GRUNDRISS
DER
SOZIALÖKONOMIK
I. Abteilung
Wirtschaft und Wirtschaftswissenschaft
BEARBEITET
VON
K. BÜCHER, J. SCHUMPETER, FR. FREIHERRN von WIESER
TÜBINGEN 1914
VERLAG VON J. C. B. MOHR (PAUL SIEBECK)
I. Buch All: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. 19
II.
Epochen der Dogmen- und Methodengeschichte.
Von
Joseph Schumpeter.
Inhaltsübersicht.
Seite
Literatur. 20
I. Die Entwicklung der Sozialökonomik zur Wissenschaft.
1. Die zwei Quellen der Sozialökonomik. 21
2. Uebersicht über die Entwicklung ökonomischer Gedanken innerhalb der Philo¬
sophie . . . '. 21
3. Uebersicht über die Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnis aus der Po-
pulardiskussion. 29
II. Die Entdeckung des wirtschaftlichen Kreislaufs.
1. Bedeutung und äußere Geschichte des physiokratischen Systems ... 39
2. Wesen und Methode des physiokratischen Systems. 41
3. Die ökonomischen Grundbegriffe der Physiokraten. 43
4. Die Theorie der Physiokraten im einzelnen .. 45
5. Anwendungen ihrer Theorie . 48
6. Turgot. 50
7. Smith. 51
III. Das klassische System und seine Ausläufer.
1. Vorbemerkung . 53
2. Uebersicht über die wichtigsten Autoren. 54
3. Ueber die äußeren Schicksale der RicaTdoschule. 58
4. Einige charakteristische Punkte . 60
5. Der Gesichtskreis der Autoren dieser Epoche . 63
6. Ueber die Methode der Klassiker . 65
7. Die ökonomische Soziologie der Klassiker und die ihrer Gegner .... 69
8. Der äußere Rahmen der klassischen Theorie (Gesetz vom abnehmenden Ertrag,
Bevölkerungsprinzip usw.). 73
9. Ueber Hauptrichtungen der Theorie dieser Epoche. 77
10. Die Wert- und Preistheorie. 79
11. Die Verteilungstheorie. 86
12. Andere Punkte. 96
IV. Die historische Schule und die Grenznutzentheorie.
1. Vorbemerkung . 98
2. Sozialpolitik und Nationalökonomie. 98
3. Das Wesen der historischen Schule. 99
4. Entstehung und äußere Geschichte derselben . 101
5. Der Methodenstreit. 106
6. Die „mathematische Methode“ . 109
7. Die großen Gesichtspunkte der historischen Schule . 110
8. Entstehung und äußere Geschichte der Grenznutzen theorie . 113
9. Ueber das Lehrsystem der Grenznutzen theorie. 117
10. Schlußbemerkung. 124
2 *
20
I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte.
Literatur 1 ).
Erst in der Zeit des Niedergangs des klassischen Systems erwachte ein stär¬
keres Interesse für die Geschichte unserer Disziplin. Im 18. Jahrhundert kam es
wohl zu bibliographischen Zusammenstellungen, aber nicht zu Bearbeitungen ihrer
Geschichte in erheblichem Maß. Genannt sei R o s s i g s „Versuch einer Geschichte
der Oekonomie und Kameralwissenschaft“ 1781. Auch in den ersten Jahrzehnten
des 19. Jahrhunderts sind es vor allem Deutsche, die sich an diese Arbeit machen.
Nennen wir Weitzels „Geschichte der Staatswissenschaften“ 1832/3, Bäum¬
st a r k s „Cameralistische Encyklopädie“ 1835 und v. M o h 1 s Geschichte und Lite¬
ratur der Staatswissenschaften 1855—58. Ein mit kurzen Bemerkungen versehener
Katalog — und als solcher wertvoll — war Mc. C u 11 o c h s: The Literature of Poli¬
tical Economy 1845. Der erste, recht flüchtige, Versuch zu einer eigentlichen Geschichte
unserer Wissenschaft ist das Buch B 1 a n q u i s: Histoire de l’äconomie politique
en Europe 1838, das großen Erfolg hatte. Auf ähnlicher Stufe steht das Buch von
Kautz: Geschichtliche Entwicklung der Nationalökonomie und ihrer Literatur
1860, weit übertroffen durch das dogmenhistorische Hauptwerk seines Lehrers
Roscher: Geschichte der Nationalökonomie in Deutschland 1874. Dieses Resul¬
tat emsigsten Fleißes war für lange Zeit tonangebend und ist trotz mancher Mängel
noch heute lesenswert. Auch desselben: Zur Geschichte der englischen Volkswirt¬
schaftslehre 1851. Aber an Kraft und Herrschaft über die dargestellten Gedanken
steht D ü h r i n g s Kritische Geschichte der Nationalökonomie und des Sozialis¬
mus 1874 hoch über ihm. Seither ist es in Deutschland zu einer ähnlich bedeutenden
Darstellung der ganzen Geschichte der Nationalökonomie nicht mehr gekommen.
Eisenharts Geschichte der Nationalökonomik 1881 gilt fast nur den wirtschafts¬
politischen Ideen. Das gründliche Werk Onckens: Geschichte der Nationalökono¬
mie 1902 behandelt nur die Zeit vor A. Smith. Eine kurze Uebersicht über die
Methoden- und Systemgeschichte findet man inv. Schmollers Artikel „Volks¬
wirtschaftslehre“ im H. d. St. Genannt seien noch: v. S c h e e 1 s dogmenhistorischer
Artikel in Schönbergs Handb. der Pol. Oek., das Sammelwerk: Die geschichtliche
Entwicklung der deutschen Volkswirtschaftslehre 1908 und Hasbachs Arbeiten,
die Bausteine zu einer großen Geschichte der Nationalökonomie sind. Dio fran¬
zösische Literatur ist an zusammenfassenden Darstellungen reicher. Außer den Wer¬
ken von Espinas, Rambaud, Dubois kommt vor allem Gide et Rist,
„Histoire des doctrines äconomiques“ 1908 in Betracht. Größer angelegt ist Denis’
unvollendete „Histoire des systämes öconomiques et socialistes 1904—07. Die eng¬
lische Literatur hat nur eine gründlichere Leistung auf diesem Gebiet aufzuweisen:
I n g r a m s „History of Political Economy“ 1888 (deutsche Uebersetzung, 2. Aufl.
1905) # ), die amerikanische besitzt ein Lehrbuch in: Haneys „History of Eco¬
nomic thought“ 1911. Cossas 1876 in 1. Aufl. erschienenem „Guida allo Studio
dell’ economia politica“, der einen großen Erfolg hatte, ist wenig Gutes nach¬
zurühmen. Von Geschichten der Nationalökonomie in einzelnen Ländern —
Roschers Geschichte der deutschen Wissenschaft bietet auch Ausblicke auf die
andrer Völker — seien die betreffenden Artikel in Palgraves Dictionary of Pplitical
Economy hervorgehoben. Eine Zeitschrift für Dogmengeschichte gibt es nur in
französischer Sprache: Revue d’histoire des doctrines öconomiques, Paris.
x ) Wir beschränken uns hier auf die dogmengeschichtliche Literatur der Nationalökonomie
und schließen die der Soziologie aus. Ferner ist die folgende Aufzählung auf Darstellungen
beschränkt, die zeitlich den ganzen Stoff oder doch seinen größten Teil umfassen oder um¬
fassen sollen.
•) J. B o n a r ist hier in demselben Sinn zu nennen wie etwa Hasbach. Auch er hat ein
großes Wissen zu verschiedenen Einzelleistungen ausgemünzt, die weite Strecken des Wegs
unsrer Wissenschaft beleuchten. Sein Hauptwerk ist: Philosophy and Political Economy
in some of their historical relations 1893 (2. Aufl. 1909).
I. Die Entwicklung der Sozialökonomik zur Wissenschaft.
21
Die dogmenhistorische Detailforschung ist natürlich vor allem in Spezialarbeiten
über einzelne Autoren und Richtungen zu suchen, von denen im folgenden nur
wenige genannt werden können. Jetzt sei nur auf die betreffenden Artikel im H. d.
St. verwiesen. Aber viel mehr als aus umfassenden Geschichten der Wissenschaft
und aus solchen Monographien lernt man aus Geschichten einzelner Lehrsätze und
Probleme, in denen der wissenschaftliche Entwicklungsgang im einzelnen ganz anders
zu seinem Rechte kommen kann. Es seien vor allem genannt: v. Böhm-Bawerk:
Kapital und Kapitalzins, I. Bd.: Geschichte und Kritik der Kapitalzinstheorien,
1. Aufl. 1884, 2. Aufl. 1902. Marx: Theorien über den Mehrwert (ed. Kautzky).
Zuckerkandl: Zur Theorie des Preises 1889. Whittaker: History and
Criticism of the Labor Theory of Value in English Political Economy 1903. Lieb¬
knecht: Zur Geschichte der Werttheorie in England 1902. Sewall: The theory of
Value before A. Smith 1901. K a u 11 a: Die geschichtliche Entwicklung der modernen
Werttheorien 1906. G r a z i a n i: Storia critica della teoria del valore 1889. v. B e r g-
m a n n: Geschichte der nationalökonomischen Krisentheorien 1899. Salz: Beiträge
zur Geschichte und Kritik der Lohnfondstheorie 1905. F. Hoffmann: Kritische
Geschichte der Geldwerttheorie. Rost: Die Wert- und Preistheorie mit Berück¬
sichtigung ihrer dogmengeschichtlichen Entwicklung 1908. Pierstorff: Unter¬
nehmergewinn, M a t a j a: Unternehmergewinn. A.Menger: Recht auf den vollen
Arbeitsertrag. Z wiedinek: Lohntheorie und Lohnpolitik. E r g a n g, Untersu¬
chungen zum Maschinenproblem. Kostanecki: Arbeit und Armut und viele
andere. Diese Dogmengeschichten und die sich daran schließenden Kritiken sind von
sehr ungleichem Wert. Aber sie sind doch die Träger wirklicher Verarbeitung des
wissenschaftlichen Gedankenmaterials. Im weitern Sinn ist fast unsere ganze Lite¬
ratur hierherzustellen, da fast jeder Autor dogmengeschichtliche Rückblicke und
Kritiken bietet.
I. Die Entwicklung der Sozialökonomik zur Wissenschaft ').
1. Die wissenschaftliche Nationalökonomie, so wie sie sich gegen Ende des
18. Jahrhunderts konstituierte, ist aus zwei deutlich zu unterscheidenden Wurzeln
erwachsen. Die das bisher Geleistete zusammenfassenden und der Folgezeit übermit¬
telnden Werke des 18. Jahrhunderts, von denen A. Smiths Wealth of Nations
das weitaus wichtigste ist, bieten uns zwei Gedankenmassen dar, die lange vonein¬
ander unabhängig gewesen waren: Eine Gedankenmasse, die aus der Arbeitsstube
der Philosophen im weitesten Sinn kam, der Denker, denen das soziale Leben und Trei¬
ben als solches von vornherein als Problem und als Element eines Weltbilds erschien,
also aus der großen Mutterwissenschaft, der Philosophie, und eine andre Gedanken¬
masse, die von der Triebkraft des Interesses an praktischen Zeitfragen von Leuten
verschiedener Typen aufgehäuft worden war. In der gebotenen Kürze wollen wir die
Genesis beider verfolgen ohne jedoch zu vergessen, daß in manchen Fällen diese
Einteilung, so wesentlich sie ist, sachlich ebenso versagt wie jede solche Gruppierung
und daß sie in derartigen Fällen den Anschein der Willkürlichkeit gewinnen muß.
2. Die „philosophische“ Gedankenmasse hat ihre letzte literarische,
von den Anschauungen des Alltags und den Grundsätzen von Gesetzgebern und Reli-
*) Literatur: An Spezialwerken kommen vor allem Hasbachs Philosophische
Grundlagen der von F. Quesnay und A. Smith begründ. Politischen Oekonomie, Schmollers
Forschungen 1890, und B o n a r s obenerwähntes Buch in Betracht. Die Oekonomie des
klassischen Altertums studiert man am besten an der allgemeinen Fachliteratur der Altertums¬
wissenschaften und besonders der antiken Wirtschaftsgeschichte. Doch seien zwei Arbeiten
über die ökonomischen Anschauungen des Aristoteles genannt: Kraus, Wertlehre des Ari¬
stoteles, Kinkel, Sozialökon. Anschauungen des Aristoteles. Vgl. auch: G o u c h o n,
Les doctrines Sconomiques dans la Grfcce antique. Für den Rest dieser Epoche: Ende¬
mann, Studien in der romanisch-kanonistischen Wirtschafts- und Rechtslehre. A s h 1 e y,
English economic history and theory. C o n t z e n, Geschichte der volkswirtschaftlichen Litera¬
tur im Mittelalter. B r a n t s, Th6ories Gconomiques au X111. et XIV. sifccles. Laspeyres,
Geschichte der volkswirtschaftlichen Anschauungen der Niederländer und ihrer Literatur zur
Zeit der Republik 1865. G a r g a s , Die volkswirtschaftlichen Anschauungen in Polen im
XVII. Jahrh. Small, The Cameralists. Leslie Stephen, English Thought in the
XVIII. Century. S u p i n o , La scienza economica in Italia nei secoli XVI—XVII (1888).
Horn, L’6conomie politique avant les physiocrats 1867.
22 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. I
gionsstiftern unterscheidbare, Quelle im griechischen Altertum. Nicht etwa bloß in
dem Sinne, daß die griechischen Denker Erkenntnisse ökonomischer Natur ausge¬
sprochen hätten, die in späteren Zeiten nochmals selbständig formuliert worden wä¬
ren; vielmehr wirkten die griechischen Denker selbst auf die Folgezeit und es führt
eine ununterbrochene oder doch stets wieder angeknüpfte Kette von Beziehungen von
ihnen bis zu den meisten jener Autoren, aus deren Arbeiten Adam Smiths Werk ent¬
stand, und zu diesem selbst. Die für uns wichtigsten griechischen Einflüsse sind die
von seiten Aristoteles’, Platos und der Stoiker und Epikuräer — nach ihrer Bedeu¬
tung für uns geordnet. An sich freilich darf der Wert des von ihnen Gebotenen, ab¬
gesehen von seiner historischen Rolle, nicht überschätzt werden. Es ist verfehlt, in
jede gelegentliche Aeußerung alles das hineinzuinterpretieren, was spätere Zeiten
an ähnlich klingende Sätze geknüpft haben. Gewisse fundamentale Sätze, die an der
Schwelle ökonomischer Gedankengänge stehen, sind außerdem so einfach und ent¬
springen so natürlich schon der praktischen halb instinktiven Kenntnis der wirtschaft¬
lichen Vorgänge, daß in ihrer Formulierung keine besonders zu verzeichnende Leistung
liegen kann. Endlich haben die Alten die spezifisch wirtschaftlichen Probleme einer¬
seits viel weniger beachtet als etwa die Probleme der Staatslehre und es hat andrer¬
seits die Folgezeit an den wirtschaftlichen Problemen relativ viel energischer gear¬
beitet als an den Problemen, die für die Alten im Vordergrund standen, so daß aus die¬
sem doppelten Grund das griechische Erbe für die Oekonomik eine kleinere Rolle
spielt als für andere Gebiete. Obgleich es nicht richtig ist, wie oft gesagt wurde,
daß die Oikenwirtschaft mit ihrer Autarkie des Haushalts keine „staatswirtschaft¬
lichen“ Probleme geboten habe und obgleich die Oikenwirtschaft in der entschei¬
denden Zeit lange nicht so vorherrschte, wie dieses Argument voraussetzt, so drang
der wissenschaftliche Gedanke in den Fragen des Wirtschaftslebens doch nicht weit
vor. Noch weniger an prinzipieller Einsicht bieten uns die Historiker. Auch die besten
unter ihnen sind überhaupt in ihren allgemeinen Ausführungen merkwürdig
schwach. Der glänzende Scharfsinn, den z. B. Thukydides in der Beurteilung indivi¬
dueller Vorgänge bewährt, scheint ihn zu verlassen, wenn er von generellen Gründen
und Folgen spricht, und speziell das wirtschaftliche Gebiet berührt er kaum. In der
rhetorischen und der dramatischen Literatur kann keinesfalls mehr erblickt werden als
der Ausdruck von Popularanschauungen.
Das allgemeine Bild der Volkswirtschaft ist selbst bei Aristoteles und Plato
überaus dürftig und vor allem „vorwissenschaftlich“, d. h. es unterscheidet sich nicht
wesentlich von der Laienanschauung aller Zeiten. Von einem Einblick in die Wechsel¬
beziehungen zwischen den wirtschaftlichen Erscheinungen ist keine Rede. Die Beur¬
teilung der einzelnen wirtschaftlichen Funktionen reflektiert die Anschauungen einer
wesentlich agrarisch orientierten, einem aufstrebenden Handelsstand gegenüber¬
stehenden Aristokratie. Dessenungeachtet ist die Gesamtleistung Aristoteles’ auf
ökonomischem Gebiet groß. Ihre wichtigsten Punkte sind: 1. Er war der erste und
für lange Zeit der einzige, der das menschliche Wirtschaften als an sich interessantes
Problem erkannte und es klar und scharf von der bloßen Haushaltungskunde und Be¬
triebslehre einerseits und — trotz allen ethischen Wertens des wirtschaftlichen Han¬
delns — von der Gesetzgebungskunst andrerseits unterschied. Darin lag eine um so
größere Tat, als die griechische Welt unter „Oekonomik“ fast ausschließlich eine Wirt¬
schaftskunde verstand von der Art, wie sie uns Xenophon oder auch die Aristoteles’
Werken beigeschlossene Arbeit dieses Titels bot, und als man sich im übrigen mit
wirtschaftlichen Dingen nur unter dem Gesichtspunkt der Gesetzgebungskunst,
bzw. der Konstruktion eines Idealstaats befaßte. Nur bei Aristoteles finden sich eini¬
germaßen längere Gedankengänge forschenden und analysierenden Charakters, so
daß er als Schöpfer jener ersten Gedankenmasse zu bezeichnen ist, die wir unter¬
schieden haben. An einer Stelle definierf er bereits die Oekonomik als die Lehre vom
„Reichtum“ (Nik. Eth. p. 1094). Und ungefähr an der Stelle, an die er sie gestellt,
steht die Oekonomik in der Moralphilosophie und dem Naturrecht des 18. Jahrhunderts.
L Die Entwicklung der Sozialökonomik zur Wissenschaft.
23
2. Aristoteles legte die Grundlage einer Wert- und Preislehre. Er erkannte die Bedeu¬
tung der Unterscheidung zwischen Gebrauchs- und Tauschwert und sah klar das hier
liegende Problem. Die Lehre vom Tauschwert wurde ihm zum Angelpunkt einer Theo¬
rie der Verkehrswirtschaft, der Chrematistik. Er basierte sie auf die Tatsache des Be¬
dürfnisses und kam so zu einer rein subjektiven Theorie des wirtschaftlichen Werts
und — unbeschadet der Unterordnung unter ethische Forderungen — des Preises,
allerdings ohne eine wirkliche Ableitung des Preisphänomens zu bieten. Das führte
ihn zu seinen klassischen Sätzen über Wesen und Rolle des Gelds als Tauschmittel
und Wertmaß. (Pol. I, 9 und Eth. V, 8.) Wie tief er die fundamentale Bedeutung
dieser Dinge erfaßte, geht daraus hervor, daß er den Gutsbegriff auf das Moment
der Meßbarkeit des Werts in Geld stützte. Noch Pufendorfs Vorrat an reinwirtschaft¬
lichem Wissen liegt innerhalb dieser Grundlinien. 3. Wie er klar— und mit Argumen¬
ten, die später zur Bekämpfung des Merkantilismus dienten, — zwischen Geld und
Reichtum unterschied, so zeigt er uns auch sonst, wie z. B. gelegentlich seiner Hervor¬
hebung der Besonderheit der Rolle jener Produktivgüter, die weiterm Er¬
werbe dienen, also einer noch heute üblichen Kapitalsdefinition (Pol. I, 2),
eine Auffassung, die uns leicht dazu verleiten könnte, ihm ein sehr weitgehendes Maß
von ökonomischer Einsicht zuzuschreiben, wenn solche Anklänge nicht im ganzen
vereinzelt wären und oft dicht bei Beispielen gröbster Irrtümer stünden. 4. Zu diesen
groben Irrtümern gehört jedoch nicht die historisch so bedeutsame Zinslehre des Ari¬
stoteles. Wohl hat er von der Produktion die primitive, lediglich das Moment physi¬
scher Produktivität ins Auge fassende Vorstellung. Deshalb erscheint ihm der Han¬
delsgewinn nur durch Betrug erklärbar. Aber das Argument von der „Unfruchtbar¬
keit“ des Geldes ist bei dem ja für Aristoteles allein in Betracht kommenden Konsum-
tiv-Darlehen nicht s o falsch als man mitunter annimmt. 5. Aristoteles hat weiter in
ruhiger und sachlicher Weise jene Diskussionen sozialer Institutionen wie Privat¬
eigentum, Sklaverei usw. vom Standpunkt sozialer Zweckmäßigkeit begonnen,
die ja noch heute in der ökonomischen Literatur eine Rolle spielen. 6. Endlich hat er
den Grund zu einer Soziologie gelegt. Er hat von vornherein — wenn auch mit etwas
scholastischen Argumenten — jene Bekämpfung des Individualismus und jenen Ver¬
such zur Erfassung der sozialpsychischen Natur des Gesellschaftsphänomens unter¬
nommen, die sich durch die ganze sozialwissenschaftliche und so auch die ökonomische
Literatur ziehen, und er hat im besonderen den Grund zu der Soziabilitätstheorie
der Gesellschaft gelegt, die wir bei Grotius voll entfaltet finden. Und gelegentlich
nimmt er eine ganz modern anmutende Stellung (z. B. Pol. II, 6, 13) als Sozial¬
politiker ein.
Eine ganze Welt trennt diese Leistungen von den prunkvollen Phantasiegebilden
Platos. Wir finden bei ihm weder präzise Begriffsbildungen ökonomischer Natur
noch längere analytische Gedankengänge. Nicht Erklärung einer an sich problema¬
tischen Wirtschaft sondern die Gestaltung einer seinen ethischen Grundsätzen und
den Verhältnissen seines Idealstaats angepaßten Wirtschaftsverfassung war sein
Ziel. Wohl war das zum Teil nur eine Darstellungsform für wissenschaftliche Gedan¬
ken. Aber selbst seine Ausführungen über Arbeitsteilung (Rep. II), auf die man immer
wieder hinzuweisen pflegt, beweisen wenig für das Vorhandensein einer tiefem Ein¬
sicht in das Wirtschaftsleben und konnten selbst von Xenophon (Kyr. VIII)
leicht übertroffen werden, seine sonstigen wirtschaftlichen Aeußerungen und Begriffs¬
bildungen sind die des Laien. Einen kräftigem Versuch, auf dem Gebiet des Wirt¬
schaftlichen über Laiensvorstellungen hinauszukommen, als die platonischen Schrif¬
ten enthält der Dialog Eryxias, eine Untersuchung über die wirtschaftlichen Grund¬
begriffe.
Noch weniger bieten uns die Stoiker und Epikuräer an positiver Erkenntnis in
ökonomischen Fragen. Um so größer war, wie Hasbach hervorgehoben hat, ihr Ein¬
fluß auf die philosophische Gedankenarbeit zunächst in Rom und dann in der Welt
der Renaissance. Und weil gewisse soziologische Grundfragen zu dem ältesten
24 I* Buch All: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. I
Spielzeug des forschenden Geistes gehörten, so ist es begreiflich, daß auch diese Ideen¬
richtungen ihren soziologischen Gehalt hatten. Allein man muß sich hüten, die Be¬
deutung dieses Moments für unsere Disziplin zu überschätzen. Vor allem forschten
weder Stoiker noch Epikuräer in unserm Sinn. Ihr Individualismus bedeutet kaum
mehr als den Rat sich vom öffentlichen Leben femzuhalten. Insofeme fehlt jede Be¬
ziehung zwischen ihrem Individualismus und der Art von Individualismus, die hier
allein in Betracht kommt, nämlich dem Individualismus als sozialem Erkenntnisprin¬
zip und als Forschungsmethode. Sodann hat die Lehre Epikurs sachlich so wenig
mit dem Eudämonismus der Neuzeit zu tun, wie die Lehre der Stoa etwa mit sozial¬
ethischen Tendenzen neuerer Zeiten. In solchen Dingen können oberflächliche Ärm¬
lichkeiten um so leichter darüber täuschen, daß wir in jenen Philosophien nicht Keim¬
zellen wissenschaftlicher sozialer Erkenntnis zu suchen haben, als die Spätem die Ten¬
denz hatten, ihre wesentlich neuen Gedanken in eine an den Alten gelernte Ausdrucks¬
weise zu hüllen.
Alle diese Leistungen wirkten in zweifacher Weise auf die spätere Nationalöko¬
nomie. Erstens gingen sie im Lauf der Zeiten von Hand zu Hand, römische und mit¬
telalterliche Denker übernahmen sie und von ihnen übernahmen sie die Neuern.
Und zweitens wurden die griechischen Denker seit der Renaissance auch noch auf lange
Zeit zu lebendigen Mächten, sie wurden zu unmittelbaren Lehrmeistern der Neuen,
die sich auch unmittelbar an sie wandten.
Noch heute ist es schwer — und in einzelnen Punkten geradezu unmöglich —
von der Politischen Oekonomik zu sprechen ohne ihre Schwesterdisziplinen zu berück¬
sichtigen. Solange der Vorrat an spezifisch ökonomischen Erkenntnissen gering und
die Oekonomik nur ein kleiner Bestandteil der großen Universalwissenschaft der Philo¬
sophie war, ist das noch weniger möglich. Doch gebietet das der Rahmen dieser Ar¬
beit. Deshalb sei zunächst kurz gesagt, daß im alten Rom dieser Vorrat an Erkennt¬
nis nicht gewachsen ist. Bezüglich der ja ganz unselbständigen Philosophie und der
Geschichtschreibung war das selbstverständlich. Und bezüglich der Jurisprudenz
war es wohl nicht anders möglich. Wir sehen die Juristen mit größter Sicherheit an die
Erscheinungen des Wirtschaftslebens herantreten. Aber das ist nur die Sicherheit des
geschäftsgewohnten Mannes, schon der Zweck des juristischen Gedankengangs und
die durch ihn gesetzten Schranken machen wirtschaftliche Auseinandersetzungen
unmöglich. Gelegentliche Aeußerungen, wie Paulus’ berühmte Preisdefinition
bedeuten in ihrer Isolierung sehr wenig und so werden wir es verstehen, daß neuere
Untersuchungen über die „Wirtschaftslehre des corpus juris“ in der hier in Betracht
kommenden Beziehung ergebnislos verliefen (v. Scheel, 0 e r t m a n n). Die Be¬
triebslehren der Schriftsteller „de re rustica“ bieten ebensowenig an volkswirtschaft¬
licher Erkenntnis, was um so auffallender ist, als es an agrarpolitischen Problemen
— um nichts weniger vital als jene des Englands des 18. und 19. Jahrhunderts —
nicht gefehlt hätte.
Die nächste Fortsetzung spekulativer Gedankenarbeit— „spekulativ“ im Gegen¬
satz zu den Anschauungen der Völker und einzelner Männer der „Praxis“ — an ökono¬
mischen Problemen werden wir naturgemäß in der Scholastik suchen. Tatsächlich
finden wir auch, daß dieselbe hier wie sonst so eng an Aristoteles anschließt, wie etwa
Marx an Ricardo. Das Vorherrschen des Zwecks moralischer Kasuistik darf nicht
darüber täuschen, daß die diskutierten „Fälle“ und religiösen Gebote vielfach nur
die äußere Form sachlicher Untersuchungen sind, die mitunter einen um so günstigem
Eindruck machen, je länger man sich mit ihnen beschäftigt. Aber gerade auf öko¬
nomischem Gebiet scheint das in geringem Maß der Fall und der Wert der Ausfüh¬
rungen der Scholastiker nicht groß zu sein. Im Anschluß an die ethische Frage des
gerechten Preises finden wir Ansätze zu einer Preistheorie, in erheblicherm Maß
m. W. zuerst bei Albertus Magnus (1193—1280), der die Gedanken Aristote¬
les' über den Preis dadurch zu präzisieren sucht, daß er Gleichheit der in den auszu¬
tauschenden Gütern enthaltenen Mengen von labores et expensae als Index eines
I. Die Entwicklung der Sozialökonomik zur Wissenschaft.
25
idealen Tauschverhältnisses bezeichnet. Aber nicht nur ist dieser Satz lediglich als
moralische Forderung aufgestellt, er ist sogar nur aus einer andern moralischen For¬
derung — nämlich der Vermeidung von Ueberteuerung — abgeleitet. Und vor allem
steht er außer aller Beziehung zu jenen Erkenntnissen, die ihn eventuell für die
Wirtschaftslehre fruchtbar machen könnten. Das ist ein Beispiel für viele der wirt¬
schaftlichen Gedankengänge der Scholastiker. Während die meisten und darunter
auch Thomas von Aquino aber auf diesem Gebiet überhaupt nichts Selbständiges
leisteten, setzte — mit Duns Scotus? — eine Tendenz ein, die Brauchbarkeit
der Güter zum Angelpunkt der Erklärung der Verkehrswirtschaft zu machen, die in
der Hand Buridans 1 ) (erste Hälfte des 14. Jahrhunderts) zu einer Geldtheorie
führte, die von Oresmius ausgearbeitet vielleicht die erste rein ökonomische Leistung
darstellt und deren Grundgedanke, die Basierung des Geldwerts auf den Gebrauchs¬
wert des Geldstoffs, nicht mehr verschwand. Diese ganze Richtung fand ihren Höhe¬
punkt in Gabriel Biel, mit dem — Ende des 15. Jahrhunderts — die Pe¬
riode der Scholastik geschlossen zu werden pflegt. Doch hat sie ihr sozialwissenschaft¬
liches Erbe dem Naturrecht überantwortet.
Eine Konsequenz — richtiger ein Spezialfall — der scholastischen Preislehre
war die scholastische Zinstheorie, die die bekannte Stellungnahme des Mittelalters
zum Zinsnehmen zu fundieren suchte und sich bis tief in das 18. Jahrhundert erhielt,
auch das vielleicht wesentlichste reinökonomische Diskussionsthema abgab, an das
sich immer weitere Ausblicke anschlossen. Die übrigen Leistungen dieser Richtung
können hier nicht erwähnt werden. Es ist ferner zwar selbstverständlich, daß sich aus
dem Gedankenkreise der Scholastiker auch ein Gesamtbild der Wirtschaft ablesen
läßt, aber es war nicht das Resultat bewußter Forschung — nur Spiegel der Zeitan¬
schauungen des Lebens.
Dieser kleine Flußlauf sozialwissenschaftlicher Erkenntnis mündete in das
stürmische Gedankenmeer der Renaissance- und der Reformationsperiode. Aus dem
Gewirre seiner Strömungen, die jeder Beschreibung in der gebotenen Kürze spotten,
seien zwei hervorgehoben. Erstens die direkt auf dem Anstoß der politischen, religiö¬
sen und sozialen Umwälzungen beruhende Geistesrichtung auf sozialwissenschaft¬
lichem Gebiet, die Scharen neuer Arbeiter auf dieses Gebiet führte, denen Staat und
Gesellschaft unter neuen Gesichtspunkten erschienen. Und zweitens die unmittel¬
bar vom Hauche des erwachenden naturwissenschaftlichen Geistes herangewehte
Strömung, die aber mittelbar auf denselben Anstoß zurückging. Die historische
Kontinuität mit der Scholastik verleugnet diese Epoche zwar nicht. Gewisse Aeußer-
lichkeiten scholastischen Denkens haben ihre Leistungen nie abgestreift. Aber
die neuen Fermente machten das sozialwissenschaftliche Denken nach und nach zu
etwas anderm. Mit der Warnung, daß alle solche allgemeinen Sätze niemals strikte
richtig sein können, darf man sagen, daß nun die soziale Welt, von den Frühem im
Wesen als ein Geheimnis oder als selbstverständlich hingenommen, nun als ein mit
natürlichen, im Gegensatz zu übernatürlichen, Erkenntnismitteln, die aus der Beob¬
achtung und Analyse von Erfahrungstatsachen zu gewinnen seien, erfaßbares Pro¬
blem erschien. Dieses Rationalisieren der sozialen Welt — also im Sinn von
vernunftmäßigem Begreifen vermittelst der Relation von Grund und Folge — suchte
man methodisch in der Weise durchzuführen, daß man die „vernünftigen“ Motive
des die sozialen Dinge offenbar ausmachenden menschlichen Handelns analysierte
und gar, indem man gewisse soziale Z i e 1 e als vernünftig erklärte. An sich haben
diese drei Bedeutungen des Wortes „rationalistisch“ nicht das Geringste miteinander
zu tun. Der Historiker, der den Untergang des spanischen Weltreichs aus der Lebens¬
unfähigkeit desselben erklärt, versucht den Vorgang zu erklären und rationalisiert
ihn im ersten Sinn. Er sieht aber deshalb noch nicht in der sozialen Welt nur eine
Resultante vernünftiger Motive bei den Handelnden. Und vollends hält er deshalb
Kau 11a, Der Lehrer des Oresmius, Tübinger Zeitschr. 1904.
26 I. Buch All: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. I
noch nicht irgendwelche Zustände der Gesellschaft für absolut vernünftig. Das Wort
„Rationalismus“ ist aber zu einem Schlagwort geworden, in dem sich diese drei
Bedeutungen — übrigens noch andre — mischen. Für uns ist es, um in das Wesen des
sozialwissenschaftlichen Rationalismus einzudringen, wesentlich, hervorzuheben,
daß ungefähr bis zu dem Aufschwung der Geschichtsschreibung im 18. Jahrhundert
diese verschiedenen Dinge allgemein, und bis auf die neueste Zeit oft, wenn auch in im¬
mer geringerm Maße, in den Geistern zusammenfließen. Es lag auch für die ersten im
Felde unendlich nahe, wenn sie das soziale Leben und Treiben begreifen wollten, sich
um Aufklärung an die Vernunft der Handelnden zu wenden und alles nicht „vernunft-
mäßige“ Handeln als prinzipiell uninteressante Aberration zu betrachten und wir
werden verstehen, daß man so einerseits zu einem individualistischen Standpunkt
kam, d. h. zur Auffassung, daß in der Motivenwelt des einzelnen der Schlüssel zum
Verständnis des sozialen Geschehens liege, und andrerseits zur Auffassung, daß es
eine unveränderliche, allgemeingültige, der Vernunft allein entsprechende Ordnung
der sozialen Dinge gäbe, weil offenbar die menschliche Mentalität etwas unveränder¬
lich Gegebenes und folglich das aus ihrem Wesen fließende Gesetz des Handelns,
mithin auch dessen Geschöpf, die soziale Welt, in gewisssem Sinn unveränderlich sei.
Hier liegt der Ursprung des Individualismus in der Wissenschaft und auch der Auf¬
fassung von einem allgemeinen — gleichwohl aber nicht existierenden und eben des¬
halb erst durchzusetzenden — Normalzustand der Gesellschaft. Beachte man jedoch,
daß der Ausgangspunkt ein auch in modernem Sinn streng wissenschaft¬
licher und auch, daß die Verankerung der Sozialwissenschaft in einer Psychologie ein
Gedanke ist, der heute neue Kraft gewonnen hat. Abgeschreckt durch Aeußerlich-
keiten und durch offenbare Mängel dieser Literatur, verkennt man heute leicht, wie
vollständig unsere Arbeiten auf demselben Boden stehen *).
Es entwickelt sich zunächst eine „rationalistische“ Theologie, die für uns unmit¬
telbar von geringer, mittelbar aber von um so größerer Bedeutung ist. Dabei ist es
von höchstem Interesse zu beobachten, wie sich die Diskussion erst an den Refor¬
mationskontroversen entwickelt, wobei sie noch ganz mit den alten Mitteln der
Interpretation usw. arbeitet, um dann diese Methode ganz fallen zu lassen und zur
Analyse der religiösen Bewußtseinstatsachen überzugehen, bis sie bei den verschie¬
denen Formen des Deismus landet, der etwas dem ewigen — aber „natürlichen“ —
Rechte ganz Analoges ist, nämlich ein mit den Mitteln der „Vernunft“ erarbeiteter
aber inhaltlich bestimmter Glaube, nicht eine Lehre vom generellen Wesen und der
sozialen Funktion religiösen Glaubens überhaupt. Alle Denker der Zeit haben diese
Probleme berührt. Noch A. Smith hat über „natural theology“ gelesen. Aber dieses
Thema ist bereits gesondert nicht nur von dem sozialwissenschaftlichen Stoff, sondern
auch von der übrigen Philosophie. Auch manche rein theologische Schriftsteller,
wie Butler, haben tief auf das sozialwissenschaftliche Denken gewirkt.
Sodann löste sich eine selbständige Ethik aus der Mutterwissenschaft der theo¬
logischen Philosophie ab, die in engerer Beziehung zur politischen Oekonomie
steht und dieselbe analysierende — und das heißt hier eben psychologisierende —
l ) Man pflegt im Individualismus und im Rationalismus vor allem eine Sozialphilosophie
zu sehen. Diesem Gesichtspunkt ist jedoch als für uns wichtiger der andre gegenüberzustellen,
daß eine individualistische und rationalistische Betrachtungsweise sich als die nächstliegende
dem forschenden Geist darbot, daß sie gleichsam am wissenschaftlichen Weg lag. — Man pflegt
ferner ein ungebührliches Gewicht auf theologische Wendungen zu legen. Es ist ja richtig,
daß diese ganze Zeit in theologischen Ideen lebte. Aber man muß unterscheiden zwischen
einer Betrachtungsweise, die die Erscheinungen aus übernatürlichen Momenten erklärt
und einer solchen, die innerhalb des wissenschaftlichen Gedankens uns „natürliche“ Gründe
anführt und lediglich behauptet, daß alle Dinge einem hohem Willen oder Plan entsprechen.
In letzterm Fall ist der Gedankengang völlig positiv-wissenschaftlich. In diesem Sinn nur fin¬
det sich das „theologische“ Moment bei Descartes, Locke, Newton usw. — einen wirklichen
Einfluß auf die Resultate hat es nicht mehr. So auch auf unserm Gebiet. Noch lange, nach¬
dem sich der sozialwissenschaftliche Gedanke tatsächlich völlig befreit hat, wird die theo¬
logische Form gewahrt.
I. Die Entwicklung der Sozialökonomik zur Wissenschaft. 27
Tendenz aufweist. Sie ist bereits eine Sozialwissenschaft und hat die Fühlung mit der
Nationalökonomie trotz der so populären gegenteiligen Behauptung niemals verloren.
Auch bei der Ethik dieser Zeit handelt es sich um Basierung der ethischen Phänomene
auf große Erklärungsprinzipien, wie Shaftesburys moral sense oder das von A. Smith
verfochtene Prinzip der Sympathie oder das Prinzip der Identifizierung von Moral
und positiver Satzung bei Hobbes oder noch deutlichere Anklänge an antike Gedan¬
ken bei Grotius, oder das Egoismusprinzip Mandevilles, um nur einige für uns wichti¬
gere zu nennen. Auch hier beobachten wir jenen Uebergang von theologischer Diskus¬
sion zu einer „wissenschaftlichen“ Auffassung — woran das theologische Gewand,
das auch die meisten späteren Denker nicht ablegten, nichts ändert. Auch hier finden
wir das Streben ilach inhaltlich bestimmter moralischer Erkenntnis, das jedoch von
der nach Erkenntnis und Erklärung gerichteten Grundtendenz trennbar ist.
Viel wichtiger noch ist aber für uns das Naturrecht, das sich im 16. Jahrhundert
zur selbständigen Disziplin entwickelte. Von der Größe des wissenschaftlichen Fort¬
schritts, der sich in seinem Rahmen vollzog, ist es schwer eine Vorstellung zu geben.
In den, zunächst noch wesentlich mit den Mitteln der Postglossatoren, also kasuistisch¬
exegetisch arbeitenden, Kreisen der italienischen und französischen Juristen ent¬
wickelte sich unter dem fördernden Einfluß der angedeuteten Umstände früh ein kriti¬
scher Geist gegenüber dem Inhalt der von ihnen behandelten Rechtssysteme, der in
letzter Linie auf die durch arabische Vermittlung empfangene griechische Naturwissen¬
schaft zurückgeht *). Und langsam wuchs daraus immer machtvoller die Idee eines
außerhalb irgendwelcher konkreter Satzungen existierenden Rechts hervor, das aus den
erfahrungsgemäß bekannten Elementen der Menschennatur und aus den innem Not¬
wendigkeiten der sozialen Gemeinschaft fließe. Nach und nach entfaltete sich — zum
Teil unter dem Schutz der französischen Lehre von der „zweifachen Wahrheit“, die
dem wissenschaftlichen Denken unter formaler Anerkennung der Suprematie der reli¬
giösen Lehre weitgehende Selbständigkeit sicherte — eine positive Wissenschaft vom
Rechte und als Voraussetzung dazu auch vom Staate und von der Gesellschaft, die
nichts von ihrem Charakter als Erfahrungswissenschaft dadurch verlor, daß ihre
Daten — schon an sich mangelhaft — ganz hinter den weitgehenden Konsequenzen
zurücktraten, die darauf gebaut wurden. Die theologischen Wendungen freilich und
die Tatsache, daß bis ins 18. Jahrhundert die wissenschaftliche Aufgabe einer
Theorie des generellen Wesens des Rechts den forschenden Geistern stets
unter der Form des abenteuerlichen Plans der Auffindung eines allgemeingültigen
Systems von konkreten Rechtssätzen erschien, haben der Kritik die Er¬
kenntnis des wahren Wesens des Naturrechts und damit seiner Größe erschwert und
zu den bekannten Vorurteilen über „naturrechtliche Spekulationen“ geführt.
Es ist schwer, die Auswahl der hier zu nennenden Namen zu treffen. Vom Stand¬
punkt der politischen Oekonomie kommen naturgemäß vor allem jene Autoren in
Betracht, die ihr am meisten ökonomischen Wissensstoff überantworteten. Das sind
vor allem die Physiokraten, die bereits vornehmlich als Oekonomen zu werten sind und
deren Lehre uns noch beschäftigen wird. Abgesehen davon hat auf unsre Disziplin
direkt am meisten Pufendorf 2 ) gewirkt, dessen ökonomischen Ausfüh¬
rungen den Grundstock derjenigen Hutchesons und damit einen wesentlichen
Teil der Lehre von Hutchesons Schüler, A. Smith, bilden, und Locke, dessen
ökonomische Leistungen allerdings etwas abseits von seinen naturrechtlichen Anschau¬
ungen stehen. Während es unmöglich ist, hier auf die Bedeutung Oldendorps,
*) Denn selbst von Aristoteles waren nur die — sagen wir — geisteswissenschaftlichen
Teile zu lebendiger Wirksamkeit bei den Scholastikern gelangt. Die griechische Naturwissen¬
schaft war wenig beachtet — wohl meist gar nicht verstanden — worden. Sie wirkte erst
durch die Araber.
*) H. C o n r i n g war ein sehr schwacher Nationalökonom und gar nicht kann man Tho-
masius und Wolff Nationalökonomen nennen. Von einer tiefen Einsicht oder überhaupt
einem lebhafteren Interesse für den Gegenstand kann bei den beiden letztem keine Rede sein,
höchstens, daß sie etwas für Kameralistik und nationalpolitische Fragen übrig hatten.
28 I* Buch All: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. I
Grotius’, Gassen dis, Bodius, Cardanos, Hobbes’ u. a. für unsre
Disziplin einzugehen, so sind einige Worte über Hutcheson wegen seiner Beziehung zum
Wealth of Nations nötig. Das für uns wichtigste Werk dieses Glasgower Professors
(f 1761), sein System der Moralphilosophie— 1755, aber wesentlich der Ertrag seiner
1746 abgeschlossenen Lehrtätigkeit, vgl. W. R. Scott, Francis Hutcheson 1900 —
enthält eine ganz umfassende Theorie der Oekonomik. Arbeitsteilung, Wert-, Preis-
und Geldtheorie und Steuerlehre sind ganz offenbar von Smith im Wesen übernommen.
Zu bemerken ist besonders, daß die Arbeit als Maß des Tauschwerts erscheint in
ähnlicher Weise wie bei allen Klassikern. In der Verteilungstheorie tritt scharf die
naive Ueberschätzung der Tatsache physischer Produktivität des Bodens hervor, die
auch das physiokratische System zeigt und aus der bei ihm auch zum Teile die 21
Jahre später wiederum von Turgot entwickelte Zinstheorie fließt — zum andern Teil
basiert Hutcheson allerdings das Zinseinkommen auf den mit Hilfe des Darlehens zu
machenden Unternehmergewinn, worin er sich mit Locke berührt —-, während
Smith sich von diesem Gedanken freigehalten hat. Die Bedeutung der durch das spä¬
ter so wichtig werdende Schlagwort von „Angebot und Nachfrage“ bezeichneten
Momente ist klar erkannt. In der Materie des internationalen Handels steht Hut¬
cheson halbwegs zwischen merkantilistischen Ideen und Smith. Die schon bei
Pufendorf deutliche Loslösung der Sozialwissenschaft von der Theologie ist bei
Hutcheson dem Wesen nach vollkommen vollzogen. In seinen sozialen
Grundgedanken tritt endlich eine utilitarische Tendenz deutlich hervor.
Auf drei Dinge muß noch hingewiesen werden. Erstens hat eine Richtung des
Naturrechts nach und nach zum Utilitarismus hinübergeleitet, der sich dann an den
Namen Benthams knüpfte. Zunächst lag darin nicht mehr als das Hervorkehren
des Gesichtspunkts sozialer Zweckmäßigkeit nach einer bestimmten Richtung hin.
Aber das führte dazu, im lustsuchenden und schmerzfliehenden Wollen des Indivi¬
duums den Schlüssel des sozialen Geschehens zu suchen. Namentlich nun war das für
die Oekonomik von größter Bedeutung. Für sie eignete sich dieser Gedanke natürlich
am besten, während er außerhalb ihres Gebiets auf die Dauer nicht viel leistete. Er
war ein wirksamer Hebel der Analyse und führte teils direkt teils durch die Kritik,
die er anregte, zu einer wesentlichen Bereicherung der sozialwissenschaftlichen Er¬
kenntnis. Dann sei hervorgehoben, daß die Idee vom contrat social vom Naturrecht
zugleich ausgebildet und überwunden wurde. Auch diesen Gedanken darf man
nicht einfach wegen seiner historischen Wertlosigkeit verdammen. Wenn auch nicht
auf bewußtem Vertrag, so beruhen doch so viele soziale Beziehungen auf der Tat¬
sache von gegenseitigen Leistungen, daß er als heuristisches Mittel eine bessere Be¬
handlung von seiten des Dogmenhistorikers verdient. Für die wirtschaftlichen Be¬
ziehungen, die eine Volkswirtschaft ausmachen, gilt das selbstverständlich in be¬
sonderem Maß, und bewußt und unbewußt hat dieser Gedanke viel zu einem klarem,
namentlich von metaphysischen Momenten freien, Einblick in das Wirtschaftsleben
geführt. Endlich wollen wir daran erinnern, daß, wie v. P h i 1 i p p o v i c h (in
„Die Entwicklung der deutschen Volkswirtschaftslehre“, Festgabe für G. v. Schmoller)
gezeigt hat, der Begriff der Gesellschaft und manche daran hängende Auffassungs¬
weise erst aus dem Kreise der Naturrechtslehrer des 19. Jahrhunderts in die deut¬
sche Nationalökonomie eindrang.
Alle diese Spezialgebiete — Theologie, Ethik, Rechts- und Wirtschaftslehre —
bildeten eine Einheit, für die der Name „Moralphilosophie“ üblich wurde. Darunter
ist weder eine „Morallehre“ noch eine „Philosophie“ im modernen Sinn zu verstehen,
sondern eine umfassende, trotz allem metaphysischem Beiwerk mehr und mehr em¬
pirisch-analytisch werdende, Geisteswissenschaft im Gegensatz zur damals „Natur¬
philosophie“ genannten Naturwissenschaft. Diese Geisteswissenschaft beruhte in
allen ihren Teilen auf denselben Prinzipien, namentlich auf denselben einfachen
Annahmen über die menschlichen Motive und deren Verhältnis zum menschlichen
Handeln, sie war in allen ihren Teilen individualistisch, rationalistisch und absolut
I. Die Entwicklung der Sozialökonomik zur Wissenschaft.
29
in dem Sinn, daß der Entwicklungsgedanke fast ganz zurücktrat. Weil nun in diesem
organischen Ganzen ein jedes Element auf alle andern Elemente wirkte, so ist fast ein
jeder Gedanke auch für die Politische Oekonomik von Wichtigkeit. Die philosophi¬
schen Leistungen Lockes und Humes wären da vor allem zu nennen, denn niemals
wieder stand die Philosophie unsrer Disziplin so nahe— niemals wieder war die Philo¬
sophie so sehr Sozialwissenschaft — wie damals. Vor allem kommt aber die Assozia¬
tionspsychologie Hartleys in Betracht, deren Grundprinzipien noch John St. Mill
beherrschten und die von der größten Bedeutung für die Entwicklung des ökonomi¬
schen Gedankens war. Allein darauf kann hier nicht eingegangen werden, ebenso¬
wenig wie auf Erscheinungen, die abseits von der großen Heerstraße sozialwissenschaft¬
lichen Denkens standen, wie z. B. G. V i c o (Principi di una scienza nuova 1721).
3. Wenden wir uns nun der zweiten Quelle unsrer Wissenschaft zu. Während die
Denker, auf die ich bisher hingewiesen habe, sich den ökonomischen Problemen von
der Seite „philosophischen“ — im weitesten Sinn — Interesses näherten, während sie
nach und nach auch unsern Ausschnitt aus der Welt der Erscheinungen in ihren Ge¬
sichtskreis zu ziehen begannen, mit anderswo geformten Werkzeugen und von anders¬
wo gewonnenen Standpunkten aus, so waren für jene, die jetzt erwähnt werden sollen,
vor allem praktische Fragen und praktische Ziele entscheidend, wenngleich auch hier
im Laufe der Dinge sich bald die Lust an der Erkenntnis als solcher einstellte. Für
die meisten dieser letztem war das menschliche Tun und Treiben an sich durchaus
nicht problematisch. Sie waren vorwiegend Männer der Praxis ohne besondere
wissenschaftliche Schulung und ohne alle Neigung zum philosophischen Staunen.
Damit ihnen etwas als Frage erschien, mußte es dem praktischen Politiker fraglich
sein. Und zur Lösung etwa auf tauchender Fragen brachten sie wohl Lebens- und
Geschäftserfahrung und hellen Sinn, aber kein wissenschaftliches Rüstzeug mit. So
erklärt es sich, daß in diesem Teil der ökonomischen Literatur so mancher schöne
Anlauf zu nichts führte, weil man ihn nicht über die konkrete Kontroverse, die sein
Anlaß gewesen war, hinaus verfolgte, daß neben mancher klar und kraftvoll erfaßten
Erkenntnis primitive Vorurteile stehen, daß man oft im einzelnen erkannte, was man
im prinzipiellen verfehlte, daß man niemals tiefer analysierte als es der Fall erforderte
und meist nicht nach grundsätzlicher Klarheit strebte. Kurz, dieser Teil unsrer
Literatur zeigt alle die Frische und Fruchtbarkeit unmittelbarer Anschauung und
alle die Hilflosigkeit bloßer Anschauung, wenigstens anfänglich — nach und nach
tauchen Versuche zu wirklicher Analyse aus den Niederungen der Zufallsargumente
und Tagesdiskussionen auf. Eine solche populäre Literatur haben wir auch heute,
und sie steht oft auf kaum höherer Stufe als die jener Zeit, was sich aus der geringen
Autorität wissenschaftlicher Erkenntnis auf unserm Gebiet erklärt. Aber damals
hatte die „Vulgärökonomie“ der beginnenden Wissenschaft viel zu geben. Nur inso¬
weit sie auf die wissenschaftliche Erkenntnis wirkte und zu solcher führte, interes¬
siert sie uns hier, nicht auch als Spiegelbild der Zeitumstände.
Diese Diskussionen auffallender und praktisch wichtiger Fragen haben in den
einzelnen Ländern verschiedenen Charakter gehabt. Nirgends blühten sie so sehr
wie in England, wo die politischen Verhältnisse den Appell an die breite Oeffentlich-
keit zu einer notwendigen Bedingung für den Erfolg einer praktischen Bestrebung
machten. In andern Ländern fehlte mehr oder weniger dieser praktische Antrieb und
auch die Schulung an parlamentarischen Gewohnheiten: Eine selbstherrliche Staats¬
gewalt entmutigte das wirtschaftspolitische Interesse. So wurde denn schon in der
Zeit von 1500—1700 der Grund zu jener Suprematie Englands im volkswirtschaft¬
lichen Denken gelegt, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unbestritten war.
Die Währungsverhältnisse, die Einhegungen mit dem damit verbundenen Rück¬
gang des Ackerbaus, die alten Bindungen des Verkehrs durch obrigkeitliche Regelung,
die Privilegien fremder Kaufleute, der Niedergang des Stapelsystems besonders nach
dem Verlust von Calais, die Wechselkurse besonders gegenüber Holland, der Kampf
gegen die Handelsmonopole erst königlicher Günstlinge, dann der großen Handels-
30 I. Buch All: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. I
kompagnien, der von weiten Kreisen für ruinös gehaltene Wollexport, dann die Er¬
richtung der Bank — um alle diese Dinge entstanden literarische Kontroversen, die,
obgleich zunächst nur vom momentanen Zweck beherrscht, schließlich zu einer
Klärung der Ansichten, zu einem lebhaften Bedürfnis nach ökonomischer Analyse
und größerm Interesse für ökonomische Fragen, endlich zu einem Vorrat an ökono¬
mischen Begriffen, Gedankenreihen und deskriptivem Wissen führten. Als eine
der frühesten zusammenfassenden Uebersichten über die Fragen der Zeit von einem
einheitlichen Standpunkt sei die — nachLamond, Engl. Hist. Rev. 1891 — 1549
von Haies in Gesprächsform geschriebene, 1581 publizierte Abhandlung: „A
compendious or briefe examination of certayne ordinary complaints of divers of our
countrymen in these our dayes“ genannt, in der alle die besprochenen „complaints“
auf die durch die amerikanische Gold- und Silbereinfuhr hervorgerufene Geldent¬
wertung zurückgeführt werden. Die Grundansichten des Autors sind durchaus die
des praktischen Lebens, seine Urteile die eines denkenden, aber ganz ungeschulten
Kopfes. Trotzdem gab es lange nichts gleichwertiges mehr. Die ganze Ueberlegen-
heit systematischer Analyse und die Größe des Fortschritts, den wir ihr verdanken,
tritt uns vor Augen, wenn wir die so überaus naiven Erörterungen von gleichwohl
erfolgreichen und erfahrenen Männern der Praxis über die ihnen am nächsten liegen¬
den Dinge überblicken. Die Forderung nach staatlicher Reglung der Wechselkurse
und die Furcht vor Goldexport gibt ein gutes Beispiel. Es brauchte lange, bis die
Auffassung überwunden war — als ihre Vertreter seien Milles x ), Malynes und Mis¬
seiden genannt —, daß die Gestaltung der Wechselkurse lediglich von dem Verhal¬
ten der am Wechselgeschäft unmittelbar beteiligten Kaufleute abhänge, wie das auch
heute noch mancher Laie glaubt. Und ein großer Fortschritt war es, als diese „bullio-
nistische“ Auffassung durch die Erkenntnis vom Zusammenhang der Wechselkurse
mit der Handelsbilanz ersetzt wurde. Sowie das geschehen war—mit voller Klarheit
tritt uns der Umschwung in Maddisons „Englands looking in and out“ 1640 ent¬
gegen — trat die Untersuchung der die Handelsbilanz selbst wieder beeinflussenden
Momente in den Vordergrund und diese führte dann tiefer in das Verständnis des
wirtschaftlichen Geschehens. Epochemachend wurde die klare, übersichtliche und
dem Praktiker überaus einleuchtende Darstellung M u n s in „Englands Treasure by
forraign Trade“ 1664. Ohne jedes wissenschaftliche Verdienst, brachte dieses Werk
sehr präzis und glücklich die volkswirtschaftspolitischen Ansichten weiter Kreise
zum Ausdruck. Unter Muns Zeitgenossen und Nachfolgern ist namentlich Child
(Observations concerning trade and the interest of money 1668), der „British Merchant“
(1721) und G e e (Trade and navigation of great Britain considered 1729) zu nennen,
die alle als Beispiele einer primitiven Oekonomik und der Art, wie sich dieselbe in
wissenschaftliche Oekonomik entwickelt, sehr lesenswert sind. Diese Richtung,
die durch den größten Teil des 18. Jahrhunderts herrscht, kulminiert in dem viel
tiefergehenden Werk Sir James Steuarts „Inquiry into the Principles of
Political Economy“ 1767, dessen wissenschaftliche Bedeutung allerdings auf andern
Einflüssen beruht 2 ).
Mit Ausnahme des zuletzt genannten haben alle diese Autoren das Charak¬
teristische, daß sie die Grundanschauungen des Alltags unkritisch übernehmen und
nur auf Grund derselben bestimmte Fragen zu entscheiden suchen. In der zweiten
Hälfte des 17. Jahrhunderts, in jener Zeit, die der Historiker Hallam einmal als Nadir
der nationalen Prosperität Englands bezeichnete, traten aber zum erstenmal wissen¬
schaftlich veranlagte Männer des praktischen Lebens auf, denen die Not des Tags
Anlaß zu tieferen Untersuchungen gab. Auf ihrer Arbeit beruht dann der Aufschwung,
0 Infolge eines im Moment der Entdeckung nicht mehr gutzumachenden Versehens ist
mir dieser Autor nicht im Original bekannt.
2 ) Hasbach hat Sir J. Steuart mit jenem unrichtigen wissenschaftlichen Augenmaß,
das seine sonst so verdienstlichen Arbeiten entstellt, viel zu hoch eingeschätzt. Immerhin
gehört Steuarts Werk zu den besten Leistungen des 18. Jahrh. auf unserm Gebiet.
I. Die Entwicklung der Sozialökonomik zur Wissenschaft.
31
der um die Mitte des 18. Jahrhunderts zur definitiven Konstituierung unserer Wissen¬
schaft in England führt. Niemand geringerer als Locke („Some Considerations
of the consequences of the lowering of interest and raising the value of money“ 1695
und „Further considerations“ 1696) gdhört hierher, der, wenn man von Aeußerlich-
keiten absieht, als Oekonom ganz den Philosophen abgestreift hat*). Nicht nur für
die Geldtheorie hat er viel geleistet. Er ging auf das Wertproblem ein — im Sinn der
Arbeitswerttheorie — er hat auch eine rudimentäre Verteilungstheorie. Vor allem
aber geht er tiefer auf die Frage ein, wovon denn eigentlich das wirtschaftliche Wohl¬
befinden eines Volks abhänge. Ihm gegenüber steht als würdiger, zum Teil überlegener
Gegner Nicholas Barbon (A Discourse of Trade 1690, ed. Holländer 1905;
über Barbon vgl. St. B a u e r in Conrads Jahrb. 1890). Als Gegner Lockes kommt er
als ein Vertreter der heute soviel Aufmerksamkeit erregenden Legaltheorie des Geldes
und als Gegner der Handelsbilanztheorie in Betracht, dessen Argumente die Humes
im Wesen vorwegnehmen. Aber nicht darin liegt seine Bedeutung, sondern in der
Art, wie er zu seinen Resultaten kommt. Er geht, um zu einem Standpunkt in prak¬
tischen Fragen zu kommen, bis auf die letzten ihm erreichbaren Elemente des Wirt¬
schaftsprozesses zurück. Er nähert sich seinem Ziel Schritt für Schritt, indem er ein
Element des Problems nach dem andern theoretisch erledigt, und er sieht die Not¬
wendigkeit ein, einen prinzipiellen Standpunkt zu gewinnen, bevor man an individuelle
Tatsachenkomplexe herantritt. Dabei entwirft er eine Werttheorie auf Grund des
sehr hübsch analysierten Gebrauchswertmoments, gleitet allerdings bei der Preis¬
theorie, die er ganz richtig darauf zu basieren sucht, etwas aus. In seiner Zinstheorie
wendet er sich von der damals ganz allgemeinen Anschauung, daß der Zins für Geld
gezahlt 2 ) werde, entschieden ab, so die Kapitalanalyse der folgenden zwei Jahrhun¬
derte antizipierend. In der Zinstheorie wird er allerdings durch die schon 1668 er¬
schienene Schrift: „The interest of money mistaken or a treatise proving that the
abatement of interest is the effect and not the cause of the riches of a nation“ —
deren großes Verdienst, das m. E. eine wesentliche Etappe auf dem Wege der Erkennt¬
nis des Zinsphänomens bedeutete, im Untertitel angedeutet ist — in mancher Bezie¬
hung übertroffen. Von ähnlichem Rang ist unter den Leistungen jener Zeit, die uns
heute zugänglich sind — zum Teil hängt das natürlich nur von Zufälligkeiten ab —
nur noch die von Sir D. North: Discourses upon Trade 1691 (ed. Holländer 1907).
Merkwürdig ist schon das Vorwort, das sich allerdings nicht als von North geschrie¬
ben gibt, übrigens unverkennbare Aehnlichkeit der Ausdrucksweise mit der des Tex¬
tes zeigt. Wir finden darin eine bewußte Gegenüberstellung der realistischen wissen¬
schaftlichen Theorie der Volkswirtschaft und der „ordinary and vulgär conceits
being meer Husk and Rubbish“ unter Hinweis auf die neuen naturwissenschaft¬
lichen Methoden. Und der ganze Gedankengang der beiden Abhandlungen, der die
früheste tiefere Argumentation für Freihandel darstellt, macht den methodischen
Grundsätzen Ehre. Der Autor sieht klar, daß nur die Enge des Ausblicks des Prakti¬
kers die zu seiner Zeit landläufigen Ansichten erklärt und macht sich daran, sie durch
eine tiefdringende Analyse von kräftiger Entschiedenheit zu ersetzen. Erst in Ricar-
dianischer Zeit ist die Theorie über sein Meisterwerk hinausgekommen. Die großar-
x ) Deshalb nennen wir ihn hier und nicht bei den „Philosophen“. Von ihm ging V an¬
der 1 i n t (Money answers all things . . . 1734) aus, ein holländischer Kaufmann, dessen wirt¬
schaftspolitische — freihändlerische u. a. — Ideen einigen literarischen Erfolg gehabt zu haben
scheinen, obgleich er wissenschaftlich wenig in Betracht kommt. Auch A s g i 11 (Several
assertions proved 1694; ed. Holländer) ist in gleichem Fall. Ebenso Berkeleys „Querist“.
Sehr viel bietet die holländische Literatur dieser Epoche, die ungefähr dieselben Charakteristika
trägt wie die englische und ihr im 17. Jahrh. stets um ein Tempo voraus ist. Doch kann ich
nicht auf sie eingehen. Nennen wir Graswinckel (1600—1668), S a 1 m a s i u s (1588
bis 1658) und de la Court (1618—1685).
2 ) „Interest is the rent of stock and is the same as the rent of land“ sagt er. Wenn alles
das in dem Satze liegt, was ein moderner Leser hineinzulegen versucht ist, so ist diese Gleich¬
stellung der Kapital- mit der Grundrente ein gewaltiger Fortschritt in der Analyse.
32 I. Buch All: J. Schumpeter, Dogmen-und Methodengeschichte. I
tige Auffassung aller Nationen als einer Handelsgemeinschaft, die klare Erkenntnis,
daß es „schädliche Handelszweige“ im Sinne der Frühem nicht gäbe, daß autoritative
Preisfestsetzungen unwirksam oder für alle Beteiligten schädlich seien, daß sich bei
Prägefreiheit der Geldumlauf selbsttätig regle 7 — alle diese Dinge finden sich bei ihm,
die zu den Ruhmestiteln der klassischen Oekonomie gehören und an deren Bedeutung
als ersten Annäherungen auch die zahlreichen nötigen Einschränkungen, die eine noch
spätere Zeit hinzuzufügen hatte, nichts ändern. Wer die Entwicklung des wissen¬
schaftlichen Denkens auf unserm Gebiet studieren will, kann nichts Besseres tun als
etwa Mun, North, Smith, Ricardo zu vergleichen.
Der Fortsetzer dieser Leistungen ist dann im 18. Jahrhundert, neben andern
— wie z. B. M a s s i e, The Natural Rate of Interest 1750 — D.Hume, Von seinen
ökonomischen Essays gilt etwas ähnliches, wie von den ökonomischen Arbeiten
Lockes: Seine Philosophie wirkte auf andre Nationalökonomen mehr als auf ihn
selbst. Ein klarer Geist, der auf der Höhe der Zeit steht, kein tiefgründiger Denker
tritt uns da entgegen. Es ist Mode geworden, ihn auf Kosten Smiths zu preisen — wie
auch sonst, so hat hier die Entdeckung eines literarischen Zusammenhangs zu Ueber-
treibungen geführt. Gewiß steht Hume an der Spitze des Aufschwungs, der der Er¬
schlaffung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts folgte. Aber seine glänzenden
Einzelanalysen (Essays, Moral and Political, ed. Green and Grove 1875) — sie
stammen ja auch nicht aus seiner produktiven Periode — gaben nur sterbenden Auf¬
fassungen den Todesstoß und sie wirkten vor allem popularisierend. Im einzelnen
zeigen sich Spuren von Flüchtigkeit, nirgends die großartige Originalität seiner philo¬
sophischen Werke. Wenngleich kaum etwas aus jenen Jahren so lesenswert ist und
in das Wachsen der Nationalökonomie soviel Einblick gewährt, so ist doch klar, daß
nicht die ganze Kraft seines Genies auf unserm Gebiet zur Geltung gekommen ist.
