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Full text of "Grundriss der Sozialökonomik"

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GRUNDRISS 

DER 

SOZIALÖKONOMIK 


I. Abteilung 

Wirtschaft und Wirtschaftswissenschaft 

BEARBEITET 

VON 

K. BÜCHER, J. SCHUMPETER, FR. FREIHERRN von WIESER 



TÜBINGEN 1914 

VERLAG VON J. C. B. MOHR (PAUL SIEBECK) 



I. Buch All: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. 19 


II. 

Epochen der Dogmen- und Methodengeschichte. 

Von 

Joseph Schumpeter. 

Inhaltsübersicht. 

Seite 

Literatur. 20 

I. Die Entwicklung der Sozialökonomik zur Wissenschaft. 

1. Die zwei Quellen der Sozialökonomik. 21 

2. Uebersicht über die Entwicklung ökonomischer Gedanken innerhalb der Philo¬ 
sophie . . . '. 21 

3. Uebersicht über die Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnis aus der Po- 

pulardiskussion. 29 

II. Die Entdeckung des wirtschaftlichen Kreislaufs. 

1. Bedeutung und äußere Geschichte des physiokratischen Systems ... 39 

2. Wesen und Methode des physiokratischen Systems. 41 

3. Die ökonomischen Grundbegriffe der Physiokraten. 43 

4. Die Theorie der Physiokraten im einzelnen .. 45 

5. Anwendungen ihrer Theorie . 48 

6. Turgot. 50 

7. Smith. 51 

III. Das klassische System und seine Ausläufer. 

1. Vorbemerkung . 53 

2. Uebersicht über die wichtigsten Autoren. 54 

3. Ueber die äußeren Schicksale der RicaTdoschule. 58 

4. Einige charakteristische Punkte . 60 

5. Der Gesichtskreis der Autoren dieser Epoche . 63 

6. Ueber die Methode der Klassiker . 65 

7. Die ökonomische Soziologie der Klassiker und die ihrer Gegner .... 69 

8. Der äußere Rahmen der klassischen Theorie (Gesetz vom abnehmenden Ertrag, 

Bevölkerungsprinzip usw.). 73 

9. Ueber Hauptrichtungen der Theorie dieser Epoche. 77 

10. Die Wert- und Preistheorie. 79 

11. Die Verteilungstheorie. 86 

12. Andere Punkte. 96 

IV. Die historische Schule und die Grenznutzentheorie. 

1. Vorbemerkung . 98 

2. Sozialpolitik und Nationalökonomie. 98 

3. Das Wesen der historischen Schule. 99 

4. Entstehung und äußere Geschichte derselben . 101 

5. Der Methodenstreit. 106 

6. Die „mathematische Methode“ . 109 

7. Die großen Gesichtspunkte der historischen Schule . 110 

8. Entstehung und äußere Geschichte der Grenznutzen theorie . 113 

9. Ueber das Lehrsystem der Grenznutzen theorie. 117 

10. Schlußbemerkung. 124 


2 * 

































20 


I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. 


Literatur 1 ). 

Erst in der Zeit des Niedergangs des klassischen Systems erwachte ein stär¬ 
keres Interesse für die Geschichte unserer Disziplin. Im 18. Jahrhundert kam es 
wohl zu bibliographischen Zusammenstellungen, aber nicht zu Bearbeitungen ihrer 
Geschichte in erheblichem Maß. Genannt sei R o s s i g s „Versuch einer Geschichte 
der Oekonomie und Kameralwissenschaft“ 1781. Auch in den ersten Jahrzehnten 
des 19. Jahrhunderts sind es vor allem Deutsche, die sich an diese Arbeit machen. 
Nennen wir Weitzels „Geschichte der Staatswissenschaften“ 1832/3, Bäum¬ 
st a r k s „Cameralistische Encyklopädie“ 1835 und v. M o h 1 s Geschichte und Lite¬ 
ratur der Staatswissenschaften 1855—58. Ein mit kurzen Bemerkungen versehener 
Katalog — und als solcher wertvoll — war Mc. C u 11 o c h s: The Literature of Poli¬ 
tical Economy 1845. Der erste, recht flüchtige, Versuch zu einer eigentlichen Geschichte 
unserer Wissenschaft ist das Buch B 1 a n q u i s: Histoire de l’äconomie politique 
en Europe 1838, das großen Erfolg hatte. Auf ähnlicher Stufe steht das Buch von 
Kautz: Geschichtliche Entwicklung der Nationalökonomie und ihrer Literatur 
1860, weit übertroffen durch das dogmenhistorische Hauptwerk seines Lehrers 
Roscher: Geschichte der Nationalökonomie in Deutschland 1874. Dieses Resul¬ 
tat emsigsten Fleißes war für lange Zeit tonangebend und ist trotz mancher Mängel 
noch heute lesenswert. Auch desselben: Zur Geschichte der englischen Volkswirt¬ 
schaftslehre 1851. Aber an Kraft und Herrschaft über die dargestellten Gedanken 
steht D ü h r i n g s Kritische Geschichte der Nationalökonomie und des Sozialis¬ 
mus 1874 hoch über ihm. Seither ist es in Deutschland zu einer ähnlich bedeutenden 
Darstellung der ganzen Geschichte der Nationalökonomie nicht mehr gekommen. 
Eisenharts Geschichte der Nationalökonomik 1881 gilt fast nur den wirtschafts¬ 
politischen Ideen. Das gründliche Werk Onckens: Geschichte der Nationalökono¬ 
mie 1902 behandelt nur die Zeit vor A. Smith. Eine kurze Uebersicht über die 
Methoden- und Systemgeschichte findet man inv. Schmollers Artikel „Volks¬ 
wirtschaftslehre“ im H. d. St. Genannt seien noch: v. S c h e e 1 s dogmenhistorischer 
Artikel in Schönbergs Handb. der Pol. Oek., das Sammelwerk: Die geschichtliche 
Entwicklung der deutschen Volkswirtschaftslehre 1908 und Hasbachs Arbeiten, 
die Bausteine zu einer großen Geschichte der Nationalökonomie sind. Dio fran¬ 
zösische Literatur ist an zusammenfassenden Darstellungen reicher. Außer den Wer¬ 
ken von Espinas, Rambaud, Dubois kommt vor allem Gide et Rist, 
„Histoire des doctrines äconomiques“ 1908 in Betracht. Größer angelegt ist Denis’ 
unvollendete „Histoire des systämes öconomiques et socialistes 1904—07. Die eng¬ 
lische Literatur hat nur eine gründlichere Leistung auf diesem Gebiet aufzuweisen: 
I n g r a m s „History of Political Economy“ 1888 (deutsche Uebersetzung, 2. Aufl. 
1905) # ), die amerikanische besitzt ein Lehrbuch in: Haneys „History of Eco¬ 
nomic thought“ 1911. Cossas 1876 in 1. Aufl. erschienenem „Guida allo Studio 
dell’ economia politica“, der einen großen Erfolg hatte, ist wenig Gutes nach¬ 
zurühmen. Von Geschichten der Nationalökonomie in einzelnen Ländern — 
Roschers Geschichte der deutschen Wissenschaft bietet auch Ausblicke auf die 
andrer Völker — seien die betreffenden Artikel in Palgraves Dictionary of Pplitical 
Economy hervorgehoben. Eine Zeitschrift für Dogmengeschichte gibt es nur in 
französischer Sprache: Revue d’histoire des doctrines öconomiques, Paris. 

x ) Wir beschränken uns hier auf die dogmengeschichtliche Literatur der Nationalökonomie 
und schließen die der Soziologie aus. Ferner ist die folgende Aufzählung auf Darstellungen 
beschränkt, die zeitlich den ganzen Stoff oder doch seinen größten Teil umfassen oder um¬ 
fassen sollen. 

•) J. B o n a r ist hier in demselben Sinn zu nennen wie etwa Hasbach. Auch er hat ein 
großes Wissen zu verschiedenen Einzelleistungen ausgemünzt, die weite Strecken des Wegs 
unsrer Wissenschaft beleuchten. Sein Hauptwerk ist: Philosophy and Political Economy 
in some of their historical relations 1893 (2. Aufl. 1909). 



I. Die Entwicklung der Sozialökonomik zur Wissenschaft. 


21 


Die dogmenhistorische Detailforschung ist natürlich vor allem in Spezialarbeiten 
über einzelne Autoren und Richtungen zu suchen, von denen im folgenden nur 
wenige genannt werden können. Jetzt sei nur auf die betreffenden Artikel im H. d. 
St. verwiesen. Aber viel mehr als aus umfassenden Geschichten der Wissenschaft 
und aus solchen Monographien lernt man aus Geschichten einzelner Lehrsätze und 
Probleme, in denen der wissenschaftliche Entwicklungsgang im einzelnen ganz anders 
zu seinem Rechte kommen kann. Es seien vor allem genannt: v. Böhm-Bawerk: 
Kapital und Kapitalzins, I. Bd.: Geschichte und Kritik der Kapitalzinstheorien, 
1. Aufl. 1884, 2. Aufl. 1902. Marx: Theorien über den Mehrwert (ed. Kautzky). 
Zuckerkandl: Zur Theorie des Preises 1889. Whittaker: History and 
Criticism of the Labor Theory of Value in English Political Economy 1903. Lieb¬ 
knecht: Zur Geschichte der Werttheorie in England 1902. Sewall: The theory of 
Value before A. Smith 1901. K a u 11 a: Die geschichtliche Entwicklung der modernen 
Werttheorien 1906. G r a z i a n i: Storia critica della teoria del valore 1889. v. B e r g- 
m a n n: Geschichte der nationalökonomischen Krisentheorien 1899. Salz: Beiträge 
zur Geschichte und Kritik der Lohnfondstheorie 1905. F. Hoffmann: Kritische 
Geschichte der Geldwerttheorie. Rost: Die Wert- und Preistheorie mit Berück¬ 
sichtigung ihrer dogmengeschichtlichen Entwicklung 1908. Pierstorff: Unter¬ 
nehmergewinn, M a t a j a: Unternehmergewinn. A.Menger: Recht auf den vollen 
Arbeitsertrag. Z wiedinek: Lohntheorie und Lohnpolitik. E r g a n g, Untersu¬ 
chungen zum Maschinenproblem. Kostanecki: Arbeit und Armut und viele 
andere. Diese Dogmengeschichten und die sich daran schließenden Kritiken sind von 
sehr ungleichem Wert. Aber sie sind doch die Träger wirklicher Verarbeitung des 
wissenschaftlichen Gedankenmaterials. Im weitern Sinn ist fast unsere ganze Lite¬ 
ratur hierherzustellen, da fast jeder Autor dogmengeschichtliche Rückblicke und 
Kritiken bietet. 


I. Die Entwicklung der Sozialökonomik zur Wissenschaft '). 

1. Die wissenschaftliche Nationalökonomie, so wie sie sich gegen Ende des 
18. Jahrhunderts konstituierte, ist aus zwei deutlich zu unterscheidenden Wurzeln 
erwachsen. Die das bisher Geleistete zusammenfassenden und der Folgezeit übermit¬ 
telnden Werke des 18. Jahrhunderts, von denen A. Smiths Wealth of Nations 
das weitaus wichtigste ist, bieten uns zwei Gedankenmassen dar, die lange vonein¬ 
ander unabhängig gewesen waren: Eine Gedankenmasse, die aus der Arbeitsstube 
der Philosophen im weitesten Sinn kam, der Denker, denen das soziale Leben und Trei¬ 
ben als solches von vornherein als Problem und als Element eines Weltbilds erschien, 
also aus der großen Mutterwissenschaft, der Philosophie, und eine andre Gedanken¬ 
masse, die von der Triebkraft des Interesses an praktischen Zeitfragen von Leuten 
verschiedener Typen aufgehäuft worden war. In der gebotenen Kürze wollen wir die 
Genesis beider verfolgen ohne jedoch zu vergessen, daß in manchen Fällen diese 
Einteilung, so wesentlich sie ist, sachlich ebenso versagt wie jede solche Gruppierung 
und daß sie in derartigen Fällen den Anschein der Willkürlichkeit gewinnen muß. 

2. Die „philosophische“ Gedankenmasse hat ihre letzte literarische, 
von den Anschauungen des Alltags und den Grundsätzen von Gesetzgebern und Reli- 


*) Literatur: An Spezialwerken kommen vor allem Hasbachs Philosophische 
Grundlagen der von F. Quesnay und A. Smith begründ. Politischen Oekonomie, Schmollers 
Forschungen 1890, und B o n a r s obenerwähntes Buch in Betracht. Die Oekonomie des 
klassischen Altertums studiert man am besten an der allgemeinen Fachliteratur der Altertums¬ 
wissenschaften und besonders der antiken Wirtschaftsgeschichte. Doch seien zwei Arbeiten 
über die ökonomischen Anschauungen des Aristoteles genannt: Kraus, Wertlehre des Ari¬ 
stoteles, Kinkel, Sozialökon. Anschauungen des Aristoteles. Vgl. auch: G o u c h o n, 
Les doctrines Sconomiques dans la Grfcce antique. Für den Rest dieser Epoche: Ende¬ 
mann, Studien in der romanisch-kanonistischen Wirtschafts- und Rechtslehre. A s h 1 e y, 
English economic history and theory. C o n t z e n, Geschichte der volkswirtschaftlichen Litera¬ 
tur im Mittelalter. B r a n t s, Th6ories Gconomiques au X111. et XIV. sifccles. Laspeyres, 
Geschichte der volkswirtschaftlichen Anschauungen der Niederländer und ihrer Literatur zur 
Zeit der Republik 1865. G a r g a s , Die volkswirtschaftlichen Anschauungen in Polen im 
XVII. Jahrh. Small, The Cameralists. Leslie Stephen, English Thought in the 
XVIII. Century. S u p i n o , La scienza economica in Italia nei secoli XVI—XVII (1888). 
Horn, L’6conomie politique avant les physiocrats 1867. 



22 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. I 

gionsstiftern unterscheidbare, Quelle im griechischen Altertum. Nicht etwa bloß in 
dem Sinne, daß die griechischen Denker Erkenntnisse ökonomischer Natur ausge¬ 
sprochen hätten, die in späteren Zeiten nochmals selbständig formuliert worden wä¬ 
ren; vielmehr wirkten die griechischen Denker selbst auf die Folgezeit und es führt 
eine ununterbrochene oder doch stets wieder angeknüpfte Kette von Beziehungen von 
ihnen bis zu den meisten jener Autoren, aus deren Arbeiten Adam Smiths Werk ent¬ 
stand, und zu diesem selbst. Die für uns wichtigsten griechischen Einflüsse sind die 
von seiten Aristoteles’, Platos und der Stoiker und Epikuräer — nach ihrer Bedeu¬ 
tung für uns geordnet. An sich freilich darf der Wert des von ihnen Gebotenen, ab¬ 
gesehen von seiner historischen Rolle, nicht überschätzt werden. Es ist verfehlt, in 
jede gelegentliche Aeußerung alles das hineinzuinterpretieren, was spätere Zeiten 
an ähnlich klingende Sätze geknüpft haben. Gewisse fundamentale Sätze, die an der 
Schwelle ökonomischer Gedankengänge stehen, sind außerdem so einfach und ent¬ 
springen so natürlich schon der praktischen halb instinktiven Kenntnis der wirtschaft¬ 
lichen Vorgänge, daß in ihrer Formulierung keine besonders zu verzeichnende Leistung 
liegen kann. Endlich haben die Alten die spezifisch wirtschaftlichen Probleme einer¬ 
seits viel weniger beachtet als etwa die Probleme der Staatslehre und es hat andrer¬ 
seits die Folgezeit an den wirtschaftlichen Problemen relativ viel energischer gear¬ 
beitet als an den Problemen, die für die Alten im Vordergrund standen, so daß aus die¬ 
sem doppelten Grund das griechische Erbe für die Oekonomik eine kleinere Rolle 
spielt als für andere Gebiete. Obgleich es nicht richtig ist, wie oft gesagt wurde, 
daß die Oikenwirtschaft mit ihrer Autarkie des Haushalts keine „staatswirtschaft¬ 
lichen“ Probleme geboten habe und obgleich die Oikenwirtschaft in der entschei¬ 
denden Zeit lange nicht so vorherrschte, wie dieses Argument voraussetzt, so drang 
der wissenschaftliche Gedanke in den Fragen des Wirtschaftslebens doch nicht weit 
vor. Noch weniger an prinzipieller Einsicht bieten uns die Historiker. Auch die besten 
unter ihnen sind überhaupt in ihren allgemeinen Ausführungen merkwürdig 
schwach. Der glänzende Scharfsinn, den z. B. Thukydides in der Beurteilung indivi¬ 
dueller Vorgänge bewährt, scheint ihn zu verlassen, wenn er von generellen Gründen 
und Folgen spricht, und speziell das wirtschaftliche Gebiet berührt er kaum. In der 
rhetorischen und der dramatischen Literatur kann keinesfalls mehr erblickt werden als 
der Ausdruck von Popularanschauungen. 

Das allgemeine Bild der Volkswirtschaft ist selbst bei Aristoteles und Plato 
überaus dürftig und vor allem „vorwissenschaftlich“, d. h. es unterscheidet sich nicht 
wesentlich von der Laienanschauung aller Zeiten. Von einem Einblick in die Wechsel¬ 
beziehungen zwischen den wirtschaftlichen Erscheinungen ist keine Rede. Die Beur¬ 
teilung der einzelnen wirtschaftlichen Funktionen reflektiert die Anschauungen einer 
wesentlich agrarisch orientierten, einem aufstrebenden Handelsstand gegenüber¬ 
stehenden Aristokratie. Dessenungeachtet ist die Gesamtleistung Aristoteles’ auf 
ökonomischem Gebiet groß. Ihre wichtigsten Punkte sind: 1. Er war der erste und 
für lange Zeit der einzige, der das menschliche Wirtschaften als an sich interessantes 
Problem erkannte und es klar und scharf von der bloßen Haushaltungskunde und Be¬ 
triebslehre einerseits und — trotz allen ethischen Wertens des wirtschaftlichen Han¬ 
delns — von der Gesetzgebungskunst andrerseits unterschied. Darin lag eine um so 
größere Tat, als die griechische Welt unter „Oekonomik“ fast ausschließlich eine Wirt¬ 
schaftskunde verstand von der Art, wie sie uns Xenophon oder auch die Aristoteles’ 
Werken beigeschlossene Arbeit dieses Titels bot, und als man sich im übrigen mit 
wirtschaftlichen Dingen nur unter dem Gesichtspunkt der Gesetzgebungskunst, 
bzw. der Konstruktion eines Idealstaats befaßte. Nur bei Aristoteles finden sich eini¬ 
germaßen längere Gedankengänge forschenden und analysierenden Charakters, so 
daß er als Schöpfer jener ersten Gedankenmasse zu bezeichnen ist, die wir unter¬ 
schieden haben. An einer Stelle definierf er bereits die Oekonomik als die Lehre vom 
„Reichtum“ (Nik. Eth. p. 1094). Und ungefähr an der Stelle, an die er sie gestellt, 
steht die Oekonomik in der Moralphilosophie und dem Naturrecht des 18. Jahrhunderts. 



L Die Entwicklung der Sozialökonomik zur Wissenschaft. 


23 


2. Aristoteles legte die Grundlage einer Wert- und Preislehre. Er erkannte die Bedeu¬ 
tung der Unterscheidung zwischen Gebrauchs- und Tauschwert und sah klar das hier 
liegende Problem. Die Lehre vom Tauschwert wurde ihm zum Angelpunkt einer Theo¬ 
rie der Verkehrswirtschaft, der Chrematistik. Er basierte sie auf die Tatsache des Be¬ 
dürfnisses und kam so zu einer rein subjektiven Theorie des wirtschaftlichen Werts 
und — unbeschadet der Unterordnung unter ethische Forderungen — des Preises, 
allerdings ohne eine wirkliche Ableitung des Preisphänomens zu bieten. Das führte 
ihn zu seinen klassischen Sätzen über Wesen und Rolle des Gelds als Tauschmittel 
und Wertmaß. (Pol. I, 9 und Eth. V, 8.) Wie tief er die fundamentale Bedeutung 
dieser Dinge erfaßte, geht daraus hervor, daß er den Gutsbegriff auf das Moment 
der Meßbarkeit des Werts in Geld stützte. Noch Pufendorfs Vorrat an reinwirtschaft¬ 
lichem Wissen liegt innerhalb dieser Grundlinien. 3. Wie er klar— und mit Argumen¬ 
ten, die später zur Bekämpfung des Merkantilismus dienten, — zwischen Geld und 
Reichtum unterschied, so zeigt er uns auch sonst, wie z. B. gelegentlich seiner Hervor¬ 
hebung der Besonderheit der Rolle jener Produktivgüter, die weiterm Er¬ 
werbe dienen, also einer noch heute üblichen Kapitalsdefinition (Pol. I, 2), 
eine Auffassung, die uns leicht dazu verleiten könnte, ihm ein sehr weitgehendes Maß 
von ökonomischer Einsicht zuzuschreiben, wenn solche Anklänge nicht im ganzen 
vereinzelt wären und oft dicht bei Beispielen gröbster Irrtümer stünden. 4. Zu diesen 
groben Irrtümern gehört jedoch nicht die historisch so bedeutsame Zinslehre des Ari¬ 
stoteles. Wohl hat er von der Produktion die primitive, lediglich das Moment physi¬ 
scher Produktivität ins Auge fassende Vorstellung. Deshalb erscheint ihm der Han¬ 
delsgewinn nur durch Betrug erklärbar. Aber das Argument von der „Unfruchtbar¬ 
keit“ des Geldes ist bei dem ja für Aristoteles allein in Betracht kommenden Konsum- 
tiv-Darlehen nicht s o falsch als man mitunter annimmt. 5. Aristoteles hat weiter in 
ruhiger und sachlicher Weise jene Diskussionen sozialer Institutionen wie Privat¬ 
eigentum, Sklaverei usw. vom Standpunkt sozialer Zweckmäßigkeit begonnen, 
die ja noch heute in der ökonomischen Literatur eine Rolle spielen. 6. Endlich hat er 
den Grund zu einer Soziologie gelegt. Er hat von vornherein — wenn auch mit etwas 
scholastischen Argumenten — jene Bekämpfung des Individualismus und jenen Ver¬ 
such zur Erfassung der sozialpsychischen Natur des Gesellschaftsphänomens unter¬ 
nommen, die sich durch die ganze sozialwissenschaftliche und so auch die ökonomische 
Literatur ziehen, und er hat im besonderen den Grund zu der Soziabilitätstheorie 
der Gesellschaft gelegt, die wir bei Grotius voll entfaltet finden. Und gelegentlich 
nimmt er eine ganz modern anmutende Stellung (z. B. Pol. II, 6, 13) als Sozial¬ 
politiker ein. 

Eine ganze Welt trennt diese Leistungen von den prunkvollen Phantasiegebilden 
Platos. Wir finden bei ihm weder präzise Begriffsbildungen ökonomischer Natur 
noch längere analytische Gedankengänge. Nicht Erklärung einer an sich problema¬ 
tischen Wirtschaft sondern die Gestaltung einer seinen ethischen Grundsätzen und 
den Verhältnissen seines Idealstaats angepaßten Wirtschaftsverfassung war sein 
Ziel. Wohl war das zum Teil nur eine Darstellungsform für wissenschaftliche Gedan¬ 
ken. Aber selbst seine Ausführungen über Arbeitsteilung (Rep. II), auf die man immer 
wieder hinzuweisen pflegt, beweisen wenig für das Vorhandensein einer tiefem Ein¬ 
sicht in das Wirtschaftsleben und konnten selbst von Xenophon (Kyr. VIII) 
leicht übertroffen werden, seine sonstigen wirtschaftlichen Aeußerungen und Begriffs¬ 
bildungen sind die des Laien. Einen kräftigem Versuch, auf dem Gebiet des Wirt¬ 
schaftlichen über Laiensvorstellungen hinauszukommen, als die platonischen Schrif¬ 
ten enthält der Dialog Eryxias, eine Untersuchung über die wirtschaftlichen Grund¬ 
begriffe. 

Noch weniger bieten uns die Stoiker und Epikuräer an positiver Erkenntnis in 
ökonomischen Fragen. Um so größer war, wie Hasbach hervorgehoben hat, ihr Ein¬ 
fluß auf die philosophische Gedankenarbeit zunächst in Rom und dann in der Welt 
der Renaissance. Und weil gewisse soziologische Grundfragen zu dem ältesten 



24 I* Buch All: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. I 

Spielzeug des forschenden Geistes gehörten, so ist es begreiflich, daß auch diese Ideen¬ 
richtungen ihren soziologischen Gehalt hatten. Allein man muß sich hüten, die Be¬ 
deutung dieses Moments für unsere Disziplin zu überschätzen. Vor allem forschten 
weder Stoiker noch Epikuräer in unserm Sinn. Ihr Individualismus bedeutet kaum 
mehr als den Rat sich vom öffentlichen Leben femzuhalten. Insofeme fehlt jede Be¬ 
ziehung zwischen ihrem Individualismus und der Art von Individualismus, die hier 
allein in Betracht kommt, nämlich dem Individualismus als sozialem Erkenntnisprin¬ 
zip und als Forschungsmethode. Sodann hat die Lehre Epikurs sachlich so wenig 
mit dem Eudämonismus der Neuzeit zu tun, wie die Lehre der Stoa etwa mit sozial¬ 
ethischen Tendenzen neuerer Zeiten. In solchen Dingen können oberflächliche Ärm¬ 
lichkeiten um so leichter darüber täuschen, daß wir in jenen Philosophien nicht Keim¬ 
zellen wissenschaftlicher sozialer Erkenntnis zu suchen haben, als die Spätem die Ten¬ 
denz hatten, ihre wesentlich neuen Gedanken in eine an den Alten gelernte Ausdrucks¬ 
weise zu hüllen. 

Alle diese Leistungen wirkten in zweifacher Weise auf die spätere Nationalöko¬ 
nomie. Erstens gingen sie im Lauf der Zeiten von Hand zu Hand, römische und mit¬ 
telalterliche Denker übernahmen sie und von ihnen übernahmen sie die Neuern. 
Und zweitens wurden die griechischen Denker seit der Renaissance auch noch auf lange 
Zeit zu lebendigen Mächten, sie wurden zu unmittelbaren Lehrmeistern der Neuen, 
die sich auch unmittelbar an sie wandten. 

Noch heute ist es schwer — und in einzelnen Punkten geradezu unmöglich — 
von der Politischen Oekonomik zu sprechen ohne ihre Schwesterdisziplinen zu berück¬ 
sichtigen. Solange der Vorrat an spezifisch ökonomischen Erkenntnissen gering und 
die Oekonomik nur ein kleiner Bestandteil der großen Universalwissenschaft der Philo¬ 
sophie war, ist das noch weniger möglich. Doch gebietet das der Rahmen dieser Ar¬ 
beit. Deshalb sei zunächst kurz gesagt, daß im alten Rom dieser Vorrat an Erkennt¬ 
nis nicht gewachsen ist. Bezüglich der ja ganz unselbständigen Philosophie und der 
Geschichtschreibung war das selbstverständlich. Und bezüglich der Jurisprudenz 
war es wohl nicht anders möglich. Wir sehen die Juristen mit größter Sicherheit an die 
Erscheinungen des Wirtschaftslebens herantreten. Aber das ist nur die Sicherheit des 
geschäftsgewohnten Mannes, schon der Zweck des juristischen Gedankengangs und 
die durch ihn gesetzten Schranken machen wirtschaftliche Auseinandersetzungen 
unmöglich. Gelegentliche Aeußerungen, wie Paulus’ berühmte Preisdefinition 
bedeuten in ihrer Isolierung sehr wenig und so werden wir es verstehen, daß neuere 
Untersuchungen über die „Wirtschaftslehre des corpus juris“ in der hier in Betracht 
kommenden Beziehung ergebnislos verliefen (v. Scheel, 0 e r t m a n n). Die Be¬ 
triebslehren der Schriftsteller „de re rustica“ bieten ebensowenig an volkswirtschaft¬ 
licher Erkenntnis, was um so auffallender ist, als es an agrarpolitischen Problemen 
— um nichts weniger vital als jene des Englands des 18. und 19. Jahrhunderts — 
nicht gefehlt hätte. 

Die nächste Fortsetzung spekulativer Gedankenarbeit— „spekulativ“ im Gegen¬ 
satz zu den Anschauungen der Völker und einzelner Männer der „Praxis“ — an ökono¬ 
mischen Problemen werden wir naturgemäß in der Scholastik suchen. Tatsächlich 
finden wir auch, daß dieselbe hier wie sonst so eng an Aristoteles anschließt, wie etwa 
Marx an Ricardo. Das Vorherrschen des Zwecks moralischer Kasuistik darf nicht 
darüber täuschen, daß die diskutierten „Fälle“ und religiösen Gebote vielfach nur 
die äußere Form sachlicher Untersuchungen sind, die mitunter einen um so günstigem 
Eindruck machen, je länger man sich mit ihnen beschäftigt. Aber gerade auf öko¬ 
nomischem Gebiet scheint das in geringem Maß der Fall und der Wert der Ausfüh¬ 
rungen der Scholastiker nicht groß zu sein. Im Anschluß an die ethische Frage des 
gerechten Preises finden wir Ansätze zu einer Preistheorie, in erheblicherm Maß 
m. W. zuerst bei Albertus Magnus (1193—1280), der die Gedanken Aristote¬ 
les' über den Preis dadurch zu präzisieren sucht, daß er Gleichheit der in den auszu¬ 
tauschenden Gütern enthaltenen Mengen von labores et expensae als Index eines 



I. Die Entwicklung der Sozialökonomik zur Wissenschaft. 


25 


idealen Tauschverhältnisses bezeichnet. Aber nicht nur ist dieser Satz lediglich als 
moralische Forderung aufgestellt, er ist sogar nur aus einer andern moralischen For¬ 
derung — nämlich der Vermeidung von Ueberteuerung — abgeleitet. Und vor allem 
steht er außer aller Beziehung zu jenen Erkenntnissen, die ihn eventuell für die 
Wirtschaftslehre fruchtbar machen könnten. Das ist ein Beispiel für viele der wirt¬ 
schaftlichen Gedankengänge der Scholastiker. Während die meisten und darunter 
auch Thomas von Aquino aber auf diesem Gebiet überhaupt nichts Selbständiges 
leisteten, setzte — mit Duns Scotus? — eine Tendenz ein, die Brauchbarkeit 
der Güter zum Angelpunkt der Erklärung der Verkehrswirtschaft zu machen, die in 
der Hand Buridans 1 ) (erste Hälfte des 14. Jahrhunderts) zu einer Geldtheorie 
führte, die von Oresmius ausgearbeitet vielleicht die erste rein ökonomische Leistung 
darstellt und deren Grundgedanke, die Basierung des Geldwerts auf den Gebrauchs¬ 
wert des Geldstoffs, nicht mehr verschwand. Diese ganze Richtung fand ihren Höhe¬ 
punkt in Gabriel Biel, mit dem — Ende des 15. Jahrhunderts — die Pe¬ 
riode der Scholastik geschlossen zu werden pflegt. Doch hat sie ihr sozialwissenschaft¬ 
liches Erbe dem Naturrecht überantwortet. 

Eine Konsequenz — richtiger ein Spezialfall — der scholastischen Preislehre 
war die scholastische Zinstheorie, die die bekannte Stellungnahme des Mittelalters 
zum Zinsnehmen zu fundieren suchte und sich bis tief in das 18. Jahrhundert erhielt, 
auch das vielleicht wesentlichste reinökonomische Diskussionsthema abgab, an das 
sich immer weitere Ausblicke anschlossen. Die übrigen Leistungen dieser Richtung 
können hier nicht erwähnt werden. Es ist ferner zwar selbstverständlich, daß sich aus 
dem Gedankenkreise der Scholastiker auch ein Gesamtbild der Wirtschaft ablesen 
läßt, aber es war nicht das Resultat bewußter Forschung — nur Spiegel der Zeitan¬ 
schauungen des Lebens. 

Dieser kleine Flußlauf sozialwissenschaftlicher Erkenntnis mündete in das 
stürmische Gedankenmeer der Renaissance- und der Reformationsperiode. Aus dem 
Gewirre seiner Strömungen, die jeder Beschreibung in der gebotenen Kürze spotten, 
seien zwei hervorgehoben. Erstens die direkt auf dem Anstoß der politischen, religiö¬ 
sen und sozialen Umwälzungen beruhende Geistesrichtung auf sozialwissenschaft¬ 
lichem Gebiet, die Scharen neuer Arbeiter auf dieses Gebiet führte, denen Staat und 
Gesellschaft unter neuen Gesichtspunkten erschienen. Und zweitens die unmittel¬ 
bar vom Hauche des erwachenden naturwissenschaftlichen Geistes herangewehte 
Strömung, die aber mittelbar auf denselben Anstoß zurückging. Die historische 
Kontinuität mit der Scholastik verleugnet diese Epoche zwar nicht. Gewisse Aeußer- 
lichkeiten scholastischen Denkens haben ihre Leistungen nie abgestreift. Aber 
die neuen Fermente machten das sozialwissenschaftliche Denken nach und nach zu 
etwas anderm. Mit der Warnung, daß alle solche allgemeinen Sätze niemals strikte 
richtig sein können, darf man sagen, daß nun die soziale Welt, von den Frühem im 
Wesen als ein Geheimnis oder als selbstverständlich hingenommen, nun als ein mit 
natürlichen, im Gegensatz zu übernatürlichen, Erkenntnismitteln, die aus der Beob¬ 
achtung und Analyse von Erfahrungstatsachen zu gewinnen seien, erfaßbares Pro¬ 
blem erschien. Dieses Rationalisieren der sozialen Welt — also im Sinn von 
vernunftmäßigem Begreifen vermittelst der Relation von Grund und Folge — suchte 
man methodisch in der Weise durchzuführen, daß man die „vernünftigen“ Motive 
des die sozialen Dinge offenbar ausmachenden menschlichen Handelns analysierte 
und gar, indem man gewisse soziale Z i e 1 e als vernünftig erklärte. An sich haben 
diese drei Bedeutungen des Wortes „rationalistisch“ nicht das Geringste miteinander 
zu tun. Der Historiker, der den Untergang des spanischen Weltreichs aus der Lebens¬ 
unfähigkeit desselben erklärt, versucht den Vorgang zu erklären und rationalisiert 
ihn im ersten Sinn. Er sieht aber deshalb noch nicht in der sozialen Welt nur eine 
Resultante vernünftiger Motive bei den Handelnden. Und vollends hält er deshalb 


Kau 11a, Der Lehrer des Oresmius, Tübinger Zeitschr. 1904. 



