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REPERTORIUM 

FÜR 

KUNSTWISSENSCHAFT 


REDIGIERT 


VON 

KARL KOETSCHAU 

DIREKTOR BEI DEN KÖNIGE. MUSEEN ZU BERLIN 


XXXV. Band. 



BERLIN W. 35 

DRUCK UND VERLAG VON GEORG REIMER 

1912. 


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t 



HNB ARTS 



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Inhaltsverzeichnis 


Seite 

Eine chinesische Kunsttheorie. Von Otto Fischor .i r 143 

Perspektive und Bildarchitektur bei Jan van Eyck. Von G . Joseph Kern . Mit 

27 Abbildungen... 27 

Die Engel am französischen Grabmal des Mittelalters und ihre Beziehungen zur 

Liturgie. Von K Eicher ... 97 

Studien zur Altfrankfurter Malerei. II. Von Karl Simon . Mit 2 Abbildungen . . 120 

Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst mit ihren neuen Pfad¬ 


findern. Zur Kritik und Ergänzung der Forschungen J. Strzygowskis und 

L. v. Sybcls. Von O. Wulff (Fortsetzung).193 

Leonardo da Vincis Entwurf eines Madonnenbildes für S. Francesco in Brescia 

(1497). Von Emil Möller . Mit 4 Abbildungen.241 

Nochmals die Perspektive bei den Brüdern van Eyck. Eine Entgegnung von 

Professor Dr. Doehlemann (München). Mit 2 Abbildungen.262 

Antwort auf die Entgegnung des Herrn Professors Doehlemann. Von G. Joseph Kern . 

Mit 1 Abbildung.268 


Verkannte Sternbilder und Ketzer Vorstellungen in der mittelalterlichen Kunst. Ein 

Beitrag zur neueren Kunstgeschichte. Von Karl Borinski . Mit 1 Abbildung . 291 

Zum Thema der Darstellung des zweiköpfigen Adlers bei den Byzantinern. Von 

Nixog A . Bfrje . .321 

Der Codex Bruchsal 1 auf seine Herkunft untersucht. Von Dr. Sichert .331 

Buffalmacco- und Traini-Fragen. Einige Randbemerkungen zu Peleo Baccis Buftal- 

macco-Publikation. Von J\ Kurawelly .337 

A. Dürers »Pfeifer und Trommler«. Ein Beitrag zur Konstruktion der Figuren und 

zur Datierung des Bildes. Von Dr. H von Ochenkowski .363 

Hans Holbein d. J. und Dr. Johann Fabri. Von Hans Koegler .379 

Der Bauer in der deutschen Malerei von ca. 1470 bis ca. 1550. Von Berthold 

Haendcke .385 

Neue Dubroeucqstudien. Von Robert Hedicke .402 

Eine neue archivalische Notiz Uber Hans Pleydenwurflf? Von Albert Gümbel . . . 412 

Johann Rudolf Rahn f (24. April 1841 bis 28. April 1912). Von Josef Zcmp . . 414 
Surp Hagop (Djinndeirmene), eine Klosterruine der Kommagene. Ein Beitrag zur 
Bewertung und Datierung der nordmesopotamischen Kunst. Von S . Guy er. 

Mit 12 Abbildungen.483 

Der »Fürst der Welt« in der Vorhalle des Münsters von Freiburg i. B. Von 

Rudolf Asmus .509 

Künstlerbriefe aus dem Archiv des Domes von Cremona. Von Benno Geiger . . 513 

Beiträge zur Biographie Hugos van der Goes und zur Chronologie seiner Werke. 

Von Hjalmar G . Sander .519 

Das Gothaer Liebespaar und der Hochaltar zu Blaubeuren. Von V . C. Habicht. 

Mit 1 Abbildung.546 


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IV 


Inhaltsverzeichnis. 


Notizen. 

Seite 


Lukas Moser. V % C, Habicht . 65 

Urkundenauszttge über Maler- und Bildhauemamen in Freiburg i. Br. Helmuth 

Th. Bossert . 66 


Eine verlorene Kreuzigung von Michel Wolgemut. Mit 1 Abbild. Erich Abraham 159 


Be sprechungen. 


W. Pinder. Mittelalterliche Plastik Wttrzburgs. Habicht . 69 

Sascha Schwabacher. Die Stickereien nach Entwürfen des Antonio Pollaiuolo in der 

Opera di S. Maria del Fiore zu Florenz. Hanns Schulst . 76 

Alfred Gudemann. Imagines Pbilologorum. 160 Bildnisse aus der Zeit von der 

Renaissance bis zur Gegenwart. Gustav Au »Jena. 77 

Eberhard Hanfstaengl. Hans Stethaimer, Kunstgeschichtliche Monographien XVI. 

Eich. Hoffmann .. . . . . 163 

Fritz Hoeber. Die Frührenaissance in Schlettstadt. Baum .164 

Marius Vachon. La Renaissance^francaise, l'architecture nationale, les grands maitres 

magons. /Conrad Eschcr .165 

J. Rohr. Der Straßburger Bildhauer Landolin Ohmacht. K. Simon .171 

Curt H. Weigelt. Duccio di Buoninsegna. Vitzthum .174 

Aug. L. Mayer. El Greco, eine Einführung in das Leben und Wirken des Domenico 

Theotocopuli genannt cl Greco. Hugo Kehrer .178 

Wilhelm Rolfs. Geschichte der Malerei Neapels. August L . Mayer .180 

Robert Bruck. Die Sophienkirche in Dresden, ihre Geschichte und ihre Kunst¬ 
schütze. Karl Steinacker .181 

A. E, Brinckmann. Deutsche Stadtbaukunst in der Vergangenheit. FritzHo eher 273 
Paul Drey. Die wirtschaftlichen Grundlagen der Malkunst. Versuch einer Kunst¬ 
ökonomie. R . Oldtnbourg .278 

Konrad Escher. Barock und Klassizismus; Studien zur Geschichte der Architektur 

Roms. Horst .281 

Catalogue of early Italian engravings preserved in the department of prints and 

drawings in the British Museum. Engelbert Baumeister .283 

Wilh. Ostwald. Monumentales und dekoratives Pastell. E. Berger .285 

August Schmarsow. Juliano Fiorentino. Ein Mitarbeiter Ghibertis in Valencia. 


F. SchotHnüller .287 

Richard Müller-Freienfels. Psychologie der Kunst. Ailcsch .419 

M. Liefmann. Kunst und Heilige. J ’. B. Kißling .421 

Mainzer Zeitschrift. F. R. .422 

Kunstdenkmäler der Schweiz. Ernst Cohn»Wiener .423 

J. L. Fischer. Ulm. Habicht .430 

J. A. F. Orbaan. Rijks geschiedkundige publication. Weizsäcker .431 

Karl Woermann. Von Apelles zu Böcklin und weiter. W. v. Seidlitz .438 

Julius Vogel. Bramante und Raffael. F. Schottmüller .444 

Herrmann Egger. Römische Veduten, Handzeichnungen aus dem XV.—XVIII. Jahr¬ 
hundert. — Architektonische Handzeichnungen alter Meister. Horst .... 446 

l)r. Alfred Lauterbach. Die Renaissance in Krakau. Max Lossnitzcr .450 

Walter Fricdländer. Das Kasino Pius IV. F. Schottmüller .453 

Karl Lohmever. Saarbrücken. Habicht .457 


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Inhaltsverzeichnis. 


v 


Seite 

G. Leidinger. Verzeichnis der wichtigsten Miniaturen-Handschriften der Kgl. Hof- und 
Staatsbibliothek Manchen. — Miniaturen aus Handschriften der KgL Hof- und 

Staatsbibliothek in München. Ernst Cohn-Wiener .459 

Paul Buberl. Die romanischen Wandmalereien im Kloster Nonnberg in Salzburg. 

Paul Clemen .460 

August L. Mayer. Die Sevillaner Malerschule. Ernst Kühnei .463 

Siegfried Weber. Die Begründer der Piemonteser Malerschule im XV. und zu Be¬ 
ginn des XVI. Jahrhunderts. Gronau .465 

Paul Frankl. Die Glasmalerei des XV. Jahrhunderts in Bayern und Schwaben. 

//. Schmitz . 469 

Willy Hes. Ambrosius Holbein. Glaser .471 

C. Hofstede de Groot. Beschreibendes und kritisches Verzeichnis der Werke der 
hervorragendsten holländischen Maler des XVII. Jahrhunderts. Eduard 

Plietzsch .473 

Dr. Peter P. Albert. Der Meister E. S., sein Name, seine Heimat und sein Ende. 

Beth .477 

Harald Brising. Antik Konst i Nationalmuseum. Urval och beskrifning. John 

Kruse .549 

Theobald Hofmann, Walter Amelung und Fritz Weege. Raffael in seiner Bedeutung 

als Architekt. Ernst Steinmann .553 

Corrado Rici. Baukunst und dekorative Skulptur der Barockzeit in Italien. Horst 555 

Robert H. Hobert Cust. Benvenuto Cellini. F. Schottmüller .557 

W. H. James Weale und Maurice W. Brockwell. The van Eycks and their art. 

Max J. Friedländer .557 

Frederick Mortimer Clapp. On certain drawings of Pontormo. Fritz Goldschmidt 559 

Kurt Freise. Pieter Lastmann, sein Leben und seine Kunst. Kurt Erasmus . . 361 
Collection des Grands Artistes des Pays Bas. Gerard Terborch par Franz Hellens. 

Eduard Plietzsch . 562 

Josef Kern. Karl Blechen, sein Leben und sein Werk. Beth .564 

Paul Kristeller. Kupferstich und Holzschnitt in vier Jahrhunderten. — Hans 
W. Singer. Unika und Seltenheiten im Kgl. Kupferstich-Kabinett zu Dresden. 

Walter Gr äff . . 1 .566 

J. L. Fischer. Alte Glasgemälde im Schloß Hohenschwangau. Leo Balot . . . 568 

Ausstellungen und Auktionen. 

Die Grafton-Ausstellung in London. W. von Seidlitz . 81 

Die Sammlung Weber. Curt Glaser . 87 

Erwiderungen. 

Erwiderung.»83 

Erwiderung.4$ 2 


Repertorium für Kunstwissenschaft, XXXV. 


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Die chinesische Kunsttheorie 

Ein Versuch 
von Otto Fischer 

Die chinesische Kunst und vorzüglich die chinesische Malerei, als das 
Höchste, was Asien in der bildenden Kunst geschaffen, ist der Gegenstand 
eines immer stärker erwachenden Interesses. Von europäischer wie von ja¬ 
panischer Seite ist es versucht worden, über das Wesen und die Geschichte 
jener Bildkunst einen allgemeinen Überblick und durch den Vergleich mit 
der Weise westlicher. Schöpfungen in ihr besonderes ästhetisches Gesetz 
einen Einblick zu geben. Zugleich scheint die kunsthistorische Forschung 
die ersten Schritte zu tun, auf dem Wege der kritischen Einzeluntersuchung 
die Entwicklung des Stils, oder vielleicht der Stile, einer klaren Erkenntnis 
näher zu bringen. Eis ist endlich die Fülle der chinesischen Kunstliteratur 
durch mehrere, zumeist englische Publikationen dem europäischen Leser 
zugänglich gemacht. Diese eigene chinesische Kunsttradition ist zwar 
hier und dort schon verwertet, aber noch nie zum Gegenstand einer besonderen 
systematischen Untersuchung gemacht worden. Es scheint mir aber für 
die historische Forschung, sobald sie die Daten der chinesischen Über¬ 
lieferung benutzt, unerläßlich, zunächst einmal über die Art dieser Tradition 
Klarheit zu besitzen und über die kunstgeschichtlichen Ergebnisse allge¬ 
meiner Art, die aus ihr allein schon zu entnehmen sind, unterrichtet zu sein. 
Eis scheint mir ferner für jede ästhetische Untersuchung über jene uns fremde 
Kunst von ganz besonderer Wichtigkeit, zu wissen, was die Chinesen selber, 
ihre Schöpfer und eifersüchtigen Genießer, über Kunst gedacht und ausge¬ 
sprochen haben, d. h. die chinesische Kunsttheorie zu kennen. Das Material, 
das wir besitzen, ist überreich. 

Bei dem Versuche, den ich hier unternehme, kann es sich nur um 
eine Vorarbeit handeln. Wir besitzen bis heute und wohl in absehbarer Zeit 
noch keine vollständige und philologisch genaue europäische Publikation 
chinesischer Kunstliteratur. Hirth und Giles haben uns nur eine wie es 
scheint ausgezeichnete und reiche Auslese der wertvollsten Nachrichten 
vermittelt, der sich ergänzend einige kleinere Arbeiten anschließen. Es 
fehlt also die Vollständigkeit des Materials. Auf der andern Seite erschwert 

Repertorium für Kunstwissenschaft, XXXV. * 


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2 


Otto Fischer, 

cs die Übersetzung dem Nichtkenner des Chinesischen, den Sinn der Über¬ 
lieferungen mit Gewißheit zu erfassen. So vorzüglich die Übertragungen 
der bewährten Sinologen sein mögen, so legen die Chinesen selbst auf die 
Exaktheit der Bezeichnungen einen so großen Wert, daß es manchmal 
entscheidend wäre, den genauesten Wortlaut zu besitzen, und es läßt hier 
gerade die etwas allzu freie und europäische Wiedergabe von Giles manchmal 
im Stich. Trotz dieser Schwierigkeiten glaube ich, ist es möglich und 
nützlich, den wesentlichen Gehalt der chinesischen Kunsttradition, soweit 
sic die Malerei betrifft, systematisch zusammenzufassen, darzustellen und 
zu erörtern. Die Beschäftigung mit der gesamten chinesischen Kultur in 
ihren zugänglichen Denkmalen und die Bemühung speziell um die Kunst¬ 
werke selber mag jenen Mängeln vielleicht ein Ausgleich sein. Jedenfalls 
sei cs versucht, die Richtlinien eines Systems zu ziehen, die andere sei es 
verbessern, sei es ergänzen und füllen werden. 

Die Quellen. 

Die chinesische Kunstliteratur läßt sich in verschiedene Gruppen teilen. 
In erster Linie stehen Abhandlungen über die Malerei. Ihr Umfang ist zu¬ 
meist nicht groß, ihr Inhalt allgemeiner und prinzipieller Art, sei es, daß es 
sich mehr um ästhetische Betrachtungen oder um praktische Ratschläge 
und Erörterungen handelt. Ihre Verfasser sind die literarisch hochgebildeten 
Maler selbst. Es ist möglich, daß schon die Aussprüche, die von dem gelehrten - 
Ku K'ai-chi überliefert sind (er ist nachweisbar von 365—405 n. Chr. tätig) 
auf eigene Aufzeichnungen zurückgehen mögen. Die erste mit Sicherheit 
überlieferte und teilweise erhaltene Abhandlung rührt von dem älteren 
Wang Wei, der unter der früheren Sung-Dynastic blühte (420—479 n. Chr.). 
Nach ihm käme der Kaiser Yüan-ti (regiert 552—555), dessen Bemerkungen 
über die Malerei jedoch Hirth die Authentizität bestreitet. Es folgt endlich 
der große Wang Wei (699—759), wie jener Kaiser zugleich Dichter und 
Maler, und nach ihm haben bis in die späten Zeiten manche der bedeutend¬ 
sten Meister ihre Ansichten über Kunst in kurzen Schriften niedergelegt. 
Chang Tsao (um 780) scheint als erster speziell über die Landschaft ge¬ 
schrieben zu haben, von Li K'an (Anfang des 14. Jahrh.) sind zwei Bücher 
über Bambusmalerei erhalten. Von anderen beträchtlichen Namen seien 
Ching Hao und Li Ch’öng aus dem 10., Kuo Hsi und Su Tung-p’o aus dem 11., 
Huang kung-wang aus dem 14. Jahrh. genannt. 

In zweiter Linie stehen die eigentlichen kunstgeschichtlichen Werke, 
zumeist umfassende Matcrialsammlungen über Maler und Malerei. Diese 
Werke sind nach verschiedenen Prinzipien angelegt. Die älteste Form ist 
die einer ästhetischen Klassifikation der Künstler, die ohne Rücksicht auf 
ihre historische Stellung nach einem wertenden Prinzip in verschiedenen 


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Eine chinesische Kunsttheorie. 


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Klassen aufgeführt werden. Hsi6 Ho, der unter der südlichen Ch’i-Dynastie 
(479—502) lebte und selbst ein bedeutender Maler war, hat in seinem klassi¬ 
schen Ku-hua-p'in-lu diese Gattung begründet; dieses urteilsreiche Werk 
ist die Schöpfung eines hohen, klaren und gerecht wägenden Geistes. Sein 
Buch fand im 6. Jahrh. und noch einmal unter der T'ang-Dynastic eine Fort¬ 
setzung und Ergänzung. Ein weiteres wichtiges Werk dieser Gattung ist 
das T'ang-chao-ming-hua-lu des Chu-King-yüan, der im 10. Jahrh. lebte 
und die Meister der T’ang-Dynastie (618—907) nach einem von Hsie Ho 
abweichenden principium divisionis behandelt. 

Die zweite und spätere Form der kunstgeschichtlichen Werke ist nun 
endlich die historische oder besser biographische. Es handelt sich hier um 
möglichst vollständige Malerlisten, um eine möglichst umfangreiche Samm¬ 
lung biographischer Notizen. Die Nachrichten über das Leben der Maler 
werden mitgeteilt, wichtige Werke genannt, bezeichnende Aussprüche an¬ 
geführt und der Charakter vorzüglich durch Anekdoten geschildert. Es 
ist aber bezeichnend für die Gesinnung auch dieser Schriftsteller, die zumeist 
Gelehrte und Sammler waren, daß dem historischen Teil ihres Werkes fast 
immer ein einführender Teil vorausgesandt ist, in welchem Fragen allge¬ 
meiner Kunsteinsicht oder die praktischen Gesichtspunkte des Sammlers 
in zahlreichen Exkursen behandelt werden. Die Anfänge der Malerei, Blüte 
und Verfall der Kunst, die Hauptregeln der Malerei, der Stil der alten Meister, 
die Vererbung der Stileigentümlichkeiten, die Signaturen, die Erhaltung und 
die Preise alter Bilder sind die Gegenstände solcher Abhandlungen. Das 
älteste dieser kunstgeschichtlichen Werke scheint das Ming-schöu-hua-lu 
(um das Jahr 618 n. Chr. entstanden) in einem Buche gewesen zu sein, 
das wichtigste der frühen erhaltenen Werke ist das Li-tai-ming-hua-ki des 
Chang Yen-yüan, das in 10 Büchern bis zum Jahre 841 sich erstreckt. Eine 
Fortsetzung dieses grundlegenden Werkes für die Zeit von 841—1074 ist 
das T'u-hua-kien-wön*chi des Kuojo-hü, eine weitere Fortführung bis 1167 
das Hua-ki des Töng Ch'un. Diesen Werken der zu ihrer Zeit angesehensten 
Kenner schließen andere, sei es auf eine bestimmte Periode sich beschränkend, 
sei es die gesamte Geschichte umfassend, seit dem Ende der T'ang-Zeit bis 
auf den heutigen Tag in immer steigender Zahl sich an. Bedeutende Namen, 
wie der des Shön Kua und Mi Fei, des Han Cho, des Ou-yang Hsiu und 
T’ang Hou befinden sich unter ihren Verfassern. 

Es bilden endlich eine dritte Gattung der Kunstliteratur die Gemäldc- 
verzeichnisse berühmter Kunstsammlungen. Solche Kataloge sind späte¬ 
stens für das 6. Jahrh. (Galerie der Liang-Dynastie für die Periode T'ai- 
ts’ing) bezeugt und in der Kunstliteratur verwertet. Das älteste erhaltene 
Verzeichnis ist das Chöng-kuan-kung-hsi-hua-shi des P'ei Hsiao-yüan vom 
Jahre 639, das sich nicht nur auf die kaiserlichen, sondern auch die privaten 


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Otto Fischer, 


Sammlungen dieser Zeit erstreckt, allerdings aber auf eine Auslese des Besten 
sich beschränkend. Der wertvollste und umfassendste dieser Kataloge ist 
das Hsüan-ho-hua-p’u vom Jahre 1120, das Verzeichnis der Galerie des 
Kaisers Hui-tsung, der größten und kostbarsten, die China besessen hat. 
Die späteren Werke dieser Art gestatten es, viele der älteren Werke bis ins 
18. Jahrh., bis in die Sammlung Kien-lungs, mit Sicherheit zu verfolgen. 

Das Material, das wir zur Kenntnis der Geschichte und Theorie der 
Malerei besitzen, ist somit das denkbar authentischste. Aus allen großen 
Perioden der Malerei sind uns zeitgenössische Nachrichten in reichem Maße 
und oft in größerem Umfange als beglaubigte Werke erhalten. Die Verfasser 
dieser Werke sind zum einen Teile die Maler selbst, zum andern die aufge¬ 
klärtesten und unterrichtetsten Kenner. Berühmte Schriftsteller, ange¬ 
sehene Gelehrte und hochgestellte Beamte befinden sich unter ihnen. Allen 
gemeinsam ist die große Tradition einer einheitlichen, immer verfeinerten, 
doch nie veränderten alten Kultur, ihnen die gleichen Maße, die gleichen 
Ziele steckend. 

Das Ziel der literarischen Beschäftigung mit der Kunst ist auf der einen 
Seite die historische Feststellung. Ein umfassendes Registrieren jeder wert¬ 
vollen Nachricht, eine genaue, doch pietätvolle Kritik der Überlieferung 
und die vollkommene Unterdrückung jeder subjektiven Tendenz gegen die 
objektive Gewalt des Tatsächlichen sind die vornehmsten Eigenschaften 
dieser Geschichtschreibung. Dieses Streben nach Objektivität äußert sich 
aber über das Historische hinaus in der überall spürbaren Bemühung um eine 
ästhetische Einsicht. Wir begegnen ihr in den Versuchen einer klassifizieren¬ 
den Wertung der Kunstschöpfungen, in der Aufstellung praktischer Rat¬ 
schläge, Regeln und Normen der Gestaltung und endlich in der Einfügung 
des künstlerischen Schaffens und Genießens in das große geistige System 
der überlieferten Kultur. Ihr feinsinniges und innerliches Verständnis der 
Kunst als Schaffende, als Dilettierende oder Genießende hat diese Schrift¬ 
steller jedoch niemals der Verführung preisgegeben, ein Erleben dem System 
zu opfern. Die Ehrfurcht vor der großen Überlieferung hat sie verhindert, 
ein nur persönliches Empfinden zum allgemeinen Gesetz erheben zu wollen. 
Und so hat sich durch die Jahrhunderte eine Kunsttheorie entwickelt, die 

zwar niemals zu einem umfassenden kanonischen Ausdruck gekommen ist, 

• • 

deren einzelne Äußerungen aber trotz aller Mannigfaltigkeiten sie zu einem 
einheitlichen System zusammenzuschließen erlauben. Wie die chinesische 
Malerei, wie die Kultur selber, so bildet auch die chinesische Kunsttheorie 
eine geistige Einheit. Sie besitzt eine Entwicklung nur in dem Sinne, wie 
die Pflanze aus dem Keim zur Blüte und zur Frucht sich entwickelt, im 
Sinne einer steten Verfeinerung, nicht aber in unserem Sinne einer geistigen 
Entwicklung, wo neue Ideen und neue Ziele eine fortwährende Veränderung 


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Eine chinesische Kunsttheorie. 


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wirken. Es gilt für sie, was Hsie Ho für ihren Gegenstand aussprach: daß 
in der Kunst die Worte alt und neu keine Stelle haben. 


Die Aufgaben. 

Die ältesten Nachrichten über die chinesische Malerei weisen auf die 
Existenz umfangreicher Wandgemälde, welche die Ehrenhallen fürstlicher 
Paläste, die Opferhallen und alten Tempel schmückten. Sie sind mit Wahr¬ 
scheinlichkeit seit dem 4. Jahrh. v. Chr. und bis in die spätere Han-Zeit 
nachzuweisen. Ihre Gegenstände sind die alten Entstehungsmythen, die legen¬ 
däre und die tatsächliche Geschichte des chinesischen Reichs, die sie in 
figürlichen Darstellungen illustrieren, ihr Zweck ist ein moralisch-didakti¬ 
scher. Über ihre Technik wissen wir nichts, und die einzigen Hinweise ver¬ 
danken wir einer gelegentlichen historischen Notiz und zwei Dichtungen, 
welche uns die erhaltenen Grabskulpturen aus der Provinz Schantung zu 
illustrieren geeignet sind, nicht aber der eigentlichen Kunstliteratur, welche 
uns bis zum Ende der Han-Zeit nicht wesentlich mehr als eine Anekdote 
und die halbmythischen Namen einzelner Maler überliefert. 

Die ältesten Werke, von denen uns die kunstgeschichtliche Tradition 
berichtet, sind Bildnisse. Es ist von Bildnissen Lebender und vorzüglich 
von schönen Frauen die Rede, daneben aber, und mit größerer historischer 
Wahrscheinlichkeit, von kaiserlichen Edikten, welche die Bilder verdienter 
Verstorbener zu malen und an Ehrenstellen aufzuhängen befahlen. Dies 
gilt zum mindesten für die ältere Han-Zeit vom Ende des 2. Jahrh. v. Chr. 
ab. Ich möchte vermuten, daß diese Bildniskunst ihre Entstehung dem 
Totenkultus verdankt, und daß die noch heute herrschende Sitte, das Bildnis 

des Verstorbenen als Sitz für die Seele beim Begräbnis mitzuführen und 

* • 

später in der Halle des Hauses aufzubewahren *), schon jenen frühen Zeiten 
entstammt; die strenge Faceansicht und starre Haltung läßt auf eine alte 
Tradition schließen. Ob freilich jene ältesten Bildnisse schon wie die heutigen 
auf Seide gemalt und als Rollbilder montiert waren, darüber läßt sich einst¬ 
weilen kein Aufschluß gewinnen. Gewiß ist, daß Porträts seit jenen frühesten 
Zeiten immer wieder erwähnt sind. 

Wenden wir uns nun aber zu den Nachrichten, die uns über Bestim¬ 
mung und Ausführung der Gemälde genauere Auskunft geben, so werden 
wir am besten nach ihren Aufgaben die Werke in zw r ei Gruppen abteilen. 
Auf der einen Seite handelt es sich um eine Ausschmückung von Wand- 
flächen, die meist, wie es scheint, in großen Maßen zu geschehen hatte. Die 
erste Erwähnung findet sich zu Anfang des 4. Jahrh. n. Chr., zu einer Zeit 
also, wo buddhistische Darstellungen bereits erwähnt werden, sie bezieht 


*) de Groot, The Religions System of China, I, S. 113 und 172. 


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6 


Otto Fischer, 


sich jedoch auf die Bilder des Kung fu-tse und seiner 72 Schüler, auf die 
mythischen Kaiser und sämtliche Weisen und Großen der Vorzeit bis auf die 
Han-Dynastie: Chang Shou hatte sie auf die Wände der Ehrenhalle zu 
malen, die dem Chou Kung in Ch’öng-tu geweiht war. Wir haben hier viel¬ 
leicht die Verbindung mit jenen ältesten Wandmalereien vor uns. Die nächste 
Erwähnung führt uns zum Buddhismus hinüber: Ku K’ai-chis berühmtes 
Bild Vimalakirti in einem buddhistischen Kloster (364), und von jetzt ab 
werden die Darstellungen des Buddha, der buddhistischen Legende und des 
buddhistischen Pantheons ein dauernder Vorwurf der religiösen Wandmalerei. 
Lo Pin-wang, ein Dichter des 7. Jahrh., berichtet nun freilich, daß Wand¬ 
malereien zum ersten Mal unter der Liang-Dynastie (479—557) eingeführt 
worden seien, allein diese Nachricht ist wahrscheinlich dahin zu deuten, 
daß Wandbilder, die bisher auf die Ahnenhallen und religiösen Gebäude 
beschränkt geweesn waren, von dieser Zeit ab auch in den Palästen des Kaisers 
und der Großen in Aufnahme kamen. Es hat sich diese Malerei gewiß auch 
auf profane Gegenstände erstreckt. So finden wir um die Mitte des 8. Jahrh. 
die legendarischen Geschichten von Wu Tao-tzes, Landschaftsbildern, die 
große Wände des Palastes bedeckten, aus dem Jahre 828 die beglaubigte 
Nachricht von einer Serie historischer Episoden auf den Wänden eines 
kaiserlichen Kiosks. Marco Polo berichtet im 13. Jahrh. von den chinesi¬ 
schen Kaiserpalästen, daß sie ganz ausgemalt waren mit Farben und Gold, 
und daß in ihren Hallen die Geschichten der früheren Könige, vielerlei Men¬ 
schen, Ritter und Frauen, Jagdgetier und Vögel, mannigfache Bäume und 
Blumen mit ausgesuchter Kunst sich abgeschildert zeigten. 

Was die Technik dieser Wandbilder betrifft, so eröffnet sich eine 
schwierige Frage, eine Frage, die schwerlich zu entscheiden sein wird, solange 
wir nicht von der Innenarchitektur des alten China eine genauere Kenntnis 
haben. Auf der einen Seite ist in vielen Fällen ausdrücklich überliefert, 
daß die Maler jene Bilder auf die Wände von Sälen, und zwar vielfach auf 
eigens hierzu präparierte Wände gemalt haben, und wir besitzen Fresken 
sowohl aus Turfan als aus Japan, welche beweisen, daß eine eigentliche 
Freskomalerei während des 1. Jahrtausends in Ostasien bekannt war und 
geübt w'urdc. Auf der anderen Seite aber spricht vieles für Hirths Ver¬ 
mutung, daß es sich bei diesen Bildwänden (hua-pi) um abnehmbare und 
transportable Malereien, möglicherweise auf seidenen oder papierenen Rollen, 
handelt. Wir hören von Ts'ao Pu-hsing aus der I. Hälfte des 3. Jahrh., 
daß er ein Bild, wohl ein Kultbild und vielleicht einen Buddha, auf eine 
50 Fuß hohe Seidenrolle malte. Wir lesen ferner in Jao-Tzu-jans Kunst 
der Malerei (Yüan-Dynastie) folgende Vorschrift für den Landschafts¬ 
maler: Wenn die Seide sich über eine größere Zahl Abteile erstrecke oder 
die Wand für ein Bild (Gilcs sagt »fresco«) über hundert Fuß lang sei, so 


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Eine chinesische Kunsttheoric. 


7 


solle er erst mit einem Stück Kohle auf einem langen Stabe das Ganze an* 
legen. Ich möchte ferner an die Schiebewände des alten Japan erinnern, 
von denen wir ja durch die Bildrollen der Tosa-Meister eine deutliche Vor¬ 
stellung haben, und endlich an Marco Polos Beschreibung von dem trans¬ 
portablen Gartenpalast des Kublai Khan. 

Hierher gehört auch die Erwähnung von Wandschirmen. Im Jahre 
745 erhält Li Ssu-shün den Auftrag, für den Kaiser einen «Türschirm» zu 
malen, und der Vorwurf scheint ein landschaftlicher gewesen zu sein. Im 
Jahre 1068 malte Kuo Hsi das Mittelstück eines dreiteiligen Setzschirmes 
für den Palast. Die erste Alternative der oben zitierten Vorschrift bezieht 
sich wohl ebenfalls auf derartige Werke, von denen uns zwar keine chinesi¬ 
schen, doch zahlreiche japanische Beispiele bekannt sind. Die Überlieferung 
weist, wie diese letzteren, auf die Landschaft als das vorzügliche Thema. 

Die andere Möglichkeit, neben der monumentalen und dekorativen 
Wandmalerei, ist die des intimen Bildes. Das Material ist von den frühegten 
Zeiten her, d. h. nachweisbar seit der älteren Han-Zeit, die Seide, daneben 
seit dem 4. Jahrh. n. Chr. nachweisbar auch das Papier, die Ausführung 
geschieht mit Pinsel und Tusche und bei den kolorierten Werken mit Aquarell- 
oder Gouache-Farben. Diese Malerei hat sich höchst wahrscheinlich aus 
der Illustrierung von Handschriften entwickelt, und sie hat noch bis in 
späte Zeiten die ursprüngliche Tradition der langen und in einer Folge 
nebeneinandergesetzter Bilder sich entwickelnden Rolle bewahrt. Zunächst 
hat es sich wohl um die Einfügung einzelner Bilder in einen gegebenen 
Text gehandelt, daraus entstand die Folge selbständiger, nur ein gemein¬ 
sames Thema behandelnder Bilder, die nun ihrerseits ein kurzer, daneben 
gesetzter Text erläuterte — wir besitzen ein Beispiel aus dem 4. Jahrh. —, 
woraus dann endlich mit der Entstehung der Landschaftsmalerei die Dar¬ 
stellung eines vom Anfang bis zum Ende der Rolle durchgehenden Geländes, 
sei es als Ort der abgebildeten Szenen, sei es als eigener und wesentlicher 
Vorwurf sich entwickelt hat. Eine authentische Kopie nach Wang Wei 
(699—759) gibt das Beispiel einer solchen Landschaftsrolle. Diese Bild - 
rollen, die Urbilder der japanischen Emakimonos, wurden ursprünglich mit 
den Schriftrollen der Bücher in den Bibliotheken aufbewahrt, und so mögen 
sie schon einen Bestandteil der berühmten Sammlung des Kaisers Wu-ti 
(140—86 v. Chr.) gebildet haben, anderthalb Jahrhunderte später be¬ 
gründete der Kaiser Ming-ti (58—76 n. Chr.) für sie das erste Bilderhaus 
(hua-shi), die erste der großen kaiserlichen Galerien. Bis in die Sungzeit- 
hinein scheinen diese Rollen der einzige und noch später der wesentliche 
Bestandteil jeder Bildersammlung gewesen zu sein; erst aus diesen Streifen- 
bildern entwickelte sich die Form jenes Rollbildes im Hochformat, an das 
wir heute zuerst zu denken gewohnt sind, wenn von chinesischer Malerei 


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8 


Otto Fischer, 


die Rede ist. ■ W ahrscheinlich ist die Bezeichnung chie-hua, d. i. »begrenzte 
Bilder«, auf diese neue Art der Malerei zu beziehen, dann wären nach der 
chinesischen Tradition Ma Yüan und Hsia Kuei ihre Schöpfer. Diese Land¬ 
schafter lebten gegen das Ende der Sung-Dynastic, um die Wende des 12. 
und 13. Jahrh., und es wird ausdrücklich berichtet, daß sie beide aus den 
westlichen barbarischen Ländern stammten. Diese neue Art der Bildrollcn 
im Hochformat scheint dann in der Yüan-Zeit vor allem in Aufnahme ge¬ 
kommen zu sein und überwiegt heute jene ältere aus der Schriftrolle ent¬ 
standene Weise. Es ist allerdings hinzuzufügen, daß auf der einen Seite 
vielleicht das Bildnis, auf der anderen die Mode der abgetcilten Wandschirme 
ihr schon früher den Weg gebahnt haben mögen. Und es mag endlich hier 
noch erwähnt sein, daß eine andere Art »begrenzter Malerei«, die Malerei 
auf Seidenfächern, in China eine sehr alte ist. Die früheste Erwähnung 
stammt aus dem Anfänge des 3. Jahrh., von W'ang Hsi-chi (321—379) und 
Ku K'ai-chi (um 364—405) wird berichtet, daß sie Bildnisse und Figuren 
auf Fächer malten, und zu Ende des 11. Jahrh. malte Chao Ta-nien Land¬ 
schaften auf Fächer, während sein Verwandter, der Kaiser Chö Tsung, auf 
die Rückseite die entsprechenden Verse schrieb. Es handelt sich hier — 
dies sei angemerkt — nicht um den in Japan entstandenen Faltfächer, der 
erst im 15. Jahrh. nach China kam, sondern um die altchinesische blatt¬ 
ähnliche Form. 

Man hat behauptet, daß die chinesische Kunst das merkwürdige und 
vielleicht das einzige Beispiel einer bildhaften Kunst biete, die nicht aus 
der Religion, sondern aus der rein historischen und tatsächlichen Darstellung 
erwachsen sei. Es ist richtig, daß die ältesten Bilder vorzüglich Darstellun¬ 
gen aus der Geschichte der chinesischen Menschheit und des chinesischen 
Reichs gewesen zu sein scheinen, aber cs ist hierbei sehr zu beachten, daß 
die Religion dieser Chinesen nicht eine Verehrung übermenschlicher Götter, 
sondern eben der Kultus der eigenen Ahnen, der eigenen Geschichte, bis 
hinauf in die Urzeit aber und bis zu den weltcrschaffenden Göttern und Ur- 
cinheiten war. Es fehlen denn auch unter diesen angeblich historischen 
Darstellungen nicht die Gestalten des Chaos und die halb menschlichen, 
halb phantastischen Dämoncnbildungen der mythischen Urkaiser, es fehlen 
ebensowenig die Werwölfe, Phönixe und Drachen, die Geister der W'asser 
und der Berge, der dreibeinige Rabe der Sonne und der Hase, der das Geheim- 
mittel der Unsterblichkeit braut, es fehlen die Dinge guter Vorbedeutung, 
die sagenhaften Kraniche und die seligen Inseln der Geister nicht. Viele 
der Gegenstände der chinesischen Kunst haben ihre uralte mystische und 
symbolische Zauberbedeutung bis auf den heutigen Tag bewahrt. Es ist 
ebenso das Porträt wahrscheinlich aus dem Totenkultus entstanden. Es 
ist endlich die ganze buddhistische Götter- und Heiligendarstellung, die 


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Eine chinesische Kunsttbeorie. 


9 


das große Jahrtausend chinesischer Kunst zum guten Teile beherrscht hat, 
von den wieder auf buddhistische Anregung hin geschaffenen Bildern taoisti- 
scher Gottheiten und Genien zu schweigen, es ist all dies zweifellos religiösen 
Ursprungs. Es ist also zum einen Teil die Aufgabe der chinesischen so gut 
wie jeder andern Kunst, die Darstellung göttlich verehrter Wesen in mensch¬ 
licher Gestalt gewesen. 

Jene Behauptung träfe jedoch in einer anderen Beziehung einen 
wesentlichen Punkt. Es hat sich nämlich eben das, was uns als das Be¬ 
sonderste, Wesentlichste und Eigenste der chinesischen Malerei erscheint, 
nicht aus dieser Menschendarstellung und überhaupt wohl nicht aus spe¬ 
zifisch religiösen Anregungen und Zwecken entwickelt. Es ist zugleich 
eben jene Malerei, die sich aus der Illustration der Schriftrollen herausge- 
bildet zu haben scheint. Betrachten wir ihre Gegenstände! Rollen mit 
Bildnissen des Kung-fu-tse und seiner Schüler, Bilder zu Sun Wus Kriegs¬ 
kunst, Bilder des Urvolks der Miao-tze werden zur Zeit der älteren Han- 
Dynastie erwähnt. Von Ts'ai Yung (133—192 n. Chr.) ist ein Buch der 
Lehren, und ein anderes von tugendhaften Frauen gerühmt. Abbildungen 
von Trunkenen und von Gelagen wurden als warnende Bilder gemalt. Fische 
und Drachen, fremde Tiere: Löwen, Elephanten, das Rhinozeros werden zu 
Anfang des 4. Jahrh., himmlische Schönheiten, Weise der Vorzeit, W'ürfel- 
spiel, Lautenmachen und Schafschur, ja selbst Landschaften als Werke des 
Ku K'ai-chi, ein alter Fischer, berühmte Rosse, Tiertributc von Tartaren 
als solche seines Zeitgenossen Tai K'uei genannt. Von Lu T'an Wei (5. Jahrh.) 
sind neben Landschaften und buddhistischen Szenen BHder von Rossen, 
von Affen, von »Grille und Sperling« und kämpfenden Enten überliefert, 
von Tsung Ping als sein Meisterwerk ein Album aller Tiere, Vögel, Pflanzen 
und andere Dinge, die je in China als wunderbare Vorzeichen gegolten 
hatten. Gegen Ende des 5. und zu Anfang des 6. Jahrh. wird der Kriegszug 
eines Kaisers der Han-Dynastie, eine Fasanenjagd, Blumen und Insekten, 
und fremde Völkertypen als Tributträger abgeschildert; Abbildungen von 
Gebäuden und berühmten Palästen werden schon früher erwähnt. Wir 
finden somit schon in dieser frühen Zeit so gut wie alle Gegenstände aufge¬ 
führt, deren Darstellung jemals die Aufgabe chinesischer Maler gewesen ist. 
Die Entstehung dieser Malerei ist jedoch nicht religiöser Art. Die Absicht 
der Darstellung ist zunächst eine didaktische: es werden Beispiele darge¬ 
boten, wie man handeln oder nicht handeln soll, bekannte Anekdoten und 
Figuren als Vorbilder oder Warnungen; auf der andern Seite ein rein ob¬ 
jektive, man möchte sagen wissenschaftliche des Konstatierens, Fcsthaltens 
und Sammelns. An dieser objektiven Darstellung aller Dinge hat sich dann 
der Sinn für die jedem innewohnende Schönheit geschult und entwickelt, 
jene begeisterte Freude an der ganzen Fülle und Macht der Natur, die schon 


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IO 


Otto Fischer, 


aus der ältesten aller erhaltenen Schriften eines Malers spricht. Wang Wei 
sagt: Den Herbstwolken zuzuschauen mit entzücktem Aufschwung der Seele, 
den Frühlingswind zu fühlen, wie er wilde und irre Gedanken weckt, und 
dann die Rolle zu entfalten und die Seide auszubreiten, und die Pracht von 
Ebbe und Flut, die grünen Wälder, die wehenden Winde und das weiße 
Wasser des niederrauschenden Gießbaches festzuhalten: dies seien die Freuden 
des Malers. Diese Worte aus der Mitte des 5. Jahrh. enthalten alles, was 
die spätere chinesische Malerei als Aufgabe sich setzte und als Erfüllung 
der Menschheit geboten hat. Nicht die Handlungen der Menschen, sondern 
die Fülle der Welt zu malen, war ihr großes, beherrschendes Ziel. Das künst¬ 
lerische Schaffen fand von nun ab in sich selber seine eigene Rechtfertigung, 
die Kunst war, in einer solchen Anschauung, nicht mehr Dienerin, sondern 
Herrin im eigenen Reich. 

Wie die Vorwürfe der Darstellung in einer traditionellen Gliederung 
und Ordnung verharrten, werden wir später sehen. 

Bild und Schrift. 

Nach der chinesischen Überlieferung ist der Erfinder der Malerei Shi 
H oang, der Genosse des Tsang Ki£, des Regierungsgehilfen des ersten mythi¬ 
schen Kaisers Fu Hi. Nach einigen Quellen ist Shi Hoang nur ein anderer 
Name jenes Tsang Ki£, nach andern dieser selbst nicht der Minister, sondern 
der Nachfolger des sagenhaften Fu Hi. Daraus geht mit Sicherheit soviel 
hervor: Erstens daß die Chinesen die Erfindung von Schrift und Bild 
in den ersten Anfang aller Kultur verlegten, zweitens daß ihnen die Kunst 
des Malens und die des Schreibens zum mindesten in ihrem Ursprung als 
zusammengehörig und als eine innere Einheit erschienen. Die chinesische 
Auffassung von dieser Einheit kennzeichnen am besten zwei Stellen der 
Kunstliteratur. Die erste, deren Quelle Giles nicht angibt, lautet: 

Zeichnen ist eine der sechs Schriften. Die Alten pflegten ihre erzenen 
und steinernen Glocken und Rauchfässer mit Inschriften im Siegelcharakter 
zu bedecken, die gleich Zeichnungen aussahen. Auf der andern Seite ent¬ 
leihen die Maler, wenn sie das Wasser oder das Laub zeichnen, oder den Bam¬ 
bus, die Pflaumenblüte, die Trauben, ein gut Teil von der Kunst des Schrei¬ 
bens. So beweisen sie, daß Schrift und Zeichnung in Wahrheit Eines sind. 

Sung Lin (1310—1381) sagt in seinem Versuch über den Ursprung 
der Malerei: Shi Hoang und Tsang Kie waren beide inspirierte Männer der 
Vorzeit. Dieser erfand die Schrift, jener die Malerei. Schreiben und Malen 
sind nicht getrennte Künste, ihr Ursprung war ein und derselbe. Als Himmel 
und Erde zuerst sich schieden, gingen alle Dinge hervor, ein jegliches von 
eigener Farbe und Form, doch alles war in Verwirrung, denn da war kein 
Name. Auch Himmel und Erde selber wußten nicht, wie sie benennen, 


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Eine chinesische Kunsttheorie. 


11 

bis ein Mann der Eingebung aufstand und allen Dingen ihre Namen gab, so 
daß Unten und Oben, bewegliche Wesen und sprießende Pflanzen so von 
einander geschieden wurden. Oben war Sonne und Mond, Wind, Donner, 
Regen, Tau, Eis und Schnee, unten waren die Flüsse und Seen, Berge und 
Hügel, Kräuter und Bäume, Vögel und vierfüßige Tiere, in der Mitte waren 
die Dinge des Menschen mit seinem Kommen und Gehen, den Grundsätzen 
der Dinge, bald offenbar, bald verborgen, gebildet durch die Einflüsse von 
Geistigkeit und Wandlung. So ward das Bedürfnis der Menschheit erfüllt 
und jedes Verhältnis der Dinge fand Beachtung; aber ohne die Schrift gäbe 
es keine Erinnerung eines Geschehens, und ohne Malerei keine Auffassung 
der Form. Diese beiden sind Straßen, die verschiedene Wege gehen und 
doch zu demselben Ziele führen. Darum sagte ich, sie seien nicht getrennte 
Künste, sondern ihr Ursprung sei ein und derselbe gewesen. 

Aus diesen Stellen entnehmen wir auf der einen Seite die historische 
Erinnerung, daß Schrift und Bild in ihrer Entstehung nichts anderes als 
ein und derselbe Modus einer Dinge festhaltenden Bezeichnung war. In 
der Tat hat das Element bildhafter Hieroglyphen in der ältesten chinesischen 
Schrift eine Rolle gespielt, wenn es auch allmählich durch das Prinzip einer 
abstrakten Formulierung unterdrückt und vollkommen verdrängt worden 
ist. Auf der andern Seite enthüllt sich in jenen Ausführungen die tiefe 
philosophische Einsicht, daß die Dinge der Erscheinung für den Menschen 
erst dann unterschieden und also zu Wirklichkeiten werden, wenn das Wort 
sie festzuhalten und ihre Vorstellung wieder wachzurufen erlaubt, und wenn 
das wiedergebendc Bild eine anschauliche Vorstellung ihrer Sichtbarkeit 
zu entwickeln anhebt. Es sind demnach Bild und Schrift in ihrem innersten 
Wesen, d. h. in ihrem immanenten Ziele eine wahrhafte Einheit, indem sie 
die Welt der Vorstellung formen, bewahrend und entwickelnd, durch welche 
die äußere Welt der Erfahrung zu einer inneren Welt und aus einem Chaos 
zum Kosmos sich gestaltet. 

Eis vermitteln uns jene Stellen endlich die richtige Beurteilung des 
Verhältnisses von Schriftkunst und Malerei in Ostasien, das von Europäern 
so vielfach schon mißverstanden worden ist. Beide Künste werden, und 
in gleichem Grade, als Kunst betrachtet, beide bedienen sich im wesent¬ 
lichen derselben Materialien, der Seide oder des Papiers, des Pinsels und 
der Tusche, beide sind häufig von ein und demselben Meister ausgeübt und 
zur höchsten bewunderten Vollendung gebracht worden. Eis ist kein Zweifel, 
daß die Übung in der einen Kunst auch in der andern als förderlich galt, 
man findet zum Überfluß in der Kunstliteratur hier und da die Bemerkung, 
daß der oder jener Maler eine Stilisierung in der Manier der oder jener Schrift¬ 
art bevorzugt habe, und die Vergleiche mit der Schreibkunst in der Charak¬ 
terisierung und Wertung malerischer Kunstwerke fehlen nicht. Aus alledem 


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Otto Fischer, 


I 2 

hat sich vielfach die Ansicht entwickelt, als ob die Stilbildung der ostasiati¬ 
schen Malerei von den Ideogrammen der Schreibkunst beeinflußt, ja bedingt 
worden wäre. Diese Ansicht ist, soweit sie China betrifft, völlig falsch. 
Wenn von Wu Tsung-yüan oder von Lin Liang berichtet wird, sie hätten 
den Pinsel geführt, als ob sie >>im Grascharakter« schrieben, so soll damit 
nichts anderes als die erstaunliche Geschwindigkeit ihres skizzierenden 
Pinselzugs bezeichnet sein — die Grasschrift ist eine abkürzendc und ver¬ 
bindende Schnellschrift der komplizierten Wortzeichen —, und die Anführung 
der Schwesterkunst ist immer nur im Sinne eines Analogienvergleichs 
gemeint. So ist es auch zu verstehen, wenn bei der formelhaften Zeichnung 
der Wasscrwellen oder des Laubwerks an die Schriftsymbole erinnert wird. 
Wohl war sich der Chinese der tieferen Einheit der beiden Künste bewußt, 
aber er wußte auch, daß die Bildkunst als eine anschauliche aus der An¬ 
schauung allein ihre Gesetze zu schöpfen habe, während die Schrift die Kunst 
einer abstrakten Symbolik blieb: die beiden Künste gehen verschiedene 
Wege, doch nach demselben Ziel. Erst den Japanern war es Vorbehalten 
in einer virtuosen Spielerei beide Künste zu vermengen; der Chinese hätte 
solche Witzigkeit für unwürdig gehalten. 

Die Künstler. 

Von den ältesten Malern, deren Namen genannt sind, ist nichts anderes 
berichtet als eben, daß sie Maler waren. Allein schon von den ersten Malern 
der östlichen Han-Dynastie (25—221 n. Chr.) ist es überliefert, daß sie auf 
der Höhe einer allseitigen Bildung standen, und die meisten bekleideten als 
Beamte hohe Stellungen. Chang Höng war von Jugend auf berühmt für 
seine Kenntnis der klassischen Bücher und seine Geschicklichkeit in den 
sechs freien Künsten: den Kultgebräuchen, der Musik, dem Bogenschießen, 
dem Wagenlenken, der Schreibkunst und der Mathematik. Ts’ai Yung 
(133 —192) war berühmt als Staatsmann und als Gelehrter, er galt als gleich 
vollendet in der Schreibkunst, in der Musik und in der Malerei. Liu Pao 
war Statthalter und Chun-ko Liang groß als Feldherr. Der Urenkel Ts’ao 
Ts’aos, der vierte Kaiser der Wei-Dynastie (254—260) ist der erste Herrscher 
Chinas, der unter den Malern genannt wird; Kaiser Yüan Ti (geb. 508, reg 
552—555) und Hui Tsung (reg. 1100—1125, gest. 1135), der unglückliche 
Sung-Kaiser, sind hierin seine berühmtesten Nachfolger. Yüan Ti ist zu¬ 
gleich der erste bedeutende Dichter, der als Maler bekannt ist; von späteren 
seien nur Wang Wei und Su Tung-po hier genannt. Und endlich sind die 
ersten, die über Kunst geschrieben haben, ebenfalls aus den Reihen der Maler 
selbst gekommen: hier ist noch einmal Kaiser Yüan Ti zu nennen, die beiden 
Wang Weis und der grundlegende Hsi6 Ho. Die Malerei galt somit seit 
jenen frühesten Zeiten schon als Glied und Ausdrucksform einer allgemeinen 


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Eine chinesische Kunsttheorie. 


13 


künstlerischen Bildung, deren andere Bestandteile vorzüglich die schriftliche 
Äußerung in Dichtung und Prosa, die Schreibkunst und die Musik gewesen 
sind, und dies ist bis in die neuesten Zeiten hinein Anschauung und Übung 
geblieben. Fast jeder Gebildete war ein Dilettant in der Malerei, fast jeder 
Maler war ein Gebildeter. So kam es, daß gerade in den höchsten Kreisen 
der Geschmack und die Kenntnis der Kunst am verfeinertsten waren, und 
in ihren großen Zeiten sind viele, ja die meisten der führenden Maler zugleich 
die geistigen und oft die tatsächlichen Häupter des Reichs gewesen. Ja 
eine eigene Landschaftschule, die desWang-Wei, der die größten chinesischen 
Landschaftsmaler angehört zu haben scheinen, galt speziell als eine Kunst¬ 
richtung der Literaten. So gehörten auch manche der besten Kunstkenner 
und Archäologen zu den Malern: Li Lung-mien wohl das berühmteste Bei¬ 
spiel. Ob solche kunsthistorische Bemühung freilich — Hsi6 Ho soll der 
erste gewesen sein, der die alten Meister kopierte, was später ungemein im 
Schwange war —, ob dies der Kunst eher förderlich oder eher schädlich ge¬ 
wesen sei, läßt sich nicht sagen. Jedenfalls aber hat jene alte Verbindung 
und lebendig geübte Einheit der Künste bis zur Yüan-Zeit hinab das Größte 
und Eigentümlichste geschaffen, was wir von chinesischer Malerei kennen: 
jene tiefbeseelten Landschaften und Naturbilder bis ins Kleinste und Un¬ 
scheinbarste, die zugleich das Unmateriellste, Geistigste sind, was jemals 
eine Kunst hervorzubringen vermocht hat. 

Erst von der Ming-Zeit ab (1368—1644) scheint die Malerei mehr und 
mehr ein Spezialistenfach geworden zu sein, nachdem bereits zu Ende der 
Sung-Dynastie eine kaiserliche Akademie gegründet worden war, deren Ein¬ 
fluß auf die Kunst von den Chinesen selber nicht günstig beurteilt wurde. 
Es ist zugleich aber diese Zeit der Spezialisierung auch die der vorschreitenden 
Formalisierung und Erstarrung einer immer äußerlicheren Virtuosenkunst. 
Es ist nun allerdings auch in früheren Zeiten die Malerei nicht nur in den 
Händen der Gebildeten gewesen, sondern sie muß daneben auch als eine 
Handwerkskunst und als ein je nach dem Erfolg mehr oder minder geehrter 
Beruf geübt worden sein. Als solcher freilich scheint sie nicht dasselbe An¬ 
sehen genossen zu haben wie die Kunst der Gebildeten: so beklagte sich 
Yen Li-pön (um 668), der zugleich Staatsminister und Gelehrter war, daß 
man ihn immer nur den Maler heiße, so bezeugt es um 1012 eine Äußerung 
T'ung Is, daß die Bildnismalerei nicht als hohe Kunst betrachtet wurde, 
und Kuo Hsis, eines der größten Landschafters, Sohn soll als Minister die 
Werke seines Vaters aufgekauft haben, um seine Herkunft von einem Maler 
in Vergessenheit zu bringen (Ende des 11. Jahrh.). Von den größten Meistern 
bis zum Ende der T’ang-Dynastie sind Ku K'ai-chi und Wang Wei als Ge¬ 
lehrte und Dichter bekannt, Lu Tan-Wei und Chang Söng-yu, Wu Tao-tse, 
und Han Kan dagegen scheinen nichts anderes als große Maler gewesen zu 


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»4 


» 


Otto Fischer 

sein. Daneben sind in diesen früheren Zeiten mehrere Maler genannt, die 
zugleich als Plastiker, als Holzschnitzer und Bildgießer tätig waren: Tai 
K'uei (gest. 395) und seine Söhne, Yang Hui-chi und Yüan Ming, Wu Tao- 
tscs Zeitgenossen (8. Jahrh.), und noch gegen Ende des II. Jahrh. Tsung-tao 
von Ch'ang-an. 

Hier sei des ferneren angemerkt, daß mehrere Maler zugleich Religiösen 
und Priester waren: so sind unter der Sui-Dynastie (581—618) zwei Inder: 
Po-mo und Ka-fo-t’o, zur Tang-Zeit der Bonze Hui als Maler bezeugt; von Liu 
Shang, der Staatssekretär war, daß er der taoistischen Magie ergeben war 
und als ein Einsiedler sich in die Berge zurückzog; sein Zeitgenosse Chang 
Su-ch'ing (um 780) soll ein taoistischer Priester gewesen sein und ebenfalls 
in den Wäldern gelebt haben. Endlich werden mehrfach Ausländer oder 
Männer fremdländischer Abknuft genannt, die als Maler Bedeutung und 
Ansehen hatten. Neben jenen indischen Mönchen steht Ts'ao Chung-ta, 
ebenfalls wahrscheinlich ein Inder, der unter der nördlichen Ch'i-Dynastie 
in einem den Chinesen fremden Stile malte (550—570). Wei-ch'i Po-chi-na 
aus Khotan und sein Sohn Wei-ch'i J-söng, sind Maler tatarischer Abkunft, 
deren Stil im 7. Hahrh. von Einfluß gewesen sein muß. Chin Chung-i, zu 
Anfang des 9. Jahrh., war Koreaner und brachte seine heimatliche Kunst 
nach China, wo er eine Stelle am Hof erhielt. Im 10. Jahrh. kamen wiederum 
tatarische Maler nach China: Li Tsan-hua (931) und Hu Huan, die besonders 
für ihre Reiter - und Jagdbilder aus ihrer Heimat geschätzt waren, und ebenso 
sind zu den Zeiten der Sung- und erst recht der Yüan-Dynastie manche Künst¬ 
ler mongolisch-nomadischer Abkunft bezeugt. Ho-li-ho-sun war Hofmaler 
des Kublai Khan (um 1278) und vorzüglich als Bildnismaler beschäftigt 
Unter diesen kunstliebenden Mongolenkaisern scheint denn auch die Sitte 
aufgekommen zu sein, den Malern allerhand symbolische Beinamen zu er¬ 
teilen, die oft an die Kriegsnamen nordamerikanischer Indianer erinnern. 
Verkünder von Tannen und Schnee, der Mann vom Jadeteich und heulenden 
Wasserfall, die einsame Wolke, der einzelne Gipfel, der gebrechliche Ein¬ 
siedler, der gelbe Kranich, und Wolken-Wald sind solche Namen der Yüan- 
Periode. 

Wesentlicher für uns als diese mehr äußeren Daten ist das, was 
wir den chinesischen Schriftqucllen zur Charakterologie der Maler ent¬ 
nehmen können. Die Psychologie der Anekdote ist in vielen Fällen sehr 
fein; gewisse typische Züge kehren darin immer wieder. Dies ist auf der 
einen Seite die Vorliebe zum Trunk, die von den meisten der großen und 
kleineren Künstler wie etwas Unerläßliches berichtet wird, ebenso übrigens 
wie von den großen Dichtern und Musikern. Der berühmte Ts’ai Yung 
(133—192), genannt der trunkene Drache, ist unser ältestes Beispiel, Wu 
Tao-tse, von den Chinesen als der größte ihrer Meister verehrt, Li Ch’öng, 


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Eine chinesische Kunstthcoric. 


15 


einer ihrer bedeutendsten Landschafter, der am Delirium tremens starb. 
Fan K’uan, Kao K’o-kung, Wu Wei und Kao Ku stehen in dieser Liste. 
Auf der andern Seite erschien der Künstler überhaupt dem geordneten 
würdevollen Chinesen als ein exzentrisches und unberechenbares Wesen: 
ein Mensch, der ein staatliches Amt nicht für das höchste erstrebenswerte 
Gut achtet, der die Gunst der Fürsten und Großen verschmäht, auf ein 
sicheres Wohlergehen verzichtet und oft selbst die zahllosen Regeln der 
gesellschaftlichen Liebenswürdigkeit vergißt — nur um dafür ein ungebunde¬ 
nes Leben nach Lust und Laune, die Einsamkeit, ein zielloses Wandern und 
oft gern.die ertragene Not eines genialen Zigeunertums einzutauschen — ein 
solcher Mensch war dem Chinesen genau wie dem europäischen Bürger ein 
Fremdes, Gegenstand eines geheimen Grauens wie des heimlichen Neids, 
und je nachdem seine Leistungen ihm die Achtung abnötigten, einer scheuen 
erstaunten Bewunderung. Die Freiheit von jeder als Fessel empfundenen 
Konvention und die volle Hingabe an die Natur, an ein natürlich ungehemm¬ 
tes Leben ist für sehr viele der chinesischen Künstler die Norm ihres Han¬ 
delns gewesen, und zu keiner Zeit fehlt es an lustigen Geschichten und origi¬ 
nellen Aussprüchen, die dies bezeugen. Wang Möng (4. Jahrh.) sagte: Ich 
esse gern, trinke gern und male gern. Wer mir gute Speisen, guten Wein 
und feine Seide gibt, dem schlag ichs nicht ab. Ku K'ai-chi galt als Meister 
in dreien Künsten: als der größte Gelehrte, der größte Maler und der größte 
Narr seiner Tage; er soll sehr gutmütig und sehr abergläubisch gewesen sein. 
Tsung Ping (5. Jahrh.) liebte es, in die Berge zu wandern und nicht mehr 
heimzukehren, gern ging er allein und weckte das Echo mit seiner Laute. 
T’ao Hung-ching (6. Jahrh.) widerstand allen Versuchen des Kaisers, ihn 
an den Hof zu bringen, er sandte ihm endlich als Antwort ein Bild mit zwei 
Rindern; das eine streifte nach Lust umher zwischen Wiesen und Büschen, 
das andere war prachtvoll aufgezäumt, aber es mußte der Leine und der 
Peitsche der Hirten folgen. Sun Wei (9. Jahrh.) hatte ein wildes und leichtes 
Herz und liebte den Wein, doch ohne Übermaß. Luden ihn Vornehme und 
Reiche ein und begingen den kleinsten Verstoß gegen die Sitte ihm gegenüber, 
so brachte ihn kein Gold der Welt dazu, ihnen etwas zu malen. Li Kuei-chön, 
ein taoistischer Priester des 10. Jahrh., lebte in den Schenken, und fragte 
man ihn um Rechenschaft über sein Betragen, so sperrte er den Mund auf 
und sog an seinen Fingern, ohne ein Wort. Auch der Kaiser stellte ihn zur 
Rede; Li sprach: Mein Kleid ist dünn und ich mag den Wein. Den Wein 
trink ich, um mich zu wärmen, und Bilder male ich, um den Wein zu bezahlen. * 
Von Li Ch'öng und Fan Kuan lesen wir ähnliche Anekdoten. Shi K’o 
verlachte die würdevollen Konventionen des Landes und liebte jedes Ernste 
in Scherz zu verkehren, er scheint auch einer der wenigen Karikaturenmaler 
der chinesischen Kunst gewesen zu sein (Ende des IO. Jahrh.). Von Kao 


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i6 


Otto Fischer, 


K’o-ming heißt es andererseits: er war freigebig und ritterlich; diese Tugenden 

sind nicht häufig bei Malerleuten. Von andern Malern dieser Zeit wird es 

berichtet, daß sie in Berg und Wald unter den Tieren, oder selbst im Wasser 

wochenlang gelebt hätten, um sich ganz in die Natur zu versenken. Mi Fei, 

ein Reinlichkeits-Monomane, nannte einen seltsamen Felsblock seinen Bruder 

und wollte einst sich ertränken, wenn ihm nicht eine seltene alte Handschrift 

geschenkt würde. Ni Tsan (1301—1374) verteilte sein großes Vermögen 

seinen Anverwandten und wanderte in Armut die Ufer der Seen und Flüsse 

entlang. In bescheidenen Klöstern pflegte er eine Woche zu rasten und gab 

seine Skizzen jedem, der eine mochte. Einst brachte ein Diener ihm ein 

Geldgeschenk und Seide mit der Bitte um ein Bild; er wurde zornig und rief, 

er sei kein Bettelkünstler und Parasit bei Reichen, zerriß die Seide und 

schickte das Geld zurück. Kuo Shöng endlich, ein Landschafter der Tang- 

Dynastie, pflegte folgendermaßen zu malen: Zunächst breitete er die Seide 

auf den Boden und mischte die Farben. Dann ließ er eine Anzahl Musikanten 

Trompeten blasen, Trommeln schlagen und einen w r irrcn Lärm verführen; 

währenddem legte er ein gesticktes Kleid an, setzte eine kostbare Kopf- 
0 

bedeckung auf und trank, bis er halb berauscht war. Dann begann er die 
Umrisse zu ziehen und die Farben anzulegen; Berghöhen und Inselränder 
entstanden auf eine wundervolle Weise. 

Das Schaffen. 

Die zuletzt erwähnte Anekdote der Tang-Zeit führt uns nun auf einen 
weiteren Punkt, der uns endlich der chinesischen Kunsttheorie selber nahe 
bringen wird. Sie bezieht sich auf die Psychologie des künstlerischen 
Schaffens. Zu allen Zeiten ist der Chinese der Überzeugung gewesen, daß 
es sich hier, bei der Entstehung des Kunstwerkes, um einen geheimnisvollen 
und mit dem Verstände nicht durchaus zu erklärenden menschlichen Vorgang 
handle, einen Vorgang, der eine ganz besondere seelische Disposition des 
Schaffenden zur Voraussetzung habe. Es ist dies jedoch nicht allein seine 
theoretische Überzeugung, sondern ebensosehr praktische Übung gewesen, 
und nicht selten sind die Angaben, auf welche Weise die Maler sich in jenen 
psychischen Zustand zu versetzen pflegten, in dem sie ihre unvergänglichen 
Werke geschaffen haben. 

Die eine dieser Weisen ist der Rausch. Von Wu Tao-tse, der als der 
größte chinesische Maler gilt, heißt es, daß er den Wein und starke Speisen 
liebte und daß er, bevor er sich an die Arbeit machte, sich stets zu berauschen 
pflegte, ebenso wie es Li Tai-po, Chinas unsterblicher Dichter, hundertmal 
ausspricht, daß erst in der Trunkenheit ihm so recht die Verse entströmten. 
Von Chi-Hui, einem buddhistischen Priester (10. Jahrh.) lesen wir: Wenn 
der Wein ihn begeisterte, so hielt er die Wolken und die Berge in seiner 


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Eine chinesische Kunsttheorie. 


17 


hohlen Hand. Über Li Ch’öng (10. Jahrh.) wird berichtet: Erst mußte man 
mit Getränk ihm zusetzen, bis er berauscht war, dann, und nicht eher, 
regte sich sein Pinsel, dann gingen Nebel und wunderbare Landschaften von 
tausend Formen hervor. Ähnliche Stellen ließen sich noch manche anführen. 

Unmittelbar von der Natur sich begeistern zu lassen, zur Schaffung 
ihres freien geistigen Abbildes — dies ist die andere Möglichkeit, und auch 
für sie fehlen die Zeugnisse nicht. Des älteren Wang Weis Hymnus über 
die Freuden des Malers ist schon angeführt worden. Fan K'uan (um 1000) 
lebte in den Bergen und Wäldern; oft saß er einen ganzen Tag über auf 
einem Felsen und sah sich rings um, die Schönheit des Landes zu genießen. 
Ja, selbst in Schneenächten, wenn Mondschein war, pflegte er auf- und 
niederzuschreiten, starr vor sich hinblickend, damit ihm die Eingebung 
käme. I Yüan-chi (10. Jahrh.) wanderte weit umher in ferne Lande und be¬ 
suchte die berühmten Berge und großen Ströme, und wo er dann eine be¬ 
sonders schöne Landschaft fand, da blieb er und trieb sich umher, als wäre 
er der Genosse der Affen, des W'ildes und der Bären dort. Und gelang es ihm 
dann, was er im Herzen und in den Augen erfahren, auszudrücken, so waren 
es Dinge, von denen die Alltagswelt nie einen Schimmer hatte fassen können. 
Kao K’o-ming, sein Zeitgenosse, war ein Liebhaber von Dunkel und Schwei¬ 
gen, er pflegte in wilden Gegenden umherzuschweifen und tagelang, sich 
selbst entrückt, in die Schönheit von Berg und Wald zu starren. Wenn er 
dann heimkehrte, so zog er sich zurück in einen stillen Raum, entfernte von 
sich alle Sorgen und ließ seine Seele den Schranken dieser Erde entfliehen. In 
diesem Zustande, so scheint es, schuf er seine Bilder. Auch von andern 
Künstlern wird es endlich berichtet, daß sie nur in der Einsamkeit zu malen 
fähig waren. Schon von Ku Chün-chi (5. Jahrh.) heißt es: Er richtete sich 
eine Art Boden im Hause ein, den er als Arbeitsstätte benutzte. An stürmi¬ 
schen oder schwülen Tagen rührte er keinen Pinsel an, doch an warmen und 
heiteren Tagen war er stets bereit, ihn in Farben zu tauchen. Dann pflegte 
er auf seinen Boden zu steigen, zog die Leiter hinter sich hinauf, und Frau 
und Kinder sahen ihn nicht so bald wieder. Und von Ch'ü Cho (15. Jahrh.) 
ist es überliefert, daß er nicht zu malen imstande war, wenn irgend jemandes 
Gegenwart ihn störte. 

Das Ziel und Ende aller dieser Vorbereitungen ist die Eingebung. Die 
Inspiration: jenes schöpferische Entzücktsein des Künstlermenschen, jenes 
plötzliche Aufflammen, in dem das Werk auf einmal im Geiste Gestalt wird, 
wie durch eine spontane Geburt, und als hätte es eigenen Willen und eine 
eigene präexistente Lebendigkeit, sich seines Schöpfers, eben indem er es 
schaffen muß, vollkommen bemächtigt. Daß das Werk ein eingegebenes sei, 
gilt zugleich als das höchste mögliche Lob. Einige Zitate mögen dies deut¬ 
licher machen: 

Repertorium Air Kunstwissenschaft, XXXV. 2 


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i8 


Otto Fischer, 


Von Chang Söng-yu (um 500) heißt es: Seine Ideen entströmen ihm 
wie eine springender Quell, von einer unsichtbaren Macht emporgetrieben, 
und mit zwei Pinselstrichen ist die Verwirklichung vollendet. Über Chan 
Tse-ch’icn (um 600): Werke göttlicher Eingebung, wenn sic zertrennt sind, 
kommen mit Notwendigkeit immer wieder zusammen. Über Hsie Chi 
(um 700): Seine Bilder sind nicht anders als Werke der Eingebung zu nennen. 
Von Wu Tao-tses Nirwanabild heißt es: Wie konnte der Maler also die Ge¬ 
heimnisse von Leben und Tod ergründen? Die Antwort lautet: Es war 
ihm eingegeben. Von Wang Wei (699—759): Die Idee blitzte ihm durch 
den Sinn, und schon hatte die Hand sie vollendet — eine Eingebung des 
Genius. Auf der andern Seite lesen wir über Wang Weis Schule: Es charak¬ 
terisiere sic eine vage Harmonie und gesänftigte Wildheit, ein Ergebnis 
geistiger Arbeit und nicht der Eingebung. So heißt cs von Kuan T'ungs 
Landschaften (Anf. d. io. Jahrh.): Die Leute sagten, sie seien künstlich, 
nicht eingegeben. Sung Ti (Anf. d. II. Jahrh.) gab dem Chön Yung-chi 
den Rat, seine Landschaftsbilder nach den Anregungen einer zerfallenden 
Mauerwand in der Phantasie zu gestalten. Dann, sagt er, magst du deinen 
Pinsel nach Gelüsten spielen lassen, und das Ergebnis wird wie vom Himmel, 
nicht wie von Menschenhand sein. T’ang Hou, ein Kritiker der Yüan-Zeit, 
sagt: Die alten Meister bargen einen tiefen Sinn in ihren Bildern und brachten 
nie den Pinsel auf die Leinwand, wenn sie nicht von einer Idee ganz beherrscht 
waren. Ein Maler derselben Dynastie: Die Leute sagen gewöhnlich, Land¬ 
schaft sei ein leichtes Ding. Ich finde sie sehr schwer. Denn willst du eine 
Landschaft schaffen, so mußt du zunächst die Einzelheiten Zusammen¬ 
tragen, dann sic im Sinne ausarbeiten, ein paar Tage lang, bevor du den 
Pinsel in die Hand nimmst. Es ist genau so wie bei der Figurenkomposition: 
da ist zunächst eine Zeit bitteren Brütens über den Vorwurf, und bis da 
alles gelöst ist, bist du in Fesseln und Bande geschlagen. Wenn aber die 
Eingebung kommt, so brichst du los und bist frei. Von Chung Li endlich 
(15. Jahrh.) wird berichtet: Die Tür seines Hauses lag den Südbergen gegen¬ 
über. Hier saß er Tag auf Tag mit gekreuzten Beinen im Schatten einer 
üppigen Tanne und betrachtete die wechselnden Farben der Gipfel und 
Wolken. Wenn dann die Eingebung über ihn kam, dann zog er schleunigst 
den Pinsel heraus. Ebenso hieß es schon von Fan K'uan (Anf. d. 11. Jahrh.): 
Er ging in den Bergwald; hier betrachtete er die veränderlichen Valeurs 
der Wolken und Nebel, die schwierigen Effekte von Wind und Mondschein, 
Schatten und Licht, bis endlich seine Seele voller Eingebung war und aus 
seinem Pinsel tausend Felsen und zehntausend Abgründe kamen. 

Man wird bemerken, daß in den angeführten Stellen der Begriff der Ein¬ 
gebung, der Inspiration, in einer doppelten Färbung, ja in einer doppelten 
Bedeutung erscheint. Auf der einen Seite bezeichnet er, psychologisch 


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Eine chinesische Kunstthcorie. 


»9 


gefaßt, jenen ganz besonderen und wesentlichen Vorgang im Ablauf des 
künstlerischen Schaffens, wie er schon oben zu kennzeichnen versucht worden 
ist. Es handelt sich hierbei nur um ein analytisches Konstatieren: Der Künstler 
sucht sich zum Schaffen zu begeistern. Wodurch und wie er dies zu tun 
pflegt, das führt uns dem Wesen der chinesischen Kunst schon einen Schritt 
näher: er sucht sich in einen möglichst innigen Kontakt mit der Sache zu 
bringen. Eine Dichterstellc regt ihn an oder ist ihm als Vorwurf gegeben, 
und er sucht aus ihrem innersten Wesen heraus eine Situation zu schaffen 
oder ein paar Assoziationen zur notwendigsten Einheit zu binden. Ein 
Göttliches ist sein Thema, und er wird sich bemühen, dies Göttliche rein in 
sich werden zu lassen, bis es ihn ganz beherrscht, und wie von ihm aus dann 
sein Bild zu gestalten: gewisse buddhistische Bilder sollen den Malern ge- 
offenbart worden sein. Oder endlich, und dies ist bei weitem der häufigste 
Fall: Sein Vorwurf ist die Natur, so gibt er ihren tausend Reizen sich hin 
und sucht sich mit ihr zu erfüllen, bevor er den Pinsel ergreift. Stets und 
überall schafft er nicht von sich, sondern von den Dingen aus. Wie er sie 
erfaßt, wie ihm die Natur erscheint, das wird uns weiter unten noch des 
näheren beschäftigen. 

Auf der andern Seite erscheint die Eingebung, und gerade in den ältesten 
Schriften am deutlichsten, als eine Art kunsttheoretisch-ästhetischer Be¬ 
griff, als ein Begriff der Wertung. Der Begriff besitzt hier nicht eine sub¬ 
jektive psychologische, sondern eher eine objektive und man möchte sagen 
theologische Bedeutung. Die künstlerische Produktion erscheint nicht 
mehr als menschlicher Vorgang des Schaffens, sondern als ein mystisches 
Gewaltgewinnen und Offenbarwerden größerer Dinge. Der Künstler ist 
nicht mehr Schaffender, sondern Instrument. So ist es zu verstehen, wenn 
von unsichtbaren Mächten und von göttlicher Eingebung die Rede ist oder 
wenn die eingegebenen Werke den künstlichen, mit dem Verstand geschaffe¬ 
nen gegenübergestellt w'erden. So ist es wohl auch aufzufassen, wenn der 
ältere Wang Wei von der Freude spricht, die wunderbaren Naturerscheinungen 
auf die Seide zu bannen, und sagt, daß dann mit einer Handbewegung eine 
göttliche Macht auf das Bild niedersteige. Und hierher gehört endlich ein 
merkwürdiger Passus, der dem Kaiser Yüan Ti (reg. 552—555) zugeschrieben 
wird: Von allen Dingen im Himmel und auf Erden ist das am göttlichsten 
Inspirierte die Natur. Sie ruft ins Leben die Formen wunderbarster und 
zartester Gestalt, sie zieht die Umrisse sich überschneidender Hügelreihen, 
sic erhebt sich von tiefen Versenkungen zu erhabenen Höhen, oder sie malt 
mit leichtem Pinsel das unendlich Kleine. Von ihr erst kommen wir zum 
Bild auf den Wänden und übertragen auf diese durch die Kraft des Genies 
das atmende Gebirge (wörtl. den Herzschlag des Gebirgs) und den heulenden 
Wassersturz. — Hier ist die Natur selber als Künstlerin und ihre Erscheinungen 

2 • 


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20 


Otto Fischer, 


als eingegebene Werke dem menschlichen Künstlerschaffen als gleichartiges 
Vorbild an die Seite gestellt. Wir werden auch dies wie die ganze Theorie 
der Inspiration erst richtig verstehen, wenn uns die chinesische Auffassung 
von der Natur und den Dingen wird klar geworden sein. 

Die Dinge: Inspiration und Zauber. 

VVang Wei malte das Bild eines großen Felsens für einen der kaiserlichen 
Prinzen so natürlich, daß der Prinz es sehr hoch hielt und allein davor zu 
sitzen und es anzuschauen pflegte, bis er ganz das Bewußtsein seiner selber 
verlor und glaubte, in den Bergen zu sein. Wie die Jahre hingingen, schien 
das Bild an Feinheit und in den Farben noch zu gewinnen, bis eines Tages 
ein großer Sturm kam mit Wind, Regen, Donner und Blitzen, der den Felsen 
plötzlich von seiner Stelle riß und das Gemach zertrümmerte. In der Folge 
entdeckte man eine leere Rolle, woran man erkannte, daß der Fels davon¬ 
geflogen war. Unter der Regierung Hsien Tsungs (über ein halbes Jahrhundert 
nach Wang Weis Tode) berichtete ein Gesandter von Korea, daß ein merk¬ 
würdiger Fels auf dem heiligen Sungberge niedergefallen sei, und da er die 
Signatur des Wang Wei trage, so wage der König nicht, ihn zu behalten 
und habe infolgedessen seine Rücksendung beschlossen. Der Kaiser bat 
seine Beamten, die betreffende Signatur mit einer beglaubigten von Wang 
Wei zu vergleichen, und es fand sich, daß zwischen beiden nicht der kleinste 
Unterschied war. Von da ab erkannte der Kaiser, daß Wang Weis Bilder 
inspirierte waren und sammelte sic aus allen Teilen des Reiches im Palast. 

Wir haben hier die typische chinesische Künstlerlegende. Die Auf¬ 
fassung des Verhältnisses von Naturding und Kunstwerk, die ihr zugrunde 
liegt und die, sei es wörtlich geglaubt, sei es figürlich angewendet, in allen 
legendarischen Anekdoten wiederkehrt, erlaubt uns hier einen Schluß auf 
die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs der Eingebung. Zur Kennzeich¬ 
nung dieser Anschauung, die einen zauberkräftigen Zusammenhang von 
Gegenstand und Abbild, von Kunst und Wirklichkeit annimmt, müssen wir 
auf die Art dieser Legenden noch näher cingehcn. 

Wir finden erstens eine Reihe von Anekdoten, bei denen cs sich um 
die Abbilder fabelhafter und übernatürliche Kräfte symbolisierender Tiere 
handelt, vor allem um den Drachen. Sie beziehen sich auf Ereignisse von 
der Zeit der früheren Han-Dynastie bis in die Mitte des 8. Jahrh. — Ein 
Mann liebt es, Drachen auf alle Türen und Wände zu malen, bis eines Tages 
ein wirklicher Drache zum Fenster hcreinschaut und ihm diese Manie ver¬ 
leidet. — Ein Kaiser sah einen Drachen, der vom Himmel herabfuhr und 
beauftragte Tsao Pu-hsing, ihn zu malen (238 n. Chr.). 200 Jahre später, 
während einer großen Dürre, beschließt man, dies Bild in Wasser zu tauchen. 
Sogleich erhebt sich ein dichter Nebel, und darauf stürzt ein Regenstrom 


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Eine chinesische Kunsttheorie. 


2 I 

io Tage lang nieder. Von diesem Drachen soll Chang Söng-yu verächtlich 
gesprochen haben, um darauf einen eigenen wundervollen auf eine Tempel* 
wand zu malen; allein da erhob sich ein Gewitter über dem Bau und zer¬ 
störte die Drachenwand vollständig. Ein andermal malte er 4 Drachen 
in einen Tempel, weigerte sich aber, ihnen die Augen zu malen. Auf das 
Drängen der Leute gab er endlich bei einem Tiere nach. Sogleich zerschmet¬ 
terte Blitz und Donner die Wand, und man sah einen Drachen hinwegsausen, 
während die drei andern unberührt blieben. Ein anderer Drache von ihm 
schien bei Wind und Regenwetter auf- und abzuhüpfen; darauf malte ihm 
Chang eine Kette um den Hals, und von da ab hielt er sich ruhig. — Um 
einen Drachen des Yang Tse-hua sammelten sich Wolken, sowie er gemalt 
war. Ebenso malte Wu Tao-tse in einem Zimmer des Palastes 5 Drachen 
so lebendig, daß sie zu leben schienen, und immer wenn es regnete, erhob 
sich ein dicker Nebel von dem Bilde. Endlich soll Föng Shao-chöng ein paar 
Drachen gemalt haben, die einer großen Dürre ein Ende machten: auf vier 
Wände zeichnete er zuerst die Drachen, sich krümmend, als wollten sie 
berstend in einen Regenguß sich verwandeln; bevor dann die Farben halb 
angelegt waren, schien der Pinsel Wind und Wolken zum Entstehen zu 
bringen und der Kaiser samt seinem Gefolge sah Wasser auf den Drachen- 
schuppen stehen. Kurz darauf erhob sich ein weißer Drache aus der Wand 
und Regen stürzte wie ein Wolkenbruch nieder. Zum Verständnis dieser 
Zaubergeschichten mag es dienen, daß dem Chinesen der Drache die Ver¬ 
körperung des flüssigen Elements und der Gewalt des Wassers ist. 

Ein anderer Aberglaube, der schon oben in Verbindung mit den Drachen 
berührt war, wird zuerst von Wei Hsi6 (3. Jahrh.) berichtet. Dieser »in¬ 
spirierte Maler« soll es nicht gewagt haben, die Pupille in die Augen göttlicher 
Wesen zu setzen, aus Furcht, sie möchten lebendig werden. Ebenso soll 
Ku K’ai-chi bei seinen Bildnissen verfahren sein. Es handelt sich jedoch 
hier wahrscheinlich nur um einen kurzwährenden Zauberglauben des 3. und 
4. Jahrh. Ein Schriftsteller des 9. Jahrh. erwähnt noch ausdrücklich: Die 
Augen der Buddhapriester und übermenschlichen Wesen, die auf den Tempel- 
wänden gemalt waren, folgten dem Beschauer überall nach, so genau waren 
stets die Pupillen eingesetzt. — Daß Bilder, die einen anschauen, auf 
Geistesgestörte eine furchtbare Wirkung haben, ist bekannt, es handelt sich 
aber bei den erwähnten Stellen nicht allein um eine kunsthistorisch inter¬ 
essante Notiz, sondern auch von neuem um den Glauben, daß Bilder wirklich 
pnd wahrhaftig lebendig werden, d. h. eine lebendige Gewalt üben können. 
Daß das Auge der Sitz des seelischen Ausdrucks sei, ist eine oft angeführte 
Wahrheit der chinesischen Kunstliteratur. 

Eine dritte Kategorie von Anekdoten handelt von der zerstörenden oder 
heilenden Wirkung gemalter Abbilder, einer Wirkung, die bei uns gemeinhin 


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Otto Fischer, 


mit dem Worte Sympathie bezeichnet wird und die in der Zauberkunst, 
ja in der Medizin aller Völker und Zeiten eine größere oder kleinere Rolle 
spielt. So soll Ku K’ai-chi das Bild eines Mädchens gemalt haben, das er 
liebte. Er heftete cs an die Wand und ein Dorn ging dabei durch die Stelle, 
wo das Herz ist. Das Mädchen befiel sogleich eine gefährliche Krankheit 
im Herzen, und nur die Entfernung des Dorns vermochte sic zu heilen. 
Etwa um die gleiche Zeit wird der Fall einer Frau erwähnt, die von einer 
schweren Krankheit dadurch geheilt wurde, daß man das Bild eines wilden 
Bären in ihr Schlafzimmer hing. Ein Maler des 5. Jahrh. heilte einen Freund, 
indem er ihm einen Löwen auf die Zimmertür malte. Man sprach Gebete 
vor dem Bilde und am nächsten Morgen fand man die Löwenklauen blut¬ 
bedeckt: offenbar hatte er einen feindlichen Dämon zerrissen. Wu Tao-tse 
endlich, um sich für einen üblen Empfang zu rächen, malte einen Esel auf 
eine Tempelwand, der in der Nacht die ganze Ausstattung und die Gegen¬ 
stände der Priester in Stücke schlug. Die Priester waren überzeugt, daß 
dies des Malers Werk sei, auf ihre Bitten zerstörte er die Zeichnung und es 
geschah kein Unfug mehr. 

Diese Geschichte führt uns endlich zu denen hinüber, die allein vom 
Lebendigwerden besonders meisterhaft und suggestiv abgebildetcr Wesen 
handeln und uns zuletzt auch zu einer philosophischen Ausdeutung dieser 
magischen Erklärungen bringen werden, wenn es nicht anders jene philo¬ 
sophische Anschauung selber ist, der die Anekdote ihre Entstehung ver¬ 
dankt. Es sind Anekdoten, die dazu dienen sollen, die Leben schaffende 
Meisterschaft einzelner Künstler zu verherrlichen. Von Yang Tse-hua 
heißt es so, er habe ein Roß auf eine Wand gemalt, das man in der Nacht 
soll stampfen und wiehern gehört haben. Li Ssu-Hsün (7. Jahrh.) malte 
einen Fisch, als ein Besucher ihn abrief. Das Bild war unterdes verschwunden 
und wurde in einem Teiche wiedergefunden, wohin es der Wind geweht 
hatte; von dem Fisch aber war keine Spur mehr darauf. Er wiederholte 
nun mit Willen den Versuch, aber die Fische blieben auf der Seide. Hierher 
gehört auch die Legende von dem wunderbaren Ende des Wu Tao-tse, der 
vor den Augen des Kaisers in der aufgetanen Höhle einer Landschaft ver¬ 
schwindet, die er zuvor auf eine Wand des Palastes gemalt: hinter ihm 
schließt sich das Tor und bevor der Herrscher einen Schritt tut, ist das ganze 
Gemälde verschwunden, und die Wand weiß wie zuvor. Ebenso merkwürdige 
Dinge werden von dem Rossemaler Han Kan erzählt: Im Jahre 780 erkun¬ 
digte sich ein Mann, der ein Pferd am Zügel führte, nach einem Tierarzt. 
Dieser besah das Tier und rief unter Lachen: Das sieht ja aus wie eines von 
Han Kans Rossen; so sehen wirkliche Rosse doch niemals aus! Han Kan 
selber kam hinzu und sagte mit Staunen: Ja, dieses Pferd habe ich wahr¬ 
haftig gemalt; ihr wißt, was immer wir hier oben schaffen, das wird sogleich 


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Eine chinesische Kunsttheorie. 


23 


in der Welt dort, unten nachgebildet. Dann streichelte er das Roß und fand, 
daß es von einer Verletzung am Vorderfuß lahmte, und entdeckte zu seiner 
Überraschung zu Hause, daß das Roß auf seinem eigenen Bild eine kleine 
Beschädigung eben an der Stelle hatte. So erfuhr er, wie die Bilder uns 
mit der Welt der Geister in Verbindung setzen. — Ein andermal besuchte 
ihn ein Mann und sagte, er sei ein Gesandter der unteren Welt und bitte 
den Maler, ihm ein Roß zu verschaffen. Han Kan malte das verlangte Bild, 
verbrannte es und nach ein paar Tagen kam der geisterhafte Besucher auf 
eben demselben Rosse angeritten, sich bei Han Kan zu bedanken. So stark 
war sein Einfluß sogar im Reiche der Geister. — Eines Tages träumte der 
Herrscher des Staates Shu, daß ihm ein seltsamer, fremdartig gekleideter 
Mann erschien, der hinkte und bat, ihn zu heilen. Am nächsten Tage fand 
man ein Bild eben dieses Mannes, in dessen linkem Fuß ein Dorn stak. Ein 
Maler wurde befohlen, es zu untersuchen, fand, daß es ein Bild des Fieber- 
gottes von Wu Tao-tse war, und setzte es sorgfältig wieder in Stand. Darauf 
erschien der Gott abermals im Traum und dankte seiner Hoheit. — Endlich 
wird es von Li Lung-mien berichtet, daß er in seiner Jugend die kaiserlichen 
Rosse, die als Tribut aus Khotan kamen, mit besonderer Vorliebe malte. 
Ja, als sechs von diesen Rossen cingingen, kurz nachdem sie Li abgeschildert 
hatte, so hieß es, der Künstler sei dabei so tief in den inneren Sitz des Lebens 
eingedrungen, daß er ihnen die Lebenskraft (das Prinzip des Lebens) aus 
dem Leibe entzogen habe. Dies ist die späteste derartiger Anekdoten, die 
mit Wahrscheinlichkeit noch wörtlich gemeint ist. 

Alle diese Geschichten beweisen nun das Folgende. Die chinesische 
Auffassung von darstellender Kunst ist bis tief in die historische Zeit hinein, 
bis in die Zeiten einer höchst verfeinerten Kultur und einer durchaus be¬ 
wußten und reflektierenden Kunstübung von den Anschauungen eines 
primitiven Zauberglaubens beeinflußt. Diese Anschauung geht dahin, daß 
zwischen dem Bilde, das der Maler schuf, und dem wirklichen Ding, dessen 
Abbild cs ist, ein magischer Zusammenhang besteht, kraft dessen entweder 
das von dem Maler Geschaffene eine geistige und vorübergehend in der 

realen Erscheinung wirksame Existenz gewinnt — das Bild selber kann 

• 

dabei verschwinden oder bestehen bleiben — oder doch das Schicksal eines 
wirklichen Urbildes durch das ihm selbst, dem gemalten Abbild, widerfahrende 
Schicksal sympathisch beeinflußt. Nach diesem Glauben haben die Künstler 
eine Art von Zauberkraft, und sie üben diese entweder mit Absicht aus oder 
erfahren sie doch durch die merkwürdigen Wirkungen ihrer Werke. Die 
Maler, die so mit dem magischen Geisterreich oder mit den inneren Kräften 
der Natur in einem geheimnisvollen Zusammenhang stehen, werden als 
inspiriert bezeichnet, und diese Zauberkraft ist wohl die ursprüngliche Be¬ 
deutung des Wortes Eingebung. 


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24 


Otto Fischer, 


Die Dinge: Geist und F o r m. 

Die Anekdote des Li Lung*mien führt uns auf einen weiteren Punkt. 
Dieser Künstler, der nach Wu Tao-tsc von den Chinesen als ihr größter 
Maler angesehen wird, soll das Prinzip des Lebens selber seinen Urbildern 
entnommen und in seine Abbilder übertragen haben. Es ist dies ein äußerstes 
Vermögen der Wirksam-, Suggestiv-, ja Lebendigmachung, das den Chinesen 
als das Höchste in der Kunst erscheint, und wir werden sehen, wie sich hier 
wiederum jener Glaube eines innersten Zusammenhangs von Naturwerk 
und Kunstwerk, von Naturschaffen und Kunstschaffen wie zuvor im Zauber¬ 
glauben, nur gereinigter, nur geistiger dokumentiert. Es mögen zunächst 
die bezeichnendsten Stellen sprechen 1 

Im Anschluß an Wang W'ei sagt Shön Kua (u. Jahrh.): In der Schrift- 
kunst und in der Malerei ist Seele wichtiger als Form. Die meisten Leute, 
die Bilder ansehen, bemerken die kleinen Fehler in der Form, in der Lage, 
in der Färbung, aber damit ist es auch getan. Die andern, die tiefer in das 
Grundsätzliche dringen, die sind schwer zu finden. — Und später: Sagt 
nicht der Dichter: Die alten Meister malten den Geist und nicht die Form. 
Die aber die Form verlassen und den Geist erfassen, sind wenig. Ebenso 
Huang Po-ssu (Anf. d. 12. Jahrh.). In den alten Zeiten erfaßten die in 
der Kunst der Malerei Gewandten den Geist und wußten nichts von der 
Form. — Über ein Bildnis Chou Fangs (um 780—805) im Vergleich mit 
einem andern von Han Kan, das dieselbe Persönlichkeit darstellte, wird 
anekdotisch geäußert: Dies ist das Bild des Geheimsekretärs, soweit Form 
und Gestalt gehen mag, aber jener Meister erfaßte noch überdies die wahr¬ 
haftige Seele des Mannes, daß es scheint, als lachte und spräche er mit uns. — 
Über Hsü Hsi (um 950) heißt es: In der Blumenmalerei streben die Leute 
gewöhnlich nach genauester Ähnlichkeit, nicht so Hsü Hsi. Und der Maler, 
der solche Ähnlichkeit gering achten darf, der wird, was Se-ma-ts’ien unter 
den Prosaisten und Tu Fu unter den Dichtern. Shön Kua sagt über ihn: 
Er malte, den Pinsel voll Tusche und in äußerst rauher Manier; er beschränkte 
sich darauf, die grauen Töne anzulegen, um dem geistigen Ausdruck Relief 
zu verleihen und so die Wirkung der Lebensbewegung zu erreichen. — Von 
dem Landschafter Fan K'uan (Anf. d. 11. Jahrh.) ist folgender Ausspruch 
überliefert: Die Methode meiner Vorgänger war nicht die, in die allernächste 
Beziehung zu den Dingen zu gelangen. Besser als den Stil eines Meisters zu 
studieren, wird es sein, die Dinge selber zu studieren, und noch besser als die 
Dinge selber das Innere der Dinge zu erfassen. — Über einen Blumenmaler heißt 
cs: Andere Künstler suchen die genaueste Ähnlichkeit der Blumen, die sie 
malen, aber Chao Ch'angs (Anf. d. 11. Jahrh.) Kunst erreicht nicht nur 
diese genaue Ähnlichkeit, sondern übermittelt einem auch noch die Seele 
der Blume mit ihr. — Über Li Lung-mien (Ende d. II. Jahrh.) sagt sein 
Zeitgenosse Su Tung-po: Wenn er in den Bergen ist, so konzentriert er sich 


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Eine chinesische Kunsttheorie. 


25 


nicht auf einen Gegenstand, sondern seine Seele tritt in Gemeinschaft mit 
allen Dingen und sein Herz durchdringt die Geheimnisse aller Künste. Doch 
muß man sowohl Genius als Technik in Betracht ziehen. Hat einer den 
Genius, aber ermangelt des Könnens, so mögen sich die Dinge zwar in seinem 
Herzen gestalten, aber sie werden unter seinem Pinsel nicht die Form ge¬ 
winnen. — Schon Wu Tao-tse hatte gesagt, als er ohne Skizzen von einer 
Studienreise zurückkam: Ich habe die Landschaft in meinem Herzen. — 
Über Sun Kan (15. Jahrh.) endlich heißt es: Er liebte die Chrysanthemen 
sehr und pflegte sie in seinem Garten. Morgens und abends sah er nach 
seinen Blumen, und die Folge war, wenn er sie abmaltc, so malte er ihre Seele 
und gab seinen Bildern ein Etwas, das andere Bilder nie gewonnen haben. 
Hierher gehört es auch, was hier und dort über Bildnismalerei gesagt ist. 
So heißt es von Ku K'ai-chi: Seine Bildnisse seien ausgezeichnet durch Tiefe 
und Geistigkeit, und wenn andere Künstler seiner Zeit ihn übertrafen in Fleisch 
und Bein, so stehe er doch im Ausdruck hoch über ihnen. »Und da der 
Ausdruck von geheimnisvoller Natur ist und außerhalb dessen, was von 
Malern gelernt werden kann, so nenne ich Ku den ersten unter ihnen.« 
Ku K'ai-chi soll auch gesagt haben, beim Bildnis komme es nicht auf die 
Form an, sondern darauf, daß man einen geistig Großen von einem Kleinen 
und einen Edlen von einem Gewöhnlichen unterscheiden könne. So malte 
er das Bild eines Großen vor einen Hintergrund von hohen Berggipfeln und 
tiefen Abgründen, um so sein Geistiges auszudrücken. Und wir lesen endlich 
bei Hu Ch'üan (gest. 1172): Nichts ist so schwer wie das Porträtfach. Nicht 
die Wiedergabe der Züge ist schwierig, sondern die Schwierigkeit liegt darin, 
daß es gilt die Quellen des Handelns zu malen, die im Herzen verborgen 
sind. Und solchen Stellen antworten andere, wo vom Herzschlag des Ge¬ 
birges die Rede ist und vom Geistigen, von der Seele, vom Prinzip des Lebens 
in der ganzen Natur, vom Größten zum Kleinsten hinab: dies gelte cs im 
Bilde festzubannen. 

Dem Gegensätze von Geist und Form in der Kunst entspricht in der 
gesamten Wirklichkeit der einer inneren Wesenheit, des Lebensprinzips, 
wie der Chinese sagt, zur äußeren materiellen Erscheinung. Dieses innere 
Prinzip erscheint in unseren Übersetzungen bald als Geist, bald als Seele 
und ist vielleicht am besten mit dem Worte Inbegriff wiederzugeben. Bis 
ist hier nicht unsere Aufgabe, uns in die Tiefen der chinesischen Spekulation, 
die in diesem Punkte durchaus von der taoistischen Philosophie bestimmt 
scheint, einzulassen. Es sei nur soviel angedeutet, daß dieses Lebensprinzip, 
sei es der Welt, sei cs eines einzelnen Wesens, sich doch mit dem Begriff 
des europäischen Platonismus durchaus nicht deckt. Es ist viel unpersön¬ 
licher als dieser und in keiner Weise anthropomorph zu fassen. Es ist etwas 
absolut Außerzeitliches, gleichsam die Mitte aller Möglichkeiten, gleichsam 
der Inbegriff aller Qualitäten, beweglich, aber nicht bewegt, vielfach doch 


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Otto Fischer, Kine chinesische Kunsttheorie. 


nur wie ein Keim, nichtseicnd und doch das reine Sein. Dieses geheimnisvoll 
Wesenhafte im All und in jedem Ding, dieses innere Sein, das nicht mit 
den Sinnen wahrzunehmen ist, divinatorisch zu erfassen, das galt dem Chi¬ 
nesen von je her als die Aufgabe des Künstlers. Dieses in seinem Werke 
wiederzugeben und jedem mit Notwendigkeit spürbar zu machen, als das 
Höchste, was er in seinem Werke zu erreichen vermochte. Die Frage des 
Naturalismus hat für den Chinesen nie existiert, er hat nie das Ding mahn 
wollen, sondern den Geist, die Seele des Dings, nie die Welt, sondern das 
Prinzip und das Herz der Welt. 

Aus dieser Auffassung von der Natur und von dem Wesen der Kunst 
erklärt es sich, daß der Chinese durchaus keine Wertung der Gegenstände 
und Vorwürfe kennt und daß ihm das Unendliche, Tiefgeistige und der In¬ 
begriff alles Lebens ebenso im kleinsten Ding, in einem Blatt, einer Blume, 
einem Schmetterling ausdrückbar erscheint wie in irgendeinem menschlichen 
Gegenstände, ja er findet es dort ungehemmter, unmittelbarer als hier. 
Hieraus erklärt es sich ferner, daß für ihn keine Schönheitswerte und kein 
formaler Kanon der Kunst existiert, da die Schönheit, wenn wir dieses Wort 
behalten wollen, etwas durchaus Inneres ist, und da das Wesentliche der 
Kunst keinem Verstand und keinen Prinzipien zugänglich ist. So kommt es, 
daß die chinesische Kunst in ihrem Grunde etwas durchaus Arationales, ja 
Antirationales bleibt, sowohl im Bewußtsein des Schaffenden als in der Auf¬ 
fassung des Genießers. Das Schaffen selbst wird zur Trance, und es geschieht 
in einem fast unbewußten Zustande, der durch die vollkommenste Versenkung 
und Hingabe an den allgemeinen Strom des Seins, durch ein Verlieren des 
bewußten Selbst und Einswerden mit der unendlichen Natur erreicht wird: 
es ist dies, was der Chinese die Eingebung nannte. Das Kunstwerk wird ihm 
so eine Offenbarung der Natur durch ein menschliches divinatorischesMedium, 
und was er Geist nennt, ist nicht etwas vom Materiellen getrenntes, sondern 
nichts anderes als das abstrakteste Prinzip alles Seins und alles Lebens, 
ein Prinzip, das ebenso im Werke des inspirierten, d. h. mit ihm sich eins 
fühlenden Menschen wie in jedem Größten und jedem Kleinsten der Natur 
sich wirksam erweist. 

Diese Identifikation von Natur- und Kunstschaffen hat denn auch in 
der Wertung der Kunstwerke zu bestimmten Äußerungen und Lobesformeln 
geführt, die sich uns jetzt erklären. So ist es eine in der Kunstliteratur 
geläufige Redewendung, daß der Pinselzug eines Malers gleich dem Ziehen 
der Wolken oder dem Strömen des Wassers sei. So heißt es von Ku K'ai-chi, 
sein Schaffen sei wie das Spinnen des Seidenwurms im Frühling, seine Ge¬ 
danken seien gleich Wolken, die durch den Himmel ziehen, oder gleich einem 
forteilenden Strom: vollkommen natürlich. L T nd von andern wieder: ihre 
Bilder seien, als ob die Natur selber sie geschaffen hätte. 

(Schluß folgt.) 


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J 


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Perspektive und Bildarchitektur bei Jan van Eyck 

Von G. Joseph Kern 

Das Ergebnis der Untersuchungen, die ich in meiner Schrift über die 
Grundzüge der linearperspektivischen Darstellung in der Kunst der Brüder 
van Eyck und ihrer Schule (Leipzig, E. A. Seemann, 1904) niedcrlegte, 
gipfelt in folgenden Sätzen: 

1. Jan van Eyck konstruiert einzelne Begrenzungsebenen des 
Raumes unter Anwendung des Fluchtpunktes für diese einzelnen Ebenen. 

2. Im Werke des Jan van Eyck und des Petrus Cristus läßt sich ein 
Fortschritt von dieser primitiven Konstruktion zur Konstruktion des Raumes 
nach einem Fluchtpunkt feststellen. 

3. Die Auffindung dts Fluchtpunktgtsetzes, bezw. seine erstmalige An¬ 
wendung auf den Raum durch Jan van Eyck oder Petrus Cristus fällt höchst¬ 
wahrscheinlich in die Jahre 1436—1453. 

4. Das erste bisher bekannt gewordene datierte 
Bild der nordeuropäischen Malerei, in dem sich ein 
Fluchtpunkt für die Zeichnung des Raumes mit 
Sicherheit nach weisen läßt, ist das 1457 entstan¬ 
dene Frankfurter Bild des Petrus Cristus »Die 
Madonna mit den beiden Heiligen«. 

5. Den flandrischen Künstlern der Frührcnaissancc ist das perspek¬ 
tivische Gesetz von der Distanz nicht bekannt. 

In mehreren Aufsätzen hat der Münchener Mathematiker Professor 
Karl Doehlemann zu meiner Arbeit, die zum Abschluß zu bringen *) mich 
dienstliche Verpflichtungen und die Beschäftigung mit anderen dringenden 
Arbeiten hinderten, Stellung genommen. 1905 erschien in der Zeitschrift 
für Mathematik und Physik (Bd. 52, Heft 4) eine Abhandlung Doehlemanns, 
betitelt: »Die Perspektive der Brüder van Eyck«, 1906 aus der Feder des¬ 
selben Verfassers in der Zeitschrift: »Die Graphische Kunst« (Wien) ein Auf¬ 
satz: »Die Verwertung der Linearperspektive zur Datierung von Bildern« und 
endlich vor kurzem im Repertorium eine ausführliche Untersuchung Doehlc- 
manns: »Die Entwicklung der Perspektive in der altniederländischen Kunst«. 

*) Vorliegende Arbeit mag bis auf weiteres als Ergänzung angesehen werden. 


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28 


Joseph Kern, 


Die Doehlemannschen Darlegungen zeichnen sich vor ähnlichen da¬ 
durch aus, daß der Verfasser das Gebiet, über das er schreibt, technisch 
beherrscht und sich nicht in ästhetischen Deduktionen verliert, die zur auf¬ 
geworfenen Frage in keiner Beziehung stehen. Eine Auseinandersetzung wird 
dadurch in jedem Falle erleichtert. Sic scheint vielleicht angebracht, da 
die Ansichten über das Wesen und die historische Bedeutung der Eyckschcn 
Linearperspektive heute weiter als je auseinandergehen und cs sich anderer¬ 
seits um ein für die Geschichte der Kunst wie der Perspektive gleich bedeut¬ 
sames Problem handelt. Es dürfte aber auch ein Meinungsaustausch über 
die Prinzipien erwünscht sein, nach denen Bilder auf ihre perspek¬ 
tivische Zeichnung hin zu untersuchen sind. 

Doehlemann leugnet, daß die Brüder van Eyck theoretische Kennt¬ 
nisse auf dem Gebiete der Perspektive besessen haben, und präzisiert seine 
Auffassung dahin, daß sie das Gesetz vom Fluchtpunkt der Tiefenlinien 
weder für eine Ebene noch für den Raum kennen. Bei der Begründung 
seiner Behauptung verwickelt er sich jedoch in arge Widersprüche. So 
stellt er z. B. fest, daß das System der Tiefenlinien des Fußbodens im Flügel- 
bilde des Genter Altars mit dem Ausblick auf die Straße »mathematisch 
richtig konstruiert« ist (Zeitschrift für Mathematik und Physik, Bd. 52, 
Heft 4, Seite 422). »Dieses Liniensystem«, schreibt er im Repertorium 
(Bd. XXXIV, Heft 5, S. 401), »kann direkt als mathematisch richtig gelten«. 
Diese Erkenntnis hindert Doehlemann nicht, für die Erklärung der Zeich¬ 
nung den Zufall in Anspruch zu nehmen (Repertorium, Bd. XXXIV, Heft 5, 
S. 401). Dabei handelt es sich bei dem Bilde nicht etwa um eine kleine Tafel, 
bei der eine ungenaue Zeichnung ein noch immerhin günstiges Ergebnis 
für die perspektivische Nachprüfung ergeben müßte, sondern um ein Bild 
von erheblich großen Abmessungen, bei dem ein Zufall gänzlich ausge¬ 
schlossen ist. Den Fußboden im Flügel mit dem Ausblick auf die Straße 
habe ich in meiner Schrift über die Eycksche Perspektive nicht erwähnt, 
worüber sich Doehlemann wundert. Die Erwähnung unterblieb aus dem 
einfachen Grunde, weil das benachbarte Bild mit der Wandnische, dessen 
Fußboden analog dem ersten gezeichnet ist, austührlich besprochen wurde. 
Von sieben Linien konvergieren sechs in einen Punkt. Die Konvergenz 
von dreien oder vieren würde wohl zum Beweise meiner oben, unter 1, an¬ 
geführten Behauptung genügen, vielleicht hätte noch besonders erwähnt 
werden sollen, daß dieser Punkt der Fluchtpunkt des ganzen Liniensystems 
auch für die benachbarte Tafel links ist. Fassen wir die beiden Tafeln als 
Einheit auf, so ergibt sich, daß von fünfzehn Linien sich 
nicht weniger als vierzehn genau in einem Punkte 
schneiden. Mathematisch, wenn der Ausdruck bei gezeichneten Linien 
überhaupt zulässig ist. Dieser Tatsache gegenüber besagt die Abweichung 


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Perspektive und Hildarchitektur bei Jan van Eyck. 


29 


einzelner Linien im Fußboden der beiden äußeren Flügel des Verkündigungs¬ 
bildes nichts. Es liegt eine Unachtsamkeit des Künstlers vor, die um so ent- 
schuldsamer erscheint, als die Linien in den seitlichen Flügeln doch zum 
größten Teil durch Figuren verdeckt sind. Von den Tiefenlinien der Decke 
liegen nur wenige in einer Ebene; sie konvergieren gegeneinander, »drehen« 
sich aber lediglich um einen größeren Fluchtpunktbezirk. Als Ganzes ist 
die Decke unter einem Horizont gesehen, der tiefer liegt als der Horizont 
des Fußbodens. 

Der Genter Altar wurde 1432 vollendet. Zwei Jahre später entstand 
das Londoner Bild des Kaufmanns Arnolfini und seiner Frau. Bezug¬ 
nehmend auf seine Darlegungen betreffend die Perspektive im Genter Altar 
führt Doehlemann über die perspektivische Anlage dieses Werkes aus: 
»Besser stimmt wieder der Fußboden im Bilde des Arnolfini und seiner Frau, 
aber hier kann man nur wenig Tiefenlinicn verfolgen. Die Tiefenlinien 
der Decke zeigen nach der Kernschen Tafel keinen gemeinsamen Flucht¬ 
punkt (die Decke ist so dunkel, daß ich auf der Photographie diese Linien 
nicht mehr sehe)« (Zeitschrift für Mathematik und Physik, Bd. 52, Heft 4, 
S. 423). In dem erwähnten Aufsatze der Graphischen Kunst schreibt der 
Verfasser: »Das Fußbodenmuster in dem Bilde des Kaufmanns Arnolfini 
und seiner Frau« stimmt . . ziemlich genau mit der Theorie überein«. 

In Wirklichkeit ist für ein Bild die Übereinstimmung vollkom¬ 
men. Doehlemann würde wohl zu demselben Schlüsse gelangt sein, wenn 
er neben meiner Zeichnung das Originalbild statt der Photographie geprüft 
und dem Umstand Rechnung getragen hätte, daß das Bild eine erhebliche 
Größe aufweist. Je größer aber ein Bild, desto größer sind die »Ungenauig¬ 
keiten«, »die bei einer Rekonstruktion in Betracht zu ziehen sind«. Das 
Werk mißt 84 cm Höhe und 73 cm Breite (lichte Maße). Ich habe das 
Original mehrfach und nach verschiedenen Methoden untersucht und bin 
immer zum gleichen Ergebnis gekommen: Decke und Fußboden sind je 
nach einem Fluchtpunkte konstruiert. Wenn Doehlemann aus meiner 
Tafel IV (siehe »Grundzüge« und hier Figur 1) beweisen will, daß der Zeich¬ 
nung der Decke kein gemeinsamer Fluchtpunkt für die Tiefenlinien zugrunde 
liegt, so muß ich diese Art von Beweisführung ablehnen. Meine Tafel ergibt 
in Übereinstimmung mit dem Original, nach der sie angefertigt ist, das 
typische Bild einer perspektivischen Konstruktion einzelner Ebenen nach 
gesonderten Fluchtpunkten. Fußboden und Decke heben sich aus der 
Zeichnung als die beiden Hauptebenen des Raumes klar hervor. Vermut¬ 
lich stützt sich Doehlemann bei der Ablehnung meiner Hypothese auf die 
Zeichnung des dritten Deckenbalkens von rechts, der sich in der Tat in das 
System der übrigen Balken nicht einfügt. Es wäre hierauf zu erwidern, daß 
weitaus die Mehrzahl der Orthogonalen der Decke einen gemeinsamen 


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3 ° 


Joseph Kern, 


Fluchtpunkt aufweist. Für alle Einzelheiten verweise ich auf die Zeichnung. 
Man sollte denken, daß Doehlemann, der mir den Vorwurf macht, meine 



Abb. i. Jan van Eyck: Giovanni Arnolfini und Frau, London, National-Gallery. 

Anforderungen an die Genauigkeit einer perspektivischen Zeichnung für 
ein Bild seien zu geringe, seinerseits in allen Fällen mit strengeren Anforderun¬ 
gen an die Konstruktion eines Bildes herangeht. Das Gegenteil ist der Fall, 


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Perspektive und Bildarchitektur bei Jan van Eyck. 


3 1 


wie am Beispiel des Dirk Bouts gezeigt werden soll. Vom »Gottesurteil 
vor Kaiser Otto III.«, Brüssel, Museum, heißt es (Repertorium, Bd. XXXIX’, 
S. 418): »Die Tiefenlinien des Fußbodens bestimmen ziemlich gut (so !j 
einen Fluchtpunkt, die der Decke — wenn man die nur ganz ungenau zu 
bestimmenden links außen wegläßt — einen zweiten davon verschiedenen. 
Am Bilde selbst wären die Mittelpunkte der beiden Kreise fast 8 dm von ein¬ 
ander entfernt. Außerdem lassen sich noch durch entsprechende Punkte 
der vorderen und der hinteren X'crzierung oben an der Decke zahlreiche 
Tiefenlinien legen. Diese laufen aber ziemlich verwirrt und geben kaum 
zu einem Fluchtgcbiete X’eranlassung; wegen der zweifelhaften Natur der 
vorderen Verzierung sollen diese Tiefenlinien unberücksichtigt bleiben. 
Der Thron des Kaisers ist nicht einheitlich für einen Fluchtpunkt kon¬ 
struiert, höchstens könnte man für die Linien des Sockels einen solchen 
angeben ... Da bei dem Gottesurteil nun die Fluchtpunkte des Bodens 
und der Decke wieder getrennt erscheinen, so bleibt kaum etwas anderes 
übrig als anzunchmcn, daß die Einheitlichkeit der linearen Konstruktion 
beim Abendmahl *) doch mehr zufälliger Art ist, indem der Künstler den 
Fluchtpunkt der Bodenfläche nur sehr nahe mit dem der Decke zusammen- 
fallen ließ. Doch bleibt immer noch die Tatsache bestehen, daß Bouts 
die Tiefenlinien der Boden- und Deckenflächen 
ganz sicher (so!) unter Benutzung eines Flucht¬ 
punktes konstruiert hat (so!). Die Abbildung bietet übrigens 
noch eine andere Überraschung: in dem quadratischen Fußbodenmustcr 
sind nämlich die Diagonalen als Gerade durchgezogen, wenigstens für die 
Haupteinteilung und diese Linien gehen so ziemlich (so !) durch einen Flucht¬ 
punkt, der nahe unter dem Horizont durch den Fluchtpunkt der Decke 
liegt. Dieser neue Fluchtpunkt wäre der Distanzpunkt, wenn er als in dem 
Horizont der Decke gelegen angesehen werden dürfte. Allem Anschein 
nach (so!) liegen hier die Spuren weiterer theoretischer Kenntnisse vor.«—Bei 
diesem Bilde hindert also den Verfasser die eine oder andere kleine Un- 
genauigkeit nicht, eine Konstruktion anzunehmen, wie ich sie bereits für die 
Orthogonalen des Arnolfini-Bildes beansprucht habe. Warum leugnet Doehle- 
mann, für den nach seinen Messungen in beiden Fällen die Voraussetzungen 
analoge sein müssen, beim Arnolfini-Bilde das Vorhandensein einer Kon¬ 
struktion, während er sie für das Boutssche Bild in Brüssel annimmt? 
Vermutet er doch, trotz aller Ungenauigkeiten, daß der Fußboden des 
Boutsschen Werkes mit Hülfe der Distanzkonstruktion gezeichnet ist! 

Über die Frage der Perspektive des Dirk und Aelbrecht Bouts, die 
uns hier nur aus methodischen Gründen interessiert, habe ich mich in einer 


*) War vorher besprochen. 


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3 2 


Joseph Kern, 


Notiz der »Monatshefte für Kunstwissenschaft« 1910, Heft 7, S. 289, geäußert. 
Doehlemann scheint die Mitteilung entgangen zu sein 1 ). Es wurde ausgeführt, 
daß im Werke der beiden Bouts Bilder ohne Konstruktion Vorkommen, 
Bilder, die zum Teil, und Bilder, die ganz nach dem Fluchtpunktgesetze 
konstruiert sind. Ich behalte mir vor, auf die Frage zurückzukommen. 

Um einen Maßstab dafür zu gewinnen, welchen Grad von Genauigkeit 
man billigerweise von Gemälden verlangen kann, bei denen man eine Kon¬ 
struktion vermutet, empfiehlt es sich, zu untersuchen, wie die Zeichnungen 
in den ältesten uns erhaltenen Lehrbüchern der Perspektive beschaffen sind, 
die den Malern für ihre Konstruktionen Anweisung geben sollten. Als passen¬ 
des Vergleichsobjekt bieten sich da die Figuren in dem Werke des Jörg 
Glogkendon »Von der Kunst Perspectiva« an, die als deutsche Ausgabe der 
Perspektive des gelehrten Toulcr Mönches Jean Pölerin, alias »Viator«, 1509 
in Nürnberg erschienen ist. Es gibt drei französische Ausgaben; sie stammen 
aus den Jahren 1505, 1509 und 1521. Anatole de Montaiglon hat dem Lehr¬ 
buch P^lerins und seinen verschiedenen Ausgaben in der Einleitung zur 
Pilinskischen Veröffentlichung der Ausgabe von 1509 (Paris 1860) eine histo¬ 
rische Studie gewidmet. Viators Buch ist das erste perspektivische Lehr¬ 
buch, das, soweit bekannt, diesseits der Alpen für Maler geschrieben wurde, 
und beansprucht noch besonderes Interesse dadurch, daß Künstler wie Alb- 
recht Dürer sich seiner bei ihren Studien bedient haben (das Nähere s. Licht- 
wark, Der Ornamentstich der deutschen Frührenaissancc, Berlin 1888, 
S. 129 ff.). Man führe nun eine Probe der genannten Art an einer Zeichnung 
aus, wie etwa dem Grundriß der Renaissancehalle mit den zahlreichen Figuren 
auf Tafel 10 der Glogkendonschen Ausgabe. Die Diagonale, die rechts in das 
kleine Quadrat eingezeichnet ist, schneidet in ihrer Verlängerung keine 
einzige Ecke der in ihrer Richtung liegenden, sich folgenden größeren 
und kleineren Quadrate ! Das äußerste »schwarze« Quadrat oben links 
zeigt sogar eine Überschneidung durch das benachbarte größere Quadrat. 
Ähnlich liegen die Dinge bei dem Grundriß auf Tafel 19, die eine zweiteilige 
gotische Halle vorstellt. — Bei Bildern, deren Entstehungsdaten um 
rund 70 Jahre gegen das Erscheinen des Viatorschen Lehrbuches zurück¬ 
liegen, wird man somit überaus vorsichtig mit der Ableugnung von Kon¬ 
struktionen sein müssen, wenn wichtige Gründe, wie wir sie für den Genter 
Altar und das Arnolfini-Bild nachwciscn konnten, für das Vorhandensein 
von Konstruktionen sprechen. 

Bei dem Verkündigungsbildc des Isenheimer Altars von Matthias 
Grünewald, das um 1509 entstanden ist, konnte jüngst Heinrich Alfred 

*) Professor Doehlemann schreibt mir soeben auf eine diesbezügliche Anfrage, daß 
er das an ihn gesandte Exemplar des Heftes nicht erhalten und die Notiz nicht gekannt hat. 


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Perspektive und Bildarchitektur bei Jan van Eyck. 


33 


Schmid durch die Auffindung eines in die Holztafel eingebohrten 
Fluchtpunktes eine Konstruktion nachweisen, trotzdem die Tiefenlinien, 
auf die sich die Konstruktion bezieht, unter sich zum Teil verschiedene 
und ziemlich weit auseinanderliegende Schnittpunkte zeigen. Er kam bei 
der Untersuchung des Werkes zu dem interessanten und für uns schwer¬ 
wiegenden Ergebnis, daß auch Grünewald bei seiner Darstellung 
des Raumes für die Flucht verschiedener Ebenen und 
Raumteile verschiedene Fluchtpunkte zugrunde 
legt. Die auf den Fall bezüglichen Mitteilungen seien hier, wegen ihrer 
Wichtigkeit, im Wortlaute wiedergegeben: 

»Richtig ist die Linearperspektive nicht. Aber es ist auch völlig aus¬ 
geschlossen, daß es sich hier lediglich um die rein impressionistische Wieder¬ 
gabe eines Raumes handeln könnte, bei der die Linien annähernd nach dem 
Augenmaß wiedergegeben wurden. 

»Im Fußboden sind die hellen Plättchen mit dem dunklen Vierblatt 
in der Mitte offenbar als Quadrate gedacht. Die Seiten dieser Quadrate sind 
nun, wie es auch in der Natur nicht anders sein konnte, nicht genau gezogen, 
wo aber zwei oder gar vier Quadrate hintereinander zu sehen sind, wie 
rechts unter den Füßen des Engels, da läßt sich aus dem Durchschnitt der 
verschiedenen ungenauen und meist nicht einmal völlig geraden Linien 
feststellen, welche Richtung für die Fluchtlinie gemeint ist, und hier ist es 
nun unverkennbar, daß diese alle nach einer Stelle in der Abschrägung des 
Fensters zustreben. An dieser Stelle befindet sich nun in 
der Flolztafcl ein kleines Loch 1 ), weit genug, daß einst darin 
eine Nadel oder ein dünnerer Nagel gesteckt haben kann. Natürlich ist es 
heute mit Farbe, Firnis oder Staub fast ganz ausgefüllt. Die Stelle ist in 
unserer Abbildung 3 ) durch den Punkt im obersten der drei kleinen Kreise 
angedeutet. Nimmt man nun an, daß in der Vorzeichnung des Fußbodens 
die Linien alle nach diesem Punkte ausgerichtet waren, und prüft man die 
Linien des Fußbodens nochmals auf diese Vermutung hin nach, so ergibt 
sich sofort, daß die Abweichungen tatsächlich aus der ungenauen Ausführung 
zu erklären sind. Diese Ungenauigkeiten sind nun aber nicht größer, als es 
notwendig war, wenn der Eindruck des Zufälligen und Natürlichen sollte voll¬ 
kommen gewahrt bleiben. Außerdem läuft auch noch die Linie der Ober¬ 
kante am Schränkchen nach diesem Punkte. Für die unteren Teile 
des Bildes ist also ein Fluchtpunkt vorhanden und 
im Prinzip einheitlich durchgeführt. 

*) Diese wie die folgenden durch den Druck hervorgehobenen Stellen von mir ge¬ 
sperrt. D. V. 

a ) Heinrich Alfred Schmid, Die Gemälde und Zeichnungen von Matthias Griincwald, 
Straßburg, 1911, S. 169. 

Repertorium fiir Kunstwissenschaft, XXXV. 3 


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34 


Joseph Kern, 


»Aber auch das Gewölbe und seine Kämpfer, das 
heißt die Punkte, wo die Gewölbe ansetzen, sind nach einem ein¬ 
heitlichen Fluchtpunkte gezeichnet, nur liegt die¬ 
ser weit tiefer. Zieht man nämlich durch den Scheitel der Gewölbe 
und durch die Stellen, wo die Kapitelle der beiden Seiten zu sehen oder zu 
denken sind, Linien, so treffen sich diese über dem Knie des Engels in den 
Falten des flatternden Gewandes. Auch hier findet sich dicht über der Stelle, 



v IV III II I t a 3 4 s 

Abb. 2 . Jan van Kvck: Madonna des Kanonikus l’ala, Brügge, Akademie. 


wo nach unserer Meinung der Schnittpunkt der Fluchtlinien anzunehmen 
wäre, ein grauer Fleck in der Purpurfarbe der Gewandung, allem Anschein 
nach eine Stelle, wo der Kreidegrund wegen einer Besehädigung die Farbe 
nicht annahm. Der Fleck ist gleich groß wie das Loch in der Fensterbrüstung 
und dürfte vom selben Instrumente herrühren. Er ist auf unserer Abbildung 
in der Mitte des untersten Kreises zu denken. Er befindet sich senkrecht 
unter jenem oberen Fluchtpunkte. 

»Die Fluchtlinien der Kapitelle selber sind nun aber sämtlich nicht 
nach diesem Punkte ausgerichtet, wie es nach unserer heutigen Vorstellung 
doch selbstverständlich wäre. Sie streben fast unverkennbar nach einer 


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Perspektive und Bildarchitektur bei Jan van Eyck. 


35 


Gegend, die zwischen den beiden gefundenen Fluchtpunkten liegt, und es 
scheint, daß der Künstler also für die Wände noch einen mittleren Flucht¬ 
punkt annahm. Auf unserer Abbildung ist eine etwas größere schadhafte 
Stelle im Mantel des Engels angezeichnet, in der sich wenigstens zwei der 
genauer zu kontrollierenden Linien vereinigen. Mit Sicherheit ist die Sache 
hier nicht festzustellen. Doch erheben die übrigen Beobachtungen an der 
Decke und am Fußboden und der Umstand, daß sich auch sonst drei Horizonte 
bei Grünewald und anderen finden, die Wahrscheinlichkeit zur Gewißheit 1 ).« 

Verhältnismäßig ungenau ist die perspektivische Zeichnung im Bilde 
der Pala-Madonna, des Dresdener Reisealtärchens und der Madonna des 



Abb. 3. Innere Ansicht der Rundkirche von St. Benigne in Dijon. 

(heutiger Zustand) 


Kanzlers Rolin. Meine Anmerkung auf Seite 10 der »Grundzüge« bezieht sich 
nur auf die Schärfe der Linien. 

Für die Erklärung des Pala-Bildes (s. Figur 2, Seite 34) liegt die 
Hauptschw-icrigkeit in der perspektivischen Zeichnung des Sockels der Säule 
rechts und der benachbarten Partien des Fußbodens. Der Fall lehrt, zu 
welchen wichtigen kunstgeschichtlichen Fragen perspektivische Unter¬ 
suchungen an alten Bildern führen können. Als Grundriß des Innenraumes habe 
ich ein gleichseitiges, in den Kreis beschriebenes Yicrzchneck angenommen 
(»Grundzüge«, S. 11 und Fig. 2 daselbst, hierFig. 10). Doehlcmann setzt ein 
Halbrund von im ganzen sieben Säulen voraus. Die beiden vorderen Säulen 
seien als frontal zu der Bildebene stehend gedacht. Die Erklärung läuft 

auf den halbrunden Chor einer Basilikalanlagc hinaus. Wie erklärt aber 

» - • 1 ■■ ■ 

*) H. A. Schmid, Matthias Grüncwald, S. 168 ff. 

3 * 


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Joseph Kern, 


36 

Doehlemann den romanischen »Chor« mit der Säule in der Mitte? Chöre 
dieser Art gibt es meines Wissens nicht, höchstens vereinzelte Chöre ohne 
Umgang, in deren Mitte zwei Fenster aneinanderstoßen. Dieser Fall liegt 
z. B. beim Naumburger Dom vor. Als Vorbild für Jans Architektur kann 
jedoch nur ein Chor mit Umgang angesehen werden. Damit erledigt 
sich auch Weales Einwurf, daß das Vorkommen von Chören mit sechs 
Fensteröffnungen wenigstens die Möglichkeit einer Beeinflussung der Bild¬ 
architektur durch einen basilikalen Chor bestehen lasse 2 ). Als Muster für 
sie kommt nur ein romanischer Rundbau mit innerem Säulenkreis in Betracht. 
Nur im Rundbau, der als Raum keine Tiefenachse kennt, ist eine Ansicht 

denkbar, wie sie das Gemälde vorführt. 
Andererseits kann sowohl ein Rundbau 
mit gerader wie mit ungerader Säulenzahl 
dem Künstler, der durch die Architektur 
an keine Richtung gebunden ist, als Vor¬ 
bild gedient haben. Kirchliche Zentral¬ 
bauten der genannten Art hat es in Nord¬ 
europa zu Jans Zeiten, und zwar in grö¬ 
ßerer Zahl, gegeben. Ein Teil dieser Ar¬ 
chitekturen geht auf die Grabeskirche 
in Jerusalem (Grundriß der Gesamtanlage 
nach Dehio und Bezold, Kirchl. Baukunst 
des Abendlandes, hier Fig. 5), ein anderer 
Teil auf den Felsendom zurück, in dem 
man den salomonischen Tempel erblickte. 
Die Vermittlerrolle zwischen Orient und 
Okzident hatten die Kreuzfahrer über¬ 
nommen. Sie brachten aus dem Heiligen 
Lande Ansichten und Beschreibungen von den heiligen Stätten und ihren 
Bauten mit. Der Templerorden errichtete an zahlreichen Orten des Abend¬ 
landes Rundkirchen und -Kapellen nach dem Muster der beiden genannten 
Jerusalemer Tempel. 

Zu den romanischen Zentralbauten, die durch die Grabeskirche in Jeru¬ 
salem angeregt wurden, gehört der Tempel von Neuvy-St. Sepulcre (Fig. 7 
und 8). Der Ort liegt in Mittelfrankreich (Departement Indres) und ist 
nach der Kirche benannt. Gestiftet wurde der Bau im Jahre 1045 »ad 
formam Sancti Sepulcri Jerosolimitani« von Geoffroy, Vicomte de Bourges 1 ); 

*) \Y. H. James Wealc, Hubert and John van Eyck, their lifc and work. I.ondon 190S, 
S. >89, Arm. 3. 

*) E. Viollet-le - Duc, Dictionnaire raisonnö de l’arehitecture fran$aise du XI e — 
XVI C siede, Bd. VIII, S. 287. 



Abb. 4. St. Benigne in Dijon, 
(Nach Dehio und Bezold) 


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Perspektive und Bildarchitektur bei Jan van Eyck. 


37 


in diese Zeit fällt auch die Entstehung des Untergeschosses mit elf Säulen. 
Das zweite Geschoß mit einem Innenkreis von vierzehn Säulen wurde im 
Jahre 1120 errichtet. Das unmittelbare Vorbild, auf das die Kirche von 
Neuvy zurückgeht, hatte die freie Wiederholung der Jerusalemer Grabes¬ 
kirche St. Benigne in Dijon (Fig. 3) abgegeben, die dem Patron und National- 
. heiligen von Burgund, dem hl. Benignus, gewidmet war und in einem be- 



Abb. 5. Heilige Grabeskirchc in Jerusalem. (Nach Dehio und Bezold) 


sonderen, dem größeren (s. Figur4) angefügten kleinen Rundbau das Grab 
des Heiligen umschließt. 

Zwischen der Bildarchitektur des Pala-Bildes und dem Tempel von 
Neuvy-St. Söpulcre bestehen Beziehungen, die cs als unzweifelhaft erscheinen 
lassen, daß Jan van Eyck diese Kirche oder eine ihr ganz ähnliche gesehen, 
studiert und für die Zeichnung des Werkes benutzt hat. Die Bögen, die 
die Säulen des Innenkreises miteinander verbinden, sind in beiden Fällen 
gestelzt, das Verhältnis der Abstände zwischen den Säulen zur Scheitelhöhe 


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38 


Joseph Kern, 


der Arkaden ist nahezu das gleiche; in St. Söpulcre beträgt es i : 3,5, beim 
Pala-Bilde I : 3,75. Die hohen viereckigen Sockel 1 ) unter den Säulen im 



Abb. 6. Das Innere der Anastasis nach der Zeich¬ 
nung von P. Elzearius Horn aus dein Jahre 1725. 
(Cod. Yaticanus lat. 9233). 





Abb. 7. Neuvv-St. Se- 
pulcre. (Nach Dehio und 
Bezold) 


*) Eine Variation des Sockelmotives zeigen das Mittelbild des Dresdener Reise- 
altärchens, die Rolin-Madonna und das bald dem Jan van Eyck, bald dem Petrus Cristus 
zugeschriebene Bild der Madonna mit den beiden weiblichen Heiligen bei Baron Roth¬ 
schild in Paris. Die Sockel in den beiden erstgenannten Werke sind wesentlich schlanker 
gebildet. Der Rumpf steht auf einem gotisch profilierten Fuße, der obere Abschluß weist 
ebenfalls ein gotisches Profil auf. Die Seiten des Rumpfes sind durch gotisches, aus 
dem Rechteck entwickeltes Maßw r erk, im Dresdener Altärchen durch eine achtgliedrige 
Blendarkade, im Rolin-Bilde durch vier vertieft gearbeitete Vierpässe aufgelöst. Bei dem 
Rothschildschen Bilde zeigen die Sockelflächen je zw r ei fast quadratische Felder als 
Dekorationsmotiv. Diese ungewöhnliche dekorative Aufteilung der Seiten des Sockels 
in je zw'ei rechteckige Felder kommt aber bei dem Sockel der Säule im Felsendom von 
Moriah vor! Die vertieften Felder sind von einem Vicrtelstab umrahmt. Der offen¬ 
sichtliche Zusammenhang zwischen Details der Bildarchitektur und der Omar-Moschee 
erklärt sich m. E. nur, wenn angenommen wird, daß Jan van Eyck nach Skizzen gear¬ 
beitet hat, die in Jerusalem selbst, am Bauwerk aufgenommen waren. — Bei der Be¬ 
schaffung von Photographien nach den Jerusalemer Bauten hat mich Herr Professor 


# 


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Perspektive und Bildarchitektur bei Jan van Eyck. 


39 


Pala-Bilde finden sich in der Grabeskirchc von St. Sepulcre nicht vor, 
hingegen ähnlich, nur in mehr antiker Formenbildung, bei ihrem Vorbilde, 



Abb. S. Neuvy-St. Sepulcre. (Nach Dehio und Bezold) 


M. Brockhaus in Florenz auf das liebenswürdigste unterstützt. Seiner Freundlichkeit 
danke ich auch die Kenntnis mehrerer wichtiger Abhandlungen über die Omar-Moschec. 
Die Möglichkeit, eine Abbildung des Inneren der Grabeskirchc nach der Zeichnung von 
E. Horn aus dem Jahre 1725 (Cod. Vaticanus, lat. 9233) zu bringen (s. Seite 38), war mir 
durch das Entgegenkommen des Herrn P. Golubovich, des Herausgebers der E. Homschen 
Beschreibung der Grabeskirche, gewährt. Herr Architekt Otto Stein aus Karlsruhe 
unterzog sich auf meine Bitte der Mühe, die Bildarchitektur der Pala-Madonna mit 
dem Rundbau von Neuvy-St. Sdpulcre seinerseits kritisch zu vergleichen und gelangte 
zu Ergebnissen, die im wesentlichen mit meinen Feststellungen übereinstimmten. 




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40 


Joseph Kern, 




Abb. 9. Der Innenkreis von Neuvy-Saint Scpulcre, gegen die Zeichnung des 
Aufrisses bei Dehio und Besold um einen Winkel von 32,7° gedreht. 


der Grabeskirchc von Jerusalem (Fig. 6). In St. Benigne stehen die Halb- 
säulcn des äußeren Umganges auf gestelzten, abgeschrägten Sockeln, von 
den freistehenden Säulen hingegen, soweit sich noch erkennen läßt, nur 


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Perspektive und Bildarchitektur bei Jan van Eyck. 



Abb. io. Architektur des Pala-ßildes. Grundriß-Rekonstruktion I. 



Abb. ii. Architektur des Pala-Bildes. Grundriß-Rekonstruktion II. 


d i c Säulen des äußeren Umganges, die den Austritt aus der alten Haupt - 
kirche in die Grabkapelle des hl. Benignus vermitteln. 

Die Gewölbe des Umganges der Bildarchitektur und dessen Mauer¬ 
dienste, die aus Halbsäulen vor Pilastern gebildet werden, stimmen mit 


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42 


Joseph Kern, 


den Gewölben und Diensten der Grabeskirche von Neuvy überein. Am 
merkwürdigsten ist aber die Übereinstimmung der Mittelsäule des »Chors« 
im Pala - Bilde mit der Säule, die man, in den Innenkreis von St. 
Söpulcrc eintretend, am Ende der Diagonale erblickte. Man sah immer, 



Abb. 12. Inneres von Santo Sepolcro (S. Stefano) in Bologna 

mit dem Grab des h. Petronius. 


durch welche Arkade man auch nach der Mitte des Baues schritt, bei der 
ungeraden Zahl der Säulen sich einer Säule gegenüber (Fig. 8) ! ). Die An¬ 
sicht, die sich für das Bild bei einer geraden Zahl der Säulen, einen Rundbau 
vorausgesetzt, zwanglos ergibt, wird bei einer ungeraden Zahl von Säulen 
zur absoluten Notwendigkeit. W ir nahmen eine Zahl von vierzehn Säulen 

') Die Kapitelle der Zeichnung entsprechen nicht dem Original; genaue Aufnahmen 
nach den Kapitellen konnte ich erst anfertigen, als vorliegende Arbeit sich bereits im Druck 
befand. D. V. 




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Perspektive und Bildarchitektur bei Jan van Eyck. 


43 


ursprünglich bei der Rekonstruktion der Bildarchitektur an (hier Fig. io, 
»Grundzüge« S. 11); einer Änderung des Grundrisses in einen Kreis mit drei¬ 
zehn Säulen (Fig. n) steht aber die Zeichnung des Bildes nicht im Wege *). 
Es würde sich somit ein Rundbau ergeben, der dem der Rotunde von Neuvy 
in der Verteilung der Säulen nahezu entspräche. Ein Grundriß von elf 
Säulen, wie ihn die Kirche zu Neuvy zeigt, läßt sich freilich wegen der 
neun sichtbaren *) Säulen des Bildes nicht mehr erreichen. Der Abstand 
der beiden vorderen Säulen voneinander ist zu groß, als daß das Polygon 
durch zwei Säulen ergänzt werden könnte. Im äußersten Falle dürfte man 
auf ein Zwölfeck zurückgehen. Das Santo Sepolcro in Bologna (S. Stefano), 
eine der ältesten, wenn nicht die älteste Nachbildung der Jerusalemer Grabes¬ 
kirche, entwickelt die Säulcnstellung des Innenkreises aus dem Zwölfeck 
(vergl. Fig. 12). 

Eine Frontalstellung der beiden vorderen Säulen des Pala - Bildes 
hingegen ist als ausgeschlossen zu betrachten. Eine solche ungeheuerliche 
Verzeichnung, wie sie die Darstellung der Seitenansicht im Sockel der 
rechten Säule aufweisen würde, wenn Doehlemanns Voraussetzung zuträfe, 
kann man Jan van Eyck wirklich nicht zumuten; Punkt S der Figur 2 
(^»Grundzüge«, Tafel V) würde beim Originalbilde in Folge mangelhafter 
Beobachtung des Malers weiter als um im von Punkt F entfernt liegen! 3 ) 
Ist diese Annahme ausgeschlossen, so läßt sich um so leichter vorstellcn, 
daß der Künstler bei der Anfertigung der Vorzeichnung, oder bei der 
Übertragung des Entwurfes auf das Bild den sehr spitzen, bzw\ stumpfen 
perspektivischen Winkel übersehen hat, in dem bei Schrägstellung des 
Sockels die wagrechten Kanten der Vorderseite mit den Breitlinien des 
Fußbodens sich schneiden müßten. Die Divergenz zwischen den Tiefen- 
linien des Fußbodens und des Sockels macht sich bei einer Schrägstellung 
des Sockels in der Wirklichkeit natürlich immer stärker bemerkbar als die 
Divergenz zwischen den entsprechenden Breitlinien. In den Figuren 13 
und 14 sind die Maße der in Betracht kommenden geometrischen Winkel 
für das Dreizehn- und für das Vierzehneck angegeben. 

Der Sockel der beiden mittleren Säulen im Rolin-Bilde Fig. 22 kann 
für die Perspektive zum Vergleiche mit dem erwähnten Sockel des Pala- 
Bildes nicht herangezogen werden. Er ist bei dem kleinen Format des Bildes 
an sich sehr klein und dazu in größerem Abstand von der Bildebene darge- 
stellt. Mit solchen Werten läßt sich nicht mehr arbeiten, da von vornherein 

') Vergl. »Grundzüge#, S. 12. oben. 

2 ) Die Säule hinter dem Thron der Madonna kann als »sichtbar» gelten, trotzdem 
sie ganz verdeckt ist. Vergl. »Grundzüge», S. 11. 

3 ) Die Figur 2 gibt das Schema der Doehlemannschen Rekonstruktion in den 
punktierten Linien an. F.ntsprechend Figur 22. 


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44 


Joseph Kern, 


anzunehmen ist, daß nicht winzige Details in den Bildern von Jan van Eyck 
konstruiert sind. Die Tiefenlinien der Kapitelle im Pala-Bilde, besonders 
aber die Stellung der zweiten Säule links, die nach derselben Seite hin aus¬ 
gerückt erscheinen soll und von Doehlemann als Beweismittel gegen die 
Richtigkeit meiner Rekonstruktion benutzt wird, würden m. E. gegen Doehle- 
manns Ansicht sprechen. Für den Kreis von vierzehn Säulen w r äre die Stel¬ 
lung der Säule annähernd richtig, würde man ein Halbrund von sieben 
Säulen annehmen, wie Doehlemann es voraussetzt, so ließen sie sich über¬ 
haupt nicht mehr unterbringen. 



Abb. 13. Vierzehneck: Stellung des 
Sockels gegen die Bildebene. 


Abb. 14. Dreizehneck: Stellung des 
Sockels gegen die Bildebene. 



Auf meine Deutung der Bildarchitektur als Rundbau Bezug nehmend, 
führt James Weale in seinem Werke über Hubert und Jan van Eyck, S. 189, 
einige Rundbauten an, die dem Künstler als Muster für seine Darstellung 
gedient haben könnten. Er nennt S. Costanza an der via Nomentara bei 
Rom, das Baptisterium in Pisa und die Taufkirche in Parma. Die drei 
Bauten zeigen aber so große Abweichungen von der Architektur des Pala- 
Bildes, daß sie zu deren Erklärung schwerlich herangezogen werden dürften. 
Im Innenkreise von S. Costanza stehen je zwei Säulen vor-, bzw. hinter¬ 
einander, beim Baptisterium in Pisa wechseln 
nicht allein Pfeiler mit Säulengruppen ab, son¬ 
dern auch die Einteilung der Wand des Um¬ 
ganges ist von der Wandgliederung im Pala- 
Bildc grundverschieden, dem Bau in Parma 
fehlt vollends jeder Umgang. Wenn hingegen 
Weale von der Möglichkeit spricht, daß Jan 
van Eyck die Idee des Baues von einer Be¬ 
schreibung der Heiligen Grabeskirche einge¬ 
geben worden sei, so hat diese Vermutung große 

Abb. 15. Mittelbau der Tempel- Wahrscheinlichkeit für sich. Freilich wäre die 
anlage in der Petersburger Kreu- Architektur des Pala-Bildes nur dann befrie- 
zigung. Grundrißschema. digend zu erklären, wenn sich zwischen die 



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Perspektive und Bildarchitektur bei Jan van Eyck. 


45 


Beschreibung und gemalte Architektur ein ausgeführter Bau als Binde¬ 
glied einschalten ließe, der der Bildarchitektur im wesentlichen entspricht. 
Ein solcher Bau wäre Neuvy-St. S^pulcre. 

Zu den angeführten Gründen, die für die Architektur des Pala-Bildes 
die Annahme eines Rundbaues beantragen und sie in Beziehung zur Grabes - 
kirche von Jerusalem setzen, treten eine Reihe weiterer wichtiger Anhalts¬ 
punkte hinzu: 

I. Die Petersburger Kreuzigung, die von Jan van Eyck herrührt oder 
ihm doch mindestens sehr nahe steht *), enthält in dem Stadtbilde von Jeru- 



Abb. 16. Ansicht des Jerusalemer Felsendoms. Detail aus dem Bilde der drei 

Marien am Grabe bei Sir F. Cook, Richmond. 


salem, das im Hintergründe sichtbar wird, einen runden dreigeschossigen 
romanischen Zentralbau, der, trotz einer Reihe teils phantastischer Zu¬ 
taten 2 ), nach Größe, Grundform und Gliederung nur die Anastasis, die große 


•) Über die Möglichkeit einer Zuweisung des Bildes an Hubert van Eyck s. H. G.Hotho, 
Die Malerschule Huberts van Eyck nebst deutschen Vorgängern und Zeitgenossen, Bcrlini85.S, 
II. S. 169. Vergl. W. Bode, Die Kaiserliche Gemälde-Galerie in St. Petersburg, Paris, 18X3. 

l ) Die Flankiertürme von ganz geringem Durchmesser sind echt bur- 
gundisch. Sie kommen zahlreich, als Treppentürme wie als rein dekorative Bauglieder, 
an der Kirche von Notre Dame in Dijon vor. Vielleicht haben sich in unserem Falle die 


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46 


Joseph Kern, 


Rotunde der Heiligen Grabeskirche vorstellen kann. (Vergl. Fig. 6 und 15). 
Es fehlt das Langschiff (die Basilika), das (die) die Kreuzfahrer an die 
Rotunde anbauten >). 

2. In Brügge, der Stadt, in der Jan van Eyck seine Haupttätigkeit 
entfaltete, war die Grabeskirche von Jerusalem wohlbekannt. Die Brüder 
Pierre und Jacques Adornes hatten neun Jahre, bevor Jan van Eyck das 
Pala-Bild malte, in Brügge eine Kapelle des hl. Grabes nach dem Vorbilde 
des hl. Grabes errichtet l ). 

3. Philipp von Burgund, Jans fürstlicher Herr und Gönner, war leiden¬ 
schaftlicher Anhänger der Kreuzzugsidee; er hatte selbst einen Kreuzzug in 
Aussicht genommen und von dem Franzosen Bertandon de da Brocquiörc 
Berichte über das hl. Land und die hl. Stätten eingeholt 3 ). 

4. Die Grabeskirche von Neuvy stand in größter Verehrung. Sic um¬ 
schloß kostbare Reliquien, zu denen die Gläubigen wallfahrteten: ein Frag¬ 
ment des heiligen Grabes und einige Tropfen des hl. Blutes Christi. Kar¬ 
dinal Eudes de Chäteauroüx, Bischof von Tusculum, hatte die Heiligtümer 
dem Domkapitel von Neuvy aus Viterbo übersandt 4 ). 

5. Jan van Eyck hat vor dem Jahre 1436, dem Entstehungsdatum 
des Pala-Bildes, außer der Reise nach Portugal nachweisbar größere Reisen 
unternommen. Wenngleich sic »in geheimer Mission« und daher offenbar 
zu politischen oder persönlichen Zwecken des Herzogs Philipp ausgeführt 
wurden, so konnten sie ihn doch leicht mit dem berühmten Wallfahrtsort 
Neuvy-St. Sepulcre oder der Grabeskirche des hl. Benignus in Dijon in 
Berührung bringen. Die Reise, die Jan im Juli 1426 machte, war, wie die 
Urkunde 5 ) ausdrücklich hervorhebt, eine Pilgerreise. 

Türme aus einem mißverstandenen Grundriß und zwar der Apsiden der Jerusalemer 
Grabeskirche (Anastasis) entwickelt. 

*) Eine genaue stilkritische Vergleichung der Bildarchitektur mit den Bauten des 
Konstantin, Modestus und der Kreuzfahrer wie den Darstellungen der Grabeskirche auf 
der Berliner Kreuzigung und verwandten Bildern soll an anderer Stelle versucht werden. 
Vergl. Anm. auf S. 51. 

2 ) Vergl. I- Kaemmercr, Hubert und Jan van Eyck. Velhagen u. Klasing, Künstler- 
Monographien, Bd. XXXV (189.8), S. 52. 

3 ) L. Kaemmerer, Hubert und Jan van Eyck, S. 31. Vergl. die Reisebeschreibung 
Bertandons de la Brocquiire: tVoyage d’outrcmcr et retour de Jerusalem en France 
par la voie de terre, pendant les cours des annecs 1432 et 1433, Par Bertandon de la 
Brocquiere« . . . Auszug veröffentlicht aus einem Manuskript der Pariser National-Biblio- 
thek und in modernes Französisch übertragen von Legrand d’Aussy. M6moircs de 
1 ‘Institut National des Sciences et Arts. M^moircs de morale et politique. 2. T. 5. Paris, 
Boudouin, 1804. 

*) Viollet-le-Duc, Dictionaire raisonnc de l’architecturc fran^aLe du XI C —X\T C 
siede, Bd. VIII, S. 288. 

5 ) Abgedruckt bei J. Weale, a. a. O., S. XXXI und XXXII. 


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Perspektive und Bildarchitektur bei Jan van Eyck. 



Abb. 17. Roger van der Weyden: Darbringung im Tempel. 

München, Pinakothek. 


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4 s 


Joseph Kern, 


6. Das Städtebild im Hintergründe des Gemäldes bei Sir Francis Cook 
in Richmond (England): »Die drei Marien am Grabe« enthält eine Abbil¬ 
dung des Felsendomes auf Moriah (Fig. 16), die der Wirklichkeit soweit 
entspricht, daß eine ziemlich genaue Beschreibung des Tempels dem 
Künstler als Grundlage für seine Darstellung gedient haben muß. Der 
Autor des Werkes ist nicht bekannt; es wurde bald dem Hubert, bald dem 
Jan van Eyck zugeschrieben, von einigen Forschern als Schulbild des Jan 
van Eyck erklärt. In jedem Falle hängt es eng mit Jan van Eyck zu¬ 
sammen und besitzt somit für die Erkenntnis der Beziehungen des Jan 
van Eyck zu Jerusalem hohen dokumentarischen Wert 1 ). 

Die Lage der Fliesen im Bodenbelag der Pala-Madonna hat mit dem 
Grundriß der Architektur an sich nichts zu tun. Die Richtung scheint aber 
anzudeuten, daß der Rundbau, auf den Jans Zeichnung nach unserer An¬ 
nahme zurückgeht, den Abschluß eines älteren Lang¬ 
baues bildete. Die Fliesen im Rundbau wären dann, im Anschluß 
an den Fußboden des Langbaues, in dessen Richtungsachse gelegt worden. 
Die Verbindung von Langbau (Basilika) und Rundbau, die die Voraus¬ 
setzung für diese Hypothese bildet, kommt gerade bei Neuvy-St. Scpulere 
vor. Auf Neuvy träfe auch zu, daß die Rotunde nachträglich an den Lang¬ 
bau angebaut wurde. Übrigens stünde die Darstellung eines romanischen 
Rundbaues im Pala-Bilde, der mit einem Langbau in Verbindung gestanden 
hätte, nicht ohne Gegenstück in der altniederländischen Malerei da. Eine 
ihrer interessantesten Bildarchitekturen ist der »Jerusalemer Tempel« mit 
der »Darbringung« im rechten Flügel des Dreikönigsaltars des Roger van der 
Weyden (Fig. 17). Die Tafel befindet sich heute in der alten Münchener 
Pinakothek. Der Grundriß (Fig. 17) *) zeigt, wenn man die Rotunde allein 

*) Bei dem »Grab Christi« im Vordergründe des Bildes sollte man eigentlich 
eine Darstellung der Grabeskirchc im Hintergründe erwarten. Vor einigen Jahrzehnten 
wurde noch die Frage heftig erörtert, ob nicht das Grab des Herrn im Schoße der Höhle 
gelegen habe, über der sich der Felscndom auf Moriah wölbt, ferner, ob die Rotunde der 
hl. Grabeskirche nach dem Felsendom oder der Fclsendom nach der Anastasis gebaut 
worden ist? Sollte etwa der Maler des Bildes in der *Kubbet-es-Sachrah« den Ort ver¬ 
mutet haben, an dem Christus bestattet worden ist ? ? Eine genauere Untersuchung der 
Frage und der mit ihr zusammenhängenden Probleme gibt vielleicht wertvolle Aufschlüsse 
zur Geschichte des Bildes und seines Urhebers. 

l ) Der Deutlichkeit halber wurden die konstruktiv unwichtigen, in den einsprin¬ 
genden Ecken stehenden Dienste in den Grundriß nicht eingezeichnet. D. V. — Der 
Tempel im Ouwaterschen Bilde mit der Auferweckung des Lazarus (Berlin, Kaiser- 
Fricdrich-Museum), den Jantzcn in seinem Buch über das niederländische Architektur¬ 
bild (Leipzig, Klinkhardt und Biermann, 1910), zu meiner Rekonstruktion des Baues 
aus dem Pala - Bild in Beziehung bringt, geht ebenfalls allem Anscheine nach auf die 
Anastasis, die »Auferstehungskirche« der Jerusalemer hl. Grabeskirche, als Vorbild 
zurück. Es würde sich in diesem Falle zwischen dem geschilderten Vorgang und der Ar- 


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Perspektive und Bildarchitektur bei Jan van Eyck. 


49 


ins Auge faßt, große Ähnlichkeit mit dem Grundriß des Felsendoms (Fig. 18), 
im übrigen wieder Verwandtschaft mit dem Schema von Neuvy-St. S^pulcre: 
Rundbau in Verbindung mit Langbau oder doch 
langgestreckten, aus der Rotunde weit heraus* 
tretendem Chor. Sehr beachtenswert ist das Portal 
im Rundbau, das sich nach der Straße öffnet. Bei 
der Kirche von Neuvy fand sich ein Portal fast an 
der gleichen Stelle. Die nebenstehende Zeichnung 
versucht über die Einzelheiten des Grundrisses der 
Bildarchitektur genaueren Aufschluß zu geben (Fig. 
iq). Eis zeigt sich, daß der Maler die vorderen 

Felsendoms, nach Frie- 

Partien des Rundganges völlig unterdrückt. Der drjch WUhelm ünger 
Zeichnung des Gemäldes zufolge springt die äußere 

Mauer des Umganges vom Punkt A des Grundrisses plötzlich nach Punkt 
Z des Innenkreises über. 



Abb. 18. Grundriß des 



Abb. 19. Roger van der Weydcn: Darbringung im 
Tempel, München. Grundriß der Bildarchitektur. 


Wenden wir uns 
wieder der Zeichnung 
des Pala-Bildes zu. 

Nach dem Gesagten 
scheidet der Sockel der 
Säule rechts aus der per* 
spektivischen Betrach¬ 
tung des Fußbodens aus. 
Wir haben nun zu unter¬ 
suchen, ob und wie weit 
das eingezeichnete Qua¬ 
dratnetz denAnforderun- 
gen an eine Konstruktion 
entspricht. Doehlemann 
weist das Vorhandensein 
von zehn Schnittpunkten 
bei Verlängerung von je 
zwei aufeinander folgen¬ 
den Tiefenlinien nach. 
Sogleich aber gibt er zu, 
daß sechs der konstru¬ 
ierten Punkte wegen der 


chitektur eine symbolische Beziehung ergeben, wie sie zwischen der Nachbildung der 
Grabeskirche in Bologna, San Sepolcro (vergl. S. 43 und Figur 12) und dem Grab des 
in der Kirche bestatteten hl. Petronius (starb 430) besteht. Das Grab selbst ist eine 
Nachbildung des hL Grabes und wurde im 12. Jahrhundert errichtet. Nach dem Bericht 
des Johannes-Evangeliums ist Lazarus in Bethanien begraben worden. 

Repertorium für Kunstwissenschaft, XXXV. a 


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5° 


Joseph Kern, 


geringen Abstände voneinander als zwei betrachtet werden können. 
Aus den zehn Punkten werden somit bereits sechs. Diese Zahl läßt 
sich wiederum vermindern, nämlich dann, wenn man bei der Prüfung 
der Perspektive nach einem anderen Verfahren vorgeht. Würde z. B. 
Doehlemann die Schnittpunkte der Linien V und I, V und VI, i und 7 (die 
Zahlen beziehen sich auf Doehlemanns Figur in der Zeitschrift für graphische 
Kunst; vergl. die Figur auf S. 34 dieses Heftes) festgestellt hat, so würde er 

etwa bei Punkt F als 
gemeinsamem Flucht - 
Zentrum bzw. -Punkt für 
fünf bis sechsTiefenlinicn 
angelangt sein. Eis lassen 
sich die Orthogonalen 
auch nach anderen Kom¬ 
binationen verlängern, so 
daß ein von der Doehle- 
mannschen Rekonstruk¬ 
tion vollkommen ver¬ 
schiedenes Bild der Per¬ 
spektiveentsteht. Meine 
Behandlung des Falles 
ging von der wohl be¬ 
rechtigten Voraussetzung 
aus, daß der Nachweis der Konstruktion erbracht ist, wenn gezeigt wird, daß 
eine größere Zahl von Orthogonalen einer Ebene sich in einem Punkt oder 
dessen Nähe schneidet. Falls Doehlemann den Grundsatz nicht gelten lassen 
will, so ist er im analogen Falle sicher nicht berechtigt, die Tiefenlinien der 
Decke und des Fußbodens im »Gottesurteil« des Dirk Bouts, die der von 
ihm angenommenen Konstruktion nicht genau entsprechen, außer Acht 
zu lassen. 

Mit dem E'ußboden des Dresdener Altärchens verhält es sich ähnlich 
wie mit dem Boden im Bilde der Pala-Madonna. Es sei daher bloß auf 
Tafel VI der »Grundzüge« und die Darlegungen auf S. 13 der Schrift ver¬ 
wiesen. 

Das Petersburger Bild zeigt wieder deutlich eine Orientierung der 
Orthogonalen nach einzelnen Ebenen. Anläßlich der Ausstellung des Golde¬ 
nen Vließes in Brügge konnte ich das Original auf meine früheren Beobach¬ 
tungen und Messungen hin nochmals prüfen. Die Untersuchung ergab drei 
Konvergenzzentren für drei Ebenen, von denen das Zentrum für die Flucht 
der Kirchenwand rechts außerhalb der Bildebene liegt. Zwei dieser Kon¬ 
vergenzzentren, nämlich die für den E'ußboden und die Wand des Kirchen- 



Abb. 20. Triforium im Bilde der Petersburger 

»Verkündigung«. 




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Perspektive und Bildarchitektur bei Jan van Eyck. 


5 1 


schiffes, sind als punktuelle zu bezeichnen. Ob der Engel eine wunde Stelle 
der perspektivischen Zeichnung »verdeckt«, wie ich im Gegensatz zu Doehle- 
mann annehme, ist eine Frage von untergeordneter Bedeutung; um so 
wichtiger scheint die deutlich erkennbare Zusammenfassung der Ortho¬ 
gonalen in drei Büschel. Überaus merkwürdig ist die Architektur der Kirche, 
besonders der gradlinige »Chor«-Abschluß mit Umgang und die Bildung des 
Triforiums mit den schlanken Säulen (Fig. 20). Eine nur einigermaßen 
befriedigende Erklärung ist bisher nicht gefunden worden, doch steht fest, 
daß der Raum eine Erfindung des Malers ist. Die einzelnen Architekturteile 
stammen von verschie¬ 
denen Bauten. Be¬ 
kanntlich soll das 
Bild von Herzog Phi¬ 
lipp III. an eine 
- Kirche in Dijon ge¬ 
stiftet worden sein: 
die zierlichen 
Säulen der Gale¬ 
rie dürften von 
der Fassade von 
Notre Dame in 
Dijon (Figur 21) 
übernommen sein, 
wo sie, zu einer ähn¬ 
lichen Arkade gereiht, 
in entsprechender 
Höhe auftreten; der 
gradlinige Abschluß 
des Querschiffes die¬ 
ser Kirche hat dem 
Künstler vermutlich 
die Idee des gradlinig abschließenden »Chores« eingegeben. *) — Eine verwandte 
perspektivische Anlage wie das Petersburger Werk bekundet die Berliner 
Kirchen-Madonna. Man vergleiche mit dem Bilde die »Kopie« in Feder¬ 
zeichnung aus der Sammlung Robinson (London) vom Anfang des 17. Jahr¬ 
hunderts. Hier sind alle Tiefenlinien nach einem Zentrum 
bestimmt. Die Zeichnung ist im übrigen perspektivisch nicht genauer als die 

>) Eine Erklärung der Eyckschen Bildarchitektur vom Standpunkte der vergleichen¬ 
den Architekturforschung zu geben, liegt nicht in der Absicht dieser Arbeit, vielmehr 
sollen im wesentlichen nur die Beziehungen der Bildarchitektur zur perspektivischen Dar¬ 
stellung behandelt werden. 

4 * 



Abb. 21. Notre Dame in Dijon, Galerien der Fassade. 


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5 2 


Joseph Kern, 


Zeichnung des Berliner Bildes. Wie kommt es nun, daß das Eycksche Bild 
drei Fluchtzentren, bzw. -Punkte aufweist, während die Kopie des 17. Jahr¬ 
hunderts sich mit einem Zentrum, bzw. Punkte begnügt? Wenn die Künstler 
nicht beide bewußt nach ihnen vorschwebenden und zwar verschie¬ 
denen Prinzipien gezeichnet hätten, wäre dieser Unterschied ganz 
undenkbar. Das Prinzip kann aber im ersten Falle nur in der Annahme eines 
Fluchtpunktes für je eine Ebene, im zweiten Falle nur in der Voraussetzung 
eines Fluchtpunktes für den Raum zu suchen sein. Als Vorbild für die Archi¬ 
tektur dieses Werkes wurde von M. Hulin *) die Kathedrale von Gent, von 
K. Voll*) St. Denis in Vorschlag gebracht. Eine Quelle, aus der Jan Details 
übernahm, dürfte aber jedenfalls in der Hauptkirche von Burgund, St. Be¬ 
nigne in Dijon, zu suchen sein: Die Durchbrechung der Wandpfeiler inner¬ 
halb der Triforien-Arkade und oberhalb derselben im Hauptschiff, die Bil¬ 
dung der Sockel an den Vierungspfeilern, das sechsteilige Triforium in der 
ersten Trav6e hinter der Vierung und die Ausgestaltung der Chorfenster 
lassen Beziehungen zwischen dem gotischen Bau von St. Benigne und der 
gemalten Architektur deutlich erkennen. Da andererseits der alte, roma¬ 
nische Bau von St. Bönigne mit der Architektur im Bilde der Pala-Madonna 
Berührungspunkte 3 ) aufweist, ferner, wie gezeigt wurde, Teile aus der 
Architektur des Petersburger Bildes und ähnliche Raumgestaltungsprin¬ 
zipien an der Kirche Notre Dame in Dijon wiederkehren, so ergibt sich 
mit Gewißheit, daß Jan van Eyck in Dijon gewesen ist. 

Die Madonna des Kanzlers Rolin (Fig. 22) gehört zu den am meisten 
umstrittenen perspektivischen Darstellungen des Jan van Eyck. Würde 
Doehlemann auf dieses Bild das Verfahren anwenden, das ihn bei dem 
»Gottesurteil« des Dirk Bouts eine Konstruktion für die Führung der 
Tiefenlinien finden und die Vermutung aussprechen läßt, daß auch die 
Einteilung der Orthogonalen auf einer Konstruktion fußt, so würde 
er logischerweise beim Rolin-Bilde zu einem ähnlichen Schlüsse kommen 
müssen. Mein verstorbener Lehrer Guido Hauck war der Meinung, daß das 
Rolin-Bild im Prinzip nach einem Fluchtpunkte konstruiert sei, er hat diese 
Ansicht außer in persönlichen Gesprächen wiederholt im Kolleg geäußert. 
Seine Meinung teilen Chr. V. Nielsen, Seeck, Dvoräk und andere. Nielsen 
führt aus: »In dem Bilde liegt der Horizont in zwei Drittel Höhe über der 
Grundlinie. Die Distanz ist gleich der Grundlinie des Bildes, und die Dia¬ 
gonalen in allen perspektivischen Quadraten passen genau dazu, s o d a ß 
kein Zweifel darüber besteht, daß die Grundzüge 
in diesem Bilde wirklich konstruiert sind.« (Filippo 

') Congres de Bruges, 1902, Compte rendu, S. 21. 

J ) Altniederländische Malerei, S. 39. 

3 ) Siehe oben, S. 35, 37. 


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Perspektive und Bildarchitektur bei Jan van Eyck. 


53 


Brunellesco og Grundlaeggelsen af Theorien for Perspektiven, Kabenhavn 
1896.) Ich gehe nicht so weit wie Nielsen, sondern behaupte in Überein¬ 
stimmung mit den oben Genannten nur, daß sich die Flucht der Tiefenlinien 

im Prinzip nach einem Punkte richtet. Doehlemanns Ausführungen und 

% 

seine figürlichen Erläuterungen halten zum Beweise des Gegenteils nicht stand. 



vt v rv III l( I 1 a 3 4 s 6 


Abb. 3 2. Jan van Eyck: Madonna des Kanzlers Rolin, Paris, Louvre. 

Mit seiner Rekonstruktion der Zeichnung der Rolin-Madonna verhält es 
sich-ähnlich wie mit seiner zeichnerischen Erläuterung des' Pala-Bildes. 
Es werden nicht die Schnittpunkte gesucht und hervorgehoben, die 
zusammenfallen, oder doch möglichst nahe bei einander liegen, wie etwa die 
Schnittpunkte der Linien VI, II, I, 1, 2 der Doehlemannschen Figur (vergl. 
Fig. 22, die in den Schnittpunkten der punktierten Linien einige von Doehle* 


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54 


Joseph Kern, 


mann festgestellte Fluchtpunkte zur Verdeutlichung des D.sehen Schemas 
vorführt), sondern »die Schnittpunkte je zwei aufeinanderfolgender Tiefen- 
linien«. Hierbei ergibt sich natürlich ein verhältnismäßig sehr ungünstiges 
Bild. Diese Art der Untersuchung hat aber nur dann ihre Berechtigung, 
wenn es sich um die mathematische Nachprüfung einer zu mathematischen 
Zwecken ausgeführten Zeichnung handelt. Man beachte, daß bei der An* 
Wendung der Doehlemannschen Methode die geringste Verschiebung des 
Lineals genügt, um außerordentlich große Verschiebungen der Fluchtpunkte 
herbeizuführen. Aber selbst gesetzt den Fall, daß es stets technisch möglich 
wäre, dem Lineal die ideale Richtungsachse einer gradlinig gezeichneten 
Linie — mehrere Linien lassen die Gradlinigkeit vermissen — bei deren Ver¬ 
längerung zu geben :die Fehler, die durch den Auftrag der Farbe auf die Zeich¬ 
nung entstanden sind, durch die Veränderungen, die das Holz des Malgrundes 
im Laufe der Jahrhunderte erlitten hat, die Ungenauigkeiten, die sich bei der 
photographischen Aufnahme durch das Negativ, durch die Veränderlich¬ 
keit des Papiers wiederum für die Abzüge usw. J ) ergeben, werden sämtlich 
zu Quellen enormer Abstände für die Schnittpunkte der Tiefenlinien von- 
einander. Um es allgemein zu sagen :Je näher die Orthogonalen 
beieinander liegen, die man verlängert, desto un¬ 
genauer ist das Resultat, je weiter sie auseinander 
liegen, desto genauer. Die Tiefenlinien, auf die Doehlemann 
seine Beweisführung stützt, folgen unmittelbar »auf einander«. Es wird 
schwerlich ein einziges Bild auf der Welt geben, das, nach der Doehlemann¬ 
schen Art untersucht, perspektivisch fehlerfrei wäre. Auch die Orthogonalen 
des Berliner Bildes aus der Botticelli-Schule, der »Madonna mit den sieben 
Engeln«, schneiden sich, wenn man sie nach dem Doehlemannschen Ver¬ 
fahren untersucht, nicht genau in einem Punkt. Und doch liegt die Kon¬ 
struktion offen zutage 3 ). 

Die Untersuchung muß, wenn sie sich »von jeder Pedanterie fern halten 
möchte«, nach anderen Grundsätzen vorgenommen werden als den von 
Doehlemann angewandten, falls sie überhaupt zu einem Ergebnis gelangen 
will. Die im ersten Augenblick unbegreiflich erscheinenden Widersprüche 
zwischen den Ansichten über die Perspektive des Rolin-Bildes finden ihre 
einfache Erklärung in der Verschiedenheit der Untersuchungsmethoden. 

Durch sie wird offenbar auch die Verschiedenheit in den Auffassungen 
über das Wesen der linearen Perspektive bei Petrus Cristus begründet. 
Doehlemann hat 1906 selbst die Ansicht ausgesprochen, Petrus Cristus scheine 
das Gesetz vom Fluchtpunkt der Tiefcnlinien, und zwar in seiner Bedeutung 


•) Doehlemann, »Graphische Kunst«, Wien 1906, Heft 1, S. 2. 

2 ) s. Jahrbuch der Königl. Preußischen Kunstsammlungen, Bd. XXVI, S. T37 f- 


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Perspektive und Bildarchitektur bei Jan van Eyck. 


55 


für den Raum, zu kennen (Zeitschrift für Mathematik und Physik, Bd. 52, 
Heft 4, S. 423), heute tritt er dieser Ansicht mit Entschiedenheit entgegen 
(Repertorium, Bd. XXXIV, 6. Heft, S. 503). Nach seinen letzten Ausführun¬ 
gen lassen die Frankfurter Madonna mit den beiden Heiligen (Fig. 23), 
die Berliner Verkündigung des Petrus Cristus und die kleine Berliner Ma- 



Abb. 23. Petrus Cristus, Madonna mit dem hl. Hieronymus und dem hl. Franziskus. 

Frankfurt, Städelsches Institut. 


donna mit dem Karthäuser die Anwendung des Gesetzes vermissen. Bei 
dem zuletzt genannten Werk soll höchstens die Möglichkeit bestehen, »daß 
in ihm das Gesetz für die Zeichnung des Fußbodens beobachtet ist« (Re¬ 
pertorium, Bd. XXXIV, Seite 505). Hier läge dann eine Konstruktion 
vor, wie ich sie für die Mehrzahl der Werke des Jan van Eyck bean¬ 
sprucht habe! Es gibt m. E. keinen schlagenderen Beweis gegen die 


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56 


Joseph Kern, 


Richtigkeit der Hypothese Doehlemanns betreffend die Perspektive bei 
Petrus Cristus als sein auf S. 504 des Repertoriums (Bd. XXXIV) abge¬ 
bildetes Diagramm. Es ist, wie mir Professor Doehlemann brieflich mit¬ 
teilt, und wie sich bereits aus dem Vergleich der Rekonstruktion mit 
dem Original — die Direktion des Städelschen Instituts gestattete mir 
entgegenkommenderweise eine eingehende abermalige Untersuchung des 
Bildes — ergeben hatte, nach einer Photographie ausgeführt und kann 
daher an sich nicht beanspruchen, als unbedingt zuverlässig zu gelten, 
die Zeichnung liefert aber trotzdem das typische Schema eines nach 
einem Fluchtpunkt konstruierten alten Bildes, das durch kleine Beschädi¬ 
gungen und Übermalungen geringe Verschiebungen im Liniensystem der 
Vorzeichnung erlitten hat. Doehlemann wird zugeben, daß sich auch beim 
heutigen Zustande des Werkes noch mindestens sechs Orthogonalen des 
Raumes in Punkt F der Tafel XIII aus den »Grundzügen« (vgl. Fig. 23) 
zwanglos zu gemeinsamem Schnitt bringen lassen. Das Vorhandensein 
des gemeinsamen Schnittpunktes läßt darauf schließen, daß der Innenraum 
vom Maler konstruiert ist. Es tritt ein Umstand hinzu, der eine andere 
Erklärung unmöglich macht: Punkt F, der Fluchtpunkt der Orthogonalen, 
liegt zugleich auf dem perspektivischen Horizont der Landschaft. Das Bild 
hat sich aber gezogen, ist verbogen, weist vier größere Sprünge auf und ist 
teilweise, dazu ganz roh, übermalt 1 ! Außerdem sind die Linien selbst, auf 
die Doehlemann seinen Rekonstruktionsversuch stützt, nicht gezeichnet, 
sondern gemalt. Nun ist der feinste Pinsel in geschicktester Hand noch 
ein denkbar ungeeignetes Mittel zur Ausführung perspektivischer Kon¬ 
struktionen. Eine Linie, die in der Vorzeichnung scharf 
und gerade ist, wird bei einer Übermalung mit 
Farbe unfehlbar unscharf und ungerade. Die Frank - 
furter Tafel zeigt wirklich in mehreren Fällen eine Abweichung der gemalten 
von den gezeichneten Linien. Daß sich nicht alle Orthogonalen des 
Bildes in F schneiden, brauchte von Doehlemann nicht bewiesen zu werden, 
da der Beweis bereits durch die Tafel in den »Grundzügen« erbracht war, 
hingegen mußte gezeigt werden, daß aus der gemeinsamen Flucht der 
Linien, die sich im perspektivischen Horizont der Landschaft schneiden, 
kein zwingender Schluß auf das Vorhandensein einer Raumkonstruktion 
zu ziehen ist. Dieser Beweis steht aus. 

Tafel XI und XII der »Grundzüge« geben die Gründe an, die für die 
Annahme einer bewußten Konstruktion in der »Verkündigung« des Petrus 
Cristus von 1452 und der dem Maler von den meisten Forschern zugeschriebe¬ 
nen Berliner Madonna mit dem Karthäuser sprechen. Mutatis mutandis 
gilt von der perspektivischen Anlage dieser Arbeiten, was über die Zeichnung 
im Bilde der Frankfurter Madonna ausgeführt wurde, mit der Einschränkung 


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Perspektive und Bildarchitektur bei Jan van Eyck. 


57 


vielleicht, daß im Bilde mit dem knienden Mönch der Horizont der Land* 
schaft um ein Geringes oberhalb des Horizontes des Innenraumes liegt. 
Doehlemann bringt auch gegen die Konstruktion dieser Werke nichts von 
Belang vor, was nicht bereits als Abweichung von ihr in meiner zitierten 
Arbeit angegeben worden wäre und sich nicht aus der Technik der Ausführung, 
dem Alter der Bilder, »Restaurationen« und einer gewissen Lässigkeit des 
Künstlers erklären ließe. Mit dem Hinweis auf die Richtung der Tiefen¬ 
linien am Türmchen der hl. Barbara oder irgend welcher Hintergrund - 
architekturen läßt sich die Konstruktion des Innenraumes nicht beseitigen. 
Daß ganz kurze Tiefenlinien, die für den allgemeinen Raumeindruck nahezu 
belanglos sind, aus freier Hand in sonst konstruierte Bilder eingezeichnet 
werden, kommt nicht allein bei Jan van Eyck, sondern auch bei zahlreichen 
anderen Künstlern vor; wir erinnern, um aus Hunderten von Beispielen 
eines herauszugreifen, an die Zeichnung der Pfeiler in den meisten gemalten 
Hallen des Perugino. Außerdem ist die Abweichung der Orthogonalen 
von der Richtung auf den Fluchtpunkt des Raumes sehr gering. 

Die Verwendung eines Fluchtpunktes für die 
Zeichnung horizontaler Ebenen ist bereits in nor¬ 
dischen Malereien vom Ende des 14. Jahr h. nach¬ 
zuweisen. Das bekannte Triptychon der Madonna mit der Bohnen- 
(Erbsen-)blüte im Wallraf-Richartz-Museum zu Köln zeigt auf der Rück¬ 
seite der Flügel eine Verspottung Christi. Der Raum wird nur angedeutet, 
nicht wiedergegeben, das Bestreben des Künstlers geht jedoch unverkennbar 
auf eine Erweiterung des traditionellen Schauplatzes aus. Dem frühen 
Mittelalter hätte zur Bezeichnung des Lokals noch ein Torbogen ohne jede 
Tiefe und ein schmaler Bodenstreifen genügt, während unser Maler die 
Figurengruppe auf einem braunweißen Fliesenfußboden, der sich ziemlich 
weit in die Tiefe erstreckt, Platz nehmen läßt. Der Hintergrund ist 
neutral gehalten, der Fußboden in starker Aufsicht gesehen; er setzt 
sich in gerader Linie gegen den Grund ab, sofern er nicht durch die 
Figuren verdeckt wird. Das Ganze in frontal-symmetrischer Ansicht. Die 
Zeichnung der Orthogonalen wurde nach dem zentralperspektivischen 
Prinzip ausgeführt. Die Tiefenlinien gehen bei der Verlängerung zum Teil 
durch einen Punkt, der in Stirnhöhe des sitzenden Christus liegt. Von den 
seitlichen Orthogonalen sind einige in leichten Kurven, die sich nach dem 
Bildrande hin öffnen, gebogen, was darauf schließen läßt, daß für die 
Empfindung des Malers das Fluchtzentrum zu tief angenommen war. Nach 
der zentralperspektivischen Methode ist auch der asymmetrisch gesehene 
Fliesenboden der Kölner Verkündung, von der die Figur 24 den Flügel 
mit dem Verkündigungsengel vorführt, angelegt, wenngleich einige Linien 
nach der älteren, antik-byzantinischen Art noch in parallel-perspektivischer 


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58 


Joseph Kern, 


Projektion erscheinen, ferner sind nach dem zentralen Schema die Fu߬ 
böden des Münchener Veronika-Bildes aus der Schule des Meisters Wilhelm 



Abb. 24. Schule des Meisters Wilhelm, Engel aus einer Verkündigung. K«iln, 

Museum-Wallraf-Richartz. 

und der »Dornenkrönung« aus dem altkölnischen Triptychon der kürzlich 
versteigerten Hamburger Sammlung W : eber gezeichnet. Ob sich in den 


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Perspektive und Bildarchitektur bei Jan van Eyck 


Abb. 25. Brocderlam, Darbringung im I'empel 

Dijon, Museum. 


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6o 


Joseph Kern, 


tivisch orientieren, nicht auf eine Entdeckung 
eines der Brüder van Eyck zurückgeht. Sie 
übernahmen vielmehr ein bestehendes Schema 
und versuchten, mit dem überkommenen, mathe¬ 
matisch unrichtigen Verfahren neue, zum Teil 
ungemein schwierige Aufgaben zu lösen. Hubert 
und Jan van Eyck machten unter den nordischen Künstlern zuerst mit 
der Wiedergabe wirklicher Räume Ernst; selbst ideale Architekturen, wie 
die Loggia des Kanzlers Rolin, bekunden die Absicht auf eine illusio¬ 
nistisch-räumliche Wirkung. In der Berliner Kirchen - Madonna ist die 
Übereinstimmung mit der Wirklichkeit für das Größenverhältnis der Figur 
zum Raum ,zwar bewußt, zugunsten der Madonna, aufgegeben, der 
Raum selbst aber ist, wie sonst, als Durchschnitt eines wirklichen 
Raumes aufgefaßt. Das Prinzip, den Raum zu durchschneiden, gelangt 
überall konsequent zur Anwendung: Der Maler befindet sich selbst im 
Innenraum, den er darstellt. 

Der Versuch, mit Hilfe des alten, unvollkommenen Konstruktionsver¬ 
fahrens der Schwierigkeiten Herr zu werden, die sich aus den neuen 
Motiven der Raumdarstellung 1 ) ergaben, mußte fehlschlagen. 
Ja, je enger der Künstler sich an die Vorschrift hielt, die ihm überliefert 
war, desto tunnatürlicher« mußte das Bild aussehen. Das Arnolfinibild 
und die Petersburger Verkündigung spiegeln die Verlegenheit des Malers, 
einen Ausweg aus der Perspektive der Ebene in die Perspektive des Raumes 
zu finden. Solange am Prinzip des Fluchtpunktes für die Einzelebene festge- 
halten wurde, gab es überhaupt keine Möglichkeit, Verzerrungen zu ver¬ 
meiden, man mußte denn zu Kompromissen seine Zuflucht nehmen. Hier 
kommt Jan das Mittel des Raumschattens als wirksamsten ausgleichenden 
Faktors zu Hilfe. Er taucht die Räume und Figuren in ein warmes dämme¬ 
riges Licht, so daß der Beschauer, gefangen genommen vom geheimnis¬ 
vollen Zauber des Halbdunkels, über die Härten und Fehler der Zeichnung 
hingleitet wie über die Mühen, die der konstruktive Aufbau dem Zeichner 
verursacht hatte. 

Von der Auslegung des Rolin-Bildes hängt die 
Entscheidung der Frage ab, ob wir Jan auf Grund 
eines erhaltenen Werkes die Auffindung des Fl ucht- 
punktgesetzes für den Raum zu schreiben dürfen. 

• • 

f ) Uber den prinzipiellen Unterschied zwischen perspektivischer Komposition (per¬ 
spektivischem Motiv) und perspektivischer Projektion sowie die häufige Verwechselung 
der beiden Begriffe in der kunstgeschichtlichen Literatur siehe den Bericht der Sitzung 
der Berliner Kunstgeschichtlichen Gesellschaft vom 13. Oktober 1905. 


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Perspektive und Bildarchitektur bei Jan van Eyck. 61 

Wer das Rolin-Bild nicht als ausreichenden Be¬ 
weis für die Entdeckung des Gesetzes durch Jan 
anerkennen will,muß unter den nordischenMeistern 
Petrus Cristus die bahnbrechende Tat zuschreiben. 
Die Alternative spricht entschieden zugunsten 
des Jan vanEyck, denn wo uns Petrus Cristus entgegentritt, erweist 
er sich als ein schwacher, unselbständiger Kopf. Es wäre merkwürdig, wenn 
gerade e r das wichtigste perspektivische Gesetz gefunden hätte, da er doch 
sonst überall als Nachahmer sich zu erkennen gibt. 

Der Umstand fällt auf, daß die nordischen Bilder vom Ende des 14. Jahr¬ 
hunderts, in denen zentralperspektivisch gezeichnete Fußböden Vorkommen, 
ausschließlich oder doch fast ausschließlich dem Kreise der sogenannten 
italianisierenden Werke angehören, er legt die Vermutung nahe, daß das 
perspektivische Verfahren, das in jenen Werken Anwendung findet, selbst 
italienischen Ursprunges ist. Nun hat Wolfgang Kallab gezeigt, daß bereits 
in der italienischen Malerei des Trecento zentralperspektivische Darstellungen 
Vorkommen, die der Fluchtpunktkonstruktion sehr nahestehen. Kallab 
weist nach 1 ), daß schon Duccio »aus dem Gewirr widersprechender Hand¬ 
werksbräuche«, die aus der antiken Malerei stammten und durch die byzan¬ 
tinische Kunst dem Mittelalter überliefert waren, »eine Art System« heraus¬ 
gehoben hat. Das Verdienst Duccios um die Verbesserung der perspektivi¬ 
schen Zeichnung beruht nach Kallab auf der strengeren Beobachtung des 
Horizontes. »Er läuft«, so führt der Verfasser aus, »meist in Augenhöhe der 
Figuren. Nach ihm richtet sich die Neigung aller Horizontalen, die nicht 
parallel zur Bildebene sind. Sie steigen und fallen von Stockwerk zu Stock¬ 
werk um einen Winkel, der um einen bestimmten Teil zu- oder abnimmt. 
Zum ersten Male seit der Antike und strenger als in dieser gilt die Regel, 
daß der Standpunkt des Beschauers und sein Verhältnis zum Bilde durch 
Verkürzungen zum Ausdruck kommen müsse. Der genaue Bestimmungsort 
derselben, der Hauptpunkt, fehlt und wird nur an den realistischen Interieurs 
durch Innenwendung der verkürzten Horizontalen ersetzt.... Bei der 
geraden Ansicht treffen die auf der Bildebene senkrecht 
stehenden Geraden in ihrer Flucht im Hauptpunkte zu¬ 
sammen.« In der allgemeinen Fassung möchte dieser letzte Satz viel¬ 
leicht zu gewagt erscheinen, wir möchten ihn dahin einschränken, daß 
sich bei Duccio die Flucht der Orthogonalen inner¬ 
halb frontal und symmetrisch gesehener Horizon- 

') Wolfgang Kallab, Die toscanische Landschaftsmalerei im XIV. und XV. Jahr¬ 
hundert. Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses, 
Wien. 1900, Seite 35ff. Kallabs Arbeit ist m. W. die einzige, die sich mit dem 
Problem der mittelalterlichen Projektion beschäftigt hat. 


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62 


Joseph Kern, 


talcbenen nach einem eng begrenzten, zuweilen 
punktuellen Zentrum richtet (vgl. Figur 26). Bei asym¬ 
metrischer Ansicht der Gebäude hingegen laufen die Tiefenlinien parallel 1 ), 
der Schein eines Horizontes wird nur dadurch hervorgerufen, 
daß die Fluchtlinien des Bodens als steigend, die der Decke als fallend 
dargestellt werden. 

Das System Duccios wurde von Ambrogio und Pietro Lorenzetti er¬ 
heblich verbessert. In Ambrogios »circoncisione« der Florentiner Akademie aus 
dem Jahre 1342 sind sämtliche längeren Orthogonalen des Bodens nach 
dem gleichen Fluchtpunkte ausgerichtet, das Fußbodenmuster inAm- 



Abb. 26. Duccio di Buoninsegna: Verkündigung, Siena, Dom-Opera. 


brogioLorenzettisMadonna in tronomit Engeln und Heiligen 
aus der Akademie in Siena zeigt einen gemeinsamen Flucht¬ 
punkt für alle Tiefenlinicn der Bodenebene, ebenfalls die 
Verkündigung (Fig. 27) aus dem Jahre 1344. Im Werke des Pietro 
Lorenzetti aus der Opera des Siencser Doms, das die Geburt der Maria 
darstellt, wird der den Fußbodenorthogonalen des rechten Flügelbildes ge¬ 
meinsame Schnittpunkt sogar von vereinzelten Orthogonalen der Seiten- 
wände des Raumes getroffen. Wir nähern uns hier der Perspektive des 
Rolin-Bildes, was um so beachtenswerter ist, als das kompositionellc per¬ 
spektivische Motiv des linken Flügels: eine Durchsicht durch mehrere 


•) Auf die merkwürdigen Zusammenhänge zwischen Zentralprojektion und sym¬ 
metrischer Ansicht, Parallelprojektion und asymmetrischer Ansicht hat schon Guido Hauck 
in seinen grundlegenden Untersuchungen Uber die antike Perspektive hingewiesen. 


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Perspektive und Bildarchitektur bei Jan van Eyck. 


^3 


hintereinander liegende Innenräume, an die gemalte Durchsicht einer 
Miniatur in den tr&s-belles heures de-Milan erinnert, die Georges de Loo 
(Hulin) dem Hubert van Eyck zuschreibt , ). 



Abb. 27. Ambrogio Lorenzetti: Verkündigung, Siena, Akademie. 


Broederlams Flügelbilder zu dem Altar des Jacques de Baerze im 
Dijoner Museum stehen ihrem ganzen Stil nach, erwiesenermaßen, unter 
dem Einfluß der Sienesen; vergleicht man Broederlams und Ambrogio Loren- 
zettis Beschneidungsbilder miteinander, so ist man fast geneigt, einen direkten 
Zusammenhang zwischen den beiden Werken anzunehmen, zumal das Werk 

*) Heures de Milan, troisieme partie de* tres-belles heures de Notre-Dame, en- 
luminees par les peintres de Jean de France, Duc de Berry, et par ceux du Duc Guilleaume 
de Baviere ect., avec une introduction historique par Georges de Loo (Hulin), Bruxelles, 
G. van Oest et Cie 1911, Tafel II. 


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64 


Joseph Kern, Perspektive und Bildarchitektur bei Jan van Eyck. 


des Ambrogio ungemein häufig nachgeahmt worden ist *). Wir gehen daher 
kaum fehl, wenn wir die Zeichnung im Fußboden der Broederlamschen Dar¬ 
stellung zu den Konstruktionen der Lorenzetti in Beziehung setzen. Träfe 
aber die Annahme zu, daß die sienesische Perspektive in die burgundisch- 
niederländische Malerei während der beiden letzten Dezennien des 
Trecento eingedrungen ist, dann würde die Perspektive des Jan 
van Eyck ihren Ursprung aus der italienischen 
Kunst ableiten, ohne daß eine Verbindung zwischen 
Jan van Eyck und Brunelleschi bestünde. 

*) E. von Meyenburg konnte bereits in seiner 1903 in ZOrich erschienenen Disser¬ 
tation Uber A. Lorenzetti vier Wiederholungen aufzählen. Die Zahl der nachgewiesenen 
Kopien hat sich seit 1903 bedeutend vermehrt. 


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Notizen. 


Lukas Moser. 

Bei meiner Veröffentlichung *) der Haupteinträge des Ulmer Hütten¬ 
buches von 1417—1421 habe ich gelegentlich der verschiedenen Erwähnungen 
eines meisters lucas, mauler (= maler), dem 1421 ein großes Gemälde in 
Auftrag gegeben wird, die Vermutung ausgesprochen, daß es sich vielleicht 
um Lukas Moser handeln könne. Ohne das Vermögen, diese Vermutung zu 
einer Gewißheit erheben zu können, möchte ich doch eine Bürgeraufnahme 
in Ulm vom Jahre 1401 mitteilen, die ich bei einer erneuten Durchsicht 
dieses Bürgerbuches 5 ) fand und die doch mit dazu beitragen kann, meine 
Vermutung zur Wahrheit zu machen. Bei der außerordentlichen Bedeutung 
Lukas Mosers und der über seine künstlerische und bürgerliche Herkunft 
noch herrschenden Unklarheit erübrigt es sich, den Wert und die Berechti¬ 
gung derselben zu betonen. Der Eintrag in dem erwähnten Bürgerbuchc 
steht S. VIII (r.) und lautet: anno Dm. (domini) mithno (millesimo) qua- 
dringmo (quadringentesimo) p’mo (primo) am mentag vor Galli wurd uns 
(unser) mitburg (mitburger) fritz von egern der Kadler jacob des malerstocht- 
mann (tochtermann) vnd sol IO iar vns bürg (burger) sin und allie jarß rh. gul- 
clinzestewrgebn. hett er aber dehains (irgend eines) iars mer gut dennedie3guld 
treffend so man hie gemainl. stewer so vil er och mer verstewren und darumb 
ist sin bürg- hans moser der maler vnd sol ietzo vff sant martins 
tag anfahn zu stewern.« Es begegnet uns demnach ein hans moser, der 
maler ist. Bedenkt man nun die fast durchgängige Vererbung gerade des 
künstlerischen Berufes von Vater auf Sohn (ich erinnere nur an das fast 
gleichzeitige Beispiel von Konrad Witz); stellt man die Tatsache der An¬ 
wesenheit eines Hans Moser, Maler in Ulm, fest und begegnet dann 20 Jahre 
später einem Meister Lukas in der gleichen Stadt, so ist es wohl nicht zu 
gewagt, anzunehmen, daß dieser Lukas der Sohn jenes Hans Moser, des 
Malers, ist. Nimmt man noch hinzu, daß es wohl nicht noch mehr Maler 
gegeben haben wird, die gerade Moser hießen, so steigert sich die Wahrschein- 

') cf. Repertorium f. Kunstw. XXXIII. p. 3I2 ff. 

J ) Buch der Bürgeraufnahme von 1327—1427- (Ulm, Stadtarchiv.) 

Repertorium für Kunstwissenschaft, XXXV. c 


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66 


Notizen. 


lichkcit, daß dieser Hans der Vater des berühmten Lukas gewesen ist, noch 
wesentlich. Man darf ja wohl noch die Gleichheit des Ortes mitdazunehmen 
und als naheliegend schließen, daß cs doch wohl der Sohn des in Ulm an¬ 
sässigen Moser gewesen ist, der in derselben Stadt beschäftigt wird. Hier¬ 
nach ist der Ring ziemlich geschlossen, und vermögen einem leise Hinweise 
etwas zu sagen, so muß man ohne alles dies bei der besonderen Erwähnung 
vom Beschaffen von berggrün in dem Hüttenbuche von 1417—1421 
für des maisters lucas gemäld an sich schon an Lukas Moser denken. Ver¬ 
schließt man sich der Sprache dieser Tatsache nicht und stimmt der Identität 
des im Hüttenbuche erwähnten maister Lukas mit Lukas Moser bei, so 
ergeben sich hieraus, abgesehen von der Bereicherung unseres Wissens über 
Lukas Moser, auch noch weitere Schlüsse. Dann stand vom Jahre 1421 ab 
ein — wie nach dem besonderen Vertrage im Hüttenbuche hervorgeht — 
umfangreiches Gemälde des Meisters im Münster zu Ulm. Ob Hans Multscher 
achtlos an ihm vorübergehen konnte? — Ich möchte nur noch hinzufügen, 
daß der in der Bürgeraufnahme von 1401 genannte jacob, der maler, gleich¬ 
falls verschiedentlich im Hüttenbuche von 1417—1421 genannt wird. 

U. C. Habicht. 


Urkundenauszüge über Maler- und Bildhauernamen 

in Freiburg i. Br. 

Als eine kleine Frucht meiner in einer Anzahl von Archiven betriebenen 
Nachforschungen über die Hausbuchmeistergruppe ist Nachstehendes zu be¬ 
trachten. Vollständigkeit zu erreichen war unmöglich, da ich einerseits nur 
für die Zeit bis 1520 das Archiv durchforschte und andererseits gedrucktes 
Material über diesen Gegenstand so gut wie gar nicht vorlag. Trotzdem 
möchte ich meine wenigen Exzerpte der Kunstgeschichte nicht vorent- 
halten, da ich cs leider selbst nur zu deutlich erfahren mußte, wie außer¬ 
ordentlich schwierig es st, wenn man über einen neuen Künstlernamen 
archivalischc Nachforschungen anstellen möchte und es fast für keine Stadt 
ein ähnliches Register gibt, wie ich es für Freiburg i. Br. unten anzulegcn 
versucht habe. Hier wäre gerade ein äußerst verdienstvolles Feld für Lokal- 
forscher, wenn sic, da sic meist ihr Heimatsarchiv gut kennen und sich auch 
Jahre zum Sammeln vornehmen können, auf ähnliche Veröffentlichungen 
ihr Augenmerk richten wollten. 

Sachlich bemerke ich noch, daß es mir völlig fern lag, die Unmenge 
von Malernamen, die sich in den Malcrzunftbüchern finden, zum Abdruck 
zu bringen, da darunter größtenteils Sattler, Müller, Bader, Scherer und 
andere Berufe, nur keine Maler verstanden sind. Ich berücksichtigte da- 


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Notizen. 


67 


her nur solche Namen, deren Träger auch durch anderweitige Urkunden 
sicher als Maler oder Bildhauer festgestellt werden konnten; dadurch mag 
es zuweilen vorgekommen sein, daß ein oder der andere Name wegblieb, 
hinter dem vielleicht doch ein Künstler steckte, den ich aber zurzeit in dieser 
Eigenschaft noch nicht nachzuweisen vermochte. 

Die Hauptquellen, die Steuerbücher, sind, was für das Verständnis 
des Folgenden wichtig ist, für nachstehende Jahre nicht erhalten: 1407—1480 
inkl., 1487—1489, 1493—1499, 1503—1507, 1509—1518, 1521, 1524—1529, 

153 1 —1532, 1537—153 8 ,; von 1539 an vollständiger. 

Das Häuserbuch ist in den Veröffentlichungen aus dem Archiv der 
Stadt Freiburg IV (1903) publiziert. 

Niel aus der Maler. 28. März 1321. 

Allen den, die disen brief sehent oder hörent lesen, kinden wir vlrich 
famel, der meister vnd die pflegere gemeinliche des heiligen geistes siptales 
ze friburg, das katherina, brüder niclaweses des malers ze den prediern 
tohter von friburg, vns het gegeben aht Schillinge pfenninge. etc. etc. 

Hcintzin von Essclingen der Maler. 16. März. 1353. 

Allen den, die disen brief sehent oder hörent lesen, kvnden wir Burckart 
Lvtscher, Hcnni vnd Kleinman sin brüder, Burckart lvtschers seligen svne, 
das wir vnuerscheidenlich ze kovffende hant gegeben reht vnd redelich eines 
rehten kovffes heintzin von Esselingen dem maler die fvnf Schilling pfenninge 
etc. etc. 

Sifrit Knör der Maler ; gestorb. vor 1392 den 26. März. 

Ich heintz man von fürstenborg.tun kunt.dar für mich 

kament in geriht werlin zeller ein burger ze friburg mit Thinelin, Vrscllin 
vnd hanman, Sifrit Knören seligen des malers kinden, der wissenthaft vogt 

vnd pfleger er ist .dar er dem.henselin von Emmetingen ze 

kouffen gegeben hette.daz huse »ze dem langen« mit aller zu gehörung 

.Ouch stünden in geriht Johans Rütschin vnd Lotschman der messer- 

smit der ... kinde ncchsten vatter magen vnd mütcr magen etc. etc. 

Heinrich, Moler, 1406 Steuerregister lx lib. lig. xß. molerzunft. 

H e n n i Salzman, 1406 Steuerregister II ß; molerzunft. 

Clews Bern hart, der Mäler. Undatierter Eintrag im 
Bürgerbuch aus der ersten Hälfte des 15. Jahrh.; Häuserbuch 1460: Clewi 
Bernhart, der Moler, zer Tannen 10 ; zem Ncgbor 2 zer Segissen 2 

Clewi Tanpach, der Maler, Häuserbuch 1460: zur Sichel 

3 

W e r 1 i n Saltzmann, der Maler, Häuserbuch 1460: zur 
Ougenweid . Er ist jedenfalls ein Nachkomme des Hcnni Salzmann. 

Theodosius, Bild I10 wer, Häuserbuch 1460: zum Sil¬ 
stein 6 

5 * 


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68 


Notizen. 


Connrat, B i 1 d h o w e r. Ratsprotok. II (1467—1484) p. 14 
recto: Vff frytag vor marie madalene Im lxx iij (sei. 1473) J ar habent min 
liern Connrat bildhower vff sin ernstlich pitt, ouch vmb das nucz einer 
gemeind von siner handtierung entsten mag, nachgelassen, daz er X Jar 
hie sol siezen on sacz, wachen, hüten vnd fronen; säst sol Er In aller pflicht 
der zunfft vnd anderer gebott vnd beswerd gehorsam vnd gewertig sin. 

Josep Koch, Maler. Steuerregister 1490, 1491, 1492. 

Hanns Widitz, Bildhower. Steuerregister 1500, 1501, 
1502, 1508 immer V ß; Signatur auf dem Schnitzaltar 1505. Vgl. ferner 
Kunstchronik XXI (1910) Sp. 447/448 und Freiburger Münsterblätter 
(1. Heft 1910). 

Bastion Longingcr, Moler. Steuerregister 1300, 1501, 
1502 je VIII ß. 

Vlrich Gürtler, Moler. Steuerregister 1500, 1501 je V ß; 
1502 IIII ß. 

Thcodosius Kouffman, Bildhower. (Vgl. näheres 
über ihn in den Studien z. deutsch. Kunstgesch. Heft 137, S. 50—55). 
Steuerregister 1490, 1491, 1492 je VII ß; 1500, 1501, 1502 je X ß; 1508, 
1519, 1520, 1522, 1523 je XII ß. 

Friedrich Ottingcr, der Maler (Häuserbuch); Steuer¬ 
register 1508V ß; 1519, 1520 je VIII ß; 1522 XII ß; 1523 ohne Stcuer- 
angeabc genannt. 

Andres Silbernagcl, Malergeselle, 1502 erwähnt im Missivcn- 
buch als aus Gemünden im Hunsrück stammend. Über diesen Meister, 
der mit wenig Glück mit dem Meister E. S. identifiziert wurde, vgl. 
Studien z. deutsch. Kunstgesch. Heft 137. 

Hans Baidung. Die neuesten archivalischen Forschungen über 
diesen Meister, die alles, was aufzufinden war, enthalten, vergleiche in den 
Freiburger Münsterblättern I (1905) S. 42 und III (1907) S. 86. Zum Teil 
sind diese Mitteilungen äußerst wichtig für die Biographie des Meisters. 

Helmuth Th. Rössert. 


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Besprechungen. 


W. Pinder. Mittelalterliche Plastik Würzburgs. Ver¬ 
such einer lokalen Entwicklungsgeschichte vom Ende des 13. bis zum 
Anfang des 15. Jahrhunderts. Würzburg, Curt Kabitzsch (A. Stübers 
Verlag) 1911. 

Nach einer kurzen Würdigung der Kunst des 14. Jahrhunderts nennt 
der Verfasser die literarischen Quellen, an Hand deren wir uns ein ungefähres 
Bild des ehemaligen Reichtums der Würzburger Plastik und eine Vorstellung 
von der Menge des Zerstörten machen können. Wesentliches ist aus der Zeit 
der Monumentalplastik nicht erhalten; P. glaubt auch nicht an einen 
selbständigen Anteil Würzburgs an dieser Epoche. An die Spitze seiner 
Untersuchungen stellt er eine Analyse des Grabmals Gottfrieds I. von 
Spitzenberg, dessen Entstehung um 1200 angesetzt wird, und das trotz 
seines künstlerischer Abstandes von den gleichzeitigen sächsischen Bischofs¬ 
gräbern in der Bildung des Kopfes Qualitäten besitzt. Des Verfassers grund¬ 
sätzlicher Stellung den Siegeln gegenüber möchte ich außerordentlich 
gerne beipflichten. Jedoch solange uns auch nicht für einen einzigen Fall 
die Identität der Siegel Verfertiger mit Bildhauern authentisch bezeugt ist, 
kann ich dies nicht tun. Ich bezweifle darum auch die Berechtigung einer 
eingehenderen Behandlung der Siegel in einer Geschichte der Plastik und 
vermag in ihnen nur — was der Verfasser im Grunde ja auch nur tut —• 
einen ungefähren Anhalt für den jeweiligen Zeitstil, aber einen nur bedingt 
zuverlässigen bei der oft archaisierenden Tendenz in ihrer Anfertigung zu 
erblicken. Und vor allem, wer will sich unterfangen, nachzuweisen, daß Siegel 
wie der des Bischofs Reginhart 1181 oder der des Bischofs Hermann von Lobdc- 
burg 1225 überhaupt Arbeiten von Würzburger Künstlern sind? Und wie 
soll es gar erst möglich sein, aus diesen, in jener Zeit doch höchstwahrscheinlich 
von umherreisenden Künstlern gefertigten Kleinkunsterzeugnissen auf 
eine »Glanzepoche«, eine gewisse, künstlerische Blütezeit Würzburgs zu 
schließen? Auf gar keinen Fall aber kann damit das Verhältnis der alten 
Bamberger Monumentalkunst zur Kleinplastik, das überhaupt stark zweifel¬ 
haft geworden ist, noch in irgend einer Weise deutlicher werden. Ist es 


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?o 


Besprechungen. 


nicht auch merkwürdig, daß man weder in der Großplastik noch auch in 
dem Domkapitelsiegel von 1250 den doch in Bamberg um diese Zeit unleug¬ 
baren westlichen Einschlag fühlt? Als Werke der großen Bauplastik des 
13. Jahrhunderts werden der Opferstock von St. Burkhard, der plastische 
Schmuck der Deutschhauskirche und der des ehemaligen Augustinerklosters 
in einem besonderen Kapitel vorgeführt. Der Opferstock von St. Burkhard 
wird etwa 1280 angesetzt, und sein Meister mit Recht als ein Kleinkünstler 
angesehen, der sich um die Jahrhundertmitte in Frankreich gebildet haben 
muß. Himmelfahrt Christi, Noli me tangere, Trinität und Verherrlichung 
Mariae sind auf den vier Seiten dargestellt. Nicht beizustimmen vermag 
ich des Verfassers Vergleich der Gewandbehandlung der Verherrlichung 
Mariae mit den Chorschranken der Halberstädter Liebfrauenkirche. Die 
Gewänder in Halbcrstadt zeigen viele, gekräuselte Falten, wobei das Stoff¬ 
liche unbetont bleibt. Das Gewand der Maria am Opferstock dagegen hat 
verhältnismäßig wenige, einfache Falten, und der dickere, wollige Stoff ist 
klar als solcher gekennzeichnet. Auf Grund sehr eingehender baugeschicht¬ 
licher Vergleiche erblickt der Verfasser in den Plastiken der Deutschhaus¬ 
kirche einen älteren Wimpfener und einen jüngeren Oppenheimer Haupt¬ 
meister; den Meister der Konsolen und den der Gewölbeschlüsse. Die 
Plastiken werden in die Zeit um 1296—1302 verlegt. Ich gestehe, daß es 
weder ein Genuß, noch eine leichte Aufgabe ist, sich durch diese gewiß sehr 
zutreffenden, aber an einer virtuosen Gesuchtheit des Stils, wie der Argu¬ 
mentationen leidenden Untersuchungen hindurchzuarbeiten. In die gleiche 
Zeit fallen die — trotz der Vorbilder — merkwürdigen Köpfe mit Baldachinen 
. darüber, vom Hauptportal des ehemaligen Augustinerklosters. Auch sie 
verleugnen ihren westlichen Ursprung nicht. Ein Vergleich der Siegel von 
1304—1330 soll die Vorstellung der Wandlungen der Kunst zu Anfang 
dieses Jahrhunderts erhärten. In diese kritische Periode fällt die Entstehung 
der Dreikönigsgruppe, die bestimmt niemals zu einem Altäre gehört hat. 
Sicher hat auch der Meister dieser Gruppe französische Monumcntalkunst 
kennen gelernt. Allerdings gerade zu Amiens vermag ich außer dem doch 
nebensächlichen Motiv des Haltens des Kästchens keine Beziehungen zu 
finden. Ganz überzeugt bin ich von der frühen Datierung auch nicht. Bei 
aller Erinnerung an Monumentalkunst steckt doch schon enorm viel spezifisch 
Eigenartiges des 14. Jahrhunderts in ihr. Die Madonna hat mit der sensiblen, 
einzigen Mainzerin der Fuststraße nichts mehr gemein, und gar in der auf 
Taf. XIII abgebildeten Madonna, ehemals an einem Würzburger Hause 
befindlich, eine Replik nach einer Replik der Fuststraßcnmadonna zu sehen, 
ist mir schlechthin unerfindlich. Im Gegensatz zu Börger und Rohe wird 
die Entstehung des Grabmals des Bischofs Mangold von Neuenburg und zwar 
mit durchaus überzeugenden Gründen in die Zeit um 1305 verlegt. Wie 


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Besprechungen. 


7 1 


dieses, so wird auch das Grabmal des Johanniterpriors Berthold von Henne¬ 
berg einem sächsisch geschulten Meister zugeschrieben und mit guten Gründen 
werden die unleugenbaren Beziehungen zu dem Grabmal Ludwigs IV. in 
Reinhardsbrunn dargetan. Mit sehr viel Scharfsinn und schlagenden Be¬ 
weisen wird der Grabstein Gottfrieds III. von Hohenlohe als diesem Bischöfe 
gehörig zugewiesen und in die Zeit um 1330 verlegt. In ihm dokumentiert 
sich der vom Verfasser primitiv genannte Stil, der sich an Typen wie die 
Bronzeplattc des Evrard de Feuilloy anschloß. In seine Nähe rückt das 
Grabmal des Johann von Stern (1329 f) an der inneren Nordwand der 
Bürgerspitalkirche. Als das bedeutendste Werk dieses Stiles stellt sich 
aber der seltsame, mit den vor die Brust genommenen Armen und ergreifend 
gebildete Christus der Ncumünster Krypta dar, der, etwa 1335—1340 ent¬ 
standen, in die Endzeit dieser Epoche fällt. Zwei Grabmäler, vornehmlich 
das des Ekro von Stern und das des Bischofs Otto von Wolfskehl, bezeichnen 
die zwei verschiedenartigen Richtungen der »ersten Stufe des geschwungenen 
Stiles«. Beiden zeitlich voraus und innerlich nur dem letzteren verwandt 
geht das Monument des Bischofs Wolfram von Grumbach-Wolfskchl (t 1333)- 
Der Künstler knüpft an das im Grabmal Mangold von Neuenbürgs schon 
Erreichte an und bringt seine im Westen erreichte größere Freiheit der 
Gestaltung hinzu. Ein typischer Vertreter des Geschmacks, die Gestalten 
in einer nur denkbar zulässigen Weise in der bekannten S-F'orm auszubiegen, 
ist der Ekro von Stern. Diese Mode war doch so außerordentlich verbreitet, 
daß man sich nicht so sehr wundern darf, sie in einem ungefähr gleichzeitigen 
Siegel, wie dem des Hermann von Lichtenberg wiederzufinden. Es steckt 
übrigens ungemein viel ornamentales Gefühl in diesem Grabmal des Ekro 
und selbst die Bizarrerien sind nicht so unbegründet, wie sie zunächst scheinen. 
So ist wenigstens der Anlaß für die starke Ausbiegung durch den unverhältnis¬ 
mäßig großen, ovalen und stark in die Rahmenfläche hineinragenden Schild 
gegeben. Wie fein folgt aber dann die geschwungene Linie des Körpers 
dem des Schildes. Mit einem ausgesprochenen Begriff für Stilisierung ist 
scheinbar alles aus den Windungen des Widderhorns des Wappens ent¬ 
wickelt: der Schild selbst, der Körper des Ritters, der doch höchst sonder¬ 
barerweise quergelegte, als Kopfkissen dienende Helm und dem entsprechend 
die Bildung des Hundes, auf dem der Ritter steht. Wie himmelweit ist das 
alles von dem einfach dem Zeitgeschmack folgenden Elektcnsiegel des 
Bischofs Hermann von Lichtenberg (1333—1335) entfernt! Um 1345—1348 
• oll das Grabmal des Bischofs Otto von Wolfskehl (+ 1345) im Dom, entstanden 
sein. Ob der Verfasser an die gleiche Hand wie die des Grumbachmonuments 
wirklich glaubt, konnte ich aus den Zeilen nicht herauslcscn. Jedenfalls 
stimme ich seinen verschiedentlich ausgesprochenen Übereinstimmungen 
vollkommen zu; wenn auch der gewaltige Fortschritt in dem Wolfskehl- 


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72 


Besprechungen. 


Denkmale nicht zu leugnen sein wird. Unzweifelhaft gehört das Monument 
zu den besten dieser Zeit, und der Verfasser hat sehr recht, wenn er glaubt, 
daß kaum ein zweites Werk dieser Epoche Wucht mit aristokratischer, 
gewollter Eleganz so sehr vereint wie dieses. Voll und ganz zustimmen 
kann man dem Verfasser auch zu dem, was er über den ehemaligen Türstein 
des Bürgerspitals (Mus. Maxstr.), etwa 1350, sagt. Die Analyse wie die Ein¬ 
reihung dieses hochbedeutenden, plastischen Werkes ist geradezu muster¬ 
gültig. Es stellt in der Mitte dar: die Trinität, rechts und links oben davon 
Johannes und Maria, unten das Stifterehepaar, Mitglieder der Sternschen 
Familie. Zweifelsohne sind Beziehungen und zwar auffallende der Trinitäts¬ 
gruppe zum Wolfskehl-Denkmal vorhanden. Auch ich glaube für sie an die 
Hand desselben Meisters, ebenso wie für die ganze Anlage des Monuments. 
Die vier übrigen Figuren und das Wappen dagegen könnten nach meinem 
Gefühle sehr wohl von anderen Händen herrühren und zwar solchen, die der 
Kunstweise des Ekromeisters näherstanden. Ganz überzeugend sind auch 
die Beziehungen zu dem Denkmal Friedrichs III. von Hohenlohe (t 1352) 
im Dome zu Bamberg. Mit vollem Rechte darf man hier von einem Meister 
reden. Leider blieben des Verfassers Versuche, den Namen dieses Meisters 
ausfindig zu machen, ergebnislos. Dagegen vermag er die Einwirkung seiner 
Kunst in dem Ritterkopf aus Oberzell (Mus. Maxstr.), etwa 1360, und dem 
weniger bedeutenden Grabmal des Heinrich von Seinsheim (t 1360) im 
Domkreuzgang an der Außenwand der Sepultur darzutun. Als besonderes 
Charakteristikum der zweiten Stufe des geschwungenen Stiles ergibt sich 
ein erhöhtes Körpergefühl, das sich in der Betonung der Wölbung des mensch¬ 
lichen Leibes kundgibt. Als erstes Dokument dieser Stufe erblickt der Ver¬ 
fasser die angeblich aus der Dcutschhauskirche stammende, nun ver¬ 
schwundene Madonna. So glücklich die Benennung und Charakterisierung 
dieser an sich ja allbekannten Eigenarten der Plastik dieser Zeit ist, so 
gesucht finde ich den Vergleich mit der Schmedestettschen Madonna der 
Erfurter Predigerkirche. Wozu auch? Datierung und Analyse ist unan¬ 
fechtbar, und Madonnen mit ähnlichem Körpergefühl und gleicher Gewand¬ 
behandlung gibt es zahllose. Von ähnlichen Absichten, nur mit noch klarerer 
Betonung des Körpers, ist die aus Oberzell stammende (im Mus. Maxstr. 
befindliche) Madonna gebildet, die sehr richtig als fortgeschrittener an¬ 
gesehen und in die Zeit um 1370 gesetzt wird. Als Gipfel dieser Stilstufe 
stellt sich das Grabmal des Bischofs Albert von Hohenlohe dar, etwa 1375, 
im Dom, das der Verfasser ohne zureichende Gründe dem Meister der Madonna 


von Oberzell zuschreiben möchte. Als eine Synthese dieser beiden Stil- 
stufen erscheint für mich die völlig zutreffend hier angereihte Madonna 
der Augustinergasse (etwa 1395). In einem »das nürnbergisch-thüringische 
Zwischenspiel« genannten Kapitel werden die Einflüsse von dorther an 


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Besprechungen. 


73 


Hand des Votifreliefs der ehemaligen Leprosenkapelle, eines Schmerzens¬ 
manns aus dem Neumünster (Mus. Maxstr.), einer trauernden Madonna 
ebenda und einer roheren Steinmadonna im südlichen Seitenschiff von 
St. Burkhard dargetan. Die Arbeiten fallen in die Zeit 1360—1380. 1377 

wird der Grundstein zur Marienkapelle gelegt, und damit muß sich auch 
eine Bauhütte etabliert haben. Als deren früheste Erzeugnisse sieht der 
Verfasser zwei von einer Familie Schwarzburg gestiftete Reliefs, eine Mariac- 
Schiedung un^ eine Kreuzigung, an. Der Meister des Marientodes bringt ein 
neues Element nach Würzburg, und wird sich —wie auch ich glaube — an der 
damals so beliebten Tonplastik — vermutlich im Westen — geschult haben. 
Im Verfertiger des Kreuzigungsreliefs wird man wohl einen Würzburger, 
in die Hütte aufgenommenen Bildhauer zu erblicken haben und zwar — 
wie der Verfasser meint — einen aus der Schule des Albert von Hohenlohe- 


Meisters. Von den Portalskulpturen gehören jedenfalls einmal die Marien- 
krönung und dann das Weltgericht stilistisch am engsten zusammen. Anstatt 
eines Einflusses des Meisters der Kreuzigung möchte ich viel eher einen 
solchen des Meisters der Mariae Schiedung erblicken. Schon allein die 
Engel auf dieser Marienkrönung verweisen ebenso — wie dies das genannte 
Relief tat — auf Schulung an Tonmaterial und auch an ähnlichen Stoffen. 
Ich erinnere nur an die Binger Engel, die übrigens ebenso wie diese Würz¬ 
burger in engstem Zusammenhänge mit einem mir bekannten französischen 
Beispiele stehen, das, allerdings aus Holz, die überraschendsten Überein¬ 
stimmungen aufweist •). Sehr weit her holt der Verfasser die Vorbilder 
zum Weltgericht des West-Portals. Ich meine zeitlich. Chartres und Bamberg 
liegen doch ein wenig zu weit zurück. Schon eher ließe sich an eine An¬ 
knüpfung an das jetzt im Domkreuzgang zu Mainz befindliche Relief denken. 
Weisen doch auch noch andere Beziehungen lebhaft an den Mittelrhein. 
Entschieden die beste Leistung der Hütte ist die Verkündigung vom Nord-Por¬ 
tal, die der Verfasser in die Zeit etwa 1425 verlegt. Dem prachtvollen Ver¬ 
kündigungsengel entspricht eine liebliche und hoheitsvolle Madonna. Die 
Gewänder der beiden sind von beherrschter Einfachheit und schön gegebenem 
Faltenwürfe. Am konventionellsten, wenn auch entwickelter, ist Gottvater 
gebildet. Man glaubt die burgundischen Vorbilder mit Händen greifen zu 
können, und dies wird wohl auch bei einiger Mühe des Suchens gelingen. 
Die mehr oder minder gelungenen Repliken nach den drei Portalen werden 
vom Verfasser namhaft gemacht. 


Seine Betrachtungen über die männliche Gewandfigur im frühen 


über 


') Abgebildct in A. Gcrinain: l.cs Neerlandais en 
S. 92. 


Bmirgngne. Bruxelles 1909. Gcgeti- 


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74 


Besprechungen. 


[5. Jahrhundert eröffnet der Verfasser mit einer solchen über das Grabmal 
des Bischofs Gerhard von Schwarzburg (t 1400), Dom. Wie der Meister 
der Madonna der Augustinergasse faßt der Künstler bei der Gestaltung 
dieses herrlichen Monumentes alles Gute und alles Entwicklungsfähige der 
vorausgegangenen Epoche zusammen. Es ist deshalb nicht zu verwundern, 
daß er keine Schule gemacht hat, wenn wir auch noch ein Werk von seiner 
Hand, den Konrad von Weinsberg, im Mainzer Dome besitzen. Mehr als sehr 
schwaches Ausklingen dieser eindrucksvollen Kunst kann man in den Grab- 
mälern des Abtes Hermann Lesch von Hilgartshausen (t 1408), St. Burkard, 
des Bischofs Joh. von Egloffstein (t 1411), Dom u. a. nicht finden. Auch 
das vom Verfasser gerühmte Grabmal des Abtes Ernfried I. von Vcll- 
berg, Groß-Komburg Schenkcnkapelle, ist doch nur ein kümmerlicher 
Reflex. 


Für die Krühzeit der Entwicklung der Rittergrabmälcr liefert Würz¬ 
burg direkt keine Vorbilder. Doch ist es hier wohl angebracht, solche aus 
der Umgebung der Stadt für die Betrachtung heranzuziehen. Es sind dies 
die Denkmäler von: Konrad von Seinsheim (t 1369) außen am Chor der 
Schweinfurter Pfarrkirche, Licter von Hohenberg (t 1381) aus der Schlo߬ 
kapelle der Hohenburg (Homburg a. M.). In ihnen sieht der Verfasser noch 
»geschwungenen Stil« und betont mit Recht als das Entscheidende die 
vollständige Art der Plattenfüllung und die diagonale Entsprechung der 
Arme. Bei dem Grabmal des aus der Kapelle von Gröblingen bei Rollfeld 
stammenden Konrad von Bickenbach (t 1393), jetzt im Nat.-Mus. München, 
glaubt P. an ein Frühwerk des Schwarzburgmeisters denken zu können. 
Zu einem fortgeschrittenen Typ, »der eine stämmige und wuchtige Breite« 
zeigt, »die mit ganz symmetrisch wallenden Stoffmassen arbeitet«, gehören 
die Denkmäler des Heinrich von Bickenbach ( 1 1403) aus der Hohenberger 
Schloßkapelle, im Nat.-Mus. München, und das des Ludwig von Rieneck 
(+ 1408) in der Lohrer Stadtpfarrkirche. Ihnen entsprechen stilistisch die 
Platten des Ludwig von Hutten (t 1414), im Kreuzgang von Himmels¬ 
pforten und des Engelhard von Weinsperg (?) - in der Dominikanerkirche 
zu Wimpfen. Mehr als es der Verfasser getan, kann man wohl auf die Be¬ 
ziehungen des Ludwig von Rieneck zu Gerhard von Schwarzburg hinweisen. 
Ich glaube sogar an ein und dieselbe Hand. Den Wimpfencr Ritter dagegen 
halte ich trotz der offenbaren Beziehungen zum Ludwig von Rieneck seiner 
geringeren Qualität wegen eher für ein Werk eines Werkstatt genossen des 
Schwarzburgmeisters. 

Einem fähigeren Gesellen dieses Meisters verdankt das Grabmal des 
Cunz von Haberkorn (+ 1421) im Nat.-Mus. München seine Entstehung. 
Einen Rückschritt bedeutet die flaue Platte des Martin von Seinsheim 


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Hoprc'oliungcn. 


75 


(+ 1434) Marienkapellc, die unter dem Einfluß der sich nun mächtig ent¬ 
wickelnden Malerei entstanden gedacht sein muß. 

Aus keiner indigenen Kunst stammen die wenigen Frauengrabmälcr. 
Sehr treffend entwickelt der Verfasser das frühst erhaltene aus dem Typ 
des betenden Engels vom Grabmal Joh. von Falkensteins (t 1365), außen 
an der Chormauer der Arnsburger Klosterkirche, und die späteren wie das 
der Margaretha Fuchs (f 1400) Himmelspforten - Kreuzgang, der Elisabeth 
von Rieneck in Lohr und der Katharina von Hutten aus den Oppenheimer 
Werken. Etwas über diese erhebt sich das der Anna Ziegel (f 1407) Franzis¬ 
kanerkirche. 

Im Anschluß an die Madonna der Augustinergasse ist die am Hause 
Johannitergasse 7 geschaffen worden. Wie sich dann aus dieser die der 
Vorhalle des Domes entwickelt, wird vom Verfasser sehr klar und über¬ 
zeugend dargetan. Einige weniger bedeutende Madonnen werden im gleichen 
Kapitel besprochen. 

In einem mit AVürzburg und der weiche Stil« überschriebcnen Ab¬ 
schnitte wird gezeigt, daß Würzburg, dessen politische Zustände während 
dieser Zeit einer Weiterentfaltung der Kunst nicht förderlich sein konnten, 
nur unbedeutende Vertreter dieses Stiles aufzuweisen hat. Durch Analyse 
der Madonna der Michaelskapelle, der kleinen Pietä am Hause neben dem 
Johanniterbäcken, der Anna selbdritt im Neumünster, der Madonna des 
Bürgerspitals und der Dreikönigsgruppe von Ochsenfurt wird gezeigt, wie 
mit Abnahme der künstlerischen Kraft das Neue des Stiles unverstanden 
bleibt und eigentlich nur das Anorganische desselben nachgeahmt wird 
Von gleichem Geiste sind die Grabdenkmäler des Bischofs von Egloffstcin 
(+ 1410), das des Abtes Eberhard Lesch von Hilgartshausen (f 1436) in 
St. Burkhard und das des Bischofs Joh. von Brunn im Dome. Das einzig 
beachtenswerte Werk derZeit die Madonna am West-Portal der Marienkapelle 
wird von dem Verfasser mit der Berufung des Eberhard Friedeberger in 
Verbindung gebracht und damit als mittelrheinisch angesehen. In einem 
besonderen Rückblick werden die Ergebnisse der Einzeluntersuchungen 
durch eine knappe, klare Schilderung des Ganges der Entwicklung gezogen. 
Ich kann mich nach der Durcharbeit durch dieses mit größtem Verständnisse, 
mit Exaktheit und reichem W issen geschriebene Buch eines Bedauerns vor der 
tiefen Reverenz, die einer allein seeligmachenden Methode, dem Gipfel unserer 
Wissenschaft, gezollt wird, nicht erwehren. Wieviel gewönne dies Werk, 
wieviel fruchtbringender und brauchbarer erwiese sich die Fülle von Arbeit 
und Können, wenn schlicht und ungesucht chronologisch zusammcngchörcn - 
des — natürlich soweit es dies auch künstlerisch tut — besprochen, die 
Entwicklung dargetan und die Bezüge aufgedeckt würden, anstatt daß 


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76 


Besprechungen. 


# • • 

unter immer wieder neuen Kapiteln (vgl. die Überschriften) formale-Ten¬ 
denzen als Hauptsache dargetan werden. 

Das Buch ist mit 56 guten Tafeln ausgestattet. 

Habicht. 


Sascha Schwabacher. Die Stickereien nach Entwürfen 
des Antonio Pollai uolo in der Opera di S. Maria 
d e 1 F i o re zu Florenz. Zur Kunstgeschichte des Auslandes, 

Heft 83. Straßburg. J. H. Ed. Heitz (Heitz & Mündel). 1911. 
37 Tafeln. 

Die Verfasserin dieser Studie hat nicht versucht, eine Entwicklungs¬ 
geschichte der italienischen Stickerei, die zu sehr interessanten Ergebnissen 
führen könnte, zu geben, um so mehr als bedeutende Künstler wie Botti¬ 
celli, Raffaellino del Garbo, Squarzione, Bacchiacca, Yasari und andere mit 
Stickercientwürfen beschäftigt waren, sondern hat sich darauf beschränkt, 
die Stickereien nach Entwürfen des Antonio Pollaiuolo in der Florentiner 
Domopera zu besprechen. 

Aus den Dokumenten ergab sich, daß Antonio Pollaiuolo der Maler- 
Bildhauer von der Arte dei Mcrcatanti in Florenz 1466 den Auftrag erhielt, 
für die Taufkirchc S. Giovanni Entwürfe zu Stickereien anzufertigen, die 
das Leben des heiligen Johannes zum Gegenstände haben sollten. 

Vier Gewänder, und zwar eine Kasel, zwei Dalmatiken und ein Pluviale 
aus weißem Brokat, sollten mit den Stickereien verziert werden. Die Zahl 
der Stickereien ist nicht überliefert. Schwabacher nimmt durch Rekon- 
.'truktion der Gewänder und Benutzung der vorhandenen Stickereien eine 
Zahl von 31 Stickereien an, von denen mehrere, darunter die Hauptdar- 
stellung der »laufe Christi«, nicht erhalten sind. 

1480 erhält Pollaiuolo die letzte Zahlung für die Entwürfe. 1487 wird 
der Gesamtpreis für die Gewänder bezahlt. 

Neun Sticker arbeiteten an der Ausführung der Arbeiten, der höchst¬ 
bezahlteste ist ein Flame Coppino, ein Zeichen der Wertschätzung der nieder¬ 
ländischen Wirkkunst. 

Zeichnungen mit Darstellungen der Stickereien sind nur 
zwei erhalten, beide keine Vorlagen, sondern Kopien nach den Sticke¬ 
reien und beide nur als Schul- oder Kopistenarbeiten zu bezeichnen. 
»Zacharias tritt aus dem Tempel« im Kupferstichkabinett der Uf¬ 
fizien in Florenz und »Die Zöllner befragen Johannes« im Berliner 
Kupferstichkabinett. Bei letzterer spricht die gute Erhaltung, die mäßige 
Zeichnung und die Tatsache, daß die zur Übertragung nötige Durch- 


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Besprechungen. 


77 


lochung fehlt, von vornherein dagegen, daß sie als Vorlage gedient 
haben könne. 

Im Hauptteil geht die Verfasserin nach kurzer Aufführung der Stick - 
techniken auf die kunsthistorische Besprechung der einzelnen Stickereien 
ein, die sie gründlich und gut durchführt. 

Auf Grund der verschiedenen Geschicklichkeit in der Darstellung 
der Perspektive auf den Stickereien kommt die Verfasserin zu sehr 
plausiblen Datierungen der Arbeiten. Ebenso vermag sie die Re¬ 
konstruktion der Gewänder und die Verteilung der Stickereien über¬ 
zeugend darzustellen. 

Hanns Schulze. 


Alfred Gudemann. Imagines Philologorum. 160 Bildnisse 
aus der Zeit von der Renaissance bis zur Gegenwart. Gesammelt 
und herausgegeben von A. G. Druck und Verlag von B. G. Teubner 
in Leipzig und Berlin. 1911. 


Wie der Titel des angezeigten Werkes sagt, handelt es sich um eine 
Arbeit sowohl philologischer wie auch kunsthistorischer Art. Die starke 
Betonung des Porträts aber in unserer Zeit, die auch zutage tritt in der 
Aussonderung einer besonderen Porträtsammlung aus der allgemeinen 
Nationalgalerie, veranlaßt mich, über die kunstwissenschaftliche Seite einer 
Publikation vorliegender Art mich auszulassen. 

B. A. Müller-Hamburg hat in der Berliner Philologischen Wochen¬ 
schrift vom 14. Oktober 1911 besonders für ein philologisch orientiertes 
Publikum Gudemans Arbeitsweise und Zuverlässigkeit mit einer Fülle von 
Beispielen durchweg richtig zensiert und nahm dadurch mir manches 
voraus, es werden sich darum unvermeidliche Wiederholungen finden. Man 
denkt nach dem von diesem Rezensenten beigebrachten Material, die Reihe 
der Fehler sei erschöpft, aber Müller beschränkte sich, wie er selber sagt, 
auf Beispiele. Ich gebe also der zusammenfassenden kunstwissenschaft¬ 
lichen Betrachtung folgende Addenda voraus. 

Von Richard Porson hätte man unbedingt das Hoppnersche Gemälde 
in der University Library von Cambridge photographieren lassen müssen, 
denn die beiden Stiche, die wir davon besitzen, zeigen erhebliche Abweichun¬ 
gen untereinander. Die Angabe, der Stich von Forcellini stamme aus der 
Lexikonausgabe, ist eine Ausdrucksmerkwürdigkeit, die Müller wohl dem 
Ausländer Gudeman zugute hielt. Warum fehlen bei Guarino die Vornamen 


Giovanni Battista? 


Schliemann wurde nicht, wie der Verfasser schreibt. 


in Neu-Oncken in Mecklenburg geboren, ein Ort, der meines Wissens nach 
nicht existiert, sondern vielmehr in Neu-Buckow in M. (Siehe die Selbst - 


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7» 


Besprechungen. 


biographie von Schlicmann, nach seinem Tode vervollständigt. Heraus- 
gegeben von Sophie Schlicmann. Brockhaus. Leipzig 1892.) 

Moriz Haupt hielt zu Lebzeiten streng darauf, Moriz, nicht Moritz, 
geschrieben zu werden. 

Besser als das bei Gudeman gebrachte Porträt von Traube ist das 
vor seinen Nomina sacra 1907, dessen Reproduktion allerdings nicht leicht 
sein wird. Isaac Casaubonus, nicht Isaak, würde ich schreiben. (Siehe Isaac 
Casaubon von Mark Pattison. Second Edition. 1892. Oxford Univcrsity 
Press.) Bei Villoisson Bibliothlque nationale et Oeuvres compRt£s müssen 
die Accents geändert werden. Ließ sich bei W. I. Sellar der Meister des 
(icmäldes nicht fcststcllen? Der Stich von Budäus findet sich z. B. in dem 
alten Porträtwerk von Andre Thevet, 15184, S. 351, was die letzte erreichbare 
Quelle zu sein scheint. 

Für Erasmus brauchte man nicht einen späten Stich zu nehmen, es 
liegt das Bild von Quentin Massys vor und der Stich von Dürer, ich verweise 
auf die Bildnissammlung des Kupferstichkabinetts in Berlin. 

Was aber den Schellhornschen Stich von Hcmsterhusius angeht, so 
scheinen mir weder Tracht noch Gesicht der Vorstellung zu entsprechen, 
die man sich von einem feinsinnigen Gräcistcn des 18. Jahrh. macht. Hier 
scheint ein ähnlicher Fall vorzuliegen wie bei Rcuchlin und Boccacio, von 
denen ich später spreche. 

Die Zitierweise G.s bei Boissonade ist irreführend. Es muß dort 
heißen: Photographie nach dem Gipsabguß der Medaille von David d’Angers 
im Musee d’Angers. Ich werde übrigens diesen Fall noch besonders behan¬ 
deln. Das Winckelmann-Bildnis von Maron, das 1767—68 gemalt wurde, 
mußte nach dem Original in der Weimarer Galerie oder mindestens nach dem 
besten Stich, dem von L. Sichling, gegeben werden. (Vergleiche hierzu: 
O. Jahn, Biographische Aufsätze. 2. Aufl. 66, S. 81—87). Ein besseres 
Porträt von August Mau findet sich in der Leipziger Illustrierten Zeitung 
vom 18. März 1909 S. 556. Für Sir Richard Jcbb siehe das Titelporträt 
in Caroline Jcbb: Life and letters of Sir Richard Jcbb, 1907. Ein sehr gutes 
Bild von Jacob Geel befindet sich, wie mir der Direktor der Leidener Biblio¬ 
thek mit teilt, daselbst in dessen Zimmer. Es ist besser als das hier 
gebrachte und ist reproduziert in der Dissertation von Martha S. 
Hamakcr: »Jacob Geel naar zijn brieven en geschriften geschetst«. 
Leiden 1907. . . . 

Ich gehe über zur zusammenfassenden Betrachtung. Für die Bear¬ 
beitung von Ikonographien und weitergegriffen für die Publikation von 
Porträts überhaupt läßt sich eine allgemeine Norm, eine Forschungsmethode 
aufstellcn, um einerseits zu dem gesuchten Bilde überhaupt, andererseits zu 


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Besprechungen. 


7Q 


dem zu publizierenden Exemplar zu gelangen. Vor allen Dingen muß der 
Philologe stets von einem kritisch geschulten Kunstwissenschaftler beraten 
werden. Der eine wird suchen, der andere prüfen. 

Beginnen wir bei der Moderne, so müssen wir wohl Kunstwerke aus 
guten Händen, die wohlgemerkt nach Sitzung gefertigt sein müssen, Photo¬ 
graphien vorziehen. Es muß aber streng darauf geachtet werden, daß 
nach dem Original und nicht nach Kopie oder Gipsabguß reproduziert wird. 
Gudeman hat uns so das gänzlich verwaschene Bild von Boissonade gebracht 
nach einem Gipsabguß, wo doch das Original mühelos im Musöe de peinture 
usw. in Angers, wo das Oeuvre des Meisters zusammengetragen ist, zu er¬ 
reichen war. Es wird auf Anfrage jederzeit photographiert. Auch die 
Medaille von C. Wachsmuth, gefertigt von T. Georgii, hätte der Verfasser 
kennen müssen, da diese vor wenigen Jahren in die Öffentlichkeit ge¬ 
kommen und, wie ich sehe, auch in der philologischen Literatur vermerkt 
wurde. 

Wenn das Originalgemäldc zugänglich ist, muß man vermeiden, Stiche 
zu bringen, besonders solche zweiter oder dritter Hand, da nicht nur das 
Ungeschick des Stechers, sondern auch die jeweilige Zeitmode zur Ver¬ 
änderung beiträgt. Letztere allein bietet schon Handhaben bei der Unter¬ 
suchung, ob der Stich zulässig ist. Hier liegen bei Gudeman viele typische 
Fehler vor. So Gibbon, Bentley und der schon besprochene Winckelmann 
und Sellar. Daß die Bestimmung des endlich zu reproduzierenden Bildes 
selbst dann noch nicht einfach ist, wenn auch das Original gefunden ist, 
kann man ersehen aus Fällen wie Klopstock (vgl. Franz Landsberger: 
W. Tischbein, S. 140—141) und J. H. Voß, wo je zwei Familien Anspruch 
darauf machen, das Original zu besitzen. Hier muß die Arbeit des Kunst¬ 
wissenschaftlers einsetzen, der unbedingt dem Philologen stets bei einer 
derartigen Arbeit und Auswahl zur Seite stehen muß. 

Völlig ausgeschaltet müssen aber alle Porträts werden, für die keinerlei 
authentische Belege zu erbringen sind, so vor allein Reuchlin, der Boccaccio 
Gudemans und der Chrysoloras, denen man wohl auch den oben erwähnten 
Hemsterhusius beirechnen darf. Alle diese entbehren, wie schon Müller 
eingehend dargclegt hat, völlig der Zuverlässigkeit. Ich gehe hinweg über 
die Unmenge von Druckfehlern, die wohl als solche nicht mehr zu bezeich¬ 
nen sind. 


Um die Aufgabe erfolgreicher bearbeiten zu können, muß der Ver¬ 
fasser sich eingehend mit den Stechern der jeweiligen Zeiten befassen, dann 
werden auch die elementaren Irrtümer in der Feststellung der Künstler¬ 
namen fallen. 


In der zweiten Auflage, von der Gudeman in seiner Einleitung schon 
spricht, die aber wohl einer völligen Neubearbeitung unterworfen werden 


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So 


Besprechungen. 


muß, möchte ich A. Michaelis sehen. (Vgl. z. B. die Leipziger Illustrierte 
Zeitung vom )8. August 1910, 3503, S. 276 oder den Katalog 1911 von 
E. A. Seemann, Leipzig.) Sollte man nicht auch das Porträt von R. Kekule 
von Stradonitz bringen? (Vgl. die Ansprache von Eduard Gerhard. R. von 
Kckul£, am 9. Dezember 1910, 1911 zum 70. Winckelmanns-Feste, S. 3.; 

Die allerdings erheblich größeren Kosten der neuen Bearbeitung dürften 
Autor und Verleger im Interesse des daraus für die Wissenschaft resultieren¬ 
den Nutzens nicht scheuen. 

Gustav .-Im-J ena. 


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Ausstellungen und Auktionen. 


Die Grafton - Ausstellung in London. Oktober bis Dezember 
1911. Der reichlich illustrierte Katalog von Roger E. Fry und Maurice 
W. Brockwell, in Großoktav, bietet eine gute Übersicht (1 Guinea). 
Diesmal waren viele bisher noch nicht gezeigte interessante Bilder aller 
Schulen ausgestellt. Der achteckige erste Raum war den frühen Italienern 
gewidmet. In dem darauf folgenden quer vorgelagerten großen Saal waren 
links die Italiener der Blütezeit, rechts besonders englische Bildnisse des 
18. Jahrh. und die Rembrandts untergebracht; in dem langen mittleren Saal 
links holländische Landschaften, rechts die nordischen Primitiven; der letzte 
Saal macht den Beschluß mit holländischen Zeichnungen links und englischen 
Landschaftsaquarellen rechts, am Ende aber den vier Tafeln von Van der Goes 
aus Edinburgh. Wir heben nur die besonders beachtlichen Bilder hervor. 


Achteckiger Saal: frühe Italiener. 