Tiefer hat Tucker gearbeitet (1712—1799, vgl. W. E. Clark, „Josiah Tucker“
Col. Univ. Studies XIX), in seinen Werken beginnt sich der Gedankenstoff der Na¬
tionalökonomie gleichsam zu „setzen“, die Palme aber gebührt C a n t i 11 o n, dessen
1734 vollendeter „Essai sur la nature du commerce en g6n6ral“ (ursprünglich englisch
geschrieben, Neudruck 1892) als erste systematische Durcharbeitung des Feldes der
Nationalökonomie betrachtet werden kann. Er trägt den Stempel wissenschaft¬
lichen Geistes. Die einzelnen Probleme erscheinen durchdrungen von einheitlichen
Erklärungsprinzipien und bilden Teile einer Gesamtanalyse von großem Wurf. Die
Enge früherer Gedankengänge ist durchbrochen, die primitiven Fehlgriffe sind ver¬
mieden, jene, die auf die mangelnde Schulung im analytischen Handwerk zurück¬
zuführen sind nicht weniger als jene, die dem Einfluß der Philosophie zur Last fallen *).
Etwas abseits von der skizzierten Entwicklung steht das Lebenswerk Sir W.
P e 11 y s (Taxes and Contributions 1662, Political Arithmetik 1682, Political Ana-
tomy of Ireland 1691). Das Schwergewicht seines Interesses lag in der zahlenmäßi¬
gen Erfassung volkswirtschaftlicher Fragen. In dieser Beziehung unterschied er sich
nur durch die Weite seiner Unternehmen von seinen Zeitgenossen, unter denen
diese statistische Oekonomie durchaus üblich war: Man hielt damals die Durch¬
führung solcher Unternehmungen für verhältnismäßig leicht, wie ganz natürlich, da
sich die Schwierigkeiten derselben erst auf einer höhern Entwicklungsstufe überblik-
ken lassen. Während aber Pettys Zeitgenossen vielfach in der Statistik nur ein
Mittel sahen, Erscheinungen quantitativ zu erfassen, an denen ihnen sonst nicht
viel problematisch war, so hat Petty das Material theoretisch zu durchdringen und zu
*) Noch mag John Harris genannt werden, dessen Untersuchung „On Money and
Coins“ 1755 nicht nur den Reinertrag der englischen Gelddiskussionen glücklich dar¬
stellt, sondern ebenfalls die Konturen einer allgemeinen Theorie der Volkswirtschaft enthält
— und John Law (Money and Trade considered 1705), der bekannte Finanzier, dessen
Arbeit zwar nur der Popularisierung des damals oft geäußerten Plans eines durch Land fundierten
Papiergeldes gewidmet ist, aber sich durch seine Kredittheorie über eine bloße Tagesschrift
erhebt.
I. Die Entwicklung der Sozialökonomik zur Wissenschaft.
33
interpretieren gesucht in einer Weise, wie das kaum jemals wieder so zielbewußt ge¬
schehen ist. Er schaffte sich analytische Waffen, mit denen er sich einen Weg durch
das Dickicht der Daten zu bahnen suchte, und so finden wir theoretische Erwägungen
voll Kraft und Besonnenheit bei jedem Schritt. In Tiefe der ökonomischen Erkennt¬
nis fallen die übrigen Vertreter der „Politischen Arithmetik“ sehr gegenüber Petty
ab, obgleich manche von ihnen in andrer Beziehung epochemachend waren, so na¬
mentlich Graunt, Davenant und Gregory King. Doch gelang dem letztem ein Wurf,
der zwar herzlich wenig Nachahmung, aber um so mehr platonische Anerkennung
gefunden hat: nämlich die Aufstellung der sog. Kingschen Regel, die einen Versuch
darstellt die Beziehung zwischen Preis und angebotener Menge des Getreides zah¬
lenmäßig festzustellen. Jene Anerkennung ist wohl verdient. Kings Leistung liegt
auf einem Wege, der früher oder später zu Ende gegangen werden muß. Im Wesen
zerrann dieser vielversprechende Aufschwung: Die ökonomische Forschung nahm
für lange ganz andre Wege und die statistische Forschung trennte sich von ihr.
Es ist nicht möglich auf andre Zeiterscheinungen einzugehen. Ich will nur her¬
vorheben, daß im 17. Jahrhundert auch zuerst in größerer Zahl vergleichende Beschrei¬
bungen der Wirtschaftszustände verschiedener Länder auftreten — als Beispiel
seien Sir W. T e m p 1 e s „Observations on the Netherlands“ 1693 genannt —, die,
ganz so wie auch heute noch zum größten Teil, eine Gruppe für sich bildeten. Auch
auf gewissen Spezialgebieten, so auf dem des Problems der Armut und der Arbeits¬
losigkeit l ) wurden Erfolge erzielt, die für lange Zeit die Anschauungen beherrschten.
So zeigt sich uns in England ein Bild reichen Lebens auf unserm Gebiet, dessen
Studium nicht nur wesentlich für das Verständnis des Heranwachsens der National¬
ökonomie, sondern auch an sich überaus reizvoll ist. Auf dem Kontinent gibt es in
dieser Zeit nichts gleichwertiges. Zwar liegt es in der Natur der Sache, daß sich
auch in England das bleibend Wertvolle in einer kleinen Anzahl von Leistungen —
«twa in einem Dutzend — zusammendrängte, aber das waren eben Flutwellen, die
sich aus einer breiten Strömung erhoben. Eine solche Strömung fehlte auf dem Kon¬
tinent, wie schon angedeutet wurde. In Deutschland entspricht den Verheerungen
der Religionskämpfe ein Tiefstand der ökonomischen Literatur. Vorher finden wir
im 16. Jahrhundert Ansätze, die uns vermuten lassen, daß ohne jene Kämpfe und ihre
politischen und sozialen Folgen in Deutschland eine ähnliche Bewegung eingesetzt
haben würde. Wir finden währungspolitische Diskussionen—unter ihnen die berühmte
albertinisch-ernestinische Kontroverse von 1530 —, Erörterungen der Geldausfuhr,
der Frage der Handelsgesellschaften, der Bauemfrage u. a. Das Niveau dieser Dis¬
kussionen steht nicht unter dem englischen. Aber sie entwickeln sich nicht weiter
und erheben sich nicht zu den im normalen Lauf der Dinge zu erwartenden Höhe¬
punkten. Das führt dann zu einer Rezeption fremder Errungenschaften, die eine eigene
•organische Entwicklung vollends hinderte. Die Arbeit des Gelehrten litt allerdings
weniger, aber der frische Lufthauch aus der ökonomischen Praxis wurde ihr nie zu¬
teil: Jede Erkenntnis aber ist das Werk von Jahrhunderten und fehlende Glieder in
der Kette der Entwicklung sind unersetzlich. Von fremder Hand dargebotene Resul¬
tate kann man logisch begreifen, aber Resultaten, die nicht vom eigenen Volk früherer
Generationen geboren wurden, wird man stets jene gefühlsmäßige Verständnislosig¬
keit entgegenbringen, die es zu lebendiger Weiterentwicklung des Empfangenen
nicht kommen läßt. Hier liegt der Grund, warum die ökonomische Theorie in Deutsch¬
land niemals so festen Fuß fassen konnte wie in England, und warum die Grundauf¬
fassungen derselben in der Regel nur kühl aufgenommen wurden und instinktiver
Abneigung begegneten, die jeder Einwendung und jedem Abspringen vom spezifisch¬
ökonomischen Thema von vornherein günstigen Boden sicherte. Dafür bot sich
•etwas andres dar. Für kein Volk konnten der Staat und seine Organe so sehr Gegen¬
stand unerschöpflichen Interesses werden wie für das deutsche, im Geistesleben
x ) Vgl. darüber Kostanecki, Arbeit und Armut 1909.
Sozialökonomik. I.
3
34 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. I
keines andern Volks konnte er so dominieren. Und zwar ist diese Besonderheit viel
größer als ein erster Blick vermuten lassen könnte. Der Deutsche dachte nicht nur
viel mehr an den Staat als jeder andre, sondern er dachte auch beim Worte „Staat“
an etwas ganz andres — nämlich an den deutschen Landesfürsten und seine Beam¬
ten — und daran wiederum von einem ganz andern Gesichtspunkt als der Eng¬
länder oder Franzose. Der entstehende Beamtenstaat erschien ihm nicht nur als
sein wertvollster nationaler Besitz, sondern schlechthin als der wesentliche Faktor
der Kulturentwicklung und als Selbstzweck. Wie es die Verhältnisse mit sich brach¬
ten, daß in der Praxis so gut wie nichts ohne den Beamtenstaat geschehen konnte, so
konnte man schließlich auch in der Wissenschaft keinen Gedankengang durchführen,
ohne dabei in erster Linie den Staat im Auge zu haben J ). Was für England die Oeko*-
nomie, das wurde für Deutschland in gewissem Sinn die Verwaltungslehre. Trieb
man in England Oekonomie, so war das Volkswirtschaftslehre, trieb man in Deutsch¬
land Oekonomie, so war das — es ist höchst bezeichnend, daß das für lange der Name
unsrer Disziplin wurde — Staatswirtschaftslehre. Wenn in England innerhalb des
Kreises von Schriften, von dem wir jetzt sprechen, der Kaufmann für den Kaufmann
schrieb, so schrieb in Deutschland der Beamte für den Beamten. Das alles gilt na¬
türlich nur mit jenen Korrekturen, die stets an einer solchen Skizze, die sich auf we¬
nige Striche beschränken muß, anzubringen sind. Ohne darauf weiter einzugehen
möchte ich hervorheben, daß durch jene Momente, sowohl die Darstellungsart wie
auch die leitenden Gesichtspunkte dieses Armes der deutschen „Staatswissenschaft“
gegeben sind — es entstand die Kameralwissenschaft.
Die Kameralistik ist eine Verwaltungslehre des mehr oder weniger absolutisti¬
schen Territoriums. Das Interesse des Landesfürsten steht allbeherrschend im Vor¬
dergrund. Es ist der feste Punkt, um den die im Gesichtskreis der einzelnen Autoren
liegenden Tatsachen geordnet werden. Deren Untersuchung soll Regeln für die Poli¬
tik des Fürsten und das Verhalten der Staatsorgane abgeben. Von allem Anfang an
wird die Gesamtheit aller Staatsaufgaben ins Auge gefaßt, das einzelne Problem ist
niemals um seiner selbst willen, sondern stets nur als Teil des Ganzen Gegenstand der
Behandlung. Das brachte es mit sich, daß eine Systematik des gewaltigen Stoffes
als erste Aufgabe erschien, und diese Sorge um die Systematik ist bis heute der
deutschen Wissenschaft geblieben. Ueberhaupt hat die kameralistische Schulung
und die ganze Grundauffassung des Kameralismus wesentlich zur Formung der deut¬
schen Nationalökonomie beigetragen — noch heute ist ihre Eigenart zum großen
Teil durch die Vorarbeit der Kameralisten zu erklären. Innerhalb des gewonnenen
Systems wurde nun alles erreichbare Material sorgfältig zusammengetragen, zum Teil
zu Nutz und Frommen der studierenden künftigen Beamten, zum Teil aber auch als
Basis von Diskussionen. Diese letztem gehen nicht allzuweit und nicht allzutief.
Nicht nur die Staatsauffassung und die gegebenen Grundlagen der sozialen und poli¬
tischen Organisation, sondern selbst die wesentlichen Maximen der Politik werden ohne
Kritik, ja meist ohne viel Analyse, als selbstverständlich und unantastbar hingenom¬
men. Trotzdem entzog aber schon die bloße Sammlung und Ordnung des vorhande¬
nen Materials die „Regierungskunst“ bloßem Empirismus. Sie bildete das intellek¬
tuelle Blut der Verwaltungspraxis und reflektierte und generalisierte jeden Fort¬
schritt derselben.
*) Es besteht in Deutschland eine Tendenz, im Vorherrschen des entgegengesetzten Stand¬
punkts in England, wie er sich etwa in Dr. Johnson’s Vers ausdrückt
„How small of all that human hearts endure
that part, that kings and laws can cause or eure"
einen Mangel zu sehen. Die historische Rolle desselben darf aber trotzdem ebensowenig ver¬
kannt werden, wie die lokale und historische Bedeutung der deutschen Staatsfreudigkeit.
Es kommt noch hinzu, daß die wissenschaftliche Bedeutung der Bekämpfung der populären
Anschauung, daß der „Staat“ gleichsam wie eine höhere Macht alles tun und alles ändern
könne, und die Betonung der sachlichen Bedingtheiten des sozialen Geschehens ganz funda¬
mental war.
I. Die Entwicklung der Sozialökonomik zur Wissenschaft.
35
So darf man die Kameralisten nicht als Oekonomen werten. Nicht deshalb, weil
sie auf diesem Gebiet nichts geleistet hätten, sondern deshalb, weil ihre Hauptleistung
nicht hier liegt. Die Vorläufer, wie 0 sse („Testament“ 1556), Löhneisen
(Aulico-politica 1622—1624) und 0 b r e c h t (fünff unterschiedliche Secreta Po-
Utica von ... guter Policey 1617) ja selbst der größte originelle Vertreter der Kamera¬
listik Seckendorff (der teutsche Fürstenstaat 1678) bieten uns die Urteile er¬
fahrener, weitblickender Männer über die ökonomischen Fragen der Zeit aber nicht
nur ohne Versuch zu tieferer Analyse, sondern auch ohne lebhafteres Interesse an den
ökonomischen Fragen an sich. Immerhin stehen sie kaum unter dem allgemeinen
Niveau der Zeit, ja der ihnen eigentümliche Standpunkt gibt ihnen sogar eine fühl¬
bare Ueberlegenheit über die Vulgär Ökonomie anderer Länder. In einer Ge¬
schichte der Finanzwissenschaft müßte mehr besonders über Seckendorff gesagt
werden, für unsre Zwecke aber kommen seine sonst tief unter ihm stehenden Zeitge¬
nossen Becher (Politischer Diseurs von den eigentlichen Ursachen des Auf- und
Abnehmens der Städt, Länder und Republiken 1668) und H ö r n i g k (Oesterreich
über alles wann es nur will, publiziert 1684) mehr in Betracht, bei denen wirtschaft¬
liche Fragen ausschließlich vorherrschen. Beide gehören nicht zu den eigentlichen
Kameralisten, aber sie haben mächtig auf die letztem gewirkt. Hömigks Buch ist
nichts andres als die Darstellung eines handelspolitischen Programms im Sinne der
Zeit, bei Becher jedoch finden sich in einer Masse wertloser Phrasen auch eigentliche
ökonomische Analysen oder doch der Versuch dazu. Er sucht sich mit den Fragen der
Wirkungen verschiedener wirtschaftlicher Organisationsformen — Monopol, freier
Konkurrenz (Polypol) und durch Privilegien beschränkter Konkurrenz (Propol) —
auseinanderzusetzen und das Wesen und das Ineinandergreifen der verschiedenen
wirtschaftlichen Berufsgruppen zu erfassen. Aber nur viel eingehendere Diskussion
viel speziellerer Fragen hätte zu wirklich wertvollen Resultaten führen können.
Dazu ließ es die ganze Attitüde dieser Gruppe gegenüber der Wirtschaft nicht kommen.
Von den übrigen Kameralisten können hier nur J u s t i und Sonnenfels
genannt werden. Keiner von beiden ist wirklich schöpferisch gewesen und beide
verdanken fremden Einflüssen auf wirtschaftlichem Gebiet sehr viel. Aber doch kommt
in ihren Arbeiten ein großer Fortschritt zum Ausdruck. Schon die äußere Stellung
der ökonomischen Materien ist bei ihnen eine ganz andre als bei den ältern Kamerali¬
sten. Unter Justis Händen konstituiert sich definitiv — wenngleich ganz auf der Ba¬
sis seiner Vorgänger, so übel er auch mit ihnen verfährt — die Polizeiwissenschaft,
aus der sich dann unsre deutsche Volkswirtschaftspolitik entwickelt hat (Policey-
wissenschaft 1. Aufl. 1756). Nach Ziel und Plan ist der Unterschied gegenüber dem
Wealth of Nations gar nicht so ungeheuer als man glauben sollte. Aber in Klarheit
und Einsicht trennt beide Werke die Arbeit eines Jahrhunderts. Wertvoll und geist¬
reich sind Justis Ausführungen fast nur auf verwaltungstechnischem Gebiet. In
ökonomischen Dingen fehlt es ihm an aller Schulung und an jeder Beherrschung
der Auffassungsweisen, die seine Zeit schon zur Verfügung hatte. Dabei denke ich
nicht an die praktischen Maßregeln, die er empfahl. Im Gegenteil zeigen diese prak¬
tischen Urteile fast immer gesunden praktischen Verstand. Aber das ändert nichts
an der Minderwertigkeit des prinzipiellen Unterbaus seiner Analyse. Nicht das Gleiche
gilt von Sonnenfels (Grundsätze der Polizey, Handlung und Finanz 1765).
Er hat einen solchen Unterbau, und namentlich beherrscht er die vorsmithianische
Oekonomie (Smith selbst zitiert er wohl später, ohne aber Verständnis für die Be¬
deutung seines Werks zu verraten). Bis tief ins 19. Jahrhundert hat er weithin ge¬
wirkt. Nur war er gar nicht originell. Offenen Sinnes hat er Fremdes assimiliert
und darin mit richtigem Blick das Lebensfähige erkannt, dasselbe auch glücklich
für deutsche Bedürfnisse adaptiert. Aber er hat nichts geschaffen.
Es ist merkwürdig, wie arm die vorphysiokratische Literatur Frankreichs ist.
Fast will es scheinen, wie wenn der Staat, der auch dort die Entwicklungsmöglich¬
keiten volkswirtschaftlicher Diskussionen beschränkte, indem er ihnen ihr praktisches
3*
36 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. I
Ziel nahm, nicht den Willen gehabt hätte, seine Sache nun so gut wie möglich zu ma¬
chen und sich zu diesem Zwecke einen Stab von Lehrern heranzuziehen, wie es na¬
mentlich Preußen tat. Auf andern Gebieten wurde lebhaft genug diskutiert, aber die
Kreise, die die Träger geistigen Lebens waren, hatten offenbar kein oder nur ein ober¬
flächliches Interesse an den Fragen der Volkswirtschaft. Der nicht besonders ge¬
dankenreiche Boisguillebert — man könnte ihn mit Petty vergleichen —
steht ganz allein. Seine „Dissertation sur la nature des richesses“ (in den letzten
Jahren des 17. Jahrhunderts oder in den ersten des 18. erschienen; viel wichtiger als
sein stets zitiertes Detail de France, zuerst 1695 und sein Factum de France 1707)
u. a. kleinere Arbeiten sind vernünftige Kritiken mancher schiefer Zeitanschauungen,
die er allerdings in der für sie denkbar ungünstigsten Interpretation darstellt. Aber
einen Vorläufer der Physiokraten aus ihm zu machen, ist absurd. Denn nichts, was
die wissenschaftliche Eigenart der Physiokraten ausmacht, findet sich
bei ihm. M e 1 o n (Essai politique sur le commerce 1734) und D u t o t (R6fl6xions
politiques sur les finances et sur le commerce) kann man noch als volkswirtschaft¬
liche Schriftsteller anführen. Aber V a u b a n, St. P i e r r e f F 6 n 6 1 o n u. a. kön¬
nen beim besten Willen weder als wissenschaftliche Oekonomen, noch als Vorläufer
von solchen betrachtet werden. Klar und geistvoll diskutierten sie soziale und po¬
litische Fragen. Das taten damals viele Leute und daß man dabei auch der Volks¬
wirtschaft nicht vergaß, beweist schon das Vorhandensein von Lexiken (z. B. das
Dictionnaire du commerce der Brüder Savary). Aber in der Analyse kam man nicht
weiter.
In Italien gab es zunächst eine dem deutschen Kameralismus ganz parallele
Literatur, die auch auf die deutsche wirkte. Wir finden sehr wenig ökonomische
Gedankengänge etwa in C a r a f a: De regis et boni principis officio oder im 16.
Jahrhundert in den Schriften von Palmieri, Botero oder Macchiaveil i.
Diese Richtung pflanzte sich bis in das 19. Jahrhundert fort, kommt aber in einer
Darstellung der Entwicklung der ökonomischen Erkenntnis nicht weiter in Betracht.
Sodann finden wir ähnliche Zeit- und Streitfragen wie in England und Deutschland
— außerdem noch die damals sonst nirgends praktische Frage agrarischer Schutz¬
zölle —, die zum Anlaß ökonomischer Untersuchungen werden. Zu Leistungen von
wissenschaftlichem Rang haben sie sich an zwei Stellen erhoben und hier wurde in
Italien vielleicht das Beste geleistet, was jene Zeit in diesen Fragen aufzuweisen hat.
Zunächst auf dem Gebiet der Währungsfragen. Eine ganze Reihe von Autoren wären
hier zu nennen. Ich beschränke mich auf Leistungen rein wissenschaftlichen Charak¬
ters und ersten Ranges. Das 16. Jahrhundert brachte die Arbeiten von Sca-
ruffi (1579) und Davanzati (1588), das 17. die Arbeit von Montanari
(1680 und 1683) und das 18. die von G a 1 i a n i. Davanzatis Vortrag ist ein unver¬
gängliches Meisterwerk klarer, sicher eindringender, alle Einzelerscheinungen eines
Gebiets mit einem Erklärungsprinzip durchleuchtender Analyse. Er führt eine „me-
tallistische“ Geldtheorie auf Grund einer allgemeinen Gebrauchswerttheorie vor und
könnte noch heute gehalten werden. Und Galianis Werk (1750) liest sich ebenfalls
zum Teile wie ein modernes Handbuch. Die Hauptsache liegt hier geleistet vor und
erst in neuester Zeit ist die Geldtheorie wesentlich über diese Arbeiten hinaus¬
gekommen. Namentlich das Zurückgehen bis auf die Elemente des Wirtschaftens,
um dann die gewonnenen Sätze auf das Geld anzuwenden, und das Eingliedern der
Geldtheorie in eine allgemeine Wirtschaftstheorie hebt diese Arbeiten hoch selbst
über viele Leistungen des 19. Jahrhunderts empor. Zweitens hat die Handelspolitik
der Zeit in Italien sehr vollkommene literarische Blüten getrieben, wenn sich auch die
Errungenschaften auf diesem Gebiet nicht mit den eben erwähnten messen können.
Wie in England so hat auch in Italien die populäre Forderung nach staatlicher Beein¬
flussung der Wechselkurse den Anstoß gegeben. Gezeigt zu haben, daß die Wechsel¬
kurse im Wesen nur Reflex der Zahlungsbilanz sind und daran tiefergehende Er¬
örterungen über die Bestimmungsgründe der letztem und die Möglichkeit ihrer Be-
I. Die Entwicklung der Sozialökonomik zur Wissenschaft.
37
einflussung geknüpft zu haben ist das Verdienst Antonio Serras (Breve
trattato delle cause, che possono far abbondare li regni d’oro et d’argento, dove non
sono miniere 1613). Er ist Mun sehr erheblich überlegen, schon durch seine ganze,
echt wissenschaftliche Art, die Sache anzupacken. Freilich war seine Fragestellung
— wie in einem Lande ohne Minen Ueberfluß an Gold und Silber herbeigeführt wer¬
den könne — überaus primitiv. Aber niemand kann dafür getadelt werden, daß er
die Fragen seiner Zeit übernimmt, so wie sie ihm dargeboten werden. Die Lösung
steht hoch über der Fragestellung. Er machte Schule. Unter seinen Nachfolgern
seien B e 11 o n i (1750) und namentlich G e n o v e s i (1765) genannt. Der letztere
ist ein sehr selbständiger Geist. Man nennt ihn meist als einen Vorläufer der subjek¬
tiven Werttheorie, aber seine Hauptbedeutung liegt in dem Versuch zu einer syste¬
matischen Theorie des Wirtschaftslebens.
Die erwähnten Autoren haben viele Grundzüge gemein. Sie und viele andre,
die ich hier nicht nennen kann, bilden in gewissem Sinn eine Gruppe. Abseits von
derselben — und abseits auch von den Arbeiten des venezianischen Kreises (Zanon,
Arduino, Canciani), dem er durch Geburt angehörte— steht G. 0 r t e s (Hauptwerk:
Economia nazionale 1774). Ein großzügiger Anlauf zu einer Synthese, gehört dieses
Werk, das im übrigen vielfach an Sir J. Steuart erinnert *), mit zu den vielen, deren
Autoren dem Ruhme eines „Begründers“ unserer Wissenschaft nahestehen. Der
Tag unserer Wissenschaft war da, alle Elemente zu ihrer Konstituierung waren
gegeben und es handelte sich nur darum, glücklich und kräftig zu formulieren, was in
der Luft lag. Das fühlten und das versuchten viele und nichts wäre instruktiver als
eine Uebersicht über diese Versuche und über die Gründe ihres Mißerfolgs. Doch kann
darauf nicht eingegangen werden. Es sei nur hervorgehoben, daß Ortes gleichsam
zu einer ökonomischen Soziologie zu gelangen sucht und daß sich viele Waffen
aus der Rüstkammer der späteren Oekonomik (Gesetz vom abnehmenden Ertrag,
das Malthusianische Bevölkerungsgesetz u. a.) bei ihm finden 2 ). — Nicht unwürdig
steht also die italienische Oekonomik dieser Zeit neben der englischen. Doch gegen
Ende des 18. Jahrhunderts tritt eine Erschlaffung ein und für lange segelt die ita¬
lienische Wissenschaft unter fremden Einflüssen.
Ich habe es bisher vermieden, auch nur das Wort „Merkantilismus“ auszu¬
sprechen. In der Tat gehört es nicht in eine Geschichte der Wissenschaft. Gewiß
zeigen uns fast alle angeführten Schriften den Reflex um Geltung oder Vorherrschaft
ringender Volkswirtschaften. Den Schriftstellern, wie den Politikern jener Zeit
erschien es allerdings als ganz selbstverständlich, daß die nationale Handelspolitik
nationalen Zielen zu dienen habe: das diskutierten sie gar nicht, das diskutierten
nur die erst spärlichen, dann zahlreichen und endlich herrschenden Gegner. Aber der
Merkantilismus war weder eine wissenschaftliche „Schule“ — „Schulen“ gab es
damals überhaupt nicht in unserm Sinn und man entstellt das ganze Bild, wenn man
diese Folgeerscheinung der schon konstituierten Fachwissenschaft in jener Zeit sucht;
nur kleine Gruppen von losem Zusammenhang gab es — noch eine wissenschaftliche
Theorie. Seiner großen Bedeutung als Mittel zur Schaffung nationaler Wirtschafts¬
gebiete entspricht keineswegs eine ähnliche Bedeutung für die sozialwissenschaft¬
liche Analyse. Uns kann nur eine Frage interessieren: Welcher Wert für den Fort-
*) Die Parallelismen zwischen beiden^Autoren in der ganzen Anlage ihrer Werke und in
vielen Einzelheiten sind unverkennbar und überaus interessant. Nichts liegt mir ferner, als
nach Plagiaten zu forschen, aber die Tatsache des Parallelismus selbst ist, wenn keinerlei äu¬
ßere Beziehungen Vorlagen, sehr merkwürdig und lehrreich. Daß Ortes, der sich auch in Eng¬
land aufgehalten hat, zum Teil unter englischem Einfluß steht, kann keinem Zweifel unter¬
liegen. Aber das beweist natürlich gar nichts als daß die gleichen Ursachen unter gleichen
Umständen die gleichen Folgen haben.
*) In seinen „Riflessioni sulla popolazione“. 1790. Vgl. auch Lampertico, O.
Ortes 1865. L o r i a, La modemitä di G. Ortes Atti dell* istituto Veneto 1900—01, Bd. 60;
A r i a s: La teorica di disoccupazino di G. Ortes, Giomale degli Econ. 1908. Von einer be-
sondem Methode, die manche bei Ortes finden wollen, kann nicht die Rede sein.
38 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. I
schritt der Wissenschaft kommt jenen Arbeiten zu, deren Anlaß dieses wirtschafts¬
politische „System“ war? Es ist nun heute schon zum Gemeinplatz geworden,
daß die Kritik der unmittelbaren Folgezeit ungerecht war. Allerdings kommt für uns
das Argument, daß die praktischen Vorschläge der merkantilistischen Schrift¬
steller durch die Zeitumstände gerechtfertigt waren, nicht in Betracht. Und für ihre
wissenschaftlichen Versuche gilt es nicht ohne weiteres. Doch gibt es andre Gesichts¬
punkte, die uns die merkantilistischen Schriftsteller in günstigerm Licht erscheinen
lassen. Vor allem wurden sie durchaus mißverständlich interpretiert. Die ihnen
unzähligemale vorgeworfene Identifizierung von Reichtum mit Besitz von Gold und
Silber verliert ihre Bedenklichkeit, wenn man in jenen Stellen l ), die zur Begründung
des Vorwurfs herangezogen werden können, „Index des Reichtums“ statt „Reichtum“
setzt, was um so eher möglich ist, als es ihnen doch nicht eingefallen sein kann, im
Erwerb von Edelmetallen den letzten Zweck des Wirtschaftens zu sehen und als
tatsächlich jene Identifizierung nur eine Definition darstellt, die an sich gar nichts
bedeutet. Es kommt noch hinzu, daß das Geldwesen in jener Zeit tatsächlich so viel
Anlaß zum Nachdenken bot, daß man in seiner Untersuchung recht wohl die vor¬
nehmsten Aufgabe der Wissenschaft in dieser Zeit sehen konnte. Ferner aber muß
man zur Beurteilung dieses ganzen Teils unsrer Literatur und besonders seiner spe¬
ziell „merkantilistischen“ Spitzen eben das Bewußtsein mitbringen, daß sie die Ersten
im Felde waren. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint vieles als Verdienst, was
ihnen als Verschulden ausgelegt wurde. So namentlich ihre Lehre von der Handels¬
bilanz: Ehe man erörtert, ob sie deren Bedeutung überschätzten oder nicht, muß
man doch anerkennen, daß in deren Entdeckung und Definierung eine große Leistung
lag — in der Tat war das der erste Schritt zur Analyse der Volkswirtschaft. Uebri-
gens ist es durchaus unrichtig, daß sich spätere Schutzzöllner so sehr zu ihrem Vorteil
von den Merkantilisten unterschieden. Weitaus die meisten, um nicht zu sagen alle
Argumente der spätem Zeit finden sich, was hier allerdings nicht hervortreten konnte,
bei ihnen, und nur die Kenntnis der Einwendungen und überhaupt die bessere Schu¬
lung an der inzwischen erwachsenen Wissenschaft, unterscheidet die meisten Spä¬
tem von diesen ihren Vorgängern, die sie allerdings fast stets verleugneten. Damit in
Zusammenhang steht eine andre Leistung: Die klare Definition des National- zum
Unterschied vom Privatinteresse und die Erkenntnis der Möglichkeit von Kollisio¬
nen. Zweifellos überschätzten die Merkantilisten diese Möglichkeit. Aber wie immer
man darüber denken mag, sicher war selbst der wirkliche oder vermeintliche Nach¬
weis von der Harmonie aller Sozial- und Privatinteressen nur auf dem Boden der ana¬
lytischen Vorarbeit der „Merkantilisten“ möglich. Das Wesen des volkswirtschaft¬
lichen Kreislaufs erkannten sie nicht. Noch weniger hatten sie eine korrekte Vor¬
stellung vom Ineinandergreifen der Sphären der Einzelwirtschaften innerhalb der
Volkswirtschaft. Aber das Phänomen der Volkswirtschaft selbst wurde gleichsam
von ihnen entdeckt und als ein selbständiges reales Etwas empfunden.
x ) Diese Stellen sind außerdem seltener als die ersten Kritiker des Merkantilismus ver¬
muten ließen. Als man das entdeckte, wurde es zunächst nötig Merkantilisten strengster
Observanz und weniger hartgesottene Sünder unter ihnen zu unterscheiden. Dabei wurde
die Gruppe der erstem immer weniger zahlreich, je näher man zusah, und seit lange hat eine
Reaktion zugunsten der ganzen Richtung eingesetzt.
II. Die Entdeckung des wirtschaftlichen Kreislaufs.
39
II. Die Entdeckung des wirtschaftlichen Kreislaufs.
(Die Physiokraten*). [Ueber A. Smith.])
1. Wir sahen, daß unsre Wissenschaft, ganz so wie alle andern, aus Einzel¬
untersuchungen auffallender, auch dem Laien als Probleme erscheinender Dinge
entstand. Solang man sich auf solche Untersuchungen von Spezialfragen beschränkte
und das Zentralphänomen der Volkswirtschaft selbst ganz oder so gut wie ganz im
Dunkel instinktiver praktischer Kenntnis stehen ließ, konnte die wissenschaftliche
Analyse niemals ganze Arbeit tun — sich gleichsam niemals ausleben. Es konnte
kein einheitlicher Grundstock an prinzipiellem Wissen und im Grunde auch kaum ein
Stab von fachlichen Arbeitern entstehen. Aus jeder Tatsachengruppe mußte—gleich¬
sam in einem homerischen Einzelkampf mit ihr — ein spezielles Erklärungsmoment
gewonnen werden und die großen generellen Zusammenhänge, deren Erfassung auch
praktisch zur Aufdeckung feinerer Wirkungen und Gegenwirkungen der Vorgänge
untereinander essentiell ist und die dasjenige sind, was die Wissenschaft der Er¬
kenntnis eines klardenkenden und wohlinformierten Praktikers hauptsächlich hin¬
zuzufügen hat, konnten höchstens gefühlt werden. Eine Tendenz, diese generellen
Zusammenhänge ans Licht zu ziehen, ihre Untersuchung zur Hauptsache und die
dabei erzielten Resultate sozusagen zu einem Hauptquartier der Wissenschaft zu
machen, haben wir bei allen den besten Geistern auf unserm Feld konstatiert. Aber
die große Bresche, durch die aller weitere Fortschritt in analytischer Beziehung
ging, brachen die Physiokraten oder „Oekonomisten“ und zwar durch die Entdeckung
und gedankliche Nachbildung des wirtschaftlichen Kreislaufs. Nicht als ob die Tat¬
sache desselben in ihrer populären Bedeutung — der periodischen Ernte und des
periodischen Anbaus etwa — jemals unbekannt gewesen sein könnte. Aber es handelt
sich um den ökonomischen Sinn und die ökonomische Organisation des Vorgangs:
Es war festzustellen, wie jede Wirtschaftsperiode zur Grundlage der nächsten wird,
nicht etwa nur technisch, sondern in dem Sinn, daß sie gerade solche Resultate zei¬
tigt, die die Wirtschaftssubjekte veranlassen und in den Stand setzen, in der nächsten
Wirtschaftsperiode denselben Prozeß in der gleichen Form zu wiederholen — wie die
ökonomische Produktion als sozialer Vorgang zustande kommt, wie sie die Konsum¬
tion eines jeden und diese wiederum die weitere Produktion bestimmt, wie jeder Pro¬
duktions- und Konsumtionsakt in alle andern Produktions- und Konsumtionsakte
eingreift und wie gleichsam jedes Element wirtschaftlicher Energie unter dem Ein¬
fluß bestimmter Triebkräfte jahraus jahrein einen bestimmten Weg zurücklegt.
Aus einer solchen Analyse erst konnte sich die weitere Erkenntnis vom ökonomischen
Lebensprozeß der Gesellschaft entwickeln und konnten sich alle die generellen Fak¬
toren und ihre Funktionen und so auch alle die Momente, welche bei jeder wirtschaft¬
lichen Einzelfrage, soweit sie reinwirtschaftlich ist, zu berücksichtigen sind, über¬
blicken lassen. Solang man in den Wirtschaftsperioden nur eine technische Erschei-
*) Außer der allgemeinen dogmengeschichtlichen Literatur, in der das physiokratische
System stets behandelt wird (besonders bei O n c k e n und Denis) seien genannt: Onk-
ken, Art. Quesnay in H. d. St. L e x i s , Art. Physiokraten ebenda. O n c k e n , Die
Maxime laissez faire, laissez passer 1888. Ders., Entstehen und Werden der physiokratischen
Theorie, Frank. Vierteljahrsschrift 1896—97. Güntzberg, Gesellschafts- und Staats¬
lehre der Physiokraten 1907. Higgs, The Physiocrats 1897. H asb ach. Die allge¬
meinen philosophischen Grundlagen der von F. Quesnay und A. Smith begründeten Volks¬
wirtschaftslehre 1870. Schelle, Dupont de Nemours et Päcole physiocratique 1888. L a-
v e r g n e , Les äconomistes du XV Ille sifccle. Weulersse, Le mouvement physiocrati¬
que 1910. St. Bauer, Zur Entstehung der Physiokratie, Conrads Jahrb. 1890. Selig-
man, some neglected British Economists, Econ. Journal XIII, Picard: Etüde sur quel¬
ques thäories du salaire au XVIIIe sifccle, Revue d’hist. des doctrines 6con. 1910. Pervin-
q u i £ r e, Contribution ä l’gtude de la productivitg dans la physiocratie, Doct.-Diss. L a-
b r i o I a , Doctrine economiche di F. Quesnay 1897. — Zur Ausgabe Guillaumin der phy¬
siokratischen Werke tritt gegenwärtig die Ausgabe Geuthner.
40 I* Buch A II: J. Schumpeter,!;Dogmen- und Methodengeschichte. 11
nung sah und nicht die Tatsache ihres ökonomischen Kreislaufs erkannt hatte, fehlte
der Leitungsdraht ökonomischer Kausalität, der Einblick in die innem Notwendig¬
keiten und das generelle Wesen der Wirtschaft. Man konnte in den einzelnen Tausch¬
akten, im Geldphänomen, in der Schutzzollfrage ökonomische Probleme erblicken,
man konnte aber das ökonomische Problem, den Gesamtvorgang, der sich in der Wirt¬
schaftsperiode abspielt, nicht mit Klarheit sehen. Vor den Physiokraten hatte man
gleichsam nur lokale Erscheinungen am Körper der Volkswirtschaft wahrgenommen,
sie erst ließen uns diesen Körper physiologisch und anatomisch als einen Organismus
mit einem einheitlichen Lebensprozeß und Lebensbedingungen begreifen und gaben
uns eine erste Analyse dieses Lebensprozesses. Darüber gab es vor ihnen nur Allge¬
meinheiten, sie taten zuerst einen Bück in das Innere des sozialen Güterstroms und
den Vorgang seiner steten Selbstemeuerung.
Es ist kein bloßer Zufall, daß sie zugleich die erste eigentliche ökonomische
„Schule“ bilden, denn nur eine Gesamtauffassung kann den Boden dazu abgeben.
Selten kann der Dogmenhistoriker mit solcher Sicherheit sagen, wer der Schöpfer
war, wie hier. Alle wesentlichen Gedanken und zugleich die Führerkraft vereinigten
sich in Francois Quesnay. Und diese Gedanken hat er in höherm Maß aus
sich selbst geschöpft als irgendein andrer Nationalökonom. Er war einer der größten
und originellsten Denker auf unserm Felde. Die sich ihm anschlossen, waren oder wur¬
den seine Schüler und ordneten sich ihm in einer Weise unter, für die ich auf wissen¬
schaftlichem Gebiet kein andres Beispiel weiß. Nur die wichtigsten Namen und Werke
seien genannt: Quesnay selbst (1694—1774) hat vor allem persönlich gewirkt. Von
seinen zerstreuten Publikationen (ed. Oncken 1888) seien nur sein Droit naturel
(1765) genannt, das seine Soziologie enthält und sein tableau economique (1758),
das eine schematische Darstellung seines Grundgedankens ist. Nirgends fühlt man
sich in der ökonomischen Literatur schöpferischem Genius so nahe, als wenn man,
nachdem man sich den Stand der Dinge auf unserm Gebiet um 1750 scharf vergegen¬
wärtigt hat, auf diese eine Seite blickt, die, wie Mme de Pompadour richtig vorher¬
sah, den meisten Kritikern bestenfalls als harmloses Spielzeug erschien. Der Rat¬
losigkeit, mit der man dem tableau gegenüberstand, suchte der Eifer der Jünger
zu steuern. Vor allem kommt LeTrosne in Betracht (De l’ordre social 1777),
dann B a u d e a u (Premiere introduction ä la philosophie Economique 1771), an
dritter Stelle Lemercier de la RiviEre (Tordre naturel et essentiel des
sociEtEs politiques 1767), endlich D u p o n t „de Nemours“ (Physiocratie ou Consti¬
tution naturelle du gouvernement le plus avantageux au genre humain 1767). Der
ältere M i r a b e a u, der nach Quesnays Tode als Haupt der kleinen Schar galt,
hatte sich schon ohne Quesnays — aber wohl nicht ohne Cantillons — Hilfe einen
festumschriebenen Gedankenkreis geschaffen (l’ami des hommes 1. Teil 1757) und
geriet erst später in Abhängigkeit von ihm (Fortsetzungen des ami des hommes;
Philosophie rurale ou Economie gEnErale et politique de l’agriculture 1763), darum
auch nie so vollständig, wie die andern. T u r g o t (REflexions sur la formation et la
distribution des richesses, publ. 1769; sur les prEts d’argent 1769; Valeurs et monnaies;
lettres sur la libertE du commerce des grains 1770 u. a.) steht dem Kreise sehr nahe,
ohne ihm eigentlich anzugehören. Wirkliches Verständnis und vollwertige Gegner
fanden die Physiokraten nicht. Die Kontroverse mit Forbonnais 1 ) war unfrucht¬
bar und so oberflächlich wie der Spott Voltaires im „homme aux quarante
Ecus“. G a 1 i a n i, der uns schon begegnete, ging in seinen Dialogen (1770) nicht in
das Wesen der Sache ein, wie überhaupt die Kontroverse über die Getreidezölle,
deren temporäre Aufhebung in Frankreich viel diskutiert wurde, nicht viel wissen¬
schaftliche Früchte trug. C o n d i 11 a c (le commerce et le gouvernement 1776)
verdient nicht wegen seiner Kritik der Physiokraten, sondern wegen seiner positiven
*) Vgl. darüber Oncken in seiner „Geschichte“. Forbonnais* Hauptwerk ist:
Principes Economiques 1767.
II. Die Entdeckung des wirtschaftlichen Kreislaufs.
41
Leistungen genannt zu werden. M a b 1 y (Doutes proposes aux philosophes economi-
ques 1768; im Wesen eine Kritik Lemerciers) ist nicht als Oekonom zu werten und
nur als Mann praktischer Fragen kommt Morelletin Betracht 1 ).
Sowenig wie ihre Gegner, sind die meisten Freunde der Physiokraten in den
Sinn ihrer Lehre eingedrungen. Unter den Deutschen stehen der Markgraf
Carl Friedrich von Baden-Durlach (Abr6g6 des Principes de l*6co-
nomie politique 1786) und Mauvillon (Physiokratische Briefe an Prof. Dohm
1780) obenan, andre, wie Schlettwein, Schmalz (f 1831), Krug (f 1843)
und der Schweizer I s e 1 i n halten sich nur an Aeußerlichkeiten. Aehnlich stand es
in Italien, wo Neri, Beccaria, Filangieri, Verriu. a. den einen oder
andren Satz, der ihnen eben gefiel, sich zu eigen machten. Auch in England haben
wir eine kleine Zahl physiokratischer Schriften. Wichtiger als diese ist aber der Ein¬
fluß der Physiokraten auf A. Smith und auf eine Reihe späterer Autoren, darunter
K. Marx. An sofortiger und weiter Wirksamkeit hinderte die Physiokraten gerade
die Originalität ihres Systems. Ihre feste Ueberzeugung konnte Achtung und Elogen
ertrotzen, aber bei näherm Zusehen bedeutet der große Augenblickserfolg in der Pa¬
riser Gesellschaft nicht viel. Von neuen theoretischen Gedanken wird zuerst immer
nur ein Oberflächensinn absorbiert, der meist mit der wahren Bedeutung nichts
zu tun hat. Viele Leser erblickten naiv einfach eine Verherrlichung der Landwirt¬
schaft in der Sache und alle jene, denen das zusagte, erklärten sich für Anhänger
des Systems. Auf die äußern Schicksale der Physiokraten und ihrer Schriften kann
hier nicht eingegangen werden.
2. Die physiokratische Lehre ist, wie früher schon gesagt, ein Glied der großen
Familie der Naturrechtssysteme und im Prinzip ebenso aufzufassen wie diese über¬
haupt. Sie wollte keine bloße Oekonomie sein, sondern eine allgemeine, allerdings
aus ökonomischen Bausteinen bestehende und das ökonomische Moment in den Vorder¬
grund stellende, Soziologie. Doch wollen wir uns auf die eigentliche Wirtschaftslehre
der Physiokraten beschränken. Diese nun ist offenbar eine analytische Leistung:
Wesentlich auf Grund der allgemein bekannten Erfahrungstatsachen suchten die
Physiokraten das generelle Wesen des Wirtschaftsprozesses gedanklich zu erfassen
ohne es für notwendig zu halten, eine systematische Sammlung individueller Tatsachen
vorzunehmen. Denis hat ihr Verfahren „induktiv“ genannt. Jedenfalls war es „theo¬
retisch“ in ganz demselben Sinn wie etwa das Ricardos. Das ist ganz klar. Aber es
kam bei den Physiokraten wie bei allen Naturrechtslehrern noch die Vorstellung hinzu,
daß dem ökonomischen Wesen der Sache zugleich eine ganz bestimmte konkrete
Ordnung der Wirtschaft und ein bestimmtes Verhalten in praktischen Fragen wirt¬
schaftlicher Politik entspreche. Diese ihnen vorschwebende Ordnung, die ein- für
allemal als ideal zu betrachten sei und für die sie jede mögliche, unter andern auch
eine göttliche, Sanktion ins Feld zu führen suchten, ist ihr ordre naturel. Und das
gibt dem ganzen System einen unwissenschaftlichen finalistischen Zug. Würden die
Physiokraten metaphysische Sätze oder irgendwelche praktischen Postulate inner¬
halb ihres analytischen Gedankengangs verwenden und Resultate darauf stützen,
so verlöre dadurch ihre Lehre ihren wissenschaftlichen Charakter. Aber so steht die
Sache nicht. Der Kern ihres Gedankengangs ist völlig frei von solchen Elementen,
wie man sich leicht überzeugen kann, wenn man das entscheidende Kriterium an¬
wendet, nämlich die betreffenden Aeußerungen wegläßt und die finalistische Fassung
andrer durch eine kausale ersetzt. So kann man bei ihnen die wissenschaftliche Tat¬
sachenanalyse und die Mitteilung ihrer Ansicht, daß das Resultat dieser Analyse
gleichzeitig die bestmögliche konkrete Ordnung der Dinge und den göttlichen Plan 2 )
*) Kein Physiokrat, aber ein tüchtiger Schüler von ihnen, war der Schweizer Herren-
schwand : (De PSconomie politique moderne 1786. De P6conomie politique et morale de
l’espfece humaine 1786; du vrai principe actif de l’äconomie politique 1797); vgl. über ihn A.
J ö h r, Herrenschwand 1901.
a ) Gide hat dann, wie auch Denis, vom theologischen Charakter des physiokratischen
42 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. II
erkennen lasse, trennen, und wenn man das einmal eingesehen und erkannt hat, daß
ihre Sätze sich ohne weiteres aus der Erforschung der wirtschaftlichen Grundtat¬
sachen ergeben, dann hat es keinen Sinn mehr nach theologischen oder philosophi¬
schen Bestimmungsgründen derselben zu suchen. In dem Moment, wo Quesnay
z. B. bei der Untersuchung des Wesens des Kapitals uns zuruft: „Parcourez les
fermes et ateliers, et voyez . . usw. (Dialogue sur le commerce, ed. Daire 1846,
Bd. I, p. 172), vindiziert er den wissenschaftlichen Charakter seiner Ausführungen.
Ob er dann Deist war oder nicht, ob Freihändler oder nicht, ob bureaukratischer
Absolutismus oder Selbstverwaltung ihm mehr zusagte — das war für ihn sehr wich¬
tig, so wichtig, daß Turgot sagen konnte, er sei nicht Physiokrat, weil er „lieber
keinen König möchte“, es ist ferner für die Geschichte der Zeitanschauungen ge¬
radezu die Hauptsache, aber es ist für unsern Zweck irrelevant und berührt Ques-
nays wissenschaftliche Bedeutung weder in günstigem, noch in ungünstigem Sinn.
Trotzdem bleibt es sein Verdienst, die Tatsachenanalyse zum Kernpunkt gemacht
zu haben, während seine Zeitgenossen z. B. noch Steuart, vor allem daran dachten,
dem Staatsmann Ratschläge zu erteilen.
Wenn also die Physiokraten auch nicht — wie es im wesentlichen schon die
Klassiker taten — in ihrer Lehre bloß eine gedankliche Nachbildung wirklicher
Vorgänge sahen, die gewisse Grundformen derselben frei von andern Elementen
und mit begrifflicher Schärfe zum Ausdruck bringe, sondern außerdem noch ein Ideal¬
bild in praktischem Sinn — wobei nicht vergessen werden darf, daß dieses Zusammen¬
werfen verschiedener Dinge in den Anfängen wissenschaftlichen Strebens viel näher
liegt als später und um so mehr, als der Gedanke der sozialen Entwicklung ihnen fehlte,
so daß das theoretische Bild der Wirklichkeit als unveränderlich angesehen wurde,
mithin viel leichter, als wenn man sich der Veränderlichkeit der sozialen Dinge be¬
wußt gewesen wäre, zu einem absoluten Ideal und Element eines göttlichen Welt¬
plans werden konnte — so waren sie sich in praxi des analytischen Weges wohl be¬
wußt. Sie schufen, wie man das ausdrücken kann, eine Naturlehre der Wirtschaft,
eine Lehre von der ökonomischen „Natur der Sache“, den sachlichen Bedingtheiten
des Wirtschaftslebens. Aber in keinem andern Sinn kann von einer Naturlehre der
Physiokraten gesprochen werden, namentlich nicht in dem Sinn, daß sie, die Eigen¬
art des sozialen Gebiets verkennend, den dilettantischen Versuch gemacht hätten,
ihm naturwissenschaftliche Auffassungsweisen und eine falsche Exaktizität aufzu¬
nötigen. Ihre Theorie ist lediglich ein Versuch, jenen Vorrat an allgemeiner wirt¬
schaftlicher Erkenntnis, den jeder Praktiker ansammelt und zur Grundlage seines
Verhaltens macht, systematisch durchzudenken und zu einem einheitlichen, wider¬
spruchslosen Ganzen zu verschmelzen. Ein Hinweis auf Aeußerlichkeiten oder auf
die Tatsache, daß man wissenschaftliche Schulung, wenigstens damals, nur auf natur¬
wissenschaftlichem Gebiet erwerben konnte, spricht nicht für das Gegenteil. Um
einen illegitimen naturwissenschaftlichen Einfluß nachzuweisen, müßte im einzelnen
Fall, beim einzelnen Theorem gezeigt werden, daß es sich nicht aus den dafür ange¬
führten oder anzuführenden Argumenten ökonomischer Natur erklärt, sondern sein
Entstehen dem Wunsche verdankt, einen künstlichen Parallelismus zwischen Natur-
und Geisteswissenschaft herzustellen. Niemand hat einen solchen Nachweis versucht,
ich selbst weiß keinen zu führen. Allerdings haben die Physiokraten die im 17. Jahr¬
hundert üblich gewordene Gewohnheit fortgesetzt, von „Naturgesetzen“ der Wirt¬
schaft und des Soziallebens überhaupt zu sprechen. Um die Tragweite dieser Gewohn¬
heit zu verstehen, ist es wesentlich, zwei Dinge zu scheiden: Das, was sie selbst bewu߬
terweise damit meinten, und das, was wir nach anderthalb Jahrhunderten in diesen
Systems gesprochen und ihn zu einem Erklärungsmoment für ihre Theorie gemacht — ein
Beispiel für die Tendenz so vieler Nationalökonomen, sich an Aeußerlichkeiten zu klammern
und für die Vorliebe für die „Philosophie“ der Nationalökonomie. Noch schärfer tritt das
bei H asb ach hervor: Diese Vermischung zweier ganz verschiedener Betrachtungsweisen
macht es unmöglich, dem wissenschaftlichen Gehalt eines Systems gerecht zu werden.
II. Die Entdeckung des wirtschaftlichen Kreislaufs.
43
Gesetzen entsprechend ihrem konkreten Inhalt zu sehen haben. In erster Beziehung
ist nicht zu erwarten, daß sie in dieser noch heute kontroversen Frage einen Standpunkt
eingenommen hätten, der für uns diskutabel wäre. Zunächst steht ihr Gesetzes¬
begriff unter dem Einfluß ihres Finalismus. Ausgehend vom Glauben, daß sich dem
forschenden Geist in der Tatsachenanalyse der Wille der Vorsehung offenbaren müsse,
erblicken sie im Gesetz nicht bloß die Regel der Dinge, sondern auch etwas außer¬
halb der Dinge Stehendes, dem sich der Mensch unterordnen müsse, aus dem ein
Gebot des Handelns und ein System von Pflichten fließe. Und außerdem verraten
sie keinerlei Gefühl für die Unterschiede zwischen sozialen und naturwissenschaft¬
lichen Naturgesetzen *), vielmehr erschienen ihnen die letztem — wie auch etwa
Newton — unter ganz dem gleichen Gesichtspunkt. In der zweiten Beziehung aber
werden wir einsehen, daß, weil eben weder das theologische noch das naturalistische
Moment Ausgangspunkt ist, sondern lediglich die Resultate der ökonomischen
Analyse, nachdem sie gewonnen waren, in dieser Form ausgedrückt wurden, die „Ge¬
setze“ der Physiokraten nichts andres sind als das, was man heute ganz widerspruchs¬
los als solche bezeichnet. Und gegenüber der Größe der Leistung, definitiv erkannt
zu haben, daß das wirtschaftliche Leben gewissen allgemein zu erfassenden Notwendig¬
keiten unterworfen ist und auch hier die Gründe ihre Folgen haben, wird man über
die zahlreichen Mängel ihrer Fassung dieser Erkenntnis nicht zu streng urteilen dür¬
fen. Uebrigens kamen auch damals schon einerseits Montesquieu (1749) und andrer¬
seits Turgot zu vollkommeneren Formulierungen 2 ). — Noch sei erwähnt, daß auch
diese Zeit schon einen „Methodenstreit“ kannte. Viele Gegner der Physiokraten be¬
kämpften ihre Methode als wirklichkeitsfremd und zu „absolut“ und vor allem
G a 1 i a n i hat in seinen Dialogen auf die Unzulässigkeit allgemeiner Regeln für die
Wirtschaftspolitik hingewiesen. Zwar spricht das nicht gegen die physiokratische
Theorie, aber Galiani warf, ganz so wie das später und selbst in neuester Zeit
üblich war, die Theorie samt den ihm anstößig scheinenden praktischen, scheinbar
daraus notwendig folgenden Konsequenzen, über Bord. Auch Turgots Haltung, die
von Abneigung oft nicht weit entfernt war, erklärt sich zum Teil aus seiner Ansicht,
daß die Physiokraten dort allgemeine Gesetze aufstellten, wo es keine gab, und so
der Mannigfaltigkeit des Lebens Gewalt antaten. Natürlich macht das weder
Galiani noch Turgot zu Vertretern historischen Relativismus’ strengster Form,
denn sie haben beide wesentlich theoretisch gearbeitet. Aber sie nehmen eine
Mittelstellung ein.
3. An ihre große Aufgabe, die generellen Formen des wirtschaftlichen Kreis¬
laufs darzustellen, traten die Physiokraten nur mit den vorhandenen Mitteln heran,
ohne selbst etwas hinzuzufügen. Sie wollten die Tatsachen des Bedarfslebens
und die generellen Tatsachen des Milieus zu Gesetzen des Wirtschaftsablaufs
kombinieren. Ihre Psychologie ist streng individualistisch und rationalistisch und
überaus einfach. Sie resümiert sich in der Annahme des Strebens nach größt¬
möglicher individueller Bedürfnisbefriedigung mit dem kleinstmöglichen Aufwand
— so daß also das wirtschaftliche Prinzip, von Quesnay bewußt und klar for-
x ) Denn das Wort „Naturgesetz“ braucht an sich noch nicht „physikalisches Naturgesetz“
zu bedeuten, ist vielmehr vollkommen mit der Erkenntnis der Besonderheiten des sozialwissen¬
schaftlichen Gebiets vereinbar, was immer wieder übersehen wird. Aber selbst, wenn ein Au¬
tor ausdrücklich sagt, die sozialen und physikalischen Gesetze seien wesensgleich, so muß man
darauf achten, in welchem Sinn das gemeint ist. Wenn es endlich auch in einem ganz un¬
haltbaren Sinn gemeint wäre, so erfordert die Gerechtigkeit noch zu untersuchen, ob nur diese
Behauptung und die Ansicht des Autors über die Natur seiner Resultate als falsch zu bezeich¬
nen ist — in welchem Fall herzlich wenig Grund zu besonderm Tadel vorhanden ist und die
Resultate selbst nicht berührt werden — oder ob sich der Autor durch den naturalistischen
Irrtum materiell beeinflussen ließ: Dann allerdings, aber auch nur dann, fallen seine Resultate
als solche, inhaltlich.
a ) Montesquieus Formulierung: Rapports näcessaires qui dlrivent de la nature des choses,
atmet ganz modernen Geist. Auch Goumay ist zu nennen.
44 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. II
muliert '), den Ausgangspunkt bildet. Ihre Soziologie ist ebenso einfach. Sie
nehmen die soziale Organisation, die sie vor ihren Augen sehen, zum Teil als selbst¬
verständlich, zum Teil als ausreichend typisch hin. Es wurde schon hervorgehoben,
daß ein solcher Vorgang in den Anfängen naheliegend war. Es ist noch hinzuzufügen,
daß die Ueberschätzung vernunftmäßigen Handelns und die Unvollkommenheit
psychologischer Analyse, ferner jener Atomismus, der im — wesentlich unveränder¬
lichen — Individuum den Schlüssel zum sozialen Geschehen sucht, gerade in öko¬
nomischen Untersuchungen am wenigsten schaden: Allerdings verhindern diese
Momente ein Hinausblicken über einen gewissen Punkt und allerdings müssen sie in
vieler Beziehung zu einem Zerrbild der Wirklichkeit auch hier führen, aber gerade
für die Ausarbeitung der „Logik der wirtschaftlichen Dinge“, also gerade für die¬
jenige Leistung der Physiokraten, die für uns hier in Betracht kommt, stellen sie zum
Teil notwendige und brauchbare Annahmen dar. Freilich darf man darauf allein
nie eine Lehre vom Lebensprozeß der Gesellschaft, eine Soziologie, bauen wollen.
Für ihre Soziologie und auch ihren praktischen Einblick in die Dinge waren alle
diese Auffassungen verderblich, soviel sie auch vom „homme social“ und der „vie
collective“ sprechen, aber die Arbeit an ihrem ökonomischen Grundproblem ent¬
werteten sie nicht 2 ).
Da leisteten sie Großes. Eine ungeneröse und verständnislose Kritik hat lange
Zeit die Würdigung ihrer Leistung verhindert und die Tatsache verkennen lassen,
daß alles Folgende auf ihnen beruhte, während man immer gewisse grotesk hervor¬
stehende Eigentümlichkeiten* hervorhob, wie wenn in ihnen das Wesen der phy-
siokratischen Lehre läge, mit ihrer Widerlegung die Sache erledigt wäre. Schon
Smith begann damit und erst neuestens ist man tiefer in den ökonomischen Gedanken¬
kreis der Physiokraten eingedrungen.
Der Gesamtüberblick über den Wirtschaftsprozeß, den die Physiokraten gewon¬
nen haben, der „volkswirtschaftliche Standpunkt“ auf den sie sich — trotz des Aus¬
gehens vom Individuum einer- und dem natürlichen Milieu andrerseits — stellten,
drückt sich in drei Konzeptionen aus, die für die Nationalökonomie größte Bedeu¬
tung erlangten: Die Ideen der Zirkulation, die des Sozialprodukts und die seiner
„Verteilung“. Die erstere war schon der Populardiskussion und den Merkantilisten
nicht fremd. Aber man dachte dabei nur an die Oberflächenerscheinung der Geld¬
zirkulation. Quesnay und seine Anhänger schoben erst den „Geldschleier“ energisch
zur Seite und es enthüllte sich ihnen eine Zirkulation andrer Art: Sie zeigen, wie in
jeder Wirtschaftsperiode eine Gütermenge in die Volkswirtschaft neu eintritt — in
ihrem Sinn aus dem unerschöpflichen Schatz der Natur — und von den einzelnen,
durch besondere Funktionen charakterisierten, Gruppen von Wirtschaftssubjekten
übernommen und weitergegeben wird bis zum endlichen Konsumtionsakt. Das
Weitergeben geschieht durch Tauschen. Tauschakte bilden die Glieder der Kette,
die jene Gruppen oder Klassen verbindet. So stellt sich das Wirtschaftsleben eines
Volks als ein System von Tauschbeziehungen dar, das, sich periodisch erneuernd, den
Raum zwischen Produktion und Konsumtion ausfüllt.
*) Obtenir la plus grande augmentation possible de jouissance par la plus grande diminu-
tion possible de d£penses.
*) Stets hat man sich in solchen Fällen zu fragen: Erstens ist eine solche Grundanschau¬
ung an sich und allgemein „richtig“ ? Hat man das verneint, so ist damit nicht etwa die kri¬
tische Arbeit erledigt, sondern es erhebt sich die weitere Frage: Ist die betreffende Grundan¬
schauung nicht vielleicht als Annahme brauchbar? Und zwar zunächst: Hebt sie nicht ein
wirkliches Moment hervor, dessen isolierende Betrachtung Interesse hat ? Und sodann, selbst
wenn das nicht der Fall wäre: Ist die Deviation, die die betreffende Grundanschauung be¬
wirkt, sehr groß oder gibt es Umstände, die ihre Bedeutung einschränken — bei der Hypothese
des Rationalismus z. B. liegt ein solcher Umstand in der Tatsache, daß sich gewisse sachliche
Notwendigkeiten durchsetzen und das menschliche Handeln formen, auch wenn dieses nicht
auf einer rationellen Erkenntnis solcher Notwendigkeiten und auf klaren Motiven beruht —
oder kann man den anstößigen Satz nicht vielleicht besser formulieren? Der Kritik bereiten
solche Fragen meist geringe Sorgen. Allein jede Kritik, die sie nicht löst, ist wertlos.
II. Die Entdeckung des wirtschaftlichen Kreislaufs.
45
Die in der Wirtschaftsperiode innerhalb der Volkswirtschaft erzeugte Güter¬
menge wird als ein Sozialprodukt aufgefaßt, das jedesmal „verteilt“ wird. Uns ist
dieser Gedanke so vertraut, daß wir nichts Auffälliges mehr an ihm finden. Allein
es lag eine kühne Abstraktion und eine methodisch sehr wichtige Neuerung darin.
Dieses „Sozialprodukt“ existiert als solches nirgends in der Wirklichkeit und ist
an sich ein künstliches Gebilde. Aber die Schöpfung dieser theoretischen Gesamtheit
ermöglicht erst oder erleichtert doch eine tiefere Erfassung des Zusammenwirkens
und aller gegenseitigen Bedingtheiten zwischen den Einzelwirtschaften und die prin¬
zipielle Identifizierung des Sozialprodukts mit dem Volksreichtum — die Voran¬
stellung des Gesichtspunkts des periodischen Güterstroms— gab dem letztem Begriff
eine früher nicht vorhandene Bestimmtheit und stellte das Verhältnis zwischen
ihm und der Produktion ein- für allemal in ein scharfes Licht. Bis heute haben
sich diese Grundlagen erhalten und als brauchbar erwiesen, wie man z. B. am
Lehrgebäude A. Marshalls sehen kann 1 ).
4. Das ist der Rahmen des Lebensprozesses der richesse. Die Erkenntnis Can¬
ti 11 o n s — „la richesse en elle-möme n’est autre chose que la nourriture, les
commodit6s et les agr&nents de la vie“ im schon erwähnten Essai sur le commerce
en g6n6ral 1755 p. 1 — verderbend definierten sie dieselbe als die Gesamtheit der
jährlich produzierten wirtschaftlichen Güter (biens commer^ables, Quesnay,
Oeuvres ed. Oncken). Seine treibende Kraft und sein Erklärungsprinzip — le desir de
jouir nach Le Merciers Ausdruck — kennen wir bereits. So haben wir nur noch
ein wesentliches Moment hervorzuheben, nämlich die physiokratische Theorie vom
Wesen und von der Funktion des Kapitals. Vor ihnen gab es eine präzise Theorie
darüber nicht und zwar nicht etwa bloß deshalb, weil merkantilistische Irrtümer der
Ausbildung einer solchen im Wege standen, sondern vielmehr deshalb, weil vor ihnen
die Grundtatsachen der Wirtschaft als solche überhaupt nicht tiefer analysiert
wurden und eine solche Analyse zu einer präzisen Auffassung von der volkswirt¬
schaftlichen Rolle des Kapitals im Gegensatz zu seiner Bedeutung für die Privat¬
wirtschaft, wie sie das tägliche Leben erkennt, nötig ist. Quesnay — und mit ihm
seine eigentlichen Schüler — erblicken die Funktion des Kapitals in der Notwendig¬
keit, den Arbeiter während der Produktion zu erhalten, in den avances fonciöres —
den Auslagen für die Urbarmachung des Bodens — und den avances annuelles — bes¬
ser fonds des avances, die sich zum Teil in den produzierten Produktionsmitteln
verkörpern —, die sich zugleich mit den Zinsen der avances primitives jährlich
reproduzieren 2 ). Das Wesen des Kapitals ergibt sich demnach als jener Teil des So¬
zialprodukts vorhergehender Wirtschaftsperioden, der die Produktion der laufenden
alimentiert — als Teil des Güterstroms von temporär besonderer Rolle.
Die Entwicklung, wie sie sich die Physiokraten denken, kann am besten mit den
Worten des Markgrafen von Baden wiedergegeben werden (Abr6g6
1786 p. 7): Der Kreislauf von Arbeit und Ausgabe wird vervollkommt durch gestei¬
gerte Arbeit. Diese vermehrt die Unterhaltsmittel, deren Vermehrung führt zur
Vermehrung der esp£ce humaine, was wiederum die Bedürfnisse der Gesamtheit
steigert, mithin die däpenses. So entwickelte sich die wirtschaftliche Kultur aus einem
Zustand primitiver Nahrungssuche (l’homme vivoit des fruits 6pars et spontanes
de la terre), in dem eben diese Nahrungssuche die Arbeit war, die der „däpense de
la subsistance“ entsprach und die Leistung darstellte, die zum Unterhalt führte
— die Physiokraten sprechen da natürlich von „Pflicht“ und „Recht“, meinen aber
in der Sprache des Naturrechts nichts andres als das Gesagte.
x )v. Philippovich (Grundriß I, 4. Buch) hat auf das Wirklichkeitsfremde der
Konzeption der „Verteilung“ hingewiesen und sie durch die der Einkommensbildung ersetzt,
was sich in der Tat empfiehlt. Doch ändert das nichts an der historischen Bedeutung und
der darstellerischen Brauchbarkeit des Verteilungsgedankens.