26 I. Buch All: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. I 

noch nicht irgendwelche Zustände der Gesellschaft für absolut vernünftig. Das Wort 
„Rationalismus“ ist aber zu einem Schlagwort geworden, in dem sich diese drei 
Bedeutungen — übrigens noch andre — mischen. Für uns ist es, um in das Wesen des 
sozialwissenschaftlichen Rationalismus einzudringen, wesentlich, hervorzuheben, 
daß ungefähr bis zu dem Aufschwung der Geschichtsschreibung im 18. Jahrhundert 
diese verschiedenen Dinge allgemein, und bis auf die neueste Zeit oft, wenn auch in im¬ 
mer geringerm Maße, in den Geistern zusammenfließen. Es lag auch für die ersten im 
Felde unendlich nahe, wenn sie das soziale Leben und Treiben begreifen wollten, sich 
um Aufklärung an die Vernunft der Handelnden zu wenden und alles nicht „vernunft- 
mäßige“ Handeln als prinzipiell uninteressante Aberration zu betrachten und wir 
werden verstehen, daß man so einerseits zu einem individualistischen Standpunkt 
kam, d. h. zur Auffassung, daß in der Motivenwelt des einzelnen der Schlüssel zum 
Verständnis des sozialen Geschehens liege, und andrerseits zur Auffassung, daß es 
eine unveränderliche, allgemeingültige, der Vernunft allein entsprechende Ordnung 
der sozialen Dinge gäbe, weil offenbar die menschliche Mentalität etwas unveränder¬ 
lich Gegebenes und folglich das aus ihrem Wesen fließende Gesetz des Handelns, 
mithin auch dessen Geschöpf, die soziale Welt, in gewisssem Sinn unveränderlich sei. 
Hier liegt der Ursprung des Individualismus in der Wissenschaft und auch der Auf¬ 
fassung von einem allgemeinen — gleichwohl aber nicht existierenden und eben des¬ 
halb erst durchzusetzenden — Normalzustand der Gesellschaft. Beachte man jedoch, 
daß der Ausgangspunkt ein auch in modernem Sinn streng wissenschaft¬ 
licher und auch, daß die Verankerung der Sozialwissenschaft in einer Psychologie ein 
Gedanke ist, der heute neue Kraft gewonnen hat. Abgeschreckt durch Aeußerlich- 
keiten und durch offenbare Mängel dieser Literatur, verkennt man heute leicht, wie 
vollständig unsere Arbeiten auf demselben Boden stehen *). 

Es entwickelt sich zunächst eine „rationalistische“ Theologie, die für uns unmit¬ 
telbar von geringer, mittelbar aber von um so größerer Bedeutung ist. Dabei ist es 
von höchstem Interesse zu beobachten, wie sich die Diskussion erst an den Refor¬ 
mationskontroversen entwickelt, wobei sie noch ganz mit den alten Mitteln der 
Interpretation usw. arbeitet, um dann diese Methode ganz fallen zu lassen und zur 
Analyse der religiösen Bewußtseinstatsachen überzugehen, bis sie bei den verschie¬ 
denen Formen des Deismus landet, der etwas dem ewigen — aber „natürlichen“ — 
Rechte ganz Analoges ist, nämlich ein mit den Mitteln der „Vernunft“ erarbeiteter 
aber inhaltlich bestimmter Glaube, nicht eine Lehre vom generellen Wesen und der 
sozialen Funktion religiösen Glaubens überhaupt. Alle Denker der Zeit haben diese 
Probleme berührt. Noch A. Smith hat über „natural theology“ gelesen. Aber dieses 
Thema ist bereits gesondert nicht nur von dem sozialwissenschaftlichen Stoff, sondern 
auch von der übrigen Philosophie. Auch manche rein theologische Schriftsteller, 
wie Butler, haben tief auf das sozialwissenschaftliche Denken gewirkt. 

Sodann löste sich eine selbständige Ethik aus der Mutterwissenschaft der theo¬ 
logischen Philosophie ab, die in engerer Beziehung zur politischen Oekonomie 
steht und dieselbe analysierende — und das heißt hier eben psychologisierende — 

l ) Man pflegt im Individualismus und im Rationalismus vor allem eine Sozialphilosophie 
zu sehen. Diesem Gesichtspunkt ist jedoch als für uns wichtiger der andre gegenüberzustellen, 
daß eine individualistische und rationalistische Betrachtungsweise sich als die nächstliegende 
dem forschenden Geist darbot, daß sie gleichsam am wissenschaftlichen Weg lag. — Man pflegt 
ferner ein ungebührliches Gewicht auf theologische Wendungen zu legen. Es ist ja richtig, 
daß diese ganze Zeit in theologischen Ideen lebte. Aber man muß unterscheiden zwischen 
einer Betrachtungsweise, die die Erscheinungen aus übernatürlichen Momenten erklärt 
und einer solchen, die innerhalb des wissenschaftlichen Gedankens uns „natürliche“ Gründe 
anführt und lediglich behauptet, daß alle Dinge einem hohem Willen oder Plan entsprechen. 
In letzterm Fall ist der Gedankengang völlig positiv-wissenschaftlich. In diesem Sinn nur fin¬ 
det sich das „theologische“ Moment bei Descartes, Locke, Newton usw. — einen wirklichen 
Einfluß auf die Resultate hat es nicht mehr. So auch auf unserm Gebiet. Noch lange, nach¬ 
dem sich der sozialwissenschaftliche Gedanke tatsächlich völlig befreit hat, wird die theo¬ 
logische Form gewahrt. 



I. Die Entwicklung der Sozialökonomik zur Wissenschaft. 27 

Tendenz aufweist. Sie ist bereits eine Sozialwissenschaft und hat die Fühlung mit der 
Nationalökonomie trotz der so populären gegenteiligen Behauptung niemals verloren. 
Auch bei der Ethik dieser Zeit handelt es sich um Basierung der ethischen Phänomene 
auf große Erklärungsprinzipien, wie Shaftesburys moral sense oder das von A. Smith 
verfochtene Prinzip der Sympathie oder das Prinzip der Identifizierung von Moral 
und positiver Satzung bei Hobbes oder noch deutlichere Anklänge an antike Gedan¬ 
ken bei Grotius, oder das Egoismusprinzip Mandevilles, um nur einige für uns wichti¬ 
gere zu nennen. Auch hier beobachten wir jenen Uebergang von theologischer Diskus¬ 
sion zu einer „wissenschaftlichen“ Auffassung — woran das theologische Gewand, 
das auch die meisten späteren Denker nicht ablegten, nichts ändert. Auch hier finden 
wir das Streben ilach inhaltlich bestimmter moralischer Erkenntnis, das jedoch von 
der nach Erkenntnis und Erklärung gerichteten Grundtendenz trennbar ist. 

Viel wichtiger noch ist aber für uns das Naturrecht, das sich im 16. Jahrhundert 
zur selbständigen Disziplin entwickelte. Von der Größe des wissenschaftlichen Fort¬ 
schritts, der sich in seinem Rahmen vollzog, ist es schwer eine Vorstellung zu geben. 
In den, zunächst noch wesentlich mit den Mitteln der Postglossatoren, also kasuistisch¬ 
exegetisch arbeitenden, Kreisen der italienischen und französischen Juristen ent¬ 
wickelte sich unter dem fördernden Einfluß der angedeuteten Umstände früh ein kriti¬ 
scher Geist gegenüber dem Inhalt der von ihnen behandelten Rechtssysteme, der in 
letzter Linie auf die durch arabische Vermittlung empfangene griechische Naturwissen¬ 
schaft zurückgeht *). Und langsam wuchs daraus immer machtvoller die Idee eines 
außerhalb irgendwelcher konkreter Satzungen existierenden Rechts hervor, das aus den 
erfahrungsgemäß bekannten Elementen der Menschennatur und aus den innem Not¬ 
wendigkeiten der sozialen Gemeinschaft fließe. Nach und nach entfaltete sich — zum 
Teil unter dem Schutz der französischen Lehre von der „zweifachen Wahrheit“, die 
dem wissenschaftlichen Denken unter formaler Anerkennung der Suprematie der reli¬ 
giösen Lehre weitgehende Selbständigkeit sicherte — eine positive Wissenschaft vom 
Rechte und als Voraussetzung dazu auch vom Staate und von der Gesellschaft, die 
nichts von ihrem Charakter als Erfahrungswissenschaft dadurch verlor, daß ihre 
Daten — schon an sich mangelhaft — ganz hinter den weitgehenden Konsequenzen 
zurücktraten, die darauf gebaut wurden. Die theologischen Wendungen freilich und 
die Tatsache, daß bis ins 18. Jahrhundert die wissenschaftliche Aufgabe einer 
Theorie des generellen Wesens des Rechts den forschenden Geistern stets 
unter der Form des abenteuerlichen Plans der Auffindung eines allgemeingültigen 
Systems von konkreten Rechtssätzen erschien, haben der Kritik die Er¬ 
kenntnis des wahren Wesens des Naturrechts und damit seiner Größe erschwert und 
zu den bekannten Vorurteilen über „naturrechtliche Spekulationen“ geführt. 

Es ist schwer, die Auswahl der hier zu nennenden Namen zu treffen. Vom Stand¬ 
punkt der politischen Oekonomie kommen naturgemäß vor allem jene Autoren in 
Betracht, die ihr am meisten ökonomischen Wissensstoff überantworteten. Das sind 
vor allem die Physiokraten, die bereits vornehmlich als Oekonomen zu werten sind und 
deren Lehre uns noch beschäftigen wird. Abgesehen davon hat auf unsre Disziplin 
direkt am meisten Pufendorf 2 ) gewirkt, dessen ökonomischen Ausfüh¬ 
rungen den Grundstock derjenigen Hutchesons und damit einen wesentlichen 
Teil der Lehre von Hutchesons Schüler, A. Smith, bilden, und Locke, dessen 
ökonomische Leistungen allerdings etwas abseits von seinen naturrechtlichen Anschau¬ 
ungen stehen. Während es unmöglich ist, hier auf die Bedeutung Oldendorps, 

*) Denn selbst von Aristoteles waren nur die — sagen wir — geisteswissenschaftlichen 
Teile zu lebendiger Wirksamkeit bei den Scholastikern gelangt. Die griechische Naturwissen¬ 
schaft war wenig beachtet — wohl meist gar nicht verstanden — worden. Sie wirkte erst 
durch die Araber. 

*) H. C o n r i n g war ein sehr schwacher Nationalökonom und gar nicht kann man Tho- 
masius und Wolff Nationalökonomen nennen. Von einer tiefen Einsicht oder überhaupt 
einem lebhafteren Interesse für den Gegenstand kann bei den beiden letztem keine Rede sein, 
höchstens, daß sie etwas für Kameralistik und nationalpolitische Fragen übrig hatten. 



28 I* Buch All: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. I 

Grotius’, Gassen dis, Bodius, Cardanos, Hobbes’ u. a. für unsre 
Disziplin einzugehen, so sind einige Worte über Hutcheson wegen seiner Beziehung zum 
Wealth of Nations nötig. Das für uns wichtigste Werk dieses Glasgower Professors 
(f 1761), sein System der Moralphilosophie— 1755, aber wesentlich der Ertrag seiner 
1746 abgeschlossenen Lehrtätigkeit, vgl. W. R. Scott, Francis Hutcheson 1900 — 
enthält eine ganz umfassende Theorie der Oekonomik. Arbeitsteilung, Wert-, Preis- 
und Geldtheorie und Steuerlehre sind ganz offenbar von Smith im Wesen übernommen. 
Zu bemerken ist besonders, daß die Arbeit als Maß des Tauschwerts erscheint in 
ähnlicher Weise wie bei allen Klassikern. In der Verteilungstheorie tritt scharf die 
naive Ueberschätzung der Tatsache physischer Produktivität des Bodens hervor, die 
auch das physiokratische System zeigt und aus der bei ihm auch zum Teile die 21 
Jahre später wiederum von Turgot entwickelte Zinstheorie fließt — zum andern Teil 
basiert Hutcheson allerdings das Zinseinkommen auf den mit Hilfe des Darlehens zu 
machenden Unternehmergewinn, worin er sich mit Locke berührt —-, während 
Smith sich von diesem Gedanken freigehalten hat. Die Bedeutung der durch das spä¬ 
ter so wichtig werdende Schlagwort von „Angebot und Nachfrage“ bezeichneten 
Momente ist klar erkannt. In der Materie des internationalen Handels steht Hut¬ 
cheson halbwegs zwischen merkantilistischen Ideen und Smith. Die schon bei 
Pufendorf deutliche Loslösung der Sozialwissenschaft von der Theologie ist bei 
Hutcheson dem Wesen nach vollkommen vollzogen. In seinen sozialen 
Grundgedanken tritt endlich eine utilitarische Tendenz deutlich hervor. 

Auf drei Dinge muß noch hingewiesen werden. Erstens hat eine Richtung des 
Naturrechts nach und nach zum Utilitarismus hinübergeleitet, der sich dann an den 
Namen Benthams knüpfte. Zunächst lag darin nicht mehr als das Hervorkehren 
des Gesichtspunkts sozialer Zweckmäßigkeit nach einer bestimmten Richtung hin. 
Aber das führte dazu, im lustsuchenden und schmerzfliehenden Wollen des Indivi¬ 
duums den Schlüssel des sozialen Geschehens zu suchen. Namentlich nun war das für 
die Oekonomik von größter Bedeutung. Für sie eignete sich dieser Gedanke natürlich 
am besten, während er außerhalb ihres Gebiets auf die Dauer nicht viel leistete. Er 
war ein wirksamer Hebel der Analyse und führte teils direkt teils durch die Kritik, 
die er anregte, zu einer wesentlichen Bereicherung der sozialwissenschaftlichen Er¬ 
kenntnis. Dann sei hervorgehoben, daß die Idee vom contrat social vom Naturrecht 
zugleich ausgebildet und überwunden wurde. Auch diesen Gedanken darf man 
nicht einfach wegen seiner historischen Wertlosigkeit verdammen. Wenn auch nicht 
auf bewußtem Vertrag, so beruhen doch so viele soziale Beziehungen auf der Tat¬ 
sache von gegenseitigen Leistungen, daß er als heuristisches Mittel eine bessere Be¬ 
handlung von seiten des Dogmenhistorikers verdient. Für die wirtschaftlichen Be¬ 
ziehungen, die eine Volkswirtschaft ausmachen, gilt das selbstverständlich in be¬ 
sonderem Maß, und bewußt und unbewußt hat dieser Gedanke viel zu einem klarem, 
namentlich von metaphysischen Momenten freien, Einblick in das Wirtschaftsleben 
geführt. Endlich wollen wir daran erinnern, daß, wie v. P h i 1 i p p o v i c h (in 
„Die Entwicklung der deutschen Volkswirtschaftslehre“, Festgabe für G. v. Schmoller) 
gezeigt hat, der Begriff der Gesellschaft und manche daran hängende Auffassungs¬ 
weise erst aus dem Kreise der Naturrechtslehrer des 19. Jahrhunderts in die deut¬ 
sche Nationalökonomie eindrang. 

Alle diese Spezialgebiete — Theologie, Ethik, Rechts- und Wirtschaftslehre — 
bildeten eine Einheit, für die der Name „Moralphilosophie“ üblich wurde. Darunter 
ist weder eine „Morallehre“ noch eine „Philosophie“ im modernen Sinn zu verstehen, 
sondern eine umfassende, trotz allem metaphysischem Beiwerk mehr und mehr em¬ 
pirisch-analytisch werdende, Geisteswissenschaft im Gegensatz zur damals „Natur¬ 
philosophie“ genannten Naturwissenschaft. Diese Geisteswissenschaft beruhte in 
allen ihren Teilen auf denselben Prinzipien, namentlich auf denselben einfachen 
Annahmen über die menschlichen Motive und deren Verhältnis zum menschlichen 
Handeln, sie war in allen ihren Teilen individualistisch, rationalistisch und absolut 



I. Die Entwicklung der Sozialökonomik zur Wissenschaft. 


29 


in dem Sinn, daß der Entwicklungsgedanke fast ganz zurücktrat. Weil nun in diesem 
organischen Ganzen ein jedes Element auf alle andern Elemente wirkte, so ist fast ein 
jeder Gedanke auch für die Politische Oekonomik von Wichtigkeit. Die philosophi¬ 
schen Leistungen Lockes und Humes wären da vor allem zu nennen, denn niemals 
wieder stand die Philosophie unsrer Disziplin so nahe— niemals wieder war die Philo¬ 
sophie so sehr Sozialwissenschaft — wie damals. Vor allem kommt aber die Assozia¬ 
tionspsychologie Hartleys in Betracht, deren Grundprinzipien noch John St. Mill 
beherrschten und die von der größten Bedeutung für die Entwicklung des ökonomi¬ 
schen Gedankens war. Allein darauf kann hier nicht eingegangen werden, ebenso¬ 
wenig wie auf Erscheinungen, die abseits von der großen Heerstraße sozialwissenschaft¬ 
lichen Denkens standen, wie z. B. G. V i c o (Principi di una scienza nuova 1721). 

3. Wenden wir uns nun der zweiten Quelle unsrer Wissenschaft zu. Während die 
Denker, auf die ich bisher hingewiesen habe, sich den ökonomischen Problemen von 
der Seite „philosophischen“ — im weitesten Sinn — Interesses näherten, während sie 
nach und nach auch unsern Ausschnitt aus der Welt der Erscheinungen in ihren Ge¬ 
sichtskreis zu ziehen begannen, mit anderswo geformten Werkzeugen und von anders¬ 
wo gewonnenen Standpunkten aus, so waren für jene, die jetzt erwähnt werden sollen, 
vor allem praktische Fragen und praktische Ziele entscheidend, wenngleich auch hier 
im Laufe der Dinge sich bald die Lust an der Erkenntnis als solcher einstellte. Für 
die meisten dieser letztem war das menschliche Tun und Treiben an sich durchaus 
nicht problematisch. Sie waren vorwiegend Männer der Praxis ohne besondere 
wissenschaftliche Schulung und ohne alle Neigung zum philosophischen Staunen. 
Damit ihnen etwas als Frage erschien, mußte es dem praktischen Politiker fraglich 
sein. Und zur Lösung etwa auf tauchender Fragen brachten sie wohl Lebens- und 
Geschäftserfahrung und hellen Sinn, aber kein wissenschaftliches Rüstzeug mit. So 
erklärt es sich, daß in diesem Teil der ökonomischen Literatur so mancher schöne 
Anlauf zu nichts führte, weil man ihn nicht über die konkrete Kontroverse, die sein 
Anlaß gewesen war, hinaus verfolgte, daß neben mancher klar und kraftvoll erfaßten 
Erkenntnis primitive Vorurteile stehen, daß man oft im einzelnen erkannte, was man 
im prinzipiellen verfehlte, daß man niemals tiefer analysierte als es der Fall erforderte 
und meist nicht nach grundsätzlicher Klarheit strebte. Kurz, dieser Teil unsrer 
Literatur zeigt alle die Frische und Fruchtbarkeit unmittelbarer Anschauung und 
alle die Hilflosigkeit bloßer Anschauung, wenigstens anfänglich — nach und nach 
tauchen Versuche zu wirklicher Analyse aus den Niederungen der Zufallsargumente 
und Tagesdiskussionen auf. Eine solche populäre Literatur haben wir auch heute, 
und sie steht oft auf kaum höherer Stufe als die jener Zeit, was sich aus der geringen 
Autorität wissenschaftlicher Erkenntnis auf unserm Gebiet erklärt. Aber damals 
hatte die „Vulgärökonomie“ der beginnenden Wissenschaft viel zu geben. Nur inso¬ 
weit sie auf die wissenschaftliche Erkenntnis wirkte und zu solcher führte, interes¬ 
siert sie uns hier, nicht auch als Spiegelbild der Zeitumstände. 

Diese Diskussionen auffallender und praktisch wichtiger Fragen haben in den 
einzelnen Ländern verschiedenen Charakter gehabt. Nirgends blühten sie so sehr 
wie in England, wo die politischen Verhältnisse den Appell an die breite Oeffentlich- 
keit zu einer notwendigen Bedingung für den Erfolg einer praktischen Bestrebung 
machten. In andern Ländern fehlte mehr oder weniger dieser praktische Antrieb und 
auch die Schulung an parlamentarischen Gewohnheiten: Eine selbstherrliche Staats¬ 
gewalt entmutigte das wirtschaftspolitische Interesse. So wurde denn schon in der 
Zeit von 1500—1700 der Grund zu jener Suprematie Englands im volkswirtschaft¬ 
lichen Denken gelegt, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unbestritten war. 
Die Währungsverhältnisse, die Einhegungen mit dem damit verbundenen Rück¬ 
gang des Ackerbaus, die alten Bindungen des Verkehrs durch obrigkeitliche Regelung, 
die Privilegien fremder Kaufleute, der Niedergang des Stapelsystems besonders nach 
dem Verlust von Calais, die Wechselkurse besonders gegenüber Holland, der Kampf 
gegen die Handelsmonopole erst königlicher Günstlinge, dann der großen Handels- 



30 I. Buch All: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. I 

kompagnien, der von weiten Kreisen für ruinös gehaltene Wollexport, dann die Er¬ 
richtung der Bank — um alle diese Dinge entstanden literarische Kontroversen, die, 
obgleich zunächst nur vom momentanen Zweck beherrscht, schließlich zu einer 
Klärung der Ansichten, zu einem lebhaften Bedürfnis nach ökonomischer Analyse 
und größerm Interesse für ökonomische Fragen, endlich zu einem Vorrat an ökono¬ 
mischen Begriffen, Gedankenreihen und deskriptivem Wissen führten. Als eine 
der frühesten zusammenfassenden Uebersichten über die Fragen der Zeit von einem 
einheitlichen Standpunkt sei die — nachLamond, Engl. Hist. Rev. 1891 — 1549 
von Haies in Gesprächsform geschriebene, 1581 publizierte Abhandlung: „A 
compendious or briefe examination of certayne ordinary complaints of divers of our 
countrymen in these our dayes“ genannt, in der alle die besprochenen „complaints“ 
auf die durch die amerikanische Gold- und Silbereinfuhr hervorgerufene Geldent¬ 
wertung zurückgeführt werden. Die Grundansichten des Autors sind durchaus die 
des praktischen Lebens, seine Urteile die eines denkenden, aber ganz ungeschulten 
Kopfes. Trotzdem gab es lange nichts gleichwertiges mehr. Die ganze Ueberlegen- 
heit systematischer Analyse und die Größe des Fortschritts, den wir ihr verdanken, 
tritt uns vor Augen, wenn wir die so überaus naiven Erörterungen von gleichwohl 
erfolgreichen und erfahrenen Männern der Praxis über die ihnen am nächsten liegen¬ 
den Dinge überblicken. Die Forderung nach staatlicher Reglung der Wechselkurse 
und die Furcht vor Goldexport gibt ein gutes Beispiel. Es brauchte lange, bis die 
Auffassung überwunden war — als ihre Vertreter seien Milles x ), Malynes und Mis¬ 
seiden genannt —, daß die Gestaltung der Wechselkurse lediglich von dem Verhal¬ 
ten der am Wechselgeschäft unmittelbar beteiligten Kaufleute abhänge, wie das auch 
heute noch mancher Laie glaubt. Und ein großer Fortschritt war es, als diese „bullio- 
nistische“ Auffassung durch die Erkenntnis vom Zusammenhang der Wechselkurse 
mit der Handelsbilanz ersetzt wurde. Sowie das geschehen war—mit voller Klarheit 
tritt uns der Umschwung in Maddisons „Englands looking in and out“ 1640 ent¬ 
gegen — trat die Untersuchung der die Handelsbilanz selbst wieder beeinflussenden 
Momente in den Vordergrund und diese führte dann tiefer in das Verständnis des 
wirtschaftlichen Geschehens. Epochemachend wurde die klare, übersichtliche und 
dem Praktiker überaus einleuchtende Darstellung M u n s in „Englands Treasure by 
forraign Trade“ 1664. Ohne jedes wissenschaftliche Verdienst, brachte dieses Werk 
sehr präzis und glücklich die volkswirtschaftspolitischen Ansichten weiter Kreise 
zum Ausdruck. Unter Muns Zeitgenossen und Nachfolgern ist namentlich Child 
(Observations concerning trade and the interest of money 1668), der „British Merchant“ 
(1721) und G e e (Trade and navigation of great Britain considered 1729) zu nennen, 
die alle als Beispiele einer primitiven Oekonomik und der Art, wie sich dieselbe in 
wissenschaftliche Oekonomik entwickelt, sehr lesenswert sind. Diese Richtung, 
die durch den größten Teil des 18. Jahrhunderts herrscht, kulminiert in dem viel 
tiefergehenden Werk Sir James Steuarts „Inquiry into the Principles of 
Political Economy“ 1767, dessen wissenschaftliche Bedeutung allerdings auf andern 
Einflüssen beruht 2 ). 

Mit Ausnahme des zuletzt genannten haben alle diese Autoren das Charak¬ 
teristische, daß sie die Grundanschauungen des Alltags unkritisch übernehmen und 
nur auf Grund derselben bestimmte Fragen zu entscheiden suchen. In der zweiten 
Hälfte des 17. Jahrhunderts, in jener Zeit, die der Historiker Hallam einmal als Nadir 
der nationalen Prosperität Englands bezeichnete, traten aber zum erstenmal wissen¬ 
schaftlich veranlagte Männer des praktischen Lebens auf, denen die Not des Tags 
Anlaß zu tieferen Untersuchungen gab. Auf ihrer Arbeit beruht dann der Aufschwung, 


0 Infolge eines im Moment der Entdeckung nicht mehr gutzumachenden Versehens ist 
mir dieser Autor nicht im Original bekannt. 

2 ) Hasbach hat Sir J. Steuart mit jenem unrichtigen wissenschaftlichen Augenmaß, 
das seine sonst so verdienstlichen Arbeiten entstellt, viel zu hoch eingeschätzt. Immerhin 
gehört Steuarts Werk zu den besten Leistungen des 18. Jahrh. auf unserm Gebiet. 



I. Die Entwicklung der Sozialökonomik zur Wissenschaft. 


31 


der um die Mitte des 18. Jahrhunderts zur definitiven Konstituierung unserer Wissen¬ 
schaft in England führt. Niemand geringerer als Locke („Some Considerations 
of the consequences of the lowering of interest and raising the value of money“ 1695 
und „Further considerations“ 1696) gdhört hierher, der, wenn man von Aeußerlich- 
keiten absieht, als Oekonom ganz den Philosophen abgestreift hat*). Nicht nur für 
die Geldtheorie hat er viel geleistet. Er ging auf das Wertproblem ein — im Sinn der 
Arbeitswerttheorie — er hat auch eine rudimentäre Verteilungstheorie. Vor allem 
aber geht er tiefer auf die Frage ein, wovon denn eigentlich das wirtschaftliche Wohl¬ 
befinden eines Volks abhänge. Ihm gegenüber steht als würdiger, zum Teil überlegener 
Gegner Nicholas Barbon (A Discourse of Trade 1690, ed. Holländer 1905; 
über Barbon vgl. St. B a u e r in Conrads Jahrb. 1890). Als Gegner Lockes kommt er 
als ein Vertreter der heute soviel Aufmerksamkeit erregenden Legaltheorie des Geldes 
und als Gegner der Handelsbilanztheorie in Betracht, dessen Argumente die Humes 
im Wesen vorwegnehmen. Aber nicht darin liegt seine Bedeutung, sondern in der 
Art, wie er zu seinen Resultaten kommt. Er geht, um zu einem Standpunkt in prak¬ 
tischen Fragen zu kommen, bis auf die letzten ihm erreichbaren Elemente des Wirt¬ 
schaftsprozesses zurück. Er nähert sich seinem Ziel Schritt für Schritt, indem er ein 
Element des Problems nach dem andern theoretisch erledigt, und er sieht die Not¬ 
wendigkeit ein, einen prinzipiellen Standpunkt zu gewinnen, bevor man an individuelle 
Tatsachenkomplexe herantritt. Dabei entwirft er eine Werttheorie auf Grund des 
sehr hübsch analysierten Gebrauchswertmoments, gleitet allerdings bei der Preis¬ 
theorie, die er ganz richtig darauf zu basieren sucht, etwas aus. In seiner Zinstheorie 
wendet er sich von der damals ganz allgemeinen Anschauung, daß der Zins für Geld 
gezahlt 2 ) werde, entschieden ab, so die Kapitalanalyse der folgenden zwei Jahrhun¬ 
derte antizipierend. In der Zinstheorie wird er allerdings durch die schon 1668 er¬ 
schienene Schrift: „The interest of money mistaken or a treatise proving that the 
abatement of interest is the effect and not the cause of the riches of a nation“ — 
deren großes Verdienst, das m. E. eine wesentliche Etappe auf dem Wege der Erkennt¬ 
nis des Zinsphänomens bedeutete, im Untertitel angedeutet ist — in mancher Bezie¬ 
hung übertroffen. Von ähnlichem Rang ist unter den Leistungen jener Zeit, die uns 
heute zugänglich sind — zum Teil hängt das natürlich nur von Zufälligkeiten ab — 
nur noch die von Sir D. North: Discourses upon Trade 1691 (ed. Holländer 1907). 
Merkwürdig ist schon das Vorwort, das sich allerdings nicht als von North geschrie¬ 
ben gibt, übrigens unverkennbare Aehnlichkeit der Ausdrucksweise mit der des Tex¬ 
tes zeigt. Wir finden darin eine bewußte Gegenüberstellung der realistischen wissen¬ 
schaftlichen Theorie der Volkswirtschaft und der „ordinary and vulgär conceits 
being meer Husk and Rubbish“ unter Hinweis auf die neuen naturwissenschaft¬ 
lichen Methoden. Und der ganze Gedankengang der beiden Abhandlungen, der die 
früheste tiefere Argumentation für Freihandel darstellt, macht den methodischen 
Grundsätzen Ehre. Der Autor sieht klar, daß nur die Enge des Ausblicks des Prakti¬ 
kers die zu seiner Zeit landläufigen Ansichten erklärt und macht sich daran, sie durch 
eine tiefdringende Analyse von kräftiger Entschiedenheit zu ersetzen. Erst in Ricar- 
dianischer Zeit ist die Theorie über sein Meisterwerk hinausgekommen. Die großar- 


x ) Deshalb nennen wir ihn hier und nicht bei den „Philosophen“. Von ihm ging V an¬ 
der 1 i n t (Money answers all things . . . 1734) aus, ein holländischer Kaufmann, dessen wirt¬ 
schaftspolitische — freihändlerische u. a. — Ideen einigen literarischen Erfolg gehabt zu haben 
scheinen, obgleich er wissenschaftlich wenig in Betracht kommt. Auch A s g i 11 (Several 
assertions proved 1694; ed. Holländer) ist in gleichem Fall. Ebenso Berkeleys „Querist“. 
Sehr viel bietet die holländische Literatur dieser Epoche, die ungefähr dieselben Charakteristika 
trägt wie die englische und ihr im 17. Jahrh. stets um ein Tempo voraus ist. Doch kann ich 
nicht auf sie eingehen. Nennen wir Graswinckel (1600—1668), S a 1 m a s i u s (1588 
bis 1658) und de la Court (1618—1685). 

2 ) „Interest is the rent of stock and is the same as the rent of land“ sagt er. Wenn alles 
das in dem Satze liegt, was ein moderner Leser hineinzulegen versucht ist, so ist diese Gleich¬ 
stellung der Kapital- mit der Grundrente ein gewaltiger Fortschritt in der Analyse. 



32 I. Buch All: J. Schumpeter, Dogmen-und Methodengeschichte. I 


tige Auffassung aller Nationen als einer Handelsgemeinschaft, die klare Erkenntnis, 
daß es „schädliche Handelszweige“ im Sinne der Frühem nicht gäbe, daß autoritative 
Preisfestsetzungen unwirksam oder für alle Beteiligten schädlich seien, daß sich bei 
Prägefreiheit der Geldumlauf selbsttätig regle 7 — alle diese Dinge finden sich bei ihm, 
die zu den Ruhmestiteln der klassischen Oekonomie gehören und an deren Bedeutung 
als ersten Annäherungen auch die zahlreichen nötigen Einschränkungen, die eine noch 
spätere Zeit hinzuzufügen hatte, nichts ändern. Wer die Entwicklung des wissen¬ 
schaftlichen Denkens auf unserm Gebiet studieren will, kann nichts Besseres tun als 
etwa Mun, North, Smith, Ricardo zu vergleichen. 