2. Jac. del Sellaio. Cassonemalerei mit Amor und Psyche (C. Brinsley 
Marlay). Helle Malerei; ausdruckslose Gesichter. 

3. »Giotto«. Halbfigur des segnenden Christus, groß, auf Gold¬ 
grund (Lady Jekvll). Sehr würdevolles Bild aus der zweiten Hälfte des 
14. Jahrh. 

5, 6, 8, 9. Duccio. Vier Darstellungen aus dem Leben Christi. Von 
dem Altar des Sieneser Doms (R. H. Benson). 

7. Masaccio. Thronende Madonna mit vier Engeln, auf Goldgrund. 
Mit pseudo-kufischen Inschriften. Mittelbild des Altars von 1426 im Carmine 
zu Pisa (Rev. A. F. Sutton). Helle, warmbraune Modellierung; ruhiger Aus¬ 
druck der Maria; lebendiger der des Christkindes; schöne große weiche Falten; 
die Hände etwas einförmig und hölzern gezeichnet, doch voller Ausdruck in 
der Bewegung. Der Nimbus des Christkindes sitzt horizontal auf, die übrigen 
Nimben vertikal. 

Repertorium für Kunstwissenschaft, XXXV. 6 


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82 


Ausstellungen 


10, 12. Signorelli. Bruchstücke aus einer Taufe Christi (Sir Fred. 
Cook, Bart.). 

11. Bartol. Vermejo. Hl. Michael mit einem knienden Stifter. Be¬ 
zeichnet (Sir Jul. Wernher, Bart.). 

14. Bartol. Montagna. Madonna, Halbfigur vor feiner Landschaft 
(Sir Will. Farrer f, aus der Samml. Bonomi-Cereda). 

15. »Gozzoli«. Große Madonna mit Engeln, auf gepunztem Gold¬ 
gründe (Henry Wagner). Von einem umbrischen Nachahmer Gozzolis 
(Berenson). 

16. Bramantino. Äußerst anmutige und farbentiefe kleine Madonna, 
Kniestück vor einer Brüstung. Hintergrund ein weiter, von Gebäuden um¬ 
gebener Hof. Über rotem Kleide dunkelblauer, grün gefütterter Mantel 
(Graf Golubef, Paris). Aus der späteren Zeit. 

21. Daddi. Großes fünfteiliges Altarwerk von 1348. In den Giebeln 
Christus und die vier Evangelisten (Sir Hub. Parry, Bart.). Wichtiges 
Hauptwerk von vortrefflicher Erhaltung. Schön abgewogene helle Farben. 
Untersetzte Gestalten, breite vierkantige Gesichter. Der Meister scheint 
aus der Schule Tadd. Gaddis hervorgegangen zu sein. 

Großer Saal: Italiener der Blütezeit; Engländer des 18. Jahr¬ 
hunderts; Rembrandt. 

Links. 

23. Piero di Cosimo. Hylas mit den Nymphen (R. H. Benson). Gute 
Landschaft; sorgfältige Ausführung der Pflanzen und Blumen. 

24. Cima. Hl. Hieronymus (Maj. Kennard). Wasser, Pflanzen, Vögel 
fein und reizvoll durchgeführt. 

25. Sodoma. Hl. Georg im Kampfe mit dem Drachen. Von 1518 
(Sir Fred. Cook, Bart.). 

26. 28. Filippino Lippi. Zwei wenig erfreuliche späte Cassonemalereicn 
(Sir Henry B. Samuelson, Bart.). 

27. Fra Bartolommeo. Große heilige Familie mit dem Johannes¬ 
knaben, in Landschaft. Von 1509, aus dem Besitz der Familie Salviati 
(Countess Cowper). Zeigt wie dem Mönch, bei aller Schönheit der Kom¬ 
position und der Färbung, der Sinn für das Familienleben fehlte. 

29. »Altdorfer«. Jesus, von Maria Abschied nehmend. Von großer 

Farbigkeit und Plastik, deren letztere in der Reproduktion nicht genügend 

hervortritt (Sir Jul. Wernher, Bart.). Sicher von Wolf Huber 

wegen der vollständigen Übereinstimmung in Typen, Zeichnung und 

Färbung mit dessen Kreuzesaufrichtung Nr. 1417 der Wiener Galerie, 

worauf die Gruppe der ohnmächtigen Maria links mit der ent- 

\ 

sprechenden Gruppe des vorliegenden Bildes zu vergleichen ist, und der 


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und Auktionen. 


83 


Kreuzigung in derselben Galerie. Altdorfers Malweise ist viel fetter, sein 
Geschmack überdies ein weit feinerer. Etwas gewöhnliche Typen. Christus 
in rotem Gewände, die neben Maria kniende Frau in weißem Gewände mit 
blauen Schatten. Johannes in leuchtendem Rot. In dem Ruinenbau sind 
stark durchgebildete Reliefs eingelassen; links und rechts davon Durch¬ 
blicke in eine tiefer liegende Landschaft; links rot gefärbte, sich türmende 
Wolken. 

30. Battista del Dosso. Szene aus dem Rasenden Roland (Earl 
Brownlow). Von leuchtender Farbigkeit und dunkler Modellierung. 

31. »Cranach d. Ä.« Venus, klein (Henry Oppenheimer). Cranachd. J. 

32. Andrea del Sarto. Cassonemalerei (Countess Cowper). 

33 » 35 - Pontormo. Zwei Seitenbilder eines Cassonc (Countess 
Cowper). 

34. Giampietrino. Magdalena, Halbfigur auf dunklem Grunde (Sir 
George Donaldson). 

36. Mail. Schule 16. Jahrh. Johannes der Täufer, nach Leonardo. 
Klein (Earl of Crawford). 

Rechts. 

37. Gainsborough. Halbfigur eines jungen Mädchens in großem Hut, 
im Freien. Um 1782 (Lord Michelsam). 

37 A. Reynolds. Weibliche Halbfigur (Lord Hylton). Zeit der 

Vollreife. 

38. 40. Guardi. Große venezianische Phantasiereduten, Gegenstücke 
(Alfred L. de Rothschild). Frühe Zeit, dekorativ, etwas bunt. 

39. Poussin. Bacchanal. Durch Tizians Bild in Madrid beeinflußt. 
(F. Cavendish Bentinck.) Von heller Färbung. 

41. Romney. Weibliches Bildnis in großem Hut, im Freien sitzend. 
Kniestück. Von 1786 (Lord Michelham). Für die kräftige Gestalt erscheint 
der Rahmen zu eng abgeschnitten. 

42. Watts. Mrs. Bentinck mit ihren drei Kindern. Lebensgroßes 
Knicstück. Von 1857 (F. Cavendish Bentinck). 

43. »Tizian«. Judith mit ihrer Magd, Halbfiguren auf dunklem 
Grunde (Lord Walsingham). Etwas hart; nach dem gelben'Umschlagetuch 
der Begleiterin vielleicht von Savoldo. 

44. Tintoretto. Der alte Luigi Cornaro in rotem, pelzbesetztcm Ge¬ 
wände, Kniestück (Earl Spencer). Vorzüglich. 

45. Reynolds. Zwei Damen, im Freien sitzend, Halbfiguren. Von 
1767/68 (Marquess of Crewe). Schön. 

46. Italienische Schule 16. Jahrh. Krieger, ganze Figur in Land¬ 
schaft. Scheint durch Tizians Bildnis des Davalos in Kassel beeinflußt. 

6 * 


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Ausstellungen 


48. Romney. Mrs. Bosanquct mit ihren fünf Kindern, in ganzer Figur 
(Major L. A. Bosanquet). Aus der letzten Zeit. 

51. Rembrandt. Bildnis seines »Vaters«. Bezeichnet und von 163! 
datiert. Bode Nr. 544 (Mrs. Fleischmann). 

52. Goya. Die Schauspielerin Zarate in schwarzem Kleide auf gelb 
bezogenem Divan sitzend, Kniestück (Otto Beit). Ein Meisterwerk von 
sprechendem Ausdruck. 

53. Goya. Graf del Tajo, Brustbild. (Galerie von Dublin.) Von feiner 
Charakteristik in dem abgestorbenen Blick. 

55. Signorelli. Krönung der Maria. Lünette des 1507 für Arcevia 
gemalten Bildes (Mrs. Goodden). 

57. Gainsborough. David Middleton, Halbfigur. Früher als Benj. 
Franklin bezeichnet (Marquess of Lansdowne). 

58. »Rembrandt«. Der blutige Rock. Bode Nr. 555 (Earl of Derby). 
Von einem Schüler aus der ersten Hälfte der fünfziger Jahre. 

59. »Rembrandt«. Die Köchin, Halbfigur. Bode Nr. 465. Von 
einem Schüler Rembrandts. Von außerordentlicher Farbigkeit, aber auch 
großer Gewöhnlichkeit im Ausdruck . 

60. Rembrandt, Katarina Hoogsact, Kniestück, sitzend. Bezeichnet 
1657. Bode Nr. 454 (Lord Penrhyn). Eines der vollendetsten und lebens¬ 
vollsten Bildnisse Rembrandts (Photogravüre am Anfang des Katalogs). 


Mittlerer Saal: Holländer; nordische Primitive. 

Links. 

61. Rubens. Waldlandschaft bei untergehender Sonne. Mittelgroß 
(Earl of Northbrook). 

62. Alb. Cuyp. Vieh nach dem Regen. Quadratisch. Mittelgroß 
(Rt. Hon. Lewis Fry). 

64. Hobbema. Landschaft, bezeichnet: M. Hobbema, darunter: fecit 
1665 (Alfr. C. de Rothschild). 

65. Frans Hals. Brustbild eines Kriegers. Mit dem Monogramm 
und 1637 bezeichnet (Sir Edgar Vincent). Wahrscheinlich Studie für ein 
Schützenbild, hell gemalt, zu groß für den Rahmen. 

66. Turner. Die Windmühle bei der Schleuse. Groß (Sir Fred. Cook). 
Hauptbild der früheren Zeit. 

67. Kopie nach Rembrandts Mühle bei Mr. Widener. ln Original¬ 
größe (T. Humphry Ward). Dunkler und etwas weicher gemalt als das 
Original. Von einem vorzüglichen englischen Maler aus dem Anfang des 
19. Jahrh. Die Bastion mit der Mühle wächst hier besser mit dem andern 
l'fcr zusammen. Der Himmel nicht so warm wie auf dem Original, wo die 


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und Auktionen. 


85 


Zeit gleich nach Sonnenuntergang dargestellt ist, sondern etwa eine Stunde 
später; nur noch hoch am Himmel Helligkeit, der Horizont dagegen schon 
dunkel. 

68. Ph. de Köninck. Sehr große Landschaft. Bezeichnet 1654 (Mrs. 
Bischoffsheim). 

69. Jak. van Ruisdael. Landschaft. Bezeichnet 1652. Fast über¬ 
reich an Einzelheiten. Vorzüglich erhalten (Mrs. Fleischmann). 

71. *Herk. Segers«. Flußlandschaft (Edward Speyer). Erinnert, ab¬ 
gesehen von dem blaugrünlichen Ton, stärker an die Art van Goyens, als 
bei Segers zu erwarten wäre. 

72. Benj. Cuyp. Fischerleute an der Meeresküste. Von leichter 
Farbigkeit (H. M. Fitz Herbert, Bart.). 

75. «Rembrandt«. Große Flußlandschaft (Lady Wantage, früher 
bei Lord Overstone). Schon vom Katalog als ein unzweifelhafter und vor¬ 
züglicher Köninck bezeichnet. 

77, 78. Terborch. Zwei Gegenstücke (Earl of Northbrook). 

79. Cavazzola. Bildnis in Halbfigur vor blühendem Myrthenbaum. 
Oval. Mit der Inschrift in Goldbuchstaben: Clarior hoc pulcro in corpore 
virtus (Sir George Donaldson). Schon die Inschrift spricht dafür, daß es 
sich um die Darstellung einer jungen Frau handelt, nicht — wie der Katalog 
meint — um die eines jungen Mannes. Von außerordentlich kraftvoller 
Wirkung und sorgfältigster Ausführung. Es ist sehr zu bedauern, daß dieses 
hervorragende, rätselhafte Bild nicht mit abgebildet ist. Die ernste und 
schöngebildete Gestalt in Schwarz hält freilich den Knauf eines Schwertes 
und ihr hellbraunes Haar ist kurz geschnitten und fällt frei hinunter; dafür 
aber trägt sie ein bis unter die Achseln reichendes Mieder, worunter das 
feine Hemd hervorschaut und worin zwei weiße Blüten stecken. Zu den 
träumerischen Augen unter hohen Brauen steht der sinnliche Mund mit 
seinen vollen Lippen in einem eigentümlichen Gegensatz. Die tiefen Schatten 
sind breit, weich modelliert. 

80. Nie. Maes. Halbfigur eines Greises in Schwarz, auf dunklem 
Grunde (Sir George Donaldson). Um die Mitte der fünfziger Jahre, somit 
aus der Blütezeit des jungen Meisters. 

Rechts. 

81. *Holbcin«. Herzog von Suffolk (f 1545), Kniestück (Lord Wim¬ 
borne). Gutes Bildnis von einem englischen Schüler Holbeins. 

82. »Giorgione«. Bildnis eines Kunstfreundes, nicht des Jac. San- 
sovino; Halbfigur (Marquess of Lansdownc). In der Art Carianis oder 

dergl. 


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86 


Ausstellungen 


83. Kopie nach Leonardos Mona Lisa (Earl of Malmesbury). Schwach, 
mit russigen Schatten, ganz schlecht im Ausdruck. Eine der drei in England 
befindlichen Kopien des Bildes. 

83 A. Reynolds. Mrs. Hardinge, Kniestück im Freien. Von 1778 
(Marquis of Clanricardo). 

84. »Rubens«. Brustbild eines jungen Geistlichen. Von 1622. Gutes 
Bild der Antwerpener Schule (A. E. G. Pritchard). 

85. Frang. Clouet. Diane de Poitiers (f 1566), in der Badewanne 
sitzend, der nackte Oberkörper sichtbar. Auf der Badewanne bezeichnet: 
Fr. Janetii opus (Sir Fred. Cook, Bart.). An die Art seines Landsmannes 
P. Aertsen erinnernd, doch glatter. 

86. »Luc. van Leiden«. Halbfigur eines jungen Mannes. Von 1528. 
Das »L« falsch (Mrs. Alfred Morrison). Etwas an die Art des Bruyn 
erinnernd. 

87. »Mabuse«. Madonna in Nische, mittelgroß (Earl of Northbrook). 
V on einem Brügger Meister. 

88. »Memling«. Triptychon (Mrs. Alfred Morrison). Kopie oder Nach¬ 
ahmung. 

89. J. van Cleve d. j. Männliches Brustbild (Earl Spencer). Kein 
Selbstbildnis. 

90. *R. van der Weyden«. Brustbild angeblich des Lionello d'Este, 
in schwarzem Oberkleid über rotem Rock, mit einem kleinen Hammer in 
der Rechten, auf weißem Grunde. Auf der Rückseite ein Sinnbild der Este 
(Rt. Hon. Sir Edgar Speyer, Bart.). Trotz vortrefflichen Ausdrucks auf¬ 
fallend flach, ohne Leuchtkraft in der Farbe. Nicht von Weyden; ob Kopie 
nach ihm? 

91. Deutsch, 16. Jahrh. Halbfigur eines häßlichen alten Weibes 
in braunem Kleide mit gelben Streifen, auf dunklem Grunde (Rt. Hon. 
Lewis Fry). Gemahnt an die Zeit der Wiedertäufer in Münster. Von 
Aldegreverr 

92. »Dirk Bouts«. Der hl. Lukas, die Madonna malend. Nach dem 
Katalog wohl mit Recht eher Aalbert Bouts (Lord Penrhyn). 

93. Steen. Selbstbildnis, die Mandoline spielend (Earl of Northbrook). 
Das bekannte Hauptbild. 

94. Mich. Sweerts. Bildhaueratelicr. 1651 (?) (Sir George Donald- 
son). Überstarke Modellierung. 

95 - Steen. Der Bürgermeister von Delft mit seiner Tochter. 1655 
(Lord Penrhyn). 

99. Steen. Schlechte Gesellschaft (Mrs. Fleischmann). 


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und Auktionen. 


»7 


Schluß-Saal: Holländische Zeichnungen; englische Aquarelle; 

Hugo van der Goes. 

Im Vorraum. 

100. Hogarth. Mrs. Fitz Herbert f (1753). Halbfigur ^Sir H. M. 
Fitz Herbert, Bart.). 

103. »Primaticcio«. Diana und Actäon. (Lord Middleton) Großes 
figurenreiches Bild. 

104. Alb. Cuvp. Die Belagerung von Breda. Mittelgroß (Lord 
Penrhyn). 

Im Saale links. 

106. Welazquez«. Lachender Trommler. Kniestück (Earl of Ply¬ 
mouth). 

109. Siberechts. Große Landschaft. 1690 (Sir Fred. Cook, Bart.). 
Eine Auswahl ausländischer Zeichnungen aus dem Besitz von I. P. 
Heseltine. 

Rechts. 

Eine Auswahl älterer englischer Landschaftsaquarelle, besonders von 
Rooker, Gainsborough, Alex. Cozens, John R. Cozens, Girtin, Turner, 
Rowlandson, Blake, Will. Pearson, Dav. Cox; besonders die Wharfedale 
Drawings, die Turner 1818 für Walter Fawkes ausführte, von Mitgliedern 
der Walpole Society dargeliehen. 

Am Ende des Saales. 

* 53 . •SS- Claude 1 /orrain. Zwei Landschaften (Marquess ot Bute). 
154. Tizian. Diana und Aktäon. Groß (Earl Brownlow). Aus 
späterer Zeit. 

218—221. Van der Goes. Die vie Flügelbilder des für Sir Edward 
Bonkil gemalten großen Madonnenaltars. (Aus dem Kgl. Schloß Holyrood 
in Edinburgh.) Muß um das letzte Lebensjahr des Künstlers (t 1482) 
gemalt sein, da der 1473 geborene Prinz mindestens als neunjährig 

erscheint. Die drei fürstlichen Bildnisse offenbar nach Vorlagen, nicht nach 

* 

dem Leben gemalt. Der Hauptanziehungspunkt der Ausstellung. 

W. v. Seidlitz. 


Die Sammlung Weber. Mit dem Verkauf der Sammlung des Konsul 
Weber in Hamburg hat Deutschland seine umfassendste private Gemälde¬ 
sammlungverloren. Der museumsartige Charakter, das Bestreben, einen Ge- 

samtüberblick über die Geschichte der europäischen Malerei zu geben, ferner 

• • 

die Liberalität, mit der der Besitzer seine Sammlung der Öffentlichkeit zur Ver- 


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88 


Ausstellungen 


fügung stellte, und nicht zuletzt der sehr gediegene, wissenschaftliche Katalog 
Woermanns haben der Galerie Weber einen Ruf verschafft, der mit der 
Qualität des Ganzen nicht mehr in Einklang zu stehen scheint. Eis ist fraglos, 
daß es an Meisterwerken nicht fehlte, daß mehr noch kunstgeschichtlich 
interessante Bilder vorhanden waren, aber man kann auch nicht verkennen, 
daß viel Ballast mitgeführt wurde, manches minderwertige und zweifel¬ 
hafte dazu dienen mußte, Lücken zu füllen, wo besseres nicht leicht er¬ 
reichbar war. Eis soll mit dieser Feststellung keineswegs die bewunderns¬ 
werte Sammeltätigkeit des Konsul Weber herabgesetzt werden, denn es 
liegt in den Verhältnissen selbst begründet, daß ein Riesenwerk, wie er 
es sich vorgenommen und innerhalb eines Menschenalters vollendet hatte, 
heut nicht mehr in idealer Weise zu erfüllen war. So kann man es begreifen 
und billigen, daß die Hamburger Museumsleitung es ablehnte, die Galerie 
als ganze zu übernehmen, und es vorzog, in der öffentlichen Versteigerung 
nach Möglichkeit die wertvollen Stücke der Sammlung zu erwerben und 
sic der Stadt, der sie so lange gehörten, nun für immer zu sichern. 

Das an Marktwert höchststehende Stück der Sammlung, das Marien¬ 
bild des Mantegna, wurde um einen so enormen Preis einem Pariser Händler 
zugeschlagen, daß es wohl für Europa verloren sein wird und den Weg 
nach Amerika gehen muß. Als Kuriosität mag übrigens erwähnt sein, daß mit 
590000 Mark, die für das Bild gezahlt wurden, die höchste Summe erreicht 
ist, die bisher überhaupt in einer öffentlichen Versteigerung erzielt werden 
konnte. Die Preisbemessung war auch sonst recht hoch bis auf wenige 
Ausnahmen wie das große, durchaus charakteristische und voll bezeichnetc 
Madonnenbild des Marco Palmezzano (No. 31), das um die geringe Summe 
von 8200 Mark zugeschlagen wurde. Die Provenienz aus der Sammlung 
Weber bedeutete für viele geringere Werke eine Preissteigerung um das 
mehrfache ihres Wertes. Trotzdem konnten sich die öffentlichen Samm¬ 
lungen Deutschlands in vielen Fällen mit gutem Erfolg an der Steigerung 
beteiligen. So erwarb das Berliner Kaiser Friedrich-Museum in dem alt¬ 
französischen Flügelaltärchen (No. 3) das kunsthistorisch vielleicht inter¬ 
essanteste und wichtigste Stück der Sammlung. Eis gehört in die Gruppe 
jener Werke von Künstlern des burgundischen Hofes, die Dvoräk in seinem 
»Rätsel der Brüder van Eyck« behandelte, und läßt sich mit Sicherheit in 
das letzte Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts datieren. Schwieriger ist die 
Feststellung der Provonienz, jedoch hat die angebliche Herkunft aus Dijon 
manches für sich. 

Der historischen Anordnung des Kataloges folgend kommen wir auf 
ein Flügelaltärchen aus der Richtung des sog. Meister Wilhelm (No. 4), 
das in Cöln im ersten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts entstanden sein dürfte, 
das aber durch weitgehende Übermalungen stark geschädigt und in manchen 


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und Auktionen. 


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Teilen ganz seines ursprünglichen Charakters beraubt ist. Die von Tschudi 
als Kopie nach einem verschollenen Werke des Meisters von Flömalle be- 
zeichnete Messe des heil. Gregor trägt die Jahreszahl 1510, die sich mit 
dem Stil des Bildes, der auf die Mitte des 15. Jahrhunderts zurückweist, 
schwer vereinigen läßt. Daß die Komposition erst im Anfang des 16. Jahr¬ 
hunderts von einem späten Nachfolger des Flömallers geschaffen sein sollte, 
wie der Katalog annehmen möchte, scheint ausgeschlossen zu sein. Auf 
ein zweites Exemplar der Komposition in Lissaboner Privatbesitz hat Fried - 
länder hingewiesen. Die beiden Köpfe der Maria und des Johannes (No. 7 
und 8), die Ausschnitte aus einer Kreuzigung Christi sind, gehören gewiß 
nach Süddeutschland, jedoch ist ihre Bestimmung auf den Meister der 
heiligen Familie, die von Thode ausgeht, nicht genügend sicher begründet. 
Eher wird man die stilistische Zusammengehörigkeit der Halbfigur der 
heil. Barbara (No. 9) mit den Werken des von Thode fälschlich so genannten 
Berthold Landauer anerkennen können. Dieses Bild zeichnet sich übrigens 
durch seinen guten Erhaltungszustand aus. Im Gegensatz zu den übrigen 
altdeutschen Bildern hat es seinen echten Goldgrund bewahrt. Recht störend 
ist der erneuerte Goldgrund bei der Kreuzigung, die zu dem großen Heister¬ 
bacher Altar gehörte (No. 12) und besonders bei der Himmelfahrt Christi 
vom Meister des Marienlebens (No. 13), bei dem die Figuren wie silhouettiert, 
und die Konturen natürlich nicht zum Vorteil verändert sind. Der Erzengel 
Michael, der sehr wohl von dem Meister des Liesborner Altars herrühren 
kann (No. 18), wurde von dem westfälischen Landesmuseum zu Münster 
erworben. 

Unter den Italienern des 15. Jahrhunderts war der von Knapp 
zu Unrecht angezweifelte, späte Mantegna (No. 20) das Hauptstück. 
Ziemlich gering waren die beiden florentinischen Madonnenbilder (No. 22 
und 23), die Abbildung des letzteren im Katalog erweckt Erwartungen, 
die das Original, das in die Stilrichtung des frühen Botticelli gehört, 
nicht erfüllt. Erstaunlich war es, daß die große Lünette mit Gott¬ 
vater (No. 24), ein charakteristisches Werk der Peruginoschule, nur 
1400 Mark erzielte. Kunsthistorisch außerordentlich bedeutend- ist das 
Bild des Jacopo de’ Barbari mit dem Alten, der ein Mädchen liebkost (No. 26) 
Mit Namen und Merkurstab voll bezeichnet und 1503 datiert, in der Formen- 
gebung den bekannten Stichen unmittelbar verwandt, bedeutet dieses Bild 
das wichtigste Dokument zur Kenntnis des interessanten Meisters, und 
es ist zu hoffen, daß eine öffentliche Galerie sich das Werk, das in den Besitz 
eines englischen Kunsthändlers überging, noch zu sichern vermag. Ein 
sehr sympathisches Werk des Lorenzo di Credi besaß die Galerie Weber 
in der Himmelfahrt des heil. Ludwig (No. 32b 


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go 


Ausstellungen 


Den Beginn der deutschen Gemälde des 16. Jahrhunderts macht die 
Darstellung Christi im Tempel (No. 36), die 1500 datiert in des älteren 
Holbein Frankfurter Werkstatt entstanden ist. Die Komposition gehört 
sicher dem Meister, auch die Typen sind dem Vorrat seiner Skizzenbücher 
entnommen, aber die Hand Holbeins selbst ist nirgends zu entdecken. Die 
Zugehörigkeit der Tafel zu dem großen Frankfurter Dominikaneraltar, die 
von vornherein wahrscheinlich wäre, hat sich bisher nicht erweisen lassen. 
Es existiert übrigens auch eine Zeichnung der Komposition, die aus der 
Sammlung Habich in Göttinger Privatbesitz überging.. Auch diese kann 
aber nicht als Originalarbeit Holbeins angesprochen werden, sondern ist 
eine Werkstattwiederholung, die nach dem Bilde angefertigt wurde. Jeden¬ 
falls ist es mit Freude zu begrüßen, daß das Gemälde in die Hamburger 
Kunsthalle überging, und so der Kunstforschung, die sich mit der schwie¬ 
rigen Frage der Frankfurter Werkstatt des älteren Holbein noch öfter aus¬ 
einanderzusetzen haben wird, dauernd zugänglich bleibt. Steht dieses Ge¬ 
mälde dem Meister, dem es zugeschrieben wird, entschieden nahe, so ist 
das Marienbild, das der Katalog mit Sicherheit Dürer selbst zuweist (No. 37), 
eine Fälschung vom Anfang des 17. Jahrhunderts. Eher noch als dieses 
Werk eines späten Nachahmers könnte das Sebastiansmartyrium (No. 38), 
das das Berliner Kaiser Friedrich-Museum erwarb, mit Dürer in Verbindung 
gebracht werden. Die Bestimmungen auf Altdorfer und Baidung sind mit 
Sicherheit abzulehnen. Eis gehört in den Kreis jener aus der Schongauer- 
schule hervorgehenden Werke, für die abwechselnd die Namen Dürer 
Grünewald, Wechtlin in Vorschlag gebracht werden, und die jedenfalls mit 
den Werken des jungen Dürer am meisten Berührungspunkte aufweisen. 
An der 1535 datierten Grabtafel des Bürgermeisters Sebastian Welling von 
Martin Schaffner (No. 39) ist vor allem der mit der alten Bemalung er¬ 
haltene Originalrahmen zu rühmen, ein Tabernakel in Renaissanceformen, 
das formal und koloristisch mit dem Bilde selbst vorzüglich zusammen- 
geht. Daß das kleine, hübsche Bildchen des Amor mit der Honigscheibe 
von Cranach (No. 40) nur das Fragment eines Venusbildes ist, darf kaum 
bezweifelt werden. Ebenfalls ein Fragment und nicht nur anscheinend 
oben beschnitten, ist der Christus am ölberg von Burckmair (No. 45). Das 
Berliner Kupferstichkabinett besitzt eine Federskizze der Ölbergszene, die 
die ursprüngliche Komposition, die im Gemälde einige Veränderungen er¬ 
fahren haben würde, zu geben scheint. Recht schlecht erhalten sind die 
beiden Portäts des Hans von Kulmbach (No. 46—47). Ein charakteristi¬ 
sches Werk des Hans Baidung Grien, die 1514 datierte Maria (No. 48), wurde 
von dem Freiburger Museum erworben. Fälschlich als »Art Baidungs« 
beschrieben ist das kleine Bild mit der Allegorie auf Leben und Tod (No. 49), 
Es gehört in den Kreis der Nürnberger Kleinmeister. Das durch Restau- 


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und Auktionen. 


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ration recht entstellte Verkündigungsbild (No. 50) mit dem sicher falschen 
Monogramm Altdorfers hat mit dem Meister nichts zu tun. Stilistisch er¬ 
innert es am ehesten an Jörg Breu. Ebenso trägt das nicht sehr inter¬ 
essante Frauenporträt (No. 51) zu Unrecht das Zeichen des Regensburger 
Meisters. Unter den Bildern von Schäufelein war die späte, 1538 datierte 
Anbetung des Lammes (No. 56) entschieden das interessanteste. Um so 
mehr mußte es verwundern, daß dieses Bild um den sehr geringen Preis 
von 1700 Mark zugeschlagen wurde. Desto höher bewertet waren die großen, 
repräsentativen Porträts des 16. Jahrhunderts wie das Bildnis eines Herrn 
Riedler von Hans Müelich (No. 58), ein stattliches und sehr charakteristi¬ 
sches Werk des Meisters (1659 datiert), das die Hamburger Kunsthalle 
erwarb. Das männliche Bildnis No. 57 schreibt der Katalog dem Barthel 
Beham zu, obgleich nicht bemerkt ist, daß es sich um die gleiche Aufnahme 
handelt wie in dem gestochenen Porträt des Kanzlers Leonhard von Eck 
(Pauli 94 I. Zustand). Das Verhältnis von Bild und Stich ist nicht leicht 
zu bestimmen. Manches spricht dafür, daß das Bild das frühere ist, zunächst 
der äußerliche Umstand, daß der Stich die Aufnahme im Gegensinne gibt, 
dann daß das gemalte Porträt eine Halbfigur mit Händen gibt, während 
der Stich nur ein Brustbild ist, und die größere Aufnahme des Bildes mit 
den verschränkten Armen durchaus überzeugend wirkt. Auch daß der 
Dargestellte auf dem gemalten Bildnis wesentlich jünger erscheint, könnte 
angeführt werden. Dafür daß das Bild der Sammlung Weber das eigent¬ 
liche Original des Behamschen Eckportäts ist, brauchen alle diese Erwä¬ 
gungen natürlich noch nicht zu zeugen. Eis könnte Bild und Stich eine 
gemeinsame Aufnahme zugrunde liegen. Auch könnte das Original des 
übrigens mehrfach vorkommenden Porträts verschollen und auch das 
Webersche Exemplar nur eine Replik sein, wofür die nicht eben hohe Qua¬ 
lität des schlecht erhaltenen und darum schwer zu beurteilenden Porträts 
spricht. 

Unter den Niederdeutschen des 16. Jahrhunderts stand der große 
Passionsaltar des Meisters von St. Severin (No. 62) voran, der bis auf 
den neuen Goldgrund nicht schlecht erhalten ist und in dem Bostoner 
Museum, an das er verkauft wurde, den Meister gut vertreten wird. Ein 
ganz ungewöhnlich gutes und liebenswürdiges Werk des älteren Bartel 
Bruyn, die heil. Familie mit dem heil. Gereon (No. 64), ein Werk der mitt¬ 
leren Zeit des Meisters von großem Reiz der Farbe und ausgezeichnetem 
Erhaltungszustand, war eine der besten Erwerbungen des Herrn von Nemes. 
Der hohe Preis von 45 OOO Mark war ein Anzeichen für die allgemeine Schät¬ 
zung, die dem kleinen Bilde zuteil wurde. Ein Spätwerk, das diese nicht 
ganz so erfreuliche Zeit des Meisters gut vertritt, mit der Darstellung der 
drei Stände (No. 66) erwarb das Bonner Provinzialmuseum. Dasselbe Museum 


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Ausstellungen 


kaufte das kunsthistorisch sehr wichtige Klappaltärchen mit dem Bildnis 
des Peter Ulmer (No. 73), das Bartholomeus Bruyn bezeichnet und 1560 
datiert ist. Da der ältere Bartel Bruyn zwischen 1553 und 1557 gestorben 
ist, ergab sich aus dieser Datierung die Zuweisung an den jüngeren Meister 
des gleichen Namens, den Sohn des älteren, und die Bestimmung seines 
Werkes könnte von hier ihren Ausgang nehmen. Der Hamburger Kunst • 
halle gelang es, sich das kleine weibliche Bildnis des jüngeren Ludger tom 
Ring (No. 72), eines der reizvollsten Bilder der Webersammlung, um den 
allerdings recht hohen Preis von 47 500 Mark zu sichern. 

Unter den Niederländern des 16. Jahrhunderts waren die beiden dem 
Mabuse zugeschriebenen Madonnenbilder (No. 78—79) ziemlich unbedeu¬ 
tende Repliken häufiger vorkommender Kompositionen. Qualitativ recht 
hochstehend ist dagegen das jüngste Gericht (No. 80), das mit Sicherheit 
dem Meister des jüngsten Gerichts im Brügger Museum, also Jan Provost, 
zugeschrieben werden kann. Auch dieses ausgezeichnete Werk zählt zu den 
Erwerbungen der Hamburger Kunsthalle. Interessant durch die nur noch 
einmal in dieser Form vorkommende Bezeichnung Jakob Claiss, der identisch 
ist mit dem gewöhnlich sogenannten Jakob von Utrecht, ist das weibliche 
Bildnis No. 83. Ein Spätwerk vom Meister des Todes Mariae, die Kreuzi¬ 
gung mit Maria und Johannes (No. 84), erwarb das Bostoner Museum. 
Das kleine Bild des Christus bei Martha und Maria (No. 86) dürfte Barend 
van Orley mit Recht zugeschrieben werden. Recht gut und bezeichnend 
für den Künstler ist die Lautenspielerin des Meisters der weiblichen Halb- 
figuren (No. 96). Es ist nicht recht einzusehen, warum sie der Katalog 
einem Nachfolger des Meisters zuschreiben will. Wickhoffs Versuch der 
Identifizierung mit Jean Clouet ist wohl für erledigt anzusehen. Das männ¬ 
liche Bildnis Nr. 99 geht mit dem bekannten Porträt in München, das dem 
Joos van Cleeve zugeschrieben wird, gut zusammen. Das schöne Bild ge¬ 
langte um einen hohen Preis in eine Hamburger Privatsammlung, während 
die Hamburger Kunsthalle das ebenfalls sehr stattliche Frauenporträt des 
Cornelis Ketel fNo. 102) erwerben konnte. Der bekannte Antwerpener 
Schnitzaltar (No. 106), den Weber aus der Sammlung des Fürsten Peter 
Soltykoff in Paris erwarb, ist durch einen schokoladenfarbenen Anstrich 
arg entstellt. 

Unter den Italienern des 16. Jahrhunderts begegnet der Name Tizians 
in Verbindung mit einer Berglandschaft (No. m), die angeblich eine Sig¬ 
natur trägt. Sicherlich hat Tizian selbst mit dem Bilde, das in den Kreis 
des Schiavonc gehören dürfte, nichts zu tun. In recht schlechtem Zustande 
befindet sich der heil. Hieronymus (No. 113), der von Lorenzo Lotto her- 
rühren mag. Die Verkündigung des Palma vecchio (No. 115) war auf alle 
Fälle mit der Summe von 100000 Mark unverhältnismäßig hoch bewertet. 


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und Auktionen. 


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An das Metropolitan-Museum wurde die große Beweinung Christi (No. 128), 
ein charakteristisches Spätwerk des Moretto, verkauft. E*n ziemlich flaues 
Bild und des Meisters nicht würdig ist das männliche Porträt (No. 133), 
das dem Tintoretto zugeschrieben wird. Der sogenannte Greco (No. 139 ) 
ist sicher italienisch und gehört in den Kreis der Bassano. 

War das Interesse für die Seicentisten im allgeminen noch kein bc- 
sonders großes, so setzte es um so mehr in Erstaunen, daß ein nicht eben 
bedeutendes Kreuzigungsbild des Sassoferrato (No. 148) den hohen Preis 
von 30 OCX) Mark erzielte. Dagegen konnte v. Nemes die recht schöne Tötung 
Abels von Salvatore Rosa (No. 15Q) um nur 4000 Mark erwerben. Aus¬ 
gezeichnet war Tiepolo in der Sammlung vertreten mit den zwei Bildern 
der Kreuztragung und Kreuzigung (No. 159—160), die durch Abnahme 
des oben angesetzten Streifens noch an Wirkungskraft gewinnen dürften, 
und ebenso mit dem schönen, lebensgroßen Studienköpf eines Paschas 
(No. 162), der sicherlich als originale Arbeit des Meisters anzusprechen 
ist. Gegen diese Werke traten die beiden Bilder des Guardi (No. 165—166) 
weit zurück. 

Das interessante, große Rundbild der Anbetung der Hirten von Ribera 
(No. 174) ging in die Sammlung Nemes über. Das Bild ist voll signiert, 
und die Zuschreibung dürfte keinem Zweifel unterliegen. Den Stil des Ve- 
lasquez vertritt recht gut das sogenannte Porträt der Infantin Maria Teresa 
tNo. 176), eine Teilkopie des bekannten Bildes im Prado, das Justi als Bildnis 
der Infantin Margarete bestimmte. Weitere Wiederholungen befinden 
sich in Glasgow und Wien. Alle diese Repliken sind gewiß im Atelier des 
Velasquez entstanden, aber die Qualität des Weberschen Bildes, in dem 
übrigens wie in dem Original des Prado der Kopf der künstlerisch geringste 
Teil ist, schließt es aus, an die Hand des Meisters selbst zu denken. Von den 
beiden sogenannten Murillo schreibt Loga die Maria als Himmelskönigin 
(No. 179) dem Sebastian Gomez Mulatto, dem Sklaven des Meisters, zu, die 
Rückkehr der heil. Familie (No. 180) dem Esteban Marques. Die dem 
Mateo Cerezo zugeschriebene heil. Cäcilie (No. 182) ist eine italienische 
Arbeit im Stile des Carlo Dolci. Von den drei Goya-Bildern setzt das erste 
der Bestimmung große Schwierigkeit entgegen. Die kleine Maja mit den 
roten Schuhen (No. 184) würde man ohne die Signatur eher dem Pietro 
Longhi als dem Goya zuschreiben. Der Verdacht der Fälschung ist nicht 
ganz von der Hand zu weisen. Das Bildnis des Don Tornas Perez Estala 
(No. 185) ist ein sicheres und prachtvolles Meisterwerk Goyas, zu dessen 
Erwerb man die Hamburger Kunsthalle beglückwünschen kann. Die Re¬ 
volutionsszene (No. 186) gehört zu der Gruppe von Bildern in der Art des 
Goya, die man sich gewöhnt hat, dem Lucas zuzuschreiben, ohne daß man 
eigentlich sichere Gründe für die Attribution hätte, die sogar auf tatsäch- 


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Ausstellungen 


liehe Schwierigkeiten stößt. Immerhin ist der Farbenauftrag der Art des 
Goya fremd, in den grauen Tönen des Hintergrundes ist eine nicht zu über¬ 
sehende Härte, und die Erfindung hat nicht die Verve und Schlagkraft 
der guten Kompositionen Goyas selbst. So wird man zum mindesten das Bild, 
zusammen allerdings mit einer ganzen Gruppe anderer, mit einem Frage¬ 
zeichen zu versehen haben. 

Von Rubens besaß die Sammlung ein sehr schönes Porträt der Helene 
Fourment (No. 188), eine eigenhändige Arbeit, von deren Reizen die Unger- 
sehe Radierung im Katalog, die zumal den besonders schönen Hintergrund 
willkürlich verändert, keine Vorstellung gibt. Alle Vorzüge der eigenhän¬ 
digen Ausführung besitzt ebenso die Farbenskizze zu dem aus dem Frei- 
singer Dom stammenden Altarbilde der Münchener Pinakothek (No. 192), 
dessen Darstellung neuerdings durch Ludwig Burchard als die Himmels¬ 
königin Maria gedeutet wurde (Kunstchronik, N. F. XXIII, 330). Das 
schöne Bild geht in die Sammlung Nemes über. Im Gegensatz zu Rubens 
war Van Dyck mit dem Bildnis der Genevi&ve d'Urfö, (No. 202) das aus 
Bienheim stammt, nicht eben glänzend vertreten. Von den Teniers war die 
unfreiwillige Rückkehr aus dem Wirtshause (No. 208) das beste Bild, cha¬ 
rakteristisch für die Frühzeit der trinkende Bauer (No. 210), während der 
Bauerntanz (No. 212) recht verdächtig schien. 

Die Qualität des männlichen Bildnisses von Franz Hals (No. 223) 
rechtfertigt den hohen Preis von 195 000 Mark, um den es v. Nemes erwarb, 
in keiner Weise. Das kleine Porträt (No. 224), das angelblich Descartes 
darstellt, kommt für den Meister nicht in Betracht. Ein reizendes und kolo¬ 
ristisch mit seinem frischen Gelb und Rot besonders anziehendes Bild waren 
die Zwillingskinder (No. 229), die dem Jakob Gerritsz Cuyp zugeschrieben 
sind. Das Bild des Pieter Jansz Saenredam (No. 234) ist vor allem archi¬ 
tekturgeschichtlich wichtig als Innenansicht der zu Anfang des 19. Jahr¬ 
hunderts abgebrochenen Marienkirche in Utrecht. Die hübsche Flußland¬ 
schaft des Salomon Ruijsdael (No. 239) ist sicherlich früh und die Jahres¬ 
zahl 1632 zu lesen, sie steht den Werken des Jan von Goyen noch sehr 
nahe, der mit dem ländlichen Wirtshaus (No. 232) besonders charakte¬ 
ristisch vertreten war. Ein qualitativ recht hochstehendes und für den 
Meister sehr bezeichnendes Bild war auch die Mondscheinlandschaft des 
Acrt van der Neer (No. 243). Rembrandt wäre besser vertreten gewesen, 
wenn Weber nicht beim Erwerb der Ehebrecherin (No. 250) seinerzeit noch 
den wundervollen Pilger in Tausch gegeben hätte, den dann Moritz Kann 
besaß. Die Ehebrecherin, die aus Bienheim stammt, und die bei ihrem 
Bekanntwerden allgemein sehr günstig beurteilt wurde, kann unter keinen 
Umständen mit Rembrandt selbst in Verbindung gebracht werden. Sic 
hält dem Vergleich mit den berühmten Spätwerken des Meisters, denen 


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und Auktionen. 


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sie äußerlich nahe steht, in keiner Weise stand. Eine sichere Zuschreibung 
ist bisher allerdings nicht gelungen, aber daß es das Werk eines der späten 
Schüler Rembrandts ist, kann keinem Zweifel unterliegen. Sicher echt da¬ 
gegen und eines der besten Werke der Frühzeit, etwa 1628 zu datieren, 
ist die Darstellung im Tempel (No. 248), eine sehr durchdachte und mit 
großer Sorgfalt vollendete Komposition, dem Paulusbilde von 1627 in Stutt¬ 
gart nahestehend. Die Hamburger Kunsthalle ist jetzt Besitzerin des aus¬ 
gezeichneten Werkes. Ebenfalls echt und mit der auf die Leydener Zeit 
deutenden Signatur versehen ist das nach 1630 entstandene Jünglings¬ 
porträt (No. 249). Dagegen hat der andere, mit der ganz unmöglichen 
Datierung 1635 versehene Jünglingskopf (No. 251), der mit Spätwerken 
Rembrandts verwandt ist und sehr wohl ein Werk des Bernaert Fabritius 
sein kann, mit dem Meister selbst nichts zu tun. Unter den Werken des 
Ostade stand qualitativ obenan das Spätbild eines Bauern im Fenster 
(No. 259), das der Berliner Sammler v. Pannwitz erwarb. Ein recht gutes und 
charakteristisches Werk der Frühzeit des Meisters, ein Einsiedler in der Hütte 
(No. 257), ging in den Besitz der Wiener Hofmuseen über. Eine falsche 
Signatur B. van der Heist trägt die Dordrechter Bürgerwehrversammlung 
(No. 262), ein geringes Bild, das schon kostümlich auf eine spätere Zeit 
weist und mit dem Meister nichts zu tun hat. Echt, aber recht dürftig war 
das kleine Damenbildnis des Terborch (No. 267). Die voll bezeichnete und 
1653 datierte Landschaft des Cornelis Gerritsz Decker (No. 275) ist für 
den Meister ausgezeichnet und kann als eines seiner besten Werke gelten. 
Wichtig zur Charakterisierung des Künstlers ist das lebensgroße Pferde¬ 
bild, eines der spätesten Werke des Paul Potter (No. 290), peinlich und 
trocken und das große Format nicht eben erfüllend. Trotzdem wird man 
es verstehen, daß die Hamburger Kunsthalle sich das Werk sicherte, das als 
ungewöhnliche Arbeit eines hervorragenden Meisters seine kunsthistorische 
Bedeutung besitzt. Ein gutes, wenn auch kompositionell nicht eben an¬ 
sprechendes Werk des Jan Steen, die Vaterfreuden (No. 291), gehört zu 
der kleinen Gruppe der datierten Bilder des Meisters (1668). Pieter de Hoogh 
war nur durch eines der wenig sympathischen Spätbilder (No. 303) vertreten. 
Durch die seltene Bezeichnung J. Natus interessant war die Bauernstube 
(No. 318), ein im übrigen unbedeutendes Bild. Der Name Hobbema begeg¬ 
nete zweimal. Die Wassermühle (No. 321) ist eine sichere Fälschung des 
18. Jahrhunderts. Das Bauernhaus (No. 322) mag echt sein, gehört jedoch 
zu den schwächeren Leistungen des Meisters. 

L-nter der kleinen Gruppe der späten deutschen Bilder verdient nur 
das Herrenporträt des Müncheners Edlinger (No. 353) hervorgehoben zu 
werden. 


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Ausstellungen und Auktionen. 


Die kurze Übersicht mag eine Anschauung von der übrigens ja wohl- 
bekannten Sammlung geben, deren Gesamtbild allerdings durch eine große 
Zahl hier nicht erwähnter Gemälde nicht eben günstig beeinflußt wurde. 
Eis ist heut zu spät, eine museumsartig vollständige Sammlung aus dem 
Nichts zu schaffen, selbst wenn außerordentliche Mittel zur Verfügung gestellt 
werden, was im Falle Webers nicht zutraf. Um so mehr aber ist zu be¬ 
wundern, was geleistet war, und trotz aller kritischen Einschränkungen, die 
hier gemacht werden mußten, sah man nicht ohne einiges Bedauern den 
Aufbau dieser Sammlung zerstört, deren einzelne Teile, ‘wie auch Fried- 
länder in seinem Vorwort zu dem Versteigerungskatalog andeutet, 
nicht in allen Fällen geeignet sein werden, den Ruf des Ganzen zu recht- 
fertigen, für die um so mehr aber die schöne Auswahl zeugen wird, die 
Lichtwarck für das Hamburger Museum getroffen hat. 

Curl Glaser. 



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Die Engel am französischen Grabmal des Mittelalters 

und ihre Beziehungen zur Liturgie. 

Von K. Escher. 


Emile Male hat in seinem für das Verständnis mittelalterlicher Kunst 


unentbehrlichen Buch: L’art religieux de la fin du moyen-äge en France, 
Paris 1908, der Grabmalkunst ein ausführliches Kapitel gewidmet, dabei 
auch die Bedeutung der Engel und die Parallelen mit der Liturgie gestreift. 
Folgende Zeilen verfolgen den Zweck einer erweiterten Darstellung dieses 
Themas. In keinem Lande bietet die Grabmalkunst so viele Aufschlüsse, 
so mannigfaltigen Stoff wie in Frankreich. Die erhaltenen Denkmäler — 
es sind wenige im Verhältnis zu dem, was einst vorhanden war — reichen 
bis ins XII. Jahrhundert zurück. Der Bilderkreis erweiterte sich im XIII., 
der Blüteperiode französischer Kunst, und erhielt sich bis in den Anfang des 
XVI. Jahrhunderts hinein. Was sich durch Bilder- und rcligionsfeindliche 
Zeiten bis auf die Gegenwart gerettet hat, würde aber zu einer vollständigen 
Darstellung nicht genügen. Gaigniferes umfangreiche Sammlung von Zeich¬ 
nungen nach Grabmälcrn, z. T. in Oxford, z. T. auf der Pariser National- 
bibliothek — ebenda auch die Kopien nach den Oxforder Zeichnungen — 
ist daher von ganz unschätzbarem Wert. Ferner sind die Sammlungen von 
Millin *), Montfaucon l ), Guilhermy 3 ), Metaycr-Masselin 4) ( Barbat 5 ), Wil¬ 
lemin 6 ) und die gelegentlichen Abbildungen von Grabmälcrn in den großen 
Werken von Taylor zu nennen. 

Die Engel finden sich in den verschiedensten Funktionen am einfachen 
Grabstein mit eingeritzter Zeichnung, an der Metallplatte, am Sarkophag 
oder Tumben — wie am Tisch — und Nischengrabmal,; sie sind der Figur 


des Laien, des Klerikers wie des 


Heiligen beigegeben. 


Sie stützen sein 




*) Millin, Antiquites nationales ou Recueil de Monuments. Paris 1791. 
l ) Bernard de Montfaucon, Les Monuments de la monarchic frangaisc, qui com- 
prennent l’histoirc de la France. Paris 1729. 

3 ) M. F. de Guilhermy, Inscriptions de la France, du V e au XVIII C siede. 

4 ) M. de M 4 taycr-Massclin, Collection de Dalles tumulaircs de la Normandie. Paris, 
Caen MDCCCLXI. 

5 ) Barbat, Pierres tombales du moyen-dge. 

6 ) Willemin, Monuments frangais inedits pour servir d Thistoire des arts. 

Repertorium für Kunstwis* enscl a*t, XXXV. 7 


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98 


K. Escher, 


Kissen: Grabstein des Bischofs Juba im Kreuzgang von Eine (XH.Jahr- 
hundert) 7 ), am häufigsten aber schwingen sie Weihrauchfässer und halten 
dabei das Schiffchen mit dem Weihrauch. So knien sie entweder auf der 
Oberfläche des Sarkophags neben der Liegefigur des Toten, oder, wenn es 
sich um einen Grabstein mit eingeritzter Zeichnung oder mit Reiefskulpturen 
handelt, wo der Verstorbene als lebend dargestellt unter einem Bogen 
mit Giebel steht, füllen sie, schwebend die Dreiecke neben den Giebelschrägen 
aus. Die Abteikirche von Jumi&ges besaß einst eine ganze Serie von Grab* 
steinen, alle ziemlich gleichzeitig (XIII. Jahrhundert) für längst verstorbene 
Äbte gefertigt, alle mit der nämlichen Komposition 7 8 9 ); in dieselbe Gruppe 
gehört mit einer Legion anderer auch der Grabstein des Architekten Hucs 
Libergier (f 1261) in der Kathedrale von Reims 9 ), der ein Kirchenmodell 
in der Hand trägt, und Winkelmaß und Zirkel bei sich hat. In stärkerem 
oder schwächerem Relief finden sich die weihrauchspendenden Engel auf 
Metallgräbern: Bronzeplatte des Bischofs Evrard de Fouilloy in der Kathe¬ 
drale von Amiens zusammen mit kerzentragenden Klerikern, ähnlich wie 
einst, wie die Spuren auf der vergoldeten emaillierten Bronzeplatte in 
St. Denis zeigen, neben der Figur des Prinzen Jean, des Sohnes des heil. 
Ludwig (f 1247) I0 ), zusammen mit 4 Klerikern. 21 Engelchen zeigte einst 
die Kupfergrabplatte des Philippe deDreuxet de Braisne, Bischofs von Beau* 
vais (f 1217), neben dem Hochaltar der Kathedrale von Beauvais If ). Zwei 
Engelchen knien zu Häupten des Prinzen Philipp, Bruders des heil. Ludwig, 
stützen sein Kissen und halten jeder sein Weihrauchfaß (Abteikirche von 
St. Denis, Abguß im Museum des Trocadero). Die Kirche Notre-Damc 
in Pontoise bewahrt das Tumbengrab des heil. Gautier; zu Häupten wie 
zu Füßen sind je zwei Halbfiguren von Engelchen mit Weihrauchfässern 

7 ) Abb. Vitry und Bri^re, Documents de sculpture fran^aise du moyen-äge. PI. 
XXVIII fig. 2. Nach A. Marignan, Histoire de la sculpture en Languedoc du XII*—XIII e 
siede, Paris 1902, pag. 132, ist der Grabstein gegen 1200 entstanden. EU scheint, daß die 
ikonographisch viel weniger inhaltreiche aber doch von Frankreich abhängige englische 
Grabmalkunst, wo sie überhaupt Engel verwendete, das Zurechtlegen des Kissens und 
Halten des Wappens (XV.Jahrhundert) bevorzugte. Vgl. Sepulcral Monuments in Great 
Britain. London 1886. 

8 ) Gaignieres, Collections, rfs. Pe. 1 d. fol. 37—46. Hernri Bouchot, Inventaire 
Nr. 2305—2314. Ähnlich: Grabstein des Grafen Guy. I. von L^vis (f 1233) in Notrc-Dame 
de la Roche: zu Häupten des Toten zwei Engel, der eine mit dem Weihrauchfaß, der an¬ 
dere mit dem Schiffchen. Revue de l’art ancien et moderne, XXI. pag. 311. 

9 ) Ch. Cerf, Histoire et description de Notre-Dame de Reims. Tome II. pag. 385. 
Glicht F. Rothier Nr. 318. 

xo ) Willemin, Tome I. 91. 

") Stanislas Prioux, Monographie de l’anciennc abbayc royale Saint*Yvecf-de- 
Braisnc avec la description des tombes royales et seigneuriales renfermees dans cetteöglisc. 
Paris 1859. Tafel in Farbendruck. 


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Die Engel am französischen Grabmal des Mittelalters usw. 


99 


plaziert; sie kommen nicht herangeschwebt und knien nicht neben dem 
Heiligen, sondern sie tauchen aus einem Wolkenkranz hervor 1 *). Die Spende 
des Weihrauchs gehört zum Totenritus; Personen, deren Rang im Leben 
diese Auszeichnung und Ehre nicht beanspruchen durfte, werden ihrer 
teilhaft, sobald die Seele den Körper verlassen hat; er ist wertlose Hülle, 
aber bei der leiblichen Auferstehung wird er, gereinigt und geläutert, ihr 
wieder als Wohnung dienen; nicht dem irdischen sondern dem auf erstandenen, 
neu beseelten Leib, dem der ewigen Seligkeit Würdigen gilt der, demnach 
im Voraus von den Engeln gespendete Weihrauch x 3 ). So versehen 
die Engel am Grabmal genau denselben Dienst wie die Kleriker 
beim Leichenbegängnis; zum Beweis dafür sei wiederholt, daß sich 
außer den weihrauchspendenden Engeln sehr oft Kleriker, mit den 
Totenritualien beschäftigt, am Grabmal vorfinden, sei es als kleine 
Figürchen in den Tabernakeln der gotischen Umrahmung, sei es auch 
sogar als gleichbedeutend mit den Engeln selbst, wie an den Sarko¬ 
phagwänden des schon genannten Grabmals Philipps, Bruders Lud¬ 
wigs IX., wo unter den zierlichen Arkaden abwechselnd Mönche und Engel 
stehen, erstere mit Büchern, letztere mit Weihrauchfaß und Fackeln. Am 
Sarkophag für Louis de France, Sohn des heil. Ludwig, stellte der Künstler 
das Leichenbegängnis dar, an der einen Schmalseite stehen 2 Engel mit 
Leuchtern und zwischen ihnen zwei Klageweiber (Abteikirche von St. Denis). 
Am Grabmal des heil. Stephanus in Aubazine (Ende XIII. Jahrhundert) 
fungieren sogar die Engel selbst und ausschließlich als Ministranten bei den 
Funeralien; als kleine Halbfiguren in den Zwickeln der Dachschrägen halten 
sie Buch, Kreuz, Weihrauchfaß, Kerze, Kessel, WeihwedelM). Auch auf ein¬ 
fachen Grabsteinen finden sich die Engel nicht nur mit Weihrauchfaß und 
Schiffchen, sondern auch mit Leuchtern; die französische Archäologie unter¬ 
scheidet zwischen anges thuriteraires und anges c6rof6raires. Grabstein 
eines Abtes von Vallemont: neben dem Toten zwei Engel mit Leuchtern, 


,l ) Clichd F. Martin-Sabon. Nr. 725, 726. 

* 3 ) Vgl. l’abbd Escarguel, Octave des inorts. Considdrations sur les edrdmonies des 
Fundrailles, Carcassonne 1904 p. 35. Anders Guillaume Durand im Rationale divinorum 
officiorum, Paris, Caen 1518. Liber septiraus, de officio mortuorum, fol. CCLXXXVI. 
»Ipsa autem defunctorum corpora thurificantur et aqua benedicta asperguntur non ut 
eorum peccata tollantur, que tune per talia tolli nequeunt sed ut omnis immundorum 
spirituum presentia arceatur et fiunt etiam in signum societatis et communionis sacra- 
mentorum quam nobiscum dum vixerunt habuerunt. fol. CCLXXVII. Thus vero ibi ponitur 
propter fetorem corporis removendum seu ut defunctus creatori suo acceptabiles bonorum 
operum odorem intelligatur obtulisse seu ad ostendendum quod defunctis prosit auxilium 
orationis. Über die symbolische Bedeutung des Weihrauchs überhaupt siehe ib. Liber 
quartus, de missa et singulis quae in missa aguntur fol. LXIV ff. 

*«) Abguß im Museum des Trocadero. 

7 * 


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K. Esch er, 


neben dem Giebel die zwei mit dem Weihrauchfaß * 5 ). — Zuweilen halten 
die Engel auch das Medaillon mit dem Agnus Dei, als dem Symbol des christ¬ 
lichen Glaubens: Grabmal der Isabelle de Belthencourt in der Kirche von 
Ham (XIV. Jahrhundert) l6 ). Die Engel bitten für die Seele des Verstor¬ 
benen, damit auch die heilige Jungfrau für sie bitte und der Weltenrichter 
ihr gnädig sei. So zeigte der Grabstein des Jacques de Meaux, Abt von 
Vauluisant (f 1325) in der Abteikirche von Vauluisant, zwei Engel mit 
offenen Schriftrollen und der Inschrift: Virgo mater, ora pro misero isto * 7 ). 

Wie erklärt es sich, daß die Engel so häufig — fast immer — die Weih¬ 
rauchspende vollziehen, an der Bestattung teilnehmen, den Toten (bzw. 
Auferstandenen) umgeben? Diese Bedeutung der Engel hängt mit dem 
. ganzen mittelalterlichen Glaubensleben aufs engste zusammen. Die Engel 
sind nicht allein Diener des Schöpfers, Vollzieher seiner Befehle, sondern 
die besondern Schutzgeister jedes einzelnen Menschen 18 ); eine besondere 
Messe wird für sie zelebriert x 9 ). »Deus qui miro ordine angelorum ministeria 

> 5 ) Gaigniercs, Collections de Tombeaux ä Oxford. Kopien im Cabinet des fistampes 
in Paris rfserve Pe 1 d. fol. 138. Inventaire Nr. 2404. 

,6 ) Voyages pittoresques et romantiques dans Tancienne France par Taylor, Nodier, 
et de Cailleux. Vol. II. Das AguusDei findet sich, nach £mileMäle, op. cit. p. 441 auf 
Grabsteinen in der Diözese Liege, und dementsprechend in der Totcnliturgic dieser Ge¬ 
gend sowie in derjenigen der Diözese Rouen. 

x 7 ) Gaignieres, op cit. reserve Pe 1 m. fol. 81. Inventaire Nr. 3486. Zwei Engel mit 
offenen Schriftrollcn am Grabmal des Bischofs Hugues de ChAtillon in St. Bcrtrand de 
Comminges. (D6p. Haute Garonne). Phot. Mon. hist. 2612, 2613. Ebenso am Grabmal 
der hl. Martha in Tarascon. Phot. Mon. hist. 11. in. 

,8 ) Ein Kompendium der mittelalterlichen Engellehre schrieb Francois Ximincz 
in seinem »Livre des saints anges.« Msc. vom Ende des XV. Jahrhunderts auf der Arsenal- 
bibliotlick zu Paris. Katalog Nr. 5213. 

* 9 ) Vgl. Guillaumc Durand, Rationale divinorum officiorum, Liber septimus, de 
revelatione sancti Michaelis, fol. CCLXXVI V \ Ecclesia facit festum de angelis duplici 
rationc. Prima est quia nobis ministrant. Omnes enim sunt administratorii Spiritus id est in 
ministcrium missi propter eos qui hereditatem capiunt salutis sicut habetur in epistula 
ad Hebreos I. Secunda ratio est quod pugnant pro nobis contra angelos malos nec permit- 
tunt nos tentari supra id quod possumus.— Hoc autem ideo dicit ecclesia quia parati sunt 
angeli deferre deo orationcs nostras. Semper enim nobis astant et aspiciunt nos et auscul- 
tant. Linde in canticis: Qui habitas in hortis amici, idest angeli auscultant te. Bernardus: 
lstos scilicet bonos compassio semper illos scilicet malos passio scilicet invidiae cogit ut in nos 
aspiciant. Sequitur evangelium: Acccsscrunt et cetera. Matthai XVIII in quo precipitur 
vitari scandalum parvulorum: quia ibi fit mentio de angelis. Amcndico vobis: quia angelis 
eorum in celis semper vident facicm patris mei qui in cclis est. Quo vero praeparati sunt 
deferre orationes nostras in offertorio ostenditur: Stctit angelus iuxta aram templi Apoc. 
VIII. Et data sunt ei incensa multa id est orationes accense igne charitatis: et ascendit fumus 
aromatum, id est oratio in conspectu dei de manu angeli. — Aus verschiedenen Gründen 
wird im Meßkanon der Engel gedacht: vgl. ibidem, Liber quartus, de missa et singulis que 
in missa agimtur. fol. LVII: »Die quoque crcdcndum est et sacris authoritatibus compro- 


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Die Engel am französischen Grabmal des Mittelalters usw. 


IOI 


hominumque dispensas: concede propicius ut quibus tibi ministrantibus 
in coelo semper assistitur: ab his in terra vita nostra muniatur.« Dies Gebet 
findet sich in den Missalien sowohl als in den »Heures«. »Hostias tibi domine 
laudis offerimus suppliciter deprecantes ut easdem angelico pro nobis inter- 
vcniente suffragio et placatus accipias et ad salutem nostram provenire 
concedas.« M ) Das Missale von St. Geneviive (XV. Jahrhundert)“) enthält 
folgende Benedictiones pro angelis: »Deus qui ad salutem vestram ange- 
lprum suorum utitur ministcrio, vos munimine custodiat custodiaque com- 
muniat. Amen. Det vobis mentium puritatem et jugem corporis casti- 
tatem qui eorum electis omnibus repromisit equalitatem. Amen. Quique 
ipsis certissimam sue promansionis tribuit fiduciam ipse vos fidei spei cari- 
tatisque perseverabili virtute confirmet atque ad eorum beatitudinis socie* 
tatem pcrducat.« Das Missale secundum verum usum insignis ecclesiae 
Leonensis (1526) enthält in der Missa de angelis in der postcommunio folgende 
Stelle: »Replcti domine benedictione celesti suppliciter imploramus: ut 
quod fragili celebramus officio sanctorum angclorum atque archangelorum 
nobis prodesse sentiamus auxilio.« 

Ein eingehendes und aufschlußreiches Kapitel, das alle Gedanken 
bezüglich des Verhältnisses der Engel zu den Menschen zusammenfassend 
und erschöpfend angeben dürfte, widmet die Legenda aurea des Jacobus 
de Voragine dem Thema 11 ): »Decet namque nos iisdem (angelis) laudem 
et honorem impendere multiplici ratione. Ipsi enim sunt custodes nostri, 
ministratores nostri, fratres et concives nostri, animarum nostrarum porti - 
tores in coelum, orationum nostrarum apud Deum repraesentatores, regis 
aeterni nobilissimi milites et tribulatorum consolatores.« Jeder einzelne 
Punkt wird dann im folgenden näher erläutert. Dazu ist noch der »Livre 
des saints anges des Francois Ximenes« zu nennen (Paris, Arsenal Biblio¬ 
thek) * 3 ). 


batur quod angeli dei comites assistunt orantibus. Juxta illud propheticum: In conspectu 
angelorum psallam tibi. Et angelus ad thobiam: Quando orabas cum lachrymis ego 
obtuli orationem tuam domino. Sed et in canone misse continetur: Supplices te rogamus 
omnipotens deus: iube hec perferri per manus sancti angeli tui in sublime altare tuum. 
Praeterea quilibet homo habet suum proprium angelum ad custodiam. Unde dominus in 
evangelio loquens de parvulis ait: Angeli eorum semper vident faciem patris. Illos igitur 
habemus in oratione participes: quos habebimus in glorificatione consortes. 

*•) Gebet enthalten im Sahramentar der Kirche von Senlis, geschrieben wahrschein¬ 
lich 880. Paris, Bibi. Ste Genevieve. in. BB. 1 . in fol. 20, fol. 79. III. kal. oct. dedi- 
catioscti. Michaelis archangeli. Außerdem im Missale der Ludwigskapelle in Notre-Dame, 
(XIII. Jahrhundert). Bibliotheque Nationale Msc. lond lat. 8884. 

**) Bibliotheque Ste Genevieve. Msc. 91. BB. 1 . in fol. 2. 

**) Cap. CXLV. Th. Graesse, ed. III. Breslau 1890. p. 649 f. 

* 3 ) Msc. des XV'. Jahrhunderts, Katalog Nr. 5213. 


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102 


K. Es eher, 


Die vornehmste Aufgabe der Engel aber ist, die Seele des Verstorbenen 
aufzunehmen und sie ins Paradies zu tragen, und der Wichtigkeit dieses 
Momentes für das mittelalterliche Glaubensleben entspricht auch die Zahl 
der Grabmäler mit der genannten Darstellung. Das Monument des Erz¬ 
bischofs Pierre la Iug6e im Chorumgang der Kathedrale von Narbonne * 4 ) 
setzt sich aus Sarkophag mit Gisant und Baldachin zusammen; an dessen 
Rückseite sind zwei Engel gemalt, welche in einem ausgespannten Tuche 
die Seele, ein nacktes, aufrechtstehendes Figürchen gen Himmel tragen. 
Die Sammlung Gaignifcres enthält Zeichnungen nach prachtvollen Grab- 
mälern der Abteikirche von Longpont: drei von ihnen bargen den Sarkophag 
in einer Nische a 5 ), an deren Rückwand wieder die Engel gemalt waren, 
welche im Tuch die Seele, diesmal nicht nackt, sondern in geistlichem Ornat 
bzw. der Mönchskutte, ins Paradies trugen. 

Wiederum gibt die Liturgie die entsprechenden Stellen a6 ). Das Missale 
der Ludwigskapelle von Notre-Dame enthält * 7 ) »Pro familiaribus defunctis« 
folgendes Gebet: »Praesta quaesumus omnipotens deus, ut animas famu- 
lorum famularumque tuarum ab angelis lucis susceptas in praeparata habi- 
tacula deduci facias bonorum (nach anderen Missalien: bcatorum). In 
der Missa pro defunctis des Missale Lexoviense, Caen 1517, wird gebetet 
(pro corpore presente): »Deus cui proprium est misereri semper et parcere 
tc supplices deprecamur pro anima famuli tui quem hodierna die de hoc 
scculo migrare iussisti, ut non tradas cam in manu inimici nec obliviscaris in 
hnem sed iube eam a sanctis angelis tuis suscipi et ad patriam paradisi per- 
duci et quia in te speravit et credidit non penas eternas sustineat sed gaudia 
cterna possideat.« Und im Missale ad usum ecclesiae Parisiensis lautet eine 
Stelle der Commendationes defunctorum: (animam) ad te revertentem de 

^1 i — 

* 4 ) Beschreibung und Abbildung in »Dictionnaire raisonni de Parchitecture fran^aise 
du XI C au XVI C siede, par Viollet-le-duc. tome IX. p. 51 ff. 

a 5 ) Gaigni&res, op cit. riserve Pe 1 e fol. 94, 95, 97. Inventaire Nr. 2515, 2516, 2518. 

a6 ) Guillaume Durand, Rationale divinorura officiorum. Liber septimus, de reve- 
latione sancti Michaelis, fo. CCLXXVI V0 . tTertia ratio (venerandi) est ut homines vene- 
rantes angelos perveniant ad consortium angelorum et ea de causa in diebus dominicis et 
festivis solennitatibus novem psalmi novem lectiones et novem responsoria cantantur, 
ut per cantum istorum ad consortium perveniamus novem ordinum angelorum, quorutn 
proprium est deo cantare. Congaudendo ergo angelis dicit ecclesia in introitu: Benedicite 
dominum omnes angeli eius, et quia angeli laudant et nos similiter deum laudare debemus. 

* 7 ) XIII. Jahrhundert. Bibliotheque Nationale, Paris. Msc. fond lat. 8884. — 
Gleichlautende Texte bieten Missalien des XI., XIV., XV., XVI. Jahrhunderts. Die 
Tapisserien der Kathedrale von Angers mit den zahlreichen Darstellungen aus der 
Apokalypse enthalten zu der Stelle Apok. XIV, 13: »Beati mortui qui in domino moriuntur. 
A modo dicit Spiritus ut requiescant a laboribus suis. Opera enim illorum sequuntur illose 
(bildet einen Bestandteil der Missa pro defunctis) die Darstellung zweier Engel, welche in 
einem Tuche sieben Seelen gen Himmel tragen. Vgl. Louis de Farcy, Monographie de la 
oatbldrale d’Angers. 1901. 


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Die Engel am französischen Grabmal des Mittelalters usw. 


103 


e gypti partibus blande leniterque suscipias et angelos tuos sanctos ei obviam 
mittas viamque illi iustitiac demonstra: et portas gloriae tue aperi.« Die 
offizielle Liturgie enthält den Text: »Subvenite sancti Dei, occurrite angeli 
Domini. In paradisum deducant te angeli in tuo adventu suscipiant tc 
martyres et perducant te in civitatem sanctam Jerusalem.«* 8 ) Nach der 
Legenda aurea * 9 ) geleiten die Engel die Seele auf drei verschiedene Arten 
ins Paradies: »honorandi sunt, quia ipsi sunt animarum nostrarum in coelum 
portitores, et hoc faciunt triplici modo: primo viam praeparando, M?- 
leachi III: ecce ego mitto angelum meum, qui pracparabit viam ante faciem 
tuam; secundo per viam praeparatam in coelum bajulando, Exod. XXIII: 
ecce ego mitto angelum meum, qui te custodiet in via, et inducat te in terram, 
quam promisi patribus tuis; tertio in coelo collocando Luc. XVI 3 °): factum 
est, ut moreretur mendicus et portaretur ab angelo in sinum Abrahae.« 
Damit ist auch das eigentliche Ziel für die Seelen ausgesprochen: der Schoß 
Abrahams, Isaaks und Jakobs, meist derjenige Abrahams allein. In der 
Kirche von Mussy-sur-Seine befindet sich das Grabmal des Gilles Vignier 
und seiner Frau 3 *); im Giebel, unter welchem die zwei Liegefiguren ruhen, 
stellte der Bildhauer den Patriarchen Abraham, umgeben von vier Engeln, 
dar, wie er in einem ausgespannten Tuch die Seelen der beiden Verstorbenen 
hält (XIV. Jahrhundert). Am Portal der Kirche St. Trophime in Arles 
ruhen die Seelen, die ein Engel herbeibringt, im Schoß Abrahams, Isaaks 
und Jakobs 3 *). In der Missa pro defunctis wurde schon im 12. Jahrhundert 
gebetet: »Subvenite sancti dei, occurrite angeli domini suscipientes animam 
eius offerentes eam in conspectu altissimi, Chorus angelorum eam suscipiat 
et in sinum abrahae eam collocct.« Alle drei Patriarchen sind im Missale 
ad usum ecclesiae Parisiensis in den commendationes defunctorum genannt: 
per manus sanctorum angelorum tuorum inter sanctos et electos tuos in 
sinu Abrahae, Isaac et Jacob patriarcharum tuorum eas collecare digneris. 

Die Ehre der Weihrauchspende durch Engel hatten die Seelen schon 
während ihrer Fahrt zum Himmel empfangen. Auf dem Grabstein des 
Kanonikers Jean de Visines, f 1273, in derKircheSt. Quiriace zu Provins 33 ) 

:8 ) ed. Th. Graesse pag. 651. 

* 9 ) Nach Leclerq, Anges, im »Dictionnaire d’archeologie chretienne et de liturgie 
tome I partie II, publik par le R. P. donc Fernand. Der Parallelismus zwischen Vorstellungen 
des Altertums und des Christentums ist evident. Cabrol. Chap. XIV., *Les anges psycha* 
gogues.« col. 2125 ff. 

3 °) Luk. 27, 23. 

3 *) Abbildung bei A. du Sommerard, Les Arts, 9. S£rie. Tf. XIV. Photogr. Com¬ 
mission des Monuments historiques No. 9587. 

3 *) Abbildung, Marcou, Musle de Sculpture comparee. I* Serie planche 14. Vgl. 
dazu Didron, Annales archeologiques, XXI, pag. 91. 

33 ) Les Monuments de Seine-et-Mame par M. M. Amdd^e Aufauvre et Charles Fichot. 
Paris 1858. pag. 112 und 117. 


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K. Esch er. 


schweben die Engel mit der Seele unmittelbar über dem Haupt des Verstor¬ 
benen; außerhalb der Giebelschrägen schwingen zwei andere die Weihrauch¬ 
fässer. Während Guillaume de St. Remy auf seinem Grabstein in der Kathedrale 
von Meaux 34 ) lehrend dargestellt ist, trägt, vor Rankengrund, ein Engel seine 
Seele empor, während ein anderer das Weihrauchfaß schwingt. Ähnlich der 
Grabstein des Heude de Montfaucon (f 1299) und seiner Gattin (f 1300) in 
der Abtei von Port Royal 35 ). Jedes der Ehegatten steht unter einem Giebel; 
in der Mitte zwischen den zwei Giebeln trägt ein Engel beide Seelen empor, 
indessen die Engel in den zwei seitlichen Dreiecken den W r eihrauch spenden. 

Selbstredend spenden die Engel den Seelen, welche schon der ewigen 
Seligkeit teilhaft sind, den W’eihrauch, tragen Leuchter, zollen ihnen Ver¬ 
ehrung. Diese Darstellung findet sich regelmäßig in kleinen Figuren über 
der Gestalt des Verstorbenen in Zusammenhang mit der Architektur, so 
nämlich, daß Abraham mit der Seele über dem Scheitel des die Hauptfigur 
überwölbenden Bogens oder Giebels auf einer Konsole thront, seitlich die 
weihrauchspendenden Engel (Grabstein des Magisters Philippe de Rully 
oder Reuilly (f 1440) in der Ste. Chapelle zu Paris) 3 *), oder auch so, daß 
der Künstler im oberen Teil des Grabsteins, über dem Bogen eine reiche 
Tabernakelarchitektur aufbaute, in die mittlere Nische Abraham mit den 
Seelen, in die vier seitlichen die Engel mit Weihrauchfaß bzw. Leuchtern 
setzte: so am Grabstein des Jehan de Montmorency (f 1325) in der Pfarr¬ 
kirche St. Maclou zu Conflans-Sainte-Honorine 37 ) und demjenigen des 
Simon de Guillan, Abt von Ste-Barbe und Prior von Longpont, ehemals 
im College de Cluny in Paris (Todesdatum: 1349) 38). Am Nischengrab 
des Erzbischofs Robert von Rouen, Sohns Richards von der Normandie in 
St. P&rc in Chartres waren einst am Giebel Abraham mit der Seele, am 

3 «) op. cit. pag. 170. 

35 ) F. de Guilhermy, Inscriptions de la France du V c au XVIII C siede. Tome III, 
pag. 259. Augustin Gazier, Port-Royal auXVII e siede, Paris 1909, Taf. 30. In dieselbe 
Gruppe gehört auch der Grabstein des Jehan Bonnet von Troyes (f 1386), ehemals in der 
Ste. Chapelle. Guilhermy op. cit. Tome I, pag. 82. Auf dem Grabstein der Marguerite de 
Levis, Dame de Marly (f 1327), ehemals in Port-Royal, schwebten die zwei Engel mit der 
Seele unterhalb des Giebels, unmittelbar über der Gestalt der Verstorbenen, während die 
zwei »thuriferaircs* den üblichen Platz neben den Giebelschrägen einnahmen. Guilhermy 
op. cit. Tome III, pag. 305, — Die Gleichartigkeit der Komposition auf so vielen Grab¬ 
steinen in und um Paris erklärt sich leicht aus der Tatsache, daß in Paris eine Massen¬ 
fabrikation von Grabsteinen stattfand, welche auch den Provinzen zugute kam. £milc 
Male op. cit. pag. 461. 

3 ®) F. de Guilhermy, Inscriptions. Tome I, pag. 85. 

37 ) Ders. op. cit. Tome II, pag. 339. 

3 ®) Ders. op. cit. Tome I, pag. 595. Grabstein des Guille de Voisins (f 1518), in der 
Pfarrkirche St. Remy zu Gif. Abraham zwischen zwei leuchtertragenden Engeln. Guil- 
hermy, Tome III, pag. 407. 


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105 


Bogen die Engel, welche sie emportragen, sie anbeten und mit Weihrauch 
verehren, gemalt 39). — Den verehrenden und anbetenden Engeln gesellen 
sich auch himmlische Musikanten bei: Im Kreuzgang der Abtei von 
Orcamp kopierte Gaignieres oder einer seiner Zeichner 9 °) das Grabmal 
des Jehan de Honnecourt (f 1325) und seiner Gattin; den Patriarchen be¬ 
gleiten die Engel; auf den Strebebogen der reichen Architektur sitzen andere, 
welche Posaunen blasen, ohne daß damit eine Darstellung des jüngsten 
Gerichtes mit den auferstehenden Toten verbunden wäre 4‘). Die übliche, 
vielfach wiederholte Darstellung Abrahams zwischen den zwei Engeln wurde 
aber noch durch andere Gedanken erweitert: Der Grabstein des Abtes 
Wilhelms IV. von Bec-Hellouin (1399—1417), heute in der Kirche Ste. Croix 
zu Bernay, zeigt, wie üblich den Toten in reichem kirchlichem Ornat in auf¬ 
wändiger architektonischer Umrahmung, deren seitliche Nischen die kleinen 
Figuren der Kanoniker und der zwölf Apostel als Repräsentanten des Credo 
enthalten, während oben Abraham inmitten musizierender Engel erscheint, 
einer von ihnen, zur Linken des Patriarchen hebt eine offene Rose gen Himmel 
»pen c £e embl&natique de la bonne odeur qu'exhalent les vertus du döfunt, 
Offerte au Trfcs-Haut par l'ange gardien de son religieux serviteur«. * l ) 

Auch der Gedanke, daß die Treue bis in den Tod die Krone des ewigen 
Lebens erwerbe 43 ), findet im französischen Grabmal seinen Ausdruck, 
auch wenn besagter Spruch nicht in der Totenliturgie vorkommt. Die 
Jakobinerkirche von Chälons-sur-Marne enthält einen ikonographisch und 
künstlerisch sehr wichtigen Grabstein 44 ). Drei Frauen, eine Mutter mit 
ihren zwei Töchtern stehen unter Arkaturen. Unter ihnen, also gleichsam 
als Sockeldarstellung, zeichnete der Künstler die Funeralien: die verhüllte 
Bahre und den Klerus in Funktion. Zwischen den Giebeln erscheinen 
Abraham mit den dre: Seelen im Schoße, zwei Engel mit Weihrauchfässern 


3 ») Gaignieres, Collections de tombeaux a Oxford, Paris nfserve Pe 1 u fol. 48. In- 
ventaire Nr. 3560. 

■ 4 °) Ders. Pe 1 e. fol 68. Inventaire Nr. 2490. 

4 1 ) Grabstein des magisters Johannes (f 1350), ehemals in der Kirche Ste. Genevievc 
in Paris. Nebst den beiden Namenspatronen die Auferstehung der Toten und Posaunen¬ 
engel. In den seitlichen Tabernakeln nebst vier Heiligen zwei Figuren, genannt Isabeau 
und Jullin. Guilhermy op. cit. I, pag. 361. 

4 1 ) M. Le Metaycr-Masselin, Collections de dallcs tumulaircs de la Normandie, 
Cae 1861, pag. 8. Ein Seliger mit Blume findet sich auch auf dem Gerichtsrelief der Kathe¬ 
drale von Bourges. 

43 ) Apok. II, 10. Estofidelis usque ad mortem, ed dabo tibi coronam vite. Vgl. 
F. Vigoureux, Dictionnaire de la Bible, II. art. couronne II. Les couronnes dans le sens 
metaphorique ou symbolique. 

44 ) Gaignieres, op. cit. Pe. I m. fol. 48. Inventaire Nr. 3452. Didron, Annales 
archeologiques III, 1845, pag. 283 ff., mit Tafel. Der Grabstein entstand wahrscheinlich 
gegen 1338, dem Todesjahr der jungem Tochter. 


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io6 


K. Escher, 


und ein dritter mit drei Kronen. Einen kronetragenden Engel zeigt auch 
der Grabstein des Mahi de Montmorency (f 1360) in der Pfarrkirche von 
Tavery 45 ). Die Engel vollziehen selbst die Krönung der Seele am Grabmal 
der Königin Nantilde in St. Denis (XIII. Jahrhundert). Nicht immer 
kommen die Seelen zu Abraham; so auf dem Grabstein des Jean Colon 
(| 1272), seiner Gattin und Tochter in St. Paul in Sens 4 *): von beiden 
Seiten tritt ein Engel zu Christo heran, der die Weltkugel hält und den 
Seelen den Segen erteilt; der Engel zur Linken trägt zwei Seelen. Ein 
Relief (Fragment XIII. Jahrhundert) vom Grabmal Josserands IV. 1250) 
auf Schloß Uxelles (D£p. Sa6ne-et«Loire) bringt ein Engel die Seele zur 
thronenden Maria mit dem Christusknaben, indessen ein anderer den Weih¬ 
rauch spendet 47 ). Man könnte darin eine Abweichung von der liturgischen 
Vorschrift erkennen, wenn die Liturgie immer den Schoß Abrahams als 
Endziel für die Seele nennte. Aber es sei daran erinnert, daß viele Stellen 
allgemein nur von den für die Seelen bereiteten Wohnstätten, vom himm¬ 
lischen Jerusalem, also von der ewigen Seligkeit überhaupt, sprechen. Es 
sei auch an jenes schon zitierte Gebet in den Commendationes defunctorum 
des Pariser Missales erinnert: »eam (animam) ad te revertentem de Egypti 
partibus blande leniterque suscipias et angclos tuos sanctos ei obviam mittas 
viamque illi iustitiae demonstra et portas glorie tue aperi«. Aber aller¬ 
dings wird vorher und nachher der Schoß Abrahams ausdrücklich ge¬ 
nannt: Corus angclorum eam suscipiat et in sinu Abrahae eam collocct 
offerentes eam. — Corus angclorum te suscipiat et in sinu Abrahae te 
collecet cum Lazaro quondam paupere et nam habeas requiem. Unter 
diesem Gesichtspunkt ist das unter dem Namen »Pretiosa« bekannte ro¬ 
manische Portal im nördlichen Querflügel der Kathedrale von Reims zu 
betrachten 48); im Tympanon die thronende Madonna, im Bogenlauf zwei 
Engel, welche die Seele emportragen und, abwärts, acht andere Engel mit 
Leuchtern, Weihrauchfässern, Schriftrollen; außerhalb des Bogens, in den 

Zwickeln, zwei große Engel auf Wolken, der eine mit einem Kreuz. Im 

» - - - — - - - - — 

45 ) Guilhermy, op. cit. Tome II, pag. 318. 

4 6 ) Gaignieres, op. cit. Pe. 1 m. fol. 74. Inventaire Nr. 3479. Am Portal von 
St. Trophime in Arles stellt ein Relief dar, wie ein Märtyrer gesteinigt wird, während zwei 
Engel seine Seele zu Gott emporheben. Vgl. Leclercq in Cabrols Dictionnaire d’archlologie 
chr< 5 tienne et de liturgie. Tome I, partie II C , col. 2128, fig. 655. 

47 ) Photographie der Sociit6 des amis des antiquitis de Tournus. 

4 8 ) Ch. Cerf, Histoire et description de Notre-Dame de Reims. Reims 1861, Tome II. 
pag. 3*3 ^ Abguß eines Teiles im Museum des Trocadero. — Große und kleine Engel 
finden sich, wohl aus rein künstlerischer Absicht, auf dem Grabstein des mestre Rigaut 
Aym... da Aurlhac, f 1347 in St. Martin in Champeaux. Guilhermy, op. cit. Tome V, pag. 22 
Die 3 kleinen Musikengel sind als Dekoration der Architektur verwendet; die beiden großen 
haben den üblichen Platz und die übliche Funktion des Weihrauchspendens. 


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Die Engel am französischen Grabmal des Mittelalters usw. 


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oberen Teil des Portals, in Malerei, Christus thronend, mit dem Szepter 
und segnender Gebärde, begleitet von zwei knienden Engeln. Die 
eschatologischen Gedanken, in denen sich naturgemäß die Grabmalkunst 
bewegt, kehren also in der Skulptur der Kirchenportale wieder, besonders 
W'o es sich um die Darstellung des jüngsten Gerichtes handelt 49). 

Einen erheblichen Bestandteil des französischen Grabmals machen die 
musizierenden Engel aus; die himmlische Musik ist der Ausdruck ewiger 
Seligkeit und der Verehrung gegen die Gottheit. Sobald die Seele in den 
Himmel einzieht, vernimmt sie die Musik der Überirdischen, ein Gedanke, 
der in die ersten Jahrhunderte christlicher Ära hinaufreicht 5 °). In den 
»Vigiles des morts« als Bestandteil der im 15. Jahrhundert sehr verbreiteten 
»Heures« lautet eine Stelle: »In conspectu angelorum psallam tibi, adorabo 
ad templum sanctum tuum et confitebor nomini tuo.« Die Abteikirche von 
Gomer-Fontaine enthielt einst unter drei Spitzbogen ein Relief: in der Mitte 
eine Figur mit drei Seelen in einem Tuch, zwischen zwei Engeln mit Harfe 
und Geige 5 1 ). Noch viel eingehender ist das Thema auf dem Grabstein des 
Guillaume Gu&rin, Abt von Le Bec (f 4. IV. 1515), heute in Ste. Croix zu 
Bernay, behandelt 5 *). In den seitlichen Tabernakeln der einfassenden 
Architektur Heilige, Apostel, Pleurants, in der Bogenkehle vierflügelige 
Cherubim. Darüber baute der Künstler, in zwei Reihen übereinander, 
weitere Tabernakel auf, in der untern die zum Himmel emporfahrendc Seele 
zwischen Engeln mit Schriftrollen, Leuchtern und Musikinstrumenten 

49 ) Vier Engel tragen Seelen zu Abraham: Gerichtsportal am südlichen Quer¬ 
flügel der Kathedrale von Reims. Am jüngsten Gericht der Kathedrale von Bourges trägt 
ein Engel eine Seele zum Paradies, wo Abraham mit andern Seelen im Schoße thront; 
darüber schweben drei andere Engel mit je einer Krone. Beide Kompositionen aus dem 
XIII. Jahrhundert. Ein Engel, der eine Seele in den Himmel emporträgt, flndet sich auch 
am jüngsten Gericht an der Kathedrale von Autun (XII. Jahrhundert). An der Kathedrale 
von Laon ist das nördliche Portal der Fassade dem jüngsten Gericht gewidmet. Die innerste 
Bogenlaibung gehört kompositioneil noch zum Tympanon und enthält nebst den Auf¬ 
erstehenden, vier Aposteln, vier Posaunenengeln: sieben Enge), welche Seelen tragen und 
Abraham mit den Seligen im Schoß. Die zweite Hohlkehle enthält Heilige und Märtyrer 
und im Scheitel einen Engel mit zwei Kronen. Abraham und Engel, welche Seelen tragen, 
finden sich auch an den Bogenläufen des Gerichtsportals an der Kathedrale von Amiens 
(Photogr. F. Martin-Sabon Nr. 5387, 5388, 5790. 

5 °) H. Leclercq in Cabrols Dictionnairc d’archeologic chretienne et de liturgie. 
Tome I. Partie II. Col. 2122 ff. 

5 >) Millin, Antiquitls nationales. Tome IV. Nr. XLII. Tf. 3. Nr. 3. 

5 1 ) Wir verdanken die Kenntnis dieses wichtigen Denkmals der freundlichen Mit¬ 
teilung von Herrn Deville, Bibliothekar der Biblioth&que d’archlologie et d’art, von M. 
J. Doucet, Paris. — Der Grabstein datiert aus dem Anfang des XVI. Jahrhunderts. Vgl. 
Por<e, Histoire de l'abbaye du Bec II, pag. 271. Evreux 1901. — Auch die Vorstellung 
von der himmlischen Musik reicht ins christliche Altertum zurück. Vgl. H. Leclercq 
loc. cit. col. 2124. Verfasser sucht den Ursprung im klassischen Altertum. 


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K. Es eher, 


(Trommel, Harfe, Geige, Guitarre, Posaune), oben Abraham mit der Seele 
im Schoß, zwischen je fünf Engeln mit Leuchtern und Weihrauchfässern. 

Eine ganz eigenartige und ungewohnte aber künstlerisch bedeutende 
Fassung des Themas der Engel am christlichen Grabmal zeigt ein Nischen¬ 
grab in St. Pierre in Lisieux (Calvados) 53 ), XIII. Jahrhundert. Ein Fries 
von sechs Rundbogen teilt die Rückwand des »enfeu« in zwei Geschosse; 
unten sitzen einander gegenüber auf verzierten Bänken drei Gruppen von 
je zwei Engeln in Tunika und Mantel, eine Krone oder Diadem auf dem 
Haupte, in den Händen Palme und offene Schriftrolle. In der obern Ab¬ 
teilung fassen zwei Engel in sehr lebhafter Bewegung das Tuch mit der 
Seele, um sie gen Himmel zu tragen. Handelt es sich um ein Heiligen- oder 
Märtyrergrab ? 

Damit ist das Kapitel über die kirchliche Funktion der Engel im all¬ 
gemeinen erschöpft. Schon im XIV. Jahrhundert werden sie gelegentlich 
rein dekorativ, gleichsam als Pagen ihrer Herren aufgefaßt, wie sic Helm 
und Wappenschild halten 54 ). W'ir sahen bildende Kunst und Liturgie 
in engstem Zusammenhang, wo es sich um den Kern des ganzen eschatolo- 
gischen Gedankenkreises handelt: die Seele von den Engeln als besondern 
Beschützern der Menschen in das Paradies, in den Schoß Abrahams getragen. 
Selbst die äußerliche Funktion des Totenritus, der sich aber sowohl auf 
den Toten, als auch den leiblich Auferstandenen bezieht, ist den Engeln, 
den Dienern Gottes und der Menschen übertragen, obschon die franzö¬ 
sische Liturgie keinen ganz genau entsprechenden Wortlaut aufweist. 
* • • 

Die bildende Kunst hat aber das Äußerliche, den Totenritus, mit vollem 
Verständnis für seine Symbolik aufgenommen. 

Ging nun die französische Sepulkralkunst auch darin mit der Liturgie 
parallel, daß sie die Engel nach ihren verschiedenen Rängen und Chören 
unterschied? Der Grabstein des Guillaume Guerin von Le Bec enthielt, 
wie soeben gezeigt wurde, neben den musizierenden Engeln auch Cherubim; 
aber soweit sich die Grabmälcrstatistik überblicken läßt, kommen solche nur 
höchst selten vor (vgl. Nachtrag); trotz seines noch gotischen Charakters 
stammt er aus dem XVI. Jahrhundert. Die Liturgie ruft in sehr vielen 
Fällen Engel und Erzengel an, die zum Dienste der Lebenden wie der 
Sterbenden erschaffen seien. Im Ritual de sacramento cxtrcmac unctionis 
des Missale von St. Pol-dc-Löon (1526) werden nach der Trinität und der 
heil. Jungfrau die drei Erzengel Michael, Gabriel und Raphael angerufen. 
Zahlreiche »Livres d'hcurcs« enthalten unter dem Titel »Suffrages« 

5 J) Gliche Monuments historiques 12831; F. Martin-Sabon 9063, 9067. 

54 ) Grabmal des Hugucs de Lannoy und Margueritc de Molembais in der Collcgiata 
St. Pierre in Lille. Millin, Antiquites nationales. Tome I. No. LIV, PI. 3, pag. 42. Im 
XV. und Anfang des XVI. Jahrhunderts allgemein verbreitet. 


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Gebete in der Todesstunde, folgende Stelle: Kyrie eleyson, Christe 
eleyson. Kyrie eleyson, Christe audi nos, Christe audi nos. Pater de 
celis deus miserere nobis. Fili redemptor mundi deusr miserere nobis. 
Spiritus sancte deus: miserere nobis. Sancta trinitas unus deus: miserere 
nobis. Sancta Maria ora pro nobis. Sancta dei genetrix ora. Sancta virgo 
virginum ora. Sancte Michael ora. Sancte Gabriel ora. Sancte Raphael 
ora. Omnes sancti angeli et archangeli dei orate. Omnes sancti beatorum 
spirituum ordines orate pro nobis 55 ). Eine Sequenz des Missale von 
Lisieux S*) ruft die 9 Engelchöre an: »Plebs angelica phalanx et 
archangelica principans turma virtus uranica ac potestas almiphona. Do- 
minantia numina divinaque subsellia cherubim etherea ac Seraphim ardentia« 
und bittet hierauf die drei Erzengel im besonderen: »Vos o Michael celi 
satrapa Gabrielque vera dansverbi nuncia atque Raphael vite vernula trans- 
ferte nos intra paradisicola.« 

Unter den Heerscharen der Engel gebührt dem heiligen Michael 
die erste Stelle 57 ): als praepositus paradisi 5 8 ), princeps militiac angclorum, 
Beschützer des Volkes Israel wie der christlichen Kirche, Sieger über den 
Satan; am jüngsten Gericht fungiert er als Seclcnwäger. Zwei bedeutende 
Heiligtümer sind ihm errichtet: in Süditalien am Monte Gargano und an der 
Küste der Normandie: Mont St. Michel. Als seinen Feiertag kennt der 
mittelalterliche Kalender den 29. September. Schon seit dem hohen Mittel - 
alter galt St. Michael als Schutzherr Frankreichs, besonders aber im hundert¬ 
jährigen Krieg; seine Stimme soll Jeannc d'Arc zuerst vernommen haben. 
Zahlreiche Pilgerzüge kamen nach Mont St. Michel; im Jahre 1469 gründete 


König Ludwig XI. den Ritterorden des heil. Michael 59 ). 


Nicht geringer 


55 ) Heures de Simon Vostrc. Fin du XV- siede. Paris, Bibliotheque nationale 
Velins 1597. Heures & Pusage de Rouen 1501 ib. reservc B. 2938, ebenso in den Heures 
Inventairc B. 27729, Heures & Pusage de Paris (Velins 2889), Heures de Rome Velins 288S, 
Heures de Rome, Thielman Kervcr Inventairc B. 27832, Heures de Rome 1516, reserve, 
Velins 2899. Vgl. dazu Artikel von H. Leclercq in Cabrols Dictionnaire, Art. »anges.«. 
Chap. XVIII, L’invocation litanique des anges. 

5 6 ) Caen 1517. Missa Sancti Michaelis in montc gargano. 

57 ) Vgl. Vigoureux, Dictionnaire de la Bible. Vol. 4. Col. 1067 ff. Erwähnt in 

der Literaturangabe: Ferd. Wiegand, Der Erzengel Michael in der bildenden Kunst, in 8°. 
Stuttgart 1886. Dazu Dutripon, Vulgatac editionis bibliorum sacrorum concordantiac 
Paris 1880. 8. Aufl. 

58) Als solcher ist er auf einem W andgemälde in der Krypta der Schloßkirchc von 
St. Bonnet-le-Chatcau dargcstcllt Anfang XV. Jahrhunderts. Das Paradies ist von Mauern 
und Tünnen umgeben. Links erhebt sich das doppelte Tor; das vordere niedrig mit Zinnen¬ 
kranz. Unter dem Eingang steht St. Petrus, auf der Zinne St. Michael in Rüstung und 
Mantel, mit Kreuzstab, an dem ein W’impel befestigt ist, und mit der Wage. Vidc: Lcs 
peinturcs murales du moyen-age et de la Renaissance cn Forcz. Tf. XII, XIV, pag. 48. 

59 ) Vgl. Paul Gout. Le Mont St. Michel. Histoire de PAbbayc et de la villc. Tome I, 


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IIO 


K. Esc her, 


ist seine Bedeutung für das Schicksal der Seelen. Vgl. Nachtrag 2. Wie 
die Engel im allgemeinen, so wird er gelegentlich im besonderen ange¬ 
rufen, die Seelen zu beschützen und sie einst ins Paradies zu führen. 
Auf den Michaelstag lautet eine Stelle des wahrscheinlich um 880 ge¬ 
schriebenen Sacramentars der Kirche von Senlis ^) folgendermaßen : 
»Beati archangeli tui michaelis intercessione sussulti supplices depre- 
camur ut quos honore prosequimur contingamus et mente.« Ein 
Sacramentar von Besangon 6l ) (XI. Jahrhundert) enthält, ebenfalls zum 
Michaelsfest folgenden Text: »Quamvis enim nobis sit omnis angelica 
veneranda sublimitas, que in maiestatis tue consistit conspectu, illa 
tarnen est propensius honoranda que in eius ordinis dignitate celestis 
militiae meruit principatum per Christum«, und im Anhang von Selig¬ 
sprechungen wird die Tätigkeit des Erzengels noch viel genauer dar¬ 
gestellt: »beatum archangelum Michaelem constituit primatem celestis 
militiae, eo interveniente perducat vos ad claritatem vitae aeternae. Qua- 
tinus eius vallati custodia expulsaque procul delictorum nequitia ab eo de- 
ducamini ad celorum regna.« Schon im XIII. Jahrhundert lautet das 
Offertorium in der Mis3a 6a ) pro fidelibus defunctis: »Domine Iesu Christe 
rex gloriae, libera animas omnium fidelium defunctorum de manu inferni 
et de profundo lacu, libera eas de ore leonis ne absorbeat eas tartarus ne 
cadant in obscura tenebrarum loca sed signifer sanctus Michael representet 
eas in lucem sanctam quam olim abrahae promisisti et semini eius.« Sie 
hat sich durch die Jahrhunderte bis auf den heutigen Tag erhalten. In den 
commendationes defunctorum hat das Missale Parisiense (1501) folgende 
bezeichnende Stelle: »tum de tua confisi gratuita pietate et inolita bonitatc 
clementia tua deposcimus ut animam famuli tui et alias omnium fidelium 
defunctorum ad tc revertentes cum pietate suscipias: adsit eis angelus 
testamenti tui michael et per manus sanctorum angelorum tuorum inter 
sanctos et electos tuos in sinu Abrahae, Isaac et Iacob patriarcharum tuorum 
eas collocare digneris quatinus liberate de principibus tenebrarum.« In der 
Missa de angelis wird gebetet: »Laudate deum omnes angeli eius: laudate 
eum omnes virtutes eius. Michael archangele dei te precamur ut eripias 
nos a laqueo mortis. Omnes angeli archangeli et virtutes celorum orate pro 
nobis.« Wird nun — anscheinend — in den Sakramentarien und Missalien 
hauptsächlich vom Beistand im allgemeinen gesprochen, den St. Michael dem 

pag 332 ff., pag. 351 ff. — Über St. Michael in der apokryphen Literatur vgl. Leclercq in 
Cabrol, Dictionnaire. Tome I, partie II C , col. 2131, Chap. XV. Les anges psychopompes 

60 ) Bibliothcque Ste. Genevieve in Paris 111. BB. 1 in fol. 20. 

6| ) Bibliothequc Nationale in Paris fond. lat. 10500. 

6l ) Missale der Ludwigskapelle in Notre-Dame, Bibliotheque Nationale fond. lat. 
8884. Findet sich auch im Sakramcntar von Besan?on (XI. Jahrhundert). 


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Die Engel am französischen Grabmal des Mittelalters usw. 


III 


Sterbenden angedeihen lassen soll, indem er die Seele von den Mächten der 
Finsternis befreit, so betonen die der privaten Andacht gewidmeten Bücher, 
die Heures und Suffrages ganz speziell, daß Michael die Seelen ins Paradies 
geleiten möchte. Die im Jahre 1488 zu Paris gedruckten Suffrages 6 3 ) ent¬ 
halten für jeden Tag Anrufungen eines Heiligen, für den 29. September die 
Gebete an St. Michael: »Princeps gloriosissime Michael dux exercituum 
susceptor animarum, debellator malorum spirituum ecclesiae dei, 
post Christum dux abmirabilis grandis excellentiae et virtutis omnes recla- 
mantes ad te ab omni libera adversitate: et in cultu dei facias proficere tuo 
precioso officio et dignissima pace. Ora pro nobis beate Michael princeps 
in ecclesia dei, ut digni efficiamur promissionibus Christi. Ora omnipotens 
sempiterne deus qui saluti humane nature ex summa clementia tua gloriosum 
principem ecclesiae tuae beatum Michaelem archangelum mirabiliter depu- 
tasti concede propicius ut eius salutari subsidio hic mereamur a cunctis 
hostibus cfficacissime tueri et in futuro nostro obitu ab omni tentatione 
liberati tue excelse maiestati beatifice praesentari. Per christum dominum 
nostrum, Amen 6 4 ).« Und die 1492 in Paris gedruckten Heures ä l'usage 


6 3 ) Paris, Bibliotheque Nationale Velins 1653. — Vgl. dazu den »Hortulus animae« 
de la Bibliotheque Palatine de Vienne 2706. Reproductions photo-mlcaniques par Pim- 
primerie imperiale et royale de la couret de l 9 6tat de Vienne, publiels avec une priface du 
comte Paul Durrieu et des explications concemant f histoire d’art sous la direction de 
Friedrich Dörnhöffer. Jos. Baer, Frankfurt a. M. Livraison 7. Das Gebet an St. Michael 
lautet: »Du heiligher ertzengel sant Michael ein für weser des paradeises kumme zu hilff 
dem volck gottes: und wöilest uns beschirmen vor gewalt des feindes und mit dir fueren 
in die geselschaft des herren.« — Der Inhalt der an St. Michael gerichteten Gebete erlaubt 
auch u. E. eine bestimmte Deutung einer Miniatur Horae Nr. 33. Msc. Icole frangaise et 
moiti£ du XV C siede, Tf. XVIII, Manuscrits sur velin avec miniatures du X c au XVI C 
siede soigneusement d^crits et mis en vente par le commendeur Leo S. Olschki, Florencc 
1910: der Sterbende im Beisein des Todes auf seinem Bett; die Seele flüchtet sich zu einem 
Engel — Michael — der, mit Kreuz und Schild bewaffnet, den Teufel besiegt; seinen Kopf 
schmückt ein Diadem mit Kreuz. 

64 ) Vgl. Francois Ximenes, Le livre des saints anges. XV. Jahrhundert, Paris 
Bibliotheque de V Arsenal Nr. 5213: fol. 125^°. Le chapitre XV C met le V c office de saint 
michiel lequel est de recevoir les bonnes ames quant ilz trespassent de ce monde. »Grant 
et souverain sur tout notre entendement est le V c office comande de notre seigneur a saint 
Michiel des le commencement de ce monde enca cest de recevoir les ames de ceulx qui 
passent de ceste vie en lautre. Et ainsi chante sce eglise parlant alui en la personne de 
Ihü Christ. Archangele Michael constitui te principem super animas suscipiendas. Et veult 
dire ainsi notre seigneur: O archangele Michael actens a lofficc que ie tav donnc car ie tay 
constituay et ordonne a recevoir les ames qui de ceste vie passent. — Le XVII C chapitre 
met par quelle manierc saint Michel recoit nos ames: [Der Befehl Gottes geht von den 
Seraphim durch die Cherubim, Throne, Dominationes zu den Principatus, und zu diesen 
gehört, nach Francois Ximenes, der heil. Michael.] et puis saint Michiel le revelle a sesanges 
selon quil est nccessaire pour accomplir la voulente de notre seigneur sur le iugement qui 


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112 


K. Es eher, 


de Rome geben demselben Gedanken Ausdruck: »De sancto Michael angelo. 
Michael archangele paradisi praeposite veni in adiutorium populi dei et 
velis nosdefendere a potestate inimici et tecum ducere in societatem domini. 

Gibt es nun innerhalb der noch im Original oder wenigstens durch 
Kopien erhaltenen französischen Grabmäler solche, auf welchen nicht nur 
Engeln im allgemeinen, sondern dem Erzengel Michael im besondern die 
Funktion zugcteilt ist, die Seelen des bzw. der Verstorbenen ins Paradies 
zu tragen? Soweit wir den Denkmälervorrat überblicken können, müssen 
wir die Frage verneinen, nur in dem Sinne allerdings, daß zwar nirgends die 
Person Michaels inschriftlich beglaubigt ist, daß sich aber trotzdem einzelne 
— bis jetzt deren zwei — Grabsteine nachweiscn ließen, bei denen die 
Annahme, es handle sich um St. Michael als »susceptor animarum« gerecht¬ 
fertigt werden kann. . • 

Die Kirche Notre-Dame zu Melun enthält einen Grabstein mit den ein¬ 


geritzten Figuren des Denis de Chailly und seiner Frau Denise Pisdo£ »qui 
trespassa l'an mccccquarante et deulx le VI jour de mars«. Der überlebende 
Gatte ließ den Grabstein mit figürlichem Schmuck und Inschrift meißeln; 
aber sein Todesdatum wird nicht genau angegeben: »lequel trespassa l’an 
incccc ... Bei seinem Ableben sorgte niemand dafür, auch dessen Datum 
einschrcibcn zu lassen. Die Gesamtkomposition ist die übliche: die Ge¬ 
stalten der Verstorbenen von hohen Pfeilern mit Tabernakel begleitet, 
welch letztere die Figurinen der zelebrierenden Kleriker enthalten. Den 
obern Abschluß bilden acht Sockel in Form von Kapitellen, für ebenso viele 
Figuren von Engeln, in zwei Gruppen von je vier Gestalten geteilt. In jeder 
Gruppe hält ein Engel Weihrauchfaß und Schiffchen, ein zweiter eine der 
beiden Seelen, die übrigen tragen Kerzen oder musizieren. Derjenige Engel, 
welcher die Seele des Mannes trägt, unterscheidet sich sehr auffallend von 
allen übrigen, auch von seinem Partner; tragen sieben dieser Engel nur 
die gegürtete Tunika und hinter dem Kopf den Nimbus, so ist er außerdem 
mit einem Mantel bekleidet, den eine Horte schmückt und eine Agraffe 
vor der Brust zusammenhält; ein Diadem (nicht eine Krone, wie die Be¬ 
schreibungbehauptet) schmückt seine Stirne. Außer der Seele trägt er noch 


sc a affaire des ames ct tout ce cst fait en ung point. El dit saint denis ou livre de lange- 
lique iherarchie que ainsi veult notre seigneur; qui se face par tant de moyens pour con- 
server lordonnancc quil a fait entre les anges des maicurs aux mineurs, les maieurs attienguent 
ce quil appartient au Service qui appartient a nous. Le second point cst, que saint Michicl 
recoive les ames si non en la maniere que dcllcsdoit faire selon lctemclle providcnce divinc 
misc en lauctoritc ct empirc en excecution. Ainsi commc sc lame soit aler en gloire ou en 
peine que de present soit iouxte lc merite ou la causc. Ainsi pour lame qui sc doit iuger 
par saint Michiel ou par ses souverains commc dit cst. — Durandus, Rationale divinorum 
officiorum. VII. über. De revclationc sancti Michaelis: Ipse est praepositus paradisi 
et custos et cst susceptor animarum ct princcps ecclcsiae. 


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Die EDgel am französischen Grabmal des Mittelalters usw. 


11 3 


ein langes Kreuz. Es ist die Aufnahme der zwei Seelen in den Himmel, 
aber die Beschreibung 6 5 ) irrt u. E., wenn sie den durch reichere Kleidung, 
Diadem und Kreuz ausgezeichneten Engel als Raffael deutet. Wohl werden 
in der Liturgie die Erzengel, zu denen ja auch Raffael zählte, als Beschützer 
und Geleiter der Seelen angerufen. Das Missale von St. Pol-de*L6on (1526I) 
enthält ein Offizium für St. Raffael, aber dieses bittet nur um Vermittlung 
bei Gott 66 ). Die Darstellungen Raffais sind überdies in der französischen 
Kunst so überaus selten, daß sich keine ikonographischen Beweise für die 
Richtigkeit jener Annahme erbringen lassen. In viel höherem Maße aber ist 
der Erzengel Michael, der Fürts des Himmels und aller Engel, der Schützer 
der Gläubigen gegen die Anfechtungen; das Offertorium der Totenliturgie 
bittet ihn, die Seelen zu retten und ins Paradies zu bringen. Liegt es also 
nicht näher, in dieser vor den andern so herausgehobenen Engelsfigur den 
Erzengel Michael zu sehen, der vielleicht überdies zu den besondern Schutz¬ 
heiligen des Verstorbenen gehörte? 

Ein ähnlicher Grabstein befindet sich nach Guilhermy 6 7 ) in der Pfarr¬ 
kirche von Le Mesnil-Aubry. Unter einem Pavillon steht die Verstorbene 
Blanche de Poppaincourt, f 1422, neben ihr zwei Kinder, in den seitlichen 
Tabernakeln die Kleriker. Oben wieder eine Reihe von sieben Engeln, 
fünf von ihnen musizierend, der sechste mit einem Schwert (?). Der Kiel¬ 
bogen, welcher die Gestalt der Verstorbenen überwölbt, trägt eine Konsole; 
auf ihr steht der Engel mit der Seele, in Tunika und Mantel und mit einem 
langen Kreuz. Es liegt sehr nahe, ihn entsprechend als St. Michael zu 
deuten. 

Die Annahme, es handle sich auf den zwei genannten Grabsteinen 
um St. Michael als Geleiter der Seelen, soll nun, soweit möglich, auch auf 
ikonographischem Wege gestützt werden. In erster Linie sind die Fragen 
zu beantworten: in welchem Zusammenhang kennt die gotische Kunst 
Frankreichs den heil. Michael, wie stellt sie ihn dar und pflegt sie ihn von den 
andern Engeln zu unterscheiden? Als Drachentöter und Seelenwäger ist 
er ohne weiteres erkennbar; im ersteren Falle schon im XIII. Jahrhundert 
gerüstet (Sockelrelief an der Westfassade von Notre-Dame in Paris 68 ); 

* 5 ) Les Monuments de Seine-et-Mame. Tafel zu pag. 14. 

**) Jubilus summe laudis resonet in ore omnium ad laudem beati Raphaelis archangeli: 
ut ipse cuius memoria agitur in terris ad deum pro nobis intercedat in ctlis alleluja. Dirigere 
dignare domine deus in adiutorium nostrum Raphaelem archangelum et quem tue maiestati 
semper assistere credimus, tibi nostras exiguas preces benedicendas essignet.« 

* 7 ) op. cit. Vol. II pag. 509. 

ä8 ) Zwei benachbarte Reliefs der Porte de la Vierge zeigen je einen Engel, der mit 
Lanze und Schild bewaffnet, einen Teufel bzw. Drachen tötet. Im ersten trägt der Engel 

Tunika und Mantel, im zweiten geht die komplizierte Tracht auf byzantinische Vorbilder 

• • 

zurück: über dem Unterkleid eine Art Dalmatika, dann ein Oberkleid mit Ärmeln und 

Q 

Repertorium Air Kunttwiuenschaft, XXXV. ° 


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U4 


K. Escher, 


die Kunst zeichnet ihn gelegentlich vor seinen Begleitern aus, wo es sich 
nach der apokalyptischen Erzählung um den Kampf der Engel gegen den 
Satan handelt. Namentlich die Miniaturen des XV. Jahrhunderts legen 
auf seine schöne Erscheinung, die prachtvolle Rüstung, den bunten Mantel 
und die Flügel großes Gewicht. In der Gerichtsdarstellung zeichnet er 
sich als Hauptfigur gelegentlich durch seine Größe vor den andern aus 
(Kathedrale von Bourges), nur in bedingter Weise durch seine Tracht (Bour- 
ges); Paris 7 °). Bei der Auferstehung Mariä überreicht Michael Christo 
die Seele seiner Mutter 7 1 ), während sich deren Körper, schon neu beseelt, 
mit Hülfe der übrigen Engel aus dem Sarkophag erhebt: es sind 
mir nur Portalreliefs des XII.—XIII. Jahrhunderts mit dieser Dar- 

dem Loros. Abguß im Museum des Trocadero. Marcou, Mus£e de Sculpture comparee. 
S6rie II, planche u. 

**) Les tresrichesHeuresdeJeande France, duc de Berry, v. Chan¬ 
tilly, ed. von Paul Durrieu. 1904. Tf. LXIV. St. Michael schwebt über Mont St. Michel. 
Heures de Milan (Besitz des Fürsten Trivulzio), von den Malern des Herzogs von 
Berry, 1412. Historische Einleitung von Georges H. de Loo. Tf. XVII*. St. Michael trägt 
Tunika, Mantel, Krone, Lanze mit Fahne und Kreuz, Schild; in den Flügeln Pfauenfedern. 
Auf demselben Blatte erscheint er in der Initiale B als Seelenwäger, darunter mit andern 
Engeln — alle in Rüstung — die Dämonen besiegend. Auch das XIV. Jahrhundert kennt 
den Drachentöter Michael mit Krone: Elfenbeindiptychon. Collection £tienne Moreau- 
Ndaton. Expos, r^trospective du Petit Palais 1900. No. 120. 

7 °) Auf dem Gerichtsrelief der Kathedrale von Bourges (Mittelportal der West¬ 
fassade, XIII. Jahrhundert) nimmt Michael dieselbe Höhe ein wie neben ihm zwei Figuren¬ 
reihen übereinander. Sein Unterkleid ist nur an den Handgelenken sichtbar, darüber 
trägt er eine ungegürtete Tunika. Ausschließlich mit einer ungegürteten Ärmeltunika ist 
derjenige Engel bekleidet, welcher, in der hintern Reihe, nächst dem Paradies eine nackte 
Seele trägt, während derjenige links neben Michael mit gegürteter Tunika und Mantel 
bekleidet ist. VgL Marcou, Mus6e de sculpture comparle. S6rie II, planche 62 und 63 
Im »jüngsten Gericht» am Mittelportai von Notre-Dame in Paris ist Michael (sofern die 
erneuerte Figur genau der ursprünglichen entspricht) kaum größer als die andern; er trägt 
gegürtete Tunika und Mantel, während die Engel mit den Passionswerkzeugen entweder 
nur die Tunika tragen oder ganz in den Mantel eingehüllt sind. Am Gerichtsrelief der 
Kathedrale von Chartres (Mitteltüre des südlichen Querflügels) überragt St. Michael ab 
Mitteifigur der untern Zone alle andern, unterscheidet sich aber in der Tracht nicht. Am 
Gerichtsportal der Kathedrale von Amiens ist Michael nicht größer ab die andern Figuren, 
unterscheidet sich aber in der Kleidung von den ihm zunächst gruppierten Engeln. (Vgl. 
Georges Durand, Monographie de P£glise Notre-Dame, cathldrale d’Amiens. Vol. I. Tf. 
XXXVI.) Am Gerichtsrelief von Reims fehlt Michael. 

7 X ) Vgl. Jacobus a Voragine, Legenda aurea, cd. Th. Graesse, pag. 509. Christus 
erscheint mit Engebcharen beim Grab Mariae, um seine Mutter zu erwecken. »Quo annu- 
ente Michael archangclus continuo affuit et Mariae animam coram domino praesentavit. 
Tune salvator locutus cst dicens: surge proxima mea, columba mea, tabemaculum gloriae, 
vasculum vitae usf. Statimque anima ad Mariae accessit corpüsculum et de tumulo prodiit 
gloriosum sieque ad aethereum assumitur thalamum comitante secum multitudine ange- 
lorum.* Vgl. £mile Mile, L’art rdigieux du XIII e siede en France p. 292. 


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Die Engel am französischen Grabmal des Mittelalters usw. 


1 *5 


Stellung bekannt: Mantes und Laon, aber auf keinem von ihnen unter¬ 
scheidet sich Michael äußerlich von den übrigen Engeln. Auch am 
Tympanon eines Portals des nördlichen Querflügels der Kathedrale 
von Chartres ist die Auferweckung Mariä dargestellt »Les archanges 
Michel et Gabriel tiennent sur une nappe l'äme trbs pure de Marie 
qui va se röunir ä son corps afin d'fitre 61ev6e en corps et en äme ä la 
droite de son divin Fils.« Gerade die nördlichen Portale sind seit langer 
Zeit der Gerüste wegen unzugänglich; soweit aus Photographien zu 
schließen ist, befinden sich diese beiden »Erzengel« als kleine Halbfiguren 
in einer Art Hohlkehle, die sich über der ganzen Komposition hinzieht. 
Eine Untersuchung, ob sich diese beiden Engel wirklich von den übrigen 
unterscheiden, ist also hier unmöglich. Man kann sich also fragen, wie die 
erwähnte Stelle in so bestimmter Weise von Michael und Gabriel sprechen 
kann 73). 

Im *P61erinage de Tarne des Guillaume de Deguilleville 7«) wird die 
Seele, um gerichtet zu werden, von ihrem Schutzengel vor St. Michael 
mit seinen Beisitzern geführt, während die Sinderesis, d. h. der Gewissens¬ 
wurm, die Anklage vertritt und der Teufel sein Recht auf die Beute geltend 
macht. Auf der uns vorliegenden Darstellung thront Michael zwischen 
zwei genau gleich gekleideten Engeln: weiße Tunika und weißer Mantel, 
nur daß er ein Diadem mit Stirnschmuck trägt. Er ist also wenigstens da¬ 
durch von den andern Engeln unterschieden. Das Manuskript fond frangais 
12465 der Pariser Nationalbibliothek 75) gibt eine etwas abweichende Dar¬ 
stellung dieser Szene. Michael richtet allein, trägt nur die gegürtete Tunika, 
rote Flügel, goldenen Nimbus, keinen besonderen Kopfschmuck, ist aber 

7 *) Monographie de la cathldrale de Chartres, par l’abbl Bulteau, Tome II, pag. 188. 
Dazu Photogr. F. Martin-Sabon, 4842, 5028. Ähnlich sind Engel und eine Osterszene an¬ 
gebracht am Chor der Kirche von Le Bourget (Ain). XIII. Jahrhundert. Abb. bei Vitry 
und Bri&re op. cit. Tf. LXXVII, fig. 4. 

73 ) Ähnlich sind weihrauchspendende Engel am Gerichtsrelief der Kathedrale von 
Bourges, über der ersten Zone, gruppiert. Auf der betreffenden Darstellung der Porte de la 
Viirge an Notre-Dame in Paris steht je ein Engel zu Häupten und zu Faßen des Sarkophages 
und beide fassen die Enden des Leichentuches, um den Körper Mariae herauszuheben. 
In Senlis erscheint der Körper schon neu beseelt: Maria erhebt sich aus dem Sarkophag 
und streckt den Engeln die Hände entgegen. Am Westportal der Kirche von Longpont 
(Seine-et-Oise) war möglicherweise auch dargestellt, wie Michael Christo die Seele über¬ 
reicht. Andernfalls würde dies Relief mit demjenigen von Amiens übereinstimmen. Pbotogr. 
F. Martin-Sabon, Nr. 3793, 3795. 

74 ) publiziert von J. J. Stürzinger, Ph. D. printed for the Roxburghe Club, London 
1895. Vgl. Gustav Ludwig, Giovanni Bellinis sogen. Madonna am See in den Uffi¬ 
zien, eine religiöse Allegorie. Jahrbuch der kgL preußischen Kunstsammlungen. 
Vol 23. Berlin 1902. p. 163 ff. 

73 ) fol. 91. 

8 * 


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K. Esch er, 


116 

größer als der andere Engel. Auf fol. 9100 erscheint neben ihm ein roter 
Cherub. Michael ist also genau wie die anderen Engel gekleidet, allein da 
nur er das Richteramt vollzieht, somit ohne weiteres durch den Text genannt 
wird, konnte der Künstler auf eine besondere Charakterisierung verzichten 7*); 
die Cherubim sind ohnehin meist völlig verschiedene Wesen, so daß Michael 
auch ihnen gegenüber nicht besonders kenntlich gemacht werden mußte. 
Wo Michael allein dargestellt ist, braucht er nicht besonders charakterisiert 
zu werden, auch wenn er nicht als Drachentöter oder Seelenwäger erscheint; 
tritt er aber mit andern Engeln zusammen auf, so wird er schon im XIV., 
wie auch im XV. Jahrhundert zuweilen als Hauptperson irgendwie heraus¬ 
gehoben 77). Es versteht sich aus dem einleitungsweise Gesagten von selbst, 
daß die französische Kunst den Erzengel Michael hauptsächlich und vor¬ 
wiegend als den gerüsteten Krieger, den Führer der hifhmlischen Miliz dar- 
stellt, und zwar meist im Kampf mit dem Drachen. Viel seltener erscheint 
er dagegen in friedlicher Mission, in unkriegerischer Kleidung. In diesem 
Falle nur als persönlicher Schutzpatron. So im Missale der Karmeliter von 
Nantes 7 8 ). St. Michael als Patron der Herzogin Maria von der Bretagne 
trägt Tunika und Mantel nebst Kreuz; ihm gegenüber Gabriel als Patron 
der Herzogin Jeanne de France ist als Diakon gekleidet, führt aber eben¬ 
falls den Kreuzstab. Das XV. Jahrhundert liebte es, die Engel, mögen 
sie nun als Musikanten fungieren oder Wappenschilde halten, in reiche Ge¬ 
wänder, namentlich in Alben, Dalmatiken, Pluviales usw. zu kleiden und ihre 
Stirn mit Diadem und Kreuz zu schmücken; doch war die Wahl und Verwen- 


7 *) In ähnlicher Eigenschaft und durchaus übereinstimmend kommt St. Michael 
noch vor auf fol. 93, 95’°, 96, 96™, 98, 98™, 103, 103’°, 104’°, 105, 105™. 

77 ) An der Annunziatenkapelle der Kathedrale von Amiens (etwa 1302) sind die 
drei Erzengel dargestellt, Gabriel mit Maria, Michael als Drachentöter und Raffael mit 
Szepter oder Spatel in der Linken; trug auch auf der r. Hand einen Gegenstand. Alle sind 
in Tunika und Mantel gekleidet, aber nur bei Michael wird der Mantel in deutlich sichtbarer 
Weise durch eine Agraffe zusammengehalten. (Vgl. Georges Durand, Monographie de 
l’6glise Notrc-Dame cathldrale d’Amiens. Tome I. pag. 475. Auch auf den die ganze 
Apokalypse in ursprünglich 90 heute noch 67 Bildem darstellenden Tapisserien wird in der 
Kleidung der Engel gewechselt. Michael erscheint nur im Kampf gegen den Satan, zu¬ 
sammen mit seinen Engeln (vgl. Louis de Farcy, Monographie de la cath6drale d’Angers, 
1901, und Separatabdruck: M. L. de Farcy, Les Tapisseries de la cath^drale d’Angers). 
Die Apokalypse entstand zwischen 1377 und 1379, und 34 der 67 noch erhaltenen Kompo¬ 
sitionen sind mit Miniaturen identisch.) Die vier begleitenden Engel tragen eine weiße 
Tunika mit Kragen, Lanze, Schwert oder Spruchband; Michael allein trägt überdies noch 
einen Mantel und als Waffe ein langes Kreuz (Apokal. XII, 7). 

7 8 ) Illustrations of one hundred manuscripts in the library of Henry Yates Thompson. 
Vol. I. London 1907. Plate XXX, No. 34. fol. 7. Die Herzogin Maria war die Gattin des 
Herzogs Johanns IV., f 1399. und Tochter Eduards III. von England. Vgl. ib. Tf. XXXII, 
No. 34, fol. 20 vo . 


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Die Engel am französischen Grabmal des Mittelalters usw. I 17 

düng dieses Schmuckes anscheinend dem Belieben des Künstlers bzw. Auf¬ 
traggebers unterstellt 79). Auch Michael trägt Diadem mit Kreuz; dagegen 
• 

ist die Form des Diadems, wie es der eine Engel auf dem Grabstein in Melun 
trägt: Kronreif, der sich über der Stirn zu einer Spitze erhöht — in Frank¬ 
reich sehr selten zu treffen, in Italien dagegen sehr gebräuchlich *°) m 

Auch ikonographisch läßt sich die Deutung jener zwei Engel auf 
St. Michael wenn nicht strikte beweisen, so doch rechtfertigen. Der Erz¬ 
engel wurde im XV. Jahrhundert vorwiegend, aber nicht ausschließlich 
als Krieger dargestellt; wo er in friedlicher Mission erscheint, wird er zu¬ 
weilen durch irgendein Abzeichen von den andern Engeln unterschieden; 
das XV. Jahrhundert verfügte über eine größere kostümliche Mannigfaltig¬ 
keit bei der Engeldarstellung, ohne dabei übrigens mit den Unterschieden 
im Ornat notwendigerweise immer Unterschiede im Rang der Engelgattungen 
gemeint wären 81 ); nur wo ein einziger Engel unter mehreren so auffallend 

79 ) Inden »Heures d* Anne de Bretagne# von Jean Bourdichon, Paris, Bibi. Nationale 
Msc. fond lat. 9474, sind zwei Miniaturen den Erzengeln Gabriel und Michael, eine dem 
Schutzengel gewidmet; Michel in Rüstung, mit Kreuzstab, Schild und Schwert, Gabriel 
in gegürteter weißer Tunika mit Szepter und Spruchband; unter dem Schutzengel in 
Dalmatika, mit Reisetasche und Schwert, ist wohl Raffael verstanden. Alle drei tragen 
zudem ein Diadem mit Kreuz, das auch den den hl. Michael begleitenden Engeln gegeben 
ist, dagegen den Engeln, welche sonst reich gekleidet, das Reliquiar mit der Dornenkrone 
halten, nicht. 

80 ) z. B. Hlg. Jungfrau mit Engeln in der Florentiner Uffizien, von Pietro Lorenzetti, 
Madonna Giottos in der Florentiner Akademie. Mehrere Engel der Hierarchie am Grabmal 
des Pietro Martire in St. Eustorgio in Mailand (Abbildungen bei Venturi, Storia deiT arte 
italiana, IV und V). Mehrere der Engelfiguren an der Porta della Mandorla am Florentiner 
Dom. Die Beispiele wären leicht zu vermehren. In Frankreich: Engel auf dem sogen, 
fvitrail de St. Thibault ou de Tarcheveque 1409—1410 in der Kathedrale von Bourges 
(Vitraux peints de la cathidrale de Bourges, post^rieures au XIII e siede, planche 7). Vgl. 
auch: Les tres riches Heures de Jean de France duc de Berry ä Chantilly, par Paul Durrieu, 
1904, Tf. LXIV, p. 159. Michael im Kampf gegen den Drachen; in kleinen Medaillons 
Halbfiguren von Engeln in grünen goldgestickten Dalmatiken und mit dem entsprechenden 
Diadem. 

81 ) Die strenge Unterscheidung zwischen den einzelnen Chören ist nur literarisch, 
nicht ikonographisch festgehalten. Am weitesten geht darin die »Legende de St. Denis#, 
1317 (Msc.Biblioth&que Nationale de Paris, fond frangais 2090—2092 ed. Henri Martin, 
Paris 1908, planche XIX. Ohne Beischriften wären die Unterschiede zwischen den Chören 
nicht erkennbar; alle Engelchöre sind genau gleich gekleidet. Die Seraphim, Virtutes und 
Engel musizieren, die Cherubim und Potestates tragen Kronen, die Throne und Principatus 
beten an, die Dominationes und Erzengel spenden Weihrauch. In einer Handschrift des 
Pelerinage de l’äme# des Guillaume de Deguilleville, Paris, Bibliothique Nationale, Msc. 
fond fran^ais 12 465, XIV. Jahrhdt. fol. 139™ erschienen Christus und Maria über den Engel¬ 
chören thronend: Das Bildfeld ist in neun Zonen mit abwechselnd blauem und rotem Grund 
geteilt: nur die erste Ordnung, die Seraphim, sind unterschieden: Kopf zwischen vier roten 
Flügeln; alle andern Chöre sind durch anbetende Halbfiguren von Engeln dargestellt. 
Selbst die Unterscheidung zwischen Cherubim und Seraphim ist keineswegs sicher. (Vgl. 


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118 


K. Es eher, 


heraus gehoben ist, wie es die beiden in Frage stehenden Grabsteine zeigen, 
ist man berechtigt, eine beabsichtigte Unterscheidung anzunehmen, und eine 
solche erklärt sich zudem bei Michael, dem »praepositus paradisi« am besten. 

Der Häufigkeit der liturgischen Stellen entspricht die Zahl der Denk¬ 
mäler mit Engeln, welche die Seele des Toten ins Paradies, in Abrahams 
Schoß tragen; auch von Michael ist schon im früheren Mittelalter die Rede, 
daß er die Seelen in die ewige Seligkeit einführe; aber vorläufig ließen sich 
keine Denkmäler nachweisen, welche, über das XV. Jahrhundert zurück¬ 
reichend, die Annahme einer solchen Darstellung rechtfertigten. Damals 
tritt, vielleicht in Verbindung mit der allgemeinen Michaelverehrung in 

0 . Wulff, Cherubim, Throne und Seraphim, Ikonographie der ersten Engelshierarchie in der 
christlichen Kunst I. Lpz. Dissert. Altenburg 1894, pag. 66 und pag. 88, 90. Im Manu¬ 
skript fond. latin 9471 der Bibliotheque Nationale, Heures du XV C siede sind selbst die 
Cherubim der Bundeslade zweimal verschieden dargestellt: fol. 195™ mit Körper, zwei 
Flügeln und zwei Armen, aber ganz rot, fol. 205™ als Kopf zwischen sechs roten mit gold 
gehöhten Flügeln. Es scheint, daß allgemein die roten vier- und sechsflügeligen Wesen 
ohne Füße als Cherubim gedeutet werden. Vgl. Le comte A. de Laborde, Les manuscrits 
k peintures de la Cit6 de Dieu de St. Augustin. Er spricht von sechsflügeligen roten Cheru¬ 
bim bei Nr. 54 (Paris, Bibi. Nat. Msc. fond. fr. 18 und 19. und Genf, Bibi, de la ville, Msc. 
frangais 79.). Zweiflügelige Wesen (Farbe?) auf einer Darstellung der Trinität in Msc. 
fond fr. 22, (ca. 1432) in Bibi. Nat. zu Paris werden als Seraphim gedeutet, während bei 
Nr. 58 (Msc. 322 in Musie Cond 4 in Chantilly, ca. 1484), nebst der troupe rouge des Chi- 
rubins nur von der cour azuree des cohortes Celestes gesprochen wird. — Häufig erscheint 
in französischen Miniaturen des XV. Jahrhunderts die Trinität von roten und blauen 
Engelwesen umgeben. (Vgl. Jehan Fouquet und Paris, Bibi. Nat. fond. lat. 9471, fol. 143™, 
fol. 210). Selten aber dürfte um diese Zeit eine genauere Spezialisierung der Engelchöre 
vorgenommen worden sein; wo sie sich findet, fehlen die erklärenden Beischriften. A. de 
Laborde, Les manuscrits k peintures de la Cit6 de Dieu de St. Augustin, deutet bei Nr. 3 
(Paris, Bibi. Nat. Msc. fond. fr. 22. beim Sturz der bösen Engel die sie bekämpfenden 
Engel, weiß gekleidet und mit Lanzen bewehrt, als Erzengel. Sehr eingehend ist die himm¬ 
lische Hierarchie in Msc. I (1480) der Bibi. Municipale zu Mäcon geschildert. (A. de La¬ 
borde, op. cit. Nr. 57. Tf. CXXVII.) Auf jeder Seite der Trinität reihen sich etwa 8 Ränge 
von Engeln auf: die innersten sind vierflügelig und mit Federn bedeckt, die folgenden ein¬ 
farbig, aber mit Tunika, Stirnband mit Kreuz; andere erscheinen gerüstet, andere in 
Diakonengewändern. — Die Seraphim wurden im XIII. Jahrhundert sechsflügelig mit 
unbedeckten Armen und Füßen dargestellt: Sockelrelief an der Fassade der Kathedrale 
von Amiens (Darstellung von Jesaja VI 2—6); Kathedrale von Reims: Giebelrelief über 
dem Hauptportal: Krönung Mariae, daneben zwei Seraphim. Bogenkehle am Mittelportal 
der Kathedrale von Bourges; sie tragen kein Attribut, stimmen aber sonst mit den Vor¬ 
schriften des Malerbuches vom Berge Athos (Didron, Manuel de Piconographie chr^tienne 
grecque et latine, Paris 1845, pag. 71—74) und den Malereien von Iviron auf Athos (Didron 
op. cit. pag. 75) überein. W. H. v. d. Mülbe, Die Darstellung des jüngsten Gerichtes 
an den romanischen und gotischen Kirchenportalen Frankreichs, Leipzig 1911, be¬ 
zeichnet sie pag. 53 als Seraphim. Solche finden sich auch am Gerichtsportal in 
Chartres, v. d. Mülbe, Taf. V, und am Mittelportal der Kathedrale von Nantes 
(XV. Jahrhundert). 


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Die Engel am französischen Grabmal des Mittelalters usw. % j g 

Frankreich, dieser Gedanke auch in den Heures und Suffrages häufiger und 
stärker hervor. — Auch auf ikonographischem Wege läßt sich die Hypothese, 
Michael sei auch als susceptoranimarum dargestellt worden, stützen. St. Mi¬ 
chael ist als geflügelter Drachentöter, besonders wenn er (seit dem XIV. Jahr¬ 
hundert) gerüstet erscheint, vor den andern Engeln ohne weiteres kenntlich, 
ebenso auf den Szenen der Auferstehung Mariae, auch wenn er in der Tracht 
nicht von den andern Engeln unterschieden ist. Am häufigsten erscheint 
er mit andern Engeln zusammen auf Darstellungen des jüngsten Gerichtes, 
ist auch dort als Seelenwäger ohne weiteres erkennbar, vielfach durch seine 
Größe, gelegentlich auch in seiner Tracht wenigstens von den ihm zunächst 
stehenden Engeln unterschieden. Mehr oder minder auffallende Merkmale 
der Unterscheidung Michaels gegenüber andern ihn begleitenden Engeln 
lassen sich leicht auch bei andern Szenen nachweisen, in welchen St. Michael 
vorkommt (z. B. P&leringe de l'äme). Im XV. Jahrhundert kam St. Michael 
auch in friedlicher Mission und unkriegerischer Kleidung — als Schutzpatron — 
vor. Da nun auf den beiden Grabsteinen von Melun und Le Mesnil-Aubry 
die Unterschiede in der Tracht der Engel so auffallend sind, so muß eine 
Unterscheidung im Rang der Engel beabsichtigt sein; eine Figur ist beson¬ 
ders herausgehoben; die zahlreichen angeführten Stellen der Liturgie und 
der durch ikonographische Untersuchungen gewonnene Schluß lassen nur 
eine Deutung auf den Erzengel Michael zu. 

Nachtrag. I. Cherubim finden sich, nebst anbetenden und weih¬ 
rauchspendenden Engeln, auf dem Grabstein des Antoine de la Haye, 
Abtes von St. Denis, (t 1504 ) 8l ). 2 . Michael an der Spitze der Engel 

in einem Manuskript der Bodleiana, X. Jahrhundert. Michael gegen den 
Drachen kämpfend und zugleich Seelen beschützend in einem Manuskript 
des britischen Museums, XII. Jahrhundert 8 3). 

**) Guilhermy, Inscriptions II. planche III. pag. 182. 

* 3 ) Fr. Wiegand, Der Erzengel Michael, pag. 36 und 37. 


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Studien zur Altfrankfurter Malerei *). 

Von Karl Simon. 

II. Die Darstellung im Tempel. 

Die Darstellung im Tempel, die sich im Frankfurter Historischen Mu¬ 
seum befindet, hat die Forschung schon mehrfach beschäftigt. In dieser 
Zeitschrift haben zuerst Rieffel (Bd. XV (1892), S. 297) nach Scheiblers 
Vorgang, dann Weizsäcker (Bd. XXV, S. 82 f.) Werke, die diesem Bilde ver¬ 
wandt sind, zusammengestellt. Letzterer nennt als solches das unbekannte, 
früher Dürer zugeschriebene Porträt in v. Holzhausenschen Besitz (seit 
kurzem als Leihgabe im Städelschen Institut); die Anbetung der Könige und 
die Steinigung des Stephanus in Mainz, und den Christus in der Kelter in 
der Gumbertuskirche zu Ansbach. Der Katalog des Münchener National¬ 
museums gab demselben Künstler dann noch die Darstellung aus der Le¬ 
gende des h. Jacobus. Dazu fügte Carl Gebhardt in dieser Zeitschrift 
(Bd. XXXI, 1908, S. 444) die Kreuzesfindung im Nürnberger Germanischen 
Nationalmuseum, und endlich brachte Flechsig a ) vier Darstellungen aus 
dem Leben des Paulus und Petrus Martyr in der Leipziger Paulinerkirche 
unter Beistimmung von Dornhöffer in Zusammenhang mit der Darstellung. 
Ganz kürzlich hat sich Fr. Rieffel noch eingehend mit der Gruppe beschäftigt 

‘) Vgl.Bd.34Heft4dieserZeitschriftS. 333 b; leiderist bei der Korrektur der zumTeil 
Irrtümliches enthaltende letzte Satz stehen geblieben. Drei der dort besprochenen Bilder 
hatte inzwischen, worauf nicht mehr hingewiesen werden konnte, auch C. Gebhardt zu 
einer Gruppe zusammengestellt (Monatsh. f. Kunstw. IV (1911), S. 416!.). Frz. Rieffel 
macht mich freundlicherweise darauf aufmerksam, daß auch in Mainz ein Träger des 
Namens Fyol kürzlich nachgewiesen worden ist: ein Petter Fyol wird in einem Bruder¬ 
schaftsbuch (im Pfarrarchiv der Sebastianskirche in Mainz) mit Frau, Tochter, Knecht und 
Magd in den Jahren vor 1505—' 5 M als Mitgliedern genannt. 1514 tritt er von seinem 
Amt zurück und muß bald darauf gestorben sein. (Frz. Theod. Klingelschmitt im Mainzer 
Journal 1911, Nr. 84, 8. April 1911). Sein Stand ist nicht angegeben, doch deutet die 
Bezeichnung »ersam« auf einen Handwerker; ob er etwa Maler gewesen, steht also dahin; 
ebenso natürlich, ob er in diesem Falle mit dem Dreikönigsbild in irgendwelchen Be¬ 
ziehungen steht. Zu Konrad Fyol ist noch nachzutragen, daß er bereits 1448 Bürger 
von Frankfurt geworden ist. (Bürgerbuch IV 65 V.) 

J ) Sächsische Bildnerei und Malerei. Lief. 1, Leipzig 1909. 


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Studien rur Altfrankfurter Malerei. 


I 2 I 


und ein größeres Material in höchst lehrreicher Weise verarbeitet 3 ). Ich 
halte mich hier nur an die wichtigsten Bilder. 

Gebhardt glaubte auch den Namen des Meisters nennen zu können, 
insofern er glückliche Urkundenfunde, die den von Dürer genannten Martin 
Heß betrafen, auf den Meister der genannten Bilder bezog. Freilich m. E. 
nicht in zwingender Weise; es fehlt jede Verbindung zwischen den Urkunden 
dort und den Werken hier, wenn man nicht die rein zeitliche Koinzidenz 
als solche ansehen will. Auch Weizsäcker hatte schon früher den Gedanken 
gehabt, ihn aber ausdrücklich abgelehnt. 

Ich glaube nun, es läßt sich nicht nur indirekt, sondern auch direkt 



Abb. i: Ausschnitt aus der Darstellung; im Tempel, Frankfurt a. M., Städtisches 

Historisches Museum. 

nachweisen, daß der Meister der Frankfurter Darstellung nicht Martin 
Heß ist. In dem Miedereinsatz der Frau mit den Tauben rechts von Maria 
finden sich nämlich in zarten Linien eingestickt zwei durch einen Punkt 
getrennte Zeichen, die man kaum anders wird lesen können als S. A. (S. 
Abb. I.) Obgleich sic garnicht undeutlich sind, das A sogar recht klar 
hervortritt, scheint sie noch niemand beachtet zu haben. Was sie bezeichnen 
sollen, ist mit Sicherheit schwer zu sagen; es könnte die Bezeichnung 
einer Heiligen sein; Sancta A . . ., aber in dieser Form wäre sic ungewöhn¬ 
lich, und die Frau ist auch keine Heilige. Wäre sie ein Porträt, so könnten 
die Buchstaben auf den Namen der Dargestellten deuten, aber auch das 
wäre ungewöhnlich, und den Eindruck eines Porträts macht das Gesicht 

5 ) Monatshefte für Kunstwissenschaft IV' (1911), S. 341 f. 


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122 


Karl Simon, 


auch nicht. Jedenfalls könnte auch der Maler selbst die Initialen seines 
Namens hier angebracht haben, wie es etwa Dürer auf dem Berliner weib- 
liehen Porträt, gleichfalls auf der Stickerei der Brust getan hat, wenn man 
das A. D. nicht als »Agnes Dürer« auffassen will. 

Es ist wohl noch nicht möglich, einen bestimmten Künstler für diese 
Initialen in Anspruch zu nehmen. Eine Durchsicht der Bürgerbücher 
dieser Zeit berechtigt uns auch zu der bestimmten Behauptung, daß der 
Maler S. A. nicht Frankfurter Bürger gewesen ist. Sehr wohl aber kann 
er natürlich in der Werkstatt eines hiesigen Malers tätig gewesen sein. Be¬ 
stünde der Name des Simon von Aschaffenburg zu Recht, d. h. 
wüßten wir nicht nur, daß seine Witwe in Aschaffenburg gewohnt, sondern 
daß er sich selbst so genannt habe 4 ), so läge die Versuchung nahe, an ihn 
zu denken. 

Daß der Meister S. A. vielleicht mit der Werkstatt der Fyol in engerer 
Beziehung gestanden hat 5 ), brauchte daran nicht zu hindern: in der zweiten 
Hälfte des 15. Jahrhunderts hat es in Frankfurt von Aschaffenburgern 
geradezu gewimmelt. Außer dem Zusatz »von Aschaffenburg« finden wir 
in den Bürgerbüchern auch die Benennung »Aschaffenburger«. Die erstere 
Bezeichnung bleibt auch unter Umständen den Söhnen dieser Leute, die 
schon als Frankfurter Bürgersöhne geboren werden. Gerade ein Maler 
Friedrich von Aschaffenburg ist urkundlich bereits zum 
Jahre 1459 bezeugt; er liefert nämlich in diesem Jahre für die Frankfurter 
Sebastiansbruderschaft in die Dominikanerkirche »eynen Sebastianum mit 
zweyne schuczen und eynem gehuse«, der Preis beträgt 180 Gulden 6 ). 

Sonst ist das Bild, zu dem wir jetzt zurückkehren, ja allgemein be¬ 
kannt 7 ), nur einzelnes sei hervorgehoben. Die Komposition ist sehr ge¬ 
drängt; nur der Hohepriester und Maria sind in ganzer Figur sichtbar, 
einigermaßen noch die Frau mit den Tauben. Sonst überschneiden sich 
die Figuren, sodaß nur Teile, schließlich nur Köpfe übrig bleiben, für deren 
zugehörende Körper kaum Platz zu denken ist. 

So gedrängt die Komposition, so zerstreut ist die Aufmerksamkeit der 
dargestellten Personen. Nur die Hauptgruppe ist einigermaßen bei dem, 
was sie tut; die Blicke der übrigen fahren hierhin und dorthin aus dem 
Bilde heraus, ja zwei der Köpfe rechts wenden sich, der eine sogar in scharfem 


•*) Vgl. Niedermayer im Repert. 1884 S. 253, Anm. 

5 ) S. den Aufsatz in Bd. 34 Heft 4 dieser Zeitschrift S. 347. 

6 ) S. R. Jung im Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst 3. F. Bd. 7. (1910). 
S. 306. — Der Maler war übrigens, wie sich aus dem BUrgerbuch ergibt, bereits 1448 
durch die Heirat mit einer Burgerstochter oder -witwe Bürger geworden. 

7 ) Abb. u. a. bei G. v.Tirey: DieGemälde des Hans Baidung Grien. Bd. IITaf. 114. 
Kunsthist. Ges. f. photograph. Publ. II. 


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Studien zur Altfrankfurter Malerei. 


123 


Profil, wie ostentativ von der Handlung ab. Es ist eine Addition von ein¬ 
zelnen Personen, die einander nicht das mindeste angehen. Wie die Figuren 
zusammenkleben, nicht voneinander losgehen, so wirkt auch das Ganze 
flach. Zwar wird versucht, unten durch die Stufen zum Altar, durch den 
Läufer, oben durch das Gewölbe die Tiefenillusion zu erwecken, aber nur 
mit geringem Erfolge. Schwer und patzig drängt der Altaraufbau mit 
dem vielen Gold wieder nach vorn. 

Überhaupt ist die ganze Raumdarstellung unverstanden. Die Längs - 
wand des Tempels rechts weicht aus, um einen Ausblick in eine Landschaft, 
die freilich noch goldenen Lufthintergrund aufweist, zu ermöglichen. Auch 
sonst trägt nichts dazu bei, den Raum als Innenraum glaubhaft zu machen. 
Ebenso wirkt im einzelnen alles flach, silhouettenhaft, und manches geradezu 
falsch. So z. B. der bauschige Ärmel des Hohenpriesters, der nicht das 
Geringste über das Gewand, vor das er sich legt, hervorragt, sondern in 
einer Ebene mit ihm liegt. Auch die Säume des Gewandes vorn, die über 
dem Ärmel erscheinen, treten nicht zurück, sondern laufen sich an dem 
Ärmel tot. 

Im Gegensatz zu diesen, ich möchte sagen primären Mängeln, die sich 
auf die Ökonomie des Bildes als Ganzes beziehen, steht die vorzügliche 
technische Behandlung des Einzelnen. Die überaus sorgfältige, liebevolle, 
dabei durchaus nicht kleinliche Behandlung der Malerei, die sich nicht nur 
auf alles prächtige Beiwerk, die Goldzieraten, die Frauenhauben und Ko¬ 
stüme, sondern auch auf die Gesichter mit den Licht- und Schattenflächen, 
die feinen, in geschwungenen Strichen weiß gehöhten Haare, die Hände 
mit den genau angegebenen Adern erstreckt. Einzelne Köpfe sind in ihrer 
Art meisterhaft, so der würdevolle Hohepriester mit der stark gebogenen 
Nase und besonders der kniende Mann hinter ihm, der die Schleppe seines 
Mantels trägt, und in dem wir vielleicht das Selbstporträt des Künstlers 
sehen dürfen, während der Patrizier über ihm vielleicht den Stifter des 
Bildes darstellt. 

Diese unleugbare Zwiespältigkeit in der Erscheinung des Ganzen läßt 
zwei Erklärungen zu: der Maler, der eine ausgezeichnete technische Schu¬ 
lung besitzt, ist entweder ein älterer Mann, der sich von dem Neuen, das 
er überall her um sich entstehen sieht, noch soviel aneignet, wie er irgend 
kann, oder er ist ein jüngerer Mann von geringer, im eigentlichen 
Sinne künstlerischer Begabung. 

In dieser Hinsicht sind die Bemerkungen Ed. Flechsigs bezüglich der 
Beziehungen des Bildes zu Dürer wichtig 8 ). Man habe bisher aus diesen 

®) a. a. 0 . Zu den mit großei Sorgfalt nachgewiesenen Entlehnungen wüßte ich 
nur den freilich veränderten Wandleuchter oberhalb des Kronleuchters hinzuzufügen 
(B. 77: Joachims Opfer zurückgewiesen), ebenso den in Aufsicht gegebenen Standleuchter; 


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124 


Karl Simon, 


Beziehungen auf ein Schülerverhältnis des Malers zu Dürer geschlossen; 
die zahlreichen Entlehnungen von Dürer zeigen aber nur, daß Dürersche 
Stiche und Holzschnitte verwendet worden sind, ja gerade aus diesem 
addierenden Verfahren könne man fast mit zwingender Notwendigkeit 
folgern, daß kein direktes Schulverhältnis stattgefunden hat. 

So kommt Flechsig dazu, in dem Maler nicht einen Schüler Dürers, 
sondern Hans Baidungs sehen zu wollen. Das ist an sich sehr einleuchtend 
und würde überzeugend sein, wenn sich die Entlehnungen nur auf Stiche 
und Holzschnitte Dürers bezögen. Eis sind aber auch Beziehungen zu 
dessen Gemälden vorhanden. So besteht eine Ähnlichkeit zwischen dem 
Kopftuch der Maria der Darstellung und dem der in der gleichen Drei* 
Viertelstellung gesehenen auf dem Dürerschen Dresdener Altar: man ver¬ 
gleiche links die kleine, dann die unmittelbar ansetzende große Falte, den 
freibleibenden Teil des Kopfes, das Faltennest auf dem Kopfe. Und die Hand 
des Sakristans ist, von einer einzigen Abweichung abgesehen, fast identisch 
mit der Hand auf dem Porträt des alten Dürer von 1490. So hat doch wohl 
der Maler nähere Kenntnis, gleichviel welcher Art, von der Dürerschen 
Werkstatt gehabt, ohne freilich in Dürers Geist eindringen zu können. 

Gerade das Wichtige und Neue bei diesem, wie er etwa einen Innen¬ 
raum glaubhaft macht, oder seinen Figuren trotz scheinbarer Überfülle 
Platz schafft, und auch die Entfernteren in Beziehung zur Haupthandlung 
zu bringen versteht — gerade das scheint ohne Eindruck geblieben zu sein. 

Die Färbung ist im ganzen hell und leuchtend: Gold, Rot und Weiß 
wird vor allem viel verwendet. Bei dem Hohenpriester tritt dazu noch ein 
Blau-Grünlich im samtenen Kragen mit dem weißen Hermelinbesatz und 
Rosa-Gelblich-Grün wechselnd in den Fransen; Maria erscheint in blau¬ 
grünem Gewand mit rosa Innenseite, die Frau mit den Tauben in Gold und 
dunklem Moosgrün mit changierendem Futter, das in diagonalen Strich¬ 
lagen schattiert wird. Moosgrün auch in dem Futter eines Gewandes in 
gebrochenem Rot, ähnlich moosgrün und blaßrot in der Kleidung des vor¬ 
ausgesetzten Stifters. Schwarz endlich in Barett und Gewand des als 
Sakristan fungierenden Malers, das nur rote Fransen zeigt. 

★ * 


* 

Ich wende mich nun zu einzelnen der Bilder, die mit unserer Dar¬ 
stellung in Beziehung gebracht werden sind, um sie, soweit ich mir ein 
Urteil über sie habe bilden können, daraufhin zu prüfen. Die Beziehung 

man vergleiche auf dem Blatt der Apokalypse B. 62 von den drei Leuchtern links den am 
weitesten rechts mit dem — ijn Gegensatz zu den anderen — ruhig gehaltenen Fuß und dem 
schuppengemusterten Schaft. 


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Studien zur Altfrankfurter Malerei. 


,2 5 

zu dem Frankfurter Bilde ist in diesem Zusammenhang allein maßgebend: 
bei den Werken, wo diese Beziehung m. E. nicht besteht, ist daher auf Neu- 
Attribution verzichtet worden. 

Die Anbetung der Könige in Mainz ; städt. Gemäldesammlung Nr. 414 und 4159). 

Ähnlichkeiten im einzelnen sind gewiß zwischen den beiden Bildern 
in Fülle vorhanden: so in den Typen der Männer mit den gebogenen Nasen, 
dem krausgelockten Haar, der Vorliebe für abgestreckte oder merkwürdig 
gekrümmte Finger, ihre weit auseinanderstehenden Knöchel, die wie ge¬ 
schwollen aussehen, die unverhältnismäßig kleinen Nägel, gerade geschnitten 
und mit aufgesetztem Glanzlicht; die in ganzen Flächen von Hell und 
Dunkel modellierten Gesichter, die Behandlung von Bart und Haar in 
einzelnen Büscheln: die Haare werden in einer Form gegeben, die sich dem 
Halbkreis nähert, während von der entgegengesetzten Richtung in gleicher 
Weise einzelne Haare über diese Büschel gelegt werden; die Runzelbil¬ 
dung an Augen und Nacken; die Bildung der Ohren, wo die obere Ein- 
tiefung der Muschel gern halbkreisförmig an den oberen Rand stößt, die 
vortretenden Adern u. a. m. 

Wichtige Grundgefühle sind aber entschieden anders. Das Mainzer 
Bild ist weiträumig; die einzelnen Figuren haben Platz, nirgends herrscht 
Gedränge. Die Steinigung des Stephanus, bei der ein großes Aufgebot 
von Menschen nahe liegen konnte, kommt mit wenigen aus. Es ist Interesse 
für kräftige ausgreifende Bewegung; die Standmotive werden stark betont, 
bis in die Figur auf der Fahne. Gerade das Interesse und das Verständnis 
für Ponderation ist ein unterscheidendes Merkmal für die neue, fortschritt¬ 
lich gesinnte Generation. Dürer ist, man möchte sagen, mit wenigen 
Sprüngen zur Stelle, langsamer der ältere Peter Vischer, aber überall regt 
sich der Stolz darauf, eine Figur richtig, dabei mit Nonchalance auf die Füße 
stellen zu können. Der Meister der Darstellung interessiert sich mehr für 
die Köpfe, als für die Standmotive seiner Figuren. Man sage nicht, die 
Gewandung hinderte ihn daran: es stand nichts im Wege, in Nebenfiguren 
zu zeigen, was er konnte. 

Auch die Draperie der Darstellung zeigt ein fast selbständiges Leben, 
etwa in dem Windeltuch des kleinen Christus, dem freilich das Schleiertuch 
der Maria in der Anbetung ähnlich ist. Beide sind wohl ohne Dürer kaum 
möglich; es sei nur an seine Stiche: die vier Hexen und den Traum des Dok¬ 
tors erinnert. Die Ärmel an der Hand und auch die Enden sonst werden 
auf der Darstellung sorgfältig gelegt, dabei doch an einzelnen Stellen un¬ 
natürlich: bei dem Hohenpriester und der Maria fällt der lange Ärmel nicht 

9 ) Abb. in G. v. T£rcy, a. a. O. Bd. II, Taf. 113. Repert. a. a. O. (1892), zu dem 
Aufsatz von Rieffel. 


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126 


Karl Simon, 


bis auf die Hand herab, sondern ist oberhalb ihrer erstarrt, schmiegt sich 
auch nicht den Formen der Hand an, sodaß ein beträchtlicher Luftzwischen¬ 
raum bleibt. Ähnlich bei dem Kopftuch der Maria, das den Hals in einem 
Bogen umzieht. Es ist fast, als seien Gewohnheiten einer Schnitzwerkstätte 
hier wirksam gewesen: der Ärmel zuerst fertig und dann die Hand nach¬ 
träglich angestückt. Oder auch Gewohnheiten des Holzschnittzeichners. 
Auch der Armansatz wird gern auf diese Weise versteckt. Beides ist auf 
dem Mainzer Bild nicht in dem Maße der Fall; der Armansatz wird gern 
zur Verdeutlichung der Funktion betont (vgl. den auspackenden Knecht 
— der übrigens sein Vorbild auf der Schongauerschen Anbetung der Könige 
(B. 6) findet —, den Engel am weitesten links auf dem Dreikönigsbilde und den 
Engel des Stephanusbildes; selbst den Stephanus oder den Hohenpriester 
hinter ihm). 

Dagegen stimmen beide in einer Eigentümlichkeit überein, die für die 
Gemälde von wahrscheinlich Frankfurter Herkunft, vielleicht aber auch 
für einen größeren Umkreis typisch ist: die Ruhe in den Ärmelenden nahe 
der Hand. Mag der Ärmel sonst noch so bewegt sein, nach unten ebbt die 
Bewegung ab, um mit einer glatten Fläche, durch keine Umschläge oder 
Falten getrübt, abzuschließen. So ist es auf der Darstellung bei dem Hohen¬ 
priester und der Maria, so auf dem Mainzer Bild bei Joseph, auch bei Ste¬ 
phanus, vor allem bei dem Verkündigungsengel der Rückseite. Diese Art 
mag dem milden mittelrheinischen Temperament besonders entsprechen, 
jedenfalls unterscheidet sie sich scharf von Nürnberger und Dürerscher 
Tradition, der auch Hans Baidung durchaus folgt. 

Daß der Typus der Maria und ihrer Genossinnen auf den beiden 
Werken gänzlich voneinander abweicht, muß doch hervorgehoben werden. 
Sonstige Abweichungen in Einzelheiten sind weniger wichtig: daß die so 
reich ausgebildeten Schlagschatten der Darstellung auf dem Mainzer Bilde 
gänzlich fehlen, daß dem altertümlichen Nimbus mit den zwei roten Streifen 
ein Strahlenkranz in Mainz entspricht. Stephanus zeigt freilich wieder den 
festen Nimbus; wie hier wohl überhaupt ein anderer Maler am Werke gewesen 
ist, der die Elemente seiner Landschaft, wie Flechsig nachgewiesen, Dürer 
entlehnt. 

Wichtiger ist wieder die dunklere Gesamtfärbung in Mainz; die reichere 
Skala, dunkelgrüner Sammet, violette Ärmel usw., während in Frankfurt 
helle Farben und das Rot-Gold vorherrschend sind. Sie wirken hier zu¬ 
weilen, wie Weizsäcker sehr richtig hervorhebt, fast branstig, in Mainz 
dagegen transparent. Man hat das entschiedene Gefühl, daß der Maler S. A. 

den Seidendamast so wie auf dem Mainzer Bild nicht habe malen können. 

• • 

Ähnliches könnte man von dem flotten Engelterzett in der Höhe sagen, wo 
reines Profil, Dreiviertel- und Vorderansicht — diese in einer Verkürzung, 


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Studien zur Altfrankfurter Malerei. 


127 


wie sie schon bei dem Tucheraltar in Nürnberg (Augustus und Monika) 
versucht wird — in den mannigfaltigst individualisierten Gestalten er¬ 
scheinen. Das Gleiche gilt von dem aller materiellen Schwere entkleideten, 
in dem wallenden Haupthaar versinkenden Kreuz bei dem Verkündigungs- 
engel der Rückseite oder von den lang und vornehm herabhängenden 
Ärmeln; das alles sind Zeugnisse einer ganz anderen Kultur, als sie der 
Meister S. A. aufbringen kann. 

Hier ein schweres, an Dürer genährtes, fast monumentales 
Pathos, vereint mit einem sehr ausgesprochenen Zug für Noblesse; 
dort das Getümmel einer an künstlerisches Disponieren noch nicht recht 
gewöhnten, aber achtungswerten Provinzialkunst, die die Löwenhaut des 
Monumentalen freilich nicht recht ausfüllt und aus Dürerschem Schmaus 
ein Ragout zusammenbraut. Dabei ist auch der Künstler des Mainzer 
Bildes kein Gestalter ersten Ranges, sondern was er besitzt, verwendet er 
wieder; so wiederholt der Hohepriester des Stephanusbildes im linken Fuß 
die Stellung des Mohrenkönigs, und der Verkündigungsengel ist in Typus, 
Stellung, Haltung, Gewandung bis in Einzelheiten hinein nur eine sinn¬ 
gemäße Abwandlung des Johannes unter dem Kreuz. 

Die Übereinstimmungen mit der Darstellung betreffen Dinge, die sehr 
wohl lehr- und lernbar sind; die Verschiedenheiten sprechen m. E. für ver¬ 
schiedene künstlerische Temperamente. Das Frankfurter Bild ist alter¬ 
tümlicher im einzelnen nicht nur, sondern in grundlegenden Dingen, eine 
Entwickelung etwa zu dem Mainzer Bilde erscheint nicht möglich. Dieses 
selbst stammt wohl aus derselben Schule, aber von einem moderneren, 
wahrscheinlich jüngeren Künstler. 

Was die Datierung angeht, so hat Rieffel scharfsichtig darauf aufmerk¬ 
sam gemacht, daß die Figur des Mohrenkönigs »in Stellung und Bewegung 
und sogar bis in die kleinsten Eigentümlichkeiten der bizarren Modetracht 
hinein« auf zwei Darstellungen der Mainzer Liviusausgabe des Johann 
Schöffer von 1505 wiederkehren (Bl. 286 Antiochus hält Landtag, Bl. 403 
Demetrius wird erdrosselt I0 ). Der Zeichner müsse also das Bild gekannt 
haben. Die Übereinstimmung ist in der Tat sehr weitgehend, wenn auch 
einige Verschiedenheiten in der Tracht, so in denÄrmeln • Vorkommen. Nur 

,0 ) Noch ähnlicher in der Energie der Bewegung erscheint mir der gleichfalls, wie 
der Mohrenfürst, das Barett in der Hand haltende Mann auf dem zweimal vorkommenden 
Holzschnitt Blatt 331 b und 386; nur ist er von der Gegenseite gegeben. (Übrigens werde 
ich bei dem Formschnitt auf Bl. 283 den Gedanken an die Komposition des Stephanus¬ 
bildes nicht los.) Stellung und Tracht sind dann weiter sehr ähnlich bei dem Mann in dem 
Titel-Holzschnitt von Eucharius Rösslin: Der Swangeren Frauen Rosengarten. Stra߬ 
burg bei Martin Flach und Hagenau bei Heinrich Gran 1513. Auffallend ist hier das 
Monogramm, das dem Grünewalds sehr ähnlich ist. (Abb. bei H. A. Schmid, M. Grüne¬ 
wald, Text S. 387.) 


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128 


Karl Simon, 


aus Gründen der Vorsicht möchte ich auf die Möglichkeit hinweisen, daß 
für beide Darstellungen ein Archetypus vorliegen könnte, gerade auch da 
das Bild nachweisbar mit Entlehnungen arbeitet. Für die Stellung möchte 
ich wenigstens auf den frühen Dürerstich der Türkenfamilie (B. 85) hin- 
weisen, wo die Frau genau in der gleichen Schrittstellung erscheint. Sonst 
kommt diese allerdings im ganzen gemalten und gedruckten Dürerwerk nicht 
wieder vor. 

Die Bilder aus dem Leben des Paidus und Petrus Martyr in der Leipziger 

Paulinerkirche 1I ). 

Einzelnes ist der Darstellung wohl ähnlich: so die Vorliebe für charak¬ 
teristisch gebogene Nasen, auch der Typus des Paulus, der an den Hohen¬ 
priester erinnert; freilich ist er nicht so monumental, sondern kleinlicher. 
Selbst bei scheinbaren Ähnlichkeiten fallen aber Verschiedenheiten auf: 
so bei den Händen, denen das Verkrümmte fehlt. Haare und Bart sind 
nicht weiß, sondern fast ausschließlich leicht gelblich gehöht, und die Striche 
verlaufen nicht gekrümmt, sondern gerade. Stand- und Spielbein sind 
stark betont, auch unter der Gewandung scharf angegeben; die Proportionen 
sind zuweilen unmöglich. Das Inkarnat ist durchgehends dunkel oder 
schmutzig braun, hier und da auch grau, nirgends gesund und rötlich wie 
in der Darstellung. Bei letzterer begegnet einmal ein leises öffnen des Mundes, 
in Leipzig ist dieses öffnen des Mundes, in dem die Zähne zum Vorschein 
kommen, geradezu typisch geworden: auf dem einen Bilde zwei, auf einem 
anderen gar viermal: Stephanus, der Henker, sogar der Entfliehende, alle 
blecken die Zähne. Die ganze Arbeit ist gröber, handwerksmäßiger; man 
vergleiche etwa die Haube der Frau rechts auf dem Bilde: Paulus und die 
Schlange, oder etwa den Ärmel des Stephanus, oder die Kopftücher, wie da 
die Falten muldenförmig ängstlich, wie aus Papier gelegt sind. Die Details 
sind gern verschwommen und verwaschen. Davon ganz abgesehen, daß 
nirgends Goldluftgrund, sondern der Himmel über ausgeführterer Land¬ 
schaft erscheint. Schlagschatten erscheinen auf dem Bilde des Wunders 
am Altar des h. Petrus Martyr einige Male. 

So kann ich nur eine ganz entfernte Verwandtschaft mit unserer Dar¬ 
stellung zugeben, die sich auf wenige Äußerlichkeiten stützt, und die doch 
vielleicht die Einreihung auch in einen anderen Zusammenhang gestatten. 

Männliches Porträt in der Holzhausensammlung zu Frankfurt. 12 ) 

Das interessante Bildnis ist bekanntlich von Thode nach dem Vorgang 
von Donner-von Richter Dürer, von Fr. Haakh dann Hans Baidung zu- 

**) Flechsig a. a. 0 . S. 4, Taf. 17—21. 

n ) Abb. zuletzt Monatsh. f. Kunstwiss. IV (1911) Taf. 70. 


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Studien zur Altfrankfurter Malerei. 


I 29 

geteilt worden. Weizsäcker dagegen hat mit vollem Recht unter den sonstigen 
Frankfurter lokalen Dingen Umschau nach Verwandtem gehalten. Freilich 
ist der Vergleich eines Porträts mit anderen Darstellungen besonders schwierig, 
weil man nicht immer mit Bestimmtheit entscheiden kann, wo der Künstler 
unter dem besonderen Zwang des besonderen Modells gestanden, und wo er 
frei hat schaffen können. Aber es besteht ja zweifellos ein gewisser Zu¬ 
sammenhang des fraglichen Porträts mit der ganzen Gruppe; auch mit der 
Darstellung, was Weizsäcker näher ausführt. 

Soweit die Übereinstimmungen rein technischer Art sind, muß aller¬ 
dings darauf hingewiesen werden, daß sie wohl für den Schulzusammenhang, 
aber nicht für die Zuweisung an den gleichen Künstler sprechen müssen. 
Die Übereinstimmung in den Handformen und der Handhaltung des Un¬ 
bekannten und des Sakristans der Darstellung ist allerdings weniger zweifel¬ 
los; daß die Hand des letzteren — der übrigens keinen Rosenkranz, sondern 
den Gewandsaum des Hohenpriesters hält — überaus ähnlich der Hand 
auf dem Dürerschen Porträt seinesVaters von 1490 ist, wurde schon erwähnt. 
Dagegen stimmt noch in etwas anderem die Darstellung mit dem Holz- 
hausenporträt. Bei einer der Frauen rechts in Dreiviertelansicht sind die 
Augen, wie bei dem Porträt, nach außen gestellt, so daß sie sich fest auf den 
Beschauer heften. Aber auch das ist Dürersche Tradition in seinen frühen 
Bildnissen; auch bei denen, wo sich die Dreiviertelansicht schon der Vorder¬ 
ansicht nähert, (Selbstbildnis von 1493, Friedrich der Weise, Bildnis seines 
Vaters von 1497, Selbstbildnis von 1498, Felicitas Tücher, Krell), eine Gewohn¬ 
heit, die bei dem Holzschuher mit unerhört gesteigerter Kraft noch einmal 
aufgenommen wird. Beide Eigentümlichkeiten kämen also zu den oben 
bereits angeführten Spuren des Dürerschen Einflusses noch dazu. Aller¬ 
dings ist bei Dürer in diesem Falle das Auge immer voll geöffnet, nicht halb 
geschlossen, wie bei dem Unbekannten. 

Eine Abweichung zwischen den Bildern könnte stutzig machen: bei 
der Darstellung, auch bei den Mainzer Bildern ist der Mund ausnahmslos 
voll und üppig gebildet, wobei die Unterlippe besonders betont wird. Das 
ist auch für ältere, wahrscheinlich aus Frankfurt stammende Bilder und 
auch noch für einen weiteren Umkreis, der abgegrenzt werden müßte, gerade¬ 
zu typisch, und auch wo Porträtähnlichkeit angestrebt wird, begegnet man 
dem immer wieder. Übrigens auch noch in den Porträts des späteren Con¬ 
rads von Kreuznach. Demgegenüber möchte man bei dem Porträt des Un¬ 
bekannten fast sagen: seine Lippen glänzen durch Abwesenheit—so fest 
und energisch geschlossen, so dünn liegen sie aufeinander. Der Sakristan 
der Darstellung ist, wie gesagt, ganz gewiß ein Porträt, und die Oberlippe 
ist auch eingezogen, der Mund soll energisch geschlossen sein, aber die 
Unterlippe quillt doch wieder hervor. Es ist doch fraglich, ob ein sonst in 

Repertorium für Kunstwissenschaft, XXXV. 0 


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130 


Karl Simon, 


dieser abweichenden Gewohnheit wurzelnder Maler, selbst bei einem noch 
so scharfen Anreiz des Modells dazu, von dieser Gewohnheit würde abgehen 
können. Auch sonst steckt etwas Grämliches in dem Porträt, das man auf 
der Darstellung vergebens sucht. Die Kamation ist anders, fleckiger, leb¬ 
hafter als auf letzterer; die Haarbehandlung operiert hier mit größeren 
Massen als auf dem Porträt. Aber all diese Dinge brauchen nicht entschei¬ 
dend zu sein. Immerhin bin ich bei diesem Porträt doch nicht ganz sicher, 
ob es von dem Maler S. A. herrühren kann. 

Votivbild im Germanischen Museum in Nürnberg. Katalog Nr. 332. 

Das Bild war von H. v. Tschudi mit der Frankfurter Darstellung in 
Verbindung gebracht worden * 3 ); er hatte es in Venezianer Kunsthandel 
gesehen, aus dem es später das Germanische Museum erworben hat. Eis 
stellt dar die thronende Maria mit dem Kinde, von Engeln umgeben und 
gekrönt. Auf der untersten Thronstufe kniet ein vom Pferd gestiegener 
Ritter mit zwei Söhnen, Gemahlin und Tochter. Der Katalog des Museums 
(H. Braune) bezeichnet es als oberdeutsch um 1510. Tatsächlich sind bei ge¬ 
nauerem Zusehen die Unterschiede gegen die »Darstellung« recht beträchtlich; 
nur die in großen hellen Flächen herausmodellierten Gesichtern erinnern aller¬ 
dings stark an sie. Ganz anders aber ist, von anderem abgesehen, die tiefe 
dunkle Gesamtstimmung des Ganzen; die Farben sind freilich an mehreren 
Stellen geronnen. Die Wirkung ist fast clair-obscurartig und erweckt mehr 
den Gedanken an augsburgische oder tiroler Tradition. Das sehr interessante 
Bild hat größere künstlerische Qualitäten als die Darstellung. Man ver¬ 
gleiche den lieblichen Engel links oder die linke Hand Mariä, die den Christus- 
körper umfaßt und außerordentlich gut verstanden ist. 

Halbfiguren Christi und Mariä im Germanischen Museum. Kat. Nr. 197—198. 

In derselben Sammlung schreibt der Katalog zwei Gegenstücke frage¬ 
weise dem Martin Heß, also dem Meister der Darstellung zu: Halbfiguren 
des Schmerzensmannes und der Schmerzensmutter. Ersterer in rotem 
Mantel, die Hände mit sprechender Geste erhoben; Maria in blau-grün¬ 
lichem Mantel, der über das weiße Kopftuch gezogen ist. Nähere Be¬ 
ziehungen zur Frankfurter Darstellung vermag ich nicht zu entdecken. 
Das Gesicht Christi ist markig herausmodelliert, die Nase gerade und knochig, 
auch die nur ganz wenig gebogene der Maria. Die rückwärts gelegenen 
Augen besonders groß und rund; die Lider stoßen an der Außenseite im 
Winkel aufeinander. Die Finger der Maria lang und dünn mit Angabe der 
kleinen Fältchen um die Gelenke; die Christi knochig, die gekrümmten 

*J) Bd. 25 dieser Zeitschrift S. 85, Anm. 5. 


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Studien zur Altfrankfurter Malerei. 


13 * 


Finger der rechten Hand gut verstanden, die einzelnen Gelenke von ein¬ 
ander abgesetzt und in sich etwas gebogen, fast nervös anmutend. Die 
Daumen ungewöhnlich breit. Also jedenfalls ganz anders als die fleischigen 
und in sich wenig beweglichen Hände und Finger auf der »Darstellung«. 

Die Ärmelenden des Mantels liegen richtig unmittelbar auf dem Hand¬ 
gelenk, an dem ebenso, wie bei der Maria, die Armansätze deutlich gemacht 
sind. Auch kleinere Einzelheiten sind anders: der Nimbus geht unmittel¬ 
bar in den von je einer silbernen Säule flankierten schwarzen Grund über, 
ohne Trennungslinie, übrigens von dem goldnen Rankenwerk zum Teil durch- 
schnitten. Dagegen wären Beziehungen zu den noch zu nennenden 14 Not¬ 
helfern eher zu entdecken, die Benennung »mittelrheinisch« also vielleicht 
aufrecht zu erhalten. 


Kreuzfindung im. Germanischen Museum. Kat. Nr. 190 x 4 ). 

Das Bild ist nacheinander dem Hans von Kulmbach (Koelitz), dem 
Meister des Heilsbronner Hochaltars (Thode), dem Wolf Traut (Rieffel), 
dem Hans Traut (Chr. Rauch), endlich von C. Gebhardt dem Meister der 
Darstellung zugeschrieben worden. Die Ähnlichkeit zwischen beiden Bil¬ 
dern liegt zunächst mehr im allgemeinen Eindruck als in den Einzelheiten; 
aber sie fehlen auch hier nicht. Bei beiden ist die Komposition gedrängt; 
auch der Mangel an Aufmerksamkeit, den die Dargestellten zur Schau 
tragen, ist bei der Kreuzfindung groß; und zwar wird er vor dem Original 
noch fühlbarer, als es nach der Photographie scheint; keiner kümmert sich 
recht um den eigentlichen Vorgang. Die drei Frauen vorn wenden sich von 
dem eben zum Leben Erweckten rechts ab; die Gruppe hinter ihm beachtet 
ihn garnicht. Ebenso steht der Kreuztragende für sich allein. Der eine 
Mann im Profil sieht vom Schauplatz geradezu weg, wie die Frau auf der 
Darstellung. Offenbar hat man Dürer darin mißverstanden, der solche 
Profile nahe den Rändern gern verwendet, um einen Zusammenhang zwi¬ 
schen der Haupthandlung und außerhalb des Bildes zu denkenden Zu¬ 
schauern herzustellen. So fällt die ganze Komposition auseinander, wenn 
auch eine Gruppenbildung versucht wird, die bei der Darstellung ganz 
fehlt. 

Wie dort, fehlt auch bei dem Nürnberger Bilde das Interesse für 
Ponderation oder ausgreifende Bewegung, wie sie uns bei der Mainzer An¬ 
betung so ausgeprägt entgegentritt. In den Köpfen ist dagegen etwas mehr 
Beweglichkeit, besonders in den weiblichen; Kopf und Gesichtsform ab¬ 
weichend. Was die Körperbehandlung sonst anlangt, so begegnen auf 
beiden Bildern die gebogenen Nasen, der Mund ist, vielleicht mit Aus- 


*«) Abb. bei Chr. Rauch: Die Traute. Straßburg 1907. (Stud. z. deutschen Kunst- 
gesch., H. 79) Taf. 9. 



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132 


Karl Simon, 


nähme der stehenden zweiten Frau links immer fest geschlossen. Die Kreuz- 
findung zeigt die Ohren ungern, lieber werden sie durch Haare und Kopf¬ 
bedeckungen versteckt. Auf der Darstellung werden sie bei den Haupt¬ 
personen vollkommen deutlich. Das Abstrecken der Finger von einander 
geschieht auf der Kreuzfindung fast gar nicht oder nur zaghaft. 

Die Enden der Ärmel schmiegen sich den Armen und Gelenken, die 
übrigens gern, wenn auch nicht immer gezeigt werden, völlig an, ohne 
Zwischenräume. Die Kleidung hängt schwer herunter, nirgends ein flattern¬ 
der Zipfel. Der Faltenwurf ist ähnlich, aber nicht identisch; einmal wird 
der Bausch unter dem Ärmel durchgezogen, wie bei der Maria der Darstellung. 
Die Kleidung des einen Mannes im Turban, fast in der Mitte, zeigt Gold¬ 
quadrierung mit Punkten in der Mitte, ähnlich wie das Kleid der Frau mit 
den Tauben auf der Frankfurter Darstellung. Das Gewand des sitzenden 
Auferweckten erscheint wie sorgfältig in Ton modelliert, sehr im Gegensatz 
zu den tiefen Röhrenfalten der Mainzer Maria. Auffallend ist das Fassen 
von frei hängenden Tüchern usw. mit den Händen, wie es noch später bei 
Grünewald der h. Antonius des Isenheimer Altars tut. 

Über das Koloristische läßt sich ja leider bei dem Zustand des Bildes 

kaum etwas aussagen; der Eindruck ist jetzt wesentlich vorherrschendes 

helles Grün, Gold und Gelb; Rot und Blau in verschiedenen Abtönungen. 

Auch der oben schwebende Engel erscheint ganz in Gold mit ganz roten 

• • 

Flügeln. Ähnlich befangen könnte man sich einen von dem Meister der 
Darstellung gemalten Engel vorstellen, niemals diesem die Kantilene der 
Gewandung bei den Mainzer Engeln Zutrauen. Die Festons und der blaue 
Lufthintergrund mit den weißen Wolken verändern für den Eindruck natür¬ 
lich viel gegen den Goldgrund des Frankfurter Bildes. Von Schlagschatten 
ist kaum eine Spur, nur bei den Steinen vorn. Wie bei dem Frankfurter 
Bilde erscheint der Durchblick durch ein Tor mit Architektur; über dem 
Tor ein zum Teil sichtbares Fenster. 

So besteht auch für mein Gefühl eine engere Verwandtschaft zwischen 
der Kreuzfindung und der Darstellung, ohne daß ich geradezu Identität 
der Meister annehmen möchte ' 5 ). 

Das Kelterbild in Ansbach , St. Gumberiuskirche ,6 ). 

Die Komposition des auf Goldgrund gemalten Bildes ist bekannt: 
in der Mitte die Kelter mit Christus, aus dem Gottvater, links stehend, das 
Blut herauspreßt; in Hostien verwandelt, wird es vom Papst im Kelch auf- 

* 5 ) Daß von einem Maler das Nürnberger Bild und die Karlsruher Altarflügel 
herrühren können, erscheint mir ausgeschlossen, wo dasselbe Thema so von Grund aus 
sich widersprechende Lösungen erfährt. 

I6 ) Abb. bei Schricker, Kunstschätze in Elsaß-Lothringen 1896. 


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Studien zur Altfrankfurter Malerei. 


*33 


gefangen. Den rechten Arm Christi unterstützt die von fünf Schwertern 
durchbohrte Maria mit der linken Hand. Rechts vor ihr kniet der geist¬ 
liche, klein gebildete Stifter. Rechts in halber Höhe schweben neben der 
Kelter Engelknaben. Über das Ganze verteilt Inschriftbänder. Die Ge¬ 
samtfärbung ist licht: der Goldgrund, die goldenen Nimben, die weißen 
Schriftbänder, Tücher und Untergewänder. Dazu kommt ein verschieden 
abgestuftes Rot: Ziegelrot bei dem Mantel des Papstes und Gottvaters, 
Pfirsichrot im Ärmel des Stifters, Dunkelrot in seinem Barett, Purpur bei 
dem zweitobersten der Engel. Blau ist der Mantel der Maria und das^ Ge¬ 
wand Gottvaters, das aber hellgrüne Ärmel zeigt. 

Zu der Komposition existiert bekanntlich eine Zeichnung, die doch 
wohl Dürer zugehört (Lippmann I 28), aber freilich merkwürdig verschieden 
von dem Bilde ist. Bei letzterem drückt links die Gestalt Gottvaters sehr 
stark auf die der Maria, während auf der anderen Seite nur die luftige Engel¬ 
schar das nicht ganz zureichende Gegengewicht bildet. In dem Entwurf 
steht Maria auf der rechten Seite, wodurch ein besseres Gleichgewicht 
hergestellt wird; folgerichtig kommt Christus auf die Seite Gottvaters 
herüber, aber da er i n der Kelter steht, schräg unter diesen; direkt unter 
Gottvater dagegen die Engelglorie, wohin sie gehört. Auch der Papst 
wechselt den Platz: er kommt mit Gottvater und Christus, dessen Stell¬ 
vertreter er ist, auf dieselbe Seite, wo jeder seine bestimmte Aufgabe hat. 
Nicht mehr wälzt er sich würdelos vor der Kelter mit dem klotzigen Schlüssel 
bewaffnet, wo seine Figur nicht einmal mehr ganz zu sehen ist. 

Bei Dürer eine würdevolle Haltung: das Pontifikalgewand breitet sich 
in vornehmem Wurf nach hinten aus. Rechts dann die nur unterstützende 
Maria und der Stifter, der nur rechts an das Bild herangeschoben, nicht 
zwischen Papst, Maria und Christus eingeklemmt ist. Sein Wappen verdeckt 
nichts von seinem und Marias Gewände, sondern füllt den Raum zwischen 
ihm und dem Papste. Sein Gewand wird von dem Rand der Zeichnung zum 
Teil abgeschnitten, wie bei dem Papst des Bildes. Dadurch wirkt er 
kleiner, durch rein künstlerische Mittel, ohne daß er tatsächlich kleiner 
gebildet wäre. Das Kelter-Postament ist deutlicher hervorgehoben, die 
Seitenteile sind nicht verdeckt, wie zum Teil auf dem Bilde, sodaß eine 
klarere Raumbildung erreicht wird, und mehr Luft als in dem Bilde ist. 
Drei Inschriftbänder anstatt sieben. Wir sehen: so viel Abweichungen, 
soviel Verbesserungen gegen das Bild. 

Es fällt außerordentlich schwer zu glauben, daß das Bild nach dem 
Entwurf als Vorlage gefertigt ist. Der Maler müßte von allen guten Geistern 
verlassen gewesen sein, wenn er veränderte, nur um zu verschlechtern. 
Höchstens könnte man glauben, daß ein Schüler Dürers den Entwurf seines 
Meisters ganz flüchtig gesehen und nach langer Zeit das Bild nach dieser 


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*34 


Karl Simon, 


flüchtigen Erinnerung gemacht hätte. Dem widerspricht aber die vielfach 
sehr genaue Übereinstimmung in Einzelheiten, die sich doch schwerer 
merken als etwa die Verteilung der Massen. Daß der Maler die Dürersche 
Werkstatt gekannt hat, möchte man aus einem bisher unbeachtet geblie¬ 
benen Umstande schließen: die Maria der Kelter stimmt im Gesichtstypus, 
in Stellung und zum großen Teil auch in den Falten fast Zug um Zug mit 
der Maria der Verkündigung auf der Flügel-Rückseite des Paumgärtner- 
schen Altars überein, mehr noch als mit der h. Anna auf dem Stich B. 29. 
Möglich, daß der Dürer-Schüler diese Maria selbst gemalt und auf seinem 
Bilde der Kelter einfach wiederholt hätte. Der Papst könnte in seiner Un¬ 
behilflichkeit etwas dem Joseph der Geburt, auf dem Mittelbilde desselben 
Altars, gleichen. Das Lendentuch Christi erinnert einigermaßen an die 
Darstellung der Kreuzigung, noch mehr des ungläubigen Thomas in Dürers 
kleiner Holzschnittpassion (B. 40 und B. 49) und die Kreuzigung der Kupfer¬ 
stich-Passion (B. 24). Es sind die einzigen Male, daß Dürer auf die Breiten¬ 
ansicht mit flatternden Zipfeln usw. verzichtet. Lang und schwer hängt 
bei B. 49 der übergeschlagene Bausch herab; nur nicht so spitz endigend 
wie auf dem Kelterbild. 

Eine weitere Möglichkeit wäre die: Dürer hat, wenn nicht in Nürn¬ 
berg, vielleicht auf einer Reise das Kelterbild gesehen, das ihn interessierte, 
von der Hauptsache sich eine flüchtige Skizze gemacht und dabei gleich 
die ihm notwendig erscheinenden Korrekturen angebracht. Wann und 
wo das geschehen sein soll, ist freilich schwer zu sagen; ist das Bild in Frank¬ 
furt entstanden, was allerdings nicht wahrscheinlich, so darf daran erinnert 
werden, daß Dürer Jakob Heller versprochen hat, einige Zeit nach Fertig¬ 
stellung seiner Himmelfahrt Mariä dorthin zu kommen, um das Altarwerk 
selbst zu firnissen * 7 ) Ob es dazu gekommen, wissen wir freilich nicht; doch 
wird Dürer nicht ohne zwingenden Grund sein Versprechen nicht gehalten, 
und Heller, so wie wir ihn kennen, nicht freiwillig darauf verzichtet haben. 

Ungerne denkt man auch Dürer selbst für die Komposition verant¬ 
wortlich; die fünf Schwerter der Maria mögen noch hingehen, obgleich 
auch sie in seinen ausgeführten Werken nicht begegnen, aber das Anpacken 
der Maria an Christi rechten Ellenbogen ist doch gar zu massiv und hand¬ 
greiflich. 

Eine letzte Möglichkeit wäre die, daß Dürer eine uns nicht erhaltene 
Komposition gefertigt hätte, nach der der Maler arbeitete. Das könnte 
vor der italienischen Reise gewesen sein. Auf der Nürnberger Beweinung 
und dem Mittelbild des Paumgärtner-Altars schneiden Wappenschilde ähn¬ 
lich wie auf dem Kelterbild in Figuren und Gewandung ein; nach der ita- 


>') Cornill, Jacob Heller und Albrccht Dürer, Frankfurt a. M. 1871 S. 30. 


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Studien zur Altfrankfurter Malerei. 


135 


lienischen Reise wäre Dürer noch einmal an die Komposition gegangen, in 
der uns erhaltenen Zeichnung. Sie erscheint nicht möglich vor dem Rosen* 
kranzbild. Auf dem Heller-Altar stehen dann die Wappenschilde ganz 
ähnlich wie auf der Zeichnung, von den Figuren getrennt. 

Als Maler der Bildes hat man bisher an Hans Baidung oder den Meister 
der Darstellung gedacht. An beide zugleich erinnern einige Äußerlichkeiten: 
so die Hand Gottvaters mit dem Abstrecken des Zeige- und kleinen Fingers, 
die stark gebogene Nase Christi u. a. m. An Mittelrheinisches bzw. Frank- 
furterisches die geschweifte Form der Augen Christi und Mariä, bei der 
außerdem das untere Lid etwas nach oben gezogen ist. Gerade zum Aus¬ 
druck des Schmerzes kommt das allerdings auch sonst vor. Die Nimben 
werden durch zwei Streifen jenseits einer durch kleine Halbkreise gebildeten 
Begrenzung in Rot abgeschlossen, fast genau wie bei dem Christus der Dar¬ 
stellung, nur daß sich hier zwischen den roten Streifen und den Halbkreisen 
noch ein weißer, bei Maria zwei weiße Streifen schieben. Auffallend ist das 
scharfe, rechts gewendete Profil des Stifters, auffallend gerade für das 
deutsche Porträt jener Zeit l8 ), das in den Profilen auf der Darstellung und 
der noch zu nennenden Jakobuslegende, freilich auch im Dürerschen 
Rosenkranzfest, seine Parallele finden würde. 

Von der Darstellung unterscheidet es sich aber doch wieder in Einzel¬ 
heiten. die hier allein in Frage kommen können, in sehr bestimmter Weise. 
Der reiche Perlenschmuck zeigt keine Schlagschatten; nur an der Kordel, 
die den Pelzbehang des Stifters zusammenhält, tritt er in bescheidener 
Weise auf. Die Hände des Papstes sind faltig, wie aus Leder an den Ge¬ 
lenken gegeben, während sie an der Darstellung ausgezeichnet charakteri¬ 
siert sind. Die Neigung, den Mund leise zu öffnen, besteht nicht. Die Enden 
der Ärmel sind überall stark geknittert und bis in die letzten Enden in Falten 
bewegt, auch das, wie gesagt, zu Dürer durchaus passend. Die Schwere des 
Stoffes ist überall richtig betont; der Ärmel des Stifters schmiegt sich der 
Handform vollkommen an, ohne einen Zwischenraum wie bei dem Hohen¬ 
priester der Darstellung. Das schwer herabhängende Lendentuch Christi 
wurde bereits erwähnt. 

So kann ich hier nicht diejenigen Übereinstimmungen finden, die zu 
der Annahme zwängen, daß das Bild vom Meister S. A. gemalt sein müsse; 
ganz abgesehen von dem doch in gewisser Weise großartigen Zug, der hier 
und da durchbricht — so in dem hochgerichteten Profilkopf des Stifters —, 
den man aber auch auf den freilich noch nicht geklärten Einfluß Dürers 
schieben mag. 


,8 ) Vgl. »Vorderansicht und Seitenansicht«, Zs. f. Ästhetik und allgem. Kunst 
Wissenschaft Bd. II S. 406 f. 


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136 


Karl Simon, 


Legende des H. Jacobus. München. Nationalmuseum. Kat. Nr. 383. 

Das Bild, auf streifigem und Wolken andeutenden Goldgrund gemalt, 
zeigt, im oberen Teil von gotischem Astflerk umrahmt, drei Szenen der 



Abb. 2: Martyrium Jacobi, München, Bayerisches National-Museum. 

Legende (s, Abb. 2). In ruinösem gotischen Gewölbebau links Jacobus voi 
dem König; im Mittelgründe rechts eine Mauer mit rundem Torbogen, 
davor Jacobus auf dem Gang zur Hinrichtung, den Zauberer Hermogenes 
taufend; im Vordergründe die Enthauptung, in nur fragmentarisch erhal¬ 
tenen Figuren; der untere Teil des Bildes fehlt. Die Ausführung ist nicht 


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Studien zur Altfrankfurter Malerei. 


137 


sehr fein, besonders nicht im Hinter- und Mittelgründe, im Vordergründe 
dagegen besser. 

An die Frankfurter Darstellung erinnert manches Einzelne: so die 
Vorliebe für kräftige gebogene Nasen, für das Abstrecken des kleinen 
Fingers, die starken Schlagschatten der Halsschnur, die der von vorn ge¬ 
sehene Zuschauer mit den gepufften Ärmeln trägt. Unter den Zuschauern 
links finden wir zwei scharf nach rechts gewendete Profile. . Die Farben 
changieren gern wie auf der »Darstellung«: grün-gelb, rötlich-grau-blau, 
gelblich-rot usw. Bei dem Henker sind die unteren Lider etwas in die Höhe 
gezogen, wie es auch bei anderen Frankfurter Bildern und freilich allgemeiner 
bei mittelrheinischer Kunst öfter vorkommt. Der Armansatz wird auch 
hier ungern gezeigt, die wenigen weiten Ärmel haben ganz glatte Endigungen. 
Ausgesprochenes Stand- und Spielbein-Motiv zeigt nur der Knabe im 
Vordergrund. 

Auffallend ist der Nimbus des Jacobus; eine feste goldne Scheibe, 
mit rotem Abschlußstreifen, der ungefähr auf dem höchsten Punkte nach 
rechts in Schwarz übergeht. Ganz genau das Gleiche ist der Fall bei der 
Darstellung, sodaß die beiden Bilder auch hierdurch in engere Beziehung 
treten. Diese auffallende Eigentümlichkeit schließt nämlich noch einige 
Bilder Frankfurter Provenienz zusammen, während sie sonst selten zu 
sein scheint. 

Das eine der Bilder ist die große, aus der Frankfurter Dominikaner¬ 
kirche stammende Tafel mit den vierzehn Nothelfern (jetzt im Städtischen 
Hist. Museum, Inv. B. 305) mit den Wappen des Frankfurter Patriziers 
Karl v. Hynsperg (gest. 1472) und seiner Gattin Guda v. Heringen (gest. 
1500), wohl um 15CO entstanden. Durch die bisher übersehenen Initialen 
I. H. auf dem Mantelkragen des h. Erasmus veranlaßt, habe ich kürzlich 
die Vermutung geäußert, daß wir hier ein Werk des aus Urkunden bekannten 
Johannes Hess(e) vor uns haben, der möglicherweise der Vater des sattsam 
bekannten Martin Hess gewesen sei. Jedenfalls bestehen auch Beziehungen 
zu den Formschnitten der Mainzer Sachsenchronik, deren Signatur 1 ) dann 
vielleicht auf Hans Hesse zu deuten wäre J 9 ). Die Nimben auf diesem Bilde 
sind scheibenförmig und durch einen roten Streifen begrenzt, der auf der 
höchsten Höhe nach rechts herunter in Schwarz übergeht, genau wie bei 
der »Darstellung« und dem Jacobusmartyrium. 

Dieselbe Eigentümlickeit findet sich bei dem aus Nieder-Erlenbach 

♦ 

* 9 ) Vgl. Alt-Frankfurt, Vierteljahrsschrift für seine Geschichte und Kunst. Frank¬ 
furt a. M. Verl. H. Minjon. Jahrg. 3 (1911) H. 2, S. 60. Mit Abb. Die Signatur Ij findet 
»ich außer an den von Leo Baer, Die illustrierten Historienbücher des 15. Jhs. Stra߬ 
burg 1903, S. 170 genannten Stellen auch noch bei dem sonst nie wieder vorkommenden 
Brustbild der Hildegardt: Fol. 22 des Exemplars der Frankfurter Stadtbibliothek. 


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13 » 


Karl Simon, 


stammenden Altar von 1497, der Schongauersche und Hansbuchmeister- 
Elemente zeigt (Darmstadt, Landesmuseum) 20 ). Die Kirche wurde 1346 
dem Frankfurter Liebfrauenstift übergeben, so daß die Frankfurter Pro¬ 
venienz des Bildes nahe läge. In ganz gleicher Weise findet sich dies 
an den Nimben einer ebenfalls aus dem Dominikanerkloster stammenden 
kleinen Kreuzigung mit Maria und Johannes d. Ev., Johannes d. T. 
und dem h. Hieronymus (Städt. Hist. Museum Inv. B. 290). Diese 
offenbar vollkommen absichtliche Eigenheit ist vielleicht so zu erklären: 
bei den sämtlichen Bildern kommt das Licht von links, so daß auf der 
rechten Seite Schatten ist; wenn auch nur sehr gemäßigter. Demgemäß 
verschwindet rechts der rote Streifen des Nimbus im Dunkel. Die 
zuletzt erwähnte Kreuzigung gilt für oberrheinisch; m. E. würde sie 
gut in den mittelrheinischen Kreis passen. Die Auffassung ist freilich 
pathetischer; die Hände von Maria und Johannes sind in ihrer Be¬ 
wegtheit wie eine, wenn auch nur leise Vorahnung Grünewalds. In den 
Köpfen eine für die an sich ziemlich handwerksmäßige Malerei erstaunliche 
individuelle Verschiedenheit: durchgehend eine reiche Runzel- und Falten¬ 
bildung, die sie den Nothelfern des Meisters I. H. und den Formschnitten 
der Sachsenchronik nähert, letzterer auch insofern, als der Johannes d. Ev. 
einen kleinen in Grübchen endigenden Mund zeigt, der, in Formschnitt über¬ 
tragen, diese kurz abgeschnittenen Mundwinkel ergeben würde, wie sie in 
der Sachsenchronik so vielfach Vorkommen. Die grüne Dornenkrone, die 
später bei Grünewald wiederkehrt, findet sich ebenso gut hier, wie auf einem 
aus der Frankfurter Dominikanerkirche stammenden Passionszyklus, bei 
dem mehrere Darstellungen nach Schongauerschen Stichen als Vorbildern 
komponiert sind (Städt. Hist. Museum Inv. B. 251—258) und einem zweiten 
Passionszyklus, der aus dem Nachlaß Dr. Fr. Böhmers stammt, also wohl 
gleichfalls aus einer Frankfurter Kirche herrührt (Städt. Hist. Museum 
B. 981—902). Sie begegnet ja auch auf der Kreuzigung des Mainzer Drei- 
könig-Altars. Übrigens finden wir hier wie auf dem Nothelferbild auch das 
Abstrecken der kleinen Finger, aber auch die geschwollenen und weit aus¬ 
einanderstehenden Fingerknöchel, die so charakteristisch sind für die mit 
der Darstellung zusammenhängende Gruppe und darüber hinaus für eine 


20 ) Abb. Kunstdenkm. des Großherzogt. Hessen. Kr. Friedberg. Darmstadt 1895. 
Wieder begegnet Veilchenkraut und drei auffallend hohe blähende Veilchen fast in der 
Mitte des Bildes hier, außerdem ein Frosch: Anspielung auf die Frankfurter Patrizierfamilie 
Frosch? Das Bild weist, zum ersten Mal kürzlich bei guter Beleuchtung gesehen, auch 
sonst engste Beziehungen zu dem genannten Nothelferbilde auf; das Messer des hl. 
Bartholomaeus zeigt ein verschlungenes Monogramm I. F (?) (= Johannes Fyol?); 
der Hieronymus des Mittelbildes ist auf der genannten Kreuzigung des Hist. Museums 
in Frankfurt (B. 290) Zug für Zug kopiert. 


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Studien zur Altfrankfurter Malerei. 


*39 


Anzahl von Bildern und Glasgemälden, bei denen nichts für einen Import 
von auswärts, aber alles für eine Entstehung in Frankfurt selbst spricht. 

m 

So dürfen wir auch in dieser Kreuzigung ein Werk sehen, das in Frank¬ 
furter Gewohnheiten fest verankert scheint, deren eine sie auch mit dem 
Jakobusmartyrium verbindet. Dieses selbst wird höchst wahrscheinlich 
in der Werkstatt des Meisters S. A. entstanden sein, der allerdings eigen¬ 
händig wohl nur das wenigste daran gemacht hat. Noch etwas spricht dafür; 
die skrupellose Entlehnung aus einem Dürer-Holzschnitt. Das ganze Stück 
des rechten Abschlusses: der Flechtwerkzaun, das Tor mit Überdach, das 
Haus, der Torbogen und die Backsteinmauer sind wortwörtlich aus der 
Ruhe auf der Flucht nach Ägypten (B. 90) herübergenommen. 

Unwillkürlich drängt sich bei dem Thema: Enthauptung des Jacobus 
der Gedanke an den Flügel von Dürers Heller-Altar mit der gleichen Dar¬ 
stellung auf. Es wäre möglich, daß derselbe Jacob Heller auch bei einem 
Frankfurter Künstler ein Martyrium seines Schutzheiligen bestellt 
hätte. Wie dem sei, es scheint jedenfalls, daß die Frankfurter Provenienz 
des Bildes sich sogar mit größter Wahrscheinlichkeit nachweisen 
läßt. Hüsgen erwähnt in seinem Artistischen Magazin an der Stelle, wo er 
die damals noch unzerstreuten Schätze des Dominikanerklosters bespricht, 
das Folgende: »ferner in diesem Zimmer (Refektorium) S. Johannes der 
Täufer, S. Sebastian, S. Antonius von Padua, S. Jacobus, wie er zu seiner 
Marter geführt wird, die Beschneidung Christi und der weinende Petrus 
über der Tür, alle diese Bilder sind von mehr erwähnter Meisterhand, in 
Albrecht Dürers Manier überaus schön gemalt und durch so lange Jahre 
wohl erhalten* 21 ). 

Die Beschneidung Christi dürfen wir wohl mit unserer Darstellung 
identifizieren; nun wird unmittelbar vorher ein von demselben Meister her¬ 
rührendes Martyrium Jacobi genannt. Es liegt nahe, dies Bild mit dem 
Münchener zu identifizieren, das schon auf Grund bloßer Stilvergleichung 
dem Meister der Darstellung zugeteilt wurde. Auch nach den Maßen 
scheint es ein genaues Gegenstück zur Darstellung zu sein; die Maße der 
letzteren sind nach Höhe und Breite 1,50 m und 0,886 m, des Münchener 
Bildes, das um ein Drittel gekürzt ist 1,033 und 0,875 m. Johannes der 
Täufer, die Heiligen Sebastian und Antonius von Padua sowie der wei¬ 
nende Petrus würden also noch zu suchen sein — ein Unternehmen, das 
keineswegs aussichtslos erscheint. 

* * 

* 

JI ) Frankfurt a. M. 1790, S. 562 und schon früher in seinen »Nachrichten von 
Frankfurter Künstlern« 1780, S. 269. Über die Provenienz des Bildes ist, wie mir die 
Direktion des Bayr. Nationalmuseums freundlichst mitteilt, nichts Näheres bekannt. 


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140 


Karl Simon, 


Die minutiösen Untersuchungen waren nötig, wenn fast allgemein 

■ 

anerkannte Dinge nicht nur mit einigen Allgemeinheiten oder subjektiven 
Geschmacksurteilen bestritten werden sollten. Welches ist das Ergebnis? 
Mit Sicherheit gehören einem Meister S. A. zwei Bilder: Die Frankfurter 
Darstellung und das Jacobusmartyrium. Das Dreikönigsbild nennt Rieffel 
mit Recht das bedeutendste der Gruppe, nur ist es m. E. so bedeutend, 
daß es nicht mit den beiden andern zusammen genannt werden kann. 

Was schon bei der Darstellung hervorgehoben wurde, besonders im 
Vergleich zum Dreikönigsbilde gilt auch für das Jakobusbild: die Lahm¬ 
heit der kümmerlichen und schlürfenden Bewegungen, die Unsicherheit in 
den Stellungen. Der Maler scheint selbst ein Gefühl für diese Schwäche 
gehabt zu haben, denn fast überall erspart er es sich durch Überschneidungen, 
seine Standmotive klar durchzuführen; schade, daß gerade die Figur des 
Henkers hier im Stich läßt. Wie anders die Freiheit in dem Mainzer Bilde, 
dies Paradieren mit der Lösung selbst auferlegter Schwierigkeiten und nicht 
nur in den kleineren Figuren des Hintergrundes, sondern in einer der Haupt¬ 
figuren vorn. Wie überzeugend kräftig selbst noch im Stephanusbilde das 
Dastehen des linken Steinigenden. 

Eine Rückenansicht findet sich weder auf der Darstellung noch dem 
Jakobusbilde, nur Profile hart neben Vorderansichten gesetzt. Bei Meister 
S. A entspricht die Richtung des Kopfes fast immer der Richtung des 
Körpers; nur im Hintergründe des Jakobusbildes wird eine Abweichung 
versucht; im Dreikönigsbilde dagegen nicht nur bei den Neben-, sondern 
bei zwei der Hauptfiguren, die dadurch in nahe Beziehung gebracht werden. 

Durchaus verschiedene Lebensgefühle sprechen aus dem allen, die 
nicht in einem Künstler vereinigt sein können. Engere Beziehungen 
bestehen vielleicht auch zwischen dem Meister S. A. und der Nürnberger 
Kreuzfindung, weniger enge zu dem Unbekannten der Holzhausen-Samm¬ 
lung und zum Ansbacher Kelterbilde. Die übrigen besprochenen haben mit 
ihm überhaupt nichts zu tun. 

Zum ersten Abschnitt der «Studien zur Altfrankfurter Malerei« (Heft 4, 
Band 34) schickt der Redaktion Herr Dr. J. von Derschau in Heidelberg 
folgende Notiz; 

In dem Aufsatz von Karl Simon, Studien zur Frankfurter Malerei 
(Heft 4, Bd. 34) weist der Verfasser auf die Möglichkeit hin, ver¬ 
schiedene von ihm besprochene Bilder mit der Künstlerfamilie Fyol aus 
Frankfurt a. M. in Verbindung zu bringen. Hierbei spricht er die Ver¬ 
mutung aus, die in jenem Bilderkreis dekorativ verwandten Veilchen (viola) 
könnten die redende Signatur eines Mitgliedes der Familie Fyol sein. Be¬ 
züglich der Veilchen im engeren Sinne ist die Möglichkeit zuzugeben, nicht 


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Studien zur Altfrankfurter Malerei. 


141 


so leicht bezüglich des Stiefmütterchens, das sich auf einem Altarbild mit 
einer Anna selbdritt im Städtischen Historischen Museum in Frankfurt a. M. 
an hervorragender Stelle findet und auf dessen mögliche Auffassung als 
Signatur der Fyols Karl Simon hinweist, da das Stiefmütterchen eine 
Veilchenart sei und sein lateinischer Name viola triplex. Über die Mög¬ 
lichkeit dieser Annahme entscheidet die Frage, ob zu jener Zeit — Karl 
Simon setzt das Bild um 1490 — das Stiefmütterchen schon den Namen 
viola trug. Dies scheint nun nach Forschungen des schwedischen Botanikers 
Veit Brecher Wittrock nicht der Fall zu sein. Dieser Forscher hat in den 
Acta horti Bergiani Bd. 2 Nr. 7 einen Beitrag zur Geschichte des Stief¬ 
mütterchens (Bidrag tili de odlade pens^ernas historia) veröffentlicht. Dem 
schwedisch geschriebenen Aufsatz ist eine englische Inhaltsangabe angefügt, 
aus der ich zitiere: 

»The botanists of ancient days knew of only one kind of Viola, viz. 
Viola odorata L., and those of the Middle Ages were acquainted with no 
other. 

The heartsease or wild pansy, Viola tricolor L. was first mentioned 
and described by O. Brunfels (1536), and L. Fuchs (1542), both Germans, 
ohe latter relates that »Herba trinitatis« — the name by which the heartsease 
was then known — was not only found wild, but was also cultivated as an 
Tmamental plant in the gardens of Germany. 

R. Dodonaeus, from the Netherlands, is the first to use the 
nameViola tricolor for the heartsease. 

Das Werk des Letzteren, in dem nach Wittrock zuerst der Name Viola 
auf Stiefmütterchen angewendet wird, ist nach Wittrock: Stirpium hi- 
storiae pamptades sex. Antwerpiae 1583.« 

Das Werk des Brunfels »Herbarum vivae eicones per Otho Brunf. 
recens editae. Novi herbarii Tomus II. Argentorati 1536«. Das Werk des 
Fuchs (Leonhartus Fuchsius) »De historia stirpium commentarii insignes, 
Basiliae 1542«. 

Nun weist Karl Simon mit Recht darauf hin, daß das Stiefmütterchen 
auf dem Altarbild der Anna selbdritt im Städtischen Historischen Institut 
in Frankfurt fast in der Mitte des ganzen Bildes vorn auf dem Thron als 
besonders schönes und großes Exemplar liegt. Kaum ist anzunehmen, daß 
hier Zufall waltet. Aber welche Beziehung könnte den Künstler bestimmt 
haben, wenn wir die zwischen dem Namen des Künstlers und dem Stief¬ 
mütterchen fallen lassen? Aus den Forschungen Wittrocks ist zu ent¬ 
nehmen, daß das Stiefmütterchen, bevor gegen Ende des XVI. Jahrhunderts 
der Name viola tricolor aufkam, herba trinitatis hieß. Nun liegt die Blume 
dieser herba trinitatis in besonders großem Exemplar vorne mitten auf dem 
Thron der Anna selbdritt jenes sonderbaren einer Dreieinigkeit ähnlichen 


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Karl Simon, Studien zur Altfrankfurter Malerei. 


Vorstellungsgebildes. Diese Deutung wäre eine Stütze für die Annahme 
Karl Simons. Denn wir hätten es mit einem Künstler zu tun, dem die 
Spielerei der Blumensprache nahe liegt, und die vermutungsweise Annahme 
Karl Simons, das auf demselben Bilde angebrachte wilde Veilchen und die 
Veilchendekoration des mit der Anna selbdritt in nahem künstlerischem 
Zusammenhang stehenden Bildes des Schmerzensmannes in der Deutsch- 
Ordenskirche in Frankfurt a. M. deute auf den Namen Fyol, wäre, wenn 
auch nicht erwiesen, so doch wahrscheinlicher gemacht. 

Die freundliche Anteilnahme, mit der, von andrer Seite kommend, 
Herr Dr. J. v. Derschau meine Fyol-Hypothese bespricht, ist mit leb¬ 
haftem Dank zu begrüßen; auf Grenzgebieten kann das Zusammenarbeiten 
von Forschern verschiedener Disziplinen nur von größtem Vorteil sein. • 
Zur Sache nur eine Frage des Nicht-Botanikers: wäre es möglich, daß 
im Volke das Stiefmütterchen als fiol bezeichnet wurde, lange bevor 
diese Bezeichnung in der Wissenschaft üblich, vielleicht gerade aus dem 
gewöhnlichen Sprachgebrauche übernommen wurde? Auch beim Goldlack 
(cheirantus cheiri) hat das Volk doch offenbar eine Beziehung zum 
Veilchen ausdrücken wollen: Gelbveigelein; die von der Wissenschaft nicht 
angenommen worden ist. Das schließt in unserem Fall natürlich nicht 
aus, daß der fragliche Fyol nicht auch mit der sehr interessanten Be¬ 
ziehung der »herba trinitatis« auf dem Bilde der h. Anna selbdritt sein 
Spiel getrieben haben kann. K. Simon. 


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Die chinesische Kunsttheorie 

Ein Versuch 
von Otto Fischer 

(Schlufi.) 

Die Wertung. 

Es wurde schon angedeutet, daß diese Auffassung der Kunst in der 
taoistischen Naturphilosophie begründet liegt, die zu allen Zeiten die Welt¬ 
anschauung der Chinesen bestimmt hat, nachdem sie Lao-tse aus dem 
primitiven Zauberglauben zur Bewußtheit des metaphysischen Denkens 
erhoben hatte. Diese mystische Philosophie beherrscht die Theorie des 
Schaffens ebenso wie das Schaffen selbst. Eis hat sich indessen der dem 
Chinesen zugleich innewohnende Sinn für verstandesmäßige und klare Ord¬ 
nung auch der Betrachtung der Kunst bemächtigt, und wenn sich die ta- 
oistische Anschauung in der praktischen Übung und in der psychologisch- 
ästhetischen Erklärung ausspricht, so hat sich das konfuzianische Element 
dafür ein System der Wertung und Ordnung der geschaffenen Kunst auszu- 
bilden gesucht. Dieses System ist auf die Kunst selber in ihren schöpferi¬ 
schen Zeiten ohne wesentlichen Einfluß gewesen und wäre für sich allein 
durchaus ungeeignet, sie zu erklären, allein es zeigt uns dafür, welche Hierar¬ 
chie und welche Deutung der Werte die Kritiker, Ästhetiker und Historiker 
ihr entnommen und für sie aufgestellt haben. Eis ist bezeichnend, daß die 
Grundlage selbst dieses rationalen Systems eine arationale ist. Wir haben 
es zunächst mit zwei verschiedenen Theorien einer klassifizierenden Kunst¬ 
wertung zu tun. 

Die ältere von beiden sind die sechs Prinzipien des Hsi6 Ho (6. Jahrh.). 
Eis ist eine Aufstellung von sechs wesentlichen Gesichtspunkten, in welchen 
ein Kunstwerk eine größere oder geringere Vollkommenheit erreichen kann. 
Eis handelt sich jedoch, und dies ist ja nicht außer Acht zu lassen, nicht um 
Gesichtspunkte für den Maler, die ihm Ziele setzen würden, nach deren Er¬ 
reichung er streben soll, es handelt sich nicht um Vorschriften und nicht um 
gleichwertige Vollkommenheiten, sondern lediglich um eine Skala der Kunst¬ 
werte für den urteilenden Betrachter. Das erste Prinzip bezeichnet das 


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144 


Otto Fischer, 


Höchste, was ein Künstler erreichen kann, das zweite die nächst hohe Stufe 
usw., bis zum sechsten Grad. Die Ausdrücke, die in ihrer änigmatischen 
Kürze schwer zu deuten sind, bestehen aus je vier Ideogrammen und werden 
folgendermaßen übersetzt. Nach den vorangehenden Ausführungen wird 
uns ihr prinzipielles Verständnis keine großen Schwierigkeiten mehr machen. 
Das liu-fa lautet: 

1. wörtlich: Geist-Element, Lebens-Bewegung, 

2. Gerippe-Zeichnung mit dem Pinsel, 

3. Übereinstimmung des Umrisses mit der Natur, 

4. Farbe entsprechend dem Wesen des Gegenstandes, 

5. genau übereinstimmende Teilung des Raumes, 

6. Nachahmung eines Vorbildes (Hirth). Nach Giles: Finish. 

1. Nach Giles: rythmische Lebendigkeit, nach dem Japaner Okakura 
Kakuzo: die Lebensbewegung des Geistes durch den Rythmus der Dinge. 
Wir übersetzen vielleicht am besten: der Ausdruck des Geistigen durch die 
Lebensbewegung. Gemeint ist mit der ersten Hälfte der Formel jener geistige 
und innerliche Charakter des Kunstwerkes, der aus der Einheit mit dem 
Sinn und Prinzip der Welt, aus dem, was der Chinese Eingebung nannte, 
entsteht. Sehr wichtig und sehr bezeichnend für seine Kunst aber ist die 
zweite Hälfte, die es ausspricht, wodurch jenes Geistige in der Malerei vor¬ 
züglich zum Ausdruck kommt: durch die lebendige Bewegtheit, den voll¬ 
kommensten Lebensschein. Dieses innere Pulsieren und Atmen der Dinge 
ist es denn auch, was die reife chinesische Kunst wie keine andere auf das 
erstaunlichste ausdrückt, ebenso wie sie schon in ihren ersten uns bekannten 
Anfängen durch die frappicrendsten, suggestivsten Formeln für die äußere 
Bewegung überrascht. 

2. Nach dieser obersten Kategorie, die das geistige Prinzip der Dinge 
als ein alle durchwirkendes und allen gemeinsames faßt, bezeichnet die zweite, 
wie uns scheint, sein Hcrabsteigen zur Individuation im einzelnen Ding, in 
welchem es sich als innere Form und grundlegenden Charakter kundgibt. 
Wir schreiten von der Konzeption zur Ausführung. Hier handelt es sich 
also zunächst um das Begreifen des Wesens eines Dinges von innen, von 
seiner Struktur aus, sodann um die Festlegung dieses Wesentlichen mit dem 
Pinsel. Da nun das Wesentliche bei gleichartigen Dingen notwendig ein 
Gleiches ist, so haben sich hier die charakteristischen wesenbezcichnenden 
Formeln gebildet, etwa für Wasser, für Feuer, für Laubwerk, für Berg- und 
Fclsbildungen, die das konventionelle Element in der chinesischen Kunst 
ausgemacht haben. 

3. Erst jetzt, nach dem inneren Rythmus und nach der inneren Charak¬ 
teristik der Dinge, figuriert die äußere Ähnlichkeit und Genauigkeit in der 
Nachbildung der natürlichen Vorbilder. Jetzt erst, nach dem inneren Wesen, 


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Eine chinesische Kunsttheorie. 


*45 

kommt die äußere Erscheinung, die Oberfläche, in ihrer Umschreibung durch 
den Umriß zur Geltung. 

4. Alle diese Kennzeichnung war als eine zeichnerische, durch Schwarz 
und Weiß ausdrückbare gedacht. Jetzt erst nach dem Umriß rangiert die 
Farbe auf dieser Tafel der Werte. Es scheint überdies noch wesentlich, daß 
nicht ihre abstrakte ornamentale Schönheit, sondern ihr innerlicher Aus¬ 
druckswert für die Bezeichnung des Gegenstandes, d. h. ihr Charakter als 
immanente und bleibende Qualität den Maßstab abgibt. 

5. Hier endlich scheint es sich, nachdem sich alle früheren Kategorien 
ausschließlich auf das Eindringen und Einfühlen in die Welt der Gegen¬ 
stände bezogen, um ein Element der künstlerischen Souveränität zu handeln: 
um die Anordnung der Gegenstände im gegebenen Raum, um die künstle¬ 
rische Komposition, wie Giles übersetzt. Es handelt sich freilich auch hier 
noch nicht um eine willkürliche Verteilung, sondern um eine dem Wesen 
und Rang der Gegenstände entsprechende, wenn anders in Hsi6 Hos Formel 
nicht bereits eine Forderung der perspektivisch-räumlichen Bildgliederung 
zu erblicken ist. 

6. Endlich die niederste Stufe künstlerischer Betätigung: sei es die 
Nachahmung eines Vorbildes, sei es die äußere letzte Glättung des Werkes. 
Nachdem wir von dem Freien und Geistigsten einer divinatorischen Kon¬ 
zeption ausgegangen waren, sind wir hier durch alle Grade der vorschreitenden 
Materialisation zum rein Mechanischen einer manuellen Geschicklichkeit 
hinabgelangt. 

Ein zweites System der Wertung wurde von Chu King-huan 
um das Jahr IOOO für die Malerei aufgestellt und zur Klassifizierung der 
Meister der Tang-Dynastie verwendet. Seine Ursprünge sind jedoch wesent¬ 
lich älter: sie gehen auf einen Ausspruch des Kung-fu-tsc selber zurück. 
Nach seinem Wortlaut hatte zuerst der Historiker Pan Ku im I. Jahrh. n. Chr. 
eine Skala der Verdienste ausgebildet. Diesem zufolge stehen am höchsten, 
die mit dem Wissen geboren sind, ihnen folgen, die Wissen durch Fleiß er¬ 
warben, dann kommen die Strebenden, die Fleiß anwenden im Gefühl ihres 
Unwissens, und endlich, die das Gefühl ihres Unwissens haben und keinen 
Fleiß anwenden. Danach hatte Pan Ku neun Klassen eingeteilt, von shang- 
shan, der höchsten Höhe der shöng, der großen Weisen, unter denen die 
mythischen Kaiser und Lao-tse und Kung-fu-tse sind, bis hinab zu hia-hia, 
der niedrigsten Niedrigkeit. Dieses System wurde dann im 8. Jahrh. von 
Li Ssi-chön und Chang Huai-Kuan in ihren Werken über die Schriftkunst 
zur Klassifikation der Kalligraphen verwertet. Sie unterscheiden drei 
Klassen: I. shön die Genies, 2. miao die Talente, 3. nöng die handwerklich 
Geschickten. Diese Stufenfolge wiederum bildete das Vorbild für Chu King- 
huans Gradation der Maler. Er stellte ebenfalls drei Klassen auf: 1. shön- 

Repertorium für Kunstwissenschaft, XXXV. IO 


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146 


Otto Fischer, 

p'in, die Klasse der Inspirierten, 2. miao-p’in die Klasse der Talentierten, 
3. nöng-p’in die der handwerklich Geschickten; jede dieser Klassen gliederte 
er wieder in eine obere, mittlere und untere Abteilung. Endlich aber fügte 
er eine 4. Klasse: i-p’in hinzu, deren Bedeutung nicht ganz klar ist. Giles 
nennt sie die Klasse der Gefälligen, Hirth meint, es sei die Klasse der ander¬ 
weitig nicht Registrierbaren, und diese Meinung scheinen die chinesischen 
Autoren zu bestätigen, denn während diese Klasse hier an der 4. Stelle 
erscheint, so wird sie anderwärts an die erste und von wieder andern an die 
2. Stelle, d. h. vor oder nach shön-p'in gesetzt. Offenbar aber sprengt diese 
Klasse wieder das ganze sorgsame Schema und beweist, wie für die eigent¬ 
liche Kunsteinsicht fruchtlos und wie rein gelehrtenhaften Bedürfnissen 
entsprungen diese ganze Klassifizierung ist. Sie ist es besonders den Katego¬ 
rien des Hsi6 Ho gegenüber. 

Dennoch birgt sich in der praktischen Anwendung beider Systeme 
vieles und oft tiefsinniges Nachdenken über Wesen und Verdienst der einzel¬ 
nen künstlerischen Erscheinungen und für uns mancher bemerkenswerte 
Hinweis. Es ist sehr interessant, daß Ku K'ai-chi z. BL der i. A. mit dem 
höchsten Lob unter den inspirierten Malern genannt wird, bei Hsi6 Ho erst 
in der dritten Klasse unter den getreuen Zeichnern der äußeren Form er¬ 
scheint. Ebenso ist in der Tafel des Chu King-huan der berühmte Land¬ 
schafter Wang Wei erst als das Haupt der miao-p'in, der Klasse der Talen¬ 
tierten angeführt, während Künstler wie Lu Tan-wei und Wu Tao-tse als 
unbestrittene Meister überall an der ersten Stelle stehen. Die Gründe jener 
von der Tradition abweichenden LJrteile sind uns freilich zunächst noch 
verborgen; es scheint aber, daß manche in den Werken jener Maler den Atem 
des mystischen Einsseins vermißten. Gerade sie aber sind merkwürdiger¬ 
weise die einzigen aus jener frühen Zeit, von deren Schaffen sich mit Wahr¬ 
scheinlichkeit eine anschauliche Vorstellung gewinnen läßt. 

Die Ordnung der Gegenstände. 

Die Neigung des Registrierens und Klassifizierens erstreckte sich natur¬ 
gemäß auch auf die Gegenstände. Ihre Einteilung unter bestimmte Katego¬ 
rien lag um so näher, als die Aufstellung der Gemäldekataloge schon von 
den frühesten Zeiten ab auf den Gedanken führen mußte. Schon Ku K’ai-chi 
gibt eine Liste nach der Schwierigkeit der Darstellung für den Künstler: 
zuerst die menschliche Figur, dann die Landschaft, dann Hunde und Pferde 
und endlich Bauwerke. T’ang Hou, ein Autor der Yüan-Dynastie, teilt 
eine Stufenfolge der Gegenstände mit, wie es scheint, nach ihrem bildenden 
und erhebenden Werte geordnet: Beim Sammeln von Bildern stehen taoisti- 
sche und buddhistische Vorwürfe an erster Stelle, denn die alten Meister 
wandten viel Arbeit auf diese, da sie durch sie Ehrfurcht, Liebe und eine 


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Eine chinesische Kunsttheorie. 


M 7 


Neigung zu den heiligen Gebräuchen einzuflößen wünschten. Sodann 
kommen Figurenbilder, die als Vorbilder oder warnende Beispiele dienen 
können. Darauf folgt die Landschaft mit ihren unerschöpflichen Genüssen, 
nach ihr die Blumen und dann die Pferde, die unter die göttlichen Tiere 
gehören. Bildnisse von Herren und Frauen und Abbildungen fremder 
Völkerschaften, mögen sie noch so geschickt ausgeführt sein, sind kaum zur 
Bildung des Geistes geeignet. — Endlich enthält das Hsüan-ho-hua-p'u 
(1120) das denkbar vollständigste Verzeichnis der Gegenstände, da hier die 
in der kaiserlichen Sammlung vertretenen Meister nach den Vorwürfen 
geordnet erscheinen, in denen sie nach der allgemeinen Anschauung das 
Vorzüglichste geleistet hatten. Seine zehn Kategorien sind folgende: 1. Tao¬ 
isten und Buddhapriester, d. h. die religiöse Malerei, die altchinesische 
Mythologie und das Pantheon des Buddhismus verbildlichend. 2. Mensch¬ 
liche Dinge, d. i. die profane Figurenmalerei. Hierher gehört alles, was wir 
Porträt, Historie und Genre heißen, Sittenbilder, Anekdotisches, Muster¬ 
beispiele hoher Tugend, Weise des Altertums und komische Gestalten. 
3. Palast und Haus, d. h. die Architekturmalerei, zumeist Abbildungen der 
berühmten Lustgärten mit ihren Schlössern und Pavillons; auch die Schiffs¬ 
und Wagenbilder werden anhangsweise hier aufgeführt. 4. Fremde Stämme, 
sittenbildliche Darstellungen fremder Volkstypen und Beschäftigungen. 
5. Drachen und Fische, d. h. die ganze Welt der Wassergeschöpfe. 6. Berge 
und Wasser, die chinesische Bezeichnung der Landschaft; es dürfte sich in 
der Tat kaum eine chinesische Landschaft finden lassen, die nicht aus jenen 
beiden Grundelementen bestünde, besonders wenn man bedenkt, daß auch 
der Nebel als Manifestation des Wassers gerechnet wurde. 7. Haustiere und 
wilde Tiere. 8. Blumen und Vögel, zu welchen hier auch die Schmetterlinge 
und Bienen gezählt sind. Es handelt sich um Darstellungen entweder der 
Blumen oder der geflügelten Welt allein oder aber in den weitaus meisten 
Fällen um Gruppierungen beider Wesen zu einem Bilde. 9. Tuschbambus. 
»Damit werden die in der Schwarzweiß-Manier ausgeführten Skizzen von 
Bambuszweigen und Bambusgruppen bezeichnet, die gewissermaßen als 
Gelehrtensport seit dem 10. Jahrh. in der gebildeten Welt Ostasiens eine 
hervorragende Rolle spielen« (Hirth). 10. Gemüse und Früchte, denen sich 
die Pflanzeninsekten anschlicßen. 

Es läßt sich in dieser Anordnung kaum mehr ein Bedürfnis der Wertung, 
sondern nur ein solches der Ordnung erkennen, man möchte jenes denn 
darin erblicken, daß nach altem Herkommen das Göttliche vor dem Mensch¬ 
lichen und dieses wieder vor dem Außermenschlichen aufgeführt ist. Höch¬ 
stens könnte man cs vielleicht beachten, daß die barbarischen Sujets nach 
allem speziell Chinesischen, und daß die Drachen und Fische von der übrigen 
Tierwelt getrennt und vor der Landschaft erscheinen, vielleicht weil jene 

10* 


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148 


Otto Fischer, 


Wasserwesen noch immer einen gewissen dämonischen Charakter zu haben 
schienen. Die Rosse und andern Tierbilder erscheinen dagegen, der histori¬ 
schen Entwicklung nicht entsprechend, erst nach der Landschaft. 

Wohl aber äußert sich hier, in diesen Klassifikationen der Vorwürfe, 
eine Art Kanonisierung der Malerei, die keine Vermischung und Gruppierung 
der Dinge, keine Wahl der Gegenstände nach der Willkür einer frei schaffen¬ 
den Phantasie zuläßt, sondern nach welcher schon durch die Wahl des 
Themas eine gewisse traditionelle Einschränkung des Darstellbaren, ja mit 
der Zeit sogar der Gruppierung und Anordnung des Darzustellenden statt hat. 
Es hat sich diese Kanonisierung im wesentlichen offenbar schon in der T’ang- 
Zeit vollendet, und nur die Landschaft scheint noch später unter der Sung- 
und Yüan-Dynastie eine weitere Ausgestaltung erfahren zu haben. Was 
die Gruppierung bestimmter Gegenstände, z. B. in den Zusammenstellungen 
von Pflanzen und Tieren, angeht, so scheint es, daß diese entweder ganz 
einfach traditionell waren, d. h. auf irgendein, sei cs legendarisch überliefertes 
oder gänzlich unbekanntes Vorbild der frühesten Malerei, eventuell auch 
auf eine geschichtliche Anekdote oder die Anregung einer Dichterstellc 
zurückgingen. Oder aber sie entsprangen bewußt einem symbolischen Be¬ 
streben, das auch wieder in zwei Formen sich äußern konnte. Einerseits 
nämlich ließen sich Gegenstände gleichartigen inneren Charakters und 
gleicher Ausdrucksbedeutung zusammenstellen, andererseits konnte eine 
Gruppierung verschiedenartiger Dinge von gleicher äußerer, z. B. auguraler, 
Bedeutung erfolgen, Dinge, die z. B. langes Leben oder Glück oder geistigen 
Fortschritt u. dgl. bedeuteten. Wir kommen so zu der speziell japanischen 
Gattung der Wunschbilder. Es bedarf hier jedoch noch genauerer Unter¬ 
suchungen und eines umfangreicheren Materials, um zu endgültigen Fest - 
Stellungen zu gelangen. 

Als Beispiel sei die Zusammenstellung von Grille und Sperling genannt, 
die ausdrücklich als die Erfindung des Ku Chün-chi (Mitte des 5. Jahrh.) 
bezeugt ist, oder die der weit offenen Blüten der Rosenmalvc mit einer Katze, 
deren Pupille spaltförmig geschlossen ist, als ein Bild der Mittagshitze (sie 
ist im 11. Jahrh. als sehr alt erwähnt und erklärt) oder endlich die des Hahns 
mit der purpurroten Blüte des chinesischen Hahnenkamms (Celosia cristata). 
Als Beispiel traditioneller Vorwürfe in der Landschaft erwähne ich die soge¬ 
nannten acht Motive, die zuerst im n. Jahrh. als ein Werk des Sung Ti 
erscheinen, später aber in China und in Japan zahllose Nachschöpfer gefunden 
haben. 


Der Stil. 

Die Chinesen haben seit den frühesten Zeiten den Begriff des Stils 
gekannt. Des Stils als einer ganz bestimmten fest geprägten Form des 


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Eine chinesische Kunsttheorie. 


149 


künstlerischen Ausdrucks, der künstlerischen Gegenstandsbezeichnung, als 
eines besonderen in sich geschlossenen Systems, einer Idee den bildhaften 
Ausdruck zu geben. Schon von Ku K'ai-chi heißt es, er habe verschiedene 
Landschaftsbilder gemalt, um die Mannigfaltigkeit seiner Stile zu zeigen. 
Von vielen Malern wird berichtet, daß sie in einem bestimmten Felde einen 
eigenen und neuen Stil geschaffen und ausgebildet, von andern, daß sie 
den Stil eines bestimmten Meisters oder einer bestimmten Zeit angenommen 
und in ihm gearbeitet hätten. 

Wollen wir nun zunächst die allgemeine Grundlage für die Stilbildung 
der chinesischen Malerei festlegen, so geht es aus den Schriftquellen aufs 
deutlichste hervor, daß diese in der Ausdruckskraft der Zeichnung liegt, 
in der Linie oder besser in dem, was der Chinese den Pinselstrich, den Pinsel - 
hieb, das Pinselwerk nennt. Wo immer wir nähere Ausführungen über den 
Stil finden, da ist dieses als das Wesentliche im Bilde und als der eigentliche 
Träger der Idee oder des Ausdrucks bezeichnet. Wo immer wir Anweisungen 
oder Bemerkungen über das Verfahren des Malers finden, heißt es, daß das 
erste die grundlegende Linienzeichnung, die Anlegung des Gerippes im Bilde 
ist; erst dann kommt, sei es die sorgfältige, ebenfalls lineare Ausarbeitung, 
sei es die Anlegung der Tuschetöne, sei es das Kolorieren mit Farbe. Die 
Linie entwickelt sich, wie schon aus der Kunstliteratur ziemlich deutlich 
hervorgeht, von der einfachen umschreibenden Konturlinie zum form- oder 
schattenbezeichnenden saftigeren Pinselhieb, ja die schwarze Tusche wird 
oft sogar mit den Fingern aufgetragen oder endlich verdünnt als Lavierung 
über die Fläche gelegt. Wir gelangen so von der linearen zur tonalen Zeich¬ 
nung: Das monochrome Tuschebild kam in der Sung-Zeit in Aufnahme und 
machte seither einen sehr beträchtlichen Teil des künstlerischen Schaffens aus. 
Die Farbe wird der Zeichnung gegenüber immer nur an später und oft an 
letzter Stelle genannt. Sie diente ursprünglich dazu, die Umrißlinien der 
Bilder bunt zu füllen — der alte Ausdruck für Malerei: Rot und Blau bezeugt 
es — allmählich aber, und vorzüglich mit der Ausbildung des tonalen Ele¬ 
ments scheint sie immer mehr in den Hintergrund getreten zu sein. Sie 
blieb stets an gewisse überkommene symbolistische Konventionen gebunden 
und war dazu bestimmt, dem Bilde eine gewisse mehr sanfte, gehaltene als aus¬ 
drückliche Harmonie zu geben. Die Färbung soll nach bestimmten Gesetzen 
erfolgen: lautet die letzte der 12 Malerregeln des Jao Tse-jan (Yüan). 

Im übrigen spielt der dekorative Gesichtspunkt, nach allem was wir 
lesen, in der chinesischen Stilbildung keine irgendwie anerkannte Rolle. Der 
Stil wird als die Ausdrucksform der Dinge, keineswegs aber des Materials 
oder einer Absicht der Verwendung betrachtet. Er erscheint ebensowenig 
als ein Ausdruck der Persönlichkeit oder als historisch an eine bestimmte 
Zeit gebunden. Wohl ist die Entstehung der Stilform eine zeitlich und per- 

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Otto Fischer, 


>50 

sönlich bedingte, aber einmal geschaffen, ist sie absolut existierend und 
jedem zugänglich und zu allen Zeiten verwendbar. Aus dieser Anschauung 
von der absoluten zeitlosen Existenz und Bedeutung der geschaffenen Stile 
erklärt es sich, daß, was wir Eklektizismus oder Archaismus nennen würden 
oder ganz einfach Nachahmung, dem Chinesen als das selbstverständlichste 
Ding der Welt erscheint. Chou Shun, ein Maler der Sung-Dynastie, folgte 
in der Landschaft dem Stil des Li Ssu-hsün (8. Jahrh.) im Gewandstil und 
den Kopfbedeckungen dem Ku K'ai-chi (4. Jahrh.) und bei buddhistischen 
Figuren dem Li Lung-mien (il. Jahrh.). Von Wang Meng, einem Maler der 
Yüan-Zeit, heißt es, er hätte die Landschaft in mehr als zehn verschiedenen 
Weisen behandelt und für Bäume speziell noch eine weit größere Zahl von 
Manieren beherrscht. Der Stil ist dem Chinesen nichts anderes als die not¬ 
wendige Ausdrucksform für eine ganz bestimmte Seite, einen ganz bestimmten 
Aspekt der Dinge, er kommt erst in zweiter Linie nach dem allgemeinen 
Gedanken und Gefühl, die in dem Bilde schöpferisch werden, und wenn 
diese eine neue und andere Konzeption der Dinge, oder nach chinesischer 
Anschauung, eine neue immanente Qualität der Dinge ausdrücken, so wird 
ganz von selber auch der Stil danach sich modifizieren. Tatsächlich ist dies 
auch in allen schöpferischen Zeiten der chinesischen Kunst der Fall gewesen, 
bis zur Erschöpfung unter der Ming-Dynastie. 

Wollen wir also an der Hand der Schriftquellen dem Wesen der chi¬ 
nesischen Stile einen Schritt näher kommen, so brauchen wir nur nach dem 
zu fragen, was in den Dingen selbst als wesentlich genannt wird und wessen 
Ausdruck in der Kunst vor allem gesucht und gepriesen erscheint. Dies 
ist naturgemäß nach dem Gegenstand und der Aufgabe ein verschiedenes. 
Bei religiösen Gegenständen finden sich nur die allgemeinen Qualitäten 
der Göttlichkeit und Erhabenheit erwähnt. Bei einem Höllenbild eine 
solche Lebendigkeit der Qual, daß es den Beschauern bis ins Mark hinein 
schauerte und rohe Schlächter sich bekehrten. Bei Bildnissen gilt der 
geistige Ausdruck und der verborgene Charakter, die Quellen des Handelns 
im Herzen als das Wesentliche und ihre Äußerung, im Blick des Auges kon¬ 
zentriert, andererseits wird aber auch die spezielle Lebendigkeit der Haltung, 
der Geste, des Umrisses betont, da oft schon ein zufälliger Schattenriß den 
ganzen Menschen enthülle. Überhaupt scheint bei allen figürlichen Dar¬ 
stellungen die Äußerung des Inneren durch die frappante Bezeichnungs¬ 
kraft der äußeren momentanen Bewegung vor allem gesucht; die Lebensbe¬ 
wegung der Dinge steht bei Hsiö Ho in der ersten Kategorie. Ein Ausspruch 
des Ou-yang Hsiu (11. Jahrh.) gibt eine weitere Illustration: Fliegen oder 
Gehen, schnell oder langsam sind seichte Einfälle und leicht auszudrücken, 
aber schwieriger ist es und wesentlicher, Ideen wie Annehmlichkeit, 
Harmonie, strengen Ernst oder tiefe Stille anschaulich zu machen, die tiefer 


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Eine chinesische Kunsttheorie. 