*) Dazu kommen noch die avances primitives, „le bloc des richesses mobiliaires qui aident
Thomme ä la cultivation“. Die avances souveraines sind die Ausgaben des Staats auf Stra¬
ßenbau usw.
46 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. II
Nunmehr aber ist es Zeit, auf jene Eigentümlichkeiten des physiokratischen
Systems einzugehen, welche die Dogmengeschichte mit Unrecht stets in den Vorder¬
grund stellte, und die zwar das Wesen der vorgeführten Grundgedanken nicht berüh¬
ren, sondern nur einen etwas verfrühten Versuch ihrer Ausarbeitung in einer bestimm¬
ten Richtung darstellen, aber für die Physiokraten selbst und das Schicksal ihrer
Theorie von großer Bedeutung waren. Wenn man jene fundamentalen Grundgedan¬
ken einmal hat und nunmehr nach einem festen Punkt im wirtschaftlichen Kreislauf
sucht, so kann der Blick unter anderem auch auf den technischen Ursprung des
Wirtschaftsstroms, auf die Tatsache fallen, daß in jeder Wirtschaftsperiode eine
bestimmte Menge von Stoffen aus dem Schoß der Natur in die soziale Welt eintritt,
von der direkt oder indirekt die ganze Gemeinschaft leben muß und die in einem
Sinn dasjenige ist, was in der Gemeinschaft eigentlich zirkuliert und deren perio¬
discher Ersatz die Wirtschaftsperioden voneinander zu unterscheiden geeignet ist.
Dieser Ausgangspunkt liegt an sich nahe, er mußte Quesnay aber mit Rücksicht auf
die Analogie mit dem Ernährungsprozeß organischer Körper besonders naheliegen.
Es ist ganz überflüssig nach irgendwelchen metaphysischen Gründen dafür zu suchen,
daß die Physiokraten nach ihm griffen, wie wenn darin eine sonst ganz unbegreif¬
liche Verirrung läge. Es lag nichts vor als die Beobachtung einer ganz unbestreit¬
baren „physikalischen“ — wie Le Trosne sagte, Intäröt Social — Tatsache mehr
der Ansicht, daß diese Beobachtung wissenschaftlich fruchtbar, d. h. von großem
Erklärungswert sei. Die erstere ist schlechthin richtig — und in keinem andern Sinn
als in dem, in welchem sie absolut selbstverständlich ist, meinten sie die Physiokra¬
ten — die letztere hat sich nicht bestätigt, war aber a priori so wenig unsinnig,
daß es selbst heute, nachdem die Wissenschaft hundertfünfzig Jahre lang einen
andern Weg gegangen ist, nicht mit Sicherheit behauptet werden kann, daß sich
jener Ausgangspunkt niemals brauchbar zeigen werde.
Die Physiokraten allerdings verrannten sich in den einmal gefaßten Gedanken
und überschätzten ihn sehr. Wenn man ihm aber einmal konsequent nachgehen
wollte, dann war es ganz natürlich — es war in der Tat nur eine mit Hinblick auf
Anwendung der Beobachtung ihr gegebene Formulierung —, wenn man den Begriff
der Produktion auf Urproduktion — oder, ganz strikte, auf Stoffgewinnung, die
alljährlich in infinitum wiederholt werden konnte, so daß der Bergbau ausschied —
beschränkte und dann war es nur selbstverständlich, daß man alle nicht darauf
verwendete Arbeit unproduktiv nannte. Darin lag keine besondere These mehr,
sondern nur ein „analytisches Urteil“ im Kantschen Sinn, das Urteil: Nicht auf Ur¬
produktion verwendete Arbeit bringt keine neuen „Urprodukte“. Die Notwendig¬
keit und Nützlichkeit dieser Arbeit wurde nicht geleugnet. Wenn Le Trosne sagt:
„Le travail porte partout ailleurs que sur la terre, est sterile absolument, car Thomme
n’est pas cr£ateur“, so meint er nichts andres, als daß die menschliche Arbeit nicht
neue Materie schaffen kann, was wiederum für die Wirtschaftslehre nur so weit
relevant ist, als es eben jene definitionsmäßige Konsequenz zieht. Will man eine
besondere Aussage im zitierten Satz sehen, so könnte es nur eine richtige sein.
Aber einerseits bauten sie zuviel darauf auf und andererseits verschlossen sie sich,
im Bann ihres Gedankens, vielen andern fruchtbarem Ausblicken. Es war zunächst
ein Verdienst, nach theoretischen Prinzipien und nicht einfach, wie es auch früher
geschehen war, empirisch verschiedene Klassen von Wirtschaftssubjekten nach be-
sondern wirtschaftlichen Funktionen zu scheiden, diese als soziale Interessengruppen
zu begreifen und deren Ineinandergreifen zu untersuchen. Und diese Leistung blieb,
gerade wie die methodische Idee der „Verteilung“ ein xxfjpa efc de[ der National¬
ökonomie. Nur orientierten die Physiokraten diese richtigen Bestrebungen nach
jenem Moment, das die weitere Analyse dann als nebensächlich erwies. Die pro¬
duktive Klasse, jene Wirtschaftssubjekte, die Arbeit und Kapital auf die Produktion
in physiokratischem Sinne verwenden, behalten einen Teil des Ertrags für sich, von
dem sie wiederum einen Teil an die sterile, die industrielle usw. Klasse abgeben.
II. Die Entdeckung des wirtschaftlichen Kreislaufs. 47
welche den Produkten durch Verarbeitung wohl Wert hinzusetzt, aber nur soviel,
als sie konsumiert, mithin nicht eigentlich „Wert schafft“. Diesen Teil des Produkts
gibt die produktive Klasse an die sterile im Austausch von Nahrungsmitteln und
Rohstoffen gegen Industrieprodukte. Da diese letztem aber Nahrungsmittel und
Rohstoffe von früher her enthalten und zwar in genau derselben Menge, so kehrt
bei diesem Tausch der veräußerte Wert wieder in die Hände der produktiven Klassen
zurück. Was veräußert wird und wovon in gewissem Sinn gesagt werden kann,
daß es wieder in die Hände der Produktiven zurückkehrt, ist Rohprodukt. Soll
diese Bewegung des Rohprodukts aber irgendeine wirtschaftliche Bedeutung haben,
so muß ihr eine Bewegung der Kaufkraft parallel gehen. Und daher allein der
Sprung des Gedankengangs zu der Auffassung hinüber, daß „Wert“ hin und hergehe
und daraus die Konsequenz, daß bei jedem Tausche gleiche Werte übergeben werden,
wenn nicht ein Wertgewinn des einen Teils auf Kosten des andern erfolgen soll.
Wollte ich überhaupt von einem bestimmten „Grundfehler“ der Physiokraten spre¬
chen, so müßte ich diesen Sprung vom Rohprodukt auf den Wert, diese Ansicht,
daß der Wert nichts sei wie der Geldausdruck der Rohstoffmenge in den Gütern,
so nennen. Damit war die Wert- und Tauschtheorie verdorben und ein Ausblick
in wesentliche Phänomene verbarrikadiert.
Den Rest des Produkts, der allein sich als durch keinen Ersatzanspruch neutra¬
lisierter Reinertrag darstellt, der produit net, fällt den Grundherren zu, die ihn zum
Teil zur Erhaltung und Verbesserung der avances foncieres, zum Teil zur Erfüllung
sozialer Pflichten, unter denen die Steuerleistung die wichtigste ist, verwenden,
und im übrigen an die produktive und sterile Klasse zurück- bzw. weitergeben können.
Der an die sterile gegebene Teil kehrt ebenfalls wiederum zur produktiven zurück.
Damit ist der Kreislauf geschlossen, sind alle Produkte bezahlt und alle jährlichen
avances sowie ein Teilbetrag der ursprünglichen ersetzt.
Man hat im produit net oft ein theoretisches Monstrum gesehen, von dessen
Nichtexistenz der einfachste Blick in die Wirklichkeit überzeugt. Aber dem ist nicht
so und das Argument, daß der Reingewinn in der Landwirtschaft doch auch ver¬
schwinden könne, beruht auf einem Mißverständnis. Zunächst ist die Tatsache des
produit net, im Sinn der Physiokraten aufgefaßt, über jeden Zweifel erhaben. Wirk¬
lich bringt nur die Urproduktion physisch neue Elemente in die Güterwelt. Und
sodann liegt überhaupt vieles Richtige unter der verfehlten Wertlehre der Physio¬
kraten. Vor allem haben sie richtig die Tendenz der freien Konkurrenz nach Herab¬
drückung aller Preise auf den Kostensatz — hier ganz im populären Sinn gemeint
— erkannt*), sodann ebenso richtig das sich daraus ergebende Problem, die
Ertragswellen zu erklären, die sich trotzdem über jenen Satz erheben. Wenn sie
diese Ertragswellen in der schaffenden Kraft der Natur lokalisierten, so war das
einseitig — doch nicht mehr als etwa die Auffassung Marx* — und es lag darin eine
Verwechslung von physischer und Wertproduktivität. Sie hatten dabei die wich¬
tigste Wertwelle, die des Unternehmergewinns, außerdem unerklärt gelassen, aber
sicher eine Theorie des „Mehrwerts“ begründet, die vom Standpunkt der Zeit
betrachtet nicht ohne weiteres undiskutabel ist. In erster Linie jedoch haben sie
eine Tendenz des Tauschverkehrs zwischen den Klassen richtig gefühlt und diesen
Tauschverkehr selbst in seinen Hauptzügen gut erkannt. Nicht ohne Recht sagt
Quesnay: La marche de ce commerce entre les diffärents classes et ses condi-
tions essentielles ne sont point hypothätiques. Quiconque voudra y r6fl6chir, verra
qu’elles sont fid£lement coptees d’apres la nature (p. 60, Oeuvres).
*) Den Kostenpreis bezeichnen sie als den „natürlichen“ Preis (L e t r o s n e) und knüp¬
fen eine positive Wertung (Letrosne nennt ihn den bon prix) an ihn — welch letzterer Punkt
uns nicht interessiert. Ein anderer Ausdruck ist prix fondamental. — Es wurde oft vermerkt,
daß die Physiokraten hohe Getreidepreise für ein Symptom des Wohlstandes hielten. Die
Kosten bestehen eben im Unterhalt der cultivateurs, was diese Auffassung, die der populären
wie der klassischen widerspricht, erklärt: Hohe Kosten bedeuten für die Physiokraten reich¬
lichen Unterhalt der Arbeiter.
48 I- Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. II
Auch in der Lohntheorie kamen sie weit, nicht nur trotz, sondern sogar auf Grund
ihres Ausgangspunkts. Zunächst ist die Anschauung, daß alle Arbeiter von Vor¬
schüssen leben, an sich schon eine Lohntheorie in nuce, eine Grundlage, von der aus
man unbedingt in die Gedankengänge der später sog. Lohnfondstheorie gelangen
muß, wenngleich die Physiokraten selbst zu keiner ganz bestimmten Formulierung
vordrangen. Turgot gebraucht allerdings den Ausdruck fonds des salaires, sagt
aber darüber nur eine Selbstverständlichkeit, die nichts von dem charakteristischen
Inhalt der Lohnfondstheorie hat. Dann aber ergibt sich aus dem System der Phy¬
siokraten das, ebenfalls erst von Turgot scharf formulierte, „eherne“ Lohngesetz.
Sie nahmen nicht etwa bloß eine Anschauung der Zeit auf, die sie vorfanden, sondern
aus den Grundlagen ihres Systems folgt der Satz, daß jeder Arbeiter nur den Wert
der von ihm konsumierten Subsistenzmittel dem Produkt hinzufügen könne und
daß — wie Quesnay selbst hervorhebt — der Lohn sich infolge der Konkurrenz
unter den Arbeitern auf dieses Maß feststelle.
Am schlechtesten fuhr die Zinstheorie. Hier schadete der speziell physio-
kratische Gesichtspunkt naturgemäß am meisten und wir finden denn auch, daß die
Physiokraten diesem Phänomen am wenigsten Verständnis entgegenbringen. Der
industrielle Kapitalgewinn hängt völlig in der Luft, müßte konsequenterweise eigent¬
lich als ein Gewinn auf Kosten des produit net bezeichnet werden. Diese Konse¬
quenz kommt allerdings nur beim ältern Mirabeau zu ganz scharfem Ausdruck —
nämlich in seinem Plan der Abschaffung des industriellen Zinses —, aber bei allen
eigentlichen Physiokraten finden wir die Anschauung, daß die einzige Quelle des
Zinses der Ertrag von Grund und Boden sei, und ferner, daß die Tatsache des produit
net allein Sparen — und damit industriellen Fortschritt — ermögliche. Turgot hat
dann die Lücke mit verschiedenem Material auszufüllen gesucht und manches Rich¬
tige über die Bestimmung des Zinses durch Angebot und Nachfrage gesagt. Aber
ohne sehr tief zu gehen. Trotz seines Satzes, daß der Zins der Preis für zeitlichen
Gebrauch einer Wertmenge sei, sieht man sich bei ihm auf der Suche nach tiefem
Erklärungsgründen, auf das Auskunftsmittel aller Physiokraten zurückgedrängt —
nämlich, daß die Konkurrenz gleichsam dem Kapital einen Zins zuschwemme, weil
der Kapitalist sich sonst Boden kaufen würde, einen Satz, der aus den Fundamenten
der Physiokraten folgt, wenngleich wir ihn schon bei Hutcheson vorfanden.
Der Handelszins ist schlechthin Gewinn auf Kosten des andern Vertragsteils.
Es ist im Sinn der Physiokraten ein Unterschied zwischen Industrie und Handel
zu machen, für den es keine ganz rechtfertigende Erklärung gibt. Bei der Industrie
liegt noch, wenn nicht Wertschaffung, so doch immerhin Wertaddition vor — der
Wert der Rohstoffe und der der Subsistenzmittel des Arbeiters werden in ihrem
Prozeß addiert: —vgl. die Analogie mit Marx — und ihre Nützlichkeit wird nicht in
Abrede gestellt. Obgleich nun nicht einzusehen ist, warum man nicht ganz dasselbe
auch für den Handel sagen sollte, so erschien dieser den Physiokraten doch als ein
Uebel, das tunlichst beschränkt werden solle. Vielleicht spielte da die populäre
Idee eine Rolle, daß der Zwischenhandel die Waren verteure, mithin gleichsam das
normale Tauschverhältnis und den wirtschaftlichen ordre naturel störe.
5. Wie immer dem sein mag, sicher ist, daß das System der Physiokraten in
seinen wesentlichen Zügen ein gewaltiger Fortschritt war und daß auch jener eine
Zug, dem es seinen ganz unglücklichen Namen verdankt — wie so oft hatte auch hier
ein Schüler grade das wenigst Wertvolle am System des Meisters für die Haupt¬
sache gehalten x ) — keineswegs alles verdarb. Viel mehr als unter berechtigter Kri¬
tik hatten die Physiokraten unter den Mißverständnissen und unter ganz oberfläch¬
lichen Einwendungen der Zeitgenossen wie der Spätem zu leiden. Die meisten
Einzeleinwendungen vor allem, die man gegen ihre Theoreme erhob, sprechen nur ge-
*) Dieser Name ist auch zum Teil für den naturalistisch-mechanistischen Vorwurf ver¬
antwortlich, der mitunter den Physiokraten gemacht wurde und noch wird.
II. Die Entdeckung des wirtschaftlichen Kreislaufs.
49
gen die, die sie erhoben. Die innere Logik des Systems ist in seltenem Maß frei von
Fehlern und das Meiste, das auf den ersten Blick fremdartig und unverständlich er¬
scheint, vermag tieferes Eingehen befriedigend aufzuklären. Darauf kann ich aller¬
dings nicht eingehen und auch über ihre praktischen Erkenntnisse können hier nur
wenige Worte gesagt werden.
Der ordre naturel ist der Zustand, der für die Menschheit am vorteilhaftesten
ist. Jedes Individuum handelt also im Interesse der Gesamtheit, wenn es seinem
Vorteil nachgeht. Dieser Satz ist in seiner Anwendung auf das Wirtschaftsleben
in demselben Sinn wertvoll und in demselben Sinn falsch, wie das Theorem von dem
durch das Handeln nach individuellem Selbstinteresse bei freier Konkurrenz erreich¬
baren Nutzenmaximum, das später eine so große Rolle spielte und mit der physio-
kratischen Anschauung zum Teil wesensgleich ist. Deshalb und weil alle Klassen
an möglichster Größe des produit net, von der ja aller Fortschritt abhängt, interes¬
siert sind, ergab sich eine harmonistische Auffassung des Verhältnisses der Klassen¬
interessen zueinander. Es ergab sich eine günstige Auffassung von den Folgen der
freien Konkurrenz also keineswegs aus den naturrechtlichen Obersätzen, mit denen
die Sache verbrämt wurde, sondern aus der Analyse des wirtschaftlichen Getriebes
selbst. Das gab den Physiokraten einen Standpunkt in den Fragen der Zeit, dessen
praktische Spitzen zu schildern außerhalb der Grenzen meiner Aufgabe liegt. Als
wissenschaftliche Leistungen müssen aber jedenfalls noch die folgenden genannt
werden: Die Widerlegung der Auffassungen über günstige Handelsbilanzen. Dabei
hoben sie hervor, daß Geldansammlung in einem Lande nur zu einem Steigen der
Preise führe x ). Dann zerstörte schon Quesnay selbst das populäre Schlagwort,
daß die Zölle einfach vom Auslande getragen würden, und wies darauf hin, daß
Kampfzölle das Land, das sie auflegt, unter Umständen mehr schädigen können als
den zu bekämpfenden Gegner. In diesen Resultaten fanden die Physiokraten dann
begreiflicherweise eine Bestätigung ihrer Grundanschauung von den Vorteilen der
Freiheit des Tausches und der Arbeit und von der Schädlichkeit der Eingriffe des
Staats in die privaten Entschließungen über Konsumtion und Produktion. Es darf
aber nie übersehen werden, daß sie trotz dieses Prinzips, in richtiger Würdigung
seiner Grenzen, eine ziemlich weitgehende Funktion des Staats (der auch avances
souveraines für Straßenbau usw. zu machen habe), der Gesetzgebung und endlich
von Sittlichkeit und Sitte (besonders in der Verwendung des produit net) als essen¬
tiell für den Lebensprozeß der Gesellschaft erkannten. Die Zeit legte ihnen die Be¬
tonung des erstem Gesichtspunkts besonders nahe, aber der letztre fehlte nicht in
ihrem wissenschaftlichen System. Die praktischen Schlagworte frei¬
lich müssen kurz und prägnant sein und können nicht skrupulös formuliert werden.
Allein das laisser faire usw. kümmert uns hier nicht. Wohl aber enthält ihre Steuer¬
theorie sehr wesentliche Resultate. Sie beruht auf dem Gedanken, daß die Armut
zwar überhaupt durch willkürliche, gewaltsame Ablenkungen des Stroms der Wirt¬
schaft von seinem naturgemäßen Lauf, aber namentlich durch die Anlage des Steuer¬
systems jener Zeit hervorgerufen sei. Das Phänomen der Armut erscheint also nicht,
wie in manchen andern Systemen 2 ) als ein integrierendes Element des Wirtschafts¬
lebens, sie ist nicht durch dem Wesen des Wirtschaftsprozesses inhärente Vorgänge,
auch nicht durch bestimmte wesentliche Tendenzen der menschlichen Natur zu er¬
klären, sondern durch Eingriffe in das Wirtschaftsleben, durch äußere Störungsur¬
sachen. Daher dann die Konsequenz, daß wenn man die wesentlichsten Störungsur¬
sachen durch Konzentrierung der Steuerlast auf den produit net beseitige, eine er¬
hebliche Ursache der Armut wegfallen würde. Das ist die theoretische Bedeutung
der physiokratischen Steuerlehre, der der Ruhm gebührt, an direkten Steuern zum
erstenmal in systematischer Weise wesentliche Vorteile entdeckt zu haben.
x ) Dieses Verdienst, das einen Schritt zu einer Analyse des Geldphänomens bedeutet,
teilen sie mit Genovesi u. a.
*) Z. B. bei. Ortes.
Sozialökonomik. I.
4
50 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. II
Ihre einzige Grundsteuer durfte aber nicht den ganzen produit net erschöpfen
undTdamit den Inhalt des Eigentumsrechts an Grund und Boden vernichten. Denn
bei der schon erwähnten Bedeutung des produit net für Sparen — Vermehrung der
avances foncieres — und Fortschritt würde, wenn für den Grundbesitzer das Motiv
für Urbarmachung und Meliorisierung des Bodens wegfiele, damit der Volkswirtschaft
ein ähnlicher Schaden zugefügt werden wie durch Beschränkung des Eigentums¬
rechts überhaupt, die das wirtschaftliche Verhalten der Individuen stören würde.
Darin liegt der ökonomische Kern der Eigentumslehre der Physiokraten, ihre andern,
soziologischen wie naturrechtlichen Seiten — Naturrecht hier im Sinne von Glau¬
ben an angeborene Rechte gemeint — interessieren uns hier nicht.
Bei der Diskussion wirtschaftspolitischer Fragen der Zeit, an der sie sich be¬
teiligten und die ihnen teilweise zum Anlaß für die Entwicklung ihrer Ansichten
wurden, trat die Gedankenwelt der Physiokraten und ihrer geistigen Nachbarn aus
der Studierstube heraus in den Luftzug des Parteienstreits. Für die Physiokraten
im Besondern war die Kontroverse über die französischen Kornzölle, die nicht nur
ein Hauptthema ökonomischer Schriftstellerei, sondern geradezu ein Hauptthema
der geselligen Konversation der Zeit waren, das Wichtigste. Und an dieser Stelle
vereinigen sich dann die beiden Quellflüsse der Oekonomie. Nie wieder hat sich die
Erforschung theoretischer Grundwahrheiten durch den Praktiker und durch
den — sagen wir — Philosophen getrennt, wenngleich in der Literatur der Spezial¬
fragen beide Gruppen natürlich immer unterscheidbar sind. Und damit war die
Basis der modernen Wirtschaftslehre geschaffen.
6. In diesen Diskussionen wurde die Stimme der Forschung gehört. Das öffent¬
liche Interesse wandte sich ihr zu, weite Kreise empfanden die Notwendigkeit der
neuen Wissenschaft. Aber sie konnten sich ihr nicht leicht nähern, weder den ge¬
schlossenen unzugänglichen Systemen der Gelehrten noch der Fülle der Unter¬
suchungen der Leute aus der Praxis, deren so ungleicher Wert schwer zu beurteilen
war. Die Zeit verlangte nach einer ausgleichenden Synthese der vorhandenen Ele¬
mente, nach verläßlicher Führung durch kundige Hand. Diese Synthese mußte
kommen und ihr Produkt konnte nicht willkürlich sein: Hätten noch soviele Leute sie
mit Erfolg versucht und wären alle diese Leute noch so unabhängig voneinander
gewesen, sie wären alle zu sehr ähnlichen Leistungen gekommen. Allein die Aufgabe
war schwer zu lösen, erforderte sie doch philosophisch-historische und allgemein
wissenschaftliche Bildung einerseits und offenes Auge für die Zeitrichtung und für die
Leistungen außerhalb des philosophischen Kreises anderseits.
Zwei Autoren, die diese Vorbedingungen in eminentem Maß erfüllten, die Ge¬
staltungskraft und weiten Blick, Anpassungsfähigkeit und Freiheit, endlich, sei es
gleich gesagt, jenes Maß von Oberflächlichkeit hatten, das zu solchen Aufgaben ge¬
hört, da sonst der Forschungseifer weit ab von dem führt, was für weite Kreise Inter¬
esse hat — zwei solche Autoren fallen uns in die Augen. Alle andern, die sich an
der Aufgabe versuchten, blieben in Einseitigkeiten stecken oder vermochten über¬
haupt keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Der erste jener beiden war T u r-
g o t l ), dessen glänzendes Talent, früher nicht gebührend gewürdigt, heute um so
mehr anerkannt wird, fast mit Uebereifer: Nichts empfiehlt dem Dogmenhistoriker
einen Autor so sehr als der Umstand, daß er für ihn kämpfen kann. Deshalb muß
gleich gesagt werden, daß, wenn wir das Vergrößerungsglas entfernen, durch das
*) Turgots wichtigstes ökonomisches Werk sind die Räflexions sur la formation et Ia
distribution des richesses, geschrieben 1766, publiziert in den Eph6m6rides du citoyen (Nov.
1769 bis Jan. 1770). Seine Gesamtwerke wurden publiziert von Dupont (1809—11) und von
Daire und Dussard (1844). Die Literatur über Turgot ist sehr reichhaltig. Auch die Werke
über die physiokratische Schule behandeln ihn. Vgl. noch: Dupuy, Eloge de Turgot
(M6m. de l’Acad. des inscriptions et belles lettres, Bd. 45. B a t b i e , Biographie de Turgot.
M o s t i e r, Turgot, sa vie et sa doctrine. Ch. Henry, correspondance inädite de Con-
dorcet et de Turgot 1882. S. Feil bogen: Smith und Turgot 1892; Schelle, Pour-
quoi les ,r6flexions 4 de Turgot ne sont-elles pas exactement connues ? 1886.
II. Die Entdeckung des wirtschaftlichen Kreislaufs. 51
man auf seine Leistungen zu blicken pflegt, zwar noch immer sehr viel übrig bleibt,
aber daß erstens alle die Punkte, die man in concreto anführen könnte, sich in der
außerphysiokratischen, namentlich der englischen Literatur der Zeit vorfinden,
und zweitens, daß ein Teil seines heutigen Prestiges nur darauf beruht, daß man
in seine flotten Sätze so sehr viel hineininterpretiert. Er war im Grunde Physiokrat
und auf das physiokratische System, das trotz allem sein tägliches Brot bildete,
das er aber niemals in aller Tiefe durchdrang, pfropfte er andre Gedanken auf, die
ihm Praxis und Literatur der Zeit eingaben, ohne sich um innem Zusammenhang
besonders zu kümmern. Er hat gewiß im Kapital einen Produktionsfaktor „erkannt“.
Aber gegen diese „Erkenntnis“ ist manches zu sagen, abgesehen daß sie sich bei ihm
in keiner andern Form findet als bei Hutcheson, in keiner wesentlich andern als bei
Locke. Er hat besser in das Wertphänomen geblickt, aber nicht annähernd mit der
Klarheit, wie etwas später Condillac, und nicht klarer als Cantillon oder Galiani.
Wir haben manche seiner Einzelleistungen bereits erwähnt. Hier war nur der syn¬
thetische Charakter seines Strebens zu erwähnen. Das und der Einblick in gro߬
artige Pläne, den seine Korrespondenz uns eröffnet, rechtfertigen vielleicht das Ur¬
teil, daß ein Lebenswerk von ihm ein zweiter Wealth of Nations geworden wäre *).
7. Der andre Autor, der hier zu nennen ist, ist A. Smith, dem der entschei¬
dende Wurf gelang, so wie wenige Würfe jemals gelungen sind 2 ). Mit großen Mitteln
trat er an seine Aufgabe heran. Ein Leben verwandte er darauf, völlige Herrschaft
über das philosophische, historische, in geringerem Maß naturwissenschaftliche und
in noch geringerm juristische Wissen seiner Zeit zu gewinnen und allen ihm erreich¬
baren Strömungen öffnete er die Tore seines Geistes. Lücken und Engen finden
sich bei ihm weniger als bei irgendeinem Nationalökonomen mit Ausnahme J. St.
Mills. Seine Hauptwerke: TheTheory of moral sentiments (1759), eine Ethik, und der
Wealth sind nur Bruchstücke eines Interessenkreises, dessen Weite auch seine übrigen
Publikationen, die hier nicht zu erwähnen sind, nur ahnen lassen: In einem im Jahre
1785 geschriebenen Brief spricht er von dem grandiosen Gedanken einer philoso-
phical history of all the different branches of literature und einer theory and history
of law and govemment. Aber solche ganz große Pläne blieben im Hintergrund und
störten den ruhigen Gang seiner Detailuntersuchungen nicht, denen er mit uner¬
schütterlicher, echt philosophischer Ruhe oblag und die er im Anschluß an seine
Lehrtätigkeit ohne Hast aufhäufte. Die methodischen Gewohnheiten des Professors
und Berufsgelehrten kamen ihm dabei zu statten und ein gesunder, etwas nüchterner
Blick, der mit Sicherheit die Summe eines Systems oder einer Erscheinung zog ohne
jemals an irgend etwas allzusehr hängen zu bleiben. Er wurde nicht von einer Ideen¬
fülle gefoltert oder auf Pfade gelockt, wo ihm nur wenige hätten folgen können.
Er war ein Mann zusammenfassender Arbeit und ausgeglichener Darstellung, nicht
großer neuer Ideen, ein Mann, der vor allem sorgfältig nach dem Vorhandenen trägt,
es kühl und vernünftig kritisiert und dann das gewonnene Urteil in die Reihe der
übrigen so gewonnenen stellt: Auf betretenen Pfaden und mit vorhandenem Material
schuf dieser sonnenklare Geist sein großartiges Lebenswerk.
J ) Den er£aber£nicht beeinflußt hat. Diese oft ausgesprochene Vermutung ist durch die
Publikation der Vorlesungen A. Smiths aus dem Jahre 1763 widerlegt (ed. Cannan 1896).
Ä ) An Inquiry into the nature and causes of the wealth of nations 1. Aufl. 1776. Kri¬
tische Ausgabe von E. Cannan 1904. — Das erfolgreichste Buch der ökonomischen Literatur.
Die „Smith-Literatur" ist Legion. Alle Dogmengeschichten behandeln, fast jede theoretische
Arbeit zitiert ihn. Aus der Spezialliteratur seien genannt: Von Biographien, die mit der D u-
gald Stewarts beginnen, die deutsche von Leser (1881) und die beste englische —
überhaupt gründlichste — von John Rae. Von Arbeiten über sein Werk: Die Einleitungen
Cannans zu seiner Ausgabe des Wealth und der Glasgow lectures. H a s b a c h , Die
allgemeinen philosophischen Grundlagen usw., wie zitiert und Untersuchungen über A. Smith
(1891), Baert: A. Smith and his Inquiry into the wealth of Nations 1858; O n c k e n: A.
Smith in der Kulturgeschichte 1874; Zeyß: A. Smith und der Eigennutz 1889; Art. „A.
Smith" in H. d. St. und in Palgraves Dictionary. Der Wealth wurde oft übersetzt. Auch
Abkürzungen und Kommentare erschienen.
4 *
52 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. II
Er sprach das Wort der Zeit aus und gab ihr genau das, was sie brauchte, nicht
weniger und nicht mehr. Sein Erfolg erklärt sich daraus und aus den äußern und
innern Vorzügen seiner Leistungen. Hätte er tiefer gegraben, so wäre er nicht ver¬
standen worden. Mit Recht rühmt man seine meisterhafte Darstellung. Aber es
liegt auch etwas andres darin als ein Kompliment. Niemand denkt daran, den Stil
Newtons oder Darwins zu preisen oder zu tadeln. Sie stehen über solchen Verdiensten
oder Verschulden. Smith nicht. Wohl hat sich einmal jemand durch den Vergleich
des Wealth mit der Bibel kompromittiert. Aber bald setzte sich eine ruhigere und
richtigere Einschätzung durch. Smith hat von der Parteien Gunst und Haß ver¬
hältnismäßig wenig empfangen und erlitten und schon bei Roscher lesen wir eine
Beurteilung, der nicht viel hinzuzusetzen ist. Heute können wir uns über die gei¬
stigen Dimensionen Smiths keiner Täuschung hingeben, zu deutlich unterscheiden
wir Sockel und Gestalt. Der Wealth entstand aus einem Teil seiner Vorlesungen
über Moralphilosophie, die er 1751—1764 an der Universität Glasgow hielt und die
sich bis zu Aeußerlichkeiten an die seines Lehrers Hutcheson anschlossen. Er hat,
wie das aus dem Jahre 1763 stammende erhaltene Heft zeigt, kaum mehr an dessen
System geändert, als jeder lebhaftere Schüler geändert haben würde. Mit einem
ziemlich fertigen System kam er 1764 nach Frankreich, wo er mit den Physiokraten
in Berührung trat, und in den ruhigen Jahren in Kirkaldy hat er die von uns als
wesentlich bezeichneten Punkte ihres Systems dem seinen eingefügt, daß dessen
Rahmen krachte und die Symmetrie bedenklich litt. Dabei darf aber nicht vergessen
werden, welche geistige Freiheit und Ueberlegenheit er durch die Wahl der aufzu¬
nehmenden Elemente bewies — in der Tat liegt darin eine selbständige Leistung.
An dritter Stelle ist der Einfluß Mandevilles zu nennen. Mandeville hatte
einer tiefen Erkenntnis in seinem „Grumbling Hive“ (1705, neue, mit weiteren Aus¬
führungen versehene Ausgabe 1714 u. d. T.: The Fable of the Bees), einem Lehr¬
gedicht, das Aufsehen machte ohne recht ernstgenommen zu werden, eine groteske
Form gegeben. Aber in dieser Form steht die beste und klarste Darstellung des
Gedankens, daß das individuelle Eigeninteresse auf wirtschaftlichem Gebiet eine
wesentliche soziale Funktion hat. Nun gab es genug andre Quellen für ähnliche
Gedanken. Aber manche Wendung Smiths weist auf eine Beeinflussung gerade durch
Mandeville hin. Endlich hat Smith viel auch Hume und Harris zu verdanken 1 ).
Wir werden von Smith* theoretischen Lehren noch im nächsten Abschnitt
sprechen. Hier soll nur der allgemeine Charakter seines Werks gekennzeichnet
werden. Wie gewöhnlich, so hat auch bei ihm die Kritik das Hauptgewicht auf seine
wirtschaftspolitischen und sozialphilosophischen Anschauungen gelegt, wohl gar
insinuiert, daß sein Werk ein Plädoyer für Freihandel und „Industrialismus“, bzw.
eine Anwendung spekulativer Obersätze sei. Beides hat für Smith selbst eine große
Rolle gespielt. Wenn man die ersten Sätze seiner Vorlesungen über Naturrecht liest,
so sieht man sofort, daß es ihm darum zu tun war eine Theorie, eine Erkenntnis des
Wesens und der Funktion des Rechts zu gewinnen, die sich auch gleich in eine For¬
mulierung praktischer Rechtssätze von allgemeiner Anwendbarkeit umsetzen ließe.
Aehnliches wollte er sicher auch in der Nationalökonomie. Er definiert sie als Kunst¬
lehre 2 ). Er diskutiert politische Maßregeln, wie wenn sie Theoreme wären. Allein
ein ganz andres Bild ergibt sich, wenn wir ihn an der theoretischen Arbeit sehen.
Da ist sein Blick auf die Tatsachen gerichtet und nur gelegentlich erinnert eine Wen-
l ) Nicht dagegen, wie schon erwähnt, Turgot und auch nicht Ferguson. Das Essay on
the history of Civil Society (1767) und die Institutes of Moral Philosophy (1769) dieses Edin-
burgher Professors, der mit Smith eng befreundet war, rechtfertigen in keiner Weise Hasbachs
übertriebene Hochschätzung für ihn. Ein guter Schriftsteller und talentvoller Darsteller,
war er doch gar nicht originell — im wesentlichen ein Schüler Montesquieus. Uebrigens könnte
eine Abhängigkeit nur in der Lehre von der Arbeitsteilung und in der Steuerlehre bestehen
und auch da nicht in entscheidenden Punkten.
*) Allerdings auch als Lehre vom Wesen und den Ursachen des Volkswohlstands, so schon
im Titel, der offenbar das Wort „Nationalökonomie“ umschreiben soll.
III. Das klassische System.
53
düng an ein politisches Ideal oder an einen philosophischen Satz, ohne daß diese
fremden Elemente jemals wesentlich wären. Mit welcher „Methode“ arbeitet er nun ?
Das ist deshalb schwer zu sagen, weil der Kreis seiner Probleme so weit ist. Bald
analysiert er, bald erzählt er, je nachdem es sein konkreter Zweck erfordert. Aber
seine Analyse umrankt er mit Einzelbeobachtungen und praktischen Erfahrungen,
in seine Deskription mischt er theoretische Erörterungen ein. Deshalb ist es noch
jeder methodischen „Partei“ leicht gefallen, ihn als einen der Ihrigen zu reklamieren.
Er besitzt eine Universalität, die für seinen konkreten Zweck unschätzbar war, aber
sofort verloren gehen mußte, wenn man in einer der von ihm behandelten Problem¬
gruppen tiefer Vordringen wollte. Daher kommt auch der oft behauptete scheinbare
methodische Gegensatz zwischen ihm und den späteren Klassikern. Der syste¬
matische oder lehrbuchmäßige Charakter seines Werks schließt längere abstrakte
Untersuchungen geradeso aus wie deskriptive Detailforschungen. Smith wurde
durch Einflüsse theoretischer Natur geformt und theoretische Ziele beherrschten
ihn. Ein Kern von theoretischen Lehrsätzen bildet das Knochengerüst seines Werks
und ihrer Anwendung, Diskussion und Exemplifizierung dient der größte Teil des
darin enthaltenen deslaiptiven Materials. Nur ein geringerer Teil ist Basis von Re¬
sultaten und ein noch geringerer ist schlechthin um seiner selbst willen da, als an sich
interessant. Die zwei ersten Bücher schildern den Wirtschaftsprozeß und behandeln
ausgehend von der Arbeitsteilung, das Geld-, Preis-, Kapital- und Verteilungsproblem.
Im dritten haben wir so etwas wie einen Versuch zum Vergleich zwischen dem theo¬
retischen Bild und der tatsächlichen Entwicklung der Dinge zu sehen, das vierte bringt
handelspolitische Diskussionen und das fünfte eine Darstellung der „Finanzwissen¬
schaft“, wenn der deutsche Ausdruck darauf anwendbar ist. Die letzten Bücher
enthalten auch verwaltungstechnisches Material. Alle diese Elemente sind von sehr
verschiedenem Werte. Themen wie die Staatszwecke u. dergl., sind oft bedenk¬
lich „spekulativ“ behandelt und Smith kann uns da heute nichts bieten. Aber nir¬
gends ist er so positiv und unvoreingenommen als im Kerne seiner reinökonomischen
Ausführungen. Sowie es zu Anwendungen kommt, macht sich die Ueberschätzung
der praktischen Bedeutung seiner Resultate störend bemerkbar und an diese An¬
wendungen knüpfte vor allem die Kritik an.
III. Das klassische System und seine Ausläufer *)•
1. Oekonomische Klassiker nennt man gewöhnlich die leitenden englischen
Oekonomen in der Periode zwischen dem Erscheinen des Wealth of Nations (1776,
so daß Smith selbst der erste ist) und der Principles von John St. Mill 1848. Die ersten
20 Jahre dieser Periode sind arm an neuen Taten, sie sind eine Zeit sei es der Erschlaf¬
fung oder der Sammlung. Dann geht es mit Kraft und Frische steil bergan bis zu
einem Kultminationspunkt, den Principles Ricardos 1817. 10—15 Jahre erhält
sich innerlich und äußerlich die Diskussion auf dem errungenen Niveau, dsym wird
es immer klarer, daß sich der Impuls ausgegeben hat, und nur eine vorübergehende
Rallierung tritt im Gefolge des Werkes von Mill ein. Der Anfangspunkt der Periode
ist weniger willkürlich, als es solche Anfangspunkte meist sind, denn wirklich gingen
fast alle Autoren von dem Tatsachen- und Gedankenmaterial aus, das der Wealth
of Nations bot. Die übrige Literatur wirkte nicht mehr lebendig auf sie, auch soweit
sie nicht in Vergessenheit geriet, was in erstaunlichem Maße geschah. Allein um so
l ) Spezialliteratur gerade für die Geschichte dieser Periode gibt es wenig, obgleich natür¬
lich die Werke derselben zahllose Diskussionen in so gut wie allen theoretischen Arbeiten ge¬
funden haben. Vgl. aber: C a n n a n , The History of the theories of production and distri-
bution in English Political Economy from 1776 to 1848 (2. Aufl. 1903); Bonar, Malthus
and his Work (1888); Leslie Stephen, The English Utilitarians. D i e h 1, Sozialw.
Erläuterungen zu Ricardo. Ders., Proudhon. Schüller, Die klassische Nationalökono¬
mie und ihre Gegner. — Die in der einleitenden Literaturübersicht angegebenen Geschichten
von Einzelproblemen beschäftigen sich natürlich vornehmlich mit den Ansichten dieser Epoche.
54 I* Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. III
willkürlicher ist es, die kleine Bodenschwelle, die Mills Werk am Wege der Oekonomie
bedeutete, zum Endpunkt zu nehmen. Wir wollen es nicht tun, sondern in diesem
Abschnitt mehr von einer Richtung als von einer Zeitperiode sprechen und diese
Richtung bis auf die Gegenwart verfolgen. Und nicht nur diese Richtung, oder
besser die Strömungen, die in ihr zu einer recht brüchigen Einheit zusammengefaßt
werden, sondern auch die ja wesentlich unter ihrem Einfluß stehenden Entwick¬
lungen in andern Ländern und endlich auch die wissenschaftlich wichtigsten Gegen¬
strömungen der Epoche sollen schlecht und recht zu einem Bild vereinigt werden,
das viele Züge verschwinden, aber dafür andere hervortreten lassen wird.
2. Lehrsätze nicht Personen sind die Helden dieser Darstellung. Nur als Leit¬
faden seien jetzt schon einige Namen genannt: Smiths bedeutendster Nachfolger *),
der in einer bestimmten — guten oder bösen — Richtung wirklich weiterging, ist
D. R i c a r d o (Gesamtausgabe seiner Werke ed. Mc Culloch 1. Aufl. 1846, adnot. ed.
von Gönner), neben dem in mancher Beziehung E. W e s t (An Essay on the appli-
cation of Capital to land 1815, ed. Holländer 1903) und andere Zeitgenossen stehen,
die im gleichen Gedankenkreis webten, so daß mehr die Kraft seiner Analyse und
sein echt wissenschaftlicher Blick für die Dinge, als die Neuheit des einzelnen Resul¬
tats seinen Titel auf Unsterblichkeit bildet. Er machte Schule, ohne daß doch seine
unbedingten Anhänger auch nur in England eine Majorität bildeten, worüber nur
die Huldigungen des breiten Publikums vor dem Glanz seines Namens und der
Erfolg aus seinen Werken gezogener Argumente für praktisch-politische Zwecke
täuschen, während auf dem Kontinent und in Amerika sein Einfluß stets gering war.
Die beiden Männer, die sich im eigentlichsten Sinn als Schüler Ricardos fühlten
— J a m e s M i 11 (Elements of Political Economy 1. Aufl. 1821, 3. veränderte 1826)
und der vielschreibende J. R. Mc Culloch (nennen wir: Principles of Political
Economy 2. Aufl. 1830) — verdienen zwar nicht ganz das wegwerfende Urteil, das
ihnen so oft wurde, zeigten sich aber sicherlich den weiteren Aufgaben, die zu lösen
gewesen wären, nicht gewachsen, stehen tief unter ihrem Meister und bereiteten
so die Katastrophe der ganzen Richtung trotz besten Willens vor. Viel höher als
sie stehen de Quincey (ökon. Hauptwerk: The Logic of Political Economy 1844),
ein feiner Geist, dessen Arbeiten aber stets Kaviar für das Volk gewesen sind, und
W. N. Senior (Political Economy 1836 in der Encyclopaedia Metropolitana),
der sich vielfach selbständig machte. Und nicht zu unterschätzen ist auch T o r r e n s
(An Essay on the Production of Wealth), der ebenfalls nicht eigentlich zur „Schule“
gehört, aber ihr doch näher stand, als er selbst glaubte. Wesentlich in der von Ricardo
eingeschlagenen Richtung liegt auch das eingangs erwähnte Werk John Mills, soweit
sein ökonomischer Inhalt in Betracht kommt 2 ), und ein Deszendent in gerader
Linie ist C a i r n e s (Leading Principles of Political Economy newly expounded
1874), der hoch über allen andern direkten Nachfolgern Ricardos an wissenschaft¬
lichem Talente steht und, von Ricardo und Mill ausgehend, einen eigenen, wesent¬
lich selbständigen Standpunkt gewann. Unter manchen neuen Einflüssen stehen
dann der Millschüler Sidgwick (Principles of Political Economy 1. Aufl. 1883) und
Nicholson (Pinciples of Political Economy 1893), beide müssen aber in einem
weitern Sinn zu dieser Gruppe gezählt werden, während den leitenden englischen
*) Der Wealth of Nations wurde immer "eifrig^diskutiert und auch mehrfach kommentiert.
In letzterer Beziehung ragt D. Buchanan hervor 1814. Auch M c Culloch publi¬
zierte eine Smithausgabe mit Kommentar. Eine sehr einflußreiche Exposition fand Smith
durch die Vorlesungen und Schriften des leitenden schottischen Philosophen der Wende des
18. und 19. Jahrhunderts, an denen sich sehr weite Kreise ökonomisch bildeten, Dugald
Stewart. (Noch Palmerston hat Zeugnis für den Eindruck abgelegt, den dieser Mann auf
seine zahlreichen Schüler machte.)
*) An äußerm Erfolg stand lange das auf demselben prinzipiellen Boden stehende Manual
(1. Aufl. 1863) Fawcetts dem Werke Mills gleich. An diesen beiden Büchern hat sich die
weitaus überwiegende Mehrzahl der englischen Oekonomen der zweiten Hälfte des 19. Jahrh.
gebildet, bis der Einfluß Marshalls sie zurückdrängte.
III. Das klassische System.
55
Nationalökonomen von heute A. Marshall (Principles of Political Economy
I. Bd. 1. Aufl. 1890) nur mehr ein loses Band — fast nur der Pietät — mit ihr ver¬
bindet, trotz seiner eigenen gegenteiligen Behauptung. In einem Gegensatz, der uns
noch beschäftigen wird, zu Ricardo stand in reinökonomischer Beziehung T. R.
M a 11 h u s (Principles of Political Economy, 1. Aufl. 1820, 2. Aufl. 1836). Seiner
Bevölkerungstheorie werden wir noch begegnen. An sie vor allem knüpft sich seii^
Ruhm, worüber man oft die Tatsache vergißt, daß er als Oekonom in engerem Sinn
vieles geleistet hat, das noch lange nachwirkte und vieles vorwegnahm, was sich später
durchrang. Sowohl wer ihn als Genie, wie wer ihn als unfähig hinstellt, tut diesem
tiefen und ernsten Arbeiter unrecht, der eben als solcher gewertet werden muß.
Als direkter Schüler von ihm ist allerdings nur C h a 1 m e r s (On Political Economy
1832) zu bezeichnen, der für ihn das, was Mc Culloch für Ricardo war. Und in einem
sehr scharfen Gegensatz zu Ricardo steht Lauderdale, dessen Inquiry into
the nature and origin of public wealth (1804) eine Talentprobe war, die es bedauern
läßt, daß er an der Klippe scheiterte, die soviel Wollen und Können auf unserem
Gebiet ihrer Frucht beraubt hat: an mangelnder Schulung.
Aber zwei Namen gehören zur Ricardoschule, die man nicht zu ihr zu zählen
pflegt: KarlMarx und KarlRodbertus. Wir folgen dem eigenen Wunsche
Marx*, wenn wir ihn in dieser Darstellung, wo nur die wissenschaftliche und die
ökonomische Seite seines Lebenswerkes in Betracht kommt, hierher zählen — trotz
des Widerspruchs A. Marshalls —> denn als Fortsetzer Ricardos hat er sich selbst
gefühlt. Dazu kommen wir noch. Die „Kritik der politischen Oekonomie“ erschien
1859. Die 3 Bände des „Kapitals“ in erster Auflage 1866, 1886 und 1894, dann noch
die „Theorien über den Mehrwert“. Von Rodbertus (,,Zur Erkenntnis unserer staats¬
wirtschaftlichen Zustände 1842, soziale Briefe an v. Kirchmann 1850/1 und 1884)
gilt nicht ganz dasselbe. Aber in seinen Grundgedanken liegt ein sehr starkes Ricar-
dianisches Element an entscheidender Stelle. Die Bedeutung Rodbertus’ für die
deutsche Nationalökonomie ist groß. Denn obgleich kaum eines seiner konkreten
Resultate sich auf die Dauer bewährte oder überhaupt auch nur irgendwie erheb¬
lichen Erfolg bei den Zeitgenossen hatte, so hat er um so mehr durch seine Gesamtauf¬
fassung und manche Grundbegriffe (wie z. B. seinen Rentenbegriff) gewirkt. Abge¬
sehen davon mußte schon der Umstand, daß er mit ganzer Seele Schaffender und
Ringender und ihm das Detail der Theorie wirklich Herzenssache war, ihm in der
Unfruchtbarkeit und Lethargie der damaligen deutschen Wissenschaft einen Einfluß
sichern, der lange vorgehalten und formend gewirkt hat. Vom dunklen Hintergrund
der Epoche in Deutschland hebt sich um so strahlender der Stern v. Thünens
ab (Der isolierte Staat in Beziehung auf Landwirtschaft und Nationalökonomie 1826,
1850, 1863), jeder Zoll ein Denker. Die Einführung der Analyse mit Hilfe des Grenz¬
begriffs und damit einer der größten Schritte auf dem Wege der Nationalökonomie
ist auf sein Konto zu setzen *). Auch seine Basis sind die englischen Klassiker, aber
er steht ebenbürtig neben ihren Besten. Aber er hat fast gar nicht gewirkt. Das
beweist schon der Umstand, daß man noch heute, im unklaren Gefühl seiner Bedeu¬
tung sein Verdienst in allen möglichen Nebendingen, sogar in den in seinem Werk
enthaltenen Betriebsrechnungen, sucht 2 ). v. H e r m a n n , der vierte große Name
dieser Epoche in Deutschland, steht nicht so allein. Sein Werk („Staatswirtschaft¬
liche Untersuchungen über Vermögen, Wirtschaft, Produktivität der Arbeit, Kapital,
Preis, Gewinn, Einkommen und Verbrauch“ 1832) ist der Höhepunkt der Heer¬
straße deutscher Oekonomen dieser Zeit. Ueber diese ist wenig zu berichten. Nicht
*) Bei Ricardo ist die Grenzanalyse nur in Ansätzen vorhanden. Klarer erkannt hat ihre
Bedeutung Rooke (An Inquiry into the principles of national Wealth 1824).
*) So konnte R. Ehrenberg in ihm einen Vertreter der Detailforschung auf dem Gebiete
des geschäftlichen Lebens sehen. Auch sonst reklamiert man ihn gelegentlich als „Empiri¬
ker“. Das ist er auch, denn alle Wissenschaft ist empirisch. Aber er ist es nur in demselben
Sinn wie Ricardo.
56 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. III
als ob wenig geschrieben worden wäre; nicht als ob darin nicht manches Gute gewesen
wäre. Aber es weht kein Geist in diesen Büchern und wir müssen es verstehen, wenn
einerseits das breite Publikum und andererseits gerade die lebhaftesten Köpfe von
dieser Art von Wissenschaft abgestoßen werden mußten. In deutlichem Anschluß
an die deutsche Kameralistik bewegten sich diese Autoren im übrigen, also gerade
ün eigentlichen wissenschaftlichen Gedankengang, unter dem Einfluß des leicht
zugänglichen Smith, wenn wir von den Ueberresten der Physiokraten absehen, die
schon erwähnt wurden. Nach einer kurzen Periode des Uebersehenwerdens erlebte
Smith in Deutschland einen großen Erfolg: Sartorius, Lüder, Kraus, Schlözer, Jakob,
um einige der Bessern zu nennen, wandelten ganz seine Bahnen, hier und da ein
wenig anders formulierend oder kritisierend. Einen höheren Flug nahm Soden
(namentlich in seiner Nationalökonomie 1805), der auf einige Originalität Anspruch
machen kann — allerdings auf eine völlig unfruchtbare und wenig anziehende. Mehr
boten H u f e 1 a n d (Neue Grundlegung der Staatswirtschaftskunst 1807 und 1813),
dessen gesunde, wenn auch keineswegs glänzende Analyse der wirtschaftlichen
Grundfragen die Diskussion entschieden förderte, L o t z (Revision der Grundbegriffe
1811) und Storch (Cours d’6conomie politique 1815), der etwa auf die Stufe der
gleich .zu erwähnenden Franzosen zu stellen ist. Das Lehrbuch des Tages schuf
Rau 1826. Auf den Schultern der Genannten steht Hermann, der sie alle turmhoch
an Schärfe des Blicks, analytischem Talent und Originalität überragt. Neben ihm
kann höchstens noch v. Mangoldt genannt werden (Volkswirtschaftslehre 186S
unvollendet; Grundriß 1863, in der dritten [posthumen] Auflage fehlt der, einen we¬
sentlichen Teil der Leistung enthaltende Anhang), dessen Arbeiten ebenfalls heute noch
lesenswert sind. Diese miteinander in enger Beziehung stehenden Schriftsteller, die
mit der ältesten deutschen Oekonomie in deutlich erkennbarer Fühlung stehen, bilden
eine Schule, die nach und nach und besonders durch Hermann charakteristische
Züge gewann, so besonders in der Wertlehre. Ricardo wirkte auf dieselbe gar nicht*).
Er war für sie nicht zugänglich, selbst Hermann hat ihn an einer Stelle gröblich
mißverstanden, im übrigen ist die Ricardoübersetzung Baumstarks durch ihre Fehler
allein schon für den Sachverhalt charakteristisch. Aber später trat Ricardos Ein¬
fluß mehr hervor, so namentlich in den Arbeiten H. Dietzels, zum Teil auch in
denen A. Wagners.
Das ist ja gewiß nicht alles. Manche Einzelleistung kann in dieser Ueber-
sicht nicht erwähnt werden, ebensowenig die Spezialliteraturen der Finanzwissen¬
schaft, des Bankwesens usw. Die historische Schule ferner kündigte sich an, wenn¬
gleich ihre damaligen Vertreter und namentlich Roscher, a 1 s Theoretiker meist
nicht höher standen als die Genannten. Doch die historische Schule wird uns später
beschäftigen. F i c h t e s geschlossener Handelsstaat (1800) darf nicht vom Stand¬
punkt der Fachleistung angesehen werden, da verliert das hohe aber enge Ideal
seines Autors zu viel. Die sog. romantische Schule — A. Müller (Elemente der
Staatskunst 1809) ist der einzige Vertreter, der in einer Geschichte der Wissenschaft
genannt werden darf — und selbst die lebens- und kraftvolle Gestalten Lists,
v. Schäffles oder die Bernhardis, die uns noch begegnen werden, ändern das Ge¬
samtbild nicht wesentlich 2 ).
l ) Und lag darin an sich auch ein Mangel, der nur gegen diese Gruppe spricht, so hat
derselbe doch zu ihrem Vorteil ausgeschlagen, insoweit sich Ricardos Analyse nicht auf die
Dauer bewährte — wie auf der Jagd kann man auch in der Wissenschaft durch Zurückbleiben
weiterkommen als die andern, wenigstens scheinbar.
*) Vielleicht hätte ich noch R o e s 1 e r s (Grundlehren der von A. Smith begründeten
Volkswirtschaftstheorie, 2. Aufl. 1871) gedenken sollen. Und zwei abseits stehende, aber
weit überdurchschnittlich begabte Männer müssen hier genannt werden: F. J. Neumann
(besonders: Die Gestaltung des Preises unter dem Einfluß des Eigennutzens, Tübinger Zeit¬
schrift 1880, Grundlagen der Volkswirtschaftslehre 1889) ein sehr selbständiger Theoretiker,
dem wir im Rahmen dieser Arbeit nicht volle Gerechtigkeit widerfahren lassen können, und
D ü h r i n g (Kapital und Arbeit 1865, Kursus der National- und Sozialökonomie), ein Nach-
III. Das klassische System.
57
In Frankreich stand die Sache nicht wesentlich anders. Ein vollständiges Bild
würde wohl lebendiger sein, aber die Entwicklung der Fachwissenschaft ging, obgleich
das den speziell wirtschaftlichen Fragen entgegengebrachte Interesse vielleicht leb¬
hafter war als in Deutschland, einen sehr ruhigen Weg. Wir müssen uns kurz fassen:
Der Impuls, den die Physiokraten dem ökonomischen Denken gegeben hatten, ver¬
blutete bald und Smiths Herrschaft begann. Allerdings war der Mann, der diese
„Unterwerfung“ durchführte, der mit Unrecht so oft geschmähte J. B. S a y (Trait6
zuerst 1803, Cours complet 1828/9) kein bloßer Popularisator, sondern ein Mann
von wissenschaftlichem Talent, der die Lehre Smiths in mancher Beziehung vervoll-
kommnete. Deshalb hatte die französische Oekonomie damals ein wenn beschei¬
denes so doch größeres Maß von Originalität, als die deutsche — wenn man von deren
einsamen Gipfeln absieht — gar nicht zu reden von der Art der Darstellung und der
praktischen Einsicht, die ihr Werbekraft und Selbstbewußtsein verlieh. So wird
es verständlich, daß sich Says Erbschaft im Sturme der Zeiten gut erhielt und später
selbst den Uebergang zu neuen Auffassungen ohne allzugroße Erschütterung bewerk¬
stelligen konnte. Unter Says Nachfolgern seien R o s s i genannt, der freilich
mehr nach der Richtung Ricardos hin abbog, ferner Dunoyer und Wolkoff, alle noch
heute lesenswert. Vor allem aber verdient das Buch Cherbuliez* erwähnt zu
werden, das in mancher Beziehung den Vergleich mit John St. Mills Werk aushalten
kann. Und noch heute ist der Trait6 von Courcelle-Seneuil populär,
der 1905 in 9. Aufl. erschien. Weniger Einfluß als die Werke Says fanden die De-
stutt de Tracys, dessen allerdings nicht sehr tiefen ökonomischen Untersuchungen
in einem weiten philosophischen Rahmen stehen, dessen ganze Anlage Beachtung
verdient, trotz der Seichtheit mancher Teile. Vielfach läuft mit dieser Richtung
eine andere zusammen, die nach ihrem wissenschaftlichen Grundbau von ihr getrennt
werden muß. Sie ist an den Namen F. Bastiats (reinwissenschaftliches Haupt¬
werk: Harmonies 6conomiques 1850) geknüpft und in vieler Beziehung selbständig —
oder doch jedenfalls unter anderem Einfluß. Eine eigene Richtung begründete auch
Simonde „de Sismondi“ (für uns kommen hauptsächlich seine „nouveaux
principes d’6conomie politique“ 1819 in Betracht) der zwar auch von Smith ausging
aber wesentlich andre Bahnen einschlug. Nun wären noch eine Menge Leistungen
zu erwähnen, die, teils im Rahmen der Grundlagen der Fachwissenschaft originelle
Züge aufweisen, teils, wie St. Simon oder Proudhon, außerhalb desselben zu neuen
Aspekten der wirtschaftlichen Dinge kamen, an denen keine Darstellung der Ent¬
wicklung unserer Wissenschaft vorübergehen dürfte. Allein es hätte keinen Zweck
weitere Namen zu nennen. Im ganzen also herrschte reges Leben auf unserm Gebiete.
Und die oft nicht gebührend eingeschätzte französische Fachwissenschaft dieser
Zeit hat nicht nur relativ korrektere Auffassungen an die Stelle noch unvollkom¬
menerer gesetzt, sondern — was der deutschen nicht gelang—in ihren Mittelschichten
ein hinlänglich hohes Niveau erreicht, um sich Kontinuität der Entwicklung zu si¬
chern *).
Die italienische Literatur erwachte erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts aus
der Erstarrung, in der sie seit den letzten Jahren des 18. gelegen hatte. Vorher stand
sie ganz unter der Flagge eines recht seichten Smithianismus. Die Arbeiten G i o-
jas, Romagnosis, Valerianis und S c i a 1 o j a s bieten uns nicht
viel. Kaum ein Strahl aus der großen Vergangenheit fällt auf sie. Ein wenig mehr
bieten F u o c o und Cattaneo. Am Beginn des neuen Aufschwungs, der sich
in der Gegenwart erhält, steht Francesco Ferrara (Lezioni; prefazioni
folger Lists und Careys, dessen Talent nicht zu voller Geltung auf unserm Gebiet kam und
dessen Arbeiten weniger beachtet wurden als sie es verdient hätten.
*) Der bedeutendste Theoretiker Frankreichs in dieser Zeit blieb fast völlig unbeachtet,
A. Cournot (Recherches sur les principes math&natiques de la throne des richesses 1838),
einer der besten Geister, die sich jemals mit unsrer Disziplin beschäftigten. Seine Hauptver¬
dienste liegen auf dem Gebiete der Preistheorie.
58 I* Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. III
zu den Ausgaben der Bibliotheca dell* Economista), der wohl von Carey und Bastiat
empfangene Anregungen kräftig zu entwickeln wußte und überaus belebend wirkte.
Boccardo (trattato 1853, viele Spezialwerke) und Messedaglia (Deila
teoria della Popolazione 1858 u. a.) stehen an seiner Seite. Ernste Arbeiter wie
N a z z a n i (rendita 1872, profitto 1877, salaria 1880), Lampertico u. a.
folgten.
Nachdem in den Vereinigten Staaten überhaupt der nötige Atmungsspielraum
für wissenschaftliche Arbeit gewonnen war — vorher können wir nur in den Aeu-
ßerungen von Politikern usw. nach Elementen einer ökonomischen Gesamtauffas¬
sung suchen; unter ihnen ragt A. Hamilton hervor (Works, ed Lodge 1885/6)
— bewegte man sich im Wesen in den Bahnen A. Smith’s. D. Raymond (Poli¬
tical Economy 1820) und Th. C o o p e r (Lectures, 2. Aufl. 1831), wären da u. a.
zu nennen. Die Dreißigerjahre bringen zwei große originelle Leistungen. Die eine
(John Rae: Statement of some new principles . . . 1834; neue Ed. von Mixter
u. d. Titel Sociological Theory of Capital 1905) wirkte allerdings, trotz der Zitate
von J. St. Mill und der italienischen Uebersetzung in der Bibliotheca dell’ econo¬
mista fast gar nicht 1 ). Die andre aber (H. Carey: Principles of Political Economy
1837—40, später Harmony of interests 1851, Principles of Social Science 1857—60;
das sind seine wichtigsten Werke) um so mehr. Trotzdem Carey historisch wie theo¬
retisch oberflächlich, ja selbst dilettantisch war, hat der große Zug seiner Gesamt¬
auffassung, die gerade zu enthalten schien, was eine ringende Nation bedurfte, und
seine Gedankenfülle faszinierend auf seine Landsleute und weit über deren Kreis
hinaus gewirkt. Wissenschaftlich und speziell ökonomisch sind die meisten Arbeiten
der nächsten Zeit unter seinem Einfluß, nicht nur die der Anhänger seiner politischen
Ansichten (wie Colwell, Peshine Smith, Greeley, Eider, R. E. Thompson) sondern
auch deren Gegner (wie vor allem Perry, aber auch A. Walker u. a.). Neben Careys
Richtung trat dann die des Bodenreformers H. George (Progress and Poverty
1879; unter seinen Nachfolgern u. a. wichtig Gun ton: Wealth and Progress 1888),
dessen reinwissenschaftliche Leistung — wesentlich auf klassischem Boden stehend
— nicht unbeträchtlich ist, und alle diese Strömungen münden in das Lebenswerk
des sehr selbständigen F. A. W a 1 k e r ein (The Wages Question 1876 u. a. Werke),
dessen Political Economy (1883) für lange das führende systematische Werk war.
Ein energischer und fähiger Forscher, leitete er die amerikanische Wissenschaft
aus den alten Bahnen hinaus.
3. Die äußern Schicksale der skizzierten Richtungen haben bei aller Verschie¬
denheit doch manches Gemeinsame. Betrachten wir als Beispiel jene Gruppe, in
der, wie auch unser so unvollständiger Ueberblick gezeigt hat, das frischeste Leben
pulsierte, die Ricardoschule. Der eifrigen Arbeit der ersten beiden Jahrzehnte des
19. Jahrhunderts, deren äußere Impulse — Zeitfragen und Zeitideen mannigfachster
Art — hier nicht geschildert werden können, blühte ein äußerer Erfolg 2 ), wie man ihn
nicht oft beobachten kann. Alle Arbeiter selbst waren von Stolz und Freude über
das Erreichte erfüllt. Ein Teil der öffentlichen Meinung nahm sie wie siegreich
zurückkehrende Krieger auf, ein andrer Teil, dem sie herzlich unsympathisch waren,
wußte wenig Positives zu entgegnen. Mit Macht drangen die Ideen, verunstaltet
und mißverstanden, wie das nicht anders möglich ist, in weite Kreise. Die Bücher
x ) Ob ihm ein sehr — vielleicht über Verdienst — anerkanntes Werk (H e a r n , Pluto-
logy) viel verdankt, ist zweifelhaft. Mixter behauptet es.
*) Ricardo wurde von seinen Zeitgenossen über A. Smith gestellt. Wir werden das ver¬
stehen, denn er drang sicher weiter und tiefer. Aber wir werden auch verstehen, daß als später
Zweifel mannigfacher Art über den Wert der Richtung, in der er vorgedrungen, laut wurden,
nun wieder Smith — und gerade wegen seiner relativen Oberflächlichkeit — sich günstiger
ausnahm. Nur darf uns das nicht im Urteil über die Person Ricardos bestimmen. Es gibt
einen sehr achtenswerten Gelehrtentypus, der jenem Feldherrntypus gleicht, dessen einzige
Sorge und höchster Ruhm es war, nie geschlagen zu werden. Aber die besten gehören nicht
dazu.
