,
daß Dubroeucqs Entwurf für ein Rathaus in Antwerpen nicht erhalten ist.
Das würde mit einem Schlage Licht in die architektonischen Anschauungen
des Meisters von Mons in einer Zeit werfen, die bisher in völliges Dunkel
gehüllt ist, da Werke nicht bekannt sind. Vgl. G^nard, Biogr. nat. VII
Cornelis Floris; Hedicke, Cornelis Floris, Erster Teil Kap. VI.
6 ) Vgl. Fragmente des Grabmals Fonteguerra in Pistoja, eines unvollendeten Werkes
Verrocchios, bei Bode, Plastik in Toskana, Tafeln und Mahres de l’art, Verrocchio, Paris
1906. . '
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
408
Ro b ert Hedickc,
VI.
Im Katalog des Marcanton von H. Delaborde (Paris 1888 p. 187 ss.,
Bibi, internat. de l'art) ist eine Folge von Theologischen und Kardinal¬
tugenden notiert, deren Vorzeichnungen im allgemeinen Rafael zugeschrieben
werden und welche Delaborde dem Giulio Romano gibt. Obgleich die
Originalserie uns bisher nicht zu Gesicht kam, so geben doch die beiden
Reproduktionen des »Glaubens« und der »Gerechtigkeit« bei Delaborde
den Eindruck, daß diese Serie eine der Inspirationsquellen Dubroeucqs
für die Lettnerstatuen (Taf. XIII bis XVI) gebildet habe, so sehr stimmen
Formen, Anatomie, Gewandstil und Gesamtcharakter des Stils überein.
Bewegungsmotive und Gewandmotive entspiechen sich zwar nicht wörtlich,
aber das bedeutet nicht viel gegenüber der Beobachtung, daß die nieder¬
ländischen Meister dieser Zeit meist umformen und durchaus nicht wörtlich
entlehnen. So erscheint es einleuchtend, daß Dubroeucq aus Rom diese
Stiche Marcantons mitgeführt und daheim bei seinen eigenen Figuren¬
kompositionen als Anregung verwertet hat. Für die Genese seines plastischen
Stils und dessen Bewertung ist diese Beobachtung nicht ohne Bedeutung.
VII.
Wie ich höre, soll eine Rekonstruktion des Lettners im Querschiff
von Ste. Waudru erwogen werden und schon ein Projekt von Herrn Dufour
vorhanden sein. Kürzlich hat sich auch Henry Rousseau, Konservator des
Cinquantenaire-Museums, hierzu im wesentlichen zustimmend geäußert 7 ).
Ich selbst habe schon 1904 in meinem Buche (S. 18 bzw. 27 ed. Dony) Stellung
genommen und damals entweder (und als bei weitem am besten) die Rekon¬
struktion — in echtem oder unechtem Material — in Ste. Waudru am alten
Orte, oder zweitens die unechte Rekonstruktion im Cinquantenaire-Museum
in Brüssel mit getönten Abgüssen oder endlich Einmauerung in richtiger
Höhe in Ste. Waudru vorgeschlagen.
Wir stimmen nun in allem mit Rousseau überein, nur nicht in bezug
auf den Ort der Wiederherstellung: das Querschiff. Hier wird die Beleuchtung
schlecht und falsch sein, hier wild man nur die Schiffseite rekonstruieren
können und die Wirkung eine so unbefriedigende und unvollständige sein,
daß wir lieber von einer Rekonstruktion ganz abraten, als eine so unbe¬
friedigende Lösung zulassen würden. Wir sind also aus allen Gründen ein
Gegner der Rekonstruktion im Querschiff.
Warum will man das Werk nicht am alten Orte aufrichten und Belgien
ein Wunderwerk der Kunst, Mons und dei Kirche eine weithin wirkende
7 ) Wallonia, Organe de la Sociltl Amis de l’art wallon, 1912, p. 95 ss.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Neue Dubroeucqstudien.
409
Anziehungskraft wiedergeben? Aus Kultusgründen? ln vielen belgischen
Kirchen sind Meisterwerke der Lettnerkunst vorhanden und stören dort
ebensowenig, wie Dubroeucqs Lettner in Mons stören wird. Es ist nur nötig,
sich an den neuen Gedanken zu gewöhnen und einige Vorurteile zu über¬
winden. Die Kosten werden gering sein, wenn man Imitationen anwendet.
Was die Ausführung betrifft, so sind wir durchaus der Ansicht Rousseaus,
daß an Stelle der verlorenen Balustradenreliefs einfarbige Tafeln einzusetzen
sind. Wohl haben wir selbst nachgewiesen, daß die Architektur- und Dekor¬
formen später verändert wurden, so daß der Originalentwurf keine absolut
sichere Grundlage der Einzelausführung bildet. Wohl sind sicherlich keine
der oben (unter II) behandelten Kapitelltypen am Lettner angewandt
worden. Aber das sind geringfügige Bedenken. Man kann getrost Säulchen
und Ornament in früher arabesker Dekorationsweise, wie ich diese in meinem
Florisweik in Fülle nachgewiesen habe, ausführen und man wird höchstens
einen kleinen Fehler begehen. Die Theologischen Tugenden wird man voraus¬
sichtlich nicht in Nischen, sondern auf Konsolen vor die Wand stellen
müssen 8 ). Und was wird durch diese Rekonstruktion gewonnen? Nur mit
heller Begeisterung kann man sich die bedeutende und feine Wirkung in
der Phantasie an der Hand meiner Rekonstruktionszeichnungen vorstellen,
welche die feine harmonische Schiffseite (Taf. III), die bedeutende ruhige
Schmalseite (Taf. IV) und die reich monumentale Chorseite (Taf. V) hervor¬
bringen werden, wenn die warmen gelbbraunen Töne der Figuren und Reliefs
in richtigem Licht und richtigem Rahmen erscheinen werden. Man lebe
sich nur in den Gedanken dieser Rekonstruktion ruhig ein und gebe die
Wiederherstellung im Querschiff aufl
Und wenn wirklich dieser Plan als unausführbar scheitern sollte,
dann erstehe der Lettner von Mons noch hundertmal lieber in den hellen
Räumen des Cinquantenaire, als — ein verstümmeltes Glied — in der
düsteren Querschiffecke von Ste. Waudru.
Sollte keine Rekonstruktion zustande kommen, so müssen die Kunst¬
freunde allerdings mit Besorgnis die Frage stellen: Was soll aus den nun¬
mehr als wertvoll erkannten Werken Dubroeucqs in St. Waudru werden?
Kann ein als Barbarei anerkannter Zustand, der wichtige nationale Werte
bedroht, fortdauern? — Wir haben empfohlen, die Reliefs dann wenigstens
in richtiger Höhe einzumauern, so zu konservieren und sehbar zu
machen.
*) Rousseau a. a. O. sagt irrtümlich, ich hätte das Abendmahlsrelief auf die Chor¬
seite verwiesen. Tatsächlich habe ich es in die nördliche Schmalseite eingeordnet, vgl.
Taf. IV u. S. 36 bzw. S. 53 ed. Dony.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
4io
Robert Hedicke,
VIII.
Was Persönlichkeit und Stil Dubroeucqs betrifft, so haben jüngst
J. Deströe und R. Dupierreux 9 ) diese Kunst als Erscheinung der wallonischen
Rasse und Äußerung des g£nie latin erklärt. Da von belgischer Seite die
Forderung einer liebevoll gefühlten Behandlung der Werke Dubroeucqs
aus nationalem Herzen heraus erhoben worden ist, so mag ein Wallone sie er¬
füllen, und wir werden die Darstellung der feinsten ästhetischen und nationalen
Werte in Dubroeucqs Werk und Persönlichkeit mit vollem Beifall begrüßen.
Auch wenn die Begeisterung zu hoch emporlohen sollte, so kann dabei nur
an Erkenntnis gewonnen werden, denn ein warmes Herz ist so recht eine
Voraussetzung künstlerischen Erkennens in gewisser Beziehung. Möge
nun ein Künstler sich über Dubroeucq äußern.
Nur über des Meisters Verhältnis zu den Zeitstilen, zu Sehästhetik,
Stilpsychologie und Weltauffassung im Rahmen seiner Zeit möchten wir
hier noch einige Bemerkungen anschließen und im übrigen auf unser Floris-
werk für die Gesamtkunst der Zeit verweisen. Zur Weltauffassung und
Rasse haben wir dort bemerkt: »Eine Äußerung der Harmoniesehnsucht
dieser Zeit, welche in Italien eine starke Nahrung gefunden hat, ist auch
Dubroeucq in Mons. Sein Harmoniestil, seine maßvolle Schönheit, die
Breite, Ruhe und Einfachheit seines Vortrags, seine detaillose, typische
Idealform entsprachen vielleicht am besten der Sehnsucht dieser Zeit nach
harmonischer Weltbetrachtung. Daß der Tropfen romanischen Blutes,
den die Bewohner des Moseltals im weiteren Sinne in den Adern' tragen
und der sich einigemal im gesteigerten Sinn für das Klassische in der Kunst
geäußert hat, zur schnellen und sicheren Synthese dieses italienischen Stils
mitgewirkt hat, sei durchaus nicht geleugnet. Doch erscheinen diese Rasse -
äußerungen zu abgerissen und sporadisch, um daraus — neben zahlreichen
anderen Kunstäußerungen — das Wirken des g£nie latin als dauernden
Antriebes zu konstruieren, wie die Führer der neuesten wallonischen Be-
wegung verkünden. Das Rassige in der Kunst spielt nur eine Nebenrolle,
das Geistige ist das Konstituierende der Kunst und dieses Geistige ist etwas
Absolutes und Historisches, in zweiter Linie Naturgeborenes. Auch andere
Harmonieerscheinungen in der nordischen Kunst, wie die Naumburger
Chorfiguren, die Skulpturen von Wechselburg, Schongauer, Jean Mone
und nicht zuletzt Cornelis Floris und die Romanisten, sind — ebenso wie
Ligier Richier, Goujon und andere französische Zeitbildungen — zum Teil
und nur in eingeschränkterWeise mit demg^nie latin zu erklären. Das g6nie
latin hätte dann nur sehr intermittierend gewirkt.« Wir fürchten, wollten
wir alle »lateinischen Seelen« in der nordischen Kunst zusammenstellen,
’) Vorrede der französischen Ausgabe und Wallonia März 1912.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Neue Dubroeucqstudien.
411
es würde eine bunte Gesellschaft werden. Nennen wir nur noch: Hans Brügge -
mann und Konrad Meyt. Man sucht die Harmonieerscheinungen der wallo¬
nischen Kunst durch die Jahrhunderte hindurch zusammen, von Beauneveu
dis Rousseau, wie die Rosinen aus dem Kuchen, reiht sie auf und konstruiert
baraus die »filiation du g6nie latin«. Kann der Historiker diesem Verfahren
zustimmen?
Dubrocucqs Kunst ist eine romanisch-germanische Mischkunst. Destr^e
und Dupierreux haben das romanische Element besonders betont. Wollte
man das germanische Element herausheben, so müßte man auf das Solide,
Materielle der Form, auf das Schwerfällige, aber Gehaltvolle des Ausdrucks
bei Dubroeucq hinweisen, das zum Gehalten-Typischen, Maßvoll-Rhythmi¬
schen und Harmonischen veredelt ist. Von beiden Elementen, aus, dem
romanischen und germanischen, ist der Aufstieg zum Klassischen möglich,
von der Disharmonie des Lebens und Ringens zur Harmonie der Vergeisti¬
gung und Beruhigung von Form und Inhalt.
Psychologisch ruht diese Kunst mehr auf dem Kunstverstand als
auf dem frei schaffenden Gefühl, ist sie mehr auf objektive Typik als auf
subjektive Individualbildung gerichtet. Im Verhältnis zu Zeitstil und
Ästhetik folgt Dubroeucq dem Gesamtkunstwollen seiner Zeit. Vom anti-
kischen Frühbarock seiner Trinitätsmedaillons vom Lettner gelangt er zur
strengen Renaissance der Tugenden und Lettnerreliefs und — trotz einiger
*•
Schwankungen zum Barock — zeigt er sich im Alterswerk des Madonnen¬
reliefs noch als vorwiegender Renaissancemeister nach Rafaels Vorbild.
Ästhetisch geht seine Entwicklung analog von freier optischer Wirkung,
die ihm von der Spätgotik her zunächst näher lag und in Italien als neueste
Phase bei Michelangelo wieder begegnete, zu strenger taktisch-tektonischer
Formenarbeit, wie das Italien des Harmoniestils und der Hochrenaissance
sie übte und wie sie in Dubroeucqs persönlich reflektierter Weltauffassung
der Zeit eine starke Resonanz fand als: Maß und Harmonie der Seele und
ihrer künstlerischen Äußerung in plastisch-tektonischer Form, sowie in
maßvoll harmonischer Schönheit in Komposition und Ausdruck 10 ).
n ) Neuerdings hat Dehio unserer Auffassung Dubroeucqs zugestimmt (Kunst-
chro'nik 1912 no. 29), nachdem schon Woermann (Geschichte der Kunst III 1911) sie ge¬
billigt und eingereiht und Pirenne (Geschichte Belgiens III 1907) sie verwendet hatte.
Devillers, Rooses, Hymans, Friedländer hatten von Anfang an zugestimmt, ohne daß ihre
Stimmen zunächst Gehör gefunden hätten. — Frau Erica Tietze-Conrat ist mit ihrer Ab¬
lehnung des Buches, das sie — obgleich ohne spezielle Sachkenntnis — zu einer an leicht¬
fertigen IrrtUmern reichen Erstlingskritik auserkoren hatte, allein geblieben; meine »Er¬
widerung« haben die »Kunstgeschichtlichen Anzeigen« nicht aufgenommen.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Eine neue archivalische Notiz über Hans Pleydenwurff?
Von Albert Gümbel.
öftere Beobachtungen über gerichtliche Klagen, welche im 45. Jahr¬
hundert gegen Nürnberger Bürger vor dem Kaiserlichen Landgericht des
Fürstentums Bamberg anhängig gemacht wurden, regten in mir den Wunsch
an, die Protokolle dieses Landgerichtes auf etwa vorkommende Nürnberger
Meisternamen durchzusehen. Das K. Kreisarchiv Bamberg hat mir dies
durch die dankenswerte Übersendung einer größeren Anzahl dieser Protokoll¬
bände nach Nürnberg möglich gemacht.
Gleich in dem ersten Bande, welcher die Jahre 1400—1447 umfaßt
(Signatur: K. Kreisarchiv Bamberg, Selekt B, Gerichtsbücher Nr. 7 14),
auf Fol. 359 b fand sich der folgende bemerkenswerte Eintrag:
Judicium provinciale feria 2* post festum inclite virginis et Martiris
Katherine [= 27. November] 1447.
Albrecht Newensteter p[ostulat] zu den gotzhaußmeistern vnnd der
gantzenn gemeind zu Weiden, vmb das sie in gen den Bleidenwurf zu
bürgen versetzt haben vnd wollen in nit lösen, inmaßen sie im geredt haben.
Besch [edigung] 20 guld. dingt im beßerung seins Spruchs.
Wir kennen nun für so frühe Zeit (1447) keinen andern Meister, auf
welchen sich diese Notiz beziehen könnte, als Hans Pleydenwurff,
und da es sich bei jenem Gerichtsprotokoll wohl sicher um einen in Bam¬
berg seßhaften Künstler handelt — wenigstens fand ich durchaus keine
Nürnberger Meister in diesen Protokollen erwähnt — wäre damit ein Hin¬
weis, vielleicht auf die Heimat, jedenfalls auf einen früheren Aufenthalt des
Malers, der bekanntlich erst 1457 Bürger in Nürnberg wurde, gegeben.
Persönliche Nachforschungen in Weiden, einem kleinen Dörfchen
1 t /t Stunden Postfahrt von Burgkundstadt (an der Bahnlinie Bamberg-Hof),
ergaben das Vorhandensein eines dem 15. Jahrhundert angehörenden Schnitz¬
altares mit etwa I m hohen Relieffiguren Marias mit dem Kinde, das eine
Traube hält, Johannes des Täufers, der hh. Katherina und Barbara und des
h. Sebastians, dann zweier Bischöfe.
Indem ich mir Vorbehalte, an dieser Stelle nochmals eingehender darau
zurückzukommen, möge heute nur die obige archivalische Notiz registriert sein
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Albert Gtlmbel, Eine neue archivalische Notiz über Hans Pleydenwurff? 413
Nachschrift: Nach Niederschrift dieser Zeilen kamen mir die
überaus wertvollen Feststellungen Professor Leitschuhs in Bamberg in der
»Kunstchronik« der Münchener Neuesten Nachrichten 1912, Nr. 409 zu
Gesicht, in welcher er, bezugnehmend auf meine erste Mitteilung über den
Weidener Altar im gleichen Blatte Nr. 377, darauf hinweist, daß in Bamberg
1435 und 1447 ein Maler K o n r a d Pleydenwurff erscheint und eben im
Jahre 1447 17 fl. für die Bemalung verschiedener Stadtpaniere erhielt. Die
Frage bezüglich des Meisters des Weidener Altars — wenn wir überhaupt
eine so frühzeitige Entstehung annehmen dürfen — hätte jetzt also zu lauten:
Konrad oder Hans Pleydenwurff ? Albert Gümbel.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Johann Rudolf Rahn -j\
(24. April 1841 bis 28. April 1912.)
Von Josef Zemp.
Am 28. April 1912 ist in Zürich, 71 Jahre ait, Prof. Dr. J. R. Rahn
gestorben. Der Kunstgeschichte seiner schweizerischen Heimat war sein
überaus arbeitsvolles und an Erfolgen reiches Leben gewidmet. Niemand
kannte so wie er das alte Kunstgut in der Schweiz. Die Zeit und die Schule,
die ihn formten, haben freilich seine Interessen mehr auf das Mittelalter
gelenkt als auf neuere Jahrhunderte. In seinem Kreis hat er erstaunlich
vieles und immer tüchtiges geschaffen. Seine Gewissenhaftigkeit war nicht
zu übertreffen. Er war die Ordnung selbst. Den Boden des Tatsächlichen
zu verlassen, liebte er nicht; er hielt sich fern von der Sphäre genialer Speku¬
lation, und selbst naheliegende Schlüsse kombinierte er nur zögernd. Es
war nicht seine Art, die Arbeit aus dem Handgelenk zu schleudern. Sorgsam
wurde Stück an Stück geschlossen und nur Fertiges vom Pult gegeben.
Unter allen Erscheinungen des künstlerischen Schaffens fesselte ihn die
Architektur am meisten. Man darf diese Vorliebe als einen Ausdruck seines
Naturells betrachten: seinen Neigungen entsprach das Feste, Große und
Bestimmte.
Aus romantischen Anregungen und aus der Lust am Zeichnen ist
Rahn zur Kunstgeschichte gekommen. Der Apothekerssohn aus hoch¬
angesehener alter Zürcher Familie hätte Kaufmann werden sollen. Doch
folgte er bald dem Hang, alte Bauten zu zeichnen und ihre Geschichte zu
kennen. Ferdinand Keller, der eifrige Erforscher von vorgeschichtlichen
und römischen Altertümern, bot dem Jüngling viele Anregung. In der Kunst¬
geschichte unterwies ihn Wilhelm Lübke, der seit 1861 in Zürich lehrte.
Weiteres Studium führte Rahn nach Bonn zu Anton Springer und nach
Berlin, wo er mit Eggers und mit jüngern Fachgenossen wie Alfred Wolt-
mann in Fühlung kam. Daß ein Gegenstand aus der Geschichte der Bau¬
kunst zur Doktordissertation gewählt wurde, erscheint bei Rahn fast selbst¬
verständlich. Von den Resultaten der Arbeit »Über den Ursprung
und die Entwicklung des christlichen Zentral •
und Kuppelbaues« (Leipzig 1866) hat sich die deutsche Kunst -
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Johann Rudolf Rahn f.
415
Wissenschaft dreißig Jahre lang nicht wesentlich entfernt. Die Selbständigkeit
der römisch-abendländischen Tradition wird hier stark betont und die
Bedeutung von orientalischen Einflüssen abgelehnt. Noch' im Jahre 1895
hat Franz Xaver Kraus diesen Standpunkt eifrig verteidigt, wo er über¬
haupt noch zu halten war. Inzwischen freilich ist das Lehrgebäude er¬
schüttert worden; in Josef Strzygowski erhielt der Orient seinen gewandtesten
Anwalt, und zur Stunde ist noch gar nicht abzusehen, wie die Entwicklungs-
reihen in Zukunft lauten werden. Zur Zeit ihres Erscheinens mußte Rahns
Arbeit über den altchristlichen Zentral* und Kuppelbau als die beste und
gründlichste Darstellung des Gegenstandes gelten. Die Folge war, daß
Karl Schnaasc den jungen Forscher zur Mitwirkung an der zweiten
Auflage seiner großen Geschichte der bildenden Künste einlud. Rahn fiel
die Bearbeitung des dritten, 1869 erschienenen Bandes zu. Ohne Zweifel
hat diese Episode in seinem späteren Schaffen bedeutsam nachgewirkt.
Er blieb als Gelehrter verwachsen mit jener ausgezeichneten Generation
der Begründer der neueren deutschen Kunstwissenschaft, den Schnaase,
Lübke, Springer.
Im Herbst 1866 zog Rahn nach Italien. Erst in Rom, dann in Ravenna
nahm er Hauptquartier. Es fesselten ihn die Bauwerke des frühen Mittel¬
alters; Zeichnen und Messen war das Hauptanliegen. Schon hier erlangte
er im Aufnehmen jene seltene Fertigkeit, um die ihn jeder Architekt beneiden
konnte. Der aufschlußreiche Aufsatz »Ein Besuch in Ravenna«
(A. v. Zahns Jahrbücher für Kunstwissenschaft, 1868) ist eine noch heute
sehr schätzenswerte Frucht der italienischen Studienzeit.
Fortan galt die Arbeit des Forschers seiner schweizerischen Heimat.
Rahn isolierte sich in engeren Grenzen, um dort das eigentliche Lebens¬
werk zu vollbringen. Ihm ist es fast allein zu danken, daß heute der größte
Teil der schweizerischen Denkmäler der Kunstwissenschaft erschlossen ist.
Alle Landesteile hat er als froher Wanderer durchstreift; noch im hohen
Alter zeichnete er im Engadin und Oberwallis von Dorf zu Dorf. Grau-
bünden, der Tessin, die französische Schweiz haben ihn besonders gefesselt.
Die Skizzenbücher und die sorgsam in getuschter Federzeichnung aus¬
geführten Einzelblätter sind durch letztwillige Verfügung an die Stadt¬
bibliothek in Zürich übergegangen. Nicht nur als eine kostbare Sammlung
kunstwissenschaftlichen Materiales wollen diese Schätze gewertet sein. '
Sie bekunden auch eine anziehende künstlerische Entwicklung und wecken
die Sympathie des ßeschauers als reiner Ausdruck einer Wesensart, die sich
nicht anders geben konnte, als klar, bestimmt und treu. Freunde und Ver¬
ehrer haben zum 70. Geburtsfest des Meisters am 24. April 1911 siebzig seiner
Zeichnungen in einem Bande »Skizzen und Studien« heraus¬
gegeben.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
4i6
Josef Zemp,
im Jahre 1868 richtete sich Rahn in Zürich häuslich ein, habilitierte
sich 1869 an der Universität, wurde 1870 außetordentlicher, 1877 ordent¬
licher Professor; 1883, nach Gottfried Kinkels Tod, übernahm er auch das
Lehramt der Kunstgeschichte an der Eidgenössischen Technischen Hoch¬
schule.
Rahns Hauptwerk bleibt die Geschichte der bildenden
Künste in der Schweiz von den ältesten Zeiten
bis zum Schlüsse des Mittelalters (Zürich 1876). Wer
die Bedeutung dieses Buches ermessen will, muß sich bewußt bleiben, daß
noch kein Versuch einer zusammenfassenden Schilderung der schweizerischen
Kunstgeschichte unternommen worden war. Weniges hatte überhaupt
nur je in kunstgeschichtlichem Zusammenhang Erwähnung gefunden. Es
handelte sich deshalb nicht sowohl um kritische Auswahl des Stoffes, und
nur selten um bewußtes Unterdrücken unwichtiger Dinge; es galt vor allem,
nach Vollständigkeit zu streben und der großen Menge von bisher unbe¬
kannten Denkmälern den richtigen Platz in der historischen Entwicklung
anzuweisen. Mit vollem Recht genießt diese schweizerische Kunstgeschichte
bei den Fachgenossen eiqes hohen Ansehens. Man darf die Frage wagen,
ob eines der die Schweiz umgebenden Länder schon zu jener Zeit eine an
umfassender Stoffbeherrschung und sicherem Urteil ebenbürtige Geschichte
seiner nationalen Kunst besaß. Man begreift, daß das Buch in vielen Dingen
durch neuere Sonderschriften ergänzt, überholt, berichtigt wurde. Zu solcher
Vertiefung hat Rahn selbst den größten Teil getan. Das war in einer langen
Reihe trefflicher Monographien, die immer für den strengen Geist seiner
Forschung und für den weitumfassenden Kreis seiner Interessen zeugen.
Im Repertorium für Kunstwissenschaft erschienen seine Aufsätze über
Niklaus Mannei (III), über Wandgemälde zu Wyl (III),
zur Geschichte der oberitalienischen Plastik (III),
zur Geschichte der Renaissancearchitektur in der
Schweiz (V), zur Deutung der romanischen Decken¬
gemälde in der Kirche von Zillis (V), Die Malereien
aus dem Renaissancezeitalter in der italienischen
Schweiz (XII). Die Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft in
Zürich brachten die Monographien über Grandson und zwei
Cluniazenserbauten der Westschweiz (1870). Die
mittelalterlichen Kirchen des Zisterzienserordens
in der Schweiz (1872), Die biblischen Deckengemälde
in der Kirche von Zillis (1872), Die Glasgemälde in
der Rosette der Kathedrale von Lausanne (1879),
Die mittelalterlichen Wandgemälde in der italieni -
sehen Schweiz (1881), Die Kirche von Obei winter -
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Johann Rudolf Rahn f.
417
thur und ihre Wandgemälde (1883), Geschichte und
Beschreibung des Schlosses Chillon (1887—1889), Die
schweizerischen Glasgemälde in der Vincentschen
Sammlung in Konstanz (1890), Die Casa di ferro bei
Locarno (1891), Beschreibung des Klosters Kappel
(1892), Das Fraumünster in Zürich (1900—1902), Schloß
Tarasp (1909). Kleinere Aufsätze erschienen erstaunlich zahlreich im
Anzeiger für schweizerische Altertumskunde. Von 1879 bis 1895 hat Rahn
die Redaktion dieser Zeitschrift besorgt *). Eine Reihe trefflicher Studien
veröffentlichte Rahn in den Mitteilungen der schweizerischen Gesellschaft
für Erhaltung historischer Kunstdenkmäler. Nicht unerwähnt bleibe der
noch heute hoch geschätzte Text zur Herausgabe des Psalterium
aureum von St. Gallen (1878).
Keinem Leser wird in Rahns Arbeiten die sorgfältige und oft aparte
Behandlung der sprachlichen Form entgehen. Er liebte kräftigen Ausdruck
und wußte charaktervollem schweizerischem Sondergut sein Recht zu
wahren. Mit Conrad Ferdinand Meyer war Rahn eng befreundet; oft ließ
ihn der Dichter in das Werden neuer Werke blicken. Solcher Verkehr hat
dazu beigetragen, daß Rahn der formalen Seite seines Schrifttums die größte
Sorgfalt angedeihen ließ, ln dem reizvollen Buche der »Kunst - und
Wanderstudien aus der Schweiz« (1883) verbindet sich
die Arbeit des Forschers mit der frischen Schilderung von Land und Volk.
Die »Wanderungen im Tessin« sind das Meisterstück in dieser
Sammlung.
Nebenher ging das strenge Gelehrtenwerk. Schon seit 1872 opferte
Rahn einen großen Teil seiner Arbeitskraft an die Inventarisation
der schweizerischen Kunstdenkmäler, sein mühevollstes
und deshalb ganz besonders dankenswertes Unternehmen. Es führte ihn
immer wieder hinaus zu neuer Wanderung. Die Kunsttopographie Deutsch¬
lands von Wilhelm Lotz diente zunächst als Vorbild. Die Beschreibung
der romanischen Denkmäler erschien im Anzeiger für schweizerische Alter¬
tumskunde von 1872 bis 1877, die der gotischen seit 1879. Die Aufzeich¬
nungen waren damals noch ganz kurz gefaßt, später wurde das Programm
nach dem Muster der deutschen Inventarisationswerke erweitert. Als selb¬
ständige Bände erschienen die Beschreibungen der mittelalterlichen Kunst-
denkmäler von Tessin (1893), Solothurn (1893), Thurgau
(1899). Erst seit 1888 stellten sich Abbildungen ein, wofür der treffliche
Zeichner zumeist selbst aufkam. Der Abschluß der ganzen Unternehmung
') Der Anzeiger 1012, Heft 1, enthält ein Verzeichnis aller auf die schweizerische
Kunstgeschichte und Altertumskunde bezüglichen Schriften Rahns.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
418
Josef Zemp, Johann Rudolf Rahn f.
liegt noch in weiter Ferne und wird nur durch die Teilung unter zahlreiche
Mitarbeiter zu beschleunigen sein.
In allem Wirken Rahns treten die schönen und kräftigen Züge einer
edlen Wesensart hervor. Er weckte unbegrenztes Vertrauen. Wo beraten
und verhandelt wurde, räumte man ihm in völlig selbstverständlicher Weise
die Geltung einer hohen Autorität ein. Schon das Äußere gewann die Sym¬
pathie und war ein vollkommenes Abbild des Charakters: die hohe, kräftige
Gestalt, der energisch gemeißelte Kopf mit dem scharf geschnittenen Profil,
das ruhig heitere Gehaben, der vollendet ritterliche Umgang. Wir bleiben
dem Schöpfer und Führer der schweizerischen Kunstwissenschaft in dank¬
barem und verehrungsvollem Andenken verpflichtet.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
Richard Müller-Frcienfels, Psychologie der Kunst. Zwei Bände.
Teubner, Leipzig.
Allmählich, freilich für die Beteiligten noch immer zu langsam,
nimmt die Erkenntnis zu, daß die Ergebnisse der psychologischen Forschung
für das Verständnis der Kunstwerke sowohl in ihren Wirkungen als in ihrem
Entstehen von größter Bedeutung sind. Und so mehren sich in neuerer Zeit
die Bücher, die einer psychologischen Kunstwissenschaft dienen wollen
und die Durchdringung beider Gebiete auf ihr Programm geschrieben haben.
Das hier zu besprechende Buch gehört in diese Reihe. Der gewissenhafte
Leser, der zuerst den Index und dann das Sachregister durchblättert, wird
darin alle Probleme berührt finden, nicht nur die einer psychologischen
Aufklärung unmittelbar bedürfen, sondern alle, die überhaupt unter einen
psychologischen Gesichtspunkt gebracht werden können. • Da stehen die
assoziativen und imaginativen Faktoren, die Vorstellungstypen, die Af*
fekte, aber auch die Ausführung des Kunstwerkes, die künstlerische Technik,
Klassiker und Romantiker und vieles andere. Es scheint unmöglich, etwas-
• •
mit der Ästhetik Zusammenhängendes zu finden, das hier nicht erörtert
würde. Und wir schlagen das Buch auf und suchen nun die Aufklärung.
Aber zu unserem Staunen finden wir, daß das Problem der Technik
auf nicht ganz einer Seite behandelt wird, die Frage nach Form und Inhalt
auf nicht ganz zwei Seiten, die zentrale Frage nach den Gründen für das
Gefallen an Formen auf zwei und dreiviertel Seiten, die noch ganze sechs Zeilen
über das Raumproblem enthalten! Allerdings sind hier noch drei Seiten über
Symmetrie, zwei und eine halbe Seite über rhythmische Anordnungen, vier
Seiten über die »schönen Linien« im allgemeinen, die auch das Ornamentale
mit einschließen, und ungefähr eine Seite über das Monumentale angefügt.
Über Raum findet sich auch noch an früherer Stelle eine kurze Notiz, die
hauptsächlich aus Zitaten nach Hildedrandts »Problem der Form« besteht.
Und so geht es fort. Fragen, von denen man vermutet, daß ihre Behandlung
allein ein ganzes Buch füllen müßte, werden in unglaublicher Kürze be¬
sprochen.
Repertorium für Kunstwissenschaft XXXV. 28
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
420
Besprechungen.
Wenden wir uns nun dem Inhalt im einzelnen zu. Wir finden Sätze
wie: »Und lassen nicht am Ende die wundervollen Formen der Pflanzen¬
welt auf das Walten eines ästhetischen Triebes in der Natur schließen?« (I, 2).
Oder, nachdem von persönlichen Erlebnissen auf dem Forum Romanum
die Rede war, bei der Betrachtung eines entsprechenden Bildes: »Soll ich
nun irgendeiner unbeweisbaren Kunsttheorie zuliebe diese ganz subjektiven
und doch so reichen und schönen Erinnerungen zurückweisen?« (I, 62).
Oder mit Berufung auf Gluck, Wagner, den Impressionismus, Dürer und
Böcklin: »Im allgemeinen läßt sich z. B. sagen, daß die Romanen mehr auf
das Sensorische, die Germanen mehr auf das Imaginative ausgehen« (I, 130).
und kein weiteres Argument wird dieser Behauptung hinzugefügt. »Ori¬
ginalität ist fast immer gleich mit Abseitsstehen, die ganz Großen sind nie¬
mals originell in diesem Sinne« (I, 131). So geht es weiter und weiter, und
schließlich haben wir kaum mehr erfahren, als auch schon im Index stand.
Es wird eine Art Heerschau über die ästhetischen Fragen gehalten, aber
sie werden nicht diskutiert. Der Verf. sucht weder eigene Meinungen zu be¬
gründen noch fremde, die er in kurzen Sätzen sehr zahlreich anführt, zu
kritisieren, wenn unter diesen Tätigkeiten eben ein eingehendes Erwägen
der möglichen Gesichtspunkte und Beispiele und die Vorbereitung eines
systematischen Zusammenhanges verstanden werden soll. Wir erfahren
nicht, welche von den psychologischen Anschauungen etwa für die Ästhetik
fruchtbar sind, welche in Widerspruch mit den Tatsachen dieses Gebietes
stehen oder welche vielleicht durch ihre Anwendbarkait in diesem
Gebiet einen neuen Beweis ihrer Tragkraft hinzugewinnen, und leider
muß auch noch beigefügt werden, daß einige der wichtigsten Ergebnisse der
neuen Psychologie, die freilich einstweilen noch nicht unter die Gesichts¬
punkte der Ästhetik gerückt worden sind, aber doch für sie große Bedeutung
haben, dem Verf. unbekannt zu sein scheinen, wie etwa die letzten Um¬
wälzungen im Bereich der Akustik, wie die neuen Forschungen über den
Raum.
In dieser Weise dürfte also die Aufgabe einer Psychologie der Kunst
nicht gelöst werden können. Die verlangt nicht nur die umfassendste Sach¬
kenntnis, sondern auch eine zähe Hingabe an das Detail, und sie verlangt
noch mehr. Ein großer Teil der ästhetischen Probleme setzt zu seiner Lösung
Sicherheiten in bezug auf den psychologischen Sachverhalt voraus, die die
heutige Psychologie einfach noch nicht geben kann, Unzählige Fragen stehen
ja noch offen. Eine sei hier für alle anderen genannt, die der Verfasser nur
leichthin und ohne jede Bezugnahme auf ihre Tragweite streift, die Frage
nach den Gestalten, zeitlichen wie räumlichen, ihrer Existenz, ihrer Auf -
fassung, ihrer Herkunft. Gerade die Unbekümmertheit, mit der der Verf.
an allen derartigen Schwierigkeiten vorübercilt, zeigt uns, wie fern die Zeit
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
42 I
noch ist, in der die Möglichkeiten gegeben sein werden, die hier gestellte
große Aufgabe in befriedigender Weise zu lösen. Aber damit soll allerdings
nicht gesagt sein, daß die Psychologie für die Ästhetik noch nicht in Frage
käme. Es sind in einzelnen Gebieten, wie etwa denen des Rhythmus oder
des Farbensehens, außerordentliche brauchbare Vorarbeiten geleistet worden,
und ohne Bezugnahme auf sie ist ein Fortschreiten nicht denkbar. Aber
eine Lösung aller Schwierigkeiten und gar eine einheitliche Lösung ist heute
noch nicht möglich. Allesch.
M. Liefmann, Kunst und Heilige. Ein ikonographisches Hand¬
buch zur Erklärung der Werke der italienischen und deutschen Kunst.
VI und 320 S. 8°. Jena, Diederichs, 1912.
Verf. hat sich mit großer Liebe in ein ihm augenscheinlich von Hause
aus fernliegendes Gebiet eingearbeitet. Das zur Anzeige stehende »Ikono-
graphische Handbuch« — ein wohl etwas anspruchsvoller Titel — ist alpha¬
betisch angeordnet und bietet zunächst ein Verzeichnis der in der bildenden
Kunst des Mittelalters mehr oder weniger häufig dargestellten Heiligen und
biblischen Personen, das Nötigste aus der Legende und die Attribute der
einzelnen Heiligen. Angeschlossen sind ein alphabetisches »Verzeichnis der
Attribute der Heiligen, kurze Erklärungen der Symbole, der geistlichen und
Ordenstrachten« und ein äußerst knappes »Register«. Die letztgenannten
Verzeichnisse sind wenig befriedigend, zumal von dem Leserkreise voraus¬
gesetzt wird, daß er noch der ersten Orientierung bedarf. So wird z. B.
unter dem Stichwort »Bischof« eine lange, aber doch nicht ausreichende Liste
heiliger Bischöfe geboten, unter den »Jungfrauen« aber werden nur »Ursula,
Praxedis und Pudentiana« genannt. Der erste Teil ist besser gearbeitet;
angenehm fällt vor allem der würdige und angemessene Ton auf, in dem die
legendären Stoffe besprochen werden. Aber auch dieser Abschnitt ist, wie
sich aus der immensen Ausdehnung des hagiographischen Materials leicht
s
erklärt, nicht frei von erheblichen Versehen, auch redaktionell keineswegs ein¬
heitlich. Die (übrigens sehr entbehrliche) etymologische Deutung der Namen
wird nur bei einem Teile der Stichwörter geboten; biblische Namen sollten
nicht bald nach der Vulgata, bald nach Luthers Übersetzung zitiert werden,
schematische Wendungen wie »St. N. N. wirkte auch zahlreiche Wunder«
können vollständig wegfallen. Sehr selten versucht Verf. auf die so wichtigen
Fragen nach der Entwicklungsgeschichte der einzelnen Attribute und der
Einwirkung der Ikonographie auf die Gestaltung der hagiographischen Texte
einzugehen, und wenn er es tut, ist er nicht immer von Glück begleitet, wie
z. B. bei Erklärung des Schweines als Attribut des hl. Antonius. Das Richtige
hierüber ist bei E. Male, L’art rcligieux du XIII. sicclc en France, Paris 1898,
28*
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
422
Besprechungen.
p. 370 s., nachzulesen. Das dortselbst über die Heiligen Nikolaus, Martinus
u. a. beigebrachte Material sollte von Lief mann bei der Revision der betreffen¬
den Artikel ebenfalls angezogen werden.
Es sind also einige Wünsche, die an eine Neuauflage des Buches zu
richten wären. Alles in allem ist nicht daran zu zweifeln, daß das Werkchen
seinen Weg machen wird, denn das Bedürfnis nach ikonographischer Be¬
lehrung ist in den Kreisen angehender Jünger der Kunstwissenschaft wahr¬
haft schreiend.
Berlin. 7 . B, Kißling.
Mainzer Zeitschrift. Zeitschrift des Römisch-germanischen Zen¬
tralmuseums und des Vereins zur Erforschung der rheinischen Geschichte
und Altertümer. Herausgegeben von der Direktion des Römisch-germani¬
schen Zentralmuseums und dem Vorstande des Mainzer Altertumsvereins,
Schriftleitung: Professor E. Neeb, Mainz. Jahrg. VI, 1911, der neuen
Folge der Zeitschrift des Vereins zur Erforschung der rheinischen Ge¬
schichte und Altertümer. Mainz 1911, in Kommission bei L. Wilckens,
gedruckt bei Phil. v. Zabern, Großh. Hess. Hofdruckerei, Mainz.
Das diesjährige Heft ist zwar an Inhalt und Abbildungen besonders
reich, aber betrifft fast lediglich »Geschichte und Altertümer« und streift
nur teilweise und wenig die Kunst, steht also ziemlich außerhalb des Rahmens
dieser Zeitschrift. Zu nennen, wäre für uns etwa der einleitende Festgruß
K. Schumachers zu Friedr. v. Duhns sechzigstem Geburtstag; eine Arbeit
Behns über den schönen, von Napoleon III. dem Museum geschenkten alt-
ionischen Bronzekandelaber aus der Wende vom 6. zum 5. Jahrhundert
(abgebildet); Rudolf Pagenstecher, »Spruchbecher« (aus der Sammlung
Häberlin in Frankfurt; abgebildet). Einiges von Belang für die Kunst¬
wissenschaft findet sich auch im Bericht über die Ausgrabungen im Legions¬
kastell zu Mainz während des Jahres 1910 von Behrens und Brenner (z. B.
Sigillatagefäße und Lampen) und in Korbers Bericht über die 1909/10 ge¬
fundenen römischen und frühchristlichen Inschriften und Skulpturen. Er¬
giebiger ist Neebs Bericht über die Vermehrung der Sammlungen in 1909
bis 1911. Die Ausgrabungen im Gebiete der Albanskirche haben Fundament-
restc der Toranlage des Albansklosters (vermutlich!) zutage gefördert, andere
Ausgrabungen die Fundamente der mittelalterlichen Gaupforten, sodann hat
sich beim Theaterumbau ein gotischer Fliesenboden gefunden (farbige Ab¬
bildung). Namentlich sind einige mittelalterliche und Barockfiguren er¬
worben worden, z. B. eine Mainzer Sandsteinmadonna aus dem zweiten
Drittel des 15. Jahrhunderts und eine Pietä des 18. Jahrhunderts (beides
abgebildet). Ein interessantes Stück ist die gotische Pluvialschließe mit
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
423
Figuren (Abb.). Den Beschluß macht ein Aufsatz August Feigels über die
»Waffenträgerin« im Altertums-Museum (abgebildet), ein zierliches kleines
Sandsteinrelief wahrscheinlich mainzischer Kunstherkunft aus dem Anfänge
des 15. Jahrhunderts. F. R.
Kunstdenkmäler der Schweiz. Mitteilungen der schweizerischen Ge¬
sellschaft zur Erhaltung der Kunstdenkmäler. Neue Folge, Bd. V,
VI, VII. Zemp u. Dürrer. Das Kloster St. Johann zu Münster in
Graubünden. Genf, Atar A. G. 1906 fr.
Das Werk, das jetzt mit der dritten Lieferung und einem Nachtrag
abgeschlossen vorliegt, ist eine der interessantesten kunstgeschichtlichen
Publikationen der letzten Jahre. Die Inventarisation eines Klosters, das,
in einzig stimmungsvoller Umgebung am Kreuzungspunkt uralter Straßen
gelegen, wichtigste frühmittelalterliche Kunstschätze aufbehalten hat, wird
durch die geschickte Zusammenarbeit eines Historikers und eines Archi¬
tekten zu einem kunstgeschichtlichen Ereignis. Der Bericht, abgefaßt mit
der exakten Gewissenhaftigkeit eines archäologischen Ausgrabungsreferats,
läßt uns an der allmählichen Ausgestaltung des Klosters teilnehmen, als an
Reflexen, die die großen Kulturereignisse in diese abgelegene Einsamkeit
warfen.
Das Monasterium Tubris, 805 zum ersten Mal in den Urkunden erwähnt,
wahrscheinlich aber schon zwischen 780 und 786 gegründet und von der Tra¬
dition mit Karl dem Großen selbst in Verbindung gebracht, ergab den glück¬
lichen Entdeckern eine aufschlußreiche Fülle karolingischer Denkmale, über
die jetzt bereits eine ganze Literatur existiert. Während von der karolingi¬
schen Klosteranlage sich nur die Lage im Norden der Kirche feststellen
ließ, zeigte die Kirche selbst einen bisher unbekannten Bautypus, ein ein¬
schiffiges Langhaus mit drei Apsiden von hufeisenförmigem Grundriß, der
sich aber zugleich an anderen Baudenkmälern Graubündens als der seit der
Merowingerzeit dort übliche erwies. Er ist wahrscheinlich orientalischen
Ursprungs, aber, nach Dvorak, durch Dalmatiens Vermittlung in die Schweiz
gelangt. Auch die Formen des sogenannten »langobardischen« Flachorna¬
mentes wurden wohl dort, nicht ohne Einfluß des Orients, aus antiken Formen
gebildet, z. B. das Krabbenmotiv aus dem »laufenden Hund«, sicher nicht
aus Teppichfransen, wie Zemp will, kamen dann nach Italien und von dort
über die Alpenpässe nach Münster, wo sich eine große Anzahl von Marmor¬
fragmenten des Stiles gefunden hat. Zemp denkt dabei an zwei mögliche
Einflußkanäle, den Brenner und das Wormser (Umbrail-) Joch, von denen
*) Kowalczyk-Gurlitt, Denkmäler der Kunst in Dalmatien. Berlin 1910, Taf. 70.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
424
Besprechungen.
indessen nur das letztere in Betracht kommen kann, dessen Fortsetzung
unmittelbar auf Münster hinführt. Denn während jene Formen für die
Schweiz fast die Bedeutung eines lokalen Stiles haben, wird ihre östliche
Grenze durch die schönen Platten von St. Benedict in Mals bezeichnet,
für die übrigens ein genaues Vorbild im Museum von Zara existiert, und
in der Brennerlinie kommen sie überhaupt nicht mehr vor. So überraschend
das ist — denn der Brenner wäre die natürliche Straße nach Norden —,
so erklärt es sich ganz naturgemäß durch das damals sehr geringe kirchliche
Bedürfnis im Gebiete der Ostalpen, im Gegensätze zu den wichtigen kirch¬
lichen Zentren auf dem Boden der Sehweiz. Andererseits haben sich in
Münster beträchtliche Fragmente einer Ornamentleiste von überraschender
Reinheit des irischen Stils gefunden, die in Stein geradezu als Unikum
gelten muß. Hier an eine Ableitung von Norden her zu denken, etwa über
St. Gallen, liegt sehr nahe; es muß dieses Stück gewesen sein, das Strzy-
gowski veranlaßte, auch für die langobardischen Formen eine Invasion von
Norden her anzunehmen. Immerhin ist es schwer zu entscheiden, ob nicht
doch irgendwelche innerliche Beziehung der irischen Wurmverflechtungen zu
den langobardischen Bandverflechtungen wirksam gewesen ist.
Daß Dalmatien in erster Linie als Ausgangspunkt der »langobardi¬
schen« Formen in Betracht kommt, ergibt sich, sobald man aus den Münsterer
Fragmenten ein Gebilde zu rekonstruieren versucht. Dann zeigt sich, daß sie
unmöglich zu einem Abtstuhl gehört haben können, was Stückelberg vor¬
schlug, vielmehr alle eine Altarausstattung nach dalmatinischem Muster
bildeten. Erhalten sind von den Chorschranken Reste der Brüstungsplatten,
ihrer schmalen Randleisten und Fragmente eines kleinen VerbindungspfÖrt¬
chens in den Chorschranken mit säulengetragenem Giebel, ähnlich dem im
Museum von Spalato *), nämlich ein oberer Eckpfosten der Chorschranken
mit einer Säulenbasis (Fragm. 5) und die Dreieckspitze des wimpergartigen
Giebels (Fragm. 1). Solche Giebel haben niemals zum Ziborienaufbau selbst
gehört, woran Zemp denkt, vielmehr waren dort Bögen und Aufsätze selb¬
ständig aus einzelnen Stücken gebildet. In die Ecke eines Bogens des
Ziboriumaufbaues, ähnlich dem von Arbe 3 ), dürfte Fragment Nr. 12 gehören.
Eis ist überraschend, daß gleichzeitig mit der linearen Ängstlichkeit
dieser Steinornamentik in Münster eine Malerei von außerordentlicher Frei¬
heit des Impressionismus geübt worden ist. Über den Wölbungen der spät-
gothischen Kircheneindeckung, an den Hochwänden des karolingischen Baues
haben sich die Reste von Wandmalereien erhalten, die die Verfasser mit
Recht ebenfalls der Zeit um 800 zuschreiben, die also die einzigen auf uns
2 ) Ebenda Taf. 62.
3 ) Ebenda Taf. 87.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
425
gekommenen Fresken karolingischer Herkunft sind. Was bis jetzt vorliegt,
gestattet freilich nicht, sich ein genaues Bild von der Ausmalung der Kirche
zu machen. Sicher ist nur, daß rings um das Schiff, unmittelbar .unter der
Decke, ein Fries von Bildfeldern aus der Geschichte Davids lief, dem ober¬
halb der Apsiden im Triumphbogen eine Darstellung der Himmelfahrt nach
syrischem Typus entsprach, und daß in diesen Apsiden die Dekoration mit
einem ge.ralten Teppich abschloß, der wahrscheinlich um alle Wände
gleichmäßig herumgeführt war. Denkt man nun an die charaktervolle Art,
wie in S. Apollinare Nuovo in Ravenna die Basilikalanlage durch die De¬
koration gegliedert wird, wie etwa im Fries der schreitenden Märtyrer die
Bewegung den Zug der Säulen zum Altar führt, so fühlt man in der Teppich¬
dekoration zu Münster ein so sicheres Verhältnis zur Wand als geschlossener
Fläche, daß man auch hier an eine edlere Dekoration durch den malerischen
Schmuck denken möchte, als an ein bloßes schachbrettartiges Aneinander¬
reihen von Bildfeldern, wie Zemp es vorschlägt. Es ist dringend notwendig,
den Wunsch der Verfasser nach möglichst beschleunigter Bloßlegung der
übrigen, wahrscheinlich noch ziemlich vollständig unter der Tünche der
eigentlichen Kirche verborgenen Wanddekoration zu erfüllen, trotz der im¬
mensen Schwierigkeiten, die die Erhaltung der darüberliegenden späteren
Fresken bereiten wird. Eine gleiche Möglichkeit, Klarheit über die Ten¬
denzen karolingischer Kunst zu erlangen, dürfte im deutschen Volksgebiete
an keiner Stelle vorhanden sein. Dazu kommt der hohe künstlerische Wert
der erhaltenen Fresken, besonders aus der Davidsgeschichte, dergegenüber
freilich das neutestamentliche Bild etwas zurücksteht. Es genügt, auf die
Charakteristik des mit dem Tode ringenden Absalom in der Therebinte zu
verweisen, auf den bekümmerten David, der die Todesbotschaft erhält,
oder auf die Fähigkeit des Künstlers zum plastischen Ausdruck des Körpers
und seiner Bewegungen mit Hilfe impressionistischer Erkenntnisse. Der
Stil ist von allenStilen der karolingischen Buchmalerei so weit entfernt, die Ge¬
mälde lassen selbst die gleichzeitigen Fresken von Santa Maria Antiqua so
weit hinter sich, daß man in Verbindung mit dem syrischen Typus der Himmel¬
fahrt auch hier an hellenistisch-orientalische Abkunft wird denken müssen.
Trotzdem möchte man mit den Verfassern an eine Vermittlung durch Ober¬
italien glauben, und von den vorgeschlagenen Zentren Mailand annehmen.
Denn das Mailänder Palliotto zeigt in der Verkündigungsszene die Maria
unter demselben eigenartigen Flachbogen und in der Ambrosiuslegende
dieselbe dreieckige Wolkenzeichnung, wie sie in Münster sich so oft finden.
Beides aber kommt in den andern Arbeiten von Reimser Schulung nicht
vor, und die Annahme liegt nahe, daß die Formen beide Male in Oberitalien
in die fremde Ausdrucksweise übernommen worden sind. Trotzdem geht
es natürlich nicht an, die Münsterer Fresken einfach dem oberitalienischen
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
426
Besprechungen.
Kunstkreis einzuverleiben, wie das ein italienisches Werk neuerdings
getan hat.
Die folgenden Jahrhunderte des Mittelalters haben seit dem Übergange
des Klosters in den Besitz der Bischöfe von Chur die eigentlichen Konvent -
gebäude geschaffen. Die Verf. nehmen drei Bauperioden an: eine Epoche,
in der das Kloster Mönche und Nonnen beherbergte (900 bis etwa 1050),
ferner das 12. Jahrhundert als die Zeit des Frauenklosters und schließlich
das 13. Jahrhundert, die Zeit der Verehrung der heiligen Blutreliquie.
Die erste Bauperiode bekommt ihren Mittelpunkt durch eine für 1087 ver¬
bürgte Neuweihe des Klosters, die auf intensivere Bautätigkeit schließen
läßt. Kurz vorher scheint das Kloster verheert worden zu sein, möglicher¬
weise durch die Züge des Baiernherzogs Welf I. (1077 und 1079), der Kaiser
Heinrich IV. die Alpenpässe verlegen wollte. Der Kaiser hatte den ihm
genehmen Norpert von Hohenwart zum Bischof von Chur eingesetzt, eben
jenen, der die Neuweihe von Münster vornahm und vielleicht selbst dort
residiert hat. Dieser Zeit gehören die eigentlichen Klosterbauten an, Be¬
festigungsbauten, die das Tal sperren sollten und von denen nur noch Reste
vorhanden sind, die beiden getrennten Kreuzgänge für Mönche und Nonnen,
deren Zustand aber vielleicht doch nicht mehr der ursprüngliche ist, die
vielmehr noch in den dicken Mauern Reste einer alten Anlage bergen könnten,
und der Freskenschmuck in einem Raum neben dem nördlichen Kreuzgang.
Dargestellt sind Kreuzigung und Kreuzabnahme, weiterhin aber wohl nicht
Christus in der Vorhölle und die Auferstehung, was ikonographisch un¬
wahrscheinlich ist, sondern die Erscheinung Christi vor den Jüngern und
vor Magdalena. Man darf hier aus der Analogie ottonischer Buchmalerei
Schlüsse ziehen, weil die Kirche aus derselben Zeit ein außerordentlich edles
Stuckrelief mit der Taufe Christi besitzt, das vom Verf. mit Recht in die
Nähe des Kodex H III im Berliner Kupferstichkabinett gesetzt wird, eines
Ausläufers der »Vögc-Schule« aus der Zeit Heinrichs IV.
Es scheint aber sehr wahrscheinlich, daß die Tätigkeit im Kloster am
Ende des 11. Jahrhunderts erheblich ausgedehnter war, als Zemp annimmt.
Er glaubt, daß die in einer Urkunde zwischen 1167 und 1170 erwähnte Heilige
Kreuzkapelle und die Doppelkapelle der Heiligen Ulrich und Nikolaus im
nördlichen Kreuzgang erst jener zweiten Bauperiode angehören, während sie
wahrscheinlich ebenfalls gegen das Ende des II. Jahrhunderts zugleich mit
den andern Klostcrgebäuden entstanden sind. In den Gewölbekappen der
Unterkirche befinden sich nämlich Stuckreliefs von Engeln, die nicht dem
12. Jahrhundert, sondern unbedingt derselben Epoche, vielleicht sogar der¬
selben Hand gehören wie das Relief der Taufe. Es ist dieselbe Behandlung
des Materials in Ornament und Figuren, derselbe Stil in Gewandbehandlung
und Geste, dieselbe charakteristische Frisur mit dem gekräuselten Lockenende
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
427
und — soweit sich das bei der argen Zerstörung der Engel erkennen läßt —
dieselbe Gesichtsformung. Zemp selbst sagt im Nachtrag, die Engelfiguren
zeigten nach der Befreiung von der Tünche »die nämliche Schärfe der Arbeit
wie das Relief der Taufe Christi«, ohne indessen eine Konsequenz daraus
zu ziehen. Die stilistische Einheit wird unterstützt durch das gemeinsame
Verhältnis zu der Elfenbeintafel mit dem thronenden Christus über Petrus
und Paulus (K. V. 161) des Bayrischen Nationalmuseums, die stilistisch
nicht nur in dem jugendlich bartlosen Christustypus, in den Faltenbewegun¬
gen und den Gesten der Taufe Christi entspricht, sondern auch denselben
knollig umgestalteten Akanthus und den Perlstab der Engelreliefs in der
Doppelkapelle zeigt. Ein perspektivisches Mäanderband, das unter der
ehemaligen Flachdecke im Erdgeschoß hinlief, kann nach seiner Verwandt¬
schaft mit dem Burgfeldener Ornament sehr gut derselben Epoche ange¬
hören. Dagegen hat Zemp Recht, eine Stuckstatue Karls des Großen, die,
arg übermalt und im 16. Jahrhundert ergänzt, in der Kirche steht, dem Ende
des 12. Jahrhunderts zuzuweisen, womit das Zurückgehen der Stifterbild¬
nisse bis ins romanische Mittelalter erwiesen wäre.
Es ergeben sich also zweierlei Folgerungen: Zunächst das Blühen einer
Stuckatorenschule in Graubünden während des 11. und 12. Jahrhunderts,
ja, wie die Stuckfragmente von Disentis lehren, vielleicht während der ganzen
Dauer des Mittelalters und wohl in Zusammenhang mit der Stuckplastik von
Cividale, das wiederum auf Dalmatien hinführt. Dem rätselhaften Auf¬
treten der norddeutschen Stuckplastik im 12. Jahrhundert geht also eine
Ausübung der Technik auf deutschem Boden voraus. Inwieweit an direkte
Beziehungen zu denken ist und auch italienische Stilelemente auf diesem
Wege nach Sachsen vermittelt wurden, etwa zu den Quedlinburger Äbtis¬
sinnengrabsteinen, bedarf allerdings einer Untersuchung auf breiterer Basis,
als im Rahmen dieser Rezension möglich ist.
Ferner ergibt sich, daß die Doppelkapelle in Münster ebenfalls wie ihre
Dekoration mindestens dem II. Jahrhundert zugehören muß, mithin die
älteste Doppelkapelle ist, die wir überhaupt besitzen. Als solche würde sie
in diese Zeit weit besser passen als in die folgende Bauperiode, in der nur
Nonnen in Münster wohnten. Da zu jedem Stockwerk getrennte Zugänge
führen, würde die Anlage der Kirche dem Bedürfnis eines gemeinsamen
Gottesdienstes bei äußerlicher Trennung der Geschlechter entsprechen. Aber
auch im Sinne der späteren Burgkapellen aufgefaßt, würde sie gegen das
Ende des 11. Jahrhunderts, wo der Bischof und seine Mannen hier einen
festen Sitz hatten, am ehesten entstanden gedacht werden können. Dann
wäre der nördliche Hof als der des Männerklosters, der südliche als der des
Frauenklosters aufzufassen, und wir hätten in der Heiligen Kreuzkapelle
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
428
Besprechungen.
eine alte Nonnenkirche zu sehen. Immerhin ist mir die erste Annahme
wahrscheinlicher.
Andrerseits ist Zemps Datierung der Kapelle in die zweite Hälfte des
12. Jahrhunderts bei ihm stets nur Voraussetzung, gestützt auf jene Ur¬
kunde, die aber von Gütern der Kirche spricht und mithin nur als Terminus
ante quem gelten kann. Die Tatsache, daß die Mauern der Kreuz¬
gänge lockerer gefügt sind und zusammengeraffte Spolien von karolingi¬
schen Skulpturfragmenten enthielten, während dieKirchenmauern viel stärker
gefügt sind, beweist doch nichts für ihr höheres Alter, könnte im Gegenteil,
wie wir noch sehen werden, eher auf einen späten Notbau deuten. Zemp
erschließt das höhere Alter der Kreuzgänge daraus, daß einer der Anbauten
ein Fresko des 11. Jahrhunderts trägt, während die Dekoration der Doppel¬
kapelle dem 12. Jahrhundert angehöre. Allein das ist, wie oben ausgeführt,
nicht der Fall, und der Nebenbau beweist nichts für den Kreuzgang selbst.
Da Zemp die Heilige Kreuzkirche entsprechend der Ähnlichkeit ihrer Bau¬
formen gleichzeitig mit der Doppelkapelle entstanden denkt, so wird man
diese interessante Trikonchenanlage unbedenklich ebenfalls dem II. Jahr¬
hundert zuteilen dürfen. Für die Erklärung des dreiblattförmigen Chores
von St. Marien im Kapitol zu Köln, der nach den neueren Grabungen nicht
durch ältere Fundamente bedingt 4 ), sondern im 11. Jahrhundert frei ge¬
schaffen wurde, ist die Existenz einer Kirche von gleichen Chorformen an
einer Straße von Italien nach dem Norden sehr bedeutungsvoll. Daß Köln
im früheren Mittelalter Beziehungen zu unserem Kunstgebiet unterhielt,
ist allein durch sein Verhältnis zur Reichenauer Buchmalerei schon
erwiesen.
Für die dritte Bauperiode, die Zemp um die Weihe des Heiligen Blutaltars
(1281) gruppiert, nimmt er die neue Ausmalung der ganzen Altarseite in
Anspruch, die die karolingischen Fresken überdeckt hat und erst nach und
nach zutage getreten ist; in den Chornischen das Martyrium des Stephanus,
des Täufers Johannes, der Apostel Petrus und Paulus, im Triumphbogen
Kain und Abel, links davon der Sündenfall, rechts das Lamm Gottes. Die
typologischen Beziehungen der letzten Gruppe sind deutlich. Das Opfer
Abels, dessen Lamm angenommen, und des Brudermörders Kain, das ab-
gelehnt wird, galt schon dem hl. Ambrosius 5 ) als Symbol für Kirche und
Synagoge. Zur Seite Abels entspricht das Lamm Gottes dem unschuldigen
Tod des einen, zur Seite Kains die Vertreibung aus dem Paradies der
Verbannung des andern. Daß Zemp das nicht erkannte, ist nicht so er¬
staunlich wie die Datierung aller dieser Fresken ins 13. Jahrhundert, während
•*) (Festgabe des) Wallraff-Richartz-Museums. Köln 1911. S. 113.
5 ) Ambr. Op. cd. Mignc I, 2. Expositio in Ev. sec. Luc. I, XV, p. 1628.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
429
sie in Wirklichkeit ebenfalls dem 11. angehören. Nur ihre Zusammengehörig¬
keit zu einer Stilperiode hat er erkannt, obgleich gerade diese nicht ohne
weiteres einleuchtet. Man muß hier nämlich zwei Stiltypen unterscheiden.
Die Malereien des Triumphbogens mit dem bartlosen Christus-Gottvater
des Sündenfalles, der noch von fast antiker Haltung ist, mit dem Pilzbaume,
den Fächerblättern und dem perspektivischen Mäanderband, muten voll¬
kommen ottonisch an, während die Gestalten der Martyriumsszenen sehr
hager gebildet und außerordentlirh temperamentvoll, fast tänzerhaft bewegt
sind, sodaß Zemp von einer »Turnerpyramide« sprechen konnte. Nun finden
sich dieselben beiden Stiltypen ganz parallel in den Fresken von Burgfelden
auf der schwäbischen Alp, die im Jüngsten Gericht dieselben archaischen
Typen, ja, sogar denselben perspektivischen Mäander aufweisen wie der
Triumphbogen und die Doppelkapelle, während in den Martyriumsszenen
eines Heiligen, der von drei Räubern erschlagen wird, die hagere Körper¬
bildung und die hastig manirierten Bewegungen wiederkehren. Daß die
Fresken von Münster mit denen von Burgfelden, die bekanntlich unwider¬
sprochen und mit größtem Recht ins 11. Jahrhundert gesetzt werden, unbe¬
dingt gleichzeitig sein müssen, lehrt der erste Blick; daß zwischen beiden
ein Zusammenhang besteht, der wahrscheinlich über Reichenau-Niederzell
führte, ist ebenso klar. Die auffallende Differenzierung der Stiltypen an
gleichzeitigen Werken wird erklärlich, wenn man daran denkt, wie gerade
jetzt die Heiligenlegenden in den Vordergrund des Interesses treten, so daß
für ihre Darstellung neue Formen geschaffen werden mußten, die für die
biblischen Szenen bereits vorhanden waren. Denn diese temperamentvolle
Darstellungsart findet sich in der gleichen Zeit noch öfter, aber stets nur bei
Martyrien, so in der Gereonslegende des Krypta-Mosaiks von St. Gereon in
Köln, das Renard 6 ) mit zweifellosem Recht dem annonischen Bau von
1069 zuschreibt, und in dem Martyrium der Heiligen Blasius und Felix auf
dem bekannten Abdinghofer Tragaltar zu Paderborn. Es ist für die Stil¬
herkunft unserer Freskengruppe sehr interessant, daß Renard bei dem Kölner
Werke Beziehungen zur oberitalienischen Kunst annimmt. Leider kann
man sich gerade von diesen Fresken nach der Zemp-Durrerschen Publikation
nur schwer einen Begriff machen, da sie fast durchgängig in Umrißzeichnung
gegeben worden sind und somit keine Feinheit der außerordentlichen schönen
Zeichnung, geschweige denn die farbige Brillanz zum Ausdruck kommt.