I 5 I 

in den Dingen liegen. — Eine andere Stelle des Li Chi (n.—12. Jahrh.) 
mag uns dann vom Menschen zur allgemeinen Welt hinüberführen: Wenn 
die Menschen auf einem Bilde, schaut man sie an, zu sprechen scheinen, 
wenn die Blumen und Früchte im Winde schwanken und mit Tau betropft 
sind, wenn die Vögel und das W'ild lebendig sich zu rühren scheinen, wenn 
die Hügel und Ströme und Wälder und Quellen durchsichtig, ruhevoll, 
dunkel und ferne sind, wenn die Gebäude in die Tiefe gehen, wenn die Brücken 
herüber- und hinüber- sich schwingen, wenn man den Grund eines Berges 
unter der klaren Wasserfläche zu seinen Füßen sieht und wenn der Ursprung 
und die Herkunft der Bäche deutlich erkennbar ist — der Mann, der solche 
Bilder malt, mag sein Name bekannt sein oder nicht, der ist ein großer 
Künstler —. In der Landschaft handelt es sich nach allen chinesischen Auto¬ 
ren auf der einen Seite um den möglichst überzeugenden Eindruck der 
Räumlichkeit und Ferne, um die Klarheit der Disposition, um die überzeu¬ 
gende Wiedergabe aller, auch der subtilsten atmosphärischen Erscheinungen, 
der Jahres- und Tageszeiten und der Wetterphänomene und endlich um den 
suggestivsten Ausdruck bestimmter allgemeiner Empfindungs- und Stim¬ 
mungsqualitäten, deren Tiefe dem Europäer bis heute noch so gut wie un¬ 
zugänglich blieb, da sie nur der vollkommensten Entäußerung und Ver¬ 
senkung in die außermenschliche Natur erfaßbar sind. Ein paar Zitate 
mögen, dies bezeugend, den Abschnitt beschließen. — Kuo Hsi (11. Jahrh.) 
sagt: Landschaft ist ein großes Ding und sollte aus der Entfernung gesehen 
sein, damit man das Schema von Berg und Strom erfaßt. — Ferner: Berge 
haben drei Entfernungen. Vom Fuß nach dem Gipfel sehen heißt Höhe. 
Von der vorderen Seite nach der abgewandten sehen heißt Tiefe. Von nahen 
Höhen zu fernen Bergen sehen heißt Ferne. Die Farbe für den Höhen¬ 
unterschied soll hell und klar sein, für den Tiefenuntersehicd schwer und 
dunkel, für den Fernenunterschied entweder hell oder dunkel. Berge ohne 
Wolken scheinen leer, ohne Wasser haben sie keinen Reiz, ohne Pfade sind 
sie unbelebt, ohne Bäume scheinen sie tot. Ohne Tiefenunterschiede sind 
sie flach, ohne Fernenunterschied nah, ohne Höhenunterschied sind sie 
niedrig. — Wang Chön-p’öng war, wie es heißt, sehr genau in der Be¬ 
zeichnung von rechts und links, hoch und niedrig, Hinabblicken und Hinauf¬ 
schauen, gebogen und gebrochen, vierkantig und rund, eben und steil. — 
Ferner die 12 Malerrcgeln des Jao Tse-jan (Yüan): I. Die Komposition 
darf nicht überladen sein. Man breitet die Seide aus und legt mit Kohle 
zunächst die Umrisse der Berge an, hoch und niedrig, dann der Bäume, 
klein und groß, dann der Bauwerke und Menschenfiguren, jedes an seiner 
Stelle. Dann tritt man zurück und prüft das Ganze genau. Ist es güt, so 
mag man beginnen, eine dünne Lavierung aufzutragen. 2. Man versäume 
ja nicht die Unterscheidung des Entfernten und des Nahen deutlich zu 


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* 5 * 


Otto Fischer, 


machen. 3. Die Berge müssen Atem und Pulsschlag haben. 4. Die Flüsse 
müssen von einer bestimmten Quelle kommen. 5. Die Landschaft muß auf- 
und absteigen. 6. Die Wege müssen Anfang und Ende haben. 7. Von den 
Felsen darf man nur eine Seite sehen. 8. Die Bäume sollen zum mindesten 
vier Äste haben. 9. Den Figuren müssen die Köpfe auf den Schultern sitzen. 
IO. Die Gebäude müssen unregelmäßig zerstreut sein. II. Die Wirkungen 
von Hell und Dunkel sollen angemessen verwendet sein: eine Schneewirkung 
darf man nicht mit einer Regenwirkung verwechseln. 12. Die Farbengebung 
erfolge nach bestimmten Gesetzen. — Ein anderer Autor sagt, es sei leichter, 
schönes Wetter zu malen, wenn ein Gewitter drohe, als Regenwetter, das 
sich aufzuklären anschicke. — Endlich noch einmal Kuo Hsis »Edle Bildun¬ 
gen von Wald und Strom«, das von Entfernung und Tiefe, Wind und Regen, 
Licht und Dunkel handeln soll, sodann von den Unterschieden von Nacht 
und Morgen in den vier Jahreszeiten, und wie im Bilde die Frühlingshügel 
wie lauter Lächeln schmelzen sollen, die Sommerhöhen sein wie ein Strahlen 
von Blau und Grün, die herbstlichen Hügel klar und rein erscheinen wie 
Honigkuchen und die Winterberge gleichsam in tiefem Schlaf. Oder er sagt, 
daß ein hoher Berg die niederen Höhen königlich beherrsche, und wie eine 
schlanke Tanne den andern Bäumen ein herrliches Beispiel gebe. 

Die historische Betrachtung. 

Die kunstgeschichtliche Betrachtung und Feststellung erscheint in 
der chinesischen Kunstliteratur unter zwei Formen: auf der einen Seite als 
Beobachtung einer allgemeinen Wandlung in Gehalt, Gesinnung, Stimmung 
der Kunstwerke, auf der andern Seite als historische Fixierung des Auf¬ 
kommens bestimmter Motive und bestimmter Stilneuerungen. 

Jene Beobachtung der allgemeinen Zeitwandlungen am konkreten 
Beispiel der Kunstwerke tritt fast immer in der Form einer Erhebung des 
Alten und einer Klage über die Dekadenz der Neueren auf. Schon in der 
T’ang-Zeit werden die Werke der älteren Zeiten hochgeschätzt und über die 
neueren gestellt, aus der Sungzeit ist uns schon das Beispiel eines Kaisers 
überliefert, der seinen Besitz an zeitgenössischen Meistern überdrüssig bei¬ 
seite warf, um ausschließlich die alten zu sammeln. Es ist dies wohl nicht 
allein durch den größeren Raritätswert und auch nicht allein durch die jedem 
Chinesen angeborene Verehrung des Vergangenen zu erklären: man erblickte 
vielmehr bei den älteren Meistern Vorzüge, die man über die Leistungen der 
neueren zu stellen sich für genötigt hielt. Unter der Yüan- und der Ming- 
Dynastie finden wir dann ausführliche Äußerungen. Hsia Wön-yen (Yüan) 
sagt: Religiöse Gegenstände, menschliche Figuren, Ochsen und Pferde sind 
in den neueren Zeiten nicht so gut gemalt worden als von den alten Meistern; 
andererseits aber sind Landschaften, Bäume, Felsen, Blumen, der Bambus, 


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Eine chinesische Kunsttheorie. 


>53 


Vögel und Fische in neueren Zeiten besser dargestcllt worden. Unter den 
Vertretern der alten sind Ku K’ai*chi, Lu T'an-wei, Chang Söng-yu, Wu 
Tao-tse, Yen Li-tö und Yen Li-pön, Chou Fang, Han Kan und Tai Sung 
als die besten genannt, von den neueren Li Ch’öng, Kuan T’ung, Fan K'uan, 
Tung Yüan, Hsü Hsi und Huang Ch'üan. Sung Lien (14. Jahrh.) schreibt: 
Zur Zeit der Alten, da pflegten die in der Malerei Bewanderten das Buch 
der Lieder (das Shu-king) zu illustrieren, oder das Buch der kindlichen Er¬ 
gebenheit, oder das Erh-ya oder die Analekten des Kung-fu-tse oder das 
Buch der Wandlungen, auf daß der Inhalt fieser Werke von der Zeit nicht 
verdunkelt werde; später noch, bis zu den Zeiten der Han, Wei, Chin und 
Liang-Dynastien (6. Jahrh.) wurden Bücher über Erziehung, Staatsge¬ 
bräuche, tugendhafte Frauen usw. stets mit Bildern ausgeziert, um die 
Lehren des Kung-fu-tse den Menschen besser einzuprägen. Allein mit der 
Zeit trat hier ein Verfall ein und die Künstler fesselte nun der Glanz der Wagen, 
Rosse, Krieger und Damen, und endlich wandte sich ihr Sinnen der Schön¬ 
heit der Blumen, Vögel, Falter und Fische zu, und sie gaben ihren Erregun¬ 
gen Ausdruck in der Darstellung von Berg und Wald, Strom und Felsen, 
bis die alte Auffassung der Malerei vollkommen verloren war. Die erste 
große Wandlung geht auf Ku K'ai-chi und Lu T’an-wei zurück, die nächste 
auf Yen Li-pön und Wu Tao-tse, die letzte endlich auf Kuan T'ung, Li Ch'öng 
und Fan K'uan. — Wang Shi-chöng (16. Jahrh.) gibt uns weitere Daten: 
Zwischen der Zeit des Ku K'ai-chi und Lu T’an-wei und derjenigen des 
Chang Söng-yu und Wu Tao-tse erfuhr die Kunst der Figurenmalerei eine 
große Wandlung. Der ältere und der jüngere Li (Li Ssu-hsün und Li Shöng) 
schufen eine entsprechende Wandlung in der Landschaftsdarstellung. Eine 
fernere Wandlung schufen Ching Hao, Kuan T'ung, Tung Yüan und Kü Jan, 
eine weitere Li Ch’öng und Fan K'uan, eine fernere Liu Yüan, Li Lung-mien, 
Ma Yüan und Hsia Kuei, eine weitere endlich Huang Kung-wang und Wang 
Möng. — Ku Ning-yüan (17. Jahrh.) schreibt: Vom Ende der Yüan-Zeit 
ab bis zum Beginn der Ming-Dynastie schien der künstlerische Genius er¬ 
schöpft zu sein. Zwischen 1465 und 1567 war eine Zeit des Wiederauflebens 
in der Provinz Kiangsu, aber bis zum Jahre 1620 war auch dies vollkommen 
zu Ende. — Ku Yen-wu (17. Jahrh.) bemerkt: Die Alten bestrebten sich 
in ihren Zeichnungen und Bildern stets Ereignisse darzustellen, die dem 
Beschauer zur Bewunderung oder zur W'arnung dienen sollten, allein mit 
der Entwicklung des Monochroms und der Landschaft verschwand jener 
Gesichtspunkt, den die Alten hochgehalten hatten. Endlich eine Äußerung, 
die mehr auf das Innerliche der Stilbildung geht, anläßlich einer Bemerkung 
über Chao Möng-fu (13. Jahrh.): er habe das Suggestive der T'ang-Zeit 
ohne ihre sorgfältige Ausarbeitung, und zugleich die männliche Kraft der 
Sung-Zeit, doch nicht ihre Zwanglosigkeit. Und zum Schluß zwei Dichter- 


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Otto Fischer, 


stellen, die ein Kritiker zusammenstellt, um die Kunst der Sung- und der 
Yüan-Zeit in einer krassen Antithese zu bezeichnen, und die uns noch einmal 
den Geist der gesamten chinesischen Kunst vergegenwärtigen mögen: 

Wer ein Bild nach seiner Ähnlichkeit wertet, 

Der unterscheidet nicht besser als ein Kind. 

Wer ein Gedicht schreibt nach vorgebildetem Muster, 

Hat gewiß auf den Ruhm des Dichters kein Recht. 

Dagegen: 

Die Kunst schafft etwas, was über die Formen hinausgeht, 

Liegt auch ihre Größe in der Gestaltung der Form. 

Dichtung schenkt uns Gedanken, die über die.Kunst hinausgehen, 

Liegt auch ihr Preis in der Gesetzlichkeit der Kunst. 

Es ist die Klage, die immer wiederkehrt: Die Alten suchten den Geist 
und achteten die Form gering. Die Neueren suchen die Form und haben 
den Geist vergessen. 

Was nun die zweite Form der kunsthistorischen Betrachtung angeht, 
den allgemeinen gegenüber die spezielleren und konkreten Daten, so gibt uns 
die chinesische Kunstliteratur zunächst bei weitaus den meisten und jeden¬ 
falls bei fast allen Malern, die seit dem 5.—6. Jahrh. in der Entwicklung 
eine Rolle gespielt haben, die Herkunft ihres Stiles an. Wir erfahren, welches 
älteren Meisters Stil der spätere zunächst »angenommen« hat, wir hören, 
ob er hierzu selbständig etwas Neues zugefügt oder gar selbst etwas wesentlich 
Eigenes geschaffen hat, und es wird uns bei den eklektischen Künstlern nicht 
verschwiegen, aus welchen Elementen sie ihren Stil zusammengesetzt haben. 
Es lassen sich so fast durch die gesamte Kunstgeschichte bestimmte Stil¬ 
genealogien und Filiationen verfolgen, die zwar anderer Art sind als die 
europäischen Schulgenealogien, weil sie auf einer zeitlosen Freiheit der 
künstlerischen Wahl beruhen, aber doch für den Historiker einen ebenso 
großen, für den Ästhetiker vielleicht einen größeren Wert besitzen, weil sie 
unbedingterer Entstehung sind. 

Wir sind ferner über manche gegenständlichen Motive unterrichtet, 
wann sie zum erstenmal dargestellt wurden oder ihre klassische Prägung 
empfingen. Die buddhistische Gottheit Kuan Yin scheint von Tai K'uei 
im 4. Jahrh. zuerst in China, und zwar in männlicher Gestalt, dargestcllt 
worden zu sein, seit dem Anfang des 12. Jahrh. wird ihre weibliche Dar¬ 
stellung üblich. Vaisravana wurde im Jahre 725 von Chö Tao-chöng nach 
China gebracht. — Die in China so beliebten Kraniche scheinen zum ersten¬ 
mal durch Hsiö Chi (gest. 713) eine klassische Darstellung gefunden zu haben, 
im io. Jahrh. wurde diese jedoch durch die berühmten sechs Kraniche des 
Huang Ch’üan verdrängt. Die Erfindung des Themas: Grille und Sperling 
im 5. Jahrh. ist schon erwähnt worden, ebenso war von Katze und Malven 


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Eine chinesische Kunsttheorie. 


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die Rede. Wang Wei war der Erfinder des berühmten Motivs: Banane im 
Schnee. Von Ni Tsan wird es zuerst berichtet, daß er Landschaften ohne 
menschliche Staffage gemalt habe (1301—1374). Von Ma Yüan und Hsia 
Kuei ist die Einführung der »begrenzten Landschaftsbilder« überliefert. 
Die mannigfaltigen Erscheinungsformen des belebten Wassers soll Sun Wei 
(9. Jahrh.) in die klassisch-lebendigen Linienformeln gebannt haben, und 
sein Zeitgenosse Tung Yu malte besonders überzeugend den sturmdurch- 
wühlten Ozean. Zu gleicher Zeit war Chang Nan-pön für seine Meisterschaft 
in der Bezeichnung des Feuers berühmt. 

Wir mögen endlich fragen, wann die großen und grundlegenden Wand¬ 
lungen des künstlerischen Sehens stattgefunden haben, die spätestens in der 
Sung-Zeit zu einer von den ältesten uns noch zugänglichen Werken prin¬ 
zipiell und vollkommen verschiedenen Stilbildung geführt haben. Es sind 
uns hier allerdings nur Andeutungen und mit Vorsicht zu verwertende Hin¬ 
weise überliefert. Es handelt sich in erster Linie um die Wandlung vom 
linearen zum tonalen Stil; hier muß die Änderung der Linienformung eine 
der bezeichnendsten Äußerungen sein. In der Tat erfahren wir zuerst von 
Lu T’an-wei (5. Jahrh.): Sein Pinselstrich war kraftvoll und scharf wie mit 
der Ahle geschnitten, so daß ein gefühltes und bewegtes Bild entstand, vor 
dem der Betrachter erstaunt als wie vor einem Wunder stand. Seine Land¬ 


schaften, Pflanzen und Bäume waren nur andeutend ausgeführt. Er soll 
zuerst ein Bild mit einem einzigen Pinselstrich vollendet haben. Von Wu 
Tao-tse (8. Jahrh.) heißt es: In seinen Bildern war es nicht so sehr die Be¬ 
deutung des einzelnen, was den Betrachter verblüffte, sondern seine außer¬ 
ordentliche Gewalt, seine Wirkungen durch eine meisterhafte Pinselführung 
zu erzielen. Und andersw r o: In seinen früheren Zeiten gebrauchte er einen 
feinen Pinsel, aber in seiner mittleren Lebenszeit nahm er einen so dick wie 
ein Kohlkopf. Eine Aureole soll er mit ein paar raschen Hieben gemalt 
haben, die wie von einem Wirbelwind getrieben schienen. Schon von Chang 
Söng-yu (6. Jahrh.), dem Vorbilde Wu Tao-tses, hatte es geheißen: Mit 
ein, zwei Pinselstrichen ist die Verwirklichung vollendet. Von Tung Yüan 
wird später berichtet (10. Jahrh.), er habe im Gebrauch der neutralen Töne 
in der Landschaft dem Wang Wei (8. Jahrh.) sich angeschlossen; von ihm 
und Kü Jan heißt es bei Shön Kua: Die Werke dieser beiden Maler müssen 
aus der Entfernung gesehen werden, so rauh ist ihr Pinselwerk. Aus der 
Nähe sieht man in ihren Bildern nichts als formlose Massen, doch von weitem 
betrachtet tut sich die Landschaft in ihren großen Zügen wundervoll auf, 
als schaute man in ein seltsam fremdes Land. Und als Beispiel führt er 
einen Sonnenuntergang an. Von den meisten späteren Landschaften ist es 
überliefert, daß sie ihren Stil nach Tung Yüan oder naeh Kü Jan gebildet 
haben. Eine genauere Untersuchung der Quellen und speziell der chinesischen 


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Otto Fischer, 


*5 6 

Bezeichnungen kann hier gewiß noch zu weiteren Aufschlüssen führen; es 
wird dann auch die traditionelle Unterscheidung der nördlichen und der 
südlichen Landschaftsschule eine präzisere Formulierung finden. 

Dasselbe gilt von einer andern großen Wandlung, die sich in der 
chinesischen Malerei vollzogen haben muß. Sie bezieht sich auf die Raum¬ 
darstellung und betrifft die Frage der umgekehrten Linearperspektive, die 
in China mindestens seit dem 4. Jahrh. im Schwange gewesen sein, und auf 
der andern Seite, mit dem vorher behandelten Problem sich berührend, der 
Luftperspektive im europäischen Sinne, die seit der späteren Tang-Zeit sich 
entwickelt haben muß. Das Problem der Raumdarstellung in der Land¬ 
schaft hat seit den ältesten Zeiten, aus denen wir Zeugnisse besitzen, die 
Künstler beschäftigt. Schon Wang Wei (5. Jahrh.) spricht davon, daß der 
Maler Berge aufzurichten und Ebenen hinzubreiten habe, schon Chan Tse- 
ch'ien (6. Jahrh.) muß einige perspektivische Kunst besessen haben, und 
von den Zeiten des späteren Wang Wei ab (8. Jahrh.) ist oft die Rede von 
den Bergreihen der Bilder, die Reihe hinter Reihe das Auge in eine unend¬ 
liche Ferne locken. Wang Wei selbst sagt: Ferne Menschen haben keine 
Augen, ferne Bäume keine Äste, ferne Höhen keine Felsen, sondern sind 
unbestimmt wie Augenbrauen; fernes Wasser hat keine Wellen, sondern 
steigt auf bis an die Wolken. Chang Tsao, der Erfinder der »Fingermalerei« 
(vgl. den vorigen Abschnitt), der ebenfalls noch dem 8. Jahrh. angehört 
und sich an Wang Wei anschloß, muß in der Raumdarstellung fernere Fort¬ 
schritte gemacht haben. Li Ch'öng, der eine weitere Stufe repräsentiert 
(10. Jahrh.), sagt: In der Landschaftsmalerei ist es das Erste, die Lage 
von Wirt und Gast (d. h. der beherrschenden und der untergeordneten For¬ 
men) festzulegen, sodann die Entfernungen zwischen diesen. Die ausführ¬ 
lichsten und wertvollsten Notizen endlich verdanken wir dem Schriftsteller 
Shön Kua (1030—1093). Zunächst eine Bemerkung, die für die Linear¬ 
perspektive interessant ist: Wenn die Maler Buddhas Aureole malen, so 
stellen sie sie flach und rund wie einen Fächer dar. Wenn sein Leib verkürzt 
gesehen ist (wörtlich: »gebeugt«), so machen sie den Nimbus ebenfalls ver- 

t 

kürzt — ein bedenklicher Fehler. Denn sie nehmen Buddha wie ein ge¬ 
gossenes Standbild und bedenken nicht, daß sein Nimbus übernatürlich und 
darum ewig rund ist. — Dann über Li Ch'öng: Wenn dieser Pavillons, 
Pagoden und andere Bauten in die Berge seiner Landschaften setzte, so malte 
er sie mit aufgekrempten Dachrändern, so daß der Beschauer sie von unten 
erblickte und so ihr Inneres sah; denn, meinte er, der Augenpunkt des Be¬ 
schauers ist unterhalb des Gegenstandes, und ebenso sieht ein Mann unter 
einer Pagode die Dachsparren von unten. Diese Überlegung ist falsch. In 
der Landschaft nämlich gibt es eine Methode, große Dinge zu sehen, als wären 
sie klein. Würde man nun die abgebildeten Höhen ebenso betrachten, wie 


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Eine chinesische Kunsttheorie. 


*57 


man die wirklichen ansieht, nämlich von ihrem Fuß aus nach dem Gipfel 
blickend, so könnte man unmöglich mehr als einen Höhenzug zugleich 
erblicken, nicht aber Bergreihe hinter Bergreihe, und ebensowenig könnte 
man die Schluchten und Täler in den Bergen überblicken. Ebenso 
könnte man den Mittelhof einA Hauses nicht sehen, noch was in den Rück¬ 
gebäuden sich zuträgt. Man kann unmöglich die Regel aufstellen, daß, 
wenn ein Mensch auf der Ostseite des Berges steht, dessen Westseite sodann 
die entferntere Landschaft verbergen muß; unter solchen Bedingungen 
könnte überhaupt kein Bild gemalt werden. Li Ch’öng kannte die Methode 
nicht, nach der große Dinge als klein erscheinen. Mit dieser Methode aber 
kann man Wirkungen von Höhe und Ferne besser wiedergeben als mit dem 
Aufkrempen von Häuserecken. — Solche Stellen geben Zeugnis von einer 
ernsthaften und eindringenden Bemühung um die Probleme der perspek¬ 
tivischen Darstellung und sic werden, sobald sie in einem größeren Zu¬ 
sammenhang überblickbar sein werden, sobald wir auf der andern Seite mit 
einem größeren Anschauungsmaterial versehen sind, als uns zunächst noch 
vorliegt, für die chinesische Kunstgeschichte von Bedeutung sein. 


Die ästhetische Betrachtung. 

Die ästhetische Betrachtungsweise, die sich in den chinesischen Schrif¬ 
ten über die Kunst äußert, ist, wie wir sahen, von zweierlei Art. Auf der 
einen Seite steht die von der taoistischen Weltanschauung ausgehende Be¬ 
mühung, das Wesen der Kunst als eine Offenbarung des großen Weltwesens 
durch ein menschliches Medium zu begreifen. Diese Anschauung bekräftigt 
die psychologische Beobachtung, daß das künstlerische Schaffen in einem 
abnormen, dem Alltagsbewußtscin fremden Zustande, deni Zustande der 
Eingebung, vor sich geht. Da sic diesen Zustand nur als den einer ekstati¬ 
schen Hingabe an das All kennt und da die chinesische Kunst in der Tat die 
Sichtbarmachung des Alllcbcns in der gesamten Natur zu ihrer wesentlichsten 
Aufgabe gemacht hat, so mußte ihr die Kunst als eine geistige Offenbarung 
der Natur erscheinen. Die Kunst ist ihr die Dokumentation des Ewigen 
und Zeitlosen in jeder Erscheinung, der durchwaltcnden Lebensbewegung 
aller Dinge und des geheimnisvollen Prinzips der Welt. Die Kunst wird in 
ihrem grundsätzlichen Wesen etwas absolut Unpersönliches wie etwas absolut 
Zeitloses. Auf der andern Seite hat auf die Kunstbetrachtung das kon¬ 
fuzianische Element des chinesischen Geistes, das Gesetz und Regel suchende, 
eingewirkt, indem es zunächst eine moralistischc Anschauung von der Kunst 
als einer Helferin der guten Sitten durch ihre Vorbilder inaugurierte, dann 
aber, nachdem diese gefallen war, in der Wertung der Kunst, in der Klassi¬ 
fizierung und Kodifizierung ihrer Schöpfungen seinen systematischen, ana¬ 
lysierenden und erstarrenden Geist bewährte. Und als die lebendigen Im- 


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158 Otto Fischer, Eine chinesische Kunsttheorie. 

pulse erloschen waren, blieb nichts als dieses tote Formelgebäude bestehen. 
Jedes Alte wurde bewahrt, aber mit seiner unbedingten Anerkennung war 
auch jeder Keim eines Neuen erstickt. 

Jene beiden konstituierenden Elemente haben sich endlich auch in 
den chinesischen Anschauungen von den Zielen der Kunst, von ihrer Lebens¬ 
berechtigung und immanenten Bedeutung ausgesprochen. Ein Ausspruch 
des Kunsthistorikers Chang Yen-yüan (841) sagt alles Wesentliche: Die 
Maler tragen zur Sittigung der Menschen bei, sie zeigen die mannigfaltigen 
Erscheinungen geistiger Mächte und sie bewähren das Geheimnisvolle wie 
das Unendliche. — Daneben halten wir die Worte des berühmten Land¬ 
schafters Kuo Hsi (um 1068): Nichts Entzückenderes als zu wandern und 
die schöne Landschaft zu genießen; allein nicht jeder ist imstande, sich diesen 
Genuß zu verschaffen. Daher tritt die Kunst hervor und gibt allen ein Mittel, 
die Größe der Natur ahnend zu erfassen, ohne auch nur vor ihre Haustüre 
zu treten. Und so verschafft die Malerei uns edlere Genüsse, indem sie 
das ungeduldige Verlangen fernhält, in die Wirklichkeit hinauszueilen. — Und 
endlich die beiden Verse des Chao I-tao, die hier wörtlich angeführt seien: 

Die Kunst schafft ein Etwas über die Form der Dinge hinaus, 

Obgleich ihre Bedeutung in der Bewahrung der Form der Dinge liegt. 

Es ist dies die Anschauung eines Volkes, dem jedes Gesetz in einer 
Verehrung begründet ist und dem jede Erregung, jeder Genuß und jeder 
Impuls zu schaffen, allein aus der Hingabe fließt. 

Literatur. 

Friedrich Hirth: Über die einheimischen Quellen zur Geschichte der chinesischen Ma¬ 
lerei von den ältesten Zeiten bis zum 14. Jahrhundert. München 1897. 
Herbert A. Giles: An Introduction to the history of Chinese pictorial Art. Shanghai 1905. 
Friedrich Hirth: Scraps from a Collectors note-book. Leiden 1905 (Sonder-Abdruck 
aus T’oung Pao). 

(Passim:) Hirth: Über fremde Einflüsse in der chinesischen Kunst. München 1896. 

Hirth: über Entstehung und Ursprungslegenden der Malerei in China. 
Leipzig 1900. 

Giles: A Chinese Biographical Dictionary. 

Conrady: Studien Uber die ältesten Erwähnungen einer figürlichen Kunst 
in China. (In Münsterberg, Chinesische Kunstgeschichte I S. 78—89. E߬ 
lingen 1910.) 

Okakura Kakuzo: The Ideals of the East. London 1904. 

Sei-ichi Taki: On Chinese Landscape-painting. Kokka, Heft 191, 193, 
196. April—Sept. 1906. 

Eduoard Chavannes in verschiedenen Beiträgen der Zeitschrift T’oung 
Pao. (Leiden.) 

Endlich gibt Raphael Petrucci: La Philosophie de la Nature dans l’art d’Extreme Orient. 

Paris (191t) eine der vorliegenden z. T. parallel laufende Untersuchung, die 
jedoch bei der Abfassung dieses Aufsatzes noch nicht benutzt worden ist. 


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Notizen. 



verlorene Kreuzigung von Michel Wolge 




Ein Hauptdenkmal Nürnberger Malerei des 15. Jahrhunderts ist einzig 
in einem bisher unbeachteten Linienstiche von Fleischmann erhalten. 

Er erschien im »Deutschen Unterhaltungsblatt für gebildete Leser 
aus allen Ständen auf das Jahr 1816/17« bei Campe in Nürnberg 1 ). Das 
einzige bekannte Exemplar im Abbildungsrcpertorium des Kupferstich¬ 
kabinetts im Germanischen Museum. Der zugehörige Text, auf den an 
der Abbildung verwiesen wird, fehlt in dem unvollständigen Exemplar 
des Unterhaltungsblattes auf der Nürnberger Stadtbibliothek. 

Der Stich trägt die Unterschrift: Die Kreuzigung. Nach dem großen 
Original Gemälde von Albrecht Dürer in der Campeschen Sammlung zu 
Nürnberg. Höhe 4' io ,f , Breite 4' 10”. Mehrere Bilder der Campeschen 
Sammlung sind heute in Kopenhagen, die Kreuzigung ist verschollen. Sie 
zeigt unten auf einem Stein das schon wegen seiner aufdringlichen Größe 
unechte Monogramm Dürers und auf dem kleinen Becken des Kriegsknechtes 
die Jahreszahl 1521, die gleichfalls nicht irreführen kann. Plastisch aufge¬ 
setztes Bogenornament gab dem Bilde einen Korbbogen als oberen Abschluß. 

Die Tafel stellt den Kreuzigungstypus dar, wie er von Hans Pleyden- 
wurff geschaffen worden ist, steht dem Münchener Werke näher als dem 
Breslauer. 

Auch hier die Breitenerstreckung der Tafel und eine ähnliche Rahmen¬ 
füllung, die Verbindung des Gekreuzigten mit den bequem entwickelten 
Gruppen zu Füßen, zwischen denen Magdalena vermittelt, und zwar so, 
daß ihr Kopf wie dort in dem Messingnapf des Kriegsknechts seine symme¬ 
trische Entsprechung erhält. Die hochgewachsenen Leute beidseits in kreis¬ 
förmiger Anordnung, wobei der Abschluß mit den Köpfen am Rahmen 


*) Die Herkunft läßt sich dadurch fcststellen, daß Nagler in seinem Künstlcrlexikon 4 
S. 372 unter Fleischmanns Blättern folgendes anfuhrt: Christus am Kreuz von Dürer aus 
der Kampeschen Sammlung, im deutschen Unterhaltungsblatt 1816. In den ersten, sehr 
seltenen Abdrücken hat die rechte Hand des Gekreuzigten sechs Finger. Der Künstler 
verbesserte bald den Fehler, daher die Seltenheit. 


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i6o 


Notizen. 


der gleiche ist wie beim Münchener Pleydenwurff, dessen linke Gruppen - 
komposition für dies Bild maßgebend war. Und im besonderen hier gegen¬ 
über der Unruhe der »Schönbornschen« Kreuzigung jene Parallelismen in 
der Bewegung Mariens und ihrer haltenden Nachbarin, wie sie auch in der 
Wolgemut-Werkstatt bei der Zwickauer Kreuzigung konserviert worden 
sind. Gegenüber der »Schönbornschen« Kreuzigung stellt dann, von der 



Kreuzigung, früher in der Catnpeschen Sammlung zu Nürnberg. 

Gehaltenheit der Bewegungen abgesehen, der Aufbau der Komposition 
ganz vorn am Bildrand — doch ist auf der Abbildung die Tafel unten wohl 
etwas beschädigt — die Verbindung mit der Pleydenwurff-Wolgcmut-Gruppe 
her, vor allem aber der Landschaftshintergrund. Da ist die ritterliche 
Staffage im Mittelgründe links unter Christi Schamtuch wie auf dem Mün¬ 
chener Bilde, da der Aufbau des Hintergrundes auf der einen Seite mit dem 
breiten Felsabschluß, die maucrumschlossenc Stadt hinter Christus, rechts 
die Baumgruppen. Die über den schnell ansteigenden Mittelgrund schleifen- 


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Notizen. 


16 i 

förmig geführten Wege, die mit Hilfe der Staffage glücklich erreichte Ver¬ 
kürzung des Hintergrundes verraten dasselbe perspektivische Können. 

Aber überall ist ein wenig über Pleydenwurff in der Richtung hinaus¬ 
gegangen, in der sich die Entwicklung des Wolgemut zum Zwickauer Altar 
hin bewegt hat. Was in dem Münchener Bilde allzu locker schien im Ge¬ 
füge, wird festgeschraubt, jedenfalls stillgestellt. Lange gerade Linien und 
rechtwinklige Entgegensetzungen von solchen rühren nicht allein von der 
stechenden Hand des 19. Jahrhunderts. Unter der großen Wagerechten 
des Krcuzbalkens ist die andere Wagerechtc des Horizontes stärker kon¬ 
serviert als bei den Überschneidungen Pleydenwurffs, die vielen aufsteigen¬ 
den Linien der Baumstämme und Felsen stellen mit Wolgemutischer Rektan- 
gularität dazwischen die Verbindung her. Breite große Kulissen ziehen 
sich von der Seite tief ins Bild hinein. Und auch vorn in den Figuren¬ 
gruppen sind mit boutsischer Geradlinigkeit immer erneut die langen Linien 
der Waffen, des Kreuzstammes durchgezogen. 

Wohin aber die Entwicklung führt, ist gerade fort von der scharfen 
und geraden Aufreihung der Einzelmotive, hin zu einer Zusammenflechtung 
zu Formknäueln. Die am wenigsten Pleydenwurffische Gestalt des Bildes, 
Magdalena, gibt dafür das Beweisstück: stärker vom Rücken gesehen als in 
allen älteren Kreuzigungen, mit dem Mantel, der in großem Bogen von 
der einen Schulter herabrauscht, in ein rippenförmig zugespitztes End- 
motiv wie in eine kleine Kräusehvelle ausläuft, aber in diesem Hinabgleiten 
plötzlich unterschnitten wird von einer entgegengesetzt fallenden breiten 
Gewandbahn, so daß hier ein mächtiges Formendreieck entsteht — von 
dessen sprudelndem Motivgehalt der Linienstich Fleischmanns ebenso¬ 
wenig eine Anschauung geben kann wie die von Quandt veröffentlichte 
Lithographie der Zwickauer Verkündigung. Diese aber enthält im Marien - 
mantel die im Hauptmotiv übereinstimmende, nur nicht ganz so reich durch¬ 
gebildete Prägung jenes großen Mantelfallthemas 2 ). 

Der gleiche Sinn im komplizierten Ineinanderführen der Motive spricht 
aus jedem Formkomplex: wie Johannes zur Maria geordnet ist, wie sein 
Mantel im Bausch abflattert, sich überschlägt und in seinem spitzen Ende 
gerade Magdalenens Stirn berühren muß, wie strudclig die Massen von 
Christi Schamtuch sich blähen. 

Diese spitzen Übertreibungen findet man erst bei dem Wolgemut der 
Beweinung in der Lorenzkirche voll ausgeprägt, zu der die starre Komposition 

2 ) Die Figur scheint dem Veit Stoß für seine Magdalena des Stiches der Lazarus¬ 
erweckung (S. 9) vorgeschwebt zu haben. Sein erregter Stil treibt da unter Beibehaltung 
der Grundform durch ein Zerhacken des Bewegungszuges, durch ein Zusammendrängen 
und Ineinandervemcstcln der Form die spätgotischen Elemente der \\ olgcmutischen 
Figur auf die Spitze. 

Repertorium fiir Kunstwissenschaft, XXXV. II 


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I 62 


Notizen. 


mit ihrem doch gruppenmäßigen Zusammenordnen der Figurenmassen, zu 
der besonders die Typen und die Draperien gut stimmen würden 3 ). Doch 
weisen einige Äußerlichkeiten wie die großen runden Brokatmuster im 
Kleide Magdalenens und die etwas schlankere, noch nicht so quadra¬ 
tisch breite Formgebung wieder eher auf die achtziger Jahre (für die Brokat¬ 
muster vgl. das Krell-Epitaph von 1483 im Germanischen Museum). End¬ 
lich ist die Schrifttafel des Kreuzes in den auffälligsten Zügen getreu der 
des Pleydenwurff in München nachgebildet. 

Wir werden nicht fehlgehen, wenn wir in dem hoffentlich nur zeit¬ 
weilig verschollenen Bilde ein Hauptwerk Wolgemuts aus der Zeit um 
1480—90, jedenfalls nach dem Zwickauer Altar und im Anschluß an die 
Kunst seines Lehrers, vermuten. 

3 ) Für die zeitliche Festlegung dieser Tafel sei auf meine im Druck befindliche 
»Nürnberger Malerei der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts« (Straßburg, Heitz) ver¬ 
wiesen. 

Erich Abraham. 


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Besprechungen. 


Eberhard Han£staengl. Hans Stethaiijier, Kunstgeschicht¬ 
liche Monographien XVI. Leipzig 1911. Hiersemann. 50 Seiten, 
24 Lichtdrucktafeln 

Für den Kunsthistoriker hatte seit der Zeit, da kunstwissenschaftliche 
Forschung in Bayern einsetzte, der Name Landshut in erster Linie in Ver¬ 
bindung mit dem Namen Hans Stethaimers das meiste Interesse. Und in 
der Tat nimmt Landshut gerade durch Stethaimer, durch seine Person 
sowohl als auch hinsichtlich seines weittragenden Einflusses auf das damalige 
künstlerische Schaffen in Altbayern ohne Zweifel eine der bedeutendsten 
Stellen ein. 

Mögen auch andere reiche Städte des altbayerischen Stammlandes, 
wie das in Bayerns Kornkammer gelegene Straubing, dann Neu-Ötting, 
Burghausen, das durch seine günstige Lage am Inn im Mittelalter so ver¬ 
kehrsreiche Wasserburg, sich großer kirchlicher Bauten des vielbeschäftigten 
Meisters rühmen, mag auch der Ruf Stethaimers sogar bis in die fürst¬ 
bischöfliche Residenzstadt Salzburg zur Erbauung des Chores der dortigen 
Franziskanerkirche gedrungen sein, der eigentliche Glanz, der von dem 
Ruhm Stethaimers auf die niederbayerische Kreishauptstadt abfällt und 
diesen Ort vor allen andern Städten so recht mit dem Baumeister in Konnex 
bringt, kann Landshut nicht genommen werden. 

Als Bestätigung dessen dürfte auch noch ein anderes Moment in Be¬ 
tracht kommen. Landshut ist durch die zwei Monumentalbauten Stet¬ 
haimers, der Martinskirche wie der Hl. Geistkirche, in einer ganzen Reihe 
architektonischer wie dekorativer Motive, in der Grundrißbildung, in der 
Turmlösung, im dekorativen Beiwerk (Spitzbogenfries), in der die Bauten 
belebenden Gliederung (Spitzbogenblenden) usf. für das umliegende Land 
von maßgebendem Einfluß gewesen. Nicht so verhält es sich bei den oben 
genannten Städten mit ebenfalls monumentalen Zeugen der Tätigkeit Stet¬ 
haimers. Wenn auch da und dort, an Landkirchen im Inn- und Salzach¬ 
gebiet z. B. die an den großen Stadtkirchen zutage getretene Eigenart Stet¬ 
haimers sich bemerkbar macht, es sind immerhin nur vereinzelte Fälle. Wie 

ii* 


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164 


Besprechungen. 


ganz anders bei Landshuts näherer und weiterer Umgebung: das weite Tal 
isarabwärts mit den großen Dörfern Altdorf, Altheim, Ergolding, Essen¬ 
bach, mit der Stadt Dingolfing und den um Landau sich gruppierenden Ort¬ 
schaften, und dann das ergiebige Rott- und Vilstal mit seinen stattlichen 
Marktkirchen in Geisenhausen, Vilsbiburg, Reisbach, Eggenfelden, Pfarr¬ 
kirchen und zahlreichen Dorfkirchen. 

Nirgends anders als in diesem niederbayerischen Backsteingebiete ist 
Stethaimers künstlerische Eigenart bald in äußerst bescheidener Art, bald 
wieder reicher zur Nachahmung gekommen. Für diese Gegend ist Stethaimer 
so recht der Lehrmeister gewesen. Es wäre sicherlich eine sehr dankenswerte 
Aufgabe, zu erforschen, inwieweit der Einfluß Stethaimers sich im kleinen 
auf dieses Baugebict erstreckt. Und die Behandlung dieses Themas wäre um 
so interessanter, als die kunstwissenschaftliche Forschung durch Hanf- 
stacngls Monographie über Hans Stethaimer in die glückliche Lage der 
Kenntnis einerseits der künstlerischen Entwicklung Stethaimers, anderseits 
seiner künstlerischen Abstammung gekommen ist. 

Die eingehende Vertiefung in die für Stethaimer charakteristische 
Eigenart hat durch den Verfasser obiger Monographie eine ganze Reihe von 
neuen Gesichtspunkten zutage gefördert, die für das Studium der altbayeri¬ 
schen Baugeschichte, speziell der spätgotischen Baugeschichte Nieder¬ 
bayerns von wesentlichem Werte sind. So wird Hanfstaengls Monographie 
die Grundlage bilden für den Spczialforscher der niederbayerischen Bau¬ 
kunst des 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts. Sie wird aber auch 
wichtige Aufschlüsse dem bieten, der sich mit der spätgotischen Architektur 
der östlich und südöstlich an Bayern grenzenden Länder Österreichs be¬ 
schäftigen will. Und hier wieder mag von besonderem Interesse sein, nachzu¬ 
gehen, inwieweit sich etwa in den Grenzgebieten die bauliche Eigenart 
Stethaimers sich mit jener der Ostländer vermischte, und umgekehrt, inwie¬ 
weit Zusammenhänge bestehen, usf. 

All diese Forschungen, die der Zukunft überlassen bleiben, \eerden zu 
einem guten Teile Nahrung finden in vorliegender Monographie. Hierzu 
ist namentlich auch behilflich das auf 24 Tafeln beigegebene Illustrations¬ 
material, das einerseits glücklich aufgenommene Außen- und Innenan¬ 
sichten von Stethaimers Bauten zeigt, anderseits auch in sehr übersicht¬ 
licher Weise sorgfältig ausgeführte Grundrisse vor Augen führt und ver¬ 
gleichend nebeneinanderstellt. Rieh. Hofjmann. 


Fritz Hoeber. Die Frührenaissance in Schlettstadt. 
Verlag der Elsässischen Rundschau, Straßburg 1910. 

Die vorliegende Schrift zeigt, wie bei liebevoller Versenkung in die 


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Besprechungen. 


1 65 


Materie und verständnisvoller Einordnung in den größeren Zusammen¬ 
hang auch ein Thema von beschränkter, im Grunde nur lokaler Bedeutung 
kunstwissenschaftlich bearbeitet werden kann. Aus der Fülle der Schöp¬ 
fungen der elsässischen Frührenaissancearchitektur greift der Verfasser 
drei Bauten in Schlettstadt heraus, den Hof der Abtei Ebersmünster von 
1541, das Haus des Stadtbaumeisters Stephan Ziegler, 1538—1545, und 
die Johanniterkomturei von etwa 1565. Diese drei Werke analysiert er auf 
das sorgfältigste als charakteristische Beispiele dreier Stilnuancen der deut¬ 
schen Frührenaissance. Die eine hat das Formgefühl der Gotik noch nicht 
völlig abgestreift, die zweite strebt, unter Anlehnung an ornamentale Vor¬ 
lagen der Goldschmiedekunst und des Kupferstiches, nach feinster Zierlich¬ 
keit, die dritte nach größerer Schlichtheit im Sinne strengerer Form. Man 
wird diese Gliederung für die Dekoration gelten lassen dürfen, für die Raum¬ 
behandlung jedoch nur mit Einschränkung; auch in der Johanniterkom¬ 
turei, dem spätesten der drei Bauwerke, wahrt die Raumgestaltung, unbe¬ 
schadet einiger Änderungen zugunsten stärkerer Monumentalität, wie Ver¬ 
größerung der Fenster, die spätgotische realistische Tradition. Bezüglich 
des Ornamentes führt der Verfasser den Nachweis, daß es mehr auf vene¬ 
zianische, als auf lombardische Vorbilder zurückgreift. 

In einem im Anschlüsse an das Buch erschienenen Aufsatze über das 
Schlößlein Birkenwald bei Zabern (Elsäss. Monatsschrift II, 687 ff.) stellt 
der Verfasser diesen rein deutschen Renaissancebauten den Typus eines 
die Einwirkung französischer Renaissanceanlagen verratenden Bauwerks 
gegenüber. 

Das Schlettstadter Buch ist mit zahlreichen photographischen Repro¬ 
duktionen, sowie mit Nachbildungen guter zeichnerischer Aufnahmen des 
Verfassers reich ausgestattet. Baum. 


Marius Vachon. La Renaissance frangaise, l’architec- 
ture nationale, les grands maitres m a g o n s . Paris 

1910. 

Schon der Titel besagt, daß der Verfasser die Baudenkmäler Frank¬ 
reichs aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts ausschließlich als Werke 
einheimischer Meister betrachtet wissen will, daß er somit energisch gegen 
den sogenannten Panitalianismus Front macht. Es ist aber nicht nur ein 
Kampf gegen die übrigens schon antiquierte Theorie, daß nämlich nur 
italienische Baumeister die französischen Kirchen, Schlösser, Rat- und 
Wohnhäuser gebaut haben könnten; sondern aus allem geht hervor, daß 
sich Vachon auch den modernen Forschungen entgegensetzt, welche die 


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i66 


Besprechungen. 


Mitwirkung italienischer Künstler als Erfinder von Bauplänen, Modellen 
und als Dekorateure nachgewiesen haben. 

Der erste Teil ist der »architecture nationale«, der zweite den »Grands 
inaitres magons tailleurs de pierre« gewidmet. Zunächst entwickelt der 
Verfasser in anschaulicher Weise die enorme Bautätigkeit Frankreichs nach 
dem Abschluß des hundertjährigen Krieges, um zu zeigen, daß die Renais¬ 
sanceperiode nur die unmittelbare Fortsetzung der Spätgotik bedeute, daß 
von irgendeinem Verfall der französischen Kunst im 15. Jahrhundert nicht 
gesprochen werden könne, daß also der italienischen Kunst eine errettende 
und neuschöpferische Rolle nicht zukomme. Vachon verweist auf das 
unmittelbare Nebeneinander gotischer und moderner Formen. Daß sich 
die finsteren, unwohnlichen Schlösser des Mittelalters in heitere Landsitze 
verwandelten, ist einer der stärksten Beweise des nationalen Aufschwungs. 
Wenn der Verfasser aber von einer »adaption g^nörale des formules ultra- 
montaines« spricht, so gerät er später mit sich selbst in Widerspruch, und 
jedenfalls wäre doch in einer Geschichte der französischen Renaissance gerade 
darauf das Hauptgewicht zu legen. Die neue Dekoration ist der Antike ent¬ 
nommen, da gerade in jener Zeit ein lebhaftes Interesse für die Denkmäler 
des Altertums erwachte. Anne de Montmorency erließ ein Manifest zum 
Schutze der Monumente von Nimes und des Languedoc. Anerkannt wird 
auch der Einfluß theoretischer Werke, des Vitruv, Alberti, des Traums des 
Poliphilus u. a. Mit Recht wird auf das Vorkommen italienischer und antiker 
Bauten und Bauteile in den Malereien eines Foucquet und Bourdichon 
und auf Teppichen hingewiesen. Aus den dem italienischen Einfluß durch 
die Theoretiker gegenüber gleichgültigen (maitre Pihourd) oder feindlichen 
Stimmen (Palissy), schließt Vachon, Frankreich hätte sich ihm gänzlich 
verschlossen. Jacques Androuet Du Cerceau, den der Verfasser in 1 \' t Zeilen 
erwähnt, obschon er auch noch der ersten Hälfte des Jahrhunderts angehört, 
vereinigt gleichsam die ganze komplizierte Bewegung in seiner Person und 
seinem überaus reichhaltigen ceuvre. — Die Stellungnahme zum italienischen 
Einfluß hängt davon ab, wie man die Künstlerkolonie in Amboise beurteilt. 
Karl VIII. hatte sie bekanntlich dort angesiedelt »pour ouvrer de leur mettier, 
a l’usaige ct mode d’Ytallie«. Vachon führt sie der Reihe nach vor mit 
Angabe ihres Berufes und ihrer Bezahlung, und kommt zum Schlüsse, diese 
Meister seien nicht fähig gewesen, eine Revolution in der Entwicklung der 
französischen Kunst hervorzurufen. Nicht anders sei es mit den italienischen 
Meistern in Paris und Fontainebleau. Dieser Ansicht muß entschieden die 
sachliche Würdigung dieser Meister durch Geymüller (Die Baukunst der 
Renaissance in Frankreich) entgegengehalten werden (S. 64 ff.). Hoch¬ 
gestellte italienische Persönlichkeiten als französische Bischöfe und Erz¬ 
bischöfe hätten keinerlei Einfluß auf die nationale Architektur ausgeübt; 


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Besprechungen. 


167 

aber unmittelbar vorher zitiert Vachon einen Ausspruch Delormes dahin 
lautend, es liege den Franzosen im Blute, ausländische Künstler höher 
einzuschätzen als die heimischen und sie demgemäß zu bevorzugen. Der 
»Panitalianismus« bestand also doch, was den Verfasser, der ausdrücklich 
darauf hinweist, nicht hindert, dieses Kapitel mit dem apodiktischen Satze 
zu schließen: »Ce sont nos maitres magons-tailleurs de pierre qui seuls ont 
fait la Renaissance architectural frangaise. L'^tranger n’y a iti pour rien«. 

Einem höchst interessanten und bis jetzt noch wenig berührten, aber 
auch sehr schwierigen Gegenstand ist das 5. Kapitel des 1. Teiles gewidmet: 
Traditions, moeurs et habitudes corporatives et professionnelles. Es handelt 
sich um die Erklärung der Bezeichnungen: maitre magon tailleur de pierre, 
deviseurs de plans, maitres magons ouvriers, magons maitres des ceuvres 
de magonnerie, architecte. Mittels Anführung einzelner Beispiele wird auch 
die Bezahlungsfrage gestreift. Nach Vachons Ansicht sind die maitres magons 
tailleurs de pierre sowohl die Erfinder des Planes als auch die Bauleiter, 
demnach auch die Urheber der hervorragendsten Schlösser. Architecte, 
schmückender Beiname zum offiziellen Titel maitre magon, wird erst bei 
Delorme, Bullant, Du Cerceau zur Bezeichnung des Berufes, bleibt rein per¬ 
sönlich, wird nicht korporative Bezeichnung. Architecte bezeichnete vorher 
einen Mann, der in architektonischen Fragen und in der Dekoration be¬ 
wandert war. Auch Bildhauer, z. B. Ligier Richier, tragen die Bezeichnung 
»architecte«. Maitre magon wird dann auch dem Begriff Unternehmer gleich¬ 
gesetzt, unter maitre magon tailleur de pierre versteht Vachon weiterhin 
die ausübenden Handwerker. Seit 1546 sind die maitres magons dem sur- 
intendant, d. h. regelmäßig einem architecte untergeordnet. Für eine und 
dieselbe Person kann in den Urkunden die Bezeichnung je nach der Sache, um 
die es sich handelt, wechseln. Von größerem positiven Wert sind die urkund¬ 
lichen Mitteilungen. Zu annähernd sicheren Resultaten und Schlüssen wird 
man jedoch erst gelangen, wenn einmal eine große Menge solcher Rechnungen 
gesammelt, übersichtlich auf Tabellen geordnet, die Bezahlungen für de¬ 
viseurs, maitres magon usf. gruppiert und untereinander verglichen sind. — 
Sehr nützlich ist S. 48 der Hinweis auf die bindende Kraft, die solche sehr 
genau ausgearbeiteten Pläne für die folgenden Generationen gewannen. — 
In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts hatten die »architectes« den 
stärksten Einfluß auf die Bauentwürfe und die Bauleitung, während sich 
die entrepreneurs immer noch aus den Kreisen der maitres magons rekru¬ 
tierten. Der Inhalt dieses an positiven Aufschlüssen so reichen Kapitels 
führt den Verfasser zu der Schlußfolgerung, die maitres magons, geschult 
in den Korporationen, seien die Begründer der französischen Renaissance, 
während die Architekten, geschult an der Theorie der Antike, nur das Werk 
der maitres magons fortsetzten. Selbst wenn alle die von Vachon später 


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168 


Besprechungen. 


aufgezählten maitres ma^ons die französischen Renaissancebauten erfunden 
und ausgeführt haben sollten, bleibt die Frage nach dem Ursprung der 
modernen Formen noch unbeantwortet. Wohl setzten die »Architekten« 
das Werk der maitres ma^ons fort; aber um diese vielseitigen Architekten 
hervorbringen zu können, durfte die ihnen vorangehende Epoche nicht ein¬ 
seitig ausgebildet sein. — Sehr wichtig ist im 7. Kapitel die Übersicht über 
die königliche Bauverwaltung, in der die surintendants die wichtigste Rolle 
spielten. Daß diese auf die Gestaltung der Baupläne nicht den geringsten 
Einfluß gehabt haben sollten, ist eine voreilige Behauptung. — Zur Leitung 
ihrer Bauten hatten die Fürsten einen maitre magon, die Stadt Paris hatte 
zur Leitung ihrer öffentlichen Arbeiten einen »Maistre des oeuvres de magonne- 
rie et pavement de la Ville«, der aber seinerseits unter dem Bureau de la 
Ville, gebildet aus dem prevot des marchands und den Schöffen, stand. 
Vachon prüft dann auch die Verhältnisse in den Provinzstädten, die Bau¬ 
verwaltung der großen Kathedralen und Kapitel, und schließlich die Stellung 
der maitres magons im Dienste Privater. 

Es folgen die schönen Kapitel (8 und 9), in denen der Verfasser eine 
klare Übersicht über die enorme Bautätigkeit von Ludwig XI. ab bis auf 
Heinrich II. gibt, angefangen beim Könige. Vachon führt alle die Schlösser, 
Kirchen, Hotels auf, die Könige, Grandseigneurs und Private errichteten. 

Der zweite und Hauptteil ist ganz speziell den französischen maitres 
ma^ons und ihren Werken gewidmet. In 16 Kapiteln leistet der Verfasser 
die enorme Arbeit, alle bedeutenderen und auch die weniger bekannten 
Werkmeister vorzuführen und ihnen auf Grund urkundlichen Materials ihre 
Werke zuzuweisen. Den Anfang macht Schloß Gaillon, wo Guillaume Senault, 
Pierre Fain und Pierre Delorme tätig waren; es folgen Rouen mit Jacques 
und Rouland Le Roux, die Lemercier und Grappin im Vexin (Pontoise und 
Gisors), Sohicr und die beiden Le Prestre in Caen, Colin Byard als Architekt 
des Schlosses Le Verger im Anjou, Charles Viart als Urheber der Rathäuser 
von Orleans und Beaugency. Pierre Chambiges ist für Vachon der Architekt 
des Hotel de Ville in Paris, der Schlösser Chantilly, Fontainebleau und 
St. Germain-en-Laye. Um die Urheberschaft des Hotel de Ville ist seit Jahren 
ein erbitterter Streit entbrannt; Marius Vachon, der Autor zweier Mono- 
graphien über das Hotel de Ville, hat seine Gründe in einer Streitschrift 
niedergelegt: Mömoire ä la Commission du vieux Paris, sur l'origine ex- 
clusivement frangaise de l'ancien Hotel de Ville de Paris. Paris, Juli 1911. 
Er tritt, wesentlich aus patriotischen Rücksichten, immer wieder dafür ein, 
daß Boccadoro ein Hotel de Ville begonnen habe, das man aber als zu gotisch 
schleifen ließ, um den endgültigen Auftrag an Pierre Chambiges zu erteilen. 
An dieser Stelle kann unmöglich auf den langwierigen Streit eingegangen 
werden; es sei nur bemerkt, daß Louis Dimier (Sur le vöritable architecte 


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Besprechungen. 


i 69 

de l’Hötel de Ville de Paris. Critique et controverse touchant difförents 
points de l’histoire des arts. Paris 1909) und Henri Stein (La v^ritö sur 
Boccador, architecte de l'hotel de ville de Paris. Bulletin de la soci^tö de 
l’histoire de Paris et de l'Ile-de-France. 1904, S. 171 ff.) mit plausiblen 
und sachlichen Gründen für die ausschließliche Autorschaft Boccadoros ein¬ 
getreten sind. Für Schloß Fontainebleau wird die Mitwirkung Serlios 
gänzlich ausgeschlossen; dort war hauptsächlich die Familie Le Breton tätig. 
Als Urheber von Schloß Madrid wird Pierre Gadyer genannt, als Bauherren 
von Blois haben die Sourdeau, als Architekt von Chambord haben Pierre 
Nep veu, dit Trinqueau und Coqueau zu gelten. Sodann werden die Meister der 
Touraine, von Toulouse (Bachelier, .Cayla, Picard, Colin), der wichtigste 
Baumeister von Angers, Jehan de Lespine, und schließlich mehrere weniger 
bekannte der Ile-de-France, Normandie, Bretagne usw. vorgeführt. Und 
immer ein und dieselbe Schlußfolgerung: nur die französischen maitres 
magons haben die französische Renaissance geschaffen. 

Gerade wegen der übersichtlichen Zusammenstellung dieser Werk¬ 
meister und der zahlreichen dokumentarischen Mitteilungen — die freilich 
besser in einem eigenen Bande zusammengestellt als im Texte verstreut 
wären — wird Vachons Buch der Forschung gewisse Dienste leisten; in der 
Auffassung der französischen Renaissance aber wird sie sich nach wie vor 
Geymüllers Auffassung anschließen, der in grundlegenden Kapiteln Ur¬ 
sprung und Wesen der französischen Renaissance, d. h. dieses Kompromisses 
zwischen national-französischer und importierter italienischer' Kunst, dar¬ 
gelegt hat. Er warnt vor übereilter Interpretation der Urkunden und weist 
auf ihre Lückenhaftigkeit hin. Weil zufällig keine der erhaltenen Urkunden 
italienische Architekten nennt, ist ihre Teilnahme doch nicht ausgeschlossen. 
Frei von nationalen Vorurteilen und als gleichmäßig vorzüglicher Kenner 
italienischer und französischer Architektur war Henri von Geymüller am 
ehesten befähigt, die Grundlagen für eine sachliche, wissenschaftliche Ge¬ 
schichte der französischen Renaissance zu legen. Eine einseitige Beschrän¬ 
kung auf die Baudenkmäler muß notwendig zu falschen Schlüssen über das 
Wesen der Gesamtbewegung führen. Jedes Gemälde, jede Zeichnung, das 
ganze Gebiet dekorativer Skulptur ist als Quelle wichtig. Als höchst lehr¬ 
reiches Buch sei auch Vitrys »Michel Colombe« erwähnt. 

Vachon mag bei der Fixierung seiner Theorie von der richtigen Emp¬ 
findung ausgegangen sein, die französische Kunst habe sich in der sogenannten 
Frührenaissance die italienischen Formeln einzeln assimiliert, sei aber im 
Kern doch Spätgotik geblieben. Selbst in der Periode der Hoch- und Spät- 
Renaissance, ja selbst im 17. Jahrhundert verraten gewisse Eigentümlich¬ 
keiten noch den Ursprung aus der Gotik. Die Architektur, gepflegt durch 
einheimische Meister, blieb also national. Man wird darin gewiß mit Vachon 


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170 


Besprechungen. 


übereinstimmen, daß die Italiener in Frankreich den Grundcharakter der 
französischen Baukunst nicht änderten; man wird ihm vielleicht auch darin 
recht geben müssen, daß die Italiener keine sehr namhafte Rolle bei der 
Erfindung von Bauplänen hatten. Selbst wo sie die Leitung besaßen, mußten 
sie sich nationalen Gewohnheiten anbequemen, so Boccadoro am Hotel 
de Ville in Paris. Wenn die Verwandtschaft zwischen diesem und dem ehe¬ 
maligen Schloß Chantilly, dem Werke des Pierre Chambiges, wirklich so 
eng ist, wie Vachon behauptet, so braucht daraus nicht der Schluß gezogen 
zu werden, Chambiges habe das Hotel de Ville in Paris gebaut, sondern die 
Annahme liegt eben so nahe, die Baukommission habe die Pläne von Chan¬ 
tilly dem Boccadoro empfohlen, wobei.noch nicht erwiesen ist, daß jene das 
ausschließende Verdienst des Pierre Chambiges gewesen seien. Die Ein¬ 
wirkung eines Bauherrn wie Anne de Montmorcncy darf nicht gering an¬ 
geschlagen werden. 

Vachon geht der Frage, woher die neue Dekoration: Putti, Kandelaber- 
Säulen, klassische Säulen, Medaillons, Akanthus usw. gekommen sei, kon¬ 
sequent aus dem Wege. Im Hinblick darauf ist die Rolle der italienischen 
Künstler, gleichviel ob Steinmetz oder Maler, leicht zu erraten: sie sind die 
Vermittler der Ornamentik. Sie waren nicht dazu berufen, italienische Basi¬ 
liken, Kuppelbauten oder Paläste auf französischem Boden zu errichten; 
ihre Aufgabe bestand darin, mehr im kleinen für die Auftraggeber zu ar¬ 
beiten: Altäre, Grabmäler, Brunnen sind ihre bedeutendsten Werke. Die 
italienischen Formen, gleichviel, ob sie aus der Lombardei oder Toscana 
kamen, waren der Spätgotik, die unersättlich nach neuen Ziermotiven 
suchte, zur Bereicherung ihres Formenapparates im höchsten Grade will¬ 
kommen, bis dann allmählich auch Säulenordnungen, Bogengruppen, Tor¬ 
motive in die französische Renaissance eindrangen. 

Eine andere Frage ist diejenige, ob die italienische Baukunst nicht 
auch den Aufbau im ganzen, die Proportionen, Verteilung der Fenster usw. 
beeinflußt habe. Auch hierin hatte die Spätgotik schon vorgearbeitet; man 
beachte die feinen Proportionen am Hotel de Cluny in Paris, den Fries 
zwischen dem Erdgeschoß und dem ersten Stockwerk. Eine wundervolle 
Folge von Rundbogen auf toskanischen Säulchen zeigt das für Jean de Laval 
gebaute Schloß Chateaubriand, aber an der Hofseite des Flügels Ludwigs XII. 
an Schloß Blois öffnet sich das Erdgeschoß in gotisch profilierten Korbbogen 
auf Säulen mit abwechselnd gotischer und italienischer Dekoration. 

Zum Schlüsse ein Wort über die Illustrationen. Auf 80 Abbildungen, 
meist ganzseitigen Tafeln, werden die wichtigsten Monumente vorgeführt, 
einzelne, die nicht mehr erhalten sind nach alten Zeichnungen (Gailion) oder 
nach den Stichen Du Cerceaus (Chantilly). Die Abbildungen geben auch 
einen deutlichen Begriff von der Vielseitigkeit der französischen Renaissance- 


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Besprechungen. 


i 7 1 


architektur und vermitteln leicht das Verständnis ihrer Entstehung aus der 
gotischen. Sie sind auch darum erwünscht, weil der Text ausführliche Be¬ 
schreibung enthält. Hervorgehoben sei schließlich, daß viele außerhalb 
Frankreichs jedenfalls kaum bekannte Baudenkmäler, die bisher nur in der 
Sammlung der »Monuments historiques« oder von F. Martin-Sabon aufge¬ 
nommen waren, weiteren Kreisen vermittelt werden: die Kirche von Gisors, 
das Schloß Chäteaubriant, der Manoir d’Ango in Varengeville, das Schloß 
von Fontaine-Henri, die Kirche von St. Th^gonnec, das Portal der Kirche 
von Guimiliau. Konrad Eschcr. 


J. Rohr. Der Straßburger Bildhauer Landolin Oh¬ 
macht. Eine kunstgeschichtliche Studie samt einem Beitrag zur Ge¬ 
schichte der Ästhetik um die Wende des 18. Jahrhunderts. Straßburg, 
K. J. Trübner, 1911. 

Mehr und mehr beginnt die lange mit tiefster Verachtung behandelte 
Zeit des Klassizismus die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Unserer 
lebendigen Kunst wird er nicht mehr gefährlich werden; so kann die Ge¬ 
schichte anfangen, sich vorurteilslos um sein Verstehen zu bemühen. 

Fast noch weniger bekannt als die deutsche Malerei ist die Pla¬ 
stik jener Zeit. Auf einen Bildhauer hat freilich schon W. Bode in 
einer »deutschen Plastik« als viel zu wenig bekannt hingewiesen: 
auf Landolin Ohmacht (1760—1834). Seit kurzem hat gleichzeitig 
an mehreren Stellen die Forschung über ihn eingesetzt, und schon 
ist eine umfängliche Monographie über ihn von dem Straßburger 
Theologieprofessor J. Rohr erschienen; zwanzig Tafeln mit guten 
Abbildungen sind beigegeben. Zum Termin des Erscheinens hatte 
der Direktor des Straßburger Kunstgewerbemuseums Prof. Dr. Polaczek 
im Palais Rohan eine höchst dankenswerte und geschickt angeordnete Aus¬ 
stellung von allem zusammengebracht, was an Originalen, Kopien oder, 
wo diese versagten, Abbildungen Ohmachtscher Werke nur irgendwie zu 
erlangen gewesen war. 

Das Rohrsche Buch, das sich der Unterstützung der Wissenschaftlichen 
Gesellschaft in Straßburgzu erfreuen gehabt hat, behandelt in fünf Kapiteln 
den Künstler und seine Schicksale, das Lebenswerk, des Künstlers ästhe¬ 
tisches Glaubensbekenntnis, des Künstlers Lehrbuch, Archivalien und Nach¬ 
träge. Kapitel III sucht also den Künstler in die geistige und künstlerische 
Atmosphäre einzuordnen, geht aber doch zu sehr ins Breite, ohne unsere 
Kenntnis wesentlich zu vertiefen. 

Der Titel des vierten Kapitels ist irreführend; es handelt sich nicht 
um ein Lehrbuch Ohmachts, sondern um eine freilich sehr seltene, 1781 


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172 


Besprechungen. 


erschienene Schrift seines Lehrers J. P. Melchior: Versuch über das sicht¬ 
bare Erhabene in der bildenden Kunst — von der Rohr einen umfangreichen 
Auszug gibt. Dankbar muß man dagegen für das Übrige sein, das die mit 
liebenswürdiger Bescheidenheit dargebotenen Resultate jahrelangen, sorg¬ 
fältigen Forschens bringt, sich auch in der ästhetischen Wertung frei von 
einer an sich naheliegenden Überschltzung hält. Zu bedauern ist nur, daß 
bei der Besprechung der Werke, die sich auf einen Zeitraum von über 
60 Jahren verteilen, nicht die chronologische Anordnung gewählt ist, sondern 
eine Gruppierung nach an und für sich anfechtbaren Gesichtspunkten: 
i. Porträts, 2. dekorative Arbeiten, 3. Denkmalskunst. Auf diese Weise 
bleibt das für einen Künstler Wichtigste, seine Entwickelung, im Hinter¬ 
gründe; es bleibt bei einzelnen, an sich richtigen und feinen Beobachtungen. 
So kommen die letzten Porträts von 1829 noch vor den Dunninger Reliefs 
(um 1780) zur Besprechung. Aber der Verf. beabsichtigt ja auch nicht, 
mit seiner Veröffentlichung das Ohmachtstudium zum Abschluß, sondern 
noch mehr in Fluß zu bringen — ein Wunsch, der zweifellos in Erfüllung 
gehen wird. 

Ohmacht empfängt nach einer handwerklichen Ausbildung, die sich 
in den Gleisen des ausgehenden Rokoko und des beginnenden Louis XVI. 
vollzieht, entscheidende Anregungen, wie bereits erwähnt, von I. P. Mel¬ 
chior in Frankenthal. Arbeiten von ihm in der dortigen Porzellanmanu¬ 
faktur nachzuweisen, wird vielleicht noch gelingen *). Solange dies nicht 
geschehen, wird von dokumentarischer Wichtigkeit sein ältestes nachweis¬ 
bares Alabaster-Porträt Melchiors von 1787 (Frankfurt, Historisches Mu¬ 
seum), ein liebenswürdiges, technisch mit der größten Sorgfalt ausge¬ 
führtes Werkchen, dem freilich eine etwa tiefschürfende psychologische 
Analyse abgeht. Diese Eigenschaften bleiben den bis zu seiner italieni¬ 
schen Reise, die etwa 1789—1790 stattgefunden hat, nur in geringer Zahl 
nachzuweisenden Arbeiten, von denen einige in Basel entstanden sind. 

Die graziöse Antike des Louis XVI. weicht dem wuchtigen Schritt der 
echten, und Ohmacht läßt es sich nicht verdrießen, die Juno Ludovisi in 
seine kleinere plastische Welt umzumünzen; auch die Renaissance, vor 
allem aber Canova, dessen Schüler er gewesen sein soll, hinterlassen ihre 
Spuren. 

Die umfangreichste Tätigkeit nach seiner Rückkehr entfaltet er wieder 
als Porträtbildhauer, die ihn weit herum nach Frankfurt, Hamburg, Lübeck 
führt. 


*) Das inzwischen erschienene Werk von Hoffmann über das Frankenthaler 
Porzellan (München 1911) kann leider auch nichts darüber feststellen; nur 2 Porträt¬ 
medaillons werden ohne nähere Begründung mit der gemeinschaftlichen Bezeichnung 
Melchior und Ohmacht versehen (Bd. II; Taf. 155. Vgl. Text S. 21). 


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Besprechungen. 


173 


In der Kleinplastik dieser Zeit sind Unterschiede gegen früher schwerer 
zu beobachten; dagegen geht er jetzt zum großen Format über, vor allem 
in der wundervollen Büste des Vates poeta Klopstock und im Grab¬ 
mal (Bürgermeister Peters, Lübeck). Die Arbeiten in Straßburg, wohin er 
1803 dauernd übersiedelt, setzen diese Richtung in der Lösung größerer 
dekorativer Aufgaben fort, die sich dem erkältendem Hauche des Empire 
nicht ganz entziehen können. Sogar in den Dienst protestantisch-kirch¬ 
licher Kunst stellt er sich (Karlsruhe). 

Bedauerlich ist der Verlust oder die Unzulänglichkeit von Werken, 
die Ohmacht für den napoleonischen Günstling Schulmeister in 
Mainau geschaffen. Die Legende über die von ihm geschaffene Venus wird 
endgültig zerstört; sie ist mit der Flora bei der Belagerung Straßburgs 1870 
zugrunde gegangen. In dem »Neptun« scheint mir — trotz Antike — noch 
etwas von dem Hauche eines großzügig-dekorativen Rokoko zu leben. 

Gegen Ende seines Lebens trifft die ursprüngliche Richtung seiner 
Begabung, mit der nach dem Biedermeier tendierenden Zeitströmung 
wieder mehr zusammen, sodaß die Werke dieser Zeit einen lebendigeren 
Eindruck machen. Im ganzen wird man immer zu den Porträts als zu seinen 
bleibenden Leistungen zurückkehren; und unter den Dargestellten treffen 
wir Leute wie Iffland, Lavater, Klopstock, Th. Sömmerring, Lili v. Türck- 
heim, den Erzbischof von Mainz. Sogar Napoleon wollte von ihm sein 
Porträt haben; durch einen Zufall zerschlug sich der Auftrag. Am Porträt 
kann sich sein an der Antike und Renaissance genährter Schönheitssinn 
entfalten, ohne ins Leere zu verfallen. Das Individuelle behält eben doch 
gerade hier sein Recht. Sogar bei Frauenporträts kommt bei ihm unter 
Umständen eine gewisse Herbheit zustande, wie etwa bei der Frau des 
Anatomen S. Th. Sömmerring; und das Lavater-Porträt, die kleine Klop¬ 
stock-Büste, sowie die zwei Büstchen des Sömmerringschcn Sohnes in ver- 
schiedenem Lebensalter J ) zeigen eindringende Beobachtung. 

Freilich sind diese besten Porträts fast ausnahmslos in kleinem Format 
gehalten, und diese Gebundenheit an das kleine Format ist eine Grenze 
seiner Kunst, die aber auch sonst in der Zeit zu beobachten ist. Größere 
Arbeiten werden leicht leer; die Summe der individuellen Beobachtung, 
über eine größere Fläche verteilt, reichen zur Belebung nicht aus. Ge¬ 
legentlich erfahren aber auch, was Rohr mit Recht hervorhebt, Züge von 
Männern, deren Bedeutung über einen engeren Kreis hinausgeht, mit Ab¬ 
sicht eine Steigerung und Überhöhung, die ihnen vielleicht einen antiken 

*) Vom Ref. neuerdings veröffenüicht in Alt-Frankfurt. Vierteljahrschrift für 
lebe Geschichte und Kunst. Frankfurt a. M. Jahrg. 2 (1911)1 Heft 4. Ein weiteres 
ebenda Jhrg. 3, H. 4 S. 122 ; die Veröffentlichung weiterer, bisher unbekannter in Vor¬ 
bereitung. Vgl. neuerdings W. Cohn in Cicerone III. S. 653 f. 


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Besprechungen. 


Hauch gibt, sich aber leicht auf Kosten der Individualität vollzieht. Das 
ist der klassizistische Zug, der seiner tüchtigen, auf die Beobachtung des 
Lebens ausgehenden Natur an sich nicht liegt, sich aber unter dem Einfluß 
der Zeitströmung eine Zeitlang durchsetzt. 

Zu einzelnen Stellen noch folgende Bemerkungen: 

S. 7. Die Porzellan-Manufaktur Höchst ist keine Straßburger Grün¬ 
dung. 

S. 40. Die Biskuit-Reliefs bei Dr. Oppenheimer-Mainz hält Verf. 
selbst, wie er mir gütigst mitteilt, nicht mehr für Arbeiten Ohmachts. 

S. 45. Das Relief-Porträt von Susette Gontard, der Hölderlinschen 
Diotima, ist nicht Marmor, sondern Biskuit, und nicht in annähernd natür¬ 
licher Größe, sondern bedeutend kleiner gehalten. Höhe des Kopfes 0,078 m, 
Höhe des ganzen Rahmens 0,122 m. 

S. 107 ist wohl irrtümlich Poussin als Künstler des Salons genannt. 

K. Simon . 


CurtH. Weigelt. Ducciodi Buoninsegna. Studien zur Geschichte 
der frühsienesischen Tafelmalerei. Mit 79 Abbildungen auf 67 Licht¬ 
drucktafeln. Leipzig, Karl W. Hiersemann, Kunstgeschichtliche Mono¬ 
graphien, Band XV, 1911. 

Es ist in diesem Buche viel von »Mischstil« die Rede und viel vom 
»Zwischenzweiweltenstehen«. Der hiermit bezeichnete Charakter seines 
Gegenstandes ist auf das Buch selbst übergegangen. Bewußter- und ge¬ 
wolltermaßen. Es sollte die exakteste Behandlung ganz spezieller kunst¬ 
historischer Probleme bieten und doch zugleich »seinen Weg zu den Lieb¬ 
habern finden«, ja selbst ad usum delphini dienen und »ein wenig ,sehen* 
lehren«, endlich zu einem Ehrendenkmal des Meisters von Siena werden, 
ihm »größere Beachtung sichern«, sein Werk weithin bekannt machen. 
Ich fürchte, der Verfasser wird seine Absichten, indem er sie vervielfachte, 
kaum halb erreichen. Der Liebhaber und der Anfänger werden das Buch 
gar bald aus der Hand legen. Denn was ist ihnen Hekuba? Wie sollen 
sie sich durch die seitenlangen Erörterungen über die Maniera bizantina ohne 
jegliche Unterstützung durch Abbildungen hindurcharbeiten? Der Fach¬ 
mann wird über manche — vom Verfasser selbst eingestandene — Längen 
seufzen. Er hätte das »Dokumentarische über Duccio« lieber in Regesten¬ 
form geben sollen statt als, trotz aller Bemühungen, doch notwendig farb¬ 
lose Erzählung. Er wird nicht umhin können, das 3. Kapitel »Duccio als 
Erzähler« als für ihn wertlos und im Grunde verfehlt zu empfinden, weil 
darin vor der Wirkung von Duccios Bildern auf den heutigen Betrachter 
die Leistung des Künstlers in seiner Zeit zu kurz kommt. Das Kapitel 
hätte mit der ikonographischen Untersuchung verwoben werden müssen, 


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Besprechungen. 


*75 


die nun, dem Liebhaber zuliebe, in den Anhang verwiesen ist. Dann 
wären bedenkliche poetische Interpretationen, wie die der Verkündigung, 
von selbst fortgefallen, uralte ikonographische Motive, wie die Anrührung 
des Blindgeborenen, Petri Gebärde bei der Fußwaschung, nicht dem 
Dichter Duccio zugute gerechnet worden. Im Rahmen der mittelalter¬ 
lichen Kunst dürfen die Wertverschiebungen doch nur mit den aller - 
schärfsten und streng auf den Gegenstand eingestellten Instrumenten 
gemessen, müssen stets relativ gewürdigt werden. 

Ein letztes und gewiß nicht ungewichtiges Bedenken gegen die Anlage 
des Buches: es wird bei seinem enormen (sachlich durchaus gerechtfertigten) 
Preis kaum so leicht in die Fachkreise dringen, wie es wünschenswert wäre. 
Duccio-Interessenten besitzen ja wohl zumeist die hier vollzählig reprodu¬ 
zierten Lombardi - Photographien. Ihnen wäre mit einem knappen kriti¬ 
schen Text und einigen Neuaufnahmen zum Siebentel des Preises besser 
gedient gewesen. 

Diese Kritik der Absichten mußte vorausgeschickt werden. Denn 
erst, wenn man sich über die mancherlei Mängel des Buches hinweggesetzt 
hat, die sie verschuldet, wird man zu einer gerechten Würdigung des tat¬ 
sächlich Geleisteten gelangen. Von dem wissenschaftlichen Kern der Arbeit 
kann nur mit vollster Anerkennung gesprochen werden. Die Stellung 
Duccios in der Entwicklung der italienischen Malerei ist — man darf wohl 
sagen zum ersten Male — richtig bestimmt worden. Er erscheint nicht als 
der rätselhafte Neuerer, sondern wird als Ergebnis der Dugentomalerei 
betrachtet. Sein Stil wird in strenger Analyse aller seiner Elemente aus der 
Maniera bizantina abgeleitet. Die umfängliche Charakteristik und ver¬ 
ständnisvolle Würdigung dieser Entwicklungsphase der italienischen Kunst 
beweisen, daß der Verfasser alle Vorurteile Vasarianischer Kunstbetrach¬ 
tung, die sich gerade in diesem Punkte weit bis in unsere Tage hinein fortge¬ 
schleppt haben, abgestreift und in ernsthafter, auf weitgehender Denk¬ 
mälerkenntnis beruhender Versenkung das natürlich auch hier unter der 
toten Oberfläche wirkende Leben empfunden hat. Aber wie gern hätte man 
nun gerade hier neue, ad hoc zusammengestellte Abbildungen mit Detail - 
vergleichen zwischen Maniera bizantina und Duccio und gäbe dafür dessen 
ganze schöne Bilderbibel preis ! 

Das Neue in Duccios Kunst sieht der Verfasser vor allem in einer 
freien Naturbeobachtung. Ein Zusammenhang dieses neuen Verhältnisses 
zur Natur mit dem religiösen Leben wird in einer etwas posthumen Thode- 
kritik grundsätzlich abgelehnt. Es fragt sich, ob mit vollem Recht. Daß die 
Verlebendigung der religiösen Vorstellungen Einfluß auf die Konkretisierung 
der Bildvorstellung haben kann, ist ohne weiteres doch nicht zu leugnen. 
Hier kommen wir gewiß mit einem doktrinären Pro oder Contra nicht 


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Besprechungen. 


weiter, sondern nur mit eingehender Prüfung von Fall zu Fall. Der Ver¬ 
fasser aber erklärt sich ausdrücklich außerstande, den Zusammenhängen 
zwischen Duccios Kunst und dem seelischen Leben der Zeit weiter nach¬ 
zugehen. 

Es ist jedoch überhaupt fraglich, ob man das Entscheidende bei Duccio 
»Naturbeobachtung« nennen darf (W. spricht gradezu von unmittelbarem 
Modellstudium, an das man »zuweilen« denken müsse). Verlebendigung der 
traditionellen Motive gewiß, aber in welcher Richtung, und aus welcher 
Quelle und Kraft? 

Die nach Oskar Wulffs in dieser Zeitschrift Bd. 27, 1907 veröffent¬ 
lichten Untersuchungen besonders drängende Frage des französisch-goti¬ 
schen Einflusses auf Duccio wird sorgfältig eruiert — und im wesentlichen 
verneinend beantwortet: wir finden nach Weigelt wohl vereinzelte gotische 
Figuren- und Formmotive, aber zu Duccios »Stilbildung« hat die Gothik 
so gut wie nichts beigetragen. Ich halte diese Ansicht für richtig und meine, 
daß damit ganz allgemein viel für die Auffassung des Verhältnisses von 
italienischer Kunst und Gotik gewonnen ist: die gotischen Formen haben 
die Italiener eine Zeitlang und in häufigen Einzelfällen fasziniert, der gotische 
Stil aber ist bei ihnen stets auf Widerstand gestoßen. Ich glaube auch, 
daß Weigelt mit vollem Recht die gotischen Elemente in Duccios Bildern 
von Giovanni Pisano ableitet, also als aus zweiter Hand entlehnt betrachtet. 

Hingegen scheint mir Weigelt einen bedeutenden Faktor in Duccios 
Stil falsch einzuschätzen: die echte byzantische Kunst. Kallabs und 
Berensons Meinungen hierüber dürfen doch wohl nicht so einfach abgetan 
werden. Des letzteren Annahme einer Schulung Duccios in Byzanz selbst 
schießt freilich über das Ziel hinaus, aber ich kann mir nicht denken, daß 
sich der Fortschritt Duccios über die Maniera bizantina ohne starke persön¬ 
liche Eindrücke von echt byzantinischen Kunstwerken: Miniaturen, Emails, 
Kleinmosaiken, Elfenbeinen habe vollziehen können. Das ergibt sowohl 
die Technik, deren Abstand von der Maniera bizantina auch Weigelt betont, 
als besonders die Figurenbildung, ihre Plastik, die knappe Modellierung in 
festem Farbenauftrag. Auch hier kann nur eingehende Spezialuntersuchung 
zur vollen Erkenntnis führen; auf einzelnes sei flüchtig hingewiesen: der 
Sitz des Kindes in der Franziskaner- und Rucellai-Madonna, der Oberkörper 
der Franziskaner-Madonna verglichen mit dem Titelbild in Vat. Reg. 1. 
Diese Anknüpfung an die im Vergleich zur Maniera bizantina so viel natur¬ 
nähere byzantinische Kunstform erklärt m. E. vieles von dem, was Weigelt 
auf unmittelbare Naturbeobachtung zurückführt. Die »Natürlichkeit« in 
Duccios Kunst beschränkt sich auf eine durchaus nicht realistische (auf Be¬ 
obachtung beruhende), sondern poetische (auf Einfühlung, mimischem 
Nacherleben beruhende) Belebung des byzantinischen Figurentypus — und 


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Besprechungen. 


»77 


hieraus gerade erklärt sich der vonWeigelt betonte Mangel des »Natürlichen 
im höheren Sinne«. Dann aber wären die treibenden Kräfte nicht in einem 
veränderten Verhältnis der Menschen zur Natur, sondern in einer inneren 
Umstimmung, einer Verschiebung der Vorstellung aus dem rein begriff¬ 
lichen in das Poetisch-Dramatische zu suchen. Und so blieben wir denn 
doch noch ganz im Rahmen mittelalterlichen Kunstempfindens. 

In der lebendigen Anregung zu neuem Nachdenken über diese grund¬ 
sätzlichen Fragen beruht der hauptsächlichste Wert des Buches. Daneben 
aber bringt es eine Fülle einzelner kritischer Fragen zur Sprache. Der 
Rucellai-Madonna ist ein ganzes Kapitel gewidmet worden. Weigelt nimmt 
sie für Duccio in Anspruch. Die Beweisführung hätte vielleicht etwas straffer 
sein können, die Auseinandersetzung gegen die Trinitä-Madonna knapper 
(und dabei doch weniger auf die Throne beschränkt), der Vergleich mit 
Duccios Madonnen eindringender. Auch hätte man besser mit ihm den 
Anfang gemacht. Denn daß das Rucellaibild vom Meister der Akademie¬ 
madonna, d. h. Cimabue gemalt sei, glaubt heute wohl kein Mensch mehr 
— auch Rintelen nicht, wie's scheint, trotz seines merkwürdigen Bemühens, 
eine engeVerwandtschaft der beiden Tafeln zu erweisen (Berliner Kunstgesch. 
Ges. io. XI. 1911). Sehr dankenswert ist dagegen der Versuch, beide Bilder 
im Zusammenhang der monumentalen Madonnendarstellungen des Dugento 
zu betrachten, ihre durchgängige Gegensätzlichkeit als den Gegensatz »wi¬ 
schen Siena und Florenz zu begreifen und damit den sienesischen Charakter 
der Rucellai-Madonna zu demonstrieren. Freilich ist auch dieser Gedanke 
nicht völlig befriedigend durchgeführt worden, weil die Gesichtspunkte, 
nach denen die Reihen gebildet werden, schwanken und die Stellung Coppos 
unbestimmt bleibt: er leitet nach Weigelt die florentinische Reihe ein, aber 
man wird doch nicht verkennen dürfen, daß die Rucellai-Madonna ein ent¬ 
scheidendes Motiv, das aufgestellte linke Bein, gerade von ihm entlehnt hat. 

Es wird auch nach den von Weigelt in die Debatte eingeführten neuen 
Gesichtspunkten noch mancher Zweifelsrest an Duccios Autorschaft be¬ 
stehen bleiben. Aber die Wagschale neigt sich stark nach seiner Seite: die 
formalen Zusammenhänge mit der Franziskaner-Madonna, die Identität des 
Stilgefühls mit der Maestä, in der Duccio, »in gewissem Sinne Cimabue 
folgt, auf großmonumentale Wirkungen ausgeht, aber doch wieder mehr 
mit seinen (seil, in der Rucellai-Madonna bewährten) Mitteln, die kaum über 
dekorative Flächenfüllung hinausgehen«. Und so wird man schließlich 
doch dem Dokument von 1285 eine ausschlaggebende Beweiskraft für Duccio 
zusprechen müssen — auch auf die Gefahr hin, daß dies Verfahren als »inner¬ 
lich widerspruchsvoll und halb« (Rintelen) gebrandmarkt wird. 

Ein Exkurs über die Madonna des Guido da Siena bringt erhebliche 
Argumente für ihre Entstehung 1221, die durch eine geschickte Rekonstruk- 

Repertorium für Kunstwissenschaft, XXXV. 12 


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i 7 8 


Besprechungen. 


tion ihres ursprünglichen Aussehens wesentlich bekräftigt werden, daneben 
Hinweise auf eine Fülle zugehöriger Werke einer »Guido-Schule«, aus der 
Duccio herauswächst. Vitzthum. 


Aug. L. Mayer. El Greco, eine Einführung in das Leben 
und Wirken des Domenico Theotocopuli genannt 
el Greco. München 1911, Delphinverlag, 91 S. mit 50 Abbildungen. 

Bei der populären Fassung eines wissenschaftlichen Gegenstandes 
läuft der Verfasser leicht Gefahr, von den eigentlichen Problemen abzu- 
biegen und in den Fehler einer leicht gefälligen Behandlungsweise unter 
Verzicht auf Sachlichkeit und Genauigkeit zu fallen. Nur die ganz Großen 
und die ganz Modernen, — Begriffe, die sich nicht immer decken, — dürfen 
in solche Darstellungsformen gebracht werden. Bei Grec otreffen beide An¬ 
forderungen zwar nicht ganz kongruent zu, immerhin ist er doch eine so 
starke Künstlerpersönlichkeit, daß kaum einer ohne irgendeine lang- 
anhaltende Erregung die Originale verlassen wird. Über Greco ist erst vor 
kurzem ein zweibändiges Werk von B. Cossio in spanischer Sprache ge¬ 
schrieben worden, das freilich den Meisten inhaltlich gänzlich unbekannt 
ist, doch bleibt seine Kenntnisnahme conditio sine qua non, um den Maßstab 
für die Beurteilung dessen zu gewinnen, was denn Aug. Mayer Neues ge¬ 
bracht habe 1 Vielleicht tut man aber dem Büchlein und seinem Verfasser 


Unrecht, wenn man überhaupt mit dieser Fragestellung kommt, und 
schließlich war ja das Neue nicht die Hauptabsicht. Flott und sachlich 
sind die beiden ersten Kapitel geschrieben. Nach den Übertreibungen in 
Meyer-Graefes »Spanische Reise« (vgl. meine Rezension im Repertorium 
Bd. XXXIII, Heft 5) ist das »modus in rebus« recht wohltuend. Von 
selbständigerem Werte sind die paar Seiten des dritten Kapitels, in denen 
die kunsthistorischc Abrechnung erfolgt. Es sei jedoch auf ein paar Punkte 
hingewiesen. 

Es ist dem Verfasser um den Nachweis zu tun, daß Greco als Maler 
doch nie zum Spanier geworden sei trotz seines erstaunlichen Verständ¬ 
nisses für spanisches Leben und Wesen. Damit ist aber doch nur eine 
Seite seiner Kunst getroffen, diejenige, welche immer venetianisch aus¬ 
sah. Gerade in seinem Hauptbilde, der Bestattung des Grafen Orgaz in 
S. Tom6 und in trefflichen Spätwerken, die den ganzen Greco recht eigent¬ 
lich zeigen, ist die spanische Eigenart völlig nachweisbar vorhanden, ist 
gerade die ernste, schwere und gedämpfte Farbe da, die freilich mit den 
rein koloristischen Bildern im Widerspruch steht. Aber aus Widersprüchen 
ist der Mensch und Künstler Greco nun einmal zusammengesetzt, und das 
ist auch der Grund, warum er nie als ein ganz Großer in der Menschheits- 



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Besprechungen. 


*79 


»Mauritius« im Escorial, nur darf man nicht, wie Mayer will, annehmen, 
daß bei der Komposition die bekannten »Sante Conversazioni« der Vene- 
tianer vorschwebten. Das ist doch nur eine oberflächliche Parallelisierung. 
Gerade das unumgänglich notwendige Hauptmotiv der Madonna und des 
Jesusknaben fehlt ja. Vielmehr müssen hier die »Disputationen der 
Kirchenväter« herangezogen werden, für die etwa Andrea del Sarto im 
Palazzo Pitti (abgeb. bei Wölfflin S. 160) zu vergleichen wäre. Ist wirk¬ 
lich die Beschäftigung mit den Lichtproblemen auf Correggio zurückzu- 
führen, den er allerdings auf seiner Reise nach Rom kennen lernte? Dafür 
kann doch die eine Tatsache, daß er die »Nacht« kopierte, nicht viel be¬ 
weisen. Von Byzanz hat Greco etwas Mehr übernommen. Sicher ist, 
daß die Auffassung des Evangelisten Johannes als des bärtigen, greisen, 
griechischen Philosophen rein byzantinisch ist. Hin und wieder stellt sich 
auch in der italienischen Kunst der bärtige Evangelist ein. Er ist dann 
aber regelmäßig der Mann in der Vollkraft der Jahre, stark und tem¬ 
peramentvoll, und diese Vorstellung hat natürlich nicht der Orient von 
dem Verfasser des IV. Evangeliums, der von dem Logos spricht (vgl. 
meinen Aufsatz in den Monatsheften IV. 9). 

Wie nun der Greco auf der Höhe angelangt alle Schrauben anzieht, 
die Längenproportionen steigert, Verzeichnungen bringt, ja bringen muß, 
ist in Kürze gut entwickelt. Was der Meister an Mystischem leistet, zeigt 
seine »Eröffnung des V. Siegels«, eine Deutung, die durch mich durchaus 
gesichert ist und nicht nur Wahrscheinlichkeitswert besitzt (vgl. Monats¬ 
hefte IV. 3). Die Deutung der Ildefonsoszene ist nicht richtig. Eis ist 
nicht das Moment vor der Erscheinung der Madonna gegeben, sondern die 
eigentliche Erscheinung selbst. Das zeigt ganz deutlich der Heilige Jo- 
hannes vom Kreuz in seiner Abhandlung über die substantiellen An- 
sprachen, welche dem Geiste innerlich zuteil werden (vgl. Ausgabe von 
Gallus Schwab I, S. 293). Die Maria kann reden, ohne daß sie gesehen 
wird I Gut ist, was im dritten Kapitel gesagt ist, wo der blinden Begeiste¬ 
rung in die Zügel gegriffen wird, freilich werden sie zu straff angezogen. 
Man dürfe Greco nicht kurzweg als Vorläufer modernster malerischer Be¬ 
strebungen bezeichnen. Mit Verlaub, wenn einer es gewesen ist, war es 
doch wohl Greco, und ich darf mich hier auf den unvergeßlichen Hugo 
von Tschudi berufen. Mit Velasquez und C^zanne dürfe man ihn nicht 
direkt vergleichen (S. 70), das ist auch meine Ansicht. Grecos Kunst ist 
ihrer Wesensveranlagung und ihren Tendenzen nach anders gestempelt. 
Er komponiert noch nicht wie C^zanne alles mit Farbe, er verwendet 
viel mehr zur Modellierung wie zur Schattenangabe mit großem Raffine¬ 
ment die bald dunkelbraune, bald mehr ins Rötliche gehende Grundierung 
der Leinwand in ganz ähnlicher Weise, wie es später Guardi mit nicht 

12* 


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Besprechungen. 


i 8o 

geringerer Virtuosität getan hat. Der Künstler komponierte auch noch 
nicht wie Clzanne in Flächen. Er erfaßte zunächst dreidimensional die 
Gestalten und schwächte dann das Körperliche nach Kräften ab (S. 72). Zum 
Schlüsse folgt ein sorgsam zusammengestelltes Verzeichnis der WerkeGrecos. 

Das Büchlein wird als Einführung von Forschern und Künstlern 
dankbar aufgenommen werden, beweist aber doch zugleich, daß die Greco- 
Erkenntnis erst im Anfänge steht. Die Herbeischaffung des Materials 
liefert allemal erst den Boden, auf dem die Wissenschaft ihren Bau äuf- 
richten kann. Hugo Kehrer. 

Wilhelm Rolfs. Geschichte der Malerei Neapels. Leipzig. 

E. A. Seemann. 1910. 440 S., eine Heliogravüre, 13 Textfiguren und 

138 Abb. auf 112 Tafeln. 

Es fällt schwer, ein abfälliges Endurteil über ein Buch zu fällen, in 
dem schließlich doch eine ganze Menge Arbeit steckt. Allein, man wird 
nicht umhin können, die »Geschichte der Malerei Neapels« von Wilhelm 
Rolfs eine in Form wie Inhalt gleich wenig befriedigende Leistung nennen 
zu müssen. Rolfs wollte ursprünglich nichts weiter als eine kurzgefaßte 
Geschichte der Malerei in Neapel, eine historische Würdigung des Gemälde¬ 
bestandes von Neapel für einen Band der Seemannschen »Berühmten Kunst¬ 
stätten« geben. Der Autor baute aber dann seine Arbeit in der ersten Hälfte, 
d. h. für die Zeit bis zum 16. Jahrhundert, zu einer großen Geschichte der Malerei 
Neapels aus — ohne dies für die zweite Hälfte, die weit wichtigere und inter¬ 
essantere Barockzeit, zu tun. Allerdings fand Rolfs für die Geschichte des 
Primitiven schon einen recht guten Unterbau vor, während er für das 17. 
Jahrh. vor allem noch gehörig viel Kärrnerarbeit hätte leisten müssen. So 
kommt es, daß das Ganze höchst ungleich geraten ist. Der erste Teil ist 
trotz der etwas zu breit geratenen Anlage recht brauchbar, der zweite Teil 
aber ganz unzulänglich. Abgesehen davon, daß Rolfs sich hier peinlich 
nur auf die in Neapel befindlichen Werke der behandelten Künstler (darunter 
Meister wie Ribera, Vacarro, Giordano, Solimena, Rosa) beschränkt, so hat 
er weder bei der Würdigung der großen noch der kleineren Maler die ein¬ 
schlägige ältere Literatur in erschöpfender Weise benutzt. Dadurch ist mehr 
als eine Lücke und mehr als ein Irrtum entstanden. Vor allem aber ist zu 
rügen, daß R. bei keinem der eben genannten Meister ein wirklich klares, 
knappes Bild seiner künstlerischen Entwicklung entwirft. Dies hängt freilich 
mit der ganzen, etwas kleinlichen Art des Autors zusammen, der sein Buch 
ohne die nötige Gliederung, ohne starkes Hervorheben der Hauptakzente 
geschrieben und sich viel zu sehr in nebensächliche Details verloren hat. 
Anzuerkennen ist, daß R. stets den Erhaltungszustand der Bilder genau 
nachgeprüft hat. Das Fehlen des wissenschaftlichen Apparates entschuldigt 


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Besprechungen. 


i 8 i 


er mit der ursprünglichen Bestimmung des Buches für die »Berühmten 
Kunststätten«. Daß man de Dominici höchst wenig trauen darf, ist keines¬ 
wegs eine neue Feststellung. Rolfs hat sich aber dann nicht nur in ver¬ 
schiedenen Fällen, wie bei der Würdigung von Desiderio und Correnzio, 
ausschließlich auf den von ihm so geschmähten Fälscher gestützt, sondern 
hat selbst Dinge behauptet, die zu sagen keinem der älteren Schriftsteller 
eingefallen ist. So z. B. bei Ribera: Gegenüber der unerläßlich feststehenden 
Tatsache, daß dieser Meister nach seiner Übersiedelung nach Neapel nie 
wieder nach Spanien zurückgekehrt ist, bemerkt Rolfs wiederholt, daß 
Ribera 1631—1636 in Spanien geweilt habe, um die Gemälde für das Augusti* 
nerkloster in Salamanca im Aufträge des Herzogs von Monterey auszuführen. 
Dies ist keineswegs der Fall gewesen. Ribera hat die Bilder in Neapel gemalt, 
und der Herzog schickte sie mit vielen anderen zu Schiff nach Spanien. 
Was aber das Gelungenste an dieser Sache ist: Rolfs bemerkt selbst, daß 
Ribera in den betreffenden Jahren nicht weniger als vier Kinder in 
Neapel geboren wurden! 

Wenig Glück hat der Verfasser mit seiner in übertriebener Weise durch¬ 
geführten Verdeutschung von Fremdworten sowie italienischen Kirchen- 
und Eigennamen. »Verlichter« (Iluininator) und »Frischmalerei« (fresco) 
sind keine erfreulichen Wortbildungen. Dabei spricht R. selbst zuweilen 
nicht nur von »Frischmalerei«, sondern auch von dem »Fresco«. Vollends 
ablehnen muß man aber derartige Schreibweisen wie »Jotto«, »Mark von 
Siena«, »Kapaccio«, »Zäsar von Sesto«, zumal der Autor selbst auch hier 
wieder inkonsequent ist und bei »Chiarini«, »Giannone« usw. die natürliche 
Schreibweise bestehen läßt. August L. Mayer. 

Robert Bruck. Die Sophienkirche in Dresden, ihre Ge¬ 
schichte und ihre Kunstschätze. Mit 64 Lichtdrucktafeln. 
Dresden, Verlag G. von Keller, 1912. 4 0 . 

Der Verfasser hat es verstanden, seinem etwas spröden Stoffe durch 
warme Anteilnahme, durch ästhetische und kulturgeschichtliche Hinweise 
auch für einen größeren Leserkreis eine lehrreiche Bedeutung abzugewinnen. 
In dieser Form liegt der Hauptwert der Darstellung. Der Titel darf da¬ 
gegen nicht verleiten, ein eigentliches, das Gurlittsche ergänzende Inventar 
mit exakt erschöpfender Sachbeschreibung zu erwarten. Zum Beispiel sind 
Maßangaben konsequent unterlassen. Aber auch innerhalb der dadurch 
vom Verfasser gezogenen Grenzen erregt das Buch lebhaftes Interesse des 
Kunstforschers. Zu dem, was über den in seiner Einheitlichkeit merk¬ 
würdigen Typus einer als solcher gegründeten zweischiffigen Hallenkirche 
Franziskanerordens das sächsische Inventar bereits an Tatsächlichem vor¬ 
gebracht hat, tritt eine jenes mehrfach ergänzende ausführliche Geschichte 


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i82 


Besprechungen. 


der Kirche, die insbesondere die Wiederherstellungs- und Umbauperioden 
des 19. Jahrhunderts vom Standpunkte des erfahrenen Denkmalspflegers 
gründlich und vorbildlich behandelt. Als ganz neues Material hinzuge¬ 
kommen aber sind infolge von Funden gelegentlich der letzten Instand¬ 
setzung der Kirche 1910 etwa 90 Grabplatten, meist des 17. Jahrhunderts, 
die ein geschlossenes Bild der damaligen Grabplastik in Dresden geben und 
ersichtlich die eigentliche Veranlassung der Publikation gewesen sind. 
Ihre Besprechung zusammen mit den Epitaphien und den Einzelfunden 
an Kleinodien in den Gräbern nimmt mehr als die Hälfte des Buches ein, 
und von den 64 Tafeln gehören ihnen 35. Diese Grabplastik gab Gelegenheit 
zu einer Scheidung verschiedener Künstlerindividualitäten auf Grund einer 
vorsichtigen Formalkritik. Es gelang Bruck, von der Persönlichkeit des 
Hofbildhauers Nasscin (J1620) als eines Unternehmers, der selbst seine Auf¬ 
träge nicht im einzelnen ausführte, die seines begabtesten Gehilfen und 
Amtsnachfolgers Sebastian Walther (f 1645) durch den überzeugenden 
Nachweis bestimmter Werke, nach denen man bisher vergeblich gesucht 
hatte, als eigenartige Künstlerindividualität loszulösen und damit zugleich 
die seines etwas unpersönlicheren Mitarbeiters Zacharias Hegewald (j* 1639). 
Den Versuch einer Zuweisung ähnlicher Art unternimmt Bruck mit dem 
goldenen Tor (ursprünglich an der alten Schlokßirche, seit 1757 an der 
Sophienkirche, jetzt am Judenhof), das er dem Hans Kramer zuschreibt, 
der als Hofsteinmetz in Dresden tätig war und 1565 für den Rest seines 
Lebens nach Danzig ging. Freilich ist diese Zuteilung weniger zwingend 
als die vorhin besprochene, da die verglichenen architektonischen und de¬ 
korativen Formen ihrer Natur nach ein weniger individuelles Gepräge haben 
als jene figürlichen Arbeiten. So viel ist wohl auf Grund der Bruckschen 
Untersuchungen sicher, daß ein Italiener an diesem Werke nicht beteiligt 
gewesen sein kann. Es ließe sich dazu unterstützend auch noch darauf 
hinweisen, daß 1554, wo das Werk datiert worden ist, diese damals auch in 
Oberitalien bereits unmodernen Formen selbst von einem Italiener gerin¬ 
gerer persönlicher Begabung, und an einen solchen wäre doch nur zu denken, 
schwerlich noch verwendet worden wären. Erschöpfend bespricht Bruck 
den künstlerischen und kulturellen Wert des kostbaren Leichenschmuckes, 
den man 1910 in den Gräbern noch gut erhalten vorfand und der namentlich 
an schönen Stücken der Jahrzehnte um und nach 1600 besonders reich ist. 
Unter ihnen ragen wieder eine Reihe von Ordensketten durch Qualität 
und Seltenheit hervor. Dem Verfasser ist cs möglich gewesen, sie sämtlich 
bestimmten und fast verschollenen Ordensgesellschaften zuzuweisen. — 
Verzeichnisse der Künstler und Handwerker, deren Namen auf Grabsteinen 
und Epitaphien, dei Wappen schließlich erleichtern wesentlich die sachliche 
Brauchbarkeit des stattlichen Bandes. Karl Steinacker. 


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Erwiderung. 

Auf die in wissenschaftlichen und andern Kreisen Gebildeter nicht 
übliche, unerhörte Tonart einer Buchbesprechung, wie sie Fr. Hoebcr in 
Bd. XXXIV, Heft 5 dieser Zeitschrift bot, einzugehen, verbietet mir meine 
Selbstachtung. Wenn Mängel festzustellen waren, so bei Datierungen, bei 
denen ich mich zum Teil auf Vermutungen beschränken mußte oder auf 
die im Denkmalarchiv vorhandenen Belege, welche noch einer Revision 
bedürftig sind, oder wobei Nachkontrolle in kurzer Zeit nicht gut möglich 
war, zumal auch nicht die Objekte selbst alle verglichen werden konnten, 
so konnte Hoeber das sachlich korrigieren. Auch mit einer Reihe von 
Druckfehlern war zu rechnen. 

Zuvörderst rügt Herr Hoeber den Begriff Volkskunst und volkstüm¬ 
liche Kunst. Ich habe nun keineswegs diesen Begriff streng abgegrenzt 
definieren wollen, mein Buch betraf ja nicht die Geschichte der gesamten 
Volkskunst in Elsaß-Lothringen. Mein begleitender Text bezweckte eine 
allgemeine Orientierung dessen, was ansprechend war und ist im Lande, 
auf Grund der Charakterisierung von Land und Leuten und der geschicht¬ 
lichen Entwicklung und im Sinne des soeben erschienenen Werkes der 
schleswig-holsteinischen Heimatskunst von Dr. Sauerland: »Es ist absichtlich 
vermieden worden, das Bäuerliche vom Ständischen oder Städtischen getrennt 
zu zeigen. Das Gemeinsame im Charakter tritt doch stärker hervor wie 
das Trennende. Vernehmbar soll nur der Klang sein.« Und dies auch auf 
Grund der mir zur Verfügung stehenden Abbildungen, von denen Hoeber 
diejenigen verschwundener Bauten, welche von besonderem Wert sind, gar 
nicht beachtet hat. Die Anordnung des Bildmaterials tadelt er. Hätte 
er es, frage ich, besser gemacht? Die Bildfolge von Weißenburg bis Thann 
auf gegebener Blattfläche konnte vom Verleger auf Grund einer allgemeinen 
Angabe nicht besser gelöst werden. Straßburg habe ich dabei noch möglichst 
historisch geordnet. Ja, ganz recht, wer vieles bringt ... Es mußte reichlich 
illustriert werden. Und was verschlägt es dabei, wenn neben einem Monu¬ 
mentalbau ein Bettwärmer als kunstgewerbliches Stück zu stehen kam 1 
Was schadet es, daß auch die hohe Kunst zu Worte kam? Hat denn Herr 
Hoeber nicht beachtet, daß ich besonderen Wert auf die Erscheinung der 
Bauwerke an der Straße, im Straßen- und Ortsbild legte, weil ich ortsbaulichc 
Gedanken als zeitgemäß hervorheben wollte? Mußte er denn nur als Histori¬ 
ker urteilen und fehlt ihm, dem Kunsthistoriker, jede künstlerische Auf- 


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Erwiderung. 


fassung? Was am verwandten schwäbischen Werk andere Autoritäten als Herr 
Hoeber als mustergültig hervorhoben, die Wahl, Gruppierung und allgemeine 
historische Datierung der Objekte, das schien mir nur nachahmenswert. 
Zu einem rein baugeschichtlichen Werk würde ich nur allgemeine Bildunter¬ 
schriften nicht gegeben haben. Möge Herr Hoeber wie andere froh sein, 
daß noch so viel geboten werden konnte, für verschiedenste Studien, nicht 
nur für Historiker! Für Hinweise auf sichere Datierung ist natürlich jeder 
dankbar. Zu den noch recht mangelhaften Grundlagen der Entwicklungs¬ 
geschichte unserer heimischen Profanbaukunst mag Herr Hoeber nun 
Material beitragen. Wenn er es sachlich tut, ist man ihm nur Dank 
schuldig. Er verwechsle nicht ein populär geschriebenes Werk mit einem 
wissenschaftlich tieferen. Er selbst hat sehr nette populär gehaltene Auf¬ 
sätze veröffentlicht, die aber keineswegs den strengen wissenschaftlichen 
Maßstab vertragen. — Wie kleinlich und vorschnell Herr Hoeber über 
mein Buch (Er bemängelt meinen Ausdruck „Arbeit“ für dasselbe. Kennt 
er keine metapherische Ausdrucksweise?) urteilt (um nur ein Beispielzu 
geben), zeigt seine Äußerung über das Bild des Thores zu Sinnheim, welches 
ich mit guter Absicht in zwei Darstellungen, einmal von innen, dann von außen 
gesehen, gebracht habe, weil ein Mal Steinbau und das andre Mal Holz- 
fachwerk sichtbar ist. Ein Versehen meinerseits daraus zu konstruieren, 
fällt keinem anständigen Gebildeten ein. Zum mindestens drückt er sich 
dann wenigstens als gebildeter Mensch aus. Zu einer persönlichen Äuße¬ 
rung wie »gedankenlose Lächerlichkeiten« u. a. m. hat Herrn Hoeber mein 
stets gegen ihn korrektes Benehmen als Lehrer in keiner Weise Anlaß gegeben. 

Was mich betrifft, so muß ich es dem Leser als seltsam gegenüber fest¬ 
stellen, daß Herr Hoeber, wiewohl er mir alle Wissenschaftlichkeit abspricht 
und dazu noch in so widerlicher Form, fast zur gleichen Zeit in seinem Buche 
über die Schlettstädter Frührenaissance wörtlich folgendes in der Nachrede 
schreibt, nachdem er ein anderes Buch von mir mehrfach inzustimmendem 
Sinne zitiert hatte: »Wissenschaftlicher Rat, Hinweis und praktische Unter¬ 
stützung gewährten die Herren ... Prof. Karl Staatsmann, Straßburg« ... 
(und andere) (wozu bemerkt sei, daß mein Rat nicht sein Schlettstädter 
Werk betraf!). Herr Hoeber fürchtet irgendwie meine Rivalität, beson¬ 
ders auch bezüglich der Neubearbeitung des reformbedürftigen Krausschen 
Werkes. Und da macht es sich merkwürdig, daß er sieh über mich als 
im Elsaß »künstlich geschaffene und gehaltene Autorität« (die er selbst 
ausnutzte!) zu Gericht setzt. Er fühlt sich offenbar als Autorität. 

Ein bescheidener Ton soll dem eigen sein, der 
noch selbst erst etwas leisten soll, dessen Köl¬ 
le g i e n h e f t e eben trocken geworden sind, und besonders 
Herrn Hoeber. Denn zuerst möge er einmal mit sich selbst zu Gerichte 


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Erwiderung. 185 

gehen. In dem genannten Buche über Schlettstadt (das zu besprechen 
er mich wiederholt gebeten hatte!), sind die gröbsten 
Verstöße gegen kunsthistorische Definition, De¬ 
duktion und Methode enthalten, die einem zu Gericht 
sitzenden nicht passieren dürfen. So, um die beiden hervor¬ 
stechendsten zu bezeichnen: Er konstruiert fortwährend einen direkten 
(allerdings wahrscheinlichen) Einfluß venetianischer Kunst auf die Schlett- 
städter im 16. Jahrh., ohne auch nur irgendeinen bestimm¬ 
ten Beweis zu erbringen, ja er leitet in der Art der Dilettanten 
seine Beweise aus ornamentalen Einzelheiten vorwiegend ab. So soll an 
Hotel Ebersmünster die Ornamentik auf andere italienische Einflüsse 
schließen lassen als beim Hause Ziegler. Hier fehlt alle Exaktheit wissen¬ 
schaftlicher Deduktion. 

Dann weiter gibt er an mehreren Stellen eine Begriffserklärung des 
Wesens des Barock, indem er teilweise die soeben von ihm gehörte 
oder gelesene von Dehio repetiert, ohne dabei aber das u. a. Charakteristische 
des Stiles anzuführen: Das Absolutistische, Despotische, das über 
Kleines, dies fast tötend, hinweggeht. Und nicht einmal an seinen ihm vor¬ 
liegenden Objekten hat Hoeber dies erläutert. Das durfte nicht Vorkommen. 

Endlich, — wenn Herr Hoeber kleinlich nörgeln will, so fange er 
bei sich selbst an. In wissenschaftlichen Werken dürfen keine Wörter Vor¬ 
kommen wie in seinem obengenannten, wo er die Worte »Unmenge«, »kolos¬ 
sale Einwirkung« und — (das Beste!) »runde Kugel« gebraucht! 

Bevor er Männern in dem geschilderten Tone 
kommt, deren Werke er benutzte und denen er Dank 
schuldet, möge er lernen und still vor seiner Türe 
kehren ! Karl Staatsmann. 


Für Karl Staatsmann ist es bedauerlich, daß er auf meine sachlich 
so gerechtfertigte Besprechung seiner »Volkstümlichen Kunst aus Elsaß- 
Lothringen« in einer Replik zu erwidern versucht hat: Seine Antwort 
vereinigt nämlich in einzigartiger Konzentration alle jene von mir ge¬ 
tadelten Eigenschaften der Ungeschicklichkeit, der größten Konfusion, 
allgemein eines wenig vorbedachten Dilettantismus. Damit beweist 
sie auch für die Leser des »Repertoriums für Kunstwissenschaft« mit 
Deutlichkeit, wie sehr meine herbe Kritik seines Buchopus angebracht war. 
Wer eine solche Fülle grober Fehler begangen und sich überhaupt in der 
Anlage eines Werkes so total vergriffen hat, der darf sich nicht über das 
harte, selbstverschuldete Urteil, das ihn notwendig treffen mußte, beschweren, 
besonders wenn es ihm nicht gelungen ist, auch nur eine der Aussetzungen 
zu entkräften. Da wird auch eine Replik nicht mehr den selbst angerich- 


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Erwiderung. 


teten Schaden heilen können, und dem von einer dermaßen sachlich ver¬ 
schuldeten Kritik Betroffenen kann als einzige Rettung nur empfohlen 
werden, sich bei künftigen Publikationen mehr zusammenzunehmen. 

Staatsmann ist offenbar in seiner Replik bemüht, die Situation zu 
verschieben, da er keine andere Möglichkeit sieht, meine Ausstellungen zu 
widerlegen: Er fordert die Unterscheidung von populärem und wissen¬ 
schaftlichem Maßstab, obwohl ich mir keineswegs einfallen ließ, 
letzteren an ein für weiteste Kreise berechnetes Bilderwerk zu legen, da 
es sich ja auch nur um eine viel einfachere Alternative handelt, nämlich 
um falsch oder richtig. Dann sucht er einen leider wenig geglückten Gegen¬ 
stoß zu führen durch Angriffe auf meine Arbeit über »Die Frührenaissance 
in Schlettstadt«, die wirklich nur beweisen, daß Staatsmann dem Wesen 
und den historischen Problemen der deutschen Renaissance herzlich ahnungs¬ 
los gegenübersteht. Und schließlich reitet er mehrere Attaken gegen 
meine Person, die für die doch wohl auch »wissenschaftlichen und anderen 
Kreisen Gebildeter« angehörigen Leser des Repertoriums zum mindesten 
recht neuartig erscheinen müssen. Wenn ich nun trotzdem Punkt für 
Punkt auf Staatsmanns Replik cingehe, so soll das nicht etwa bedeuten, 
daß ich ihren Inhalt besonders wichtig nehme: Vielmehr sei dadurch nur 
nochmals gezeigt, wie sehr meine Rezension der »Volkstümlichen Kunst aus 
Elsaß-Lothringen« aus sachlichen, nicht aber aus persönlichen Motiven, die 
mir ihr Verfasser unterzuschieben beliebt, erfolgt ist. 

Es ist nicht einzusehen, weshalb Staatsmann bei Datierungen, die 
am Hause selbst standen und von Kraus regelmäßig notiert waren, sich 
auf Vermutungen beschränken mußte. Die in schöner Parallelität er¬ 
scheinende »Vermutung«, Grünewald gehöre dem 15. Jahrhundert an, hätte 
ihm jedes »kunstgeschichtliche Handbuch zum Schul- und Hausgebrauch 
für Unterstufe« als nicht ganz zutreffend erwiesen. Daß mit einer Reihe von 
Druckfehlern zu rechnen war, ist für den Verfasser höchst beklagenswert. 
Nur ist leider der Druckfehlerteufel darin mit einer perfiden Konsequenz 
vorgegangen, daß er sämtliche Bauten mit spätgotischen Einzelformen 
ins 15. Jahrhundert setzt usw.; scheint’s ein pseudokunsthistorisch gebildeter 
Druckfehlerteufel. 

Da nun Staatsmann, wie er erfreulicherweise selbst zugibt, für Ver¬ 
besserungsvorschläge immer dankbar ist, seien noch eine Reihe d$r bösesten 
»Druckfehler« nachgetragen, ohne allerdings irgendeine Vollständigkeit 
verbürgen zu können, eine für die »Volkstümliche Kunst aus Elsaß- 
Lothringen« wohl aussichtslose Sache. — Daß Nachkontrolle außerhalb 
Straßburgs in kurzer Zeit nicht gut möglich war, darin kann man 
Staatsmann beipflichten, weniger aber, warum dies in der Stadt selbst aus¬ 
geschlossen war: Die Abbildung S. 9 oben soll die Thomasbrücke darstellen; 


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Erwiderung. 


187 


ein Blick auf den Straßburger Stadtplan genügt, um zu zeigen, daß es in 
Wirklichkeit die Martinsbrücke ist, die Staatsmann mit der flußabwärts 
nächstfolgenden verwechselt hat. Auf S. 30 ist ein klassizistischer Eck- 
pavillon an der »Kestner«-Allee in dem Vorort Ruprechtsau abgebildet; 
aber sie hat nichts mit der Gestalt aus Goethes »Werther« zu tun, sondern 
ist vielmehr nach dem unterelsässischen Bezirksingenieur Kästner genannt, 
der diese Allee zu Anfang des 19. Jahrh.s anlegte, als die angrenzende 
Orangerie die heutige Fassung erhielt. 

Von »Druckfehlern«, die dem Verfasser mit außerhalb Straßburgs ge¬ 
legenen Denkmälern untergelaufen sind, seien erwähnt: Der links obenauf 
S. 7 zu sehende Palmesel in der Doppelkapelle St. Michaels in Kaysersberg 
wurde nach Abb. Nr. 30 des Werkes von Jos. M. B. Clauß, Das alte Kaysers¬ 
berg (Kaysersberg 1902) verkleinert. Gauß schrieb dazu auf S. 12 des Textes: 
»Die Skulptur von der Mitte des 15. Jahrhunderts ist nur gering« usw. Bei 
Staatsmann steht natürlich darunter 16. Jahrh. Das auf S. 37 abgebildete 
Nordportal der Peter- und Paulskirche in Neuweiler ist mit dem 12. Jahrh. 
viel zu früh datiert, da schon sein architektonischer Aufbau das Ecclesia- 
portal am Straßburger Münster voraussetzt, ganz abgesehen von seiner 
im eigentlichen, d. i. französischen Sinne gotischen Plastik, die mit den 
Straßburger Lettnerfiguren auf gleicher Stilstufe steht, so daß man 
zeitlich in die Mitte des 13. Jahrh.s gelangt. S. 89. Rufach. Giebel¬ 
häuser und Torturm: Die beiden Giebelhäuser bilden das in zwei 
Bauperioden, 1581 und 1721, errichtete Rathaus, das mit seiner 
Hinterseite an die Stadtmauer stieß. Der daneben stehende »Hexen¬ 
turm« diente nur zur Befestigung der Umwallung, niemals aber zu einem 
Tor, von denen die Stadt nur drei hatte, die an ganz anderen Stellen 
lagen; an dem Nord- und Südeinlauf der von Mülhausen nach Colmar 
führenden Landstraße und nach Westen gegen die Rheinebene hin, von 
wo man auch heute, vom Bahnhof herkommend, die Stadt betritt. S. IOI. 
Metz. Haus in der Goldkopfstraße. 15. Jahrh. Diese Abbildung stellt eine 
Verkleinerung der mit »Renaissancehaus« unterschriebenen Tafel 16 der 
Publikation »Lothringische Kunstdenkmäler« von S. Hausmann, M. Wahn 
und C. G. Wolfram (Straßburg i. E., Verlag von W. Heinrich, o. Dat.) dar. 
Bereits Kraus bildet es auf S. 759 seines dritten, Lothringen behandelnden 
Bandes in Holzschnitt ab und teilt dazu auf S. 757 und 758 sein über einer 
Türe zu lesendes Entstehungsdatum 1529 mit. Staatsmann hätte also blos 
abzuschreiben brauchen, wenn ihn nicht der Augenschein belehrt hätte, 
daß diese in virtuosester französischer Renaissance, echtem Stile Frangois I., 
modellierten Halbfiguren über den Fenstern, der üppig ornamentierte 
Nischenbaldachin der Hausecke nur der ersten Hälfte des 16. Jahrh.s an- 
gehören kann. Mit der dem gleichen Tafelwerk entnommenen Madonnen - 


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Erwiderung. 


statuc aus Vic auf S. 103 ist es dem Verfasser ähnlich gegangen: Auf S. 14 
des Textes der »Lothringischen Kunstdenkmäler« ist diese offenbare spät¬ 
gotische Arbeit ganz richtig ins 15. Jahrh. gesetzt, die »Volkstümliche Kunst«, 
die ja ein populäres, kein wissenschaftliches Werk sein will, datiert sie mit 
16. Jahrh. 

Wenn Staatsmann die einfachsten feststehenden Tatsachen nicht 
ordentlich wiederzugeben vermag, so läßt sich denken, wie er bei einiger¬ 
maßen problematischen Stücken versagen muß: Dasauf derselben Seite 103 
reproduzierte interessante Madonnenrelief aus St. Gangolf in Metz ist mit 
dem 9. Jahrhundert viel zu früh angesetzt. Kraus wollte in ihm noch 
ein Werk »aus merowingischer oder karolingischer Zeit« ( 1 ) erkennen, 
während hingegen schon die Autoren der »Lothringischen Kunstdenkmäler« 
auf S. II sehr richtig für die Madonna aus St. Gangolf das 12. Jahrhundert 
nennen. Dieser Veröffentlichung ist nun auch das Staatsmannsche Klischee 
entnommen, so daß es unverständlich ist,-weshalb er gerade auf die alte, 
falsche Datierung zurückgreift. Stilistisch ist es denn auch ganz klar, daß 
hier eine romanische Arbeit vorliegt: man betrachte die stachelig aufgerichteten, 
der Antike schon stark entfremdeten Akanthusblattformen über dem Kopf 
der Madonna, die im Karolingischen sich viel mehr rundlich zusammen - 
schließen, ferner die vollen eckigen Kopftypen bei Mutter und Kind; 
für beides lassen sich Analogien in der ostfranzösischen Plastik des 
12. Jahrhunderts finden. — Erscheint mit derartigen aus »Vermutungen« 
hervorgegangenen »Mängeln«, die ich ja, wie der Leser mir zugestehen wird, 
schon in meiner ersten Kritik sachlich korrigiert habe, die Volkstümliche 
Kunst aus Elsaß-Lothringen in reichster Abwechslung durchsetzt, so stößt 
man sich wohl kaum noch an solchen nichtssagenden Unbestimmtheiten 
wie auf S. 75, Türkheim, Fachwerkhaus, 17. Jahrh., wo gerade der liebe¬ 
voll individualisierende Lokalhistoriker die altberühmte Weinkneipe des 
1620 errichteten Gasthofes zu den zwei Schlüsseln namentlich bezeichnet 
hätte. Man verbessert stillschweigend das auf S. XV zu lesende Neu- 
münster, das offenbar mit Neuweiler in Konfusion geraten ist, in Nieder¬ 
münster am Odilienberg, und man übergeht mit einem belustigten Lächeln 
die pseudowissenschaftliche Auslassung auf S. VI der Einleitung über die 
»Erwinsrose, diese Radfensterform, wie sie bei romanisch-elsässischen 
Kirchen nach dem lombardisch-normannischen Vorbild schon früh er¬ 
scheint fl). Denn die »Erwinsrose« ist bekanntlich direkt aus Paris, dem 
Querhaus von Notre-Dame, importiert und hat also mit den älteren »lom¬ 
bardisch-normannischen Radfenstern« im Elsaß nichts zu tun. 

Derartige Exkurse hätte sich also Staatsmann in einem im guten 
Sinne populären Buche schenken können, wenn er nur die tatsächlichen 
Fehler vermieden hätte. Seine Ansicht, daß in einem populären Buche 


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Erwiderung. 


189 

eher Fehler Vorkommen dürfen als in einem wissenschaftlichen Werk, kann 
ich leider nicht teilen: denn die Verbreitung eines populären Werks steht 
bekanntlich im umgekehrten Verhältnis zu den kritischen Fähigkeiten 
seiner Leser. Was verschlägt es freilich, wird Staatsmann fragen, wenn 
Griinewald im Volk mit der »allgemeinen historischen Datierung« des 
15. Jahrh.s erscheint, mußte Herr Hoeber denn nur als Historiker urteilen? 
Daß es sich aber für einfache Bilderzusammenstellungen wie die volkstümliche 
Kunst aus Elsaß-Lothringen im ganzen gar nicht um historische Probleme 
handelt, sondern nur um ordentlich und unordentlich, um das höchst 
simple Nachschlagen von einigen Spezialbüchern, ist wohl zur Genüge 
dargetan. Warum dies für ein Werk, das 25 Mk. kostet und keinerlei Ak¬ 
tualität zu berücksichtigen hatte, besonders so sehr schnell geschehen mußte, 
wird nicht nur mir rätselhaft bleiben, besondersda ich selber nur zwei Tage für 
die reichlichen Verbesserungen in meiner Kritik brauchte. Um wieviel leichter 
hätte da eine Autorität von der Bedeutung Karl Staatsmanns diese Unter¬ 
schriften gleich ordentlich und richtig machen können als ein armer Dilettant, 
der noch selbst etwas leisten soll, ja, dessen Kollegienhefte kaum trocken 
geworden sind. 

In meiner Kritik ward ausführlich gesagt, daß Titel- und Thema¬ 
stellung der Volkstümlichen Kunst dem Verlage zu Lasten fallen, die schlechte 
Lösung der Aufgabe freilich dem Verfasser, und hier soll er sich ja nicht 
einreden, das Niveau des schwäbischen Parallelwerkes von Eugen Grad- 
mann eingehalten zu haben: Wenn man an diesem vielleicht aussetzen 
mag, daß das 1760 ff. von dem Franzosen La Guepi&re erbaute Schloß Monrc- 
pos bei Ludwigsburg unter der Volkstümlichen Kunst auch noch mitgeht, 
so springt doch als Gegensatz zu Staatsmannscher Arbeit die Vollständig¬ 
keit und Richtigkeit der Unterschriften und Datierungen, die Ordnung in der 
Zusammenstellung der sachlich zueinander gehörigen Objekte in die Augen. 
Die Geschmacklosigkeit, daß neben einem Monumentalbau ein banales 
kunstgewerbliches Stück, neben einem Riesenklischee ein winzig kleines, 
häufig unter Verdrehung sämtlicher natürlicher Proportionen, ungeschickt 
genug zu stehen kommt, ist hier vermieden worden, ebenso Architektur¬ 
ansichten, die, als von einem verkehrten Standpunkt aufgenommen, künst¬ 
lerisch nicht sprechen: So erscheint z. B. die Aufnahme des Rabenhofes 
in Straßburg auf S. 18 ungenügend, da sein architektonischer Haupt¬ 
inhalt, die sich durch Über- und Ausbauten langsam verengende Perspektive 
nicht zur Anschauung gelangt, wie sie überdies eine Ansichtskarte aus dem 
Verlag der Elsässischen Rundschau längst trefflich gegeben hat. Will man 
in einem solchen Werk künstlerisch sprechende Architekturansichten bieten, 
so dürfen freilich Verleger und Autor nicht vor Mühe und Ausgaben zurück- 
schrecken und sich mit bereits vorhandenen Photographien und Postkarten 


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Erwiderung. 


190 

begnügen. Als musterhaft in der Auswahl des Architekturbildes und 
der malerischen Art der Aufnahme seien deshalb Paul Neff und Staatsmann 
die ebenfalls nur populären Werke empfohlen, die bei R. Piper u. Cie. in 
München 1911 erschienene Schöne deutsche Stadt, die bei Langewiesche in 
Düsseldorf 1909 erschienenen Deutschen Dome und der wundervolle neue 
Band über Frankreich aus den von Paul Schmohl herausgegebenen Charakter¬ 
bauten des Auslandes (Stuttgart, Wilh. Meyer-Dschen, 1912). 

Man sieht, in Staatsmanns Opus ist die künstlerische Sorgfalt der 
wissenschaftlichen ebenbürtig. Über den ästhetischen Geschmack, den 
Naturabguß einer Pestkranken als Produkt der Volkskunst abzubilden, 
will ich freilich nicht streiten. Dennoch traue ich nicht nur mir zu, um 
auf Staatsmanns famose Apostrophe zu reagieren, diese einfache Zusammen¬ 
stellung gegebenenfalls selber besser gemacht zu haben, sondern glaube 
sogar, jedes erste Semester würde sie geschickter fertig bringen können, 
vorausgesetzt natürlich, daß es Karl Staatsmann an Sorgfalt und 
Geschmack nur etwas übertrifft. Denn daß etwa eine bewußte Ab¬ 
sicht bei der doppelten Bezeichnung des Thanner Tors in Sennheim ge¬ 
waltet habe, geht weder aus der Unterschrift, die durch »Außenseite« und 
»Stadtseite« zu vervollständigen gewesen wäre, noch aus der Seitenan¬ 
ordnung hervor, da über drei Seiten mit anderthalb Dutzend weiteren Ab¬ 
bildungen zwischen die beiden Ansichten geschoben sind. Und da derselbe 
Fehler, ins Groteske gesteigert, gleich daneben bei dem Rathaus von Geb- 
weiler wiederkehrt, so wird sich leider Staatsmann auch hier jeglichen 
Kredits für seine Verteidigung beraubt haben. 

.Um nun auf die persönlichen Vorwürfe des Verfassers der Volkstüm¬ 
lichen Kunst aus Elsaß-Lothringen zu kommen, so stelle ich einfach fest: 
I. Der stereotype Dank im Nachwort meiner Frührenaissance in Schlettstadt, 
unter vielen anderen auch an Staatsmann, betraf, wie er das ja auch selbst 
schreibt, nicht seinen wissenschaftlichen Rat, sondern die Überweisung 
eines für meine Grundrißaufnahmen benötigten Technikers aus der Bau- 
gewerkschule, an der Staatsmann Lehrer ist. 2. Staatsmann erteilte früher 
an der Straßburger Universität Unterricht im architektonischen Zeichnen, 
der leider gar kein Interesse bei den Studierenden finden konnte und deshalb 
wieder aufgegeben werden mußte. Vor Jahren glaubte auch ich einmal, 
mich diesen kunstpädagogischen Versuchen überliefern zu müssen. Hieraus 
nun ein prästabiliertes Wohlgefallen meinerseits an sämtlichen Staats- 
mannschen Geisteskindern abzuleiten, erscheint doch als zu viel verlangt. 
Staatsmanns größtes Glück bei seinen andern »Werken« ist, daß sie keine 
sachverständigen Rezensenten gefunden haben: Wäre das geschehen, so 
wäre wohl außer den sehr korrekten zeichnerischen Aufnahmen, auf die sich 
auch allein meine Zitate in dem Buch über Schlettstadt beziehen, nicht 


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Erwiderung. I q I 

viel noch für ihren Verfasser Rühmenswertes übrig geblieben. 3. Das 
wissenschaftliche und künstlerische Niveau Staatsmanns verhindert mich, 
in ihm eine Konkurrenz zu erblicken. 

Dieses beweisen unter allem andern auch seine so belustigenden pole¬ 
mischen Naivitäten gegen meine Frührenaissance in Schlettstadt: Der 
Einfluß der venezianischen Baukunst auf die Schlettstädter Frührenaissance 
wurde eingehend auf S. 14 bis 17, 19, 22, 24, 38, 42, 43, 47, 48 und 60 dar¬ 
gestellt. Evident wurde er in der gesamten Formenbildung des Aufbaus 
der einzelnen Architekturstücke wie in der Detaillierung, endlich in der stilis¬ 
tisch genauen Übernahme von charakteristischen Formmotiven, wie dem Meer¬ 
weibchen am Balkon des Hauses Ziegler, das aus dem Bellinischen Kreise 
hervorgeht (Abb. 51 und 54). Diesem spezifischen Einfluß unterliegt 
das Elsaß des 16. Jahrh. genau so wie Basel, für das er längst feststand. 
Zwischen dem Haus Ziegler und dem älteren Bau des Hotel Ebersmünster, 
besteht ein augenscheinlicher Stilunterschied, eine andere Qualität der 
Hände in den geschmückten Teilen, die allerdings auch zu andern histori¬ 
schen Vermutungen veranlassen kann. 

Staatsmanns zweiter Vorwurf des Dilettantismus, daß ich meine 
Beweise vorwiegend aus ornamentalen Einzelheiten ableite, fällt leider 
auf ihn selbst zurück: Denn wer sich auch nur oberflächlich mit der deutschen 
Baukunst des frühen 16. Jahrhund erts beschäftigt hat, weiß sehr gut, 
daß der gesamte architektonische Organismus, das eigentliche Raumgebilde, 
im Spätgotischen beharrt, und daß für Deutschland die Renaissance vor¬ 
erst nur eine äußere Dekoration mit dem antikischen Ornament bedeutet. 
(Gustav von Bezold: »Die mehr oder minder reichliche Aufnahme von 
Renaissancemotiven bezeichnet keinen Bruch mit der Vergangenheit. Die 
formbildende Kraft ist gering und das architektonische Ergebnis oft ein 
ziemlich unbefriedigendes. Das dekorative Wesen des Stils gestattet keine 
organische Entwicklung.«) So muß sich wohl auch die kunstgeschicht¬ 
liche Filiation auf den Vergleich des ornamentalen Details beschränken, 
besonders da der nordisch irrationale Bau der Spätgotik mit der harmonisch 
ausgeglichenen Architektur der italienischen Renaissance ganz inkommen¬ 
surabel erscheint. 

Auch der letzte kritische Angriffspunkt vermag keine günstigere 
Meinung über die »metaphysische« Urteilsfähigkeit Karl Staatsmanns mehr 
zu verbreiten: Mein Rezensent scheint gelegentlich Wölfflins »Renaissance 
und Barock« unter die Finger bekommen zu haben. Da nun im römischen 
Barock »das Absolutistische, Despotische, das über Kleines, dies fast tötend, 
hinweggeht«, wie cs Staatsmann so außerordentlich schön ausdrückt, in der 
römischen Baukunst des 16. und 17. Jahrhunderts eine große Rolle spielt, 
muß jenes Moment natürlich auch in dem geistig ganz anders gearteten 


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Erwiderung. 


192 

nordischen Barock der spätesten Gotik wiederkehren. Unglücklicherweise 
besaß mein Rezensent hier nicht genug Fassungskraft, uni einzusehen, daß 
historische Definitionen, falls sie überhaupt einen Wert haben, nur indivi¬ 
dualisierend Vorgehen können: Denn im spätgotischen Barock drängt sich 
gerade das kleine Einzelne ungebührlich über die große Ordnung der archi¬ 
tektonischen Linie vor, wie ich in meiner Frührenaissance in Schlettstadt 
auch genugsam zu zeigen Gelegenheit nahm. 

Um sich schließlich für meine Kritik der Stilblüten seiner »metaphorischen 
Ausdrucksweise« zu revanchieren, gab sich Staatsmann eine ersichtlich größere 
Mühe als die, die er auf die gesamte Abfassung seiner »Volkstümlichen Kunst 
aus Elsaß-Lothringen« verwandt hat, auch mir eine Reihe von Schreibfehlern 
nachzurechnen. Was die schulmeisterlichen Aussetzungen an den Worten »Un¬ 
menge« und »kolossale Einwirkung« bedeuten, ist nicht ganz klar; letzterer 
Ausdruck erscheint doch nur als eine gesprochene Nonchalance, die, unter 
Verwischung des strengen Stilunterschiedes zwischen gesprochener und ge¬ 
schriebener Sprache, in meinen Text hineinschlüpfte. Und die »runde 
Kugel«, auf deren Entdeckung Staatsmann offenbar äußerst stolz ist, be¬ 
deutet nichts weiter als einen jener Pleonasmen, wie sie häufig eine plastische 
Beschreibung, um möglichst augensinnlich zu wirken, als notwendig 
erheischt. Denn mein ganzer Satz (auf S. 21 oben) lautet: »Das schwere 
Gebälk schließt die Bogenzone nach oben ab. Es wird getragen von drei 
Kapitellen, zwei größeren seitlichen, die zu den Pilastern gehören, und 
einem kleinen mittleren, das frei gleichsam als Schlußstein des Bogens in 
der Mitte schwebt und ursprünglich an seiner unteren Aufsatzfläche eine 
runde Kugel besaß, die heute aber abgeschlagen ist«. 

Wenn somit die Staatsmannsche Replik in Verteidigung und aggressiver 
Anklage als nicht weniger verunglückt sich erwiesen hat, wie das fragliche 
Opus selber, so muß sich der Unterzeichnete doch noch entschuldigen, 
nicht bei Staatsmann, sondern bei den Lesern des Repertoriums für Kunst¬ 
wissenschaft wegen des wirklich allzuwcitläufigen Gegackers, das um dieses 
im Malheur gelegte Windei der Volkstümlichen Kunst aus Elsaß-Loth¬ 
ringen sehr unverdientermaßen entstanden ist. 

Fritz Hoebcr. 


Für die Redaktion des Repertoriums ist hiermit, nachdem b.'iden 
Teilen reichliche Gelegenheit zur Aussprache gegeben worden ist, die An¬ 
gelegenheit abgeschlossen. 


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I 


• * I 

Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst 

mit ihren neuen Pfadfindern. 

Zur Kritik und Ergänzung der Forschungen J. Strzygowski und L. v. Sybels. 


Von O. Wulff. 


(Fortsetzung.) 

II. Die Fortbildung der alt christlichen Kunst im 
s y r i s c h - p a 1 ä s t i n e n s i s c h e n und in den übrigen 

KunstkreisendesOstens. 

Die vorhergehende Betrachtung *) galt dem Nachweis, dgß der älteste 
christliche Bilderkreis, dessen erste Keime in einigen wenigen primitiven 
Bildideen des • hellenistischen Judentums der Diaspora zu erkennen sind, 
seine Ausprägung in antiker Kunstform Alexandria verdankt»). Ein ge-, 
meinsamer Grundstock von Typen liegt in den Katakombenfresken vom 
Ende des i. bis um Mitte des 3. Jahrhunderts einerseits und in der frühesten 
Sarkophagplastik andrerseits vor, wenngleich der Parallelismus in den 
Denkmälern Roms verdunkelt erscheint. Dessenungeachtet führen uns 
gegenständliche Zusammenhänge —, besonders im Hirtengenre —, Beziehun¬ 
gen zur jüdischen und christlichen Gebets- und Erbauungsliteratur, endlich 
die spärlichen Überbleibsel der altchristlichen Kunst in Ägypten selbst 
noch in ihr Ursprungsgebiet zurück. Je weiter wir aber den Lauf ihrer Ent¬ 
wicklung verfolgen, desto schwieriger wird es, jüngere Ablagerungen anderer 
Zuflüsse von jener alexandrinischen Typenschicht zu scheiden. Denn min¬ 
destens seit dem 3. Jahrhundert hat die Fortbildung der christlichen Kunst 
sich nicht in Alexandria allein abgespielt. Andere Länder, vor allem aber die 

*) Die Fortführung meiner Arbeit (s. Repert. f. Kunstwissensch. 19H, S. 281—314) 
hat sich Über Erwarten lange verzögert. Das Bedauern darüber verbindet sich mit dem 
schmerzlichen Bewußtsein, daß ich diesen Teil nicht mehr in dieselben Hände niederlegen 
kann, die den ersten entgegennahmen. 

*) Im ersten Abschnitt sind leider infolge der Zwangslage, daß ich die Revisions¬ 
bogen auf der Reise eiligst zu erledigen hatte, ein paar Versehen unbemerkt geblieben. 
Außer einzelnen Druckfehlern auf S. 286 (Z. 6 v. u. »Arcosolien« statt »Arosolien«), S. 307 
(Z. 2 v. u. »Paedagogus« statt »Pädagogen«), S. 313 (Z. 7 v. o. »eine« statt »seine«) und 314 
(Z. 1. v. 0. »Kultgebäude« statt »Kunstgebäude«) ist vor allem auf S. 292 (Z. 3 ff v. 0.) 
die Satzkonstruktion zu berichtigen. Hier war eine Ergänzung vorgesehen, die in Er¬ 
mangelung meiner Notizen unausgeführt blieb. 

Repertorium für KunttwUtenechaft, XXXV. • *3 


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194 


O. Wulff, 


Großstädte des Ostens, blieben nicht passive Empfänger, sondern begannen 
mitzuschaffen. Aus diesen Voraussetzungen erwächst uns die Aufgabe, 
ihren Anteil zu umschreiben und festzustellen, in welchem Maß sie selb¬ 
ständige und führende Bedeutung gewonnen haben. Da wir das haupt¬ 
sächlichste Material, mit dem solche Fragen zu beantworten sind, zunächst 
ebenda vorfinden wie bisher, — nämlich im Abendlande, — so sind die¬ 
selben Kriterien auch weiterhin anzuwenden. Bald aber kommen uns die 
Denkmäler der Kleinkunst in größerer Zahl zu Hilfe, in denen wir zum 
größten Teil verstreute Originalarbeiten der Kunst des Ostens vermuten 
dürfen. Damit ergibt sich die Möglichkeit, auch nach dieser Seite Zusammen¬ 
hänge und Parallelen zu suchen, vielleicht sogar innerhalb dieser Denk¬ 
mälergattungen geschlossene Entwicklungsreihen zusammenzustellen. 

Der wichtigste methodische Gesichtspunkt muß dabei sein, die Über¬ 
einstimmung zwischen stilistischen und ikonographischen Tatbeständen 
möglichst klar herauszuarbeiten. Ist doch schon Ainalow auf diesem Wege 
zu sicheren Ergebnissen gelangt, auf denen sich weiter bauen läßt. Er hat 
gezeigt, daß zwischen den einzelnen Kunstkreisen des Ostens, vor allem in 
der Auffassung der menschlichen Gestalt, charakteristische und konstante 
Unterschiede bestehen, obgleich im ausgehenden Altertum wie in unserer 
Zeit sich die Stilformen und Typen einer mehrhundertjährigen Tradition 
dem künstlerischen Schaffen zum Vorbild darboten. 

Schon in der jüngeren Katakombenmalerei konnte das Einsetzen einer 
lebhaften neuen Entwicklung in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts 
der Forschung niemals verborgen bleiben. Kehren wir also zunächst zu ihrer 
letzten Phase zurück, die von der vorhergehenden Betrachtung mit Absicht 
noch ausgeschlossen wurde (s. a. a. O. S. 304 ff.), um den Parallelismus der 
früheren Entwicklungsstufen mit der ältesten Sarkophagplastik deutlicher 
hervortreten zu lassen. Etwa seit Mitte des 3. Jahrhunderts n. Chr. ist der 
Darstellungsinhalt der römischen Fresken in einem starken Wachstum be¬ 
griffen, das aus der naiven sepulkralen Symbolik nicht mehr restlos er¬ 
klärt werden kann 3 ). Auch der übliche Hinweis auf den veränderten Zeit¬ 
geist bietet keine Lösung. Dem freien Schaffen der römischen Maler darf 
man wohl die realistischen Wirklichkeitsbilder gutschreiben, die uns im 
4. Jahrhundert öfter begegnen: die Porträtgestalten der Verstorbenen oder 
Märtyrer in Orantenstellung, erstere manchmal auch in genrehafter Auf¬ 
fassung, die Fossoren und die Zunftgenossenschaften 4). Aber so wenig 

3 ) S. den Bestand bei Wilpert, Die Malereien der römischen Katakomben 1905,8.151S. 
und K. Michel, Gebet und Bild in frühchristl. Zeit. Leipzig 1902. Stud. üb. christl. Denkm. 
hsgb. von J. Ficker. N. F. I. Heft, S. 79—84 ff. 

4 ) Wilpert, a. a. 0 . S. 456 und 520; L. v. Sybel, Die christl. Antike. Marburg 1906, 
I, S. 259 und 299 ff. 


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Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw. 


*95 


wie in der frühchristlichen Zeit deutet die sinnvolle Erweiterung und die 
Vermehrung der eigentlichen Bild typen auf eine selbständige Arbeits¬ 
leistung Roms hin. Und wenn fortan auch keine klaren Beziehungen zu 
Alexandria ins Auge fallen, so kann doch die Frage, woher der neue Bild- 
stoff kommt, wieder nur aus diesem selbst und aus seinem Zusammenhänge 
mit anderen Denkmälerklassen heraus beantwortet werden. 

Der Zuwachs entfällt noch zum guten Teil auf den alttestamentlichen 
Bilderkreis. Um so bedeutungsvoller erscheint die Tatsache, daß sich in 
ihm durchweg ein lebhafter Sinn für den konkreten Vorgang verrät. Mag 
zu Daniel der Prophet Habakuk, zu Tobias oder zu den drei Jünglingen 
im Feuerofen der Engel, zu Moses am Felsen ein trinkender Israelit hin¬ 
zukommen, oder mögen bis dahin unbekannte Nebenszenen auftauchen, 
wie die Bedrängnis des Moses, seine Berufung und die Sandalenlösung, die 
Weigerung der Drei, Nebukadnezars Bildsäule anzubeten, oder gar ein ganz 
neuer Vorwurf, wie Elias Himmelfahrt: überall herrscht das gleiche er¬ 
zählerische, einer vollen Vertrautheit mit dem Alten Testament entsprin¬ 
gende Interesse 5 ). Das läßt auf ein Kunstzentrum von strengerer juden- 
christlicher Richtung, als es Alexandria war, schließen. Und zugleich stellt 
sich die Frage ein, ob solche Typen nicht eher dem kirchlichen als dem 
sepulkralen Wandschmuck, wenn nicht letzten Endes gar der Buchillu¬ 
stration, entstammen. Während wir das für die ältere Typenschicht ab¬ 
lehnen mußten (s. Rep. f. Kunstwiss. 1911, S. 290), scheint Strzygowskis 
Hypothese, auf eine juden christliche Kunst bezogen, an Greifbarkeit 
zu gewinnen. In mehreren Fällen kann nur gewaltsame Interpretation 
immer noch die treibende künstlerische Absicht in der Berufung auf die 
Gotteshilfe erkennen 6 ). Mehr Berechtigung hätte schon die antitypische 

» —■ ■ ■ 1 

5 ) Für das Abendland mit seinen vorwiegend heidenchristlichen Gemeinden ist diese 
Vertrautheit auch für das III. Jahrhundert schwerlich vorauszusetzen. Man könnte daraus 
noch nicht mit J. Reil, Die altchristl. Bildzyklen d. Lebens Jesu, Leipzig 1910, Stud«, 
über christl. Denkm. hrsgb. von J. Ficker, 10. H., S. 10 das fortdauernde Übergewicht 
der alttestamentlichen Typen erklären, da den abendländischen Christen die Kenntnis 
beider Testamente im wesentlichen nur durch den Gottesdienst vermittelt wurde (die 
des Neuen bereits seit etwa 200 n. Chr.). Man darf aber auch nicht mit Verwischung der 
zeitlichen Unterschiede zwischen den Denkmälern das »dinglich-geschichtliche Interesse 
am Dargestellten« für das Morgenland im allgemeinen in Anspruch nehmen, wie es a. a. 0 . 
S. 13 ff. geschieht. Auch den von Reil aufgeführten Malereien in Ägypten, die wohl ins^ 
gesamt schon dem 4.—6. Jahrhundert entstammen, liegt doch zweifellos die in El-Bagäuat 
noch so stark nachklingende rein symbolische Kunstauffassung der älteren Katakomben¬ 
kunst (vgl. Rep. f. Kunstwiss. 1911, S. 293 ff. und S. 314, Anm. 73) voraus. Wir haben 
also darnach zu fragen, von wo die episch ausmalende Bildgestaltung ihren Ausgang ge¬ 
nommen hat. 

*) Das gilt schon von den Darstellungen Hiobs, noch mehr aber von der Berufung 
des Moses und wohl auch vom Mannaregen; vgl. die Belege und die Erklärung bei Sybel, 

13 * 


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ig6 


O. Wulff, 


Ausdeutung der einzelnen alttestamentlichen Bilder, da sie jedenfalls vor* 
her oder zu gleicher Zeit auch in die Kirchenmalerei Aufnahme gefunden 
haben müssen, in der diese Auffassung bald durchdringt 7 ). Die Grund* 
tatsache aber bleibt, daß die neuen Szenen und Motive jene lebhafte, rein 
geschichtliche Ergriffenheit für den Inhalt des Stoffes bekunden. Da wir 
nun die weitere Ausgestaltung desselben nach dieser Seite hin mehrfach, 
so z. B. beim Mosesleben wie auch bei der Himmelfahrt des Elias, in Denk* 
malern der Plastik oder Kleinkunst syrischen Ursprungs verfolgen können 
(s. u.), so liegt es wohl am nächsten, den Ausgangspunkt der ganzen Rich¬ 
tung in diesem Kunstkreise und seinem ältesten Mittelpunkt, dem halb¬ 
jüdischen Antiochia, zu vermuten. Trifft doch dieselbe Beobachtung, wie 
wir sehen werden, auch für einige neutestamentliche Bilder des vermehrten 
Typenbestandes zu. 

Was der letztere an weiteren neutestamentlichen Wunderszenen auf¬ 
genommen hat, findet eine entsprechende literarische Grundlage noch immer 
in den exorzistischen Gebeten, und zwar gerade in den pseudocypriani- 
sehen, deren Entstehung (in der griechischen Grundredaktion) im antio- 
chenischen Schrifttum sehr wahrscheinlich ist 8 ). Außer den auch einzeln 
auftauchenden Szenen der Heilung des Aussätzigen (oder des Besessenen) 
und des Gespräches mit der Samariterin am Jakobsbrunnen 6 ) gehören 
dahin die Heilungen der Blutflüssigen und des Blindgeborenen, sowie die 
übrigen an der Decke desselben durch Wilperts Sonderpublikation 9 ) be¬ 
kannt gewordenen Cubiculum in S. Pietro e Marcellino vereinigten Dar¬ 
stellungen eines neutestamentlichen (bzw. »christologischen«) Zyklus. Nicht 
geringere Bedeutung als die neuen Kompositionstypen der Verkündigung 
und Taufe beansprucht unter ihnen als typisches Motiv der syrischen Klein¬ 
kunst die der Magieranbetung hinzugefügte Nebenszene, wie die Weisen 


a. a. O. I, S. 220, 235 und 255. Deutlich tritt der sepulkrale Grundgedanke dagegen noch 
bei den etwas älteren Tobiasbildern hervor; a. a. O. I, S. 222; Michel, a. a. 0 . S. 78 ff. 

7 ) So vor allem bei der Himmelfahrt des Elias; vgl. Sybel, a. a. 0 . I, S. 222. Die 
Aufnahme der Typen in die kirchliche Malerei, sei es aus dem sepulkralen Bilderkreise, 
sei es aus der Miniatur, vorausgesetzt, tritt jedenfalls die Beziehung der von den Kirchen¬ 
vätern gebotenen Deutungen auf dieselben in ihre Rechte, wie sie von Edg. Hennecke, 
Altchristliche Malerei und altkirchliche Literatur. Leipzig 1896, zusammengestellt worden 
Sind. Umgekehrt bestätigt die ziemlich reiche Ausbeute an verhältnismäßig frühen Zeug¬ 
nissen dieser Art den sich im 4. Jahrhundert vollziehenden Austausch. Vgl. auch die 
Zitate bei V. Schultze, Archäol. Studien. Wien 1880, S. 17. 

•) Vgl. Michel, a. a. 0 . S. 17 ff., 31 und 90 ff.; Reil, a. a. 0 . S. 4 ff. 

9 ) Wilpert, Ein Zyklus christologischer Gemälde aus der Katakombe der Hll. Petrus 
und Marcellinus. Freiburg i. B. 1891. Zur Datierung vgl. Michel, a. a. O. S. 91 ff., der 
jedoch ebenso wie Reil, a. a. 0 . S. 6, die typische Bedeutung dieser Bilderreihe verkennt, 
wenn er ihren Ursprung aus individueller Initiative erklären will. 


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Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw. 


197 


auf ihrer Reise den Stern erblicken 10 ). Endlich aber steht uns inmitten 

• % 

dieses geschlossenen Bilderbestandes der jüngeren Typenschicht am Ge¬ 
wölbe das Zeremonialbild des jugendlichen unter den Aposteln thronenden 
Christus vor Augen. Es hängt also zweifellos aufs engste mit ihr zusammen. 
Aus früherer Zeit liegt kein einziges sicheres Beispiel desselben vor, aus 
dem 4. Jahrhundert hingegen sind mehrere Wiederholungen bekannt, und 

zwar eine ganz wie die 0. a. mit sechs, die übrigen mit acht bis zwölf 

• 

Aposteln “). 

In sämtlichen Fällen nimmt Christus die Schriftrolle haltend oder 
entfaltend mit lehrender Gebärde die Kathedra ein, von den im Halkbreise 
sitzenden (einmal außer Petrus und Paulus stehenden) Jüngern umgeben. 
Daß diese Komposition einem hellenistischen Bildtypus von Rats- oder 

Philosophenversammlungen auf dem sogenannten Sigma nachgeschaffen ist, 

• 

haben Sybel (a. a. O. S. 279) und andere erkannt. Auch mag er darin 

recht haben, daß das Bild von Anfang an den »erhöhten Lehrer« unter 

seinen Schülern in apokalyptischem Sinne darstellt. Gleichwohl wollen die 

frühesten Denkmäler schwerlich die sogenannte Parusie (Matth. XIX, 28) 

unmittelbar veranschaulichen, vielmehr offenbar nur ein Idealbild der 

apostolischen Kirche und ihres Hauptes geben. Hat doch die christliche 

Kunst dabei nicht etwa bloß aus Raumgründen anfangs auf die Zwölfzahl 

verzichtet, sondern — wohlgemerkt! — zunächst an den antiken Typus 

des Hebdomadenbildes XJ ) angeknüpft. Wie und wo kam man dazu ? — 

* 

Gegeben war schon in der altchristlichen Kunst der ersten Jahrhunderte 
die Gestalt des göttlichen Lehrers (s. Rep. f. Kunstwiss. 1911, S. 307 ff.), 

des »Pädagogen«, und gewiß nicht nur als Einzelfigur, wie sie die Katakomben 

• 

anscheinend ausschließlich bewahren, sondern zweifellos auch in vollständigen 
Lehrszenen wie auf einzelnen Sarkophagen * 3 ). Am wenigsten werden wir 
die mehrfach vertretenen Darstellungen des in Frontansicht mit der Capsa 
zu Füßen dasitzenden Christus (vgl. Sybel, a. a. O. I, S. 275 ff.) als die 


I0 ) Diese nächstliegende Deutung der Darstellung wird von H. Kehrer, Die Hl. Drei 
Könige in Literatur und Kunst, Leipzig 1909, II, S. 14 grundlos angezweifelt. Vielleicht 
ist auch die Anbetung der Hirten schon mit Wilpert, a. a. 0 . Taf. 147, S. 201, in einer andern 
Freske derselben Katakombe zu erkennen; vgl, Sybei, a. a. 0 . S. 251 und Kehrer, a. a. 0 . 
S. 13. 

IX ) Vgl. die Zusammenstellung der Denkmäler bei Sybel, a. a. 0 . I, S. 277 ff. und 
Michel, a. a. 0 . S. 86. 

,a ) Zur Entstehung und zur Nachwirkung des letzteren in der altchristlichen Kunst 
vgl. E. Diez, Die Miniat. des Wiener Dioskurides. Wien 1903. (Strzygowski, Byz. Denkm. 
III), S. 36. 

x 3 ) Ein Gegenbeispiel dazu aus der Malerei scheint die von Sybel, a. a. 0 . I, S. 277 
angeführte frühe Freske in Neapel zu bieten; zu den Einzelgestalten vgl. auch Wilpert, 
a. a. 0 . S. 251, Taf. 92/3 und Sybel, a. a. 0 . S. 299. 


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O. Wulff, 


198 

Vorstufe des neuen Bildtypus anzusehen haben, sondern nur als eine Ab¬ 
kürzung desselben. Dieser bedeutet vielmehr eine Neuschöpfung, wenn 
auch auf der Grundlage der allgemeinen Vorstellung von dem philosophi¬ 
schen Charakter der christlichen Lehrtätigkeit. Denn Christus erscheint 
hier fast als primus inter pares, und die Belehrten sind die Lehrer der Kirche 
selbst. Eine solche Auffassung aber entspricht vor allem dem Geiste, der 
auf die apostolische Lehrautorität pochenden antiochenischen Gemeinde. 
Und nirgends lag es wohl für die christliche Kunst des 3. Jahrhunderts 

m 

näher, den geistigen Verkehr des Herrn mit seinen Jüngern im Bilde sich 
unterredender Gelehrter darzustellen als in Antiochia mit seiner noch 
unter Julian blühenden Rhetorenschule * 4 ). Die Bestätigung dafür, daß die 
Ausprägung des neuen Bildtypus diesem Kunstkreise gehört, durch die 
Zeugnisse der Plastik und Kleinkunst bleibt denn auch nicht aus (s. u.). 
Alles das aber bedeutet nichts Geringeres, als daß Antiochia im 3. Jahrhundert 
die Führung in der christlichen Kunst antritt, wie Strzygowski das schon 
ausgesprochen hat * 5 ). 

Daß die Malereien des besagten Cubiculum in S. Pietro e Marcellino 
ein geschlossenes System vertreten, — gerade so wie der um ein halbes 
Jahrhundert ältere Freskenschmuck der Sakramentskapellen (s. Rep. f. 
Kunstwiss. 1911, S. 306), — ist schon von verschiedenen Seiten erkannt 
oder wenigstens gefühlt worden ,6 ). Und weil es als solches nur einmal 
in den römisphen Grüften vorliegt, müssen wir eben auf außerrömischen 
Ursprung der Typen schließen, die hier vereint, sonst aber mehrfach einzeln 
in der jüngeren Phase der Katakombenmalerei verbreitet sind. Muster¬ 
bücher werden die Vermittlerrolle als Träger des neuen Einflusses gespielt 
haben'. Bezeichnend für den Geist des Kunstkreises, der in ihm wirkt, 
ist die beginnende Zusammenstellung erzählender Bildfolgen, wie sie das 
Jugendleben Christi erkennen läßt, — die Moses- und Danielszenen ver¬ 
raten dieselbe Neigung, — neben dem Fortleben einer erweiterten exor- 
zistisch-sepulkralen Symbolik sowie die Unterordnung beider Elemente 
unter eine repräsentative Bildallegorie kirchlicher Lehrautorität. Die letztere 
hatte außerhalb der Gräber noch in andern Kompositionen ihren bildlichen 
Niederschlag gefunden (s. u.). Schwerlich aber ist es bloßer Zufall, daß 
uns in denselben Coemeterien Roms, in denen die jüngere Typenschicht 


* 4 ) W. Christ, Gesch. d. gricch. Lit. 4. Aufl. München 1905, S. 833 ff. Hdb* d. Kl. 
A. Wiss. VH. 

’S) Strzygowski, Oriens Christ. 1902, II, S. 421 und Bull, de La Soc. archfol. d’Alex. 
1902, N. V, S. 84 . 

16 ) Sybel, a. a. 0 . I, S. 296 ff. Michel, a. a. 0 . S. 92 erscheint er zwar wie ein »erra¬ 
tischer Block» in der Malerei, der jedoch schon auf Beziehungen zur Sarkophagskulptur 
weist. Aber soll letztere sich etwa aus einer vereinzelten Gruft Anregungen geholt haben ? 


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Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw. 


199 


hauptsächlich eindringt, auch mehrfach die Nachahmung der polychromen 
Wandvertäfelung und der ornamentalen Gewölbemosaiken begegnet. Daß 
aber der neu j Bilderzyklus hier keine allgemeine Verbreitung mehr gewonnen 
hat, erklärt sich aus der Trägheit der handwerklichen Lokaltradition. 

Erlauben die hervorgehobenen Tatsachen und Beziehungen eine ge¬ 
wisse Abhängigkeit der jüngeren Katakombenkunst von der christlichen 
Kunstentwicklung Antiochias zu vermuten, so erhebt sich die weitere Frage, 
ob und wie diese Wandlung sich auch in den Denkmälern der Plastik spiegelt. 
Wieder liegt der Parallelismus nicht überall zutage, was wir bei einem von 
außen unbeeinflußten Wachstum der römischen Kunst vollends zu erwarten 
hätten. Indem Malerei und Plastik dem neuen Einfluß gesondert erlagen, 
haben sie nicht völlig gleichen Schritt gehalten, so daß der vermehrte Typen- 
schätz beider sich nur im großen Ganzen deckt. Mit der aus dem Seminar 
ererbten Vorstellung freilich, daß sich in der Sarkophagplastik eine lokale 
Entwicklung des sepulkralen Bilderkreises »fortsetze« * 7 ), muß entschlossen 
gebrochen werden. Es liegt ja doch auf der Hand, daß die Bildnerei es 
viel leichter hatte, eine neue Typenreihe in größerer Vollständigkeit auf¬ 
zunehmen, da zweifellos zum mindesten einzelne fertige Särge jederzeit 
aus dem Osten eingeführt worden sind. Der Sarkophagplastik gegenüber 
ist es gewiß nicht nur eine lohnende, sondern sogar eine unerläßliche Aufgabe, 
der »Syntax der figürlichen Typen« nachzuspüren. Da genügt es freilich 
nicht, an einigen herausgegriffenen Beispielen festzustellen, daß ein all¬ 
gemeiner dogmatischer Gedankenzusammenhang dem Reliefschmuck nicht 
zugrunde liege (Sybel, a. a. O. II, S. 160). Darauf kommt es zunächst viel 
weniger an als auf die einfache Abgrenzung des Typenschatzes der übrig- 
bleibenden Sarkophagklassen unter sich, d. h. auf die Verfolgung der ver¬ 
schiedenen Synthesen, welche die Bildtypen in ihnen miteinander eingehen, 
wie schon betont wurde (s. Rep. f. Kunstwiss. 1911, S. 305). Sie ist noch 
niemals ernstlich unternommen worden ,8 ) und kann hier natürlich auch 
nicht restlos durchgeführt, sondern nur in gröbsten Zügen eingeleitet 
werden. 

An Sybels Untersuchung rächt es sich andrerseits immer wieder, daß 
die gallischen Särge von gleichem Typus zunächst von der Betrachtung 
ausgeschlossen werden. Aus einer ganzen Summe treffender Beobachtungen 
werden infolge dieser unglücklichen Klassifizierung des Denkmälerbestandes 
nicht die gebührenden Schlüsse gezogen. Und obwohl die in Gallien ge¬ 
fundenen Sarkophage nach seiner Auffassung von der römischen Sepulkral- 
plastik abstammen, sieht er sich (a. a. O. II, S. 208) doch gezwungen, um 

* 7 ) Sie spukt sogar noch bei Michel, a. a. 0 . S. 101 ff. und Reil, a. a. 0 . S. 15. 

»•) Dieses Versäumnis nimmt auch den »gewissenhaften Zusammenstellungen« von 
Michel, a. a. 0 . S. 99 viel von ihrem Wert. 


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200 


O. Wulff, 


ihrer Besonderheiten willen noch ein provinziales Fabrikationszentrum an¬ 
zunehmen. Allein die andauernde Tätigkeit eines solchen hätte wohl eine 

♦ 

größere allgemeine stilistische und ikonographische Scheidung herbeige¬ 
führt, während wir in ganz Gallien manche Stücke antreffen, die wie Repliken 
römischer Särge aussehen, — wenigstens in der bedeutsamsten und zahl¬ 
reichsten Gattung der Säulensarkophage. Für diese Verhältnisse, einge¬ 
rechnet den erheblichen ikonographischen Überschuß des gallischen Ge¬ 
samtbestandes (s. Rep. f. Kunstwiss. 1911, S. 304) bleibt doch die einzige 
unmittelbar einleuchtende Erklärung, daß sowohl Rom als auch Gallien 
in den einzelnen Klassen zahlreiche Arbeiten ein und desselben hellenisti¬ 
schen Kunstzentrums aufgenommen haben (Strzygowski, Kleinasien usw. 
S. 195), daß aber solche Sargtypen hier wie dort lange nach- und dabei 
mehr oder weniger umgebildet worden sind. Die Masse des Erhaltenen ist 
solche Dutzendware bis herab zu den unverkennbaren Erzeugnissen einer 
gänzlich verfallenen lokalen Fabrikation. 

Unter solchen Voraussetzungen darf man als die älteste von allen 
noch nicht näher herangezogenen Sarkophagklassen diejenige mit ein¬ 
reihigem (bzw. »einzonigem«) friesartigem Reliefschmuck ohne jede äußere 
Szenentrennung ansehen. Damit soll freilich nicht einer hohen Datierung 
der Mehrzahl der einschlägigen Denkmäler das Wort geredet werden. Im 
Gegenteil gibt es von dieser Gattung sowohl in Rom wie in Gallien und 
selbst in Spanien eine beträchtliche Anzahl grober und z. T. offenbar ganz 
später Repliken. Aber daß sie auf einen einheitlichen Stammtypus ziemlich 
früher Entstehung zurückweist, unterliegt ebenso wenig einem Zweifel. Denn 
ihr Typenschatz enthält einen einheitlichen Grundstock, der ungefähr dem 
Bilderkreise der Katakombenmalerei nach seiner Erweiterung durch mehrere 
neutestamentliche Wunder u. a. m. in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts 

f 

entspricht (s. o. und Rep. f. Kunstwiss. 1911, S. 312 ff.). Die Auswahl 
und Auffassung der Szenen ist noch vorwiegend durch den sepulkralen 
Symbolismus bestimmt. Die ersten Anzeichen eines erwachenden histori¬ 
schen Interesses sind jedoch schon in den trinkenden Israeliten beim Quell¬ 
wunder, in der vermeintlichen Nebenszene der typischen Bedrängung des 
Moses und in der Hinzufügung einer Frauengestalt * 9 ) beim Abrahams- 

x 9 ) Die letztere wird wie in den Fresken von El Bagäuat als Sarah zu deuten sein; 
vgl. W. de Bock, Matör. p. s. k Tarch^ol. de l’Eg. chr£t. St. Petersburg 1901, pl. XII und 
p. 23. Bei der erstgenannten Szene glaubt E. Becker, Das Quellwunder des Moses in der 
altchristlichen Kunst, Straßburg 1909, S. 86 mit erfreulicher Unabhängigkeit von semi¬ 
naristischen Vorurteilen die Sarkophagplastik als den gebenden Teil ansehen zu müssen. 
Wägt man aber alle von ihm selbst mit vortrefflicher methodischer Klarheit hervorge¬ 
hobenen Tatsachen ab, — daß nämlich im Gegensatz zum »römischen Vulgärtypus» (bzw. 
Werkstattypus) die besser gearbeiteten (also z. T. doch wohl auch älteren) Särge, be¬ 
sonders in Gallien, eine freiere Gestaltung der Komposition aufweisen und daß die Kata- 


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Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw. 


201 


opfer wahrzunehmen. Für einzelne Typen, wie die Belebung der Totengebeine 
(Ezechiel, Kap. 37), das Gebot der Arbeit und die (vereinzelte) Vertreibung 
aus dem Paradiese, fehlen alle Gegenbeispiele in der Malerei. Wenn die 
Sarkophagplastik die neuen Typen aus dieser aufgenommen hat, wie das 
schon vorher sicher der Fall war (s. Rep. f. Kunstwiss. S. 312), so muß 
das also in einem anderen Kunstkreise als dem römischen geschehen sein* 
Daß aber die Redaktion des Typenschatzes dieser Sarkophagklasse in Anti- 
ochia oder im südlichen Kleinasien entstanden sei, dafür spricht die Tat¬ 
sache, daß die orientalischen Versionen der pseudocyprianischen Gebete 
einen ziemlich übereinstimmenden Bestand und zumal für manche neuen 
Typen das literarische Gegenbeispiel bieten 30 ). Andrerseits scheint es dieser 
Gattung nicht an jedem Zusammenhänge mit den alexandrinischen Vor¬ 
stufen des friesartigen Reliefschmucks zu fehlen (vgl. Rep. f. Kunstwiss. 
1911, S. 312). Die Jonas- und Danielszenen werden gelegentlich auf unter¬ 
geordneten Plätzen an den Schmalseiten oder am Deckel bewahrt. Und 
vor allem erhält sich die Orans als Mittelfigur des Frieses nicht nur ziemlich 
ständig auf gallischen Särgen, sondern sogar noch auf späten römischen 


kombenfresken sowohl in der Tracht der Israeliten von den Sarkophagreliefs abweichen 
wie auch größtenteils andere Stellungen der Nebenfiguren zeigen, so wird man doch zu 
einem weiteren Schluß kommen. Die Erweiterung des frühchristlichen Typus mag sich 
in Rom ungefähr gleichzeitig in der Malerei und Plastik vollzogen haben. In dem Kunst¬ 
kreise aber, der Rom und Gallien jene besseren Sarkophage und neue malerische Vor¬ 
lagen lieferte, — kann wohl die Malerei damit vorangegangen sein. Auch die Petrus-Moses- 
Vorstellung beweist ja noch lange nicht, daß der neue Typus in Rom entstanden sein 
muß, — nachdem gerade Becker den wasserschlagenden Petrus durch seine erschöpfende 
kritische Untersuchung ein für allemal in das Reich dogmatischer Phantastik verwiesen 
und die noch für Sybel, a. a. O. II, S. 123 bestehenden Schwierigkeiten beseitigt hat. 
Die auf das Wortspiel n^tpoc und r^epa begründete antitypische Parallele aber ist doch 
jedenfalls auf hellenistischem Boden entstanden. Sie berührt sich geradezu mit den Ge¬ 
dankenreihen, welche auf den antiochenischen Ursprung des Bildtypus der Gesetzes¬ 
übergabe hinweisen (s. u.). Das eine von Becker, a. a. 0 . S. 143 angeführte syrische Zeug¬ 
nis wiegt in seiner Schlichtheit mehr als alle abendländischen Kirchenväterstellen. Daß 
dann auch die typische Nebenszene der Sarkophage, die man nunmehr »Ergreifung des 
Petrus» statt »Bedrängung des Moses» wird nennen müssen, mit den barettragenden 
Kriegsknechten im näheren Bereich des palästinensischen Einflusses aufgekommen sein 
muß, ist eine naheliegende Folgerung. Vielleicht haben die römischen Steinmetzen sie 
nicht einmal immer verstanden. Dadurch würde sich ihre Umbildung auf dem lateranen- 
sischen Jonassarkophag, den Becker, a. a. 0 . S. 136, Anm. 1 ausschalten will und .der 
keineswegs zu den ältesten gehört (vgl. Rep. f. Kunstwiss. 1911, S. 312, Anm. 68), 
erklären; vgl. auch Sybel, a. a. 0 . II, S. 122. Wenn sich wohlbegründete Einzelergebnisse 
einem allgemeinen Gesichtspunkt so leicht einfügen, können sie nur seine Richtigkeit 
bestätigen. 

*°) Vgl. Michel, a. a. O. S. 53 und 58; für einzelne Szenen enthalten auch die S. 33, 
Anm. 2 zusammengestellten Erwähnungen bei Ephraim Syrus den Beleg. 


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O. Wulff, 


Repliken 3I ). Der gute Hirte hingegen ist fast ausnahmslos (s. a. a. O. 
Anm. 69) durch den Wundertäter verdrängt, dieser aber erscheint auf allen 
besseren Denkmälern im Schmuck der langen Locken, ein Typus, den Strzy¬ 
gowski mit gutem Grunde aus Kleinasien ableitet und in dem neuerdings 
Dütschke wohl mit Recht eine Art von Zwillingsbruder des Mithrasideals 
erblickt **). 

Auf Kleinasien als Stammland der altchristlichen Sarkophage abend« 
ländischen Fundorts hat der Erstgenannte (a. a. 0 . S. 199) mit großer Ent¬ 
schiedenheit hingewiesen. Wenn unsere Nachprüfung seiner Aufstellungen 
für die in Rede stehende Klasse zu einer übereinstimmenden Annahme zu 
führen scheint, so sei hier klar ausgesprochen, daß ich dabei immer die 
kleinasiatische Südküste im Auge habe. Hier, und zwar in Tarsus, hat sich 
in der Tat jenes Bruchstück eines Jonascippus gefunden, dessen etwas 
flüchtiger Stil sich sehr wohl manchen römischen Sarkophagen des 4. Jahr¬ 
hunderts vergleichen läßt * 3 ). Wir sind aber a priori berechtigt, dieses Ge¬ 
biet im wesentlichen dem antiochenischen Kunstkreise zuzurechnen und von 
ihm den nördlichen, mit Byzanz Hand in Hand gehenden prokonnesischen 
zu trennen. Denn eine einheitliche kleinasiatische Kunst hat es jedenfalls 
in christlicher Zeit noch weniger gegeben als in der heidnisch-antiken. Die 
Nachbarschaft einer Großstadt wie Antiochia aber konnte unmöglich auf 
die Kunstübung an der Südküste ohne Einfluß bleiben. 

Eine weitere Beobachtung führt vielleicht am sichersten darauf hin, 
daß sich die vorausgesetzte Fortbildung eines alexandrinischen Sarkophag¬ 
typus in dem bezeichneten Gebiet vollzogen haben dürfte. Zwischen der 
Klasse der friesartig verzierten Särge und derjenigen der Säulensarkophage, 
die wir mit noch größerer Entschiedenheit für Antiochia in Anspruch nehmen 
können (s. u.), bestehen nämlich eigenartige Beziehungen. Während den 


J1 ) Le Blant, Les sarc. chr6t. de la Gaule. Paris 1886, pl. IX, XVIII, XXII, 
XXIX und XLV, sowie fit. sur les sarc. chr£t. etc. d’Arles. Paris 1878, pl. III, VII, 
XXVII; J. Ficker. Die altchristl. Bildw. im christl. Mus. d. Laterans. Leipzig 1890, 
N. 116,148,160,161 = (Garrucci, Storia etc. t. 376, 380, 381 u. a. m.); O. Marucchi, Mon. 
del Mus. Crist. Pio-Lateranense, Milano 1911, tav XXVI u. XXXIX; vgl. auch Michel, 
a. a. 0 . S. 103. 

**) Strzygowski, Orient oder Rom, S. 58 ff. und Christus in hellenistischer und orien¬ 
talischer Auffassung. Beil. d. Allgem. Zeitg. 1903, Nr. 14 (in bezug auf den alexandrin. 
Typus kann ich ihm nicht folgen): Kleinasien ein Neuland, S. 196 ff.; H. Dütschke, 
Ravennat. Studien, Leipzig 1909, S. 107 ff. 

* 3 ) Strzygowski, Kleinasien usw. S. 198, Abb. 143; Lowrie, Amer. Journal of archeol. 
1901, p. 51. Ein Relief der Stammeltem im Paradiese (bzw. des Sündenfalles) hat seiner 
Zeit J. P Richter, Die Mosaiken von Ravenna, Wien 1878, S. 132, Anm. 1, s. Z. in An¬ 
tiochia vorgefunden; eine grobe Darstellung der Kundschafter mit der Traube befindet 
sich im Besitz des Baron Ustinow in Jaffa. 


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Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw. 


203 


ersteren die jüngsten christologischen Bildtypen und die Apostelmartyrien 
der späteren Gattung noch durchweg fehlen, tauchen auf ihnen bereits mehr¬ 
mals einzelne Szenen auf, die auch zum Typenschatz der letzteren, aber 
offenbar zu einer etwas älteren Schicht desselben gehören, wie die Sama¬ 
riterin am Brunnen, die Ansage der Verleugnung Petri, seine Ergreifung 

0 

(s. o. Anm. 19) und die Schlüsselübergabe, die Erweckung der Tochter des 
Jairus und (auf demselben gallischen Sarge) sogar eine Majestas Christi 
mit stehenden Aposteln, die an gewisse, meist als Gerichtsszenen aufgefaßte 
Katakombenbilder erinnert *<). Endlich kommen auch die beiden Apostel 
mehrfach als Begleitfiguren (»Advokaten«?) der Orans (s. Anm. 21) vor. 
Man wird in allen diesen, nicht wie in einzelnen anderen Fällen, auf lokale 
Entlehnungen der späten Repliken (s. u.), sondern auf wurzelhafte Zu¬ 
sammenhänge schließen müssen, um so mehr als solche auch in stilistischer 
Hinsicht ins Auge fallen (s. u.). Der Stil der besten Denkmäler * 5 ) mit fries¬ 
artigem Reliefschmuck geht gleichwohl dem ausgereiften Stil der Säulen- 
Sarkophage sichtlich voraus. Die schlanken Proportionen, die rhyth¬ 
mischere Bewegung und der schöne Fluß der reichen Faltengebung verrät 
noch den reineren antiken Geschmack des 3. Jahrhunderts. In den gewöhn¬ 
lichen späteren Kopien ist dieser Stilcharakter freilich durch fortgesetzte 
verständnislose Wiederholung meist völlig vergröbert. 

Als jüngere Abart derselben Klasse erscheinen die für zwei Personen 
bestimmten größeren Särge mit doppelreihigem (bzw. »zweizonigem«) 
Figurenfries. Wenn irgendeine Gattung als lokalrömischer Werkstatt¬ 
typus angesprochen werden darf, so ist es die Masse dieser Sarkophage. 
Außer in Rom, wo sie zum Teil auch demselben Fundbereich bei S. Callisto 
angehören (Ficker, a. a. O. S. 47), sind sie nur in Arles mehrfach vertreten, 
fehlen hingegen im übrigen Gallien l6 ). Ihre Verwendung an diesem Punkte er¬ 
klärt sich durch den unmittelbaren Seeverkehr mit Rom ebenso leicht wie 
das vereinzelte Vorkommen des Sarges der Adelfia in Syrakus. Dem ent¬ 
spricht eine ziemlich gleichartige, die Nebenseiten vernachlässigende Be¬ 
handlung. Der Typenbestand ist außerordentlich reich, aber eklektisch zu¬ 
sammengesetzt. Neben den typischen Szenen der einreihigen Friese tauchen 
einerseits ältere, wenngleich z. T. erweiterte Typen auf, wie Daniel und 
Jonas, andrerseits solche, die augenscheinlich von den Säulensarkophagen 
entlehnt sind, von alttestamentlichen z. B. Moses Sandalenlösung und die 

* 4 ) Le Blant, fitude etc. pl. XVII,XXII; Les sarcoph. chr£t. etc. pl.IX, XVIII, XLV. 

* 5 ) Vor allem mehrerer gallischer Särge; Le Blant, fitude etc. pl. III und VII; 
Les sarcoph. chr£t. IX, XX, XLV. 

**) Schon Le Blant, fitude etc. p. VI hat die engere Verwandtschaft der Arleser Sarko¬ 
phage mit den römischen bemerkt. Das schließt natürlich nicht aus, daß auch dort manches 
aus dem Orient eingeführte Stück besseren Stils der anderen Gattungen erhalten ist. 


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O. Wulff, 


Tötung des Drachens durch Daniel, die drei Jünglinge vor Nebukadnezar* 7 ), 
aus dem Neuen Testament die Magieranbetung nebst der nur einmal in den 
Katakombenfresken belegten Geburtsszene * 8 ). Dagegen fehlen auch dieser 
während des ganzen 4. Jahrhunderts gebräuchlichen Gattung die eigent¬ 
lichen Passionsszenen mit ein paar bemerkenswerten Ausnahmen. Auf dem 
schönsten und anscheinend ältesten Sarge aus S. Paolo (Lateran Nr. 55) 
finden wir bereits die Händewaschung des Pilatus in sehr figurenreicher und 
trotzdem unvollständiger, also sichtlich entlehnter, Komposition vor J 9 ). 
Seinem Stile nach reiht er sich den besten Arbeiten mit einreihigem Friese an 

(s. Anm. 25). Das macht es mindestens zweifelhaft, ob die Verdoppelung 

• 

des letzteren erst in Rom aufgekommen ist, in ihrer ständigen Verbindung 
mit dem Doppelporträt in der Muschel (bzw. dem Clipeus) aber bleibt sie 
daselbst in ständigem Gebrauch. Die übrigen Denkmäler zeigen den un¬ 
aufhaltsamen Stilverfall einer handwerksmäßigen Kunstübung. Und doch 
bietet noch eine so derbe Arbeit wie der zweite Sarkophag aus S. Paolo, 
dem man mit tiefsinnigen Ausdeutungen seines Bildschmuckes gar zu viel 
Ehre angetan hat, — in der Szene der Menschenschöpfung einen Bildtypus, 
der nur außerhalb Roms seine Gegenbeispiele findet 3 °). Der christlich- 
hellenistische Bildstoff strömt eben dem Abendlande durch verschiedene 
größere und kleinere Rinnsale zu. Davon zeugen auch die jeder befriedigen¬ 
den Deutung widerstehenden, also wohl mißverstandenen Darstellungen am 

* 7 ) Vgl. Ficker, a. a. 0 . No. 178 (= Garrucci, a. a. O. t. 367, 3) und Le Blant, a. a. O. 
pl. VI. Dahin gehört ferner d.r Durchzug d.r Israeliten durch das Rote Meer auf dem 
lateranensischen Kindersarkophag bei Ficker, a. a. O. Nr. 212 (= Garrucci, a. a. 0 . t. 358, 1) 
und (in unvollständiger Wiedergabe) auf einem Arleser, der auch die drei Jünglinge auf¬ 
weist; Le Blant, a. a. 0 . pl. VIII. 

**) Erstere wieder auf dem o. a. Kindersarkophag und beide auf dem der Adelfia 
(s. u.), die Geburt und die Magier im Anblick des Sternes auch auf den späteren strigi- 
lierten (vgl. Rep. f. Kunstwiss. 1911, S. 313); Le Blant, a. a. 0 . pl. XVIII und XXI. 

* 9 ) Marucchi, a. a. 0 . t. VI, 4; Sybel, a. a. O. II, S. 143 und 178, wo er ihn mit Riegl, 
Spätröm. K.-Industrie I, S. 95 noch ins 3. Jahrhundert verweist. Aber Tracht und Haar¬ 
behandlung lassen wohl bis in die ersten Jahrzehnte des vierten Spielraum, während sie 
den späten Ansatz Fickers, a. a. 0 . Nr. 55 ausschließen. Dieselbe Darstellung wiederholt 
sich ebenfalls ohne Christus in Arles bei Le Blant, a. a. O. pl. VIII auf dem einzigen 
zweireihigen Sarge, der die Apostelmartyrien zeigt, öfter belegt ist hingegen der Einzug 
Christi in Jerusalem; Fickei, a. a. 0 . Nr. 189 (= Garrucci, a. a. O. 367, 2; vgl. auch 313, 4); 
Marucchi, a. a. O. t. XXXIV, 1 sowie bei Le Blant, a. a. 0 . pl. XVIII nebst Samariterin 
(vgl. auch Garrucci, a. a. 0 . t. 313, 3). Ganz für sich steht als ein Beispiel unmittelbarer 
Einwirkung antiochenischer oder palästinensischer Vorbilder der trümmerhafte Sarg aus 
S* Honorat mit christologischem Zyklus; Le Blant, a. a. O. pl. XXIX. 

3 °) Ficker, a. a. 0 . Nr. 104, der schon mit Recht hinter dem Korbstuhl in der Men¬ 
schenschöpfung eine bloße Füllfigur erkennt; Marucchi, a. a. 0 . t. XIV, 3; Sybel, a. a. 0 . 
II, S. 127, 161 und 192, doch genügt die Toga contabulata schwerlich, den Sarg entgegen 
den Fundumständen ins 5. Jahrhundert herabzurücken. 


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Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw. 


205 


Deckel des Sarkophags der Adelfia, dessen verkrüppelte und unartikulierte 
Figurenbildung ungeachtet ihrer püppchenhaften Zierlichkeit doch viel¬ 
leicht über alle Bedenken gegen den herkömmlichen Zeitansatz hinweg¬ 
helfen dürfte 31). Die Vorliebe für hochreliefartige Durchbildung setzt sich 
aber an den zweireihigen Friesen bis in solche spätesten Ausläufer hinein 
viel entschiedener durch als bei den einreihigen. 

Keiner Sarkophagklasse ist wohl die bisherige Forschung so wenig 
gerecht geworden, wie den Säulensarkophagen, — auch Sybel nicht trotz 
mancher treffenden Beobachtung, — obgleich sie sich gegen die übrigen 
Sarkophage am schärfsten als geschlossene Gruppe absondern, die zugleich 
in ihren Spielarten und Nebengattungen eine deutliche Entwicklung wahr¬ 
nehmen läßt. Die gesonderte Durcharbeitung ihrer Ikonographie hätte ihre 
hervorragende Bedeutung innerhalb der altchristlichen Skulptur unfehlbar 
erfaßt, allerdings nur wenn ihr der Gesamtbestand der gallisch-römischen 
Arkadensärge, die den ravennatischen u. a. m. gegenüber eine Einheit bilden, 
zugrunde gelegt worden wäre. Für sämtliche Gattungen von Säulensarko¬ 
phagen einen einheitlichen Stammbaum aufzustellen, scheint hingegen ein aus¬ 
sichtsloses Beginnen zu sein. Die ältesten heidnischen Vorstufen aber gehören 
zweifellos Kleinasien, wo sich auch die Grundvorstellung des Totentempels 
(bzw. des »Hadespalastes«) bis in einzelne christliche Typen hinein erhält 3 *). 
Als Hauptgattungen scheiden sich schon in der antiken Kunst des 2 ./ 3 . Jahr¬ 
hunderts n. Chr. die Tabernakel- und die eigentlichen Säulensarkophage 
und beide reichen in die christliche Kunst hinein. Wie weit dabei bestimmte 
gleichzeitige Bautypen auf die Ausgestaltung der einen oder anderen Art 
vorbildlichen Einfluß geübt haben, wird schwerlich sicher zu ermitteln 
sein. Nischengliederung der Mauern und der Wechsel des Spitz- und Rund¬ 
giebels waren als dekorative Motive etwa seit Hadrianischer Zeit für statuen¬ 
geschmückte Portiken wie für die Fassadenarchitektur u. dgl. üblich 33 ). 
Man braucht nicht mit Strzygowski und Wittig in erster Linie an die Bühnen- 


3 1 ) J. Führer, Forschg. zur Sizil. sotteranea. München 1897, Taf. XII; vgl. Sybel, 
a. a. 0 . II, S. 122 und 192. Die Wiedergabe der Toga, contabulata auf den auf Vor¬ 
rat gearbeiteten Sarkophagen erscheint mir gewöhnlich nicht klar genug, um in diesem 
und anderen Fällen für oder gegen eine Entstehungszeit (also hier gegen das 5. Jahr¬ 
hundert) geltend gemacht werden zu können. Eine weitere Deutung der problematischen 
Szenen versuchte Ainalow, Szenen aus dem Leben der Gottesmutter auf dem Sarkophag 

der Adelfia. Moskau 1895 (russisch). 

* 

3 ») Vgl. Sybel, a. a. 0 . II, S. 50 und 62 und vor allem Dtitschke, a. a. 0 . S. 22 ff. 
Die Beibehaltung der Hadestür am Sarkophag von Salona (s. Rep. f. Kunstwiss. 1911, 
S. 308) u. a. m. (vgl. Sybel, a. a. 0 . II, S. 52) beweist die Kontinuität der Kunstform, 
auf deren Grundlage sich die Bedeutungsverschiebung zur christlichen Vorstellung der 
»Himmelshalle# erst vollzogen hat. 

33 ) Sybel, a. a. 0 . II, S. 59 ff.; Dütschke, a. a. 0 . S. 126 ff. 


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O. Wulff, 


wand (scaenae frons) und an das Theater von Antiochia zu denken 34). 
Am allerwenigsten rechtfertigen dieTabemakelsärge »mit Doppelschnecken« 
an den Kapitellen diese Ableitung. Ihrem Verbreitungsgebiet und ihrem 
überwiegend heidnischen Charakter nach gehören sie vielmehr dem nord¬ 
westlichen kleinasiatischen Kunstkreise an 35 ), mögen auch solche Prunk¬ 
särge gelegentlich an und von der Südküste her in das Innere Eingang ge¬ 
funden haben (s. u.). Hier aber waren, wie neuere Funde gelehrt haben, 
sowohl Tabernakelsarkophage wie die »gewöhnlichen Arkadensärge mit 
gleichmäßig gereihten Spiralsäulen« schon im heidnischen Gebrauch ver¬ 
breitet 3 6 ). Das Fabrikationszentrum, welches dem Abendlande die Masse 
der Säulensarkophage geliefert hat, — und das war m. E. Antiochia, — 
bevorzugte augenscheinlich den letzteren Typus, weil er für die Eingliede¬ 
rung des christlichen sepulkralen Bildstoffes die größeren Vorteile bot. Diese 
Klasse umfaßt mehrere Spielarten, die sich nach der Zahl der Nischen 
(sieben oder fünf) zu zwei größeren Gruppen zusammenschließen. In beiden 
kommt nämlich statt des abwechselnden Bogen- und Giebelabschlusses, 
von denen der erstere manchmal auch allein für alle Nischen Anwendung 
findet, bisweilen glattes verkröpftes Gebälk vor, wofür schon heidnische 
Sarkophage des 3. Jahrhunderts die Vorbilder bieten 37 ). Endlich bleibt bei 
sonst übereinstimmenden Grundzügen eine gewisse Mannigfaltigkeit in der 
Ausschmückung der Giebelzwickel mit Akroterien bestehen. Aber bis 
in dieses dekorative Beiwerk hinein herrscht gleichwie im Figürlichen 
zwischen einzelnen römischen, gallischen u. a. Särgen öfters eine so weit¬ 
gehende Übereinstimmung auch der technisch-stilistischen Behandlung, daß 
ein einheitlicher Kunstbetrieb daraus hervorleuchtet. Durch Stilverwandt¬ 
schaft und ikonographische Beziehungen hängen endlich auch einige andere 
Sarkophagtypen, an denen die Nischen teils umgebildet oder ausgeschaltet 
sind, teils von Anfang an fehlen, mit den Säulensarkophagen eng zusammen. 
Die Zahl der eingeführten griechischen Denkmäler scheint bei allen Spielarten 
der Säulensarkophage größer zu sein, als in der friesartig verzierten Sarko¬ 
phagklasse, wenn auch besonders in Rom manches Stück erst an Ort und 
Stelle gearbeitet sein mag. In Gallien dürfte die Aufnahme der neuen Gat¬ 
tung etwas früher, ihre lokale Nachbildung 3 8 ) erst verhältnismäßig spät 

M) Strzygowski, Journal of hell. Stud. 1907, p. 119 ff.; J. Wittig, Die altchristl - 
Skulpt. im Mus. am Campo Sto. Suppl. d. Röm. Quartalschr. Rom 1906, S. 18. 

35 ) Strzygowski, a. a. 0 . p. 115 ff.; vgl. Sybel, a. a. 0 . II, S. 56 und die übrige Lit. 
Beschr. d. Bildw. d. christl. Ep. III, 1. Altchristl. Bildw. Berlin 1909, S. 14, Nr. 26. 

3 *) Bruchstücke von solchen in Myra, vgl. bei H. Rott, Kleinasiat. Denkm. Forschg. 
üb. christl. Denkm. hsgb. v. J. Ficker 1908. Heft 5/6, S. 337, Abb. 127. 

37 ) Beide Formen sind schon an den Heraklessarkophagen belegt; Sybel, a. a. 0 . II, 
S. 58 ff.; Dütschke, a. a. 0 . S 129 ff. 

3 *) In Gallien selbst sind wohl vor allem die Sarkophage mit gereihten Spitzgiebeln 


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Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw. 


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begonnen haben. Enthält doch der reichere Typenbestand der dortigen 
Särge von früh an einzigartige Motive 39 ), die nach dem Osten weisen. 

Als eine der frühesten weit verbreiteten Spielarten kann der Sieben - 
nischentypus mit einzelnen oder je zwei Füllfiguren angesehen werden, der 
auch in Nordafrika und Spanien vertreten ist 4 °) und gewöhnlich in der 
Wiedergabe der Faltenzüge als Schattenfurchen mit Hilfe des laufenden 
Bohrers eine technische Besonderheit des diokletianischen und konstantini* 
sehen Zeitalters aufweist 4 *). Wie ihm noch eine den einreihigen Friesen ver¬ 
wandte, wenngleich sorglosere Figurenbildung eigen ist, so gewährt er auch 
den sepulkralen Bildtypen noch reichlichen Einlaß. Und schon hier kommen 
nicht nur die auf jenen vereinzelt auftauchenden neuen Szenen (s. S. 203) 
ständig vor, sondern als weiterer und bleibender Zuwachs aus dem Alten 
Testament, der wieder z. T. in der gleichzeitigen Katakombenmalerei seine 
Gegenbeispiele hat: Moses Berufung, Daniel mit dem Drachen und die 
drei Jünglinge vor Nebukadnezar 4*). Fast alle Typen aber erfahren unter 
dem Zwange des knappen Rahmens die äußerste mögliche Beschränkung 
der Personenzahl. Szenen hingegen wie die letztgenannte oder die Jonas- 
geschichte, welche das nicht zulassen, werden auf den Deckel (oder die Neben- 

oder Rechtecknischen, unter denen Einzelgestalten oder Paare von Aposteln stehen, ent¬ 
standen (vielleicht unter der Anregung einheimischer Holzarchitektur), da sie nur dort 
Vorkommen, und zwar mit Ausschluß von Arles; Le Blant, Les sarc. chr£t. de la Gaule, 
pl. XIX, XXII, XXXIV, XXXVII/VIII, XL, XLI—XLVI, XLVIII. Dagegen ahmen 
die truhenförmigen aquitanischen Särge wohl orientalische Typen und Ornamentik nach; 
Le Blant, a. a. 0 . pl. IV, XXVIII, XXXIII, XXXVI, XLVI; sie werden wohl mit Recht 
von Sybel, a. a. 0 . II, S. 216 ff. für jünger gehalten. 

39 ) So vor allem die Dioskuren auf einem Tabemakelsarge in Arles; Le Blant, £tude 
etc. pl. XXIII. Nur in Gallien belegt sind der Kampf Davids mit Goliath und die Kund¬ 
schafter mit der Traube von'jEschkol;— der Judaskuß u. a. m. daselbst und in Oberitalien; 
Sybel, a. a. 0 . II, S. 142. 

4 °) Vgl. den Sarg aus Dellys in Mus6es et Coli. d*Alg<rie etc. G. Doublet, Le Musle 
d’Alger, pl. XIII; ein ähnlicher sehr verstümmelter Sarkophag wurde vor mehreren 
Jahren im Kunsthandel aus Spanien dem K. Friedrich-Mus. angeboten. Gallische Bei¬ 
spiele s. bei Le Blant, Les sarc. chr6t. de la Gaule, pl. VII und XLVII. Eine lokal- 
römische Arbeit hingegen möchte ich z. B. in dem lateranensischen Sarg Nr. 152 er¬ 
kennen; vgl. Sybel, a. a. 0 . II, Abb. 28. 

4 1 ) Vgl. Riegl, a. a. 0 . S. 45 ff und 82 ff.; Sybel, a. a. 0 . II, S. 180 und 184 ff. 

4 ») s. S. 195. Dazu kommen noch, wenn auch der Fünf nischentypus und die groß- 
figurigen Prunksärge (s. u.) berücksichtigt werden, Hiob und die Himmelfahrt des Elias. 
Diesen und den o. erwähnten Szenen begegnen wir nie auf den einreihigen, wohl aber auf 
den zweireihigen Friesen. Die letzteren haben sie also offenbar ebenso wie die Passions¬ 
szenen von den Säulensarkophagen entlehnt. Dagegen liegt die noch nicht befriedigend 
erklärte Darstellung des »lesenden Mannes« einmal, dafür aber in vollständigsterWiedergabe 
auf einem einfachen Friese in Arles vor, von diesem wird also die Erklärung auszugehen 
haben; Le Blant, a. a. 0 . pl. III; vgl. Becker, a. a. O. S. 108 ff. und Röm. Quartalschf. 
1911, H. 3. Nicht ausgeschlossen scheint es mir, daß in ihm der »Leser» (s. Rep. f. K. 
Wiss. 191I, S. 306 ff.) in Umdeutung fortlebt. 


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O. Wulff, 


seiten) zurückgeschoben43). Für die einfigurige Nischenfüllung endlich, 
wie sie jedenfalls schon bei der heidnischen Grundform dieser Sarggattung 
das Gegebene war, hat der christliche Kunstbetrieb alsbald in der Einreihung 
der Apostelgestalten einen dankbaren Vorwurf gefunden, wenngleich der 
Gedanke der Belehrung durch den in der Mittelnische stehenden Meister sich 
gelegentlich noch hinter einem Wundervollzug verbirgt 44). 

Der Fünfnischentypus scheint nach dem Stilcharakter der Denkmäler 
etwas jüngeren Ursprungs zu sein und mag seine Entstehung eben dem 
Bedürfnis verdanken, die schon ausgebildeten dreifigurigen Typen am 
Sarkophag unverkürzt und doch mit deutlicher Szenentrennung unterzu- 
bringen. An diesen Särgen gewinnen die neutestamentlichen Wunder so¬ 
gleich das Übergewicht, und zwar treten wieder jene zuerst in den einreihigen 
Friesen bemerkten und ein paar weitere neue Typen stark hervor: die 
Heilungen der Blutflüssigen, zweier Blinden, sowie des Lahmen am Teiche 
Bethesda, Christus und die Samariterin am Brunnen, der Hauptmann von 
Capernaum und eine genrehafte Wendung des Weinzaubers (bzw. des Kana¬ 
wunders), bei der eine Nebenfigur im Begriff steht, das Wasser in die Krüge 
einzufüüen 45 ). Die Figurenzahl ist manchmal noch größer, so daß man 
sich kaum dem Eindruck verschließen kann, es seien solche Reliefs aus 
dem reicheren Bestände andersartiger Vorbilder gleichsam ausgeschnitten 
oder zusammengezogen, so z. B. die Doppelszene der Lahmenheilung am 
lateranensischen Sarge Nr. 125 (Sybel, a. a. 0 . Abb. 32; Marucchi, a. a. 0 . 
t. XIX, 2). Sie bietet zugleich einen vortrefflichen Beleg für die Einheit¬ 
lichkeit der Tradition innerhalb der römischen und gallischen Särge. An 
den letzteren, besonders an einem Fragment in Vienne, ist sie weniger ver¬ 
einfacht 46). An Stelle der trennenden ornamentalen Wellenlinie erblicken 
wir dort noch das bewegte Wasser des Bassins (Joh. V, 2). Derselbe Sarko¬ 
phag (Lat. Nr. 125) und mehrere andere zeigen auch die bereits vollzogene 
Zusammenziehung der Darstellungen des Zachäus und des Einzugs Christi 

43 ) Vgl. die Beispiele in Anm. 40. Die Jonasszenen in den Zwickeln bietet der fünf- 
niscbige Leydener Sarkophag (römischer Provenienz); vgL H. T. Oberman, De Oud- 
Christelijke Sarkophagen en hun Godsdienstige Beteekenis. 's Gravcnhage 1911, Nr. XV; 
Wittig, Röm. Quartalschr. 1906, T. II. Zu Elias s. u. 

«) Vgl. z. B. zwei Särge in Arles; Le Blant, Etüde etc. pl. X und XIII; Sybel, a. a. O. 
II, Abb. 26 und 29. 

* 5 ) Vgl. die Zusammenstellung der Beispiele bei Michel, a. a. 0 . S. 103, die jedoch 
auch die zweireihigen Friese u. a. m. berücksichtigt und daher im einzelnen nachzuprüfen 
ist; zur Samariterin und zum Hauptmann in Capernaum, der keineswegs nur in Gallien 
vorkommt, auch Sybel, a. a. 0 . II, S. 133 und 135 sowie Beschr. d. Bildw. usw. III, 1, 
Nr. 14 (ncbät Belegen). 

4 4 ) Le Blant, Les Sarc. chr£t. etc. pl. V, 4 und XVII, sowie £tude etc. pl. XXXIII; 
diese Beziehungen hat Sybel, a. a. 0 . II, S. 131 infolge der Absonderung der gallischen 
Repliken nicht durchschaut. 


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20Q 


in Jerusalem, während wir an einem gallischen und einem spanischen Sarge 47 ) 
beide vollständigen Szenen noch in gesonderten Nischen nebeneinander an- 
treffen. Daß eine derartige Verschmelzung nur in einem Fabrikations¬ 
zentrum eintreten konnte, von dem dann der erweiterte Typus ausstrahlte, 
liegt auf der Hand. Da aber die baumbekletternden Knaben, welche einen 
typischen Zug dieser Szene in der byzantinischen Ikonographie bilden 48) j 
sichtlich vom Zachäus abstammen, so muß jene Umbildung schon in einem 
hellenistischen Kunstkreise erfolgt sein. Wenn ferner auf dem heute in 
Leyden befindlichen Säulensarkophage die Verleugnung Petri und die 
Hämerrhoissa zu einem Bilde zusammengezogen sind 49 ), im Siebennischen- 
typus hingegen mehrfach noch getrennt nebeneinander stehen, so bleiben 
alle Interpretationskünste einer so offenbaren Contamination gegenüber 
müßiges Bemühen 5 °). Zum Überfluß schmücken sie als Gegenbilder die 
Nebenseiten eines auch sonst bemerkenswerten römischen Sarges (s. u.) der 
letzteren Gattung, auf dem ihre malerischen Architekturhintergründe von 
anderer Seite längst zu palästinensischen Denkmälern in Beziehung gesetzt 
worden sind 5 1 ). Besagen diese Beispiele nicht genug für die Einheitlich¬ 
keit der Typenentwicklung innerhalb des Ge^amtbestandes der Säulen¬ 
sarkophage, und weisen die Begleiterscheinungen nicht mehrfach nach dem 
Osten ? 

Die zeitliche Stellung des Fünfnischentypus ergibt sich annähernd 
aus der stilistischen Verwandtschaft der Durchschnittsarbeiten mit einer An¬ 
zahl von Sarkophagen, welche die zusammenhängende Reliefkomposition 
des Durchzugs der Israeliten durch das Schilfmeer tragen. Es war schon 
manchem Forscher aufgefallen 5 »), daß diese an weit auseinanderliegenden 
Punkten und größtenteils außerhalb Roms verbreiteten und dennoch unter 
sich wenig verschiedenen Särge, von denen einzelne sogar ein paar Nischen 

47 ) Der letztere (in Tarragona) bietet im übrigen zugleich eine ziemlich genaue Wieder¬ 
holung des lateranensischen Sarkophags Nr. 125; Le Blant, a. a. O. p. 63 und pl. XVII, 
Sybel, a. a. 0 . II, S. 139 bemerkt die Verschmelzung der beiden Geschichten, über¬ 
sieht aber wieder aus demselben Grunde die Contamination der Bildtypen, obgleich er 
richtig bemerkt, daß der contaminierte Typus nicht gerade für den Bassussarg geschaffen 
zu sein braucht. 

4 *) So schon im Rossanensis; vgl. Haseloff, Cod. Purp. Rossanensis Taf. II und S. 93. 

49 ) Obermann a. a. O. Nr. XV und J. Wittig, Röm. Quartalschr. 1906, t. II. 

-°) Vgl. Wittig, Die altchristl. Skulpt. im Mus. am Campo Sto. Rom 1906 S. in ff.; 
Ficker, a. a. O. Nr. 152 und Sybel, a. a. 0 . II, Abb. 28; Le Blant, a. a. O. pl. LV. 

5 1 ) Sybel, a. a. O. II, Abb. 82/3; Marucchi, a. a. O. t. XXIX, 2 A u. B; vgl. Ainalow, 
Die hellenist. Grundlagen usw. S. 91 ff. (bzw. Rep. f. Kunstwiss. 1903, S. 44); in der Neben¬ 
szene der einen Seite ist dank dem neuesten Nachweise von Becker, a. a. 0 . S. 27 und 
133 ff. unzweifelhaft das Quellwunder des Moses zu erkennen. In der Vorlage waren also wohl 
mehrere Petrus- und Mosesbilder zusammengestellt. 

5 *) Sybel, a. a. 0 . II, S. 191. 

Repertorium für Kunstwissenschaft, XXXV. 


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O. Wulff, 


% 


(bzw. Tore) aufweisen 53), wie wir z. B. eines schon o. a. am Sarkophag 
Lat. 125 vorfinden, ihrerseits wieder in engsten Beziehungen zur Darstellung 
der Konstantinsschlacht am Triumphbogen in Rom stehen. Dieses Verhält¬ 
nis hat nunmehr aus einer Stelle des Eusebius eine Erklärung gefunden, 
die jeden Zweifel daran ausschließt, daß das Mosesbild wirklich damals in 
bewußter Anlehnung an ein hervorragendes Staatsdenkmal, das den Sieg 
Konstantins über Maxentius feierte, seine entsprechende Gestaltung er¬ 
halten haben muß 54). Aber das kann schwerlich das minderwertige Relief 
des römischen Triumphbogens gewesen sein, vielmehr hängt dieses gewiß 
selbst auch von dem gleichen Vorbild ab, das in Antiochia oder von Antio- 
chenern in Byzanz geschaffen sein wird. Also kann die Entstehung der 
christlichen Särge mit dem Durchzug der Israeliten nur wenig früher, d. h. 
in das dritte oder frühestens in das zweite Jahrzehnt, fallen, und wir dürfen 
daraus schließen, daß die im Stil übereinstimmenden Säulensarkophage eben¬ 
falls etwa im zweiten Viertel des 4. Jahrhunderts ihre Durchbildung ge¬ 
funden haben. Es wäre jedoch ein zu kurzer Schluß, daß demnach alle 
christlichen Sarkophagreliefs von besserem Stil, als ihn der Konstantins¬ 
bogen zeigt, älter sein müssen 55 ). Die Bedeutung dieses Denkmals als 
künstlerischer Maßstab wird damit außerordentlich überschätzt. Gänzlich 
übersehen aber wird dabei die Tatsache, daß es in der christlichen 
Kunstentwicklung nicht bloß Verfall, sondern auch eine unver¬ 
kennbare Aufwärtsbewegüng gibt, die zum Stil des 5. und 6. Jahr¬ 
hunderts hinführt und ohne die sich die Stilwandlung dieser Epoche, wie sie 
sich vollends in der kirchlichen Malerei vor unseren Augen vollzieht, über¬ 
haupt nicht erklären ließe. 

Man kann wohl in einer Reihe von Särgen des Siebennischentypus 
die Zersetzung des älteren Stils der besseren einreihigen Sarkophagfriese 
erkennen, an denen des Fünfnischentypus aber zeigen Körperbildung und 
Gewandbehandlung einen ganz abweichenden neuen Charakter (s. u.). Und 
dieser offenbart an den besten Arbeiten, wie z. B. an dem Leydener Sarkophag, 
einen künstlerischen Läuterungsprozeß. Damit fällt aber —, leider nicht 

53 ) Le Blant, Les sarc. chröt. etc. pl. XXX; Garrucci, a. a. 0 . t. 309; vgl. im 
übrigen Sybel, a. a. 0 . II, S. 119 und 215, 

54 ) E. Becker, Zeitschr. f. Kirchengesch. 1910, XXXI, S. 161 ff. Es wäre paradox, 
anzunehmen, daß umgekehrt das Relief des Konstantinsbogens von den christlichen Sar¬ 
kophagen abhängt, um so mehr als ihm ein allgemeines Kompositionsschema der Schlacht¬ 
darstellung zugrunde liegt, dem wir schon am Triumphbogen des Galerius in Saloniki 
begegnen; vgl. K. F. Kinch, L'arc de Triomphe de Salonique. Paris 1890, pl. VIII. 

55 ) Wittig, a. a. O. S. II, während Sybel, a. a. O. II, S. 185 ff. dem schon von Hülsen, 
Röm, Mittl. 1902, S. 328 dagegen erhobenen Widerspruch mehr oder weniger Rechnung 
trägt; auch Dütschke, a. a. O. S. 101 ff. folgt Riegl, a. a. 0 . S. 93—97 in der allgemeinen 
Zurückschiebung der Denkmäler. 


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Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw. 


2 I I 


ohne schon manche irreführenden Nachwirkungen geübt zu haben —, die 
ganze Riegl’sche .Zurückdatierungstheorie für diese Gattung der Säulen* 
Sarkophage einschließlich des berühmten Bassussarges in sich zusammen« 
Die inschriftliche Zeitangabe des letzteren (359 n. Chr.) ist durchaus nicht 
unhaltbar geworden, — er kann höchstens um ein paar Jahrzehnte früher 
gefertigt sein 5 6 ). 

Der Sarkophag des Junius Bassus gehört zu den besten Arbeiten des 
Fünfnischentypus, aber er nimmt weder in seinem zweireihigen Aufbau 
noch mit seinem Typenbestande eine Sonderstellung innerhalb der Gesamt* 
entwicklung ein 57 ). Mit der ansehnlichen Zahl von vier alttestamentlichen 
Bildern sind auf ihm schon je zwei Passionsszenen, und zwar der uns schon 
früher begegnende Einzug in Jerusalem (A. 29) sowie die vollständige 
(bzw. in zwei Nischen verteilte) Händewaschung des Pilatus ,(s. S. 204) und 
zwei Apostelmartyrien vereint. In der Verdrängung des sepulkralen Typen¬ 
schatzes durch ganze Bildfolgen aus diesem Stoffkreise tritt aber, wie schon 
Michel (a. a. O. S. 107; s. auch Sybel, a. a. O. II, S. 147 ff.) erkannt 
hat, ein Fortschritt der ikonographischen Entwicklung in die Erscheinung, 
dessen eigentliche und z. T. ausschließliche Träger eben die Säulensarkophage 
sind. Mehrere einander auch in der technisch-stilistischen Behandlung sehr 
nahestehende Sarkophage in Rom und in Gallien haben bereits als Gegen¬ 


bilder der ziemlich übereinstimmenden Pilatusszene in die beiden Nischen 


der linken Hälfte die Kreuztragung und die Dornenkrönung (oder Fuß- 
waschung) aufgenommen 5 8 ). Die Mittelnische aber füllt bei zweien das 
bekannte Sinnbild der Kreuzigung und Auferstehung mit den schlafenden 
Wächtern (nach Matth. 27, 36) unter dem monogrammgeschmückten Kreuze. 
Diese Komposition in vorkonstantinische Zeit zurückzuschieben, weil das¬ 
selbe Christusmonogramm schon etwas früher aufzutauchen scheint, hätte 
schon die einfache Wahrnehmung verbieten müssen, daß es hier durch den 
Kranz, der es umgibt, unzweifelhaft als Siegeszeichen und sogenanntes 
Labarum gekennzeichnet ist 59 ). Überhaupt beruht die Hinzufügung der 


5 *) A. de Waal, Der Sarkophag des Junius Bassus. Rom 1900 und Röm. Quartalschr. 
1908, S. 117, hat mit Recht vorwiegend aus ikonographischen Gründen annähernd an dem 
herkömmlichen Zeitansatz festgehalten. Gegen seine allgemeine Interpretation mache 
ich freilich dieselben Vorbehalte wie Sybel, a. a. O. II, S. 163, der jedoch S. 179 einer 
höheren Datierung zuneigt. Über die Lämmerszenen s. u. 

57 ) Sybel, a. a. 0 . II, S. 58 stellt ihn ohne Grund an die Spitze der römischen Särge. 
Analogien bieten zur zweigeschossigen Gliederung gallische Särge, z. B. Le Blant t fitude 
etc. pl. XXV. 

5 *) z. B. Obermann, a. a. O. Nr. XXIV und Le Blant, Les sarcoph. chr 4 t. etc. 
pl. XXVIII. Vgl. die Übersicht bei Reil, a. a. 0 . S. 25 ff. sowie Sybel, a. a. 0 . II, 
Abb. 33 und 35. 

59 ) Der vorbildliche Einfluß der Legionszeichen auf dieses Symbol wird durch die 

14 * 


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2 12 


O. Wulff, 


neuen Szenen schwerlich auf einer freien Erfindung der Sarkophagskulptur, 
vielmehr kommt die Anregung so gut wie früher von der Malerei, freilich 
nicht mehr von der sepulkralen, sondern von der kirchlichen, die den Pas¬ 
sionszyklus unter dem Antrieb des aufblühenden Kults der heiligen Stätten 
um Mitte des 4. Jahrhunderts geschaffen haben muß. Dahin weist auch 
jenes Sinnbild 6o ). 

Die Vermehrung der Apostelszenen auf den Säulensarkophagen läßt 
sich ebensowenig auf anderem Wege erklären. Besonders die Petruslegende 
mußte schon ihre zusammenhängende künstlerische Gestaltung gefunden 
haben, als sich auf den Särgen der Ansage der Verleugnung die Fußwaschung 
und die Gefangennahme (bzw. die Ergreifung s. o.) und die Schlüsselüber¬ 
gabe hinzugesellte. Beweist das etwa, daß Rom damit vorangegangen sein 
muß, in dessen Fresken wir diesen Bildstoff vermissen? 6l ) Neuere Unter¬ 
suchungen haben den hervorragenden Anteil, den Kleinasien und Syrien 
an der Entstehung der Apostelakten genommen haben, nachgewiesen *»). 
Die Tradition über das Martyrium der beiden Apostelfürsten in Rom kann 
also ihren ersten künstlerischen Niederschlag und ihre Ausschmückung im 
einzelnen sehr wohl im Osten gefunden haben. Überdies sind sie nicht etwa 
durch den an gleicher Stätte erlittenen Tod oder gar erst im römischen 
Patronat zu einem Paar geworden. Die altchristliche Kunst spiegelt viel¬ 
mehr ein ganz anderes Polaritätsverhältnis wieder, indem sie sie mit Vor¬ 
liebe als Vertreter der juden- und der heidenchristlichen Kirche einander 
gegenüberstellt. In diesem Sinne umgeben sie später Maria Orans als Per¬ 
sonifikation der irdischen Gesamtkirche, eine Gruppe, die schon auf den 

Anbringung des Adlers über ihm auf einem gallischen Sarge bestätigt. Le Blant v a. a. O. 
pl. LV. Der Versuch von O. Schönewolf, Die symbolische Darstellung der Auferstehung 
in der frühchristlichen Kunst. Straßburg 1907, dasselbe als symbolisches Kreuzigungs¬ 
bild zu erklären, ist schon von Reil, a. a. O. S. 23 widerlegt worden, der hier mit Recht 
bereits eine Einwirkung des Votivkreuzes von Golgatha erkennt. 

60 ) In meiner Besprechung von Heisenbergs tGrabeskirche und Apostelkirche 
Byz. Zeitschr. 1908, S. 542, glaube ich aus einer Eusebiusstelle den Nachweis erbracht 
zu haben, daß ein solches Kreuz schon zu Konstantins Zeit auf dem Golgathafelsen er¬ 
richtet war. 

6| ) Dagegen erkennt Ainalow, Wizant. Wremennik 1902, S. 22 (S. Abdr.) in einer 
Darstellung der Gewölbfresken von El Bagäuat wohl mit Recht die Szene der Abführung 
eines Apostels zum Martyrium; vgl. auch die Malerei einer koptischen Gefäßscherbe Beschr. 
d. Bildw. usw. III, i, Nr. 1584. Das hohe Interesse der kleinasiatischen Gemeinden für 
die Hauptapostel bezeugt ferner eine dort verbreitete Ampullengattüng, die erst neuer¬ 
dings mehr Beachtung gefunden hat; vgl. a. a. 0 . S. 263 ff., Nr. 1348—1353. Auf 
ihnen ist auch das Schlüsselmotiv bereits gegeben. Zu den Sarkophagen vgl. Michel, 
a. a. 0 . S. 107. 

6a ) C. Schmidt, Acta Pauli und die alten Petrusakten (vgl. B. Z. XIV, S. 337) und 
Baumstark, Die Petrus- und Paulusakten in der Überlieferung der syrischen Kirche, 1902, 
S. 16 ff. und S. 62 ff. 


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Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw. 


213 


einreihigen Friesen und auf den Säulensarkophagen vorgebildet ist, ohne 
daß wir ihre Bedeutung hier klar erfassen können 6 3 ). Einzelne Beispiele 
derselben zeigen die ersten Anzeichen individueller Charakteristik, welche 
sich auch in den Apostelszenen gelegentlich bemerkbar macht. Und es ist 
wohl kein Zufall, daß Paulus zuerst deutlicher charakterisiert erscheint, 
gab es doch schon in vorkonstantinischer Zeit einen literarischen Paulus- 
typus * 4 ). Die absichtsvolle Wiedergabe der kahlen Stirn geht daher doch 
wohl bald über einen bloßen Unterschied »örtlich und zeitlich differenzierter 
Haartrachten« hinaus, so z. B. am Bassussarge, — wenngleich Sybel wohl 
mit Recht daraus ein gewisses Schwanken des Petrusideals in der Plastik 
ableitet und die Auffassung bevorzugt, nach der die Vereinheitlichung der 
Typen (Ficker) und nicht ihre Differenzierung (Wittig) später eintritt. Die 
schärfere Ausprägung beider Charakterköpfe ergab sich jedenfalls erst durch 
die Malerei und die nahezu restlos untergegangene Porträtplastik der Folge¬ 
zeit in langsamem Ausgleich 6 5 ). 

Auf der Stilstufe des Bassussarges und seiner nächsten Verwandten 
erfolgt zugleich eine bemerkenswerte Wandlung des jugendlichen Christus¬ 
ideals. Statt der frei herabhängenden Locken, die es im Siebennischentypus 
noch wiederholt aufweist (so z. B. auf Lat. Nr. 152 und 174), umgibt ein halb¬ 
lang bis zum Nackenansatz herabhängender Lockenwulst den Kopf. Auch 
über der Stirn staut sich massigeres Gelock. In dieser noch nicht genügend 
gewürdigten Umbildung, stehe ich nicht an, das plastische Spiegelbild des 
eigenartigen »Galiläertypus« der Kleinkunst zu erkennen w ) oder z. T. wohl 


® 3 ) An Susanna ist dabei keinesfalls zu denken, da die Apostel schon öfter durch 
beginnende Individualisierung gekennzeichnet sind. Die Grundbedeutung der Gestalt 
(s. Rep. f. Kunstwiss. 1911, S. 301 ff.) ist an den Sarkophagen zweifellos früh durch die 
Beziehung auf eine Verstorbene verdrängt worden. Gelegentlich konnten dann leicht 
Märtyrerinnenin ihr erkannt werden. In ihrer Zusammenstellung mit den Aposteln aber 
wird man am ehesten eine Commendatio zu erkennen haben. 

* 4 ) J. E. Weis-Lieberdorf, Christus- und Apostelbilder. Freiburg 1902, S. 106 ff.; 
Sybel, a. a. O. II, S. 159. Nicht ohne Einfluß scheint mir auf die künstlerische Ausgestal* 
tung des Paulusideals der Sokratestypus gewesen zu sein, an den die sogen. Contomiaten, 
der Pauluskopf der Berliner Pyxis (s. u.) und manche Goldgläser auffallend erinnern. 
Über ihn vgl. zuletzt R. Kekule v. Stradonitz, Die Bildnisse des Sokrates. Abhdl. d. 
Kgl. Pr. Akad. d. Wiss. 1908. 

6 i) Sybel, a. a. 0 . II, S. 93 hält die Marmorstatue des Petrus in den Vat. Grotten 
wenigstens für altchristlich, — dann aber ist doch wohl der erneuerte Kopf am ehesten 
eine Wiederholung des ursprünglichen; mit größerer Entschiedenheit verdiente hingegen 
a. a. 0 . II, S. 260 die Bronzefigur der Peterskirche abgelehnt zu werden. 

**) Vgl. Weis-Liebersdorf, a. a. 0 . S. 36 ff., ein Typus den Sybel unberücksichtigt 
läßt, und Dütschke, a. a. 0 ., S. 107 und 113. Dem schlichten Haar auf den Goldgläsern 
und der Lipsanothek von Brescia (s. u.) entspricht es, wenn sich die Lockenmasse auf 
manchen Sarkophagreliefs, so vor allem auf dem Leydener (s. o.), unverkennbar glättet. 


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O. Wulff, 


auch eine Art Synthese des letzteren mit dem traditionellen Ideal der 
Marmorskulptur. Der nächste Schritt führt dann hier, wie Sybel (a. a. O. 
II, S. 158) treffend ausspricht, zur Aufnahme eines antiken bärtigen Ideal - 
köpf es ohne ausgeprägte Individualität. Der Übergang zu solcher Auf¬ 
fassung ist gewiß durch die »dogmatische Höherhebung« veranlaßt, aber 
er wird nicht mehr ganz unvorbereitet erscheinen, wenn man sich des bärti¬ 
gen guten Hirten- und vollends des Pädagogentypus (s. Rep. f. Kunstwiss. 
1911, S. 307 ff.) erinnert. Vielleicht stellt dieser sogar seine unmittelbare 
Vorstufe dar. Denn der bärtige Christus begegnet uns zuerst in mehreren 
Kompositionen, deren Grundgedanken die Belehrung der Apostel bildet. 

Die bedeutsamste von ihnen, die sogenannte »Übergabe des Gesetzes«, 
kommt auf gewöhnlichen Säulensarkophagen nur in abgekürzter Form, dann 
aber in der Mittelnische vor (vgl. die Beispiele in Anm. 58). Sie entfaltet 
sich vollständig an der Schauseite mehrerer allenthalben verbreiteter und 
trotzdem untereinander in stilistischer Hinsicht aufs engste und mit den 
Säulensarkophagen noch sehr nahe verwandter großfiguriger Prunksärge * 7 ). 
Die allgemein angenommene Deutung der Darstellung ist durch einen un¬ 
glücklichen neueren Versuch, sie zu bestreiten, nicht erschüttert worden 6i ). 
Dagegen ist von der der früheren Forschung als selbstverständlich geltenden 
Annahme, daß die Komposition die Aufrichtung der kirchlichen Lehr¬ 
autorität des Petrus ausdrücke und demnach eine Schöpfung der 
römischen Kunst sei, nur die erste Hälfte richtig. Der Ursprung des Bild¬ 
typus in der christlichen Kunst des Ostens ist zuerst in das Bereich 
der Möglichkeit und dann in das der Wahrscheinlichkeit gerückt 
Er muß uns zur Gewißheit werden, sobald wir imstande sind, seine 
Entstehung aus dem Gedankenkreise einer orientalischen Metropole zu be¬ 
greifen. Und das fällt nicht allzu schwer. Antiochia ist es, das durch 
die Berufung auf Petrus als ersten Inhaber seines Bischofssitzes sein Primat 
über die kleinasiatischen Gemeinden und das Missionsgebiet des Paulus 
zu rechtfertigen allen Anlaß hatte, wie ich schon an anderer Stelle ausge- 

* 7 ) Vgl. die Beispiele bei Sybel, a. a. 0 . II, S. 64 ff. und S. 155 ff., sowie Abb. 31 
und meine Zusammenstellung zu Beschr. d. Bildw. usw. III, 1, Nr. 9. 

**) Dütschke, a. a. O. S. 208 ff.; vgl. meine Gegenbemerkungen dazu in der D. Lit.- 
Zeitg. 1911, Sp. 680 ff., sowie die Lit. der gesamten Streitfrage bei Sybel, a. a. O. II, S. 152 
Anm. 1. — An den inschriftlichen Zeugnissen ist nicht zu rütteln, aber von diesen beweisen 
einzelne aufs klarste, daß nicht an die »Übertragung des Kirchenregiments« zu 
denken ist, wie S. treffend bemerkt; vgl. auch C. M. Kaufmann, Hdb. d. Christi. Archäol. 
Paderborn 1905, S. 324, Anm. 1. 

6 9 ) Vgl. Ainalow, Die Mosaiken des 4. und 5. Jahrhunderts, St. Petersburg 1895, 
S. 22 ff. (russisch), sowie meine Ausführungen »Die Koimesiskirche in Nicäa und ihre 
Mosaiken«, S. 219 ff. und Baumstark, Eine syrische Traditio legis und ihre Parallelen. 
Or. Christ. III, S. 173 ff. 


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Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw. 


2I 5 


sprochen habe 7 °). Darum steht Paulus als der staunende Zeuge der Er¬ 
höhung des Hauptes der judenchristlichen Kirche diesem gegenüber, die 
übrige Apostelschar aber bildet den beifallspendenden Chor. 

Von der vollständigen Wiedergabe des Zeremonialbildes der antio- 
chenischen Kirche an den aufgeführten Denkmälern fällt Licht auf jene 
Darstellungen des thronenden, von zwei Aposteln umstandenen Christus, die 
an mehreren Säulensarkophagen sowohl des Fünf- wie schon des Sieben¬ 
nischentypus die Mittelarkade einnehmen 7 1 ). Ohne Zweifel bedeutet der 
Stammtypus derselben nur den erhöhten Christus, nahen ihm doch gelegent¬ 
lich noch wie in den sogenannten Gerichtsszenen der Katakombenfresken, 
unten oder in den Nebennischen stehende Verstorbene 7 »). Aber ebenso un¬ 
zweifelhaft ist es, daß zuerst in schüchterner Andeutung, z. B. am Bassus- 
sarge, und dann mit offenkundiger Gebärde die entfaltete Schriftrolle aus 
seiner Hand in die des von rechts herangetretenen Petrus übergeht 73 ), ob¬ 
gleich seine Füße noch immer auf dem bald bärtigen, bald jugendlichen 
Kopf des Coelus ruhen. Da gleichzeitig, wie in dem vollständigen Bildtypus, 
die Differenzierung der beiden Apostelköpfe einsetzt, so ergibt sich der un¬ 
ausweichliche Schluß, daß wir einer allmählichen Angleichung des älteren 
Typus der Majestas an den der Gesetzesübergabe gegenüberstehen, ein Vor¬ 
gang, der sich wieder nur innerhalb eines einheitlichen Kunstbetriebes, — 
also wohl in Antiochia —, angebahnt haben kann 74). In der Tat liegt uns 
ja auch in der kirchlichen Malerei, die sicher mit der Schöpfung des Zere- 

7 °) Rep, f. Kunstwiss. 1908, S. 282. Über die auf die Gründung der syrischen 
Kirche durch Petrus bezügliche Überlieferung der Pseudoclomentinen vgl. Baumstark 
a. a. 0 . S. 16 ff. und 25 ff. Diese Tradition und die ikonographische Typenentwicklung 
liegt ganz in der Richtung der kirchlichen Verhältnisse des 3-/4. Jahrhunderts; vgl. 
Duchesne, Les origines du Culte chr£t. 4 e £d. 1908 p. 20 ff. und E. Schwartz, Über die 
pseudo-apostol. Kirchenordnungen. Straßburg 191°, S. 25 ff. 

7 1 ) Vgl. die Sarkophage aus Dellys und in Perugia; Mus. et Coli. etc. G. Doublet, 
a. a. O. pl. XIII und Wittig, Röm. Quartalschr. 1906, Taf. I (= Garrucci, a. a. O. t. 321, 4) 
sowie Le Blant, Les sarc. chr6t. etc. pl. XIV; die Parallelen aus den Katakombenfresken 
bei Michel, a. a. 0 . S. 87. 

7 >) Sybel, a. a. 0 . II, S. 151; daß die Gestalt des thronenden Kaisers der römischen 
Staatsdenkmäler das Vorbild geboten hat, ist schon von de Waal, a. a. 0 . S. 57 ff- aus¬ 
gesprochen worden und hat Th. Birt, Die Buchrolle in der Kunst, 1907, S. 79, bestätigt. 
Daraus folgt natürlich noch lange nicht die Entstehung des Typus in Rom. 

73 ) Vor allem auf dem lateranensischen Sarkophag Nr. 174, auf dem die Apostel¬ 
fürsten sogar in die Nebennischen gesetzt sind, obgleich die dreifigurige Mittelgruppe 
mit unpersönlichen Nebenfiguren in der mittleren bewahrt bleibt, vgl. Sybel, a. a. O. II, 
Abb. 18 und 19. Sind auch die Köpfe überarbeitet, so müssen sie doch schon vorher indi¬ 
vidualisiert gewesen sein. 

74 ) Die von Baumstark, a. 0 . S. 187 ff. aufgestellte Unterscheidung eines syrischen 
Typus mit stehendem von einem römischen mit sitzendem Christus läßt sich nicht auf¬ 
recht erhalten. 


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216 

monialbildes der Plastik vorausgegangen ist, ebenfalls eine doppelte Re¬ 
daktion der Traditio legis mit stehendem und mit sitzendem Christus vor 
(s. Schlußartikel). 

Die Katakombenmalerei des 4. Jahrhunderts kennt als einzige von den 
neuen Kompositionen das oben besprochene Bild des lehrenden Christus im 
Kreise der Apostel (s. S. 197). Diese begegnet uns sowohl an den groß- 
figurigen Prunksärgen (s. S. 214) als auch an gewöhnlichen Säulensarko¬ 
phagen, — ihre enge Zusammengehörigkeit bestätigend,—besonders in Gallien, 
und zwar manchmal noch mit dem jugendlichen Lehrer 75 ), wie in der Malerei. 
Wenn sich nun in einzelnen Beispielen die dekorative Nischenarchitektur 
in die zusammenhängende Hintergrundsarchitektur einer Halle verwandelt, 
vor der die Versammlung sitzt, so ist das keineswegs bedeutungslos (Sybel, 
a. a. 0 . II, S. 212). Vielmehr wird dadurch, wie im Apsismosaik von S. Pu- 
dentiana und anderwärts, das himmlische Jerusalem mit Beziehung auf die 
konstantinischen Anlagen der hl. Grabeskirche als Schauplatz der Handlung 
bezeichnet i 6 ). Die Darstellung hat also hier schon zweifellos wie dort die 
Bedeutung der Parusie (nach Matth. XIX, 28) gewonnen. Die Erhebung des 
antiochenischen Typus der apostolischen Philosophenversammlung (s. S. 198) 
in diese Sphäre wird in Jerusalem erfolgt sein. Mit der Übergabe des Ge¬ 
setzes ist die Parusie auf dem großfigurigen Mailänder Sarkophag in der 
Weise vereinigt, daß jede der beiden Kompositionen eine seiner Langseiten 
einnimmt. Wird dadurch ihre gemeinsame Zugehörigkeit zu demselben 
Kunstkreise vollends gesichert, so tritt an diesem Denkmal auch der schon 
längst bemerkte 77 ) Parallelismus mit der kirchlichen Malerei vielleicht am 
augenfälligsten hervor. Ziert doch den Sockel beider der Fries der Apostel¬ 
lämmer, die der Mitte, d. h. dem Christuslamm auf dem Paradiesesberge, 
zuschreiten. Daß aber diese symbolische Dublette der Hauptdarstellung ihre 
Entstehung einer Umdeutung des alten Hirtenidylls auf Grund gewisser Evan¬ 
gelienstellen (Offenb. Joh. XXI, 14; Matth. X, 16) verdankt, lehrt uns ein stil¬ 
verwandter Sarkophag im Lateran. Hier steht wirklich noch der gute Hirte 
inmitten der Apostelschar und der mit ihr auf gleicher Standfläche gepaarten 
Lämmerherde, während noch nach alter Weise andere Hirtengestalten 
die Eckabschlüsse bilden. Damit ist auch der Gesichtspunkt gefunden, aus 

75 ) Vgl. den Sarkophag aus S. Ambrogio in Mailand bei Garrucci, a. a. 0 . t. 329, 1 
und die gallischen Beispiele bei Le Blant, £tude etc. pl. IV und Les sarcoph. chr6t. etc. 
pl. IV, XIII und XXXI. 

7 *) Wie von Ainalow, a. a. 0 . S. 63 ff. erkannt wurde, der Wizant. Wrem. 1902, 
S. 15 ff. (S. Abdr.) auch die Hallenarchitektur der Gewölbfreske von El Bagäuat über¬ 
zeugend in diesem Sinne erklärt hat; vgl. dazu meine Bemerkungen Byz. Zeitschr. 1908, 
S. 547. 

77 ) Vgl. Ainalow, Die Mosaiken usw. S. 23. und meine Ausführungen »Die Koimcsis- 
kirchc von Nicäa«, S. 220; Sybel, a a. O. II, S. 156 ff. geht auf diese Beziehungen nicht ein. 


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Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw. 


2 1 7 


dem die eigenartigen Lämmerszenen in den Zwickeln des Bassussarkophages 
zu erklären sind ? 8 ). Einen Zusammenhang mit der antiken Groteske sucht 
Sybel (a. a. O. II, S. 6i) mit Unrecht in dieser Bildsymbolik. 

Daß die ikonographische Entwicklung, deren Träger die Säulen - 
Sarkophage und ihre Abarten sind, sich im antiochenischen Kunstkreise unter 
wachsendem palästinensischem Einfluß im nachkonstantinischen Zeit¬ 
alter abgespielt haben muß, wird schon nach den dargelegten Zusammen¬ 
hängen kaum mehr bezweifelt werden können. Es kommen aber noch weitere 
Hinweise hinzu, die es bestätigen. Jenes Sinnbild der Kreuzigung und Auf¬ 
erstehung, das sonst Passionsszenen umgeben, rückt manchmal an Stelle 
des erhöhten Christus in die Mitte der Apostel, die ihm huldigen. Über 
ihnen wird zugleich der gestirnte Himmel wiedergegeben. In anderen Fällen 
wachsen Palmen hinter den Gestalten auf 79 ). Schilderungen paradiesischer 
Glückseligkeit, welche sich in diesen Bildern spiegeln, bieten vor allem die 
Schriften des Kleinasiaten Irenäus 8o ), späteren Bischofs von Vienne und 
Lyon, und damit zugleich ein Zeugnis, daß Kleinasien von Antiochia nicht 
zu trennen ist, sowie ein Gegenbeispiel auf literarischem Gebiet für das 
Eindringen seiner Kunst in Gallien. In die apokalyptische Sphäre dieses 
Darstellungskrei:es gehört sowohl die Darstellung des Auferstandenen mit 
dem edelsteingeschmückten Siegeskreuz auf dem Paradiesesberge als auch 
die Traditio legis. Daraus erklärt sich bei ihr die gelegentliche Ersetzung 
der Nischen, — von denen übrigens öfters die mittlere mit reichem Gebälk 
hinter Christus erhalten bleibt, — durch Tore wie das Stadttor von Jerusalem 
beim Einzug Christi auf dem o. a. lateranensischen Säulensarkophag (Nr. 125) 
an den großfigurigen Prunksärgen 81 ). Es sind die edelsteingeschmückten 
Tore des himmlischen Jerusalem (Offenb. Joh. XXI, 12), die wir ganz ähn¬ 
lich auch in den Mosaiken antreffen. Auf palästinensische Anregungen oder 
Vorbilder weisen ferner die Szenen aus der Geburtslegende Christi hin 8 »), 
die besonders an den Deckeln dieser Sarkophage beliebt und wohl erst von 
hier auf die der zweireihigen Doppelsärge (s. S. 203 ff.) übergegangen sind. 
Schließlich aber tauchen gar unzweifelhaft palästinensische Szenen, wie die 
Frauen am Grabe und der Judaskuß, auf stilverwandten Denkmälern 

7 *) Ficker, a. a. O. Nr. 177 (= Garrucci, a. a. 0 . t. 304, 4) oder Marucchi, a. a. O. 
t. XXX, 2; vgl. zu dieser Symbolik Dütschke, a. a. O. S. 251 5 . und Sybel, a. a. 0 . 
II, S. 157. Die Gestalt des guten Hirten kommt noch mehrfach auf den Rückseiten der 
großen Prunksärge vor. 

79 ) Le Blant, fitude etc. pl. XIV und Les sarc. etc. pl. II und L; Marucchi, 
a. a. 0 . t. XXVIII, 4; weitere Beispiele vgl. bei Sybel, a. a. O. II, S. 145 ff. und 154 ff. 

80 ) Vgl. die Hinweise bei Kaufmann, a. a. 0 . S. 231. 

•*) Sybel, a. a. 0 . II, S. 155 und 190; vgl. auch Ainalows Erklärung der Mosaiken, 
a. a. 0 . S. 99 und meine Bemerkungeh »Die Koimesiskirche in Nicäa« usw. S. 221. 