III. Das klassische System.
59
Mrs. M a r c e t s (Conversations on Political Economy 1816) und Miss M ar¬
tin e a u s (Illustrations of Political Economy 1832—34) zeigen, daß selbst in
Mädchenpensionaten Interesse für die neuen unfehlbaren Wahrheiten vorhanden
gewesen sein muß. Das alles ist begreiflich und nichts berechtigt uns darüber zu
scherzen. Aber ebenso begreiflich ist, daß diesem Taumel Ernüchterung folgen
mußte. Jene Popularökonomie, die sich im Kopf des Laien malte und natürlich ein
Zerrbild der wissenschaftlichen war, ging nicht tief und mußte bald andern An¬
schauungen Platz machen, obgleich sich gewisse Phrasen zur Verzweiflung leben¬
digerer Geister lange erhielten — übrigens nicht ohne Recht, wenn man sich die
Anschauungen vorstellt, an deren Stelle sie getreten waren. Für uns ist wichtiger
erstens, daß gerade diese Popularökonomie zur Grundlage der spätem Kritik wurde,
und sodann, daß der wissenschaftliche Impuls bald erlahmte. Schon in den Drei¬
ßigerjahren wird in Einleitungen zu wissenschaftlichen Werken die Klage stereotyp,
daß die Wissenschaft stagniere. Und diese Klage war berechtigt. Schon seine
nächsten Nachfolger haben Ricardo in einzelnen Punkten nicht recht verstanden,
viel weniger aber konnten sie weiterbauen. Ein solcher Zustand muß einer jungen
Disziplin sehr gefährlich sein: Wenn sie anfängt zu langweilen, so wenden sich die
aufstrebenden Talente bald von ihr ab, ohhe viel zwischen der Disziplin und ihren
Vertretern zu unterscheiden. Die Tendenz auszubrechen, schon an sich sehr stark
in Momenten, wo gewisse Grundlagen gelegt sind und nun ausgearbeitet werden soll,
wird übermächtig, wenn die führenden Männer nicht oder nicht mehr imponieren
und der Kritik leichte Erfolge winken, zumal in solchen Lagen jedermann die Mög¬
lichkeit vor Augen steht, neue Grundlagen zu schaffen. Deshalb sank die klassische
Oekonomie schon in England und noch viel mehr in Deutschland schnell zusammen
und eine Sturzwelle von Feindseligkeit ergoß sich über die unglücklichen Epigonen,
während der Kreis der „Orthodoxen“ — so nannte und nennt man alle jene, die
vor allem an dem festhielten, was man als das notwendig aus der klassischen Oekono¬
mie fließende wirtschaftspolitische Programm betrachtete — immer kleiner wurde.
Dieser Angriff war berechtigt und begreiflich. Aber unter dem Einfluß des überall
früher oder später einsetzenden neuen Aufschwungs theoretischen Interesses erhob
sich eine besondere Art von Reaktion, die Erwähnung verdient. Der Angriff war
hauptsächlich durch den Wechsel der wirtschaftspolitischen Anschauungen und
dann durch gegnerische methodische Grundsätze hervorgerufen. Dazu werden wir
später kommen. Aber zum Teil bezog er sich auch auf das theoretische Gerüst des
klassischen Systems und insoweit ging er hauptsächlich von Gegnern anderer Art,
nämlich von Vertretern neuer theoretischer Richtungen aus. Demgegenüber be¬
obachteten wir heute namentlich in England, aber auch in andern Ländern eine
Tendenz zur Rehabilitierung der Klassiker, besonders Ricardos. Für eine solche
Rehabilitierung ist Vieles anzuführen. Nicht nur muß eine andre Würdigung der
historischen Leistung Ricardos durchgesetzt werden, als sie mitunter üblich ist.
Sondern viele Einwände sind auch ganz vom Standpunkt gegenwärtiger Erkenntnis
unbegründet oder doch zu weitgehend. Aber das hat seine Grenzen. Der Versuch
alle die für die Lehre der Klassiker charakteristischen Punkte, die wir heute mi߬
billigen, weg- und alle Fortschritte neuerer Analyse in sie hineinzuinterpretieren,
ist geeignet, unser Bild vom Entwicklungsgang unserer Wissenschaft zu entstellen.
Haben die einen die Klassiker als Stümper verschrien, so zeigen manche Moderne
Lust, jede Kritik als Symptom mangelnden Verständnisses zu betrachten. So ist
es nötig, nicht bloß zwischen den auf politischen Momenten beruhenden Stand¬
punkten, sondern auch zwischen tendenziösen wissenschaftlichen Urteilen hindurch
sich den Weg zu einem wirklichkeitstreuen Bild ihrer Leistung zu bahnen. Die
besten unter den Klassikern selbst haben uns das nicht leicht gemacht. Ricardos
Principles sind das schwierigste Buch der Nationalökonomie. Es ist schon nicht
leicht es zu verstehen, noch schwerer es zu interpretieren, am schwersten es zu wür¬
digen.
60 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. III
4. Vor allem muß man sich darüber klar sein, daß die meisten — und alle die
leitenden — Klassiker ein viel engeres Ziel im Auge hatten als manche der Frühem
und viele der Spätem. Schon A. Smith dachte nicht daran, aus ökonomischen Bau¬
steinen eine soziale Universalwissenschaft zusammensetzen zu wollen, schon der
Wealth of nations grenzt eine Fachwissenschaft vom Wirtschaftsleben ab. Noch
engere Grenzen zog sich Ricardo — er wollte im Wesen nur begriffliche Klarheit
in das bringen, was in der heutigen deutschen Wissenschaft mitunter Verkehrs¬
theorie genannt wird, in generelle Formen des Wirtschaftsprozesses der Ver¬
kehrswirtschaft. Es gibt Ausnahmen. Die wichtigste davon ist Marx, der das
Leben und Wachstum des sozialen Körpers überhaupt erfassen wollte. Aber im gan¬
zen kann man sagen, daß in dieser Epoche ein verhältnismäßig kleiner, in sich ge¬
schlossener Kreis von sozialwissenschaftlichen Problemen alle besten Kräfte in
Anspruch nahm. Auf ihn waren alle Grundauffassungen eingestellt, ihm galten die
besten Diskussionen. Wie immer man nun auch über diese Selbstbeschränkung
denken mag, sicher darf man den Auffassungen der Klassiker nicht Einwände ent¬
gegenhalten, die diesen Auffassungen auf andern sozialwissenschaftlichen Gebieten
entgegenstehen würden. Und man darf nicht vergessen, daß diese Selbstbeschrän¬
kung zu einer Konzentrierung und Spezialisierung führte, die eine Voraussetzung
für die überhaupt erzielten Fortschritte war und somit mindestens „historisch be¬
rechtigt“ ist. Aus den noch verbleibenden Differenzen zwischen der Weite der Auf¬
gaben, die sich die einzelnen Autoren stellten, erklärt sich auch das, was man viel¬
fach — und besonders W. Hasbach hat darauf viel Gewicht gelegt — als eine Ver¬
schiedenheit der Methoden der einzelnen Klassiker gefühlt hat. Ricardo greift das
theoretische Grundproblem an. Deshalb erscheint er uns als besonders „abstrakt“.
Smith packt ruhig Massen von Tatsachen verschiedensten Charakters aus. Des¬
halb erscheint er vielen als „induktiv“. Aber in theoretischen Fragen kann man
wohl weniger scharf und tief sein, aber nicht wesentlich anders Vorgehen als
Ricardo. In solchen Fragen sind Smiths Einzelbeobachtungen nur Beispiele und
Beiwerk. Im übrigen liegen diese Verschiedenheiten in der Darstellungsweise.
Ricardo drängt in atemloser Hast, Smith trägt behaglich vor — gleichsam als Pro¬
fessor, der weiß, daß er seinem Hörer oder Leser nicht zuviel zumuten darf. Das
sieht dann so aus wie ein prinzipieller Unterschied. Das darf uns nicht über die
Einheit der angewandten Methode täuschen x ).
Hand in Hand mit dieser Beschränkung auf eine Wirtschaftslehre geht die For¬
derung nach einer Trennung der Untersuchung dessen, was ist, von der Erörterung
dessen, was sein soll, also nach einer Trennung von Wissenschaft und Politik. Wir
finden diese Forderung ziemlich allgemein im Prinzip vertreten, so in Deutschland
von Jakob, Hufeland, Rau u. a., in England von Malthus, dessen Einleitung zu
seinen Principles zu den besten Leistungen auf dem Gebiete der Methodenfragen
*) Besonders Hasbach ist gegen diese Ansicht aufgetreten und hat durch Vergleichung
prinzipieller Aeußerungen der Klassiker die angebliche Fabel von der Einheit ihrer Methode
zu widerlegen gesucht. Sicher waren die prinzipiellen Anschauungen der einzelnen Autoren
verschieden und ebenso ihre Darstellungsweise. Trotzdem wird kein Kenner der Theorie
daran zweifeln, daß sie in theoretischen Fragen alle im Wesen denselben Weg
gehen. Man hat vielfach Malthus in einen methodischen Gegensatz zu Ricardo gestellt. Ganz
mit Unrecht, da Malthus nur aus zwei Gründen uns „induktiver“ erscheint als Ricardo: Ein¬
mal, weil er auf einem außertheoretischen Gebiet deskriptiv arbeitete, in der Bevölkerungs¬
theorie. Uebrigens hat er das Material wesentlich zur Verifizierung schon gewonnener An¬
sichten gesammelt. Und zweitens, weil seine Principles auch historische Tatsachen mitteilen:
Aber der Kern seines Gedankengangs und die Art seiner Argumentation ist geradeso „theore¬
tisch“, nur nicht so kühn und scharf, wie bei Ricardo. Daran ändert es nichts, daß beide
Autoren (Briefe Ricardos an Malthus, ed. Bonar) von einem methodischen Gegensatz sprechen:
Es ist sehr gewöhnlich, daß Gelehrte in einem Streit einander verfehlte Methoden vorwerfen,
wenn es mit den konkreten Argumenten nicht von der Stelle geht. Ricardo verlor die Geduld
mit dem schwerfälligem Gegner und dieser bezeichnete das, was ihm nicht einleuchtete, als
„zu abstrakt“. Das ist alles.
III. Das klassische System.
61
gehört, in Frankreich von Say u. a. Das beste Plädoyer für die Ablehnung jedes
Werturteils seitens des Oekonomen überhaupt, das je geschrieben wurde, findet
sich bei Senior, dem wir als Vertreter der Gegenansicht Mc Culloch gegenüberstellen
können. Nach und nach entwickelte sich im klassischen Einflußkreise ganz jene
Ansicht über diese Frage, die sich heute endlich allgemein durchzuringen scheint:
Sidgwick hat sie am besten formuliert. Seine Ausführungen in der Einleitung seiner
Principles stimmen vollkommen mit den Aeußerungen M. Webers in der Diskussion
auf der Wiener Tagung des Vereins für Sozialpolitik überein. Nur wurde weder
die Beschränkung der Oekonomik auf eine Wirtschaftslehre, noch die prinzipielle
Scheidung von Analyse und Politik allgemein anerkannt. Besonders die Gegner
der Klassiker wie Sismondi u. a. konnten sich von der alten Vorstellung nicht los¬
ringen — deshalb auch nie die Resultate der Klassiker in richtigem Licht und los¬
gelöst von den politischen Ideen, die sich daran schlossen, betrachten —, aber auch
manche Klassiker selbst sündigten in der einen oder andern Beziehung 1 ). Als Bei¬
spiel für die dennoch herrschende Auffassung sei etwa Says Definition der National¬
ökonomie angeführt, die sich in der 6. Aufl. seines Traitö zum erstenmal findet und
deren einfache Eleganz er im Cours complet allerdings wieder verdirbt: „l’exposition
de la maniere dont se forment, se distribuent et se consomment les richesses“ — oder
die Ricardos, der (Letters to Malthus, ed.Bonar, p. 175) in derOekonomie eine Unter¬
suchung sieht into the laws which determine the division of the produce of industry
amongst the classes who concur in its formation. Da wird also die Oekonomie ge¬
radezu mit Verteilungstheorie identifiziert, worin, nebenbei gesagt, allein schon eine
genügende Antwort auf die haltlose Phrase liegt, die wir schon bei Sismondi und
später oft finden, die Klassiker hätten ein ungebührliches Gewicht auf das Produk¬
tions- zum Schaden des Verteilungsproblems gelegt. Typisch ist Senior’s Definition,
nach der die Oekonomie die Wissenschaft ist, which treats of the nature, the pro-
duction and the distribution of wealth. — Doch vergessen wir nicht: Die bewußte
Formulierung dieser Auffassungen ist gewiß bedeutsam und interessant, aber der
darin liegende sachliche Fortschritt darf nicht überschätzt werden. Sachlich ist es
auch schon in der früheren Literatur möglich, Wissenschaft und Politik zu scheiden.
Zitieren wir noch John St. Mills Definition: The Science which traces the laws of such
of the phenomena of society as arise from the combined Operation of mankind for
the production of wealth in so far as those phenomena are not modified by the pur-
suit of another object.
Natürlich enthielten sich aber die Autoren dieser Epoche ebensowenig „prak¬
tischer Anwendungen“ als die Aeltern oder die Spätem. Sie taten es um so weniger
als sie den Wert ihrer Resultate und deren Bedeutung für das konkrete Phänomen
sehr überschätzten. Es ist nun nicht meine Aufgabe über ihre Stellung zu den prak¬
tischen Fragen der Zeit zu berichten. Nur ein Punkt ist dabei wesentlich für uns.
Eine besonders in Deutschland noch heute oft geäußerte Ansicht läßt sich dahin
präzisieren, daß die Theorien der Klassiker nichts andres als Waffen für praktische
Zwecke waren, daß sie vornehmlich dem Bedürfnis des politischen Kampfes der
Zeit ihr Entstehen verdankten — daß politische Tendenzen die Obersätze waren,
die den wissenschaftlichen Gedankengang leiteten. Ist das richtig? Gewiß haben
x ) Doch trat z. B. J o h n St. M i 11 gelegentlich der schon frühe und noch heute po¬
pulären Meinung entgegen, die naiverweise in der Oekonomie eine Maschine zu Produktion
politischer Programme sieht. Vgl. seine an Lowe gerichteten Worte, zit. in Jevons, Principles
of Economics and other Papers, ed. Higgs, p. XXI: „In my Rt. Hon. friends mind political
economy appears to stand for a set of practical maxims. To him it is not a Science, it is not
an exposition, not a theory of the manner in which causes produce effects; it is a set of
practical rules, and these practical rules are indefeasible ... So far from being a set of ma¬
xims and rules to be applied without regard to times, places and circumstances, the function
of political economy is to find the rules which ought to govern any circumstances with which
we have to deal — circumstances which are never the same in any two cases . . . Political
economy has a great many enemies, but its worst enemies are some of its friends“.
62 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. III
die Fragen und die Ereignisse der Zeit der Oekonomie Probleme suggeriert; ebenso
gewiß haben die den Autoren dieser Epoche bekannten Tatsachen ihren Gedanken¬
gang geradeso bestimmt, wie eine jede Wissenschaft in jedem gegebenen Augenblick
von dem vorhandenen Vorrat an Material abhängt; endlich ist es gewiß, daß für das,
was ein jeder aus seinen wissenschaftlichen Untersuchungen schloß, seine po¬
litischen Wünsche sehr bestimmend waren. Aber es ist ganz falsch und außerdem
ein schweres Unrecht, darüber die Unvoreingenommenheit der eigentlich wissen¬
schaftlichen Arbeit zu verkennen. Dieselbe ergibt sich aus den folgenden drei
Kriterien: Erstens vermögen wir die wissenschaftliche Filiation aller we¬
sentlichen Lehrsätze nachzuweisen, d. h. wir vermögen zu sehen — und eben das
Unvermögen dazu *) erklärt erst das Suchen nach politischen und, wie wir gleich
erwähnen werden, auch philosophischen, Hintergedanken und Dogmen, das wir so
häufig finden —, daß und wie ein jeder Satz auf wissenschaftlichen Argumenten
beruht und durch solche — ob sie nun richtig oder falsch sein mögen — seine Auf¬
stellung zu erklären ist. In bescheidenem Maß werden das unsre späteren Aus¬
führungen zeigen. Zweitens ergeben sich die praktischen Konklusionen der einzel¬
nen Autoren gar nicht so eindeutig aus ihren theoretischen Erkenntnissen, wie man
oft glaubt, so daß einerseits die einen ohne die andern vertreten werden können
und andrerseits ein wesentliches Motiv zur Fälschung der Wahrheit fehlte, die stets
in einer Unterwerfung der Analyse unter praktische Zwecke, wenigstens potentiell,
liegen müßte. Wir sehen denn auch: Auf Grund derselben Grundrententheorie —
wenn man von einer unwesentlichen Aeußerlichkeit absieht, die die beiden zu nennen¬
den Autoren allerdings für wichtig hielten — kommen Ricardo und Malthus zu dia¬
metral entgegengesetzten Urteilen über Grundherrn und Komzölle. Das rein wissen¬
schaftliche Fundament ist Ricardo und Marx gemeinsam. Trotz des gleichen theore¬
tischen Fundaments war Carey Schutzzöllner, Bastiat Freihändler.' Smiths Lehr¬
system wird so oft als ein einziges Plädoyer für den Freihandel aufgefaßt und doch
gab es, namentlich in Amerika, schutzzöllnerische Smithianer. Ich muß die Liste
der Beispiele schließen. Beachten wir aber noch, daß sich diese praktischen Diffe¬
renzen nicht etwa durch Fehler und Inkonsequenzen der betreffenden Autoren er¬
klären. Die Lehrsätze kamen vielmehr aus dem eben neutralen Gebiet ökonomischer
Analyse, die praktischen Forderungen einerseits aus dem Material der individuellen
Umstände einer Volkswirtschaft, andrerseits aus dem Reiche der Neigungen, In¬
teressen, persönlichen Gesamtansichten usw. Drittens hatten die Autoren der klas¬
sischen Richtung überhaupt kein einheitliches Programm, für das sie hätten kämp¬
fen können l 2 * * * * * ). Das ist selbstverständlich, wenn man alle Länder im Auge hat. Nur
bezüglich der englischen Klassiker und ihrer unmittelbaren Schüler auf dem Kon¬
tinent kehrt immer die Behauptung wieder, sie seien nichts andres als Vertreter
der Interessen des industriellen Bürgertums gewesen. Smith und Ricardo hat Marx
selbst Absolution erteilt 8 ). Aber J. St. Mill war doch unendlich mehr sozialrefor-
l ) Dasselbe tritt auch in Cannans sonst sehr verdienstvollem Werk störend hervor.
*) Sozialistische Schriftsteller sprechen von einer „bourgeoisen“ Oekonomik. Marx hat
darunter (vgl. Kapital I. Bd. Vorwort) zunächst solche Oekonomen verstanden, die die ka¬
pitalistische Wirtschaftsform als Endpunkt und Vollendung aller Entwicklung und ihr dauern¬
des Fortbestehen als naturnotwendig betrachten. Allein in diesem Sinn gehören die meisten
Oekonomen, u. a. John St. Mill, nicht dazu. Schon bei Marx selbst aber noch mehr bei seinen
Anhängern ist eine andere Bedeutung an die Stelle dieser ersten getreten: Es heißt da jeder
Bourgeois-Oekonom, der eben nicht politischer Sozialist ist, und nun erst bedeutet dieser Ter¬
minus den Vorwurf eines Klassenstandpunktes, aus dem sich alle konkreten Resultate, resp.
alle Abweichungen von Marx’ Lehre, die sich bei den so Bezeichneten finden, erklären lassen
sollen.
8 ) Nicht so gerecht waren spätere: Immer wieder erblickt man in Smith den Vater des
„Industrialismus“, im Sinn von kapitalistischer Profitwirtschaft und in Ricardo den Börsen¬
mann, der die Welt mit der Börse verwechselt und für den sich der Gipfel alles wünschens¬
werten durch hohen Profit charakterisiert. Selbst in der Oekonomik gibt es kaum eine grö
ßere Ungerechtigkeit.
III. Das klassische System.
63
matorisch gestimmt als Ricardo, abgesehen selbst von der Periode seines Lebens,
wo er geradezu als Sozialist zu bezeichnen ist. Mc Culloch hat der Arbeiterschutz¬
gesetzgebung seiner Zeit warm zugestimmt, Cairnes war auf kapitalistische Interessen
recht schlecht zu sprechen. Gewiß benützte die „Bourgeoisie“ jeden Satz der Klas¬
siker, der sich irgendwie dazu zu eignen schien und viele, die sich gar nicht dazu
eigneten. Aber die klassischen Autoren selbst gehörten ja zum Teile der Gruppe
der „Philosophical Radicals“, dieser Ahnherrn der modernen Fabier an — und waren
deshalb in „bürgerlichen“ Kreisen höchst unpopulär. Natürlich darf man nicht ver¬
langen, daß sie die Anschauungen einer späteren Zeit vertraten. Dem Geiste nach,
wenn auch nur für ihre Zeit und ihr Land, ist ihre praktische Stellung durchaus
der des Vereins für Sozialpolitik analog. Wenn das nicht für alle galt, so beweist
eben dieser Umstand die Neutralität der wissenschaftlichen Basis.
5. Kommen wir nun zu einem Ueberblick über den allgemeinen wissenschaft¬
lichen Gesichtskreis der Autoren dieser Epoche und damit über die Beziehungen
der Oekonomik zu andern Wissenschaften. In Deutschland überwog das Professoren¬
element sehr stark (obgleich drei von den vier Besten ihm nicht zugehörten) in Frank¬
reich überwog es ebenfalls, aber weniger stark und in England tritt es zurück, denn
auch jene, die ganz oder doch zum Teile Lehrer waren, wie Senior, Malthus oder
Cairnes, zeigen wenig von den Charakteristiken des Berufslehrers in ihren Schriften.
Smith ist, wie erwähnt, eine Ausnahme* eine andre ist Sidgwick. Unter den Deut¬
schen finden sich, aber nicht unter den besten, manche sehr umfassende Geister,
für die noch die Tradition des Naturrechts und der Moralphilosophie den Umfang
ihrer Lehrtätigkeit bestimmte, dann unter jenen, die einfach Nationalökonomen
waren, sehr viele philosophisch Gebildete, besonders Kantianer. Aber der äußerlich
— in der Art der Definitionen, der Lebens- und Staatsauffassung usw. — oft sehr
fühlbare Einfluß Kants, hat die konkreten ökonomischen Resultate kaum beein¬
flußt. Vom angeblichen Hegelianismus Marx’wird noch die Rede sein. Im übrigen
brachten der eine diese der andre jene Mitgift zur ökonomischen Arbeit, so v.Thünen
etwas Mathematik, Viele technologische Kenntnisse, relativ erstaunlich Wenige
gründliche historische Bildung, obgleich dieselbe absolut genommen gewiß
eine Rolle spielte, fast Alle hingegen verwaltungstechnische und rechtliche Kennt¬
nisse. Der Standpunkt und Gesichtskreis der Staatsdiener — oft im höchsten und
besten Sinne — herrscht vielfach vor, aber gerade weniger unter den Größten. Bei
den französischen Oekonomen vermag ich nicht viel philosophische Schulung zu
finden, dafür mehr Neigung und Verständnis für den Standpunkt des Kaufmanns.
Wie wir schon—nicht ohne Erstaunen — im 18. Jahrhundert in Frankreich einen ver¬
hältnismäßig geringen Einfluß des Staatsgedankens und des „Beamtenstandpunkts“
fanden, so finden wir auch in dieser Epoche dasselbe. Das erklärt wohl auch die
größere Rolle der frühsozialistischen und sonst „revolutionären“ Schriftsteller, denen
ein größeres Gebiet als anderswo einfach überlassen wurde. Die englischen Klassiker
bieten ein andres Bild. Vor allem ist eine bestimmte allgemeine Ideenrichtung —
neben der der Einfluß der „Fachphilosophen“ wie Reid und Hamilton wenig bedeutet
und selbst der von Dugald Stewart zurücktritt, obgleich dieser ja „Auchökonom“
und als Lehrer sehr erfolgreich war — mit ihrer Lehre stets in Zusammenhang ge¬
bracht worden, der Utilitarismus. Seine Wurzeln liegen weit zurück, aber zu leben¬
digem Einfluß brachte er es durch J. Bentham. Der Utilitarismus ist ein Zweig
vom Stamme des Naturrechts, wobei allerdings nicht zu vergessen ist, daß diese
Behauptung strikte nur unter der Voraussetzung zutrifft, daß man unserer Auffas¬
sung vom Naturrecht überhaupt zustimmt. Unter der gleichen Voraussetzung gilt
auch für den Utilitarismus, was über das letztre gesagt wurde. Der bewußte schmerz¬
fliehende und lustsuchende Wille des Individuums ist der wissenschaftliche Kern¬
punkt dieses streng rationalistischen und intellektualistischen Gesamtsystems von
Philosophie und Soziologie, das, unerreicht in seiner Kahlheit, Flachheit und in
seinem radikalen Mißverstehen alles dessen, was den Menschen bewegt und die Ge-
64 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. III
Seilschaft zusammenhält, schon den Zeitgenossen und dann noch mehr den Spätem
trotz seiner Verdienste nicht ohne Recht ein Greuel war. Daraus nun schöpften
viele Klassiker zweifellos ihre Soziologie und die Mittel zur Befriedigung ihrer meist
so bescheidenen philosophischen Bedürfnisse. James und J. St. Miil fühlten sich
als Schüler und Nachfolger Benthams, wenngleich der letztre seinen EinfluO in den
bedenklichsten Punkten bald überwand, viel mehr, als seine liebenswürdige Be¬
scheidenheit ihn jemals aussprechen ließ. Auch schrieb Bentham selbst ökonomische
Werke (Letters on Usury 1787, Manual of Political Economy von 1798 an). Aber
schon in diesen finden wir Unabhängigkeit des rein ökonomischen Gedankens —
der ökonomischen Tatsachenanalyse zum Unterschied von der sie umgebenden
Staubwolke — von seiner Philosophie. Das gleiche gilt von J. Mill, der in der Oeko-
nomik Ricardos Schüler war—während im übrigen ihr Verhältnis umgekehrt war 1 )
— und auch von John St. Mill. Wir finden einerseits, daß die Oekonomik noch
am ehesten das Gebiet ist, auf dem jene Auffassung relativ am brauchbarsten ist,
und andrerseits, daß ihr Einfluß überaus gering war. So bildet die klassische Oeko¬
nomik nicht etwa ein Element eines einheitlichen Systems, aus dessen Grundge¬
danken sie zu erklären wäre. Wendungen in ökonomischen Werken, die daran er¬
innern, sind meist nur Beiwerk. Ueberhaupt ist es ja ein „intellektualistischer“
Irrtum, dem der Dogmenhistoriker leicht verfällt, zu glauben, daß bei einer irgendwie
längern und tiefem Spezialuntersuchung sich der Forscher von gewissen Grund¬
ideen leiten läßt, die er vorher akquiriert hat und nun konsequent durchführt. Selbst
wenn er das wollte, so könnte er es nicht, denn die Analyse zieht ihn nach unbekann¬
ten Ufern und im Detail der Arbeit verblassen die großen Glaubenslehren. Höch¬
stens nach getaner Arbeit kann er versuchen die Resultate derselben in den Formen
dieser Glaubenslehren auszudrücken. Aber außerdem haben die Klassiker gar nicht
ähnliches gewollt. Namentlich Ricardo hatte nur eine sehr ungefähre Vorstellung
vom Wesen und Inhalt des Utilitarismus. Und seine konkreten Sätze lassen sich
Tein ökonomisch und aus den Bedürfnissen ökonomischer Gedankenarbeit erklären.
— Noch zwei Punkte bedürfen der Erwähnung. Einmal die Tatsache der gro߬
artigen Vielseitigkeit mancher Klassiker. Namentlich ist es wichtig, daß sie viele
andre Gebiete fachmäßig beherrscht und selbständige Erfolge darauf erzielt haben.
Bei ihrer Beurteilung muß das berücksichtigt werden. Besonders der Vorwurf fach¬
licher Enge und des Nichtsehens alles dessen, was außerhalb einer kleinen Problem¬
gruppe lag, kann demgegenüber nicht aufrecht erhalten werden. James Mill schrieb
«ine (Assoziations-)Psychologie, über die der Nichtfachmann nicht urteilen darf,
die aber lange Zeit den größten Einfluß übte und in der Geschichte der eng¬
lischen Psychologie eine hervorragende Stelle einnimmt. Solcher Beispiele gäbe
•es viele. Aber kann irgendjemand sich in dieser Beziehung mit John St. Mill
messen ? Seine Logik, die lange Zeit ihr Gebiet so beherrschte wie seine Oeko¬
nomik das ihre, ist nur eine Spezialleistung, die in den ganzen Reichtum seiner Ge¬
dankenwelt keinen Einblick gestattet. Aber der Mann, der in gleicher Weise Bent¬
ham und Carlyle, Hamilton und Comte, Coleridge und St. Simon auch nur ver¬
stand, steht auf einer Stufe, die ihn vor unbescheidenem Urteil schützen sollte.
Und daß er nicht bloß Lernender war, zeigt u. a. der hochinteressante Gedanke
•einer „Charakterologie“ oder „Ethologie“. Mag er nicht zu den Geistesheroen ge¬
hören und mag besonders seine Leistung auf unserm Gebiet nicht epochemachend
sein — tatsächlich hat er sich in dem Jahrzehnt vor der Publikation seiner Principles
kaum mit Oekonomik beschäftigt, so daß dieses Werk fast als „Jugendarbeit“ zu
qualifizieren ist — ehe man über seine Persönlichkeit urteilt, ist sicher die Frage
am Platze, ob man wohl den zehnten Teil seiner Lebensarbeit zu leisten imstande
*) Bentham bezeichnete sich mit Recht als Lehrer und Meister J. Mills, aber er bezeich-
nete diesen sehr mit Unrecht als geistigen Vater Ricardos. Er dachte eben an die Sozialphi-
losophie, die Oekonomik spielte bei ihm eine zu geringe Rolle, als daß er Ricardos Bedeutung
Jiätte würdigen können.
III. Das klassische System.
65
wäre. Zweitens ist speziell die historische Bildung dieses Kreises sehr wichtig für
uns, denn nichts liegt näher als zu glauben, daß die Klassiker historischer Arbeit
ablehnend oder doch verständnislos gegenüberstanden und daß sich aus diesem
Mangel etwa manches an ihrer ökonomischen Arbeit erkläre. Allein zunächst hatte
die ganze Gruppe ihre besondern Historiker, unter denen Grote hervorragt, so daß
von einem prinzipiellen Gegensatz nicht die Rede sein kann. Sodann haben manche
wie z. B. James Mill historisch (History of British India) selbst gearbeitet und endlich
hatten die meisten von ihnen ein umfassendes historisches Wissen (Carlyle sandte
John St. Mill seine Geschichte der französischen Revolution zur Begutachtung,
Mc Culloch soll die historische Literatur wie wenige Zeitgenossen beherrscht haben,
Seniors Tagebuch verrät fast vorwiegend historisches Interesse usw.).
Allerdings hat der ganze Ausblick der englischen Klassiker auf das soziale Leben
etwas spießbürgerliches. Sie waren eine prächtige Gruppe von Menschen, voll
Begeisterung und Selbstlosigkeit. Aber nicht etwa nur für das politische Urteil,
sondern auch für manche rein wissenschaftlichen Probleme ist eine Art von Lebens¬
erfahrung und ein Verständnis für grundverschiedene Gedankenkreise nötig, die
ihnen fehlte. Daher ihr oft fast mönchisch anmutender Absolutismus und Doktri¬
narismus. Sie ahnten nicht, daß mancher der von ihnen so verachteten „stupid
conservatives“ oder gar „foxhunters“ — letzterer Titel scheint ihnen das verdam-
mendste Urteil bedeutet zu haben — in all seinen Vorurteilen vielleicht die Elemente
zu einem richtigem Bild der sozialen Wirklichkeit besitzen könnte, als das ihre war.
6. Der Kernpunkt ihrer Methode auf ökonomischem Gebiet liegt in der am
besten von W h a t e 1 y (Introductory Lectures, 3. Aufl. 1847) formulierten Ansicht,
daß bei der zunächst vor ihren Augen stehenden Problemgruppe die gedankliche
Verarbeitung wesentlicher und schwieriger sei als die Ansammlung von Tatsachen
über das Maß, das das Leben für uns anhäuft, hinaus. Ihre Leistungen waren also
analytische und das ist es, was man meist mit den Worten „deduktiv“, „abstrakt“,
„aprioristisch“ höchst unglücklich auszudrücken pflegt. Sie wollten vor allem
gedankliche Ordnung und Klarheit in das Getriebe des Wirtschaftslebens bringen,
um so seine Grundvorgänge erst einmal prinzipiell zu verstehen. Zu diesem Zweck
hoben sie die ihnen wichtig scheinenden Momente heraus, suchten sie sich vorzu¬
stellen, wie die Dinge ablaufen würden, wenn keine andren Momente wirksam wären 1 ),
und stellten sie jene Momente unter den Gesichtspunkt einiger weniger und ein¬
facher Grundannahmen, die ihnen die Erfahrung nahelegte. Sie abstrahierten und
isolierten also, wie es bei dem Ziel, das sie sich gesetzt hatten, nicht anders möglich
war. Aber nur für eine Problemgruppe, die ihnen allerdings vor allem wichtig schien,
vertraten sie diese Methode durch die Tat und auch ausdrücklich. Wo immer es
sich um individuelle Fragen handelte, griffen sie von selbst, wie in der Zirkulations¬
oder in der Armengesetzkontroverse, nach dem vorhandenen Material jeder Art.
Und wo immer ein Problem auftauchte, bei dem jener Erfahrungsfonds an Tat¬
sachen nicht ausreichend schien, taten sie dasselbe, wie Malthus in seiner Bevöl¬
kerungslehre. Aus der Verschiedenheit der konkreten Zwecke jedes Autors erklärt
sich das, was als Methodenverschiedenheit erscheint. Allerdings waren sie sich
über die prinzipiellen Grenzen des analytischen Verfahrens kaum klar. Meist über¬
schätzten sie seine Bedeutung und sie taten es um so mehr, als sich einmal ein fester
analytischer Apparat ausgebildet hatte, dem sie über Gebühr vertrauten.
Den Charakter dieses Apparats kannten sie, wenn sie auch zunächst nicht viele
*) Dieses Vorgehen erschien ihnen zunächst nicht etwa als eine besondere „Methode“ —
dazu haben es ja wirklich erst die Gegner gemacht — sondern viel richtiger als das für ihre
Probleme einzig Mögliche und als nicht wesentlich von der Denkweise des praktischen Lebens
verschieden. So sagt West: „and other circumstances must of course be excluded from
consideration“. Auf die Frage warum, hätte er wohl einfach geantwortet: „Weil es nicht
anders geht“. Den Zweck nicht wirtschaftliche oder überhaupt andere Momente als das gerade
betraclrtete auszuschließen, hat auch die so häufige, besonders von John St. Mill gebrauchte
Wendung: „other things being equal“.
Sozialökonomik. I.
5
66 I. Buch All: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. III
Worte darüber verloren, so daß sich in weitern Kreisen sehr bald gewisse gegnerische
Schlagworte festsetzten. Sie wußten also, daß er „abstrakt“ war und daß man an
ihm nicht ohne weiteres Erkenntnisse über individuelle Vorgänge ablesen könne.
Ricardo verrät in seinen Briefen an Malthus ein deutliches Gefühl dafür. Nicht
einmal daß sie das generell Erfaßbare für das einzig Wichtige gehalten hätten, kann
man so allgemein behaupten. Aber die Größe der Kluft zwischen Theorie und Wirk¬
lichkeit und die volle Bedeutung dessen, was man unter dem Unterschied zwischen
Real- und Erkenntnisobjekt heute versteht, schätzten sie nicht richtig ein. So
konnten sie z. B. glauben, eine Reihe von praktischen Fragen ein- für allemal beant¬
wortet zu haben. Und erst spät, als sich unter dem Einfluß von Enttäuschungen
methodische Bedenken eingestellt hatten und man sich die Dinge näher anzusehen
begann, erkannte man klar den Grad des „hypothetischen“ Charakters der Aus¬
gangspunkte und manche nötigen Einschränkungen. In den methodologischen
Werken John St. Mills, Bagehots und Cairnes’, denen wir noch begegnen werden,
tritt das dann hervor. Wenn man ferner oft gesagt hat, die Klassiker hätten für die
Bedingtheiten der wirtschaftlichen Dinge kein Verständnis gehabt, so ist auch das
nicht ganz richtig. Manche, wie später Bagehot, erklären, daß sie die kapitalistische
oder doch Verkehrswirtschaft allein vor Augen haben, womit sie sich selbst ganz auf
den Boden mancher historischer Oekonomen (Bücher z. B.) stellen, bei anderen ist
es ohne weiteres klar. Marx hat scharf die Vorgänge auf verschiedenen Entwicklungs¬
stufen geschieden und für die einzelnen ganz verschiedene „Gesetze“ aufgestellt x ).
Das ist freilich teils zu viel und teils zu wenig. Auch haben wir genug gegenteilige
Aeußerungen und es ist hier, wie ja meist, schwer ein ganz treues Bild zu geben.
Aber im ganzen kann man sagen, daß ihr gesunder Sinn und richtiger Blick die
Klassiker vor einer prinzipiell verfehlten Methode bewahrt hat und die üblichen
Einwände nicht stichhaltig sind. Etwas anders steht es ja mit der Anwendung
ihrer Methode. Wir haben oft Anlaß darüber zu staunen, was sie für einen aus¬
reichenden Beweis hielten und wie leichtfertig sie sich mit Scheinerklärungen zu¬
frieden gaben. Grobe Fehler im Gedankengang schleppen sich lange fort und auch
die Besten sind oft ausgeglitten. Das gilt u. a. auch von Ricardo. Loyalste Aner¬
kennung seiner Größe hilft nicht über die Tatsache hinweg, daß er nichts weniger
als ein Muster strenger Logik ist — auch, daß er manche Punkte nicht hinreichend
durchgedacht hat. So zeigt uns die Methode dieser Epoche jene Züge, die alle jungen
Disziplinen in der Zeit anfänglicher Erfolge tragen: Eine Ueberschätzung des Weges,
der zu diesen Erfolgen geführt hat und ein Verkennen vieler vorhandener Hinder¬
nisse, die zum Sturze führen müssen, wenn man sie nicht beachtet. Dieser jugend¬
liche Leichtsinn hat seine Funktion. Ohne ihn käme man in den Anfängen nicht
weiter. Aber er macht der spätem Kritik ihre Aufgabe leicht und im Geist eines
Torquemada pflegt sie sie zu erfüllen.
In dieser Epoche wird definitiv die Uebung allgemein, von Gesetzen der Wirt¬
schaft zu sprechen. Aber niemals bedeuten diese „Gesetze“ mehr als Behauptungen
über die innern Notwendigkeiten des wirtschaftlichen Kreislaufs und nie wurden sie
für mehr gehalten. Das Zwingende dieser wirtschaftlichen Sachnotwendigkeiten
wurde gewiß oft übertrieben, aber historisch ist vor allem das Verdienst zu werten,
das in ihrer — und sei es auch zu scharfen — Hervorhebung hegt. Jedenfalls in¬
volvieren sie keinen „Naturalismus“. Wenn manche Autoren diese Gesetze mit
Naturgesetzen gleichstellen, so werden wir das ablehnen können ohne deshalb zu
verkennen, daß eine solche Gleichstellung nichts an ihrem Wesen ändert und keinen
l ) John St. Mill unterscheidet korrekt zwischen allgemeingültigen Gesetzen und solchen,
die nur innerhalb einer bestimmten Organisationsform gelten, hat also bereits die Unterschei¬
dung zwischen der reinökonomischen und der historisch-rechtlichen Kategorie. Nur daß
es verfehlt ist, die Gesetze der Produktion einfach als erstere und die der Verteilung als letztere
zu bezeichnen, denn beide hängen so eng miteinander zusammen, daß auch die Produktion
unter dem Einfluß der sozialen Organisation und auch die Verteilung unter dem Einfluß all¬
gemeiner Notwendigkeiten steht.
III. Das klassische System.
67
sachlichen Einwand begründet. Betrachten wir noch£die wichtigsten Bedeutungen
der Ausdrücke „natürlich“ und „normal“ bei den Klassikern. Natürlich = dem
Naturrecht entsprechend, kommt wohl gelegentlich vor, aber außerordentlich selten
und nur im Zusammenhang mit „Freiheit“ usw., also nicht im ökonomischen Ge¬
dankengang. Natürlich = dem „Naturzustand“ entsprechend finden wir häufiger,
aber nur in der Bedeutung: unter einfachsten Verhältnissen. Eine urgeschichtliche
Behauptung liegt darin nicht oder sie ist doch irrelevant d. h. sie kann ohne Schaden
für das ökonomische Argument weggelassen werden. Oft bedeutet „natürlich“
nur „offenbar“, „wie man leicht einsieht“, so wenn gesagt wird, das Kapital wende
natürlich sich den günstigsten ihm offenstehenden Verwendungsmöglichkeiten zu.
Vor allem aber ist jene Bedeutung wichtig, in der von natürlichem Preis, natürlichem
Lohn usw. gesprochen wird. Was bei Smith und Ricardo so heißt, heißt bei J. St.
Mill „notwendiger“ Preis usw. und bei den Spätem, zuerst bei Cairnes, wird dafür
der Ausdruck „normal“ üblich. Das bedeutet nun zweierlei: Erstens die Abwesen¬
heit von außerökonomischen Eingriffen jeder Art, so daß dieser normale Preis jener
ist, der sich in der sich selbst überlassenen Wirtschaft herausstellt, und zweitens
jene Höhe des Preises oder Lohnes usw., die sich in einer solchen, wenn keine Ver¬
änderungen der Grundbedingungen eintreten, auf die Dauer erhält, also gleichsam
das Ziel der tatsächlichen Oszillationen auf dem Markte, ihr Tendenzzentrum. (Gegen¬
satz: Marktpreis.) Das heißt nicht, daß eine willkürliche Festsetzung der Preise
durch irgendeine außerökonomische Macht unmöglich wäre, sondern nur daß, wenn
sich nicht gleichzeitig sonst noch etwas verändert, jeder solche Eingriff gewisse,
fest bestimmte und unvermeidliche Rückwirkungen auslöst*). „Normal“ hat aber
noch andre Bedeutungen, so die von „gewöhnlich“ — abnormal hohe Löhne heißt
meist einfach ungewöhnlich hohe Löhne — und sodann auch „durchschnittlich“.
Jene dauernden Größen aller Preise und Einkommen sind offenbar von allen mög¬
lichen Größen die interessantesten. Auf ihre Bestimmung ist das klassische System
vor allem angelegt, also auf die Untersuchung der Volkswirtschaft im Gleichgewicht,
welcher Ausdruck damals immer üblicher wurde. Eine äußere oder innere Anlehnung
an die Naturwissenschaft liegt darin nicht. So wollten die Klassiker zunächst eine
„Statik“ der Wirtschaft geben, der sich dann gewisse Sätze über Entwicklungsten¬
denzen anschlossen — eine „Dynamik“. Die Ausdrücke sowie die Durchführung
der äußern Scheidung wurden von John St. Mill in die Oekonomie gebracht, dieser
hat die ersteren aus Comte.
Schon damals gab es Methodenstreitigkeiten, auf die hier allerdings nur hin¬
gewiesen werden kann. Zwar daß Theoretiker untereinander sich verfehlte Methode
vorwarfen 2 ), hatte wenig zu bedeuten und ändert nichts daran, daß die Gegner
sich methodisch tatsächlich nicht wesentlich voneinander unterschieden. Aber es
traten auch schon prinzipielle Gegner der Theorie auf. Carlyle und Coleridge be-
l ) Wenn also z. B. die Klassiker sagen, die Löhne könnten nicht „künstlich“ erhöht wer¬
den, so ist zunächst schon in ihrem Sinn hinzuzufügen „in der Verkehrswirtschaft bei völlig
freier Konkurrenz“ und „wenn sich nicht damit zugleich die Verhältnisse ändern, z. B. die
Qualität oder Quantität der Arbeit sich hebt“. Sodann ist der Satz dahin zu interpretieren,
daß bei einer solchen Erhöhung ein Prozeß in der Volkswirtschaft einsetzt, der die Arbeiter
als Klasse des Vorteils wieder beraubt. Das ist nun allerdings nicht ganz richtig. Aber erstens
ist es das zum Teile, und zweitens liegt in der Hervorhebung jenes Prozesses historisch eine
wesentliche Leistung, wenn er auch überschätzt, außerdem auch nicht ganz richtig beschrieben
wurde. Wir werden noch darauf kommen. Freilich, so kann nur der Historiker die Sache
beurteilen. Für weitere Kreise der Zeitgenossen und auch der Spätem kam nur der Satz in
Betracht: Eine Hebung der Lage des Arbeiterstandes ist „wissenschaftlich unmöglich“. Sie
hatten vom Oekonomen Brot verlangt und scheinbar einen Stein erhalten — und damit war
die Katastrophe der Oekonomik besiegelt.
*) Vgl. M a 11 h u s in der Quarterly Rev. 1824. Eine prinzipielle Begründung und Ver¬
teidigung unternahm zuerst John St. Mill in einem 1830 geschriebenen, 1836 in der
London and Westminster Rev. publizierten Artikel (aufgenommen in Essays on some un-
settled questions of Political Economy 1844).
5*
68 I. Buch All: J. Schumpeter, Dogmen- .und Methodengeschichte. III
kämpften in England—wie übrigens auch der Dichter Wordsworth und der Histo¬
riker Southey, um nur größere Namen zu nennen *) — A. Müller u. a. in Deutsch¬
land die „abstrahierende“ Methode prinzipiell. In Frankreich taten es die St. Si-
monisten, vor allem aber A. Comte. Während die Erstem dabei im Grunde nur
ihre allgemeine Abneigung gegen die politischen Programme, die zusammen mit
der jungen Oekonomik auftraten, zum Ausdruck bringen und als Elemente der all¬
gemeinen Reaktion gegen Tun und Denken des 18. Jahrhunderts aufzufassen sind,
bestimmten Comte lediglich wissenschaftliche Gründe. Er hielt eine Spezialdisziplin
der Oekonomik für unmöglich, weil jedes Element des sozialen Lebens nur in seinen
Beziehungen zu allen Elementen verständlich sei. Und er meinte ferner, daß die
klassische Oekonomik essentiell unwissenschaftlich und „metaphysisch“ sei. Was
er damit meinte ist klar, er hielt die ökonomische Theorie einfach für einen Ableger
philosophischer Spekulationen ohne jede Tatsachenbasis. Wir sahen, daß das nicht
richtig ist und es läßt sich leicht feststellen, daß Comte die Oekonomik nur sehr
flüchtig kannte. Ganz wie manche spätem Kritiker konzentrierte er seine Auf¬
merksamkeit auf jene großen Grundannahmen, die an der Spitze des Lehrsystems
der Oekonomik standen und die ja gewiß auf den ersten Blick „spekulativ“ aus-
sehen, ohne ihre wahre Natur und die Verwendung, die sie in Wirklichkeit fanden,
näher zu beachten. Er glaubte, sie seien irgendeinem philosophischen System ent¬
nommen und der Rest der Oekonomik sei einfach aus ihnen deduziert. Aber mehr
Wahrheit enthält sein erstes Argument, wenngleich daraus kein Einwand gegen
die Möglichkeit einer Spezialdisziplin von den generellen Formen des Wirtschafts¬
prozesses fließt. John St. Mill, der eine Zeitlang ganz unter Comtes Einfluß stand,
fühlte ganz richtig das Wahre und das Verfehlte an der Comteschen Stellung. Und
er suchte sich dem erstem anzupassen, indem er zwar an der ökonomischen Theorie
festhielt, aber für andre Probleme als die reinökonomischen selbst den „Allzu¬
sammenhang“ des sozialen Lebens und die Notwendigkeit einer historischen Methode
betonte. Diese Auffassung entspricht nicht nur dem Wesen nach, sondern sogar
auch in der Formulierung, die ihr Mill gab, der heute herrschenden. Die Methode
und überhaupt die ganze soziale Gedankenwelt Comtes ist im Grund nicht viel we¬
niger „spekulativ“ als die der Klassiker, ja seine Spekulationen sind nicht einmal
so unschuldig, wie die ihren. Denn er tat mehr als bloß zu abstrahieren, er ließ
sich bei seiner Arbeit von vorgefaßten Grundanschauungen über die Entwicklung
der Menschheit, die er naiv als eine Einheit betrachtete, leiten. Doch können
wir hier nicht weiter in dieses Thema eingehen. An der Bedeutung seiner Gedanken¬
welt in andrer Beziehung ändert übrigens die Tatsache nichts, daß er als Sozial¬
philosoph auf allen „Positivismus“ vergaß. Wie später eine andre Religion, die
eben doch eine Religion war, so hat er auch eine andre Sozialphilosophie geschaffen
— übrigens keine sachlich neue, einerseits Vico, andrerseits Condorcet sind deren
Wurzeln —, aber eben wieder eine spekulative.
l ) Dazu gehört auch der Macaulays. Obgleich durchaus auf dem erkenntnistheoretischen
Boden seiner Zeit stehend teilte er doch lebhaft die whiggistische Abneigung gegen die Radi¬
kalen und die historische Abneigung gegen den Benthamismus. Er akzeptierte zwar die prak¬
tisch wichtigsten Leitsätze der Oekonomik seiner Zeit, aber er attackierte (Edinburgh Rev.
1829) um so energischer J. Mills Darstellung der benthamistischen Verfassungstheorie, die
allerdings hart an das Lächerliche streift. Dabei wandte er sich auch gegen das Operieren
mit allgemeinen Obersätzen überhaupt. Interessant ist, daß er in seinen Essays oft genug
von allgemeinen principles of political Science spricht, nur daß er nicht verrät, worin diese
„Prinzipien“ bestehen — wohl in den Sätzen des politischen Programms der Whigs der Drei¬
ßigerjahre? Dabei spricht er von der Sozialwissenschaft als einer „experimental Science“,
d. h. als einer Wissenschaft, deren Erkenntnisse wesentlich auf historischen Erfahrungen be¬
ruhen. In der Folgezeit wurde dieser Ausdruck zum Schlagwort vieler, die sich mit Theorie
nicht abgeben und ihren Ueberzeugungen eine gewisse Latitude lassen wollten. In andrem
Sinn verwendet ihn Robert Owen: Für ihn ist die soziale Welt gleichsam ein Land
unbegrenzter Möglichkeiten, die mittelst sozialpolitischer Experimente auszuproben wären.
III. Das klassische System.
69
7. Neben den politischen Leitsätzen, mit denen die klassische Oekonomik äußer¬
lich verbunden war und innerlich verbunden schien, war es die ökonomische So¬
ziologie, die den wesentlichen Angriffspunkt abgab, über den hinaus die Kritik nur
selten überhaupt und kaum jemals gründlich vordrang. Und diese Soziologie, dieses
Bild des sozialen Geschehens, das sich aus den klassischen Werken ablesen läßt,
ladet wirklich zum Angriff ein. Sie stellte — ganz unnötigerweise — jene verderb¬
liche Beziehung zum Utilitarismus dar, die der Oekonomik in der öffentlichen Mei¬
nung mehr schadete als irgend etwas anderes. Die Nationen der Klassiker waren
lediglich Summen von nur durch ökonomische Interessen zusammengehaltenen
unabhängigen Individuen von unveränderlicher Naturanlage. Diese Naturanlage
wurde für die Oekonomik einfach durch den Satz charakterisiert, daß jedes Indi¬
viduum lediglich durch das Streben nach größtmöglichem Gewinn mit kleinstmög-
lichem Aufwand geleitet werde. Und dem unbehinderten Wirken dieses Moments
bei völlig freier Konkurrenz wurde soviel Gutes nachgesagt, daß es unter dem Ge¬
sichtspunkt eines Ideals erscheinen mußte. Absichtlich formuliere ich diese Punkte
in der Form, in der sie den Gegnern erschienen. Schon die Klassiker selbst haben
den Charakter derselben als Annahmen formuliert, deren Zweck es sei, gewisse Ten¬
denzen zu isolieren. Sicher hätten weitaus die meisten von ihnen, wenn sie diese
Dinge ex professo behandelt hätten, die Unzulänglichkeit der Sätze für andere Zwecke
als die der theoretischen Oekonomik eingesehen 1 ). Insoweit anzunehmen ist, daß
sie sie nicht eingesehen hätten — und James Mills Artikel über „Government“ u. a.
Gegenstände zeigen sicher, daß er wenigstens entschlossen war mit solchen An¬
schauungen Ernst zu machen —, ist noch immer zu beachten, daß jene Sätze tatsäch¬
lich durch entsprechende Formulierung für die Oekonomik unschädlich gemacht
werden können. Aber die Gegner beurteilten sie als Tatsachenbehauptungen an
sich und ohne Rücksicht auf den Gebrauch, den die Klassiker davon machten, und
da konnte das Verdikt nicht zweifelhaft sein.
Ich kann die gewaltige Bewegung, die um die Wende des 18. und 19. Jahr¬
hunderts auftritt, oder, richtiger, alle jene Strömungen, deren Gemeinschaft in der
Ablehnung des rationalistischen Bildes des sozialen Lebens liegt und die es schlie߬
lich in Stücke gerissen haben, nicht schildern. Nur zum Teil war diese Bewegung
eine „Reaktion“, zum Teil enthielt sie neue Keime sehr verschiedener Pflanzen.
Für uns kommen hauptsächlich vier Elemente dieser Bewegung in Betracht: Nennen
wir sie das mystische, das nationale, das soziale und das historische. Die Bedeu¬
tung der drei erstgenannten liegt wesentlich auf anderen Gebieten als dem unsem.
Alle vier stehen in Zusammenhang miteinander ohne einfach zusammenzufallen.
Sie alle begegnen sich in der grimmigen Verachtung gegen das Zerrbild des sozialen
Lebens, das die Klassiker ihnen zu entwerfen schienen, gegen die Profitgier, die,
wie sie meinten, die Klassiker predigten, gegen deren Vernachlässigung des ethi¬
schen Moments, gegen Atomismus, Mechanismus, Individualismus usw. Der „neue
Mystizismus“ war eine sehr allgemeine europäische Bewegung, die mit der Wieder¬
belebung religiösen Gefühls und einer antirationalistischen theologischen Richtung
in enger Beziehung stand und ihr einen Teil ihres äußern Erfolges zu verdanken hatte.
Ihr Zentrum lag in Deutschland. Ein Interpret deutscher Gedanken war Coleridge
und in geringerem Maß auch Carlyle. Die rein wissenschaftliche Bedeutung dieser
Gruppe lag in ihrer energischen Bekämpfung des intellektualistischen Irrtums. Wäh¬
rend aber auf andern Gebieten, wie dem der Theologie und der schönen Literatur
diese Richtung zu positiven Leistungen kam und damit zu einer Schule („roman¬
tische Schule“) werden konnte, kann man nicht sagen, daß sie auf dem Gebiet der
Oekonomik schulenbildend wirkte. Sie hatte nur eine — damals eigentlich der prä-
*) Gerechterweise wäre also zu sagen, daß die Klassiker nicht eine schlechte, sondern
überhaupt keine Soziologie hatten. Es fällt noch heute vielen schwer einzusehen, daß das
ihren ökonomischen Untersuchungen nicht schadete. Allein — wenn man die Erde für eine
Scheibe hielte, könnte man deshalb nicht einen bestimmten Landstrich ganz gut beschreiben?
70 I. Buch All: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. III
zisen Formulierung unzugängliche — Anschauung zu geben, eine Anregung, fast nur
eine Einwendung. Carlyle und Coleridge waren in ökonomischen Dingen völlige
Laien, denen vorgeworfen werden konnte, daß sie das, was sie verurteilten, nicht
verstanden. Und ähnlich stand es mit dem nationalen Moment. Daß ein Volk einen
Charakter habe, so gut wie ein Individuum und nicht schematisiert werden könne,
das wurde bald Gemeinplatz. Wir lesen einen solchen Satz z. B. in einer Jugend¬
schrift Disraelis. Daß in nationalen Fragen jedes rein ökonomische Argument so gut
wie aufhört, mußte jedermann klar sein, außer dem kleinen Kreis Benthams. Daß
in jedem Volk ein gemeinsamer Fonds von Ideen, Gefühlen, Dispositionen usw.
lebt, der so unabschüttelbar ist wie die Berge seines Landes — das stellt der
Wissenschaft neue Probleme, aber es löst sie nicht und es berührt jenes nicht, das die
Klassiker lösen wollten. Nun haben alle diese Gedanken auch ökonomische Schrift¬
steller berührt, aber diese konnten sich an ökonomischer Einsicht und analytischer
Kraft mit den besten Klassikern nicht messen. Hierher gehört im 18. Jahrhundert
schon Justus Möser (Patriotische Phantasien 1774—78 u. a.). Doch alle
Bewunderung für seinen Gedankenreichtum kann uns das Urteil Roschers
(Tübinger Zeitschrift 1865) nicht verständlich machen.
Hierher gehört auch A. Müller (Elemente der Staatskunst 1809, Versuch
einer Theorie des Geldes 1816) und Th. v. Bernhardi (Versuch einer Kritik
der Gründe, die für großes und kleines Grundeigentum angeführt werden 1849).
So groß die Kluft ist, die den Genossen Gentz’ und Hallers von dem preußischen
Legationsrat als Menschen trennt und so verschiedene Einflüsse beide formten —
rein wissenschaftlich gehören sie zusammen. Ihre Kritik der Klassiker ist verfehlt
und oberflächlich, auf dem theoretischen Gebiet fehlt ihnen, wenn auch Bernhardi x )
weniger als Müller, Schärfe und tieferes Verständnis, aber sie teilen das Verdienst,
die wesentlichen Punkte einer ökonomischen Soziologie klar erkannt zu haben. Was
bei Burke nur gelegentlich aufleuchtet und was man bei ihm hinter seiner Verachtung
der soziologischen Ideen der „Aufklärungsliteratur“ nur ahnen kann, ist bei ihnen
klar erkannt. Hier kommt vor allem ihre „ethisch-organische“ Auffassung der Volks¬
wirtschaft 2 ) in Betracht, die Erkenntnis von der Einheit des Kulturlebens einer Na¬
tion und den Notwendigkeiten, die es in sich trägt. Auch haben sie beide Ansätze
zu einer reichern und tiefem Psychologie. Aber sie haben wenig positiven Weg
zurückgelegt. Bei A. Müller findet sich der Gedanke, daß die „produktiven Kräfte“
einer Nation mit Rücksicht auf ihre wirtschaftliche Zukunft sowohl als auch auf ge¬
sunde soziale Verhältnisse eine über ihre bloße produktive Rolle in der Gegenwart
hinausgehende Bedeutung haben. Dieser Gedanke findet sich in dieser Zeit auch
sonst, besonders in Amerika (vgl. T a u s s i g, Tariff History of the United States)
und Frankreich (D u p i n, Situation progressive des forces de la France 1827 und
C h a p t a 1, De Tindustrie frangaise) und er wurde unter diesen Einflüssen in Deutsch¬
land mit besonderer Energie entwickelt durch F. List (Hauptwerk: Nationales
System der Politischen Oekonomie 1840). Bei diesem tritt die von den Klassikern
so vernachlässigte Tatsachengruppe der nationalen Entwicklung in der glücklichsten
Formulierung hervor, um zum erstenmal konkrete und auch dem modernen Ge¬
schäftsmann, der nichts für romantische Mystik übrig hat, einleuchtende Anwen¬
dung zu finden, bekanntlich auf dem Gebiet der Zollpolitik. Hier kommt vor allem
sein Beitrag zur ökonomischen Soziologie in Betracht, die Auffassung der nationalen
Volkswirtschaft in ihrer historischen Bedingtheit und in ihrer historisch einzigartigen
Verumständung, die er durch seine genial-leichtsinnige und überaus wirksame Lehre
0 Bernhardi zeigt durch gelegentliche Bemerkungen, wie daß die Höhe des Lohns von der
Produktivität der Arbeit abhängig und daß es der theoretische Grundirrtum der Klassiker
sei, die Arbeit allein für produktiv zu halten, immerhin Originalität und richtigen Blick.
*) ln Amerika gab es ebenfalls eine Strömung nach diesem Gesichtspunkt hin, so z. B.
bei Raymond. Nur daß sich hier dieser Gesichtspunkt, wie ja sachlich durchaus möglich,
mit der Theorie ganz gut verträgt.
III. Das klassische System.
71
von den vier Entwicklungsstufen weiten Kreisen zugänglich machte. Die Verdienste
dieses glänzenden Schriftstellers und sein Erfolg waren sehr groß. Er ist nicht ohne
Anspruch auf eine Stellung in Deutschland, die mit der Smith* in England eine
gewisse Analogie hat. Nur dürfen wir nicht vergessen, daß die praktische Seite
seiner Lehre ihn vor allem auf dieses Piedestal stellt. Wissenschaftlich hat er mit richti¬
gem Blick Zeitideen, die in Amerika schon vor ihm Gemeingut und selbst in Deutsch¬
land schon ausgesprochen waren (Nebenius, Schmitthenner, Föppl) aufgenommen
und glänzend vertreten, aber er hat kaum etwas Originelles geschaffen. Es hat ihn
ferner seine nähere Bekanntschaft mit der ökonomischen Theorie oder doch ihren
leichteren Autoren und mit den Verhältnissen fremder Volkswirtschaften vor man¬
chen Fehlem, Mißverständnissen und Engherzigkeiten bewahrt, aber seine rein
ökonomischen Leistungen sind nicht besonders tief. Es ist auch nicht richtig, ihn
als einen Vorläufer der historischen Schule zu bezeichnen — oder doch nur in einem
weitem Sinn als es für eine Dogmengeschichte zweckmäßig ist. Denn dazu reichen
Berührungspunkte in den Resultaten nicht aus. Und seiner Methode
nach war er vor allem ein Schriftsteller wirtschaftspolitischer Zeitfragen, und sodann,
in seinem System, ebenso Theoretiker wie etwa Carey. Es ist immer peinlich, so
glänzenden Ruhm analysieren zu müssen. Aber es muß einmal mit der Gewohnheit
gebrochen werden, die stets wissenschaftliche und praktische Bedeutung zusammen¬
fallen läßt und zwischen siegreicher Verkündigung des Wortes der Zeit und wissen¬
schaftlicher Leistung nicht unterscheidet 1 ).
In Frankreich gab es viele Angriffe auf die Gesamtauffassung der Klassiker.
Nennen wir nur Si smondi und St. Simon. Der erstre bringt die Anschauungen
jener weiten Kreise zum Ausdruck, denen der ganze Geist des klassischen Systems
widerstrebte und die Abneigung gegen den Kapitalismus zum Anlaß einer mehr
scheinbar als wirklich sehr weitgehenden Sozialkritik wurde. Diese Strömung gibt
seinem Namen ein Lustre, das rein wissenschaftlich nicht zu erklären ist. Seine
ökonomische Bildung verdankte er Smith, aber historische Arbeit führte ihn später
aus dessen Bahnen heraus. Smith* Nachfolger bekämpfte er — und die in seinem
Einflußkreis Stehenden taten dasselbe — hauptsächlich mit dem ethischen Moment,
das in ihrer Hand kaum mehr als ein Mißverständnis der Absichten der Klas¬
siker bedeutet. In diesem Kreise besonders verbreitete sich jene naive Auffassung,
die am schärfsten Droz (Economie politique 1829) formuliert hat, daß die Klas¬
siker das Wirtschaftsleben als Selbstzweck betrachteten, wie wenn nicht die Pro¬
dukte für die Menschen, sondern die Menschen für die Produkte da wären. Sehr
schwach ist Sismondi vor allem als Theoretiker: Es ist verfehlt, in seinen Phrasen
vom Mehrwert mehr zu sehen, als den Ausdruck der Popularmeinung, daß die obern
Schichten der kapitalistischen Gesellschaft auf Kosten des Proletariats leben. Und
nur wenig läßt sich für seine Krisentheorie anführen. Doch bieten seine Werke
immerhin die Elemente zu einer andern Auffassung des Wirtschaftslebens dar als
die der Klassiker. Ob er als Vorläufer der historischen Schule zu betrachten ist,
wird von dem Kriterium abhängen, das man für sie charakteristisch hält. Sein Ver¬
hältnis zu ihr ist ähnlich wie sein Verhältnis zu Marx: In beiden Fällen hat sich der
Dogmenhistoriker vor einer Uebertreibung einer vielleicht ja bestehenden Beziehung
zu hüten, die das Bild nur entstellt. Als Historiker kommt diesem Forscher, als
x ) Hätte ich genügend Raum, so würde ich auf einen Punkt des Gedankenkreises Rod-
bertus* eingehen müssen. Er wirft den Klassikern vor, sie hätten in die allgemeine Theorie
der Wirtschaft historische, nur einzelnen Organisationsformen eigene, Elemente hineinge¬
zogen und für allgemein gehalten. Dieser Vorwurf ist nur zum Teil begründet, denn schon
bei A. Smith finden sich Ansätze zu jener Unterscheidung, die heute besonders von A. Wagner
betont wird, die Unterscheidung zwischen der Ökonomischen und der historisch-rechtlichen
Kategorie. Aber Rodbertus hat sie zuerst scharf und bewußt formuliert. Auch bei Marx
findet sie sich der Sache nach, ebenso bei Proudhon (Qu’est-ce que la propri6t6? 1840).
72 1. Buch All: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. III
Menschen und Sozialpolitiker diesem integren, von sozialen Sympathien erfüllten
Charakter natürlich eine ganz andre Stellung zu >).