So ergibt sich, daß auf die Gründung des Klosters gegen das Ende
des 8. Jahrhunderts drei Jahrhunderte später eine Neugründung folgte,
verbunden mit neuer Weihe, wahrscheinlich veranlaßt durch Bischof Nor-
pert. Sie begriff nicht nur einen vollkommenen Neubau der Klostergebäude
6 ) Berühmte Kunststätten Nr. S. Renard, Köln. Leipzig 1907. S. 37.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
430
Besprechungen.
und Klosterkapellen in sich, sondern auch eine neue Dekoration der Kirche
mit plastischem und malerischem Schmuck, der uns großenteils erhalten ist
und sich dem karolingischen gleichberechtigt an die Seite stellt. Das
Kloster St. Johann gibt auf die Fragen nach der Be¬
deutung des Heinricischen Stiles eine ebenso klare
Antwort wie auf die nach der Bedeutung der karo¬
lingischen Kunst.
Das hohe Mittelalter scheint also am alten Bestände wenig geändert
zu haben. Erst der Brand von 1499 und die Zerstörungen des Schwaben-
krieges veranlaßten wieder eine größere Bautätigkeit. Damals scheint auch
erst der karolingische Ziborienaltar zerstört worden zu sein, nicht schon durch
eine Erneuerung gelegentlich der Weihe von 1087. Vielmehr bezeugt das
zerstreute Vorkommen der Fragmente an allen Stellen des Klosters, vor allem
im Wohnturme der Äbtissin Angelina Planta (1479—1509), daß ein elemen¬
tares Ereignis die Reste zerstreut, eine schnelle Erneuerung sie wieder als
Notmaterial benutzt hat. So ist diese spätgotische Bauzeit aufzufassen,
die ’n die alte karolingische Kirche, deren hölzerner Dachstuhl verbrannt
war, eine spätgotische, dreischiffige Hallenkirche einbaute, vielleicht den
Kreuzgang erneuerte, neue Wohntürme und Wohnräume baute und sie mit
Schreinerarbeiten ausstattete, die nichts weiter als gute Durchschnitts¬
leistungen lokaler Spätgotik sind, deren Meister von Zemp auch in der Nähe
arbeitend nach gewiesen werden. Es ist gerade die spätere Vereinsamung dieses
Alpentales, seine Entfernung von den Zentren der Interessen, die uns solche
Schätze zweier Hauptperioden des frühen Mittelalters aufbewahrt hat. Man
wird zugeben müssen, daß die vorliegende Publikation mit ihren exakten
Grundrissen und Schnitten, ihren Autotypien und farbigen Reproduktionen
diesen Bestand größtenteils so vorlegt, daß auf dieser Basis die Probleme,
die hier gestellt werden, ihrer Lösung entgegengeführt werden können.
Ernst Cohn-Wiener.
J. L. Fischer, Ulm. (Berühmte Kunststätten Bd. 56.) Leipzig 1912.
Das kompilatorisch zusammengestellte Buch brings nichts Neues und
ist mit seinen fortgesetzten Anfeindungen der Untersuchungen gründlicher
•Kenner der Ulmer Kunst nicht geeignet, den gebildeten Laien, der doch wohl
der Hauptleser der »Berühmten Kunststätten« bleibt, in angenehmer Weise
zu orientieren. Ulrich von Ensingens Vergrößerung des Münsters wird
bezweifelt, Syrlin wieder zum Unternehmer gestempelt, Multschers Tätig¬
keit als Maler verneint usf. Dabei werden die Quellen überhaupt nicht oder
nur mangelhaft genannt. Dehio, Klaiber, Carstanjen, Ncuwirth u. a. werden
nicht einmal des Erwähnens für wert gehalten. Unter den Plastiken werden
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
43 1
Werke wie die Chorpropheten in einer verfehlten Fußnote abgetan, und
Arbeiten von so einziger Schönheit wie die Chorkonsolen unerwähnt gelassen.
Bei den Rathausfiguren müssen sich die interessanteren älteren Statuen
mit einer kurzen Anführung begnügen, während die fünf späteren mit der
Hypothese M. Schuettes (natürlich ohne den Autor zu nennen) vorgeführt
werden. Bezüglich des Zusammenhanges der zwölf Botten mit der kölnischen
Plastik verweise ich, um nicht pro domo redend zu erscheinen, auf die Unter¬
suchungen Dehios 1 ), der später, aber unabhängig zu den gleichen Resultaten
gekommen ist wie ich. Da »es unwahrscheinlich ist, daß Syrlin auch nur
eine Statue geschnitzt oder gemeißelt hat«, ergeht sich der Abschnitt über
Syrlins Kunst in erschütternden Interpretationen (z. B. Seneca: »Seine
Schriften, von ruhiger Entschlossenheit und hoher Lebensanschauung durch¬
zogen, erfreuten sich seit alters besonderer Wertschätzung der christlichen
Theologie«). Von einem Versuch, uns nun doch den oder die Meister greifbar
vorzuführen, ist keine Rede. Das Steinmetzzeichen Syrlins am Fischkasten-
brunnen existiert für den Verfasser nicht. Gänzlich unzulänglich ist die
Darstellung der Kunst Syrlins des Jüngeren und seiner Schule. Wozu werden
dann überhaupt noch Forschungen von solcher Gründlichkeit wie die J. Baums
angestellt ?
In einem »Ulms Malerschule und die Entwicklung der übrigen Künste«
genannten Kapitel tischt der Verf. wie in den vorigen abgetane Kontro¬
versen auf. Multscher kommt als Maler der Berliner und Stertzinger Bilder
nicht in Betracht; von Schüchlin wird nur der nicht erhaltene Altar von
Rottenburg, aber nicht der Tiefenbronner erwähnt und über Zeitblom und
Schaffner nichts Neues gesagt. Glasmalerei und Goldschmiedekunst erfahren
kurze Darstellungen. Allzu dürftig ist die Schilderung des Holzschnitts und
Buchdrucks. Die Tätigkeit eines Künstlers wie des Hausbuchmeisters in
Ulm wird übergangen. Außer einem Schwanengesange über die Reformation
erfährt man in dem letzten Kapitel: Ulms Künstlerleben im Zeitalter der
Renaissance und des Barocks nichts Neues über diese Epochen. Summa
summarum: das Buch ist ein Führer, wie er nicht sein soll, und es ist nur
der Aufwand und die treffliche Ausstattung mit guten Tafeln im Interesse
des Verlages zu bedauern. Habicht.
Rijks geschiedkundige publicatiön. Kleine Serie io. —
Bescheiden in Italie omtrent nederlandsche kunstenaars
en geleerden, beschreven door Dr. J. A. F. Orbaan. Eerste Deel.
Rome. Vaticaansche Bibliotheek. 'S-Gravenhage 1911. 8°. 438 S.
*) Cf. Monatshefte für Kunstwissenschaft 1911. Heft 12.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
432
Besprechungen.
Es gibt kaum eine zweite Stadt, die in den höheren gesellschaft¬
lichen Schichten ihrer Bevölkerung ein so internationales Gepräge aufwiese,
wie das heutige Rom. In noch weit höherem Maße dürfte dieser Zug jedoch
demselben Orte im Mittelalter und in der Renaissanceperiode eigentümlich ge¬
wesen sein, als auf dieser Weltschaubühne — »questo teatro del mondo« wie
Urban VIII. seine Stadt mit Stolz genannt hat—ein gut Teil der geistigen und
politischen Lebensinteressen aller Christenheit als ihrem Brennpunkt zu¬
sammenliefen. Es war damals auch dem deutschen und mit ihm dem nieder¬
ländischen Element in Rom ein weit größerer Spielraum als heute gegeben,
und so durfte der Gedanke, den sich die Holländische Historische Landes-
kommission im Jahre 1904 zu eigen machte, die Quellen zur Geschichte
niederländischer Künstler und Gelehrter in Italien und im besonderen in
Rom, von den ältesten Zeiten bis etwa 1720 herauszugeben, von vornherein
mit einem reichlichen Arbeitserträge rechnen. Das Hauptaugenmerk der
Kommission war dabei auf die handschriftlichen Quellen gerichtet, und als
das erste Arbeitsfeld, auf dem die Untersuchung einsetzen sollte, wurde die
Vatikanische Bibliothek in Aussicht genommen.
Mit der Bearbeitung dieser Aufgabe, die heute vollendet vorliegt,
wurde damals Dr. J. O r b a a n betraut, der, seit Jahren in Rom
ansässig, in den einschlägigen Gebieten wie wenig andere bewandert
ist, und der inzwischen noch zu verschiedenen Malen Gelegenheit ge¬
funden hat, seine weitgehende Orts- und Geschichtskenntnis in den
Dienst der Allgemeinheit zu stellen. So erschien aus seiner Feder im
Jahre 1910 in englischer Sprache unter dem Titel »Sixtine Rome« eine reiz¬
voll geschriebene und aus lebendigster persönlicher Anschauung geschöpfte
Schilderung der römischen Kunstwelt, soweit sie mit der ersten Glanzperiode
der Barockzeit unter Sixtus V. verknüpft ist; so hatten wir seiner Mitwirkung
bei der im Jubiläumsjahre 1911 in der Nähe der Engelsburg arrangierten
historischen Ausstellung die Anordnung jenes holländischen Kabinetts zu
danken, das in ausgewählten Meisterwerken der Zeichenkunst den Anteil
der holländischen Malerschule am italienischen Kunstleben seit dem 16. Jahr¬
hundert illustrierte.
Wie bekannt, sind die Schätze der Vatikanischen Biblio¬
thek nicht einheitlich geordnet, sondern nach den historischen Beständen
aufgestellt, in denen ihre Vermehrung auf der Basis der durch Nikolaus V.
und Sixtus IV. begründeten päpstlichen Bücherei durch den Zuwachs ver¬
schiedener großer Sammlungen, zumeist aus fürstlichem Besitz, erfolgte.
Der Herausgeber der »bescheiden in Italie« hat seinem Quellenwerke die-
selbeAnordnung zugrunde gelegt und hat die aus der »Vaticana« im engeren
Sinne und sodann die aus der Palatina, Urbinatc, Regina, Ottoboniana,
Capponiana und Barberiniana gesammelten Notizen gruppenweise aufein-
Digitized by
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
433
ander folgen lassen. Der Gedanke an eine chronologische Einteilung des
Stoffes wurde zwar in Erwägung gezogen, aber wieder fallen gelassen, da
doch zu viele Dokumente eine hinreichend genaue Datierung vermissen
ließen. Und dann fiel in derselben Richtung auch der Umstand ins Gewicht,
daß von jenen einzelnen Beständen ein jeder seine Geschichte und damit
einen gewissen gegenständlichen Zusammenhang in sich selber hat, den zu
zerreißen sich nicht empfahl. Nichtsdestoweniger gibt am Schlüsse des
Bandes ein nach Jahresdaten angelegtes Verzeichnis aller mitgeteilten
Stücke, zusammen mit einem ebenso ausführlichen Personen- und Orts-
register, die Möglichkeit einer raschen Orientierung auch unter dem Gesichts¬
punkte der zeitlichen Folge. Für die Bearbeitung der Texte wurde durch
die Kommission der Grundsatz aufgestellt, daß sie nur dann in vollständiger
Abschrift wiedergegeben werden sollten, wenn sie sich an Umfang oder Inhalt
zu reich erwiesen, als daß dem Leser mit einem bloßen Auszuge gedient
gewesen wäre, während für andere, die nur vereinzelte Nachrichten ent¬
hielten, eine einfache Inhaltsangabe oder teilweise Wiedergabe für aus¬
reichend befunden wurde.
Die Arbeit in den aus älteren römischen Bibliotheken stammenden
Handschriftensammlungen, wie deren eine bedeutende Anzahl auch im ge¬
gebenen Falle durchzunehmen war, pflegt dadurch erschwert zu sein, daß
ihr Material mit sehr wenig Ausnahmen nicht in feste, sachliche Kategorien
eingereiht ist, sondern daß mehr nach den äußeren Gesichtspunkten von
Format und Umfang Schriftstücke der verschiedensten Art, Berichte von
Behörden, notarielle Instrumente, Memoiren, Biographien oder Korrespon¬
denzen wahllos zu langen Reihen von Mischbänden vereinigt sind, die, wo
nicht im Original, doch zum mindesten an der Hand der Inventare durch-
geprüft werden müssen, wenn man sicher sein will, nichts versäumt zu haben.
Korrespondenzen von Gelehrten niederländischer Abkunft, die entweder in
Rom lebten oder mit diesem Orte in Beziehung standen, haben der Natur
der Sache nach in dem gegebenen Falle das meiste Material geliefert. Je
größer die Zahl von Anhängern war, über die das römisch-katholische Be¬
kenntnis in den Niederlanden verfügte — auch in den nördlichen Sieben-
Provinzen war nach Ranke der Protestantismus keineswegs so vollständig
durchgedrungen, wie häufig angenommen wird — um so größer ist auch
die Zahl der Quellen, die hier in Betracht kommen. Es ist, was den Inhalt
dieser Briefe und sonstigen Aufzeichnungen anlangt, den gelehrten Autoren
nicht zu verargen, wenn das meiste, wovon sie handeln, Angelegenheiten
ihrer eigenen, der literarischen Welt sind. Eine besonders wertvolle Aus¬
beute ergaben nach dieser Seite die Korrespondenzen des Bibliothekars
der Vaticana Lucas Holstenius und des Nikolaus Heinsius, dessen Bibliothek
und Münzsammlung von der Königin Christine von Schweden für ihre
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
434
Besprechungen.
eigene Sammlung, die nachmalige »Regina«, angekauft wurde. Bei den
guten Beziehungen, die in Rom in den Kreisen der »Oltramontani« zwischen
den Männern der Wissenschaft und den Künstlern gepflegt wurden, begegnen
wir aber in der Zahl dieser Gelehrten oder ihrer Korrespondenten nicht
wenigen, deren Namen auch in der Geschichte der niederländischen Kunst
einen Klang haben, wie beispielsweise Justus Ryckius von Gent, Caspar
Gevaerts und Nie. Fabre de Peiresc, die alle drei mit Rubens freundschaft¬
lich verbunden waren. Unter diesen Umständen ist, alles in allem genommen,
ein reichliches Maß von Orbaans Quellenstudien doch auch der niederländi¬
schen Künstlergeschichte zugute gekommen.
Was im besonderen diesen Teil der in Rede stehenden Forschungen
anlangt, wird es uns schwer, einzelnes herauszugreifen, um ihre Bedeutung
daran zu erweisen, denn ihr Wert liegt ebensowohl in der vielfältigen Menge
der da und dort ausgestreuten Einzelnachrichten als in dem Gesamtbilde
altniederländischen Lebens in Rom, das sich aus dem Ganzen der hier nieder -
gelegten Materialiensammlung ergibt. Voraussetzung für eine Würdigung
des dargebotenen Stoffes in diesem Sinne ist allerdings, daß man die Ge¬
schichte der Kunst nicht in der Stilgeschichte allein begreift, sondern daß
man, darüber hinausgehend, ihr Gebiet auf das ganze »System der Kultur«
ausdehnt, zu dem sich ihre verschiedenen Teilgebiete in der Wirklichkeit
des historischen Geschehens ja doch vereinigen. Vor allem tritt alsdann in
seltener Anschaulichkeit die zentrale Bedeutung hervor, die Rom wie in den
gelehrten, so auch in den künstlerischen Bildungsinteressen der eigentlichen
Renaissanceperiode und der auf sie folgenden und von ihr abhängigen Jahr¬
hunderte in der Vorstellung aller europäischen Völker und so auch der
Niederländer einnimmt. Und in großer Deutlichkeit erscheint ferner diese
Geltung Roms seit etwa der Mitte des 16. Jahrhunderts als das Korrelat
jenes anderen Übergewichtes, das dem Prinzip der Gegenreformation und
der mit ihr verbündeten lateinischen Kultur der südeuropäischen Völker
im Vergleich zu der mangelhaften Organisation der protestantischen Welt
des Nordens gegeben war. Unter diesem Gesichtspunkte gewinnen auch
solche Dinge wie die Einblicke in die kirchlichen Beziehungen zwischen Rom
und den Niederlanden, die wir nebenbei empfangen, die katholische
Propaganda, die Proselytengewinnung u. a. m. ihre eigene Bedeutung neben
den Tatsachen der speziellen Künstlergeschichte. Diese selbst aber breitet
sich in den weitesten Beziehungen vor unseren Augen aus. Denn obwohl es
die Niederländer waren, aus deren ungeschwächter Volkskraft sich zur
selben Zeit der stärkste Protest gegen die fortschreitende Latinisierung des
Nordens erhob, so haben doch eben diese zugleich als einer der künstlerisch
regsamsten und ertragreichsten unter den deutschen Stämmen in der Zeit
der Spätrenaissance und des Barocco auch nach der Seite der klassizisti-
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
435
sehen Tendenzen eine seltene Empfänglichkeit entwickelt. Florenz, Mantua,
Genua und andere Orte sind des Zeugen, nirgends aber ist die Anteil¬
nahme der Niederländer an italienischer Bildung stärker und dauernder
als in Rom hervorgetreten.
Allein Rom hat ihnen nicht nur gegeben, es hat auch von ihnen genom¬
men und das in reichlichem Maße. Besonders lehrreich sind in dieser Be¬
ziehung einige aus dem 17. Jahrhundert herrührende Verzeichnisse von be¬
merkenswerten niederländischen Kunstwerken in Rom, die Orbaan mit-
teilt; man sieht daraus, in welchem Umfange damals die aus den Nieder¬
landen zugezogenen künstlerischen Kräfte nicht nur in privaten Sammlun¬
gen vertreten waren, sondern auch an öffentlichen Aufträgen Anteil erhalten
hatten. Da ist ein Anonymus, der im Jubeljahr 1650 in Rom war und sich
seinen Cicerone — es war ein jetzt selten gewordenes Schriftchen eines
Ritters Celio aus dem Jahre 1640 — mit eigenen Notizen ergänzt hat. Dieser
Unbekannte nennt fünf niederländische Meister von Bedeutung, deren Werke
er in Rom gesehen hat. Eine andere ähnliche Notizensammlung von 1660
enthält deren zwölf; eine Niederschrift von der Hand des vielseitig gebildeten
Arztes Giulio Cesare Mancini, betitelt »Viaggio per Roma per vedere le
pitture che in essa si ritrovano«, nennt ihrer drei neben noch einigen andern
Fiamminghi oder Tedeschi, deren Namen ihm nicht überliefert waren. In
demselben Handschriftenbande der Barberiniana, der diese letzten Auf¬
zeichnungen enthält, finden sich auch einige Biographien niederländischer,
in Italien heimisch gewordener Meister — Bylevelt, Gerard Honthorst,
Paul Bril — die uns Mancini aufbewahrt hat — und die, da sie sich auf
Künstler seiner eigenen Zeit beziehen, die er wahrscheinlich persönlich kannte,
erhöhten Quellenwert für sich in Anspruch nehmen dürfen. Einige kürzere
biographische Notizen von demselben Gewährsmann über Rubens, Bylevelt
und Goltzius, dessen Zeichnungen Mancini in hohem Maße bewundert, ent¬
hält übrigens auch noch ein »trattato della pittura« desselben Verfassers,
der einem Sammelbande der Vaticana einverleibt ist.
. Erkennt man aus derartigen Nachrichten, wie sich die Niederländer
im 17. Jahrhundert in der Gunst ihres römischen Publikums zu behaupten
wußten, obwohl sie von den einheimischen Genossen nicht immer mit freund¬
lichen Blicken angesehen wurden, so zeigt eine Sammlung von Künstler¬
biographien von 1724, die ein Niccolö Pio aus Rom zusammenstellte, daß
man dort auch im 18. Jahrhundert fortfuhr, sie zu schätzen; es sind darin
nicht weniger als dreizehn Lebensläufe niederländisch-italienischer Künstler
enthalten, von denen namentlich die der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts,
wiederum weil ihre Zeit mit der des Autors zusammenfällt, besonderes Ver¬
trauen verdienen.
Es liegt an der Entstehungszeit sowohl dieser systematischen Auf-
Repertorium für Kunstwissenschaft XXXV. 2Q
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
436
Besprechungen.
Zeichnungen als auch der da und dort verstreuten Quellennachrichten sonst,
die sich ihnen anschließen, daß die Mehrzahl der niederländischen Künstler,
von denen wir hier unterrichtet werden, der zweiten Hälfte des 16. Jahr¬
hunderts und dem 17. Jahrhundert angehört. Das 16. repräsentieren, neben
dem Bolognesen Dionisio Calvaert, Martin de Vos als Urheber eines Altar¬
bildes in San Francesco a Ripa in Rom, Francesco da Castello ebenda und
ein nicht näher bezeichneter Giovanni Fiammingo (S. 233); möglich, daß in
diesem letzten, in Anlehnung an van Mander (ed. Hymans II, S. 219 f.) der
Landschaftsmaler Jan Soens zu erkennen ist, der unter Gregor XIII. im
Vatikan arbeitete. Unter den niederländischen Historienmalern Roms
nimmt ferner in derselben Zeit eine angesehene Stellung Arrigo Fiammingo ein,
der 78 Jahre alt unter Clemens VIII. aus dem Leben schied. Unter den
Bildhauern tritt Egidio Fiammingo (Gilles de Riviöre) hervor, der in der
Anima das Grabmal des Kardinals Andreas von Österreich und ebenda zu¬
sammen mit seinem Landsmann Nikolaus von Arras das Grabdenkmal des
Erbprinzen Karl Friedrich von Cleve ausgeführt hat, ferner der merkwürdige
Sonderling Cope, von dem auch Baglione erzählt, der bis zur Zeit Pauls V.
lebte.
Unter den Meistern des 17. Jahrhunderts ist natürlich der am häufigsten
genannte Paul Bril, der große Meister der dekorativen Landschaftsmalerei,
der an fünfzig Jahre, rückhaltlos auch von den einheimischen Künstlern
anerkannt, in Rom gelebt hat, und an dessen Tätigkeit ja auch gerade die
Fundstätte dieser Nachrichten, die vatikanische Bibliothek, erinnert, in
deren früherem Lesesaal er nach alter Überlieferung die prächtigen Decken¬
malereien, gemeinsam mit zwei Italienern, ausgeführt hat, das erste in der
langen Reihe von Werken seiner Kunst, die er von da an inKirchen und Palästen
Roms und nicht am wenigsten auch noch in späterer Zeit in den Gemächern
des vatikanischen Palastes selbst entstehen ließ. Flüchtiger wird an ver¬
schiedenen Stellen Rubens mit seinen für Rom geschaffenen Kirchenbildern
zitiert, dagegen wird van Dycks Aufenthalt in Italien ausgiebig durch Niccolö
Pio behandelt. Bei dem letzten ist auch von den gesellschaftlichen Be-
ft
Ziehungen dieses Künstlers in Rom die Rede, so u. a. von der freundlichen
Aufnahme, die er bei dem Kardinal Guido Bentivoglio fand, dem einflußreichen
Freunde des borghesischen Hauses und einem besonderen Gönner der Fiam-
minghi, mit deren Kunst er in den Jahren seiner niederländischen Nunziatur
vertraut geworden war. Gerard Honthorst hat namentlich durch Mancini
eine sorgfältige Darstellung seiner Verdienste erfahren, desgleichen Bylevelt,
der in Florenz seine Tätigkeit entfaltete. Unter denen, die ganz in Rom
heimisch wurden, sind im besonderen Jan Frans van Bioemen (monsü Ori-
zonte), Theodor Helmbreker und der liebenswürdige Vedutenmaler Van-
-vitelli (van Wittel) durch Niccolö Pio in ausgiebiger Weise besprochen.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
437
Von anderen niederländischen oder in niederländischer Schule groß
gewordenen Künstlern, über die wir da und dort Aufschluß erhalten, sind
ferner zu nennen der Bildhauer Francois Duquesnoy (Francesco Fiam-
mingo) und die Maler Baburen, Elsheimer, Poelenburg (Satiro), Jan Miel,
Luigi Gentile aus Brüssel, Adriaen van der Kabel, Teniers d. J., Berchem,
Swanevelt. Ihre Namen kehren auch in verschiedenen Nachrichten über
römische Bildersammlungen wieder, verbunden mit denen der Maler
Matthaeus Bril, »Brugel Vecchio« und »Brugel Giovine«, »Bos«, Civetta,
Gillis Mostaert, »Giovan d'Olanda« (Scorel?), »Paul Francesco fiamengo«,
Quinten Massys, Rottenhamer, Spranger, Sustermans, »Valchemburgo«. In
der Rolle von Sammlern niederländischer Gemälde begegnen uns die Namen
der Kardinäle Michele Bonelli (1598), Barberini (1631), Massimi (1677),
ferner ohne bestimmte Zeitangabe im 17. Jahrhundert ein Principe Pam-
fili und ein Doktor Cortoni von Verona.
Weniger hören wir von den niederländischen Architekten, die in Rom
beschäftigt waren, wenn auch einmal eine diesbezügliche interessante Notiz
von der Hand des bekannten Karikaturenzeichners Ghezzi vorkommt. Sie
handelt von Luigi Vanvitelli und lobt die geschickte Konstruktionsarbeit,
vermöge deren dieser eines der Stützbänder an der Kuppel von S. Peter
anlegte. Dagegen dienen mehrere Nachrichten der Geschichte der graphi¬
schen Künste, so eine Notiz über die in einem Sammelbande der Barberiniana
enthaltenen Originalzeichnungen des Kupferstechers Dirk Galle für seine
Reproduktionen antiker Porträtdarstellungen aus der Bibliothek des Archäo¬
logen Fulvio Orsini, die im Jahre 1606 in Antwerpen mit einem begleiten¬
den Text von Dr. Johann Faber erschienen, und eine ausführliche biographi¬
sche Aufzeichnung von Niccolö Pio über Cornelis Cort. Als einen Bewunderer
des Goltzius hatten wir bereits Mancini zu nennen Anlaß. Ein Schreiben
endlich von J. de Laet aus Leiden an Holstenius (1636) betrifft die Illustration
eines naturwissenschaftlichen Werkes, um dessen Herausgabe die Accademia
dei Lincei und namentlich deren deutsche und niederländische gelehrte Mit¬
glieder lange Zeit bemüht waren, den »Rerum medicarum Novae Hispaniae
Thesaurus«, der in erster Ausgabe in Rom 1630, in zweiter 1651 erschien.
•Diese Notiz ist nicht nur im Hinblick auf die Studien der Beteiligten, sondern
auch für die niederländische Kunstgeschichte von Interesse, insofern als
zu der Illustrierung jenes Werkes, wie ich ergänzend hinzufügen darf, zum
mindesten ein niederländischer Künstler herangezogen worden war. Darüber
belehrt uns ein Brief des oben schon im Zusammenhang mit Galle erwähnten
deutschen Doktors Faber an den Begründer der Akademie, den Principe
•Federigo Cesi vom Jahre 1628, wo von einem »pittore Fiamengo« die Rede
ist, der eine Zeichnung für das Buch vollenden soll. Der Brief findet sicli
(Fol. 254) in einem aus Albanischem Besitze stammenden Sammelbande,
29*
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
4
I
Besprechungen.
43 8
der Originalbriefe verschiedener Lincei an Cesi enthält, und der heute im
Besitze der neuen Akademie im Palazzo Corsini ist (Inv.-Nr. 12).
Ein lehrreiches Kapitel für sich bilden endlich noch die Marktpreise
niederländischer Kunstwerke in Rom, die wir an verschiedenen Stellen unse¬
res Quellenwerkes in Nachrichten über zum Verkauf stehende Bilder oder
aus Nachlaßinventaren mit hinzugefügten Taxwerten erfahren. So werden,
um einige Beispiele zu nennen, 1598 in der Hinterlassenschaft des Kardinals
Bonelli von drei Experten, worunter die Maler (Antonio?) Pomarancio und
Paul Bril, vier Gemälde mit der Schilderung der Elemente von Paul Fran¬
cesco Fiammingo auf 200 Scudi, vier in Gouache ausgeführte Landschaften
von Matthaeus Bril auf 100 Scudi geschätzt. So werden für einige ver¬
käufliche Gemälde des Orizontc im Anfänge des 18. Jahrhunderts folgende
Preise angesetzt: für zwei besonders gerühmte Landschaften zusammen
130 Scudi und für zwei weitere Paare von landschaftlichen Darstellungen
je 24 und 20 Scudi. In einem Verzeichnis von Bildern, die Monsignore
Domenico Passionei um dieselbe Zeit zum Verkauf angeboten werden, be¬
finden sich Werke von Bril zu 5 und 18, von Poelenburg zu 8, 20 und 30
und eines von Swanevelt zu 18 Luigi. Für ein Konzert bei Kerzenlicht
von Honthorst, das ein Inventar des Hausrates des Kardinals Barberini 1631
nennt, sind vom Besitzer 40 Scudi bezahlt worden, es wird aber an derselben
Stelle auf 100 Scudi geschätzt.
Ich muß mich auf diese kurzen Auszüge beschränken, ohne damit den
kunstgeschichtlichen Inhalt der »bescheiden in Italie« schon vollständig
erschöpft zu haben. Ich möchte aber diese Zeilen nicht schließen, ohne
zum Ausdruck gebracht zu haben, in welch hohem Maße sich der Heraus¬
geber durch die hier geleistete Pionierarbeit, wie er selbst sein Werk in doch
wohl allzu anspruchsloser Weise nennt, die Anerkennung und den Dank
der Fachwelt verdient hat. Möchten ihm seine ferneren römischen Studien
der Anlaß sein, die hier bewährte Umsicht und Tatkraft an neuen Aufgaben
noch recht oft aufs neue zu erweisen! Weizsäcker.
Karl Woermann : Von Apelles zu Böcklin und weiter.
Gesammelte kunstgeschichtiiche Aufsätze, Vorträge und Besprechungen.
Esslingen, Paul NefT, 1912. 2 Bände gi. 8°.
Eine Fülle mannigfaltiger, anregender und formvollendeter Arbeiten,
wie sie sich von dem Verfasser der Weltgeschichte der Kunst erwarten ließen,
sind hier als Nebenergebnisse eines reichen Lebens zu zwei stattlichen Bänden
vereinigt. Einerseits spiegeln sie die beglückenden Zeiten wieder, die W.
als Professor der Kunstgeschichte an der Düsseldorfer Akademie im Kreise
der dortigen Künstler verbrachte; andrerseits die Jahre, die er der Neu-
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
439
Ordnung der Dresdner Gemäldegalerie und der Vollendung seiner großen
umfassenden Werke widmete. Als ein roter Faden ziehen sich durch das
Ganze die Ansätze zu einer Geschichte der Landschaftsmalerei, die er als
eine seinem Sinn besonders naheliegende Aufgabe bereits früh geplant, nie
ganz aus den Augen verloren, schließlich aber doch — wohl wegen der Un¬
gunst der Zeit — hatte aufgeben müssen.
Weitere Leserkreise werden sich wesentlich durch die von warmer
Begeisterung getragenen Schilderungen der großen Künstler Apelles, Michel¬
angelo, Raphael und Rubens angezogen fühlen, die allesamt in seiner
früheren Zeit als Vorträge entstanden sind und dem Dichter in W. Gelegen¬
heit bieten, den Ewigkeitsgehalt, um dessen Verkörperung es sich handelt, zu
verherrlichen.
Bei Apelles waren in höherem Maße noch als bei den übrigen Künst¬
lern die Ergebnisse der in der Zwischenzeit rastlos fortschreitenden Forschung
zu berücksichtigen. So gewissenhaft sich der Verf. dieser Aufgabe auch
unterzogen hat, konnte er immerhin mit Genugtuung feststellen, daß er
keinen Grund habe, seine ursprüngliche, auf sorgfältiger Abwägung der Um¬
stände beruhende Auffassung im wesentlichen zu berichtigen. Wenn auch
noch Unsicherheit darüber besteht, wie weit Apelles die Raumtiefe gekannt
habe, wie weit er in der Farbigkeit gegangen sei, so erscheint er doch als die
Verkörperung der Leistungsfähigkeit der vollen Blütezeit der griechischen
Malerei, die nach ihm, wie die Renaissance nach ihren großen Meistern, in
barocke Übertreibung ausartete; die Einheitlichkeit der Licht- und Schatten-
gebung hat er sicher schon in hohem Umfang beherrscht, und auch über die
Vierfarbenmalerei wird er — dies im Gegensatz zu Winters Annahme —
offenbar hinausgekommen sein. Als einen eigentümlichen Beitrag zu den
gewöhnlich als Künstleranekdoten gekennzeichneten Erzählungen von der
Wirkung naturgetreuer Darstellungen auf Tiere weiß der Verf. von seinem
eigenen schwarzen Kater zu berichten, daß er auf eine gemalte Katze fauchend
losgesprungen sei.
An Michelangelo rühmt er den gewaltigen, heiligen Ernst, der durch
dessen gesamte Schöpfungen geht, die Größe, Erhabenheit und Reinheit,
wie sie kaum bei einem zweiten Künstler wiederzufinden sind. Wohl niemals,
sagt er, hat auch ein Künstler gelebt, dem vom ersten Beginn seiner Lauf¬
bahn an bis zu seinem Ende im höchsten Alter das Glück so hold, der Beifall
der Besten seiner Zeit so sicher gewesen ist wie ihm. — Als Symptom der
besonderen raphaelschen Schönheit bezeichnet er das vollkommene, har¬
monische Gleichgewicht aller künstlerischen Eigenschaften, die bei andern
Künstlern einzeln in den Vordergrund zu treten pflegen. »Gerade dieses alles
4
adelnde Schönheitsgefühl, verbunden mit der eindringenden Menschheits¬
liebe des Meisters und seiner Kunst, jeden Gegenstand in der ihm am besten
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
44 »
Besprechungen.
entsprechenden Weise wiederzugeben, verleiht Raphaels Werken jenen Zug
großartiger Objektivität, deretwegen wir ihn den subjektiven Formenidea¬
listen wie Michelangelo und den subjektiven Farbenidealisten wie Rembrandt
als Großmeister objektiver Kunst gegenüberstellen.« — Rubens endlich
feiert er als den fruchtbarsten, vielseitigsten und lebensvollsten aller Maler.
Als Motto möchte er seiner Schilderung voransetzen: Auf der Höhe. »Auf
der Höhe des Lebens hat er sich bewegt, auf der Höhe der Meisterschaft steht
seine Kunst, auf der Höhe des gesamten Wissens seiner Zeit stand seine geistige
Bildung, auf der Höhe aller Menschlichkeit schlug sein Herz.« »Die Augen¬
blicke höchster Bewegung und plötzlichster Handlung hat kein Künstler so
geschickt festzuhalten gewußt wie er.«
Weiterhin ist auf zwei Aufsätze hinzuweisen, die Künstlern von weit
bescheidenerer Bedeutung gewidmet, aber mit besonders liebevollem Ein¬
dringen verfaßt sind. In dem einen wird Ruisdaels Ringen mit den Pro¬
blemen der Landschaftsmalerei, in dem andern das glanzvolle Emporkommen
von Mengs und das plötzliche Verlöschen seines Ruhmes geschildert. Beide
stellen typische Beispiele für die Umstände dar, von denen Erfolg und
Gedeihen der Künstler abhängen.
Nachdem sich im 17. Jahrhundert die holländische Landschaft zu
voller Selbständigkeit durchgerungen hatte, wurde sie kurz vor der Mitte des
Jahrhunderts in Haarlem durch Ruisdael zur Höhe poetischer und male¬
rischer Gestaltung emporgehoben. Auf den Schultern seines Onkels Salomon
stehend und durch Everdingen, der auf einer Reise nach dem südlichen
Schweden ganz neue Eindrücke empfangen hatte, beeinflußt, brachte er als
erster den romantischen Reiz der sturmzerzausten Bäume der Küstengegend
gegenüber den zahmen Waldbäumen zur Geltung. Darauf folgt durch mehrere
Jahrzehnte eine stetige, immer neue Gegenstände aufgreifende und immer
mehr sich vervollkommnende Behandlungsweise: »in den fünfziger Jahren
werden seine Darstellungen ruhiger, schlichter, sein Vortrag leichter, gleich¬
mäßiger, die Farbe klärt sich allmählich zu voller Naturwahrheit auf« —
das ist die Zeit seiner Dünenbilder; wie »R. hier eine schlichte Natur gesehen
hat, hatte sie noch nie jemand vor ihm gesehen«. Dann wird er allmählich
effektvoller und phantastischer, Wasserfälle werden sein Lieblingsgegen¬
stand; malt er aber gelegentlich mal eine städtische Ansicht, so läßt er alle
andern Künstler hinter sich. Mit den siebziger Jahren beginnt seine dichte¬
rische Zeit, bezeichnet durch die Ruinenlandschaft in London und den Juden-
kirchhof in Dresden, »die großartigste Leistung der dichtenden Landschafts¬
malerei, die jemals geschaffen worden ist«. »Seine Augen sehen in der Natur
etwas Reineres, Tieferes, Geistigeres als die Augen der gewöhnlichen Sterb¬
lichen.« Die Bezeichnung als Barock, gegen die sich W. wendet, ist freilich
für solche Werke wenig am Platze; doch der Begriff des Romantischen, den
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
44I
er dafür anwenden möchte, ist in seiner auf das Vergangene zielenden Be¬
deutung für diese Zeit doch auch nicht recht geeignet. Der nüchterne Sinn
von R.s erwerbsfrohen Landsleuten aber wendete sich von dem Maler, je mehr
er an Jahren zunahm, immer mehr ab, da damals die glatten Darstellungen
einer idealisierten Natur vorgezogen wurden. So beschloß der Künstler,
der durch lange Jahre hindurch für seinen Vater hatte mitsorgen müssen,
sein Leben im Armenhause von Amsterdam, wo ihm seine Glaubensgenossen,
die Mennoniten, eine Zuflucht bereitet hatten.
Ganz entgegengesetzt war das Schicksal von Mengs, dem kein Nach¬
ruhm, dafür aber um so größerer Ruhm bei Lebzeiten zufiel. Er war be¬
kanntlich schon als Wickelkind von seinem Vater zum Raphael seiner Zeit
bestimmt worden. Nachdem er drei Jahre lang Rom, die hohe Schule der
Zeit, besucht hatte, wurde er bei 17»/* Jahren sächsischer Hofmaler, sechs
Jahre später Oberhofmaler und verbrachte den größten Teil seines Lebens
als Hofmaler Karls III. von Spanien mit einem Gehalt von mehr als 24 000 M.
jetzigen Wertes. Die Akademie von S. Luca ernannte ihn zum Malerfürsten,
neben der Raphaels wurde seine Büste im Pantheon aufgestellt. Dieser
»Nachgeborene, der die Kunstentwicklung der vorhergehenden 250 Jahre
noch einmal in sich zusammenfaßt und verkörpert«, der sich vermaß, die
Natur an Schönheit zu übertreflen, dessen glänzende Bildnispastelle allein
seinen Ruhm überlebt haben, war jedoch immerhin »der erste deutsche
Maler, der nach jahrhundertelangem Hinsiechen deutscher Kunst die Augen
der Welt auf sich gelenkt hat«. Es lohnt sich also durchaus der Mühe, seine
auch sonst interessanten Schicksale in einer glänzenden Darstellung in Er-
innerung zu bringen.
Abgerundete Aufsätze sind auch der Sixtinischen Madonna und der
Van Dyckschen Folge von Apostelköpfen gewidmet. Bei dem erstgenannten
Bilde wird hervorgehoben, daß noch nie eine von Haus aus symmetrische
Darstellung so frei und lebendig behandelt worden sei; daß hier zum ersten
Male die sinnliche Erscheinung in ein wirkliches, nach allen Seiten hin leuch¬
tendes, alles durchzitterndes Himmelslicht gehüllt sei. Den Augen der gött¬
lichen Gruppe wird eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt: »das ganze
Erlösungsgeheimnis der christlichen Lehre mit seinen Schmerzensschauern,
seiner Willensstärke, seinem Barmherzigkeitsernst blickt uns aus ihnen an«,
also so etwa wie Schopenhauer es in seinem ergreifenden Gedichte geschildert
hat. »Gerade darin, daß die Bilcke uns zu treffen und dennoch in sich selbst
zurückzukehren und zugleich in ungemessene Weite zu schweifen scheinen,
liegt das Einzigartige ihres Eindrucks, der uns durch Mark und Bein geht.«
Wenn dabei Portigs Ausdruck angeführt wird, daß Mutter und Kind den
Beschauer in gleicher Richtung voll und gerade anblicken, so wäre das durch
die Bemerkung seines zu wenig bekannten und auch hier nicht genannten
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
442
Besprechungen.
Vorgängers Carus noch deutlicher gemacht worden, wonach dieser rätsel¬
volle Eindruck dadurch hervorgerufen wird, daß bei beiden die Sehlinien
der Augen nicht wie in der Natur sich kreuzen, sondern parallel nebenein¬
ander hinlaufen.
Bei den Van Dycks handelt es sich um jene frühe Apostelfolge, die in
mehreren Exemplaren aus seiner Werkstatt hervorging, von denen fünf
wohl eigenhändige noch in Dresden, andere von Van Dyck retuschierte in
Althorp und Kopien in Burghausen sich erhalten haben. Den Inhalt dieser
Abhandlung bildet die dramatische und sehr lehrreiche Schilderung des Pro¬
zesses, der in den Jahren 1660—1662 wegen der Echtheit einer dieser Folgen,
welche noch von Van Dyck selbst spätestens im Jahre 1616 erkauft worden
war, sich abspielte. Trotzdem fiel das Urteil zuungunsten der Echtheit aus,
obwohl der jüngere Brueghel aussagen konnte, daß er noch Van Dyck daran
habe malen sehen; denn zu viele Maler, die als Zeugen geladen waren, er¬
klärten sie für Kopien, die Van Dyck nur retuschiert habe, wozu noch die
Mitteilung von Snellincx kam, daß die Originale um 1624 ins Ausland ent¬
führt worden seien. So wenig nützte die bestbeglaubigte Provenienz.
Unter den Aufsätzen, die der deutschen Kunst gewidmet sind, sei der
diesen besonderen Titel tragende hervorgehoben; der vor allem Grünewald,
Dürer und Böcklin rühmt; ferner die Würdigungen von Rethel und Thoma.
Von Rethel heißt es: »Hier ist nichts aus der Fremde Eingeführtes, nichts
aus zweiter Hand Übernommenes, hier ist alles auf heimischem Boden ge¬
wachsen, mit deutschem Gemüt erfaßt, mit warmem Eigenleben ausgeführt.
Der ganzen Richtung, zu deren letzten und glänzendsten Vertretern R.
gehört, hat kein anderes Volk etwas Gleiches an die Seite zu setzen.« Und
von Thoma, der erst nach dreißigjähriger Wirksamkeit durchzudringen
begann: »Das Deutschtum dieser Kunst liegt in dem Mute, mit dem sie,
unbekümmert um hergebrachte Anschauungs- und Darstellungsweisen, ihre
eigenen Wege sucht und findet; in der Ehrlichkeit, mit der sie das leiblich
und geistig Geschaute ohne Pose und Phrase — den fremden Begriffen
ziemen die fremden Wörter — auf die Fläche bannt; in der Keuschheit und
Reinheit ihrer Empfindung, die niemals, auch nicht auf Umwegen, der
Sinnlichkeit des Beschauers schmeichelt.«
Die Zusammenstellung über die italienische Bildnismalerei der Re¬
naissance, die ein Büchlein für sich bildet, leidet an einer zu weitgehenden
und zu systematischen Einteilung nach der Größe, der Bestimmung, dem
Inhalt der Bilder, wodurch z. B. Wand- und Staffeleibilder, religiöse und
weltliche Darstellungen, Stifter- und andere Bildnisse auseinandergerissen
werden, so daß sich kein rechtes Bild der fortschreitenden Entwicklung
gestalten will. Auch die vielen schwierigen Fragen wegen der Zuschreibung
an bestimmte Meister oder Richtungen, die wie z. B. bei Piero della Francesca
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
443
und bei Raphael gerade auf diesem Darstellungsgebiet auftreten, finden hier
keine Förderung.
Mit besonderer Liebe behandelt dagegen der Verf., wie bereits hervor¬
gehoben, die Landschaftsmalerei. Mit Genuß und Nutzen wird jedermann
den Aufsatz über diese Kunst bei den Griechen und Römern lesen, worin
in überzeugender Weise, auch gegenüber neueren abweichenden Auffassun¬
gen, ausgeführt wird, daß wenn auch schon in der Blütezeit eine natura¬
listische Bühnendekorationskunst bestand, die sich durch die alexandrinische
Periode hindurch zu den pompejanischen Wandmalereien der letzten Stile ent¬
wickelte, die antike Landschaft doch nicht bis zu einer selbständigen poetischen
Gestaltung durchgedrungen ist. — Ein ganz neues Betrachtungsgebiet wird
in der Abhandlung über die »Kirchenlandschaften« eröffnet, worunter jene
Schöpfungen verstanden sind, die mit Polidoro da Caravaggios und Matu¬
rinos vor 1527 entstandenen Fresken in S. Silvestro a Monte Cavallo in Rom
einsetzen, durch den Niederländer Paul Bril zu Ende des Jahrhunderts ihre
Ausgestaltung erhalten, unter Urban VIII. zur allgemeinen Mode werden
und endlich durch Dughet zu ihrer vollen Höhe erhoben werden, ja noch in
der späteren Brüsseler Malerei lange nachwirkten. Wenn der Verf. mit der
Frage schließt, ob ein Wiederaufblühen dieser noch von Corot geübten Malerei
denkbar sei, so möchten wir sie bejaht sehen, damit dadurch der abgestande¬
nen akademischen Heiligenmalerei ein Gegengewicht geboten werde. — Die
Betrachtung über das »Wasser im Städtebild« behandelt nicht die Kunst,
sondern die Natur, wie sie das Bild der an Flüssen oder am Meer gelegenen
Städte beeinflußt.
Die bereits in Düsseldorf gehaltene Festrede über die alten und die
neuen Kunstakademien ist interessant durch den Hinweis auf Cornelius’
gutgemeintes jedoch nicht durchgeführtes Programm für eine Erneuerung
dieser Hochschulen, beweist aber, daß auch die idealsten Forderungen das
Grundübel dieser Anstalten, ihr übertriebenes Beharrungsvermögen, nicht
zu beseitigen vermögen.
Den Beschluß machen ein lehrreicher Aufsatz über die Düsseldorfer
Galerie (»Anfang und Ende einer Gemäldegalerie des 18. Jahrhunderts«),
die in ihrem Hauptbestand in der Münchner aufgegangen ist, im 18. Jahr¬
hundert aber eine Rolle spielte wie jetzt etwa der Louvre, so daß ein Reynolds
und ein Goethe von dort wesentliche Anregungen hclten; und über
»Goethe in der Dresdner Galerie«, worin dessen zahlreiche Besuche in Dresden
von 1768 bis 1813 geschildert werden, besonders derjenige von 1794, der ihn
so sehr unter dem Einfluß Heinrich Meyers zeigt, daß er sich dessen kritischen
Anmerkungen in seinen Katalog einträgt.
In dem Vorstehenden sind nur diejenigen Aufsätze hervorgehoben,
die besonders geeignet scheinen eine allgemeine Teilnahme zu erwecken,
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
444
Besprechungen.
und die zugleich die für den Verf. bezeichnenden Eigenschaften in glänzend¬
stem Lichte zeigen. Die übrigen Beiträge bestehen in Bücherbesprechungen.
Berichten über wichtige Ausstellungen wie die Cranach- und die Ludwig
Richter-Ausstellungen in Dresden (die er selbst mit Sorgfalt und
großem Glück zusammengebracht hatte), in Erörterungen über grundlegende
Fragen wie die über Masaccio und Masolino, Cranach und den sogenannten
Pseudo-Grünewald, die Kopie der Holbeinschen Madonna usw. W. macht
kein Hehl daraus, daß ihm solche Streitfragen und mehr noch Hypothesen
über namenlose Werke als eine Art akademischen Sports erscheinen —
welche Bezeichnung er freilich in seiner Höflichkeit nicht anwendet — und
meint (I 140), daß der Wissenschaft vielleicht doch noch mehr gedient
werde, wenn man sich begnüge, »das Ungewisse als ungewiß hinzustellen«.
Ihm kommt es seiner ruhig abwägenden Art nach mehr darauf an, das Fest¬
stehende, das durch allgemeine Übereinstimmung bereits Anerkannte, die
Werke der großen Künstler, die »die Kunstgeschichte machen«, mit der Be¬
geisterung des Dichters zu würdigen und dadurch dem allgemeinen Genuß
zuzuführen. Dieser Fähigkeit, das Große in objektiver Weise zu empfinden,
verbunden mit vollster Beherrschung der Quellen und sicherer Methodik,
verdankt er den Weltruhm, den er durch seine dreibändige allgemeine Kunst¬
geschichte besiegelt hat. Einer solchen zusammenfassenden Tätigkeit gegen-
. über wird man aber freilich der Kunstwissenschaft auch das Recht, ja die
Pflicht zugestehen müssen, den Glauben an das Bestehen von klassischen,
»überall und ewig gültigen Werken« (I, 129) stets wieder von neuem zu
untergraben, da sie nur in solch ewiger, dem Wandel der Zeiten folgender
Neuprüfung und Neugestaltung, wie überhaupt jede Geschichtsforschung,
ihre Daseinsberechtigung findet.
Dresden. W. v. Seidlitz.
Julius Vogel. Bramante und Raffael. Ein Beitrag zur Geschichte
der Renaissance in Rom. Verlag von Klinkhardt u. Biermann in Leipzig
1910. 114 Seiten, 6 Tafeln.
Der Italiener steht der Kunst des Altertums anders gegenüber als der
Deutsche, der Engländer und der Franzose. Uns bedeutet klassische Kunst
die vollkommene Harmonie der Form, und viele ihrer Denkmäler erscheinen
uns als ideale Verbildlichung schönster Menschlichkeit. Dem Italiener aber
ist sie zugleich die mahnende Erinnerung an die politischen und kulturellen
Höhepunkte des eigenen Volkes. Schon zu Beginn der Renaissance hat das
Leo Battista Alberti ausgesprochen, und ernsthaft verglich man damals die
lebenden Künstler mit den berühmten Vorgängern. Solchen Zusammen¬
hang illustriert auch Petrarcas Klage über den Untergang der römischen
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
445
Ruinen im selben Zeitalter, da wahrscheinlich die bronzene Petrusstatue, die
lange für spätantik gegolten hat, entstand, und Cola di Rienzi einen Römer¬
staat im Sinn der Vergangenheit und in den alten Formen neu zu begründen
unternahm. Wie man im 15. und 16. Jahrhundert die Völkerwanderung
als Ursache des Niedergangs Italiens ansehen konnte, erschien auch damals
die Gotik als eine verheerende Invasion in das Gebiet der Kunst, und ihre
Ausdrucksweise — im besonderen der Spitzbogen — wie unerbetene Ein¬
dringlinge, die man vertreiben müsse. Die bewußte Rückkehr zu antiken
Formen war Patriotismus, war das Innewerden eigner Kraft und der Wunsch,
die alte Größe auf allen Gebieten des Lebens wieder zu gewinnen.
Aus solcher Gesinnung erklärt sich am besten, daß das historische
Interesse für die Vergangenheit hier mit der aufstrebenden Kunstentwick¬
lung begann, während es sonst viel häufiger erst im Zenith einer Entwick¬
lung zutage tritt. Freilich haben sich Theorie und Praxis auch damals
keineswegs gedeckt. Verehrung und Zerstörung der Monumente gingen
— wie gedankenlos — neben einander her. Wichtige Beiträge zu solcher
Erkenntnis bringt Julius Vogel bei; aber sie sind ihm nur Mittel zum Zweck
eine Frage zu klären, die nicht zu den unwichtigsten der Hochrenaissance
gehört. Wer war der Autor und wer der Adressat jener berühmten Denk¬
schrift über die römischen Baudenkmäler, ihre Erforschung und Wieder¬
herstellung, die Anfang des 16. Jahrhunderts — auch das genaue Datum
der Abfassung war ungewiß — entstand ? Am häufigsten ist einer unsicheren
Tradition gemäß Raffael Santi als der Verfasser genannt worden; neben
ihm sein feinsinniger Freund, Graf Castiglione, der gelehrte Altertums¬
forscher Andreas Fulvius Sabinus und endlich Fra Giocondo, der Architekt.
Aoer all diese Namen halten bei eingehender Prüfung nicht stand, ebensowenig
der Leos X. als Auftraggeber und Adressat. Statt seiner schlägt Vogel
Julius II. und als Autor ßramante, den Architekten von S. Peter, vor. Er
weist aufs klarste nach, daß die Ereignisse, auf die in jener Denkschrift
Bezug genommen wird, wie im besonderen die Zerstörung der berühmten
Meta im Borgo, die auf den älteren Darstellungen Roms kaum jemals fehlt,
die Jahre 1510 bis 1511 als Abfassungstermin beweisen. Der Krieg gegen
Ferrara, der Julius II. längere Zeit fernhielt von Rom, gibt eine gute Er¬
klärung für die Entstehung der zwei Redaktionen der Denkschrift, die
etwa ein Jahr auseinanderliegen. Die erste, die als Brouillon bezeichnet
werden darf, kam wahrscheinlich mit Bramantes künstlerischem Nachlaß
an Raffael, die zweite war für den Papst bestimmt.
Daß dies Julius II. war, und nicht Leo X., darf Vogel auch aus andern
Gründen folgern. Er schildert die Denk- und Handlungsweise des genialen
Rovere, sein Interesse für die Erinnerungsstätten der Vergangenheit, dazu
seinen Ehrgeiz ein Herrscher des Friedens zu heißen. (Auf all das finden
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
446
Besprechungen.
sich Bezüge in der Denkschrift). Dann werden die Vorwürfe der Pietät¬
losigkeit entkräftet, die man ihm anläßlich des Niederreißens vom Chor
des alten S. Peter gemacht hat, und es wird dargetan, daß Leo X. unter dem
Einfluß gelehrter Philologen zwar für die Schonung antiker Inschriften ein-
getreten ist, aber keineswegs für die Schonung antiker Kunst. Sein dies¬
bezüglicher Erlaß gab Raffael zugleich weitgehende Kompetenzen, die
Ruinen als Steingruben für den Neubau S. Peters zu benutzen. Ja, Papst
und Kardinäle haben damals einen berüchtigten Devastator gegen den
römischen Magistrat und seine Konservierungsbestimmungen in Schutz ge¬
nommen. Solch Vorgehen schließt es aus, daß er eine Denkschrift über die
eventuelle Wiederherstellung der römischen Bauten in Auftrag gab. Aber
Vogel vermutet, daß Raffael, «vielleicht die rezeptivste Künstlergestalt der
ganzen Renaissance«, auch hier Bramantes Nachfolger werden wollte, und
daß er zu Ende seines kurzen Lebens begonnen hat, des älteren Freundes
Ideen auszuführen. Es leuchtet ein, <faß es aus eigner Initiative und
nicht im Auftrag seines Herrschers geschah.
Skeptiker mögen Vogels Ausführungen trotz seiner im ganzen sehr
guten Beweisführung zweifelnd gegenüberstehen. Doch scheint mir, die
Datierung 1510/11 darf nunmehr als gesichert gelten, und ebenso plausibel
ist es, daß nur ein tüchtiger Architekt von Fach diese von kongenialem Ver¬
ständnis diktierte Schrift voll hoher Ziele hat entwerfen können. Literarische
Arbeiten Bramantes sind bezeugt, und wie man heute den erlauchten Kreis
Julius II. kennt, hat keiner aus ihm so berechtigten Anspruch auf den
Autorenruhm der Denkschrift, wie der Baumeister von Urbino, Mailand
und Rom. F. Schottmüller.
Herrmann Egger, Römische Veduten, Hand Zeichnungen
aus dem 15.—18. Jahrhundert. Friedr. Wolf rum & Co., Wien,
Leipzig.
Derselbe, Architektonische Handzeichnungen alter
Meister. Ebenda.
Nach dem Vorworte der zweiten Veröffentlichung sind wohl beide als
das Vermächtnis desselben organisatorischen Riesengedankens allumfassender
Arbeit auf dem Gebiete der Architekturgeschichte anzusehen. Und daß
beide Sammlungen zu gleicher Zeit erscheinen, zeugt nicht allein für diese
Annahme, sondern auch dafür, welch kraftvolle Arbeit da am Werke ist,
die Fruchtbarkeit der Geymüllerschen Idee für alle wissenschaftliche For¬
schung in den weiten Gefilden der Architektur als Kunst in der Erscheinung
zu erweisen. Aber auch für welche Leistungsfreudigkeit wir dem Verlage
mit dem Herausgeber Dank schulden. Diesem letzten kommt noch das
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
447
besondere Verdienst zu, daß er erst für den Plan seines Meisters die Möglich¬
keit der Verwirklichung erdachte, eben indem er ihn frischweg zerfällte in
einzelne Abteilungen, die nun verschieden verwertbar sein werden. Denn
angesichts der vorliegenden Erscheinungen muß man Wunsch und Hoffnung
nachdrücklich aussprechen, derselbe eingeweihteste Fachmann — oder unter
seiner Anleitung durch Jünger oder Zöglinge — möge auch den dritten
Teil von Geymüllers Expose, die photographischen Aufnahmen von in ge¬
malte, gemeißelte und Einlegwerke hineingesetzten Architekturen, zunächst
etwa einer engsten Zeitabgrenzung und Ortseinschränkung, sammeln und
ordnen zu einer Ikonographie der Architektur sozusagen.
Es würde sich aus diesem Teile der Arbeit — ebenso wie aus der in
den »römischen Veduten« niedergelegten — eine Fülle von Material ergeben
für eine Reihe von Problemen, die weit über den Rahmen von Architcktur-
geschichte und Künstlerbiographie hinausliegen. Als ich in einem größeren
Kupferstichkabinette nach den »römischen Veduten« fragte, erklärte man
mir, die Anschaffung sei unterblieben, da das Werk zu sehr den Interessen
der römischen Lokalforschung diene. Wenn dem so wäre, so hätte die
Sammlung nur Wert für ein antiquarisch-topographisches Studium der ewigen
Stadt oder für das »Studio« eines reisenden Liebhabers, für die Mußestunden
einer sentimentalen Versenkung in den stillwebenden Zauber der Ruinen-
stadt. In der Tat darf man auch für diesen Genuß den alten Zeichnern
•
Dank wissen. Wer hätte sein reinigend befreiendes Wirken nicht froh em¬
pfunden, wenn er aus dem Hasten des heutigen Corso hineintritt in die stillen
oberen Räume des Palazzo Corsini und die Handzeichnungsmappen »vedute
di Roma« durchsieht.
Aber es fällt uns sofort doch auch etwas anderes dabei ein, etwas, das
in der höchst sorgfältigen methodologischen Einleitung vom Verfasser nicht
vorhergesehen ist: die fein unterschiedenen Kategorien der Einleitung zeigen
die umfassenden Werte auf, die die Sammlung birgt für die Künstler¬
geschichte, für die Denkmalgeschichte und die Entwicklungsgeschichte der
neuen Stadt. Zum Beispiel gibt schon das Rezensionsexemplar die
wertvollsten Vorstellungen von der Förderung der Arbeiten an St. Peter —
erfreuliche Ergänzungen zu dem Materiale, das H. v. Geymüller im Tafel -
bande geben konnte — an den Bauten um den Cortile del Belvedere, von der
allmählichen Ausgestaltung des Gesamtbildes der Piazza del Popolo und er¬
weitert so die Gegenstandskenntnis, die uns Fontanas und Dup6racs Stiche
vermitteln, und die Sammelbände von Falda und Ferrerio. Gerade aus
dem Vergleich dessen, was hier und was dort zu sehen ist, läßt sich ein doku¬
mentarischer Anlaß gewinnen zum Auf stellen der Kategorie, die vom Heraus¬
geber selbst vernachlässigt ist: Hier wird publiziert nicht ohne Ruhmredig¬
keit auf Bauherrn und Künstler und darum das endgültige Bild der verwirk-
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
448
Besprechungen.
lichten Idee mit Zutaten, die das Lebensbild, aus dem die künstlerische Idee
geboren wurde, abrunden. Die architektonische »Erfindung« bleibt jedoch
die Hauptsache, das Objekt der Betrachtung. Dort wird frei über das Objekt
variiert, der andere Künstler — und wenn ein auch noch so namenloser —
nimmt es in seine Komposition auf, spielt mit ihm im Zusammenhänge seiner
eigenen Erfindung, die dann wohl auch im Kupferstich vervielfältigt werden
soll oder das Vorstudium für ein Gemälde darstellt. Und diese hatten dann
nicht den Wert eines Speculum magnitudinis Romae, sondern waren künst¬
lerische Ergebnisse des italienischen Studienaufenthaltes, »heroische Land¬
schaften« oder »Stadtansichten« »nach römischen Motiven«. Und es ist
höchst interessant an dieser Materialsammlung zu beobachten, wie sich
allmählich nordische Empfindungs- und künstlerische Auffassungsweise in
dem fremden Stoffe durchsetzt, dann auch, wie die Künstler allmählich von
der rein gegenständlichen Aufnahme Vordringen zur Einsicht in die kom-
positionelle Verwendbarkeit der Gegenstände, und endlich, wie sie in der
Anordnung von Kontrasten zur Einführung einer starken Stimmung kommen.
Sind das auch keine Neuigkeiten für den Kunsthistoriker noch für den Lieb¬
haber, so bereichert doch die Eggersche Publikation den, welcher sich um
die Geschichte der Landschafts- und Prospektmalerei bemühen will, und den,
welcher die Entwicklung des künstlerischen Sehens zu beobachten liebt,
um ein reiches und wesentliches Material.
Die Sammlung architektonischer Handzeichnungen alter Meister ist —
möchte man sagen — ein Glück zu erleben für jeden, der in kunsttheoreti¬
schem Geiste die Grundbedingungen künstlerischer Denkweise studiert, wie
für den Schreiber der Typengeschichte dieser Einzelkunst.. Was ist über¬
haupt bisher veröffentlicht von den Schätzen an architektonischen Studien,
Entwürfen und Bauzeichnungen, die in den Uffizien, in Turin, Venedig,
Wien, München, Dresden, Berlin, Paris vorhanden sind, zu schweigen von
solchen halbverschollenen Sammlungen, wie eine einmal in München aus¬
gestellt war aus Bamberger Privatbesitz, oder wie eine in Würzburg und
in Vicenza lagert. So manches davon ist schwer erreichbar selbst für den
Spezialforscher, ja, fast unzugänglich für den, der sich einarbeiten möchte.
Das kommt daher, daß an den Aufbewahrungsorten selbst man zumeist so
wenig unterrichtet ist in Architekturkunde. Daraus erklärt sich wohl die
Vernachlässigung und Zurückgebliebenheit im Bestimmen und Ordnen der
zu ihr gehörigen Handzeichnungen, während die Gebiete der Forschung über
Malerei und Plastik so vielfach und vielseitig durchgearbeitet sind. Es ist,
als ob immer noch die Baukunst mit E. v. Hartmann für eine Kunst zweiten
Ranges mit der einzigen Aufgabe des Verzierens und Anordnens von lauter
Bedürfnisbefriedigungen angesehen werde; für eine unfreie, angewandte
Kunst also. Und ihre einzige Leistung wäre ein möglichst geschicktes Zu-
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
4 49
sammenpassen der frei erfundenen Dekoration mit den bis ins einzelne be¬
stimmten Gelegenheiten der Aufgabe. Die beiden edleren Schwesterkünste,
die inzwischen als »die imitativen« bezeichnet worden sind, hätten das freie
Finden der künstlerischen Aufgaben voraus und wären nur in den Mitteln
des Ausdrucks dafür gebunden, gebunden an die Erscheinungsweisen der
Natur. Für die Beobachtung der Art, wie sich der Künstler von dieser Ge¬
bundenheit befreie bis dahin, daß sein Werk als ein völlig bedingungsloses
dasteht, sei das Studium und die Kenntnis der Handzeichnungen als Vor¬
bereitungen zu einem Gemälde, einer Bildhauerarbeit ein unentbehrliches
Hilfsmittel zum Verständnis. Eine Architektenhandzeichnung könne immer
nur ein Zeugnis dafür sein, wie weit es dem Künstler gelungen sei, den hetero-
nomischen Charakter — um mit Schiller zu reden — seiner Aufgabe hinter
den freien Spielen seiner Phantasie zu verbergen. Da ist eine kleine Um¬
stellung des Blickes für den Historiker wie den Theoretiker dringend not¬
wendig. Und das zu leisten ist vor allem der Beruf der Eggerschen Publika¬
tion. Denn wir haben ja außer v. Geymüllers Sammlung der »ursprüng¬
lichen Entwürfe« für St. Peter, seinem »Raffaello studiato conie arch.«,
Redtenbachers »Bald. Peruzzi«, Willichs »Vignola«, Fraschettis »Bernino«
nur vereinzelte Mitteilungen des so arg vernachlässigten Materiales dazu.