Der Fortsetzer dieser Leistungen ist dann im 18. Jahrhundert, neben andern 
— wie z. B. M a s s i e, The Natural Rate of Interest 1750 — D.Hume, Von seinen 
ökonomischen Essays gilt etwas ähnliches, wie von den ökonomischen Arbeiten 
Lockes: Seine Philosophie wirkte auf andre Nationalökonomen mehr als auf ihn 
selbst. Ein klarer Geist, der auf der Höhe der Zeit steht, kein tiefgründiger Denker 
tritt uns da entgegen. Es ist Mode geworden, ihn auf Kosten Smiths zu preisen — wie 
auch sonst, so hat hier die Entdeckung eines literarischen Zusammenhangs zu Ueber- 
treibungen geführt. Gewiß steht Hume an der Spitze des Aufschwungs, der der Er¬ 
schlaffung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts folgte. Aber seine glänzenden 
Einzelanalysen (Essays, Moral and Political, ed. Green and Grove 1875) — sie 
stammen ja auch nicht aus seiner produktiven Periode — gaben nur sterbenden Auf¬ 
fassungen den Todesstoß und sie wirkten vor allem popularisierend. Im einzelnen 
zeigen sich Spuren von Flüchtigkeit, nirgends die großartige Originalität seiner philo¬ 
sophischen Werke. Wenngleich kaum etwas aus jenen Jahren so lesenswert ist und 
in das Wachsen der Nationalökonomie soviel Einblick gewährt, so ist doch klar, daß 
nicht die ganze Kraft seines Genies auf unserm Gebiet zur Geltung gekommen ist. 
Tiefer hat Tucker gearbeitet (1712—1799, vgl. W. E. Clark, „Josiah Tucker“ 
Col. Univ. Studies XIX), in seinen Werken beginnt sich der Gedankenstoff der Na¬ 
tionalökonomie gleichsam zu „setzen“, die Palme aber gebührt C a n t i 11 o n, dessen 
1734 vollendeter „Essai sur la nature du commerce en g6n6ral“ (ursprünglich englisch 
geschrieben, Neudruck 1892) als erste systematische Durcharbeitung des Feldes der 
Nationalökonomie betrachtet werden kann. Er trägt den Stempel wissenschaft¬ 
lichen Geistes. Die einzelnen Probleme erscheinen durchdrungen von einheitlichen 
Erklärungsprinzipien und bilden Teile einer Gesamtanalyse von großem Wurf. Die 
Enge früherer Gedankengänge ist durchbrochen, die primitiven Fehlgriffe sind ver¬ 
mieden, jene, die auf die mangelnde Schulung im analytischen Handwerk zurück¬ 
zuführen sind nicht weniger als jene, die dem Einfluß der Philosophie zur Last fallen *). 

Etwas abseits von der skizzierten Entwicklung steht das Lebenswerk Sir W. 
P e 11 y s (Taxes and Contributions 1662, Political Arithmetik 1682, Political Ana- 
tomy of Ireland 1691). Das Schwergewicht seines Interesses lag in der zahlenmäßi¬ 
gen Erfassung volkswirtschaftlicher Fragen. In dieser Beziehung unterschied er sich 
nur durch die Weite seiner Unternehmen von seinen Zeitgenossen, unter denen 
diese statistische Oekonomie durchaus üblich war: Man hielt damals die Durch¬ 
führung solcher Unternehmungen für verhältnismäßig leicht, wie ganz natürlich, da 
sich die Schwierigkeiten derselben erst auf einer höhern Entwicklungsstufe überblik- 
ken lassen. Während aber Pettys Zeitgenossen vielfach in der Statistik nur ein 
Mittel sahen, Erscheinungen quantitativ zu erfassen, an denen ihnen sonst nicht 
viel problematisch war, so hat Petty das Material theoretisch zu durchdringen und zu 


*) Noch mag John Harris genannt werden, dessen Untersuchung „On Money and 
Coins“ 1755 nicht nur den Reinertrag der englischen Gelddiskussionen glücklich dar¬ 
stellt, sondern ebenfalls die Konturen einer allgemeinen Theorie der Volkswirtschaft enthält 
— und John Law (Money and Trade considered 1705), der bekannte Finanzier, dessen 
Arbeit zwar nur der Popularisierung des damals oft geäußerten Plans eines durch Land fundierten 
Papiergeldes gewidmet ist, aber sich durch seine Kredittheorie über eine bloße Tagesschrift 
erhebt. 



I. Die Entwicklung der Sozialökonomik zur Wissenschaft. 


33 


interpretieren gesucht in einer Weise, wie das kaum jemals wieder so zielbewußt ge¬ 
schehen ist. Er schaffte sich analytische Waffen, mit denen er sich einen Weg durch 
das Dickicht der Daten zu bahnen suchte, und so finden wir theoretische Erwägungen 
voll Kraft und Besonnenheit bei jedem Schritt. In Tiefe der ökonomischen Erkennt¬ 
nis fallen die übrigen Vertreter der „Politischen Arithmetik“ sehr gegenüber Petty 
ab, obgleich manche von ihnen in andrer Beziehung epochemachend waren, so na¬ 
mentlich Graunt, Davenant und Gregory King. Doch gelang dem letztem ein Wurf, 
der zwar herzlich wenig Nachahmung, aber um so mehr platonische Anerkennung 
gefunden hat: nämlich die Aufstellung der sog. Kingschen Regel, die einen Versuch 
darstellt die Beziehung zwischen Preis und angebotener Menge des Getreides zah¬ 
lenmäßig festzustellen. Jene Anerkennung ist wohl verdient. Kings Leistung liegt 
auf einem Wege, der früher oder später zu Ende gegangen werden muß. Im Wesen 
zerrann dieser vielversprechende Aufschwung: Die ökonomische Forschung nahm 
für lange ganz andre Wege und die statistische Forschung trennte sich von ihr. 

Es ist nicht möglich auf andre Zeiterscheinungen einzugehen. Ich will nur her¬ 
vorheben, daß im 17. Jahrhundert auch zuerst in größerer Zahl vergleichende Beschrei¬ 
bungen der Wirtschaftszustände verschiedener Länder auftreten — als Beispiel 
seien Sir W. T e m p 1 e s „Observations on the Netherlands“ 1693 genannt —, die, 
ganz so wie auch heute noch zum größten Teil, eine Gruppe für sich bildeten. Auch 
auf gewissen Spezialgebieten, so auf dem des Problems der Armut und der Arbeits¬ 
losigkeit l ) wurden Erfolge erzielt, die für lange Zeit die Anschauungen beherrschten. 

So zeigt sich uns in England ein Bild reichen Lebens auf unserm Gebiet, dessen 
Studium nicht nur wesentlich für das Verständnis des Heranwachsens der National¬ 
ökonomie, sondern auch an sich überaus reizvoll ist. Auf dem Kontinent gibt es in 
dieser Zeit nichts gleichwertiges. Zwar liegt es in der Natur der Sache, daß sich 
auch in England das bleibend Wertvolle in einer kleinen Anzahl von Leistungen — 
«twa in einem Dutzend — zusammendrängte, aber das waren eben Flutwellen, die 
sich aus einer breiten Strömung erhoben. Eine solche Strömung fehlte auf dem Kon¬ 
tinent, wie schon angedeutet wurde. In Deutschland entspricht den Verheerungen 
der Religionskämpfe ein Tiefstand der ökonomischen Literatur. Vorher finden wir 
im 16. Jahrhundert Ansätze, die uns vermuten lassen, daß ohne jene Kämpfe und ihre 
politischen und sozialen Folgen in Deutschland eine ähnliche Bewegung eingesetzt 
haben würde. Wir finden währungspolitische Diskussionen—unter ihnen die berühmte 
albertinisch-ernestinische Kontroverse von 1530 —, Erörterungen der Geldausfuhr, 
der Frage der Handelsgesellschaften, der Bauemfrage u. a. Das Niveau dieser Dis¬ 
kussionen steht nicht unter dem englischen. Aber sie entwickeln sich nicht weiter 
und erheben sich nicht zu den im normalen Lauf der Dinge zu erwartenden Höhe¬ 
punkten. Das führt dann zu einer Rezeption fremder Errungenschaften, die eine eigene 
•organische Entwicklung vollends hinderte. Die Arbeit des Gelehrten litt allerdings 
weniger, aber der frische Lufthauch aus der ökonomischen Praxis wurde ihr nie zu¬ 
teil: Jede Erkenntnis aber ist das Werk von Jahrhunderten und fehlende Glieder in 
der Kette der Entwicklung sind unersetzlich. Von fremder Hand dargebotene Resul¬ 
tate kann man logisch begreifen, aber Resultaten, die nicht vom eigenen Volk früherer 
Generationen geboren wurden, wird man stets jene gefühlsmäßige Verständnislosig¬ 
keit entgegenbringen, die es zu lebendiger Weiterentwicklung des Empfangenen 
nicht kommen läßt. Hier liegt der Grund, warum die ökonomische Theorie in Deutsch¬ 
land niemals so festen Fuß fassen konnte wie in England, und warum die Grundauf¬ 
fassungen derselben in der Regel nur kühl aufgenommen wurden und instinktiver 
Abneigung begegneten, die jeder Einwendung und jedem Abspringen vom spezifisch¬ 
ökonomischen Thema von vornherein günstigen Boden sicherte. Dafür bot sich 
•etwas andres dar. Für kein Volk konnten der Staat und seine Organe so sehr Gegen¬ 
stand unerschöpflichen Interesses werden wie für das deutsche, im Geistesleben 


x ) Vgl. darüber Kostanecki, Arbeit und Armut 1909. 

Sozialökonomik. I. 


3 



34 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. I 

keines andern Volks konnte er so dominieren. Und zwar ist diese Besonderheit viel 
größer als ein erster Blick vermuten lassen könnte. Der Deutsche dachte nicht nur 
viel mehr an den Staat als jeder andre, sondern er dachte auch beim Worte „Staat“ 
an etwas ganz andres — nämlich an den deutschen Landesfürsten und seine Beam¬ 
ten — und daran wiederum von einem ganz andern Gesichtspunkt als der Eng¬ 
länder oder Franzose. Der entstehende Beamtenstaat erschien ihm nicht nur als 
sein wertvollster nationaler Besitz, sondern schlechthin als der wesentliche Faktor 
der Kulturentwicklung und als Selbstzweck. Wie es die Verhältnisse mit sich brach¬ 
ten, daß in der Praxis so gut wie nichts ohne den Beamtenstaat geschehen konnte, so 
konnte man schließlich auch in der Wissenschaft keinen Gedankengang durchführen, 
ohne dabei in erster Linie den Staat im Auge zu haben J ). Was für England die Oeko*- 
nomie, das wurde für Deutschland in gewissem Sinn die Verwaltungslehre. Trieb 
man in England Oekonomie, so war das Volkswirtschaftslehre, trieb man in Deutsch¬ 
land Oekonomie, so war das — es ist höchst bezeichnend, daß das für lange der Name 
unsrer Disziplin wurde — Staatswirtschaftslehre. Wenn in England innerhalb des 
Kreises von Schriften, von dem wir jetzt sprechen, der Kaufmann für den Kaufmann 
schrieb, so schrieb in Deutschland der Beamte für den Beamten. Das alles gilt na¬ 
türlich nur mit jenen Korrekturen, die stets an einer solchen Skizze, die sich auf we¬ 
nige Striche beschränken muß, anzubringen sind. Ohne darauf weiter einzugehen 
möchte ich hervorheben, daß durch jene Momente, sowohl die Darstellungsart wie 
auch die leitenden Gesichtspunkte dieses Armes der deutschen „Staatswissenschaft“ 
gegeben sind — es entstand die Kameralwissenschaft. 

Die Kameralistik ist eine Verwaltungslehre des mehr oder weniger absolutisti¬ 
schen Territoriums. Das Interesse des Landesfürsten steht allbeherrschend im Vor¬ 
dergrund. Es ist der feste Punkt, um den die im Gesichtskreis der einzelnen Autoren 
liegenden Tatsachen geordnet werden. Deren Untersuchung soll Regeln für die Poli¬ 
tik des Fürsten und das Verhalten der Staatsorgane abgeben. Von allem Anfang an 
wird die Gesamtheit aller Staatsaufgaben ins Auge gefaßt, das einzelne Problem ist 
niemals um seiner selbst willen, sondern stets nur als Teil des Ganzen Gegenstand der 
Behandlung. Das brachte es mit sich, daß eine Systematik des gewaltigen Stoffes 
als erste Aufgabe erschien, und diese Sorge um die Systematik ist bis heute der 
deutschen Wissenschaft geblieben. Ueberhaupt hat die kameralistische Schulung 
und die ganze Grundauffassung des Kameralismus wesentlich zur Formung der deut¬ 
schen Nationalökonomie beigetragen — noch heute ist ihre Eigenart zum großen 
Teil durch die Vorarbeit der Kameralisten zu erklären. Innerhalb des gewonnenen 
Systems wurde nun alles erreichbare Material sorgfältig zusammengetragen, zum Teil 
zu Nutz und Frommen der studierenden künftigen Beamten, zum Teil aber auch als 
Basis von Diskussionen. Diese letztem gehen nicht allzuweit und nicht allzutief. 
Nicht nur die Staatsauffassung und die gegebenen Grundlagen der sozialen und poli¬ 
tischen Organisation, sondern selbst die wesentlichen Maximen der Politik werden ohne 
Kritik, ja meist ohne viel Analyse, als selbstverständlich und unantastbar hingenom¬ 
men. Trotzdem entzog aber schon die bloße Sammlung und Ordnung des vorhande¬ 
nen Materials die „Regierungskunst“ bloßem Empirismus. Sie bildete das intellek¬ 
tuelle Blut der Verwaltungspraxis und reflektierte und generalisierte jeden Fort¬ 
schritt derselben. 


*) Es besteht in Deutschland eine Tendenz, im Vorherrschen des entgegengesetzten Stand¬ 
punkts in England, wie er sich etwa in Dr. Johnson’s Vers ausdrückt 
„How small of all that human hearts endure 
that part, that kings and laws can cause or eure" 
einen Mangel zu sehen. Die historische Rolle desselben darf aber trotzdem ebensowenig ver¬ 
kannt werden, wie die lokale und historische Bedeutung der deutschen Staatsfreudigkeit. 
Es kommt noch hinzu, daß die wissenschaftliche Bedeutung der Bekämpfung der populären 
Anschauung, daß der „Staat“ gleichsam wie eine höhere Macht alles tun und alles ändern 
könne, und die Betonung der sachlichen Bedingtheiten des sozialen Geschehens ganz funda¬ 
mental war. 



I. Die Entwicklung der Sozialökonomik zur Wissenschaft. 


35 


So darf man die Kameralisten nicht als Oekonomen werten. Nicht deshalb, weil 
sie auf diesem Gebiet nichts geleistet hätten, sondern deshalb, weil ihre Hauptleistung 
nicht hier liegt. Die Vorläufer, wie 0 sse („Testament“ 1556), Löhneisen 
(Aulico-politica 1622—1624) und 0 b r e c h t (fünff unterschiedliche Secreta Po- 
Utica von ... guter Policey 1617) ja selbst der größte originelle Vertreter der Kamera¬ 
listik Seckendorff (der teutsche Fürstenstaat 1678) bieten uns die Urteile er¬ 
fahrener, weitblickender Männer über die ökonomischen Fragen der Zeit aber nicht 
nur ohne Versuch zu tieferer Analyse, sondern auch ohne lebhafteres Interesse an den 
ökonomischen Fragen an sich. Immerhin stehen sie kaum unter dem allgemeinen 
Niveau der Zeit, ja der ihnen eigentümliche Standpunkt gibt ihnen sogar eine fühl¬ 
bare Ueberlegenheit über die Vulgär Ökonomie anderer Länder. In einer Ge¬ 
schichte der Finanzwissenschaft müßte mehr besonders über Seckendorff gesagt 
werden, für unsre Zwecke aber kommen seine sonst tief unter ihm stehenden Zeitge¬ 
nossen Becher (Politischer Diseurs von den eigentlichen Ursachen des Auf- und 
Abnehmens der Städt, Länder und Republiken 1668) und H ö r n i g k (Oesterreich 
über alles wann es nur will, publiziert 1684) mehr in Betracht, bei denen wirtschaft¬ 
liche Fragen ausschließlich vorherrschen. Beide gehören nicht zu den eigentlichen 
Kameralisten, aber sie haben mächtig auf die letztem gewirkt. Hömigks Buch ist 
nichts andres als die Darstellung eines handelspolitischen Programms im Sinne der 
Zeit, bei Becher jedoch finden sich in einer Masse wertloser Phrasen auch eigentliche 
ökonomische Analysen oder doch der Versuch dazu. Er sucht sich mit den Fragen der 
Wirkungen verschiedener wirtschaftlicher Organisationsformen — Monopol, freier 
Konkurrenz (Polypol) und durch Privilegien beschränkter Konkurrenz (Propol) — 
auseinanderzusetzen und das Wesen und das Ineinandergreifen der verschiedenen 
wirtschaftlichen Berufsgruppen zu erfassen. Aber nur viel eingehendere Diskussion 
viel speziellerer Fragen hätte zu wirklich wertvollen Resultaten führen können. 
Dazu ließ es die ganze Attitüde dieser Gruppe gegenüber der Wirtschaft nicht kommen. 

Von den übrigen Kameralisten können hier nur J u s t i und Sonnenfels 
genannt werden. Keiner von beiden ist wirklich schöpferisch gewesen und beide 
verdanken fremden Einflüssen auf wirtschaftlichem Gebiet sehr viel. Aber doch kommt 
in ihren Arbeiten ein großer Fortschritt zum Ausdruck. Schon die äußere Stellung 
der ökonomischen Materien ist bei ihnen eine ganz andre als bei den ältern Kamerali¬ 
sten. Unter Justis Händen konstituiert sich definitiv — wenngleich ganz auf der Ba¬ 
sis seiner Vorgänger, so übel er auch mit ihnen verfährt — die Polizeiwissenschaft, 
aus der sich dann unsre deutsche Volkswirtschaftspolitik entwickelt hat (Policey- 
wissenschaft 1. Aufl. 1756). Nach Ziel und Plan ist der Unterschied gegenüber dem 
Wealth of Nations gar nicht so ungeheuer als man glauben sollte. Aber in Klarheit 
und Einsicht trennt beide Werke die Arbeit eines Jahrhunderts. Wertvoll und geist¬ 
reich sind Justis Ausführungen fast nur auf verwaltungstechnischem Gebiet. In 
ökonomischen Dingen fehlt es ihm an aller Schulung und an jeder Beherrschung 
der Auffassungsweisen, die seine Zeit schon zur Verfügung hatte. Dabei denke ich 
nicht an die praktischen Maßregeln, die er empfahl. Im Gegenteil zeigen diese prak¬ 
tischen Urteile fast immer gesunden praktischen Verstand. Aber das ändert nichts 
an der Minderwertigkeit des prinzipiellen Unterbaus seiner Analyse. Nicht das Gleiche 
gilt von Sonnenfels (Grundsätze der Polizey, Handlung und Finanz 1765). 
Er hat einen solchen Unterbau, und namentlich beherrscht er die vorsmithianische 
Oekonomie (Smith selbst zitiert er wohl später, ohne aber Verständnis für die Be¬ 
deutung seines Werks zu verraten). Bis tief ins 19. Jahrhundert hat er weithin ge¬ 
wirkt. Nur war er gar nicht originell. Offenen Sinnes hat er Fremdes assimiliert 
und darin mit richtigem Blick das Lebensfähige erkannt, dasselbe auch glücklich 
für deutsche Bedürfnisse adaptiert. Aber er hat nichts geschaffen. 

Es ist merkwürdig, wie arm die vorphysiokratische Literatur Frankreichs ist. 
Fast will es scheinen, wie wenn der Staat, der auch dort die Entwicklungsmöglich¬ 
keiten volkswirtschaftlicher Diskussionen beschränkte, indem er ihnen ihr praktisches 

3* 



36 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. I 

Ziel nahm, nicht den Willen gehabt hätte, seine Sache nun so gut wie möglich zu ma¬ 
chen und sich zu diesem Zwecke einen Stab von Lehrern heranzuziehen, wie es na¬ 
mentlich Preußen tat. Auf andern Gebieten wurde lebhaft genug diskutiert, aber die 
Kreise, die die Träger geistigen Lebens waren, hatten offenbar kein oder nur ein ober¬ 
flächliches Interesse an den Fragen der Volkswirtschaft. Der nicht besonders ge¬ 
dankenreiche Boisguillebert — man könnte ihn mit Petty vergleichen — 
steht ganz allein. Seine „Dissertation sur la nature des richesses“ (in den letzten 
Jahren des 17. Jahrhunderts oder in den ersten des 18. erschienen; viel wichtiger als 
sein stets zitiertes Detail de France, zuerst 1695 und sein Factum de France 1707) 
u. a. kleinere Arbeiten sind vernünftige Kritiken mancher schiefer Zeitanschauungen, 
die er allerdings in der für sie denkbar ungünstigsten Interpretation darstellt. Aber 
einen Vorläufer der Physiokraten aus ihm zu machen, ist absurd. Denn nichts, was 
die wissenschaftliche Eigenart der Physiokraten ausmacht, findet sich 
bei ihm. M e 1 o n (Essai politique sur le commerce 1734) und D u t o t (R6fl6xions 
politiques sur les finances et sur le commerce) kann man noch als volkswirtschaft¬ 
liche Schriftsteller anführen. Aber V a u b a n, St. P i e r r e f F 6 n 6 1 o n u. a. kön¬ 
nen beim besten Willen weder als wissenschaftliche Oekonomen, noch als Vorläufer 
von solchen betrachtet werden. Klar und geistvoll diskutierten sie soziale und po¬ 
litische Fragen. Das taten damals viele Leute und daß man dabei auch der Volks¬ 
wirtschaft nicht vergaß, beweist schon das Vorhandensein von Lexiken (z. B. das 
Dictionnaire du commerce der Brüder Savary). Aber in der Analyse kam man nicht 
weiter. 

In Italien gab es zunächst eine dem deutschen Kameralismus ganz parallele 
Literatur, die auch auf die deutsche wirkte. Wir finden sehr wenig ökonomische 
Gedankengänge etwa in C a r a f a: De regis et boni principis officio oder im 16. 
Jahrhundert in den Schriften von Palmieri, Botero oder Macchiaveil i. 
Diese Richtung pflanzte sich bis in das 19. Jahrhundert fort, kommt aber in einer 
Darstellung der Entwicklung der ökonomischen Erkenntnis nicht weiter in Betracht. 
Sodann finden wir ähnliche Zeit- und Streitfragen wie in England und Deutschland 
— außerdem noch die damals sonst nirgends praktische Frage agrarischer Schutz¬ 
zölle —, die zum Anlaß ökonomischer Untersuchungen werden. Zu Leistungen von 
wissenschaftlichem Rang haben sie sich an zwei Stellen erhoben und hier wurde in 
Italien vielleicht das Beste geleistet, was jene Zeit in diesen Fragen aufzuweisen hat. 
Zunächst auf dem Gebiet der Währungsfragen. Eine ganze Reihe von Autoren wären 
hier zu nennen. Ich beschränke mich auf Leistungen rein wissenschaftlichen Charak¬ 
ters und ersten Ranges. Das 16. Jahrhundert brachte die Arbeiten von Sca- 
ruffi (1579) und Davanzati (1588), das 17. die Arbeit von Montanari 
(1680 und 1683) und das 18. die von G a 1 i a n i. Davanzatis Vortrag ist ein unver¬ 
gängliches Meisterwerk klarer, sicher eindringender, alle Einzelerscheinungen eines 
Gebiets mit einem Erklärungsprinzip durchleuchtender Analyse. Er führt eine „me- 
tallistische“ Geldtheorie auf Grund einer allgemeinen Gebrauchswerttheorie vor und 
könnte noch heute gehalten werden. Und Galianis Werk (1750) liest sich ebenfalls 
zum Teile wie ein modernes Handbuch. Die Hauptsache liegt hier geleistet vor und 
erst in neuester Zeit ist die Geldtheorie wesentlich über diese Arbeiten hinaus¬ 
gekommen. Namentlich das Zurückgehen bis auf die Elemente des Wirtschaftens, 
um dann die gewonnenen Sätze auf das Geld anzuwenden, und das Eingliedern der 
Geldtheorie in eine allgemeine Wirtschaftstheorie hebt diese Arbeiten hoch selbst 
über viele Leistungen des 19. Jahrhunderts empor. Zweitens hat die Handelspolitik 
der Zeit in Italien sehr vollkommene literarische Blüten getrieben, wenn sich auch die 
Errungenschaften auf diesem Gebiet nicht mit den eben erwähnten messen können. 
Wie in England so hat auch in Italien die populäre Forderung nach staatlicher Beein¬ 
flussung der Wechselkurse den Anstoß gegeben. Gezeigt zu haben, daß die Wechsel¬ 
kurse im Wesen nur Reflex der Zahlungsbilanz sind und daran tiefergehende Er¬ 
örterungen über die Bestimmungsgründe der letztem und die Möglichkeit ihrer Be- 



I. Die Entwicklung der Sozialökonomik zur Wissenschaft. 


37 


einflussung geknüpft zu haben ist das Verdienst Antonio Serras (Breve 
trattato delle cause, che possono far abbondare li regni d’oro et d’argento, dove non 
sono miniere 1613). Er ist Mun sehr erheblich überlegen, schon durch seine ganze, 
echt wissenschaftliche Art, die Sache anzupacken. Freilich war seine Fragestellung 
— wie in einem Lande ohne Minen Ueberfluß an Gold und Silber herbeigeführt wer¬ 
den könne — überaus primitiv. Aber niemand kann dafür getadelt werden, daß er 
die Fragen seiner Zeit übernimmt, so wie sie ihm dargeboten werden. Die Lösung 
steht hoch über der Fragestellung. Er machte Schule. Unter seinen Nachfolgern 
seien B e 11 o n i (1750) und namentlich G e n o v e s i (1765) genannt. Der letztere 
ist ein sehr selbständiger Geist. Man nennt ihn meist als einen Vorläufer der subjek¬ 
tiven Werttheorie, aber seine Hauptbedeutung liegt in dem Versuch zu einer syste¬ 
matischen Theorie des Wirtschaftslebens. 

Die erwähnten Autoren haben viele Grundzüge gemein. Sie und viele andre, 
die ich hier nicht nennen kann, bilden in gewissem Sinn eine Gruppe. Abseits von 
derselben — und abseits auch von den Arbeiten des venezianischen Kreises (Zanon, 
Arduino, Canciani), dem er durch Geburt angehörte— steht G. 0 r t e s (Hauptwerk: 
Economia nazionale 1774). Ein großzügiger Anlauf zu einer Synthese, gehört dieses 
Werk, das im übrigen vielfach an Sir J. Steuart erinnert *), mit zu den vielen, deren 
Autoren dem Ruhme eines „Begründers“ unserer Wissenschaft nahestehen. Der 
Tag unserer Wissenschaft war da, alle Elemente zu ihrer Konstituierung waren 
gegeben und es handelte sich nur darum, glücklich und kräftig zu formulieren, was in 
der Luft lag. Das fühlten und das versuchten viele und nichts wäre instruktiver als 
eine Uebersicht über diese Versuche und über die Gründe ihres Mißerfolgs. Doch kann 
darauf nicht eingegangen werden. Es sei nur hervorgehoben, daß Ortes gleichsam 
zu einer ökonomischen Soziologie zu gelangen sucht und daß sich viele Waffen 
aus der Rüstkammer der späteren Oekonomik (Gesetz vom abnehmenden Ertrag, 
das Malthusianische Bevölkerungsgesetz u. a.) bei ihm finden 2 ). — Nicht unwürdig 
steht also die italienische Oekonomik dieser Zeit neben der englischen. Doch gegen 
Ende des 18. Jahrhunderts tritt eine Erschlaffung ein und für lange segelt die ita¬ 
lienische Wissenschaft unter fremden Einflüssen. 

Ich habe es bisher vermieden, auch nur das Wort „Merkantilismus“ auszu¬ 
sprechen. In der Tat gehört es nicht in eine Geschichte der Wissenschaft. Gewiß 
zeigen uns fast alle angeführten Schriften den Reflex um Geltung oder Vorherrschaft 
ringender Volkswirtschaften. Den Schriftstellern, wie den Politikern jener Zeit 
erschien es allerdings als ganz selbstverständlich, daß die nationale Handelspolitik 
nationalen Zielen zu dienen habe: das diskutierten sie gar nicht, das diskutierten 
nur die erst spärlichen, dann zahlreichen und endlich herrschenden Gegner. Aber der 
Merkantilismus war weder eine wissenschaftliche „Schule“ — „Schulen“ gab es 
damals überhaupt nicht in unserm Sinn und man entstellt das ganze Bild, wenn man 
diese Folgeerscheinung der schon konstituierten Fachwissenschaft in jener Zeit sucht; 
nur kleine Gruppen von losem Zusammenhang gab es — noch eine wissenschaftliche 
Theorie. Seiner großen Bedeutung als Mittel zur Schaffung nationaler Wirtschafts¬ 
gebiete entspricht keineswegs eine ähnliche Bedeutung für die sozialwissenschaft¬ 
liche Analyse. Uns kann nur eine Frage interessieren: Welcher Wert für den Fort- 


*) Die Parallelismen zwischen beiden^Autoren in der ganzen Anlage ihrer Werke und in 
vielen Einzelheiten sind unverkennbar und überaus interessant. Nichts liegt mir ferner, als 
nach Plagiaten zu forschen, aber die Tatsache des Parallelismus selbst ist, wenn keinerlei äu¬ 
ßere Beziehungen Vorlagen, sehr merkwürdig und lehrreich. Daß Ortes, der sich auch in Eng¬ 
land aufgehalten hat, zum Teil unter englischem Einfluß steht, kann keinem Zweifel unter¬ 
liegen. Aber das beweist natürlich gar nichts als daß die gleichen Ursachen unter gleichen 
Umständen die gleichen Folgen haben. 

*) In seinen „Riflessioni sulla popolazione“. 1790. Vgl. auch Lampertico, O. 
Ortes 1865. L o r i a, La modemitä di G. Ortes Atti dell* istituto Veneto 1900—01, Bd. 60; 
A r i a s: La teorica di disoccupazino di G. Ortes, Giomale degli Econ. 1908. Von einer be- 
sondem Methode, die manche bei Ortes finden wollen, kann nicht die Rede sein. 



38 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. I 

schritt der Wissenschaft kommt jenen Arbeiten zu, deren Anlaß dieses wirtschafts¬ 
politische „System“ war? Es ist nun heute schon zum Gemeinplatz geworden, 
daß die Kritik der unmittelbaren Folgezeit ungerecht war. Allerdings kommt für uns 
das Argument, daß die praktischen Vorschläge der merkantilistischen Schrift¬ 
steller durch die Zeitumstände gerechtfertigt waren, nicht in Betracht. Und für ihre 
wissenschaftlichen Versuche gilt es nicht ohne weiteres. Doch gibt es andre Gesichts¬ 
punkte, die uns die merkantilistischen Schriftsteller in günstigerm Licht erscheinen 
lassen. Vor allem wurden sie durchaus mißverständlich interpretiert. Die ihnen 
unzähligemale vorgeworfene Identifizierung von Reichtum mit Besitz von Gold und 
Silber verliert ihre Bedenklichkeit, wenn man in jenen Stellen l ), die zur Begründung 
des Vorwurfs herangezogen werden können, „Index des Reichtums“ statt „Reichtum“ 
setzt, was um so eher möglich ist, als es ihnen doch nicht eingefallen sein kann, im 
Erwerb von Edelmetallen den letzten Zweck des Wirtschaftens zu sehen und als 
tatsächlich jene Identifizierung nur eine Definition darstellt, die an sich gar nichts 
bedeutet. Es kommt noch hinzu, daß das Geldwesen in jener Zeit tatsächlich so viel 
Anlaß zum Nachdenken bot, daß man in seiner Untersuchung recht wohl die vor¬ 
nehmsten Aufgabe der Wissenschaft in dieser Zeit sehen konnte. Ferner aber muß 
man zur Beurteilung dieses ganzen Teils unsrer Literatur und besonders seiner spe¬ 
ziell „merkantilistischen“ Spitzen eben das Bewußtsein mitbringen, daß sie die Ersten 
im Felde waren. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint vieles als Verdienst, was 
ihnen als Verschulden ausgelegt wurde. So namentlich ihre Lehre von der Handels¬ 
bilanz: Ehe man erörtert, ob sie deren Bedeutung überschätzten oder nicht, muß 
man doch anerkennen, daß in deren Entdeckung und Definierung eine große Leistung 
lag — in der Tat war das der erste Schritt zur Analyse der Volkswirtschaft. Uebri- 
gens ist es durchaus unrichtig, daß sich spätere Schutzzöllner so sehr zu ihrem Vorteil 
von den Merkantilisten unterschieden. Weitaus die meisten, um nicht zu sagen alle 
Argumente der spätem Zeit finden sich, was hier allerdings nicht hervortreten konnte, 
bei ihnen, und nur die Kenntnis der Einwendungen und überhaupt die bessere Schu¬ 
lung an der inzwischen erwachsenen Wissenschaft, unterscheidet die meisten Spä¬ 
tem von diesen ihren Vorgängern, die sie allerdings fast stets verleugneten. Damit in 
Zusammenhang steht eine andre Leistung: Die klare Definition des National- zum 
Unterschied vom Privatinteresse und die Erkenntnis der Möglichkeit von Kollisio¬ 
nen. Zweifellos überschätzten die Merkantilisten diese Möglichkeit. Aber wie immer 
man darüber denken mag, sicher war selbst der wirkliche oder vermeintliche Nach¬ 
weis von der Harmonie aller Sozial- und Privatinteressen nur auf dem Boden der ana¬ 
lytischen Vorarbeit der „Merkantilisten“ möglich. Das Wesen des volkswirtschaft¬ 
lichen Kreislaufs erkannten sie nicht. Noch weniger hatten sie eine korrekte Vor¬ 
stellung vom Ineinandergreifen der Sphären der Einzelwirtschaften innerhalb der 
Volkswirtschaft. Aber das Phänomen der Volkswirtschaft selbst wurde gleichsam 
von ihnen entdeckt und als ein selbständiges reales Etwas empfunden. 


x ) Diese Stellen sind außerdem seltener als die ersten Kritiker des Merkantilismus ver¬ 
muten ließen. Als man das entdeckte, wurde es zunächst nötig Merkantilisten strengster 
Observanz und weniger hartgesottene Sünder unter ihnen zu unterscheiden. Dabei wurde 
die Gruppe der erstem immer weniger zahlreich, je näher man zusah, und seit lange hat eine 
Reaktion zugunsten der ganzen Richtung eingesetzt. 