St. Simon (Hauptwerke: Du Systeme industriel 1821, Nouveau Christianisme
1825) wird oft alles rein wissenschaftliche Verdienst abgesprochen. Und sicher
liegt darin nicht seine Bedeutung. Aber seine Originalität und Tiefe überwindet
doch in manchen Punkten seine Prophetenneigungen. Es ist erstaunlich, wie viele
seiner Ideen wir später in der Wissenschaft wiederfinden. Nicht bloß auf die Sozia¬
listen, auch auf J. St. Mill und M. Chevalier hat er gewirkt. Für uns kommt nur seine
Kritik des Eigentums in Betracht, die auf der Auffassung desselben als einer ver¬
änderlichen sozialen Institution beruht und der Scholastik Proudhons über diesen
Punkt weit überlegen ist. Wir wollen hier einige Worte über dieses Thema ein¬
schalten, das ja in der ökonomischen Literatur bis heute eine große Rolle spielt,
wenngleich die exakten Leistungen dabei nicht innerhalb der Nationalökonomie,
sondern im Nachbargebiet der Soziologie erwachsen sind. Die Klassiker nahmen
die Institution des Eigentums, ebenso wie etwa die Tatsachen der Arbeitsteilung
und der freien Konkurrenz einfach hin, ohne sie viel zu diskutieren — vom Stand¬
punkt ihrer Zwecke durchaus mit Recht. Wie sie keine Soziologie im Sinne eines,
tiefem Einblicks in das soziale Geschehen hatten, so hatten sie auch keine Soziologie
im Sinn einer befriedigenden Theorie der sozialen Institutionen und Organisations¬
prinzipien. Dabei kommt allerdings bei den Meisten der — für ihre ökonomischen
Resultate im übrigen irrelevante — Glaube zum Ausdruck, daß das Privateigentum,
über dessen verschiedene Formen sie sich weiter keine Gedanken machten und das
sie einfach in der Form betrachteten, die ihnen ihre Zeitverhältnisse darboten —
ebenso wie sie mit dem Worte „Konkurrenz“ immer mehr oder weniger gerade jenes
Maß von Konkurrenz meinten, daß in ihrem Gesichtskreis dem Verhalten des ge¬
achteten Durchschnittsgeschäftsmannes entsprach —, etwas in der Natur der Sache
Begründetes, Unabänderliches und zum sozialen Wohle Führendes sei. Nur wenige,
wie z. B. John St. Mill waren freier in dieser Beziehung. Ueber die Entstehung des
Eigentums stellten sie ex officio keine Behauptungen auf. Bei manchen Klassikern
und Epigonen wirken naturrechtliche Anschauungen herein und in deren Gefolge
die Ansicht, daß alles Eigentum — auch das an Grund und Boden — erarbeitet oder
erspart sei, jene Ansicht, die Marx als „Kinderfibel“ bezeichnete und die man zu¬
nächst auf Locke und dann weiter in bekannter Weise zurückverfolgen kann. Allein
das trifft nicht die Majorität. Bezüglich des Grundeigentums finden wir — und
zwar bei Smith, bei dem man sonst immerhin eher von naturrechtlichen Einflüssen
sprechen kann als bei den andern — den Ausdruck „appropriation of land“, was wohl
mit Okkupation zu übersetzen ist und auf historisch nicht allzu falsche Ideen in
dieser Beziehung hindeutet. Mit der Erklärung des übrigen Eigentums durch Sparen
steht es freilich schlimmer. Wohl ist in einem Sinn das Sparen Voraussetzung für
das Entstehen von Kapitalbesitz — er kann nicht entstehen und sich vermehren,
wenn aller Ertrag sofort konsumiert würde. Allein das ist selbstverständlich und
viel wichtiger ist die Frage, woher das kam, was zuerst erspart und zur Grundlage
weiterer Kapitalbildungen wurde. Darauf nun ist vom Standpunkt der Klassiker
zu antworten: Dieser erste Gütervorrat kam aus dem Ertrag der Arbeit der künftigen
Kapitalisten, Kapitalisten wurden jene Arbeiter und ihre Nachfolger, die zum Unter¬
schied von andern Arbeitern den Ertrag ihrer Arbeit nicht verzehrten, sondern er¬
sparten. Damit war zweifelsohne auch ein realer Vorgang beschrieben aber nur
einer von mehreren wirklichen. Die St. Simonisten, Proudhon, Rodbertus, Marx u. a.
stellten dieser Theorie eine andere gegenüber, die zunächst das Grundeigentum —
darin liegt also kein Gegensatz zu den Klassikern, sondern nur ausdrückliche For¬
mulierung eines auch diesen nicht fremden Gedankens — und sodann auch das Ka-
*) ln mancher Beziehung gehört de Villeneuve-Bargemont hierher (Eco-
nomie politique chr^tienne 1834), an den sich eine Reihe „christlicher“ Oekonomen anschlie¬
ßen. Seine Bedeutung liegt vollends ausschließlich auf dem Gebiet politischer Anschauungen.
III. Das klassische System.
73
pitaleigentum aus der Stellung der Eigentümer in der sozialen Herrschaftsorgani¬
sation erklärte und aus der dadurch gegebenen Macht zur ausschließlichen An¬
eignung der Kapitalgüter, bzw. der Arbeitskraft zu ihrer Erzeugung. Dieser
Gedanke erhielt sich bis zu manchen Schriftstellern der Gegenwart. Aber alle
Spätem standen unter dem Einfluß der Auffassung des Eigentums als Reflex der
sozialen Organisation und sie fand ihren schärfsten Ausdruck in der „Legaltheorie“
A. Wagners. Wie gesagt, fand das Problem vornehmlich außerhalb der National¬
ökonomie seine historische und soziologische Behandlung (Arnold, Letourneau,
Laveleye, Felix u. a.), aber diese Erörterungen haben doch auch auf die ökonomische
Theorie und den ganzen Geist ihres Betriebs gewirkt.
8. Die „Nationen“ der Klassiker waren nicht einfach amorph, sie gliederten
sich in Klassen: Die Klasse der Grundherrn, die der Arbeiter und die der Kapitalisten.
Diese Klassen waren vor allem Hypostasierungen ökonomischer Funktionen und
Interessen, aber sie waren keine bloßen Abstraktionen, sondern sollten mit den un¬
mittelbar gegebenen sozialen Klassen zusammenfallen. Deshalb verstanden die
Klassiker unter „Arbeitern“ in der Regel nicht alle jene, deren Einkommen als
Arbeitslohn zu qualifizieren ist, sondern vor allem die „Handarbeiter“, jene Leute,
an die man beim Worte „Arbeiterfrage“ denkt, also nicht einfach an eine ökono¬
mische Kategorie von Wirtschaftssubjekten, sondern meist an eine soziale Klasse.
Der Begriff der „Grundherrn“ wurde von Senior in Besitzer von „natural agents“
präzisiert. Die Kapitalistenklasse ist wesentlich durch das Moment des Beschäf¬
tigen von Arbeitern, des Beistellens der Arbeitsmittel und des Vorschießens des Un¬
terhalts für die Arbeiter charakterisiert. Eine besondre Unternehmerfunktion wird
daneben zunächst nur von Say unterschieden, dem in diesem Punkt ein großes Ver¬
dienst zuzuschreiben ist, später auch von andern, unter den Engländern zuerst von
John St. Mill. Doch hat sich jenes Zusammenwerfen beider Funktionen bis auf heute
erhalten. Eine nähere Analyse des Klassenphänomens, namentlich der Ursachen
der Entstehung der Klassen und jener zum großen Teil außerökonomischen Momente,
die die Klassen zu geschlossen vorgehenden Einheiten machen und in denen die
tiefere Bedeutung der Klassenbildung liegt, haben sie nicht versucht. Nur Marx
und seinem Kreise ist aber auch die positive Behauptung eigen, daß das wirtschaft¬
liche Moment das Wesen derselben ausmache — die andern haben sich in dieser
Beziehung nicht festgelegt. Die exakte Untersuchung des Klassenphänomens ge¬
hört einer spätem Zeit an und wurde vor allem von Soziologen, aber auch von Na¬
tionalökonomen (Schmoller, Bücher) gefördert. Carey und Bastiat haben eine
Interessenharmonie der ökonomischen Klassen nachzuweisen gesucht, bei Smith
und Ricardo tritt mehr das entgegengesetzte Moment hervor. Allein darin liegt kein
besonders scharfer Gegensatz, vielmehr fast nur eine verschiedene Betonung der
einzelnen Tatsachengruppen: Die Beziehungen zwischen den Klassen sind so viel¬
gestaltig, daß Interessengemeinschaften und -gegensätze fast stets gleichzeitig vor¬
handen sind, und es hängt dann vom gewählten Standpunkt ab, ob die eine oder der
andre mehr hervorgehoben wird. Der Gedanke des Klassenkampfes als Erklärungs¬
prinzip sozialen Geschehens ist mit voller Schärfe erst von Marx betont worden
und Anklänge an ihn finden sich nur in der frühsozialistischen Literatur.
Das allgemeine Bild des Wirtschaftsprozesses, das die Klassiker entwarfen,
entbehrt nicht des historischen Moments. Aber entsprechend ihrem analytischen
Vorhaben ist dasselbe nur auf eine Andeutung beschränkt (vgl. z. B. Mill, ed. Ashley,
p. 20). Es zerfällt meist in eine Produktions-, Zirkulations- und Verteilungstheorie,
wozu auch öfters — mitunter an Stelle der Zirkulationstheorie — eine Konsumtions¬
theorie kommt. Die Elemente dieser Systematik finden sich schon bei Smith, klar
tritt sie bei Say hervor und etwa zu gleicher Zeit in Deutschland. Sie blieb be¬
stimmend für die Folgezeit, nur daß mit Zunahme des Interesses für die soziologischen
Grundlagen später noch ein Kapitel über die „Bedingungen“ der Wirtschaft hin¬
zutrat. Eine bis ins Einzelne bestimmte Systematik hat sich nicht ausgebildet und
74 I. Buch All: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. III
diese Bemerkungen gelten nur sehr annäherungsweise. In Deutschland tritt bald
die Scheidung zwischen Volkswirtschaftslehre und Volkswirtschaftspolitik oder zwi¬
schen allgemeiner und spezieller Volkswirtschaftslehre hervor, die in Deutschland
auch die Regel blieb, außerhalb Deutschlands aber wenig Beifall fand. — Die Lehre
von den drei Produktionsfaktoren kann ebenfalls Say zugeschrieben werden und ist
nicht einfach schon in A. Smith enthalten. Sie setzte sich in Deutschland schnell,
in England aber sehr langsam durch. Eine originelle Form gewinnt sie bei Senior,
der labour, natural agents und abstinence als die drei Produktionsfaktoren bezeichnet,
die meisten Klassiker zeigen aber eine Neigung, entweder nach dem Vorgang Pettys
nur zwei ursprüngliche Produktionsfaktoren anzunehmen (so John St. Mill. Heute
wird diese Auffassung unter dem Einfluß v. Böhm-Bawerks herrschend) oder
nur die Arbeit als solchen gelten zu lassen — daher ihre Identifizierung von
„Produzenten“ und „Arbeitern“. Die Tragweite dieser Auffassungen ist von Autor
zu Autor verschieden und oft nur schwer einzuschätzen. Doch können wir darauf
nicht weiter eingehen. — Die Schriftsteller dieser Epoche halten meist an dem phy-
siokratischen „Vorschußgedanken“ fest — nur daß die Vorschüsse, die die Arbeiter
erhalten und die Produktionsmittel beistellen, bloß von den Kapitalisten und nicht
auch, wie bei den Physiokraten, von den Grundherrn ausgehen — und nur wenig
Opposition—besonders in Deutschland—erhob sich dagegen. Dann auch an der Vor¬
stellung vom Sozialprodukt und seiner „Verteilung“. Bezüglich des Nähern über die
Begriffe Sozialprodukt, Sozialeinkommen, Sozialkapital muß hier auf die vorhan¬
denen Dogmengeschichten verwiesen werden. Nur ein Punkt sei erwähnt. Rod-
b e r t u s (Das Kapital, p. 78, 230) u. a., z. B. Held (Die Einkommensteuer
1872), haben den Klassikern vorgeworfen, sie hätten die sozialen Begriffe und sozialen
Gesamtheiten des Einkommens und des Kapitals vernachlässigt und sich zuviel
mit individuellem Einkommen und Kapital beschäftigt. Das ist nicht ganz richtig.
Ricardo trifft diese Bemerkung gar nicht. Erst durch Mill wurde der zuerst von
den Franzosen durchgeführte „Unternehmerstandpunkt“ der Betrachtung in die
englische Oekonomik eingeführt. Aber auch das geschah nicht, weil man dem Unter¬
nehmer eine Ehre erweisen wollte oder seinen Vorteil für besonders wichtig hielt,
sondern einfach deshalb, weil der Unternehmer auf einer Stelle in der Volkswirt¬
schaft steht, von der aus man einen weiten Ausblick in ihr Getriebe haben kann, und
weil seine Ueberlegungen in der Verkehrswirtschaft ein sehr wesentliches Triebrad
bilden. Uebrigens besteht gar kein prinzipieller Gegensatz zwischen beiden Be¬
trachtungsweisen.
Das leitende Prinzip der klassischen Oekonomik war das Prinzip des Selbst¬
interesses. Nur eine Minorität von Autoren hat es — und zwar in verschiedenen
Formen — ausdrücklich formuliert, so z. B. Senior und John St. Mill. Ursprünglich,
bei A. Smith, tritt es uns als das fundamentale Motiv des wirtschaftenden Men¬
schen entgegen: Nicht vom Wohlwollen, sondern vom Selbstinteresse des Bäckers
erwarten wir unser Brot, lehrt Smith (vgl. darüber auch R e i n h o 1 d: Die be¬
wegenden Kräfte der Volkswirtschaft). Später wechselt das Prinzip seinen Cha¬
rakter und wird zur Annahme, die einen bestimmten Typus des Handelns cha¬
rakterisieren soll, oder seinen Inhalt, indem es zum „wirtschaftlichen Prinzip“
wird. Schon in seiner ursprünglichen Form wird das Prinzip nicht einfach von den
populären Einwendungen seiner Grundbedeutung beraubt. In seinen spätem For¬
men enthält es auch nicht den Schatten konkreter Behauptungen mehr.
Das wirtschaftliche Prinzip ist aber nicht geeignet ein Charakteristiken eines
ökonomischen Systems zu bilden, denn keine Erörterung wirtschaftlicher Dinge
kann seiner entraten. Man mag es einschränken, man kann es sehr verschieden
formulieren und eventuell auch darstellerisch verschwinden lassen, aber bewußt oder
unbewußt muß man sich seiner — selbst in der historischen Erzählung wirtschaft¬
licher Dinge — bedienen. Aber zwei andere Sätze sind für das klassische Bild der
Wirtschaft nicht bloß von großer, sondern auch von charakteristischer Bedeutung,
III. Das klassische System.
75
das Gesetz vom abnehmenden Bodenertrag und das „Bevölkerungsprinzip“. Keines
von beiden ist rein wirtschaftlich und in diesem Sinn unentbehrlich für eine ökono¬
mische Theorie: Das erstere formuliert eine technische Tatsache, das letztere einen
Punkt menschlicher Naturgeschichte.
Obgleich wir in der wissenschaftlichen Literatur das Gesetz vom abnehmenden
Bodenertrag schon im 18. Jahrhundert finden (Turgot, Ortes), so tritt uns in den
englischen wirtschaftspolitischen Diskussionen des Anfangs des 19. Jahrhunderts
(vgl. Cannan 1. c.) die entgegengesetzte Ansicht entgegen, daß vermehrte Kapital¬
aufwendungen in der Landwirtschaft ebenso wie in der Industrie von sinkenden
Einheitskostensätzen begleitet seien. Erst durch Anderson, Malthus, West und
Ricardo wird die Auffassung herrschend, daß zwischen Landwirtschaft und Industrie
in dieser Beziehung ein wesentlicher Unterschied bestehe und für die erstere ein Ge¬
setz des abnehmenden, für die letztere ein Gesetz des zunehmenden Ertrages gelte.
Wir werden dieses Thema noch bei der Grundrententheorie berühren und wollen hier
nur feststellen, daß der Satz von dem sinkenden Ertrag oder den steigenden Ein¬
heitskosten in der Landwirtschaft in der französischen und deutschen Literatur eine
wesentlich geringere Rolle spielt als in der englischen. Prinzipiell bekämpft wurde er
nur wenig — allerdings bis auf den heutigen Tag — und ohne Erfolg. Aber mehr als
seine tatsächliche Richtigkeit ist sein Wert für die Oekonomie in Zweifel gezogen
worden. Bei den Klassikern nun hat der Satz zwei ganz verschiedene Bedeutungen.
Zunächst soll er eine überall und in dem täglichen Werk einer jeden Wirtschaft zu
beobachtende Tatsache erfassen. Jede weitere gleichgroße Kapital- oder Arbeits¬
aufwendung auf Grund und Boden soll einen geringeren Roh- und Reinertrag ab¬
werfen, wenn die Produktionsmethode die gleiche bleibt. Diese Einschränkung ist
nötig: Eine Verbesserung der Methode setzt für den Moment des Uebergangs zu ihr
diese Tendenz außer Kraft. Dabei besteht bei den Klassikern und besonders bei
Ricardo ein fester Parallelismus zwischen der Kapital- und der Arbeitsaufwendung:
Die Verdoppelung der Arbeiter macht auch eine Verdoppelung der Kapitalaufwen¬
dung nötig. Läßt man diesen Parallelismus fallen, so kann man mehrere Resultate
Ricardos nicht akzeptieren. Die Klassiker machten sich ferner keine weiteren Ge¬
danken über die Skala der Ertragsabnahme in verschiedenen Ländern, auf ver¬
schiedenen Grundstücken und bei verschiedenen Kulturgattungen auf demselben
Grundstück, sondern sie nahmen sie einfach als in allen diesen Fällen gleich an.
Daraus erwuchsen Einwendungen, die aber das Wesen der Sache nicht treffen und
höchstens eine Verbesserung der Form erzwingen können. — Dann aber waren die
leitenden Klassiker auch der Ansicht, daß schließlich die Beschränktheit der Menge
der besseren Böden und die wachsenden Schwierigkeiten der Mehrproduktion auf
allen Böden den Sieg über die Möglichkeiten der Produktionsverbesserungen davon¬
tragen und die Ausdehnung der Nahrungsmittelproduktion auf unüberwindliche
Schranken stoßen würde. Während das Gesetz vom abnehmenden Bodenertrag
in der ersten Bedeutung ein wesentliches Werkzeug des theoretischen Gedanken¬
gangs war, ist es das nicht in dieser zweiten, die nur eine mehr oder weniger inter¬
essante Prognose der künftigen konkreten Gestaltung der Dinge ist. Aber
umso wichtiger war diese zweite Bedeutung für den Gesamteindruck des klassischen
Bildes. Sie gibt ihm allein den so oft — und so oft mit Unrecht — hervorgehobenen
„pessimistischen“ Zug und erklärt die Stellungnahme der Klassiker in vielen prak¬
tischen Fragen und ihre Betonung gewisser Tatsachen und Entwicklungsreihen unter
Vernachlässigung anderer.
Bevölkerungsfragen haben die Nationalökonomen von alters her interessiert und
von altersher kamen die beiden Gesichtspunkte der Bedeutung einer starken Be¬
völkerungsvermehrung für nationale Größe und Kulturentwicklung und der Gefahr
der — sehr verschieden definierten — „Uebervölkerung“ in Betracht. Bis in die
Mitte des 18. Jahrhunderts herrscht der erste Gesichtspunkt vor, aber der zweite
fehlte auch damals nicht. So sagt schon B o t e r o (1589 delle cause della grandezza
76 I. Buch All: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. III
della citta) *), daß die virtus nutritiva fortschreitend abnehme, während die virtus
generativa gleichbleibe. Von den Physiokraten an herrscht diese Auffassung. Ques-
nay, der Mirabeau, der ursprünglich die Bevölkerungsvermehrung gerade als die
treibende Kraft der Reichtumsentwicklung betrachtete, zu ihr bekehrte, meinte:
„La population n’a de bornes que celles de la subsistance et eile tend toujours ä passer
au delä“, ein Satz, der alles Entscheidende schon enthält. Ansätze in dieser Rich¬
tung finden sich bei Genovesi, Turgot, Steuart u. a., bei Ortes dagegen finden wir
bereits jene so berühmt gewordene Formulierung, daß sich die Bevölkerung in einem
„geometrischen Verhältnis“, die Nahrungsmittel nur in einem „arithmetischen Ver¬
hältnis“ zu vermehren tendieren, und J. Townsend(A Dissertation on the Poor
Laws 1786; enthalten in Overstones „Select tracts“ 1859) argumentierte in ganz der¬
selben Weise, als es später geschah, gegen die Schwächung der Bremse der Bevölke¬
rungsvermehrung, die ihm die Armengesetzgebung zu involvieren schien, — der
Bremse, die in der auf unbesonnener Vermehrung stehenden Strafe des Hungers be¬
stand. Damit wird der subjektiven Originalität Malthus’ kein Eintrag getan, denn
er kannte alle diese Vorläufer kaum, wenn auch einen anderen: W a 11 a c e (Various
Prospects of Mankind, Nature and Providence 1761), der aber viel weniger weit
vorgedrungen war 2 ). Als im Jahre 1793 W. Godwin seine Enquiry concerning
political justice and its influence on general virtue and happiness publizierte, trat
Malthus ihm entgegen (An Essay on the principle of population 1798). Godwin hatte
in Condorcetschem Geist von der unbeschränkten Möglichkeit der Vervollkommnung
der menschlichen Kultur und des menschlichen, an sich ganz farblosen, bei allen
Individuen prinzipiell gleichen und durch die Umstände unbeschränkt bildsamen
Geistes gefabelt. Weder Godwin 3 ) noch Condorcet noch ihre Nachfolger — zu ihnen
gehört u. a. R. Owen — interessieren uns hier. Aber ihr literarischer Erfolg war groß.
Niemand — und auch Malthus nicht — war damals imstande die Grundfehler dieser
Auffassung, die in ihrer ganzen Psychologie und Soziologie liegen, klar zu erfassen.
Soweit hätte man ihr vielmehr zustimmen müssen, denn die Grundlagen dieser Auf¬
fassung waren eben die der Zeitrichtung. Aber auf die äußern Hindernisse, denen
dieser prinzipiell grenzenlose Fortschritt begegnet, verfiel man bald. Und Malthus
hob eins von ihnen scharf hervor, die Bevölkerungsvermehrung bei Beschränktheit
des Nal.rungsmittelspielraums. Dabei schoß er zunächst über das Ziel: Er sprach von
Laster und Elend als den einzigen Hemmungen. In der zweiten Auflage, die unter
etwas verändertem Titel erschien, kam der „moral restraint“ hinzu (1803). Und die
Theorie gewinnt nun die Form, daß die Bevölkerung sich über den Nahrungsmittel¬
spielraum zu vermehren tendiere und Laster und Elend ihr Los werden müsse,
wenn der „moral restraint“ nicht wirksam sei. Der zahlenmäßigen — mit der
Ortes* übereinstimmenden — Formulierung legt Malthus selbst kein Gewicht bei
— lag darin doch nichts anderes als eine rohe Erfassung und Verallgemeinerung der
Zeitverhältnisse. Die Leistung Malthus’ kann uns unmöglich in demselben Licht
erscheinen wie manchen Zeitgenossen. Er präzisierte und verifizierte nur einen vor¬
handenen und, soweit richtig, recht banalen Gedanken. Die Erklärung Darwins,
daß er aus Malthus’ Werk Anregungen empfangen habe, kann dem letztem kaum
0 B o t e r o beeinflußte Adam (zu unterscheiden von dem schon genannten und noch
zu nennenden James) Anderson, An historical and chronological deduction of the Origin
of Commerce 1787—89 (vollendet von Courbe).
*) Zwischen Wallace und Hume hatte sich eine Kontroverse über die Bevölkerungs¬
zahl in der antiken Welt entsponnen, in der vielfach die Frage der Bevölkerungsvermehrung
berührt wurde und die auf das Problem viel Einfluß nahm.
3 ) Auch der „Agrarsozialist“ Thomas Spence (the meridian sun of liberty . . .
1776) wäre hier zu nennen als einer von den vielen Vertretern der egalitären Systeme der Zeit.
Ich kann auf diese Literatur, deren wissenschaftliche Bedeutung sehr gering ist, nicht ein-
gehen. Vgl. P. G u t z e i t, Die Bodenreform; A. M e n g e r, Recht auf den vollen Ar¬
beitsertrag; Held, Zwei Bücher zur sozialen Geschichte Englands (1881); G. Adler,
Einleitungen zu den Ausgaben der „Hauptwerke des Sozialismus und der Sozialpolitik“;
Niehuus, Geschichte der englischen Bodenreformtheorien.
III. Das klassische System.
77
viel Lustre geben angesichts der Tatsache, daß keiner der entscheidenden Gedanken
Darwins bei Malthus auch nur angedeutet ist, hingegen alle entscheidenden Gedanken
auf andere Quellen (E. Darwin, Buffon usw.) zurückgehen. Bei der Abschätzung der
Bedeutung des Bevölkerungsprinzips für die Nationalökonomie ist zu unterscheiden:
Für den theoretischen Kern des klassischen Gebäudes hat es überhaupt keine Be¬
deutung: Das klassische System bliebe was es ist, wenn man das Bevölkerungsprinzip
daraus streichen würde. Aber umso größer ist dessen Bedeutung für die Bestimmt¬
heit und den scheinbaren praktischen Erkenntniswert mancher Resultate. Wo die
reine Oekonomik aus sich heraus nur allgemeine Bestimmungsgründe angeben, aber
nichts über den konkreten Gang der Dinge aussagen kann, wie z. B. bezüglich der
Lohnhöhe, da springt mitunter das Bevölkerungsprinzip ein und führt zu Behaup¬
tungen von der gewünschten Konkretheit und Präzision. Natürlich kann es das
aber nur, wenn man die von Malthus selbst angebrachte Einschränkung tunlichst
leicht nimmt, denn der moral restraint, wenn wirksam, hemmt das Andrängen der
Bevölkerung gegen die vorhandenen Mittel und vernichtet jede Möglichkeit bestimm¬
ter konkreter Behauptungen wieder. Das taten dann auch manche Nationalöko¬
nomen, vor allem J. Mill und Mc Culloch und ihre Schuld ist es, wenn spätere Kri¬
tiker Einwendungen vorbrachten, die Malthus selbst schon berücksichtigt hatte.
Solche Kritiker meldeten sich sehr bald. So replizierte Godwin (Of Population
1820). Man stellte die Beschränktheit des Nahrungsmittelspielraums in Abrede
oder vertagte sie in eine ferne Zukunft (H a z 1 i 11: A Reply to the Essay on Popu¬
lation 1807; seither viele) oder man negierte jede Tendenz der Bevölkerung, sich über
den Nahrungsmittelspielraum hinaus zu vermehren (Gray: Happiness of States
1815; S a d 1 e r: The Law of Population 1830, stellt den Satz auf, daß die Bevölke¬
rungsvermehrung in umgekehrtem Verhältnis zur vorhandenen Zahl stehe — eine
sehr schlechte Form eines nicht ganz unglücklichen Gedankens, der in seiner Art
nicht viel Unrichtiger ist wie der von Malthus. Aber dieses u. a. von Macaulay
:sehr unvernünftig rezensierte Buch hatte keinen Erfolg.). Oder man wies — als E i n-
Wendung ganz mit Unrecht — auf die kompensierenden Momente hin, die in der
Bevölkerungsvermehrung selbst liegen, wie die erhöhte Produktionsfähigkeit, die
Möglichkeit größerer Arbeitsteilung usw. (Everett: New Ideas on Population
1823; seither oft) usw. Die Klassiker und ihre Nachfolger hielten an Malthus fest
(typisch: Senior: Two lectures on population 1831), aber sie kamen nicht wesent¬
lich über ihn hinaus. Auch bei den Gegnern, auf die wir nicht weiter eingehen können,
wiederholen sich später immer dieselben Gedanken. Nach einer Zeit der Feind¬
seligkeit setzte gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine für Malthus freundlichere
Stimmung ein *), aber auch immer größere Gleichgültigkeit für sein Problem inner¬
halb der Nationalökonomie.
9. Das innere Balkenwerk der Theorie dieser Zeit läßt sich mit der allein zu
seinem vollen Verständnis führenden Gründlichkeit nicht in Kürze schildern und
unser Bild muß unvollständig und halbwahr bleiben. Vor allem ist festzuhalten, daß
sogut wie alle Theoretiker dieser Epoche von Smith* ersten beiden Büchern ausgehen,
deren System für die Folgezeit bestimmend blieb und deren Tatsachen- und Ge¬
dankenvorrat man zu vereinheitlichen und tiefer zu analysieren suchte. Manche
Dinge, so die Behandlung der Arbeitsteilung — die nur von Mill etwas verbessert
und nur von einigen, besonders „nationalistischen“ Gegnern unter andere Gesichts¬
punkte gestellt, erst von historischer Seite aber wirklich neugestaltet wurde (Bücher)—
blieben fast unverändert. Andere wichtige Punkte, wie z. B. Konzentrierung der
Betrachtung auf das jährliche Sozialprodukt der Volkswirtschaft und die Idee der
„Verteilung“ dieses Sozialproduktes, die Smith von den Physiokraten lernte, wurden
bis heute festgehalten. Aber innerhalb eines sehr haltbaren Rahmens änderte sich
l ) Vgl. noch: J. G a r n i e r, Du principe de Population, 4. ed. 1837, John, Die
jüngste Entwicklung der Bevölkerungstheorie 1887; Messedaglia, La Teoria della
popolazione . . . 1858; Qu6telet, Physique social 1835.
78 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. III
Vieles, namentlich die Verteilungstheorie. Smith hatte richtig die fundamentale
Bedeutung erkannt, die von allen „Marktpreisen jenen einen „natürlichen“ Preis
auszeichnet, der das Zentrum aller der Oszillationen der ersteren darstellt. Und auf
die Frage, welchen Umständen der natürliche Preis seine relative Konstanz ver¬
danke, antwortete er, daß derselbe gerade ausreiche, um allen an der Produktion
Beteiligten jene Grundrente, jenen Arbeitslohn und jenen Profit zu sichern, die sie
veranlassen, die Produktion im gleichen Ausmaß zu wiederholen. Der natürliche
Preis zerfällt also definitionsmäßig in jene drei Elemente, welche zusammen die
Produktionskosten bilden und deren Höhe über die seine entscheidet. Der Gedanke
bot sich nun von selbst dar, daß wie der einzelne Preis so auch schließlich das ganze
Sozialprodukt in jene drei Elemente zerfalle, und daß daher die Sammlung von
Bemerkungen über die Bestimmungsgründe der Preiselemente, die Smith* Kapitel
über Lohn, Rente und Profit enthalten, zugleich eine Durchführung seiner Preis¬
theorie und eine Verteilungstheorie darstellten. Das war nicht einfach „falsch“, aber
so oberflächlich, daß man sich damit nicht zufrieden gab, vielmehr versuchte, die
eine oder andere Anregung Smith* herausgreifend und konsequent festhaltend, prin¬
zipielle Klarheit in die Sache zu bringen. Dabei stand das Verteilungsproblem be¬
herrschend im Vordergrund der Interesse.
Zwei Richtungen lassen sich unterscheiden. Die eine, zu der im Gefolge von
Say die meisten französischen und im Gefolge von Jakob, Hufeland u. a. die meisten
deutschen Autoren, besonders Hermann, gehören, und in England besonders Lauder-
dale, in gewissem Sinne auch Malthus, und später M a c 1 e o d (Elements of Political
Economy 1858, dann noch andere Arbeiten namentlich über Kredit und Bankwesen)
machte Emst mit der engen Beziehung zwischen Produktionspreis und Einkommens¬
höhe und arbeitete den Parallelismus zwischen Preiselementen und Einkommens¬
zweigen in der Weise aus, daß sich die Erklärung eines jeden der letzteren aus der
produktiven Rolle jedes der drei Produktionsfaktoren, aus dem Service producteur
jedes von ihnen, ergab. Einen zunächst für die Zinstheorie üblich gewordenen Aus¬
druck verallgemeinernd kann man diesen modus procedendi als die Produktivitäts¬
theorie der Verteilung bezeichnen. Zu ihr gehören trotz mancher Besonderheiten
auch Bastiat und Carey dem Grundgedanken nach, in ihrem Gefolge dann Ferrara
und viele Amerikaner, namentlich A. Perry. Dieser Richtung gebührt, vom gegen¬
wärtigen Stand der Disziplin aus gesehen und wegen der Einheitlichkeit ihrer Kon¬
zeption, im Grunde der Vorzug. Allein infolge der beklagenswerten Unfähigkeit
mancher ihrer Vertreter, die zu zahllosen Fehlern und, noch schlimmer, Banalitäten
führte, und infolge des Umstands, daß auf ihrem Boden — nicht trotz, sondern gerade
wegen der großem Korrektheit ihres Vorgehens—sich keine kurzen, präzisen prak¬
tischen Resultate ergaben, trat diese Richtung, obgleich der Unvoreingenommene
nicht verfehlen kann, die überzeugende Einfachheit ihres Grundgedankens zu fühlen,
für lange Zeit — mindestens bis J. St. Mill, der einen Knotenpunkt darstellt — ganz
hinter der andern zurück, deren wichtigste Namen Ricardo und Marx sind. Beson¬
ders für das Verständnis Ricardos — und insoweit er die Säule dieser Richtung war,
für diese ganze Richtung überhaupt — ist es wesentlich sich darüber klar zu sein,
daß für ihn alle Fragen an Interesse ganz hinter der einen zurücktraten, welche kon¬
kreten reinökonomischen Tatsachen die relative Höhe der einzelnen Einkommens¬
zweige bestimmen. Er hat eigentlich keine Wert- oder Preistheorie in unserm Sinn,
nur ganz nebenbei eine Geldtheorie, und er hat im Grunde auch gar keine Zins-,
Lohn- oder Rententheorie in dem Sinn, daß er ihr Wesen hätte erforschen wollen.
Er wollte eine Theorie der generellen und ökonomischen Bestimmungsgründe von
Lohn, Rente und „Profit“ geben, er wollte angeben, unter welchen Umständen und
wie sich dieselben verändern, mit welchen objektiven Tatsachen der Volkswirtschaft
— Bevölkerungsbewegung, Getreidepreis, Zusammensetzung und Größe des Kapitals
usw. — sie in Zusammenhang gebracht werden können. Dabei hielt er es nicht für
nötig, jene Einkommenszweige eigentlich zu erklären oder den Mechanismus näher
III. Das klassische System.
79
zu untersuchen, durch welchen sich jener definitive Zustand, dessen objektive Charak¬
terisierung vor seinen Augen stand, durchsetzt. Was er dazu brauchte, gaben ihm
gewisse empirische und unter sich zusammenhanglose Sätze, wie der von der all¬
gemeinen Profitrate usw., so daß sein Lehrsystem wohl auf einer Grundtendenz
beruht, aber trotzdem keine tiefere Einheit bildet. Die Grundfragen übersprang er
in ähnlicher Weise, wie das in andern Wissenschaften in deren Jugend geschah,
und wo sie dennoch an seinen Weg herandrängten, half er sich gleichsam mit lokalen
Mitteln. So begnügte er sich oft mit Annäherungen, die ihm gelegentlich selbst nicht
genügten. Den lebendigen Zusammenhang zwischen Produkt- und Produktions¬
mittelwert erdrosselte er sozusagen mit seinen konkreten Bestimmungsgründen der
einzelnen Einkommenszweige, und er glaubte das offenbar um so mehr tun zu können,
als niemals die absolute Höhe von Produkt- und Produktionsmittelwert, sondern stets
die relative Höhe der Einkommenszweige untereinander sein Grundproblem bildete.
Aus diesen Sätzen erklären sich viele seiner Resultate und Auffassungen. Aber wenn
sich daraus eine Verteidigung gegen viele Angriffe ergibt, so ergeben sich eben daraus
andre Einwendungen. So sei gleich hier bemerkt, daß Ricardo trotzdem nicht um¬
hin kann, gelegentlich über die absolute Höhe der Quantitäten, um die es sich ihm
handelt, zu sprechen. Dabei bemerkt er selbst nicht immer, daß er seinen Standpunkt
wechselt und noch weniger haben das seine Kritiker bemerkt. Diese Richtung soll
im folgenden vor allem dargestellt werden.
10. A. Smith hatte die Preisbildung in das Zentrum der Theorie gestellt und
diese Stellung blieb ihr fortan gewahrt. Auch Ricardo suchte vor allem nach einem
Index des Tauschverhältnisses und seiner Veränderungen. Er fühlte wohl, daß,
konsequent durchgeführt, der Gedankengang im VI. Kapitel des Wealth unfehlbar
zu einem Zirkel führen müsse. Aber er stimmte gleichzeitig dem ersten Satz dieses
Kapitels zu, daß in primitiven Verhältnissen, d. h. in Verhältnissen, in denen es keine
angesammelten Kapitalien und kein Grundeigentum gibt, die in den einzelnen Gü¬
tern enthaltenen Arbeitsmengen das Tauschverhältnis bestimmen müßten, und
untersuchte nun selbständig, wie sich die Sache für den Fall bestehender Kapital¬
ansammlung und bestehenden Grundeigentums gestalte. Zunächst schaffte er sich
zwei Schwierigkeiten aus dem Weg, die der verschiedenen Qualität der Arbeit —
indem er darauf hinwies, daß die verschiedenen Arten von Arbeit sich bald in ein
festes Wertverhältnis zueinandersetzen, so daß sie sich alle gleichsam auf eine „Nor¬
malarbeit“ zurückführen lassen; ebenso behandelte er die Tatsache der unwirtschaft¬
lichen, für den Tauschwert nicht entscheidenden Arbeitsverwendung, indem er auf die
„nötige“ oder „übliche“ Arbeitsmenge (Marx* gesellschaftlich notwendige Arbeit) das
Gewicht legte; beides im Anschluß an Smith — und die Schwierigkeit, die sich aus
dem Vorhandensein eines zweiten ursprünglichen Produktionsfaktors ergibt, indem er
im Grunde einen produktiven Dienst dieses Faktors nicht anerkennt und seiner Be¬
trachtung im Prinzip jene Produktmengen zugrunde legt, für deren Produktion keine
Rente gezahlt, also nur rentenloses Land verwendet wird, das nach seiner Auffassung
stets vorhanden ist: Dadurch erreicht Ricardo, daß sein fundamentales Tauschge¬
setz, das das Tauschverhältnis zweier Waren gleichsetzt dem Verhältnis der in ihnen
enthaltenen Arbeit, durch die Tatsache des Mitwirkens eines andern Produktions¬
faktors nicht berührt und gleichzeitig, daß das Verteilungsproblem wesentlich verein¬
facht wird, weil es nun eine Produktmenge gibt, für die nicht drei sondern nur zwei
Arten von Anspruchsberechtigten in Betracht kommen. Aber die Verwendung
stehenden Kapitals bewirkt eine Deviation der Wertbildung und zwar aus zwei Grün¬
den. Erstens wird eine Lohnveränderung die Preise jener Güter, bei deren Produk¬
tion verschieden aus konstantem und variablen x ) Kapital zusammengesetztes Ge¬
samtkapital verwendet wird, offenbar verschieden und nur die Preise jener Güter
*) Das sind Marxsche Ausdrücke; Ricardos termini fixed und circulating Capital decken
sich nicht damit, doch macht das für diejenigen Dinge, die hier überhaupt erörtert werden
können, nicht viel aus. Ricardo würde außerdem Marx’ Unterscheidung als die auch von
80 1. Buch All: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. III
gleich affizieren, bei deren Produktion Kapitalien gleicher „organischer Zusammen¬
setzung“ (Marx) verwendet werden, endlich nur die Preise jener Güter gar nicht,
deren Produktionskapital dieselbe organische Zusammensetzung aufweist, wie das
Produktionskapital des als Geld dienenden Guts. Zweitens bringt die Verwendung
stehenden Kapitals eine Verlängerung des Produktionsprozesses mit sich, mithin,
wie die Erfahrung lehrt, die Notwendigkeit einer Zinszahlung für längere Zeit und
— da diese Zeit in den einzelnen Produktionszweigen verschieden ist — eine weitere
Deviation vom ursprünglichen Tauschgesetz. Was ist nun aber dessen Bedeutung
für das Verständnis der kapitalistischen Wirtschaft, wenn Ricardo selbst mit voller
Klarheit einsieht, daß es nicht gilt? Er selbst beantwortet die Frage: Das ursprüng¬
liche Tauschgesetz gilt trotzdem näherungsweise auch in der kapitalistischen Wirt¬
schaft: Die Lohnbewegungen wirken nach ihm nur unbedeutend auf die Tauschver¬
hältnisse der Waren im Vergleich mit deren großer Bestimmungsursache—der Verän¬
derung der zur Produktion nötigen Arbeitsmenge. Eine Ware ferner, deren Produktion
bei gleicher nötiger Arbeitsmenge eine doppelt solange Zeit erfordert als eine andere,
muß wohl einen hohem Tauschwert haben als diese, — aber dessen ungeachtet könne
doch im großen und ganzen als wahrscheinlich angenommen werden, daß zwei Waren¬
mengen, die gleichviel kosten, auch gleichviel Arbeit enthalten. Obgleich Ricardo
völlig anerkennt, daß der Tauschwert einer Ware sowohl von der Zeit, die die Produk¬
tion erfordert wie von der Arbeitsmenge abhängt 1 ) f so ist für ihn das letztere Moment
doch das weitaus wichtigere und besonders, wenn es sich darum handelt, Veränderun¬
gen im Tauschwert zu erklären, das fast allein entscheidende. So verkörperte das
ursprüngliche Tauschgesetz doch eine große Durchschnittstatsache, der gegenüber
alle nicht darunter fallenden Tatsachen sich als Abweichungen von der Regel dar¬
stellen. Insofern sei die in den Gütern steckende Arbeitsmenge („real value“) immerhin
ein Index ihres Tauschwerts—natürlich ist aber der Geldwert der Arbeitsmenge nicht
etwa gleich diesem Tauschwert — und zugleich sein „Regulator“. Nicht aber seine
Ursache. Das hat Ricardo nie behauptet und das Jugendessay Mills (Rezen¬
sion über Baileys „Critical dissertation on the nature, measure and causes of value“
Westminster Rev. 1826) drückt das deutlich aus. Auf diesen Grundlagen ruhen
viele wesentliche Resultate Ricardos. Zu ihrer Beurteilung muß man sich darüber
klar sein, welche Fülle von Voraussetzungen dazu gehört, um dieses Bild des Wirt¬
schaftsablaufs, das seinem eigenen Schöpfer nur einen von mehrern möglichen Fällen,
wenn auch den wichtigsten, ganz zu erfassen schien, halten zu können. Dabei muß man
drei Dinge unterscheiden. Erstens ob Ricardos Schema unter seinen eigenen Voraus¬
setzungen in sich einwandfrei ist. Zweitens, ob die Behauptung Ricardos, daß die
Abweichungen von seinem Schema tatsächlich von verhältnismäßig geringer Bedeu¬
tung sind, richtig ist. Und drittens, ob nicht, auch wenn die Wirklichkeit hoffnungs¬
los von seinem ursprünglichen Tauschgesetz abweicht, es einen Sinn hat, dasselbe fest¬
zuhalten, etwa weil die Umstände, die die Andersartigkeit der Wirklichkeit begrün¬
den, an dem Grundprinzip der kapitalistischen Wirtschaft nichts ändern — in der
Tat wäre es nicht von vornherein als eine Katastrophe zu betrachten, wenn die
Resultate Ricardos nur unter der Voraussetzung gleicher organischer Kapital usam-
mensetzung und gleichlanger Produktionsperioden in allen Produktionszweigen gelten
würden: denn eine solche Volkswirtschaft wäre noch immer eine kapitalistische
Volkswirtschaft mit allen charakteristischen Merkmalen einer solchen — oder weil
sich jene Umstände und ihre Wirkungen nur vom Hintergründe des ursprünglichen
Tauschgesetzes aus erfassen und beurteilen ließen. Wir können diesen Punkt hier
nicht näher diskutieren.
seinem Standpunkt richtigere anerkannt haben. Mit Recht legt Marx auf dieselbe (variables
Kapital ist Lohnkapital) großes Gewicht.
*) Die Existenz andrer Preisbestimmungsgründe leugnet Ricardo nicht. Nur meint er,
daß sie ja meist auf alle Preise gleichmäßig wirken, daher die „relativen Werte“ nicht allzu¬
sehr beeinflussen.
III. Das klassische System.
81
Dasselbe gilt nun für die prinzipiell gleiche Konstruktion Marx *). Und damit
erledigt sich auch die Frage nach dem Verhältnis des Werts (= Geldausdruck der
in einem Gut steckenden Arbeitsmenge) und des Preises (= Geldausdruck des Tausch¬
werts unter Berücksichtigung der Verschiedenheiten der Produktionsperioden und
Kapitalzusammensetzungen), die oft behandelte Frage der „Diskrepanz“ oder des
*) Es ist nicht möglich, im Rahmen dieser Arbeit eine gründliche Analyse von Marx’
Lebenswerk zu geben. Diese Note soll nur das für uns Wichtigste bringen. Wir können hier
nicht von den Dingen sprechen, in denen seine Hauptbedeutung liegt, von der gewaltigen
Kraft, mit der er ein Ideenarsenal für eine politische Richtung und ein Heer unmittelbar ver¬
wendbarer Schlagworte von großartiger Wirksamkeit schuf, von der weißglühenden Leiden¬
schaft, die Parteigenossen und Gegner faszinierte, von dem Prophetenton, der sein Werk zu
etwas Einzigartigem macht. Das vor allem erklärt seinen Erfolg und hob die Diskussion
seines Gebäudes aus dem Rahmen einfacher Wissenschaft heraus. Wir sehen in Deutschland
eine Schar wohlgedrillter Federn mit dem Eifer religiöser Orthodoxie in seinem Dienst. Der
Gegner erscheint den Jüngern ipso facto als Frevler, dessen Niedertracht nur noch von seiner
kaum glaublichen Beschränktheit übertroffen wird. Nach jedem Einzelkampf verkünden
die Getreuen ein Siegesbulletin, jedes Gegenargument wird mit Hohngelächter aufgenommen.
Und doch wäre es ungerecht, wenn man daraus prinzipiell auf Unwissenschaftlichkeit des
Marxschen Werks schließen oder glauben wollte, daß sich sein Gedanke einfach von seinen
politischen Zielen leiten läßt. Freilich schreit und gestikuliert der Agitator auf jeder Seite
seines Werks, aber unter dieser Form liegt gründliche wissenschaftliche Arbeit; wohl ist man¬
cher praktische Schluß etwas gewaltsam gewonnen, aber das berührt nicht den Kern seiner
Lehren; wohl ist endlich seine Polemik gröblich unfair, aber Verdächtigungen und Schmä¬
hungen umhüllen meist ein bestimmtes Argument reinwissenschaftlichen Charakters.
Nur als sorgfältige, auf umfassendem Wissen beruhende Arbeit kommt also sein Werk
hier in Betracht. Man hat sich mit der Vorliebe des nationalökonomischen Kritikers für phi¬
losophische Beziehungen und Einflüsse viel mit Marx’ Verhältnis zu Hegel beschäftigt, wohl
auch aus diesem Grund in Marx’ Methode etwas Besonderes gesehen. Wenn Marx in der Tat
aus metaphysischen Spekulationen materielle Gedankenelemente oder auch nur die Methode
erborgt hätte, so wäre er ein armer Schächer, nicht wert ernstgenommen zu werden. Aber
er hat es nicht getan. Er selbst sagt uns in der Einleitung zur zweiten Auflage des ersten
Bandes wie es sich damit verhält: Kein metaphysischer Obersatz, nur — richtige oder falsche
— Tatsachenbeobachtung und Analyse hat ihn in seiner Werkstatt beschäftigt. Nur hatte
er eine Vorliebe für die ja so ansteckende Ausdrucksweise Hegels akquiriert und er ließ dieser
Neigung bei der Darstellung die Zügel schießen. Für seinen Erfolg war das nicht be¬
deutungslos. Ohne das philosophische Gewand, ohne das dem Andächtigen so sympathische
Dunkel mancher Phrasen hätte er nicht so wirken, nicht jene charakteristische Weihe er¬
halten können. Aber für den Kern seines Gedankengangs ist dieses Kleid gleichgültig und
leicht ließe sich dieser mit andern philosophischen Münzen behängen. Daß aber Marx sich nicht
etwa täuschte und daß die Sache auch tatsächlich so steht, sehen wir aus der Tatsache, daß
alle seine positiven Resultate auf andere u. zw. nationalökonomische Quellen zurückgehen.
Der Hegelianer mag sich über die „dialektische Methode“ Marx’, die aus der Begriffsentwick¬
lung die tatsächliche Entwicklung erkläre, freuen, der Antihegelianer mag in ihr einen
Mangel sehen. Das Wesen der Sache berührt sie nicht. Ebensowenig war Marx’ Methode
„historisch“, wie Engels sagt. Denn das einzige Moment, das diese Behauptung stützen
könnte, die Unterscheidung verschiedener Entwicklungsstufen, in denen — aber nur zum Teile
— verschiedene „Gesetze“ gelten, teilt Marx mit allen Klassikern, wenn diese auch darauf
weniger Gewicht legten. Auch eine besondere „objektive Methode“ hat Marx nicht. Denn
eine solche gibt es überhaupt nicht — sie ist im Grunde nur Phrase: ln jedem ökonomischen
Gedankengang kommen „objektive“, in jedem — und auch bei Marx — subjektive Momente
vor. Soweit es geht, greift jeder Nationalökonom nach den erstem, das Unglück ist nur, daß
man damit nicht immer sein Auslangen finden kann.
Im Werke des Forschers Marx ist ein soziologischer und ein ökonomischer Teil
zu unterscheiden — so unsympathisch eine solche Trennung auch dem Jünger sein mag. Die
pifece de resistance der Marxschen Soziologie ist die ökonomische Geschichtsauffassung, jener
große Gedanke, der vielen als der erfolgreichste Schritt nach einem wissenschaftlichen Erfassen
historischen Geschehens hin erschien und noch erscheint. Marx’ Verdienst dürfte von den
Prioritätsansprüchen anderer wenig zu fürchten haben, wenn auch mehr von dem Umstand,
daß nur in seiner scharfen Fassung des Zusammenhangs zwischen den Produktionsverhält¬
nissen und der sozialen Organisation etwas Neues lag und gerade diese scharfe Fassung —
namentlich die kausale Betonung der Produktionsverhältnisse — sich nicht auf die Dauer
bewährte: Wenn aber die ökonomische Geschichtsauffassung ihren Platz unter andern Mo¬
menten einnehmen muß, so ist es wieder nichts mit einer allgemeinen Geschichtstheorie und die
Detailforschung erhält wieder das Wort. Der Größe des Versuchs und seiner Bedeutung als
Markstein am wissenschaftlichen Weg tut das keinen Eintrag.
Sozialökonomik. I.
6
82 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. III
„Widerspruchs“ zwischen dem I. Band des Kapitals, in dem der erstere Gesichts¬
punkt, und dem III. Bande, in dem der letztere herrscht. Es dürfte weder subjek¬
tiv noch objektiv ein eigentlicher Widerspruch bestehen, obgleich Marx an verschie¬
denen Stellen seines ja lebenslangen wissenschaftlichen Weges über die Größe der
Entfernung zwischen dem ursprünglichen Tauschgesetz und der wirklichen kapita-
Für uns handelt es sich um den Nationalökonomen Marx. Wenn wir seine Grundlagen
festzustellen suchen, so sind wir uns bewußt, daß seine subjektive Originalität ganz so stark
ist als die irgend jemands. Nur dem sagen seine Vorgänger soviel wie ihm, der aus gleichem
Metall gegossen ist und die Elemente ihrer Leistungen schon in sich selbst hat. Man kann
Marx nur in jenem Sinn Originalität absprechen, in dem man sie jedem absprechen kann.
Und er hatte nicht nur Originalität, sondern auch sonst wissenschaftliches Talent von höch¬
ster Ordnung. Ein Gedanke wie der, daß das moderne Zinseinkommen wesensgleich sei mit
der Rente des feudalen Grundherrn, stempelt — ob richtig oder falsch — den, der ihn hat,
zum wissenschaftlichen Talent, auch wenn er nie einen zweiten Gedanken gehabt hätte. Die
theoretische Analyse war ihm tiefes Bedürfnis und nie konnte er sich in ihrem Detail genug¬
tun. Auch das trägt zur Erklärung seines Erfolgs in Deutschland bei. Zur Zeit, wo sein erster
Band erschien, gab es da niemand, der sich mit ihm hätte messen können, weder in Kraft noch
in theoretischem Wissen. Und noch heute kann jeder Lehrer an der Ueberlegenheit jener
Studenten, die sich an ihm gebildet haben, über jene ohne theoretische Interessen sehen, wie
schulend die Vertrautheit mit einem theoretischen System — was immer sonst seine Vorzüge
oder Mängel sein mögen — wirkt. So mußte Marx zum Lehrer auch vieler Nichtsozialisten
werden. Allerdings traf er nicht überall auf tieferes Verständnis gerade des wissenschaft¬
lichen Kernes seines Werks.
Dieser wissenschaftliche Kern beruht — worauf im Texte das Hauptgewicht gelegt ist —
auf Ricardo. Die Verwandtschaft träte noch stärker hervor, wenn Marx nicht auf nebensächliche
Abweichungen oft ein ungebührliches Gewicht gelegt und in manchen Punkten mehr scheinbar
als wirklich abweichende Formulierungen adoptiert hätte. Das physiokratische System hat mehr
einen starken Gesamteindruck auf ihn gemacht, als ihn im einzelnen bestimmt. Aber eine Rich¬
tung in der englischen Literatur, die etwas abseits steht, hat ihm sehr viel geboten, die Literatur
des Rechts auf den vollen Arbeitsertrag, die nach Smith (über die Entwicklung von Smith an
vgl. Marx selbst in den Theorien über den Mehrwert, Bd. I; A. M e n g e r 1. c. und G. A d-
ler, Einleitung zum 4. Heft der „Hauptwerke des Sozialismus und der Sozialpolitik“) eine
mehr und mehr „fachökonomische“ Form annahm. Hierher gehören C h. Hall (The effects
of civilisation on the people in European States 1805) und dann eine Reihe von Autoren im
zweiten und dritten Jahrzehnt des 19. Jahrh.: A n o n , The source and remedy of the natio¬
nal difficulties . . . 1821; P. Ravenstone, A few doubts as to the correctness of some
opinions ... 1821; W. T h o m p s o n , An inquiry into the principles of the distribution
of wealth most conductive to human happiness 1824 (in mancher Beziehung ein Nachfolger
R. O w e n s , der ebenfalls hierher gehört, aber ökonomisch sehr viel gründlicher als dieser);
R. Hodgskin, Populär political economy 1827 u. a.;Bray, Labours wrongs and labours
remedy 1839. Bei allen diesen Autoren gewinnt die Arbeitswerttheorie eine besondre Bedeu¬
tung, die man weder in Smith noch in Ricardo suchen darf: die Bedeutung einer ethischen
Norm und sodann die für uns wichtigere Bedeutung, daß die Arbeit den Wert schaffe, der ein¬
zige Grund des Wertphänomens sei. Die Begründung dafür ist sehr mangelhaft, oft fehlt jeder
Versuch dazu — ist es doch ein alter Völkergedanke, nicht eine wissenschaftliche Erkennt¬
nis, was sich da an die Nationalökonomie herandrängt. Dieser Einfluß begründet immerhin
einen Unterschied in der Auffassung des Wertphänomens bei Ricardo und bei Marx. Und
alle jene Autoren erklären mit mehr oder weniger Einschränkungen, Zins und Rente als Raub
am Lohn, wenn auch in verschiedener Weise. Diesen Gedanken übernahm Marx nicht. Bei
ihm, wie bei Rodbertus erhält ja der Arbeiter den Wert seiner Arbeitskraft. Aber trotzdem
liegt hier die Wurzel des Gedankens vom Mehrwert und von der Mehrarbeit, die Marx nur in
einer andern Weise gefaßt und erklärt hat.
Diesen Gedanken finden wir auch bei St. Simon. Aber mehr Anregungen und Problem¬
stellungen empfing Marx von dem von ihm so schlecht behandelten Proudhon. Gewiß
ist dieser als nationalökonomischer Theoretiker nicht hoch zu stellen. Sein Systeme des con-
tradictions Sconomiques ou Philosophie de la misfcre (1846), seine Organisation du crädit (1848)
und sein Inter€t et principal (1850) wimmeln von schlechten Beobachtungen und groben Fehl¬
schlüssen. Aber eine Beziehung ist unverkennbar und Marx* gegen ihn gerichtete Schrift
„Misfcre de la Philosophie“ involviert eine große Ungerechtigkeit. Sein Satz „travailler c’est
produire de rien“ (in der Solution du problfcme social), seine Argumentation gegen die Pro¬
duktivität des Kapitals und des Bodens — daß sie nämlich ohne Arbeit nichts hervorbringen
— führen ihn schlecht und recht zu dem Resultate, daß Grundherrn und Kapitalisten sich ohne
Gegenleistung einen Teil des Arbeitsprodukts aneignen u. zw. in der Weise, daß im Lohn¬
kampf der Arbeiter soviel erhält, als er für sich allein produzieren könnte, während aller auf die
Kooperation zurückzuführende Ueberschuß Grundherrn und Kapitalisten zufällt. Das ist
III. Das klassische System.
83
listischen Preisbildung verschieden gedacht haben mag — übrigens ganz ähnlich
wie Ricardo, der auch erst nach und nach und unter dem Einfluß erhobener Einwen¬
dungen zu einer geringeren Meinung von der Wirklichkeitstreue des ursprünglichen
Tauschgesetzes kam, wie sich das in den kaum merklichen, aber doch sehr bezeichnen¬
den Veränderungen des Textes seiner ersten Auflage und in seinen Briefen zeigt.
Auch beantwortet sich so die Frage, inwiefern Marx dem ursprünglichen Tauschgesetz
„historische“ Bedeutung beigemessen habe — nämlich ganz so wie Ricardo — und
inwiefern er darin eine Abstraktion sah. Im einzelnen bestehen gewiß Unterschiede
zwischen beiden: Marx hat den Gedanken Ricardos auszuführen und zu vervoll¬
kommnen gesucht. Er hat versucht, die Rolle der Arbeit tiefer zu begründen und
zu analysieren — so durch seine Unterscheidung von Arbeitskraft und Arbeits¬
leistung usw. — aber diese und andere Momente sind von verhältnismäßig geringer
Bedeutung.
Nur in einem Punkt besteht hier eine wesentliche Differenz zwischen Marx und
Ricardo. Ricardo sagt einfach: Wenn zwei Unternehmer je 100 Arbeiter ein Jahr
lang beschäftigen, der eine, um Endprodukte, der andere um eine Maschine zu er¬
zeugen, und wenn im zweiten Jahre der erste dasselbe tut, der letztere mit der —
sich dabei völlig vemützenden — Maschine nunmehr Endprodukte erzeugt, so steckt
in beider zweijährigem Produkt gleichviel Arbeit. Weil aber der erstere sein erst¬
jähriges Produkt am Ende des ersten Jahres verkaufen konnte, der zweite aber nicht,
so müsse sich offenbar das im ersten Jahre aufgewendete Kapital des zweiten Unter¬
nehmers auch während des zweiten Jahres verzinsen — und folgeweise das End¬
produkt des zweiten Unternehmers mehr als doppelt soviel einbringen, wie das Jahres¬
produkt des ersten. Bei Marx verzinst sich aber die Maschine während des zwei¬
ten Jahres nicht automatisch weiter — der Profit des ersten Jahres ist allerdings
in ihrem Wert bereits enthalten, — sondern es erscheint ihm erst als ein Problem, wie
das konstante Kapital zu einem solchen hohem Wert kommt und er schlägt den¬
selben nicht einfach seinem „Arbeitswert“ neu hinzu, sondern er untersucht, an der
sich aus dem ursprünglichen Wertgesetz ergebenden Wertungsregel als Ausgangs¬
punkt festhaltend, wie die Tendenz zur Gewinnausgleichung diese Regel abändert
und in unserem Beispiel den Gesamtgewinn beider Unternehmer so verteilt, daß
Gleichheit der Profitrate pro Kapital- und Zeiteinheit sich ergibt. Ricardo erscheint
also die ungleiche Verlängerung der Produktionsperiode durch Verwendung kon-
nicht Marx’ Gedankengang; das steht auch tief unter Marx; aber das ist doch eine eigentliche
Mehrwerttheorie im Marxschen Sinn. Sie mag nicht als Folie gedient haben, aber sie hätte
als solche dienen können.
Doch bezieht sich das alles nur auf die theoretischen Grundlagen von Marx. Was er daran¬
gefügt hat, ist zum Teile, wie z. B. seine Theorie von der Reservearmee, aus der Kritik des
Vorhandenen hervorgegangen, zum Teil ganz selbständig. Aber vor allem ist der große Zug
selbständig, mit dem Marx seine Theorie in weite soziologische Zusammenhänge gestellt hat.
— Marx’ Erfolg war nur in Deutschland groß und nachhaltig. In England hat er nur eine
kleine Gefolgschaft gehabt, die bald zerfiel (wichtigstes Werk: Hyndman, Economics
of Socialism 1896). In Frankreich und in Italien hat wohl sein praktisches Programm und
manches Schlagwort, aber sehr wenig seine eigentlich wissenschaftliche Leistung gewirkt
— und auch da wurde, und wird namentlich, mehr der Soziologe als der Nationalökonom
Marx geschätzt (vgl. für Italien: M i c h e 1 s : II Marxismo in Italia 1909; in mancher Beziehung
ist L o r i a als Anhänger Marx’ zu bezeichnen). Die kritische und die apologetische Literatur
des Marxismus ist sehr reichhaltig. Aber die wenigsten Kritiker — mehr die Apologeten —
dringen in das Innere seines Gebäudes ein: Wie sonst, so wirkt auch hier das Interesse an den
politischen Thesen, am Grundton, auch an der Soziologie ablenkend. Von ganz oder zum
Teil der Theorie Marx’ gewidmeten Kritiken seien genannt: v. Böhm-Bawerk,
Zum Abschluß des Marxschen Systems (Knies-Festgabe 1896) und in: Gesch. und Kritik
der Kapitalzinstheorien, v. Bortkiewicz, Wertrechnung und Preisrechnung im Marx¬
schen System (Archiv f. Sozialw. u. Sozialpol. 1906 ff.) und in Conrads Jahrb., dritte Folge,
Bd. 34; K. D i e h 1, Sozialw. Erläuterungen . . .; v. Komorzynski in der Zeitschr.
f. Volksw., Sozialp. u. Verw. 1897; Lexis in Conrads Jahrb., Bd. 11; Lange in Conrads
Jahrb. dritte Folge, Bd. 14; Tugan-Baranowsky, Theoretische Grundlagen des
Marxismus 1905.
6*
84 I. Buch AII:J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. III
stanten Kapitals einfach als eine Ursache der Deviation der Preise von dem Arbeits¬
wertgesetz infolge der Notwendigkeit auf länger verwendetes Kapital mehr Zins zu
zahlen. Marx hingegen faßt den hier potentiell enthaltenen Gedanken kräftig an
und betont, daß dieses Plus an Zins nur durch das Spiel des Gesetzes der gleichen
Profitrate andern Kapitalisten entzogen wird, während man bei Ricardo noch
glauben kann, daß es neu zur volkswirtschaftlichen Gesamtmenge des Zinses hinzu¬
träte. Nicht die Werte werden also nach Marx durch die Tendenz zur Gewinnaus¬
gleichung verändert, sondern nur die Preise. Die letzteren sind für ihn nicht ein¬
fach Ausdrücke der ersteren, sondern der Prozeß der Preisbildung verschiebt die
Resultate der Wertbildung. —
Diese Werttheorie Ricardos fand sehr bald Widerspruch und es entspann sich
schon damals eine Wertkontroverse, an der auf der einen Seite vor allem Ricardo und
de Quincey, auf der arideren vor allem Bailey, Malthus und Say teilnahmen. Hier
also stießen die erwähnten zwei „Richtungen“ zuerst zusammen. Dabei handelte es
sich um zwei Dinge. Erstens um das Moment des Gebrauchswerts, das in Bailey
und Say seine Kämpfer fand. Ricardo lehnte dasselbe mit der sehr alten Begrün¬
dung ab *), daß die Wertlosigkeit sehr nützlicher Dinge seine Irrelevanz beweise,
was u. a. auch die heute oft in Abrede gestellte Tatsache außer Zweifel setzt, daß
Ricardo — und selbst noch Caimes gegenüber Jevons — das Moment des Gebrauchs¬
wertes nicht wegen seiner „Selbstverständlichkeit“ beiseite geschoben hat, sondern
daß er nicht sah, wie man daraus den Tauschwert ableiten könne. Say vertrat sei¬
nen Standpunkt nicht glücklich und hat den entscheidenden Punkt nicht erfaßt,
aber er erkannte doch die fundamentale Bedeutung des Gebrauchswerts und die
Unmöglichkeit, die Produktionskosten als Ursache des Preises zu betrachten. So¬
dann aber handelte es sich — und besonders zwischen Ricardo und Malthus — ujn
die Bedeutung von Angebot und Nachfrage. Und auch hier ist wiederum charak¬
teristisch, daß für Ricardo — und ebenso dann für Marx — nicht etwa die Leere
der Formel von Angebot und Nachfrage das Entscheidende war, sondern daß er sie
zunächst für unvereinbar mit seiner Auffassung hielt (vgl. z. B. Briefe an Malthus
S. 148). Trotzdem gewann die Formel immer mehr an Einfluß namentlich im Zu¬
sammenhang mit der Theorie der internationalen Werte, die überhaupt als ein Vor¬
läufer späterer Tendenzen zu betrachten ist. Diese Theorie hat sich langsam aus der
Freihandeldiskussion entwickelt. Lange Zeit hatte man sich mit den bekannten all¬
gemeinen Argumenten für den Freihandel begnügt, ohne tiefer auf die Untersuchung
seiner Wirkungen auf die Wert- und Preissysteme der beteiligten Nationen einzu¬
gehen. So finden wir noch bei Hume keine klare Erfassung des Satzes, daß sich
Ein- und Ausfuhr gegenseitig bedingen und ins Gleichgewicht stellen müssen, noch
bei Smith keinen Versuch, die unmittelbaren Vorteile des internationalen Handels
für den Befriedigungszustand der Beteiligten exakt zu erfassen. Erst die Folgezeit
bringt die entscheidenden Schritte: F o s t e r s (Principle of Commercial Exchanges
1804) klare und definitive Unterscheidung zwischen Handels- und Zahlungsbilanz,
Torrens’ (The Economists refuted 1808) Formulierung des Prinzips der inter¬
nationalen Arbeitsteilung und der Art, wie sich der Gesamtgewinn auf die beteiligten
Nationen verteilt. Die Theorie der internationalen Werte ausgebildet, auf das Prin¬
zip der vergleichsweisen Kosten basiert, damit ein- für allemal das theoretische
Rüstzeug zur Behandlung dieser Frage geschaffen und namentlich gezeigt zu haben,
daß auch bei allseitiger absoluter Ueberlegenheit des einen Landes über das andre,
das letztre nicht ohne weiteres niederkonkurriert wird, sondern ebenfalls einen be¬
stimmten Vorteil erzielt, ist das Verdienst Ricardos, der auch die korrespondierenden
Geldbewegungen in für lange Zeit klassischer Weise beschrieb. Die unmittelbaren
*) Die Diskrepanz zwischen Höhe des Tauschwerts und Wohlfahrtsbedeutung eines Guts
bildet die wesentliche „contradiction £conomique“ Proudhons. Er meint, daß darin ein für
die kapitalistische Wirtschaft notwendig tötlicher Widerspruch liege. Von B. Hildebrand
wurde dieser „Widerspruch“ sehr hübsch gelöst.