Schon der erste Band, der geschlossen vorliegt, zeigt uns dieses Materiales
Wert deutlich auf: Indem viele Variationen über dasselbe Thema zusammen
gegeben werden, sehen wir bei ihrem Studium allmählich ein, wie der Geist
des Künstlers, vom Zwange des Bedürfnisses befreit, nicht sowohl dadurch,
daß er Zierformen zu notwendigen Raumabschlüssen hinzusetzt, als indem
er den Raum von vornherein, architektonisch als bildsamen Stoff ansieht,
sein Problem in der Raumbildkomposition findet. Hierin unterscheidet sich
z. B. Ferraboscos Uhrturmprojekt als Lösung des Eingangsproblems für den
vatikanischen Palast, das uns ja nur in Handzeichnungen erhalten ist von
der Abfassung, die ihm Bernini gab und Fontana fortbildete. (Deren ver¬
schiedene Lösungsversuche finden sich bei Fraschetti reproduziert; doch ist
zu hoffen, daß auch Egger sie trotzdem noch einmal bringen wird, schon der
Vorzüglichkeit seines Reproduktionsverfahrens wegen.) Während Ferra-
bosco den geschmückten Nutzbau gibt, bringt Bernini eine ganz andere
Richtung des Interesses hinein: eine rahmenmäßige Abgrenzung des Raum¬
bildes von Neu-St. Peter zu schaffen, dessen künstlerische Komposition zu
vollenden.
Die Umfangsweite des Repertoirs in diesem ersten Bande sowohl histo¬
risch wie gegenständlich — es kommen gotische Architekturdetails aus der
zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts und eine Bühnendekoration von
H. Neefe von 1835 (?) vor — läßt hoffen, daß auch die architektonische Garten¬
kunst hineingezogen werde in den Plan des Ganzen, so daß auch die ungc-
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
45°
Besprechungen.
stochenen Entwürfe bekannt würden und wir zumal an diesem »Seitenzweige
der Baukunst« erfahren können, wie wenig man dieser gerecht wird, wenn
man sie lediglich als eine erweiterte und verfeinerte Bekleidungskunst an¬
spricht.
In Anbetracht der hohen Bedeutung des Eggerschen Unternehmens,
die zu skizzieren hier versucht wurde, sei doch einmal, mit Bezug besonders
auf die letztbesprochene Publikation, ein Wunsch vorgebracht: Nur die
wenigsten Universitätsinstitute, besonders aber die in kleinen Städten, die
noch weniger reich dotiert sind als die in großen, worin ja eigentlich ein
Widersinn liegt, werden imstande sein, sie sich anzuschaffen, Private wohl
kaum. Wäre es da nicht der guten Sache der Erweiterung eines vertieften
Architekturstudiums zuliebe anzustreben, daß sich Herausgeber und Ver¬
leger doch entschlössen, an einzelne Fachgenossen zu Lehrzwecken oder an
kleine Studiensammlungen Einzelblätter abzugeben, wenn auch zu erhöhten
Preisen? Wohl würde solchem Abnehmer die äußerst sorgfältige Editions¬
arbeit zumeist verloren gehen. Aber zu deren wichtiger Hilfe könnte man
ja leicht durch schriftliche Anfrage bei einem Kupferstichkabinette — das
sie ja zweifelsohne anschaffen muß — gelangen. Horst.
Dr. Alfred Lauterbach. Die Renaissance in Krakau. Eugen
Rentsch Verlag, München 1911.
Gestützt auf ein reiches und — das sei rühmend hervorgehoben —
vortreffliches Abbildungsmaterial führt Dr. Lauterbach einem größeren
deutschen Leserkreise die Bauten und Grabdenkmäler der romanistischen
Renaissance in Krakau vor; in seiner allgemeinen Fassung ist der Buchtitel
also nicht ganz zutreffend gewählt. Die zahlreichen historischen und kunst¬
geschichtlichen Studien, welche in den Berichten der Kommission zur Er¬
forschung der Kunstgeschichte in Polen (Sprawozdania komisyi historyi
sztuki w Polsce I—VII), den Krakauer Jahrbüchern (Rocznik Krakowski
I—XII) und den Schriften eines Sokolowski, Tomkowicz, Luszczkiewicz,
Woyciechowski, Koplra, Ptasnik u. a. in polnischer Sprache erschienen
sind, bilden die Grundlage für den Text und werden am Schlüsse in einem
übersichtlichen Verzeichnisse zusammengestellt. Indes kennt der Verf.
sein Material gründlich aus eigener Anschauung und trägt seine meist zu¬
treffenden Ansichten frisch und unbefangen vor, wenn auch die Neigung
zu verallgemeinern den kritischen Leser hier und da stutzig macht. Leider
wirken der sprachliche Ausdruck und die Syntax bisweilen recht schwer¬
fällig und unglücklich; das erschwert die Lektüre und stört namentlich
bei den Denkmälerbeschreibungen, die einen guten Teil des Buches
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
45 1
füllen; dabei fällt die Mischung von Beschreibungen und ästhetischen
Werturteilen leicht auf die Nerven.
In einer sehr ausführlichen Einleitung zeigt Lauterbach die kulturellen
und historischen Vorbedingungen auf, welche den Einfluß der italienischen
Renaissance begünstigten. Die humanistischen und politischen Beziehungen
der Könige, der Geistlichkeit und des Adels ziehen schon in den letzten Jahr¬
zehnten des fünfzehnten Jahrhunderts italienische Kaufleute, später auch
Künstler ins Land. So ist das Grabmal des Königs Johann Albrecht (j* 1502)
ein äußerst interessantes und frühes Beispiel lombardischer Zierplastik
nördlich der Alpen. Unter König Sigismund I., dem Gatten der Bona
Sforza, verstärkt der wirtschaftliche und politische Kampf gegen die Deutschen
den Einfluß der begünstigten italienischen Architekten und Marmorarbeiter.
Der Wawel wird von ihnen prunkhaft im neuen Geschmack ausgebaut und
verziert; beim Bau der glänzenden Sigismundskapelle im Dom vereinen die
Italiener alle tektonischen, plastischen und namentlich dekorativen Kräfte.
Dann erlischt die Baulust für einige Zeit; erst gegen Ende des Jahrhunderts
dringt beim Bau der Peters- und Paulskirche nach dem in Rom gefertigten,
von il Gesü abhängigen Risse der römische Barockstil in Krakau ein.
Außerordentlich charakteristisch ist neben diesen Werken die Fülle
prächtiger, italianistischer Nischengräber, die für das Selbstgefühl und die
Prachtliebe ihrer Stifter mindestens so bezeichnend sind, wie für die — oft
handwerkliche — Fertigkeit ihrer Schöpfer. Ein Überfluß von Ornamenten
und kostbarem Material verdunkelt meist die architektonischen und plasti¬
schen Teile.
Im Gegensatz zu den prächtigen Königsgräbern der gotischen Epoche
ist hier von bildnerischen Qualitäten wenig die Rede; selbst in dem schönen
Grabmal des Bischofs Peter Tomicki im Dom, das Lauterbach mit Recht be¬
sonders hervorhebt, erscheint die Liegefigur des toten Schläfers auf der Sarko¬
phagplatte nicht ganz geglückt, wenn man an französische Werke dergleichen
Epoche denkt. Nur die relativ kleinen Statuen der Sigismundskapelle,
einige kleinere Madonnenreliefs, vielleicht auch die Reliefgrabplatten des
Bischofs Jan Konarski (f 1525) — von der deutschen Kunst noch stark
beeinflußt — und der Anna Jagiello (vom Ende des Jahrhunderts) sind
erfreulichere Leistungen. Dafür scheint das Hauptinteresse der Auftrag¬
geber und der Künstler dem Ornament gegolten zu haben, das allenthalben
die Formen umspielt und überwuchert. Dieser kunstgewerbliche Zug (ich
brauche das Wort »kunstgewerblich« nicht in einseitig tadelndem Sinne
wie Dr. Lauterbach) scheint für das Verständnis der Krakauer Renaissance
ebenso wichtig, wie für die Kunst in anderen nordischen Ländern;
nimmt man nur die Renaissance in Italien zum Prüfstein der
Krakauer Denkmäler, wie das Dr. Lauterbach im Vorwort vor-
Repeitorium für Kunttwisnenschaft XXXV.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
45 2
Besprechungen.
schlägt, so könnte man leicht zu harten und ungerechten Urteilen
kommen; denn wir finden in Italien außer der Certosa und anderen
lombardischen Bauten von der Wende des Jahrhunderts kaum schlagende
Parallelen. Gerade die »keltisch-germanische« Renaissance mit ihren durch
Klima, Schmuckfreudigkeit u. a. entschuldbaren. Kompromissen und dem
Mißbrauch italienischer Motive schöpft aus derselben Quelle. Solche Bar¬
barismen finden sich auch an Krakauer Bauten: die gotischen Fenster-
teilungen, die Türornamentik im Untergeschoß des Wawels beweisen das.
Der dreigeschossige Arkadenhof mit dem betonten oder doch gleichberech¬
tigten, oberen Stockwerk ist ein beliebtes Requisit bei zahlreichen Fürsten¬
sitzen in Deutschland. Die überschlanken Säulen des zweiten Geschosses
lassen sich am ehesten mit den Traditionen der heimischen Holzbaukunst
aus gotischer Zeit erklären *). Dem Florentiner oder Römer des Cinque¬
cento hätte die Lösung nicht genügt; sicher wäre ihm auch die Orna¬
mentik des Hauptwerkes der Italiener in Krakau, der Sigismundskapelle,
allzureich und aufdringlich erschienen. Hier äußerst sich der Geist
der Besteller und fördert jenen Reichtum der Ornamentik zutage, die
in ihren Motiven sehr an den Flötnerstil, an österreichische und schlesische
Bauten (Rathaus zu Görlitz u. a.) anklingt, freilich an Kraft und Sorg¬
falt der Ausführung diesen Werken überlegen bleibt. Die dekorative
lombardische Kunst eines Padovano, Berccci und ihrer nordischen Schüler in
Krakau kann nicht nur mit dem. Maßstab der italienischen Kunst des Cin¬
quecento, an Bramante, Michelangelo, Vignola und Palladio gemessen werden;
hier durfte der Verf. einen Hinweis auf die Nachbarländer nicht unterlassen,
die ebenfalls von den Lombarden lernten.
Eis wäre ja auch ganz unrichtig, wollten wir nur an den im vor¬
liegendem Buche aufgeführten Denkmälern die Renaissance in Krakau
studieren; die Hauptwerke eines Hans von Kulmbach, Hans Dürer,
Michael Lantz von Kitzingcn, hervorragende Holzskulpturen und
kunstgewerbliche Arbeiten in Edelmetall usw. wurden von deutschen
Meistern unter demselben König Sigismund, teilweise sogar für die
Sigisraundskapclle auf dem Wawel gefertigt. Trotz aller politischen
Kämpfe spannen sich damals noch genug Fäden zwischen der deutschen
und der italienisch-polnischen Kunst; namentlich Schlesien, und Nordost¬
deutschland überhaupt, blieben mit Polen in steter Verbindung, wie das
außer schlesischen Bauten und Grabmälern die Tätigkeit ostdeutscher
Künstler in Krakau beweist, die Dr. Lauterbach gelegentlich erwähnt.
Unter dem Einfluß solcher Wechselbeziehungen scheinen das schöne Schloß
*) Eine ähnliche Steinsäule mit einem durch menschliche und tierische Figuren
gebildeten, korbartigen Kapitell und Schaftring zeigt der spätgotische Arkadenhof am Hause
Tucherstr. 20 in Nürnberg (Abb. in »Nürnberger Motive« Heft 1, Taf. 4).
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
453
zu Baranöw (Abb. 13) mit seinen Türmen, Blendgiebeln und seinem reizenden
Arkadenhofe, oder die imposante Tuchhalle in Krakau (Abb. 29) erst ganz
verständlich; der italienische Profanbau hat m. E. mit diesen Werken nichts
zu tun, trotzdem Teile der Ornamentik von Italienern ausgeführt sein mögen.
Gewiß genügen die vorhandenen Denkmäler in Krakau nicht, um an
ihnen neben der Rezeption der Renaissance durch die einheimische
Künstlerschaft, auch eine Entwicklung dieser lokalen*, anspruchsloseren
Kunstweise nachzuweisen; aber einzelne Beispiele lassen sich finden, die sich
an Ort und Stelle bei sorgfältiger Prüfung wohl noch vermehren dürften;
denn so vollkommen, wie Dr. Lauterbach annimmt, scheint dem Krakauer
Bürger, der noch im fünfzehnten Jahrhundert »nobili par« gewesen war,
das Interesse an der Kunst nicht entschwunden zu sein. Darum scheide
ich das wuchtige, aber unausgeglichene Portal und den Hof des De¬
kanatshauses (Abb. 3 u. 16), eine Grabplattenumrahmung an der Barbara¬
kirche (Abb. 28), die Denkmäler des Bischofs Jan Konarski (Abb. 35), des
Raphael Osinski (Abb. 42) u. a. schon ihres flachen Reliefs wegen als ein¬
heimische Erzeugnisse aus; sicher empfindet man erst dann den vollen
Gegensatz zu den formschönen Werken der Hofkünstler, etwa dem Balkon
oder dem Ciborium der Marienkirche, dem Tomicki- und Gamratgrab im
Dom u. a. Als bescheidenen Beitrag zu einer künftigen Beschreibung der
bürgerlichen Denkmäler möchte ich einige' tüchtige Epitaphien mit den
Profilbrustbildern der Verstorbenen in den Kreuzgängen der Dominikaner¬
kirche nennen.
Weit entfernt, den Inhalt des Lauterbachschen Buches irgendwie
zu erschöpfen, sollen diese Zeilen nur Anregungen wiedergeben, die
sich mir bei der Lektüre aufdrängten. Die beigegebenen Tafeln werden
hoffentlich neue Freunde der malerischen Schönheiten Krakaus werben.
Vor allem möchte ich den Wunsch aussprechen, daß alle polnischen Kunst-
gelehrten dem dankenswerten Beispiele Dr. Lauterbachs folgen und die
reichen Kunstschätze ihres Landes mit größerer Bereitwilligkeit als bisher
den deutschen Nachbarn zugänglich machen mögen. Das wird auch der
polnischen Forschung zugute kommen. Die Kunst spottet ja der politischen
Grenzen und schenkt ihre Gunst Freund und Feind in gleicher Weise,
wenn sic in wahrer Verehrung ihrer Herrschaft sich beugen.
Max Lossnitzer.
Walter Friedländer: Das Kasino Pius IV. Bd. III der Kunstge
schichtlichen Forschungen, herausgegeben vom Kgl. Preußischen Histori¬
schen Institut in Rom. M. W. Hiersemann, Leipzig 1912. X u. 136 S.,
40 Taf. u. 36 Textabbildungen.
30*
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
454
Besprechungen.
Die kunsthistorischen Bücher des römischen Instituts entsprechen nach
Aufgabe und Qualität ganz der bewährten Tradition dieses jetzt vierund¬
zwanzig Jahre alten Unternehmens. Wie die historischen Veröffentlichungen
Urkunden in streng wissenschaftlicher Fassung bieten und dazu die erforder¬
lichen Erläuterungen oder eine Bearbeitung, die sie fruchtbar macht, so
bringt auch dieser jüngste Band ein Denkmal zur Kenntnis, das nur infolge
seiner äußerst schweren Zugänglichkeit bisher wenig beachtet wurde. Zwar
kannten die Besucher der vatikanischen Gärten (aber wie wenige dürfen diese
sehen) Pius IV. zierliches, reich geschmücktes Lusthaus, und der Fach¬
gelehrte wußte, daß es von dem geschmackvollen Eklektiker Pirro Ligorio
erbaut ist und daß im Innern Barocci, der Urbinate, und Santi di Tito
Fresken geschaffen haben; aber erst jetzt, nachdem das Entgegenkommen
der päpstlichen Behörden vielerlei Aufnahmen und genaue Studien zuließ,
ist die Bedeutung des Kasino als Denkmal der frühesten Barockkunst in
Rom entdeckt. Wie eine gute Quellenforschung gibt F.s Buch erst ausführ¬
liche Beschreibungen als nötige Ergänzung der klaren Illustrationen, dazu
die Geschichte der Anlage; und endlich bespricht er ihre Stellung und Be¬
deutung in der Geschichte der Architektur und Malerei. Als das Belvedfcre,
das ältere Gartenhaus im vatikanischen Garten, durch Bramantes Erweiterung
des päpstlichen Schlosses in dieses einbezogen war und sich die Villa di
Papa Giulio vor Porta S. Popolo in unruhigen Zeiten als zu entfernt erwies,
begann Paul IV. im Mai 1558 den Bau des neuen Kasino. Sechs Monate nur
wurde zunächst an ihm gearbeitet, doch muß der Rohbau schon zum Teil
fertig gewesen sein, als Pius IV. genau zwei Jahre später die Vollendung
begann. Denn schon im Herbst 1560 konnte Rocco da Montefiascone mit
der Verzierung der Fassade durch Stuckreliefs beginnen; im Sommer 1561
gingen die Maler Santi di Tito, Federico Zuccaro, Pierleone Genga, Barocci
u. a. ans Werk. Im Herbst des nächsten Jahres war das Gebäude bewohnbar;
freilich nicht ganz vollendet, denn im Dekor des oberen Stockwerkes kommen
das Zeichen der Sedisvakanz — nach Pius IV. Tode — das Wappens seines
Nachfolgers Pius V., ja das Urbans VII (1590) vor. Die späterer Herrscher —
wie Urbans VIII., Clemens XI. und Benedikts XIII. — beziehen sich auf
« •
Änderungen oder Restaurationen; doch ist der Bau, so wie er heute noch ist,
zum mindesten im wesentlichen seiner dekorativen Wirkung das Werk
Pius IV.
Das Zentrum der Anlage ist ein ovaler Hof mit ebensolchem Brunnen
in der Mitte. Zwei schmale Torbauten mit gewölbten Korridoren an den
Schmalseiten vermitteln den Zugang vom Garten her. Dem hochragenden
Hauptgebäude an der einen Längsseite entspricht die offene Loggia gegen¬
über. Wie die Torbauten sind auch sie in der Dekoration als Gegenstücke
betont, jene stimmen genau überein, bei diesen ist durch die Gliederung —
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
455
das Erdgeschoß hat hüben und drüben einen offenen Säulenzugang mit flan¬
kierenden Mauerteilen, die Fläche darüber ist glatt, d. h. ohne Fenster —
große Ähnlichkeit trotz der verschiedenen Höhe erreicht. Das Entschei¬
dende für den Eindruck ist neben der Anlage dieses Komplexes die reiche
Dekoration mit flachen Stuckreliefs — figürlichen und ornamentalen —,
die alle Mauerflächen überzieht. Im ganzen gibt sie klare Teilungen im
Sinne der Hochrenaissance; aber in Einzelheiten, wie in den vorkragenden
Ecken, die abwechselnd die horizontale und die vertikale Richtung betonen,
kündet sich der kommende Barockgeschmack an. Das gilt auch von der
ovalen Form des Hofes, der freilich der Grundriß der benachbarten Fassaden
nicht entspricht — was in späterer Zeit selbstverständlich gewesen wäre,
während der Kapitolsplatz noch nach dem älteren Schema angelegt ist; —
doch ist solche Inkonsequenz durch eine Bank mit hoher Lehne, die den Hof
umgibt und bis an die offenen Halleneingänge von Loggia und Kasino reicht,
geschickt verschleiert. Nur an den Torgebäuden sind die Eckpilaster der
Hauptrichtung entsprechend schräg gestellt. — Auch ihre Tonnengewölbe
sind ganz mit Stuckreliefs belegt, die Wände wie die des Vestibüls mit Mosaik
aus Natursteinchen überzogen, eine anspruchslose Dekoration, die aber bei
dem Wechsel von glatten Flächen und Nischen nicht ohne malerische Wirkung
ist. In Loggia, Vestibül wie in den Zimmern des Kasino sind an den Decken
Malerei und Stuckreliefs zu prächtigem Gesamteindruck vereint. Man mag
den künstlerischen Wert von Einzelheiten hier nicht allzu hoch einschätzen;
aber die Aufgabe der Anlage und seiner Dekoration, einen heiteren Ort für Er¬
holung und ruhiges Genießen an den warmen Sommertagen des Südens zu
schaffen, ist voll erreicht. Störend wirkt heute nur die große Sammlung von
Devotionsadressen im ersten Zimmer und das Fehlen der antiken Statuen,
die Pius IV. hier aufstellen, Pius V. aber zum größten Teil wieder entfernen
ließ. Unter Leo XII. wurden die durch Witterungseinflüsse beschädigten
Stuckkaryatiden an der Rückfront der Loggia abgetragen. Für den Wand¬
schmuck außen und innen weist Fr. keinerlei Themata von großer Bedeutung
— weder historische Reminiszenzen noch allegorische Beziehungen weiteren
Umfanges — wie etwa Raffaels Stanzen sie besitzen — nach. (Doch findet
sich neben andern Veduten Roms eine Ansicht des Kasinos in dem von Santi
di Tito ausgemalten Treppenhause.) Im ganzen wiegen an den Fassaden
antike Darstellungen, im Innern solche der christlichen Heilsgeschichte, vor.
Freilich diese sind — bis auf Baroccis hl. Familie und Verkündigung im
Deckenspiegel der beiden ersten Zimmer — lauter kleine Bilder, die umgeben
sind von Girlanden, Tiergestalten, Amoretten und andern Motiven antiker
Wanddekoration. Man wird immer wieder — besonders in den ersten
Zimmern — an Raffaels Loggien erinnert; aber weder seine Grottesken-
motive, noch ihre altrömischen Vorbilder sind mehr als in Einzelheiten be-
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
45 6
Besprechungen.
nutzt. Ein neuer Geschmack kommt deutlich in der Raumverteilung und
Proportionierung der Details zum Ausdruck: die klaren Teilungen der flachen
Gewölbe werden immer wieder durch eingefügte kleine Felder von anderer
Farbe unterbrochen; in einigen Rechtecken ist zum Beispiel durch dunkel -
grundige Eckbilder ein Kreuz als Hauptform betont. Als markige
Betonungen schieben sich Kartuschen, Eierstabfriese und andere Architektur¬
teile, ja auch figürliche Reliefs zwischen die Fresken. Und jedes Zimmer ist
nach einem andern Grundschema dekoriert. Am ärmsten erscheint dies in
der sogenannten Kapelle, am reichsten im ersten Zimmer, das von Barocci
entworfen und zum Teil gemalt ist.
Die Bedeutung dieses Urbinaten, der viel von Coreggio gelernt, aber
ein eigenes Schönheitsideal besessen hat, wird erst seit wenigen Jahrzehnten
voll gewürdigt (Schmarsows Forschungen haben das meiste dazu beige¬
tragen). Sein eigenhändiger Anteil hier verrät sich — außer in den zwei
bereits erwähnten Bildern der Gewölbespiegel in jenen graziös-majestätischen
Tugendgestalten, die in den Ecken je zwei und zwei ein Schild flankieren.
Die lockere Malweise, die virtuos-sichere Pinselführung und die zarten,
geschmackvollen Farben mit Schillertönen sind typisch für ihn. Aus gleicher
Zeit stammen seine Fresken im Museo Etrusco im Vatikan mit ähnlichen
allegorischen Figuren und Szenen aus dem Alten Testament. Daneben
verdienen die kleinen Landschaften, bei denen die Staffage nur Nebensache
blieb, als frühe Darstellungen dieser Art besondere Erwähnung. — Sehr
ähnlich dem ersten ist das zweite, etwas kleinere Zimmer in der Deckenein¬
teilung; im Treppenhaus und dem sogenannten Santi di Tito-Raum im oberen
Stockwerk erscheint sie schwerfälliger und weniger amüsant, der plastische
Schmuck dient hier lediglich als Umrahmung, ist aber derber und teilt des¬
halb die Fresken stärker voneinander; doch ist der Gesamteindruck nicht
ruhiger — nicht weniger barock — als in den unteren Räumen. Es ist gewiß
kein Zufall, daß hier die antiken Motive zurücktreten gegen Engelköpfchen,
Heilige und allegorische Gestalten; die Verwendung der eigentlichen Grot-
tesken bleibt auf die rahmenden und teilenden Streifen beschränkt. Auf
jeden Fall aber waren die Künstler, die das Kasino im oberen Stockwerk
vollendet haben, Barocci nicht ebenbürtig; und nicht nur, weil dessen Fresken
der Villa Pia einen gewaltigen Aufschwung seinen älteren Bildern gegenüber
bedeuten. Verschiedene Studien seiner Hand sind neben den Deckenent¬
würfen zum ersten Zimmer (in den Uffizien) auf uns gekommen: zwei für
die sogenannten Tugendgestalten und drei zur hl. Familie, die wahrscheinlich
noch nicht vollendet war, als er erkrankt die ewige Stadt verließ. Reicher
hat er auf dem zweiten Entwurf den Hintergrund der hl. Familie gezeichnet,
al& er im Fresko ausgeführt ist. Aber die Anordnung der Figuren ist hier
wie auch in der Verkündigung von erstaunlicher Kühnheit: starke Dia-
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
457
gonalen durchschneiden die Fläche, und die Lichtverteilung schafft auf
virtuose Art den Ausgleich. — Dann ging Barocci nach Mittel- und Ober¬
italien, um seine neu gewonnene Manneskraft in Schöpfungen wie der Kreuz¬
abnahme von Perugia, dann der Madonna del Popolo für Arezzo und seinen
späten Arbeiten für Genua und Loreto zu erweisen.
Das Kasino ist als Denkmal seines Könnens aus seiner älteren römi¬
schen Epoche von Bedeutung, aber ebensosehr als architektonische Leistung
aus der Mitte des Cinquecento. Zu ausschließlich hat man bisher die gro߬
artigen Schöpfungen eines Sangallo, della Porta und Vignola beachtet,
die ernste Wirkungen durch glatte Mauerflächen und die ökonomische Berech¬
nung der Schattenwirkung durch streng gebildete Pilaster, Säulen und schwere
Profile wie durch lastende Rustikateile erstrebten. Aber neben Bramantes
und Michelangelos Bauten in diesem Stil forderte im damaligen Rom auch
Raffaels Palazzo dell' Aquila zur Nachahmung auf. Das Prinzip, eine Fassade
mit Stuckreliefs ganz zu überspinnen, wie es auch die römische Kaiserzeit getan
hat, kehrt im Palazzo Spada wieder; und in diesen Zusammenhang wird
durch Fr. das Kasino Pius IV. eingereiht. Bei den Palästen ist freilich die
Rustika des Erdgeschosses in einen energischen Gegensatz zu den Reliefs am
oberen Fassadenteil gebracht und dadurch die einheitliche Wirkung gefährdet.
Am Gartenhaus durfte, ja mußte der Architekt auf solchen Kontrast ver¬
zichten, da es galt, ein heiteres Lusthaus, eine zierliche Architektur zu
schaffen. — Ähnliches gilt für die Gestaltung der Interieurs, die einerseits
mit dem Dekor der Villa di Papa Giulio zu vergleichen sind, und daneben
ein wichtiges Mittelglied zwischen den Sälen Pauls III. (f 1549) in der
Engelsburg und der 1573 vollendeten Sala Regia im Vatikan bedeuten.
Die Borgiagemächer sind bis vor wenigen Jahrzehnten Magazine der
päpstlichen Bibliothek gewesen. Dann aber, als ihre Bedeutung für die De¬
korationsweise der Renaissance erkannt war, brachte man jene Bücher¬
bestände in andern Räumen unter, stellte die Zimmer Alexanders VI. in
geschickter Weise her und machte sie dem Publikum zugänglich. Vielleicht
wäre es möglich, daß dem Kasino, das heute wie ein verwunschenes Dorn¬
röschenschloß in den päpstlichen Gärten liegt, ein ähnliches Glück zuteil
wird, oder daß wenigstens ernsthafte Forscher leichter Zugang zu ihm er¬
halten als bisher. Es würde die Bedeutung von Fr.s wertvoller Publikation
noch sehr erhöhen, wenn sie der Anlaß zu solcher Neuerung würde.
F. Schottmüller.
Karl Lohmeyer. Saarbrücken. In: Mitteilungen des rheinischen Vereins für
Denkmalspflege und Heimatschutz. Jahrg. 6, Heft I, 1912. 67 S. 4 Taf.
und 55 Abb.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
45 8
Besprechungen.
Lohmeyer, der durch sein treffliches Buch über J. Fr. Stengel und
dessen Haupttätigkeit in Saarbrücken das Interesse der Wissenschaft auf
diese Gegend gelenkt hat, unternimmt es, in dem vorliegenden Bändchen
eine kurz gefaßte, aber möglichst vollständige Aufzählung und Darstellung
der Kunstwerke dieser Stadt zu bieten. Aus der romanischen Epoche ist
außer einem auch ikonographisch sehr interessanten Grabstein des Kanonikus
Theoderich, datiert 1222, so gut wie nichts erhalten. Der Hauptbau der
Gotik ist die Arnualer Stiftskirche, deren Baugeschichte der Verf. dahin
berichtigt, daß er den Bau des Chors und Querschiffs von 1270 ab beginnen
läßt, dessen Langhaus er aber um 1313 und den Turm noch später ansetzt.
Unter den Hochgräbern der Saarbrücker Grafen aus dem Hause Nassau
würdigt er eingehender das des Grafen Johann III. (f 1472) und dessen
beider Gemahlinnen und stellt die sehr interessanten Beziehungen zu den
burgundischen Grabdenkmälern her. Als zweiter gotischer Bau erscheint die
Kapelle des Deutschherrenhauses, die um 1268 vollendet sein muß. Zum
Bau der Schloßkirche bringt der Verf. neue Archivalien bei, nach denen
die Kirche 1476 unter einem niclas steynmetz als buwemeister erbaut,
in der Zeit 1609—1615 — merkwürdigerweise in dieser Zeit — in gotischem
Stile umgebaut worden ist. Von gotischen Bürgerhäusern ist nur wenig
erhalten. Wichtig ist die Entzifferung Lohmeyers einer Signatur C. S. als
Christoph Strohmeyer auf einem der Reste eines stattlichen, um 1519 ange¬
legten Kreuzwegs. Unter den Renaissancebauten nimmt der Schloßbau
den ersten Rang ein. Nach kleineren Um- und Ausbauten setzt 1602 unter
Graf Ludwig eine Bauperiode ein, die zu einem Neubau des Schlosses führte.
Nach seither unbenutzten Akten stellt der Verf. fest, daß Heinrich Kempter
der leitende Baumeister des umfangreichen und prachtvoll ausgestatteten
Schlosses gewesen ist. Aus diesen Akten geht ferner hervor, daß ein mahler
Hans einen einst vielbewunderten Tugendsaal nach den Anleitungen des
Dr. Kordauer ausgemalt hat. 1617 war der Bau beendigt, der die ungeheure
Summe von 93 090 Gulden gekostet hatte. Heinrich Kempter verfertigte außer -
dem in St. Johann einen nun verschwundenen Brunnen. DieAdelshöfe undGrab -
denkmäler der Renaissancezeit werden daran anschließend eingehend ge¬
würdigt. Dankenswert ist der Fund des Verf. von Jan Robyns Künstler¬
zeichen w, das bei weiteren Forschungen zu wertvollem Anhalt dienen kann.
Nach den furchtbaren Zerstörungskriegen setzt erst unter der Regierung
der Witwe des Grafen Gustav Adolf, Eleonore Klara von Hohenlohe, eine
neue Bauperiode ein, sie berief den französischen Architekten J. C. Motte dit la
Bont6 zur Instandsetzung des zerstörten Schlosses, der auch die Pläne
für das von 1709 ab erbaute Schloß Haiberg lieferte. In diese Zeit fällt
die Tätigkeit eines bedeutenderen Bildhauers Pierard de Corailles aus Wil¬
helmsbronn. Er verfertigte 1700 das Denkmal des Grafen Gustav Adolf
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
459
und dessen Gemahlin Eleonora, Klara von Hohenlohe; das seines Herrn
des Grafen Ludwig Kraft (f 1713) und dessen Gemahlin, zwei prächtige
Barockgrabmäler. Auch das Grabmal des Reichsfreiherrn Henning von
Strahlenheim (f 1731) möchte der Verf. für Coraille in Anspruch nehmen.
Die Glanzzeit Saarbrückens fällt unter die Regierung Wilhelm Heinrichs
(von 1735 ab), der in der Wahl Joachim Friedrich Stengels als leitenden
Baumeisters für seine großzügigen Ideen äußerst glücklich verfuhr. Der
Verf. resümiert in diesem Teile aus seinen Spezialuntersuchungen, die an
diesem Orte schon besprochen sind.
Von den neuklassizistischen Bauten, die unter Wilhelm Heinrichs
Nachfolger, dem Fürsten Ludwig, entstanden sind, ist weder das Lustschloß
Ludwigsberg mit seinen sentimentalen englisch-chinesischen Gartenanlagen,
die Friedrich Koellner schuf, noch das Schauspielhaus, das Stengels Sohn,
Balthasar Wilhelm Stengel, erbaute, erhalten. Von Bildhauern arbeiteten
Heinrich Heideloff und der berühmte Pfälzer Konrad Linck in Saarbrücken.
Unter den Malern sind Kaspar Pitz und namentlich Johann Friedrich
Dryander zu nennen.
Nach den Revolutionskriegen beginnt erst um 1815 wieder ein Auf-
leben der Künste in Saarbrücken. Der Baumeister Joh. Adam Knipper baute
den in Ruinen liegenden rechten Flügel des Fürstenschlosses und ein Haus
für einen Handelsherrn- und Beigeordneten Koehl in einem interessanten
Gemisch von überlieferten Barockformen und Biedermeierrichtungen.
Mit dem klassizistischen Bau der Friedhofshalle des St. Johanner Gottes¬
ackers nach Entwürfen des Schinkelschülers Hild und des Kreisbau¬
meisters G. Bentzel 1843—1846 schließt der Verf. seine dankenswerten
Untersuchungen. Habicht.
G. Leidinger. Verzeichnis der wichtigsten Miniaturen-
Handschriften der Kgl. Hof - und Staatsbibliothek
Münch e n. München 1912. Riehn und Tietze. — G. Leidinger.
Miniaturen aus Handschriften der Kgl. Hof - und
Staatsbibliothek in München. Heft 1. Das sog. Evange-
liarium Kaiser Ottos III. Ebda. 52 Tafeln und Text.
Die erste der beiden Veröffentlichungen gibt ein Register der haupt¬
sächlichsten Miniaturenhandschriften in den reichen Beständen der Mün¬
chener Bibliothek, nach Ländern und innerhalb derselben zeitlich geordnet,
jede Nummer begleitet von kurzen Notizen über Provenienz, Schule und
Inhalt. Es ist zweifellos, daß das Heftchen als willkommener Führer viel
Zeit und Suchen ersparen wird. Für weitere Auflagen blieben daher
wenig Wünsche übrig, zunächst, die Disposition nicht rein geographisch zu
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
460
Besprechungen.
geben. Das karolingische Gallien mit seiner fränkischen Bewohnerschaft
ist doch viel mehr deutsch als französisch, und zwischen den unter Frankreich
auf geführten karolingischen und den ihnen folgenden französischen Hand¬
schriften ist innerlich kein Zusammenhang. Es würde sich vielleicht in Zu¬
kunft empfehlen, die karolingischen Hss. abzuscheiden und voranzustellen,
wozu der Internationalismus des Zeitalters durchaus das Recht gibt. Er¬
schwert wird die Übersicht in dem Heft auch durch das Fehlen der Cimelien-
Nummern, zumal man sich in der Kunstgeschichte gewöhnt hat, mit ihnen
zu zitieren. Die Charakteristik der einzelnen Handschrift ist stets klar und
knapp, wenn auch infolgedessen manchmal etwas apodiktisch; wenn die
Vögeschule durchweg als Reichenauer Schule bezeichnet ist, so dürfen
mindestens die Anführungszeichen nicht fehlen.
Die andere Publikation desselben Verfassers ist eine vollständige Ver¬
öffentlichung der Miniaturen in Cim. 58, angeregt durch die Publikationen
der Bibliothfcque nationale. Im Vergleich zu ihnen etwas teurer, hat die
vorliegende Ausgabe den Vorzug originalgroßer Publikation. Die Repro¬
duktionen sind so gut, als sich das mit der Autotypie irgend erreichen läßt;
allerdings gestattet das Verfahren manche Subtilität nicht, was bei der sehr
feinfühligen ottonischen Malerei die künstlerische Wirkung etwas beein¬
trächtigt. Mir ist besonders Taf. 20 (Fol. 32V) als verhältnismäßig flau
aufgefallen. Der Begleittext gibt in übersichtlicher Anordnung zunächst
eine Geschichte der Erforschung der Handschrift als allgemeine Literatur¬
übersicht, sodann spezielle Nachweise für jedes Blatt. Er zeichnet sich
durch erfreuliche Sachlichkeit und Knappheit aus; eine Charakteristik des
künstlerischen Wertes der Hs., die namentlich für den Laien erwünscht ge¬
wesen wäre, ist wohl absichtlich unterblieben, trotzdem sie auch für die in
der Einleitung hauptsächlich berührte Frage nach der Person des Kaisers
auf demWidmungsblatt wichtig gewesen wäre. Denn dieses Widmungsblatt
ist sicher von der Hand desselben Malers, der die letzten Blätter von Fol. 244
ab ausgemalt hat und sich durch seine buntstreifigen Hintergründe charak¬
terisiert. Der Hauptteil der Handschrift könnte also sehr wohl früher sein,
als das Kaiser-Porträt. Es ist zu erwarten, daß solche und noch wichtigere
Fragen durch diese Publikation auf eine breitere Basis der Erörterung ge¬
stellt werden, und daß sie und die anderen in Aussicht genommenen
Publikationen aus derselben Bibliothek für weitere Studien über Buch¬
malerei Anregung und Unterlage sein werden. Ernst Cohn-Wiener.
Paul Buberl, Die romanischen Wandmalereien im Klo¬
ster Nonnberg in Salzburg. Wien, Verlag von Anton Schroll
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
461
& Co. 1910. (Sonderausgabe aus dem Kunstgeschichtlichen Jahrbuch
der K. K. Zentralkommission für Kunst- und historische Denkmale.)
Über die wichtigen Wandmalereien im Westbau des Klosters Nonnberg,
die Gustav Heider (im Jahrbuch der K. K. Zentralkommission II, 1857,
S. 18) zuerst in die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts datiert hatte, während
A. Huber (in den Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landes¬
kunde XI, 1871, S. 60) sie in das 8. oder 9. Jahrhundert verlegt hatte, hat
Dr. Paul Buberl in der oben genannten Veröffentlichung eine umfängliche
und abschließende Untersuchung vorgelegt, die in vieler Hinsicht als muster¬
gültig und vorbildlich für die Publikation von Wandmalereien des Mittel¬
alters bezeichnet werden kann. Die großen Darstellungen von Heiligen in
steifer und feierlicher Frontstellung sind jedem Besucher der merkwürdigen
Nonnbergkirche bekannt. Der kunstgeschichtliche Wert dieser Bilder wird
dadurch erhöht, daß sie weder in den nachmittelalterlichen Jahrhunderten
eine Übermalung noch im letzten Jahrhundert eine Restauration haben
erleiden müssen — ein Glück, dessen sich nur wenige nordische Denkmäler
rühmen können. Große, ausgezeichnete Lichtdrucktafeln, die jetzt auch in
dem 7. Bande der österreichischen Kunsttopographie, der ausschließlich die
Denkmäler des adligen Benediktinerfrauenstifts Nonnberg behandelt, Auf¬
nahme gefunden haben, erläutern die Darstellung. Sehr wertvoll sind hier
vor allem die Details und die großen Aufnahmen der Köpfe.
Buberl verlegt diese Wandmalereien in die Zeit um 1145 und in die
Regierungszeit des Salzburger Erzbischofs Conrad I. (gest. 1147), der die
umfangreichste Bautätigkeit in Salzburg entfaltet hat. Die hier angezogene,
von Esterl in seiner Chronik von Nonnberg überlieferte Nachricht über die
Weihe von drei Altären in der Klosterkirche im Jahre 1140 bezieht sich
allerdings, wie P. Joseph Strässer in den Studien und Mitteilungen zur Ge¬
schichte des Benediktinerordens Bd. XXXII, 1911, S. 158, berichtigt hat,
auf 1151. Es wird hier eine umfassende Restauration in Altarweihetafeln
erwähnt. Wenn man auch die Entstehung der Wandmalereien um einige
Jahre später ansetzen wird, so bleibt sie doch für uns die höchste monumen¬
tale Leistung dieser Salzburger Malerei um die Mitte des 12. Jahrhunderts.
Auch der Vergleich mit den bekannten großen Salzburger Prachthand-
Schriften, über die Buberl schon vor dem Erscheinen von Swarzenskis aus¬
gezeichnetem Tafelband in einem Aufsatz im Kunstgeschichtlichen Jahr¬
buch der Zentralkommission 1907 geschrieben hat, bestätigt nur diese An¬
setzung. Buberl weist auf die Admonter Riesenbibel und das bekannte
Antiphonar von St. Peter in Salzburg hin, das nach dem Schriftcharakter
(nach Chrousts Annahme) schon unter dem Abt Balderich (etwa 1125—1147)
entstanden ist. Wenn man die große Tafel in Chrousts Monumenta palaeo-
graphica I, Serie I, mit der Darstellung des hl. Petrus zwischen den Heiligen
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
462
Besprechungen.
Rupertus und Amandus mit jenen Nonnberger Bischofsfiguren vergleicht,
so wird man in der Tat die Schulzusammenhänge sofort erkennen. Man
könnte auch an die Köpfe in dem Passauer Evangelienbuch (München Clm
16 003) und in dem Perikopenbuch von St. Ehrentrud (München Clm 15 903)
oder in dem Passauer Perikopenbuch (München Clm 16002) erinnern (vgl.
die Tafeln 64 und 90 bei Swarzenski, Salzburger Buchmalerei).
Die Bestimmung des Raumes, in dem sich die Wandmalereien befinden,
der von Buberl noch als Turm bezeichnet wird, ist von dem gelehrten Heraus-
geber der Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens
(XXXII, 1911, S. 158), dem P. Joseph Strasser, richtiggestellt worden: es
handelt sich um den Westabschluß, den alten Nonnenchor, der für das Chor¬
gebet der Nonnen diente. Der Raum verlor seine Bedeutung, als der jetzt
noch bestehende Nonnenchor über dem alten auf schweren Gewölben und
Untermauerungen in den Jahren 1416—1418 aufgeführt ward — eine Folge
der Reform vom Anfang des 15. Jahrhunderts, die die Aufgabe des Chores
zur ebenen Erde und angesichts der Laienbesucher verlangte.
• •
Von besonderer Bedeutung sind dann noch die Äußerungen über die
Herkunft des Stiles dieser Salzburger Malerei. Was den Bischofsfiguren
ihren besonderen Charakter gibt, ist die auffällige Verwandtschaft mit
byzantinischen Werken. Die allgemeine Übereinstimmung mit den großen
Einzelfiguren in Daphni und Hosios Lucas leuchtet sofort ein. - Für den
starken Einschuß byzantinischer Formanschauung im 12. Jahrhundert,
vor jener dann am Ende des Jahrhunderts einsetzenden byzantinischen
Renaissance in Deutschland, gibt die Salzburger Schule wohl die wichtigste
Vermittlung ab. Die Beziehung dieser Schule zur älteren Regensburger
Malerei und zu den sonstigen süddeutschen Zentren im einzelnen zu schil¬
dern, wird die Aufgabe jenes von uns so schmerzlich vermißten Textbandes
zu Swarzenskis Tafelwerk sein. Auf welchem Wege gerade in Salzburg
diese byzantinische Kunst eingedrungen ist, scheint ziemlich klar zu sein.
Salzburg hat in der Mitte des 12. Jahrhunderts mit Venedig und Aquileja
in engen Beziehungen gestanden, dorthin werden fähige Landeskinder in
die Lehre geschickt (über diese Beziehungen vgl. Strasser a. a. O., S. 161,
Anm. 3). Venedig und Aquileja waren die großen Sammellinsen für die
Kunst des Südostens. Hierzu wären die Bemerkungen von Josef Strzy-
gowski in der Besprechung der Buberischen Arbeit in der Byzantinischen
Zeitschrift XIX, S. 661, zu erwähnen. Es ist interessant, zu verfolgen, wie
anders die byzantinischen Einflüsse in der gleichen Zeit, durch andere künst¬
lerische Zwischenstationen vermittelt, sich in dem südlichen und mittleren
Frankreich zeigen. Im Chor von Saint-Romain-le-Puy befinden sich bei¬
spielsweise Figuren von Bischöfen in Frontstellung, die man mit jenen in
Salzburg vergleichen könnte (D 4 chelette et Brassart, Les peintures murales
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
463
du moyenäge et de la renaissance en Forez, Montbrison 1900, p. 23), aber
von wesentlich anderer Art.
Wie die Kunst der österreichischen Alpenländer, zumal Südtirols,
viele Beziehungen zu dieser byzantinischen Kunst aufweist, deutet Buberl
am Schlüsse seiner Abhandlung an. Es wäre dringend zu wünschen, daß
dieser junge Gelehrte, der das vortreffliche historische und archäologische
Rüstzeug der Dvorakschule mitbringt, seine Studien auf diesem Gebiete
weiterführte und zum Abschluß brächte. Paul Clemen.
August L. Mayer, Die Sevillaner Malerschule. Beiträge zu
ihrer Geschichte. Mit 70 Abb. Leipzig 1911. Verlag von Klinkhardt
und Biermann. (XII, 226 S.; 60 Taf.)
Der Verf. leitet seine Arbeit mit einer kurzen Betrachtung über die
Organisation und die Praktiken der Sevillaner Malerzunft ein, zählt im
Anschluß daran die in Quellen genannten Meister des 15. Jahrh. auf, von
denen uns Werke nicht erhalten sind, und geht dann des näheren auf die
Bilder ein, die an den Anfang der Entwicklung der Malerei in Sevilla zu
gehören scheinen. Als eigentlicher Begründer dieser Schule wird darauf
Juan Sanchez de Castro eingehender besprochen, Juan Nufiez ihm als
Schüler beigesellt und dann die Bedeutung des Alexo Femändez Aleman,
des ersten ausgesprochenen Renaissancekünstlers, hervorgehoben. Schlie߬
lich finden in diesem Kapitel noch einige Daten über die Künstlerfamilien
Mayorga und Guadalupe Berücksichtigung.
Der folgende Abschnitt ist den »Romanisten« des 16. Jahrh. gewidmet,
wobei den mehr oder weniger unter italienischem Einfluß stehenden ein-
gewanderten Niederländern (Ferdinand Sturm, Franz Frutet, Peter Kem-
peneer u. a.) eine einheimische, von ähnlichen Tendenzen beherrschte Gruppe
gegenübergestellt wird, als deren Vertreter wir Luis de Vargas, Villegas
Marmolejo, Vasco Pereyra, Alonso Visquez und vor allen Francisco Pacheco
anzusehen haben. Als Künstler von nationaler Bedeutung, der die Malerei vor
der drohenden Erstarrung rettet und ihr neue, vielversprechende Wege wies,
wird sodann Juan de Ruelas gebührend gewürdigt und auch seinem Schüler
Pablo Legote eine große Bedeutung beigemessen. Das nächste Kapitel be¬
schäftigt sich mit dem älteren Herrera und seinem Kreis, der den Übergang
zum großen Stil des 17. Jahrhunderts vermittelt; weiterhin wird uns dann
dieser selbst in den drei Koryphäen vorgeführt, die er gezeitigt hat: Zur-
baran, Velizquez und Murillo. Die Behandlung der beiden großen »Klas¬
siker« der spanischen Malerei ist, wie wohl nicht anders zu erwarten stand,
einigermaßen summarisch ausgefallen; jedem von ihnen sind nur 7 Seiten
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
464
Besprechungen.
gewidmet, auf denen gerade das Notwendigste gesagt werden konnte, was
zu ihrem Verständnis innerhalb der ganzen Schulentwicklung nötig war.
Man wird aber dem Verf. zustimmen, daß er sich hier eine weitgehende
Reserve auferlegten mußte; anderenfalls wären diese Kapitel zu vollstän¬
digen Monographien ausgewachsen und damit der Charakter des Buches
wesentlich von ihnen bestimmt worden. Um so dankbarer wird man die
Ausführlichkeit begrüßen, mit der Vald6s Leal, der wenig bekannte und
als Gegensatz zuMurillo besonders interessierende letzte hervorragende Ver¬
treter der Sevillaner Schule bearbeitet ist. Im Anhang folgt noch eine
Reihe von Dokumenten mit wichtigen Daten über einige der besprochenen
Künstler.
Das Bild, das in diesem Buche von der wichtigsten Malerschule Spa¬
niens entworfen wird, weicht in seinen großen Zügen kaum wesentlich ab
von demjenigen, das wir aus den Angaben des alten Bermüdez, aus den
Forschungen von Jos6 Gestoso y P£rez und aus dem einleitenden Kapitel
in Justis Veldzquez bisher gewinnen konnten; im einzelnen wird man aber
viele neue Resultate feststellen können, die sowohl der sorgfältigen Ver¬
wertung der neueren Spezialliteratur wie auch den eigenen eindringenden
Untersuchungen des Verfassers zu danken sind. Dabei ist es nicht ohne
einige kühne Attributionen abgegangen, die, wenn die Zahl der Kunst¬
historiker auf diesem Gebiete erst gestiegen sein wird, zu lebhaften Dis¬
kussionen Anlaß geben dürften.
Die schwache Seite dieser Publikation liegt in dem beigegebenen Bild¬
material, das gerade bei einem so wenig geläufigen Thema gar nicht reichlich
und vorzüglich genug hätte geboten werden können. Ist es an sich schon
beklagenswert, daß die Erlangung von Photographien nach Kunstwerken
in Spanien mit besonderen Schwierigkeiten verknüpft ist, so hätte wenig¬
stens das leider recht Wenige, das der Verf. an Vorlagen beizubringen in
der Lage war, eine in jeder Hinsicht tadellose Reproduktion verdient. Der
Verlag hat sich aber seine Aufgabe etwas zu leicht und zu billig gemacht,
indem er eine große Zahl von Klischees, so wie sie früher in einzelnen Auf¬
sätzen in den Monatsheften für Kunstwissenschaft erschienen waren, wieder
zum Abdruck brachte; daß diese, nachdem sie durch die ganze Auflage
der Zeitschrift gegangen waren, abgesehen von dem oft lächerlich kleinen
Format, an Schärfe und Deutlichkeit zu wünschen übrig lassen, dürfte
danach nicht wundernehmen. Der König von Spanien, dem die Arbeit
gewidmet ist, wird jedenfalls von der illustrativen Leistung nicht über¬
mäßig entzückt gewesen sein.
Ernst Kiihnel.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
465
Siegfried Weber. Die Begründer der Piemonteser Maler ¬
schule im XV. u n d zuBegiandes XVI. Jahrhunderts.
(Zur Kunstgeschichte des Auslandes. Heft 91.) Straßburg, J. H. Ed.
Heitz 1911. 124 S. mit XI Taf.
In dem kurzen Vorwort hebt Verf. mit Recht hervor, daß die Maler¬
schule Piemonts, von guten lokalgeschichtlichen Arbeiten abgesehen, keine
Behandlung gefunden habe. Für das mangelnde Interesse, dem diese kleine
Künstlergruppe im allgemeinen begegnet ist, spricht kein Umstand deut¬
licher, als daß sie in Crowe und Cavalcaselles Werk fehlt: ein Umstand,
der zweifellos die folgende, sonst so überaus tätige Forschung abgehalten
hat, sich mit ihr zu beschäftigen. Denn Künstler behandeln, die in dem
grundlegenden Buch über italienische Malerei fehlen, heißt all die müh¬
seligen Vorarbeiten selbst tun, die jene Autoren in der Mehrzahl der Fälle
erschöpfend geleistet haben.
Freilich nicht nur die Scheu vor der großen Mühe solcher Vorarbeiten
allein erklärt die Zurückhaltung der Forscher; es kommt hinzu, daß die
abseits von der großen Heerstraße, auf der alle Italienbesucher daherziehen,
gelegene Provinz durch ihre Monumente weniger lockt: denn die Kunst
Piemonts ist auch im besten Fall stets Provinzkunst geblieben.
Doch bevor ich mich hier auf einen vom Verf. abweichenden Stand¬
punkt stelle, wird ein kurzes Referat über den Inhalt seines Buches am
Platz sein. Die künstlerischen Bestrebungen haben hier erst spät einge¬
setzt; die ältesten Zeugnisse sind meist handwerksmäßige Fresken von
steifen Formen. In Vercelli, wo eine Malerschule schon in früher Zeit
existiert hat, ist durch den daselbst 1377 nachweisbaren Barnaba da Modena
und durch andere, toskanische und lombardische Meister künstlerisches
Leben erwacht; als eigentlicher Begründer der Malerschule von Vercelli hat
aber Boniforte Oldoni d. Alt. (geb. 1412 in Mailand) zu gelten. Von nam¬
haften Wandmalereien Piemonts werden die mehrfach behandelten Fresken
im Castello di Manta, ferner Reste im Palazzo d’Acaja zu Pinerolo und die
Arbeiten des vielfach in Ligurien tätigen Giovanni Canavesio namhaft ge¬
macht, dessen 1482—1499 datierte Werke vom Verf. sorgfältig besprochen
werden. Ihm wird die Rolle eines Bahnbrechers in seiner Heimat zuerkannt,
weil er stärkere n Realismus anhing und damit größeren Meistern am Anfang
des 16. Jahrhunderts die Wege ebnete.
Als »erster, wirklich bedeutender Künstler Piemonts« wird dann
Gian Martino Spanzotti behandelt, dessen Schaffen in neuerer Zeit Beach¬
tung gefunden hat, weil er als Sodomas Lehrer ein allgemeines Interesse
beansprucht (Daten 1481—1524). Auf Grund eines 1899 für die Pinakothek
in Turin erworbenen signierten Bilder ist es möglich gewesen, ihm andere
Arbeiten zuzuweisen; Verf. bereichert die Liste um eine Anbetung des
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
466
Besprechungen.
Kindes in Trino-Vercellese bei Casale. Gleichzeitig mit Spanzotti wirkt
in Vercelli Eusebio Ferrari, dessen einzig beglaubigtes Werk vor fast zwanzig
Jahren von Franz Rieffel zuerst in dieser Zeitschrift bekannt gemacht
wurde (Repert. XIV, S. 278). Verf. weist diesem Künstler neue Arbeiten
im Privatbesitz in Casale-Monferrato und in Chieri bei Turin zu. Doku¬
mentarisch ist er von 1508—1526 nachweisbar.
Nun folgt derjenige Maler, den Verf. als »bedeutendsten und ersten
Künstler der Piemonteser Schule« ansieht, Macrino d'Alba (gest. 1528).
Seine Werke zeigen so auffallende Anklänge an Luca Signorellis Stil, daß
man ein direktes Schulverhältnis anzunehmen genötigt ist: Verf. ist der
Ansicht, daß Macrino in Rom bei dem Meister von Cortona gelernt habe,
einmal wegen der römischen Reminiszenzen auf den Hintergründen seiner
Bilder, dann weil sich noch heutigen Tages ein Bild von ihm in Rom be¬
findet, nämlich in der kapitolinischen Galerie. Ein Aufenthalt in Rom
würde auch die deutlichen Spuren eines Einflusses, speziell durch die Kunst
des Pinturicchio, ungezwungen erklären. Macrinos frühestes datiertes
Bild ist eiiT Altai werk in der Certosa bei Pavia von 1496, dem mehrere da¬
tierte Arbeiten folgen. Mit 1501, aus welchem Jahr ein großes Bild im
Rathaus in Alba stammt, läÖt Verf. die erste Periode seines Schaffens zu
Ende gehen; die zweite, durch künstlerisch freiere Gestaltung ausgezeichnet,
repräsentieren wiederum mehrere Altarwerke; als seine reifste (und daher
späteste) Arbeit sieht Verf. das Triptychon im Städelschen Museum an.
Anhangsweise wird eine Reihe von Bildern, die unter dem Einfluß dieses
Hauptmeisters entstanden sind, besprochen.
Von Eusebio Ferrari nimmt Defendente Ferrari, wahrscheinlich aus
Chivasso, seinen Ausgangspunkt. Sein frühestes datiertes Bild (von 1511)
bewahrt das Kaiser Friedrich-Museum in Berlin. Eine Reihe von großen
Altarwerken zeigen seinen — unschwer erkennbaren — Stil; zumeist haben
sie, am ursprünglichen Ort erhalten, ihre überaus prächtigen geschnitzten
Rahmen bewahrt. Das letzte datierte Werk in der Pfarrkirche von Avi-
gliana trägt das Datum 1535. In den späteren Werken machen sich Anklänge
an die venezianischen Meister des Bellini-Kreises bemerkbar.
An Macrino und Defendente schließt sich Jacobino Longo aus Pinerolo
(datierte Werke 1517—1542) an. Eine weitere Künstlerpersönlichkeit
dieser Epoche ist der Io. Peroxinus signierende Maler (tätig um 1520).
Die Schule von Vercelli endigt, bevor sie in der Hochrenaissance in
Gaudenzio Ferrrari ihre größte Begabung ins Feld stellt, innerhalb der
Frührenaissance mit Girolamo Giovenone (nachweisbar seit 1513, gest. 1 557 )*
Auch er gehört durch die Vertretung, die er in der Piemonteser Zentral¬
galerie in Turin gefunden hat, zu den allgemeiner bekannten Meistern dieser
Schule; die Hauptzahl seiner Werke aber muß man in dem Wohnort des
Künstlers, Vercelli, aufsuchen.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
467
Mit diesem Meister schließt Verf. seine Betrachtungen, die er in einem
kurzen Nachwort zusammenfaßt, ab.
Man muß dieses Buch als eine Bereicherung der Literatur über
italienische Malerei in der Renaissancezeit ansehen, als es, wie gesagt, die
erste zusammenfassende Behandlung der Piemonteser Schule ist 1 ). Man
darf dem Verf. auch gern nachrühmen, daß er sich sowohl den Inhalt der
Lokalliteratur zu eigen gemacht, als die Mühe nicht gescheut hat, in den
kleinen Ortschaften nach den Werken der Meister, die er bespricht, zu
suchen. So erweitert er, wie angedeutet, wiederholt die Zahl der bekannten
Arbeiten, gruppiert, scheidet Meister- und Schülerhand. Ihm hier im ein¬
zelnen nachzugehen verbietet dem Referenten mangelnde Autopsie der
meisten besprochenen Bilder; die dankenswerten Abbildungen reichen nicht
immer aus, um darauf kritische Bemerkungen zu begründen.
So sollen sich ein paar kurze Ausstellungen nach anderer Richtung
bewegen. Verf. verfällt in den bekannten Fehler aller, die ein Neuland
zu erobern gedenken; er überschätzt das von ihm mit so viel Mühe Ge¬
wonnene. Auf keinen dieser Piemonteser Meister sollte man das Beiwort
genial anwenden; und die Behauptung, daß Macrino die Schule »auf die
gleiche Höhe, wie die Malerei im übrigen Italien gebracht« habe, ist wirk¬
lich nicht aufrecht zu erhalten. Denn gerade das, was eine Schule vom all¬
gemeineren Standpunkt aus bedeutsam macht, fehlt hier völlig: die Ein¬
wirkung nach außen. Sie nimmt zwar eine (wenn auch recht bescheidene)
»selbständige Stellung neben den anderen Malerschulen Italiens« ein, sie
hat ein gewisses Lokalkolorit; aber wenn man sie ganz auslöschte, würde
auch nur ein Zug in dem Bild der Gesamtentwicklung der italienischen Kunst
fehlen? Deshalb, in dieser ganz richtigen Erkenntnis von der historischen
Bedeutungslosigkeit der Schule haben die großen Historiographen der ita¬
lienischen Malerei es gewagt, sie einfach bei Seite zu lassen. Man denke nur,
was zu der Zeit, als Macrino, Defendente, Giovenone noch im ruhigen Stil
einer vergangenen Epoche schufen, anderwärts für eine große Kunst schon
fast im Erlöschen war ! Und dann: darf der ein Meister genannt werden, der
wie Macrino nicht nur von drei oder vier Schulen beeinflußt worden ist
(»dem Stil seiner Bilder nach zu urteilen, scheint er nur wenig von der mai¬
ländischen, hauptsächlich jedoch von der Florentiner, der venezianischen
sowie vor allem von der umbrischen Schule beeinflußt zu sein«), sondern
sein ganzes Leben hindurch die Spuren seiner künstlerischen Herkunft in
einem eigenen, neuen Stil nicht zu verwischen vermochte?
*) Wenn ich hier auf ein neuerdings in »L’Arte« (fase. III von 1912, S. 222)
erschienene, im wesentlichen ungünstige Besprechung des Weber’schen Buches verweise,
so geschieht es namentlich, um mein Bedauern über ihren chauvinistischen SchluS
auszudrücken.
Repertorium für Kunstwissenschaft XXXV.
31
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
468
Besprechungen.
Und nun noch ein paar Einzelheiten. Wissenschaftlich am wenigsten
gefallen will mir der Abschnitt, der Macrino behandelt. Während nämlich
Verf. sehr sorgfältig alles aufgesucht hat, was in Piemont selbst zu finden
ist, auch den kleinen Besitz deutscher Galerien wohl kennt, übergeht er
ganz, was in weitere Ferne entrückt ist, nämlich nach Amerika, trotzdem
er in der ihm bekannten Liste von Berenson (North Italian painters S. 252)
den Hinweis darauf fand. Nun kann man gewiß nicht verlangen, daß der
Verfasser einer Monographie eine Reise nach Amerika unternimmt; da aber
hier der besondere Fall eintritt, daß das früheste und das späteste datierte
Werk — beides große Altarbilder — an das Ausland verloren gegangen ist,
hätte Verf. die Pflicht gehabt, sich Abbildungen oder wenigstens Notizen
darüber zu beschaffen. Aber einfach beginnen: „am frühesten erscheint
des Künstlers Name mit der Jahreszahl 1496 auf einem Altarwerk in der
Certosa von Pavia«, während ein ihm autoritativ gegebenes Werk (large
altarpiece, sagt Berenson) von 1494 in Philadelphia existiert, das halte
ich für unzulässig. Und wie dieses Hinweggehen zu irrigen Schlüssen ver¬
leiten kann, lehrt gerade die Behandlung des gleichen Malers. S. 53 schließt
Verf. die Besprechung der ersten Periode mit den Worten, daß er »nie wieder
eine so sklavische Nachbildung eines seiner eigenen Werke geschaffen habe,
wie in dem zuletzt besprochenen Gemälde«. • Wie verhält es sich in Wahr¬
heit damit ? In San Giovanni zu Alba befindet sich eine hübsche »Anbetung
des Kindes«, die Verf. 1504 datiert. Eine genaue Wiederholung der Haupt-
gruppe, sowie der Figur Josephs gestattet sich Macrino auf einem 1506
datierten Bilde, das sich in der Historical Society in New York befindet und
durch die Abbildung in der Rassegna d'Arte 1907, S. 43 jedermann zugäng¬
lich gemacht ist. Nicht ganz richtig ist es auch, das im Privatbesitz in Rom
befindliche Bildnis als Selbstporträt zu behandeln; darüber hätte die Form
der Inschrift belehren können, wie mit Recht kürzlich bemerkt worden ist
ßurl. Magazine April 1912 S. 53). Wenn ferner Verf. bei dem Turiner Bild
des Macrino von 1498 auf das Vorbild Carpaccios für den Mandoline spie¬
lenden Engel verweist und dabei die »Darstellung Christi« in Venedig an-
führt, so übersieht er, daß dieses Werk erst 1510 entstanden ist.
Endlich möchte ich glauben, daß Verf. sich irrt, wenn er dem Jo¬
hannes Peroxinus den Familiennamen »Jungi« beilegt. Ich vermute, daß
sich hinter der seltsamen Form nichts anderes verbirgt, als der Monatsname;
wenigstens würde die Inschrift »Jo. Peroxini Jungi 1517« ein Unikum in der
Inschriftenkunde sein, wenn der Maler wirklich zwischen Tauf- und
Familiennamen den Ursprungsort eingeschoben haben soll. Vor der Hand
wird man also besser tun, den »Jungi« nicht in die Künstlerlisten auf¬
zunehmen !
Zum Schluß ein paar Andeutungen, die vielleicht andere veranlassen,
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
469
sich mit diesen Fragen weiter zu befassen. Was Verf. nur streift, scheint
mir bei dieser Schule besonders interessant: ihre starke Beziehung zu den
nordischen Schulen, namentlich auch zur deutschen Kunst. Defendente z. B.
in seinem bekannten Stuttgarter Bild, Giovenone in den Stiftern des Turiner
Altars haben geradezu etwas Holbeinisches. Das Motiv des Kindes auf dem
Altar Cranachs in Frankfurt kommt meines Wissens nirgends so ähnlich
vor, wie auf den beiden Bildern von Macrino in Rom und Turin. Sind
dies nur parallel laufende Entwicklungen, zufällig ähnliche Lösungen der
gleichen Aufgabe, etwa durch ein gemeinsames Urbild angeregt? Es scheint
mir, daß hier noch Probleme der Untersuchung harren, die der Piemonteser
Malerschule, historisch gefaßt, zu einer Bedeutung verhelfen könnten, die
ihr an und für sich und im großen Ganzen der italienischen Kunst nicht
zukommt. Gronau .