II. Die Entdeckung des wirtschaftlichen Kreislaufs. 


39 


II. Die Entdeckung des wirtschaftlichen Kreislaufs. 

(Die Physiokraten*). [Ueber A. Smith.]) 

1. Wir sahen, daß unsre Wissenschaft, ganz so wie alle andern, aus Einzel¬ 
untersuchungen auffallender, auch dem Laien als Probleme erscheinender Dinge 
entstand. Solang man sich auf solche Untersuchungen von Spezialfragen beschränkte 
und das Zentralphänomen der Volkswirtschaft selbst ganz oder so gut wie ganz im 
Dunkel instinktiver praktischer Kenntnis stehen ließ, konnte die wissenschaftliche 
Analyse niemals ganze Arbeit tun — sich gleichsam niemals ausleben. Es konnte 
kein einheitlicher Grundstock an prinzipiellem Wissen und im Grunde auch kaum ein 
Stab von fachlichen Arbeitern entstehen. Aus jeder Tatsachengruppe mußte—gleich¬ 
sam in einem homerischen Einzelkampf mit ihr — ein spezielles Erklärungsmoment 
gewonnen werden und die großen generellen Zusammenhänge, deren Erfassung auch 
praktisch zur Aufdeckung feinerer Wirkungen und Gegenwirkungen der Vorgänge 
untereinander essentiell ist und die dasjenige sind, was die Wissenschaft der Er¬ 
kenntnis eines klardenkenden und wohlinformierten Praktikers hauptsächlich hin¬ 
zuzufügen hat, konnten höchstens gefühlt werden. Eine Tendenz, diese generellen 
Zusammenhänge ans Licht zu ziehen, ihre Untersuchung zur Hauptsache und die 
dabei erzielten Resultate sozusagen zu einem Hauptquartier der Wissenschaft zu 
machen, haben wir bei allen den besten Geistern auf unserm Feld konstatiert. Aber 
die große Bresche, durch die aller weitere Fortschritt in analytischer Beziehung 
ging, brachen die Physiokraten oder „Oekonomisten“ und zwar durch die Entdeckung 
und gedankliche Nachbildung des wirtschaftlichen Kreislaufs. Nicht als ob die Tat¬ 
sache desselben in ihrer populären Bedeutung — der periodischen Ernte und des 
periodischen Anbaus etwa — jemals unbekannt gewesen sein könnte. Aber es handelt 
sich um den ökonomischen Sinn und die ökonomische Organisation des Vorgangs: 
Es war festzustellen, wie jede Wirtschaftsperiode zur Grundlage der nächsten wird, 
nicht etwa nur technisch, sondern in dem Sinn, daß sie gerade solche Resultate zei¬ 
tigt, die die Wirtschaftssubjekte veranlassen und in den Stand setzen, in der nächsten 
Wirtschaftsperiode denselben Prozeß in der gleichen Form zu wiederholen — wie die 
ökonomische Produktion als sozialer Vorgang zustande kommt, wie sie die Konsum¬ 
tion eines jeden und diese wiederum die weitere Produktion bestimmt, wie jeder Pro¬ 
duktions- und Konsumtionsakt in alle andern Produktions- und Konsumtionsakte 
eingreift und wie gleichsam jedes Element wirtschaftlicher Energie unter dem Ein¬ 
fluß bestimmter Triebkräfte jahraus jahrein einen bestimmten Weg zurücklegt. 
Aus einer solchen Analyse erst konnte sich die weitere Erkenntnis vom ökonomischen 
Lebensprozeß der Gesellschaft entwickeln und konnten sich alle die generellen Fak¬ 
toren und ihre Funktionen und so auch alle die Momente, welche bei jeder wirtschaft¬ 
lichen Einzelfrage, soweit sie reinwirtschaftlich ist, zu berücksichtigen sind, über¬ 
blicken lassen. Solang man in den Wirtschaftsperioden nur eine technische Erschei- 


*) Außer der allgemeinen dogmengeschichtlichen Literatur, in der das physiokratische 
System stets behandelt wird (besonders bei O n c k e n und Denis) seien genannt: Onk- 
ken, Art. Quesnay in H. d. St. L e x i s , Art. Physiokraten ebenda. O n c k e n , Die 
Maxime laissez faire, laissez passer 1888. Ders., Entstehen und Werden der physiokratischen 
Theorie, Frank. Vierteljahrsschrift 1896—97. Güntzberg, Gesellschafts- und Staats¬ 
lehre der Physiokraten 1907. Higgs, The Physiocrats 1897. H asb ach. Die allge¬ 
meinen philosophischen Grundlagen der von F. Quesnay und A. Smith begründeten Volks¬ 
wirtschaftslehre 1870. Schelle, Dupont de Nemours et Päcole physiocratique 1888. L a- 
v e r g n e , Les äconomistes du XV Ille sifccle. Weulersse, Le mouvement physiocrati¬ 
que 1910. St. Bauer, Zur Entstehung der Physiokratie, Conrads Jahrb. 1890. Selig- 
man, some neglected British Economists, Econ. Journal XIII, Picard: Etüde sur quel¬ 
ques thäories du salaire au XVIIIe sifccle, Revue d’hist. des doctrines 6con. 1910. Pervin- 
q u i £ r e, Contribution ä l’gtude de la productivitg dans la physiocratie, Doct.-Diss. L a- 
b r i o I a , Doctrine economiche di F. Quesnay 1897. — Zur Ausgabe Guillaumin der phy¬ 
siokratischen Werke tritt gegenwärtig die Ausgabe Geuthner. 



40 I* Buch A II: J. Schumpeter,!;Dogmen- und Methodengeschichte. 11 

nung sah und nicht die Tatsache ihres ökonomischen Kreislaufs erkannt hatte, fehlte 
der Leitungsdraht ökonomischer Kausalität, der Einblick in die innem Notwendig¬ 
keiten und das generelle Wesen der Wirtschaft. Man konnte in den einzelnen Tausch¬ 
akten, im Geldphänomen, in der Schutzzollfrage ökonomische Probleme erblicken, 
man konnte aber das ökonomische Problem, den Gesamtvorgang, der sich in der Wirt¬ 
schaftsperiode abspielt, nicht mit Klarheit sehen. Vor den Physiokraten hatte man 
gleichsam nur lokale Erscheinungen am Körper der Volkswirtschaft wahrgenommen, 
sie erst ließen uns diesen Körper physiologisch und anatomisch als einen Organismus 
mit einem einheitlichen Lebensprozeß und Lebensbedingungen begreifen und gaben 
uns eine erste Analyse dieses Lebensprozesses. Darüber gab es vor ihnen nur Allge¬ 
meinheiten, sie taten zuerst einen Bück in das Innere des sozialen Güterstroms und 
den Vorgang seiner steten Selbstemeuerung. 

Es ist kein bloßer Zufall, daß sie zugleich die erste eigentliche ökonomische 
„Schule“ bilden, denn nur eine Gesamtauffassung kann den Boden dazu abgeben. 
Selten kann der Dogmenhistoriker mit solcher Sicherheit sagen, wer der Schöpfer 
war, wie hier. Alle wesentlichen Gedanken und zugleich die Führerkraft vereinigten 
sich in Francois Quesnay. Und diese Gedanken hat er in höherm Maß aus 
sich selbst geschöpft als irgendein andrer Nationalökonom. Er war einer der größten 
und originellsten Denker auf unserm Felde. Die sich ihm anschlossen, waren oder wur¬ 
den seine Schüler und ordneten sich ihm in einer Weise unter, für die ich auf wissen¬ 
schaftlichem Gebiet kein andres Beispiel weiß. Nur die wichtigsten Namen und Werke 
seien genannt: Quesnay selbst (1694—1774) hat vor allem persönlich gewirkt. Von 
seinen zerstreuten Publikationen (ed. Oncken 1888) seien nur sein Droit naturel 
(1765) genannt, das seine Soziologie enthält und sein tableau economique (1758), 
das eine schematische Darstellung seines Grundgedankens ist. Nirgends fühlt man 
sich in der ökonomischen Literatur schöpferischem Genius so nahe, als wenn man, 
nachdem man sich den Stand der Dinge auf unserm Gebiet um 1750 scharf vergegen¬ 
wärtigt hat, auf diese eine Seite blickt, die, wie Mme de Pompadour richtig vorher¬ 
sah, den meisten Kritikern bestenfalls als harmloses Spielzeug erschien. Der Rat¬ 
losigkeit, mit der man dem tableau gegenüberstand, suchte der Eifer der Jünger 
zu steuern. Vor allem kommt LeTrosne in Betracht (De l’ordre social 1777), 
dann B a u d e a u (Premiere introduction ä la philosophie Economique 1771), an 
dritter Stelle Lemercier de la RiviEre (Tordre naturel et essentiel des 
sociEtEs politiques 1767), endlich D u p o n t „de Nemours“ (Physiocratie ou Consti¬ 
tution naturelle du gouvernement le plus avantageux au genre humain 1767). Der 
ältere M i r a b e a u, der nach Quesnays Tode als Haupt der kleinen Schar galt, 
hatte sich schon ohne Quesnays — aber wohl nicht ohne Cantillons — Hilfe einen 
festumschriebenen Gedankenkreis geschaffen (l’ami des hommes 1. Teil 1757) und 
geriet erst später in Abhängigkeit von ihm (Fortsetzungen des ami des hommes; 
Philosophie rurale ou Economie gEnErale et politique de l’agriculture 1763), darum 
auch nie so vollständig, wie die andern. T u r g o t (REflexions sur la formation et la 
distribution des richesses, publ. 1769; sur les prEts d’argent 1769; Valeurs et monnaies; 
lettres sur la libertE du commerce des grains 1770 u. a.) steht dem Kreise sehr nahe, 
ohne ihm eigentlich anzugehören. Wirkliches Verständnis und vollwertige Gegner 
fanden die Physiokraten nicht. Die Kontroverse mit Forbonnais 1 ) war unfrucht¬ 
bar und so oberflächlich wie der Spott Voltaires im „homme aux quarante 
Ecus“. G a 1 i a n i, der uns schon begegnete, ging in seinen Dialogen (1770) nicht in 
das Wesen der Sache ein, wie überhaupt die Kontroverse über die Getreidezölle, 
deren temporäre Aufhebung in Frankreich viel diskutiert wurde, nicht viel wissen¬ 
schaftliche Früchte trug. C o n d i 11 a c (le commerce et le gouvernement 1776) 
verdient nicht wegen seiner Kritik der Physiokraten, sondern wegen seiner positiven 


*) Vgl. darüber Oncken in seiner „Geschichte“. Forbonnais* Hauptwerk ist: 
Principes Economiques 1767. 



II. Die Entdeckung des wirtschaftlichen Kreislaufs. 


41 


Leistungen genannt zu werden. M a b 1 y (Doutes proposes aux philosophes economi- 
ques 1768; im Wesen eine Kritik Lemerciers) ist nicht als Oekonom zu werten und 
nur als Mann praktischer Fragen kommt Morelletin Betracht 1 ). 

Sowenig wie ihre Gegner, sind die meisten Freunde der Physiokraten in den 
Sinn ihrer Lehre eingedrungen. Unter den Deutschen stehen der Markgraf 
Carl Friedrich von Baden-Durlach (Abr6g6 des Principes de l*6co- 
nomie politique 1786) und Mauvillon (Physiokratische Briefe an Prof. Dohm 
1780) obenan, andre, wie Schlettwein, Schmalz (f 1831), Krug (f 1843) 
und der Schweizer I s e 1 i n halten sich nur an Aeußerlichkeiten. Aehnlich stand es 
in Italien, wo Neri, Beccaria, Filangieri, Verriu. a. den einen oder 
andren Satz, der ihnen eben gefiel, sich zu eigen machten. Auch in England haben 
wir eine kleine Zahl physiokratischer Schriften. Wichtiger als diese ist aber der Ein¬ 
fluß der Physiokraten auf A. Smith und auf eine Reihe späterer Autoren, darunter 
K. Marx. An sofortiger und weiter Wirksamkeit hinderte die Physiokraten gerade 
die Originalität ihres Systems. Ihre feste Ueberzeugung konnte Achtung und Elogen 
ertrotzen, aber bei näherm Zusehen bedeutet der große Augenblickserfolg in der Pa¬ 
riser Gesellschaft nicht viel. Von neuen theoretischen Gedanken wird zuerst immer 
nur ein Oberflächensinn absorbiert, der meist mit der wahren Bedeutung nichts 
zu tun hat. Viele Leser erblickten naiv einfach eine Verherrlichung der Landwirt¬ 
schaft in der Sache und alle jene, denen das zusagte, erklärten sich für Anhänger 
des Systems. Auf die äußern Schicksale der Physiokraten und ihrer Schriften kann 
hier nicht eingegangen werden. 

2. Die physiokratische Lehre ist, wie früher schon gesagt, ein Glied der großen 
Familie der Naturrechtssysteme und im Prinzip ebenso aufzufassen wie diese über¬ 
haupt. Sie wollte keine bloße Oekonomie sein, sondern eine allgemeine, allerdings 
aus ökonomischen Bausteinen bestehende und das ökonomische Moment in den Vorder¬ 
grund stellende, Soziologie. Doch wollen wir uns auf die eigentliche Wirtschaftslehre 
der Physiokraten beschränken. Diese nun ist offenbar eine analytische Leistung: 
Wesentlich auf Grund der allgemein bekannten Erfahrungstatsachen suchten die 
Physiokraten das generelle Wesen des Wirtschaftsprozesses gedanklich zu erfassen 
ohne es für notwendig zu halten, eine systematische Sammlung individueller Tatsachen 
vorzunehmen. Denis hat ihr Verfahren „induktiv“ genannt. Jedenfalls war es „theo¬ 
retisch“ in ganz demselben Sinn wie etwa das Ricardos. Das ist ganz klar. Aber es 
kam bei den Physiokraten wie bei allen Naturrechtslehrern noch die Vorstellung hinzu, 
daß dem ökonomischen Wesen der Sache zugleich eine ganz bestimmte konkrete 
Ordnung der Wirtschaft und ein bestimmtes Verhalten in praktischen Fragen wirt¬ 
schaftlicher Politik entspreche. Diese ihnen vorschwebende Ordnung, die ein- für 
allemal als ideal zu betrachten sei und für die sie jede mögliche, unter andern auch 
eine göttliche, Sanktion ins Feld zu führen suchten, ist ihr ordre naturel. Und das 
gibt dem ganzen System einen unwissenschaftlichen finalistischen Zug. Würden die 
Physiokraten metaphysische Sätze oder irgendwelche praktischen Postulate inner¬ 
halb ihres analytischen Gedankengangs verwenden und Resultate darauf stützen, 
so verlöre dadurch ihre Lehre ihren wissenschaftlichen Charakter. Aber so steht die 
Sache nicht. Der Kern ihres Gedankengangs ist völlig frei von solchen Elementen, 
wie man sich leicht überzeugen kann, wenn man das entscheidende Kriterium an¬ 
wendet, nämlich die betreffenden Aeußerungen wegläßt und die finalistische Fassung 
andrer durch eine kausale ersetzt. So kann man bei ihnen die wissenschaftliche Tat¬ 
sachenanalyse und die Mitteilung ihrer Ansicht, daß das Resultat dieser Analyse 
gleichzeitig die bestmögliche konkrete Ordnung der Dinge und den göttlichen Plan 2 ) 


*) Kein Physiokrat, aber ein tüchtiger Schüler von ihnen, war der Schweizer Herren- 
schwand : (De PSconomie politique moderne 1786. De P6conomie politique et morale de 
l’espfece humaine 1786; du vrai principe actif de l’äconomie politique 1797); vgl. über ihn A. 
J ö h r, Herrenschwand 1901. 

a ) Gide hat dann, wie auch Denis, vom theologischen Charakter des physiokratischen 



42 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. II 

erkennen lasse, trennen, und wenn man das einmal eingesehen und erkannt hat, daß 
ihre Sätze sich ohne weiteres aus der Erforschung der wirtschaftlichen Grundtat¬ 
sachen ergeben, dann hat es keinen Sinn mehr nach theologischen oder philosophi¬ 
schen Bestimmungsgründen derselben zu suchen. In dem Moment, wo Quesnay 
z. B. bei der Untersuchung des Wesens des Kapitals uns zuruft: „Parcourez les 
fermes et ateliers, et voyez . . usw. (Dialogue sur le commerce, ed. Daire 1846, 
Bd. I, p. 172), vindiziert er den wissenschaftlichen Charakter seiner Ausführungen. 
Ob er dann Deist war oder nicht, ob Freihändler oder nicht, ob bureaukratischer 
Absolutismus oder Selbstverwaltung ihm mehr zusagte — das war für ihn sehr wich¬ 
tig, so wichtig, daß Turgot sagen konnte, er sei nicht Physiokrat, weil er „lieber 
keinen König möchte“, es ist ferner für die Geschichte der Zeitanschauungen ge¬ 
radezu die Hauptsache, aber es ist für unsern Zweck irrelevant und berührt Ques- 
nays wissenschaftliche Bedeutung weder in günstigem, noch in ungünstigem Sinn. 
Trotzdem bleibt es sein Verdienst, die Tatsachenanalyse zum Kernpunkt gemacht 
zu haben, während seine Zeitgenossen z. B. noch Steuart, vor allem daran dachten, 
dem Staatsmann Ratschläge zu erteilen. 

Wenn also die Physiokraten auch nicht — wie es im wesentlichen schon die 
Klassiker taten — in ihrer Lehre bloß eine gedankliche Nachbildung wirklicher 
Vorgänge sahen, die gewisse Grundformen derselben frei von andern Elementen 
und mit begrifflicher Schärfe zum Ausdruck bringe, sondern außerdem noch ein Ideal¬ 
bild in praktischem Sinn — wobei nicht vergessen werden darf, daß dieses Zusammen¬ 
werfen verschiedener Dinge in den Anfängen wissenschaftlichen Strebens viel näher 
liegt als später und um so mehr, als der Gedanke der sozialen Entwicklung ihnen fehlte, 
so daß das theoretische Bild der Wirklichkeit als unveränderlich angesehen wurde, 
mithin viel leichter, als wenn man sich der Veränderlichkeit der sozialen Dinge be¬ 
wußt gewesen wäre, zu einem absoluten Ideal und Element eines göttlichen Welt¬ 
plans werden konnte — so waren sie sich in praxi des analytischen Weges wohl be¬ 
wußt. Sie schufen, wie man das ausdrücken kann, eine Naturlehre der Wirtschaft, 
eine Lehre von der ökonomischen „Natur der Sache“, den sachlichen Bedingtheiten 
des Wirtschaftslebens. Aber in keinem andern Sinn kann von einer Naturlehre der 
Physiokraten gesprochen werden, namentlich nicht in dem Sinn, daß sie, die Eigen¬ 
art des sozialen Gebiets verkennend, den dilettantischen Versuch gemacht hätten, 
ihm naturwissenschaftliche Auffassungsweisen und eine falsche Exaktizität aufzu¬ 
nötigen. Ihre Theorie ist lediglich ein Versuch, jenen Vorrat an allgemeiner wirt¬ 
schaftlicher Erkenntnis, den jeder Praktiker ansammelt und zur Grundlage seines 
Verhaltens macht, systematisch durchzudenken und zu einem einheitlichen, wider¬ 
spruchslosen Ganzen zu verschmelzen. Ein Hinweis auf Aeußerlichkeiten oder auf 
die Tatsache, daß man wissenschaftliche Schulung, wenigstens damals, nur auf natur¬ 
wissenschaftlichem Gebiet erwerben konnte, spricht nicht für das Gegenteil. Um 
einen illegitimen naturwissenschaftlichen Einfluß nachzuweisen, müßte im einzelnen 
Fall, beim einzelnen Theorem gezeigt werden, daß es sich nicht aus den dafür ange¬ 
führten oder anzuführenden Argumenten ökonomischer Natur erklärt, sondern sein 
Entstehen dem Wunsche verdankt, einen künstlichen Parallelismus zwischen Natur- 
und Geisteswissenschaft herzustellen. Niemand hat einen solchen Nachweis versucht, 
ich selbst weiß keinen zu führen. Allerdings haben die Physiokraten die im 17. Jahr¬ 
hundert üblich gewordene Gewohnheit fortgesetzt, von „Naturgesetzen“ der Wirt¬ 
schaft und des Soziallebens überhaupt zu sprechen. Um die Tragweite dieser Gewohn¬ 
heit zu verstehen, ist es wesentlich, zwei Dinge zu scheiden: Das, was sie selbst bewu߬ 
terweise damit meinten, und das, was wir nach anderthalb Jahrhunderten in diesen 


Systems gesprochen und ihn zu einem Erklärungsmoment für ihre Theorie gemacht — ein 
Beispiel für die Tendenz so vieler Nationalökonomen, sich an Aeußerlichkeiten zu klammern 
und für die Vorliebe für die „Philosophie“ der Nationalökonomie. Noch schärfer tritt das 
bei H asb ach hervor: Diese Vermischung zweier ganz verschiedener Betrachtungsweisen 
macht es unmöglich, dem wissenschaftlichen Gehalt eines Systems gerecht zu werden. 



II. Die Entdeckung des wirtschaftlichen Kreislaufs. 


43 


Gesetzen entsprechend ihrem konkreten Inhalt zu sehen haben. In erster Beziehung 
ist nicht zu erwarten, daß sie in dieser noch heute kontroversen Frage einen Standpunkt 
eingenommen hätten, der für uns diskutabel wäre. Zunächst steht ihr Gesetzes¬ 
begriff unter dem Einfluß ihres Finalismus. Ausgehend vom Glauben, daß sich dem 
forschenden Geist in der Tatsachenanalyse der Wille der Vorsehung offenbaren müsse, 
erblicken sie im Gesetz nicht bloß die Regel der Dinge, sondern auch etwas außer¬ 
halb der Dinge Stehendes, dem sich der Mensch unterordnen müsse, aus dem ein 
Gebot des Handelns und ein System von Pflichten fließe. Und außerdem verraten 
sie keinerlei Gefühl für die Unterschiede zwischen sozialen und naturwissenschaft¬ 
lichen Naturgesetzen *), vielmehr erschienen ihnen die letztem — wie auch etwa 
Newton — unter ganz dem gleichen Gesichtspunkt. In der zweiten Beziehung aber 
werden wir einsehen, daß, weil eben weder das theologische noch das naturalistische 
Moment Ausgangspunkt ist, sondern lediglich die Resultate der ökonomischen 
Analyse, nachdem sie gewonnen waren, in dieser Form ausgedrückt wurden, die „Ge¬ 
setze“ der Physiokraten nichts andres sind als das, was man heute ganz widerspruchs¬ 
los als solche bezeichnet. Und gegenüber der Größe der Leistung, definitiv erkannt 
zu haben, daß das wirtschaftliche Leben gewissen allgemein zu erfassenden Notwendig¬ 
keiten unterworfen ist und auch hier die Gründe ihre Folgen haben, wird man über 
die zahlreichen Mängel ihrer Fassung dieser Erkenntnis nicht zu streng urteilen dür¬ 
fen. Uebrigens kamen auch damals schon einerseits Montesquieu (1749) und andrer¬ 
seits Turgot zu vollkommeneren Formulierungen 2 ). — Noch sei erwähnt, daß auch 
diese Zeit schon einen „Methodenstreit“ kannte. Viele Gegner der Physiokraten be¬ 
kämpften ihre Methode als wirklichkeitsfremd und zu „absolut“ und vor allem 
G a 1 i a n i hat in seinen Dialogen auf die Unzulässigkeit allgemeiner Regeln für die 
Wirtschaftspolitik hingewiesen. Zwar spricht das nicht gegen die physiokratische 
Theorie, aber Galiani warf, ganz so wie das später und selbst in neuester Zeit 
üblich war, die Theorie samt den ihm anstößig scheinenden praktischen, scheinbar 
daraus notwendig folgenden Konsequenzen, über Bord. Auch Turgots Haltung, die 
von Abneigung oft nicht weit entfernt war, erklärt sich zum Teil aus seiner Ansicht, 
daß die Physiokraten dort allgemeine Gesetze aufstellten, wo es keine gab, und so 
der Mannigfaltigkeit des Lebens Gewalt antaten. Natürlich macht das weder 
Galiani noch Turgot zu Vertretern historischen Relativismus’ strengster Form, 
denn sie haben beide wesentlich theoretisch gearbeitet. Aber sie nehmen eine 
Mittelstellung ein. 

3. An ihre große Aufgabe, die generellen Formen des wirtschaftlichen Kreis¬ 
laufs darzustellen, traten die Physiokraten nur mit den vorhandenen Mitteln heran, 
ohne selbst etwas hinzuzufügen. Sie wollten die Tatsachen des Bedarfslebens 
und die generellen Tatsachen des Milieus zu Gesetzen des Wirtschaftsablaufs 
kombinieren. Ihre Psychologie ist streng individualistisch und rationalistisch und 
überaus einfach. Sie resümiert sich in der Annahme des Strebens nach größt¬ 
möglicher individueller Bedürfnisbefriedigung mit dem kleinstmöglichen Aufwand 
— so daß also das wirtschaftliche Prinzip, von Quesnay bewußt und klar for- 

x ) Denn das Wort „Naturgesetz“ braucht an sich noch nicht „physikalisches Naturgesetz“ 
zu bedeuten, ist vielmehr vollkommen mit der Erkenntnis der Besonderheiten des sozialwissen¬ 
schaftlichen Gebiets vereinbar, was immer wieder übersehen wird. Aber selbst, wenn ein Au¬ 
tor ausdrücklich sagt, die sozialen und physikalischen Gesetze seien wesensgleich, so muß man 
darauf achten, in welchem Sinn das gemeint ist. Wenn es endlich auch in einem ganz un¬ 
haltbaren Sinn gemeint wäre, so erfordert die Gerechtigkeit noch zu untersuchen, ob nur diese 
Behauptung und die Ansicht des Autors über die Natur seiner Resultate als falsch zu bezeich¬ 
nen ist — in welchem Fall herzlich wenig Grund zu besonderm Tadel vorhanden ist und die 
Resultate selbst nicht berührt werden — oder ob sich der Autor durch den naturalistischen 
Irrtum materiell beeinflussen ließ: Dann allerdings, aber auch nur dann, fallen seine Resultate 
als solche, inhaltlich. 

a ) Montesquieus Formulierung: Rapports näcessaires qui dlrivent de la nature des choses, 
atmet ganz modernen Geist. Auch Goumay ist zu nennen. 



44 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. II 

muliert '), den Ausgangspunkt bildet. Ihre Soziologie ist ebenso einfach. Sie 
nehmen die soziale Organisation, die sie vor ihren Augen sehen, zum Teil als selbst¬ 
verständlich, zum Teil als ausreichend typisch hin. Es wurde schon hervorgehoben, 
daß ein solcher Vorgang in den Anfängen naheliegend war. Es ist noch hinzuzufügen, 
daß die Ueberschätzung vernunftmäßigen Handelns und die Unvollkommenheit 
psychologischer Analyse, ferner jener Atomismus, der im — wesentlich unveränder¬ 
lichen — Individuum den Schlüssel zum sozialen Geschehen sucht, gerade in öko¬ 
nomischen Untersuchungen am wenigsten schaden: Allerdings verhindern diese 
Momente ein Hinausblicken über einen gewissen Punkt und allerdings müssen sie in 
vieler Beziehung zu einem Zerrbild der Wirklichkeit auch hier führen, aber gerade 
für die Ausarbeitung der „Logik der wirtschaftlichen Dinge“, also gerade für die¬ 
jenige Leistung der Physiokraten, die für uns hier in Betracht kommt, stellen sie zum 
Teil notwendige und brauchbare Annahmen dar. Freilich darf man darauf allein 
nie eine Lehre vom Lebensprozeß der Gesellschaft, eine Soziologie, bauen wollen. 
Für ihre Soziologie und auch ihren praktischen Einblick in die Dinge waren alle 
diese Auffassungen verderblich, soviel sie auch vom „homme social“ und der „vie 
collective“ sprechen, aber die Arbeit an ihrem ökonomischen Grundproblem ent¬ 
werteten sie nicht 2 ). 

Da leisteten sie Großes. Eine ungeneröse und verständnislose Kritik hat lange 
Zeit die Würdigung ihrer Leistung verhindert und die Tatsache verkennen lassen, 
daß alles Folgende auf ihnen beruhte, während man immer gewisse grotesk hervor¬ 
stehende Eigentümlichkeiten* hervorhob, wie wenn in ihnen das Wesen der phy- 
siokratischen Lehre läge, mit ihrer Widerlegung die Sache erledigt wäre. Schon 
Smith begann damit und erst neuestens ist man tiefer in den ökonomischen Gedanken¬ 
kreis der Physiokraten eingedrungen. 

Der Gesamtüberblick über den Wirtschaftsprozeß, den die Physiokraten gewon¬ 
nen haben, der „volkswirtschaftliche Standpunkt“ auf den sie sich — trotz des Aus¬ 
gehens vom Individuum einer- und dem natürlichen Milieu andrerseits — stellten, 
drückt sich in drei Konzeptionen aus, die für die Nationalökonomie größte Bedeu¬ 
tung erlangten: Die Ideen der Zirkulation, die des Sozialprodukts und die seiner 
„Verteilung“. Die erstere war schon der Populardiskussion und den Merkantilisten 
nicht fremd. Aber man dachte dabei nur an die Oberflächenerscheinung der Geld¬ 
zirkulation. Quesnay und seine Anhänger schoben erst den „Geldschleier“ energisch 
zur Seite und es enthüllte sich ihnen eine Zirkulation andrer Art: Sie zeigen, wie in 
jeder Wirtschaftsperiode eine Gütermenge in die Volkswirtschaft neu eintritt — in 
ihrem Sinn aus dem unerschöpflichen Schatz der Natur — und von den einzelnen, 
durch besondere Funktionen charakterisierten, Gruppen von Wirtschaftssubjekten 
übernommen und weitergegeben wird bis zum endlichen Konsumtionsakt. Das 
Weitergeben geschieht durch Tauschen. Tauschakte bilden die Glieder der Kette, 
die jene Gruppen oder Klassen verbindet. So stellt sich das Wirtschaftsleben eines 
Volks als ein System von Tauschbeziehungen dar, das, sich periodisch erneuernd, den 
Raum zwischen Produktion und Konsumtion ausfüllt. 


*) Obtenir la plus grande augmentation possible de jouissance par la plus grande diminu- 
tion possible de d£penses. 

*) Stets hat man sich in solchen Fällen zu fragen: Erstens ist eine solche Grundanschau¬ 
ung an sich und allgemein „richtig“ ? Hat man das verneint, so ist damit nicht etwa die kri¬ 
tische Arbeit erledigt, sondern es erhebt sich die weitere Frage: Ist die betreffende Grundan¬ 
schauung nicht vielleicht als Annahme brauchbar? Und zwar zunächst: Hebt sie nicht ein 
wirkliches Moment hervor, dessen isolierende Betrachtung Interesse hat ? Und sodann, selbst 
wenn das nicht der Fall wäre: Ist die Deviation, die die betreffende Grundanschauung be¬ 
wirkt, sehr groß oder gibt es Umstände, die ihre Bedeutung einschränken — bei der Hypothese 
des Rationalismus z. B. liegt ein solcher Umstand in der Tatsache, daß sich gewisse sachliche 
Notwendigkeiten durchsetzen und das menschliche Handeln formen, auch wenn dieses nicht 
auf einer rationellen Erkenntnis solcher Notwendigkeiten und auf klaren Motiven beruht — 
oder kann man den anstößigen Satz nicht vielleicht besser formulieren? Der Kritik bereiten 
solche Fragen meist geringe Sorgen. Allein jede Kritik, die sie nicht löst, ist wertlos. 