III. Das klassische System.
85
Nachfolger Ricardos haben nichts hinzugefügt und auch John St. Mill kam nicht
wesentlich über Ricardo hinaus, ja sein hauptsächlichster Beitrag ist nicht sehr wert¬
voll und in manchen Einzelpunkten ist seine Darstellung weniger korrekt als die
Ricardos. Auf gleichhoher Stufe steht Cherbuliez. Einen Fortschritt hat Hermann
aufzuweisen, der gegen Nebenius zeigte, daß nur durch Kapitalwanderungen eine
Gleichheit zwischen den Profitraten verschiedener Länder hergestellt werden kann,
und der auch bezüglich der Geldbewegungen lange vor Goschen wesentliche Kor¬
rekturen an Ricardo anbrachte, und Hagen, der die immer gefühlte, aber vor ihm
nie begriffene Tatsache erklärte, daß kleine Zölle auch unter den Voraussetzungen
der Freihandelstheorie einem der beteiligten Länder Gewinn bringen können. Auch
v. Mangoldts Darstellung mag erwähnt werden. Ein weiterer Fortschritt ist Cairnes
zu verdanken, der die Betrachtungsweise der Theorie der internationalen Wert¬
bildung auch auf die Theorie der nationalen Werte anwandte, nämlich auf jene
Fälle, in denen auch innerhalb eines Landes von völlig freier „Beweglichkeit“ von
Kapital und Arbeit nicht gesprochen werden kann. Die neueste Darstellung der
klassischen Theorie des Gegenstandes ist von B a s t a b 1 e (Theory of international
Trade 1903) und eine Reihe neuer Resultate, die nicht aufgezählt werden können,
verdanken wir, wie gleich hinzugefügt werden mag, A. Marshall (ein privat
gedrucktes Memoir 1875, aus dem Resultate in Pantaleonis Teoria dell economia
politica pura und in Cunynghames Geometrical method of Political Economy 1904
publiziert wurden), A u s p i t z und Lieben (Untersuchungen über die Theorie
des Preises 1888) und vor allem Edgeworth (Econ. Journal IV.). Zwei ori¬
ginelle, aber nicht durchaus glückliche Versuche die Theorie zu verbessern unter¬
nahmen C o u r n o t (Principes math6matiques de la Theorie des richesses 1836)
und S i d g w i c k *).
Die Bedeutung dieser Theorie für die Wert- und Preislehre lag nun darin, daß
bei der internationalen Wertbildung ein andrer Bestimmungsgrund als die Intensität
der beiderseitigen Nachfrage schlechthin fehlt, obgleich sich trotzdem auch hier
„natürliche“ oder Gleichgewichtspreise heraussteilen. Diese Theorie mußte schlie߬
lich, wenn man sie nur durchdachte und ihren Grundgedanken wirklich erfaßte, auf das
Unbefriedigende der Ricardianischen Auffassung aufmerksam machen. Die ent¬
scheidenden Schritte in einer neuen Richtung machte John St. Mill. Er erkannte
zunächst, daß die durch die Formel von Angebot und Nachfrage bezeichnete Art
der Preisbildung allgemeingültig sei und das ursprüngliche Tauschgesetz als einen
speziellen Fall umfasse. Dann aber beschränkte er dieses letztere — seinen eigent¬
lichen Sinn ganz verändernd — auf eine Hervorhebung eines wichtigen Kosten¬
elements und ließ dabei das Moment der Arbeitsmenge gegen das Moment der Lohn¬
summe zurücktreten. Und schließlich stellte er überhaupt den Gesichtspunkt des
Unternehmers bei der Behandlung der Produktionskosten in den Vordergrund —
so daß in seiner Hand die Arbeitstheorie des Werts und Preises in die Produktions¬
kostentheorie einmündete, also im Wesen eine Auffassung, deren Unzulänglichkeit
Ricardo zu seiner ganzen Analyse veranlaßt hatte. Natürlich war die erstere aber
jetzt nicht haltbarer wie früher: Sie bedeutete nun lediglich ein Aufgeben des Grund¬
gedankens Ricardos und war im übrigen eine Mittelstellung zwischen Tür und Angel,
die sich auf die Dauer nicht verteidigen ließ. Ein Schritt weiter mußte zur Gebrauchs¬
werttheorie des Preises führen und jene Autoren, die später vom Standpunkt dieser
Produktionskostentheorie gegen die Gebrauchswerttheorie auftraten, mußten bald
einsehen, daß sie auf einem verlorenen Posten standen. Die andere Alternative war,
*) B a s t i a t war einer der energischsten Kämpfer für den Freihandel. Der Theorie des
Gegenstands aber hat er nichts hinzugefügt. Aber F. List hat mit seinem Argument vom
„Erziehungszoll“ zum mindesten ein populäres Schlagwort des Tages zur Anerkennung in der
Wissenschaft verholten. Wir finden es dann auch bei John St. Mill und Du Mesnil-
Marigny (F6conomie politique devenue Science exacte, 1859). Bei letzterem treten auch
die Listschen Gedanken von der Notwendigkeit einer nationalen Volkswirtschaft, die den
physischen und sozialen Bedingungen der nationalen Existenz entspricht, hervor.
86 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. III
in der empirisch gegebenen Masse der Produktionskosten nach einem vom Gebrauchs¬
wert unabhängigen Moment zu suchen. Auch dieser Weg wurde betreten. Er
führte zu der einzigen nach Mill noch von Autoren von Rang vertretenen Kosten¬
theorie, nämlich jener, die das Kostenphänomen auf das Moment der Arbeitsunlust
und der Genußenthaltung stützt J ). Darauf kommen wir noch zurück.
11. Wie gesagt war die Verteilungstheorie für die Klassiker weitaus das wich¬
tigste Problem und zwar die verhältnismäßige Verteilung eines im übrigen als gegeben
betrachteten Sozialprodukts, dessen absolute Größe und absolute Veränderungen
nur nebenbei — und fast niemals als abhängig auch von der Art der Verteilung —
ins Auge gefaßt wurden. Um die Größe des erreichten Fortschrittes zu verstehen,
muß man die Verteilungstheorie Smith mit all ihrer populären Flüchtigkeit zur Folie
nehmen. Wir können das nur andeutungsweise tun und wenden uns, obgleich so
manche Grundzüge verwischt werden, den Theorien der drei, bzw. vier, Einkommens¬
zweige zu.
In der Rentenlehre finden wir zunächst noch Spuren der alten Popularauffas-
sung, daß die Grundrente einfach daher komme, daß auf dem Boden etwas wächst,
daß die Grundrente eine „Gabe der Natur“ sei. So bei dem sonst auf ganz anderm
Standpunkt stehenden Malthus (An Inquiry into the nature and progress of
rent 1815) 2 ). Schon A. Smith jedoch trug einen wirklichen Erklärungsversuch vor,
nämlich den Gedanken, daß, weil der Boden kein Produkt sei, mithin keine Pro¬
duktionskosten habe, sich der Umstand, daß Bodenleistungen ein Preis haben nur
durch ein „Bodenmonopol“ erklären lassen könne. Der beste Vertreter dieses Ge¬
dankens, der, obgleich er lediglich auf ungenügender Erfassung des Wesens des
Monopols beruht, sich in der klassischen Literatur noch oft, so bei Senior, bemerk¬
bar machte und auch heute noch eine ganze Anzahl von Vertretern hat, ist Th. P.
Thompson (The true theory of rent 1826. D$s Verdienst der Arbeit liegt in der
Ricardokritik). Eine dritte Rentenerklärung gibt die allgemeine Theorie der „pro¬
duktiven Dienste“ und ist daher wesentlich an den Namen Says zu knüpfen. Hier¬
her gehört auch Hermann, dessen Auffassung aller sachlicher Produktionsgüter als
eines Fonds, dessen Nutzungen ohne Verbrauch seiner Substanz in die Produkte
übergehen, so daß die Preise dieser Nutzungen Reineinkommen bilden, sich gerade
bei der Grundrente bewährte und der mit seiner Zusammenfassung von Rente und
Zins als wesensgleich und nur durch ihre Rechenform unterschieden, ein Vorläufer
einer ganzen Reihe späterer ist, unter denen mehrere moderne Amerikaner (Clark,
Fisher, Fetter) hervorgehoben sein mögen. Diese Theorie, die um so mehr an Ein¬
fluß gewann je mehr man auf eigentliche Erklärung des Wesens im Gegensatz zur
bloßen Größe der Einkommenszweige und auf eine einheitliche Verteilungstheorie
Wert legen lernte, erklärt also die Grundrente wie alle andern Einkommen aus der
rein ökonomischen produktiven Rolle des Produktionsfaktors Boden. Anders eine
vierte Theorie, die von Autoren vorgetragen wurde, die den Gedanken der produk¬
tiven Dienste ebenfalls zur Grundlage nahmen, aber im Falle der Grundrente dem
„Dienste“ des Bodens eine angebliche Kapital- und Arbeitsaufwendung des Grund-
*) Wir müßten eigentlich noch anderer Kostentheorien gedenken mit Rücksicht darauf,
daß ein wesentlicher Teil des Bilds der ökonomischen Wirklichkeit von der Stellung seines
Autors zum Kostenphänomen abhängt. Allein wir müssen uns beschränken. Die Repro¬
duktionskostentheorie (Carey, Ferrara, Dühring) wäre u. a. zu nennen. An sich bedeutet sie
wenig mehr als die Betonung eines allen Kostentheorien eigenen Moments: Sicher sind nie¬
mals die aufgewendeten Kosten, sondern die im Falle weiterer Erzeugung aufzuwendenden
für den Tauschwert bestimmend. Aber immerhin führt die Reproduktionskostentheorie zu
manchen besonderen Resultaten. B a s t i a t ferner ersetzte d$s Moment der aufgewendeten
Kosten durch das Moment der dem Käufer ersparten eigenen Produktionskosten. Diese
ersparten Kosten messen bei ihm den dem Käufer erwiesenen „Dienst“.
*) Der auch noch einen anderen Erklärungsgrund anzuführen hat: Die landwirtschaft¬
liche Produktion schaffe sich gleichsam selbst ihre Nachfrage, weil jede Ausdehnung eine Be¬
völkerungsvermehrung zur Folge habe — ein ganz verfehlter Gedanke, der denn auch zu Bo¬
den fiel.
III. Das klassische System.
87
herm substituierten, so daß die Grundrente als Zins und Lohn erschien, wie Carey
und in seinem Gefolge Ferrara l ). Aber viel wichtiger ist jene Theorie, die zuerst
von Anderson (1777) und dann von West (1815) und Malthus (1815) formuliert,
aber in ihrer ganzen Bedeutung von Ricardo erkannt, dann von Thünen übernommen
worden ist — die Differenzialtheorie der Rente. In ihrer tiefsten Bedeutung ist sie
die Kehrseite der Ricardianischen Werttheorie. Sie soll die Frage beantworten:
Wie kann die Arbeitsmenge ein Index der Tauschverhältnisse sein, wenn in den Gü¬
tern ungleiche „Mengen von Boden“ enthalten sind? Und diese Frage wird beant¬
wortet, indem man zunächst die Gültigkeit des Tauschgesetzes für die auf renten¬
losem — also am schlechtesten, als freies Gut betrachteten — Boden erzeugten
Produkte feststellt und nachweist, daß die zu ihrer Erzeugung nötige Arbeit allgemein
preisbestimmend sein muß, da sie für einen geringem Preis nicht erzeugt würden,
gleichzeitig aber gleiche Mengen derselben Ware nicht verschiedene Preise haben
können. Deshalb müssen die Tauschwerte aller unter andern als den ungünstigsten
Verhältnissen erzeugten Produktmengen einen Ueberschuß über die durch den Ar¬
beitsindex gegebene Höhe enthalten und insoweit wohl vom ursprünglichen Tausch¬
gesetz abweichen. Aber diese Abweichung hebt das letztere nicht auf, weil trotz¬
dem der Tauschwert der Bodenprodukte der in einem Teile derselben enthaltenen
Arbeitsmenge proportional bleibt. Diese Abweichung beeinflußt ferner Lohn und
Profit nicht, weil die Konkurrenz unter Arbeitern und Kapitalisten jenen Ueber¬
schuß dem Grundherrn zuschwemmt. Was daher wie eine leibhaftige Widerlegung
des Tauschgesetzes aussah, läßt sich nicht nur unschädlich machen, sondern sogar
noch zu einer besondern Spezialleistung verwenden, wenn auch nur mit Hilfe eines
speziellen Moments, des Gesetzes vom abnehmenden Bodenertrag. Man unterschied
sofort drei „Rentenfälle“: Die Rente des Bodens höherer Fruchtbarkeit, die Rente
der intramarginalen — d. h. der letzten wirtschaftlich noch möglichen vorhergehenden
— Arbeits- und Kapitalaufwendung („Dose“) und, worin eine erste Verallgemeine¬
rung des Gesetzes vom abnehmenden „Bodenertrag lag, die von Thünen besonders
hervorgehobene, wenngleich schon Ricardo bekannte, Rente der Lage, welche später
auch für die Behandlung der städtischen Grundrente Verwendung fand. Bei der
Beurteilung dieser Theorie sind vier Dinge auseinanderzuhalten: Ihr absoluter Er¬
kenntniswert, ihre Bedeutung für das klassische System, ihre historische Bedeutung
für die Entwicklung des ökonomischen Denkens und der Wert einzelner Erkennt¬
nisse, die die Klassiker aus ihr gewannen oder doch in ihrem Gewände darstellten.
Der absolute Erkenntniswert dieser Theorie ist gering. Nicht nur, daß mehrere
begründete — und einige unbegründete (Carey) — Einwände sich sofort geltend
machten und eine bis auf den heutigen Tag fortgesetzte Diskussion schwere Mängel
nachgewiesen hat — vor allem erklärt sie nichts: Sie ist eine rein formale Maschine
zur Exstirpierung der Rente aus den Tauschvorgängen. Nichts andres sollte sie wohl
für Ricardo sein. Allein in dieser Eigenschaft war sie für die Klassiker von funda¬
mentaler Bedeutung. Mit Behagen heben J. Mill, Senior, Mc. Culloch u. a. bei der
Behandlung des Verteilungsproblems immer wieder hervor, daß die Rente dabei
ausscheide, „extraneous“, „extrinsic“ usw. sei, so daß der springende Punkt lediglich
in der Aufteilung zwischen Lohn und Profit liege. Für die Entwicklung der Wissen¬
schaft gab diese Rententheorie lange einen festen Halt und, soweit sie nachgab, ein
Diskussionsthema ab, an dem sich sehr Vieles klarstellen ließ. Was den vierten
Punkt betrifft, so haben die Klassiker im speziellen Fall der Rente zuerst mit prin¬
zipieller Klarheit erkannt, daß die Einkommen im Prinzip nie Ursache, sondern
stets nur Folge der Produktpreise 2 ) sind, und daß ein völliges Wegfallen der erstem
*) Bastiats Stellung zum Grundrentenproblem charakterisiert man wohl am besten
durch den Satz, daß er das Bestehen einer reinen Grundrente überhaupt leugnet.
*) Diese Erkenntnis wurde später verallgemeinert. Aber ehe man das konsequent tat,
unterschieden viele Autoren zwischen „preisbestimmenden“ und „vom Preise bestimmten“
Einkommenselementen — eine wenig glänzende Mittelstellung.
88 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. III
die letztem nur in einer sekundären Weise beeinflussen würde. Auch sonst noch
hing eine Menge praktischer Einsicht und richtiger Beobachtung an dem unvoll¬
kommenen Gerüst.
Es seien nun einige der wichtigsten Weiterbildungen der Ricardianischen —
denn so verdient sie trotz aller Bedenken genannt zu werden — Grundrententheorie
erwähnt. Vor allem verallgemeinerte man das Schema dieser Theorie, die Dar¬
stellungsweise von Erträgen als Ueberschüssen über einen Grenzertrag: Wie nach
Ricardo auf einen gegebenen Boden fortschreitend immer weitere Dosen von Ka¬
pital und Arbeit aufgewendet wurden, so kann man sich ohne besondere Gezwungen¬
heit auch vorstellen, daß auf eine gegebene Menge von Kapital fortschreitend gleich¬
große Dosen von Arbeit und Boden aufgewendet und daß einer gegebenen Arbeiter¬
zahl fortschreitend gleichgroße Dosen Kapital und Boden übergeben werden, so
daß dann Kapitalzins wie Arbeitslohn in Rentenform erscheinen. Natürlich zeigt
gerade die Möglichkeit dieser Verallgemeinerung den geringen Wert der ganzen Be¬
trachtungsweise als Spezialtheorie der Grundrente, aber das ändert nichts daran,
daß sie sich für manche Zwecke als fruchtbar erwies. Dogmenhistorisch interessant
ist sie besonders als einer der Wege, die vom klassischen System notwendig zu andern
Auffassungen hinüberleiten mußten *). Dann hat man sehr bald das Gesetz vom
abnehmenden Bodenertrag zu einem Gesetz vom abnehmenden Produktionsertrag
überhaupt erweitert und der Grundrente ganz analoge Erscheinungen auf dem Ge¬
biet der Industrie entdeckt. Als Beispiel sei v. Mangoldts großzügige Auffassung
der allgemeinen Rente als Konsequenz der Ungleichheit der Produktionsbedingungen
erwähnt, Spuren dieser Auffassung gibt es zahllose. Weiter hat man im Renten¬
begriff das Moment der Naturgabe herausgehoben und dann Rentenelemente auch
im Lohn besonders tüchtiger geistiger oder körperlicher Arbeitskraft gefunden.
Auch an das Moment der fehlenden Kosten hat man sich gehalten und ein Analogon
desselben überall dort konstatiert, wo auf einmal große Aufwendungen für längere
Zeit zu machen sind, die einmal gemacht nicht wieder zurückgezogen werden können.
Daraus entsprang der Begriff der Quasirente (Marshall) und die Erkenntnis, daß
je nach Länge der betrachteten Zeit sich der Kreis der sich als solche „Renten“ ver¬
haltenden Erträge verändert, so daß unter einem Gesichtspunkt so gut wie nichts,
auch nicht das urbare Land, unter einem andern so gut wie alles Erträge von Renten¬
charakter abwirft.
Marx* und Rodbertus’ Grundrententheorien unterscheiden sich erheblich von
der Ricardos und voneinander. Trotzdem haben alle drei einen gemeinsamen Zug
— die Konkurrenz unter den Arbeitern und unter den Kapitalisten schwemmt den
Bodeneigentümern, zwischen denen sie wegen der Unvermehrbarkeit des Bodens
weniger scharf wirkt, ein Einkommen zu. Bei Marx wie bei Rodbertus aber gibt es
nicht bloß eine „Differenzial“-, sondern auch eine „absolute“ Grundrente 2 ), die
Teil des prinzipiell einheitlichen Mehrwerts, resp. der prinzipiell einheitlichen Besitz¬
rente ist. Marx’ Gedanke läuft auf Folgendes hinaus: In der Landwirtschaft wird
verhältnismäßig wenig stehendes Kapital verwendet, daher ist da das Verhältnis
von Mehrwert und Kapitalwert groß. Während aber in der Industrie wegen der
da herrschenden Konkurrenz und der durch diese herbeigeführten Geltung des Ge¬
setzes der gleichen Profitrate kein Produzent einen Vorteil davon hat, daß er weniger
konstantes Kapital verwendet als ein andrer, so hätte er einen solchen Vorteil in der
Landwirtschaft, weil da die Konkurrenz durch die Bedingung des Bodenbesitzes
beschränkt ist. Aber er muß diesen Vorteil offenbar an den Grundherrn abtreten
*) Diese Entwicklung nahm die amerikanische Literatur unter der Führung John B.
Clarks.
*) Man hat versucht auch bei Ricardo eine absolute Grundrente zu finden. Aber die
ganze Anlage seines Systems beruht auf der alleinigen Existenz einer Differenzialrente. Hat
Ricardo auch gelegentlich Aeußerungen gemacht, die auf eine absolute Grundrente hindeuten,
so hat er doch auf deren Existenz kein Gewicht gelegt und davon keinen theoretischen Ge¬
brauch gemacht.
III. Das klassische System.
89
— daher die Grundrente. Rodbertus stützt sich in seinem sonst ähnlichen Gedanken¬
gang nicht auf die — angebliche oder wirkliche — Tatsache eines geringen stehenden
Kapitals, sondern — ganz unglücklich — darauf, daß der landwirtschaftliche Produ¬
zent im Gegensatz zum industriellen kein Material (Rohstoff) zu bezahlen hat oder
doch weniger — denn sein wichtigstes Material ist der naturgegebene Boden. Daher
ein Uebergewinn, die Grundrente 1 ).
Wie schon gesagt, läßt sich die vielen Oekonomen so wünschenswert scheinende
Beschränkung des Verteilungsvorgangs auf eine Aufteilung zwischen bloß zwei Kate¬
gorien von Wirtschaftssubjekten auf zwei Arten erreichen, durch die Ausscheidung
der Grundrente nach Ricardos Beispiel und durch Subsumierung derselben unter
einen weitern Rentenbegriff, der sowohl Kapital-, wie auch Grundertrag umfaßt,
wie das z. B., jeder in seiner Weise, Hermann, Marx und Rodbertus taten. Ist das
geschehen, dann kann man wiederum entweder für Lohn und Profit pari passu —
auf demselben Prinzip oder auf verschiedenen — beruhende Erklärungen auf¬
stellen, aus denen sich die relative Größe beider ergibt oder den Standpunkt ein¬
nehmen, daß ihre Summe ja gegeben und daher alles getan ist, wenn man Größe
und Bewegungsgesetze eines von beiden feststellen kann. Dieser letztre Stand¬
punkt ist der Ricardos. Bei ihm tritt mit voller Klarheit der folgende Gedanken¬
gang aus einem Gewirre von Einschränkungen und widersprechenden Momenten
hervor: Der Arbeiter ist der „producer“ des Gesamtprodukts, von dem eventuell
zunächst vorweg die Grundrente abgeht. Der Tauschwert jedes Produkts ist un¬
gefähr und im großen und ganzen proportionell der darin enthaltenen Arbeitsmenge.
Was davon dem „Kapitalisten“ bleibt, mithin Profit wird, hängt davon ab, wieviel
der Kapitalist dem „Produzenten“ geben muß, welche Arbeitsmenge— der eben der
Tauschwert auch der „Lohnwaren“ proportioneil gesetzt wird — in den Gütermengen
enthalten ist, die dem „Produzenten“ schließlich zufallen. Daraus ergibt sich auch
die Profitrate, mithin auch für diese der Satz: Der Profit hat seinen wesentlichen
Bestimmungsgrund im real value des Lohns — er steigt, wenn dieser fällt und um¬
gekehrt. Zum Verständnis dieses berühmten Theorems sei noch hinzugefügt: Es
bezieht sich nur auf Wertverhältnisse nach dem Arbeitswertindex; die Güterversor¬
gung der Kapitalisten kann zugleich mit der der Arbeiter steigen und ebenso könnten
Profit und Lohn nach einem andern Wertindex zusammen steigen und fallen. Den
Einfluß der Produktivität der Arbeit und der Länge der Produktionsperiode auf den
Profit übersieht weiters Ricardo keineswegs; nur erblickt er darin keine wesentlichen
Bestimmungsgründe der großen historischen Bewegung des Profits. Endlich beruht
das Theorem nicht auf der Voraussetzung konstanter Produktpreise, wie viele Kri¬
tiker angenommen haben.
Es folgt unmittelbar daraus, daß Lohnbewegungen nicht oder doch nur inso¬
weit es die Gleichheit der Profitrate bei ungleicher organischer Zusammensetzung
das Kapital notwendig macht, auf die Preise wirken und daß, selbst wenn sie das
täten, ihre Wirkung auf die Profitrate dadurch nicht beeinflußt würde, ferner, daß
Veränderungen in den Produktionsverhältnissen andrer Waren als jener, die von
den Arbeitern konsumiert werden, auf die Profitrate nicht wirken, da sich Auslage
und Erlös durch sie nur in gleicher Weise verändern, während Veränderungen in den
Produktionsverhältnissen der „Lohnwaren“ zum Anlaß von Lohnveränderungen
werden und so auf die Profitrate wirken können. Ricardo meint nun, daß das letztere
tatsächlich meist der Fall sei. Unter den Lohnwaren gibt es besonders eine, deren
Produktion zwar gelegentlich durch Produktionsfortschritte und Einfuhr ohne Er¬
höhung der Einheitskosten oder selbst mit geringeren Einheitskosten, schließlich
aber und im historischen Lauf der Dinge nur mit immer steigendem Arbeitsauf¬
wand pro Produkteinheit ausgedehnt werden könne: das Getreide. Und weil dieses
x ) Wir können auf dieses Thema nicht weiter eingehen. Vgl. die vorzügliche Arbeit von
v. Bortkiewicz im Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung
I. Bd. und die darin zit. Arbeiten von Adler, Lexis, Schippel und Zuns.
90 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. III
und überhaupt alle Nahrungsmittel also im Preise fortschreitend steigen werden,
wenn sich die Bevölkerung und das Kapital vermehrt, so werde die Profitrate fort¬
schreitend fallen — darin liege denn auch die Erklärung ihres historischen Sinkens.
Gleichzeitig müsse die Grundrente fortschreitend steigen, aber während der Arbeiter
vom Steigen seines Lohns keinen Vorteil habe, weil er eben für ihn nicht mehr
Getreide kaufen könne als vorher, so sei der Fall des Grundherrn günstiger *), weil
nun mehr Getreide auf ihn fällt und dieses Getreide auch noch einen höhern
Wert habe. Das ist denn die berühmte Theorie Ricardos von den Entwicklungs¬
tendenzen der Verteilung 2 ), die er in demselben Jahr (Essay on the influence of a
low price of com on the profits of stock 1815) publizierte, wie West, um sie dann
in seinen Principles mit einer kleinen Abänderung auszuarbeiten. Man bewundere
den genialen Wurf. Aber man beachte, daß im Laufe dieses Gedankengangs immer
neue Voraussetzungen, immer neue Tatsachen und konkrete Zusammenhänge, die
nur neben vielen andern in der Wirklichkeit wirken, eingeführt und zur Grundlage
des weitern gemacht werden. Besonders die praktisch wichtigsten Endresultate,
die das wirtschaftliche Geschehen weithin durch die Jahrhunderte zu beleuchten
unternehmen, sind keineswegs die notwendigen Ergebnisse einer theoretischen Grund¬
auffassung, sondern nur einer Grundauffassung, in die ganz bestimmte konkrete
Daten eingesetzt worden sind — und diese fortwährende Konkretisierung der Daten
und Beschränkung der Untersuchung auf einzelne von mehrem theoretisch mög¬
lichen Fällen, dieses Vertrauen auf große Durchschnitte und diese Vernachlässigung
theoretischer Detailarbeit machen zugleich die Stärke und die Schwäche des Ge-
dankengangs aus: Sie ermöglichen präzise wuchtige Resultate, aber sie legen die
Gefahr nahe, daß man ohne jeden eigentlichen Fehler zu einem Zerrbild der Wirk¬
lichkeit gelangt und noch mehr die Gefahr, daß man verkennt, daß die Resultate
zwar auf diese Weise praktisch sehr relevant aber auch sehr unsicher und „unge¬
fähr“ wurden. Ricardo berührte gleichsam die volle Wirklichkeit mit dem Finger,
aber nur einige Punkte derselben. Wäre er weiter von ihr abgeblieben, so hätte er
mehr von ihr übersehen. Besonders die starren Kausalketten, mit denen er Dinge
verband, zwischen denen Wechselbeziehung besteht, sind vielfach unverläßlich.
Und während manche Behauptungen sich auf die unmittelbare Gegenwart Ricardos
beziehen, beziehen sich andre auf eine unendlich ferne Zukunft.
Es bedurfte daher gar nicht jener charakteristisch unfairen Kritik, die in unsrer
Disziplin so oft zu beobachten ist, um Ricardo widerspruchsvoll und unverständlich
zu finden. Schon seine unmittelbaren Schüler verstanden ihn auch hier nicht und
schon James Mill und Mc. Culloch haben seine Profittheoreme verdorben und ver¬
flacht. Wir finden zwar noch lange Spuren seiner Auffassung in der wissenschaft¬
lichen und gedankenlose Wiederholungen und „Widerlegungen“ seiner scharffor¬
mulierten Resultate in der populären Literatur, aber selbst John St. Mills Beiträge
(Essays on some unsettled questions of Political Economy 1844, Nr. 4 und Prin¬
ciples) betten gleichsam Ricardos Gedanken weich, um ihn sanft sterben zu lassen.
Aber alle Autoren dieser Richtung hielten an der West-Ricardoschen Erklärung
des Fallens der Profitrate fest und verwarfen die alte, von Smith formulierte, daß
das Wachsen des Kapitals die Konkurrenz unter den Kapitalisten verschärfe und so
den Profit herabdrücke, auf das entschiedenste, weil die Konkurrenz nur die Pro¬
duktpreise beeinflusse und ein allgemeines Sinken aller Preise doch keinen Einfluß
auf die Profitrate haben könne.
Die Auffassung hingegen, daß der Profit lediglich eine Restgröße und nur da¬
durch zu erklären sei, daß die das ganze Produkt einheitlich erzeugende Arbeit aus
irgendeinem Grund nur einen Teil desselben erhalte, diese Auffassung, die zweifellos
*) Und ungünstiger im Falle von Produktionsfortschritten.
*) Ihr wurden von C a r e y und B a s t i a t andere Auffassungen gegenübergestellt,
auf die wir nicht eingehen können. Auch Rodbertus’ „Gesetz der sinkenden Lohnquote“
kann nur erwähnt werden.
III. Das klassische System.
91
der Konstruktion Ricardos naheliegt, obgleich er selbst sie nicht ausspricht, sondern
gelegentlich nach andrer Richtung deutende Aeußerungen macht, wurde von den
Autoren dieser Schule nicht adoptiert, sondern sie suchten an diese andern Hinweise
Ricardos anzuknüpfen. Aber sie haben diesen Gedankengang nicht etwa übersehen.
So sagt der jüngere Mill (Principles, Bk. II., Ch. XV, § 5): The cause of profit is
that labour produces more than is required for its support. In diesem Satz liegt
ein Hinweis auf die „physische Produktivität“ der Arbeit, entsprechend dem Hinweis
auf die Tatsache der Produktivität des Bodens, der uns als erste und primitivste
Grundrententheorie bereits begegnete, und dem Hinweis auf die Tatsache physischer
Produktivität des Kapitals, der uns als Grundlage der primitivsten Zinstheorie noch
begegnen wird. Aber Mill sah offenbar, daß dieses Moment nichts erklärt und so
stützt er die Zinstheorie trotz des Wortes „cause“, das hier ganz deplaziert ist und
statt dessen „condition“ stehen sollte — nicht darauf.
Hingegen hat Marx diesen Gedanken verwendet, dessen Mehrwert- und Aus¬
beutungstheorie zweifellos auf einer — ja wahrscheinlich nicht gewollten — An¬
regung Ricardos beruht, und in etwas andrer Weise auch Rodbertus. Auch andre
Anregungen in dieser Richtung gab es. Aber nur Ricardo bot für Marx eine wissen¬
schaftliche Grundlage dar, als deren logische Weiterbildung in einer Richtung seine
Mehrwerttheorie erscheinen kann. Ricardo ist Marx in der Anwendung des ur¬
sprünglichen Tauschgesetzes auf die Arbeit — nach Marx „Ware Arbeitskraft“ —
vorausgegangen und hat, was entscheidend ist, die Differenz zwischen der im
Lohn enthaltenen Arbeitsmenge und der im Gesamtprodukt enthaltenen Arbeits¬
menge scharf hervorgehoben und in den Mittelpunkt seines Gedankengangs gerückt.
Diese Differenz ist der Mehrwert und man könnte schon vom Ricardianischen
Standpunkt sagen, daß er unbezahlter Arbeitskraft seine Entstehung verdanke.
Marx hat diesen Gesichtspunkt noch reiner dargestellt und ausgearbeitet. Er hat
Mehrwert und Profit zum mindesten deutlicher — m. E. aber überhaupt erst —
geschieden. Er hat, wie Rodbertus, alle Erscheinungsformen der nach dieser Auf¬
fassung gewiß als wesensgleich aufzufassenden Ueberschüsse über den Lohn zu¬
sammengefaßt. Er ist endlich durch seine Kapitalanalyse zu dem Satz gelangt, daß
sich nicht an das ganze Kapital, sondern nur an das variable die Entstehung von Mehr¬
wert knüpft und dem konstanten nur durch das Spiel der Konkurrenz ein Anteil
daran zufließt*). Daraus ergab sich ihm nun eine andre Erklärung des Sinkens
der Profitrate. Die Produktion, die konstantes Kapital verwendet, unterscheidet
sich von der Produktion, die das nicht tut, lediglich durch ihre Dauer und ihre Pro¬
duktivität — denn würde die erstere keine längere Zeit in Anspruch nehmen und
nicht mehr Produkte erzeugen als die letztere, so wäre es ganz irrelevant, ob die Pro¬
dukte unmittelbar oder auf dem Umweg vorheriger Erzeugung von Werkzeugen
usw. hervorgebracht würden. Die größere Produktivität ist für die Profitrate nur
insofern relevant, als sie den Tauschwert der Lohnwaren drückt; davon können
wir aber hier um so mehr absehen, als das Getreide eine Hauptrolle im Komplex der
Lohnwaren spielt und für dasselbe nach den Anschauungen dieser ganzen Richtung
eine Produktivitätssteigerung nur temporär in Frage kommt. Die Ausdehnung
der Zeitperiode aber bringt es mit sich, daß nun die gleiche Menge Mehrwert auf eine
längere Zeit verteilt werden muß — daher das Sinken der Profitrate. Doch läge
darin nur ein weiterer Grund für dasselbe, denn der Ricardianische — das Sinken
der Mehrwertrate im Falle des Steigens der zur Produktion der Lohnwaren nötigen
Arbeitsmenge — wird dadurch an sich nicht berührt. Diese neue Behandlung des
Zeitmoments führt Marx auch dazu den Antagonismus zwischen Profit und Lohn
und die Nichtbeeinflussung des Profits durch Veränderungen in den Produktions¬
verhältnissen andrer als der Lohnwaren in Abrede zu stellen, doch liegt auch darin
nur die Hinzufügung eines neuen Moments, welche der Bedeutung der Ricardiani-
*) In diesen Sätzen liegt die Marxsche Ausbeutungstheorie, auf die wir hier ebensowenig
näher eingehen können, wie auf andere charakteristische Funkte seines Systems.
92 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. III
sehen Auffassung für das Verständnis der Bewegungstendenzen der Mehrwertrate
und selbst, bei Einführung entsprechender Voraussetzungen, der Profitrate keinen
Eintrag tun würde.
Ueberblicken wir nun in der gebotenen Kürze die Lohn- und Zinstheorie der
Epoche. Wie Cannan (S. 200) sehr richtig sagt, erschien es am Anfang derselben
überhaupt nicht als ein Problem, warum der Arbeiter seinen Lohn erhalte. Er produ¬
zierte ja das ganze Produkt und das Problem war nur, warum es ihm nicht ganz zu¬
falle. So stand denn gar nicht das Wesen, sondern nur die Größe des Lohns auf der
Tagesordnung und nur schüchtern kündigt sich der Gedanke eines unterscheidbaren
Anteils der Leistung des Arbeiters am Gesamtprodukt und damit der Versuch an,
daraus den Lohn zu erklären und den Zusammenhang zwischen Produktpreis und Ar¬
beitslohn zur Grundlage der Lohntheorie zu machen. So bei Say und seinen Nach¬
folgern, dann bei M. L o n g f i e 1 d (Lectures on Political Economy 1834), auch bei
Malthus in gewissem Sinne, vor allem aber bei Hermann und Thünen, der den Begriff
des Produkts des Grenzarbeiters mit voller Klarheit erfaßte. Für die andern erübrigte
nur, sich nach den konkreten äußern Umständen umzusehen, die verhindern, daß
der Lohn das Gesamtprodukt absorbiere, wie er das in primitiven Zuständen getan habe.
Uralt ist die Beobachtung, daß der gewöhnliche Handarbeiter ungefähr seinen Le¬
bensunterhalt gewinne und die Ansicht, daß das einer Notwendigkeit entspreche.
Wir finden dieselbe schon im 17. Jahrhundert, dann auch bei den Physiokraten, auch
bei Turgot. A. Smith trägt sie ebenfalls vor, mit sorgfältigen Einschränkungen aller¬
dings und seiner gewohnten Fülle von Einzelbeobachtungen und -bemerkungen,
deren gesunder Sinn auch hier die geringe Tiefe der Grundlagen verdeckt und unter
denen die Unterscheidung zwischen hohen Löhnen und teuerer Arbeit die wichtigste
ist. Will man dennoch eine eigentliche Lohntheorie bei ihm finden, so könnte das nur
eine „Residualtheorie“ sein: Der Arbeiter, der Grundherrn und Kapitalisten gegen¬
übersteht, muß beiden von seinem Produkt abgeben — und Lohn ist, was ihm bleibt.
Nichts liegt ihm ferner als der Gedanke, daß der Arbeiter, wenn er selbst zugleich auch
Grundherr und Kapitalist wäre, zwar das ganze Produkt aber nicht als Lohn er¬
halten würde. Auch der Gedanke, der den Ausgangspunkt der Erfassung des kapita¬
listischen Verteilungsprozesses bildet, nämlich daß der Lohn ein Preis ist, wird von
ihm ohne rechte Energie verfolgt und erst in den spätem Kapiteln des Wealth treten
als lohnbestimmend die Nachfrage nach Arbeit und der Preis der Nahrungsmittel
hervor. An diese beiden Momente knüpfte nun die Folgezeit an. Die Nachfrage nach
Arbeit wurde auf das Kapital gestützt und ihr wurde unter dem Einfluß des Malthus-
schen Essays ein Angebot gegenübergestellt, das sich auszudehnen tendiert, wobei
wir schon bei Ricardo eine Neigung nach der Annahme, daß sich die Arbeiterbevöl¬
kerung schneller vermehre als das Kapital, und dann bei J. Mill und Mc. Culloch den
Versuch eines Beweises finden, daß das so sein müsse, wenn eine nicht in einem neuen
Lande lebende Nation der physischen Zeugungskraft freien Lauf ließe. Da sie aber
nicht behaupten, daß das tatsächlich geschieht und da sie alle nach dem Vorgang
Torrens’ an die Stelle des physischen Existenzminimums einen gewohnheitsmäßigen,
nach Ort und Zeit variierenden Standard der Lebenshaltung setzen, so kann von dem
so berufenen „Pessimismus“ der Ricardo und Malthus und ihrer Nachfolger ebenso¬
wenig die Rede sein, wie von irgendeiner — wissenschaftlich übrigens irrelevanten —
Gefühlshärte. Wie jemand, der die Lohnkapitel Ricardos und Malthus gelesen hat,
von beidem sprechen kann, ist unverständlich. Uebrigens ist der historische Geist
beider Kapitel — nicht bloß desjenigen von Malthus — bemerkenswert. Keinen
schlechtem Ausdruck, allerdings auch keinen dem Agitator dienlichem, als: „ehernes
Lohngesetz“ hätte man für die Ansichten Ricardos finden können. Namentlich wird
auf die Möglichkeit des Erreichens und dauernden Festhaltens eines hohen — jeder
festen Begrenzung unzugänglichen — Standards ausdrücklich hingewiesen. Wenn
freilich die Bevölkerung sich schneller als das Kapital vermehre, dann allerdings
müsse der Lohn sinken. Wenn jedoch dabei die Preise der Lohnwaren steigen, so
III. Das klassische System.
93
wird das dieser Tendenz dann entgegenwirken, wenn der gewohnte Standard dadurch
herabgedrückt wird, weil dann die Bevölkerungsvermehrung aufhören würde.
Jenen Teil des jährlichen Sozialprodukts, der zu Lohnzahlungen für die in der
Produktion tätigen Arbeiter verwendet wird, begann man etwas später Lohnfonds zu
nennen und — als quantitativen Ausdruck der in jedem Zeitpunkt vorhandenen ef¬
fektiven Nachfrage nach Arbeit — schärfer hervorzuheben. Die Bestimmungsgründe
des Angebots von Arbeit glaubte man zu beherrschen. Wenn es noch gelang, feste
Bestimmungsgründe für diesen Teil des Sozialprodukts zu finden, so hätte man den
Lohn der gewöhnlichen Handarbeit gewonnen, ohne weiteres, wenn es keine verschie¬
denen Arten von Arbeit gäbe, und mit gewissen nicht unübersteiglichen Schwierigkei¬
ten, wenn Qualitätsunterschiede zu berücksichtigen wären. Die Rolle, die die physische
Zeugungskraft für das Angebot an Arbeit spielte, wurde für die Nachfrage nach Arbeit
dem Sparen zugedacht. Denn jener Lohnfonds besteht entweder aus Gütern, die an
die Stelle von andern treten, die in frühem Wirtschaftsperioden zu Lohnzahlungen
dienten, oder aus neuen Lohnwaren. Im ersten Fall ist er im Sinne der Klassiker
früher durch Sparen entstanden, im letztem hat er sich soeben durch Sparen vermehrt.
Nichts kann also zu Lohnzahlung verwendet werden, was nicht vorher vom Kapita¬
listen, durch dessen Hand es gehen mußte, erspart, d. h. statt zu seiner eignen zu einer
„reproduktiven“ Konsumtion bestimmt worden wäre l ). Während also eine un¬
mittelbare Beziehung zwischen dem einmal ersparten Teil des Sozialprodukts und dem
Lohn besteht, so besteht nur eine indirekte zwischen dem ganzen Sozialprodukt
und dem Lohn, nämlich soweit die Gesamtgröße des Sozialprodukts das Sparen
beeinflußt. Unmittelbar nach Ricardo und bis J. St. Mill vernachlässigte man nun
die letztere und legte das Hauptgewicht auf die erstere. Und das ist das Charak¬
teristiken der so bekannten Lohnfondstheorie 2 ). Es folgt daraus wiederum die auch
sonst für die Klassiker charakteristische Zerreißung des Zusammenhangs zwischen
Lohn und Arbeitserfolg und der Satz, daß die Arbeiter, was immer ihre Zahl sei, und
was immer sie durch Streiks oder Organisationen versuchen mögen, sich immer in
dieselbe Gesamtlohnsumme teilen müssen, daß aber auch die Unternehmer, wenn
anders sie nicht weniger sparen, den Lohn nicht unter den durch jenen Quotienten
gegebenen Satz hinabdrücken können. Dem ganzen Gedankengang liegt die Auffas¬
sung zugrunde, daß in jeder Produktionsperiode den Arbeitern der Lohn aus dem
Kapital des Unternehmers vorgeschossen wird. Die Lohnfondstheorie leidet an dem
Gebrechen, das wir bei den Klassikern auch sonst oft wahrnehmen können: Sie hebt
ein Glied der Kette der volkswirtschaftlichen Zusammenhänge heraus — hier das
Kapital — und weist ihm eine kausale Rolle zu, die es in dieser Reinheit nicht besitzt,
weil es seinerseits wieder von andern Gliedern bestimmt wird. Aber mit dieser Ein¬
schränkung ist die Theorie nicht einfach falsch. Auch hängt eine Fülle richtiger Er¬
kenntnis in ihr. Namentlich ist es zwar nicht wahr, daß sich eine größere Zahl von
Arbeitern in denselben Lohnfonds teilen muß wie eine geringere, aber es ist richtig,
daß, wenn sich die Zahl der Arbeiter bei gleichbleibender Produktionsmethode ver¬
mehrt, die Lohnsumme nicht proportional, sondern nur weniger als das steigen kann.
Sodann ist die Lohnfondstheorie ein zwar primitives und unvollkommenes, aber ganz
brauchbares Instrument um einige wesentliche sachliche Bedingtheiten, denen die
Lohnhöhe unterliegt, und manche von deren Beziehungen zu andern Quantitäten in
der Volkswirtschaft aufzuzeigen: In allem ist sie ein gutes Beispiel für die ganze
Art, sowie für die Vorzüge und Mängel der klassischen Gedankengänge. Die äußern
Schicksale dieser Theorie gehören zu den dramatischesten Szenen, die die Geschichte
unserer Disziplin aufzuweisen hat. Von den einen als große Entdeckung und tiefe Weis¬
heit gefeiert, von den andern als bourgeoiser Trick und als völliger Unsinn verurteilt
— von beiden Parteien mißverstanden und für politische Zwecke ausgebeutet—wurde
*) Die Definition Mills für das Sparen als ein produktives Ausgeben hat mit Un¬
recht Proteste hervorgerufen, so z. B. seitens J e v o n s.
a ) Als typische Vertreter sind J. M i 11, Mc C u 11 o c h, als mehr kritisch S e n i o r zu nennen.
94 I. Buch All: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. III
sie weithin berühmt und berüchtigt, wobei ihre Vorzüge immer mehr verwischt,
alle ihre Mängel in groteske Dimensionen übertrieben wurden. Vom Standpunkt
der zuerst erwähnten Lohntheorie, besonders von dem Says und Thünens, hätte sie
ergänzt und korrigiert werden können. Allein daran lag niemand. Nur zwei Schrift¬
steller v. Hermann und Longe (A Refutation of the Wage-Fund Theory 1866)
diskutierten sie ernstlich, aber in so feindseligem Geist, daß ihnen gar nicht der Ge¬
danke kam, daß sie eigentlich ganz ähnliche Sätze an Stelle der ihnen so anstößig
scheinenden der Lohnfondstheorie setzen müßten. Dieser Angriff blieb fast un¬
beachtet. Und die populären Angriffe, die meist die Auffassung der Nahrungsmittel
der Arbeiter als „Kapital“ zum Gegenstand hatten, worin eine Herabwürdigung des
Arbeiters zur Maschine zu hegen schien, bedeuteten wenig, obgleich sie auch in der wis¬
senschaftlichen Literatur eine Rolle spielten. Da erschien im Jahre 1869 ein höchst
unbedeutendes Buch, das Longes Argumente breit und unvollkommen wiederholte:
On Labour, von Thornton. Und John St. Mill gab in seiner Rezension (Fort-
nightly Rev. 1869) dem Autor vollkommen recht und erklärte die Lohnfondstheorie,
nachdem er sie in der für sie denkbar ungünstigsten Weise zusammengefaßt hatte,
für unhaltbar — ohne jeden zureichenden Grund 1 ). Das Erstaunen war groß. Und
so herrschend auch Mills Einfluß in der englischen Oekonomik war, so hielten noch
viele Autoren an der Lohnfondstheorie fest — wie z. B. Cairnes, der sie besser zu
formulieren suchte. Aber die Zahl der Getreuen, die dem Führer folgten ohne zu
fragen warum, war groß genug, um die Lohnfondslehre zu vernichten. Sidgwick,
Walker u. a. haben ihr dann den letzten Stoß versetzt. Das weitere Publikum, in dessen
Angesicht Mill abgeschworen hatte, aber ging natürlich von nun an über sie zur
Tagesordnung über und sah in der ganzen Sache eine töthche Niederlage der „ortho¬
doxen“ Oekonomik in einem Zeitpunkt, wo dieselbe ohnehin schon den Boden unter
den Füßen zu verlieren begann. Das alles — welcher Einblick in die bewegenden
Kräfte unsrer Disziplin! — ohne daß auch nur ein einziges Argument das Wesen der
Lehre wirklich vernichtend getroffen hätte. Wie nicht anders möglich tauchten
auf der andern Seite des Wellentals wieder Elemente der Lohnfondstheorie auf und
heute hat eine richtigere Auffassung sich Bahn zu brechen begonnen 2 ).
In der Zinstheorie 8 ) kam man zunächst nur langsam über die in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts endlich herrschend gewordene Auffassung hinaus, daß
die Erklärung des Zinses nicht am Geld, sondern an der Wertbildung von Gütern zu
suchen sei, an der man in der Folgezeit festhielt. Im übrigen war die ganze Anlage
des klassischen Bildes des Wirtschaftsprozesses und namentlich der physiokratische,
von Smith in die englische Oekonomik eingeführte Gedanke vom Kapital als eines Teils
des Sozialprodukts, das in verschiedener Weise Arbeit in Bewegung setzt und ihr Un¬
terhalt und Arbeitsmittel „vorschießt“, entscheidend. A. Smith hat keine eigentliche
Zinstheorie. Seine Ausführungen haben zunächst jenen Zug nach der Ausbeutungs¬
theorie hin, der stets die Konsequenz der Auffassung sein muß, daß der Arbeiter das
ganze Produkt erzeuge und als armer Teufel beim Verkauf seiner Arbeitskraft schlecht
wegkomme, so daß dem Arbeitgeber ein Ueberschuß bleibe. Aber das hat nichts mit
der Ausbeutungstheorie im Marxschen Sinn zu tun. Auch andre Theorien liegen
teils ausgesprochen — wie die Auffassung, daß der Profit ein Preiszuschlag sei —
*) Aber war jene Rezension auch keine große wissenschaftliche Leistung, so ist sie doch
sehr bezeichnend für die Sympathien Mills: Mit einem Seufzer der Erleichterung wirft er die
Lohnfondstheorie von sich, wie man sich einer widerwillig getragenen Last erledigt. Da sieht
man klar, wie wenig es ein politischer Wunsch gewesen war, der ihn an ihr festgehalten hatte,
man sieht, daß er sie nur deshalb vorgetragen hatte, weil er die Wahrheit höher achtete als
sein politisches Wollen. Denn an keinen andern Satz der Klassiker hatte sich so sehr das po¬
litische Schlagwort geklammert, und hätte er mit diesem Schlagwort sympathisiert, so wäre
das bei dieser Gelegenheit hervorgetreten. Aber es tritt das Gegenteil hervor.
*) Vgl. Taussig, The wages question, 1892: Spiethoff in: Die Entwicklung
der Volkswirtschaftslehre in Deutschland im XIX. Jahrhundert (Schmollers Festgabe).
3 ) Vgl. v. Böhm-Bawerk 1. c.
III. Das klassische System.
95
teils unausgesprochen — wie die Elemente einer Produktivitätstheorie — in seinen
Ausführungen. Wie schon gesagt, steht es mit Ricardo ähnlich, nur daß er die Grund¬
lage für eine wirkliche — marxistische — Ausbeutungstheorie darbietet, die in ganz
andrer Weise wie die von Smith dem Profit aus dem Arbeitsverhältnisse und der da¬
mit verbundenen Diskrepanz zwischen dem Arbeitswert der Arbeitskraft und dem
Arbeitswert des Produkts des Arbeiters erklärt, und außerdem noch deutlich auf eine
Abstinenztheorie — die Güter, deren Produktion längere Zeit in Anspruch nimmt,
müssen mehr wert sein als solche die mit gleichviel Arbeit in kürzerer Zeit hergestellt
werden können, weil der Kapitalist auf den Ertrag länger warten muß — und eine
Produktivitätstheorie hinweist — die Profitrate werde bestimmt durch den Ertrag
des letztangewandten Kapitalteils also des auf rentenlosem Land verwendeten Ka¬
pitals. Dieser letztre Gedanke wurde von v. Thünen aufgegriffen und ausgebildet.
Aber so bedeutsam diese Auffassung auch war, der ihr zugrunde liegende materielle
Gedanke liegt Ricardo ganz fern und ist schon vor Thünen entwickelt worden, näm¬
lich von Lauderdale, Say und Malthus. Diese erklären den Zins aus der „produktiven
Kraft“ des Kapitals oder seinen „produktiven Diensten“. Ihnen gebührt das Verdienst
— und besonders Lauderdale — mit vollem Bewußtsein nach der Ursache und dem
Wesen des Zinses gefragt oder besser, diese ja schon früher aufgeworfene Frage, die
aber ganz in den Hintergrund zu treten drohte, festgehalten und in längerm Gedanken¬
gang ihre Beantwortung versucht zu haben. Freilich begnügten sie sich mit dem
Nachweis, daß man mit Maschinen mehr Güter erzeugen könne— oder gleichviel
mit weniger Kosten — als ohne sie. Und das ist aus dem doppelten Grund unzurei¬
chend, weil diese „physische Produktivität“ nichts für „Wertproduktivität“ beweist
und weil, da die Maschinen Arbeitsprodukte sind, auf diese Weise die Arbeit in einer
Verwendung höhere Tauschwerte hervorbringen würde als die gleichzeitig anders
verwendete, ein Zustand, der nicht dauern kann oder dessen Dauer doch einer weitern
Erklärung bedürfte. Das ändert nichts daran, daß in dieser Auffassung, historisch
genommen, ein großer Fortschritt lag. Aehnlich steht es mit der an Hermanns
Namen geknüpften und später vornehmlich von Menger und Knies vertretenen
Nutzungstheorie, deren Grundgedanke, daß, obgleich die meisten Kapitalgüter
— alle mit Ausnahme des Grundes und Bodens — ökonomisch in die Produkte über¬
gehen, doch etwas am Kapital sich nicht vernützt, sondern immer wieder neue „Nut¬
zungen“ gewährt, gewiß allen von v. Böhm-Bawerk erhobenen Einwendungen aus¬
gesetzt ist und doch ein Stück Erkenntnis enthält. Abgesehen davon haben alle
„Nutzungstheoretiker“ sehr viel zur Klärung der Frage im einzelnen beigetragen,
besonders Hermann, dessen Ausführungen über den Gewinnsatz zu den besten Lei¬
stungen der Epoche gehören. Produktivitäts- wie Nutzungstheorie werden heute
rein nicht mehr vertreten aber viele Gedanken der Gegenwart stammen von ihnen ab.
Aber auch die unmittelbaren Nachfolger Ricardos haben—ich spreche nicht mehr
von der Ausbeutungstheorie — das Bedürfnis nach einer eigentlichen Zinstheorie
gefühlt, die mehr bietet als den Hinweis auf eine Restgröße. Daß wir im Rechte sind,
wenn wir sagen, daß Ricardo keine Zinserklärung hatte, geht daraus hervor, daß sich
J. Mill und Mc. Culloch verzweifelt bemühten, eine solche zu schaffen: Hätte Ricardo
eine bestimmte Ansicht gehabt, so hätte er sie diesen Schülern mitgeteilt und sie
davor bewahrt, im Zins einfach den Lohn der in den Kapitalgütern steckenden Ar¬
beit zu suchen — so J. Mill — oder gar den Lohn einer fiktiven Arbeit, die die Güter,
z. B. eingekellerter Wein, von selbst über die in ihnen enthaltene Arbeit hinaus lei¬
sten sollen (Mc. Culloch). Dergleichen konnte sich nicht halten. Die xax ££ox$)v
englische Zinstheorie — im Gegensatz zur vorwiegend kontinentalen Produktivitäts¬
und Nutzungstheorie — wurde von Senior geschaffen. Der Gedanke, daß der Zins
das Entgelt für Sparen sei, muß jedermann naheliegen, der die Kapitalbildung
durch Sparen erklärt. Die Andeutungen nach dieser Richtung sind zahllos. Auf eine
besonders deutliche (Gennain Garnier, Abrege el6mentaire des principes d’6conomie
politique 1796) hat Hasbach hingewiesen (Schmollers Jahrb. 1905). Auch P. Scrope
96 I. Buch All: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. III
(Principles of Political Economy 1833) kommt in Betracht. Aber Senior hat nicht
etwa nur ein Schlagwort verbreitet, sondern er hat durch Einführung der „Absti¬
nenz“ — später in „Waiting“, Genußaufschub verbessert — als dritten Produk¬
tionsfaktor diese Theorie tiefer begründet und in sehr wertvolle Untersuchungen
über Zins und Lohn eingeflochten. Sie ist die Theorie J. St. Mills und Sidgwicks.
Als später die Kostentheorie sich auf eine psychische Analyse des Kostenphänomens
zurückzog, wurde dem Moment der Arbeitsunlust das Moment der temporären
Genußenthaltung an die Seite gestellt, am reinsten und konsequentesten von Cairnes.
Als ferner das Argument, das in dem Witzwort vom entbehrenden Millionär liegt, sich
bemerkbar machte, wurde die Theorie dahin präzisiert, daß die Zinsrate eben von
der „Entbehrung“ desjenigen Sparers abhängt, der so arm ist, daß er fortfallen
würde, wenn der Zins sänke. In dieser Form herrscht diese Theorie in England
rein oder mit Beimengungen bis auf heute. Auf dem Kontinent hatte sie weniger
Glück, am meisten in Italien. In Amerika hat sie in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts ebenfalls Anhänger gewonnen.
Aus dem schon angeführten Grund konnte sich anfangs keine eigentliche Theorie
des Unternehmergewinns entwickeln. Profit und Darlehenzins wurden zwar schon
im 18. Jahrhundert unterschieden, aber nur in dem Sinn, daß der Darlehnszins dem
sein Kapital ausleihenden Kapitalisten gezahlter Profit war. Wie gewöhnlich finden
wir bei Smith schon so ziemlich alle Momente angedeutet, die später von Bedeutung
wurden, aber einen Versuch, den Unternehmergewinn und seine Rolle in der Volks¬
wirtschaft aus den Funktionen des Unternehmers zu erklären, machte erst Say. Die
Ricardoschule leistete fast nichts in dieser Frage und erst bei J. St. Mill finden wir
mehr, wohl unter französischem Einfluß. Das Beste leisteten aber v. Hermann und
v. Mangoldt. Es bildeten sich um die Mitte des Jahrhunderts jene Auffassungen
aus, die auch heute noch vorgetragen werden: Die Auffassung vom Unternehmer¬
gewinn als einem Lohn der Produktionsleitung (wages of management), als einer
Risikoprämie (besonders in Frankreich kam diese Auffassung in Mode) und gewisser¬
maßen als einer Rente des Talents (v. Mangoldt, dann in Amerika F. Walker) und als
Zufallsgewinn. Außer bei den beiden genannten deutschen Autoren steht dieses Pro¬
blem auf einem Nebengeleise und es kam nirgends zu tiefem Diskussionen. Wie schlie߬
lich ja auch noch heute, sah man im Kapital so sehr den Schöpfer oder doch den An¬
eigner alles Mehrwerts, daß nicht viel Raum für den Unternehmergewinn blieb —
analysierte man doch die Funktion des Unternehmers so unvollkommen, daß man
ihn vielfach nichts andres tun ließ als den Profit einzustecken.
12. Wir können im Rahmen dieser Darstellung auf Spezialthemen nicht ein-
gehen. So sei denn nur erwähnt, daß in dieser Epoche eine besondere Theorie des Mono¬
pols nicht zur Ausbildung kam (am ehesten ist da noch Senior zu nennen), was sich
bei manchen Problemen sehr rächte und zu ganz unqualifizierbarem Mißbrauch des
Schlagworts Monopol führte. Die Geldtheorie, wie wir sie bei Smith vorfinden und
wie sie in dieser Epoche herrschte, besteht außer in der Diskussion der Funktionen des
Gelds und der Eigenschaften, die manche Güter zur Geldrolle prädestinieren, in dem
Gedanken des Stoffwerts des Geldes: Der Wert des Geldes erklärt sich aus dem Werte
des Stoffes aus dem es besteht, uneinlösliches Papiergeld oder unterwertiges Geld
ist wenig mehr als ein Schwindel. Dazu kam die besonders von Ricardo geförderte
Theorie der internationalen Metallbewegungen. Innerhalb jenes Grundgedankens,
der konsequent in eine Produktionskostentheorie des Geldwerts ausmündete, spielte
das Moment von Angebot und Nachfrage zunächst eine geringe Rolle. Später aber ent¬
wickelte sich daraus die Quantitätstheorie, die einen neuen Gedanken brachte: Wenn
sich der Wert der Geldeinheit bei konstanter zu bewegender Warenmenge und
Umlaufgeschwindigkeit einfach nach der Menge des vorhandenen Geldes richtet,
so muß der Stoffwertgedanke zurücktreten und wir kommen sofort modernen Auf¬
fassungen näher. So bedeutete die Quantitätstheorie, die mit John St. Mill in der eng¬
lischen Literatur herrschend wird, anderwärts aber nie große Erfolge hatte, und die
III. Das klassische System.
97
schon vorher in praktischen Diskussionen eine große Rolle spielte (in der allerdings
für sie nicht wesentlichen Form der „currency-theory“), einen wesentlichen Fort¬
schritt. Sie wurde stets bekämpft. Und aus dieser Bekämpfung erwuchsen auch po¬
sitive Leistungen (Tooke, Fullarton). Aber sie wifrde in dieser Epoche nicht über¬
wunden l ). Alles Nähere muß der Spezialdarstellung des Themas in diesem Werk
überlassen bleiben.
Die Klassiker haben zunächst dazu geneigt, in der Verbesserung der Produktions¬
methoden, abgesehen von dem dadurch eventuell dem Grundherrn erwachsenden
Schaden, einen Vorteil für alle Beteiligten zu sehen. Unter dem Einfluß der Diskus¬
sion des Tages vollzog jedoch Ricardo — zum Entsetzen Mc. Cullochs — bald eine
Schwenkung, indem er den Nachweis versuchte, daß die Einführung von Maschinen
dem Arbeiterinteresse schaden könne, in manchen Fällen schaden müsse. Dieser
Nachweis ist in einem ganz außerhalb des übrigen Zusammenhangs der Principles
stehenden Kapitel enthalten, das den jüngsten Bestandteil derselben bildet. Die
darin enthaltenen Argumente waren verbesserte Formulierungen einer verbreiteten
Popularauffassung, die in den Maschinen die Feinde der Arbeiter sah — mindestens
innerhalb der kapitalistischen Wirtschaftsform. Wir finden sie so ziemlich in allen
wirtschaftspolitischen Schriften antikapitalistischer Richtung. Am meisten hat Marx
daraus gemacht. Doch gehören seine schlagwortreichen Ausführungen (industrielle
Reservearmee, Verelendung usw.) über dieses Thema zu den schwächsten Teilen seines
Werks. Im Wesen bestehen sie in der Bekämpfung einer andern Auffassung, die sich
auf die den Arbeitern aus der Einführung der Maschinen erwachsenden Vorteile stützt
— der Kompensationstheorie. Auch diese (ihre wichtigsten Vertreter sind Senior,
Mc. Culloch und mehrere Franzosen) geht nicht sehr tief und übernimmt vielfach nur
Argumente der Populardiskussion. Ich kann nur auf die Dogmengeschichte Ergangs
verweisen und etwa noch auf Nicholson, On Machinery, Mannstädt, Kapitali¬
stische Anwendung der Maschinerie (und dort angeführte Literatur).
In dieser Epoche trat zuerst das Krisenphänomen in den wissenschaftlichen
Gesichtskreis und mit ihm zugleich gewisse Erklärungen, die sich der Praktiker da¬
für zurechtgemacht hatte. Die wichtigste Leistung auf diesem Gebiet war der Nach¬
weis (Say, J. Mill) der Unhaltbarkeit einer einfachen Ueberproduktionstheorie, die
Klarstellung der einfachen, aber so konsequent verkannten Tatsache, daß man nicht
anbieten kann ohne gleichzeitig nachzufragen. Wenn auch in seiner Bedeutung
überschätzt und nicht mit den nötigen Einschränkungen versehen, war dieser Nach¬
weis ein großer Fortschritt. Aus ihm folgte unmittelbar eine positive Krisentheorie,
Says Theorie der Absatzwege (debouch6s), die weithin Annahme fand, besonders
auch bei Ricardo: Weil es allgemeine Ueberproduktion nicht geben könne und von
der Produktion niemals eine fundamentale Störung des ökonomischen Gleichge¬
wichts ausgehe, so könne eine Krisenursache nur in unrichtigen Verhältnissen der Pro¬
duktion, in verhältnismäßiger Ueberproduktion eines Gutes, liegen. Der wichtigste
Fall, an dem sich eine solche zeigen kann, ist ein plötzlicher Wechsel in the channels
of trade. Diese Theorie wurde namentlich von Malthus — auch von andern, wie Sis-
mondi und Bernhardi, doch hat deren Gegnerschaft wenig Bedeutung — bekämpft
vom Standpunkt einer andern Auffassung vom ökonomischen Gleichgewicht aus,
die zu dem uns so merkwürdig anmutenden, damals aber sehr häufigen Satz, von der
Notwendigkeit der unproduktiven — besonders Luxus-Konsumtion führte, eine
der wichtigsten Kontroversen dieser Epoche. Sonst sei nur die Unterkonsumtions¬
theorie genannt, die mit besonderem Nachdruck von Marx vertreten wurde: Die
Theorie, die die Krisen auf eine Diskrepanz zwischen der Produktions- und der
Kauffähigkeit der Gesellschaft zurückführt, welche sich daraus ergäbe, daß die Ar¬
beiter infolge der „Verelendung“ immer weniger imstande wären, den mit Hinblick
x ) Wichtig ist auch der von Say und J. Mill besonders betonte Gedanke, daß letzten
Endes alle Produkte nur wieder mit Produkten bezahlt werden. Er ist die Grundlage der Idee
der Ersetzung des Geldes durch Arbeitsbescheinigungen (Proudhon, Owen).
Sozialökonomik. I. 7
98 I. Buch All: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. IV
auf ihre Nachfrage erzeugten Teil des Sozialprodukts zu übernehmen. Im übrigen
sei auf die Dogmengeschichte Bergmanns und dieUebersicht Herkners (imH. d. St.),
dann auf die Arbeiten A. Spiethoffs verwiesen.
So wären noch viele Themen zu berühren, doch mußte es hier genügen, die allge¬
meinen Grundzüge der Betrachtungsweise der wichtigsten Gruppen von National¬
ökonomen und einige Beispiele für deren Anwendungen zu skizzieren.