Paul Frankl. Die Glasmalerei des fünfzehnten Jahr¬
hundertsin BayernundSchwaben. XI u. 233 S., 18 Licht-
drucktafeln. Studien zur deutschen Kunstgeschichte, Heft 152. Straß -
bürg, J. H. Heitz, 1912.
Noch unter Berthold Riehl als Münchner Dissertation entstanden,
bekundet die vorliegende, bereits vor zwei Jahren im Manuskript vollendete
Arbeit in seltenem Maße den Gewinn, den die Schüler aus den Riehlschen
Seminaren gewinnen konnten. Die unermüdliche, das Kleinste nicht gering
achtende Forschungsweise, die Wanderung auf dem Lande selbst, zu der
der Verstorbene beständig anregte, haben auch den Verfasser befähigt,
ein wichtiges Kunstgebiet gewissermaßen neu aufzubauen. Nicht nur wird
ein umfangreiches, aus Inventaren, zerstreuten Aufsätzen und Abbildungen
bloß teilweise bekanntes Material an schwäbisch-bayerischen Glasgemälden
seit dem Ende des 14. Jahrhunderts bis in die dreißiger Jahre des 16. Jahr¬
hunderts mit größter Sorgfalt, unter mühsamen Rekonstruktionsversuchen
der vielfach in unrichtigen Zusammenhang geratenen Fensterzyklen zusam¬
mengetragen, sondern gleich in Schul-, ja in Meistergruppen geordnet. Den
Medaillonmeister von 1395 (im Mittelchorfenster der Frauenkirche, im Augs¬
burger Domchor nach 1397, Marienfenster in der Benediktuskirche in Frei¬
sing um 1400, im Ulmer Münsterchor und a. a. 0 .) stellt den Zusammenhang
mit der süddeutschen Schule der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts her,
deren Hauptschöpfung in Bayern die Fenster der Regensburger Minoriten¬
kirche (um 1360—70; im Bayr. Nationalmuseum sind; in Schinnerers
Katalog Nr. 22—88. Im zweiten Abschnitt werden die Glasgemälde in
Schwaben bis zum Auftreten des Hans Wild aufgeführt; die hervorragendsten
sind die für die Geschichte der Bodenseemalerei um 1410—30 wichtigen
3 «*
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
47°
Besprechungen.
Fenster der Pfarrkirche zu Eriskirch am Bodensee und zu Ravensburg und
der für die schwäbische Malerei unter Moser wertvolle umfangreiche Zyklus
der Besserer-Kapelle am Ulmer Münster um 1430. In Bayern vertreten
Ten Stil der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts vor allem die Fenster der
Tillykapelle zu Altötting von 1426, und die 1447 datierten, von Heinrich
dem Reichen von Niederbayern (Landshut) gestifteten Fenster jetzt in der
Kirche zu Jenkofen. Während die reiche Produktion der zweiten Hälfte
des 15. Jahrhunderts in den oberbayerischen Gebieten, mit Ausnahme
einer Gruppe wohl schwäbischer Fenster in der Münchner Frauenkirche,
einen derbprovinziellen Charakter annimmt (Abschnitt IV), steht um 1470
in Schwaben, zuerst in Urach, der Glasmaler Hans Wild auf (Abschnitt V),
dessen Hauptschöpfungen seit je als Meisterwerke ersten Ranges gepriesen
worden. Dieser Abschnitt, der mit guten Abbildungen gesondert im laufen¬
den Jahrgang des Jahrbuchs der preuß. Kunstsammlungen abgedruckt ist,
stellt ein großes Verdienst dar; die Fenster in der Taufkapelle der Stifts¬
kirche zu Urach, im Chor der Stiftskirche in Tübingen, im Ulmer Münster¬
chor (mit der Bezeichnung Hans Wild 1480), die durch Brand vernichteten
der Magdalenenkirche zu Straßburg, das Volkamerfenster im Lorenzchor in
Nürnberg, die kürzlich in dem österreichischen Inventar veröffentlichten
Fenster auf dem Nonnberg in Salzburg und zahlreiche andere in Elsaß,
Schwaben, Bayern und Franken, auch in Museen zerstreute Schöpfungen,
durchgängig höchster Qualität, sind durch Frankl auf diese eine Werkstatt
zweifellos konzentriert worden. Im sechsten Abschnitt wird der neben
Wild in der Münchner Frauenkirche tätige Meister des Bibelfensters, im
siebenten die Auflösung des spätgotischen Stiles und das Auftreten der
Renaissance in der Glasmalerei dargestellt. Augsburg (Holbein der Ältere)
und Landshut (Hans Wertinger) werden vorübergehend Mittelpunkte der
Glasmalerei in diesen Landschaften. Wäre dem Verfasser, wie für sein Wild¬
kapitel, für die übrigen Kapitel eine Publikation mit brauchbaren Abbil¬
dungen ermöglicht worden, so hätte die Arbeit den wichtigen Publikationen
Brucks über die elsässische und Lehmanns soeben abgeschlossener über die
Glasmalerei in der Schweiz an Bedeutung für die Geschichte der deutschen
Glasmalerei und Malerei nichts nachgegeben. Am Schluß versucht der Ver¬
fasser allgemeinere Aussichten auf die Glasmalerei der Renaissance und
Folgezeit zu gewinnen; zur Erklärung dieser Vorgänge indes sind seine
Erörterungen vom historischen und vom ästhetischen Gesichtspunkt aus
ungenügend. Das große Verdienst dieser Arbeit, der hoffentlich bald weitere
über dieses schwierige, aber wie kein zweites dankbare Forschungsgebiet
folgen, wird dadurch nicht geschmälert. H. Schmitz.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
471
Willy Hes. Ambrosius Holbein. Straßburg. J. H. Ed. Heitz. 1911.
Der Name des Ambrosius Holbein ist nur im Zusammenhänge mit
dem des berühmteren Vaters und des berühmtesten Bruders der Nachwelt
überliefert, und es wird niemals möglich sein, seinen Anteil an dem Gesamt¬
werk der Holbein reinlich auszuscheiden. Der Porträtkunst des Vaters danken
wir es, daß wir von der äußeren Erscheinung des Ambrosius wenigstens in den
Jugendjahren mehr Zuverlässiges wissen als von seiner künstlerischen Persön¬
lichkeit. Auf dem Bilde der Paulusbasilika in Augsburg hat sich der Vater
mit den beiden Söhnen Ambrosius und Hans abkonterfeit, und eine Hand¬
bewegung scheint darauf zu deuten, daß ihm der jüngere, Hans, in dem man
danach ein künstlerisches Wunderkind vermuten mag, von den beiden der
rechte zu sein schien. Es folgt die Silberstiftzeichnung des Berliner Kupfer¬
stichkabinetts, die »Prosy« und »Hanns« im Alter von 17 (nach Hes' viel¬
leicht richtiger Lesung) und 14 Jahren darstellt. Hes, der zum ersten Male
den Versuch unternimmt, dem Ambrosius eine eigene Monographie zu wid¬
men, fügt diesen beiden sicheren Dokumenten einige weitere Köpfe aus
dem Werke des älteren Holbein an, in denen er die Züge des Sohnes wieder¬
finden will. So zunächst die andere Zeichnung des Berliner Kabinetts mit
zwei im Profil einander zugewandten Kinderköpfen. Die Ähnlichkeiten
sind aber nur ganz oberflächliche, und die Vermutung, daß es sich um die
zwei gleichen Knaben handle, bleibt unbewiesen. Noch weiter ab führt
eine Zeichnung in Basel, die mit den zwei gesicherten Porträts kaum noch
eine Ähnlichkeit aufweist. Daß dieser Kopf dann in Beziehung steht mit
dem Johannes auf der Tuschzeichnung des Marientodes in Basel, wäre an sich
möglich, wenn auch nicht notwendig. Von Porträtähnlichkeit kann aber
bei diesem Johannes überhaupt keine Rede mehr sein. Der Kopf stellt die
Verarbeitung zu einem Typus dar, eine Steigerung ins fast Karikaturhafte,
wie sie bei dem älteren Holbein nicht selten zu finden ist. Von hier aus
geht Hes nochmals weiter und zieht auch den Johannes auf der großen
Tafel mit dem Marientode in Basel heran, die mit den Frankfurter Arbeiten
Holbeins in nahem Zusammenhang steht. Dieser Kopf hat zu den übrigen
angeführten Typen keinerlei kenntliche Beziehung.
Es ist das Geschick Hans Holbeins, beharrlich unter falschem Bilde
der Nachwelt überliefert zu werden. Sein Bruder Ambrosius teilte bisher
dieses Schicksal nicht, und die Versuche, die Hes in dieser Richtung unter¬
nimmt, werden nicht leicht Nachfolge finden. Fruchtbarer möchte es ge¬
wesen sein, hätte der Verfasser für das künstlerische Werk neue Doku¬
mente beizubringen vermocht. Hier ist die Ausbeute nur eine geringe
und die kritische Arbeit führte mehr zu negativen als positiven Schlüssen.
Außerordentlich schmal ist die Basis von gesicherten Arbeiten, auf der der
Aufbau dieses Künstlerceuvres zu errichten ist. Um so weniger vorteilhaft
I
%
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
472
Besprechungen.
scheint es von vornherein, wenn der an sich schon dürftige Stoff noch in
allzuviele kleine Gruppen zerschnitten wird, wenn Holzschnitte, figürliche
Einzelarbeiten, gezeichnete, gemalte Porträts gesondert behandelt werden,
anstatt daß versucht wäre, zunächst aus der Gesamtheit der erhaltenen
Werke eine möglichst breite Grundlage der Stilbestimmung zu gewinnen.
Zum Teil mag sich die Art der Disposition daraus erklären, daß der Ver¬
fasser ursprünglich nur die Bildnisse zu behandeln beabsichtigte, das Holz¬
schnittwerk erst nachträglich mit in den Kreis seiner Betrachtungen zog.
Hier lag das für die Erkenntnis von Ambrosius Holbeins Stil wichtigste
Material vor, das allerdings von Koegler bereits eingehend behandelt war.
Hes gibt einen neuen Katalog der Holzschnitte, indem er einige Zuschrei¬
bungen von Koegler mit mehr oder minder triftigen Gründen in Frage stellt.
Die Entscheidung auf diesem sehr schwierigen Gebiete ist in manchen
Fällen mit Sicherheit wohl überhaupt nicht zu geben. Recht behält Hes,
wenn er das Alphabet, das bei Schneeli-Heitz unvollständig als Nr. i ab¬
gebildet ist, dem Ambrosius abspricht. Koegler selbst hat neuerdings auf
dem Buchstaben 0 die Signatur des Hans entdeckt. Schwieriger stellt sich
die Frage für die beiden Frobenschen Titelblätter (Koegler 14 und 15), die
Hes ebenfalls ablehnt. Seine Gründe sind nicht eben triftig, und man wird
eine Entscheidung eher von einer systematischen Aufarbeitung des Gesamt¬
materiales her als von der Aussonderung einer einzelnen Hand erwarten.
Aus diesem Grunde wird man auch den Katalog der Holzschnitte, den Hes
gibt, nicht als eigentlichen Fortschritt über den Koeglerschen Versuch
und jedenfalls nicht als endgültige Klärung der für die Geschichte des Basler
Buchholzschnitts überhaupt wichtigen Frage nach dem Anteil des Am¬
brosius ansehen können.
Von den gemalten Bildnissen lehnt Hes das Porträt des Hans Herbster,
das His dem Künstler zuwies, mit Entschiedenheit ab. Es ist gewiß, daß
die für die Autorschaft des Ambrosius angeführten Gründe nicht eben
schlagend waren. Der Gedanke, daß es sich um ein Selbstporträt des Malers
Herbster handeln könne, ist schon nach der Anlage des Bildes von der Hand
zu weisen. Muß die Bestimmung dieses Werkes zunächst offen bleiben,
so gehört das von Hes ebenfalls dem Ambrosius abgesprochene Bildnis des
Felix Frei in Zürich, das allerdings schlecht erhalten ist, doch wohl in die
Richtung des Künstlers, es scheint wenigstens kein triftiger Grund vorzu-
liegen, es von dem Porträt des Jörg Schweiger zu trennen. Jedenfalls kann
man nicht sagen, daß das gemalte Werk des Ambrosius, dem noch die Basler
Totenköpfe genommen werden, ein Bildnis eines jungen Mädchens im
Depot der Ambraser Sammlung glücklich hinzugefügt und der Darm-
Städter Jünglingskopf unbedenklich belassen wird, durch Hes den Charakter
einer überzeugenden Geschlossenheit gewonnen hätte. Das Bild des Künst-
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
473
lers behält noch immer etwas Nebelhaftes, und die Formen, die sich aus dem
Unbestimmten lösen, genügen nicht, eine Persönlichkeit deutlich in ihren
Umrissen erkennen zu lassen. Glaser.
Beschreibendes und kritisches Verzeichnis der
Werke der hervorragendsten holländischenMaler
des 17. Jahrhunderts. Nach dem Muster von John Smith's
Catalogue Raisonnö zusammengestellt von Dr. C. Hofstede de Groot. —
Dritter Band. Unter Mitwirkung von Dr. Kurt Freise und Dr. Kurt
Erasmus. — Vierter Band. Unter Mitwirkung von Dr. Kurt
Erasmus, Dr. W. R. Valentiner und Dr. Kurt Freise.
Mehr als die Anerkennungen, die den bisher erschienenen Bänden
dieses beschreibenden und kritischen Verzeichnisses zuteil geworden
sind, spricht der Umstand für den Wert der Arbeit Hofstede de Groots,
daß ihr eingehendster und schärfster Kritiker nur unbedeutende Dinge
auszusetzen fand, die — soweit sie nicht überhaupt auf Meinungs¬
verschiedenheiten beruhten — in Anbetracht der Tausende von Gemälden
und ihres »Stammbaumes«, die diese Riesenarbeit umfaßt, ganz geringfügig
erscheinen. Die beiden vorliegenden Bände, von denen der dritte Hals, die
beiden Ostade und Brouwer, der vierte Ruisdael und Hobbema sowie Adriaen
van de Velde und Paulus Potter behandelt, bieten wiederum erstaunliches
Material dar und gewähren einen gründlichen Einblick in das reiche und
keineswegs einseitige Schaffen dieser Meister. Mit dem beschreibenden Kata¬
loge der Werke Adriaen Brouwers und des Frans Hals hat Hofstede de Groot
eine vollkommen neue Arbeit geschaffen, denn Hals, der in den dreißiger
Jahren des vorigen Jahrhunderts kaum bekannt war, und Brouwer sind von
Smith nicht behandelt worden. Aber auch die Neubearbeitung jener sechs
anderen Künstler, die im alten »Smith« zu finden sind, ist bezüglich der
Materialsammlung und der wissenschaftlichen Resultate dem Werke des John
Smith so überlegen, daß man auch hier von einer selbständigen und voll¬
kommen neuen Arbeit sprechen kann. Von einer Arbeit, die mit der Dar¬
bietung jenes Engländers fast nur noch die eine Ähnlichkeit hat, daß sie für
unsere Zeit eine ebenso bewundernswerte und bedeutende wissenschaftliche
Leistung ist, wie es das enger umgrenzte Katalogwerk von Smith für seine
Zeit war, in der nur geringe technische und wissenschaftliche Hilfsmittel
existierten. Durch die knappe, gehaltvolle Lebensbeschreibung eines jeden
Künstlers und durch die kurzen Charakteristiken seiner Schüler und Nach¬
ahmer erfährt dieses Katalogwerk eine hoch einzuschätzende Bereicherung.
Hier sowie in den Bemerkungen, die im Katalog selbst an besonders pro
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
474
Besprechungen.
blematische Gemälde geknüpft sind, nimmt Hofstede de Groot seinerseits
Stellung zu strittigen kunsthistorischen Fragen.
Im Gegensätze zu der durch den Stich des Cornelis van Noorde und
durch Jacob Campo Weyerman überlieferten Nachricht von der Geburt des
Frans Hals im Jahre 1584 hält Hofstede de Groot auf Grund der Nachrichten
Houbrakens bzw. Vincent v. d. Vinnes und des Mathias Scheits 1580 für das
Geburtsjahr des Künstlers. Da das früheste erhaltene Bild des Frans Hals
1616 entstand, so sind wir demnach bis zu seinem 36. Lebensjahre über
die Art seines Schaffens auf vage Vermutungen angewiesen *). Von dem
kleinen ovalen Bildnis eines Jünglings in der Berliner Sammlung Knaus
nimmt auch Hofstede de Groot an, daß es noch vor 1616 entstanden ist.
Er setzt dieses in der Haltung etwas gequält und steif wirkende Porträt,
das gelegentlich • Thomas de Keyser mit Unrecht zugeschrieben wurde,
in die Jahre 1610—1612. — Unter dem Oeuvre des Frans Hals macht das
Porträt der jungen Emerentia van Beresteyn (Sammlung Rothschild, Frank¬
furt a. M.) immer einen befremdenden Eindruck. Zweifel wurden schon
von Moes geäußert; Hofstede de Groot scheint die Autorschaft des Frans
Hals gleichfalls für nicht absolut sicher zu halten, und er macht die Be¬
merkung, daß die Fleischfarbe sehr an die der Bilder des H. G. Pot erinnert.
Vergegenwärtigt man sich vor diesem Werke die beiden vortrefflichen lebens¬
großen Bilder Pots in Haarlem und in Rotterdam, so erscheint diese Hypo¬
these als eine sehr glückliche. Auch bei dem Familienbildnisse der Beresteyns
im Louvre, das ja wohl jetzt von allen Seiten Hals aberkannt wird, hält Hof¬
stede de Groot die Autorschaft dieses ungleichwertigen Porträtisten und
Gesellschaftsmalers für möglich. —Der einfache Lebensgang des selbständig¬
sten aller Hals-Schüler, der des Adriaen van Ostade, bietet keinen Anlaß
zu kritischen Erörterungen. Da unter Zuhilfenahme der Stiche und Zeich¬
nungen dieses Künstlers zahlreiche Fälschungen entstanden sind und da
Cornelis Dusart seinen Spätwerken bisweilen sehr nahe kommt und etliche
seiner Jugendwerke mit denen seines Bruders Isaac große Ähnlichkeit be-
l ) Das als ein Werk in der Richtung des jungen Frans Hals unlängst von Bode*
publizierte »Bankett im Freien» (Amtliche Berichte aus den K. Kunsts. XXXIII, S. 161 ff.)
bietet einen sehr wertvollen Beitrag zur Lösung dieser Frage. Es ließe sich denken, daß
Hals, der niemals gut zu komponieren verstand, die gelungene Komposition von einen;
Gemälde des C. C. van Haarlem übernommen hat, der ähnliche Gelage in ganz ähnlicher
Umgebung als Bacchanale, mythologische Hochzcitsmahlc und dergleichen malte. Dirk
Hals, dessen beste Bilder dieser Art in Amsterdam und in Paris nicht an dieses breit und
meisterhaft gemalte Beiliner Bild heranreichen, würde diese Bildgattung dann von seinem
älteren Bruder übernommen und weiter ausgestaltet haben, während dieser selbst später
das Thema fallen ließ, da eine derartige Darstellung vieler und verhältnismäßig kleiner
Figuren seiner immer großzügiger, freier und toniger werdenden Malweise nicht mehr
recht lag.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
475
sitzen, so ist das kritische Oeuvre-Verzeichnis eine sehr erwünschte Gabe.
Unter dem Verzeichnis der Schüler und Nachahmer sind vor allem die An¬
gaben über A. Victorijns von Belang, dessen minderwertige Bilder früher
ausnahmslos als Jugendwerke Adriaen von Ostades galten *).
Über den Verlauf der Jugendjahre Adriaen Brouwers gehen die Meinun¬
gen Hofstede de Groots mit denen des Brou wer-Biographen Schmidt-Degener
auseinander. Um den unzweifelhaften Zusammenhang der frühesten Schöp¬
fungen Brouwers mit ähnlichen Werken der vlämischen Schule zu erklären,
nimmt Schmidt-Degener an, daß sich Brouwer, als er im Alter von 16 Jahren
aus Oudenaarde floh, zunächst nach Antwerpen wandte und hier in der Um¬
gebung des jungen P. Brueghel seine Ausbildung fand. Er bestreitet ein
direktes Schülerverhältnis zu Frans Hals, wenn er auch zugibt, daß sich
Brouwer in seiner späteren Haarlemer Zeit dessen Einfluß nicht entzogen hat.
Hofstede de Groot, der auf die Angaben Houbrakens in diesem Falle größeres
Gewicht legt, nimmt dagegen an, daß Brouwer 1621 oder 1622 direkt nach
Holland entflohen sei, wo er bald darauf bei Frans Hals in die Lehre trat.
Den vlämischen Charakter der Frühwerke Brouwers, die nach dieser
Annahme also in Holland entstanden sein würden, erklärt Hofstede
de Groot daher, daß sich zu jener Zeit der Einfluß des alten Brueghel und
seiner Nachfolger auch auf die nördlichen Niederlande erstreckte, wo es um .
1620 eine Bauernmalerei im eigentlichen Sinne, die auf Brouwer hätte vor¬
bildlich wirken können, noch nicht gab. Die Argumente Hofstede de Groots
und die von ihm vertretene Ansicht, daß ein möglichst langer Aufenthalt
des Künstlers in Haarlem anzunehmen sei, werden durch die Überlieferungen
des Nicolaes Six, durch den Widmungstext Pieter Nootmans und durch die
Notiz Mattys van den Berghs auf seiner Zeichnung im Berliner Kupferstich-
kabinett bekräftigt, die alle drei die Zugehörigkeit Adriaen Brouwers zu
Haarlem stark betonen. — Als ein Werk, und zwar als ein Meisterwerk
Brouwers, führt Hofstede de Groot die »Soldaten in einer Herberge« im
Haarlemer Städtischen Museum an. Seit neuester Zeit trägt dort das durch
seinen hellen Ton auffallende Gemälde den Namen des Joost van Craesbeeck.
Mit Unrecht. Gewiß: man darf vor diesem geistreichen Werke nicht an jene
mittelmäßigen bunten Bilder Craesbeecks denken, wie man sie in besonders
J ) Es sei hier auf vier bisher unbekannte Bilder dieses seltenen Künstlers
hingewiesen, die sich in Altenburger Privatbesitz befinden. Sie entstammen einer
Folge der fünf Sinne und stellen das »Gehör«, den »Geruch«, das »Gefühl« und das »Gesicht«
dar. Das Original des fünften Bildes, der »Geschmack«, befindet sich in der Königlichen
Gemäldegalerie in Kopenhagen. Ein Vergleich mit der vollständigen Serie in der Wiener
Akademie zeigt, daß die Altenburger Exemplare, die eigenhändige Wiederholungen sind,
nur geringfügige Veränderungen aufweisen. — Vgl. auch: Kurt Freise, »A. Victoryns«
(Monatshefte für Kunstwissenschaft 1910, S. 324 ff.).
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
476
Besprechungen.
charakteristischer Auswahl vor zwei Jahren auf der Brüsseler Ausstellung
sah; man muß hier das beste der ihm zugeschriebenen Bilder, das »Maler¬
atelier« im Louvre, das dem Haarlemer Bilde einigermaßen nahe kommt,
zum Vergleich heranziehen. Sieht man sich die beiden Originale aber einmal
kurz hintereinander an, so tritt der weite künstlerische Abstand des Louvre¬
bildes von jenem in Haarlem stark zutage.
Die freundschaftlichen Beziehungen, die zwischen Ruisdael und seinem
• Schüler Hobbema auch dann noch bestanden, als das Lehrverhältnis zu Ende
war, sind bekannt. Es ist bekannt, daß beide am Beginne der sechziger
Jahre des 17. Jahrhunderts gemeinsame Reisen unternahmen und zur
gleichen Stunde vom gleichen Standpunkt aus dieselbe Ansicht malten. So
leicht im allgemeinen ihre Werke auseinanderzuhalten sind, so schwer ist
es, in einigen Ausnahmefällen ihre einander im Sujet und in der Ausführung
ähnlichen Werke dem einen oder dem andern mit Sicherheit zuzuschreiben.
Hofstede de Groot erwähnt einige zweifelhafte Fälle, deren endgültige Lösung
noch nicht gefunden ist. Von den beiden Exemplaren der »Furt«, dem im
Wiener Hofmuseum und dem in der Sammlung Six des Amsterdamer Rijks-
Museums, führt er das Amsterdamer Bild unter den Werken Ruisdaels, das
Wiener unter denen Hobbemas auf. Ähnlich liegt der Fall bei jener Wieder¬
holung der Ruisdaelschen »Waldlandschaft mit Fluß« des Bridgewater House
in London, die 1902 auf der Antwerpener Versteigerung Huybrechts vorkam
und bei der man nicht weiß, ob man es mit einer Replik des Ruisdaelschen
Bildes oder mit einer Ansicht Hobbemas nach derselben Stelle zu tun hat.
Die Entstehung von Hobbemas »Allee von Middelharnis« in der Londoner
National Galery setzt Hofstede de Groot in das Jahr 1669, und er wider¬
spricht der häufig geäußerten Ansicht, die verstümmelte dritte Ziffer der
Jahreszahl »16.9« auf dem Gemälde sei eine »8« gewesen. Wenn man
bedenkt, daß Hobbema vom Jahre seiner Verheiratung, also vom Jahre 1669
an, keine Kunstwerke mehr schuf und daß, wie Bode konstatiert hat, in
seinen Bildern, die kurz vor 1670 entstanden sind, ein Nachlassen der künst¬
lerischen Kraft zu erkennen ist, so erscheint es in der Tat unangebracht,
für die »Allee von Middelharnis« einen Ausnahmefall anzunehmen und die
Entstehung gerade dieses Meisterwerkes in eine Periode zu versezten, in
der er seit etwa 20 Jahren nicht mehr künstlerisch tätig gewesen war.
In Adriaen van de Veldes prächtiger »Bildnisgruppe in einer Landschaft«
der Sammlung van der Hoop des Amsterdamer Rijks-Museums, die dort
als eine Darstellung des Künstlers und seiner Familie gilt und als solche
auch vielfach in der Literatur erwähnt wird, sieht Hofstede de Groot nicht
Adriaen van de Velde und die Seinen. Dieses große Bild einer reichen Bürger¬
familie, die mitsamt ihrem Landhause und ihrem Schimmelgespann darge¬
stellt ist, stimmt freilich auch gar nicht mit den Nachrichten überein, die
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
477
wir von den beschränkten Verhältnissen Adriaen van de Veldes besitzen,
dessen Fj;au auf Nebenverdienste durch ein Strumpfgeschäft angewiesen
war. — Ähnlich wie bei Wouverman ist auch bei A. v. d. Velde ein Auf¬
enthalt in Italien, auf den viele seiner Bilder hinzudeuten scheinen, urkund¬
lich nicht beglaubigt und ziemlich zweifelhaft. Hofstede de Groot ist geneigt,
eine italienische Reise van de Veldes anzunehmen, die dann vor seiner Hoch¬
zeit im Jahre 1657 stattgefunden haben muH. In seiner Studie über den
Künstler weist Bode (»Rembrandt und seine Zeitgenossen«) auf den
Zusammenhang hin, der zwischen einer Reihe von Werken van de Veldes
(Farmen mit Vieh usw.) und verwandten Bildern des um elf Jahre älteren
Paulus Potter besteht. In diesem Zusammenhänge ist es interessant, daß
Hofstede de Groot bei Adriaen van de Veldes bekanntem »Viehmarkt« der
Wiener Akademie, der derselben Gruppe zugehört, die Möglichkeit offen läßt,
daß das Bild eine gute Kopie nach einem Potter ist. Bei der Würdigung
Potters weist er mit Recht nachdrücklich auf die künstlerischen Qualitäten
der kleineren Werke in Paris und Kassel, in Schwerin und in der Wiener
Galerie Czernin hin, die dem populären »Stier« im Mauritshuis sehr über¬
legen sind. Als Schöpfung eines 21 jährigen schwindsüchtigen Jünglings
bleibt freilich der »Stier« immerhin eine erstaunliche Leistung.
Den Schülern der behandelten Meister und ihren wichtigsten und merk-
%
würdigsten Werken konnte sich Hofstede de Groot leider nicht eingehend
widmen; dies wäre über den Rahmen und die Bestimmung eines solchen
Katalogwerkes hinausgegangen. Hätte er die Möglichkeit dazu gehabt, so
würde dieses beschreibende und kritische Verzeichnis zugleich die umfassende
Geschichte der holländischen Kunst im 17. Jahrhundert geworden sein.
Eduard, Plietzsch.
Dr.PeterP.Albert, Der Meister E. S., sein Name, seine Hei¬
mat und sein Ende. Funde und Vermutungen. . Straßburg,
Heitz, 1911.
Trotz jahrzehntelanger Forschungen sind die Anfänge des Kupferstichs
noch recht unklar, und je umfangreicher und präziser die Arbeiten, die sich
mit den Inkunabeln der Graphik befassen, um so offenbarer wird es, wie viele
Fragen noch der Aufklärung bedürfen. Gerade die letzten Jahre waren auf
diesem Gebiete sehr ergibig, aber es genügt, grundlegende Werke, wie die
von Lehrs oder Geisberg, aufzuschlagen, um auf eine Reihe von Notnamen
zu stoßen, um sogar bei führenden Meistern unüberwindlichen Schwierig¬
keiten ihrer Lokalisierung zu begegnen. Es soll ja nicht geleugnet werden,
daß namentlich den Forschungen Lehrs' in vielen Fällen die genauere Um¬
grenzung des Wirkungsgebietes der einzelnen Meister gelungen ist, doch be-
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
478
Besprechungen.
ziehen sich diese Errungenschaften vielfach auf Künstler dritten Ranges.
Dabei wird kaum angestrebt, zu verwandten Regionen der Graphik Brücken
zu schlagen, zum Holzschnitt, zum Reliefschnitt überhaupt, von der gleich¬
zeitigen Malerei nicht zu sprechen. Gewiß lassen sich positive Resultate
durch Beschränkung auf ein möglichst umgrenztes Terrain erzielen; doch
könnte diese Schürfarbeit vielleicht gefördert werden, wenn sie die genannten
Nachbargebiete nicht aus den Augen lassen würde. Die Einzelblätter sind
ja nach allen Seiten hin untersucht und rubriziert worden, und es wäre wohl
an der Zeit, erstens, sie auf ihren künstlerischen Gehalt hin genauer zu prüfen,
zweitens aber, diese angedeuteten Zusammenhänge — sofern sie unzweifel¬
haft vorliegen — aufzudecken. Dann erst, aber erst dann, wird die achtung¬
gebietende Forschung Vieler nicht vergeblich gewesen sein.
Es schien mir notwendig, dies vorauszuschicken, ehe ich meinen Stand¬
punkt der Arbeit P. Alberts gegenüber bezeichne. Um es kurz zu sagen: ich
halte solche »Funde und Vermutungen« — so nennt sie der Verf. selbst —
für fast unnötig, oder vielmehr: der Aufwand der Arbeit scheint mir in gar
keinem Verhältnis zu den erzielten Resultaten zu stehen. Nehmen wir den
günstigsten Fall an, dem Verf. wäre es tatsächlich geglückt, »den Namen,
die Heimat und das Ende des Meisters E. S.«, wie er mit Genugtuung sein
Buch überschreibt, herausbekommen zu haben! Was würde uns das nützen
beim Eindringen in dessen Kunst ? Ist es wirklich so wichtig, zu erfahren,
was die Buchstaben des Monogramms andeuten ? oder ist uns vielmehr nicht
daran gelegen, den Meister in eine entwicklungsgeschichtlich lückenlose Reihe
einzuordnen? Niemand wird bestreiten, daß eine endgültige Auflösung des
Monogramms auch von Vorteil für die Kunstgeschichte wäre, allein ent¬
scheidend ist keineswegs der Name, sondern die Art des Meisters. Nun ist
cs ja bekannt, daß durch wiederholt unternommene, wenn auch verfehlte
Forschungen, schließlich sich der Sehkreis erweitert, und wir sind heute
über den Hausbuchmeister sehr genau orientiert, obgleich wir seinen Namen
nicht wissen. Doch vor Einem muß man sich bei diesen Untersuchungen in
acht nehmen: vor dem Aufbauen interessanter, womöglich dramatisch zu-
gespitzter Hypothesen. Man muß sich eben klar sagen: entweder man dringt
induktiv aus den Werken des Meisters in das Wesen des Meisters immer
tiefer, und dann mag ja manche Hypothese ihre innere Berechtigung haben;
oder aber man tritt an den Künstler deduktiv, so zu sagen von außen, heran,
und dann darf man nur feststehenden Tatsachen Einlaß gewähren. Aus
Urkunden lassen sich vielleicht interessante Romane ausspinnen, für Künstler¬
biographien ist nur der feste Kern der Mitteilung verwendbar. Leider hat
der Verf. beliebt, ein spannendes Kapitel, etwa: »Tragödie eines Künstler¬
lebens« zu schreiben!
Nach dieser Vorbemerkung sei vor allem festgestellt, daß der Verfasser
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
479
mit einer für einen Nichtfachmann geradezu erstaunlichen Gewissenhaftig-
keit an seine Aufgabe herangetreten ist, sodann, daß er diese Resultate in
durchaus unaufdringlicher und bescheidener Weise vorführt, und endlich,
daß er den rein historischen Teil seiner Untersuchungen mit äußerster Prä¬
zision handhabt. Und gerade deshalb, weil man zu diesem dreifachen Lobe
geradezu gezwungen ist, war die Bemerkung von dem Mißverhältnis des
Aufwandes zum Erfolg notwendig.
Wer an die Lektüre des Buches herangeht, ist erstaunt, das erste
Drittel mit einer Zusammenfassung der bisherigen E. S.-Forschung aus-
gefüllt zu sehen. Für wen schreibt denn P. Albert sein Buch, wenn er es
sich nicht versagen zu können glaubt, auf 42 Seiten fremde Meinungen zu
rekapitulieren? Man ist versucht, sie kurzerhand zu überschlagen, nament¬
lich, da als Überschrift des IV. Kapitels vielverheißend der Name E n d r e s
Silbernagel prangt. Und tatsächlich wird da nicht ohne dramatische
Steigerung geschildert, wie der Verf. diesen ersehnten Namen aus Freiburger
Urkunden herausgefischt hat. Diese besagen, daß die Stadt und die Uni¬
versität Freiburg 1502 sich an den Präzeptor des dortigen Antoniterhauses
mit der Bitte gewendet haben, den vom »Antoniusfeuer« (Kriebelkrankheit)
befallenen Meister Endres Silbernagel aufzunehmen und zu pflegen. Sie
melden auch noch den am 2. Mai 1503 erfolgten Tod dieses in Gemünden
gebürtigen E. S. (die Feder sträubt sich gegen die Abkürzung!) und berichten
über einen Vorschuß, den ihm vor Jahren der Freiburger Bildhauer Theo-
dosius Kaufmann gab. Das ist — in der Tat — alles! Man wartet vergeblich
auf den Zusammenhang mit dem wirklichen Meister E. S. Denn was jetzt
folgt, das ist ein Versuch mit untauglichen Mitteln, diese Notizen auf den
wohlbekannten Meister zu beziehen.
Wohlverstanden: es ist durchaus nicht ausgeschlossen — wenn auch
wenig wahrscheinlich —, daß Endres Silbernagel mit dem E. S.-Meister
identisch ist, aber es liegt keinerlei Veranlassung vor, diese Hypothese zu
erwägen, denn es ließen sich ja viele Namen mit diesen Anfangsbuchstaben
anführen, die in ähnlich losen Zusammenhang mit dem Künstler gebracht
werden könnten. Anders gesagt: der Verf. scheint mir mit seiner Methode das
Pferd am Schwänze aufzuzäumen; erst, wenn wir wüßten, daß der E. S.
jener armselige sieche Künstler war, der die letzten dreißig Jahre seines Lebens
in Not und Elend dahinvegetierte, erst dann wären die Anstrengungen
Alberts am Platze, nachzuweisen, wie sich diese äußeren Umstände in seiner
Kunst widerspiegelten. So lange wir aber als die einzigen auf E. S. be¬
züglichen festen Daten die Jahreszahlen 1466 und 1467 besitzen, so lange
wir mit unbeeinflußten Augen in seiner Kunst die typischen Merkmale der
Kunst vom dritten Viertel des 15. Jahrhunderts, und nicht auch vom vierten,
sehen, so lange wir außer vagen Beeinflussungen der Kunst Schongauers und
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
480
Besprechungen.
des Hausbuchmeisters durch den E. S. keinen irgendwie greifbaren Schul-
Zusammenhang zu erblicken imstande sind, so lange wird uns jeder Versuch,
wie der geschilderte, gewaltsam bei den Haaren herbeigezogen erscheinen.
Dies vorausgeschickt, wollen wir nicht leugnen, daß in der Beurteilung der
Kunst des E. S.-Meisters noch manche Fragen einer Lösung vergeblich
harren, und daß der Verf. den Finger tatsächlich auf wunde Stellen legt,
allerdings, ohne sie zu heilen. Der Meister E. S. scheint ja wirklich um 1435
geboren zu sein; wie kann er dann — nach Geisberg — etwa 500 Blätter, —
nach Lehrs sogar 1000 — gestochen haben, wenn er als 32 jähriger starb ?
Doch kann sich der Verf. nicht recht entschließen, wie er diese schwierige
Frage lösen soll; einerseits räumt er ja dem Künstler noch über dreißig Jahre
ein, auf die sich die Arbeiten bequem verteilen lassen, andrerseits aber stellt
er eben die Vermutung auf, daß nach 1467 der »künstlerische Tod« des E. S.
erfolgt ist, daß sich der brotlose Künstler in fremden Werkstätten umher -
trieb, zu seinem früheren Handwerk, der Malerei (was weiß man darüber ?!'i
zurückkehrte, hier Schongauer, dort wieder den Heinrich Lang instruierte
und in Not und Elend in Freiburg starb. Ja, sogar eine Frau soll er gehabt
haben, die ihm vorzeitig durch das Schicksal jäh entrissen wurde, ein vor-
gelebter Rembrandt! Nun, durch diese Romane wird die Tatsache nicht
aus der Welt geschafft, daß die Figuren des E. S. durchaus einen früh-
quattrocentesken Habitus haben, daß seine Faltengehäuse den Charakter
der Mitte des Jahrhunderts tragen, daß seine Vegetation der primitiven
Stufe der ersten Formschnitte entspricht, mit den hilflos dekorativen Blatt -
bäumen und Schwammsträuchern, daß in seiner Graphik nirgends der be¬
freiende Hauch der aufstrebenden Buchillustration — kaum des Block-
buchs — zu spüren ist, — mit einem Wort, daß sich darin der Geist kund-
gibt, wie er in Deutschland vor der niederländischen Welle allgemein war.
Und merkt denn der Verf. nicht, daß er seiner Hypothese den Lebensatem
raubt, wenn er das Wort »Rembrandt« heraufbeschwört? Sind denn Rem-
brandts Spätwerke, und gerade diese, nicht die herrlichsten ? Wo sind aber
die Werke des alternden E. S.?! Man kann die Seele eines Künstlers nicht
gründlicher mißverstehen, als wenn man der Vermutung Raum läßt, ein
Künstler vom Range des E. S., der dem deutschen Kupferstich neue Per¬
spektiven öffnete, hätte sich die letzten 35 Jahre seines Lebens in fremden
Ateliers umhergetrieben, bloß — um zu leben.
Es ist ja wahr, daß mit der Erklärung, der E. S. wäre gleich nach 1467
gestorben, das Rätsel dieser Datierungen nur umgangen, keineswegs
aber gelöst wird; nur muß man dem Verfasser offen sagen, daß
seine Deutung die Sache noch dunkler macht. Wenn sich der Künstler
endlich zum Signieren und Datieren seiner Werke entschlossen hat,
so muß er es doch im Laufe der folgenden drei Jahrzehnte noch oft wieder -
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
48 I
holt haben! Oder, was könnte ihn davon sonst abgehalten haben, da er ja —
nach Alberts Hypothese — erst ein Jahr vor seinem Tode ins Lazarett wan¬
dern mußte? .
Dieses sind m. E. die Kernfragen, die der Lösung benötigen. Und, da
der Verf. sie zu beantworten nicht vermag, erscheinen uns seine anderen
Ausführungen recht belanglos. Immerhin mag ihm zugegeben werden, daß
darin manch Richtiges stecken mag. So dürfte er z. B. damit recht haben,
daß für die Annahme einer Schweizer Abkunft des E. S. kein zwingender
Grund vorliegt, daß die allemanischen Legenden seiner Stiche fast ebenso
gegen seine alemanische Abkunft wie für diese sprechen; oder auch damit,
daß die Stechschilde in der beim E. S. vorkommenden Form eine Seltenheit
sind — was ich nicht beurteilen kann — und anderes mehr.
Wenn er aber die sämtlichen hl. Andreasse des Kupferstichwerkes des
E. S. antreten läßt, um eine Familienähnlichkeit mit — dem Pilger des
Einsiedelblattes festzustellen, der niemand anders als der E. S. selbst sein
soll (mit seiner treuen Gemahlin!), wenn er gar Augen sehen will, die »aus¬
druckslos ins Leere starren, ungepflegt Haar und Bart, aus den Zügen der
ganze Jammer eines traurigen Daseins sprechend« — dann kann der Verf.
uns wirklich nicht übel nehmen, wenn wir ihm auf dieses koupierte Terrain
vager Vermutungen nicht folgen, auf dem Entgleisungen ebenso unvermeid¬
lich wie peinlich sind. Beth.
Digitized by
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Erwiderung.
Zu der abfälligen Besprechung meines Versuches, einen Vorläufer
zu einer wirklichen Geschichte der Neapler Malerei zu schreiben (Vorwort
Seite 5) durch Herrn August L. Mayer bemerke ich, daß ich diesem
Verfasser eines Buches über Ribera einige Fehler bezüglich der Werke
dieses Meisters in Neapel nachweisen und ein Bild in Lichtdruck bringen
konnte, das Mayer als unauffindbar bezeichnete, obgleich es in einer öffent¬
lichen Sammlung ausgestellt ist. Hinc illae lacrimae.
Sachlich ist Mayer im Unrecht, wenn er kurzweg behauptet, ich
hätte »weder bei der Würdigung der großen noch der kleineren Maler die
einschlägige ältere Literatur in erschöpfender Weise benutzt«. Er würde
der Forschung einen großen Dienst erweisen, wenn er mir unbenutzte ein¬
schlägige ältere Literatur angeben wollte. — Als eine ungehörige Insinua¬
tion betrachte ich es, wenn Mayer den Leser glauben machen will, ich habe
behauptet, es sei eine »neue Feststellung«, daß man dem de D o m i n i c i
nicht trauen dürfe: das ist nirgends geschehen. Als neu von mir
beansprucht wird nur die Reinigung der neapler Kunstforschung von den
zahllosen Fälschungen und Irrtümern des de Dominici und seiner bis auf
den heutigen Tag ihm folgenden Nachbeter. Was das heißen will, kann nur
beurteilen, wer das Gebiet von Neapel gründlich kennt. Ebensowenig ist cs
richtig, ich habe mich bei der Würdigung von »Desiderio« und Ko¬
re n z i o ausschließlich auf den von mir so viel geschmähten Fälscher (ver¬
dient er es etwa in Mayers Augen nicht?) gestützt: wovon man sich durch
einen Blick auf Seite 216 ff. meines Buches überzeugen kann. Offenbar war
es Mayer nur darum zu tun, einen passenden Übergang zu dem ihm (trotz
der Mängel in bezug auf Neapel) so vertrauten Gebiete des Ribera zu tun,
wo er mir einen Irrtum nachzuweisen sucht; dazu bedarf es IO Zeilen von
den 53, die er einer Arbeit von 440 Seiten widmet! Im übrigen zeigt mir
die sehr ausgedehnte Benutzung, die ein Versuch findet, in dem selbst nach
Mayer »eine ganze Menge Arbeit steckt«, daß er doch nicht so ganz unbe¬
friedigend ausgefallen sein kann, wie es der verärgerte Herr Kritiker
glauben machen will. W. Rolfs.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Surp Hagop (Djinndeirmene), eine Klosterruine der
Kommagene.
Ein Beitrag zur Bewertung und Datierung der nordmesopotamischen
Kunst.
Von S. Guyer.
Wenn man sich eingehender mit der Geschichte der Architektur der
Jahrhunderte nach Konstantin befaßt, hat man oft das Gefühl, auf einem
• •
uferlosen Meere herumzuschwimmen. Uber manche der wichtigsten Fragen
gehen die Ansichten himmelweit auseinander. Nur selten will sich ein festes
Stück Land zeigen, von dem aus man sich orientieren und Umschau halten
kann. Einige wichtigere Bauten in Syrien und Konstantinopel sind
solche festen Punkte, die uns einen Maßstab für die Beurteilung der
anderen Denkmäler geben. Dazwischen bleibt dann aber Raum für
die kühnsten Hypothesen, und daher gehen die Ansichten der verschie¬
denen Forscher, z. B. bei den Daticrungsfragen, oft um Jahrhunderte
auseinander. Nun aber handelt es sich in erster Linie nicht darum, aller¬
hand Möglichkeiten aufzustellen, sondern um etwas anderes: man möchte
gerne etw'as Positives wissen, man möchte gerne einen festen Punkt er¬
obern und erst nachher dann weiterziehen.
Eins dieser unbekannten Gebiete ist die ganze bvzantinsche und früh¬
islamische Kunst Mesopotamiens. Hier sind gerade viele der wichtigsten
Denkmäler im Gegensatz zu Syrien nicht datiert, und man steht daher
vor der Prachtfassadc des alten Amida, vor den Kirchen und Klöstern
des Tür ‘Abdin wie vor einem Rätsel. Es dürfte daher interessieren, von
einer Klosterkirche zu hören, deren Baugeschichte uns bis in Einzelheiten
hinein bekannt ist: die Djinndeirmene oder Surp Hagop genannte Ruine
bei Kaisüm in der alten Kommagene. Von einem solchen Bau aus kann
dann doch das eine und andere Streiflicht in das Dunkel jener Jahrhunderte
fallen, deren Kunstentwicklung wir uns zu verstehen und zu erfassen be¬
mühen.
I. Die Lage.
Nachdem der Euphrat in wilden Schluchten die Taurusketten durch¬
brochen hat, fließt er bis Rumqalah in westlicher Richtung durch ein Land,
Repertorium für Kunstwissenschaft, XXXV. 3*
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
484
S. G u v e r .
*
das im Altertum und in der byzantinischen Epoche bis in die Kreuzfahrer¬
zeit hinein eine gewisse Rolle gespielt hat; antike Grabmäler *) und andere
klassische Bauten *), besonders aber zahlreiche Kirchen 3 ) zeugen noch
als Ruinen, daß einst hier anderes Leben flutete als gegenwärtig. Der nörd¬
lich des Stroms gelegene Teil, die alte Kommagene, ist heute ein recht ver¬
gessener und verlassener Erdenwinkel: alle wichtigeren Verkehrsstraßen
liegen weitab. Früher war es jedoch gerade als Verkehrsland ziemlich
wichtig. Das heute zu einem elenden Nest heruntergesunkene Samosata
war nicht nur einer der bequemsten Euphratübergänge, sondern auch ein
strategisch sehr wichtiger Punkt, da cs in der Römerzeit zeitweilig an der
Grenze der Parther- und Perserreiche lag 4). Das gab dem ganzen Hinter¬
lande nördlich und westlich große Bedeutung, da eine Anzahl wichtiger
strategischer Straßen in Samsat zusammentrafen. Eine derselben, viel¬
leicht die wichtigste, ging von Samsat in westlicher Richtung durch die
kommagenischcn Vorberge über Cesum nach dem Gebiet des kilikischen
Pyramus und nach AntiochiaS). Die Peutingertalel, das Antonin. Itinerar
notieren sie, und noch heute sind bedeutende Reste dieser einst so wichtigen
Straße zu sehen; Marnier hat solche im westlichen Teile (östlich Bazardjyq)
beobachtet 6 ), ich bin auf meinem Wege von Kaisüm nach Kilik am Euphrat
mehrere Stunden auf ihr gezogen 7 ). An dieser Straße liegt nun unsere
Ruine; ungefähr eine Stunde bevor man, von Westen kommend, Kaisüm
erreicht, öffnet sich rechts ein von einem starken Bach durchrieseltes lai¬
chen; man erblickt in der Nähe eine Mühle und etwas weiter oben die
Ruinen unseres Klosters. Auf der Kiepert-Karte ist die Ruine als Surp
llagop bezeichnet; ich hörte sie Djinndeirmenc, die »Geistermühlc«, nennen.
II. Bisherige Literatur.
Es ist nicht das erstemal, daß Surp Hagop von europäischen For¬
schungsreisenden aufgesucht worden ist; u. a. ist Hart mann dort ge-
*) Zwei sehr schünc Grabdenkmäler des sacc. II. ca. nahm ich im Frühjahr 19 11
nördlich Rumqalah auf.
а ) Eine der bedeutendsten Eskihissar, ein römisches Lager zwischen Rumqalah
und Urfah.
3 ) Besonders viel gut erhaltene im Gebiet zwischen Rumqalah und Urfah.
4 ) Vgl. C. Ritter, Erdkunde X, pag. 928.
5 ) Vgl. die Peutingertafel.
б ) Marnier, im Bull. soc. geogr. de l’Est. 1890, XII, 519 fT.
7 ) Die auf dem Blatt Mesopotamia, Syria, Armenia von R. Kiepert eingezcichncte
Trasse führt in ihrem östlichen Teile etwas zu weit nördlich; starke drei Stunden nach
Kaisüm überschreitet man die Euphratuferberge kurz vor dem heutigen Kilik und fuhrt
die alte StraÜe von dort sicher in östlicher Richtung am Südabhang des genannten Berg*
zugs weiter.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Surp Hagop (Djinndeirmene), eine Klosterruine der Kommagene.
wesen, sein Routier ist auf*der Kiepert-Karte eingezeichnet. Moritz
hat den Ort auch besucht; in seinem allgemeiner gehaltenen Reisebericht
erwähnt er zwar die Ruine nicht 8 ), dafür aber beschäftigt er sich eingehend
mit ihren syrischen und griechischen Inschriften in seiner Arbeit über die
Inschriften jener Gegenden 9 ). Eis findet sich dort nicht nur die Veröffent¬
lichung und Übersetzung der Inschriften, sondern vor allem sind dort ein-
Abb. i. Surp Hagop (Djinndeirmene) Klosterruine, i : 200.
gehende Untersuchungen über die darin erwähnten Personen und die Ent¬
stehungszeit der Inschrift angestellt. Doch darüber später. Nur das möchte
ich schon hier bemerken, daß wir es in erster Linie Moritz verdanken, wenn
Mir über die Baugeschichte dieses Klosters so genau informiert sind.
8 ) In den Abhandlungen der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin, Bd. XIII, Nr. 3
(Sitzung vom 6. März 1886).
9 ) Mitteilungen des Seminars für orientalische Sprachen 1898, I, 131 ff.
32*
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
486
S. Guver,
Ich habe die Ruine im Juni 1907 besucht und mich dort fast einen
Tag lang aufgehalten. Leider sind aber meine Aufnahmen nicht so voll¬
ständig, wie ich es gerne hätte. Vor allem fehlen Photographien; mein
Vorrat an Films war nämlich — es war am Schluß einer längeren Reise —
bis auf zwei Stück aufgebraucht, und von diesen beiden ergab die Innen¬
aufnahme wegen Unterbelichtung kein brauchbares Bild. Dafür tat ich
mein Möglichstes, das Fehlende durch Arbeit mit Meßband und Reißblei
zu ersetzen. Ganz leicht waren die Aufnahmen nicht, da bei der offenbar
einmal bei einem Erdbeben stark zerstörten Ruine cs etwas schwierig ist,
die verschiedenen Bauperioden auseinanderzuhalten. Dazu kam auch
noch, daß mir der ganze Bau wie ein Rätsel vorkam, da ja erst nachher
Abb. 2. Surp Hagop (Djinndeirmene) Klosterruine. 1: 200.
die verwandten Bauten des Tür 'Abdin usw. bekannt wurden. Erst als
ich später einmal Strzygowski von der Aufnahme erzählte, erkannte er
darin einen Verwandten der von Miß Bell aufgenommenen Klosterkirchen.
Ich übergab ihm denn auch mein Material über Djinndeirmene; es wurde
dann tale quäle in dem Amidabuchc ,u ) mit einer kurzen Bemerkung ver¬
öffentlicht lt ).
9
III. Beschreibung des Baus.
Der Bau ist ein typischer Vertreter des mesopotamischen Quertonncn-
typus, der fast ausschließlich bei Klosterkirchen sich nachweiscn läßt: ein
oblonges, in Nord-Süd-Richtung sich erstreckendes, mit einer mächtigen
,0 ) van Bcrchem-Strzvgowski, Amida, Abb. 210.
11 ) O. c. pag. 268 f.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Surp Hagop (Djinndeirmene), eine Klosterruine der Kommagenc.
Tonne überwölbtes Schiff; im Osten, nur durch eine Tür mit dem Schiff
verbunden, das Sanktuarium.
Ich beginne meine Beschreibung mit dem letzteren. Die bauliche Ge¬
staltung ist ohne weiteres aus dem Plane (Abb. i) in Verbindung mit dem
Schnitte (Abb. 2) ersichtlich: vorgelagert ein tonnenüberwölbter Raum, dann
die Apsis, wie in Turmanln 12 ) und zwei kaum zwei Tagereisen entfernten, süd¬
lich des Euphrat gelegenen Bauten * 3 ), innen polygon; desgleichen die darüber
Abb. 3. Chorpfeiler. 1 : 13.
Abb. 4. Profil des Chorbogens. 1:13.
Abb. 6. Apsis-Gesimse
1 : 10.
Abb. 5. Apsis :
Archivolte der
Fenster. 1 : 10.
ansteigende klostergewölbartige Halbkuppel. Die drei Fenster mit geradem
Gewände, oben halbrund geschlossen. An den beiden äußersten Polygonseiten
Nischen statt der Fenster. Rechts und links vor der Apsis zwei ganz antiki-
**) Vgl. Vogue, Syric centrale pl. 130 (saec. VI).
* 3 ) Der eine Bau, eine Kirche in Ütsh Kiliseh, gehört einer Inschrift zufolge dem
VIII. Jahrhundert an, vgl. Moritz o. c. pag. 135 ff. Der andere, eine Kirche inNughurdj,
ist undatiert. Ich habe beide Bauten im Frühjahr 1911 aufgenommen.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
488
S. Guyer,
sierende kannelierte Pilaster (Abb. 3); zwischen ihnen und dem Kapitell ein
aus Zahnfries, Kehle, Wulst bestehendes Mittelglied, darüber das rustikale
Akanthuskapitell mit noch ganz nach antiker Weise geschweiftem Abakus.
Die Blätter des Kapitells zeigen eine merkwürdig steife Mache; besonders
unnatürlich ist die Blattspitze gebildet, die eingeschnitten ist und wie eine
kleine Zunge überhängt. An den ähnlichen Kapitellen des Schiffs ist sogar
auf jeder dieser herabhängenden Spitzen ein kleines Ornament angebracht,
ein Kreuz, ein stilisierter Pinienzapfen oder dergleichen. Der die Apsis
umspannende, wie mir schien etwas überhöhte, leicht hufeisenförmige Bogen
(Abb. 4) ist schön profiliert nach dem bekannten, seitdem 6 . Jahrhundert auf-
tretenden Schema: Sima—Wulstfries—Sima. Hart unter der Sima Astragal
und Zahnfries. Über dem Kapitell bricht dieser profilierte Bogen rechtwinklig
um und hört ziemlich unvermittelt auf. Auch sonst ist die Apsis ziemlich
reich mit Profilen ausgestattet. Eines umzieht archivoltenartig als fort¬
laufendes Band die Fensterbögen (Abb. 5), auf deren Kämpferhöhe jeweils
umbrechend. Auch hier das gleiche Schema Sima—Wustfries—Sima; unter
der unteren Sima ein Zahnfries, unter der oberen ein Viertelswulst, der beim
Hauptfenster in ein Astragal übergeht. Über der Scheitelhöhe der Fenster
das Hauptgesims (Abb. 6); die Sima ist hier in zwei Glieder aufgelöst, oben
eine Kehle, dann, durch einen schmalen Steg getrennt, ein Wulst; darunter
zwei schachbrettartig angeordnete Zahnfriese. In der Kehle läuft die Da¬
tierungsinschrift hin, links griechisch, rechts syrisch, in ziemlich hoch er¬
habenen Lettern. Über dem Mittelfenster ist an diesem Hauptgesims eine
Rosette angebracht, ähnlich wie in syrischen Bauten. Darüber, in das Gewölbe
einschneidend, ein weiteres, ebenfalls rundbogiges Fenster; noch weiter oben
eine Rosette mit den Namen der vier Evangelisten in syrischer Sprache **).
An dem der Apsis vorgelegten länglich rechteckigen, tonnenüber¬
wölbten Raum haben die verschiedensten, sicherlich weit auseinander¬
liegenden Zeiten ihre Spuren hinterlassen. Deutlich erkennt man einen,
besonders außen auf der Südseite sichtbaren, älteren Mauerkern, mit außen
und innen vortretenden strebepfeilerartigen Vorsprüngen; die inneren durch
Nischen bildende Bögen miteinander verbunden. Ich habe diese älteren
Teile auf dem Grundriß schwarz wiedergegeben. Sie sind sicherlich älter
als die ApSis, die, wie man dies z. T. am Schnitt ersieht, mit dieser Bogen-
architektur nicht harmoniert, sondern vielmehr mit der späteren Füllung
dieser Nischen in Verband steht. Außerdem sieht man auch außen bei
den Punkten A und B deutlich, daß die Apsis mit diesem älteren Mauer-
kem nicht bündig ist. Vermutlich hat sich die ältere Choranlage in Über-
• 4 ) Meiner Erinnerung nach ist diese Rosette über dem oberen Fenster; leider
habe ich keine genaue Notiz darüber; cs ist nicht ausgeschlossen, daß sie yiclleicbt auch
gerade über dem Apsisgesims ist.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Surp Hagop (Djinndeirmenc), eine Klosterruine der Kommagene.
einstimmung mit den erwähnten Bögen etwas weiter nach Osten hin er¬
streckt; man sieht auch tatsächlich außen, ca. ein Meter östlich des jetzigen
Chorrundes, die Fundamente einer älteren, dreiseitig ummantelten Apsis * 5 ).
Ob dieser ältere Mauerkern Türen hatte, ist nicht mehr genau festzustellen;
auf der Nordseite ist zu vermuten, daß die Öffnung C alt ist.
In der jüngeren Epoche, die die jetzige Apsis erbaute, wurden
dann sehr wahrscheinlich die Bogennischen mit alten Quadern ausgefüllt,
zum Zweck ein genügend starkes Widerlager für das Tonnengewölbe zu
schaffen, das sicherlich erst um diese Zeit entstanden ist. Die Türen D
und E stammen wohl auch aus der gleichen Periode, das gleiche gilt von
den Nischen F und G. Die letztere hat mit der Tür C, die damals gewiß
auch ausgefüllt wurde, natürlich nichts zu tun. Auch die Rosetten über
diesen Türen und Nischen sind jedenfalls gleichzeitig. Die Löcher in den
Rosetten über Nische G waren vielleicht zur Befestigung von Metallknöpfen
oder sonstigen Verzierungen bestimmt.
Später ist an diesem Bestand noch allerhand geändert worden; haupt¬
sächlich Flickarbeiten, worüber der Schnitt einige Aufklärung gibt. Ich
hatte überhaupt den Eindruck, daß der Bau einmal von einem Erdbeben
stark erschüttert worden und nachher notdürftig, so wie er früher war,
wieder zusammengestellt worden ist. Das mag vielleicht 1114 geschehen
sein, aus welchem Jahre uns von einem Erdbeben berichtet wird, das die
ganze Gegend zwischen Samosata und Mar'ash heimsuchte und viele Dörfer
und Klöster zerstörte ,6 ).
Ob der Bau wohl Pastophorien hatte? Darüber, ob bei der ersten
Anlage solche da waren, lassen sich nicht einmal Vermutungen anstellen;
die vorhandenen Reste sind zu spärlich. Wohl aber glaube ich, daß bei der
zweiten Anlage solche vorhanden waren. Denn einmal finden sich bei allen
bis jetzt bekannten Quertonnenkirchen Prothesis und Diakonikon vor,
besonders aber beweisen hier die beiden Türen D und E das Vorhandensein
solcher Nebenräume; die jetzt vermauerte Tür H erhebt dies auf der Nord¬
seite zur Gewißheit. Ob eine der letzteren entsprechende Türe auf der Süd¬
seite war, weiß ich nicht mehr; sie kann mir sehr wohl entgangen sein,
da dort der Schutt relativ sehr hoch liegt. Diese Nebenkammern müssen
ziemlich geräumig gewesen sein, denn bei der nördlichen scheint mir, daß
die Umfassungsmauern nur bei I und K angeschlossen haben können, da
* 5 ) Allerdings wäre auch nicht ausgeschlossen, daß diese polygone Anlage dem
jetzigen Chorrund als Basis gedient hätte; die heutige Apsis ist nämlich außen gar nicht
recht verblendet, und wir haben uns daher den Schnitt ihrer Mauer ursprünglich etwas
breiter vorzustellen. — Man kommt hier über Vermuten nicht hinaus.
,s ) Matthaeus von Edessa cap. 67, pag. 112 (rccucil des historiens des croisadcs
Textes arm^niens I).
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
490
S. Guycr,
die Mauervorsprünge L und M als strebepfeilerartige Abschlüsse gedacht
sind * 7 ). Das ergäbe einen den anderen bis jetzt bekannten Quertonnen-
kirchen ähnlichen Grundriß, bei denen auch die Ostmauer so gezogen ist,
daß höchstens das Halbrund der Apsis darüber heraussteht.
Das Schiff ist ca. 11 m lang und ca. 20 m breit ,8 ); leider ist nur die
Ostwand sowie ein kurzer Ansatz der Nordwand (s. den Schnitt) erhalten.
Die erstere ist durch eine Reihe durch Bögen miteinander verbundener
Strebepfeiler in eine Anzahl Nischen aufgelöst (Abb. 7). Über den Bögen ein
Gesims (Abb. 8), bestehend aus Sackkvma, und zwei Zahnfriesen darunter;
Abb. 7. Surp Hagop. Blick von Nordwest in da* Schiff.
vor der mittleren Hauptnische ist das Gesims rahmenartig umgebrochen, um
dieselbe etwas höher bekrönen zu können. Immer ist in der Mitte zwischen
je zwei Nischen unter dem Gesims ein rustikales korinthisches Kapitell * 9 )
in die Wand eingelassen und gleichsam als Bekrönung der Pfeiler zwischen
den Nischen gedacht. Auf dem durch dieses Gesims gebildeten Rücksprunge
der Mauer ruhen die das Tonnengewölbe tragenden Gurtbögen auf, sie sind
schön profiliert mit Sima und darunter zwei Zahnfriesen (Abb. 9).
* 7 ) Bei M. ist zwar der Abschluß nicht erhalten, dafür aber beim entsprechenden
Vorsprung der Südseite.
,8 ) Die Länge von \V. nach 0 ., die Breite von N. nach S. gemessen.
’ 9 ) Vgl. was ich darüber S. 4S8 gesagt habe.
Digitized by Google
Original from
UfVlIVERSITY OF MICHIGAN
Surp Hagop (Djinndeirmene), eine Klostcrruine der Kommagenc.
491
Eigentümlich ist die das Hauptschiff im Norden und auch im Westen
begleitende Bogenreihe. Sicherlich ist eine dritte im Süden zu ergänzen.
Die einzelnen Bögen, über deren Konstruktion meine Skizze Fig. 11 auf¬
klärt, standen jeweils senkrecht zur Wand des Schiffes. Sie bildeten eine
Art Umgang um dasselbe; dazu stimmt ihre Höhe, die mutmaßlich ca. 3 m
über dem Fußboden betrug. Dieser Umgang war zweistöckig, denn die
obere Konstruktion scheint mir dazu bestimmt, eine flache Steindecke
aufzunehmen; ich stelle mir das so vor, daß auf den Seiten über den Bogen -
pfeilern dicke Steinbalken von einem Pfeiler zum anderen gelegt wurden,
während man den mittleren Teil durch um 30 cm dünnere Platten verband;
30 cm, weil der mittlere Teil des Bogens um soviel höher ist. Da die Platten
Abb. 8. Hauptge¬
simse am Haupt¬
schiff. 1:13.
Abb. 9. Gurten des Tonnengewölbes im Hauptschiff.