**) Sybel, a. a. 0 . II, S. 137 ff.; Reil, a. a. O. S. 17 ff.; Michel, a. a. 0 . S. 105 ff. 


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2 I 8 


O. Wulff, 


in Oberitalien auf 8 3 ). Daß jedoch der alttestamentliche Typenschatz auch 
dieser Denkmälerklasse keineswegs verloren gegangen ist, lehren vor allem 
die Schmalseiten des Mailänder Sarkophages aus S. Ambrogio (s. o.), auf 
denen wir nicht nur das Abrahamsopfer und die Himmelfahrt des Elias, 
sondern sogar noch Noah in der Arche vor der dekorativen Hintergrunds* 
architektur wiederfinden. 

Fassen wir die stilistische Seite der Säulensarkophage im weitesten 
Sinne ins Auge, so wiederholt sich der Eindruck, daß Gallien einen reicheren 
Bestand an echtbürtigen hellenistischen Arbeiten aufzuweisen hat. Gleich¬ 
wohl läßt eine Anzahl römischer Särge eine übereinstimmende Behandlung 
erkennen. Die jüngere Stilstufe der Säulensarkophage bezeichnet den vorher- 
gehenden Denkmälern gegenüber (s. S. 203 und 207) eine tiefgehende Wandlung 
der gesamten künstlerischen Auffassung. Die Gestaltenbildung büßt zu¬ 
nächst die schönen Proportionen der Antike ein. Sie wird kürzer und zeigt 
oft Mängel in der Artikulation. Die Bewegung verliert den antiken Rhyth¬ 
mus, sie gewinnt eine größere Härte, mitunter aber auch eine gesteigerte 
Lebhaftigkeit, so z. B. in der oben hervorgehobenen Doppelszene der Lahmen- 
heilung am Teiche Bethesda (s. S. 208 ff.). Neue Stellungen und Schreit¬ 
motive kommen auf, wie das Sitzen mit übergeschlagenem Bein und der 
vorfallende oder schleppende Schritt, und Gebärden, die vor der antiken 
Gestikulation eine größere Unmittelbarkeit oder individuellere Färbung vor¬ 
aushaben. Aber die Entfremdung von der Antike ist im allgemeinen noch 
nicht sehr stark und wirkt doch schon neubelebend. Sehr gleichartig er¬ 
scheint trotz weiter lokaler Trennung der Denkmäler der rundköpfige jugend¬ 
liche Menschentypus sowie auch manche Haar- und Barttracht, von der 
die individualisierenden Bestrebungen ihren Ausgangspunkt nehmen (s 
S. 213). Daneben steht, z. B. auf dem Leydener Sarkophag, schon mancher 
vortreffliche Charakterkopf. Am augenfälligsten tritt aber die neue Art 
in der Gewandbehandlung hervor. Die Gestalt erscheint knapper umhüllt, 
und indem der Faltenreichtum mit seinen schönen Linien sich verliert, 
erhält das in wenigen großen Motiven geordnete Gewand mehr flächigen und 
damit mehr stofflichen Charakter. Überwiegt anfangs der Eindruck des 
Weichen, so wird an den großfigurigen Särgen der Zug der gespannten 
Falten straffer. Mit ihren gleichmäßigeren Proportionen und durchgearbei¬ 
teten Köpfen erreichen diese überhaupt einen der Entwicklungsstufe der 
Zeichnung in den gleichzeitigen Mosaiken entsprechenden Abschluß dieser 
ganzen Stilentwicklung. 

Neben den Sarkophagen mit ein- oder zweireihigem Relieffries, so¬ 
weit sie ebenfalls dem 4. Jahrhundert gehören, steht die eben betrachtete 


s 3 ) Sybel, a. a. 0 . II, S. 142 und 146. 


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Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw. 


219 


Klasse in scharf ausgeprägter, durch ein lebendiges positives Kunstwollen 
ausgezeichneter Eigenart da. Das Hochrelief hat sie mit den zweireihigen 
Friesen gemein, vielmehr haben es diese wohl von ihr übernommen, wie sie 
ja auch sonst in einzelnen Motiven durch sie beeinflußt erscheinen (s. S. 
204 ff.). Die Säulensarkophage lassen sich jedoch darum so wenig wie jene 
in das 3. Jahrhundert zurückschieben * 4 ). Ein solches zeitliches Nebenem- 
einander verschiedener Stilarten in Rom ist aber nicht durch wechselnde 
Mode zu erklären, sondern nur dadurch, daß die eine Richtung in der lokalen 
Werkstatttradition wurzelt, die andere ihren Zuwachs von einem auswärtigen 
Kunstzentrum her empfängt, wie sie allein auch in Gallien weitere Ver¬ 
breitung gefunden hat: —eben diejenige der Säulensarkophage. Als letzte 
Spielart hat sich endlich von dieser noch die kleinere Gruppe der Baum- 
sarkophage abgezweigt, und zwar offenbar ziemlich früh, da uns außer ver¬ 
gröberten und späteren Arbeiten wiederum in Gallien ein Sarg erhalten ist, 
dessen Figurenstil noch dem der besten einreihigen Friese verwandt er¬ 
scheint^). So weist er denn auch sieben Baumnischen und darin durchweg 

• 

sepulkrale Bildtypen auf. Daß fortlebende heidnische Vorstellungen vom 
Elysium diese das Paradies vergegenwärtigende Dekoration hervorgerufen 
haben, ist neuerdings sehr wahrscheinlich geworden, die Anlehnung an den 
architektonischen Sargtypus aber bleibt dabei doch unverkennbar. 

Durch die schärfere Sonderung der verschiedenen im Abendlande ver¬ 
breiteten Sarkophagklassen und ihres Typenschatzes, wie ich sie oben ver¬ 
sucht habe und wie sie gewiß noch weiter bis in die Einzelbeziehungen fort¬ 
geführt werden kann, bestätigt sich, was Strzygowski ohne systematische 
Begründung und mehr im Hinblick auf verschiedene Denkmäler, wohl auch 
um ein gutes halbes Jahrhundert zu weit zurückgreifend, über die führende 
Bedeutung Antiochias in der christlichen Kunstentwicklung seit dem 3. Jahr¬ 
hundert als allgemeine These ausgesprochen hat (s. Anm. 15 und 23). Wenn 
er andrerseits die altchristliche Sarkophagplastik vorwiegend aus Kleinasien 
ableiten wollte, so hat er wohl, — abgesehen von der Nichtberücksichtigung 
der älteren alexandrinischen Richtung (s. Rep. f. Kunstwiss. 1911, S. 305 fr.), 
die selbständige Bedeutung des Gebiets überschätzt und den Gegensatz des 
südlichen und nordwestlichen Kunstkreises sowie die Abhängigkeit des 

m 

ersteren von Antiochia außeracht gelassen. Von der antiochenischen Pro¬ 
vinz ist die frühere und stärkere Einwirkung auf das Abendland ausge- 

* 4 ) Daß verschiedene Arten der Reliefbehandlung nebeneinander fortlebten, wird 
von Sybel, a. a. O. II, S. 185 treffend bemerkt, wenngleich für den Konstantinsbogen 
Hülsen mir zum guten Teil Recht zu haben scheint. Die Zurückbildung von Hochrelief¬ 
typen in das Flachrelief ist gerade für die spätantike Profanplastik bezeichnend. 

8 5 ) Le Blant, fitude etc. pl. V (vgl. auch XLIV) sowie Sybel, a. a. O. II, Abb. 27 
und im allgemeinen S. 66 ff.; Dütschke, a. a. 0 . S. 137 ff. 


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220 


O. Wulff, 


gangen, deren Niederschlag in der Plastik sich als eine reichere Parallel¬ 
erscheinung der Neuerungen in der späteren Katakombenmalerei (s. S. 195 ff.), 
zugleich aber auch schon z. T. des kirchlichen Monumentalstils darstellt. 
Die Erkenntnis dieser durchgehenden Zusammenhänge muß sich noch mehr 
klären und befestigen, wenn es uns gelingt, in den Erzeugnissen der Klein¬ 
kunst und in den spärlichen Resten altchristlich-orientalischer Plastik, aus 
denen wir heute ihre Entwicklung allein zu rekonstruieren hoffen dürfen, 
eine verwandte Richtung festzustellen und die jüngeren Denkmäler an diese 
Vorstufen anzuknüpfen. Sybels Untersuchung versagt diesen kleineren und 
verstreuten Kunstwerken gegenüber gänzlich und wird hier mehr und mehr 
zu einer bloßen Materialübersicht. Um so wichtiger wird in der Folge die 
kritische Stellungnahme zur Pionierarbeit Strzygowskis. 

Unser wichtigstes Kriterium bei der Sichtung des einschlägigen Denk¬ 
mälerschatzes, die Übereinstimmung des ikonographischen und des stilisti¬ 
schen Tatbestandes ermöglicht es, einem der frühesten christlichen Elfen¬ 
beine seine feste Stellung anzuweisen. Die sog. Lipsanothek von Brescia 
ist von Strzygowski auf Grund mehrerer äußerer Einzelheiten als kleinasiatische 
Arbeit bezeichnet worden w ). Ihr Bilderkreis stimmt nun in beträcht¬ 
lichem Maße mit dem der Säulensarkophage zusammen, nur bietet er einzelne 
Auslassungen, vor allem aber noch einen Überschuß, der den ganzen Reich¬ 
tum seiner Mutterkunst offenbart. Zugleich entspricht der Figurentypus 
und die Gewandbehandlung ungefähr dem Stil der Passionssarkophage, so 
weit als es bei einem kleinen und in Flachrelief ausgeführten Bildwerk 
nur irgend möglich ist. Und so erblicken wir denn auch zwischen 
Apostelköpfen von beginnender, wenngleich von allen Stilgewohnheiten der 
Marmorplastik freier Individualisierung den jugendlichen Christus im »Gali¬ 
läertypus«. Die Hauptfelder des Deckels aber bieten noch ein echtes Heb- 
domadenbild (s. S. 197), in dem er im Halkkreise der zuhörenden Jünger 
stehend die Schriftrolle entfaltet, in traditioneller Zusammenstellung (s. 
Rep. f. Kunstwiss. 1911, S. 306 ff.) mit dem Sinnbild des guten Hirten vor 
der Hürde. An der Entstehung der Lipsanothek um Mitte des 4. Jahr¬ 
hunderts bleibt da kein Zweifel mehr. 

Die nächstverwandten, wohl um ein paar Jahrzehnte jüngeren Ar¬ 
beiten, wie das Mailänder fünfteilige Diptychon und das Werdener Kästchen * 7 ), 


Strzygowski, Kleinasien usw., S. 23 ff., sowie im übrigen G. Stuhlfauth, Die 
altchristliche Elfenbeinplastik. Freiburg i. B. und Leipzig 1896. Archäol. Stud. hsgb. 
v. J. Ficker, 2. Heft, S. 40 ff. mit überzeugender Datierung. Er hat auch die Beziehungen 
zur Sarkophagplastik schon richtig erkannt und konnte die Lipsanothek nach den damals 
noch herrschenden Anschauungen dann nur nach Rom verweisen. Vgl. auch Reil, a. a. 0 . 
S. 32 ff. und 0 . M. Dalton, Byzant. Art and Archaeology. London 1911, p. 179 ff. 

* 7 ) Von Strzygowski, a. a. 0 . S. 198 ff. ebenfalls nach Kleinasien, von Stuhlfauth, 


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Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw. 2 2 1 

zeigen schon stärkeren palästinensischen Einschlag. Was sich heute für 
uns schon aus den Darstellungen des Marienlebens, darunter der aus Lokal¬ 
tradition stammenden Verkündigung am Quell, ergibt 88 ), bestätigt das 
Golgathakreuz aus Glasmosaik auf dem einen Diptychonflügel, während das 
Christuslamm auf dem andern den immer noch überwiegenden antiocheni- 
schen Elementen zuzurechnen ist. Mit einer Reihe weiterer unter sich wohl 
näher als den vorerwähnten verwandter Denkmäler scheint sich aber wirk¬ 
lich eine palästinensische Schnitzschule abzuzweigen. Die Entwicklungs- 
linie geht etwa vom Münchener Himmelfahrtsrelief mit den Frauen am 
Grabe über die Trivulzitafel gleichen Gegenstandes zum Diptychonflügel 
Mailet und den drei Londoner Passionstäfelchen und nähert sich mit dem 
Passionszyklus des zweiten (einfachen) Diptychons des Mailänder Dom- 
schatzes der Holztür von S. Sabina * 9 ). Die zunehmende Schwere der 
Proportionen läßt den veränderten Zeitgeschmack des 5. Jahrhunderts 
erkennen. 

Daß die Sabinatür aus der Hand eines syrischen Schnitzers hervor¬ 
gegangen ist,— ob an Ort und Stelle oder in Palästina, bleibt sich gleich, — 
daran kann nach Ainolows Hinweisen 9 °) kein Unbefangener mehr zweifeln. 


a. a. 0 . S. 66 ff. mitsamt der Mallet’schen Tafel u. a. m. nach Mailand, verwiesen; vgl. 
Sybel, a. a. 0 . II, S. 243 ff. und 246. 

M ) Die volle Kenntnis der Marienlegende, über deren Entstehung es noch an einer 
grundlegenden Untersuchung fehlt, verrät erst der Patriarch Modestos von Jerusalem 
(610—632 n. Chr.), doch weist eine Reihe älterer Zeugnisse auf weit frühere Entstehung 
derselben hin; vgl. die Zusammenstellung bei Th. Schmitt, Kahrie-djami. Nachr. d. 
Russ. archäol. Inst, in Konstantinopel 1906, XI, S. 127 (russisch). 

* 9 ) Stuhlfauth, a. a. 0 . S. 155 ff. rechnet die Mehrzahl der Denkmäler, deren Zu- 

♦ 

sammengehörigkeit er erkennt, der Karolingischen Kunst zu und sondert von ihnen nur die 
Münchener Tafel als römische altchristliche Arbeit ab. Neuerdings hat die letztere eine 
eingehende Behandlung durch W. Petkovitch, Ein frühchristl. Elfenbeinrel. im Nat. 
Mus. zu München (Diss. Halle a. S. 1905) gefunden, der ihre Beziehungen zu einigen 
gallischen Sarkophagen hervorhob, was uns nach den vorhergehenden Ausführungen über 
die Sarkophagplastik in der Annahme ihres syrisch-palästinensischen Ursprungs nur 
bestärken kann. Sie bildet eine Art Mittelglied zwischen dieser und der ersten Gruppe, 
wie auch die Täfelchen von Nevers mit der Magieranbetung und das von A. Haseloff, Jahrb. 
d. Kgl. Pr. K. Samml. 1903, S. 47 ff. m. Taf. veröffentlichte Elfenbeinrelief a. d. Samml. 
Mailet. Der altchristliche Charakter der Trivulzitafel kann nach Ainalows Ausführungen 
vollends nicht zweifelhaft sein, er irrte nur in der Zuweisung derselben an Alexandria 
(vgl. Rep. f. Kunstwiss. 1903, S. 44). Das Urteil über die ganze Reihe, oie auch Haseloff 
noch für römisch ansah, wird mit dem über die Tür von S. Sabina besiegelt. Für die ikono- 
graphischen Zusammenhänge und Einzelheiten vgl. auch Sybel, a. a. O. II, S. 240 ff. und 
246 ff. sowie Reil, a. a. 0 . S. 67 ff. 

*>) Ainalow, Hellenist. Grdl. usw. S. 121 ff. (vgl. Rep. f. Kunstwiss. 1903, S. 56). 
Die ornamentalen Felder der Rückseite und die der Tür der Basilika des Katharinen¬ 
klosters auf dem Sinai entsprechende vertikale Vierteilung bestätigen das zum Überfluß. 


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222 


O. Wulff, 


Im gescheitelten langen Haar des Christusideals ist von anderer Seite eine 
durch jüdische Nationalsitte bestimmte Fortbildung beider Typen erkannt 
wordene), von denen der bärtige, dem wir auch auf den Monzeser Ampullen 
begegnen, offenbar schon die individualisierte Auffassung palästinensischer 
Ikonen vertritt. Von den Reliefs geben eins der großen und ein kleines 
charakteristische Bildschöpfungen der syrischen Kunst wieder 9 *). Die mehr 
oder weniger weit gediehene Auflösung der landschaftlichen Szenerie anderer 
Tafeln geht mit der Aufnahme des orientalischen Kompositionsprinzips der 
senkrechten Staffelung Hand in Hand 93 ). Die Anwendung desselben aber 
auf Gestalten, welche auf ein und demselben Schauplatz gedacht sind, wie 
sie besonders in der vielumstrittenen, am ehesten vielleicht auf eine Stif¬ 
tungslegende der Kirche zu beziehenden Szene stattfindet, teilt die Tri- 
vulzitafel (s. o.) mit der Holztür. Auch zeigt ihre ornamentale Umrahmung 
die gleiche naturalistische Umbildung der lesbischen Welle, wie die inneren 
Rahmenleisten an jener. Die übrigen Elfenbeine der Gruppe aber haben 
mit deren Reliefbildern ikonographische Berührungspunkte sowie die Vor¬ 
liebe für Mauerhintergründe gemein. So lehrt uns diese Denkmälergruppe, 
daß der in Palästina seit Konstantins Zeit herrschende Kunstbetrieb noch 

w 

im ersten Viertel des 5. Jarhunderts sich von der antiochenischen Mutter¬ 
kunst nicht allzu weit entfernt hatte, obwohl es an Einwirkungen des offi¬ 
ziellen Stils von Byzanz auf ihn nicht gefehlt haben kann. 

Eine echt antiochenische Arbeit steht auch an der Spitze einer zweiten 
Denkmälerklasse, deren Entwicklung sich in zwei Hauptrichtungen zu 
scheiden und mit der einen wieder in die palästinensische Kunst einzu- 
münden scheint. Mit Strzygowski kann ich die berühmte Berliner Pyxis 
nur nach Antiochia verweisen 94 ); verhält sich doch ihr Stil zu dem der 
großfigurigen Prunksärge, wie die Lipsanothek zu den Säulensarkophagen, 
vor allem in der Gewandbehandlung. Demnach wird sie etwa im letzten 

9 *) Vgl. N. Müller, Christusbilder. Herzog's Realenzykl. f. prot. Theol. u. Kirche, 
hsgb. von Hauck, Bd. IV, S. 75 ff. 

9 ») Die schon von Kondakow, Rev. archlol. 1877, p. 368 als symbolisches Himmel¬ 
fahrtsbild gedeutete Tafel (sogen. Majestas) und das vermeintliche Emmausbild, in dem 
die augenfällige Individualisierung die beiden Hauptapostel und somit wohl eine durch 
Überarbeitung unverständlich gewordene Traditio legis zu erkennen erlaubt; vgl. Wiegand, 
Das altchristliche Hauptportal an der Kirche d. hl. Sabina, 1900, Taf. XVII und XVIII 
(mit abweichender Deutung). 

93 ) Vgl. Ainalow, a. a. O. S. 125 ff. (bzw. Rep. f. Kunstwiss. 1903, S. 46) und meine 
Ausführungen über die »Umgekehrte Perspektive» in den K. Wiss. Beitr. A. Schmarsow 
gcwidm. Leipzig 1907, S. 10. 

94 ) Strzygowski, Hellenist, u. Kopt. K. in Alexandria. Wien 1902. Bull, de 1 ’Inst, 
arch^ol. d'Alex., Fase. V, S. 10 ff.; Vöge, Beschr. d. Bildw. usw. 2. Aufl. Die Elfenbein- 
bildw. Berlin 1900, Nr. 1; Taf. I; Stuhlfauth, a. a. 0 . S. 19, hielt noch am römischen Ur¬ 
sprung des Stückes fest. 


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Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw. 


223 


Viertel des 4. Jahrhunderts entstanden sein. Und so bietet sie auch als 
Hauptdarstellung den lehrenden Christus inmitten der Apostel — er ist im 
allgemeinen Jünglingstypus wiedergegeben —, aber in einer freier bewegten, 
von einer antiken Philosophenversammlung kaum unterschiedenen Kom¬ 
position, in der Petrus sogar noch den Philosophenstock führt und weniger 
ausgeprägte individuelle Züge trägt als sein Gegenüber Paulus 95 ). Palä¬ 
stinensische Elemente hat Ainalow in der Nebenszene des Abrahamsopfers 
nachgewiesen. Diese kehrt noch mehrfach auf den zahlreichen jüngeren 
Pyxiden wieder, in denen sich der antike Kunstcharakter schnell verliert 9 6 ). 
Wie schon bei früherer Gelegenheit ausgeführt worden ist 97 ), nimmt bei 
einer Reihe von ihnen die Gestaltenbildung schwerere Proportionen an und 
das Gewand ein reichfaltiges fließendes Aussehen (Pyxiden im Bargello, in 
Pesaro, Rouen, bei Figdor in Wien u. a. m.). Mit ihren Ausläufern (in La 
Voute Chilhac, Kertsch, Bruchstücke im Mus£e Cluny Nr. 1034 und in 
Berlin Nr. 5) kommt sie dem Stil der fünfteiligen Diptychen in Paris und 
Etschmiadsin sehr nahe, deren Christus- und Marientypus, sowie die über¬ 
wiegenden neutestamentlichen Wunderszenen, auf engere Beziehungen zu 
Palästina schließen lassen 9 8 ). Eine zweite Gruppe hingegen —, zwischen 
beiden gibt es freilich Zwischenglieder, wie die Pyxiden in Bologna, im 
Mus£e Cluny (Nr. 1033), im Britisch-Museum (mit Daniel) und die west¬ 
fälische Pyxis —, vermag ihre geradlinige Abkunft von der Berliner Pyxis 
nicht zu verleugnen, welche in den sorgloser ausgeführten Nebenfiguren 
schon die Anfänge jener merkwürdig steif bewegten schlanken und dünn- 
gliedrigen Gestalten in breitflächigen faltenarmen Gewändern verrät, die 
in entschiedenster Durchbildung wieder dem mit ihnen zusammengehörigen 
fünfteiligen Diptychon von Murano seine stilistische Eigenart verleihen und 

weniger zugespitzt ein unlängst bekannt gewordenes in London 99 ) als Zwi- 

♦ • 

95 ) Dütschke, a. a. O. S. 103 ff., erkennt hier das früheste Christusideal, aber seine 
Zusammenstellung ergibt keinen einheitlichen Typus (vgl. D. Lit.-Ztg. 1911, Sp. 680). 
Außer den Hauptaposteln (vgl. Anm. 64) zeigt der Kopf eines stehenden Bärtigen in¬ 
dividuelle, und zwar die später für Andreas typische Haarbildung. 

9 6 ) Ainalow, a. a. O. S. 120 ff. und 204 ff. (bzw. Rep. f. Kunstwiss. 1904, S. 54 ff.); 
vgl. Stuhlfauth, a. a. O. S. 29 ff. 

97 ) Sitzgsber. d. K. gcsch. Ges. in Berlin 1906. Nr. VI, S. 15 ff. Zur Ikonographie 
der Pyxiden vgl. jetzt Reil, a. a. 0 . S. 46 ff. Ihren Zusammenhang mit den Sarkophagen 
hebt auch H. Leclercq, Manuel d'arch£ol. chr£t. II, p. 347 hervor. 

98) Vgl. Strzygowski, Das Etschmiadsin- Evangeliar. Byz. Denkm. I, S. 31 ff. und 
Ainalow, a. a. O. S. 120 ff. u. 204 ff. (bzw. Rep. f. Kunstwiss. 1903, S. 54). 

99 ) Vgl. Strzygowski, Hellenist, u. Kopt. K. in Al. S. 85 ff., zum Diptychon von 
Murano, gegen dessen Annahme seines koptischen Ursprungs ich mich schon (a. a. 0 . 
S. 20 ff.) ausgesprochen habe; zum Londoner vgl. seither 0 . M. Dalton, Cat. of ivory 
Carvings of the Brit. Mus. London 1911, Nr. 14, pl. IX und Proceed. of the Soc. of 
biblical archaeol. 1904. 


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224 


O. Wulff, 


schenglied der Kette kennzeichnen (Pyxiden in Livorno, Sens, in der Vat. 
Bibi., Coli. Schewitsch, die Mindener in Berlin, sowie die Wiener Pyxis mit 
übereinstimmendem Ikonentypus Marias). Auffallend reich, aber bei solcher 
Abstammung wohl erklärlich ist das Erbgut alttestamentlicher sepulkraler 
Bildtypen, besonders auf den Muraneser Tafeln. Zwischen beiden Haupt¬ 
gruppen bestehen jedoch, abgesehen von ihrem nahezu einheitlichen neu- 
testamentlichen Typenschatz, zu enge Zusammenhänge, als daß man die 
zweite mit Strzygowski wegen eines in Antinoe gefundenen Kammes (die 
Fundorte der Pyxiden reichen von Kertsch bis Karthago) für Oberägypten 
in Anspruch nehmen könnte, zumal ihr alle untrüglichen koptischen Merk¬ 
male fehlen. Wenn diese Richtung nicht in Antiochia selbst fortlebte, so 
ist ihr späterer Mittelpunkt am ehesten im mesopotamischen Osten zu 
suchen. Gemein haben beide Gruppen den jugendlichen Christustypus mit halb¬ 
langem Haar, das in dichtem, hier und dort etwas verschieden stilisiertem 
zweireihigem Lockenkranz den Kopf umgibt. Aber auch die impressionistisch 
gerichtete künstlerische Grundauffassung ist die gleiche im Überlebendigen 
der Bewegung bei Vernachlässigung der Artikulation und der Proportionen, 

wie in der andeutenden Stoffcharakteristik. Hier wie dort gewinnt der 

•% 

Blick zuletzt durch Ausbohrung der Augensterne eine stechende Schärfe. 
Die völlige Auflösung des antiken Reliefstiles und seiner dekorativen Funk¬ 
tion ist das in der zweiten Gruppe besonders klar zutage liegende End¬ 
ergebnis. Darstellungen wie z. B. die Flucht nach Ägypten an der Mindener 
Pyxis muten mehr wie gravierte Zeichnung an. Es kann nicht zweifelhaft 
sein, daß die treibende Kraft dieser das 5. Jahrhundert beherrschenden 
Stilentwicklung von der wachsenden Beteiligung der semitischen Rasse am 
christlichen Kunstschaffen herkommt. Der orientalische Geschmack hat 
auch das Überhandnehmen der repräsentativen Frontalität in der Dar¬ 
stellung der Aktion gefördert, wenngleich ihre tiefsten Wurzeln anderswo 
zu suchen sind (s. Schlußartikel). 

So schonungslos auch das Schicksal mit der Kunstblüte des altchrist¬ 
lichen Orient aufgeräumt hat, — einige Reste hat es uns übrig gelassen, 
aus denen wir erkennen, daß ein gleichartiges Kunstwollen auch die Ent¬ 
wicklung syrisch-palästinensischer Steinplastik bestimmt hat. Vor allem 
muß ein oft hin und her geschobenes Denkmal, dessen Entstehung in diesem 
Kunstkreise neuerdings durch eine sorgfältige Einzeluntersuchung gesichert 
wurde ,0 °), endlich den ihm zukommenden hervorragenden Platz in der 

,0 °) H. v. d. Gabelentz, Mittelalt. Plastik Venedigs. Leipzig 1903, S. 1 ff. Um hier 
mit Reil, a. a. O. S. 73 abendländische Einflüsse zu erkennen, reichen die Beziehungen 
zum Cambridge-Evangeliar nicht aus, es müßte denn bewiesen sein, daß letzteres keine 
altchristlich-orientalische Tradition enthält, was a. a. 0 . S. 77 nicht einmal an¬ 
genommen wird. 


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Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw. 


225 


kunstgeschichtlichen Betrachtung erhalten. In den vier Ciboriumssäulen 
des Hochaltars von S. Marco besitzen wir einen zusammenhängenden neu- 
testamentlichen Bilderzyklus der syrischen Reliefplastik, dem unverkenn¬ 
bar eine Illustration der in Palästina erwachsenen apokryphen Evangelien - 
literatur einschließlich der Marien legende, wenngleich nach älteren uns ver¬ 
lorenen Redaktionen 88 ), zugrunde liegt. Das in je neun Zonen umlaufende 
Nischenmotiv, dem sich die Szenen fügen müssen, verbindet die Relief- 
Säulen schon äußerlich sowohl mit den Säulensärgen wie mit den Pyxiden, 
weisen doch diese beginnend mit der ältesten in Berlin (s. o.) öfters eine 
Arkadenreihe als traditionelle Hintergrundsarchitektur auf. Das vereinzelte 
Auftauchen einer solchen Nischenfolge im Typus der Lahmenheilung in 
• jener Sarkophagklasse (s. S. 208) wird man nun vielleicht doch nicht mehr 
ausschließlich als Lokalbezeichnung auffassen dürfen. Und wie mehrfache 
ikonographische Beziehungen der Säulenreliefs zu den Pyxiden festgestellt 
worden sind ,0, ) ( so fehlt es ihnen auch nicht an charakteristischen Motiven 
aus dem Typenschatz der Sarkophage. Die Füllung der Wasserkrüge beim 
Weinwunder, der Ziehbrunnen der Samariterin, die Sitzweise Marias in der 
Geburtsszene und nicht am wenigsten das Christuslamm, das .hier sogar 
den Gekreuzigten vertritt, obwohl bereits die Schächer das Kreuz umgeben, 
sind die auffälligsten Bindeglieder. Dagegen zielen Neuerungen wie das 
Reiten nach Frauenart beim Einzug in Jerusalem, die Höllenfahrt Christi, 
sein Greisentypus in der Majestas, die Tetramorphe u. a. m. schon auf die 
spätere byzantinische Ikonographie hin. Und so erscheint auch die künstle¬ 
rische Auffassung fortgeschritten, und zwar ganz im Sinne des Figuren- 
Stiles der Pyxiden, mit denen der jugendliche, von halblangem Haar um¬ 
kränzte Christuskopf und der auf gleiche Weise (nämlich durch Ausbohrung 
des Augensterns) verdeutlichte eindringliche Blick diese Alabasterreliefs noch 
enger verknüpft. 

Die schon auf den Säulensarkophagen (z. B. Lat. Nr. 125) anklingenden 
heftigen Bewegungsmotive (s. S. 218) sind manchmal sogar mittels unmög¬ 
licher Körperverdrehung zur äußersten Lebendigkeit gesteigert, der Ausdruck 
bei der Gefühlsäußerung, wie bei Sinnesempfindungen (Blendung, Nasezuhal¬ 
ten u.a.m.) individualisiert. Über dem Streben nach charakteristischer Wieder¬ 
gabe des Innenlebens durch die Gesamtwirkung der Gestalt geht aber das Ver¬ 
ständnis ihres organischen Zusammenhanges leicht verloren. In der Gewand- 
behandlung führt dieser Naturalismus zu schlichter Andeutung des Stofflichen 
unter Verzicht auf jede dekorative Faltenbildung, wie vor allem auf den Pyxiden 
der zweiten Gruppe (s. o.). Da die Säulen von S. Marco wahrscheinlich durch 
die Kreuzzüge nach Venedig gelangt sind, dürfen wir nach alledem in ihnen 


,0 ') v. d. Gabclentz, a. a. O. S. 26 ff. und Reil, a. a. 0 . S. 49 * 
Repertorium für Kunstwissenschaft, XXXV. 'S 


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226 


O. Wulff, 


Erzeugnisse auf den Boden Palästinas verpflanzter antiochenischer Kunst 
sehen. Nach der wenig fortgeschrittenen Individualisierung der Köpfe sind sie 
ungefähr gleichzeitig mit den stilverwandten Pyxiden (so z. B. des Museo 
civ. in Bologna), also wohl noch in die erste Hälfte des 5. Jahrhunderts, 
anzusetzen. In ihrem Hochrelief erhält sich gleichwohl noch die Relief¬ 
auffassung der Säulensarkophage. 

Aber auch jenes allmähliche Zurücksinken des Reliefs in die Grund¬ 
fläche bis zum zeichnerischen Verfahren der Pyxiden (z. B. auf der Mindener 
in Berlin) läßt sich noch in der Marmorplastik an der Arbeit eines syrischen 
Steinmetzen in einem anderen Kunstkreise beobachten. Der heute in Kon¬ 
stantinopel befindliche Ambon von Saloniki mit der typisch palästinensi¬ 
schen Doppelszene der Magierhuldigung und der (abgekürzten) Hirtenan¬ 
betung und einer thronenden Maria, die als »Kathedra« das Kind wie auf 
der Muraneser Tafel vor sich hält, verdankt zwar seine Ornamentik einer 
prokonnesischen Werkstatt, alle figürlichen in ungleichmäßiger Relief¬ 
schichtung durchgeführten Motive aber tragen den reinsten syrischen Stil¬ 
charakter des 5. Jahrhunderts an sich * 01 ). 

Ungleich mehr hellenistische Tradition bewahrt das neuerdings mit 
Recht als altchristlich-orientalische Arbeit angesprochene Relief bild der 
Geburt Christi in S. Giovanni Elemosinario in Venedig (v. d. Gabelentz, 
a. a. O. S. 148 m. Abb.), dessen Terrassenlandschaft uns die Entstehung des 
byzantinischen Kollektivtypus dieser Szene begreiflich macht und so 
weit zurückzuverfolgen erlaubt. Und weitere Überbleibsel dieser 
handwerksmäßigen, den kleinfigurigen Maßstab bevorzugenden sy¬ 
rischen Marmorbildnerei, deren erfindungsreiche Frische doch den Mangel 
einer folgerichtigen formalen Kunstentwicklung niemals überwunden 
hat, lassen sich noch mehrfach in weitem Umkreise, vor allem in Venedig, 
nachweisen ,0 3 ). Im Bunde mit der leichteren Schwestertechnik der Schnit¬ 
zerei in Holz und Elfenbein I0 4 ), in deren Gefolge sie sich wohl selbst be- 


joj) Vgl. die photographischen Reproduktionen bei Duchesne et Bayet, Memoire 
sur unc Mission au Mont Athos. Paris 1876. 

10 3 ) Von G. Swarzenski, Kunstgesch. Anzeigen 1904, S. 42 wurde schon der Tür¬ 
sturz des Nordportals von S. Marco als solche angesprochen. Hierher gehören ferner: 
ein an der Fassade von S. Giovanni e Paolo eingemauertes Relief, das Daniel in der Löwen¬ 
grube darstellt, das im 14. Jahrhundert ergänzte (und daher von v. d. Gabelentz, a. a. 0 . 
S. 213 verkannte) Opfer Abrahams, sowie das Relief mit dem Christuslamm auf dem 
apokalyptischen Thron (a. a. 0 . S. 125) an der Nordseite von S. Marco, aber auch das 
Relief der Anbetung der Hirten aus Carthago in den Mus^es et Coli. d'Alg&rie et de la 
Tunisie. R. P. Delattre, Le Mus6e Lavigerie ä Carthage. 1900, pl. I. 

x ° 4 ) Es bedarf kaum besonderer Hervorhebung, daß auch die Holztür von S. Am- 
brogio als syrische Arbeit anzusehen ist, wenngleich ihren Reliefs wohl eine Miniaturen¬ 
folge alexandrischer Tradition zugrunde liegt; die Ursprungsfrage hätte schon bei ihrer 


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Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw. 227 

findet, hat sie die vermehrten und reicher ausgestalteten Typen der christ¬ 
lichen Ikonographie überallhin getragen. Was in Palästina an neuen symbo¬ 
lischen Kompositionen entstand, lernen wir zumeist auf ägyptischem oder 
anderem fremden Boden, sowie aus kunstgewerblichen Erzeugnissen ,0 5 ) 
kennen und können nur so von dem schöpferischen Reichtum der christ¬ 
lichen syrischen Kunst eine annähernde Vorstellung gewinnen. So behält 
Syrien noch durch das ganze 5. Jahrhundert die Führung, nur daß sich der 
Schwerpunkt des Kunstkreises mehr und mehr nach Jerusalem verschiebt. 

Wie haben die anderen Kunstzentren sich mit diesem Einfluß aus¬ 
einandergesetzt ? 

Die Entwicklung der alexandrinischen Kunst im nachkonstantipischen 
Zeitalter erscheint auf den ersten Blick dunkel, lichtet sich aber, wenn man 
sich ihr von der koptischen Kunst her nähert. Strzygowski, der diesen Weg 
beschritten hat, ist auf ihm nur nicht ganz durchgedrungen. Gleichwohl 
hat niemand das Wesen des koptischen Stils so richtig erfaßt wie er, und 
seine Denkmäler so klar gesichtet ,o6 ). Er hat erkannt, daß derselbe aus 
der Umsetzung der raffinierten spätgriechischen Kunstformen Alexandrias 
in die dem Hinterlande gewohnte Anschauungsweise entsteht und seinen 
Anfang nicht erst in der christlichen Kunst nimmt. Allerdings kommt 
dabei weniger die Einwirkung altägyptischer Technik und Stilisierung in 
Betracht als die ganz anders gerichtete künstlerische Einbildungskraft der 
Kopten, die das im eignen Rassenideal Erschaute in die ihr fremden Typen 
hineipträgt. Jener erste Einfluß wirkt stilbildend nur in einer, allerdings 
sehr bedeutenden, alexandrinischen Werkstätte, welche nicht bloß die von 
Strzygowski mit bestem Recht dorthin verwiesenen kaiserlichen Porphyr¬ 
sarkophage, sondern auch Statuen der Kaiser fertigte, und zwar vorzugs- 


Bekanntmachung durch A. Goldschmidt, Die Kirchentür des hl. Ambrosius, StraBburg 
1902, aufgerollt werden sollen. 

I0 S) Zu den Elfenbeinschnitzereien kommen die sich (z. T. durch neuere Funde in 
Syrien) mehrenden Silberarbeiten hinzu, die ich mit Lauer, Mlmoires et Mon.Fond. Piot. 
1906, XIII, p. 229 ff. größtenteils der syrischen Kunstindustrie zurechne. Eine frühe 
antiochenische Arbeit vertritt unter ihnen das Reliquiar von S. Nazaro in Mailand, den 
älteren Pyxidenstü (des 5. Jahrhunderts) in merkwürdig unvermitteltem Nebeneinander 
mit traditionellen hellenistischen Typen der Seegottheiten der Brautkasten der Projecta 
im Brit. Museum ( 0 . M. Dal ton, a. a. 0 . Nr. 304), den spätesten Stil die Stroganow'sche 
Schale mit der Kreuzeswacht der Engel. Dagegen möchte ich die in den Besitz von J. P. 
Morgan übergegangenen cyprischen Silberschalen mit ihrem eklektischen Stil eher mit 
Dahon, Archaeologia vol. LX, 1 ff. für byzantinische Erzeugnisse halten. 

,0< ) Strzygowski, a. a. O. S.73 ff. und in der Einleitung zum Cat. g6n. des antiquit. £gypt. 
du Musle du Caire. Koptische Kunst. Vienne 1904. Seiner mustergültigen Klassifizierung 
der Denkmäler bin ich bei der Bearbeitung des Berliner Katalogs gefolgt und nuT in Fragen 
der Datierung öfter zu etwas späteren Ansätzen gelangt. 

> 5 * 


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228 


O. Wulff, 


weise bei den letzteren I0 7 ). Dagegen bezeichnet der Verlust natürlicher 
Ponderation und die Verdrängung freier Gewandbehandlung durch den Falten* 
Schematismus, sowie die allmähliche Verflachung des Reliefs in den kop¬ 
tischen Bildwerken zwar ein Zurückfallen in primitives Kunstwollen, aber 
nicht gerade in den durchgebildeten altägyptischen Stil. Eine Rückwirkung 
der Hinterlandskunst auf die christlich alexandrinische ist nicht ausge¬ 
blieben, der Gegensatz zwischen beiden aber hat sich nie ganz verwischt. 
Schon Strzygowski hat hervorgehoben, daß die koptische Kunst an 
eignen christlichen Typen ziemlich arm ist. Aus Alexandria hat sie an¬ 
scheinend nur die Orans aufgenommen. Die Beliebtheit dieses Typus auf 
den Grabstelen im Fajum beweist, daß die Beziehung der altchristlichen 
Personifikation des Gebets (s. Rep. f. Kunstwiss. 1911, S. 302 ff.) auf einzelne 
weibliche Verstorbene nicht etwa erst in Rom, sondern schon im alexan- 
drinischen Kunstkreise eingetreten ist, was ihre frühe Verallgemeinerung er¬ 
klärt. Männliche Oranten bleiben auch auf den Stelen vereinzelt. Schwerlich 
läßt sich aber das Verhältnis umkehren ,o8 ), da die überall verbreitete christ¬ 
liche Gebetsstellung nicht aus einem besonderen ägyptischen, sondern aus 
dem antiken Gestus durch Differenzierung entstanden ist. Die Mehrzahl 
ihrer christlichen Gestalten verdankt aber die koptische Plastik sichtlich 
erst dem Vordringen des palästinensischen Einflusses. Und es ist kein Zufall, 
daß uns die Engelwacht am Golgathakreuze, der Apostel oder Evangelist 
mit dem Buche, die schwebenden Engel, welche das Brustbild Christi oder 
das Kreuz im Kranze tragen, Kompositionen, an deren Ursprung aus Syrien 
so wenig ein Zweifel bestehen bleibt, wie an der Umdeutung der Sieges* 


,0 7 ) Strzygowski, Orient oder Rom, S. 75 ff. und Beitr. zur Alten Gesch. hsgb. von 
C. F. Lehmann. 1902, II, S. 105. Die zwischen Alexandria und Byzanz bestehende 
Verbindung haben neuere FundstQcke bestätigt; Beschr. d. Bildw. 2. Aufl. III, i,Nr. 1624/5. 
Bei der ZurQckschiebung des Sarkophags der hl. Helena ins 2. Jahrhundert hat Riegl, 
a. a. 0 . I, S. 90 ff. über der gleichartigen Reliefauffassung die feineren Unterschiede in 
dem Verzicht auf jede Terrainangabe und der härteren Artikulation der Gestalten übersehen. 
Der ägyptisierende Einfluß ist bei dem Figurenpaar von S. Marco und der Büste von 
Athribis unleugbar; den vermeintlichen Pantokrator des Museums in Kairo kann ich frei¬ 
lich auch nur für eine Kaiserliche Porträtstatue ansehen; vgl. Strzygowski, Cat. g£n. etc. 
Nr. 7256/7 und über diese alexandrinische Schule im allgemeinen L. Passy, Soc. nat. des 
antiquaircs. Centenaire 1804—1904, p. 377. 

,o8 ) Wie Strzygowski, Eine alexandrinische Weltchronik. Denkschr. d. K. Akad. 
d. Wiss. in Wien. Phil.-Hist. Kl. 1905, S. 156 ff. vermutet- Aber das schon Tertullian 
bezeugte Ausbreiten der Arme ist nach Angabe von Ägyptologen nicht als spezifisch 
ägyptische Gebetstellung anzusehen, dringt vielmehr erst in späte Denkmäler ein; vgl. 
Ausführl. Verz. d. ägypt. Altert. Berlin 1899, S. 337, Nr. 2132. Wohl aber erscheint die 
abweichende Haltung der zurückgelegten Hände vor der Brust, wie sie z. B. die Euche 
in El Bagäuat aufweist, schon in Denkmälern des Neuen Reiches belegt; vgL a. a. O. 
S. 158 N. 2276. 


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Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw. 


229 


göttin zum Engel auf syrischem Boden, vorwiegend in Holzschnitzereien 
begegnen I0 9 ). Immerhin liegen für die Umsetzung solcher Typen in die 
koptische Steinplastik ausreichende Belege vor M0 ). In späteren Wieder¬ 
holungen —, gelegentlich aber auch schon in Arbeiten der Holzschnitzerei 
erfahren sie eine ganz ähnliche Verbildung wie die mythologischen Figuren 

m 

alexandrinischer Abstammung, so z. B. die von Engeltrabanten umgebene 
Gottesmutter mit dem Kinde auf den Knieen im Museum zu Kairo (Strzy- 
gowski, a. a. O. Nr. 8758). Daß der altehrwürdige Ikonentypus der Hodi- 
gitria, wie Strzygowski annimmt, in Ägypten geschaffen sei, bleibt ange¬ 
sichts dieser Verhältnisse mindestens fraglich, wenngleich sich nicht be¬ 
streiten läßt, daß die Beschränkung des Gebetsgestus auf die rechte Hand 
auf koptischen Stelen bei der Mutter, die das Kind im linken Arm hält, 
vorkommt m ). Andrerseits ist kaum zu bezweifeln, daß die christliche 
Kunst Ägyptens Palästina bereits gewisse Typen geliefert hat, — so vor 
allem die säugende Gottesmutter (vgl. Rep. f. Kunstwiss. 1911, S. 297), 
welche ebenfalls auf den Grabstelen ihre Parallelen hat (vgl. Beschr. d. 
•Bildw. III, 1, Nr. 79). Bei einem zweiten, völlig sicheren Beispiel haben 
wir es schon mit einer der Neuschöpfungen zu tun, welche die alexandri- 
nische Kunst in Umbildung und Umdeutung altägyptischer Göttergestalten 
hervorgebracht hat. Bei dem auf dem Löwen und Basilisken stehenden 
Christus, für den sicher ein Horustypus das Vorbild abgegeben hat m ), 
beginnt also der umgekehrte Assimilationsprozeß, wie bei den hellenisti¬ 
schen Motiven des koptischen Stils, und zwar schon innerhalb der christ¬ 
lichen Kunst. Wenn derselbe uns aber auf ravennatischen Sarkophagen 
wieder entgegentritt, so geschieht das auf dem Umwege über Palästina 
(s. u.). Den gleichen Vorgang der Aneignung ägyptischer Typen hat Strzy¬ 
gowski für den Reiterheiligen und den heiligen Krieger nachgewiesen. 
Allerdings ist das Prototyp des ersteren in den römischen Gigantenreitem 

,0 9) Vgl. Beschr. d. Bildw. usw. III, 1, Nr. 253/4 und Strzygowski, Cat. g£n. Nr. 8775/6- 
Syrische Gegenbeispiele bieten die Holztür von S. Ambrogio und Steinreliefs; vgl. Gold¬ 
schmidt, a. a. 0 . Taf. I und die von mir a. a. 0 . gegebenen Belege. Auch die Nike als 
Vorbild des Engels mit emporgehaltenem Porträtschild zählt hierher; Strzygowski, 
Hellenist, u. Kopt. K. S. 7 ff. und Orient oder Rom, Taf. I 

”°) Vgl. die Türpfeiler von Daschlug bei Strzygowski, Hellenist, u. Kopt. K. usw. 
S. 40 Abb. 25 und die sogenannte Kathedra des hl. Marcus in Venedig, neben deren apo¬ 
kalyptischen echt syrischen Motiven das altägyptische Symbol des Wassers, die Zickzack¬ 
linie, steht, bei A. Pasini, II Tesoro di S. Marco, t. LXIX. 

”«) Strzygowski, Eine alex. Wdtchron. usw. S. 159, Abb. 15. Daß aber die Beziehung 
dieser Gebärde der Mutter auf das göttliche Kind eine Folge der Nachahmung solcher 
Bildwerke ist, bleibt unwahrscheinlich, eher ist wohl der Ikonentypus hier nachgebildet 
worden. 

m ) Beschr. d. Bildw. usw. III, 1, Nr. 1249 mit Literatur; vgl. auch Leclercq bei 
Cabrol, Dich d’archlol. chr<t. et de liturgie II, c. 511 ff. (Basilisque). 


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230 


0 . Wulff, 


zu erkennen, aber Überwinder des Bösen im weitesten Sinn ist diese Gestalt 
jedenfalls auf Grund ägyptischer und gnostischer Vorstellungen geworden ,, 3 ). 
Wenn auch Konstantin der Große als Drachentöter dargestellt worden ist, 
so ist doch diese Auffassung für ihn nicht bezeugt, vielmehr die des Kriegers 
zu Fuß. Und wäre sie es, so braucht er darum noch nicht das Vorbild aller 
christlichen Reiterheiligen gewesen zu sein. Daß der Typus in der kopti¬ 
schen Kunst ungeheure Verbreitung gewonnen hat, gibt andrerseits noch 
keinen hinreichenden Grund, ihr den Schöpfungsakt selbst zuzuschreiben. 
In Alexandria wird auch der wachende heilige Krieger aus dem Grabes¬ 
wächter Anubis oder Horus hervorgegangen sein , M). Hatte doch der be¬ 
rühmteste Krieger- und eigentliche Nationalheilige des christlichen Ägyp¬ 
tens, Menas, seine Kultstätte nur anderthalb Tagereisen von dort in der 
libyschen Wüste. Die Hinterlandskunst hat also wohl auch diesen Typus 
erst von Alexandria empfangen und vervielfältigt. Und ebenso dürfte die 
übrige christliche Kunst beide Typen der alexandrinischen zu verdanken 
haben. 

Die Lösung des Rätsels der Aachener Domkanzel durch Nachweis der 
beiden eben behandelten Typen und damit der alexandrinischen Herkunft 
ihrer Elfenbeinreliefs gehört zu den glücklichsten und sichersten Ergebnissen 
der Forscherarbeit Strzygowskis. Außer der unverkennbaren koptischen 
Stilfärbung ist aber, besonders in den Frauentypen der zugehörigen Isis 
und der ihr verwandten Panthea (Paris), noch ein anderes für die Beur¬ 
teilung der spätalexandrinischen Kleinplastik wesentliches Stilelement da¬ 
mit gegeben. Sie bezeugen, daß in ihr selbst auf dieser Entwicklungsstufe 
d. h. etwa im 6./7. Jahrhundert, der dekorative Faltenwurf der Antike in 
manierierten Formen fortlebt. Sehen wir uns nun unter den älteren Elfen¬ 
beinreliefs nach antikisierenden Stücken um, so stellt in dieser Beziehung 
den stärksten Gegensatz gegen die streng stoffliche Gewandbehandlung der 
Lipsanothek von Brescia und der syrischen Schnitzereien bis zu den Pyxiden 
herab das aus dem Ende des 4. Jahrhunderts herrührende Hochzeits¬ 
diptychon mit den Inschriften, »Symmachorum« und »Nicomachorum« dar. 
Es mutet uns in seiner linienreinen Schönheit wie die Kopie eines hellenisti¬ 
schen Reliefbildes an. Die erwünschte Bestätigung dafür, daß wir es als 
Arbeit eines alexandrinischen Schnitzers ansehen dürfen, ergibt sich aber 
aus dem Vorkommen ähnlicher, wenngleich flüchtig und weniger reich aus¬ 
geführter verhüllter weiblicher Profilgestalten auf den aus den Schutt- 

n 3 ) Strzygowski, a. a. 0 . S. 25 ff. und 31. Das Horusrelief des Louvre und die Salomo¬ 
amulette sind aus der Entwicklung nicht auszuschalten; vgl. die Belege Beschr. d. Bildw. 
usw. III, 1, Nr. 436/7, 827—29, 1120. Der Beziehung des Diptychon Barberini auf Kon¬ 
stantin d. Gr. kann ich hingegen aus stilkritischen Gründen (s. u.) nicht zustimmen. 

Il *) Strzygowski, a. a. O. S. 34 ff. 


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Eis Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw. 


231 

hügeln in der Umgebung von Alexandria hervorgezogenen und wieder zu¬ 
erst von Strzygowski gewürdigten Beinschnitzereien ” 5 ). Sodann stoßen 
wir auf den mehr dem Zeitgeschmack des 5. Jahrhunderts für schwere Pro¬ 
portionen entsprechenden Diptychonflügel von Monza (Venturi, a. a. 0 . I, 
p. 392, Fig. 358) mit der Darstellung eines (christlichen?) Philosophen und 
einer Muse (s. Rep. f. Kunstwiss. 1911, S. 308 ff.), auf dem das Linienspiel 
des Mantels bereits deutliche manieristische Neigungen verrät. Daß aber 
die christliche Elfenbeinschnitzerei Alexandrias diesen Manierismus noch 
weiter ausgebildet hat, bestätigen die beiden Flügel des Lorscher fünf¬ 
teiligen Diptychons, von denen der eine den langlockigen jugendlichen 
Christus auf dem Löwen und Basilisken stehend zeigt. Denn diese karo¬ 
lingischen Kopien setzen ein alexandrisches Vorbild voraus“ 6 ). Die zu¬ 
gehörige Marientafel aber trägt einen in denselben Stil übertragenen palä¬ 
stinensischen Ikonentypus (bzw. seine Kopie). Wenn nun der Einfluß Pa¬ 
lästinas auch die alexandrinische Kleinkunst getroffen hat, so werden wir 
Denkmäler, die syrische Typen in gleichartiger Stilisierung tragen, dorthin 
verweisen dürfen und den etwas verschwommenen Begriff des Syro ägyp¬ 
tischen in strengerer Bedeutung auf sie zu beschränken haben. In erster 
Reihe steht hier, wie schon Ainalow gezeigt hat, die Maximianskathedra, 
deren Evangelistengestalten trotz solcher Abstammung manche dekorativen 
Faltenmotive aufweisen und in deren neutestamentliche Flachreliefs die 
palästinensische Ikonographie hineinspielt “ 7 ). Als weiteres wesentliches 
Merkmal unterscheidet die Reliefbilder der Kathedra, zumal die kräftiger 
herausgearbeiteten des Josephlebens, eine ungleich besser artikulierte Ge¬ 
staltenbildung, in der, wie beim Monzeser Philosophen, antike Freude an 
schwellenden Muskeln und wohlproportionierten Gliedern mitspricht, während 
von impressionistischer Auffassung der Bewegung nichts zu spüren ist. 
Diese sorgfältigere Durchbildung der Figuren erlaubt aber auch, einzelne 
Pyxiden derselben Schule zuzuteilen, besonders wenn sie zugleich im Gegen¬ 
ständlichen nähere Beziehungen zu Ägypten erkennen lassen II8 ). Bei allen 

n 5) Vgl. Beschr. d. Bildw. usw. III, i, Nr. 366/7 und das o. a. Diptychon bei Molinier, 
Hist, d. arts appl. k l’Industrie. Les ivoires, p. 43; Venturi, a. a. 0 . I, p. 384 und 389, 
Fig. 354 / 5 . 

ll6 ) Vgl. R. Kanzler, Collez. dei pal pontifici. Gli Avori della Bibi. Vat. Roma 1903, 
t. IV und Graeven, Byz. Zeitschr. 1901 und Jahrb. d. Kgl. Pr. K.-Samml. 1900, S. 75 ff- 

,, 7 ) Ainalow, a. a. 0 . S. 101 ff. (bzw. Rep. f. Kunstwiss. 1903, S. 45); Strzygowski, 
Journ. of Hell. Stud. 1907, p. 117 hat m. E. keine ausreichenden Gründe für die Zuwei¬ 
sung der Kathedra an Antiochia beigebracht. 

I,Ä ) z. B. die Menaspyxis des Brit. Mus., die Josephpyxis der Sammi. Basilewski 
(Eremitage) und ein Bruchstück aus demselben Darstellungskreise in Berlin; Dalton, 
a. a. O. No. 298, pl. 10 u. Cat. of the iv. carv. Nr. 13, pl. VIII; Garrucci, a. a. O. t. 439; 
Vöge, Beschr. d. Bildw. usw, 2. Aufl.; Die Elfenbeinbildwerke, No. 4, Taf. III. Eine ein¬ 
gehende Nachprüfung des Gesamtmaterials würde vielleicht diese Gruppe noch vermehren. 


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2?2 


O. Wulff, 


diesen Stücken ist nicht zu verkennen, daß die Motive und Typen der syri¬ 
schen Kunst entstammen, — alexandrinisch ist nur ihre organischere Durch¬ 
bildung. Der jüngeren christlichen Kunst Alexandrias fehlt es, dürfen wir 
nunmehr aussprechen, so wenig an ausgeprägter Eigenart wie der kopti¬ 
schen Bastardkunst. Kosmopolitische Bedeutung hat sie zwar nicht ge¬ 
wonnen, wie die syrische, doch hat sie gelegentlich noch auf das Abendland, 
vor allem aber auf Byzanz eingewirkt (s. u.). 

Byzanz hat Strzygowski als das große Sammelbecken bezeichnet, in 
das die Kunstschöpfungen des gesamten christlichen Orients einströmen. 
Dagegen ist nichts einzuwenden, nur darf man nicht übersehen, daß sie 
nicht unverschmolzen und ohne fortzuzeugen darin liegen bleiben. Bei 
allem Eklektizimus, dessen Spuren sich in der byzantinischen Kunst nie 
ganz verwischt haben, macht sie schon in altchristlicher Zeit eine lebendige 
Entwicklung durch, wie sie nur durch selbsttätige Kräfte bewirkt werden 
kann n 9 ). 

In Byzanz entfaltet sich schon unter Konstantin dem Großen eine auf 
das profane Stoffgebiet der kriegerischen und höfischen Staatsaktionen ge¬ 
richtete rege Kunsttätigkeit. Obgleich wir sie in der monumentalen Malerei 
nur aus späteren Überbleibseln kennen, ist mit Recht diese Profankunst 
von Millet als richtunggebend für die byzantinische Stilentwicklung an¬ 
gesehen worden M0 ). Ihr Wesen wird uns sogar in der Plastik verhältnis¬ 
mäßig früh klar, besonders wenn wir die Vorstufen der wenigen erhaltenen 
oder noch mittelbar faßbaren byzantinischen Denkmäler berücksichtigen. 
Ihr Reliefstil setzt nicht etwa die letzte Phase lokalrömischer Triumphal¬ 
plastik aus der Severerzeit fort, wo auch immer diese ihren Ursprung haben 
mag, sondern wächst aus einer antiochenischen Schule hervor, deren An¬ 
fänge bis in Diokletians Epoche zurückreichen, — nämlich bis zu dem bisher 
kaum beachteten, ganz und gar unrömischen Triumphbogen des Galerius 
in Saloniki, vgl. ,aI ). Daselbst finden wir neben einzelnen typischen Kom¬ 
positionen der offiziellen Staatskunst, wie dem Opfer der beiden Kaiser 
und der Pietas Augustorum (a. a. O. pl. VIII), die durch Münzen und Medaillen 
überall Eingang gefunden hatten, eine weit größere Anzahl von Relief- 
bildem, welche unverkennbare Anklänge an die altorientalischen Bilder¬ 
chroniken und dabei eine ganz eigenartige malerische oder vielmehr zeich- 

n 9 ) Strzygowski, Byz. Denk. III, S. XI ff.; vgl. dagegen Diehl, Manuel d'art byz. 
1910, p. 124 ff. 

*“) Millet bei Michel, Hist, del’art. I. p. 177 ff. 

”*) Vgl. die Hinweise in Anm. 54 und Kinch, a. a. O. p. 7, 12 und 43 ff. Die Un¬ 
kenntnis dieses Denkmals macht sich besonders in Riegls Untersuchung geltend. Es be¬ 
stätigt mit seinen griechischen Inschriften und StileigentUmlichkeiten, was Strzygowski, 
Jahrb. d. KgL Pr. K. Samml. S. 326 über die vorbildliche Bedeutung der Seleukiden- 
kunst gesagt hat. 


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Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw. 


233 


nerische Reliefauffassung haben. Vielfach stecken die in mehrfachen Deckun¬ 
gen übereinander geschichteten Gestalten geradezu im Stein und lösen sich 
von diesem und voneinander nur durch den »optischen Kontur« (Riegl, 
a. a. O.). Hier entspringt die Methode der Häufung flacher Silhouetten 
und des laufenden Bohrers, die wir dann an den von Riegl so fein analy¬ 
sierten Reliefs des Konstantinsbogens auf Hochrelieftypen im Sinne ihrer 
Rückbildung in ein optisches Flachrelief angewandt sehen, und zwar noch 
entschiedener in der Szene der Ansprache als in der Largitio. Wie die Ein¬ 
schachtelung der Figuren in einen Architekturrahmen bei der letzteren in 
dem Hebdomadenbild der Lipsanothek von Brescia (s. S.220) ein Gegenbeispiel 
findet, so berühren sich die beiden Schlachtbilder einerseits mit den christlichen 
Sarkophagen (s. S. 210), andrerseits, wenn auch weniger nah, mit assyri¬ 
schen Kriegsbildern. So macht denn dieser Stil auch von dem orientalischen 
Kunstmittel der senkrechten Staffelung neuen Gebrauch. Über Nicomedia 
—, bietet doch das benachbarte Nicäa sehr beträchtliche Überreste von 
Triumphalreliefs, — mag er zuerst nach Byzanz verpflanzt worden sein. 
In den Sockelreliefs des großen Obelisken im Hippodrom aus der Zeit des 
Theodosius m ) aber hat er bereits eine Klärung in griechischem Geiste 
durchgemacht. Baut sich hier die Komposition noch ungleich kühner in 
mehreren Plänen nach dem in Konstantinopel vollendeten System der um¬ 
gekehrten Perspektive auf, durch das auch die untersten Reliefstreifen mit 
der Szene der Aufrichtung des Denkmals und den Zirkusszenen in optische 
Beziehung zu dem Bilde gesetzt werden, und wird dadurch eine einzig¬ 
artige Übersichtlichkeit der figurenreichen Komposition erzielt, so werden 
die Gestalten selbst sogar mit Hilfe von Verkürzungen unter feinster Berech¬ 
nung der Beleuchtung einem noch entschiedeneren, aber vortrefflich abge¬ 
stuften Flächenabbau unterworfen. Bei fast fehlerlosen Proportionen aber 
sind sie ganz der alltäglichen Erscheinung nachgebildet mit weitgehender 
Individualisierung auch der Nebenfiguren und auf einfache Stoffcharakte¬ 
ristik gerichteter Gewandbehandlung. . Mit einem Wort, der syrische Im¬ 
pressionismus ist durch einen strengeren und stilsicheren Realismus völlig 
assimiliert. 

Die Stilwandlung der altbyzantinischen Profanplastik weiter zu ver¬ 
folgen, erlauben uns die Consulardiptychen. Daß man wiederholt versucht 
hat, von ihnen bei der Sonderung der Elfenbeinreliefs überhaupt auszugehen 
unter der scheinbar selbstverständlichen Voraussetzung, daß sie als ge- 

m ) Die keineswegs zwingend begründete Ansicht von A. J. B. Wace, Journ. of 
Hell. Stud. 1909, p. 63 ff., daß die Reliefs einer älteren Zeit gehören, vermag ich nicht zu 
teilen. Ihr Stil entspricht durchaus dem des Madrider Silberschildes; Venturi, Stoiia etc. p. 
497 » Fig-438. Zur Komposition vgl. Kunstwiss. Beitr. A. Schmarzow gewidm. S. 14 ff. Die 
Ähnlichkeit der kaiserlichen Frauentracht aber mit der des Kaisers 1 esteht auch später fort. 


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234 


O. Wulff, 


schlossene Gruppe die stadtrömische Kunstübung vertreten xl 3 ), war ein 
verhängnisvoller Irrtum. Nachdem wir auf anderem Wege die syrische und 
die alexandrinische Richtung geschieden haben, ist nicht mehr zu verkennen, 
daß in ihnen beide und noch ein drittes Element zusammenfließen. Aber 
auch abgesehen davon, liegt die Annahme näher, daß die oströmische 
Kapitale mit ihrem politischen und kulturellen Übergewicht die Typen der 
Beamtenporträts geschaffen und auch Rom geliefert habe. Finden wir sie doch 
bereits in den Kaisergestalten des Chronographen von 354 vor ** 4 ). Aus der 
Tatsache, daß das einzige aus dem 6. Jahrhundert erhaltene weströmische 
Diptychon des Orestes (530 n. Chr.) den nächstvorhergehenden oströmischen 
des Magnus, Anastasius und Areobindus in der Komposition wie in der 
Stilisierung durchaus entspricht, ergibt sich für das 5. Jahrhundert der 
Rückschluß, daß wir in den weströmischen vollen Ersatz für die fehlenden 
des Ostreichs besitzen. Bestätigt wird er zum Überfluß durch die ganz 
gleichartige Auffassung des Consuls Ardabur Aspar (477) auf seinem Silber¬ 
schild |l S) und durch innere Gründe. Die früheste Phase scheint noch das 
Diptychon des römischen Stadtvikars Probianus zu veranschaulichen, das 
seine mit der Trivulzitafel übereinstimmende Figurenverteilung (s. S. 222) 
wohl den Kompositionsprinzipien eines syrischen Schnitzers verdankt. Die 
in wachsendem Abstande nachfolgenden Porträtgestalten des Felix (428 
n. Chr.), Asturius (449), Lampadius (480?), Boethius (483) aber verraten 
einen immer herber werdenden Realismus mit absichtsvoller Betonung des 
Plumpen und Häßlichen. Darin bricht offenbar recht eigentlich das byzan¬ 
tinische Kunstwollen durch. Und gleichzeitig entwickelt sich jene charak¬ 
teristische Verbindung der repräsentativen Hauptgestalt mit dem klein- 
figurigen Nebenbilde des Zirkusspiels im perspektivischen Gegensinne, wie 
sie bereits am Reliefsockel des großen Obelisken in der Steinplastik vor¬ 
liegt (s. 0.). 

Im Anfang des 6. Jahrhunderts sind beide Elemente in ein festes 
Schema gebracht, das ihren räumlichen Zusammenhang noch deutlicher 
ausdrückt ,l6 ). Zugleich macht sich jedoch ein Stilwechsel bemerkbar, in¬ 
dem ein bewußtes Streben, die Eleganz der Erscheinung eines Areobindus 
und seiner Nachfolger hervorleuchten zu lassen, Platz greift. Daß-dieser 


u 3 ) Zuletzt A. Haseloff, Jahrb. d. Kgl. Pr. K.-Samml. 1903, S. 54 ff. und ohne klare 
Präzisierung der Ursprungsfrage Sybel, a. a. 0 . II, S. 230 mit vollständiger Literatur. 

IM ) Strzygowski, Die Kalenderbilder des Chronographen vom Jahre 354. I. Suppl. 
d. archäol. Jahrb. 1888, Taf. XXXIV/V. 

u $) Vgl. Venturi, a. a. 0 . I, p. 499, Fig. 439 und dazu etwa das Halberstädter oder 
das Diptychon des Asturius. 

n6) Vgl. meine Ausführungen in d. K. wiss. Beitr. A. Schmarsow gewidm. Leipzig 
1907, S. 17 ff. 


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Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw. 


235 


neue Geschmack, in dem wir bereits das Nahen des Justinianischen Zeit* 
alters mit seiner gezierten Klassizität spüren, durch die Heranziehung 
alexandrinischer Schnitzer ins Leben tritt, wird um so eher glaubhaft, als 
auf einem Diptychon in Wien die typischen Begleitfiguren der Konsuln 
des 6. Jahrhunderts, das Alte und das Neue Rom, in selbständiger Wieder¬ 
gabe koptische Stilinerkmale aufweisen ,a 7 ). Zu dieser jüngeren alexandri* 
nisch-byzantinischen Gruppe gehört sichtlich auch nach seinem ganzen Stil 
das von Strzygowski auf Konstantin den Großen bezogene fünfteilige Di- 
ptychon Barberini als einziger noch vollständiger Vertreter einer offenbar 
für christliche Arbeiten, wie das verlorene Original der beiden Lorscher 
Flügel (s. o.), vorbildlichen Gattung la8 ). Allein der altbyzantinische Realis¬ 
mus bricht selbst unter Justinian in dem Diptychon des Philoxenos wieder 
mit ungeschwächter Kraft durch und hat sogar hier in der Frauenbüste 
der Gerusia ohne jede Anlehnung an antike Typen eine eigenartige Personi- 
fikation geschaffen Ia 9 ). 

Was sich von den übrigbleibenden Elfenbeinreliefs profanen oder 
christlichen Inhalts mit irgendeiner Gruppe der Konsulardiptychen berührt, 
kann ebenfalls als byzantinisch angesprochen werden. Mit den hochrelief¬ 
artigen Darstellungen einer stehenden und einer sitzenden Kaiserin (in 
Florenz und Wien) aus dem 5./6. Jahrhundert ist auch das stilverwandte 
Trierer Elfenbein dahin zu rechnen, besonders wenn Strzygowskis bestechen¬ 
der Erklärungsversuch wieder aufgegeben werden muß, — wie auch am 
ehesten ein Byzantiner das ähnliche Stück im Louvre mit der Predigt des 
Marcus (oder Paulus?) inmitten einer Beamtenschar (in oder für Alexandria?) 
ausgeführt haben dürfte * 3 °). 

Als vortreffliche byzantinische Arbeit im üppigen dekorativen Stil der 
frühjustinianischen Zeit wird ferner vor allem nach wie vor die Tafel 


,2 7 ) Vgl. Strzygowski, Hellenist, u. Kopt. K. usw. S. 49, Abb. 34 und 35. 

,2Ä ) Strzygowski, a. a. O. S. 29, Abb. 17. Ich muß jedoch Schlumberger, M£m. et 
Mon. Fond. Piot VII, 1900 zustimmen und erkenne in dem Kaiser am ehesten Justi¬ 
nian. Die Viktorien verraten den Stil des 6. Jahrhunderts. Auch trifft Graevens Be¬ 
merkung, daß der Feldherr die Statuette noch mit unbedeckten Händen trage, bei ge¬ 
nauem Zusehen nicht zu. 

ia 9 ) Vgl. Molinier, a. a. 0 . p. 30, Nr. 26. Sonderbarerweise scheint noch niemand 
auf diese schon durch die Widmungsinschrift nahegelegte Deutung der Frauenbüste ver¬ 
fallen zu sein. 

J 3 °) Strzygowski, a. a. 0 . S. 78/9, Abb. 54/5 und Orient oder Rom, S. 65 ff., dem 
ich nicht folgen kann. Die Überführung von Reliquien durch zwei Geistliche dürfte mehr 
als einmal vorgekommen sein. Eine Kaiserin, die das Kreuz trägt, kann nur Helena, der 
Kaiser demnach nur Konstantin sein (natürlich in späterer Auffassung). Ebensowenig 
kann ich mich darüber hinwegsetzen, daß die Nebenfiguren des Pariser Elfenbeins Beamten¬ 
tracht haben. 


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236 


O. Wulff, 


im British-Museum mit dem zepterhaltenden Engel zu gelten habend*), 
die ein Bestreben, die syrische und alexandrinische Weise miteinander zu 
vermitteln, am deutlichsten im reichen Linienspiel des stofflich charakte¬ 
risierten Mantels verrät. Mehr äußerlich vereint liegen beide Richtungen 
auf den Flügeln des Carranddiptychons nebeneinander. Und nur als Kopien 
im Stile und Format der Konsulardiptychen des 6. Jahrhunderts nach 
alexandrischen Vorlagen, wenn nicht als Übersetzung palästinensischer 
Ikonentypen in denselben, erscheinen mir die beiden Berliner Tafeln mit 
den Ansatzresten eines. Monogramms, das auf Maximian als Besteller zu¬ 
rückschließen läßt, in ihrer äußerlichen Glätte und ihrem bis zum äußersten 
getriebenen, mit starken Verzeichnungen bezahlten Flächenzwang * 3 a ). 

Ebensoviele, ja noch mehr verschiedene Strömungen fließen in der 
christlichen Marmorskulptur Konstantinopels zusammen. Die syrische 
Richtung stößt hier mit einer älteren Schule zusammen. Zu den gesicherten 
Forschungsergebnissen Strzygowskis gehört der Nachweis, daß die byzan¬ 
tinische Plastik zuerst aus der kleinasiatischen hervorwächst. Es hat sich 
durch neuere Funde von Bruchstücken jener Sarkophagklasse im nordwest¬ 
lichen Kleinasien immer mehr befestigt, deren einziges unzweifelhaft christ¬ 
liches und jüngstes Glied, das Christusrelief aus Psamatia im Berliner Museum, 
zu einem Eckstein der Kunstgeschichte geworden ist J 33 ). Eine Haupt¬ 
werkstätte ist darnach mit Strzygowski vielleicht in Kyzikos zu vermuten, 
aber andere Umstände, wie das frühe Vorkommen zugehöriger Prachtsärge 
im ganzen Süden (Sidamara, Konia, Seleukeia) und sogar in Italien (Rom, 
Florenz), scheinen wieder auf ein älteres Kunstzentrum diesseits der Dar¬ 
danellen hinzuweisen. Der Stil der schönsten Arbeiten mutet wie perga- 
menische Tradition an. Am besten wird wohl die ganze Schule, die diesen 
tabernakelartigen Sargtypus hervorgebracht hat, vorläufig nach dem mehr¬ 
fach festgestellten Material als prokonnesische bezeichnet. Vielleicht ist 
uns von ihr noch ein zweites christliches Stück, das sich dieser Denkmäler¬ 
reihe nach der dazu stimmenden Angabe, daß es aus blaugeädertem Marmor 
hergestellt ist, sowie durch das Motiv der Hadestür an der einen Schmal¬ 
seite und durch die anthropomorphe Deckelform anzuschließen scheint, im 
früher erwähnten Sarkophag von Salona erhalten (s. Rep. f. Kunstwiss. 
1911, S. 308), wenngleich ihm der typische Akanthusdekor fehlt. . Für das 
Berliner Relief aber hat sich als bedeutsamste neuere Beobachtung ergeben, 

* 3 *) Dalton, Cat. of the ivory carv. etc. pl. VI und p. Nr. 11. Die von Strzygowski, 
Jahrb. d. Kgl. Pr. K.-Samml. 1904, S. 276 für antiochenischen Ursprung geltend gemachten 
Gründe halte ich nicht für ausreichend. 

'3 1 ) Vgl. Vöge, a. a. O. Nr. 2/3, Taf. II; Venturi, a. a. 0. I, p. 148/9, Fig. 383/4* 

• 33 ) Strzygowski, Orient oder Rom, S. 40, Taf. II und Beschr. d. Bildw. usw. III, 1, 
Nr. 26, sowie weitere Lit. bei Dalton, Byz. Art and Archäol. p. 128 ff. 


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Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw. 


237 

daß das breitovale Christusrelief völlig einem schon für eine jugendliche 
Mantelfigur eines heidnischen Sarges (in Villa Colonna) gebrauchten Typus 
entspricht. So wird man es kaum unter das 4. Jahrhundert herabrücken 
dürfen. 

Von seinen sämtlichen Vorgängern unterscheidet sich das christliche 
Bruchstück vor allem durch die an ihm bemerkbare stärkere Rückbildung 
des Hochreliefs. Darin macht sich anscheinend eine bereits in der Profan - 
plastik (s. S. 233) nachgewiesene Neigung des byzantinischen Reliefstils 
bemerkbar. Das Eintreten syrischer Steinmetzen in die prokonnesische 
(bzw. byzantinische) Schule, wie es durch den Ambon von Saloniki belegt 
ist (s. S. 225 ), mußte eine parallele Entwicklung fördern. Für Konstantinopel 
selbst liefern neben einem geringwertigen Abrahamsopfer vor allem die 
beiden Säulentrommeln im Ottomanischen Museum den Beweis für das 
Eindringen einer den Ciboriumssäulen von S. Marco verschwisterten syrisch - 
palästinensischen Richtung * 34 ). Die im ganzen Mittelmeergebiet nach¬ 
weisbaren Bruchstücke solcher weinlaubumsponnenen Säulen bestätigen 
die tatsächliche und häufige Verwendung einer schon am Bassussarge und 
einem anderen Säulensarkophag (Lat. Nr. 174) nachgeahmten architek¬ 
tonischen Zierform, nur sind die traditionellen Motive der Weinlese an den 
Konstantinopler Stücken durch eine Taufe Christi von fortgeschrittener ikono- 
graphischer Zusammensetzung u. a. christliche und profane Darstellungen 
ersetzt. Ihr frischer aber etwas flüchtiger Stil verrät alle Vorzüge und 
Mängel syrischer Art. 

Das selbständige byzantinische Kunstwollen sehen wir erst in der 
Denkmälerklasse der ravennatischen Sarkophage mit Entschiedenheit durch¬ 
brechen, mögen sie nun als Erzeugnisse einer lokalen Kunstübung, in der 
dieselben Kräfte tätig waren, oder größtenteils als unmittelbar aus Byzanz 
dorthin verschlagene Zeugen dieser synthetischen Stilbildung anzusehen 
sein. Da sich mir schon wiederholt Gelegenheit geboten hat, mich aus¬ 
führlicher über dieselbe auszulassen * 35 ), so genügen hier wohl ein paar 
Hinweise. Wenn in Ravenna die älteren Sarkophagklassen nur durch ver¬ 
einzelte und fragmentarische Stücke vertreten sind, so ist das ein sicheres 
Anzeichen dafür, daß sein Denkmälerschatz einer jüngeren Zeit, d. h. eben 
seiner Blütezeit, angehört und zugleich eine andere Herkunft hat. Innerhalb 
desselben stehen sich anfangs zwei grundverschiedene Richtungen gegen¬ 
über. Als reinster Vertreter eines kleinasiatischen Typus von Säulensarko¬ 
phagen mit gereihten einfigurigen Rundnischen ist der Sarg des Erzbischofs 

Beschr. d. Bildw. usw. III, 1, Nr. 30 und Strzygowski, Byz. Zeitschr. 1892, 
I, S. 576 ff. und Taf. I. Vgl. zum Vorkommen der Weinlaubsäulen im allgemeinen 
St. Gsell, Atti del II congr. di archeol. crist. Roma 1902, p. 203 ff. 

* 35 ) Rep. f. Kunstwiss. 1908, S. 279 und D. Lit.-Ztg. 1911, Sp. 677 ff. 


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238 


O. Wulff, 


Liberius (II. oder III.?) anzusehen, der noch das Christusideal des Reliefs 
vonPsamatia (s. o.) bewahrt, als ausgeprägt syrisch-palästinensisches Haupt« 
stück hingegen der Sarkophag der Pignatta —, neben dem andere an dem 
Christustypus (s. S. 222) Palmen u. a. m. die gleiche Abstammung erkennen 
lassen —, mit seinem ganz andersartigen Figuren- und Gewandstil, dessen 
verlorener Deckel wohl der tonnengewölbten orientalischen Form mancher 
jüngeren Denkmäler entsprach. Indem sich nun in den letzteren ein Stil¬ 
ausgleich vollzieht, nehmen die Gestalten mehr und mehr jenen grobschläch¬ 
tigen, das Häßliche geradezu betonenden Charakter an, der auch auf den 
Diptychen des 5. Jahrhunderts die Oberhand gewinnt (s. S. 234) und offen- * 
bar im byzantinischen Zeitgeschmack seinen Ursprung hat. Die Vorliebe 
für gedrungene Proportionen ergreift sogar die Lämmergestalten auf den 
gleichzeitigen Kaisersärgen im Mausoleum der Galla Placidia. Zugleich aber 
schreitet die Umbildung des kleinasiatischen Hochreliefs und des isolieren¬ 
den syrischen Reliefstils zum optischen Flachrelief bis zum äußersten, schon 
an den Stuckreliefs des Baptisteriums, die auch im Ikonographischen mit 
den Sarkophagen Zusammengehen, erreichten Grade fort *3 6 ). Daß die Ent¬ 
wicklung in Byzanz denselben Weg vollendet hat, bestätigt nicht nur das 
in prokonnesischem Marmor ausgeführte Petrusrelief aus Ajatzam (bei 
Sinope) im Berliner Museum, sondern auch ein Paar erst im hohen Mittel- 
alter vom Bosporus nach Venedig verschleppter Sarkophage * 37 ). Auch 
anderweitige Bildtypen, wie z. B. die aus Konstantinopel herrührende, ver¬ 
mutungsweise von mir (a. a. O. S. 17, Nr. 28) als Entlarvung Benjamins 
gedeutete Darstellung in Berlin, werden einer gleichartigen Reliefbehand¬ 
lung unterworfen. Die auf das Charakteristische und Häßliche gerichtete 
individuelle Stilisierung aber zeigt auch das eindruckvollste Überbleibsel 
altbyzantinischer Hochreliefplastik, die Evangelistenbüste im Ottomanischen 
Museum * 3 8 ). 

Und ist die klassizistische Reaktion, welche wir auf den Diptychen 


* 3 *) J. P. Richter, Die Mosaiken von Ravenna. Wien 1878, S. 17 hat schon die 
Verwandtschaft der Reliefauffassung mit dem Stil der Sockelbilder des Konstantinopler 
Obelisken erkannt. 

* 37 ) Strzygowski, Jahrb. d. Kgl. Pr. K.-Samml. 1901, S. 26 ff. und Tat. I und meine 
Bern, dazu in der Byz. Zeitsehr. 1904, S. 572 und Beschr. d. Bildw. usw. III, 1, Nr. 29. 
Dazu kommen der Sarg des Dogen Morosini und die Sarkophagfront in der Kapelle des 
Tesoro di S. Marco (mit überarbeitetem Christuskopf), auf der die Traditio nach ravenna- 
tischer Version, d. h. mit Paulus als Empfänger, dargestellt ist. Ongania, La Bas. di 
S. Marco. Dett. t. 204 und Pasini, a. a. 0 . t. XCIII; vgl. zum ersteren Ainalow, Wiz. 
Wrem. 1902, S. 7 (S. A.). 

* 3 ®) Strzygowski, Byz. Zeitschr. 1892, Taf. II. Das Ottoman. Museum bewahrt außer¬ 
dem die kopflosen Überreste zweier ähnlichen Hochreliefbüsten (Nr. 169/170) und das stark 
bestoßene Brustbild eines Propheten (o. Nr.) mit der für Daniel typischen Kopfbedeckung. 


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Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw. 


239 


seit dem 6. Jahrhundert unter alexandrinischem Einfluß zeitweilig die Mode 
bestimmen sehen (s.S. 235), auf die Elfenbeinschnitzerei beschränkt geblieben 
— Das wäre eine Ausnahme vom Gesetz der »Stetigkeit des Kulturwandels«, 
das auch die bildende Kunst beherrscht. In der Tat glaube ich noch ein 
bisher verkanntes Bildwerk dieses frühjustinianischen Stils nachweisen zu 
können. In den Proportionen, dem breitovalen Kopftypus, der zierlicheren 
Faltengebung berührt sich das leider recht schadhafte Marmorrelief eines 
zeptertragenden Engels in S. Marco ebenso fühlbar mit seinem elfenbeiner- 
nen Gegenbeispiel im British Museum (s. S. 236), wie es sich durch die noch 
wohlverstandene Verkürzung der kugelhaltenden Hand und die Fußstellung 
augenfällig, wenngleich in feineren Zügen, von den mittelalterlichen abend¬ 
ländischen Wiederholungen an gleicher Stelle unterscheidet * 39 ). Der op¬ 
tische Reliefcharakter ist darin festgehalten. Zum Hochrelief ist die alt- 
byzantinische Kunst nicht mehr zurückgekehrt, vielmehr verfällt sie bald 
völlig in zeichnerische Auffassung x 4 ®). Vorsichtigerweise darf man freilich 
aus dem Engelrelief in S. Marco noch nicht auf einen unmittelbaren Einfluß 
Alexandrias in der Steinplastik zurückschließen. Wie so oft, kann auch 
diese Stilbildung ihre Wurzeln in der Kleinkunst haben, die einer optischen 
Reliefauffassung an sich näher liegt. Zum mindesten wird aber durch ein 
solches Überbleibsel erwiesen, daß dann die Marmorbildnerei diesen Stil 
aufgenommen hat. 

Unter unzweifelhaften und nachhaltigen alexändrinischen Anregungen 
steht jedenfalls die statuarische Plastik im Byzanz des 4.—6. Jahrhunderts. 
Die Rückkehr von der antiken rhythmischen Ponderation und kontra- 
postischen Bewegung zur einfachen Klarlegung der Gestalt nach den drei 
Dimensionen ist zuerst in Alexandria in Anlehnung an die altägyptische 
Plastik durchgeführt worden. Nach diesem Prinzip ist schon der von Riegl 
(a. a. O. S. 112) so fein gewürdigte neue Typus der beiden kapitolinischen 

x 39 ) v. d. Gabelentz, a. a. O. S. 139, Abb. 3, der es mit den letzteren zusammen¬ 
wirft. Aber das Verhältnis ist dasselbe wie bei dem trotz seiner lateinischen Inschrift 
von griechischer Hand herrührenden mittelalterlichen Demetriusrelief und seiner Kopie 
und bei den betenden Madonnen, von denen die am Nordarm eine griechische Arbeit ist. 

* 4 °) Die oben angedeutete Auffassung deckt sich, von der Datierungsfrage abge¬ 
sehen, mit der von Riegl, a. a. O. S. 99 ff. an den ravennatischen Sarkophagen und den 
Diptychen nachgewiesenen Entwicklung des Reliefstils. Am Ende derselben stehen Bild¬ 
werke wie das von Strzygowski, Jahrb. d. Kgl. Pr. K.-Samml. 1893, S. 65 Abb. 1 ver¬ 
öffentlichte Mosesrelief des Kaiser Friedrich-Museums (Beschr. d. Bildw. usw. III, 1, 
Nr. 32) und sein Gegenstück im Ottomanischen Museum. Haben wir es auch im ersteren 
mit einem in Stein übertragenen Typus der Malerei zu tun, der uns als solcher auf dem 
koptischen gedruckten Mosesstoff (ebenda; vgl. Orient oder Rom, Taf. VI, S. 104 ff.) vor¬ 
liegt, so erscheint derselbe Typus doch im 5. Jahrhundert an der Tür von S. Sabina in 
kleinerem Maüstabe noch mit dem Flächenabbau des echten Reliefs nachgebildet, auf 
dem o. a. Denkmal hingegen in ganz flachen Silhouetten wiedergegeben. 


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240 O. Wulff, Ein Gang durch die Geschichte der altchristlichen Kunst usw. 


Consulstatuen aus dem Reliefstil des Staatsdenkmäler ins Statuarische um¬ 
gesetzt worden M»). Und am gleichen Aufbau hält noch der Bronzekoloß 
von Barletta fest, mag er nun Theodosius oder Arkadius darstellen x 4 >). 
Trägerin dieser ägyptisierenden Richtung aber war die spätalexandrinische 
Porphyrplastik, deren Übergreifen nach Konstantinopel durch Strzygowski 
an den beiden venezianischen Gruppen der sich umarmenden Söhne Kon¬ 
stantins festgestellt worden ist x 43 ). Auch die eigenartige Stilisierung der 
Köpfe in »kristallinisch« regelmäßiger Form wird man darauf zurückführen 
dürfen, ohne zu verkennen, daß sich mit ihr eine schlichte und starke indi¬ 
vidualisierende Naturbeobachtung verbindet, die so charaktervolle Schöp¬ 
fungen wie den Kopf von Barletta oder unter den sogenannten Porträts 
der. Amalaswintha den feinen Frauenkopf des Mailänder archäologischen 
Museums entstehen läßt *44). Einer Kunst aber, die so viel naturalistische 
und assimilierende Gestaltungskraft besitzt, wie diese altbyzantinische 

Rundplastik, wird man auch neben der syrischen eine selbständige Bedeu- 

• * 

tung nicht absprechen können. Die Zusammenfassung aller aus dem Helle¬ 
nismus hervorgegangenen christlichen Kunstströmungen des Ostens zu einem 
einheitlichen Stil gehört Byzanz. 

Es erübrigt, in einem kürzeren Artikel nachzuprüfen, ob sich auch 
in der Malerei des nachkonstantinischen Zeitalters die Lokalstile in ent¬ 
sprechender Weise sondern und mischen und wie weit die ikonographische 
Entwicklung in ihr derjenigen der Plastik parallel verläuft. (Schluß folgt.) 

Berlin, April 1912. O. Wulff. 


* 4 «) Daß der Typus von dieser Richtung geschaffen ist, beweist ein nahverwandter 
Porphyrtorso des Berliner Museum mit ägyptisierender Stilisierung einzelner Falten¬ 
motive; vgl. Riegl, a. a. 0 . S. ui, Abb. 36 und Beschr. d. antiken Skulpt. Berlin 1891, 
Nr. 527. Bei aller Feinheit der Analyse irrt R., wenn er den Typus für älter hält. In Relief¬ 
konzeption bietet ihn noch der Sockel des Obelisken dar. Zu den bekannten Überresten 
kaiserlicher Standbilder aus Porphyr ist neuerdings aus Alexandria ein Gegenstück zu dem 
der Erzb. Kapelle in Ravenna hinzugekommen; Beschr. d. Bildw. usw. III, 1, Nr. 1624. 

m») Venturi, a. a. 0 . I, p. 164, Fig. 154. C. Gurlitt, Antike Denkmalsäulen in Kon¬ 
stantinopel, Berlin, 1910, S. 4 ff. hat die Entstehung der irrigen Benennung als Heraklius 
aufgeklärt und die Beziehung der Statue auf Arkadius verfochten. 

M 3 ) Vgl. Strzygowski, Beitr. zur Alten Gesch. hsgb. von C. C. Lehmann, 1902* II, 
S. 105 ff. 

* 44 ) Graeven, Jahrb. d. Kgl. Pr. K.-Samml. 1898, S. 82 ff ; Venturi, a. a. 0 . I, p. 177, 
Fig. 165. 


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Leonardo da Vincis Entwurf eines Madonnenbildes für 

S. Francesco in Brescia (1497). 

Von EmU Möller. 

J. P. Richter hatte bereits den handschriftlichen Entwurf Leonardos 
zu einer Madonna mit II Heiligen aus dem Ms. J.» 59 r (=J. I07 f ) inhaltlich 
bis auf zwei Lesefehler getreu wiedergegeben >). Im Jahre 1889 bot Ra- 
vaisson-Mollien in seiner Faksimileausgabe der Pariser Leonardomanuskripte 
die Nachbildung des Blattes unter dem Titel: tableau ou statues de chapelle 
(sic!), jedoch noch mit verschiedenen Mißdeutungen. 

Dieses schon nach seinem Gegenstände so interessante Blatt ist bisher 
nicht genügend beachtet worden. Müntz, S^aillcs, Gronau, Mc. Curdy und 
S ; r6n erwähnen es in ihren Leonardobiographien nicht. Wold. v. Seidlitz 
streift es in einem bedenklichen Satze, indem er zwei gar nicht zusammen¬ 
gehörige Stellen konfundiert *). Nur Marie Herzfeld, die tüchtige Kennerin 
der Schriften Leonardos, teilt in ihrem prächtigen Leonardobuch (3. Aufl. 
S. LII) wenigstens den Wortlaut dieser Stelle mit, wenn auch nicht in ganz 
richtiger Lesung. 

Beim Lesen der Notiz in Richters Werk prägte ich für diesen Entwurf 
bereits den Titel »Die Franziskapermadonna«. Bei der Prüfung der Faksi¬ 
milereproduktionen von Ravaisson-Mollien 3 ) erkannte ich sofort die richtige 
Form zweier Namen, von denen Ravaisson-M. noch einen, Richter beide 
falsch gelesen hatte, die aber für die Ausdeutung des Entwurfes von höchster 
Bedeutung sind. Die von Prof. Alfr. R^belliau liebenswürdigst unterstützte 
Untersuchung des Originals im Institut de France bestätigte meine Auf¬ 
fassung. 

*) The literary works of L. d. V. London 1883, I, p. 354, n. 679. 

*) L. d. V. I *44 »Auf diese Zeit (d. h. den Tod der Herzogin Beatrice) mag sich 
auch Leonardos Notiz im Ms. J. 107 beziehen: nostra donna-tavola del Du ca«. Die Worte 
tavola del Duca finden sich in Ms. H. 1 46 a als Abschluß einer Reihe von Erinnerungs- 
Stichwörtern, deren sechs letztvorhergehende Malutensilien bezeichnen. Dies Heft weist 
die Daten 1493 und 1494 auf und hat mit den Aufzeichnungen Uber die Franziskaner¬ 
madonna aus dem Jahre 1497 im Ms. J * natürlich gar keinen Zusammenhang. 

3 ) Les Manuscripts de L. de. V. vol. IV. 

Repertorium für Kunstwissenschaft* XXXV. 


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Abb. 2. Übertragung. 


242 


Emil Möller, 




Zunächst biete ich neben einer Reproduktion des Faksimiles (Abb. 1) 
der besseren Anschaulichkeit wegen das Blatt auch in moderner Druck¬ 
schrift (Abb. 2). Das Original ist 10 x 7,2 cm groß und in vergilbter Tinte 
mit minutiös feinen Lettern geschrieben. Die Rückseite und die neben- 


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Leonardo da Vincis Entwurf eines Madonnenbildes für S. Francesco usw. 


343 


stehende, d. i. vorhergehende Seite sind leer gelassen. Die benachbarten 
Seiten handeln über die Bewegung von Wasser und Luft. Außerdem finden 
sich in dem mit J* bezeichneten kleinen Notizbuch Leonardos (das später 
mit J 1 zusammengebunden und fortlaufend numeriert wurde) eine Anzahl 
allegorischer Prophezeiungen und Reihen lateinischer Wörter. Das Heft 
kann annähernd datiert werden. Auf der Rückseite des ersten Blattes 
(J 2 i») notierte Leonardo, daß er am 17. Oktober 1497 46 Ellen Leinwand 
zu 13 Lire 14 ! /j S. gekauft hat. 

Auf der oberen Hälfte des Blattes erblicken wir ein liegendes Recht¬ 
eck, in dessen Mitte sich ein kleineres befindet, das einen Thron bedeuten 
soll und überschrieben ist: nostra Donna. Links davon steht eine Kolonne 
von 6, rechts von 5 Heiligennamen. Unten rechts werden 7 Namen von 
Franziskanerheiligen wiederholt, darunter 6 mit ihren Attributen. Alles 
weist die bekannte Spiegelschrift auf, mit Ausnahme der obersten Kolonne 
zur Rechten, die von links nach rechts in etwas größeren und merklich 
weniger flüssigen Buchstaben, wahrscheinlich auch mit der linken Hand 
geschrieben wurde. 

Zuvörderst erscheint auf der linken Seite (vom Beschauer gerechnet) 
der große Stifter des Franziskanerordens, der hl. Franz von Assisi. Ein 
Emblem wird ihm nicht gegeben. Wahrscheinlich sollte er durch die Stigmata 
seiner Hände charakterisiert werden. Ihm gegenüber steht S. Antonius von 
Padua, *il Santo«, im Ruf seiner Wundertaten und Volkstümlichkeit jenen 
fast überragend. Er soll Lilie und Buch tragen. 

Über diesem mit 36 Jahren verstorbenen Heiligen lesen wir den Namen 
Lodovico. Darunter haben wir wegen der 3 Lilien auf seiner Brust, die das 
Wappen der Valois bedeuten und wegen der Königskrone zu seinen Füßen, 
den nur 24 Jahre alt gewordenen Bischof S. Ludwig von Toulouse zu ver¬ 
stehen «). Ihm ist gegenübergestellt neben dem »seraphischen« Heiligen 
ein zweiter Bischof, der Kardinal S. Bonaventura (1482 kanonisiert), 
der durch den Titel des zweiten Stifters des Ordens ausgezeichnet ist und 
nach der Legende als Kind durch die Fürbitte des hl. Franz geheilt wurde. 
Als »doctor seraphicus« soll er co 1 serafini abgebildet werden, die als Engel* 
köpfchen mit 6 Flügeln gewöhnlich seinen Bischofsmantel schmücken. Auf 
ihn folgt der hl. Bernardin von Siena, der größte Volksprediger des 15. Jahr¬ 
hunderts, col Gesfi, d. h. mit dem Monogramm 1 HS, das er seinen Zuhörern 
bei der Predigt vorhielt. Er ist ohne ein entsprechendes Gegenüber. 

An die genannten 5 männlichen schließen sich 2 weibliche Heilige 
des Franziskanerordens an: Links steht S. Elisabeth, die trotz ihrer corona 

4 ) Die von Ravaisson-Mollien diesem Namen gegebene Deutung „Ludovic Ic 
More" sieht aus wie ein schlechter Scherz. Der Herzog würde hier wirklich unter 
die Heiligen geraten sein, wie Pilatus ins Credo. 

16* 


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244 


Emil Möller, 


di regina nicht die erst 1625 heilig gesprochene Königin von Portugal be¬ 
deuten soll, sondern unsere liebe deutsche Heilige von der Wartburg. S. Eli¬ 
sabeth von Thüringen, die ebenso wie ihre gleichnamige königliche Gro߬ 
nichte, Mitglied des III. Ordens vom hl. Franziskus war, wird oft durch die 
Königskrone ausgezeichnet, weil sie aus königlichem Geschlechte stammte. 
Auf der rechten Seite entspricht ihr die hl. Klara, die erste Schülerin des 
hl. Franz. Leonardo schrieb sca ciara, wobei das o statt des a als häufig 
bei ihm vorkommende Flüchtigkeit zu nehmen ist. Unten auf der Seite 
steht sogar scä ciaro. Die merkwürdige Abkürzung scä, die Ravaisson-M. 
Beschwerden machte, ist aus s a n c t a entstanden (wie sco aus sancto) und 
hätte eigentlich sca geschrieben werden sollen. R.-M. hatte sehr Unrecht, 
diesen Namen auf einen gar nicht existierenden »Saint-Claire« zu deuten 5 ). 
Davor hätte ihn schon das der Heiligen zugewiesene Attribut des taber- 
naculo, das Sakramentshäuschen, d. h. die Monstranz, behüten sollen, mit 
der die Heilige abgebildet wird, weil sie nach der Legende hiermit einen 
Überfall der Sarazenen auf ihr Kloster erfolgreich abwehrte. 

Auf diese 7 Heiligen des Franziskanerordens folgen die beiden Apostel- 
fürsten Petrus und Paulus. Ihre Zsuammenstellung mit den be¬ 
deutendsten Heiligen der Franziskaner, insbesondere mit Franziskus und 
Antonius ist eine sehr bemerkenswerte Eigentümlichkeit der 
franziskanischen Ikonographie geworden, seitdem der aus 
dem Orden hervorgegangene Papst Nicolaus IV. in den Apsismosaiken des 
Laterans und der Kirche S. Maria Maggiore die beiden berühmtesten Heiligen 
seines Ordens den beiden größten Aposteln zugesellte, als er durch Jacopo 
Torriti das erste Mosaik restaurieren, das zweite neu schaffen ließ 6 ). 

Den Abschluß der beiden Heiligengruppen bilden zwei Namen von 
weniger bekannten Heiligen. Rechts steht nicht saostino = s. agostino, 
wie Richter las, sondern sehr klar »favstino«, was Ravaisson-M. be¬ 
reits korrigiert hatte. Den entsprechenden Namen auf der linken Seite hat 
man bislang allgemein unrichtig gelesen oder vielmehr gedeutet. Richter 
übertrug Jobsita, Ravaisson-M. io vta und beide erkannten darin eine Ab¬ 
kürzung von Johannes Baptista. Nun steht da aber sehr deutlich in Spiegel- 
schrift iovta (über dem v noch ein i), sodaß der Name einfach I o v i t a 
lautet. S. Jovita wird mit seinem Bruder S. Faustinus fast immer zusammen 
dargestellt. Sie stammten aus einer edlen Familie der Stadt Brescia und 
wurden nach der Überlieferung um das Jahr 121, unter der Regierung des 
Hadrian dortselbst enthauptet. Schon im Jahre 248 errichteten die Bres- 
cianer über ihrem Grabe ein Oratorium. Man bildete den Faustinus als 

5 ) Bd. VI p. 24 unter Corrigenda. 

6 ) Beda Kleinschmidt, 0 . F. M., hat im Arch. Francisc. Hist. III, 620 f. auf diese 
auffällige Neuerung zuerst hingewiesen und sie mit Beispielen belegt. 


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Leonardo da Vincis Entwurf eines Madonnenbildes für S. Francesco usw. 


245 


Priester, den Jovita als Diakon ab, beide mit Schwertern in den Händen 7 ). 

Bei der Anordnung der Heiligenschar war zwar keine Gelegen¬ 
heit, tiefgründige theologische Wissenschaft anzubringen, aber die kaum zu 
übertreffende Geschicklichkeit der Zusammenstellung, die genaue Fest¬ 
legung der Attribute und die Abwesenheit aller Korrektur des Schreibers 
führen uns zu dem Schluß, daß es sich um wohldurchdachte, vorher bereits 
schriftlich fixierte Angaben eines theologisch gebildeten Be¬ 
stellers handelt. 

Von großer Bedeutung ist die Auswahl der Heiligen, die 
uns instand setzt, die Auftraggeber mit ausreichender Sicherheit festzustellen. 

Unter den 11 Heiligen des Entwurfes gehören, wie wir sahen, nicht 
weniger als 7 — und zwar sind es die zuerst niedergeschrie¬ 
benen — dem Franziskanerorden an, und 2 weitere stehen noch ikono- 
graphisch mit ihm in Verbindung. Dies beweist ohne Frage, daß das Bild 
für eine Franziskanerkirche geplant war. Dieselbe könnte nicht 
sehr weit von Mailand entfernt liegen, wo Leonardo 1497 schon seit 14 Jahren 
sich aufhielt. 

Von größter Wichtigkeit ist die Aufführung der 2 zuletzt hinzugefügten, 
so lange mißdeuteten Namen Faustinus und Jovita. Entweder muß die 
Franziskanerkirche diese Heiligen als Patrone geführt haben oder sie lag 
in Brescia, wo das Märtyrerpaar natürlich in besonderen Ehren stand, weil 
es dort geboren und enthauptet war. P. Michael B i h 1 , O. F. M., in 
Quaracchi, der ausgezeichnete Kenner der Franziskanergründungen in Italien, 
erklärte mir, daß die beiden Santi in keinem Orte Ober- und Mittelitaliens 
Patrone eines Klosters der Minoriten gewesen seien. Daraus ergibt sich 
die Folgerung, daß die Faustinus und Jovita ihren Ehrenplatz auf dem 
Bilde — zuhöchst neben dem Thron der Madonna — als Patrone der 
Stadt Brescia einnehmen sollten. 

Brescia stand schon wegen seiner Waffenfabriken in regen Beziehungen 
zu Mailand. Von dort war Vincenzo Foppa eingewandert. Leonardo selbst 
hatte mehrere Jahre früher die berühmten Eisenhütten der Stadt besucht. 
In dem nicht genau datierbaren Ms. B. fol. 40» sehen wir nämlich die Skizze 
eines Blasebalges, dessen Spitze in einen Ofen mündet und dazu eine Notiz 
über Blasebälge aus einem Stück, d. i. ohne Leder, die in den Hütten von 
Brescia in Gebrauch waren 8 ). 


7 ) S. Acta S. S. Febr. II. 809 ss. ed. Savio in den Analecta Bollandiana XV, Brüssel 

1896, p. 5—72; 113—150- 

®) A bresscia alla minera del fero. sono . mantaci dunpezo cioe sanza corame 
ecquando sileua innalto/ laria entra perla sua finestrella . n . ecquando sabassa laria . 
sifugie per Iecane. Ravaisson-M. hatte breccia gelesen und als »brache« gedeutet, was 
schon Solmi, L. d. V. 73 berichtigte. 


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246 


Emil Möller, 


Es muß sehr auffallend erscheinen, daß Leonardo, den damals seine 
Forschungen und technische Probleme weit mehr reizten, als alle Malerei, 
einen so großen Auftrag auf ein Madonnenbild von sehr herkömm¬ 
lichem Typ und dazu noch außerhalb Mailands übernommen haben 
soll. Er stand ja doch auch in den Diensten des Herzogs, der ihn für so 
viele Aufgaben heranzog, möchte mancher hinzufügen, und im Juni 1497 
mußte er noch eine Mahnung an sich ergehen lassen, das Abendmahlsbild 
in S. Maria delle Grazie zu vollenden! 

Da ist es nun von großer Bedeutung, daß wir den handschriftlichen 
Entwurf in das Jahr 1497 verlegen können. Das ist nämlich jene Zeit, in 
der Leonardo von materiellen Sorgen schwer bedrückt war, weil infolge 
eines reichlich ein und ein halbes Jahr andauernden Zerwürfnisses mit dem 
Herzog alle Aufträge und Zahlungen von dieser Seite ausblieben. Nun hat 
zwar Paul Müller-Walde im Jahrb. d. Pr. K. 1897, 107—18 
diese tragische Episode im Leben des Meisters in seiner gründlichen Weise 
• mit Heranziehung einer Reihe von Dokumenten m. E. ausreichend sicher- 

t 

gestellt. Dennoch haben die neuesten Biographen Leonardos, W. v. Seid- 
litz, L. d. V. I, 250 ff. u. 282 ff. und 0 . Sirön, L. d. V., Stockholm 1911, 
62, geglaubt, diese Resultate ablehnen zu sollen. Daher dürfte eine neue, 
knappe Darstellung der Ereignisse hier um so mehr am Platze sein, als 
einem von Leonardo für Brescia übernommenen Auftrag durch das Zer¬ 
würfnis mit dem Herzog das Auffällige genommen wird und andererseits 
die Deutung Paul Müllers durch den auswärtigen Auftrag eine Bestätigung 
erfährt. Um mich nicht in Polemik zu verlieren und die Darstellung klarer 
zu gestalten, habe ich die zeitliche Aufeinanderfolge der Geschehnisse ge¬ 
wählt, wobei zum ersten Male eine feste Einordnung dahingehöriger Nieder¬ 
schriften Leonardos gewagt wurde. Weil ich einige von Müller-W. nicht 
herangezogene Tatsachen verwende, und eins seiner Dokumente aus- 
scheiden konnte, ferner überall bemüht war, Einzelnes schärfer auszudeuten, 
so hoffe ich, daß das Folgende zur Erkenntnis einer dunklen Lebensperiode 
Leonardos nicht ohne Wert sein wird 9 ). 



Am 8. Juni 1496 richtete der Herzog von Mailand an den Erzbischof 
Arcimboldi, der sich gerade in Venedig befand, in augenscheinlicher Er¬ 
regung ein Schreiben: »Der Maler, der unsere Camerini malte, hat heute 

9 ) Um diesen Abschnitt nicht zu sehr auszudehnen, gebe ich von den Dokumente 
nur den wesentlichen Inhalt oder die entscheidenden Stellen und verweise im übrigen 
auf den Text im Jahrb. d. Pr. K. 1897. Bei v. Seidlitz stimmen die Übersetzungen bzw. 
Inhaltsangaben nicht immer genau. 


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Leonardo da Vincis Entwarf eines Madonnenbildes für S. Francesco usw. 


247 


einen gewissen Skandal. gemacht, infolgedessen er sich entfernt hat« ,0 ). 
Der Herzog sucht als Ersatz den Perugino, ein Anzeichen, daß der unge¬ 
nannte Maler nicht von gewöhnlicher Art war. Ersterer aber hatte Venedig 
längst verlassen. Von Ende August bis zum 11. Dezember 1496 weilte 
Maximilian in Italien. Der Herzog wurde bald in tiefe Trauer versetzt 
durch den Tod seiner natürlichen Tochter Bianca (22. Nov.) und seiner 
heißgeliebten Gattin (2. Jan. 1497). 

Gegen Ende Januar malte Leonardo in Gegenwart mehrerer Edel¬ 
leute am Abendmahl, als der im Kloster delle Grazie abgestiegene Kardinal 
Peraudi, Bischof von Gurk, das Refektorium betrat. Nachdem der Kardinal 
die Arbeit des Malers genugsam bewundert, stellte er als guter Finanzmann 
die indiskrete Frage nach dem Gehalt des Künstlers. »Für gewöhnlich 
eine Pension von 2000 Dukaten (heutiger Wert etwa 100000 Lire!), ohne 
die Geschenke und Präsente, die ihm der Herzog täglich mache«, antwortet 
Leonardo. Solche Freigebigkeit verwunderte den Kardinal sehr. Aber 
diese Angabe über die Höhe der Pension, die uns Matteo Bandello als Zeuge 
der Szene in der Einleitung zu seiner 58. Novelle überliefert hat, stimmt mit 
der Wirklichkeit — trotz Uziellis gegenteiliger Meinung — absolut nicht 
überein. Das Gehalt wird wohl, wie Bugati 1570 schrieb, 500 Dukaten be¬ 
tragen haben. Leonardo selbst wird uns noch sagen, daß es damals seit 
mehr als einem Jahre vollständig ausgeblieben war und daß die üblichen 
Geschenke in »qualche vestimento« bestanden (C. A. 335™). Außerdem 
bekennt später der Herzog selbst in der Schenkungsurkunde des Weinbergs, 
daß er in puncto Präsente etwas wieder gut zu machen hatte. So müssen 
wir die Worte Leonardos an den alten Herrn (der als geizig verschrieen war!) 
als Ausfluß eines gewissen Galgenhumors auffassen, in welchem der Künstler 
über seine damals schon etwas prekäre Lage zu scherzen und den Frager 
abzufertigen suchte. 

Leonardo hatte bei seinen übermütigen Worten schwerlich beabsichtigt, 
des Herzogs zu spotten. Aber wir dürfen annehmen, daß dessen noch nicht 
beseitigte Verstimmung aufs neue gereizt wurde, als die Aufschneiderei, 
die der Kardinal für bare Münze genommen hatte, durch die dem Gespräche 
beiwohnenden Edelleute am Hofe erzählt wurde. 

Am 28. März 1497 schreibt Moro an die Baglioni in Perugia, daß er 
für gewisse Arbeiten den ausgezeichneten Maler. Perugino wünsche. Sie 
möchten ihn bewegen, zu kommen und ihm zu verstehen geben, daß er eine 
solche Behandlung finden würde, daß er sich allzeit freuen würde, gekommen 
zu sein **). 

,0 ) Absentato. Ob das bedeutet: die Arbeitsstätte verlassen oder vorübergehend 
auch die Stadt, ist ohne Belang. 

n ) Das von Müller-Walde im Mailänder Staatsarchiv aufgefundene Blatt mit der 


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248 


Emil Müller, 


Im Ms. L. f. 94 r steht unter dem Datum des 4. April 1497 die Rechnung 
für den kostbaren Stutzermantel, den Leonardo aus Silberbrokat mit grünem 
Samt seinem Lieblingsschüler Salai machen ließ. Von der aufgewendeten 
Summe — 26 Lire 5 Soldi — scheint nach der Bemerkung am Schluß (»ecci 
di suo grossoni 13«) zwar reichlich die Hälfte von einem Lohnguthaben 
des Salai herzurühren. Dennoch läßt die Höhe der Ausgabe für einen solchen 
Zweck den Schluß zu, daß der Meister sich damals noch nicht in direkter 
Geldverlegenheit befand. 

Der Herzog besuchte nach Sanuto noch bis in den Monat August hinein 
zweimal täglich das Grab seiner Gemahlin in S. M. delle Grazie und wie ein 
Zeitgenosse, P. Rovegnatino berichtet **), frühstückte er damals jeden Dienstag 
und Samstag im Kloster, sodaß er das Abendmahlsbild Leonardos häufig 
vor Augen hatte. Am 29. Juni wies er den Marchesino Stanga an, den 
♦Florentiner Leonardo« zu ermahnen, daß er das angefangene Abendmahl 
beende, damit er an der gegenüberliegenden Wand beginnen könne. Es 
sollten aber Satzungen von der Hand des Künstlers unterschrieben werden, 
die ihn zwängen, innerhalb der vorgesehenen Zeit das Werk zu vollenden. 
Auffällig kalt und fremd, ja respektlos, ist hier die Bezeichnung des Malers, 
und das Mittel, ihn zur prompten Ausführung zu zwingen, war gerade für 
dessen Natur von rücksichtsloser Härte. 

Im September oder Oktober scheint, wie weiter unten ausgeführt 
wird, das Altarbild für die Franziskaner in Brescia von Leonardo über¬ 
nommen worden zu sein. Die Aufgabe war als künstlerisches Problem nichts 
weniger als verlockend für ihn, und der Gewinn — abgesehen von einer 
nach den Verhältnissen des Künstlers wahrscheinlichen Anzahlung — lag 
noch in weiter Ferne. 

Nach langem Schweigen hat Leonardo an den Herzog einen Brief 
gerichtet, dessen Entwurf im Codex Atlanticus f. 315* erhalten ist. Es 
tut ihm sehr leid (viermal setzt er mit dieser Wendung die Feder an), daß 
er in Notlage ist, aber noch mehr schmerzt ihn, daß die Notwendigkeit, 
seinen Lebensunterhalt zu verdienen, ihn gezwungen hat, das Werk 
zu unterbrechen, das ihm S. Herrlichkeit einst auf¬ 
trug. Er hofft in kurzem soviel verdient zu haben, daß er ohne Sorgen *J) 
dem Herzog dienen könne, dem er sich empfehle. Wenn S. H. glauben 
würde, der Schreiber habe Geld, so würde sie irren. Er habe 6 Personen 
36 Monate unterhalten und nur 50 Dukaten in dieser Zeit empfangen. Viel- 

Charakteristik der Botticelli, Filippino, Perugino und Dom. Ghirlandajo kann nicht, wie 
der Autor annahm, in diese Zeit gehören, weil D. Ghirlandajo bereits 1494 starb! 

**) Siehe Pino, Storia genuina del Cenacolo, 104. 

* 3 ) Nur dies kann nach dem Zusammenhang der Sinn des Euphemismus »ad animo 
riposato« sein! 


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Leonardo da Vincis Entwurf eines Madonnenbildes für S. Francesco usw. 24g 

leicht habe S. H. dem Gualteri nichts aufgetragen, in der Meinung, Leonardo 
besitze Geld. 

Der korrekt und gleichmäßig geschriebene Briefentwurf erscheint sorg¬ 
sam überlegt und von einer auffälligen Kühle in Anbetracht des heiklen 
Inhalts. Der Künstler hat nicht das Gefühl, etwas Tadelnswertes getan zu 
haben. Er bedauert nicht einfachhin, einen Auftrag des Herzogs unter¬ 
brochen zu haben, sondern in diese Zwangslage versetzt zu sein. Darin liegt 
der im weiteren genauer präzisierte, schwere, wenn auch indirekte Vorwurf 
gegen den Herzog, daß er seinen treuen Diener vergessen "hat und in Not 
geraten ließ, sodaß dieser gezwungen war, sich anderswo seinen Lebens¬ 
unterhalt zu erwerben, um dann wieder ohne Nahrungssorgen dem Herrscher 

m 

dienen zu können. Was unter »l’opera che giä Vostra Signoria mi commise« 
zu verstehen sei, ist wohl nicht mit voller Sicherheit zu entscheiden. Das 
»Pferd« kann nicht gemeint sein, weil der Herzog, wie aus C. A. 335*» her¬ 
vorgeht, damals nicht gewillt war, die bedeutende Summe für den Guß 
anzuweisen. Aber auch die Ausmalung der Camerini, die dem Maler ehedem 
übertragen war, scheint, wie ich abweichend von M.-W. annehme, nicht 
darunter verstanden zu sein. Leonardo tut nämlich seine Absicht kund, dem 
Wunsche des Herzogs— auf Vollendung des Werkes— bald nachzukommen. 
Die Camerini weiter zu fördern, hatte Leonardo aber ohne speziellen, neuen 
Auftrag nicht das Recht, denn der Herzog bemühte sich, wie der Brief¬ 
schreiber wußte, seit langem darum, den Perugino für diese Arbeit heran¬ 
zuziehen. Somit bleibt wohl nichts anderes übrig, als die Annahme, daß das 
Abendmahl gemeint sei, wie auch v. Seidlitz I 284 ohne weitere Be¬ 
gründung annimmt. In betreff dieses Werkes liegt ja eine Mahnung des 
Herzogs vor, die der Künstler in den ersten Tagen des Juli 1497 erhalten 
haben muß. 

Dieser Briefentwurf Leonardos würde also aufzufassen sein als Er¬ 
widerung des Künstlers auf die am 29. Juni angeordnete herzogliche Mah¬ 
nung, das Abendmahl zu vollenden. Weil das Schreiben aber geeignet ist, 
eine am 9. November deutlich wahrnehmbare, neue Verstimmung Moros 
zu begründen, glaube ich, daß es erst in den Anfang des November 
fällt m). 

Am 9. November schickt Moro einen Eilboten nach Perugia. Die 
Baglioni sollen auf den Perugino einen Druck ausüben, damit er komme. 
Dem Maler wird ganz anheimgestellt, ob er sich dauernd oder nur für einige 
Zeit dem Dienste des Herzogs widmen wolle, der Herzog nehme ihn ganz 


* 4 ) Müller-Walde, a. a. O. 118, verlegte beide Briefentwürfe Leonardos in die Zeit 
zwischen dem 9. November 1497 und 9. Februar 1498; wahrscheinlich seien sie noch im 
Jahre 1497 aufgesetzt. 


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25 ° 


Emil Möller, 


nach Wunsch. Moro erwartet schleunige Antwort und verspricht die Kosten 
eines Eilboten zu ersetzen * 5 ). 

Nunmehr mußte aber Leonardo erkennen, daß es die höchste Zeit 
sei, das Feuer der Zwietracht zu löschen. Auf einem großen Blatt des Codex 
Atlanticus (335 r *) in der (Ecke rechts oben hat er sich vergegenwärtigt, 
wie die Entfremdung gekommen war: »Der Irrtum in der Aufrechnung l6 ). 
Zuerst die Benehzien (Mauteinkünfte) und dann die Arbeiten und dann 
die Undankbarkeit und dann die unwürdigen Klagereien und dann . . . 
— wohl das, Was der Herzog beliebte »scandalo« zu nennen. 

Auf einem kleinen, leider am Schluß aller Zeilen verstümmelten Blatt 
des Codex Atlanticus (fol. 335 T * die Rückseite ist leer und zudem auf* 
geklebt, es ist durchaus nicht, wie man nach der Numerierung vermuten 
möchte, dasselbe Blatt wie das eben besprochene große f. 335*••) ent* 
wirft Leonardo an den Herzog einen neuen, für uns noch viel wichtigeren 
Brief, der wie ein greller Blitz die damalige Lage des Künstlers erhellt. 
Die Schriftzüge sind auch hier fest und die äußere Form von der Leonardo 
zur Natur gewordenen Korrektheit, was ein kostbares Zeugnis für die un¬ 
gewöhnliche Selbstbeherrschung und Sicherheit ablegt, die diesen seinen 
Zeitgenossen so weit überlegenen Geist auch in bedrängten Lagen und gegen¬ 
über Fürstenthronen nicht verließ. Aber die berechtigte, innere Erregung 
durchzittert den Inhalt des Geschriebenen von Anfang bis zu Ende: 

* 5 ) Den von Müller-Walde noch nicht veröffentlichten, aber nicht unwichtigen Schluß 
des Briefes vermag ich hier in der Übertragung von H.Dr. Bombe zu geben .... a tempo 
limitato. Perche lo pigliaremo a quäle si vogli partito e si provederemo del modo secundo 
che le M. V. ordinarano e gli ne faremo le cautione, dove lui piü se accontenterä: e de 
questo expectamo resposta et cum celeritä, etiam se le Mtie V. dovcssero mandare lettere 
a posta, perche lo satisfaremo. — Perugino scheint auch'auf diese Aufforderung nicht 
erwidert zu haben. Die Angabe bei Fritz Knapp, Perugino, 64 »Dieser dankt jedoch, da 
er zu viel zu tun habe« ist, wie ich vermutete und mir H. Dr. Bombe bestätigt, eine Kom¬ 
bination ohne historische Unterlagen und deshalb auch in ihrer Fassung sehr zu bean¬ 
standen. — Ich vermute, P. hat wohl gewußt, wozu er gebraucht werden sollte, und da 
hat der Respekt vor einem Leonardo denn doch seinen stark ausgebildeten Erwerbssinn 
gehindert, den verlockenden Anerbietungen zu folgen. Der Umstand, daß der Herzog 
den Namen des zu ersetzenden Malers verschweigt, scheint mir sogar darauf berechnet, 
den P. nicht scheu zu machen. 

,s ) Im Ms. steht sehr deutlich: erore dell!ta|cho. Paul Müller-W. wagte 1897 
die seither von der Leonardo-Literatur übernommene Konjektur »intonaco« und deutete, 
daß bei der »Grundierung« der Camerini ein Versehen vorgekommen sei. Ich bin in 
der angenehmen Lage, hier mitteilen zu können, daß H. Dr. Müller seine frühere An¬ 
nahme aufgegeben hat und die Lesung itacho = intacco beibehält, die als »Einkerbung« 
in den Rechnungsstab, Rechnung vermittelst des Kerbstockes, auszulegen ist. Dieser 
Sinn paßt vorzüglich in den Zusammenhang. Es scheint, daß die Pfennigfuchserei, 
durch die das Gehalt Leonardos damals zusammengebracht wurde, zu einer heftigen 
Szene geführt hat, vielleicht mit dem Marchcsino Stanga, so daß Leonardo seine Arbeit 
in den Camerini verließ. 


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Leonardo da Vincis Entwurf eines Madonnenbildes für S. Francesco usw. 251 

Wenn ihm kein Auftrag mehr auf irgendwelche Arbeit gegeben wird * 7 ) 
und als Belohnung für seinen Dienst Anweisungen auf Einkünfte, mit denen 
er nichts anfangen kann, so will er seine Kunst wechseln. Er sucht nach 
Entschuldigungen für den Herzog: der Sinn S. Herrlichkeit ist mit wich¬ 
tigeren Dingen beschäftigt, als daß Leonardo ihn mit seinen »Bagatellen« 
belästigen dürfte. Er hat gehört, daß sein Schweigen die Ursache 
der Ungnade sei, aber sein Leben stehe allzeit dem Herrscher zu Befehl. Vom 
Pferde wolle er wegen der Ungunst der Zeiten nichts sagen. Aber seit zwei 
Jahren habe er kein Gehalt mehr empfangen, und nach Abzug seiner Un¬ 
kosten und des Unterhalts für zwei Meister seien ihm nur 15 Lire bei ge¬ 
nanntem Werk (cavallo?) verblieben. Er möchte der Nachwelt durch Werke 
von Ruf zeigen, wer er gewesen sei, aber er wisse nicht, wo er sie verausgaben 
könne. Daß er darauf bedacht gewesen sei, sich den Lebensunterhalt zu 
verdienen, habe den Herzog nur erzürnen können, weil er nicht wußte, in 
welcher Lage sich der Künstler befand. Der Herzog möge sich des früheren 
Auftrages erinnern, die Camerini zu malen* 8 ). 

Dieses verzweifelte Schreiben mag noch gegen Ende des Jahres 1497 
an den Herzog gerichtet sein. Irgendwelche Freunde wie Fra Luca Pacioli 
werden ein gutes Wort eingelegt haben. Aber das war vielleicht nicht einmal 
mehr nötig. ,,Mit der Ausmalung der Camerini von neuem betraut zu 
werden“, das war die Bitte, die der Herzog schon lange von Leonardo zu 
hören gewünscht hatte. Der Bann war gebrochen. Jedenfalls war vor 
dem 9. Februar 1498, dem Tage des wissenschaftlichen Wettstreites in der 
Burg der Sforza, eine Aussöhnung erfolgt, da der Künstler nach Paciolis 
Bericht bei dieser Gelegenheit eine der glänzendsten Gestalten des Kreises 
um Ludovico bildete. 

Auf dem vorletzten Blatt des Ms. J* (90») künden uns sehr durch¬ 
sichtige Allegorien den Wechsel der Stimmung bei Leonardo an: »Moro 
in Gestalt der Fortuna . . . Messer Gualtieri faßt ihn ehrerbietig — um ihn 
aufmerksam zu machen — am Saume des Gewandes. Die Armut in furcht¬ 
erregender Gestalt, läuft hinter einem Jüngling her; Moro bedeckt ihn mit 
einem Bausch seines Gewandes und bedroht das Ungeheuer mit einer golde¬ 
nen Rute«. Das sind schmeichelhafte Anspielungen auf das Amt, das der 

* 7 ) Daß der Herzog in derselben Zeit hinter einem Perugino herläuft und diesem 
goldene Berge verspricht, wenn er in seinen Dienst trete, durfte Leonardo natürlich nicht 
wagen, seinem Herrn vorzuhalten. 

,8 ) Diese bitteren Klagen über zweijährige Vernachlässigung und die demütige 
Bitte am Schluß um neuerlichen Auftrag zur Ausmalung jener Camerini, die der ungenannte 
Maler am 8. Juni 1496 unerledigt gelassen, zu deren Fertigstellung der Herzog volle 11/ 2 Jahre 
den Perugino unter den nobelsten Bedingungen heranzuziehen suchte, die aber schließlich 
doch von Leonardo dekoriert wurden, sind für sich allein schon imstande, die Identität 
jenes ungenannten Malers mit Leonardo zu erweisen. 


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252 


Emil Möller, 

Herzog bei Leonardo ausgeübt hat. Die Zeichnung einer Pflanze mit der 
Wurzel nach oben, dazu noch die Worte: »Für einen, der daran wäre, die 
Huld zu verlieren«, soll das Schicksal versinnbilden, das dem Künstler - 
bevorstand. 

Am 22. März berichtet Gualteri, daß an den Wölbungen der Camarini 
gearbeitet, d. h. der Malgrund aufgetragen wird. Am 20. April schreibt er, 
daß Leonardo für die Saletta negra die Abmessungen der Wandbemalung 
abgeändert hat. Am 21., daß derselbe die Sala delle Asse bis Ende Sep¬ 
tember zu vollenden verheißt. Am 23. wird gemeldet, daß in letzterem 
Saal das Gerüst, das für den Bewurf gedient hat, entfernt ist. Man sieht: 
es wird fieberhaft gearbeitet, um die Erfüllung der lange gehegten Wünsche 
des Herzogs zu beschleunigen. 

Am 1. Mai 1499 schrieb Moro an seinen florentiner Agenten Taddeo 
Vimercati: Die Signoria möge »einem gewissen Perugino« und dem Meister 
Filippo (Filippino Lippi) Vorhaltungen machen, daß sie die vor 3 Jahren 
übernommenen Aufträge auf zwei Altarbilder für die Certosa zu Pavia noch 
nicht ausgeführt hätten. Man möge sie veranlassen, einen bestimmten 
Termin für die Ablieferung der Arbeiten anzugeben, widrigenfalls sie die 
empfangenen Vorschüsse herauszugeben hätten * 9 ). 

Das ist allerdings eine ganz andere Sprache, die der Herzog nunmehr 
gegenüber Perugino führt. Seiner Dienste bedarf er jetzt nicht mehr. 

Leonardo scheint die Sala delle Asse pünktlich im September beendet 
zu haben, weil am 2. Oktober vom Herzog ein Weingarten eingetauscht wird, 
den der Künstler am 26. April 1498 unter den glänzendsten Lobpreisungen 
erhält. 

Ein hochinteressantes Zusammentreffen ist es, daß wir über Leonardos 
äußere Erscheinung am Ende des Jahres 1497 zufällig authentisch unter¬ 
richtet sind durch eben dasselbe Ms. J *. Auf fol. 88 T sehen wir die flüchtige, 
aber meisterliche Skizze eines gereiften Männerkopfes mit wallendem Bart, 
die von dem nachher geschriebenen Text (über Stoß und Bewegung) nur 
wenig geschont ist. Ravaisson-Mollien hatte vollkommen Recht, darin ein 
Selbstporträt des Meisters zu vermuten. Einzig Müntz hat später noch von 
dieser wichtigen Zeichnung referierend Notiz genommen und sie nach mangel¬ 
hafter Kopie wiedergegeben (L. d. V. 498). Ich biete sie hier nach dem leider 
unscharfen Lichtdruck bei Ravaisson-M. (Abb. 3). Sehr charakteristisch 

> 9 ) .. u n o ccrto Perusino et uno magistro Philippo... Et perchi hormai 
la longeza i fora del debito... prefigerli qualche honcsto termino ad finire dicte an- 
cone, et quando poi al prefixo termino non finiscano dicta opera, che li vogliano fare con- 
stringere ad retrodare li dinari che hano havuti.. Et circa questo non mancarite de Studio 
perche l'effecto segua... Missive extra dominium, 1498—99 c. 158. Für Mitteilung dieser 
Urkunde bin ich Herrn Dr. Bombe zu Dank verpflichtet. 


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Leonardo da Vincis Entwurf eines Madonnenbildcs fUr S. Francesco usw. 


253 


sind bei dem Kopf mit der energisch gebogenen Nase der scharf beobach¬ 
tende, sinnende Blick und der bittere, melancholische Zug um den Mund. 
Eine würdevolle, an einen alten Seher gemahnende Erscheinung! Und 
doch zählte Leonardo damals erst 45 Jahre! Wir möchten den Dargestellten 
eher gegen 60 jährig nennen. Diese Beobach*- 
tung ist analog zu machen bei dem herrlichen 
Selbstporträt in der Kgl. Bibliothek in Turin, das 
Morelli, Charles Löser und Carotti eben wegen 
des zu greisenhaften Aussehens nicht als Selbst» 
bildnis des Meisters anerkennen wollten. Wenn 
das Titelbild zu Florenzios Musica (Abb. v. 

Seidlitz I, 105) spätestens 1491 angefertigt ist, 
wie es scheint, so ist hier der damals höchstens 
39jährige Leonardo ebenfalls sehr männlich-reif 
dargestellt. Ant. de Beatis sah den 65jährigen 
für älter als 70 an. Wir wissen, daß eine vom 
Jünglingsalter an ungeheuer angespannte, viel¬ 
seitigste Geistestätigkeit dem Meister ganz unge¬ 
wöhnlich früh die Merkmale des Alters einge¬ 
prägt hat. Daß auch nicht geringe Sorgen und schmerzliche Erfahrungen 
manche Furchen in sein Antlitz gezeichnet und den Zug der Bitterkeit und 
Enttäuschung seinen Lippen aufgedrückt haben, hat uns die vorstehende 
Untersuchung wieder offenbart. 



Abb. 3. Leonardos Skizze 
nach sich selbst. Ms. J 2 88 

(»36) v . 


G. Gronau, i8 f Mc. Curdy, 35, M. Herzfeld, LII, haben in ihren Leonardobiogra¬ 
phien die Darstellung Müller-Waldes akzeptiert. Dagegen lehnten Solmi, 107, W. v. Seid¬ 
litz und Sir£n (s. u.) sie ab, allerdings ohne ernstliche Gründe anzuführen und ihrerseits 
die Briefentwürfe Leonardos zu erklären. W. v. Seidlitz bekämpft hauptsächlich ver¬ 
schiedene phantastische Details, für die ich vergebens nach einem Autor gesucht habe. 
(I, 250 feine ganze romanhafte Geschichte, Zerwürfnis Leonardos mit dem Herzog — dies 
allerdings ist eine Tatsache, wenn sie Herr v. S. auch nicht konstatiert — Flucht aus 
Mailand (!), langjähriger (!) Aufenthalt des Künstlers in der Verborgenheit (!)und endliche 
Aussöhnung, nachdem er sich demütig zur Rückkehr entschlossen« ( 1 ).) Nach dem Zu¬ 
sammenhang der Darstellung bei v. S. muß man annehmen, daß der Aufdecker dieser 
Lebensepisode Leonardos, Dr. Paul Müller, der als Vertreter der von Herrn v. S. bekämpften 
Hypothese allein aufgeführt ist, solche phantasievollen Dinge vorgebracht habe. Aber 
dieses Autors ebenso maßvolle wie gründlich fundierte Darstellung (Jahrb. d. Pr. K.-S. 
1897) enthält keine Spur derartiger romanhafter Einzelheiten, läßt nicht einmal Raum 
dafür! Ich möchte mich nun nicht damit begnügen, auf diese bedauerliche Entgleisung 
in dem gelehrten Werk des Herrn v. S. hinzuweisen, sondern ich halte es auch für eine 
Pflicht, zu sagen, daß darin eine schwere, unverdiente Kränkung Paul Müllers enthalten 
ist, des eminentesten Lconardoforschers, den die Welt bisher gesehen, der in einer un¬ 
vergleichlich idealen Gesinnung seine seltenen Geistesgaben und sein Vermögen der ein¬ 
dringlichsten Ergründung jenes komplizierten, einzigen Genius seit 30 Jahren geopfert 
hat. In seinem Torso gebliebenen Jugendopus, das naturgemäß noch in manchen künstle- 


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254 


Emil Möller, 


rischen Fragen wenig kritisch sein konnte, bot er vor einem Menschenalter die wertvollsten 
Anregungen, io Jahre später in seinen »Beiträgen♦ bereits gediegenste, bis heute fast 
nur in Kleinigkeiten überholte Abhandlungen. Ungezählte harren mit Sehnsucht, dafl 
dieser Leonhardokenner ohne Gleichen die ausgereiften Früchte seiner unermüdlichen 
Studien, die reich sein werden an kostbarem, neuem und mit der bekannten unübertreff- 
liehen Sachkenntnis und Exaktheit verarbeitetem Material, der Welt vorlegen werde. 
Ich sehe es natürlich als selbstverständlich an, daß Herrn Geheimrat v. Seidlitz im vor¬ 
liegenden Falle, wie u. a. auch bei Erörterung der Madonna in der Felsengrotte, wo ver¬ 
gessen ist zu bemerken, daßM.-W. seine irrige Jugendansicht längst wiederrief, jegliche Ab¬ 
sicht einer geringschätzigen Behandlung ferngelegen hat. — Nach v. S. soll Leonardo 
nur als Ratgeber bei der Ausschmückung der Saletta negra tätig gewesen sein (I, 252). 
Aber warum? Wo er doch bei der Sala delle asse die ganze Dekoration entworfen hat! 
Von Not und Armut (siel) könne bei L. keine Rede gewesen sein (282). Obwohl diese 
Behauptung sofort erheblich eingeschränkt wird, ist dadurch doch dem Meister, der nichts 
so tief verabscheut hat als die Lüge, der indirekte Vorwurf der Unwahrhaftigkeit gemacht. 
(Allerdings hat Sal. Reinach neuestens dem Künstler sogar direkt betrügerische Geschäfts¬ 
praktiken zuzuschieben gewagt. Gaz. B.-A. August 1911.) Der Briefentwurf an die Dom¬ 
verwaltung zu Piacenza (284) gehört in eine frühere Zeit, nämlich als Leonardo noch 
eifrig am Reiterstandbild arbeitete. — OsvaldSir6n(L. d. V. 62) betont, daß der 
ungenannte Maler der Camerini sich mit Dekorationsarbeiten befaßt habe und deshalb 
mit Leonardo nicht identisch sein könne. Aber hat denn Leonardo nicht auch solche 
Aufgaben unternommen, ja direkt um die Erneuerung gerade dieses Auftrags gebeten? 
War Perugino, der zunächst an die Stelle des Ungenannten treten sollte, denn ein 
„Zimmermaler»? Die Behauptung, daß Leonardo vom Herzog immer mit der größten 
Rücksicht und Ehrfurcht behandelt sei, hätte Sir 4 n nicht aufstellen dürfen, weil die von 
Paul Müller veröffentlichten Dokumente ja den unwiderleglichen Gegenbeweis enthalten 

* * 

* 

Wir hatten oben erkannt, daß die Zusammenstellung der Franzis¬ 
kanerheiligen mit den Brescianer Märtyrern Faustinus und Jovita mit 
Sicherheit auf eine damalige Franziskanerkirche in Brescia 
hinweist. In S. Apollonio »extra civitatem« lag nun zwar ein 1422 gegrün¬ 
detes Kloster der Observanten, das 1519 unter dem Titel S. Giuseppe in 
die Stadt verlegt wurde 20 ). Aber als Besteller eines bedeutenden Werkes 
bei einem Leonardo kommt nur eine reiche Kirche in Betracht. Die damab 
einzige Niederlassung des Ordens innerhalb der Stadt war im Besitz der 
Konventualen: das reiche Kloster von S. Francesco d' Assisi. 

Treten wir in das Gotteshaus ein, dessen lombardische Gotik durch 
Renaissancearchitektur stark verändert ist, so wird unser Auge am meisten 
durch den prachtvollen Hochaltar angezogen. Ein überaus reich und höchst 
geschmackvoll geschnitztes, vergoldetes Rahmenwerk aus der Hand des 
Stefano Lamberti umschließt eine der glänzendsten Schöpfungen 
des Brescianers Girolamo Romanino. Der Rahmen trägt das 

*°) Paolo Sevesi, O. F. M., Saggio storico... dell’ alma Provincia Minoritica di 
Milano, Brescia 1906, 17. 


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Leonardo da Vincis Entwurf eines Madonnenbildes für S. Francesco usw. 255 

Datum 1502; das Gemälde wird gewöhnlich in das Jahr 1511 verlegt. Morelli 
(Galerie in Berlin, 115) setzte es auf 1514 an. 

Der Gegenstand des Bildes ist Leonardos Entwurf auffällig verwandt: 
die Madonna auf dem Throne, hinter dem 2 Engelchen eine grüne Draperie 
halten, dazu 2 stehende und 4 knieende Franziskaner. Man hat sie bisher 
alle als Heilige bezeichnet, doch kommt nur fünfen dieser Titel zu: Franziscus 
und Antonius, Bernardinus und im Vordergrund Bonaventura und Ludwig 
von Toulouse. Der links zu den Füßen des hl. Franz, etwas verdeckt von 
S. Bonaventura und gegenüber S. Bernardino knieende greise Mönch ohne 
Emblem ist der Donator des Altars: der aus Brescia stammende, be¬ 
rühmte General des Franziskanerordens Fr. Franciscus Nani gen. 
S a n s o n , dem Kirche und Konvent die Kostbarsten Stiftungen ver¬ 
danken 21 ). Auf der unteren Rahmenleiste lesen wir in einem runden Schild 
die Inschrift: 

F. FRANCISCU/ SANSON DE BRIX/ M M GENERALIS/ AERE SUO/ 

MDII. 

Francesco Nani 21 ) war als Sohn eines aus Siena eingewanderten 
wohlhabenden Kaufmann 1414 in Brescia geboren. Er trat 1458 in Siena 
in das Kloster der Konventualen ein, die eine mildere Regel als die Obser¬ 
vanten befolgten und den Brüdern auch Privateigentum gestatteten. Dort 
wurde er 1473 Lektor. Papst Sixtus IV. hatte ihm schon vorher wegen einer 
glänzenden Disputation über die immaculata conceptio B. M. V. den Namen 
»Samson« verliehen, den Nani in der Folge beständig führt. Kaiser Fried¬ 
rich III. ernannte ihn 1483 zum Kaiserlichen Rat. Von 1475—99, länger 
als irgendeiner seiner Vorgänger, war er Minister Generalis des gesamten 
Franziskanerordens. Er machte sich durch persönliche Tüchtigkeit, wie 
durch Klugheit und Milde überall beliebt und zeigte sich auch als eifriger 
Förderer der Wissenschaften und Künste. Was er für S. Francesco in Assisi 
getan, ist bei H. Thode zu lesen. Von seiner Fürsorge für S. Antonio in 

11) Don Angelo Nazzari, der kunstsinnige Pfarrer von S. Francesco, bestätigte 
meine Deutung. 

**) Weil über diese bedeutende Persönlichkeit, die uns im folgenden noch weiter 
beschäftigen wird, die historischen Nachrichten sehr spärlich und zerstreut sind, dürfte 
hier eine Sammlung des Hauptsächlichen mit Angaben der Quellen nicht zwecklos sein. 
Mir waren nur Zanellis verdienstvoller Aufsatz im Bullettino Senese di Storia Patria 1897 
Fase. I, Heribert Holzapfels 0 . F. M., Handbuch der Geschichte des Franziskanerordens 
und Henry Thodes, Franz v. Assisi und die Anfänge der Renaissance zur Hand. Alles 
übrige verdanke ich der unermüdlichen Hilfe unseres gelehrten deutschen Landsmannes 
P. M i c h a el B i h 1 0 F. M. im Collegio S. Bonaventura in Quaracchi. Es wäre außer¬ 
ordentlich wünschenswert, daß ein Historiker des Franziskanerordens das wohl noch 
sehr reichlich vorhandene archivalische Material über den in so vieler Beziehung her¬ 
vorragenden Fr. Sanson sammeln und in einer Monographie verarbeiten möchte. 


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256 


Emil Möller, 


Padua schrieb Bern. Gonzati, La Basilica di S. Antonio di Padova, 2 voL 
Pad. 1852—53. Bei weitem der meisten und kostbarsten Zuwendungen 
aber hatte sich das Kloster S. Francesco in Brescia zu erfreuen. Schon 
1463 stiftete er die mit Intarsien geschmückten Chorstühle und die Schränke 
der Sakristei. Dann folgen kostbare Paramente, Silbergeräte, Bücher, Neu¬ 
bau des Refektoriums (1496), Stiftungen für die infirmaria der Brüder u. a. m. 
Nach Zanellis Angabe ( 1 . c. p. 86) hat Sanson als General des Ordens sogar 
mehrere Jahre in Brescia residiert. Für letzteres und für häufige Besuche 
in seiner Vaterstadt spricht m. E. auch die Aufbewahrung seines außer¬ 
gewöhnlich reichen, wohl aus dem elterlichen Hause stammenden Tafel¬ 
schatzes im Kloster von S. Francesco. Am 21. Oktober 1499 machte Sanson 
in S. Croce in Florenz sein Testament. Er starb am 27. Oktober. Sein 
Epitaph in S. Croce lautet nach Sbaralea, Supplementum ad scriptores 
Ord. Fr. Min. Roma 1809, 3. Aufl. 1908, I, 300: Francis(ci) Sanson(is) 
Briscian(i)/ probitate vitae et Religion(is) Christia(nae) doctrina/ meruit in 
Ordine Mino(rum) Generala(tus) honorem./ Florentiae Vita functus est/ 
transac(tis) in eo honore vigintiquinque annis./ Sepul(tus) est suor(um) 
Frat(rum) desiderio et luctu ingenti/ qui vitae morumque eius memores 
pos(uerunt). / Vix(it) an(nos) LXXXV, Obiit die XXVII octobris A(nno) 
S(alutis) MCCCCIC/ Clarissima Albertorum familia/ Monumentum hoc 
dicavit. 

Montag, den 4. November 1499 wurde im Kloster zu Brescia ein 
Inventar der dortigen Hinterlassenschaft Sansons aufgenommen, die außer 
annähernd 6000 Dukaten eine Menge Kleinodien, und kostbaren Tafelzeuges 
aller Art enthielt, darunter bemerkenswert 78 silberne Gabeln * 3 ). 

Bildnisse des Sanson sind in Padua, Capella del Santo, ein 
Flachrelief, ohne Namen, aber am Wappenschild mit dem aufrechten, 
gekrönten Löwen erkennbar. (Gonzati II, 152.) Petrus Rodulphius Rossi- 
nianensis, Historiarum seraphicae ordinis libri III, Venetiis 1586 gibt fol. I94 r 
einen Holzschnitt als vera effigies, der mir vorliegt und den Eindruck 
eines vornehmen Prälaten in mittleren Jahren macht. Ich halte die Zeichnung 
für im Zeitgeschmack stilisiert. Kostbar aber und von einem eklatanten Streben 
nach größter Naturtreue ist ein I n t a r s i o von den Chorstühlen in der 
Oberkirche von S. Francesco zu Assisi, das ich hier nach Ad. Venturi, La 
Basilica di Assisi, Roma 1908, p. 145 durch gütige Vermittlung von P. Bihl 
geben kann (Abb. 4). Am 5. August 1491 schloß Sanson den Kontrakt 
über die Chorstühle mit Maestro Domenico da San Severino (in den Marken). 

2 3 ) Das kulturgeschichtlich hochinteressante Verzeichnis ist bei Zanelli, 1 . c. 94 ff. 
abgedruckt, aber vom Autor irrig als Teil des Testamentes aufgefaßt. Sanson heißt ja 
auch schon Rmus q.(ondam) d.(ominus) frater Franciscus, und das Jahr steht durch 
Angabe des Wochentages fest. 


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Leonardo da Vincis Entwurf eines Madonnenbildes fUr S. Francesco usw. 


2 57 


Die Inschrift »M. F. Samson Generalis fieri curavit«. Dominicus de Sancto 

Severino me fecit MCCCCCI bezeugt die Vollendung erst nach dem Tode 

des Generals (vgl. Thode, 1 . c. 302). Unter dem Bilde des Generals steht 

M. R. (Magister) FRANC . SÄSON . 

GENEALIS. Das Porträt stammt 
also jedenfalls aus den letzten Lebens¬ 
jahren Sansons. Ein kluger Kopf, mit 
vorgewölbter Stirn und Adlernase, 
klarem Auge und feingeschnittenem 
Mund. Der Haarkranz ist grau, aber 
noch von kräftigem Wuchs. Man emp¬ 
fängt den Eindruck eines bis ins höchste 
Alter ruhig und sicher schaffenden,geistig 
bedeutenden Mannes. 

Eine Vergleichung mit dem 
Porträt bei G. Romanino ergibt zwar 
sichere Ähnlichkeiten, aber keine zur 
Identifizierung direkt zwingenden Mo¬ 
mente. Sicherlich hat der Maler auch 
nach einem anderen Vorbild gearbeitet, 
das in S. Francesco in Brescia gewesen 
sein muß * 4 ). 

Es muß sehr auffallcn, daß der 
am 27. Oktober 1499 verstorbene Sanson als Stifter auf einem Bilde 
dargestellt ist, das nicht vor 1511 gemalt sein kann. Desgleichen ist sehr 
merkwürdig, daß der Rahmen des Gemäldes bereits 1502 vollendet war. 
Meines Wissens hat bisher niemand diese chronologische Differenz zwischen 
Rahmen und Bild zu lösen gesucht. Das Porträt auf dem Altarbild ist 
aber in der Literatur überhaupt unbemerkt geblieben. Don Angelo Nazzari 
glaubt, daß der Konvent von S. Francesco seinem größten Wohltäter eine 
posthume Ehrung habe zuteil werden lassen wollen. Aber in dem Ausdruck 
Franciscus Sanson . . a e r e s u o scheint doch zu deutlich ein Leben¬ 
der als Auftraggeber zu uns zu sprechen * 5 ). 

* 4 ) Zur Literatur wären noch nachzutragen: Wadding, Annales Minorum ed. II 
Romae 1736; von demselben: Scriptores Ordinis Minorum, Romae 1650; 3. Aufl. 1906. 
Marianus Florentinus (f 1523) Compendium Chronicarum Fratrum Minorum, erstmalig 
ediert im Archiv. Francisc. Histor. vol. I—IV. Papini, Etruria Francescana, vol. I. Siena 
1797. Luigi Fe, II padre Francesco Sanson e la chiesa di S. Francesco in Brescia, Brescia 
1867. Das sehr reiche Archiv von S. Francesco hat nach Aussage von Don P. Guerrin) 
arch. vesc. in Brescia eine unglaubliche Zerstreuung erfahren. Im Staatsarchiv zu B. 
seien nur wenige Stücke über Sanson, die Zanelli vielleicht schon sämtlich ediert hat. 

2 5 ) Diese Inschrift ist zweifellos alt und ursprünglich, wie Don Nazzari versichert. 

Repertorium für Kunstwissenschaft, XXXV. *7 



Abb. 4. F. Franciscus Nani gen. Sanson. 


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258 


Emil Möller, 


Natürlich konnte Sanson dem nach Don Carlo Finarolis Feststellung 
erst 1485 geborenen Gir. Romanino keinen Auftrag erteilen. Er hat seine 
Abmachungen vielmehr mit einem älteren, angesehenen Meister getroffen, 
der aber trotz jahrelanger Frist den Auftrag nicht ausgeführt hat. 

Ich stelle die Behauptung auf, daß die Bestel¬ 
lung im Jahre 1497 bei Leonardo erfolgte und mit 
dem oben besprochenen handschriftlichen Entwurf 
der »Franziskanermadonna« des Ms. J * zusammen¬ 
fällt. 

Einen annähernden Termin für den Auftrag des Sanson können wir 
aus der Datierung des Rahmens erschließen. Weil dieser 1502 fertig war, 
kann er bei dem Reichtum der Arbeit schwerlich später als 1500 in Auftrag 
gegeben sein. Ein Rahmen kann aber erst begonnen werden, wenn der 
Maler die Abmessungen des Bildes angegeben hat. 

Aber hat Sanson nicht etwa in seinem Testament die Anfertigung 
des neuen Hochaltars angeordnet? Wo sich das Original des Testamentes 
befindet, ist weder Zanelli noch P. Bihl bekannt. Jedoch liegt ein Auszug 
aus demselben bei Gonzati, 1. c. I. app. LVIII—LIX vor, nämlich ein Ver : 
zeichnis der Stiftungen und Vermächtnisse des Sanson, entnommen aus 
Liber omnium introituum et expensarum gloriosi S. Antonii, geschrieben 
1499—1500. Hier werden der Sakristei von S. Francesco in Brescia gegen 
6000 Dukaten vermacht und zwar zur Anfertigung eines großen, genau be¬ 
schriebenen Prozessionskreuzes! Von einem Altar oder einem Bilde ist in 
dem ganzen Verzeichnis keine Rede, wie P. Bihl gütigst feststellte. 

Daher muß der Auftrag zur Herstellung eines neuen Hochaltars in die 
letzten Lebensjahre des Sanson fallen! 

Unter den wenigen Urkunden, die bislang über diesen bedeutenden 
Mann veröffentlicht sind, befindet sich eine über die Verschönerung von 
S. Antonio, die in Padua 1497 »die Jovis secunda Martii« in der Ratskammer 
des Podest^ in Gegenwart des Generalministers ausgefertigt wurde (Gonzati, 
1. c. I, 76 u. app. doc. LII). Dort heißt es, daß der General »die crastino est 
recessurus.« Wohin die Reise ging, wird allerdings nicht gesagt, doch glaube 
ich mit Bezug auf eine andere Urkunde annehmen zu dürfen, daß Sanson 
sich noch längere Zeit in Oberitalien und zwar hauptsächlich in seiner Vater¬ 
stadt und in seinem Lieblingskloster S. Francesco aufgehalten hat. Am 
12. September beantragte nämlich die Stadtverwaltung von Brescia bei 
der Signoria in Venedig Steuerfreiheit für ein Haus mit Grundbesitz, das 
Sanson aus seinem Familienerbe dem Konvent von S. Francesco geschenkt 

Diejenige auf dem oberen Rahmen: A./MDCCCL/ TEMPLI/CURATORES/IN MELIUS 
RESTITU(ERUNT) ist in denselben Formen nachgebildet, und ich glaube, daß durch 
sie eine andere Inschrift verdrängt wurde. 


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Leonardo da Vincis Entwurf eines Madonnenbildes fllr S. Francesko usw. 


2 59 


hatte und am 26. September gewährte der Doge Augustinus Barbadico das 
erbetene Privileg 26 ). Diese Stiftung setzt die Anwesenheit des Sanson in 
Brescia für den Monat September voraus. 

In dieser Zeit, etwa im September oder Oktober, wird der General - 
minister sicher auch das Kloster im nahegelegenen Mailand (Brescia gehörte 
zur Ordensprovinz Mailand) visitiert haben. Hier traf er den seit 1496 in 
den Diensten des Herzogs stehenden Mathematiker Fra Luca Pacioli, der 
an einer Stelle seiner Summa (von 1494) auf ein besonderes Vertrauens¬ 
verhältnis zu den Wissenschaften und Künste liebenden Ordensgeneral hin¬ 
zuweisen scheint 27 ). Wir wissen andererseits aus Paciolis Divina Propor- 
tione, mit welcher Bewunderung der Franziskaner zu seinem genialen Freunde 
Leonardo emporschaute, der gerade in jenem Jahre 1497 ihn mit Zeichnungen 
für sein Werk unterstützte 28 ). So war dem Frate auch die damalige be¬ 
drängte Lage des Künstlers wohl genauer bekannt als irgendeinem anderen. 
Was liegt nun näher als der Gedanke, Pacioli habe den kunstliebenden 
Generalminister auf den großen Leonardo aufmerksam gemacht, ihn nament¬ 
lich vor das Abendmahlsbild geführt, das damals mit seinem Ruhme schon 
ganz Italien erfüllte und ihn angeregt, dem Maler, der damals in Geld¬ 
nöten war, einen Auftrag zu einem Gemälde zuteil werden zu lassen! 
Gegner wird ja der Künstler im Kloster der Franziskaner noch besessen 
haben, weil bei Ablieferung des Madonnenbildes für die Capelia della Con- 
cezione ein peinlicher Streit entstanden war: Leonardo und A. Preda hatten 
eine sachlich gerechtfertigte, aber vertragswidrige, bedeutende Erhöhung des 
Preises verlangt. Doch darf man annehmen, daß die Aussicht, durch 
ein hochbedeutendes Kunstwerk der Kirche in Brescia einen, ähnlichen 
Ruhmestitel zu verleihen, wie ihn das Kloster der Dominikaner in Mailand 
durch das einzige Abendmahl gewonnen hatte, den hohen Kunstsinn des 
Sanson, der testamentarisch 6000 Dukaten für ein Vortragekreuz seinem 
Lieblingskloster bestimmte, unschwer zu einem Auftrag bewogen haben. 

So spräche denn alle Wahrscheinlichkeit dafür, daß der Franziskaner¬ 
general persönlich unter Vermittlung des Pacioli die Bestellung gegeben 
hat. Leonardo trug den Gegenstand des Gemäldes im Beisein des Bestellers 
mit Feder und Tinte säuberlich in sein Notizbüchlein ein, indem er die 
Namen der gewünschten Heiligen in der ihm wohl schriftlich überreichten 
Gruppierung neben dem Thron der Madonna anordnete. Darauf führte er 
die 7 Ordensheiligen, auf welche die Besteller das meiste Gewicht legten, 


*6) Die Urkunde bei Zanelli, 1 . c. 93. 

2 7 ) Pars I f. 67*; s. Uzielli, Ricerche intorno a L. d. V. I 2 386. 

**) Der erste Teil der Div. Prop. schließt: Finis adi 14 dccebre in Milano nel 
nostro almo conveto MCCCXCVII. 

• 7 * 


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Emil M öller, 


260 

noch einmal auf, mit Angabe ihrer Attribute, für die auf dem oberen Entwurf 
kein Raum war. 

Der Besteller hatte so ziemlich alle Heiligen zusammengetragen, die 
ihm die Pietät gegen seinen Orden und seine Vaterstadt, sowie das Verlangen 
nach einem recht stattlichen Bilde eingeben konnte. Dadurch aber erwuchs 
dem Maler bei dem Mangel eines wirksam variierenden Motivs eine wenig 
interessante Aufgabe. Die Anbringung von II Assistenten des Thrones 
legte naturgemäß ein Breitformat der Komposition nahe, wie es Leonardo 
auch skizziert hat. Weil aber der 1502 vollendete Rahmen ein Hochformat 
aufweist, scheint Leonardo später eine Beschränkung der Zahl der Figu¬ 
ren 19 ) anheimgegeben zu sein, die ihm gestattete, eine wirkungsvollere 
Hochkomposition zu schaffen. 

Der Auftrag ist ebensowenig wie manche andere, die Leonardo über¬ 
nahm, zur Ausführung gelangt. Wahrscheinlich blieb er schon in der Bild¬ 
skizze stecken. Aber nicht einmal von einer solchen ist etwas auf uns ge¬ 
kommen. Die anstoßende Seite des Notizbüchleins ist leer geblieben. Zu 
Anfang des Jahres 1498 war der Künstler wieder in Gnaden beim Herzog 
aufgenommen, denn auf der erlauchten Versammlung der Gelehrten, Künst¬ 
ler und Ingenieure, die Moro am 9. Februar um sich sah, war Leonardo 
zugegen als würdigster Vertreter einer jeden Gruppe dieser Geisteshelden. 
Da gab es auch sofort wieder Aufgaben die Fülle, auf deren Erledigung 
fürstliche Ungeduld wartete, und der Künstler zeigte allen Eifer, um die 
Vergangenheit vergessen zu machen. 

Am 10. August 1499 fallen die Franzosen ins Land, und wahrschein¬ 
lich am 15. Dezember verläßt Leonardo seine zweite Heimat. Wir begegnen 
seinen Spuren in Mantua und Venedig. Am 24. April 1500 weilt er wieder 
in seiner Vaterstadt, bald mit wenigen künstlerischen Arbeiten, intensiver 
aber jedenfalls mit seinen Studien beschäftigt. Als Kriegsingenieur des 
dämonischen Cesare Borgia durchzieht er Italien, nun wieder steht er in 
den Diensten der Signoria von Florenz. 

Die Väter des Konvents zu Brescia müssen noch manche Jahre auf 
eine Ausführung ihres Altarbildes durch den berühmten Meister gehofft 
haben, zumal wahrscheinlich ist, daß der 1497 in Not befindliche Künstler 
einen, wenn auch geringen Vorschuß empfangen hatte. Vielleicht war es 
auf der Reise nach Venedig — also im Dezember 1499 — oder auf der Rück¬ 
kehr von dort, als Leonardo die Abmessungen des Rahmens dem Bild¬ 
schnitzer Lamberti angab. Seit 1502 harrt das kostbare vergoldete Schnitz- 
werk seines Inhaltes. Eitle Hoffnungen! Im Jahre 1506 gelingt es dem 

* 9 ) Auch das Altarbild für die Capella della Concezione mußte sich bei der Aus¬ 
führung eine Reduktion der Figurenzahl gefallen lassen. Vgl. G. Biscaro, Arch. stör, 
lomb. 1910, fase. XXV. 


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Leonardo da Vincis Entwurf eines Madonnenbildes für S. Francesco usw. 261 

Statthalter von Mailand, Charles d’Amboise, dem glühendsten Bewunderer 
von Leonardos Genius, ihn an den Dienst des französischen Hofes zu fesseln. 

Schließlich haben sich die Mönche — keinesfalls vor 1510 — an einen 
brescianer Künstler, den jungen, glänzenden Girolamo Romanino gewandt, 
der als flotter Arbeiter ihnen auch bald das Prachtstück geliefert hat, das 
wir in S. Francesco bewundern 3 °). 

Der Wert des Notizblattes mit dem Entwurf der Franziskanermadonna 
besteht — abgesehen von den m. E. zweifellosen Beziehungen zu S. Fran¬ 
cesco in Brescia und Francesco Nani — hauptsächlich in dem Licht, 
das dadurch auf eine düstere Lebensperiode Leonardos fällt. Wir erhielten 
ein neues Beispiel dafür, daß seine künstlerischen Unternehmungen durch 
die Kompliziertheit seines hochstrebenden und so vielseitigen Genius ge¬ 
wöhnlich nicht zum Abschluß gelangten. 

3 °) Die Datierung auf 1511 gebt möglicherweise auf eine natürlich ganz unbe¬ 
rechtigte Lesung von MDII zurück I Früher setzte man auch das Gemälde in das Jahr 1502. 


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Noch] 



als die Perspektive bei den Brüdern van Eyck. 


Eine Entgegnung von Professor Dr. Doehlemann (München). 


• • t _ 

In mehreren kleinen Arbeiten habe ich mich mit der Perspektive der 

• • * 

Brüder van Eyck beschäftigt und weiter im 34. Band dieses Repertoriums 

• • a 

auf Seite 392—422 und 500—535 eine Gesamtdarstellung der Entwicklung 
der Perspektive bei den Niederländern gegeben. Diesen meinen Entwick¬ 
lungen ist Herr Dr. Joseph Kern in einer Arbeit entgegengetreten: Per¬ 
spektive und Bildarchitekturbei Jan van Eyck, dieses Repertorium, Band 35, 
Seite 27—64. Er zeigt aber so wenig Verständnis für die meinen Schlüssen 
zugrunde gelegten Gedankenreihen und läßt meine Folgerungen so konfus 
erscheinen, daß ich mit einigen Worten darauf zurückkommen muß, wobei 
ich mich jedoch darauf beschränke, die von Kern beanstandeten Punkte zu 
erläutern. 

I. 

In einer Hinsicht ist die Untersuchung bereits so weit geführt, daß die 
prinzipielle Auffassung von uns beiden, die durch Gründe wohl nicht mehr 
verändert werden kann, feststeht. Dies bezieht sich auf die Genauigkeit 
einer perspektivischen Konstruktion. Jede perspektivische Darstellung, ja 
auch jede mathematische Zeichnung, mag sie auch mit den exaktesten 
Hilfsmitteln durchgeführt sein, ist ungenau. Es fragt sich nun, wie groß 
der Grad dieser Ungenauigkeit sein darf, wenn man immer noch voraus¬ 
setzt, daß der Konstrukteur das ideale Gesetz gekannt hat. Ich kann das 
an zwei Bildern jedem sofort zur Anschauung bringen. Es handelt sich 
bei den in Frage stehenden Betrachtungen naturgemäß um die einfachsten 
Probleme der Perspektive, um Systeme von Linien, die auf der Bildebene 
senkrecht stehen und die ich Tiefenlinien nenne. Die Bilder dieser Tiefen- 
linien müssen dann durch einen Punkt gehen. Nun bitte ich Abbildung I 
(Abbildung 7 auf Seite 504 meiner früheren Arbeit) und Abbildung 2 (Ab¬ 
bildung 5 auf Seite 414 meiner früheren Arbeit) zu vergleichen. Die erste 
Figur zeigt einen Verlauf der Tiefenlinien, bei dem ich noch nicht von der 
Kenntnis eines Gesetzes spreche. Gerade aber in diesem Bild sieht Kern 
bereits das typische Beispiel eines Fluchtpunktes: »Die Zeichnung liefert 
das typische Schema eines nach einem Fluchtpunkt konstruierten alten 
Bildes, das durch kleine Beschädigungen und Übermalungen geringe Ver- 


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Nochmals die Perspektive bei den Brüdern van Eyck. 


263 


Schiebungen im Liniensystem der Vorzeichnung erlitten hat« (Kern, a. a. O. 
Seite 56}. Dagegen sieht meiner Anschauung nach ein nach einem Fluchtpunkt 
konstruiertes Bild etwa aus wie die Abbildung 2. Die Kontrolle an Bil¬ 
dern, von denen man von vornherein weiß, daß sie streng konstruiert sind, 
muß hier das richtige Beurteilungsvermögen liefern. Weiter bemerke ich 
noch, daß natürlich bei der Untersuchung der perspektivischen Konstruk¬ 
tion mit der größten Unvoreingenommenheit vorgegangen werden muß, 
d. h. die zu kontrollierenden Geraden sind erst sämtlich so genau als mög¬ 
lich und ohne jede weitere Rücksicht einzutragen, und dann ist das so ent¬ 
stehende »Diagramm« zu charakterisieren. Daraus wird mit hinreichender 
Deutlichkeit hervorgehen, was ich unter den höheren Ansprüchen an 
perspektivische Genauigkeit verstehe. 

II. 

» 

Ein weiterer Grundsatz, den ich bei meinen sämtlichen Überlegungen 
zur Anwendung brachte, war die Rücksicht auf die Gesamtleistung eines 
Künstlers. Eis kann sein, daß ein Künstler im Lauf seines Lebens eine Ent¬ 
wicklung in seiner perspektivischen Darstellung zeigt; dann sind die letzten 
Werke maßgebend für das Urteil, das man sich über ihn bilden wird. Ist 
aber eine solche aufsteigende Linie in der perspektivischen Kenntnis nicht 
zu verfolgen, so muß das Urteil über den Künstler mit dem Gesamtwerk in 
Übereinstimmung gebracht werden. Bei den Brüdern van Eyck liegt nun 
die Sache so: der Fußboden auf der linken Hälfte des Genter Altars ist, 
wie ich selbst erwähnt habe, a. a. O. Seite 399, richtig gezeichnet. Der Fu߬ 
boden im Arnolfini Bildnis ist ebenfalls richtig. Wären von Eyck keine 
andern Bilder als diese beiden vorhanden, so müßte man zu der Ansicht 
kommen, daß er das Gesetz von der Flucht der Tiefenlinien einer Boden- 
fläche gekannt habe. Nun stehen aber diesen zwei richtig gezeichneten 
Bodenflächen eine ganze Reihe anderer gegenüber, für welche ein Gesetz 
sicher nicht zu konstatieren ist; so der Fußboden der »Rolin-Madonna«, 
der der »Pala-Madonna« und des »Dresdener Reisealtärchens«. Da es aber 
unmöglich ist, die beiden gut gezeichneten Böden an das Ende von Eycks 
Tätigkeit zu setzen — das Arnolfini-Bildnis stammt vom Jahre 1434 — 
so ist man hier in einer äußerst schwierigen Lage. Ein Künstler vom Range 
eines Eyck wendet aber nicht ein Gesetz einmal an, um es ein zweites Mal 
zu ignorieren; auch die ganze zunftmäßige Behandlung der Kunst spricht 
gegen ein solches Hin- und Herschwanken. Demgegenüber habe ich folgen¬ 
den Ausweg vorgeschlagen. Die Brüder Eyck haben aus der Beobachtung 
das Fluchtpunktgesetz für Tiefenlinien zum Teil abstrahiert; sie lassen 
die Tiefenlinien im ganzen und großen leidlich richtig von außen nach innen 
verlaufen. Statt eines Fluchtpunktes tritt unter Umständen bei ihnen 


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264 


Doehlemann, 

9 Ä • 

ein Fluchtgebiet auf, d. h. man kann auf der Bildfläche ein Gebiet fixieren, 
in das alle Tiefenlinien eindringen. Mit dieser Voraussetzung kann man 
nun auch die beiden gut gezeichneten Böden in Übereinstimmung bringen, 
denn wenn Jan van Eyck die Tiefenlinien nach einem Fluchtgebiet orien¬ 
tierte, so konnte dies Gebiet auch zufällig einmal ein Punkt werden. 



Abb. 1. Petrus Cristus: Maria mit dem h. Hieronymus und dem h. Franciscus. 

Frankfurt, Städclsches Institut. 


III. 

# 

In der Zeitschrift »Die graphische Kunst« 1906 habe ich die Rolin- 
Madonna und die Pala Madonna auf ihre Perspektive untersucht. Ich habe 
dabei folgenden anderen Weg eingeschlagen: ich konstruierte die Schnitt- 


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Nochmals die Perspektive bei den Brüdern van Eyck. 


265 


punkte aufeinander folgender Tiefenlinien und zeigte, wie zerstreut dieselben 
im Bilde liegen. Natürlich ist das nur ein Mittel der Veranschaulichung 
und keine exakte Methode. Auch auf diese beiden Bilder muß selbstverständ- 



Abb. 2. Dirk Bouts: Das Abendmahl. Löwen, Peterskirche. 


lieh das eben geschilderte Verfahren angewendet werden. Man wird finden, 
daß man nie zu einem Fluchtpunkt gelangt, wohl aber laßt sich bei der 
Rolin-Madonna ein Fluchtgebiet für den Fußboden angeben (a. a. 0 . Seite 401). 
Ebenso bildet sich bei der Pala-Madonna zur Not ein Fluchtgebiet für die 
Tiefenlinien des * Bodens aus. Die oben erwähnte Art der Konstruktion 
der Schnittpunkte aufeinander folgender Tiefenlinien habe ich auch nie als 


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266 


Doehlemann, 


eine Methode bezeichnet. Sie wird indes, vernünftig verwendet, keinen 
Schaden anrichten können. Denn man sieht folgendes ein: Ist ein System 
von Linien genau oder auch nur annähernd genau nach einem Fluchtpunkt 
konstruiert, so liegen jedenfalls auch die Schnittpunkte aufeinander folgen¬ 
der Tiefenlinien nicht weitauseinander. Liegt freilich nur ein Fluchtgebiet vor, 
so brauchen die Schnittpunkte aufeinander folgender Tiefenlinien nicht in 
dieses Gebiet zu fallen. Bei Berücksichtigung dieser beiden Grundsätze 
wird man auch die letzte Methode zur Veranschaulichung verwenden können. 
Eine gewisse Kritik setze ich dabei allerdings immer voraus, so z. B. daß 
man nicht ganz ungenügend kurze Stücke zur Bestimmung einer geraden 
Linie verwendet oder ganz ungenaue Schnittpunkte benützt. Nur nebenher 
sei bemerkt, daß das Durchlaufen der Tiefenlinien in einem gewissen Sinne 
immerhin eine Bedeutung haben kann. Denn abgesehen davon, daß man 
praktisch die Linien in einer gewissen Reihenfolge zeichnet, könnten gewisse 
Eigenschaften derselben dadurch erschlossen werden, so etwa die Konver¬ 
genz nach einzelnen Gruppen. 


IV. 

Den gleichen Grundsatz, den Künstler nach seinem ganzen Werke zu 
beurteilen, habe ich auch bei Bouts durchaus logisch und konsequent fest¬ 
gehalten. Das »Abendmahl in Löwen« ist sicher als Ganzes einheitlich nach 
einem Fluchtpunkt konstruiert. Da er aber im »Passahmahl« wieder Fu߬ 
boden und Decke getrennt behandelt und ebenso im »Gottesurteil«, so habe 
ich ihm in meinem Resum6 (a. a. O. Seite 421), ganz aus dem gleichen Grunde 
wie bei Eyck, nur die Kenntnis des Satzes vom Fluchtpunkt der Tiefenlinien 
einer Bodenfläche oder einer Decke zugeschrieben aber nicht die Kenntnis 
des Satzes der Flucht der sämtlichen Tiefenlinien des Raumes. 

Herr Kern bekrittelt nun weiter die Folgerungen, die ich an das 
»Gottesurteil« geknüpft habe. Es sieht in diesem Bilde in der Tat so aus, 
als gingen die Diagonalen durch einen Fluchtpunkt. Eine sichere Folgerung 
habe ich selbst nicht zu ziehen gewagt. Ich schreibe a. a. O. Seite 419: 
»Dieser neue Fluchtpunkt wäre der Distanzpunkt, wenn er als in dem Hori¬ 
zont der Bodenfläche gelegen angesehen werden dürfte. Allem Anschein 
nach liegen hier die Spuren weiterer theoretischer Kenntnisse vor.« Die 
deutsche Sprache bietet mir kein Mittel, um eine Vermutung vorsichtiger 
auszusprechen. Aus dieser Bemerkung zieht nun Kern die merkwürdige 
Folgerung, daß ich überhaupt im Gegensatz zu ihm an die perspek¬ 
tivische Konstruktion geringere Anforderungen stelle. Ich kann es ruhig 
dem Leser meiner Arbeit überlassen, sich darüber selbst ein Urteil zu bilden. 
Was endlich den im Hintergrund der »Pala-Madonna« dargestellten 
Kirchenraum betrifft, so muß ich gestehen, daß ich der Frage keine so weit- 


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Nochmals die Perspektive bei den Brüdern van Eyck. 


26 7 


gehende Bedeutung beimesse, wie Kern. Namentlich aber scheint es mir 
doch nicht ausgeschlossen, daß Eyck einfach eine Kirche malte, wie sie in 
seiner Phantasie existierte, ohne dafür ein Vorbild zu haben. Denn wenn 
man auch bei vielen Bildern für die architektonischen Hintergründe die 
Motive, d. h. die wirklichen Architekturen angeben kann, so folgt daraus 
doch noch nicht, daß es für jedes Bild ein solches architektonisches Vorbild 
geben muß. 

Nach alle dem veranlassen die Ausführungen des Herrn Kern mich 
nicht, die von mir aufgestellten Folgerungen irgendwie zu ändern. 


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Antwort auf die Entgegnung des Herrn 

Professor Doehlemann. 


Von G. Joseph Kern. 

Auf die vorstehenden Ausführungen habe ich folgendes zu erwidern *): 

Ad I. 

In der Zeichnung auf Seite 504 (hier Seite 264) sind unnötigerweise 
die Tiefenlinien über deren Schnittpunkte hinaus verlängert, wodurch für 
ein perspektivisch ungeübtes Auge leicht ein irreführendes Bild der 
Anlage entsteht. Mit dem Doehlemannschen Diagramm bitte ich neben* 
stehendes Diagramm (Fig. 1) sowie die Ausführungen auf S. 54, 55 und 
56 des betreffenden Heftes dieser Zeitschrift zu vergleichen. Es wird 
sich bei dem Vergleich zeigen, daß ein prinzipieller Unterschied zwischen 
den beiden Figuren gar nicht vorhanden ist. Andererseits fehlt der Beweis 
gegen die Richtigkeit des Schlusses, der aus dem gemeinsamen Schnitt von 
mindestens sechs Orthogonalen des Innenraumes im perspektivischen 
Horizont der Landschaft für das Frankfurter Bild abgeleitet wurde. 
Schließlich hat Doehlemann früher selbst geäußert, Petrus Cristus scheine 
das Gesetz von der Flucht der Orthogonalen im Raum zu kennen 
(Zeitschrift für Mathematik und Physik, Bd. 52, Heft 4, Seite 423); er 
konnte zu diesem Ergebnis nur gelangen, wenn er annahm, daß der 
Raum in dem Frankfurter Bilde nach einem Fluchtpunkt ange* 


‘) Es seien einige kleine Druckfehler und Ungenauigkeiten, die bei der Korrektur 
des Aufsatzes über die * Perspektive und Bildarchitektur bei Jan van Eyck« stehen 
geblieben sind, bei dieser Gelegenheit berichtigt. Man lese: 

Seite 36, Zeile 8: „lasse 1 « statt: »lasse*«, 

«. 36. 37 : »Bourges*« „ »Bourges 1 «, 

„ 42, „ 6: »(Fig. 9)« „ »(Fig. 8)«, 

„ 48, „ 26: »(Fig. 19)« „ »(Fig. 17)«, 

„ 5°i .. 7: »haben« „ »hat«, 

in der Unterschrift zur Abbildung auf Seite 40: » J ’ _« statt: *32,7°. 


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Antwort auf die Entgegnung des Herrn Professor Doehlemann. 


269 


legt sei. — Bei der Abbildung auf Seite 414 (hier Seite 265) besteht gar kein 
einheitlicher Fluchtpunkt in dem von Doehlemann sonst geforderten Sinne. 
Er ersetzt kurzerhand den Punkt durch eine kleine kreisförmige Scheibe. Es 
liegen aber bei weitem nicht alle Schnittpunkte der Orthogonalen inner* 



Abb. 1. Petrus Cristus: Maria mit dem h. Hieronymus und dem h. Franciscus. 

Frankfurt, Städelsches Institut. 

halb der Scheibe ! Eine Scheibe, die a 1 1 e Schnittpunkte umfassen würde, 
würde sofort erkennen lassen, daß die Perspektive der beiden von Doehle¬ 
mann als verschieden gegenüber gestellten Werke im Prinzip völlig gleich ist. 

Ad II. 

Wie Doehlemann zugibt, ist der Fußboden in der linken Mitteltafel 
des Genter Altars und im Amolfini-Bild »richtig«. Für die Erklärung greift 
Doehlemann wieder auf einen Zufall zurück, nachdem er in der Zeitschrift 


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G. Joseph Kern, 


27O 

für Mathematik und Physik (Bd. 52, Heft 4, Seite 422) ausdrücklich fest¬ 
gestellt hat, daß der Fußboden im Genter Altar mit dem Ausblick auf die 
Straße omathematisch richtig konstruiert« ist. Wenn dieser 
Fußboden »konstruiert« ist, muß logischerweise auch der Fußboden des Arnol- 
fini-Bildes »konstruiert« sein; »konstruiert« ist dann ebenfalls die Decke des 
Raumes, die Doehlemann in seiner Replik nicht mehr erwähnt. Nach dem 
gleichen Prinzip wie die Architektur dieses Werkes ist ferner der Raum in 
der Petersburger »Verkündigung« angelegt. Hier sind drei Ebenen nach 
drei Konvergenz-Zentren gezeichnet. In nichtweniger als sechs 
Fällen also läßt sich innerhalb des Kreises un¬ 
zweifelhaft »echter« Eyckscher Bilder das gleiche 
System mit Sicherheit nachweisen. Da es bereits bei 
Broederlam, einem niederländischen Maler aus der Zeit vor Jan van Eyck, 
auftritt, dürfte Jan das System übernommen haben. Auf diesem Wege 
weiter zurückgehend, kamen wir bis zu Ambrogio Lorenzetti, den wir als 
den Erfinder der Fluchtpunktkonstruktion für die Einzelebene ansprechen 
möchten. — Den Eyckschen Bildern, die die erwähnte Konstruktion zeigen, 
treten nun innerhalb der Kunst des Jan und seiner Werkstatt zwei Gruppen 
von Bildern gegenüber. Die erste Gruppe umschließt die Bilder, aus deren 
Zeichnung sich eine Konstruktion nicht mit Sicherheit nachweisen läßt: 
das Pala-Bild, das Dresdener Reisealtärchen, die Madonna bei Baron Roth¬ 
schild in Paris und die Rolin-Madonna. Die zweite Gruppe umfaßt die 
Werke, aus deren Zeichnung eine Verwendung des Flucht¬ 
punktes für die Darstellung des Raumes hervorgeht: die 
Madonna mit dem Kartäuser in Berlin, die Berliner Verkündigung des 
Petrus Cristus und seine Madonna mit den beiden Heiligen in Frankfurt. 
Es findet also in den Werken des Jan von Eyck und 
seiner Schule eine »Entwicklung« der Perspektive 
statt, nur läßt sie sich nicht an allen Bildern mit 
gleicher Deutlichkeit verfolgen. Die Entwicklung 
erreicht indes, soweit erhaltene und bekannt ge¬ 
wordene Werke des Eyckschen Kreises ein Urteil 
gestatten,im Frankfurter Bilde des Petrus Cristus 
von 1457 ihren Höhepunkt. So bleibt nur übrig, anzunehmen, 
daß die Ungenauigkeiten in der perspektivischen Zeichnung der Werke, 
die bei einer mathematischen Untersuchung kein sicheres Resultat ergeben, 
auf einer verhältnismäßig wenig sorgfältigen Ausführung der betreffenden 
Bilder beruhen. Dies fordert die Rücksicht auf die Ge¬ 
samtleistung des Jan van Eyck und des Petrus 
Cristus; sie fordert darüber hinaus, daß wir Jan van Eyck die Auf¬ 
findung des Fluchtpunktes für den Raum zuschreiben. 


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Antwort auf die Entgegnung des Herrn Professor Doehlemann. 


271 


Ad III. 

Wenn ein System von Linien nur annähernd genau nach einem Flucht¬ 
punkt konstruiert oder genau konstruiert ist, jedoch geringe Verschie¬ 
bungen durch Veränderungen der Bildtafel, infolge des Alterns, er- 

■ » 

litten hat, so liegen fast immer die Schnittpunkte aufeinander folgender 
Tiefenlinien • weit auseinander. Immer dann, wenn der Horizont relativ 
hoch bezw. (für die Decke) tief und die Ausgangspunkte der Tiefenlien auf 
der Grundlinie (bzw. oberen Abschlußlinie) des Bildes nahe beieinander 
liegen. Je spitzer der Winkel ist, unter dem die Tiefenlinien sich schneiden, 
desto unzuverlässiger wird das Resultat. Bei Jan van Eyck liegen die Fuß- 
punkte der Orthogonalen im Verhältnisse zur Durchschnittshöhe des Hori¬ 
zontes viel zu nahe beieinander, als daß das von Doehlemann methodisch 
angewandte Verfahren genaue Ergebnisse liefern könnte. 

Ad IV. 

Die Ausführungen Doehlemanns über die Perspektive bei Dirk Bouts 
wurden nur insofern beanstandet, als er die Bilder des Dirk Bouts und des 
Jan van Eyck auf ihre perspektivische Genauigkeit hin mit verschiedenem 
Maßstabe mißt. Es mag sein, daß im »Abendmahl« des Dirk Bouts die 
Fluchtpunkte von Decke und Fußboden zusammenfallen. Wenn aber Doehle¬ 
mann bei diesem Werk des Dirk Bouts und dem »Gottesurteil« zur An¬ 
erkennung des Prinzips von der Flucht der Einzelebenen nach gesonderten 
Fluchtpunkten gelangt, muß es unverständlich erscheinen, warum er dem 
Maler des Arnolfini-Bildes die Kenntnis des Gesetzes abspricht. — Auf die 
prinzipiellen Bemerkungen über die Rekonstruktion der Architektur im 
Pala-Bilde näher einzugehen, erübrigt sich durch den Nachweis der 
zahlreichen Analogien zwischen der Bildarchitektur und den Bauten vom 
Typus Neuvy-Saint Söpulcre. Bei dieser Gelegenheit möchte ich auf die 
Ergebnisse der Untersuchungen über die Kirche von St. Donat (Donas) 
hinweisen, die der um die Lokalgeschichte Brügges hochverdiente Forscher 
Ad. Duclos in seinem 1910 erschienenen Werke »Bruges, histoire et 
Souvenirs« auf Seite 314, 316, 444 und 445 niedergelegt hat. Es ergibt sich 
übrigens aus der Abbildung des Chores bei Wijdts, Chronijke van Vlanderen 
(1725), tom. I, pag. 153, mit Gewissenheit, daß die Bildarchitektur des 
Pala-Bildes mit der Kirche St. Donat nicht das Geringste zu tun hat. 
Auch der Grundriß bei Gaillard, Inscriptions fun^raires et monumentales 
de la Flandre occidentale, Bruges MDCCCLXI, tom. I, PI. II, pag. 6 , 
und der Grundriß in der Handschrift von L. P. de Molo: »Collection de 
plans, tombeaux, epitaphes, pierres söpulcrales, blasons fun^raires se trou- 
vant autrefois dans l’dglise cath^drale de Saint-Donatien ä Bruges«, 1786, 
(Brügger Stadtbibliothek, nr. 595, 2 vol. in fol.) beweisen, daß keinerlei 


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272 G. Joseph Kern, Antwort auf die Entgegnung des Herrn Professor Doehlemann. 

Verbindung zwischen der Architektur des Pala- Bildes und der Kathedrale 
besteht. Die von Baudouin erbaute Kirche war zur Zeit des Jan van Eyck 
nicht mehr vorhanden. 

Herr Professor Doehlemann gibt, wie er erklärt, seinen Standpunkt 
nicht auf. Die Gründe, die er anführt, berechtigen ihn doch wohl nicht, 
seine Theorie über die Entwicklung der Perspektive in der niederländischen 
Kunst aufrechtzuhalten. 


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Besprechungen. 


A. E. Brinckmann. Deutsche Stadtbaukunst in der Ver¬ 
gangenheit. 160 Seiten in 8° mit 39 Lageplänen und 78 Ansichten. 
1911. Verlag Heinrich Keller. Frankfurt a. M 

Das erste Buch Brinckmanns »Platz und Monument«, Berlin, bei 
Wasmuth, 1909, war eine Erfüllung, der literarische Ausdruck vieler Gleich¬ 
gestimmter, die, sei es zu den klaren stereometrischen Bestrebungen der 
modernen Baukunst selbst konkrete Beziehungen hatten, sei es aus der 
raumästhetischen Schule Adolf Hildebrands und Wölfflins hervorgegangen 
waren. Es war, kurz gesagt, das ersehnte eindeutige Bekenntnis zu 
einem wieder architektonischen Stil im Städtebau, die Entgegnung auf 
Camillo Sittes berühmtes Buch, das zwar ungeheuer anregend auf 
Theorie und Praxis gewirkt hatte, die bisherige vollkommene Indifferenz 
für das Problem als solches allgemein beseitigend, das aber auch in bedenk¬ 
lichem Maße den historischen Romantikern im Städtebau mit ihren »maleri¬ 
schen Motiven« und räumlich kleinen Empfindungen, mit ihren Stimmungen 
der Enge und des irrationalen Zufalls, des Unihythmischen und des räumlich 
Vereinzelten, Unzusammenhängenden, Vorschub geleistet hatte. 

Die Habilitationsschrift Brinckmanns für das Fach des Städtebaus an 
der Technischen Hochschule in Aachen war eine geschichtliche Untersuchung 
über die regelmäßigen Stadtneugründungen des 12. und 13. Jahrhunderts 
im Süden Frankreichs, die in Einzelaufsätzen in der Deutschen Bau- 
zeitung 1909 erschien, und an sie schließt sich sein wieder mehr ästhetisch 
gerichtetes neuestes Buch »Deutsche Stadtbaukunst in der Vergangenheit« 
darin an, daß es den architektonischen und plastisch-räumlichen Reichtum 
vor allem in den ganz regulären Grundrissen der Fürstenstädte des 18. Jahr¬ 
hunderts zu finden sucht, die der Unverstand früher als »souveräne, will¬ 
kürliche Produkte« und als »öden Schematismus ohne Phantasie« abzutun 
beliebte. 

Die Einleitung wendet sich in ihren »Grundsätzen für die Betrachtung 
älterer Stadtbaukunst« zuerst gegen einen nachahmenden Historizismus, 
gegen die Versuche moderner Romantik, alte Städtebilder in unseren heutigen 

Repertorium fUr Kunilwiitentchaft, XXXV. Io 


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274 


Besprechungen. 


Großstädten mit ihren so spezifischen, künstlerischen wie Tagesförderungen 
auf leben zu lassen. Es wird die Frage gestellt: »Wie weit kann kritischer 
Eklektizismus jenen alten Schöpfungen gegenüber heutiges Schaffen fördern ?m 
und darauf als Antwort, die zugleich das Programm zu den Ausführungen 
Brinckmanns enthält, erteilt, nicht die zufälligen Motive, die reizenden 
Einzelheiten sollen in unseren alten Städten den modernen Städtebauer 
aufzusuchen besonders reizen, sondern die Gesetzmäßigkeit 
der künstlerischen Ausdrucksform, die dem Gesamt - 
Organismus, dem höheren Ganzen, innewohnt. 

Der nächste Abschnitt handelt über die Relationen im Stadt¬ 
bild. Er entwickelt sie ästhetisch aus den Hildebrandschen Theorien 
über die Gewinnung der dreidimensionalen Raumvorstellung. Wie mir 
scheint, geht hier Brinckmann, ähnlich wie Hans Cornelius in seinen 
bekannten »Elementargesetzen der bildenden Kunst«, in den Ausführungen 
über die Maßverhältnisse in der Ebene und im Raum, doch etwas zu weit: 
Die Erfahrung der wirklichen Größe eines Baues, die er durch die 
Einführung eines Vorder- und Hintergrund vereinigenden Maßstabes, z. B. 
eines hier wie dort vorkommenden, in der Wirklichkeit gleich dimen¬ 
sionierten Fensters, gewinnen will, ist doch wohl mehr ein intellektuelles 
als ein den Gefühlen der künstlerischen Stimmung, aber auch der spontanen 
Anschauung, dienendes Bedürfnis. Die Relationen im Stadtbild beschränken 
sich nicht auf die Größen Verhältnisse, sondern sie beziehen natürlich alles 
untereinander, Farbe, plastisches Relief, die mannigfaltigen Tiefenwirkungen 
der Perspektive und der Weiträumigkeit, das Verhältnis des Hauskubus 
zum Block und dadurch auch die Stellung des Einzelhauses im großen 
Stadtplan. Sehr treffend äußert sich gerade über diese letztere Relation Brinck - 
mann auf S. 23 und 24: »Zwischen dem architektonischen Stil des Haus¬ 
baues und dem Stadtbau bestehen die innigsten Beziehungen; mit der Art 
und Weise des Wohnens ändert sich die Form des Stadtgebildes. Dieses 
unterliegt daher stetig Veränderungen; jeder Fortschritt im Wohnungs¬ 
wesen bringt eine Umwandlung im Stadtbild mit sich. Hieraus folgt, daß 
von uns die Erscheinung einer älteren Stadt wohl schön gefunden, nie aber 
als vorbildlich betrachtet werden kann. Es folgt daraus auch, daß unser 
Stadtbau erst wieder eine sichere Form finden wird, wenn das einzelne 
architektonische Gebilde sich abgeklärt hat. Bis dahin ist alles Stadtplan¬ 
machen Arbeit des Verstandes, der nützliche Resultate erzielen kann, dem 
jedoch die überzeugende Lebenskraft des architektonischen Instinktes fehlt«. 

Das dritte Kapitel, über die Ausbildung des Baublocks, 
wendet sich, den in den vorigen entwickelten, raumvereinigenden Grund¬ 
sätzen gemäß, gegen den Individualismus im Hausbau. Es verlangt unter 
Hinweis auf viele alte Beispiele der deutschen Renaissance, Donauwörth, 


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Besprechungen. 


*75 


Miltenberg, Hildesheim, entweder eine harmonische Zusammenstimmung 
der Teilstücke des Baublocks vor allem in den Proportionen, in der Fassaden¬ 
teilung, der Dachbildung und in der Verwendung eines gleichen Bau¬ 
materials, oder, als von noch höherem architektonischen Sinn, wie er sich 
in den schönen einheitlich auf gebauten Städten des 18. und beginnenden 
19. Jahrhunderts, in Crossen a. 0 ., Karlsruhe, den neueren Teilen Würz- 
burgs und Münchens, in Erlangen, in der Dresdener Neustadt, in Ludwigs¬ 
burg, bewährt findet, den von vornherein als bauliche Einheit gedachten 
Häuserblock, der nach denselben rhythmischen Mitteln der Steigerung, 
der künstlerischen Unter- und Überordnung zusammengefaßt ist, wie man 
das auch von dem architektonisch durchgebildeten Einzelhaus her kennt. Hier 
möchte ich den Verfasser noch auf ein ausgezeichnetes Beispiel aufmerksam 
machen, den von Friedrich Joachim Stengel um 1760 in höchst differen¬ 
zierter rhythmischer Steigerung angelegten Ludwigsplatz in Saarbrücken: 
Auf die als breites Kreuz inmitten des langgestreckten Tiefenplatzes hin¬ 
gelagerte Zentralkirche führt eine kurze Straße. Der Platz wird an. der 
hinteren Schmalseite durch die mit beherrschendem Mittelrisalit ausge¬ 
stattete Dragonerkaserne abgeschlossen, während seine beiden Längsseiten 
von je einer Reihe symmetrischer Gebäude, die sich völlig einander ent¬ 
sprechen, in äußerst künstlicher Abstufung von Dominierendem und Sub¬ 
ordiniertem eingefaßt werden, so daß z. B. die gleichen Eckpavillons viermal 
wiederkehren. Leider existiert von diesem Platz bisher noch gar keine 
Grundrißaufnahme, auch nicht in dem sonst sehr verdienstvollen, aber mit 
Grundrissen mehr als sparsamen Werke von K. Lohmeyer, F. J. Stengel, 
Düsseldorf 1911. 

Bei der Zusammenfassung des Baublocks spielt natürlich das Dach, 
das dem Kubus als solchem die ästhetisch schließende Spitze verleiht, eine 
Hauptrolle. » Eis ist nicht übertrieben, zu sagen, daß die Wiederbelebung 
der deutschen Stadtbaukunst mit dem Dach beginnen muß. Zeichnet sich 
doch auch jeder Grundriß einer Stadt noch ein zweites Mal in den Linien 
der Dächer ab. Wird hier Beruhigung und Klarheit gewünscht, so muß der 
Grundriß solche bereits vorbereiten. Ein zeriissener Blockgrundriß ergibt 
auch eine zerrissene Dachform« S. 32 und 33). 

Befassen sich die drei ersten Abschnitte dieses Buches mit dem 
Elementaren des Städtebauproblems, so gehen die vier letzten Kapitel 
auf die eigentlichen raumgestaltenden Fragen ein, den Rhythmus 
des Raumes, auf Straße und Perspektive, die Funk¬ 
tionen des Platzraumes und die Stadt als einheit¬ 
lichen Organismus. Bereits Theodor Fischer hat den Lehr¬ 
satz ausgesprochen *): » Gliederung der Massen nach Herrschendem und Be* 

>) Stadterweitcrungsfragen mit besonderer Rücksicht auf Stuttgart. 

18* 


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276 


Besprechungen. 


herrschten! ist eines der wichtigsten Kunstmittel im Städtebau «, den er 
dann näher erklärt: » Nicht das Beherrschen an sich scheint übrigens das 
eigentlich ästhetisch Wirksame, sondern die Zusammenfassung 
aller Teile in eine Einheit, welche nur durch diese Gliederung 
erreicht werden kann und in der alle Teile vom Geringsten bis zum Haupte 
ihre eigenste Bestimmung haben und schön sind dadurch, daß sie diesen 
ihren Zweck im ganzen erfüllen«. 

An einer Reihe von Abbildungsbeispielen, wieder vor allem von An¬ 
lagen des 18. Jahrhunderts, legt uns Brinckmann diesen gesetzmäßigen 
Wechsel zwischen den verschieden abgestuften Hauskuben und dem Frei* 
raum des Platzes und der Straße, den horizontal und vertikal gerichteten, 
den eine Perspektive schließenden und öffnenden Bauwerken dar. Er ana¬ 
lysiert Plätze und vor allem logisch zueinander gedachte Platzgruppen 
auf ihren klärenden Raumwert, ästhetische Betrachtungen, die, auf die 
Straße angewandt, auch noch das folgende Kapitel ausfüllen. Eis ist sehr 
treffend, was Brinckmann über das Dorf sagt, das keine Straßen, nur Wege 
kennt und dessen impressionistischer Reiz in dem Durcheinander von Ge¬ 
formtem, dem Einzelhaus, und Lockerem, der ungeregelten Natur, besteht. 
Für die Stadt aber ist der Straßenraum in organischem Zusammenhang mit 
dem Bauwerk, architektonisch synthetisch, nicht malerisch auflösend zu 
empfinden (S. 97 und 98): Das wird für die eine Straßenperspektive in alter 
Zeit schließenden Stadttore bewiesen, für das frühere und heutige Ver¬ 
hältnis der Brücken zu den Häusern und Häusergruppen des Flußufers. 

In dem Abschnitt VI, Funktionen des Platzraumes, wird das in spe¬ 
ziellem ausgeführt, was das IV. Kapitel, Rhythmus des Raumes, im allge¬ 
meinen vorgezeichnet hat. Dieser kommt natürlich in seinem Inhalt sehr 
dem ersten Buche Brinckmanns »Platz und Monument« nahe, besonders 
in der auf S. 125 und 126 ausgesprochenen Tendenz: »Wo der einzelne Bau 
in seiner Gesamtform zur Regelmäßigkeit neigt, ist auch Regelmäßigkeit 
des Bebauungsplanes Voraussetzung seiner Wirkung. Der Architekt, der 
Bebauungspläne ausarbeitet, hat dieser Richtung nachzugeben, denn töricht 
wäre es, Architekturen für einen Plan zu erfinden, wo doch der Plan als um¬ 
fassendere Einheit nur die einzelnen Bauten ihrem Charakter nach disponieren, 
Möglichkeiten ihrer Anordnung gewähren soll«. Als architekturgeschichtlich 
besonders wertvoll sei hier der Vergleich von dreierlei Gestaltungen der 
Platzgruppe am Dom in Metz, des Projekts einer Place Royal von Jean Antoine 
von 1752, der Umgestaltung durch J. E. Blondel von 1764 und des heu¬ 
tigen, künstlerisch beträchtlich verschlechterten Zustandes hervorgehoben *). 

Ein Vortrag von Theodor Fischer. Mit 32 Abbildungen. Stuttgart, Deutsche 
Vcrlagsanstalt, 1903. S. 8 und 9. 

*) An dieser Stelle, S. 115, bezeichnet Brinckmann irrtümlicherweise Metz als 


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Besprechungen. 


277 


In dam Schlußkapitel Uber die Stadt als einheitlichen Organismus 
werden die Plananlagen besprochen. Die regelmäßigen erhalten den Vor¬ 
zug. Die Unregelmäßigkeiten in den Bebauungsplänen unserer alten süd¬ 
deutschen Städte gefallen uns nur als der folgerechte Ausdruck in der Er¬ 
scheinung des Alten, des historisch Gewordenen (S. 141). Aber es ist ein 
künstlerischer und praktischer Irrtum, die Unregelmäßigkeit nun auch 
wieder mit Willen zum Schaffensprinzip im modernen Städtebau zu 
erheben, wie dies z. B. bei einem Plan für die Erweiterung von Pforzheim 
(Abb. 103 auf S. 143) geschah, der deshalb auch von englischer Fachseite 
her Mißbilligung fand: »Städtebauen, von künstlerischem Gesichtspunkt 
aus betrachtet, heißt mit dem Hausmaterial Raum gestalten. Den klarsten 
Raumeindruck übermittelt die regelmäßige Formation und darum wird 
diese stets das Element auch des städtebaulichen Gestaltens sein. Der sym¬ 
metrische Monumentalplatz, die gerade breite Straße müssen das Gerüst 
für größere Stadtpartien abgeben, in das sich dann das Gewebe freierer 
Bildungen einhängen kann« (S. 136 und 137). Als ein ausgezeichnetes Bei¬ 
spiel wird hierauf der Stadtplan von Erlangen analysiert. Daß dieses 
Prinzip auch der Sinn wahrhaft architektonischer Stadtregulie - 
r u n g e n sein muß, davon könnte dem Verfasser auch noch der prachtvolle 
städtebauliche Entwurf desselben J. F. Blondel, der den Domplatz in Metz 
umgestaltet hat, von 1765 für Straßburg ein Beispiel sein, der noch ganz 
unveröffentlicht in zwei Großquartbänden des Straßburger Stadtarchivs 
vorliegt: er sucht erstens die Fluchten der mittelalterlichen Gassenanlagen 
geradlinig auszugleichen, dann aber auch eine Reihe räumlich aufs feinste 
abgestufter Plätze und Platzfolgen zu schaffen, von denen, nur vorläufig, 
das Projekt für den heutigen Kleberplatz, den Münsterplatz und den Ste¬ 
phansplan genannt seien. 

Wenn also Brinckmann mit sehr bewußter Absicht gerade dieser 
Städtebaukunst des 18. Jahrhunderts vor dem Städtebau des 16. den Vor¬ 
zug gibt (S. 46, 159 und 160), so geschieht dies auf Grund der streng rhyth¬ 
mischen Gestaltung jenes. Er sieht in der großen und entwickelten Stadt- 
architektur des 18. Jahrhunderts, analog ihrer ja jetzt von unserer Genera- 
tion so bewunderten Hausarchitektur, »ungehobene Möglichkeiten, die in 
der Richtungslinie der deutschen Stadtbaukunst lagen, die aber verschüttet 
wurden«. Diese Vorbilder sollen uns freilich nur im Geist, nicht im Detail 
nachahmenswert sein. Schon auf S. 46 schreibt er: » Sehr beklagenswert 
ist, daß viele Architekten ahnungslos an diesen Städten des 18. Jahrhunderts 
vorübergehen, daß das Publikum in dem Glauben gehalten wird, der Gipfel 

deutschen Boden: Aber bereits um 1200 — das genaue Datum ist mir augen¬ 
blicklich nicht gegenwärtig — verbietet der Papst seinen Einwohnern den Gebrauch 
der Bibel in französischer, d. i. volkstümlicher Sprache. 


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Besprechungen. 


deutscher Stadtbaukunst sei mit Nürnberg erklommen, jener Stadt, in der 
eine aufrichtige und klare Gesinnung sich bedrückt and nicht hingehörig 
fühlen muß, die eine kunsthistorische Merkwürdigkeit ist, aber kein Vorbild 
für eine selbständige, moderne Kunst sein kann. Nahe stehen uns diese 
Städte des 18. Jahrhunderts, weil sie besonnen und abwägend sich ge¬ 
stalteten, Gefühl für architektonische Konsequenzen bis ins kleine zeigen, 
und weil der moderne Architekt die gleiche geistige Disziplin von sich 
verlangt «. — 

Dem so ausgezeichneten und lehrreichen Buch A. E. Brinckmanns 
wollen wir die gleiche Popularität wünschen wie dem ihm an architek¬ 
tonischem Geiste ja bedeutend nachstehenden älteren Werke Camillo Sittes. 
Es eignet sich deshalb besonders für Übungen im architektonischen Unter¬ 
richt, besonders, weil es ja auch aus diesem hervorgegangen ist, wie seine 
lockere Fügung an vielen Stellen beweist. Mag dieses auch die formale 
Wissenschaftlichkeit monieren, mir erscheint das nicht als Nachteil, sondern 
als ein Mehr an Lebendigkeit und reicher Anschauung. 

Straßburg i. Eis. Fritz Hoeber. 

Paul Drey. Die wirtschaftlichen Grundlagen der Mal¬ 
kunst. Versuch einer Kunstökonomie. Cotta sehe Buch¬ 
handlung, Stuttgart und Berlin 1910. 

Der organische Aufbau dieser in erster Linie volkswirtschaftlichen 
Arbeit kann hier keine Beurteilung finden, sondern es soll bloß auf die reiche 
Anregung verwiesen werden, die jeder, der sich mit Kunst praktisch oder 
theoretisch beschäftigt, in Dreys Buch finden wird. Mit seinen scharfen, 
geistvollen Beobachtungen prinzipieller Natur greift der Autor weit über 
die ursprünglich gesteckten Grenzen der zeitgenössischen Malerei hinaus und 
bereichert auch die Betrachtung der alten Kunst, indem er zum ersten Male 
den Zusammenhang der wirtschaftlichen Verhältnisse mit der künstlerischen 
Produktion systematisch klarlegt ;danach wäre zu wünschen,daß er gelegentlich 
in einer noch spezielleren Untersuchung die Tragweite des gesellschaftlichen 
und wirtschaftlichen Milieus für das Schaffen des Künstlers nachwiese. 

Nach einer Einleitung psychologischen Charakters über das »Kunst¬ 
bedürfnis« bringt Drey eine aufschlußreiche Schilderung des Künstlergewerbes 
in Vergangenheit und Gegenwart, um dann zu dem wichtigen Kapitel der 
wirtschaftlichen Verwertung des Kunstwerkes überzugehen. Diese mit vor¬ 
züglicher Sachkenntnis angestellte Untersuchung führt zu dem traurigen 
Geständnis: »Wir schulden der Kunst viel, doch bezahlen wir sie nicht«, 
mit dem sich der Verfasser dem positiven Teile seiner Kritik, der »Kunst¬ 
politik« zuwendet. 

Die Lösung der kunstwirtschaftlichen Frage liegt in einer künstlerischen 


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Besprechungen. 


279 

Kultur unseres Wirtschaftslebens, die dahin zielt, »jede künstlerische Kraft 
nach Maßgabe ihres Könnens und Leistens dem Zwange wirtschaftlicher 
Hemmungen so weit zu entziehen, daß sie zu voller Entfaltung gelangen 
kann, und sie bis zu den letzten Möglichkeiten dem Wirtschaftsleben und 
der Kultur nutzbar zu machen«. Zwei Wege führen zu diesem Ziel: eine 
Steigerung des Kunstkonsums, mit der eine qualitative Besserung der Nach¬ 
frage Schritt zu halten hätte, und eine rationelle Organisation nicht nur der 
Künstlererziehung, sondern der Künstlerschaft überhaupt, um engere Be¬ 
ziehungen zwischen dem Produzenten und dem Käufer anzubahnen. 

.Was zunächst die Popularisierung der Kunst betrifft, so verspricht 
sie nur dann den rechten Erfolg wenn sie „nicht nur eine Ausbreitung der 
Kunst liebe, sondern eine Erziehung zum Kunstverständnis im Auge 
hat«. Es muß also das Material, das unsere Volksbildungs- und ähnliche 
Vereine propagieren, mit besonderer Sorgfalt gewählt werden; vor allem 
sollte man von mechanischen Reproduktionen so weit als möglich absehen 
und dafür den Erzeugnissen unserer Graphik als billigen Originalwerken mehr 
Interesse zuwenden. In dieser Hinsicht wäre also der Erfolg, den Drey der 
reproduktiven Verbreitung von Kunstwerken verspricht, wenig wünschens¬ 
wert, wenn er auch der wichtigste und beste Notbehelf bleibt, so lange die 
Graphik nicht, so wie in Frankreich, auch bei uns billiger produziert. 

Die Erziehung des Kindes zur Kunst, die unsere Zeit mit besonderem 
Eifer betreibt, trägt zwar zur Hebung des Kunstkonsums unmittelbar wenig 
bei, jedoch verhilft sie vielleicht der kommenden Generation zu mehr Sinn 
und Empfänglichkeit für künstlerische Eindrücke, als sie heute die Regel 
ist. Denn der nachdrücklichen Fürsorge, mit der man der Kunst in der 
Wohnung des Arbeiters und in der Kinderstube Geltung zu schaffen sucht, 
entspricht in keiner Weise das Kunstverständnis der sogenannten gebildeten 
Kreise, die den Balken im eigenen Auge nicht zu gewahren scheinen, während 
sie um den Splitter im Auge des Nächsten bemüht sind; allein schon hierbei 
müßte ihnen aber das Bewußtsein der Verantwortlichkeit ein ernstes »Kenne» 
dich-selbst« zurufen. Drey weist zwar mit Nachdruck auf diesen Punkt, 
er hätte aber noch näher auf ihn eingehen sollen, denn auS diesen Kreisen 
rekrutiert sich das kaufende Publikum, dessen Nachfrage für das künstle¬ 
rische Niveau des Marktes bestimmend ist. 

Eis ist weniger die Indifferenz des Publikums, die der Bezahlung des 
Gemäldes nach seinem künstlerischen Wert entgegensteht, als vielmehr das 
unsichere und verbildete Urteil und ein beklagenswert schwerfälliges Ver¬ 
ständnis für die aktuellen Probleme der Malerei. Während jede neue Er¬ 
rungenschaft der Technik staunend und dankbar begrüßt wird, verdrängt 
der dogmatische Konservativismus, in dem der allgemeine Geschmack 
schlummert, die Einsicht, daß sich die Kunst mit derselben Notwendigkeit 


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Besprechungen. 


*80 

wie jedes andere Erzeugnis des menschlichen Geistes weiterentwickelt und 
daß es absurd ist, dieser ,,ewig regen, der heilsam schaffenden Gewalt« ent¬ 
gegenzuarbeiten. Ohne ihr Einhalt gebieten zu können, wirken reaktionäre 
Bemühungen nur dahin, bei weiterstrebenden Talenten Widerspruch und 
Übertreibung herauszufordern und ihre Anhängerschaft zu erbittertem, ein¬ 
seitigem Aburteilen aufzureizen. Die Vorbedingungen zur vollen Ent¬ 
faltung unserer zeitgenössischen Malerei können nicht erfüllt sein, so lange 
noch in dem Begriff »moderne Malerei« für Tausende etwas Verdächtiges, 
ja Verabscheuenswertes liegt, weil dadurch der wirtschaftliche Boden der 
lebendigen »Evolutionskunst« schwer geschädigt wird. Da nun das 
Publikum Anspruch auf Kunstverständnis erhebt, indem es einer gewissen 
Richtung oder einem Lieblingskünstler huldigt und sich nicht gern mehr 
über elementare Begriffe aufklären läßt, so erwächst den Museen und sonsti¬ 
gen öffentlichen Ausstellungen die Aufgabe, durch Vorführung geeigneter 
Werke den Ausgangspunkt jener vorausgeeilten zu beleuchten, bzw. die Ent¬ 
wicklung bis zu einem vom Publikum anerkannten Punkte zurückzuver¬ 
folgen, um auf solche Weise das ebenso ungesunde als folgenschwere Mi߬ 
verständnis zwischen Produzenten und Konsumenten auszugleichen. 

Noch mehr als von der Hebung der Nachfrage verspricht sich Drey 
von der unmittelbaren Einwirkung auf die Produktion, die zunächst in der 
Künstlererziehung nachdrücklicher auf das Gewerbsmäßige des Berufes zu 
weisen hätte und zugleich für eine vielseitigere Bildung Sorge tragen müßte. 
Nach seinem Programmentwurf für Kunsthochschulen käme der Schüler 
erst nach einer kunstgewerblichen Vorbildung, in der er die künstlerische 
Idee der praktischen Forderung anzupassen lernt, zur Ausübung der freien 
Künste und könnte sich endlich — vorausgesetzt, daß er Hervorragendes 
verspricht — schon beinahe selbständig in einem Seminar zur vollen Ent¬ 
wicklung seiner Fähigkeiten weiterbilden. Drey verhehlt sich nicht, daß 
diese auf eine sachkundige Kritik des Künstlerlehrganges gestützten Vor¬ 
schläge doch nur der besseren »Typware« zugute kommen können, und er 
würde von der Einwirkung auf die Produktion wohl kaum so viel er¬ 
warten, wenn ihn nicht vom volkswirtschaftlichen Standpunkt aus auch 
die Sicherstellung des Proletariats interessieren müßte. Ein starkes Talent 
dagegen oder das Genie, das zu spät kam zur Teilung der Erde, und dessen 
Wirken, »weil Zukunftswerte schaffend nicht zur Grundlage einer Erwerbs¬ 
tätigkeit gemacht werden kann«, pflegt sich gerade im Widerspruch zu 
akademischen Traditionen autodidaktisch zu entwickeln und hat gewöhnlich 
noch mehr vom Verständnis gebildeter Amateure als vom Entgegenkommen 
seiner Kollegen zu erwarten. 

Der schon in dieser Hinsicht so wichtigen Organisation der Künstler¬ 
schaft, die auch zur allgemeinen Hebung der kunstwirtschaftlichen Verhält- 


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Besprechungen. 


281 


nisse von eminenter Bedeutung wäre, wird ein besonderes Kapitel gewidmet. 
Der subjektive Charakter des Berufes und der daraus resultierende Parti¬ 
kularismus unter den Künstlern bildet jedoch einen wenig empfänglichen 
Boden für Orgnisationsversuche, und so muß auch Drey erst ein einträchtiges 
Zusammentreten postulieren, ehe er eine Reihe für das wirtschaftliche Ge¬ 
deihen der Kunst sehr wertvolle Direktiven gibt. 

Die zahlreichen »Proteste« und »Gegenproteste« in denen die deutschen 
Maler erst jüngst ihr Bekenntnis über Kunst abgelegt haben, bedurften bei 
ihrem meist ganz persönlichen Charakter einer objektiven Stütze, und so 
hoffte man denn auch auf beiden Seiten, an Dreys vortrefflicher Arbeit 
eine Lanze gegen den Widerpart schärfen zu können. Anstatt sich aber 
durch seine ernsten Mahnungen zu einer wirtschaftlichen Organisation der 
Künstlerschaft und die verständnisvollen Vorschläge zu ihrer Realisierung 
beruhigen und belehren zu lassen, führte man voll Kampflust das sta¬ 
tistische Material ins Treffen, das besonders das Kapitel über die »kunst- 
politische Tätigkeit der gemeinwirtschaftlichen Körperschaften Deutsch¬ 
lands« und die beigegebenen Tabellen enthalten. Es muß deshalb dem 
Verfasser um so höher angerechnet werden, daß er die Tragweite der 
Statistik, in der die Schöpfung des Genies mit zahllosen Erzeugnissen, die 
mit Kunst nichts zu tun häben, wahllos zusammengeworfen wird, nie 
überschätzt, sondern daß er mit Takt zwischen Qualitätsbegriffen und 
Quantitätsangaben unterscheidet, entsprechend dem Prinzip seiner Kunst¬ 
politik : die Arbeit nach ihrem künstlerischen Verdienst, ohne Ansehen 
ihrer Herkunft oder der Nachfrage seitens des Publikums zu bewerten. 

R. Oldenbourg. 

Konrad Escher. Barock und Klassizismus; Studien zur 
Geschichte der Architektur Roms. Klinkhardt und Biermann, 
Leipzig 1910. 

Daß das wichtigste Zentralorgan für Kunsthistorie und -Wissenschaft 
erst nach einem geraumen Jahre Auskunft geben kann über dieses Buch, 
scheint mir ein Zeichen dafür zü sein, wie wenig man trotz der nachdrück¬ 
lichen Hinweisungen durch Wölfflin, Strzygowski, Riegl, Schmarsow, 
Schmerber, Weibel noch immer vorbereitet ist auf eine richtige Würdigung 
dieses Zeitphänomens und seiner Bedeutung für unsere heutige Entwick¬ 
lungsphase in der Kunst. Das ist nicht nur im Sinne dieses vergleichend 
zeitgeschichtlichen Interesses zu bedauern, sondern auch im Hinblick auf 
den Stand der Methodik in unserer Disziplin der philosophischen 
Fakultät. Unser Fachmann kann sich, so dünkt mich, nicht deutlich genug 
des systemsichernden Zusammenhanges seiner Spezialgelehrsamkeit mit der 
führenden, das methodische Arbeiten auch im Sonderstudium begründenden 


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3 g 2 Besprechungen. 

Wissenschaft bewußt halten. Es ist aber kaum ein Abschnitt — ich will 
die Bezeichnung lediglich rein zeitlich gefaßt wissen — außer unserer neuesten 
Entwicklung und dem Übergange von der Antike zur christlichen Kunst, 
der mehr anregte, ja hindrängte zu genauer Rechenschaft über die systemati¬ 
schen Grundbegriffe für Subsumption und Kritik der einzelnen Erscheinun¬ 
gen, wie für methodisch gerechte Sonderung von »Stileinheiten«. Aus dem 
Erkennen dieser Anforderungen und aus dem Zugestehen dieses entsprechen¬ 
den Bedürfnisses gerät man leicht in die von der neutralen Kunstphilologie 
nicht gutgeheißenen rein methodologischen Überlegungen über die Gewähr 
für das Urteil. Und in der Nötigung dazu steht wohl der Barock obenan. 
Dafür hat ihn schon die »Anleitung zum Genüsse der Kunstwerke in Italien« 
ausgezeichnet; dessen hält uns die umfängliche Darstellung des Denkmäler - 
bestandes durch Gurlitt beständig.bewußt. Und daran gemahnt aufs nach¬ 
drücklichste, anregend und fruchtbar, das vorliegende Buch, vielleicht eben 
weil es jene verhängnisvollen Klippen methodologischer Untersuchung 
glücklich meidet. Ich habe ihm für die Ausarbeitung meines Buches, das 
nicht um sie herumkonnte, doch noch mancherlei zu danken, obgleich jenes 
mir erst zugänglich-wurde, als dieses im letzten Stadium war. Rezensierend 
tritt man aber auch in eine sittliche Beziehung zu Werk und Autor: die der 
Freude an dem Geleisteten und an der Arbeitsgemeinschaft. Auch in Eischer 
ist das Buch aus einem anhaltenden und liebevollen Verkehr mit der römi¬ 
schen Kunstwelt erwachsen, die noch aus dem 16.—18. Jahrhundert bild¬ 
bestimmend in die wenig erfreuende Gegenwart hereinragt. Aus dieser liebe¬ 
vollen Beteiligung macht er kein Hehl, und sie ist der durchklingende Tenor 
der Arbeit, wenn er es auch vermeidet, sich in einer Definition festzulegen. 
Er wahrt sich vielmehr den unbefangenen freien Blick für die einzelne Er¬ 
scheinung und vermag so auch das Unbedeutende aus den organischen Be¬ 
dürfnissen zu rechtfertigen. Das gedeiht dem analytischen zweiten Teile — 
2. Hauptteil, 4. Kapitel — zum Vorteil, in dem »die Monujnente als Ent¬ 
wicklungsfaktoren« besprochen werden. Hier wird durch alle Kategorien 
baukünstlerischer Betätigung hin die bildnerische Einheitstendenz verfolgt. 
Der unumgänglichen Erschwerung der Anschaulichkeit solcher Darstellungen 
wird geschickt entgegengearbeitet in einem durchgehenden Gegenüber- 
steilen der Gestaltungsweisen aus der barocken und der folgenden Zeit. 
Gefördert wird die Anschauung durch eine Reihe von Tafeln (21 mit je 2 
Abbildungen), die vorzüglich aus der Zeit des Zusammentreffens der beiden 
sogenannten Stile gut gewählt sind. Im Interesse besonders dieses Teiles 
ist es zu bedauern, daß kein Namenregister das Wegweisen durch die zu¬ 
sammengedrängte Menge des historischen Materials übernimmt. Ver¬ 
wunderung erwecken wird bei andern Lesern wie bei mir die Mühe, die sich 
der Verfasser mit der achtteiligen Fassade macht. 


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Besprechung*!^ 


285 

Die sogenannte Kritik an der Verwilderung und Willkür des Barock — 
welche Definition neuestens wieder in diesen Blättern als etwas ganz Neues 
aufgenommen worden ist — gibt Escher den Autoren des Klassizismus 
(zumal des Milizia) anheim. Und gerade damit bringt er einen neuen Vorzug, 
den bedeutendsten, in sein Werk: in gedrängtester Kürze (S. 47—60 und Ex¬ 
kurs II) stellt er ihre Theoreme zusammen, zeigt an ihnen auf, wie sie, in 
der scharfen Absage an die »bis zur Sinnlosigkeit sich steigernde Willkür« des 
Barock erzeugt, zu einer positiven Lehre erhoben werden — zu einer Doktrin 
von zweifelhafter Fruchtbarkeit — weil sie eine erste historisierende war. 
Hier läßt Escher auch, bei aller Anerkennung für die Ehrlichkeit des reforma- 
torischen Abzielens — die die Absicht von geschichtlichen Studien ihm ab¬ 
nötigte — deutlich seinen Gesinnungs-, um nicht zu sagen: Geschmacks¬ 
anteil an dem Wesen der beiden Stilcharaktere durchscheinen. Wirklich 
eine erste historisierende? Hier habe ich eine Verwunderung zu bekennen: 
als ich die Anzeige des Buches las, glaubte ich in ihm die schon längst ge¬ 
wünschte Auseinanderlegung jener beiden Baugesinnungen finden zu sollen, 
die während der ganzen Renaissance- und Barockzeit nebeneinander her- 
laufen: die eine geht von dem heimatlichen Entwicklungsstadium der ro¬ 
manischen Baukunst und der gotischen aus und gewinnt durch das Hinein- 
nehmen antiker Formelemente dig Möglichkeit harmonischer Proportio¬ 
nierung, der Erweiterung und Vollendung des alten Systems; die antiken 
Teile werden ihm assimiliert, eingeordnet. Die andere Richtung ist die, 
welche die antikische Formgerechtigkeit an die Spitze ihrer Kombinationen 
stellt und das moderne Bedürfnis in die Bedingungen, die jene an sich hat, 
hineinzuzwingen strebt. Die am meisten strittige Stelle in dieser Ausein¬ 
andersetzung würde Alberti einnehmen. In meinem Buche habe ich mich 
zu entscheiden versucht: ich sehe die Wurzeln des sogenannten Barock bis 
in sein baukünstlerisches Denken hinabreichen. Von anderer autoritativer 
Seite aber ist er zu einem Urbilde des antiquarischen Klassizisten gestempelt 
worden. Wieviel jene zweitgenannte Richtung, etwa in Palladios Denken 
und Schaffen, von klassizistischer Gesinnung in sich trage, wäre nachzu¬ 
weisen und daraus gerade die mächtige Wiederaufnahme seiner Stilistik 
als das positive Resultat jener Absage an den Barock zu entwickeln. Das 
fand sich nicht in Eschers Buche; aber da der Rezensent nicht das Recht 
hat, seine eigenen Ideen im Werke eines andern zu suchen, sondern die 
Pflicht, die seinen zu erkennen, so leidet der Wert dieser »Studien zur Ge¬ 
schichte der Architektur Roms« nicht darunter, daß ich nicht fand, was 
mir erwünscht gewesen wäre, um doch durch soviel Vortreffliches reichlich 
entschädigt zu werden. Horst. 

Catalogue of early Italian engravings preserved in the department of prints 
and drawings in the British Museum by Arthur Mayger Hind, edited 


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2$4 


Besprechungen. 


by Sidney Colvin, Band I: Text mit 20 Tafeln, 627 S., Band II: Illustra¬ 
tionen. Verlag des Britischen Museums, 1910. 

Das alte Katalogunternehmen des Department of prints and drawings 
in the British Museum — vor etwa 40 Jahren wurde es ins Leben gerufen — 
hat nach langem Schlummer durch ein neues Geschlecht von Museums - 
beamten eine erfreuliche Wiederbelebung und Wiederverjüngung erfahren. 
Dodgson hat in seinem »Catalogue of early German and Flemish woodcuts« 
(Band I, 1903, II, 1911) die Ergebnisse vieljähriger Forschungen in glänzender 
wissenschaftlicher Durcharbeitung niedergelegt. Der Verfasser des ange¬ 
führten Werkes ist nahe daran, ihm gleichzukommen. 

Als wichtige Vorarbeit für seinen Katalog konnte Hind R. Fishers 
»Introduction to a catalogue of the early Italian prints in the British Museum 
(1886)« benutzen. Ferner unterstützte ihn Sidney Colvin, der auch die Ein¬ 
leitung verfaßt hat, mit seinem in langer Amtstätigkeit erworbenen Wissen. 

Das Britische Museum ist außerordentlich reich an frühen italienischen 
Grabstichelarbeiten. Der Katalog beschreibt nicht nur die vorhandenen 
Originale, sondern auch die Reproduktionen von Stichen, die sich in andern 
Sammlungen befinden. Dadurch wächst er sich zu einem umfassenden Werk 
über den italienischen Kupferstich des 15. Jahrh. aus. Die Beschreibungen 
9 ind sehr ausführlich, die Literatur ist mit größter Gründlichkeit von ihren 
frühesten Anfängen bis zur Gegenwart zusammengetragen. Am meisten 
interessiert am Schlüsse jeder »Nummer« die wissenschaftliche Untersuchung, 
die in einer jedem Kapitel vorangehenden allgemeinen Übersicht schon 
anklingt. Fassen wir die Einzelfälle zusammen, so ergibt sich, daß die 
italienische Graphik im 15. Jahrh. vorwiegend ihr Leben zieht aus der ita¬ 
lienischen Monumentalkunst. Die Kupferstecher schöpfen mit vollen Eimern 
aus dem Formenreichtum der Frührenaissance. Besonders die Malerei, 
aber auch die Plastik und die Architektur wird ausgeschlachtet. Nicht nur 
Botticelli und A. Pollainolo, Mantegna und Leonardo, deren vorherrschenden 
Einfluß man schon lange erkannt hatte, lassen sich als Vorbilder nachweisen, 
auch die Beziehungen zu Fra Angelico, Filippo Lippi, Castagno, Baldovinetti, 
Pesellino, Antonio da Murano u. a. sind offenkundig. Dabei handelt es sich 
fast immer um freie Verwertung von Anregungen, nur selten ist wirklich 
kopiert worden, wie z. B. das jüngste Gericht von Fra Angelico (Florenz, 
Akademie und Berlin, Kaiser-Friedrich-Museum) oder die Dante-Darstellung 
von Domenico di Michelino (Florenz, Dom ) l ). 

An der Gliederung des vorliegenden Stoffes ist Sidney Colvin beteiligt. 
Die Trennung in zwei Hauptabschnitte: frühe unbekannte Stecher und spätere 

l ) Daß man gelegentlich auch bei nordischen Meistern Anleihen machte, (Meister 
E. S., I. A. v. Zwolle) ist bei den engen Beziehungen zwischen Deutschland und Italien 
nicht verwunderlich. 


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Besprechungen. 


285 


Stecher, deren Namen bekannt sind, war gegeben. Der Einteilung dereinzelnen 
Kapitel und Unterkapitel wird man im allgemeinen beipflichten können: 
der einschneidende Gegensatz zwischen Florentinern und Norditalienern ist 
klar hervorgehoben, und innerhalb der Florentiner Meister der anerkannte 
Unterschied zwischen den Stichen der »feinen und breiten Manier« dargelegt. 
Gewagt erscheint nur der Abschnitt: Finiguerra and his school. Sidney 
Colvin ist es trotz lebhafter Beweisführung und trefflicher Ausbreitung eines 
umfangreichen Materials nicht gelungen, die Fachwelt davon zu überzeugen, 
daß in der »Florentine Picture-Chronicle« des Britischen Museums eigen* 
händige Zeichnungen von Finiguerra vorliegen. Finiguerra bleibt nach wie 
vor eine dunkle, rätselhafte Erscheinung, ein von Vasari überlieferter Name, 
mit dem wir mit Sicherheit kein graphisches Werk verbinden können. So 
ist auch alles, was in Hinds Katalog mit Finiguerra in Zusammenhang 
gebracht wird, ankerlos. 

Mehr Vorsicht bekundet der Verfasser, wenn er den Stich G. Campa- 
gnolas »Leda und der Schwan« in die Beeinflussungszone der Campagnolas 
rückt und an Stelle von Antonio da Monza »Master of the Sforza Book of 
Hours« setzt. 

Hat man sich in den praktisch durchdachten Organismus des Werkes mit 
seinen zahlreichen Registern und Tabellen einmal eingelebt, so wird man 
sich leicht in dem sonst schwer zu übersehenden Gebiete zurechtfinden und 
Fragen, die von den verschiedensten Gesichtspunkten aus gestellt sind, 
bequem lösen können. 

Die im ersten Bande eingestreuten Abbildungen befriedigen durchaus; 
die stark verkleinerten Photolithographien des zweiten Bandes, der nur II* 
lustrationen enthält, können zwar in keiner Weise eine Vorstellung von 
dem künstlerischen Werte der Stiche geben, unter Umständen aber als 
Fingerzeig und Gedächtnisstütze sich sehr nützlich erweisen. 

Engelbert Baumeister. 

Wllh. Ostwald, Monumentales und dekoratives Pastell. 
Leipzig 1912. Akad. Verlagsgesellschaft m. b. H. Preis geb. Mk. 2,40, 
geb. Mk. 3.—. 

Unter den für Werke großen Stils geeigneten Malweisen hat bi6 jetzt, 
trotz aller ihrer bekannten Schwierigkeiten, immer noch die Freskotechnik 
als beste gegolten. Ihr haben wir die erhabensten Schöpfungen der Re¬ 
naissance zu danken, ohne sie wären die kühnsten Kompositionen des 
Michelangelo, der Carracci und anderer nur als schemenhafte Überreste 
auf uns gekommen. Selbst die späteren Freskanten von Tiepolo bis Martin 
Knoller haben, dank der fortgesetzten Übung, noch das Technische des 
Fresko in vollkommenster Weise zu beherrschen gewußt. 


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286 


Besprechungen. 


Heute ist dies anders geworden. Nur selten bietet sich einem unserer 
Künstler Gelegenheit zur Ausführung in dieser Technik, und wenn dies der 
Fall ist, dann muß er sich erst schnell in die ihm ungewohnte Malart hinein* 
arbeiten. Denn gar so einfach ist es nicht. Die Herstellung der Kartons 
in Originalgröße vorausgesetzt, erfordert das tageweise Arbeiten auf dem 
nassen Grunde mit Kalkfarben, deren Wirkung erst nach dem völligen 
Trocknen sichtbar wird, eine ungemeine zeichnerische Sicherheit und das 
Vorausberechnen jeden einzelnen Farbentoncs. Dazu kommt noch die Ein¬ 
schränkung der Palette, da nur bestimmte, wenige Farben der Ätzkraft des 
Kalkes widerstehen. Nicht Gelungenes muß unnachsichtlich abgeschlagen 
und ganz neu gemacht werden, weil durch Retuschen wenig zu ändern 
möglich ist. Selbst erste Meister, wie Böcklin, sind an diesen Schwierig¬ 
keiten gescheitert. Künstler, die von Jugend auf, wie es früher war, stets 
in Fresko tätig und nur darauf geschult waren, gibt es heute nicht. 

Diese Umstände haben zu den Surrogattechniken für Wandmalerei 
geführt, zur Kaseinmalerei, zur Enkaustik, zur Stereochromie und zur 
Mineralmalerei. 

Neuestens tritt zu diesen Malarten die Pastellmalerei, oder vielmehr 
eine Methode, nach der‘das Bild in der Art des Pastells hergestellt und 
hernach durch geeignete Mittel befestigt wird. 

Es ist bekannt, daß der Erfinder dieser Methode, einer unserer besten 
Gelehrten, Geh. Rat Prof. O s t w a 1 d , sich seit längerer Zeit auch mit 
Malerei beschäftigt und in einem viel beachteten. Buche »Malerbriefe« 
(Leipzig, S. Hirzel, 1904) wichtige Beiträge zur Theorie und Praxis der 
Malerei gegeben hat. Neu war darin die Behauptung, daß die haltbarste 
von allen die Pastelltechnik sei, weil diese keinerlei Bindemittel bedürfe, 
die durch die Atmosphärilien dem Verderben ausgesetzt werden. Und als 
die wenigst haltbare Malart bezeichnet er das Fresko, weil es durch die Atmo¬ 
sphärilien, besonders durch unserer »Großstadtluft« (Kohlendioxyd) in kurzer 
Zeit verdorben würde. Ja, er bezeichnet es wegen der unausweichlichen 
Schwierigkeiten der Herstellung als eine veraltete Manier, die man auf geben 
sollte und auch aufgegeben habe, »aus demselben Gründe, aus dem man die 
Postkutsche aufgegeben hat, weil zweckmäßigere Verfahren es verdrängt 
haben«. Vor allem erachte er es für unvernünftig, Bilder auf eine Unter¬ 
lage zu malen, die mit dem Gebäude unverrückbar verbunden ist. 

In seinem neuen Büchlein, das die Technik des monumentalen und 
dekorativen Pastells beschreibt, ist er aus Utilitätsgründen freilich davon 
abgegangen, denn wie ließe sich auch für gewölbte Flächen oder bei großen 
Abmessungen geeignete Unterlagen, wie Zementplatten u. a. beschaffen, 
und er empfiehlt einen Grund von Mörtel oder Gips, dem zum bessern Haften 
des Pastellfarbenstaubes eine gewisse Menge von Bimssteinpulver zugesetzt 


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Besprechungen. 


287 


werden soll. Dieser Zusatz kann auch bei Leinwandgrund gemacht werden, 
sofern die fertigen Gemälde erst hernach auf die Wandfläche geklebt werden 
müßten. Die Malerei mit den Farben, in Form der üblichen Pastellstifte 
am einfachsten selbst hergestellt, gestatten ein ungemein leichtes und 
schnelleres Arbeiten als jede Pinselmalerei, sie kann jeden Moment unter* 
brochen und beliebig wieder fortgesetzt werden. Als Farbenpulver dienen 
alle Pigmente, die lichtbeständig genug sind. Das Befestigungsmittel, eine 
wässerige Kaseinlösung, wird mit dem Zerstäuber in mehreren Schichten 
aufgetragen, dann die Oberfläche mittels einer verdünnten Lösung von 
essigsaurer Tonerde überspritzt, wodurch das Bindemittel gegerbt, also 
wasserunlöslich gemacht wird. Überdies kann noch ein Übriges getan 
werden durch das Paraffinieren der vollendeten Malerei, das einen völligen 
Abschluß gegen die Einflüsse der Atmosphärilien bildet. 

Das sind freilich eine Menge Vorteile gegenüber der alten Fresko¬ 
technik, und die Künstler, die sich der neuen Methode bedient haben, 
sprechen sich sehr befriedigt, j a fast begeistert über die einfache Manipulation 
und die Leichtigkeit der Ausführung aus. Bisher sind Arbeiten bekannt 
von W. von Beckerath (Hamburg), Meinhard Jakoby (Schulaula in Weißen¬ 
see bei Berlin), Ad. Schinnerer (Erlöserkirche in Mannheim), Rieh. Amsler 
(Außenbilder und Saaldekoration in Schaff hausen), und von Saschä Schnei¬ 
der (Aula der neuen Universität Jena), das letztere Gemälde auf Leinwand. 

Daß mit der Eroberung der Wand durch die Pastellmanier neue Mög¬ 
lichkeiten, neue Effekte in Aussicht stehen, soll nicht geleugnet werden. 
Für moderne Farbenstimmung und impressionistischen Farbenauftrag ist 
das Pastell sehr geeignet. Ob jedoch die neue Malart, die doch nichts an¬ 
deres ist als eine Kase’inmalerei, für längere Dauer der Werke Gewähr leistet, 
als es die alte Freskotechnik getan hat, wird erst die Zukunft lehren. 

E. Berger. 

August Schmarsow: Juliano Fiorentino. Ein Mitarbeiter Ghibertis in 
Valencia. — Des XXIX. Bandes der Abhandlungen der philologisch¬ 
historischen Klasse der Königl. Sächsischen Gesellschaft der Wissen¬ 
schaften Nr. 3. Mit 13 Tafeln und 2 Textillustrationen. Leipzig. Bei 
G. B. Teubner 1911, 41 S. 

Durch Urkunden und zeitgenössische Berichte ist's längst bekannt, 
daß italienische Künstler schon zu Beginn der Renaissance im Ausland 
jenseits der Alpen und in Spanien tätig waren, und manch befruchtender 
Einfluß muß hinüber und herübergegangen sein. Aber den Werken, die sie 
dort hinterließen, ist man kaum jemals ernsthaft nachgegangen; deshalb 
bedeuten Schmarsows Forschungen über die Alabasterreliefs am Lettner der 
Kathedrale von Valencia eine wirkliche Bereicherung der italienischen 


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288 


Besprechungen. 


Kunstgeschichte. Man hatte sie schon längst mit einem von Ghiberti ab¬ 
hängigen Künstler in Verbindung gebracht, ist doch der Stilzusammenhang 
mit florentinischem Chuattrocento nicht zu übersehen. Freilich bezog man 
irrtümlich die Nachrichten über die Fertigstellung des Lettners 1466 auf sie; 
Schmarsow hingegen weist ihre Entstehung zwischen 1418 und 1423 mit 
Sicherheit nach. Des Meisters Können und Bedeutung rückt dadurch in 
ein ganz anderes Licht; und durch scharfsinnige Kombinationen wird der 
in Spanien Juliano Fiorentino genannte Bildner mit Giuliano di Giovanni 
da Poggibonsi (detto il Facchino) identifiziert; einem Gehilfen Ghibertis, 
der 1407 bei den Vorarbeiten zu seiner ersten Bronzepforte des Baptisteriums 
genannt wird. 

Er hatte in Italien nur die ersten Anfänge der Frührenaissance erlebt; 
und seine Werke in Valencia knüpfen unmittelbar an die florentinische 
Kunst vor 1416 an; d. h. an die ersten Arbeiten Ghibertis und Nannis di 
Banco wie die frühesten Denkmäler Donatellos. Er baut auf dieser Basis 
weiter; und seine Alabasterreliefs erscheinen durch die verschobene Da¬ 
tierung nicht mehr als altertümclnde Schöpfungen eines Zurückgebliebenen, 
vielmehr als tüchtige Arbeiten ihrer Zeit, die nur durch die wenig späteren 
Skulpturen Donatellos, Ghibertis »Paradieses-Pforte« und Luca della Robbias 
Glasuren in den Schatten gestellt werden. Freilich in einem überragen seine 
Leistungen die älteren Arbeiten von jenen: in der intimen Darstellung des 
Beiwerks. Mit großer Liebe schildert er alles Landschaftliche, die archi¬ 
tektonischen Hintergründe und die Tierwelt. Sollten spanische Arbeiten, 
die er in der neuen Heimat sah, hier von Einfluß gewesen sein, oder — eher — 
seine eigne Begabung in dieser Richtung gelegen haben? Vielleicht sind 
hellenistische Reliefs, die er in Italien studierte, auf ihn von stärkerem Ein¬ 
fluß gewesen, wie auf die florentinischen Bahnbrecher, denen die Darstellung 
des Menschen und die perspektivisch richtige Schilderung der Umwelt mehr 
und mehr das Wichtigste wurde? Auf jeden Fall ist er nicht blind an alter 
Kunst vorübergegangen; das beweist schon das Pegasus-Gespann als Wagen 
des Elias zur Genüge. Jenen spezifisch florentinischen Errungenschaften 
der folgenden Jahre blieb er hingegen fern und dadurch ganz und gar Gotiker. 
Manche seiner Arbeiten sind über das kunsthistorisch Interessante hinaus 
auch künstlerisch sehr reizvoll; wie die Krönung Mariae und der Besuch der 
Königin von Saba bei Salomo. 

Die Bildner des vierzehnten und frühen fünfzehnten Jahrhunderts 
verdanken der zeitgenössischen Malerei vielfache Anregung. So ist es gut, 
daß Schmarsow neben der Plastik jener Jahre auch die Gemälde zum Ver¬ 
gleich heranzieht. Sehr einleuchtend ist der vom Autor betonte Einfluß 
Lorenzo Monacos; doch ist es schade, daß er nicht auch die älteren Arbeiten 
der Jacopo Rosselli Franchi und Giovanni da Ponte besprochen hat. Der 


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Besprechungen. 


289 


letztgenannte war ohne Zweifel damals die interessanteste Malerpersön¬ 
lichkeit neben Lorenzo Monaco, ihm im Formalen oft unterlegen, aber in 
der Betonung des Dramatischen und in der psychologischen Ausdeutung 
ihm weit voraus. Und das waren Dinge, die Juliano Fiorentino zweifellos 
sehr interessierten. 

Hoffentlich bedeutet diese wertvolle Arbeit einen Anfang, der ita¬ 
lienischen Kunst außerhalb Italiens nachzuspüren, wie ja die römische 
Jubiläums-Ausstellung des letzten Jahres auch die antik-römischen Werke 
außerhalb der apenninischen Halbinsel in den Mittelpunkt des Interesses 
rückte und wichtige Denkmäler und Ergebnisse ans Licht gebracht hat. 

F. Scholtmüller. 


Repertorium filr Kunntwissentchaft, XXXV. 



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Verkannte Sternbilder und Ketzervorstellungen in der 

mittelalterlichen Kunst. 


Ein Beitrag zur neueren Kunstarchäologie. 

Von Karl Borinski. 


Die Wandmalereien der Chornische des kleinen romanischen Kirch¬ 
leins von St. Jakob in Tramin (Süd-Tirol) geben uns im folgenden Anlaß 
und Ausgang zu einer Rekognoszierungsfahrt durch ein nach unserer Meinung 
noch dunkles und darum wohl gelegentlich ganz falsch aufgefaßtes Gebiet 
mittelalterlicher Ikonographie. 