II. Die Entdeckung des wirtschaftlichen Kreislaufs. 


45 


Die in der Wirtschaftsperiode innerhalb der Volkswirtschaft erzeugte Güter¬ 
menge wird als ein Sozialprodukt aufgefaßt, das jedesmal „verteilt“ wird. Uns ist 
dieser Gedanke so vertraut, daß wir nichts Auffälliges mehr an ihm finden. Allein 
es lag eine kühne Abstraktion und eine methodisch sehr wichtige Neuerung darin. 
Dieses „Sozialprodukt“ existiert als solches nirgends in der Wirklichkeit und ist 
an sich ein künstliches Gebilde. Aber die Schöpfung dieser theoretischen Gesamtheit 
ermöglicht erst oder erleichtert doch eine tiefere Erfassung des Zusammenwirkens 
und aller gegenseitigen Bedingtheiten zwischen den Einzelwirtschaften und die prin¬ 
zipielle Identifizierung des Sozialprodukts mit dem Volksreichtum — die Voran¬ 
stellung des Gesichtspunkts des periodischen Güterstroms— gab dem letztem Begriff 
eine früher nicht vorhandene Bestimmtheit und stellte das Verhältnis zwischen 
ihm und der Produktion ein- für allemal in ein scharfes Licht. Bis heute haben 
sich diese Grundlagen erhalten und als brauchbar erwiesen, wie man z. B. am 
Lehrgebäude A. Marshalls sehen kann 1 ). 

4. Das ist der Rahmen des Lebensprozesses der richesse. Die Erkenntnis Can¬ 
ti 11 o n s — „la richesse en elle-möme n’est autre chose que la nourriture, les 
commodit6s et les agr&nents de la vie“ im schon erwähnten Essai sur le commerce 
en g6n6ral 1755 p. 1 — verderbend definierten sie dieselbe als die Gesamtheit der 
jährlich produzierten wirtschaftlichen Güter (biens commer^ables, Quesnay, 
Oeuvres ed. Oncken). Seine treibende Kraft und sein Erklärungsprinzip — le desir de 
jouir nach Le Merciers Ausdruck — kennen wir bereits. So haben wir nur noch 
ein wesentliches Moment hervorzuheben, nämlich die physiokratische Theorie vom 
Wesen und von der Funktion des Kapitals. Vor ihnen gab es eine präzise Theorie 
darüber nicht und zwar nicht etwa bloß deshalb, weil merkantilistische Irrtümer der 
Ausbildung einer solchen im Wege standen, sondern vielmehr deshalb, weil vor ihnen 
die Grundtatsachen der Wirtschaft als solche überhaupt nicht tiefer analysiert 
wurden und eine solche Analyse zu einer präzisen Auffassung von der volkswirt¬ 
schaftlichen Rolle des Kapitals im Gegensatz zu seiner Bedeutung für die Privat¬ 
wirtschaft, wie sie das tägliche Leben erkennt, nötig ist. Quesnay — und mit ihm 
seine eigentlichen Schüler — erblicken die Funktion des Kapitals in der Notwendig¬ 
keit, den Arbeiter während der Produktion zu erhalten, in den avances fonciöres — 
den Auslagen für die Urbarmachung des Bodens — und den avances annuelles — bes¬ 
ser fonds des avances, die sich zum Teil in den produzierten Produktionsmitteln 
verkörpern —, die sich zugleich mit den Zinsen der avances primitives jährlich 
reproduzieren 2 ). Das Wesen des Kapitals ergibt sich demnach als jener Teil des So¬ 
zialprodukts vorhergehender Wirtschaftsperioden, der die Produktion der laufenden 
alimentiert — als Teil des Güterstroms von temporär besonderer Rolle. 

Die Entwicklung, wie sie sich die Physiokraten denken, kann am besten mit den 
Worten des Markgrafen von Baden wiedergegeben werden (Abr6g6 
1786 p. 7): Der Kreislauf von Arbeit und Ausgabe wird vervollkommt durch gestei¬ 
gerte Arbeit. Diese vermehrt die Unterhaltsmittel, deren Vermehrung führt zur 
Vermehrung der esp£ce humaine, was wiederum die Bedürfnisse der Gesamtheit 
steigert, mithin die däpenses. So entwickelte sich die wirtschaftliche Kultur aus einem 
Zustand primitiver Nahrungssuche (l’homme vivoit des fruits 6pars et spontanes 
de la terre), in dem eben diese Nahrungssuche die Arbeit war, die der „däpense de 
la subsistance“ entsprach und die Leistung darstellte, die zum Unterhalt führte 
— die Physiokraten sprechen da natürlich von „Pflicht“ und „Recht“, meinen aber 
in der Sprache des Naturrechts nichts andres als das Gesagte. 

x )v. Philippovich (Grundriß I, 4. Buch) hat auf das Wirklichkeitsfremde der 
Konzeption der „Verteilung“ hingewiesen und sie durch die der Einkommensbildung ersetzt, 
was sich in der Tat empfiehlt. Doch ändert das nichts an der historischen Bedeutung und 
der darstellerischen Brauchbarkeit des Verteilungsgedankens. 

*) Dazu kommen noch die avances primitives, „le bloc des richesses mobiliaires qui aident 
Thomme ä la cultivation“. Die avances souveraines sind die Ausgaben des Staats auf Stra¬ 
ßenbau usw. 



46 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. II 

Nunmehr aber ist es Zeit, auf jene Eigentümlichkeiten des physiokratischen 
Systems einzugehen, welche die Dogmengeschichte mit Unrecht stets in den Vorder¬ 
grund stellte, und die zwar das Wesen der vorgeführten Grundgedanken nicht berüh¬ 
ren, sondern nur einen etwas verfrühten Versuch ihrer Ausarbeitung in einer bestimm¬ 
ten Richtung darstellen, aber für die Physiokraten selbst und das Schicksal ihrer 
Theorie von großer Bedeutung waren. Wenn man jene fundamentalen Grundgedan¬ 
ken einmal hat und nunmehr nach einem festen Punkt im wirtschaftlichen Kreislauf 
sucht, so kann der Blick unter anderem auch auf den technischen Ursprung des 
Wirtschaftsstroms, auf die Tatsache fallen, daß in jeder Wirtschaftsperiode eine 
bestimmte Menge von Stoffen aus dem Schoß der Natur in die soziale Welt eintritt, 
von der direkt oder indirekt die ganze Gemeinschaft leben muß und die in einem 
Sinn dasjenige ist, was in der Gemeinschaft eigentlich zirkuliert und deren perio¬ 
discher Ersatz die Wirtschaftsperioden voneinander zu unterscheiden geeignet ist. 
Dieser Ausgangspunkt liegt an sich nahe, er mußte Quesnay aber mit Rücksicht auf 
die Analogie mit dem Ernährungsprozeß organischer Körper besonders naheliegen. 
Es ist ganz überflüssig nach irgendwelchen metaphysischen Gründen dafür zu suchen, 
daß die Physiokraten nach ihm griffen, wie wenn darin eine sonst ganz unbegreif¬ 
liche Verirrung läge. Es lag nichts vor als die Beobachtung einer ganz unbestreit¬ 
baren „physikalischen“ — wie Le Trosne sagte, Intäröt Social — Tatsache mehr 
der Ansicht, daß diese Beobachtung wissenschaftlich fruchtbar, d. h. von großem 
Erklärungswert sei. Die erstere ist schlechthin richtig — und in keinem andern Sinn 
als in dem, in welchem sie absolut selbstverständlich ist, meinten sie die Physiokra¬ 
ten — die letztere hat sich nicht bestätigt, war aber a priori so wenig unsinnig, 
daß es selbst heute, nachdem die Wissenschaft hundertfünfzig Jahre lang einen 
andern Weg gegangen ist, nicht mit Sicherheit behauptet werden kann, daß sich 
jener Ausgangspunkt niemals brauchbar zeigen werde. 

Die Physiokraten allerdings verrannten sich in den einmal gefaßten Gedanken 
und überschätzten ihn sehr. Wenn man ihm aber einmal konsequent nachgehen 
wollte, dann war es ganz natürlich — es war in der Tat nur eine mit Hinblick auf 
Anwendung der Beobachtung ihr gegebene Formulierung —, wenn man den Begriff 
der Produktion auf Urproduktion — oder, ganz strikte, auf Stoffgewinnung, die 
alljährlich in infinitum wiederholt werden konnte, so daß der Bergbau ausschied — 
beschränkte und dann war es nur selbstverständlich, daß man alle nicht darauf 
verwendete Arbeit unproduktiv nannte. Darin lag keine besondere These mehr, 
sondern nur ein „analytisches Urteil“ im Kantschen Sinn, das Urteil: Nicht auf Ur¬ 
produktion verwendete Arbeit bringt keine neuen „Urprodukte“. Die Notwendig¬ 
keit und Nützlichkeit dieser Arbeit wurde nicht geleugnet. Wenn Le Trosne sagt: 
„Le travail porte partout ailleurs que sur la terre, est sterile absolument, car Thomme 
n’est pas cr£ateur“, so meint er nichts andres, als daß die menschliche Arbeit nicht 
neue Materie schaffen kann, was wiederum für die Wirtschaftslehre nur so weit 
relevant ist, als es eben jene definitionsmäßige Konsequenz zieht. Will man eine 
besondere Aussage im zitierten Satz sehen, so könnte es nur eine richtige sein. 

Aber einerseits bauten sie zuviel darauf auf und andererseits verschlossen sie sich, 
im Bann ihres Gedankens, vielen andern fruchtbarem Ausblicken. Es war zunächst 
ein Verdienst, nach theoretischen Prinzipien und nicht einfach, wie es auch früher 
geschehen war, empirisch verschiedene Klassen von Wirtschaftssubjekten nach be- 
sondern wirtschaftlichen Funktionen zu scheiden, diese als soziale Interessengruppen 
zu begreifen und deren Ineinandergreifen zu untersuchen. Und diese Leistung blieb, 
gerade wie die methodische Idee der „Verteilung“ ein xxfjpa efc de[ der National¬ 
ökonomie. Nur orientierten die Physiokraten diese richtigen Bestrebungen nach 
jenem Moment, das die weitere Analyse dann als nebensächlich erwies. Die pro¬ 
duktive Klasse, jene Wirtschaftssubjekte, die Arbeit und Kapital auf die Produktion 
in physiokratischem Sinne verwenden, behalten einen Teil des Ertrags für sich, von 
dem sie wiederum einen Teil an die sterile, die industrielle usw. Klasse abgeben. 



II. Die Entdeckung des wirtschaftlichen Kreislaufs. 47 

welche den Produkten durch Verarbeitung wohl Wert hinzusetzt, aber nur soviel, 
als sie konsumiert, mithin nicht eigentlich „Wert schafft“. Diesen Teil des Produkts 
gibt die produktive Klasse an die sterile im Austausch von Nahrungsmitteln und 
Rohstoffen gegen Industrieprodukte. Da diese letztem aber Nahrungsmittel und 
Rohstoffe von früher her enthalten und zwar in genau derselben Menge, so kehrt 
bei diesem Tausch der veräußerte Wert wieder in die Hände der produktiven Klassen 
zurück. Was veräußert wird und wovon in gewissem Sinn gesagt werden kann, 
daß es wieder in die Hände der Produktiven zurückkehrt, ist Rohprodukt. Soll 
diese Bewegung des Rohprodukts aber irgendeine wirtschaftliche Bedeutung haben, 
so muß ihr eine Bewegung der Kaufkraft parallel gehen. Und daher allein der 
Sprung des Gedankengangs zu der Auffassung hinüber, daß „Wert“ hin und hergehe 
und daraus die Konsequenz, daß bei jedem Tausche gleiche Werte übergeben werden, 
wenn nicht ein Wertgewinn des einen Teils auf Kosten des andern erfolgen soll. 
Wollte ich überhaupt von einem bestimmten „Grundfehler“ der Physiokraten spre¬ 
chen, so müßte ich diesen Sprung vom Rohprodukt auf den Wert, diese Ansicht, 
daß der Wert nichts sei wie der Geldausdruck der Rohstoffmenge in den Gütern, 
so nennen. Damit war die Wert- und Tauschtheorie verdorben und ein Ausblick 
in wesentliche Phänomene verbarrikadiert. 

Den Rest des Produkts, der allein sich als durch keinen Ersatzanspruch neutra¬ 
lisierter Reinertrag darstellt, der produit net, fällt den Grundherren zu, die ihn zum 
Teil zur Erhaltung und Verbesserung der avances foncieres, zum Teil zur Erfüllung 
sozialer Pflichten, unter denen die Steuerleistung die wichtigste ist, verwenden, 
und im übrigen an die produktive und sterile Klasse zurück- bzw. weitergeben können. 
Der an die sterile gegebene Teil kehrt ebenfalls wiederum zur produktiven zurück. 
Damit ist der Kreislauf geschlossen, sind alle Produkte bezahlt und alle jährlichen 
avances sowie ein Teilbetrag der ursprünglichen ersetzt. 

Man hat im produit net oft ein theoretisches Monstrum gesehen, von dessen 
Nichtexistenz der einfachste Blick in die Wirklichkeit überzeugt. Aber dem ist nicht 
so und das Argument, daß der Reingewinn in der Landwirtschaft doch auch ver¬ 
schwinden könne, beruht auf einem Mißverständnis. Zunächst ist die Tatsache des 
produit net, im Sinn der Physiokraten aufgefaßt, über jeden Zweifel erhaben. Wirk¬ 
lich bringt nur die Urproduktion physisch neue Elemente in die Güterwelt. Und 
sodann liegt überhaupt vieles Richtige unter der verfehlten Wertlehre der Physio¬ 
kraten. Vor allem haben sie richtig die Tendenz der freien Konkurrenz nach Herab¬ 
drückung aller Preise auf den Kostensatz — hier ganz im populären Sinn gemeint 
— erkannt*), sodann ebenso richtig das sich daraus ergebende Problem, die 
Ertragswellen zu erklären, die sich trotzdem über jenen Satz erheben. Wenn sie 
diese Ertragswellen in der schaffenden Kraft der Natur lokalisierten, so war das 
einseitig — doch nicht mehr als etwa die Auffassung Marx* — und es lag darin eine 
Verwechslung von physischer und Wertproduktivität. Sie hatten dabei die wich¬ 
tigste Wertwelle, die des Unternehmergewinns, außerdem unerklärt gelassen, aber 
sicher eine Theorie des „Mehrwerts“ begründet, die vom Standpunkt der Zeit 
betrachtet nicht ohne weiteres undiskutabel ist. In erster Linie jedoch haben sie 
eine Tendenz des Tauschverkehrs zwischen den Klassen richtig gefühlt und diesen 
Tauschverkehr selbst in seinen Hauptzügen gut erkannt. Nicht ohne Recht sagt 
Quesnay: La marche de ce commerce entre les diffärents classes et ses condi- 
tions essentielles ne sont point hypothätiques. Quiconque voudra y r6fl6chir, verra 
qu’elles sont fid£lement coptees d’apres la nature (p. 60, Oeuvres). 

*) Den Kostenpreis bezeichnen sie als den „natürlichen“ Preis (L e t r o s n e) und knüp¬ 
fen eine positive Wertung (Letrosne nennt ihn den bon prix) an ihn — welch letzterer Punkt 
uns nicht interessiert. Ein anderer Ausdruck ist prix fondamental. — Es wurde oft vermerkt, 
daß die Physiokraten hohe Getreidepreise für ein Symptom des Wohlstandes hielten. Die 
Kosten bestehen eben im Unterhalt der cultivateurs, was diese Auffassung, die der populären 
wie der klassischen widerspricht, erklärt: Hohe Kosten bedeuten für die Physiokraten reich¬ 
lichen Unterhalt der Arbeiter. 



48 I- Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. II 

Auch in der Lohntheorie kamen sie weit, nicht nur trotz, sondern sogar auf Grund 
ihres Ausgangspunkts. Zunächst ist die Anschauung, daß alle Arbeiter von Vor¬ 
schüssen leben, an sich schon eine Lohntheorie in nuce, eine Grundlage, von der aus 
man unbedingt in die Gedankengänge der später sog. Lohnfondstheorie gelangen 
muß, wenngleich die Physiokraten selbst zu keiner ganz bestimmten Formulierung 
vordrangen. Turgot gebraucht allerdings den Ausdruck fonds des salaires, sagt 
aber darüber nur eine Selbstverständlichkeit, die nichts von dem charakteristischen 
Inhalt der Lohnfondstheorie hat. Dann aber ergibt sich aus dem System der Phy¬ 
siokraten das, ebenfalls erst von Turgot scharf formulierte, „eherne“ Lohngesetz. 
Sie nahmen nicht etwa bloß eine Anschauung der Zeit auf, die sie vorfanden, sondern 
aus den Grundlagen ihres Systems folgt der Satz, daß jeder Arbeiter nur den Wert 
der von ihm konsumierten Subsistenzmittel dem Produkt hinzufügen könne und 
daß — wie Quesnay selbst hervorhebt — der Lohn sich infolge der Konkurrenz 
unter den Arbeitern auf dieses Maß feststelle. 

Am schlechtesten fuhr die Zinstheorie. Hier schadete der speziell physio- 
kratische Gesichtspunkt naturgemäß am meisten und wir finden denn auch, daß die 
Physiokraten diesem Phänomen am wenigsten Verständnis entgegenbringen. Der 
industrielle Kapitalgewinn hängt völlig in der Luft, müßte konsequenterweise eigent¬ 
lich als ein Gewinn auf Kosten des produit net bezeichnet werden. Diese Konse¬ 
quenz kommt allerdings nur beim ältern Mirabeau zu ganz scharfem Ausdruck — 
nämlich in seinem Plan der Abschaffung des industriellen Zinses —, aber bei allen 
eigentlichen Physiokraten finden wir die Anschauung, daß die einzige Quelle des 
Zinses der Ertrag von Grund und Boden sei, und ferner, daß die Tatsache des produit 
net allein Sparen — und damit industriellen Fortschritt — ermögliche. Turgot hat 
dann die Lücke mit verschiedenem Material auszufüllen gesucht und manches Rich¬ 
tige über die Bestimmung des Zinses durch Angebot und Nachfrage gesagt. Aber 
ohne sehr tief zu gehen. Trotz seines Satzes, daß der Zins der Preis für zeitlichen 
Gebrauch einer Wertmenge sei, sieht man sich bei ihm auf der Suche nach tiefem 
Erklärungsgründen, auf das Auskunftsmittel aller Physiokraten zurückgedrängt — 
nämlich, daß die Konkurrenz gleichsam dem Kapital einen Zins zuschwemme, weil 
der Kapitalist sich sonst Boden kaufen würde, einen Satz, der aus den Fundamenten 
der Physiokraten folgt, wenngleich wir ihn schon bei Hutcheson vorfanden. 

Der Handelszins ist schlechthin Gewinn auf Kosten des andern Vertragsteils. 
Es ist im Sinn der Physiokraten ein Unterschied zwischen Industrie und Handel 
zu machen, für den es keine ganz rechtfertigende Erklärung gibt. Bei der Industrie 
liegt noch, wenn nicht Wertschaffung, so doch immerhin Wertaddition vor — der 
Wert der Rohstoffe und der der Subsistenzmittel des Arbeiters werden in ihrem 
Prozeß addiert: —vgl. die Analogie mit Marx — und ihre Nützlichkeit wird nicht in 
Abrede gestellt. Obgleich nun nicht einzusehen ist, warum man nicht ganz dasselbe 
auch für den Handel sagen sollte, so erschien dieser den Physiokraten doch als ein 
Uebel, das tunlichst beschränkt werden solle. Vielleicht spielte da die populäre 
Idee eine Rolle, daß der Zwischenhandel die Waren verteure, mithin gleichsam das 
normale Tauschverhältnis und den wirtschaftlichen ordre naturel störe. 

5. Wie immer dem sein mag, sicher ist, daß das System der Physiokraten in 
seinen wesentlichen Zügen ein gewaltiger Fortschritt war und daß auch jener eine 
Zug, dem es seinen ganz unglücklichen Namen verdankt — wie so oft hatte auch hier 
ein Schüler grade das wenigst Wertvolle am System des Meisters für die Haupt¬ 
sache gehalten x ) — keineswegs alles verdarb. Viel mehr als unter berechtigter Kri¬ 
tik hatten die Physiokraten unter den Mißverständnissen und unter ganz oberfläch¬ 
lichen Einwendungen der Zeitgenossen wie der Spätem zu leiden. Die meisten 
Einzeleinwendungen vor allem, die man gegen ihre Theoreme erhob, sprechen nur ge- 

*) Dieser Name ist auch zum Teil für den naturalistisch-mechanistischen Vorwurf ver¬ 
antwortlich, der mitunter den Physiokraten gemacht wurde und noch wird. 



II. Die Entdeckung des wirtschaftlichen Kreislaufs. 


49 


gen die, die sie erhoben. Die innere Logik des Systems ist in seltenem Maß frei von 
Fehlern und das Meiste, das auf den ersten Blick fremdartig und unverständlich er¬ 
scheint, vermag tieferes Eingehen befriedigend aufzuklären. Darauf kann ich aller¬ 
dings nicht eingehen und auch über ihre praktischen Erkenntnisse können hier nur 
wenige Worte gesagt werden. 

Der ordre naturel ist der Zustand, der für die Menschheit am vorteilhaftesten 
ist. Jedes Individuum handelt also im Interesse der Gesamtheit, wenn es seinem 
Vorteil nachgeht. Dieser Satz ist in seiner Anwendung auf das Wirtschaftsleben 
in demselben Sinn wertvoll und in demselben Sinn falsch, wie das Theorem von dem 
durch das Handeln nach individuellem Selbstinteresse bei freier Konkurrenz erreich¬ 
baren Nutzenmaximum, das später eine so große Rolle spielte und mit der physio- 
kratischen Anschauung zum Teil wesensgleich ist. Deshalb und weil alle Klassen 
an möglichster Größe des produit net, von der ja aller Fortschritt abhängt, interes¬ 
siert sind, ergab sich eine harmonistische Auffassung des Verhältnisses der Klassen¬ 
interessen zueinander. Es ergab sich eine günstige Auffassung von den Folgen der 
freien Konkurrenz also keineswegs aus den naturrechtlichen Obersätzen, mit denen 
die Sache verbrämt wurde, sondern aus der Analyse des wirtschaftlichen Getriebes 
selbst. Das gab den Physiokraten einen Standpunkt in den Fragen der Zeit, dessen 
praktische Spitzen zu schildern außerhalb der Grenzen meiner Aufgabe liegt. Als 
wissenschaftliche Leistungen müssen aber jedenfalls noch die folgenden genannt 
werden: Die Widerlegung der Auffassungen über günstige Handelsbilanzen. Dabei 
hoben sie hervor, daß Geldansammlung in einem Lande nur zu einem Steigen der 
Preise führe x ). Dann zerstörte schon Quesnay selbst das populäre Schlagwort, 
daß die Zölle einfach vom Auslande getragen würden, und wies darauf hin, daß 
Kampfzölle das Land, das sie auflegt, unter Umständen mehr schädigen können als 
den zu bekämpfenden Gegner. In diesen Resultaten fanden die Physiokraten dann 
begreiflicherweise eine Bestätigung ihrer Grundanschauung von den Vorteilen der 
Freiheit des Tausches und der Arbeit und von der Schädlichkeit der Eingriffe des 
Staats in die privaten Entschließungen über Konsumtion und Produktion. Es darf 
aber nie übersehen werden, daß sie trotz dieses Prinzips, in richtiger Würdigung 
seiner Grenzen, eine ziemlich weitgehende Funktion des Staats (der auch avances 
souveraines für Straßenbau usw. zu machen habe), der Gesetzgebung und endlich 
von Sittlichkeit und Sitte (besonders in der Verwendung des produit net) als essen¬ 
tiell für den Lebensprozeß der Gesellschaft erkannten. Die Zeit legte ihnen die Be¬ 
tonung des erstem Gesichtspunkts besonders nahe, aber der letztre fehlte nicht in 
ihrem wissenschaftlichen System. Die praktischen Schlagworte frei¬ 
lich müssen kurz und prägnant sein und können nicht skrupulös formuliert werden. 
Allein das laisser faire usw. kümmert uns hier nicht. Wohl aber enthält ihre Steuer¬ 
theorie sehr wesentliche Resultate. Sie beruht auf dem Gedanken, daß die Armut 
zwar überhaupt durch willkürliche, gewaltsame Ablenkungen des Stroms der Wirt¬ 
schaft von seinem naturgemäßen Lauf, aber namentlich durch die Anlage des Steuer¬ 
systems jener Zeit hervorgerufen sei. Das Phänomen der Armut erscheint also nicht, 
wie in manchen andern Systemen 2 ) als ein integrierendes Element des Wirtschafts¬ 
lebens, sie ist nicht durch dem Wesen des Wirtschaftsprozesses inhärente Vorgänge, 
auch nicht durch bestimmte wesentliche Tendenzen der menschlichen Natur zu er¬ 
klären, sondern durch Eingriffe in das Wirtschaftsleben, durch äußere Störungsur¬ 
sachen. Daher dann die Konsequenz, daß wenn man die wesentlichsten Störungsur¬ 
sachen durch Konzentrierung der Steuerlast auf den produit net beseitige, eine er¬ 
hebliche Ursache der Armut wegfallen würde. Das ist die theoretische Bedeutung 
der physiokratischen Steuerlehre, der der Ruhm gebührt, an direkten Steuern zum 
erstenmal in systematischer Weise wesentliche Vorteile entdeckt zu haben. 

x ) Dieses Verdienst, das einen Schritt zu einer Analyse des Geldphänomens bedeutet, 
teilen sie mit Genovesi u. a. 

*) Z. B. bei. Ortes. 

Sozialökonomik. I. 


4 



50 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. II 

Ihre einzige Grundsteuer durfte aber nicht den ganzen produit net erschöpfen 
undTdamit den Inhalt des Eigentumsrechts an Grund und Boden vernichten. Denn 
bei der schon erwähnten Bedeutung des produit net für Sparen — Vermehrung der 
avances foncieres — und Fortschritt würde, wenn für den Grundbesitzer das Motiv 
für Urbarmachung und Meliorisierung des Bodens wegfiele, damit der Volkswirtschaft 
ein ähnlicher Schaden zugefügt werden wie durch Beschränkung des Eigentums¬ 
rechts überhaupt, die das wirtschaftliche Verhalten der Individuen stören würde. 
Darin liegt der ökonomische Kern der Eigentumslehre der Physiokraten, ihre andern, 
soziologischen wie naturrechtlichen Seiten — Naturrecht hier im Sinne von Glau¬ 
ben an angeborene Rechte gemeint — interessieren uns hier nicht. 

Bei der Diskussion wirtschaftspolitischer Fragen der Zeit, an der sie sich be¬ 
teiligten und die ihnen teilweise zum Anlaß für die Entwicklung ihrer Ansichten 
wurden, trat die Gedankenwelt der Physiokraten und ihrer geistigen Nachbarn aus 
der Studierstube heraus in den Luftzug des Parteienstreits. Für die Physiokraten 
im Besondern war die Kontroverse über die französischen Kornzölle, die nicht nur 
ein Hauptthema ökonomischer Schriftstellerei, sondern geradezu ein Hauptthema 
der geselligen Konversation der Zeit waren, das Wichtigste. Und an dieser Stelle 
vereinigen sich dann die beiden Quellflüsse der Oekonomie. Nie wieder hat sich die 
Erforschung theoretischer Grundwahrheiten durch den Praktiker und durch 
den — sagen wir — Philosophen getrennt, wenngleich in der Literatur der Spezial¬ 
fragen beide Gruppen natürlich immer unterscheidbar sind. Und damit war die 
Basis der modernen Wirtschaftslehre geschaffen. 

6. In diesen Diskussionen wurde die Stimme der Forschung gehört. Das öffent¬ 
liche Interesse wandte sich ihr zu, weite Kreise empfanden die Notwendigkeit der 
neuen Wissenschaft. Aber sie konnten sich ihr nicht leicht nähern, weder den ge¬ 
schlossenen unzugänglichen Systemen der Gelehrten noch der Fülle der Unter¬ 
suchungen der Leute aus der Praxis, deren so ungleicher Wert schwer zu beurteilen 
war. Die Zeit verlangte nach einer ausgleichenden Synthese der vorhandenen Ele¬ 
mente, nach verläßlicher Führung durch kundige Hand. Diese Synthese mußte 
kommen und ihr Produkt konnte nicht willkürlich sein: Hätten noch soviele Leute sie 
mit Erfolg versucht und wären alle diese Leute noch so unabhängig voneinander 
gewesen, sie wären alle zu sehr ähnlichen Leistungen gekommen. Allein die Aufgabe 
war schwer zu lösen, erforderte sie doch philosophisch-historische und allgemein 
wissenschaftliche Bildung einerseits und offenes Auge für die Zeitrichtung und für die 
Leistungen außerhalb des philosophischen Kreises anderseits. 

Zwei Autoren, die diese Vorbedingungen in eminentem Maß erfüllten, die Ge¬ 
staltungskraft und weiten Blick, Anpassungsfähigkeit und Freiheit, endlich, sei es 
gleich gesagt, jenes Maß von Oberflächlichkeit hatten, das zu solchen Aufgaben ge¬ 
hört, da sonst der Forschungseifer weit ab von dem führt, was für weite Kreise Inter¬ 
esse hat — zwei solche Autoren fallen uns in die Augen. Alle andern, die sich an 
der Aufgabe versuchten, blieben in Einseitigkeiten stecken oder vermochten über¬ 
haupt keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Der erste jener beiden war T u r- 
g o t l ), dessen glänzendes Talent, früher nicht gebührend gewürdigt, heute um so 
mehr anerkannt wird, fast mit Uebereifer: Nichts empfiehlt dem Dogmenhistoriker 
einen Autor so sehr als der Umstand, daß er für ihn kämpfen kann. Deshalb muß 
gleich gesagt werden, daß, wenn wir das Vergrößerungsglas entfernen, durch das 

*) Turgots wichtigstes ökonomisches Werk sind die Räflexions sur la formation et Ia 
distribution des richesses, geschrieben 1766, publiziert in den Eph6m6rides du citoyen (Nov. 
1769 bis Jan. 1770). Seine Gesamtwerke wurden publiziert von Dupont (1809—11) und von 
Daire und Dussard (1844). Die Literatur über Turgot ist sehr reichhaltig. Auch die Werke 
über die physiokratische Schule behandeln ihn. Vgl. noch: Dupuy, Eloge de Turgot 
(M6m. de l’Acad. des inscriptions et belles lettres, Bd. 45. B a t b i e , Biographie de Turgot. 
M o s t i e r, Turgot, sa vie et sa doctrine. Ch. Henry, correspondance inädite de Con- 
dorcet et de Turgot 1882. S. Feil bogen: Smith und Turgot 1892; Schelle, Pour- 
quoi les ,r6flexions 4 de Turgot ne sont-elles pas exactement connues ? 1886. 



II. Die Entdeckung des wirtschaftlichen Kreislaufs. 51 

man auf seine Leistungen zu blicken pflegt, zwar noch immer sehr viel übrig bleibt, 
aber daß erstens alle die Punkte, die man in concreto anführen könnte, sich in der 
außerphysiokratischen, namentlich der englischen Literatur der Zeit vorfinden, 
und zweitens, daß ein Teil seines heutigen Prestiges nur darauf beruht, daß man 
in seine flotten Sätze so sehr viel hineininterpretiert. Er war im Grunde Physiokrat 
und auf das physiokratische System, das trotz allem sein tägliches Brot bildete, 
das er aber niemals in aller Tiefe durchdrang, pfropfte er andre Gedanken auf, die 
ihm Praxis und Literatur der Zeit eingaben, ohne sich um innem Zusammenhang 
besonders zu kümmern. Er hat gewiß im Kapital einen Produktionsfaktor „erkannt“. 
Aber gegen diese „Erkenntnis“ ist manches zu sagen, abgesehen daß sie sich bei ihm 
in keiner andern Form findet als bei Hutcheson, in keiner wesentlich andern als bei 
Locke. Er hat besser in das Wertphänomen geblickt, aber nicht annähernd mit der 
Klarheit, wie etwas später Condillac, und nicht klarer als Cantillon oder Galiani. 
Wir haben manche seiner Einzelleistungen bereits erwähnt. Hier war nur der syn¬ 
thetische Charakter seines Strebens zu erwähnen. Das und der Einblick in gro߬ 
artige Pläne, den seine Korrespondenz uns eröffnet, rechtfertigen vielleicht das Ur¬ 
teil, daß ein Lebenswerk von ihm ein zweiter Wealth of Nations geworden wäre *). 

7. Der andre Autor, der hier zu nennen ist, ist A. Smith, dem der entschei¬ 
dende Wurf gelang, so wie wenige Würfe jemals gelungen sind 2 ). Mit großen Mitteln 
trat er an seine Aufgabe heran. Ein Leben verwandte er darauf, völlige Herrschaft 
über das philosophische, historische, in geringerem Maß naturwissenschaftliche und 
in noch geringerm juristische Wissen seiner Zeit zu gewinnen und allen ihm erreich¬ 
baren Strömungen öffnete er die Tore seines Geistes. Lücken und Engen finden 
sich bei ihm weniger als bei irgendeinem Nationalökonomen mit Ausnahme J. St. 
Mills. Seine Hauptwerke: TheTheory of moral sentiments (1759), eine Ethik, und der 
Wealth sind nur Bruchstücke eines Interessenkreises, dessen Weite auch seine übrigen 
Publikationen, die hier nicht zu erwähnen sind, nur ahnen lassen: In einem im Jahre 
1785 geschriebenen Brief spricht er von dem grandiosen Gedanken einer philoso- 
phical history of all the different branches of literature und einer theory and history 
of law and govemment. Aber solche ganz große Pläne blieben im Hintergrund und 
störten den ruhigen Gang seiner Detailuntersuchungen nicht, denen er mit uner¬ 
schütterlicher, echt philosophischer Ruhe oblag und die er im Anschluß an seine 
Lehrtätigkeit ohne Hast aufhäufte. Die methodischen Gewohnheiten des Professors 
und Berufsgelehrten kamen ihm dabei zu statten und ein gesunder, etwas nüchterner 
Blick, der mit Sicherheit die Summe eines Systems oder einer Erscheinung zog ohne 
jemals an irgend etwas allzusehr hängen zu bleiben. Er wurde nicht von einer Ideen¬ 
fülle gefoltert oder auf Pfade gelockt, wo ihm nur wenige hätten folgen können. 
Er war ein Mann zusammenfassender Arbeit und ausgeglichener Darstellung, nicht 
großer neuer Ideen, ein Mann, der vor allem sorgfältig nach dem Vorhandenen trägt, 
es kühl und vernünftig kritisiert und dann das gewonnene Urteil in die Reihe der 
übrigen so gewonnenen stellt: Auf betretenen Pfaden und mit vorhandenem Material 
schuf dieser sonnenklare Geist sein großartiges Lebenswerk. 