1:13.
bedeutend schwächer waren als die Steinbalken und infolgedessen keine
so weite Spannweite vertrugen, half man sich dadurch, daß man den mitt¬
leren Teil des Bogens bedeutend breiter bildete. Und nun die große Frage:
Standen diese beiden Umgänge mit dem Schiff in Verbindung? öffneten
sie sich als Seitenschiff und Empore im Bogen oder sonstwie gegen das¬
selbe? Die in ihrem Anfang erhaltene Nordmauer scheint dagegenzuspre¬
chen. Aber es ist meiner Erinnerung nach zu wenig davon erhalten, als
daß man zuviel Gewicht auf diese Beobachtung legen könnte. Allerdings
könnte eventuell der Gang im Westen gegen das Schiff zu abgeschlossen
gewesen sein und eine Art Narthex gebildet haben; aber der Umgang im
ersten Stock, noch dazu ringsherum, schiene mir unsinnig, wenn er nicht
als Empore Verwendung gefunden hätte. Das Hauptargument jedoch für
die Existenz von Seitenschiffen und Empore bildet der Umstand, daß die
Umfassungsmauer des Schiffes, auf denen die Tonne aufruhte, außerhalb,
d. h. nördlich und westlich der betr. Bogenreihen sich erhob: im Norden
ist sie noch deutlich sichtbar; im Westen kann man daraus, daß sich an
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
492
S. G u y e t ,
der inneren (östlichen) Seite dieser Bögen eine kaum x /i m dicke Mauer 10 )
erhob, schließen, daß die Hauptabschlußmauer weiter westlich gelegen war,
so daß die Tonne auch diese westliche Bogenreihe miteingedeckt haben
muß, wodurch sich deren Lage innerhalb des Schiffes mit Sicherheit er¬
gibt. Ich neige daher der Auffassung zu, daß der untere Umgang weit eher
als Seitenschiff denn als Narthex anzusehen ist, während der obere auf der
Langseite wohl sicher, auf den beiden Schmalseiten höchstwahrscheinlich
auch als Empore diente. Dies mächtige tonnengewölbte Schiff mit den
sich rings herumziehenden Emporen wäre ein ganz eigenartiger, sonst nirgends
belegter Typus, der Surp Hagop zur großartigsten und interessantesten aller
dieser mesopotamischen Quertonnenkirchen machen würde.
Abb. io. Surp Hagop. Rekonstruktions- Abb. 11. Bogenkonstruktion
versuch (Skizze). (Skizze).
IV. Historische Untersuchung.
An den Kopf dieser Untersuchung gehört die von Moritz veröffent¬
lichte doppelsprachige Datierungsinschrift in der Apsis. Die syrische auf
der nördlichen Seite lautet in deutscher Übersetzung: »Erbaut in den Tagen
des frommen Mär Dionysius, des syrischen Patriarchen, und des Bischofs
Mär Theodorus (und) des Klosterabts Mares.« Die griechische nach Moritz:
sv toi« rjjxspai; Atovua'tou -a-ptapy^« xai 0 eo 8 u>po« taxotro«. Aus dem tot«,
aus dem Kasuswechsel 0 so 8 o>po; aus der kürzeren Fassung des grie¬
chischen Textes schließt Moritz, daß dem Schreiber das Griechische nicht
recht geläufig gewesen ist, was sicherlich der Fall gewesen sein mag, ob¬
gleich ich der Überzeugung bin, daß der griechische Text ursprünglich
20 ) Diese kann gut von Arkaden durchbrochen gewesen sein, was jetzt nicht mehr
zu sehen ist.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Surp Hagop (Djinndeirmene), eine Klosterruine der. Kommagene.
493
nicht kürzer gefaßt war. Die zwei letzten Steine sind nämlich herausge¬
nommen und durch neue ersetzt. Dies ist in einer Zeit geschehen, in der
man immerhin noch einiges Stilgefühl hatte; denn man hat sich die Mühe
gegeben, diese neuen Steine auch zu profilieren, aber doch muß damals
dieses Stilgefühl gegenüber dem der früheren Zeit ziemlich gesunken sein;
denn trotz des offenbaren Bestrebens, das alte Profil zu imitieren, ersetzte
man die obere Hohlkehle durch eine einfache Schräge. Sehr gut möglich,
daß dies nach dem Erdbeben von 1114 geschah ai ).
Doch zurück zur Inschrift. Von den drei genannten Persönlichkeiten
sind zwei bekannt: der Patriarch Dionysius und der Bischof Theodorus.
Und zwar nimmt Moritz an, daß von den sieben jakobitischen Patriarchen,
die Dionysius hießen, es der erste dieses Namens gewesen sei: Dionysius I
von Tel Mahrd, der berühmte Chronist und zwanzigste Patriarch der Jako-
biten (818—845). Beinahe zur Sicherheit wird diese Annahme dadurch
erhoben, daß in der gleichen Zeit bei Barhebraeus ein Bischof Theodorus
Abt von Mär Jakub genannt wird M ). Weiter bestärkt wird diese Hypothese
dadurch, daß am Anfang des 9. Jahrhunderts Harün al-Rashid das Kloster
hatte zerstören lassen * 3 ), so daß damals ein Neubau nötig war. Moritz
vermutet nun, daß Harün, als er später durch die gleiche Gegend zog, die
Erlaubnis zu einem solchen gegeben haben mag. Aber jedenfalls ist die
Ausführung der Erlaubnis nicht auf dem Fuße gefolgt, da Harün bereits
809 starb. Erwähnen möchte ich noch, daß die Inschrift und der Bau sicher¬
lich gleichzeitig sind; die Inschrift ist kein Graffito, sie kann unmöglich
später eingekritzelt sein, die Lettern sind hoch erhaben aus demselben Stein
gemeißelt wie das Profil. Die Klosterkirche von Surp Hagop ist demnach
fast sicher in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts erbaut worden * 4 ).
Dies Resultat ist für den Kunsthistoriker vollkommen verblüffend.
Strzygowski hat im Glauben an den tiefgreifenden Einfluß der mesopota-
misch-christlichen Bauten am Werden der christlichen Kunst alle betreffen¬
den Denkmäler, die Amidafassade, die Kirchen des Tür ‘Abdin usw., in
ein sehr hohes Alter hinaufgerückt. Für Amida dachte er an das 4. Jahr¬
hundert; über die Tür * Abdin-Klöster spricht er sich nicht präzis aus, sagt
jedoch, daß die alten Chorbögen um »Jahrhunderte älter« als die nach seiner
Annahme aus dem 8. stammenden Chorschranken der Kirche von Arnas
sein müssen. Darüber später.
*‘) Vgl. S. 4 n. 16.
**) Kirchengescbichte, ed. Abbeloos & Lamy, 1 347 ff.
* 3 ) Barhebraeus, Chron. 134.
*♦) Wenn vom Standpunkte des Epigraphikers ein Zweifel gegen diese Datierung
erhoben werden konnte, so wäre es höchstens der, daß einer der späteren Patriarchen
Dionysius in der Inschrift gemeint wäre; das ist dann aber kunstgeschichtlich kaum möglich.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
494
S. G u v e r ,
# 9
Als Beweis für ihr hohes Alter führt er noch das • Jakobskloster bei
Urfah an * 5 ) sowie auch Surp Hagop, von dem er meint, daß es wegen
der Kannelierung der Schäfte an den korinthischen Pilastern und andern
in früher Zeit vorkommenden Einzelheiten sehr hoch in altchristliche Zeit
heraufzurücken sei 16 ). Allerdings sind diese frühen Datierungen der meso-
potamischen Denkmäler, die einem kein zutreffendes Bild des Werdens der
mesopotamischen Kunst geben, von einigen stark angezweifelt worden * 7 ).
Es ist daher angesichts so widersprechender Urteile von Wert, daß hier
auf unzweideutige Weise ein urkundlicher Beweis
erbracht ist, daß dieser konservativ klassische
Stil bei den syrischen Christen bis tief in die is¬
lamische Zeit hinein in Übung geblieben ist l8 ).
Von außerordentlicher Wichtigkeit ist es nun, daß wir uns durch Ver¬
gleich mit anderen Denkmälern über den Charakter dieses Stils bis in alle
Einzelheiten hinein klar werden, denn nur so können wir an Hand der hier
gewonnenen Erkenntnis auch die anderen Denkmäler danach beurteilen
und uns über ihre mutmaßliche Entstehungszeit sowie über ihre entwick-
%
lungsgeschichtliche Bedeutung aussprechen. Die Hauptelemente, wie die
meisten Profile (der Gurtbögen, des Chorbogens usw.), die Kapitelle, die
Pilaster sind nun der Hauptsache nach den Motiven der syrisch-christlichen
Kunst des 6. Jahrhunderts durchaus analog; das liegt so sehr auf der Hand,
daß cs verlorene Zeit wäre, dies näher zu beweisen. Aber nur in der Haupt¬
sache, in manchen Einzelheiten liegen, im Vergleich mit den syrischen
Kunstformen, Unterschiede vor; Unterschiede, die zwar keine neue Gedanken
zeigen, sondern wohl eher als Mißverständnis und Degenerierung erklärt
werden müssen. Hier muß nun gleich bemerkt werden, daß die Behandlung
dieses Problems an und für sich sehr subtil ist; nicht nur weil die hier auf-
tretcnden Formen den älteren oft außerordentlich ähnlich sind» sondern
vor allem, weil sich diese Degenerierung nicht genetisch entwicklungsmäßig
nach einer Richtung hin vollzieht. Daher kommt es, daß die Unselbständig¬
keit und Ungeschicklichkeit in der Wiedergabe der alten Formen wie bei
allen absterbenden nur noch kopierenden Kunststilen sehr verschieden ist
und der Zufall eine große Rolle spielt. So erscheint das gleiche Kapitell,
das gleiche Profil an einem Orte mehr so, an einem anderen wieder etwas
: 5) Es ist keine Rede davon, daß das Kloster aus so früher Zeit stammt. Es wird
nicht viel älter als Surp Hagop sein. Der Grabturm hat mit der Kirche nichts zu tun.
**) Amida, pag. 268/9.
* 7 ) Vgl. besonders Herzfeld, in seiner Rezension des Amidabuches in der orienta-
listischen Literaturzeitung, September 1911.
* 8 ) Dies ist auch eine bemerkenswerte Parallele für den Gebrauch klassischer Formen
bei den islamischen Bauten von Mshattä und Harran.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Surp Hagop (Djinndeirmene), eine Klosterruine der Kommagene.
495
anders degeneriert, und es handelt sich hier eben hauptsächlich darum,
zu finden, was allgemein charakteristisch und typisch ist. Als weitere Schwie¬
rigkeit kommt dann noch hinzu, daß es an genügend veröffentlichtem Ma¬
terial fehlt, an dem man diese verschiedenen Verbildungen der hellenistischen
Formen beobachten und vergleichen könnte. Die meisten bisherigen Publi¬
kationen lassen einen hier mehr oder weniger im Stich, da die betreffenden
Bauglieder oft nicht in genügendem Maßstabe reproduziert sind. Ich muß
daher von vornherein bitten, bei meinen Äußerungen im Auge zu behalten,
daß es sich mehr um Versuche zur Darstellung der dieser späten Kunst
typischen Merkmale handelt.
Nehmen wir zuerst einmal die beiden Chorkapitclle. Sie weisen
jenen rustikalen ungeschnittenen Akanthus auf, den wir schon an den helle¬
nistischen Bauten Syriens finden, der dann an den Kirchen des 5. und 6. Jahr¬
hunderts wiederkehrt * 9 ), und der sich später aus den hellenistischen Stilen
in die des früheren Mittelalters, z. B. nach Spanien 3 °) und in die früh
islamische Architektur 3 1 ) hinübergerettet hat. Sie sind im nördlichen
Mesopotamien fast ebenso häufig. wie die korinthischen Girlandenkapitelle.
Die meisten derselben scheinen nun aber, mit den vor 600 entstandenen
syrischen verglichen, beträchtliche Unterschiede aufzuweisen. Die letzteren
nähern sich in Höhe und besonders in ihren schön konkav geschwungenen
Konturen den antiken Kapitellen; in der Mitte des Blattes ist immer eine
sanft geschwellte Blattrippe, und das etwas spitz auslaufcnde Ende neigt
sich nach vorne und rollt sich mit der äußersten Spitze fast ein wenig um.
Davon weichen die mesopotamischen Stücke in allerhand Punkten ab: oft
ist z. B. das Kapitell, besonders in den Höhendimensionen, und zwar schon
im 6. Jahrhundert, viel gedrängter 3 l ); andere Male ist die Silhouette nicht
mehr schön geschwungen, sondern die untere Blattreihe steht vollkommen
vertikal und steif in die Höhe und die obere Reihe ist ebenso steif etwas
auf die Seite geneigt 33 ). Das Hauptcharakteristikum sieht man aber —
dies betrifft gerade die Stücke von Surp Hagop — bei der Behandlung
des Blattes selber; zur Charakterisierung des Überhängens ist an der Spitze
ein kleiner Einschnitt gemacht und hängt dann das herausgeschnittene
Stück wie eine kleine Zunge herunter 34 ), eine Bildung, die sich auch an
J 9 ) Nach Butler, pag. 28, *the most usual form«.
3 °) Mehrere Beispiele bei Dehio und von Bezold, Die kirchliche Baukunst des Abend -
andes, Tafel 34.
3 1 ) Z. B. Harrän, vgl. Preuüer, Nordmesopotamische Baudenkmäler, Tafeln 74—76.
3 *) Z. B. bei den Kapitellen des Umbaues der Sergiuskirche in Ru$äfah, vgl. Sarre
in den Monatsheften für Kunstwissenschaft 1909, 2, pag. 101; sie sind vielleicht Spolicn.
33 ) Z. B. die oben erwähnten Stücke von Harrftn. Im Tür *AbdIn vgl. Saläb, Preußcr
lo. c. Tafel 47.
3 ««) Parallelen: die oben erwähnten Stücke von Ru§äfah sowie in Halabiyyah; im
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
496
S. Guvcr,
korinthischen Kapitellen vermutlich bereits des 6. Jahrhunderts in Ru§äfah
und Färqtn nachweisen läßt. Und statt der einen Blattrippe befinden sich
mitunter — es scheint dies besonders in späterer Zeit der Fall zu sein —
deren zwei, die unten an den beiden Ecken beginnen und sich kurz vor
der Spitze, ein gleichschenkliges Dreieck bildend, wieder begegnen resp.
sich vereinigen 35 ).
Auch das Glied zwischen Kapitell und Pilaster hat
im Vergleich zu den syrischen Denkmälern etwas anders geartete Formen.
Das christliche Syrien verfährt da viel antiker, indem es gewöhnlich ein
rundes Glied unter das Kapitell schiebt. In Mesopotamien ist dagegen, wie
in Surp Hagop, dem Kapitell fast immer ein reich gebildetes Auflager unter -
gestellt, bei den jüngeren Denkmälern wie hier, sehr oft eine Sima, gewöhn¬
lich mit Zahnfries; jedenfalls ist dieses letztere Motiv allein in Mesopotamien
stereotyp. Gänzlich unantik ist auch die Art und Weise, wie die Kapi¬
telle des Schiffs einfach unter das Gesims in die Wand eingelassen
sind, ohne daß ein Pilaster auch nur angedeutet wäre. Es kommt zwar
zuweilen auch schon in Syrien vor, daß ein Kapitell in dieser Weise ohne
dazugehörigen Pilaster angebracht wird; aber immerhin geschieht es dort
wenigstens an der äußeren Ecke eines Gebäudes, so daß man mit dem Auge
unwillkürlich den Pilaster ergänzt. Ich glaube aber doch kaum, daß sich
ein syrischer Archtitekt getraut hätte, die Kapitelle so anzubringen wie
in Surp Hagop.
Auffallend ist ferner — wenn man von Syrien kommt — in Surp
Hagop die häufige Verwendung des Zahnfrieses ; er kommt
hier mehrmals vor: unter dem Kapitell, unter den Gesimsen, bei den Gurt-
bögen. Im Altertum und auch im christlichen Syrien ist das Motiv ziemlich
selten. Auch bei den älteren mesopotamischen Kirchen ist es nicht häufig
angewandt. Dagegen finden wir es überall im Tür ‘Abdin, überall bei Urfah
(eine dieser Kirchen ist aus dem Jahre 766/767 datiert 3 *); auch dies ein
Hinweis, daß diese verschiedenen Bautengruppen zeitlich einander wohl
nahestehen.
Noch auffallender ist das Gesimsprofil der Apsis. Die Sima
ist hier in zwei Glieder, oben Hohlkehle, unten Wulst, aufgelöst, die beide
durch einen Steg verbunden sind. Es ist dies hier eine ganz vereinzelte
Bildung 37 ); nur an der wohl auch jüngern Kirche von Nizib kenne ich ein
Tür f Abdin; Häkh, ‘Adhräkirche; Saläh u. a. m. Die Beispiele ließen sich ins Unerme߬
liche steigern.
35 ) Eine fast identische Behandlung an einem Kapitell des Narthex der ‘Adhrä
kirche in Häkh.
3 6 ) Ütsh Kiiiseh, vgl. Moritz o. c. pag. 135 ff.
37 ) Ein Pfcilergcsims bei der aus dem Ende des 6. Jahrhunderts stammenden Kirche
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Surp Hagop (Djinndeirraene), eine Klostenuinc der Kommagenc.
497
analoges Profil, das dort als Außengesims an der Apsis Verwendung ge¬
funden hat. Sonst findet man als Apsisgesims fast überall in der Gegend
die Sima mit Zahnfries vor. Ich vermute fast, man habe hier wegen der
Inschrift, die gerade in die Hohlkehle zu stehen kam, eine Ausnahme ge¬
macht. Unterhalb derselben wurde der Wulst und Kehle trennende Steg
eingeschaltet, wodurch die Buchstaben oben und unten durch eine feste
Linie begrenzt wurden.
Ebenfalls in den Rahmen wahrscheinlich jüngerer
Kunstformen gehört der Wulst (Abb. 12), der, soviel
ich mich erinnere — meine Notizen sind hier nicht ganz
klar — über dem Gesimse des Schiffes dem Tonnengewölbe
als Auflager dient; er bildet gleichsam eine Art Basis.
Das gleiche gilt von den das Tonnengewölbe be¬
gleitenden Quergurten; sie zeigen die syrische Sima
mit zwei Zahnfriesen, eine Bildung, die ganz in den gleichen
Charakter wie die übrigen Profile cinschlägt.
Soweit die Details. Es fällt einem auf, wie sehr diese
Schmuckformen — wieder im Gegensatz zu Syrien Abb. 1a. Auf-
und im Einklang zu den Tür ‘Abdin-Bauten — mehr lager des ^ on
. . nengewölbes
innen statt außen angebracht sind. Wie kahl wirkt j m Hauptschiff
doch neben der Apsis der ‘Adhräkirche in Häkh die der 1 : 13.
Kirche von Turmänin, und wie reich erscheint im Vergleich
zu der Mehrzahl der Tür ‘Abdin-Kirchen das Äußere der syrischen Bauten:
es ist dies eine Parallele zu der im Mittelmeergebiet bereits früh einsetzen¬
den Vernachlässigung der Außenarchitektur, die speziell hier auch dadurch
bedingt sein mag, daß m. E. die meisten in Frage stehenden Bauten erst
unter islamischer Herrschaft entstanden sind.
Über den Plantypus der Kirche will ich in einem besonderen Abschnitt
reden; hier möchte ich aber doch noch bemerken, daß die großen Nischen
an der Ostwand des Schiffs in den Quertonnenkirchen des Tür
‘Abdin (Mär Gabriel und Saläh) ihre Analogien haben.
Die kleinen mehr dekorativen Nischen in der Apsis und
im Sanktuarium sind auch charakteristisch für jüngere Bauten.
Die mittelalterlichen Bauten in Kilikien haben fast alle ähnliche Bildungen;
der syrisch-christlichen Kunst sind sie hingegen vollkommen fremd.
Ich fasse zusammen: im 9. Jahrhundert haben wir hier eine technisch
recht hochstehende, durch und durch konservative Schultradition, die
während der ganzen umayadischen Epoche und noch später die Motive
von Nawa, ebenfalls aus Kehle und Wulst bestehend, differiert anscheinend stark mit
unserem Stück; es soll wohl eine syrische Sima vorstellen. Vgl. Ancient Architecturc in
Syria Sect. B. Part. I, pag. 14.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
49 8
S. Guyer,
des syrisch-christlichen Hellenismus bewahrt, aber nicht bereichert hat.
Der Unterschied gegenüber der älteren Kunst besteht mehr in einigen Bar-
barisierungen sowie mitunter in einer gewissen trocken-schematischen, etwas
monoton-stereotyp wirkenden Formgebung.
V. Konsequenzen für die Datierung und Bewertung
der anderen mesopotamischen Bauten.
Dieses Resultat wirkt umwälzend auf unsere Anschauungen über die
Entstehungszeit der nordmesopotamischen Kirchen im Tür ‘Abdin und in
derOsrhoene. WennSurpHagop so jung ist, dann müssen
auch viele jener anderen östlichen Kirchen um
Jahrhunderte jünger sein als Strzygowski ange¬
nommen hat. Strzygowski hat jene Bauten in eine Reihe verschiedener
Typen eingeteilt, denen er ein sehr hohes Alter und infolgedessen hohe
entwicklungsgeschichtliche Bedeutung beimißt.
Ich folge seiner Einteilung.
Erstens die Quertonnenkirche. Ich beginne mit demjenigen
Bau, der am meisten Ähnlichkeit mit Surp Hagop besitzt: der dem gleichen
Heiligen geweihten Kirche von S a 1 S h. 3 8 ) Die Proportionen, die weit¬
räumige Anlage des Sanktuariums 39 ) erinnern stark an Surp Hagop. Die
Profile der Archivolten und Gesimse sind fast gleich; die Kapitelle der
Sanktuariumstür weisen genau die gleichen Eigentümlichkeiten auf; bei denen
der Apsis fehlt wie bei denen des Schiffes des kommagenischen Baus der
Pilaster. Die schmalen Schlitzfenster erinnern trotz der antikisierenden, sie
umkleidenden Profile an mittelbyzantinische Bildungen. Alles Umstände,
die es wahrscheinlich machen, daß Saläh auch erst ungefähr zur selben Zeit
wie Surp Hagop entstanden sein kann. Auch jene schön skulptierten Pilaster
rechts und links der Sanktuariumstür sprechen nicht dagegen. Abgesehen
davon, daß sie Spolien eines älteren Baues sein können, was ich zwar kaum
glaube, ist uns das Fortbestehen der alten Steinmetztraditionen durch die
Fassaden von Amida und Mshattä genügend gewährleistet. Sehr wird
diese Hypothese gleichzeitiger Entstehung durch den epigraphischen Befund
bestärkt; Pognon 4 °) konstatierte im Narthex II Grabinschriften des io.
und II. Jahrhunderts, so daß m. E. als ziemlich bestimmt anzunehmen
ist, daß die Kirche kurz vorher entstanden ist. Daß Mär GabrieM 1 )
3 8 ) Vgl. die Aufnahmen von Miß G. L. Bell bei v. Berchcm-Strzygowski, Amida
p. 236 ff., und Prcußer. o. c. pag. 33 fl.
39 ) Besonders der l‘rnstand. daß der Apsis mit dem Altar ein Y'orchor wie in Surp
Hagop vorgelagert ist.
4 °) Pognon, Inscriptions de la Mesopotamic pag. 62 IT.
*') Amida, pag. 230 fl.; Prcußer, pag. 31 fl.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Surp Hagop (Djinndeirmene), eine Klosterruine der Kommagene.
499
älter ist als Saläh, ist wohl als zweifellos anzunehmen * J ). Ob aber der
jetzige Bau wirklich auf Anastasius zurückgeht, ist nicht vollkommen
sicher. Eine Berliner Handschrift, die von diesem Bau im Jahre 511/512
berichtet 43 ), scheint nicht in allem zur jetzt sehenden Kirche zu stimmen,
und es ist daher sehr gut möglich, daß die Erinnerung an den Abt Gabriel
und an den Kalifen ‘Umar, die sich in den Namen Mär Gabriel und Dair
al-Umr ausspricht, mit einem Neubau zu jener Zeit, also Anfang des 7- Jahr¬
hunderts, in Beziehung zu bringen ist. Andrerseits aber könnte ich mir
doch leicht denken, daß dieses ungefüge Bauwerk, das kein einziges archi¬
tektonisches Profil aufweist, das früheste aller Tür ‘Abdin-Bauten wäre;
cs würde uns zeigen, wie man Anfangs des 6. Jahrhunderts in jener Gebirgs¬
gegend architektonische Aufgaben löste. — Kaum eine Tagereise von Mär
Gabriel entfernt ist eine ähnliche Quertonnenkirche, die ich wegen des
ganz analog gebildeten Sanktuariums ebenfalls für sehr alt ansah: Mär
B a s c h i u s. Die Technik ist ebenfalls roh und fehlt auch das dürftigste
Profil. Ergebnis : Die ältesten Quertonnenkirchen des Tür ‘Abdin
lassen sich frühestens im Anfang des 6. mit Sicherheit erst im 7. Jahr¬
hundert nachweisen.
Zweitens: Die tonnengewölbte Saalkirche. Hier sei
gleich anfangs bemerkt, daß die eingebauten Strebepfeiler samt Tonnen¬
gewölben sämtlich jung zu sein scheinen. Auch die Umfassungsmauern
sind bei einigen Bauten etwas problematisch. Von Bautenwie MärSo vom)
in IJäkh als auch von K a f r Z a h 45) ist es schwer, ein bestimmtes Datum
anzugeben. Mir persönlich scheint es kaum möglich, daß sie vor dem 7. Jahr¬
hundert entstanden wären; besonders die Apsisgesimse scheinen mir dies
nahezulegen 46 ). Für noch jünger halte ich die Kirche von Arnas 47 ).
Ich glaube schwerlich, daß sie vor dem 8. Jahrhundert entstanden sein
kann. Der Blattschnitt der Kapitelle, die Art und Weise, wie dieselben
auf das sich darunter verkröpfende Gesims gestellt sind, ist doch sehr weit
von den klassischen Traditionen des 6. Jahrhunderts entfernt. Strzygowski
hat nun den Bau von Arnas zum Ausgangspunkt seiner Untersuchungen
«*) Die Bildung des Sanctuariums ist mit Salami verglichen sehr altertümlich. Ein
zweites Kriterium für ein höheres Alter bilden die Mosaiken.
43 ) Gütige Mitteilung von Herrn Dr. Anton Baumstark. — Ist dieses Ms. wohl
identisch mit dem von Socin (DMG 1835) pag. 252 erwähnten Karschunischcn Ms. ?
«) Aufnahmen Miß Beils im Amidabuche pag. 243 ff.
45 ) Aufnahmen Miß Beils im Amidabuche pag. 250 ff.
4 6 ) Überall das Schema Sima-Wulst-Sima, die Sima schon fast Hohlkehle mit
Palmettenornament. Weder das 6. Jahrhundert in Syrien noch auch die Kirchen von
Ru^äfah und Färqln kennen derartige Apsisgesimse.
47 ) Aufnahmen Miß Beils im Amidabuche pag. 247 ff.
Repertorium für Kunstwissenschaft, XXXV. 3.3
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
500
S. Guycr,
über die Entstehungszeit der Tür ‘Abdin-Kirchen gemacht, und man möge
mir daher verzeihen, wenn ich hier etwas weitläufiger werde. Da der Chor-
verschluß mit seinen geometrischen Ornamenten durch eine von Pognon 4 *)
veröffentlichte Inschrift in das 8. Jahrhundert datiert sei, nahm Strzy-
gowski an, der Chorbogen müsse »um Jahrhunderte älter« sein. Mit einem
bin ich einverstanden: Chorbogen und Chorverschluß liegen um Jahrhunderte
auseinander. Sehen wir uns nun aber den Architrav dieses Chorverschlusses
näher an; die Hauptfläche wird von rein geometrischen, in Quadraten ein-
geordneten Ornamenten eingenommen, darüber und auf der Seite als Rah¬
menmotiv ein rohes Stalaktitenornament. Man denke: Stalaktiten als
Umrahmung im 8. Jahrhundert, vor der Ibn Tülün, vor Samarra! Ich
denke, es wird niemand widersprechen, wenn ich diesen Chorverschluß
in das spätere Mittelalter, etwa 14. Jahrhundert, datiere. Es ist also gar
nicht anders möglich, als daß die erwähnte Inschrift eine Spolie ist. Und
nun wird uns alles klar: als man in mittelalterlicher Zeit jenen Chorver¬
schluß errichtete, benützte man dazu wohl auch die Bauinschrift eines
früheren Baus, wohl desjenigen, von dem die jetzige Apsis stammt, von
der ich annahm, daß sie dem 8. Jahrhundert nahestehe. — Mär Augen
und Mär Yuhannä werden eher noch etwas jünger sein. Von Mär
Augen 49 ) sind zwar die Details schlechter als sonstwo erhalten, aber das
*
wenige noch Sichtbare beweist ohne weiteres die Zugehörigkeit zur gleichen
Schule. Mär Yuhannä 5 °) habe ich leider nicht besucht, aber wie Herzfeld
richtig bemerkt 5 ‘), w r eisen die Ziegeltrompen des Kuppelgewölbes im
Narthex auf eine jüngere Zeit, aus der wohl der ganze Bau stammt.
Ergebnis : Die noch vorhandenen ursprünglich flachgedeckten
Bauten des Tür ‘Abdin-Gebietes lassen uns vermuten, daß dieser Typus
während der ganzen byzantinischen Epoche dort bekannt war. Wann und
wo die ersten derselben überwölbt wurden, ist schwer zu sagen; die justini¬
anische und die derselben vorhergehende Zeit kommt hierfür nicht in Be¬
tracht. Vielleicht kannte man in den darauffolgenden Jahrhunderten ein¬
zelne solcher Gewölbebauten 5 »); die Saalkirchen des Tur ‘Abdin-Gebietes
wurden jedoch wahrscheinlich erst im Mittelalter eingewölbt.
Drittens: die Kuppelbauten. Erst zwei Bauten mit richtigen
Trompenkuppeln: Erstens der schon erwähnte Narthex von Mär
4 ®) Pognon o. c. pag. 99 .
49 ) Amidabuch, pag. 225.
5 °) Amidabuch, pag. 230.
5 1 ) In der O. L. Z. September 1911, pag. 412.
* a ) Kümmerliche Fundamentreste eines solchen Baues fand ich auf dem Nimrüd
Dagh beim Kloster Mar Yaqüb. Seine Profile weisen auf eine Epoche, die schon ziemlich
entfernt von der justinianischen Zeit ist.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Surp Hagop (Djinndeinnene), eine Klosterruine der Kommagene.
501
Yuhanna, für den man wohl etwa das 8. Jahrhundert als terminus
a quo annehmen muß. Dann die ‘Adhrä-Kirche von Häkh 53 ).
Hier läßt sich aus dem Vorkommen der Trompen allein kein sicherer
Schluß auf spätere Entstehung ziehen, da es nicht über allem Zweifel steht,
ob sie gleichzeitig mit dem übrigen Bau sind. Aber schon die ganze Plan-
anlage (offener Narthex, quergelegtes Schiff, Chor und Pastophorien), dann
die Technik (Ziegelwölbung des Narthex), die verschiedenen Schmuckformen
(rustikale Kapitelle fast identisch mit denen von Surp Hagop usw. usw.)
lassen es uns als fast sicher erscheinen, daß er in die gleiche Schule wie die
anderen Tür ‘Abdin-Bauten gehört. Was dagegen die ä 11 e r e n Zentral¬
anlagen von N a s i b I n 54 ) und D a i r e z Z a *f a r ä n 55 ) anbetrifft, so
sind sie trotz ihres dekorativen Reichtums in baulicher Hinsicht das ein-
fachst Denkbare. Wahrscheinlich hattp damals überhaupt keine eine Kuppel.
— Nur noch kurz möchte ich andeuten, daß auch noch zwei Kuppelbauten
von Amida selber ganz sicher dem späteren Mittelalter angehören: der
Kuppeleinbau der jakobitischen Kirche 5 6 ) und die so -
genannte Nestorianerkirche 57 ). Über die großen städtischen
Zentralbauten später. Also auch hier das Ergebnis, daß gerade
jene entwickelteren Bauten mit Trompenkuppeln in Nordmesopotamien
der späteren Zeit angehören.
Und die Basilika? Fest steht es, daß in den mesopotamischen
Städten solche w’aren; ja ich vermute, daß es die übliche Bauform der Ge¬
meindekirchen im 6. Jahrhundert war. In F ä r q ! n nahm ich eine solche
auf, die Khosrau II. erbaut hat; gleichzeitig mögen diejenigen von
Rusäfah und IJalabiyyah sein; sicher ist auch die Kosmaskirche in D i -
y ä r b a k r 5 8 ) als solche zu ergänzen, und zwar wahrscheinlich nicht wie
die anderen als Pfeiler-, sondern als Säulenbasilika. Auch auf dem Lande
mögen da und dort Basiliken gewesen sein; ich kenne zwar nur wenige
und jüngere Beispiele, die aber doch vermuten lassen, daß auch
in früherer Zeit solche da waren.
53 ) Amidabuch, pag. 258 ff.
54 ) Preußer o. c. pag. 40 ff. Taf. 49 ff.
55 ) Preußer o. c. pag. 49 ff. Taf. 62 ff.
5 6 ) Amidabuch, pag. 187 ff.; Plan, pag. 192. Der achteckige Einbau hat mit der
ursprünglichen Saalanlage nichts zu tun; er entstammt wohl dem Mittelalter. Seine Pfeiler
verdecken auf sehr häßliche Weise die Kapitelle und den Triumphbogen der Apsis.
Miß Bell hat dies schon erkannt, hat aber irrtümlicherweise auf ihrer Planskizze den
Einbau als gleich alt wie die Apsis angegeben. Darum habe ich dies hier nochmals klar¬
stellen wollen.
57 ) Amidabuch, pag. 173 ff.
5 ®) Amidabuch, pag. 167 ff.
33 *
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
502
S. G u y e r ,
Wir sehen somit, daß die geläufigen Typen aus
der Zeit vor 600 wahrscheinlich nur der Querton¬
nentypus für Klosterkirchen, die Basilika und der
einschiffige flachgedeckte Saal 59 ) für Gemeinde¬
kirchen waren; mit Ausnahme der Quertonnen-
kirche, die architekturgeschichtlich nur rein loka¬
le Bedeutung hat, lauter Typen, die auch in Syrien,
und dort viel früher und in viel reicherer Ausbil¬
dung Vorkommen. Das gleiche gilt, wie weiter unten gezeigt werden
soll, auch von den sporadisch vorkommenden größeren Zentralbauten.
Daher ist auch nicht der Nachweis erbracht, daß
die mesopotamischen Bauten tiefgreifend an der
Entwicklung der christli c^h en Kunst teilgenommen
hätten. Nirgends scheinen sie Anregungen gegeben zu haben, sie haben
nur empfangen. Sie haben die erhaltenen Formen, wenn auch zeitweise
mit ziemlicher technischer Fertigkeit, stereotyp und schematisch durch
Jahrhunderte und Jahrhunderte wiederholt, und zeigen uns so in ihren
letzten Repräsentanten das Bild eines dürren abgestorbenen Zweiges der
christlichen Architektur.
Vor allem kann ich nicht glauben, daß Mesopo¬
tamien auf dem Gebiete des Gewölbebaucs Führer
gewesen wäre. Wenn z. B. Strzygowski sagt, daß sich heute b e -
weisen lasse, daß Mesopotamien der Ausgangspunkt der »romanischen
Gewölbekunst« sei 6o ), so entspricht dieser Ausspruch in dieser absoluten
und präzisen Form nicht den Tatsachen. Denn gerade in der in Betracht
fallenden Zeit scheint man in Mesopotamien bei den Gemeindekirchen dem
syrischen Beispiele gefolgt zu sein und hat alle Längskirchen flachgedeckt.
Höchstens bei den Klosterkirchen mit quergelegtem Schiffe läßt sich früh¬
zeitige Entstehung vermuten, aber gerade dieser Typus ist anscheinend ohne
jede Nachfolge geblieben. Selbst für Kleinasien glaube ich kaum, daß hier
in Mesopotamien das Stammland der W r ölbung zu suchen ist, da die klein-
asiatischen Kirchen älter sind als die mesopotamischen. (Kirche I. aus
Binbirkilise mit Inschriften des saec. V.) Ganz gleich liegt es auf dem
Gebiet des Dekorativen in der Architektur. Auch hier ist alles von Syrien,
einiges wenige vom Mittclmeerkrcis cingedrungen. Import ist aber alles.
59 ) Sicher datierte Beispiele vor 600 gibt es in Mesopotamien zwar nicht. Doch
ist anzunehmen, daß wohl ebenso wie in Syrien solche schon sehr früh da waren,
ln Elif nahm ich einen solchen Bau auf, der bald nach 150 p. Chr. entstanden sein mag.
6°) J. Strzygowski, Der Eintritt Mesopotamiens in die Kunstgeschichte, ln den
Monatsheften für Kunstwissenschaft, Januar 1910, pag. 2.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Surp Hagop (Djinndeirmene), eine Klosterruine der Kommagene.
503
Eine Einwendung könnte man machen: man kann sagen, daß die
paar großen Städtebauten in Amida, Rusäfah, Wirän-
s h a r dafür sprechen, daß eine mächtige schöpferische Kraft der dortigen
Kunst innewohnte 6l ). Nun scheinen mir aber gerade diese Bauten mehrere
Züge zu tragen, die darauf hinweisen, daß sie nicht als spezifisch mesopo-
tamische anzusehen sintl. Die Zentralkirche von Rusäfah ist zwar
allerdings von einheimischen Steinmetzen erbaut worden, aber der Plan¬
typus dieses wahrscheinlich erst nach Justinian entstandenen Baues 6l ) zeigt
Zusammenhänge mit dem im Mittelmeerkreise entstandenen Typus der
Kuppelbasilika. Gleich liegen die Beziehungen beim heutigen Hofe der
jakobitischen Marienkirche in Amida: auch hier ein zentrali¬
sierendes Schiff mit apsidialen Ausbuchtungen und langgestrecktem Chor.
Auch das dritte Beispiel W iränshahr, bei dem, nebenbei bemerkt, die
Durchbildung der Details namenlos dürftig ist, zeigt durch seinen Grundriß
ebenfalls Übereinstimmungen mit den im Westen errichteten Zentralkirchen 6 3 )
Und warum sollten nicht auch die Großstädte des Westens in mächtigen
Dimensionen erbaute Monumentalkirchen gehabt haben? Ganz abgesehen
davon, daß sich Qal‘at Sim‘än ohne weiteres neben die erwähnten großen
mesopotamischen Bauten stellen kann, müssen wir uns immer vor Augen
halten, daß wir bis jetzt schließlich nur die Bauten von kleinen Landstädten,
von Villenorten usw. kennen. Die Madrasah al-yaläwiyyah, die von Herz¬
feld auf der von Sobernheim unternommenen Expedition nach Aleppo auf¬
genommen wurde, zeigt einem, daß solche Stadtkirchen ganz andere uns
bisher unbekannte Plantypen aufweisen, und von Horns erzählt mir Herz-
feld, daß die dortige Hauptmoschee Reste eines vorislamischen Baues von
mächtigen Dimensionen mit mehreren Querschiffen enthalte. Und was
wollen wir überhaupt über christlich - syrische Monu¬
mentalbauten reden, bevor wir in Antiochia gegraben
haben??
VI. Das Orientalische an Surp Hagop.
Der Grundriß.
Im Amidabuch haben sowohl Miß Bell als auch Strzygowski darauf
hingewiesen, daß die Quertonnenkirchen mit keinem der üblichen Kirchen-
grundrissc etwas zu tun haben, und vielmehr auffallende Ähnlichkeit mit
6l ) Vgl. das Kapitel »Die zentralen Riesenbauten der Städte« im Amidabuchc
pag. 219 ff.
Der Bauformen wegen können die Bauten von Rusäfah erst aus der Zeit kurz
vor 600 stammen.
* 3 ) Man denke z. B. an die von Euscb (vita Const. III. 50) beschriebene Kirche zu
Antiochia.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
504
S. Guyer,
babylonischen Tempelanlagen aufweisen. Und mit einigem Recht: Das
quergelegte Schiff dieser christlichen Kirchen enspricht dem Hekal, die
Altarzelle dem Kebir, mit der Ausnahme, daß die Proportionen natürlich
etwas andere sind. Und zwar ist diese Ähnlichkeit nicht nur eine rein äußer¬
liche, denn es ist nicht von vornherein von der Hand zu weisen, daß die
betreffenden Plantypen vielleicht auch geschichtlich miteinander Zusammen¬
hängen könnten. So viel ich mich nun erinnere, ist es noch nicht unternommen
worden, die verbindenden Mittelglieder zwischen dem alten Babylonien und
den christlichen Klöstern zu erwähnen; eine Anzahl dieser Mittelglieder
sind von Kohl zusammenhängend publiziert worden 6 4 ). Es sind dies eine
Anzahl klassischer antiker Tempelanlagen in der Gegend von Petra, südlich
des Toten Meers; Qa?r Fir'aun in Petra 6 S), Qa$r Rabbä w ), außerdem viel-
leicht ein Tempel von Mhayy * 7 ) und eine Ruine von Tawäne 68 ). Die beiden
ersten bestehen aus einem Adyton mit zwei Nebenräumen, einem quer
davorgestellten oblongen Raum und einer Vorhalle, die bei Qa§r Rabbä
von zwei Treppentürmchen flankiert wird. Über die beiden anderen, von
denen nicht ganz feststeht, ob sie diesem Typus angehören, vgl. Kohl,
pag. 36—37. Im Vergleich zu den Quertonnenkirchen sind nun diese Tempel
etwas größer und wohl auch höher (einzelne Teile wie die Nebenräume
scheinen zweistöckig gewesen zu sein). Außerdem sind auch die Proportionen
♦
etwas andere, der Hauptraum ist im Verhältnis zur Gesamtanlage etwas
schmäler als bei den christlichen Beispielen und bildet also auch in der
Beziehung ein Mittelglied; er ist flachgedeckt. Wenn nun auch zwischen
den babylonischen und den peträischen Beispielen ein Zeitraum von fast
einem Jahrtausend liegt, so möchte ich doch dieser Hypothese einige Wahr¬
scheinlichkeit zuerkennen, und zwar in erster Linie, weil gerade die Naba-
taeer als Handelsvolk die Vermittler zwischen dem Zweistromgebiet und den
Mittelmeerländern waren 6 9 ).
Wieso kommt es aber, daß derselbe Grundriß dann plötzlich im Kloster¬
bau des nördlichen Mesopotamiens auftaucht? Denn daß wir cs mit dem
gleichen Typus zu tun haben, ist ja zweifellos; mit Ausnahme der Wölbung
und einiger damit zusammenhängender, geringfügiger Verschiebungen in
den Proportionen, haben wir cs genau mit dem gleichen Plane zu tun. Ist
* 4 ) Heinrich Kohl, Kasr Firaun, 13.WISS. Veröffentlichung der D. O. G. Leipzig 1910.
6 5) Kohl, pag. 2, sowie Brünnow und v. Domaszewski, provincia arabia I, pag. 175 ff.
66 ) Kohl pag. 25 sowie Brünnow und v. Domaszewski, provincia arabia I,
pag. 46 ff., außerdem bei Dussaud, Les arabes, fig. 32 .
6 7 ) Brünnow und v. Domaszewski! o. c. I, pag. 70 ff.
w ) Brünnow und v. Domaszewski, o. c. I, pag. 88 f.
* 9 ) Vgl. über diese Frage Rubens Duval, Histoire politique religieuse et litterairc
d’Edesse, pag. 24 ff.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Surp Hagop (Djinndeirmene), eine Klosterruine der Kommagene.
505
er nun am Ende auch hier direkt von Babylonien -— durch Vermittlung
der partischen oder persischen Kunst — nach dem nördlichen Mesopotamien
gewandert? Zum Belegen einer solchen Annahme fehlen nun alle Denk¬
mäler; wahrscheinlicher scheint es mir, daß das nördliche Mesopotamien
diese Quertonnenanlagen aus dem Süden, vielleicht aus der peträischen
Gegend übernommen hätte. Ernst Herzfeld bringt mich auf die richtige
Spur, er schreibt mir: Könnte der Typus nicht vom Sinai hergekommen
sein? Ich füge hinzu: Wohl durch Vermittlung von Ägypten. Dort ist
das älteste Klosterland, dorthin weisen die Gründungssagen der Tür ‘Abdin-
klöster, dort läßt sich wahrscheinlich der Kirchentypus mit quergelegtem
Schiff bei den ältesten Lauren nachweisen 7 °), dort finden wir bis in späte
Zeiten hinein einen Nachklang dieses Typus bei fast allen Klosterkirchen 7 ‘).
In Mär Gabriel mag wohl die erste dieser, wie ich annehme, nach dem
Vorbild der ägyptischen Lauren errichtete Klosterkirche erbaut worden sein;
von dort aus hat sich der Typus dann im ganzen Tür ‘Abdin verbreitet.
Eine ganze Anzahl solcher Kirchen sind jetzt nachzuweisen; außer den
reicheren Bauten der späteren Zeit (SaläJj, Surp Hagop, Ambara 7 *)) auch
einige bescheidenere kleineren Bauten, bei denen die Bestimmung der Bau¬
zeit kaum möglich ist (Mär Ibrahim bei Midiat, Mär Melko, Mär Elia in
der Nähe des letzteren, die beiden letztgenannten mit Krypten). Auch
in der Osrhoene waren diese Querschiffkirchen bekannt (Shabaka, Caper*
sana 73 )); allerdings wurde dort mehr nach syrischer Weise das Sanktuarium
nicht durch eine Wand vom Schiff getrennt und war das Schiff nicht ge¬
wölbt. Eine Mittelstellung nimmt die ‘Adhräkirchc von Häkh ein, bei der
Einflüsse von den verschiedensten Seiten sich zu kreuzen scheinen.
Beim ganzen Entwicklungsgang dieses Typus möchte ich noch auf
eines die Aufmerksamkeit lenken: es ist nicht das einzige und erste Mal,
daß die altorientalische Kunst der werdenden hellenistisch-christlichen
einen Grundriß gegeben hat. In nichts tritt eine solche Anhänglichkeit am
Alten, ein so konservativer Geist hervor wie im Beibehalten der Plantypen.
Die Kunstgeschichte kann viel davon erzählen: Wie hat sich z. B. der Plan
der christlichen Basilika durch alle Zeiten und alle Stilarten hindurch er-
7 °) Vgl. Gayet, l'art copte, fig. pag. 334. — M. Alex. Gayet hatte die Freundlich¬
keit, mir einige nähere Auskunft über diese Laura des hlg. Makarius zu geben. Er schreibt
mir u. a.: toutefois je crois fermement que la disposition du plan qui vous interesse est
ancienne, les soubassemen ts, pour moi, sont du temps de Macairc.
7 1 ) Vgl. Gayet, Tart copte, pag. 141 ff.
7 *) In der Nähe von Dara zwischen Mardin und Nasibln. Wird nächstens von Dr.
Hinrichs, Mitglied der Assur-Expedition veröffentlicht werden.
73 ) Ich werde diese Bauten in meinem Bericht über meine mesopotamische Reise
veröffentlichen.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
506
S. Guycr,
halten. Die Kunststile kommen, werden und vergehen, und die Grund¬
risse bleiben dieselben. Wie ist im Orient z. B. der Typus des Iwans durch
die Jahrtausende hindurch unverändert geblieben, von Persepolis in die
Kalifenzeit und bis in unsere Tage. Oder der Typus der hettitischen Hiläni,
der Vorhalle mit der Mittelstütze und den beiden seitlichen Türmen. In
Sendjirli sehen wir ihn, dann übernimmt ihn die christliche Kirchenbau¬
kunst des Inneren von Kleinasien, und noch heute weisen die elenden Bauern-
hütten in den Taurusbergen dieses Motiv einer Vorhalle mit Mittelsäule auf.
Aber trotz dieser Konstatierung des Eindringens einer altorientalischen
Planform in den christlichen Klosterbau wäre es meiner Meinung nach
verfehlt, dieser Tatsache eine große kunstgeschichtliche Bedeutung bei-
messen zu wollen. Gerade die eben angeführten Beispiele zeigen uns klar,
daß sich solche Plantypen ganz unabhängig von der künst¬
lerischen Entwicklung weitcrerhaltcn haben. Wenn wir z. B.
heute im islamischen Hausbau Iwanc antreffen, so folgt nicht daraus, daß
wir bei diesen Häusern von persischen Kunsteinflüssen reden dürfen, und
wenn die hettitischen Hiläni an kleinasiatischen Kirchen Vorkommen, so
folgt ebensowenig daraus, daß diese Kirchen Einflüsse hettitischer Kunst
zeigen. Grundrißmotive wie diese Vorhallen, wie die Iwane verdanken
eben ausschließlich praktischen Gründen ihre Entstehung und nicht
künstlerischen. Sie stehen in keinem direkten Zusammenhang mit
der Entwicklung der künstlerischen Ideen und sind teils ihrer praktischen
Vorteile wegen, teils aus Gewohnheit beibehalten worden. — Die Kunst
der verschiedenen Bauperioden hat dann diese althergebrachten Grund¬
risse verwertet, hat sie zum Teil dekorativ, zum Teil auch architektonisch
ausgestaltet 74). So war es auch mit dem in Frage stehenden Plantypus
geschehen. Er allein war — wohl aus kultischen Gründen — als praktisch
empfunden worden. Von einer künstlerischen Einwirkung Baby¬
loniens merken wir im peträischen Arabien nichts. Im Gegenteil: die ganze
künstlerische Ausgestaltung war hellenistisch und hatte mit Babylonien
rein gar nichts zu tun. Und ebensowenig wir in Petra von einer Babyioni¬
sierung jener hellenistischen Kunst sprechen dürfen, ebensowenig
74 ) Damit will ich natürlich nicht ganz allgemein behaupten, daß die Architekten
die Grundrisse als etwas von vornherein Feststehendes betrachtet hätten. Im Gegenteil
gerade in den am höchsten stehenden Kunstepochen, w r enn es sich um größere Baukomplexe
handelte, bei denen es galt, die verschiedenen Räume in Beziehung zueinander zu bringen,
sie zu einer Einheit zusarnmcnzuschmelzen, da hat die Kunst — mir schweben hier z. B.
die Aufgaben des Zcntralbaus vor Augen — tiefeingreifend auf die Grundrißgestaltung
cingewirkt und dieselbe bestimmt. Dies war aber nur bei einer hochentwickelten, ja raffi¬
nierten Kunst möglich, wie beim späteren Hellenismus, oder bei den Meistern der Hoch¬
renaissance. — Bei dem in Frage stehenden Typus ist aber keine Rede hiervon.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Surp Hagop (Djinndeirmcne), eine Klosterruine der Kommagene.
507
können wir von einem Einschlag orientalischer Kunst bei
Bauten wie Surp Hagop reden.
Mit diesen letzten Untersuchungen habe ich schon weit den Rahmen
einer monographischen Behandlung überschritten und mich mitten in die
Fragen und Probleme hineinbegeben, die Strzygowski in seinem Amidabuche
aufgerollt hat. Hellas oder Orient? In diesen Worten ist die wichtigste
aller dieser Fragen zusammengefaßt, und wenn ich mit meiner Ansicht,
die sich mit Strzygowskis Resultaten nicht deckt, so offen hervorgetreten
bin, so geschah das sicher nicht im Bestreben, irgendwelche Fehler in Strzy¬
gowskis Amida zu suchen. Ich anerkenne im Gegenteil gerne, daß dies
das erste Werk ist, das uns mit dem einschlägigen Material bekannt gemacht,
und daß hier auch der erste Versuch einer historischen Erklärung gemacht
worden ist. Es liegt daher wohl im Sinne des Verfassers, bei Kenntnis
neuer Denkmäler nicht stillezustehen, sondern den aufgeworfenen Fragen
weiter nachzugehen, sich redlich zu bemühen, ihnen auf dem als richtig
erkannten Wege beizukommen. Mehrmals bin ich durch jene Gegenden
gezogen und habe auf Grund alles dessen, was ich erfaßt und erschaut habe,
immer mehr den Eindruck gewonnen, wie stark und mächtig als treibende
Kraft überall noch das hellenistische Element wirksam ist; Säulen, Kapitelle,
Gebälke, Profile, kurz alles das, was einen Bau zum Kunst¬
werk macht, wurzelt in hellenistischen Bautraditionen.
Wir dürfen deshalb auch keinen so großen Unterschied zwischen den
syrischen Bauten und den mesopotamischen machen, indem wir letztere
als orientalisch beeinflußt ansehen. Syrische und mesopotamische Bauten
sind gerade zur Zeit der höchsten Blüte der mesopotamischen Archi¬
tektur um 600 sehr nahe miteinander verwandt. Die ganzen weiten
Gebiete östlich des Mittelmeers von den syrischen Bergländern bis gegen
Persien und Armenien hin bilden baukünstlerisch eine große Familie, die
gerade gegenüber Byzanz und dem Mittelmeerkreis ihren eigenen, in weit
konservativeren Bahnen sich bewegenden Weg geht. Wohl gibt es in dieser
Familie kleinere Differenzierungen: die Bergländer Zentralsyriens, die Bauten
am mittleren Euphratlauf, die Städte am Nordrand der Djazirah, die nörd¬
lichen Tigrisgebiete mit Amida und Martyropolis, alle diese Gegenden bilden
wieder in sich abgeschlossene Gruppen, die sich in Einzelheiten von den
anderen unterscheiden. Aber aus allen tönt ein starker gemeinsamer Grund-
ton; das Gemeinsame überwiegt weit alle individuelle Besonderheit. Man
spürt, man fühlt förmlich den gemeinsamen Brennpunkt, das Ausstrahlungs-
zentrum, von dem aus diese Kunst ihren Weg genommen hat, um mit ihrem
letzten Rest von Lebenskraft diese entferntesten Lande in ihren Lichtkreis
zu ziehen, um sie neu zu beleben und zu beleuchten. Dieses Ausstrahlungs-
zentrum war A n t i o c h i a, die Metropole Syriens, von deren Größe und Pracht
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
cq8 S. Guy er, Surp Hagop (Djinndeirmene), eine Klosterruiue der Kominagene.
uns so viele literarische Nachrichten erzählen, die uns Kunsthistorikern
verschlossen ist und vielleicht immer verschlossen bleiben wird. Und dies
gibt uns die Pflicht, uns auch mit den vielen Bauten an der Peripherie, in
den »Hinterländern« zu befassen, in denen allein wir noch die Baugedanken
der Zentren verkörpert sehen. Ich hoffe daher, daß auch diese Zeilen uns
wieder einen Schritt weiter bringen, und uns zeigen, welche Ziele wir fest
ins Auge zu nehmen haben, um die christliche Kunst Mesopotamiens richtig
zu verstehen und zu begreifen.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Der ,.Fürst der Welt“ in der Vorhalle des Münsters
von Freiburg i. B.
Von Rudolf Asmus.
Im Freiburger Münster steht an der Westwand der nördlichen Hälfte
der Vorhalle an erster Stelle die Figur eines reichgeschmückten Königs,
der mit einladender Gebärde dem Beschauer eine Rose entgegenstreckt.
Sein von dem Gewände freigelassener Rücken entbehrt der natürlichen
Bedeckung durch die Haut und ist durch ein wüstes Gewimmel von Schlangen,
Eidechsen und Kröten verunziert. Dieselbe Idee kehrt in ähnlicher Aus¬
führung am südlichen Hauptportal des Straßburger und an der Westfront
des Basler Doms wieder.
Karl Schäfer (Frau Welt, eine Allegorie des Mittelalters. Schauins-
land XVII, S. 58 ff.) hat die Freiburger Statue mit überzeugenden Gründen
als den »Fürsten der Welt« gedeutet. Man hätte ihm zufolge in
dieser Gestalt lediglich eine männliche Umbildung desselben Gedankens zu
erblicken, welcher an der Westfront des Wormser Doms und an der Sebaldus-
kirche zu Nürnberg als »Frau Welt« ausgebildet ist. Literarisch wird diese
weibliche Fassung erstmalig von Walter von der Vogelweide gestreift, um
kurz darauf in breiter Ausführung bei Konrad von Würzburg wiederzu¬
kehren. Weder Wackernagel, der sich zuerst um die schriftliche Über¬
lieferung bemüht hat (Haupts Zeitschrift für deutsches Altertum VI, S. 151 ff.),
noch Sachse (»Der Welt Lohn« von Konrad von Würzburg. Beilage zum
Jahresbericht der Dorotheenstädtischen Realschule. Berlin 1857), noch
Schäfer (a. a. 0 .), noch Moriz-Eichborn (Der Skulpturenzyklus in der Vor¬
halle des Freiburger Münsters = Studien zur deutschen Kunstgeschichte,
16. H. Straßburg 1899), noch Sauer (Symbolik des Kirchengebäudes. Frei¬
burg i. B. 1902 S. 369) konnten ein früheres Vorkommen unseres Vorwurfs
in der Literatur nachweisen.
War aber überhaupt die weibliche Ausgestaltung die ursprüngliche?
Für diese Annahme ist bis jetzt noch keinerlei Beweis erbracht worden.
Sie wird hinfällig, sobald sich ein »Fürst der Welt« aufzeigen läßt, der älter
ist als »die Frau Welt« bei Walter. Einen solchen glaube ich entdeckt zu
haben, und zwar an einem sehr abgelegenen und sonderbaren Ort, nämlich
bei einem Fürsten der Welt, der, nach christlicher Auffassung wenigstens,
dem unsrigen so nahe steht, daß man ihn in der Kirche nur mit einer Ver-
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Rudolf Asm us,
5 IÜ
wünschung erwähnte. Wir meinen keinen Geringeren als Julianus Apostata.
In seinem »Gastmahl« findet sich (p. 309 C ed. Spanheim = p. 397, 18 cd.
Hertlein) folgende Stelle: »(In die Götterversammlung) kam . . . T i b e r i u s
mit würdiger und strenger Miene und einem zugleich besonnenen und kriege¬
rischen Blicke hereingeeilt. Als er sich aber seinem Sitze zuwandte, da
wurden auf seinem Rücken unzählige Wunden sichtbar: so eine Art von
Brandmalen und Schrammen und Spuren von schweren Hieben und Strie¬
men und, wie eingebrannt, Krätzenarben und Flechten, die Folgen seiner
Ausschweifungen und seines wüsten Lebenswandels. Da sagte Silen zu ihm:
»Anders, traun, o Fremdling, erscheinst du mir jetzo denn vormals.«
Der so gezeichnete Kaiser hat mithin zweierlei mit dem »Fürsten der Welt«
gemein: Auch er besitzt eine mit seiner schönen Vorderseite kontrastierende
häßliche Rückseite, und unter den Entstellungen der letzteren ist eine
gleichfalls animalischen Ursprungs, die Krätze (*{«opa). Daß sie wie die
anderen ein Krankheitssymptom ist, hat bei Konrad von Würzburg in den
Versen
»ir lip was voller blateren
und ungefüeger eizen (218)«
und
»si was so gar unreine (224)«
eine passende Analogie.
Ich bin leider nicht imstande, die zeitliche Lücke, die zwischen der
literarischen Zeichnung des Tiberius und der plastischen Darstellung des
»Fürsten der Welt« klafft, mit sachdienlichen Zwischengliedern auszu¬
füllen. Immerhin scheint eine zwiefache Übereinstimmung eine Brücke
zwischen ihnen zu schlagen: Der »Fürst der Welt« gehört einer großartigen
Konzeption an, die durch die Parabel der klugen und der törichten Jung¬
frauen auf das jüngste Gericht hinweist, das auch tatsächlich im
Giebelfeld des Mittelportals abgebildet ist. Dem entspricht es, daß Tiberius
eine Figur in einem literarischen Totengericht ist, zu dem die römischen
Cäsaren vor den Göttern erscheinen. Zudem sind die beiden Persönlich¬
keiten Fürsten, und zwar schlechte Fürsten. Daß außer ihnen auch Christus
und die personifizierte Lust in die beiderseitigen Kompositonen einbezogen
sind, soll nur beiläufig erwähnt werden. Dagegen lohnt es sich, auf die äl¬
teren Anschauungen näher einzugehen, in welchen die erwähnten Über¬
einstimmungen ihre Grundlage haben. Den Weg zu ihnen zeigt uns der
Apostat.
Er hat nämlich an der Tiberiusstelle offensichtlich Plutarchs
Dialog »über die späte Bestrafung der Gottlosen« benützt *)• Hier erzählt
■) S. Les Casars de l’Enipereur Julien. Traduits par Spanheim. Amsterdam 1728,
p. 41. Preuvcs p. 26, 27.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Der „Fürst der Welt“ in der Vorhalle des Munsters von Freiburg i. B. 5 j 1
ein gewisser Aridaios (p. 565) einen eschatologischen Mythus und schildert
darin das Schicksal, welches der im Leben noch nicht Gezüchtigten und
Gereinigten nach ihrem Tode am jenseitigen Straforte harrt. Dort öffnet
ihnen Dike den Leib, damit ihre Seelen in ihrer Schlechtigkeit ganz nackt
sichtbar werden *)• Als Zeichen ihrer Laster kommen auf diese Weise u. a.
Striemen und schmutzige Farben an ihnen zutage. Unter diesen Seelen
tritt besonders diejenige Neros deutlich in den Vordergrund. Hier haben
wir es also wieder mit einem Totengericht und einem davor erscheinenden
schlechten Fürsten zu tun. Das Interessanteste dabei ist aber die durch die
Eröffnung des Leibes bewerkstelligte Entblößung der Seelen und ihrer
Lastermale. Demnach würde die Rückseite des »Fürsten der Welt* nichts
anderes darstellen als seine nackte, durch die Spuren des Lasters ge¬
zeichnete Seele.
Julians »Gastmahl* ist aber seinem Gegenstand wie seiner literari¬
schen Form nach auch mit den menippeischen Totengerichtssatiren ver¬
wandt. Als deren Vertreter kann uns zu unseren Deutungszwecken L u -
k i a n s »Fahrt in die Unterwelt oder der Tyrann* dienen 3 ). Hier wird
(§ 24) der Satz aufgestellt, die Übeltäter seien an den Brondmarkungen
zu erkennen, die ihre nackten Seelen in der Unterwelt aufwiesen; für die
Richtigkeit dieser Behauptung muß ein Tyrann herhalten. Demzu¬
folge trüge der »Fürst der Welt* seine nackte Tyrannenseele *) zur Schau.
Wo diese herstammt, verrät, von allem andern abgesehen, schon der
Name des Plutarchischen Erzählers. Dieser Aridaios ist nämlich ein Doppel¬
gänger des Ardiaios, den Platon in dem eschatologischen Mythus am
Ende des »Staates* (p. 615 C) als Beispiel eines in den Tartaros verwiesenen
Tyrannen anführt, dem zudem von seinen Peinigern auch noch die Haut
abgezogen wird (p. 616 A). Der Platonischen Darstellung zufolge, die in
manchen Einzelheiten auch für Julians »Gastmahl* maßgebend war, tragen
(p. 614 C) die Ungerechten auf ihrer Rückseite Abzeichen alles dessen,
was sie verübt haben. Hiemit ist auch gezeigt, warum der »Fürst der Welt«
gerade am Rücken entstellt ist. Daß wir die Vorlage für ihn in letzter Linie
bei Platon zu suchen haben, wird auch noch in einigen anderen Stellen
wahrscheinlich gemacht: Die noch im Körper weilende Seele gleicht nach
p. 611 D dem Meergotte Glaukos, an dem sich Austern und Seetang und
Steine derart angehängt haben, daß er mehr einem Tiere ähnlich sieht als seinem
a ) Nach p. 567 wälzen sich einige Seelen im Kote und kehren das Innere nach
außen.
3 ) S. Spanheim, a. a. O.
4 ) Das Wesen dieser wird von dem kynisierenden Dion Chrystomos Or. I p. 17, 11
Dind. an dem Dämon der Tyrannis in der Art gezeichnet, daß sie trotz aller Bemühungen
den Eindruck ihrer Häßlichkeit nicht verwischen kann.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
e i 2 Rudolf Asmus, Der „Fürst der Welt“ i. d. Vorhalle d. Münsters v. Freiburg i. B.
ursprünglichen Wesen. Ferner erscheinen p. 614 D die von der Erde zu
der Richtstätte emporsteigenden Seelen mit Schmutz und Staub bedeckt.
Endlich sind auch nach Gorg. p. 523 ff. die zu richtenden Seelen, unter
welchen sich auch der Tyrann Archelaos befindet, nackt (vgl. Crat. p. 403 B)
und mit Striemen und Narben als Sündenmalen verunziert 5 ).
Ich verhehle mir nicht, daß mein Erklärungsversuch noch sehr der
Ergänzung bedürftig ist. Es bleibt noch nachzuweisen, auf welchem Wege
die von orphisch-pythagoreischen Vorstellungen beeinflußte Platonische
Idee in die Gedankenkreise des christlichen Mittelalters gelangte 6 ), und.wie
sie hier im einzelnen ausgestaltet wurde 7 ). Diese Aufgaben liegen aber
auf dem Gebiet der mittelalterlichen Theologie und Kunstgeschichte, auf
welchem ich Laie bin. Daher beschränke ich mich auf die gegebenen An¬
deutungen. Mögen sie bei den Kennern auf fruchtbaren Boden fallen und
für die genetische Deutung der Darstellungen des jüngsten Gerichtes nutz¬
bar werden!
5 ) S. v. Sybcl, Christliche Antike I. Marburg 1906, S. 63 ff.