Seit Dahlkes Aufsatz im Repertorium für Kunstwissenschaft (V 134 ff.) 
gelten jene phantastischen Gebilde in der Kunstgeschichte (vgl. Janitschek, 
Gesch. der deutsch. Malerei S. 158) für Darstellungen des »Kampfes böser 
Mächte und Leidenschaften«. Als Illustration zu einem bedeutenden Ka¬ 
pitel der speziellen mittelalterlichen Literaturgeschichte, des Kampfes 
zwischen Geist und Körper, Tugenden und Lastern, interessierten sie den 
Verf. Allein schon der Anblick der Dahlkeschen Abbildungen brachte ihn 
zu der Einsicht, worin ihn das Studium seiner Abhandlung bestärkte, daß 
die Bilder mit diesem Kapitel nichts zu tun haben können. 

Könnten wir uns eine mittelalterliche Kunstrichtung denken — denn 
die Bilder stehen nicht für sich allein, sondern in weiteren Zusammen¬ 
hängen —, die gleich Shakespeares Theater an der Darstellung der bösen 
Leidenschaften unter sich, zunächst ohne jede Rücksicht auf das 
Gute, auf Belohnung oder Bestrafung, ein psychologisch dramatisches 
Interesse nähme, so wären diese Wandbilder wirklich ihr monumentaler 
Ausdruck. Nichts in ihnen deutet auf den Widerstreit des Geistigen und 
des Körperlichen, auf den Gegensatz von Tugenden and Lastern. Sollen es 
derartige Allegorien sein, so sind es zuversichtlich lauter Laster. Laster 
unter sich, in wütendem Kampfe oder schnöder Vertraulichkeit unterein¬ 
einander begriffen. Was aber sollte den mittelalterlichen Maler bewogen 
haben, in einer kleinen Dorfkirche in den Alpen ein solches Thema ohne 
jeden Hinweis auf das ihm geziemende Höllenlokal und wachthabende 
Teufelsgendarmerie anzubringen. Statt dessen ergeht er sich in lauter 
antiken Motiven, die mit »Zentauern und Sirenen«, den hierfür handbuch- 

Repertorium für Kun«twi«»en*chaf», XXXV. 20 


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292 


Karl Borinski, 


gerechten repräsentativen Typen im Mittelalter, bei weitem nicht erschöpft 
sind. Auch die hier kunstgeschichtlich nahe angrenzenden Randbilder der 
Decke des kleinen. Kirchleins von Zillis an der Via mala des Splügen gehen 
über diese 2 antiken Typen hinaus. Allein sie stehen, zufällig herausgegriffen, 
je für sich allein. Sie stehen weder so auffällig in enger, sogar dramatischer 
Verbindung miteinander, noch fallen sie durchschnittlich so aus der ge¬ 
wohnten Reihe, wie hier dieser ganz selbständige, offenbar eine ganz selb¬ 
ständige Bedeutung gemeinsam ausdrückende Typenkreis. (J. R. Rahn, 
Die bibl. Deckengemälde i. d. Kirche von Zillis im Kanton Graubünden, 
Mitteil. d. Antiq. Gesellsch. in Zürich. Bd. XVII (1872), H. VI. Ders. 
darüber in v. Zahns Jahrbüchern f. Kunstwiss. IV (1871) S. 105 ff. und 
Repert. f. Kunstw. V 406 ff., vgl. auch J. R. Rahn, Gesch. d. bild. Künste 
i. d. Schweiz (Zürch 1876) S. 290—93.) 

Diese Überlegungen bewogen den Verf., die Fragestellung zu ändern 
und von dem Thema des Kampfes der Leidenschaften gänzlich abzusehen. 
Leider sind die Veröffentlichungen über diese Denkmäler, so sehr man 
ihnen die vorläufige Beschreibung und zeichnerische Festhaltung eines wohl 
halb zerstörten Bildmaterials zu danken hat, weder vollständig noch photo¬ 
graphisch genau. Man halte es also dem Interesse des Gegenstandes zugute, 
wenn hier auf Grund so wenig genügenden Materials sich aufdrängende Ver¬ 
mutungen ausgesprochen und begründet werden sollen. 

Zunächst die inneren Nischenwände zu Tramin (a. a. 0 . S. 133 ff.), 
an denen rechts und links (durch den Altar und das Fenster »von Anbeginn 
an unterbrochen« vgl. S. 137, Z. 14T5 von unten) zwei Gruppen von phan¬ 
tastischen Gestalten unter (späteren) Folgen von Aposteln (von anderer 
Hand ! s. Repert. V 142 f.) dargestellt sind. Die rechte Gruppe (a. a. O. 
S. 139, Abb. VI) ist leider nicht vollständig skizziert wiedergegeben. Sie 
besteht aus vier Figuren, von denen die äußerste rechts nur ein gekrümmtes, 
mit Schuh und Strumpf bekleidetes Bein im Bild vorschiebt und auch 
in der Beschreibung (auf S. 139) zu kurz gekommen ist. 

Halten wir uns an die drei mitgeteilten: ein flammenspeiender Mann 
mit spitzer Haube, eine Schlange in der rechten Faust in der Mitte haltend, 
mit ganz unklarem, fisch-vogelartigem Unterleib, dabei aber zwei Füßen, 
den rechten Fuß aufgesetzt, den linken (mit Klauen ausgestatteten, aber 
so wenig als der abbreviierte rächte ganz sicher definierbaren) von einem 
Angreifer, den er am Schopf faßt, aufgehoben. Es ist ein von ihm weg nach 
rechts sprengender Zentaur, mit den gleichen, schwer definierbaren (Hunde ?)- 
Pfoten ausgestattet, wie die linke des Flammenspeiers. Als wirklicher 
»Hundezentaur« —• mit menschlichem Oberkörper und Hundeleib — er¬ 
schien er uns als ebensolche Seltenheit, wie die Hundsköpfe »cynocephali« 
(sogar als ganzes Volk bei den Antipoden) damals auf Erden und am 


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Verkannte Sternbilder und Ketzcrvorstellungen in der mittelalterlichen Kunst. 293 

Himmel häufig erschienen. (Vgl. weiter unten K. Dyroff a. a. 0 . S. 500 f. 
und den liber monstrorum c. 16 bei Haupt Op. II 228.) Der Flammen- 
speier wird noch anderweitig angegriffen: von der dritten Figur, einem 
Schützen mit gespanntem Bogen. Auch er ist ein Mischgeschöpf, ein Fisch¬ 
mensch, sich als solcher schon im Oberleib scheinbar ankündigend und in 
einen regulären Flossenunterkörper auslaufend. 

Ich gestehe gleich, daß es eben diese Zusammenstellung war — eines 
Schlangenhalters, eines Zentauren und eines Schützen — die mich ver- 
anlaßte, trotz ihrem seltsamen Auftreten und ihrer noch seltsameren Equi¬ 
pierung alsbald an Tierkreisbilder zu denken. So stehen sie auf der Stern¬ 
karte beisammen, zwischen Äquator und Wendekreis des Steinbocks: der 
Ophiuchos mit der Schlange, der Sagittarius und (auf der südlichen Himmels¬ 
sphäre) der Zentaur. Die spitze Mütze, sonst dem Kepheus eignend, trägt 
der Ophiuchos auch in der berühmten Münchener astronomischen Wenzel- 
handschrift (Clm. 826 fol. 34—41), wo er auch, wie hier, die Schlange 
hinter sich hält. Demnach müßte das schwer definierbare nach hinten 
gekrümmte Doppelschwanzgebilde, auf dem der Ophiuchos offenbar ritt¬ 
lings steht, wie es der Zeichner auch wiedergegeben haben mag, das unter 
ihm (südlich) stehende Sternbild des Skorpion sein: 

aüx&v iirrppdaaato cpatvo(x£vov ’Ocptou/ov. 

rocra'tv iirtöXt'ßei Ö7jptov ap/potepom 

Sxopiriov . . . • 

ipßo? . . . Aratus, v. 76 sq. 

Noch näher unserer Darstellung schildert es eine mittelalterliche Kunst- 
beschreibung (des mit der himmlischen Sphäre ausgemalten Betthimmels 
der Adele, Tochter Wilhelms des Eroberers) von dem Abt Baudri von 
Bourgueil, wie sie (nach M6m. de la Soc. des antiqu. de Normandie III 
$6rie XXVIII p. 20 sq.) E. Maas (Comment. in Aratum Berol. 1899, p. 609 sq.) 
mitteilt (V. 637 sq.): Scorpio subsequitur, quem Serpentarius angens et 
vclut infestans calcat utroque pede. 

Dann gehörte das sich ins Bild vorschiebende gekrümmte Knie mit dem 
Jagdstiefel dem nördlich angrenzenden Sternbilde des Herakles ingenicu- 
latus (»rfpvaaiv«), der wohl die Keule und die mit »Schweif und wul¬ 
stigen Kopf« ausgestattete Löwenhaut trägt. So wäre die mangelhafte 
Beschreibung verständlich, die Dahlke von den Rudimenten dieser vierten 
Figur gibt und als beginnende »tierische Form« ihres gekrümmten Ober¬ 
körpers interpretiert. Daß der Arcitenens, eigentlich ein Zentaur, den Fisch¬ 
unterkörper zeigt, ergibt für die Komposition die Erleichterung, daß er 
unmittelbar mit dem andern südlichen im Bild zusammengebracht werden 
kann. Der zweite Pferdeleib war (noch dazu solchen Zeichnern) schwer, 

20 * 


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294 


Karl Borinski, 


wenn nicht unmöglich der Komposition einzufügen. So stellt sich dafür 
der strahlartig gerad ausladende Fischleib ein. 

Aber warum gerade dieser? Den Pferdeleib zu vermeiden berechtigten 
den Künstler andere Vorstellungen. Die Darstellung des Schützen 
nicht als Zentaur wird auch von den maßgebenden antiken Stern(Kata- 
sterismen)büchem des Mittelalters bezeugt (s. Georg Thiele, Antike Himmels* 
bilder . . . mit Beiträgen zur Kunstgeschichte des Sternenhimmels (1898) 
S. 155. Franz Boll, Sphaera. Untersuchungen zur Gesch. der Sternbilder 
S. 131). Boll bringt a. a. O. eine Illustration aus lateinischen Handschriften 
»als zweibeiniger Silen (Krotos) mit Pferdefüßen und Roßschweif«. 
J. H. Voß in seinem Aratus (Heidelb. 1824 S. 60 f., zu v. 299—301 der 
<Datvofteva) will aus dem Schwanken über den Begriff Zentaur bei diesem 
Satyr-Schützen schließen, daß sich überhaupt erst an dem Sternbild 
die alte Vorstellung der Zentauren als zweibeiniger wilder Männer zu der 
von Roßmenschen entwickelt habe. »Offenbar orientalischer Sphäre ange¬ 
hörend» erklärt Boll (a. a. 0 . S. 262) Abweichungen des Schützenbildes mit 
dem Kopfe eines Hundes und Wolfes (Schakals!) Soll man an eine »jener 
Mischgestalten denken, die sich auf ägyptischen Himmelsbildern häufig 
finden«? Er weist auf einen (weiblichen) Schützen mit menschlichem Kopf 
in eng anliegendem Gewände auf dem (ägyptischen) Rundbild von Dendera, 
bei dem er freilich einen Zusammenhang bezweifelt. In dem berühmten 
Steinbuche (Lapidario) des Königs Alfons X. von Castilien aus demXIII. s., 
einem Erzeugnis der alchymistischen Astrologie, finde ich (Lapidario del Rey 
D. Alfonso X. Codice original in 50 Abdrücken (der Madrider Akademie 
1883] fol. 96) einen Schützen (mit menschlichem Antlitz) in eng anliegenden 
Schuppenpanzerkleide; denselben öfters in der Münchener Wenzelhandschr. 
(Clm. 826) so fol. 12 verso, mit gegen ihn ansprengendem Hunde fol. 13 ib. 
den Fisch neben sich, auf den er deutet. Abt Baudri (v. 639 r.) setzt an 
Stelle des Schuppen- ein Federnkleid: »imminet architenens pedibus caudaque 
ferinus *pen n a coaptat a vem, sed facies hominem«. Allein der aufschlu߬ 
reiche Verfolger des Übergangs des griechischen Sternenhimmelsbildes in die 
abenteuerlichen Mischgestalten der »Sphaera barbarica« gibt (a. a. O. S. 423 ff.) 
einen andern — grundsätzlichen — Fingerzeig für ihre methodische Er¬ 
klärung. Er bezieht sich auf die Freiheit, weitauseinander liegende Stern¬ 
bilder nach den gemeinsamen Aufgehen am Sternhimmel (wobei das eine 
das etwa verdunkelte andere für die Orientierung vertreten kann) zu kom¬ 
binieren : »so daß z. B. wenn nach dem Text (des Sternbuchs) der Ober¬ 
körper einer Frau und der Rücken eines Stieres auf geht, diese zu einer aben¬ 
teuerlichen Mischgestalt vereinigt werden« (a. a. 0 . S. 424). 

Inwiefern dies Prinzip auf die zodiakale Deutung unserer Kompositionen 
exakt anwendbar ist, dies zu entscheiden, muß ich ihren speziellen Be- 


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Verkannte Sternbilder und Kctzervorstellungen in der mittelalterlichen Kunst 


295 


arbeitern überlassen. Außer traditionellem Zusammenhang stehen die 
Gruppen nicht, wenn Janitscheks Anmerkung (a. a. 0 . S. 158) sich bestätigt: 
er habe »in genauester Übereinstimmung die einzelnen Vor» 
Stellungen und Gruppen wiedergefunden in einem (welchem?) byzan¬ 
tinischen Kodex der Vaticana aus dem elften Jahrhundert, der einen Hiob¬ 
kommentar enthält«. Einige der Vorstellungen, auf die wir noch zu sprechen 
kommen, jedoch nicht die Gruppen kehren auch wieder an dem schon 
berührten Orte in Zillis. 

Wie dem auch sei, ob wegen ihrer astronomischen Bedeutung als 
»Paranatellonta« oder ihrer rein künstlerischen (oder irgendwie super- 
stitiösen: ketzerischen?) Anziehungskraft, in jedem Falle kehren im Traminer 
Bilderkreis die Zusammensetzungen mit Fischschwänzen, bzw. hybride'Bil¬ 
dungen von Wasser geschöpfen auffallend wieder. Ebenso ist es in 
Zillis. Auch die m. a. Bildhauer bevorzugen sie ja in ihren »Phantasie¬ 
spielen« an Säulenkapitellen u. ä. Die technisch leichte und vielseitige 
Verwendbarkeit des elegant und plastisch zusammengefaßten Fischleibes 
vor anderen tierischen Bildungen hat hierzu künstlerisch wohl das ihrige 
beigetragen. Am wenigsten einleuchten will nun auch hier die von der 
Leidenschaftstheorie versuchte Interpretation des Fisches »als Symbol des 
Bösen« (Rahn in v. Zahns Jahrb. f. K. IV in nach Otte, Handb. der kirchl. 
Kunstarchäol., S. 869 ff.) inmitten einer Anschauungswelt, in der fy&u? das 
Heilsymbol selber ist. Das Gegenteil ist jüdisch. Wohl aber können Levia¬ 
than u. Behemmoth, rein phantastisch als Meerungetüme vorgestellt, freie 
Vorstellungen von allen möglichen Meermonstren bei den Künstlern sank¬ 
tioniert haben. 

Keinen so offen kundigen Bezug auf zusammenstehende Sternbilder 
zeigt in Tramin die linke Gruppe. Die Abbildung (a. a. 0 . S. 141) soll voll¬ 
ständig sein. In vertraulichem Gespräch begriffen ist ein Paar rechts, ein 
Delphinreiter mit einer Binde auf dem Kopfe, der sich im Zuhören durch 
einen ihn in die Waden beißenden Meerhund nicht stören läßt und sein ge¬ 
stikulierender Partner mit wunderlich zusammengewachsenen hoch an die 
Schulter gezogenen Beinen, die als Klumpen oben wieder »in einen Gänse¬ 
kopf ausgehen« sollten. Er hält diesen Stumpf mit dem linken Arm um¬ 
faßt und fingiert mit der Hand darauf herum. Die Wiedergabe durch den 
Zeichner darf wohl Zweifel erwecken. Vielleicht ist der pfeilerartige 
Klumpen vom Körper abzutrennen, oben eine Lyra? Das Paar interpretiert 
der Veröffentlicher als verschiedenen Geschlechts. Dazu liegt auf seiner 
Zeichnung kein zwingender Grund vor. Eher fällt die Ähnlichkeit 
in der Bildung auf, die in den Gesichtern noch mehr hervortreten würde, 
wenn sie (an ein Fenster anstoßend) nicht zum Teil abgebröckelt wären. 
Sollte man hier eine phantastische Ausmalung des Sternbilds der »Zwillinge« 


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2 QÖ 


K arl Borins ki, 


sehen dürfen, so wäre in dieser Sphäre weder die Zweigeschlechtlichkeit 
(Boll S. 300 f.), noch die Hineintragung anderer Auffassungen (als Amphion 
und Zethos, Herakles und Apollon) ein Hindernis. Auf dem Zodiakus der 
Herrad von Landsberg (PI. V der Straßburger Brandschadenausgabe) werden 
die gemini kämpfend mit Speer und Schild vorgestellt: als »gemini Aloidae«? 
vgl. den liber monstrorum (s. unt.) c. 55. Hpt. p. 236. In der »großen Ein¬ 
leitung« des arabischen Astronomen Abu Ma‘Sar (f 886, über ihn Boll s. 413, 
Karl DyrofT, sein Bearbeiter in Beilage VI ib. S. 482 f.) heißt es (s. 507 oben): 
»Im dritten Dekan der Zwillinge steigt Apollon auf; er hat eine Binde auf 
dem Kopf und eine Leier..., ferner steigt ein bellender Hund auf, ein 
Delphin, d. i. ein Meertier . . .« 

Der Delphinreiter, nach Usener (Sintflutsagen S. 149 ff.) ursprünglich 
Melikertes (der tyrische Melquart) = Palämon hat ja von alters als ve«öv 
?uXa 5 eine funktionelle Beziehung zu den Dioskuren (Euripides, Iph. Taur. 
v. 270 sq.). Dürfen wir daran hier noch denken? Das Mittelalter kennt 
seinen Namen wohl nur aus den Eklogen des Virgil (III v. 50) und hat seine 
Funktion mit dem Ruder in der Hand (nach Münzen mit dem Taras-Jüng- 
ling?) so verschleiert oder mißverstanden, daß es auf den Rheimser Mo¬ 
saiken des 13. Jh. (s. Piper, Myth. u. Symb. I I, 28. 2, 103) darin die E r d e 
auf dem Meere schwimmend (durch die Beischriften terra, mare) 
erkannt wissen wollte. Jedenfalls brauchen wir ihn uns nicht äußerlich 
abzuleiten aus der Figur mit dem »Meertier« zwischen den Füßen, wie sie (als 
Andromeda, Boll. s. 431) das Steinbuch des Königs Alfons gleich eröffnet. 
In keinem Falle tritt der Delphinreiter auch in diesem Kreise vereinzelt auf. 
In Zillis kehrt er wieder mit einer Axt über den Schultern. Die Axt findet 
sich auch in den Händen eines Negers, als ersten Dekans des Widders auf 
fol. 94 des Steinbuchs Königs Alfons *) (Abbildung bei Boll S. 433) >). In 
Zillis tritt auch ein Widder mit Delphinschweif und ein Affe als Delphin- 
reiter auf. Die Affen sind am ägyptischen Sternenhimmel heimisch (Ideler, 
Antike Sternramen p. 413), ebenso wie die unter den »Scherzen« der 
m. a. Plastiker besonders auffallenden Kamele. Einen Affen als Dekan 
weist Dyroff bei Boll s. 270 nach. 

Hunde mit Fischleib (»Scylla«) sind unter dem Eindruck der Seehunde 
damals teratologisch belegbar (s. unt. liber monstrorum c. 20. Hpt. 242). 
Was soll man aber aus dem vogelartigen Geschöpfe machen, das neben dem 

*) Vgl. S. 8: *6 xtrr^yiov jriXexuv« in der Überlieferung Tenkros »des Babyloniers«. 
Diese Axt in der Hand des ersten Dekans als Führer der 36 Dekane, analog Zeus dem 
ersten und Führer der Zwölfgötter, — eigentlich ein Doppelbeil — hat Boll (Neue Jahrb. 
f. d. klass. Alt. 1908, XXI S. 120 f.) bis auf den kretischen Blitzgott (als späteres Attribut 
des Jupiter Dolichenus) zurückverfolgt; worauf mich Herr Dr. Heeg fr. aufmerksam 
macht. 


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Verkannte Sternbilder und Ketzervorstellungen in der mittelalterlichen Kunst. 297 

beißenden Hunde (Prokyon) an der Spitze des linken Fußes des Delphin - 
reiters aufsteigt und seinen gewaltigen gekrümmten Schnabel dessen Partner 
fast ins Gesäß stößt? 

Der Halbmensch mit dem Hunds(Schakals)kopf links, der eine gehörnte 
Schlange zwischen den Zähnen hat, wäre gleichfalls durch Abu Ma‘$ar 
(bei Dyroff a. a. O. 505 cf. 501) zu erklären. Dort steigt ein solcher im 
ersten Dekan der Zwillinge zugleich mit dem »Kopf der gehörnten Schlange« 
auf. Es ist die Hydra. Die Schlangen auf unseren Bildern erinnern in der 
gestreckten Haltung und den knotigen Windungen (bei der Schlange des 
Ophiuchos zwei, bei dieser eine) an die des Steinbuchs des Königs Alfons. 
Beim zweiten Dekan der Zwillinge verbindet Abu MaԤar (a. a. O. 505) 
noch einmal »die Mitte der gehörnten Schlange und einen Schakal, an dessen 
Vorderfuß ein Zeichen ist«. Ein solches Zeichen führt unser Schakalmensch 
an seinem linken Vorderfuß in Form eines Knotens mit Gänsefuß. 

Dieser Gänsefuß entschuldige einen naheliegenden Exkurs. Er findet 
sich noch bei dem großen fliegenden Schwein am H imm el, das Rabelais 
(Pantagruel IV chap. 41) beschreibt: les pieds blancs, diaphanes et 
transparens comme ung Diamant et estoient largement pattez, 
comme sontlesoyeset comme jadis ä Tholose les portoit la 
Royne Pedaucque. Die commentaires de Le Duchas weisen hier 
(s. v. Pedauque) auf die Ketzer sekte der »Caignars«, die in Languedoc 
und Bearn gezwungen waren, auf ihrer Kleidung das Zeichen eines Gänse - 
oder Entenfußes zu tragen. Für diese Seite verweisen wir hier gleich auf 
den zweiten Teil dieser Abhandlung. 

Die gänsefüßige Königin in mittelalterlichen Gedichten (Schade, 
geistl. Gedichte des XIV. und XV. Jh. vom Niederrhein, s. 304 f.) und an 
französischen und burgundischen Kirchenportalen ist eine crux der Literar¬ 
und Kunsthistoriker (Simrock, Handb. d. deutsch. Myth .3 s. 375. Vogt, 
Paulu. Braune Beitr. IV 93, Gaster, Germania XXV 292. Vöge, Die Anfänge 
des monumentalen Stils im Ma. s. 354 ff.). Sie gilt für die Königin von 
Saba als Sibylle (vgl. H. Herzog, Der Gänsefuß der Sibylle, Anz. f. Schweiz. 
Altertumskunde 1892, Nr. 1 s. 2) und hat als solche W. Herz (Gesamm. 
Abhdlg. s. 443) zu der verzweifelten Konjektur pedes anserinos für asininos 
beim ersten Auf tauchen der Legende (um 1150, in der Windberger Hs. des 
Honorius Augustodunensis) angeregt. Denn der Freundin des Salomo 
werden im Midrasch und der muselmännischen Sage haarige, ja Eselsfüße 
nachgesagt (Herz a. a. O. 418, 425 u. ö.). Hier aber werden wir auf Isis 
als »hundsköpfige Göttin des glanzvollsten Fixsterns des Himmels, des 
Sirius oder Hundsterns« (Boll s. 208) geführt. Die Gänse-, Enten- und 
Schwanenfüße der Wolkenfrauen, nächtlich hilfreicher Zwerge, wie der 
Heinzelmännchen, die sich im Sande verraten (Heine: sie haben nämlich 


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298 


Karl Borinski, 


Gänsefüße und wollen nicht, daß das jemand wisse . . . ) rufen sich bei un¬ 
serem Gänsefuß als Sternzeichen von selbst in Erinnerung. Es sind ent¬ 
weder geistliche Diskreditierungen oder anderweitige Vermengungen ur¬ 
sprünglicher Sternenfüße. Die Symbolik in dem deutschen Gedichte Von 
der Sibyllen Weissagung (v. 249 f.) spricht deutlich genug; daß, als sie aus 
Scheu vor dem Kreuzholz durchs Wasser (der Taufe) watet, 

wart der gensevoiz gestalt 

eines minschen voiz dem andern gelich: 

des erfreute do Sibilla sich. 

Was soll nun aber neben der hundsköpfigen Gestalt die prototypische 
Form der mittelalterlichen Fischsirene mit dem leierartig emporgehobenen 
Schwanzpaar? Ich gestehe, daß sie mich lange irre machte und an meiner 
Deutung sogar zweifeln ließ. Eis soll uns veranlassen, fußend auf der sorg¬ 
fältigen Bearbeitung des beziehungsreichen Themas in der klassischen Phi¬ 
lologie (H. Schräder, Die Sirenen nach ihrer Bedeutung und künstlerischen 
Darstellung, Berlin 1868, dazu jetzt O. Crusius, Die Epiphanie der Sirene, 
Philologus 50, 97 ff.) uns spezieller um das Auftreten des gerade für die 
romantische Dichtung und Kunst so anziehenden modernen Typs der 
odysseischen Versucherinnen zu erkundigen. Viel zu gleichmütig nimmt 
man meines Erachtens in der modernen Archäologie den Ersatz des antiken 
Vogelleibes der Sirene durch den Fischunterleib hin, der schließlich so fest 
ward, daß die (bis ins spätere Mittelalter schon durch überdauernde antike 
Monumente, wie die 12 Sirenenstatuen in Konstantinopel s. Piper I 1, 386 
fortlcbende) antike Form der Sirene heute selbst von Kennern nicht mehr 
verstanden, sondern mit den »Harpyen« verwechselt wird. Das Festhaften 
der antiken Form bei Unterrichteten des Mittelalters (so z. B. bei der Herrad 
von Landsberg) warJ veranlaßt durch ihre Überlieferung bei den kirchlich 
approbierten Mytho- und Etymologen (Fulgentius, Isidor). Wann, wie und 
wodurch ist sie eigentlich verdrängt worden? Der Vogeltypus paßt ja doch 
weit mehr zu der Vorstellung, welche die Übersetzung der Siebzig von den 
hüpfenden Wüstengespenstern des Jesaias, Hiob, Micha durch »Sirenen« 
mit ihnen verknüpfte. (Vgl. jetzt den Herausgeber der LXX E. N e s 1 1 e 
bei Crusius a. a. O. s. 97. Anm. 6. Könnte nicht auch eine Art Gespenster, 
vor denen sich die Rabbinen des Talmud durch bestimmte Gebete zu 
hüten haben und die der Herausgeber des babylonischen Talmud Lazarus 
Goldschmid [Lpz. 1906 ff.] mit »Die Schwirrenden« übersetzt, darauf 
zurückgehen?) Eine spätantike Vermengung dieser alten »Todesdämonen«, 
der Verkünderinnen der Hadesgesetze bei Sophokles (Fr. 777 N.) mit den 
Nereiden und Najaden des Hades (vgl. E. Maaß, Orpheus s. 270 A. und 275 


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Verkannte Sternbilder und Ketzervorstelludgen in der mittelalterlichen Kunst. 399 

fnit A.), wie sie bei den todverkündenden Meerfrauen der deutschen Nibe¬ 
lungen (st. 1473—8oLachm.) z. B. hervortritt, könnte schwerlich erst so spät 
und dann erst seitdem 13. Jahrh. durchgreifend diese radikale Veränderung des 
Typus in den Fischleib bewirkt haben. Er müßte dann weit früher und 
entschiedener auftreten. Denn gerade bei solchen Anlaß zeigt sich doch sehr 
markant die alte Vogelsirene, Nib. str. 1476: Sie swebent sam d i e v 0 g e 1 e 
vor im üf der flüt ! Vom Fischleib ist nicht die Rede, dagegen von den 
Kleidern, unter denen sie offenbar ihre antiken Vogelbeine verstecken wollen. 
Hagen stiehlt sie ihnen beim Baden und lockt damit nur eine falsche Glücks¬ 
weissagung hervor. Als er sie ihnen daraufhin wiedergibt, erhält er von 
den tückischen Wesen erst die wahre: »daz ir sterben müezet in Etzelen 
land«. Der Dichter hat offenbar genau das gleiche Bild der Sirenen (mit 
Flügeln und Vogelfüßen, aber in langen Gewändern, die diese verstecken 
sollen) in der Vorstellung gehabt, wie im Hortus deliciarum der Herrad von 
Landsberg (PI. LVII und LVIII der Straßburger Nachbilderausg.). Die 
älteste Datierung der Fischsirene in das 7. Jahrhundert (so bei Baumeister 
mit Beziehung auf eine selbst auf der Münchener Staatsbibi, unbekannte 
Schrift von Bolte: »De nonnullis ad Odysseam pertinen tibus«) geht doch 
wohl nur auf die chronologische Ansetzung der mittelalterlichen Urkunde 
zurück, die von der neuen Form (NB. in der griechischen Lautgebung 
»sirine«) zuerst berichtet. Und das ist der (in Handschriften des X. Jh.) 
erhaltene Traktat eines Anonymus, über monstrorum de diversis generibus, 
den sein philologischer Herausgeber Moritz Haupt (Opuscula II s. p. 228, 
c. 16) wegen seiner krassen Barbarei und Unwissenheit vor die »karolingische 
Renaissance« zurückschieben zu müssen glaubte. Nach Manitius (Gesch. 
der lat. Lit. des MA. I [München 1911 ] s. 115) »erheben sich jedoch Stil und 
(irisch anklingende s. 114) Orthographie« (die er gegen Haupts Normali¬ 
sierung restituiert wissen will) über die der Merovingerzeit. Er setzt die 
Schrift daher in den Anfang der karolingischen Epoche. Gegen das 6. Jh., 
das der erste Herausgeber J. Berger de Xivray (Traditions teratologiques, 
Paris 1836, p. XXXIV) annahm, spricht schon die Benutzung des Isidor. 
Piper, der meines Wissens zuerst das Auftreten der Fischsirene hier (in Ber¬ 
gers Ausgabe) nachwies, getraute sich überhaupt nicht, es zu datieren. In 
der Tat ist im 10. und II. Jh. (bei Notker und im alemannischen Physio- 
logus s. Müllenhoff-Scherer, Denkmäler D 263 f.) die Vogelsirene noch ohne 
jede Vermengung mit Fischattributen. In solcher Übergangsmisch - 
form, zugleich mit Adlerflügeln und -krallen und mit Fischschwänzen 
ausgestattet, führen sich die »neuen Sirenen« ein sowohl in der bildenden 
Kunst, wie in dem Psalter der Isabelle de France (abgebildet bei E. P. Evans, 
Animal Symbolism in ecclesiastical Architecture p. 314), an der Fassade der 
Johanniskirche in Schwäbisch-Gmünd, als in der Literatur bei Konrad von 


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300 


Karl Borinski, 

Megenberg (Thomas von Cantinprd) noch im 14. Jh. (Buch der Natur, hersg. 
von Fr. Pfeiffer, Stuttg. 1862 s. 240, 6 ff.). 

Die Fischsirene bei dem teratologischen Anonymus, gehöre sie selbst 
schon ins 7. Jh., tritt jedenfalls außer Zusammenhang auf und beweist bei 
dem idiotischen Charakter dieses Privatschriftstellers nicht viel. Da er 
nämlich (c. 44, Hpt. p. 233) zugleich die Harpyen beschreibt, so können 
wir hier weiter nichts konstatieren, als das Bedürfnis der Differenzierung 
der beiden gleichartigen Mischgestalten. Als ein bloßes und zwar indisches 
»Meerwunder« wie der Anonymus ( 1 . c. »in India nasci«) hatte schon Plinius 
(H. N. X 136) die Sirenen in der römischen Welt auffassen gelehrt. Für 
unser prototypisches Sirenenbild mit den beiden frei und schön oben zu¬ 
sammengefaßten Fischschwänzen kommt der Anonymus schon deshalb 
nicht in Betracht, weil bei ihm die Sirenen den Fischschwanz in Schlamme 
versteckt halten. Es ist der verführerische Hinterhalt des kirchlichen 
Symbols, der bei unserer offenen, ruhig in sich zusammengefaßten Fisch - 
sirene ganz mangelt. 

Gerade ihr zusammenhangloses Auftreten unter den Sternbildern neben 
dem Hundskopf, der dieWasserschlange frißt, könnte Fingerzeige geben über 
den wirklichen Zusammenhang. Wir werden hier nach einer ganz andern Seite 
gewiesen, die am deutlichsten und zugleich am weitesten sichtbar zum Aus¬ 
druck kommt in dem locus classicus für alle diese Dinge im Mittelalter bei Virgil 
(Aen. V v. 844 adderTat, fin.). In es scheint die leuchtend-glühende Grundbe¬ 
deutung des Namens der Seirenen (G. Curtius, Grundzüge d. griech. Etym.« 
s. 541 Nr. 6Ö3), die hier zum Seirios die Serena stellt, die verführerisch 
einschläfernde, in die Fluten ziehende Ruhe des Himmels und des Meeres 
(o nimium c a e 1 o et pelago confise sereno . . . Aen. V 870. c a e l i totiens 
deceptus fraude sereni ib. 851). Crusius sieht in ihr das verführerische 
Gespenst der »Mittagsstimmung« (»In diesem Sinne haben die Sirenen 
mit der Schwüle des Hochsommers wohl in der Tat etwas zu schaffen« 
a. a. O. 106 f.). Sie lauert jetzt an den »einst gefährlichen, von vielen Ge¬ 
beinen weißen Felsen der Sirenen« (v. 864 f.). Ihre Absicht ist nicht mehr, 
die Schiffer zur Lust ans Land zu locken, sondern melodisch einzuschläfern 
und dann (wie der Magnetberg, mit dem sie zusammengestellt werden) 
die Schiffe zu vernichten (scheitern zu lassen), die Schiffer herabzuziehen 
(Lorelei 1 ). Schon Fulgentius glaubt den Namen so von uopeiv trahere ab- 

*) »Über den Namen Lorelei« hat Wilh. Hertz (Gesam. Abhdlg. Stuttg. 1905, 
S. 456-491) eine umfassende Spezial-Untersuchung angestellt mit dem sehr allgemeinen farb¬ 
losen Ergebnis, daß »Lorelei als Elbenfels, Zwergfels zu erklären sei« (S.473), Ui rhein. = 
Fels. spez. des dortigen schimmernden Schiefergesteins; Uie Schiefertafel der rheinischen 
Kinder. Um wie viel bestimmter im Sinne der Sage wirkt die aus unserer Darlegung her¬ 
vorgehende Deutung, für die man sich nur an den Grund begriff des Wortes luren, lauem 


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Verkannte Sternbilder und Ketxervorstellungen in der mittelalterlichen Kunst. 301 

leiten zu müssen. Daß die singende Sirene hierbei von oben, dem »fun¬ 
kelnden Felsen« herab, wirkt, wie eben in der Loreleisage, erklärt sich aus 
ihren musikalischen Himmelsbeziehungen, wie sie weiter unten noch zur 
Sprache kommen. Unter welchem Bilde konnte sich die verführerische 
Wirkung der Gluthitze auf dem Meere natürlicher darstellen, als in der Form 
des zum Untertauchen in die Fluten einladenden, einschläfernden, »feuchten 
Weibes«, nicht mehr des an das Land lockenden, lustigen trügerischen Vogels. 
Doch ist -das Maskulinum (etwa nach den Wortformen bei Virgil Sireni 
Sireno ?) zunächst nicht ausgeschlossen. Wie kunstgeschichtlich am Kreuz¬ 
gang des Großmünster in Zürich (s. Abb. bei Vögelin, Mitt. d. Ant. Gesellsch. 
in Zürich I Heft 6 Tafel IV Nr. 6) und neben der weiblichen Sirene im 
Psalter der Isabelle de France der männliche Siren zu belegen ist, so sollte 
er auch literarhistorisch (vgl. den Artikel Sirene im DWB.) nicht einfach 
wegkonjiziert werden! Hat er doch seine Analogie am männlichen »nicchus«, 
Nix, Neck ! Übernimmt ja doch im Norden am Ende der Meer mann 
vornehmlich die Musikkunde der Sirenen (worüber weiteres unten). 

Für die sternbildliche Vermittlung der Fisch-Metamorphose der Sirene 
gibt gleich Zillis einen ebenso interessanten als anschaulichen Beleg. Hier 
treffen wir auf ein nicht bloß hundsköpfiges, sondern sozusagen nilpferd- 
artiges Monstrum mit zwei Fischschwänzen, wie die Sirene, die 
einen nackten Menschen, dessen emporgehobene Hände gefesselt sind, 
an einem Seile zu sich herabzieht. Boll beschreibt (s. 163) die »Nilpferd¬ 
gestalt« der Isis (Rerets. 215), deren Amt es ist, den gefesselten Set (Typhon) 
— als Stier oder Stierschenkel — an einem Stricke zu hüten. Dies tropische 
Tiersternbild scheint hier mit der schreckenden Vorstellung von der doppel- 
fischleibigen Serena verbunden,' die die schlafgefesselten Schiffer zu sich 
herabzieht. Wie eine solche Verbindung erfolgen konnte, möchte ich ver¬ 
suchen wenigstens durch eine Kombination zu erklären. 

Unter den verschiedenen Sternbildern, zu denen »das königliche Ge¬ 
stirn« der Isis verkörpert in Beziehung tritt, ist das vornehmste das der 
Jungfrau (s. Boll II 6 »Isis als Hundstern und Jungfrau Eileithyia« bes. 
s. 209 f.). Bei den phantastisch Namen ausdeutenden Arabern ist nun die 

zu halten braucht. Dieser »geht (Heyne im DWB. VI304) von einer augenthätigkeit aus, 
etwa des starrsehens . . . altnord. Iura, to doze, nap (Vigfusson) zunächst von dem starren 
blicke eines schlaftrunkenen; danach schwed. Iura, dän. Iure ein Schläfchen halten; 
holländ. loeren auch connivere (Kilian) vielleicht auch elsässisch: »o wie oft hastu uff- 
gethon die ougen (erwachend) . . . aber du sitzst noch zu luren u. etwan entschlost du 
widertlmb« (Keisersberg christenl. bilger 153 b.). Die Hypnotisierung durch den be- 
glänzten Felsen im Wasser tritt also zum mindesten in seinem volkstümlichen Namen 
ursprünglich hervor; und ist die darauf gegründete Sirenensage (übereinstimmend in allen 
betreffenden Zügen bei Brentano, Eichendorff, Heine) wirklich eine »Kunstsage«, so kann 
sie nicht echter erfunden sein! 


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3 02 


Karl Borinski, 


himmlische »Jungfrau, die keinen Mann gesehen« die Andromeda 
(vgl. Dyroffs Abu Ma'äar a. a. O. s. 497). Vermengung mit der Isis-Jung¬ 
frau (ib. s. 513) lag also dieser Sphäre nahe und wurde (vgl. Boll 428 f. und 
Anm.) im Zeichen der Fische vollzogen, mit denen die Andromeda zugleich 
aufgeht. Die zwei Fische sind daher ihre stehenden Attribute. Jene Figur 
im Steinbuch des Königs Alfons, die einen Fisch zwischen den Beinen und 
einen vor der Brust hat, ist die Andromeda. Diese zwei Fische finden sich 
aber auch noch in den ausgebreiteten Händen der Fisch-Sirene, %. B. in der 
Kirche von Cunault-sur-Loire (abgebildet bei Evans a. a. O. 316.) Wie 
sollte es aber, nach dem über die Mischbildungen mit den Paranatellonten 
Gesagten, noch überraschen, die Andromeda zur fischleibigen Jung¬ 
frau werden zu sehen, zumal die Araber den glänzenden Stern in der Andro¬ 
meda geradezu den »Bauch des Fisches« nennen! 

Ausgebreitete Arme, nackter Oberkörper und langes Haar (Aratus 
v. 197 sq.) kennzeichnen die Bildung der Andromeda-Jungfrau, die, wie wir 
annehmen, zur Fischsirene wurde. Ihr gemeinsamer Hintergrund ist von 
Haus aus jener leuchtende Felsen, an den beide — die eine gefesselt, die 
andere fesselnd — gebannt sind. DasBängliche des Inhalts dieser ganzen 
Sternbildgruppe, der Umstand klagender, die Arme jammernd aufwerfen¬ 
der Teilnehmender (Kepheus, Cassiopeia) teilt das Sirenenbild von seiner 
Herkunft als Totenvogel der attischen Grabstclen bis auf seine ganz analoge 
mittelalterliche Funktion als Herabzieher der Schiffer auf Nimmerwieder¬ 
kehr. Buttmann hat das Ganze als dramatisiertes Apotropaion aus dem 
Medusenhaupt des Perseus (des Algol in seinem Sternbild) ableiten wollen 
(s. Thiele, a. a. O. s. 7.). Die Unglücksjungfrau hätte danach von Anfang 
an die Anwartschaft gehabt, aus der Geopferten dieOpfrerin zu werden und 
die Funktionen des Meerungetüms zu ihren Füßen zu übernehmen. 

Daß das Meerungetüm in der neuen Konzeption des Sirentypus vor- 
schlägt, ersieht man daraus, daß die ahd. Glossen (1, 348, 51. 355, 22) mit 
der Urform von Nix nicchus, nichus (im ahd. Physiologus neutral daz n.) 
cocodrillus übersetzen. Ein solches nicchus als Meerungetüm ist der Siren 
vom Münster in Zürich Abb. IV. 6 a. a. O. Neuerdings hat Weinhold (Zs. f. 
Volksk. 5, 112) die deutschen Nixen prinzipiell »auch« aus den bild¬ 
nerischen Darstellungen der Fischsirene an den romanischen 
und gotischen Bauten seit dem X. Jh. hervorgehen lassen. J. Grimm (D. 
Myth.« 404 ff.) setzt jedenfalls schon die Ausdrücke gleichbedeutend. Von 
der isländischen haffrü, dem Mädchenfisch (meyfiskur), berichtet Golther 
(Hdb. d. germ. Myth. 1895 s. 147), ohne chronologische oder Quellenangabe. 

Bekanntlich haben die Fischsirenen, als Nixen der nordischen Sage 
ein lebhaftes Erlösungsbedürfnis, das sic menschlichen Gatten in die Arme 
treibt, um von .ihnen Mutter zu weiden und dadurch eine Seele zu er- 


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Verkannte Sternbilder und Ketzervorstellungen in der mittelalterlichen Kunst. 


3 °3 


langen (Undine, Melusine). »Es schimmert« auch hier noch die alte 
»Ahnung davon, daß Sirenen und Menschenseelen verwandt seien« (s. Crusius 
a. a. O. 102.) Dieser christliche Psyche-Charakter der neuen Fischsirenc 
ist nun schon in der frühesten christlichen Zeit nachweislich wieder ebenso 
dem Sternbild der Andromeda vermittelt worden, wie denn »die schöne Ge¬ 
schichte von der Psyche in Apuleius Metamorphosen in manchen Einzel¬ 
heiten an die Andromeda der griechischen Heldensage zurückerinnert« 
(E. Maaß, Orpheus s. 253 vgl. Wolters Archäol. Zeitg. XLII 1 ff.). Die 
peratischen Gnostiker, eine urchristliche Sekte, die auch in dem Ophiuchos 
Christus — als den Bändiger der Teufelsschlange — sah, interpretierte die 
Sternbildergruppe Kassiopeia-Andromeda-Perseus auf ihre Weise. Es ist 
der christliche Logos in Perseus, welcher die gefesselten, dem Seeungetüm 
preisgegebenen Seelen erlöst. »Woher stammt aber die Ausmalung dieses 
christlichen Himmelsbildes? Aus griechischer Quelle, die sogar genannt 
wird, so daß nicht der leiseste Zweifel mehr aufkommen kann: aus den 
Phainomena des Aratos ! Der Beweis, daß griechische Sternmythen zu 
apokalyptischen Zwecken von den Christen benutzt wurden, ist erbracht«. 
(E. Maaß. Orpheus s. 253.) Wir glauben ihn weiter unten vervollständigen 
zu können. 

Daß die Fischsirene zu den Himmelsbildern gehört, wird endlich durch 
die analoge Erscheinung nahegelegt, daß auch ihr antikes Original, die 
Vogelsirene, mit einem Pendant aus dem Zodiakus in unserem Bilderkreis 
vertreten ist. Auf den Vorderflächen der Chornische ist rechts und links 
ein Mann und ein Weib (Adam und Eva) dargestellt, über denen sich unsere 
Tierkreisbilder fortsetzen. Die Vogelsirene befindet sich auf der einen Seite 
der Nische über dem Mann. Die typische Darstellung des Capricornus 
als Ziegenfisch (Alfox^pu)») auf der anderen Seite über dem Weib geht aus 
Dahlkes genauer Beschreibung (s. 137 oben) unzweifelhaft hervor, dem 
»die Bedeutung dieses seltsamen Geschöpfes kaum zu enträtseln« ist. Auch 
in den Feldern des Umrings der Decke von Zillis tritt er mit den Sirenen 
zusammen auf. Dort hat sein Fischschwanz allerlei Nachbilder angeregt: 
Elefant, Pferd, Wolf mit Fischschwanz, letzterer sogar in dramatischer 
Aktion gegen ein anderes Nicchus (Seeungeheuer) wie in Zillis. Auch das 
sog. örjpiov des Zentauren scheint durch ihn zum Hirschfisch geworden. 
Es wird von der Zentaurin (einem Weibchen) aus einer Schale getränkt. Auch 
im Steinbuch des Königs Alfons sind die Zentauren Weibchen. Sie tragen 
Zweige in den Händen, aus denen vielleicht das Geweih ihres tbjpiov hier 
hervorgegangen ist. Mit einer Lanze bewaffnet tritt die Zentaurin im Kreuz - 
gang des Züricher Großmünster auf (Abb. a. a. 0 . Taf. VII Nr. 1), als Pen¬ 
dant zum männlichen Schützenzentauren. Doch enden die Beine ihres 
auch abweichend geformten quadrupedischen Körpers nicht in Hufe, sondern 


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Karl Borinski, 


in Pfoten, wie in Zillis. Sie kämpft mit einer Schlange, die sie vorn um- 
ringelt. Die Sirenen in Zillis sind ausgeprägt musikalisch. Sie spielen, 
jedoch für sich und ohne jede Gelegenheit zur Verführung musikalische 
Instrumente. Eine bläst das Horn, eine andere spielt Violine. 

Es ist schon nach der Natur dieses ganzen Deckenschmucks, den 
Rahn in seiner letzten Veröffentlichung darüber (im Repert. f. K. V 406 ff.) 
völlig mißkannt hat, mehr als wahrscheinlich, daß wir es hier mit den Planeten¬ 
sirenen der Sphärenharmonie zu tun haben 3 ). Rahn hat in seiner ersten 
Veröffentlichung darüber ganz richtig gesehen, daß hier wenig kirchen¬ 
gemäße, apokryphe Erzählungen die evangelischen Geschichten durch¬ 
setzen. Es scheinen mir aber noch ganz andere Züge darin zu sein, die 
durch die Versetzung mit Sternbildern und vermutlichen Planetendar¬ 
stellungen eine besondere Färbung erhalten. 

Die Sirenen, die nach Plato (Rep. p. 617) als Stimmen des tönenden 
Umschwungs der Planeten auf ihren Zyklen sitzen und je nach dem Charakter 
des Planeten, wie man es ausmalte, ein anderes Instrument (in Zillis Hom 
und Geige) spielen, sind sogar noch von antiker Seite — vielleicht schon 
unter christlichem Einfluß — bei dieser ihrer erhabenen Funktion bean¬ 
standet worden. »Platon handelt abgeschmackt«, bemerkt ein Peripatetiker 
bei Plutarch (Q. S. IX 5), »daß er die ewigen und göttlichen Kreisläufe nicht 
den Musen, sondern den Sirenen als Sitz zuweist, die keine Freunde der 
Menschen und keine glückbringenden Geister sind . . . Die Notwendig¬ 
keit hat nichts mit den Musen gemein, dagegen die Peitho liebt die Musen 
und haßt deshalb, wie ich glaube, die unerträgliche Notwendigkeit noch viel 
mehr als die Charis bei Empedokles.« Wie gleich hier alles getan wird, um 
diesem Einwurf zu begegnen und sowohl die Stimme der Sirenen, wie die 
göttliche Notwendigkeit (im Walten der Gestirne !) vor den Vorwürfen des 
Unheilvollen, bzw. Unerträglichen (Fatalistischen) zu rechtfertigen, so 
wächst es sich im Mittelalter aus. Auf diesem Wege, durch Erhöhung der 
Sirenen in die tönenden Sphären des Himmels und nicht etwa durch Herab- 
ziehung der Musen in trügerisch lockenden Schlamm ist die Gleichsetzung 
der Musen und Sirenen entstanden, die — im Altertum in des Wortes Be¬ 
deutung unter ihnen selbst »strittig« — im Mittelalter (Alanus ab Insulis: 
Anticlaudianus) fest ward. Gottfried von Straßburg beschreibt (v. 4860 ff.) 
den Helikon als Himmel, zu dem er sein Gebet sendet, von dem die brunnen 

diezent . . und wo auf neunfachem Throne »Apollo und die Camßnen — der 

• 

3 ) Piper hat (schon 1847 in seiner Mythol. u. Symb. d. ehr. Kunst und — kürzer! — 
in einer besonderen Schrift Berlin 1850) ausführlich »von der Harmonie der Sphären» 
in der neuen Kunst- u. Literaturgesch. gehandelt. Jedoch ohne Rücksicht auf ihre (ketze¬ 
rische) Bedeutung in unserem Kreise; daher wir hier und besonders unten noch einmal, 
in aller Kürze ergänzend, darauf eingehen. 


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Verkannte Sternbilder und Ketzervorstellungen in der mittelalterlichen Kunst. 


oren niun Sirenen« der Gaben pflegen und ihre Gnaden austeilen. Der Neu- 
platonismus (Proclus zu Platos Kratylos 157 p. 94 Boiss.) sorgte für Unter¬ 
scheidung einer himmlischen (oopcivtov, xaöotpttxov analog der Venus Urania) 
und irdischen (zeugungslustigen •’evzütoopK’ov) Sirenenart, von denen die 
beiden ersteren der Herrschaft des Zeus bzw. des Hades, die letzte der des 
Poseidon (also unsere Meerfrauen !) untersteht: »'Doch ist es ihnen allen 
gemeinsam, durch ihr harmonische Bewegung alles ihren herrschenden 
Göttern zu unterwerfen«. Die Vogelsirene über dem Manne in Tramin soll 
nach der schönen und edlen Bildung ihres Gesichts wohl als himmlische 
Sirene chrarakterisiert werden. Ja, es finden sich selbst in dem vorliegen¬ 
den Material verschiedene Anzeichen der Absicht, in sie das Sternbild der 
Jungfrau hineinzutragen. Dies wird ja geflügelt vorgestellt und trägt (nach 
seiner Beziehung zu Demeter) eine Ähre (den Stern Spica) in der linken 
Hand. Unser Flügelweib trägt seine wie eine volle Ähre gestaltete goldblonde 
Haarflechte in der Linken. Sein Vogelleib läuft unten wieder in einen Vogel¬ 
hals mit Vogelkopf aus, der mit seinem Schnabel eine Beere pickt. Könnte 
man darin das angrenzende Sternbild des Raben sowie eine Beziehung auf 
den sog. Vorwinzer (vindemiator, •jrpoxpo‘]fTjrr J p) im Sternbild der Jung¬ 
frau sehen? 

Nötig ist das nicht. Wir haben noch eine andere Erklärung für die 
Doppclvogelsirene als Pendant des Capricornus über den Gestalten von 
Adam und Eva, über deren mögliche Bedeutungen im Sinne der Leiden¬ 
schaftstheorie sich Dahlke (s. 135 f.) vergebens abmüht. Was uns daran 
aber wichtig scheint, ist seine Schilderung des abschreckenden Aussehens 
des Weibes (Eva) im Gegensatz zum Manne (Adam); Im Vereine mit den 
monströsen Mischgestalten über ihnen führt es uns auf eine Vermutung, 
die diese Darstellungen nicht bloß im astrologischen Lichte (wonach Mann 
undsFrau etwa das regierende Himmelszeichen ihres Horoskops über sich 
hätten), sondern noch in einem andern Lichte zeigt. 

Arabischer Bezug ist für Zillis (wo die Bilder des »Heidentums« Ein¬ 
fälle der Sarazenen in Erinnerung halten und durch die christlichen da¬ 
zwischen »gesühnt« werden sollten) schon früh in Anschlag gebracht, aber 
zurückgewiesen worden. Jene Bilder, die in S. Jakob zu Tramin den Ein- 
tretenden zu beiden Seiten der Chronische begrüßen, führen auf eine näher 
liegende Fährte. Warum hat man noch nie an die vielen, zahl- und bis in 
die Geistlichkeit (s. bes. unten Döll. I 98) selber einflußreichen Ketzergemein¬ 
den gedacht, die in den Jahrhunderten der vermutlichen Ausführungszeit 
unserer Malereien (XII. XIII s.) gerade die Alpenländer von der Provence 
bis Slavonien und Bulgarien erfüllten. Die Lombardei war ihre Zentrale 
— daher sowohl das Ziel ihrer rituellen Wallfahrten (aus Languedoc s. Döl- 
linger, Beitr. z. Sektengesch. des Mittelalt. I 217. A.) als der Titel des geist- 


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3° 6 


Karl Borinski, 


liehen Inquisitionsgerichts für sie (auch z. B. in Florenz s. Döllinger II 586. 
592 u. ö.) Sogar die originär französische Sekte des Petrus Waldes von 
Lyon, die »Pauperes Lugdunenses seu Valdenses« schieden sich ausdrücklich 
in »Pauperes vocatos Lombardos« und »Pauperes citramontanos« (Döl¬ 
linger II 8 s. auch II 320). Die Häretisierung des Languedoc von der Lom¬ 
bardei aus ersieht man z. B. aus den dortigen Inquisitionsakten (bei Döll. 
II 251). Die »boni Christiani (d. s. Ketzer!) morabantur in Lombardia« 
heiÖt es dort. Zwischen den Ketzern des Westens und des Ostens, wo ihre 
Heimat (Döll. I 242, daher der franz. Fluch bougre aus Bulgare} Döll. I 131. 
Anm.) und sogar — in Bosnien ! — der Sitz eines ihre Bischöfe ordinierenden 
Papsttums war (s. Döll. I 201), bildete die Lombardei die Brücke. Nirgends 
können sich unauffälliger solche Spuren des Einflusses ihrer Ideenkreise 
erhalten haben, als an diesen abgelegenen Stellen der einsamen Alpen- 
Straßen, die ihre Zugänge abgeben. Der Schweizer Historiker Joh. von 
Müller will sie sogar zu ihrem Mittel- und Ausgangspunkt machen: »Dazu¬ 
mal wurden mystische Vorstellungen der Religion bekannt, welche seit 
uralterZeit(!)indenTälernderAlpen (Sitzen alter Denkungs¬ 
art) sich erhalten (!) hatten und von Schwytz, von der Wadt, von Waldenser¬ 
dörfern und aus den Cevennes sich verbreiteten« (24 Bücher allg. Gesch. 
XV c. 5). In Arnold von Brescia sieht er ihren politischen Vorkämpfer, den 
Friedrich Barbarossa verbrennen ließ, weil seine republikanischen Ideen 
nicht in seinen cäsarischen Regierungsplan paßten. Auch er war ein Lom¬ 
barde. In den Dokumenten — vornehmlich zur Geschichte der »Valdesier 
und Katharer« — die Döllinger als II. Bd. seinem Werke beifügt, spielen 
Verona, Pinerolo und ihre alpine Umgegend (s. besonders II 264) als Haupt- 
sitze der Ketzerei Hauptrollen. Es sind die lombardischen Provinzen, in 
die jene Alpenstraßen ausmünden. (Bei Döll. II255: »in illa synagoga praedi- 
cavit ille qui facit (?) bergamenos« wollte ich, mit var. pascit für facit, 
zunächst an einen Prediger aus Bergamo denken. Ducange (s. v.) 
bringt jedoch eine Stelle bei, wonach »bergameni« auch eine Waffenart be¬ 
deuten kann. Der Prediger kann also auch ein Waffenschmied sein). 

Nun gehört Verachtung des kirchlichen Bilder- und Tempeld ien- 
s t e s <) zwar zu den gemeinsamen Kennzeichen fast aller dieser Ketzer- 
sekten, die ihre »Synagogen«, wie die urchristlichen 4 ) Gemeinden in Privat¬ 
häusern (»Bußkellern« 5 )) und auf freiem Felde abhielten. Allein äußerliches 

4 ) S. den Abschnitt *de crucc ct tcmplis matcrialibus« des antihäretischen Buches 
»Suprastella« cod. Flor. Laurent« (13 Mugell.) bei Döllinger, Dokum. II 56 ff., vgl. auch 
II 334 (Türme, Orgeln) u. ö. als Ergänzung zu Pipers (Einl. i. d. monum. Theol.)§ 140 über 
diese Polemiker. Der Verf. ein »Bürger von Piacenza« »nomine Salve Burce« schreibt 
5 Jahre vor dem Dominikaner Moneta (1240). 

5 ) Ad loca subterranea, quac communiter »Buskeller« quod nescio interpretare dicun- 
tur, convenicnt. Cod. Bavar. Nlonac. 329 f., p. 215 sq. bei Döll. II 341. 


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Verkannte Sternbilder und Ketzervorstellungen in der mittelalterlichen Kunst. 307 

zur Schau tragen ihres Bruches mit der katholischen Kirche war, schon 
wegen der inquisitorischen Folgen, unter ihnen verpönt. Sie hatten Freunde 
ja Spione in der Geistlichkeit, selbst unter Dominikanern (Döll. II 244, 251). 
Ein (Kirchengeistlicher?) »Presbyter S. Mariae de Nonareto« wird in den 
Akten der Inquisition der oberen Lombardei (bei Döll. II 255) aufgeführt. 
Der Besuch bestimmter Kirchen in jeder Region war sogar vorgeschrieben, 
in jedem Falle durch die inquisitorischen Behörden: Item frequentant 
ecclesias et praedicationes et in omnibus se religiöse et composite exterius 

se gerunt. Item faciunt multas orationes (kirchliche?) in die et instruunt cre- 

♦ 

dentes suos, quod faciant similiter sicut ipsi et cum ipsis. (Akten der Inquisition 
zu Carcassone auf der Pariser Bibi. Coli. Occitana I. VII. fol. 192 ff. bei Döll. 
II. 11. Aus der Anmerkung Döllingers II233 zu den Inquisitionsprotokollen 
von Languedoc in Rom [Cod. Vat. 4030] geht nicht deutlich hervor, ob es 
sich um ketzerischer oder inquisitorischer Vorschrift gemäß zu besuchende 
Kirchen handelt: Item suadent credentibus suis ire ad communionem ecclesiae 
. . et sic colorant se quasi sint etiam Christiani ib. I 339.) Unauffällige 
Propaganda für ihren Ideenkreis durch die große Masse ihrer (im Gegensatz 
zu den auserwählten »Vollkommenen«) sehr weltfreundlichen »Gläubigen« 
(s. Döllinger I 21 if.) an andere nicht schriftkundige Neophyten erscheint 
auch an solchen Orten in dieser Form nicht ausgeschlossen. Vermittelst 
Einschmuggelung an Stelle der ritualen kirchlichen Kunst konnte im Gegen¬ 
teil die protestierende Verachtung ihres liturgischen Zweckes besonders 
schroff zum Ausdruck gebracht werden. Unsere Aufgabe ist es jedenfalls, 
hinzuweisen auf die auffallenden Übereinstimmungen unserer Bilderkreise 
mit ausdrücklich bezeugten Vorstellungsreihen der großen und vielgestaltigen 
ketzerischen Bewegung am Anfänge des zweiten Jahrtausends der christ¬ 
lichen Zeitrechnung. Mußte doch das Ausbleiben des erwarteten Welt, 
Untergangs nach Ablauf des tausendjährigen Reiches viel zu ihrer Aus¬ 
breitung beitragen, wie das Erwarten der letzten Dinge im Jahre 1000 zu 
ihrem Einsetzen. 

Jene Übereinstimmungen bestehen in charakteristischen Vorstellungs¬ 
weisen der Häresie und dem fast allen diesen Sekten (zumal den im Kerne 
manichäischen !) eignenden Glaubensbezügen auf die Astrologie. 

Unser Ausgangspunkt sei das Menschenpaar unter der Vogelsirene 
und dem Capricornus zu beiden Seiten des Chores im Tramin. Ist es Adam 
und Eva, dann muß uns, wie schon Dahlke die monströse, sichtlich gewollt 
abschreckende Häßlichkeit der dabei zeugungskraftstrotzenden Eva gegen¬ 
über der sympathischen Zeichnung des Adam auffallen. Grade die Vogel¬ 
sirene über ihm zeigt, daß diese Kunst schöne Frauengesichter zu zeichnen 
imstande ist. Nun ist in der pessimistisch-dualistischer Lehre dieser Ketzer, 
wie in ihrem buddhistischen Ursprung und seitdem in allen Derivaten, das 

Repertorium für Kunstwissenschaft, XXXV'. 21 


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3o8 


i 


Karl Borinski 


Weib, als Fortpflanzerin der gefallenen Seelen in der Welt des bösen 
Gottes, das Übel in Person. Schon seine leiseste Berührung (selbst in den 
nächsten weiblichen Verwandten !) muß der die Wiedergeburt scheuende 
»Vollendete« fliehen (s. besonders Döllinger I 211: er durfte nicht mit ihr 
auf einer Bank sitzen, quantumque longa esset. Dokum. II 157): auch 
eine diesseitige Anregung für das spätmittelalterliche mystische Mönchs¬ 
tum ! 

Seit Eva, die sich der böse Gott (Satan) zum Werkzeug seiner Ab¬ 
sichten auf die Menschheit ausersehen, steht jedes schwangere Weib unter 
unmittelbarem dämonischen Einfluß. (Döll. I 163.) Daher Verhütung der 
Konzeption eine alte manichäische Praxis ist (»Docent conjuges ut con- 
ceptum vitent«, De Secta Manichaeorum, Clm. 2714 bei Döll. II 2 7 < 5 ) und 
ihre fühllose Barbarei gegen kranke Kinder an den alten Molochdienst ge¬ 
mahnt (Döll. I 222). Dagegen ist in Adam und den (männlichen) Aus¬ 
flüssen seines Geistes der gute Engel beschlossen, der diesen Absichten ent¬ 
gegenwirkt. Und zwar nicht bloß für die gefallenen Menschen, sondern 
auch für die gefallenen Engel. Eine dieser ketzerischen Lehren, die den Fall 
Lucifers und die Schöpfung des Menschen in unmittelbare Verbindung bringt, 
findet nun auf unserer Darstellung des ersten Menschenpaares mit den 
hybriden Bildungen aus Mensch, Vogel, Quadruped und Fisch über sich, 
eine mindestens auffällige Illustration. Es heißt da nämlich von diesem 
Vorgang: In der unteren Welt war ein ungeschaffener Geist (spiritus sine 
principio) mit einem vierfachen Antlitz (habens quatuor facies) eines Men¬ 
schen, eines Vogels, eines Fisches und eines vierfüßigen Tieres. Als Lucifer 
vom Himmel herabstieg und dieses Wesen sah, bewunderte er es und ließ 
sich von ihm verführen. . . . Lucifer und jener Geist wollten . . Menschen 
bilden, aber es gelang ihnen nicht, bis Gott auf Lucifers Flehen ihm einen 
guten Engel sandte, mit dessen Hilfe sie es zustande brachten. In Adams 
Leib schloß Lucifer den ihm zu Hilfe gesandten guten Engel ein (vgl. Döll. I 
159, Anm. f.; Dokumente Nr. XLIX, II 612 f. Aufzählung der Sätze der 
Albigenser, der Sekte de Bagnolo und der Sekte de Concorreggio qui haben t 
haeresim suam de Sclavonia. Cod. Scot. Vienn.) 

Die kosmogonische Bedeutung dieses Tetramorphs — als des chao¬ 
tischen Tieres vor der geordneten Weltschöpfung — spricht in dieser ketzeri¬ 
schen Legende.für sich selbst. Doch ist er auf unserer Darstellung geteilt 
in zwei Dymorphe 1 Wir weisen daher nur mit Vorbehalt, wegen der un¬ 
mittelbaren Beziehung zur Schöpfung des ersten Menschenpaares, daraut 
hin. Die Teilung des chaotischen Weltstoffes, den der Tetramorph vorstellt, 
soll ja nach unserer ketzerischen Lehre erst bei der Schöpfung des ersten 
Menschenpaares (Urdifferenzierung ins männliche und weibliche Prinzip?) 
durch den himmlischen Geist in Adam gelungen sein. Dieser legendarische 


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Verkannte Sternbilder und Keuervorstellungen in der mittelalterlichen Kunst. 


3°9 


Mythus kann mindestens leicht die oben behandelten astrologischen 
Mischformen beeinflußt haben — den unteren Vogel köpf in der Vogel¬ 
sirene ! — wie er von dergleichen Vorstellungen eingegeben sein mag. Die 
planetarische Bedeutung der Sirene in der platonischen Lehre von 
der Sphärenharmonie ist oben berührt worden. Daß sie auch auf der Decke 
von Zillis gemeinsam mit dem Capricornus auftritt, ist für uns merkwürdig. 
In den astrologischen Lehren unserer Ketzer ist er gemeinsam mit der 
Wage das Geburtsgestirn Christi. (Die Wage hält die himmlische Jung¬ 
frau mitden Flügeln, Platos Astraea.) In dem Inquisitionsprozesse 
v. J. 1327 gegen den Meister Cecco Stabili da Ascoti in Florenz (Cod. Mag- 
liab. 459 bei Döll. Dokum. XLV), der ein »häretisches und dummes Buch 
von sich« (eretico e brutto libretto fatto da lui) »sopra la s.fera Ce¬ 
leste« sogar in den öflentlichen Schulen verbreitete, wird , daraus mit¬ 
geteilt: »Weil Christus in seiner Nativität das Zeichen der Wage hatte 
(und den zehnten Grad von ihr in der Aszendenz), mußte sein Tod gerecht 
sein und nach der Vorhersagung (mediante la predicazione) und er mußte 
den Tod sterben, den er starb, und weil Christus im Winkel der Erde (nell’ 
angolo della terra) das Zeichen des Capricornus hatte, mußte er in einem 
Stalle geboren werden« usw. (bei Döll. II586 f.) Eigentümlich und ganz konse¬ 
quent für diese Ideenwelt erscheint es, daß das Glücksgestirn desWeltkaisers 
(Augustus und nach ihm typisch für denrömischen Kaiser, vgl. Piper, Myth. u. 
Symbolik der christl. Kunst. II 282 f. Eckhel, Doctr. numm. IV 109) für die 
Geburt des himmlischen Königs Unglück und Erniedrigung bedeuten muß. 
Auf der Decke von Zillis ist bei der Verkündigung der Engel an die Hirten, 
in gleicher Größe wie der verkündigende Engel, tatsächlich der Capricornus 
dargestellt, wie er in einem Winkel am (gradlinig ausgedrückten) Horizonte 
aufsteigt. (Abgebildet bei Rahn a. a. O. Taf. II Nr. 4.) In Tramin, über 
der Eva, kann er den Hinweis auf die Erlösung vertreten. 

Die fatalistische Ausbeutung durch ungläubige (jüdische und sara¬ 
zenische) wie ketzerische Astrologie, brachte die ganze Sphäre damals 
in der Kirche in Mißkredit. Besonders deutlich zeigt sich das an unserer 
planetarischen Sirene als Vertreterin der platonischen Sphärenharmonie. 
Ihre zunehmende Verbreitung in jenen ketzerischen Jahrhunderten ver¬ 
dankt sie der Sphärenharmonie. Als Übereinstimmung Platos mit der Bibel 
(Ps. 19, 1, 5; Hohelied 6, 10 [nach der Übersetzung des Aquila]; Ezechiel 1, 
24; Hiob 38, 37 [nach der Vulg.]), Philos (de vita Mos. III, T. II 151, 3) 
tönender siebenarmiger Planetenleuchter des Himmels (2. Mos. 25, 31 f.), 
ward die Sphärenharmonie seit den Platonikern des christlichen Altertums 
(Origenes, Clemens, Synesius, letztere in ihren hierfür besonders einflu߬ 
reichen Hymnen) mit Begeisterung in der Kirche aufgenommen. Isidor 
hat sie nach den im Mittelalter geltenden bzw. antiken Autoritäten (Macro- 

21 * 


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3io 


Karl Borinski, 


bius im Sonnium Scipionis, Marcianus Capella, Boethius, Cassiodor) nicht 
bloß in seiner antiken Enzyklopädie (Orig. III 17), sondern vorgeblich in 
einer besonderen Schrift (de harmonia et caelesti musica) den Enzyklopä¬ 
disten des 12. Jh. Anselm von Canterbury, Honorius von Autun, ja selbst 
noch des 13. Jh. Vincenz von Beauvais ausführlich übermittelt, der aber 
schon dagegen opponiert. Alanus ab Insulis (12. Jh.) führt die Prudentia 
auf dem Wege durch die Himmelssphären auch an den Sirenen vorbei, die 
die Töne hervorbringen. (Anticlaud. IV c. 6—9). Die früher vereinzelte, 
wohl wegen solcher Ketzereien auffallend schroffe Ablehnung der Sphären- 
harmonie durch den Kirchenvater Basilius wird aber im 13. Jh. durch 
Albertus Magnus und Thomas von Aquin (in Job. c. 38) mit einem Male 
Schuldogma. Die Inthronisierung der Autorität des Aristoteles (de coelo, 
c. 9 p. 290 sq.) gegen Plato hat wohl auch in diesem Punkte tiefere Beweg¬ 
gründe als die physikalische Frage (der Möglichkeit als Tonerzeugung durch 
nicht selbst, sondern vermittelst der Sphären bewegte Körper). In der 
grande Encyclopddie der Zeit, bei Vincenz von Beauvais (Spec. natur. 
XV c. 32) wird diese bereits mit dem modern physikalischen Grunde abgelehnt, 
daß im reinen (luftlosen) Äther kein Ton entstehen könne. Wichtiger aber 
scheint ihr die Gefahr des götzendienerischen Sternen - 
g 1 a u b e n s , der die Sterne zu lebendigen Wesen mache, die 
an der Gottheit teilhaben. Dies also ist der Grund, daß der, lebhaft gegen 
den platonischen Sternenglauben (des Timeo) polemisierende Dante (Purg. 
30, 92) die Sphärenharmonie »der Musen und Sirenen« durch die Engel 
begleiten, ja mit deutlicher Spitze durch den Gesang der Seligen im Himmel 
vergessen werden läßt (Par. 12, 8). Die Sirene ist ihm nur, wie jetzt definitiv 
in der allgemeinen Vorstellung (Purg. 31, 45), die süßtönende, an sich grä߬ 
lich stinkende Verführerin zum »Verliegen«: Purg. 19, 7—33, die »improba 
Siren desidia« des Horaz. 

Die ketzerische Bedeutung des Platonismus reichte in jenem Zeitalter 
tatsächlich weiter und tiefer, als man annimmt und als selbst Döllinger im 
Einleitungsbande zu seinen Dokumenten vermuten läßt (S. z. B. a. a. 0 . I 
160 1 ). Nicht nur, daß die Ketzer ihre manichäische Grundlehre von den 
zwei feindlichen Prinzipien durch die platonische Auffassung von der Materie 
stützten 6 ), seine Theorie vom Vergessen (und Wiedererinnern) des Urstandes 
der Idee in dem in die Welt versunkenen und durch sie getrübten mensch- 

6 ) Dicunt diabolum creasse hylen, sive primum ordinem mundi; materiam, quam 
Plato ctiston vocat, unde et ipsi eundem diabolum Caput ctisios apellant 
etc. Aus der Summa contra Catharos G. Bergomensis (Coli. rer. Occitan. der Pariser 
Bibi.') in Döllingers Dokumenten XXXV (II 374). Sie begründeten damit ihre Verwerfung 
des alten Testaments und ihre absolut doketische Anschauung von der (immateriellen) 
Existenz Christi (ib. p. 375). 


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Verkannte Sternbilder und Ketzervorstellungen in der mittelalterlichen Kunst, i 

liehen Geiste auf ihre Interpretation der biblischen Lehre von den gefallenen 
und unter die Gewalt des andern Gottes (Satan) geratenen himmlischen 
Geister übertrugen 7 ). Was uns daran unmittelbar interessiert, ist die eigen¬ 
tümliche Gestirndämonologie, die sie aus Platos Lehre von der Heimat der 
verschiedenen Seelen auf den verschiedenen Gestirnen in die biblische Er¬ 
zählung vom Sündenfall hinein interpretierten. Lucifer, der Erstgefallene, 
»verführte nach seiner Rückkehr in die obere Welt die Gestirne des Himmels, 
d. h. eine große Anzahl Engel, denn sie sind die Gestirne, von denen nach 
Paulus (i. Kor. 15, 4) eine das andere an Herrlichkeit übertrifft .. . . Die 
Gestirne des sichtbaren Himmels sind Dämonen, welche nur mit dem dem 
(unsichtbaren, himmlischen) Geiste Adams geraubten Lichtglanz, prangen 
und Unzucht miteinander treiben, wovon die Ausgießung des Taues auf 
der Erde herrührt«. (Döll. I 158). Denn Adam ist der unschuldig leidende 
Mensch der Parabel, der von Jerusalem d. h. aus der oberen Welt hinab- 
stieg und unter Räuber fiel, die ihn auszogen, d. h. unter die Gewalt der 
bösen Engel, der Geister der Gestirne, der Sonne, des Mondes und der Sterne, 
welche vorher finster waren, nun aber mit dem Lichte, das sie dem Adam 
geraubt, leuchteten . . . (vgl. Döll. I 161). Die Schläge, die ihm die Räuber 
erteilen, sind die Sünden. Halb tot lassen sie ihn liegen. Denn so wird 
sein Zustand jetzt in der Welt der Materie genannt, der aber doch noch 
als der anderen Welt sich (im Glauben) erinnernd, nicht ganz tot ist und 
durch den Samariter (Christus) wiederbelebt wird. 

Am weitesten und für uns merkwürdigsten ging in dieser Identifizie¬ 
rung (des Lebenslichts I) der menschlichen Geister mit den Lichtern der 
Gestirne die Sekte der Melchiscdekianer oder Athinganer. Diese durch eine 
Abschwörungsformel aus dem elften Jahrh. (bei Bandini, Graecae ecclesiae 
vetera monumenta, Flor. 1762. II 109) noch belegbare alte gnostische Sekte, 
gehört also (nach Döll. I31) »auch zu denen, deren Einfluß sich bis nach 
dem Occident hinüber erstreckte.« Ihren speziell astrologischen Charakter 
bewährt sie schon darin, daß sie ihren Sohn Gottes, den Melchisedek Abra¬ 
hams, dessen Verkünder Christus nur war, (nach Epiphanius, Panaria II, 1, 
haer. 55, Petav. p. 469) von Sonne und Mond (Herakles und Astaroth) ab¬ 
stammen läßt. Sie scheinen zu den hauptsächlichen Fortpflanzern der 
Mondbeschwörung aus dem Altertum in das Hexenwesen der Neuzeit zu 
gehören. »Die Geschicke der Menschen, behaupteter sie, seien an die Ge- 

7 ) Sathanas sagt zu den noch der himmlischen Harmonie sich erinnernden Geistern: 
»Et estis adhuc memores de canticis Sion ? Et ipsi respondebunt quod sic; et tum Sathanas 
dixit eis: Ego ponam vos in terram oblivionis, in qua obliviscemini illa, quae dicebatiset 
habebatis in Sion; Et tune fecit eis tunicas, id est corpora de terra oblivionis (der Materie 1 ).« 
Confessio Joannis Maurini de monte Alionis super crimine haeresis aus den Inquisitions¬ 
protokollen von Languedoc (Cod. Vat. 4030) in Döllingers Dokumenten Nr. VIII (II201 f.). 


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312 


Karl Rorinski, 




stirne geknüpft und dieseineinem KampfundAntagonis- 
mus gegen einander begriffen, von dessen Ausgang der Erfolg 
menschlicher Bestrebungen abhänge, so daß, wenn das Gestirn des einen 
'den Stern des andern verdunkele oder auslösche, der erste notwendig stärker 
und glücklicher werde als der zweite«. (Döll. a. a. O. p. 33.) Hier hätten 
wir also eine sehr plausible Erklärung für das eigentümliche dramatische 
Verhalten unserer kämpfenden Gestirnbilder in Tramin. 
Und auch ihr angebliches Wiederauftreten in einer byzantinischen Hiob- 
handschrift eben dieser Zeit (s. ob.) würde sich so hinreichend erklären. 
Denn das Buch Hiob, das geeignetste unter den biblischen Büchern zur An¬ 
knüpfung astrologischer Gedankenreihen und Vorstellungen, gehört zugleich 
zu den wenigen im Alten Testament, welche diese — es sich entweder (wie 
auch die Passagier) radikal anpassenden oder wie die meisten anderen ebenso 
(als Offenbarung des Satan) verwerfenden — Sekten ausnahmslos gelten 
ließen (vgl. Döll. I 148). 

Einen auffallenden Bezug zur alten, manichäischen Gnosis, 
an dem Döllinger seltsamerweise vorübergeht, zeigen nordfranzösische 
Neumanichäer des 12. Jh. Es sind die E o n i t e n , angeblich nur so ge¬ 
nannt nach ihrem Führer, der »neuen Inkarnation der Gottheit« E o n de 
l’Etoile. In diesem Namen »Eon« vermuten wir mehr, als eine bloße Ent¬ 
stellung (!) des Namens Eudo, gestempelt durch eine nasalierende Aus¬ 
sprache des »Eum« qui venturus est im Exorcismus (Döll. I 102, 103 Anm. 2). 
Näher liegt es, an den »uranfänglichen Gott der Orphiker« (Zoega, Abhand¬ 
lungen Nr. V ed. Welcker Gött. 1817) zu denken: den im späten Altertum 
sogar viel (als löwenköpfiger, schlangenumwundener Mann mit vier Flügeln 
auf einer Kugel) dargestellten A e o n. Diese Gottheit der nie alternden 
Zeit (xpovo? oY^paoc) spielte im Lichtreich der alten Manichäer die füh¬ 
rende Rolle (s. Baur, Das manichäische Religionsystem s. 18). Sie be¬ 
deutet die Weltzeiten (von je 12000 Jahren), in deren zwölfter sich der 
Kampf des guten und bösen Prinzips abwickelt. Der jeweilige Aeon vertritt 
den Vater des Lichts in dieser Welt und bekränzt ihn nachdem seine Zeit 
abgelaufen. Schon Piper hat (a. a. 0 . I 2, 393) dies auffallende gnostische 
Bild der Zeit in seine »Mythologie der christlichen Kunst« aufgenommen, 
obwohl er ihre Darstellung im christlichen Altertum vermißt. Ihre Be- 
ziehung zu byzantinischen Darstellungen der Zeit als gekröntem blumen- 
tragenden Jüngling (a. a. O. 396) wagt er vielleicht nur nicht ausdrücklich 
zu betonen, wohl weil er die Annahme ketzerischer Einflüsse auf mittelalter¬ 
lichen Bildern für zu gewagt hält. Der Zusatz dfcl ’Etoile bei unserem Eon 
der Bretagne weist auf eine bestimmte astrale Beziehung dieses Aeon. 
Sollen wir sie in jener apokalyptischen suchen, die das antihäretische Buch 
»Suprastella« (s. ob.) eines »Bürgers von Piacenza« (v. J. 1235) dem »liber 


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Verkannte Sternbilder und Ketzervorstellungen in der mittelalterlichen Kunst. 


3*3 


haereticorum qui Stellae nomine praetitulatur« entgegenhält: »Durch 
den Stern wird der Absynthius der Apokalypse (c. 8, n) figürlich bezeichnet« 
(Per stellam enim Absynthium dicitur in Apocalypsi figuratum s. Döll. II52) ? 
Also der bittere Wermutstern des gegenwärtigen Aeon ! 

Die Decke von Zillis könnte wohl dazu auffordern, ihren vielen Un¬ 
begreiflichkeiten systematisch von dieser Seite beizukommen, wenn von ihr 
ein vollständiges Anschauungsmaterial vorläge, das zugleich authentischer 
wäre, als die sparsame Auswahl der Rahnschen Zeichnungen.. Auf Grund 
seiner (nur all zu knapp beschreibenden) Übersichtstabelle der aus 9x17 
Feldern bestehenden Deckenmalerei wagen wir hier gleichwohl noch einige 
Hinweise auf Parallelen in unseren astrognostischen und ketzerischen Vor¬ 
stellungen. Wir gehen aus von zwei Deutungen Rahns, die er selber durch 
beigesetzte Fragezeichen als fraglich kennzeichnet. Links und rechts von einem 
Felde (ze der tabellarischen Einteilung), auf dem er die Begrüßung Mariae und 
Elisabeth sieht, treten je eine weißgekleidete Frau aus dem verhangenen 
Tore einer getürmten, ummauerten Stadt. Man könnte an Stadtgottheiten 
denken, wenn die Städte »Nazareth und Juda« (Lukas 1, 26. 39) diese Alle- 
gorisierung vertrügen und je mit ihr bedacht worden wären, was ich nicht 
weiß. Rahn sieht in ihnen Synagoge und Kirche — noch vor ihrer Be¬ 
gründung 1 Er’sieht das Kreuz auf dem Torgiebel der einen, aber die Mond¬ 
sichel auf dem Kopfe der anderen übersieht er. An Mond und S o n n e zu 
denken, wäre hier unstatthaft, da die an und für sich seltene weibliche Dar¬ 
stellung des Sol in dieser ungermanischen Umgebung nicht anzunehmen 
ist und einen männlichen Mond voraussetzte (vgl. übrigens die Gleichsetzung 
von Sol, id est princeps (mundi) und luna id est lex Moysi stellae spiritus 
sui ministri bei Döll. II 91 Anm.) Aber an die Venus, den Abendstern, in 
der Renaissancekunst (Salone zu Padua), direkt vertreten durch das Bild 
der Madonna mit Kind, darf man denken, dessen Konjunktion mit dem 
Monde zu den auffallendsten Erscheinungen am Himmel gehört. Die 
Burgen im Hintergrund wären dann die Häuser der beiden Planeten, aus 
denen sie heraustreten, um der bedeutsamen Begegnung der beiden Mütter 
zu assistieren. Als Burgen weiden die Häuser der Planeten bei den Arabern 
gedacht (Ideler s. 239); übrigens auch das für unsere Ketzer so wichtige 
»Pieroma«, die Stätte des höchsten Gottes, was dann nach einer anderen Seite 
in der Deutung der beiden Frauen führen würde; als Personifikationen der 
(irdischen und himmlischen?) Weisheit, die uns aber weniger wahrschein¬ 
lich dünkt. 

Noch einmal tritt eine Beziehung auf einen Planeten an der Decke 
hervor, insofern zwischen Christi Gefangennahme und Dornenkrönung 
— die Kreuzigung fehlt! — die für Saturn charakteristische Sense in 
den Händen eines Mannes auftaucht. Er erscheint aber nach der Über- 


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314 


Karl Borinski, 


sichtstabeile (15 d) mit drei anderen vergesellschaftet, die wie die Häscher 
Christi »mit Tunika und Schnürstiefeln bekleidet sind und Fackeln und 
Beile tragen«. Über diesen Szenen: ein aus einem Buche lehrender Mann 
auf dem Throne, vor ihm ein halbnackter Knabe. Ein Feld mit »willkürlich 
zusammengestellten alten Fragmenten«. Zwei Felder mit je einem Mann 
in weißer Tunika und roter Toga unter Tabernakel bzw. Säulenarchitektur. 

Auch die zusammenhangslos — ohne Christus — auf einem Felde 
auftretende Auferweckung des Lazarus — aus einem viereckigen Sarge, den 
zwei Knaben öffnen — ließe in dieser Umgebung an ihre arabische Bedeutung 
als Sternbild (des Vierecks im großen Bären (Ideler s. 21) denken. Des¬ 
gleichen der Hirt mit der Herde (Ideler 410) unter dem Capricornus und 
die heiligen drei Könige, die (nach Ideler 333) »bei den deutschen Astro- 
gnosten« für die 35 Sterne im Gürtel des Orion gelten, auch als Jakobsstab 
(s. Jak. Grimm, D. Myth.* 331). Der Stab, den auf unserer Decke der heil. 
Joseph auf der Flucht nach Ägypten trägt (5 g, abgebildet auf Taf. III Fig. 3), 
ist aus (neun) kreisrunden Gebilden zusammengesetzt. Unter den mancher¬ 
lei biblischen und legendarischen Szenen, die an den christlichen Himmel 
versetzt worden sind (s. Jak. Grimm a. a. O. 688 ff.), könnte diese mit der 
Maria und dem »Issa« (der Araber) am frühesten so erhöht worden sein. 
Denn bereits die libri Carolini (IV c. 21) heben hervor, daß die Flucht nach 
Ägypten meist auf Decken abgemalt werde. 

Gleich Rahn ist die unverhältnismäßige Bevorzugung der Heil, drei 
Könige auf der Zilliser Decke (16 Felder der Mitte !) aufgefallen. Die hei¬ 
ligen drei Könige haben eine hervorragende liturgische Bedeutung für die 
Ketzer, die sich mit der astrologischen ihres weisenden Sternes eng berührt. 
Nur die Vollkommenen unter ihnen (domini qui sunt in via veritatis) durften 
nämlich das »Vater unser« beten. Für die übrigen (credentes) war es eine 
Todsünde (quando dicimus Paternoster, mortaliter peccamus). Statt dessen 
beteten sie: Dominus Deus, qui direxit Reges Melchior etc. . . dirigat me 
sicut direxit eos . . . (Aus den Protok. von Languedoc. Dokum. II 159). Die 
Legende, die sich bei ihnen findet, daß der eine König für das Vorrecht, vor 
den beiden anderen dem Kinde seine Geschenke darbringen zu dürfen, 
seine Jugend opfert (a. a. 0.161), könnte auf der Decke angedeutet sein; inso¬ 
fern nur e i n König (gesondert von den beiden andern auf dem hinteren Felde), 
vor dem Kinde erscheint. Auch den Gegensatz, in den das Ev. Matthäi 
{2, 3. 12) den jüdischen König Herodes zu den 3 Magi setzt, malt wie der 
ketzerische Bericht die Zilliser Decke auf 16 Feldern (!) breit aus, indem sie 
die Könige erst den Herodes besuchen, dann diesen feindliche Maßregeln 
treffen (6 b. c.), dann einen Engel die Magi warnen (6 d. e.) und sie fern 
von Herodes zurückführen läßt. Diesen Zug verstärkt die Deckenmalerei 
durch die frei erfundene (? vielleicht gleichfalls ketzerische) Idee, die Christ- 


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Verkannte Sternbilder und Ketzervorstellungen in der mittelalterlichen Kunst. 315 

liehen drei Könige durch drei offenbar jüdisch gedachte, mit Messern in 
der Hand thronende, die auf die angrenzenden Felder mit der Circumcisio 
und mit Herodes weisen, zu analogisieren. 

Zu den antijüdischen Ideen der manichäischen Ketzer gehört die 
Verwerfung der Taufe, die sich gelegentlich bis zur Anathemisierung des 
(noch unter dem Gesetze stehenden) Johannes Baptista steigert. Rahn 

m 

sieht in einem vor einer Strohhütte stehenden bärtigen Manne mit Nimbus 
(hauptsächlich wegen seines zottigen Gewandes, das er mit zwei gleich* 
charakterisierten Gestalten auf dem zweitvorhergehenden Felde teilt), Jo¬ 
hannes den Täufer, als »letzten der jüdischen Propheten« (s. von Zahns 
Jahrbücher f. Kunstw. IV 111 f.). (Die Hütten erklären sich vielleicht nach 
Ebr. 9, 2. 11 !) Er trägt eine runde Scheibe in seiner linken Hand und weist 
mit der rechten auf sie hin. Darauf ist auf rotem Grunde ein weißer Vier¬ 
füßler eingezeichnet, der auf der ersten Abbildg. (Mitt. d. Ant. Ges. Taf. II 5) 
wie ein anlaufendes weißes Pferd (genau wie von einer antiken karthagi¬ 
schen Münze) aussieht, auf der zweiten (v. Zahns Jahrb. f. K. IV 112 Fig. j) 
aber einem Lamm mehr angeähnelt und auch so interpretiert wird. Ist 
es nun der Johannes des »ecce agnus dei« aus Ev. Joh. I, 36, so wären die 
beiden anderen Pelzträger mit Nimbus keine Propheten, sondern die beiden 
discipuli (fia&Tjral) des vorhergehenden Verses, die bei Johannes standen, 
als er des Lammes Gottes ansichtig wurde. Es sind aber gleichfalls greise 
Männer, wie er. Als alte Propheten angesehen aber, wird der dritte, der auf 
das Lamm im Bilde hinweist, nur J e s a i a s sein können mit seiner 
Grundstelle über das Lamm 53, 7. Daß wir ihn wirklich dafür ansehen 
können, dafür spricht das sprießende Reis zu seinen Füßen (auf Rahns Abb. 
Taf. II 5): Et ascendet sicut virgultum coram eo et sicut radix de terra 
sitienti Jes. 53, 2. 

Wie kommt aber nun Rahn darauf, in den 7 + 5 »profan gekleideten 
Männern ohne Nimben«, die (10 c u. e seiner Übersichtstabelle) das Feld 
des Lammträgers von beiden Seiten flankieren, »Apostel« zu sehen (v. Zahns 
Jahrb. IV in)? Selbst wenn sie das hier ante actum, d. h. v o r dem Auf¬ 
treten Christi sein könnten, so wäre ihre Teilung in Gruppen von 7 + 5 
wenig apostolisch. (Die Gruppierungen in den Evangelien sind: Matth. 
10,2 ff. 4 + 6 + 2; Mark. 3, 16 ff.i (Petrus) +2 + 8 + 1 (Judas)). Die 
Gruppierung 7 + 5 deutet nach der Zahlensymbolik auf eine Spaltung. 
Eine solche scheint auch in der Haltung zum Ausdruck kommen zu sollen, 
mit der sie auf den Taufakt im Jordan (auf Feld 10 f.) teils hinweisen, teils nicht 
und dafür die geöffnete Hand gen Himmel halten (s. unt.). Von demTaufakt 
berichtet die Übersichtstabelle leider nur, daß ihm ein »Engel mit Trocken¬ 
tuch« assistiert, nichts über die Darstellung des Täufers. Seine Abwesen¬ 
heit auf der Zilliser Decke müßte im höchsten Grade auffallen. Man ver- 


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3*6 


Karl Borinski, 


gleiche einmal die Rolle, die seine Geschichte in den gleichzeitigen Bilder¬ 
folgen der Herrad von Landsberg spielt! Sollen nun die 7 + 5 »profanen 
Männer« die kleinen Propheten sein ? Dürfen wir nicht vielleicht in der 
ganzen Anordnung, wie an andern Stellen der Decke (16 h offenbar eine 
Ordination) eine hierarchische Anspielung erblicken? In der Tat bestand 
die Hierarchie der Ketzer aus ein, zwei oder drei Oberen, Heiligen oder Voll¬ 
kommenen (vgl. Döll. II 98 aus einer Zeugenaussage in Languedoc: »non 
voluit dicere, si Major est unus, vel duo, vel tres), denen eine Kongregation 
von Diakonen und Presbytern wohl nach der Zahl der Jünger zur Seite 
stand (s. ebda.). 

Die ketzerische Symbolik der Tunika als Zeichen des menschlichen 
Leibes, der Inkarnation, kehrt auf der Zilliser Decke wieder. Der dar¬ 
bringende König überreicht seine Gabe (ein Gefäß) dem Christkinde i n 
sein Kleid eingefaßt! Die« Anfassen des Geweihten (heiliger Körper) 
mit dem eigenen Kleide findet sich auch sonst: an klassischer Stelle in der 
Pietä Michelangelos in S. Peter (vgl. Monatshefte f. Kunstw. I 822 b). Eine 
symbolische Erklärung hierfür, wie sie sich hier darbietet (und durchaus 
in ihr System paßt),.ist mir noch nicht begegnet. Der Engel trägt mit einem 

Kreuz bezeichnet ein Kleidungsstück in der Hand bei der Botschaft der 

• • _ 

Geburt Christi an die Hirten. Soll man etwas Ähnliches erkennen bei der 
Verkündigung des Engels an Maria, die Spinnerin (nach dem Frotoevange- 
lium Jacobi)? Da wäscht ein Mädchen zu ihren Füßen eifrig, ein Kleidungs¬ 
stück in einem Gefäß (2 h. Abb. bei Rahn, Taf. II Fig. 3). Damit wäre 
wenigstens eine Erklärung für diesen rätselhaften Zusatz gewonnen, an der 
Rahn verzweifelt. Es ist die natürliche Wiedergeburt der Seelcnwanderungs- 
lehre, die den Leib in dieser despektierlich selbstverständlichen Form als 
Hemd, als U n t e r gewand auffassen lehrte. Doch auch die tierische Wieder¬ 
geburt beschäftigte diese Ketzer sehr folgenreich für ihr Verhalten (Vege¬ 
tarismus, Verbot Tiere zu töten, Schibolet im Krieg gegen die Albigenser!). 
Den besonderen Wiedergeburtsglauben (vielleicht dadurch im ma. Volks¬ 
glauben und Liede .so lebendig) in bezug auf P f e r d e wollen wir hier wegen 
des häufigen Auftretens dieser Tiere für sich allein auf der Zilliser Decke 
auch wenigstens anmerken. Antikatholisch bzw antikirchlich könnte noch 
manches gedeutet werden. Das kreisrunde Medaillon findet sich noch ein¬ 
mal (b. 13), diesmal schwarz in der Hand des Teufels, der Christus 
versucht, mit der weißstrichigen Zeichnung von »Türmen, Pokalen u. dgl.« 
(Rahn, Gesch. d. bild. K. i. d. Schweiz, Zürich 1873 s. 292), als Inbegriff 
der Herrlichkeit der Welt. Die Ketzer sahen nun in den Kirch¬ 
türmen und Abendmahlskelchen die Hauptzeichen der verweltlichten, 
prunkenden Kirche. Es wäre ein ebenso feines als starkes Stück von Insinua¬ 
tion, wenn sie dies hier in dieser Form die Maler zum Ausdruck bringen 


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Verkannte Sternbilder und Ketzervorstellungen in der mittelalterlichen Kunst. 3 j 7 


hießen ! Ist cs gleichfalls nach diesem Schema aufzufassen, daß gerade bei 
Christi Einzug in Jerusalem (13 h) Priester mit Rauchfaß undWeihwedel auf- 
treten? Noch etwas verdient angemerkt zu werden Das ist die durch¬ 



gehende Betonung von Handgesten auf der Zilliscr Decke. Am merk¬ 
würdigsten erscheint neben dem Gestus des Zeigens der der offen nach 
oben ausgestreckten Hand. Nun hat die Hand im Glauben und Ritual 


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318 


Karl Bori nski, 


fast aller Ketzer eine besondere, nur dem Heiligen verliehene, mystische 
Kraft. Diese steigert sich in ihrem höchsten Ritus, dem sog Consolamen- 
tum (vor dem Tode) zur absolut seelenerlösenden Gewalt, für die die größten 
asketischen Opfer (der sog »Endura«) gebracht wurden. Ist es nun Zufall, 
daß Christus im Moment der Gefangennahme durch zwei neben ihm stehende 
Männer die Hand auf das Haupt gelegt wird, worin eben das Zeichen des 
Consolamentum bestand ? 

In die Blütezeit unserer Ketzersekten, die den Kreuzzug des französischen 
Königs herausforderte, 12.—13. Jh., werden die (im übrigen technisch von 
einander offenbar abweichenden) Malereien in Tramin und Zillis gewiesen. 
Es ist zugleich die Bauzeit des sich in seinen plastischen Phantasien mit ihnen 
berührenden Kreuzgangs am Züricher Großmünster. Der eigentümlich 
verdeckte Fuß des Lahmen am Teich Bethesda aus Zillis (9c. Taf. IV 1) 
kehrt sogar dort wieder. Die Kirche S Giacomo bei Tramin wird in einer 
Urkunde des Bischofs Gerard von Trient 1223 erwähnt (Dahlke im Repert. V 
146). Für Zillis zieht Chr. Kind (Dtsch. Blätter 1874, Neue Alpenpost III 
Nr. 46. IO) die Reformation des Klosters Catzis 1160 als künstlerische An¬ 
regung heran, dem (schon 940 !) Zillis als Ersatz für sarazenische Verwüstung 
übergeben worden war. Nach Rahn (v. Zahn IV 116. Gesch. d. b. K. 293) 
waren es keine einheimischen Künstler, sondern durchreisende — erst ent¬ 
schied er sich für Italiener, dann für Deutsche —, die die Zilliser Decke 
ausmalten Für letztere sprechen ihm die Tracht, Abwesenheit antiker 
Reminiszenzen und »die manchmal bis ins zufällige Detail gehende Über¬ 
einstimmung mit gleichzeitigen Miniaturen«, insbesondere der Herrad von 
Landsberg (1175). Die Tracht erkennt er nun selbst früher bei den heiligen 
Personen als die übliche antike Idealtracht, bei den übrigen als die im 12. Jh. 
allgemeine. Auf Antikes im Ornament z. B. (Mäander als oberer Abschluß) 
weist er gleichfalls, in Realien ist es uns möglich gewesen. Detailüberein¬ 
stimmungen mit dem hortus deliciarum haben wir nach dem uns vorliegen¬ 
den Vergleichsmaterial eigentlich nur in dem Erel der Flucht nach Ägypten, 
entdecken können. Doch kann dergl. auf verbreitete Clichös zurückgehen, 
wie sie bei der Herrad wahrscheinlich und in ihrer Taufe Christi als byzan¬ 
tinisch nachgewiesen sind (Janitschek a a. O. S. 110). In Zillis weist schon 
die spezialisierende Feldereinteilung auf dergleichen hin. Durchwegs weichen 
in Zillis die Körperformen ab ins Gedrungene, Breite, Plumpe, während sie 
bei der Herrad länglich, schmal, geistig : ind. Der ihnen eigene schmachtende 
devote Zug scheint in Zillis gerade ins Gegenteil verkehrt. Das hastige, 
gelegentlich Komische der Gebärden merkt Rahn an. In keinem Falle 
haben wir es hier mehr mit karolingischer Buchkunst zu tun, deren bekannte 
Eigentümlichkeiten sonst die mittelalterlichen Illustrationen der antiken 
Sphära charakterisieren (Thiele a. a. O. s. 84 ff.) In Tramin scheint es breite 


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Verkannte Sternbilder und Ketzer Vorstellungen in der mittelalterlichen Kunst. 319 

romanische Flächenkunst. Sarazenische Einflüsse und, wie oben von 
Anfang wahrscheinlich gemacht ward, byzantinische Vorbilder, haben wohl 
hier wie in Zillis die seltsamen Bibeldarstellungen und abenteuerlichen 
Fratzen der »Sphaera barbarica« auswirken helfen. Die damalige Beliebt¬ 
heit des letzteren Vorwurfs, auch bei so privater Dekoration als die eines 
Betthimmels, ist uns oben bei der Tochter Wilhelms des Eroberers begegnet. 
Die stark persönliche und esoterische Note, die darin vorschlägt und jeden¬ 
falls zu dieser besonderen Beliebtheit mitwirkte, ins Licht zu setzen, war 
an ebenso auffallenden, wie dunkeln Vorwürfen unsere Aufgabe. 

Daß diese Monstrositäten der ma. Kunst den Frommen verdächtig 
schienen und mehr als bloß allgemein-weltlichen Anstoß gaben, könnte der 
große Rügebrief Bemards von Clairvaux vermuten lassen (Migne Bd. 182, 
p. 885—918 = 526—540, gerichtet an den Abt Guilelmus Sancti-Theodorici 
(i. e. Saint-Thierry) bei Reims, (»apud Remos«, gegr. 553; an seinem Orte 
später 1777 das großartige Schloß des Kardinals Talleyrand-P^rigord, 
von dem jetzt nur noch ein Pavillon steht). Er wendet sich in der Form 
einer Verteidigung (»Apologia«) gegen seine Verdächtigungen als Hetzer der 
Cistercienser wider die Cluniacenser heftig gegen deren Verweltlichung 
ganz besonders in Amüsements (»cachinni«), Pracht- und Kunstliebe: ihre 
Bauwut (intemperantia ... in construendis aedificiis Cap. VIII. [ 16J), Freude 
an kostbarem Gerät (ponuntur dehinc in ecclesis gemmatae, non coronae, 
[Druckausfall: sed] rotae circumseptae lampadibus etc. Cemimus et pro 
candelabris arbores quasdam erectas, multo aeris pondere, miro artificis opere 
fabricatas . . . cap. XII [28]), schönen farbigen Bildern (ostenditur pul- 
cherima forma sancti vel sanctae alicujus et eo creditur sanctior 
quo coloratior ib.) Für den Schluß aber (cap. XII [29]) verspart er 
sich eine Philippica gegen unsere Vorwürfe der damaligen Kunst, aus der 
hervorgeht, daß sie gerade innerhalb der Klöster (in den Zellen oder Biblio¬ 
theken?) überaus häufig gewesen sein müssen: »Caeterum in claustris 
coram legentibus fratribus quid facit illa ridicula monstruosi- 
tas, mira quaedam deformis formositas, ac formosa deformitas? Quid ibi 
immundae simiae? quid feri leones? quid monstruosi centauri? quid 
semihomines? quid maculosae tigrides? quid milites pugnantes? quid 
venatores tubicinantes ? Videas sub uno capite multa Corpora et rursus in 
uno corpore capita multa. Cernitur hinc in quadrupede cauda serpentis, 
illinc in pisce caput quadrupedis. Ibi bestia praefert equum, capram tra- 
hens retro dimidiam; hic cornutum animal equum gestat posterius. Tarn 
multa denique, tamque mira diversarum formarum ubique varietas apparer, 
ut magis legere libeat in marmoribus quam in codicibus, 
totumque diem occupare singula ista mirando quam in lege Dei meditando. 
Proh Deo! si non pudet ineptiarum, cur vel non piget expensarum ?« Es 


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^20 Karl Borinski, Verkannte Sternbilder und Ketzervorstellungen usw. 

waren also kostbare Marmorskulpturen wohl hauptsächlich an Säulenbasen 
und Kapitellen. Wir haben hier gleich eine kleine Übersicht hauptsächlich 
beliebter Motive. Ehe wir eine solche aufstellen könnten, müßte jedoch 
ein Inventar des heute noch Vorhandenen und Bekannten vorliegen. Inner¬ 
halb deutscher Sprachgrenzen kommt meines Wissens zunächst in Betracht: 
Frauenmünster-Zürich (Kreuzgang); Schloß Tirol bei Meran, Freiburg i. Br., 
Gnesen, Schottenkloster-Regensburg (Portale). Erst dann ließe sich durch 
Vergleichung feststellen, was an diesen Bildungen Sach-, was Formmotiv 
darstellt; was feststehende oder mindestens wiederkehrender Typus, Phy¬ 
siognomie, und was abgeleitete oder frei künstlerische Variation und Arabeske 
bedeutet. Von all dem ist obiger Hinweis auf augenscheinlich Altes, Ur¬ 
wüchsiges und Zusammenhängendes noch weit entfernt. Möge 
er zu erneuter Untersuchung dieser Dinge anregen, denen man ja wohl schon 
früher in gleicher Richtung, wenn auch auf unzulänglichen Wegen (als 
Zeugen des Mithraskults im 12.—14. Jh. ?) beikommen wollte. 


> 


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Thema der Darstellung des zweiköpfigen Adlers 

bei den Byzantinern. 

Von N1K02 A. BEH~, Athen-Berlin. 


In einem speziellen Artikel des Professors Dr. Spyridon Lambros über 
die Darstellung des zweiköpfigen Adlers hat sich nach genauen Unter¬ 
suchungen der ihm bekannten literarischen Quellen und künstlerischen 
Denkmäler ergeben, daß bei den Byzantinern diese Darstellung nicht so 
alt sei, wie allgemein angenommen wird, sondern erst nach der Eroberung 
Konstantinopels durch die Kreuzfahrer erscheine *). Als älteste Beispiele 
für den Gebrauch des zweiköpfigen Adlers bei den Byzantinern erwähnt 
Professor Lambros») eine Münze des Kaisers von Nikäa Theodor Las- 
karis 3 ) — das Zeugnis dieser Münze ist etwas zweifelhaft — und ein Minia¬ 
turbild desselben Kaisers, das im Kodex 442 (XIV.Jahrhundert) der Mün- 
chener Staatsbibliothek abgebildet ist 4). 

Diese Meinung von Lambros über das älteste Vorkommen der Dar¬ 
stellung des zweiköpfigen Adlers entspricht jedoch nicht der Wirklichkeit. 
Die Darstellung ist in der Tat viel älter als die Epoche des Reiches von Nikäa. 
Als älteste« Beispiel dieser Darstellung betrachte ich ein Relief des archäolo- 
gischen Museums von Andros, das, seinem Stil nach zu urteilen, der Zeit 
Kaiser Justinians zuzuschreiben ist. Aus der gleichen Zeit stammen 
wohl auch andere Denkmäler mit der Darstellung des doppelköpfigen Adlers 
in den alten Kirchen der Ägäischen Inseln Paros und Tinos, obwohl diese 
Denkmäler allgemein als neueren Ursprungs und Nachahmung russischer 
Vorbilder gelten 5 ). Ich möchte hier auf dieselben nicht näher eingehen, da 


•) S p. P. Lambros, *0 oixitpoXo; irzti toü ByJovtfo’j, in der Zeitschrift 
»Mo;'KXX t(VO|av/ ( ijwuv« Bd. VI (1909), S. 433—73, VII (1910) S. 338—41, und VIII 
(1912) S. 235. 

*) Ebenso Bd. VI (1909) S. 447 ff. 

3 ) O c t a v i i de Strada, De vitis imperatorum et caesarum Romanorum, 
tarn occidentalium quam orientalium. Francfurte 1615, S. 350 — Vgl. S p. P. L am¬ 
bro s , »Mo; l EX).T)vo{iv^fta>v€ Bd. VI (1909) S. 447 ff. 

4 ) Über die verschiedenen Reproduktionen dieser Bilder siehe S p. P. Lambros, 
»N^oc'EAXqvopv^fiiov« Bd. VI (1909) S. 449 ff. 

5 ) Vgl. S p. P. Lambros, »Mo;' EAXTjvo;jM ( uujv« Bd. VI (1909) S. 468—9. 


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322 


N i x o ; A. B « t) {, 


Herr Dr. J. Bojiazides eine besondere Abhandlung über die Denkmäler des 
zweiköpfigen Adlers von Andros, Tinos und Paros usw. mit Abbildungen 
vorbereitet 6 7 ). 

Ich möchte jetzt über ein anderes Denkmal sprechen, das, weil es 
offenbar zwei oder drei Jahrhunderte älter ist als das Reich Nikäa, die vor¬ 
besagte Meinung von Professor Lambros als nicht stichhaltig erscheinen läßt. 
Es ist dies eine in Lamia von Phtiotis gefundene, sehr gut erhaltene und 
von K. Konstantopulos genau beschriebene Bleibulle, die jetzt im Numis¬ 
matischen National-Museum zu Athen aufbewahrt wird 7 ). Auf der 
Vorderseite dieser Bleibulle ist ein doppelköpfiger Adler mit ausgebreiteten 
Flügeln abgebildet, auf dessen Brust sich ein nicht genauer festzustellendes 
Ding befindet. Auf der Rückseite steht die Inschrift: 

... — . PA . — . A0APIU» — S CTPAT — . TWEAA — AAOC 
= ... ß(aatXtxq>) d [<J7t]aöapup xat <rcpaT[7]]i’<ji ‘EXXaSo? 

Die Bleibulle stammt aus dem 9. oder 10. Jahrhundert. So datiert 
Konstantopulos, der sehr viel Erfahrung über die byzantinische 
Sigillographie bewies, das Denkmal 8 ). Diese Datierung ist meines Er¬ 
achtens auch sicher. Allerdings ist die genannte Bleibulle des numis¬ 
matischen National-Museums zu Athen älter als die Epoche des Reiches 
von Nikäa (XIII. Jahrhundert), d. h. älter als die Zeit, die der Professor 
Lambros den ältesten byzantinischen Denkmälern mit der Darstellung 
des zweiköpfigen Adlers zuschreibt. Da die Bleibulle einem crcpcmj^j» 
‘EkXdSo? (d. h. öspatoc 'EXXa'Soc) gehört und wir keine «npoTrj^oö 'EXXaSoc 
Bleibulle haben, so stammt dieselbe aus der Zeit, die nach der Er¬ 
oberung Griechenlands durch die Kreuzritter kommt. Nachdem existierten 
in den von den Franken eroberten Ländern Griechenlands die sogenannte 
dejAaxixol arpaTTftol der Byzantiner nicht mehr, wenigstens in der Zeit 
der fränkischen Eroberung in diesen Ländern. 

Außer dieser oben genannten Bleibulle haben wir noch ein anderes 
Denkmal mit der Darstellung des zweiköpfigen Adlers, welches aus dem 
XI. Jahrhundert stammt, d. h. älter auch als die Epoche des Reiches von 
Nikää. Prof. Bury hat neulich eine schöne Abbildung dieses Denkmals mit 
der beifolgenden Beschreibung publiziert: »Silk Textile of the eleventh 
Century, with the two-headed eagle which became the Imperial Symbol. 
The stuff formed the shroud of S. Beruardo calvo, of Vieh. Fragments of 

6 ) Vgl. »BuCavrljc Bd. II (1910—11) S. 269. 

7 ) K. M. Konstantopulos, BoCxmaxd poX’j t 3 o< 5 ßo’jXXa £v Tijü ’Eövixq» No|m- 
cuattx(j) Mouaefrj) ’Alhjvwv. In dem Journal International d’Archäologie Numismatique. Bd. 
V (1902) S. 163, Nr. 47. 

8 ) Ebenso. 


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Zum Thema der Darstellung des zweiköpfigen Adlers bei den Byzantinern. 323 

the original are in the Archiepiscopal museum at Vieh, and in the Kunst¬ 
gewerbe Museum at Berlin (Nr. 91, 153)« 9 ). 

In seinem Artikel erwähnt Professor Spyridon Lambros auch noch 
verschiedene aus der byzantinischen Epoche und der Zeit der türkischen 
Herrschaft stammende, mit der Darstellung des doppelköpfigen Adlers 
versehene Denkmäler, welche bei den unterjochten Griechen als heiliges 
byzantinisches Erbe und zugleich als Symbol der politischen Wiedergeburt 
sehr beliebt gewesen sind. Zu diesen Aufzeichnungen des Professors Lambros 
möchte ich folgendes nachtragen: 

1. Etwas weiter von dem Städtchen Portaria auf dem Berge Pelion 
liegt das in der mittelalterlichen Geschichte sehr bekannte Prodromos- 
kloster 10 ), das, trotzdem es nach dem 19. Jahrhundert zum größten Teil neu 
erstanden ist, noch viele byzantinische Denkmäler in sich birgt. An der 
südöstlichen Seite dieses Klosters sieht man ein schönes Relief mit der Dar¬ 
stellung des zweiköpfigen Adlers in einem besonderen Stil graviert. Meiner 
Ansicht nach gehört dieses Denkmal der Zeit des 13.—14. Jahrhunderts. 

2. In Saloniki sieht man im Hofe des Hauses v. Georgios Petsiras auf 

dem alten Hippodromion, nicht fern von der Porta Kassandreotiki (Hopta 

t? ( c KaXatxaptä?), an der östlichen Mauer ein Kapitell, das als Stütze eines 

Balkens dient, mit der Darstellung des zweiköpfigen Adlers. Das Denkmal 

ist sehr interessant und stammt aus der Paläologenzeit, was durch drei 

andere Kapitelle, die mit dem obigen korrespondieren und von denen eines 

XT 

das Monogramm: I 1 A [=■ II0X010X070?] trägt, bewiesen wird n ). Es ist 
bekannt, daß viele Denkmäler aus der Zeit der Paläologen zweiköpfige 
Adler tragen IZ ). (Siehe Abbildungen der oben genannten Kapitelle von 
Saloniki bei P. Papageorgiu * 3 ).) 

3. Auf der Burg von Mytilene, rechts von der porta meridionalis, steht 
in großer Höhe die Darstellung des zweiköpfigen Adlers * 4 ). Die weiße 
Platte, auf welcher der Adler graviert ist, liegt zwischen zwei anderen, von 

xr 

denen die eine das Monogramm: HA [■= riaXotoXoYO?] trägt, die andere einen 


9 ) Gibbon — J. B. Bury, The Historv of the deciine and fall of the 
Roman Empire. London 1912, S. 134. — Herr Dr. P. Maas hat mich in dankens¬ 
werter Weise auf dieses Denkmal hingewiesen. 

,0 ) Vgl. Miklosich-Müller, Acta et Diplomata. Vol. IV, S. 330—430. 

M ) Petros N. Papageorgiu, Unedierte Inschriften von Mytilene. Leipzig 
1900, S. 26, Nr. 103. 

n ) Vgl. Sp. P. Lambros, »N^o;'EWvT|VO|xv^|a(ov« Bd. VI (1909) S. 451 ff. 

* 3 ) Petros N. Papageorgiu, Unedierte Inschriften von Mytilene. Taf. VI, 
Nr. 43. 

> 4 ) Ebenso S. 11, Nr. 35. 

Repertorium für Kunstwissenschaft, XXXV. 2 2 


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324 


N t x o { A. B11) 4, 


einköpfigen Adler zeigt. Auf der Platte mit der Darstellung des zwei¬ 
köpfigen Adlers sieht man die zwei 9 B die gewöhnlich in den Wappen der 
Paläologen sich befinden und auf verschiedene Weise erklärt werden * 5 ). 
Die Abbildung dieses Denkmales, das ein anderes als das von Hasluck l6 ) 
beschriebene zu sein scheint, hat P. Papageorgiu * 7 ) publiziert. 

4a. Auf dem Pergament des aus dem Jahre 1439 stammenden und 
der Nationalen Bibliothek zu Paris aufbewahrten 18 ) Dekretes, durch 
welches der Kaiser Johannes Paläologos dem Florentiner Jagob De Mo- 
relliis verschiedene Ehren zubilligt, ist ein Wappen, offenbar das Wappen 
des genannten Jagob de Morelliis, abgebildet, worauf der byzantinische 
zweiköpfige Adler zu sehen ist * 9 ). 

4 b. In dem Dorfe Ano Bolo auf dem Berg Pelion sieht man über dem 
spiralförmigen Bau der hl. Dreifaltigkeitskirche unter anderen Reliefs aus 
der byzantinischen Zeit auch einen zweiköpfigen Adler eingemauert. Dieses 
Denkmal stammt, soviel bekannt ist, aus der Zeit vor der Eroberung Kon¬ 
stantinopels (1453) “). 

5. Auch in der Friedhofskirche des vorgenannten Dorfes Ano Bolo 
kommt ein Relief mit dem doppelköpfigen Adler vor, das von sehr feiner 
Kunst zeugt und aus der Zeit vor dem Jahre 1453 der byzantinischen Epoche 
stammt 11 ). 

6. In Attika, in der Kapelle der heiligen Paraskevi, auf der Besitzung 
der Familie Pristi liegt nach der Mitteilung des Prof. G. Lambakis ein Stein 
mit der Darstellung der Hälfte eines zweiköpfigen Adlers. Dieses Denkmal 
scheint sehr alt zu sein, doch ist nicht erwiesen, ob es sich hier wirklich um 
die Darstellung eines zweiköpfigen Adlers handelt 21 ). 

7. Auf der ehernen Platte des Grabes von dem in Landulph be¬ 
erdigten Theodor Paläologos (dieser ist einer der Nachkommen des letzten 
Kaisers von Byzanz Konstantin Paläologos) sieht man in der oberen 

* 5 ) Vgl. J. Svoronos, Journal International d’Archlologie Numismatique. 
Bd. II (1899) S. 363 ff. 

,6 ) F W Hasluck, Monuments of the Gattelusi. Im The Annual of the British 
School at Athens. Nr. XV. Session 1908—1909, S. 263 ff. — Vgl. S p. P. Lam br o s , 
»Niot'EXXqvopv^fwov« Bd. VI (1909) S. 446. 

* 7 ) Unedierte Inschriften von Mytilene. Tafel V, Nr. 35. 

**) Codex Supplement grec 821. 

• 9 ) Vgl. S p. P. Lambros, *Nfoc 'EAXqvop.vVjfMov«. Bd. IV (1907) S. 188—194. 
In S. 19t Faksimile des Wappeus. 

*°) A. Arvanitopullos, ’Avaoxacpal xal Iptuvai £v 0 co 3 aX<a xarrd tö fto; 
1910 (S. Ab. aus npoxTixd tt,; £v ’Aö^vatj ’ApyaioXoyixfj; 'F/ratprfac toü Itoj; 1910) 
Athen 1911, S. 201. 

**) Ebenso S. 202. 

*») Ae/-fov A' der christlichen archäologischen Gesellschaft zu Athen. Athen 
1904, S. 10. 


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Zum Thema der Darstellung des zweiköpfigen Adlers bei den Byzantinern. -525 

Seite der Grabinschrift die Darstellung eines zweiköpfigen Adlers, dessen 
Füße auf zwei Pforten ruhen * 3 ). 

8. In der Andreaskirche von Patras, — früher ein schönes byzan¬ 
tinisches Gebäude, im Jahre 1770 durch die Albanesen fast vollständig 
zerstört — ist eine Platte mit einer kunstlosen Darstellung des zweiköpfigen 
Adlers erhalten geblieben. Stephanos Thomopulos, welcher dieses Denk¬ 
mal beschrieben hat, sucht nachzuweisen, daß die obenerwähnte Darstellung 
aus der Zeit der Paläologenherrschaft zu Pelponneses stammt a *), obwohl 
aus der auf der Platte stehenden Inschrift zu ersehen ist, daß sie einer 
späteren Zeit angehört. Diese Inschrift lautet: 

O ATTOSOAOC ANAP6AC CneTA €«C TA OYPANIA WCAN 
O A6TOC €IC TA YYH KAI BAClTei KA 
©APA TO KAAAOC TOY 06OY 
TO AMHXANON 

Dieser Text erinnert mich recht an eine Stelle der Akten des Apostels 
Adreas: »’Evxaüfta irapaTejovu»* 6 xou e&orpfeXixoö xijpujpaxoc u^rjicstr)? xai 
pefaXo<pu>voc dex&c x&v X 7 j; euaeßefac* Xojov xarr^jeiXe . . . .« 2 5 ). — Siehe ein 
Bild dieses Denkmals der Andreaskirche von Patras bei Archimandrit 
Antoninus a6 ). 

9. In der Paraskevikirche unterhalb der Burg von Geraki zu Lake- 
dämon sieht man auf eingebautem Tuffstein die Darstellung eines zwei¬ 
köpfigen Adlers. Diese gehört jedoch nicht, wie einige anzunehmen geneigt 
sind * 7 ), dem byzantinischen Zeitalter, sondern der Zeit der türkischen Herr¬ 
schaft an. 

10. Über der Türe der Kirche navajia TpouX).u>xf ( des Dorfes 0eppr ( j 
von Lesbos sieht man auf weißem Marmor einen zweiköpfigen Adler, auf 
dessen Brust X(piaxoc) N(i)K(a) geschrieben steht **). Das Denkmal 
ist vielleicht aus dem 16.—18. Jahrhundert. 


* 3 ) S. Zampelios, ’^Opara orjpoxtxä xfjc 'EXAdoo;. Korfu 1852, S. 581. — D. 
Bikelas in der Zeitschrift »Ilavotopa«, Heft 241, S. 23 (Vgl. D. Bikelas, AtaXf;et; 
xal dvapv^atic. Athen 1893, S. 430). —Vgl. P. Lambros in der Zeitschrift »Ilav&bpa« 
Bd. XI, Heft 269, S. 98. — Vgl. J. Svoronos, Journal International d’Archfologie 
Numismatique. Bd. II (1899) S. 365. 

**) Stephanos Thomopulos, Xpioxtavtxal iv ücrrpai; imypatpaf. Im AtAxfov 
xfj« 'Iaxoptxrj; xal ’ EUvoXoytxfj; ' Exatptfas xrj; ' EXXdSo;. Bd. I (1883—4) S. 525. 

2 5 ) Acta Andreae Apostoli cum laudatione contcxta edidit Max Bonnet. In 
Analecta Bollandiana, Bd. XIII (1894) S. 330, V. 3—4. 

*) APXHMAimPHTA AHTOHHHA, Hab PyMeJiin. St. Petersburg 1886. Tafel. 
* 7 ) S p. P Lambros, EXXt^vojjlv^[jlü>v« Bd. VI (1909) S. 452. 

**) Petros N. Papageorgiu, Unedierte Inschriften von Mytilene. S. 11. 
Nr. 36, Tafel V. Nr. 36. 

22* 


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326 


N ixos A. ßti]«, 


11. Auf der Insel Andros sieht man über den Türen und Fenstern der 
Schlösser zweiköpfige Adler, die ein Wappen halten, eingraviert » 9 ). Auch 
in den Kirchen dieser Insel sieht man speziell als Boden-Ornamente viele 
Reliefs mit zweiköpfigen Adlern 3 °), so in der Kirche des Erzengels von 
Messaria 3 i), in der sehenswerten Agiamoni, die zahlreiche ältere und neuere 
Nachahmungen dieser Darstellung bringt 3 *), in der Metamorphosiskirche 
des Panachrantosklosters (Datum 1757) 33 ) und in der Kirche des Klosters 
der hl. Marina (Datum 1771) 34 ). 

12. Auch auf der Insel Amorgos begegnet man vielfach der Darstellung 
des zweiköpfigen Adlers z. B. in der Kirche des Zoodochos Pigi in dem Städt¬ 
chen Amorgos; auf einem Grabe ist mit anderen Ornamenten ein zweiköpfiger 
Adler mit der Inschrit »Ev erst 1683 pijvl jiapTup...« auf Stein graviert 35 ). In 
der Mitte der Kirche des hl. Georgios, des sogenannten Balsamitb befindet sich 
auf einem Bogen ein Relief mit der Darstellung des doppelköpfigen Adlers 3 6 ), 
ebenso auf einer Steinplatte des Grabes des Bischofs Nikodemos Baba- 
tenos mit der Inschrift: »1730 ^oyootjzoo I Tüjj-ßo; sv&otSe xnjTe 0 trpu) 7 ( v 
eXooc Ntxooijfioj«. 37 ) 

13. In der Athanasioskirche zu Kalamata von Messenien, die man für 
einen Bau des 13. Jahrhunderts hielt, während diese erst nach dem 
17. Jahrhundert entstanden ist, befindet sich ein Türgiebel, dessen Spitze 
mit einem zweiköpfigen Adler unter einem Kreuz geschmückt ist. (Siehe 
ein Bild dieses Denkmals nach einer Photographie, gezeichnet und heraus- 
gegeben von K. Konstantopulos 3 S ). 

14. Am Dom des thessalischen Städtchens Palamas (das eine gewisse 
Zeit im Besitz der berühmten byzantinischen Familie Palamas war) sieht 
man ein ummauertes Relief mit der Darstellung eines zweiköpfigen Adlers. 
Diese stammt vielleicht aus dem 17.—18. Jahrhundert. 


* 9 ) Ant Meliarakis, ’Yzopv^putta jrcpcypsftx£ twv KuxXdoan» v^stov xatä 
pipo?. Avopo;. kt<u;. Athen 1880, S. 67. 

3 °) Ebenso, S. 90. 

3 1 ) Ebenso, S. 91. 

3 ») Ebenso, S. 92—93. 

33 ) Ebenso, S. 97. 

34 ) Ebenso, S. 103 ff. 

39 ) A. Meliarakis, ’Wopy< 5 ;. In dem AeXtfov ' Inopufj; xxl ’EOvoAoytxfjj 
T'.?atpcfac tt,; 'KXXaSo;, Bd. I (1883—4), S. 597. 

3 6 ) Ebenso, S. 604. 

37 ) Ebenso, S. 594. —Über denBischof von "EXo; Nikodemos Babatenos s. Nfxou A. 
'F.x'fpan; xtbSixo; T?j; pTjTpondXtto; Movsußxcffx« xat KaXapdTa; [S. Ab. aus AeXxfov tt ( ; 

I jToptxf ( ; xat FövoXoytxijc 1 Exaipcfa; rfj{' EXXctoo; Bd. VI]. Athen 1903, S. 188. 

3 8 ) K. Konstantopulos im »ßuCovrfc« Bd. I (1909) S. 477 ff. 


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Zum Thema der Darstellung des zweiköpfigen Adlers bei den Byzantinern. 327 

15. In der Kirche der Familie Latinos zu Zanthe befindet sich ebenfalls 
ein Relief mit dem zweiköpfiger Adler 39 ). 

16. Bei derBurg von Assos auf Kephalonien steht eine Marienkapelle, die 
sogenannte llavorpa xoo Axafitoroo, welche der Familie Antipa gehört. Auf 
einer Bodenplatte dieser Kapelle ist das Wappen der vorgenannten Familie 
und ein zweiköpfiger Adler eingraviert 4 «>). 

17. In der Metamorphosiskirche des thessalischen Städtchens Makry- 
niza auf dem Berge Pelion befindet sich eine Steinplatte mit dem gravierten 
Datum: 1771 und einem Adler, von dem es jedoch nicht sicher ist, ob es 
ein ein- oder zweiköpfiger ist 4 *). 

18. Bei dem Orte Ao'poxaoxpo, auf dem Berge Pelion ist eine Quelle 
die ripivo? genannt wird. Über derselben ist eine türkische Inschrift 
mit griechischen Buchstaben und der Darstellung eines zweiköpfigen Adlers 
und dem Datum 1777 auf Stein graviert 4 »). 

19. Auf einer Steinplatte des dem Erzengelkloster auf der Insel 
Serifos gehörigen Xenodohion ist ein zweiköpfiger Adler mit dem Datum 
1781 43). 

20. Auf der Platte des Grabes von Panagiotis Sotirianos Alexandros 
Gerontas (f 1789), die sich jetzt in dem Epigraphischen Museum zu Athen 
befindet, sieht man die kunstlose Gravüre eines zweiköpfigen Adlers 44 ). 
Auch die Familie Benizelos zu Athen hat den doppelköpfigen Adler als 
Wappen gewählt 45 ). 

21. In der Hauptkirche von Kardamyle (Lacedämon), die im 
18. Jahrhundert gebaut wurde, sieht man auf einem weißen Steine 
oberhalb eines angemauerten Fensters eine interessante Darstellung des 
zweiköpfigen Adlers, deren Abbildung man bei Traquair 4 6 ) findet. 

22. In dem Meteoronkloster zu Thessalien sieht man ein im Anfänge 


39 ) K. M. Z c s i u, »2'ifjLfjLixTo« (S.-Ab. aus der Zeitschrift »’Afrrjvi«) Athen 1892, S. 5,2. 
9 °) Ant. Meliarakis, reuiypa^pla roXmxi) vfa xal dpyala toü voaoü KttpaAAr,- 
vtas. Athen 1890, S. 56—7. 

4 1 ) A. Arvanitopulos, ’Avaoxa^pal xal fpcuvat fv BeaaaXt'a xn~i ~b froj 1910, 
S. 208. 

4 *) Ebenso, S. 223. 

43 ) T. E v a n g e 1 i d e s , 'II vfjoo « Xfpupos xal al ~epl airojv vTjaioti. Hermupolis 

1909, S. 99. 

44 ) D. Gr. Kampuroglus, 'lo-copfa tu»v ’Albjva(<uv. Toupxoxpatfa. Bd. II. 
Athen 1890, S. 201. 

45 ) D. Gr. Kampuroglus, Mvrjpeta tt j; 'laropfac Ttöv ’Alb)va<<ov. Athen 

1891, s. 394—5- 

4 ( ) R.Traquair, The churches of Western Mani. Im Annual of the British School 
at Athens. Nr. XV: Session 1908—1909, Tafeln XVII (Vgl. S. 193, 213). 


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328 


N tstoc A. B ttjt, 


des 19. Jahrhunderts graviertes Relief mit einer Darstellung des doppel- 
köpfigen Adlers, dessen Darstellung ich bereits publiziert habe 47 ). 

23. In der Kirche des thessalischen Dorfes Botßovxa (lt. mittel* 
alterlicher Urkunde) bei der Stadt Kalabaka (im Mittelalter 2 xorpl) sieht 
man über dem Haupteingang das Relief eines zweiköpfigen Adlers. Ich 
nehme an, daß dieses aus dem Beginn des 19. Jahrhunderts stammt. 

24. Auch in der Prodromoskirche von Lagada auf der Insel Zanthe 
ist in der Mitte eines Bogens ein zweiköpfiger Adler mit einer Inschrift 
graviert, die das Datum 1818 trägt 4 8 ). 

25. Auf einem silbernen Reliquienkasten des Klosters Tatarna zu 
Eurytanien ist ein Basrelief, welches einen zweiköpfigen Adler mit dem 
Datum 1824 zeigt 49 ). 

26. In Halmyros zu Thessalien ist auf einer Platte, die in der Fassade 
der Meierei des sogenannten Eevia Klosters eingebaut ist, ein zweiköpfiger 
Adler eingraviert 5 °). 

Zum Schlüsse sei gesagt, daß ich die Darstellung des zweiköpfigen 
Adlers außer in den Siegeln verschiedener kirchlicher Personen und Laien 
auch als Ornamente der Handschriften und Deckel der Bücher aus der 
Türkenherrschaft gefunden habe. So sind z. B. in der Handschrift Nr. 81 
des Klosters Mega Spiläon (17. Jahrhundert) im Anfänge der verschiedenen 
Titel viele große Buchstaben, die einen zweiköpfigen Adler bilden oder mit 
einer solchen Darstellung geschmückt sind. (F. 30 b , 72 b , 74 b , der Buch¬ 
stabe O, F. 77 b ein 0 , F. 78 b ein A, F. 82 a ein T). — Auch in meinem 
noch im Druck befindlichen Verzeichnisse der Handschriften aus den Me- 
teorenklöstern habe ich viele Hss. notiert, die, besonders auf dem Deckel, 
mit Ornamenten zweiköpfiger Adler versehen sind. 

Zu dem Verzeichnisse der verschiedenen Denkmäler mit der Darstel¬ 
lung des einköpfigen Adlers in dem Artikel des Herrn Prof. Sp. P. Lambros 
möchte ich hier noch ein sehr interessantes Denkmal erwähnen, das aus 
W.-Syrien stammt und mit einer Inschrift aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. 
versehen ist. Dieses Denkmal ist von dem Herausgeber Viktor Chapot 5 1 ) 
wie folgt beschrieben: »Aigle auostö de deux bras humaines; les bras sont 
levds, les mains ouvertes, les doigtes öcartes, la paume en avant. On ne 


47) Nfxou A. B^r J( 1'jvTOYp.a irrj’pacpixtüv pvrjptiiuv Mrreu)f»u>v xal rr fi irtpi; yiupac. 
In »BuCavrlc« Bd. I (1909) S. 598, Nr. 67. 

4*) Daniel Quinn, T«üv TtXeoxa (u>v ahuvutv i-'.fpacpal Zax'jvftiaxa l. Im Appovla 
(Zeitschrift von Athen.) Bd. III (1902) S. 574, Nr. 54. 

49 ) N. Giannopulos, 'Iuxopta xal Iff patpa ttjc povfj; Eevid;. Im AtXxlov ttjc 
I stoptXT)? xal ’EftvoXoytxijc 'Exaipcia; tt ( « 'EXXaSo?. Bd. IV (1892—95) S. 657. 

5 °) Bulletin le Correspondence Helllnique. Bd. XXVI (1902) S. 175. 

5 ‘) Mitteilung des Richters Dr. S. Pulitzas. 


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Zum Thema der Darstellung des zweiköpfigen Adlers bei den Byzantinern. 329 

voit pas clairement, s’ils sont attachls aux corps des oiseaux ou inddpen- 
dants.« (Siehe das Bild des Denkmals von V. Chapot publiziert.) 

Nachträglich möchte ich auf einige literarische Quellen, welche obschon 
sehr wichtig für das'fragliche Thema, von dem Prof. Lambros ganz unein¬ 
gesehen geblieben sind, aufmerksam machen: In einem nämlich aus dem 
Jahre 1142 stammenden Verzeichnisse, das verschiedene Güter und Geräte 
eines nicht mehr existierenden Klosters auf dem Berge Athos, des soge¬ 
nannten SoXoupYoo, liest man *izepa ßXaxtfa 5 3 ) e^ovxa aexobc SntXoo?« 53 ). 
Die Rede ist hier auf einem Stoff, der auf sich Adler als Zierde, vielleicht 
gestickt, trug. Ob unter dem Ausdruck SnrXobc aerobe zweiköpfige oder 
einköpfige Adler zu verstehen sind, kann man nicht mit Sicherheit sagen. 
Meines Erachtens aber ist eher anzunehmen, daß auch diese literarische 
Quelle auf die Darstellung des zweiköpfigen Adlers sich bezieht. Zu dieser 
Erklärung führt mich die Bemerkung, daß bis heutzutage in der Um¬ 
gangssprache an vielen Orten Griechenlands SiirXb? dtxb^ = zweiköpfiger 
Adler bedeutet. Diesen Volksausdruck habe ich selbst vielmals in den 
Meteoren klöstern und dem übrigen Thessalien gehört. Eis ist noch zu 
erwähnen, daß es auch ein neugriechisches Volkslied gibt, welches beson¬ 
ders zum Tanze gesungen wird, dessen Anfang lautet: 

AixXbc dtxbc xaöoxave.... 

wo man statt StirXbc dito?, die Versionen Evac aixbc, ßaaiXatxbc 
[= ßaaiXixbc dixbc] nach den verschiedenen Orten, hören kann. 

Und eine andere noch wichtigere literarische Quelle, wo sogar die Rede 
ausdrücklich vom zweiköpfigen Adler ist, hat Prof. Spyridon Lambros 
ganz übersehen: nämlich eine von Stavraki Aristarchi veröffentlichte 
alte griechische Übersetzung der XI. Novelle von Justinianus über die 
Privilegien des Erzbistums von Achrida, welche Übersetzung voll von 
willkürlichen Einschaltungen und Fälschungen ist. Nun liest man in 
dieser Übersetzung und 3ogar in dem gefälschten Teile derselben folgendes: 
»’Eitl xouxotc 8X iraatv opi'Copsv, Sioovx«; aoi aoetav j(p^<jflat a^pa-pot, 2 v xiva 
xpoitov xd vöv xcepqpaipexai' <joi* StjXov oxt oxoooov xe^tuptapivov Iv S7txd pipeatv, 
■i)XOi xi bf piacu (jxouoov ^puobv, xai dv auxtp eytuv xbv SixdcpaXov peXava 

5 2 ) Über das Wort s. Du Cange, Glossarium ad scriptores mediae et infimae 
Graecitatis. — Vgl. die Bemerkungen von Du Cange zur Alexias (Ausgabe von 
Paria S. 275, von Venedig S. 45) und Joan Jac. Reiskii zum Buch De Ceremoniis 
in Migne Patrologia Graeca, Bd. CXII, S. 148, 870. 

53 ) Acta, praesertim Graeca, Rossici in monte Athos monasterii — AKTbl 

PYCCKATO HA CBHTOMT) AöOH'B MOHACTbIPfl CB. BEJIHKOMyMEIIKA H 
IVBJIHTEJIH IIAHTEtTEHMOHA. Kiev 1873, S. 52. 

J 4 ) Nach diesen Belegen ist die Darstellung des zweiköpfigen Adlers nicht absolut 
fremd in dem Schatz der neugriechischen Volkspoesie, wie Prof. Spyridon P. Lambros 
(N<oc t EXXr)vo|iv^|iLü)v Bd. VI, 1909, S. 465—6) behauptet. 


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33 ° Ntxoc A. Bcrj;, Zum Thema der Darstellung des zweiköpfigen Adlers usw. 

dexov, 37)patvovxa xo ßastXtxdv IpßXr^pa, oxetpaveupivov xat; ooal xsoaXat; 
aoxoo pexa rcoptpopou ßaatXtxoö otaor^paxo; • xd oi ivtuxepa 8uo pip7], iv t«ö 
S e$uu, OTrsp jrjpatvet xb xpaxo; xvj; aptpoxspa; Aaxta;, ipobpXv xai iv aoxtp 
icup*]fov' Iv xtp dptaxsptjj iteStov xudvetov, xai iv aoxtp ypooi; StitXöc' axaopd; 
aTjpaivtov ttjv 8eoxipav riavowiav, xai aoöt; iv xtp 02$«p aepei TteStov xodveiov, 
xat iv aoxtp ßdpet; xpet; ixaxiptoöev Xeoxd?, f ( os peaaia ypodr,, jrjpatvouua; 
xtjv dvtoxsptn ’AXßavtav xai sxt iv xtu aptcrreptp, reSt'ov ipoöpov, xat iv aoxtp 
3yr ( pa afyo;, tnfjpatvov xijv Maxsoovtav • xai itaXtv iv xtp ds£tu> pipst, 7:e8iov 
XsoxXv eyov Xsovxa, OTjpatvovxa xr ( v * Hiretpov • ev xe x«p dptaxepa», irsStov irpdatvov, 
xai iv aoxtp yetpe; 860 ßaaxaCooaat ypoaoov crcippa pexa pap^apixapttov 
iirxa, arjpatvooaai xtjv 0 exxaXi'av. ’E/itl iravxtov oe axaopov xptpopcpov, iv psv 
xtp 8e;t«> pipet poptpata, cnjpatvooja xo xpdxo; xai iraaav xoaptxijv roXtxixrjv 
i$ooatdv • iy 8e xtp dptaxsptp r t 7rotpavxoptxi) pdßSo; arjpatvooaa xr ( v ixxXifjata- 
dxtXTjv i£oo<Jtav* 6 8e axaopd; TrepixaXüirxsxat psxd xpavxoptxoo otaor ( paxo;, xai 
iir aoxtp 7 i£xa<J 3 o; xdxxtvo; auv xpoaatooxot; ypoarot;, tpirep imxaXoTrcexai 300 r 4 
xecpaXr 4 , irepyopsvo; TtappT]<Jiaaxixti>; iv rg ixxXTjaia 55 ).« Nach dem Herausgeber 
Stavraki Aristarchis 5 6 ) ist diese alte Übersetzung der XI. Novelle von 
Justinianus ein Werk des XIII. Jahrhunderts, meines Erachtens aber des 
XIV.—XV.; in jedem Falle gehört diese Übersetzung einer Zeit vor der 
Eroberung Konstantinopels durch die Türken an. Man darf sie daher 
unter den seltenen byzantinisch'literarischen Quellen, die sich auf die 

Darstellung des zweiköpfigen Adlers beziehen, rechnen. 

— - ‘ » 

55 ) H 3 BBCTIH PyCCKAFO APXEOJIOPHHECKATO IIHCTHTJfTA B'l» 
KOHCTAHTIIHOIlOJrt» Bd. VI (1900—1901). Heft 2—3, S. 237—252. 

5 S ) Ebenda S. 250. 


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Der Codex Bruchsal 1 auf seine Herkunft untersucht. 

Von Benefiziat Dr. Sichert, Kuppenheim (Baden). 

Das Evangeliar, das unter diesem Namen auf der Hof- und Landes¬ 
bibliothek zu Karlsruhe auf bewahrt wird, hat seit drei Jahrzehnten das 
lebhafteste Interesse der Kunsthistoriker wachgehalten, ohne daß es aber 
bis jetzt gelungen wäre, die Prachthandschrift näher zu bestimmen. Springer 
und Lübke, Woltmann-Wörmann und Janitschek nehmen sie zusammen 
mit dem Psalter des Landgrafen Hermann als Repräsentanten jener ganzen 
Periode *). Haseloff hat sie in seiner Arbeit über die thüringisch- 
sächsische Malerschule des 13. Jahrhunderts fleißig beigezogen*) und vor 
wenigen Jahren wurde in einer Dissertation 3 ) die Handschrift stilkritisch 
untersucht, aber ein sicheres Resultat war auch dabei nicht herausgekommen. 
Nun ist es mir gelungen, gelegentlich einer Arbeit über die alte Liturgie 
im Speyrer Dom auch einen Anhaltspunkt zur sicheren Bestimmung des 
Codex Bruchsalensis zu gewinnen und damit die alte Streitfrage wohl ent- 
gültig zu lösen. 

Schon vor jahren, als ich noch an der Stiftskirche in Bruchsal amtierte, 
habe ich die Handschrift überprüft, die durch ihren Namen mein Interesse 
geweckt hatte. Ich hielt sie für ein Erbstück aus dem alten Ritterstift Odm- 
heim, das im Jahre 1507 in die Bruchsaler Stiftskirche transferiert worden 
war und bei der Säkularisation seine Bestände nach Karlsruhe abgegeben 
hatte 4). Sichere Beweispunkte für diese Annahme konnte ich aber nicht 
finden. Doch war eine Zurechnung des Evangeliars zur alten fürstbischöflich - 
speyerischen Bibliothek, die ehedem auch in Bruchsal sich befand, ganz 
ausgeschlossen, da es unbedingt das ex libris des Fürstbischofs August 
von Limburg-Styrum hätte aufwe.sen müssen, das heute noch sämtliche 

•) Springer, Handbuch, 7. Aufl. Leipzig ( i904, Bd. 2, 222. Lübke, Gesch. d. deutschen 
Kunst, Stuttgart 1890, S. 295. Woltmann-Woermann, Gesch. der Malerei, Leipzig 1879, 
Bd. 1, 275. Janitschek, Gesch. der deutschen Malerei, Berlin 1890, 136. 

*) Studien zur deutschen Kunstgeschichte, Heft 9, Straßburg 1897. 

3 ) E. Cohn, Über den Codex Bruchsal 1 der Karlsr. Hof- und Landesbibi, und 
eine ihm verwandte Handschrift. Karlsruhe 1907. 

♦) Vgl. Remling, Gesch. der Bischöfe v. Speyer, Bd. 2, Mainz 1854, 225. 


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332 


Sichert, 

aus der bischöflichen Bibliothek stammenden Werke zeigen 5 ). Als ich nun 
im verflossenen Jahre das registrum camerariorum des Speyrer Domes 
(15. Jahrhundert) 6 ) für die Drucklegung bearbeitete, ergab sich zugleich 
auch eine Spur zur sicheren Bestimmung des Codex Bruchsalensis, die in 
ihrem Verfolg zu einem sicheren Resultate führte. Das registrum enthält 
nämlich für die Prozession, die an den Hochfesten wie Weihnachten, Ostern, 
Pfingsten, Mariä Himmelfahrt und Kirchweih im Kreuzgang des Domes 
abgehalten wurde, die regelmäßige Anweisung: »der Episteler soll das silbern 
buch dragen, das vbergult ist.« Diese Angabe weckte in mir lebhaft die 
Vorstellung des Codex Bruchsalensis, dessen Deckel mit Silber belegt und 
vergoldet ist, und ich vermutete, er könnte identisch sein mit dem im 
registrum genannten Buche. Ein Dominventar aus dem 18. Jahrhundert 
bestätigte wenigstens teilweise die Richtigkeit dieser Vermutung. In seiner 
Sitzung vom 20. Jänner 1781 hatte das Domkapitel zu Speyer den Auftrag 
zur Fertigung eines Dominventars gegeben und nach Jahresfrist, am 17. Jänner 
1782, vorgelegt erhalten 7 ). In diesem Inventar ist unter den beim Gottes¬ 
dienst nicht mehr gebrauchten, aber ihrer Kostbarkeit halber zum Dom- 
schatz gerechneten Beständen unter Nr. 23 verzeichnet: »Ein altes, auf 
Pergament geschriebenes Evangelienbuch mit beigefügten mysteriis evangelii 
in Figuren, dessen vorderes Blatt in der Mitte Christum den Herrn von Silber 
und vergoldet, oben in einem viereckigen Blatt agnum dei, unten aber in 
gleicher Figur einen Geistlichen cum inscription: Conradus custos vor- 
gestellet, so rings herum mit farbigen Steinen besetzt ist.« Diese Angaben 
treffen nun so genau beim Codex Bruchsalensis zu, daß kein Zweifel bleibt, 
das im Dominventar beschriebene Evangelienbuch ist identisch mit dem 
Codex Bruchsalensis, der also ehedem zum Speyrer 
Dom gehörte. 

Die aus dieser Feststellung folgende Frage: Wie kam das Evangeliar 
nach Karlsruhe und zu seinem Namen, war aus der Geschichte des Speyrer 
Domkapitels leicht zu beantworten. Im November 1793 hatte das Kapitel 
mit dem gesamten Domschatz vor den andringenden Franzosen sich über 
den Rhein geflüchtet und in der bischöflichen Residenz Bruchsal sich nieder¬ 
gelassen 8 ). Im v. Rollingenschen Hause, das vor dem Schloßbau 9 ) schon 

J) Die Bibliotheken zu Karlsruhe, Heidelberg und Freiburg teilten sich in die Be¬ 
stände. 

6 ) Manuskriptband des Generallandesarchivs Karlsruhe. Die Drucklegung hat 
giitigst für den Historischen Verein der Pfalz Herr Kreisarchivar Dr. Oberseider zugesagt. 

7 ) Protocolla Capituli Spirensis der Jahre 1781 und 1782, Generallandesarchiv 
Karlsruhe. 

8 ) Rcmling S. 786. 

«) Über das Bruchsaler Schloß vgl. jetzt die von Oberbauinspektor Dr. Hirsch 
im Auftrag der Großh. Regierung herausgegebene Monographie, Karlsruhe 1910. 


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Der Codex Bruchsal i auf seine Herkunft untersucht. 


333 


den Fürstbischöfen Wohnung geboten hatte, hielt das Kapitel seine Sitzungen 
und verwahrte hier auch seine Pretiosen bis zur Säkularisation. Als diese 
hereinbrach, beschlagnahmten die Kommissäre des Kurfürsten Karl Friedrich 
die Wertschaften des Kapitels zugunsten der badischen Regierung. Von 
dieser wurde dann unser Evangeliar mit noch anderen liturgischen Büchern 10 ) 
der Hof- und Landesbibliothek überwiesen und hier seiner nächsten Herkunft 
nach Codex Bruchsalensis genannt. 

Man könnte nun noch zu allem hin die Frage stellen, ob das Evangeliar 
auch alter Besitz des Speyrer Domes war und wirklich identisch ist mit dem 
im registrum camerariorum genannten. Die Frage muß bei Berücksichtigung 
der geschichtlichen Verhältnisse unbedingt bejaht werden. Ein späterer 
Ankauf aus literarischem oder antiquarischem Interesse ist bei der schwierigen 
Lage des Speyrer Kapitels seit Ausbruch der Reformation völlig ausge¬ 
schlossen. Im ganzen 16. und 17. Jahrhundert hatten Bistum und Kapitel 
zu Speyer so schwer unter den andauernden Kriegswirren zu leiden, daß 
geradezu ihr Bestand in Frage gestellt war. Als mit Beginn des 18. Jahr¬ 
hunderts am Rhein ruhigere Zeiten anbrachen, da lag der Kaiserdom in 
Trümmern und sein Kapitel war zerstreut. Die dringenden Forderungen 
für die Existenznotwendigkeiten verboten dem Kapitel jegliche freihändige 
Ausgabe. Es ist auch in den Kapitelsprotokollen dieser Jahrzehnte kein 
Anzeichen irgendwelcher literarischer Interessen im Domkapitel zu finden. 
Der Codex Bruchsalensis muß demnach als Erbstück aus der mittelalter¬ 
lichen Blütezeit des Domes und als identisch sowohl mit dem im registrum 
camerariorum des 15. Jahrhunderts wie im Dominventar des 18. Jahr¬ 
hunderts genannten Evangeliar betrachtet werden. 

Mit dieser Feststellung dürfte auch die richtige Erklärung gegeben 
sein für die Figur, die auf der unteren Randleiste des Deckels angebracht 
ist und die Aufschrift Cvnrad Cstos trägt, was wohl sicher als Conrad Kustos 
zu lesen ist. Man hat bisher immer angenommen, es sei die Figur eines 

Mönches. Aber diese Erklärung verbietet sich schon durch die Beischrift, 

« 

denn das Kloster kennt diese Würde des Kustos nicht, sie ist nur heimisch 
in den Dom- und Stiftskapiteln. Die Figur kann nur die eines Kanonikers 
in Chorkappe sein, der in seinem Kapitel die Dignität des Kustos bekleidete. 
Nun hatte der Speyrer Dom in der Reihe seiner Kustoden nur einen Conrad, 
nämlich Conrad von Frauenberg, der von 1399—1401 zugleich Generalvikar 
des Bischofs Rhaban v. Helmstadt war und 1425 gestorben ist, wie das 
Necrologium novum des Domes meldet: A. Dom. 1425 die Omnium Sanctorum 
obiit honorabilis dominus Cunradus de Frawenberg, custos et canonicus 


,0 ) Hierzu gehört auch ein Evangeliar mit Elfcnbeinrelief, das ich nach Reichenau 
verweise. 


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334 


Sieben, 


huius ecclesiae« 11 ). Sonach wäre die Figur auf der Randleiste des Deckels 
das Bild des Conrad v. Frauenberg, der wohl als Donator des reichen Deckel¬ 
schmuckes oder gar der ganzen Handschrift anzusehen ist, wie er ja auch 
andere reiche Vermächtnisse dem Dome zugewendet hat. 

Nachdem die Zugehörigkeit unseres Evangeliars zum Speyrer Dom 
erwiesen ist, bleibt aber immer noch die Frage: wo ist der Künstler zu suchen, 
der die Prachthandschrift geschrieben und ausgeschmückt hat? Die Hand¬ 
schrift selber trägt keinerlei Vermerk, der auf den Ursprungsort schließen 
ließe. Speyer scheidet von vornherein aus, da es nie ein Kloster von irgend¬ 
welcher Bedeutung in seinen Mauern hatte. Die stilkritische Untersuchung 
aber ist nur hinsichtlich der Entstehungszeit zu einem Resultat gelangt, 
indem die Zeit um 1200 angenommen wird **). Für den Ort der Entstehung 
verweist man an den Oberrhein. So bleibt nur mehr der eine Weg, aus dem 
Inhalt der Handschrift den Ursprungsort. zu suchen. Ihr Inhalt aber ist 
bis jetzt immer falsch bestimmt worden. Das Verschulden liegt an der 
fehlerhaften Beschreibung der Handschrift durch Ehrensberger, der in dem 
Katalog der liturgischen Handschriften der Karlsruher Bibliothek > 3 ) den 
Inhalt unseres Evangeliars in drei Abschnitte gliedert und Hochfeste des 
Herrn, Hochfeste der Heiligen und ein Commune Sanctorum unterscheidet. 
Diese Inhaltsangabe trifft nicht zu, sondern der Inhalt ist geordnet nach 
dem Verlauf des Kirchenjahres. Angefangen von der Vigil des Weihnachts¬ 
festes (24. Dezember) bis wiederum zum Feste des Apostels Thomas 
(21. Dezember) folgen sich Evangelien für die Hochfeste, für einzelne Sonn¬ 
tage und für Heiligenfeste ohne bestimmte Einordnung nach dem Rang 
des Festes. Nachgetragen ist Conversio sancti Pauli. Von den Heiligenfesten 
sind, abgesehen von den Marientagen, folgende aufgenommen: 

Stephanus, Johannes Ev., Innocentes, Benedictus, Philippus et 
Jakobus, Johannes Bapt., Petrus et Paulus, Commemoratio Pauli, 
Maria Magdalena, Jakobus Major, Vincula Petri, Ciriacus, Laurentius, 
Bartholomaeus, Decollatio Johannis Bapt., Matthaeus, Michael Archang., 
Gallus, Lucas, undecim milia virgines, Symon et Juda, Omnium Sanc¬ 
torum, Martinus ep., Andreas, Nicholaus, Thomas, Conversio Pauli. 

") Die Notiz bei Rcmling ii, Anm. ist unvollständig und ungenau. Der Eintrag 

im Necrologium novum über Conrad lautet vielmehr vollständig: obiit C. de Fr. 

in cuius anniversario dantur 6 tt. cum dimidia hin usual. de anno gratiae suae, medietas 
ad vigil. et reliqua pars in missa animarum. Item legavit 2 ü hin ad commemorationem 
patrum, pro se et sorore sua Margaretha de Frawenberg, religiosa, pro quibus dedit viginti 
quatuor florenos anno (14)24. Necrol. novum, tom. II, 247. Generallandesarchiv Karlsruhe. 

") Woltmann-VVoermann S. 275 um 1170, Goldschmidt in seinen Beiträgen zur 
Gesch. der sächsischen Plastik um 1200 (Jahrbuch der Kgl. Preuß. Kunstsamml. Bd. 12, 236. 
Berlin 1900). 

* 3 ) Bibliotheca liturgica manuscripta, Karlsruhe 1889, 42. 


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Der Codex Bruchsal i auf seine Herkunft untersucht. 


335 


In dieser Heiligenreihe sind nur auffällig die undecim milia virgines mit 
Ciriacus und wiederum Benedictus und Gallus, alle anderen Namen gehören 
Heiligen, deren Feste als gebotene Feiertage galten oder deren Verehrung 
im mittelalterlichen Deutschland allgemein war. Die Aufnahme der 11000 
Jungfrauen und St. Ciriaks läßt sich auch ohne Betonung lokalen Charakters 
leicht erklären, wenn man die Entstehungszeit der Handschrift berück¬ 
sichtigt. Um 1200 war die Verehrung der Kölner Jungfrauen und ihres 
Papstbegleiters geradezu modern, denn die Grabungen auf dem Kölner 
Ager Ursulanus seit 1155 und die Erhebung der Gebeine hatten um die Wende 
zum 13. Jahrhundert den Kölner Lokalheiligen eine so große Popularität 
verschafft * 4 ), daß ihre Aufnahme in einen Heilige'nkatalog von nur hoch¬ 
verehrten Namen kein Befremden erregt. Anders liegt die Sache mit 
St. Benedictus und Gallus. Wenn auch St. Benedikt in Brevier und Missale 
der ganzen abendländischen Kirche gefeiert wurde, so gehörte er doch außer¬ 
halb der monastischen Kreise nicht zu den Heiligen von Rang, und noch 
weniger St. Gallus, dessen Feier durchaus nur lokalen Charakter hatte. 
Wenn nun beide Namen in unserem Evangeliar zusammengestellt sind mit 
Heiligen von hervorragender Bedeutung, so ist das ein Fingerzeig, daß der 
Heiligenkatalog unseres Evangeliars in einem Kloster gefertigt wurde, 
dem St. Benedikt und St. Gallus zugleich Heilige ersten Ranges waren und 
das kann nur zutreffen beim Kloster St. Gallen. Damit wäre das Resultat 
der Untersuchung unseres Evangeliars durch die Kunsthistoriker, die es 
dem Oberrhein zuweisen, bestätigt und genauer präzisiert und der Codex 
Bruchsalensis als Produkt der Nachblüte der 
St. Galler Buchmalerei anzusprechen *4). 

» 

Nachdem oben der bisher fälschlich weitertradierte Inhalt der Hand¬ 
schrift berichtigt worden ist, möge hier auch noch eine Richtigstellung der 
Ausstattung folgen, da der letzte Bearbeiter der Handschrift sich die gröbsten 
Irrtümer und Unterlassungen zuschulden kommen ließ ’ 6 ). Vor allem 
hat er die geschnittenen Steine des Deckelschmuckes völlig übersehen, 
die ihrer Arbeit nach sicher aus klassischer Zeit stammen. Eine der Gemmen 
hat nach meiner Auffassung als Schnitt einen thronenden Juppiter, eine 
zweite den geflügelten Merkur und die dritte zeigt einen Opferdreifuß, darüber 
Vogel mit Zweig im Schnabel und seitwärts einen Köcher und Bogen. Die 
Gemmen wie die anderen Ziersteine können aus dem Speyrer Domschatz 
stammen, von dem ein Inventar aus den Jahren 1051—1056 * 7 ) meldet ( 

• 4 ) Boiland. Octob. IX, 240—251. 

’S) Vgl. zu dieser Nachblüte: Weidmann, Gesch. der Bibliothek St.Gallen, 1841 S.32 ff. 

’ 6 ) E. Cohn, S. 12 ff. 

’ 7 ) Aus der Zeit des Bischofs Arnolphus, in Anonymi series abbatum monasterii 
Weissenburgensis, herausgeg. von Schannat, Vindemiae Liter., collectio prima, Lipsiae 
» 723 , P- 9 - 


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336 


Siebert, Der Codex Bruchsal i auf seine Herkunft untersucht. 


daß er »gemmae aliquot et fragmina aurea et argentea« besessen habe. Da 
der Deckel der Handschrift nach meinem Dafürhalten einer späteren Zeit 
angehört als die Handschrift, so mögen bei seiner Anfertigung, vielleicht 
in Speyer, die Steine des Domschatzes vom Kustoden beigesteuert worden sein. 

Bei der Erklärung des Bilderschmuckes vermißt man die Kenntnis 
der mittelalterlichen Symbolik. So erklärt Cohn das Bild der Porta clausa 
zum Feste Mariae Verkündigung als Allegorie auf die unbefleckte Empfängnis, 
eine Erklärung, die an sich schon und in Berücksichtigung der mittelalter¬ 
lichen Theologie absolut ausgeschlossen ist. Die Vision des Propheten Ezechiel 
Kap. 44, 2 von der Porta clausa geht auf die jungfräuliche Geburt des 
Heilandes! Beim Abendmahlsbild wird erklärt, dem Judas fahre ein 
schwarzes Teuf eichen aus dem Mund, während bei genauerem Zusehen 
leicht ersichtlich ist, daß die Fahrtrichtung des Teufelchens gerade um¬ 
gekehrt ist, der Teufel fährt in den Judas als Illustration zu Johannes 13, 27: 
da fuhr der Satan in ihn. Beim Pfingstwunder nennt Cohn den Apostel 
Paulus schon anwesend und verdrängt damit Jakobus Major von seinem 
Platze. In der Initialzierde zum Allerheiligenfeste findet er gar eine Dar¬ 
stellung der Bergpredigt, läßt Christus auf einem Hügel sitzen und scheidet 
zur Rechten die Laien, zur Linken aber die Kleriker (sic!). Dabei ist es eine 
Darstellung des Heilandes als rex Sanctorum! Der Herr thront auf Wolken, 
zu seiner Rechten stehen die Apostel, zur Linken aber Papst, Kaiser und 
Bischof. 

Auch die Initialzierde zum Feste des Apostels Andreas ist falsch erklärt, 
wenn sie Cohn als Bild des reichen Fischzuges auffaßt. Beim reichen Fisch¬ 
fang Petri saß der Herr im Schifflein, das Bild unseres Evangeliars zeigt 
ihn aber am Ufer stehend. Es ist demnach die Illustration der Berufung 
des Simon und des Andreas zum Apostolate mit dem Herrenworte: venite 
post me, faciam vos piscatores hominum. Matth. 4, 18. 

St. Nikolaus trägt auch keine weiße Stola mit Kreuzen, noch hat er ein 
rotes Cingulum. Dagegen trägt er ein Pallium und eine rote Stola! 

Die Initialzierdc zum Michaelsfeste wußte Cohn sich nicht zu erklären. 
Und doch ist es eine sehr schöne Darstellung des aus der Liturgie der Toten¬ 
messe bekannten signifer sanctus Michael, der den Menschen vor dem Satan 
rettet, der jenen am Fuße zu erhaschen sucht. 

Andere kleinere Ausstellungen, die sich noch machen ließen, seien hier 
übergangen. Immerhin legt die bisherige nicht entsprechende Behandlung 
des für die Kunstgeschichte, speziell Buchmalerei, so wertvollen Codex 
Bruchsalensis den Wunsch nahe, er möge einmal in einer den heutigen 
wissenschaftlichen Forderungen genügenden Edition neu bearbeitet werden. 
Vielleicht entschließt sich auch die Großherzogliche Regierung für eine 
solche Arbeit die nötigen Mittel zur Verfügung zu stellen. 


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Buffalmacco- und Xraini-Fragen. 

Von J. Kurzwelly. 

Einige Randbemerkungen 

zu P M e o Baccis Buffalmacco-Publikation. 

In seinem im Januarheft des römischen »Bollettino d'Arte« von 1911 
veröffentlichten Berichte über die von ihm selbst angeregte und mit so 
glänzendem Erfolge durchgeführte Wiederaufdeckung der Freskenreste der 
einstigen Familienkapelle der Giochi und Bastari in der Badia-Kirche zu 
Florenz sowie über die als jedenfalls urkundensicher begründet anzusehende 
Zuweisung dieser Fresken an Buffalmacco in Vasaris zweiter Viten-Ausgabe 
von 1568 hat Pfcleo Bacci unter anderen dankenswerten Feststellungen zur 
Biographie Buffalmaccos auch den nunmehr endlich zur Wiederbeglaubigung 
der Vasarischen Buffalmacco-Lebensdaten zurückführenden Nachweis dafür 
erbracht, daß die seit Baldinucci und Gualandi in deren noch dazu unexakter 
Lesart von allen neueren Autoren für authentisch hingenommene Eintragung 
Buffalmaccos in das erste Mitgliederverzeichnis der Florentiner St. Lukaisgilde 
in der Tat als eine Fälschung des 16. Jahrhunderts zu betrachten ist. 

Dieses in Gualandis »Memorie inedite* (VI 176 ff) abgedruckte, 
alphabetisch angeordnete Künstlernamen Verzeichnis, das der jetzt im Floren¬ 
tiner Staatsarchiv auf bewahrten Pergamenthandschrift der »Capitolit et ordi- 
namenti 1 ) für die unter Loslösung der Florentiner Künstlerschaft von der 

x ) Zuerst publiziert von Baldinucci (Notizie etc., Ausg. Ranalli I, 237 ff.), der — 
im Gegensätze zur neueren, auf 1339 lautenden Deutung Gayes (Carteggio, Bd. II, S. 32 ff.) — 
die schon zu seiner Zeit durch einen Ätzfleck halb zerstörte Zeitangabe zur Abfassung 
des ältesten Teiles der fCapitoli et ordinamenti« der Compagnia di San Luca — «et fu 

trovata et cominciata nelli anni Domini. XXXVIIII a dl XVII d’ottobre« — auf 

1349 deutete, und zwar vermutlich mit Recht, da ja die Jahresangabe zu den ältesten 
Künstlernamen-Eintragungen des angehängten alphabetischen Mitgliederverzeichnisses 
ursprünglich durchgängig MCCCL lautete und erst von verschiedenen späteren Händen 
bei einzelnen Künstlernamen auf frühere Jahreszahlen herabgemindert oder auf spätere 
aufgehöht wurde (in der Regel wohl auf das Todesjahr des betreffenden Künstlers, worauf 
namentlich das den betreffenden Künstlernamen vorangesetzte f schließen läßt). Außer¬ 
dem enthält die Pergamenthandschrift des Florentiner Staatsarchivs noch mehrere zwischen 
letzteres Mitgliederverzeichnis und jene ältesten «Capitoli et ordinamenti« von 1349 ein¬ 
geschobene spätere Ordinamenti-Nachträgc (datiert 1386 und 1404). 


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338 


J. Kurzwelly, 


alten Compagnia dei mcdici c speziali wohl 1349 gegründete Compagnia di 
San Luca angehängt ist,-enthielt nämlich auf Zeile 13 der Rubrik B laut 
Feststellung P. Baccis ursprünglich die deutlich den Schriftcharakter des 
14. Jahrhunderts aufweisende Eintragung 

Bonanno Cristofani. MCCCL, 

die dann erst durch Korrekturen und Zusätze im Schriftstile des 16. Jahr¬ 
hunderts abgeändert wurde in 

Bonamjco Cristofani do Buffalmacco ... MCCCXLI. *) 

Diese absolut willkürliche Eintragsänderung würde also augenschein¬ 
lich auf einen Buffalmacco-Forscher des 16. Jahrhunderts zurückzuführen 
sein, der — in der Annahme, daß der in den Novellenbüchern Boccaccios 
und Sacchettis so häufig erwähnte und von letzterem wie auch von Lorenzo 
Ghiberti (im zweiten seiner »Commentarj«) so hoch gerühmte, im iö. Jahr¬ 
hundert noch durch mancherlei mehr oder minder wohlerhaltene Malwerkc 
so sicher beglaubigte Florentiner Meister doch jedenfalls als Mitglied der 
Florentiner Malergilde nachweisbar sein müsse — anstatt in der Matrikel 
der alten Compagnia dei medici e speziali irrigerweise in derjenigen der erst 
beinahe ein Jahrzehnt nach Buffalmaccos Tode gegründeten Compagnia 
di San Luca nachsuchte 3 ) und den dort registrierten Namen »Bonanno 
Cristofani« als aus »Bonamico Cristofani« verschrieben auffaßte: 
Bona fide mag der betreffende naive Cinquecento-Historiker daraufhin die 
oben angegebene Eintragsänderung vorgenommen und unter Voransetzung 
eines f vor den Künstlernamen das ihm offenbai aus einer anderen urkund¬ 
lichen oder doch urkundensicheren Quelle bekannt gewordene, um ein De¬ 
zennium früher lautende Todesjahr Buffalmaccos in das für jenen Bonanno 

J ) Nicht MCCCLI, wie in P. Baccis Aufsatz (p. 20) entgegen den nachfolgenden 
ausführlichen Auseinandersetzungen eben dieses Autors versehentlich wiederum gedruckt 
steht. Augenscheinlich wurde das dritte C bei jener Eintragsänderung nicht etwa zu einem X 
umgeschrieben (was ja die unmögliche Jahreszahl 1241 ergeben würde), sondern aus Platz¬ 
mangel mit dem einzuschiebenden X überschrieben. Ob das dem Schluß-L der alten 
Jahrcsangabc angehängte I als gleichfalls etwa vom Eintragsfälscher urkundlich fest¬ 
gestellt und damit als Korrektur des von Vasari angegebenen Buffalmacco-Todesjahres 
(1340) angesehen werden darf, muß vorläufig dahingestellt bleiben. Die Frage, ob die 
Punkte hinter einigen der den Jahresangaben angehängten Monatsinitialen *g, f, m, a« 
usw. vielleicht auf den Sterbemonat des betreffenden Künstlers zu deuten seien, mußte 
auch P. Bacci unentschieden lassen; da bei der gefälschten Buffalmacco-Eintragung laut 
P. Baccis Angabe sowohl das f wie das a mit einem Punkte versehen erscheint, dürfte 
der eine der auf diese Weise markierten Monate febbrajo und aprile vielleicht als Auf¬ 
nahmemonat (von 1350) für Bonanno di Cristofano, der andere als Sterbemonat (von 
1341 alias 1340) für Buffalmacco zu deuten sein. 

3 ) Vermutlich unter irrtümlicher Verlesung der wohl damals schon in gleicher Weise 
wie auch bereits zur Zeit Baldinuccis halb zerstörten Jahresangabe der Gildengründung 
bzw. der Capitoli-Abfassung im Sinne Gayes (auf 1339 — vgl. Fußnote 1 dieses Aufsatzes). 


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BufTalmacco- und Traini-Fragen. 


339 


di Cristofani vorgemerkte Mitgliedsjahr MCCCL hineinzuschreiben versucht 
haben. «) Da nun Vasari — der doch noch in seiner ersten Viten-Ausgabe 
von 1550 für unseren Meister nur die von Boccaccio (»BufTalmacco«), Sac* 
chetti (»Bonamico« — nur in Nov. 161 auch bereits »Bonamico che per 
sopranome fu chiamato BufTalmacco«) und Ghiberti (»Bonamico«) über¬ 
lieferten Namen kannte — erst in seiner zweiten Viten-Ausgabe von 1568 
dem Taufnamen BufTalmaccos (»Bonamico«) das offensichtlich aus jener 
(wohl inzwischen erst abgeänderten) Registereintragung herübergenommene 
Patronymicum »di Cristofano« anhängte, muß man wohl oder übel zu der 
Vermutung gelangen, daß wohl gar Vasari selbst 5 ) oder allenfalls sein Mit¬ 
arbeiter an der zweiten Viten-Ausgabe, der Florentiner Lokalgeschichts¬ 
forscher Vincenzo Borghini, jene irrige Eintragsänderung im alten Mit¬ 
gliederverzeichnis der Florentiner St. Lukas - Gilde vorgenommen haben 
könnte, durch die dann der unter dem Jahre 1350 ursprünglich dort registrierte 
Künstler Bonanno di Cristofano auf Jahrhunderte aus dem Gedächtnis der 
Nachwelt eliminiert, der Meister Bonamico genannt BufTalmacco aber mit 
dem von der Kunstgeschichtschreibung seither als urkundlich feststehend 
hingenommenen falschen Patronymicum »di Cristofano« belastet wurde. 
Dazu kommt noch, daß die bei jener Eintragsänderung allerdings undeutlich 
genug aus MCCCL zurechtgestutzte Jahreszahl MCCCXLI nicht nur bereits 
von Baldinucci (Notizie etc., Ausg. Ranalli I, 178), sondern auch noch von 
Gualandi (Memorie VI, 178) versehentlich als MCCCLI gelesen wurde, 
woraufhin dann Milanesi (in seiner Vasari-Ausgabe I, 519 n. 3) und nach ihm 
sämtliche neueren Autoren die offenbar auf urkundensicherer Überlieferung 
basierende Zeitangabe Vasaris für BufTalmaccos Tod als irrig betrachten 
und — da auch das bei jener Eintragsänderung dem Künstlernamen aus¬ 
drücklich Vorgesetzte Todeskreuz von Gualandi ignoriert wurde — unseren 
Meister als ein im Jahre 1351 noch am Leben befindliches Mitglied der 
Florentiner St. Lukasgilde und demzufolge bisweilen geradezu als einen 
erst dem Kreise der Florentiner Giotto - Nachfolger angehörenden 
Künstler ansprechen konnten. 

Daß Vasari seine detaillierten und völlig präzisen Angaben über 
den Tod BufTalmaccos aus urkundensicheren Quellen schöpfte — und zwar, 
wenn nicht gar aus datierten Buchungen der Florentiner Compagnia della 

«) Daß auch andere Eintragsänderungen von seiten späterer Benutzer dieses Mit* 
gliederverzeichnisses der Florentiner St. Lukas-Gilde auf Angabe des Todesjahres des 
betreffenden Künstlers abzielten, konstatierte P. Bacci aus der mit dem nachweislichen 
Todesjahre Taddeo Gaddis übereinstimmenden Aufhöhung der hinter dessen Namen ur¬ 
sprünglich vermerkten Jahreszahl MCCCL auf MCCCLXVI. 

5) Vasaris eigene Handschrift glaubt Herr M. H. Bemath (laut persönlicher Mit¬ 
teilung) in den Schriftzügen der betreffenden Eintragsänderungen wiedererkannt zu haben. 

Repertorium für Kunstwiseenschaft, XXXV. 23 


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340 


J. Kurzwelly, 


Misericordia oder des Hospitals von S. Maria Nuova, so doch vielleicht aus 
einer damals auf dem Armenfriedhofe des letzteren Hospitals noch vorhande¬ 
nen Grabschrift Buffalmaccos —, ist mit ziemlicher Sicherheit zu schließen 
aus dem Wortlaute seiner Schlußnotizen zur Vita des Buffalmacco: ».. . mori 
d’anni settantotto 6 ), e fu dalla Compagnia della Misericordia — essendo 

egli poverissimo.— sowenuto nel suo male in Santi Maria Nuova, 

spedale di Firenze; e, poi morto, nell' Ossa [cosl chiamano un chiostro dello 
spedale, ovvero cimitero] come gli altri poveri seppellito, l’anno 1340«: Also 
»als völlig mittelloser 78 jähriger Greis schwer erkrankt, wurde Buffalmacco 
auf Kosten der Florentiner Armenpflegschaft ins Hospital von S. Maria 
Nuova gebracht und, nachdem er daselbst gestorben war, auf dem in einem 
Hofraume dieses Hospitals gelegenen Armenfriedhofe beerdigt, und zwar 
geschah dies alles im Jahre 1340«. 

Die gleiche Jahreszahl 1340 scheint nun auch Ghiberti bereits als für 
Buffalmaccos Tod feststehend gekannt zu haben. Allerdings müßte man, 
soll der von »Commentarj-Verfasser mit den Worten »Fece moltissimi lauorii 
a moltissimi signori per insino alla olimpia 408« ausgedrückte Schlußtermin 
für Buffalmaccos Leben und Schaffen auf das Jahr 1340 deutbar sein, die 
zunächst wohl recht gewagt erscheinende Hypothese zulassen, Ghiberti habe 
seine naive »Olympiaden«- (recte Lustren-) Zeitrechnung »dalla edificazione 
di Roma« [ 7 ) ] versehentlich ab 700 a. C. n. normiert, anstatt ab 753 a. C. n. 
(408 x 5 = 2040—700 = 1340). Einen absolut deckenden Analogiefall zu 
diesem Zeitrechnungsversehen Ghibertis bietet jedoch in der Tat die Schluß- 
notiz zur Biographie seines großen Vorgängers an den Bronzetürarbeiten 
für das Florentiner Dom-Baptisterium — »fu grandissimo statuario, fu 
[morto] nella olimpia 410« —, deren Todesjahrangabe nach dem hier vor¬ 
geschlagenen Berechnungsmodus die Zahl 1350 ergibt (410 X 5 = 2050 — 
700 = 1350): In der Tat ist Andrea Pisano — zum letzten Male urkundlich 
erwähnt am 26. April 1348 als Capomaestro am Domfassadenbaue zu 
Orvieto und schon am 22. Oktober 1349 in diesem Amte ersetzt durch seinen 
Sohn Nino Pisano 8 ) — gegen Ende des letzten Lustrums vor 1350 ge¬ 
storben und in der Florentiner Domkirche S. Maria del Fiore zur Ruhe be¬ 
stattet worden 9 ). Die einzige diesen beiden Zeitangaben zum Tode des 

6 ) In der ersten Viten-Ausgabe von 1550 liest man »sessantotto«; mit Milancsi 
wird man das »settantotto« der zweiten Viten-Ausgabe von 1568 wohl mit Recht als Be¬ 
richtigung der früheren Lesart auffassen dürfen. 

7 ) Mit diesen Worten gibt Ghiberti selbst in der Einleitung zum zweiten seiner 
»Commentari« den Lustrenschlüssel zu seiner »Olympiaden«-Rechnung. 

®) Vgl. L. Fumi, II Duomo di Orvieto (Roma 1891) S. 476. 

9 ) Vgl. A. Venturi, Storia d. Arte Italiana vol. IV (1906), S. 468. — Nur den Tod 
des Meisters konnte Ghiberti in der Schluß notiz zu seinen Angaben über Andrea 
Pisano mit der Lustrenangabe »olimpia 408« datieren wollen. Vermutlich kannte er das 


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Buffalmacco- und lraini-Fragen. 


34* 


Andrea Pisano und des Buffalmacco in Ghibertis Comment. II vorausgehende 
Olympiadenangabe, nämlich diejenige am Schlüsse des ersten Kapitels, 
wo das Wiedererwachen der italienischen Malkunst nach »600 jährigem« 
Todesschlummer fixiert wird auf »olimpie 382« (»dalla edificazione di Roma«), 
ergibt schließlich gleichfalls nur von besagter Berechnungsbasis aus eine 
plausibel erscheinende Jahreszahl, und zwar — sollte der Kopist der Ghi- 
bertischen Originalhandschrift die Schluß-2 in 382 etwa noch als Q aus O 
verlesen haben — geradezu die runde Zahl 1200 (380 X 5 = 1900 — 
700 = 1200), wonach also der naive Historiker Ghiberti die Zeit Gregors 
des Großen (um 600) als Schlußtermin der römisch-altchristlichen Fresko - 
und Mosaikkunst betrachtet haben, dagegen als Anfangstermin für das 
Wiederaufblühen der griechisch-byzantinischen Kunstübung (»maniera 
greca«) in Italien die Zeit Innocenz' III. und Franz' von Assisi angenommen 
haben würde. — Die einzige außerdem noch im Commentario II vorkommende 
» 01 ympiaden«-Zahl I0 ), nämlich diejenige für den »zur Zeit Papst Martins 
jV. [«, also erst zu Ghibertis Lebzeiten erfolgten Tod jenes rätselhaften 
Kölner Bildhauers »Cjusmin«, der um 1420—30 für den »Duca d'Angiö« eine 
so hervorragende und vielseitige Tätigkeit entwickelt haben soll, ergibt sich 
als aus 1432—1437 nach Lustren richtig ab 753 a. C. n. berechnet IX ). Ver- 


Todesjahr dieses seinem engeren Interessenkreise besonders nahestehenden Meisters 
aus dessen damals in S. Maria del Fiore wohl noch vorhandener Grabschrift, ebenso wie er — 
gleich Vasari — das Todesjahr Buffalmaccos noch von dessen Grabstein bei S. Maria Nuova 
abgelesen haben mag. Übrigens hat der Anonymus Magliabecchianus das Todesjahr des 
Andrea Pisano aus Ghibertis falsch berechneter > 01 . 410« ab 753 a. C. n. ungefähr richtig 
umgerechnet in >01. 420«. 

10 ) Die wirklichen und zugleich auch richtig berechneten 
Olympiadenangaben in Ghibertis Commentario I (zur Kunstgeschichte des griechisch- 
römischen Altertums) sind — mitsamt ihren Transkriptionen in die römische Lustren- 
zeitrechnung >ab urbe condita«— direkt aus Plinius' >Historia Naturalist herübergenommen; 
vgl. K. Rathe, Der figurale Schmuck der alten Domfassade in Florenz (Wien 1910), p. 124. 

X1 ) Vgl. K. Rathe, a. a. O., S. 126. — Die übrigen von K. Rathe einfach ab 753 
a. C. n. aus Ghibertis >01 ympiaden«-Angaben errechneten Jahreszahlen erweisen sich 
ab völlig unbrauchbar; die Olympiadenangabe zu Buffalmaccos Todesjahr wurde von 
K. Rathe überhaupt ignoriert. Die Worte >nella olimpia quattrocento quaranta« im 
Kap. 3 des dritten der >Commentarj« Ghibertis wurden wohl vom Kopisten des Ghiber- 
tischen Originalmanuskriptes willkürlich abgeändert aus >Nelli anni [di Cristo Mille] 
quattrocento quaranta« (also 1440). Die Zeitangabe >1400«, die F. Hermanin in seiner 
Cavallini-Publikation (in der römischen Kunstzeitschrift >Le Gallerie Nazionali« 1902, 
V. S. 81 f.) aus dieser vermeintlichen «Olympiaden«-Angabe für Ghibertis Romaufenthalt 
auf ungemein kompliziertem Wege herausrechnen wollte (wobei ihm selbst außerdem noch 
ein notorischer Rechenfehler mit unterlief, da sich nach seinem Berechnungsmodus aus 
«olimpia 440« nicht 1400, sondern 1384 ergeben würde), wird von vornherein ad absurdum 
geführt durch Ghibertis eigene Angabe, daß er «nelli anni di Cristo 1400« von Florenz nach 
Pesaro gereist (Comment. II, Cap. XIX) und von dort zur Teilnahme am Wettbewerb 

* 3 * 


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342 


J. Kurzwelly, 


mutlich hatte Ghiberti die richtige Berechnung gerade dieser auf den Tod 
eines seiner eigenen Zeitgenossen bezüglichen Lustrenangabe einem be¬ 
freundeten Humanisten zu verdanken. Bei dieser Gelegenheit mag er sich 
dann der Fehlerhaftigkeit seiner früheren »Olympiaden«-Berechnungen 
wie auch seiner naiven Olympiaden- und Lustrenverwechslung mit einem 
Male bewußt geworden sein, so daß er — ohne sich dabei der Notwendig¬ 
keit einer Richtigstellung jener früheren » 01 ympiaden«-Anlagen zu er¬ 
innern — diese unzeitgemäße und mißverständliche Zeitrechnungsspielerei 
nunmehr gänzlich aufgab und in seiner an die Notizen über den »Kölner 
Bildhauer« direkt sich anschließenden Selbstbiographie von Anfang an 
— »Nella mia giouenile etä, nelli anni di Christo 1400, mi part ... da 
Firenze« — für seine chronologischen Angaben die landläufige christliche 
Zeitrechnung anwandte. An sich wird der kunstgeschichtliche Quellenwert 
des zweiten der Ghibertischen »Commentarj« durch den Nachweis der Fehler¬ 
haftigkeit jener » 01 ympiaden«-Angaben keineswegs geschmälert; im Gegen¬ 
teil haben sich damit die hinter jenen bisher so rätselhaften »Olympiaden«- 
Angaben versteckten Ghibertischen Datierungen des Todes Buffalmaccos 
und Andrea Pisanos geradezu als urkundensicher begründet erwiesen. Daß 
vollends den kunstkritischen Äußerungen Ghibertis wahrer Autoritätswert 
beizumessen sei, dafür zeugt von neuem die Übereinstimmung der hoch- 
künstlerischen Qualitätswerte und der spezifisch naturalistischen Stileigenart 
der nunmehr wieder zutage geförderten Badia-Fresken Meister Buffalmaccos 
mit den die künstlerische Persönlichkeit des letzteren ebenso knapp wie 
treffend charakterisierenden Ghiberti-Aphorismen: »Ebbe harte da natura«, 
»Colorl freschissimamente«, »Quando metteva l’animo nelle sue opere, pas- 
sava tutti gl’ altri pictori«. 

P&leo Bacci hatte sich in seiner Buffalmacco-Publikation darauf be¬ 
schränkt, nach Darlegung seiner Fälschungsentdeckung im Buffalmacco - 
Eintrag des Mitgliederverzeichnisses der Florentiner St. Lukas-Gilde, hin¬ 
sichtlich des von der gleichen Fälscherhand nachgetragenen, von Baldinucci 
und Gualandi außerdem noch falsch gelesenen Buffalmacco-Todesjahres 1 34 1 
noch auf Sacchettis Novelle 136 hinzuweisen bzw. auf das dort wiedererzählte, 
kurz nach 135Q zu datierende Kunstgespräch zwischen Andrea Orcagna, 


um die Bronzttüren für das Florentiner Dombaptisterium nach Florenz zurückgekehrt 
sei. (Vgl. hierzu auch Jul. v. Schlossers ausführliche Monographie über »Lor. Ghibertis 
Denkwürdigkeiten« im Wiener »Kunstgcschichtl. Jahrbuch der K. K. Zentralkomm.« 
1910, IV, 141, sowie desselben Autors neuerlich erschienene gleichnamige Sonderpublika¬ 
tion (Berlin 1912) II 108 ff., 131, 187, wo sämtliche Lustrenberechnungsfehler Ghibertis 
als Schreibfehler des Kopisten der Originalhandschrift gedeutet werden — trotz der offen¬ 
kundigen Gemeinsamkeit der irrigen Bercchnungsbasis 700 a. C. n. für die 3 ersten Olym¬ 
piadenangaben des Commentario II' 


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Buffalmacco- und Traini-Fragen. 


343 


Taddeo Gaddi und Alberto Arnoldi in San Miniato al Monte, wo Buffalmaccos 
als eines seit langen Jahren nicht mehr zu den Lebenden zählenden, einer 
längst vergangenen Blüteepoche der Florentiner Malkunst angehörenden 
großen Meisters gedacht wird. In meinen vorstehenden Ergänzungsnotizen 
habe ich nun den — notgedrungenerweise etwas weitschweifig geratenen — 
Nachweis dafür zu erbringen versucht, daß Vasari wie auch bereits Ghiberti 
aus gemeinsamer Quelle — und zwar vermutlich aus einer Buffalmacco- 
Grabschrift auf dem Armenfriedhofe von S. Maria Nuova — über Buffal- 
# maccos Todesjahr bereits sehr wohl unterrichtet waren, falls nicht etwa die 
-jener ominösen Matrikeleintragsänderung angefügte Jahreszahl 1341 als 
geringfügige — vielleicht auf schärferer Lesung besagter wohl dereinst 
schon halb verwitterten Buffalmacco-Grabschrift basierende — Korrektur 
der Vasarischen Todesjahrangabe 1340 anzusehen wäre. 

Wird diese Festlegung des Todes Buffalmaccos auf 1340—1341 in 
meinen später folgenden Darlegungen sich noch als ausschlaggebend erweisen 
für die Früherdatierung des bisher erst nach 1350 angesetzten Kreuzigungs¬ 
freskos im Pisaner Camposanto, so muß andererseits der Hinweis darauf, 
daß Vasaris Angabe »mori d’anni 78« ,a ) offenbar gleichfalls nur besagter 
Buffalmacco-Grabschrift in S. Maria t Nuova entnommen sein kann, nicht 
minder bedeutungsvoll erscheinen für die endgültige Fixierung der zeitlichen 
Stellung unseres Meisters zu seinem großen Florentiner Kunstgenossen 
Giotto di Bondone. Wird doch Buffalmacco, der nach jener gefälschten 
und dazu außerdem noch von Baldinucci wie von Gualandi falsch gelesenen 
Eintragung des ersten Mitgliederverzeichnisses der Florentiner St. Lukas- 
Gilde im Jahre 1351 ja vermeintlich noch am Leben gewesen sein sollte und 
demgemäß nur zu leicht als ein Angehöriger der jüngeren Florentiner Giotto - 
Nachfolge betrachtet werden konnte, nach nunmehriger Neufestlegung 
seines Geburtsdatums auf 1262—1263 wiederum zum ungefähr gleichaltrigen 
bzw. sogar um einige Jahre älteren Zeitgenossen Giottos zurück¬ 
datiert * 3 ). Erst damit gewinnt man die Aufklärung der unwillkürlich sich 
auf drängenden Frage, weshalb wohl der so hochbegabte junge Buffalmacco 
nicht zum großen Malkunsterneuerer Giotto in die Lehre gekommen sein 
mochte, sondern vielmehr — laut Erzählung Franco Sacchettis (in dessen 
Novellen 191 und 192) — zu dem altertümlich gebundenen Mosaizisten 
Andrea di Rico genannt Tafo, der, vermutlich um 1240 geboren und noch 
1320 als lebendes Mitglied der Florentiner Compagnia dei medici e spezialL 
aufgeführt, laut Vasaris Angabe das schwerfällig byzantinisierende Welt¬ 
richtermosaik an der Kuppelwölbung über der Hochaltarnische des Floren- 

•*) Korrigiert aus den tanni 68« der ersten Viten-Ausgabe; vgl. Fußnote 6. 

* 3 ) Vasaris falsches Giotto-Geburtsjahr 1276 anstatt 1267 ist wohl nur als Schreib¬ 
oder Drucksatzfehler anzusehen. 


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344 


J. Kurzwelly, 


tiner Dombaptisteriums geschaffen haben soll. Aus den erwähnten humor¬ 
reichen Erzählungen Sacchettis ergibt sich fernerhin auch die zur Erklärung 
von Buffafmaccos so auffällig spätem Hervortreten mit selbständigen Mal- 
werken höchst wertvolle Tatsache, daß der junge Künstler weit über seine 
eigentliche Lehrzeit hinaus eben jenem so weidlich von ihm genasführten 
alten Lerhmeister noch lange Zeit höhere Gehilfendienste leisten mußte; 
wurde er doch (laut Sacchettis Novelle 191) von Andrea Tafo noch mit der 
— doch sicherlich nur für einen bereits fertig geschulten Künstler geeigne¬ 
ten — Aufgabe betraut, eine von seinem Brotherrn selbst für die Benedik¬ 
tinerabtei Buonsollazzo bei Florenz zur Ausführung übernommene Altar¬ 
tafel zu malen oder mindestens zur Vollendung zu bringen: erst recht spät 
also fand Buffalmacco Mittel und Wege, sich aus seiner abhängigen Ge¬ 
hilfenstellung zu befreien und in Florenz in einem Hause an der »Via del 
Cocomero« (der jetzigen »Via de’ Ricasoli«, zwischen Piazza del Duomo und 
Piazza di S. Marco) eine eigene Malerwerkstatt zu eröffnen. Aus derselben 

Novelle IX der achten Decamerone-Giornata, in der uns Giovanni Boccaccio 

* 

die letztgenannte Werkstattadresse Meister Buffalmaccos überliefert hat, 
geht auch hervor, daß der »Decamerone«-Dichter selbst während seiner bis 
1330 in Florenz verlebten Knaben- und Jünglingsjahre den um seiner Kunst 
wie um seines Humors willen offenbar stadtbekannten Maler noch persönlich 
gekannt zu haben scheint, da er ihn in eben dieser vom echten Vorschmack 
des Geistes Rabelais' erfüllten Novelle ausdrücklich als »grande et aitante 
della persona« zu schildern weiß. Daß übrigens die hier wie auch in den 
Novellen III und IV der achten sowie III und V der neunten Decamerone- 
Giornata wiedererzählten burlesken Streiche Buffalmaccos und Brunos nicht 
als Übermutäußerungen einer »giovinezza spensierata« zu betrachten sein 
können — wie Peleo Bacci annehmen möchte —, sondern vielmehr als 
genialische Temperamentsausbrüche ungezügelter, aber gleichwohl bereits 
im reiferen Mannesalter stehender »Bohfcme«-Naturcn im Sinne von Rabe¬ 
lais' »bon raillard . .. aymant ä boyre net«, ist daraus zu ersehen, daß beide 
Maler — im ausdrücklichen Gegensätze zu jüngeren Spießgesellen wie z. B. 
dem »giovane« Maso del Saggio (Decam. VIII, 3) und dem »gio- 
v a n e « Filippo di Niccolö Cornacchini (Decam. IX, 5) — von Boccaccio 
immer nur als » u o m i n i sollazzevoli« oder » u 0 m i n i burlevoli« 
charakterisiert werden. 

Aus den soeben angeführten Decamerone-Novellen Boccaccios sind wir 
dann auch über die Anfangsjahre der selbständigen Künstlerlaufbahn Buffal¬ 
maccos so weit unterrichtet, daß P&leo Bacci durch Vergleichung der in diesen 
Boccaccio-Erzählungen enthaltenen konkreten Tatsachenangaben mit dem 
vorhandenen Urkundenmateriale die Arbeiten dieser ersten Periode des selb¬ 
ständigen Malerschaffens unseres Meisters chronologisch exakt datieren 


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Buffalmacco- und Traini-Fragen. 


345 


konnte. Buffalmaccos Wersktattgenosse und Hauptarbeitsgehilfe war in 
dieser ersten Schaffensperiode unseres Meisters jener ihm wohl »in Baccho« 
gleichgesinnte, dagegen »in Apolline« augenscheinlich keineswegs kongeniale 
und darum von ihm selbst gelegentlich grimmig aufgezogene Maler Bruno 
di Giovanni, der — von Baldinucci als schon 1301 in Florenz tätig nach- 
gewiesen und noch 1350 im Mitgliederverzeichnis der dortigen St. Lukas- 
Gilde aufgeführt — laut Vasaris Angabe von Buffalmacco sich die Ent¬ 
würfe zeichnen ließ zu einem vom Florentiner Condottiere Guido Campese 
(t 1312) testamentarisch gestifteten Freskogemälde in S. Maria Novella zu 
Florenz (darstellend die Enthauptung des hl. Mauritius sowie die thronende 
Madonna mit dem im Gebet vor ihr knienden, bildnisgetreu wiedergegebenen 
Stifter *«), und von dessen Hand die laut Vasaris Mitteilung für S. Paolo 
a Ripa d’ Arno zu Pisa gemalte, Buffalmaccos Spötteleien so deutlich recht¬ 
fertigende Ursula-Tafel des Pisaner Museo Civico herrührt * 5 ). Gelegentlich 
beteiligte sich an der gemeinsamen Malertätigkeit Buffalmaccos und Brunos 
auch der von beiden so vielfältig gefoppte alte Dekorationsmaler Nozzo di 
Perino genannt Calandrino — laut Baldinuccis Feststellung 1301 in Florenz 
urkundlich als Maler erwähnt und laut einer auch in D. M. Mannis »Veglie 
piacevoli« (II, 1) bereits mitgeteilten Florentiner Zeugenunterschrift seines 
Sohnes Dominicus »olim« Calandrini vor dem 17. II. 1318 verstorben —, 
sowie fernerhin auch ein mit Calandrino verschwägerter Dekorationsmaler 
namens Nello di Bandino; und zwar waren beide (laut Decam. IX, 
Nov. V) Buffalmaccos und Brunos Gehilfen bei der Ausmalung eines 
bei Camerata auf den Fiesolaner Hügeln gelegenen, sjetzt nicht mehr 
existierenden Landhauses des reich begüterten Florentiner Bürgers Niccolö 
Cornacchini. 

Als vermutlich um 1314—1315 entstanden fixierte P&leo Bacci jene 
Freskomalereien, die Buffalmacco und Bruno laut Boccaccio (Decam. VIII, 
Nov. III) in der seit 1297 im Bau vollendeten Vallombrosaner-Nonnenkirche 


*«) Laut Milanesis Anmerkung »übertüncht«. 

* 5 ) Zufolge P. Baccis chronologischer Feststellung der Pisaner Tätigkeit Buffal¬ 
maccos und Brunos dürfte diese Ursula-Tafel (Abb. in Supinos »Arte Pisana« S. 287) wohl 
gleichfalls um 1320 von Bruno gemalt worden sein. Vgl. dazu die Notizen Vasaris (Ausg. 
Milanesi 1 512), wonach Bruno erst auf Buffalmaccos spöttischen Rat hin den beiden allzu 
ausdruckslos ausgefallenen Hauptfiguren dieses Bildes (der hl. Ursula und der in Seenöten 
um Hilfe flehenden »Pisa«) nach altmodischem Brauche jene erläuternden Spruchbänder 
beigegeben haben soll, wie sie noch jetzt auf der übrigens mehrfach übermalten Tafel des 
Pisaner Museo Civico zu sehen sind. — Laut Boccaccios Nov. IX der achten Decam.- 
Giornata betätigte sich Bruno auch in dem der Werkstatt Buffalmaccos an der »Via del 
Cocomero« benachbarten Hause des närrischen »Arztes« Simone (vgl. auch Decam. IX, 
Nov. III) als Maler zweier Andachtsbilder, einer Mäuse- und Katzenschlacht sowie eines 
drastischen ärztlichen Firmenschildes. 


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346 


J. Kurz wel ly, 


S. Giovanni Evangelista l6 ) bei Porta a Faenza zu Florenz ausgeführt haben 
sollen, und zwar gewann Bacci diese Zeitermittlung aus der Boccaccioschen 
Erwähnung Calandrinos im Zusammenhänge mit besagter Freskanten- 
tätigkeit Buffalmaccos in S. Giovanni Evangelista sowie mit einem laut 
urkundlicher Nachricht im Jahre 1313 von Lippo di Benivieni mit Malereien 
geschmückten und »non molta tempo avanti« (also wohl Anfang 1314) im 
Florentiner Dombaptisterium aufgestellten Altartabernakel. Schon Vasari 
wußte über diese noch von Ghiberti als »molto mirabile« gepriesenen Buffal- 
macco-Fresken von S. Giovanni Evangelista, die bereits während der Floren¬ 
tiner Belagerungsängste vom Jahre 1529 mit samt der Kirche und dem 
Kloster zerstört worden waren und ihm daher höchstens noch aus schwachen 
Jugenderinnerungen gegenwärtig sein konnten, nichts weiter zu berichten, 
als daß an den Wänden der Kirche Szenen aus dem Leben Christi dargestellt 
gewesen seien, sowie daß er selbst die durch hohe Ausdruckskraft der natura¬ 
listischen Darstellungsweise ausgezeichnete Originalskizze Buffalmaccos zu 
dem auf einem jener Wandbilder dereinst dargestellten »Bethlehemitischen 
Kindermord« besitze. Auch diese ehedem in Vasaris Besitz befindliche 
Buffalmacco-Zeichnung ist längst verschollen. 

Nach Vollendung dieser Arbeiten in S. Giovanni Evangelista bei Porta 
a Faenza soll Buffalmacco dann laut Vasaris Angabe zunächst die auch von 
Ghiberti bereits unserem Meister zugewiesenen Fresken der Cappella di 
S. Jacopo in der westlich von Florenz zwischen Casellina und S. Donnino 
nahe am linken Arnoufer gelegenen Badia di S. Salvatore a Settimo gemalt 
haben, und zwar an den Wänden dieser jetzt von einer Seitentüre des süd¬ 
lichen Choranbaues der Klosterkirche aus zugänglichen einstigen Kreuzgang¬ 
kapelle fünf Szenen aus dem Leben des Apostels Jacobus, in den Dreiecks- 
feldern der beiden Kreuzgewölbe die thronend dargestellten Einzelgestalten 
der vier Patriarchen und der vier Evangelisten. Die Jacobus-Fresken sind 
bis auf einige spärliche, in der schlichten Natürlichkeit der Landschaftsauf¬ 
fassung jedoch um so interessantere Landschaftsreste durch Arnoüber¬ 
schwemmungen völlig zerstört, leidlich erhalten dagegen und jedenfalls 
sorgsamster Konservierung würdig 'ie Gewölbemalereien, von denen nament¬ 
lich die vier Evangelistcngestalten — trotz der miserablen Belichtung des 
Kapellenraumes durch das einzige kleine Fenster in der Schutzvermauerung 
des einstigen Ostzuganges der Kapelle — in der Stileigenart und Stilgröße 
ihrer Umrißlinien sich ohne weiteres als Werke des Schöpfers der durch P&leo 
Baeci neu aufgedeckten Passionsfresken in der Florentiner Badia-Kirche 
zu erkennen geben; der am besten erhalten gebliebene hl. Lukas läßt sogar 

**) Das Nonnenkloster selbst wurde schon 1282 von der Beata Umilti di Faenza 
gegründet; vgl. hierzu die am Schlüsse dieses Aufsatzes folgenden Notizen über den Umilti- 
Altar der Florentiner Akademie (S. 17 ff.). 


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BuffaJmacco- und TraLni-Fragcn. 


347 


die schon von Vasari gerühmte Natürlichkeit in der Wiedergabe der für 
diesen Evangelisten von altersher traditionell gebliebenen Gebärde des An¬ 
blasens der Schreibfeder deutlich genug wiedererkennen. Für die Richtig¬ 
keit der Behauptung Vasaris, daß diese Fresken in direkter Zeitfolge nach 
den um 1314—1315 von Buffalmacco in S. Giovanni Evangelista bei Porta- 
a Faenza ausgeführten Freskomalereien entstanden seien, zeugt mit absoluter 
Sicherheit eine am Sockel der Nordwand besagter Jacobus-Kapelle ange¬ 
brachte Weihinschrift, die nach G. Caroccis Transkription J 7 *) den nach¬ 
folgenden Wortlaut aufweist: 

Anno Domini MCCCXV tempore Domini Grazie abbatis 
depicta est et ornata hec chapella ad honorem beati 
Iacobi apostoli pro anima quondam Lapi de Spinis —, 
wonach also die Jacobus-Fresken dieser Badia-Kapelle im Jahre 1315 — 
wohl im Aufträge von Mitgliedern des Florentiner Geschlechtes der Spini — 
gemalt wurden zur Sicherung des Seelenheils des im selben Jahre in der 
Schlacht bei Montecatini gefallenen Ser Lapo degli Spini. , 7 h ). 

Vermutlich verdankte Buffalmacco beide Freskenaufträge, denjenigen 
von S. Salvatore a Settimo wie den von S. Giovanni Evangelista bei Porta 
a Faenza, direkten Weiterempfehlungen seiner Kunst durch die Benedik¬ 
tinermönche der von ihm in Andrea Tafos Auftrag mit Malwerken ver¬ 
sorgten Abtei Buonsollazzo an die ordensverwandten Religionsgenossen¬ 
schaften beider Florentiner Vorortabteien * 7 °). 

Nach übereinstimmender BehauptungGhibertis und Vasaris soll Buffal¬ 
macco fernerhin in S. Paolo a Ripa d' Arno zu Pisa sowie auch im Pisaner 
Camposanto zahlreiche Fresken gemalt haben, von denen jedoch diejenigen 
der erstgenannten Vallombrosaner-Abteikirche (Historien aus der Genesis- 
Legende des Alten Testamentes und aus der Legende der hl. Anastasia an 
den inneren Frontwänden des Kirchenquerschiffs, von Buffalmacco und 
Bruno di Giovanni gemeinsam ausgeführt, und zwar laut P. Baccis Fest- 


* 7 “) Durch Vermittlung des Herrn Prof. Dr. H. Brockhaus von Herrn Prof. G. Carocci 
mir freundlichst handschriftlich zur Verfügung gestellt. 

• 7 b ) Vgl. Delizie degli Eruditi Toscani XI, 215. 

* 7 °) Ursprünglich Cluniacenser- und später Cistercienser-Abtei, stand die Badia 
a Settimo. deren Mönche im Jahre 1320 auch die oben erwähnte Benediktiner-Abtei von 
Buonsollazzo als Besitztum überwiesen erhielten, in nahen Beziehungen zum Vallem- 
brosaner-Orden, da der Begründer dieses letzteren Benediktiner-Zweigordens, -der hl. Gio¬ 
vanni Gualberto selbst, um 1073 vorübergehend in der Badia Settimo als Disziplinator 
wirkte; vgl. Giulianellis Nachrichten bei Richa, Not. istor. d. Chiese Fiorentine, vol. IX 
(1761), S. 200 f. und 234. — Selbst in Giulianellis Notizen über Buffalmaccos Jakobus- 
Fresken in der Badia a Settimo (a. a. O., S. 216 f.) findet sich übrigens die oben zitierte 
Weihinschrift von 1315 nicht angegeben, ebensowenig in N. Baccettis »Septimaniae Hi- 
storiae« (Rom 1724, III 90 f.). 


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348 


J. Kurzwelly, 


Stellung um 1320) schon zu Vasaris Zeit kaum noch erkennbar waren und 
heute gänzlich verschwunden sind ,8 ). Von den bei Vasari dem Buffalmacco 
zugeschriebenen Camposanto-Fresken dagegen wurden die vier Genesis- 
Bilder der Nordhalle schon durch Ciampi * 9 ) als erst um 1390 begonnene 
Werke des Orvietaners Pietro di Puccio urkundlich nachgewiesen, die vier 
Passions- und Wiederkunftsdarstellungen der Osthalle hinwiederum von 
der neueren Stilkritik als Arbeiten verschiedener, gleichfalls erst der zweiten 
Hälfte des Trecento angehörenden Sienesen angesprochen, wobei man die 
stilistisch in der Tat augenscheinlich isoliert stehende Kreuzigung dem Maler 
der drei Wiederkunftsfresken gänzlich absprach, diese letzteren dagegen — 
Auferstehung, Wiederkunft und Himmelfahrt Christi — mitsamt den in der 
Tat stilverwandten, von Vasari jedoch dem Andrea Orcagna zugeschriebenen 
berühmten Hauptfresken der anstoßenden Südhallenmauer — Triumph des 
Todes, Weltgericht, Hölle und Thebais — einem unbekannten und späteren 
Sieneser Schulnachfolger der Lorenzetti zuwies. Im Gegensätze zu dieser 
im Anschluß an Crowe-Cavalcaselle und Berenson noch von Adolfo Ven- 
turi 20 ) vertretenen Anschauung glaubte Supino 2I ) für den gesamten Fresken¬ 
schmuck des Südendes der Ostmauer (mit Ausnahme der Kreuzigung) und 
des Ostendes der Südmauer des Camposanto den von 1322 bis Anfang 1345 
in Pisa urkundlich nachweisbaren Francesco Traini als Schöpfer in Betracht 


,8 ) Von der gesamten Trecento-Ausmalung dieser Abteikirchc sind nur am ersten 
Gewölbepfeiler zur Linken die Freskofiguren zweier Heiligen erhalten geblieben, die jedoch 
in ihrer plumpen und starren Gesichts- und Körperbildung wie auch in ihrer archaisch¬ 
konventionellen Posierung und in ihrer summarischen und schwerfälligen Gewanddrapierung 
mit Buffalmaccos ausdrucksvollen und großzügig-naturalistischen Freskofiguren in der 
ehemaligen Giochi- und Bastari-Kapelle der Florentiner Badia-Kirche ebensowenig gemein 
haben, wie mit Brunos kleinlich ausdrucksleeren, affektiert grazilen FrauenfigÜrchen auf 
der Ursula-Tafel des Pisaner Museo Civico. 

* 9 ) S. Ciampi, Notizie ined. della Sagrest. Pist. del Camposanto Pisano (Florenz 
1810), S. 98. 

*°) A. Venturi, Storia d. Arte Ital. (1900 ff.) V, 738. 

2t ) I. B. Supino, Arte Pisana (Florenz 1904) S. 265 ff., 274 ff. — G. Trenta 
suchte in seiner Monographie »L'Inferno etc. del Camposanto di Pisa« (1894) die besagte 
SüdwandfreskengTuppc dem Maler Francesco da Volterra, seinem Sohne Jacopo und 
seinen Gehilfen Neruccio di Federigo, Berto di Argomento und Cecco di Pietro sowie dem 
Letztgenannten —, der doch nur zum niedrigsten Tagelohne von 15 bis 18 Soldi vom 
3. VIIL 1371 bis zum 30. VI. 1372 im Caposanto als untergeordneter Malgehilfe mit¬ 
arbeitete — speziell das Inferno-Fresko zuzuweisen, an dem eben dieser Cecco di Pietro 
dann im Jahre 1379 einige durch Steinwürfe spielender Kinder verursachte Beschädigungen 
auszubcssern hatte. Den in Supinos »Camposanto«-Buch von 1896 (S. 27 u. 165) ver¬ 
öffentlichten Angaben zufolge können jedoch jene urkundlichen Nachrichten von 1371—1372 
Über Malarbciten Francescos da Volterra und seiner Gehilfen im Camposanto sicherlich 
nur auf die Südwand fresken aus der Hiobslcgende zu beziehen sein, da deren Aus¬ 
führung laut urkundlicher Sondernotiz in der Tat am 4. August 1371 begonnen wurde. 


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Buffalmacco- und Traini-Fragen. 


349 


ziehen zu dürfen, während hinwiederum Henry Thode **) im Vertrauen auf 
Ghibertis kategorische Behauptung »[Bonamico] dipinse in Campo Santo 
a Pisa moltissime istorie« Vasaris Zuschreibung der Ostwandfresken an 
Buffalmacco wenigstens hinsichtlich der Auferstehung, Wiederkunft und 
Himmelfahrt Christi als jedenfalls nicht unbedingt widerlegbar zu verteidigen 
suchte und damit den rätselhaften Florentiner Meister auch als mutmaßlichen 
Schöpfer der anstoßenden großen Südwandfresken mitangesehen wissen wollte. 
Nun hat diese Thodesche Buffalmacco-Hypothese wohl ihre endgültige Wider¬ 
legung, Supinos Traini-Hypothese dagegen ihre so gut wie vollgültige Be¬ 
stätigung erfahren durch Nello Tarchianis neuerliche Wiederaufdeckung 
eines wundervollen Fragmentes der von Vasari dem Andrea Orcagna zuge¬ 
schriebenen Freskodarstellung des Trionfo della Morte in S. Croce zu Flo¬ 
renz, — eines jener drei Freskogemälde »ne' frati minori«, die auchGhiberti 
bereits unter den Werken des Meisters Orcagna aufführte als »tre magnifiche 
istorie [dipinte] con grandissima arte« * 3 ). Ergibt sich doch aus diesem 
Freskenfunde Tarchianis mit Sicherheit, daß der Pisaner Trionfo della Morte 
»unter Nachahmung der Erfindung, der Manier und der Inschriften« *4) der 
gleichen Darstellung auf dem Freskobilde von S. Croce zu Florenz von einem 
Werkstattgehilfen Orcagnas gemalt sein muß, und zwar vielleicht geradezu 
im Aufträge bzw. in Vertretung und nach Entwurfskizzen des Florentiner 
Meisters, der durch anderweitige reichliche Aufträge an der eigenhändigen 
Ausführung der von den Pisanern wohl ihm selbst übertragenen Camposanto- 
Malereien verhindert gewesen sein mag: — als Werkstattgehilfe Orcagnas 
ist aber in der Tat Francesco Tralni schon von Milanesi nachgewiesen worden 
aus einer nicht näher datierbaren Eintragung im Rechnungsbuche der 
Bauhütte von S. Giovanni fuorcivitas zu Pistoia (vgl. die Fußnote 53 am 
Ende dieses Aufsatzes). Nimmt man dazu noch die mannigfachen stilisti¬ 
schen Verwandtschaftsbeziehungen und Detailanklänge, die Supino zwischen 
den Wiederkunfts- und Weltgerichtsfresken des Pisaner Camposanto einer¬ 
seits und den um 1344 für die Kirche S. Caterina zu Pisa von Francesco 
Traini gemalten Altarwerken der Heiligen Thomas von Aquino und Do- 

**) Im Repertorium für Kunstwissenschaft 1888, S. 17 ff., 1897, S. 68 f. 

* 3 ) Vgl. W. B 0 m b e s Bericht über die bisherigen Resultate der in S. Croce 
zu Florenz vorgenommenen Wiederaufdeckungsarbeiten N. Tarchianis in Dr. Biermanns 
Kunstzeitschrift »Der Cicerone«, 1911, Oktoberheft, S. 784 ff. (mit Abb.) sowie N. Tar¬ 
chianis eigenen Bericht im Florentiner »Marzocco« vom 21. VIL 1911. 

*♦) Wortsinn der bekannten, von Vasari freilich im entstehungsgeschichtlichen 
Gegensinne niedergeschriebenen Angabe in der Orcagna-Biographie der 2. Viten-Ausgabe 
des AretineT Künstlerbiographen, der damit jene augenscheinlich weit richtigere Behaup¬ 
tung seiner 1. Viten-Ausgabe verfehlterweise auf den Kopf stellte, wonach ein Werkstatt¬ 
gehilfe Orcagnas (vermeintlich dessen Bruder Bernardo) »fece l’Infemo di Camposanto 
mitando le invenzioni dello Orcagna [in S. Croce di Firenze]«. 


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35° 


J. Kurzwell y. 


minicus andererseits so scharfsichtig herausgefunden hat * 5 ), sowie ferner 
die Tatsache, daß Traini als Maler des Dominicus-Altares — dessen seit¬ 
liche Legendenszenen ihren Schöpfer so deutlich auch als den Maler der 
Einsiedlerszenen auf den Camposanto-Fresken der »Vita contemplativa« 
und des »Trionfo della Morte« wiedererkennen lassen — während seines Auf¬ 
enthaltes in Orcagnas Werkstatt zu Florenz jedenfalls den von Vasari dem 
Ambrogio Lorenzetti zugeschriebenen Nikolaus-Altar in der Kirche S. Pro- 
colo *) gesehen haben bzw. geradezu als Vorbild benutzt haben muß zu 
seinem Dominicus-Altäre für S. Caterina zu Pisa, — so kann es nunmehr 
wohl kaum noch zweifelhaft erscheinen, daß Supino mit der Zuschreibung 
der Wiederkunftsfresken an der Ostwand und der Weltgerichtsfresken wie 
auch der Sopraporten-Assunta an der Südwand des Pisaner Camposanto 
an Francesco Traini das Richtige getroffen hat. Die Ausführung dieser 
Fresken durch Franc. Traini dürfte in den Jahren zwischen 1337 (vgl. die 
Traini-Angaben am Schlüsse dieses Aufsatzes, S. 21 ff. und 1344 erfolgt sein, 
in denen dieser Pisaner Lokalkünstler auch einen Gonfalone für den Sänger¬ 
chor des Pisaner Domes zu malen hatte (1341, jetzt verschollen; vgl. Supinos 
»Camposanto« von 1896, S. 63). 

Für Buffalmacco würde also von den »moltissime istorie«, die er nach 
Ghibertis Zeugnis im Pisaner Camposanto gemalt haben soll, nur das von 
Trainis Wiederkunfts- und Weltgerichtsfresken durch eine so weite Stilkluft 
getrennte Kreuzigungsfresko der Ostwand übrig bleiben * 7 ), und dieses hat 
nun in den leidenschaftlich bewegten Gestalten des zum Zerschmetterungs- 

a 5 ) Daß diesen Stilkoinzidenzen gegenüber die aus der Verschiedenheit der Mal¬ 
techniken mit innerer Notwendigkeit sich ergebenden Stildiskrepanzen zwischen den Tafel¬ 
bildern Trainis und seinen Camposanto-Fresken in der Tat nichts zu besagen haben, hat 
Graf Vitztum mit Recht hervorgehoben in seinem im Repert. f. Kunstwiss. 1905, S. 199 ff., 
veröffentlichten Aufsatze »Von den Quellen des Stils im Triumph des Todes«. Durch 
spätere Restaurierungen der Wiederkunfts- und Weltgerichtsfresken, namentlich aber 
durch Zaccheria Rondinosis Restaurierungsarbeiten von 1667—1669 (vgl. Supinos »Campo¬ 
santo« von 1896, S. 47 u. 51), mußten diese Stildiskrepanzen natürlich noch wesentlich 
verschärft werden, ohne daß jedoch dabei die besagten Verwandtschaftszüge zwischen den 
Camposanto-Fresken und den Tafelbildern Trainis völlig verwischt worden wären. 

*) Nur vier der seitlichen Legendszenen dieses Nikolaus-Altares von S. Procolo 
sind im Akademie-Museum zu Florenz erhalten geblieben (Katalog Nr. 132 u. 136). Am¬ 
brogio Lorenzeti soll diesen Altar während seines urkundlich beglaubigten Florentiner 
Aufenthaltes von 1332—1334 für S. Procolo gemalt haben, und zwar gleichzeitig mit einem 
jetzt verschollenen Madonnenaltare, der (laut Bocchi-Cinellis »Bellezzc di Firenze« von 
1677, S. 389) signiert war »Ambrosius Laurentij de Senis MCCCXXXII«. Weitere Be¬ 
merkungen über den Nikolaus-Altar sowie über den gleichfalls von ihm abhängigen Umiltä- 
Altar der Florentiner Akademie siehe am Ende dieses Aufsatzes (S. 358 ff.). 

* 7 ) Schon G i o v. R o s i n i hat diese Stilkluft zwischen der Kreuzigung und den 
anstoßenden Wiederkunftsfresken deutlich erkannt; vgl. seine »Descrizione delle Pittu er 
del Camposanto di Pisa« (1816) S. 14. 


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Buflfalmacco- und Traini-Fragen. 


35» 


hiebe gegen die Beine des einen der gekreuzigten Schächer ausholenden 
Schergen (naturalistisch konzipierte Prachtfigur zur Linken des von unge¬ 
schickter späterer Hand neu gemalten Christus am Kreuze) und der im 
Gegensätze zu den plumpen Engelfiguren der benachbarten Himmelfahrts- 
darstellung Trainis so leicht schwebenden Passionsengel wie auch in den 
naturalistisch durchgebildeten Aktfiguren der gekreuzigten Schächer, in den 
prachtvoll lebendigen Gruppen von Greisen, Frauen und Kindern am linken 
Bildrande und in den robust volkstümlichen Typen berittener Kriegsknechte 
am rechten Bildrande eine so unverkennbar nahe Stilverwandstchaft mit 
mit den von P. Bacci neu aufgedeckten Freskenresten der Florentiner Badia- 
Kirche aufzuweisen und erinnert andererseits in der schlichten Natürlich¬ 
keit der weit und groß gesehenen bergigen Landschaftsszenerie so lebhaft 
an die Landschaftsreste der Wandfresken in der Jacobus-Kapelle der Badia 
a Settimo bei Florenz, daß ohne jeden Zweifel nur Buffalmacco der Schöpfer 
dieses Prachtwerkes frühnaturalistischer Darstellungskunst gewesen sein 
kann. Stilfremde Einzelheiten, wie z. B. der langweilig hölzerne Christus 
am Kreuz und die zu Füßen der Greisengruppe am linken Bildrande sichtbare 
Reihe von routiniert modernen Frauenköpfen, sind auf das Konto späterer 
Restauratoren zu setzen, wahrscheinlich auf dasjenige Zaccheria Rondinosis, 
der im Jahre 1667 auch den Auftrag erhielt, die augenscheinlich schon zu 
Vasaris Zeit bis zur Unkenntlichkeit zerstörten übrigen Passionsfresken 
Buffalmaccos (am nördlichen und mittleren Teile der Ostwand des Campo- 
santo) vollends abzuschlagen »per esser malissimo andate« * 8 ). Die von 
Supino in seinem Camposanto-Buche von 1896 (S. 25) und hiernach auch von 
anderen Autoren * 9 ) aus baugeschichtlichen Gründen auf etwa 1350 fixierte 

• ,8 ) Vgl. S u p i n o s »Camposanto« von 1896, S. 47 u. 51. — Auf dem einzig erhalten 

gebliebenen Kreuzigungsbilde, das von A. Venturi (Storia d. Arte Ital. V, S. 724) dem um 
»377 an den S. Ranieri-Fresken der Südhalle beschäftigten Andrea di Firenze zugeschrieben 
wurde, läßt uns die schon von Vasari färben technisch begründete Leichtvergänglichkeit 
der Fresken Buffalmaccos (vgl. P. Bacci, a. a. O., S. 24) das fast gänzliche Verlöschtsein 
der am linken unteren Bildrande noch schwach erkennbaren Frauengruppe mit der ohn¬ 
mächtig zusammenbrechenden Maria besonders lebhaft beklagen. — Auf Trainis Aufer¬ 
stehungsfresko sind z. B. die Grabeswächter sicherlich von Rondinosi neu gemalt (vgl. 
Supino, Camposanto, S. 51). 

* 9 ) Vgl. W. Bode in Burckardts Cicerone, Ausgabe 1910, S. 648; sowie P. Schub¬ 
ring, Pisa (Leipzig 1902), S. 71. — Daß der Zeitpunkt für die Vollendung des Rohbaues 
des Camposanto übrigens noch nicht einmal aus Supinos Urkunde von 1349 (über Vergebung 
der Steinmetzarbeiten »pro complemento laborerii Campi sancti« an Cellino di Nese und 
Genossen sowie über Errichtung von Maler- oder Anstreichergerüsten durch den Zimmer¬ 
meister Stefano di Orlando) zu folgern ist, geht aus einer weiteren Bauurkunde von 1359 
(Uber Fundamentierungs- und Maurerarbeiten im Camposanto »ex latere murorum pisanae 
civitatis») sowie gar noch aus solchen von 1388 und 1393 deutlich genug hervor. (Vgl. 
Supino, Camposanto, S. 7—9. 


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35 2 


J. Kurzwelly, 


Zeitgrenze für den Beginn der Arbeiten am heutigen Freskenschmuck des 
Pisaner Camposanto wurde vom ersteren Autor selbst in seiner »Arte Pisana« 
von 1904 (S. 264) bereits auf die »prima metä del secolo XIV« zurückgescho¬ 
ben, steht also der Angabe Vasaris wie auch Ghibertis, daß der schon um 
1340—1341 verstorbene Buffalmacco im Pisaner Camposanto »moltissime 
istorie« gemalt habe, keineswegs mehr als Widerspruch im Wege. Finden 
wir doch schon 1299 die Maler Vicino aus Pistoia und Giovanni Apparecchiati 
aus Lucca sowie 1301 den Pisaner Nuccaro mit der Ausführung von Madonnen¬ 
fresken im Camposanto beschäftigt 3 «). Jedenfalls bezeugen diese urkund¬ 
lichen Nachrichten über so ungemein frühe (späterhin freilich durch andere 
Malwerke ersetzte) Freskomalereien in der Ostkapelle wie über einem der 
Südportale des Camposanto mit Sicherheit, daß die Ost- und Südgalerien 
dieser Friedhofsanlage bereits um 1300 im Rohbau vollendet waren, und daß 
man schon damals deren malerische Ausschmückung in Angriff nahm; nur 
sind eben leider sämtliche Urkunden über die zwischen 1301 und 1368—1369 
in der Ostgalerie und im östlichen Teile der Südgalerie ausgeführten Mal¬ 
arbeiten bei einem Pisaner Archivbrande zugrunde gegangen 3 * a ). Man wird 
also den jetzt freilich nur noch nach seinem Schlußstück, dem einzig erhalten 
gebliebenen Kreuzigungsfresko, zu beurteilenden Passionszyklus der Ost- 
halle, mit dessen Ausführung die Pisaner den Florentiner Meister Buffal¬ 
macco nach dessen erfolgreicher Malerbetätigung in den Passionsfresken 
von S. Paolo a Ripa d' Arno (um 1320) nur zu gern betraut haben werden, 
geradezu als den Ausgangspunkt der gesamten noch heute vorhandenen 
Freskoausmalung der Camposanto-Hallen zu betrachten haben. Daß übri¬ 
gens schon altpisaner Chronistentraditionen gerade das Kreuzigungsfresko 
als kurz nach 1320 entstandenes Werk des Buffalmacco gekannt haben 
müssen, ergibt sich aus der unter dem Jahre 1322 ( 1 ) in Paolo Tronci’s 
»Annali Pisani« figurierenden Notiz: »Et allora da Buffalmacco Pittore fu 
dipinto il suo ritratto (seil: del crocifisso !) in Campo Santo« 3 lb ). 

Gänzlich zum Opfer fielen dem Vernichtungsverhängnis, das unter den 
Malwerken Buffalmaccos mit so hartnäckiger Konsequenz gewütet hat, 
die Freskomalereien des Meisters in Cortona (diejenigen der Palastkapellc 
des Bischofs Aldobrandino schon zu Vasaris Zeit völlig zerstört), in Perugia 
(große Freskofigur des hl. Bischofs Ercolano an der Piazza del Comunc, 


3 °) Supino, Camposanto S. 16 u. 25. 

3 ,a ) Supino, Camposanto S. 26 f. 

3'b) Vgl. Rob. Papinis Inventar der Kun6tdenkmäler Pisas (CataL delle cose d’arte 
etc. d’Italia, Rom 1912, Ser. I, Fase. II) 1 , p. 102, und zwar das unter den Notizen über das 
Trccento-Holzkruzifix am Grabtabernakel des Erzbischofs d’Elci im Dom zu Pisa (angeblich 
von der 1311 vollendeten einstigen Domkanzel des Giovanni Pisano dorthin verpflanzt). 


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Buflfalmacco- und Traini-Fragen. 


353 


schon von Sacchetti erwähnt 3 >) und in Arezzo (ausgeführt um 1325—1326 
für den Bischof Guido Tarlati, der sich mit Buffalmacco so weidlich an den 
tölpischen Streichen seines pinselgewaltigen Hausaffen ergötzte, um so 
weniger dagegen erfreut sein konnte über BufTalmaccos eigenen, die politi¬ 
schen Gegensätze jener Zeit so charakteristisch illustrierenden Geniestreich, 
mit dem der Künstler den bischöflichen Auftrag auf eine Fassadenfresko¬ 
darstellung des Kampfes zwischen den Wappentieren der Guelfen und der 
Ghibellinen im politischen Gegensinne auszuführen sich erkühnte — vgl. 
Sacchettis Novellen 161 und 169). Ebenso spurlos zugrunde gingen — neben 
verschiedenen kleineren von Vasari aufgezählten Florentiner Fresko- und 
Tafelbildmalereien Buffalmaccos — endlich auch jene Passionsfresken unse¬ 
res Meisters in der (gleich der Nonnenklosterkirche S. Giovanni bei Porta 
a Faenza während der Florentiner Belagerungsnöte von 1529 gänzlich zer¬ 
störten) Kirche S. Giovanni fra 1 ' Arcore bei Florenz, die nach Vasaris Schilde¬ 
rung — namentlich der dort als besonders ausdrucksvoll gerühmten natura¬ 
listischen Darstellungen der wehklagenden drei Marien und des an einem 
Baume erhängten Judas — den in unseren Tagen wieder ans Licht gekomme¬ 
nen Passionsfresken der Badia-Kirche an der Via del Proconsolo zu Florenz 
so nahe verwandt gewesen zu sein scheinen. 

Erst PNeo Baccis so ungemein verdienstvoller Wiederaufdeckung und 

3 ») Die von Vasari dem Buffalmacco gleichfalls zugeschriebenen Fresken der Cap¬ 
pella Buontempi in S. Domenico zu Perugia können als Darstellungen aus dem Leben der 
hl. Katherina von Siena keinesfalls vor Ausgang des 14. Jahrhunderts gemalt sein; in 
A. Brigantis «Guida di Perugia« von 1907 (S. 50) werden sie wohl mit Recht dem 
Sienesen Taddeo di Bartolo zugewiesen. — Als weitere Anachronismen unter 
Vasaris Butfalmacco-Zuschreibungen ergaben sich die erst 1408 in Auftrag 
gegebenen Freskomalereien der Cappella Bolognini in S. Petronio zu Bologna (erst seit 
1390 erbaut) sowie diejenigen der nach Milanesis Vermutung erst 1382 ausgemalten, 
jedenfalls aber kurz vor 1367 im Ausbaue vollendeten Albomoz-Kapelle in der Unterkirche 
von S. Francesco zu Assisi (vgl. A. Venturi, La Basilica di Assisi, Rom 1908, S. 140). Die 
allerdings schon vor 1329 entstandenen Magdalenenfresken der Pontani-Kapelle in der 
letztgenannten Kirche, die Milanesi laut Anmerkung in seiner Vasari-Ausgabe (I, 519, Nr. 2) 
in einer ungenannten älteren Quelle gleichfalls dem Buffalmacco zugeschrieben fand, 
wurden von Crowe und Cavalcaselle als sichere Werke der Giotto-Schule, von A. Venturi 
(a. a. 0 ., S. 124 ff.) sogar als eigenhändige Schöpfungen Giottis angesprochen. — Eine in 
Bocchi-Cinellis «Bellezze di Firenze« von 1677 (S. 70, vgl. Richa I, 31) dem Buffalmacco 
zugeschriebene lebensgroße «Grablegung Christi« (mit kleinfiguriger Passions-Predella), 
die aus S. Carlo bei Orsanmichele in das Florentiner Akademie-Museum gelangt ist, findet 
sich in Vasaris Vita des Taddeo Gaddi (Ausg. Milanesi I, 574) unter dessen Werken auf¬ 
geführt, ist jedoch jetzt allgemein als Werk des Spinello-Schülers Niccolö di Pietro Gerini 
anerkannt, der 1395—1401 mit seinem Sohne Lorenzo di Niccolö und seinem Lehrmeister 
Spinello Aretino für das Kloster S. Felicita zu Florenz den jetzt gleichfalls im dortigen 
Akademie-Museum befindlichen Marienkrönungsaltar gemalt hat (vgl. Crowe und Ca* 
valcaselle, Hist, of Paint. in Italy, Neuausg. von L. Douglas, London 1903» H, 267) 


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4 



354 


J. K u r z w e 11 y , 


Publizierung der Freskenreste der einstigen Giochi- und Bastari-Kapelle 
der letztgenannten Florentiner Badia-Kirche verdanken wir also die eigent¬ 
liche — durch Baccis kritische Nachprüfung der Vasarischen Überlieferung 
zugleich auch so gut wie dokumentarisch gesicherte — Erkenntnis des künst¬ 
lerischen Wesens jenes merkwürdigen Giotto-Zeitgenossen, der schon in 
Sacchettis Novellen l6l und 169 so enthusiastisch gerühmt als »grandissimo 
maestro« und »dipintore in superlativo grado«, laut Lorenzo Ghibertis prä¬ 
gnanter und auf eine Künstlerindividualität von so markant naturalistischer 
Eigenart und Ausdrucksgröße hindeutender Charakteristik »ebbe 1 ' arte da 
natura«, — »quando metteva 1' animo nelle sue opere, passava tutti gli 
altri pittori«. Nach Maßgabe der urkundlichen Feststellungen P. Baccis 
über den Ausbau der Familienkapelle der Giochi und Bastari augenscheinlich 
erst nach 1330 von dem damals bereits beinahe siebzigjährigen Meister 
Buffalmacco ausgeführt, ließen uns erst diese Badia-Fresken in den unter 
der Übertünchung aus der Zeit des Badia-Umbaues von 1627—1628 in einem 
vermauerten schmalen Raume neben der jetzigen Cappella di S. Bernardo 
(mit Filippino Lippis herrlichem Altarbild) in leidlicher und jedenfalls stil¬ 
reiner Verfassung erhalten gebliebenen spärlichen Resten (Verspottung, 
Geißelung und Kreuztragung Christi sowie Selbstrichtung des Judas Ischa- 
rioth nebst Gefangensetzung des Pilatus) ihren Schöpfer in der Tat nunmehr 
endlich wiedererkennen als einen seiner Zeit weit vorausgreifenden Vorahner 
der Kunst eines Masolino und Masaccio: — als einen von den archaisch- 
byzantinisierenden Schulvorbildern seiner Jugendlehrzeit wie vom klassischen 
Zeitvorbilde Giottos gleich unbeeinflußt gebliebenen, robust-temperament¬ 
vollen Naturalisten, der, begabt mit scharfem Beobachtungs- und spontanem 
Gestaltungsvermögen und gestützt durch ein hochentwickeltes zeichnerisches 
und malerisches Können, seine bei absoluter Originalität der Erfindung und 
Auffassung so ungemein wuchtig und großzügig aufgebauten biblischen 
Kompositionen — ähnlich wie etwa jener bei seinen Florentiner Zeitgenossen 
als »scimmia della natura« verschriene Meister Stefano (Vater des Giot- 
tino) — mit erstaunlich scharf und ausdrucksvoll individualisierten, lebendig 
bewegten Figurentypen aus dem Volksleben seiner Zeit zu bevölkern liebte, 
dabei aber namentlich in seinen Christusfiguren gleichwohl Idealgestalten 
von eigenartigster Schönheit, Ausdruckskraft und Stilgröße zu schaffen 
vermochte. 


Im Anschluß an diesen im wesentlichen aus Peleo Baccis Buffalmacco- 
Publikation gewonnenen und nur hie und da durch Nachtragsschlußfolge¬ 
rungen aus Boccaccios, Ghibertis und Vasaris Buffalmacco-Mitteilungen 
kritisch ergänzten Überblick über den Bestand unserer derzeitigen Buffal- 




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Buffalmacco- und Traini-Fragen. 


355 


macco-Kenntnisse möchte ich schließlich noch mit einigen Worten eingehen 
auf die Erwähnung einer gemeiniglich wohl erst für neueren Datums gelten¬ 
den, jedenfalls aber längst als irrig erwiesenen Buffalmacco-Zuschreibung 
in der vermutlich erst nach 1541 verfaßten handschriftlichen Künstlern ten- 
sammlung des Florentiner Vasari-Zeitgenossen Giovanni Battista Gelli 
(t *563) 33 ), der in seiner kurzen Notiz über den vermeintlichen Agnolo 
Gaddi-Schüler »Buonamico« neben »non so che storie in Camposanto« und 
neben den zugrunde gegangenen Fresken im einstigen »munistero fuori della 
Porta a Faenza« — offenbar zur ostentativen Ergänzung der Angaben in 
Ghibertis »Bonamico«-Kapitel — als Werk Buffalmaccos noch aufführt: »et 
in San Bancazio una fighura di santa Humiliana fondatrice di detto mon- 
esterio«. Da nun nicht die schon vor 1246 in S. Croce zu Florenz beigesetzte 
Terziariernonne beata Umiliana de' Cerchi 34), sondern vielmehr die Val- 
lombrosanernonne beata Umiltä di Faenza (mit dem weltlichen Namen 
»Rosanese« getauft, Gattin des Faentiner Nobile Ugolotto de' Caccianemici) 

die »fondatrice di detto monesterio.fuori della Porta a Faenza« 

gewesen war 35 ), so kann mit jenem zur Zeit Gellis in S. Pancrazio zu Florenz 
auf bewahrten und dem Buffalmacco — als dem aus Boccaccios »Decame- 
rone« von jeher allbekannten Freskenmaler besagter Klosterkirche vor 
Porta a Faenza — zugeschriebenen Heiligenbilde nur das bekannte, im 
Jahre 1841 aus S. Salvi in die Florentiner Akademie übergeführte vierzehn¬ 
teilige Altarwerk der beata Umiltä gemeint sein, von dem eines der dreizehn 
Randbildchen schon 1821 (mit der Sammlung Solly), ein zweites erst 1888 
noch in die Berliner Königliche Gemäldegalerie gelangte 3 $). 

Laut Angabe der von Richa (a. a. O., I, 398) mitgeteilten, den »Schrift- 
Charakter des 14. Jahrhunderts aufweisenden« alten Sockelinschrift des 
Altarwerkes 37 ) war dieses ursprünglich auf dem die Gebiene der B. Umiltä 
bergenden Grabaltare aufgestellt, — also in der ehemaligen, dem Evange¬ 
listen Johannes (als dem »diletto avvocato« der B. Umiltä) geweihten Kirche 


33 ) Von G. Mancini in Florenz 1896 in Buchform sowie gleichzeitig auch im Archivio 
Storico Italiano (ser. V, tom. XVII, S. 47 ff.) veröffentlicht; vgl. C. v. Fabriczys Bericht 
hierüber im Repertor. für Kunstwissensch., 1896, S. 351 ff. 

34 ) Vgl. Bocchi-Cinelli, Le Bellezze di Firenze(1677), S. 341 f., sowie Richa, a. a. 0 ., 
I. 75 <*• 

35 ) Vgl. Richa, a. a. 0 . I, 357 ff, 363 ff. 

3 ®) Vgl. die Angaben in den Katalogen des Florentiner Akademie-Museums und des 
Berliner Kaiser Friedrich-Museums. (Die Berliner Kataloge sind durchgängig mit dem 
Druckfehler *S. Servi« belastet.) 

37 ) Die jetzige Inschrift des Florentiner Umiltä-Altares wurde augenscheinlich erst 
um 1841 nach Richas Wiedergabe der Originalinschrift unter Verschiebung der alten Zcilen- 
anordnung völlig neugemalt und fälschlich in das Mittelfeld der Predella eingerückt. — 
Vgl. die hierauf bezüglichen Angaben auf S. 357 dieses Aufsatzes. 

Repertorium für Kunstwissenschaft, XXXV. 24 


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356 


J. Kurzwelly, 


des Vallombrosaner-Nonnenklosters bei Porta a Faenza zu Florenz, das 
von der B. Umiltä selbst im Jahre 1282 gegründet wurde, und in dem sie 
dann im Jahre 1310 starb und ihre letzte Ruhestätte fand 3 8 ). Nachdem 
sodann im Jahre 1529 — aus Anlaß der die Stadt Florenz bedrohenden Be¬ 
lagerung durch die Söldnertruppen Papst Clemens' VII. — gleich anderen 
Florentiner Vorstadtklöstern auch das Vallombrosaner-Nonnenkloster bei 
Porta a Faenza von den Florentinern selbst aus Stadtverteidigungsrück- 
sichten abgebrochen worden war 39 ) und die damit obdachlos gewordenen 
Nonnen im Jahre 1531 durch ihre seit Mitte des 13. Jahrhunderts auch in 
S. Pancrazio zu Florenz ansässigen männlichen Vallombrosaner-Ordens- 
genossen das noch von S. Giovanni Gualberto selbst gegründete, im Jahre 1529 
aber ebenfalls von den Florentinern halbzerstörte Vallombrosanerkloster 
S. Salvi als Zufluchsstätte angewiesen erhalten hatten 44), fand das aus der 
Zerstörung von S. Giovanni Evangelista gerettete Altarwerk der B. Umiltä 
offenbar provisorische Unterkunft in S. Pancrazio, wo es G. B. Gellis Angabe 
zufolge jedenfalls noch um 1540 aufgestellt gewesen zu sein scheint. Die 
von den Nonnen aus S. Giovanni Evangelista gleichfalls mit fortgeführten 
Gebeine der Klostergründerin waren allerdings schon 1534 in das inzwischen 
wieder bewohnbar gemachte Kloster S. Salvi übergeführt worden; ver¬ 
mutlich erfolgte dann die Überführung des Umiltä-Altarwerkes aus S. Pan¬ 
crazio nach Salvi im Jahre 1542 (also ganz kurze Zeit nach der Abfassung 
von G. B. Gellis Buonamico-Notiz), da in diesem Jahre laut Feststellung 
Richas (a. a. O., I, 365) die Gebeine der B. Umiltä auf dem bisherigen 
Nativitä-Altäre der neuen Klosterkirche von S. Salvi öffentlich ausgestellt 
wurden 4 «). Als in der Tat in S. Salvi befindlich wird der von G. B. Gelli 
noch um 1540 in S. Pancrazio registrierte Umiltä-Altar jedenfalls erst wieder¬ 
erwähnt in der im Berliner Galeriekataloge von 1912 zitierten Umiltä- 
Biographie vom Jahre 1632, und ebenda sah es dann um 1750 auch der Pater 
Giuseppe Richa, und zwar augenscheinlich noch unversehrt. Die im Floren¬ 
tiner Akademie-Kataloge vermerkte Zersägung des Altarwerkes in seine 

3 8 ) Also nicht in dem von S. Giovanni Gualberto gegründeten Stammkloster 
zu Vallombrosa, wie in den Berliner Galeriekatalogen (1906, S. 213 f., — 1912, 
S. 241) angegeben ist, ebenso auch in A. Venturis »Storia d. Arte Italiana«, vol. V (1907), 
S. 668, sowie in Langton Douglas’ Neuausgabe von Crowe und Cavalcaselles »History of 
Painting in Italy«, vol. III (1908), S. 92, Anm. 1. 