J ) Den er£aber£nicht beeinflußt hat. Diese oft ausgesprochene Vermutung ist durch die 
Publikation der Vorlesungen A. Smiths aus dem Jahre 1763 widerlegt (ed. Cannan 1896). 

Ä ) An Inquiry into the nature and causes of the wealth of nations 1. Aufl. 1776. Kri¬ 
tische Ausgabe von E. Cannan 1904. — Das erfolgreichste Buch der ökonomischen Literatur. 
Die „Smith-Literatur" ist Legion. Alle Dogmengeschichten behandeln, fast jede theoretische 
Arbeit zitiert ihn. Aus der Spezialliteratur seien genannt: Von Biographien, die mit der D u- 
gald Stewarts beginnen, die deutsche von Leser (1881) und die beste englische — 
überhaupt gründlichste — von John Rae. Von Arbeiten über sein Werk: Die Einleitungen 
Cannans zu seiner Ausgabe des Wealth und der Glasgow lectures. H a s b a c h , Die 
allgemeinen philosophischen Grundlagen usw., wie zitiert und Untersuchungen über A. Smith 
(1891), Baert: A. Smith and his Inquiry into the wealth of Nations 1858; O n c k e n: A. 
Smith in der Kulturgeschichte 1874; Zeyß: A. Smith und der Eigennutz 1889; Art. „A. 
Smith" in H. d. St. und in Palgraves Dictionary. Der Wealth wurde oft übersetzt. Auch 
Abkürzungen und Kommentare erschienen. 


4 * 



52 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. II 

Er sprach das Wort der Zeit aus und gab ihr genau das, was sie brauchte, nicht 
weniger und nicht mehr. Sein Erfolg erklärt sich daraus und aus den äußern und 
innern Vorzügen seiner Leistungen. Hätte er tiefer gegraben, so wäre er nicht ver¬ 
standen worden. Mit Recht rühmt man seine meisterhafte Darstellung. Aber es 
liegt auch etwas andres darin als ein Kompliment. Niemand denkt daran, den Stil 
Newtons oder Darwins zu preisen oder zu tadeln. Sie stehen über solchen Verdiensten 
oder Verschulden. Smith nicht. Wohl hat sich einmal jemand durch den Vergleich 
des Wealth mit der Bibel kompromittiert. Aber bald setzte sich eine ruhigere und 
richtigere Einschätzung durch. Smith hat von der Parteien Gunst und Haß ver¬ 
hältnismäßig wenig empfangen und erlitten und schon bei Roscher lesen wir eine 
Beurteilung, der nicht viel hinzuzusetzen ist. Heute können wir uns über die gei¬ 
stigen Dimensionen Smiths keiner Täuschung hingeben, zu deutlich unterscheiden 
wir Sockel und Gestalt. Der Wealth entstand aus einem Teil seiner Vorlesungen 
über Moralphilosophie, die er 1751—1764 an der Universität Glasgow hielt und die 
sich bis zu Aeußerlichkeiten an die seines Lehrers Hutcheson anschlossen. Er hat, 
wie das aus dem Jahre 1763 stammende erhaltene Heft zeigt, kaum mehr an dessen 
System geändert, als jeder lebhaftere Schüler geändert haben würde. Mit einem 
ziemlich fertigen System kam er 1764 nach Frankreich, wo er mit den Physiokraten 
in Berührung trat, und in den ruhigen Jahren in Kirkaldy hat er die von uns als 
wesentlich bezeichneten Punkte ihres Systems dem seinen eingefügt, daß dessen 
Rahmen krachte und die Symmetrie bedenklich litt. Dabei darf aber nicht vergessen 
werden, welche geistige Freiheit und Ueberlegenheit er durch die Wahl der aufzu¬ 
nehmenden Elemente bewies — in der Tat liegt darin eine selbständige Leistung. 
An dritter Stelle ist der Einfluß Mandevilles zu nennen. Mandeville hatte 
einer tiefen Erkenntnis in seinem „Grumbling Hive“ (1705, neue, mit weiteren Aus¬ 
führungen versehene Ausgabe 1714 u. d. T.: The Fable of the Bees), einem Lehr¬ 
gedicht, das Aufsehen machte ohne recht ernstgenommen zu werden, eine groteske 
Form gegeben. Aber in dieser Form steht die beste und klarste Darstellung des 
Gedankens, daß das individuelle Eigeninteresse auf wirtschaftlichem Gebiet eine 
wesentliche soziale Funktion hat. Nun gab es genug andre Quellen für ähnliche 
Gedanken. Aber manche Wendung Smiths weist auf eine Beeinflussung gerade durch 
Mandeville hin. Endlich hat Smith viel auch Hume und Harris zu verdanken 1 ). 

Wir werden von Smith* theoretischen Lehren noch im nächsten Abschnitt 
sprechen. Hier soll nur der allgemeine Charakter seines Werks gekennzeichnet 
werden. Wie gewöhnlich, so hat auch bei ihm die Kritik das Hauptgewicht auf seine 
wirtschaftspolitischen und sozialphilosophischen Anschauungen gelegt, wohl gar 
insinuiert, daß sein Werk ein Plädoyer für Freihandel und „Industrialismus“, bzw. 
eine Anwendung spekulativer Obersätze sei. Beides hat für Smith selbst eine große 
Rolle gespielt. Wenn man die ersten Sätze seiner Vorlesungen über Naturrecht liest, 
so sieht man sofort, daß es ihm darum zu tun war eine Theorie, eine Erkenntnis des 
Wesens und der Funktion des Rechts zu gewinnen, die sich auch gleich in eine For¬ 
mulierung praktischer Rechtssätze von allgemeiner Anwendbarkeit umsetzen ließe. 
Aehnliches wollte er sicher auch in der Nationalökonomie. Er definiert sie als Kunst¬ 
lehre 2 ). Er diskutiert politische Maßregeln, wie wenn sie Theoreme wären. Allein 
ein ganz andres Bild ergibt sich, wenn wir ihn an der theoretischen Arbeit sehen. 
Da ist sein Blick auf die Tatsachen gerichtet und nur gelegentlich erinnert eine Wen- 

l ) Nicht dagegen, wie schon erwähnt, Turgot und auch nicht Ferguson. Das Essay on 
the history of Civil Society (1767) und die Institutes of Moral Philosophy (1769) dieses Edin- 
burgher Professors, der mit Smith eng befreundet war, rechtfertigen in keiner Weise Hasbachs 
übertriebene Hochschätzung für ihn. Ein guter Schriftsteller und talentvoller Darsteller, 
war er doch gar nicht originell — im wesentlichen ein Schüler Montesquieus. Uebrigens könnte 
eine Abhängigkeit nur in der Lehre von der Arbeitsteilung und in der Steuerlehre bestehen 
und auch da nicht in entscheidenden Punkten. 

*) Allerdings auch als Lehre vom Wesen und den Ursachen des Volkswohlstands, so schon 
im Titel, der offenbar das Wort „Nationalökonomie“ umschreiben soll. 



III. Das klassische System. 


53 


düng an ein politisches Ideal oder an einen philosophischen Satz, ohne daß diese 
fremden Elemente jemals wesentlich wären. Mit welcher „Methode“ arbeitet er nun ? 
Das ist deshalb schwer zu sagen, weil der Kreis seiner Probleme so weit ist. Bald 
analysiert er, bald erzählt er, je nachdem es sein konkreter Zweck erfordert. Aber 
seine Analyse umrankt er mit Einzelbeobachtungen und praktischen Erfahrungen, 
in seine Deskription mischt er theoretische Erörterungen ein. Deshalb ist es noch 
jeder methodischen „Partei“ leicht gefallen, ihn als einen der Ihrigen zu reklamieren. 
Er besitzt eine Universalität, die für seinen konkreten Zweck unschätzbar war, aber 
sofort verloren gehen mußte, wenn man in einer der von ihm behandelten Problem¬ 
gruppen tiefer Vordringen wollte. Daher kommt auch der oft behauptete scheinbare 
methodische Gegensatz zwischen ihm und den späteren Klassikern. Der syste¬ 
matische oder lehrbuchmäßige Charakter seines Werks schließt längere abstrakte 
Untersuchungen geradeso aus wie deskriptive Detailforschungen. Smith wurde 
durch Einflüsse theoretischer Natur geformt und theoretische Ziele beherrschten 
ihn. Ein Kern von theoretischen Lehrsätzen bildet das Knochengerüst seines Werks 
und ihrer Anwendung, Diskussion und Exemplifizierung dient der größte Teil des 
darin enthaltenen deslaiptiven Materials. Nur ein geringerer Teil ist Basis von Re¬ 
sultaten und ein noch geringerer ist schlechthin um seiner selbst willen da, als an sich 
interessant. Die zwei ersten Bücher schildern den Wirtschaftsprozeß und behandeln 
ausgehend von der Arbeitsteilung, das Geld-, Preis-, Kapital- und Verteilungsproblem. 
Im dritten haben wir so etwas wie einen Versuch zum Vergleich zwischen dem theo¬ 
retischen Bild und der tatsächlichen Entwicklung der Dinge zu sehen, das vierte bringt 
handelspolitische Diskussionen und das fünfte eine Darstellung der „Finanzwissen¬ 
schaft“, wenn der deutsche Ausdruck darauf anwendbar ist. Die letzten Bücher 
enthalten auch verwaltungstechnisches Material. Alle diese Elemente sind von sehr 
verschiedenem Werte. Themen wie die Staatszwecke u. dergl., sind oft bedenk¬ 
lich „spekulativ“ behandelt und Smith kann uns da heute nichts bieten. Aber nir¬ 
gends ist er so positiv und unvoreingenommen als im Kerne seiner reinökonomischen 
Ausführungen. Sowie es zu Anwendungen kommt, macht sich die Ueberschätzung 
der praktischen Bedeutung seiner Resultate störend bemerkbar und an diese An¬ 
wendungen knüpfte vor allem die Kritik an. 

III. Das klassische System und seine Ausläufer *)• 

1. Oekonomische Klassiker nennt man gewöhnlich die leitenden englischen 
Oekonomen in der Periode zwischen dem Erscheinen des Wealth of Nations (1776, 
so daß Smith selbst der erste ist) und der Principles von John St. Mill 1848. Die ersten 
20 Jahre dieser Periode sind arm an neuen Taten, sie sind eine Zeit sei es der Erschlaf¬ 
fung oder der Sammlung. Dann geht es mit Kraft und Frische steil bergan bis zu 
einem Kultminationspunkt, den Principles Ricardos 1817. 10—15 Jahre erhält 
sich innerlich und äußerlich die Diskussion auf dem errungenen Niveau, dsym wird 
es immer klarer, daß sich der Impuls ausgegeben hat, und nur eine vorübergehende 
Rallierung tritt im Gefolge des Werkes von Mill ein. Der Anfangspunkt der Periode 
ist weniger willkürlich, als es solche Anfangspunkte meist sind, denn wirklich gingen 
fast alle Autoren von dem Tatsachen- und Gedankenmaterial aus, das der Wealth 
of Nations bot. Die übrige Literatur wirkte nicht mehr lebendig auf sie, auch soweit 
sie nicht in Vergessenheit geriet, was in erstaunlichem Maße geschah. Allein um so 

l ) Spezialliteratur gerade für die Geschichte dieser Periode gibt es wenig, obgleich natür¬ 
lich die Werke derselben zahllose Diskussionen in so gut wie allen theoretischen Arbeiten ge¬ 
funden haben. Vgl. aber: C a n n a n , The History of the theories of production and distri- 
bution in English Political Economy from 1776 to 1848 (2. Aufl. 1903); Bonar, Malthus 
and his Work (1888); Leslie Stephen, The English Utilitarians. D i e h 1, Sozialw. 
Erläuterungen zu Ricardo. Ders., Proudhon. Schüller, Die klassische Nationalökono¬ 
mie und ihre Gegner. — Die in der einleitenden Literaturübersicht angegebenen Geschichten 
von Einzelproblemen beschäftigen sich natürlich vornehmlich mit den Ansichten dieser Epoche. 



54 I* Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. III 

willkürlicher ist es, die kleine Bodenschwelle, die Mills Werk am Wege der Oekonomie 
bedeutete, zum Endpunkt zu nehmen. Wir wollen es nicht tun, sondern in diesem 
Abschnitt mehr von einer Richtung als von einer Zeitperiode sprechen und diese 
Richtung bis auf die Gegenwart verfolgen. Und nicht nur diese Richtung, oder 
besser die Strömungen, die in ihr zu einer recht brüchigen Einheit zusammengefaßt 
werden, sondern auch die ja wesentlich unter ihrem Einfluß stehenden Entwick¬ 
lungen in andern Ländern und endlich auch die wissenschaftlich wichtigsten Gegen¬ 
strömungen der Epoche sollen schlecht und recht zu einem Bild vereinigt werden, 
das viele Züge verschwinden, aber dafür andere hervortreten lassen wird. 

2. Lehrsätze nicht Personen sind die Helden dieser Darstellung. Nur als Leit¬ 
faden seien jetzt schon einige Namen genannt: Smiths bedeutendster Nachfolger *), 
der in einer bestimmten — guten oder bösen — Richtung wirklich weiterging, ist 
D. R i c a r d o (Gesamtausgabe seiner Werke ed. Mc Culloch 1. Aufl. 1846, adnot. ed. 
von Gönner), neben dem in mancher Beziehung E. W e s t (An Essay on the appli- 
cation of Capital to land 1815, ed. Holländer 1903) und andere Zeitgenossen stehen, 
die im gleichen Gedankenkreis webten, so daß mehr die Kraft seiner Analyse und 
sein echt wissenschaftlicher Blick für die Dinge, als die Neuheit des einzelnen Resul¬ 
tats seinen Titel auf Unsterblichkeit bildet. Er machte Schule, ohne daß doch seine 
unbedingten Anhänger auch nur in England eine Majorität bildeten, worüber nur 
die Huldigungen des breiten Publikums vor dem Glanz seines Namens und der 
Erfolg aus seinen Werken gezogener Argumente für praktisch-politische Zwecke 
täuschen, während auf dem Kontinent und in Amerika sein Einfluß stets gering war. 
Die beiden Männer, die sich im eigentlichsten Sinn als Schüler Ricardos fühlten 
— J a m e s M i 11 (Elements of Political Economy 1. Aufl. 1821, 3. veränderte 1826) 
und der vielschreibende J. R. Mc Culloch (nennen wir: Principles of Political 
Economy 2. Aufl. 1830) — verdienen zwar nicht ganz das wegwerfende Urteil, das 
ihnen so oft wurde, zeigten sich aber sicherlich den weiteren Aufgaben, die zu lösen 
gewesen wären, nicht gewachsen, stehen tief unter ihrem Meister und bereiteten 
so die Katastrophe der ganzen Richtung trotz besten Willens vor. Viel höher als 
sie stehen de Quincey (ökon. Hauptwerk: The Logic of Political Economy 1844), 
ein feiner Geist, dessen Arbeiten aber stets Kaviar für das Volk gewesen sind, und 
W. N. Senior (Political Economy 1836 in der Encyclopaedia Metropolitana), 
der sich vielfach selbständig machte. Und nicht zu unterschätzen ist auch T o r r e n s 
(An Essay on the Production of Wealth), der ebenfalls nicht eigentlich zur „Schule“ 
gehört, aber ihr doch näher stand, als er selbst glaubte. Wesentlich in der von Ricardo 
eingeschlagenen Richtung liegt auch das eingangs erwähnte Werk John Mills, soweit 
sein ökonomischer Inhalt in Betracht kommt 2 ), und ein Deszendent in gerader 
Linie ist C a i r n e s (Leading Principles of Political Economy newly expounded 
1874), der hoch über allen andern direkten Nachfolgern Ricardos an wissenschaft¬ 
lichem Talente steht und, von Ricardo und Mill ausgehend, einen eigenen, wesent¬ 
lich selbständigen Standpunkt gewann. Unter manchen neuen Einflüssen stehen 
dann der Millschüler Sidgwick (Principles of Political Economy 1. Aufl. 1883) und 
Nicholson (Pinciples of Political Economy 1893), beide müssen aber in einem 
weitern Sinn zu dieser Gruppe gezählt werden, während den leitenden englischen 

*) Der Wealth of Nations wurde immer "eifrig^diskutiert und auch mehrfach kommentiert. 
In letzterer Beziehung ragt D. Buchanan hervor 1814. Auch M c Culloch publi¬ 
zierte eine Smithausgabe mit Kommentar. Eine sehr einflußreiche Exposition fand Smith 
durch die Vorlesungen und Schriften des leitenden schottischen Philosophen der Wende des 
18. und 19. Jahrhunderts, an denen sich sehr weite Kreise ökonomisch bildeten, Dugald 
Stewart. (Noch Palmerston hat Zeugnis für den Eindruck abgelegt, den dieser Mann auf 
seine zahlreichen Schüler machte.) 

*) An äußerm Erfolg stand lange das auf demselben prinzipiellen Boden stehende Manual 
(1. Aufl. 1863) Fawcetts dem Werke Mills gleich. An diesen beiden Büchern hat sich die 
weitaus überwiegende Mehrzahl der englischen Oekonomen der zweiten Hälfte des 19. Jahrh. 
gebildet, bis der Einfluß Marshalls sie zurückdrängte. 



III. Das klassische System. 


55 


Nationalökonomen von heute A. Marshall (Principles of Political Economy 
I. Bd. 1. Aufl. 1890) nur mehr ein loses Band — fast nur der Pietät — mit ihr ver¬ 
bindet, trotz seiner eigenen gegenteiligen Behauptung. In einem Gegensatz, der uns 
noch beschäftigen wird, zu Ricardo stand in reinökonomischer Beziehung T. R. 
M a 11 h u s (Principles of Political Economy, 1. Aufl. 1820, 2. Aufl. 1836). Seiner 
Bevölkerungstheorie werden wir noch begegnen. An sie vor allem knüpft sich seii^ 
Ruhm, worüber man oft die Tatsache vergißt, daß er als Oekonom in engerem Sinn 
vieles geleistet hat, das noch lange nachwirkte und vieles vorwegnahm, was sich später 
durchrang. Sowohl wer ihn als Genie, wie wer ihn als unfähig hinstellt, tut diesem 
tiefen und ernsten Arbeiter unrecht, der eben als solcher gewertet werden muß. 
Als direkter Schüler von ihm ist allerdings nur C h a 1 m e r s (On Political Economy 
1832) zu bezeichnen, der für ihn das, was Mc Culloch für Ricardo war. Und in einem 
sehr scharfen Gegensatz zu Ricardo steht Lauderdale, dessen Inquiry into 
the nature and origin of public wealth (1804) eine Talentprobe war, die es bedauern 
läßt, daß er an der Klippe scheiterte, die soviel Wollen und Können auf unserem 
Gebiet ihrer Frucht beraubt hat: an mangelnder Schulung. 

Aber zwei Namen gehören zur Ricardoschule, die man nicht zu ihr zu zählen 
pflegt: KarlMarx und KarlRodbertus. Wir folgen dem eigenen Wunsche 
Marx*, wenn wir ihn in dieser Darstellung, wo nur die wissenschaftliche und die 
ökonomische Seite seines Lebenswerkes in Betracht kommt, hierher zählen — trotz 
des Widerspruchs A. Marshalls —> denn als Fortsetzer Ricardos hat er sich selbst 
gefühlt. Dazu kommen wir noch. Die „Kritik der politischen Oekonomie“ erschien 
1859. Die 3 Bände des „Kapitals“ in erster Auflage 1866, 1886 und 1894, dann noch 
die „Theorien über den Mehrwert“. Von Rodbertus (,,Zur Erkenntnis unserer staats¬ 
wirtschaftlichen Zustände 1842, soziale Briefe an v. Kirchmann 1850/1 und 1884) 
gilt nicht ganz dasselbe. Aber in seinen Grundgedanken liegt ein sehr starkes Ricar- 
dianisches Element an entscheidender Stelle. Die Bedeutung Rodbertus’ für die 
deutsche Nationalökonomie ist groß. Denn obgleich kaum eines seiner konkreten 
Resultate sich auf die Dauer bewährte oder überhaupt auch nur irgendwie erheb¬ 
lichen Erfolg bei den Zeitgenossen hatte, so hat er um so mehr durch seine Gesamtauf¬ 
fassung und manche Grundbegriffe (wie z. B. seinen Rentenbegriff) gewirkt. Abge¬ 
sehen davon mußte schon der Umstand, daß er mit ganzer Seele Schaffender und 
Ringender und ihm das Detail der Theorie wirklich Herzenssache war, ihm in der 
Unfruchtbarkeit und Lethargie der damaligen deutschen Wissenschaft einen Einfluß 
sichern, der lange vorgehalten und formend gewirkt hat. Vom dunklen Hintergrund 
der Epoche in Deutschland hebt sich um so strahlender der Stern v. Thünens 
ab (Der isolierte Staat in Beziehung auf Landwirtschaft und Nationalökonomie 1826, 
1850, 1863), jeder Zoll ein Denker. Die Einführung der Analyse mit Hilfe des Grenz¬ 
begriffs und damit einer der größten Schritte auf dem Wege der Nationalökonomie 
ist auf sein Konto zu setzen *). Auch seine Basis sind die englischen Klassiker, aber 
er steht ebenbürtig neben ihren Besten. Aber er hat fast gar nicht gewirkt. Das 
beweist schon der Umstand, daß man noch heute, im unklaren Gefühl seiner Bedeu¬ 
tung sein Verdienst in allen möglichen Nebendingen, sogar in den in seinem Werk 
enthaltenen Betriebsrechnungen, sucht 2 ). v. H e r m a n n , der vierte große Name 
dieser Epoche in Deutschland, steht nicht so allein. Sein Werk („Staatswirtschaft¬ 
liche Untersuchungen über Vermögen, Wirtschaft, Produktivität der Arbeit, Kapital, 
Preis, Gewinn, Einkommen und Verbrauch“ 1832) ist der Höhepunkt der Heer¬ 
straße deutscher Oekonomen dieser Zeit. Ueber diese ist wenig zu berichten. Nicht 


*) Bei Ricardo ist die Grenzanalyse nur in Ansätzen vorhanden. Klarer erkannt hat ihre 
Bedeutung Rooke (An Inquiry into the principles of national Wealth 1824). 

*) So konnte R. Ehrenberg in ihm einen Vertreter der Detailforschung auf dem Gebiete 
des geschäftlichen Lebens sehen. Auch sonst reklamiert man ihn gelegentlich als „Empiri¬ 
ker“. Das ist er auch, denn alle Wissenschaft ist empirisch. Aber er ist es nur in demselben 
Sinn wie Ricardo. 



56 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. III 

als ob wenig geschrieben worden wäre; nicht als ob darin nicht manches Gute gewesen 
wäre. Aber es weht kein Geist in diesen Büchern und wir müssen es verstehen, wenn 
einerseits das breite Publikum und andererseits gerade die lebhaftesten Köpfe von 
dieser Art von Wissenschaft abgestoßen werden mußten. In deutlichem Anschluß 
an die deutsche Kameralistik bewegten sich diese Autoren im übrigen, also gerade 
ün eigentlichen wissenschaftlichen Gedankengang, unter dem Einfluß des leicht 
zugänglichen Smith, wenn wir von den Ueberresten der Physiokraten absehen, die 
schon erwähnt wurden. Nach einer kurzen Periode des Uebersehenwerdens erlebte 
Smith in Deutschland einen großen Erfolg: Sartorius, Lüder, Kraus, Schlözer, Jakob, 
um einige der Bessern zu nennen, wandelten ganz seine Bahnen, hier und da ein 
wenig anders formulierend oder kritisierend. Einen höheren Flug nahm Soden 
(namentlich in seiner Nationalökonomie 1805), der auf einige Originalität Anspruch 
machen kann — allerdings auf eine völlig unfruchtbare und wenig anziehende. Mehr 
boten H u f e 1 a n d (Neue Grundlegung der Staatswirtschaftskunst 1807 und 1813), 
dessen gesunde, wenn auch keineswegs glänzende Analyse der wirtschaftlichen 
Grundfragen die Diskussion entschieden förderte, L o t z (Revision der Grundbegriffe 
1811) und Storch (Cours d’6conomie politique 1815), der etwa auf die Stufe der 
gleich .zu erwähnenden Franzosen zu stellen ist. Das Lehrbuch des Tages schuf 
Rau 1826. Auf den Schultern der Genannten steht Hermann, der sie alle turmhoch 
an Schärfe des Blicks, analytischem Talent und Originalität überragt. Neben ihm 
kann höchstens noch v. Mangoldt genannt werden (Volkswirtschaftslehre 186S 
unvollendet; Grundriß 1863, in der dritten [posthumen] Auflage fehlt der, einen we¬ 
sentlichen Teil der Leistung enthaltende Anhang), dessen Arbeiten ebenfalls heute noch 
lesenswert sind. Diese miteinander in enger Beziehung stehenden Schriftsteller, die 
mit der ältesten deutschen Oekonomie in deutlich erkennbarer Fühlung stehen, bilden 
eine Schule, die nach und nach und besonders durch Hermann charakteristische 
Züge gewann, so besonders in der Wertlehre. Ricardo wirkte auf dieselbe gar nicht*). 
Er war für sie nicht zugänglich, selbst Hermann hat ihn an einer Stelle gröblich 
mißverstanden, im übrigen ist die Ricardoübersetzung Baumstarks durch ihre Fehler 
allein schon für den Sachverhalt charakteristisch. Aber später trat Ricardos Ein¬ 
fluß mehr hervor, so namentlich in den Arbeiten H. Dietzels, zum Teil auch in 
denen A. Wagners. 

Das ist ja gewiß nicht alles. Manche Einzelleistung kann in dieser Ueber- 
sicht nicht erwähnt werden, ebensowenig die Spezialliteraturen der Finanzwissen¬ 
schaft, des Bankwesens usw. Die historische Schule ferner kündigte sich an, wenn¬ 
gleich ihre damaligen Vertreter und namentlich Roscher, a 1 s Theoretiker meist 
nicht höher standen als die Genannten. Doch die historische Schule wird uns später 
beschäftigen. F i c h t e s geschlossener Handelsstaat (1800) darf nicht vom Stand¬ 
punkt der Fachleistung angesehen werden, da verliert das hohe aber enge Ideal 
seines Autors zu viel. Die sog. romantische Schule — A. Müller (Elemente der 
Staatskunst 1809) ist der einzige Vertreter, der in einer Geschichte der Wissenschaft 
genannt werden darf — und selbst die lebens- und kraftvolle Gestalten Lists, 
v. Schäffles oder die Bernhardis, die uns noch begegnen werden, ändern das Ge¬ 
samtbild nicht wesentlich 2 ). 

l ) Und lag darin an sich auch ein Mangel, der nur gegen diese Gruppe spricht, so hat 
derselbe doch zu ihrem Vorteil ausgeschlagen, insoweit sich Ricardos Analyse nicht auf die 
Dauer bewährte — wie auf der Jagd kann man auch in der Wissenschaft durch Zurückbleiben 
weiterkommen als die andern, wenigstens scheinbar. 

*) Vielleicht hätte ich noch R o e s 1 e r s (Grundlehren der von A. Smith begründeten 
Volkswirtschaftstheorie, 2. Aufl. 1871) gedenken sollen. Und zwei abseits stehende, aber 
weit überdurchschnittlich begabte Männer müssen hier genannt werden: F. J. Neumann 
(besonders: Die Gestaltung des Preises unter dem Einfluß des Eigennutzens, Tübinger Zeit¬ 
schrift 1880, Grundlagen der Volkswirtschaftslehre 1889) ein sehr selbständiger Theoretiker, 
dem wir im Rahmen dieser Arbeit nicht volle Gerechtigkeit widerfahren lassen können, und 
D ü h r i n g (Kapital und Arbeit 1865, Kursus der National- und Sozialökonomie), ein Nach- 



III. Das klassische System. 


57 


In Frankreich stand die Sache nicht wesentlich anders. Ein vollständiges Bild 
würde wohl lebendiger sein, aber die Entwicklung der Fachwissenschaft ging, obgleich 
das den speziell wirtschaftlichen Fragen entgegengebrachte Interesse vielleicht leb¬ 
hafter war als in Deutschland, einen sehr ruhigen Weg. Wir müssen uns kurz fassen: 
Der Impuls, den die Physiokraten dem ökonomischen Denken gegeben hatten, ver¬ 
blutete bald und Smiths Herrschaft begann. Allerdings war der Mann, der diese 
„Unterwerfung“ durchführte, der mit Unrecht so oft geschmähte J. B. S a y (Trait6 
zuerst 1803, Cours complet 1828/9) kein bloßer Popularisator, sondern ein Mann 
von wissenschaftlichem Talent, der die Lehre Smiths in mancher Beziehung vervoll- 
kommnete. Deshalb hatte die französische Oekonomie damals ein wenn beschei¬ 
denes so doch größeres Maß von Originalität, als die deutsche — wenn man von deren 
einsamen Gipfeln absieht — gar nicht zu reden von der Art der Darstellung und der 
praktischen Einsicht, die ihr Werbekraft und Selbstbewußtsein verlieh. So wird 
es verständlich, daß sich Says Erbschaft im Sturme der Zeiten gut erhielt und später 
selbst den Uebergang zu neuen Auffassungen ohne allzugroße Erschütterung bewerk¬ 
stelligen konnte. Unter Says Nachfolgern seien R o s s i genannt, der freilich 
mehr nach der Richtung Ricardos hin abbog, ferner Dunoyer und Wolkoff, alle noch 
heute lesenswert. Vor allem aber verdient das Buch Cherbuliez* erwähnt zu 
werden, das in mancher Beziehung den Vergleich mit John St. Mills Werk aushalten 
kann. Und noch heute ist der Trait6 von Courcelle-Seneuil populär, 
der 1905 in 9. Aufl. erschien. Weniger Einfluß als die Werke Says fanden die De- 
stutt de Tracys, dessen allerdings nicht sehr tiefen ökonomischen Untersuchungen 
in einem weiten philosophischen Rahmen stehen, dessen ganze Anlage Beachtung 
verdient, trotz der Seichtheit mancher Teile. Vielfach läuft mit dieser Richtung 
eine andere zusammen, die nach ihrem wissenschaftlichen Grundbau von ihr getrennt 
werden muß. Sie ist an den Namen F. Bastiats (reinwissenschaftliches Haupt¬ 
werk: Harmonies 6conomiques 1850) geknüpft und in vieler Beziehung selbständig — 
oder doch jedenfalls unter anderem Einfluß. Eine eigene Richtung begründete auch 
Simonde „de Sismondi“ (für uns kommen hauptsächlich seine „nouveaux 
principes d’6conomie politique“ 1819 in Betracht) der zwar auch von Smith ausging 
aber wesentlich andre Bahnen einschlug. Nun wären noch eine Menge Leistungen 
zu erwähnen, die, teils im Rahmen der Grundlagen der Fachwissenschaft originelle 
Züge aufweisen, teils, wie St. Simon oder Proudhon, außerhalb desselben zu neuen 
Aspekten der wirtschaftlichen Dinge kamen, an denen keine Darstellung der Ent¬ 
wicklung unserer Wissenschaft vorübergehen dürfte. Allein es hätte keinen Zweck 
weitere Namen zu nennen. Im ganzen also herrschte reges Leben auf unserm Gebiete. 
Und die oft nicht gebührend eingeschätzte französische Fachwissenschaft dieser 
Zeit hat nicht nur relativ korrektere Auffassungen an die Stelle noch unvollkom¬ 
menerer gesetzt, sondern — was der deutschen nicht gelang—in ihren Mittelschichten 
ein hinlänglich hohes Niveau erreicht, um sich Kontinuität der Entwicklung zu si¬ 
chern *). 

Die italienische Literatur erwachte erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts aus 
der Erstarrung, in der sie seit den letzten Jahren des 18. gelegen hatte. Vorher stand 
sie ganz unter der Flagge eines recht seichten Smithianismus. Die Arbeiten G i o- 
jas, Romagnosis, Valerianis und S c i a 1 o j a s bieten uns nicht 
viel. Kaum ein Strahl aus der großen Vergangenheit fällt auf sie. Ein wenig mehr 
bieten F u o c o und Cattaneo. Am Beginn des neuen Aufschwungs, der sich 
in der Gegenwart erhält, steht Francesco Ferrara (Lezioni; prefazioni 


folger Lists und Careys, dessen Talent nicht zu voller Geltung auf unserm Gebiet kam und 
dessen Arbeiten weniger beachtet wurden als sie es verdient hätten. 