6 ) Wyttenbach, Animadversiones in Plutarchi Moralia II (Lips. 1821) p. 580 ver¬
weist für die Nacktheit der Seelen u. a. auf Origines c. Celsum II p. 419. (Die Seele Christi
steigt zu den nackten, körperlosen Seelen hinab) und für die Seelennarben auf Basilius I,
p. 147, Greg. Naz. Or. XVI p. 263 D und Isidorus Peius. I. Ep. 417. —Dieterich, Nekyia.
Leipzig 1893, S. 115, 1 stellt fest, daß der Grundgedanke des eschatologischen Mythus
im »Staat«. Gott sei unschuldig an dem Übel, noch im sechsten Jahrhundert ein Schlag¬
wort in den Debatten über die Willensfreiheit bildete.
7 ) Ist bei den Sündenmalen des »Fürsten der Welt« an eine Vermengung mit Vor¬
stellungen von der Vernichtung des Leibes im Grabe zu denken ?
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Künstlerbriefe aus dem Archiv des Domes von Cremona.
Mitgeteilt von Benno Geiger.
I. Paris Ccresari an Giovanni Antonio da Pordenone.
Ex.mo pictore Mastro Gian. Ant.° Pordanon, Amico chariss. mo in Cre¬
mona.
Mastro Gian Antonio mio pictor Ex. 1 » 10 Ho inteso per la lettera vostra
il fine di quel capitolo havevate comincio 11 in Cremona esser stato in satis-
fation di quelli signori presidenti, di che mi son molto alegrato. Ma mi
son ben doluto et doglio grandemente che voi mi mettiate in dubio la venuta
vostra, attento che la Excellenza del signor Marchese, al quäle ho promesso
zenza exception alcuna che a questo tempo venireste, quando voi man-
chaste restaria con mala satisfation. Perö voglio che in nome mio pregate
quelli signori presidenti instantissimamente ad licentiarvi per questo poco
di tempo, raccordandogli che se io mi son discomodato de la persona vostra
per accomodar le lor Signorie non mi devono esser in questa necessitä cosl
ingrati che non me ne compiacciano, ultra che come sapetc ben voi ce n’b
anche promissione, sl chfc fate sopra ciö cosl gagliardo officio che ad ogni
modo me vi prestino per questo tempo, el quäl sarä cosl breve, che, con
loro pochissima incomoditä, satisfarano a me sopramodo. Avisandovi che
quando non ci intervenisse la promission fatta al Signore Marchese, quäle
desidera tanto el fine di questa opera quanto voi sapete che ne sete bon
testimonio, io non vi stimolaria come faccio. Ma in questo caso bisogna
che voi faciate tale officio che ad ogni modo veniate, se non per fornir tutta
1’ opera almeno per farne un capitolo, acciö che se io non satisfaccio al
signore in tutto, io lo possi satisfar in qualche parte. Et a voi mi offero
et raccomando.
Mant. XXV. Julii MDXXI.
Paris Cces Eques.
Dieser Brief findet seine Ergänzung in einem Passus des Lebens Por-
denones von Vasari, Le Vite, ed. Milanesi, V, S. 113: »venuto il Pordenone
in credito e fama, fu condotto a Piacenza, donde, poichfc vi ebbe lavorate
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
5*4
Benno Ueiger,
alcune cosc, se n’antlö a Mantoa; dove a messer Paris, gentiluomo di quella
cittä, colorl a fresco una facciata di muro con grazia maravigliosa: e fra
l’altre belle invenzioni che sono in questa opera, e molto lodevole, a sommo
sotto la cornice, un fregio di lettere antiche alte un braccio e mezzo; fra
le quali b un numero di fanciulli, che passano fra esse in varie attitudini,
e tutti beltissimi. Finita questa opera con molto suo onore, ritornö a Pia-
cenza..«. — Ridolfi, Le Maraviglie dell’ arte, ed. II, Bd. I, S. 160, der Vasari
vor Augen hat, weiß den Familiennamen anzugeben: Paris Ceresari, nebst der
erwähnten Inschrift: Ceresariorum et amicorum domus; doch
schon zu seiner Zeit ist die Historie »danneggiata dal tempo«. Unser Brief
erlaubt uns einerseits Vasari in dem Punkte zu berichtigen, daß Pordenone
sich von Piacenza nach Mantua und von hier dorthin zurückgewandt haben
soll, während Cremona in beiden Fällen genannt sein will. Andrerseits
ist die Annahme Milanesis falsch, daß diese Fresken schon vor 1520 vollendet
gewesen sein mußten, da von ihnen in dem Kontrakt der Fabbricieri des
Domes von Cremona mit Prodenone am 20. VIII. 1520 die Rede ist. Die
drei »Arconi«, die Pordenone bestellt werden, mögen nämlich »de non mancho
bontade de la opera per lui facta su lo Palazo dcl magnifico M. Paris Ceresata
in Mantua« sein (Maniago, Stör. d. belle Arti Friulane 1823, S. 320; vgl.
auch F. Sacchi, Not. pitt. Crcmonesi, S. 274). Vielmehr hatte Paris Ccre-
sari, nachdem Pordenone vor 1520 die Mantuaner Fresken begonnen hatte,
ihn für die Arbeit an dem Dom Cremonas freigegeben, um ihn sich wiederum
am 25. VII. 1521 nach Mantua zu deren Vollendung zurückzubitten. Das
sich der Brief in dem Archiv des Cremonenser Domes vorfand, beweist,
daß Pordenone die von seinem Mantuaner Gönner erbetene Pression den
Fabbricieri gegenüber ausübte. Der Marchese, von dem der Brief spricht,
ist Giovanni Gonzaga (1474—1525). Die Fresken waren 1763 bereits fast
völlig verloschen (Cadioli, Descr. di Mantova, S. 70) und 1830 sah man
davon nur noch »il semplice impronto di alcuni bambini (Susani, Nuovo
Prospetto di Mantova, S. 132), Vgl. auch Crowc u. Cavalcaselle, Gesch.
d. ital. Malerei, 1876, VI, S. 314.
II. Cristoforo Pedoni an die Fabbricieri des Domes
Von Cremona.
Molto mag. ci sig. r * fabricieri del anno 1549: parve ali sig. ri fabriceri
de quello anno de darmi charico di examinare le cose fatte per M. ro Lau-
rentio: circha le loze deli portegi dela piaza: per le quäl lui diceva avanzare
libre novecento: Et perch6 mi pareva honesto che la confidantia che epsi
sig.ri haveno in me fusse per me fortificata et fondata sula ragione: Et
de comisionc de epsi sig. ri furon per me reccrchati molti Mag. ri de diverse
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Künstlerbriefe aus dem Archiv des Domes von Cremona.
515
citade fine al n°. de sei cioe dui de mantoa dui de verona dui de bressa
quali furon circhati per me atute mie spese et de cavalli et dogni altre sorte
de spese con permissa da epsi sig. ri de resarcirme dei tuto como penso che
epsi sig. r ‘ ne farano fede: Et essendo io rimasto inresoluto si per la brevitä
del tempo per le fine de loro offitio: considerare che como anche per il man-
chamento del dinaro: perö havendo recorso a V. S. quäl volino se io ho ben
servita le fabricha per quanto mi fu posibile per conservatione del honor
mio: Et reduto il debito dele libre 900 de epsa fabricha in nulla et fattolc
credito de libre trecento come si po vedere per la relatione mia: Et del tuto
non havendo hauto ricon pensa alcuna: ne dele mie fatiche: et industrie
ne mancho deli dinari spesi in andate et cavali et tempo perso in servitio
de epsa fabricha supplico V. S. non mi lassino con questo danno et volieno
come suo costume satisfare al debito: como a povero compagno et fidelc:
Et del tuto ne restarö con obligo a V. S.
a la quäle basa le man
o
D. V. S. B. Servitor Mro. Xforo de pedon
talia preda.
In anderer Schrift darunter:
V. S. siano contente per remuneratione dclla estimatione fatta per
lui in nome della fabrica et de nostra comissione dargli duoi scuti d’oro
a questo natale, quali siano per recognitione piu questo che per altro: et
in fidc me sottoscrivo adi 19 di novembre 1551
Bcrnardo Crotto
Io Alessandro Ronchadett afirmo quanto disopra e scritto.
Der Bildhauer Lorenzo Trotti hatte den Portikus (Bertazzola) .
an der Fassade des Domes von Cremona laut urkundlicher Nachricht schon
vor dem Jahre 1515 begonnen; und 1520 war der damals vollendete Teil
von Paulo Sacca und von Giovanni Gaspare Pedoni begutachtet worden.
Daß 1549 eine nochmalige Begutachtung dieses Portikus durch Cristoforo
Pedoni, den als Autor der Area di Sant’ Arcaldo (1538) in der Krypta des
Domes von Cremona bekannten Sohn Giovanni Gaspares, nötig wurde, be*
weist, wie lange jene Arbeit Trottis hingezogen ward, was für die offenbare
Stilwandlung vom Früh- bis Hochrenaissanceornament am Denkmal selbst
eine hinlängliche Erklärung bietet. Ob Cristoforo Pedonis im folgenden
Dokument enthaltene Bittschrift erhört wurde, läßt sich nicht nachweisen,
ist jedoch, angesichts der vielen Zahlungsvermerke an ihn in den Kassen¬
büchern, sehr wahrscheinlich.
Repertorium für Kunstwittsenschaft XXXV. 34
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
516
Benno Geiger,
III. Cristoforo Pedoni an die Fabbricieri des Domes
von Cremona (ohne Datum).
o
Supplicazione di maestro Xforo Pedono lapicida.
Mag.« signori fabriceri.
Maestro Christoforo pedono lapicida di questa cittä ha presentito come
le S. V. voleno fare accomodare doe porte della chiesa maggior di questa
cittä, cio& una verso la pescaria, et la grande verso la Piazza. Et perche
lui b certo che senza affetione di alcuno particulare, si attende solo all' utile
della fabrica, aricorda a V. S. che per il tempo passato li incanti hano portato
molto utile all' imprese della fabrica, et quando piacessi a V. S. deliberare
•
questa impresa senza incanti, se offerisse a fare uno disegno laudabile, et
secondo il disegno pcrficere detta impresa a laude di qualonque experto,
et relassare alla fabrica il quinto del' amontare di detta impresa, et del
tutto dare idonea sicurtä, et perciö supplica V. S. non gli facino torto, acciö
non sij sforzato poi sostenere l'honor suo, et querelarsi con raggione, dale
quäle spera che per sua cortesia et bontä sarano accettate le sue fidele Offerte,
alle quali si raccomanda.
IV. Giulio Campi an die Fabbricieri des Domes von
Cremona (ohne Datum).
Molti mag.« Sig. rl regienti nela fabrica del Dommo.
Da li masaroli richiesto quanta spesa importa la pictura della Ma¬
donna et el putino con li doy angielli che sono posti sopra lo altare magiore
nela chiesia catedralc del dommo et questo credo sia statto a loro inposto
de commisione de V. S. per cio dico che io me remetto al guiditio loro ma
pur quando V. S. desideraseno sapere la mia intentione li diro che io tenga
sia opera de quattro scuti rispetto che.... de spesa de oro mezo scuto et
■ tanto consta la mettadura observando el Stile antiquo quanto sia ala pictura
a me pare sia meritevole de scuti uno per ciaschuna figura intendendo per
cio che la M.® con el bambino sia per una figura sola de modo che seriano
al pagare trey figure esendo depinte tutte le facie, loro mani et anche li
panni deli 2 angielli a ... che sono boni colori et durabili a tale che in tutto
sarebeno scuti quattro et tali serano come V. S. giudicano et me ne conten-
terö presuponendo che V. S. pagerano con el solito suo bono guiditio ct
a quelle humilmentc li basio le honorate mani ct megli raccomando.
D. V. S. dcv° servitore
Julio Campo pictor.
Giulio Campi, der 1572 starb, wird in den Rechnungsbüchern des
Domes von Cremona 1541—1569 erwähnt (vgl. Sacchi, Not. pitt. Crem.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
KUnstlerbriefe aus dem Archiv des Domes von Cremona.
517
S. 191—93). Seine Haupttätigkeit scheint sich jedoch daselbst erst in den
Jahren 1566—68 entfaltet zu haben, aus denen die Bilder stammen, die
der Dom noch jetzt von seiner Hand bewahrt. Die hier in Rede stehende
»Madonna mit dem Kinde und zwei Engeln«, die für den Hauptaltar wohl
mit Goldverzierung im »Stile antiquo« von ihm gemalt worden war, ist dort
nicht mehr zu sehen und auch über die Zeit ihres Entstehens läßt sich Be¬
stimmteres kaum noch hinzufügen.
V. Giovanni Battista Trotti, gen. Malosso, an die
Fabbricieri des Domes von Cremona (ohne Datum).
Illi. Sig.‘ Fabricieri della Beatissima Vergine della Chiesa Catedrale.
Non essendo statto fatto, ne tanpocho conmicio il gonfalone da M.
Vincentio Campi dell' asunta della Beatissima Vergine per la morte sua,
et essendomi pervenuto all' horechie, che bona parte delli illi. Sig.* Fabricieri
passati erano di bon animo di dar a me simil impresa anchor che per esser
io absente et impedito nell' hopera di Lodi fosse poi datta a Ms. Vincentio
Campi, mi b parso hora conveniente che mostri anch' io 1’ interna devotione,
che porto a questa honorata fabricha e particularmente a questo illustre
regimento, comparischo adonque a oferirmi a far detta impresa con quella
diligenza che si conviene in cosl honorato honorato (sic) locho, e prometto
piü tosto achressimento di perfetione, che manchamento, potendo io ciö
prometere con riverenza dell' ecell. e Ms. Giulio Campi essendo che facile
b agiungiere all’ opere altrui, quando pero che con Studio si va prochaciando
di giunger all’ ecellenza dell' arte, et il pretio di detta impresa rimetto sempre
alle ille. SS. W. confidato che haveranno consideratione al pretio del
1’ ecell.e Ms. Giullio Campi a quello che«si poteva far all' hora et che si puö
far in questi tempi e di piü al riusito e perfetione del hopera il che tutto
di novo rimetto al giudicio delle illi. SS. VV. e con questo con ogni riverenza
le bacio lc mani. Delle illi. SS. VV. Devotissimo
sev.° r
Giam. Batta Trotti
detto il Malosso.
Da Vincenzo Campi am 3. X. 1591 starb, dürfte Malossos briefliches
Angebot, die von jenem nicht ausgeführte Assunta zu übernehmen, um
1592 zu datieren sein. Für den Dom Cremonas arbeitete Malosso wiederholt
im letzten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts, gleichzeitig mit Antonio Campi.
Letzterem wird in der Sakristei des Domes eine Himmelfahrt Mariä zu-
geschrieben (vgl. Grasselli Guida di Cremona, 1818, S. 16), die mit dem
Gonfalon Malossos identisch sein könnte, falls der Auftrag ihm auch wirk-
34 *
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
:i8 Benno Geiger, Künstlerbriefe aus dem Archiv des Domes von Cremona.
lieh übergeben wurde und die Zuschreibung an Antonio Campi, die nach¬
zuprüfen ich keine Gelegenheit hatte, sich nicht als haltbar erweist. Malosso
selbst vollendete laut Inschrift 1594 die von Guilio Campi im Chor von
S. Abondio zu Cremona hinterlassene Assunta, ein Hauptwerk jenes Meisters,
auf das im vorliegenden Briefe ehrenvoll Bezug genommen ist. Die »hopera
di Lodi«, die Malosso vor dem Tode Vincenzo Campis von Cremona fern-
hielt, ist zweifelsohne das 1589 datierte Bild des »Heiligen Antonius von
Padua« im Dom zu Lodi, das Zaist in seinen Notizie Istoriche II, S. 35, er¬
wähnt (vgl. auch Cesare Cantü, Grande Illustr. dcl Lombardo Veneto,
1858 ff., V, S. 621h
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
Beiträge zur Biographie Hugos van der Goes und zur
Chronologie seiner Werke.
Von I^jalmar G. Sander.
Über das Leben Hugos van der Goes ist uns bedauerlich wenig über¬
liefert worden. Das erste gedruckte Buch, das Hugos Namen erwähnt,
erschien erst 67 Jahre nach seinem Tode (1549) unter dem Titel: »La Cou-
ronne Margeritique«, ein Gedicht, das Jean Lemaire (1473—1548) in den
Jahren 1504—1511 verfaßt hatte, und in dem es heißt: »Hugues de Gand
qui tant eut les tretz (= traits) netz«. Vasari (1550) und Guiccardini (1567)
nennen ihn dagegen »Hugo aus Antwerpen« und fügen kurz hinzu, daß sich
im S. Maria Nuova-Spital in Florenz ein schönes Bild von seiner Hand be¬
finde, daß er stets die vlämische Manier beibehalten und niemals sein Vater¬
land verlassen habe. Ein Jahr später (1568) gab Vaernewyck seine histori¬
sche Schrift: »Die Historie van Belgis, diemen anders namen nach: den
Spieghel der Nederlandschen Audtheydt« heraus, die eine wichtige, wenn
auch immerhin nur spärliche Quelle für die Goes-Forschung bildet. Vaer¬
newyck erzählt 1 ), daß van der Goes (er nennt ihn stets nur »Meester Hughc«)
zu den eifrigen Bewunderern des weltberühmten Genter Altars gehörte;
auch hat er uns jene bekannte Anekdote überliefert, die sich an Hugos
Gemälde: »Davids Begegnung mit Abigail« knüpft, ein Bild, das in Gent
auf den Mauergrund des Kaminmantels eines Hauses beim Muydebrücklein
gemalt und Hugos populärstes Werk war und das auch von Lukas de Heere
(1565) besungen wurde. Ferner kennt Vaernewyck außer diesem noch
drei weitere Bilder von Goes (zwei in Gent, eins in Brügge, vgl. van
Mander), ohne sie jedoch näher zu beschreiben. Karel van Mander (1604),
der, wie er selbst sagt, über Goes' Leben nur wenig hat in Erfahrung bringen
können, hat seine Angaben über Meister Hugo fast ausschließlich
Vaernewyck entlehnt, doch bringt er auch einiges Neue. Er nennt ihn
«Schilder van Brugghe« und Schüler von Jan van Eyck, obwohl er kurz
hinterher konstatiert, daß Hugos Werke in die Zeit um 1480 fallen; außer¬
dem berichtet er von einem Glasgemälde in der St. Jakobskirche zu Gent,
das Vaernewyck nicht erwähnt. Aber wo und wann Goes gestorben ist,
davon weiß er nichts. Im Jahre 1611 erschien eine Weltchronik, die Opmeer
(t 1595 ) > m Jahre 1569 vollendet hatte, und in der erwähnt ist, daß Hugos
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
520
Hjalmar G. Sander,
Vaterstadt Leyden war *), doch beruht diese Angabe, wie wir noch zeigen
werden, auf einem Mißverständnis 3 ). 2 Jahre später (1613) veröffentlichte
Frantz Sweerts (1567—1629) die Grabschrift Hugos van der Goes, aus der
hervorgeht, daß Hugo als Mönch im Roode-Clooster bei Brüssel gestorben
war 4 ). In den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten geriet Goes'
Name immer mehr in Vergessenheit, und wenn das eine oder andere Buch
überhaupt noch dürftige Angaben über van der Goes enthält (Sander 1624,
Sandrart 1675, Baldinucci 1681/1688, Descamps 1753 ) 5 )» so sind diese
lediglich dem Manderschen Malerbuch entlehnt. Dies wurde erst anders,
als um die Mitte des 19. Jahrhunderts und später namentlich von belgischen
Archivaren handschriftliche Dokumente publiziert wurden, die — soweit
sie nicht von dem berüchtigten Delbecq (1771—1845) gefäscht waren —
einiges Licht über den Geburtsort, die Tätigkeit und das Ansehen Hugos
als Maler ausbreiteten. Über die letzten Lebensjahre Hugos gibt uns eine
Klosterchronik Auskunft. Diese Urkunde verdient schon deshalb ganz
besonderes Interesse, weil sie die längste zusammenhängende biographische
Nachricht über einen altniederländischen (bzw. altvlämischen) Maler ent¬
hält. Die Klosterchronik hat folgenden Titel: »Originale Cenobii Rubee-
vallis in Zonia prope Bruxellam in Brabancia«, und sie wurde etwa 30 Jahre
nach Goes’ Tode (in den Jahren 1509—1513) 6 ) von dem aus Tournai ge¬
bürtigen Mönch Gaspar Ofhuys (1456—1523) verfaßt, der zur selben Zeit
wie van der Goes Novize des Roode-Cloosters wurde. Obwohl diese Chronik
in der älteren Literatur ab und zu erwähnt wird und auch außerhalb des
Klosters nicht unbekannt geblieben ist 7 ), so entdeckte doch erst der Archivar
Alphonse Wauters im Jahre 1863, daß sie einen langen und höchst inter¬
essanten Bericht über Hugos letzte Lebensjahre im Kloster enthält 8 ).
Und doch hat dieser Ofhuyssche Bericht merkwürdigerweise bisher über¬
haupt noch keine eingehende Würdigung gefunden. Wauters selbst ist
bei der Entzifferung der brachygraphierten lateinischen Handschrift nicht
sehr genau zu Werke gegangen, an sehr vielen Stellen hat er
den Text falsch, und zwar oft in völlig sinnentstel¬
lender Weise wiedergegeben 9 ). Allen bisherigen Über¬
setzungen hat nun aber die Wauterssche Lesart zugrunde gelegen I0 ), ob¬
wohl bereits im Jahre 1895 auf die Ungenauigkeit derselben hingewiesen
wurde ”). Wir hielten es daher für angezeigt, zunächst eine möglichst wort¬
getreue und sinngerechte Übersetzung des stilistisch und grammatikalisch
in schlechtem Mönchslatein ziemlich unleserlich geschriebenen und nicht
allzuleicht verständlichen (in der Brüsseler Bibliothek aufbewahrten)
Originaltextes zu geben, bevor wir dem Inhalt das biographisch Wichtige
entnehmen. (Der Übersicht halber haben wir den Text in einzelne Kapitel
zerlegt und diese mit kurzen Überschriften versehen.)
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Beiträge zur Biographie Hugos van der Goes usw.
521
Kap. I. Goes’ Eintritt ins Kloster, seine Stellung
unter den Mönchen.
Im Jahre des Herrn 1482 stirbt Konversbruder Ia ) Hugo, der hier
Profeß ablegte. Als Maler hatte er einen solchen Ruf, daß es seinerzeit
hieß, diesseits * 3 ) der Berge könne man seinesgleichen nicht finden. W i r
sind zu gleicher Zeit Novizen gewesen, er und ich, der
ich dies hier niederschreibe. Gleich bei Hugos Einkleidung *4) und über¬
haupt während seines Noviziats gestattete ihm der Prior Vater Thomas * 5 ),
nach Art der Weltleute in den verschiedensten Dingen Trost und Kurzweil
zu suchen — freilich in bester Absicht l6 ), weil Hugo unter den
Weltleuten eine angesehene Persönlichkeit gewe¬
sen war — und so kam es, daß man ihn bei uns mehr mit dem Pomp
dieser Welt > 7 ) vertraut machte als damit, wie man Buße zu tun und sich
zu demütigen habe. Dies erregte denn auch bei einigen starkes Mißfallen:
Novizen, sagten sie, sölle man demütigen aber fürwahr nicht erhöhen. Weil
er sich nun aber in ganz hervorragender Weise auf das Malen von Bildern ,8 )
verstand, erhielt er mehr als einmal Besuch von hohen Herrschaften, u. a.
von dem durchlauchtigsten Erzherzog Maximilian * 9 ). Hatten sie doch alle
den brennenden Wunsch, seine Gemälde zu sehen. So oft nun solche
Gäste zu ihm kamen, gestattete ihm der Prior Vater Thomas mit
Rücksicht auf diese den Eintritt ins Gästezimmer und die Teilnahme an
dort stattfindenden Gelagen.
Kap. II. Hugos Reise nach Köln. Der Ausbruch seiner
Geisteskrankheit. Seine Rückkehr ins Kloster.
Wenige Jahre nach Ablegung des Ordensgelübdes (es waren 5 bzw.
6 Jahre seitdem vergangen) geschah es nun, daß unser Klosterbruder sich,
wenn ich mich recht entsinne *°), nach Köln auf den Weg machte ai ). Es
begleitete ihn hierbei sein Halbbruder Nikolaas aa ), der bei uns Donat * 3 )
war und hier auch sein Gelübde abgelegt hatte, ferner Chorbruder Petrus a 4 )
vom Kloster Marienthron, der sich damals im Kloster Jericho in
Brüssel aufhielt, sowie noch einige andere Personen. Wie ich mir seinerzeit
von Bruder Nikolaas habe erzählen lassen, befiel Bruder Hugo eines Nachts
auf der Rückreise eine sonderbare Krankheit der Phantasie a 5 ); unaufhörlich
begann er zu jammern, er sei ein Verdammter und zur ewigen Verdammnis
verurteilt. Er wollte sich sogar ein Leid antun — er wäre denn nicht von
seiner Umgebung gewaltsam daran gehindert worden. Infolge dieser merk¬
würdigen Krankheit nahm jene Reise ein gar trauriges Ende. Doch gelangte
man dank der Unterstützung hilfsbereiter Leute schließlich nach Brüssel 26 ),
wohin man unverzüglich den Prior Vater Thomas kommen läßt. Als dieser
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
522
H j a 1 m a r G. Sander,
den Kranken sieht und hört, wie alles sich zugetragen, vermutet er, daß
Bruder Hugo von demselben Leiden heimgesucht wurde, das einst den
König Saul beunruhigte, und eingedenk dessen, daß Sauls Unruhe sich legte,
wenn David die Harfe schlug a 7 ), ordnete er daselbst an, daß in Hugos Gegen¬
wart fleißig musiziert würde s8 ). Auch für anderweitige Schauspiele und
Erholung sorgte er, um die Phantasiegebilde des Gemütskranken zu ver¬
treiben. Bei alledem besserte sich Hugos Zustand nicht,
er fuhr fort irrezureden und sich als ein Kind des Verderbens hinzustellen? 0 ).
In dieser krankhaften Verfassung kam er nun also ins Kloster zurück.
Kap. III. Seine Pflege im Kloster. Die Gerüchte
außerhalb des Klosters.
Die aufopfernde Pflege, die ihm hierselbst von Seiten der Chorbrüder
zuteil wurde, die sich Tag und Nacht mit christlicher Nächstenliebe und
voller Mitleid um den Kranken bemühten und auf alles Rücksicht nahmen,
wird Gott dem Herrn bis in alle Ewigkeit und noch darüber hinaus un¬
vergeßlich bleiben. Nichtsdestowinger suchten damals sehr viele Leute,
sogar Magnaten, andere Gerüchte zu verbreiten.
Kap. IV. Die verschiedenen Ansichten über Hugos
rätselhafte Geisteskrankheit.
Um was für eine Art von Krankheit cs sich bei diesem Konversbruder
gehandelt hat, darüber war man sich durchaus nicht einig. Gewisse Leute
redeten von einem besonderen Fall von »frenesis magna« 3 «), dem großen
Hirnwüten. Andere aber meinten, er sei von einem bösen Geist besessen.
Es waren eben Symptome beider unseligen Krankheiten bei ihm vorhanden;
allerdings habe ich stets gehört, daß er während seiner ganzen Krankheit
auch nicht ein einziges Mal irgend jemand hat ein Leid antun wollen, wohl
aber immer wieder sich selbst. So etwas sagt man aber weder den Phre-
netischen noch den Besessenen nach — was nun eigentlich in Wirklichkeit
Vorgelegen hat, das weiß Gott allein. Wir können also zwei verschiedene
Auffasungen von der Krankheit unseres Klosterbruders haben.
Kap. V. Die natürliche Auffassung der Krankheit
und ihrer Ursachen.
Einerseits nämlich könnte man sagen, daß cs sich um eine natürliche
Krankheit, eben um einen besonderen Fall von Hirnwüten gehandelt habe.
Es gibt ja mehrere Varietäten dieser Krankheit, je nach der Entstchungs-
ursachc: Manchmal sind melancholische, d. h. schwarzgalligen Saft erzeugende
Speisen 3 -') die Ursache, ein andermal der Genuß starker Weine, die die
Säfte erhitzen und zu Asche verbrennen. Ferner können Phrenesien ent-
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Beitrüge zur Biographie Hugos van der Goes usw.
523
stehen infolge gewisser Affekte, wie Traurigkeit, Bekümmernis 33 ), Über¬
eifer, übertriebene Ängstlichkeit. Endlich kann die Bösartigkeit verdorbener
Säfte Phrenesie verursachen, wenn diese nämlich in dem Körper eines zu
dieser Krankheit veranlagten Menschen überhandnehmen. Was nun die
besagten Affekte angeht, so weiß ich bestimmt, daß sie unserm Konvers-
bruder viel zu schaffen machten. So machte er sich beispielsweise die schwer¬
sten Gedanken darüber, wie er nur fertig werden sollte mit all den Ge¬
mälden, die er noch malen müsse, und in der Tat hätten — so hieß es wenig¬
stens damals — »neun Jahre wohl kaum dazu ausgereicht«. Und dann
vertiefte er sich geradezu übertrieben häufig in die Lektüre eines vlämischen
Buches 34). Was auf der anderen Seite das Weintrinken angeht, wenn
es auch ohne Zweifel nur mit Rücksicht auf seine
Gäste geschah, so hege ich für meine Person die
Befürchtung, daß es nur zur Verschlimmerung sei¬
ner natürlichen Krankheitsveranlagung beitrug 35 ).
Wenn man also dieses alles berücksichtigt, so wäre es schon denkbar, daß
sich unter solchen Umständen im Laufe der Zeit der Stoff seiner schweren
Krankheit in seinem Körper gebildet hat.
Kap. VI. Die moralische Auffassung d er Krankheit
und ihrer Ursachen. Hugos Genesung.
Anderseits hat aber auch diese Auffassung ihre Berechtigung: daß
nämlich Gottes allgütigc Vorsehung es war, die diese Krankheit über ihn
verhängte, und die, wie im 2. Petr. 3 3 6 ) geschrieben steht, »Geduld mit uns
hat und nicht will, daß jemand verloren werde, sondern daß jedermann
sich zur Buße kehre«. Dieser Konversbruder bekam nämlich in unserm
Orden wegen seiner speziellen Kunst genug Schmeichelhaftes zu hören —
tatsächlich wurde sein Name denn auch auf diese
Weise berühmter, als wenn er unter den Weltlcuten
geblieben wäre. Weil er nun aber schließlich auch nur ein Mensch
war wie wir alle, so hatte er infolge der vielen Ehrungen, Visiten und Kompli¬
mente, die man ihm zuteil werden ließ, ein recht gehobenes Selbstgefühl
bekommen 37 ). Da Gott aber nicht wollte, daß er verloren werde, sandte
er ihm in seiner Barmherzigkeit diese demütigende Krankheit, die ihn denn
auch gewaltig erniedrigte. Denn Bruder Hugo ging in sich, und sobald
er genesen war, übte er die äußerste Demut 38 ); freiwillig verzichtete
er darauf, in unserm Refektorium 39 ) zu speisen, und voller Demut nahm
er nunmehr seine Mahlzeiten mit den Laienbrüdern unseres Klosters ein.
Ich bin hier absichtlich so ausführlich gewesen, weil ich mir sage, daß Gott
dies alles nicht bloß um der Bestrafung der Sünde willen geschehen ließ,
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
ich meine, um den Sünder zurechtzuweisen und ihm Gelegenheit zur Besse¬
rung zu geben, sondern um auch uns eine gute Lehre zu geben.
K a p. VII. Die Lehre, die uns diese Krankheit gibt,
vorausgesetzt, daß sie eine natürliche war (mit
Exkurs über den eigentlichen Sitz der Phrenesie).
Angenommen nämlich, diese Krankheit sei ihm aus einem natürlichen
Grunde zugestoßen, so würde uns das die Lehre geben, daß wir die Affekte
nicht in uns zur Alleinherrschaft gelangen lassen dürfen, sondern daß wir
ihrer Herr werden müssen, wenn wir nicht unheilbar geschädigt werden
wolle n.
Bruder Hugo, dieser vortreffliche Maler, hatte sich infolge der allzu
intensiven Betätigung seiner Vorstellungskraft und Phantasie, und infolge
der vielen Gedanken, die er sich machte, eine Hirnaderläsion 4») — so hieß
es wenigstens seinerzeit — zugezogen. Es soll nämlich irgendwo im Gehirn
eine äußerst kleine und zarte Blutader geben, die unter dem Einfluß der
Vorstellungskraft und Phantasie steht 4 »). Sobald wir nun Vorstellungen
und Phantasien im Übermaß in uns auf kommen lassen, wird dieses Äderchen
in Mitleidenschaft gezogen. Erreicht nun diese schädliche Inanspruchnahme
einen solchen Grad, daß das Äderchen zerreißt, so verfällt der Betroffene
in Phrenesie oder in Wahnsinn.
Wir müssen unsern Phantasien und Imaginationen, unsern Grübeleien,
dem Hangen und Bangen 4») und überhaupt allen eitlen und unnützen
Gedanken, womit wir unser Hirn doch nur fruchtlos beunruhigen 43 ), ein
Maß und Ziel setzen, wenn anders wir nicht Gefahr laufen wollen, unheilbar
zu erkranken. Doch wir sind Menschen. Und das Schicksal, das diesen
Konversbruder traf, sollte es nicht auch uns treffen können?
Kap. VIII. Die Lehre, die uns diese Krankheit gibt,
vorausgesetzt, daß sic von Gott gesandt war 44 ).
Angenommen aber, dieses Unglück sei nicht aus einem natürlichen
Grunde geschehen, sondern infolge Gottes unfehlbarer Vorsehung, die sich
der Auserwählten und Prädestinierten annimmt, wenn sie einen Fehltritt
begehen, wie, meine Brüder, hätten wir dann das Wesen der Buße und
Umkehr zu definieren? Besser ist es, noch hier auf Erden ins Unglück ge¬
stürzt als ewig gepeinigt zu werden? 45 )...
Wenn Du also hochmütig bist, so erniedrige dich vor Gott und seinem
Stellvertreter, deinem Hirten, sonst wird Gott selbst, der den Hochmütigen
widersteht und nicht will, daß jemand verloren werde, dich dergestalt de¬
mütigen, daß du deinen Mitmenschen ein warnendes Beispiel wirst. Willst
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Beiträge zur Biographie Hugos von der Goes usw.
525
du also die irdischen Strafen mäßigen und den Höllenstrafen entfliehen,
so erniedrige dich und führe einen guten, disziplinvollen Lebenswandel. Er
liegt in unserem Klosterhof begraben, unter freiem Himmel.
Hiermit endigt dieser wertvolle, für den Psychiater und Kunsthistoriker
gleich,interessante Bericht. Das Krankheitsbild, das der Chronist entwirft s ?)
ist dank seiner moralisierenden Absichten so ausführlich detailliert, daß
wir trotz der Schwierigkeit sicherer psychiatrischer Diagnostik mit aller
Sicherheit festzustellen vermögen, an welcher Geisteskrankheit Hugo van
der Goes gelitten hat: wir haben hier das traurige oder vielmehr tragische
Bild einer schweren melancholischen Erkrankung, der sog. Angstmelancholie
(melancholia agitata) vor uns. Die angeführten Krankheitssymptome des
etwa 50 jährigen 46), der plötzliche Ausbruch 47 ), sowie der ganze Verlauf
der Krankheit sind so typisch, daß in diagnostischer Hinsicht keine andere
Geisteskrankheit in Frage kommt. Wir brauchen nur die charakteristischen
Momente der Ofhuysschen Darstellung zusammenzufassen. Hugos traurig-
depressive Verstimmung, sei nemotorische Unruhe und ängstliche Erregtheit,
sein Lebensüberdruß, die Suizidialversuche, sein Versündigungswahn, seine
Schlaflosigkeit — alles dies sind ganz typische Symptome
der schweren Melancholie. Andere akut einsetzende Geisteskrank¬
heiten von akutem Verlauf wie die akute Paranoia oder die akuten alkoholo-
_ •
genen Psychosen (Delirium tremens, akute Halluzinose) kommen differential¬
diagnostisch schon deswegen nicht in Betracht, weil hierbei u. a. die Hallu¬
zinationen auffällig in den Vordergrund treten. Daß van der Goes aber
während seiner Krankheit halluziniert habe, davon spricht der Chronist
mit keinem Wort. Bemerkenswert ist auch, daß er sich seiner Umgebung
gegenüber stets harmlos verhielt und sie in keiner Weise aggressiv bedrohte
— ein Verhalten, das man bei Melancholikern meistens, bei delirierenden
Alkoholikern so gut wie niemals beobachtet. Ferner ist Gehirnerweichung
(Dementia paralytica) nicht nur wegen des typisch progredienten Verlaufs
dieser Krankheit, sondern vor allem auch deswegen auszuschließen, weil
sie als eine parasyphilitische Krankheit aufzufassen ist. Die Syphilis ist
aber höchstwahrscheinlich amerikanischen Ursprungs, jedenfalls fand ihre
erste epidemische Ausbreitung erst 12 Jahre nach Goes Tode statt 48).
Doch der Ofhuyssche Bericht gibt uns mehr als Hugos Krankheits-
geschichte. Wir können uns ein deutliches Bild von Hugos Dasein im
Kloster, von der Tragik der letzten Lebensjahre dieses großen Künstlers
machen. Da drängt sich uns zunächst vor allem die Frage auf, welche
Beweggründe mögen den Maler veranlaßt haben, sich von der Welt abzu-
wenden und ins Roode-Clooster zu gehen? Um hierüber entscheiden zu
können, müssen wir uns das Wenige vergegenwärtigen, was uns aus Hugos
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
S 26
HjalmarG. Sander.
weltlichen Tagen bekannt geworden ist. Seine Heimatstadt war Gent 49 )
(daß er in Ter Goes auf Seeland geboren sei, ist eine ebenso naive wie vage
Behauptung) 5 °), wie uns eine absolut authentische und glaubwürdige Ur¬
kunde vom Jahre 1479 ausdrücklich versichert 8 «). Hugos Geburtsjahr wird
auf die Zeit um 1433 herum anzusetzen seinS 1 ), er war also wohl gleich¬
altrig mit Memlinc. Zweifellos hat van der Goes eine mehrjährige Lehrzeit
bei Rogier van der Weyden von Brügge 5 *) durchgemacht, so ist z. B. das
etwa um 1460 entstandene Jugendwerk Hugos, das herrliche Wiener Dip¬
tychon (namentlich die Pietä) sicherlich unter W r eydens persönlichem Ein¬
fluß entstanden. Nachdem Goes am 5. Mai 1467 — vermutlich in demselben
Jahr wurde Memlinc als Nachfolger Hugos Schüler bei Rogier von Brügge
— Mitglied der Gcnter Malergilde geworden war, gelangte er schnell zu
dem Ruf eines bedeutenden Malers. Bereits im nächsten Jahre wurde ihm
zusammen mit den angesehensten Malern seiner Zeit der ehrende Auftrag
zuteil, die Festdekorationen für die Vermählüngsfeier Karls des Kühnen zu
liefern 8 5 ). Van der Goes scheint auch in Gent verheiratet gewesen zu sein 53 ).
Ob während seiner achtjährigen Genter Ruhmesperiode Schüler bei ihm
in die Lehre traten, darüber ist uns nichts bekannt geworden. Doch muß
der sog. Maitre de Moulins in näheren künstlerischen Beziehungen zu Goes
gestanden haben. Hugos Ansehen und Ruhm wächst von Jahr zu Jahr,
im Jahre 1474 bekleidet er bereits innerhalb der Gilde das höchste Ehren¬
amt eines Dekans, und vermutlich noch in demselben Jahre wird er, als
der Würdigste, von dem Agenten des weltberühmten Bankhauses der Medici
in Brügge mit der Ausführung eines gewaltigen Triptychon betraut, das
den Italienern ein imposantes Beispiel flandrischer Kunst geben sollte, und
in dem van der Goes denn auch, wie Voll sehr richtig bemerkt, seine Meister¬
schaft etwas absichtlich zur Schau stellte. Und schon im nächsten Jahre
geschah das Unerhörte: Im Herbst des Jahres 1475 — wenige Monate nach
Dirk Bouts Tode 54), unmittelbar nach Vollendung des Portinarialtars und
kurze Zeit, nachdem man ihn ein drittes Mal durch die Ernennung zum Doyen
geehrt hatte, gab Hugo van der Goes aus irgendeinem Grunde plötzlich
seine weltliche Existenz auf, um auf der Höhe seines künstlerischen Könnens
und Ansehens als der berühmteste Maler diesseits der Alpen in einem kleinen,
idyllisch gelegenen brabantischen Kloster von höchstens 25 Seelen 55 ) in
stiller Beschaulichkeit als Konversc den Rest seines Daseins zuzubringen.
Was mag ihn zu diesem tragischen Schritt veranlaßt haben? Da
van der Goes sicherlich eine von Haus aus stille, in sich gekehrte und zur
Schwermut neigende Natur war und die Melancholie eine ausgesprochene
Neigung zu Wiederholungen, zu »Rezidiven« hat, so will es uns scheinen,
daß Hugo sich infolge einer Anwandlung von Melancholie von der Welt
abwandte; es ist wohl möglich, daß eine melancholische Wahnvorstellung,
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Beiträge zur Biographie Hugos van der Goes usw.
527
etwa ein Versündigungswahn und eine fieberhafte Angst vor der göttlichen
Strafe ihn ins Kloster trieb 5 6 ). Wie dem auch sei: vor der Welt und den
Klosterbrüdern muß er seine wahren Beweggründe verheimlicht haben,
jedenfalls geht aus der Ofhuysschen Darstellung hervor, daß niemand, nicht
einmal Hugos Halbbruder an die Möglichkeit des Auftretens einer mit
Depressionszuständen verbundenen Geisteskrankheit bei van der Goes ge¬
dacht hat. Und daß er noch im Jahre 1479, also nach vierjährigem Auf¬
enthalt im Kloster, das volle Vertrauen der Welt besaß, beweist ja die
interessante Tatsache, daß er, als der Berufenste, damals von der Stadt
Löwen mit der Abschätzung eines Gemäldes aus Dirk Bouts Nachlaß
beauftragt wurde.
Wir ließen Goes’ Eintritt ins Roode-Clooster in den Herbst des Jahres
1475 fallen; das bedarf der Begründung. Denn Wauters hatte infolge eines
Rechenfehlers das Jahr 1476 hierfür in Anspruch genommen, was bis heute
die herrschende Ansicht geblieben ist. Ofhuys erzählt uns (Orig. cen. R. V.
F. 112'), daß er an dem Todestage des Mönches Johannes von Nivelles
(alias von Isaakbusch), der im Jahre 1475 starb, ins Roode-Clooster eintrat
(cf. Cod. Hag. 1 . c. S. 323 u. 332). Hiermit stimmt auch die Tatsache überein,
daß Ofhuys, der zwischen dem I. Januar und dem I. November 1456 ge¬
boren war, nach dem Catalogus fratrum (Cod. Hag. S. 332) im 19. Lebens¬
jahr, d. h. zwischen dem I. Januar und dem I. November des Jahres 1475
Mönch wurde 57 ). Da Ofhuys ausdrücklich betont, daß Goes und er selbst
zu gleicher Zeit (pariter) Novizen gewesen seien (cf. Kap. I), so muß auch
Goes, noch vor dem I. November 1475 Mönch gewerden sein. Auf einem
andern Wege kommen wir zu dem gleichen Resultat. Wir hören, daß Meister
Hugo 5 resp. 6 Jahre (Kap. II), sagen wir $ l /i Jahre, nachdem er
Profeß getan hatte, eine Reise ins Ausland unternahm, auf der
Rückreise erkrankte, und im Roode-Clooster nach mühseliger Pflege wieder
genas und im Jahre 1482 starb. Nach den Windesheimer Statuten konnte
ein Konverse erst nach Ablauf eines vollen Jahres seit seiner Einkleidung
das Ordensgelübde ablegen 5 8 ). Ferner wird zwischen dem Beginn der Reise
Hugos und seinem Tode mindestens ein halbes Jahr gelegen haben, da
Ofhuys überschwengliche Lobrede auf die Chorbrüder und deren aufopfernde
Pflege keine allzu kurze Krankheit vermuten läßt, und die klinische
Erfahrung lehrt, daß sich eine schwere melancholische Erkrankung
stets über eine ganze Reihe von Monaten zu erstrecken pflegt. Mithin muß
Goes volle 7 Jahre im Kloster gelebt haben. Wenn wir überdies berück¬
sichtigen, daß Hugo am 18. August 1475 zum letztenmal als Doyen seiner
Gilde in den Urkunden nachzuweisen ist 59 ), obwohl er bis zum 15. August
1476 gewählt worden war, so müssen wir zu dem Gesamtergebnis gelangen,
daß er zwischen August und Ende Oktober des Jahres 1475 Klosternovize
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
528
Hjalmar G. Sander,
wurde. Es wird also auch aller Wahrscheinlichkeit nach der Portinarialtar
schon vor Ablauf des Jahres 1475 vollendet gewesen sein. Warburg kam
bekanntlich auf Grund genealogischer Daten zu dem Schlüsse, daß dieser
Altar zwischen 1474 und 1477 gemalt sein müsse *°).
Wie haben wir uns das Leben Hugos van der Goes im Kloster vor¬
zustellen? Worin bestand überhaupt die Aufgabe der Konversbrüder ?
Diese Frage haben wir zunächst zu beantworten 6l ). Wir betonten schon,
daß der Begriff (und die Stellung) der fratres conversi nicht in allen Orden
zu allen Zeiten der gleiche gewesen ist. Gregor Rivius 6l ) (1737) sagt in
seiner bekannten »Monastica Historia occidentis«, daß die Konversen der
Windesheimer Kongregation eine verhältnismäßig sehr geachtete Stellung
innerhalb der Klostergemeinde einnahmen. Tatsächlich waren die Konvers¬
brüder dieser Kongregation denn auch veri religiosi, d. h. vollgiltige Ordens¬
mitglieder: sie wurden in gleicher Weise aufgenommen und zum Profeß zu-
gelassen wie die fratres chorales. Wie die Chorbrüder verpflichteten sie sich
in ihrem Gelübde zeitlebens im Kloster zu bleiben und in Armut, Keusch¬
heit und Gehorsamkeit zu leben. Sie waren wie die Chorbrüder zum Chor¬
dienst verpflichtet, der täglich mehr als 4 Stunden in Anspruch nahm.
Zur Nachtzeit mußten sie ebenfalls zum Chorgebet in der Kirche erscheinen.
Es gab nur zwei Mahlzeiten, das Prandium und die Coena, zu andern Zeiten
durfte weder gegessen noch getrunken werden. Im Oratorium, Dormitorium
und Refektorium hatten die Konversbrüder strenges Stillschweigen zu be¬
obachten. Die Zahl der Konversen durfte nicht über 8 betragen. In der
Kleidung unterschieden sie sich von den Chorbrüdern nur durch das Nicht -
tragen des Rochets und durch den kürzeren Talar. Wer einmal als Konvers¬
brüder aufgenommen worden war, durfte nur mit besonderer Genehmigung
des Generalkapitels — aber auch nur im Ausnahmefall — zum Stande der
Chorbrüder promovieren. Van der Goes wurde diese Vergünstigung nicht
zuteil, er blieb bis zu seinem Tode Konversbrüder. Die Beschäftigung der
Konversen war aber im übrigen eine rein praktische, und in diesem Sinne
waren sie Mönche zweiten Ranges. Ofhuys selbst nennt sie »Klosterdiener«
(nonne servi sunt et operarii coenobii?) 6 3 ). Haus- und Feldarbeit jeglicher
Art hatten sie zu verrichten, überhaupt lag ihnen gemeinschaftlich mit den
Donaten und Laienbrüdern (laici) die Erledigung aller profanen Wirtschafts¬
arbeiten ob.
Es ist nicht verwunderlich, daß Hugo van der Goes schon wegen
seiner ganzen Vergangenheit bereits als Novize eine Sonderstellung unter
den Mönchen einnahm, zumal er vom Prior, der seiner Kunst offenbar volles
Verständnis entgegenbrachte, in jeder Weise protegiert wurde. Worin diese
Vergünstigungen, das »solatium mundanorum« (Kap. I) bestanden haben,
ist unschwer zu erraten. Nicht allzu streng brauchte er sich an die Mönchs-
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Beiträge zur Biographie Hugos van der Goes usw.
529
regeln zu halten, vielleicht wurde er mitunter vom Chordienst befreit, und
die rohen praktischen Arbeiten blieben ihm vermutlich erspart. Und über¬
haupt was sonst von den Mönchen »offiziell« verlangt wurde: »promptam
oboedientiam, alacritatem in vigiliis et abstinentiis, mortificationem volun-
tatis proprii, observationem silentii, pompis seculi perfecte renuncire« usw. * 4 )
— alle diese rigorosen Vorschriften brauchte van der Goes allem Anschein
nach weniger streng als seine Klostergenossen zu respektieren. Zweifellos
war ihm vor allem auch das Malen gestattet. Goes’ Ruf und Ansehen als
Künstler verblich denn auch nicht, seine Gemälde fanden allgemeine An¬
erkennung und Bewunderung, man scheint ihn überhaupt mit Besuchen
und Komplimenten förmlich überschüttet zu haben. Und doch muß sein
ganzes Mönchsdasein unendlich schwer auf ihm gelastet haben, denn sein
übermächtiger Schaffensdrang und sein Künstlerehrgeiz ließen ihm keine
ruhige Stunde. In den durch das kanonische Stundengebet und überhaupt
durch den Chordienst fortwährend unterbrochenen Mußestunden konnte
er nicht das schaffen, was seine gestaltungskräftige Phantasie ihm eingab.
Die Mönche, mit denen er lebte, und für die er ja eigentlich zu arbeiten hatte,
werden sich schwerlich in seine reiche Künstlerseele haben hineindenken
können; sicherlich haben sie im geheimen des öfteren über die Ambitionen
des Sonderlings gespottet, und wenn er gelegentlich das innere Bedürfnis
hatte, sich auszusprechen, über seine künstlerischen Pläne und Ideen zu
reden, so wird manch einer ihn für einen dünkelhaften Prahler gehalten
haben, »der noch nicht einmal in 9 Jahren all das fertigbringen würde,
was sein Größenwahn ihm vorgaukelte« 6 5 ). Daß sich nämlich bei vielen
gar bald der Neid und die Mißgunst zu regen begann, ist nur zu begreiflich.
»Seine Bevorzugung und Sonderstellung erregte bei einigen starkes Mi߬
fallen,« wie der Chronist selbst zugibt. Und Ofhuys selbst, der ehemalige
Zollbeamte, der bei seinem Eintritt ins Roode-Clooster erst 19 Jahre alt
war, wenig Bildung besaß und nur einige Brocken Lateinisch und Vlämisch
verstand — er war damals nur der französischen Sprache mächtig M ) —
scheint zu denen gehört zu haben, die Meister Hugo zwar für einen be¬
deutenden Maler hielten, die aber seiner Künstlernatur nicht gerecht wurden.
Wenigstens fühlt man aus dem ganzen Bericht nicht eben viel Mitgefühl
mit dem tragischen Geschick des Künstlers heraus, eher das Gegenteil.
Ofhuys wird uns in seinen späteren Jahren als ein energischer, gottesfürch-
tiger und strebsamer, um nicht zu sagen, streberischer Mönch geschildert
— er war in sieben verschiedenen Klöstern Prior (bzw. Procurator oder
Rektor) — und als solcher tritt er uns auch in seiner Chronik entgegen; aber
auf der andern Seite war er ohne Frage ein einseitiger, trockener und wenig
feinfühliger Mensch. Ofhuys redet, wie schon erwähnt, nicht von den Mo¬
tiven, die van der Goes veranlaßten, ins Kloster zu gehen, aber seine in
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
530
Hjalmar G. Sander,
Parenthese gestellten Worte: »Wurde er doch auf diese Weise berühmter
als wenn er in der Welt geblieben wäre« (Kap. VI) — klingen sie nicht so,
als ob er sagen wollte: »eine schlaue Spekulation trieb ihn ins Kloster«?
Ofhuys Berichterstattung ist sehr sachlich und vorsichtig. Seine persön¬
liche Ansicht läßt er nur selten durchblicken. Auch folgende Stelle wirft
ein Licht auf seine diplomatisch-vorsichtige Diktion: er will sagen, daß
Bruder Hugo infolge der vielen Ehren, die man ihm erwies, ein hochmütiger
und dünkelhafter Mann wurde, er vermeidet aber solche allzu eindeutige
Ausdrücke und schreibt sehr gewählt: »forte cor suum elevatum cst« (Kap.
VI), was man ebensogut mit »gehobener Stimmung« übersetzen könnte.
Ein weiteres Moment sei im Anschluß hieran gleich erörtert: War Hugo
van der Goes ein Säufer? Man muß sich vor Augen halten, wie natürlich
es war, daß man dem Maler, der so oft mit hohen Gästen abseits von den
andern »dinieren« durfte, nachsagte, daß er bei solchen Gelegenheiten sich
reichlich gütlich tat und sich des Weins nicht allzusehr enthielt — durften
doch die Mönche offiziell nur während der beiden Mahlzeiten trinken ! Auch
dieses Gerücht gibt Ofhuys sehr vorsichtig wieder. Bei der Besprechung
der mutmaßlichen ätiologischen Momente der Krankheit Hugos erwähnt
er auch das Weintrinken, macht aber gleich die Einschränkung: »indubie
propter hospites«, eine Bemerkung, die des ironischen Beigeschmacks ent¬
schieden nicht entbehrt. Trotzdem sich Ofhuys in diesem Punkte durchaus
mit Reserve ausdrückt und weit davon entfernt ist, die Hauptursache der
Krankheit im Weintrinken zu suchen (er führt die Phrenesie auf »passiones
animi« zurück und erblickt im Weintrinken nur ein aggravierendes Moment),
ist Goes unbegreiflicherweise in den Ruf eines delirierenden Alkoholikers
gekommen, nicht zum wenigsten wegen Springers unverantwortlicher
»Übersetzung«: »den größten Schaden aber tat ihm die Liebe zum Wein«!
Es sei hier auch noch einmal darauf hingewiesen, daß die von Ofhuys so
ausführlich beschriebenen Krankheitssymptome Säuferwahnsinn mit aller
Sicherheit ausschließen lassen.
Es konnte van der Goes nicht entgehen, wie kleinlich seine Umgebung
oder doch ein großer Teil seiner Umgebung von ihm dachte. Auch außer¬
halb des Klosters scheint man hiervon gewußt zu haben; so wird wohl das
Gerücht entstanden sein, man habe Goes während seiner Krankheit nicht
mit der schuldigen Nächstenliebe und Aufmerksamkeit gepflegt 6 7 ).
Nachdem Hugo nun unter solchen, wohl nicht allzu erfreulichen Um¬
ständen, mehr als ein halbes Jahrzehnt im Kloster verbracht hatte, wird
es wohl sein sehnlichster Wunsch gewesen sein, das Kloster für längere Zeit
zu verlassen, um einmal wieder in einer andern Umgebung zu leben und
Freiheit zu atmen. Von der Reise selbst erfahren wir nur, daß Köln
ihr Ziel war. Auch darüber läßt uns der Chronist im unklaren, ob van der
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Beiträge zur Biographie Hugos van der Goes usw.
53 *
Goes diese Reise aus privatem Interesse oder, was wahrscheinlicher ist,
im Aufträge des Priors zum Zwecke der Erledigung einer offiziellen Kloster¬
angelegenheit unternahm — die Konversen wurden häufig zu solchen Dien¬
sten verwendet 68 ). Daß Goes damals (1481) in Köln mit den berühmten
Malern dieser Stadt zusammentraf, ist sehr wahrscheinlich. (Die Reise von
Brüssel nach Köln legte übrigens genau 40 Jahre später Dürer in 5 Tagen
zu Pferd zurück (12. Juli bis 16. Juli 1521). In Köln wird van der Goes wohl
in dem Kloster: »Zu Unseres Herrn Licham« gewohnt haben, dem einzigen
Augustinerkloster dieser Stadt, das zur Windesheimer Kongregation ge¬
hörte 6 ?). Auf der Rückreise ereilte ihn jenes tragische Geschick: er wird
eines Nachts plötzlich geistesgestört. Er hat die ängstliche Wahnidee, daß
er ein Verdammter sei und wegen seiner Sünden die Gnade Gottes ver¬
loren habe und von der himmlischen Seligkeit für alle Zeit ausgeschlossen
sei. Er bezeichnet sich selbst als »filius perditionis« mit Anlehnung an die
Bibelstelle: »Homo perditus, filius perditionis.« Was mag die Ursache seiner
Melancholie gewesen sein? Wir erwähnten schon, daß die eigentliche Ur¬
sache der Melancholie noch durchaus in Dunkel gehüllt ist. Ausgelöst wurde
seine Melancholie damals möglicherweise durch das quälende böse Ge¬
wissen, das Mönchsgelübde gebrochen zu haben, oder vielleicht durch das
traurige Bewußtsein, gerade in dem Augenblick in das weltfremde Kloster,
an das er durch sein Gelübde gefesselt war, zurückkehren zu müssen, wo
sein Lebenstrieb und Freiheitsdurst, sein künstlerischer Schaffensdrang und
Ehrgeiz durch die Anregung der Reise einen neuen Höhepunkt erreicht hatte.
Es ist nicht unmöglich, daß seine Melancholie in Gent zum Ausbruch kam.
Hier wenigstens ging noch im Jahre 1495 das Gerücht, Hugo van der Goes
habe bei der Betrachtung des Genter Altars den Verstand und den Glauben
an sich selbst verloren und sei in Melancholie verfallen 7 °). Auf das Gerücht
selbst ist zwar wenig zu geben, wenngleich uns Vaernewyck überliefert hat,
daß Meister Hugo ein eifriger Bewunderer dieses unsterblichen Werkes war.
Aber wir können aus dieser Anekdote mit einiger Sicherheit schließen, daß
van der Goes in seiner Vaterstadt Gent geisteskrank wurde, zumal Brüssel,
wohin er ja nach Ofhuys zunächst gebracht wurde, auf direktem Wege
zwischen Gent und dem Roode-Clooster liegt 7 1 ).
Über die Krankheit selbst haben wir bereits im Zusammenhänge das
Wichtigste gesagt. Daß Hugo van der Goes von seiner Me¬
lancholie wieder genas und keineswegs im »Irrsinn
gestorben ist«, haben wir ebenfalls festgestellt. Eine trübsinnige
Verstimmung bei sonst klarem Bewußtsein könnte freilich zurückgeblieben
sein. Kein Wunder, daß er, der sich zeitlebens mit so großen und kühnen
künstlerischen Plänen getragen hatte, durch die Krankheit tief gebeugt,
daß er kleinmütig und demütig, menschenscheu und wortkarg wurde. Der
Repertorium Tür Kuixtwiseentchaft, XXXV. -te
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
532
Hjalmar G. Sander,
Anblick der Chorbrüder, die ihn nicht verstanden hatten, und die nun wohl
gar seiner spotten würden, war ihm unerträglich: bis zu seinem Tode ließ
er sich nicht mehr im Refektorium der Chorbrüder blicken, und er zog es
vor, mit der niedersten Klasse der Klosterbewohner, den Laienbrüdern, den
ungebildeten Handwerkern zu speisen — sic transit gloria mundi! Man
fühlt, von welch erschütternder Tragik gerade die letzten Tage und Monate
seines Lebens gewesen sein müssen.
In Verbindung mit Hugos Krankheit wird vielfach eins seiner Bilder
gebracht, in dem man Spuren der Geisteskrankheit zu erkennen glaubte:
der »Tod der Maria« in Brügge. Allerdings legt dieses eigenartige, ja be¬
fremdliche und ganz und gar problematische Gemälde die Vermutung nahe,
daß es kurz nach der Geisteskrankheit des Künstlers in der Genesungszeit
entstanden ist. Tatsächlich aber hat van der Goes den »Marientod« vor
seiner Krankheit gemalt, vermutlich um das Jahr 1479 herum. Denn es
kann keinem Zweifel unterliegen, daß Martin Schongauer (ca. 1450—1491)
dieses Bild durchaus kannte, als er seinen »Marientod« in Kupfer stach.
Schongauers Kupferstich (B. 33) ist hinsichtlich der ganzen Komposition
dem Goesschen Bilde sehr verwandt; sogar die bei diesem Bilde besonders
frappierende Vorliebe des Genter Meisters für die recht auffällige Darstellung
fein durchmodellierter Hände hat Schonguer nicht ganz ungeschickt imitiert.
Wenn wir vollends den äußersten Apostel auf der linken Seite des Schon-
gauerschen Stiches mit dem genau entsprechenden Apostel auf dem Goes¬
schen Bilde vergleichen, so ist nicht zu leugnen, daß der Kolmarer Meister
Hugos Bild nicht nur gründlich studiert, sondern sich auch Skizzen von
einzelnen Porträts gemacht haben muß: so auffällig ist die Ähnlichkeit
der beiden genannten Apostel 7 *). Da nun Schongauers Stich bereits im
Jahre 1481 von Wenzel von Olmütz kopiert worden ist, so muß der »Marien¬
tod« Hugos schon vor 1481, also vor dem Ausbruch seiner Melancholie
vollendet gewesen sein. Die problematische Tiefe dieses Bildes liegt in der
scharfen Dissonanz des Dargestellten 73 ). Die unendliche Sanftheit und
Milde und die tiefe Todessehnsucht, die aus Mariens Zügen spricht, wird
durch den scharfen Kontrast der allzu menschlichen, fast pathologisch
dumpfen, gleichgültigen oder verdrießlichen, ja neugierigen und lauernden
Züge der einzelnen Apostel zu einer überirdischen, wahrhaft göttlichen
Seelenruhe gesteigert:
»Und in bleicher Todesschönheit
Zeigen sich die holden Züge,
Vom Verklärungsglanze schon umflossen,
Der um Himmelswohner strahlt.«
Mit dieser freudigen Gefaßtheit und erhabenen Seelenruhe wird auch wohl
der unglückliche Maler dem Tode entgegengesehen haben, der ihn denn
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Beiträge zur Biographie Hugos van der Goes usw.
533
auch bald nach seiner Genesung erlösen sollte. Sicherlich war Hugos Körper
durch die schwere Psychose bedenklich geschwächt und wenig widerstands¬
fähig geworden, und so wird die zum Tode führende Krankheit schon aus
diesem Grunde nicht mehr von langer Dauer gewesen sein. (Im Herbst?)
des Jahres 1482 starb Hugo van der Goes, etwa 50 Jahre alt, an irgend¬
einer interkurrenten Krankheit — leider erwähnt Ofhuys die Todesursache
nicht 74 ); unter freiem Himmel im Klosterhof fand er (wie alle Konversen
des Roode-Cloosters) sein unrühmliches Grab; vermutlich erhielt er damals
nicht einmal eine ehrenvolle Grabschrift von seinen Klosterbrüdern. Wenig¬
stens ist es höchst auffällig, daß Ofhuys, der alles so genau und gewissen¬
haft registriert, die später bekannt gewordene Grabschrift nicht erwähnt.
Wauters sprach wohl aus diesem Grunde die Vermutung aus, diese Grab-
schrift könne gefälscht sein. Das ist aber nicht richtig, denn das von Sweerts
1613 zuerst erwähnte Epitaph Hugos befand sich noch im Jahre 1734 in
der Klosterkirche des Roode-Cloosters " 5 ). Ein Verwandter Hugos oder
ein Verehrer seiner Kunst dürfte ihm bei Gelegenheit der Stiftung einer
Geldsumme für den Umbau der Klosterkirche, der im Jahre 1520 vollendet
war 76) (Ofhuys schrieb seine Chronik ca. 1512, jedenfalls vor 1518), dieses
durch Sweerts bekannt gewordene Denkmal gesetzt haben 77 ). Das Roodc-
Clooster wurde übrigens im Jahre 1784 aufgehoben, und 50 Jahre später
(1834) wurde die Klosterkirche, die übrigens auch ein Gemälde von Rubens
besaß (Martyrium des St. Paulus), ein Raub der Flammen 7 8 ). Vermutlich
ging auch bei dieser Gelegenheit Hugos Epitaph zugrunde, nach dem man
später vergeblich geforscht hat. I
Anhang.
Es ist keine Stelle in der Literatur bekannt geworden, die uns von
der äußerlichen Erscheinung Hugos van der Goes erzählt 79 ). Man hat
bei andern Malern diesem Mangel an authentischen Nachrichten früher in
der Weise abgeholfen, daß man das erste beste Porträt auf irgendeinem
der Bilder des Malers als ein Selbstporträt bezeichnete. Das erste derartige
Buch mit den angeblichen oder vermeintlichen Porträts einer ganzen Reihe
von altniederländischen und altvlämischen Malern erschien im Jahre 1572 8o ;.