IV. Die historische Schule und die Grenznutzentheorie.
1. Je näher wir der Gegenwart kommen, um so weniger ist es möglich, die Fülle
der sich kreuzenden Strömungen mit kurzen Strichen zu charakterisieren und um so
unwahrer, gezwungener und irreführender wird jede systematische Anordnung und
Gruppierung. Die Schlagworte, mit denen einzelne hervorstechende Gruppen bezeich¬
net zu werden pflegen, sind viel einfacher als die tatsächlichen Verhältnisse, sie sind
ferner zum Teil durch außerwissenschaftliche Momente gefärbt — in welchem Fall
sich die verschiedensten wissenschaftlichen Bestrebungen zusammengeworfen finden
— und sie treten endlich mit einem Anspruch auf allgemeine Gültigkeit auf, während
tatsächlich auf jedem Teilgebiet der Sozialwissenschaften und oft bei verschiedenen
Problemen desselben Teilgebiets die Dinge verschieden liegen. Es kommt hinzu,
daß parallel mit der durch das Anwachsen des Materials und den Fortschritt der Ana¬
lyse gegebenen fortschreitenden Spezialisierung, die aus vielen der besten Arbeiter
völlige Laien auf allem außerhalb ihres Spezialgebiets liegenden Grunde macht, in
der neuesten Zeit eine Tendenz zum Aufbrechen vieler Fachschranken sich durch¬
ringt, die zusammen mit den Notwendigkeiten des Lehrbetriebs Individualitäten von
ganz verschiedener Anlage, ganz verschiedenartigem Wissen und ganz verschiedener
Schulung an die gleichen großen Probleme heranbringt, wobei es naturgemäß nicht
sofort zu einem ruhigen und fruchtbaren Austausch, sondern zunächst zu einem hoff¬
nungslosen Kampf der von den einzelnen mitgebrachten „Aprioris“ um Alleinherr¬
schaft kam. Noch weniger als bisher wird es uns möglich sein Einzelleistungen auf¬
zuzählen, wenn diese Uebersicht nicht zu einem Bücherkatalog werden soll. Wir
wollen lieber die beiden wichtigen, im Titel angedeuteten Punkte herausgreifen und
in Kürze versuchen sie zu charakterisieren.
2. Vorher ist noch ein mit moderner sozialwissenschaftlicher Arbeit fast stets
verbundenes, von ihr aber sachlich trennbares Moment zu berühren — das tiefe, ja
leidenschaftliche Interesse an der Sozialpolitik, das namentlich in Deutschland die
Fachkreise erfüllt. Die Bedeutung dieses Moments an sich und die politischen Lei¬
stungen dieser Geistesrichtung gehören nicht in diese Geschichte der Wissenschaft.
Aber diese Bewegung hat mächtig auf die wissenschaftliche Arbeit gewirkt und dieser
Einfluß muß wenigstens angedeutet werden. Erstens hat das Interesse an sozial¬
politischen Fragen zu wissenschaftlichen Untersuchungen besonderer Art angeregt,
zur Sammlung und Diskussion des Materials dieser Fragen. Wenn wir heute über die
industrielle Organisation, die Lebensverhältnisse der Arbeiterklasse, die Wirksam¬
keit der sozialen Verwaltung usw. verhältnismäßig so gut orientiert sind, so danken
wir das dieser Richtung und besonders ihrem Brennpunkt in Deutschland, dem Verein
für Sozialpolitik. Zweitens hat diese Bewegung vielfach auf die wissenschaftliche
Stellung weiter Kreise gewirkt, indem sie ihnen manche Resultate empfahl, andere
unsympathisch machte, je nachdem einzelne Theorien mit sozialpolitischen Bestre¬
bungen, andere mit antisozialpolitischen in äußerem Zusammenhang standen. Theo¬
rien, die mit „sozialen“ Begriffen arbeiten und vom Individuum nicht oder weniger
sprechen, waren im ersteren, Theorien, in denen „individuelle“ Begriffe eine Rolle
spielen, im letzteren Fall. Und drittens drängte die Beschäftigung mit praktischen
Fragen jene tiefschürfende Art der Analyse zurück, die niemals unmittelbar prak¬
tische Problemlösungen trägt, aber für den Fortschritt der Erkenntnis so wichtig ist,
und die in der heißen Temperatur politischen Interesses gar nicht gedeiht. Wer von
IV. Historische Schule und Grenznutzentheorie.
99
politischen Idealen erfüllt ist, vermag mitunter beim besten Willen keinen Geschmack
an unpraktischen und oft wirklichkeitsfremden Untersuchungen zu finden und tritt
ihrem inneren Wesen nicht nahe, wenn es nur durch Einsetzen der ganzen Persönlich¬
keit erreichbar ist. Auch der Arbeit des Historikers kann von diesem Standpunkt
nicht immer Gerechtigkeit erwiesen werden. Ohne theoretisches oder historisches
Rüstzeug gleicht aber die wissenschaftliche Arbeit an den unmittelbaren praktischen
Zeitfragen der Augenblicksproduktion in der Nahrungssuche. Die Durchführung
rein wissenschaftlicher Diskussionen wird unter solchen Umständen erschwert.
Dagegen setzt nun in unsern Tagen in Deutschland eine Reaktion ein, die sich nament¬
lich in der Kontroverse über die Zulässigkeit, bzw. Möglichkeit, eines wissenschaft¬
lichen Werturteils über das soziale Geschehen und praktischer Ratschläge äußert,
an der sich die meisten Nationalökonomen beteiligt haben. In anderen Ländern wird
diese Frage weder so präzise gestellt, noch so lebhaft debattiert. Wie wir wissen,
hat sie schon die Klassiker beschäftigt.
3. Mit dieser Richtung tatsächlich meist vereint, aber prinzipiell von ihr trenn¬
bar, ist eine andere von viel größerer rein wissenschaftlicher Bedeutung, die „histo¬
rische Schule“. Ihr Wesen liegt nicht in der bloßen Verwertung historischen Mate¬
rials, die keiner Richtung ausschließlich eigen ist und an sich keinen bestimmten
Standpunkt in wissenschaftlichen oder praktischen Fragen mit Notwendigkeit invol¬
viert — und ein Kriterium, das uns dazu zwingen würde, weitaus den größten Teil
aller Nationalökonomen aller Länder und Zeiten zu einer tatsächlich engem und scharf
umrissenen Gruppe zu zählen, ist für die Zwecke der Methoden-und Dogmengeschichte
offenbar unbrauchbar l )—, auch nicht in jenen großen Grundgedanken, mit denen die
historische Schule charakterisiert zu werden pflegt und die wir ausnahmslos auch
außerhalb ihres Kreises finden, sondern in der Voranstellung historischer und über¬
haupt deskriptiver Detailarbeit als wichtigster oder jedenfalls erster Aufgabe der Sozial¬
wissenschaft. Freilich hat sich auch sonst die Nationalökonomie nicht einfach der
hergebrachten Organisation des Wissenschaftsbetriebes gefügt und alle historischen
Untersuchungen einfach der historischen Fachwissenschaft überlassen, aber es hat
erst die historische Schule prinzipiell und systematisch historische Arbeit geleistet
und den nur aus dieser zu verstehenden historischen Geist auf sozialwissenschaft¬
lichem Gebiet herrschend zu machen gesucht. Den Geist, der in der historischen
Einzelforschung weht, nicht das, was Roscher „historischen Geist“ nannte, ein all¬
gemeines Bewußtsein vom steten Fluß der Dinge: Das heißt jene Liebe zur Beschäf¬
tigung mit dem Material an sich, jenes Streben nach einem intimen Verständnis der
konkreten und individuellen Erscheinungen, das keine Formulierung duldet, dem
jede solche Formulierung, vollends jede Generalisation im Verhältnis zur Fülle des
Erschauten und Gefühlten bestenfalls als klägliche Halbwahrheit, meist aber als Ver¬
zerrung erscheinen muß — jenes Verständnis, dessen höchster und feinster Reiz
sich dem Nichthistoriker nicht schildern läßt, sondern sich nur eigener historischer
Arbeit erschließt. Das kann niemand verstehen, der nicht in historischer Arbeit, wie
niemand die Theorie verstehen kann, der nicht in theoretischer Arbeit lebt und webt 2 ).
*) Wollte ich alle jene zur historischen Schule zählen, die die Notwendigkeit historischen
Materials einsehen und der historischen Arbeit billigendes Verständnis entgegenbringen, so
würde ich kein halbes Dutzend größerer Namen als außerhalb der historischen Schule stehend
aufzählen können. Selbst das Kriterium gelegentlicher historischer Arbeitsleistung würde
noch z. B. J. Mill zur historischen Schule weisen.
*) Ich drücke einen Gesichtspunkt scharf aus. Natürlich finden wir ihn aber nicht bei
allen Anhängern der historischen Schule in gleicher Schärfe. Manche Oekonomen, die sich
selbst, namentlich infolge der persönlichen Schülerbeziehung, zu ihr zählen, haben nichts von
diesem spezifisch historischen Geist. Bei andern drängen ihn die Notwendigkeiten sozial¬
wissenschaftlicher Arbeit mehr oder minder zurück. — Es ist interessant zu beobachten, wie
sich die historische Fachwissenschaft zu dieser Richtung, die doch gleichsam ein vorgeschobener
Posten von ihr ist, verhielt. Manche Historiker begannen sich als Soziologen zu fühlen (Breysig,
Lamprecht), aber das Gros verhielt sich nicht durchaus freundlich. Man klammerte sich an
7*
100 I. Buch All: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. IV
Mentalitäten verschiedener Anlage wenden sich beiden Forschungsweisen zu und die
tägliche Arbeit am historischen Material oder am Theorem formt weiter ihre an sich
schon entgegengesetzten Dispositionen, bis oft wohl noch logisches Begreifen der
„andern Richtung“ aber nicht mehr gefühlsmäßiges Teilnehmen an ihr möglich ist.
Ueberschätzung des eigenen Gebiets ist dann unvermeidlich. Und das ist gut. Denn
ich glaube kein zu großes Paradox zu riskieren, wenn ich sage, daß die Wissenschaft
nie entstanden wäre, wenn nicht ein jeder seine Methode und sein Problem und das,
was er für dieses leisten kann, überschätzen würde. Aber das führte zum „Methoden¬
streite“.
Die historische Schule ist bekanntlich in Deutschland entstanden und vor allem
hier zur Blüte gelangt. Ihr Wesen in der Pflege historischer Einzelforschung sehen,
die alles, was eventuell noch weiter getan werden kann, zur Voraussetzung hat,
heißt sie an den Namen G. v. Schmollers knüpfen. Dafür scheinen die folgenden
Gründe methodenhistorischer Gerechtigkeit zu sprechen: Erstens hat sich erst
unter seiner Führung eine „Schule“ entwickelt, die zu einer Macht in der Wissenschaft
wurde und in andern Ländern analoge Bewegungen hervorrufen oder beeinflussen
konnte. Man tritt Roscher, Hildebrand und Knies x ) nicht zu nahe, wenn man sagt,
daß sie das nicht hätten bewirken können. Zweitens gehört die Grundtendenz der
historischen Schule zu jenen Dingen, bei denen die Forderung nichts, die Ausführung
alles ist, so daß, auch wenn die Schmollerschule nur ausgeführt hätte, was andere als
notwendig bezeichnet hatten, noch immer sie allein die „historische“ Schule xax’
i&Xt ]v wäre. Drittens aber ist es gar nicht richtig, daß sie als „jüngere“ historische
Schule nur die Gedanken der „älteren“ — in Deutschland hauptsächlich jene drei
Autoren umfassenden — ausgeführt habe. Im Gegenteil. Der „geschichtliche Stand¬
punkt“, von dem Roscher und Knies sprechen, ist etwas ganz anderes als der Schmol¬
lers und seiner Schüler. Er involviert vor allem geschichtsphilosophische Gedanken,
die bei den letzteren fehlen. So die Idee Vicos und Comtes von dem Parallelis¬
mus der Entwicklung der einzelnen Völker und die Idee des einzelnen Volks als eines
Organismus, der altern und sterben kann. Diese und andere Gedanken weisen auf
nichthistorische Quellen zurück und der Standpunkt der „jüngeren“ historischen
Schule läßt sich dahin charakterisieren, daß sie dieselben im Interesse unvoreinge¬
nommener historischer Detailarbeit zu eliminieren wünscht in ganz demselben Sinn,
wenn auch in milderer Form, wie die Sätze der klassischen „ökonomischen Sozio¬
logie“. Wenn das im Namen wissenschaftlicher Exaktheit geschieht, so ist das be¬
rechtigt und man wird auch dann ein Verdienst in dieser Stellungnahme erblicken
müssen, wenn man lebensfähige Elemente in jenen Gedanken zu erblicken glaubt.
Läßt man aber diese Dinge aus dem geistigen Mobiliar Roschers weg, dann bleibt ein
Theoretiker übrig, der eben besonderes Gewicht auf historische Beispiele legt und eben¬
soviel Gewicht wie Mill auf Einschränkungen der Tragweite theoretischer Sätze 2 ).
Bei Knies steht es ja nicht ganz so. Sein Widerstand gegen die Auflösung der Persön¬
lichkeit in einzelne „Triebe“ und deren isolierende Behandlung — obgleich betont
werden muß, daß darin keineswegs, wie Knies meint, das Wesen der klassischen
Oekonomie liegt — und seine Betonung der wesentlichen Rolle nichtwirtschaftlicher
technische Unvollkommenheiten der Arbeit der historischen Oekonomen und betrachtete von
ihnen ausgehende Anregungen oft mit fachlicher Engherzigkeit.
*) Am meisten kommen von den Werken dieser Autoren für uns die folgenden in Betracht:
Roscher, Grundriß zu Vorlesungen über die Staatswissenschaft nach geschichtlicher
Methode 1843; Hildebrand, Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft 1848
(Torso), und mehrere Artikel in seinen Jahrbüchern; Knies, Die politische Oekonomie
vom Standpunkt der geschichtlichen Methode (1853; zweite sehr vermehrte Auflage unter et¬
was anderem Titel 1881—3). Sein großes Werk „Geld und Kredit“ steht außer aller Beziehung
zum spezifisch historischen Gedankenkreis.
*) Und selbst mit einer Hinneigung zum Theoretisieren, wo dieselbe bedenklicher ist als
innerhalb der reinen Oekonomie — in dieser Beziehung ist schon der Untertitel seiner Politik:
Naturlehre der Monarchie usw., und noch mehr ihr Inhalt bezeichnend.
IV. Historische Schule und Grenznutzentheorie. 101
Momente auch auf dem Gebiet der Wirtschaft („Heteronomie der Wirtschaft“),
stellt ihn der eigentlich historischen Schule näher. Aber trotzdem kann der Autor
von „Geld und Kredit“ nur als ein der Geschichte und ihrer Philosophie besonders
nahestehender Theoretiker bezeichnet werden und, wenn er Schule gemacht hätte,
was trotz der tiefen Wirkung seines Lehrbuchs nicht der Fall war, so würde das eine
Schule vorwiegend analytischen Charakters geworden sein. Damit will ich natürlich
nicht eine bestehende Geistesverwandtschaft leugnen. Ich wende mich nur gegen
jene Tendenz der Wissenschaftsgeschichte, die jedem Anklang—besonders bei Gleich¬
heit der gebrauchten Worte, hier des Worts „geschichtlich“ — und jeder prinzipiel¬
len, von dem Kern der Arbeit eines Autors losgelösten, Aeußerung eine Bedeutung
beimißt, die die Einleitungen der Werke unserer Disziplin zu wichtigem Dingen macht,
als diese Werke selbst. Hildebrand kann am ehesten als ein Vorläufer der historischen
Schule betrautet werden. Aber auch nur als Vorläufer. Denn dieser lebensvolle Geist,
der — „stets verneinend“ — soviele Anregungen ausstreute und auch eigentlich
historische Arbeit leistete, ferner eine Reihe der Argumente der historischen Schule
vorwegnahm, blieb doch außerhalb ihres Kreises — stand er doch noch unter dem
Einfluß des Gedankens der „historischen Entwicklungsgesetze“ — und hat die ent¬
scheidenden Schritte nicht getan. Auch als Vorläufer der sozialpolitischen Richtung
und — wenn auch mit weniger Recht— der Grenznutzentheorie ist er ja zu nennen.
Aber es wäre irreführend, ihn einem dieser Kreise einfach zuzuzählen. Dazu war
dieser scharfe Kritiker überhaupt nicht positiv genug.
Neben dem Kreise Schmollers stehen andere Persönlichkeiten, wie K. Bücher,
G. Knapp, L. Brentano, Inama-Stemegg, auf deren besondere Stellung hier nicht
eingegangen werden kann. Aber wie für den zeitlichen Umfang der historischen
Richtung, so ist auch für die Feststellung ihres Umfangs in der Gegenwart der Ge¬
sichtspunkt entscheidend, auf den man sich stellt. Unberührt von ihrem Einfluß
sind nur wenige Leute. Handelt es sich also darum ihren Einflußkreis festzustellen,
so müssen weitaus die meisten deutschen und sehr viele nicht deutsche Oekonomen
zur historischen Schule gezählt werden. Aber jene, die den Typus der Richtung ganz
rein darstellen und die eigentlichen Träger ihres Geistes sind, bilden hier, wie das ja
bei allen Richtungen der Fall ist, eine kleine Minorität. Ihnen schließen sich Gruppen
von Oekonomen an, die gar nicht oder nur gelegentlich einmal historisch arbeiten
— und das macht jemand sowenig zum Wirtschaftshistoriker, als allgemeine Aner¬
kennung der Theorie oder eine gelegentliche theoretische Arbeit jemand zum Theo¬
retiker machen — und nur prinzipiell ihrer Zustimmung Ausdruck geben. Rechnete
man alle „Empiriker“ zur historischen Schule, so umfaßt dieselbe schlechthin die ganze
Oekonomie. Ebenso fließend ist die Grenze nach der historischen Fachwissenschaft
hin. Das stärkere oder schwächere Hervortreten ökonomischer oder soziologischer
Gesichtspunkte und die Tendenz nach einer schließlichen Zusammenfassung der histo¬
rischen Detailresultate zu einem Ganzen wird da entscheidend sein, gibt aber offen¬
bar keine Handhabe zur Feststellung einer klaren Grenze ab.
4. Fragen wir nach den Ursachen des Entstehens und des Aufschwungs der histo¬
rischen Schule, so ist vor allem wiederum daran zu erinnern, daß die Wissenschaft
zu allen Zeiten und in allen Ländern historische und theoretische Elemente enthielt
und daß beide in Werken, die das Gesamtgebiet schildern sollen und nicht Spezialfragen
herausgreifen, eine Rolle spielen. Nach Neigung und Bildungsgang wendet sich der
eine theoretischen, der andere historischen und überhaupt deskriptiven Problemen —
richtiger Problemen, deren Behandlung eine deskriptive Vorarbeit oder Deskription
als Hauptarbeit involviert — zu, ohne daß darin an sich ein prinzipieller Gegensatz
läge. Niemand hätte die Probleme, die Ricardo interessierten, anders als theoretisch,
niemand hätte das Städteproblem ohne vorhergehende Tatsachensammlung behan¬
deln können. Mit einer dem Kenner der Wissenschaftsgeschichte nicht fremden
Notwendigkeit überwiegt erstens in den einzelnen Ländern und zweitens innerhalb
der durch die relativ bleibenden Verhältnisse der einzelnen Länder gegebenen Grenzen
102 I. Buch All: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. IV
zu verschiedenen Zeiten in einem und demselben Land, die eine oder die andere Arbeits¬
weise. Was hier der Erklärung bedarf, ist das so starke Ueberwiegen der historischen
Schule in Deutschland, begleitet von einem Ueberbordwerfen der Theorie, der Um¬
stand, daß viele Nationalökonomen in der Tatsachensammlung einen — wenigstens
unmittelbaren—Selbstzweck und ihren wissenschaftlichen „Lebenszweck“ (Schmol-
ler, Art. Volkswirtschaftslehre im H. d. St. S. 47) sehen.
Unter den Umständen, die diese Richtung überhaupt und namentlich in Deutsch¬
land förderten, steht die Erweiterung des Interessen- und Problemkreises der Natio¬
nalökonomie obenan. Die Soziologie begann sich anzukündigen, brennende Fragen
der Zeit und unabweisbare Einflüsse von außen, wie die Deszendenzlehre, machten
sich geltend. Einer neuen Generation eröffneten sich weite, glanzvolle Ausblicke weit
über eine bloße Wirtschaftslehre hinaus. Auch innerhalb der wirtschaftlichen Pro¬
blemgruppe sah man neue Aufgaben in ungeahnter Fülle, aber in theoretischem Sinn
außerwirtschaftliche Fragen lockten vor allem, v. Schmoller hat das Gefühl, das in
dieser Lage viele beherrschte, uns durch den Ausruf nahegebracht: „Oh Jahrhundert,
es ist eine Lust in dir zu leben“. Dem konnte sich der Lehrbetrieb und die offizielle
Fachwissenschaft nicht entziehen, ohne der großen Rolle, die sie in Deutschland
spielen, untreu zu werden und alle Fühlung mit den lebendigsten Kräften zu verlieren.
Der „offizielle Betrieb“ kannte aber keine andere Sozialwissenschaft als die politische
Oekonomie — was Wunders, daß sich diese rasch zu verwandeln und ins Uferlose
auszudehnen begann?
Daß sich die wissenschaftliche Untersuchung dieses weiteren Gebiets in histori¬
schen Bahnen bewegte, lag zum Teil in der Natur der Sache. Denn außerhalb eines
kleinen Problemkreises — Schmoller spricht treffend von ihm als einem Raum
in einem großen Haus— ist mitunter der historische Weg der einzig mögliche, und fast
immer ist er da einer von mehreren möglichen. Daß man ihn aber so ausschließlich
beschritt und jeden andern fast als dilettantisch und unwissenschaftlich verachtete
und fast ganz aus der Fachwissenschaft ausschloß, ist damit nicht erklärt. Viel¬
mehr erklärt sich das aus der hohen Blüte der deutschen Geschichtswissenschaft, die
zu einer herrschenden Stellung derselben im deutschen Geistesleben führte. Die
Göttinger kulturgeschichtliche Schule und eine Reihe großer Historiker von Nie-
buhr an führten eine Tradition fort, die schon vor und dann mit Herder zu großem
Einfluß gekommen war und die in der Periode der Romantik, deren Gedankenwelt
allerdings nicht ohne weiteres als spezifisch „historisch“ bezeichnet werden kann,
zur wissenschaftlichen Grundlage einer allgemeinen Strömung wurde *). Aber nicht
nur absolut genommen stand die Geschichtsschreibung auf einer hohen Stufe, viel
größer war noch ihre relative Bedeutung im Vergleich zu den andern Elementen
deutschen sozialwissenschaftlichen Lebens. Unter diesen gab es nichts ihr Gleich¬
wertiges. Die besten Geister, die kräftigsten Lehrerindividualitäten hatten sich ihr
zugewendet. Niemand sonst hatte allen jenen, die es nach der Sozialwissenschaft zog,
soviel zu bieten und gerade jene, die nach ernster sozialwissenschaftlicher Arbeit
x ) Hingegen ist der Anschluß an Hegel, von dem v. Schmoller spricht, mit den von den
Vertretern der historischen Schule so oft betonten Prinzipien empirisch-exakter Tatsachen¬
forschung nicht recht vereinbar. Das philosophische Element im Mobiliar des deutschen
Geistes ist freilich mächtig genug, um sogut wie alle seine Aeußerungen zu beeinflussen. Auch
haben viele historische Oekonomen ein zweifelloses Penchant für die Philosophie überhaupt.
Aber die konkreten Forschungen gerade v. Schmollers scheinen mir von hegelianischen Ein¬
flüssen, gerade im Gegensatz zur ,»älteren“ historischen Schule in Deutschland, frei zu sein.
Und in der Methode trennt doch Hegel und die Schmollerschule eine Welt. Dessen ungeachtet
dürfte es kaum richtig sein, in der historischen Schule eine „Reaktion des Empirismus“ gegen
die Philosophie und die theoretischen Wissenschaften zu sehen. Denn erstens fallen theore¬
tische und philosophische Interessen nicht zusammen und zweitens ist das einzige reale Phä¬
nomen in der geistigen Geschichte des 19. Jahrhunderts, das mit jenem Ausdruck bezeichnet
werden kann, eine philosophische Richtung positivistischer Natur, mit der die Historiker nichts
zu tun haben.
%
IV. Historische Schule und Grenznutzentheorie. 103
verlangten, griffen vor allem nach der Geschichte — konnten nach nichts anderem
greifen.
Denn — und darin liegt ein weiterer Grund für den Erfolg der historischen
Schule — die außerhistorische deutsche Nationalökonomie bot um die Mitte des 19.
Jahrhunderts recht wenig. Hätte auch die Theorie noch so sehr alles geboten, was
Theorie bieten kann, so wäre sie noch immer dem geweiteten Interessenkreis unge¬
nügend geschienen. Eine alte gefestigte Disziplin kann das Auftreten neuer, ihr un¬
erreichbarer Probleme und den Ansturm neuer „Aktualitäten“, die das Interesse
von ihr abziehen, vertragen, eine erst in den Anfängen stehende wird dabei zur Seite
geworfen. Je ernster und exakter sie ist, um so mehr muß sie da mißverstanden
und dem Vorwurf ausgesetzt werden, Steine statt Brot zu bieten. Aber so stand es
nicht einmal. Die theoretische Oekonomie hatte in Deutschland nie festen Fuß gefaßt,
war nie weiteren Kreisen in Fleisch und Blut übergegangen. Sie war ein fremdes, außer¬
dem von keineswegs besonders geschickten Händen verpflanztes Gewächs. Ihre Ver¬
treter konnten nicht anziehen, ihre Lehren unmöglich intellektuelle Befriedigung ge¬
währen. So wandte man sich von ihr ab und den historisch geformten neuen Männern
zu. Man machte im historischen Kreis kaum einen Versuch, in sie einzudringen oder
sie zu reformieren, sondern legte sie ad acta mit einem allgemein gehaltenen Todes¬
urteil. Für die nächste Generation gehörte gründliche theoretische Bildung gar
nicht mehr zu den Voraussetzungen selbständiger Teilnahme an der Arbeit unserer
Disziplin und theoretische Werke erfuhren kaum Beachtung mehr. Um so fester
standen die einmal angenommenen Urteile über die Theorie.
So lagen die Dinge außerhalb Deutschlands nicht. Nicht nur widerstand da
die Theorie mit mehr Glück, es hatte vor allem die Geschichtswissenschaft niemals
ein solches Uebergewicht und, soweit man mehr haben wollte, als eine bloße Wirt¬
schaftslehre, griff man zu theoretischem Rüstzeug auch außerhalb derselben. Aber
trotzdem machte sich auch außerhalb Deutschlands eine Reaktion und, teils selb¬
ständig teils im Anschluß an die deutsche, eine historische Richtung geltend, nur
daß die ganze Bewegung weniger Wellen schlug und weder zu so großen Leistungen
noch zu solcher Ausschließlichkeit führte wie in Deutschland. In England gab es,
wie gesagt, schon zurzeit der Blüte der Klassiker Gegenströmungen. Einen wirk¬
lichen Versuch, die theoretische Behandlung wirtschaftlicher Fragen durch die ge¬
schichtliche Detailforschung zu ersetzen, machte das nicht einflußlose Essay on
the distribution of Wealth von R. Jones, von dem nur ein erster Teil über die
Grundrente erschien und das die spezifisch historische Gegnerschaft gegen die Theorie
zeigt. Im sechsten Jahrzehnt trat die Wirtschaftsgeschichte, die bisher um ihrer
selbst willen von Nationalökonomen nur wenig gepflegt worden war — die bekann¬
teste Leistung war T o o k e und Newmarch: History of prices, 1838—1857
— mehr hervor: Th. Rogers (History of Agriculture and Prices in England,
1866—88) machte den Anfang, ihm folgten W. Cunningham (Growth of English
Industry and Commerce 1882, 2. Aufl. 1892) und Agrar- und Rechtshistoriker (See-
bohm, Maitland u. a.). Auf weitere Kreise wirkte A. T o y n b e e (Industrial Re¬
volution of the 18 th Century, Vorlesungen, 1884 publiziert), der energisch gegen die
„wirklichkeitsfremde“ Theorie Front machte. Die eigentlichen Schüler der deutschen
historischen Schule aber waren Cliffe Leslie, J. K. Ingram und später W. J. Ashley.
Die beiden erstem und besonders Leslie eröffneten den prinzipiellen Angriff auf die
Theorie (besonders wichtig ist L e s 1 i e s Essay in der Fortnightly Review 1879 *)>
die einzige orthodoxe Darlegung des Standpunkts der deutschen historischen Schule
in englischer Sprache). Ohne selbst historisch zu arbeiten legten sie die historischen
J ) Ingram, The present position and prospects of political economy, 1878, ist com-
tistisch gefärbt. Nun pflegt man allerdings in historischen Kreisen Comte als einen „Vor¬
läufer“ zu betrachten. Wiederum — wie bei Hegel, nur in anderer Richtung — liegt darin
ein Versehen: Was hat Comtes Gedankenwelt — wenn anders man sie nicht aller ihrer Cha¬
rakteristika beraubt — mit der historischen Schule zu tun ?
104 I. Buch All: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. IV
Argumente weitern Kreisen dar. Allein obgleich sie nicht ohne Beifall gehört wurden,
so blieb doch infolge der beiden Tatsachen, daß diese Argumente nicht alle die po¬
sitiven Leistungen der Deutschen und die deutsche Vorliebe für Geschichte hinter
sich hatten und daß sie einer viel scharfem Kritik gegenüberstanden, die negative
Seite ihrer Ausführungen ohne dauernden Erfolg. Was in Deutschland zum Sturme
wurde, vermochte hier kaum die Wellen zu kräuseln. Schon Ashleys Stellung war
eine sehr viel gemäßigtere und soweit es überhaupt in Fachkreisen zu einer prinzi¬
piellen Gegnerschaft gegen die Theorie kam, flaute sie sehr schnell ab. Aber die
positive Seite der Lehre dieser englischen historischen Schule trug Früchte. Die
Detailforschung im historischen und sonstigen deskriptiven Material gedieh (S. und
B. Webb, Booth u. a.) und auch im Lehrgang erhielt die Wirtschaftsgeschichte ihren
bestimmten Platz, allerdings nicht an Stelle sondern neben der Theorie, mehr in
der Stellung einer — auch durch besondre Lehrer vertretenen — Hilfswissenschaft 1 ).
In Frankreich hatte man, unbekümmert um Comte, bis auf die neueste Zeit an
der im vorhergehenden Abschnitt geschilderten Richtung festgehalten. Aber diese
Richtung ließ der historischen und sonstigen deskriptiven Detailforschung volle
Entwicklungsmöglichkeit. Nirgends sehen wir so deutlich, wie wenig ein Gegen¬
satz zwischen Theorie und Wirtschaftsgeschichte im Wesen der Sache liegt und wie
wenig unvoreingenommene Leute daran zweifeln, daß beide Arbeitsweisen gleich
notwendig sind. Zu jener herrschenden Richtung gehörte eine Reihe von Wirt¬
schaftshistorikern, unter denen Levasseur und d’Avenel hervorragen 2 ). Forschungen
im Tatsachenmaterial der Gegenwart unternahmen geradezu die meisten. Als Bei¬
spiel sei P. Leroy-Beaulieu genannt, bei dem auch die Theorie unter dem Gesichts¬
punkt der Zusammenfassung zeitgeschichtlicher Einzelbeobachtungen erscheint.
Am besten brachte A. Liesse den Standpunkt dieser Gruppe zum Ausdruck mit
seiner Verbindung von historischem Material und den „Gesetzen der menschlichen
Natur“, von allgemeinen Lehrsätzen und einer den Umständen angepaßten Inter¬
pretation derselben. Dennoch kam es auch hier zu einer Wendung gegen diese
Richtung im Anschluß an die deutsche historische Schule. Ihre Träger waren vor
allem jene Professoren, mit denen im Jahre 1878 die neugegründeten Kanzeln der
französischen Juristenfakultäten besetzt wurden und von denen manche ihrem
neuen Fach mit einer durch keine fachliche Vorarbeit getrübten Unvoreingenommen-
heit gegenübertraten. Aus diesem Kreis ragt vor allem Cauwes hervor, der sich
gegenüber der Theorie ähnlich verhielt wie etwa C. Leslie. Aber diese Bewegung
leistete wenig Positives und erstarb bald. Als Repräsentant jener französischen
Nationalökonomen, die immerhin von ihr beeinflußt sind und in ihr ein Mittel suchen,
die französische Wissenschaft aus ihrem allzu ruhigen Gang hinauszulenken, sei
Ch. Gide genannt, der in gleicher Weise sozialpolitische, historische und neue theo¬
retische Gedanken aufgenommen hat.
Doch ist noch zweier „autochthoneren“ Richtungen zu gedenken. Die französische
Oekonomie hat mehr an ihren Grenzen festgehalten wie die deutsche und darauf ver¬
zichtet, ihr Arbeitsgebiet mit dem der Soziologie zusammenfallen zu lassen, so daß
sich viel schneller wie in Deutschland eine selbständige Soziologie entwickelte. Ein
Teil derselben deckt sich nun natürlich mit „ökonomischen“ Untersuchungen in
Deutschland und so ist ihre Methode auch für uns von Bedeutung. Es würde zu
weit führen, die einzelnen Gruppen und führenden Persönlichkeiten zu charakteri¬
sieren, aber es muß hervorgehoben werden, daß mehrere dieser Gruppen sich der
Methode nach mit der historischen Schule berühren. Hierher gehört z. B. Ch. Le-
tourneau und der Schülerkreis von Worms und Dürkheim: Archivalische Arbeit
*) T h. Buckles Gedankenkreis kann hier nicht zu Worte kommen. Sein Buch hat
auch nicht auf die Politische Oekonomik gewirkt.
*) Vgl. übrigens eine methodische Arbeit Levasseurs, Dela mäthode dans la Science
6conomique 1898. Vgl. auch des Historikers Seignobos’ Arbeit: La nrithode historique
appliquge aux Sciences sociales, 1901.
IV. Historische Schule und Grenznutzentheorie.
105
oder andre „Originaltatsachenforschung“ wird von ihnen zwar nicht oder doch nicht
als Selbstzweck geleistet, aber alle Untersuchungen beruhen auf historischer, ethno¬
logischer, statistischer Materialbasis. Dabei wirkt das Material aber nicht schon
durch sich selbst, es appelliert nicht direkt an den Leser, sondern es gibt die Bau¬
steine zu Generalisationen ab. Darin liegt kein prinzipieller, aber tatsächlich doch
großer Unterschied gegenüber der historischen Schule. Die historische Facharbeit
tritt zurück. Die zeitlichen, örtlichen und sachlichen Grenzen, an die die historische
Originaluntersuchung gebunden ist, entfallen. Und es wird die Untersuchung ein¬
zelner sozialer Institutionen und Phänomene (Eigentum, Ehe, Klassen usw.) zum
unmittelbaren und alleinigen Zweck. Auch die historische Schule arbeitete natürlich
mitunter so, aber bisher nur gelegentlich und nebenbei. Auch methodologische Werke
hat diese Richtung in Menge hervorgebracht. (Vor allem: Dürkheim: Regles de
la mäthode sociologique 1895, CI 6 m ent: Essai sur la Science sociale 1867;
Fouill6e: Le mouvement positiviste et la conception sociologique; und neuestens
das Werk von Simiand, das den Standpunkt dieser Gruppen und die ihnen allen
eigene Abneigung gegen die Theorie am klarsten zum Ausdruck bringt.)
Zweitens haben wir der Le Play-Schule zu gedenken (Le Plays Haupt¬
werke sind: LesOuvriers Europ6ens 1. ed. 1855 2. ed. 1877—79, La r6forme social
1. ed. 1864, L'organisation du travail 1870, L’organisation de la famille 1872, Consti¬
tution essentielle de l’humanitt 1880; von ihm begründet: die Monographienserie Les
ouvriers des deux mondes und die Zeitschrift La Reforme sociale. Als Nachfolger
seien du Maroussem und die vielfach selbständigem Cheysson und C. Jannet genannt).
Ihre sozialpolitischen Ideen, die für Le Play die Hauptsache waren, interessieren
uns hier nicht. Desto wichtiger ist seine Methode, die der Detailuntersuchung der
Lebensverhältnisse der Arbeiterschaft an der einzelnen Arbeiterfamilie und unter
besonderer Berücksichtigung ihres Budgets. Es ist klar, daß diese Methode, die
seither auch in Deutschland, Amerika und England eingeschlagen wurde, nicht nur
für manche Probleme schlechthin nötig ist, sondern auch einen Beitrag zu unserm
allgemeinen Verständnis des sozialen Geschehens bieten kann. Daß sie bisher zu kei¬
nen in Kürze zu formulierenden Resultaten führte, liegt in ihrer Natur und bildet
keine Einwendung. Nur sind die allgemeineren Ausführungen Le Plays wissenschaft¬
lich nicht sehr wertvoll, teils weil sie seinem Talent nicht „lagen“, teils wegen des
völligen Fehlens jeder selbst elementaren ökonomischen Schulung. Das nimmt
namentlich seinen Ausfällen gegen die Klassiker, die er kaum gelesen haben kann,
jede Bedeutung *).
In Amerika, Italien, Holland und Nordeuropa kam es zu keiner eigentlichen
historischen Bewegung. Wir finden auch da einen Aufschwung der „Wirtschafts¬
beschreibung“, in Amerika mit einem bemerkenswerten Ansatz zu einem großzügigen
planmäßigen Zusammenarbeiten vieler Gelehrter am Werk der Deskription (innerhalb
des Carnegie Instituts, der Smithsonian Institution und außerdem an der Documen-
tary History of American Industrial Society). Aber er geht nur parallel mit einem
Aufschwung der Theorie und Hand in Hand mit diesem. Jener spezifisch historische
Geist, der allein die für jede Richtung nötige Pflege der Tatsachensammlung zu etwas
methodisch Eigenartigem macht, entwickelte sich nicht. Gelegentlich fanden die
kritischen Gesichtspunkte der historischen Schule Widerhall, aber nur einen schwa¬
chen, vornehmlich außerhalb der führenden Kreise der Nationalökonomie, und sie
wirkten nur wenig auf die positive Arbeit. Es ist schwer, die den historischen oder
theoretischen Parteimann in Deutschland so sehr interessierende Frage, welche
Richtung „überwiegt“, mit gutem Gewissen zu beantworten. Nach der Bändezahl
natürlich wie immer und überall die „Tatsachenforschung“. Nach dem Kriterium,
*) Die liebenswürdige, aber nicht sehr starke Persönlichkeit E. de Laveleyes (Haupt¬
werk: Ureigentum) verdiente ebenfalls Erwähnung: Ein Mann voll hoher sozialpolitischer
Ideale und von vorwiegend historischen Neigungen, war er einer der besten Repräsentanten
eines ziemlich häufigen Typus der Epoche.
106 L Buch All: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. IV
wo die Leistungen der Nationalökonomen von Namen liegen, die Theorie. Einen
halbwegs verläßlichen Ueberblick verschafft man sich, wenn man etwa den Inhalt
der Publikationen der American Economic Association, deren Stellung in Amerika
mit der des Vereins für Sozialpolitik in Deutschland wenigstens Aehnlichkeit hat,
mit dem Inhalt der Publikationen des letztem vergleicht, oder durch ein Studium
der amerikanischen und italienischen Lehrbücher — aber ihres innern Gehalts und
nicht bloß ihrer prinzipiellen Ausführungen.
5. Diese Uebersicht zeigt, wie wenig ein prinzipieller Methodenstreit in der
Natur der Sache lag. Wenn dem aber so ist, woher kam er dann? Worum stritt
man ? Und war der ganze Kampf denn nötig, der soviel Kraft kostete, die positive
Arbeit hätte leisten können, und Männer entzweite, die ihrer gegenseitigen Achtung
so würdig waren und in ruhigem Zusammenarbeiten einander soviel geboten hätten?
Ueber die letzere Frage zu philosophieren und mit sentimentalem Bedauern auszu¬
führen, wie schön es gewesen wäre, wenn sich die Dinge anders gestaltet hätten,
hieße in eine veraltete Art von Geschichtsschreibung verfallen. Die Erklärung
des Kampfes aber haben wir bereits angedeutet: Es war ein Kampf zweier Arbeits¬
weisen, ein Kampf zwischen Leuten verschiedenen geistigen Habitus, die um Luft¬
raum oder Herrschaft stritten. Und das erklärt auch die Art, wie dieser Kampf
geführt wurde und seine Resultate: Wie im politischen Kampf wirkte vor allem der
Schlachtruf, der an empfindliche Saiten rührte und bestimmte Vorstellungen und
Gefühle wachrief, viel weniger der ausgearbeitete Gedankengang. Und jedes Argu¬
ment wirkte für sich, d. h. unabhängig von seinen Mit- und Gegenargumenten, ohne
daß es in einem und demselben Bewußtsein mit seinen Mitargumenten zusammenge¬
halten und gegenüber dem Gegenargument abgewogen wurde. Daher die endlosen
Wiederholungen von Argumenten, die schon mit aller wünschenswerten Gründlichkeit
widerlegt waren. Stets klingt bei allem, was die Parteien zu sagen haben, die unüber¬
windliche, keinem bloß logischen Argument zugängliche Abneigung gegen das theo¬
retische „Nebelbild“ oder die historische „Kärrnerarbeit“ durch. Immer wieder
finden wir die Tendenz der Parteien, einander Unwissenschaftlichkeit vorzuwerfen
und sich selbst mit für auszeichnend gehaltenen Prädikaten zu schmücken („rea¬
listisch“, „exakt“, „modern“ usw.), oft dicht neben dem Zugeständnis, daß etwas
Berechtigtes an dem gegnerischen Standpunkt sei. Die Einzelargumente selbst —
und noch mehr ihre Betonung und Formulierung — wechselten auf beiden Seiten
mitunter sehr unvermittelt. Das macht es fast unmöglich, einem Autor eine be¬
stimmte Behauptung zuzuschreiben ohne daß ihr andere, widersprechende, entgegen¬
gestellt werden können. Deshalb, dann weil es oft schwer ist, den präzisen Sinn
einzelner Aeußerungen heute festzustellen und weil es endlich kaum fair ist, mit
jeder in der Hitze des Gefechts gefallenen Aeußerung vollen Ernst zu machen,
wollen wir uns mit wenigen Bemerkungen begnügen.
In ihren Anfängen eröffnete die historische Schule vor allem einen Angriff auf
die politischen und sozialphilosophischen Thesen der alten Oekonomik, auf Man¬
chestertum, Individualismus, Rationalismus usw. und zwar mit so gut wie voll¬
ständigem Erfolg. Dabei wurde wohl auch die eigentliche Theorie mit abgelehnt,
z. B. als scholastisch, spekulativ, naturalistisch usw. bezeichnet, auch bestand eine
Neigung, die Anwendbarkeit des Gesetzesbegriffs auf die Sozialwissenschaft für be¬
denklich zu halten, aber das stand nicht im Vordergrund: Wenn Schmoller z. B.
jeden „Smithianer“ als ungeeignet bezeichnete, die Wissenschaft als Lehrer zu ver¬
treten, so meinte er offenbar das sozialphilosophische und politische Element im
Smithianismus. Von dieser Phase ist nicht so sehr zeitlich als inhaltlich eine andere
zu unterscheiden, in der die Methodenfrage näher diskutiert wird. Da werden die
Vorzüge von Induktion und Deduktion erörtert, die Berechtigung, resp. Möglichkeit
des Isolierens usw. Diese Phase war nicht sehr fruchtbar. Dem Streit um Induktion
und Deduktion lag nicht etwa eine logische Frage, sondern einfach der Gegensatz
zwischen Sammlung und Analyse von Tatsachen zugrunde. Trotzdem wurde eine
IV. Historische Schule und Grenznutzentheorie.
107
Zeitlang der Kampf in jenem für ihn gar nicht passenden Gewand geführt, natürlich
ohne besondere Resultate. Schlagworte wie „Oekonomie im luftleeren Raum“, „Ato¬
mismus“ usw. gehören ebenfalls hierher. Eine dritte Phase steht unter dem Einfluß
der Fortschritte der Erkenntnistheorie und der fachhistorischen Methodendiskus¬
sionen und brachte zwar eine neue Komplikation, weil nun erkenntnistheoretische
Differenzen, die an sich mit der ökonomischen Arbeitsweise nichts zu tun haben,
hereingezogen wurden, aber dafür eine zweifellose Klärung der Anschauungen.
Im Zentrum der Diskussion steht die große methodologische Leistung
C. Mengers: „Untersuchungen über die Methode der Sozialwissenschaften und der
politischen Oekonomie insbesondere.“ Sie führte aus dem Stadium der Apercus
und Einzelargumente hinaus und machte den Versuch, durch gründliche prinzipielle
Auseinandersetzungen Klarheit in den Methodenstreit zu bringen und dabei die
Theorie gegen die Mißverständnisse zu verteidigen, denen sie ausgesetzt war l ). Da
gab es in der Tat vieles zu tun. Dem spezifisch historischen Ideenkreis liegt die
Auffassung nahe, daß die ökonomische Theorie überhaupt nicht auf Tatsachen¬
beobachtung, sondern auf Obersätzen zweifelhaften Charakters beruhe und im
Grunde vorwissenschaftlich sei, bestimmt, durch ernste Tatsachenforschung ver¬
drängt zu werden. Die Aufgabe der Wissenschaft läge dann ihr gegenüber über¬
haupt nicht in Fortbildung, sondern nur in der Darstellung und historischen Er¬
klärung ihrer wechselnden Systeme. Höchstens die Bereitstellung und logische
Durchbildung eines Begriffssystems für die Sozialwissenschaft könnte als eine —
aber verhältnismäßig untergeordnete — Aufgabe theoretischen Charakters aner¬
kannt werden. Von „Gesetzen“ könnte auf sozialwissenschaftlichem Gebiet kaum
mehr die Rede sein, höchstens von Regelmäßigkeiten, wie sie die historische und
statistische Detailforschung aufdecken kann und die man eventuell „empirische
Gesetze“ nennen könnte. Das Wort „Theorie“ wurde so verfehmt, daß man es
heute mitunter durch „gedankliche Nachbildung“ oder „Lehre“ ersetzt, um nicht
a limine eine ganze Menge von Vorurteilen wachzurufen. Und wenn „Theorie“ im
Sinne allgemeingiltiger Erkenntnisse nicht für schlechthin unmöglich gehalten wurde,
so hielt man doch die vorhandene Theorie für prinzipiell verfehlt. Aber wenn Menger
diesen Anschauungen entgegentrat, so erkannte er doch ohne weiteres die Notwendig¬
keit einer historischen Grundlage für die Arbeit an einer Reihe von ökonomischen
Problemen und sodann für die Untersuchung von individuellen Fällen an. Schmoller
entgegnete darauf (Zur Methodologie der Staats- und Sozialwissenschaften, Jahr¬
buch für Gesetzgebung 1883; vgl. auch: Zur Literaturgeschichte der Staats- und
Sozialwissenschaft 1888 und: Wechselnde Theorien und feststehende Wahrheiten
. . . 1897. Frühere Aeußerungen Schmollers über Methodenfragen in der Sammelaus¬
gabe: Grundfragen der Sozialpolitik und Volkswirtschaftslehre 1898), zwar in einer
durch den Anlaß gegebenen polemischen Form, sachlich aber durchaus nicht einfach
ablehnend. Er erkannte schon damals — abgesehen von der Berechtigung man¬
cher kritischen Bemerkungen Mengers — die prinzipielle Wesensgleichheit der sozial-
l ) Auf prinzipiell demselben Boden stehen:v. Böhm-Bawerk, Method in Political
Economy, Ann. Amer. Ac. I; v. P h i 1 i p p o v i c h , Ueber Aufgabe und Methode der Po¬
litischen Oekonomie, 1886; S a x , Wesen und Aufgaben der Nationalökonomie, 1884; Diet¬
zel, Beiträge zur Methodik der Wirtschaftswissenschaften, Conrads Jahrb. 1884 u. a. Ar¬
beiten; L i f s c h i t z , Untersuchungen über die Methodologie der Wirtschaftswissenschaft,
1909. Im ganzen auch die englischen Methodologen: Jevons, The future of Political
Economy, Fortnightly Rev. 1876, und Principles of Science, 1874; Cairnes, The Cha-
racter and logical method of Political Economy, 1875; Keynes, Scope and method of po-
litical economy, 1. Aufl., 1891, und Artikel „Method“ in Palgraves Dictionary.
Bagehots Stellung (Economic Studies, ed 1880) ist ähnlich der K. B ü c h e r s: Die Theorie
erscheint bei ihnen als unentbehrlich zum Verständnis der Vorgänge der modernen Verkehrs¬
wirtschaft, darüber hinaus aber ohne Wert.
Methodologische Erörterungen ähnlichen Grundzugs findet man ferner in den meisten
systematischen Werken, so bei A. Wagner, v. Philippovi ch, G. Cohn, J. Conrad,
Seligman, Marshall usw.
108 I. Buch All: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. IV
und der naturwissenschaftlichen Kausalnotwendigkeit an und bezeichnete kausale
und gesetzmäßige Erklärung — für ihn fiel damals Beides zusammen — der sozialen
Phänomene als das Ziel sozialwissenschaftlicher Arbeit. Ja wir finden sogar den
weitgehenden Satz, daß alle vollendete Wissenschaft „deduktiv“ sei, d. h., daß der
Zustand idealer Vollkommenheit erst erreicht wäre, wenn man auf Grund theore¬
tischer Sätze konkrete Phänomene restlos erklären könne. In diesem Satz liegt die
Anerkennung der prinzipiellen Möglichkeit eines solchen Stands der Wissenschaft
— wenn er uns auch tatsächlich unerreichbar sein sollte — und eine völlige Absage
an jenen spezifisch historischen Glauben an die „Unberechenbarkeit“ und prinzipielle
„Irrationalität“ des sozialen Geschehens, — Schmoller geht hier weiter, als die meisten
Theoretiker zu gehen bereit wären. Und noch schärfer hebt er die kausal-theore¬
tische Aufgabe der Sozialwissenschaft in seinen Arbeiten über die Methode im H. d.
St. hervor. Das verträgt sich durchaus mit der Ansicht, daß die Theorie der Sozial¬
wissenschaft zu einem großen Teil eines historischen „Unterbaus“ bedürfe. Alle
diese Sätze weisen gar keinen prinzipiellen Gegensatz zur Theorie als solcher auf,
wenngleich natürlich ein Gegensatz zur vorhandenen Theorie mit ihnen kompatibel
ist. Aber dieser letztere Gegensatz könnte nur ein „innertheoretischer“ sein, denn so¬
wie der Historiker daran ginge auf Grund seiner historischen Detailforschungen
generelle Erkenntnisse — wie immer man sie nun nennen mag. Es ist, wie v. Schmol¬
ler treffend bemerkt, ganz gleichgiltig ob man von „Gesetzen“ spricht oder einen
andern Terminus für eine Sache verwendet, deren Wesen sich ja doch gleichbleibt,
mag man sie auch nennen, wie man will — zu gewinnen, so müßte er isolieren und
abstrahieren, d. h. sich in einen Theoretiker verwandeln. Allerdings wären „empi¬
rische Gesetze“, d. h. Konstatierung von Regelmäßigkeiten in unanalysierten Tat¬
sachen, auch ohne Abstraktionen möglich. Aber sie wären erstens wenig zahlreich
und zweitens würden sie uns sehr wenig sagen, sie wären „unverständlich“.
Es ist interessant zu beobachten, wie nahe Vertreter von Richtungen, die man als
prinzipiell feindlich zu betrachten pflegt, einander kamen, wenn sie die Sache grund¬
sätzlich diskutierten. Auch manche Anhänger Schmollers, wie z. B. Hasbach 1 ),
nahmen den Standpunkt ein, der durch die Anerkennung allgemeingiltiger Gesetze
charakterisiert ist. Und nach und nach begann sich derselbe durchzuringen, bis
schließlich in der neuesten Zeit jede argumentative Theoriefeindlichkeit
erstarb und die schon von Menger betonte Unterscheidung zwischen der Erkenntnis
des Generellen und des Individuellen, gefördert durch philosophische Unterstützung
(Windelband: „nomothetische“ und „ideographische“ Denkweise, Rickert: „natur¬
wissenschaftliche“ und „historische“ Betrachtung) anerkannt wurde. Aber an dem
Gegensatz zweier Arbeitsweisen änderte das wenig und es war mehr Müdigkeit als
Einigung, die dem Streit nach und nach seine Heftigkeit nahm. Eine neue Gene¬
ration— auch von Anhängern der historischen Schule—wollte nicht mehr bei bloßer
Tatsachensammlung verweilen und die ökonomische Theorie hatte unterdessen
neues Leben gewonnen. Von einer Ueberwindung der letzteren konnte keine Rede
mehr sein. Damit verlor die Methodendiskussion ihre polemische Spitze und es
vollzog sich ein Wechsel des Themas: Man ging an die Untersuchung der Erkennt¬
nistheorie der Geschichte 2 ), man fing an, in den Gedanken, mit denen der Historiker
*) Ein Beitrag zur Methodologie der Nationalökonomie, Schmollers Jahrb. 1885. Und:
Mit welcher Methode werden die Gesetze der theoretischen Oekonomie gefunden, Conrads
Jahrb. 1894. Aber nicht alle taten das. Außer früher genannten methodologischen Arbeiten
historischen Standpunkts seien hervorgehoben: G r a b s k i, Zur Erkenntnislehre der volks¬
wirtschaftlichen Erscheinungen; Gerstner, Die Nationalökonomik als Gesellschafts¬
wissenschaft, Tübinger Zeitschrift 1861; Held, Ueber den gegenwärtigen Prinzipienstreit
in der Nationalökonomie, Preuß. Jahrb. 1872; R ü m e 1 i n , Ueber den Begriff des sozialen
Gesetzes (Reden und Aufsätze I, 1875). Die Standpunkte dieser Autoren unterscheiden sich
jedoch wesentlich voneinander.
*) Vgl. bes. die Arbeiten von M. Weber, Roscher und Knies und die logischen Pro¬
bleme der historischen Nationalökonomie, Schmollers Jahrb. 1903—05. Die Objektivität sozial-
IV. Historische Schule und Grenznutzentheorie. 109
arbeitet, soziologische Probleme zu sehen. Doch können wir auf diese so zukunfts¬
reiche Bewegung nicht eingehen. Bei all dem erhielten sich vielfach Reste der alten
populären Auffassung über das Wesen der Theorie und namentlich die alten pole¬
mischen Redewendungen. Ja sie sind gerade erst in neuerer Zeit, nachdem die
Wissenschaft schon über sie hinausgekommen war, in weitere Kreise eingedrungen,
wie überhaupt die Anschauungen des „Publikums“ gegenüber den wissenschaftlichen
stets um’ ein Tempo zurück sind.
Die beginnende Uebereinstimmung in der Methodenfrage in ihrem ursprünglichen
Sinn wird heute erschwert durch eine Reaktion gegen die historische Schule, die aus
verschiedenen Quellen kommt. Die historische Schule hatte sich in ähnlicher Weise
mit politischen Bestrebungen liiert, wie seinerzeit die Klassiker. Und wie diese,
so muß auch sie nun dafür büßen. Aber die wichtigste wissenschaftliche Ursache
jener Reaktion ist der Zug unserer Zeit nach der Theorie hin. Wie die historische
Schule der Nationalökonomie in ihrem Aufschwung ein Element einer allgemeinen
geisteswissenschaftlichen Richtung war und wie es sich damals um eine „einheit¬
liche Fundierung aller Geisteswissenschaften auf die geschichtlich-gesellschaftlichen
Tatsächlichkeiten“ (v. Schmoller) handelte, so stehen wir heute mitten in einer ent¬
gegengesetzten Strömung. Und wir haben alle Aussicht, das wenig erfreuliche
Schauspiel zu erleben, daß die historische Schule die gleichen Ungerechtigkeiten
erfährt, die sie seinerzeit der Theorie zugefügt hat. In dieser Beziehung ist das
Schicksal der Nationalökonomie analog dem der Rechtswissenschaft. Die scharfe
Reaktion gegen das Naturrecht am Beginn des 19. Jahrhunderts, die sich an die Na¬
men Savignys und Eichhorns knüpft, führte zur Herrschaft einer historischen Rich¬
tung, auf die die ökonomischen Historiker stets als Vorbild hingewiesen haben. Die
vorhandenen Vertreter des Naturrechts wurden immer mehr zurückgedrängt und
immer geringschätziger betrachtet und man erwartete ein völliges Verschwinden
ihres Gedankenkreises. Bezeichnenderweise wurde er mehr und mehr in eine „Ge¬
schichte der Rechtsphilosophie“ relegiert, ganz ähnlich, wie man mit der theoretischen
Oekonomie zu verfahren wünschte. Aber das Naturrecht verschwand nicht. Es
erhielt sich und gegen Ende des 19. Jahrhunderts traten Symptome einer neuen
Bewegung innerhalb desselben auf. Und diese Bewegung gewann schnell Ober¬
wasser. Es handelte sich nicht etwa um eine Auffrischung der von der historischen
Schule mit Recht wenig geschätzten „Begriffsjurisprudenz“, die praktisch zwar un¬
entbehrlich, aber wissenschaftlich von sehr geringem Interesse ist. Im Gegenteil,
die neue Bewegung trat ihr ebenso energisch entgegen wie die historische Richtung.
Es handelte sich vielmehr um ein theoretisches Erfassen des Rechtsphänomens und
der Logik des Rechts, also um ein Herauslenken aus den speziell historischen Bahnen.
Im einzelnen liegen ja die Dinge auf beiden Gebieten ganz verschieden. Schon
die Verschiedenheit der Natur und der Funktion beider bringt das mit sich. Menger
hatte ferner durchaus Recht, wenn er eine fundamentale Verschiedenheit zwischen
der juristischen und der ökonomischen historischen Schule den Grundtendenzen nach
konstatierte. Aber die Art des Arbeitens und der Grundzug des Geistes beider Ten¬
denzen ist doch wesentlich gleichartig. Und der Parallelismus ihres Schicksals ist
nicht zu verkennen.
6. Wir wollen hier einige Bemerkungen über ein Thema einschieben, das in Zu¬
sammenhang mit Methodendiskussionen erwähnt zu werden pflegt, über die sog.
mathematische Methode. Schon früh finden wir bei manchen Autoren (Hutcheson
z. B., mitunter auch noch früher) den Gebrauch algebraischer Symbole in sozial¬
wissenschaftlichen Gedankengängen. Darin liegt nichts prinzipiell Besonderes.
Ob man allgemeine Sätze mit Worten oder, der großem Präzision halber, algebraisch
ausdrückt, ändert nichts an ihrem Wesen. Ob man sich in komplizierteren Fällen
wissenschaftlicher Erkenntnis, Archiv f. Sozialw. XIX. und: Kritische Studien auf dem Gebiet
der kulturwissenschaftlichen Logik, ebenda XXII. Es ist nicht möglich, hier auf die große
historische und erkenntnistheoretische Literatur der neuesten Zeit einzugehen.
110 I. Buch All: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. IV
hypothetischer Zahlenbeispiele bedient oder statt dessen algebraischer Formen,
ist vollends prinzipiell gleichgültig, nur daß die Klarheit und Schärfe der algebraischen
Form alle Voraussetzungen deutlicher hervortreten läßt und den Gedankengang
von den Zufälligkeiten konkreter gewählter Zahlen befreit. So hat Whewell
(Cambr. Phil. Trans. Bd. III) einige Theoreme Ricardos in den vollkommeneren
Formen der Algebra ausgedrückt. Das geschah später oft. Wie sehr es für eine
eindringende Analyse zweckmäßig ist, kann man an den schönen Arbeiten v. Bort-
kiewicz* über die Grundlagen des Marxschen Systems sehen, die im vorhergehenden
Abschnitt zitiert wurden. Cournot (1. c.) hat eine andere Art der „mathematischen
Oekonomie“ begründet, die auf der Tatsache beruht, daß die Denkformen der hohem
Analysis sich auf eine Reihe ökonomischer Sätze sehr gut anwenden lassen und die
Untersuchung an solchen Punkten weiter fortzuführen gestatten, wo die wissen¬
schaftliche Sprache wegen ihrer Schwerfälligkeit versagt. Der Funktionsbegriff
ist unmittelbar oder latent in den meisten reinökonomischen Gedankengängen vor¬
handen und soweit es sich dämm handelt, die allgemeinen Beziehungen zwischen
variablen Größen zu erfassen und aus denselben soviel wie möglich für deren Ver¬
änderungen zu schließen, ist die mathematische Analyse schlechthin das geeignete
Instrument, abgesehen davon, daß schon die Darstellung ökonomischer Zusammen¬
hänge in Systemen simultaner Gleichungen an sich einen Ueberblick über dieselben
gewährt, wie er nicht anders so klar erlangt werden kann. Coumot fand einen Nach¬
folger in Walras, dem wir noch begegnen werden und dieser in P a r e t o (Manuel
1908), der in wesentlichen Punkten alle Frühem überholte (Schule von Lausanne).
In England hatte Jevons diesen Weg betreten, dann taten das mit mehr Erfolg
Marshall und Edgeworth, in Amerika J. Fisher. Das weitaus wichtigste Werk
dieser Richtung in deutscher Sprache ist das von R. A u s p i t z und R. L i e b e n:
„Untersuchungen über die Theorie der Preise (1888). Launhardt (Mathema¬
tische Begründung der Volkswirtschaftslehre 1886) folgte lediglich Walras und Je¬
vons. In ihren Anfängen hatte diese Richtung mit manchen Vorurteilen zu kämpfen,
die in der Abneigung gegen die Verwendung einer weitern Kreisen unverständlichen
Sprache wurzelten und in der „mathematischen Oekonomie“ etwas prinzipiell Eigen¬
artiges und namentlich eine unerlaubte Anlehnung an die Naturwissenschaften
sehen ließen. Nach und nach begann man einzusehen, daß sie sich nicht wesentlich
von der Theorie überhaupt unterscheidet und nur von Argumenten getroffen werden
kann, die auch für diese gelten, ferner, daß sie nichts den Naturwissenschaften ent¬
lehnt als eine besondere Technik, die ganz so allgemein „gilt“ wie die „Grundgesetze“
der Logik. Heute ist sie außerhalb Deutschlands so ziemlich überall anerkannt und
vertreten, auch in Frankreich, wo man sich besonders heftig gegen sie gewehrt hatte.
Ihr Anwendungsgebiet ist jedoch ein beschränktes und ihre Leistungen gehen nur in
einzelnen Punkten über eine korrektere und schärfere Darstellung — was allerdings
in praxi sehr viel bedeutet — hinaus, so daß man wohl die Zweckmäßigkeitsfrage
diskutieren kann, die schließlich auch den Kem der prinzipiellen Argumentationen
der der Methode ja völlig fernestehenden Gegner derselben bildete, ob sich gegen¬
wärtig für einen Nationalökonomen, dem es sich vor allem um die Kenntnisnahme der
Resultate der Theorie handelt, die Erlernung eines besondern Apparats lohnt *).
7. In aller Kürze seien einige von den wesentlichen Gesichtspunkten angedeutet,
die sich aus der historischen Detailarbeit ergaben und denen die historische Schule
zur Geltung verhalf. I. Der Gesichtspunkt der Relativität. Hier ist nicht die er¬
kenntnistheoretische These gemeint, daß alle Erkenntnis einem bestimmten Betrach¬
tungszweck angepaßt sei und außerhalb desselben keine Gültigkeit habe, sondern
eine besondere nur unserem Gebiet eigene Art von Relativität. Zunächst lehrt die
historische Detailforschung klarer als irgend eine andere Arbeitsweise dieUnhaltbar-
*) Lieber die mathematische Methode informiert man sich am besten aus dem Artikel
Paretos in der Enzyklopädie der mathematischen Wissenschaften und aus dem Artikel
Edgeworth’ in Palgraves Dictionary.
IV. Historische Schule und Grenznutzentheorie.
111
keit der Vorstellung, daß es allgemeingültige praktische Regeln der Volkswirtschafts¬
politik gäbe. Aber auch innerhalb der Grenzen der wissenschaftlichen Erkenntnisse
betonte die historische Schule stets diesen Gesichtspunkt, den wir zwar auch bei
Theoretikern — selbst bei Ricardo und Marx — finden, aber nicht in solcher syste¬
matischer Konsequenz. Soweit allerdings eine Neigung vorhanden war, mit dem
Moment der „historischen Bedingtheit“ des sozialen Geschehens die Möglichkeit
allgemeingültiger Erkenntnis — allgemeiner „Gesetze“ — bekämpfen zu wollen,
wurde sie bald unterdrückt. II. Der Gesichtspunkt der Einheit des sozialen Lebens
und des in einer Beziehung untrennbaren Zusammenhangs seiner Elemente. Auch
dazu führt nicht allein, wohl aber besonders sicher, die Arbeit am historischen Ma¬
terial: Die konkreten Tatsachen, die dieses bietet, lassen sich nicht ohne Verlust
zergliedern und der Historiker wehrt sich gegen das Entblättern der Blume, die er
gepflückt hat. Daher sein Wunsch, an die Stelle der Schemen der Theorie die Er¬
fassung der vollen Wirklichkeit zu setzen, ein Wunsch, dessen logische Form das
Argument von der Heteronomie der Wirtschaft ist. Dieses Ideal — es ist ja leider ein
Phantom — ließ sich nicht festhalten und v. Schmollers Formulierung gibt es auf.
Aber es bleibt noch immer der Zug über die Grenzen einer bloßen Wirtschaftslehre
hinaus *) und eine Geringschätzung gegen die „Fachleute, die nie einen Hasen in das
nächste Feld verfolgen“. Die neuere Erkenntnistheorie mit ihrer scharfen Schei¬
dung von Realobjekt und Erkenntnisobjekt und die Einsicht, daß ja in dieser Be¬
ziehung die Dinge nicht anders liegen wie in den Naturwissenschaften — auch in der
Natur besteht unlösbarer Zusammenhang aller Erscheinungen —, haben den Raum
zu Differenzen in diesem Punkt sehr eingeschränkt. III. Der antirationalistische
Gesichtspunkt. Verhältnismäßig spät — und vollständig erst unter dem Einfluß
außerhistorischer Einflüsse — zog man aus der Geschichte eine ihrer deutlichsten
und wertvollsten Lehren: Die von der Vielheit der Motive und die von der geringen
Bedeutung bloß logischer Einsicht für das menschliche Handeln. Der Historiker,
der, wie immer das nun möglich oder unmöglich sein mag, sich die Motive Handelnder
klarzumachen sucht, sieht nur selten einfache, fast niemals klare und klarbewußte.
Er sieht die Menschen nach unräsonnierten, ihnen vielfach als undiskutierbare Ge¬
bote erscheinenden Regeln handeln oder unter dem Einfluß von offenbar illogischen
Impulsen. Nicht bloß der Historiker sieht das, aber von der historischen Schule
vor allem ist dieser Gesichtspunkt in der Nationalökonomie geltend gemacht worden.