*) Der bedeutendste Theoretiker Frankreichs in dieser Zeit blieb fast völlig unbeachtet, 
A. Cournot (Recherches sur les principes math&natiques de la throne des richesses 1838), 
einer der besten Geister, die sich jemals mit unsrer Disziplin beschäftigten. Seine Hauptver¬ 
dienste liegen auf dem Gebiete der Preistheorie. 



58 I* Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. III 

zu den Ausgaben der Bibliotheca dell* Economista), der wohl von Carey und Bastiat 
empfangene Anregungen kräftig zu entwickeln wußte und überaus belebend wirkte. 
Boccardo (trattato 1853, viele Spezialwerke) und Messedaglia (Deila 
teoria della Popolazione 1858 u. a.) stehen an seiner Seite. Ernste Arbeiter wie 
N a z z a n i (rendita 1872, profitto 1877, salaria 1880), Lampertico u. a. 
folgten. 

Nachdem in den Vereinigten Staaten überhaupt der nötige Atmungsspielraum 
für wissenschaftliche Arbeit gewonnen war — vorher können wir nur in den Aeu- 
ßerungen von Politikern usw. nach Elementen einer ökonomischen Gesamtauffas¬ 
sung suchen; unter ihnen ragt A. Hamilton hervor (Works, ed Lodge 1885/6) 

— bewegte man sich im Wesen in den Bahnen A. Smith’s. D. Raymond (Poli¬ 
tical Economy 1820) und Th. C o o p e r (Lectures, 2. Aufl. 1831), wären da u. a. 
zu nennen. Die Dreißigerjahre bringen zwei große originelle Leistungen. Die eine 
(John Rae: Statement of some new principles . . . 1834; neue Ed. von Mixter 
u. d. Titel Sociological Theory of Capital 1905) wirkte allerdings, trotz der Zitate 
von J. St. Mill und der italienischen Uebersetzung in der Bibliotheca dell’ econo¬ 
mista fast gar nicht 1 ). Die andre aber (H. Carey: Principles of Political Economy 
1837—40, später Harmony of interests 1851, Principles of Social Science 1857—60; 
das sind seine wichtigsten Werke) um so mehr. Trotzdem Carey historisch wie theo¬ 
retisch oberflächlich, ja selbst dilettantisch war, hat der große Zug seiner Gesamt¬ 
auffassung, die gerade zu enthalten schien, was eine ringende Nation bedurfte, und 
seine Gedankenfülle faszinierend auf seine Landsleute und weit über deren Kreis 
hinaus gewirkt. Wissenschaftlich und speziell ökonomisch sind die meisten Arbeiten 
der nächsten Zeit unter seinem Einfluß, nicht nur die der Anhänger seiner politischen 
Ansichten (wie Colwell, Peshine Smith, Greeley, Eider, R. E. Thompson) sondern 
auch deren Gegner (wie vor allem Perry, aber auch A. Walker u. a.). Neben Careys 
Richtung trat dann die des Bodenreformers H. George (Progress and Poverty 
1879; unter seinen Nachfolgern u. a. wichtig Gun ton: Wealth and Progress 1888), 
dessen reinwissenschaftliche Leistung — wesentlich auf klassischem Boden stehend 

— nicht unbeträchtlich ist, und alle diese Strömungen münden in das Lebenswerk 
des sehr selbständigen F. A. W a 1 k e r ein (The Wages Question 1876 u. a. Werke), 
dessen Political Economy (1883) für lange das führende systematische Werk war. 
Ein energischer und fähiger Forscher, leitete er die amerikanische Wissenschaft 
aus den alten Bahnen hinaus. 

3. Die äußern Schicksale der skizzierten Richtungen haben bei aller Verschie¬ 
denheit doch manches Gemeinsame. Betrachten wir als Beispiel jene Gruppe, in 
der, wie auch unser so unvollständiger Ueberblick gezeigt hat, das frischeste Leben 
pulsierte, die Ricardoschule. Der eifrigen Arbeit der ersten beiden Jahrzehnte des 
19. Jahrhunderts, deren äußere Impulse — Zeitfragen und Zeitideen mannigfachster 
Art — hier nicht geschildert werden können, blühte ein äußerer Erfolg 2 ), wie man ihn 
nicht oft beobachten kann. Alle Arbeiter selbst waren von Stolz und Freude über 
das Erreichte erfüllt. Ein Teil der öffentlichen Meinung nahm sie wie siegreich 
zurückkehrende Krieger auf, ein andrer Teil, dem sie herzlich unsympathisch waren, 
wußte wenig Positives zu entgegnen. Mit Macht drangen die Ideen, verunstaltet 
und mißverstanden, wie das nicht anders möglich ist, in weite Kreise. Die Bücher 

x ) Ob ihm ein sehr — vielleicht über Verdienst — anerkanntes Werk (H e a r n , Pluto- 
logy) viel verdankt, ist zweifelhaft. Mixter behauptet es. 

*) Ricardo wurde von seinen Zeitgenossen über A. Smith gestellt. Wir werden das ver¬ 
stehen, denn er drang sicher weiter und tiefer. Aber wir werden auch verstehen, daß als später 
Zweifel mannigfacher Art über den Wert der Richtung, in der er vorgedrungen, laut wurden, 
nun wieder Smith — und gerade wegen seiner relativen Oberflächlichkeit — sich günstiger 
ausnahm. Nur darf uns das nicht im Urteil über die Person Ricardos bestimmen. Es gibt 
einen sehr achtenswerten Gelehrtentypus, der jenem Feldherrntypus gleicht, dessen einzige 
Sorge und höchster Ruhm es war, nie geschlagen zu werden. Aber die besten gehören nicht 
dazu. 



III. Das klassische System. 


59 


Mrs. M a r c e t s (Conversations on Political Economy 1816) und Miss M ar¬ 
tin e a u s (Illustrations of Political Economy 1832—34) zeigen, daß selbst in 
Mädchenpensionaten Interesse für die neuen unfehlbaren Wahrheiten vorhanden 
gewesen sein muß. Das alles ist begreiflich und nichts berechtigt uns darüber zu 
scherzen. Aber ebenso begreiflich ist, daß diesem Taumel Ernüchterung folgen 
mußte. Jene Popularökonomie, die sich im Kopf des Laien malte und natürlich ein 
Zerrbild der wissenschaftlichen war, ging nicht tief und mußte bald andern An¬ 
schauungen Platz machen, obgleich sich gewisse Phrasen zur Verzweiflung leben¬ 
digerer Geister lange erhielten — übrigens nicht ohne Recht, wenn man sich die 
Anschauungen vorstellt, an deren Stelle sie getreten waren. Für uns ist wichtiger 
erstens, daß gerade diese Popularökonomie zur Grundlage der spätem Kritik wurde, 
und sodann, daß der wissenschaftliche Impuls bald erlahmte. Schon in den Drei¬ 
ßigerjahren wird in Einleitungen zu wissenschaftlichen Werken die Klage stereotyp, 
daß die Wissenschaft stagniere. Und diese Klage war berechtigt. Schon seine 
nächsten Nachfolger haben Ricardo in einzelnen Punkten nicht recht verstanden, 
viel weniger aber konnten sie weiterbauen. Ein solcher Zustand muß einer jungen 
Disziplin sehr gefährlich sein: Wenn sie anfängt zu langweilen, so wenden sich die 
aufstrebenden Talente bald von ihr ab, ohhe viel zwischen der Disziplin und ihren 
Vertretern zu unterscheiden. Die Tendenz auszubrechen, schon an sich sehr stark 
in Momenten, wo gewisse Grundlagen gelegt sind und nun ausgearbeitet werden soll, 
wird übermächtig, wenn die führenden Männer nicht oder nicht mehr imponieren 
und der Kritik leichte Erfolge winken, zumal in solchen Lagen jedermann die Mög¬ 
lichkeit vor Augen steht, neue Grundlagen zu schaffen. Deshalb sank die klassische 
Oekonomie schon in England und noch viel mehr in Deutschland schnell zusammen 
und eine Sturzwelle von Feindseligkeit ergoß sich über die unglücklichen Epigonen, 
während der Kreis der „Orthodoxen“ — so nannte und nennt man alle jene, die 
vor allem an dem festhielten, was man als das notwendig aus der klassischen Oekono¬ 
mie fließende wirtschaftspolitische Programm betrachtete — immer kleiner wurde. 
Dieser Angriff war berechtigt und begreiflich. Aber unter dem Einfluß des überall 
früher oder später einsetzenden neuen Aufschwungs theoretischen Interesses erhob 
sich eine besondere Art von Reaktion, die Erwähnung verdient. Der Angriff war 
hauptsächlich durch den Wechsel der wirtschaftspolitischen Anschauungen und 
dann durch gegnerische methodische Grundsätze hervorgerufen. Dazu werden wir 
später kommen. Aber zum Teil bezog er sich auch auf das theoretische Gerüst des 
klassischen Systems und insoweit ging er hauptsächlich von Gegnern anderer Art, 
nämlich von Vertretern neuer theoretischer Richtungen aus. Demgegenüber be¬ 
obachteten wir heute namentlich in England, aber auch in andern Ländern eine 
Tendenz zur Rehabilitierung der Klassiker, besonders Ricardos. Für eine solche 
Rehabilitierung ist Vieles anzuführen. Nicht nur muß eine andre Würdigung der 
historischen Leistung Ricardos durchgesetzt werden, als sie mitunter üblich ist. 
Sondern viele Einwände sind auch ganz vom Standpunkt gegenwärtiger Erkenntnis 
unbegründet oder doch zu weitgehend. Aber das hat seine Grenzen. Der Versuch 
alle die für die Lehre der Klassiker charakteristischen Punkte, die wir heute mi߬ 
billigen, weg- und alle Fortschritte neuerer Analyse in sie hineinzuinterpretieren, 
ist geeignet, unser Bild vom Entwicklungsgang unserer Wissenschaft zu entstellen. 
Haben die einen die Klassiker als Stümper verschrien, so zeigen manche Moderne 
Lust, jede Kritik als Symptom mangelnden Verständnisses zu betrachten. So ist 
es nötig, nicht bloß zwischen den auf politischen Momenten beruhenden Stand¬ 
punkten, sondern auch zwischen tendenziösen wissenschaftlichen Urteilen hindurch 
sich den Weg zu einem wirklichkeitstreuen Bild ihrer Leistung zu bahnen. Die 
besten unter den Klassikern selbst haben uns das nicht leicht gemacht. Ricardos 
Principles sind das schwierigste Buch der Nationalökonomie. Es ist schon nicht 
leicht es zu verstehen, noch schwerer es zu interpretieren, am schwersten es zu wür¬ 
digen. 



60 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. III 


4. Vor allem muß man sich darüber klar sein, daß die meisten — und alle die 
leitenden — Klassiker ein viel engeres Ziel im Auge hatten als manche der Frühem 
und viele der Spätem. Schon A. Smith dachte nicht daran, aus ökonomischen Bau¬ 
steinen eine soziale Universalwissenschaft zusammensetzen zu wollen, schon der 
Wealth of nations grenzt eine Fachwissenschaft vom Wirtschaftsleben ab. Noch 
engere Grenzen zog sich Ricardo — er wollte im Wesen nur begriffliche Klarheit 
in das bringen, was in der heutigen deutschen Wissenschaft mitunter Verkehrs¬ 
theorie genannt wird, in generelle Formen des Wirtschaftsprozesses der Ver¬ 
kehrswirtschaft. Es gibt Ausnahmen. Die wichtigste davon ist Marx, der das 
Leben und Wachstum des sozialen Körpers überhaupt erfassen wollte. Aber im gan¬ 
zen kann man sagen, daß in dieser Epoche ein verhältnismäßig kleiner, in sich ge¬ 
schlossener Kreis von sozialwissenschaftlichen Problemen alle besten Kräfte in 
Anspruch nahm. Auf ihn waren alle Grundauffassungen eingestellt, ihm galten die 
besten Diskussionen. Wie immer man nun auch über diese Selbstbeschränkung 
denken mag, sicher darf man den Auffassungen der Klassiker nicht Einwände ent¬ 
gegenhalten, die diesen Auffassungen auf andern sozialwissenschaftlichen Gebieten 
entgegenstehen würden. Und man darf nicht vergessen, daß diese Selbstbeschrän¬ 
kung zu einer Konzentrierung und Spezialisierung führte, die eine Voraussetzung 
für die überhaupt erzielten Fortschritte war und somit mindestens „historisch be¬ 
rechtigt“ ist. Aus den noch verbleibenden Differenzen zwischen der Weite der Auf¬ 
gaben, die sich die einzelnen Autoren stellten, erklärt sich auch das, was man viel¬ 
fach — und besonders W. Hasbach hat darauf viel Gewicht gelegt — als eine Ver¬ 
schiedenheit der Methoden der einzelnen Klassiker gefühlt hat. Ricardo greift das 
theoretische Grundproblem an. Deshalb erscheint er uns als besonders „abstrakt“. 
Smith packt ruhig Massen von Tatsachen verschiedensten Charakters aus. Des¬ 
halb erscheint er vielen als „induktiv“. Aber in theoretischen Fragen kann man 
wohl weniger scharf und tief sein, aber nicht wesentlich anders Vorgehen als 
Ricardo. In solchen Fragen sind Smiths Einzelbeobachtungen nur Beispiele und 
Beiwerk. Im übrigen liegen diese Verschiedenheiten in der Darstellungsweise. 
Ricardo drängt in atemloser Hast, Smith trägt behaglich vor — gleichsam als Pro¬ 
fessor, der weiß, daß er seinem Hörer oder Leser nicht zuviel zumuten darf. Das 
sieht dann so aus wie ein prinzipieller Unterschied. Das darf uns nicht über die 
Einheit der angewandten Methode täuschen x ). 

Hand in Hand mit dieser Beschränkung auf eine Wirtschaftslehre geht die For¬ 
derung nach einer Trennung der Untersuchung dessen, was ist, von der Erörterung 
dessen, was sein soll, also nach einer Trennung von Wissenschaft und Politik. Wir 
finden diese Forderung ziemlich allgemein im Prinzip vertreten, so in Deutschland 
von Jakob, Hufeland, Rau u. a., in England von Malthus, dessen Einleitung zu 
seinen Principles zu den besten Leistungen auf dem Gebiete der Methodenfragen 


*) Besonders Hasbach ist gegen diese Ansicht aufgetreten und hat durch Vergleichung 
prinzipieller Aeußerungen der Klassiker die angebliche Fabel von der Einheit ihrer Methode 
zu widerlegen gesucht. Sicher waren die prinzipiellen Anschauungen der einzelnen Autoren 
verschieden und ebenso ihre Darstellungsweise. Trotzdem wird kein Kenner der Theorie 
daran zweifeln, daß sie in theoretischen Fragen alle im Wesen denselben Weg 
gehen. Man hat vielfach Malthus in einen methodischen Gegensatz zu Ricardo gestellt. Ganz 
mit Unrecht, da Malthus nur aus zwei Gründen uns „induktiver“ erscheint als Ricardo: Ein¬ 
mal, weil er auf einem außertheoretischen Gebiet deskriptiv arbeitete, in der Bevölkerungs¬ 
theorie. Uebrigens hat er das Material wesentlich zur Verifizierung schon gewonnener An¬ 
sichten gesammelt. Und zweitens, weil seine Principles auch historische Tatsachen mitteilen: 
Aber der Kern seines Gedankengangs und die Art seiner Argumentation ist geradeso „theore¬ 
tisch“, nur nicht so kühn und scharf, wie bei Ricardo. Daran ändert es nichts, daß beide 
Autoren (Briefe Ricardos an Malthus, ed. Bonar) von einem methodischen Gegensatz sprechen: 
Es ist sehr gewöhnlich, daß Gelehrte in einem Streit einander verfehlte Methoden vorwerfen, 
wenn es mit den konkreten Argumenten nicht von der Stelle geht. Ricardo verlor die Geduld 
mit dem schwerfälligem Gegner und dieser bezeichnete das, was ihm nicht einleuchtete, als 
„zu abstrakt“. Das ist alles. 



III. Das klassische System. 


61 


gehört, in Frankreich von Say u. a. Das beste Plädoyer für die Ablehnung jedes 
Werturteils seitens des Oekonomen überhaupt, das je geschrieben wurde, findet 
sich bei Senior, dem wir als Vertreter der Gegenansicht Mc Culloch gegenüberstellen 
können. Nach und nach entwickelte sich im klassischen Einflußkreise ganz jene 
Ansicht über diese Frage, die sich heute endlich allgemein durchzuringen scheint: 
Sidgwick hat sie am besten formuliert. Seine Ausführungen in der Einleitung seiner 
Principles stimmen vollkommen mit den Aeußerungen M. Webers in der Diskussion 
auf der Wiener Tagung des Vereins für Sozialpolitik überein. Nur wurde weder 
die Beschränkung der Oekonomik auf eine Wirtschaftslehre, noch die prinzipielle 
Scheidung von Analyse und Politik allgemein anerkannt. Besonders die Gegner 
der Klassiker wie Sismondi u. a. konnten sich von der alten Vorstellung nicht los¬ 
ringen — deshalb auch nie die Resultate der Klassiker in richtigem Licht und los¬ 
gelöst von den politischen Ideen, die sich daran schlossen, betrachten —, aber auch 
manche Klassiker selbst sündigten in der einen oder andern Beziehung 1 ). Als Bei¬ 
spiel für die dennoch herrschende Auffassung sei etwa Says Definition der National¬ 
ökonomie angeführt, die sich in der 6. Aufl. seines Traitö zum erstenmal findet und 
deren einfache Eleganz er im Cours complet allerdings wieder verdirbt: „l’exposition 
de la maniere dont se forment, se distribuent et se consomment les richesses“ — oder 
die Ricardos, der (Letters to Malthus, ed.Bonar, p. 175) in derOekonomie eine Unter¬ 
suchung sieht into the laws which determine the division of the produce of industry 
amongst the classes who concur in its formation. Da wird also die Oekonomie ge¬ 
radezu mit Verteilungstheorie identifiziert, worin, nebenbei gesagt, allein schon eine 
genügende Antwort auf die haltlose Phrase liegt, die wir schon bei Sismondi und 
später oft finden, die Klassiker hätten ein ungebührliches Gewicht auf das Produk¬ 
tions- zum Schaden des Verteilungsproblems gelegt. Typisch ist Senior’s Definition, 
nach der die Oekonomie die Wissenschaft ist, which treats of the nature, the pro- 
duction and the distribution of wealth. — Doch vergessen wir nicht: Die bewußte 
Formulierung dieser Auffassungen ist gewiß bedeutsam und interessant, aber der 
darin liegende sachliche Fortschritt darf nicht überschätzt werden. Sachlich ist es 
auch schon in der früheren Literatur möglich, Wissenschaft und Politik zu scheiden. 
Zitieren wir noch John St. Mills Definition: The Science which traces the laws of such 
of the phenomena of society as arise from the combined Operation of mankind for 
the production of wealth in so far as those phenomena are not modified by the pur- 
suit of another object. 

Natürlich enthielten sich aber die Autoren dieser Epoche ebensowenig „prak¬ 
tischer Anwendungen“ als die Aeltern oder die Spätem. Sie taten es um so weniger 
als sie den Wert ihrer Resultate und deren Bedeutung für das konkrete Phänomen 
sehr überschätzten. Es ist nun nicht meine Aufgabe über ihre Stellung zu den prak¬ 
tischen Fragen der Zeit zu berichten. Nur ein Punkt ist dabei wesentlich für uns. 
Eine besonders in Deutschland noch heute oft geäußerte Ansicht läßt sich dahin 
präzisieren, daß die Theorien der Klassiker nichts andres als Waffen für praktische 
Zwecke waren, daß sie vornehmlich dem Bedürfnis des politischen Kampfes der 
Zeit ihr Entstehen verdankten — daß politische Tendenzen die Obersätze waren, 
die den wissenschaftlichen Gedankengang leiteten. Ist das richtig? Gewiß haben 


x ) Doch trat z. B. J o h n St. M i 11 gelegentlich der schon frühe und noch heute po¬ 
pulären Meinung entgegen, die naiverweise in der Oekonomie eine Maschine zu Produktion 
politischer Programme sieht. Vgl. seine an Lowe gerichteten Worte, zit. in Jevons, Principles 
of Economics and other Papers, ed. Higgs, p. XXI: „In my Rt. Hon. friends mind political 
economy appears to stand for a set of practical maxims. To him it is not a Science, it is not 
an exposition, not a theory of the manner in which causes produce effects; it is a set of 
practical rules, and these practical rules are indefeasible ... So far from being a set of ma¬ 
xims and rules to be applied without regard to times, places and circumstances, the function 
of political economy is to find the rules which ought to govern any circumstances with which 
we have to deal — circumstances which are never the same in any two cases . . . Political 
economy has a great many enemies, but its worst enemies are some of its friends“. 



62 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. III 

die Fragen und die Ereignisse der Zeit der Oekonomie Probleme suggeriert; ebenso 
gewiß haben die den Autoren dieser Epoche bekannten Tatsachen ihren Gedanken¬ 
gang geradeso bestimmt, wie eine jede Wissenschaft in jedem gegebenen Augenblick 
von dem vorhandenen Vorrat an Material abhängt; endlich ist es gewiß, daß für das, 
was ein jeder aus seinen wissenschaftlichen Untersuchungen schloß, seine po¬ 
litischen Wünsche sehr bestimmend waren. Aber es ist ganz falsch und außerdem 
ein schweres Unrecht, darüber die Unvoreingenommenheit der eigentlich wissen¬ 
schaftlichen Arbeit zu verkennen. Dieselbe ergibt sich aus den folgenden drei 
Kriterien: Erstens vermögen wir die wissenschaftliche Filiation aller we¬ 
sentlichen Lehrsätze nachzuweisen, d. h. wir vermögen zu sehen — und eben das 
Unvermögen dazu *) erklärt erst das Suchen nach politischen und, wie wir gleich 
erwähnen werden, auch philosophischen, Hintergedanken und Dogmen, das wir so 
häufig finden —, daß und wie ein jeder Satz auf wissenschaftlichen Argumenten 
beruht und durch solche — ob sie nun richtig oder falsch sein mögen — seine Auf¬ 
stellung zu erklären ist. In bescheidenem Maß werden das unsre späteren Aus¬ 
führungen zeigen. Zweitens ergeben sich die praktischen Konklusionen der einzel¬ 
nen Autoren gar nicht so eindeutig aus ihren theoretischen Erkenntnissen, wie man 
oft glaubt, so daß einerseits die einen ohne die andern vertreten werden können 
und andrerseits ein wesentliches Motiv zur Fälschung der Wahrheit fehlte, die stets 
in einer Unterwerfung der Analyse unter praktische Zwecke, wenigstens potentiell, 
liegen müßte. Wir sehen denn auch: Auf Grund derselben Grundrententheorie — 
wenn man von einer unwesentlichen Aeußerlichkeit absieht, die die beiden zu nennen¬ 
den Autoren allerdings für wichtig hielten — kommen Ricardo und Malthus zu dia¬ 
metral entgegengesetzten Urteilen über Grundherrn und Komzölle. Das rein wissen¬ 
schaftliche Fundament ist Ricardo und Marx gemeinsam. Trotz des gleichen theore¬ 
tischen Fundaments war Carey Schutzzöllner, Bastiat Freihändler.' Smiths Lehr¬ 
system wird so oft als ein einziges Plädoyer für den Freihandel aufgefaßt und doch 
gab es, namentlich in Amerika, schutzzöllnerische Smithianer. Ich muß die Liste 
der Beispiele schließen. Beachten wir aber noch, daß sich diese praktischen Diffe¬ 
renzen nicht etwa durch Fehler und Inkonsequenzen der betreffenden Autoren er¬ 
klären. Die Lehrsätze kamen vielmehr aus dem eben neutralen Gebiet ökonomischer 
Analyse, die praktischen Forderungen einerseits aus dem Material der individuellen 
Umstände einer Volkswirtschaft, andrerseits aus dem Reiche der Neigungen, In¬ 
teressen, persönlichen Gesamtansichten usw. Drittens hatten die Autoren der klas¬ 
sischen Richtung überhaupt kein einheitliches Programm, für das sie hätten kämp¬ 
fen können l 2 * * * * * ). Das ist selbstverständlich, wenn man alle Länder im Auge hat. Nur 
bezüglich der englischen Klassiker und ihrer unmittelbaren Schüler auf dem Kon¬ 
tinent kehrt immer die Behauptung wieder, sie seien nichts andres als Vertreter 
der Interessen des industriellen Bürgertums gewesen. Smith und Ricardo hat Marx 
selbst Absolution erteilt 8 ). Aber J. St. Mill war doch unendlich mehr sozialrefor- 


l ) Dasselbe tritt auch in Cannans sonst sehr verdienstvollem Werk störend hervor. 

*) Sozialistische Schriftsteller sprechen von einer „bourgeoisen“ Oekonomik. Marx hat 

darunter (vgl. Kapital I. Bd. Vorwort) zunächst solche Oekonomen verstanden, die die ka¬ 

pitalistische Wirtschaftsform als Endpunkt und Vollendung aller Entwicklung und ihr dauern¬ 

des Fortbestehen als naturnotwendig betrachten. Allein in diesem Sinn gehören die meisten 
Oekonomen, u. a. John St. Mill, nicht dazu. Schon bei Marx selbst aber noch mehr bei seinen 
Anhängern ist eine andere Bedeutung an die Stelle dieser ersten getreten: Es heißt da jeder 

Bourgeois-Oekonom, der eben nicht politischer Sozialist ist, und nun erst bedeutet dieser Ter¬ 
minus den Vorwurf eines Klassenstandpunktes, aus dem sich alle konkreten Resultate, resp. 
alle Abweichungen von Marx’ Lehre, die sich bei den so Bezeichneten finden, erklären lassen 

sollen. 

8 ) Nicht so gerecht waren spätere: Immer wieder erblickt man in Smith den Vater des 
„Industrialismus“, im Sinn von kapitalistischer Profitwirtschaft und in Ricardo den Börsen¬ 
mann, der die Welt mit der Börse verwechselt und für den sich der Gipfel alles wünschens¬ 
werten durch hohen Profit charakterisiert. Selbst in der Oekonomik gibt es kaum eine grö 
ßere Ungerechtigkeit. 



III. Das klassische System. 


63 


matorisch gestimmt als Ricardo, abgesehen selbst von der Periode seines Lebens, 
wo er geradezu als Sozialist zu bezeichnen ist. Mc Culloch hat der Arbeiterschutz¬ 
gesetzgebung seiner Zeit warm zugestimmt, Cairnes war auf kapitalistische Interessen 
recht schlecht zu sprechen. Gewiß benützte die „Bourgeoisie“ jeden Satz der Klas¬ 
siker, der sich irgendwie dazu zu eignen schien und viele, die sich gar nicht dazu 
eigneten. Aber die klassischen Autoren selbst gehörten ja zum Teile der Gruppe 
der „Philosophical Radicals“, dieser Ahnherrn der modernen Fabier an — und waren 
deshalb in „bürgerlichen“ Kreisen höchst unpopulär. Natürlich darf man nicht ver¬ 
langen, daß sie die Anschauungen einer späteren Zeit vertraten. Dem Geiste nach, 
wenn auch nur für ihre Zeit und ihr Land, ist ihre praktische Stellung durchaus 
der des Vereins für Sozialpolitik analog. Wenn das nicht für alle galt, so beweist 
eben dieser Umstand die Neutralität der wissenschaftlichen Basis. 

5. Kommen wir nun zu einem Ueberblick über den allgemeinen wissenschaft¬ 
lichen Gesichtskreis der Autoren dieser Epoche und damit über die Beziehungen 
der Oekonomik zu andern Wissenschaften. In Deutschland überwog das Professoren¬ 
element sehr stark (obgleich drei von den vier Besten ihm nicht zugehörten) in Frank¬ 
reich überwog es ebenfalls, aber weniger stark und in England tritt es zurück, denn 
auch jene, die ganz oder doch zum Teile Lehrer waren, wie Senior, Malthus oder 
Cairnes, zeigen wenig von den Charakteristiken des Berufslehrers in ihren Schriften. 
Smith ist, wie erwähnt, eine Ausnahme* eine andre ist Sidgwick. Unter den Deut¬ 
schen finden sich, aber nicht unter den besten, manche sehr umfassende Geister, 
für die noch die Tradition des Naturrechts und der Moralphilosophie den Umfang 
ihrer Lehrtätigkeit bestimmte, dann unter jenen, die einfach Nationalökonomen 
waren, sehr viele philosophisch Gebildete, besonders Kantianer. Aber der äußerlich 
— in der Art der Definitionen, der Lebens- und Staatsauffassung usw. — oft sehr 
fühlbare Einfluß Kants, hat die konkreten ökonomischen Resultate kaum beein¬ 
flußt. Vom angeblichen Hegelianismus Marx’wird noch die Rede sein. Im übrigen 
brachten der eine diese der andre jene Mitgift zur ökonomischen Arbeit, so v.Thünen 
etwas Mathematik, Viele technologische Kenntnisse, relativ erstaunlich Wenige 
gründliche historische Bildung, obgleich dieselbe absolut genommen gewiß 
eine Rolle spielte, fast Alle hingegen verwaltungstechnische und rechtliche Kennt¬ 
nisse. Der Standpunkt und Gesichtskreis der Staatsdiener — oft im höchsten und 
besten Sinne — herrscht vielfach vor, aber gerade weniger unter den Größten. Bei 
den französischen Oekonomen vermag ich nicht viel philosophische Schulung zu 
finden, dafür mehr Neigung und Verständnis für den Standpunkt des Kaufmanns. 
Wie wir schon—nicht ohne Erstaunen — im 18. Jahrhundert in Frankreich einen ver¬ 
hältnismäßig geringen Einfluß des Staatsgedankens und des „Beamtenstandpunkts“ 
fanden, so finden wir auch in dieser Epoche dasselbe. Das erklärt wohl auch die 
größere Rolle der frühsozialistischen und sonst „revolutionären“ Schriftsteller, denen 
ein größeres Gebiet als anderswo einfach überlassen wurde. Die englischen Klassiker 
bieten ein andres Bild. Vor allem ist eine bestimmte allgemeine Ideenrichtung — 
neben der der Einfluß der „Fachphilosophen“ wie Reid und Hamilton wenig bedeutet 
und selbst der von Dugald Stewart zurücktritt, obgleich dieser ja „Auchökonom“ 
und als Lehrer sehr erfolgreich war — mit ihrer Lehre stets in Zusammenhang ge¬ 
bracht worden, der Utilitarismus. Seine Wurzeln liegen weit zurück, aber zu leben¬ 
digem Einfluß brachte er es durch J. Bentham. Der Utilitarismus ist ein Zweig 
vom Stamme des Naturrechts, wobei allerdings nicht zu vergessen ist, daß diese 
Behauptung strikte nur unter der Voraussetzung zutrifft, daß man unserer Auffas¬ 
sung vom Naturrecht überhaupt zustimmt. Unter der gleichen Voraussetzung gilt 
auch für den Utilitarismus, was über das letztre gesagt wurde. Der bewußte schmerz¬ 
fliehende und lustsuchende Wille des Individuums ist der wissenschaftliche Kern¬ 
punkt dieses streng rationalistischen und intellektualistischen Gesamtsystems von 
Philosophie und Soziologie, das, unerreicht in seiner Kahlheit, Flachheit und in 
seinem radikalen Mißverstehen alles dessen, was den Menschen bewegt und die Ge- 



64 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. III 

Seilschaft zusammenhält, schon den Zeitgenossen und dann noch mehr den Spätem 
trotz seiner Verdienste nicht ohne Recht ein Greuel war. Daraus nun schöpften 
viele Klassiker zweifellos ihre Soziologie und die Mittel zur Befriedigung ihrer meist 
so bescheidenen philosophischen Bedürfnisse. James und J. St. Miil fühlten sich 
als Schüler und Nachfolger Benthams, wenngleich der letztre seinen EinfluO in den 
bedenklichsten Punkten bald überwand, viel mehr, als seine liebenswürdige Be¬ 
scheidenheit ihn jemals aussprechen ließ. Auch schrieb Bentham selbst ökonomische 
Werke (Letters on Usury 1787, Manual of Political Economy von 1798 an). Aber 
schon in diesen finden wir Unabhängigkeit des rein ökonomischen Gedankens — 
der ökonomischen Tatsachenanalyse zum Unterschied von der sie umgebenden 
Staubwolke — von seiner Philosophie. Das gleiche gilt von J. Mill, der in der Oeko- 
nomik Ricardos Schüler war—während im übrigen ihr Verhältnis umgekehrt war 1 ) 

— und auch von John St. Mill. Wir finden einerseits, daß die Oekonomik noch 
am ehesten das Gebiet ist, auf dem jene Auffassung relativ am brauchbarsten ist, 
und andrerseits, daß ihr Einfluß überaus gering war. So bildet die klassische Oeko¬ 
nomik nicht etwa ein Element eines einheitlichen Systems, aus dessen Grundge¬ 
danken sie zu erklären wäre. Wendungen in ökonomischen Werken, die daran er¬ 
innern, sind meist nur Beiwerk. Ueberhaupt ist es ja ein „intellektualistischer“ 
Irrtum, dem der Dogmenhistoriker leicht verfällt, zu glauben, daß bei einer irgendwie 
längern und tiefem Spezialuntersuchung sich der Forscher von gewissen Grund¬ 
ideen leiten läßt, die er vorher akquiriert hat und nun konsequent durchführt. Selbst 
wenn er das wollte, so könnte er es nicht, denn die Analyse zieht ihn nach unbekann¬ 
ten Ufern und im Detail der Arbeit verblassen die großen Glaubenslehren. Höch¬ 
stens nach getaner Arbeit kann er versuchen die Resultate derselben in den Formen 
dieser Glaubenslehren auszudrücken. Aber außerdem haben die Klassiker gar nicht 
ähnliches gewollt. Namentlich Ricardo hatte nur eine sehr ungefähre Vorstellung 
vom Wesen und Inhalt des Utilitarismus. Und seine konkreten Sätze lassen sich 
Tein ökonomisch und aus den Bedürfnissen ökonomischer Gedankenarbeit erklären. 