Van der Goes' Porträt aber werden wir vergeblich in diesem Buch suchen,
und das kann uns nicht wundernehmen. Denn einmal war er damals schon
fast ganz in Vergessenheit geraten, anderseits wäre man auch in ziemlicher
Verlegenheit gewesen, ein einigermaßen glaubwürdiges Sclbstporträt Hugos
zu eruieren, da in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts die meisten seiner
Gemälde dem fanatischen Vandalismus der Bilderstürmer zum Opfer ge¬
fallen waren — van Mander (1604) schrieb van der Goes nur vier Bilder
in Gent und eins in Brügge zu, auch diese Bilder sind heute sämtlich ver-
35 *
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
534
Hjalmar G. Sander,
schollen 8l ). Nun ist ja nicht zu leugnen, daß die alten Meister sozusagen
an Stelle der namentlichen Signatur vielfach einer dargestellten Person ihre
eigenen Gesichtszüge verliehen, aber wir dürfen nicht vergessen, daß uns
eine einwandfreie Identifizierung wohl nur in den seltensten Fällen gelingt.
So findet sich auf Hugos »Hirtenanbetung« der Berliner Galerie das Porträt
eines etwa 50 jährigen Mannes, das in allen Einzelheiten mit einem Porträt
der Florentiner »Hirtenanbetung« übereinstimmt. Man vergleiche nur das
Porträt des rechten der beiden Heiligen auf dem rechten Flügel des Portinari -
altars mit dem linken der beiden, den Vorhang zurückziehenden Propheten
des Berliner Bildes. Gleich auf den ersten Blick wird uns die frappierende
Ähnlichkeit auffallen, die uns ein näherer Vergleich völlig bestätigt: Die
Haare und der Bart, die Augenbrauen und die Augen, die Nase und der
Mund stimmen auf beiden Bildern in Linie und Farbe genau überein. Die
beiden Porträts sind nun sicherlich keine freien Erfindungen des Malers,
sondern ganz offenbar nach einem und demselben Modell gemalt worden.
Ein größerer Altersunterschied ist kaum feststellbar, sodaß die beiden Bilder
etwa um dieselbe Zeit entstanden sein müssen. Da man aber auf Grund
stilkritischer Erwägungen allgemein mit Recht der Ansicht ist, daß die
Berliner Anbetung nach Vollendung des Portinarialtars, also im Roodc-
Clooster (ca. 1478), entstanden ist, so könnte man aus diesem Grunde viel¬
leicht prätendieren, daß es sich um zwei Selbstporträts Hugos van der Goes
handelt — der Maler müßte sich denn das Modell ins Kloster bestellt haben.
Auch das Alter und der entschieden etwas träumerisch-unentschlossene,
melancholische Ausdruck der Augen und Lippen würde nicht gegen eine
solche Behauptung sprechen 82 ). Und sollte sich wirklich der Maler unter
der Maske des »Schutzheiligen« und »Propheten« verbergen, so wird uns
auch die eigentümliche, gleichsam auf das Kunstwerk hinweisende Hand-
bewegung des Schutzheiligen und anderseits die originelle, symbolische Ent¬
hüllung des Gemäldes durch den »Propheten« in einem ganz anderen Lichte
erscheinen: »forte cor suum elevatum est«.
Die Wautcrs- »Originale Cenobii Rubeevallis in Zonia propre Bruxcllam
sehen Text- in Brabancia«, von Gaspar Ofhuys. F. 115 V , Zeile 23
fehl er 9 ) bis F. 118, Zeile 25 (Biblioth£que Royale ä Bruxelles.
Msc II, 48017).
Anno domini 1482 moritur frater Hugo conversus
hic professus. Hic tarn famosus erat in arte pictoria,
ut citra montes sibi similis, ut aiebant, temporibus illis
non in\eniebatur. Pariter novicii fuimus ipse et ego hoc
scribens. In eius investitione et noviciatu, ipse pater
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Beiträge zur Biographie Hugos van der Goes usw.
535
(pp) (quam)
(Komma)
(mirabiliter)
(verum)
(cavente) (et)
prior Thomas plurima solatium mundanorum attincntia
permittebat, p r o p t e r melius tarnen, q u i a magnus
inter mundanos fuerat, que magis ad pompam huius
seculi inducebant, quam ad penitentie et humilitati--
viam. ' Quod minime aliquibus placebat dicentibus:
Novicii non sunt exaltandi sed humiliandi. Et quin
excellens valde erat in ymaginibus depingendis a mag-
natibus et pluribus etiam ab illustrissimo archiduce Maxi¬
miliane visitabatur. Optabant enim vehementer opera
eius depicta inspicere. Propter hospites eius occasione
venientes pater Thomas prior eum permittebat hospituni
cameram ascendere et ibidem cum illis convivari.
Post eius professionem paucis annis elapsis quinque
vel sex, contingit hunc fratrem conversum, si bene me-
mini Coloniam pergere cum fratre suo uterino fratre
Nicholao hic professo et donato, cum fratre Petro regulari
dcThrono eo tune in Jherico Bruxelle moranti, et cum ali¬
quibus aliis. Ut tune sui fratris nicholai donati relatu
didici, in reditu quadam nocte, hic frater noster Hugo
conversus, m i r a b i 1 e m fantasialem morbum incurrit,
quo incessanter dicebat se esse dampnatum et dampna-
tioni eterne adiudicatum, quo etiam sibi ipsi corporaliter
et letaliter (nisi violenter impeditus fuisset auxilio astan-
tium) nocere volebat. Ex hac infirmitate mirabili, ex-
trema peregrinationis illius luctus occupabat non modi-
cus. Qui tarnen auxilio opitulante Bruxellam pervene-
runt, et sine mora pater prior Thomas illuc demandatur,
ille cuncta videns et audiens, suspicabatur eum eodem
morbo vexari, quo rex Saul agitabatur. Unde recordans
quomodo Saul levius habebat david cytharam percu-
tiente, permisit ibidem coram fratre Hugone melodiam
fieri non modicam sed et alia spectacula recreativa, qui-
bus intendebat mentales fantasias repellere. In omnibus
hiis frater Hugo non melius habuit, sed aliena loquens
se filium perditionis asserebat. Sic ergo indispositus
domum hanc intravit.
De servitio et assistentia a fratribus choralibus,
in caritate et compassione noctu dieque sibi exhibitis,
in eternum et ultra nunquam ex memoria divina erit,
cuncta cernente licet protunc plurimi etiam mag-
nates aliter fabulabantur.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
536
Hjalmar G. Sander,
(saepe)
(unicuiquc)
(dicente)
(simul)
lalii)
(verum)
(fehlt)
(qui)
(est patiens)
(noster)
(fuerat) (quod)
(miror)
(hoc)
(peccatoris)
Que autem fuerit hec infirmitas huius convcrsi
divcrsi diversemode scntiebant. Quidam diccbant quod
speties erat frenesis magne. Alii vero eum obsessum a
demonc asserebant. De utroque infortunio aliqua signa
apparebant verumtamen semper audivi, quod nulli
u m q u a m in tota sua indispositione noccre voluit njsi
semper sibi ipsi. Hoc non auditur de freneticis aut
obsessis, ergo quid fuerit credo, deus solus novit. Du-
pliciter ergo de hac nostri conversi pictoris infirmitate
possumus loqui. Primo d i c e n d o , quod fuerit natu-
ralis et quedam speties frenesis. Sunt enim s e c u n •
dum naturales huius infirmitatis plures speties que
generantur aliquando ex cibis melancolicis, ali-
quando ex potatione fortis vini, ex anime passionibus
scilicet sollicitudine, tristicia, nimio studio et timore.
Aliquando ex malacia humoris corrupti dominantis in
corpore hominis ad talem infirmitatem praeparati.
Quantum ad anime passiones pro certo scio dictum
fratrem conversum fuisse valde gravatum. Habebat enim
sollicitudinem maximam quomodo opera perficeret de-
pingenda. Ut tune dicebatur vix novem annis perficere
potuisset. Sepissime in libro flamingo studebat. De
potu vini, indubie propter hospites, timeo eius naturam
gravatam fuisse. Ex hiis igitur sibi generare potuit
materiam, successu temporis, infirmitatis sue magne.
Secundo de hac infirmitate possumus loqui, tenendo
sibi evenisse, ex piissima dei providentia, quac ut dici-
tur 2 P e t r i 3, patienter agit propter nos, nolens aliquos
perirc, sed omnes ad penitentiam reverti. Frater enim
iste conversus propter spetialem suam artem in nostra
religione satis f u i t exaltatus famosior effectus quam
si in seculo remansisset, et quia homo erat ut ceteri ex
honoribus sibi exhibitis visitationibus et salutationibus
diversis forte cor suum elevatum est, quare deus nolens
eum perire, miscricorditcr ei dimisit hanc humi-
liativam infirmitatem, qua re vera humiliatus est valde.
Hoc ipse frater intelligens quam cito convaluit se valde
humiliavit, sponte nostrum refcctorium relinquens, et
cum laicis refectionem humiliter capicns. H c c hic reci*
tare curavi, quia deus hec omnia permisit ut cstimo, non
tantum propter peccati punitionem aut peccantis
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Beiträge zur Biographie Hugos van der Goes usw.
(‘Komma) (com-
pcllere)
(sane profectum)
(possit)
(Schluß des
Wautersschen
Textes)
(cf. Lukas 16, 21)
Lukas 16, 28)
correptionem et emendationem sed etiam propter nostram
instructionem.
Dato hanc infirmitatem accidisse ex accidenti natu-
rali*. Instruimur in hoc anime passiones r e p e 11 e r e ,
non permittere illas nobis dominari, alias in naturalibus
nostris irremediabiliter possemus ledi. Frater iste
pictor egregius ut tune dicebatur ex nimiis ymagina-
tionibus fantasiis et sollicitudinibus circa cerebrum in
quadam vena lesus erat. Est enim circa cerebrum ut
aiunt in quedam vena parva valde et gracilis, potentie
ymaginative et fantastice deserviens, quando ergo yma-
ginationes et fantasie in nobis nimis habundant, hec
venula turbatur, quod si adeo turbatur et ledatur quod
rumpatur, homo incidit in frenesim vel amentiam. Fan¬
tasiis ergo nostris et ymaginationibus, suspitionibus et
aliis vanis cogitationibus et inutilibus, quibus sine
profcctu nostrum cerebrum turbatur, ponamus mo-
dum, ne incidamus in tale et irremediabile periculum.
Homines enim sumus. Quod ergo huic converso accidit
ex fantasiis et ymaginationibus nonne et nobis accidere
p o s s e t.
Esto quod non ex causa naturali hoc infortunium
evenit, sed ex dei providentia infallibili, quae procurat
electigetpraedestinatis (si in errore sunt), materiam peni-
tendi et revertendi, quid fratres mei dicemus? Melius
est temporaliter affligi, quam eternaliter cruciari. Lmde
rogabat dampnatus, in inferno sepultus: Rogo te pater
Abraham ut mittas Lazarum in domum patris mei,
habeo enim quinque fratres ne et ipsi veniant in hunc
locum tormentorum, Lukas 16. Tamquam diceret: Scio
quia dampnabiliter vivunt, et nisi penituerint et in
mundo pro suis peccatis afflicti fuerint, haec tormenta
incurrent. Times hic affligi? multo plus afflictio eterna
timenda est. Si ergo times divinam afflictionem tempo¬
ralem, times et afflictionem infernalem, et non cstdedecus
pcccati sine decore iusticie, te ipsum peccatorem corrige.
Si superbus es, humilia te ipsum valde, coram deo et
eius vicario pastore tuo, quia nisi te emendaveris (quia
es electus et de praedestinatis) ipse deus qui superbis
resistit, nolens quod pereas, adeo te humiliabit, cui resis-
tere non poteris, quod exemplum aliis cris.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
53«
Hjalmar G. Sander,
Nonne humiliatione placatur, nonne penitentia pa-
catur, ipse dicens deus noster? In conspectu ergo eius
humilia animum tuum, vitam tuam malam corrige, ad
bene et disciplinate vivendum te veraciter dispone,
declina a malo et fac bonum, eius misericordiam impe-
trabis, afflictionem temporalem temperabis et effugies
supplicium eternum. Sepultus est in nostro atrio sub
divo.
Anmerkungen:
*) Vaernewyck, Marcus van: »Die Historie van Belgis diemen anders namen
nach: den Spieghel der Nederlandscher Audtheydt. Ghcndt 1574 (Königl. Bibliothek,
Berlin, Tk 1056), S. U9 r , I20 v , I2i r , I2i r , 133*".
а ) O p m e e r , Pieter van: Opus chronographicum orbis universi, Antverpiae 1611.
S. 406: »Hugo Leidensis«.
3 ) Cf. Anm. 49.
4 ) Swcerts, Frantz: Monumenta sepulchralia et inscriptiones Ducatus Bra-
bantiae, Antverpiae 1613, S. 323.
5 ) Sander, Anton: De Brugensibus eruditione fama Claris libri duo, Antverpiae
1624, S. 39, und Flandria illustrata, Coloniae Agrippinae 1631, T. I., über primus, S. 210.
Sandrart, Joachim: Deutsche Akademie der edlen Bau-, Bild- und Malerey-
Kilnste. Nürnberg und Frankfurt 1675, 2 - Teil, 3. Buch, S. 216.
B a 1 d i n u c c i, Filippo: Notizic de* professi del Disegno ed. F. Ranailli, Firenze
1845, Bd. I, S. 592 — 593 -
Descamps, Jean-Baptiste: Lcs vies des Peintres flamands etc. 1753, Bd. I,
S. 8—9.
б ) Das Abfassungsjahr der Chronik läßt sich auf Grund folgender Tatsachen ziemlich
genau berechnen. In dem Catalogus der Chorbrüder des Roode-Cloosters (abgedruckt
in: De codicibus hagiographicis Johannis Gielemans, edid. Presbyteri S. J. Smedt,
Bäcker etc., Bruxelles 1895, S. 332) ist Ofhuys an 65. Stelle erwähnt. Hier heißt es u. a.,
daß Ofhuys Prior des Klosters Isaakbusch bei Nivclles war, dann aber 10 Jahre lang das
Priorat des Klosters Isaakbusch bei Lüttich bekleidete, und darauf ins Roode-Cloostcr
zurückkohrte, wo er 8 Jahre blieb, während welcher Zeit er die Chronik dieses Hauses
geschrieben habe. Da nun aus W i a e r t s : Historia Silvae — Isaacanae, Bruxellis 1688,
p. 134 hervorgeht, daß Ofhuys während der Jahre 1496—1499 Prior von Isaakbusch war,
so muß er während des Zeitraums 1509—1517 (bzw. zwischen 1510—1518) das »Originale«
geschrieben haben. Da aber seine Chronik mit dem Jahre 1513 abschließt, so dürfen wir
annchmen, daß ihre Entstehungszeit in die Jahre 1509—1513 fällt.
7 ) Cf. Sander, Anton: Chorographia sacra... Brabantiae, Bruxellis 1659. An
13. Stelle bespricht er das Roode-Cloostcr, und auf S. 14 heißt es daselbst: »Ofhuys in-
super cxactissimum primordiale huius domus conscripserit«. Cf. ferner Grammaye,
Joan. Bapt.: Antiquitates illustrissimi ducatus Brabantiae, Bruxellis 1708, p. 16 b (Bru-
xella).
8 ) Die Handschrift war ehemals im Besitz des Chevalier Camberlyn d'Amougic,
nach dessen Tode (1882) erwarb die Bibliotheque Royale in Brüssel das Manuskript für
750 Mark (Msc. n. II, 48 017). Der 146 zeilige Passus über Goes beginnt auf F. 115'*, Zeile 23,
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Beiträge zur Biographie Hugos van der Goes usw.
539
und endigt auf F. n8 r f Zeile 25. Herr Direktor van den Gheyn S. J. gestattete uns freund-
lichst die Veröffentlichung des revidierten Textes.
9 ) Cf. Bulletin de TAcademie de Belgique, II. Serie, S. 723—743; Wauters,
Alphonse: Hugues van der Goes, Bruxelles 1872, S. 12ff. (lateinischer Text, nebst fran¬
zösischer Übersetzung, die wiederholt abgedruckt wurde: z. B. Biographie nationale de
Belgique Bd. 8, Bruxelles 1883, S. 33—36; Hymans, Henri: Le livre des peintres de
C. v. Mander, Bd. I, Paris 1884, S. 51—59; Revue des questions scientifiques, 3. Serie,
T. VIII, Louvain 1905, S. 87—90 etc.).
10 ) Deshalb ist auch Wurzbachs deutsche Übersetzung unbrauchbar, die aber
auch wegen mancher sonstiger Ungenauigkeit dem lateinischen Text nicht gerecht ge¬
worden ist (Niederl. Künstlerlexikon, Wien 1906, Bd. I, S. 591)- Ein ganz dürftiger und
fehlerhafter Auszug des Ofhuysschen Berichtes findet sich in der deutschen, von A. S p r i n -
ger bearbeiteten Ausgabe der »Geschichte der altniederländischen Malerei» von Cr owe
und Cavalcaselle (Leipzig 1875). Karl Voll hat diesen verfehlten Auszug in seinem
Werke über »die altniederländischc Malerei etc.» München 1906, unglücklicherweise zitiert.
xx ) De codicibus etc. (cf. Anm. 6), S. 283, wo 16 Ungenauigkeiten des Wauters-
schcn Textes aufgezählt werden. Wir konnten 7 weitere kleine Lapsus feststellen.
xa ) Der Begriff (und die Stellung) der fratres conversi w*ar nicht in allen Orden
zu allen Zeiten derselbe. Das Roode-Clooster war eine Augustinerchorherrnpriorei, die seit
dem J^hre 1438 an die große 1387 gegründete Windesheimer Kongregation angeschlossen
war, die ehemals über 100 Klöster umfaßte. Aus den ausführlichen Statuten dieser Kon¬
gregation, die 1402 neu bearbeitet und seitdem ziemlich unverändert bestehen blieben
(cf. Geschichtsquellen der Provinz Sachsen Bd. XIX, Halle 1886: Chronicon Windescmense
ed. Karl Grube, S. XXIX), können wir uns ein deutliches Bild von der Aufgabe und
der Stellung der Konversen machen. Wir werden später darauf eingehen. Eine Beschrei¬
bung und Abbildung der Trachten der Konversen und Chorbrüder dieser Kongregation
befindet sich bei Helyot : Histoire des ordres monastiques r 41 igieux etc. Paris 1721,
t. II, p. 944—946.
x 3 ) Springer und Wurzbach übersetzen citra mit »auch jenseits». So groß
war Goes’ Ruhm nun wohl doch nicht in einem Lande, in dem Männer wie P e r u g i n o
(geb. 1446), Botticelli (geb. 1446), oder Mantegna (geb. 1431) schon längst zur
Berühmtheit gelangt waren.
x 4 ) Mit der Einkleidung (investitio), die mehr oder weniger kurze Zeit nach dem
Eintritt ins Kloster feierlich vollzogen wurde, beginnt erst das offizielle einjährige Noviziat
oder Probejahr.
x 5 ) Thomas V e s s e m (Wyssem), aus dem Kempenland gebürtig, war seit dem
Jahre 1475 der 15. Prior des Roode-Cloosters; in dem Catalogus fratrum dieses Klosters
(cf. De codicibus Hag. 1 . c. S. 315—316) wird er von Ofhuys als ein frommer und gutmütiger
Mann geschildert, dessen Frömmigkeit einige sogar mißbraucht hätten * 7 ). Vessem starb
am 11. Juni 1485 in einem Brüsseler Hospiz »mediocriter annosus». Er hat sich übrigens
auch als Kalligraph einen Namen verschafft (Ofhuys).
,6 ) »propter melius tarnen quia magnus inter mundanos fuerat»; Wauters las:
»pp. (?l) melius tarnen quam magnus» etc. und übersetzte: »parce qu’il avait iti bon
plutöt que puissant» etc.:) Propter melius würde wörtlich zu übersetzen sein: mit Rück¬
sicht auf das Bessere, d. h. »er zog es vor, ihm zu gestatten».
x 7 ) Der Ausdruck »pompa seculi» ist den Windesheimer Statuten entlehnt (1553,
S. 86: die Novizen sollen: pompis seculi perfecte renuncire).
l8 ) »Ymago» heißt im Mittelalter nichts weiter als »Bild», aber keineswegs war
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
540
Hjalmar G. Sander,
ymago das ausschließliche lateinische Wort für »Porträt«, wie Wauters und Wurzbach
anzunehmen scheinen.
! 9 ) Erzherzog Maximilian, der nachmalige deutsche Kaiser, war bekanntlich (seit
dem 9. August 1477) mit Maria, der Tochter Karls des Kühnen von Burgund vermählt.
Er scheint im Jahre 1478 (er w*ar damals erst 19 Jahre alt) das Roode - Clooster besucht
zu haben (cf. Wauters, Alphonse: Histoire des environs de Bruxelles, Bruxelles 1855
T. III, S. 356). übrigens w r urdc das Roode-Clooster häufig von Fürstlichkeiten und vor¬
nehmen Herren besucht, da der Zonienbusch ein beliebtes Jagdgebiet war und das Kloster
seit 1473 ein üppig ausgestattetes »Fürstenzimmer« besaß.
20 ) Das »si bene memini« bezieht sich nicht auf die Zeitangabe (hierüber konnte
Ofhuys nicht im Zweifel sein), wie Wurzbach glaubt, sondern auf Köln, was überdies
auch die ganze Stellung der Parenthese und die Interpunktion beweist.
ai ) Köln war vom Roode-Clooster aus bequem in einer Woche zu erreichen, aller¬
dings durften die Mönche an Sonntagen nicht reisen (Stat. v. 1553, p. 59). Vermutlich
reiste Goes über Löwen (Kloster Betlchem oder St. Martinskloster), Thienen (Kl. Bar¬
barathal), Lüttich (St. Hieronymuskloster), Aachen (Kl. Johannes der Täufer) nach Köln
(Kl. zu Unseres Herrn Licham), weil sich in jeder dieser eine Tagereise voneinander ent¬
fernten Städte ein Kloster der Windesheimer Kongregation befand.
22 ) »cum fratre utcrino Nicholao«. Goes’ Mutter muß also zweimal verheiratet ge¬
wiesen sein. Anscheinend hat sie den Bruder ihres verstorbenen Mannes geheiratet, denn
merkwürdigerweise heißt dieser Nikolaas mit Familiennamen ebenfalls van der Goes (cf.
De codic. Hag. 1 . c. S. 285). In dem Gielemansschen Katalog der Donaten des Roode-
Cloosters von 1371—1487 ist nämlich als 13. und vorletzter Donat: »Nicolai» s de
Goes« genannt; nach der durchschnittlichen Zahl der jährlich eingetretenen Donaten
zu urteilen, wäre dieser Nikolaus zwischen 1471 und 1479 ins Roode-Clooster eingetreten.
Zwei leibliche Brüder (fratres germani) durften übrigens nicht Mitglieder desselben Klosters
werden (Stat. v. 1553, S. 86). Es sei hier darauf hingewiesen, daß eine Schwester oder
Verwandte Hugos van der Goes namens Catharina van der Goes mit dem Minia¬
turenmaler Alexander Ben in c verheiratet war, der 1469 in Gent und i486 in Brügge
nachweisbar ist (Wurzbach 1. c. I, S. 79).
* 3 ) Die Donati sicherten sich durch Hingabe ihrer ganzen beweglichen und un¬
beweglichen Habe den lebenslänglichen Unterhalt im Kloster; sie w'aren keine vollgiltigen
Mitglieder der Klostergemeinde, da sie nicht die drei Ordensgelübde abzulegen hatten,
Vor Notar und zw'ei Zeugen versprachen sie dem Generalkapitel und dem Prior ihres Hauses
Treue und Gehorsam. Sie hatten eine besondere Tracht und hatten im übrigen ähnliche
Dienste wie die Konversen. Kein Kloster der Windesheimer Kongregation durfte mehr
als fünf Donaten aufnehmen.
* 4 ) Es gelang uns auf Grund einer Notiz bei J. G. R. A c q u o y (Het Klooster
te Windesheim, Utrecht 1880 Bd. III, S. 78) und dank der freundlichen Unterstützung
des Generalarchivars des Brüsseler Reichsarchivs, Herrn A. Gaillard, einiges über diesen
Mönch zu ermitteln. Er hieß Pieter Rombouts, der vor 1452 in Lier (Prov. Ant¬
werpen, ehemals in Brabant) geboren wurde und im Jahre 1472 unter dem Prior Georgius
Lamberti Chorbruder in Marienthron bei Grobbendonck wurde, einem Augustincrchor-
herrnkloster, das seit 1419 der Windesheimer Kongregation angehörte. Um *1480 herum
war Rombouts »socius«, d. i. etwa »Sekretär« des Rektors im Frauenkloster Jericho in
Brüssel. Er starb im Jahre 1505 (cf. Msc. n. 6 de Tinventaire des chartes du prieure de
St. Martin ä Louvain: Catalogus canonicorum ac professorum huius domi (Marienthron),
Bruxelles, Archives Generales du Rovaume).
2 5 ) »fantasialem morbum«.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Beiträge zur Biographie Hugos van der Goes usw.
541
2b ) Das Roode-Clooster (Rookloster, Roodendale, Rouge-cloitre, Rubca vallis) lag
etwa 1 Meile südöstlich von Brüssel am Rande des Sonienbusch (Forct de Soignes, Silva
Sonia). Im Sonienbusch, der wegen seiner Größe und Schönheit, seines Wildreichtums
und seiner vielen Quellen wegen sehr berühmt war, lagen ehemals nicht weniger als 11
Klöster (Butkens, Francois-Christophe: Troph£es tant sacr£s que profanes du duche
de Brabant, La Haye 1724/1726, T. I, livre 1, S. 5—11 mit Karte). Eine Abbildung des
Klosters findet sich in Sanders brab. Chorographie (cf. Anm. 7).
* 7 ) Cf. 1. Sam. 16, 14—23.
ib ) melodiam fieri non modicam — Schon wegen des Wortes »melodia* hat man
hierbei nur an Gesang zu denken (cf. Ducange-Carpenter : Glossarium mediae
et infimae Latinitatis Parisiis 1840—46, Bd. 4, S. 350). Denn das Orgelspiel sowie über¬
haupt der Gebrauch irgendwelcher Musikinstrumente (usus quorumlibet instrumentorum
musicalium) war in den Windesheimcr Klöstern streng verpönt (Stat. v. 1553, S. 50 u.94).
* 9 ) Es klingt ja sehr schön, wenn Firmenich-Richartz (Schnütgens Zeit¬
schrift f. christl. Kunst, Ddf. 1897, S. 233) sagt: »Rauschende Orgelklänge und der fromme
Gesang der Brüder brachte ihm für kurze Zeit Linderung seiner Qualen und Besänftigung
des zerrütteten Gemüts.» Ofhuys sagt jedoch das Gegenteil; Felix Rosen begeht den¬
selben Fehler, wenn er sagt (Die Natur in der Kunst, Leipzig 1903, S. 144): »Die Musik
verschaffte ihm die letzten ruhigen Stunden.»
3 °) »Filius perditionis», cf. Vulgata, 2. Thess. 2 f 3.
3 1 ) Wie aus dem folgenden hervorgeht, unterscheidet Ofhuys in Übereinstimmung
mit den mittelalterlichen Psychiatern nicht zwischen Phrenesie und Melancholie; die letzte
faßt er als eine Varietät der Phrenesie auf, eines mittelalterlichen Sammelnamens für die
verschiedensten mit Delirien verbundenen Geisteskrankheiten.
3 1 ) »cibi melanqholici,» Galen (Opera omnia ed. Kühn, Leipzig 1824, Bd. VIII,
de locis affectis üb. III, cap. io, S. 183) nennt eine ganze Reihe solcher Melancholie er-
%
zeugender Speisen: in erster Linie die verschiedensten Fleischarten (Ziegen-, Rind-, Esel-,
Kamel-, Fuchs- und Hundefleisch), dann die Hülsenfrüchte, namentlich Linsen, von den
Getränken nennt er als in dieser Beziehung besonders gefährlich, die dicken und schwarzen
Weine (vina crassa nigraque). Ofhuys schreibt ganz im Sinne Galens.
33 ) »sollicitudo» <ppovtfc, das viele Gedankenmachen. Ofhuys ist hier durch
Galen beeinflußt, der a. a. 0 . sagt, daß »multi labores, et sollicitudo» melancholischen
Saft erzeugen können. Vgl. auch den hippokratischen Satz: »metus et tristicia, si diu
perseverent melancholiae istud indicium est.» (Ausgabe Kühn, Bd. III, S. 572, Leipzig
1827.)
3 *) »Sepissime in libro flamingo studebat.» Dieser Satz ist leider allzu lakonisch,
als daß w r ir Schlüsse irgendwelcher Art daraus ziehen könnten. War dieser geheimnisvolle
Über flamingos ein wissenschaftliches, ein belletristisches oder ein religiöses Buch ? Die
Bibliothek des Roode-Cloosters besaß zu Goes* Zeiten über 30 in vlämischer Sprache ge¬
schriebene Manuskripte (cf. Bulletin de l'Acad. d'archeologie de Belgique t. IV. S. 215).
Auf S. 81 der Windesheimer Statuten ste^t übrigens folgender Satz: »Librarius omnes
monasterii libros ad divinum officium non spectantes in custodia sua habet.» Wollte man
übrigens lediglich aus dieser Stelle folgern, van der Goes sei von Geburt ein Vlaeme und
kein Holländer gewesen 8 *) (vlaemisch war damals bekanntlich die allgemeine nieder¬
ländische Schriftsprache), so wäre das natürlich ebenso verfehlt, wie die Vollsche Argu¬
mentation: »Van der Goes war, wie schon der Name sagt, höchstwahrscheinlich holländi¬
scher Abkunft.» (Der Name van der Goes war in Flandern damals sehr verbreitet.)
35 ) »timeo eius naturam gravatam fuisse.»
3 6 ) 2. Petr. 3, 9 (Ofhuys zitiert den Vulgatatext).
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
542
Hjalmar G. Sander,
37 ) »forte cor suum elevatum est«, ergänze etwa: »und Hochmut kommt vor dem
Fall«. Der Glaube, daß Irrsinn häufig die Folge der Sünde des Hochmuts sei, war in
früheren Zeiten sehr verbreitet; so sagt z. B. van Mander bei Joos v. Cleef: »Wie
sich dann gewöhnlich die Krankheit des Irrsinns in einem hochmütigen Kopf festnistet«
(Flörcke I, 209).
3 *) «quam primo convaluit se valde humiliavit.« Obwohl hier direkt und im folgen¬
den noch einmal indirekt deutlich gesagt ist, daß van der Goes von seiner Krankheit wieder
genas, liest man unbegreiflicherweise meist das Gegenteil.
39 ) »nostrum refectorium«, d. h. das Refektorium der Chorbrüder. Die Konversen
mußten in ihrem eigenen Refektorium speisen. (Stat. S. 1553, p. 140). Es war also eine
besondere Vergünstigung, daß der frater conversus Hugo in dem Refektoiium der Brüder
speisen durfte. (Springer übersetzt nostrum refectorium mit «Speisesaal der Gäste«;
lat.: camera hospitum.)
40) *circa cerebrum in quadam vena lesus erat.« Wurzbach übersetzt »vena« mit
»Organ«, wahrscheinlich verleitet durch die erst viel später von Descartes aufgestellte
Zirbeldrüsentheorie.
41) Auf welchen Autor diese Lehre zurückgeht, konnten wir nicht eruieren. Augen¬
scheinlich hat der pathologische Befund bei einer tödlich verlaufenen Hirnblutung (Ap9-
plexie) Anlaß zu dieser Theorie gegeben.
4 «) »suspitionibus« (cf. Ducange, 1 . c. Bd. 6, S. 462).
43 ) «quibus sine profectu (Wauters las: »sane profectum«) nostrum cerebrum tur-
batur.«
44) Die nun folgenden Sätze sind noch nicht veröffentlicht, Wauters hat auf sie
ganz verzichtet, doch scheinen sie uns zum besseren Verständnis des Ofhuysschen Gedanken¬
ganges beizutragen.
45 ) Ofhuys führt diesen Gedanken an Hand einer Bibelstelle (Lukas 16, 21—75)
des näheren aus (F. 118, Zeile 2—12), um ihn dann am Falle Goes noch einmal zu illu¬
strieren (wir haben die langatmigen theologischen Syllogismen exzerpiert).
4 *) Cf. Anm. 51.
47 ) Die Melancholie entwicklet sich zwar allmählich und wird häufig durch ein
Vorstadium eingeleitet, aber diese Beschwerden pflegen von der Umgebung nicht sonder¬
lich beobachtet zu werden, bis sich dann, in der Regel ziemlich plötzlich, deutlich Symp¬
tome der Geistesstörung bemerkbar machen (Lehrb. d. Psychiatrie v. Binswanger usw.,
Jena 1911, S. 103).
4 *) Im Jahre 1494/95 im Anschluß an die Einnahme Neapels durch Karl VIII von
Frankreich.
49 ) Cf. die Löwener Stadtrechnung vom Jahre 1479/80 (abgedruckt bei L a b 0 r d e :
Les ducs de Bourgogne Bd. I, 1849. S CXVII). Solange keine anders aussagende zeit¬
genössische und ebenso authentische Urkunde gefunden wird, solange ist Gent Hugos
verbürgte Vaterstadt. Gegenüber dieser Urkunde ist V a s a r i s Behauptung (Ugo d’An-
versa) hinfällig, cs sei denn, daß Goes eine Zeitlang in Antwerpen tätig war. V a n M a n -
der sagt mit keinem Wort, daß Hugo aus Brügge gebürtig sei (ebensowenig Anton S an¬
der ), er nennt ihn mit Recht »Maler von Brügge«, weil Goes jedenfalls lange Zeit daselbst
• •
tätig gewesen ist. Vacrnewyck hat nie behauptet, daß Goes* Vaterstadt Leyden
war; er nennt zwar einen gewissen Hugo von Leyden, aber dieser ist kein anderer als der
Vater Lukas* von Leyden, namens Hugo Jacobszoon (geb. vor 1474,
gest. zwischen 1525 und 1538), vermutlich derselbe, mit dem Dürer auf Seeland zusammen¬
traf (Thausing, Wien 1888, S. 106). Das wußte Mander sehr wohl, denn das Bild
Hugos von Leyden, das nach Vaernewyck in der St. Pietersabtei zu Gent zu sehen war,
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
543
Beiträge zur Biographie Hugos ran der Goes usw.
beschreibt er nicht als das Werk Hugos van der Goes. O p m e e r dagegen hat Vaerne-
wyek mißverstanden, denn er nennt Hugo van der Goes »Hugo Leidensis«. Vgl. auch
Lemaire (1513): »Hugues de Gand».
5 °) Wauters will bei Vaernewyck eine Stelle gefunden haben des Inhalts, daß van
der Goes lange Zeit in Ter Goes auf Seeland gelebt habe, und man hat dieser Behauptung
auch bisher, ohne nachzuprüfen, Glauben geschenkt, aber bei Vaernewyck ist nichts der¬
gleichen zu lesen (cf. Catalogue de TExposition des Primitifs flamands et d’Art ancien,
Burges 1902, S. XX und Fierens-Gevaert).
5 1 ) Hugos Grabschrift erklärt: vixit tempore Caroli Audacis. Karl der Kühne
wurde am 10. November 1433 geboren und regierte seit 16. Juli 1467, er starb am 5. Januar
1477. Ferner ist anzunehmen, daß Goels mindestens 40 Jahre alt war, als er im Jahre 1474
Dekan der Malergilde wurde. Übrigens sei noch darauf hingewiesen, daß das Prädilektions-
alter der Melancholie beim Manne zwischen dem 45. und 55. Lebensjahr liegt.
5 2 ) Wurzbach hat in seinem Künstlerlexikon (Bd. II, 857—877) überzeugend nach¬
gewiesen, daß Rogier van der Weyden I, der Stadtmaler von Brüssel, der am 16. Juni
1464 starb, weder künstlerisch noch geschichtlich identisch ist mit Rogier van der Weyden II,
dem Stadtmaler von Brügge, dem Schüler Campins und dem Lehrer Memlincs und Hugos
van der Goes.
53 ) Cf. Vaernewyck, 1. c. S. I2i r : »M. Hughe noch een jonckman synde.«
5 ») Dirk B o u t s starb am 6. Mai 1475.
55 ) Der schon erwähnte Gielemanssche Katalog der Chorbrüder, Konversen und
Donaten gestattet uns die Anzahl der Mönche des Roode-Cloosters zu Goes’ Zeiten zu
veranschlagen Es gab übrigens ehemals über 300 Klöster in Brabant. Im Sonienbusch
lagen nicht weniger als 11 Klöster.
5 6 ) Die Melancholie hat eine ausgesprochene Neigung zu Wiederholungen. Eine
Fabel behauptet, Goes sei aus Kummer über den Tod seiner Geliebten ins Kloster ge¬
gangen.
57 ) Der Korrektheit halber möchten wir auf die etwas umständliche rechnerische
Argumentation nicht verzichten: Tatsache I: Am 1. Nov. 1523 starb Ofhuys 67 Jahre
alt, d. h. im 68. Lebensjahr (Cod. Hag, S. 332), ergo ist er zwischen dem 1. Nov. 1455 und
dem 1. Nov. 1456 geboren. Tatsache II: Im Jahre 1475 stand Ofhuys im 19. Lebens¬
jahr (Cod. Hag. S. 332), ergo ist er zwischen dem 1. Januar 1456 und dem 31. Dez. 1457
geboren. Aus Schlußfolgerung I und II folgt, daß Ofhuys 1. zwischen dem 1. Jan.
und 1. Nov. 1456 geboren und 2. zwischen dem 1. Jan. und 1. Nov. 1475 ins Kloster ge¬
gangen sein muß.
5 8 ) Statuten, S. 132, vgl. auch Petrus Impcns; Chronicon Bethleemiticum»
(1504—1523) lib. VI, art. 4, § 2.
59 ) Cf. Haeghen : Memoire sur les documents faux, Brux. 1899, S. 42 Anm.
Es muß also noch im Jahre 1475 an Goes* Stelle ein neuer Dekan (Jacop Gheerolf ?) ge¬
wählt worden sein.
*°) Siehe Jahrb. f. preuß. Ksts. 23, S. 247, Berlin 1902.
6l ) Die folgenden Ausführungen stützen sich auf das einzig existierende uns vom
Bibliothekar der Utrechtcr Universitätsbibliothek, Herrn J. F. van Someren freund-
lichst zur Verfügung gestellte Exemplar der Windesheimer Statuten vom Jahre 1553,
sowie auf das erstaunlich fleißige Werk von J. G. R. A c q u o y : »Het Klooster te Windes¬
heim» etc., Utrecht 1875—80; wir haben auch wiederholt die Einleitung Karl Grub es
zu seiner Ausgabe des Chron. Windesemense (Halle 1886) benutzt.
* 2 ) Gregorius R i v i u s : Monastica Historia accidentis, Leipzig 1737 . s. 33,
* 3 ) Orig. f. 61, cf. Cod. Hag., 1. c. S. 283.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
ä
544
Hjalmar G. Sander,
6 4 ) Stat. S. 86.
* 5 ) Ich weiß sehr wohl, daß mancher Psychiater diesen Worten Ofhuys entnehmen
würde, daß Goes sich vor dem eigentlichen Ausbruch seiner akuten depressiven Geistes¬
krankheit zeitweilig in dem Zustande einer manischen Erregung befunden habe (die Kraepe-
linsche Schule faßt die Melancholie als ein »Zustandsbild des manisch-depressiven Irre¬
seins « auf). Nach unserer Ansicht ist jedoch die obige psychologische Erklärung wahr¬
scheinlicher und begründeter. Bis 1480 stand Goes keineswegs in dem Ruf eines Geistes¬
gestörten.
66 ) Cf. Cod. Hag., 1. c. S. 332.
* 7 ) Magnates aliter fabulabantur (Kap. III). Wurzbach hat sich vermutlich durch
diese Stelle verleiten lassen, den Satz zu schreiben: »der Chronist läßt so viel zwischen,
• *
den Zeilen lesen, daß man glauben könnte, der bewunderte.... Künstler wurde von keinem
natürlichen Wahnsinn befallen, sondern war das Opfer eines unaufgeklärten Verbrechens (!)
vielleicht einer Vergiftung aus Neid und Mißgunst. ♦ Das vermögen wir, offen gestanden,
nicht zwischen den Zeilen zu lesen, ganz abgesehen davon, daß das klinische Bild einer
Intoxikationspsychose ein ganz anderes ist.
68 ) Stat. S. 141.
6 9 ) A c q u o y , 1. c. Bd. III, S. 134—136. Das Kloster lag in der Nähe der
Stadtmauer an der Stelle des heutigen Arresthauses (cf. Hegel : Die Chroniken der
Stadt Köln, Köln 1875, Bd. III, S. 465, Anm.). Sollte sich übrigens Hugos Aufenthalt
in Köln (1481) in kölnischen Urkunden nicht irgendwo erwähnt finden?
7 °) Hieronymus Münzers (ca. 1453—1508) Reisebericht vom 27. März 1495»
erhalten geblieben in einer Abschrift von seinem befreundeten medizinischen Kollegen
und nürnbergischen Mitbürger Hartman Schedel (1440—1514): Cod. lat. 431, f. 264,
Hof- und Staatsbibliothek zu München. Mit dem »alius magnus pictor .. .mclancolicus
et insipiens« kann nur van der Goes gemeint sein, wie Karl Voll , der 1899 die Stelle
zuerst veröffentlichte, richtig vermutete.
7 X ) Kam Goes wirklich von Köln zurück (Ofhuys ist sich seiner Sache nicht absolut
sicher, cf. Kap. II und Anm. 20), so ist er offenbar von Köln über Antwerpen nach Brüssel
gekommen.
7 *) Wendland hält Schongauers Marientod unbegreitlicherweise für ein Jugend¬
werk des Meisters und glaubt, daß es zwischen 1469 und 1474 entstanden sei. (Cf. Martin
Schongauer, Berlin 1907, S. 127.) Wurzbach hält das Blatt mit Recht iür eine spätere
Arbeit des Meisters. Daß übrigens Goes’ Marientod zusammen mit eftr Berliner Anbetung,
die wir ebenfalls nach dem Portinarialtar um 1478 entstanden glauben, eins seiner letzten
Werke ist, davon sind wir nicht nur aus psychologischen, sondern auch stilkritischen
Gründen überzeugt.
73 ) Allerdings hat ein gewisser Callewacrt vor 47 Jahren das Bild einer recht su¬
spekten Restaurierung unterworfen.
74 ) Daß van der Goes von einem neuen melancholischen Anfall heimgesucht wurde
und etwa dessen Folgen erlag, ist ganz unwahrscheinlich, auch würden dann Ofhuys’ moral¬
theologische Auseinandersetzungen des logischen Hintergrundes völlig entbehren.
75 ) Cf. Le Grand Thcatre sacr£ du duch£ de Brabant, La Haye 1734, Bd. I, Hvtc i
S. 328.
T 6 ) Cf. A. Wautcrs : Histoire des environs de Bruxelles, Brux. 1855, Bd. III,
s. 356.
77 ) So erhielt ja auch Massys seine Grabschrift von einem Kunstfreunde erst 100
Jahre nach seinem Tode (1629). Hugos Grabschrift hat übrigens eine auffällige Ähnlich¬
keit mit der Rogiers von Brüssel (S w e e r t s , 1 . c., S. 284).
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Beiträge zur Biographie Hugos van der Goes usw.
545
7 8 ) Cf. A. Wauters, 1. c. f Bd. III, S. 368.
79 ) Erst im Jahre 1764 wurde die Kunstgeschichte um einen Kupferstich bereichert,
der uns in ebenso nichtssagender wie einfältiger Weise mit der Physiognomie eines etwa
18 jährigen lockigen Jünglings bekannt machte, und der keinen Geringeren als Hugo van
der Goes darstcllen sollte: (cf. die von Jacobus de Jonghe «verbesserte« Auflage des Mander-
schen Malerbuches, Amsterdam 1764, 1. Teil, S. 34, C 2).
80 ) Dominicus Lampsonius : Pictorum aliquot celebrium Germaniae inferi-
oris effigies, Antverpiae 1572.
8x ) Ob übrigens das von Dürer 1521 bewunderte (cf. M. T h a u s i n g , Dürers
Briefe usw., Wien 1888, S. 115) und von Vaernewyck (1568) und Mander (1604)
rühmlichst erwähnte «Crucifix mit den Schächern« mit der von Descamps 1769 als
»dur et sec« beschriebenen «Kreuzabnahme« identisch ist, ist sehr zweifelhaft (cf. Voyage
pittoresque de la Flandre et du Brabant, Paris 1769, S. 284).
81 ) Wir verkennen zwar nicht, daß es an sich nicht recht wahrscheinlich ist, daß
van der Goes sich in dieser Größe und noch dazu als Schutzpatron des Stifters neben diesen
stellte, aber andererseits ist es psychologisch sehr wohl denkbar, daß der Künstler von
Eitelkeit und Ehrgeiz getrieben, Tommaso Portinari um die Erlaubnis bat, auf diesem
seinem stolzen und bedeutendsten, fast möchte man sagen, virtuosesten Meisterwerk sein
eigenes Porträt anbringen zu dürfen, und daß der rücksichtsvolle Stifter die Bitte nicht
ausschlug, zumal das Werk für das Ausland bestimmt war, wo Hugo persönlich ganz
unbekannt war.
8 3 ) Ofhuys, der bald nach Goes 1 Tode der Krankenmeister (infirmarius) des Roode-
Cloosters wurde, scheint sich als solcher mit der medizinischen Literatur eingehend befaßt
zu haben, wenigstens entwickelt er hier überraschende psychiatrische Kenntnisse.
8 *) Van der Goes war demnach von Geburt ein Vlaemc und kein Holländer. In Flandern
war er die längste Zeit seines Lebens tätig, wie er denn auch als Künstler «die vlämische
Manier stets beibehielt« (Vasari).
* 5 ) In diese Zeit der werdenden Berühmtheit ist vermutlich die von Rogier von
Brügge noch stark beeinflußte, aber bereits in ungewöhnlichen Dimensionen gehaltene
Monforter »Anbetung der Könige« entstanden, die — nach einer dürftigen Reproduktion
zu urteilen — anscheinend von Goes* selbst für eine vornehme Persönlichkeit gemalt
worden ist (der vor Maria knieendc König scheint mit dem Stifter identisch zu sein).
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Das Gothaer Liebespaar und der Hochaltar zu Blau>
beuren.
Von V. C. Habicht.
Eine persönliche Neigung für das Gothaer Bild mag es entschuldigen,
wenn ich mit den nachfolgenden Zeilen in meinem Bestreben, dem unbe¬
kannten Meister näherzukommen, eine Vermutung ausspreche, die ich selbst
nur für eine solche halte, die aber vielleicht doch geeignet sein kann, bei
weiteren Forschungen über den noch unbekannten Meister von Wert zu
sein. Bei einer erneuten Untersuchung des Gothaer Bildes glaubte ich
das Gesicht des Jünglings schon irgendwo anders gesehen zu haben. Da
man das Gothaer Bild in die Nähe des Hausbuchmeisters rückt und mir
bei meinen wiederholten Besichtigungen des Blaubeurener Hochaltars ein
irgendwie, aber nicht deutlich zu fixierender Einfluß des Hausbuchmeisters
vorzuliegen schien, verglich ich das Gothaer Bild noch einmal genau mit
diesem. Zu meiner Überraschung fand ich das Ebenbild des Gothaer Jüng¬
lings tatsächlich auf einer Tafel des Blaubeurener Hochaltars. Es ist der
Jüngling am weitesten links (dicht hinter Herodes) auf der Tafel: Johannes
vor Herodes (Abb.). Die auffallende Ähnlichkeit und die Gleichartigkeit
der Wiedergabe der Züge ist w r ohl kaum zu leugnen. Zumal, wenn man
in Betracht zieht, daß der Dargestellte auf dem Altar, der ja ca. 1495 vollendet
wurde, mindestens 5—ß Jahre jünger ist als sein Ebenbild auf dem Gothaer
Doppelbild *). Untersucht man die Einzelheiten des Gesichts, so trifft man
Schritt auf Schritt auf Übereinstimmungen. Schon der schlanke Hals mit
dem hochsitzenden Adamsapfel und den kleinen Speckfalten unter den
Wangen gleicht sich auf beiden Bildern. Ebenso das Kinn mit seiner kleinen
kugeligen Spitze und dem Grübchen. Ferner der Verlauf des Bogens der
rechten Wange vom Kinn bis zum Verschwinden unter den Haaren mit
dem beinahe rechtwinkligen Kiefer. Auch der Mund mit der vollen, kleinen
Unterlippe, der schön geschwungenen, schmalen Oberlippe und den scharfen
Grübchen in den Ecken, die bei beiden sehr auffallend gegeben sind, stimmt
vollkommen überein. Die lange, gerade und fleischige Nase verbreitert sich
bei beiden nach unten zu einer runden, kleinen Kuppe (bei der Abb. bei
*) Vgl. die Abb. bei E. Hcidrich, Die altdeutsche Malerei, Jena 1909. T. 5 2 *
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
• • • #
Das Gothaer Liebespaar und der Hochaltar zu Blaubeuren.
547
Heidrich nicht so deutlich) mit starken Flügeln. Am ähnlichsten erscheinen
bei beiden die Augen. Im Blicke, in der Verdeutlichung der Psyche und
in der Wiedergabe des organisch tatsächlich Vorhandenen. Man liest aus
diesen Augen Empfindsamkeit und ein wenig Schwermut mit stiller Güte
gepaart. Bei beiden
geht die Blickrichtung
in den Bildraum hinein,
die großen Augäpfel sind
deshalb in die Ecken ge¬
setzt. Auffallend stark
sind die Tränensäcke be¬
tont. Der Oberaugen -
knochen läuft stark ge¬
bogen nach den Schläfen,
und halbmondförmige
Brauen verstärken diese
Schwingung noch we¬
sentlich. Von der Stirn
ist wenig wegen des über¬
fallenden , gekräuselten
Haares zu sehen, das
bei beiden Jünglingen
denselben Schnitt und
die gleiche Farbe hat.
Zu diesen Über¬
einstimmungen kommt
auch noch die genau
gleiche Haltung des
Kopfes. Beidemal ist er
in 3/4 Profil mit von
unten nach oben und
nach innen zugleich ge¬
richtetem Blicke gege¬
ben. Beidemal erscheint
.• 1: 1 117 . , Tafel vom Hochaltar der Klosterkirche zu Blaubcuren.
die linke Wange in stark
verschwindendem Profil in gleichem Kontur.
Namentlich die letzteren Gründe zwingen dazu, anzunehmen, daß sich
die gleiche Persönlichkeit hier wie dort selbst im Bilde festgehalten hat.
Die Möglichkeit, daß zwei verschiedene Meister dieselbe Persönlichkeit auf
den beiden Bildern dargestellt haben, scheidet bei der identischen Wieder¬
gabe aus. Ebenso die Vermutung, daß der gleiche Meister ein und dieselbe
Repertorium für Kunstwissenschaft XXXV.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
548 V« C. Habicht, Das Gothaer Liebespaar und der Hochaltar su Blaubeuren.
Persönlichkeit einmal in Blaubeuren, dann irgendwo anders in genau gleicher
Haltung und Auffassung wiedergegeben haben könnte. So genau kennt
nur der Künstler sein eigenes Gesicht selbst. Wir nehmen demnach an, daß
der Meister des Gothaer Liebespaares in dem Jünglinge sich selbst dar-
gestellt hat, wie er das auch bei der Tafel Johannes vor Herodes tat. Der
Jüngling des Gothaer Bildes trägt ja auch durchaus die Tracht, wie sie
wohl für einen Maler, nicht aber für einen Fürsten üblich war. Heidrich *)
macht auch auf die Übereinstimmung mit der Tracht Dürers auf dem Bilde
von 1498 aufmerksam. Übrigens gleicht die Tracht wiederum auffallend
der des Jünglings auf dem Blaubeurener Altar. Das ausgeschnittene, sorg¬
fältig gefaltete Hemd und die dünnen halskettenartigen Streifen über dem¬
selben kehren hier wie dort wieder. Auch das Mädchen ist auf dem Gothaer
Bild in einfacher, völlig schmuckloser Tracht dargestellt, für eine Malers¬
liebste, aber nicht für die eines Fürsten passend. Was dann allerdings
das Wappen oben zu bedeuten hat, vermag ich nicht zu sagen. Vielleicht ist
es doch nur ein bürgerliches.
Da uns der Meister des Gothaer Liebespaars demnach in eigener Person
in Blaubeuren begegnet, wird er wohl dort, wie die Jünglingsfigur zeigt,
mit tätig gewesen sein. Der entwerfende Hauptmeister mag die Tafeln
begonnen und sie bei ihrer großen Zahl mehr oder minder seinen Gehilfen
zur Vollendung überlassen haben; daß sich dabei ein so junger Geselle selbst
abkonterfeite, ist ja nicht ungewöhnlich.
Hieraus erklären sich auch die Anklänge des Gothaer Liebespaares
an den Hausbuchmeister. Des Meisters Tätigkeit in Ulm und sein über¬
ragender Einfluß auf die dortigen Künstler ist ja nun geklärt 3 ). Ob er eine
Rolle bei der Anfertigung des Hochaltares in Blaubeuren gespielt hat, kann
ich nicht entscheiden.
Ich fasse meine Untersuchungen noch einmal dahin zusammen, daß
ich den Meister des Gothaer Liebespaares als in Blaubeuren tätig annehme,
daß ich folgere, er habe da die Kunst des Hausbuchmeisters besonders
stark auf sich wirken lassen, und daß ich in dem Gothaer Jüngling sein eigenes
Bild sehen muß.
*) Heidrich, a. a. O. p. 260, r. Sp.
3 ) E. Flechsig, Der Meister des Hausbuchs als Zeichner für den Holzschnitt in
Monatshefte für Kunstwissenschaft 1911, p. 172 fl., und K. F. Leonhardt und H. Th. Bos*
sert, Studien zur Hausbuchmcisterfragc in Zeitschr. f. bild. Kunst 1912, Heft 6, 7 ff.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
Harald Brising: Antik Konst i Nationalmuseum. Urval och
beskrifning. Stockholm 1911.
Die Sammlung von antiken Bildwerken im Stockholmer National¬
museum ist weder groß noch besonders hervorragend. Gegründet wurde
sie vom König Gustaf III. am Schluß des 18. Jahrhunderts, der mit Sergel
und Piranesi als Ratgeber während der italienischen Reise kaufte und das
Gesammelte wie seinen Augenstern hütete. Seitdem ist sie nur langsam und
wenig gewachsen. Neueinkäufe waren noch viel spärlicher als die Gaben,
die sowohl von der Königlichen Familie wie von Privatpersonen dann und
wann und rein zufällig gespendet wurden. Aber allmählich sind doch auf
diese Weise einige wertvolle Dinge zu dem von Gustaf III. gelegten Grund
hinzugekommen. Der Totalcharakter wurde als griechisch aufgefaßt, in
der Wirklichkeit ist er aber spätantik, römisch, also griechisch aus zweiter
oder dritter Hand. Doch sind einige echte ältere griechische Gegenstände
unter den Beständen. In Anbetracht des Reichtums der Gemäldesammlung
des Museums, welcher so scharf gegen die Armut der antiken Skulpturen-
Sammlung absticht, ist es nicht verwunderlich, daß das Interesse und die
Studien der Museumsbeamten in erster Reihe den Gemälden zugute kamen,
auch wenn wir von der Reaktion gegen die Antikenanbetung der gustaviani-
schen Zeit absehen. Selbst der berühmte schlafende Endymion, welchen
Gustaf III. und seine Zeit so hoch schätzte, und welcher nach Boye und
Wetterling in dem für seine Zeit recht stattlichen mit Konturstichen aus-
gestatteten Prachtwerk über das Königliche Museum (1821—23) ab eines
der wenigen noch erhaltenen Hauptbeispiele der griechischen Kunst genannt
wird, wurde im Lichte der modernen Archäologie, deren intensive Arbeit immer
mehr die Augen der Menschen für den Gehalt der wirklichen griechischen
Skulptur geöffnet hat, zu einer ziemlich verdächtigen Figur herabgewürdigt,
ja über ihre Echtheit als Antike wurden sogar starke Zweifel geäußert.
Die Antikensammlung im Nationalmuseum ist nun aber die einzige
in ihrer Art in Schweden, und wenn sie auch nicht groß und bedeutend ist,
so ist sie es immerhin genug, um eines wissenschaftlichen Studiums mit
moderner, geschärfter Methode wert zu sein. Es muß daher mit Freude und
36 *
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
550
Besprechungen.
Dankbarkeit begrüßt werden, daß ein junger schwedischer Kunsthistoriker,
der zugleich Museumsbeamter ist, ein schönes Prachtwerk über einen aus¬
gewählten Teil dieser Sammlung veröffentlicht hat.
Obgleich nicht selbst klassischer Philologe und somit eines wichtigen
Hilfsmittel erster Hand, in die Kultur der Antike einzudringen, entbehrend,
ist Dr. Brising doch durch gründliche Studien wohl ausgerüstet an sein
Vorhaben herangegangen. Mehrere langwierige und ausgedehnte Reisen
machten ihn, den man den modernen Odysseus unter Schwedens Kunst¬
historikern nennen könnte, vertraut mit dem »weingefärbten« Mittelmeer
und der Kunst, welche an. seinen Gestaden und auf seinen Inseln blühte.
Außer Griechenland und Italien hat er zweimal Kreta besucht, die merk¬
würdige Felseninsel, auf der die Einflüsse Ägyptens und Assyriens dem
griechischen Geiste begegneten, und wo besonders die Ausgrabungen Arthur
Evans' den so äußerst interessanten großen Fürstenpalast zu Knossos zu¬
tage förderten.
Auch begann Dr. Brising mit seiner Schilderung der Funde auf Kreta
seine 1910 als eine »Einleitung zur griechischen Kunst« herausgegebenen
»Klassischen Bilder« (von welcher eine französische Übersetzung in Vor¬
bereitung sich befindet.) Schon in dieser schönen und lebensvollen Essay-
Sammlung erwähnte der Verfasser, wenn auch nur kurz, einige von den
Antiken im Nationalmuseum, nämlich die bekannte Folge der neun Musen
und die Athenastatue, wie auch ein Paar bemerkenswerte Marmorköpfe:
einen fragmentarischen Frauenkopf, welchen der Verfasser als von Phidias
Geist geprägt ansieht, und einen Ephebenkopf, welchen er in Verbindung
mit Polyklets nächsten Vorgängern bringt.
In dem jetzt herausgegebenen großen Lichtdruckwerk liefert Dr.
Brising in Bild und Text eine chronologisch geordnete Auswahl von be¬
sonders hervorragenden Arbeiten in der Antikensammlung des National-
museums. Es ist das erste illustrierte Werk, welches über die Schöpfung
Gustaf III. seit 1794 veröffentlicht worden ist, wo C. F. Fredenheim 21
kleine Kupferstiche mit Text unter dem Titel »Ex Museo Regis Sueciae«
herausgab. Die 60 Lichtdrucke, welche von der graphischen Anstalt von
Justus Cederguist ausgezeichnet ausgeführt sind, bringen 86 Gegenstände,
darunter einige von verschiedenen Seiten. Von diesen gehört die Mehrzahl
der Sammlung Gustafs III. an. Aus späterer Zeit sind 29 hinzugekommen,
1 Depositum des historischen Museums (1895), 8 Ankäufe (durch den schwe¬
dischen Konsul in Piräus Rodocanachi 1881, Professor S. Wide 1895 und
Dr. F. R. Martin 1896) und 20 Geschenke (vom Kaufmann K. O. Levertin
1862, der Königin Witwe Josefina 1866, König Karl XV, N. F. Sander
1871, Konsul Rodocanachi 1880, dem englischen Minister Erskine 1881,
Graf Carlo Landberg 1881, dem schwedischen Konsul auf Cypern Ch. Watkins
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Hesprcchitpgen.
551
und Hauptpastor Ekdahl). Die Hauptsache machen aber doch die gustavi-
schen Antiken aus. Dem Andenken des königlichen Sammlers ist deshalb
das Werk mit Recht gewidmet.
Die Abbildungen sind in ungefährer Zeitfolge geordnet, so daß sie
eine gute Vorstellung von der Entwicklung der antiken Skulptur geben.
Man könnte erwarten, daß der Verfasser mit den uralten ägyptischen
Gegenständen den Anfang machte, er hat aber vorgezogen, erst
das bedeutend jüngere, von der Königinwitwe Josefina geschenkte assyri¬
sche Relief (885—860 v. Chr.) als das einzige Beispiel assyrischer Kunst
voranzustellen, wohl um später auf die ägyptische Kunst nach jetzt all¬
gemein angenommener Sitte direkt unmittelbar die griechische folgen zu
lassen. Unter den vier ägyptischen Gegenständen bemerkt man in erster
Reihe die stattliche, wirklich monumentale Büste in schwarzem Granit von
Amenophis III. (1411—1375 v. Chr.). Dann folgen einige Terrakotta-
Statuetten von Cypem, welche einen interessanten Mischstil mit orienta¬
lischen und griechischen Elementen zeigen. Danach die griechischen Terra¬
kottafiguren aus Tanagra und anderen Orten, weiter einige kleine archaische
Bronzefiguren, schließlich die Athenastatue samt Apollo und den neun Musen,
welche recht geschickte und effektvolle römische Kopistenarbeiten sind und
deshalb ein nicht geringes Interesse besitzen, weil sie in ihren Motiven auf be¬
rühmte Vorbilder von Phidias (die Athenastatue), Praxiteles u. a. zurückgehen.
Die eigentlichen Perlen in der Antikensammlung des Nationalmuseums
sind aber einige Marmorköpfe, welche den besten griechischen Stil ver¬
treten. Ein arg beschädigtes Fragment von einem Frauenkopf setzte
Dr. Brising in seinen »Klassischen Bildern« in Verbindung mit Phidias und
den Parthenonskulpturen, während Professor J. Six in Amsterdam 1911
es als ein wirkliches Parthenonfragment auffaßte, wogegen der schwedische
Archäologe, der Dozent Lennart Kjellberg in Uppsala diesen Kopf nur
als eine pergamenische Kopie nach Phidias betrachtet. Von Dr. Brising
wird er nunmehr in seinem neuen Buch als »ein äußerst bemerkens¬
wertes Kunstwerk« bezeichnet, welches er von »einem Phidias nahestehenden
Künstler« ausgeführt glaubt. Eine andere, sehr edele Arbeit ist ein be¬
schädigter Athletenkopf, der lange Zeit im Magazin und Keller des König¬
lichen Museums lag und 1861 im Museum aufgestellt wurde. Einige Reliefs,
Statuen und Statuetten von teils griechischer, teils römischer Herkunft und
von wechselndem Wert folgen, dann ein hervorragend schöner, lebensprühen¬
der Satyrkopf von Marmor, der in Tunis 1849 gefunden wurde, dem Professor
E. Äberg einmal gehörte und vom Historischen Museum in der Kunst¬
sammlung deponiert wurde. Schließlich wird der Endymion in einem recht
ausführlichen Aufsatz behandelt. Die Frage der Echtheit oder der mög¬
lichen Herkunft aus dem 18. Jahrhundert (wie Prof. Wickhoff es nicht
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
552
Besprechungen.
lange Zeit vor seinem Tode vorgeschlagen) wird offen gelassen, doch neigt
B. dem späteren Ursprung zu. Weiter begegnen wir drei von den pracht¬
vollen dekorativen Marmorarbeiten der Sammlung Gustafs III.: der kleinen
wie eine Kiste geformten Fontäne auf Löwentatzen, der großen Aschen-
urne und dem einen der beiden Riesenkandelaber. Zuletzt sehen wir einige
vortreffliche durch Dr. F. R. Martin 1896 gekaufte Proben spätantiker
gemalter Bildnisse und Gipsmasken aus Faijum und der Oase El Khargeh
in Ägypten, sämtliche auf Mumienbehältem angebracht, aber, wie bekannt,
nicht ägyptische, sondern griechisch-römische Arbeiten, und einer Reihe
wirklich interessanter römischer Parträtbüsten von den Mitgliedern der
Kaiserfamilie und von Privatpersonen. Unter den letzteren bemerkt man
die von Kauffmann K. O. Levertin 1862 geschenkte und angeblich auf
Södermalm (dem südlichen bergigen Teil von Stockholm) ausgegrabene Büste
von Apollodoros, einem jungen unbekannten Athener aus der Mitte des dritten
Jahrhunderts n. Chr., bekannt, nach der eingravierten Namensunterschrift,
wegen seiner Frömmigkeit, eine charakteristische und feinfühlige Arbeit.
Der Text ist durchgehends vortrefflich abgefaßt, klar, methodisch und
konzentriert, mit genauen Literaturnachweisen für jeden Gegenstand und
mit einleitenden Übersichten für die verschiedenen Gruppen. Zu beklagen
ist, daß der Verfasser keine Übersetzung in eine der großen Kultursprachen
beigefügt hat, wodurch die Arbeit leichter bekannt und im Auslande so,
wie sie es verdient, verbreitet worden wäre.
Bei den Literaturnachweisen hat der Verfasser eine alte schwedische
Arbeit übersehen. Eis ist das vorher genannte illustrierte Werk von Boye
und Wetterling über das Königliche schwedische Museum (1821—23), worin
folgende Antiken in Konturstichen abgebildet und beschrieben sind: Endv-
mion, Apollo, Athena, die Musen Klio, Euterpe und Melpomene, das Relief
des Zugs der Venus auf dem Meere und der eine von den großen Kande¬
labern, nämlich der, der im Werke Dr. Brisings niqht abgebildet wurde.