39 ) An seiner Stelle wurde bald darauf die »Cittadella di S. Giovanni Evangelista« 
(jetzt »Fortezza da Basso«) errichtet. 

4 °) Vgl. Richa, a. a. 0 . I, 361. 

4 *) Allenfalls könnte man als Termin der Überführung des Umiltä-Altares nach 
S. Salvi noch das Jahr 1625 annehmen, in welchem die Vallombrosaner-Nonnen — wohl 
zur Vierhundertjahrfeier der Geburt der B. Umilet&r — für deren Gebeine eine eigene Grab¬ 
kapelle nebst besonderem Grabaltar in S. Salvi errichten ließen (vgl. Richa, a. a. 0 . I, 365). 


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Buffalmacco- und Traini-Fiagen. 


357 


vierzehn Einzelbilder 4 ») und die Veräußerung der beiden jetzt im Berliner 
Kaiser Friedrich-Museum befindlichen Predellentäfelchen erfolgte zu Anfang 
des 19. Jahrhunderts wohl bei Gelegenheit der durch die Franzosen veran- 
laßten Aufhebung des S. Salvi-Klosters, das dann späterhin der Florentiner 
Kunstakademie als Magazin diente, — die Wiederzusammensetzung der noch 
vorhanden gebliebenen zwölf Einzelbilder endlich bei deren Überführung 
aus S. Salvi ins Florentiner Akademie-Museum im Jahre 1841. Bei dieser 
Wiederzusammensetzung hat man dann das ursprünglich von der (jetzt in 
Berlin befindlichen) Breitbilddarstellung eines. Krankenheilungswunders der 
B. Umiltä eingenommene leere Mittelfeld der Predella auszufüllen gesucht 
durch die nach Richas sicherlich originalgetreuer vier zeiliger Wiedergabe 
der ursprünglichen Sockel inschrift in »gotischem« Frakturstil völlig neu 
gemalte fünf zeitige Inschrifttafel, — das dereinst die Berliner Hochbild¬ 
darstellung des Todes der B. Umiltä beherbergende linke Eckfeld der Pre¬ 
della dagegen gänzlich leer belassen müssen. Die bei besagter Wiederzu¬ 
sammensetzung des Altarwerkes auf die Fußleiste der neugotischen 
Umrahmung des Umiltä-Mittelbildes aufgemalte Datierungsinschrift »A. 
MCCCXVI« ist schließlich als vollkommen apokryph nachzuweisen aus dem 
Fehlen dieser offenbar willkürlich errechneten Datierung in Richas 
absolut zuverlässigen Notizen über den Umiltä-Altar von S. Salvi, da ja 
dieser so ungemein gewissenhafte Historiograph der Florentiner Kirchen 
sich keinesfalls auf die ganz allgemein gehaltene paläographische Bestim¬ 
mung der trecentesken Entstehung des Altarwerkes aus der von ihm am 
Altarsockel Vorgefundenen und sogar in der Originalorthographie und in der 
Originalzeilenfolge in extenso kopierten Inschrift »Hec sunt miracula 
beate Humilitatis ... et in isto altari est corpus ejus« beschränkt haben 
würde, wenn das Altarwerk außerdem noch mit irgendwelcher Datierungs¬ 
inschrift versehen gewesen wäre 43 ). Offenbar hat man also zur Zeit der 

4 ») Vgl. Richa, a. a. 0 . I, 398, wonach die aus einer falschen Angabe der Umiltä- 
Biographie von 1632 abgeleitete Annahme von ursprünglich 15 Einzelbildern, von denen 
also ein Randbild völlig verloren gegangen sein sollte, mit Sicherheit als irrig nachzuweisen 
ist: »S. Umiltä £ dipinta col diadema di Beata, ed intorno vi sono tredici storie«. 

43 ) Die neuzeitliche Entstehung der falschen Datierungsinschrift »A. MCCCXVI* 
dürfte auch aus dem Fehlen des obligaten D[omini] nach dem Afnno] bereits mit genügender 
Sicherheit zu schließen sein. — Übrigens ist in dem Worte »Venerabilis« der in ihrem Ge¬ 
samtcharakter so typisch tneugotischen« Predellainschrift des neu zusammengesetzten 
Umiltä-Altares dem Abschreiber des Richaschen Inschrifttextes bezeichnenderweise ein 
deutliches römisches Antiqua-V mit unterlaufen anstatt des sonst so konsequent von ihm 
durchgeführten gotischen Fraktur-V. — Die von P. Schubring in der »Zeitschr. f. Christ). 
Kunst« 1901, S. 375 vorgeschlagene Lesart 1346 für die falsche Datierungsinschrift des 
Umiltä-Altares ist ebensowenig stichhaltig wie die im illustrierten Berliner Museumskataloge 
von 1909 angegebene Lesart 1341; denn keinesfalls etwa kann das scharf markierte »gotische« 
V in der Schlußziffer als L gedeutet werden — so viel lieber man auch ein so offenkundig 
spätes Schulwerk des Lorenzetti-Stiles MCCCXLI oder MCCCXLVI datiert sehen möchte. 

» 4 * 


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358 


J. Kurzwelly, 


Wiederzusammensetzung des Umiltä-Altares (in der wohl durch G. B. Gellis 
Notiz traditionell gewordenen irrigen Voraussetzung, daß Buffalmacco als 
schon von Boccaccio erwähnter Freskendekorator der einstigen Vallombro- 
saner-Nonnenkirche S. Giovanni Evangelista auch das Altarwerk für die 
Grabkapelle der Kirchen- und Klostergründerin gemalt haben möge) die 
Jahreszahl 1316 vollkommen willkürlich neu errechnet aus dem schon aus 
Mannis »Veglie Piacevoli« (Florenz 1815, Bd. II, S. 1 ff.) bekannt geworde¬ 
nen Grenzalter des (laut einer urkundlichen Zeugenunterschrift seines Sohnes 
Dominicus »olim« Calandrini vor dem 17. II. 1318 verstorbenen) Calan- 
drino, des Besuchers Buffalmaccos in besagtem Nonnenkloster (laut Boc¬ 
caccios »Decamerone« VIII, Nov. III) sowie vielleicht auch aus der oben 
erwähnten, wohl auch früher schon von so manchem Florentiner gelesenen 
und wohl gar in älteren Florentiner Guiden bereits veröffentlichten Weih- 
inschrift von 1315 in der St. Jacobus-Kapelle der Badia a Settimo bei Florenz. 

Jedenfalls also ist die Datierungsinschrift »A. MCCCXVI« am Umiltä- 
Altare des Florentiner Akademie-Museums ebenso sicher als in toto gefälscht 
zu betrachten, wie dieses Altarwerk selbst — dessen stilistische Grundnote 
ja außerdem längst als ausgesprochen sienesisch erkannt und anerkannt 
wurde — nicht eine Spur von Stilverwandtschaft mit den jetzt neu auf- 
gedeckten Buffalmacco-Fresken der Florentiner Badia-Kirche aufzuweisen 
hat. Da jedoch eben jene somit absolut unglaubwürdige Datierungsinschrift 
— die man dabei doch in der Regel als »jedenfalls erneuert« nur mit einem 
gewissen Mißtrauen aufnimmt — von den meisten Autoren gleichwohl noch 
jetzt als für die Datierung des Umiltä-Altares maßgebend betrachtet wird, 
so fragt es sich nunmehr, ob die auf dieser irrigen Datierung basierende Zu¬ 
schreibung des Altarwerkes an Pietro Lorenzetti — bzw. die selbst 
noch von A. Vcnturi * 4 ), W. Bode 45) und Langton Douglas 46) vertretene 
Annahme, der Umiltä-Altar repräsentiere »die früheste erhaltene Ar¬ 
beit« des besagten Sienesen — auch fernerhin aufrecht zu erhalten ist. 

Im Gegensätze zu der auch von ihm noch gutgläubig festgehaltenen 
Einreihung des Florentiner Umiltä-Altares unter die eigenhändigen Früh- 
werke des Pietro Lorenzetti hat A. Venturi 47 ) am Schlüsse seiner Betrach¬ 
tungen über dieses von ihm auf Grund der Datierungsinschrift »A. MCCCXVI« 
gleichfalls allen übrigen Lorenzetti-Gemälden vorangcstellte Altarwerk offen 
cingeräumt, daß letzteres in der Tat doch recht handgreifliche Stil- und 
Qualitätsunterschiede aufweist gegenüber besser beglaubigten Frühwerken 

44) In seiner »Storia d. Arte Italiana«, Bd. V (1907), S. 668. 

45 ) In seiner letzten Ncuausgabe des Burckhardtschcn »Cicerone* (1910), II, S. 668 g. 

4 *) In seiner Ncuausgabe von Crowe und Cavalcasclles »History of Painting in Italy*. 

Bd. III (1908), S. 92. 

47 ) A. a. O., V, S. 672. 


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Buffalmacco- und Traini-Fragen. 


359 


eben jenes großen Sienesen, — so insbesondere gegenüber dem in der Pieve 
von Arezzo befindlichen vielteiligen Madonnenaltare von 1320, dessen ebenso 
scharf und ausdrucksvoll wie mannigfaltig individualisierte Einzelfiguren in 
ihren wechselreichen, naturwahr beobachteten und sorgsam durchgeführten 
Gewanddrapierungen in so offensichtlichem Gegensätze stehen zu den sche¬ 
matisch gleichförmigen, unpersönlichen und ausdrucksleeren, sämtlich in 
sackartig schwerfallende und dickfaltige Gewänder gehüllten Figurentypen 
der mit schulmäßiger Routine heruntergepinselten Umiltä-Historien. Weit 
näher als diesem und anderen Frühwerken des Pietro Lorenzetti stehen nun 
unsere Umiltä-Historien jenen vier jetzt gleichfalls im Florentiner Akademie- 
Museum aufbewahrten kleinfigurigen Historien aus der Legende des hl. Niko¬ 
laus von Bari, die laut Vasari (Ausg. Milanesi I, 523) zusammen mit einem 
jetzt verschollenen, laut Bocchi-Cinelli 48) dereinst »Ambrosius Laurentij de 
Senis MCCCXXXII« signiert gewesenen Madonnenaltare für die Florentiner 
Benediktinerklosterkirche S. Procolo gemalt wurden von dem in den Jahren 
1332—1334 auch als Mitglied der Florentiner »Arte de' medici e speziali« 
nachweisbaren Sieneser Meister Ambrogio Lorenzetti, dem wohl 
eben darum schon G. F. Waagen 49) das im Jahre 1821 mit der Sammlung 
Solly in die Berliner Königliche Gemäldegalerie gelangte Predellenstück des 
Florentiner Umiltä-Altares zuschrieb. A. Venturi 5 °) möchte angesichts 
dieser unverkennbaren Stilverwandtschaft der Umiltä-Historien aus S. Gio¬ 
vanni Evangelista und der Nikolaus-Historien aus S. Procolo die archi¬ 
tektonischen Hintergrundszenerien der letzteren als aus denjenigen der 
ersteren Heiligenhistorien weiterentwickelt betrachtet wissen. In der Tat 
jedoch dürfte das umgekehrte »svolgimento»; als das richtigere anzu- 
sehen sein, da ja die — gegenüber jenen ungemein reich und sorgsam durch- 
gebildeten Architekturperspektiven der Nikolaus - Historien — ziemlich 
dürftig erfundenen und mit summarischer Oberflächlichkeit behandelten 
Architekturfolien unserer Umiltä-Historien doch wohl mit mehr Recht auf 
das Konto eines schwächlichen Schul nachfolgers und Nach¬ 
ahmers zu setzen sind als auf dasjenige eines vorbildlich wirkenden 
Schul führers, — ebenso wie auch die mit bloßer Schulroutine in einem 
matten und bläßlichen Kolorit heruntererzählten, lediglich durch triviale 
Genrezüge amüsant belebt erscheinenden Umiltä-Historien selbst weit eher 
als schwächliche Nachahmungen denn als Vorbilder jener höchst lebendig, 
originell und geistreich vorgetragenen Nikolaus-Historien sich kenntlich 

4 1 ) Bellezze di Firenze (1677), S. 380. — Auch bereits in Ghibertis Comment. II, 
Cap. XII, finden sich eine »tavola« und eine »cappella« in S. Procolo zu Florenz als Mal¬ 
werke Ambr. Lorenzettis angemerkt. 

49 ) Im Berliner Galerie-Kataloge von 1851, S. 368. 

5 °) A. a. O., V, S. 701. 


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3 Öo 


J. Ku rz w elly, 


machen 5 1 ). Da aber die schon zu oft hier zitierte, als in toto gefälscht anzu¬ 
sehende Datierungsinschrift »A. MCCCXVI« am Florentiner Umiltä-Altare 
einer entsprechend späteren Datierung eben dieses Altarwerkes jetzt nicht 
mehr im Wege steht, so darf letzteres nunmehr getrost als die jedenfalls erst 
nach Ambrogio Lorenzettis Nikolaus-Altar von etwa 1333 entstandene Auf¬ 
tragsarbeit eines schwächlichen Lorenzetti-Nachahmers angesprochen werden, 
der wohl auf ausdrücklichen Wunsch der Nonnen von S. Giovanni Evan- 
gelista besagtes Altarwerk von S. Procolo für seine Arbeit als Mustervorlage 
benutzt haben mag. 

Nun besitzen wir eine weitere, und zwar nicht minder offensichtliche 
Nachahmung dieses Lorenzettischen Nikolaus-Altares von S. Procolo zu 
Florenz in dem mit Francesco Trainis vollem Namen signierten und laut 
urkundlicher Überlieferung 1344—1345 (April-Januar) von besagtem Künst¬ 
ler in Pisa gemalten Dominicus-Altäre aus S. Caterina zu Pisa, dessen Mittel - 
tafel mit der Einzelgestalt des hl. Dominicus (und der Halbfigur des segnen¬ 
den Erlösers im bekrönenden Spitzbogenfelde) jetzt im dortigen Museo 
Civico aufbewahrt wird, während die vier Seitentafeln mit acht Szenen aus 
der Legende desselben Heiligen (und den Halbfiguren der vier Evangelisten 
in den bekrönenden Spitzbogenfeldem) im Erzbischöflichen Seminar zu 
Pisa Aufnahme fanden. Dieser Pisaner Dominicus-Altar aber erweist sich 
im Gesamtaufbaue wie auch in den Einzelkompositionen und deren zeich¬ 
nerischer und malerischer Detailbehandlung dem Florentiner Umiltä-Altäre 
als stilistisch so nahe verwandt, daß sich dem Beschauer beider Altarwerke 
wohl oder übel die Vermutung aufdrängen muß, der Umiltä-Altar aus 
S. Giovanni Evangelista könnte wohl gleichfalls von Francesco Traini gemalt 
sein: hier wie dort die gleiche temperamentlose und innerlich leblose Be¬ 
fangenheit in Ausdruck, Haltung und Drapierung der mittleren Hauptfigur 
wie der Einzelfigürchen auf den seitlichen Legendenbildern, — die gleiche 
genrehaft gefällige und routiniert leichtflüssige, im Kompositionsprinzip den 
Nikolaus-Legenden Ambrogio Lorenzettis abgelauschte, im figürlichen 
Detail freilich recht geistlose, schematisch typisierende Art der Legenden- 
erzählung auf den begleitenden Bildtäfelchen, — die gleichen schwerfällig 
nüchternen, von den viel reicheren und zierlicheren Architekturperspek¬ 
tiven Lorenzettis in ihrer summarisch-flächenhaften Behandlungsweise 
so unvorteilhaft abstechenden Hintergrundarchitekturen. Dabei ist jedoch 

5 1 ) Man vergleiche z. B. das prächtig lebendige Figiirchen des staunenden Mönchs 
auf der Florentiner Besessenenheilungs-Legende des St. Nikolaus von Bari mit dem in 
der Gebärdensprache an sich jenem Mönchsfigürchen augenscheinlich nachempfundenen 
und doch an Lebendigkeit des Ausdrucks und der Bewegung so wesentlich geringeren Figür- 
chen des ratlosen Arztes auf der Berliner Krankenheilungs-Legende der B. Umiltä von 
Faenza. 


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Buffalmacco- und Traini-Fragen. 


361 

in Ausdruck, Bewegung und Gruppierung der Einzelfigürchen wie auch in 
der koloristischen Durchführung der Pisaner Dominicus-Legenden gegen¬ 
über den Florentiner Umiltä-Legenden immertiin schon ein merklicher Fort¬ 
schritt nach der Seite lebendigerer Gestaltungs- und Ausdrucksfähigkeit zu 
konstatieren, woraus also auf einen erheblichen Zeitabstand zwischen der 
Ausführung des noch anfängerhaft schwächlichen Umiltä-Altares und des 
wesentlich reiferen Dominicus-Altares von 1344 zu schließen wäre. Unab¬ 
weisbar erscheint jedenfalls die Voraussetzung, daß der Maler des Floren¬ 
tiner Umiltä-Altares so gut wie der des Pisaner Dominicus-Altares Loren- 
zettis Nikolaus-Altar von etwa 1333 in S. Procolo zu Florenz gesehen und 
als direktes Vorbild studiert haben muß 5 *), ebenso wie ja der Maler des 
Trionfo della Morte im Pisaner Camposanto ohne Zweifel Andrea Orcagnas 
Freskodarstellung des gleichen Bildvorwurfs in S. Croce zu Florenz — 
deren kostbare Reste durch Nello Tarchianis verdienstvolle Bemühungen 
kürzlich wieder aufgedeckt wurden — gesehen und als Vorbild studiert haben 
muß. Nun hat schon Milanesi — wie bereits bei Besprechung der Campo¬ 
santo-Malereien Francesco Trainis (S. 348 f.) erwähnt wurde — aus einer 
urkundlichen Notiz im Rechnungsbuche der Bauhütte von S. Giovanni fuor 
Civitas zu Pistoia 53 ) nachweisen können, daß Vasaris Angabe, Francesco 

5 ») Daß übrigens Ambrogio Lorenzettis Nikolaus-Altar von S. Procolo auch viel 
später noch — und zwar vermutlich auf eigenen Wunsch der Auftraggeber, nach den so 
häufigen Analogiefällen in italienischen Künstlerurkunden des Tre- und Quattrocento zu 
schließen, — für andere Altarwerke als Mustervorlage benutzt wurde, beweist das unter 
der Katalognummer 1097 im Berliner Kaiser Friedrich-Museum (Kat. 1912 p. 240) befind¬ 
liche Bildtäfelchen, auf dem eine Hafenszene aus der Legende einer unbekannten Heiligen 
(St. Helena ?) geradezu als genaue Wiederholung des Kompositenschemas der Hafenszene 
vonMyra aus der Nikolaus-Historienfolge von S. Procolo sich darstellt, nur daß die Vorder- 
grundfigürchen auf dem Berliner Einzeltäfelchen bereits in der Modetracht des beginnenden 
Quattrocento paradieren. 

53 ) Vgl. Vasari-Milanesi, I, 613, Anm. 2. — Nach A. Chiappellis Dar¬ 
legungen im »Bollettino Storico Pistoiese« von 1900 (Bd. I, S. 2 f.) wäre die betreffende 
Eintragung im Rechnungsbuche der Bauhütte von S. Giovanni fuor Civitas zu Pistoia — 
Vorschläge verschiedener über Bestellung eines Altarbildes für S. Giovanni fuor Civitas 
beratenden Kommissionsmitglieder hinsichtlich der eines solchen Auftrages am würdigsten 
erscheinenden Florentiner Malkünstler — erst um 1347 zu datieren. Damit würde jedoch 
Francesco Traini keineswegs als ein in letzterem Jahre noch immer in Orcagnas Floren¬ 
tiner Werkstatt als Gehilfe beschäftigter Anfänger seiner Kunst hingestellt erscheinen, 
da ja der auf ihn abzielende Sondervorschlag sehr wohl auf einer um mehr als ein Jahrzehnt 
zurückgreifenden Florentiner Reminiszenz des betreffenden Pistoieser Kommissionsmit¬ 
gliedes basieren könnte, die in dem Zusatze »ehe istae in bottegha dell'Andrea« für die 
Zeit der Kommissionsberatung selbst gar nicht mehr zu traf. Vermutlich wird das betreffende 
Kommissionsmitglied bei seinem Traini-Vorschläge geradezu den meiner Hypothese zu¬ 
folge um 1335 in Orcagnas Florentiner Werkstatt von Francesco Traini gemalten Umiltä- 
Altar von S. Giovanni Evangelista bei Florenz als seinem Geschmacke nach mustergültige 
Kunstleistung im Auge gehabt haben. 


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362 


J. Kurivelly, R uffalma rrn- und Traini-Fragen. 


Traini sei ein Schüler Andrea Orcagnas gewesen, wenigstens insofern zutrifft, 
als besagter Pisaner Lokalkünstler jener Pistoieser Urkundennotiz zufolge 
in jüngeren Jahren jedenfalls eine Zeit lang als Gehilfe Orcagnas in dessen 
Florentiner Werkstatt tätig gewesen sein muß. Da aber einem Urkunden - 
funde Simoneschis zufolge 54 ) Francesco Traini, der ja außerdem schon 1322 
bis 1323 im Pisaner Kommunalpalaste Malarbeiten auszuführen hatte, 
bereits im Jahre 1337 in Pisa als Inhaber einer eigenen Lehrwerkstatt nach¬ 
weisbar ist, würde seine Gehilfentätigkeit in Orcagnas Florentiner Werkstatt 
offenbar in die Jahre 1334—1336 zu verlegen sein, also in die Zeit kurz nach 
Aufstellung des Nikolaus-^ltares Ambrogio Lorenzettis in S. Procolo zu 
Florenz: somit dürfte die Ausführung des Umiltä-Altares für S. Giovanni 
Evangelista bei Florenz — mit der Francesco Traini vielleicht in Vertretung 
seines vielbeschäftigten Brotherrn Orcagna betraut wurde — etwa ein volles 
Jahrzehnt früher erfolgt sein als diejenige des Dominicus-Altares für S. Cate- 
rina zu Pisa. Jedenfalls aber wird der Berliner Kaiser Friedrich-Museums¬ 
katalog bei Aufzählung der Berliner Teilstücke des Florentiner Umiltä- 
Altares, dieser schwächlichen Epigonenleistung eines gleichzeitig floren- 
tinisch und sienesisch beeinflußten Nachahmers des Nikolaus-Altares Am¬ 
brogio Lorenzettis, den stolzen Autornamen Pietro Lorenzetti in Zukunft 
getrost unterdrücken dürfen, wenn anders der gutgläubige Berliner Museums- 
besucher vor geringschätzigen und somit falschen Vorstellungen vom künst¬ 
lerischen Können eines der bedeutendsten Sieneser Trecentomaler bewahrt 
bleiben soll. 

54 ) Vgl. L. Simoneschi, Notizic e Questioni intorno a Francesco Traini 
(Pisa 1898) und I. B. Supino, Arte Pisana (1904), S. 265 fr. 


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A. Dürers »Pfeifer und Tro 


lllll 


ler«. 


Ein Beitrag zur Konstruktion der Figuren und zur Datierung des Bildes. 

Von Dr. H. von Ochcnkowski. 


Literaturverzeichnis. 

1. Thausing Moritz, Albrecht Dürer, G.schichte seines Lebens und seiner Kunst. 

2. Aufl. Leipzig 1884 (E. A. Seemann) S. 184. 

2. Lübke Wilhelm, Geschichte der deutschen Kunst. Stuttgart 1890 (Ebner und 
Seubert) S. 608. 

3. Weizsäcker Heinrich, Katalog der Gemäldegalerie des Städelschen Kunst¬ 
instituts in Frankfurt a. M. Frankfurt a. M. 1900. S. 92. 

4. Wölfflin Heinrich, Die Kunst Albrecht Dürers. München 1908 (F. Brückmann). 

S. 152 Anm. 4, S. 130. 

5. Justi Ludwig, Konstruierte Figuren und Köpfe usw. Leipzig 1902. 

6. Weizsäcker Heinrich, Kunstwissenschaftliche Beiträge A. Schmarsow gewidmet. 
1908. S. 153 ff. 

7. Heidrich Emst, Albrecht Dürers schriftlicher Nachlaß. Berlin 1908 (J. Bard). 
S. 252. 

8. Meder Joseph, Die grüne Passion. Rep. f. Kunstwiss. Berlin 1907. Bd. 30 - 

9. Klaiber H., Beiträge zu Dürers Kunsttheorie, Blaubeuren o. J. 1903. (Fr. Man* 
gold). (Diss.) 

10. Leonardo da Vinci, Das Malerbuch. Zusammenstellung von W. v. Seydlitz. 
Berlin 1910 (J. Bard). S. 41 ff. 

11. Leonardo da Vinci, Das Buch von der Malerei. Nach dem Codex Vaticanus 
übersetzt von Heinrich Ludwig. 3 Bde. Wien 1882 (W. Braumüller). In »Quellenschriften 
für Kunstgeschichte...«, Bd. 1 Buch III § 264. 

12. Dürer Albrecht, Vier Bücher von menschlicher Proportion. Nürnberg 1528 
(J. Formschneider). S. VNIIII. 

In der Hauskapelle des »alten Jabachschen Hauses« in Köln befand 
sich einst ein Flügelaltar, dessen Hauptteil wahrscheinlich aus einer jetzt 
verschollenen Schnitzerei bestand (Thausing); die beiden Flügel waren innen 
und außen durch eine Malerei von Albrecht Dürer geschmückt. 

Die Holzbretter der Flügel wurden zwischen den beiden bemalten 
Oberflächen durchsägt und die Bilder gelangten — voneinander getrennt — 
in verschiedene Museen: Die einstigen Innenbilder kamen in die Münchner 
Pinakothek, wo sie bis jetzt aufbewahrt werden. Sie stellen je zwei Heilige 
dar und zwar links die Gestalten des Joseph und Joachim, rechts die des 


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364 


H. von Ochenkowski, 


Simeon und Lazarus. Bei geschlossenen Flügeln war ein Gemälde zu ge¬ 
wahren, welches durch Komposition und Farbenpracht besonders auffiel; 

es stellte den leidenden Hiob dar und war durch eine Leiste der Einrahmung 

•« 

mittendurch in zwei Teile getrennt. Jetzt befindet sich der linke Flügel 
im Städelschen Institut in Frankfurt, der rechte im Wallraf Richartzmuseum 
zu Köln. Einmal vom ganzen getrennt, wurde dann auch noch die ursprüng¬ 
liche Form des linken Flügels durch ein abgerundetes Dreieck im oberen 
Teile verändert (der rechte Flügel ist oben durch ein Halbrund abgeschlossen). 
Sicher war zur Zeit der Entstehung des Bildes die Form der Umrahmung 
bei beiden Flügeln gleich; denn die ersichtlich angestrebte sorgfältige Ein¬ 
heitlichkeit der Komposition des dargestellten Gegenstandes läßt eine der¬ 
artige Willkür in der Form als ausgeschlossen erscheinen. Was daran ver¬ 
ändert wurde, vermag ich mit voller Sicherheit nicht zu entscheiden, da 
ich keine Gelegenheit hatte, die Bilder ohne Rahmen betrachten zu können; 
jedoch will ich die Vermutung aussprechen, daß der linke Flügel, erst nach 
seiner Lostrennung vom Altäre, mit dem jetzigen Rahmenabschlusse im 
oberen Teile versehen wurde. 

Das Bild ist trotz der Leiste in der Mitte als untrennbar komponiert, 
wie es die bis zu den zwei Musikanten herüberreichende Gewandschleppe 
der Frau und die einheitliche Gebirgs- und Waldlandschaft im Hintergründe 
augenscheinlich machen. Die beiden Flügel, nebeneinander gesetzt, stellen 
Hiob dar, wie er von seinem Weibe und von zwei Musikanten verspottet 
wird. Das Weib leert über die Schulter des nackt sitzenden Alten einen 
Eimer voll Wasser aus; ein zuschauender Musikant pfeift dazu auf einem 
klarinettenartigen Instrumente, während ein anderer, der am Gürtel eine 
kleine Trommel trägt, mit beiden gehobenen Stäben innehaltend, aufmerk¬ 
sam der Melodie des Pfeifers lauscht, um mit seiner Begleitung zur rechten 
Zeit einzufallen. Hiobs Haus steht in Flammen; ein Diener läuft auf die 
vordere Gruppe zu, hebt schreiend die Hände, um die schlimme Nachricht 
von weitem anzukündigen; die rechts hinausziehende Karawane von be¬ 
ladenen Kamelen wird von einigen sie verfolgenden Reitern angegriffen. 

Für unser Thema bildet die Gestalt des Trommlers ein seltsames 
Interesse. Dürer hat sich selbst darin abgebildet und zwar zum ersten 
und einzigen Male in seiner fast halblebensgroßen ganzen Gestalt. Alle 
übrigen Selbstbildnisse Dürers in ganzer Gestalt sind von kleinen 
Dimensionen. In den Zügen des Gesichts: der feinen gebogenen Nase, den 
kleinen Augen und dem breiten Munde erkennen wir sein naturwahres, 
gar nicht oder nur wenig idealisiertes Bildnis *) und darin weicht es von 


*) Dasselbe ist in dem Selbstbildnisse aus dem Allerheiligenbilde (Wien) und in 
der Zeichnung *... do ist mir weh« (Bremen) L. 130 wahrzunehmen. 


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A. Dürers »Pfeifer und Trommler«. 


365 


den drei bekannten idealisierten Selbstbildnissen Dürers ab. So sah er 
in dem vierunddreißigstem Jahre seines Lebens aus; denn das Bild des 
leidenden Hiob muß im Jahre 1504/5 entstanden sein; zu dieser Anschau¬ 
ung berechtigt außer der Konstruktionsweise der Figuren die Betrachtung 
des Stiles und der Malweise, die auf eine zweifelsohne im wesentlichen eigen • 
händige Ausführung deutet *). 

Das Bild des leidenden Hiob ist ausgezeichnet erhalten und — außer 
einigen Retouchen an den Händen des Trommlers und an der Linken des 
Pfeifers — ist es gar nicht oder nur ein weniges am Himmel übermalt. 
Seine Eigenhändigkeit, sowie die der inneren Figuren der vier Heiligen 
wurde vielfach in Frage gestellt. Thausing (L.-V. 1) sprach den Zweifel 
aus, ob Dürer selbst die Zeichnung zu diesen Bildern geliefert habe; auch 
die Malweise scheint ihm eher an Kulmbach, als an die eigene Hand des 
Meisters zu erinnern. Aus dem Gesamtton seiner Äußerungen läßt sich 
schließen, daß er geneigt ist, Dürer ebenso die zeichnerische Komposition 
wie die Ausführung der Farbenfläche abzusprechen. Lübke (L.-V. 2) ver¬ 
wirft nur die vier Heiligengestalten aus der Münchner Pinakothek; das 
»flüchtig aber geistreich« gemalte zweiteilige Bild des leidenden Hiob spricht 
er mit Sicherheit dem Meister selbst zu. H. Weizsäcker (L.-V. 3) zieht 
das Monogramm auf dem Stabe Josephs (München) als echt an und findet 
die Bilder »insgesamt von Dürers eigener Hand«. H. Wölfflin (L.-V. 4) 
äußert sich über den Altar wie folgt: »Der Jabachsche Altar (München, 
Frankfurt, Köln) kann nur in einem Werkstattzusammenhang mit Dürer 
genannt werden. Die Datierung auf 1500 ist sicher zu früh, er weist in 
allen Motiven auf die Zeit von 1503/5, verliert aber sehr bei der Konfron¬ 
tation mit den gesicherten Werken«. 

Es wird aus obigem ersichtlich, wie sehr sich die Meinungen über 
des Meisters Anteil an den aus seinem Atelier stammenden Altarflügeln 
kreuzen und widersprechen. 

Ich beabsichtige nicht die geringere Qualität des Jabachschen Altares 
gegenüber anderen gesicherten Leistungen Dürers hervorzuheben, jedoch 
wird ihm, meines Erachtens, unrecht getan, wenn er allzu oft und von ver¬ 
schiedenen Kunstforschem nur als Werkstattbild angesehen wird. Er ent- 

*) Von den italienischen Einflüssen, die das künstlerische Schaßen Dürers von 
Zeit zu Zeit durchziehen, fällt einer auf das Jahr 1504 (bekanntlich durch Jacopo de Bar¬ 
bari verursacht). Dieser Einfluß läßt sich — außer den antikisierenden Bauten in der 
Grünen Passion — auch in dem Bilde des leidenden Hiob nachweisen und zwar in der 
Figur des Weibes — linker Flügel —, die in ihrer heftigen Bewegung an eine der Nereiden¬ 
statuen (British Museum) auffallend erinnert. Ein Zusammenhang — wenn vielleicht 
auch ein indirekter, da das Nereidendenkmal (zu Xanthos in Lykien) erst im Jahre 1842 
von einer englischen Expedition freigelegt wurde — ist in der Bewegung des gesamten 
Körpers, ausgenommen die Arme, zweifellos sichtlich. 


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366 


H. von Ochenkowski, 


hält im wesentlichen nichts, was dazu berechtigen könnte. Vielmehr ist 
der Vorrang der Außenseite zu geben und zwar wegen der einfachen Kom¬ 
position und geringeren Ausführung der Innenseiten, deren Farben Wirkung 
allerdings nicht zu leugnen ist. Ferner wird oft die angeblich flüchtige 
Malweise hervorgehoben, die richtiger als flüssig und breit in der Aus¬ 
führung, keineswegs als flüchtig zu betrachten ist. 

Das gesamte Bild ist für eine bestimmte Entwicklungsperiode Dürers 
von Interesse und Bedeutung. Durch das böse Schicksal, das die beiden 
Teile des Bildes voneinander getrennt und in zwei verschiedene Museen 
gehängt hat, wird der Gesamteindruck bedeutend beeinträchtigt; könnten 
wir die zwei Teile nebeneinanderhängend betrachten, so würde die wunder¬ 
bare Schlichtheit der Komposition ganz anders wirken, obwohl sie freilich 
von vornherein durch die trennende Leiste gestört wird. 

Um meine Meinung über die Bedeutung des Bildes richtig einzuführen, 
will ich zuerst die Komposition der Einzelfiguren besprechen. Eis ist vor 
allem zu erwähnen, daß sämtliche Figuren konstruiert sind und zwar weisen 
sie eine Konstruktion auf, welche als aus den von Justi (L.-V. 5) nach- 
gewiesenen Konstruktionen entwickelt betrachtet werden muß. Eis bedürfte 
einer Reihe von geometrischen Figuren, die ähnlich wie bei den dem Justi- 
schen Werke beigegebenen Abbildungen auf eine Wiedergabe des Bildes 
des leidenden Hiob aufgetragen werden müßten, um die Konstruktion klar¬ 
zulegen; allein das würde uns bei einer Betrachtung des einen Flügels des 
Gemäldes zu weit führen 3 ). Eis genüge hier zu erwähnen, daß die Konstruk¬ 
tion der Figur des Pfeifers und die der Frau sich nicht mit dem Schema 
für die Frontalkörper deckt (die Apollogruppe, Adam und Eva (Lanna) 
1504, L. 173, Adam und Eva-Stich, 1504, B. I (sämtl. Abb. bei Justi). Jedoch 

hat sich das hier angewandte Schema aus dem vorigen entwickelt. Für 

■ 

unser Thema ist nur das Bild: Pfeifer und Trommler (Köln) von Interesse; 
über das Vorhandensein einer Konstruktion bei diesen beiden Figuren sei 
gesagt, daß die einzelnen Maße der Körperglieder sämtlich auf der Körper- 
länge abgemessen sind (z. B. beträgt der Kopf des Pfeifers */ 8 » das Gesicht 
>/io, die Hand ohne Finger 1/16, die Schulterbreite 1/5 = 2 / 10 = zwei Gesichts¬ 
längen, der Spalt 3/6 = */* usw.). Bei den beiden Figuren dieses Bildes 
ist der Abstand von der Begrenzung der Kopftracht bis an das Fußgelenk 
als Körperlänge angenommen. Die Ausführung der Einzelheiten der sehr 
komplizierten Konstruktion wäre hier nicht am Platze. Doch will ich nicht 
unterlassen darauf hinzuweisen, daß der Figur des Pfeifers ein Parallelo¬ 
gramm, der des Trommlers ein Dreieck zugrunde liegt. Ein derart durch- 


3 ) Verfasser will eine ausführliche Besprechung der Konstruktionen für den Jabach¬ 
altar, wie für manche frühere Werke Dürers einem späteren Aufsatz Vorbehalten. 


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A. Dürers »Pfeifer und Trommler«. 3^7 

gedachtes und in Einzelheiten kompliziertes Schema konnte in Deutsch¬ 
land nur von Dürer stammen und nicht vor 1504 entstehen. 

Die Möglichkeit des Vorhandenseins einer Konstruktion bei Drei- 
viertelansicht der Dürerschen Figuren wurde von Justi abgelehnt, noch 
entschiedener von Klaiber (L.-V. 9). Ich glaube jedoch bei der entgegen¬ 
gesetzten Meinung, die ich anderenorts (Rep. f. Kunstwiss. Bd. 34, S. 433 ff.) 
flüchtig berührt habe, bleiben zu müssen. Allerdings fehlt mir immer noch 
ein unanfechtbarer Beweis, der in einer eigenhändigen Zeichnung einer Drei- 
viertelfigur mit von Dürer selbst hineingezeichneten geometrischen Linien 
bestünde. 

Jedoch bin ich fest überzeugt, daß Dürer bei sämtlichen von 
ihm ausgeführten Figuren in jeder Drehung und Stellung eine Konstruktion 
angewandt hat. Und gerade war nicht das »freie« Schaffen — was er aller¬ 
dings ohne Schwierigkeiten konnte —, sondern das Gestalten eines ideellen 
Körpers und einer ideellen Körperbewegung das höchste Streben seiner 
Kunst (L.-V. 4, S. 130). 

Ein etwaiger Hinweis auf- Konstruktionen für Körper in Dreiviertel¬ 
ansicht ist in den »Vier Büchern von menschlicher Proportion« nicht ent- 
halten. Aber das Buch gibt in seinen sämtlichen Teilen nur die Grund¬ 
lagen zu der Theorie Dürers, ohne den erfinderischen Geist an der Erwei¬ 
terung der angegebenen Schemata zu hemmen. Die Anwendung dieser 
Regeln und die Erfindung von Abweichungen steht jedem reifen Künstler 
frei, wie es Dürer selbst und auch diejenigen Maler bewiesen haben, denen 
das Buch Dürers im Original oder in den vielen Übersetzungen bekannt 
war. Etwaige deutliche Anknüpfungen an die Dürerschen Konstruktionen 
— außer bei Lucas van Leyden — glaube ich bei vielen Malern des 16. Jahr¬ 
hunderts wiederzufinden (z. B. bei »Adam und Eva« von C. Cornelisz van 
Haarlem. Amsterdam. Rijcksmuseum und bei der nacktliegenden Frauen- 
gestalt von Hendrick Golzius in »Vertumnus und Pomona«. Daselbst.) 

Es ist sehr wahrscheinlich, daß diese Meister direkt aus dem Dürer¬ 
schen Buche geschöpft haben, obwohl der im 16. Jahrhundert stark ent¬ 
wickelte italienische Einfluß auch auf andere im Süden verbreitete theore¬ 
tische Schriften hinweisen kann. Denn Dürer war nicht der Alleinerfinder 
der Proportionslehre und der damit eng verbundenen komplizierten Kon¬ 
struktionen für Einzelfiguren und Gruppenbilder. Seine Grundsätze schöpfte er 
aus den Schriften des L. B. Alberti, die damals noch nicht gedruckt waren, 
aber in zahlreichen Abschriften und mündlicher Überlieferung sehr ver¬ 
breitet gewesen sein müssen. Eine weitere Ausbildung und Vervollkomm¬ 
nung seiner Grundsätze verdankt Dürer den Studien Leonardo da Vincis. 
In allerengster Anknüpfung an dieselben steht eben unsere Figur des Pfeifers, 
worüber das folgende Zitat aus dem Malerbuche Leonardo da Vincis (S. 45) 


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368 


H. von Ochcnkowski, 


in der Zusammenstellung von W. v. Seydlitz (L.*V. io) genauere Auf¬ 
schlüsse erteilt. 

»Ruht eine Figur auf einem Fuß, so wird die Schulter der Stand- 
seite stets niedriger sein, als die andere, und die Halsgrube wird 
sich mitten über dem Standbein befinde n.« Wenn wir 
nun eine Vertikale über die Halsgrube des Pfeifers führen, so geht dieselbe 
durch die Mitte seines linken Knies. Weiter unten steht folgendes: »Die 
Körperlast eines Mannes, der auf einem Beine steht, wird stets über dem 
Mittelpunkt der Schwere so verteilt sein, daß die Gewichtsteile hüben und 
drüben gleich sind. Streckt er z. B. einen Arm vor die Brust, so muß er 
ebensoviel von seinem natürlichen Gewicht nach hinten ausladen.« Der 
ideelle Mittelpunkt der Schwere liegt hier ungefähr auf der eben erwähnten 
Vertikalen. Es ist deutlich zu sehen, wie stark die Figur mit dem Ober¬ 
körper nach rückwärts ausladet. »Reckt man einen Arm nach vorn, so 
tritt die Halsgrube über den Standfuß zurück; wird aber das eine Bein 
nach hinten gestreckt, so tritt die Halsgrube nach vom vor. Um so viel 
als die eine Seite durch das Ruhen kürzer wird, wird die gegenüberstehende 

länger.Pflege den Kopf nie ebendahin gewendet sein zu lassen, wohin 

sich die Brust dreht, noch den Arm in gleicher Richtung mit dem Bein 
gehen zu lassen.... Steht die Brust gerade nach vorn, so mach daß am 
Kopfe, wenn dieser sich zur Linken wendet, die rechtsseitigen Teile höher 
stehen, als die linksseitigen.... und steht er auf dem rechten Bein, so 
laß das Knie des linken sich einwärts biegen und den linken Fuß sich an 
der Außenseite etwas vom Boden erheben.« — Falls wir den letzten Satz 
auf den Pfeifer anwenden, der auf dem linken Bein ruht, so ist diese 
Gestalt durchwegs treu nach den eben zitierten Vorschriften Leonardos 
konstruiert. Somit kann kaum angenommen werden, daß diese Regeln für 
die zeichnerische Gestaltung einer auf einem Beine ruhenden Figur Dürer 
unbekannt waren; er hat sie wahrscheinlich durch Jacopo de Barbari im 
Jahre 1504/5 zur Kenntnis bekommen, was zu meiner Datierung des Bildes 
des leidenden Hiob einen weiteren Beitrag liefert. 

Zu den eben auf S. 366 flüchtig angegebenen Proportionsmaßen sind 
noch einzelne von Leonardo angegebene Maße hinzuzufügen, um die Ab¬ 
wesenheit von jeglichem »freien Schaffen« bei dieser Dürerschen Dreiviertel¬ 
figur vollends zu beweisen. Auf S. 41 der Seidlitzschen Zusammenstellung 
steht folgendes: »In der ersten Kindheit des Menschen ist die Schulterbreite 
gleich der Gesichtslänge; weiterhin gleich der Entfernung von der Schulter 
bis zum Ellbogen, bei gebogenem Arm; und ebenso gleich der Entfernung 
vom Daumen bis zum gebogenen Ellbogen. Sie ist gleich der Entfernung 
vom Ansatz der Scham bis zur Mitte des Knies, sowie der Entfernung zwi¬ 
schen diesem Kniegelenk und dem Fußgelenk. Diese Maße entsprechen 


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A. Dürers »Pfeifer und Trommler«. 


369 


beim Kinde jedesmal einer Kopflänge... beim Erwachsenen aber ent¬ 
sprechen sie zwei Kopflängen... Hat aber der Mensch erst das äußerste 
Maß seiner Größe erreicht, so hat jede der (beim Kinde) genannten Ent¬ 
fernungen ihre Länge verdoppelt....« 

Wie wir im Verlaufe der weiteren Darstellung ersehen werden, hat 
Dürer nicht nur die von Leonardo vorgeschriebene Konstruktion für die 
allgemeine Stellung der Figur des Pfeifers, sondern auch die eben zitierten 
einzelnen Maße benutzt. Bei meinen Bemühungen dies, trotz der Tracht, 
möglichst genau nachzuprüfen, habe ich durch die Mitte der Schulter¬ 
breite der Figur eine Vertikale geführt, deren oberer Endpunkt auf die 
Einbiegung in der Kontur der Kappe fällt (ungefähr auf die Mitte des 
Schädels). Der untere Endpunkt fällt dann auf die Mitte des linken Fu߬ 
gelenkes. Vom obersten Endpunkt dieser Linie bis auf die Grenzlinie der 
Kappe nach unten — d. h. bis an den Hals — abgemessen, ergibt die von 
Dürer fürdiese Figur angenommene Kopflänge mit voller Sicherheit, 
da: 1. dieser Abstand — gleich der Höhe der Kappe — auf der Körper¬ 
länge achtmal nach unten abgemessen, auf das Fußgelenk fällt, 2. von der 
Schulter, oberhalb des violetten gezackten Bandes, zweimal längs des Ober¬ 
armes nach unten abgemessen, auf den Endpunkt des Ellbogens trifft, 
(übrigens beträgt diese Kopflänge zweimal die größte Breite der linken 
Hand, auf einer Horizontalen abgemessen). Somit liegt in Punkt 2 eine 
Probe für die Richtigkeit der unter Punkt 1 angenommenen Kopflänge vor. 

Diese Kopflänge zweimal vom Ellbogen, dem Unterarme entlang, nach 
oben abgemessen, fällt auf einen Punkt, der bei dem gerade ausgestreckten 
Zeigefinger der linken Hand auf dessen Spitze fallen würde. Bei diesem 
Maße vermutete ich Variationen, wegen der Haltung der beiden Hände. 
Eine von diesen Variationen in der Unterarmlänge ist: Die Gesichts- 
länge (von der Kokarde der Kappe bis an die Kokarde des Bandes unter 
dem Kinn = 1/10 der Körperlänge) zweimal vom Ellbogen, dem Unterarme 
entlang, nach oben abgemessen, fällt auf den »Knorren« des Zeigefingers 
der linken Hand. Jetzt aber finden sich einige Schwierigkeiten, den als 
Ansatz »der Scham« angenommenen Punkt zu finden. Da Dürer die Ansatz- • 
punkte seiner Messungen durchweg durch eine Besonderheit der Kontur¬ 
führung in den äußeren, wie auch in den inneren Konturen seiner Figuren 
angibt, habe ich als Ansatz der Scham einen Punkt angenommen, der auf 
der unteren Kontur der Jacke liegt und zwar auf der untersten Ausbuchtung 
derselben. Wenn man von diesem Punkte zwei Kopflängen nach abwärts 
aufträgt, so fällt der Endpunkt derselben auf die Mitte des Knies (immer 
auf der Vertikalen der Körperlänge); zwei weitere Kopflängen nach unten 
aufgetragen fallen auf das Fußgelenk. Dasselbe gilt für das Spielbein. ■ 

Somit ist die Figur des Pfeifers in den letztgenannten Maßen nach 


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37 ° 


H. von Ochenkowski, 


den Vorschriften Leonardos konstruiert, die übrigen Maße dagegen scheinen 
von Dürer selbst erfunden und angewandt zu sein 4 ). Sein reger Geist war 
in dieser Hinsicht unermüdlich. Je nach der Kopfbedeckung und Körper¬ 
tracht bestimmte er die Einzelheiten in den Proportionen seiner Figuren 
jedesmal anders. Die Anführung eines markanten Beispieles wäre nicht 
ohne Interesse. So beträgt die Brustweite, bzw. Schulterbreite des Pfeifers 
nur 1/5 der gesamten Körperlänge (= zwei Gesichtslängen) der Verkürzung 
der Körperbreite wegen, die bei einer Dreivierteldrehung geringer ist, als 
bei einer Frontalansicht; denn bei einer Frontalansicht beträgt die Schulter¬ 
breite, nach den in dem Dürerschen Buche dargelegten Maßen, zwei Kopf- 
längen (= 2 x 1/8 - 1/4 der gesamten Körperlänge: *vund die prust mach 
ich ober die achsel preit ein 4 teil«), im Gegensatz zu Leonardo, der bei 
einem erwachsenen Manne die Schulterbreite, bei Frontalansicht, auf «/s der 
Körperlänge bestimmt (L.-V. 11). Manche andere Variationen und Zu¬ 
sammenklänge lassen sich dadurch erklären, daß Dürer, nachdem er die 
Kopflänge, den Spalt, die Kniee u. a. für eine gewisse Figur bestimmt hatte, 
mit diesen Maßen im Zirkel mehrere Bögen beschrieb, um damit Anhalts¬ 
punkte für das Hineinzeichnen der Einzelheiten der Körperglieder und der 
Tracht zu erhalten. Dasselbe Verfahren ist auch bei der Komposition von 
den Details des Kopfes und der Kopftracht zu vermuten. Diese Ver¬ 
mutung basiere ich auf einigen seltenen Überresten von Bögen in manchen 
eigenhändigen Zeichnungen Dürers für seine Proportionsfiguren (Abb. L. 
120, L. 226 u. a.). Es ist mir jedoch nur in einzelnen Fällen gelungen, die 
Ansatzpunkte dieser Bögen zu-ermitteln, z. B. bei der Komposition der Ein¬ 
zelheiten des Kopfes und der Falten des Gewandes bei der Figur des 
Trommlers. 

Mein Hinweis auf Leonardo scheint in diesem Falle das Vorhanden¬ 
sein eines Schemas für die Figur des Pfeifers deutlich zu beweisen. Falls 
nun diese Gestalt aut eine mit der größten Mühe an eine Dreiviertelfigur 
angepaßte Proportionenausrechnung deutet, so ist damit schon eine Wahr¬ 
scheinlichkeit gegeben, daß auch die übrigen Figuren in dem Bilde des 
leidenden Hiobs konstruiert sind. Bei den von mir vorgenommenen Messun¬ 
gen habe ich bei der Figur Dürers (der Trommler) die Entfernung von der 


») Damit sei auf die Proportionszcichnung Dürers hingewiesen, die in seinen »Vier 
Büchern» auf S. VNIIII abgebildet ist: »Ein bewrischer man von siben haübt lengen«. 
(L.-V. 12.) Die sechs Linien, die die Beugung der Schulter nach unten und der Schenkel 
nach oben angeben, spielen auch bei der Figur des Trommlers eine wichtige Rolle und 
sind durch die Achsel zu führen, durch die Schulterblätter, die beiden Gürtel, weiter durch 
den Rand der Jacke und die Faltierung der Hose am Gesäß. Jedoch vermochte ich bis 
dahin nicht zu ermitteln, wo die Endpunkte dieser Linien zu bestimmen wären, da die 
Glieder von der Kleidung bedeckt sind. 


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A. Dürers »Pfeifer und Trommler«. 


371 


äußersten Begrenzung des Kinnes (Teilpunkt des Bartes) bis zur äußersten 
Begrenzung des Schädels (die durch eine dunkle Linie quer an der Kappe 
angegeben ist) als Kopflänge angenommen. Diese Kopflänge achtmal von 
der obersten Begrenzung der Kappe abgemessen, fällt auf das Fußgelenk 
des Standbeines und ergibt somit die Körperlänge. Die Mittellinie des Ge¬ 
sichtes nach oben verlängert bildet mit der Begrenzung der Kappe den 
obersten Punkt der Vertikallinie der Körperlänge. 

Aus dem Obigen ergibt sich, daß in den Konstruktionen für einzelne 
Figuren überall Variationen zu den, in den »vier Büchern von menschlicher 
Proportion« angegebenen Grundrissen vorhanden sind. Somit ist das rich¬ 
tige Schema schwer zu ermitteln, es bedeutet aber keineswegs, daß ein 
»nicht passen« der von Dürer beschriebenen, oder in Zeichnung ausgeführten 
Proportionen der vollständigen Abwesenheit eines Schemas gleichkomme. 
Vgl. Leonardo (L.-V. 10, S. 41): »Wolltest du aber alle deine Figuren nach 
einem Maß anfertigen, so sieht man das in der Natur nicht«. Überhaupt 
liegt die größte Mannigfaltigkeit in der Gestaltung einzelner Glieder und 
Bewegungen dem Buche Leonardos zugrunde. Diese Mannigfaltigkeit ist 
auch aus sämtlichen von Dürer ausgeführten Figuren abzulesen 5 ). 


5 ) Die von Justi erwähnten und von Klaiber ausführlich besprochenen Schwierig¬ 
keiten, die sich bei dem Nachprüfen und Nachmessen der Dürerschen Konstruktionen 
ergeben, sind nicht zu leugnen. Sie bestehen in der Tat, sind jedoch nicht unüberwind¬ 
lich. Eine der größten Schwierigkeiten bietet der große Maßstab der Gemälde, die als 
direktes Material zum Nachmessen nicht benutzt werden dürfen, sondern nur zum Nach¬ 
prüfen der an kleinen Abbildungen vorgenommenen Messungen dienen können. Manche 
Irrtümer sind dabei nicht zu vermeiden, da die kleinste Differenz, von 1 mm oder weniger, 
die auf einer kleinen Abbildung ohne jede Bedeutung ist, bei dem Nachprüfen am Original 
oder gar an einer Photographie großen Maßstabes zu einer ersichtlichen Ungenauigkeit 
wird. 

Infolgedessen behauptet man dann, daß das von Dürer angegebene oder von einem 
Messenden vermutete Schema hier nicht zutrifft, oder gar nicht vorhanden ist. Das sei 
keineswegs der Fall. Der Irrtum liegt am fehlerhaften Nachmessen und ein wiederholtes 
Nachprüfen, Heraussuchen und Erfinden der richtigen Anhaltspunkte für den Zirkel er¬ 
gibt schließlich positive Resultate. Ich habe die ersten Messungsversuche an diesen Zeich¬ 
nungen von Dürer und Leonardo vorgenommen, auf denen eine gewisse Anzahl von An¬ 
haltspunkten, welche die beiden Künstler selbst aufgetragen haben, noch jetzt ersicht¬ 
lich ist. Diese Punkte sind verhältnismäßig zahlreich, sind aber oft vom Zeichner weg¬ 
gewischt oder durch Linien und Schatten verdeckt worden und erst für ein durch längere 
Übung geschultes Auge auffindbar. Da wo sie gänzlich verwischt oder weggewischt sind, 
sind sie durch eine Absonderung in der Linienführung bezeichnet (einen Schnörkel, oder 
eine Einbiegung in der Kontur, einen ansetzenden Schatten usw.). 

Ein Beweis dazu, daß Dürer auch in den komplizierten Stellungen und Drehungen 
seiner Figuren ein Konstruktionsschema benutzte, liegt in der Zeichnung der »Liegenden 
Nackten», auch »Amymona« genannt, (Albertina) vom Jahre 1501 vor (Justi S. 13). 
Diese Zeichnung weist eine gewisse Anzahl von Zirkelpunkten auf, die der Deutlichkeit 

Repertorium für Kunstwissenschaft XXXV 25 


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372 


H. von Ochenkowski, 


Etwaige Versuche einer, der bei der Figur des Trommlers angewandten, 
ähnlichen Konstruktion (außer der links vorne in dem Stiche die »Sechs 

Landsknechte« B. 88 stehendea Gestalt) sind bei dem jungen Dürer nicht 

•• 

nachzuweisen; erst im Jahre 1504 entsteht der in Dreiecken konstruierte 
Mohrenkönig aus der »Anbetung der Könige« (Uffizi). Dagegen sind häufige 
Versuche eines geometrischen Schemas für die in Dreiviertelansicht ge¬ 
drehten Figuren — wie die des Pfeifers und des Weibes (Jabachaltar) — 
schon an dem nackten Körper der Venus vom »Traum des Doktors« B. 76, 
an der zur äußerst Rechten stehenden Figur der »Sechs Landsknechte« 
B. 88, am Jüngling aus dem Stiche »Der Spaziergang« B. 94 und anderen 
nachzuweisen, sowie in sämtlichen Gemälden, Holzschnitten und Zeich¬ 
nungen, deren Entstehung zwischen 1495 und 1504 gesichert ist. Jedoch 
läßt sich dort nur ein undeutliches Schema nachweisen, welches an den 
»bewrischen man« anknüpft; die oben erwähnten sechs Querlinien aus der¬ 
selben Zeichnung und, ferner, ein ausgesprochenes Parallelogramm als 
Konstruktion des Oberkörpers, kommen zum ersten Male bei den Figuren 
des Pfeifers und^des Weibes vor und bei einigen Gestalten aus der Grünen 
Passion (1504 und 1505) 6 ). 

Im Jahre 1504 kam Dürer — vielleicht mit der Hilfe Jacopo de Bar¬ 
baris (L.-V. 7) — zu der ersten Lösung des Problems der Proportionen 
eines männlichen und weiblichen Körpers; der Beweis für die sorgfältig 
ausgerechneten Längs- und Breitemaße für die Vorderansicht liegt in der 
Lannaschen Zeichnung L. 173 (datiert 1504 und signiert) und in dem Stiche 
»Adam und Eva« B. 1 aus demselben Jahre. Gleich darauf erfand Dürer 
die Tiefenmaße für einen Körper in Dreiviertelstellung und sollte dieselben 
triumphierend bei der Komposition der Gestalten des »Leidenden Hiob« 
anwenden. 

An Stelle der unbeholfenen Versuche, das Dreidimensionale wiederzu¬ 


wegen mit einem kleinen Kreis umgeben sind. Augenscheinlich wurde diese Zeichnung 
von Dürer zu Konstruktionsstudien benutzt. Eine nicht geringere Anzahl von Punkten 
erhalten die Tafeln der »Grünen Passion«. Als ich, von den entsprechenden Figuren der 
Grünen Passion ausgehend, die Sicherheit bekam, daß auch die Flügel des Jabachschen 
Altars konstruiert sind, zog ich die »Vier Bücher« von Dürer und das »Malerbuch« Leonardos 
zur Hilfe heran; nicht genau passende Messungen prüfte ich solange nach, bis ich 
auf das richtige, ohne Zweifel diesen Figuren zugrunde liegende Schema stieß. Nun scheint 
mir der Text dieses Aufsatzes mit Sicherheit nachzuweisen, daß das Verhältnis der Kopf 
und Gesichtslänge zur Körperlänge, ferner zur Länge der Arme und Beine und zur Schulter¬ 
breite kein »freies Schaßen« ist und daß die Analogie der Breitmaße mit den, auf die 
Proportionszeichnung des »bevrischen mannes« (L.-V. 12 , S. VNIIII) von Dürer auf¬ 
getragenen Maßen einen weiteren Beleg für meine Behauptung bildet. 

*) Die Eigenhändigkeit der Ausführung und die Datierung der Grünen Passion 
wurde von J. Meder bewiesen (L.-V. 8). 


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A. Dürers »Pfeifer und Trommler«. 


373 


geben, treten nun im Jahre 1504 die in kühner Drehung in die Tiefe gehen¬ 
den Figuren auf den Stichen: »Apollo und Diana« B. 68 und die »Satyr- 
familie« B. 69 (1505). (Vgl. mit B. 29 »Hl. Anna und Maria« und B. 87 
»Der Fahnenträger«.) Bei der Anwendung der neuerfundenen Konstruk¬ 
tionsschemen erreichte Dürer den Höhepunkt in den Figuren der »Grünen 
Passion« i 5 ° 4/5 (Albertina). Da wurde abwechselnd ein Rechteck (z. B. 
die Figur des Heilands in der Geißelung L. 486), ein Dreieck (z. B. der 
rechts vom stehende Soldat in der Kreuzigung L. 487) und ein Parallelo¬ 
gramm (der Henker rechts vom in der Kreuztragung L. 485) angewandt. 
Für unser Thema sind die zwei letzterwähnten Figuren von Interesse, be¬ 
sonders die des Henkers, welcher der Drehung des Körpers, sowie der Tracht 
und den Zügen des Gesichtes nach, dem Pfeifer aus dem Jabachschen Altäre 
sehr nahesteht. Der Konstruktion dieser beiden Figuren liegt dasselbe 
Prinzip eines mit Trapezoiden verbundenen Parallelogrammes zugrunde, 
welches bei der Figur des Henkers eine äußerst glückliche Lösung fand. 

Auf diese Weise bildet das Gemälde des leidenden Hiob eine Grenze 
von zwei Epochen in dem Dürerschen Studium über die menschlichen Pro¬ 
portionen, die er mit Ausdauer und Genialität sein ganzes Leben lang ver¬ 
folgte. Eine weitere Bedeutung des Bildes für die eigenartige Entwicklung 
Dürers erblicke ich in der Art, wie er die Züge des Trommlers zu individu¬ 
alisieren verstand, obwohl der Kopf durch die Strenge der Konstruktion 
mit dem Körper auf eine Art verbunden ist, die jeden integralen Zusammen¬ 
hang scheinbar verhindern könnte; wenn auch die einzelnen Gesichts¬ 
teile streng in das aus Spitzwinkeln zusammengestellte Konstruktions¬ 
schema hineingezeichnet sind, ist doch das Gesichtsspiel nicht zu verkennen: 
Der Trommler lauscht der Melodie des Pfeifers, um ihn richtig auf seinem 
Instrument begleiten zu köhnen. Nicht weniger auffallend sind der Aus¬ 
druck, ja die gänzlich verschiedenen Gebärden bei den andern drei Ge¬ 
sichtern und geradezu genial erscheint die Konstruktion des nackten, kom¬ 
pliziert gekrümmten Körpers des Hiob. 

Falls Dürer auf diese seine Leistung stolz war, hatte er hierzu volles 
Recht; die Lösung der Probleme, die er sich hier stellte, überwand er nur 
mit Mühe, dennoch befriedigte ihn auch diese Leistung nur für kurze 
Zeitdauer. Die Art der Konstruktion des Brustkorbes wechselt schon in 
der Skizze zum linken Schächer (Lasierte Federzeichnung. 1505. Albertina 
L. 491), die Winkelpunkte des Parallelogramms setzen hier anders an und 
zwar in einer Weise, die ihrerseits wieder als Entwicklung der neu erfundenen 
und im Jabachschen Altäre und in der Grünen Passion zum ersten Male 
angewandten Konstruktion zu betrachten ist. Aus dem zu der Figur des 
Pfeifers angewandten Schema kommt mit einigen Variationen und bedeu¬ 
tender Vereinfachung der Adam des Prado (1507) heraus. (Die ganze Ge- 

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374 


H. von Ochenkowski, 


stalt, von den Schultern bis zu den Füßen, ist in ein Parallelogramm ein¬ 
geschlossen). Der Figur des nacktsitzenden Hiob folgt die der Nymphe 
in der Satyrfamilie (1505) B. 69, bald darauf erfindet Dürer die kompli¬ 
ziertesten Konstruktionen für nackte, in Verkürzung gegebene Körper im 
»Marter der Zehntausend« (1507). 

Außer des Konstruktionschemas für die Figuren des Bildes des leiden¬ 
den Hiob sind auch in der Linienführung manche Anklänge an gesicherte 
Werke Dürers nachzuweisen; die Körpersilhouette des Pfeifers, besonders 
aber sein rechter Umriß ist ähnlich charakterisiert, wie die entsprechenden 
Momente in der Gestalt des Henkers im »Marter der hl. Katharina« (Holz- 
schnitt) B. 120, oder in den Stichen: »Die Eifersucht« B. 73 (der rechte 
Umriß der Herkulesgestalt) und »Die kleine Fortuna« B. 78. Besonders 
zu beachten ist bei diesen drei Figuren, wie bei der Figur des Pfeifers, die 
lineare Behandlung der Gürtelgegend mit dem stark ausgebuchteten schiefen 
Bauchmuskel (abdominis obliquus externus). Wie gänzlich anders die 
Schüler Dürers arbeiteten, ist aus der Figur des Henkers, auf dem 
rechten Flügel des Helleraltares, »Marter der hl. Katharina« (Frankfurt, 
Städtisches Museum), die in der Stellung den eben erwähnten ähnlich 
ist, ersichtlich. 

Die Art der Behandlung der Köpfe des Pfeifers und des den Eimer 
leerenden Weibes ist in der Linienführung durchaus Dürerisch (vgl. mit 
dem Laute spielenden Engel (1497, L. 73), mit dem Kopfe eines bartlosen 
Mannes (Zchng. Bremen, Abb. Dürer Society Bd. 8, Taf. 9), mit Elsbeth 
Tücher (Cassel) oder mit der Nürnberger Trachten-Figur (Albertina L. 463). 

Es scheint damit bewiesen zu sein, daß die zeichnerische Komposition 
des Bildes von Dürers eigener Hand stammt und daß das Bild des leidenden 
Hiob nicht vor 1504 entstehen konnte. 

Ich möchte nochmals darauf zurückkommen, daß wir in der Figur 
des Trommlers wirklich ein Selbstbildnis vor uns haben, und da ist es doch 
kaum anzunehmen, daß Dürer, welcher mit der Konstruktion zu der Zeich¬ 
nung dieses Bildes einen Triumph seines Könnens feierte, die farbige Aus¬ 
führung gänzlich seinen Schülern überwiesen hätte. Eine genaue Unter¬ 
suchung weist das Gegenteil auf, was man sogar aus den Details von minderer 
Bedeutung, wie dem Eimer oder den am Boden zerstreuten Strohhalmen be¬ 
urteilen kann. 

Es ist nicht zu leugnen, daß die flüchtige, breite Malweise etwas be¬ 
fremdend wirkt, jedoch ist es andererseits eine Tatsache, daß Dürer seine 
Behandlungsart der malerischen Fläche sehr oft änderte. So gibt er z. B. 
im »Marter der Zehntausend« (1508) die Licht- und Schattenunterschiede 
in breiten Flächen an — soweit es die Miniaturgestalten gestatten —, ob- 


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A. DUrers »Pfeifer und Trommler«. 


375 


wohl er drei Jahre später im »Allerheiligenbilde« bei größeren Gestalten 
wieder zum fleißigen Stricheln und feinstem Zeichnen der Schatten mit dem 
Pinsel zurückkehrt. Ich beabsichtige nicht zu behaupten, daß der Anteil 
eines Gehilfen bei der Ausführung des Bildes des leidenden Hiob gänzlich 
ausgeschlossen wäre. Ein solcher ist schon an den sorgfältig in mehreren 
Schichten aufgetragenen Untermalungen der breiteren Flächen zu ver¬ 
muten, so bei dem hellroten Mantel Dürers, bei der Hose des Pfeifers, an 
den Kappen usw. Doch in der Hauptsache glaube ich hier Dürers eigene 
Hand nachweisen zu können. 

In der Kappe des Trommlers erkennen wir die von Dürer beliebte 
Kopfbedeckung (eine altertümliche Kappe mit herabfallendem Zipfel und 
einer Frange über dem linken Ohr). Die Art der farbigen Wiedergabe des 
mitteldicken, dunkelgrauen Stoffes deutet auf eine der Kopfbedeckung 
Wohlgemuts (Das Bildnis Wohlgemuts von A. Dürer. Nürnberg. Ger¬ 
manisches Museum, früher München, Pinakothek) ähnliche Behandlung. 
Dürer benutzt hier ein eigenes Verfahren, indem er die Lichter nicht mit 
heller Farbe dick auflegt, sondern die lichtere Grundierung durchschimmern 
läßt, wie es beim Temperaverfahren üblich ist; eine Neuerung, die verein¬ 
zelt in Dürers Technik bleibt, sind die feinsten Schattierungen mit einem 
feingespitztem Holz oder mit einer Nadel in der nassen Farbfläcbe. Das 
Gesicht Dürers ist hier einige Jahre älter, als auf dem Madrider Selbst¬ 
bildnisse (1498), die Locken fallen freier auf die Schulter herab, der Mund 
ist breiter, treuer nach dem Modell wiedergegeben, nicht etwa so, wie er 
ihn, in seinen Selbstbildnissen vom Jahre 1493 und 1498, in einer etwas 
zierlichen Weise zusammenzog. Und doch ist der Ausdruck des Mundes 
mit dem aus dem Madrider Selbstbildnisse identisch. Der Bart ist länger, 
dünner und weniger sorgfältig gekämmt, auch nur mit wenigen Einzel¬ 
strichen auf der braunen Untermalung angegeben. Über dem linken Auge 
ist die seidenweiche Augenbraue in geschwungenen Bogenlinien mit dem 
Pinsel gezeichnet (die rechte ist etwas härter behandelt); es ist die feine 
Dürersche Technik, die von seiner Jugend ab,' bis auf die Porträtzeich¬ 
nungen aus der niederländischen Reise nachzuweisen ist. Der stark ge¬ 
bogene Nasenrücken ist deutlich angegeben, soweit es bei einer en face- 
Ansicht möglich ist, ja fast noch deutlicher, als bei dem berühmten Münch¬ 
ner Selbstbildnisse. Die Hände sind nicht die Dürerschen, die bekanntlich 
auffallend schön gewesen, sie sind sichtlich ohne ein sorgfältiges Natur¬ 
studium, vielmehr nach dem ausgerechneten Maße der Proportion gebildet. 
Der hellrote Mantel Dürers ist etwas steif in den Falten, besonders an der 
Brust, was auch auf die von Dürer angewandte Konstruktion zurückzu- 
führen ist, da die Endpunkte der einzelnen Falten in gewisse festgegebene 
Punkte der geometrischen Vorzeichnung fallen. Das Selbstbildnis entbehrt 


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376 


H. von Ochenkowski, 


auch nicht der gewöhnlichen Fehler des Meisters; die beschattete Gesichts¬ 
hälfte liegt tiefer, was besonders am Auge störend wirkt, die Irissterne 
sind unrichtig eingesetzt, wodurch der Blick schielend wirkt. 

Wenn auch für unser Thema die Figuren des Pfeifers und Trommlers 
das hauptsächliche Interesse bieten, halte ich es dennoch nicht für un¬ 
wichtig, einige weitere Beobachtungen über das Gesamtbild folgen zu lassen. 
So ist bei der Figur des Pfeifers, in der ich das Bildnis von Dürers Schwager 
Hans Frey zu erkennen glaube, die meisterhafte Wiedergabe des durch¬ 
sichtigen Hemdes zu beachten, welches aus dem am Ellbogen geschlitzten 
Ärmel herausschlüpft; ferner das dünne Kopf- und Schultertuch der Frau, 
welches die Fleischfarbe in der feinsten Weise durchschimmern läßt. Es 
sind weiter als unverkennbar eigenhändig zu betrachten: Die Wiedergabe 
des Holzes der Faßdauben, die, in der nächsten Nähe betrachtet, das Geäder 
des Holzes in staunlicher, miniaturartiger Ausführung aufweist, der durch¬ 
sichtige auf den Schultern Hiobs brausend zersteubende Wasserstrom — 
der allerdings auch nur in der Nähe betrachtet zur vollen Geltung kommt. 
Schließlich fällt auch die malerische Ausführung der frei und kühn hin- 
geworfenen ährentragenden Halme am Boden auf. Dies konnte weder ein 
Gehilfe, noch ein Maler von der Begabung eines Hans von Kulmbach, auch 
nicht ir^ der reifsten Periode seines Schaffens (Johanneszyklus, Krakau, 
Florianikirche) leisten. 

Obwohl Dürer sekundäre Gegenstände in seinem Bilde derart fleißig 
und gewissenhaft ausführte, ist es kaum anzunehmen, daß er für den Körper 
Hiobs, der, rein kompositionell genommen, schon durch die gekrümmte 
Stellung seinem damaligen Können fast unüberwindliche Schwierigkeiten 
bot, nur die Zeichnung geliefert hätte; die Malweise, die von der farbigen 
Ausführung des Kölner Bildes zu unterscheiden ist, deutet auf einen Anteil 
der Schüler, deren Arbeit der Meister allerdings selbst stark übergangen 
hätte. So ist das dünne Haar Hiobs mit feinen Pinselstrichen gezeichnet, 
ohne Untermalung, was an sich eine Schwierigkeit bietet; diese Technik 
hatte Dürer öfters bei Kinderhaaren angewandt. Einige mit dem Pinsel 
gezeichnete liniierte Schatten auf der Nase und am Kinn des Weibes, am 
Unterkörper Hiobs und einige Überreste von Häkchen an seinem linken 
Arm, deuten auf die eigenhändige Technik Dürers, wie er sie schon in den 
neunziger Jahren in seinen Federzeichnungen benutzte. Stellenweise ist 
die Technik in der Pinselführung sehr geübt, so an den abwechselnd mit 
tiefem und hellem Braun übergangenen Umrissen, besonders aber an den 
eigentümlichen Schnörkeln der inneren Handfläche Hiobs. 

Freilich steht das gesamte technische Verfahren weit hinter der Fein¬ 
heit eines »Allerheiligenbildes«, womit eben »der Jabachsche Altar ein treffen¬ 
des Beispiel für eine weniger gut bezahlte, darum auch weniger ausgeführte 


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A. Dürers »Pfeifer und Trommler«. 


377 


Arbeit« (H. Weizsäcker L.-V. 6) ist, aber »Dürer bleibt Dürer — sagt Weiz¬ 
säcker weiter —, und in der Sicherheit und Leichtigkeit, wie in dem echten 
künstlerischen Feingefühl, womit auch hier die Hand dem schaffenden 
Ingenium gehorcht, zeigt sich nicht destoweniger das positive Leistungs¬ 
vermögen des Meisters in seinem ganzen Umfang, gerade so, wie etwa in 
einer leichten Federskizze von Dürers Hand, die Gewalt seiner Zeichen- 
kunst vollauf zum Ausdruck kommen kann«. 

Ich habe nicht Gelegenheit gehabt, die zwei Bilder aus der Münchner 
Pinakothek, je zwei Heilige darstellend, ohne Glas zu untersuchen; dennoch 
glaube ich auch hier dasselbe »schaffende Ingenium« zu erkennen: Der Ent¬ 
wurf scheint den erfinderischen Geist des Meisters selbst aufzuweisen, ob¬ 
wohl die Figuren weniger geistreich als in dem Bilde des leidenden Hiob 

9 

komponiert sind; die Farbenpracht der Gewänder kann nicht von einem 
Schüler oder Gehilfen herrühren. Der Einteilung von Licht und Schatten 
liegt dasselbe Farbenproblem zugrunde, welches später in den sog. »Vier 
Aposteln« 1526 (München, Pinakothek) zu einer vollkommenen Durch¬ 
führung kam. Hier entwickelt Dürer die ganze Tiefe des Raumes mittels 
der Helligkeitsunterschiede, indem er von dem Schatten links — dem Ge- 
wände des Hl. Johannes — ausgehend, in die Helligkeit gelangt, die ihren 
höchsten Grad im Schlüssel des Petrus und in den gehöhten Lichtern seines 
Schädels erreicht. Dasselbe Problem ist in dem Gegenbilde umgekehrt be¬ 
handelt; da arbeitet Dürer von der Helligkeit — Rücken des Marcus — 
allmählich in die Dunkelheit hinein. Treffend eingesetzte einzelne Lichter 
mitten im Bildraume gleichen die Licht- und Schattenunterschiede aus. 

Das gleiche koloristische Prinzip ist auf den Innenflügeln des Jabach- 
schen Altars angestrebt. Auch hier sind die Helligkeitswerte nicht innerhalb 
einer Figur, sondern auf je zwei Figuren verteilt gedacht. Von dem schweren 
Schatten des Lazarusgewandes rechts nimmt die Leuchtkraft der Farben 
gegen die Tiefe des Bildes allmählich zu. Das Umgekehrte ist in dem Gegen¬ 
bilde der Fall, wo das Grün vom Gewände Josephs am stärksten leuchtet 
und am Goldgewande des Joachim in braune Schatten übergeht (deren 
Tiefe, nach der Restaurierung des Bildes, etwas abgenommen zu haben 
scheint). 

Indes zeigt die mangelhafte Verteilung der Zwischenlichter, daß das¬ 
selbe Problem hier nicht mit derselben Klarheit und Sicherheit durch¬ 
geführt ist, wie in den Bildern der »Vier Apostel«; die helle Farbfläche an 
der Brust des Lazarus fällt zu sehr nach rechts, ebenso ist der mittlere grüne 
Schatten im Gegenbilde zu tief, wodurch die Assimilation zwischen Licht 
und Schatten in beiden Gemälden undeutlich erscheint. 

Alles dieses bestimmt mich, sowohl die zeichnerische, wie auch die 
farbige Komposition in den sämtlichen Teilen des Jabachschen Altares (Köln, 


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H. von Ochenkowski, A. Dürers »Pfeifer und Trommler«. 


Frankfurt, München) für eine eigenhändige Leistung Dürers zu halten. Ich 
glaube nachgewiesen zu haben, daß die farbige Ausführung des Bildes 
»Pfeifer und Trommler« und die der Innenflügel von Dürers eigener Hand 
herrührt. Der Anteil des Meisters an dem vierten Bilde ist so beträchtlich, 
daß eine Einreihung dieses Gemäldes in die Zahl der Werkstattbilder un¬ 
begründet erscheint. 


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Hans Holbein d. J. und Dr. Johann Fabri. 

Von Hans Koegler. 

Das einzige, was bisher über Beziehungen Holbeins zu Dr. Johann 
Fabri, Generalvikar von Konstanz, später Bischof von Wien, ermittelt 
werden konnte, ist, daß Holbein mit Dr. Johann Fabri im Herbst 1523 an 
einem bisher noch nicht genauer bekannten Orte zusammen war und daß 
ihm Fabri einen Brief oder Gruß oder ein Geschenk an Erasmus von Rotter¬ 
dam nach Basel mitgab und daß aus diesem Anlaß von Erasmus ein freund¬ 
liches Wort über Holbein gefallen ist, das zeigt, daß das Verhältnis des Eras¬ 
mus zu Holbein ursprünglich ein gutes war. Der Briefwechsel Fabris, dem 
jetzt in Dr. Ignaz Staub in Einsiedeln ein Biograph *) erwächst, soll aus 
der uns interessierenden Zeit noch nicht vollständig erforscht sein, aber es 
kann jetzt schon für sehr wahrscheinlich gelten, daß Fabri seinen Brief oder 
Gruß an Erasmus von irgendwo aus der Bodenseegegend schickte. 

Ganz ausdrücklich ist es zwar nicht gesagt, daß es der Maler Holbein 
war, der den Gruß an Erasmus überbracht hatte, der Überbringer erscheint 
nur unter dem latinisierten Namen »Olpeius« und wird gleichzeitig von 
Erasmus als Freund, »homo amicus«, bezeichnet. Wir wissen aber, daß 
Erasmus einerseits den Maler Holbein »Olpeius« schrieb, und daß anderseits 
ein zweiter Olpeius, der in der Korrespondenz des Erasmus gelegentlich 
auftaucht, nämlich der Severinus Olpeius, hier nicht in Betracht kommen 
kann. 

Die Nachricht, die uns interessiert, steht in einem Briefe des Erasmus 
an Johann Fabri, der in den Basler Ausgaben des Opus Epistolarum Erasmi 
Roterodami von 1529, 1538 und 1558 fehlt. Der Brief ist zwar von Adalbert 
Horawitz in seinen »Erasmiana II.« in den Wiener Sitzungsberichten 95 
(1880), Seite 6oo, als Nr. V veröffentlicht worden, aber nach einem auch 
sonst deutlich mangelhaften Manuskript in dem Gothaer Kodex A. 399, 
wo der für uns wichtige Name des Überbringers des Grußes an Erasmus 
»Oporinus« lautet. Horawitz notiert dazu: Oporinus, der bekannte Basler 

*) Ein Teil, bis August 1532, als Dissertation der Universität Freiburg in der Schweiz 
1911 erschienen. Pater I. Staub verdanke ich mehrere freundliche Mitteilungen über Fabri. 


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Hans Kocglcr, 


Verleger. Johannes Oporinus stand aber damals erst im 17. Lebensjahr, 
ihn hätte Erasmus nicht Freund genannt. Oporinus ist aber überhaupt eine 
falsche Lesart, denn, wie ich der wertvollen und ausführlichen Mitteilung 
von Mister P. S. Allen in Oxford verdanke, gibt es in Gotha in dem Kodex 
B. 26 noch ein besseres Manuskript, das von Vitus Warbeck geschrieben 
wurde und worin der Name des Überbringers »Olpenus« lautet. Außer¬ 
dem gibt es von dem Briefe schon einen alten, offenbar ziemlich gleichzeitigen 
Druck, der Horawitz entgangen ist und worin der Name des Überbringers 
auch nicht Oporinus, sondern mit leichter Abweichung vom Kodex B. 26 
*> O 1 p e i u s « heißt. Der Titel des alten Druckes lautet: »Iudicium / 
Erasmi Alberi, de Spongia / Erasmi Roterod.... / Epistola Erasmi Ro- 
tero. / ad Fabrum Const. Vicarium. / Epistola M. Lutheri ad / amicum« ... 
Das Büchlein trägt weder Druckort noch Druckjahr, ist von Oktavformat 
und acht Blätter stark (Exemplare Zürich Stadt B. und London, Brit. Mus.). 
Da der Brief im Gothaer Manuskript A. 399 auch sonst mangelhaft ist (es 
fehlen zweimal ganze Zeilen), so scheidet die Lesart Oporinus aus; würde 
die Lesart Olpenus die richtigste sein, so würde das ja nur noch viel mehr 
für Holbein sprechen; ich halte mich aber an die mir in dem alten Druck 
vorliegende Lesart Olpeius. Als Datum des Briefes steht in dem alten Druck: 
Basilaeae Kal. Decemb. Anno M. D. XXIIII, also 1524, wenn nicht der erste 
der vier römischen Einser überhaupt nur eine unbeabsichtigte Unreinheit 
des Typensatzes ist. In den beiden Gothaer Manuskripten steht: XI. Kal. 
Decemb. 1523, also der 21. November 1523. Daß dieses Datum richtig ist, 
kann aus dem Inhalt des Briefes, aus den Angaben des Erasmus über teils 
erledigte, teils begonnene, teils beabsichtigte schriftstellerische Arbeiten 
bewiesen werden, auch die Nachricht über Murners Rückkehr aus England 
stimmt dazu. 

Uns interessiert hier nur der Anfang des Briefes des Erasmus, der nach 
dem alten Druck zitiert sei: »Reverendo Domino, Joanni Fabro, Canonico 
et Vicario Constaptien. domino meo plurimum obseruando.« — »Salutem J ), 
vir amantißime, ex tua salutatione quam mihi per Olpeium misisti, 
melius habui. Erat enim accurata, et veniebat ab amico, et per homi • 
nem amicum. Spongiarum rursus tria milia sunt excusa, sic Visum 
est Frobenio. . . .« etc. 

Ist nun der Überbringer Olpeius wirklich Hans Holbein? Wie sprach¬ 
lich aus Olpenius oder Olpenus, das man eher erwarten würde, Olpeius werden 
konnte, weiß ich freilich nicht, aber man nimmt in der Fachliteratur die 
Erasmische Schreibweise Olpeius für Holbein mit guten Gründen an. P. S. 


2 ) In dem Gothaer Kodex A. 399 (siehe auch bei Horawitz) heißt es: »Salve vir 
optime. Ex tua salutatione, quam mihi per Oporinum misisti, melius habui. . . .♦ 


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Hans Holbein d. J. und Dr. Johann Fabri. 


3*» 


Allen teilt mir mit, daß er die Schreibweise Olpeius für Hans Holbein d. J. 
handschriftlich nur aus einer Stelle kenne, aus einem Briefe des 
Erasmus an Bonifacius Amerbach in dem Basler Manuskript A. N. III, 15 
S. 47. Der Brief ist aus Freiburg vom 10. April 1535 datiert, doch soll das 
Datum unrichtig für 1533 stehen. Die Stelle mit den höchst unfreundlichen 
Äußerungen des Erasmus über Olpeius ist von Dr. C. Chr. Bernoulli in 
Nr. 296 der Basler Nachrichten 1902 veröffentlicht und in der Erläuterung 
auf Hans Holbein bezogen worden, was sehr viel Wahrscheinliches für sich 
hat, denn von einem anderen Olpeius wissen wir nicht, daß er in Antwerpen 
und in England gewesen sei. Erasmus schreibt da an Amerbach: *Sub- 
ornant te patronum, cui uni sciunt me nihil posse negare. Sic Olpeius per 
te extorsit litteras in Angliam. At is resedit Antuerpiae supra mensem, 
diutius mansurus, si invenisset fatuos. In Anglia decepit eos, quibus fuerat 
commendatus.« In der Verdeutschung von Bernoulli: »Dich stellen sie als 
Fürsprecher an, denn sie wissen, daß du der Einzige bist, dem ich nichts ab- 
schlagen kann. So hat mir Olpeius (= Holbein) durch dich einen (Emp- 
fehlungs-) Brief nach England abgerungen; aber er verweilte doch in Ant¬ 
werpen einen Monat und wäre noch länger geblieben, wenn er (dort) Toren 
gefunden hätte. In England hat er die getäuscht, an die er empfohlen 
worden war.« — Wenn hier die Deutung auf Hans Holbein sehr wahr¬ 
scheinlich war, so ist sie dagegen ganz gewiß in einem Briefe des Erasmus 
an Thomas Morus, der von Freiburg i. B. Non. Septemb. 1529 datiert und 
in der Basler Ausgabe des Opus Epistolarum Erasmi (1558) auf Seite 1022/23 
steht. Erasmus schreibt da dem Thomas Morus, warum er Basel den Rücken 
gekehrt habe und wie er sich in Freiburg in dem ihm angewiesenen Hause 
wenig wohl fühle. Darauf folgt der Seufzer: »Utinam liceat adhuc semel 
in vita videre amicos mihi charissimos, quos in pictura quam Ol¬ 
peius exhibuit, utcunque conspexi summa cum animi mei voluptate. 
Bene vale cum tibi charissimis omnibus.« Hier ist also ganz deutlich von der 
berühmten Basler Holbeinzeichnung der Familie des Thomas Morus die 
Rede als dem Gemälde, das Olpeius = Holbein dargestellt habe. Mit diesem 
sicheren Nachweis der Erasmischen Schreibweise Olpeius für Hans Holbein 
d. J. wären wir auch für unseren ursprünglichen Brief des Erasmus an Fabri 
schon am Ziele, wenn nicht noch ein anderer Olpeius, der Severinus Olpeius, 
in der Korrespondenz des Erasmus vorkäme. Was ist's mit diesem Seve¬ 
rinus Olpeius, und ist er oder Hans Holbein in dem Briefe des Erasmus an 
Fabri gemeint? 

Von Severinus Olpeius schreibt H. Dal ton im III. Bande seiner Bei¬ 
träge zur Geschichte der evangelischen Kirche in Rußland, Seite 110, An¬ 
merkung i: »Er war aller Wahrscheinlichkeit nach ein Angestellter und 
Briefbote des Buchhändlers Koberger (in Nürnberg).« Nähere Anhalte für 


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Hans Koegler, 


diese Vermutung habe ich in der Literatur nicht gefunden. Severinus Olpeius 
wird nun zweimal in Erasmus-Briefen 3 ) des Jahres 1527 erwähnt, sonst 
kommt er, wie Mister P. S. Allen mitteilt, im Verkehr mit Erasmus nicht 
mehr vor. Einmal wird Severinus Olpeius auch 1528 in einem Briefe des 
Johann a Lasco 4) an Bonifacius Amerbach genannt. 

In dem Briefe, den der Arzt Johannes Antoninus 5 ) am I. April 1527 
von Krakau aus an Erasmus nach Basel richtete, stellt Johann Antoninus 
dem Erasmus den Jüngling Severinus Olpeius, der den Brief überbringt, 
wie eine bisher unbekannte Persönlichkeit vor. Der Briefschreiber sagt, 
er habe nicht alles zu schreiben für Tätlich gehalten, das übrige werde Seve¬ 
rinus mündlich mitteilen. »Caetera dicet amplitudini tuae Severinus hic, 
juvenis ad studia natus, qui mecum magnam partem hyemis domi meae 
vixit.« Da also Severinus Olpeius einen großen Teil des Winters in Haus¬ 
genossenschaft mit Herrn Antoninus wohnte, so ist es ganz undenkbar, daß 
dieser Jüngling, als er mit Briefen zu dem weltberühmten Erasmus nach 
Basel geschickt werden sollte, seinem Auftraggeber und Hausherrn nicht 
gesagt haben sollte, daß er Erasmus ja bereits kenne und sogar schon 
einige Jahre früher von diesem Freund genannt worden sei. Also kann 
Severinus Olpeius nicht jener Überbringer des Grußes von Fabri an Erasmus 
gewesen sein, dann bleibt aber nur Hans Holbein übrig. 

Einen Augenblick lang konnte Bedenken erregen, daß Fabri ungefähr 
um die kritische Zeit des Jahres 1523, die uns hier interessiert, nach Nürnberg 
reist, wo Dalton in seinen Beiträgen ja auch den Severinus Olpeius angestellt 
vermutet. Aber der Gruß Fabris an Erasmus kann noch nicht von Nürnberg 
aus geschickt sein, denn Fabri hat noch am 16. November von »Lienz« 3 4 5 6 ) 


3 ) Brief des Erasmus von 1527 (ohne Monatsangabe) aus Basel an Johannes a 
Lasco, Praepositus Gnesensis, im Opus Epistol. Erasmi 1558, p. 654. — Erasmus schreibt: 
»Quae misi proximis nundinis, videntur ad te nondum perlata. Itemque scripsi per Seve- 
rinum Olpeium, qui se praedicabat istuc proficisci.« 

4) Brief von Johannes a Lasco vom 20. Februar 1528 aus Petrikau an Bonifacius 
Amerbach, abgedruckt bei Dalton, Beiträge III, S. 109, Nr. 15. — Joh. a Lasco schreibt: 
»Accepi omnia quae per Severinum miseras, Amerbachie carissime ... .4 

5 ) Brief des Johannes Antoninus vom 1. April 1527 aus Krakau an Erasmus nach 
Basel, abgedruckt bei J. Förstermann und 0 . Günther: Briefe an Desiderius Erasmus 
von Rotterdam (Beiheft XXVII zum Zentralblatt für Bibliothekswesen, 1904), 
S. 70, Nr. 65. 

6 ) Freundliche Mitteilung von Dr. J. Staub. Der Brief aus Lienz ist abgedruckt 
bei Joh. Strickler, Actensammlung zur Schweizerischen Reformationsgeschichte I, Nr. 703. 
Unter »Lienz« kann nach allem, was man von Fabris Leben weiB, nur Linz an der Donau 
gemeint sein. — Erzherzog Ferdinand, dessen Rat Fabri seit kurzem war, traf am 
29. November 1523 in Nürnberg ein, am 4. Dezember folgte ihm sein Rat Salamanca. 
(Dr. Staub.) 


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Hans Holbein d. J. und Dr. Johann Fabri. 


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aus einen Brief an Bürgermeister und Rat der Stadt Zürich geschickt. Eis 
ist unmöglich, daß er von diesem Orte so schnell nach Nürnberg hätte kommen 
und von dort aus den Olpeius so schnell nach Basel hätte schicken können, 
daß Erasmus in Basel schon am 21. November darauf antworten konnte. 
Unter »Lienz« kann kein anderer Ort gemeint sein, als Linz an der Donau. 
Fabri hielt sich, wie man aus einem Brief von ihm an Bernhard Cles, 
Bischof von Trient, erfährt, am 10. September 1523 in Wien auf. Seinen 
Brief vom 16. November aus Linz (an der Donau) schrieb er offenbar 
auf dem Weg von Wien zum Nürnberger Reichstag (Mitteilungen von 
Dr. Staub). Anderseits geht aus manchen Nachrichten hervor, daß sich 
Fabri noch Ende August oder Anfang September in 
Konstanz befand. (Nach Dr. J. Staub). Fabri hat also, nach aller 
Wahrscheinlichkeit, seinen Gruß an Erasmus nach Basel um jene 
Zeit noch aus der Bodenseegegend geschickt; gewiß nicht erheblich 
früher, weil in dem Gruß oder Brief offenbar schon die Mitteilung 
enthalten war, daß Fabri demnächst nach Nürnberg verreisen werde, 
wie man eben aus dem Antwortschreiben des Erasmus erkennen 
kann, denn es steht eine Empfehlung an Bilibald (Pirckheimer) darin, 
außerdem trägt die von Horawitz publizierte Fassung dieses Schreibens 
schon Nürnberg in der Adresse. Fabris Anwesenheit in Nürnberg ist erst 
vom 17. Januar 1524 bezeugt, aber schon früher wahrscheinlich (Dr. Staub). 
Trotzdem kann sein Gruß an Erasmus nicht aus Nürnberg sein, wie wir sahen, 
und somit scheidet Severinus Olpeius auch nach dieser Hinsicht aus. 

Für Holbeins Leben hätten wir also die Nachricht gewonnen, daß er 
etwa Anfang September 1523 aus der Bodenseegegend nach Basel unterwegs 
war und daß er den sehr einflußreichen Konstanzer Generalvikar Dr. Johannes 
Fabri kannte; beides kann gegebenenfalls auch für sein Werk wichtig sein. 

Holbein konnte Fabri, der aus Leutkirch im Allgäu ein näherer Lands¬ 
mann des Augsburger Malers war, zunächst ganz gut aus der Zeit von Fabris 
Basler Offizialamt kennen, das dieser am Gerichtshöfe des Basler Bischofs 
Christoph von Uttenheim von Ende 1513 bis Anfang 1518 innehatte. Ob 
die Bekanntschaft weiter zurückliegt, kann nicht direkt vermutet werden, 
wenn sich auch gewisse entfernte Möglichkeiten denken ließen. Fabri hatte 
seit etwa 1511 das Vikariat, seit etwa 1516/17 das richtige Pfarramt an der 
Stadtpfarrkirche St. Stephan in Lindau inne. Daß er auch gelegentlich von 
Basel nach seiner Pfarrei gekommen sei, ist denkbar. Unter den Kirchen, 
deren Kirchenzehnt zu den Einkünften der Stadtpfarrei St. Stephan in 
Lindau gehörte, war auch die von Rickenbach. In der Maria-Wallfahrts¬ 
kirche in Rickenbach wurde das früheste Gemälde Hans Holbeins d. J., 
die Basler Madonna von 1514, gefunden. Dies Gemälde war von dem Kon¬ 
stanzer Domherrn Johann von Botzheim bestellt worden. Botzheim und 


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Hans Koegler, Hans Holbein d. J. und Dr. Johann Fabri. 


Fabri haben sich später gut gekannt, vielleicht auch damals schon. Es wäre 
immerhin denkbar, daß Fabri von Holbeins Tätigkeit schon während dessen 
Wanderzeit in der Bodenseelandschaft gehört oder gewußt hätte und daß er 
und Johann von Botzheim vielleicht irgendwie in Holbeins Entschluß nach 
Basel zu kommen, mit hineinspielten. Aber das wären nur ferne Möglich¬ 
keiten, sind keine direkten Vermutungen. 


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Der Bauer in der deutschen Malerei 
von ca. 1470 bis ca. 1550. 

Von Berthold Haendcke. 

Es ist eine bekannte Tatsache, daß das Tun und Treiben der deutschen 
Bauern seit dem späten 15. Jahrhundert häufiger dargestellt wurde, ohne 
daß inan bisher ernstlich versucht hat, die zwei Fragen zu beantworten: 
1. warum dies gerade damals geschah, und 2. ob der deutsche Künstler 
zu einer künstlerisch abgerundeten Schilderung gelangt ist *). Mit all¬ 
gemeineren Hinweisen auf den Bauernkrieg oder auf den der Umwelt zu- 
gewandten Renaissancegeist und ähnlichen Redewendungen ist so gut wie 
nichts getan. Eine jede starke künstlerische Regung geht aus dem innern 
Drängen der betreffenden Zeit hervor. Der Kunsthistoriker darf also über 
die Künstlergeschichte und über feinsinnige Betrachtungen von Kunst¬ 
werken hinsichtlich Raumwirkung, Farbenwerten, Bildformat und ähn¬ 
lichem mehr nicht vergessen, daß die Geschichte der Kunst als ein Teil der 
Entwicklungsgeschichte der Völker betrachtet werden muß. Deshalb ist es 
also in diesem speziellen Falle erlaubt zu fragen: warum tritt der deutsche 
Bauer seit etwa 1470 in den Blickpunkt der Künstler? Die Beantwortung 
dieser Frage wifd nur durch kulturgeschichtliche Erwägungen möglich sein. 
Wir haben deshalb zunächst unser Augenmerk auf die Entwicklung der 
bäuerlichen Verhältnisse in Deutschland oder, schärfer Umrissen, in Süd¬ 
deutschland zu lenken. Ich betone dies deshalb, weil die Situation der Bauern 
in Pommern, wie sie etwa C. Fuchs schildert, oder in Kursachsen, wie sie u. a. 
Haun darstellt, eine wesentlich andere als im Elsaß und im heutigen Süd¬ 
deutschland ist. 

Im Laufe des 14. Jahrhunderts war eine starke Zersplitterung des 
Landbesitzes eingetreten, so daß im späten Mittelalter der Schwerpunkt 
der Landwirtschaft in den kleinen bäuerlichen Betrieben lag; jedenfalls 
muß dies gelten für die Gebiete des Taubertals, des Bruhrams, der Ortenau, 
des württembergischen Neckartales und des Elsaß. Da im späteren 14. Jahr- 


*) Dies geschieht auch nicht in der Monographie »Der Bauer« von A. Bartels. 
Jena 1900. 


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3 86 


Berthold Haendcke, 


hundert das energische Emporwachsen der Städte dem flachen Lande viel 
Menschenmaterial entzog, so erhielt hier das Tagwerk hohen Lohn. Auch 
als im späten 15. Jahrhundert eine Zunahme der Bevölkerung auf dem 
Lande erfolgte und die letzte Möglichkeit in die östlichen Kolonien Deutsch¬ 
lands abzuwandern, geschwunden war, andererseits die Landsknechts¬ 
werbung noch nicht oder nicht genügend Erleichterung verschaffen konnte, 
da änderten sich diese günstigen Verhältnisse insofern für die Bauern zu¬ 
nächst nicht, als die Städte konsumfähiger geworden waren. Dem entgegen 
war aber durch die Steigerung der Grundrente und durch die Geldwirtschaft 
der Bauer ständig in eine schwierigere Lage gegenüber den Herren, d. h. 
dem Adel und den Klöstern, gekommen. Zu alledem hatten sich gerade 
um die Wende des 15. Jahrhunderts zum 16. auch unter den Bauern offen¬ 
sichtlich die Anforderungen an das »gute Leben«, das ja überall in Deutsch¬ 
land damals sehr gepflegt wurde, erheblich gesteigert. Ein Fastnachtsspiel 
des 15. Jahrhunderts »DerPauer« sagt: »Daz die ritter und ire kind / anders 
denn sie gekleidet sind / Die nemen gar scr ab / an tugenden alle tag / Die 
pauerschaft hoch steiget«. Diese Üppigkeit herrschte besonders in den 
Ländern, in denen der Bauer reicher geworden war, im Rheintal, im Breisgau 
und im Elsaß, wo unter dem Bundschuh die ersten Vorboten des Bauern¬ 
krieges sich bemerkbar machten. Die beste Schilderung hiervon gab un¬ 
streitig Sebastian Brandt in seinem »Narrenschiff«. Natürlich kamen viele 
Bauern auch durch dies Leben in Schulden. »Kein einfalt ist me in der Welt, 
die Bauren stecken ganz voll gelt, die Bauren tragen siden Kleid, gülden 
Ketten an dem Leib.« 

Der Luxus auf dem Lande war so groß geworden, daß der Reichstags - 
abschied 1497 bestimmt, »daß der gemaine Pauersmann und arbaitend 
Leut in Stätten oder auf dem Land kain Tuch machen oder tragen soll, daß 
die Eie über ainen halben Gulden kostet; auch sollen sie kainerlay Gold, 
Perlen, Sammet, Seiden noch gestückelt Klaider tragen noch ihren Weibern 
noch Kindern zu tragen gestatten«. Eine Dichtung des 15. Jahrhunderts 
»Der Ring« des Heinrich von Wittenweiler führt das grobüppige Leben 
der Bauern vor. Wimpheling bemerkt in »De arte impressoria«: »Der Reich¬ 
thum und der Wohlstand haben die Landleute aus ihrer Einfachheit heraus¬ 
treten lassen. Ich kenne deren, welche bei der Hochzeit ihrer Söhne und 
Töchter oder bei Taufen so gewaltige Ausgaben machen, daß man dafür 
ein Haus mit Zubehör und noch ein Rebstück kaufen könnte«. Zu diesem 
bei der ganzen Sachlage, möchte man sagen, selbstmörderischen Lebens¬ 
wandel — selbst wenn wir auch 50 Prozent von den Erzählungen abziehen — 
kam das stetig mehr hervortretende Bestreben der süddeutschen Herren, 
den hörigen Bauern, der in großer Mehrzahl vorhanden war, in die eigent¬ 
liche Leibeigenschaft zu drängen. Auch die freien Bauern wurden an der 


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Der Bauer in der deutschen Malerei von ca. 1470 bis ca. 1550. 


387 


Freizügigkeit möglichst gehindert. Die Markgenossenschaft, lehrt der wohl 
beste Kenner dieser Lande, Gothein, die oft die Untertanen verschiedener 
Landesherren verband, sollte zerrissen werden, die Bauern sollten alles 
aus des Herrn Hand nehmen. Der gelehrte Richterstand stand dem Bauern 
und dessen althergebrachten Ordnungen nicht nur hochmütig, sondern mit 
den nun einsetzenden Rechtsanschauungen, die dem römischen Rechte 
entnommen waren, in geradezu gefährlicher Weise entgegen. Maurer spricht 
offen aus (Fronhöfe 4, Seite 484), daß vom nationalen Standpunkt die 
Aufnahme des römischen Rechts als ein Nationalunglück zu betrachten 
sei. Dem Bauern wurde nämlich tatsächlich der freie Gerichtsstand ge¬ 
nommen. Zu alledem kamen Einzelheiten, wie die überaus stark zunehmende 
Jagdlust der Herren, die Menschen wie Felder in unbekanntem Maße be¬ 
anspruchten. Dazu trat das noch gefährlichere Sinken der Landesprodukten- 
preise seit etwa 1500 und auf der anderen Seite das Steigen der Preise aller 
anderen notwendigen, wie erstrebten Dinge. Die Folgen der zunehmenden 
Vermögensansammlungen in verhältnismäßig wenigen Händen mußte 
weiterhin in erster Linie die in ihrer Handlungsfähigkeit beengten Bauern 
bedrücken. Diesen volkswirtschaftlichen Erscheinungen gesellen sich aber 
Imponderabilien zu, die nicht zum mindesten dazu beigetragen haben, die 
Psyche des Bauern in Erregung zu versetzen und auch die Künstler zur 
Verdolmetschung des Sollens und Wollens der Bauern anzuregen. Die 
Bildung der Bauern war zwar auf einem recht mittelalterlichen Niveau 
stehen geblieben, aber völlig unberührt hatte sie das leise Verschmelzen 
aller Stände auch nicht gelassen, und so war doch ein Strahl vom Geiste 
des Reformationszeitalters, der nach Persönlichkeitsbetätigung drang, 
auch in die Seele des Bauern gefallen. 

Gott peschuf den edeln Ackermann; 

Besse« freuntz ich nye gewan; 

# 

Der hat mir vater und muter ernärt 

Got hat yn der werlt peschert, 

hören wir in der »Bawrn lob« im späteren 15. Jahrhundert. (Mutet nicht 
der Martin Wörnle zugeschriebene Holzschnitt, der bäuerliche Gerätschaften 
zu einer Männerbüste zusammengestellt zeigt, wie eine Illustration zu diesen 
Worten an?) Das ständig wachsende Eindringen der Herrenrechte und die 
immer drohender werdenden Versuche auch mittels des neuen Rechtes 
hatte anderseits eine starke Empörung des sozialen Bewußtseins im Bauern 
wachgerufen, in ihm und in der Seele derjenigen, die sein Los nicht mit 
dem Auge des landbesitzenden Herrn betrachteten. Die »Außenbürger« 
bildeten hier eine wichtige Verbindung zu einer breiten Schicht der städtischen 
Bevölkerung und damit zur städtischen Kultur. Zu alledem kam die Re¬ 
formation, die ja nicht nur eine religiöse Freiheit der Christen verkündete, 

Repertorium für Kunstwissenschaft, XXXV. 26 


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Berthold Haendcke, 


nicht nur einer viele Jahrhunderte alten Tradition herausfordernd gegenüber¬ 
stand, sondern die auch sehr reale Befreiungen wie Rechte den Herrschenden 
zugestand. Die Begehrlichkeit der Laienkultur, die in den Städten seit 
langem eine gute Stätte gefunden hatte, sie griff auch auf das Land hinüber. 
Der Bauer, ob arm, ob reich, wünschte nun auch seinen »Platz an der Sonne« 
zu haben. In zahlreichen kleinen Gedichten äußert sich jetzt der Bauer 
über die religiösen Fragen seiner Zeit, wie etwa in »Ain schöne auslegung 
über das göttlich Gebet Vaterunser, das uns Gott selbst gelernt hat. Das 
hat betracht ain armer Bauer, der weder lesen noch schreiben kan« (1523) 
oder in dem Fastnachtsbrief von 1524 von Bavo von Minden: »Claws Bur 
bin ick genannt; en vastelavendes Kind gebaren; min Vader heft mi utgesant; 
de warhfit tö verklären.« 

Der Bauer wurde geradezu gleichbedeutend mit »Volk«. Er repräsen¬ 
tierte das Volk, denn der Karsthans, d. h. der Hans, der mit dem Karst 
arbeitet, eben der Bauer, ist eigentlich nichts anderes als eine Verkörperung 
der Volksmasse und ihrer Wünsche. In den vielen Satiren und Pasquillen 
dieser Tage ist es immer der Bauer, dem die Angriffe auf die »Gült« nehmenden 
Städter, auf die Geistlichkeit und die ihre Gewalt mißbrauchende Obrigkeit 
in den Mund gelegt werden. Es wird aber auch immer bestimmter von ihm 
ausgesprochen, daß er sein Recht der Selbsthilfe oder Selbstverteidigung 
kenne. Nach theoretischer Betrachtung dieser ganzen Periode hätte der 
Bauernkrieg eigentlich schon wesentlich früher kommen müssen. Die poli¬ 
tische Stellung der Schweizer bestimmte, ich folge hier Gothein, in Süd- 
und Mitteldeutschland über die Gefährlichkeit der Bauern. Der Sieg über 
den Herzog von Burgund rief überall in den Hütten Selbstbewußtsein hervor, 
um so mehr, als Maximilian die Politik verfolgte, mit Hilfe nationaler Be¬ 
geisterung den Reichstagen und ihrem hochsinnigen Führer Berthold von 
Mainz Schach zu bieten. Seit den 70er Jahren des 15. Jahr¬ 
hunderts erwartete der Bauernstand eine große politische Entwicklung, 
und diese Erwartung äußerte sich in konvulsivischen Bewegungen, als sie 
getäuscht wurde. Damals entstand der Schwäbische Bund, in dem sich Adel, 
Bürgertum und Landsknechte gegen die allen gefährliche Bauernrevolution 
verband. Die ganze in weitem Wortsinne politische Atmosphäre war also, 
darf man sagen, erfüllt von dem Bauern und seinem Geschick. Die Kunst 
greift aber bekanntlich stets im Augenblick kurz vor der Expansion der 
Kräfte zu. Für die Maler der 20er Jahre des 16. Jahrhunderts kam außerdem 
noch ein höchst persönlicher Antrieb hinzu, sich eines Stoffes wie der Bauern 
Leid und Kampf anzunehmen. Auch die Künstler waren plötzlich Enterbte 
geworden. In einem Aufsatze in den Monatsheften für Kunstwissenschaft 
(1911) habe ich über die wirtschaftliche Lage der bildenden Künstler etwas 
eingehender gehandelt. Eine Bemerkung gehört hierher. Der Bruch mit 


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Der Bauer in der deutschen Malerei von ca. 1470 bis ca. 1550. 


389 


der Kirchenlehre hatte, um mich kurz zu fassen, die Schilderung der gesamten 
überÜeferten religiösen Vorstellungswelt überflüssig gemacht, den Christen 
allein auf den geistigen Gehalt der Heiligen Schrift verwiesen. Luther hatte 
sich zwar in einem, wie wir heute sagen würden, freikonservativen Sinne 
Ob«r die Bilder religiösen Inhalts ausgesprochen; aber der Anthropomorphis¬ 
mus, der die mittelalterliche Religiösität in der Christenheit beherrscht 
hatte, war beseitigt, und damit der Grund für das Malen und Meißeln 
der religiösen Legend*im engeren und weiteren Sinne soweit sie der Erbauung 
dienen sollte. Dies tatsächliche Ergebnis der hier im Wortsinne protestieren¬ 
den Lehre brachte die Maler und Bildhauer in eine schwere finanzielle Not¬ 
lage, aus der sie nur eine Erweiterung des Stoffgebietes erretten konnte. 
Man muß dabei in Erinnerung behalten, daß bis in die 30er Jahre des 16. Jahr¬ 
hunderts fast ganz Deutschland von der Nordsee bis an die Bayerischen 
Alpen protestantisch war. Der Große Kurfürst v»n Bayern, Max I., sagte: 
»Hätten nicht Unsere in Gott ruhenden Eltern mit solchem Eifer und Ernst 
ob der Religion und Priesterschaft gehalten, durch die geistliche Obrigkeit 
wären dieselben wegen ihrer Konnivenz und Kaltsinnigkeit nit erhalten 
worden.« Im Jahre 1564 sollen sich sogar in Österreich nur ein Drittel Katho¬ 
liken befunden haben 1 ). Die Gebrüder Beham haben in jenen oft zitie»ten 
Verhandlungen vor dem Nürnberger Rat am klarsten für uns erkenn¬ 
bar und ganz einwandfrei die wirtschaftliche Lage der Künstler in dieser 
Zeit gekennzeichnet. Es hieß einfach, neue Erwerbsquellen öffnen. Die 
Morgengabe der neuen Zeit an die Kunst bestand in dem Hinweis, die 
Welt des Alltags um ihrer selbst willen zu schildern. Und zwar mittels des 
Zeichenstiftes, der armen und doch so reichen Schwarzweißkunst. Es war 
unstreitig das gegebene Material. Arm genug, um diesen der religiösen 
Historienmalerei so weit nachstehenden »Fächern« dienen zu dürfen und 
andererseits so geeignet, die nachschaffende Phantasie des Beschauers 
anzuregen, um die leichten Andeutungen zu lebensstarken Bildern zu er¬ 
gänzen. 

Wie sich dies im einzelnen vollzogen hat, kann die Bauernmalerei 
dieser Zeiten, die neben der Landsknechtsschilderei im Vordergründe des 
Interesses stand, lehren. Der Bauer war der deutschen Kunst bis ins 
späte Mittelalter ein Fremdling geblieben. Als im 15. Jahrhundert die 
deutsche Malerei die alltäglichen Erscheinungsformen fester zu fassen begann, 
da stattete sie zuerst die »Monatsbilder«, den alttraditionellen Stoff, mit all 
den Einzelheiten aus, welche die gesteigerte Beobachtungsfähigkeit wie die 
erweiterten technischen Mittel erlaubten. Hier, wie in anderen Bildern 


f ) Vgl. dazu auch Haendcke, Deutsche Kultur im Zeitalter des 3oj. Krieges E. A. 
Seemann, Leipzig 1906. S. 211 fg., 429 fg. 

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39 ° 


Berthold H^cndcke, 


aus dem bäuerlichen Leben, finden wir im Grunde zunächst nichts als 
Illustrationen der bäuerlichen Arbeiten in den einzelnen Monaten, aber 
schon frühe begegnen wir Werken von nicht verächtlicher künstlerischer 
Kraft, wie etwa in den Zeichnungen zum »Defensorium Mariae« vom Bruder 
Antonius von Tegernsee (1459), wo trotz einer recht mangelhaften Form¬ 
behandlung »dei Hirte« einen »selbstständigen Naturalismus in den hübsch 
zum Bilde gerundeten Darstellungen zeigt« (Riehl). Auf dieser Stufe steht 
auch das etwas ältere Blatt mit den pflügenden und mähenden Bauern in 
»Deutsches Kalendarium« Passau 1445 (Kautsch, Rep. f. Kunstwissensch. 20, 
S. 32). Als ein für uns frühes Beispiel sei ferner das um 1470 zu datierende 
Blockbuch von »Wirkung der Planeten« erwähnt (Berlin). Wesentlich 
lebensvoller ist der trotz mancher Unrichtigkeiten frei gezeichnete ackernde 
Bauer im Buche vom »Leben des hochberühmten Fabeldichters Aesopii« 
von 1475. Von frei gestaltender Künstlerschaft kann aber noch lange nicht 
gesprochen werden. Man darf höchstens sagen, daß eine Anzahl gut ge¬ 
sehener und empfundener Eindrücke mehr oder weniger geschickt zueinander 
gesetzt s*nd. Die Literatur, die novellistische wie die wissenschaftliche, 
brachte neue Anregung, stellte weitergehende Forderungen auf. So erwarb 
der Historiker in Werken wie in der »schwäbischen Chronik« von Th. Lirer 
(Ulm, Dinkmuth, i486) dem Künstler ein von der Überlieferung freies Feld, 
den Bauern in seiner Arbeit zu schildern. Es sei z. B. an die Darstellung 
der Erzählung erinnert, nach der König Lucius von Schotten einen in den 

Viehstand eingefallenen Bären zur Strafe angespannt hat und mit diesem 

• 

pflügen läßt. Links sehen wir eine Burg auf Felsen, rechts zurück eine Kirche 
und vorne den Pflüger, wie den erschlagenen Ochsen. Ein vorzüglich lebens¬ 
volles Bauernbild, wohl etwas illustrativ behandelt, aber bis zu den Vögeln 
in der Luft gut gesehen und auch einigermaßen in sich abgerundet. Ganz 
losgelöst von irgendeiner literarischen Überlieferung ist Schongauers Blatt 
»Bauern zum Markte ziehend«. Von derselben Auffassung, wenn auch nicht von 
derselben Qualität, ist etwa der »Bauerntanz« in Diebold Schillings Schweizer¬ 
chronik (Handschrift, Luzern Bürgerbibliothek, 1484). Das Bild ist offenbar 
frischweg von der Dorfstraße genommen. Hier wäre ferner die Studie mit 
einem Bauerntanz in Weimar anzuschließen, die zirka 1490 datiert wird. 
Wir haben in diesem Falle offenbar eine Skizze vor uns, die vor der Natur 
gewonnen und gezeichnet ist. Überall aber ist, wie auch in dem »Bauern- 
turnicr« in Erlangen im Grunde nur ein Entwurf gegeben, kein Bild. Dieselbe 
Frische der Beobachtung und den nämlichen naiven Erzähkrton finden wir, 
um ein weiteres Beispiel von dieser Entwicklungsstufe zu geben, in Schedels 
Wcltchronik von 1493 (S. 187), wo ein Tanz von vier Paaren nach der Musik 
zweier Musikanten, die rechts stehen, aufgeführt wird. In die weite ebene 
Landschaft sind diese von der Tanzlust gepackten, im Gehtanz dargestellten 


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Der Bauer in der deutschen Malerei von ca. 1470 bis ca. 1550. 391 

Bauern in angenehmen Bewegungen derartig dargestellt, daß das Motiv 
als künstlerisch erkannt betrachtet werden darf, aber es fehlt trotz des klar 
ersichtlichen Strebens nach Raumfreiheit und Raumausfüllung das bild¬ 
mäßige Zusammensehen und Differenzieren der Teile im Hinblick auf ein in 
sich abgerundetes Ganze. Dasselbe ist zu bemerken von den Holzschnitten in 
P. de Crescentius' »Von der Nutz der Ding« (Straßburg 1493). Das Werk 
erklärt in stieng wissenschaftlicher Weise die Tätigkeit des Landbebauens 
im weiteren Sinne. Der Künstler hatte nach Angabe des Textes und nach 
seiner Beobachtung die charakteristischen Einzelheiten der jeweilig zu 
schildernden Tätigkeit darzustellen. Einzelne Blätter, wie der »Schnitter 
mit Frau«, haben eine intime Abgeschlossenheit erhalten, die trotz des recht 
mäßigen Schnittes an Ludwig Richter erinnert. Man spürt ein naives, tiefes, 
aber noch unbeholfenes künstlerisches Einfühlen in die kleinen Szenen. 
Diese emsige Einzelbeobachtung baute den Weg der letzten Endes zu 
einem wirklichen Bauernbilde führen konnte. Die Aufgabe des 15. Jahr¬ 
hunderts bestand auch in diesem Falle dann, eine Unmenge kleiner und 
kleinster Einzelheiten mit höchstem Fleiße zusammenzutragen und sie in 
übersprudelnder Fülle und Hast darzustellen. Eine der besten Leistungen 
verdanken wir Norddeutschland. Die niederdeutsche Bibel, die in Lübeck 
1494 erschien, bietet hier und da Bauerndarstellungen, wie etwa im »Verkauf 
Josephs«. Das Bild ist natürlich durch die Erzählung orientiert, aber, ab¬ 
gesehen von der Kleidung des Kaufmanns, erhalten wir eine Handlung dar¬ 
gestellt, wie sie sich in Deutschland ereignet haben könnte. Die Bauern zur 
Rechten, zwischen ihnen der gefesselte Knabe, erscheinen wie in dieser 
Situation gesehen. Wir bekommen geradezu einen Bildeindruck. Und was 
nicht minder beachtenswert ist, de Köpfe sind vortrefflich charakterisiert. 
Eis ist ein niedersächsischer Typus unverkennbar. 

Als allgemein für unser Thema wertvoll sei in Parenthese eingefügt, daß 
die Literatur ganz ähnliche, nur nicht so sicher ausgetretene Wege gegangen 
ist. Das 15. Jahrhundert bietet nur allgemeine Redensarten über die Tätig¬ 
keit des Bauern, erst das 16. Jahrhundert bringt Schilderungen, wie die 
Hans Rudolf Manuels »Am Morgen frue vom Bett ufstahn, die Kühe 
melchen, den Süwen misten, die Benck faegen, Kasten und Kisten und 
Sorg zehan in anderen Dingen: darhinder mag ich sy nit bringen.« Auch 
Hans Sachs hat dann in »Jacob Ruf« (1539) derartiges geboten. 

Die Malerei des 16. Jahrhunderts faßte alles bestimmter zusammen 
und schied die Spreu von dem Weizen. Aus dieser Auffassung heraus ent¬ 
standen die Arbeiten Albrecht Dürers, Holbeins, Schäufelins, Weiditz', 
Burgkmairs usw., die den Typus »Bauer« schufen. 

Dürer führte als Zeichner vor allen anderen in Deutschland das Studium 
der Physiognomik des Bauern ein. Allerdings hat er nicht als Erster Köpfe 


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392 


Berthold Haendcke, 


von Bauern in größerem Maßstabe gezeichnet, wie das Einzelblatt im Berliner 
Kupferstichkabinett beweist. Aber seine drei berühmten beieinander 
stehenden Bauern versinnbildlichen nicht mit angehäuften Einzelzügen 
den bäuerischen Rüpel, sondern den Mann, der sich über die Lage seines 
Standes und seiner Situation Rechenschaft gibt. Es sind geistig belebte 
Menschen, die Dürer uns vorstellt. Offenbar setzt der eine von den drei 
Bauern in kraftvoller Erregung dem scharf nachdenkenden, zu einer spitzig¬ 
verbitterten Bemerkung geneigten Alten und dem erstaunt-cholerischen 
Mann mittleren Alters eine Sache von allgemeiner Wichtigkeit auseinander. 
Dürer beweis auch diesmal, daß er stets und in jedem Falle der beste Schürfer 
im Geistesleben seiner Zeit als Künstler war, und deshalb das lebensstark 
erwachende Denken und Streben des Bauern in charakteristische Formen 
faßte. Eis lebt ein Stück Zeitgeschichte in diesen Köpfen, und gleichzeitig 
geben sie als einzige uns eine klare Vorstellung von der Bildung des Antlitzes 
der deutschen Bauern in diesem Zeitabschnitte — sonst bleibt man bei dem 
Typus eines grobschlächtigen Menschenantlitzes stehen. Dürer suchte 
die Persönlichkeitswerte im Bauern zu fassen und gab uns gleichzeitig 
einen allgemeinen Maßstab für das Individuum »Bauer«. Hätten hier die 
deutschen Maler energisch eingesetzt, so hätten wir in Deutschland ebensogut 
wie in Holland einen Mann, wie etwa Pieter Aerzten erleben können. Aber 
der Deutsche betrachtete und betrachtet die Kunst eben nicht in erster 
Linie als eine Vorstellungskunst, sondern er erzählt am liebsten. Dann 
stehen aber Formgedanken bekanntlich in zweiter Linie. Es war von Dürer 
auch sehr richtig gehandelt, diese Bauern vor einen neutralen Grund zu 
stellen. Er verlieh dadurch diesen Dreien eine gewisse Monumentalität, 
jenen Marktbauern von 1512 und jenem tanzenden Bauernpaar von 1514 
aber eine gesteigerte Lebensenergie, weil die körperliche Aktion dieser 
Menschen uns ganz uneingeschränkt vor die Augen gebracht wird. Dürer ist 
andererseits als Bauernmaler nicht zu abgeschlossenen Genrebildern, auch 
nicht in Federzeichnungen, gekommen, sondern bleibt bei der skizzierenden, 
nur leichthin das Motiv erfassenden Weise stehen. H. Holbein d. J. geht 
in anderer Hinsicht über die älteren Bauerndarsteller hinaus. Das Fresko 
am Hause »zum Tanz« gab nicht nur tanzende Bauern, die toll und voll sind, 
sondern Holbein charakterisierte bäuerische Fröhlichkeit schlechthin. Die 
Grobheit ist hier zum Stil erhoben. Auch der ackernde Bauersmann in den 
»Todesbildern« ist erfüllt von der Menschheit Größe. Holbein besiegte das 
verstandesmäßige Motiv, die Macht des Todes zu schildern, indem er einen 
Bauern darstellte, dessen Sinnen und Trachten von der Arbeit seines Standes 
erfüllt und gestärkt war und der, bis die Sonne seines Lebens sich neigte, 
dieser Standespflicht sich schlicht und voller Hingabe gewidmet hatte. Kein 
anderer hat damals neben diesen beiden Malern das Sein und Wollen des 


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Der Bauer in der deutschen Malerei von ca. 1470 bis ca. 1550. 


393 


Bauern mit so großen Augen sehen können, aber weiter im Stoff haben 
andere Mitarbeiter auf diesem Gebiete um sich gegriffen. Zu dieser mehr 
alltäglichen Schilderung, wie ich sagen möchte, führt Holbein selbst hinüber 
in dem »Bauernkirmes* im Alphabet. Anton von Worms tritt weniger als 
monumental gestaltender, denn als frisch erzählender Meister an die bewegte 
Welt seiner Tage heran. In diesem Zusammenhänge möchte ich an das Titel¬ 
blatt zum »Landfrieden durch Kaiser Carol den Fünften uff den Reichstag 
ze Worms anno 1521« erinnern, auf dem unter anderem Ritter dargestellt 
werden, die mit einem Trupp Fußsoldaten, wie es mir scheint, im Walde 
auf Beute lauern; im unteren Streifen können wir wohl die Weiterführung 
der Erzählung in dem Dorfbilde mit gehenden und fahrenden Bauern ver¬ 
muten. Anton von Worms erhebt sich hier schon weit über den Illustrator. 
Es pulst das Leben in dieser kleinen Arbeit. Auch Georg Pentz bringt bei 
der Parabel von den Arbeitern im Weinberg (P. 36) und vom Säemann 
(P. 37) nur ein schlichtes Alltagsbild. Hier versinkt das religiöse Moment 
bereits in den Alltag, aber es war immer noch der Anreger. Pentz möchte ich 
Nikolaus Manuel, genannt Deutsch, an die Seite stellen, dessen verhältnis¬ 
mäßig geringe Anzahl von Arbeiten auf diesem Gebiet — ihn wie Urs Graf 
interessierte der Landsknecht weitaus mehr, dafür die Schweiz die Bauern- 
frage ja längst gelöst war—eben dieses Zuges sprudelnden Lebens voll sind 1 ). 

Unmittelbar in den Bauernkrieg führen uns die verschiedenen Titel¬ 
blätter zu den Aufrufen der Bauern, oder Holzschnitte, auf denen wie in 
Livius’ römischen Historien (Mainz 1523) gefesselte Bauern von Reitern 
eskortiert werden. Auch*Einzelblätter, wie die aus diesen Jahren von den 
Behams gelieferten, sind aus der Teilnahme aller an diesem Kampfe ent¬ 
standen; aber alle diese Arbeiten kommen über den Charakter einer mehr 
oder weniger geschickten Illustrierung der Zeitereignisse nicht heraus. Am 
meisten bildmäßig gesehen und gezeichnet ist der Holzschnitt Hans Sebald 
Behams (P. 184), auf dem Bauern, die aus einem brennenden Dorf geflohen, 
von den nachsetzenden Landsknechten überfallen werden, geschildert sind, 
Ritter halten im Walde, wo sie zwei nackte Männer an einen Stamm gebunden 
haben. Diese Kraft der Schilderung muß um so mehr betont werden, als 
das Blatt, für die Folge der Planeten bestimmt, leicht einen lehrhaften 
Zug hätte erhalten können. Wir werden hier in der Tat mit künstlerischer 
Formkraft in das Geschehnis hineingeführt und nur der etwas mangelhafte 
Schnitt beeinträchtigt die Wirkung. Hätte Beham das Blatt im Kupferstich 
ausgeführt, so dürften wir mit bestimmten Einschränkungen eine künstlerische 
Parallele zu Callot ziehen. 

In das friedvolle Leben führt uns etwa ein Schlußbild des Titus Livius 


*) Vgl. meine Geschichte der Schweiz. Malerei im XVI. Jahrh. 1893, S. 15 u. 641g. 


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Berthold Haendcke, 


(S. 16), wo wir einen Einblick in ein Dorf erhalten, dessen einfache Natur¬ 
schilderung mit den paar Häusern, dem mitten hindurch fließenden Bach, 
der Dorfmühle, den zwei plaudernden Männern und den grunzenden 
Schweinen geradezu künstlerisch abgerundet wirkt. Von derselben hohen 
künstlerischen Kraft zeugen Blätter, wie etwa die Schnitte in »Petrarka: 
Von der Artzney bayder Glück, des guten und widerwertigen (Angeb. 32)«, 
auf denen das Pflügen und Eggen und, noch bildmäßiger gefaßt, Männer 
und Frauen bei der Ernte geschildert sind. Hier kommt ein bedeutender 
Künstler Hans Weiditz, zu Worte. Gesehen und erlebt, heißt es, vor diesen 
künstlerisch abgerundeten Blättern, trotzdem dieses und jenes etwas ver¬ 
einfachter hätte gegeben werden können. Man darf hier ruhig von einer 
Bauernmalerei sprechen, die der eines J. Brueghel d. Ä. gleichwertig ist; 
allerdings stehen sie nicht überall auf derselben Höhe. Manchmal drängen 
sich zu viel prätentiöse Züge hinein, wie etwa auf S. 59 (Ausg. 1539) »Wer 
ein Hofe einen Bauren verleihet, der muß ser vyl von ihm leyden«; oder 
»Pawren seind aus den bös elenten zu letst die allerbösesten worden«. Auf 
einen verwahrlosten Hof sind hier zwei Ritter gekommen, offenbar die Guts¬ 
herren, die den Meier zur Rede stellen wollen und von diesem mit einem 
Prügel behandelt werden. Das Bild leidet etwas an Überfülle der Motive, 
gibt aber die Szenerie gut und treffend wieder; da auch das Fernbild sicher 
abgeschlossen wird, so entsteht ein intimer Bildeindruck. Vorzüglich beob¬ 
achtet sind die verschiedenen Haustiere, und brillant ist der freche Überfall 
des Bauern wie die Haltung der sich duckenden Herren geschildert. Auf 
derselben Linie begegnen sich Weiditzens Zeichnungen zu »Cicero offfcia, 
deutsch von Schwarzenberg« (Augsburg, Steyner, 1531). Einzelne Blätter, 
wie das mit den drei Bauern, die abends im Wirtshause beim Kartenspiel 
sitzen, sind hinsichtlich der übersichtlichen freien Komposition, der Kraft 
und Schlichtheit des Erzählertones nicht nur für diese Zeit vortrefflich 
gearbeitet, während andere Schnitte, wie »Bauer vor dem brennenden Hause« 
u. ähnl. m. von dieser Höhe eines vorgestellten Bildes zu einer Illustration 
herabsinken. 

Im allgemeinen möchte ich Röttingers Charakteristik, die er in 
Weiditzens Monographie (1904) gegeben hat, annehmen: »aber die Schilde¬ 
rungen des Lebens seiner sozialen Schichten dürfen als vollgültige kultur¬ 
geschichtliche Dokumente betrachtet werden« und »... eine derartig um¬ 
fassende Schilderung des Volkes .... und die gerade dabei entfaltete Stärke 
seines Könnens muß einer Würdigung seiner Bedeutung zugrunde gelegt 
werden .er besaß einen Blick für die Vorgänge des ihn um¬ 

rauschenden Lebens und eine Kunst, das Geschaute fesselnd wiederzu- 
erzählen«. * 

Entwicklungsgeschichtlich interessant sind weiterhin die Illustrationen 


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Der Bauer in der deutschen Malerei von ca. 1470 bis ca. 1550. 


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zu »Polidorus Vergilius von den Erfindern der Dyngen* (Steyner, Augsburg, 
1537). Es werden hier nämlich die verschiedenen Arbeiten des Bauern 
geschildert, und zwar als bäuerliche Tätigkeiten, nicht als Illustrationen 
zu einer bestimmten Jahreszeit. Auf einem Blatte (S. 69) mit einer Stadt 
im Hintergründe, auf die eine Karawane zuzieht, sehen wir auf dem Felde 
arbeitende Bauern. Elin, darf man sagen, künstlerisch gesehenes Bild bäuer¬ 
licher Arbeit. In ebendemselben Buche finden sich aber auch Schnitte, auf 
denen das Dorf leben, mit einer, ich möchte sagen, literarisch limitierten Auffas¬ 
sung dargestellt ist. Solche Bilder lenken uns immer wieder darauf hin, daß wir 
uns in der Entwicklungsperiode der Genremalerei befinden, und ferner 
darauf, daß deutsche Künstler mit ihrer besonderen Lust am Erzählen hier 
am Werke sind. Der Bauer, der dem Jagdherrn den Wildschaden beweglich 
klagend schildert, in »das Büchle memorial, das ist ein Angedänckung der 
Tugend von Herren Johannes von Schwarzenberg« (1534, Steyner, Augsburg, 
S. 138) bietet gleichfalls eine Darstellung in freier, gut distanzierter Land¬ 
schaft, muß aber trotzdem als literarisch begrenzt, als didaktisch erzählend 
qualifiziert werden. Es hing eben überall noch von der suchenden künstleri¬ 
schen Kraft des einzelnen Zeichners ab, inwieweit die TextinterpretJition 
zum abgerundeten Kunstwerke werden konnte. 

Selbst der Meister, der uns in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts 
meiner Ansicht nach das reichste und schließlich auch reifste allgemein 
gehaltene Abbild bäuerlichen Tun und Treibens bietet, Hans Sebald Beham, 
schwankt zwischen lehrhafter Illustration und künstlerischer Gestaltung 
seines Stoffes hin und her. Seine Planetenbilder sind keineswegs tendenziöse 
Schilderei, aber sie nähern sich bereits einer unbefangenen Darstellung. 
Wir müssen allerdings gerade bei diesen Blättern die Schwerkraft der Über¬ 
lieferung sehr bestimmt einschätzen. Wenn sich aber, müssen wir weiterhin 
folgern, in solchen Genrebildern die freischaffende künstlerische Darstellung 
der Interpretation gegenüber durchzusetzen vermag, so muß der Künstler 
eine sehr beachtenswerte Persönlichkeit sein. Hans Sebald Beham hat sich, 
wie wir wissen, mit vollem Bewußtsein als Genremaler etwas leisten zu 
müssen und zu wollen, auf dies Gebiet begeben. Er scheint übrigens eine 
persönliche Vorliebe für die Bauernschilderei gehabt zu haben, denn unter 
die Inhaltsangabe zu »Kunst und Lehrbuch« setzt er als Schmuckbild einen 
Bauern und eine Bäuerin. Bei einer wieder etwas freieren Behandlung 
der Chronologie gehe ich zunächst auf Behams Kupferstiche »Die Bauern¬ 
feste« und den »Bauernhochzeitszug« ein, und zwar deshalb, weil hier das 
Steckenbleiben im Material stärker als in den sofort zu erwähnenden Holz¬ 
schnitten ist. Die Studie ist allerdings auch in den Stichen überwunden, 
aber die Bildwirkung nicht genügend erreicht. Die Menschen erscheinen 
bei aller Lebhaftigkeit der Bewegung wie Automaten. Beham strebt eben nicht 


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Berthold Haendcke, 


Charakteristik des Einzelindividuums an, wie Dürer, sondern nach Schilde¬ 
rung einer Handlung, die aber ohne gleichzeitige Raumillusion eine künstle¬ 
rische Bildkraft nicht erhalten konnte. Von derselben Art sind auch die 
kleinen Kupferblätter wie »Haust Du mich, so stich ich Dich«; da der 
Schilderer das novellistische Motiv nicht rein in Formwerte übersetzen und 
auch Figuren wie Umwelt nicht fest zusammenschließen konnte. Auch 
das sonst einfach gesehene Bild, das bäuerliche Liebespaar von 1521, ist 
hiervon nicht ganz frei geblieben. Die Kirchweih zu Megeldorf (etwa 1537) 
geht im großen und ganzen über jene Stiche nicht hinaus. In den großen 
Holzschnitten von 1535, in der Bauernkirmeß und in dem ziemlich gleich¬ 
zeitigen Bauernfest hatte der Meister m. A. n. bereits viel klarer das Ziel 
erkannt, und war ihm in der Bewältigung des Illustrativ-Dekorativen auch 
schon wesentlich näher gekommen. Auch der von H. Meldemann geschnittene, 
von Beham gezeichnete »Nasentanz zu Hümpelsbrunn« ist in diesem Zu¬ 
sammenhang zu erwähnen. Die laut lachende und derb zufassende Fröhlich¬ 
keit des Bauern seiner Zeit ist an sich ohne Widerrede mit einer den besten 

s 

niederländischen Bauernmalern des 16. Jahrhunderts sogar ebenbürtigen 
künstlerischen Darstellungskraft geschildert worden. Beham gibt in der Tat 
eine künstlerische Übersetzung, nicht eine Illustration des Vorwurfes. Etwas 
anders steht es mit der Frage nach der künstlerischen Einzeldurchführung. 
Hier kann man zunächst eine gewisse Häufung der Motive nicht in Abrede 
stellen; aber ist diese nicht vielleicht im Charakter des deutschen Künstlers, 
der ja nicht in erster Linie FormvoiStellungen folgt, begründet? Jan Steen 
und Ludwig Richter sind auch keineswegs immer von diesem Zuviel frei. 
Es ist zudem nicht zu vergessen, daß diese Koordinierung diesseits der Alpen 
damals überall gebräuchlich war. Trotzdem dürfen, da .ich soeben hoch- 
entwickelte Meister zum Vergleiche heranzog, die teils reliefartige Kom¬ 
position und die anderenteils planlos bzw. für die Tiefenanordnung wirkungs¬ 
los auf den anderen Gründen zerstreuten Figuren nicht übersehen werden. 
Denn dadurch wird der Bildeindruck im höheren Sinne des Wortes zweifels¬ 
ohne stark herabgesetzt. Weiterhin befremdet auf den ersten Blick die 
geringe Abwechslung in den Typen, aber hier scheinen alle Bauernmaler 
sich beschränken zu müssen, wie wir wiederum mit einem Seitenblick auf die 
niederländische Bauernmalerei des 16. (und auch des 17.) Jahrhunderts 
betonen dürfen. Die Absicht, einzelne hervorstechende Züge des groben 
Sinnenlebens zu schildern, setzt hier offenbar schnell die Grenzsteine, und 
zwar natürlicheiweise. Das Einzelindividuum muß sich dem Gesamtleben 
der Komposition unterordnen und deshalb auf die persönlichen Besonder¬ 
heiten verzichten. Die großen Kirmeßszenen und der vortrefflich disponierte 
»Nasentanz« bieten, sei nochmals betont, nach Frische der Beobachtung, 
nach Sicherheit in der Wiedergabe des Gesamtvorwurfes und der einzelnen 


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Der Bauer in der deutschen Malerei von ca. 1470 bis ca. 1550. 


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Bewegungsmotive echte kleine Kunstwerke und rechte Bilder deutschen 
Bauernlebens in der Reformationszeit. Das klassische Werk Meister Behams 
ist a“ber meiner Auffassung nach seine leider nicht gut geschnittene »Spinn¬ 
stube« (etwa 1535). Da wir in diesem Falle wissen, daß sich aus der Art 
der Vereinigung der verschiedenen Altersgenossen und der Geschlechter 
eine drängende Fülle von Einzelzügen auf kleinem Raume ergeben mußte, 
so ist diese zunächst aus der Sachlage heraus zu erklären. Beham hat aber 
diesmal alles zu meistern gewußt. Die grobsinnliche, die lautlachende Lust 
des späten Abends in einer Spinnstube, wie sie die Fastnachtsspiele schildern, 
hat einen überzeugenden Ausdruck gefunden, der um so stärker packt, 
als Beham mit den schlafenden Männern am Tisch und in der Nähe des 
Ofens wie in dem sich behaglich-ruhig wärmenden Mann vor dem Ofen die 
glücklichsten Gegensätze zu jenem Jubel gefunden hat. In vorzüglicherWeise 
hat der Künstler auch die mannigfaltig bewegten Figuren auf der Bildfläche 
verteilt und den Raum vortrefflich gegliedert, soweit dies einer Technik möglich 
ist, die noch nicht gelernt hatte, Tonwerte zu verwenden. Es war Beham 
um so schwieriger, eine Raumwirkung zu erzielen, als die einzelnen Teile 
bei der absoluten Kleinheit des Zimmers nahe aufeinander folgen. Dadurch, 
daß Beham jede Einzelheit, selbst die an der Wand befindlichen Dinge 
in diese Berechnung einzog, erzielte er eine Raumdarstellung, die von aller 
Enge frei ist. In einem Punkte folgte er allerdings der Beschränktheit 
seiner Zeit. Das Gemach ist parallel der Bildfläche angeordnet und alle 
Personen sind trotz reicher Bewegungsmotive mehr oder weniger in Profil - 
haltung gebracht. Diese frontale Anordnung, diese Manier, den Raum 
von vorne in die Tiefe zu entwickeln, wird aber bekanntlich erst im späteren 
17. Jahrhundert besiegt. Innerhalb der zeitlichen Beschränkungen ist 
Behams Werk ein tadelloses Genrebild. Von hohem Interesse ist es ferner, 
daß sich die Szene in einem Innenraum abspielt. Die deutsche Bauern¬ 
malerei hat vor Weiditz, Burgkmair und H. S. Beham, soviel ich weiß, 
in kompositionell irgendwie durchgeführter Art den Nahraum nicht ver¬ 
wendet. Leicht erklärlicherweise; denn das Leben des Landmannes spielt 
sich für den Beobachter zunächst nur im Freien ab. Erst der tiefer in den 
Stoff eindringende Künstler sucht den Bauern auch in seinem Heim auf. 
Beham empfand offenbar die Stärke der Intimität des geschlossenen Raumes 
für die Genremalerei. Das kleine Große des Alltages erhält dadurch den 
angemessenen und betonenden Rahmen. H. S. Beham erwies gerade damit 
seine Befähigung als Genremaler. Unter den unmittelbaren Nachfolgern auf 
diesem Stoffgebiete sei gleich der Zeichner des Schnittes »Der Brautschmaus«, 
erwähnt, der wohl ohne Berechtigung dem N. Solis zugeschrieben wird 
(Wien), zu nennen. Dieser »Brautschmaus« ist von bäuerischer Völlerei 
ganz erfüllt. Man hört förmlich das Gröhlen und trunkene Schönreden, 


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Berthold Haendcke, 


aber das Bild hat trotz alledem etwas von einer Illustration. Später ver¬ 
flachen solche Schilderungen unter dem Zwange der fremden Zeichenweise 
ganz zu schematischen »Bauerntölpeleien«. Aber auch das arbeitende Leben 
der Bauern hat Meister Beham fein und doch fest zugreifend in künstlerische 
Formen zu fassen verstanden, und zwar selbst dann, wenn er zu illustrieren 
hatte. Man betrachte daraufhin den ackernden Bauersmann und seine ganze 
Umgebung im Hintergrundbilde des verlorenen Sohnes. Dorf und Acker, 
Bauersmann, Bildstock und Bauernhof, alles das geht völlig zusammen, 
und niemand denkt an anderes als an »Illustration« des arbeitsamen Land¬ 
volkes; das religiöse Motiv scheidet als Anreger ganz aus. 

Was durch rund 70 Jahre erstrebt worden war, nämlich im Kunst¬ 
werk das Leben und Wirken des Bauern im Alltage und am Sonntage zu 
schildern, wurde von H. S. Beham im großen und ganzen erreicht. Die 
deutsche Kunst hat zwar ihrer Art nach diese Stufe nicht als Malerei, sondern 
als Zeichnung erstiegen, nimmt also das Auge nicht in dem Maße in Anspruch, 
wie die stammverwandte und demselben Ziele zustrebende niederländische; 
aber ich glaube, man wird Beham nicht zu hoch setzen, wenn man ihn als 
Bauernmaler, der allerdings nicht gleichzeitig ein hervorragender Land¬ 
schafter war, der Nähe Jan Brueghels d. Ä. würdigt. 

Bleiben wir bei der Betrachtung größerer Gruppenbilder stehen, so 
hätte Daniel Hopfer ein Recht, erwähnt zu werden. Dieser Augsburger ist 
unstreitig ein geschickter Mann, der auch einen Blick für Situationswerte 
hat, aber ihm fehlt die Kraft des inneren Schauens. Er führt von der Höhe 
wieder etwas herab. Hopfer bleibt ein nicht einmal immer geschmackvoller 
Abschreiber der Natur. Ich möchte sein »Kirmesfest« nicht ausnehmen, 
obwohl der Mittelteil dieses Blattes gut gelungen ist. D. Hopfer erinnert 
in etwas vorweg an Teniers d. J., womit aber auch die routinierte Geschick¬ 
lichkeit und in sich schwächliche Rhetorik gekennzeichnet ist. Von technisch 
noch glanzvollerer, aber in der Auffassung ähnlicher Art sind etwa die 
Arbeiten eines Vergil Solis, eines Amman, Tobias Stimmer, A. Möller, Maurer 
u. a. mehr, nur daß bei diesen der Begriff der Illustration wieder enger gefaßt 
werden muß. Die Zeit der Bauernmalerei hatte gegen die Mitte des Jahr¬ 
hunderts in Deutschland ihre Sonnenhöhe erreicht. Rein kunsthistorisch 
ist dies erklärlich durch das Eindringen der italienischen bzw. niederländisch- 
italienischen Formgebung. Allerdings dürfte dies auf den ersten Blick hin 
nicht als ein Hindernis erklärt werden, da ja Hans Sebald Beham selbst 
zu den italienisierenden Kleinmeistern zählt, die mittels der Zeichnung 
die plastische Formwirkung der Italiener erstrebten. Er und die ihm ver¬ 
wandten, wie etwa Brosamer, Meister J. B. (Jörg Bentz [Pentz?]), Alde- 
grever usw. fußten aber letzten Endes trotz allem auf heimatlichem Boden. 
Ganz anders die späteren, die mit der neuen Mode groß geworden waren. Wie 


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Der Bauer in der deutschen Malerei von ca. 1470 bis ca. 1550. 


399 


sollte man mit der Linie, die für die Monumentalkunst gefunden war, deutsche 
Bauernbilder umreißen? Gewiß, man versuchte es. Tobias Stimmer und 
all die anderen neben ihm, sie schilderten Bauern, aber ohne Wucht und 
Kraft der Sprache. Und als um 1570 eine formale Reaktion an der Hand 
eben der Künstler vom Beginn des 16. Jahrhunderts 1 ) einsetzte, da war diese 
einesteils zu schwach und andernteils ging sie von der Zeichnung aus. Man 
verlangte aber jetzt nach der Pracht der Farbe. Diese war jedoch der älteren 
deutschen Schule bei der fast einzig betonten Harmonisierung der Buntfarbig¬ 
keit schlechterdings nicht zu entnehmen; denn Grünewald oder die Regens¬ 
burger waren in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nicht mehr entwick¬ 
lungsfähig. Hier mußte man zu einer in dieser oder jener Abart italienisieren- 
den Methode greifen. Weiterhin und nicht zum mindesten sprach ein ab¬ 
lehnendes Wort die allgemeine kulturelle Entwicklung Deutschlands. Der 
deutsche Bauer lag besiegt, mühsam atmend am Boden. Der Bürger erwarb 
jetzt fast nur noch als beengter Handwerker oder als Kleinkaufmann seine 
Existenzmittel und kämpfte als Reichsstadtbürger seinen politischen Todes- 
kampf. Der Fürst wollte trotz schwerer Geldbedrängnisse prunken und 
strebte in gefahrvollem Ringen zu höheren politischen Errungenschaften, 
und die geistigen Mächte des Reformationszeltalters wollten nicht mehr die 
Befreiung und die Erhebung der Seele, sondern die Herrschaft über diese. 
Die Scheidelinie zwischen den Herren und der misera plebs wurde mit jedem 
Jahrzehnt bestimmter gezogen. In solchen Zeiten, in denen der Geist des 
Volkes sich nicht über die Schranken der Gegenwart zu erheben vermag, 
kann auch der Künstler nicht von innen her das Leben und Sein in künstle¬ 
rische Form bringen. Er ist höchstens imstande, es in trocken belehrender 
Art abzuzeichnen. Das geschah auch, wie erwähnt, in fleißiger alltäglicher 
Werkstattarbeit. 

Wenn die deutsche Genremalerei der behandelten Periode sich an der 
Zeichnung Genüge sein ließ, so haben wir auch dazu noch ein Wort zu sagen. 
Diese Tatsache ist erklärbar. Dem deutschen Künstler lag die Farbe nicht 
(und sie liegt ihm auch heute noch nicht). Das sei trotz Grünewald und der 
Donauschule gesagt. Es zeugte also nur von feinem künstlerischen Takt, 
daß die Maler sich die vielfarbige Welt intellektuell vereinfachten, sich auf 
die einfarbige, aber trotzdem lichtreiche Zeichnung zurückzogen. Dürer 
blieb bei der einfach modellierenden Strichzeichnung stehen, welche andere 
Zeichner wie Burgkmair und Beham mittels ihrer Technik mit der licht¬ 
vollen Schönheit der farbenreichen sonnenüberglänzten Umwelt zu um¬ 
kleiden versuchten. Dazu kommt, daß im wesentlichen das Genre, auch 

*) Dieses Thema habe ich in einem im August in der Zeitschrift für bildende Kunst, 
Kunstchronik S. 579 fg. erschienenen Aufsatz behandelt: »Die Stellung der deutschen 
Maler vom Beginn des 16. Jahrhunderts am Schlüsse dieses Zeitraumes.« 


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400 


Berthold Haendcke, 


die Bauerndarstellung von der Buchillustration, nicht von dem Tafelbilde 
herkam. Dadurch war dem an den Intellekt sich wendenden Strich von 
vornherein das bestimmende Wort gegeben. Man darf sich trotz alledem 
die Frage vor legen, warum in unserm Vaterlande nach solchen Erfolgen 
der Bauernschilderung das Ölbild den Holzschnitt und den Kupferstich 
nicht verdrängt hat. Es bleibt hierfür nur noch die Antwort übrig, daß 
die besitzenden Stände ein nicht genügend starkes Verlangen nach Kunst¬ 
werken besaßen. Man muß dabei erwägen, daß die doch schon zum selb¬ 
ständigen ölbilde entwickelte Landschaftsmalerei schließlich an derselben 
ablehnenden Haltung scheiterte. Der vermögende Bürger und der besitzende 
hohe wie niedrige Adel nahm jedes Interesse an der reichen Entwicklung des 
Kunsthandwerkes, weil dieses ihm ziemlich direkt persönlich zugute kam. 
Auch das Porträt trat zu ihm In ein Verhältnis von Person zu Person, aber 
Bilder allgemeinen Inhaltes boten an sich nichts, besaßen eben nur künst¬ 
lerischen Wert, und den vermochten nur einzelne Verständnisvolle, am meisten 
die Sammler, einzuschätzen. Solche Leute kreieren aber keine künstlerische 
Entwicklung. Die Wertschätzung des Alltagslebens war noch nicht hoch genug 
gestiegen, um es künstlerisch verklärt um sich sehen zu wollen. Diese aschen¬ 
brödelhafte Erscheinung der Alltagsdarstellung hat der Genremalerei dieser 
Zeiten sogar bis in unsere lebende Stunde hinein das ihr gebührende Maß 
der Beachtung genommen. Die ständig wiederkehrende Betonung der 
genreartigen Schilderungen des Hausbuchmeisters oder auch der wenigen 
Genrebilder Schongauers, Dürers usw. beweisen, wie unbeachtet im allgemeinen 
die vielen Hunderte von Szenen dieser Art, die in der reichen Zahl von 
»Prachtwerken« aus jenen sieben bis acht Jahrzehnten, von etwa 1470—1550, 
unsern Augen dargeboten werden, geblieben sind. Tatsächlich ist der Haus¬ 
buchmeister nur einer von vielen, wenn er auch die meisten an künstlerischer 
Qualität hinter sich läßt. Die Zeichnungen für die erwähnten »Prachtwerke« 
sind überdies weit mehr, meine ich, als die Naturstudien auch für die Heiligen¬ 
bilder, die Erzieher der Maler dieser Periode geworden. Denn hier hieß es, 
schnell sehen und schnell zeichnen, wollte man die eilends vorübergleitenden 
Bewegungsmotive festhalten. Nur diese sofort zufassende Beobachtung 
konnte die für das künstlerische Schaffen wertvollsten Erinnerungsbilder 
bringen. Hier lag die »Natur« verborgen, von der Dürer spricht. In diesem 
Falle bot zudem die Tradition nur sehr geringe Hilfen. Im Gegensätze zur 
Atelierkunst der religiösen Malerei konnte der Künstler seine sorgfältig und 
langsam nach dem Modell gezeichneten Studien nicht den in der Komposition 
wie in den Einzelheiten ziemlich bestimmt festgestellten Vorwürfen ein- 
fügen, sondern er mußte Gruppierung wie Detail hurtig aus der im raschen 
Flusse befindlichen Umwelt selbständig herausnehmen. Solches Tun schult 
aber erst Blick wie Hand und macht innerlich reich und frei. Wir stehen 


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Der Bauer in der deutschen Malerei von ca. 1470 bis ca. 1550. 


401 


hier auf demselben Boden, der für die architektonischen wie rein landacftaft- 
lichen Hintergründe der religiösen Malerei so köstliche Ergebnisse gezeitigt 
hatte. Die realistische Auffassung in den großen religiösen Gemälden (Por- 
träts) fand mit einem Worte in diesen kleinen Studien vor und nach dem 
vielgestalteten alltäglichen Dasein ihren vorzüglichsten Nährboden. Deshalb 
müssen wir auf diese bescheidenen Illustratoren das sorgsamste Augen¬ 
merk haben und je ferner der von diesen bearbeitete Stoff den überlieferten 
Aufgaben stand, wie etwa die Bauemmalerei, um so wertvoller dürfte er 
kunstgeschichtlich sein. Die wenigen erhaltenen Skizzenbücher, wie das des 
Hausbuchmeisters, das Holbeins des Älteren, das Manuels, genannt Deutsch, 
u. a. m. oder auch die Handzeichnungen in Chroniken wie die Richenthals 
vom Konstanzer Konzil ») beweisen, wie sehr jene Holzschnittzeichnungen 
dem Leben entnommen sind. Der Kunsthistoriker, der sich diese emsige 
Kleinarbeit der Künstler recht eindringlich vor Augen führen will, muß also 
in jenen illustrierten Werken eifrig blättern. In ihnen ist von der Empfängnis 
des Lebens an bis zum Abscheiden aus dem irdischen Dasein sozusagen 
jede Lebenslage in Krieg und Frieden für Mann und Weib aller Stände in 
prägnanter Weise mit ständig schärferem Auge und geschickterer Hand 
inteipretiert worden. Der Reichtum an Sittenbildern im weitesten Wort¬ 
sinne, der während dieser etwa 70/80 Jahre uns geboten wird, ist so groß, 

# 

daß man einstweilen noch vom Material erdrückt wird. Einzelstudien 
werden aber bald dem bürgerlichen Genre der vornehmen religiösen 
Historienmalerei gegenüber die ihm bislang nicht in zureichendem Maße 
eingeräumte kunstgeschichtliche Wertung verschaffen können. Jedenfalls 
wird man dann nicht mehr Fromentins Wort über die Sittenbildmalerei des 
17. Jahrhunderts in der niederländischen Malerei in seinem vollen Umfang 
aufrecht erhalten: »Nimmt man alles zusammen, so hat man vor sich die 
Elemente einer ganz neuen Kunst, mit einem Inhalt, der so alt ist wie 
die Welt.« 


*) Die Gefälligkeit Dr. Maurers, mir die Photographien nach dieser Chronik gesandt 
zu haben, sei auch hier dankbar hervorgehoben. 


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Neue Dubroeucqstudien. 

Von Robert Hedicke. 

I. 

Die Ausstellungen von Lüttich, Charleroi und Tournai der letzten 
Jahre haben das Interesse für südniederländische Kunst neu belebt. Zwar 
gab es schon längere Zeit einen kleinen Kreis von Archäologen und Histo¬ 
rikern, welche sich um die Sammlung und Erforschung der Denkmäler 
des Moseltals, Hennegaus, Cambr&is, Tournlsis und der übrigen zum Teil 
heute mit Frankreich vereinten früheren Provinzen der Niederlande be¬ 
mühten, aber diese Bestrebungen blieben im kleinen Kreise der Kunst¬ 
freunde und fanden keine Resonanz in den weiteren Kreisen der wallonischen 
Bevölkerung. So ist die wallonische Kunst neben der mit Eifer und Erfolg 
auf breitester internationaler Basis behandelten viamischen Kunst von 
van Eyck bis Rubens das Stiefkind der Forschung geblieben, so ist auch 
der Plan einer Dubroeucqmonographie von Devillers-Pinchart an der Interesse¬ 
losigkeit der Zeitgenossen gescheitert. Erst die neuere politische Bewegung 
hat das Interesse weiterer Kreise für wallonische Kunst aufgerüttelt. Die 
Ausstellung Arts Anciens du Hainaut in Charleroi vcn 1911 führte zum 
erstenmal Dubroeucqs erhaltenes Werk möglichst vollständig vor und war 
für die weitesten Kreise eine erste Offenbarung. Man entdeckte einen neuen 
großen Meister, der bisher unerkannt im Herzen des Hainauts geruht hatte. 
Man bemerkte plötzlich auch, daß in einem Brüsseler Museum eme fast 
vollständige Sammlung von Gipsabgüssen seiner Werke vorhanden war, 
an der man bisher blinden Auges so oft vorübergegangen war. Nun auf 
einmal ist während einer Ausstellung ein großer Meister entdeckt worden 
und wird allenthalben verkündet. 

Als wir im Jahre 1901 auf einer Orientierungsrei&e durch Belgien 
und Holland zum erstenmal St. Waudru besichtigten, drängte sich uns die 
Bedeutung dieser Skulpturen mit der Kraft einer Offenbarung auf, und je 
vollständiger unsere Kenntnis der Werke der Zeit wurde, um so bestimmter 
wurde unsere Überzeugung, daß hier das erheblichste plastische Talent 
des 16. Jahrhunderts in den Niederlanden vor uns stünde, und daß der- 


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Neue Dubroeucqstudien. 


403 


jenige, welcher die Plastik dieser Zeit beschreiben wollte, mit Dubroeucq 
beginnen müßte. Da wir rein wissenschaftliche Ziele verfolgten, so bedeutete 
die allgemeine Interesselosigkeit der Landsleute keine Abschreckung für 
uns und, begleitet vom warmen Beifall eines Leopold Devillers und Henri 
Hymans, wuchs unser Interesse am Gegenstände beständig. Als das Werk 
mit frohem Wagemut beendet, kam allerdings eine Enttäuschung: Ab¬ 
lehnung, freundliches Achselzucken, eisiges Schweigen. Die belgischen 
Archäologen können kein deutsches Buch lesen aus Sprachunkenntnis und, 
da auch Berufene schwiegen, so war der einzige freundliche Ruf in der Wüste 
die warme Besprechung von Max Rooses. Selbst Mons blieb — trotz Devillers 

— ohne Widerhall, fast in Ablehnung: vous avez 6rig6 un monument, mais 
je ne sais lire votre livre, so schrieb man uns. 

Doch: qui vivra verra. Es ist das Verdienst von Emile Dony in Mons, 
mit warmer Begeisterung für Person und Werk des alten Bildhauers Hand 
angelegt zu haben und in selbstloser und ausdauernder Arbeit den 
französischen Dubroeucq *) geschaffen zu haben. Nun kam Charleroi, 
nun las man die Nachrichten über den Meister, lernte alle bekannten Werke 
kennen, Politiker setzten sich für die wallonische Sache ein, nun scheint 
mit einem Schlage der Künstler von Mons bekannt und gewürdigt zu werden. 

II. 

Dony hat von neuem die Archive des Hainaut durchforscht, Altes 
nachgeprüft, Neues gesucht. Leider war die Ausbeute gering. Dubroeucq 
hat 1544 den Plan für ein Rathaus in Bavai geliefert, von dem heute nichts 
mehr vorhanden ist. Ein Plan für den. Wiederaufbau des Schloßturms von 
Mons 1549 wurde nicht ausgeführt. Der Meister hat außer in Mons auch in 
Morlanwelz und Binche Häuser besessen. Einige Details über Wohnhaus, 
Werkstatt und Straßennamen in Mons hat Dony berichtigt, sonst das 
Gegebene als richtig bestätigt. Also ist im ganzen wesentliches Neues nicht 
hinzugekommen. 

Wichtiger sind die vier neuen Skulpturen aus Privatbesitz, die in 
Charleroi ausgestellt waren und von denen die französische Ausgabe will¬ 
kommene Abbildungen bietet. Das Medaillon mit Gottvater (20 cm hoch) 
aus den Sammlungen des Schlosses Mariemont von Raoul Warocqu^ stammt 

— wir glauben es gern — aus den Trümmern der Kapelle von Mariemont. 

>) R. Hedicke, Jacques Dubroeucq von Mons, Straßburg, Heitz, 1904; R. Hedickc, 
Jacques Dubroeucq de Mons, trad. de l’allemand par Em. Dony, pr^face de Jules Destr^e, 
avant-propos de Em. Dony, 8 planches et un plan, Supplement: un album in 4 0 de 42 photo- 
typies: Annales du Cercle Archlologique de Mons, tome 40, Mons 1911 et Bruxelles, 
G. van Oest, 1911. 

Repertorium für Kunstwissenschaft XXXV. 27 


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404 


Robert Hedicke, 


Schon Dony weist auf die Inventarstelle hin: ung tableau d’alebastre, oü 
est le cruxifiement de Nostre Seigneur et Dieu le p&re par dessus, enchassl 
au bois dor£, estant dedans une custode paincte de noir servant sur l’autel 
(D 14 Anhang). Danach befand sich auf dem Hauptaltar von Mariemont 
eine Kreuzigung mit Gottvater darüber in Goldrahmen und schwarzem 
Kasten. Es überrascht, daß Gottvater in Medaillonform erscheint. Bestand 
der Altar nun aus zwei getrennten Alabastertafeln oder ist das allein erhaltene 
Fragment später als Rundmedaillon zurechtgeschnitten worden ? Wenn das 
letztere der Fall ist, so kann man die Tafel nicht als Rundkomposition be¬ 
urteilen, dann ist die schöne Füllung des Runds nur zufällig entstanden; 
ist dagegen das Relief ursprünglich als Rundkomposilion gearbeitet, so 
müßte man diese als vortrefflich rühmen. Da wir keine Bedenken gegen die 
Attribution an Dubroeucq und die Provenienz haben, so folgt, daß der Gott¬ 
vater um 1552 (D 5) von Dubroeucq gearbeitet sein wird. In der Formen- 
gebung ist die stärkere malerische (optische) Behandlung gegenüber der takti¬ 
schen Tektonik der Lettnerkompositionen bemerkenswert. Zwar ist die Mittel- 
senkrechte der beiden Köpfe noch eingehalten, wenn auch die Mittellinie 
des oberen Kopfes schon leicht umsinkt, aber schon in den Armen ist weder 
symmetrische noch kontrapostische, sondern frei malerische Anordnung 
angewendet. Der freie weiche Fluß der Gewandsäume, das rieselnde Leben 
des Haares, die beginnende optische Auflösung der taktischen Gesichts¬ 
formen, die teigigen Wölkchen, das Weichfließende der gesamten Kom¬ 
position: das sind sämtlich Anzeichen barocker, d. i. optisch-fernsichtiger, 
disharmonischer Tendenzen *), wenn auch der streng symmetrisch gestellte 
und sockelartig wirkende Cherubim bis auf die verschwommenen Gesichts¬ 
züge eine Renaissanceschöpfung ist. Dieses Medaillon. Dubroeucqs würde 
also aussagen, daß der Meister um 1552 neben den reinen Renaissance¬ 
tendenzen auch barocken Neigungen huldigte. 

Gegenüber den beiden Relieffragmenten der »Mannalese«, die, wenn 
ich recht verstehe, der Sammlung des Abb£ Puissant in Herchies entstammen 
und die Dony unter die menues tailles d’albätre des Lettners von Mons 
einreihen will, kann ich allerdings Bedenken nicht überwinden, sachliche 
und stilistische. Im ersten Entwurf des Lettners waren die Hauptreliefs 
dem Alten Testament (Genesis) entnommen; in der Ausführung findet man — 
ausschließlich — Geschichten des Neuen Testaments. Wie soll man also 
die Mannalesc cinreihen? Oder ist sie der einzige Rest einer älteren Reihe 
aus dem Alten Testament, die später verworfen wurde? Dem widerspricht 
der Stil dieser Fragmente; denn hier steht man vor malerischen Flachreliefs 
einer reifen routinierten Hand, welche Dubroeucq — wenn überhaupt — 

*) t'ber die hier angewandte schästhetischc Terminologie vgl. den Fünften Teil 
meines Floriswcrks (im Druck). 


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Neue Dubroeucqstudien. 


405 


erst nach 1550 zuzutrauen ist. Verhältnis von Figur und Grund, sowie fort¬ 
geschrittene fernsichtig verschwommene Formenbehandlung in duftigem 
Flachrelief zeigen an, daß man hier barocke plastische Gemälde späterer 
Zeit vor sich hat. Hand und Form des Meisters von Mons ist und bleibt 
bis ins Alter eher taktisch gediegen als optisch routiniert, und er schafft eher 
Renaissance als Barock. So glauben wir diese Fragmente einem unbekannten 
lokalen Meister der Nachfolge .Dubroeucqs aus der Zeit des Beklagungs- 
reliefs von Mons um 1600 zuschreiben zu müssen. 

Ebenfalls vor interessante stilistische Probleme führen die beiden 
Kapitelle der Sammlungen Warocqu^ und Puissant, deren Provenienz aus 
den Trümmern von Mariemont wir ebenfalls nicht bezweifeln. Die Frage 
nach dem Kapitell Dubroeucqs wird dadurch neu angeregt und kompliziert. 
Die genannten Stücke zeigen nämlich eine ausgesprochen struktive — also 
gotische — Behandlung der antikischen Formen: Trennung von struktiv 
wirksamen und füllenden Teilen, zu dünne Stengel für breite durchbrochene 
Voluten, spätgotisches Blattwerk im Übergang zu arabeskem Blattwerk, 
noch keine Harmonie zwischen taktischer und tektonischer Form, sondern 
struktiv optische spätgotische Formenbehandlung. Also führen diese 
Kapitelle das erste Übergangsstadium vom spätgotischen zum italienischen 
Kapitell vor Augen. Die nächste Stufe findet man in zwei Kapitellen aus 
Boussu, heute in Ste. Waudru (Taf. 25) mit ausgesprochen arabesken 3 ) 
Eckfüllungen und Blättchen in rein taktischer Formgebung auf einer rein 
antikischen Säule. Das ausgebildete Renaissancekapitell Dubroeucqs ist 
dann im Geißelungsrelief, im Magdalenen- undWaltrudisaltar in rein taktischer 
italienischer Gestalt erhalten. Also läge in den beiden Stücken aus Mariemont, 
dem spätesten Werk, die stilistisch früheste Stufe des Dubroeucqkapitells 
vor. Wir vermögen diese chronologische Schwierigkeit nicht aufzulösen. 
Vielleicht liegen hier doch frühe Kapitelle aus Binche vor! 

Was die Neuauflage des Stichs Onghena (mit Retouchen von L. Greuze) 
betrifft, so hat der Stich vor dem verwischten Original des Staatsarchivs 
den Vorzug größerer Deutlichkeit. Und doch hätte ich persönlich eine große 
Reproduktion des Originals lieber gesehen, das doch selbst in meinem kleinen 
Lichtdruck ziemlich viel sagt, weil ich auf dem Standpunkt stehe, daß 
Dokumente ohne Zwischenhand mechanisch zu reproduzieren sind. 


III. 


Im folgenden seien einige zufällige Beobachtungen und Neuforschungen 
angereiht, welche zum Teil schon in der französischen Ausgabe als Addenda 
de l'auteur gegeben sind. 

3 ) Auch für meine Bezeichnung »arabesk« muß ich auf den Vierten Teil meines 
Floriswerks verweisen. 



* 


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406 


Robert Hedicke, 


Zur Genesis des Stiles Dubroeucqs in seinen Lettnerskulpturen scheinen 

mir zwei Werke der 70er Jahre des 15. Jahrhunderts in Rom, die kürzlich 

näher bekannt geworden sind, nicht ohne Bedeutung. Es handelt sich um 

das Grabmal Pauls II. und das Tabernakel Sixtus’ IV., dessen Fragmente 

sich heute noch schwer zugänglich in den Grotten des Vatikans befinden, 

und welche jetzt von Burger *) nach Tschudis Vorgang der Forschung in 

guten Abbildungen vorgelegt worden sind. Danach scheint es, als ob 

Dubroeucq diese Werke gekannt und Skizzen danach sein späteres Schaffen 
• • • 
beeinflußt hätten. Nicht als ob Einzelfigur, Bewegungsmotiv und Gruppen- 

bildung als solche direkte und wörtliche Entlehnungen aufwiesen, vielmehr 
ist es der Menschentypus, die Gesichtsstruktur, das Kriegerkostüm, Arm- 
und Beinbildung, Gesichtsausdruck, der Reliefstil, welche charakteristische 
Verwandtschaften erkennen lassen. So findet sich auch hier (Ib. XXVIII Taf. 
S. 102, 150) das für einzelne Reliefs des Meisters von Mons so bezeichnende 
öffnen des Mundes. Vergessen wir nicht, daß hinter diesen Bildungen eines 
Mino, Dalmata und Pietro Paolo d'Antonisio die Reliefs der Trajanssäule 
als Muster stehen, und daß in Dubroeucqs Stil der rafaelische Ausdruck, 
sowie Anatomie und Bewegung des Michelangelo wesentliche Elemente 
der neuen Legierung sind. Irr dieser Verschmelzung verschiedener italienischer 
Stile und heimischer Tradition zeigt sich so recht das Wesen des Eklektikers 
und Akademikers Dubroeucq und ein charakteristischer Zug dieser Zeit der 
niederländischen Renaissance. Im Paulsgrab findet sich auch ein Auf¬ 
erstehungsrelief, das die Komposition Dubroeucqs im Gewände italienischer 
• - • 

Frührenaissance gibt. Gewiß, das Relief des Lettners hat die Architektonik 
der Hochrenaissance in der Gruppenbildung, barocke Züge im schräg ge¬ 
stellten Sarkophag und in der absichtlichen michelangelesken Bewegung 
Christi 5 ) erhalten. Vielleicht hat aber eine solche Reliefskizze Dubroeucqs 
Arbeit als Ausgangspunkt gedient (Florent. Grabmal Taf. XXVI). Sind 
doch auch die Engeltypen der Glorie des oberen Aufsatzes (Ib. XXVII Taf. 
S. 132 und 136 f.) in der Gesamtbildung möglicherweise Vorbilder für die 
Engel des Madonnenreliefs von St. Omer. Sicherlich: die Madonna dieses 
Werkes ist stark rafaelisch, in der Gesamtkomposition ist bodenständige 
Tradition aus Plastik (Votivrelief) und Malerei (Davidschule) verarbeitet, 


4 ) Fritz Burger, Das florcntinische Grabmal, Straßburg 1904, S. 244 ff.; Ib. preuß. 
Kunstsammlungen XXVII 1906 S. 129 ff., XXVIII 1907 JS. 95 ff., 150 ff. Dort die ältere 
Literatur. 

5 ) Im Gegensatz zu Text S. 94 f. möchte ich das Michelangeleske heute in der ab¬ 
sichtlichen Übertreibung des Bewegungsmotivs sehen, welche barocken Geistes ist. Vgl. 
auch den Stich des Dirk Volkaert Coomhert nach Heemskerk in der Albertina (Nieder¬ 
lande Bd. VII), welcher die Auferstehung in ähnlichem Geiste darstellt. 


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Neue Dubroeucqstudien. 


407 


endlich gibt es noch manche italienische Engelsbildungen 6 ), welche als 
Vorbilder mit demselben Recht genannt werden könnten. Aber-die Gesamt¬ 
heit der Anklänge und Zusammenhänge läßt es als möglich erscheinen, daß 
diese Frührenaissancewerke für den Stil des Meisters von Mons anregend 
gewesen sind. Auch hier erkennt man, wie die niederländischen Meister 
dieser Zeit nicht wörtlich nachahmen, sondern im Sinne einer Stilver¬ 
schmelzung arbeiten deren Elemente oft sehr merkwürdig und zufällig sind. 
Man kann diese Elemente aufdecken und verstehen, ohne ein Gesetz für 
diese Neubildungen zu finden. Jeder einzelne Fall ist wieder neu und eigen¬ 
artig in seiner Synthese. 


IV. 

Zum Beklagungsrelief (Text S. 99 f.) habe ich nachzutragen, daß 
dieses Relief nicht in den Kreis des Dubroeucq gehört, sondern eine Stil¬ 
verschmelzung zwischen niederländischer Tradition (Rogiers Kreuzabnahme 

• • 

u. a.) und der Behandlung des Themas durch Goujon (Lettner von St. Germain 

♦ 

l'Auxerrois, jetzt Louvre) und Germain Pillon (Bronze, Louvre no. 245) 
ist. Goujon und Pillon sind wiederum durch venezianische Vorbilder, wie 
das im Text genannte Santorelief Sansovinos und das Bronzerelief des Louvre 
von Andrea Riccio (Gaz. Beaux Arts XIV p. 513 Abb.) stilistisch angeregt 
worden. Was den Meister des Reliefs von Mons betrifft, so vermag ich nicht 
zu sagen, ob Louis Ledoux in Betracht kommt. Ich würde einen nieder¬ 
ländischen Künstler um 1600 als Bildhauer vermuten. Nach einem flüchtigen 

• • 

Reiseeindruck, den ich seither nicht nachprüfen konnte, scheint es dem 

Bronzerelief Pillons - am nächsten zu stehen. 

# 

\ 

V. 

Bei Gelegenheit meiner Florisstudien fand ich, daß Dubroeucq sich 
auch an einem epochemachenden Unternehmen jener Zeit beteiligt hat, 
allerdings ohne Erfolg: ich meine den Wettbewerb um das Antwerpener 
Rathaus von 1560, bei dem Cornelis Floris Sieger blieb. Es ist bedauerlich, 
daß Dubroeucqs Entwurf für ein Rathaus in Antwerpen nicht erhalten ist. 
Das würde mit einem Schlage Licht in die architektonischen Anschauungen 
des Meisters von Mons in einer Zeit werfen, die bisher in völliges Dunkel 
gehüllt ist, da Werke nicht bekannt sind. Vgl. G^nard, Biogr. nat. VII 
Cornelis Floris; Hedicke, Cornelis Floris, Erster Teil Kap. VI. 


6 ) Vgl. Fragmente des Grabmals Fonteguerra in Pistoja, eines unvollendeten Werkes 
Verrocchios, bei Bode, Plastik in Toskana, Tafeln und Mahres de l’art, Verrocchio, Paris 
1906. . ' 


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408 


Ro b ert Hedickc, 


VI. 

Im Katalog des Marcanton von H. Delaborde (Paris 1888 p. 187 ss., 
Bibi, internat. de l'art) ist eine Folge von Theologischen und Kardinal¬ 
tugenden notiert, deren Vorzeichnungen im allgemeinen Rafael zugeschrieben 
werden und welche Delaborde dem Giulio Romano gibt. Obgleich die 
Originalserie uns bisher nicht zu Gesicht kam, so geben doch die beiden 
Reproduktionen des »Glaubens« und der »Gerechtigkeit« bei Delaborde 
den Eindruck, daß diese Serie eine der Inspirationsquellen Dubroeucqs 
für die Lettnerstatuen (Taf. XIII bis XVI) gebildet habe, so sehr stimmen 
Formen, Anatomie, Gewandstil und Gesamtcharakter des Stils überein. 
Bewegungsmotive und Gewandmotive entspiechen sich zwar nicht wörtlich, 
aber das bedeutet nicht viel gegenüber der Beobachtung, daß die nieder¬ 
ländischen Meister dieser Zeit meist umformen und durchaus nicht wörtlich 
entlehnen. So erscheint es einleuchtend, daß Dubroeucq aus Rom diese 
Stiche Marcantons mitgeführt und daheim bei seinen eigenen Figuren¬ 
kompositionen als Anregung verwertet hat. Für die Genese seines plastischen 
Stils und dessen Bewertung ist diese Beobachtung nicht ohne Bedeutung. 

VII. 

Wie ich höre, soll eine Rekonstruktion des Lettners im Querschiff 
von Ste. Waudru erwogen werden und schon ein Projekt von Herrn Dufour 
vorhanden sein. Kürzlich hat sich auch Henry Rousseau, Konservator des 
Cinquantenaire-Museums, hierzu im wesentlichen zustimmend geäußert 7 ). 
Ich selbst habe schon 1904 in meinem Buche (S. 18 bzw. 27 ed. Dony) Stellung 
genommen und damals entweder (und als bei weitem am besten) die Rekon¬ 
struktion — in echtem oder unechtem Material — in Ste. Waudru am alten 
Orte, oder zweitens die unechte Rekonstruktion im Cinquantenaire-Museum 
in Brüssel mit getönten Abgüssen oder endlich Einmauerung in richtiger 
Höhe in Ste. Waudru vorgeschlagen. 

Wir stimmen nun in allem mit Rousseau überein, nur nicht in bezug 
auf den Ort der Wiederherstellung: das Querschiff. Hier wird die Beleuchtung 
schlecht und falsch sein, hier wild man nur die Schiffseite rekonstruieren 
können und die Wirkung eine so unbefriedigende und unvollständige sein, 
daß wir lieber von einer Rekonstruktion ganz abraten, als eine so unbe¬ 
friedigende Lösung zulassen würden. Wir sind also aus allen Gründen ein 
Gegner der Rekonstruktion im Querschiff. 

Warum will man das Werk nicht am alten Orte aufrichten und Belgien 
ein Wunderwerk der Kunst, Mons und dei Kirche eine weithin wirkende 


7 ) Wallonia, Organe de la Sociltl Amis de l’art wallon, 1912, p. 95 ss. 


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Neue Dubroeucqstudien. 


409 


Anziehungskraft wiedergeben? Aus Kultusgründen? ln vielen belgischen 
Kirchen sind Meisterwerke der Lettnerkunst vorhanden und stören dort 
ebensowenig, wie Dubroeucqs Lettner in Mons stören wird. Es ist nur nötig, 
sich an den neuen Gedanken zu gewöhnen und einige Vorurteile zu über¬ 
winden. Die Kosten werden gering sein, wenn man Imitationen anwendet. 
Was die Ausführung betrifft, so sind wir durchaus der Ansicht Rousseaus, 
daß an Stelle der verlorenen Balustradenreliefs einfarbige Tafeln einzusetzen 
sind. Wohl haben wir selbst nachgewiesen, daß die Architektur- und Dekor¬ 
formen später verändert wurden, so daß der Originalentwurf keine absolut 
sichere Grundlage der Einzelausführung bildet. Wohl sind sicherlich keine 
der oben (unter II) behandelten Kapitelltypen am Lettner angewandt 
worden. Aber das sind geringfügige Bedenken. Man kann getrost Säulchen 
und Ornament in früher arabesker Dekorationsweise, wie ich diese in meinem 
Florisweik in Fülle nachgewiesen habe, ausführen und man wird höchstens 
einen kleinen Fehler begehen. Die Theologischen Tugenden wird man voraus¬ 
sichtlich nicht in Nischen, sondern auf Konsolen vor die Wand stellen 
müssen 8 ). Und was wird durch diese Rekonstruktion gewonnen? Nur mit 
heller Begeisterung kann man sich die bedeutende und feine Wirkung in 
der Phantasie an der Hand meiner Rekonstruktionszeichnungen vorstellen, 
welche die feine harmonische Schiffseite (Taf. III), die bedeutende ruhige 
Schmalseite (Taf. IV) und die reich monumentale Chorseite (Taf. V) hervor¬ 
bringen werden, wenn die warmen gelbbraunen Töne der Figuren und Reliefs 
in richtigem Licht und richtigem Rahmen erscheinen werden. Man lebe 
sich nur in den Gedanken dieser Rekonstruktion ruhig ein und gebe die 
Wiederherstellung im Querschiff aufl 

Und wenn wirklich dieser Plan als unausführbar scheitern sollte, 
dann erstehe der Lettner von Mons noch hundertmal lieber in den hellen 
Räumen des Cinquantenaire, als — ein verstümmeltes Glied — in der 
düsteren Querschiffecke von Ste. Waudru. 

Sollte keine Rekonstruktion zustande kommen, so müssen die Kunst¬ 
freunde allerdings mit Besorgnis die Frage stellen: Was soll aus den nun¬ 
mehr als wertvoll erkannten Werken Dubroeucqs in St. Waudru werden? 
Kann ein als Barbarei anerkannter Zustand, der wichtige nationale Werte 
bedroht, fortdauern? — Wir haben empfohlen, die Reliefs dann wenigstens 
in richtiger Höhe einzumauern, so zu konservieren und sehbar zu 
machen. 


*) Rousseau a. a. O. sagt irrtümlich, ich hätte das Abendmahlsrelief auf die Chor¬ 
seite verwiesen. Tatsächlich habe ich es in die nördliche Schmalseite eingeordnet, vgl. 
Taf. IV u. S. 36 bzw. S. 53 ed. Dony. 


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4io 


Robert Hedicke, 


VIII. 

Was Persönlichkeit und Stil Dubroeucqs betrifft, so haben jüngst 
J. Deströe und R. Dupierreux 9 ) diese Kunst als Erscheinung der wallonischen 
Rasse und Äußerung des g£nie latin erklärt. Da von belgischer Seite die 
Forderung einer liebevoll gefühlten Behandlung der Werke Dubroeucqs 
aus nationalem Herzen heraus erhoben worden ist, so mag ein Wallone sie er¬ 
füllen, und wir werden die Darstellung der feinsten ästhetischen und nationalen 
Werte in Dubroeucqs Werk und Persönlichkeit mit vollem Beifall begrüßen. 
Auch wenn die Begeisterung zu hoch emporlohen sollte, so kann dabei nur 
an Erkenntnis gewonnen werden, denn ein warmes Herz ist so recht eine 
Voraussetzung künstlerischen Erkennens in gewisser Beziehung. Möge 
nun ein Künstler sich über Dubroeucq äußern. 

Nur über des Meisters Verhältnis zu den Zeitstilen, zu Sehästhetik, 
Stilpsychologie und Weltauffassung im Rahmen seiner Zeit möchten wir 
hier noch einige Bemerkungen anschließen und im übrigen auf unser Floris- 
werk für die Gesamtkunst der Zeit verweisen. Zur Weltauffassung und 
Rasse haben wir dort bemerkt: »Eine Äußerung der Harmoniesehnsucht 
dieser Zeit, welche in Italien eine starke Nahrung gefunden hat, ist auch 
Dubroeucq in Mons. Sein Harmoniestil, seine maßvolle Schönheit, die 
Breite, Ruhe und Einfachheit seines Vortrags, seine detaillose, typische 
Idealform entsprachen vielleicht am besten der Sehnsucht dieser Zeit nach 
harmonischer Weltbetrachtung. Daß der Tropfen romanischen Blutes, 
den die Bewohner des Moseltals im weiteren Sinne in den Adern' tragen 
und der sich einigemal im gesteigerten Sinn für das Klassische in der Kunst 
geäußert hat, zur schnellen und sicheren Synthese dieses italienischen Stils 
mitgewirkt hat, sei durchaus nicht geleugnet. Doch erscheinen diese Rasse - 
äußerungen zu abgerissen und sporadisch, um daraus — neben zahlreichen 
anderen Kunstäußerungen — das Wirken des g£nie latin als dauernden 
Antriebes zu konstruieren, wie die Führer der neuesten wallonischen Be- 
wegung verkünden. Das Rassige in der Kunst spielt nur eine Nebenrolle, 
das Geistige ist das Konstituierende der Kunst und dieses Geistige ist etwas 
Absolutes und Historisches, in zweiter Linie Naturgeborenes. Auch andere 
Harmonieerscheinungen in der nordischen Kunst, wie die Naumburger 
Chorfiguren, die Skulpturen von Wechselburg, Schongauer, Jean Mone 
und nicht zuletzt Cornelis Floris und die Romanisten, sind — ebenso wie 
Ligier Richier, Goujon und andere französische Zeitbildungen — zum Teil 
und nur in eingeschränkterWeise mit demg^nie latin zu erklären. Das g6nie 
latin hätte dann nur sehr intermittierend gewirkt.« Wir fürchten, wollten 
wir alle »lateinischen Seelen« in der nordischen Kunst zusammenstellen, 

’) Vorrede der französischen Ausgabe und Wallonia März 1912. 




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Neue Dubroeucqstudien. 


411 

es würde eine bunte Gesellschaft werden. Nennen wir nur noch: Hans Brügge - 
mann und Konrad Meyt. Man sucht die Harmonieerscheinungen der wallo¬ 
nischen Kunst durch die Jahrhunderte hindurch zusammen, von Beauneveu 
dis Rousseau, wie die Rosinen aus dem Kuchen, reiht sie auf und konstruiert 
baraus die »filiation du g6nie latin«. Kann der Historiker diesem Verfahren 
zustimmen? 

Dubrocucqs Kunst ist eine romanisch-germanische Mischkunst. Destr^e 
und Dupierreux haben das romanische Element besonders betont. Wollte 
man das germanische Element herausheben, so müßte man auf das Solide, 
Materielle der Form, auf das Schwerfällige, aber Gehaltvolle des Ausdrucks 
bei Dubroeucq hinweisen, das zum Gehalten-Typischen, Maßvoll-Rhythmi¬ 
schen und Harmonischen veredelt ist. Von beiden Elementen, aus, dem 
romanischen und germanischen, ist der Aufstieg zum Klassischen möglich, 
von der Disharmonie des Lebens und Ringens zur Harmonie der Vergeisti¬ 
gung und Beruhigung von Form und Inhalt. 

Psychologisch ruht diese Kunst mehr auf dem Kunstverstand als 
auf dem frei schaffenden Gefühl, ist sie mehr auf objektive Typik als auf 
subjektive Individualbildung gerichtet. Im Verhältnis zu Zeitstil und 
Ästhetik folgt Dubroeucq dem Gesamtkunstwollen seiner Zeit. Vom anti- 
kischen Frühbarock seiner Trinitätsmedaillons vom Lettner gelangt er zur 

strengen Renaissance der Tugenden und Lettnerreliefs und — trotz einiger 

*• 

Schwankungen zum Barock — zeigt er sich im Alterswerk des Madonnen¬ 
reliefs noch als vorwiegender Renaissancemeister nach Rafaels Vorbild. 
Ästhetisch geht seine Entwicklung analog von freier optischer Wirkung, 
die ihm von der Spätgotik her zunächst näher lag und in Italien als neueste 
Phase bei Michelangelo wieder begegnete, zu strenger taktisch-tektonischer 
Formenarbeit, wie das Italien des Harmoniestils und der Hochrenaissance 
sie übte und wie sie in Dubroeucqs persönlich reflektierter Weltauffassung 
der Zeit eine starke Resonanz fand als: Maß und Harmonie der Seele und 
ihrer künstlerischen Äußerung in plastisch-tektonischer Form, sowie in 
maßvoll harmonischer Schönheit in Komposition und Ausdruck 10 ). 

n ) Neuerdings hat Dehio unserer Auffassung Dubroeucqs zugestimmt (Kunst- 
chro'nik 1912 no. 29), nachdem schon Woermann (Geschichte der Kunst III 1911) sie ge¬ 
billigt und eingereiht und Pirenne (Geschichte Belgiens III 1907) sie verwendet hatte. 
Devillers, Rooses, Hymans, Friedländer hatten von Anfang an zugestimmt, ohne daß ihre 
Stimmen zunächst Gehör gefunden hätten. — Frau Erica Tietze-Conrat ist mit ihrer Ab¬ 
lehnung des Buches, das sie — obgleich ohne spezielle Sachkenntnis — zu einer an leicht¬ 
fertigen IrrtUmern reichen Erstlingskritik auserkoren hatte, allein geblieben; meine »Er¬ 
widerung« haben die »Kunstgeschichtlichen Anzeigen« nicht aufgenommen. 


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Eine neue archivalische Notiz über Hans Pleydenwurff? 

Von Albert Gümbel. 

öftere Beobachtungen über gerichtliche Klagen, welche im 45. Jahr¬ 
hundert gegen Nürnberger Bürger vor dem Kaiserlichen Landgericht des 
Fürstentums Bamberg anhängig gemacht wurden, regten in mir den Wunsch 
an, die Protokolle dieses Landgerichtes auf etwa vorkommende Nürnberger 
Meisternamen durchzusehen. Das K. Kreisarchiv Bamberg hat mir dies 
durch die dankenswerte Übersendung einer größeren Anzahl dieser Protokoll¬ 
bände nach Nürnberg möglich gemacht. 

Gleich in dem ersten Bande, welcher die Jahre 1400—1447 umfaßt 
(Signatur: K. Kreisarchiv Bamberg, Selekt B, Gerichtsbücher Nr. 7 14), 
auf Fol. 359 b fand sich der folgende bemerkenswerte Eintrag: 

Judicium provinciale feria 2* post festum inclite virginis et Martiris 
Katherine [= 27. November] 1447. 

Albrecht Newensteter p[ostulat] zu den gotzhaußmeistern vnnd der 
gantzenn gemeind zu Weiden, vmb das sie in gen den Bleidenwurf zu 
bürgen versetzt haben vnd wollen in nit lösen, inmaßen sie im geredt haben. 
Besch [edigung] 20 guld. dingt im beßerung seins Spruchs. 

Wir kennen nun für so frühe Zeit (1447) keinen andern Meister, auf 
welchen sich diese Notiz beziehen könnte, als Hans Pleydenwurff, 
und da es sich bei jenem Gerichtsprotokoll wohl sicher um einen in Bam¬ 
berg seßhaften Künstler handelt — wenigstens fand ich durchaus keine 
Nürnberger Meister in diesen Protokollen erwähnt — wäre damit ein Hin¬ 
weis, vielleicht auf die Heimat, jedenfalls auf einen früheren Aufenthalt des 
Malers, der bekanntlich erst 1457 Bürger in Nürnberg wurde, gegeben. 

Persönliche Nachforschungen in Weiden, einem kleinen Dörfchen 
1 t /t Stunden Postfahrt von Burgkundstadt (an der Bahnlinie Bamberg-Hof), 
ergaben das Vorhandensein eines dem 15. Jahrhundert angehörenden Schnitz¬ 
altares mit etwa I m hohen Relieffiguren Marias mit dem Kinde, das eine 
Traube hält, Johannes des Täufers, der hh. Katherina und Barbara und des 
h. Sebastians, dann zweier Bischöfe. 

Indem ich mir Vorbehalte, an dieser Stelle nochmals eingehender darau 
zurückzukommen, möge heute nur die obige archivalische Notiz registriert sein 


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Albert Gtlmbel, Eine neue archivalische Notiz über Hans Pleydenwurff? 413 

Nachschrift: Nach Niederschrift dieser Zeilen kamen mir die 
überaus wertvollen Feststellungen Professor Leitschuhs in Bamberg in der 
»Kunstchronik« der Münchener Neuesten Nachrichten 1912, Nr. 409 zu 
Gesicht, in welcher er, bezugnehmend auf meine erste Mitteilung über den 
Weidener Altar im gleichen Blatte Nr. 377, darauf hinweist, daß in Bamberg 
1435 und 1447 ein Maler K o n r a d Pleydenwurff erscheint und eben im 
Jahre 1447 17 fl. für die Bemalung verschiedener Stadtpaniere erhielt. Die 
Frage bezüglich des Meisters des Weidener Altars — wenn wir überhaupt 
eine so frühzeitige Entstehung annehmen dürfen — hätte jetzt also zu lauten: 
Konrad oder Hans Pleydenwurff ? Albert Gümbel. 


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Johann Rudolf Rahn -j\ 

(24. April 1841 bis 28. April 1912.) 

Von Josef Zemp. 

Am 28. April 1912 ist in Zürich, 71 Jahre ait, Prof. Dr. J. R. Rahn 
gestorben. Der Kunstgeschichte seiner schweizerischen Heimat war sein 
überaus arbeitsvolles und an Erfolgen reiches Leben gewidmet. Niemand 
kannte so wie er das alte Kunstgut in der Schweiz. Die Zeit und die Schule, 
die ihn formten, haben freilich seine Interessen mehr auf das Mittelalter 
gelenkt als auf neuere Jahrhunderte. In seinem Kreis hat er erstaunlich 
vieles und immer tüchtiges geschaffen. Seine Gewissenhaftigkeit war nicht 
zu übertreffen. Er war die Ordnung selbst. Den Boden des Tatsächlichen 
zu verlassen, liebte er nicht; er hielt sich fern von der Sphäre genialer Speku¬ 
lation, und selbst naheliegende Schlüsse kombinierte er nur zögernd. Es 
war nicht seine Art, die Arbeit aus dem Handgelenk zu schleudern. Sorgsam 
wurde Stück an Stück geschlossen und nur Fertiges vom Pult gegeben. 
Unter allen Erscheinungen des künstlerischen Schaffens fesselte ihn die 
Architektur am meisten. Man darf diese Vorliebe als einen Ausdruck seines 
Naturells betrachten: seinen Neigungen entsprach das Feste, Große und 
Bestimmte. 

Aus romantischen Anregungen und aus der Lust am Zeichnen ist 
Rahn zur Kunstgeschichte gekommen. Der Apothekerssohn aus hoch¬ 
angesehener alter Zürcher Familie hätte Kaufmann werden sollen. Doch 
folgte er bald dem Hang, alte Bauten zu zeichnen und ihre Geschichte zu 
kennen. Ferdinand Keller, der eifrige Erforscher von vorgeschichtlichen 
und römischen Altertümern, bot dem Jüngling viele Anregung. In der Kunst¬ 
geschichte unterwies ihn Wilhelm Lübke, der seit 1861 in Zürich lehrte. 
Weiteres Studium führte Rahn nach Bonn zu Anton Springer und nach 
Berlin, wo er mit Eggers und mit jüngern Fachgenossen wie Alfred Wolt- 
mann in Fühlung kam. Daß ein Gegenstand aus der Geschichte der Bau¬ 
kunst zur Doktordissertation gewählt wurde, erscheint bei Rahn fast selbst¬ 
verständlich. Von den Resultaten der Arbeit »Über den Ursprung 
und die Entwicklung des christlichen Zentral • 
und Kuppelbaues« (Leipzig 1866) hat sich die deutsche Kunst - 


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Johann Rudolf Rahn f. 


415 


Wissenschaft dreißig Jahre lang nicht wesentlich entfernt. Die Selbständigkeit 
der römisch-abendländischen Tradition wird hier stark betont und die 
Bedeutung von orientalischen Einflüssen abgelehnt. Noch' im Jahre 1895 
hat Franz Xaver Kraus diesen Standpunkt eifrig verteidigt, wo er über¬ 
haupt noch zu halten war. Inzwischen freilich ist das Lehrgebäude er¬ 
schüttert worden; in Josef Strzygowski erhielt der Orient seinen gewandtesten 
Anwalt, und zur Stunde ist noch gar nicht abzusehen, wie die Entwicklungs- 
reihen in Zukunft lauten werden. Zur Zeit ihres Erscheinens mußte Rahns 
Arbeit über den altchristlichen Zentral* und Kuppelbau als die beste und 
gründlichste Darstellung des Gegenstandes gelten. Die Folge war, daß 
Karl Schnaasc den jungen Forscher zur Mitwirkung an der zweiten 
Auflage seiner großen Geschichte der bildenden Künste einlud. Rahn fiel 
die Bearbeitung des dritten, 1869 erschienenen Bandes zu. Ohne Zweifel 
hat diese Episode in seinem späteren Schaffen bedeutsam nachgewirkt. 
Er blieb als Gelehrter verwachsen mit jener ausgezeichneten Generation 
der Begründer der neueren deutschen Kunstwissenschaft, den Schnaase, 
Lübke, Springer. 

Im Herbst 1866 zog Rahn nach Italien. Erst in Rom, dann in Ravenna 
nahm er Hauptquartier. Es fesselten ihn die Bauwerke des frühen Mittel¬ 
alters; Zeichnen und Messen war das Hauptanliegen. Schon hier erlangte 
er im Aufnehmen jene seltene Fertigkeit, um die ihn jeder Architekt beneiden 
konnte. Der aufschlußreiche Aufsatz »Ein Besuch in Ravenna« 
(A. v. Zahns Jahrbücher für Kunstwissenschaft, 1868) ist eine noch heute 
sehr schätzenswerte Frucht der italienischen Studienzeit. 

Fortan galt die Arbeit des Forschers seiner schweizerischen Heimat. 
Rahn isolierte sich in engeren Grenzen, um dort das eigentliche Lebens¬ 
werk zu vollbringen. Ihm ist es fast allein zu danken, daß heute der größte 
Teil der schweizerischen Denkmäler der Kunstwissenschaft erschlossen ist. 
Alle Landesteile hat er als froher Wanderer durchstreift; noch im hohen 
Alter zeichnete er im Engadin und Oberwallis von Dorf zu Dorf. Grau- 
bünden, der Tessin, die französische Schweiz haben ihn besonders gefesselt. 
Die Skizzenbücher und die sorgsam in getuschter Federzeichnung aus¬ 
geführten Einzelblätter sind durch letztwillige Verfügung an die Stadt¬ 
bibliothek in Zürich übergegangen. Nicht nur als eine kostbare Sammlung 
kunstwissenschaftlichen Materiales wollen diese Schätze gewertet sein. ' 
Sie bekunden auch eine anziehende künstlerische Entwicklung und wecken 
die Sympathie des ßeschauers als reiner Ausdruck einer Wesensart, die sich 
nicht anders geben konnte, als klar, bestimmt und treu. Freunde und Ver¬ 
ehrer haben zum 70. Geburtsfest des Meisters am 24. April 1911 siebzig seiner 
Zeichnungen in einem Bande »Skizzen und Studien« heraus¬ 
gegeben. 


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4i6 


Josef Zemp, 


im Jahre 1868 richtete sich Rahn in Zürich häuslich ein, habilitierte 
sich 1869 an der Universität, wurde 1870 außetordentlicher, 1877 ordent¬ 
licher Professor; 1883, nach Gottfried Kinkels Tod, übernahm er auch das 
Lehramt der Kunstgeschichte an der Eidgenössischen Technischen Hoch¬ 
schule. 

Rahns Hauptwerk bleibt die Geschichte der bildenden 
Künste in der Schweiz von den ältesten Zeiten 
bis zum Schlüsse des Mittelalters (Zürich 1876). Wer 
die Bedeutung dieses Buches ermessen will, muß sich bewußt bleiben, daß 
noch kein Versuch einer zusammenfassenden Schilderung der schweizerischen 
Kunstgeschichte unternommen worden war. Weniges hatte überhaupt 
nur je in kunstgeschichtlichem Zusammenhang Erwähnung gefunden. Es 
handelte sich deshalb nicht sowohl um kritische Auswahl des Stoffes, und 
nur selten um bewußtes Unterdrücken unwichtiger Dinge; es galt vor allem, 
nach Vollständigkeit zu streben und der großen Menge von bisher unbe¬ 
kannten Denkmälern den richtigen Platz in der historischen Entwicklung 
anzuweisen. Mit vollem Recht genießt diese schweizerische Kunstgeschichte 
bei den Fachgenossen eiqes hohen Ansehens. Man darf die Frage wagen, 
ob eines der die Schweiz umgebenden Länder schon zu jener Zeit eine an 
umfassender Stoffbeherrschung und sicherem Urteil ebenbürtige Geschichte 
seiner nationalen Kunst besaß. Man begreift, daß das Buch in vielen Dingen 
durch neuere Sonderschriften ergänzt, überholt, berichtigt wurde. Zu solcher 
Vertiefung hat Rahn selbst den größten Teil getan. Das war in einer langen 
Reihe trefflicher Monographien, die immer für den strengen Geist seiner 
Forschung und für den weitumfassenden Kreis seiner Interessen zeugen. 
Im Repertorium für Kunstwissenschaft erschienen seine Aufsätze über 
Niklaus Mannei (III), über Wandgemälde zu Wyl (III), 
zur Geschichte der oberitalienischen Plastik (III), 
zur Geschichte der Renaissancearchitektur in der 
Schweiz (V), zur Deutung der romanischen Decken¬ 
gemälde in der Kirche von Zillis (V), Die Malereien 
aus dem Renaissancezeitalter in der italienischen 
Schweiz (XII). Die Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft in 
Zürich brachten die Monographien über Grandson und zwei 
Cluniazenserbauten der Westschweiz (1870). Die 
mittelalterlichen Kirchen des Zisterzienserordens 
in der Schweiz (1872), Die biblischen Deckengemälde 
in der Kirche von Zillis (1872), Die Glasgemälde in 
der Rosette der Kathedrale von Lausanne (1879), 
Die mittelalterlichen Wandgemälde in der italieni - 
sehen Schweiz (1881), Die Kirche von Obei winter - 


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Johann Rudolf Rahn f. 


417 


thur und ihre Wandgemälde (1883), Geschichte und 
Beschreibung des Schlosses Chillon (1887—1889), Die 
schweizerischen Glasgemälde in der Vincentschen 
Sammlung in Konstanz (1890), Die Casa di ferro bei 
Locarno (1891), Beschreibung des Klosters Kappel 
(1892), Das Fraumünster in Zürich (1900—1902), Schloß 
Tarasp (1909). Kleinere Aufsätze erschienen erstaunlich zahlreich im 
Anzeiger für schweizerische Altertumskunde. Von 1879 bis 1895 hat Rahn 
die Redaktion dieser Zeitschrift besorgt *). Eine Reihe trefflicher Studien 
veröffentlichte Rahn in den Mitteilungen der schweizerischen Gesellschaft 
für Erhaltung historischer Kunstdenkmäler. Nicht unerwähnt bleibe der 
noch heute hoch geschätzte Text zur Herausgabe des Psalterium 
aureum von St. Gallen (1878). 

Keinem Leser wird in Rahns Arbeiten die sorgfältige und oft aparte 
Behandlung der sprachlichen Form entgehen. Er liebte kräftigen Ausdruck 
und wußte charaktervollem schweizerischem Sondergut sein Recht zu 
wahren. Mit Conrad Ferdinand Meyer war Rahn eng befreundet; oft ließ 
ihn der Dichter in das Werden neuer Werke blicken. Solcher Verkehr hat 
dazu beigetragen, daß Rahn der formalen Seite seines Schrifttums die größte 
Sorgfalt angedeihen ließ, ln dem reizvollen Buche der »Kunst - und 
Wanderstudien aus der Schweiz« (1883) verbindet sich 
die Arbeit des Forschers mit der frischen Schilderung von Land und Volk. 
Die »Wanderungen im Tessin« sind das Meisterstück in dieser 
Sammlung. 

Nebenher ging das strenge Gelehrtenwerk. Schon seit 1872 opferte 
Rahn einen großen Teil seiner Arbeitskraft an die Inventarisation 
der schweizerischen Kunstdenkmäler, sein mühevollstes 
und deshalb ganz besonders dankenswertes Unternehmen. Es führte ihn 
immer wieder hinaus zu neuer Wanderung. Die Kunsttopographie Deutsch¬ 
lands von Wilhelm Lotz diente zunächst als Vorbild. Die Beschreibung 
der romanischen Denkmäler erschien im Anzeiger für schweizerische Alter¬ 
tumskunde von 1872 bis 1877, die der gotischen seit 1879. Die Aufzeich¬ 
nungen waren damals noch ganz kurz gefaßt, später wurde das Programm 
nach dem Muster der deutschen Inventarisationswerke erweitert. Als selb¬ 
ständige Bände erschienen die Beschreibungen der mittelalterlichen Kunst- 
denkmäler von Tessin (1893), Solothurn (1893), Thurgau 
(1899). Erst seit 1888 stellten sich Abbildungen ein, wofür der treffliche 
Zeichner zumeist selbst aufkam. Der Abschluß der ganzen Unternehmung 


') Der Anzeiger 1012, Heft 1, enthält ein Verzeichnis aller auf die schweizerische 
Kunstgeschichte und Altertumskunde bezüglichen Schriften Rahns. 


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418 


Josef Zemp, Johann Rudolf Rahn f. 


liegt noch in weiter Ferne und wird nur durch die Teilung unter zahlreiche 
Mitarbeiter zu beschleunigen sein. 

In allem Wirken Rahns treten die schönen und kräftigen Züge einer 
edlen Wesensart hervor. Er weckte unbegrenztes Vertrauen. Wo beraten 
und verhandelt wurde, räumte man ihm in völlig selbstverständlicher Weise 
die Geltung einer hohen Autorität ein. Schon das Äußere gewann die Sym¬ 
pathie und war ein vollkommenes Abbild des Charakters: die hohe, kräftige 
Gestalt, der energisch gemeißelte Kopf mit dem scharf geschnittenen Profil, 
das ruhig heitere Gehaben, der vollendet ritterliche Umgang. Wir bleiben 
dem Schöpfer und Führer der schweizerischen Kunstwissenschaft in dank¬ 
barem und verehrungsvollem Andenken verpflichtet. 


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Besprechungen. 


Richard Müller-Frcienfels, Psychologie der Kunst. Zwei Bände. 

Teubner, Leipzig. 

Allmählich, freilich für die Beteiligten noch immer zu langsam, 

nimmt die Erkenntnis zu, daß die Ergebnisse der psychologischen Forschung 

für das Verständnis der Kunstwerke sowohl in ihren Wirkungen als in ihrem 

Entstehen von größter Bedeutung sind. Und so mehren sich in neuerer Zeit 

die Bücher, die einer psychologischen Kunstwissenschaft dienen wollen 

und die Durchdringung beider Gebiete auf ihr Programm geschrieben haben. 

Das hier zu besprechende Buch gehört in diese Reihe. Der gewissenhafte 

Leser, der zuerst den Index und dann das Sachregister durchblättert, wird 

darin alle Probleme berührt finden, nicht nur die einer psychologischen 

Aufklärung unmittelbar bedürfen, sondern alle, die überhaupt unter einen 

psychologischen Gesichtspunkt gebracht werden können. • Da stehen die 

assoziativen und imaginativen Faktoren, die Vorstellungstypen, die Af* 

fekte, aber auch die Ausführung des Kunstwerkes, die künstlerische Technik, 

Klassiker und Romantiker und vieles andere. Es scheint unmöglich, etwas- 
• • 

mit der Ästhetik Zusammenhängendes zu finden, das hier nicht erörtert 
würde. Und wir schlagen das Buch auf und suchen nun die Aufklärung. 

Aber zu unserem Staunen finden wir, daß das Problem der Technik 
auf nicht ganz einer Seite behandelt wird, die Frage nach Form und Inhalt 
auf nicht ganz zwei Seiten, die zentrale Frage nach den Gründen für das 
Gefallen an Formen auf zwei und dreiviertel Seiten, die noch ganze sechs Zeilen 
über das Raumproblem enthalten! Allerdings sind hier noch drei Seiten über 
Symmetrie, zwei und eine halbe Seite über rhythmische Anordnungen, vier 
Seiten über die »schönen Linien« im allgemeinen, die auch das Ornamentale 
mit einschließen, und ungefähr eine Seite über das Monumentale angefügt. 
Über Raum findet sich auch noch an früherer Stelle eine kurze Notiz, die 
hauptsächlich aus Zitaten nach Hildedrandts »Problem der Form« besteht. 
Und so geht es fort. Fragen, von denen man vermutet, daß ihre Behandlung 
allein ein ganzes Buch füllen müßte, werden in unglaublicher Kürze be¬ 
sprochen. 

Repertorium für Kunstwissenschaft XXXV. 28 


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420 


Besprechungen. 


Wenden wir uns nun dem Inhalt im einzelnen zu. Wir finden Sätze 
wie: »Und lassen nicht am Ende die wundervollen Formen der Pflanzen¬ 
welt auf das Walten eines ästhetischen Triebes in der Natur schließen?« (I, 2). 
Oder, nachdem von persönlichen Erlebnissen auf dem Forum Romanum 
die Rede war, bei der Betrachtung eines entsprechenden Bildes: »Soll ich 
nun irgendeiner unbeweisbaren Kunsttheorie zuliebe diese ganz subjektiven 
und doch so reichen und schönen Erinnerungen zurückweisen?« (I, 62). 
Oder mit Berufung auf Gluck, Wagner, den Impressionismus, Dürer und 
Böcklin: »Im allgemeinen läßt sich z. B. sagen, daß die Romanen mehr auf 
das Sensorische, die Germanen mehr auf das Imaginative ausgehen« (I, 130). 
und kein weiteres Argument wird dieser Behauptung hinzugefügt. »Ori¬ 
ginalität ist fast immer gleich mit Abseitsstehen, die ganz Großen sind nie¬ 
mals originell in diesem Sinne« (I, 131). So geht es weiter und weiter, und 
schließlich haben wir kaum mehr erfahren, als auch schon im Index stand. 
Es wird eine Art Heerschau über die ästhetischen Fragen gehalten, aber 
sie werden nicht diskutiert. Der Verf. sucht weder eigene Meinungen zu be¬ 
gründen noch fremde, die er in kurzen Sätzen sehr zahlreich anführt, zu 
kritisieren, wenn unter diesen Tätigkeiten eben ein eingehendes Erwägen 
der möglichen Gesichtspunkte und Beispiele und die Vorbereitung eines 
systematischen Zusammenhanges verstanden werden soll. Wir erfahren 
nicht, welche von den psychologischen Anschauungen etwa für die Ästhetik 
fruchtbar sind, welche in Widerspruch mit den Tatsachen dieses Gebietes 
stehen oder welche vielleicht durch ihre Anwendbarkait in diesem 
Gebiet einen neuen Beweis ihrer Tragkraft hinzugewinnen, und leider 
muß auch noch beigefügt werden, daß einige der wichtigsten Ergebnisse der 
neuen Psychologie, die freilich einstweilen noch nicht unter die Gesichts¬ 
punkte der Ästhetik gerückt worden sind, aber doch für sie große Bedeutung 
haben, dem Verf. unbekannt zu sein scheinen, wie etwa die letzten Um¬ 
wälzungen im Bereich der Akustik, wie die neuen Forschungen über den 
Raum. 

In dieser Weise dürfte also die Aufgabe einer Psychologie der Kunst 
nicht gelöst werden können. Die verlangt nicht nur die umfassendste Sach¬ 
kenntnis, sondern auch eine zähe Hingabe an das Detail, und sie verlangt 
noch mehr. Ein großer Teil der ästhetischen Probleme setzt zu seiner Lösung 
Sicherheiten in bezug auf den psychologischen Sachverhalt voraus, die die 
heutige Psychologie einfach noch nicht geben kann, Unzählige Fragen stehen 
ja noch offen. Eine sei hier für alle anderen genannt, die der Verfasser nur 
leichthin und ohne jede Bezugnahme auf ihre Tragweite streift, die Frage 
nach den Gestalten, zeitlichen wie räumlichen, ihrer Existenz, ihrer Auf - 
fassung, ihrer Herkunft. Gerade die Unbekümmertheit, mit der der Verf. 
an allen derartigen Schwierigkeiten vorübercilt, zeigt uns, wie fern die Zeit 


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Besprechungen. 


42 I 

noch ist, in der die Möglichkeiten gegeben sein werden, die hier gestellte 
große Aufgabe in befriedigender Weise zu lösen. Aber damit soll allerdings 
nicht gesagt sein, daß die Psychologie für die Ästhetik noch nicht in Frage 
käme. Es sind in einzelnen Gebieten, wie etwa denen des Rhythmus oder 
des Farbensehens, außerordentliche brauchbare Vorarbeiten geleistet worden, 
und ohne Bezugnahme auf sie ist ein Fortschreiten nicht denkbar. Aber 
eine Lösung aller Schwierigkeiten und gar eine einheitliche Lösung ist heute 
noch nicht möglich. Allesch. 


M. Liefmann, Kunst und Heilige. Ein ikonographisches Hand¬ 
buch zur Erklärung der Werke der italienischen und deutschen Kunst. 
VI und 320 S. 8°. Jena, Diederichs, 1912. 

Verf. hat sich mit großer Liebe in ein ihm augenscheinlich von Hause 
aus fernliegendes Gebiet eingearbeitet. Das zur Anzeige stehende »Ikono- 
graphische Handbuch« — ein wohl etwas anspruchsvoller Titel — ist alpha¬ 
betisch angeordnet und bietet zunächst ein Verzeichnis der in der bildenden 
Kunst des Mittelalters mehr oder weniger häufig dargestellten Heiligen und 
biblischen Personen, das Nötigste aus der Legende und die Attribute der 
einzelnen Heiligen. Angeschlossen sind ein alphabetisches »Verzeichnis der 
Attribute der Heiligen, kurze Erklärungen der Symbole, der geistlichen und 
Ordenstrachten« und ein äußerst knappes »Register«. Die letztgenannten 
Verzeichnisse sind wenig befriedigend, zumal von dem Leserkreise voraus¬ 
gesetzt wird, daß er noch der ersten Orientierung bedarf. So wird z. B. 
unter dem Stichwort »Bischof« eine lange, aber doch nicht ausreichende Liste 
heiliger Bischöfe geboten, unter den »Jungfrauen« aber werden nur »Ursula, 
Praxedis und Pudentiana« genannt. Der erste Teil ist besser gearbeitet; 
angenehm fällt vor allem der würdige und angemessene Ton auf, in dem die 
legendären Stoffe besprochen werden. Aber auch dieser Abschnitt ist, wie 
sich aus der immensen Ausdehnung des hagiographischen Materials leicht 

s 

erklärt, nicht frei von erheblichen Versehen, auch redaktionell keineswegs ein¬ 
heitlich. Die (übrigens sehr entbehrliche) etymologische Deutung der Namen 
wird nur bei einem Teile der Stichwörter geboten; biblische Namen sollten 
nicht bald nach der Vulgata, bald nach Luthers Übersetzung zitiert werden, 
schematische Wendungen wie »St. N. N. wirkte auch zahlreiche Wunder« 
können vollständig wegfallen. Sehr selten versucht Verf. auf die so wichtigen 
Fragen nach der Entwicklungsgeschichte der einzelnen Attribute und der 
Einwirkung der Ikonographie auf die Gestaltung der hagiographischen Texte 
einzugehen, und wenn er es tut, ist er nicht immer von Glück begleitet, wie 
z. B. bei Erklärung des Schweines als Attribut des hl. Antonius. Das Richtige 
hierüber ist bei E. Male, L’art rcligieux du XIII. sicclc en France, Paris 1898, 

28* 


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422 


Besprechungen. 


p. 370 s., nachzulesen. Das dortselbst über die Heiligen Nikolaus, Martinus 
u. a. beigebrachte Material sollte von Lief mann bei der Revision der betreffen¬ 
den Artikel ebenfalls angezogen werden. 

Es sind also einige Wünsche, die an eine Neuauflage des Buches zu 
richten wären. Alles in allem ist nicht daran zu zweifeln, daß das Werkchen 
seinen Weg machen wird, denn das Bedürfnis nach ikonographischer Be¬ 
lehrung ist in den Kreisen angehender Jünger der Kunstwissenschaft wahr¬ 
haft schreiend. 

Berlin. 7 . B, Kißling. 


Mainzer Zeitschrift. Zeitschrift des Römisch-germanischen Zen¬ 
tralmuseums und des Vereins zur Erforschung der rheinischen Geschichte 
und Altertümer. Herausgegeben von der Direktion des Römisch-germani¬ 
schen Zentralmuseums und dem Vorstande des Mainzer Altertumsvereins, 
Schriftleitung: Professor E. Neeb, Mainz. Jahrg. VI, 1911, der neuen 
Folge der Zeitschrift des Vereins zur Erforschung der rheinischen Ge¬ 
schichte und Altertümer. Mainz 1911, in Kommission bei L. Wilckens, 
gedruckt bei Phil. v. Zabern, Großh. Hess. Hofdruckerei, Mainz. 

Das diesjährige Heft ist zwar an Inhalt und Abbildungen besonders 
reich, aber betrifft fast lediglich »Geschichte und Altertümer« und streift 
nur teilweise und wenig die Kunst, steht also ziemlich außerhalb des Rahmens 
dieser Zeitschrift. Zu nennen, wäre für uns etwa der einleitende Festgruß 
K. Schumachers zu Friedr. v. Duhns sechzigstem Geburtstag; eine Arbeit 
Behns über den schönen, von Napoleon III. dem Museum geschenkten alt- 
ionischen Bronzekandelaber aus der Wende vom 6. zum 5. Jahrhundert 
(abgebildet); Rudolf Pagenstecher, »Spruchbecher« (aus der Sammlung 
Häberlin in Frankfurt; abgebildet). Einiges von Belang für die Kunst¬ 
wissenschaft findet sich auch im Bericht über die Ausgrabungen im Legions¬ 
kastell zu Mainz während des Jahres 1910 von Behrens und Brenner (z. B. 
Sigillatagefäße und Lampen) und in Korbers Bericht über die 1909/10 ge¬ 
fundenen römischen und frühchristlichen Inschriften und Skulpturen. Er¬ 
giebiger ist Neebs Bericht über die Vermehrung der Sammlungen in 1909 
bis 1911. Die Ausgrabungen im Gebiete der Albanskirche haben Fundament- 
restc der Toranlage des Albansklosters (vermutlich!) zutage gefördert, andere 
Ausgrabungen die Fundamente der mittelalterlichen Gaupforten, sodann hat 
sich beim Theaterumbau ein gotischer Fliesenboden gefunden (farbige Ab¬ 
bildung). Namentlich sind einige mittelalterliche und Barockfiguren er¬ 
worben worden, z. B. eine Mainzer Sandsteinmadonna aus dem zweiten 
Drittel des 15. Jahrhunderts und eine Pietä des 18. Jahrhunderts (beides 
abgebildet). Ein interessantes Stück ist die gotische Pluvialschließe mit 


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Besprechungen. 


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Figuren (Abb.). Den Beschluß macht ein Aufsatz August Feigels über die 
»Waffenträgerin« im Altertums-Museum (abgebildet), ein zierliches kleines 
Sandsteinrelief wahrscheinlich mainzischer Kunstherkunft aus dem Anfänge 
des 15. Jahrhunderts. F. R. 


Kunstdenkmäler der Schweiz. Mitteilungen der schweizerischen Ge¬ 
sellschaft zur Erhaltung der Kunstdenkmäler. Neue Folge, Bd. V, 
VI, VII. Zemp u. Dürrer. Das Kloster St. Johann zu Münster in 
Graubünden. Genf, Atar A. G. 1906 fr. 

Das Werk, das jetzt mit der dritten Lieferung und einem Nachtrag 
abgeschlossen vorliegt, ist eine der interessantesten kunstgeschichtlichen 
Publikationen der letzten Jahre. Die Inventarisation eines Klosters, das, 
in einzig stimmungsvoller Umgebung am Kreuzungspunkt uralter Straßen 
gelegen, wichtigste frühmittelalterliche Kunstschätze aufbehalten hat, wird 
durch die geschickte Zusammenarbeit eines Historikers und eines Archi¬ 
tekten zu einem kunstgeschichtlichen Ereignis. Der Bericht, abgefaßt mit 
der exakten Gewissenhaftigkeit eines archäologischen Ausgrabungsreferats, 
läßt uns an der allmählichen Ausgestaltung des Klosters teilnehmen, als an 
Reflexen, die die großen Kulturereignisse in diese abgelegene Einsamkeit 
warfen. 

Das Monasterium Tubris, 805 zum ersten Mal in den Urkunden erwähnt, 
wahrscheinlich aber schon zwischen 780 und 786 gegründet und von der Tra¬ 
dition mit Karl dem Großen selbst in Verbindung gebracht, ergab den glück¬ 
lichen Entdeckern eine aufschlußreiche Fülle karolingischer Denkmale, über 
die jetzt bereits eine ganze Literatur existiert. Während von der karolingi¬ 
schen Klosteranlage sich nur die Lage im Norden der Kirche feststellen 
ließ, zeigte die Kirche selbst einen bisher unbekannten Bautypus, ein ein¬ 
schiffiges Langhaus mit drei Apsiden von hufeisenförmigem Grundriß, der 
sich aber zugleich an anderen Baudenkmälern Graubündens als der seit der 
Merowingerzeit dort übliche erwies. Er ist wahrscheinlich orientalischen 
Ursprungs, aber, nach Dvorak, durch Dalmatiens Vermittlung in die Schweiz 
gelangt. Auch die Formen des sogenannten »langobardischen« Flachorna¬ 
mentes wurden wohl dort, nicht ohne Einfluß des Orients, aus antiken Formen 
gebildet, z. B. das Krabbenmotiv aus dem »laufenden Hund«, sicher nicht 
aus Teppichfransen, wie Zemp will, kamen dann nach Italien und von dort 
über die Alpenpässe nach Münster, wo sich eine große Anzahl von Marmor¬ 
fragmenten des Stiles gefunden hat. Zemp denkt dabei an zwei mögliche 
Einflußkanäle, den Brenner und das Wormser (Umbrail-) Joch, von denen 


*) Kowalczyk-Gurlitt, Denkmäler der Kunst in Dalmatien. Berlin 1910, Taf. 70. 


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Besprechungen. 


indessen nur das letztere in Betracht kommen kann, dessen Fortsetzung 
unmittelbar auf Münster hinführt. Denn während jene Formen für die 
Schweiz fast die Bedeutung eines lokalen Stiles haben, wird ihre östliche 
Grenze durch die schönen Platten von St. Benedict in Mals bezeichnet, 
für die übrigens ein genaues Vorbild im Museum von Zara existiert, und 
in der Brennerlinie kommen sie überhaupt nicht mehr vor. So überraschend 
das ist — denn der Brenner wäre die natürliche Straße nach Norden —, 
so erklärt es sich ganz naturgemäß durch das damals sehr geringe kirchliche 
Bedürfnis im Gebiete der Ostalpen, im Gegensätze zu den wichtigen kirch¬ 
lichen Zentren auf dem Boden der Sehweiz. Andererseits haben sich in 
Münster beträchtliche Fragmente einer Ornamentleiste von überraschender 
Reinheit des irischen Stils gefunden, die in Stein geradezu als Unikum 
gelten muß. Hier an eine Ableitung von Norden her zu denken, etwa über 
St. Gallen, liegt sehr nahe; es muß dieses Stück gewesen sein, das Strzy- 
gowski veranlaßte, auch für die langobardischen Formen eine Invasion von 
Norden her anzunehmen. Immerhin ist es schwer zu entscheiden, ob nicht 
doch irgendwelche innerliche Beziehung der irischen Wurmverflechtungen zu 
den langobardischen Bandverflechtungen wirksam gewesen ist. 

Daß Dalmatien in erster Linie als Ausgangspunkt der »langobardi¬ 
schen« Formen in Betracht kommt, ergibt sich, sobald man aus den Münsterer 
Fragmenten ein Gebilde zu rekonstruieren versucht. Dann zeigt sich, daß sie 
unmöglich zu einem Abtstuhl gehört haben können, was Stückelberg vor¬ 
schlug, vielmehr alle eine Altarausstattung nach dalmatinischem Muster 
bildeten. Erhalten sind von den Chorschranken Reste der Brüstungsplatten, 
ihrer schmalen Randleisten und Fragmente eines kleinen VerbindungspfÖrt¬ 
chens in den Chorschranken mit säulengetragenem Giebel, ähnlich dem im 
Museum von Spalato *), nämlich ein oberer Eckpfosten der Chorschranken 
mit einer Säulenbasis (Fragm. 5) und die Dreieckspitze des wimpergartigen 
Giebels (Fragm. 1). Solche Giebel haben niemals zum Ziborienaufbau selbst 
gehört, woran Zemp denkt, vielmehr waren dort Bögen und Aufsätze selb¬ 
ständig aus einzelnen Stücken gebildet. In die Ecke eines Bogens des 
Ziboriumaufbaues, ähnlich dem von Arbe 3 ), dürfte Fragment Nr. 12 gehören. 

Eis ist überraschend, daß gleichzeitig mit der linearen Ängstlichkeit 
dieser Steinornamentik in Münster eine Malerei von außerordentlicher Frei¬ 
heit des Impressionismus geübt worden ist. Über den Wölbungen der spät- 
gothischen Kircheneindeckung, an den Hochwänden des karolingischen Baues 
haben sich die Reste von Wandmalereien erhalten, die die Verfasser mit 
Recht ebenfalls der Zeit um 800 zuschreiben, die also die einzigen auf uns 

2 ) Ebenda Taf. 62. 

3 ) Ebenda Taf. 87. 


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gekommenen Fresken karolingischer Herkunft sind. Was bis jetzt vorliegt, 
gestattet freilich nicht, sich ein genaues Bild von der Ausmalung der Kirche 
zu machen. Sicher ist nur, daß rings um das Schiff, unmittelbar .unter der 
Decke, ein Fries von Bildfeldern aus der Geschichte Davids lief, dem ober¬ 
halb der Apsiden im Triumphbogen eine Darstellung der Himmelfahrt nach 
syrischem Typus entsprach, und daß in diesen Apsiden die Dekoration mit 
einem ge.ralten Teppich abschloß, der wahrscheinlich um alle Wände 
gleichmäßig herumgeführt war. Denkt man nun an die charaktervolle Art, 
wie in S. Apollinare Nuovo in Ravenna die Basilikalanlage durch die De¬ 
koration gegliedert wird, wie etwa im Fries der schreitenden Märtyrer die 
Bewegung den Zug der Säulen zum Altar führt, so fühlt man in der Teppich¬ 
dekoration zu Münster ein so sicheres Verhältnis zur Wand als geschlossener 
Fläche, daß man auch hier an eine edlere Dekoration durch den malerischen 
Schmuck denken möchte, als an ein bloßes schachbrettartiges Aneinander¬ 
reihen von Bildfeldern, wie Zemp es vorschlägt. Es ist dringend notwendig, 
den Wunsch der Verfasser nach möglichst beschleunigter Bloßlegung der 
übrigen, wahrscheinlich noch ziemlich vollständig unter der Tünche der 
eigentlichen Kirche verborgenen Wanddekoration zu erfüllen, trotz der im¬ 
mensen Schwierigkeiten, die die Erhaltung der darüberliegenden späteren 
Fresken bereiten wird. Eine gleiche Möglichkeit, Klarheit über die Ten¬ 
denzen karolingischer Kunst zu erlangen, dürfte im deutschen Volksgebiete 
an keiner Stelle vorhanden sein. Dazu kommt der hohe künstlerische Wert 
der erhaltenen Fresken, besonders aus der Davidsgeschichte, dergegenüber 
freilich das neutestamentliche Bild etwas zurücksteht. Es genügt, auf die 
Charakteristik des mit dem Tode ringenden Absalom in der Therebinte zu 
verweisen, auf den bekümmerten David, der die Todesbotschaft erhält, 
oder auf die Fähigkeit des Künstlers zum plastischen Ausdruck des Körpers 
und seiner Bewegungen mit Hilfe impressionistischer Erkenntnisse. Der 
Stil ist von allenStilen der karolingischen Buchmalerei so weit entfernt, die Ge¬ 
mälde lassen selbst die gleichzeitigen Fresken von Santa Maria Antiqua so 
weit hinter sich, daß man in Verbindung mit dem syrischen Typus der Himmel¬ 
fahrt auch hier an hellenistisch-orientalische Abkunft wird denken müssen. 
Trotzdem möchte man mit den Verfassern an eine Vermittlung durch Ober¬ 
italien glauben, und von den vorgeschlagenen Zentren Mailand annehmen. 
Denn das Mailänder Palliotto zeigt in der Verkündigungsszene die Maria 
unter demselben eigenartigen Flachbogen und in der Ambrosiuslegende 
dieselbe dreieckige Wolkenzeichnung, wie sie in Münster sich so oft finden. 
Beides aber kommt in den andern Arbeiten von Reimser Schulung nicht 
vor, und die Annahme liegt nahe, daß die Formen beide Male in Oberitalien 
in die fremde Ausdrucksweise übernommen worden sind. Trotzdem geht 
es natürlich nicht an, die Münsterer Fresken einfach dem oberitalienischen 


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Besprechungen. 


Kunstkreis einzuverleiben, wie das ein italienisches Werk neuerdings 
getan hat. 

Die folgenden Jahrhunderte des Mittelalters haben seit dem Übergange 
des Klosters in den Besitz der Bischöfe von Chur die eigentlichen Konvent - 
gebäude geschaffen. Die Verf. nehmen drei Bauperioden an: eine Epoche, 
in der das Kloster Mönche und Nonnen beherbergte (900 bis etwa 1050), 
ferner das 12. Jahrhundert als die Zeit des Frauenklosters und schließlich 
das 13. Jahrhundert, die Zeit der Verehrung der heiligen Blutreliquie. 
Die erste Bauperiode bekommt ihren Mittelpunkt durch eine für 1087 ver¬ 
bürgte Neuweihe des Klosters, die auf intensivere Bautätigkeit schließen 
läßt. Kurz vorher scheint das Kloster verheert worden zu sein, möglicher¬ 
weise durch die Züge des Baiernherzogs Welf I. (1077 und 1079), der Kaiser 
Heinrich IV. die Alpenpässe verlegen wollte. Der Kaiser hatte den ihm 
genehmen Norpert von Hohenwart zum Bischof von Chur eingesetzt, eben 
jenen, der die Neuweihe von Münster vornahm und vielleicht selbst dort 
residiert hat. Dieser Zeit gehören die eigentlichen Klosterbauten an, Be¬ 
festigungsbauten, die das Tal sperren sollten und von denen nur noch Reste 
vorhanden sind, die beiden getrennten Kreuzgänge für Mönche und Nonnen, 
deren Zustand aber vielleicht doch nicht mehr der ursprüngliche ist, die 
vielmehr noch in den dicken Mauern Reste einer alten Anlage bergen könnten, 
und der Freskenschmuck in einem Raum neben dem nördlichen Kreuzgang. 
Dargestellt sind Kreuzigung und Kreuzabnahme, weiterhin aber wohl nicht 
Christus in der Vorhölle und die Auferstehung, was ikonographisch un¬ 
wahrscheinlich ist, sondern die Erscheinung Christi vor den Jüngern und 
vor Magdalena. Man darf hier aus der Analogie ottonischer Buchmalerei 
Schlüsse ziehen, weil die Kirche aus derselben Zeit ein außerordentlich edles 
Stuckrelief mit der Taufe Christi besitzt, das vom Verf. mit Recht in die 
Nähe des Kodex H III im Berliner Kupferstichkabinett gesetzt wird, eines 
Ausläufers der »Vögc-Schule« aus der Zeit Heinrichs IV. 

Es scheint aber sehr wahrscheinlich, daß die Tätigkeit im Kloster am 
Ende des 11. Jahrhunderts erheblich ausgedehnter war, als Zemp annimmt. 
Er glaubt, daß die in einer Urkunde zwischen 1167 und 1170 erwähnte Heilige 
Kreuzkapelle und die Doppelkapelle der Heiligen Ulrich und Nikolaus im 
nördlichen Kreuzgang erst jener zweiten Bauperiode angehören, während sie 
wahrscheinlich ebenfalls gegen das Ende des II. Jahrhunderts zugleich mit 
den andern Klostcrgebäuden entstanden sind. In den Gewölbekappen der 
Unterkirche befinden sich nämlich Stuckreliefs von Engeln, die nicht dem 
12. Jahrhundert, sondern unbedingt derselben Epoche, vielleicht sogar der¬ 
selben Hand gehören wie das Relief der Taufe. Es ist dieselbe Behandlung 
des Materials in Ornament und Figuren, derselbe Stil in Gewandbehandlung 
und Geste, dieselbe charakteristische Frisur mit dem gekräuselten Lockenende 


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und — soweit sich das bei der argen Zerstörung der Engel erkennen läßt — 
dieselbe Gesichtsformung. Zemp selbst sagt im Nachtrag, die Engelfiguren 
zeigten nach der Befreiung von der Tünche »die nämliche Schärfe der Arbeit 
wie das Relief der Taufe Christi«, ohne indessen eine Konsequenz daraus 
zu ziehen. Die stilistische Einheit wird unterstützt durch das gemeinsame 
Verhältnis zu der Elfenbeintafel mit dem thronenden Christus über Petrus 
und Paulus (K. V. 161) des Bayrischen Nationalmuseums, die stilistisch 
nicht nur in dem jugendlich bartlosen Christustypus, in den Faltenbewegun¬ 
gen und den Gesten der Taufe Christi entspricht, sondern auch denselben 
knollig umgestalteten Akanthus und den Perlstab der Engelreliefs in der 
Doppelkapelle zeigt. Ein perspektivisches Mäanderband, das unter der 
ehemaligen Flachdecke im Erdgeschoß hinlief, kann nach seiner Verwandt¬ 
schaft mit dem Burgfeldener Ornament sehr gut derselben Epoche ange¬ 
hören. Dagegen hat Zemp Recht, eine Stuckstatue Karls des Großen, die, 
arg übermalt und im 16. Jahrhundert ergänzt, in der Kirche steht, dem Ende 
des 12. Jahrhunderts zuzuweisen, womit das Zurückgehen der Stifterbild¬ 
nisse bis ins romanische Mittelalter erwiesen wäre. 

Es ergeben sich also zweierlei Folgerungen: Zunächst das Blühen einer 
Stuckatorenschule in Graubünden während des 11. und 12. Jahrhunderts, 
ja, wie die Stuckfragmente von Disentis lehren, vielleicht während der ganzen 
Dauer des Mittelalters und wohl in Zusammenhang mit der Stuckplastik von 
Cividale, das wiederum auf Dalmatien hinführt. Dem rätselhaften Auf¬ 
treten der norddeutschen Stuckplastik im 12. Jahrhundert geht also eine 
Ausübung der Technik auf deutschem Boden voraus. Inwieweit an direkte 
Beziehungen zu denken ist und auch italienische Stilelemente auf diesem 
Wege nach Sachsen vermittelt wurden, etwa zu den Quedlinburger Äbtis¬ 
sinnengrabsteinen, bedarf allerdings einer Untersuchung auf breiterer Basis, 
als im Rahmen dieser Rezension möglich ist. 

Ferner ergibt sich, daß die Doppelkapelle in Münster ebenfalls wie ihre 
Dekoration mindestens dem II. Jahrhundert zugehören muß, mithin die 
älteste Doppelkapelle ist, die wir überhaupt besitzen. Als solche würde sie 
in diese Zeit weit besser passen als in die folgende Bauperiode, in der nur 
Nonnen in Münster wohnten. Da zu jedem Stockwerk getrennte Zugänge 
führen, würde die Anlage der Kirche dem Bedürfnis eines gemeinsamen 
Gottesdienstes bei äußerlicher Trennung der Geschlechter entsprechen. Aber 
auch im Sinne der späteren Burgkapellen aufgefaßt, würde sie gegen das 
Ende des 11. Jahrhunderts, wo der Bischof und seine Mannen hier einen 
festen Sitz hatten, am ehesten entstanden gedacht werden können. Dann 
wäre der nördliche Hof als der des Männerklosters, der südliche als der des 
Frauenklosters aufzufassen, und wir hätten in der Heiligen Kreuzkapelle 


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Besprechungen. 




eine alte Nonnenkirche zu sehen. Immerhin ist mir die erste Annahme 
wahrscheinlicher. 

Andrerseits ist Zemps Datierung der Kapelle in die zweite Hälfte des 
12. Jahrhunderts bei ihm stets nur Voraussetzung, gestützt auf jene Ur¬ 
kunde, die aber von Gütern der Kirche spricht und mithin nur als Terminus 
ante quem gelten kann. Die Tatsache, daß die Mauern der Kreuz¬ 
gänge lockerer gefügt sind und zusammengeraffte Spolien von karolingi¬ 
schen Skulpturfragmenten enthielten, während dieKirchenmauern viel stärker 
gefügt sind, beweist doch nichts für ihr höheres Alter, könnte im Gegenteil, 
wie wir noch sehen werden, eher auf einen späten Notbau deuten. Zemp 
erschließt das höhere Alter der Kreuzgänge daraus, daß einer der Anbauten 
ein Fresko des 11. Jahrhunderts trägt, während die Dekoration der Doppel¬ 
kapelle dem 12. Jahrhundert angehöre. Allein das ist, wie oben ausgeführt, 
nicht der Fall, und der Nebenbau beweist nichts für den Kreuzgang selbst. 
Da Zemp die Heilige Kreuzkirche entsprechend der Ähnlichkeit ihrer Bau¬ 
formen gleichzeitig mit der Doppelkapelle entstanden denkt, so wird man 
diese interessante Trikonchenanlage unbedenklich ebenfalls dem II. Jahr¬ 
hundert zuteilen dürfen. Für die Erklärung des dreiblattförmigen Chores 
von St. Marien im Kapitol zu Köln, der nach den neueren Grabungen nicht 
durch ältere Fundamente bedingt 4 ), sondern im 11. Jahrhundert frei ge¬ 
schaffen wurde, ist die Existenz einer Kirche von gleichen Chorformen an 
einer Straße von Italien nach dem Norden sehr bedeutungsvoll. Daß Köln 
im früheren Mittelalter Beziehungen zu unserem Kunstgebiet unterhielt, 
ist allein durch sein Verhältnis zur Reichenauer Buchmalerei schon 
erwiesen. 

Für die dritte Bauperiode, die Zemp um die Weihe des Heiligen Blutaltars 
(1281) gruppiert, nimmt er die neue Ausmalung der ganzen Altarseite in 
Anspruch, die die karolingischen Fresken überdeckt hat und erst nach und 
nach zutage getreten ist; in den Chornischen das Martyrium des Stephanus, 
des Täufers Johannes, der Apostel Petrus und Paulus, im Triumphbogen 
Kain und Abel, links davon der Sündenfall, rechts das Lamm Gottes. Die 
typologischen Beziehungen der letzten Gruppe sind deutlich. Das Opfer 
Abels, dessen Lamm angenommen, und des Brudermörders Kain, das ab- 
gelehnt wird, galt schon dem hl. Ambrosius 5 ) als Symbol für Kirche und 
Synagoge. Zur Seite Abels entspricht das Lamm Gottes dem unschuldigen 
Tod des einen, zur Seite Kains die Vertreibung aus dem Paradies der 
Verbannung des andern. Daß Zemp das nicht erkannte, ist nicht so er¬ 
staunlich wie die Datierung aller dieser Fresken ins 13. Jahrhundert, während 


•*) (Festgabe des) Wallraff-Richartz-Museums. Köln 1911. S. 113. 

5 ) Ambr. Op. cd. Mignc I, 2. Expositio in Ev. sec. Luc. I, XV, p. 1628. 


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Besprechungen. 