Und zwar zunächst in der Form des ethischen Arguments— daher der Name „ethische
Schule“ — und sodann in der Form des Verlangens nach einer vollkommeneren Indi¬
vidual- vor allem aber Massenpsychologie. Darin lag ein wesentliches Verdienst
ungeachtet des Umstandes, daß man mit Unrecht glaubte, daß dieser Gesichtspunkt
eine Einwendung gegen die reine Theorie — dieselbe ist erstens von einer Motivations¬
lehre unabhängig und nichts weniger wie eine „Naturlehre des Egoismus“, zweitens
aber spielte, wenn es nötig wäre, das klarbewußte wirtschaftliche Motiv, immer
innerhalb des gegebenen Gesichtskreises des Wirtschaftssubjekts natürlich in wirt¬
schaftlichen Dingen eine so große Rolle, daß seine isolierende Behandlung wohl der
Mühe wert wäre — involviere und daß dieselbe gewinnen würde, wenn man ihre
psychologischen Grundlagen verbessere. Freilich ist es mit der bloßen Hervor¬
hebung ethischer Motive nicht getan. Aber wenn man überhaupt Sozialpsychologie
treiben will, so kann es nur auf neuen Grundlagen geschehen, nicht auf den alten
*) Um nicht zu sagen ins Uferlose. Je weiter die Entwicklung der einzelnen sozialwissen¬
schaftlichen Disziplinen fortschreitet, in um so nebelhaftere Ferne rückt der Gedanke der so¬
zialen Universalwissenschaft und um so unvollkommener muß jede Zusammenfassung aus-
fallen. Ein Aufgeben der Spezialdisziplin der Wirtschaftslehre, das die Oekonomen ihrer
Aufgabe entfremdet, bedeutet fast das Aufgeben der Möglichkeit des Fortschritts. Und doch
ist es in Deutschland fast vollzogen. In dieser Beziehung ist die Bemerkung im Vorwort der
Schmollerfestgabe sehr bezeichnend, daß es zweifelhaft sei, ob man von einer einheitlichen
Volkswirtschaftslehre sprechen könne. In der Tat, kaum gibt es ein Thema, für das man
manchen Oekonomen eine Erklärung des Desinteressements abringen kann.
112 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. IV
rationalistischen. Es ist begreiflich, daß um ein gutes Wort G. W a 11 a s (Human
Nature in Politics 1906) zu wiederholen, die ausschließliche Berücksichtigung
einiger weniger klarbewußter Motive auf manchen denselben Eindruck machte,
den es uns machen würde, wenn ein Anatom erklärte, von der Existenz der Leber
im menschlichen Körper „absehen“ zu wollen. Allerdings liegen die Dinge in der
Oekonomik und der Anatomie sehr verschieden, aber darum kümmert man sich
wenig. IV. Der Gesichtspunkt der Entwicklung. Obgleich der Theorie nicht fremd
— vgl. z. B. Marx; aber so gut wie alle theoretischen Lehrsysteme haben die Trieb¬
kräfte der Entwicklung anzugeben versucht, ein Abschnitt „on progress“ war ein
Bestandteil jedes Lehrbuchs — und obgleich auch von andern Betrachtungsweisen
aus erreichbar, vgl. z. B. Spencer, überhaupt die Soziologie, — drängt er sich vor
allem dem Historiker auf, da er fast nur mit Veränderungen der Dinge zu tun hat.
Man konnte um so mehr glauben, daß im Umkreis des Entwicklungsproblems die
Geschichte alles biete, was geboten werden kann, weil dabei Isolierung viel schwerer
und auch weniger fruchtbar schien als bei der gedanklichen Nachbildung von Zustän¬
den. Und sicher müssen Entwicklungstheorien viel mehr von historischem Material
Gebrauch machen. V. Der Gesichtspunkt des Interesses an individuellen Zusammen¬
hängen. Man hat wiederholt ausgesprochen und viel häufiger noch instinktiv ange¬
nommen, daß es uns auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften viel weniger um die
Erforschung des generellen Wesens der Vorgänge, als um die Untersuchung
konkreter, individueller Zusammenhänge zu tun sei: Wie konkrete Ereignisse
und Zustände sich durchringen und wie es mit ihrer konkreten Verursachung
steht, darauf kommt es uns an, nicht auf die sei es nun uninteressanten oder selbst¬
verständlichen allgemeinen Ursachen der sozialen Vorgänge überhaupt. In der Tat
ist die individuelle Schlacht und ihre individuelle Ursachenkombination für uns viel
wichtiger als die individuelle Ursachenkombination, die aus einem Baum ein unter¬
scheidbares Individuum macht. Es wird stets eine Aufgabe der Sozialwissenschaften
sein, solche konkrete Kausationen von uns interessierenden Phänomenen anzugeben
und diese Aufgabe wird stets der Sozialgeschichte und -deskription zufallen außer
ihrer andern, Material für die Lösung einer großen Zahl genereller Probleme zu lie¬
fern. Nur vergaß man dabei, erstens, daß dieser Umstand nur einen graduellen Un¬
terschied gegenüber der Naturwissenschaft begründet, denn auch innerhalb dieser
handelt es sich sehr oft um die individuelle Besonderheit einer bestimmten Ver¬
ursachung (so in allen „angewandten“ Disziplinen), zweitens, daß, wenn auch ge¬
wiß nicht ausschließlich, die Untersuchung des generellen Wesens der Dinge an sich
interessant ist, drittens, daß ohne solche Untersuchung auch die Aufgabe der kon¬
kreten Kausalforschung nicht oder doch nicht in wissenschaftlich befriedigender
Weise gelöst werden kann. Das Verdienst, das in diesem „Gesichtspunkt“ liegt,
ist also kein Beitrag zur Erkenntnis des Wesens unserer Wissenschaft. Das Verdienst
liegt darin, daß man danach handelte und so in vierzigjähriger Arbeit für jene Teil¬
aufgabe Großes leistete. Ob man in dieser Praxis zuweit ging, wie heute vielfach
behauptet wird, das kann nur jeder für sich beurteilen. Mir ist keine Fragengruppe
bekannt, für die soviel individuelle Tatsachen und Zusammenhänge gesammelt
worden wären, daß man sagen könnte, wir hätten nun genug davon und brauchten
uns weiter nicht darum zu bemühen. Daß dabei die Theorie unersetzlichen Schaden
litt, ist eine andere Sache, zum Teil übrigens unvermeidlich. VI. Der organische
Gesichtspunkt. Etwas, das dem Historiker immer über alle Maßen unsympathisch
ist, ist die mechanistische Auffassung sozialer Dinge. Allerdings wurde das zum
Schlagwort, bei dessen konkreter Anwendung man sich nie fragte, welche von den
vielen möglichen Bedeutungen mechanistischer Redewendungen ein bestimmter be¬
kämpfter Satz habe. Näher stand der historischen Schule die organische Auffas¬
sung, die Analogie des sozialen mit einem organischen Körper. Doch hat sie nie¬
mals an den Uebertreibungen dieses Standpunkts, wie wir sie etwa bei v. Schäffle
finden, teilgenommen. Wohl aber hat sie stets betont, daß sich die Volkswirtschaft
IV. Historische Schule und Grenznutzentheorie.
113
nicht in ein Konglomerat selbständiger Wirtschaftssubjekte auflösen lasse und daß
die volkswirtschaftlichen Erscheinungen keine bloßen Resultanten individueller
Komponenten seien. Für die methodische Berechtigung, die diese Auffassung trotz¬
dem für die reine Theorie haben könnte, hat sie kein Verständnis gezeigt. Dieser
Gesichtspunkt wurde nun ursprünglich in der Form vorgetragen — im Anschluß an
A. Müller —> daß die Volkswirtschaft etwas außer und über den Einzelwirtschaften
Existierendes sei. Aber heute ist diese Auffassung so ziemlich überwunden und es ist
an ihre Stelle (vgl. v. Schmoller, Art. Volkswirtschaft im H. d. St.) die Betonung der
Tatsache getreten, daß die Einzelwirtschaften, die eine Volkswirtschaf tausmachen, in
engen Wechselbeziehungen stehen, deren Bedeutung weit über die von der ökonomi¬
schen Theorie beschriebenen Beziehungen hinausgeht, die das einzelne Wirtschaftssub¬
jekt formen und die ein anders geartetes und anders zu erklärendes Verhalten der Wirt¬
schaftssubjekte erzwingen als das, von dem die Theorie spricht. Eine Theorie dieses
Verhaltens gibt aber nicht die Geschichte an sich sondern die allerdings auch mit
historischem Material arbeitende, von historischer Seite sympathisch begrüßte Massen¬
psychologie. Und da die Gesamtheit jener Wechselbeziehungen auch die „reinwirt¬
schaftlichen“ umfaßt, so kommt jene Formulierung des Wesens der Volkswirtschaft
nur darauf hinaus, daß die Theorie nur einen Teil der Erklärungsmomente sozialen
Geschehens behandelt, was von ihren überzeugtesten Vertretern ja stets hervor¬
gehoben wird. Wenngleich das aber jener Formulierung ihre kritische Spitze nimmt,
so ändert es doch nichts an ihrer positiven Bedeutung. — Die Natur der Methode
der Detailforschung bringt es mit sich, daß man nicht in Kürze über ihre Resultate
referieren kann. Wir wollen uns denn auch den Vorgängen auf dem Gebiet der
Theorie zuwenden.
8. Der neue Aufschwung der theoretischen Analyse, der in den 70er Jahren
begann und in den 90er Jahren den weitesten Kreisen ersichtlich hervortrat, änderte
nichts daran, daß die Theorie gegenüber dem Interesse an den Untersuchungen
individueller Tatsachen und die wirtschaftliche Theorie im Besonderen, gegenüber
der Fülle andersgearteter sozialwissenschaftlicher Problemgruppen nicht mehr jene
Rolle einnimmt wie in der klassischen Zeit, wo die Oekonomik die einzige ausgebil¬
dete Sozialwissenschaft war und außerdem so schöne, kurze und peremptorische
Antworten auf Fragen gab, deren Schwierigkeit man unterschätzte. Der National¬
ökonom, der etwas über Zeitfragen oder über die Fragen des sozialen Geschehens
sagen wollte, muß nun andere sozialwissenschaftliche Gebiete betreten und er¬
wirbt leicht eine Art von Geringschätzung für das rein ökonomische Gebiet, dessen
relativ geringer Umfang nun klar ist. Das verhinderte nicht, daß sich die Oekonomik
auch weiter als eine Spezialdisziplin entwickelte, aber es erschwerte ihren Weg und
ihr Verständnis seitens weiterer Kreise und entzog ihr Arbeitskräfte. Das tritt schon
äußerlich hervor, aber tatsächlich ist es noch mehr der Fall: Nationalökonomen,
die der theoretischen Oekonomik erklärtermaßen ganz ferne stehen, sind selten,
aber jene, deren Beziehung zu ihr nur eine lose ist und nur in der Kenntnisnahme und
Beurteilung gewisser Grundzüge besteht, sind die Mehrheit, jene, die sich mit ganzer
Energie mit ihr beschäftigen, eine kleine Minorität. Das ist wesentlich zum Ver¬
ständnis des Gangs der theoretischen Oekonomik in dieser Epoche.
Das neue Ferment, das die Theorie von heute in ihrem inneren Räderwerk zu
-etwas anderem macht als die der Klassiker war und das die Seele jenes Auf¬
schwungs bildet, ist die sog. Grenznutzenlehre. Anklänge an die von ihr ausgestal¬
teten Gedanken finden wir sehr weit zurück, schon bei den Scholastikern (z. B. Biel)
und dann im Naturrecht (z. B. bei Pufendorf). Das ist ganz verständlich, da wie
fast alle wissenschaftlichen „Grundgedanken“ auch der der Grenznutzenlehre an
sich und ohne das, was sich an ihn anschließt, überaus einfach ist. Mehr finden wir
bei Genovesi und Galiani, aber vor allem bei C o n d i 11 a c *). Im 19. Jahrhundert
*) Le commerce et le gouvernement consider^s* relativement l’un ä Pautre 1776, eines
der originellsten Werke des 18. Jahrhunderts. Als Nationalökonom steht Condillac auf den
Sozialökonomik. I. 8
114 I. Buch A 11: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. IV
standen viele deutsche Nationalökonomen, vor allem v. Hermann, auf halbem Weg
zur Grenznutzentheorie und hier finden wir in dem phantastischen aber großzügigen
Buch von H. H. Gossen (Gesetze des menschlichen Verkehrs 1836) die erste mit
dem Bewußtsein ihrer Bedeutung vorgetragene Formulierung der Grenznutzen¬
theorie, die völlig unbeachtet blieb. Kaum weniger Bedeutung kommt D u p u i t zu
(zwei Artikel in den Annales des Ponts et Chauss6£s 1844 und 1849) und A. W a 1-
ra s. Hierher gehört auch R. Jennings (Natural Elements of Political Eco¬
nomy 1855), bei dem sich ebenfalls das Gesetz der Bedürfnissättigung — inmitten
einer Masse von wenig wertvollen Phrasen und Vorschlägen, worin der Autor Gossen
merkwürdig gleicht— ausgesprochen findet und H. D. M c 1 e o d. Im sechsten Jahr¬
zehnt wurden dann jene Werke ausgearbeitet, die das System der Grenznutzen¬
lehre begründeten: Karl Menger’s Grundsätze der Volkswirtschaftslehre
erschienen 1871, W. St. Jevons’ Theory of Political Economy wurde 1871 (nach¬
dem er schon im Jahre 1862 seine Grundgedanken in einem im Journal der R. Stat.
Soc. publizierten Vortrag dargelegt hatte), L6on Walras’ Elements d’6conomie
politique pure 1874 (Die entscheidenden Punkte schon in einem Memoir 1873) veröffent¬
licht. Es folgten im achten Jahrzehnt v. Böhm-Bawerk (Grundzüge der Theorie
des wirtschaftlichen Güterwerts, Conrads Jahrb. 1886; Kapital und Kapitalzins.
2 Bde. in erster Auflage 1884 und 1888, I. Bd. zweite Auflage 1902, II. Bd. dritte
Auflage 1912 und v. W i e s e r (Ursprung und Hauptgesetze des wirtschaftlichen
Wertes 1884; Der natürliche Wert 1889).
Diese Richtung traf in ihren Anfängen etwa folgende Verhältnisse im Kreise
der Theoretiker an: In Frankreich herrschte eine Richtung, die geradenwegs von
Say abstammte und daher von vornherein der Grenznutzentheorie nicht schroff
gegenüberstand. Die meisten Autoren wie z. B. Block (Progres de la Science 6con.
depuis A. Smith 1891), Molinari, Y. Guyot, Leroy Beaulieu usw.
nahmen deren Grundprinzip anstandslos auf, allerdings mit einer gewissen Apathie,
die es zunächst zu keiner Weiterentwicklung kommen ließ und mit ausdrücklichen.
Verwahrungen gegen Walras’ mit Mißtrauen betrachtete Mathematik, welches
Mißtrauen diesen letzteren für lange ganz einflußlos machte. In Deutschland hätte
man ähnliches erwarten können, aber jene Richtung, deren Höhepunkt Hermann
und Thünen waren, hatte um jene Zeit ihre Stellung eingebüßt unter dem Eindruck der
Werke von Rodbertus und Marx, der auch eine Renaissance Ricardos zur Folge hatte:
Es entwickelte sich schnell eine orthodoxe Marxschule unter der Führung von Engels
und Kautsky und auch die ihr nicht angehörigen, sich für Theorie interessierenden
Geister wandten sich wesentlich an Rodbertus und die englischen Klassiker, vor
allem an Ricardo. Sie erblickten in der Grenznutzentheorie eine Neuerung zweifel¬
haften Wertes und nahmen einen prinzipiellen Kampf gegen sie auf. Dabei gehörten,
ihnen die Sympathien der nicht primär an der theoretischen Arbeit teilnehmenden
Fachgenossen, die einem neuen theoretischen Gebäude nicht günstig gegenüber¬
standen, während sie bei aller prinzipiellen Gegnerschaft das alte doch in seiner
historischen Rolle würdigten. In England hatte der Angriff Jevons’ auf Ricardo
und Mill die Theoretiker zunächst nur verstimmt und gerade bewirkt, daß sich die
wenigen — und wenig angesehenen — Vertreter der klassischen Theorie nur um so
fester um jene beiden Namen rallierten, wenn er auch in weiteren Kreisen Beifall fand,
freilich fast nur für die Tatsache des Angriffs an sich. Nur die italienische Nationalöko¬
nomie, der ja von früher die Gedanken der Grenznutzentheorie nahelagen und bei der
keine starke „eingeborene“ Richtung zu überwinden war, und die amerikanische, in der
gerade Careys Einfluß abflaute und so ein Raum geschaffen war, akzeptierten die neue
Lehre nach einiger Zeit im großen und ganzen ohne weiteres und begannen bald mit
einer in vielen Beziehungen originellen Ausarbeitung. Dasselbe taten die Niederländer.
Schultern der Physiokraten, deren Lehre er gerade in ihrem schwächsten Punkt, der Wert¬
theorie glücklich ergänzt. Doch hatte das Buch nur geringen äußern Erfolg, ebenso wie
Isnard’s trait£ des richesses 1781, der auf gleicher Stufe steht.
IV. Historische Schule und Grenznutzentheorie.
115
. Schon dieser Empfang und dann die weitere Entwicklung der Dinge erklären
sich daraus, daß die Grenznutzenlehre nicht durch eine breite Bewegung auf
wohlvorbereitetem Boden sondern durch die Tat einiger hervorragender Männer
entstanden war, die sich nur schwer durchsetzen und nur langsam daran gehen
konnten einen Schülerkreis heranzuziehen. Sie hatten vereinzelt und durch die
bloße Kraft des geschriebenen Arguments die Gleichgültigkeit oder Gegnerschaft
großer festgeschlossener und einheitlich geführter Kreise zu überwinden. Der „in-
tellektualistische Irrtum“, der bei der Betrachtung der Geschichte einer Wissen¬
schaft so nahe liegt, täuscht uns leicht darüber, daß ohne äußere Mittel sich eine
neue Richtung nur sehr schwer durchsetzen kann, weil ihre Gedanken ohne solche
keinem hinlänglich großen Kreis potentieller Schüler in der kurzen Periode ihrer
Bildsamkeit bekannt werden und der tägliche literarische Kleinkrieg aus Mangel
an einer entsprechenden „zweiten Linie“ nicht geführt werden kann '). Besonders
in Deutschland und Frankreich kam mit Rücksicht auf die Bedeutung, die die aka¬
demische Lehrtätigkeit im wissenschaftlichen Leben dieser Länder spielt, auch das
Moment in Betracht, daß die Anhänger Walras* von französischen und die Mengers
von deutschen Lehrkanzeln ziemlich ausgeschlossen waren 2 ). So wird es verständ¬
lich, daß einer langen Periode der Nichtbeachtung eine solche einer Bekämpfung
der Grenznutzentheorie folgte, die auf einem nicht völlig ausreichenden Eingehen
in dieselbe und zum Teil gerade auf Mißverständnissen beruhte. Während der letz¬
teren setzten sich gewisse Schlagworte fest, die nicht nur weiteren Kreisen, soweit
sie überhaupt von der Existenz der Grenznutzenlehre erfuhren, sondern auch den der
Theorie ferner stehenden Fachgenossen abschließend zu sein schienen und es fast
unmöglich machten, einen unvoreingenommenen Hörer- oder Leserkreis zu finden.
Dazu gehörte z. B. der Vortfurf des „Manchestertums“, an dessen Erfolg die Tat¬
sache nichts zu ändern vermochte, daß die Grenznutzenlehre inhaltlich mit jener
wirtschaftspolitischen Richtung nichts zu tun hat und von ihren Begründern zwei
recht weitgehende sozialpolitische Anschauungen vortrugen, während der dritte.
Walras, ein Sozialist, wenn auch kein orthodoxer, war. Auch erschwerte der begon¬
nene Kampf die Annahme der Grenznutzenlehre auch dann, als nähere Bekanntschaft
mit ihr vielen ein günstigeres Urteil nahegelegt hatte, und er führte weiter zur Auf¬
rechthaltung formaler Proteste, auch wenn nichts mehr die Streitenden trennte,
und zur übertreibenden Betonung nebensächlicher Differenzpunkte. Diese Diskus¬
sion der prinzipiellen Richtigkeit der Grenznutzenlehre, von der hier nur die Kon¬
troverse zwischen v. Böhm-Bawerk und Dietzel 8 ) genannt werden kann, dauert noch
heute fort. Doch seit längerer Zeit steht nicht mehr sie, sondern die Diskussion der
*) Es ist lehrreich, die Art wie sich solche Umwälzungen sonst vollzogen, zum Vergleich
heranzuziehen. Auf unserem Gebiet sind die Physiokraten das beste Beispiel. Sie hatten
zunächst nur einen ganz kleinen Pariser Kreis zu erobern, wozu sie sehr günstig postiert waren
und das allgemeine Prestige französischer Literatur half dann nach außen von selbst weiter.
Ein großes Beispiel aus einem andern Gebiet ist die Art der Durchsetzung des Evolutions¬
gedankens: Der Stratege der Bewegung war Ly all. Er wartete nicht nur ab, bis alle ent¬
scheidenden Waffen wohl ausgearbeitet waren, sondern es wurde auch beschlossen, als ersten
Sturmbock die Geologie zu wählen, wegen ihrer verhältnismäßigen Unschuld. Persön¬
lich wandte er sich an die leitenden englischen — ob auch an fremde, weiß ich nicht — Geo¬
logen des Tages und überzeugte oder „neutralisierte“ die meisten, was speziell auf englischem
Boden besonders gut möglich ist. Und dann feuerte er los — sofort mit durchschlagendem
Erfolg. — Den drei Begründern der Grenznutzentheorie lag solche Strategie fern. Und selbst
wenn Lust, so hätten sie nicht die Möglichkeit dazu gehabt. Ihre Zeitgenossen hielten denn
auch ruhig an dem Hergebrachten fest.
*) Die Vertreter der Grenznutzentheorie pflegt man auch mit dem Namen der „öster¬
reichischen Schule“ zu bezeichnen. Allein zunächst bildeten sie auch in Oesterreich eine kleine
Minorität, die energischem Widerstand begegnete.
s ) Dietzel eröffnete den Angriff in seiner Arbeit: Die klassische Werttheorie und die
Theorie vom Grenznutzen, Conrads Jahrb. N. F. 20, darauf entgegnete zunächst Zucker-
k a n d 1 unter dem gleichen Titel im folgenden Band ders. Zeitschrift. Dann erschien, ebenda,
v. Böhm-Bawerks, Ein Zwischenwort zur Werttheorie, darauf Dietzels, Zur
8*
116 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. IV
Bedeutung und des Anwendungsgebiets derselben im Vordergrund. Und auch ihre
Höhe ist überschritten und die stillschweigende Hinnahme der Grenznutzenlehre
wird immer häufiger. Zunächst trat dieser Umschwung in England ein, und zwar
hat vor allem A. Marshall, der, allerdings nur auf dem engeren Gebiet der Oekonomie,
Mill in der Führerstellung folgte, die englische Theorie schonungsvoll und langsam
aber um so wirksamer in die neue Bahn gelenkt. Er hat den Klassikern stets Sym¬
pathie und Achtung gezeigt und Jevons und die Oesterreicher kühl und kritisch
betrachtet. Walras nur selten genannt. Allein tatsächlich hat er deren und besonders
Walras’ ganze Lehre übernommen, sodaß man jene Punkte, in denen er von ihnen
abweicht, weglassen könnte, ohne daß auch ein aufmerksamer Leser eine Veränderung
merkte. Nur die Form, nicht das Wesen der klassischen Betrachtungsweise und
der charakteristischen klassischen Sätze finden wir bei ihm. Und die Fühlung
mit den Klassikern wird nur dadurch so eng erhalten, daß er ihre Lehren uminter¬
pretiert. Um so vollständiger und mit um so geringerem Widerstand vollzog sich
der Wechsel des Standpunkts, wenngleich ein ausdrücklicher Anschluß an die Grenz¬
nutzenlehre mit ausdrücklicher Absage an die Klassiker nur von Seiten P.H.Wick-
s t e e d s erfolgte *). Dann wandten sich der Grenznutzenlehre die Mehrheit der
holländischen 2 ), und mehrere dänische und schwedische Theoretiker zu, und end¬
lich kam sie auch zu lebendiger Wirksamkeit in Frankreich s ) und führte dort zu einer
Erneuerung der theoretischen Arbeit. Besonders in Amerika 4 ) und in Italien 6 )
entwickelte sich endlich eine reiche Lehrbuchliteratur der Grenznutzenlehre.
Für die Gestaltung der Dinge in Deutschland bedeutete es sehr viel, daß v. P h i-
lippovich die Grenznutzenlehre in seinem Grundriß vertrat, in dessen Rahmen
sie auch der Theorie fernerstehenden Oekonomen bekannt wurde. Auch der Erfolg
in außerdeutschen Ländern wirkte zu ihren Gunsten, wenn er auch dem Nichttheo¬
retiker, der auf die prinzipiellen Erklärungen der einzelnen Autoren angewiesen ist,
geringer erscheinen mußte als er war. Dennoch beschränkt sich der Kreis ihrer unbe¬
dingten Vertreter in Deutschland so ziemlich auf die österreichische Schule (ich nenne
noch R. Zuckerkandl, R. Meyer, V. Mataja, E. Sax, R. Schüller). Aber die prinzipielle
Gegnerschaft flaute ab, wenngleich sie bis heute nicht aufhörte und es bildete sich
im kleinen Kreis deutscher Theoretiker jener Standpunkt heraus, den man nicht
unzutreffend als „eklektisch“ bezeichnete und der sich etwa dahin charakterisieren
läßt, daß man das Grundmoment der Grenznutzenlehre in die Wert- und zum Teile
auch in die Preistheorie aufnahm, im übrigen aber an älteren Auffassungen festhielt.
Hierher gehört A. Wagner (Allgemeine oder theoretische Volkswirtschaftslehre
1876, 79, 92 fg.), der Rodbertus und v. Schäffle als jene Autoren bezeichnet, die ihm
am nächsten stehen und der der Grenznutzenlehre ein beschränktes Gebiet zuweist.
Wir hatten bisher wenig Gelegenheit von Schäffle zu sprechen. In der Tat ist es
klassischen Wert- und Preistheorie, ebenda, dritte Folge, I. Bd. und als Entgegnung darauf
v. Böhm-Bawerks, Wert, Kosten und Grenznutzen, ebenda III. Bd., die wichtigste
polemische Leistung der österreichischen Schule.
x ) The Alphabet of economic Science, essay on the coordination of the laws of distribution,
Common sense of political economy. Ganz ähnlich, wie die Marshalls, ist die Stellung Edge-
worth’ zu charakterisieren, immerhin steht dieser den Klassikern um eine Nuance näher. Die
meisten englischen Theoretiker wären hier zu nennen, so besonders A. C. P i g o u.
*) Als führender Nationalökonom ist N. G. P i e r s o n zu bezeichnen (Leerboek der
staathuishoudkunde 1884—90, engl. Uebers. u. d. T. Manual of Political Economy). Ihm
folgten Heymans, d'Aulnis, Beaujon, Harte, Falkenburg, Verijn Stuart u. a.
*) G i d e, L a n d r y, C h. R i s t.
4 ) Unter den amerikanischen Nationalökonomen stehen manche, wie Fetter, Patten,
Fisher sans phrase auf dem Boden der Grenznutzentheorie, mit unwesentlichen Einschrän¬
kungen auch Clark, Seligman, Commons, Davenport, Seager, tatsächlich auch Taussig. Weiter
ab stehen Ely u. a., als Gegner sind Veblen u. a. zu nennen.
*) Die leitenden Nationalökonomen, vor allem Pareto und Pantaleoni, sind „Grenz¬
nutzentheoretiker“. Zu dieser Gruppe gehören auch Graziani, Ricca-Salerno, Cossa, Mazzola,
Conigliani, Barone; Gegner: Loria, Supino u. a. Vgl. v. Schullern-Schrattenhofen:
Die theoretische Nationalökonomie Italiens in neuester Zeit, 1891.
IV. Historische Schule und Grenznutzentheorie.
117
schwer, diese kraftvolle Gestalt in eine Dogmengeschichte einzureihen. Er hat die
meisten Strömungen der Zeit, die sozialpolitische, die historische, die soziologische
in sich aufgenommen und er war auch ein ökonomischer Theoretiker. Ueberall hat
er sehr glücklich dargestellt, originell formuliert und systematisiert, aber er war kein
eigentlicher tiefgrabender Forscher (vgl. Schmoller, Zur Literaturgeschichte
der Staats- und Sozialwissenschaften, Fabian-Sagal, Albert Schäffle und
seine theoretisch-ökonomischen Lehren). Seine Hauptwerke (Nationalökonomie
1861; Gesellschaftliches System der menschlichen Wirtschaft 1867 und 1873; Kapi¬
talismus und Sozialismus 1870 und 1878; Bau und Leben des sozialen Körpers 1875/8,
1896/7) haben überaus anregend gewirkt, aber es wäre schwer, auch nur ein einziges
bleibendes Resultat, auch nur eine einzige zugleich originelle und fruchtbare Auf¬
fassungsweise daraus anzugeben. Eklektisch ist auch der Standpunkt Lexis’
(zuletzt: Allgemeine Volkswirtschaftslehre 1910), der der Theorie überhaupt die¬
selbe Skepsis entgegenbringt, die sich gegenüber der Wirtschaftsgeschichte in seinem
Werke über die französischen Ausfuhrprämien bemerkbar macht, und über die theo¬
retischen Grundprobleme so schnell wie möglich zu praktischen Fragen hineilt.
In seiner Volkswirtschaftslehre finden wir die Grenznutzenlehre einem wesentlich
auf klassischem Material beruhenden Gebäude oder doch einem Gebäude angefügt,
das aus einem durch Kritik der Klassiker gewonnenem Material besteht. Auch D i e h 1,
dessen wichtigste Arbeiten schon genannt wurden, gehört hierher (vgl. auch seine
Arbeit in der Schmollerfestgabe), ebenso v. Bortkiewicz. Diese Beispiele
mögen genügen. Alles in allem entrollt sich das Bild einer unbehaglichen Ueber-
gangsperiode mit vorwiegend kritischen Dispositionen. Was an positiv gestimmtem
Elan vorhanden war, das verbrauchte sich meist in Versuchen, neue Grundlagen
für die Theorie zu finden. Doch kann hier nicht näher auf die neueste Phase der
Entwicklung eingegangen werden.
9. Das Lehrsystem der modernen Theorie wird in diesem Werk an anderer Stelle
dargelegt. Hier kann es sich nur um eine Vervollständigung unserer dogmenhisto¬
rischen Uebersicht handeln. Das allgemeine Bild des Wirtschaftsprozesses der Grenz¬
nutzenlehre, also namentlich die unterschiedenen Typen von Wirtschaftssubjekten
und deren Rollen, ist nicht wesentlich vom klassischen verschieden, aber die Grenz¬
nutzenlehre legt das Hauptgewicht auf eine Problemgruppe, über die die Klassiker
allzu leicht hinwegglitten, nämlich auf die Grundlagen der Wert- und Preisbil¬
dung. Die Klassiker, und besonders die Ricardogruppe, begnügten sich damit, auf
die Wirkung der freien Konkurrenz hinzuweisen und als deren Resultat ein be¬
stimmtes Gesetz der Wert- und Preis große aufzustellen. Damit bewaffnet griffen
sie direkt nach großen objektiven Tatsachen und Tendenzen, wie die durch das Be¬
völkerungsgesetz oder das Gesetz vom abnehmenden Bodenertrag gegebenen, Weizen¬
preis, Arbeiterzahl usw., die sie zu einem Bild von den konkreten Bewegungsgesetzen
der Preise und Einkommen zusammenzuschweißen suchten. Die Grenznutzen¬
lehre suchte vor allem die aus den Grundtatsachen des Wirtschaftens sich ergebenden
Kategorien von Vorgängen im Detail zu untersuchen, ohne zunächst weitere kon¬
krete Daten einzuführen. Sie stellte die Erklärung des Wesens der Preisbildung
und der Einkommenszweige in den Vordergrund und war so von allem Anfang an
anders orientiert als die klassische Theorie. So entstand eine andere, viel „reinere“,
Oekonomik, die viel weniger konkretes Tatsachenmaterial enthält und daher auch
viel weniger kurzgefaßte praktische Resultate bietet, aber ungleich fester begründet
ist. Auch zeigte sich von dem neuen Standpunkt viel deutlicher der gegensei¬
tige Zusammenhang der einzelnen Größen der Oekonomie und die Unhaltbarkeit
vieler starrer Kausalketten der Klassiker und der naiven Auffassung, daß es nur auf
die großen objektiven Tatsachen ankomme, in dem Vorgang der Preisbildung aber
nichts sehr Relevantes enthalten sei. Weiter verzichtete die Grenznutzenlehre ganz
auf die Durchschnitte und Annäherungen, die der klassischen Lehre so viel Schein
von Präzision gegeben hatten. Alles das ist nicht bloß eine Ergänzung, sondern schon
118 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. IV
eine Korrektur des klassischen Bildes der Wirtschaft. Allein diese Korrektur machte
manche klassischen Resultate bedeutungslos und erwies andere als falsch, ohne daß
ähnliche kurze Sätze an ihre Stelle treten konnten. Viel klarer als die Klassiker
sahen die Vertreter der Grenznutzenlehre von ihrem Standpunkt, daß „praktische“
Resultate von den konkreten Daten abhängen, die von Fall zu Fall dem Tatsachen¬
material des Orts und der Zeit zu entnehmen und nicht ein für allemal in bestimmter
Weise festzulegen sind. Und diese Erkenntnis, die ja sicher Selbstbescheidung ge¬
bietet, wurde im Munde der Gegner zum Vorwurf der „Unfruchtbarkeit“ der Grenz¬
nutzenlehre.
Der zweite wesentliche Unterschied zwischen der neuen und der alten Theorie
ist der Verzicht auf das Moment der Arbeitsmenge als Regulators und Mäßstabs
des Güterwerts — von anderen „Kostentheorien“ nicht zu reden — und das
Voranstellen und Durchführen des Gesichtspunkts des Gebrauchswerts. Diese Basie-
rung der Oekonomik auf die „subjektive Wertlehre“ hat vier Vorteile. Sie ist rich¬
tiger, weil die verschiedenen Kostentheorien bestenfalls nur angenähert gelten und
das Kostenphänomen niemals in seinem tatsächlichen Erklärungsgrund verankern.
Sie ist einfacher, weil namentlich die Arbeitswerttheorie eine Reihe von Hilfskon¬
struktionen nötig macht, die nun einfach wegfallen. Sie ist allgemeiner, weil alle
Kostentheorien sich zunächst nur auf unter der Herrschaft freier Konkurrenz er¬
zeugte und zum Teil auch nur auf „beliebig vermehrbare“ Güter beziehen, auch nur
für Perioden einer gewissen Länge gelten, während die subjektive Wertlehre in
gleicher Weise monopolisierte und nicht monopolisierte, vermehrbare und nicht
vermehrbare Güter, lange wie kurze Perioden umfaßt. Sie macht endlich die Re¬
sultate der Oekonomik relevanter, denn für die meisten Fragen ist der Stand
der Bedürfnisbefriedigung und seine Veränderungen viel wichtiger als die in den
Gütern, deren Konsumtion diese Befriedigung auslöst, enthaltene Arbeitsmenge und
deren Veränderungen.
Der Gebrauchswert wird von der Grenznutzenlehre als individualpsychische
Tatsache hingenommen und es wird über ihn an sich nichts anderes ausgesagt, als
das von Bernoulli, Gossen, Jennings und andern „Vorläufern“ formulierte Gesetz
der Bedürfnissättigung *). Dieses Ausgehen von einer individualpsychischen Tat¬
sache führte zu zwei Gruppen von Einwendungen. Erstens zur Erhebung der all¬
gemeinen Einwände gegen Individualismus und Atomismus speziell gegen diese
Richtung. Dabei wurde zwischen politischem Individualismus, der Ansicht, daß
die Individuen unabhängige Ursachen der nur eine Resultante darstellenden sozialen
Erscheinungen seien und dem bloßen Ausgehen vom Individuum für die Zwecke der
reinen Oekonomik nicht hinlänglich unterschieden. Die Vertreter der Grenznutzen¬
theorie verhielten sich dieser Einwendung gegenüber nicht in gleicher Weise. Manche
ignorierten sie, andere suchten ihre Richtigkeit oder Bedeutung im Prinzip zu be¬
streiten, noch andere suchten sie durch tunlichste Betonung des sozialen Moments
zu berücksichtigen. Unter den letzteren ist besonders jene Gruppe hervorzuheben,
welche vom sozialen Gebrauchswert spricht und die Wertungen der sozialen Gruppe
gegenüber denjenigen des Individuums hervorhebt (v. Wieser, ähnlich die Clark¬
schule). Wir können auf den Inhalt dieser Diskussionen nicht eingehen. Es sei nur
noch erwähnt, daß eine besondere Spielart dieser Einwendung der besonders von
marxistischer Seite erhobene Vorwurf ist, die Grenznutzeptheorie sei nichts anderes
als eine Beschreibung der Denkweise des Unternehmers und versperre sich durch
ihren individuellen Ausgangspunkt den Ausblick auf die großen objektiven Be¬
dingungen und Resultate des Wirtschaftsprozesses 2 ). Zweitens wurde der Ausgangs-
*) Dieses Gesetz wurde — mit Recht oder Unrecht — mit dem „psychophysischen“ Grund¬
gesetz in Zusammenhang gebracht. Darüber M. W e b e r , Die Grenznutzlehre und das psy¬
chophysische Grundgesetz, Archiv f. Sozialwissenschaft 1908.
*) Aber, so hat v. Bortkiewicz in seiner zit. Arbeit über Marx mit Recht gesagt,
die kapitalistische Rechnungsweise mag noch so „abgeschmackt“ sein, ihre Bedeutung für die
IV. Historische Schule und Grenznutzentheorie.
119
punkt der Grenznutzenlehre zum Anlaß, sie mit psychologischem und philosophischem
Hedonismus in Zusammenhang zu bringen. Ihre Vertreter werden vielfach „Hedo-
nisten“ genannt. Darin liegt zunächst der Vorwurf, psychologische Betrachtungs¬
weisen in die Oekonomik hineingezogen zu haben. Sodann der Vorwurf, eine ver¬
altete und verfehlte Psychologie zu treiben. Die meisten Grenznutzentheoretiker
versuchten demgegenüber geltend zu machen, daß das bloße Ausgehen von einer
psychischen Erfahrungstatsache noch nicht „Psychologie treiben“ heißt, andere such¬
ten sich von jeder Behauptung über psychisches Geschehen freizumachen und streng
von äußerlich zu beobachtenden wirtschaftlichen Grundtatsachen auszugehen ').
Nur wenige zeigen eine Beziehung zum Utilitarismus, darunter vor allem Jevons.
Aber man könnte an die Stelle seines utilitarischen Glaubensbekenntnisses einen
Protest gegen den Utilitarismus setzen ohne deshalb eines seiner ökonomischen Re¬
sultate aufgeben zu müssen. Der Vorwurf gegen die Art von „Psychologie“, die
man in den Arbeiten der Grenznutzentheoretiker findet, bezieht sich ferner auf
deren rationalistischen Charakter. Ihr geht eine Richtung in der Fachpsycho¬
logie neuestens parallel (Meinong, Ehrenfels u. a.).
Innerhalb der Grenznutzentheorie macht sich eine Spaltung bemerkbar, die auf
einen klassischen Einfluß, der bei Senior und Cairnes ankert, zurückgeht. Während
nämlich die österreichische Schule lediglich das Moment des Gebrauchswerts der
Produkte zur Basis der Erklärung macht, hat schon Jevons neben dasselbe das Mo¬
ment des „Arbeitsleids“ (disutility) als zweiten Hebel der Bildung des Güterwerts
gestellt im Anschluß an seine Grundauffassung von der Oekonomie als „calculus
of pleasure and p a i n“. Und manche Spätem, besonders Marshall, haben noch das
Moment des „Warten müssens“ hinzugefügt, Seniors Abstinenz. Diese Auffassung
herrscht in England und Amerika (vgl. außer Marshall noch Edgeworth: Prof.
Böhm-Bawerk on the ultimate Standard of value, Econ. Journal 1897, und Clark:
The ultimate Standard of value, Yale review 1892), aber sie steht, wenn auch zweifel¬
los in ihr ein Ueberrest der Kostentheorie zu sehen ist, bei diesen Autoren auf dem
gleichen prinzipiellen Boden, wie die reine Gebrauchswerttheorie und begründet
höchstens für das Zinsproblem eine erheblichere Differenz 2 ).
In Zusammenhang mit den Erörterungen über die Zulässigkeit resp. Möglich¬
keit der Einführung psychischer Größen in die Oekonomik stand die Frage eines
Wertmaßes, die in dem Moment wesentlich wurde, in dem die Theorie das schöne
objektive Arbeitsmaß sich entgleiten sah. Schon vor Smith war die Frage eines
Maßes des Tauschwerts erörtert und es war erkannt worden, daß es einen in sich
unveränderlichen Maßstab nicht geben könne. Diese Erkenntnis trugen dann alle
Klassiker vor, während die alten Gebrauchswerttheoretiker, wie z. B. Say, daran
festhielten, den Tauschwert eines Guts einfach der Warenmenge gleichzusetzen,
die man auf dem Markt dafür erhalten kann. Aber die Messung des Gebrauchs¬
werts wurde einfach für unmöglich gehalten, obgleich doch sicher in der Wirklichkeit
ein Jeder Werte von Gütern miteinander vergleicht. Die psychische Werttheorie
schien nun einen solchen Gebrauchswertmaßstab auch in der Wissenschaft notwendig
kapitalistische Wirklichkeit ist darum nicht geringer. Es ist ferner schon wiederholt hervor¬
gehoben worden, daß auch Marx’ Gedankengang von bestimmten Annahmen über indivi¬
duelles Verhalten abhängig ist, die sich am natürlichsten in individualpsychologischer Sprache
ausdrücken lassen.
*) So Pareto, Barone, Auspitz und Lieben u. a. Schon Dietzel hat gegenüber v. Wieser
die Grenznutzentheorie als „Psychologie“ für nicht in die Oekonomik gehörig erklärt. Vgl.
über diesen Punkt v. Wieser, Das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen National¬
ökonomie, Schmollers Jahrb. 1911; von Böhm-Bawerk in der dritten Auflage seiner
Positiven Theorie, 1912, S. 310 f.: „Hedonismus und Werttheorie“ und „Wertgrößen und
Gefühlsgrößen“. Die meisten Einwendungen gegen die Psychologie der Grenznutzentheorie
finden sich zusammengefaßt in Lifschitz’ Arbeit: Zur Kritik der Böhm-Bawerkschen
Werttheorie, 1908; vgl. darüber meine Rezension in der Zeitschr. f. Volksw., Sozialpol. und
Verw. 1910.
Ä ) Vgl. v. Böhm-Bawerk, Exkurs IX in der 3. Aufl. der Positiven Theorie.
120 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. IV
zu machen. Dagegen erhoben sich nun Bedenken gegen die prinzipielle Meßbarkeit
von „Intensitätsgrößen“ und besonders gegen die Vergleichung von Wertungen
verschiedener Personen. Allein die letztere ist überhaupt nicht nötig und bei der
Messung der Wertungen ein und derselben Person kann man auf dem Boden beob¬
achtbarer Tatsachen bleiben, wenn man von der Formulierung ausgeht: Der Wert
einer Menge eines Guts für jemand ist gemessen durch jene Menge eines andern
Guts, welche dem Wirtschaftssubjekt die Wahl zwischen beiden gleichgültig macht
(Fisher, Mathematical investigations into the theory of prices 1892). Diese
Basierung der Wertmessung auf Wahlakte der Individuen gewinnt immer mehr
Anhänger (Pareto, Boninsegni u. a.). Aber man kann die Schwierigkeiten des Pro¬
blems auch anders überkommen 1 ).
Das erste, worum es sich der Grenznutzentheorie handeln mußte, und das, worin
ihre fundamentale Leistung besteht, auf der alles andere beruht, ist der Nachweis,
daß trotz des gegenteiligen Anscheins die Tatsache des Bedürfnisses und die auf ihr
beruhende Nutzwirkung der Güter alle einzelnen Vorgänge der Wirtschaft beherrscht.
Da war zunächst die alte Wertantinomie, der Gegensatz zwischen Nutzen und Wert
zu behandeln. Das war schon geschehen. Die Unterscheidungen zwischen Be¬
dürfniskategorie und Bedürfnisregung und zwischen dem Gesamtwert eines Vorrats
und Werten der den Vorrat eines Wirtschaftssubjekts bildenden Teilmengen hilft dar¬
über hinweg. Hier liegt die Bedeutung des Begriffs des „ Grenznutzens* * 2 ). Dann waren
alle Tatsachen der Preisbildung durch das Grundprinzip zu erklären. Zwar daß
jene, auf denen die „Nachfrageseite“ des Preisproblems beruht, durch dasselbe zu
erklären seien, war nie zweifelhaft gewesen und meist als selbstverständlich betrachtet
worden. Aber erst die Grenznutzentheorie hat die „Angebotsseite“ des Problems
auf dasselbe gestützt und die Kosten als Werterscheinungen begriffen. Dabei
lag die entscheidende — von der Kritik meist übersehene — Leistung in dem
Nachweis, daß die im Wirtschaftsleben so beherrschend hervortretende Schätzung
der Güter nach ihren Kosten nur eine vom praktischen Leben vorgenommene Kürzung
des tatsächlichen Zusammenhangs ist, daß dieser Zusammenhang sich durch das
Moment des Gebrauchswerts erklärt, daß die Berechnungen des Unternehmers
nur der Widerschein von Wertungen der Konsumenten sind und daß dort, wo ein
Gut von jemand nach dem Gebrauchswert der Güter, die sich der Betreffende dafür
auf dem Markt verschaffen kann — subjektiver Tauschwert —-, geschätzt wird,
diese „Tauschfähigkeit“ und damit der subjektive Tauschwert auf alternativen Ge¬
brauchswertschätzungen beruht. Das führte zu einer einheitlichen Erklärung aller
Vorgänge der Verkehrswirtschaft durch ein einziges Prinzip und namentlich auch zur
Klarstellung des Verhältnisses zwischen Kosten und Preisen s ). Das klassische
Kostengesetz — der Satz von der Tendenz nach Gleichstellung von Kosten und Erlös
*) Vgl. Cu hei, Zur Lehre von den Bedürfnissen, 1907; darüber Exkurs X in von
Böhm-Bawerks zit. Werk.
*) Engl, marginal oder final utility, franz. raret6, utilit£ limite. Pareto hat den Aus¬
druck: ophelimitä 61ementaire geprägt, um die Nebenbedeutungen der Worte „Wert“ und
„Nutzen“ auszuschließen.
8 ) Es wurde wiederholt gesagt, daß die Grenznutzenlehre, weil sie von der Wertung gege¬
bener Gütermengen ausgehe, von dem Produktionsvorgang absehe und das Zustandekommen
dieser Mengen nicht erklären könne. Allein die Annahme gegebener Gütermengen dient nur
der einleitenden Demonstrierung des Grenznutzengesetzes. Auf einer weitern Stufe werden
diese Gütermengen zu Unbekannten und die Untersuchung ihrer Bestimmungsgründe zum
Hauptproblem, wie besonders klar in Walras* System hervortritt. Es wurde ferner gesagt,
daß die Grenznutzenlehre die Werte der einzelnen Güter nur von deren Menge abhängig sein
lasse und den Einfluß des Vorhandenseins anderer Güter auf sie vernachlässige. Auch das
trifft nur für einleitende Erörterungen zu. Auf einer weiteren Stufe wird jeder Güterwert
als Element der gesamten wirtschaftlichen Lage jedes Individuums behandelt, vgl. besonders
Marshall und Pareto. Auch die Tatsache, daß Angebot, Nachfrage und Preis einander gegen¬
seitig beeinflussen, bildet keine Einwendung gegen die Grenznutzenlehre, wenngleich sie im
Tone einer Einwendung vorgetragen zu werden pflegt.
IV. Historische Schule und Grenznutzentheorie.
121
bei freier Konkurrenz — erhielt erst jetzt eine zwingende Begründung und seinen
tiefem Sinn. — Wenn man daher das Ineinandergreifen von Angebot und Nachfrage
mit dem Zusammenwirken der beiden Schneiden einer Schere verglich (Marshall),
so lag darin solange kein Gegensatz zur Grenznutzenlehre, als beide auf dasselbe
Moment begründet, d. h. die Kosten jeder Produktion dem Nutzeffekt jener Pro¬
duktionen gleichgesetzt wurden, die mit denselben Produktionsmitteln sonst noch
möglich gewesen wären. (Opportunity cost, displacement cost) x ). Aber da die
meisten englischen Autoren die „Angebotsseite“ des Problems auf das selbständige
Moment von Arbeitsunlust und Genußaufschub stützen, so pflegt jene Formulierung
meist im Tone einer Einwendung vorgebracht zu werden. Der durch diese Auf¬
fassung bewirkte materielle Unterschied gegenüber der reinen Gebrauchswerttheorie
ist jedoch, wie gesagt, minimal.
Auf dieser Grundlage entstand vor allem, was dem System der Klassiker fehlte,
eine gründliche Preistheorie. Besonders von v. Böhm-Bawerk und Walras wurde
sie geschaffen und seither ist sie sorgfältig ausgearbeitet worden. Wir können ihren
Inhalt hier nicht darstellen und wollen nur hervorheben, daß sie abgesehen von
zahlreichen Einzelleistungen (Monopoltheorie, Theorie der Steuerüberwälzung, der
internationalen Werte, der Transporttarife) eine Gesamtauffassung des Wirtschafts¬
prozesses vermittelt, der gegenüber die klassische Theorie nur die Bedeutung einer
einseitigen Hervorhebung spezieller Fälle hat. Das Ineinandergreifen der Indi¬
viduen und Funktionen im Organismus der Volkswirtschaft wurde durch sie zum
erstenmal mit prinzipieller Klarheit und auf Grund eines einheitlichen Erklärungs¬
prinzips dargestellt. Freilich ist sie viel weniger „konkret“ als die Theorie der Klas¬
siker und nur, namentlich statistische, Tatsachensammlung kann ihr jene Bestimmt¬
heit der Daten geben, die nötig ist, um mehr als ein allgemeines Verständnis des
Wesens des Wirtschaftsprozesses zu gewinnen. Dazu gibt es vorerst nur Ansätze.
Aber das theoretische Gerüst ist ziemlich fertig. Wirklich bedeutende Gegensätze
gibt es innerhalb dieser Preistheorie nicht mehr.
Der Grundgedanke der Grenznutzentheorie zwingt seinen Vertretern keine
bestimmte Stellung im Geldproblem auf und kann im Rahmen einer jeden verwertet
werden: Die Eigenart des Geldproblems bringt es mit sich, daß auf demselben prin¬
zipiellen Boden verschiedene Lösungen desselben erwachsen können. Nach einer
Richtung — charakterisieren wir sie, eine üblich gewordene Ausdrucksweise be¬
nützend als „metallistisch“ — wurde die Geldtheorie von C. M e n g e r (Art. Geld
im H. d. St.) ausgearbeitet, auch Jevons und Pareto und viele -andere stehen auf
diesem Boden. Aber außerdem (Walras, Wieser) hat sich eine andere Geldtheorie
entwickelt, in der der „Stoffwert“ des Geldes eine ganz untergeordnete Rolle spielt
und die die Wertbildung des Geldes aus seiner Stellung im Organismus der Volks¬
wirtschaft erklärt. Das hat in ihrer Art schon die Quantitätstheorie versucht, aber
sie hat nur eine starre Näherungsformel von sehr geringem Erklärungswert aufge¬
stellt, während die erwähnte neue Theorie der Sache in ähnlicher Weise auf den
Grund zu gehen sucht wie die moderne Werttheorie, die in einem ganz analogen
Verhältnis zum klassischen Preisgesetz steht. Diese neue Theorie berührt sich mit
einer allgemeinen Bewegung auf diesem Gebiet. Allmählich und geräuschlos —
in England z. B. fast nur durch schrittweise Veränderungen der mündlichen Lehre
— haben sich neue Auffassungen durchgerungen, die zu einer reichen Ernte geführt
haben. Von ihnen sei Knapps „Staatliche Theorie des Geldes“ 1905 genannt, die
weithin Aufmerksamkeit erregt hat. Während die systematische Literatur des
Gegenstands noch vorwiegend auf dem alten Standpunkt steht, wie die Werke von
Helfferich, Martello, Laughlin, Foville u. a. zeigen, hat die Diskussion von Währungs¬
fragen — Lexis, Lotz u. a. — nach und nach die Mehrzahl der Oekonomen dem
neuen nähergebracht.
x ) Vgl. Davenport, Value and Distribution, 1908.
122 I. Buch All: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. IV
Wie in der alten, so ist in der neuen Oekonomie die Verteilung das wichtigste
Problem. Auch hier hat die Grenznutzentheorie ihren Grundgedanken gegenüber
den klassischen Spezialerklärungen jedes Einkommenszweigs einheitlich zur Geltung
gebracht. Damit trat sie das Erbe der „Theorie der produktiven Dienste“ an. Aber
während diese an den Einwänden scheiterte, daß die „Anteile“ der einzelnen Pro¬
duktionsfaktoren im Produkt ununterscheidbar vermischt seien oder daß von solchen
„Anteilen“ überhaupt nicht gesprochen werden könne, weil ja alle Produktions¬
mittel zur Erzeugung des Produkts in gleicher Weise nötig seien und eines ohne die
andern eben nichts produzieren könne, und daß die produktiven Leistungen mit
der Entlohnung der Besitzer der Produktionsfaktoren nichts zu tun haben, so gelang
es nun mit Hilfe der Grenzanalyse nachzuweisen, daß mit dem Ausdruck „Produkt
eines Produktionsfaktors“ ein präziser ökonomischer Sinn verbunden werden kann
und daß die wirtschaftliche Praxis tatsächlich solche Anteile der einzelnen Pro¬
duktionsfaktoren unterscheidet. Das übrige, nämlich den Nachweis, daß der Wert
der produktiven Beiträge der einzelnen Produktionsfaktoren wirklich die Grundlage
der Einkommensbildung abgibt, leistete dann die Preistheorie. Zwar ist der Ein¬
wand von der Ununterscheidbarkeit von besonderen Beiträgen der Produktions¬
faktoren mitunter bis heute aufrecht gehalten worden. Im großen und ganzen
aber kann man sagen, daß die Erklärung der Einkommenszweige und ihrer Größe
durch das „Grenzprodukt“ der Produktionsfaktoren, besonders in der amerikanischen,
englischen und italienischen, aber auch in der französischen Literatur zum der Dis¬
kussion entrückten Gemeinplatz geworden ist. Anders steht es mit der für die
österreichische Gruppe der Grenznutzentheoretiker charakteristischen Zurechnungs¬
theorie (Menger, v. Wieser, v. Böhm-Bawerk), die die Brücke zwischen den Werten
und Preisen der Produkte und denen der Produktionsmittel herstellen und die Regeln
zeigen soll, nach denen der Produktwert auf den Produktionsmittelwert gleichsam
zurückstrahlt. Aber obgleich wir darüber bei den andern Gruppen keine weitern
Untersuchungen finden und der Ausdruck „Zurechnung“ nur nebenbei oder ablehnend
erwähnt wird, finden wir doch überall das Wesen der Sache, so bei Marshall in dessen
„Substitutionsprinzip“, bei Clark in dessen „Variationsgesetz“.
In diesen Grundprinzipien gibt es kaum ernstere Differenzen, so wenig auch die
fundamentale Einigkeit äußerlich hervortritt x ). Wohl aber gibt es solche in einem
für unsem ganzen Einblick in den sozialen Wirtschaftsprozeß und die ökonomische
Struktur der Gesellschaft geradezu entscheidenden Punkt, dem Problem des Ka¬
pitalzinses. Im Jahre 1884 erschien das kritische Werk v. Böhm-Bawerks, das nicht
nur die Unhaltbarkeit, sondern auch die Oberflächlichkeit der vorhandenen Zinser¬
klärungen dartat und eine neue Aera für die Zinstheorie begründete. An ihm und der
ihm vier Jahre später folgenden „Positiven Theorie“ haben sich zahllose Zinstheore¬
tiker gebildet und kaum einer ist davon unberührt geblieben. Von allen Werken
der Grenznutzenlehre haben diese beiden Bände am tiefsten und weitesten gewirkt.
Wir finden die Spuren ihres Einflusses in der Fragestellung und im Vorgehen fast
*) ln der Lohn- und Rententheorie herrscht prinzipielle Ueberdinstimmung. Der Lohn
ist gleich dem Grenzprodukt der Arbeit. Die Grundrententheorie hat sich von der Ricardia-
nischen Form gewiß nicht vollständig emanzipiert, aber der charakteristische Satz vom Nicht¬
eintreten der Rente in den Preis hat seine Bedeutung verloren, so daß selbst bei Autoren, die
an Ricardo formell festhalten wie Marshall, tatsächlich der Zusammenhang zwischen Boden¬
produktivität und Rente hergestellt ist. ln der neueren Theorie spielt der Rentenbegriff eine
große Rolle. Da ja bei der Grundrente die Klassiker schon die Grenzanalyse anwandten,
so erscheint mitunter die moderne Verteilungstheorie unter dem Gesichtspunkt einer Verall¬
gemeinerung der klassischen Grundrententheorie, nur daß das Gesetz des abnehmenden Grenz¬
nutzens an Stelle oder an die Seite des Gesetzes vom abnehmenden Ertrag tritt. Das gilt be¬
sonders für die amerikanische Theorie. Vgl. Johnson, Rent in modern Economic Theory
(Am. Econ. Assoc. Publ. 1902); Fetter, The passing of the old rent concept (Quarterly
Journal of Economics 1901); Clark, Distribution as determined by a law of rent (ebenda
Bd. 5). Noch sei die Anwendung des Renten begriff s auf den subjektiven Nutzgewinn bei
Tausch und Produktion erwähnt (Marshalls consumers surplus).
IV. Historische Schule und Grenznutzentheorie.
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aller modernen Zinstheoretiker, auch jener, die der konkreten Lösung des Zinspro¬
blems, die v. Böhm-Bawerk geboten hat, ablehnend gegenüberstehen. Diese Lösung
beruht auf dem Grundgedanken, daß sich das Zinsphänomen aus einer Diskrepanz
zwischen den Werten gegenwärtiger und künftiger Genußgüter erkläre, die sich auf
drei Tatsachen stützt: Auf Differenzen zwischen dem gegenwärtigen und zukünf¬
tigen Versorgungszustand der Wirtschaftssubjekte, auf den Umstand, daß zukünf¬
tige Bedürfnisbefriedigungen dem Menschen weniger lebhaft vor Augen stehen als
gleichartige aber gegenwärtige, weshalb das wirtschaftliche Handeln auf erstere
weniger lebhaft reagiert und die Wirtschaftssubjekte eventuell bereit sind, gegen¬
wärtige Genüsse mit an sich größern künftigen zu erkaufen, und endlich auf die
Tatsache, daß der Besitz genußbereiter Güter die Wirtschaftssubjekte der Notwen¬
digkeit überhebt, durch Augenblicksproduktion, etwa primitive Nahrungssuche,
für ihren Unterhalt zu sorgen und es ihnen ermöglicht, ergiebigere aber zeitraubende
Produktionsmethoden einzuschlagen, so daß gewissermaßen der Besitz genußbereiter
Güter in der Gegenwart den Besitz von mehr solchen Gütern in der Zukunft
verbürgt. In diesem „dritten Grunde“ der Zinserscheinung liegen zwei Elemente:
Einmal die Konstatierung einer bisher der Theorie noch nicht bekannten technischen
Tatsache, nämlich der Tatsache, daß die Verlängerung der Produktionsperiode,
das Einschlagen von „Produktionsumwegen“, die Erzielung eines überproportional
zur Zeit größern Ertrags ermöglicht, und die These, daß diese technische Tatsache
auch eine selbständige Ursache einer Wertschwellung der jeweils gegenwärtigen
Genußgüter sei. Der Zins als Einkommenszweig entsteht dann im Preiskampf
zwischen den Kapitalisten, in denen gleichsam Händler mit genußreifen Gütern
zu sehen sind, einer- und den Grundeigentümern und Arbeitern andererseits. In¬
folge der Höherschätzung der Gegenwartsgüter durch die letztem und infolge des
Umstands, daß die Verwendbarkeit gegenwärtiger Vorräte von Genußgütern für
ergiebigere Ausdehnungen der Produktionsperiode praktisch unbegrenzt ist, ent¬
scheidet der Preiskampf stets zu gunsten der Kapitalisten, so daß Grundeigentümer
und Arbeiter ihr künftiges Produkt nur mit einem Abzug, gleichsam diskontiert
auf die Gegenwart, erhalten. Diese Leistung hat Epoche gemacht und ihrer Dis¬
kussion und Kritik gilt ein großer Teil der theoretischen Arbeit der letzten zwanzig
Jahre. An jene, die diese Theorie in vollem Umfang angenommen haben (z. B.
Pierson, Gide, Taussig (zuletzt: Principles of Economics 1912) schließen
sich die verschiedenen Gruppen aller der, die an ihr gelernt und Gedanken aus ihr
entnommen haben. So haben Fisher (Capital and Interest 1906, Rate of
Interest 1908) und Fetter (Principles of Economics 1904) das „psychische Ge¬
ringersehen“ künftiger Bedürfnisbefriedigungen zur Basis ihrer Zinserklärungen ge¬
macht und sich damit dem Standpunkt Jevons’ genähert. Sie haben aber weiter
die Zinstheorie zu einer allgemeinen Vermögensertragstheorie ausgearbeitet, wozu
ebenfalls die Grundlagen im Werke v. Böhm-Bawerks enthalten sind. Andere, wie
John B. Clark (Distribution of Wealth 1899) und v. Wieser haben an der Pro¬
duktivitätstheorie festzuhalten aber ihr ein neues Fundament zu geben versucht
— beide in verschiedener Weise. Noch andere haben die Grundelemente verschie¬
dener Zinserklärungen zu einem neuen Bild des Phänomens vereinigt (so M a r s-
h a 11 die Abstinenz- und Produktivitätstheorie, etwas anders C a r v e r, Distri¬
bution of Wealth 1904). Daneben gibt es aber auch noch eine ganze Anzahl von an
ältem Formen der Zinserklärung festhaltenden Autoren. Doch kann von einer
einigermaßen vollständigen Uebersicht auch nur der wichtigsten Gedankenströmungen
hier keine Rede sein.
Auf dem Gebiet der Theorie des Unternehmergewinns geschah weniger. Die
Diskussion bewegte sich meist innerhalb der schon im vorhergehenden Abschnitt
angegebenen Gedanken. Die übrige theoretische Gedankenarbeit galt Spezial¬
fragen und stand nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Wege, den die
theoretischen Grundprobleme nahmen. Unter ihnen ragt an Wichtigkeit die Frage
124 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. IV
der Krisen hervor. Nachdem C. J u g 1 a r (Des crises commerciales 1889) die Wel¬
lenbewegung des Wirtschaftslebens als das wesentliche Phänomen erkannt und in der
Aufschwungsperiode, die jeder ökonomischen Krise vorhergeht, die unmittelbare
Ursache der Krisen entdeckt hatte, wurde dieser Gedanke zur Grundlage der Arbeit
am Krisenproblem — die Erklärung jener gleichsam rhythmischen Bewegung wurde
ihr eigentliches Ziel. Auf diesem Boden stehen die meisten modernen Leistungen,
namentlich die Spiethoffs. Doch muß die Darstellung des auf solchen Einzel¬
gebieten Geschaffenen den sedes materiarum in diesem Werk überlassen bleiben.
10 . Die Heftigkeit der Methoden- und Doktrinengegensätze auf unserem Gebiet,
die sich teils aus seiner Natur und dem wirklich oder vermeintlich ökonomischen
Thesen zukommenden politischen Interesse und teils aus der relativen Jugend ener¬
gischer wissenschaftlicher Arbeit auf demselben erklärt, scheint oft die Kontinuität
der Entwicklung zu unterbrechen. Allein es ist erstaunlich, wie wenig verhältnis¬
mäßig der jeweilige Streit des Tages den Gang der ruhigen Arbeit beeinflußt. Blickt
man durch die Hülle der Kampfargumente hindurch, so sieht man viel weniger von
den Gegensätzen, die mit solcher prinzipieller Schärfe formuliert zu werden pflegen.
Man sieht, daß diese Gegensätze sachlich nicht immer unversöhnlich sind und daß
die verschiedenen Richtungen einander nicht leicht bis zur Vernichtung überwinden.
Im letzten Grunde wollten schon die Physiokraten, was wir heute wollen und wenn
man sich an die Sache und nicht an die ihr gegebene Form hält, so ist es oft schwer,
für einen heftig geführten Kampf die dazu gehörige entsprechend schroffe Formu¬
lierung der sachlichen Parteistandpunkte zu finden. So entbehrt auch unsere
Wissenschaft nicht der organischen Entwicklung. Aus der instinktiven Kenntnis
der Grundtatsachen des Wirtschaftslebens erwachsen, hat sie sich im Anschluß
an die durch die praktischen Erfahrungen geformten Ideen im 18. Jahrhundert
konsolidiert. Und das Errungene wurde langsam und stetig ausgebaut, allen „Neu¬
begründungen“ der Wissenschaft zum Trotz. Dieses Ausbauen ging nicht besonders
schnell und jedesmal noch hat sich ein gegenteiliger Anschein als trügerisch erwiesen
— wie überall, so waren auch hier die großen Leistungen selten. Aber es ruhte auch
niemals. Viel Kraft ging im Suchen und Versuchen verloren, auch deshalb,
weil fast niemals ein Nationalökonom ganz gleichgestimmte andere Nationalökonomen
zum Publikum hatte und weil daher fast jeder kämpfen und seinen Beitrag mit einer
langen Einleitung versehen mußte. Das war in der Werdezeit aller Wissenschaften
so und wird bei uns noch lange so bleiben. Entwicklungsphasen lassen sich nicht
überspringen, nicht die eines organischen Körpers, nicht politische und soziale und
auch nicht wissenschaftliche. Aber das wird sich mit der Zeit von selbst geben,
und dann wird es leichter fallen, die Einheitlichkeit der Grundlinien der sozialwissen¬
schaftlichen Arbeit der letzten 150 Jahre zu überblicken.