Eine Arbeit wie dieses Prachtwerk über die Antiken des schwedischen
Nationalmuseums, herausgegeben vom Verfasser im eigenen Verlage, ver¬
dient die volle Beachtung aller Kunstfreunde. Es wäre erfreulich, wenn
der Verfasser durch einen wohlverdienten Erfolg zur Publizierung einer
weiteren Auswahl aus dieser so lange wenig gekannten Antikcnsammlung
aufgemuntert werden könnte*). John Kruse.
') Ein schwedischer Archäologe, der Dozent I.ennart Kjellberg in Uppsala,
welcher vor einigen Jahren selbst Ausgrabungen in Kleinasien ausgefllbrt, schenkte
dem Nationalmuseum 1909 von seinen Funden 14 interessante altgriechische Gegen¬
stände aus Ton. Durch denselben verdienten Forscher, der die Sammlung von antiken
Vasen im Museum ordnete, wurden 1901 und 190a weitere altgriechische Gegenstände
eingekauft, darunter zwei schöne Terrakottasarkophagc von dem Klazomenätvpus.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
553
Raffael in seiner Bedeutung als Architekt. Von Pro¬
fessor Theobald Hofmann, unter Mitwirkung von Professor Dr. Walther
Amelung und Dr. Fritz Weege. Zittau. Richard Menzel Nachf. 1911.
Der unvergeßliche Fabriczy ist es gewesen, der vor acht Jahren die
Erstlingsarbeit von Theobald Hofmann, die Bauten des Herzogs Federigo
di Montefeltre, im Repertorium besprochen hat. Dies Buch, das schon
damals als eine tüchtige Leistung anerkannt wurde, erscheint heute nur noch
als Auftakt und Einleitung zu dem Lebenswerk, an dessen Ausführung Hof-
mann seitdem mit rastlosem Eifer gearbeitet hat. Von seiner großen Studie
über die Bedeutung Raffaels als Architekt, dessen erster Band im Jahre 1908
erschien, liegt heute schon der vierte Band vor.
Eine Aufgabe, die von dem, der sie unternommen hat, auf Jahre
hinaus Konzentration und Disziplin aller geistigen Kräfte verlangt, die
dem Menschen bewußt und unbewußt zum Gesetze des Lebens wird, dem
alles in ihm und um ihn ohne Widerstand gehorcht, weckt ohne weiteres
Sympathie. Allzu sehr zersplittern sich heute die besten Talente, allzu
begierig jagen die Menschen dem flüchtigen Erfolg des Tages nach, allzu
willig setzen sie ihre Kraft für das schnell Vergängliche ein!
Erfreulich ist es auch, daß sich in Hofmann die ehrwürdige Tradition
fortsetzt, nach der Raffael die besten Herolde seines Ruhmes in Deutsch¬
land gefunden hat. In diesem monumentalen Tafelwerk ist — mit kritischer
Sorgfalt gesichtet — ein Material zusammengetragen worden, das kommende
Geschlechter noch höher bewerten werden, als wir es heute tun. Denn vieles
an dem, was Hofmann noch sehen und aufnehmen konnte, geht unabwend¬
barem Verfall entgegen.
In dem vorliegenden Bande bearbeitet Hofmann die Baugeschichte
des vatikanischen Palastes vielleicht nicht mit jener Kompetenz und jener
scharf sichtenden Kritik, mit der er einst die Villa Madama behandelt
hat. Dieser Teil seiner Arbeit wird ja ohnehin über kurz oder lang duich
das große Quellenwerk überholt werden, das P. Ehrle seit langen Jahren
über die Baugeschichte des Vatikans vorbereitet. Aber der Text kunstge-
chichtlicher Tafelwerke pflegt ja überhaupt schneller zu veralten als die
Tafeln. Und in den 34 Blättern, die Hofmanns Text illustrieren, ist in der
Tat ein Material beschafft worden, wie wir es bis heute zur Ikonographie
des Vatikans noch nicht besessen haben. Weniger Hofmanns eigene Zeich¬
nungen sind diesmal zu rühmen — er konnte sich bei den Grundrissen des
vatikanischen Palastes vielfach damit begnügen, die Aufnahmen von Lcta-
rouilly zu reproduzieren — als vielmehr die Fachkenntnis, mit der die große
Zahl der älteren Pläne des Borgo di San Pietro zusammengestellt worden
sind. Gerade durch eine solche Arbeit dokumentiert Hofmann die wissen¬
schaftliche Befähigung für sein Unternehmen, das auch der tüchtigste
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
554
Besprechungen.
Architekt ohne tiefgründige Kenntnisse und sichere Methode nicht durch¬
zuführen vermocht hätte.
Die Beiträge, die die Archäologen Walther Amelung und Fritz Weege
zu diesem Bande geliefert haben, sind für den Kunsthistoriker besonders
wertvoll. Amelung behandelt die Stuckreliefs in den Loggien und ihre
antiken Vorbilder mit der Kompetenz, die man ohne weiteres bei ihm er¬
warten durfte. Nur wer ein so zuverlässiges Gedächtnis und eine so um¬
fassende Denkmälerkenntnis besitzt wie Amelung, war überhaupt befähigt,
in subtilster Forscherarbeit diese Zusammenhänge wiederherzustellen, die
auf das Fortleben der Antike in der Renaissance neue, überraschende Streif¬
lichter werfen. Wer dies merkwürdige und, wie es scheint, unerschöpfliche
Problem einmal wieder aufnehmen sollte, wird in den Loggien Raffaels
Beziehungen zum Altertum finden, von deren Fülle und Mannigfaltigkeit
wir vor Amelungs Untersuchungen keine genügende Vorstellung hatten.
Die Tafeln, die diesen Teil des Textes begleiten — rund achtzig Neuauf¬
nahmen auf vierzig Blättern — legen nicht nur Zeugnis ab von all der Herr¬
lichkeit, die an diesen Decken und Wänden zerstört ist; sie sind eben auch
ein unschätzbares Zeugnis über das, was in den Loggien Raffaels im Beginn
des XX. Jahrhunderts noch erhalten war.
Fritz Weege ist in diesem Bande die dankbare Aufgabe zugefallen,
den malerischen Schmuck der Loggien in seinem Verhältnis zur Antike
darzustellen. Da er außerdem die glückliche Gelegenheit fand, das Bade¬
zimmer des Kardinals Bibliena eingehend bearbeiten zu dürfen, so hätte
er sich eigentlich auch um die sogenannte »Uccelliera Julius’ II.« bemühen
sollen, die vor drei Jahren Maestro Perosi bewohnte. Hier wurden ja un¬
längst die köstlichsten Grottenmalereien im Stile der Giovanni da Udine
bloßgelegt; hier hat sich z. B. noch ein Fußbodenbelag aus dem Beginn
des Cinquecento erhalten, wie ihn der Vatikan sonst überhaupt nicht besitzt.
Als bester Kenner der Malereien im goldenen Hause des Nero, über die er
eine Publikation vorbereitet, war Weege vor allen anderen befugt, diese
Arbeit in den Loggien auszuführen. Er sieht dabei von der »Bibel Raffaels«
ab und beschränkt sich auf die dekorativen Malereien. Die antiken Vor¬
bilder, die Weege nennt, sind außer den Grottesken der Titusthermen, die
Stuckverzierungen im Colosseum, die Stuckdecken der Villa Adriana (beide
heute nur noch in Nachbildungen erhalten), und vor allem auch jene ver¬
lorenen Malereien bei San Gregorio, die Armenini in seinen »veri precetti
della pittura« ausführlich beschrieben hat. Außerdem publiziert Weege
zum ersten Mal eine Anzahl von Zeichnungen des Giovanni da Udine aus
dem Besitz des Herrn Kempner in Rom. Den Schluß der Publikation bildet
die erste authentische Wiedergabe dessen, was sich im Badezimmer der Kardi¬
nals Bibbiena noch an Fresken erhalten hat. Er macht dem Präfekten des
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
55 5
Vatikans, Monsignor Misciattelli, alle Ehre, daß er diese Aufnahmen ge-
stattete. Alle Legenden, die sich um diese Fresken woben, sind damit
zerstört. Es ist hier wirklich nichts gemalt worden, was das Auge verletzen
könnte. Auch hier verfügt Weege über ein überraschend reiches Vergleichs¬
material, so daß ihm die Erklärung des Freskenschmuckes vollständig ge¬
lungen ist. In zwei Originalaufnahmen gibt Hofmann endlich den Fu߬
boden und die Wandgliederung des Badezimmers wieder und einen Gesamt¬
plan des vatikanischen Palastes.
4 Es widerstrebt, Ausstellungen zu machen, wo sich so viel Können und
Wissen in einem so engen Rahmen zusammengeschlossen haben. Sie sollen
sich denn auch auf Äußerlichkeiten beschränken und nichts anderes vor¬
stellen als den Ausdruck persönlicher Geschmacksrichtung: Vor allem muß
gesagt werden, daß der Einband des Werkes seines Inhaltes nicht ganz
würdig ist. Titel und Autornamen quer über Grundrisse so zu drucken,
wie es geschehen ist, war gewiß kein glücklicher Gedanke. Wäre es weiter
nicht möglich gewesen, die Typen sorgfältiger zu wählen und in ihrem Ver¬
hältnis zueinander harmonischer durchzubilden ? Wie befremdend wirkt es,
im Vorwort die Personennamen unterstrichen zu sehen, wie wenig praktisch
sind die winzigen Typen für die Inhaltsangabe gewählt! Die Zeit, in der sich
die Autoren nur für den Inhalt und nicht für die Ausstattung ihrer Bücher
verantwortlich fühlten, ist vorbei. Gerade aber für ein Werk, das
bleibende Werte umschließt, fühlen wir uns berechtigt, eine Ausstattung zu
fordern, in der mit sicherem Auge und geläutertem Geschmack das Unzu¬
längliche vermieden ist. Emst Steinmann.
Baukunst und dekorative Skulptur der Barock¬
zeit in Italien von Corrado Ricci. Stuttgart, Julius Hoffmann,
1912.
Nachdem ich in ausgiebigem Gebrauche für eigene Bedürfnisse und in
den Vorlesungen dieses Sammelwerk in seinem nie versagenden Reichtume
genau kennen gelernt habe, kann ich es mir nicht versagen, unsere engeren
Fachkreise darauf hinzuweisen, ein wie wertvolles Hilfsmittel auch für den
akademischen Unterricht die Hoffmannsche »Bauformenbibliothek« in
diesem 5. Bande bietet. Vielleicht stößt dieses Unterfangen auf mitleidiges
Lächeln, vielleicht gar auf scharfen Widerspruch: Das Unternehmen des
Verlags in Stuttgart wendet sich ja zunächst an den Praktiker, den eigent¬
lichen Fachmann. Es legt also weder auf »historische« Vollständigkeit der
Stoffmassc noch auf eine bestimmte »kritische« Einstellung der Betrachtung
das Hauptgewicht. Dann würde z. B. der völlige Mangel an Grundrissen
ganz unbegreiflich sein. Sondern es will eine möglichst große (315 hier)
Fülle von Beispielen davon geben, wie sich eine bestimmte Zeitperiode
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
556
Besprechungen.
durch Auge und Hand ihrer Künstlergenerationen künstlerisch äußerte.
Es ist wahr: dieser Absicht und der Rücksicht auf diesen vorgesehenen
Interessentenkreis, »die Architekten und die mit ihnen verbündeten Künst¬
ler«, ist es zuzuschreiben, schuldzugeben, wenn man will, daß diese Material -
fülle lediglich nach gegenständlichen Kategorien eingeteilt ist — die Ab¬
bildungen, wie auch die ganz kurzen Besprechungen der Erscheinungen
des gleichen Gegenstandes hier und dort im Lande. Und daraus folgt für
den Kunstwissenschaftler z. B., der sich bemüht das fortschrittlich Unter¬
scheidende im Schaffen dieser »Stil«-Periode in der festgeschlossenen Kom-
positonseinheit ihrer Werke nach Art einer komplizierteren Fuge festzu-
stellen, die große Schwierigkeit Zusammengehöriges wieder vereinigen zu
können. Aber das findet nur in ein paar Fällen statt, und hier wie in allen
solchen Veröffentlichungen wäre dem leicht abzuhelfen, indem man statt
der Bandausgabe die Form der Mappe mit beigelegtem leichtgeheftetem Texte
wählte. Aber die Menge der aus dem ganzen Lande und über den ganzen
Zeitraum von den 60 er Jahren des 16. bis in die zweite Hälfte des 18. Jahr¬
hunderts hin ausgewählten Beispielen wäre wohl nicht anders zu solch
übersichtlicher Vergleichbarkeit zu verbinden gewesen. Und das bietet
doch wieder die größten Vorteile, z. B. für die typologische Behandlung
des Stoffgebietes: man hat bestgewählte Beispiele nebeneinander für die
schlechthin durchdekorierte Fassade neben der durch organisierende Be¬
handlung der Einzelheiten belebten und der auf Ponderation komponierten
oder harmonisch angeordneten; dann wieder die toskanische Gemessenheit
neben der venezianischen Pracht, der römischen Großartigkeit, dem genue¬
sischen heiteren Stolze, dem süditalischen Überschwall rein dekorativer
Bedürfnisse. Dieses Verfahren der Anordnung des Stoffes bringt endlich
aufs geeignetste, zumal für den lernenden Kunsthistoriker zu deutlicher An¬
schauung, wo und wie bereits in dieser Periode — wenn es je irgendwann
als konservative Opposition neben den »bizarren Neuerungen« sich kund¬
zugeben unterlassen hätte — der klassizistische Purismus sich zur Geltung
bringt, und wie schon so frühzeitig im Erfinden des Barockgeistes Einzel-
formen auch in Italien zur Ausprägung gelangen, in denen man ohne die
gezwungene Einführung der »Chinoiserie« die schwierigsten Motive des sog.
Rokoko sich anspinnen sehen kann. Wir erhalten damit wieder eine Be¬
stätigung dafür, daß auch der Rokoko durchaus kein ganz Neues höchst
Eigenes ist, wohl aber in ihm das endgültige Ableben der Kunsterneuerung
in der Renaissance des Geistes offenbar wird — nicht im Barock. Ihn nennt
vielmehr auch der Herausgeber dieses Bandes der Hoffmannschen Bau-
formenbibliothek, Corrado Ricci, »einen Herrscher voll Geist, voll Feuer,
voller Mittel, der nichts vernachlässigte«; und er stellt sich, ein Italiener,
damit in die Reihe der wenigen, die bisher überhaupt den Mut zur Äußerung
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
557
einer neuen Erkenntnis hatten: daß dieser Stil nicht gekommen ist das
Gesetz der Renaissance aufzulösen, sondern es zu erfüllen. Das waren zu¬
meist wohl Deutsche, die sich zu wissenschaftlichen Rechtfertigungen dieses
»plumpen und bizzarren Stiles« getrieben fühlten und zu glücklicher Reini-
gung des historischen Gewissens ihm gegenüber. Keiner hat den Barock
so freudig gegen die Behauptung verteidigt, er sei eine wenig wahrhaftige
Kunst, keiner so freimütig seine »Ebenmäßigkeit und Geschlossenheit«
herauszuheben gewagt, wie Rocci in seiner leider so kurzen Einführung.
Mit seiner gleichmäßig genauen Kenntnis der älteren Kunstliteratur und
des ganzen Kreises der Denkmäler könnte er uns viel mehr zur Wieder¬
herstellung der historischen Würde des Barocks beitragen. Aber auch das
mag genügen: nur aus dieser beherrschenden Vertrautheit mit dem Denk¬
mälerschatze Italiens konnte er uns Deutschen diese reiche Auswahl zur
Verfügung stellen als Ergänzung zu unserer Literatur zur wissenschaft¬
lichen Kritik dieses »Zeitstiles«; Ergänzung um so mehr, da geflissentlich
fast jede Wiederholung des da gegebenen so unzureichenden Abbildungs¬
materiales vermieden ist. So ist es für uns Kunsthistoriker als eine Förde¬
rung zu bezeichnen, daß der Verlag Ricci für diesen Band gewinnen konnte,
und die Bekanntschaft mit ihm auch für unsere Kreise als notwendig.
Horst.
Robert H. Hobart Cust: Benvenuto Cellini. Little Books on Art.
Methuen u. Co. Ltd. London. XI u. 187 S. 42 Abb.
Das kleine, gut illustrierte Buch gibt eine ausführliche Lebensbe¬
schreibung des Künstlers, die sich eng an die berühmte Autobiographie
anlehnt. Eine Charakteristik seiner Kunst und ein Vergleich seines Könnens
und seiner Leistung mit dem seiner Zeit fehlen. Auch ist eine Kritik des
Schriftstellers und seiner kulturgeschichtlich so wertvollen Mitteilungen
nicht versucht. Die wissenschaftliche Arbeit liegt in den Anmerkungen,
der Aufzählung von C.s andern Schriften — mit genauer Kapitelangabe —
und mehr noch der ausführlichen Liste der ihm zugeschriebenen Kunst¬
werke. Dem englischen Laien und dem deutschen, der nicht zu der neuen
guten Übersetzung von Cellinis Selbstbiographie von Heinrich Conrad greift,
wird das Buch gute Dienste leisten. Zur Einführung in den Stand der
heutigen Forschung erscheint der kurze inhaltreiche Aufsatz von Bernath
und Hill in Thiemes Künstlerlexikon besser geeignet. F. Schottmüller.
Thevan Eycks and their art. By W. H. James Weale with the
co-Operation of Maurice W. Brockwell. London, John Lane, 1912.
Von vornherein steht fest, was ein Eyck-Buch, auf dessen Titelblatte
der verehrungswürdige Name W. H. James Weale zu lesen ist, enthält
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
558
Besprechungen.
(und was es nicht enthält). Auf diesem Titel findet man aber noch einen
zweiten Autornamen. M. W. Brockwell hat den Band redigiert als eine
— stark verkürzte, doch auch bereicherte — neue Ausgabe des großen
Eyck-Buches, das Weale allein 1908 (bei John Lane, London und New
York) herausgegeben hat. Brockwell erweist sich als ein pietätvoller Jünger,
der im Sinne Weales arbeitet und von eben der fast abergläubischen Ehr¬
furcht vor allem Gedruckten und Geschriebenen erfüllt ist wie sein Meister.
Das neue Buch erscheint übersichtlicher als das alte. Dies mag ein Ver¬
dienst Brockwells sein. Im wesentlichen aber haben wir doch das Ergebnis
von Weales ausdauernder und emsiger Sammeltätigkeit vor uns.
Über die Kunst der van Eyck kein charakterisierendes Wort. Diese
Zurückhaltung lag im Plane des Werkes. Und nichts ist jedenfalls besser
als Banalität.
Der Hauptinhalt ist ein Katalog der Bilder — in 7 Abschnitten, näm¬
lich so:
a) By Hubert — completed by John (der Genter Altar).
b) By Hubert — but left uncompleted.
c) By Hubert or John.
d) By John or Hubert.
e) By John — of which the date is known.
f) By John — of uncertain date.
g) Of doubtful authenticity.
h) Copies .... imitations.
Die anscheinend äußerst subtile Gruppierung (man übersehe ja nicht
die Nuance zwischen c und d) ist nicht richtig, d. h. sie entspricht nicht
meiner Vorstellung — dies wäre, wie die Dinge liegen, kein Unglück, ja
kaum ein Tadel —, aber sie ist unkonsequent und entspricht der Vorstellung
keines Kenners, der sich mit der Frage herumgeschlagen hat, ja, was das
Sonderbarste ist, nicht einmal Weales Vorstellung, wie wir sie aus älteren
Äußerungen kennen. Ein Beispiel: mit besonderer Neugierde schlägt man
die Liste der von Hubert geschaffenen Bilder auf und findet unter b zwei
Nummern. Der harmlose Leser muß glauben auf zwei vollkommen ge¬
sicherte Schöpfungen Huberts zu stoßen, da ja die zwei Gruppen »Hubert
or John* und »John or Hubert« folgen. Das eine dieser Bilder ist die Tafel
in Kopenhagen, der Stifter mit dem hl. Antonius, das andere die Frauen
am Grabe Christi bei Sir Fr. Cook zu Richmond. Mit dem Kopenhagener
Bild hat Weale vor Jahren eine urkundliche Nachricht verbunden, die
von einem Werke Huberts in Gent berichtet, und er hält krampfhaft an
der Beziehung und der Bestimmung fest. Nun: das Gemälde ist von
Petrus Cristus (dies ist nicht nur meine Ansicht, sondern consensus unter
allen Leuten, die den Stil des Petrus Cristus kennen). Entweder ist also
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
559
die alte Nachricht falsch, oder sie bezieht sich auf ein anderes Bild. Ge¬
setzt aber, ich mißtraue aller Stilkritik und halte mich nur an Urkunden,
wie kann ich dann als Nr. 2 des Kataloges das Bild von Richmond ein-
setzen, ein Bild, das rein stilkritisch (und durchaus nicht auf Grund des
angeblich beglaubigten Stückes in Kopenhagen) dem Hubert zugeschrieben
worden ist. Wenn aber die Frauen am Grabe von Hubert sind, weshalb
nicht auch die Tafel mit dem Gekreuzigten in Berlin und die übrigen Dinge,
die mit dem Bild in Richmond zu einer Gruppe vereinigt von einigen For¬
schern Hubert zugedacht worden sind? Rätsel über Rätsel. — Es gab
nur zwei Möglichkeiten: entweder hielt man sich an die Lehre irgendeines
der Herren, die so glücklich sind, eine Vorstellung von der Kunst Huberts
und Jans zu besitzen, oder man verzeichnete alle Bilder, die Hubert, die
Jan zugeschriebenen, die echten und die zweifelhaften, durcheinander, ge¬
ordnet nach dem Gegenständlichen oder dem Aufbewahrungsorte.
Von dem Mangel an stilkritischem Urteil abgesehen, ist das Buch
mit seiner fast erschöpfenden Bibliographie (zu kurz kommen nur die Buch -
malereien und Hulins höchst wertvolle Folgerungen aus dem Studium dieses
Materials), mit seinen Regesten und Indices eine erstaunliche und nütz¬
liche Leistung. Eine besonders schätzenswerte Zugabe ist der Appendix B,
ein Auszug aus Tausend Auktionskatalogen. Alle unter dem Namen Eyck
verkauften Bilder (von 1662 bis 1912) sind notiert, zumeist mit Angabe
des Preises und des Käufers. Man findet da wertvolle Provenienzspuren
von allen möglichen altniederländischen Bildern. Max J . Friedländer.
Frederick Mortimer Clapp: On certain drawings of Pont-
o r m o. Florenz, Dezember 1911.
Dieses Heftchen stellt eine willkommene Ergänzung des Pontormo-
Kapitels in Berensons großem Werke der »Drawings of Florentinc Painters«
dar, sowie eine Nachlese des Kataloges. Dabei kommt es dem Verfasser weniger
auf die Entdeckung oder Zuschreibung neuer Pontormo-Zeichnungen an;
er versucht, aus der ja recht großen Zahl der bekannten Blätter diejenigen
herauszusuchen, deren Beziehung zu den Malereien Berenson noch entgangen
war. Er tut es mit einem Stolze, der freilich mehr gerechtfertigt erscheint
durch die auf die Arbeit anscheinend verwandte große persönliche Mühe,
als durch die immerhin bescheidenen Resultate. Um so schwerer wird es
dem Kritiker, gegenüber diesen vielleicht unverhältnismäßigen Anstren¬
gungen betonen zu müssen, daß, trotz des bei jedem kleinsten, neuen Detail
in steten Anmerkungen hervorbrechenden Freudenschreies des Verfassers,
das Hauptresultat seines Schriftchens die wiederum erwiesene Vortrefflich¬
keit der Berensonschen Arbeit bleibt. Freilich, was sich irgend durch un-
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
56c
Besprechungen.
ermüdlichen Vergleich, Stück für Stück, herausbringen läßt, hat Clapp gefun¬
den. Die Masse scheint groß, und man soll sie auch nicht verachten, denn
gewiß, es wird durch diese Details das Bild nicht unerheblich bereichert.
Doch es bleibt eben das alte Bild. Man staunt, wie Berenson ohne diese hundert
Punkte es schon in jeder Linie hat richtig zeichnen können, und wundert
sich dann auch wieder, daß man überhaupt noch hundert Punkte hat finden
können. Sie verdankt Clapp allerdings nur seinem allzu liberalen System
von sicher, wahrscheinlich und möglicherweise, wie er es in drei Arten des
Druckes durchführt. Dadurch kann er dann jeden Einfall retten, den anzu-
zweifeln oft keinen Sinn hat, da sich mit Assoziationen und Vermutungen
nicht streiten läßt.
Das wichtigste, was Clapp bringt, ist die Entdeckung der von Vasari
als im Besitz Lodovico Capponis erwähnten Zeichnung der Fußballspieler
(Uffizien Nr. 13 861). Sie ist der Entwurf zu einem nicht ausgeführten
Fresko für Poggio a Cajano, für denselben großen Saal, in dem sich hoch
oben in der Lünette die ländliche Allegorie von Vertumnus und Pomona
befindet, jenes Hauptwerk, aus dessen Kreise es eine so große Zahl von
Zeichnungen gibt. Bei Berenson zählt man 54, Clapp möchte noch 16
hinzufügen, von denen er freilich nur die Hälfte sicher nennt. Was Berenson
über die Entstehungsgeschichte des Freskos gesagt hat, ist vorbildlich;
man fragt sich, was kann Clapp da überhaupt noch Neues bringen? Nun,
die sicher identifizierten Blätter (zu denen man übrigens Uffizien Nr. 6519
verso nicht unbedingt rechnen sollte) sind Studien zu kleineren Details, etwa
einzelnen Gliedmaßen. Diese Resultate verdankt der Autor seiner aufs
sorgsamste durchgeführten Vergleichung. Anders steht es mit den »wahr¬
scheinlichen« und »möglichen«; in ihnen wittert Clapp erste Gedanken, die
aber später abgeändert wurden, aus Gründen, die zu erraten er sich anschickt.
Wissenschaftlichen Wert hat diese zweite Kategorie nicht; besonders noch,
da, wie Vasari uns berichtet, Pontormo schon bei seinem ersten Aufenthalt
in der Villa die beiden Kopfseiten des Saales mit Fresken ausmalen
sollte, man also nie wissen kann, ob nicht Studien, die mit Figuren des aus-
geführten Freskos irgendwie verwandt sind, für das dam<ls sicherlich ent¬
sprechend gedachte Gegenstück bestimmt waren.
Auch vor einer anderen Entdeckung Clapps muß leider gewarnt werden.
In Pontormos Passionszyklus, den Fresken der Florentiner Certosa, fehlt die
Kreuzigung. Vasari erzählt, der Maler habe sie ausgelassen in der Absicht,
sie zuletzt zu machen, dann kam es aber nicht dazu. Nun findet sich am
sichtbarsten Orte, in Cornice 183 der Uffizien, eine vielfigurige quadrierte
Kreuzigung Pontormos (Nr. 6671). Houghton hat sie photographiert. Auch
gibt cs einige Detailzeichnungen dazu. Clapp nimmt die Identifizierung
von Nachricht und Entwurf vor, mit einer freudigen Sicherheit, ohne sich
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
561
nach dem Grunde zu fragen, warum Berenson der Gedanke überhaupt nicht
gekommen ist. Nach all seinen Mühen um Pontormo-Zeichnungen hätte er
aber schon sehen müssen, daß dieses Blatt 1525 noch nicht entstanden sein
kann. Es zeigt den »Dürerstil« der Certosafresken überwunden, ersetzt durch
stark michelangeleske Züge. Doch das stört Clapp nicht, er glaubt, daß
der »Künstler in voller Karriere« auf den michelangelesken Manierismus
seiner Spätzeit losstürme.
Zum Schluß noch ein Wort über die schon gestreifte Eigentümlichkeit des
Verfassers, in unzähligen Fußnoten auf die Neuheit seiner Ideen hinzuweisen.
Bei allem Verständnis für berechtigten Entdeckerstolz muß diese stete
Wiederholung doch als unnötig empfunden werden. Der Text behandelt
ja nicht die Entwicklung Pontormos auf Grund aller identifizierbaren Zeich¬
nungen, resümiert also nicht auch Berensons Arbeit, sondern klammert sich
fast ausschließlich an die Neuentdeckungen Clapps, baut sie zu einer paral¬
lelen Entwicklungsreihe zusammen. Zu guter Letzt aber folgt dann nochmals
ein Verzeichnis, das getreu einer ausdrücklichen Vorbemerkung wieder nur
die Neubestimmungen des Autors aufnimmt. Diese Einschränkung ist um¬
so bedauerlicher, als Berenson sich an die Numerierung der Kabinette an¬
schließt, man also, um die meisten und wichtigsten Zeichnungen zu einem
Werke zu finden, jedesmal seinen großen Pontormo-Katalog ganz durch¬
sehen muß. Fritz Goldschmidt.
Pieter Lastman, sein Leben und seine Kunst von Kurt
Freise. Leipzig 1911.
In der bekannten Serie »Kunstwissenschaftliche Studien« des Verlags
von Klinkhardt & Biermann erschien 1911 als 5- Band ein stattliches Werk
von Kurt Freise über Pieter Lastmann. Es umfaßt rund 250 Seiten mit
43 Abbildungen. Schon diese Seitenzahl bei der Behandlung eines Malers
von immerhin doch zweitem Range läßt auf großen Fleiß des Verf. schließen.
Aber nutzbringend wird dieser Eifer erst dadurch, daß sich Freise bei der
Behandlung seines Themas auf sehr eingehende, kritisch gesichtete Studien
stützt. Nichts, wenn auch nur von geringem Wert, ist seinem Spürsinn
entgangen.
Der Hauptwert der Arbeit liegt darin, daß der Verf. das Werk von
Pieter Lastman möglichst vollständig zusammengestellt und kritisch be¬
leuchtet hat.
Hierbei kam zutage, daß Lastman niemals von Rembrandt beein¬
flußt wurde, ein auf Grund des Haarlemer Bildes, das überhaupt nicht
von Lastman ist, sehr verbreiteter Irrtum. Im Gegenteil, öfters konnte
die Abhängigkeit Rembrandts von seinem Lehrer nachgewiesen werden.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
562
Besprechungen.
Ferner kamen einige Beispiele Lastmanscher Porträtkunst ans Licht,
die bis jetzt nur aus der Literatur bekannt waren.
Etwas Neues, wenn auch nur etwas Negatives, konnte auf dem Ge¬
biet der Graphik konstatiert werden, daß nämlich Lastman selbst sich
wohl niemals mit der Nadel versucht hat, und daß er auch nicht der Er¬
finder des farbigen Kupferstichs ist, was zum erstenmal Bartsch behauptete.
Betreffs der Anlage des Buches möchte ich bemerken, daß, der Gewohn¬
heit entgegen, der Katalog der Gemälde vor den Entwicklungsgang gesetzt ist
mit der Begründung, seine Schilderung nicht durch langatmige Bildbeschrei¬
bungen zu stören. Leider fängt trotzdem der Entwicklungsgang mit einigen
Beschreibungen von Zeichnungen und Stichen an. Es hätten dann also auch
• t •
die Kataloge der Zeichnungen und Stiche vorausgenommen werden müssen.
Weiter wäre es zugunsten der Übersicht besser gewesen, einige Einzel -
themata, wie die Signaturen, Faltengebung, das Nackte usw. für sich zu
■
• r • i
behandeln, abgesondert vom Hauptkapitel und nicht an einer oder mehreren
• • ,
beliebigen Stellen desselben.
Ebenso hätte ich alles andere, was nur irgend möglich war, in den
Katalog gebracht, und nicht in den Entwicklungsgang, um diesen eben
noch kürzer und prägnanter fassen zu können. Nur als Beispiele, wo dies
besser geschehen wäre, erwähne ich: Seite 107—109: Auslassungen über
das Rotterdamer Bildchen; Seite 114: Die Frage nach der zeitlichen Ein¬
ordnung des Bethlehemitischen Kindermordes; Seite 137—38: Erklärung
der Darstellung von Bild 64.
Jedoch sind dies nur geringe Ausstellungen, die den großen wissen-
schaftlichen Wert des Buches nicht im geringsten beeinträchtigen.
Und dieser besteht, wie gesagt, darin, daß wir eine mehr als er¬
schöpfende, ja man kann wohl ohne Übertreibung sagen, d i e Mono¬
graphie über Pieter Lastman besitzen, den Lehrer Rembrandts.
Zum Schluß möchte ich noch bemerken, daß sich das Bild der Samm¬
lung Hoschek jetzt in der Sammlung Ferdinand Hermann in New York
befindet. Kurt Erasmus.
Collection des Grands Artistes des Pays-Bas. — Gerard Terborch
par Franz Hellens. — Bruxelles 1911.
Die Serie populärer Kunstbücher, in der die vorliegende Arbeit über
Gerard ter Borch erschienen ist, will keine neuen wissenschaftlichen Bei¬
träge zur niederländischen Kunstgeschichte liefern. Von dem Vorrecht,
auf selbständige wissenschaftliche Forschungen verzichten zu dürfen, hat
der Verfasser jedoch etwas reichlich Gebrauch gemacht. Aus diesem Buche,
aus dem der starke Enthusiasmus spricht, zu dem die Beschäftigung mit
der Kunst des vornehmsten unter den großen holländischen Malern Anlaß
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
563
gibt, erfährt man absolut nichts Neues über ter Borch. Um das Stoffgebiet
von des Meisters Kunst zu charakterisieren, gibt der Verfasser eine fein¬
fühlige und mit guter Sachkenntnis geschriebene Schilderung des gesell¬
schaftlichen Milieus und der kulturellen Zustände Hollands im 1 7. Jahrh.
In der Behandlung einzelner Gemälde geht er über eine objektive
Beschreibung hinaus. Er versucht es, die Bilder gelegentlich novellistisch
zu erklären, was bei einem Künstler, der zunächst von der malerischen Er¬
scheinung der Dinge ausgeht und in dessen Werken das anekdotische Element
stark zurücktritt, recht überflüssig ist. Wie gefährlich es gerade bei ter
Borch ist, den Gesellschaftsszenen kleine Romane unterzulegen, dafür bietet
ja die unzutreffende Beschreibung der sogenannten »Väterlichen Ermah¬
nung« in den »Wahlverwandtschaften«, die freilich nicht auf der Kenntnis
* m
eines der drei alten Exemplare, sondern nur von Willes Stich »Instruction
Patemelle« beruht, ein altberühmtes Beispiel. Da dem Verfasser wahr¬
scheinlich nicht genügend Originale ter Borchs aus eigener Anschauung
bekannt waren, so konnte er nur in vereinzelten Fällen sich der verlockenden
Aufgabe unterziehen, den künstlerischen Gehalt und die malerischen Mittel
zu schildern und zu erklären, durch welche der unerhörte Reiz der Werke
ter Borchs zustande kommt.
Der dem Buche beigefügte Katalog der Gemälde weist große Lücken
auf. Wenn es auch in einem populären Buche schließlich nicht notwendig
ist, alle Genrebilder und Porträts anzuführen, die von des Künstlers üblicher
Art nicht abweichen, so hätten doch alle jene Werke angeführt werden
müssen, in denen sich die Kunst ter Borchs von einer neuen Seite zeigt.
Es fehlt zum Beispiel der bezeichnete »Kuhstall« aus der Sammlung De-
laroff, der als Leihgabe im Haager Mauritshuis ausgestellt ist, und der ein
Gegenstück zu dem »Pferdestall« der Sammlung Wachtmeister in Vanäs
bildet. Daß der Verfasser das »Kircheninterieur« aus dem Besitze der
Berliner Königlichen Museen übersehen hat, das früher im Aachener Museum
als »Holländische Schule um 1660« hing, kann man ihm nicht weiter übel¬
nehmen. Dieses Gemälde rührt sicherlich von Gerard ter Borch her, in
dessen Oeuvre es dem Sujet nach vereinzelt dasteht. Die unter den Werken
des Meisters angeführte Wiederholung des Londoner Gemäldes vom Kongreß
in Münster, die sich im Amsterdamer Rijksmuseum befindet, ist für eine
eigenhändige Arbeit zu grob und schwach.
Bei dieser Gelegenheit sei auf ein schönes Frühwerk ter Borchs in der
Städtischen Sammlung in Heidelberg hingewiesen, wo es als eine Arbeit
des Job Berck-Heyde hängt. Das Bild stellt das Innere eines gotischen
Gewölbes dar, in dessen Vordergründe links ein jugendlicher Maler be¬
deckten Hauptes an seiner Stafifclei sitzt und ein Stilleben malt.
Eduard Plietzsch .
Repertorium für Kunstwissenschaft, XXXV. 37
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
564
Besprechungen.
Josef Kern, Karl Blechen, sein Leben und sein Werk.
Verlag Br. Cassirer, 1911.
Die Jahrhundert-Ausstellung 1906, deren Bedeutung für unsere
Kenntnis der deutschen Kunst erst allmählich, aber immer mächtiger uns
zum Bewußtsein kommt, war auch für Karl Blechen wie für so manchen
andern eine Rehabilitierung. Auf einmal wurde cs klar, wie dieser Einsame
Zielen nachging, die erst in der nächsten Generation zur Geltung kommen
sollten; tatsächlich schien der vielfach verhöhnte Künstler die Prinzipien
des Impressionismus nicht nur vorgeahnt, sondern zum Teil schon betätigt
zu haben. Freilich war das Neuaufstrebende, das Ahnungsvolle, durchsetzt
von heterogenen Elementen, es steckte darin Romanik, Monumentalitätssucht
und allerlei Anderes. Es mußte eine lohnende Aufgabe sein, den Quellen
Blechenscher Kunst nachzuspüren, die vielfach verschlungenen und sich
kreuzenden Einflüsse aufzudecken, denen sich diese empfängliche Künstler¬
natur willig hingab. Das Buch J. Kerns über Blechen hat die Frage nach
dem »Woher« seiner Kunst in wirklich befriedigender Weise beantwortet.
Nun könnte man ja Zweifel darüber haben, ob wir heute bereits in der
Lage sind, den nötigen Abstand zu diesen delikaten Problemen zu gewinnen,
die vor noch nicht einem Jahrhundert die führenden Künstler beschäftigten.
Allein, wer wollte leugnen, daß der Impressionismus — und das ist ent¬
scheidend für die BlechensChe Kunst — auch schon eine historische Be¬
handlung verträgt, vorausgesetzt, daß man mit streng wissenschaftlicher
Methode an ihn herantritt. Und da kommt dem Verfasser seine kunst¬
historische Schulung zustatten, die den meisten über moderne Kunst Schrei¬
benden mangelt. Darin liegt eben sein Verdienst, daß er an seine Aufgabe
nicht nur als Kunstempfindender (man kann in diesem Falle ruhig sagen:
als Künstler) herankommt, sondern in ebensolchem Maße als Historiker,
der die Quellenforschung keinen Moment aus dem Auge läßt, der den Wert
jeder Aussage auf ihre Zuverlässigkeit hin prüft und nur da Einwirkungen
und Beeinflussungen feststellt, wo solche durch Tatsachen zu belegen sind.
Dies verdient deshalb hervorgehoben zu werden, weil die Versuchung, lose
Vermutungen leichtfertig hinzuwerfen oder vom Thema abzuschweifen,
allzu nahe lag und wir auf Schritt und Tritt beobachten müssen, wie die
Kunst des 19. Jahrhunderts immer noch als Freiwild vielfach behandelt
wird, wofür historische Betrachtung ohne Belang und entbehrlich sei. Was
Manchem vielleicht als Mangel erscheinen könnte, rechne ich Kern hoch an:
daß er — wie er im Schlußwort der Einleitung sagt — »den naheliegenden
Wunsch, die Untersuchung weiter als auf die unmittelbaren Quellen der
Blechenschen Kunst auszudehnen, zurückstcllen« zu müssen glaubte, und
zwar in Erwägung »des heutigen Standes der Forschung über die Anfänge
der neueren deutschen Kunst«.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
565
In anschaulicher Erzählung schildert Kern die künstlerische Entwick¬
lung Blechens, die mit den äußeren Umständen seines Lebens so eng zu¬
sammenhing, und zu den besten Stellen des Buches gehört die Darstellung,,
wie im Künstler — unter dem Einfluß des Norwegers Dahl — der Land¬
schaftsmaler erwachte. »Bisher hatte er kaum die äußere Erscheinung der
Dinge betrachtet, jetzt lernte er den Ursachen der Erscheinung nachzu-
forschen. Die Landschaft erschließt sich ihm in ihrem inneren tieferen Sinn
als wechselnde Ausdrucksform eines ununterbrochenen, sich nach ewigen Ge¬
setzen vollziehenden Geschehens. In die tote Materie tritt Leben, eine
Seele, ein, und diese Seele ist ein Spiegelbild der menschlichen Seele mit
ihren Leidenschaften, ihrer ewig unbefriedigten Sehnsucht und ihren Hoff¬
nungen. So wird aus der Vedute, der schönen oder interessanten »Ansicht«,
ein Bild des Erdlebens.«
Dann folgte die Berufung an das Königstädtische Theater und die
Episode der Dekorationsmalerei, die auch nicht ohne Einfluß auf Blechen
blieb, und dann der große Einschnitt — Italien. »Die Werke Blechens,
die in Italien entstehen, lassen an malerischer Qualität alles hinter sich
zurück, was, soweit uns bekannt, von deutschen Künstlern bis 1829 ge¬
schaffen worden ist.« »Von Tag zu Tag steigert sich die Fähigkeit des Auges
und der Hand, Licht und Bewegung und mit ihnen Geist und Leben der
Natur aufzufangen.« Die Rückkehr, der schwere Kampf ums Dasein und
um Anerkennung werden ohne Sentaimentlität, doch mit einer herben
Trockenheit des Chronisten erzählt, und man verdenkt keinen Augenblick
dem Verfasser, daß er den pathetisch-mitleidsvollen Brief Bettinas von
Arnim an den Minister Professor von Bethmann-Hollweg in extenso auf
zwölf Seiten bringt. Damit die Schatten aber nicht einseitig verteilt
werden, führt der Verf. gewissenhaft alle Momente an, die zur kritischen
Beurteilung dieses Briefes notwendig sind und seine Bedeutung auf das
ihm zukommende Maß reduzieren.
Alles in allem: eine erfreuliche Erscheinung der kunsthistorischen
Würdigung eines Themas, das auf Schritt und Tritt zur — Artikelschreiberei
verlocken konnte. Denn auch das muß berücksichtigt werden, daß es sich
um eine Berliner Milieuschilderung handelte, und daß diese Monographie zu
einer Art Memoirenwerk werden konnte. Kern hat diese Klippe glücklich
umschifft, organisierte sein Gebiet scharf, ließ ins Berlin des Vormärz soviel
Einblick, als ihm zur Charakterisierung des Künstlers notwendig erschien,
und im übrigen überließ er den Tatsachen das Wort.
Zu erwähnen bliebe noch, daß dem Werk ein umfassendes, wohl auch
erschöpfendes Verzeichneis der Blechenschen Arbeiten beigefügt ist, das
allein schon als Oeuvre-Katalog einen dauernden Wert besitzt.
Daß das Buch sowohl in typographischer Hinsicht wie auch in bezug
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
^66
*
Besprechungen.
auf Abbildungen geradezu mustergültig ausgestattet ist, dafür bietet eigent¬
lich der Name des Verlages eine Gewähr. Es wäre nur erwünscht, für eine
eventuelle zweite Auflage eine Numerierung der Abbildungen und ihr Ver¬
zeichnis anzufertigen, da jetzt das Blättern und Suchen der besprochenen
Bilder ziemlich lästig ist. Beth.
Paul Kristeller, Kupferstich und Holzschnitt in vier
Jahrhunderten. Zweite durchgesehene Auflage. Berlin 1911,
Verlag von Bruno Cassirer.
Prof. Dr. Hans W. Singer, Unika und Seltenheiten im Kgl.
Kupferstich- Kabinett zu Dresden. Leipzig 1911, Verlag
von Glass & Tuscher.
Kristellers Buch liegt in zweiter Auflage vor. Über es zu berichten,
es im landläufigen Sinne zu loben, erscheint abgeschmackt, denn es liegt
ein Kunstwerk vor, das in seiner Geschlossenheit und Vollendung schlech¬
terdings nicht übertroffen werden kann, ein Werk, dem keine andere Nation
etwas Ähnliches, geschweige denn etwas Gleichwertiges zur Seite zu stellen
hat. Eine tiefe und erschöpfende Kenntnis des Materials verbindet der
Verfasser mit der vollkommensten Beherrschung der Literatur und einem
persönlichen, scharf ausgeprägten Standpunkt den Kunstwerken selbst
gegenüber, Eigenschaften, die in Verbindung mit einer großen Auffassung
ihm die Möglichkeit verleihen, kurz und eindringlich die einzelnen Meister
auf Grund ihres Gesamtwerkes zu charakterisieren und sie in die großen
Richtlinien einzugliedern, in denen sie Phasen der Entwicklung bilden.
Kristcller schreibt nicht über Kupferstich und Holzschnitt vom Standpunkt
des beschränkten und einseitigen Kenners der Graphik aus, sondern er be¬
herrscht ebenso die verwandten Zweige der bildenden Kunst; und gerade
in den Seitenblicken, die er als kunsthistorischer Polyhistor nach allen
Gebieten wirft, liegt ein besonderer Reiz und ein besonderer Vorteil seiner
Arbeit. Eine solche Betrachtung eines einzelnen Kunstzweiges im Rahmen
aller anderen Künste ist ja einzig und allein imstande, diesem Sondergebiet
die historische Stellung anzuweisen, die ihm in der gesamten Entwicklung
der Kunst zukommt.
Der Verfasser versteht anzuregen; er schöpft aus dem Vollen, und man
hat immer das Gefühl, er hat noch mehr zu sagen, die Richtung deutet
er wohl an, aber überläßt die Ausarbeitung dem Studierenden, dem Kenner.
Selbstverständlich legt er den derzeitigen Stand der Wissenschaft dar;
daß darunter eine Menge eigenster Arbeit ist, erscheint bei einem Forscher
wie Kristeller natürlich, und dies verleiht dem in seiner Anlage und seinen
Urteilen subjektiven Buch etwas Höchstpersönliches. Das Beste jedoch,
Digjtized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
567
was man einem derartig subjektiven Buche noch weiter nachrühmen kann,
ist die objektive Richtigkeit, und die hat der Gelehrte mit größter Gewissen¬
haftigkeit erreicht. Kristeller hat unserer Zeit d i e Geschichte des Kupfer¬
stichs und des Holzschnitts geschenkt.
Leider reicht sie, wie schon der Titel besagt, nur bis zur Wende des
19. Jahrhunderts. Das ist sehr zu bedauern. Verständlich ist ja diese Be¬
schränkung, denn gerade das, was bis zu jenem Zeitpunkt die Entwicklung
der beiden Künste ausgezeichnet hat, eine gewisse innere Folgerichtidkeit
und große durchgehende Linien, das scheint der Graphik des 19. Jahrhunderts
zu fehlen oder zum mindesten es ist zu wenig vorgearbeitet, um eine ähnlich
große und bestimmte Darstellung, so gleichsam aus dem Handgelenk her¬
aus, zu geben. Aber Kristeller erscheint uns als der Mann, auch diese Arbeit
zu leisten und uns die moderne Graphik in lichtvoller Darstellung aus ihren
inneren Zusammenhängen heraus vorzuführen. Er würde auch imstande
sein, den Kennern älterer Graphik das Verständnis für die Schönheit der
neueren zu vermitteln, und damit den Bestrebungen unserer Zeit erheblich
nützen können.
In der Art der Illustrierung haben wir in Lippmanns Museumshand¬
buch des Kupferstichs einen Vorläufer des Kristellerschen Werkes. Es war
ein äußerst fruchtbarer und glücklicher Gedanke des verstorbenen Gelehrten,
die Illustrationen seines Buchs in Originalgröße anfertigen zu lassen und
lieber Ausschnitte zu geben, als das ganze Blatt in starker Verkleinerung;
denn nur so konnte die Eigenart der Stichelführung, das rein Technische,
was a 11 e i n ja die Abbildung vermitteln und einprägen will, zum Ausdruck
kommen, während jede Verkleinerung — und sei sie noch so gut — weder
Technik begreiflich machen, noch den Eindruck des Originals auch nur
im entferntesten ersetzen kann. Das Studium des rein Künstlerischen
kann nur vor dem Original betrieben werden, und nur vor dem guten Ab¬
druck.
Wenn ich im Zusammenhang mit diesem grundlegenden Werke
Singers Publikation von fünfzig Unika und Seltenheiten aus dem Dresdner
Kabinett bespreche, so geschieht dies nicht wegen der Bedeutung des Buchs,
sondern wegen dieser prinzipiellen Frage. Singer bildet hier auf kleinem
Format einzelne, meist frühe Blätter, in Originalgröße ab. Das ist offenbar
der geringen Größe der Originale zu danken. Die gewählte Technik (Licht¬
druck) gibt allerdings wenig von dem Reiz der Originale wieder; immerhin
mögen sie, bis auf die gänzlich verfehlte Reproduktion eines Teigdrucks,
als technische Beispiele hingehen. Für gänzlich verfehlt aber halte ich die
Abbildungen einer Reihe von Blättern in starker Verkleinerung. Hier ist
weder das Technische noch das Künstlerische auch nur einigermaßen zu
seinem Recht gekommen, so daß man sich fragen muß, welchen Wert eine
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
568
Besprechungen.
solche Publikation überhaupt haben kann. Das breitere Publikum erhält
falsche Begriffe von den Originalen, und der Fachmann, an den sich ja aller¬
dings der Herausgeber nicht eigentlich wendet, ärgert sich darüber und
fragt sich erstaunt, wie ein Beamter eines der ersten Kabinette der Welt,
der sich in wissenschaftlichen Kreisen einen Namen gemacht hat, es über
das Herz hat bringen können, Blätter, die seinem Schutze anvertraut sind,
in dieser Ausführung nachbilden zu lassen; damit dient er weder der Kunst
noch der Erziehung zu ihrem Verständnis. Und das möchte er doch. Oder
sollte das Interesse des Verlegers allein maßgebend gewesen sein?
Doch abgesehen von der technischen Wiedergabe muß die Frage auf¬
geworfen werden, ob überhaupt ein Gewinn für die künstlerische Erziehung
erreicht werden kann durch Veröffentlichung von Unika und Seltenheiten
einer Sammlung. Denn nicht in diesen besteht der ideelle Wert einer Samm¬
lung, sondern er steht und fällt mit dem künstlerischen Niveau. Und dieses
ist doch wahrlich im Dresdner Kabinett gewaltig hoch, in der Singerschen
Publikation aber oft bedauerlich niedrig. Am schlimmsten ist es bei einem
Blatt, von dem Singer selbst eingesteht, es habe keinen künstlerischen,
wohl aber einen großen Kuriositätswert, dem gekreuzigten Christus, »auf
die zarte innere Haut eines gekochten Eis abgezogen«. Das heißt doch mit
dem breiteren Publikum seinen Spott treiben! Und zum Schluß noch eine
tiefe Verbeugung vor Byzanz! Welchen Wert hat endlich in dieser Ver¬
kleinerung das Abbilden seltener Etats für das Publikum, wenn nicht das
fertige Blatt zum Vergleich gegeben wird ?
Mit Dank ist die historische Einleitung zu begrüßen, die eine inter¬
essante Darstellung der Entwicklung der Anstalt gibt und uns mehr über
ihren Wert aufklärt, als die Bilder es tun können. Sicherlich überschätzt
aber Singer die Bedeutung der Dresdner Sammlung als Vorbild für andere
Kabinette. Für den Fachmann bieten die Anmerkungen zu den einzelnen
Blättern wertvolles Material, doch ist bei ihrer Benutzung einige Vorsicht
am Platze. Walter Griff.
Fischer :Alte Glasgemälde im Schloß Hohenschwan¬
gau, München 1912.
Die in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts von Kronprinz
Maximilian mit soviel Liebe zusammengetragene Glasgemäldesammlung hat
Josef Ludwig Fischer bearbeitet und Oskar Zettler herausgegeben. Das
94 Seiten starke Bändchen mit einer Anzahl durchweg ungenügender Auto¬
typien ist im Delphinverlag-München erschienen. Ob Fischer hier the
right man on the right place war, wage ich zu bezweifeln. Was er z. B.
als Württemberger und Verfasser einer Monographie über Ulm schon auf
den ersten Seiten des Buches über die zwei angeblichen Ulmer Arbeiten
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
569
vorbringt, verrät eine Unkenntnis der schwäbischen Glasmalerei und einen
Dilettantismus in der Art und Weise seines »wissenschaftlichen« Vorgehens,
die einen vollauf dazu berechtigen, sich seinen stets mit derselben Festig-
• »
keit urbi et orbi vorgetragenen Behauptungen, auch auf ihm doch zweifel¬
los noch ferner liegenden Gebieten, mindestens skeptisch gegenüberzu-
stellen.
Über die Figurenscheiben I und 2 schreibt er: »Der Stil dieser beiden
Scheiben weist nach Ulm; für diese Stadt spricht auch die Gewandung der
Heiligen, insbesondere aber das charakteristische Grün auf der Scheibe
der hl. Barbara. Dieses Grün, verschiedenemal in den Chorfenstern des
Ulmer Münsters gebraucht, hebt sich als Spezialität der Ulmer Glasmaler
scharf von den benachbarten Schulen ab. Um 1480 •war der berühmte
Glasmaler Hans Wild in der Donaustadt tätig. Mit dem Stil dieses Meisters
stimmen die beiden Scheiben freilich keineswegs überein. In einer Urkunde
der Lukasbruderschaft zu den Wengen aus dem Jahre 1499 wird ein »Peter
Lindenfrost der Glasser«, aufgezählt. Daß es sich mit der Bezeichnung
»Glasser« um einen als Künstler arbeitenden Glasmaler handelt, geht schon
daraus hervor, daß in die Lukasgilde nur anerkannte Künstler Aufnahme
fanden. Es wäre daher wohl möglich, daß die beiden Hohenschwangauer
Scheiben von diesem Peter Lindenfrost stammen.« Was besagt »der Stil
dieser beiden Scheiben weist nach Ulm«? Will man bei Glasgemälden aus
den letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts von einem Ulmer Stil sprechen,
so kann einzig und allein der Stil von Hans Wild und seiner Werkstatt in
Betracht kommen, da dieser Hauptmeister zwanzig Jahre lang (bis 1491)
die gesamte Ulmer Glasmalerei völlig beherrschte. »Wild ist nur möglich
als Haupt einer gut organisierten Werkstatt, nur mit dieser konnte er die
enormen Aufträge trotz der schwierigen, umständlichen Technik bewältigen«
(Frankl.) Sein bis weit ins 16. Jahrhundert reichender Einfluß (man vgl.
die Fragmente von Hirsau und Oberurbach) wird durch den Sohn bestätigt,
der bis 1518 für die väterliche Tradition besorgt war. Nun behauptet Fischer
einerseits: »Mit dem Stil dieses Meisters stimmen die beiden [Hohenschwan¬
gauer] Scheiben keineswegs überein« und andererseits: »Der Stil dieser
beiden Scheiben weist nach Ulm«. Was heißt das? Nach meinem Dafür¬
halten haben diese Scheiben mit Ulm nicht das Geringste zu tun. Dafür
spricht schon der unbeholfene und gedankenlose Faltenwurf, der, in Er¬
manglung beglaubigter Glasgemälde um 1500, bei der gleichzeitigen Malerei
und Plastik ebensowenig auch nur annähernd zu finden ist.
Als weiterer Beleg für die angebliche Ulmer Herkunft dient Fischer
die Art der Gewandung der Heiligen. Für die Glaubwürdigkeit dieser An¬
nahme müßte Fischer doch zunächst das nötige Material aus dem Ende
des 15. Jahrhunderts aufbringen. Etwas für Ulm Ausgeprägteres aus dieser
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
570
Besprechungen.
Zeit als die Werke von Jörg Sürlin d. J. und Gregor Erhärt, Barth. Zeitblom
und Martin Schaffner kann es wohl kaum geben. Von diesen Künstlern
ist mir aber aus dem Ende des 15. Jahrhunderts nicht eine einzige Frauen-
figur bekannt, deren Gewandung auch nur entfernte Ähnlichkeit mit jener
der Heiligen von Hohenschwangau zeigte.
Als dritten Beweis führt Fischer das charakteristische grüne Glas der
Ulmer Schule an. Da jedoch zu dieser Zeit die Glasmaler ihr Glas nicht
mehr selbst fabrizierten, sondern fertig von der Glashütte bezogen, lassen
sich wohl noch aus einer stark dominierenden Farbe oder aus einem be-
*
stimmten Farbenakkord, niemals aber aus der Verwendung eines bestimmt
grünen Glasses Schlüsse ziehen auf die Herkunft eines Glasgemäldes. Weil
z. B. das höchst aparte Grün, das schon im Anfang des 15. Jahrhunderts
in der württembergisch-fränkischen Schule fast allgemein war, vereinzelt
auch in der oberschwäbischen Schule — wie in der Neithartkapelle in Ulm
und im Chor der Kirche von Eriskirch — vorkommt, wird doch niemand auf
den Gedanken verfallen, die Eriskircher Gemälde und die Fragmente der
Neithartkapelle seien von einem fränkischen Meister geschaffen! Daß die
Ulmer Maler ihr Glas fertig kauften, kann urkundlich nachgewiesen werden.
Am 25. April 1496, gerade zu der Zeit, um welche Fischer die zwei Scheiben
von Hohenschwangau ansetzt, durfte in Ulm kein Glaser ohne Kenntnis
seiner Mitmeister von reisenden Händlern Glas kaufen.
Fischers Phantasien schweifen noch weiter, und zwar bis zu der Ver¬
mutung, besagte zwei Scheiben könnten Arbeiten von Peter Lindenfrost
sein. Diese absolut unmotivierte Zuschreibung läßt sich nur dadurch er¬
klären, daß Fischer von allen Meistern jener Zeit nur dieser eine bekannt
ist. Es läßt sich aber eine ganz ansehnliche Liste um 1495 in Ulm lebender
Glasmaleraufstellen: So gehören z. B. dazu: Conrad Schorndorff 1473—1499,
Hans Lindenmeyer, ein Schüler Martin Schöns, Hans Schongaw 1495—1514,
Hans Schrägen 1498, 1499, Vincenz und Hans Lipp 1495—1514, Gilg um
1505, Hans Wild der Jüngere 1490—1518, sowie die Glasmalerfamilie Deckin-
ger, die von 1407—1564 in Ulm nachweisbar ist.
Vielleicht will Fischer seine Annahme darauf stützen, daß Peter Linden-
frost Mitglied der Künstlerfraternität zu den Wengen war. Ebenso zählte
jedoch Conrad Schorndorff zu den Stiftern und bis 1499 zu den M : tgliedem
dieser Bruderschaft, weshalb ebensogut er für den Schöpfer der Hohen -
schwangauer Scheiben gelten könnte. Diese Mitgliedschaft beweist aber
gar nichts. Die Lukasbrüderschaft war keine Royal Academy, in der nur
»anerkannte« Künstler Aufnahme fanden, wie Fischer es sich wohl vorstellt.
Darüber unterrichtet uns bis ins Allerkleinste das »Instrumentum Con-
fraternitatis der Mahler, Bildhauer etc. In dem Gottshauß Wengen« vom
13. Aug. 1499. Die 1473 gegründete und vermutlich wegen ungenügender
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Besprechungen.
57»
Beteiligung 4518 wieder eingegangene Bruderschaft war nichts anderes als
eine den damaligen religiösen Bedürfnissen entsprechende und, wenn man
so sagen darf, auf Gegenseitigkeit beruhende Privat - Versicherungs-
gesellschaft für den Himmel. Aus dieser Mitgliedschaft Schlüsse auf Linden-
frosts bedeutendes Können ziehen zu wollen, ist ebenso lächerlich, als bei
einem modernen Menschen hervorragende Eigenschaften zu suchen, weil
er einer xbeliebigen Versicherung angehört. Höchstens wird dadurch Linden -
frosts, mit seiner Künstlerschaft selbstverständlich keineswegs in Verbin¬
dung stehende Religiosität bewiesen, denn um Mitglied dieser Bruderschaft
zu werden, mußten sich die zu einer der vier Rotten der Krämerzunft ge¬
hörenden, der der »Mahler, Bildhauer, Glasser oder Brieftruckher«, zu einem
bestimmten Beitrag für Seelenmessen und Begräbnisse der Mitglieder ver¬
pflichten. »Wenn und so offt ein Persohn in bemelter Bruderschafft mit
Todt abgat, es syen Brueder oder Schwöster, so sollen die Buchsenmeister
dem bemelten Probst und Convent ausser der Bruederschafft-Büchs vier
Schilling hallcr geben, und nichts dest minder so sollen die Freindt des
Todten, es syen Brueder oder Schwöster, Man oder Wyber den Todten
wie sis gebührt in bemeltem Gottshauß zu den Wengen, besingen, und dabey
dem Probst und Convent ein der außgestekhten Kerzen, oder zwölf Pfennig
dorfür geben.«
Außerdem ist noch ein Verzeichnis der Mitglieder von 1499—1518
vorhanden, aus dem, wie auch bei bereits genanntem Instrumentum, hervor¬
geht, daß die Maler und Bildhauer sogar Frau und Kinder als Mitglied der
Künstlerfraternität zu den Wengen einschreiben lassen konnten. Von
Martin Schaffner heißt es ausdrücklich: »cum familie«.
Ebenfalls unrichtig ist Fischers Datierung der beiden Scheiben. Ge¬
schlitzte Puffärmel tauchen erst später auf.
Es bleibt mir ferner zu bemerken, daß Fischers Werk jeglicher
historischer Hintergrund, jeglicher Zusammenhang der Hohenschwangauer
Scheiben mit der Kunst und Kultur des Milieus, dem sie entstammen,
abgeht, worüber ich mich nicht aufhalten würde, hätte Fischer vor
Jahresfrist in einem kunstwissenschaftlichen Glaubensbekenntnis den Mund
nicht so voll genommen. Er schrieb damals: »Die Kunstwissenschaft hat
bisher nur zu sehr die Glasmalerei als Stiefkind behandelt. Die syste¬
matische Erforschung soll die. bloße Beschreibung des vorhandenen
Materials, die bisher üblich war, ergänzen; es sollen die Zusammenhänge
der einzelnen alten Kunstwerke mit der Kunst und Kultur des Milieus,
dem sie entstammen, nachgewiesen werden.«
Auch wäre es nach meiner Ansicht angebracht gewesen, die jedesmalige
benutzte Literatur anzugeben, was besonders dort am Platze gewesen wäre,
wo bequemerweise Lehmann einfach abgeschrieben ist. Z. B.:
Repertorium für Kun»twissen«cliaft, XXXV. 3 °
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
572
Besprechungen.
Fischer :
Sohn des vorhingenannten Jos
Murer, erhielt Cristof, dessen Tauf¬
pate der berühmte Buchdrucker
Christof Froschauer war, seinen er¬
sten Unterricht beim Vater und zwar
nicht bloß in der Glasmalerei, son¬
dern in allen vom Vater geübten
Berufszweigen. 1576 trat er seine
Wanderschaft an und zog gegen
Straßburg, wo sein berühmter Lands¬
mann Tobias Stimmer weilte. Sicher
war Murer im Jahre 1584 zu Stra߬
burg, da er nach dem Taufregister
der Pfarrei St. Thomas in Straßburg
in diesem Jahre Patenstelle bei einem
Sohne des Züricher Glasmalers Link
vertrat. In diesem Register heißt
er Christof Mauerer, Formenmeister.
1586 kehrte Murer nach Zürich zu¬
rück, trat in diesem Jahre in die
Saffranzunft ein. 1600 wurde er
Mitglied des großen Rats, 1611 Amt¬
mann in Winterthur, wo er 1614
unverheiratet starb, usw.
Lehmann :
Dem im Jahre 1558 als Sohn des
Jos Murer geborenen Christoph war
der bekannte Buchdrucker Christoph
Froschauer Pate. Seine Lehrzeit
machte er bei seinem Vater, der ihm
in alle von ihm selbst geübten Künste
und Wissenschaften einweihte.
Nach dessen Tod trat er wahr¬
scheinlich zu Ende des Jahres 1580
die Wanderschaft an, welche ihn
nach Straßburg führte, wo er 1584
als • »Formenmeister« genannt wird.
[Vgl. hier Meyer: Die Schweizeri¬
sche Sitte der Fenster- und Wappen -
►
Schenkung, Frauenfeld 1884, S. 215,
216.]
Im Jahre 1586 kehrte er in die
Vaterstadt zurück und trat, wie sein
Vater, auf die Saffranzunft ein, die
ihn im Jahre 1600 in den großen
Rat wählte. Wie sein Vater wurde
er auch Amtmann in Winterthur
ft
(1611). Er starb unverheiratet im
Jahre 1614.
Ich könnte mit noch viel mehr derartigen Beispielen aufwarten.
Leo Babt- Bremen.
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Digitized by Google
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Digitized by
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Digitized by
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
.ized by
Digitized by
<r*r\nnlr Original from
VjUU c> lC UNIVERSITY OF MICHIGAN