429 


sie in Wirklichkeit ebenfalls dem 11. angehören. Nur ihre Zusammengehörig¬ 
keit zu einer Stilperiode hat er erkannt, obgleich gerade diese nicht ohne 
weiteres einleuchtet. Man muß hier nämlich zwei Stiltypen unterscheiden. 
Die Malereien des Triumphbogens mit dem bartlosen Christus-Gottvater 
des Sündenfalles, der noch von fast antiker Haltung ist, mit dem Pilzbaume, 
den Fächerblättern und dem perspektivischen Mäanderband, muten voll¬ 
kommen ottonisch an, während die Gestalten der Martyriumsszenen sehr 
hager gebildet und außerordentlirh temperamentvoll, fast tänzerhaft bewegt 
sind, sodaß Zemp von einer »Turnerpyramide« sprechen konnte. Nun finden 
sich dieselben beiden Stiltypen ganz parallel in den Fresken von Burgfelden 
auf der schwäbischen Alp, die im Jüngsten Gericht dieselben archaischen 
Typen, ja, sogar denselben perspektivischen Mäander aufweisen wie der 
Triumphbogen und die Doppelkapelle, während in den Martyriumsszenen 
eines Heiligen, der von drei Räubern erschlagen wird, die hagere Körper¬ 
bildung und die hastig manirierten Bewegungen wiederkehren. Daß die 
Fresken von Münster mit denen von Burgfelden, die bekanntlich unwider¬ 
sprochen und mit größtem Recht ins 11. Jahrhundert gesetzt werden, unbe¬ 
dingt gleichzeitig sein müssen, lehrt der erste Blick; daß zwischen beiden 
ein Zusammenhang besteht, der wahrscheinlich über Reichenau-Niederzell 
führte, ist ebenso klar. Die auffallende Differenzierung der Stiltypen an 
gleichzeitigen Werken wird erklärlich, wenn man daran denkt, wie gerade 
jetzt die Heiligenlegenden in den Vordergrund des Interesses treten, so daß 
für ihre Darstellung neue Formen geschaffen werden mußten, die für die 
biblischen Szenen bereits vorhanden waren. Denn diese temperamentvolle 
Darstellungsart findet sich in der gleichen Zeit noch öfter, aber stets nur bei 
Martyrien, so in der Gereonslegende des Krypta-Mosaiks von St. Gereon in 
Köln, das Renard 6 ) mit zweifellosem Recht dem annonischen Bau von 
1069 zuschreibt, und in dem Martyrium der Heiligen Blasius und Felix auf 
dem bekannten Abdinghofer Tragaltar zu Paderborn. Es ist für die Stil¬ 
herkunft unserer Freskengruppe sehr interessant, daß Renard bei dem Kölner 
Werke Beziehungen zur oberitalienischen Kunst annimmt. Leider kann 
man sich gerade von diesen Fresken nach der Zemp-Durrerschen Publikation 
nur schwer einen Begriff machen, da sie fast durchgängig in Umrißzeichnung 
gegeben worden sind und somit keine Feinheit der außerordentlichen schönen 
Zeichnung, geschweige denn die farbige Brillanz zum Ausdruck kommt. 
So ergibt sich, daß auf die Gründung des Klosters gegen das Ende 
des 8. Jahrhunderts drei Jahrhunderte später eine Neugründung folgte, 
verbunden mit neuer Weihe, wahrscheinlich veranlaßt durch Bischof Nor- 
pert. Sie begriff nicht nur einen vollkommenen Neubau der Klostergebäude 


6 ) Berühmte Kunststätten Nr. S. Renard, Köln. Leipzig 1907. S. 37. 


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Besprechungen. 


und Klosterkapellen in sich, sondern auch eine neue Dekoration der Kirche 
mit plastischem und malerischem Schmuck, der uns großenteils erhalten ist 
und sich dem karolingischen gleichberechtigt an die Seite stellt. Das 
Kloster St. Johann gibt auf die Fragen nach der Be¬ 
deutung des Heinricischen Stiles eine ebenso klare 
Antwort wie auf die nach der Bedeutung der karo¬ 
lingischen Kunst. 

Das hohe Mittelalter scheint also am alten Bestände wenig geändert 
zu haben. Erst der Brand von 1499 und die Zerstörungen des Schwaben- 
krieges veranlaßten wieder eine größere Bautätigkeit. Damals scheint auch 
erst der karolingische Ziborienaltar zerstört worden zu sein, nicht schon durch 
eine Erneuerung gelegentlich der Weihe von 1087. Vielmehr bezeugt das 
zerstreute Vorkommen der Fragmente an allen Stellen des Klosters, vor allem 
im Wohnturme der Äbtissin Angelina Planta (1479—1509), daß ein elemen¬ 
tares Ereignis die Reste zerstreut, eine schnelle Erneuerung sie wieder als 
Notmaterial benutzt hat. So ist diese spätgotische Bauzeit aufzufassen, 
die ’n die alte karolingische Kirche, deren hölzerner Dachstuhl verbrannt 
war, eine spätgotische, dreischiffige Hallenkirche einbaute, vielleicht den 
Kreuzgang erneuerte, neue Wohntürme und Wohnräume baute und sie mit 
Schreinerarbeiten ausstattete, die nichts weiter als gute Durchschnitts¬ 
leistungen lokaler Spätgotik sind, deren Meister von Zemp auch in der Nähe 
arbeitend nach gewiesen werden. Es ist gerade die spätere Vereinsamung dieses 
Alpentales, seine Entfernung von den Zentren der Interessen, die uns solche 
Schätze zweier Hauptperioden des frühen Mittelalters aufbewahrt hat. Man 
wird zugeben müssen, daß die vorliegende Publikation mit ihren exakten 
Grundrissen und Schnitten, ihren Autotypien und farbigen Reproduktionen 
diesen Bestand größtenteils so vorlegt, daß auf dieser Basis die Probleme, 
die hier gestellt werden, ihrer Lösung entgegengeführt werden können. 

Ernst Cohn-Wiener. 


J. L. Fischer, Ulm. (Berühmte Kunststätten Bd. 56.) Leipzig 1912. 

Das kompilatorisch zusammengestellte Buch brings nichts Neues und 
ist mit seinen fortgesetzten Anfeindungen der Untersuchungen gründlicher 
•Kenner der Ulmer Kunst nicht geeignet, den gebildeten Laien, der doch wohl 
der Hauptleser der »Berühmten Kunststätten« bleibt, in angenehmer Weise 
zu orientieren. Ulrich von Ensingens Vergrößerung des Münsters wird 
bezweifelt, Syrlin wieder zum Unternehmer gestempelt, Multschers Tätig¬ 
keit als Maler verneint usf. Dabei werden die Quellen überhaupt nicht oder 
nur mangelhaft genannt. Dehio, Klaiber, Carstanjen, Ncuwirth u. a. werden 
nicht einmal des Erwähnens für wert gehalten. Unter den Plastiken werden 


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Besprechungen. 


43 1 


Werke wie die Chorpropheten in einer verfehlten Fußnote abgetan, und 
Arbeiten von so einziger Schönheit wie die Chorkonsolen unerwähnt gelassen. 
Bei den Rathausfiguren müssen sich die interessanteren älteren Statuen 
mit einer kurzen Anführung begnügen, während die fünf späteren mit der 
Hypothese M. Schuettes (natürlich ohne den Autor zu nennen) vorgeführt 
werden. Bezüglich des Zusammenhanges der zwölf Botten mit der kölnischen 
Plastik verweise ich, um nicht pro domo redend zu erscheinen, auf die Unter¬ 
suchungen Dehios 1 ), der später, aber unabhängig zu den gleichen Resultaten 
gekommen ist wie ich. Da »es unwahrscheinlich ist, daß Syrlin auch nur 
eine Statue geschnitzt oder gemeißelt hat«, ergeht sich der Abschnitt über 
Syrlins Kunst in erschütternden Interpretationen (z. B. Seneca: »Seine 
Schriften, von ruhiger Entschlossenheit und hoher Lebensanschauung durch¬ 
zogen, erfreuten sich seit alters besonderer Wertschätzung der christlichen 
Theologie«). Von einem Versuch, uns nun doch den oder die Meister greifbar 
vorzuführen, ist keine Rede. Das Steinmetzzeichen Syrlins am Fischkasten- 
brunnen existiert für den Verfasser nicht. Gänzlich unzulänglich ist die 
Darstellung der Kunst Syrlins des Jüngeren und seiner Schule. Wozu werden 
dann überhaupt noch Forschungen von solcher Gründlichkeit wie die J. Baums 
angestellt ? 

In einem »Ulms Malerschule und die Entwicklung der übrigen Künste« 
genannten Kapitel tischt der Verf. wie in den vorigen abgetane Kontro¬ 
versen auf. Multscher kommt als Maler der Berliner und Stertzinger Bilder 
nicht in Betracht; von Schüchlin wird nur der nicht erhaltene Altar von 
Rottenburg, aber nicht der Tiefenbronner erwähnt und über Zeitblom und 
Schaffner nichts Neues gesagt. Glasmalerei und Goldschmiedekunst erfahren 
kurze Darstellungen. Allzu dürftig ist die Schilderung des Holzschnitts und 
Buchdrucks. Die Tätigkeit eines Künstlers wie des Hausbuchmeisters in 
Ulm wird übergangen. Außer einem Schwanengesange über die Reformation 
erfährt man in dem letzten Kapitel: Ulms Künstlerleben im Zeitalter der 
Renaissance und des Barocks nichts Neues über diese Epochen. Summa 
summarum: das Buch ist ein Führer, wie er nicht sein soll, und es ist nur 
der Aufwand und die treffliche Ausstattung mit guten Tafeln im Interesse 
des Verlages zu bedauern. Habicht. 


Rijks geschiedkundige publicatiön. Kleine Serie io. — 
Bescheiden in Italie omtrent nederlandsche kunstenaars 
en geleerden, beschreven door Dr. J. A. F. Orbaan. Eerste Deel. 
Rome. Vaticaansche Bibliotheek. 'S-Gravenhage 1911. 8°. 438 S. 


*) Cf. Monatshefte für Kunstwissenschaft 1911. Heft 12. 


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432 


Besprechungen. 


Es gibt kaum eine zweite Stadt, die in den höheren gesellschaft¬ 
lichen Schichten ihrer Bevölkerung ein so internationales Gepräge aufwiese, 
wie das heutige Rom. In noch weit höherem Maße dürfte dieser Zug jedoch 
demselben Orte im Mittelalter und in der Renaissanceperiode eigentümlich ge¬ 
wesen sein, als auf dieser Weltschaubühne — »questo teatro del mondo« wie 
Urban VIII. seine Stadt mit Stolz genannt hat—ein gut Teil der geistigen und 
politischen Lebensinteressen aller Christenheit als ihrem Brennpunkt zu¬ 
sammenliefen. Es war damals auch dem deutschen und mit ihm dem nieder¬ 
ländischen Element in Rom ein weit größerer Spielraum als heute gegeben, 
und so durfte der Gedanke, den sich die Holländische Historische Landes- 
kommission im Jahre 1904 zu eigen machte, die Quellen zur Geschichte 
niederländischer Künstler und Gelehrter in Italien und im besonderen in 
Rom, von den ältesten Zeiten bis etwa 1720 herauszugeben, von vornherein 
mit einem reichlichen Arbeitserträge rechnen. Das Hauptaugenmerk der 
Kommission war dabei auf die handschriftlichen Quellen gerichtet, und als 
das erste Arbeitsfeld, auf dem die Untersuchung einsetzen sollte, wurde die 
Vatikanische Bibliothek in Aussicht genommen. 

Mit der Bearbeitung dieser Aufgabe, die heute vollendet vorliegt, 
wurde damals Dr. J. O r b a a n betraut, der, seit Jahren in Rom 
ansässig, in den einschlägigen Gebieten wie wenig andere bewandert 
ist, und der inzwischen noch zu verschiedenen Malen Gelegenheit ge¬ 
funden hat, seine weitgehende Orts- und Geschichtskenntnis in den 
Dienst der Allgemeinheit zu stellen. So erschien aus seiner Feder im 
Jahre 1910 in englischer Sprache unter dem Titel »Sixtine Rome« eine reiz¬ 
voll geschriebene und aus lebendigster persönlicher Anschauung geschöpfte 
Schilderung der römischen Kunstwelt, soweit sie mit der ersten Glanzperiode 
der Barockzeit unter Sixtus V. verknüpft ist; so hatten wir seiner Mitwirkung 
bei der im Jubiläumsjahre 1911 in der Nähe der Engelsburg arrangierten 
historischen Ausstellung die Anordnung jenes holländischen Kabinetts zu 
danken, das in ausgewählten Meisterwerken der Zeichenkunst den Anteil 
der holländischen Malerschule am italienischen Kunstleben seit dem 16. Jahr¬ 
hundert illustrierte. 

Wie bekannt, sind die Schätze der Vatikanischen Biblio¬ 
thek nicht einheitlich geordnet, sondern nach den historischen Beständen 
aufgestellt, in denen ihre Vermehrung auf der Basis der durch Nikolaus V. 
und Sixtus IV. begründeten päpstlichen Bücherei durch den Zuwachs ver¬ 
schiedener großer Sammlungen, zumeist aus fürstlichem Besitz, erfolgte. 
Der Herausgeber der »bescheiden in Italie« hat seinem Quellenwerke die- 
selbeAnordnung zugrunde gelegt und hat die aus der »Vaticana« im engeren 
Sinne und sodann die aus der Palatina, Urbinatc, Regina, Ottoboniana, 
Capponiana und Barberiniana gesammelten Notizen gruppenweise aufein- 


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Besprechungen. 


433 


ander folgen lassen. Der Gedanke an eine chronologische Einteilung des 
Stoffes wurde zwar in Erwägung gezogen, aber wieder fallen gelassen, da 
doch zu viele Dokumente eine hinreichend genaue Datierung vermissen 
ließen. Und dann fiel in derselben Richtung auch der Umstand ins Gewicht, 
daß von jenen einzelnen Beständen ein jeder seine Geschichte und damit 
einen gewissen gegenständlichen Zusammenhang in sich selber hat, den zu 
zerreißen sich nicht empfahl. Nichtsdestoweniger gibt am Schlüsse des 
Bandes ein nach Jahresdaten angelegtes Verzeichnis aller mitgeteilten 
Stücke, zusammen mit einem ebenso ausführlichen Personen- und Orts- 
register, die Möglichkeit einer raschen Orientierung auch unter dem Gesichts¬ 
punkte der zeitlichen Folge. Für die Bearbeitung der Texte wurde durch 
die Kommission der Grundsatz aufgestellt, daß sie nur dann in vollständiger 
Abschrift wiedergegeben werden sollten, wenn sie sich an Umfang oder Inhalt 
zu reich erwiesen, als daß dem Leser mit einem bloßen Auszuge gedient 
gewesen wäre, während für andere, die nur vereinzelte Nachrichten ent¬ 
hielten, eine einfache Inhaltsangabe oder teilweise Wiedergabe für aus¬ 
reichend befunden wurde. 

Die Arbeit in den aus älteren römischen Bibliotheken stammenden 
Handschriftensammlungen, wie deren eine bedeutende Anzahl auch im ge¬ 
gebenen Falle durchzunehmen war, pflegt dadurch erschwert zu sein, daß 
ihr Material mit sehr wenig Ausnahmen nicht in feste, sachliche Kategorien 
eingereiht ist, sondern daß mehr nach den äußeren Gesichtspunkten von 
Format und Umfang Schriftstücke der verschiedensten Art, Berichte von 
Behörden, notarielle Instrumente, Memoiren, Biographien oder Korrespon¬ 
denzen wahllos zu langen Reihen von Mischbänden vereinigt sind, die, wo 
nicht im Original, doch zum mindesten an der Hand der Inventare durch- 
geprüft werden müssen, wenn man sicher sein will, nichts versäumt zu haben. 
Korrespondenzen von Gelehrten niederländischer Abkunft, die entweder in 
Rom lebten oder mit diesem Orte in Beziehung standen, haben der Natur 
der Sache nach in dem gegebenen Falle das meiste Material geliefert. Je 
größer die Zahl von Anhängern war, über die das römisch-katholische Be¬ 
kenntnis in den Niederlanden verfügte — auch in den nördlichen Sieben- 
Provinzen war nach Ranke der Protestantismus keineswegs so vollständig 
durchgedrungen, wie häufig angenommen wird — um so größer ist auch 
die Zahl der Quellen, die hier in Betracht kommen. Es ist, was den Inhalt 
dieser Briefe und sonstigen Aufzeichnungen anlangt, den gelehrten Autoren 
nicht zu verargen, wenn das meiste, wovon sie handeln, Angelegenheiten 
ihrer eigenen, der literarischen Welt sind. Eine besonders wertvolle Aus¬ 
beute ergaben nach dieser Seite die Korrespondenzen des Bibliothekars 
der Vaticana Lucas Holstenius und des Nikolaus Heinsius, dessen Bibliothek 
und Münzsammlung von der Königin Christine von Schweden für ihre 


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434 


Besprechungen. 


eigene Sammlung, die nachmalige »Regina«, angekauft wurde. Bei den 
guten Beziehungen, die in Rom in den Kreisen der »Oltramontani« zwischen 
den Männern der Wissenschaft und den Künstlern gepflegt wurden, begegnen 
wir aber in der Zahl dieser Gelehrten oder ihrer Korrespondenten nicht 
wenigen, deren Namen auch in der Geschichte der niederländischen Kunst 
einen Klang haben, wie beispielsweise Justus Ryckius von Gent, Caspar 
Gevaerts und Nie. Fabre de Peiresc, die alle drei mit Rubens freundschaft¬ 
lich verbunden waren. Unter diesen Umständen ist, alles in allem genommen, 
ein reichliches Maß von Orbaans Quellenstudien doch auch der niederländi¬ 
schen Künstlergeschichte zugute gekommen. 

Was im besonderen diesen Teil der in Rede stehenden Forschungen 
anlangt, wird es uns schwer, einzelnes herauszugreifen, um ihre Bedeutung 
daran zu erweisen, denn ihr Wert liegt ebensowohl in der vielfältigen Menge 
der da und dort ausgestreuten Einzelnachrichten als in dem Gesamtbilde 
altniederländischen Lebens in Rom, das sich aus dem Ganzen der hier nieder - 
gelegten Materialiensammlung ergibt. Voraussetzung für eine Würdigung 
des dargebotenen Stoffes in diesem Sinne ist allerdings, daß man die Ge¬ 
schichte der Kunst nicht in der Stilgeschichte allein begreift, sondern daß 
man, darüber hinausgehend, ihr Gebiet auf das ganze »System der Kultur« 
ausdehnt, zu dem sich ihre verschiedenen Teilgebiete in der Wirklichkeit 
des historischen Geschehens ja doch vereinigen. Vor allem tritt alsdann in 
seltener Anschaulichkeit die zentrale Bedeutung hervor, die Rom wie in den 
gelehrten, so auch in den künstlerischen Bildungsinteressen der eigentlichen 
Renaissanceperiode und der auf sie folgenden und von ihr abhängigen Jahr¬ 
hunderte in der Vorstellung aller europäischen Völker und so auch der 
Niederländer einnimmt. Und in großer Deutlichkeit erscheint ferner diese 
Geltung Roms seit etwa der Mitte des 16. Jahrhunderts als das Korrelat 
jenes anderen Übergewichtes, das dem Prinzip der Gegenreformation und 
der mit ihr verbündeten lateinischen Kultur der südeuropäischen Völker 
im Vergleich zu der mangelhaften Organisation der protestantischen Welt 
des Nordens gegeben war. Unter diesem Gesichtspunkte gewinnen auch 
solche Dinge wie die Einblicke in die kirchlichen Beziehungen zwischen Rom 
und den Niederlanden, die wir nebenbei empfangen, die katholische 
Propaganda, die Proselytengewinnung u. a. m. ihre eigene Bedeutung neben 
den Tatsachen der speziellen Künstlergeschichte. Diese selbst aber breitet 
sich in den weitesten Beziehungen vor unseren Augen aus. Denn obwohl es 
die Niederländer waren, aus deren ungeschwächter Volkskraft sich zur 
selben Zeit der stärkste Protest gegen die fortschreitende Latinisierung des 
Nordens erhob, so haben doch eben diese zugleich als einer der künstlerisch 
regsamsten und ertragreichsten unter den deutschen Stämmen in der Zeit 
der Spätrenaissance und des Barocco auch nach der Seite der klassizisti- 


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Besprechungen. 


435 


sehen Tendenzen eine seltene Empfänglichkeit entwickelt. Florenz, Mantua, 
Genua und andere Orte sind des Zeugen, nirgends aber ist die Anteil¬ 
nahme der Niederländer an italienischer Bildung stärker und dauernder 
als in Rom hervorgetreten. 

Allein Rom hat ihnen nicht nur gegeben, es hat auch von ihnen genom¬ 
men und das in reichlichem Maße. Besonders lehrreich sind in dieser Be¬ 
ziehung einige aus dem 17. Jahrhundert herrührende Verzeichnisse von be¬ 
merkenswerten niederländischen Kunstwerken in Rom, die Orbaan mit- 
teilt; man sieht daraus, in welchem Umfange damals die aus den Nieder¬ 
landen zugezogenen künstlerischen Kräfte nicht nur in privaten Sammlun¬ 
gen vertreten waren, sondern auch an öffentlichen Aufträgen Anteil erhalten 
hatten. Da ist ein Anonymus, der im Jubeljahr 1650 in Rom war und sich 
seinen Cicerone — es war ein jetzt selten gewordenes Schriftchen eines 
Ritters Celio aus dem Jahre 1640 — mit eigenen Notizen ergänzt hat. Dieser 
Unbekannte nennt fünf niederländische Meister von Bedeutung, deren Werke 
er in Rom gesehen hat. Eine andere ähnliche Notizensammlung von 1660 
enthält deren zwölf; eine Niederschrift von der Hand des vielseitig gebildeten 
Arztes Giulio Cesare Mancini, betitelt »Viaggio per Roma per vedere le 
pitture che in essa si ritrovano«, nennt ihrer drei neben noch einigen andern 
Fiamminghi oder Tedeschi, deren Namen ihm nicht überliefert waren. In 
demselben Handschriftenbande der Barberiniana, der diese letzten Auf¬ 
zeichnungen enthält, finden sich auch einige Biographien niederländischer, 
in Italien heimisch gewordener Meister — Bylevelt, Gerard Honthorst, 
Paul Bril — die uns Mancini aufbewahrt hat — und die, da sie sich auf 
Künstler seiner eigenen Zeit beziehen, die er wahrscheinlich persönlich kannte, 
erhöhten Quellenwert für sich in Anspruch nehmen dürfen. Einige kürzere 
biographische Notizen von demselben Gewährsmann über Rubens, Bylevelt 
und Goltzius, dessen Zeichnungen Mancini in hohem Maße bewundert, ent¬ 
hält übrigens auch noch ein »trattato della pittura« desselben Verfassers, 
der einem Sammelbande der Vaticana einverleibt ist. 

. Erkennt man aus derartigen Nachrichten, wie sich die Niederländer 
im 17. Jahrhundert in der Gunst ihres römischen Publikums zu behaupten 
wußten, obwohl sie von den einheimischen Genossen nicht immer mit freund¬ 
lichen Blicken angesehen wurden, so zeigt eine Sammlung von Künstler¬ 
biographien von 1724, die ein Niccolö Pio aus Rom zusammenstellte, daß 
man dort auch im 18. Jahrhundert fortfuhr, sie zu schätzen; es sind darin 
nicht weniger als dreizehn Lebensläufe niederländisch-italienischer Künstler 
enthalten, von denen namentlich die der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, 
wiederum weil ihre Zeit mit der des Autors zusammenfällt, besonderes Ver¬ 
trauen verdienen. 

Es liegt an der Entstehungszeit sowohl dieser systematischen Auf- 

Repertorium für Kunstwissenschaft XXXV. 2Q 


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436 


Besprechungen. 


Zeichnungen als auch der da und dort verstreuten Quellennachrichten sonst, 
die sich ihnen anschließen, daß die Mehrzahl der niederländischen Künstler, 
von denen wir hier unterrichtet werden, der zweiten Hälfte des 16. Jahr¬ 
hunderts und dem 17. Jahrhundert angehört. Das 16. repräsentieren, neben 
dem Bolognesen Dionisio Calvaert, Martin de Vos als Urheber eines Altar¬ 
bildes in San Francesco a Ripa in Rom, Francesco da Castello ebenda und 
ein nicht näher bezeichneter Giovanni Fiammingo (S. 233); möglich, daß in 
diesem letzten, in Anlehnung an van Mander (ed. Hymans II, S. 219 f.) der 
Landschaftsmaler Jan Soens zu erkennen ist, der unter Gregor XIII. im 
Vatikan arbeitete. Unter den niederländischen Historienmalern Roms 
nimmt ferner in derselben Zeit eine angesehene Stellung Arrigo Fiammingo ein, 
der 78 Jahre alt unter Clemens VIII. aus dem Leben schied. Unter den 
Bildhauern tritt Egidio Fiammingo (Gilles de Riviöre) hervor, der in der 
Anima das Grabmal des Kardinals Andreas von Österreich und ebenda zu¬ 
sammen mit seinem Landsmann Nikolaus von Arras das Grabdenkmal des 
Erbprinzen Karl Friedrich von Cleve ausgeführt hat, ferner der merkwürdige 
Sonderling Cope, von dem auch Baglione erzählt, der bis zur Zeit Pauls V. 
lebte. 

Unter den Meistern des 17. Jahrhunderts ist natürlich der am häufigsten 
genannte Paul Bril, der große Meister der dekorativen Landschaftsmalerei, 
der an fünfzig Jahre, rückhaltlos auch von den einheimischen Künstlern 
anerkannt, in Rom gelebt hat, und an dessen Tätigkeit ja auch gerade die 
Fundstätte dieser Nachrichten, die vatikanische Bibliothek, erinnert, in 
deren früherem Lesesaal er nach alter Überlieferung die prächtigen Decken¬ 
malereien, gemeinsam mit zwei Italienern, ausgeführt hat, das erste in der 
langen Reihe von Werken seiner Kunst, die er von da an inKirchen und Palästen 
Roms und nicht am wenigsten auch noch in späterer Zeit in den Gemächern 
des vatikanischen Palastes selbst entstehen ließ. Flüchtiger wird an ver¬ 
schiedenen Stellen Rubens mit seinen für Rom geschaffenen Kirchenbildern 
zitiert, dagegen wird van Dycks Aufenthalt in Italien ausgiebig durch Niccolö 
Pio behandelt. Bei dem letzten ist auch von den gesellschaftlichen Be- 

ft 

Ziehungen dieses Künstlers in Rom die Rede, so u. a. von der freundlichen 
Aufnahme, die er bei dem Kardinal Guido Bentivoglio fand, dem einflußreichen 
Freunde des borghesischen Hauses und einem besonderen Gönner der Fiam- 
minghi, mit deren Kunst er in den Jahren seiner niederländischen Nunziatur 
vertraut geworden war. Gerard Honthorst hat namentlich durch Mancini 
eine sorgfältige Darstellung seiner Verdienste erfahren, desgleichen Bylevelt, 
der in Florenz seine Tätigkeit entfaltete. Unter denen, die ganz in Rom 
heimisch wurden, sind im besonderen Jan Frans van Bioemen (monsü Ori- 
zonte), Theodor Helmbreker und der liebenswürdige Vedutenmaler Van- 
-vitelli (van Wittel) durch Niccolö Pio in ausgiebiger Weise besprochen. 


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Besprechungen. 


437 


Von anderen niederländischen oder in niederländischer Schule groß 
gewordenen Künstlern, über die wir da und dort Aufschluß erhalten, sind 
ferner zu nennen der Bildhauer Francois Duquesnoy (Francesco Fiam- 
mingo) und die Maler Baburen, Elsheimer, Poelenburg (Satiro), Jan Miel, 
Luigi Gentile aus Brüssel, Adriaen van der Kabel, Teniers d. J., Berchem, 
Swanevelt. Ihre Namen kehren auch in verschiedenen Nachrichten über 
römische Bildersammlungen wieder, verbunden mit denen der Maler 
Matthaeus Bril, »Brugel Vecchio« und »Brugel Giovine«, »Bos«, Civetta, 
Gillis Mostaert, »Giovan d'Olanda« (Scorel?), »Paul Francesco fiamengo«, 
Quinten Massys, Rottenhamer, Spranger, Sustermans, »Valchemburgo«. In 
der Rolle von Sammlern niederländischer Gemälde begegnen uns die Namen 
der Kardinäle Michele Bonelli (1598), Barberini (1631), Massimi (1677), 
ferner ohne bestimmte Zeitangabe im 17. Jahrhundert ein Principe Pam- 
fili und ein Doktor Cortoni von Verona. 

Weniger hören wir von den niederländischen Architekten, die in Rom 
beschäftigt waren, wenn auch einmal eine diesbezügliche interessante Notiz 
von der Hand des bekannten Karikaturenzeichners Ghezzi vorkommt. Sie 
handelt von Luigi Vanvitelli und lobt die geschickte Konstruktionsarbeit, 
vermöge deren dieser eines der Stützbänder an der Kuppel von S. Peter 
anlegte. Dagegen dienen mehrere Nachrichten der Geschichte der graphi¬ 
schen Künste, so eine Notiz über die in einem Sammelbande der Barberiniana 
enthaltenen Originalzeichnungen des Kupferstechers Dirk Galle für seine 
Reproduktionen antiker Porträtdarstellungen aus der Bibliothek des Archäo¬ 
logen Fulvio Orsini, die im Jahre 1606 in Antwerpen mit einem begleiten¬ 
den Text von Dr. Johann Faber erschienen, und eine ausführliche biographi¬ 
sche Aufzeichnung von Niccolö Pio über Cornelis Cort. Als einen Bewunderer 
des Goltzius hatten wir bereits Mancini zu nennen Anlaß. Ein Schreiben 
endlich von J. de Laet aus Leiden an Holstenius (1636) betrifft die Illustration 
eines naturwissenschaftlichen Werkes, um dessen Herausgabe die Accademia 
dei Lincei und namentlich deren deutsche und niederländische gelehrte Mit¬ 
glieder lange Zeit bemüht waren, den »Rerum medicarum Novae Hispaniae 
Thesaurus«, der in erster Ausgabe in Rom 1630, in zweiter 1651 erschien. 
•Diese Notiz ist nicht nur im Hinblick auf die Studien der Beteiligten, sondern 
auch für die niederländische Kunstgeschichte von Interesse, insofern als 
zu der Illustrierung jenes Werkes, wie ich ergänzend hinzufügen darf, zum 
mindesten ein niederländischer Künstler herangezogen worden war. Darüber 
belehrt uns ein Brief des oben schon im Zusammenhang mit Galle erwähnten 
deutschen Doktors Faber an den Begründer der Akademie, den Principe 
•Federigo Cesi vom Jahre 1628, wo von einem »pittore Fiamengo« die Rede 
ist, der eine Zeichnung für das Buch vollenden soll. Der Brief findet sicli 
(Fol. 254) in einem aus Albanischem Besitze stammenden Sammelbande, 

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4 


I 



Besprechungen. 


43 8 

der Originalbriefe verschiedener Lincei an Cesi enthält, und der heute im 
Besitze der neuen Akademie im Palazzo Corsini ist (Inv.-Nr. 12). 

Ein lehrreiches Kapitel für sich bilden endlich noch die Marktpreise 
niederländischer Kunstwerke in Rom, die wir an verschiedenen Stellen unse¬ 
res Quellenwerkes in Nachrichten über zum Verkauf stehende Bilder oder 
aus Nachlaßinventaren mit hinzugefügten Taxwerten erfahren. So werden, 
um einige Beispiele zu nennen, 1598 in der Hinterlassenschaft des Kardinals 
Bonelli von drei Experten, worunter die Maler (Antonio?) Pomarancio und 
Paul Bril, vier Gemälde mit der Schilderung der Elemente von Paul Fran¬ 
cesco Fiammingo auf 200 Scudi, vier in Gouache ausgeführte Landschaften 
von Matthaeus Bril auf 100 Scudi geschätzt. So werden für einige ver¬ 
käufliche Gemälde des Orizontc im Anfänge des 18. Jahrhunderts folgende 
Preise angesetzt: für zwei besonders gerühmte Landschaften zusammen 
130 Scudi und für zwei weitere Paare von landschaftlichen Darstellungen 
je 24 und 20 Scudi. In einem Verzeichnis von Bildern, die Monsignore 
Domenico Passionei um dieselbe Zeit zum Verkauf angeboten werden, be¬ 
finden sich Werke von Bril zu 5 und 18, von Poelenburg zu 8, 20 und 30 
und eines von Swanevelt zu 18 Luigi. Für ein Konzert bei Kerzenlicht 
von Honthorst, das ein Inventar des Hausrates des Kardinals Barberini 1631 
nennt, sind vom Besitzer 40 Scudi bezahlt worden, es wird aber an derselben 
Stelle auf 100 Scudi geschätzt. 

Ich muß mich auf diese kurzen Auszüge beschränken, ohne damit den 
kunstgeschichtlichen Inhalt der »bescheiden in Italie« schon vollständig 
erschöpft zu haben. Ich möchte aber diese Zeilen nicht schließen, ohne 
zum Ausdruck gebracht zu haben, in welch hohem Maße sich der Heraus¬ 
geber durch die hier geleistete Pionierarbeit, wie er selbst sein Werk in doch 
wohl allzu anspruchsloser Weise nennt, die Anerkennung und den Dank 
der Fachwelt verdient hat. Möchten ihm seine ferneren römischen Studien 
der Anlaß sein, die hier bewährte Umsicht und Tatkraft an neuen Aufgaben 
noch recht oft aufs neue zu erweisen! Weizsäcker. 


Karl Woermann : Von Apelles zu Böcklin und weiter. 

Gesammelte kunstgeschichtiiche Aufsätze, Vorträge und Besprechungen. 

Esslingen, Paul NefT, 1912. 2 Bände gi. 8°. 

Eine Fülle mannigfaltiger, anregender und formvollendeter Arbeiten, 
wie sie sich von dem Verfasser der Weltgeschichte der Kunst erwarten ließen, 
sind hier als Nebenergebnisse eines reichen Lebens zu zwei stattlichen Bänden 
vereinigt. Einerseits spiegeln sie die beglückenden Zeiten wieder, die W. 
als Professor der Kunstgeschichte an der Düsseldorfer Akademie im Kreise 
der dortigen Künstler verbrachte; andrerseits die Jahre, die er der Neu- 


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Besprechungen. 


439 


Ordnung der Dresdner Gemäldegalerie und der Vollendung seiner großen 
umfassenden Werke widmete. Als ein roter Faden ziehen sich durch das 
Ganze die Ansätze zu einer Geschichte der Landschaftsmalerei, die er als 
eine seinem Sinn besonders naheliegende Aufgabe bereits früh geplant, nie 
ganz aus den Augen verloren, schließlich aber doch — wohl wegen der Un¬ 
gunst der Zeit — hatte aufgeben müssen. 

Weitere Leserkreise werden sich wesentlich durch die von warmer 
Begeisterung getragenen Schilderungen der großen Künstler Apelles, Michel¬ 
angelo, Raphael und Rubens angezogen fühlen, die allesamt in seiner 
früheren Zeit als Vorträge entstanden sind und dem Dichter in W. Gelegen¬ 
heit bieten, den Ewigkeitsgehalt, um dessen Verkörperung es sich handelt, zu 
verherrlichen. 

Bei Apelles waren in höherem Maße noch als bei den übrigen Künst¬ 
lern die Ergebnisse der in der Zwischenzeit rastlos fortschreitenden Forschung 
zu berücksichtigen. So gewissenhaft sich der Verf. dieser Aufgabe auch 
unterzogen hat, konnte er immerhin mit Genugtuung feststellen, daß er 
keinen Grund habe, seine ursprüngliche, auf sorgfältiger Abwägung der Um¬ 
stände beruhende Auffassung im wesentlichen zu berichtigen. Wenn auch 
noch Unsicherheit darüber besteht, wie weit Apelles die Raumtiefe gekannt 
habe, wie weit er in der Farbigkeit gegangen sei, so erscheint er doch als die 
Verkörperung der Leistungsfähigkeit der vollen Blütezeit der griechischen 
Malerei, die nach ihm, wie die Renaissance nach ihren großen Meistern, in 
barocke Übertreibung ausartete; die Einheitlichkeit der Licht- und Schatten- 
gebung hat er sicher schon in hohem Umfang beherrscht, und auch über die 
Vierfarbenmalerei wird er — dies im Gegensatz zu Winters Annahme — 
offenbar hinausgekommen sein. Als einen eigentümlichen Beitrag zu den 
gewöhnlich als Künstleranekdoten gekennzeichneten Erzählungen von der 
Wirkung naturgetreuer Darstellungen auf Tiere weiß der Verf. von seinem 
eigenen schwarzen Kater zu berichten, daß er auf eine gemalte Katze fauchend 
losgesprungen sei. 

An Michelangelo rühmt er den gewaltigen, heiligen Ernst, der durch 
dessen gesamte Schöpfungen geht, die Größe, Erhabenheit und Reinheit, 
wie sie kaum bei einem zweiten Künstler wiederzufinden sind. Wohl niemals, 
sagt er, hat auch ein Künstler gelebt, dem vom ersten Beginn seiner Lauf¬ 
bahn an bis zu seinem Ende im höchsten Alter das Glück so hold, der Beifall 
der Besten seiner Zeit so sicher gewesen ist wie ihm. — Als Symptom der 
besonderen raphaelschen Schönheit bezeichnet er das vollkommene, har¬ 
monische Gleichgewicht aller künstlerischen Eigenschaften, die bei andern 
Künstlern einzeln in den Vordergrund zu treten pflegen. »Gerade dieses alles 

4 

adelnde Schönheitsgefühl, verbunden mit der eindringenden Menschheits¬ 
liebe des Meisters und seiner Kunst, jeden Gegenstand in der ihm am besten 


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44 » 


Besprechungen. 


entsprechenden Weise wiederzugeben, verleiht Raphaels Werken jenen Zug 
großartiger Objektivität, deretwegen wir ihn den subjektiven Formenidea¬ 
listen wie Michelangelo und den subjektiven Farbenidealisten wie Rembrandt 
als Großmeister objektiver Kunst gegenüberstellen.« — Rubens endlich 
feiert er als den fruchtbarsten, vielseitigsten und lebensvollsten aller Maler. 
Als Motto möchte er seiner Schilderung voransetzen: Auf der Höhe. »Auf 
der Höhe des Lebens hat er sich bewegt, auf der Höhe der Meisterschaft steht 
seine Kunst, auf der Höhe des gesamten Wissens seiner Zeit stand seine geistige 
Bildung, auf der Höhe aller Menschlichkeit schlug sein Herz.« »Die Augen¬ 
blicke höchster Bewegung und plötzlichster Handlung hat kein Künstler so 
geschickt festzuhalten gewußt wie er.« 

Weiterhin ist auf zwei Aufsätze hinzuweisen, die Künstlern von weit 
bescheidenerer Bedeutung gewidmet, aber mit besonders liebevollem Ein¬ 
dringen verfaßt sind. In dem einen wird Ruisdaels Ringen mit den Pro¬ 
blemen der Landschaftsmalerei, in dem andern das glanzvolle Emporkommen 
von Mengs und das plötzliche Verlöschen seines Ruhmes geschildert. Beide 
stellen typische Beispiele für die Umstände dar, von denen Erfolg und 
Gedeihen der Künstler abhängen. 

Nachdem sich im 17. Jahrhundert die holländische Landschaft zu 
voller Selbständigkeit durchgerungen hatte, wurde sie kurz vor der Mitte des 
Jahrhunderts in Haarlem durch Ruisdael zur Höhe poetischer und male¬ 
rischer Gestaltung emporgehoben. Auf den Schultern seines Onkels Salomon 
stehend und durch Everdingen, der auf einer Reise nach dem südlichen 
Schweden ganz neue Eindrücke empfangen hatte, beeinflußt, brachte er als 
erster den romantischen Reiz der sturmzerzausten Bäume der Küstengegend 
gegenüber den zahmen Waldbäumen zur Geltung. Darauf folgt durch mehrere 
Jahrzehnte eine stetige, immer neue Gegenstände aufgreifende und immer 
mehr sich vervollkommnende Behandlungsweise: »in den fünfziger Jahren 
werden seine Darstellungen ruhiger, schlichter, sein Vortrag leichter, gleich¬ 
mäßiger, die Farbe klärt sich allmählich zu voller Naturwahrheit auf« — 
das ist die Zeit seiner Dünenbilder; wie »R. hier eine schlichte Natur gesehen 
hat, hatte sie noch nie jemand vor ihm gesehen«. Dann wird er allmählich 
effektvoller und phantastischer, Wasserfälle werden sein Lieblingsgegen¬ 
stand; malt er aber gelegentlich mal eine städtische Ansicht, so läßt er alle 
andern Künstler hinter sich. Mit den siebziger Jahren beginnt seine dichte¬ 
rische Zeit, bezeichnet durch die Ruinenlandschaft in London und den Juden- 
kirchhof in Dresden, »die großartigste Leistung der dichtenden Landschafts¬ 
malerei, die jemals geschaffen worden ist«. »Seine Augen sehen in der Natur 
etwas Reineres, Tieferes, Geistigeres als die Augen der gewöhnlichen Sterb¬ 
lichen.« Die Bezeichnung als Barock, gegen die sich W. wendet, ist freilich 
für solche Werke wenig am Platze; doch der Begriff des Romantischen, den 


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Besprechungen. 


44I 


er dafür anwenden möchte, ist in seiner auf das Vergangene zielenden Be¬ 
deutung für diese Zeit doch auch nicht recht geeignet. Der nüchterne Sinn 
von R.s erwerbsfrohen Landsleuten aber wendete sich von dem Maler, je mehr 
er an Jahren zunahm, immer mehr ab, da damals die glatten Darstellungen 
einer idealisierten Natur vorgezogen wurden. So beschloß der Künstler, 
der durch lange Jahre hindurch für seinen Vater hatte mitsorgen müssen, 
sein Leben im Armenhause von Amsterdam, wo ihm seine Glaubensgenossen, 
die Mennoniten, eine Zuflucht bereitet hatten. 

Ganz entgegengesetzt war das Schicksal von Mengs, dem kein Nach¬ 
ruhm, dafür aber um so größerer Ruhm bei Lebzeiten zufiel. Er war be¬ 
kanntlich schon als Wickelkind von seinem Vater zum Raphael seiner Zeit 
bestimmt worden. Nachdem er drei Jahre lang Rom, die hohe Schule der 
Zeit, besucht hatte, wurde er bei 17»/* Jahren sächsischer Hofmaler, sechs 
Jahre später Oberhofmaler und verbrachte den größten Teil seines Lebens 
als Hofmaler Karls III. von Spanien mit einem Gehalt von mehr als 24 000 M. 
jetzigen Wertes. Die Akademie von S. Luca ernannte ihn zum Malerfürsten, 
neben der Raphaels wurde seine Büste im Pantheon aufgestellt. Dieser 
»Nachgeborene, der die Kunstentwicklung der vorhergehenden 250 Jahre 
noch einmal in sich zusammenfaßt und verkörpert«, der sich vermaß, die 
Natur an Schönheit zu übertreflen, dessen glänzende Bildnispastelle allein 
seinen Ruhm überlebt haben, war jedoch immerhin »der erste deutsche 
Maler, der nach jahrhundertelangem Hinsiechen deutscher Kunst die Augen 
der Welt auf sich gelenkt hat«. Es lohnt sich also durchaus der Mühe, seine 
auch sonst interessanten Schicksale in einer glänzenden Darstellung in Er- 
innerung zu bringen. 

Abgerundete Aufsätze sind auch der Sixtinischen Madonna und der 
Van Dyckschen Folge von Apostelköpfen gewidmet. Bei dem erstgenannten 
Bilde wird hervorgehoben, daß noch nie eine von Haus aus symmetrische 
Darstellung so frei und lebendig behandelt worden sei; daß hier zum ersten 
Male die sinnliche Erscheinung in ein wirkliches, nach allen Seiten hin leuch¬ 
tendes, alles durchzitterndes Himmelslicht gehüllt sei. Den Augen der gött¬ 
lichen Gruppe wird eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt: »das ganze 
Erlösungsgeheimnis der christlichen Lehre mit seinen Schmerzensschauern, 
seiner Willensstärke, seinem Barmherzigkeitsernst blickt uns aus ihnen an«, 
also so etwa wie Schopenhauer es in seinem ergreifenden Gedichte geschildert 
hat. »Gerade darin, daß die Bilcke uns zu treffen und dennoch in sich selbst 
zurückzukehren und zugleich in ungemessene Weite zu schweifen scheinen, 
liegt das Einzigartige ihres Eindrucks, der uns durch Mark und Bein geht.« 
Wenn dabei Portigs Ausdruck angeführt wird, daß Mutter und Kind den 
Beschauer in gleicher Richtung voll und gerade anblicken, so wäre das durch 
die Bemerkung seines zu wenig bekannten und auch hier nicht genannten 


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442 


Besprechungen. 


Vorgängers Carus noch deutlicher gemacht worden, wonach dieser rätsel¬ 
volle Eindruck dadurch hervorgerufen wird, daß bei beiden die Sehlinien 
der Augen nicht wie in der Natur sich kreuzen, sondern parallel nebenein¬ 
ander hinlaufen. 

Bei den Van Dycks handelt es sich um jene frühe Apostelfolge, die in 
mehreren Exemplaren aus seiner Werkstatt hervorging, von denen fünf 
wohl eigenhändige noch in Dresden, andere von Van Dyck retuschierte in 
Althorp und Kopien in Burghausen sich erhalten haben. Den Inhalt dieser 
Abhandlung bildet die dramatische und sehr lehrreiche Schilderung des Pro¬ 
zesses, der in den Jahren 1660—1662 wegen der Echtheit einer dieser Folgen, 
welche noch von Van Dyck selbst spätestens im Jahre 1616 erkauft worden 
war, sich abspielte. Trotzdem fiel das Urteil zuungunsten der Echtheit aus, 
obwohl der jüngere Brueghel aussagen konnte, daß er noch Van Dyck daran 
habe malen sehen; denn zu viele Maler, die als Zeugen geladen waren, er¬ 
klärten sie für Kopien, die Van Dyck nur retuschiert habe, wozu noch die 
Mitteilung von Snellincx kam, daß die Originale um 1624 ins Ausland ent¬ 
führt worden seien. So wenig nützte die bestbeglaubigte Provenienz. 

Unter den Aufsätzen, die der deutschen Kunst gewidmet sind, sei der 
diesen besonderen Titel tragende hervorgehoben; der vor allem Grünewald, 
Dürer und Böcklin rühmt; ferner die Würdigungen von Rethel und Thoma. 
Von Rethel heißt es: »Hier ist nichts aus der Fremde Eingeführtes, nichts 
aus zweiter Hand Übernommenes, hier ist alles auf heimischem Boden ge¬ 
wachsen, mit deutschem Gemüt erfaßt, mit warmem Eigenleben ausgeführt. 
Der ganzen Richtung, zu deren letzten und glänzendsten Vertretern R. 
gehört, hat kein anderes Volk etwas Gleiches an die Seite zu setzen.« Und 
von Thoma, der erst nach dreißigjähriger Wirksamkeit durchzudringen 
begann: »Das Deutschtum dieser Kunst liegt in dem Mute, mit dem sie, 
unbekümmert um hergebrachte Anschauungs- und Darstellungsweisen, ihre 
eigenen Wege sucht und findet; in der Ehrlichkeit, mit der sie das leiblich 
und geistig Geschaute ohne Pose und Phrase — den fremden Begriffen 
ziemen die fremden Wörter — auf die Fläche bannt; in der Keuschheit und 
Reinheit ihrer Empfindung, die niemals, auch nicht auf Umwegen, der 
Sinnlichkeit des Beschauers schmeichelt.« 

Die Zusammenstellung über die italienische Bildnismalerei der Re¬ 
naissance, die ein Büchlein für sich bildet, leidet an einer zu weitgehenden 
und zu systematischen Einteilung nach der Größe, der Bestimmung, dem 
Inhalt der Bilder, wodurch z. B. Wand- und Staffeleibilder, religiöse und 
weltliche Darstellungen, Stifter- und andere Bildnisse auseinandergerissen 
werden, so daß sich kein rechtes Bild der fortschreitenden Entwicklung 
gestalten will. Auch die vielen schwierigen Fragen wegen der Zuschreibung 
an bestimmte Meister oder Richtungen, die wie z. B. bei Piero della Francesca 


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Besprechungen. 


443 


und bei Raphael gerade auf diesem Darstellungsgebiet auftreten, finden hier 
keine Förderung. 

Mit besonderer Liebe behandelt dagegen der Verf., wie bereits hervor¬ 
gehoben, die Landschaftsmalerei. Mit Genuß und Nutzen wird jedermann 
den Aufsatz über diese Kunst bei den Griechen und Römern lesen, worin 
in überzeugender Weise, auch gegenüber neueren abweichenden Auffassun¬ 
gen, ausgeführt wird, daß wenn auch schon in der Blütezeit eine natura¬ 
listische Bühnendekorationskunst bestand, die sich durch die alexandrinische 
Periode hindurch zu den pompejanischen Wandmalereien der letzten Stile ent¬ 
wickelte, die antike Landschaft doch nicht bis zu einer selbständigen poetischen 
Gestaltung durchgedrungen ist. — Ein ganz neues Betrachtungsgebiet wird 
in der Abhandlung über die »Kirchenlandschaften« eröffnet, worunter jene 
Schöpfungen verstanden sind, die mit Polidoro da Caravaggios und Matu¬ 
rinos vor 1527 entstandenen Fresken in S. Silvestro a Monte Cavallo in Rom 
einsetzen, durch den Niederländer Paul Bril zu Ende des Jahrhunderts ihre 
Ausgestaltung erhalten, unter Urban VIII. zur allgemeinen Mode werden 
und endlich durch Dughet zu ihrer vollen Höhe erhoben werden, ja noch in 
der späteren Brüsseler Malerei lange nachwirkten. Wenn der Verf. mit der 
Frage schließt, ob ein Wiederaufblühen dieser noch von Corot geübten Malerei 
denkbar sei, so möchten wir sie bejaht sehen, damit dadurch der abgestande¬ 
nen akademischen Heiligenmalerei ein Gegengewicht geboten werde. — Die 
Betrachtung über das »Wasser im Städtebild« behandelt nicht die Kunst, 
sondern die Natur, wie sie das Bild der an Flüssen oder am Meer gelegenen 
Städte beeinflußt. 

Die bereits in Düsseldorf gehaltene Festrede über die alten und die 
neuen Kunstakademien ist interessant durch den Hinweis auf Cornelius’ 
gutgemeintes jedoch nicht durchgeführtes Programm für eine Erneuerung 
dieser Hochschulen, beweist aber, daß auch die idealsten Forderungen das 
Grundübel dieser Anstalten, ihr übertriebenes Beharrungsvermögen, nicht 
zu beseitigen vermögen. 

Den Beschluß machen ein lehrreicher Aufsatz über die Düsseldorfer 
Galerie (»Anfang und Ende einer Gemäldegalerie des 18. Jahrhunderts«), 
die in ihrem Hauptbestand in der Münchner aufgegangen ist, im 18. Jahr¬ 
hundert aber eine Rolle spielte wie jetzt etwa der Louvre, so daß ein Reynolds 
und ein Goethe von dort wesentliche Anregungen hclten; und über 
»Goethe in der Dresdner Galerie«, worin dessen zahlreiche Besuche in Dresden 
von 1768 bis 1813 geschildert werden, besonders derjenige von 1794, der ihn 
so sehr unter dem Einfluß Heinrich Meyers zeigt, daß er sich dessen kritischen 
Anmerkungen in seinen Katalog einträgt. 

In dem Vorstehenden sind nur diejenigen Aufsätze hervorgehoben, 
die besonders geeignet scheinen eine allgemeine Teilnahme zu erwecken, 


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444 


Besprechungen. 


und die zugleich die für den Verf. bezeichnenden Eigenschaften in glänzend¬ 
stem Lichte zeigen. Die übrigen Beiträge bestehen in Bücherbesprechungen. 
Berichten über wichtige Ausstellungen wie die Cranach- und die Ludwig 
Richter-Ausstellungen in Dresden (die er selbst mit Sorgfalt und 
großem Glück zusammengebracht hatte), in Erörterungen über grundlegende 
Fragen wie die über Masaccio und Masolino, Cranach und den sogenannten 
Pseudo-Grünewald, die Kopie der Holbeinschen Madonna usw. W. macht 
kein Hehl daraus, daß ihm solche Streitfragen und mehr noch Hypothesen 
über namenlose Werke als eine Art akademischen Sports erscheinen — 
welche Bezeichnung er freilich in seiner Höflichkeit nicht anwendet — und 
meint (I 140), daß der Wissenschaft vielleicht doch noch mehr gedient 
werde, wenn man sich begnüge, »das Ungewisse als ungewiß hinzustellen«. 
Ihm kommt es seiner ruhig abwägenden Art nach mehr darauf an, das Fest¬ 
stehende, das durch allgemeine Übereinstimmung bereits Anerkannte, die 
Werke der großen Künstler, die »die Kunstgeschichte machen«, mit der Be¬ 
geisterung des Dichters zu würdigen und dadurch dem allgemeinen Genuß 
zuzuführen. Dieser Fähigkeit, das Große in objektiver Weise zu empfinden, 
verbunden mit vollster Beherrschung der Quellen und sicherer Methodik, 
verdankt er den Weltruhm, den er durch seine dreibändige allgemeine Kunst¬ 
geschichte besiegelt hat. Einer solchen zusammenfassenden Tätigkeit gegen- 
. über wird man aber freilich der Kunstwissenschaft auch das Recht, ja die 
Pflicht zugestehen müssen, den Glauben an das Bestehen von klassischen, 
»überall und ewig gültigen Werken« (I, 129) stets wieder von neuem zu 
untergraben, da sie nur in solch ewiger, dem Wandel der Zeiten folgender 
Neuprüfung und Neugestaltung, wie überhaupt jede Geschichtsforschung, 
ihre Daseinsberechtigung findet. 

Dresden. W. v. Seidlitz. 


Julius Vogel. Bramante und Raffael. Ein Beitrag zur Geschichte 
der Renaissance in Rom. Verlag von Klinkhardt u. Biermann in Leipzig 
1910. 114 Seiten, 6 Tafeln. 

Der Italiener steht der Kunst des Altertums anders gegenüber als der 
Deutsche, der Engländer und der Franzose. Uns bedeutet klassische Kunst 
die vollkommene Harmonie der Form, und viele ihrer Denkmäler erscheinen 
uns als ideale Verbildlichung schönster Menschlichkeit. Dem Italiener aber 
ist sie zugleich die mahnende Erinnerung an die politischen und kulturellen 
Höhepunkte des eigenen Volkes. Schon zu Beginn der Renaissance hat das 
Leo Battista Alberti ausgesprochen, und ernsthaft verglich man damals die 
lebenden Künstler mit den berühmten Vorgängern. Solchen Zusammen¬ 
hang illustriert auch Petrarcas Klage über den Untergang der römischen 


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Besprechungen. 


445 


Ruinen im selben Zeitalter, da wahrscheinlich die bronzene Petrusstatue, die 
lange für spätantik gegolten hat, entstand, und Cola di Rienzi einen Römer¬ 
staat im Sinn der Vergangenheit und in den alten Formen neu zu begründen 
unternahm. Wie man im 15. und 16. Jahrhundert die Völkerwanderung 
als Ursache des Niedergangs Italiens ansehen konnte, erschien auch damals 
die Gotik als eine verheerende Invasion in das Gebiet der Kunst, und ihre 
Ausdrucksweise — im besonderen der Spitzbogen — wie unerbetene Ein¬ 
dringlinge, die man vertreiben müsse. Die bewußte Rückkehr zu antiken 
Formen war Patriotismus, war das Innewerden eigner Kraft und der Wunsch, 
die alte Größe auf allen Gebieten des Lebens wieder zu gewinnen. 

Aus solcher Gesinnung erklärt sich am besten, daß das historische 
Interesse für die Vergangenheit hier mit der aufstrebenden Kunstentwick¬ 
lung begann, während es sonst viel häufiger erst im Zenith einer Entwick¬ 
lung zutage tritt. Freilich haben sich Theorie und Praxis auch damals 
keineswegs gedeckt. Verehrung und Zerstörung der Monumente gingen 
— wie gedankenlos — neben einander her. Wichtige Beiträge zu solcher 
Erkenntnis bringt Julius Vogel bei; aber sie sind ihm nur Mittel zum Zweck 
eine Frage zu klären, die nicht zu den unwichtigsten der Hochrenaissance 
gehört. Wer war der Autor und wer der Adressat jener berühmten Denk¬ 
schrift über die römischen Baudenkmäler, ihre Erforschung und Wieder¬ 
herstellung, die Anfang des 16. Jahrhunderts — auch das genaue Datum 
der Abfassung war ungewiß — entstand ? Am häufigsten ist einer unsicheren 
Tradition gemäß Raffael Santi als der Verfasser genannt worden; neben 
ihm sein feinsinniger Freund, Graf Castiglione, der gelehrte Altertums¬ 
forscher Andreas Fulvius Sabinus und endlich Fra Giocondo, der Architekt. 
Aoer all diese Namen halten bei eingehender Prüfung nicht stand, ebensowenig 
der Leos X. als Auftraggeber und Adressat. Statt seiner schlägt Vogel 
Julius II. und als Autor ßramante, den Architekten von S. Peter, vor. Er 
weist aufs klarste nach, daß die Ereignisse, auf die in jener Denkschrift 
Bezug genommen wird, wie im besonderen die Zerstörung der berühmten 
Meta im Borgo, die auf den älteren Darstellungen Roms kaum jemals fehlt, 
die Jahre 1510 bis 1511 als Abfassungstermin beweisen. Der Krieg gegen 
Ferrara, der Julius II. längere Zeit fernhielt von Rom, gibt eine gute Er¬ 
klärung für die Entstehung der zwei Redaktionen der Denkschrift, die 
etwa ein Jahr auseinanderliegen. Die erste, die als Brouillon bezeichnet 
werden darf, kam wahrscheinlich mit Bramantes künstlerischem Nachlaß 
an Raffael, die zweite war für den Papst bestimmt. 

Daß dies Julius II. war, und nicht Leo X., darf Vogel auch aus andern 
Gründen folgern. Er schildert die Denk- und Handlungsweise des genialen 
Rovere, sein Interesse für die Erinnerungsstätten der Vergangenheit, dazu 
seinen Ehrgeiz ein Herrscher des Friedens zu heißen. (Auf all das finden 


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Besprechungen. 


sich Bezüge in der Denkschrift). Dann werden die Vorwürfe der Pietät¬ 
losigkeit entkräftet, die man ihm anläßlich des Niederreißens vom Chor 
des alten S. Peter gemacht hat, und es wird dargetan, daß Leo X. unter dem 
Einfluß gelehrter Philologen zwar für die Schonung antiker Inschriften ein- 
getreten ist, aber keineswegs für die Schonung antiker Kunst. Sein dies¬ 
bezüglicher Erlaß gab Raffael zugleich weitgehende Kompetenzen, die 
Ruinen als Steingruben für den Neubau S. Peters zu benutzen. Ja, Papst 
und Kardinäle haben damals einen berüchtigten Devastator gegen den 
römischen Magistrat und seine Konservierungsbestimmungen in Schutz ge¬ 
nommen. Solch Vorgehen schließt es aus, daß er eine Denkschrift über die 
eventuelle Wiederherstellung der römischen Bauten in Auftrag gab. Aber 
Vogel vermutet, daß Raffael, «vielleicht die rezeptivste Künstlergestalt der 
ganzen Renaissance«, auch hier Bramantes Nachfolger werden wollte, und 
daß er zu Ende seines kurzen Lebens begonnen hat, des älteren Freundes 
Ideen auszuführen. Es leuchtet ein, <faß es aus eigner Initiative und 
nicht im Auftrag seines Herrschers geschah. 

Skeptiker mögen Vogels Ausführungen trotz seiner im ganzen sehr 
guten Beweisführung zweifelnd gegenüberstehen. Doch scheint mir, die 
Datierung 1510/11 darf nunmehr als gesichert gelten, und ebenso plausibel 
ist es, daß nur ein tüchtiger Architekt von Fach diese von kongenialem Ver¬ 
ständnis diktierte Schrift voll hoher Ziele hat entwerfen können. Literarische 
Arbeiten Bramantes sind bezeugt, und wie man heute den erlauchten Kreis 
Julius II. kennt, hat keiner aus ihm so berechtigten Anspruch auf den 
Autorenruhm der Denkschrift, wie der Baumeister von Urbino, Mailand 
und Rom. F. Schottmüller. 


Herrmann Egger, Römische Veduten, Hand Zeichnungen 
aus dem 15.—18. Jahrhundert. Friedr. Wolf rum & Co., Wien, 

Leipzig. 

Derselbe, Architektonische Handzeichnungen alter 
Meister. Ebenda. 

Nach dem Vorworte der zweiten Veröffentlichung sind wohl beide als 
das Vermächtnis desselben organisatorischen Riesengedankens allumfassender 
Arbeit auf dem Gebiete der Architekturgeschichte anzusehen. Und daß 
beide Sammlungen zu gleicher Zeit erscheinen, zeugt nicht allein für diese 
Annahme, sondern auch dafür, welch kraftvolle Arbeit da am Werke ist, 
die Fruchtbarkeit der Geymüllerschen Idee für alle wissenschaftliche For¬ 
schung in den weiten Gefilden der Architektur als Kunst in der Erscheinung 
zu erweisen. Aber auch für welche Leistungsfreudigkeit wir dem Verlage 
mit dem Herausgeber Dank schulden. Diesem letzten kommt noch das 


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Besprechungen. 


447 


besondere Verdienst zu, daß er erst für den Plan seines Meisters die Möglich¬ 
keit der Verwirklichung erdachte, eben indem er ihn frischweg zerfällte in 
einzelne Abteilungen, die nun verschieden verwertbar sein werden. Denn 
angesichts der vorliegenden Erscheinungen muß man Wunsch und Hoffnung 
nachdrücklich aussprechen, derselbe eingeweihteste Fachmann — oder unter 
seiner Anleitung durch Jünger oder Zöglinge — möge auch den dritten 
Teil von Geymüllers Expose, die photographischen Aufnahmen von in ge¬ 
malte, gemeißelte und Einlegwerke hineingesetzten Architekturen, zunächst 
etwa einer engsten Zeitabgrenzung und Ortseinschränkung, sammeln und 
ordnen zu einer Ikonographie der Architektur sozusagen. 

Es würde sich aus diesem Teile der Arbeit — ebenso wie aus der in 

den »römischen Veduten« niedergelegten — eine Fülle von Material ergeben 

für eine Reihe von Problemen, die weit über den Rahmen von Architcktur- 

geschichte und Künstlerbiographie hinausliegen. Als ich in einem größeren 

Kupferstichkabinette nach den »römischen Veduten« fragte, erklärte man 

mir, die Anschaffung sei unterblieben, da das Werk zu sehr den Interessen 

der römischen Lokalforschung diene. Wenn dem so wäre, so hätte die 

Sammlung nur Wert für ein antiquarisch-topographisches Studium der ewigen 

Stadt oder für das »Studio« eines reisenden Liebhabers, für die Mußestunden 

einer sentimentalen Versenkung in den stillwebenden Zauber der Ruinen- 

stadt. In der Tat darf man auch für diesen Genuß den alten Zeichnern 

• 

Dank wissen. Wer hätte sein reinigend befreiendes Wirken nicht froh em¬ 
pfunden, wenn er aus dem Hasten des heutigen Corso hineintritt in die stillen 
oberen Räume des Palazzo Corsini und die Handzeichnungsmappen »vedute 
di Roma« durchsieht. 

Aber es fällt uns sofort doch auch etwas anderes dabei ein, etwas, das 
in der höchst sorgfältigen methodologischen Einleitung vom Verfasser nicht 
vorhergesehen ist: die fein unterschiedenen Kategorien der Einleitung zeigen 
die umfassenden Werte auf, die die Sammlung birgt für die Künstler¬ 
geschichte, für die Denkmalgeschichte und die Entwicklungsgeschichte der 
neuen Stadt. Zum Beispiel gibt schon das Rezensionsexemplar die 
wertvollsten Vorstellungen von der Förderung der Arbeiten an St. Peter — 
erfreuliche Ergänzungen zu dem Materiale, das H. v. Geymüller im Tafel - 
bande geben konnte — an den Bauten um den Cortile del Belvedere, von der 
allmählichen Ausgestaltung des Gesamtbildes der Piazza del Popolo und er¬ 
weitert so die Gegenstandskenntnis, die uns Fontanas und Dup6racs Stiche 
vermitteln, und die Sammelbände von Falda und Ferrerio. Gerade aus 
dem Vergleich dessen, was hier und was dort zu sehen ist, läßt sich ein doku¬ 
mentarischer Anlaß gewinnen zum Auf stellen der Kategorie, die vom Heraus¬ 
geber selbst vernachlässigt ist: Hier wird publiziert nicht ohne Ruhmredig¬ 
keit auf Bauherrn und Künstler und darum das endgültige Bild der verwirk- 


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Besprechungen. 


lichten Idee mit Zutaten, die das Lebensbild, aus dem die künstlerische Idee 
geboren wurde, abrunden. Die architektonische »Erfindung« bleibt jedoch 
die Hauptsache, das Objekt der Betrachtung. Dort wird frei über das Objekt 
variiert, der andere Künstler — und wenn ein auch noch so namenloser — 
nimmt es in seine Komposition auf, spielt mit ihm im Zusammenhänge seiner 
eigenen Erfindung, die dann wohl auch im Kupferstich vervielfältigt werden 
soll oder das Vorstudium für ein Gemälde darstellt. Und diese hatten dann 
nicht den Wert eines Speculum magnitudinis Romae, sondern waren künst¬ 
lerische Ergebnisse des italienischen Studienaufenthaltes, »heroische Land¬ 
schaften« oder »Stadtansichten« »nach römischen Motiven«. Und es ist 
höchst interessant an dieser Materialsammlung zu beobachten, wie sich 
allmählich nordische Empfindungs- und künstlerische Auffassungsweise in 
dem fremden Stoffe durchsetzt, dann auch, wie die Künstler allmählich von 
der rein gegenständlichen Aufnahme Vordringen zur Einsicht in die kom- 
positionelle Verwendbarkeit der Gegenstände, und endlich, wie sie in der 
Anordnung von Kontrasten zur Einführung einer starken Stimmung kommen. 
Sind das auch keine Neuigkeiten für den Kunsthistoriker noch für den Lieb¬ 
haber, so bereichert doch die Eggersche Publikation den, welcher sich um 
die Geschichte der Landschafts- und Prospektmalerei bemühen will, und den, 
welcher die Entwicklung des künstlerischen Sehens zu beobachten liebt, 
um ein reiches und wesentliches Material. 

Die Sammlung architektonischer Handzeichnungen alter Meister ist — 
möchte man sagen — ein Glück zu erleben für jeden, der in kunsttheoreti¬ 
schem Geiste die Grundbedingungen künstlerischer Denkweise studiert, wie 
für den Schreiber der Typengeschichte dieser Einzelkunst.. Was ist über¬ 
haupt bisher veröffentlicht von den Schätzen an architektonischen Studien, 
Entwürfen und Bauzeichnungen, die in den Uffizien, in Turin, Venedig, 
Wien, München, Dresden, Berlin, Paris vorhanden sind, zu schweigen von 
solchen halbverschollenen Sammlungen, wie eine einmal in München aus¬ 
gestellt war aus Bamberger Privatbesitz, oder wie eine in Würzburg und 
in Vicenza lagert. So manches davon ist schwer erreichbar selbst für den 
Spezialforscher, ja, fast unzugänglich für den, der sich einarbeiten möchte. 
Das kommt daher, daß an den Aufbewahrungsorten selbst man zumeist so 
wenig unterrichtet ist in Architekturkunde. Daraus erklärt sich wohl die 
Vernachlässigung und Zurückgebliebenheit im Bestimmen und Ordnen der 
zu ihr gehörigen Handzeichnungen, während die Gebiete der Forschung über 
Malerei und Plastik so vielfach und vielseitig durchgearbeitet sind. Es ist, 
als ob immer noch die Baukunst mit E. v. Hartmann für eine Kunst zweiten 
Ranges mit der einzigen Aufgabe des Verzierens und Anordnens von lauter 
Bedürfnisbefriedigungen angesehen werde; für eine unfreie, angewandte 
Kunst also. Und ihre einzige Leistung wäre ein möglichst geschicktes Zu- 


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Besprechungen. 


4 49 


sammenpassen der frei erfundenen Dekoration mit den bis ins einzelne be¬ 
stimmten Gelegenheiten der Aufgabe. Die beiden edleren Schwesterkünste, 
die inzwischen als »die imitativen« bezeichnet worden sind, hätten das freie 
Finden der künstlerischen Aufgaben voraus und wären nur in den Mitteln 
des Ausdrucks dafür gebunden, gebunden an die Erscheinungsweisen der 
Natur. Für die Beobachtung der Art, wie sich der Künstler von dieser Ge¬ 
bundenheit befreie bis dahin, daß sein Werk als ein völlig bedingungsloses 
dasteht, sei das Studium und die Kenntnis der Handzeichnungen als Vor¬ 
bereitungen zu einem Gemälde, einer Bildhauerarbeit ein unentbehrliches 
Hilfsmittel zum Verständnis. Eine Architektenhandzeichnung könne immer 
nur ein Zeugnis dafür sein, wie weit es dem Künstler gelungen sei, den hetero- 
nomischen Charakter — um mit Schiller zu reden — seiner Aufgabe hinter 
den freien Spielen seiner Phantasie zu verbergen. Da ist eine kleine Um¬ 
stellung des Blickes für den Historiker wie den Theoretiker dringend not¬ 
wendig. Und das zu leisten ist vor allem der Beruf der Eggerschen Publika¬ 
tion. Denn wir haben ja außer v. Geymüllers Sammlung der »ursprüng¬ 
lichen Entwürfe« für St. Peter, seinem »Raffaello studiato conie arch.«, 
Redtenbachers »Bald. Peruzzi«, Willichs »Vignola«, Fraschettis »Bernino« 
nur vereinzelte Mitteilungen des so arg vernachlässigten Materiales dazu. 
Schon der erste Band, der geschlossen vorliegt, zeigt uns dieses Materiales 
Wert deutlich auf: Indem viele Variationen über dasselbe Thema zusammen 
gegeben werden, sehen wir bei ihrem Studium allmählich ein, wie der Geist 
des Künstlers, vom Zwange des Bedürfnisses befreit, nicht sowohl dadurch, 
daß er Zierformen zu notwendigen Raumabschlüssen hinzusetzt, als indem 
er den Raum von vornherein, architektonisch als bildsamen Stoff ansieht, 
sein Problem in der Raumbildkomposition findet. Hierin unterscheidet sich 
z. B. Ferraboscos Uhrturmprojekt als Lösung des Eingangsproblems für den 
vatikanischen Palast, das uns ja nur in Handzeichnungen erhalten ist von 
der Abfassung, die ihm Bernini gab und Fontana fortbildete. (Deren ver¬ 
schiedene Lösungsversuche finden sich bei Fraschetti reproduziert; doch ist 
zu hoffen, daß auch Egger sie trotzdem noch einmal bringen wird, schon der 
Vorzüglichkeit seines Reproduktionsverfahrens wegen.) Während Ferra- 
bosco den geschmückten Nutzbau gibt, bringt Bernini eine ganz andere 
Richtung des Interesses hinein: eine rahmenmäßige Abgrenzung des Raum¬ 
bildes von Neu-St. Peter zu schaffen, dessen künstlerische Komposition zu 
vollenden. 

Die Umfangsweite des Repertoirs in diesem ersten Bande sowohl histo¬ 
risch wie gegenständlich — es kommen gotische Architekturdetails aus der 
zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts und eine Bühnendekoration von 
H. Neefe von 1835 (?) vor — läßt hoffen, daß auch die architektonische Garten¬ 
kunst hineingezogen werde in den Plan des Ganzen, so daß auch die ungc- 


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Besprechungen. 


stochenen Entwürfe bekannt würden und wir zumal an diesem »Seitenzweige 
der Baukunst« erfahren können, wie wenig man dieser gerecht wird, wenn 
man sie lediglich als eine erweiterte und verfeinerte Bekleidungskunst an¬ 
spricht. 


In Anbetracht der hohen Bedeutung des Eggerschen Unternehmens, 
die zu skizzieren hier versucht wurde, sei doch einmal, mit Bezug besonders 
auf die letztbesprochene Publikation, ein Wunsch vorgebracht: Nur die 
wenigsten Universitätsinstitute, besonders aber die in kleinen Städten, die 
noch weniger reich dotiert sind als die in großen, worin ja eigentlich ein 
Widersinn liegt, werden imstande sein, sie sich anzuschaffen, Private wohl 
kaum. Wäre es da nicht der guten Sache der Erweiterung eines vertieften 
Architekturstudiums zuliebe anzustreben, daß sich Herausgeber und Ver¬ 
leger doch entschlössen, an einzelne Fachgenossen zu Lehrzwecken oder an 
kleine Studiensammlungen Einzelblätter abzugeben, wenn auch zu erhöhten 
Preisen? Wohl würde solchem Abnehmer die äußerst sorgfältige Editions¬ 
arbeit zumeist verloren gehen. Aber zu deren wichtiger Hilfe könnte man 
ja leicht durch schriftliche Anfrage bei einem Kupferstichkabinette — das 
sie ja zweifelsohne anschaffen muß — gelangen. Horst. 


Dr. Alfred Lauterbach. Die Renaissance in Krakau. Eugen 
Rentsch Verlag, München 1911. 

Gestützt auf ein reiches und — das sei rühmend hervorgehoben — 
vortreffliches Abbildungsmaterial führt Dr. Lauterbach einem größeren 
deutschen Leserkreise die Bauten und Grabdenkmäler der romanistischen 
Renaissance in Krakau vor; in seiner allgemeinen Fassung ist der Buchtitel 
also nicht ganz zutreffend gewählt. Die zahlreichen historischen und kunst¬ 
geschichtlichen Studien, welche in den Berichten der Kommission zur Er¬ 
forschung der Kunstgeschichte in Polen (Sprawozdania komisyi historyi 
sztuki w Polsce I—VII), den Krakauer Jahrbüchern (Rocznik Krakowski 
I—XII) und den Schriften eines Sokolowski, Tomkowicz, Luszczkiewicz, 
Woyciechowski, Koplra, Ptasnik u. a. in polnischer Sprache erschienen 
sind, bilden die Grundlage für den Text und werden am Schlüsse in einem 
übersichtlichen Verzeichnisse zusammengestellt. Indes kennt der Verf. 
sein Material gründlich aus eigener Anschauung und trägt seine meist zu¬ 
treffenden Ansichten frisch und unbefangen vor, wenn auch die Neigung 
zu verallgemeinern den kritischen Leser hier und da stutzig macht. Leider 
wirken der sprachliche Ausdruck und die Syntax bisweilen recht schwer¬ 
fällig und unglücklich; das erschwert die Lektüre und stört namentlich 
bei den Denkmälerbeschreibungen, die einen guten Teil des Buches 


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Besprechungen. 


45 1 


füllen; dabei fällt die Mischung von Beschreibungen und ästhetischen 
Werturteilen leicht auf die Nerven. 

In einer sehr ausführlichen Einleitung zeigt Lauterbach die kulturellen 
und historischen Vorbedingungen auf, welche den Einfluß der italienischen 
Renaissance begünstigten. Die humanistischen und politischen Beziehungen 
der Könige, der Geistlichkeit und des Adels ziehen schon in den letzten Jahr¬ 
zehnten des fünfzehnten Jahrhunderts italienische Kaufleute, später auch 
Künstler ins Land. So ist das Grabmal des Königs Johann Albrecht (j* 1502) 
ein äußerst interessantes und frühes Beispiel lombardischer Zierplastik 
nördlich der Alpen. Unter König Sigismund I., dem Gatten der Bona 
Sforza, verstärkt der wirtschaftliche und politische Kampf gegen die Deutschen 
den Einfluß der begünstigten italienischen Architekten und Marmorarbeiter. 
Der Wawel wird von ihnen prunkhaft im neuen Geschmack ausgebaut und 
verziert; beim Bau der glänzenden Sigismundskapelle im Dom vereinen die 
Italiener alle tektonischen, plastischen und namentlich dekorativen Kräfte. 
Dann erlischt die Baulust für einige Zeit; erst gegen Ende des Jahrhunderts 
dringt beim Bau der Peters- und Paulskirche nach dem in Rom gefertigten, 
von il Gesü abhängigen Risse der römische Barockstil in Krakau ein. 

Außerordentlich charakteristisch ist neben diesen Werken die Fülle 
prächtiger, italianistischer Nischengräber, die für das Selbstgefühl und die 
Prachtliebe ihrer Stifter mindestens so bezeichnend sind, wie für die — oft 
handwerkliche — Fertigkeit ihrer Schöpfer. Ein Überfluß von Ornamenten 
und kostbarem Material verdunkelt meist die architektonischen und plasti¬ 
schen Teile. 

Im Gegensatz zu den prächtigen Königsgräbern der gotischen Epoche 
ist hier von bildnerischen Qualitäten wenig die Rede; selbst in dem schönen 
Grabmal des Bischofs Peter Tomicki im Dom, das Lauterbach mit Recht be¬ 
sonders hervorhebt, erscheint die Liegefigur des toten Schläfers auf der Sarko¬ 
phagplatte nicht ganz geglückt, wenn man an französische Werke dergleichen 
Epoche denkt. Nur die relativ kleinen Statuen der Sigismundskapelle, 
einige kleinere Madonnenreliefs, vielleicht auch die Reliefgrabplatten des 
Bischofs Jan Konarski (f 1525) — von der deutschen Kunst noch stark 
beeinflußt — und der Anna Jagiello (vom Ende des Jahrhunderts) sind 
erfreulichere Leistungen. Dafür scheint das Hauptinteresse der Auftrag¬ 
geber und der Künstler dem Ornament gegolten zu haben, das allenthalben 
die Formen umspielt und überwuchert. Dieser kunstgewerbliche Zug (ich 
brauche das Wort »kunstgewerblich« nicht in einseitig tadelndem Sinne 
wie Dr. Lauterbach) scheint für das Verständnis der Krakauer Renaissance 
ebenso wichtig, wie für die Kunst in anderen nordischen Ländern; 
nimmt man nur die Renaissance in Italien zum Prüfstein der 
Krakauer Denkmäler, wie das Dr. Lauterbach im Vorwort vor- 

Repeitorium für Kunttwisnenschaft XXXV. 


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Besprechungen. 


schlägt, so könnte man leicht zu harten und ungerechten Urteilen 
kommen; denn wir finden in Italien außer der Certosa und anderen 
lombardischen Bauten von der Wende des Jahrhunderts kaum schlagende 
Parallelen. Gerade die »keltisch-germanische« Renaissance mit ihren durch 
Klima, Schmuckfreudigkeit u. a. entschuldbaren. Kompromissen und dem 
Mißbrauch italienischer Motive schöpft aus derselben Quelle. Solche Bar¬ 
barismen finden sich auch an Krakauer Bauten: die gotischen Fenster- 
teilungen, die Türornamentik im Untergeschoß des Wawels beweisen das. 
Der dreigeschossige Arkadenhof mit dem betonten oder doch gleichberech¬ 
tigten, oberen Stockwerk ist ein beliebtes Requisit bei zahlreichen Fürsten¬ 
sitzen in Deutschland. Die überschlanken Säulen des zweiten Geschosses 
lassen sich am ehesten mit den Traditionen der heimischen Holzbaukunst 
aus gotischer Zeit erklären *). Dem Florentiner oder Römer des Cinque¬ 
cento hätte die Lösung nicht genügt; sicher wäre ihm auch die Orna¬ 
mentik des Hauptwerkes der Italiener in Krakau, der Sigismundskapelle, 
allzureich und aufdringlich erschienen. Hier äußerst sich der Geist 

der Besteller und fördert jenen Reichtum der Ornamentik zutage, die 
in ihren Motiven sehr an den Flötnerstil, an österreichische und schlesische 
Bauten (Rathaus zu Görlitz u. a.) anklingt, freilich an Kraft und Sorg¬ 
falt der Ausführung diesen Werken überlegen bleibt. Die dekorative 

lombardische Kunst eines Padovano, Berccci und ihrer nordischen Schüler in 
Krakau kann nicht nur mit dem. Maßstab der italienischen Kunst des Cin¬ 
quecento, an Bramante, Michelangelo, Vignola und Palladio gemessen werden; 
hier durfte der Verf. einen Hinweis auf die Nachbarländer nicht unterlassen, 
die ebenfalls von den Lombarden lernten. 

Eis wäre ja auch ganz unrichtig, wollten wir nur an den im vor¬ 
liegendem Buche aufgeführten Denkmälern die Renaissance in Krakau 
studieren; die Hauptwerke eines Hans von Kulmbach, Hans Dürer, 

Michael Lantz von Kitzingcn, hervorragende Holzskulpturen und 
kunstgewerbliche Arbeiten in Edelmetall usw. wurden von deutschen 
Meistern unter demselben König Sigismund, teilweise sogar für die 

Sigisraundskapclle auf dem Wawel gefertigt. Trotz aller politischen 
Kämpfe spannen sich damals noch genug Fäden zwischen der deutschen 
und der italienisch-polnischen Kunst; namentlich Schlesien, und Nordost¬ 
deutschland überhaupt, blieben mit Polen in steter Verbindung, wie das 
außer schlesischen Bauten und Grabmälern die Tätigkeit ostdeutscher 
Künstler in Krakau beweist, die Dr. Lauterbach gelegentlich erwähnt. 
Unter dem Einfluß solcher Wechselbeziehungen scheinen das schöne Schloß 

*) Eine ähnliche Steinsäule mit einem durch menschliche und tierische Figuren 
gebildeten, korbartigen Kapitell und Schaftring zeigt der spätgotische Arkadenhof am Hause 
Tucherstr. 20 in Nürnberg (Abb. in »Nürnberger Motive« Heft 1, Taf. 4). 


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Besprechungen. 


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zu Baranöw (Abb. 13) mit seinen Türmen, Blendgiebeln und seinem reizenden 
Arkadenhofe, oder die imposante Tuchhalle in Krakau (Abb. 29) erst ganz 
verständlich; der italienische Profanbau hat m. E. mit diesen Werken nichts 
zu tun, trotzdem Teile der Ornamentik von Italienern ausgeführt sein mögen. 

Gewiß genügen die vorhandenen Denkmäler in Krakau nicht, um an 
ihnen neben der Rezeption der Renaissance durch die einheimische 
Künstlerschaft, auch eine Entwicklung dieser lokalen*, anspruchsloseren 
Kunstweise nachzuweisen; aber einzelne Beispiele lassen sich finden, die sich 
an Ort und Stelle bei sorgfältiger Prüfung wohl noch vermehren dürften; 
denn so vollkommen, wie Dr. Lauterbach annimmt, scheint dem Krakauer 
Bürger, der noch im fünfzehnten Jahrhundert »nobili par« gewesen war, 
das Interesse an der Kunst nicht entschwunden zu sein. Darum scheide 
ich das wuchtige, aber unausgeglichene Portal und den Hof des De¬ 
kanatshauses (Abb. 3 u. 16), eine Grabplattenumrahmung an der Barbara¬ 
kirche (Abb. 28), die Denkmäler des Bischofs Jan Konarski (Abb. 35), des 
Raphael Osinski (Abb. 42) u. a. schon ihres flachen Reliefs wegen als ein¬ 
heimische Erzeugnisse aus; sicher empfindet man erst dann den vollen 
Gegensatz zu den formschönen Werken der Hofkünstler, etwa dem Balkon 
oder dem Ciborium der Marienkirche, dem Tomicki- und Gamratgrab im 
Dom u. a. Als bescheidenen Beitrag zu einer künftigen Beschreibung der 
bürgerlichen Denkmäler möchte ich einige' tüchtige Epitaphien mit den 
Profilbrustbildern der Verstorbenen in den Kreuzgängen der Dominikaner¬ 
kirche nennen. 

Weit entfernt, den Inhalt des Lauterbachschen Buches irgendwie 
zu erschöpfen, sollen diese Zeilen nur Anregungen wiedergeben, die 
sich mir bei der Lektüre aufdrängten. Die beigegebenen Tafeln werden 
hoffentlich neue Freunde der malerischen Schönheiten Krakaus werben. 
Vor allem möchte ich den Wunsch aussprechen, daß alle polnischen Kunst- 
gelehrten dem dankenswerten Beispiele Dr. Lauterbachs folgen und die 
reichen Kunstschätze ihres Landes mit größerer Bereitwilligkeit als bisher 
den deutschen Nachbarn zugänglich machen mögen. Das wird auch der 
polnischen Forschung zugute kommen. Die Kunst spottet ja der politischen 
Grenzen und schenkt ihre Gunst Freund und Feind in gleicher Weise, 
wenn sic in wahrer Verehrung ihrer Herrschaft sich beugen. 

Max Lossnitzer. 


Walter Friedländer: Das Kasino Pius IV. Bd. III der Kunstge 
schichtlichen Forschungen, herausgegeben vom Kgl. Preußischen Histori¬ 
schen Institut in Rom. M. W. Hiersemann, Leipzig 1912. X u. 136 S., 
40 Taf. u. 36 Textabbildungen. 

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Besprechungen. 


Die kunsthistorischen Bücher des römischen Instituts entsprechen nach 
Aufgabe und Qualität ganz der bewährten Tradition dieses jetzt vierund¬ 
zwanzig Jahre alten Unternehmens. Wie die historischen Veröffentlichungen 
Urkunden in streng wissenschaftlicher Fassung bieten und dazu die erforder¬ 
lichen Erläuterungen oder eine Bearbeitung, die sie fruchtbar macht, so 
bringt auch dieser jüngste Band ein Denkmal zur Kenntnis, das nur infolge 
seiner äußerst schweren Zugänglichkeit bisher wenig beachtet wurde. Zwar 
kannten die Besucher der vatikanischen Gärten (aber wie wenige dürfen diese 
sehen) Pius IV. zierliches, reich geschmücktes Lusthaus, und der Fach¬ 
gelehrte wußte, daß es von dem geschmackvollen Eklektiker Pirro Ligorio 
erbaut ist und daß im Innern Barocci, der Urbinate, und Santi di Tito 
Fresken geschaffen haben; aber erst jetzt, nachdem das Entgegenkommen 
der päpstlichen Behörden vielerlei Aufnahmen und genaue Studien zuließ, 
ist die Bedeutung des Kasino als Denkmal der frühesten Barockkunst in 
Rom entdeckt. Wie eine gute Quellenforschung gibt F.s Buch erst ausführ¬ 
liche Beschreibungen als nötige Ergänzung der klaren Illustrationen, dazu 
die Geschichte der Anlage; und endlich bespricht er ihre Stellung und Be¬ 
deutung in der Geschichte der Architektur und Malerei. Als das Belvedfcre, 
das ältere Gartenhaus im vatikanischen Garten, durch Bramantes Erweiterung 
des päpstlichen Schlosses in dieses einbezogen war und sich die Villa di 
Papa Giulio vor Porta S. Popolo in unruhigen Zeiten als zu entfernt erwies, 
begann Paul IV. im Mai 1558 den Bau des neuen Kasino. Sechs Monate nur 
wurde zunächst an ihm gearbeitet, doch muß der Rohbau schon zum Teil 
fertig gewesen sein, als Pius IV. genau zwei Jahre später die Vollendung 
begann. Denn schon im Herbst 1560 konnte Rocco da Montefiascone mit 
der Verzierung der Fassade durch Stuckreliefs beginnen; im Sommer 1561 
gingen die Maler Santi di Tito, Federico Zuccaro, Pierleone Genga, Barocci 
u. a. ans Werk. Im Herbst des nächsten Jahres war das Gebäude bewohnbar; 
freilich nicht ganz vollendet, denn im Dekor des oberen Stockwerkes kommen 
das Zeichen der Sedisvakanz — nach Pius IV. Tode — das Wappens seines 
Nachfolgers Pius V., ja das Urbans VII (1590) vor. Die späterer Herrscher — 

wie Urbans VIII., Clemens XI. und Benedikts XIII. — beziehen sich auf 
« • 

Änderungen oder Restaurationen; doch ist der Bau, so wie er heute noch ist, 
zum mindesten im wesentlichen seiner dekorativen Wirkung das Werk 
Pius IV. 

Das Zentrum der Anlage ist ein ovaler Hof mit ebensolchem Brunnen 
in der Mitte. Zwei schmale Torbauten mit gewölbten Korridoren an den 
Schmalseiten vermitteln den Zugang vom Garten her. Dem hochragenden 
Hauptgebäude an der einen Längsseite entspricht die offene Loggia gegen¬ 
über. Wie die Torbauten sind auch sie in der Dekoration als Gegenstücke 
betont, jene stimmen genau überein, bei diesen ist durch die Gliederung — 


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Besprechungen. 


455 


das Erdgeschoß hat hüben und drüben einen offenen Säulenzugang mit flan¬ 
kierenden Mauerteilen, die Fläche darüber ist glatt, d. h. ohne Fenster — 
große Ähnlichkeit trotz der verschiedenen Höhe erreicht. Das Entschei¬ 
dende für den Eindruck ist neben der Anlage dieses Komplexes die reiche 
Dekoration mit flachen Stuckreliefs — figürlichen und ornamentalen —, 
die alle Mauerflächen überzieht. Im ganzen gibt sie klare Teilungen im 
Sinne der Hochrenaissance; aber in Einzelheiten, wie in den vorkragenden 
Ecken, die abwechselnd die horizontale und die vertikale Richtung betonen, 
kündet sich der kommende Barockgeschmack an. Das gilt auch von der 
ovalen Form des Hofes, der freilich der Grundriß der benachbarten Fassaden 
nicht entspricht — was in späterer Zeit selbstverständlich gewesen wäre, 
während der Kapitolsplatz noch nach dem älteren Schema angelegt ist; — 
doch ist solche Inkonsequenz durch eine Bank mit hoher Lehne, die den Hof 
umgibt und bis an die offenen Halleneingänge von Loggia und Kasino reicht, 
geschickt verschleiert. Nur an den Torgebäuden sind die Eckpilaster der 
Hauptrichtung entsprechend schräg gestellt. — Auch ihre Tonnengewölbe 
sind ganz mit Stuckreliefs belegt, die Wände wie die des Vestibüls mit Mosaik 
aus Natursteinchen überzogen, eine anspruchslose Dekoration, die aber bei 
dem Wechsel von glatten Flächen und Nischen nicht ohne malerische Wirkung 
ist. In Loggia, Vestibül wie in den Zimmern des Kasino sind an den Decken 
Malerei und Stuckreliefs zu prächtigem Gesamteindruck vereint. Man mag 
den künstlerischen Wert von Einzelheiten hier nicht allzu hoch einschätzen; 
aber die Aufgabe der Anlage und seiner Dekoration, einen heiteren Ort für Er¬ 
holung und ruhiges Genießen an den warmen Sommertagen des Südens zu 
schaffen, ist voll erreicht. Störend wirkt heute nur die große Sammlung von 
Devotionsadressen im ersten Zimmer und das Fehlen der antiken Statuen, 
die Pius IV. hier aufstellen, Pius V. aber zum größten Teil wieder entfernen 
ließ. Unter Leo XII. wurden die durch Witterungseinflüsse beschädigten 
Stuckkaryatiden an der Rückfront der Loggia abgetragen. Für den Wand¬ 
schmuck außen und innen weist Fr. keinerlei Themata von großer Bedeutung 
— weder historische Reminiszenzen noch allegorische Beziehungen weiteren 
Umfanges — wie etwa Raffaels Stanzen sie besitzen — nach. (Doch findet 
sich neben andern Veduten Roms eine Ansicht des Kasinos in dem von Santi 
di Tito ausgemalten Treppenhause.) Im ganzen wiegen an den Fassaden 
antike Darstellungen, im Innern solche der christlichen Heilsgeschichte, vor. 
Freilich diese sind — bis auf Baroccis hl. Familie und Verkündigung im 
Deckenspiegel der beiden ersten Zimmer — lauter kleine Bilder, die umgeben 
sind von Girlanden, Tiergestalten, Amoretten und andern Motiven antiker 
Wanddekoration. Man wird immer wieder — besonders in den ersten 
Zimmern — an Raffaels Loggien erinnert; aber weder seine Grottesken- 
motive, noch ihre altrömischen Vorbilder sind mehr als in Einzelheiten be- 


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Besprechungen. 


nutzt. Ein neuer Geschmack kommt deutlich in der Raumverteilung und 
Proportionierung der Details zum Ausdruck: die klaren Teilungen der flachen 
Gewölbe werden immer wieder durch eingefügte kleine Felder von anderer 
Farbe unterbrochen; in einigen Rechtecken ist zum Beispiel durch dunkel - 
grundige Eckbilder ein Kreuz als Hauptform betont. Als markige 
Betonungen schieben sich Kartuschen, Eierstabfriese und andere Architektur¬ 
teile, ja auch figürliche Reliefs zwischen die Fresken. Und jedes Zimmer ist 
nach einem andern Grundschema dekoriert. Am ärmsten erscheint dies in 
der sogenannten Kapelle, am reichsten im ersten Zimmer, das von Barocci 
entworfen und zum Teil gemalt ist. 

Die Bedeutung dieses Urbinaten, der viel von Coreggio gelernt, aber 
ein eigenes Schönheitsideal besessen hat, wird erst seit wenigen Jahrzehnten 
voll gewürdigt (Schmarsows Forschungen haben das meiste dazu beige¬ 
tragen). Sein eigenhändiger Anteil hier verrät sich — außer in den zwei 
bereits erwähnten Bildern der Gewölbespiegel in jenen graziös-majestätischen 
Tugendgestalten, die in den Ecken je zwei und zwei ein Schild flankieren. 
Die lockere Malweise, die virtuos-sichere Pinselführung und die zarten, 
geschmackvollen Farben mit Schillertönen sind typisch für ihn. Aus gleicher 
Zeit stammen seine Fresken im Museo Etrusco im Vatikan mit ähnlichen 
allegorischen Figuren und Szenen aus dem Alten Testament. Daneben 
verdienen die kleinen Landschaften, bei denen die Staffage nur Nebensache 
blieb, als frühe Darstellungen dieser Art besondere Erwähnung. — Sehr 
ähnlich dem ersten ist das zweite, etwas kleinere Zimmer in der Deckenein¬ 
teilung; im Treppenhaus und dem sogenannten Santi di Tito-Raum im oberen 
Stockwerk erscheint sie schwerfälliger und weniger amüsant, der plastische 
Schmuck dient hier lediglich als Umrahmung, ist aber derber und teilt des¬ 
halb die Fresken stärker voneinander; doch ist der Gesamteindruck nicht 
ruhiger — nicht weniger barock — als in den unteren Räumen. Es ist gewiß 
kein Zufall, daß hier die antiken Motive zurücktreten gegen Engelköpfchen, 
Heilige und allegorische Gestalten; die Verwendung der eigentlichen Grot- 
tesken bleibt auf die rahmenden und teilenden Streifen beschränkt. Auf 
jeden Fall aber waren die Künstler, die das Kasino im oberen Stockwerk 
vollendet haben, Barocci nicht ebenbürtig; und nicht nur, weil dessen Fresken 
der Villa Pia einen gewaltigen Aufschwung seinen älteren Bildern gegenüber 
bedeuten. Verschiedene Studien seiner Hand sind neben den Deckenent¬ 
würfen zum ersten Zimmer (in den Uffizien) auf uns gekommen: zwei für 
die sogenannten Tugendgestalten und drei zur hl. Familie, die wahrscheinlich 
noch nicht vollendet war, als er erkrankt die ewige Stadt verließ. Reicher 
hat er auf dem zweiten Entwurf den Hintergrund der hl. Familie gezeichnet, 
al& er im Fresko ausgeführt ist. Aber die Anordnung der Figuren ist hier 
wie auch in der Verkündigung von erstaunlicher Kühnheit: starke Dia- 


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Besprechungen. 


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gonalen durchschneiden die Fläche, und die Lichtverteilung schafft auf 
virtuose Art den Ausgleich. — Dann ging Barocci nach Mittel- und Ober¬ 
italien, um seine neu gewonnene Manneskraft in Schöpfungen wie der Kreuz¬ 
abnahme von Perugia, dann der Madonna del Popolo für Arezzo und seinen 
späten Arbeiten für Genua und Loreto zu erweisen. 

Das Kasino ist als Denkmal seines Könnens aus seiner älteren römi¬ 
schen Epoche von Bedeutung, aber ebensosehr als architektonische Leistung 
aus der Mitte des Cinquecento. Zu ausschließlich hat man bisher die gro߬ 
artigen Schöpfungen eines Sangallo, della Porta und Vignola beachtet, 
die ernste Wirkungen durch glatte Mauerflächen und die ökonomische Berech¬ 
nung der Schattenwirkung durch streng gebildete Pilaster, Säulen und schwere 
Profile wie durch lastende Rustikateile erstrebten. Aber neben Bramantes 
und Michelangelos Bauten in diesem Stil forderte im damaligen Rom auch 
Raffaels Palazzo dell' Aquila zur Nachahmung auf. Das Prinzip, eine Fassade 
mit Stuckreliefs ganz zu überspinnen, wie es auch die römische Kaiserzeit getan 
hat, kehrt im Palazzo Spada wieder; und in diesen Zusammenhang wird 
durch Fr. das Kasino Pius IV. eingereiht. Bei den Palästen ist freilich die 
Rustika des Erdgeschosses in einen energischen Gegensatz zu den Reliefs am 
oberen Fassadenteil gebracht und dadurch die einheitliche Wirkung gefährdet. 
Am Gartenhaus durfte, ja mußte der Architekt auf solchen Kontrast ver¬ 
zichten, da es galt, ein heiteres Lusthaus, eine zierliche Architektur zu 
schaffen. — Ähnliches gilt für die Gestaltung der Interieurs, die einerseits 
mit dem Dekor der Villa di Papa Giulio zu vergleichen sind, und daneben 
ein wichtiges Mittelglied zwischen den Sälen Pauls III. (f 1549) in der 
Engelsburg und der 1573 vollendeten Sala Regia im Vatikan bedeuten. 

Die Borgiagemächer sind bis vor wenigen Jahrzehnten Magazine der 
päpstlichen Bibliothek gewesen. Dann aber, als ihre Bedeutung für die De¬ 
korationsweise der Renaissance erkannt war, brachte man jene Bücher¬ 
bestände in andern Räumen unter, stellte die Zimmer Alexanders VI. in 
geschickter Weise her und machte sie dem Publikum zugänglich. Vielleicht 
wäre es möglich, daß dem Kasino, das heute wie ein verwunschenes Dorn¬ 
röschenschloß in den päpstlichen Gärten liegt, ein ähnliches Glück zuteil 
wird, oder daß wenigstens ernsthafte Forscher leichter Zugang zu ihm er¬ 
halten als bisher. Es würde die Bedeutung von Fr.s wertvoller Publikation 
noch sehr erhöhen, wenn sie der Anlaß zu solcher Neuerung würde. 

F. Schottmüller. 


Karl Lohmeyer. Saarbrücken. In: Mitteilungen des rheinischen Vereins für 
Denkmalspflege und Heimatschutz. Jahrg. 6, Heft I, 1912. 67 S. 4 Taf. 
und 55 Abb. 


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Besprechungen. 


Lohmeyer, der durch sein treffliches Buch über J. Fr. Stengel und 
dessen Haupttätigkeit in Saarbrücken das Interesse der Wissenschaft auf 
diese Gegend gelenkt hat, unternimmt es, in dem vorliegenden Bändchen 
eine kurz gefaßte, aber möglichst vollständige Aufzählung und Darstellung 
der Kunstwerke dieser Stadt zu bieten. Aus der romanischen Epoche ist 
außer einem auch ikonographisch sehr interessanten Grabstein des Kanonikus 
Theoderich, datiert 1222, so gut wie nichts erhalten. Der Hauptbau der 
Gotik ist die Arnualer Stiftskirche, deren Baugeschichte der Verf. dahin 
berichtigt, daß er den Bau des Chors und Querschiffs von 1270 ab beginnen 
läßt, dessen Langhaus er aber um 1313 und den Turm noch später ansetzt. 
Unter den Hochgräbern der Saarbrücker Grafen aus dem Hause Nassau 
würdigt er eingehender das des Grafen Johann III. (f 1472) und dessen 
beider Gemahlinnen und stellt die sehr interessanten Beziehungen zu den 
burgundischen Grabdenkmälern her. Als zweiter gotischer Bau erscheint die 
Kapelle des Deutschherrenhauses, die um 1268 vollendet sein muß. Zum 
Bau der Schloßkirche bringt der Verf. neue Archivalien bei, nach denen 
die Kirche 1476 unter einem niclas steynmetz als buwemeister erbaut, 
in der Zeit 1609—1615 — merkwürdigerweise in dieser Zeit — in gotischem 
Stile umgebaut worden ist. Von gotischen Bürgerhäusern ist nur wenig 
erhalten. Wichtig ist die Entzifferung Lohmeyers einer Signatur C. S. als 
Christoph Strohmeyer auf einem der Reste eines stattlichen, um 1519 ange¬ 
legten Kreuzwegs. Unter den Renaissancebauten nimmt der Schloßbau 
den ersten Rang ein. Nach kleineren Um- und Ausbauten setzt 1602 unter 
Graf Ludwig eine Bauperiode ein, die zu einem Neubau des Schlosses führte. 
Nach seither unbenutzten Akten stellt der Verf. fest, daß Heinrich Kempter 
der leitende Baumeister des umfangreichen und prachtvoll ausgestatteten 
Schlosses gewesen ist. Aus diesen Akten geht ferner hervor, daß ein mahler 
Hans einen einst vielbewunderten Tugendsaal nach den Anleitungen des 
Dr. Kordauer ausgemalt hat. 1617 war der Bau beendigt, der die ungeheure 
Summe von 93 090 Gulden gekostet hatte. Heinrich Kempter verfertigte außer - 
dem in St. Johann einen nun verschwundenen Brunnen. DieAdelshöfe undGrab - 
denkmäler der Renaissancezeit werden daran anschließend eingehend ge¬ 
würdigt. Dankenswert ist der Fund des Verf. von Jan Robyns Künstler¬ 
zeichen w, das bei weiteren Forschungen zu wertvollem Anhalt dienen kann. 
Nach den furchtbaren Zerstörungskriegen setzt erst unter der Regierung 
der Witwe des Grafen Gustav Adolf, Eleonore Klara von Hohenlohe, eine 
neue Bauperiode ein, sie berief den französischen Architekten J. C. Motte dit la 
Bont6 zur Instandsetzung des zerstörten Schlosses, der auch die Pläne 
für das von 1709 ab erbaute Schloß Haiberg lieferte. In diese Zeit fällt 
die Tätigkeit eines bedeutenderen Bildhauers Pierard de Corailles aus Wil¬ 
helmsbronn. Er verfertigte 1700 das Denkmal des Grafen Gustav Adolf 


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Besprechungen. 


459 


und dessen Gemahlin Eleonora, Klara von Hohenlohe; das seines Herrn 
des Grafen Ludwig Kraft (f 1713) und dessen Gemahlin, zwei prächtige 
Barockgrabmäler. Auch das Grabmal des Reichsfreiherrn Henning von 
Strahlenheim (f 1731) möchte der Verf. für Coraille in Anspruch nehmen. 
Die Glanzzeit Saarbrückens fällt unter die Regierung Wilhelm Heinrichs 
(von 1735 ab), der in der Wahl Joachim Friedrich Stengels als leitenden 
Baumeisters für seine großzügigen Ideen äußerst glücklich verfuhr. Der 
Verf. resümiert in diesem Teile aus seinen Spezialuntersuchungen, die an 
diesem Orte schon besprochen sind. 

Von den neuklassizistischen Bauten, die unter Wilhelm Heinrichs 
Nachfolger, dem Fürsten Ludwig, entstanden sind, ist weder das Lustschloß 
Ludwigsberg mit seinen sentimentalen englisch-chinesischen Gartenanlagen, 
die Friedrich Koellner schuf, noch das Schauspielhaus, das Stengels Sohn, 
Balthasar Wilhelm Stengel, erbaute, erhalten. Von Bildhauern arbeiteten 
Heinrich Heideloff und der berühmte Pfälzer Konrad Linck in Saarbrücken. 
Unter den Malern sind Kaspar Pitz und namentlich Johann Friedrich 
Dryander zu nennen. 

Nach den Revolutionskriegen beginnt erst um 1815 wieder ein Auf- 
leben der Künste in Saarbrücken. Der Baumeister Joh. Adam Knipper baute 
den in Ruinen liegenden rechten Flügel des Fürstenschlosses und ein Haus 
für einen Handelsherrn- und Beigeordneten Koehl in einem interessanten 
Gemisch von überlieferten Barockformen und Biedermeierrichtungen. 
Mit dem klassizistischen Bau der Friedhofshalle des St. Johanner Gottes¬ 
ackers nach Entwürfen des Schinkelschülers Hild und des Kreisbau¬ 
meisters G. Bentzel 1843—1846 schließt der Verf. seine dankenswerten 
Untersuchungen. Habicht. 


G. Leidinger. Verzeichnis der wichtigsten Miniaturen- 
Handschriften der Kgl. Hof - und Staatsbibliothek 
Münch e n. München 1912. Riehn und Tietze. — G. Leidinger. 
Miniaturen aus Handschriften der Kgl. Hof - und 
Staatsbibliothek in München. Heft 1. Das sog. Evange- 
liarium Kaiser Ottos III. Ebda. 52 Tafeln und Text. 

Die erste der beiden Veröffentlichungen gibt ein Register der haupt¬ 
sächlichsten Miniaturenhandschriften in den reichen Beständen der Mün¬ 
chener Bibliothek, nach Ländern und innerhalb derselben zeitlich geordnet, 
jede Nummer begleitet von kurzen Notizen über Provenienz, Schule und 
Inhalt. Es ist zweifellos, daß das Heftchen als willkommener Führer viel 
Zeit und Suchen ersparen wird. Für weitere Auflagen blieben daher 
wenig Wünsche übrig, zunächst, die Disposition nicht rein geographisch zu 


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Besprechungen. 


geben. Das karolingische Gallien mit seiner fränkischen Bewohnerschaft 
ist doch viel mehr deutsch als französisch, und zwischen den unter Frankreich 
auf geführten karolingischen und den ihnen folgenden französischen Hand¬ 
schriften ist innerlich kein Zusammenhang. Es würde sich vielleicht in Zu¬ 
kunft empfehlen, die karolingischen Hss. abzuscheiden und voranzustellen, 
wozu der Internationalismus des Zeitalters durchaus das Recht gibt. Er¬ 
schwert wird die Übersicht in dem Heft auch durch das Fehlen der Cimelien- 
Nummern, zumal man sich in der Kunstgeschichte gewöhnt hat, mit ihnen 
zu zitieren. Die Charakteristik der einzelnen Handschrift ist stets klar und 
knapp, wenn auch infolgedessen manchmal etwas apodiktisch; wenn die 
Vögeschule durchweg als Reichenauer Schule bezeichnet ist, so dürfen 
mindestens die Anführungszeichen nicht fehlen. 

Die andere Publikation desselben Verfassers ist eine vollständige Ver¬ 
öffentlichung der Miniaturen in Cim. 58, angeregt durch die Publikationen 
der Bibliothfcque nationale. Im Vergleich zu ihnen etwas teurer, hat die 
vorliegende Ausgabe den Vorzug originalgroßer Publikation. Die Repro¬ 
duktionen sind so gut, als sich das mit der Autotypie irgend erreichen läßt; 
allerdings gestattet das Verfahren manche Subtilität nicht, was bei der sehr 
feinfühligen ottonischen Malerei die künstlerische Wirkung etwas beein¬ 
trächtigt. Mir ist besonders Taf. 20 (Fol. 32V) als verhältnismäßig flau 
aufgefallen. Der Begleittext gibt in übersichtlicher Anordnung zunächst 
eine Geschichte der Erforschung der Handschrift als allgemeine Literatur¬ 
übersicht, sodann spezielle Nachweise für jedes Blatt. Er zeichnet sich 
durch erfreuliche Sachlichkeit und Knappheit aus; eine Charakteristik des 
künstlerischen Wertes der Hs., die namentlich für den Laien erwünscht ge¬ 
wesen wäre, ist wohl absichtlich unterblieben, trotzdem sie auch für die in 
der Einleitung hauptsächlich berührte Frage nach der Person des Kaisers 
auf demWidmungsblatt wichtig gewesen wäre. Denn dieses Widmungsblatt 
ist sicher von der Hand desselben Malers, der die letzten Blätter von Fol. 244 
ab ausgemalt hat und sich durch seine buntstreifigen Hintergründe charak¬ 
terisiert. Der Hauptteil der Handschrift könnte also sehr wohl früher sein, 
als das Kaiser-Porträt. Es ist zu erwarten, daß solche und noch wichtigere 
Fragen durch diese Publikation auf eine breitere Basis der Erörterung ge¬ 
stellt werden, und daß sie und die anderen in Aussicht genommenen 
Publikationen aus derselben Bibliothek für weitere Studien über Buch¬ 
malerei Anregung und Unterlage sein werden. Ernst Cohn-Wiener. 


Paul Buberl, Die romanischen Wandmalereien im Klo¬ 
ster Nonnberg in Salzburg. Wien, Verlag von Anton Schroll 


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Besprechungen. 


461 

& Co. 1910. (Sonderausgabe aus dem Kunstgeschichtlichen Jahrbuch 

der K. K. Zentralkommission für Kunst- und historische Denkmale.) 

Über die wichtigen Wandmalereien im Westbau des Klosters Nonnberg, 
die Gustav Heider (im Jahrbuch der K. K. Zentralkommission II, 1857, 
S. 18) zuerst in die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts datiert hatte, während 
A. Huber (in den Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landes¬ 
kunde XI, 1871, S. 60) sie in das 8. oder 9. Jahrhundert verlegt hatte, hat 
Dr. Paul Buberl in der oben genannten Veröffentlichung eine umfängliche 
und abschließende Untersuchung vorgelegt, die in vieler Hinsicht als muster¬ 
gültig und vorbildlich für die Publikation von Wandmalereien des Mittel¬ 
alters bezeichnet werden kann. Die großen Darstellungen von Heiligen in 
steifer und feierlicher Frontstellung sind jedem Besucher der merkwürdigen 
Nonnbergkirche bekannt. Der kunstgeschichtliche Wert dieser Bilder wird 
dadurch erhöht, daß sie weder in den nachmittelalterlichen Jahrhunderten 
eine Übermalung noch im letzten Jahrhundert eine Restauration haben 
erleiden müssen — ein Glück, dessen sich nur wenige nordische Denkmäler 
rühmen können. Große, ausgezeichnete Lichtdrucktafeln, die jetzt auch in 
dem 7. Bande der österreichischen Kunsttopographie, der ausschließlich die 
Denkmäler des adligen Benediktinerfrauenstifts Nonnberg behandelt, Auf¬ 
nahme gefunden haben, erläutern die Darstellung. Sehr wertvoll sind hier 
vor allem die Details und die großen Aufnahmen der Köpfe. 

Buberl verlegt diese Wandmalereien in die Zeit um 1145 und in die 
Regierungszeit des Salzburger Erzbischofs Conrad I. (gest. 1147), der die 
umfangreichste Bautätigkeit in Salzburg entfaltet hat. Die hier angezogene, 
von Esterl in seiner Chronik von Nonnberg überlieferte Nachricht über die 
Weihe von drei Altären in der Klosterkirche im Jahre 1140 bezieht sich 
allerdings, wie P. Joseph Strässer in den Studien und Mitteilungen zur Ge¬ 
schichte des Benediktinerordens Bd. XXXII, 1911, S. 158, berichtigt hat, 
auf 1151. Es wird hier eine umfassende Restauration in Altarweihetafeln 
erwähnt. Wenn man auch die Entstehung der Wandmalereien um einige 
Jahre später ansetzen wird, so bleibt sie doch für uns die höchste monumen¬ 
tale Leistung dieser Salzburger Malerei um die Mitte des 12. Jahrhunderts. 
Auch der Vergleich mit den bekannten großen Salzburger Prachthand- 
Schriften, über die Buberl schon vor dem Erscheinen von Swarzenskis aus¬ 
gezeichnetem Tafelband in einem Aufsatz im Kunstgeschichtlichen Jahr¬ 
buch der Zentralkommission 1907 geschrieben hat, bestätigt nur diese An¬ 
setzung. Buberl weist auf die Admonter Riesenbibel und das bekannte 
Antiphonar von St. Peter in Salzburg hin, das nach dem Schriftcharakter 
(nach Chrousts Annahme) schon unter dem Abt Balderich (etwa 1125—1147) 
entstanden ist. Wenn man die große Tafel in Chrousts Monumenta palaeo- 
graphica I, Serie I, mit der Darstellung des hl. Petrus zwischen den Heiligen 


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462 


Besprechungen. 


Rupertus und Amandus mit jenen Nonnberger Bischofsfiguren vergleicht, 
so wird man in der Tat die Schulzusammenhänge sofort erkennen. Man 
könnte auch an die Köpfe in dem Passauer Evangelienbuch (München Clm 
16 003) und in dem Perikopenbuch von St. Ehrentrud (München Clm 15 903) 
oder in dem Passauer Perikopenbuch (München Clm 16002) erinnern (vgl. 
die Tafeln 64 und 90 bei Swarzenski, Salzburger Buchmalerei). 

Die Bestimmung des Raumes, in dem sich die Wandmalereien befinden, 
der von Buberl noch als Turm bezeichnet wird, ist von dem gelehrten Heraus- 
geber der Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens 
(XXXII, 1911, S. 158), dem P. Joseph Strasser, richtiggestellt worden: es 
handelt sich um den Westabschluß, den alten Nonnenchor, der für das Chor¬ 
gebet der Nonnen diente. Der Raum verlor seine Bedeutung, als der jetzt 
noch bestehende Nonnenchor über dem alten auf schweren Gewölben und 
Untermauerungen in den Jahren 1416—1418 aufgeführt ward — eine Folge 
der Reform vom Anfang des 15. Jahrhunderts, die die Aufgabe des Chores 

zur ebenen Erde und angesichts der Laienbesucher verlangte. 

• • 

Von besonderer Bedeutung sind dann noch die Äußerungen über die 
Herkunft des Stiles dieser Salzburger Malerei. Was den Bischofsfiguren 
ihren besonderen Charakter gibt, ist die auffällige Verwandtschaft mit 
byzantinischen Werken. Die allgemeine Übereinstimmung mit den großen 
Einzelfiguren in Daphni und Hosios Lucas leuchtet sofort ein. - Für den 
starken Einschuß byzantinischer Formanschauung im 12. Jahrhundert, 
vor jener dann am Ende des Jahrhunderts einsetzenden byzantinischen 
Renaissance in Deutschland, gibt die Salzburger Schule wohl die wichtigste 
Vermittlung ab. Die Beziehung dieser Schule zur älteren Regensburger 
Malerei und zu den sonstigen süddeutschen Zentren im einzelnen zu schil¬ 
dern, wird die Aufgabe jenes von uns so schmerzlich vermißten Textbandes 
zu Swarzenskis Tafelwerk sein. Auf welchem Wege gerade in Salzburg 
diese byzantinische Kunst eingedrungen ist, scheint ziemlich klar zu sein. 
Salzburg hat in der Mitte des 12. Jahrhunderts mit Venedig und Aquileja 
in engen Beziehungen gestanden, dorthin werden fähige Landeskinder in 
die Lehre geschickt (über diese Beziehungen vgl. Strasser a. a. O., S. 161, 
Anm. 3). Venedig und Aquileja waren die großen Sammellinsen für die 
Kunst des Südostens. Hierzu wären die Bemerkungen von Josef Strzy- 
gowski in der Besprechung der Buberischen Arbeit in der Byzantinischen 
Zeitschrift XIX, S. 661, zu erwähnen. Es ist interessant, zu verfolgen, wie 
anders die byzantinischen Einflüsse in der gleichen Zeit, durch andere künst¬ 
lerische Zwischenstationen vermittelt, sich in dem südlichen und mittleren 
Frankreich zeigen. Im Chor von Saint-Romain-le-Puy befinden sich bei¬ 
spielsweise Figuren von Bischöfen in Frontstellung, die man mit jenen in 
Salzburg vergleichen könnte (D 4 chelette et Brassart, Les peintures murales 


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Besprechungen. 


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du moyenäge et de la renaissance en Forez, Montbrison 1900, p. 23), aber 
von wesentlich anderer Art. 

Wie die Kunst der österreichischen Alpenländer, zumal Südtirols, 
viele Beziehungen zu dieser byzantinischen Kunst aufweist, deutet Buberl 
am Schlüsse seiner Abhandlung an. Es wäre dringend zu wünschen, daß 
dieser junge Gelehrte, der das vortreffliche historische und archäologische 
Rüstzeug der Dvorakschule mitbringt, seine Studien auf diesem Gebiete 
weiterführte und zum Abschluß brächte. Paul Clemen. 


August L. Mayer, Die Sevillaner Malerschule. Beiträge zu 
ihrer Geschichte. Mit 70 Abb. Leipzig 1911. Verlag von Klinkhardt 
und Biermann. (XII, 226 S.; 60 Taf.) 

Der Verf. leitet seine Arbeit mit einer kurzen Betrachtung über die 
Organisation und die Praktiken der Sevillaner Malerzunft ein, zählt im 
Anschluß daran die in Quellen genannten Meister des 15. Jahrh. auf, von 
denen uns Werke nicht erhalten sind, und geht dann des näheren auf die 
Bilder ein, die an den Anfang der Entwicklung der Malerei in Sevilla zu 
gehören scheinen. Als eigentlicher Begründer dieser Schule wird darauf 
Juan Sanchez de Castro eingehender besprochen, Juan Nufiez ihm als 
Schüler beigesellt und dann die Bedeutung des Alexo Femändez Aleman, 
des ersten ausgesprochenen Renaissancekünstlers, hervorgehoben. Schlie߬ 
lich finden in diesem Kapitel noch einige Daten über die Künstlerfamilien 
Mayorga und Guadalupe Berücksichtigung. 

Der folgende Abschnitt ist den »Romanisten« des 16. Jahrh. gewidmet, 
wobei den mehr oder weniger unter italienischem Einfluß stehenden ein- 
gewanderten Niederländern (Ferdinand Sturm, Franz Frutet, Peter Kem- 
peneer u. a.) eine einheimische, von ähnlichen Tendenzen beherrschte Gruppe 
gegenübergestellt wird, als deren Vertreter wir Luis de Vargas, Villegas 
Marmolejo, Vasco Pereyra, Alonso Visquez und vor allen Francisco Pacheco 
anzusehen haben. Als Künstler von nationaler Bedeutung, der die Malerei vor 
der drohenden Erstarrung rettet und ihr neue, vielversprechende Wege wies, 
wird sodann Juan de Ruelas gebührend gewürdigt und auch seinem Schüler 
Pablo Legote eine große Bedeutung beigemessen. Das nächste Kapitel be¬ 
schäftigt sich mit dem älteren Herrera und seinem Kreis, der den Übergang 
zum großen Stil des 17. Jahrhunderts vermittelt; weiterhin wird uns dann 
dieser selbst in den drei Koryphäen vorgeführt, die er gezeitigt hat: Zur- 
baran, Velizquez und Murillo. Die Behandlung der beiden großen »Klas¬ 
siker« der spanischen Malerei ist, wie wohl nicht anders zu erwarten stand, 
einigermaßen summarisch ausgefallen; jedem von ihnen sind nur 7 Seiten 


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Besprechungen. 


gewidmet, auf denen gerade das Notwendigste gesagt werden konnte, was 
zu ihrem Verständnis innerhalb der ganzen Schulentwicklung nötig war. 
Man wird aber dem Verf. zustimmen, daß er sich hier eine weitgehende 
Reserve auferlegten mußte; anderenfalls wären diese Kapitel zu vollstän¬ 
digen Monographien ausgewachsen und damit der Charakter des Buches 
wesentlich von ihnen bestimmt worden. Um so dankbarer wird man die 
Ausführlichkeit begrüßen, mit der Vald6s Leal, der wenig bekannte und 
als Gegensatz zuMurillo besonders interessierende letzte hervorragende Ver¬ 
treter der Sevillaner Schule bearbeitet ist. Im Anhang folgt noch eine 
Reihe von Dokumenten mit wichtigen Daten über einige der besprochenen 
Künstler. 

Das Bild, das in diesem Buche von der wichtigsten Malerschule Spa¬ 
niens entworfen wird, weicht in seinen großen Zügen kaum wesentlich ab 
von demjenigen, das wir aus den Angaben des alten Bermüdez, aus den 
Forschungen von Jos6 Gestoso y P£rez und aus dem einleitenden Kapitel 
in Justis Veldzquez bisher gewinnen konnten; im einzelnen wird man aber 
viele neue Resultate feststellen können, die sowohl der sorgfältigen Ver¬ 
wertung der neueren Spezialliteratur wie auch den eigenen eindringenden 
Untersuchungen des Verfassers zu danken sind. Dabei ist es nicht ohne 
einige kühne Attributionen abgegangen, die, wenn die Zahl der Kunst¬ 
historiker auf diesem Gebiete erst gestiegen sein wird, zu lebhaften Dis¬ 
kussionen Anlaß geben dürften. 

Die schwache Seite dieser Publikation liegt in dem beigegebenen Bild¬ 
material, das gerade bei einem so wenig geläufigen Thema gar nicht reichlich 
und vorzüglich genug hätte geboten werden können. Ist es an sich schon 
beklagenswert, daß die Erlangung von Photographien nach Kunstwerken 
in Spanien mit besonderen Schwierigkeiten verknüpft ist, so hätte wenig¬ 
stens das leider recht Wenige, das der Verf. an Vorlagen beizubringen in 
der Lage war, eine in jeder Hinsicht tadellose Reproduktion verdient. Der 
Verlag hat sich aber seine Aufgabe etwas zu leicht und zu billig gemacht, 
indem er eine große Zahl von Klischees, so wie sie früher in einzelnen Auf¬ 
sätzen in den Monatsheften für Kunstwissenschaft erschienen waren, wieder 
zum Abdruck brachte; daß diese, nachdem sie durch die ganze Auflage 
der Zeitschrift gegangen waren, abgesehen von dem oft lächerlich kleinen 
Format, an Schärfe und Deutlichkeit zu wünschen übrig lassen, dürfte 
danach nicht wundernehmen. Der König von Spanien, dem die Arbeit 
gewidmet ist, wird jedenfalls von der illustrativen Leistung nicht über¬ 
mäßig entzückt gewesen sein. 

Ernst Kiihnel. 


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Besprechungen. 


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Siegfried Weber. Die Begründer der Piemonteser Maler ¬ 
schule im XV. u n d zuBegiandes XVI. Jahrhunderts. 
(Zur Kunstgeschichte des Auslandes. Heft 91.) Straßburg, J. H. Ed. 
Heitz 1911. 124 S. mit XI Taf. 

In dem kurzen Vorwort hebt Verf. mit Recht hervor, daß die Maler¬ 
schule Piemonts, von guten lokalgeschichtlichen Arbeiten abgesehen, keine 
Behandlung gefunden habe. Für das mangelnde Interesse, dem diese kleine 
Künstlergruppe im allgemeinen begegnet ist, spricht kein Umstand deut¬ 
licher, als daß sie in Crowe und Cavalcaselles Werk fehlt: ein Umstand, 
der zweifellos die folgende, sonst so überaus tätige Forschung abgehalten 
hat, sich mit ihr zu beschäftigen. Denn Künstler behandeln, die in dem 
grundlegenden Buch über italienische Malerei fehlen, heißt all die müh¬ 
seligen Vorarbeiten selbst tun, die jene Autoren in der Mehrzahl der Fälle 
erschöpfend geleistet haben. 

Freilich nicht nur die Scheu vor der großen Mühe solcher Vorarbeiten 
allein erklärt die Zurückhaltung der Forscher; es kommt hinzu, daß die 
abseits von der großen Heerstraße, auf der alle Italienbesucher daherziehen, 
gelegene Provinz durch ihre Monumente weniger lockt: denn die Kunst 
Piemonts ist auch im besten Fall stets Provinzkunst geblieben. 

Doch bevor ich mich hier auf einen vom Verf. abweichenden Stand¬ 
punkt stelle, wird ein kurzes Referat über den Inhalt seines Buches am 
Platz sein. Die künstlerischen Bestrebungen haben hier erst spät einge¬ 
setzt; die ältesten Zeugnisse sind meist handwerksmäßige Fresken von 
steifen Formen. In Vercelli, wo eine Malerschule schon in früher Zeit 
existiert hat, ist durch den daselbst 1377 nachweisbaren Barnaba da Modena 
und durch andere, toskanische und lombardische Meister künstlerisches 
Leben erwacht; als eigentlicher Begründer der Malerschule von Vercelli hat 
aber Boniforte Oldoni d. Alt. (geb. 1412 in Mailand) zu gelten. Von nam¬ 
haften Wandmalereien Piemonts werden die mehrfach behandelten Fresken 
im Castello di Manta, ferner Reste im Palazzo d’Acaja zu Pinerolo und die 
Arbeiten des vielfach in Ligurien tätigen Giovanni Canavesio namhaft ge¬ 
macht, dessen 1482—1499 datierte Werke vom Verf. sorgfältig besprochen 
werden. Ihm wird die Rolle eines Bahnbrechers in seiner Heimat zuerkannt, 
weil er stärkere n Realismus anhing und damit größeren Meistern am Anfang 
des 16. Jahrhunderts die Wege ebnete. 

Als »erster, wirklich bedeutender Künstler Piemonts« wird dann 
Gian Martino Spanzotti behandelt, dessen Schaffen in neuerer Zeit Beach¬ 
tung gefunden hat, weil er als Sodomas Lehrer ein allgemeines Interesse 
beansprucht (Daten 1481—1524). Auf Grund eines 1899 für die Pinakothek 
in Turin erworbenen signierten Bilder ist es möglich gewesen, ihm andere 
Arbeiten zuzuweisen; Verf. bereichert die Liste um eine Anbetung des 


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Besprechungen. 


Kindes in Trino-Vercellese bei Casale. Gleichzeitig mit Spanzotti wirkt 
in Vercelli Eusebio Ferrari, dessen einzig beglaubigtes Werk vor fast zwanzig 
Jahren von Franz Rieffel zuerst in dieser Zeitschrift bekannt gemacht 
wurde (Repert. XIV, S. 278). Verf. weist diesem Künstler neue Arbeiten 
im Privatbesitz in Casale-Monferrato und in Chieri bei Turin zu. Doku¬ 
mentarisch ist er von 1508—1526 nachweisbar. 

Nun folgt derjenige Maler, den Verf. als »bedeutendsten und ersten 
Künstler der Piemonteser Schule« ansieht, Macrino d'Alba (gest. 1528). 
Seine Werke zeigen so auffallende Anklänge an Luca Signorellis Stil, daß 
man ein direktes Schulverhältnis anzunehmen genötigt ist: Verf. ist der 
Ansicht, daß Macrino in Rom bei dem Meister von Cortona gelernt habe, 
einmal wegen der römischen Reminiszenzen auf den Hintergründen seiner 
Bilder, dann weil sich noch heutigen Tages ein Bild von ihm in Rom be¬ 
findet, nämlich in der kapitolinischen Galerie. Ein Aufenthalt in Rom 
würde auch die deutlichen Spuren eines Einflusses, speziell durch die Kunst 
des Pinturicchio, ungezwungen erklären. Macrinos frühestes datiertes 
Bild ist eiiT Altai werk in der Certosa bei Pavia von 1496, dem mehrere da¬ 
tierte Arbeiten folgen. Mit 1501, aus welchem Jahr ein großes Bild im 
Rathaus in Alba stammt, läÖt Verf. die erste Periode seines Schaffens zu 
Ende gehen; die zweite, durch künstlerisch freiere Gestaltung ausgezeichnet, 
repräsentieren wiederum mehrere Altarwerke; als seine reifste (und daher 
späteste) Arbeit sieht Verf. das Triptychon im Städelschen Museum an. 
Anhangsweise wird eine Reihe von Bildern, die unter dem Einfluß dieses 
Hauptmeisters entstanden sind, besprochen. 

Von Eusebio Ferrari nimmt Defendente Ferrari, wahrscheinlich aus 
Chivasso, seinen Ausgangspunkt. Sein frühestes datiertes Bild (von 1511) 
bewahrt das Kaiser Friedrich-Museum in Berlin. Eine Reihe von großen 
Altarwerken zeigen seinen — unschwer erkennbaren — Stil; zumeist haben 
sie, am ursprünglichen Ort erhalten, ihre überaus prächtigen geschnitzten 
Rahmen bewahrt. Das letzte datierte Werk in der Pfarrkirche von Avi- 
gliana trägt das Datum 1535. In den späteren Werken machen sich Anklänge 
an die venezianischen Meister des Bellini-Kreises bemerkbar. 

An Macrino und Defendente schließt sich Jacobino Longo aus Pinerolo 
(datierte Werke 1517—1542) an. Eine weitere Künstlerpersönlichkeit 
dieser Epoche ist der Io. Peroxinus signierende Maler (tätig um 1520). 

Die Schule von Vercelli endigt, bevor sie in der Hochrenaissance in 
Gaudenzio Ferrrari ihre größte Begabung ins Feld stellt, innerhalb der 
Frührenaissance mit Girolamo Giovenone (nachweisbar seit 1513, gest. 1 557 )* 
Auch er gehört durch die Vertretung, die er in der Piemonteser Zentral¬ 
galerie in Turin gefunden hat, zu den allgemeiner bekannten Meistern dieser 
Schule; die Hauptzahl seiner Werke aber muß man in dem Wohnort des 
Künstlers, Vercelli, aufsuchen. 


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Besprechungen. 


467 


Mit diesem Meister schließt Verf. seine Betrachtungen, die er in einem 
kurzen Nachwort zusammenfaßt, ab. 

Man muß dieses Buch als eine Bereicherung der Literatur über 
italienische Malerei in der Renaissancezeit ansehen, als es, wie gesagt, die 
erste zusammenfassende Behandlung der Piemonteser Schule ist 1 ). Man 
darf dem Verf. auch gern nachrühmen, daß er sich sowohl den Inhalt der 
Lokalliteratur zu eigen gemacht, als die Mühe nicht gescheut hat, in den 
kleinen Ortschaften nach den Werken der Meister, die er bespricht, zu 
suchen. So erweitert er, wie angedeutet, wiederholt die Zahl der bekannten 
Arbeiten, gruppiert, scheidet Meister- und Schülerhand. Ihm hier im ein¬ 
zelnen nachzugehen verbietet dem Referenten mangelnde Autopsie der 
meisten besprochenen Bilder; die dankenswerten Abbildungen reichen nicht 
immer aus, um darauf kritische Bemerkungen zu begründen. 

So sollen sich ein paar kurze Ausstellungen nach anderer Richtung 
bewegen. Verf. verfällt in den bekannten Fehler aller, die ein Neuland 
zu erobern gedenken; er überschätzt das von ihm mit so viel Mühe Ge¬ 
wonnene. Auf keinen dieser Piemonteser Meister sollte man das Beiwort 
genial anwenden; und die Behauptung, daß Macrino die Schule »auf die 
gleiche Höhe, wie die Malerei im übrigen Italien gebracht« habe, ist wirk¬ 
lich nicht aufrecht zu erhalten. Denn gerade das, was eine Schule vom all¬ 
gemeineren Standpunkt aus bedeutsam macht, fehlt hier völlig: die Ein¬ 
wirkung nach außen. Sie nimmt zwar eine (wenn auch recht bescheidene) 
»selbständige Stellung neben den anderen Malerschulen Italiens« ein, sie 
hat ein gewisses Lokalkolorit; aber wenn man sie ganz auslöschte, würde 
auch nur ein Zug in dem Bild der Gesamtentwicklung der italienischen Kunst 
fehlen? Deshalb, in dieser ganz richtigen Erkenntnis von der historischen 
Bedeutungslosigkeit der Schule haben die großen Historiographen der ita¬ 
lienischen Malerei es gewagt, sie einfach bei Seite zu lassen. Man denke nur, 
was zu der Zeit, als Macrino, Defendente, Giovenone noch im ruhigen Stil 
einer vergangenen Epoche schufen, anderwärts für eine große Kunst schon 
fast im Erlöschen war ! Und dann: darf der ein Meister genannt werden, der 
wie Macrino nicht nur von drei oder vier Schulen beeinflußt worden ist 
(»dem Stil seiner Bilder nach zu urteilen, scheint er nur wenig von der mai¬ 
ländischen, hauptsächlich jedoch von der Florentiner, der venezianischen 
sowie vor allem von der umbrischen Schule beeinflußt zu sein«), sondern 
sein ganzes Leben hindurch die Spuren seiner künstlerischen Herkunft in 
einem eigenen, neuen Stil nicht zu verwischen vermochte? 


*) Wenn ich hier auf ein neuerdings in »L’Arte« (fase. III von 1912, S. 222) 
erschienene, im wesentlichen ungünstige Besprechung des Weber’schen Buches verweise, 
so geschieht es namentlich, um mein Bedauern über ihren chauvinistischen SchluS 
auszudrücken. 


Repertorium für Kunstwissenschaft XXXV. 


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468 


Besprechungen. 


Und nun noch ein paar Einzelheiten. Wissenschaftlich am wenigsten 
gefallen will mir der Abschnitt, der Macrino behandelt. Während nämlich 
Verf. sehr sorgfältig alles aufgesucht hat, was in Piemont selbst zu finden 
ist, auch den kleinen Besitz deutscher Galerien wohl kennt, übergeht er 
ganz, was in weitere Ferne entrückt ist, nämlich nach Amerika, trotzdem 
er in der ihm bekannten Liste von Berenson (North Italian painters S. 252) 
den Hinweis darauf fand. Nun kann man gewiß nicht verlangen, daß der 
Verfasser einer Monographie eine Reise nach Amerika unternimmt; da aber 
hier der besondere Fall eintritt, daß das früheste und das späteste datierte 
Werk — beides große Altarbilder — an das Ausland verloren gegangen ist, 
hätte Verf. die Pflicht gehabt, sich Abbildungen oder wenigstens Notizen 
darüber zu beschaffen. Aber einfach beginnen: „am frühesten erscheint 
des Künstlers Name mit der Jahreszahl 1496 auf einem Altarwerk in der 
Certosa von Pavia«, während ein ihm autoritativ gegebenes Werk (large 
altarpiece, sagt Berenson) von 1494 in Philadelphia existiert, das halte 
ich für unzulässig. Und wie dieses Hinweggehen zu irrigen Schlüssen ver¬ 
leiten kann, lehrt gerade die Behandlung des gleichen Malers. S. 53 schließt 
Verf. die Besprechung der ersten Periode mit den Worten, daß er »nie wieder 
eine so sklavische Nachbildung eines seiner eigenen Werke geschaffen habe, 
wie in dem zuletzt besprochenen Gemälde«. • Wie verhält es sich in Wahr¬ 
heit damit ? In San Giovanni zu Alba befindet sich eine hübsche »Anbetung 
des Kindes«, die Verf. 1504 datiert. Eine genaue Wiederholung der Haupt- 
gruppe, sowie der Figur Josephs gestattet sich Macrino auf einem 1506 
datierten Bilde, das sich in der Historical Society in New York befindet und 
durch die Abbildung in der Rassegna d'Arte 1907, S. 43 jedermann zugäng¬ 
lich gemacht ist. Nicht ganz richtig ist es auch, das im Privatbesitz in Rom 
befindliche Bildnis als Selbstporträt zu behandeln; darüber hätte die Form 
der Inschrift belehren können, wie mit Recht kürzlich bemerkt worden ist 
ßurl. Magazine April 1912 S. 53). Wenn ferner Verf. bei dem Turiner Bild 
des Macrino von 1498 auf das Vorbild Carpaccios für den Mandoline spie¬ 
lenden Engel verweist und dabei die »Darstellung Christi« in Venedig an- 
führt, so übersieht er, daß dieses Werk erst 1510 entstanden ist. 

Endlich möchte ich glauben, daß Verf. sich irrt, wenn er dem Jo¬ 
hannes Peroxinus den Familiennamen »Jungi« beilegt. Ich vermute, daß 
sich hinter der seltsamen Form nichts anderes verbirgt, als der Monatsname; 
wenigstens würde die Inschrift »Jo. Peroxini Jungi 1517« ein Unikum in der 
Inschriftenkunde sein, wenn der Maler wirklich zwischen Tauf- und 
Familiennamen den Ursprungsort eingeschoben haben soll. Vor der Hand 
wird man also besser tun, den »Jungi« nicht in die Künstlerlisten auf¬ 
zunehmen ! 

Zum Schluß ein paar Andeutungen, die vielleicht andere veranlassen, 


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Besprechungen. 


469 


sich mit diesen Fragen weiter zu befassen. Was Verf. nur streift, scheint 
mir bei dieser Schule besonders interessant: ihre starke Beziehung zu den 
nordischen Schulen, namentlich auch zur deutschen Kunst. Defendente z. B. 
in seinem bekannten Stuttgarter Bild, Giovenone in den Stiftern des Turiner 
Altars haben geradezu etwas Holbeinisches. Das Motiv des Kindes auf dem 
Altar Cranachs in Frankfurt kommt meines Wissens nirgends so ähnlich 
vor, wie auf den beiden Bildern von Macrino in Rom und Turin. Sind 
dies nur parallel laufende Entwicklungen, zufällig ähnliche Lösungen der 
gleichen Aufgabe, etwa durch ein gemeinsames Urbild angeregt? Es scheint 
mir, daß hier noch Probleme der Untersuchung harren, die der Piemonteser 
Malerschule, historisch gefaßt, zu einer Bedeutung verhelfen könnten, die 
ihr an und für sich und im großen Ganzen der italienischen Kunst nicht 
zukommt. Gronau . 


Paul Frankl. Die Glasmalerei des fünfzehnten Jahr¬ 
hundertsin BayernundSchwaben. XI u. 233 S., 18 Licht- 
drucktafeln. Studien zur deutschen Kunstgeschichte, Heft 152. Straß - 
bürg, J. H. Heitz, 1912. 

Noch unter Berthold Riehl als Münchner Dissertation entstanden, 
bekundet die vorliegende, bereits vor zwei Jahren im Manuskript vollendete 
Arbeit in seltenem Maße den Gewinn, den die Schüler aus den Riehlschen 
Seminaren gewinnen konnten. Die unermüdliche, das Kleinste nicht gering 
achtende Forschungsweise, die Wanderung auf dem Lande selbst, zu der 
der Verstorbene beständig anregte, haben auch den Verfasser befähigt, 
ein wichtiges Kunstgebiet gewissermaßen neu aufzubauen. Nicht nur wird 
ein umfangreiches, aus Inventaren, zerstreuten Aufsätzen und Abbildungen 
bloß teilweise bekanntes Material an schwäbisch-bayerischen Glasgemälden 
seit dem Ende des 14. Jahrhunderts bis in die dreißiger Jahre des 16. Jahr¬ 
hunderts mit größter Sorgfalt, unter mühsamen Rekonstruktionsversuchen 
der vielfach in unrichtigen Zusammenhang geratenen Fensterzyklen zusam¬ 
mengetragen, sondern gleich in Schul-, ja in Meistergruppen geordnet. Den 
Medaillonmeister von 1395 (im Mittelchorfenster der Frauenkirche, im Augs¬ 
burger Domchor nach 1397, Marienfenster in der Benediktuskirche in Frei¬ 
sing um 1400, im Ulmer Münsterchor und a. a. 0 .) stellt den Zusammenhang 
mit der süddeutschen Schule der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts her, 
deren Hauptschöpfung in Bayern die Fenster der Regensburger Minoriten¬ 
kirche (um 1360—70; im Bayr. Nationalmuseum sind; in Schinnerers 
Katalog Nr. 22—88. Im zweiten Abschnitt werden die Glasgemälde in 
Schwaben bis zum Auftreten des Hans Wild aufgeführt; die hervorragendsten 
sind die für die Geschichte der Bodenseemalerei um 1410—30 wichtigen 

3 «* 


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47° 


Besprechungen. 


Fenster der Pfarrkirche zu Eriskirch am Bodensee und zu Ravensburg und 
der für die schwäbische Malerei unter Moser wertvolle umfangreiche Zyklus 
der Besserer-Kapelle am Ulmer Münster um 1430. In Bayern vertreten 
Ten Stil der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts vor allem die Fenster der 
Tillykapelle zu Altötting von 1426, und die 1447 datierten, von Heinrich 
dem Reichen von Niederbayern (Landshut) gestifteten Fenster jetzt in der 
Kirche zu Jenkofen. Während die reiche Produktion der zweiten Hälfte 
des 15. Jahrhunderts in den oberbayerischen Gebieten, mit Ausnahme 
einer Gruppe wohl schwäbischer Fenster in der Münchner Frauenkirche, 
einen derbprovinziellen Charakter annimmt (Abschnitt IV), steht um 1470 
in Schwaben, zuerst in Urach, der Glasmaler Hans Wild auf (Abschnitt V), 
dessen Hauptschöpfungen seit je als Meisterwerke ersten Ranges gepriesen 
worden. Dieser Abschnitt, der mit guten Abbildungen gesondert im laufen¬ 
den Jahrgang des Jahrbuchs der preuß. Kunstsammlungen abgedruckt ist, 
stellt ein großes Verdienst dar; die Fenster in der Taufkapelle der Stifts¬ 
kirche zu Urach, im Chor der Stiftskirche in Tübingen, im Ulmer Münster¬ 
chor (mit der Bezeichnung Hans Wild 1480), die durch Brand vernichteten 
der Magdalenenkirche zu Straßburg, das Volkamerfenster im Lorenzchor in 
Nürnberg, die kürzlich in dem österreichischen Inventar veröffentlichten 
Fenster auf dem Nonnberg in Salzburg und zahlreiche andere in Elsaß, 
Schwaben, Bayern und Franken, auch in Museen zerstreute Schöpfungen, 
durchgängig höchster Qualität, sind durch Frankl auf diese eine Werkstatt 
zweifellos konzentriert worden. Im sechsten Abschnitt wird der neben 
Wild in der Münchner Frauenkirche tätige Meister des Bibelfensters, im 
siebenten die Auflösung des spätgotischen Stiles und das Auftreten der 
Renaissance in der Glasmalerei dargestellt. Augsburg (Holbein der Ältere) 
und Landshut (Hans Wertinger) werden vorübergehend Mittelpunkte der 
Glasmalerei in diesen Landschaften. Wäre dem Verfasser, wie für sein Wild¬ 
kapitel, für die übrigen Kapitel eine Publikation mit brauchbaren Abbil¬ 
dungen ermöglicht worden, so hätte die Arbeit den wichtigen Publikationen 
Brucks über die elsässische und Lehmanns soeben abgeschlossener über die 
Glasmalerei in der Schweiz an Bedeutung für die Geschichte der deutschen 
Glasmalerei und Malerei nichts nachgegeben. Am Schluß versucht der Ver¬ 
fasser allgemeinere Aussichten auf die Glasmalerei der Renaissance und 
Folgezeit zu gewinnen; zur Erklärung dieser Vorgänge indes sind seine 
Erörterungen vom historischen und vom ästhetischen Gesichtspunkt aus 
ungenügend. Das große Verdienst dieser Arbeit, der hoffentlich bald weitere 
über dieses schwierige, aber wie kein zweites dankbare Forschungsgebiet 
folgen, wird dadurch nicht geschmälert. H. Schmitz. 


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Besprechungen. 


471 


Willy Hes. Ambrosius Holbein. Straßburg. J. H. Ed. Heitz. 1911. 

Der Name des Ambrosius Holbein ist nur im Zusammenhänge mit 
dem des berühmteren Vaters und des berühmtesten Bruders der Nachwelt 
überliefert, und es wird niemals möglich sein, seinen Anteil an dem Gesamt¬ 
werk der Holbein reinlich auszuscheiden. Der Porträtkunst des Vaters danken 
wir es, daß wir von der äußeren Erscheinung des Ambrosius wenigstens in den 
Jugendjahren mehr Zuverlässiges wissen als von seiner künstlerischen Persön¬ 
lichkeit. Auf dem Bilde der Paulusbasilika in Augsburg hat sich der Vater 
mit den beiden Söhnen Ambrosius und Hans abkonterfeit, und eine Hand¬ 
bewegung scheint darauf zu deuten, daß ihm der jüngere, Hans, in dem man 
danach ein künstlerisches Wunderkind vermuten mag, von den beiden der 
rechte zu sein schien. Es folgt die Silberstiftzeichnung des Berliner Kupfer¬ 
stichkabinetts, die »Prosy« und »Hanns« im Alter von 17 (nach Hes' viel¬ 
leicht richtiger Lesung) und 14 Jahren darstellt. Hes, der zum ersten Male 
den Versuch unternimmt, dem Ambrosius eine eigene Monographie zu wid¬ 
men, fügt diesen beiden sicheren Dokumenten einige weitere Köpfe aus 
dem Werke des älteren Holbein an, in denen er die Züge des Sohnes wieder¬ 
finden will. So zunächst die andere Zeichnung des Berliner Kabinetts mit 
zwei im Profil einander zugewandten Kinderköpfen. Die Ähnlichkeiten 
sind aber nur ganz oberflächliche, und die Vermutung, daß es sich um die 
zwei gleichen Knaben handle, bleibt unbewiesen. Noch weiter ab führt 
eine Zeichnung in Basel, die mit den zwei gesicherten Porträts kaum noch 
eine Ähnlichkeit aufweist. Daß dieser Kopf dann in Beziehung steht mit 
dem Johannes auf der Tuschzeichnung des Marientodes in Basel, wäre an sich 
möglich, wenn auch nicht notwendig. Von Porträtähnlichkeit kann aber 
bei diesem Johannes überhaupt keine Rede mehr sein. Der Kopf stellt die 
Verarbeitung zu einem Typus dar, eine Steigerung ins fast Karikaturhafte, 
wie sie bei dem älteren Holbein nicht selten zu finden ist. Von hier aus 
geht Hes nochmals weiter und zieht auch den Johannes auf der großen 
Tafel mit dem Marientode in Basel heran, die mit den Frankfurter Arbeiten 
Holbeins in nahem Zusammenhang steht. Dieser Kopf hat zu den übrigen 
angeführten Typen keinerlei kenntliche Beziehung. 

Es ist das Geschick Hans Holbeins, beharrlich unter falschem Bilde 
der Nachwelt überliefert zu werden. Sein Bruder Ambrosius teilte bisher 
dieses Schicksal nicht, und die Versuche, die Hes in dieser Richtung unter¬ 
nimmt, werden nicht leicht Nachfolge finden. Fruchtbarer möchte es ge¬ 
wesen sein, hätte der Verfasser für das künstlerische Werk neue Doku¬ 
mente beizubringen vermocht. Hier ist die Ausbeute nur eine geringe 
und die kritische Arbeit führte mehr zu negativen als positiven Schlüssen. 
Außerordentlich schmal ist die Basis von gesicherten Arbeiten, auf der der 
Aufbau dieses Künstlerceuvres zu errichten ist. Um so weniger vorteilhaft 

I 


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Besprechungen. 


scheint es von vornherein, wenn der an sich schon dürftige Stoff noch in 
allzuviele kleine Gruppen zerschnitten wird, wenn Holzschnitte, figürliche 
Einzelarbeiten, gezeichnete, gemalte Porträts gesondert behandelt werden, 
anstatt daß versucht wäre, zunächst aus der Gesamtheit der erhaltenen 
Werke eine möglichst breite Grundlage der Stilbestimmung zu gewinnen. 
Zum Teil mag sich die Art der Disposition daraus erklären, daß der Ver¬ 
fasser ursprünglich nur die Bildnisse zu behandeln beabsichtigte, das Holz¬ 
schnittwerk erst nachträglich mit in den Kreis seiner Betrachtungen zog. 
Hier lag das für die Erkenntnis von Ambrosius Holbeins Stil wichtigste 
Material vor, das allerdings von Koegler bereits eingehend behandelt war. 
Hes gibt einen neuen Katalog der Holzschnitte, indem er einige Zuschrei¬ 
bungen von Koegler mit mehr oder minder triftigen Gründen in Frage stellt. 
Die Entscheidung auf diesem sehr schwierigen Gebiete ist in manchen 
Fällen mit Sicherheit wohl überhaupt nicht zu geben. Recht behält Hes, 
wenn er das Alphabet, das bei Schneeli-Heitz unvollständig als Nr. i ab¬ 
gebildet ist, dem Ambrosius abspricht. Koegler selbst hat neuerdings auf 
dem Buchstaben 0 die Signatur des Hans entdeckt. Schwieriger stellt sich 
die Frage für die beiden Frobenschen Titelblätter (Koegler 14 und 15), die 
Hes ebenfalls ablehnt. Seine Gründe sind nicht eben triftig, und man wird 
eine Entscheidung eher von einer systematischen Aufarbeitung des Gesamt¬ 
materiales her als von der Aussonderung einer einzelnen Hand erwarten. 
Aus diesem Grunde wird man auch den Katalog der Holzschnitte, den Hes 
gibt, nicht als eigentlichen Fortschritt über den Koeglerschen Versuch 
und jedenfalls nicht als endgültige Klärung der für die Geschichte des Basler 
Buchholzschnitts überhaupt wichtigen Frage nach dem Anteil des Am¬ 
brosius ansehen können. 

Von den gemalten Bildnissen lehnt Hes das Porträt des Hans Herbster, 
das His dem Künstler zuwies, mit Entschiedenheit ab. Es ist gewiß, daß 
die für die Autorschaft des Ambrosius angeführten Gründe nicht eben 
schlagend waren. Der Gedanke, daß es sich um ein Selbstporträt des Malers 
Herbster handeln könne, ist schon nach der Anlage des Bildes von der Hand 
zu weisen. Muß die Bestimmung dieses Werkes zunächst offen bleiben, 
so gehört das von Hes ebenfalls dem Ambrosius abgesprochene Bildnis des 
Felix Frei in Zürich, das allerdings schlecht erhalten ist, doch wohl in die 
Richtung des Künstlers, es scheint wenigstens kein triftiger Grund vorzu- 
liegen, es von dem Porträt des Jörg Schweiger zu trennen. Jedenfalls kann 
man nicht sagen, daß das gemalte Werk des Ambrosius, dem noch die Basler 
Totenköpfe genommen werden, ein Bildnis eines jungen Mädchens im 
Depot der Ambraser Sammlung glücklich hinzugefügt und der Darm- 
Städter Jünglingskopf unbedenklich belassen wird, durch Hes den Charakter 
einer überzeugenden Geschlossenheit gewonnen hätte. Das Bild des Künst- 


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Besprechungen. 


473 


lers behält noch immer etwas Nebelhaftes, und die Formen, die sich aus dem 
Unbestimmten lösen, genügen nicht, eine Persönlichkeit deutlich in ihren 
Umrissen erkennen zu lassen. Glaser. 


Beschreibendes und kritisches Verzeichnis der 
Werke der hervorragendsten holländischenMaler 
des 17. Jahrhunderts. Nach dem Muster von John Smith's 
Catalogue Raisonnö zusammengestellt von Dr. C. Hofstede de Groot. — 
Dritter Band. Unter Mitwirkung von Dr. Kurt Freise und Dr. Kurt 
Erasmus. — Vierter Band. Unter Mitwirkung von Dr. Kurt 
Erasmus, Dr. W. R. Valentiner und Dr. Kurt Freise. 

Mehr als die Anerkennungen, die den bisher erschienenen Bänden 
dieses beschreibenden und kritischen Verzeichnisses zuteil geworden 
sind, spricht der Umstand für den Wert der Arbeit Hofstede de Groots, 
daß ihr eingehendster und schärfster Kritiker nur unbedeutende Dinge 
auszusetzen fand, die — soweit sie nicht überhaupt auf Meinungs¬ 
verschiedenheiten beruhten — in Anbetracht der Tausende von Gemälden 
und ihres »Stammbaumes«, die diese Riesenarbeit umfaßt, ganz geringfügig 
erscheinen. Die beiden vorliegenden Bände, von denen der dritte Hals, die 
beiden Ostade und Brouwer, der vierte Ruisdael und Hobbema sowie Adriaen 
van de Velde und Paulus Potter behandelt, bieten wiederum erstaunliches 
Material dar und gewähren einen gründlichen Einblick in das reiche und 
keineswegs einseitige Schaffen dieser Meister. Mit dem beschreibenden Kata¬ 
loge der Werke Adriaen Brouwers und des Frans Hals hat Hofstede de Groot 
eine vollkommen neue Arbeit geschaffen, denn Hals, der in den dreißiger 
Jahren des vorigen Jahrhunderts kaum bekannt war, und Brouwer sind von 
Smith nicht behandelt worden. Aber auch die Neubearbeitung jener sechs 
anderen Künstler, die im alten »Smith« zu finden sind, ist bezüglich der 
Materialsammlung und der wissenschaftlichen Resultate dem Werke des John 
Smith so überlegen, daß man auch hier von einer selbständigen und voll¬ 
kommen neuen Arbeit sprechen kann. Von einer Arbeit, die mit der Dar¬ 
bietung jenes Engländers fast nur noch die eine Ähnlichkeit hat, daß sie für 
unsere Zeit eine ebenso bewundernswerte und bedeutende wissenschaftliche 
Leistung ist, wie es das enger umgrenzte Katalogwerk von Smith für seine 
Zeit war, in der nur geringe technische und wissenschaftliche Hilfsmittel 
existierten. Durch die knappe, gehaltvolle Lebensbeschreibung eines jeden 
Künstlers und durch die kurzen Charakteristiken seiner Schüler und Nach¬ 
ahmer erfährt dieses Katalogwerk eine hoch einzuschätzende Bereicherung. 
Hier sowie in den Bemerkungen, die im Katalog selbst an besonders pro 


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Besprechungen. 


blematische Gemälde geknüpft sind, nimmt Hofstede de Groot seinerseits 
Stellung zu strittigen kunsthistorischen Fragen. 

Im Gegensätze zu der durch den Stich des Cornelis van Noorde und 
durch Jacob Campo Weyerman überlieferten Nachricht von der Geburt des 
Frans Hals im Jahre 1584 hält Hofstede de Groot auf Grund der Nachrichten 
Houbrakens bzw. Vincent v. d. Vinnes und des Mathias Scheits 1580 für das 
Geburtsjahr des Künstlers. Da das früheste erhaltene Bild des Frans Hals 
1616 entstand, so sind wir demnach bis zu seinem 36. Lebensjahre über 
die Art seines Schaffens auf vage Vermutungen angewiesen *). Von dem 
kleinen ovalen Bildnis eines Jünglings in der Berliner Sammlung Knaus 
nimmt auch Hofstede de Groot an, daß es noch vor 1616 entstanden ist. 
Er setzt dieses in der Haltung etwas gequält und steif wirkende Porträt, 
das gelegentlich • Thomas de Keyser mit Unrecht zugeschrieben wurde, 
in die Jahre 1610—1612. — Unter dem Oeuvre des Frans Hals macht das 
Porträt der jungen Emerentia van Beresteyn (Sammlung Rothschild, Frank¬ 
furt a. M.) immer einen befremdenden Eindruck. Zweifel wurden schon 
von Moes geäußert; Hofstede de Groot scheint die Autorschaft des Frans 
Hals gleichfalls für nicht absolut sicher zu halten, und er macht die Be¬ 
merkung, daß die Fleischfarbe sehr an die der Bilder des H. G. Pot erinnert. 
Vergegenwärtigt man sich vor diesem Werke die beiden vortrefflichen lebens¬ 
großen Bilder Pots in Haarlem und in Rotterdam, so erscheint diese Hypo¬ 
these als eine sehr glückliche. Auch bei dem Familienbildnisse der Beresteyns 
im Louvre, das ja wohl jetzt von allen Seiten Hals aberkannt wird, hält Hof¬ 
stede de Groot die Autorschaft dieses ungleichwertigen Porträtisten und 
Gesellschaftsmalers für möglich. —Der einfache Lebensgang des selbständig¬ 
sten aller Hals-Schüler, der des Adriaen van Ostade, bietet keinen Anlaß 
zu kritischen Erörterungen. Da unter Zuhilfenahme der Stiche und Zeich¬ 
nungen dieses Künstlers zahlreiche Fälschungen entstanden sind und da 
Cornelis Dusart seinen Spätwerken bisweilen sehr nahe kommt und etliche 
seiner Jugendwerke mit denen seines Bruders Isaac große Ähnlichkeit be- 

l ) Das als ein Werk in der Richtung des jungen Frans Hals unlängst von Bode* 
publizierte »Bankett im Freien» (Amtliche Berichte aus den K. Kunsts. XXXIII, S. 161 ff.) 
bietet einen sehr wertvollen Beitrag zur Lösung dieser Frage. Es ließe sich denken, daß 
Hals, der niemals gut zu komponieren verstand, die gelungene Komposition von einen; 
Gemälde des C. C. van Haarlem übernommen hat, der ähnliche Gelage in ganz ähnlicher 
Umgebung als Bacchanale, mythologische Hochzcitsmahlc und dergleichen malte. Dirk 
Hals, dessen beste Bilder dieser Art in Amsterdam und in Paris nicht an dieses breit und 
meisterhaft gemalte Beiliner Bild heranreichen, würde diese Bildgattung dann von seinem 
älteren Bruder übernommen und weiter ausgestaltet haben, während dieser selbst später 
das Thema fallen ließ, da eine derartige Darstellung vieler und verhältnismäßig kleiner 
Figuren seiner immer großzügiger, freier und toniger werdenden Malweise nicht mehr 
recht lag. 


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sitzen, so ist das kritische Oeuvre-Verzeichnis eine sehr erwünschte Gabe. 
Unter dem Verzeichnis der Schüler und Nachahmer sind vor allem die An¬ 
gaben über A. Victorijns von Belang, dessen minderwertige Bilder früher 
ausnahmslos als Jugendwerke Adriaen von Ostades galten *). 

Über den Verlauf der Jugendjahre Adriaen Brouwers gehen die Meinun¬ 
gen Hofstede de Groots mit denen des Brou wer-Biographen Schmidt-Degener 
auseinander. Um den unzweifelhaften Zusammenhang der frühesten Schöp¬ 
fungen Brouwers mit ähnlichen Werken der vlämischen Schule zu erklären, 
nimmt Schmidt-Degener an, daß sich Brouwer, als er im Alter von 16 Jahren 
aus Oudenaarde floh, zunächst nach Antwerpen wandte und hier in der Um¬ 
gebung des jungen P. Brueghel seine Ausbildung fand. Er bestreitet ein 
direktes Schülerverhältnis zu Frans Hals, wenn er auch zugibt, daß sich 
Brouwer in seiner späteren Haarlemer Zeit dessen Einfluß nicht entzogen hat. 
Hofstede de Groot, der auf die Angaben Houbrakens in diesem Falle größeres 
Gewicht legt, nimmt dagegen an, daß Brouwer 1621 oder 1622 direkt nach 
Holland entflohen sei, wo er bald darauf bei Frans Hals in die Lehre trat. 
Den vlämischen Charakter der Frühwerke Brouwers, die nach dieser 
Annahme also in Holland entstanden sein würden, erklärt Hofstede 
de Groot daher, daß sich zu jener Zeit der Einfluß des alten Brueghel und 
seiner Nachfolger auch auf die nördlichen Niederlande erstreckte, wo es um . 
1620 eine Bauernmalerei im eigentlichen Sinne, die auf Brouwer hätte vor¬ 
bildlich wirken können, noch nicht gab. Die Argumente Hofstede de Groots 
und die von ihm vertretene Ansicht, daß ein möglichst langer Aufenthalt 
des Künstlers in Haarlem anzunehmen sei, werden durch die Überlieferungen 
des Nicolaes Six, durch den Widmungstext Pieter Nootmans und durch die 
Notiz Mattys van den Berghs auf seiner Zeichnung im Berliner Kupferstich- 
kabinett bekräftigt, die alle drei die Zugehörigkeit Adriaen Brouwers zu 
Haarlem stark betonen. — Als ein Werk, und zwar als ein Meisterwerk 
Brouwers, führt Hofstede de Groot die »Soldaten in einer Herberge« im 
Haarlemer Städtischen Museum an. Seit neuester Zeit trägt dort das durch 
seinen hellen Ton auffallende Gemälde den Namen des Joost van Craesbeeck. 
Mit Unrecht. Gewiß: man darf vor diesem geistreichen Werke nicht an jene 
mittelmäßigen bunten Bilder Craesbeecks denken, wie man sie in besonders 


J ) Es sei hier auf vier bisher unbekannte Bilder dieses seltenen Künstlers 
hingewiesen, die sich in Altenburger Privatbesitz befinden. Sie entstammen einer 
Folge der fünf Sinne und stellen das »Gehör«, den »Geruch«, das »Gefühl« und das »Gesicht« 
dar. Das Original des fünften Bildes, der »Geschmack«, befindet sich in der Königlichen 
Gemäldegalerie in Kopenhagen. Ein Vergleich mit der vollständigen Serie in der Wiener 
Akademie zeigt, daß die Altenburger Exemplare, die eigenhändige Wiederholungen sind, 
nur geringfügige Veränderungen aufweisen. — Vgl. auch: Kurt Freise, »A. Victoryns« 
(Monatshefte für Kunstwissenschaft 1910, S. 324 ff.). 


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charakteristischer Auswahl vor zwei Jahren auf der Brüsseler Ausstellung 
sah; man muß hier das beste der ihm zugeschriebenen Bilder, das »Maler¬ 
atelier« im Louvre, das dem Haarlemer Bilde einigermaßen nahe kommt, 
zum Vergleich heranziehen. Sieht man sich die beiden Originale aber einmal 
kurz hintereinander an, so tritt der weite künstlerische Abstand des Louvre¬ 
bildes von jenem in Haarlem stark zutage. 

Die freundschaftlichen Beziehungen, die zwischen Ruisdael und seinem 
• Schüler Hobbema auch dann noch bestanden, als das Lehrverhältnis zu Ende 
war, sind bekannt. Es ist bekannt, daß beide am Beginne der sechziger 
Jahre des 17. Jahrhunderts gemeinsame Reisen unternahmen und zur 
gleichen Stunde vom gleichen Standpunkt aus dieselbe Ansicht malten. So 
leicht im allgemeinen ihre Werke auseinanderzuhalten sind, so schwer ist 
es, in einigen Ausnahmefällen ihre einander im Sujet und in der Ausführung 
ähnlichen Werke dem einen oder dem andern mit Sicherheit zuzuschreiben. 
Hofstede de Groot erwähnt einige zweifelhafte Fälle, deren endgültige Lösung 
noch nicht gefunden ist. Von den beiden Exemplaren der »Furt«, dem im 
Wiener Hofmuseum und dem in der Sammlung Six des Amsterdamer Rijks- 
Museums, führt er das Amsterdamer Bild unter den Werken Ruisdaels, das 
Wiener unter denen Hobbemas auf. Ähnlich liegt der Fall bei jener Wieder¬ 
holung der Ruisdaelschen »Waldlandschaft mit Fluß« des Bridgewater House 
in London, die 1902 auf der Antwerpener Versteigerung Huybrechts vorkam 
und bei der man nicht weiß, ob man es mit einer Replik des Ruisdaelschen 
Bildes oder mit einer Ansicht Hobbemas nach derselben Stelle zu tun hat. 
Die Entstehung von Hobbemas »Allee von Middelharnis« in der Londoner 
National Galery setzt Hofstede de Groot in das Jahr 1669, und er wider¬ 
spricht der häufig geäußerten Ansicht, die verstümmelte dritte Ziffer der 
Jahreszahl »16.9« auf dem Gemälde sei eine »8« gewesen. Wenn man 
bedenkt, daß Hobbema vom Jahre seiner Verheiratung, also vom Jahre 1669 
an, keine Kunstwerke mehr schuf und daß, wie Bode konstatiert hat, in 
seinen Bildern, die kurz vor 1670 entstanden sind, ein Nachlassen der künst¬ 
lerischen Kraft zu erkennen ist, so erscheint es in der Tat unangebracht, 
für die »Allee von Middelharnis« einen Ausnahmefall anzunehmen und die 
Entstehung gerade dieses Meisterwerkes in eine Periode zu versezten, in 
der er seit etwa 20 Jahren nicht mehr künstlerisch tätig gewesen war. 

In Adriaen van de Veldes prächtiger »Bildnisgruppe in einer Landschaft« 
der Sammlung van der Hoop des Amsterdamer Rijks-Museums, die dort 
als eine Darstellung des Künstlers und seiner Familie gilt und als solche 
auch vielfach in der Literatur erwähnt wird, sieht Hofstede de Groot nicht 
Adriaen van de Velde und die Seinen. Dieses große Bild einer reichen Bürger¬ 
familie, die mitsamt ihrem Landhause und ihrem Schimmelgespann darge¬ 
stellt ist, stimmt freilich auch gar nicht mit den Nachrichten überein, die 


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wir von den beschränkten Verhältnissen Adriaen van de Veldes besitzen, 
dessen Fj;au auf Nebenverdienste durch ein Strumpfgeschäft angewiesen 
war. — Ähnlich wie bei Wouverman ist auch bei A. v. d. Velde ein Auf¬ 
enthalt in Italien, auf den viele seiner Bilder hinzudeuten scheinen, urkund¬ 
lich nicht beglaubigt und ziemlich zweifelhaft. Hofstede de Groot ist geneigt, 
eine italienische Reise van de Veldes anzunehmen, die dann vor seiner Hoch¬ 
zeit im Jahre 1657 stattgefunden haben muH. In seiner Studie über den 
Künstler weist Bode (»Rembrandt und seine Zeitgenossen«) auf den 
Zusammenhang hin, der zwischen einer Reihe von Werken van de Veldes 
(Farmen mit Vieh usw.) und verwandten Bildern des um elf Jahre älteren 
Paulus Potter besteht. In diesem Zusammenhänge ist es interessant, daß 
Hofstede de Groot bei Adriaen van de Veldes bekanntem »Viehmarkt« der 
Wiener Akademie, der derselben Gruppe zugehört, die Möglichkeit offen läßt, 
daß das Bild eine gute Kopie nach einem Potter ist. Bei der Würdigung 
Potters weist er mit Recht nachdrücklich auf die künstlerischen Qualitäten 
der kleineren Werke in Paris und Kassel, in Schwerin und in der Wiener 
Galerie Czernin hin, die dem populären »Stier« im Mauritshuis sehr über¬ 
legen sind. Als Schöpfung eines 21 jährigen schwindsüchtigen Jünglings 
bleibt freilich der »Stier« immerhin eine erstaunliche Leistung. 

Den Schülern der behandelten Meister und ihren wichtigsten und merk- 

% 

würdigsten Werken konnte sich Hofstede de Groot leider nicht eingehend 
widmen; dies wäre über den Rahmen und die Bestimmung eines solchen 
Katalogwerkes hinausgegangen. Hätte er die Möglichkeit dazu gehabt, so 
würde dieses beschreibende und kritische Verzeichnis zugleich die umfassende 
Geschichte der holländischen Kunst im 17. Jahrhundert geworden sein. 

Eduard, Plietzsch. 


Dr.PeterP.Albert, Der Meister E. S., sein Name, seine Hei¬ 
mat und sein Ende. Funde und Vermutungen. . Straßburg, 
Heitz, 1911. 

Trotz jahrzehntelanger Forschungen sind die Anfänge des Kupferstichs 
noch recht unklar, und je umfangreicher und präziser die Arbeiten, die sich 
mit den Inkunabeln der Graphik befassen, um so offenbarer wird es, wie viele 
Fragen noch der Aufklärung bedürfen. Gerade die letzten Jahre waren auf 
diesem Gebiete sehr ergibig, aber es genügt, grundlegende Werke, wie die 
von Lehrs oder Geisberg, aufzuschlagen, um auf eine Reihe von Notnamen 
zu stoßen, um sogar bei führenden Meistern unüberwindlichen Schwierig¬ 
keiten ihrer Lokalisierung zu begegnen. Es soll ja nicht geleugnet werden, 
daß namentlich den Forschungen Lehrs' in vielen Fällen die genauere Um¬ 
grenzung des Wirkungsgebietes der einzelnen Meister gelungen ist, doch be- 


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Besprechungen. 


ziehen sich diese Errungenschaften vielfach auf Künstler dritten Ranges. 
Dabei wird kaum angestrebt, zu verwandten Regionen der Graphik Brücken 
zu schlagen, zum Holzschnitt, zum Reliefschnitt überhaupt, von der gleich¬ 
zeitigen Malerei nicht zu sprechen. Gewiß lassen sich positive Resultate 
durch Beschränkung auf ein möglichst umgrenztes Terrain erzielen; doch 
könnte diese Schürfarbeit vielleicht gefördert werden, wenn sie die genannten 
Nachbargebiete nicht aus den Augen lassen würde. Die Einzelblätter sind 
ja nach allen Seiten hin untersucht und rubriziert worden, und es wäre wohl 
an der Zeit, erstens, sie auf ihren künstlerischen Gehalt hin genauer zu prüfen, 
zweitens aber, diese angedeuteten Zusammenhänge — sofern sie unzweifel¬ 
haft vorliegen — aufzudecken. Dann erst, aber erst dann, wird die achtung¬ 
gebietende Forschung Vieler nicht vergeblich gewesen sein. 

Es schien mir notwendig, dies vorauszuschicken, ehe ich meinen Stand¬ 
punkt der Arbeit P. Alberts gegenüber bezeichne. Um es kurz zu sagen: ich 
halte solche »Funde und Vermutungen« — so nennt sie der Verf. selbst — 
für fast unnötig, oder vielmehr: der Aufwand der Arbeit scheint mir in gar 
keinem Verhältnis zu den erzielten Resultaten zu stehen. Nehmen wir den 
günstigsten Fall an, dem Verf. wäre es tatsächlich geglückt, »den Namen, 
die Heimat und das Ende des Meisters E. S.«, wie er mit Genugtuung sein 
Buch überschreibt, herausbekommen zu haben! Was würde uns das nützen 
beim Eindringen in dessen Kunst ? Ist es wirklich so wichtig, zu erfahren, 
was die Buchstaben des Monogramms andeuten ? oder ist uns vielmehr nicht 
daran gelegen, den Meister in eine entwicklungsgeschichtlich lückenlose Reihe 
einzuordnen? Niemand wird bestreiten, daß eine endgültige Auflösung des 
Monogramms auch von Vorteil für die Kunstgeschichte wäre, allein ent¬ 
scheidend ist keineswegs der Name, sondern die Art des Meisters. Nun ist 
cs ja bekannt, daß durch wiederholt unternommene, wenn auch verfehlte 
Forschungen, schließlich sich der Sehkreis erweitert, und wir sind heute 
über den Hausbuchmeister sehr genau orientiert, obgleich wir seinen Namen 
nicht wissen. Doch vor Einem muß man sich bei diesen Untersuchungen in 
acht nehmen: vor dem Aufbauen interessanter, womöglich dramatisch zu- 
gespitzter Hypothesen. Man muß sich eben klar sagen: entweder man dringt 
induktiv aus den Werken des Meisters in das Wesen des Meisters immer 
tiefer, und dann mag ja manche Hypothese ihre innere Berechtigung haben; 
oder aber man tritt an den Künstler deduktiv, so zu sagen von außen, heran, 
und dann darf man nur feststehenden Tatsachen Einlaß gewähren. Aus 
Urkunden lassen sich vielleicht interessante Romane ausspinnen, für Künstler¬ 
biographien ist nur der feste Kern der Mitteilung verwendbar. Leider hat 
der Verf. beliebt, ein spannendes Kapitel, etwa: »Tragödie eines Künstler¬ 
lebens« zu schreiben! 

Nach dieser Vorbemerkung sei vor allem festgestellt, daß der Verfasser 


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mit einer für einen Nichtfachmann geradezu erstaunlichen Gewissenhaftig- 
keit an seine Aufgabe herangetreten ist, sodann, daß er diese Resultate in 
durchaus unaufdringlicher und bescheidener Weise vorführt, und endlich, 
daß er den rein historischen Teil seiner Untersuchungen mit äußerster Prä¬ 
zision handhabt. Und gerade deshalb, weil man zu diesem dreifachen Lobe 
geradezu gezwungen ist, war die Bemerkung von dem Mißverhältnis des 
Aufwandes zum Erfolg notwendig. 

Wer an die Lektüre des Buches herangeht, ist erstaunt, das erste 
Drittel mit einer Zusammenfassung der bisherigen E. S.-Forschung aus- 
gefüllt zu sehen. Für wen schreibt denn P. Albert sein Buch, wenn er es 
sich nicht versagen zu können glaubt, auf 42 Seiten fremde Meinungen zu 
rekapitulieren? Man ist versucht, sie kurzerhand zu überschlagen, nament¬ 
lich, da als Überschrift des IV. Kapitels vielverheißend der Name E n d r e s 
Silbernagel prangt. Und tatsächlich wird da nicht ohne dramatische 
Steigerung geschildert, wie der Verf. diesen ersehnten Namen aus Freiburger 
Urkunden herausgefischt hat. Diese besagen, daß die Stadt und die Uni¬ 
versität Freiburg 1502 sich an den Präzeptor des dortigen Antoniterhauses 
mit der Bitte gewendet haben, den vom »Antoniusfeuer« (Kriebelkrankheit) 
befallenen Meister Endres Silbernagel aufzunehmen und zu pflegen. Sie 
melden auch noch den am 2. Mai 1503 erfolgten Tod dieses in Gemünden 
gebürtigen E. S. (die Feder sträubt sich gegen die Abkürzung!) und berichten 
über einen Vorschuß, den ihm vor Jahren der Freiburger Bildhauer Theo- 
dosius Kaufmann gab. Das ist — in der Tat — alles! Man wartet vergeblich 
auf den Zusammenhang mit dem wirklichen Meister E. S. Denn was jetzt 
folgt, das ist ein Versuch mit untauglichen Mitteln, diese Notizen auf den 
wohlbekannten Meister zu beziehen. 

Wohlverstanden: es ist durchaus nicht ausgeschlossen — wenn auch 
wenig wahrscheinlich —, daß Endres Silbernagel mit dem E. S.-Meister 
identisch ist, aber es liegt keinerlei Veranlassung vor, diese Hypothese zu 
erwägen, denn es ließen sich ja viele Namen mit diesen Anfangsbuchstaben 
anführen, die in ähnlich losen Zusammenhang mit dem Künstler gebracht 
werden könnten. Anders gesagt: der Verf. scheint mir mit seiner Methode das 
Pferd am Schwänze aufzuzäumen; erst, wenn wir wüßten, daß der E. S. 
jener armselige sieche Künstler war, der die letzten dreißig Jahre seines Lebens 
in Not und Elend dahinvegetierte, erst dann wären die Anstrengungen 
Alberts am Platze, nachzuweisen, wie sich diese äußeren Umstände in seiner 
Kunst widerspiegelten. So lange wir aber als die einzigen auf E. S. be¬ 
züglichen festen Daten die Jahreszahlen 1466 und 1467 besitzen, so lange 
wir mit unbeeinflußten Augen in seiner Kunst die typischen Merkmale der 
Kunst vom dritten Viertel des 15. Jahrhunderts, und nicht auch vom vierten, 
sehen, so lange wir außer vagen Beeinflussungen der Kunst Schongauers und 


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Besprechungen. 


des Hausbuchmeisters durch den E. S. keinen irgendwie greifbaren Schul- 
Zusammenhang zu erblicken imstande sind, so lange wird uns jeder Versuch, 
wie der geschilderte, gewaltsam bei den Haaren herbeigezogen erscheinen. 
Dies vorausgeschickt, wollen wir nicht leugnen, daß in der Beurteilung der 
Kunst des E. S.-Meisters noch manche Fragen einer Lösung vergeblich 
harren, und daß der Verf. den Finger tatsächlich auf wunde Stellen legt, 
allerdings, ohne sie zu heilen. Der Meister E. S. scheint ja wirklich um 1435 
geboren zu sein; wie kann er dann — nach Geisberg — etwa 500 Blätter, — 
nach Lehrs sogar 1000 — gestochen haben, wenn er als 32 jähriger starb ? 
Doch kann sich der Verf. nicht recht entschließen, wie er diese schwierige 
Frage lösen soll; einerseits räumt er ja dem Künstler noch über dreißig Jahre 
ein, auf die sich die Arbeiten bequem verteilen lassen, andrerseits aber stellt 
er eben die Vermutung auf, daß nach 1467 der »künstlerische Tod« des E. S. 
erfolgt ist, daß sich der brotlose Künstler in fremden Werkstätten umher - 
trieb, zu seinem früheren Handwerk, der Malerei (was weiß man darüber ?!'i 
zurückkehrte, hier Schongauer, dort wieder den Heinrich Lang instruierte 
und in Not und Elend in Freiburg starb. Ja, sogar eine Frau soll er gehabt 
haben, die ihm vorzeitig durch das Schicksal jäh entrissen wurde, ein vor- 
gelebter Rembrandt! Nun, durch diese Romane wird die Tatsache nicht 
aus der Welt geschafft, daß die Figuren des E. S. durchaus einen früh- 
quattrocentesken Habitus haben, daß seine Faltengehäuse den Charakter 
der Mitte des Jahrhunderts tragen, daß seine Vegetation der primitiven 
Stufe der ersten Formschnitte entspricht, mit den hilflos dekorativen Blatt - 
bäumen und Schwammsträuchern, daß in seiner Graphik nirgends der be¬ 
freiende Hauch der aufstrebenden Buchillustration — kaum des Block- 
buchs — zu spüren ist, — mit einem Wort, daß sich darin der Geist kund- 
gibt, wie er in Deutschland vor der niederländischen Welle allgemein war. 
Und merkt denn der Verf. nicht, daß er seiner Hypothese den Lebensatem 
raubt, wenn er das Wort »Rembrandt« heraufbeschwört? Sind denn Rem- 
brandts Spätwerke, und gerade diese, nicht die herrlichsten ? Wo sind aber 
die Werke des alternden E. S.?! Man kann die Seele eines Künstlers nicht 
gründlicher mißverstehen, als wenn man der Vermutung Raum läßt, ein 
Künstler vom Range des E. S., der dem deutschen Kupferstich neue Per¬ 
spektiven öffnete, hätte sich die letzten 35 Jahre seines Lebens in fremden 
Ateliers umhergetrieben, bloß — um zu leben. 

Es ist ja wahr, daß mit der Erklärung, der E. S. wäre gleich nach 1467 
gestorben, das Rätsel dieser Datierungen nur umgangen, keineswegs 
aber gelöst wird; nur muß man dem Verfasser offen sagen, daß 
seine Deutung die Sache noch dunkler macht. Wenn sich der Künstler 
endlich zum Signieren und Datieren seiner Werke entschlossen hat, 
so muß er es doch im Laufe der folgenden drei Jahrzehnte noch oft wieder - 


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Besprechungen. 


48 I 

holt haben! Oder, was könnte ihn davon sonst abgehalten haben, da er ja — 
nach Alberts Hypothese — erst ein Jahr vor seinem Tode ins Lazarett wan¬ 
dern mußte? . 

Dieses sind m. E. die Kernfragen, die der Lösung benötigen. Und, da 
der Verf. sie zu beantworten nicht vermag, erscheinen uns seine anderen 
Ausführungen recht belanglos. Immerhin mag ihm zugegeben werden, daß 
darin manch Richtiges stecken mag. So dürfte er z. B. damit recht haben, 
daß für die Annahme einer Schweizer Abkunft des E. S. kein zwingender 
Grund vorliegt, daß die allemanischen Legenden seiner Stiche fast ebenso 
gegen seine alemanische Abkunft wie für diese sprechen; oder auch damit, 
daß die Stechschilde in der beim E. S. vorkommenden Form eine Seltenheit 
sind — was ich nicht beurteilen kann — und anderes mehr. 

Wenn er aber die sämtlichen hl. Andreasse des Kupferstichwerkes des 
E. S. antreten läßt, um eine Familienähnlichkeit mit — dem Pilger des 
Einsiedelblattes festzustellen, der niemand anders als der E. S. selbst sein 
soll (mit seiner treuen Gemahlin!), wenn er gar Augen sehen will, die »aus¬ 
druckslos ins Leere starren, ungepflegt Haar und Bart, aus den Zügen der 
ganze Jammer eines traurigen Daseins sprechend« — dann kann der Verf. 
uns wirklich nicht übel nehmen, wenn wir ihm auf dieses koupierte Terrain 
vager Vermutungen nicht folgen, auf dem Entgleisungen ebenso unvermeid¬ 
lich wie peinlich sind. Beth. 


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Erwiderung. 


Zu der abfälligen Besprechung meines Versuches, einen Vorläufer 
zu einer wirklichen Geschichte der Neapler Malerei zu schreiben (Vorwort 
Seite 5) durch Herrn August L. Mayer bemerke ich, daß ich diesem 
Verfasser eines Buches über Ribera einige Fehler bezüglich der Werke 
dieses Meisters in Neapel nachweisen und ein Bild in Lichtdruck bringen 
konnte, das Mayer als unauffindbar bezeichnete, obgleich es in einer öffent¬ 
lichen Sammlung ausgestellt ist. Hinc illae lacrimae. 

Sachlich ist Mayer im Unrecht, wenn er kurzweg behauptet, ich 
hätte »weder bei der Würdigung der großen noch der kleineren Maler die 
einschlägige ältere Literatur in erschöpfender Weise benutzt«. Er würde 
der Forschung einen großen Dienst erweisen, wenn er mir unbenutzte ein¬ 
schlägige ältere Literatur angeben wollte. — Als eine ungehörige Insinua¬ 
tion betrachte ich es, wenn Mayer den Leser glauben machen will, ich habe 
behauptet, es sei eine »neue Feststellung«, daß man dem de D o m i n i c i 
nicht trauen dürfe: das ist nirgends geschehen. Als neu von mir 
beansprucht wird nur die Reinigung der neapler Kunstforschung von den 
zahllosen Fälschungen und Irrtümern des de Dominici und seiner bis auf 
den heutigen Tag ihm folgenden Nachbeter. Was das heißen will, kann nur 
beurteilen, wer das Gebiet von Neapel gründlich kennt. Ebensowenig ist cs 
richtig, ich habe mich bei der Würdigung von »Desiderio« und Ko¬ 
re n z i o ausschließlich auf den von mir so viel geschmähten Fälscher (ver¬ 
dient er es etwa in Mayers Augen nicht?) gestützt: wovon man sich durch 
einen Blick auf Seite 216 ff. meines Buches überzeugen kann. Offenbar war 
es Mayer nur darum zu tun, einen passenden Übergang zu dem ihm (trotz 
der Mängel in bezug auf Neapel) so vertrauten Gebiete des Ribera zu tun, 
wo er mir einen Irrtum nachzuweisen sucht; dazu bedarf es IO Zeilen von 
den 53, die er einer Arbeit von 440 Seiten widmet! Im übrigen zeigt mir 
die sehr ausgedehnte Benutzung, die ein Versuch findet, in dem selbst nach 
Mayer »eine ganze Menge Arbeit steckt«, daß er doch nicht so ganz unbe¬ 
friedigend ausgefallen sein kann, wie es der verärgerte Herr Kritiker 
glauben machen will. W. Rolfs. 


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Surp Hagop (Djinndeirmene), eine Klosterruine der 

Kommagene. 


Ein Beitrag zur Bewertung und Datierung der nordmesopotamischen 

Kunst. 


Von S. Guyer. 


Wenn man sich eingehender mit der Geschichte der Architektur der 

Jahrhunderte nach Konstantin befaßt, hat man oft das Gefühl, auf einem 

• • 

uferlosen Meere herumzuschwimmen. Uber manche der wichtigsten Fragen 
gehen die Ansichten himmelweit auseinander. Nur selten will sich ein festes 
Stück Land zeigen, von dem aus man sich orientieren und Umschau halten 
kann. Einige wichtigere Bauten in Syrien und Konstantinopel sind 
solche festen Punkte, die uns einen Maßstab für die Beurteilung der 
anderen Denkmäler geben. Dazwischen bleibt dann aber Raum für 
die kühnsten Hypothesen, und daher gehen die Ansichten der verschie¬ 
denen Forscher, z. B. bei den Daticrungsfragen, oft um Jahrhunderte 
auseinander. Nun aber handelt es sich in erster Linie nicht darum, aller¬ 
hand Möglichkeiten aufzustellen, sondern um etwas anderes: man möchte 
gerne etw'as Positives wissen, man möchte gerne einen festen Punkt er¬ 
obern und erst nachher dann weiterziehen. 

Eins dieser unbekannten Gebiete ist die ganze bvzantinsche und früh¬ 
islamische Kunst Mesopotamiens. Hier sind gerade viele der wichtigsten 
Denkmäler im Gegensatz zu Syrien nicht datiert, und man steht daher 
vor der Prachtfassadc des alten Amida, vor den Kirchen und Klöstern 
des Tür ‘Abdin wie vor einem Rätsel. Es dürfte daher interessieren, von 
einer Klosterkirche zu hören, deren Baugeschichte uns bis in Einzelheiten 
hinein bekannt ist: die Djinndeirmene oder Surp Hagop genannte Ruine 
bei Kaisüm in der alten Kommagene. Von einem solchen Bau aus kann 
dann doch das eine und andere Streiflicht in das Dunkel jener Jahrhunderte 
fallen, deren Kunstentwicklung wir uns zu verstehen und zu erfassen be¬ 
mühen. 

I. Die Lage. 

Nachdem der Euphrat in wilden Schluchten die Taurusketten durch¬ 
brochen hat, fließt er bis Rumqalah in westlicher Richtung durch ein Land, 

Repertorium für Kunstwissenschaft, XXXV. 3* 


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S. G u v e r . 
* 


das im Altertum und in der byzantinischen Epoche bis in die Kreuzfahrer¬ 
zeit hinein eine gewisse Rolle gespielt hat; antike Grabmäler *) und andere 
klassische Bauten *), besonders aber zahlreiche Kirchen 3 ) zeugen noch 
als Ruinen, daß einst hier anderes Leben flutete als gegenwärtig. Der nörd¬ 
lich des Stroms gelegene Teil, die alte Kommagene, ist heute ein recht ver¬ 
gessener und verlassener Erdenwinkel: alle wichtigeren Verkehrsstraßen 
liegen weitab. Früher war es jedoch gerade als Verkehrsland ziemlich 
wichtig. Das heute zu einem elenden Nest heruntergesunkene Samosata 
war nicht nur einer der bequemsten Euphratübergänge, sondern auch ein 
strategisch sehr wichtiger Punkt, da cs in der Römerzeit zeitweilig an der 
Grenze der Parther- und Perserreiche lag 4). Das gab dem ganzen Hinter¬ 
lande nördlich und westlich große Bedeutung, da eine Anzahl wichtiger 
strategischer Straßen in Samsat zusammentrafen. Eine derselben, viel¬ 
leicht die wichtigste, ging von Samsat in westlicher Richtung durch die 
kommagenischcn Vorberge über Cesum nach dem Gebiet des kilikischen 
Pyramus und nach AntiochiaS). Die Peutingertalel, das Antonin. Itinerar 
notieren sie, und noch heute sind bedeutende Reste dieser einst so wichtigen 
Straße zu sehen; Marnier hat solche im westlichen Teile (östlich Bazardjyq) 
beobachtet 6 ), ich bin auf meinem Wege von Kaisüm nach Kilik am Euphrat 
mehrere Stunden auf ihr gezogen 7 ). An dieser Straße liegt nun unsere 
Ruine; ungefähr eine Stunde bevor man, von Westen kommend, Kaisüm 
erreicht, öffnet sich rechts ein von einem starken Bach durchrieseltes lai¬ 
chen; man erblickt in der Nähe eine Mühle und etwas weiter oben die 
Ruinen unseres Klosters. Auf der Kiepert-Karte ist die Ruine als Surp 
llagop bezeichnet; ich hörte sie Djinndeirmenc, die »Geistermühlc«, nennen. 


II. Bisherige Literatur. 

Es ist nicht das erstemal, daß Surp Hagop von europäischen For¬ 
schungsreisenden aufgesucht worden ist; u. a. ist Hart mann dort ge- 

*) Zwei sehr schünc Grabdenkmäler des sacc. II. ca. nahm ich im Frühjahr 19 11 
nördlich Rumqalah auf. 

а ) Eine der bedeutendsten Eskihissar, ein römisches Lager zwischen Rumqalah 
und Urfah. 

3 ) Besonders viel gut erhaltene im Gebiet zwischen Rumqalah und Urfah. 

4 ) Vgl. C. Ritter, Erdkunde X, pag. 928. 

5 ) Vgl. die Peutingertafel. 

б ) Marnier, im Bull. soc. geogr. de l’Est. 1890, XII, 519 fT. 

7 ) Die auf dem Blatt Mesopotamia, Syria, Armenia von R. Kiepert eingezcichncte 
Trasse führt in ihrem östlichen Teile etwas zu weit nördlich; starke drei Stunden nach 
Kaisüm überschreitet man die Euphratuferberge kurz vor dem heutigen Kilik und fuhrt 
die alte StraÜe von dort sicher in östlicher Richtung am Südabhang des genannten Berg* 
zugs weiter. 


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Surp Hagop (Djinndeirmene), eine Klosterruine der Kommagene. 


wesen, sein Routier ist auf*der Kiepert-Karte eingezeichnet. Moritz 
hat den Ort auch besucht; in seinem allgemeiner gehaltenen Reisebericht 
erwähnt er zwar die Ruine nicht 8 ), dafür aber beschäftigt er sich eingehend 
mit ihren syrischen und griechischen Inschriften in seiner Arbeit über die 
Inschriften jener Gegenden 9 ). Eis findet sich dort nicht nur die Veröffent¬ 
lichung und Übersetzung der Inschriften, sondern vor allem sind dort ein- 



Abb. i. Surp Hagop (Djinndeirmene) Klosterruine, i : 200. 


gehende Untersuchungen über die darin erwähnten Personen und die Ent¬ 
stehungszeit der Inschrift angestellt. Doch darüber später. Nur das möchte 
ich schon hier bemerken, daß wir es in erster Linie Moritz verdanken, wenn 
Mir über die Baugeschichte dieses Klosters so genau informiert sind. 

8 ) In den Abhandlungen der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin, Bd. XIII, Nr. 3 
(Sitzung vom 6. März 1886). 

9 ) Mitteilungen des Seminars für orientalische Sprachen 1898, I, 131 ff. 

32* 


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486 


S. Guver, 


Ich habe die Ruine im Juni 1907 besucht und mich dort fast einen 
Tag lang aufgehalten. Leider sind aber meine Aufnahmen nicht so voll¬ 
ständig, wie ich es gerne hätte. Vor allem fehlen Photographien; mein 
Vorrat an Films war nämlich — es war am Schluß einer längeren Reise — 
bis auf zwei Stück aufgebraucht, und von diesen beiden ergab die Innen¬ 
aufnahme wegen Unterbelichtung kein brauchbares Bild. Dafür tat ich 
mein Möglichstes, das Fehlende durch Arbeit mit Meßband und Reißblei 
zu ersetzen. Ganz leicht waren die Aufnahmen nicht, da bei der offenbar 
einmal bei einem Erdbeben stark zerstörten Ruine cs etwas schwierig ist, 
die verschiedenen Bauperioden auseinanderzuhalten. Dazu kam auch 
noch, daß mir der ganze Bau wie ein Rätsel vorkam, da ja erst nachher 



Abb. 2. Surp Hagop (Djinndeirmene) Klosterruine. 1: 200. 


die verwandten Bauten des Tür 'Abdin usw. bekannt wurden. Erst als 
ich später einmal Strzygowski von der Aufnahme erzählte, erkannte er 
darin einen Verwandten der von Miß Bell aufgenommenen Klosterkirchen. 
Ich übergab ihm denn auch mein Material über Djinndeirmene; es wurde 
dann tale quäle in dem Amidabuchc ,u ) mit einer kurzen Bemerkung ver¬ 
öffentlicht lt ). 

9 

III. Beschreibung des Baus. 

Der Bau ist ein typischer Vertreter des mesopotamischen Quertonncn- 
typus, der fast ausschließlich bei Klosterkirchen sich nachweiscn läßt: ein 
oblonges, in Nord-Süd-Richtung sich erstreckendes, mit einer mächtigen 

,0 ) van Bcrchem-Strzvgowski, Amida, Abb. 210. 

11 ) O. c. pag. 268 f. 


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Surp Hagop (Djinndeirmene), eine Klosterruine der Kommagenc. 


Tonne überwölbtes Schiff; im Osten, nur durch eine Tür mit dem Schiff 
verbunden, das Sanktuarium. 

Ich beginne meine Beschreibung mit dem letzteren. Die bauliche Ge¬ 
staltung ist ohne weiteres aus dem Plane (Abb. i) in Verbindung mit dem 
Schnitte (Abb. 2) ersichtlich: vorgelagert ein tonnenüberwölbter Raum, dann 
die Apsis, wie in Turmanln 12 ) und zwei kaum zwei Tagereisen entfernten, süd¬ 
lich des Euphrat gelegenen Bauten * 3 ), innen polygon; desgleichen die darüber 



Abb. 3. Chorpfeiler. 1 : 13. 




Abb. 4. Profil des Chorbogens. 1:13. 


Abb. 6. Apsis-Gesimse 


1 : 10. 


Abb. 5. Apsis : 
Archivolte der 
Fenster. 1 : 10. 


ansteigende klostergewölbartige Halbkuppel. Die drei Fenster mit geradem 
Gewände, oben halbrund geschlossen. An den beiden äußersten Polygonseiten 
Nischen statt der Fenster. Rechts und links vor der Apsis zwei ganz antiki- 

**) Vgl. Vogue, Syric centrale pl. 130 (saec. VI). 

* 3 ) Der eine Bau, eine Kirche in Ütsh Kiliseh, gehört einer Inschrift zufolge dem 
VIII. Jahrhundert an, vgl. Moritz o. c. pag. 135 ff. Der andere, eine Kirche inNughurdj, 
ist undatiert. Ich habe beide Bauten im Frühjahr 1911 aufgenommen. 


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488 


S. Guyer, 


sierende kannelierte Pilaster (Abb. 3); zwischen ihnen und dem Kapitell ein 
aus Zahnfries, Kehle, Wulst bestehendes Mittelglied, darüber das rustikale 
Akanthuskapitell mit noch ganz nach antiker Weise geschweiftem Abakus. 
Die Blätter des Kapitells zeigen eine merkwürdig steife Mache; besonders 
unnatürlich ist die Blattspitze gebildet, die eingeschnitten ist und wie eine 
kleine Zunge überhängt. An den ähnlichen Kapitellen des Schiffs ist sogar 
auf jeder dieser herabhängenden Spitzen ein kleines Ornament angebracht, 
ein Kreuz, ein stilisierter Pinienzapfen oder dergleichen. Der die Apsis 
umspannende, wie mir schien etwas überhöhte, leicht hufeisenförmige Bogen 
(Abb. 4) ist schön profiliert nach dem bekannten, seitdem 6 . Jahrhundert auf- 
tretenden Schema: Sima—Wulstfries—Sima. Hart unter der Sima Astragal 
und Zahnfries. Über dem Kapitell bricht dieser profilierte Bogen rechtwinklig 
um und hört ziemlich unvermittelt auf. Auch sonst ist die Apsis ziemlich 
reich mit Profilen ausgestattet. Eines umzieht archivoltenartig als fort¬ 
laufendes Band die Fensterbögen (Abb. 5), auf deren Kämpferhöhe jeweils 
umbrechend. Auch hier das gleiche Schema Sima—Wustfries—Sima; unter 
der unteren Sima ein Zahnfries, unter der oberen ein Viertelswulst, der beim 
Hauptfenster in ein Astragal übergeht. Über der Scheitelhöhe der Fenster 
das Hauptgesims (Abb. 6); die Sima ist hier in zwei Glieder aufgelöst, oben 
eine Kehle, dann, durch einen schmalen Steg getrennt, ein Wulst; darunter 
zwei schachbrettartig angeordnete Zahnfriese. In der Kehle läuft die Da¬ 
tierungsinschrift hin, links griechisch, rechts syrisch, in ziemlich hoch er¬ 
habenen Lettern. Über dem Mittelfenster ist an diesem Hauptgesims eine 
Rosette angebracht, ähnlich wie in syrischen Bauten. Darüber, in das Gewölbe 
einschneidend, ein weiteres, ebenfalls rundbogiges Fenster; noch weiter oben 
eine Rosette mit den Namen der vier Evangelisten in syrischer Sprache **). 

An dem der Apsis vorgelegten länglich rechteckigen, tonnenüber¬ 
wölbten Raum haben die verschiedensten, sicherlich weit auseinander¬ 
liegenden Zeiten ihre Spuren hinterlassen. Deutlich erkennt man einen, 
besonders außen auf der Südseite sichtbaren, älteren Mauerkern, mit außen 
und innen vortretenden strebepfeilerartigen Vorsprüngen; die inneren durch 
Nischen bildende Bögen miteinander verbunden. Ich habe diese älteren 
Teile auf dem Grundriß schwarz wiedergegeben. Sie sind sicherlich älter 
als die ApSis, die, wie man dies z. T. am Schnitt ersieht, mit dieser Bogen- 
architektur nicht harmoniert, sondern vielmehr mit der späteren Füllung 
dieser Nischen in Verband steht. Außerdem sieht man auch außen bei 
den Punkten A und B deutlich, daß die Apsis mit diesem älteren Mauer- 
kem nicht bündig ist. Vermutlich hat sich die ältere Choranlage in Über- 

• 4 ) Meiner Erinnerung nach ist diese Rosette über dem oberen Fenster; leider 
habe ich keine genaue Notiz darüber; cs ist nicht ausgeschlossen, daß sie yiclleicbt auch 
gerade über dem Apsisgesims ist. 


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Surp Hagop (Djinndeirmenc), eine Klosterruine der Kommagene. 


einstimmung mit den erwähnten Bögen etwas weiter nach Osten hin er¬ 
streckt; man sieht auch tatsächlich außen, ca. ein Meter östlich des jetzigen 
Chorrundes, die Fundamente einer älteren, dreiseitig ummantelten Apsis * 5 ). 
Ob dieser ältere Mauerkern Türen hatte, ist nicht mehr genau festzustellen; 
auf der Nordseite ist zu vermuten, daß die Öffnung C alt ist. 

In der jüngeren Epoche, die die jetzige Apsis erbaute, wurden 
dann sehr wahrscheinlich die Bogennischen mit alten Quadern ausgefüllt, 
zum Zweck ein genügend starkes Widerlager für das Tonnengewölbe zu 
schaffen, das sicherlich erst um diese Zeit entstanden ist. Die Türen D 
und E stammen wohl auch aus der gleichen Periode, das gleiche gilt von 
den Nischen F und G. Die letztere hat mit der Tür C, die damals gewiß 
auch ausgefüllt wurde, natürlich nichts zu tun. Auch die Rosetten über 
diesen Türen und Nischen sind jedenfalls gleichzeitig. Die Löcher in den 
Rosetten über Nische G waren vielleicht zur Befestigung von Metallknöpfen 
oder sonstigen Verzierungen bestimmt. 

Später ist an diesem Bestand noch allerhand geändert worden; haupt¬ 
sächlich Flickarbeiten, worüber der Schnitt einige Aufklärung gibt. Ich 
hatte überhaupt den Eindruck, daß der Bau einmal von einem Erdbeben 
stark erschüttert worden und nachher notdürftig, so wie er früher war, 
wieder zusammengestellt worden ist. Das mag vielleicht 1114 geschehen 
sein, aus welchem Jahre uns von einem Erdbeben berichtet wird, das die 
ganze Gegend zwischen Samosata und Mar'ash heimsuchte und viele Dörfer 
und Klöster zerstörte ,6 ). 

Ob der Bau wohl Pastophorien hatte? Darüber, ob bei der ersten 
Anlage solche da waren, lassen sich nicht einmal Vermutungen anstellen; 
die vorhandenen Reste sind zu spärlich. Wohl aber glaube ich, daß bei der 
zweiten Anlage solche vorhanden waren. Denn einmal finden sich bei allen 
bis jetzt bekannten Quertonnenkirchen Prothesis und Diakonikon vor, 
besonders aber beweisen hier die beiden Türen D und E das Vorhandensein 
solcher Nebenräume; die jetzt vermauerte Tür H erhebt dies auf der Nord¬ 
seite zur Gewißheit. Ob eine der letzteren entsprechende Türe auf der Süd¬ 
seite war, weiß ich nicht mehr; sie kann mir sehr wohl entgangen sein, 
da dort der Schutt relativ sehr hoch liegt. Diese Nebenkammern müssen 
ziemlich geräumig gewesen sein, denn bei der nördlichen scheint mir, daß 
die Umfassungsmauern nur bei I und K angeschlossen haben können, da 

* 5 ) Allerdings wäre auch nicht ausgeschlossen, daß diese polygone Anlage dem 
jetzigen Chorrund als Basis gedient hätte; die heutige Apsis ist nämlich außen gar nicht 
recht verblendet, und wir haben uns daher den Schnitt ihrer Mauer ursprünglich etwas 
breiter vorzustellen. — Man kommt hier über Vermuten nicht hinaus. 

,s ) Matthaeus von Edessa cap. 67, pag. 112 (rccucil des historiens des croisadcs 
Textes arm^niens I). 


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490 


S. Guycr, 


die Mauervorsprünge L und M als strebepfeilerartige Abschlüsse gedacht 
sind * 7 ). Das ergäbe einen den anderen bis jetzt bekannten Quertonnen- 
kirchen ähnlichen Grundriß, bei denen auch die Ostmauer so gezogen ist, 
daß höchstens das Halbrund der Apsis darüber heraussteht. 

Das Schiff ist ca. 11 m lang und ca. 20 m breit ,8 ); leider ist nur die 
Ostwand sowie ein kurzer Ansatz der Nordwand (s. den Schnitt) erhalten. 
Die erstere ist durch eine Reihe durch Bögen miteinander verbundener 
Strebepfeiler in eine Anzahl Nischen aufgelöst (Abb. 7). Über den Bögen ein 
Gesims (Abb. 8), bestehend aus Sackkvma, und zwei Zahnfriesen darunter; 



Abb. 7. Surp Hagop. Blick von Nordwest in da* Schiff. 

vor der mittleren Hauptnische ist das Gesims rahmenartig umgebrochen, um 
dieselbe etwas höher bekrönen zu können. Immer ist in der Mitte zwischen 
je zwei Nischen unter dem Gesims ein rustikales korinthisches Kapitell * 9 ) 
in die Wand eingelassen und gleichsam als Bekrönung der Pfeiler zwischen 
den Nischen gedacht. Auf dem durch dieses Gesims gebildeten Rücksprunge 
der Mauer ruhen die das Tonnengewölbe tragenden Gurtbögen auf, sie sind 
schön profiliert mit Sima und darunter zwei Zahnfriesen (Abb. 9). 

* 7 ) Bei M. ist zwar der Abschluß nicht erhalten, dafür aber beim entsprechenden 
Vorsprung der Südseite. 

,8 ) Die Länge von \V. nach 0 ., die Breite von N. nach S. gemessen. 

’ 9 ) Vgl. was ich darüber S. 4S8 gesagt habe. 


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Surp Hagop (Djinndeirmene), eine Klostcrruine der Kommagenc. 


491 


Eigentümlich ist die das Hauptschiff im Norden und auch im Westen 
begleitende Bogenreihe. Sicherlich ist eine dritte im Süden zu ergänzen. 
Die einzelnen Bögen, über deren Konstruktion meine Skizze Fig. 11 auf¬ 
klärt, standen jeweils senkrecht zur Wand des Schiffes. Sie bildeten eine 
Art Umgang um dasselbe; dazu stimmt ihre Höhe, die mutmaßlich ca. 3 m 
über dem Fußboden betrug. Dieser Umgang war zweistöckig, denn die 
obere Konstruktion scheint mir dazu bestimmt, eine flache Steindecke 
aufzunehmen; ich stelle mir das so vor, daß auf den Seiten über den Bogen - 
pfeilern dicke Steinbalken von einem Pfeiler zum anderen gelegt wurden, 
während man den mittleren Teil durch um 30 cm dünnere Platten verband; 
30 cm, weil der mittlere Teil des Bogens um soviel höher ist. Da die Platten 



Abb. 8. Hauptge¬ 
simse am Haupt¬ 
schiff. 1:13. 



Abb. 9. Gurten des Tonnengewölbes im Hauptschiff. 

1:13. 


bedeutend schwächer waren als die Steinbalken und infolgedessen keine 
so weite Spannweite vertrugen, half man sich dadurch, daß man den mitt¬ 
leren Teil des Bogens bedeutend breiter bildete. Und nun die große Frage: 
Standen diese beiden Umgänge mit dem Schiff in Verbindung? öffneten 
sie sich als Seitenschiff und Empore im Bogen oder sonstwie gegen das¬ 
selbe? Die in ihrem Anfang erhaltene Nordmauer scheint dagegenzuspre¬ 
chen. Aber es ist meiner Erinnerung nach zu wenig davon erhalten, als 
daß man zuviel Gewicht auf diese Beobachtung legen könnte. Allerdings 
könnte eventuell der Gang im Westen gegen das Schiff zu abgeschlossen 
gewesen sein und eine Art Narthex gebildet haben; aber der Umgang im 
ersten Stock, noch dazu ringsherum, schiene mir unsinnig, wenn er nicht 
als Empore Verwendung gefunden hätte. Das Hauptargument jedoch für 
die Existenz von Seitenschiffen und Empore bildet der Umstand, daß die 
Umfassungsmauer des Schiffes, auf denen die Tonne aufruhte, außerhalb, 
d. h. nördlich und westlich der betr. Bogenreihen sich erhob: im Norden 
ist sie noch deutlich sichtbar; im Westen kann man daraus, daß sich an 


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492 


S. G u y e t , 


der inneren (östlichen) Seite dieser Bögen eine kaum x /i m dicke Mauer 10 ) 
erhob, schließen, daß die Hauptabschlußmauer weiter westlich gelegen war, 
so daß die Tonne auch diese westliche Bogenreihe miteingedeckt haben 
muß, wodurch sich deren Lage innerhalb des Schiffes mit Sicherheit er¬ 
gibt. Ich neige daher der Auffassung zu, daß der untere Umgang weit eher 
als Seitenschiff denn als Narthex anzusehen ist, während der obere auf der 
Langseite wohl sicher, auf den beiden Schmalseiten höchstwahrscheinlich 
auch als Empore diente. Dies mächtige tonnengewölbte Schiff mit den 
sich rings herumziehenden Emporen wäre ein ganz eigenartiger, sonst nirgends 
belegter Typus, der Surp Hagop zur großartigsten und interessantesten aller 
dieser mesopotamischen Quertonnenkirchen machen würde. 



Abb. io. Surp Hagop. Rekonstruktions- Abb. 11. Bogenkonstruktion 

versuch (Skizze). (Skizze). 


IV. Historische Untersuchung. 

An den Kopf dieser Untersuchung gehört die von Moritz veröffent¬ 
lichte doppelsprachige Datierungsinschrift in der Apsis. Die syrische auf 
der nördlichen Seite lautet in deutscher Übersetzung: »Erbaut in den Tagen 
des frommen Mär Dionysius, des syrischen Patriarchen, und des Bischofs 
Mär Theodorus (und) des Klosterabts Mares.« Die griechische nach Moritz: 
sv toi« rjjxspai; Atovua'tou -a-ptapy^« xai 0 eo 8 u>po« taxotro«. Aus dem tot«, 
aus dem Kasuswechsel 0 so 8 o>po; aus der kürzeren Fassung des grie¬ 
chischen Textes schließt Moritz, daß dem Schreiber das Griechische nicht 
recht geläufig gewesen ist, was sicherlich der Fall gewesen sein mag, ob¬ 
gleich ich der Überzeugung bin, daß der griechische Text ursprünglich 

20 ) Diese kann gut von Arkaden durchbrochen gewesen sein, was jetzt nicht mehr 
zu sehen ist. 


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Surp Hagop (Djinndeirmene), eine Klosterruine der. Kommagene. 


493 


nicht kürzer gefaßt war. Die zwei letzten Steine sind nämlich herausge¬ 
nommen und durch neue ersetzt. Dies ist in einer Zeit geschehen, in der 
man immerhin noch einiges Stilgefühl hatte; denn man hat sich die Mühe 
gegeben, diese neuen Steine auch zu profilieren, aber doch muß damals 
dieses Stilgefühl gegenüber dem der früheren Zeit ziemlich gesunken sein; 
denn trotz des offenbaren Bestrebens, das alte Profil zu imitieren, ersetzte 
man die obere Hohlkehle durch eine einfache Schräge. Sehr gut möglich, 
daß dies nach dem Erdbeben von 1114 geschah ai ). 

Doch zurück zur Inschrift. Von den drei genannten Persönlichkeiten 
sind zwei bekannt: der Patriarch Dionysius und der Bischof Theodorus. 
Und zwar nimmt Moritz an, daß von den sieben jakobitischen Patriarchen, 
die Dionysius hießen, es der erste dieses Namens gewesen sei: Dionysius I 
von Tel Mahrd, der berühmte Chronist und zwanzigste Patriarch der Jako- 
biten (818—845). Beinahe zur Sicherheit wird diese Annahme dadurch 
erhoben, daß in der gleichen Zeit bei Barhebraeus ein Bischof Theodorus 
Abt von Mär Jakub genannt wird M ). Weiter bestärkt wird diese Hypothese 
dadurch, daß am Anfang des 9. Jahrhunderts Harün al-Rashid das Kloster 
hatte zerstören lassen * 3 ), so daß damals ein Neubau nötig war. Moritz 
vermutet nun, daß Harün, als er später durch die gleiche Gegend zog, die 
Erlaubnis zu einem solchen gegeben haben mag. Aber jedenfalls ist die 
Ausführung der Erlaubnis nicht auf dem Fuße gefolgt, da Harün bereits 
809 starb. Erwähnen möchte ich noch, daß die Inschrift und der Bau sicher¬ 
lich gleichzeitig sind; die Inschrift ist kein Graffito, sie kann unmöglich 
später eingekritzelt sein, die Lettern sind hoch erhaben aus demselben Stein 
gemeißelt wie das Profil. Die Klosterkirche von Surp Hagop ist demnach 
fast sicher in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts erbaut worden * 4 ). 

Dies Resultat ist für den Kunsthistoriker vollkommen verblüffend. 
Strzygowski hat im Glauben an den tiefgreifenden Einfluß der mesopota- 
misch-christlichen Bauten am Werden der christlichen Kunst alle betreffen¬ 
den Denkmäler, die Amidafassade, die Kirchen des Tür ‘Abdin usw., in 
ein sehr hohes Alter hinaufgerückt. Für Amida dachte er an das 4. Jahr¬ 
hundert; über die Tür * Abdin-Klöster spricht er sich nicht präzis aus, sagt 
jedoch, daß die alten Chorbögen um »Jahrhunderte älter« als die nach seiner 
Annahme aus dem 8. stammenden Chorschranken der Kirche von Arnas 
sein müssen. Darüber später. 

*‘) Vgl. S. 4 n. 16. 

**) Kirchengescbichte, ed. Abbeloos & Lamy, 1 347 ff. 

* 3 ) Barhebraeus, Chron. 134. 

*♦) Wenn vom Standpunkte des Epigraphikers ein Zweifel gegen diese Datierung 
erhoben werden konnte, so wäre es höchstens der, daß einer der späteren Patriarchen 
Dionysius in der Inschrift gemeint wäre; das ist dann aber kunstgeschichtlich kaum möglich. 


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494 


S. G u v e r , 
# 9 


Als Beweis für ihr hohes Alter führt er noch das • Jakobskloster bei 
Urfah an * 5 ) sowie auch Surp Hagop, von dem er meint, daß es wegen 
der Kannelierung der Schäfte an den korinthischen Pilastern und andern 
in früher Zeit vorkommenden Einzelheiten sehr hoch in altchristliche Zeit 
heraufzurücken sei 16 ). Allerdings sind diese frühen Datierungen der meso- 
potamischen Denkmäler, die einem kein zutreffendes Bild des Werdens der 
mesopotamischen Kunst geben, von einigen stark angezweifelt worden * 7 ). 
Es ist daher angesichts so widersprechender Urteile von Wert, daß hier 
auf unzweideutige Weise ein urkundlicher Beweis 
erbracht ist, daß dieser konservativ klassische 
Stil bei den syrischen Christen bis tief in die is¬ 
lamische Zeit hinein in Übung geblieben ist l8 ). 

Von außerordentlicher Wichtigkeit ist es nun, daß wir uns durch Ver¬ 
gleich mit anderen Denkmälern über den Charakter dieses Stils bis in alle 
Einzelheiten hinein klar werden, denn nur so können wir an Hand der hier 
gewonnenen Erkenntnis auch die anderen Denkmäler danach beurteilen 

und uns über ihre mutmaßliche Entstehungszeit sowie über ihre entwick- 

% 

lungsgeschichtliche Bedeutung aussprechen. Die Hauptelemente, wie die 
meisten Profile (der Gurtbögen, des Chorbogens usw.), die Kapitelle, die 
Pilaster sind nun der Hauptsache nach den Motiven der syrisch-christlichen 
Kunst des 6. Jahrhunderts durchaus analog; das liegt so sehr auf der Hand, 
daß cs verlorene Zeit wäre, dies näher zu beweisen. Aber nur in der Haupt¬ 
sache, in manchen Einzelheiten liegen, im Vergleich mit den syrischen 
Kunstformen, Unterschiede vor; Unterschiede, die zwar keine neue Gedanken 
zeigen, sondern wohl eher als Mißverständnis und Degenerierung erklärt 
werden müssen. Hier muß nun gleich bemerkt werden, daß die Behandlung 
dieses Problems an und für sich sehr subtil ist; nicht nur weil die hier auf- 
tretcnden Formen den älteren oft außerordentlich ähnlich sind» sondern 
vor allem, weil sich diese Degenerierung nicht genetisch entwicklungsmäßig 
nach einer Richtung hin vollzieht. Daher kommt es, daß die Unselbständig¬ 
keit und Ungeschicklichkeit in der Wiedergabe der alten Formen wie bei 
allen absterbenden nur noch kopierenden Kunststilen sehr verschieden ist 
und der Zufall eine große Rolle spielt. So erscheint das gleiche Kapitell, 
das gleiche Profil an einem Orte mehr so, an einem anderen wieder etwas 


: 5) Es ist keine Rede davon, daß das Kloster aus so früher Zeit stammt. Es wird 
nicht viel älter als Surp Hagop sein. Der Grabturm hat mit der Kirche nichts zu tun. 

**) Amida, pag. 268/9. 

* 7 ) Vgl. besonders Herzfeld, in seiner Rezension des Amidabuches in der orienta- 
listischen Literaturzeitung, September 1911. 

* 8 ) Dies ist auch eine bemerkenswerte Parallele für den Gebrauch klassischer Formen 
bei den islamischen Bauten von Mshattä und Harran. 


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Surp Hagop (Djinndeirmene), eine Klosterruine der Kommagene. 


495 


anders degeneriert, und es handelt sich hier eben hauptsächlich darum, 
zu finden, was allgemein charakteristisch und typisch ist. Als weitere Schwie¬ 
rigkeit kommt dann noch hinzu, daß es an genügend veröffentlichtem Ma¬ 
terial fehlt, an dem man diese verschiedenen Verbildungen der hellenistischen 
Formen beobachten und vergleichen könnte. Die meisten bisherigen Publi¬ 
kationen lassen einen hier mehr oder weniger im Stich, da die betreffenden 
Bauglieder oft nicht in genügendem Maßstabe reproduziert sind. Ich muß 
daher von vornherein bitten, bei meinen Äußerungen im Auge zu behalten, 
daß es sich mehr um Versuche zur Darstellung der dieser späten Kunst 
typischen Merkmale handelt. 

Nehmen wir zuerst einmal die beiden Chorkapitclle. Sie weisen 
jenen rustikalen ungeschnittenen Akanthus auf, den wir schon an den helle¬ 
nistischen Bauten Syriens finden, der dann an den Kirchen des 5. und 6. Jahr¬ 
hunderts wiederkehrt * 9 ), und der sich später aus den hellenistischen Stilen 
in die des früheren Mittelalters, z. B. nach Spanien 3 °) und in die früh 
islamische Architektur 3 1 ) hinübergerettet hat. Sie sind im nördlichen 
Mesopotamien fast ebenso häufig. wie die korinthischen Girlandenkapitelle. 
Die meisten derselben scheinen nun aber, mit den vor 600 entstandenen 
syrischen verglichen, beträchtliche Unterschiede aufzuweisen. Die letzteren 
nähern sich in Höhe und besonders in ihren schön konkav geschwungenen 
Konturen den antiken Kapitellen; in der Mitte des Blattes ist immer eine 
sanft geschwellte Blattrippe, und das etwas spitz auslaufcnde Ende neigt 
sich nach vorne und rollt sich mit der äußersten Spitze fast ein wenig um. 
Davon weichen die mesopotamischen Stücke in allerhand Punkten ab: oft 
ist z. B. das Kapitell, besonders in den Höhendimensionen, und zwar schon 
im 6. Jahrhundert, viel gedrängter 3 l ); andere Male ist die Silhouette nicht 
mehr schön geschwungen, sondern die untere Blattreihe steht vollkommen 
vertikal und steif in die Höhe und die obere Reihe ist ebenso steif etwas 
auf die Seite geneigt 33 ). Das Hauptcharakteristikum sieht man aber — 
dies betrifft gerade die Stücke von Surp Hagop — bei der Behandlung 
des Blattes selber; zur Charakterisierung des Überhängens ist an der Spitze 
ein kleiner Einschnitt gemacht und hängt dann das herausgeschnittene 
Stück wie eine kleine Zunge herunter 34 ), eine Bildung, die sich auch an 

J 9 ) Nach Butler, pag. 28, *the most usual form«. 

3 °) Mehrere Beispiele bei Dehio und von Bezold, Die kirchliche Baukunst des Abend - 
andes, Tafel 34. 

3 1 ) Z. B. Harrän, vgl. Preuüer, Nordmesopotamische Baudenkmäler, Tafeln 74—76. 

3 *) Z. B. bei den Kapitellen des Umbaues der Sergiuskirche in Ru$äfah, vgl. Sarre 
in den Monatsheften für Kunstwissenschaft 1909, 2, pag. 101; sie sind vielleicht Spolicn. 

33 ) Z. B. die oben erwähnten Stücke von Harrftn. Im Tür *AbdIn vgl. Saläb, Preußcr 
lo. c. Tafel 47. 

3 ««) Parallelen: die oben erwähnten Stücke von Ru§äfah sowie in Halabiyyah; im 


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496 


S. Guvcr, 


korinthischen Kapitellen vermutlich bereits des 6. Jahrhunderts in Ru§äfah 
und Färqtn nachweisen läßt. Und statt der einen Blattrippe befinden sich 
mitunter — es scheint dies besonders in späterer Zeit der Fall zu sein — 
deren zwei, die unten an den beiden Ecken beginnen und sich kurz vor 
der Spitze, ein gleichschenkliges Dreieck bildend, wieder begegnen resp. 
sich vereinigen 35 ). 

Auch das Glied zwischen Kapitell und Pilaster hat 
im Vergleich zu den syrischen Denkmälern etwas anders geartete Formen. 
Das christliche Syrien verfährt da viel antiker, indem es gewöhnlich ein 
rundes Glied unter das Kapitell schiebt. In Mesopotamien ist dagegen, wie 
in Surp Hagop, dem Kapitell fast immer ein reich gebildetes Auflager unter - 
gestellt, bei den jüngeren Denkmälern wie hier, sehr oft eine Sima, gewöhn¬ 
lich mit Zahnfries; jedenfalls ist dieses letztere Motiv allein in Mesopotamien 
stereotyp. Gänzlich unantik ist auch die Art und Weise, wie die Kapi¬ 
telle des Schiffs einfach unter das Gesims in die Wand eingelassen 
sind, ohne daß ein Pilaster auch nur angedeutet wäre. Es kommt zwar 
zuweilen auch schon in Syrien vor, daß ein Kapitell in dieser Weise ohne 
dazugehörigen Pilaster angebracht wird; aber immerhin geschieht es dort 
wenigstens an der äußeren Ecke eines Gebäudes, so daß man mit dem Auge 
unwillkürlich den Pilaster ergänzt. Ich glaube aber doch kaum, daß sich 
ein syrischer Archtitekt getraut hätte, die Kapitelle so anzubringen wie 
in Surp Hagop. 

Auffallend ist ferner — wenn man von Syrien kommt — in Surp 
Hagop die häufige Verwendung des Zahnfrieses ; er kommt 
hier mehrmals vor: unter dem Kapitell, unter den Gesimsen, bei den Gurt- 
bögen. Im Altertum und auch im christlichen Syrien ist das Motiv ziemlich 
selten. Auch bei den älteren mesopotamischen Kirchen ist es nicht häufig 
angewandt. Dagegen finden wir es überall im Tür ‘Abdin, überall bei Urfah 
(eine dieser Kirchen ist aus dem Jahre 766/767 datiert 3 *); auch dies ein 
Hinweis, daß diese verschiedenen Bautengruppen zeitlich einander wohl 
nahestehen. 

Noch auffallender ist das Gesimsprofil der Apsis. Die Sima 
ist hier in zwei Glieder, oben Hohlkehle, unten Wulst, aufgelöst, die beide 
durch einen Steg verbunden sind. Es ist dies hier eine ganz vereinzelte 
Bildung 37 ); nur an der wohl auch jüngern Kirche von Nizib kenne ich ein 

Tür f Abdin; Häkh, ‘Adhräkirche; Saläh u. a. m. Die Beispiele ließen sich ins Unerme߬ 
liche steigern. 

35 ) Eine fast identische Behandlung an einem Kapitell des Narthex der ‘Adhrä 
kirche in Häkh. 

3 6 ) Ütsh Kiiiseh, vgl. Moritz o. c. pag. 135 ff. 

37 ) Ein Pfcilergcsims bei der aus dem Ende des 6. Jahrhunderts stammenden Kirche 


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Surp Hagop (Djinndeirraene), eine Klostenuinc der Kommagenc. 


497 


analoges Profil, das dort als Außengesims an der Apsis Verwendung ge¬ 
funden hat. Sonst findet man als Apsisgesims fast überall in der Gegend 
die Sima mit Zahnfries vor. Ich vermute fast, man habe hier wegen der 
Inschrift, die gerade in die Hohlkehle zu stehen kam, eine Ausnahme ge¬ 
macht. Unterhalb derselben wurde der Wulst und Kehle trennende Steg 
eingeschaltet, wodurch die Buchstaben oben und unten durch eine feste 
Linie begrenzt wurden. 

Ebenfalls in den Rahmen wahrscheinlich jüngerer 
Kunstformen gehört der Wulst (Abb. 12), der, soviel 
ich mich erinnere — meine Notizen sind hier nicht ganz 
klar — über dem Gesimse des Schiffes dem Tonnengewölbe 
als Auflager dient; er bildet gleichsam eine Art Basis. 

Das gleiche gilt von den das Tonnengewölbe be¬ 
gleitenden Quergurten; sie zeigen die syrische Sima 
mit zwei Zahnfriesen, eine Bildung, die ganz in den gleichen 
Charakter wie die übrigen Profile cinschlägt. 

Soweit die Details. Es fällt einem auf, wie sehr diese 
Schmuckformen — wieder im Gegensatz zu Syrien Abb. 1a. Auf- 

und im Einklang zu den Tür ‘Abdin-Bauten — mehr lager des ^ on 

. . nengewölbes 

innen statt außen angebracht sind. Wie kahl wirkt j m Hauptschiff 
doch neben der Apsis der ‘Adhräkirche in Häkh die der 1 : 13. 

Kirche von Turmänin, und wie reich erscheint im Vergleich 
zu der Mehrzahl der Tür ‘Abdin-Kirchen das Äußere der syrischen Bauten: 
es ist dies eine Parallele zu der im Mittelmeergebiet bereits früh einsetzen¬ 
den Vernachlässigung der Außenarchitektur, die speziell hier auch dadurch 
bedingt sein mag, daß m. E. die meisten in Frage stehenden Bauten erst 
unter islamischer Herrschaft entstanden sind. 

Über den Plantypus der Kirche will ich in einem besonderen Abschnitt 
reden; hier möchte ich aber doch noch bemerken, daß die großen Nischen 
an der Ostwand des Schiffs in den Quertonnenkirchen des Tür 
‘Abdin (Mär Gabriel und Saläh) ihre Analogien haben. 

Die kleinen mehr dekorativen Nischen in der Apsis und 
im Sanktuarium sind auch charakteristisch für jüngere Bauten. 
Die mittelalterlichen Bauten in Kilikien haben fast alle ähnliche Bildungen; 
der syrisch-christlichen Kunst sind sie hingegen vollkommen fremd. 

Ich fasse zusammen: im 9. Jahrhundert haben wir hier eine technisch 
recht hochstehende, durch und durch konservative Schultradition, die 
während der ganzen umayadischen Epoche und noch später die Motive 

von Nawa, ebenfalls aus Kehle und Wulst bestehend, differiert anscheinend stark mit 
unserem Stück; es soll wohl eine syrische Sima vorstellen. Vgl. Ancient Architecturc in 
Syria Sect. B. Part. I, pag. 14. 



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49 8 


S. Guyer, 


des syrisch-christlichen Hellenismus bewahrt, aber nicht bereichert hat. 
Der Unterschied gegenüber der älteren Kunst besteht mehr in einigen Bar- 
barisierungen sowie mitunter in einer gewissen trocken-schematischen, etwas 
monoton-stereotyp wirkenden Formgebung. 

V. Konsequenzen für die Datierung und Bewertung 
der anderen mesopotamischen Bauten. 

Dieses Resultat wirkt umwälzend auf unsere Anschauungen über die 
Entstehungszeit der nordmesopotamischen Kirchen im Tür ‘Abdin und in 
derOsrhoene. WennSurpHagop so jung ist, dann müssen 
auch viele jener anderen östlichen Kirchen um 
Jahrhunderte jünger sein als Strzygowski ange¬ 
nommen hat. Strzygowski hat jene Bauten in eine Reihe verschiedener 
Typen eingeteilt, denen er ein sehr hohes Alter und infolgedessen hohe 
entwicklungsgeschichtliche Bedeutung beimißt. 

Ich folge seiner Einteilung. 

Erstens die Quertonnenkirche. Ich beginne mit demjenigen 
Bau, der am meisten Ähnlichkeit mit Surp Hagop besitzt: der dem gleichen 
Heiligen geweihten Kirche von S a 1 S h. 3 8 ) Die Proportionen, die weit¬ 
räumige Anlage des Sanktuariums 39 ) erinnern stark an Surp Hagop. Die 
Profile der Archivolten und Gesimse sind fast gleich; die Kapitelle der 
Sanktuariumstür weisen genau die gleichen Eigentümlichkeiten auf; bei denen 
der Apsis fehlt wie bei denen des Schiffes des kommagenischen Baus der 
Pilaster. Die schmalen Schlitzfenster erinnern trotz der antikisierenden, sie 
umkleidenden Profile an mittelbyzantinische Bildungen. Alles Umstände, 
die es wahrscheinlich machen, daß Saläh auch erst ungefähr zur selben Zeit 
wie Surp Hagop entstanden sein kann. Auch jene schön skulptierten Pilaster 
rechts und links der Sanktuariumstür sprechen nicht dagegen. Abgesehen 
davon, daß sie Spolien eines älteren Baues sein können, was ich zwar kaum 
glaube, ist uns das Fortbestehen der alten Steinmetztraditionen durch die 
Fassaden von Amida und Mshattä genügend gewährleistet. Sehr wird 
diese Hypothese gleichzeitiger Entstehung durch den epigraphischen Befund 
bestärkt; Pognon 4 °) konstatierte im Narthex II Grabinschriften des io. 
und II. Jahrhunderts, so daß m. E. als ziemlich bestimmt anzunehmen 
ist, daß die Kirche kurz vorher entstanden ist. Daß Mär GabrieM 1 ) 

3 8 ) Vgl. die Aufnahmen von Miß G. L. Bell bei v. Berchcm-Strzygowski, Amida 
p. 236 ff., und Prcußer. o. c. pag. 33 fl. 

39 ) Besonders der l‘rnstand. daß der Apsis mit dem Altar ein Y'orchor wie in Surp 
Hagop vorgelagert ist. 

4 °) Pognon, Inscriptions de la Mesopotamic pag. 62 IT. 

*') Amida, pag. 230 fl.; Prcußer, pag. 31 fl. 


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Surp Hagop (Djinndeirmene), eine Klosterruine der Kommagene. 


499 


älter ist als Saläh, ist wohl als zweifellos anzunehmen * J ). Ob aber der 
jetzige Bau wirklich auf Anastasius zurückgeht, ist nicht vollkommen 
sicher. Eine Berliner Handschrift, die von diesem Bau im Jahre 511/512 
berichtet 43 ), scheint nicht in allem zur jetzt sehenden Kirche zu stimmen, 
und es ist daher sehr gut möglich, daß die Erinnerung an den Abt Gabriel 
und an den Kalifen ‘Umar, die sich in den Namen Mär Gabriel und Dair 
al-Umr ausspricht, mit einem Neubau zu jener Zeit, also Anfang des 7- Jahr¬ 
hunderts, in Beziehung zu bringen ist. Andrerseits aber könnte ich mir 
doch leicht denken, daß dieses ungefüge Bauwerk, das kein einziges archi¬ 
tektonisches Profil aufweist, das früheste aller Tür ‘Abdin-Bauten wäre; 
cs würde uns zeigen, wie man Anfangs des 6. Jahrhunderts in jener Gebirgs¬ 
gegend architektonische Aufgaben löste. — Kaum eine Tagereise von Mär 
Gabriel entfernt ist eine ähnliche Quertonnenkirche, die ich wegen des 
ganz analog gebildeten Sanktuariums ebenfalls für sehr alt ansah: Mär 
B a s c h i u s. Die Technik ist ebenfalls roh und fehlt auch das dürftigste 
Profil. Ergebnis : Die ältesten Quertonnenkirchen des Tür ‘Abdin 
lassen sich frühestens im Anfang des 6. mit Sicherheit erst im 7. Jahr¬ 
hundert nachweisen. 

Zweitens: Die tonnengewölbte Saalkirche. Hier sei 
gleich anfangs bemerkt, daß die eingebauten Strebepfeiler samt Tonnen¬ 
gewölben sämtlich jung zu sein scheinen. Auch die Umfassungsmauern 
sind bei einigen Bauten etwas problematisch. Von Bautenwie MärSo vom) 
in IJäkh als auch von K a f r Z a h 45) ist es schwer, ein bestimmtes Datum 
anzugeben. Mir persönlich scheint es kaum möglich, daß sie vor dem 7. Jahr¬ 
hundert entstanden wären; besonders die Apsisgesimse scheinen mir dies 
nahezulegen 46 ). Für noch jünger halte ich die Kirche von Arnas 47 ). 
Ich glaube schwerlich, daß sie vor dem 8. Jahrhundert entstanden sein 
kann. Der Blattschnitt der Kapitelle, die Art und Weise, wie dieselben 
auf das sich darunter verkröpfende Gesims gestellt sind, ist doch sehr weit 
von den klassischen Traditionen des 6. Jahrhunderts entfernt. Strzygowski 
hat nun den Bau von Arnas zum Ausgangspunkt seiner Untersuchungen 


«*) Die Bildung des Sanctuariums ist mit Salami verglichen sehr altertümlich. Ein 
zweites Kriterium für ein höheres Alter bilden die Mosaiken. 

43 ) Gütige Mitteilung von Herrn Dr. Anton Baumstark. — Ist dieses Ms. wohl 
identisch mit dem von Socin (DMG 1835) pag. 252 erwähnten Karschunischcn Ms. ? 

«) Aufnahmen Miß Beils im Amidabuche pag. 243 ff. 

45 ) Aufnahmen Miß Beils im Amidabuche pag. 250 ff. 

4 6 ) Überall das Schema Sima-Wulst-Sima, die Sima schon fast Hohlkehle mit 
Palmettenornament. Weder das 6. Jahrhundert in Syrien noch auch die Kirchen von 
Ru^äfah und Färqln kennen derartige Apsisgesimse. 

47 ) Aufnahmen Miß Beils im Amidabuche pag. 247 ff. 

Repertorium für Kunstwissenschaft, XXXV. 3.3 


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500 


S. Guycr, 


über die Entstehungszeit der Tür ‘Abdin-Kirchen gemacht, und man möge 
mir daher verzeihen, wenn ich hier etwas weitläufiger werde. Da der Chor- 
verschluß mit seinen geometrischen Ornamenten durch eine von Pognon 4 *) 
veröffentlichte Inschrift in das 8. Jahrhundert datiert sei, nahm Strzy- 
gowski an, der Chorbogen müsse »um Jahrhunderte älter« sein. Mit einem 
bin ich einverstanden: Chorbogen und Chorverschluß liegen um Jahrhunderte 
auseinander. Sehen wir uns nun aber den Architrav dieses Chorverschlusses 
näher an; die Hauptfläche wird von rein geometrischen, in Quadraten ein- 
geordneten Ornamenten eingenommen, darüber und auf der Seite als Rah¬ 
menmotiv ein rohes Stalaktitenornament. Man denke: Stalaktiten als 
Umrahmung im 8. Jahrhundert, vor der Ibn Tülün, vor Samarra! Ich 
denke, es wird niemand widersprechen, wenn ich diesen Chorverschluß 
in das spätere Mittelalter, etwa 14. Jahrhundert, datiere. Es ist also gar 
nicht anders möglich, als daß die erwähnte Inschrift eine Spolie ist. Und 
nun wird uns alles klar: als man in mittelalterlicher Zeit jenen Chorver¬ 
schluß errichtete, benützte man dazu wohl auch die Bauinschrift eines 
früheren Baus, wohl desjenigen, von dem die jetzige Apsis stammt, von 
der ich annahm, daß sie dem 8. Jahrhundert nahestehe. — Mär Augen 
und Mär Yuhannä werden eher noch etwas jünger sein. Von Mär 

Augen 49 ) sind zwar die Details schlechter als sonstwo erhalten, aber das 
* 

wenige noch Sichtbare beweist ohne weiteres die Zugehörigkeit zur gleichen 
Schule. Mär Yuhannä 5 °) habe ich leider nicht besucht, aber wie Herzfeld 
richtig bemerkt 5 ‘), w r eisen die Ziegeltrompen des Kuppelgewölbes im 
Narthex auf eine jüngere Zeit, aus der wohl der ganze Bau stammt. 

Ergebnis : Die noch vorhandenen ursprünglich flachgedeckten 
Bauten des Tür ‘Abdin-Gebietes lassen uns vermuten, daß dieser Typus 
während der ganzen byzantinischen Epoche dort bekannt war. Wann und 
wo die ersten derselben überwölbt wurden, ist schwer zu sagen; die justini¬ 
anische und die derselben vorhergehende Zeit kommt hierfür nicht in Be¬ 
tracht. Vielleicht kannte man in den darauffolgenden Jahrhunderten ein¬ 
zelne solcher Gewölbebauten 5 »); die Saalkirchen des Tur ‘Abdin-Gebietes 
wurden jedoch wahrscheinlich erst im Mittelalter eingewölbt. 

Drittens: die Kuppelbauten. Erst zwei Bauten mit richtigen 
Trompenkuppeln: Erstens der schon erwähnte Narthex von Mär 


4 ®) Pognon o. c. pag. 99 . 

49 ) Amidabuch, pag. 225. 

5 °) Amidabuch, pag. 230. 

5 1 ) In der O. L. Z. September 1911, pag. 412. 

* a ) Kümmerliche Fundamentreste eines solchen Baues fand ich auf dem Nimrüd 
Dagh beim Kloster Mar Yaqüb. Seine Profile weisen auf eine Epoche, die schon ziemlich 
entfernt von der justinianischen Zeit ist. 


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Surp Hagop (Djinndeinnene), eine Klosterruine der Kommagene. 


501 


Yuhanna, für den man wohl etwa das 8. Jahrhundert als terminus 
a quo annehmen muß. Dann die ‘Adhrä-Kirche von Häkh 53 ). 
Hier läßt sich aus dem Vorkommen der Trompen allein kein sicherer 
Schluß auf spätere Entstehung ziehen, da es nicht über allem Zweifel steht, 
ob sie gleichzeitig mit dem übrigen Bau sind. Aber schon die ganze Plan- 
anlage (offener Narthex, quergelegtes Schiff, Chor und Pastophorien), dann 
die Technik (Ziegelwölbung des Narthex), die verschiedenen Schmuckformen 
(rustikale Kapitelle fast identisch mit denen von Surp Hagop usw. usw.) 
lassen es uns als fast sicher erscheinen, daß er in die gleiche Schule wie die 
anderen Tür ‘Abdin-Bauten gehört. Was dagegen die ä 11 e r e n Zentral¬ 
anlagen von N a s i b I n 54 ) und D a i r e z Z a *f a r ä n 55 ) anbetrifft, so 
sind sie trotz ihres dekorativen Reichtums in baulicher Hinsicht das ein- 
fachst Denkbare. Wahrscheinlich hattp damals überhaupt keine eine Kuppel. 
— Nur noch kurz möchte ich andeuten, daß auch noch zwei Kuppelbauten 
von Amida selber ganz sicher dem späteren Mittelalter angehören: der 
Kuppeleinbau der jakobitischen Kirche 5 6 ) und die so - 
genannte Nestorianerkirche 57 ). Über die großen städtischen 
Zentralbauten später. Also auch hier das Ergebnis, daß gerade 
jene entwickelteren Bauten mit Trompenkuppeln in Nordmesopotamien 
der späteren Zeit angehören. 

Und die Basilika? Fest steht es, daß in den mesopotamischen 
Städten solche w’aren; ja ich vermute, daß es die übliche Bauform der Ge¬ 
meindekirchen im 6. Jahrhundert war. In F ä r q ! n nahm ich eine solche 
auf, die Khosrau II. erbaut hat; gleichzeitig mögen diejenigen von 
Rusäfah und IJalabiyyah sein; sicher ist auch die Kosmaskirche in D i - 
y ä r b a k r 5 8 ) als solche zu ergänzen, und zwar wahrscheinlich nicht wie 
die anderen als Pfeiler-, sondern als Säulenbasilika. Auch auf dem Lande 
mögen da und dort Basiliken gewesen sein; ich kenne zwar nur wenige 
und jüngere Beispiele, die aber doch vermuten lassen, daß auch 
in früherer Zeit solche da waren. 


53 ) Amidabuch, pag. 258 ff. 

54 ) Preußer o. c. pag. 40 ff. Taf. 49 ff. 

55 ) Preußer o. c. pag. 49 ff. Taf. 62 ff. 

5 6 ) Amidabuch, pag. 187 ff.; Plan, pag. 192. Der achteckige Einbau hat mit der 
ursprünglichen Saalanlage nichts zu tun; er entstammt wohl dem Mittelalter. Seine Pfeiler 
verdecken auf sehr häßliche Weise die Kapitelle und den Triumphbogen der Apsis. 
Miß Bell hat dies schon erkannt, hat aber irrtümlicherweise auf ihrer Planskizze den 
Einbau als gleich alt wie die Apsis angegeben. Darum habe ich dies hier nochmals klar¬ 
stellen wollen. 

57 ) Amidabuch, pag. 173 ff. 

5 ®) Amidabuch, pag. 167 ff. 

33 * 


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502 


S. G u y e r , 


Wir sehen somit, daß die geläufigen Typen aus 
der Zeit vor 600 wahrscheinlich nur der Querton¬ 
nentypus für Klosterkirchen, die Basilika und der 
einschiffige flachgedeckte Saal 59 ) für Gemeinde¬ 
kirchen waren; mit Ausnahme der Quertonnen- 
kirche, die architekturgeschichtlich nur rein loka¬ 
le Bedeutung hat, lauter Typen, die auch in Syrien, 
und dort viel früher und in viel reicherer Ausbil¬ 
dung Vorkommen. Das gleiche gilt, wie weiter unten gezeigt werden 
soll, auch von den sporadisch vorkommenden größeren Zentralbauten. 
Daher ist auch nicht der Nachweis erbracht, daß 
die mesopotamischen Bauten tiefgreifend an der 
Entwicklung der christli c^h en Kunst teilgenommen 
hätten. Nirgends scheinen sie Anregungen gegeben zu haben, sie haben 
nur empfangen. Sie haben die erhaltenen Formen, wenn auch zeitweise 
mit ziemlicher technischer Fertigkeit, stereotyp und schematisch durch 
Jahrhunderte und Jahrhunderte wiederholt, und zeigen uns so in ihren 
letzten Repräsentanten das Bild eines dürren abgestorbenen Zweiges der 
christlichen Architektur. 

Vor allem kann ich nicht glauben, daß Mesopo¬ 
tamien auf dem Gebiete des Gewölbebaucs Führer 
gewesen wäre. Wenn z. B. Strzygowski sagt, daß sich heute b e - 
weisen lasse, daß Mesopotamien der Ausgangspunkt der »romanischen 
Gewölbekunst« sei 6o ), so entspricht dieser Ausspruch in dieser absoluten 
und präzisen Form nicht den Tatsachen. Denn gerade in der in Betracht 
fallenden Zeit scheint man in Mesopotamien bei den Gemeindekirchen dem 
syrischen Beispiele gefolgt zu sein und hat alle Längskirchen flachgedeckt. 
Höchstens bei den Klosterkirchen mit quergelegtem Schiffe läßt sich früh¬ 
zeitige Entstehung vermuten, aber gerade dieser Typus ist anscheinend ohne 
jede Nachfolge geblieben. Selbst für Kleinasien glaube ich kaum, daß hier 
in Mesopotamien das Stammland der W r ölbung zu suchen ist, da die klein- 
asiatischen Kirchen älter sind als die mesopotamischen. (Kirche I. aus 
Binbirkilise mit Inschriften des saec. V.) Ganz gleich liegt es auf dem 
Gebiet des Dekorativen in der Architektur. Auch hier ist alles von Syrien, 
einiges wenige vom Mittclmeerkrcis cingedrungen. Import ist aber alles. 


59 ) Sicher datierte Beispiele vor 600 gibt es in Mesopotamien zwar nicht. Doch 
ist anzunehmen, daß wohl ebenso wie in Syrien solche schon sehr früh da waren, 
ln Elif nahm ich einen solchen Bau auf, der bald nach 150 p. Chr. entstanden sein mag. 

6°) J. Strzygowski, Der Eintritt Mesopotamiens in die Kunstgeschichte, ln den 
Monatsheften für Kunstwissenschaft, Januar 1910, pag. 2. 


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Surp Hagop (Djinndeirmene), eine Klosterruine der Kommagene. 


503 


Eine Einwendung könnte man machen: man kann sagen, daß die 
paar großen Städtebauten in Amida, Rusäfah, Wirän- 
s h a r dafür sprechen, daß eine mächtige schöpferische Kraft der dortigen 
Kunst innewohnte 6l ). Nun scheinen mir aber gerade diese Bauten mehrere 
Züge zu tragen, die darauf hinweisen, daß sie nicht als spezifisch mesopo- 
tamische anzusehen sintl. Die Zentralkirche von Rusäfah ist zwar 
allerdings von einheimischen Steinmetzen erbaut worden, aber der Plan¬ 
typus dieses wahrscheinlich erst nach Justinian entstandenen Baues 6l ) zeigt 
Zusammenhänge mit dem im Mittelmeerkreise entstandenen Typus der 
Kuppelbasilika. Gleich liegen die Beziehungen beim heutigen Hofe der 
jakobitischen Marienkirche in Amida: auch hier ein zentrali¬ 
sierendes Schiff mit apsidialen Ausbuchtungen und langgestrecktem Chor. 
Auch das dritte Beispiel W iränshahr, bei dem, nebenbei bemerkt, die 
Durchbildung der Details namenlos dürftig ist, zeigt durch seinen Grundriß 
ebenfalls Übereinstimmungen mit den im Westen errichteten Zentralkirchen 6 3 ) 
Und warum sollten nicht auch die Großstädte des Westens in mächtigen 
Dimensionen erbaute Monumentalkirchen gehabt haben? Ganz abgesehen 
davon, daß sich Qal‘at Sim‘än ohne weiteres neben die erwähnten großen 
mesopotamischen Bauten stellen kann, müssen wir uns immer vor Augen 
halten, daß wir bis jetzt schließlich nur die Bauten von kleinen Landstädten, 
von Villenorten usw. kennen. Die Madrasah al-yaläwiyyah, die von Herz¬ 
feld auf der von Sobernheim unternommenen Expedition nach Aleppo auf¬ 
genommen wurde, zeigt einem, daß solche Stadtkirchen ganz andere uns 
bisher unbekannte Plantypen aufweisen, und von Horns erzählt mir Herz- 
feld, daß die dortige Hauptmoschee Reste eines vorislamischen Baues von 
mächtigen Dimensionen mit mehreren Querschiffen enthalte. Und was 
wollen wir überhaupt über christlich - syrische Monu¬ 
mentalbauten reden, bevor wir in Antiochia gegraben 
haben?? 

VI. Das Orientalische an Surp Hagop. 

Der Grundriß. 

Im Amidabuch haben sowohl Miß Bell als auch Strzygowski darauf 
hingewiesen, daß die Quertonnenkirchen mit keinem der üblichen Kirchen- 
grundrissc etwas zu tun haben, und vielmehr auffallende Ähnlichkeit mit 


6l ) Vgl. das Kapitel »Die zentralen Riesenbauten der Städte« im Amidabuchc 
pag. 219 ff. 

Der Bauformen wegen können die Bauten von Rusäfah erst aus der Zeit kurz 
vor 600 stammen. 

* 3 ) Man denke z. B. an die von Euscb (vita Const. III. 50) beschriebene Kirche zu 
Antiochia. 


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504 


S. Guyer, 


babylonischen Tempelanlagen aufweisen. Und mit einigem Recht: Das 
quergelegte Schiff dieser christlichen Kirchen enspricht dem Hekal, die 
Altarzelle dem Kebir, mit der Ausnahme, daß die Proportionen natürlich 
etwas andere sind. Und zwar ist diese Ähnlichkeit nicht nur eine rein äußer¬ 
liche, denn es ist nicht von vornherein von der Hand zu weisen, daß die 
betreffenden Plantypen vielleicht auch geschichtlich miteinander Zusammen¬ 
hängen könnten. So viel ich mich nun erinnere, ist es noch nicht unternommen 
worden, die verbindenden Mittelglieder zwischen dem alten Babylonien und 
den christlichen Klöstern zu erwähnen; eine Anzahl dieser Mittelglieder 
sind von Kohl zusammenhängend publiziert worden 6 4 ). Es sind dies eine 
Anzahl klassischer antiker Tempelanlagen in der Gegend von Petra, südlich 
des Toten Meers; Qa?r Fir'aun in Petra 6 S), Qa$r Rabbä w ), außerdem viel- 
leicht ein Tempel von Mhayy * 7 ) und eine Ruine von Tawäne 68 ). Die beiden 
ersten bestehen aus einem Adyton mit zwei Nebenräumen, einem quer 
davorgestellten oblongen Raum und einer Vorhalle, die bei Qa§r Rabbä 
von zwei Treppentürmchen flankiert wird. Über die beiden anderen, von 
denen nicht ganz feststeht, ob sie diesem Typus angehören, vgl. Kohl, 
pag. 36—37. Im Vergleich zu den Quertonnenkirchen sind nun diese Tempel 
etwas größer und wohl auch höher (einzelne Teile wie die Nebenräume 

scheinen zweistöckig gewesen zu sein). Außerdem sind auch die Proportionen 

♦ 

etwas andere, der Hauptraum ist im Verhältnis zur Gesamtanlage etwas 
schmäler als bei den christlichen Beispielen und bildet also auch in der 
Beziehung ein Mittelglied; er ist flachgedeckt. Wenn nun auch zwischen 
den babylonischen und den peträischen Beispielen ein Zeitraum von fast 
einem Jahrtausend liegt, so möchte ich doch dieser Hypothese einige Wahr¬ 
scheinlichkeit zuerkennen, und zwar in erster Linie, weil gerade die Naba- 
taeer als Handelsvolk die Vermittler zwischen dem Zweistromgebiet und den 
Mittelmeerländern waren 6 9 ). 

Wieso kommt es aber, daß derselbe Grundriß dann plötzlich im Kloster¬ 
bau des nördlichen Mesopotamiens auftaucht? Denn daß wir cs mit dem 
gleichen Typus zu tun haben, ist ja zweifellos; mit Ausnahme der Wölbung 
und einiger damit zusammenhängender, geringfügiger Verschiebungen in 
den Proportionen, haben wir cs genau mit dem gleichen Plane zu tun. Ist 


* 4 ) Heinrich Kohl, Kasr Firaun, 13.WISS. Veröffentlichung der D. O. G. Leipzig 1910. 

6 5) Kohl, pag. 2, sowie Brünnow und v. Domaszewski, provincia arabia I, pag. 175 ff. 

66 ) Kohl pag. 25 sowie Brünnow und v. Domaszewski, provincia arabia I, 
pag. 46 ff., außerdem bei Dussaud, Les arabes, fig. 32 . 

6 7 ) Brünnow und v. Domaszewski! o. c. I, pag. 70 ff. 
w ) Brünnow und v. Domaszewski, o. c. I, pag. 88 f. 

* 9 ) Vgl. über diese Frage Rubens Duval, Histoire politique religieuse et litterairc 
d’Edesse, pag. 24 ff. 


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Surp Hagop (Djinndeirmene), eine Klosterruine der Kommagene. 


505 


er nun am Ende auch hier direkt von Babylonien -— durch Vermittlung 
der partischen oder persischen Kunst — nach dem nördlichen Mesopotamien 
gewandert? Zum Belegen einer solchen Annahme fehlen nun alle Denk¬ 
mäler; wahrscheinlicher scheint es mir, daß das nördliche Mesopotamien 
diese Quertonnenanlagen aus dem Süden, vielleicht aus der peträischen 
Gegend übernommen hätte. Ernst Herzfeld bringt mich auf die richtige 
Spur, er schreibt mir: Könnte der Typus nicht vom Sinai hergekommen 
sein? Ich füge hinzu: Wohl durch Vermittlung von Ägypten. Dort ist 
das älteste Klosterland, dorthin weisen die Gründungssagen der Tür ‘Abdin- 
klöster, dort läßt sich wahrscheinlich der Kirchentypus mit quergelegtem 
Schiff bei den ältesten Lauren nachweisen 7 °), dort finden wir bis in späte 
Zeiten hinein einen Nachklang dieses Typus bei fast allen Klosterkirchen 7 ‘). 

In Mär Gabriel mag wohl die erste dieser, wie ich annehme, nach dem 
Vorbild der ägyptischen Lauren errichtete Klosterkirche erbaut worden sein; 
von dort aus hat sich der Typus dann im ganzen Tür ‘Abdin verbreitet. 
Eine ganze Anzahl solcher Kirchen sind jetzt nachzuweisen; außer den 
reicheren Bauten der späteren Zeit (SaläJj, Surp Hagop, Ambara 7 *)) auch 
einige bescheidenere kleineren Bauten, bei denen die Bestimmung der Bau¬ 
zeit kaum möglich ist (Mär Ibrahim bei Midiat, Mär Melko, Mär Elia in 
der Nähe des letzteren, die beiden letztgenannten mit Krypten). Auch 
in der Osrhoene waren diese Querschiffkirchen bekannt (Shabaka, Caper* 
sana 73 )); allerdings wurde dort mehr nach syrischer Weise das Sanktuarium 
nicht durch eine Wand vom Schiff getrennt und war das Schiff nicht ge¬ 
wölbt. Eine Mittelstellung nimmt die ‘Adhräkirchc von Häkh ein, bei der 
Einflüsse von den verschiedensten Seiten sich zu kreuzen scheinen. 

Beim ganzen Entwicklungsgang dieses Typus möchte ich noch auf 
eines die Aufmerksamkeit lenken: es ist nicht das einzige und erste Mal, 
daß die altorientalische Kunst der werdenden hellenistisch-christlichen 
einen Grundriß gegeben hat. In nichts tritt eine solche Anhänglichkeit am 
Alten, ein so konservativer Geist hervor wie im Beibehalten der Plantypen. 
Die Kunstgeschichte kann viel davon erzählen: Wie hat sich z. B. der Plan 
der christlichen Basilika durch alle Zeiten und alle Stilarten hindurch er- 


7 °) Vgl. Gayet, l'art copte, fig. pag. 334. — M. Alex. Gayet hatte die Freundlich¬ 
keit, mir einige nähere Auskunft über diese Laura des hlg. Makarius zu geben. Er schreibt 
mir u. a.: toutefois je crois fermement que la disposition du plan qui vous interesse est 
ancienne, les soubassemen ts, pour moi, sont du temps de Macairc. 

7 1 ) Vgl. Gayet, Tart copte, pag. 141 ff. 

7 *) In der Nähe von Dara zwischen Mardin und Nasibln. Wird nächstens von Dr. 
Hinrichs, Mitglied der Assur-Expedition veröffentlicht werden. 

73 ) Ich werde diese Bauten in meinem Bericht über meine mesopotamische Reise 
veröffentlichen. 


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506 


S. Guycr, 


halten. Die Kunststile kommen, werden und vergehen, und die Grund¬ 
risse bleiben dieselben. Wie ist im Orient z. B. der Typus des Iwans durch 
die Jahrtausende hindurch unverändert geblieben, von Persepolis in die 
Kalifenzeit und bis in unsere Tage. Oder der Typus der hettitischen Hiläni, 
der Vorhalle mit der Mittelstütze und den beiden seitlichen Türmen. In 
Sendjirli sehen wir ihn, dann übernimmt ihn die christliche Kirchenbau¬ 
kunst des Inneren von Kleinasien, und noch heute weisen die elenden Bauern- 
hütten in den Taurusbergen dieses Motiv einer Vorhalle mit Mittelsäule auf. 

Aber trotz dieser Konstatierung des Eindringens einer altorientalischen 
Planform in den christlichen Klosterbau wäre es meiner Meinung nach 
verfehlt, dieser Tatsache eine große kunstgeschichtliche Bedeutung bei- 
messen zu wollen. Gerade die eben angeführten Beispiele zeigen uns klar, 
daß sich solche Plantypen ganz unabhängig von der künst¬ 
lerischen Entwicklung weitcrerhaltcn haben. Wenn wir z. B. 
heute im islamischen Hausbau Iwanc antreffen, so folgt nicht daraus, daß 
wir bei diesen Häusern von persischen Kunsteinflüssen reden dürfen, und 
wenn die hettitischen Hiläni an kleinasiatischen Kirchen Vorkommen, so 
folgt ebensowenig daraus, daß diese Kirchen Einflüsse hettitischer Kunst 
zeigen. Grundrißmotive wie diese Vorhallen, wie die Iwane verdanken 
eben ausschließlich praktischen Gründen ihre Entstehung und nicht 
künstlerischen. Sie stehen in keinem direkten Zusammenhang mit 
der Entwicklung der künstlerischen Ideen und sind teils ihrer praktischen 
Vorteile wegen, teils aus Gewohnheit beibehalten worden. — Die Kunst 
der verschiedenen Bauperioden hat dann diese althergebrachten Grund¬ 
risse verwertet, hat sie zum Teil dekorativ, zum Teil auch architektonisch 
ausgestaltet 74). So war es auch mit dem in Frage stehenden Plantypus 
geschehen. Er allein war — wohl aus kultischen Gründen — als praktisch 
empfunden worden. Von einer künstlerischen Einwirkung Baby¬ 
loniens merken wir im peträischen Arabien nichts. Im Gegenteil: die ganze 
künstlerische Ausgestaltung war hellenistisch und hatte mit Babylonien 
rein gar nichts zu tun. Und ebensowenig wir in Petra von einer Babyioni¬ 
sierung jener hellenistischen Kunst sprechen dürfen, ebensowenig 

74 ) Damit will ich natürlich nicht ganz allgemein behaupten, daß die Architekten 
die Grundrisse als etwas von vornherein Feststehendes betrachtet hätten. Im Gegenteil 
gerade in den am höchsten stehenden Kunstepochen, w r enn es sich um größere Baukomplexe 
handelte, bei denen es galt, die verschiedenen Räume in Beziehung zueinander zu bringen, 
sie zu einer Einheit zusarnmcnzuschmelzen, da hat die Kunst — mir schweben hier z. B. 
die Aufgaben des Zcntralbaus vor Augen — tiefeingreifend auf die Grundrißgestaltung 
cingewirkt und dieselbe bestimmt. Dies war aber nur bei einer hochentwickelten, ja raffi¬ 
nierten Kunst möglich, wie beim späteren Hellenismus, oder bei den Meistern der Hoch¬ 
renaissance. — Bei dem in Frage stehenden Typus ist aber keine Rede hiervon. 


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Surp Hagop (Djinndeirmcne), eine Klosterruine der Kommagene. 


507 


können wir von einem Einschlag orientalischer Kunst bei 
Bauten wie Surp Hagop reden. 

Mit diesen letzten Untersuchungen habe ich schon weit den Rahmen 
einer monographischen Behandlung überschritten und mich mitten in die 
Fragen und Probleme hineinbegeben, die Strzygowski in seinem Amidabuche 
aufgerollt hat. Hellas oder Orient? In diesen Worten ist die wichtigste 
aller dieser Fragen zusammengefaßt, und wenn ich mit meiner Ansicht, 
die sich mit Strzygowskis Resultaten nicht deckt, so offen hervorgetreten 
bin, so geschah das sicher nicht im Bestreben, irgendwelche Fehler in Strzy¬ 
gowskis Amida zu suchen. Ich anerkenne im Gegenteil gerne, daß dies 
das erste Werk ist, das uns mit dem einschlägigen Material bekannt gemacht, 
und daß hier auch der erste Versuch einer historischen Erklärung gemacht 
worden ist. Es liegt daher wohl im Sinne des Verfassers, bei Kenntnis 
neuer Denkmäler nicht stillezustehen, sondern den aufgeworfenen Fragen 
weiter nachzugehen, sich redlich zu bemühen, ihnen auf dem als richtig 
erkannten Wege beizukommen. Mehrmals bin ich durch jene Gegenden 
gezogen und habe auf Grund alles dessen, was ich erfaßt und erschaut habe, 
immer mehr den Eindruck gewonnen, wie stark und mächtig als treibende 
Kraft überall noch das hellenistische Element wirksam ist; Säulen, Kapitelle, 
Gebälke, Profile, kurz alles das, was einen Bau zum Kunst¬ 
werk macht, wurzelt in hellenistischen Bautraditionen. 
Wir dürfen deshalb auch keinen so großen Unterschied zwischen den 
syrischen Bauten und den mesopotamischen machen, indem wir letztere 
als orientalisch beeinflußt ansehen. Syrische und mesopotamische Bauten 
sind gerade zur Zeit der höchsten Blüte der mesopotamischen Archi¬ 
tektur um 600 sehr nahe miteinander verwandt. Die ganzen weiten 
Gebiete östlich des Mittelmeers von den syrischen Bergländern bis gegen 
Persien und Armenien hin bilden baukünstlerisch eine große Familie, die 
gerade gegenüber Byzanz und dem Mittelmeerkreis ihren eigenen, in weit 
konservativeren Bahnen sich bewegenden Weg geht. Wohl gibt es in dieser 
Familie kleinere Differenzierungen: die Bergländer Zentralsyriens, die Bauten 
am mittleren Euphratlauf, die Städte am Nordrand der Djazirah, die nörd¬ 
lichen Tigrisgebiete mit Amida und Martyropolis, alle diese Gegenden bilden 
wieder in sich abgeschlossene Gruppen, die sich in Einzelheiten von den 
anderen unterscheiden. Aber aus allen tönt ein starker gemeinsamer Grund- 
ton; das Gemeinsame überwiegt weit alle individuelle Besonderheit. Man 
spürt, man fühlt förmlich den gemeinsamen Brennpunkt, das Ausstrahlungs- 
zentrum, von dem aus diese Kunst ihren Weg genommen hat, um mit ihrem 
letzten Rest von Lebenskraft diese entferntesten Lande in ihren Lichtkreis 
zu ziehen, um sie neu zu beleben und zu beleuchten. Dieses Ausstrahlungs- 
zentrum war A n t i o c h i a, die Metropole Syriens, von deren Größe und Pracht 


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cq8 S. Guy er, Surp Hagop (Djinndeirmene), eine Klosterruiue der Kominagene. 


uns so viele literarische Nachrichten erzählen, die uns Kunsthistorikern 
verschlossen ist und vielleicht immer verschlossen bleiben wird. Und dies 
gibt uns die Pflicht, uns auch mit den vielen Bauten an der Peripherie, in 
den »Hinterländern« zu befassen, in denen allein wir noch die Baugedanken 
der Zentren verkörpert sehen. Ich hoffe daher, daß auch diese Zeilen uns 
wieder einen Schritt weiter bringen, und uns zeigen, welche Ziele wir fest 
ins Auge zu nehmen haben, um die christliche Kunst Mesopotamiens richtig 
zu verstehen und zu begreifen. 


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Der ,.Fürst der Welt“ in der Vorhalle des Münsters 

von Freiburg i. B. 

Von Rudolf Asmus. 

Im Freiburger Münster steht an der Westwand der nördlichen Hälfte 
der Vorhalle an erster Stelle die Figur eines reichgeschmückten Königs, 
der mit einladender Gebärde dem Beschauer eine Rose entgegenstreckt. 
Sein von dem Gewände freigelassener Rücken entbehrt der natürlichen 
Bedeckung durch die Haut und ist durch ein wüstes Gewimmel von Schlangen, 
Eidechsen und Kröten verunziert. Dieselbe Idee kehrt in ähnlicher Aus¬ 
führung am südlichen Hauptportal des Straßburger und an der Westfront 
des Basler Doms wieder. 

Karl Schäfer (Frau Welt, eine Allegorie des Mittelalters. Schauins- 
land XVII, S. 58 ff.) hat die Freiburger Statue mit überzeugenden Gründen 
als den »Fürsten der Welt« gedeutet. Man hätte ihm zufolge in 
dieser Gestalt lediglich eine männliche Umbildung desselben Gedankens zu 
erblicken, welcher an der Westfront des Wormser Doms und an der Sebaldus- 
kirche zu Nürnberg als »Frau Welt« ausgebildet ist. Literarisch wird diese 
weibliche Fassung erstmalig von Walter von der Vogelweide gestreift, um 
kurz darauf in breiter Ausführung bei Konrad von Würzburg wiederzu¬ 
kehren. Weder Wackernagel, der sich zuerst um die schriftliche Über¬ 
lieferung bemüht hat (Haupts Zeitschrift für deutsches Altertum VI, S. 151 ff.), 
noch Sachse (»Der Welt Lohn« von Konrad von Würzburg. Beilage zum 
Jahresbericht der Dorotheenstädtischen Realschule. Berlin 1857), noch 
Schäfer (a. a. 0 .), noch Moriz-Eichborn (Der Skulpturenzyklus in der Vor¬ 
halle des Freiburger Münsters = Studien zur deutschen Kunstgeschichte, 
16. H. Straßburg 1899), noch Sauer (Symbolik des Kirchengebäudes. Frei¬ 
burg i. B. 1902 S. 369) konnten ein früheres Vorkommen unseres Vorwurfs 
in der Literatur nachweisen. 

War aber überhaupt die weibliche Ausgestaltung die ursprüngliche? 
Für diese Annahme ist bis jetzt noch keinerlei Beweis erbracht worden. 
Sie wird hinfällig, sobald sich ein »Fürst der Welt« aufzeigen läßt, der älter 
ist als »die Frau Welt« bei Walter. Einen solchen glaube ich entdeckt zu 
haben, und zwar an einem sehr abgelegenen und sonderbaren Ort, nämlich 
bei einem Fürsten der Welt, der, nach christlicher Auffassung wenigstens, 
dem unsrigen so nahe steht, daß man ihn in der Kirche nur mit einer Ver- 


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Rudolf Asm us, 


5 IÜ 

wünschung erwähnte. Wir meinen keinen Geringeren als Julianus Apostata. 
In seinem »Gastmahl« findet sich (p. 309 C ed. Spanheim = p. 397, 18 cd. 
Hertlein) folgende Stelle: »(In die Götterversammlung) kam . . . T i b e r i u s 
mit würdiger und strenger Miene und einem zugleich besonnenen und kriege¬ 
rischen Blicke hereingeeilt. Als er sich aber seinem Sitze zuwandte, da 
wurden auf seinem Rücken unzählige Wunden sichtbar: so eine Art von 
Brandmalen und Schrammen und Spuren von schweren Hieben und Strie¬ 
men und, wie eingebrannt, Krätzenarben und Flechten, die Folgen seiner 
Ausschweifungen und seines wüsten Lebenswandels. Da sagte Silen zu ihm: 
»Anders, traun, o Fremdling, erscheinst du mir jetzo denn vormals.« 
Der so gezeichnete Kaiser hat mithin zweierlei mit dem »Fürsten der Welt« 
gemein: Auch er besitzt eine mit seiner schönen Vorderseite kontrastierende 
häßliche Rückseite, und unter den Entstellungen der letzteren ist eine 
gleichfalls animalischen Ursprungs, die Krätze (*{«opa). Daß sie wie die 
anderen ein Krankheitssymptom ist, hat bei Konrad von Würzburg in den 
Versen 

»ir lip was voller blateren 

und ungefüeger eizen (218)« 

und 

»si was so gar unreine (224)« 

eine passende Analogie. 

Ich bin leider nicht imstande, die zeitliche Lücke, die zwischen der 
literarischen Zeichnung des Tiberius und der plastischen Darstellung des 
»Fürsten der Welt« klafft, mit sachdienlichen Zwischengliedern auszu¬ 
füllen. Immerhin scheint eine zwiefache Übereinstimmung eine Brücke 
zwischen ihnen zu schlagen: Der »Fürst der Welt« gehört einer großartigen 
Konzeption an, die durch die Parabel der klugen und der törichten Jung¬ 
frauen auf das jüngste Gericht hinweist, das auch tatsächlich im 
Giebelfeld des Mittelportals abgebildet ist. Dem entspricht es, daß Tiberius 
eine Figur in einem literarischen Totengericht ist, zu dem die römischen 
Cäsaren vor den Göttern erscheinen. Zudem sind die beiden Persönlich¬ 
keiten Fürsten, und zwar schlechte Fürsten. Daß außer ihnen auch Christus 
und die personifizierte Lust in die beiderseitigen Kompositonen einbezogen 
sind, soll nur beiläufig erwähnt werden. Dagegen lohnt es sich, auf die äl¬ 
teren Anschauungen näher einzugehen, in welchen die erwähnten Über¬ 
einstimmungen ihre Grundlage haben. Den Weg zu ihnen zeigt uns der 
Apostat. 

Er hat nämlich an der Tiberiusstelle offensichtlich Plutarchs 
Dialog »über die späte Bestrafung der Gottlosen« benützt *)• Hier erzählt 

■) S. Les Casars de l’Enipereur Julien. Traduits par Spanheim. Amsterdam 1728, 
p. 41. Preuvcs p. 26, 27. 


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Der „Fürst der Welt“ in der Vorhalle des Munsters von Freiburg i. B. 5 j 1 

ein gewisser Aridaios (p. 565) einen eschatologischen Mythus und schildert 
darin das Schicksal, welches der im Leben noch nicht Gezüchtigten und 
Gereinigten nach ihrem Tode am jenseitigen Straforte harrt. Dort öffnet 
ihnen Dike den Leib, damit ihre Seelen in ihrer Schlechtigkeit ganz nackt 
sichtbar werden *)• Als Zeichen ihrer Laster kommen auf diese Weise u. a. 
Striemen und schmutzige Farben an ihnen zutage. Unter diesen Seelen 
tritt besonders diejenige Neros deutlich in den Vordergrund. Hier haben 
wir es also wieder mit einem Totengericht und einem davor erscheinenden 
schlechten Fürsten zu tun. Das Interessanteste dabei ist aber die durch die 
Eröffnung des Leibes bewerkstelligte Entblößung der Seelen und ihrer 
Lastermale. Demnach würde die Rückseite des »Fürsten der Welt* nichts 
anderes darstellen als seine nackte, durch die Spuren des Lasters ge¬ 
zeichnete Seele. 

Julians »Gastmahl* ist aber seinem Gegenstand wie seiner literari¬ 
schen Form nach auch mit den menippeischen Totengerichtssatiren ver¬ 
wandt. Als deren Vertreter kann uns zu unseren Deutungszwecken L u - 
k i a n s »Fahrt in die Unterwelt oder der Tyrann* dienen 3 ). Hier wird 
(§ 24) der Satz aufgestellt, die Übeltäter seien an den Brondmarkungen 
zu erkennen, die ihre nackten Seelen in der Unterwelt aufwiesen; für die 
Richtigkeit dieser Behauptung muß ein Tyrann herhalten. Demzu¬ 
folge trüge der »Fürst der Welt* seine nackte Tyrannenseele *) zur Schau. 

Wo diese herstammt, verrät, von allem andern abgesehen, schon der 
Name des Plutarchischen Erzählers. Dieser Aridaios ist nämlich ein Doppel¬ 
gänger des Ardiaios, den Platon in dem eschatologischen Mythus am 
Ende des »Staates* (p. 615 C) als Beispiel eines in den Tartaros verwiesenen 
Tyrannen anführt, dem zudem von seinen Peinigern auch noch die Haut 
abgezogen wird (p. 616 A). Der Platonischen Darstellung zufolge, die in 
manchen Einzelheiten auch für Julians »Gastmahl* maßgebend war, tragen 
(p. 614 C) die Ungerechten auf ihrer Rückseite Abzeichen alles dessen, 
was sie verübt haben. Hiemit ist auch gezeigt, warum der »Fürst der Welt« 
gerade am Rücken entstellt ist. Daß wir die Vorlage für ihn in letzter Linie 
bei Platon zu suchen haben, wird auch noch in einigen anderen Stellen 
wahrscheinlich gemacht: Die noch im Körper weilende Seele gleicht nach 
p. 611 D dem Meergotte Glaukos, an dem sich Austern und Seetang und 
Steine derart angehängt haben, daß er mehr einem Tiere ähnlich sieht als seinem 

a ) Nach p. 567 wälzen sich einige Seelen im Kote und kehren das Innere nach 

außen. 

3 ) S. Spanheim, a. a. O. 

4 ) Das Wesen dieser wird von dem kynisierenden Dion Chrystomos Or. I p. 17, 11 
Dind. an dem Dämon der Tyrannis in der Art gezeichnet, daß sie trotz aller Bemühungen 
den Eindruck ihrer Häßlichkeit nicht verwischen kann. 


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e i 2 Rudolf Asmus, Der „Fürst der Welt“ i. d. Vorhalle d. Münsters v. Freiburg i. B. 

ursprünglichen Wesen. Ferner erscheinen p. 614 D die von der Erde zu 
der Richtstätte emporsteigenden Seelen mit Schmutz und Staub bedeckt. 
Endlich sind auch nach Gorg. p. 523 ff. die zu richtenden Seelen, unter 
welchen sich auch der Tyrann Archelaos befindet, nackt (vgl. Crat. p. 403 B) 
und mit Striemen und Narben als Sündenmalen verunziert 5 ). 

Ich verhehle mir nicht, daß mein Erklärungsversuch noch sehr der 
Ergänzung bedürftig ist. Es bleibt noch nachzuweisen, auf welchem Wege 
die von orphisch-pythagoreischen Vorstellungen beeinflußte Platonische 
Idee in die Gedankenkreise des christlichen Mittelalters gelangte 6 ), und.wie 
sie hier im einzelnen ausgestaltet wurde 7 ). Diese Aufgaben liegen aber 
auf dem Gebiet der mittelalterlichen Theologie und Kunstgeschichte, auf 
welchem ich Laie bin. Daher beschränke ich mich auf die gegebenen An¬ 
deutungen. Mögen sie bei den Kennern auf fruchtbaren Boden fallen und 
für die genetische Deutung der Darstellungen des jüngsten Gerichtes nutz¬ 
bar werden! 


5 ) S. v. Sybcl, Christliche Antike I. Marburg 1906, S. 63 ff. 

6 ) Wyttenbach, Animadversiones in Plutarchi Moralia II (Lips. 1821) p. 580 ver¬ 
weist für die Nacktheit der Seelen u. a. auf Origines c. Celsum II p. 419. (Die Seele Christi 
steigt zu den nackten, körperlosen Seelen hinab) und für die Seelennarben auf Basilius I, 
p. 147, Greg. Naz. Or. XVI p. 263 D und Isidorus Peius. I. Ep. 417. —Dieterich, Nekyia. 
Leipzig 1893, S. 115, 1 stellt fest, daß der Grundgedanke des eschatologischen Mythus 
im »Staat«. Gott sei unschuldig an dem Übel, noch im sechsten Jahrhundert ein Schlag¬ 
wort in den Debatten über die Willensfreiheit bildete. 

7 ) Ist bei den Sündenmalen des »Fürsten der Welt« an eine Vermengung mit Vor¬ 
stellungen von der Vernichtung des Leibes im Grabe zu denken ? 


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Künstlerbriefe aus dem Archiv des Domes von Cremona. 


Mitgeteilt von Benno Geiger. 

I. Paris Ccresari an Giovanni Antonio da Pordenone. 

Ex.mo pictore Mastro Gian. Ant.° Pordanon, Amico chariss. mo in Cre¬ 
mona. 

Mastro Gian Antonio mio pictor Ex. 1 » 10 Ho inteso per la lettera vostra 
il fine di quel capitolo havevate comincio 11 in Cremona esser stato in satis- 
fation di quelli signori presidenti, di che mi son molto alegrato. Ma mi 
son ben doluto et doglio grandemente che voi mi mettiate in dubio la venuta 
vostra, attento che la Excellenza del signor Marchese, al quäle ho promesso 
zenza exception alcuna che a questo tempo venireste, quando voi man- 
chaste restaria con mala satisfation. Perö voglio che in nome mio pregate 
quelli signori presidenti instantissimamente ad licentiarvi per questo poco 
di tempo, raccordandogli che se io mi son discomodato de la persona vostra 
per accomodar le lor Signorie non mi devono esser in questa necessitä cosl 
ingrati che non me ne compiacciano, ultra che come sapetc ben voi ce n’b 
anche promissione, sl chfc fate sopra ciö cosl gagliardo officio che ad ogni 
modo me vi prestino per questo tempo, el quäl sarä cosl breve, che, con 
loro pochissima incomoditä, satisfarano a me sopramodo. Avisandovi che 
quando non ci intervenisse la promission fatta al Signore Marchese, quäle 
desidera tanto el fine di questa opera quanto voi sapete che ne sete bon 
testimonio, io non vi stimolaria come faccio. Ma in questo caso bisogna 
che voi faciate tale officio che ad ogni modo veniate, se non per fornir tutta 
1’ opera almeno per farne un capitolo, acciö che se io non satisfaccio al 
signore in tutto, io lo possi satisfar in qualche parte. Et a voi mi offero 
et raccomando. 

Mant. XXV. Julii MDXXI. 

Paris Cces Eques. 

Dieser Brief findet seine Ergänzung in einem Passus des Lebens Por- 
denones von Vasari, Le Vite, ed. Milanesi, V, S. 113: »venuto il Pordenone 
in credito e fama, fu condotto a Piacenza, donde, poichfc vi ebbe lavorate 


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5*4 


Benno Ueiger, 


alcune cosc, se n’antlö a Mantoa; dove a messer Paris, gentiluomo di quella 
cittä, colorl a fresco una facciata di muro con grazia maravigliosa: e fra 
l’altre belle invenzioni che sono in questa opera, e molto lodevole, a sommo 
sotto la cornice, un fregio di lettere antiche alte un braccio e mezzo; fra 
le quali b un numero di fanciulli, che passano fra esse in varie attitudini, 
e tutti beltissimi. Finita questa opera con molto suo onore, ritornö a Pia- 
cenza..«. — Ridolfi, Le Maraviglie dell’ arte, ed. II, Bd. I, S. 160, der Vasari 
vor Augen hat, weiß den Familiennamen anzugeben: Paris Ceresari, nebst der 
erwähnten Inschrift: Ceresariorum et amicorum domus; doch 
schon zu seiner Zeit ist die Historie »danneggiata dal tempo«. Unser Brief 
erlaubt uns einerseits Vasari in dem Punkte zu berichtigen, daß Pordenone 
sich von Piacenza nach Mantua und von hier dorthin zurückgewandt haben 
soll, während Cremona in beiden Fällen genannt sein will. Andrerseits 
ist die Annahme Milanesis falsch, daß diese Fresken schon vor 1520 vollendet 
gewesen sein mußten, da von ihnen in dem Kontrakt der Fabbricieri des 
Domes von Cremona mit Prodenone am 20. VIII. 1520 die Rede ist. Die 
drei »Arconi«, die Pordenone bestellt werden, mögen nämlich »de non mancho 
bontade de la opera per lui facta su lo Palazo dcl magnifico M. Paris Ceresata 
in Mantua« sein (Maniago, Stör. d. belle Arti Friulane 1823, S. 320; vgl. 
auch F. Sacchi, Not. pitt. Crcmonesi, S. 274). Vielmehr hatte Paris Ccre- 
sari, nachdem Pordenone vor 1520 die Mantuaner Fresken begonnen hatte, 
ihn für die Arbeit an dem Dom Cremonas freigegeben, um ihn sich wiederum 
am 25. VII. 1521 nach Mantua zu deren Vollendung zurückzubitten. Das 
sich der Brief in dem Archiv des Cremonenser Domes vorfand, beweist, 
daß Pordenone die von seinem Mantuaner Gönner erbetene Pression den 
Fabbricieri gegenüber ausübte. Der Marchese, von dem der Brief spricht, 
ist Giovanni Gonzaga (1474—1525). Die Fresken waren 1763 bereits fast 
völlig verloschen (Cadioli, Descr. di Mantova, S. 70) und 1830 sah man 
davon nur noch »il semplice impronto di alcuni bambini (Susani, Nuovo 
Prospetto di Mantova, S. 132), Vgl. auch Crowc u. Cavalcaselle, Gesch. 
d. ital. Malerei, 1876, VI, S. 314. 

II. Cristoforo Pedoni an die Fabbricieri des Domes 

Von Cremona. 

Molto mag. ci sig. r * fabricieri del anno 1549: parve ali sig. ri fabriceri 
de quello anno de darmi charico di examinare le cose fatte per M. ro Lau- 
rentio: circha le loze deli portegi dela piaza: per le quäl lui diceva avanzare 
libre novecento: Et perch6 mi pareva honesto che la confidantia che epsi 
sig.ri haveno in me fusse per me fortificata et fondata sula ragione: Et 
de comisionc de epsi sig. ri furon per me reccrchati molti Mag. ri de diverse 


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Künstlerbriefe aus dem Archiv des Domes von Cremona. 


515 


citade fine al n°. de sei cioe dui de mantoa dui de verona dui de bressa 
quali furon circhati per me atute mie spese et de cavalli et dogni altre sorte 
de spese con permissa da epsi sig. ri de resarcirme dei tuto como penso che 
epsi sig. r ‘ ne farano fede: Et essendo io rimasto inresoluto si per la brevitä 
del tempo per le fine de loro offitio: considerare che como anche per il man- 
chamento del dinaro: perö havendo recorso a V. S. quäl volino se io ho ben 
servita le fabricha per quanto mi fu posibile per conservatione del honor 
mio: Et reduto il debito dele libre 900 de epsa fabricha in nulla et fattolc 
credito de libre trecento come si po vedere per la relatione mia: Et del tuto 
non havendo hauto ricon pensa alcuna: ne dele mie fatiche: et industrie 
ne mancho deli dinari spesi in andate et cavali et tempo perso in servitio 
de epsa fabricha supplico V. S. non mi lassino con questo danno et volieno 
come suo costume satisfare al debito: como a povero compagno et fidelc: 
Et del tuto ne restarö con obligo a V. S. 

a la quäle basa le man 

o 

D. V. S. B. Servitor Mro. Xforo de pedon 

talia preda. 

In anderer Schrift darunter: 

V. S. siano contente per remuneratione dclla estimatione fatta per 
lui in nome della fabrica et de nostra comissione dargli duoi scuti d’oro 
a questo natale, quali siano per recognitione piu questo che per altro: et 
in fidc me sottoscrivo adi 19 di novembre 1551 

Bcrnardo Crotto 

Io Alessandro Ronchadett afirmo quanto disopra e scritto. 

Der Bildhauer Lorenzo Trotti hatte den Portikus (Bertazzola) . 
an der Fassade des Domes von Cremona laut urkundlicher Nachricht schon 
vor dem Jahre 1515 begonnen; und 1520 war der damals vollendete Teil 
von Paulo Sacca und von Giovanni Gaspare Pedoni begutachtet worden. 
Daß 1549 eine nochmalige Begutachtung dieses Portikus durch Cristoforo 
Pedoni, den als Autor der Area di Sant’ Arcaldo (1538) in der Krypta des 
Domes von Cremona bekannten Sohn Giovanni Gaspares, nötig wurde, be* 
weist, wie lange jene Arbeit Trottis hingezogen ward, was für die offenbare 
Stilwandlung vom Früh- bis Hochrenaissanceornament am Denkmal selbst 
eine hinlängliche Erklärung bietet. Ob Cristoforo Pedonis im folgenden 
Dokument enthaltene Bittschrift erhört wurde, läßt sich nicht nachweisen, 
ist jedoch, angesichts der vielen Zahlungsvermerke an ihn in den Kassen¬ 
büchern, sehr wahrscheinlich. 

Repertorium für Kunstwittsenschaft XXXV. 34 


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516 


Benno Geiger, 


III. Cristoforo Pedoni an die Fabbricieri des Domes 

von Cremona (ohne Datum). 

o 

Supplicazione di maestro Xforo Pedono lapicida. 

Mag.« signori fabriceri. 

Maestro Christoforo pedono lapicida di questa cittä ha presentito come 
le S. V. voleno fare accomodare doe porte della chiesa maggior di questa 
cittä, cio& una verso la pescaria, et la grande verso la Piazza. Et perche 
lui b certo che senza affetione di alcuno particulare, si attende solo all' utile 
della fabrica, aricorda a V. S. che per il tempo passato li incanti hano portato 
molto utile all' imprese della fabrica, et quando piacessi a V. S. deliberare 

• 

questa impresa senza incanti, se offerisse a fare uno disegno laudabile, et 
secondo il disegno pcrficere detta impresa a laude di qualonque experto, 
et relassare alla fabrica il quinto del' amontare di detta impresa, et del 
tutto dare idonea sicurtä, et perciö supplica V. S. non gli facino torto, acciö 
non sij sforzato poi sostenere l'honor suo, et querelarsi con raggione, dale 
quäle spera che per sua cortesia et bontä sarano accettate le sue fidele Offerte, 
alle quali si raccomanda. 

IV. Giulio Campi an die Fabbricieri des Domes von 

Cremona (ohne Datum). 

Molti mag.« Sig. rl regienti nela fabrica del Dommo. 

Da li masaroli richiesto quanta spesa importa la pictura della Ma¬ 
donna et el putino con li doy angielli che sono posti sopra lo altare magiore 
nela chiesia catedralc del dommo et questo credo sia statto a loro inposto 
de commisione de V. S. per cio dico che io me remetto al guiditio loro ma 
pur quando V. S. desideraseno sapere la mia intentione li diro che io tenga 
sia opera de quattro scuti rispetto che.... de spesa de oro mezo scuto et 
■ tanto consta la mettadura observando el Stile antiquo quanto sia ala pictura 
a me pare sia meritevole de scuti uno per ciaschuna figura intendendo per 
cio che la M.® con el bambino sia per una figura sola de modo che seriano 
al pagare trey figure esendo depinte tutte le facie, loro mani et anche li 
panni deli 2 angielli a ... che sono boni colori et durabili a tale che in tutto 
sarebeno scuti quattro et tali serano come V. S. giudicano et me ne conten- 
terö presuponendo che V. S. pagerano con el solito suo bono guiditio ct 
a quelle humilmentc li basio le honorate mani ct megli raccomando. 

D. V. S. dcv° servitore 

Julio Campo pictor. 

Giulio Campi, der 1572 starb, wird in den Rechnungsbüchern des 
Domes von Cremona 1541—1569 erwähnt (vgl. Sacchi, Not. pitt. Crem. 


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KUnstlerbriefe aus dem Archiv des Domes von Cremona. 


517 


S. 191—93). Seine Haupttätigkeit scheint sich jedoch daselbst erst in den 
Jahren 1566—68 entfaltet zu haben, aus denen die Bilder stammen, die 
der Dom noch jetzt von seiner Hand bewahrt. Die hier in Rede stehende 
»Madonna mit dem Kinde und zwei Engeln«, die für den Hauptaltar wohl 
mit Goldverzierung im »Stile antiquo« von ihm gemalt worden war, ist dort 
nicht mehr zu sehen und auch über die Zeit ihres Entstehens läßt sich Be¬ 
stimmteres kaum noch hinzufügen. 


V. Giovanni Battista Trotti, gen. Malosso, an die 
Fabbricieri des Domes von Cremona (ohne Datum). 

Illi. Sig.‘ Fabricieri della Beatissima Vergine della Chiesa Catedrale. 

Non essendo statto fatto, ne tanpocho conmicio il gonfalone da M. 
Vincentio Campi dell' asunta della Beatissima Vergine per la morte sua, 
et essendomi pervenuto all' horechie, che bona parte delli illi. Sig.* Fabricieri 
passati erano di bon animo di dar a me simil impresa anchor che per esser 
io absente et impedito nell' hopera di Lodi fosse poi datta a Ms. Vincentio 
Campi, mi b parso hora conveniente che mostri anch' io 1’ interna devotione, 
che porto a questa honorata fabricha e particularmente a questo illustre 
regimento, comparischo adonque a oferirmi a far detta impresa con quella 
diligenza che si conviene in cosl honorato honorato (sic) locho, e prometto 
piü tosto achressimento di perfetione, che manchamento, potendo io ciö 
prometere con riverenza dell' ecell. e Ms. Giulio Campi essendo che facile 
b agiungiere all’ opere altrui, quando pero che con Studio si va prochaciando 
di giunger all’ ecellenza dell' arte, et il pretio di detta impresa rimetto sempre 
alle ille. SS. W. confidato che haveranno consideratione al pretio del 
1’ ecell.e Ms. Giullio Campi a quello che«si poteva far all' hora et che si puö 
far in questi tempi e di piü al riusito e perfetione del hopera il che tutto 
di novo rimetto al giudicio delle illi. SS. VV. e con questo con ogni riverenza 
le bacio lc mani. Delle illi. SS. VV. Devotissimo 


sev.° r 


Giam. Batta Trotti 
detto il Malosso. 


Da Vincenzo Campi am 3. X. 1591 starb, dürfte Malossos briefliches 
Angebot, die von jenem nicht ausgeführte Assunta zu übernehmen, um 
1592 zu datieren sein. Für den Dom Cremonas arbeitete Malosso wiederholt 
im letzten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts, gleichzeitig mit Antonio Campi. 
Letzterem wird in der Sakristei des Domes eine Himmelfahrt Mariä zu- 
geschrieben (vgl. Grasselli Guida di Cremona, 1818, S. 16), die mit dem 
Gonfalon Malossos identisch sein könnte, falls der Auftrag ihm auch wirk- 

34 * 


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:i8 Benno Geiger, Künstlerbriefe aus dem Archiv des Domes von Cremona. 

lieh übergeben wurde und die Zuschreibung an Antonio Campi, die nach¬ 
zuprüfen ich keine Gelegenheit hatte, sich nicht als haltbar erweist. Malosso 
selbst vollendete laut Inschrift 1594 die von Guilio Campi im Chor von 
S. Abondio zu Cremona hinterlassene Assunta, ein Hauptwerk jenes Meisters, 
auf das im vorliegenden Briefe ehrenvoll Bezug genommen ist. Die »hopera 
di Lodi«, die Malosso vor dem Tode Vincenzo Campis von Cremona fern- 
hielt, ist zweifelsohne das 1589 datierte Bild des »Heiligen Antonius von 
Padua« im Dom zu Lodi, das Zaist in seinen Notizie Istoriche II, S. 35, er¬ 
wähnt (vgl. auch Cesare Cantü, Grande Illustr. dcl Lombardo Veneto, 
1858 ff., V, S. 621h 


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Beiträge zur Biographie Hugos van der Goes und zur 

Chronologie seiner Werke. 

Von I^jalmar G. Sander. 


Über das Leben Hugos van der Goes ist uns bedauerlich wenig über¬ 
liefert worden. Das erste gedruckte Buch, das Hugos Namen erwähnt, 
erschien erst 67 Jahre nach seinem Tode (1549) unter dem Titel: »La Cou- 
ronne Margeritique«, ein Gedicht, das Jean Lemaire (1473—1548) in den 
Jahren 1504—1511 verfaßt hatte, und in dem es heißt: »Hugues de Gand 
qui tant eut les tretz (= traits) netz«. Vasari (1550) und Guiccardini (1567) 
nennen ihn dagegen »Hugo aus Antwerpen« und fügen kurz hinzu, daß sich 
im S. Maria Nuova-Spital in Florenz ein schönes Bild von seiner Hand be¬ 
finde, daß er stets die vlämische Manier beibehalten und niemals sein Vater¬ 
land verlassen habe. Ein Jahr später (1568) gab Vaernewyck seine histori¬ 
sche Schrift: »Die Historie van Belgis, diemen anders namen nach: den 
Spieghel der Nederlandschen Audtheydt« heraus, die eine wichtige, wenn 
auch immerhin nur spärliche Quelle für die Goes-Forschung bildet. Vaer¬ 
newyck erzählt 1 ), daß van der Goes (er nennt ihn stets nur »Meester Hughc«) 
zu den eifrigen Bewunderern des weltberühmten Genter Altars gehörte; 
auch hat er uns jene bekannte Anekdote überliefert, die sich an Hugos 
Gemälde: »Davids Begegnung mit Abigail« knüpft, ein Bild, das in Gent 
auf den Mauergrund des Kaminmantels eines Hauses beim Muydebrücklein 
gemalt und Hugos populärstes Werk war und das auch von Lukas de Heere 
(1565) besungen wurde. Ferner kennt Vaernewyck außer diesem noch 
drei weitere Bilder von Goes (zwei in Gent, eins in Brügge, vgl. van 
Mander), ohne sie jedoch näher zu beschreiben. Karel van Mander (1604), 
der, wie er selbst sagt, über Goes' Leben nur wenig hat in Erfahrung bringen 
können, hat seine Angaben über Meister Hugo fast ausschließlich 
Vaernewyck entlehnt, doch bringt er auch einiges Neue. Er nennt ihn 
«Schilder van Brugghe« und Schüler von Jan van Eyck, obwohl er kurz 
hinterher konstatiert, daß Hugos Werke in die Zeit um 1480 fallen; außer¬ 
dem berichtet er von einem Glasgemälde in der St. Jakobskirche zu Gent, 
das Vaernewyck nicht erwähnt. Aber wo und wann Goes gestorben ist, 
davon weiß er nichts. Im Jahre 1611 erschien eine Weltchronik, die Opmeer 
(t 1595 ) > m Jahre 1569 vollendet hatte, und in der erwähnt ist, daß Hugos 


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520 


Hjalmar G. Sander, 


Vaterstadt Leyden war *), doch beruht diese Angabe, wie wir noch zeigen 
werden, auf einem Mißverständnis 3 ). 2 Jahre später (1613) veröffentlichte 
Frantz Sweerts (1567—1629) die Grabschrift Hugos van der Goes, aus der 
hervorgeht, daß Hugo als Mönch im Roode-Clooster bei Brüssel gestorben 
war 4 ). In den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten geriet Goes' 
Name immer mehr in Vergessenheit, und wenn das eine oder andere Buch 
überhaupt noch dürftige Angaben über van der Goes enthält (Sander 1624, 
Sandrart 1675, Baldinucci 1681/1688, Descamps 1753 ) 5 )» so sind diese 
lediglich dem Manderschen Malerbuch entlehnt. Dies wurde erst anders, 
als um die Mitte des 19. Jahrhunderts und später namentlich von belgischen 
Archivaren handschriftliche Dokumente publiziert wurden, die — soweit 
sie nicht von dem berüchtigten Delbecq (1771—1845) gefäscht waren — 
einiges Licht über den Geburtsort, die Tätigkeit und das Ansehen Hugos 
als Maler ausbreiteten. Über die letzten Lebensjahre Hugos gibt uns eine 
Klosterchronik Auskunft. Diese Urkunde verdient schon deshalb ganz 
besonderes Interesse, weil sie die längste zusammenhängende biographische 
Nachricht über einen altniederländischen (bzw. altvlämischen) Maler ent¬ 
hält. Die Klosterchronik hat folgenden Titel: »Originale Cenobii Rubee- 
vallis in Zonia prope Bruxellam in Brabancia«, und sie wurde etwa 30 Jahre 
nach Goes’ Tode (in den Jahren 1509—1513) 6 ) von dem aus Tournai ge¬ 
bürtigen Mönch Gaspar Ofhuys (1456—1523) verfaßt, der zur selben Zeit 
wie van der Goes Novize des Roode-Cloosters wurde. Obwohl diese Chronik 
in der älteren Literatur ab und zu erwähnt wird und auch außerhalb des 
Klosters nicht unbekannt geblieben ist 7 ), so entdeckte doch erst der Archivar 
Alphonse Wauters im Jahre 1863, daß sie einen langen und höchst inter¬ 
essanten Bericht über Hugos letzte Lebensjahre im Kloster enthält 8 ). 
Und doch hat dieser Ofhuyssche Bericht merkwürdigerweise bisher über¬ 
haupt noch keine eingehende Würdigung gefunden. Wauters selbst ist 
bei der Entzifferung der brachygraphierten lateinischen Handschrift nicht 
sehr genau zu Werke gegangen, an sehr vielen Stellen hat er 
den Text falsch, und zwar oft in völlig sinnentstel¬ 
lender Weise wiedergegeben 9 ). Allen bisherigen Über¬ 
setzungen hat nun aber die Wauterssche Lesart zugrunde gelegen I0 ), ob¬ 
wohl bereits im Jahre 1895 auf die Ungenauigkeit derselben hingewiesen 
wurde ”). Wir hielten es daher für angezeigt, zunächst eine möglichst wort¬ 
getreue und sinngerechte Übersetzung des stilistisch und grammatikalisch 
in schlechtem Mönchslatein ziemlich unleserlich geschriebenen und nicht 
allzuleicht verständlichen (in der Brüsseler Bibliothek aufbewahrten) 
Originaltextes zu geben, bevor wir dem Inhalt das biographisch Wichtige 
entnehmen. (Der Übersicht halber haben wir den Text in einzelne Kapitel 
zerlegt und diese mit kurzen Überschriften versehen.) 


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Beiträge zur Biographie Hugos van der Goes usw. 


521 


Kap. I. Goes’ Eintritt ins Kloster, seine Stellung 

unter den Mönchen. 

Im Jahre des Herrn 1482 stirbt Konversbruder Ia ) Hugo, der hier 
Profeß ablegte. Als Maler hatte er einen solchen Ruf, daß es seinerzeit 
hieß, diesseits * 3 ) der Berge könne man seinesgleichen nicht finden. W i r 
sind zu gleicher Zeit Novizen gewesen, er und ich, der 
ich dies hier niederschreibe. Gleich bei Hugos Einkleidung *4) und über¬ 
haupt während seines Noviziats gestattete ihm der Prior Vater Thomas * 5 ), 
nach Art der Weltleute in den verschiedensten Dingen Trost und Kurzweil 
zu suchen — freilich in bester Absicht l6 ), weil Hugo unter den 
Weltleuten eine angesehene Persönlichkeit gewe¬ 
sen war — und so kam es, daß man ihn bei uns mehr mit dem Pomp 
dieser Welt > 7 ) vertraut machte als damit, wie man Buße zu tun und sich 
zu demütigen habe. Dies erregte denn auch bei einigen starkes Mißfallen: 
Novizen, sagten sie, sölle man demütigen aber fürwahr nicht erhöhen. Weil 
er sich nun aber in ganz hervorragender Weise auf das Malen von Bildern ,8 ) 
verstand, erhielt er mehr als einmal Besuch von hohen Herrschaften, u. a. 
von dem durchlauchtigsten Erzherzog Maximilian * 9 ). Hatten sie doch alle 
den brennenden Wunsch, seine Gemälde zu sehen. So oft nun solche 
Gäste zu ihm kamen, gestattete ihm der Prior Vater Thomas mit 
Rücksicht auf diese den Eintritt ins Gästezimmer und die Teilnahme an 
dort stattfindenden Gelagen. 

Kap. II. Hugos Reise nach Köln. Der Ausbruch seiner 
Geisteskrankheit. Seine Rückkehr ins Kloster. 

Wenige Jahre nach Ablegung des Ordensgelübdes (es waren 5 bzw. 
6 Jahre seitdem vergangen) geschah es nun, daß unser Klosterbruder sich, 
wenn ich mich recht entsinne *°), nach Köln auf den Weg machte ai ). Es 
begleitete ihn hierbei sein Halbbruder Nikolaas aa ), der bei uns Donat * 3 ) 
war und hier auch sein Gelübde abgelegt hatte, ferner Chorbruder Petrus a 4 ) 
vom Kloster Marienthron, der sich damals im Kloster Jericho in 
Brüssel aufhielt, sowie noch einige andere Personen. Wie ich mir seinerzeit 
von Bruder Nikolaas habe erzählen lassen, befiel Bruder Hugo eines Nachts 
auf der Rückreise eine sonderbare Krankheit der Phantasie a 5 ); unaufhörlich 
begann er zu jammern, er sei ein Verdammter und zur ewigen Verdammnis 
verurteilt. Er wollte sich sogar ein Leid antun — er wäre denn nicht von 
seiner Umgebung gewaltsam daran gehindert worden. Infolge dieser merk¬ 
würdigen Krankheit nahm jene Reise ein gar trauriges Ende. Doch gelangte 
man dank der Unterstützung hilfsbereiter Leute schließlich nach Brüssel 26 ), 
wohin man unverzüglich den Prior Vater Thomas kommen läßt. Als dieser 


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522 


H j a 1 m a r G. Sander, 




den Kranken sieht und hört, wie alles sich zugetragen, vermutet er, daß 
Bruder Hugo von demselben Leiden heimgesucht wurde, das einst den 
König Saul beunruhigte, und eingedenk dessen, daß Sauls Unruhe sich legte, 
wenn David die Harfe schlug a 7 ), ordnete er daselbst an, daß in Hugos Gegen¬ 
wart fleißig musiziert würde s8 ). Auch für anderweitige Schauspiele und 
Erholung sorgte er, um die Phantasiegebilde des Gemütskranken zu ver¬ 
treiben. Bei alledem besserte sich Hugos Zustand nicht, 
er fuhr fort irrezureden und sich als ein Kind des Verderbens hinzustellen? 0 ). 
In dieser krankhaften Verfassung kam er nun also ins Kloster zurück. 


Kap. III. Seine Pflege im Kloster. Die Gerüchte 

außerhalb des Klosters. 

Die aufopfernde Pflege, die ihm hierselbst von Seiten der Chorbrüder 
zuteil wurde, die sich Tag und Nacht mit christlicher Nächstenliebe und 
voller Mitleid um den Kranken bemühten und auf alles Rücksicht nahmen, 
wird Gott dem Herrn bis in alle Ewigkeit und noch darüber hinaus un¬ 
vergeßlich bleiben. Nichtsdestowinger suchten damals sehr viele Leute, 
sogar Magnaten, andere Gerüchte zu verbreiten. 


Kap. IV. Die verschiedenen Ansichten über Hugos 

rätselhafte Geisteskrankheit. 

Um was für eine Art von Krankheit cs sich bei diesem Konversbruder 
gehandelt hat, darüber war man sich durchaus nicht einig. Gewisse Leute 
redeten von einem besonderen Fall von »frenesis magna« 3 «), dem großen 
Hirnwüten. Andere aber meinten, er sei von einem bösen Geist besessen. 
Es waren eben Symptome beider unseligen Krankheiten bei ihm vorhanden; 
allerdings habe ich stets gehört, daß er während seiner ganzen Krankheit 
auch nicht ein einziges Mal irgend jemand hat ein Leid antun wollen, wohl 
aber immer wieder sich selbst. So etwas sagt man aber weder den Phre- 
netischen noch den Besessenen nach — was nun eigentlich in Wirklichkeit 
Vorgelegen hat, das weiß Gott allein. Wir können also zwei verschiedene 
Auffasungen von der Krankheit unseres Klosterbruders haben. 


Kap. V. Die natürliche Auffassung der Krankheit 

und ihrer Ursachen. 

Einerseits nämlich könnte man sagen, daß cs sich um eine natürliche 
Krankheit, eben um einen besonderen Fall von Hirnwüten gehandelt habe. 
Es gibt ja mehrere Varietäten dieser Krankheit, je nach der Entstchungs- 
ursachc: Manchmal sind melancholische, d. h. schwarzgalligen Saft erzeugende 
Speisen 3 -') die Ursache, ein andermal der Genuß starker Weine, die die 
Säfte erhitzen und zu Asche verbrennen. Ferner können Phrenesien ent- 


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Beitrüge zur Biographie Hugos van der Goes usw. 


523 


stehen infolge gewisser Affekte, wie Traurigkeit, Bekümmernis 33 ), Über¬ 
eifer, übertriebene Ängstlichkeit. Endlich kann die Bösartigkeit verdorbener 
Säfte Phrenesie verursachen, wenn diese nämlich in dem Körper eines zu 
dieser Krankheit veranlagten Menschen überhandnehmen. Was nun die 
besagten Affekte angeht, so weiß ich bestimmt, daß sie unserm Konvers- 
bruder viel zu schaffen machten. So machte er sich beispielsweise die schwer¬ 
sten Gedanken darüber, wie er nur fertig werden sollte mit all den Ge¬ 
mälden, die er noch malen müsse, und in der Tat hätten — so hieß es wenig¬ 
stens damals — »neun Jahre wohl kaum dazu ausgereicht«. Und dann 
vertiefte er sich geradezu übertrieben häufig in die Lektüre eines vlämischen 
Buches 34). Was auf der anderen Seite das Weintrinken angeht, wenn 
es auch ohne Zweifel nur mit Rücksicht auf seine 
Gäste geschah, so hege ich für meine Person die 
Befürchtung, daß es nur zur Verschlimmerung sei¬ 
ner natürlichen Krankheitsveranlagung beitrug 35 ). 
Wenn man also dieses alles berücksichtigt, so wäre es schon denkbar, daß 
sich unter solchen Umständen im Laufe der Zeit der Stoff seiner schweren 
Krankheit in seinem Körper gebildet hat. 

Kap. VI. Die moralische Auffassung d er Krankheit 
und ihrer Ursachen. Hugos Genesung. 

Anderseits hat aber auch diese Auffassung ihre Berechtigung: daß 
nämlich Gottes allgütigc Vorsehung es war, die diese Krankheit über ihn 
verhängte, und die, wie im 2. Petr. 3 3 6 ) geschrieben steht, »Geduld mit uns 
hat und nicht will, daß jemand verloren werde, sondern daß jedermann 
sich zur Buße kehre«. Dieser Konversbruder bekam nämlich in unserm 
Orden wegen seiner speziellen Kunst genug Schmeichelhaftes zu hören — 
tatsächlich wurde sein Name denn auch auf diese 
Weise berühmter, als wenn er unter den Weltlcuten 
geblieben wäre. Weil er nun aber schließlich auch nur ein Mensch 
war wie wir alle, so hatte er infolge der vielen Ehrungen, Visiten und Kompli¬ 
mente, die man ihm zuteil werden ließ, ein recht gehobenes Selbstgefühl 
bekommen 37 ). Da Gott aber nicht wollte, daß er verloren werde, sandte 
er ihm in seiner Barmherzigkeit diese demütigende Krankheit, die ihn denn 
auch gewaltig erniedrigte. Denn Bruder Hugo ging in sich, und sobald 
er genesen war, übte er die äußerste Demut 38 ); freiwillig verzichtete 
er darauf, in unserm Refektorium 39 ) zu speisen, und voller Demut nahm 
er nunmehr seine Mahlzeiten mit den Laienbrüdern unseres Klosters ein. 
Ich bin hier absichtlich so ausführlich gewesen, weil ich mir sage, daß Gott 
dies alles nicht bloß um der Bestrafung der Sünde willen geschehen ließ, 


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ich meine, um den Sünder zurechtzuweisen und ihm Gelegenheit zur Besse¬ 
rung zu geben, sondern um auch uns eine gute Lehre zu geben. 

K a p. VII. Die Lehre, die uns diese Krankheit gibt, 
vorausgesetzt, daß sie eine natürliche war (mit 

Exkurs über den eigentlichen Sitz der Phrenesie). 

Angenommen nämlich, diese Krankheit sei ihm aus einem natürlichen 
Grunde zugestoßen, so würde uns das die Lehre geben, daß wir die Affekte 
nicht in uns zur Alleinherrschaft gelangen lassen dürfen, sondern daß wir 
ihrer Herr werden müssen, wenn wir nicht unheilbar geschädigt werden 
wolle n. 

Bruder Hugo, dieser vortreffliche Maler, hatte sich infolge der allzu 
intensiven Betätigung seiner Vorstellungskraft und Phantasie, und infolge 
der vielen Gedanken, die er sich machte, eine Hirnaderläsion 4») — so hieß 
es wenigstens seinerzeit — zugezogen. Es soll nämlich irgendwo im Gehirn 
eine äußerst kleine und zarte Blutader geben, die unter dem Einfluß der 
Vorstellungskraft und Phantasie steht 4 »). Sobald wir nun Vorstellungen 
und Phantasien im Übermaß in uns auf kommen lassen, wird dieses Äderchen 
in Mitleidenschaft gezogen. Erreicht nun diese schädliche Inanspruchnahme 
einen solchen Grad, daß das Äderchen zerreißt, so verfällt der Betroffene 
in Phrenesie oder in Wahnsinn. 

Wir müssen unsern Phantasien und Imaginationen, unsern Grübeleien, 
dem Hangen und Bangen 4») und überhaupt allen eitlen und unnützen 
Gedanken, womit wir unser Hirn doch nur fruchtlos beunruhigen 43 ), ein 
Maß und Ziel setzen, wenn anders wir nicht Gefahr laufen wollen, unheilbar 
zu erkranken. Doch wir sind Menschen. Und das Schicksal, das diesen 
Konversbruder traf, sollte es nicht auch uns treffen können? 

Kap. VIII. Die Lehre, die uns diese Krankheit gibt, 
vorausgesetzt, daß sic von Gott gesandt war 44 ). 

Angenommen aber, dieses Unglück sei nicht aus einem natürlichen 
Grunde geschehen, sondern infolge Gottes unfehlbarer Vorsehung, die sich 
der Auserwählten und Prädestinierten annimmt, wenn sie einen Fehltritt 
begehen, wie, meine Brüder, hätten wir dann das Wesen der Buße und 
Umkehr zu definieren? Besser ist es, noch hier auf Erden ins Unglück ge¬ 
stürzt als ewig gepeinigt zu werden? 45 )... 

Wenn Du also hochmütig bist, so erniedrige dich vor Gott und seinem 
Stellvertreter, deinem Hirten, sonst wird Gott selbst, der den Hochmütigen 
widersteht und nicht will, daß jemand verloren werde, dich dergestalt de¬ 
mütigen, daß du deinen Mitmenschen ein warnendes Beispiel wirst. Willst 


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Beiträge zur Biographie Hugos von der Goes usw. 


525 


du also die irdischen Strafen mäßigen und den Höllenstrafen entfliehen, 
so erniedrige dich und führe einen guten, disziplinvollen Lebenswandel. Er 
liegt in unserem Klosterhof begraben, unter freiem Himmel. 

Hiermit endigt dieser wertvolle, für den Psychiater und Kunsthistoriker 
gleich,interessante Bericht. Das Krankheitsbild, das der Chronist entwirft s ?) 
ist dank seiner moralisierenden Absichten so ausführlich detailliert, daß 
wir trotz der Schwierigkeit sicherer psychiatrischer Diagnostik mit aller 
Sicherheit festzustellen vermögen, an welcher Geisteskrankheit Hugo van 
der Goes gelitten hat: wir haben hier das traurige oder vielmehr tragische 
Bild einer schweren melancholischen Erkrankung, der sog. Angstmelancholie 
(melancholia agitata) vor uns. Die angeführten Krankheitssymptome des 
etwa 50 jährigen 46), der plötzliche Ausbruch 47 ), sowie der ganze Verlauf 
der Krankheit sind so typisch, daß in diagnostischer Hinsicht keine andere 
Geisteskrankheit in Frage kommt. Wir brauchen nur die charakteristischen 
Momente der Ofhuysschen Darstellung zusammenzufassen. Hugos traurig- 
depressive Verstimmung, sei nemotorische Unruhe und ängstliche Erregtheit, 
sein Lebensüberdruß, die Suizidialversuche, sein Versündigungswahn, seine 
Schlaflosigkeit — alles dies sind ganz typische Symptome 
der schweren Melancholie. Andere akut einsetzende Geisteskrank¬ 
heiten von akutem Verlauf wie die akute Paranoia oder die akuten alkoholo- 

_ • 

genen Psychosen (Delirium tremens, akute Halluzinose) kommen differential¬ 
diagnostisch schon deswegen nicht in Betracht, weil hierbei u. a. die Hallu¬ 
zinationen auffällig in den Vordergrund treten. Daß van der Goes aber 
während seiner Krankheit halluziniert habe, davon spricht der Chronist 
mit keinem Wort. Bemerkenswert ist auch, daß er sich seiner Umgebung 
gegenüber stets harmlos verhielt und sie in keiner Weise aggressiv bedrohte 
— ein Verhalten, das man bei Melancholikern meistens, bei delirierenden 
Alkoholikern so gut wie niemals beobachtet. Ferner ist Gehirnerweichung 
(Dementia paralytica) nicht nur wegen des typisch progredienten Verlaufs 
dieser Krankheit, sondern vor allem auch deswegen auszuschließen, weil 
sie als eine parasyphilitische Krankheit aufzufassen ist. Die Syphilis ist 
aber höchstwahrscheinlich amerikanischen Ursprungs, jedenfalls fand ihre 
erste epidemische Ausbreitung erst 12 Jahre nach Goes Tode statt 48). 

Doch der Ofhuyssche Bericht gibt uns mehr als Hugos Krankheits- 
geschichte. Wir können uns ein deutliches Bild von Hugos Dasein im 
Kloster, von der Tragik der letzten Lebensjahre dieses großen Künstlers 
machen. Da drängt sich uns zunächst vor allem die Frage auf, welche 
Beweggründe mögen den Maler veranlaßt haben, sich von der Welt abzu- 
wenden und ins Roode-Clooster zu gehen? Um hierüber entscheiden zu 
können, müssen wir uns das Wenige vergegenwärtigen, was uns aus Hugos 


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S 26 


HjalmarG. Sander. 


weltlichen Tagen bekannt geworden ist. Seine Heimatstadt war Gent 49 ) 
(daß er in Ter Goes auf Seeland geboren sei, ist eine ebenso naive wie vage 
Behauptung) 5 °), wie uns eine absolut authentische und glaubwürdige Ur¬ 
kunde vom Jahre 1479 ausdrücklich versichert 8 «). Hugos Geburtsjahr wird 
auf die Zeit um 1433 herum anzusetzen seinS 1 ), er war also wohl gleich¬ 
altrig mit Memlinc. Zweifellos hat van der Goes eine mehrjährige Lehrzeit 
bei Rogier van der Weyden von Brügge 5 *) durchgemacht, so ist z. B. das 
etwa um 1460 entstandene Jugendwerk Hugos, das herrliche Wiener Dip¬ 
tychon (namentlich die Pietä) sicherlich unter W r eydens persönlichem Ein¬ 
fluß entstanden. Nachdem Goes am 5. Mai 1467 — vermutlich in demselben 
Jahr wurde Memlinc als Nachfolger Hugos Schüler bei Rogier von Brügge 
— Mitglied der Gcnter Malergilde geworden war, gelangte er schnell zu 
dem Ruf eines bedeutenden Malers. Bereits im nächsten Jahre wurde ihm 
zusammen mit den angesehensten Malern seiner Zeit der ehrende Auftrag 
zuteil, die Festdekorationen für die Vermählüngsfeier Karls des Kühnen zu 
liefern 8 5 ). Van der Goes scheint auch in Gent verheiratet gewesen zu sein 53 ). 
Ob während seiner achtjährigen Genter Ruhmesperiode Schüler bei ihm 
in die Lehre traten, darüber ist uns nichts bekannt geworden. Doch muß 
der sog. Maitre de Moulins in näheren künstlerischen Beziehungen zu Goes 
gestanden haben. Hugos Ansehen und Ruhm wächst von Jahr zu Jahr, 
im Jahre 1474 bekleidet er bereits innerhalb der Gilde das höchste Ehren¬ 
amt eines Dekans, und vermutlich noch in demselben Jahre wird er, als 
der Würdigste, von dem Agenten des weltberühmten Bankhauses der Medici 
in Brügge mit der Ausführung eines gewaltigen Triptychon betraut, das 
den Italienern ein imposantes Beispiel flandrischer Kunst geben sollte, und 
in dem van der Goes denn auch, wie Voll sehr richtig bemerkt, seine Meister¬ 
schaft etwas absichtlich zur Schau stellte. Und schon im nächsten Jahre 
geschah das Unerhörte: Im Herbst des Jahres 1475 — wenige Monate nach 
Dirk Bouts Tode 54), unmittelbar nach Vollendung des Portinarialtars und 
kurze Zeit, nachdem man ihn ein drittes Mal durch die Ernennung zum Doyen 
geehrt hatte, gab Hugo van der Goes aus irgendeinem Grunde plötzlich 
seine weltliche Existenz auf, um auf der Höhe seines künstlerischen Könnens 
und Ansehens als der berühmteste Maler diesseits der Alpen in einem kleinen, 
idyllisch gelegenen brabantischen Kloster von höchstens 25 Seelen 55 ) in 
stiller Beschaulichkeit als Konversc den Rest seines Daseins zuzubringen. 

Was mag ihn zu diesem tragischen Schritt veranlaßt haben? Da 
van der Goes sicherlich eine von Haus aus stille, in sich gekehrte und zur 
Schwermut neigende Natur war und die Melancholie eine ausgesprochene 
Neigung zu Wiederholungen, zu »Rezidiven« hat, so will es uns scheinen, 
daß Hugo sich infolge einer Anwandlung von Melancholie von der Welt 
abwandte; es ist wohl möglich, daß eine melancholische Wahnvorstellung, 


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Beiträge zur Biographie Hugos van der Goes usw. 


527 


etwa ein Versündigungswahn und eine fieberhafte Angst vor der göttlichen 
Strafe ihn ins Kloster trieb 5 6 ). Wie dem auch sei: vor der Welt und den 
Klosterbrüdern muß er seine wahren Beweggründe verheimlicht haben, 
jedenfalls geht aus der Ofhuysschen Darstellung hervor, daß niemand, nicht 
einmal Hugos Halbbruder an die Möglichkeit des Auftretens einer mit 
Depressionszuständen verbundenen Geisteskrankheit bei van der Goes ge¬ 
dacht hat. Und daß er noch im Jahre 1479, also nach vierjährigem Auf¬ 
enthalt im Kloster, das volle Vertrauen der Welt besaß, beweist ja die 
interessante Tatsache, daß er, als der Berufenste, damals von der Stadt 
Löwen mit der Abschätzung eines Gemäldes aus Dirk Bouts Nachlaß 
beauftragt wurde. 

Wir ließen Goes’ Eintritt ins Roode-Clooster in den Herbst des Jahres 

1475 fallen; das bedarf der Begründung. Denn Wauters hatte infolge eines 
Rechenfehlers das Jahr 1476 hierfür in Anspruch genommen, was bis heute 
die herrschende Ansicht geblieben ist. Ofhuys erzählt uns (Orig. cen. R. V. 
F. 112'), daß er an dem Todestage des Mönches Johannes von Nivelles 
(alias von Isaakbusch), der im Jahre 1475 starb, ins Roode-Clooster eintrat 
(cf. Cod. Hag. 1 . c. S. 323 u. 332). Hiermit stimmt auch die Tatsache überein, 
daß Ofhuys, der zwischen dem I. Januar und dem I. November 1456 ge¬ 
boren war, nach dem Catalogus fratrum (Cod. Hag. S. 332) im 19. Lebens¬ 
jahr, d. h. zwischen dem I. Januar und dem I. November des Jahres 1475 
Mönch wurde 57 ). Da Ofhuys ausdrücklich betont, daß Goes und er selbst 
zu gleicher Zeit (pariter) Novizen gewesen seien (cf. Kap. I), so muß auch 
Goes, noch vor dem I. November 1475 Mönch gewerden sein. Auf einem 
andern Wege kommen wir zu dem gleichen Resultat. Wir hören, daß Meister 
Hugo 5 resp. 6 Jahre (Kap. II), sagen wir $ l /i Jahre, nachdem er 
Profeß getan hatte, eine Reise ins Ausland unternahm, auf der 
Rückreise erkrankte, und im Roode-Clooster nach mühseliger Pflege wieder 
genas und im Jahre 1482 starb. Nach den Windesheimer Statuten konnte 
ein Konverse erst nach Ablauf eines vollen Jahres seit seiner Einkleidung 
das Ordensgelübde ablegen 5 8 ). Ferner wird zwischen dem Beginn der Reise 
Hugos und seinem Tode mindestens ein halbes Jahr gelegen haben, da 
Ofhuys überschwengliche Lobrede auf die Chorbrüder und deren aufopfernde 
Pflege keine allzu kurze Krankheit vermuten läßt, und die klinische 
Erfahrung lehrt, daß sich eine schwere melancholische Erkrankung 
stets über eine ganze Reihe von Monaten zu erstrecken pflegt. Mithin muß 
Goes volle 7 Jahre im Kloster gelebt haben. Wenn wir überdies berück¬ 
sichtigen, daß Hugo am 18. August 1475 zum letztenmal als Doyen seiner 
Gilde in den Urkunden nachzuweisen ist 59 ), obwohl er bis zum 15. August 

1476 gewählt worden war, so müssen wir zu dem Gesamtergebnis gelangen, 
daß er zwischen August und Ende Oktober des Jahres 1475 Klosternovize 


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528 


Hjalmar G. Sander, 


wurde. Es wird also auch aller Wahrscheinlichkeit nach der Portinarialtar 
schon vor Ablauf des Jahres 1475 vollendet gewesen sein. Warburg kam 
bekanntlich auf Grund genealogischer Daten zu dem Schlüsse, daß dieser 
Altar zwischen 1474 und 1477 gemalt sein müsse *°). 

Wie haben wir uns das Leben Hugos van der Goes im Kloster vor¬ 
zustellen? Worin bestand überhaupt die Aufgabe der Konversbrüder ? 
Diese Frage haben wir zunächst zu beantworten 6l ). Wir betonten schon, 
daß der Begriff (und die Stellung) der fratres conversi nicht in allen Orden 
zu allen Zeiten der gleiche gewesen ist. Gregor Rivius 6l ) (1737) sagt in 
seiner bekannten »Monastica Historia occidentis«, daß die Konversen der 
Windesheimer Kongregation eine verhältnismäßig sehr geachtete Stellung 
innerhalb der Klostergemeinde einnahmen. Tatsächlich waren die Konvers¬ 
brüder dieser Kongregation denn auch veri religiosi, d. h. vollgiltige Ordens¬ 
mitglieder: sie wurden in gleicher Weise aufgenommen und zum Profeß zu- 
gelassen wie die fratres chorales. Wie die Chorbrüder verpflichteten sie sich 
in ihrem Gelübde zeitlebens im Kloster zu bleiben und in Armut, Keusch¬ 
heit und Gehorsamkeit zu leben. Sie waren wie die Chorbrüder zum Chor¬ 
dienst verpflichtet, der täglich mehr als 4 Stunden in Anspruch nahm. 
Zur Nachtzeit mußten sie ebenfalls zum Chorgebet in der Kirche erscheinen. 
Es gab nur zwei Mahlzeiten, das Prandium und die Coena, zu andern Zeiten 
durfte weder gegessen noch getrunken werden. Im Oratorium, Dormitorium 
und Refektorium hatten die Konversbrüder strenges Stillschweigen zu be¬ 
obachten. Die Zahl der Konversen durfte nicht über 8 betragen. In der 
Kleidung unterschieden sie sich von den Chorbrüdern nur durch das Nicht - 
tragen des Rochets und durch den kürzeren Talar. Wer einmal als Konvers¬ 
brüder aufgenommen worden war, durfte nur mit besonderer Genehmigung 
des Generalkapitels — aber auch nur im Ausnahmefall — zum Stande der 
Chorbrüder promovieren. Van der Goes wurde diese Vergünstigung nicht 
zuteil, er blieb bis zu seinem Tode Konversbrüder. Die Beschäftigung der 
Konversen war aber im übrigen eine rein praktische, und in diesem Sinne 
waren sie Mönche zweiten Ranges. Ofhuys selbst nennt sie »Klosterdiener« 
(nonne servi sunt et operarii coenobii?) 6 3 ). Haus- und Feldarbeit jeglicher 
Art hatten sie zu verrichten, überhaupt lag ihnen gemeinschaftlich mit den 
Donaten und Laienbrüdern (laici) die Erledigung aller profanen Wirtschafts¬ 
arbeiten ob. 

Es ist nicht verwunderlich, daß Hugo van der Goes schon wegen 
seiner ganzen Vergangenheit bereits als Novize eine Sonderstellung unter 
den Mönchen einnahm, zumal er vom Prior, der seiner Kunst offenbar volles 
Verständnis entgegenbrachte, in jeder Weise protegiert wurde. Worin diese 
Vergünstigungen, das »solatium mundanorum« (Kap. I) bestanden haben, 
ist unschwer zu erraten. Nicht allzu streng brauchte er sich an die Mönchs- 


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Beiträge zur Biographie Hugos van der Goes usw. 


529 


regeln zu halten, vielleicht wurde er mitunter vom Chordienst befreit, und 
die rohen praktischen Arbeiten blieben ihm vermutlich erspart. Und über¬ 
haupt was sonst von den Mönchen »offiziell« verlangt wurde: »promptam 
oboedientiam, alacritatem in vigiliis et abstinentiis, mortificationem volun- 
tatis proprii, observationem silentii, pompis seculi perfecte renuncire« usw. * 4 ) 

— alle diese rigorosen Vorschriften brauchte van der Goes allem Anschein 
nach weniger streng als seine Klostergenossen zu respektieren. Zweifellos 
war ihm vor allem auch das Malen gestattet. Goes’ Ruf und Ansehen als 
Künstler verblich denn auch nicht, seine Gemälde fanden allgemeine An¬ 
erkennung und Bewunderung, man scheint ihn überhaupt mit Besuchen 
und Komplimenten förmlich überschüttet zu haben. Und doch muß sein 
ganzes Mönchsdasein unendlich schwer auf ihm gelastet haben, denn sein 
übermächtiger Schaffensdrang und sein Künstlerehrgeiz ließen ihm keine 
ruhige Stunde. In den durch das kanonische Stundengebet und überhaupt 
durch den Chordienst fortwährend unterbrochenen Mußestunden konnte 
er nicht das schaffen, was seine gestaltungskräftige Phantasie ihm eingab. 
Die Mönche, mit denen er lebte, und für die er ja eigentlich zu arbeiten hatte, 
werden sich schwerlich in seine reiche Künstlerseele haben hineindenken 
können; sicherlich haben sie im geheimen des öfteren über die Ambitionen 
des Sonderlings gespottet, und wenn er gelegentlich das innere Bedürfnis 
hatte, sich auszusprechen, über seine künstlerischen Pläne und Ideen zu 
reden, so wird manch einer ihn für einen dünkelhaften Prahler gehalten 
haben, »der noch nicht einmal in 9 Jahren all das fertigbringen würde, 
was sein Größenwahn ihm vorgaukelte« 6 5 ). Daß sich nämlich bei vielen 
gar bald der Neid und die Mißgunst zu regen begann, ist nur zu begreiflich. 
»Seine Bevorzugung und Sonderstellung erregte bei einigen starkes Mi߬ 
fallen,« wie der Chronist selbst zugibt. Und Ofhuys selbst, der ehemalige 
Zollbeamte, der bei seinem Eintritt ins Roode-Clooster erst 19 Jahre alt 
war, wenig Bildung besaß und nur einige Brocken Lateinisch und Vlämisch 
verstand — er war damals nur der französischen Sprache mächtig M ) — 
scheint zu denen gehört zu haben, die Meister Hugo zwar für einen be¬ 
deutenden Maler hielten, die aber seiner Künstlernatur nicht gerecht wurden. 
Wenigstens fühlt man aus dem ganzen Bericht nicht eben viel Mitgefühl 
mit dem tragischen Geschick des Künstlers heraus, eher das Gegenteil. 
Ofhuys wird uns in seinen späteren Jahren als ein energischer, gottesfürch- 
tiger und strebsamer, um nicht zu sagen, streberischer Mönch geschildert 

— er war in sieben verschiedenen Klöstern Prior (bzw. Procurator oder 
Rektor) — und als solcher tritt er uns auch in seiner Chronik entgegen; aber 
auf der andern Seite war er ohne Frage ein einseitiger, trockener und wenig 
feinfühliger Mensch. Ofhuys redet, wie schon erwähnt, nicht von den Mo¬ 
tiven, die van der Goes veranlaßten, ins Kloster zu gehen, aber seine in 


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530 


Hjalmar G. Sander, 


Parenthese gestellten Worte: »Wurde er doch auf diese Weise berühmter 
als wenn er in der Welt geblieben wäre« (Kap. VI) — klingen sie nicht so, 
als ob er sagen wollte: »eine schlaue Spekulation trieb ihn ins Kloster«? 
Ofhuys Berichterstattung ist sehr sachlich und vorsichtig. Seine persön¬ 
liche Ansicht läßt er nur selten durchblicken. Auch folgende Stelle wirft 
ein Licht auf seine diplomatisch-vorsichtige Diktion: er will sagen, daß 
Bruder Hugo infolge der vielen Ehren, die man ihm erwies, ein hochmütiger 
und dünkelhafter Mann wurde, er vermeidet aber solche allzu eindeutige 
Ausdrücke und schreibt sehr gewählt: »forte cor suum elevatum cst« (Kap. 
VI), was man ebensogut mit »gehobener Stimmung« übersetzen könnte. 
Ein weiteres Moment sei im Anschluß hieran gleich erörtert: War Hugo 
van der Goes ein Säufer? Man muß sich vor Augen halten, wie natürlich 
es war, daß man dem Maler, der so oft mit hohen Gästen abseits von den 
andern »dinieren« durfte, nachsagte, daß er bei solchen Gelegenheiten sich 
reichlich gütlich tat und sich des Weins nicht allzusehr enthielt — durften 
doch die Mönche offiziell nur während der beiden Mahlzeiten trinken ! Auch 
dieses Gerücht gibt Ofhuys sehr vorsichtig wieder. Bei der Besprechung 
der mutmaßlichen ätiologischen Momente der Krankheit Hugos erwähnt 
er auch das Weintrinken, macht aber gleich die Einschränkung: »indubie 
propter hospites«, eine Bemerkung, die des ironischen Beigeschmacks ent¬ 
schieden nicht entbehrt. Trotzdem sich Ofhuys in diesem Punkte durchaus 
mit Reserve ausdrückt und weit davon entfernt ist, die Hauptursache der 
Krankheit im Weintrinken zu suchen (er führt die Phrenesie auf »passiones 
animi« zurück und erblickt im Weintrinken nur ein aggravierendes Moment), 
ist Goes unbegreiflicherweise in den Ruf eines delirierenden Alkoholikers 
gekommen, nicht zum wenigsten wegen Springers unverantwortlicher 
»Übersetzung«: »den größten Schaden aber tat ihm die Liebe zum Wein«! 
Es sei hier auch noch einmal darauf hingewiesen, daß die von Ofhuys so 
ausführlich beschriebenen Krankheitssymptome Säuferwahnsinn mit aller 
Sicherheit ausschließen lassen. 

Es konnte van der Goes nicht entgehen, wie kleinlich seine Umgebung 
oder doch ein großer Teil seiner Umgebung von ihm dachte. Auch außer¬ 
halb des Klosters scheint man hiervon gewußt zu haben; so wird wohl das 
Gerücht entstanden sein, man habe Goes während seiner Krankheit nicht 
mit der schuldigen Nächstenliebe und Aufmerksamkeit gepflegt 6 7 ). 

Nachdem Hugo nun unter solchen, wohl nicht allzu erfreulichen Um¬ 
ständen, mehr als ein halbes Jahrzehnt im Kloster verbracht hatte, wird 
es wohl sein sehnlichster Wunsch gewesen sein, das Kloster für längere Zeit 
zu verlassen, um einmal wieder in einer andern Umgebung zu leben und 
Freiheit zu atmen. Von der Reise selbst erfahren wir nur, daß Köln 
ihr Ziel war. Auch darüber läßt uns der Chronist im unklaren, ob van der 


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Beiträge zur Biographie Hugos van der Goes usw. 


53 * 


Goes diese Reise aus privatem Interesse oder, was wahrscheinlicher ist, 
im Aufträge des Priors zum Zwecke der Erledigung einer offiziellen Kloster¬ 
angelegenheit unternahm — die Konversen wurden häufig zu solchen Dien¬ 
sten verwendet 68 ). Daß Goes damals (1481) in Köln mit den berühmten 
Malern dieser Stadt zusammentraf, ist sehr wahrscheinlich. (Die Reise von 
Brüssel nach Köln legte übrigens genau 40 Jahre später Dürer in 5 Tagen 
zu Pferd zurück (12. Juli bis 16. Juli 1521). In Köln wird van der Goes wohl 
in dem Kloster: »Zu Unseres Herrn Licham« gewohnt haben, dem einzigen 
Augustinerkloster dieser Stadt, das zur Windesheimer Kongregation ge¬ 
hörte 6 ?). Auf der Rückreise ereilte ihn jenes tragische Geschick: er wird 
eines Nachts plötzlich geistesgestört. Er hat die ängstliche Wahnidee, daß 
er ein Verdammter sei und wegen seiner Sünden die Gnade Gottes ver¬ 
loren habe und von der himmlischen Seligkeit für alle Zeit ausgeschlossen 
sei. Er bezeichnet sich selbst als »filius perditionis« mit Anlehnung an die 
Bibelstelle: »Homo perditus, filius perditionis.« Was mag die Ursache seiner 
Melancholie gewesen sein? Wir erwähnten schon, daß die eigentliche Ur¬ 
sache der Melancholie noch durchaus in Dunkel gehüllt ist. Ausgelöst wurde 
seine Melancholie damals möglicherweise durch das quälende böse Ge¬ 
wissen, das Mönchsgelübde gebrochen zu haben, oder vielleicht durch das 
traurige Bewußtsein, gerade in dem Augenblick in das weltfremde Kloster, 
an das er durch sein Gelübde gefesselt war, zurückkehren zu müssen, wo 
sein Lebenstrieb und Freiheitsdurst, sein künstlerischer Schaffensdrang und 
Ehrgeiz durch die Anregung der Reise einen neuen Höhepunkt erreicht hatte. 
Es ist nicht unmöglich, daß seine Melancholie in Gent zum Ausbruch kam. 
Hier wenigstens ging noch im Jahre 1495 das Gerücht, Hugo van der Goes 
habe bei der Betrachtung des Genter Altars den Verstand und den Glauben 
an sich selbst verloren und sei in Melancholie verfallen 7 °). Auf das Gerücht 
selbst ist zwar wenig zu geben, wenngleich uns Vaernewyck überliefert hat, 
daß Meister Hugo ein eifriger Bewunderer dieses unsterblichen Werkes war. 
Aber wir können aus dieser Anekdote mit einiger Sicherheit schließen, daß 
van der Goes in seiner Vaterstadt Gent geisteskrank wurde, zumal Brüssel, 
wohin er ja nach Ofhuys zunächst gebracht wurde, auf direktem Wege 
zwischen Gent und dem Roode-Clooster liegt 7 1 ). 

Über die Krankheit selbst haben wir bereits im Zusammenhänge das 
Wichtigste gesagt. Daß Hugo van der Goes von seiner Me¬ 
lancholie wieder genas und keineswegs im »Irrsinn 
gestorben ist«, haben wir ebenfalls festgestellt. Eine trübsinnige 
Verstimmung bei sonst klarem Bewußtsein könnte freilich zurückgeblieben 
sein. Kein Wunder, daß er, der sich zeitlebens mit so großen und kühnen 
künstlerischen Plänen getragen hatte, durch die Krankheit tief gebeugt, 
daß er kleinmütig und demütig, menschenscheu und wortkarg wurde. Der 

Repertorium Tür Kuixtwiseentchaft, XXXV. -te 


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532 


Hjalmar G. Sander, 


Anblick der Chorbrüder, die ihn nicht verstanden hatten, und die nun wohl 
gar seiner spotten würden, war ihm unerträglich: bis zu seinem Tode ließ 
er sich nicht mehr im Refektorium der Chorbrüder blicken, und er zog es 
vor, mit der niedersten Klasse der Klosterbewohner, den Laienbrüdern, den 
ungebildeten Handwerkern zu speisen — sic transit gloria mundi! Man 
fühlt, von welch erschütternder Tragik gerade die letzten Tage und Monate 
seines Lebens gewesen sein müssen. 

In Verbindung mit Hugos Krankheit wird vielfach eins seiner Bilder 
gebracht, in dem man Spuren der Geisteskrankheit zu erkennen glaubte: 
der »Tod der Maria« in Brügge. Allerdings legt dieses eigenartige, ja be¬ 
fremdliche und ganz und gar problematische Gemälde die Vermutung nahe, 
daß es kurz nach der Geisteskrankheit des Künstlers in der Genesungszeit 
entstanden ist. Tatsächlich aber hat van der Goes den »Marientod« vor 
seiner Krankheit gemalt, vermutlich um das Jahr 1479 herum. Denn es 
kann keinem Zweifel unterliegen, daß Martin Schongauer (ca. 1450—1491) 
dieses Bild durchaus kannte, als er seinen »Marientod« in Kupfer stach. 
Schongauers Kupferstich (B. 33) ist hinsichtlich der ganzen Komposition 
dem Goesschen Bilde sehr verwandt; sogar die bei diesem Bilde besonders 
frappierende Vorliebe des Genter Meisters für die recht auffällige Darstellung 
fein durchmodellierter Hände hat Schonguer nicht ganz ungeschickt imitiert. 
Wenn wir vollends den äußersten Apostel auf der linken Seite des Schon- 
gauerschen Stiches mit dem genau entsprechenden Apostel auf dem Goes¬ 
schen Bilde vergleichen, so ist nicht zu leugnen, daß der Kolmarer Meister 
Hugos Bild nicht nur gründlich studiert, sondern sich auch Skizzen von 
einzelnen Porträts gemacht haben muß: so auffällig ist die Ähnlichkeit 
der beiden genannten Apostel 7 *). Da nun Schongauers Stich bereits im 
Jahre 1481 von Wenzel von Olmütz kopiert worden ist, so muß der »Marien¬ 
tod« Hugos schon vor 1481, also vor dem Ausbruch seiner Melancholie 
vollendet gewesen sein. Die problematische Tiefe dieses Bildes liegt in der 
scharfen Dissonanz des Dargestellten 73 ). Die unendliche Sanftheit und 
Milde und die tiefe Todessehnsucht, die aus Mariens Zügen spricht, wird 
durch den scharfen Kontrast der allzu menschlichen, fast pathologisch 
dumpfen, gleichgültigen oder verdrießlichen, ja neugierigen und lauernden 
Züge der einzelnen Apostel zu einer überirdischen, wahrhaft göttlichen 
Seelenruhe gesteigert: 

»Und in bleicher Todesschönheit 

Zeigen sich die holden Züge, 

Vom Verklärungsglanze schon umflossen, 

Der um Himmelswohner strahlt.« 

Mit dieser freudigen Gefaßtheit und erhabenen Seelenruhe wird auch wohl 
der unglückliche Maler dem Tode entgegengesehen haben, der ihn denn 


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Beiträge zur Biographie Hugos van der Goes usw. 


533 


auch bald nach seiner Genesung erlösen sollte. Sicherlich war Hugos Körper 
durch die schwere Psychose bedenklich geschwächt und wenig widerstands¬ 
fähig geworden, und so wird die zum Tode führende Krankheit schon aus 
diesem Grunde nicht mehr von langer Dauer gewesen sein. (Im Herbst?) 
des Jahres 1482 starb Hugo van der Goes, etwa 50 Jahre alt, an irgend¬ 
einer interkurrenten Krankheit — leider erwähnt Ofhuys die Todesursache 
nicht 74 ); unter freiem Himmel im Klosterhof fand er (wie alle Konversen 
des Roode-Cloosters) sein unrühmliches Grab; vermutlich erhielt er damals 
nicht einmal eine ehrenvolle Grabschrift von seinen Klosterbrüdern. Wenig¬ 
stens ist es höchst auffällig, daß Ofhuys, der alles so genau und gewissen¬ 
haft registriert, die später bekannt gewordene Grabschrift nicht erwähnt. 
Wauters sprach wohl aus diesem Grunde die Vermutung aus, diese Grab- 
schrift könne gefälscht sein. Das ist aber nicht richtig, denn das von Sweerts 
1613 zuerst erwähnte Epitaph Hugos befand sich noch im Jahre 1734 in 
der Klosterkirche des Roode-Cloosters " 5 ). Ein Verwandter Hugos oder 
ein Verehrer seiner Kunst dürfte ihm bei Gelegenheit der Stiftung einer 
Geldsumme für den Umbau der Klosterkirche, der im Jahre 1520 vollendet 
war 76) (Ofhuys schrieb seine Chronik ca. 1512, jedenfalls vor 1518), dieses 
durch Sweerts bekannt gewordene Denkmal gesetzt haben 77 ). Das Roodc- 
Clooster wurde übrigens im Jahre 1784 aufgehoben, und 50 Jahre später 
(1834) wurde die Klosterkirche, die übrigens auch ein Gemälde von Rubens 
besaß (Martyrium des St. Paulus), ein Raub der Flammen 7 8 ). Vermutlich 
ging auch bei dieser Gelegenheit Hugos Epitaph zugrunde, nach dem man 
später vergeblich geforscht hat. I 


Anhang. 

Es ist keine Stelle in der Literatur bekannt geworden, die uns von 
der äußerlichen Erscheinung Hugos van der Goes erzählt 79 ). Man hat 
bei andern Malern diesem Mangel an authentischen Nachrichten früher in 
der Weise abgeholfen, daß man das erste beste Porträt auf irgendeinem 
der Bilder des Malers als ein Selbstporträt bezeichnete. Das erste derartige 
Buch mit den angeblichen oder vermeintlichen Porträts einer ganzen Reihe 
von altniederländischen und altvlämischen Malern erschien im Jahre 1572 8o ;. 
Van der Goes' Porträt aber werden wir vergeblich in diesem Buch suchen, 
und das kann uns nicht wundernehmen. Denn einmal war er damals schon 
fast ganz in Vergessenheit geraten, anderseits wäre man auch in ziemlicher 
Verlegenheit gewesen, ein einigermaßen glaubwürdiges Sclbstporträt Hugos 
zu eruieren, da in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts die meisten seiner 
Gemälde dem fanatischen Vandalismus der Bilderstürmer zum Opfer ge¬ 
fallen waren — van Mander (1604) schrieb van der Goes nur vier Bilder 
in Gent und eins in Brügge zu, auch diese Bilder sind heute sämtlich ver- 

35 * 


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534 


Hjalmar G. Sander, 


schollen 8l ). Nun ist ja nicht zu leugnen, daß die alten Meister sozusagen 
an Stelle der namentlichen Signatur vielfach einer dargestellten Person ihre 
eigenen Gesichtszüge verliehen, aber wir dürfen nicht vergessen, daß uns 
eine einwandfreie Identifizierung wohl nur in den seltensten Fällen gelingt. 
So findet sich auf Hugos »Hirtenanbetung« der Berliner Galerie das Porträt 
eines etwa 50 jährigen Mannes, das in allen Einzelheiten mit einem Porträt 
der Florentiner »Hirtenanbetung« übereinstimmt. Man vergleiche nur das 
Porträt des rechten der beiden Heiligen auf dem rechten Flügel des Portinari - 
altars mit dem linken der beiden, den Vorhang zurückziehenden Propheten 
des Berliner Bildes. Gleich auf den ersten Blick wird uns die frappierende 
Ähnlichkeit auffallen, die uns ein näherer Vergleich völlig bestätigt: Die 
Haare und der Bart, die Augenbrauen und die Augen, die Nase und der 
Mund stimmen auf beiden Bildern in Linie und Farbe genau überein. Die 
beiden Porträts sind nun sicherlich keine freien Erfindungen des Malers, 
sondern ganz offenbar nach einem und demselben Modell gemalt worden. 
Ein größerer Altersunterschied ist kaum feststellbar, sodaß die beiden Bilder 
etwa um dieselbe Zeit entstanden sein müssen. Da man aber auf Grund 
stilkritischer Erwägungen allgemein mit Recht der Ansicht ist, daß die 
Berliner Anbetung nach Vollendung des Portinarialtars, also im Roodc- 
Clooster (ca. 1478), entstanden ist, so könnte man aus diesem Grunde viel¬ 
leicht prätendieren, daß es sich um zwei Selbstporträts Hugos van der Goes 
handelt — der Maler müßte sich denn das Modell ins Kloster bestellt haben. 
Auch das Alter und der entschieden etwas träumerisch-unentschlossene, 
melancholische Ausdruck der Augen und Lippen würde nicht gegen eine 
solche Behauptung sprechen 82 ). Und sollte sich wirklich der Maler unter 
der Maske des »Schutzheiligen« und »Propheten« verbergen, so wird uns 
auch die eigentümliche, gleichsam auf das Kunstwerk hinweisende Hand- 
bewegung des Schutzheiligen und anderseits die originelle, symbolische Ent¬ 
hüllung des Gemäldes durch den »Propheten« in einem ganz anderen Lichte 
erscheinen: »forte cor suum elevatum est«. 

Die Wautcrs- »Originale Cenobii Rubeevallis in Zonia propre Bruxcllam 
sehen Text- in Brabancia«, von Gaspar Ofhuys. F. 115 V , Zeile 23 

fehl er 9 ) bis F. 118, Zeile 25 (Biblioth£que Royale ä Bruxelles. 

Msc II, 48017). 

Anno domini 1482 moritur frater Hugo conversus 
hic professus. Hic tarn famosus erat in arte pictoria, 
ut citra montes sibi similis, ut aiebant, temporibus illis 
non in\eniebatur. Pariter novicii fuimus ipse et ego hoc 
scribens. In eius investitione et noviciatu, ipse pater 


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Beiträge zur Biographie Hugos van der Goes usw. 


535 


(pp) (quam) 


(Komma) 


(mirabiliter) 


(verum) 


(cavente) (et) 


prior Thomas plurima solatium mundanorum attincntia 
permittebat, p r o p t e r melius tarnen, q u i a magnus 
inter mundanos fuerat, que magis ad pompam huius 
seculi inducebant, quam ad penitentie et humilitati-- 
viam. ' Quod minime aliquibus placebat dicentibus: 
Novicii non sunt exaltandi sed humiliandi. Et quin 
excellens valde erat in ymaginibus depingendis a mag- 
natibus et pluribus etiam ab illustrissimo archiduce Maxi¬ 
miliane visitabatur. Optabant enim vehementer opera 
eius depicta inspicere. Propter hospites eius occasione 
venientes pater Thomas prior eum permittebat hospituni 
cameram ascendere et ibidem cum illis convivari. 

Post eius professionem paucis annis elapsis quinque 
vel sex, contingit hunc fratrem conversum, si bene me- 
mini Coloniam pergere cum fratre suo uterino fratre 
Nicholao hic professo et donato, cum fratre Petro regulari 
dcThrono eo tune in Jherico Bruxelle moranti, et cum ali¬ 
quibus aliis. Ut tune sui fratris nicholai donati relatu 
didici, in reditu quadam nocte, hic frater noster Hugo 
conversus, m i r a b i 1 e m fantasialem morbum incurrit, 
quo incessanter dicebat se esse dampnatum et dampna- 
tioni eterne adiudicatum, quo etiam sibi ipsi corporaliter 
et letaliter (nisi violenter impeditus fuisset auxilio astan- 
tium) nocere volebat. Ex hac infirmitate mirabili, ex- 
trema peregrinationis illius luctus occupabat non modi- 
cus. Qui tarnen auxilio opitulante Bruxellam pervene- 
runt, et sine mora pater prior Thomas illuc demandatur, 
ille cuncta videns et audiens, suspicabatur eum eodem 
morbo vexari, quo rex Saul agitabatur. Unde recordans 
quomodo Saul levius habebat david cytharam percu- 
tiente, permisit ibidem coram fratre Hugone melodiam 
fieri non modicam sed et alia spectacula recreativa, qui- 
bus intendebat mentales fantasias repellere. In omnibus 
hiis frater Hugo non melius habuit, sed aliena loquens 
se filium perditionis asserebat. Sic ergo indispositus 
domum hanc intravit. 

De servitio et assistentia a fratribus choralibus, 
in caritate et compassione noctu dieque sibi exhibitis, 
in eternum et ultra nunquam ex memoria divina erit, 
cuncta cernente licet protunc plurimi etiam mag- 
nates aliter fabulabantur. 


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536 


Hjalmar G. Sander, 


(saepe) 

(unicuiquc) 


(dicente) 

(simul) 

lalii) 


(verum) 


(fehlt) 

(qui) 

(est patiens) 
(noster) 

(fuerat) (quod) 


(miror) 


(hoc) 

(peccatoris) 


Que autem fuerit hec infirmitas huius convcrsi 
divcrsi diversemode scntiebant. Quidam diccbant quod 
speties erat frenesis magne. Alii vero eum obsessum a 
demonc asserebant. De utroque infortunio aliqua signa 
apparebant verumtamen semper audivi, quod nulli 
u m q u a m in tota sua indispositione noccre voluit njsi 
semper sibi ipsi. Hoc non auditur de freneticis aut 
obsessis, ergo quid fuerit credo, deus solus novit. Du- 
pliciter ergo de hac nostri conversi pictoris infirmitate 
possumus loqui. Primo d i c e n d o , quod fuerit natu- 
ralis et quedam speties frenesis. Sunt enim s e c u n • 
dum naturales huius infirmitatis plures speties que 
generantur aliquando ex cibis melancolicis, ali- 
quando ex potatione fortis vini, ex anime passionibus 
scilicet sollicitudine, tristicia, nimio studio et timore. 
Aliquando ex malacia humoris corrupti dominantis in 
corpore hominis ad talem infirmitatem praeparati. 
Quantum ad anime passiones pro certo scio dictum 
fratrem conversum fuisse valde gravatum. Habebat enim 
sollicitudinem maximam quomodo opera perficeret de- 
pingenda. Ut tune dicebatur vix novem annis perficere 
potuisset. Sepissime in libro flamingo studebat. De 
potu vini, indubie propter hospites, timeo eius naturam 
gravatam fuisse. Ex hiis igitur sibi generare potuit 
materiam, successu temporis, infirmitatis sue magne. 
Secundo de hac infirmitate possumus loqui, tenendo 
sibi evenisse, ex piissima dei providentia, quac ut dici- 
tur 2 P e t r i 3, patienter agit propter nos, nolens aliquos 
perirc, sed omnes ad penitentiam reverti. Frater enim 
iste conversus propter spetialem suam artem in nostra 
religione satis f u i t exaltatus famosior effectus quam 
si in seculo remansisset, et quia homo erat ut ceteri ex 
honoribus sibi exhibitis visitationibus et salutationibus 
diversis forte cor suum elevatum est, quare deus nolens 
eum perire, miscricorditcr ei dimisit hanc humi- 
liativam infirmitatem, qua re vera humiliatus est valde. 
Hoc ipse frater intelligens quam cito convaluit se valde 
humiliavit, sponte nostrum refcctorium relinquens, et 
cum laicis refectionem humiliter capicns. H c c hic reci* 
tare curavi, quia deus hec omnia permisit ut cstimo, non 
tantum propter peccati punitionem aut peccantis 


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(‘Komma) (com- 
pcllere) 


(sane profectum) 


(possit) 
(Schluß des 
Wautersschen 
Textes) 

(cf. Lukas 16, 21) 
Lukas 16, 28) 


correptionem et emendationem sed etiam propter nostram 
instructionem. 

Dato hanc infirmitatem accidisse ex accidenti natu- 
rali*. Instruimur in hoc anime passiones r e p e 11 e r e , 
non permittere illas nobis dominari, alias in naturalibus 
nostris irremediabiliter possemus ledi. Frater iste 
pictor egregius ut tune dicebatur ex nimiis ymagina- 
tionibus fantasiis et sollicitudinibus circa cerebrum in 
quadam vena lesus erat. Est enim circa cerebrum ut 
aiunt in quedam vena parva valde et gracilis, potentie 
ymaginative et fantastice deserviens, quando ergo yma- 
ginationes et fantasie in nobis nimis habundant, hec 
venula turbatur, quod si adeo turbatur et ledatur quod 
rumpatur, homo incidit in frenesim vel amentiam. Fan¬ 
tasiis ergo nostris et ymaginationibus, suspitionibus et 
aliis vanis cogitationibus et inutilibus, quibus sine 
profcctu nostrum cerebrum turbatur, ponamus mo- 
dum, ne incidamus in tale et irremediabile periculum. 
Homines enim sumus. Quod ergo huic converso accidit 
ex fantasiis et ymaginationibus nonne et nobis accidere 
p o s s e t. 

Esto quod non ex causa naturali hoc infortunium 
evenit, sed ex dei providentia infallibili, quae procurat 
electigetpraedestinatis (si in errore sunt), materiam peni- 
tendi et revertendi, quid fratres mei dicemus? Melius 
est temporaliter affligi, quam eternaliter cruciari. Lmde 
rogabat dampnatus, in inferno sepultus: Rogo te pater 
Abraham ut mittas Lazarum in domum patris mei, 
habeo enim quinque fratres ne et ipsi veniant in hunc 
locum tormentorum, Lukas 16. Tamquam diceret: Scio 
quia dampnabiliter vivunt, et nisi penituerint et in 
mundo pro suis peccatis afflicti fuerint, haec tormenta 
incurrent. Times hic affligi? multo plus afflictio eterna 
timenda est. Si ergo times divinam afflictionem tempo¬ 
ralem, times et afflictionem infernalem, et non cstdedecus 
pcccati sine decore iusticie, te ipsum peccatorem corrige. 
Si superbus es, humilia te ipsum valde, coram deo et 
eius vicario pastore tuo, quia nisi te emendaveris (quia 
es electus et de praedestinatis) ipse deus qui superbis 
resistit, nolens quod pereas, adeo te humiliabit, cui resis- 
tere non poteris, quod exemplum aliis cris. 


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53« 


Hjalmar G. Sander, 


Nonne humiliatione placatur, nonne penitentia pa- 
catur, ipse dicens deus noster? In conspectu ergo eius 
humilia animum tuum, vitam tuam malam corrige, ad 
bene et disciplinate vivendum te veraciter dispone, 
declina a malo et fac bonum, eius misericordiam impe- 
trabis, afflictionem temporalem temperabis et effugies 
supplicium eternum. Sepultus est in nostro atrio sub 
divo. 


Anmerkungen: 

*) Vaernewyck, Marcus van: »Die Historie van Belgis diemen anders namen 
nach: den Spieghel der Nederlandscher Audtheydt. Ghcndt 1574 (Königl. Bibliothek, 
Berlin, Tk 1056), S. U9 r , I20 v , I2i r , I2i r , 133*". 

а ) O p m e e r , Pieter van: Opus chronographicum orbis universi, Antverpiae 1611. 
S. 406: »Hugo Leidensis«. 

3 ) Cf. Anm. 49. 

4 ) Swcerts, Frantz: Monumenta sepulchralia et inscriptiones Ducatus Bra- 
bantiae, Antverpiae 1613, S. 323. 

5 ) Sander, Anton: De Brugensibus eruditione fama Claris libri duo, Antverpiae 
1624, S. 39, und Flandria illustrata, Coloniae Agrippinae 1631, T. I., über primus, S. 210. 

Sandrart, Joachim: Deutsche Akademie der edlen Bau-, Bild- und Malerey- 
Kilnste. Nürnberg und Frankfurt 1675, 2 - Teil, 3. Buch, S. 216. 

B a 1 d i n u c c i, Filippo: Notizic de* professi del Disegno ed. F. Ranailli, Firenze 
1845, Bd. I, S. 592 — 593 - 

Descamps, Jean-Baptiste: Lcs vies des Peintres flamands etc. 1753, Bd. I, 
S. 8—9. 

б ) Das Abfassungsjahr der Chronik läßt sich auf Grund folgender Tatsachen ziemlich 
genau berechnen. In dem Catalogus der Chorbrüder des Roode-Cloosters (abgedruckt 
in: De codicibus hagiographicis Johannis Gielemans, edid. Presbyteri S. J. Smedt, 
Bäcker etc., Bruxelles 1895, S. 332) ist Ofhuys an 65. Stelle erwähnt. Hier heißt es u. a., 
daß Ofhuys Prior des Klosters Isaakbusch bei Nivclles war, dann aber 10 Jahre lang das 
Priorat des Klosters Isaakbusch bei Lüttich bekleidete, und darauf ins Roode-Cloostcr 
zurückkohrte, wo er 8 Jahre blieb, während welcher Zeit er die Chronik dieses Hauses 
geschrieben habe. Da nun aus W i a e r t s : Historia Silvae — Isaacanae, Bruxellis 1688, 
p. 134 hervorgeht, daß Ofhuys während der Jahre 1496—1499 Prior von Isaakbusch war, 
so muß er während des Zeitraums 1509—1517 (bzw. zwischen 1510—1518) das »Originale« 
geschrieben haben. Da aber seine Chronik mit dem Jahre 1513 abschließt, so dürfen wir 
annchmen, daß ihre Entstehungszeit in die Jahre 1509—1513 fällt. 

7 ) Cf. Sander, Anton: Chorographia sacra... Brabantiae, Bruxellis 1659. An 
13. Stelle bespricht er das Roode-Cloostcr, und auf S. 14 heißt es daselbst: »Ofhuys in- 
super cxactissimum primordiale huius domus conscripserit«. Cf. ferner Grammaye, 
Joan. Bapt.: Antiquitates illustrissimi ducatus Brabantiae, Bruxellis 1708, p. 16 b (Bru- 
xella). 

8 ) Die Handschrift war ehemals im Besitz des Chevalier Camberlyn d'Amougic, 
nach dessen Tode (1882) erwarb die Bibliotheque Royale in Brüssel das Manuskript für 
750 Mark (Msc. n. II, 48 017). Der 146 zeilige Passus über Goes beginnt auf F. 115'*, Zeile 23, 


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Beiträge zur Biographie Hugos van der Goes usw. 


539 


und endigt auf F. n8 r f Zeile 25. Herr Direktor van den Gheyn S. J. gestattete uns freund- 
lichst die Veröffentlichung des revidierten Textes. 

9 ) Cf. Bulletin de TAcademie de Belgique, II. Serie, S. 723—743; Wauters, 
Alphonse: Hugues van der Goes, Bruxelles 1872, S. 12ff. (lateinischer Text, nebst fran¬ 
zösischer Übersetzung, die wiederholt abgedruckt wurde: z. B. Biographie nationale de 
Belgique Bd. 8, Bruxelles 1883, S. 33—36; Hymans, Henri: Le livre des peintres de 
C. v. Mander, Bd. I, Paris 1884, S. 51—59; Revue des questions scientifiques, 3. Serie, 
T. VIII, Louvain 1905, S. 87—90 etc.). 

10 ) Deshalb ist auch Wurzbachs deutsche Übersetzung unbrauchbar, die aber 
auch wegen mancher sonstiger Ungenauigkeit dem lateinischen Text nicht gerecht ge¬ 
worden ist (Niederl. Künstlerlexikon, Wien 1906, Bd. I, S. 591)- Ein ganz dürftiger und 
fehlerhafter Auszug des Ofhuysschen Berichtes findet sich in der deutschen, von A. S p r i n - 
ger bearbeiteten Ausgabe der »Geschichte der altniederländischen Malerei» von Cr owe 
und Cavalcaselle (Leipzig 1875). Karl Voll hat diesen verfehlten Auszug in seinem 
Werke über »die altniederländischc Malerei etc.» München 1906, unglücklicherweise zitiert. 

xx ) De codicibus etc. (cf. Anm. 6), S. 283, wo 16 Ungenauigkeiten des Wauters- 
schcn Textes aufgezählt werden. Wir konnten 7 weitere kleine Lapsus feststellen. 

xa ) Der Begriff (und die Stellung) der fratres conversi w*ar nicht in allen Orden 
zu allen Zeiten derselbe. Das Roode-Clooster war eine Augustinerchorherrnpriorei, die seit 
dem J^hre 1438 an die große 1387 gegründete Windesheimer Kongregation angeschlossen 
war, die ehemals über 100 Klöster umfaßte. Aus den ausführlichen Statuten dieser Kon¬ 
gregation, die 1402 neu bearbeitet und seitdem ziemlich unverändert bestehen blieben 
(cf. Geschichtsquellen der Provinz Sachsen Bd. XIX, Halle 1886: Chronicon Windescmense 
ed. Karl Grube, S. XXIX), können wir uns ein deutliches Bild von der Aufgabe und 
der Stellung der Konversen machen. Wir werden später darauf eingehen. Eine Beschrei¬ 
bung und Abbildung der Trachten der Konversen und Chorbrüder dieser Kongregation 
befindet sich bei Helyot : Histoire des ordres monastiques r 41 igieux etc. Paris 1721, 
t. II, p. 944—946. 

x 3 ) Springer und Wurzbach übersetzen citra mit »auch jenseits». So groß 
war Goes’ Ruhm nun wohl doch nicht in einem Lande, in dem Männer wie P e r u g i n o 
(geb. 1446), Botticelli (geb. 1446), oder Mantegna (geb. 1431) schon längst zur 
Berühmtheit gelangt waren. 

x 4 ) Mit der Einkleidung (investitio), die mehr oder weniger kurze Zeit nach dem 
Eintritt ins Kloster feierlich vollzogen wurde, beginnt erst das offizielle einjährige Noviziat 
oder Probejahr. 

x 5 ) Thomas V e s s e m (Wyssem), aus dem Kempenland gebürtig, war seit dem 
Jahre 1475 der 15. Prior des Roode-Cloosters; in dem Catalogus fratrum dieses Klosters 
(cf. De codicibus Hag. 1 . c. S. 315—316) wird er von Ofhuys als ein frommer und gutmütiger 
Mann geschildert, dessen Frömmigkeit einige sogar mißbraucht hätten * 7 ). Vessem starb 
am 11. Juni 1485 in einem Brüsseler Hospiz »mediocriter annosus». Er hat sich übrigens 
auch als Kalligraph einen Namen verschafft (Ofhuys). 

,6 ) »propter melius tarnen quia magnus inter mundanos fuerat»; Wauters las: 
»pp. (?l) melius tarnen quam magnus» etc. und übersetzte: »parce qu’il avait iti bon 
plutöt que puissant» etc.:) Propter melius würde wörtlich zu übersetzen sein: mit Rück¬ 
sicht auf das Bessere, d. h. »er zog es vor, ihm zu gestatten». 

x 7 ) Der Ausdruck »pompa seculi» ist den Windesheimer Statuten entlehnt (1553, 
S. 86: die Novizen sollen: pompis seculi perfecte renuncire). 

l8 ) »Ymago» heißt im Mittelalter nichts weiter als »Bild», aber keineswegs war 




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Hjalmar G. Sander, 


ymago das ausschließliche lateinische Wort für »Porträt«, wie Wauters und Wurzbach 
anzunehmen scheinen. 

! 9 ) Erzherzog Maximilian, der nachmalige deutsche Kaiser, war bekanntlich (seit 
dem 9. August 1477) mit Maria, der Tochter Karls des Kühnen von Burgund vermählt. 
Er scheint im Jahre 1478 (er w*ar damals erst 19 Jahre alt) das Roode - Clooster besucht 
zu haben (cf. Wauters, Alphonse: Histoire des environs de Bruxelles, Bruxelles 1855 
T. III, S. 356). übrigens w r urdc das Roode-Clooster häufig von Fürstlichkeiten und vor¬ 
nehmen Herren besucht, da der Zonienbusch ein beliebtes Jagdgebiet war und das Kloster 
seit 1473 ein üppig ausgestattetes »Fürstenzimmer« besaß. 

20 ) Das »si bene memini« bezieht sich nicht auf die Zeitangabe (hierüber konnte 
Ofhuys nicht im Zweifel sein), wie Wurzbach glaubt, sondern auf Köln, was überdies 
auch die ganze Stellung der Parenthese und die Interpunktion beweist. 

ai ) Köln war vom Roode-Clooster aus bequem in einer Woche zu erreichen, aller¬ 
dings durften die Mönche an Sonntagen nicht reisen (Stat. v. 1553, p. 59). Vermutlich 
reiste Goes über Löwen (Kloster Betlchem oder St. Martinskloster), Thienen (Kl. Bar¬ 
barathal), Lüttich (St. Hieronymuskloster), Aachen (Kl. Johannes der Täufer) nach Köln 
(Kl. zu Unseres Herrn Licham), weil sich in jeder dieser eine Tagereise voneinander ent¬ 
fernten Städte ein Kloster der Windesheimer Kongregation befand. 

22 ) »cum fratre utcrino Nicholao«. Goes’ Mutter muß also zweimal verheiratet ge¬ 
wiesen sein. Anscheinend hat sie den Bruder ihres verstorbenen Mannes geheiratet, denn 
merkwürdigerweise heißt dieser Nikolaas mit Familiennamen ebenfalls van der Goes (cf. 
De codic. Hag. 1 . c. S. 285). In dem Gielemansschen Katalog der Donaten des Roode- 
Cloosters von 1371—1487 ist nämlich als 13. und vorletzter Donat: »Nicolai» s de 
Goes« genannt; nach der durchschnittlichen Zahl der jährlich eingetretenen Donaten 
zu urteilen, wäre dieser Nikolaus zwischen 1471 und 1479 ins Roode-Clooster eingetreten. 
Zwei leibliche Brüder (fratres germani) durften übrigens nicht Mitglieder desselben Klosters 
werden (Stat. v. 1553, S. 86). Es sei hier darauf hingewiesen, daß eine Schwester oder 
Verwandte Hugos van der Goes namens Catharina van der Goes mit dem Minia¬ 
turenmaler Alexander Ben in c verheiratet war, der 1469 in Gent und i486 in Brügge 
nachweisbar ist (Wurzbach 1. c. I, S. 79). 

* 3 ) Die Donati sicherten sich durch Hingabe ihrer ganzen beweglichen und un¬ 
beweglichen Habe den lebenslänglichen Unterhalt im Kloster; sie w'aren keine vollgiltigen 
Mitglieder der Klostergemeinde, da sie nicht die drei Ordensgelübde abzulegen hatten, 
Vor Notar und zw'ei Zeugen versprachen sie dem Generalkapitel und dem Prior ihres Hauses 
Treue und Gehorsam. Sie hatten eine besondere Tracht und hatten im übrigen ähnliche 
Dienste wie die Konversen. Kein Kloster der Windesheimer Kongregation durfte mehr 
als fünf Donaten aufnehmen. 

* 4 ) Es gelang uns auf Grund einer Notiz bei J. G. R. A c q u o y (Het Klooster 
te Windesheim, Utrecht 1880 Bd. III, S. 78) und dank der freundlichen Unterstützung 
des Generalarchivars des Brüsseler Reichsarchivs, Herrn A. Gaillard, einiges über diesen 
Mönch zu ermitteln. Er hieß Pieter Rombouts, der vor 1452 in Lier (Prov. Ant¬ 
werpen, ehemals in Brabant) geboren wurde und im Jahre 1472 unter dem Prior Georgius 
Lamberti Chorbruder in Marienthron bei Grobbendonck wurde, einem Augustincrchor- 
herrnkloster, das seit 1419 der Windesheimer Kongregation angehörte. Um *1480 herum 
war Rombouts »socius«, d. i. etwa »Sekretär« des Rektors im Frauenkloster Jericho in 
Brüssel. Er starb im Jahre 1505 (cf. Msc. n. 6 de Tinventaire des chartes du prieure de 
St. Martin ä Louvain: Catalogus canonicorum ac professorum huius domi (Marienthron), 
Bruxelles, Archives Generales du Rovaume). 

2 5 ) »fantasialem morbum«. 


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Beiträge zur Biographie Hugos van der Goes usw. 


541 


2b ) Das Roode-Clooster (Rookloster, Roodendale, Rouge-cloitre, Rubca vallis) lag 
etwa 1 Meile südöstlich von Brüssel am Rande des Sonienbusch (Forct de Soignes, Silva 
Sonia). Im Sonienbusch, der wegen seiner Größe und Schönheit, seines Wildreichtums 
und seiner vielen Quellen wegen sehr berühmt war, lagen ehemals nicht weniger als 11 
Klöster (Butkens, Francois-Christophe: Troph£es tant sacr£s que profanes du duche 
de Brabant, La Haye 1724/1726, T. I, livre 1, S. 5—11 mit Karte). Eine Abbildung des 
Klosters findet sich in Sanders brab. Chorographie (cf. Anm. 7). 

* 7 ) Cf. 1. Sam. 16, 14—23. 

ib ) melodiam fieri non modicam — Schon wegen des Wortes »melodia* hat man 
hierbei nur an Gesang zu denken (cf. Ducange-Carpenter : Glossarium mediae 
et infimae Latinitatis Parisiis 1840—46, Bd. 4, S. 350). Denn das Orgelspiel sowie über¬ 
haupt der Gebrauch irgendwelcher Musikinstrumente (usus quorumlibet instrumentorum 
musicalium) war in den Windesheimcr Klöstern streng verpönt (Stat. v. 1553, S. 50 u.94). 

* 9 ) Es klingt ja sehr schön, wenn Firmenich-Richartz (Schnütgens Zeit¬ 
schrift f. christl. Kunst, Ddf. 1897, S. 233) sagt: »Rauschende Orgelklänge und der fromme 
Gesang der Brüder brachte ihm für kurze Zeit Linderung seiner Qualen und Besänftigung 
des zerrütteten Gemüts.» Ofhuys sagt jedoch das Gegenteil; Felix Rosen begeht den¬ 
selben Fehler, wenn er sagt (Die Natur in der Kunst, Leipzig 1903, S. 144): »Die Musik 
verschaffte ihm die letzten ruhigen Stunden.» 

3 °) »Filius perditionis», cf. Vulgata, 2. Thess. 2 f 3. 

3 1 ) Wie aus dem folgenden hervorgeht, unterscheidet Ofhuys in Übereinstimmung 
mit den mittelalterlichen Psychiatern nicht zwischen Phrenesie und Melancholie; die letzte 
faßt er als eine Varietät der Phrenesie auf, eines mittelalterlichen Sammelnamens für die 
verschiedensten mit Delirien verbundenen Geisteskrankheiten. 

3 1 ) »cibi melanqholici,» Galen (Opera omnia ed. Kühn, Leipzig 1824, Bd. VIII, 

de locis affectis üb. III, cap. io, S. 183) nennt eine ganze Reihe solcher Melancholie er- 

% 

zeugender Speisen: in erster Linie die verschiedensten Fleischarten (Ziegen-, Rind-, Esel-, 
Kamel-, Fuchs- und Hundefleisch), dann die Hülsenfrüchte, namentlich Linsen, von den 
Getränken nennt er als in dieser Beziehung besonders gefährlich, die dicken und schwarzen 
Weine (vina crassa nigraque). Ofhuys schreibt ganz im Sinne Galens. 

33 ) »sollicitudo» <ppovtfc, das viele Gedankenmachen. Ofhuys ist hier durch 
Galen beeinflußt, der a. a. 0 . sagt, daß »multi labores, et sollicitudo» melancholischen 
Saft erzeugen können. Vgl. auch den hippokratischen Satz: »metus et tristicia, si diu 
perseverent melancholiae istud indicium est.» (Ausgabe Kühn, Bd. III, S. 572, Leipzig 

1827.) 

3 *) »Sepissime in libro flamingo studebat.» Dieser Satz ist leider allzu lakonisch, 
als daß w r ir Schlüsse irgendwelcher Art daraus ziehen könnten. War dieser geheimnisvolle 
Über flamingos ein wissenschaftliches, ein belletristisches oder ein religiöses Buch ? Die 
Bibliothek des Roode-Cloosters besaß zu Goes* Zeiten über 30 in vlämischer Sprache ge¬ 
schriebene Manuskripte (cf. Bulletin de l'Acad. d'archeologie de Belgique t. IV. S. 215). 
Auf S. 81 der Windesheimer Statuten ste^t übrigens folgender Satz: »Librarius omnes 
monasterii libros ad divinum officium non spectantes in custodia sua habet.» Wollte man 
übrigens lediglich aus dieser Stelle folgern, van der Goes sei von Geburt ein Vlaeme und 
kein Holländer gewesen 8 *) (vlaemisch war damals bekanntlich die allgemeine nieder¬ 
ländische Schriftsprache), so wäre das natürlich ebenso verfehlt, wie die Vollsche Argu¬ 
mentation: »Van der Goes war, wie schon der Name sagt, höchstwahrscheinlich holländi¬ 
scher Abkunft.» (Der Name van der Goes war in Flandern damals sehr verbreitet.) 

35 ) »timeo eius naturam gravatam fuisse.» 

3 6 ) 2. Petr. 3, 9 (Ofhuys zitiert den Vulgatatext). 


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Hjalmar G. Sander, 


37 ) »forte cor suum elevatum est«, ergänze etwa: »und Hochmut kommt vor dem 
Fall«. Der Glaube, daß Irrsinn häufig die Folge der Sünde des Hochmuts sei, war in 
früheren Zeiten sehr verbreitet; so sagt z. B. van Mander bei Joos v. Cleef: »Wie 
sich dann gewöhnlich die Krankheit des Irrsinns in einem hochmütigen Kopf festnistet« 
(Flörcke I, 209). 

3 *) «quam primo convaluit se valde humiliavit.« Obwohl hier direkt und im folgen¬ 
den noch einmal indirekt deutlich gesagt ist, daß van der Goes von seiner Krankheit wieder 
genas, liest man unbegreiflicherweise meist das Gegenteil. 

39 ) »nostrum refectorium«, d. h. das Refektorium der Chorbrüder. Die Konversen 
mußten in ihrem eigenen Refektorium speisen. (Stat. S. 1553, p. 140). Es war also eine 
besondere Vergünstigung, daß der frater conversus Hugo in dem Refektoiium der Brüder 
speisen durfte. (Springer übersetzt nostrum refectorium mit «Speisesaal der Gäste«; 
lat.: camera hospitum.) 

40) *circa cerebrum in quadam vena lesus erat.« Wurzbach übersetzt »vena« mit 
»Organ«, wahrscheinlich verleitet durch die erst viel später von Descartes aufgestellte 
Zirbeldrüsentheorie. 

41) Auf welchen Autor diese Lehre zurückgeht, konnten wir nicht eruieren. Augen¬ 
scheinlich hat der pathologische Befund bei einer tödlich verlaufenen Hirnblutung (Ap9- 
plexie) Anlaß zu dieser Theorie gegeben. 

4 «) »suspitionibus« (cf. Ducange, 1 . c. Bd. 6, S. 462). 

43 ) «quibus sine profectu (Wauters las: »sane profectum«) nostrum cerebrum tur- 
batur.« 

44) Die nun folgenden Sätze sind noch nicht veröffentlicht, Wauters hat auf sie 
ganz verzichtet, doch scheinen sie uns zum besseren Verständnis des Ofhuysschen Gedanken¬ 
ganges beizutragen. 

45 ) Ofhuys führt diesen Gedanken an Hand einer Bibelstelle (Lukas 16, 21—75) 
des näheren aus (F. 118, Zeile 2—12), um ihn dann am Falle Goes noch einmal zu illu¬ 
strieren (wir haben die langatmigen theologischen Syllogismen exzerpiert). 

4 *) Cf. Anm. 51. 

47 ) Die Melancholie entwicklet sich zwar allmählich und wird häufig durch ein 
Vorstadium eingeleitet, aber diese Beschwerden pflegen von der Umgebung nicht sonder¬ 
lich beobachtet zu werden, bis sich dann, in der Regel ziemlich plötzlich, deutlich Symp¬ 
tome der Geistesstörung bemerkbar machen (Lehrb. d. Psychiatrie v. Binswanger usw., 
Jena 1911, S. 103). 

4 *) Im Jahre 1494/95 im Anschluß an die Einnahme Neapels durch Karl VIII von 
Frankreich. 

49 ) Cf. die Löwener Stadtrechnung vom Jahre 1479/80 (abgedruckt bei L a b 0 r d e : 
Les ducs de Bourgogne Bd. I, 1849. S CXVII). Solange keine anders aussagende zeit¬ 
genössische und ebenso authentische Urkunde gefunden wird, solange ist Gent Hugos 
verbürgte Vaterstadt. Gegenüber dieser Urkunde ist V a s a r i s Behauptung (Ugo d’An- 
versa) hinfällig, cs sei denn, daß Goes eine Zeitlang in Antwerpen tätig war. V a n M a n - 
der sagt mit keinem Wort, daß Hugo aus Brügge gebürtig sei (ebensowenig Anton S an¬ 
der ), er nennt ihn mit Recht »Maler von Brügge«, weil Goes jedenfalls lange Zeit daselbst 

• • 

tätig gewesen ist. Vacrnewyck hat nie behauptet, daß Goes* Vaterstadt Leyden 
war; er nennt zwar einen gewissen Hugo von Leyden, aber dieser ist kein anderer als der 
Vater Lukas* von Leyden, namens Hugo Jacobszoon (geb. vor 1474, 
gest. zwischen 1525 und 1538), vermutlich derselbe, mit dem Dürer auf Seeland zusammen¬ 
traf (Thausing, Wien 1888, S. 106). Das wußte Mander sehr wohl, denn das Bild 
Hugos von Leyden, das nach Vaernewyck in der St. Pietersabtei zu Gent zu sehen war, 


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Beiträge zur Biographie Hugos ran der Goes usw. 

beschreibt er nicht als das Werk Hugos van der Goes. O p m e e r dagegen hat Vaerne- 
wyek mißverstanden, denn er nennt Hugo van der Goes »Hugo Leidensis«. Vgl. auch 
Lemaire (1513): »Hugues de Gand». 

5 °) Wauters will bei Vaernewyck eine Stelle gefunden haben des Inhalts, daß van 
der Goes lange Zeit in Ter Goes auf Seeland gelebt habe, und man hat dieser Behauptung 
auch bisher, ohne nachzuprüfen, Glauben geschenkt, aber bei Vaernewyck ist nichts der¬ 
gleichen zu lesen (cf. Catalogue de TExposition des Primitifs flamands et d’Art ancien, 
Burges 1902, S. XX und Fierens-Gevaert). 

5 1 ) Hugos Grabschrift erklärt: vixit tempore Caroli Audacis. Karl der Kühne 
wurde am 10. November 1433 geboren und regierte seit 16. Juli 1467, er starb am 5. Januar 
1477. Ferner ist anzunehmen, daß Goels mindestens 40 Jahre alt war, als er im Jahre 1474 
Dekan der Malergilde wurde. Übrigens sei noch darauf hingewiesen, daß das Prädilektions- 
alter der Melancholie beim Manne zwischen dem 45. und 55. Lebensjahr liegt. 

5 2 ) Wurzbach hat in seinem Künstlerlexikon (Bd. II, 857—877) überzeugend nach¬ 
gewiesen, daß Rogier van der Weyden I, der Stadtmaler von Brüssel, der am 16. Juni 
1464 starb, weder künstlerisch noch geschichtlich identisch ist mit Rogier van der Weyden II, 
dem Stadtmaler von Brügge, dem Schüler Campins und dem Lehrer Memlincs und Hugos 
van der Goes. 

53 ) Cf. Vaernewyck, 1. c. S. I2i r : »M. Hughe noch een jonckman synde.« 

5 ») Dirk B o u t s starb am 6. Mai 1475. 

55 ) Der schon erwähnte Gielemanssche Katalog der Chorbrüder, Konversen und 
Donaten gestattet uns die Anzahl der Mönche des Roode-Cloosters zu Goes’ Zeiten zu 
veranschlagen Es gab übrigens ehemals über 300 Klöster in Brabant. Im Sonienbusch 
lagen nicht weniger als 11 Klöster. 

5 6 ) Die Melancholie hat eine ausgesprochene Neigung zu Wiederholungen. Eine 
Fabel behauptet, Goes sei aus Kummer über den Tod seiner Geliebten ins Kloster ge¬ 
gangen. 

57 ) Der Korrektheit halber möchten wir auf die etwas umständliche rechnerische 
Argumentation nicht verzichten: Tatsache I: Am 1. Nov. 1523 starb Ofhuys 67 Jahre 
alt, d. h. im 68. Lebensjahr (Cod. Hag, S. 332), ergo ist er zwischen dem 1. Nov. 1455 und 
dem 1. Nov. 1456 geboren. Tatsache II: Im Jahre 1475 stand Ofhuys im 19. Lebens¬ 
jahr (Cod. Hag. S. 332), ergo ist er zwischen dem 1. Januar 1456 und dem 31. Dez. 1457 
geboren. Aus Schlußfolgerung I und II folgt, daß Ofhuys 1. zwischen dem 1. Jan. 
und 1. Nov. 1456 geboren und 2. zwischen dem 1. Jan. und 1. Nov. 1475 ins Kloster ge¬ 
gangen sein muß. 

5 8 ) Statuten, S. 132, vgl. auch Petrus Impcns; Chronicon Bethleemiticum» 
(1504—1523) lib. VI, art. 4, § 2. 

59 ) Cf. Haeghen : Memoire sur les documents faux, Brux. 1899, S. 42 Anm. 
Es muß also noch im Jahre 1475 an Goes* Stelle ein neuer Dekan (Jacop Gheerolf ?) ge¬ 
wählt worden sein. 

*°) Siehe Jahrb. f. preuß. Ksts. 23, S. 247, Berlin 1902. 

6l ) Die folgenden Ausführungen stützen sich auf das einzig existierende uns vom 
Bibliothekar der Utrechtcr Universitätsbibliothek, Herrn J. F. van Someren freund- 
lichst zur Verfügung gestellte Exemplar der Windesheimer Statuten vom Jahre 1553, 
sowie auf das erstaunlich fleißige Werk von J. G. R. A c q u o y : »Het Klooster te Windes¬ 
heim» etc., Utrecht 1875—80; wir haben auch wiederholt die Einleitung Karl Grub es 
zu seiner Ausgabe des Chron. Windesemense (Halle 1886) benutzt. 

* 2 ) Gregorius R i v i u s : Monastica Historia accidentis, Leipzig 1737 . s. 33, 

* 3 ) Orig. f. 61, cf. Cod. Hag., 1. c. S. 283. 


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Hjalmar G. Sander, 


6 4 ) Stat. S. 86. 

* 5 ) Ich weiß sehr wohl, daß mancher Psychiater diesen Worten Ofhuys entnehmen 
würde, daß Goes sich vor dem eigentlichen Ausbruch seiner akuten depressiven Geistes¬ 
krankheit zeitweilig in dem Zustande einer manischen Erregung befunden habe (die Kraepe- 
linsche Schule faßt die Melancholie als ein »Zustandsbild des manisch-depressiven Irre¬ 
seins « auf). Nach unserer Ansicht ist jedoch die obige psychologische Erklärung wahr¬ 
scheinlicher und begründeter. Bis 1480 stand Goes keineswegs in dem Ruf eines Geistes¬ 
gestörten. 

66 ) Cf. Cod. Hag., 1. c. S. 332. 

* 7 ) Magnates aliter fabulabantur (Kap. III). Wurzbach hat sich vermutlich durch 

diese Stelle verleiten lassen, den Satz zu schreiben: »der Chronist läßt so viel zwischen, 

• * 

den Zeilen lesen, daß man glauben könnte, der bewunderte.... Künstler wurde von keinem 
natürlichen Wahnsinn befallen, sondern war das Opfer eines unaufgeklärten Verbrechens (!) 
vielleicht einer Vergiftung aus Neid und Mißgunst. ♦ Das vermögen wir, offen gestanden, 
nicht zwischen den Zeilen zu lesen, ganz abgesehen davon, daß das klinische Bild einer 
Intoxikationspsychose ein ganz anderes ist. 

68 ) Stat. S. 141. 

6 9 ) A c q u o y , 1. c. Bd. III, S. 134—136. Das Kloster lag in der Nähe der 
Stadtmauer an der Stelle des heutigen Arresthauses (cf. Hegel : Die Chroniken der 
Stadt Köln, Köln 1875, Bd. III, S. 465, Anm.). Sollte sich übrigens Hugos Aufenthalt 
in Köln (1481) in kölnischen Urkunden nicht irgendwo erwähnt finden? 

7 °) Hieronymus Münzers (ca. 1453—1508) Reisebericht vom 27. März 1495» 
erhalten geblieben in einer Abschrift von seinem befreundeten medizinischen Kollegen 
und nürnbergischen Mitbürger Hartman Schedel (1440—1514): Cod. lat. 431, f. 264, 
Hof- und Staatsbibliothek zu München. Mit dem »alius magnus pictor .. .mclancolicus 
et insipiens« kann nur van der Goes gemeint sein, wie Karl Voll , der 1899 die Stelle 
zuerst veröffentlichte, richtig vermutete. 

7 X ) Kam Goes wirklich von Köln zurück (Ofhuys ist sich seiner Sache nicht absolut 
sicher, cf. Kap. II und Anm. 20), so ist er offenbar von Köln über Antwerpen nach Brüssel 
gekommen. 

7 *) Wendland hält Schongauers Marientod unbegreitlicherweise für ein Jugend¬ 
werk des Meisters und glaubt, daß es zwischen 1469 und 1474 entstanden sei. (Cf. Martin 
Schongauer, Berlin 1907, S. 127.) Wurzbach hält das Blatt mit Recht iür eine spätere 
Arbeit des Meisters. Daß übrigens Goes’ Marientod zusammen mit eftr Berliner Anbetung, 
die wir ebenfalls nach dem Portinarialtar um 1478 entstanden glauben, eins seiner letzten 
Werke ist, davon sind wir nicht nur aus psychologischen, sondern auch stilkritischen 
Gründen überzeugt. 

73 ) Allerdings hat ein gewisser Callewacrt vor 47 Jahren das Bild einer recht su¬ 
spekten Restaurierung unterworfen. 

74 ) Daß van der Goes von einem neuen melancholischen Anfall heimgesucht wurde 
und etwa dessen Folgen erlag, ist ganz unwahrscheinlich, auch würden dann Ofhuys’ moral¬ 
theologische Auseinandersetzungen des logischen Hintergrundes völlig entbehren. 

75 ) Cf. Le Grand Thcatre sacr£ du duch£ de Brabant, La Haye 1734, Bd. I, Hvtc i 
S. 328. 

T 6 ) Cf. A. Wautcrs : Histoire des environs de Bruxelles, Brux. 1855, Bd. III, 

s. 356. 

77 ) So erhielt ja auch Massys seine Grabschrift von einem Kunstfreunde erst 100 
Jahre nach seinem Tode (1629). Hugos Grabschrift hat übrigens eine auffällige Ähnlich¬ 
keit mit der Rogiers von Brüssel (S w e e r t s , 1 . c., S. 284). 


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Beiträge zur Biographie Hugos van der Goes usw. 


545 


7 8 ) Cf. A. Wauters, 1. c. f Bd. III, S. 368. 

79 ) Erst im Jahre 1764 wurde die Kunstgeschichte um einen Kupferstich bereichert, 
der uns in ebenso nichtssagender wie einfältiger Weise mit der Physiognomie eines etwa 
18 jährigen lockigen Jünglings bekannt machte, und der keinen Geringeren als Hugo van 
der Goes darstcllen sollte: (cf. die von Jacobus de Jonghe «verbesserte« Auflage des Mander- 
schen Malerbuches, Amsterdam 1764, 1. Teil, S. 34, C 2). 

80 ) Dominicus Lampsonius : Pictorum aliquot celebrium Germaniae inferi- 
oris effigies, Antverpiae 1572. 

8x ) Ob übrigens das von Dürer 1521 bewunderte (cf. M. T h a u s i n g , Dürers 
Briefe usw., Wien 1888, S. 115) und von Vaernewyck (1568) und Mander (1604) 
rühmlichst erwähnte «Crucifix mit den Schächern« mit der von Descamps 1769 als 
»dur et sec« beschriebenen «Kreuzabnahme« identisch ist, ist sehr zweifelhaft (cf. Voyage 
pittoresque de la Flandre et du Brabant, Paris 1769, S. 284). 

81 ) Wir verkennen zwar nicht, daß es an sich nicht recht wahrscheinlich ist, daß 
van der Goes sich in dieser Größe und noch dazu als Schutzpatron des Stifters neben diesen 
stellte, aber andererseits ist es psychologisch sehr wohl denkbar, daß der Künstler von 
Eitelkeit und Ehrgeiz getrieben, Tommaso Portinari um die Erlaubnis bat, auf diesem 
seinem stolzen und bedeutendsten, fast möchte man sagen, virtuosesten Meisterwerk sein 
eigenes Porträt anbringen zu dürfen, und daß der rücksichtsvolle Stifter die Bitte nicht 
ausschlug, zumal das Werk für das Ausland bestimmt war, wo Hugo persönlich ganz 
unbekannt war. 

8 3 ) Ofhuys, der bald nach Goes 1 Tode der Krankenmeister (infirmarius) des Roode- 
Cloosters wurde, scheint sich als solcher mit der medizinischen Literatur eingehend befaßt 
zu haben, wenigstens entwickelt er hier überraschende psychiatrische Kenntnisse. 

8 *) Van der Goes war demnach von Geburt ein Vlaemc und kein Holländer. In Flandern 
war er die längste Zeit seines Lebens tätig, wie er denn auch als Künstler «die vlämische 
Manier stets beibehielt« (Vasari). 

* 5 ) In diese Zeit der werdenden Berühmtheit ist vermutlich die von Rogier von 
Brügge noch stark beeinflußte, aber bereits in ungewöhnlichen Dimensionen gehaltene 
Monforter »Anbetung der Könige« entstanden, die — nach einer dürftigen Reproduktion 
zu urteilen — anscheinend von Goes* selbst für eine vornehme Persönlichkeit gemalt 
worden ist (der vor Maria knieendc König scheint mit dem Stifter identisch zu sein). 


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Das Gothaer Liebespaar und der Hochaltar zu Blau> 

beuren. 

Von V. C. Habicht. 


Eine persönliche Neigung für das Gothaer Bild mag es entschuldigen, 
wenn ich mit den nachfolgenden Zeilen in meinem Bestreben, dem unbe¬ 
kannten Meister näherzukommen, eine Vermutung ausspreche, die ich selbst 
nur für eine solche halte, die aber vielleicht doch geeignet sein kann, bei 
weiteren Forschungen über den noch unbekannten Meister von Wert zu 
sein. Bei einer erneuten Untersuchung des Gothaer Bildes glaubte ich 
das Gesicht des Jünglings schon irgendwo anders gesehen zu haben. Da 
man das Gothaer Bild in die Nähe des Hausbuchmeisters rückt und mir 
bei meinen wiederholten Besichtigungen des Blaubeurener Hochaltars ein 
irgendwie, aber nicht deutlich zu fixierender Einfluß des Hausbuchmeisters 
vorzuliegen schien, verglich ich das Gothaer Bild noch einmal genau mit 
diesem. Zu meiner Überraschung fand ich das Ebenbild des Gothaer Jüng¬ 
lings tatsächlich auf einer Tafel des Blaubeurener Hochaltars. Es ist der 
Jüngling am weitesten links (dicht hinter Herodes) auf der Tafel: Johannes 
vor Herodes (Abb.). Die auffallende Ähnlichkeit und die Gleichartigkeit 
der Wiedergabe der Züge ist w r ohl kaum zu leugnen. Zumal, wenn man 
in Betracht zieht, daß der Dargestellte auf dem Altar, der ja ca. 1495 vollendet 
wurde, mindestens 5—ß Jahre jünger ist als sein Ebenbild auf dem Gothaer 
Doppelbild *). Untersucht man die Einzelheiten des Gesichts, so trifft man 
Schritt auf Schritt auf Übereinstimmungen. Schon der schlanke Hals mit 
dem hochsitzenden Adamsapfel und den kleinen Speckfalten unter den 
Wangen gleicht sich auf beiden Bildern. Ebenso das Kinn mit seiner kleinen 
kugeligen Spitze und dem Grübchen. Ferner der Verlauf des Bogens der 
rechten Wange vom Kinn bis zum Verschwinden unter den Haaren mit 
dem beinahe rechtwinkligen Kiefer. Auch der Mund mit der vollen, kleinen 
Unterlippe, der schön geschwungenen, schmalen Oberlippe und den scharfen 
Grübchen in den Ecken, die bei beiden sehr auffallend gegeben sind, stimmt 
vollkommen überein. Die lange, gerade und fleischige Nase verbreitert sich 
bei beiden nach unten zu einer runden, kleinen Kuppe (bei der Abb. bei 

*) Vgl. die Abb. bei E. Hcidrich, Die altdeutsche Malerei, Jena 1909. T. 5 2 * 


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• • • # 


Das Gothaer Liebespaar und der Hochaltar zu Blaubeuren. 


547 


Heidrich nicht so deutlich) mit starken Flügeln. Am ähnlichsten erscheinen 
bei beiden die Augen. Im Blicke, in der Verdeutlichung der Psyche und 
in der Wiedergabe des organisch tatsächlich Vorhandenen. Man liest aus 
diesen Augen Empfindsamkeit und ein wenig Schwermut mit stiller Güte 
gepaart. Bei beiden 
geht die Blickrichtung 
in den Bildraum hinein, 
die großen Augäpfel sind 
deshalb in die Ecken ge¬ 
setzt. Auffallend stark 
sind die Tränensäcke be¬ 
tont. Der Oberaugen - 
knochen läuft stark ge¬ 
bogen nach den Schläfen, 
und halbmondförmige 
Brauen verstärken diese 
Schwingung noch we¬ 
sentlich. Von der Stirn 
ist wenig wegen des über¬ 
fallenden , gekräuselten 
Haares zu sehen, das 
bei beiden Jünglingen 
denselben Schnitt und 
die gleiche Farbe hat. 

Zu diesen Über¬ 
einstimmungen kommt 
auch noch die genau 
gleiche Haltung des 
Kopfes. Beidemal ist er 
in 3/4 Profil mit von 
unten nach oben und 
nach innen zugleich ge¬ 
richtetem Blicke gege¬ 
ben. Beidemal erscheint 

.• 1: 1 117 . , Tafel vom Hochaltar der Klosterkirche zu Blaubcuren. 

die linke Wange in stark 

verschwindendem Profil in gleichem Kontur. 

Namentlich die letzteren Gründe zwingen dazu, anzunehmen, daß sich 
die gleiche Persönlichkeit hier wie dort selbst im Bilde festgehalten hat. 
Die Möglichkeit, daß zwei verschiedene Meister dieselbe Persönlichkeit auf 
den beiden Bildern dargestellt haben, scheidet bei der identischen Wieder¬ 
gabe aus. Ebenso die Vermutung, daß der gleiche Meister ein und dieselbe 



Repertorium für Kunstwissenschaft XXXV. 



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548 V« C. Habicht, Das Gothaer Liebespaar und der Hochaltar su Blaubeuren. 

Persönlichkeit einmal in Blaubeuren, dann irgendwo anders in genau gleicher 
Haltung und Auffassung wiedergegeben haben könnte. So genau kennt 
nur der Künstler sein eigenes Gesicht selbst. Wir nehmen demnach an, daß 
der Meister des Gothaer Liebespaares in dem Jünglinge sich selbst dar- 
gestellt hat, wie er das auch bei der Tafel Johannes vor Herodes tat. Der 
Jüngling des Gothaer Bildes trägt ja auch durchaus die Tracht, wie sie 
wohl für einen Maler, nicht aber für einen Fürsten üblich war. Heidrich *) 
macht auch auf die Übereinstimmung mit der Tracht Dürers auf dem Bilde 
von 1498 aufmerksam. Übrigens gleicht die Tracht wiederum auffallend 
der des Jünglings auf dem Blaubeurener Altar. Das ausgeschnittene, sorg¬ 
fältig gefaltete Hemd und die dünnen halskettenartigen Streifen über dem¬ 
selben kehren hier wie dort wieder. Auch das Mädchen ist auf dem Gothaer 
Bild in einfacher, völlig schmuckloser Tracht dargestellt, für eine Malers¬ 
liebste, aber nicht für die eines Fürsten passend. Was dann allerdings 
das Wappen oben zu bedeuten hat, vermag ich nicht zu sagen. Vielleicht ist 
es doch nur ein bürgerliches. 

Da uns der Meister des Gothaer Liebespaars demnach in eigener Person 
in Blaubeuren begegnet, wird er wohl dort, wie die Jünglingsfigur zeigt, 
mit tätig gewesen sein. Der entwerfende Hauptmeister mag die Tafeln 
begonnen und sie bei ihrer großen Zahl mehr oder minder seinen Gehilfen 
zur Vollendung überlassen haben; daß sich dabei ein so junger Geselle selbst 
abkonterfeite, ist ja nicht ungewöhnlich. 

Hieraus erklären sich auch die Anklänge des Gothaer Liebespaares 
an den Hausbuchmeister. Des Meisters Tätigkeit in Ulm und sein über¬ 
ragender Einfluß auf die dortigen Künstler ist ja nun geklärt 3 ). Ob er eine 
Rolle bei der Anfertigung des Hochaltares in Blaubeuren gespielt hat, kann 
ich nicht entscheiden. 

Ich fasse meine Untersuchungen noch einmal dahin zusammen, daß 
ich den Meister des Gothaer Liebespaares als in Blaubeuren tätig annehme, 
daß ich folgere, er habe da die Kunst des Hausbuchmeisters besonders 
stark auf sich wirken lassen, und daß ich in dem Gothaer Jüngling sein eigenes 
Bild sehen muß. 

*) Heidrich, a. a. O. p. 260, r. Sp. 

3 ) E. Flechsig, Der Meister des Hausbuchs als Zeichner für den Holzschnitt in 
Monatshefte für Kunstwissenschaft 1911, p. 172 fl., und K. F. Leonhardt und H. Th. Bos* 
sert, Studien zur Hausbuchmcisterfragc in Zeitschr. f. bild. Kunst 1912, Heft 6, 7 ff. 


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Besprechungen. 


Harald Brising: Antik Konst i Nationalmuseum. Urval och 
beskrifning. Stockholm 1911. 

Die Sammlung von antiken Bildwerken im Stockholmer National¬ 
museum ist weder groß noch besonders hervorragend. Gegründet wurde 
sie vom König Gustaf III. am Schluß des 18. Jahrhunderts, der mit Sergel 
und Piranesi als Ratgeber während der italienischen Reise kaufte und das 
Gesammelte wie seinen Augenstern hütete. Seitdem ist sie nur langsam und 
wenig gewachsen. Neueinkäufe waren noch viel spärlicher als die Gaben, 
die sowohl von der Königlichen Familie wie von Privatpersonen dann und 
wann und rein zufällig gespendet wurden. Aber allmählich sind doch auf 
diese Weise einige wertvolle Dinge zu dem von Gustaf III. gelegten Grund 
hinzugekommen. Der Totalcharakter wurde als griechisch aufgefaßt, in 
der Wirklichkeit ist er aber spätantik, römisch, also griechisch aus zweiter 
oder dritter Hand. Doch sind einige echte ältere griechische Gegenstände 
unter den Beständen. In Anbetracht des Reichtums der Gemäldesammlung 
des Museums, welcher so scharf gegen die Armut der antiken Skulpturen- 
Sammlung absticht, ist es nicht verwunderlich, daß das Interesse und die 
Studien der Museumsbeamten in erster Reihe den Gemälden zugute kamen, 
auch wenn wir von der Reaktion gegen die Antikenanbetung der gustaviani- 
schen Zeit absehen. Selbst der berühmte schlafende Endymion, welchen 
Gustaf III. und seine Zeit so hoch schätzte, und welcher nach Boye und 
Wetterling in dem für seine Zeit recht stattlichen mit Konturstichen aus- 
gestatteten Prachtwerk über das Königliche Museum (1821—23) ab eines 
der wenigen noch erhaltenen Hauptbeispiele der griechischen Kunst genannt 
wird, wurde im Lichte der modernen Archäologie, deren intensive Arbeit immer 
mehr die Augen der Menschen für den Gehalt der wirklichen griechischen 
Skulptur geöffnet hat, zu einer ziemlich verdächtigen Figur herabgewürdigt, 
ja über ihre Echtheit als Antike wurden sogar starke Zweifel geäußert. 

Die Antikensammlung im Nationalmuseum ist nun aber die einzige 
in ihrer Art in Schweden, und wenn sie auch nicht groß und bedeutend ist, 
so ist sie es immerhin genug, um eines wissenschaftlichen Studiums mit 
moderner, geschärfter Methode wert zu sein. Es muß daher mit Freude und 

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550 


Besprechungen. 


Dankbarkeit begrüßt werden, daß ein junger schwedischer Kunsthistoriker, 
der zugleich Museumsbeamter ist, ein schönes Prachtwerk über einen aus¬ 
gewählten Teil dieser Sammlung veröffentlicht hat. 

Obgleich nicht selbst klassischer Philologe und somit eines wichtigen 
Hilfsmittel erster Hand, in die Kultur der Antike einzudringen, entbehrend, 
ist Dr. Brising doch durch gründliche Studien wohl ausgerüstet an sein 
Vorhaben herangegangen. Mehrere langwierige und ausgedehnte Reisen 
machten ihn, den man den modernen Odysseus unter Schwedens Kunst¬ 
historikern nennen könnte, vertraut mit dem »weingefärbten« Mittelmeer 
und der Kunst, welche an. seinen Gestaden und auf seinen Inseln blühte. 
Außer Griechenland und Italien hat er zweimal Kreta besucht, die merk¬ 
würdige Felseninsel, auf der die Einflüsse Ägyptens und Assyriens dem 
griechischen Geiste begegneten, und wo besonders die Ausgrabungen Arthur 
Evans' den so äußerst interessanten großen Fürstenpalast zu Knossos zu¬ 
tage förderten. 

Auch begann Dr. Brising mit seiner Schilderung der Funde auf Kreta 
seine 1910 als eine »Einleitung zur griechischen Kunst« herausgegebenen 
»Klassischen Bilder« (von welcher eine französische Übersetzung in Vor¬ 
bereitung sich befindet.) Schon in dieser schönen und lebensvollen Essay- 
Sammlung erwähnte der Verfasser, wenn auch nur kurz, einige von den 
Antiken im Nationalmuseum, nämlich die bekannte Folge der neun Musen 
und die Athenastatue, wie auch ein Paar bemerkenswerte Marmorköpfe: 
einen fragmentarischen Frauenkopf, welchen der Verfasser als von Phidias 
Geist geprägt ansieht, und einen Ephebenkopf, welchen er in Verbindung 
mit Polyklets nächsten Vorgängern bringt. 

In dem jetzt herausgegebenen großen Lichtdruckwerk liefert Dr. 
Brising in Bild und Text eine chronologisch geordnete Auswahl von be¬ 
sonders hervorragenden Arbeiten in der Antikensammlung des National- 
museums. Es ist das erste illustrierte Werk, welches über die Schöpfung 
Gustaf III. seit 1794 veröffentlicht worden ist, wo C. F. Fredenheim 21 
kleine Kupferstiche mit Text unter dem Titel »Ex Museo Regis Sueciae« 
herausgab. Die 60 Lichtdrucke, welche von der graphischen Anstalt von 
Justus Cederguist ausgezeichnet ausgeführt sind, bringen 86 Gegenstände, 
darunter einige von verschiedenen Seiten. Von diesen gehört die Mehrzahl 
der Sammlung Gustafs III. an. Aus späterer Zeit sind 29 hinzugekommen, 
1 Depositum des historischen Museums (1895), 8 Ankäufe (durch den schwe¬ 
dischen Konsul in Piräus Rodocanachi 1881, Professor S. Wide 1895 und 
Dr. F. R. Martin 1896) und 20 Geschenke (vom Kaufmann K. O. Levertin 
1862, der Königin Witwe Josefina 1866, König Karl XV, N. F. Sander 
1871, Konsul Rodocanachi 1880, dem englischen Minister Erskine 1881, 
Graf Carlo Landberg 1881, dem schwedischen Konsul auf Cypern Ch. Watkins 


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Hesprcchitpgen. 


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und Hauptpastor Ekdahl). Die Hauptsache machen aber doch die gustavi- 
schen Antiken aus. Dem Andenken des königlichen Sammlers ist deshalb 
das Werk mit Recht gewidmet. 

Die Abbildungen sind in ungefährer Zeitfolge geordnet, so daß sie 
eine gute Vorstellung von der Entwicklung der antiken Skulptur geben. 
Man könnte erwarten, daß der Verfasser mit den uralten ägyptischen 
Gegenständen den Anfang machte, er hat aber vorgezogen, erst 
das bedeutend jüngere, von der Königinwitwe Josefina geschenkte assyri¬ 
sche Relief (885—860 v. Chr.) als das einzige Beispiel assyrischer Kunst 
voranzustellen, wohl um später auf die ägyptische Kunst nach jetzt all¬ 
gemein angenommener Sitte direkt unmittelbar die griechische folgen zu 
lassen. Unter den vier ägyptischen Gegenständen bemerkt man in erster 
Reihe die stattliche, wirklich monumentale Büste in schwarzem Granit von 
Amenophis III. (1411—1375 v. Chr.). Dann folgen einige Terrakotta- 
Statuetten von Cypem, welche einen interessanten Mischstil mit orienta¬ 
lischen und griechischen Elementen zeigen. Danach die griechischen Terra¬ 
kottafiguren aus Tanagra und anderen Orten, weiter einige kleine archaische 
Bronzefiguren, schließlich die Athenastatue samt Apollo und den neun Musen, 
welche recht geschickte und effektvolle römische Kopistenarbeiten sind und 
deshalb ein nicht geringes Interesse besitzen, weil sie in ihren Motiven auf be¬ 
rühmte Vorbilder von Phidias (die Athenastatue), Praxiteles u. a. zurückgehen. 

Die eigentlichen Perlen in der Antikensammlung des Nationalmuseums 
sind aber einige Marmorköpfe, welche den besten griechischen Stil ver¬ 
treten. Ein arg beschädigtes Fragment von einem Frauenkopf setzte 
Dr. Brising in seinen »Klassischen Bildern« in Verbindung mit Phidias und 
den Parthenonskulpturen, während Professor J. Six in Amsterdam 1911 
es als ein wirkliches Parthenonfragment auffaßte, wogegen der schwedische 
Archäologe, der Dozent Lennart Kjellberg in Uppsala diesen Kopf nur 
als eine pergamenische Kopie nach Phidias betrachtet. Von Dr. Brising 
wird er nunmehr in seinem neuen Buch als »ein äußerst bemerkens¬ 
wertes Kunstwerk« bezeichnet, welches er von »einem Phidias nahestehenden 
Künstler« ausgeführt glaubt. Eine andere, sehr edele Arbeit ist ein be¬ 
schädigter Athletenkopf, der lange Zeit im Magazin und Keller des König¬ 
lichen Museums lag und 1861 im Museum aufgestellt wurde. Einige Reliefs, 
Statuen und Statuetten von teils griechischer, teils römischer Herkunft und 
von wechselndem Wert folgen, dann ein hervorragend schöner, lebensprühen¬ 
der Satyrkopf von Marmor, der in Tunis 1849 gefunden wurde, dem Professor 
E. Äberg einmal gehörte und vom Historischen Museum in der Kunst¬ 
sammlung deponiert wurde. Schließlich wird der Endymion in einem recht 
ausführlichen Aufsatz behandelt. Die Frage der Echtheit oder der mög¬ 
lichen Herkunft aus dem 18. Jahrhundert (wie Prof. Wickhoff es nicht 


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552 


Besprechungen. 


lange Zeit vor seinem Tode vorgeschlagen) wird offen gelassen, doch neigt 
B. dem späteren Ursprung zu. Weiter begegnen wir drei von den pracht¬ 
vollen dekorativen Marmorarbeiten der Sammlung Gustafs III.: der kleinen 
wie eine Kiste geformten Fontäne auf Löwentatzen, der großen Aschen- 
urne und dem einen der beiden Riesenkandelaber. Zuletzt sehen wir einige 
vortreffliche durch Dr. F. R. Martin 1896 gekaufte Proben spätantiker 
gemalter Bildnisse und Gipsmasken aus Faijum und der Oase El Khargeh 
in Ägypten, sämtliche auf Mumienbehältem angebracht, aber, wie bekannt, 
nicht ägyptische, sondern griechisch-römische Arbeiten, und einer Reihe 
wirklich interessanter römischer Parträtbüsten von den Mitgliedern der 
Kaiserfamilie und von Privatpersonen. Unter den letzteren bemerkt man 
die von Kauffmann K. O. Levertin 1862 geschenkte und angeblich auf 
Södermalm (dem südlichen bergigen Teil von Stockholm) ausgegrabene Büste 
von Apollodoros, einem jungen unbekannten Athener aus der Mitte des dritten 
Jahrhunderts n. Chr., bekannt, nach der eingravierten Namensunterschrift, 
wegen seiner Frömmigkeit, eine charakteristische und feinfühlige Arbeit. 

Der Text ist durchgehends vortrefflich abgefaßt, klar, methodisch und 
konzentriert, mit genauen Literaturnachweisen für jeden Gegenstand und 
mit einleitenden Übersichten für die verschiedenen Gruppen. Zu beklagen 
ist, daß der Verfasser keine Übersetzung in eine der großen Kultursprachen 
beigefügt hat, wodurch die Arbeit leichter bekannt und im Auslande so, 
wie sie es verdient, verbreitet worden wäre. 

Bei den Literaturnachweisen hat der Verfasser eine alte schwedische 
Arbeit übersehen. Eis ist das vorher genannte illustrierte Werk von Boye 
und Wetterling über das Königliche schwedische Museum (1821—23), worin 
folgende Antiken in Konturstichen abgebildet und beschrieben sind: Endv- 
mion, Apollo, Athena, die Musen Klio, Euterpe und Melpomene, das Relief 
des Zugs der Venus auf dem Meere und der eine von den großen Kande¬ 
labern, nämlich der, der im Werke Dr. Brisings niqht abgebildet wurde. 

Eine Arbeit wie dieses Prachtwerk über die Antiken des schwedischen 
Nationalmuseums, herausgegeben vom Verfasser im eigenen Verlage, ver¬ 
dient die volle Beachtung aller Kunstfreunde. Es wäre erfreulich, wenn 
der Verfasser durch einen wohlverdienten Erfolg zur Publizierung einer 
weiteren Auswahl aus dieser so lange wenig gekannten Antikcnsammlung 
aufgemuntert werden könnte*). John Kruse. 

') Ein schwedischer Archäologe, der Dozent I.ennart Kjellberg in Uppsala, 
welcher vor einigen Jahren selbst Ausgrabungen in Kleinasien ausgefllbrt, schenkte 
dem Nationalmuseum 1909 von seinen Funden 14 interessante altgriechische Gegen¬ 
stände aus Ton. Durch denselben verdienten Forscher, der die Sammlung von antiken 
Vasen im Museum ordnete, wurden 1901 und 190a weitere altgriechische Gegenstände 
eingekauft, darunter zwei schöne Terrakottasarkophagc von dem Klazomenätvpus. 


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Besprechungen. 


553 


Raffael in seiner Bedeutung als Architekt. Von Pro¬ 
fessor Theobald Hofmann, unter Mitwirkung von Professor Dr. Walther 
Amelung und Dr. Fritz Weege. Zittau. Richard Menzel Nachf. 1911. 

Der unvergeßliche Fabriczy ist es gewesen, der vor acht Jahren die 
Erstlingsarbeit von Theobald Hofmann, die Bauten des Herzogs Federigo 
di Montefeltre, im Repertorium besprochen hat. Dies Buch, das schon 
damals als eine tüchtige Leistung anerkannt wurde, erscheint heute nur noch 
als Auftakt und Einleitung zu dem Lebenswerk, an dessen Ausführung Hof- 
mann seitdem mit rastlosem Eifer gearbeitet hat. Von seiner großen Studie 
über die Bedeutung Raffaels als Architekt, dessen erster Band im Jahre 1908 
erschien, liegt heute schon der vierte Band vor. 

Eine Aufgabe, die von dem, der sie unternommen hat, auf Jahre 
hinaus Konzentration und Disziplin aller geistigen Kräfte verlangt, die 
dem Menschen bewußt und unbewußt zum Gesetze des Lebens wird, dem 
alles in ihm und um ihn ohne Widerstand gehorcht, weckt ohne weiteres 
Sympathie. Allzu sehr zersplittern sich heute die besten Talente, allzu 
begierig jagen die Menschen dem flüchtigen Erfolg des Tages nach, allzu 
willig setzen sie ihre Kraft für das schnell Vergängliche ein! 

Erfreulich ist es auch, daß sich in Hofmann die ehrwürdige Tradition 
fortsetzt, nach der Raffael die besten Herolde seines Ruhmes in Deutsch¬ 
land gefunden hat. In diesem monumentalen Tafelwerk ist — mit kritischer 
Sorgfalt gesichtet — ein Material zusammengetragen worden, das kommende 
Geschlechter noch höher bewerten werden, als wir es heute tun. Denn vieles 
an dem, was Hofmann noch sehen und aufnehmen konnte, geht unabwend¬ 
barem Verfall entgegen. 

In dem vorliegenden Bande bearbeitet Hofmann die Baugeschichte 
des vatikanischen Palastes vielleicht nicht mit jener Kompetenz und jener 
scharf sichtenden Kritik, mit der er einst die Villa Madama behandelt 
hat. Dieser Teil seiner Arbeit wird ja ohnehin über kurz oder lang duich 
das große Quellenwerk überholt werden, das P. Ehrle seit langen Jahren 
über die Baugeschichte des Vatikans vorbereitet. Aber der Text kunstge- 
chichtlicher Tafelwerke pflegt ja überhaupt schneller zu veralten als die 
Tafeln. Und in den 34 Blättern, die Hofmanns Text illustrieren, ist in der 
Tat ein Material beschafft worden, wie wir es bis heute zur Ikonographie 
des Vatikans noch nicht besessen haben. Weniger Hofmanns eigene Zeich¬ 
nungen sind diesmal zu rühmen — er konnte sich bei den Grundrissen des 
vatikanischen Palastes vielfach damit begnügen, die Aufnahmen von Lcta- 
rouilly zu reproduzieren — als vielmehr die Fachkenntnis, mit der die große 
Zahl der älteren Pläne des Borgo di San Pietro zusammengestellt worden 
sind. Gerade durch eine solche Arbeit dokumentiert Hofmann die wissen¬ 
schaftliche Befähigung für sein Unternehmen, das auch der tüchtigste 


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554 


Besprechungen. 


Architekt ohne tiefgründige Kenntnisse und sichere Methode nicht durch¬ 
zuführen vermocht hätte. 

Die Beiträge, die die Archäologen Walther Amelung und Fritz Weege 
zu diesem Bande geliefert haben, sind für den Kunsthistoriker besonders 
wertvoll. Amelung behandelt die Stuckreliefs in den Loggien und ihre 
antiken Vorbilder mit der Kompetenz, die man ohne weiteres bei ihm er¬ 
warten durfte. Nur wer ein so zuverlässiges Gedächtnis und eine so um¬ 
fassende Denkmälerkenntnis besitzt wie Amelung, war überhaupt befähigt, 
in subtilster Forscherarbeit diese Zusammenhänge wiederherzustellen, die 
auf das Fortleben der Antike in der Renaissance neue, überraschende Streif¬ 
lichter werfen. Wer dies merkwürdige und, wie es scheint, unerschöpfliche 
Problem einmal wieder aufnehmen sollte, wird in den Loggien Raffaels 
Beziehungen zum Altertum finden, von deren Fülle und Mannigfaltigkeit 
wir vor Amelungs Untersuchungen keine genügende Vorstellung hatten. 
Die Tafeln, die diesen Teil des Textes begleiten — rund achtzig Neuauf¬ 
nahmen auf vierzig Blättern — legen nicht nur Zeugnis ab von all der Herr¬ 
lichkeit, die an diesen Decken und Wänden zerstört ist; sie sind eben auch 
ein unschätzbares Zeugnis über das, was in den Loggien Raffaels im Beginn 
des XX. Jahrhunderts noch erhalten war. 

Fritz Weege ist in diesem Bande die dankbare Aufgabe zugefallen, 
den malerischen Schmuck der Loggien in seinem Verhältnis zur Antike 
darzustellen. Da er außerdem die glückliche Gelegenheit fand, das Bade¬ 
zimmer des Kardinals Bibliena eingehend bearbeiten zu dürfen, so hätte 
er sich eigentlich auch um die sogenannte »Uccelliera Julius’ II.« bemühen 
sollen, die vor drei Jahren Maestro Perosi bewohnte. Hier wurden ja un¬ 
längst die köstlichsten Grottenmalereien im Stile der Giovanni da Udine 
bloßgelegt; hier hat sich z. B. noch ein Fußbodenbelag aus dem Beginn 
des Cinquecento erhalten, wie ihn der Vatikan sonst überhaupt nicht besitzt. 
Als bester Kenner der Malereien im goldenen Hause des Nero, über die er 
eine Publikation vorbereitet, war Weege vor allen anderen befugt, diese 
Arbeit in den Loggien auszuführen. Er sieht dabei von der »Bibel Raffaels« 
ab und beschränkt sich auf die dekorativen Malereien. Die antiken Vor¬ 
bilder, die Weege nennt, sind außer den Grottesken der Titusthermen, die 
Stuckverzierungen im Colosseum, die Stuckdecken der Villa Adriana (beide 
heute nur noch in Nachbildungen erhalten), und vor allem auch jene ver¬ 
lorenen Malereien bei San Gregorio, die Armenini in seinen »veri precetti 
della pittura« ausführlich beschrieben hat. Außerdem publiziert Weege 
zum ersten Mal eine Anzahl von Zeichnungen des Giovanni da Udine aus 
dem Besitz des Herrn Kempner in Rom. Den Schluß der Publikation bildet 
die erste authentische Wiedergabe dessen, was sich im Badezimmer der Kardi¬ 
nals Bibbiena noch an Fresken erhalten hat. Er macht dem Präfekten des 


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Besprechungen. 


55 5 

Vatikans, Monsignor Misciattelli, alle Ehre, daß er diese Aufnahmen ge- 
stattete. Alle Legenden, die sich um diese Fresken woben, sind damit 
zerstört. Es ist hier wirklich nichts gemalt worden, was das Auge verletzen 
könnte. Auch hier verfügt Weege über ein überraschend reiches Vergleichs¬ 
material, so daß ihm die Erklärung des Freskenschmuckes vollständig ge¬ 
lungen ist. In zwei Originalaufnahmen gibt Hofmann endlich den Fu߬ 
boden und die Wandgliederung des Badezimmers wieder und einen Gesamt¬ 
plan des vatikanischen Palastes. 

4 Es widerstrebt, Ausstellungen zu machen, wo sich so viel Können und 
Wissen in einem so engen Rahmen zusammengeschlossen haben. Sie sollen 
sich denn auch auf Äußerlichkeiten beschränken und nichts anderes vor¬ 
stellen als den Ausdruck persönlicher Geschmacksrichtung: Vor allem muß 
gesagt werden, daß der Einband des Werkes seines Inhaltes nicht ganz 
würdig ist. Titel und Autornamen quer über Grundrisse so zu drucken, 
wie es geschehen ist, war gewiß kein glücklicher Gedanke. Wäre es weiter 
nicht möglich gewesen, die Typen sorgfältiger zu wählen und in ihrem Ver¬ 
hältnis zueinander harmonischer durchzubilden ? Wie befremdend wirkt es, 
im Vorwort die Personennamen unterstrichen zu sehen, wie wenig praktisch 
sind die winzigen Typen für die Inhaltsangabe gewählt! Die Zeit, in der sich 
die Autoren nur für den Inhalt und nicht für die Ausstattung ihrer Bücher 
verantwortlich fühlten, ist vorbei. Gerade aber für ein Werk, das 
bleibende Werte umschließt, fühlen wir uns berechtigt, eine Ausstattung zu 
fordern, in der mit sicherem Auge und geläutertem Geschmack das Unzu¬ 
längliche vermieden ist. Emst Steinmann. 


Baukunst und dekorative Skulptur der Barock¬ 
zeit in Italien von Corrado Ricci. Stuttgart, Julius Hoffmann, 
1912. 

Nachdem ich in ausgiebigem Gebrauche für eigene Bedürfnisse und in 
den Vorlesungen dieses Sammelwerk in seinem nie versagenden Reichtume 
genau kennen gelernt habe, kann ich es mir nicht versagen, unsere engeren 
Fachkreise darauf hinzuweisen, ein wie wertvolles Hilfsmittel auch für den 
akademischen Unterricht die Hoffmannsche »Bauformenbibliothek« in 
diesem 5. Bande bietet. Vielleicht stößt dieses Unterfangen auf mitleidiges 
Lächeln, vielleicht gar auf scharfen Widerspruch: Das Unternehmen des 
Verlags in Stuttgart wendet sich ja zunächst an den Praktiker, den eigent¬ 
lichen Fachmann. Es legt also weder auf »historische« Vollständigkeit der 
Stoffmassc noch auf eine bestimmte »kritische« Einstellung der Betrachtung 
das Hauptgewicht. Dann würde z. B. der völlige Mangel an Grundrissen 
ganz unbegreiflich sein. Sondern es will eine möglichst große (315 hier) 
Fülle von Beispielen davon geben, wie sich eine bestimmte Zeitperiode 


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556 


Besprechungen. 


durch Auge und Hand ihrer Künstlergenerationen künstlerisch äußerte. 
Es ist wahr: dieser Absicht und der Rücksicht auf diesen vorgesehenen 
Interessentenkreis, »die Architekten und die mit ihnen verbündeten Künst¬ 
ler«, ist es zuzuschreiben, schuldzugeben, wenn man will, daß diese Material - 
fülle lediglich nach gegenständlichen Kategorien eingeteilt ist — die Ab¬ 
bildungen, wie auch die ganz kurzen Besprechungen der Erscheinungen 
des gleichen Gegenstandes hier und dort im Lande. Und daraus folgt für 
den Kunstwissenschaftler z. B., der sich bemüht das fortschrittlich Unter¬ 
scheidende im Schaffen dieser »Stil«-Periode in der festgeschlossenen Kom- 
positonseinheit ihrer Werke nach Art einer komplizierteren Fuge festzu- 
stellen, die große Schwierigkeit Zusammengehöriges wieder vereinigen zu 
können. Aber das findet nur in ein paar Fällen statt, und hier wie in allen 
solchen Veröffentlichungen wäre dem leicht abzuhelfen, indem man statt 
der Bandausgabe die Form der Mappe mit beigelegtem leichtgeheftetem Texte 
wählte. Aber die Menge der aus dem ganzen Lande und über den ganzen 
Zeitraum von den 60 er Jahren des 16. bis in die zweite Hälfte des 18. Jahr¬ 
hunderts hin ausgewählten Beispielen wäre wohl nicht anders zu solch 
übersichtlicher Vergleichbarkeit zu verbinden gewesen. Und das bietet 
doch wieder die größten Vorteile, z. B. für die typologische Behandlung 
des Stoffgebietes: man hat bestgewählte Beispiele nebeneinander für die 
schlechthin durchdekorierte Fassade neben der durch organisierende Be¬ 
handlung der Einzelheiten belebten und der auf Ponderation komponierten 
oder harmonisch angeordneten; dann wieder die toskanische Gemessenheit 
neben der venezianischen Pracht, der römischen Großartigkeit, dem genue¬ 
sischen heiteren Stolze, dem süditalischen Überschwall rein dekorativer 
Bedürfnisse. Dieses Verfahren der Anordnung des Stoffes bringt endlich 
aufs geeignetste, zumal für den lernenden Kunsthistoriker zu deutlicher An¬ 
schauung, wo und wie bereits in dieser Periode — wenn es je irgendwann 
als konservative Opposition neben den »bizarren Neuerungen« sich kund¬ 
zugeben unterlassen hätte — der klassizistische Purismus sich zur Geltung 
bringt, und wie schon so frühzeitig im Erfinden des Barockgeistes Einzel- 
formen auch in Italien zur Ausprägung gelangen, in denen man ohne die 
gezwungene Einführung der »Chinoiserie« die schwierigsten Motive des sog. 
Rokoko sich anspinnen sehen kann. Wir erhalten damit wieder eine Be¬ 
stätigung dafür, daß auch der Rokoko durchaus kein ganz Neues höchst 
Eigenes ist, wohl aber in ihm das endgültige Ableben der Kunsterneuerung 
in der Renaissance des Geistes offenbar wird — nicht im Barock. Ihn nennt 
vielmehr auch der Herausgeber dieses Bandes der Hoffmannschen Bau- 
formenbibliothek, Corrado Ricci, »einen Herrscher voll Geist, voll Feuer, 
voller Mittel, der nichts vernachlässigte«; und er stellt sich, ein Italiener, 
damit in die Reihe der wenigen, die bisher überhaupt den Mut zur Äußerung 


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Besprechungen. 


557 


einer neuen Erkenntnis hatten: daß dieser Stil nicht gekommen ist das 
Gesetz der Renaissance aufzulösen, sondern es zu erfüllen. Das waren zu¬ 
meist wohl Deutsche, die sich zu wissenschaftlichen Rechtfertigungen dieses 
»plumpen und bizzarren Stiles« getrieben fühlten und zu glücklicher Reini- 
gung des historischen Gewissens ihm gegenüber. Keiner hat den Barock 
so freudig gegen die Behauptung verteidigt, er sei eine wenig wahrhaftige 
Kunst, keiner so freimütig seine »Ebenmäßigkeit und Geschlossenheit« 
herauszuheben gewagt, wie Rocci in seiner leider so kurzen Einführung. 
Mit seiner gleichmäßig genauen Kenntnis der älteren Kunstliteratur und 
des ganzen Kreises der Denkmäler könnte er uns viel mehr zur Wieder¬ 
herstellung der historischen Würde des Barocks beitragen. Aber auch das 
mag genügen: nur aus dieser beherrschenden Vertrautheit mit dem Denk¬ 
mälerschatze Italiens konnte er uns Deutschen diese reiche Auswahl zur 
Verfügung stellen als Ergänzung zu unserer Literatur zur wissenschaft¬ 
lichen Kritik dieses »Zeitstiles«; Ergänzung um so mehr, da geflissentlich 
fast jede Wiederholung des da gegebenen so unzureichenden Abbildungs¬ 
materiales vermieden ist. So ist es für uns Kunsthistoriker als eine Förde¬ 
rung zu bezeichnen, daß der Verlag Ricci für diesen Band gewinnen konnte, 
und die Bekanntschaft mit ihm auch für unsere Kreise als notwendig. 

Horst. 

Robert H. Hobart Cust: Benvenuto Cellini. Little Books on Art. 
Methuen u. Co. Ltd. London. XI u. 187 S. 42 Abb. 

Das kleine, gut illustrierte Buch gibt eine ausführliche Lebensbe¬ 
schreibung des Künstlers, die sich eng an die berühmte Autobiographie 
anlehnt. Eine Charakteristik seiner Kunst und ein Vergleich seines Könnens 
und seiner Leistung mit dem seiner Zeit fehlen. Auch ist eine Kritik des 
Schriftstellers und seiner kulturgeschichtlich so wertvollen Mitteilungen 
nicht versucht. Die wissenschaftliche Arbeit liegt in den Anmerkungen, 
der Aufzählung von C.s andern Schriften — mit genauer Kapitelangabe — 
und mehr noch der ausführlichen Liste der ihm zugeschriebenen Kunst¬ 
werke. Dem englischen Laien und dem deutschen, der nicht zu der neuen 
guten Übersetzung von Cellinis Selbstbiographie von Heinrich Conrad greift, 
wird das Buch gute Dienste leisten. Zur Einführung in den Stand der 
heutigen Forschung erscheint der kurze inhaltreiche Aufsatz von Bernath 
und Hill in Thiemes Künstlerlexikon besser geeignet. F. Schottmüller. 

Thevan Eycks and their art. By W. H. James Weale with the 
co-Operation of Maurice W. Brockwell. London, John Lane, 1912. 

Von vornherein steht fest, was ein Eyck-Buch, auf dessen Titelblatte 
der verehrungswürdige Name W. H. James Weale zu lesen ist, enthält 


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Besprechungen. 


(und was es nicht enthält). Auf diesem Titel findet man aber noch einen 
zweiten Autornamen. M. W. Brockwell hat den Band redigiert als eine 
— stark verkürzte, doch auch bereicherte — neue Ausgabe des großen 
Eyck-Buches, das Weale allein 1908 (bei John Lane, London und New 
York) herausgegeben hat. Brockwell erweist sich als ein pietätvoller Jünger, 
der im Sinne Weales arbeitet und von eben der fast abergläubischen Ehr¬ 
furcht vor allem Gedruckten und Geschriebenen erfüllt ist wie sein Meister. 
Das neue Buch erscheint übersichtlicher als das alte. Dies mag ein Ver¬ 
dienst Brockwells sein. Im wesentlichen aber haben wir doch das Ergebnis 
von Weales ausdauernder und emsiger Sammeltätigkeit vor uns. 

Über die Kunst der van Eyck kein charakterisierendes Wort. Diese 
Zurückhaltung lag im Plane des Werkes. Und nichts ist jedenfalls besser 
als Banalität. 

Der Hauptinhalt ist ein Katalog der Bilder — in 7 Abschnitten, näm¬ 
lich so: 

a) By Hubert — completed by John (der Genter Altar). 

b) By Hubert — but left uncompleted. 

c) By Hubert or John. 

d) By John or Hubert. 

e) By John — of which the date is known. 

f) By John — of uncertain date. 

g) Of doubtful authenticity. 

h) Copies .... imitations. 

Die anscheinend äußerst subtile Gruppierung (man übersehe ja nicht 
die Nuance zwischen c und d) ist nicht richtig, d. h. sie entspricht nicht 
meiner Vorstellung — dies wäre, wie die Dinge liegen, kein Unglück, ja 
kaum ein Tadel —, aber sie ist unkonsequent und entspricht der Vorstellung 
keines Kenners, der sich mit der Frage herumgeschlagen hat, ja, was das 
Sonderbarste ist, nicht einmal Weales Vorstellung, wie wir sie aus älteren 
Äußerungen kennen. Ein Beispiel: mit besonderer Neugierde schlägt man 
die Liste der von Hubert geschaffenen Bilder auf und findet unter b zwei 
Nummern. Der harmlose Leser muß glauben auf zwei vollkommen ge¬ 
sicherte Schöpfungen Huberts zu stoßen, da ja die zwei Gruppen »Hubert 
or John* und »John or Hubert« folgen. Das eine dieser Bilder ist die Tafel 
in Kopenhagen, der Stifter mit dem hl. Antonius, das andere die Frauen 
am Grabe Christi bei Sir Fr. Cook zu Richmond. Mit dem Kopenhagener 
Bild hat Weale vor Jahren eine urkundliche Nachricht verbunden, die 
von einem Werke Huberts in Gent berichtet, und er hält krampfhaft an 
der Beziehung und der Bestimmung fest. Nun: das Gemälde ist von 
Petrus Cristus (dies ist nicht nur meine Ansicht, sondern consensus unter 
allen Leuten, die den Stil des Petrus Cristus kennen). Entweder ist also 


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Besprechungen. 


559 


die alte Nachricht falsch, oder sie bezieht sich auf ein anderes Bild. Ge¬ 
setzt aber, ich mißtraue aller Stilkritik und halte mich nur an Urkunden, 
wie kann ich dann als Nr. 2 des Kataloges das Bild von Richmond ein- 
setzen, ein Bild, das rein stilkritisch (und durchaus nicht auf Grund des 
angeblich beglaubigten Stückes in Kopenhagen) dem Hubert zugeschrieben 
worden ist. Wenn aber die Frauen am Grabe von Hubert sind, weshalb 
nicht auch die Tafel mit dem Gekreuzigten in Berlin und die übrigen Dinge, 
die mit dem Bild in Richmond zu einer Gruppe vereinigt von einigen For¬ 
schern Hubert zugedacht worden sind? Rätsel über Rätsel. — Es gab 
nur zwei Möglichkeiten: entweder hielt man sich an die Lehre irgendeines 
der Herren, die so glücklich sind, eine Vorstellung von der Kunst Huberts 
und Jans zu besitzen, oder man verzeichnete alle Bilder, die Hubert, die 
Jan zugeschriebenen, die echten und die zweifelhaften, durcheinander, ge¬ 
ordnet nach dem Gegenständlichen oder dem Aufbewahrungsorte. 

Von dem Mangel an stilkritischem Urteil abgesehen, ist das Buch 
mit seiner fast erschöpfenden Bibliographie (zu kurz kommen nur die Buch - 
malereien und Hulins höchst wertvolle Folgerungen aus dem Studium dieses 
Materials), mit seinen Regesten und Indices eine erstaunliche und nütz¬ 
liche Leistung. Eine besonders schätzenswerte Zugabe ist der Appendix B, 
ein Auszug aus Tausend Auktionskatalogen. Alle unter dem Namen Eyck 
verkauften Bilder (von 1662 bis 1912) sind notiert, zumeist mit Angabe 
des Preises und des Käufers. Man findet da wertvolle Provenienzspuren 
von allen möglichen altniederländischen Bildern. Max J . Friedländer. 


Frederick Mortimer Clapp: On certain drawings of Pont- 
o r m o. Florenz, Dezember 1911. 

Dieses Heftchen stellt eine willkommene Ergänzung des Pontormo- 
Kapitels in Berensons großem Werke der »Drawings of Florentinc Painters« 
dar, sowie eine Nachlese des Kataloges. Dabei kommt es dem Verfasser weniger 
auf die Entdeckung oder Zuschreibung neuer Pontormo-Zeichnungen an; 
er versucht, aus der ja recht großen Zahl der bekannten Blätter diejenigen 
herauszusuchen, deren Beziehung zu den Malereien Berenson noch entgangen 
war. Er tut es mit einem Stolze, der freilich mehr gerechtfertigt erscheint 
durch die auf die Arbeit anscheinend verwandte große persönliche Mühe, 
als durch die immerhin bescheidenen Resultate. Um so schwerer wird es 
dem Kritiker, gegenüber diesen vielleicht unverhältnismäßigen Anstren¬ 
gungen betonen zu müssen, daß, trotz des bei jedem kleinsten, neuen Detail 
in steten Anmerkungen hervorbrechenden Freudenschreies des Verfassers, 
das Hauptresultat seines Schriftchens die wiederum erwiesene Vortrefflich¬ 
keit der Berensonschen Arbeit bleibt. Freilich, was sich irgend durch un- 


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56c 


Besprechungen. 


ermüdlichen Vergleich, Stück für Stück, herausbringen läßt, hat Clapp gefun¬ 
den. Die Masse scheint groß, und man soll sie auch nicht verachten, denn 
gewiß, es wird durch diese Details das Bild nicht unerheblich bereichert. 
Doch es bleibt eben das alte Bild. Man staunt, wie Berenson ohne diese hundert 
Punkte es schon in jeder Linie hat richtig zeichnen können, und wundert 
sich dann auch wieder, daß man überhaupt noch hundert Punkte hat finden 
können. Sie verdankt Clapp allerdings nur seinem allzu liberalen System 
von sicher, wahrscheinlich und möglicherweise, wie er es in drei Arten des 
Druckes durchführt. Dadurch kann er dann jeden Einfall retten, den anzu- 
zweifeln oft keinen Sinn hat, da sich mit Assoziationen und Vermutungen 
nicht streiten läßt. 

Das wichtigste, was Clapp bringt, ist die Entdeckung der von Vasari 
als im Besitz Lodovico Capponis erwähnten Zeichnung der Fußballspieler 
(Uffizien Nr. 13 861). Sie ist der Entwurf zu einem nicht ausgeführten 
Fresko für Poggio a Cajano, für denselben großen Saal, in dem sich hoch 
oben in der Lünette die ländliche Allegorie von Vertumnus und Pomona 
befindet, jenes Hauptwerk, aus dessen Kreise es eine so große Zahl von 
Zeichnungen gibt. Bei Berenson zählt man 54, Clapp möchte noch 16 
hinzufügen, von denen er freilich nur die Hälfte sicher nennt. Was Berenson 
über die Entstehungsgeschichte des Freskos gesagt hat, ist vorbildlich; 
man fragt sich, was kann Clapp da überhaupt noch Neues bringen? Nun, 
die sicher identifizierten Blätter (zu denen man übrigens Uffizien Nr. 6519 
verso nicht unbedingt rechnen sollte) sind Studien zu kleineren Details, etwa 
einzelnen Gliedmaßen. Diese Resultate verdankt der Autor seiner aufs 
sorgsamste durchgeführten Vergleichung. Anders steht es mit den »wahr¬ 
scheinlichen« und »möglichen«; in ihnen wittert Clapp erste Gedanken, die 
aber später abgeändert wurden, aus Gründen, die zu erraten er sich anschickt. 
Wissenschaftlichen Wert hat diese zweite Kategorie nicht; besonders noch, 
da, wie Vasari uns berichtet, Pontormo schon bei seinem ersten Aufenthalt 
in der Villa die beiden Kopfseiten des Saales mit Fresken ausmalen 
sollte, man also nie wissen kann, ob nicht Studien, die mit Figuren des aus- 
geführten Freskos irgendwie verwandt sind, für das dam<ls sicherlich ent¬ 
sprechend gedachte Gegenstück bestimmt waren. 

Auch vor einer anderen Entdeckung Clapps muß leider gewarnt werden. 
In Pontormos Passionszyklus, den Fresken der Florentiner Certosa, fehlt die 
Kreuzigung. Vasari erzählt, der Maler habe sie ausgelassen in der Absicht, 
sie zuletzt zu machen, dann kam es aber nicht dazu. Nun findet sich am 
sichtbarsten Orte, in Cornice 183 der Uffizien, eine vielfigurige quadrierte 
Kreuzigung Pontormos (Nr. 6671). Houghton hat sie photographiert. Auch 
gibt cs einige Detailzeichnungen dazu. Clapp nimmt die Identifizierung 
von Nachricht und Entwurf vor, mit einer freudigen Sicherheit, ohne sich 


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Besprechungen. 


561 


nach dem Grunde zu fragen, warum Berenson der Gedanke überhaupt nicht 
gekommen ist. Nach all seinen Mühen um Pontormo-Zeichnungen hätte er 
aber schon sehen müssen, daß dieses Blatt 1525 noch nicht entstanden sein 
kann. Es zeigt den »Dürerstil« der Certosafresken überwunden, ersetzt durch 
stark michelangeleske Züge. Doch das stört Clapp nicht, er glaubt, daß 
der »Künstler in voller Karriere« auf den michelangelesken Manierismus 
seiner Spätzeit losstürme. 

Zum Schluß noch ein Wort über die schon gestreifte Eigentümlichkeit des 
Verfassers, in unzähligen Fußnoten auf die Neuheit seiner Ideen hinzuweisen. 
Bei allem Verständnis für berechtigten Entdeckerstolz muß diese stete 
Wiederholung doch als unnötig empfunden werden. Der Text behandelt 
ja nicht die Entwicklung Pontormos auf Grund aller identifizierbaren Zeich¬ 
nungen, resümiert also nicht auch Berensons Arbeit, sondern klammert sich 
fast ausschließlich an die Neuentdeckungen Clapps, baut sie zu einer paral¬ 
lelen Entwicklungsreihe zusammen. Zu guter Letzt aber folgt dann nochmals 
ein Verzeichnis, das getreu einer ausdrücklichen Vorbemerkung wieder nur 
die Neubestimmungen des Autors aufnimmt. Diese Einschränkung ist um¬ 
so bedauerlicher, als Berenson sich an die Numerierung der Kabinette an¬ 
schließt, man also, um die meisten und wichtigsten Zeichnungen zu einem 
Werke zu finden, jedesmal seinen großen Pontormo-Katalog ganz durch¬ 
sehen muß. Fritz Goldschmidt. 


Pieter Lastman, sein Leben und seine Kunst von Kurt 
Freise. Leipzig 1911. 

In der bekannten Serie »Kunstwissenschaftliche Studien« des Verlags 
von Klinkhardt & Biermann erschien 1911 als 5- Band ein stattliches Werk 
von Kurt Freise über Pieter Lastmann. Es umfaßt rund 250 Seiten mit 
43 Abbildungen. Schon diese Seitenzahl bei der Behandlung eines Malers 
von immerhin doch zweitem Range läßt auf großen Fleiß des Verf. schließen. 
Aber nutzbringend wird dieser Eifer erst dadurch, daß sich Freise bei der 
Behandlung seines Themas auf sehr eingehende, kritisch gesichtete Studien 
stützt. Nichts, wenn auch nur von geringem Wert, ist seinem Spürsinn 
entgangen. 

Der Hauptwert der Arbeit liegt darin, daß der Verf. das Werk von 
Pieter Lastman möglichst vollständig zusammengestellt und kritisch be¬ 
leuchtet hat. 

Hierbei kam zutage, daß Lastman niemals von Rembrandt beein¬ 
flußt wurde, ein auf Grund des Haarlemer Bildes, das überhaupt nicht 
von Lastman ist, sehr verbreiteter Irrtum. Im Gegenteil, öfters konnte 
die Abhängigkeit Rembrandts von seinem Lehrer nachgewiesen werden. 


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562 


Besprechungen. 


Ferner kamen einige Beispiele Lastmanscher Porträtkunst ans Licht, 
die bis jetzt nur aus der Literatur bekannt waren. 

Etwas Neues, wenn auch nur etwas Negatives, konnte auf dem Ge¬ 
biet der Graphik konstatiert werden, daß nämlich Lastman selbst sich 
wohl niemals mit der Nadel versucht hat, und daß er auch nicht der Er¬ 
finder des farbigen Kupferstichs ist, was zum erstenmal Bartsch behauptete. 

Betreffs der Anlage des Buches möchte ich bemerken, daß, der Gewohn¬ 
heit entgegen, der Katalog der Gemälde vor den Entwicklungsgang gesetzt ist 
mit der Begründung, seine Schilderung nicht durch langatmige Bildbeschrei¬ 
bungen zu stören. Leider fängt trotzdem der Entwicklungsgang mit einigen 
Beschreibungen von Zeichnungen und Stichen an. Es hätten dann also auch 

• t • 

die Kataloge der Zeichnungen und Stiche vorausgenommen werden müssen. 
Weiter wäre es zugunsten der Übersicht besser gewesen, einige Einzel - 

themata, wie die Signaturen, Faltengebung, das Nackte usw. für sich zu 

■ 

• r • i 

behandeln, abgesondert vom Hauptkapitel und nicht an einer oder mehreren 

• • , 

beliebigen Stellen desselben. 

Ebenso hätte ich alles andere, was nur irgend möglich war, in den 
Katalog gebracht, und nicht in den Entwicklungsgang, um diesen eben 
noch kürzer und prägnanter fassen zu können. Nur als Beispiele, wo dies 
besser geschehen wäre, erwähne ich: Seite 107—109: Auslassungen über 
das Rotterdamer Bildchen; Seite 114: Die Frage nach der zeitlichen Ein¬ 
ordnung des Bethlehemitischen Kindermordes; Seite 137—38: Erklärung 
der Darstellung von Bild 64. 

Jedoch sind dies nur geringe Ausstellungen, die den großen wissen- 
schaftlichen Wert des Buches nicht im geringsten beeinträchtigen. 
Und dieser besteht, wie gesagt, darin, daß wir eine mehr als er¬ 
schöpfende, ja man kann wohl ohne Übertreibung sagen, d i e Mono¬ 
graphie über Pieter Lastman besitzen, den Lehrer Rembrandts. 

Zum Schluß möchte ich noch bemerken, daß sich das Bild der Samm¬ 
lung Hoschek jetzt in der Sammlung Ferdinand Hermann in New York 
befindet. Kurt Erasmus. 

Collection des Grands Artistes des Pays-Bas. — Gerard Terborch 
par Franz Hellens. — Bruxelles 1911. 

Die Serie populärer Kunstbücher, in der die vorliegende Arbeit über 
Gerard ter Borch erschienen ist, will keine neuen wissenschaftlichen Bei¬ 
träge zur niederländischen Kunstgeschichte liefern. Von dem Vorrecht, 
auf selbständige wissenschaftliche Forschungen verzichten zu dürfen, hat 
der Verfasser jedoch etwas reichlich Gebrauch gemacht. Aus diesem Buche, 
aus dem der starke Enthusiasmus spricht, zu dem die Beschäftigung mit 
der Kunst des vornehmsten unter den großen holländischen Malern Anlaß 


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Besprechungen. 


563 


gibt, erfährt man absolut nichts Neues über ter Borch. Um das Stoffgebiet 
von des Meisters Kunst zu charakterisieren, gibt der Verfasser eine fein¬ 
fühlige und mit guter Sachkenntnis geschriebene Schilderung des gesell¬ 
schaftlichen Milieus und der kulturellen Zustände Hollands im 1 7. Jahrh. 
In der Behandlung einzelner Gemälde geht er über eine objektive 
Beschreibung hinaus. Er versucht es, die Bilder gelegentlich novellistisch 
zu erklären, was bei einem Künstler, der zunächst von der malerischen Er¬ 
scheinung der Dinge ausgeht und in dessen Werken das anekdotische Element 
stark zurücktritt, recht überflüssig ist. Wie gefährlich es gerade bei ter 
Borch ist, den Gesellschaftsszenen kleine Romane unterzulegen, dafür bietet 
ja die unzutreffende Beschreibung der sogenannten »Väterlichen Ermah¬ 
nung« in den »Wahlverwandtschaften«, die freilich nicht auf der Kenntnis 

* m 

eines der drei alten Exemplare, sondern nur von Willes Stich »Instruction 
Patemelle« beruht, ein altberühmtes Beispiel. Da dem Verfasser wahr¬ 
scheinlich nicht genügend Originale ter Borchs aus eigener Anschauung 
bekannt waren, so konnte er nur in vereinzelten Fällen sich der verlockenden 
Aufgabe unterziehen, den künstlerischen Gehalt und die malerischen Mittel 
zu schildern und zu erklären, durch welche der unerhörte Reiz der Werke 
ter Borchs zustande kommt. 

Der dem Buche beigefügte Katalog der Gemälde weist große Lücken 
auf. Wenn es auch in einem populären Buche schließlich nicht notwendig 
ist, alle Genrebilder und Porträts anzuführen, die von des Künstlers üblicher 
Art nicht abweichen, so hätten doch alle jene Werke angeführt werden 
müssen, in denen sich die Kunst ter Borchs von einer neuen Seite zeigt. 
Es fehlt zum Beispiel der bezeichnete »Kuhstall« aus der Sammlung De- 
laroff, der als Leihgabe im Haager Mauritshuis ausgestellt ist, und der ein 
Gegenstück zu dem »Pferdestall« der Sammlung Wachtmeister in Vanäs 
bildet. Daß der Verfasser das »Kircheninterieur« aus dem Besitze der 
Berliner Königlichen Museen übersehen hat, das früher im Aachener Museum 
als »Holländische Schule um 1660« hing, kann man ihm nicht weiter übel¬ 
nehmen. Dieses Gemälde rührt sicherlich von Gerard ter Borch her, in 
dessen Oeuvre es dem Sujet nach vereinzelt dasteht. Die unter den Werken 
des Meisters angeführte Wiederholung des Londoner Gemäldes vom Kongreß 
in Münster, die sich im Amsterdamer Rijksmuseum befindet, ist für eine 
eigenhändige Arbeit zu grob und schwach. 

Bei dieser Gelegenheit sei auf ein schönes Frühwerk ter Borchs in der 
Städtischen Sammlung in Heidelberg hingewiesen, wo es als eine Arbeit 
des Job Berck-Heyde hängt. Das Bild stellt das Innere eines gotischen 
Gewölbes dar, in dessen Vordergründe links ein jugendlicher Maler be¬ 
deckten Hauptes an seiner Stafifclei sitzt und ein Stilleben malt. 

Eduard Plietzsch . 

Repertorium für Kunstwissenschaft, XXXV. 37 


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564 


Besprechungen. 


Josef Kern, Karl Blechen, sein Leben und sein Werk. 

Verlag Br. Cassirer, 1911. 

Die Jahrhundert-Ausstellung 1906, deren Bedeutung für unsere 
Kenntnis der deutschen Kunst erst allmählich, aber immer mächtiger uns 
zum Bewußtsein kommt, war auch für Karl Blechen wie für so manchen 
andern eine Rehabilitierung. Auf einmal wurde cs klar, wie dieser Einsame 
Zielen nachging, die erst in der nächsten Generation zur Geltung kommen 
sollten; tatsächlich schien der vielfach verhöhnte Künstler die Prinzipien 
des Impressionismus nicht nur vorgeahnt, sondern zum Teil schon betätigt 
zu haben. Freilich war das Neuaufstrebende, das Ahnungsvolle, durchsetzt 
von heterogenen Elementen, es steckte darin Romanik, Monumentalitätssucht 
und allerlei Anderes. Es mußte eine lohnende Aufgabe sein, den Quellen 
Blechenscher Kunst nachzuspüren, die vielfach verschlungenen und sich 
kreuzenden Einflüsse aufzudecken, denen sich diese empfängliche Künstler¬ 
natur willig hingab. Das Buch J. Kerns über Blechen hat die Frage nach 
dem »Woher« seiner Kunst in wirklich befriedigender Weise beantwortet. 

Nun könnte man ja Zweifel darüber haben, ob wir heute bereits in der 
Lage sind, den nötigen Abstand zu diesen delikaten Problemen zu gewinnen, 
die vor noch nicht einem Jahrhundert die führenden Künstler beschäftigten. 
Allein, wer wollte leugnen, daß der Impressionismus — und das ist ent¬ 
scheidend für die BlechensChe Kunst — auch schon eine historische Be¬ 
handlung verträgt, vorausgesetzt, daß man mit streng wissenschaftlicher 
Methode an ihn herantritt. Und da kommt dem Verfasser seine kunst¬ 
historische Schulung zustatten, die den meisten über moderne Kunst Schrei¬ 
benden mangelt. Darin liegt eben sein Verdienst, daß er an seine Aufgabe 
nicht nur als Kunstempfindender (man kann in diesem Falle ruhig sagen: 
als Künstler) herankommt, sondern in ebensolchem Maße als Historiker, 
der die Quellenforschung keinen Moment aus dem Auge läßt, der den Wert 
jeder Aussage auf ihre Zuverlässigkeit hin prüft und nur da Einwirkungen 
und Beeinflussungen feststellt, wo solche durch Tatsachen zu belegen sind. 
Dies verdient deshalb hervorgehoben zu werden, weil die Versuchung, lose 
Vermutungen leichtfertig hinzuwerfen oder vom Thema abzuschweifen, 
allzu nahe lag und wir auf Schritt und Tritt beobachten müssen, wie die 
Kunst des 19. Jahrhunderts immer noch als Freiwild vielfach behandelt 
wird, wofür historische Betrachtung ohne Belang und entbehrlich sei. Was 
Manchem vielleicht als Mangel erscheinen könnte, rechne ich Kern hoch an: 
daß er — wie er im Schlußwort der Einleitung sagt — »den naheliegenden 
Wunsch, die Untersuchung weiter als auf die unmittelbaren Quellen der 
Blechenschen Kunst auszudehnen, zurückstcllen« zu müssen glaubte, und 
zwar in Erwägung »des heutigen Standes der Forschung über die Anfänge 
der neueren deutschen Kunst«. 


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Besprechungen. 


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In anschaulicher Erzählung schildert Kern die künstlerische Entwick¬ 
lung Blechens, die mit den äußeren Umständen seines Lebens so eng zu¬ 
sammenhing, und zu den besten Stellen des Buches gehört die Darstellung,, 
wie im Künstler — unter dem Einfluß des Norwegers Dahl — der Land¬ 
schaftsmaler erwachte. »Bisher hatte er kaum die äußere Erscheinung der 
Dinge betrachtet, jetzt lernte er den Ursachen der Erscheinung nachzu- 
forschen. Die Landschaft erschließt sich ihm in ihrem inneren tieferen Sinn 
als wechselnde Ausdrucksform eines ununterbrochenen, sich nach ewigen Ge¬ 
setzen vollziehenden Geschehens. In die tote Materie tritt Leben, eine 
Seele, ein, und diese Seele ist ein Spiegelbild der menschlichen Seele mit 
ihren Leidenschaften, ihrer ewig unbefriedigten Sehnsucht und ihren Hoff¬ 
nungen. So wird aus der Vedute, der schönen oder interessanten »Ansicht«, 
ein Bild des Erdlebens.« 

Dann folgte die Berufung an das Königstädtische Theater und die 
Episode der Dekorationsmalerei, die auch nicht ohne Einfluß auf Blechen 
blieb, und dann der große Einschnitt — Italien. »Die Werke Blechens, 
die in Italien entstehen, lassen an malerischer Qualität alles hinter sich 
zurück, was, soweit uns bekannt, von deutschen Künstlern bis 1829 ge¬ 
schaffen worden ist.« »Von Tag zu Tag steigert sich die Fähigkeit des Auges 
und der Hand, Licht und Bewegung und mit ihnen Geist und Leben der 
Natur aufzufangen.« Die Rückkehr, der schwere Kampf ums Dasein und 
um Anerkennung werden ohne Sentaimentlität, doch mit einer herben 
Trockenheit des Chronisten erzählt, und man verdenkt keinen Augenblick 
dem Verfasser, daß er den pathetisch-mitleidsvollen Brief Bettinas von 
Arnim an den Minister Professor von Bethmann-Hollweg in extenso auf 
zwölf Seiten bringt. Damit die Schatten aber nicht einseitig verteilt 
werden, führt der Verf. gewissenhaft alle Momente an, die zur kritischen 
Beurteilung dieses Briefes notwendig sind und seine Bedeutung auf das 
ihm zukommende Maß reduzieren. 

Alles in allem: eine erfreuliche Erscheinung der kunsthistorischen 
Würdigung eines Themas, das auf Schritt und Tritt zur — Artikelschreiberei 
verlocken konnte. Denn auch das muß berücksichtigt werden, daß es sich 
um eine Berliner Milieuschilderung handelte, und daß diese Monographie zu 
einer Art Memoirenwerk werden konnte. Kern hat diese Klippe glücklich 
umschifft, organisierte sein Gebiet scharf, ließ ins Berlin des Vormärz soviel 
Einblick, als ihm zur Charakterisierung des Künstlers notwendig erschien, 
und im übrigen überließ er den Tatsachen das Wort. 

Zu erwähnen bliebe noch, daß dem Werk ein umfassendes, wohl auch 
erschöpfendes Verzeichneis der Blechenschen Arbeiten beigefügt ist, das 
allein schon als Oeuvre-Katalog einen dauernden Wert besitzt. 

Daß das Buch sowohl in typographischer Hinsicht wie auch in bezug 


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^66 

* 


Besprechungen. 


auf Abbildungen geradezu mustergültig ausgestattet ist, dafür bietet eigent¬ 
lich der Name des Verlages eine Gewähr. Es wäre nur erwünscht, für eine 
eventuelle zweite Auflage eine Numerierung der Abbildungen und ihr Ver¬ 
zeichnis anzufertigen, da jetzt das Blättern und Suchen der besprochenen 
Bilder ziemlich lästig ist. Beth. 


Paul Kristeller, Kupferstich und Holzschnitt in vier 
Jahrhunderten. Zweite durchgesehene Auflage. Berlin 1911, 
Verlag von Bruno Cassirer. 

Prof. Dr. Hans W. Singer, Unika und Seltenheiten im Kgl. 
Kupferstich- Kabinett zu Dresden. Leipzig 1911, Verlag 
von Glass & Tuscher. 

Kristellers Buch liegt in zweiter Auflage vor. Über es zu berichten, 
es im landläufigen Sinne zu loben, erscheint abgeschmackt, denn es liegt 
ein Kunstwerk vor, das in seiner Geschlossenheit und Vollendung schlech¬ 
terdings nicht übertroffen werden kann, ein Werk, dem keine andere Nation 
etwas Ähnliches, geschweige denn etwas Gleichwertiges zur Seite zu stellen 
hat. Eine tiefe und erschöpfende Kenntnis des Materials verbindet der 
Verfasser mit der vollkommensten Beherrschung der Literatur und einem 
persönlichen, scharf ausgeprägten Standpunkt den Kunstwerken selbst 
gegenüber, Eigenschaften, die in Verbindung mit einer großen Auffassung 
ihm die Möglichkeit verleihen, kurz und eindringlich die einzelnen Meister 
auf Grund ihres Gesamtwerkes zu charakterisieren und sie in die großen 
Richtlinien einzugliedern, in denen sie Phasen der Entwicklung bilden. 
Kristcller schreibt nicht über Kupferstich und Holzschnitt vom Standpunkt 
des beschränkten und einseitigen Kenners der Graphik aus, sondern er be¬ 
herrscht ebenso die verwandten Zweige der bildenden Kunst; und gerade 
in den Seitenblicken, die er als kunsthistorischer Polyhistor nach allen 
Gebieten wirft, liegt ein besonderer Reiz und ein besonderer Vorteil seiner 
Arbeit. Eine solche Betrachtung eines einzelnen Kunstzweiges im Rahmen 
aller anderen Künste ist ja einzig und allein imstande, diesem Sondergebiet 
die historische Stellung anzuweisen, die ihm in der gesamten Entwicklung 
der Kunst zukommt. 

Der Verfasser versteht anzuregen; er schöpft aus dem Vollen, und man 
hat immer das Gefühl, er hat noch mehr zu sagen, die Richtung deutet 
er wohl an, aber überläßt die Ausarbeitung dem Studierenden, dem Kenner. 

Selbstverständlich legt er den derzeitigen Stand der Wissenschaft dar; 
daß darunter eine Menge eigenster Arbeit ist, erscheint bei einem Forscher 
wie Kristeller natürlich, und dies verleiht dem in seiner Anlage und seinen 
Urteilen subjektiven Buch etwas Höchstpersönliches. Das Beste jedoch, 


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Besprechungen. 


567 


was man einem derartig subjektiven Buche noch weiter nachrühmen kann, 
ist die objektive Richtigkeit, und die hat der Gelehrte mit größter Gewissen¬ 
haftigkeit erreicht. Kristeller hat unserer Zeit d i e Geschichte des Kupfer¬ 
stichs und des Holzschnitts geschenkt. 

Leider reicht sie, wie schon der Titel besagt, nur bis zur Wende des 
19. Jahrhunderts. Das ist sehr zu bedauern. Verständlich ist ja diese Be¬ 
schränkung, denn gerade das, was bis zu jenem Zeitpunkt die Entwicklung 
der beiden Künste ausgezeichnet hat, eine gewisse innere Folgerichtidkeit 
und große durchgehende Linien, das scheint der Graphik des 19. Jahrhunderts 
zu fehlen oder zum mindesten es ist zu wenig vorgearbeitet, um eine ähnlich 
große und bestimmte Darstellung, so gleichsam aus dem Handgelenk her¬ 
aus, zu geben. Aber Kristeller erscheint uns als der Mann, auch diese Arbeit 
zu leisten und uns die moderne Graphik in lichtvoller Darstellung aus ihren 
inneren Zusammenhängen heraus vorzuführen. Er würde auch imstande 
sein, den Kennern älterer Graphik das Verständnis für die Schönheit der 
neueren zu vermitteln, und damit den Bestrebungen unserer Zeit erheblich 
nützen können. 

In der Art der Illustrierung haben wir in Lippmanns Museumshand¬ 
buch des Kupferstichs einen Vorläufer des Kristellerschen Werkes. Es war 
ein äußerst fruchtbarer und glücklicher Gedanke des verstorbenen Gelehrten, 
die Illustrationen seines Buchs in Originalgröße anfertigen zu lassen und 
lieber Ausschnitte zu geben, als das ganze Blatt in starker Verkleinerung; 
denn nur so konnte die Eigenart der Stichelführung, das rein Technische, 
was a 11 e i n ja die Abbildung vermitteln und einprägen will, zum Ausdruck 
kommen, während jede Verkleinerung — und sei sie noch so gut — weder 
Technik begreiflich machen, noch den Eindruck des Originals auch nur 
im entferntesten ersetzen kann. Das Studium des rein Künstlerischen 
kann nur vor dem Original betrieben werden, und nur vor dem guten Ab¬ 
druck. 

Wenn ich im Zusammenhang mit diesem grundlegenden Werke 
Singers Publikation von fünfzig Unika und Seltenheiten aus dem Dresdner 
Kabinett bespreche, so geschieht dies nicht wegen der Bedeutung des Buchs, 
sondern wegen dieser prinzipiellen Frage. Singer bildet hier auf kleinem 
Format einzelne, meist frühe Blätter, in Originalgröße ab. Das ist offenbar 
der geringen Größe der Originale zu danken. Die gewählte Technik (Licht¬ 
druck) gibt allerdings wenig von dem Reiz der Originale wieder; immerhin 
mögen sie, bis auf die gänzlich verfehlte Reproduktion eines Teigdrucks, 
als technische Beispiele hingehen. Für gänzlich verfehlt aber halte ich die 
Abbildungen einer Reihe von Blättern in starker Verkleinerung. Hier ist 
weder das Technische noch das Künstlerische auch nur einigermaßen zu 
seinem Recht gekommen, so daß man sich fragen muß, welchen Wert eine 


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Besprechungen. 


solche Publikation überhaupt haben kann. Das breitere Publikum erhält 
falsche Begriffe von den Originalen, und der Fachmann, an den sich ja aller¬ 
dings der Herausgeber nicht eigentlich wendet, ärgert sich darüber und 
fragt sich erstaunt, wie ein Beamter eines der ersten Kabinette der Welt, 
der sich in wissenschaftlichen Kreisen einen Namen gemacht hat, es über 
das Herz hat bringen können, Blätter, die seinem Schutze anvertraut sind, 
in dieser Ausführung nachbilden zu lassen; damit dient er weder der Kunst 
noch der Erziehung zu ihrem Verständnis. Und das möchte er doch. Oder 
sollte das Interesse des Verlegers allein maßgebend gewesen sein? 

Doch abgesehen von der technischen Wiedergabe muß die Frage auf¬ 
geworfen werden, ob überhaupt ein Gewinn für die künstlerische Erziehung 
erreicht werden kann durch Veröffentlichung von Unika und Seltenheiten 
einer Sammlung. Denn nicht in diesen besteht der ideelle Wert einer Samm¬ 
lung, sondern er steht und fällt mit dem künstlerischen Niveau. Und dieses 
ist doch wahrlich im Dresdner Kabinett gewaltig hoch, in der Singerschen 
Publikation aber oft bedauerlich niedrig. Am schlimmsten ist es bei einem 
Blatt, von dem Singer selbst eingesteht, es habe keinen künstlerischen, 
wohl aber einen großen Kuriositätswert, dem gekreuzigten Christus, »auf 
die zarte innere Haut eines gekochten Eis abgezogen«. Das heißt doch mit 
dem breiteren Publikum seinen Spott treiben! Und zum Schluß noch eine 
tiefe Verbeugung vor Byzanz! Welchen Wert hat endlich in dieser Ver¬ 
kleinerung das Abbilden seltener Etats für das Publikum, wenn nicht das 
fertige Blatt zum Vergleich gegeben wird ? 

Mit Dank ist die historische Einleitung zu begrüßen, die eine inter¬ 
essante Darstellung der Entwicklung der Anstalt gibt und uns mehr über 
ihren Wert aufklärt, als die Bilder es tun können. Sicherlich überschätzt 
aber Singer die Bedeutung der Dresdner Sammlung als Vorbild für andere 
Kabinette. Für den Fachmann bieten die Anmerkungen zu den einzelnen 
Blättern wertvolles Material, doch ist bei ihrer Benutzung einige Vorsicht 
am Platze. Walter Griff. 

Fischer :Alte Glasgemälde im Schloß Hohenschwan¬ 
gau, München 1912. 

Die in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts von Kronprinz 
Maximilian mit soviel Liebe zusammengetragene Glasgemäldesammlung hat 
Josef Ludwig Fischer bearbeitet und Oskar Zettler herausgegeben. Das 
94 Seiten starke Bändchen mit einer Anzahl durchweg ungenügender Auto¬ 
typien ist im Delphinverlag-München erschienen. Ob Fischer hier the 
right man on the right place war, wage ich zu bezweifeln. Was er z. B. 
als Württemberger und Verfasser einer Monographie über Ulm schon auf 
den ersten Seiten des Buches über die zwei angeblichen Ulmer Arbeiten 


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Besprechungen. 


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vorbringt, verrät eine Unkenntnis der schwäbischen Glasmalerei und einen 
Dilettantismus in der Art und Weise seines »wissenschaftlichen« Vorgehens, 

die einen vollauf dazu berechtigen, sich seinen stets mit derselben Festig- 

• » 

keit urbi et orbi vorgetragenen Behauptungen, auch auf ihm doch zweifel¬ 
los noch ferner liegenden Gebieten, mindestens skeptisch gegenüberzu- 
stellen. 

Über die Figurenscheiben I und 2 schreibt er: »Der Stil dieser beiden 
Scheiben weist nach Ulm; für diese Stadt spricht auch die Gewandung der 
Heiligen, insbesondere aber das charakteristische Grün auf der Scheibe 
der hl. Barbara. Dieses Grün, verschiedenemal in den Chorfenstern des 
Ulmer Münsters gebraucht, hebt sich als Spezialität der Ulmer Glasmaler 
scharf von den benachbarten Schulen ab. Um 1480 •war der berühmte 
Glasmaler Hans Wild in der Donaustadt tätig. Mit dem Stil dieses Meisters 
stimmen die beiden Scheiben freilich keineswegs überein. In einer Urkunde 
der Lukasbruderschaft zu den Wengen aus dem Jahre 1499 wird ein »Peter 
Lindenfrost der Glasser«, aufgezählt. Daß es sich mit der Bezeichnung 
»Glasser« um einen als Künstler arbeitenden Glasmaler handelt, geht schon 
daraus hervor, daß in die Lukasgilde nur anerkannte Künstler Aufnahme 
fanden. Es wäre daher wohl möglich, daß die beiden Hohenschwangauer 
Scheiben von diesem Peter Lindenfrost stammen.« Was besagt »der Stil 
dieser beiden Scheiben weist nach Ulm«? Will man bei Glasgemälden aus 
den letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts von einem Ulmer Stil sprechen, 
so kann einzig und allein der Stil von Hans Wild und seiner Werkstatt in 
Betracht kommen, da dieser Hauptmeister zwanzig Jahre lang (bis 1491) 
die gesamte Ulmer Glasmalerei völlig beherrschte. »Wild ist nur möglich 
als Haupt einer gut organisierten Werkstatt, nur mit dieser konnte er die 
enormen Aufträge trotz der schwierigen, umständlichen Technik bewältigen« 
(Frankl.) Sein bis weit ins 16. Jahrhundert reichender Einfluß (man vgl. 
die Fragmente von Hirsau und Oberurbach) wird durch den Sohn bestätigt, 
der bis 1518 für die väterliche Tradition besorgt war. Nun behauptet Fischer 
einerseits: »Mit dem Stil dieses Meisters stimmen die beiden [Hohenschwan¬ 
gauer] Scheiben keineswegs überein« und andererseits: »Der Stil dieser 
beiden Scheiben weist nach Ulm«. Was heißt das? Nach meinem Dafür¬ 
halten haben diese Scheiben mit Ulm nicht das Geringste zu tun. Dafür 
spricht schon der unbeholfene und gedankenlose Faltenwurf, der, in Er¬ 
manglung beglaubigter Glasgemälde um 1500, bei der gleichzeitigen Malerei 
und Plastik ebensowenig auch nur annähernd zu finden ist. 

Als weiterer Beleg für die angebliche Ulmer Herkunft dient Fischer 
die Art der Gewandung der Heiligen. Für die Glaubwürdigkeit dieser An¬ 
nahme müßte Fischer doch zunächst das nötige Material aus dem Ende 
des 15. Jahrhunderts aufbringen. Etwas für Ulm Ausgeprägteres aus dieser 


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Besprechungen. 


Zeit als die Werke von Jörg Sürlin d. J. und Gregor Erhärt, Barth. Zeitblom 
und Martin Schaffner kann es wohl kaum geben. Von diesen Künstlern 
ist mir aber aus dem Ende des 15. Jahrhunderts nicht eine einzige Frauen- 
figur bekannt, deren Gewandung auch nur entfernte Ähnlichkeit mit jener 
der Heiligen von Hohenschwangau zeigte. 

Als dritten Beweis führt Fischer das charakteristische grüne Glas der 
Ulmer Schule an. Da jedoch zu dieser Zeit die Glasmaler ihr Glas nicht 
mehr selbst fabrizierten, sondern fertig von der Glashütte bezogen, lassen 

sich wohl noch aus einer stark dominierenden Farbe oder aus einem be- 

* 

stimmten Farbenakkord, niemals aber aus der Verwendung eines bestimmt 
grünen Glasses Schlüsse ziehen auf die Herkunft eines Glasgemäldes. Weil 
z. B. das höchst aparte Grün, das schon im Anfang des 15. Jahrhunderts 
in der württembergisch-fränkischen Schule fast allgemein war, vereinzelt 
auch in der oberschwäbischen Schule — wie in der Neithartkapelle in Ulm 
und im Chor der Kirche von Eriskirch — vorkommt, wird doch niemand auf 
den Gedanken verfallen, die Eriskircher Gemälde und die Fragmente der 
Neithartkapelle seien von einem fränkischen Meister geschaffen! Daß die 
Ulmer Maler ihr Glas fertig kauften, kann urkundlich nachgewiesen werden. 
Am 25. April 1496, gerade zu der Zeit, um welche Fischer die zwei Scheiben 
von Hohenschwangau ansetzt, durfte in Ulm kein Glaser ohne Kenntnis 
seiner Mitmeister von reisenden Händlern Glas kaufen. 

Fischers Phantasien schweifen noch weiter, und zwar bis zu der Ver¬ 
mutung, besagte zwei Scheiben könnten Arbeiten von Peter Lindenfrost 
sein. Diese absolut unmotivierte Zuschreibung läßt sich nur dadurch er¬ 
klären, daß Fischer von allen Meistern jener Zeit nur dieser eine bekannt 
ist. Es läßt sich aber eine ganz ansehnliche Liste um 1495 in Ulm lebender 
Glasmaleraufstellen: So gehören z. B. dazu: Conrad Schorndorff 1473—1499, 
Hans Lindenmeyer, ein Schüler Martin Schöns, Hans Schongaw 1495—1514, 
Hans Schrägen 1498, 1499, Vincenz und Hans Lipp 1495—1514, Gilg um 
1505, Hans Wild der Jüngere 1490—1518, sowie die Glasmalerfamilie Deckin- 
ger, die von 1407—1564 in Ulm nachweisbar ist. 

Vielleicht will Fischer seine Annahme darauf stützen, daß Peter Linden- 
frost Mitglied der Künstlerfraternität zu den Wengen war. Ebenso zählte 
jedoch Conrad Schorndorff zu den Stiftern und bis 1499 zu den M : tgliedem 
dieser Bruderschaft, weshalb ebensogut er für den Schöpfer der Hohen - 
schwangauer Scheiben gelten könnte. Diese Mitgliedschaft beweist aber 
gar nichts. Die Lukasbrüderschaft war keine Royal Academy, in der nur 
»anerkannte« Künstler Aufnahme fanden, wie Fischer es sich wohl vorstellt. 
Darüber unterrichtet uns bis ins Allerkleinste das »Instrumentum Con- 
fraternitatis der Mahler, Bildhauer etc. In dem Gottshauß Wengen« vom 
13. Aug. 1499. Die 1473 gegründete und vermutlich wegen ungenügender 


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Besprechungen. 


57» 


Beteiligung 4518 wieder eingegangene Bruderschaft war nichts anderes als 
eine den damaligen religiösen Bedürfnissen entsprechende und, wenn man 
so sagen darf, auf Gegenseitigkeit beruhende Privat - Versicherungs- 
gesellschaft für den Himmel. Aus dieser Mitgliedschaft Schlüsse auf Linden- 
frosts bedeutendes Können ziehen zu wollen, ist ebenso lächerlich, als bei 
einem modernen Menschen hervorragende Eigenschaften zu suchen, weil 
er einer xbeliebigen Versicherung angehört. Höchstens wird dadurch Linden - 
frosts, mit seiner Künstlerschaft selbstverständlich keineswegs in Verbin¬ 
dung stehende Religiosität bewiesen, denn um Mitglied dieser Bruderschaft 
zu werden, mußten sich die zu einer der vier Rotten der Krämerzunft ge¬ 
hörenden, der der »Mahler, Bildhauer, Glasser oder Brieftruckher«, zu einem 
bestimmten Beitrag für Seelenmessen und Begräbnisse der Mitglieder ver¬ 
pflichten. »Wenn und so offt ein Persohn in bemelter Bruderschafft mit 
Todt abgat, es syen Brueder oder Schwöster, so sollen die Buchsenmeister 
dem bemelten Probst und Convent ausser der Bruederschafft-Büchs vier 
Schilling hallcr geben, und nichts dest minder so sollen die Freindt des 
Todten, es syen Brueder oder Schwöster, Man oder Wyber den Todten 
wie sis gebührt in bemeltem Gottshauß zu den Wengen, besingen, und dabey 
dem Probst und Convent ein der außgestekhten Kerzen, oder zwölf Pfennig 
dorfür geben.« 

Außerdem ist noch ein Verzeichnis der Mitglieder von 1499—1518 
vorhanden, aus dem, wie auch bei bereits genanntem Instrumentum, hervor¬ 
geht, daß die Maler und Bildhauer sogar Frau und Kinder als Mitglied der 
Künstlerfraternität zu den Wengen einschreiben lassen konnten. Von 
Martin Schaffner heißt es ausdrücklich: »cum familie«. 

Ebenfalls unrichtig ist Fischers Datierung der beiden Scheiben. Ge¬ 
schlitzte Puffärmel tauchen erst später auf. 

Es bleibt mir ferner zu bemerken, daß Fischers Werk jeglicher 
historischer Hintergrund, jeglicher Zusammenhang der Hohenschwangauer 
Scheiben mit der Kunst und Kultur des Milieus, dem sie entstammen, 
abgeht, worüber ich mich nicht aufhalten würde, hätte Fischer vor 
Jahresfrist in einem kunstwissenschaftlichen Glaubensbekenntnis den Mund 
nicht so voll genommen. Er schrieb damals: »Die Kunstwissenschaft hat 
bisher nur zu sehr die Glasmalerei als Stiefkind behandelt. Die syste¬ 
matische Erforschung soll die. bloße Beschreibung des vorhandenen 
Materials, die bisher üblich war, ergänzen; es sollen die Zusammenhänge 
der einzelnen alten Kunstwerke mit der Kunst und Kultur des Milieus, 
dem sie entstammen, nachgewiesen werden.« 

Auch wäre es nach meiner Ansicht angebracht gewesen, die jedesmalige 
benutzte Literatur anzugeben, was besonders dort am Platze gewesen wäre, 
wo bequemerweise Lehmann einfach abgeschrieben ist. Z. B.: 

Repertorium für Kun»twissen«cliaft, XXXV. 3 ° 


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Besprechungen. 


Fischer : 

Sohn des vorhingenannten Jos 
Murer, erhielt Cristof, dessen Tauf¬ 
pate der berühmte Buchdrucker 
Christof Froschauer war, seinen er¬ 
sten Unterricht beim Vater und zwar 
nicht bloß in der Glasmalerei, son¬ 
dern in allen vom Vater geübten 
Berufszweigen. 1576 trat er seine 
Wanderschaft an und zog gegen 
Straßburg, wo sein berühmter Lands¬ 
mann Tobias Stimmer weilte. Sicher 
war Murer im Jahre 1584 zu Stra߬ 
burg, da er nach dem Taufregister 
der Pfarrei St. Thomas in Straßburg 
in diesem Jahre Patenstelle bei einem 
Sohne des Züricher Glasmalers Link 
vertrat. In diesem Register heißt 
er Christof Mauerer, Formenmeister. 
1586 kehrte Murer nach Zürich zu¬ 
rück, trat in diesem Jahre in die 
Saffranzunft ein. 1600 wurde er 
Mitglied des großen Rats, 1611 Amt¬ 
mann in Winterthur, wo er 1614 
unverheiratet starb, usw. 


Lehmann : 

Dem im Jahre 1558 als Sohn des 
Jos Murer geborenen Christoph war 
der bekannte Buchdrucker Christoph 
Froschauer Pate. Seine Lehrzeit 
machte er bei seinem Vater, der ihm 
in alle von ihm selbst geübten Künste 
und Wissenschaften einweihte. 

Nach dessen Tod trat er wahr¬ 
scheinlich zu Ende des Jahres 1580 
die Wanderschaft an, welche ihn 
nach Straßburg führte, wo er 1584 
als • »Formenmeister« genannt wird. 

[Vgl. hier Meyer: Die Schweizeri¬ 
sche Sitte der Fenster- und Wappen - 

► 

Schenkung, Frauenfeld 1884, S. 215, 
216.] 

Im Jahre 1586 kehrte er in die 
Vaterstadt zurück und trat, wie sein 
Vater, auf die Saffranzunft ein, die 
ihn im Jahre 1600 in den großen 
Rat wählte. Wie sein Vater wurde 
er auch Amtmann in Winterthur 

ft 

(1611). Er starb unverheiratet im 
Jahre 1614. 


Ich könnte mit noch viel mehr derartigen Beispielen aufwarten. 

Leo Babt- Bremen. 


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