— Noch zwei Punkte bedürfen der Erwähnung. Einmal die Tatsache der gro߬ 
artigen Vielseitigkeit mancher Klassiker. Namentlich ist es wichtig, daß sie viele 
andre Gebiete fachmäßig beherrscht und selbständige Erfolge darauf erzielt haben. 
Bei ihrer Beurteilung muß das berücksichtigt werden. Besonders der Vorwurf fach¬ 
licher Enge und des Nichtsehens alles dessen, was außerhalb einer kleinen Problem¬ 
gruppe lag, kann demgegenüber nicht aufrecht erhalten werden. James Mill schrieb 
«ine (Assoziations-)Psychologie, über die der Nichtfachmann nicht urteilen darf, 
die aber lange Zeit den größten Einfluß übte und in der Geschichte der eng¬ 
lischen Psychologie eine hervorragende Stelle einnimmt. Solcher Beispiele gäbe 
•es viele. Aber kann irgendjemand sich in dieser Beziehung mit John St. Mill 
messen ? Seine Logik, die lange Zeit ihr Gebiet so beherrschte wie seine Oeko¬ 
nomik das ihre, ist nur eine Spezialleistung, die in den ganzen Reichtum seiner Ge¬ 
dankenwelt keinen Einblick gestattet. Aber der Mann, der in gleicher Weise Bent¬ 
ham und Carlyle, Hamilton und Comte, Coleridge und St. Simon auch nur ver¬ 
stand, steht auf einer Stufe, die ihn vor unbescheidenem Urteil schützen sollte. 
Und daß er nicht bloß Lernender war, zeigt u. a. der hochinteressante Gedanke 
•einer „Charakterologie“ oder „Ethologie“. Mag er nicht zu den Geistesheroen ge¬ 
hören und mag besonders seine Leistung auf unserm Gebiet nicht epochemachend 
sein — tatsächlich hat er sich in dem Jahrzehnt vor der Publikation seiner Principles 
kaum mit Oekonomik beschäftigt, so daß dieses Werk fast als „Jugendarbeit“ zu 
qualifizieren ist — ehe man über seine Persönlichkeit urteilt, ist sicher die Frage 
am Platze, ob man wohl den zehnten Teil seiner Lebensarbeit zu leisten imstande 

*) Bentham bezeichnete sich mit Recht als Lehrer und Meister J. Mills, aber er bezeich- 
nete diesen sehr mit Unrecht als geistigen Vater Ricardos. Er dachte eben an die Sozialphi- 
losophie, die Oekonomik spielte bei ihm eine zu geringe Rolle, als daß er Ricardos Bedeutung 
Jiätte würdigen können. 



III. Das klassische System. 


65 


wäre. Zweitens ist speziell die historische Bildung dieses Kreises sehr wichtig für 
uns, denn nichts liegt näher als zu glauben, daß die Klassiker historischer Arbeit 
ablehnend oder doch verständnislos gegenüberstanden und daß sich aus diesem 
Mangel etwa manches an ihrer ökonomischen Arbeit erkläre. Allein zunächst hatte 
die ganze Gruppe ihre besondern Historiker, unter denen Grote hervorragt, so daß 
von einem prinzipiellen Gegensatz nicht die Rede sein kann. Sodann haben manche 
wie z. B. James Mill historisch (History of British India) selbst gearbeitet und endlich 
hatten die meisten von ihnen ein umfassendes historisches Wissen (Carlyle sandte 
John St. Mill seine Geschichte der französischen Revolution zur Begutachtung, 
Mc Culloch soll die historische Literatur wie wenige Zeitgenossen beherrscht haben, 
Seniors Tagebuch verrät fast vorwiegend historisches Interesse usw.). 

Allerdings hat der ganze Ausblick der englischen Klassiker auf das soziale Leben 
etwas spießbürgerliches. Sie waren eine prächtige Gruppe von Menschen, voll 
Begeisterung und Selbstlosigkeit. Aber nicht etwa nur für das politische Urteil, 
sondern auch für manche rein wissenschaftlichen Probleme ist eine Art von Lebens¬ 
erfahrung und ein Verständnis für grundverschiedene Gedankenkreise nötig, die 
ihnen fehlte. Daher ihr oft fast mönchisch anmutender Absolutismus und Doktri¬ 
narismus. Sie ahnten nicht, daß mancher der von ihnen so verachteten „stupid 
conservatives“ oder gar „foxhunters“ — letzterer Titel scheint ihnen das verdam- 
mendste Urteil bedeutet zu haben — in all seinen Vorurteilen vielleicht die Elemente 
zu einem richtigem Bild der sozialen Wirklichkeit besitzen könnte, als das ihre war. 

6. Der Kernpunkt ihrer Methode auf ökonomischem Gebiet liegt in der am 
besten von W h a t e 1 y (Introductory Lectures, 3. Aufl. 1847) formulierten Ansicht, 
daß bei der zunächst vor ihren Augen stehenden Problemgruppe die gedankliche 
Verarbeitung wesentlicher und schwieriger sei als die Ansammlung von Tatsachen 
über das Maß, das das Leben für uns anhäuft, hinaus. Ihre Leistungen waren also 
analytische und das ist es, was man meist mit den Worten „deduktiv“, „abstrakt“, 
„aprioristisch“ höchst unglücklich auszudrücken pflegt. Sie wollten vor allem 
gedankliche Ordnung und Klarheit in das Getriebe des Wirtschaftslebens bringen, 
um so seine Grundvorgänge erst einmal prinzipiell zu verstehen. Zu diesem Zweck 
hoben sie die ihnen wichtig scheinenden Momente heraus, suchten sie sich vorzu¬ 
stellen, wie die Dinge ablaufen würden, wenn keine andren Momente wirksam wären 1 ), 
und stellten sie jene Momente unter den Gesichtspunkt einiger weniger und ein¬ 
facher Grundannahmen, die ihnen die Erfahrung nahelegte. Sie abstrahierten und 
isolierten also, wie es bei dem Ziel, das sie sich gesetzt hatten, nicht anders möglich 
war. Aber nur für eine Problemgruppe, die ihnen allerdings vor allem wichtig schien, 
vertraten sie diese Methode durch die Tat und auch ausdrücklich. Wo immer es 
sich um individuelle Fragen handelte, griffen sie von selbst, wie in der Zirkulations¬ 
oder in der Armengesetzkontroverse, nach dem vorhandenen Material jeder Art. 
Und wo immer ein Problem auftauchte, bei dem jener Erfahrungsfonds an Tat¬ 
sachen nicht ausreichend schien, taten sie dasselbe, wie Malthus in seiner Bevöl¬ 
kerungslehre. Aus der Verschiedenheit der konkreten Zwecke jedes Autors erklärt 
sich das, was als Methodenverschiedenheit erscheint. Allerdings waren sie sich 
über die prinzipiellen Grenzen des analytischen Verfahrens kaum klar. Meist über¬ 
schätzten sie seine Bedeutung und sie taten es um so mehr, als sich einmal ein fester 
analytischer Apparat ausgebildet hatte, dem sie über Gebühr vertrauten. 

Den Charakter dieses Apparats kannten sie, wenn sie auch zunächst nicht viele 

*) Dieses Vorgehen erschien ihnen zunächst nicht etwa als eine besondere „Methode“ — 
dazu haben es ja wirklich erst die Gegner gemacht — sondern viel richtiger als das für ihre 
Probleme einzig Mögliche und als nicht wesentlich von der Denkweise des praktischen Lebens 
verschieden. So sagt West: „and other circumstances must of course be excluded from 
consideration“. Auf die Frage warum, hätte er wohl einfach geantwortet: „Weil es nicht 
anders geht“. Den Zweck nicht wirtschaftliche oder überhaupt andere Momente als das gerade 
betraclrtete auszuschließen, hat auch die so häufige, besonders von John St. Mill gebrauchte 
Wendung: „other things being equal“. 

Sozialökonomik. I. 


5 



66 I. Buch All: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. III 

Worte darüber verloren, so daß sich in weitern Kreisen sehr bald gewisse gegnerische 
Schlagworte festsetzten. Sie wußten also, daß er „abstrakt“ war und daß man an 
ihm nicht ohne weiteres Erkenntnisse über individuelle Vorgänge ablesen könne. 
Ricardo verrät in seinen Briefen an Malthus ein deutliches Gefühl dafür. Nicht 
einmal daß sie das generell Erfaßbare für das einzig Wichtige gehalten hätten, kann 
man so allgemein behaupten. Aber die Größe der Kluft zwischen Theorie und Wirk¬ 
lichkeit und die volle Bedeutung dessen, was man unter dem Unterschied zwischen 
Real- und Erkenntnisobjekt heute versteht, schätzten sie nicht richtig ein. So 
konnten sie z. B. glauben, eine Reihe von praktischen Fragen ein- für allemal beant¬ 
wortet zu haben. Und erst spät, als sich unter dem Einfluß von Enttäuschungen 
methodische Bedenken eingestellt hatten und man sich die Dinge näher anzusehen 
begann, erkannte man klar den Grad des „hypothetischen“ Charakters der Aus¬ 
gangspunkte und manche nötigen Einschränkungen. In den methodologischen 
Werken John St. Mills, Bagehots und Cairnes’, denen wir noch begegnen werden, 
tritt das dann hervor. Wenn man ferner oft gesagt hat, die Klassiker hätten für die 
Bedingtheiten der wirtschaftlichen Dinge kein Verständnis gehabt, so ist auch das 
nicht ganz richtig. Manche, wie später Bagehot, erklären, daß sie die kapitalistische 
oder doch Verkehrswirtschaft allein vor Augen haben, womit sie sich selbst ganz auf 
den Boden mancher historischer Oekonomen (Bücher z. B.) stellen, bei anderen ist 
es ohne weiteres klar. Marx hat scharf die Vorgänge auf verschiedenen Entwicklungs¬ 
stufen geschieden und für die einzelnen ganz verschiedene „Gesetze“ aufgestellt x ). 
Das ist freilich teils zu viel und teils zu wenig. Auch haben wir genug gegenteilige 
Aeußerungen und es ist hier, wie ja meist, schwer ein ganz treues Bild zu geben. 
Aber im ganzen kann man sagen, daß ihr gesunder Sinn und richtiger Blick die 
Klassiker vor einer prinzipiell verfehlten Methode bewahrt hat und die üblichen 
Einwände nicht stichhaltig sind. Etwas anders steht es ja mit der Anwendung 
ihrer Methode. Wir haben oft Anlaß darüber zu staunen, was sie für einen aus¬ 
reichenden Beweis hielten und wie leichtfertig sie sich mit Scheinerklärungen zu¬ 
frieden gaben. Grobe Fehler im Gedankengang schleppen sich lange fort und auch 
die Besten sind oft ausgeglitten. Das gilt u. a. auch von Ricardo. Loyalste Aner¬ 
kennung seiner Größe hilft nicht über die Tatsache hinweg, daß er nichts weniger 
als ein Muster strenger Logik ist — auch, daß er manche Punkte nicht hinreichend 
durchgedacht hat. So zeigt uns die Methode dieser Epoche jene Züge, die alle jungen 
Disziplinen in der Zeit anfänglicher Erfolge tragen: Eine Ueberschätzung des Weges, 
der zu diesen Erfolgen geführt hat und ein Verkennen vieler vorhandener Hinder¬ 
nisse, die zum Sturze führen müssen, wenn man sie nicht beachtet. Dieser jugend¬ 
liche Leichtsinn hat seine Funktion. Ohne ihn käme man in den Anfängen nicht 
weiter. Aber er macht der spätem Kritik ihre Aufgabe leicht und im Geist eines 
Torquemada pflegt sie sie zu erfüllen. 

In dieser Epoche wird definitiv die Uebung allgemein, von Gesetzen der Wirt¬ 
schaft zu sprechen. Aber niemals bedeuten diese „Gesetze“ mehr als Behauptungen 
über die innern Notwendigkeiten des wirtschaftlichen Kreislaufs und nie wurden sie 
für mehr gehalten. Das Zwingende dieser wirtschaftlichen Sachnotwendigkeiten 
wurde gewiß oft übertrieben, aber historisch ist vor allem das Verdienst zu werten, 
das in ihrer — und sei es auch zu scharfen — Hervorhebung hegt. Jedenfalls in¬ 
volvieren sie keinen „Naturalismus“. Wenn manche Autoren diese Gesetze mit 
Naturgesetzen gleichstellen, so werden wir das ablehnen können ohne deshalb zu 
verkennen, daß eine solche Gleichstellung nichts an ihrem Wesen ändert und keinen 

l ) John St. Mill unterscheidet korrekt zwischen allgemeingültigen Gesetzen und solchen, 
die nur innerhalb einer bestimmten Organisationsform gelten, hat also bereits die Unterschei¬ 
dung zwischen der reinökonomischen und der historisch-rechtlichen Kategorie. Nur daß 
es verfehlt ist, die Gesetze der Produktion einfach als erstere und die der Verteilung als letztere 
zu bezeichnen, denn beide hängen so eng miteinander zusammen, daß auch die Produktion 
unter dem Einfluß der sozialen Organisation und auch die Verteilung unter dem Einfluß all¬ 
gemeiner Notwendigkeiten steht. 



III. Das klassische System. 


67 


sachlichen Einwand begründet. Betrachten wir noch£die wichtigsten Bedeutungen 
der Ausdrücke „natürlich“ und „normal“ bei den Klassikern. Natürlich = dem 
Naturrecht entsprechend, kommt wohl gelegentlich vor, aber außerordentlich selten 
und nur im Zusammenhang mit „Freiheit“ usw., also nicht im ökonomischen Ge¬ 
dankengang. Natürlich = dem „Naturzustand“ entsprechend finden wir häufiger, 
aber nur in der Bedeutung: unter einfachsten Verhältnissen. Eine urgeschichtliche 
Behauptung liegt darin nicht oder sie ist doch irrelevant d. h. sie kann ohne Schaden 
für das ökonomische Argument weggelassen werden. Oft bedeutet „natürlich“ 
nur „offenbar“, „wie man leicht einsieht“, so wenn gesagt wird, das Kapital wende 
natürlich sich den günstigsten ihm offenstehenden Verwendungsmöglichkeiten zu. 
Vor allem aber ist jene Bedeutung wichtig, in der von natürlichem Preis, natürlichem 
Lohn usw. gesprochen wird. Was bei Smith und Ricardo so heißt, heißt bei J. St. 
Mill „notwendiger“ Preis usw. und bei den Spätem, zuerst bei Cairnes, wird dafür 
der Ausdruck „normal“ üblich. Das bedeutet nun zweierlei: Erstens die Abwesen¬ 
heit von außerökonomischen Eingriffen jeder Art, so daß dieser normale Preis jener 
ist, der sich in der sich selbst überlassenen Wirtschaft herausstellt, und zweitens 
jene Höhe des Preises oder Lohnes usw., die sich in einer solchen, wenn keine Ver¬ 
änderungen der Grundbedingungen eintreten, auf die Dauer erhält, also gleichsam 
das Ziel der tatsächlichen Oszillationen auf dem Markte, ihr Tendenzzentrum. (Gegen¬ 
satz: Marktpreis.) Das heißt nicht, daß eine willkürliche Festsetzung der Preise 
durch irgendeine außerökonomische Macht unmöglich wäre, sondern nur daß, wenn 
sich nicht gleichzeitig sonst noch etwas verändert, jeder solche Eingriff gewisse, 
fest bestimmte und unvermeidliche Rückwirkungen auslöst*). „Normal“ hat aber 
noch andre Bedeutungen, so die von „gewöhnlich“ — abnormal hohe Löhne heißt 
meist einfach ungewöhnlich hohe Löhne — und sodann auch „durchschnittlich“. 
Jene dauernden Größen aller Preise und Einkommen sind offenbar von allen mög¬ 
lichen Größen die interessantesten. Auf ihre Bestimmung ist das klassische System 
vor allem angelegt, also auf die Untersuchung der Volkswirtschaft im Gleichgewicht, 
welcher Ausdruck damals immer üblicher wurde. Eine äußere oder innere Anlehnung 
an die Naturwissenschaft liegt darin nicht. So wollten die Klassiker zunächst eine 
„Statik“ der Wirtschaft geben, der sich dann gewisse Sätze über Entwicklungsten¬ 
denzen anschlossen — eine „Dynamik“. Die Ausdrücke sowie die Durchführung 
der äußern Scheidung wurden von John St. Mill in die Oekonomie gebracht, dieser 
hat die ersteren aus Comte. 

Schon damals gab es Methodenstreitigkeiten, auf die hier allerdings nur hin¬ 
gewiesen werden kann. Zwar daß Theoretiker untereinander sich verfehlte Methode 
vorwarfen 2 ), hatte wenig zu bedeuten und ändert nichts daran, daß die Gegner 
sich methodisch tatsächlich nicht wesentlich voneinander unterschieden. Aber es 
traten auch schon prinzipielle Gegner der Theorie auf. Carlyle und Coleridge be- 


l ) Wenn also z. B. die Klassiker sagen, die Löhne könnten nicht „künstlich“ erhöht wer¬ 
den, so ist zunächst schon in ihrem Sinn hinzuzufügen „in der Verkehrswirtschaft bei völlig 
freier Konkurrenz“ und „wenn sich nicht damit zugleich die Verhältnisse ändern, z. B. die 
Qualität oder Quantität der Arbeit sich hebt“. Sodann ist der Satz dahin zu interpretieren, 
daß bei einer solchen Erhöhung ein Prozeß in der Volkswirtschaft einsetzt, der die Arbeiter 
als Klasse des Vorteils wieder beraubt. Das ist nun allerdings nicht ganz richtig. Aber erstens 
ist es das zum Teile, und zweitens liegt in der Hervorhebung jenes Prozesses historisch eine 
wesentliche Leistung, wenn er auch überschätzt, außerdem auch nicht ganz richtig beschrieben 
wurde. Wir werden noch darauf kommen. Freilich, so kann nur der Historiker die Sache 
beurteilen. Für weitere Kreise der Zeitgenossen und auch der Spätem kam nur der Satz in 
Betracht: Eine Hebung der Lage des Arbeiterstandes ist „wissenschaftlich unmöglich“. Sie 
hatten vom Oekonomen Brot verlangt und scheinbar einen Stein erhalten — und damit war 
die Katastrophe der Oekonomik besiegelt. 

*) Vgl. M a 11 h u s in der Quarterly Rev. 1824. Eine prinzipielle Begründung und Ver¬ 
teidigung unternahm zuerst John St. Mill in einem 1830 geschriebenen, 1836 in der 
London and Westminster Rev. publizierten Artikel (aufgenommen in Essays on some un- 
settled questions of Political Economy 1844). 


5* 



68 I. Buch All: J. Schumpeter, Dogmen- .und Methodengeschichte. III 

kämpften in England—wie übrigens auch der Dichter Wordsworth und der Histo¬ 
riker Southey, um nur größere Namen zu nennen *) — A. Müller u. a. in Deutsch¬ 
land die „abstrahierende“ Methode prinzipiell. In Frankreich taten es die St. Si- 
monisten, vor allem aber A. Comte. Während die Erstem dabei im Grunde nur 
ihre allgemeine Abneigung gegen die politischen Programme, die zusammen mit 
der jungen Oekonomik auftraten, zum Ausdruck bringen und als Elemente der all¬ 
gemeinen Reaktion gegen Tun und Denken des 18. Jahrhunderts aufzufassen sind, 
bestimmten Comte lediglich wissenschaftliche Gründe. Er hielt eine Spezialdisziplin 
der Oekonomik für unmöglich, weil jedes Element des sozialen Lebens nur in seinen 
Beziehungen zu allen Elementen verständlich sei. Und er meinte ferner, daß die 
klassische Oekonomik essentiell unwissenschaftlich und „metaphysisch“ sei. Was 
er damit meinte ist klar, er hielt die ökonomische Theorie einfach für einen Ableger 
philosophischer Spekulationen ohne jede Tatsachenbasis. Wir sahen, daß das nicht 
richtig ist und es läßt sich leicht feststellen, daß Comte die Oekonomik nur sehr 
flüchtig kannte. Ganz wie manche spätem Kritiker konzentrierte er seine Auf¬ 
merksamkeit auf jene großen Grundannahmen, die an der Spitze des Lehrsystems 
der Oekonomik standen und die ja gewiß auf den ersten Blick „spekulativ“ aus- 
sehen, ohne ihre wahre Natur und die Verwendung, die sie in Wirklichkeit fanden, 
näher zu beachten. Er glaubte, sie seien irgendeinem philosophischen System ent¬ 
nommen und der Rest der Oekonomik sei einfach aus ihnen deduziert. Aber mehr 
Wahrheit enthält sein erstes Argument, wenngleich daraus kein Einwand gegen 
die Möglichkeit einer Spezialdisziplin von den generellen Formen des Wirtschafts¬ 
prozesses fließt. John St. Mill, der eine Zeitlang ganz unter Comtes Einfluß stand, 
fühlte ganz richtig das Wahre und das Verfehlte an der Comteschen Stellung. Und 
er suchte sich dem erstem anzupassen, indem er zwar an der ökonomischen Theorie 
festhielt, aber für andre Probleme als die reinökonomischen selbst den „Allzu¬ 
sammenhang“ des sozialen Lebens und die Notwendigkeit einer historischen Methode 
betonte. Diese Auffassung entspricht nicht nur dem Wesen nach, sondern sogar 
auch in der Formulierung, die ihr Mill gab, der heute herrschenden. Die Methode 
und überhaupt die ganze soziale Gedankenwelt Comtes ist im Grund nicht viel we¬ 
niger „spekulativ“ als die der Klassiker, ja seine Spekulationen sind nicht einmal 
so unschuldig, wie die ihren. Denn er tat mehr als bloß zu abstrahieren, er ließ 
sich bei seiner Arbeit von vorgefaßten Grundanschauungen über die Entwicklung 
der Menschheit, die er naiv als eine Einheit betrachtete, leiten. Doch können 
wir hier nicht weiter in dieses Thema eingehen. An der Bedeutung seiner Gedanken¬ 
welt in andrer Beziehung ändert übrigens die Tatsache nichts, daß er als Sozial¬ 
philosoph auf allen „Positivismus“ vergaß. Wie später eine andre Religion, die 
eben doch eine Religion war, so hat er auch eine andre Sozialphilosophie geschaffen 
— übrigens keine sachlich neue, einerseits Vico, andrerseits Condorcet sind deren 
Wurzeln —, aber eben wieder eine spekulative. 


l ) Dazu gehört auch der Macaulays. Obgleich durchaus auf dem erkenntnistheoretischen 
Boden seiner Zeit stehend teilte er doch lebhaft die whiggistische Abneigung gegen die Radi¬ 
kalen und die historische Abneigung gegen den Benthamismus. Er akzeptierte zwar die prak¬ 
tisch wichtigsten Leitsätze der Oekonomik seiner Zeit, aber er attackierte (Edinburgh Rev. 
1829) um so energischer J. Mills Darstellung der benthamistischen Verfassungstheorie, die 
allerdings hart an das Lächerliche streift. Dabei wandte er sich auch gegen das Operieren 
mit allgemeinen Obersätzen überhaupt. Interessant ist, daß er in seinen Essays oft genug 
von allgemeinen principles of political Science spricht, nur daß er nicht verrät, worin diese 
„Prinzipien“ bestehen — wohl in den Sätzen des politischen Programms der Whigs der Drei¬ 
ßigerjahre? Dabei spricht er von der Sozialwissenschaft als einer „experimental Science“, 
d. h. als einer Wissenschaft, deren Erkenntnisse wesentlich auf historischen Erfahrungen be¬ 
ruhen. In der Folgezeit wurde dieser Ausdruck zum Schlagwort vieler, die sich mit Theorie 
nicht abgeben und ihren Ueberzeugungen eine gewisse Latitude lassen wollten. In andrem 
Sinn verwendet ihn Robert Owen: Für ihn ist die soziale Welt gleichsam ein Land 
unbegrenzter Möglichkeiten, die mittelst sozialpolitischer Experimente auszuproben wären. 



III. Das klassische System. 


69 


7. Neben den politischen Leitsätzen, mit denen die klassische Oekonomik äußer¬ 
lich verbunden war und innerlich verbunden schien, war es die ökonomische So¬ 
ziologie, die den wesentlichen Angriffspunkt abgab, über den hinaus die Kritik nur 
selten überhaupt und kaum jemals gründlich vordrang. Und diese Soziologie, dieses 
Bild des sozialen Geschehens, das sich aus den klassischen Werken ablesen läßt, 
ladet wirklich zum Angriff ein. Sie stellte — ganz unnötigerweise — jene verderb¬ 
liche Beziehung zum Utilitarismus dar, die der Oekonomik in der öffentlichen Mei¬ 
nung mehr schadete als irgend etwas anderes. Die Nationen der Klassiker waren 
lediglich Summen von nur durch ökonomische Interessen zusammengehaltenen 
unabhängigen Individuen von unveränderlicher Naturanlage. Diese Naturanlage 
wurde für die Oekonomik einfach durch den Satz charakterisiert, daß jedes Indi¬ 
viduum lediglich durch das Streben nach größtmöglichem Gewinn mit kleinstmög- 
lichem Aufwand geleitet werde. Und dem unbehinderten Wirken dieses Moments 
bei völlig freier Konkurrenz wurde soviel Gutes nachgesagt, daß es unter dem Ge¬ 
sichtspunkt eines Ideals erscheinen mußte. Absichtlich formuliere ich diese Punkte 
in der Form, in der sie den Gegnern erschienen. Schon die Klassiker selbst haben 
den Charakter derselben als Annahmen formuliert, deren Zweck es sei, gewisse Ten¬ 
denzen zu isolieren. Sicher hätten weitaus die meisten von ihnen, wenn sie diese 
Dinge ex professo behandelt hätten, die Unzulänglichkeit der Sätze für andere Zwecke 
als die der theoretischen Oekonomik eingesehen 1 ). Insoweit anzunehmen ist, daß 
sie sie nicht eingesehen hätten — und James Mills Artikel über „Government“ u. a. 
Gegenstände zeigen sicher, daß er wenigstens entschlossen war mit solchen An¬ 
schauungen Ernst zu machen —, ist noch immer zu beachten, daß jene Sätze tatsäch¬ 
lich durch entsprechende Formulierung für die Oekonomik unschädlich gemacht 
werden können. Aber die Gegner beurteilten sie als Tatsachenbehauptungen an 
sich und ohne Rücksicht auf den Gebrauch, den die Klassiker davon machten, und 
da konnte das Verdikt nicht zweifelhaft sein. 

Ich kann die gewaltige Bewegung, die um die Wende des 18. und 19. Jahr¬ 
hunderts auftritt, oder, richtiger, alle jene Strömungen, deren Gemeinschaft in der 
Ablehnung des rationalistischen Bildes des sozialen Lebens liegt und die es schlie߬ 
lich in Stücke gerissen haben, nicht schildern. Nur zum Teil war diese Bewegung 
eine „Reaktion“, zum Teil enthielt sie neue Keime sehr verschiedener Pflanzen. 
Für uns kommen hauptsächlich vier Elemente dieser Bewegung in Betracht: Nennen 
wir sie das mystische, das nationale, das soziale und das historische. Die Bedeu¬ 
tung der drei erstgenannten liegt wesentlich auf anderen Gebieten als dem unsem. 
Alle vier stehen in Zusammenhang miteinander ohne einfach zusammenzufallen. 
Sie alle begegnen sich in der grimmigen Verachtung gegen das Zerrbild des sozialen 
Lebens, das die Klassiker ihnen zu entwerfen schienen, gegen die Profitgier, die, 
wie sie meinten, die Klassiker predigten, gegen deren Vernachlässigung des ethi¬ 
schen Moments, gegen Atomismus, Mechanismus, Individualismus usw. Der „neue 
Mystizismus“ war eine sehr allgemeine europäische Bewegung, die mit der Wieder¬ 
belebung religiösen Gefühls und einer antirationalistischen theologischen Richtung 
in enger Beziehung stand und ihr einen Teil ihres äußern Erfolges zu verdanken hatte. 
Ihr Zentrum lag in Deutschland. Ein Interpret deutscher Gedanken war Coleridge 
und in geringerem Maß auch Carlyle. Die rein wissenschaftliche Bedeutung dieser 
Gruppe lag in ihrer energischen Bekämpfung des intellektualistischen Irrtums. Wäh¬ 
rend aber auf andern Gebieten, wie dem der Theologie und der schönen Literatur 
diese Richtung zu positiven Leistungen kam und damit zu einer Schule („roman¬ 
tische Schule“) werden konnte, kann man nicht sagen, daß sie auf dem Gebiet der 
Oekonomik schulenbildend wirkte. Sie hatte nur eine — damals eigentlich der prä- 

*) Gerechterweise wäre also zu sagen, daß die Klassiker nicht eine schlechte, sondern 
überhaupt keine Soziologie hatten. Es fällt noch heute vielen schwer einzusehen, daß das 
ihren ökonomischen Untersuchungen nicht schadete. Allein — wenn man die Erde für eine 
Scheibe hielte, könnte man deshalb nicht einen bestimmten Landstrich ganz gut beschreiben? 



70 I. Buch All: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. III 

zisen Formulierung unzugängliche — Anschauung zu geben, eine Anregung, fast nur 
eine Einwendung. Carlyle und Coleridge waren in ökonomischen Dingen völlige 
Laien, denen vorgeworfen werden konnte, daß sie das, was sie verurteilten, nicht 
verstanden. Und ähnlich stand es mit dem nationalen Moment. Daß ein Volk einen 
Charakter habe, so gut wie ein Individuum und nicht schematisiert werden könne, 
das wurde bald Gemeinplatz. Wir lesen einen solchen Satz z. B. in einer Jugend¬ 
schrift Disraelis. Daß in nationalen Fragen jedes rein ökonomische Argument so gut 
wie aufhört, mußte jedermann klar sein, außer dem kleinen Kreis Benthams. Daß 
in jedem Volk ein gemeinsamer Fonds von Ideen, Gefühlen, Dispositionen usw. 
lebt, der so unabschüttelbar ist wie die Berge seines Landes — das stellt der 
Wissenschaft neue Probleme, aber es löst sie nicht und es berührt jenes nicht, das die 
Klassiker lösen wollten. Nun haben alle diese Gedanken auch ökonomische Schrift¬ 
steller berührt, aber diese konnten sich an ökonomischer Einsicht und analytischer 
Kraft mit den besten Klassikern nicht messen. Hierher gehört im 18. Jahrhundert 
schon Justus Möser (Patriotische Phantasien 1774—78 u. a.). Doch alle 
Bewunderung für seinen Gedankenreichtum kann uns das Urteil Roschers 
(Tübinger Zeitschrift 1865) nicht verständlich machen. 

Hierher gehört auch A. Müller (Elemente der Staatskunst 1809, Versuch 
einer Theorie des Geldes 1816) und Th. v. Bernhardi (Versuch einer Kritik 
der Gründe, die für großes und kleines Grundeigentum angeführt werden 1849). 
So groß die Kluft ist, die den Genossen Gentz’ und Hallers von dem preußischen 
Legationsrat als Menschen trennt und so verschiedene Einflüsse beide formten — 
rein wissenschaftlich gehören sie zusammen. Ihre Kritik der Klassiker ist verfehlt 
und oberflächlich, auf dem theoretischen Gebiet fehlt ihnen, wenn auch Bernhardi x ) 
weniger als Müller, Schärfe und tieferes Verständnis, aber sie teilen das Verdienst, 
die wesentlichen Punkte einer ökonomischen Soziologie klar erkannt zu haben. Was 
bei Burke nur gelegentlich aufleuchtet und was man bei ihm hinter seiner Verachtung 
der soziologischen Ideen der „Aufklärungsliteratur“ nur ahnen kann, ist bei ihnen 
klar erkannt. Hier kommt vor allem ihre „ethisch-organische“ Auffassung der Volks¬ 
wirtschaft 2 ) in Betracht, die Erkenntnis von der Einheit des Kulturlebens einer Na¬ 
tion und den Notwendigkeiten, die es in sich trägt. Auch haben sie beide Ansätze 
zu einer reichern und tiefem Psychologie. Aber sie haben wenig positiven Weg 
zurückgelegt. Bei A. Müller findet sich der Gedanke, daß die „produktiven Kräfte“ 
einer Nation mit Rücksicht auf ihre wirtschaftliche Zukunft sowohl als auch auf ge¬ 
sunde soziale Verhältnisse eine über ihre bloße produktive Rolle in der Gegenwart 
hinausgehende Bedeutung haben. Dieser Gedanke findet sich in dieser Zeit auch 
sonst, besonders in Amerika (vgl. T a u s s i g, Tariff History of the United States) 
und Frankreich (D u p i n, Situation progressive des forces de la France 1827 und 
C h a p t a 1, De Tindustrie frangaise) und er wurde unter diesen Einflüssen in Deutsch¬ 
land mit besonderer Energie entwickelt durch F. List (Hauptwerk: Nationales 
System der Politischen Oekonomie 1840). Bei diesem tritt die von den Klassikern 
so vernachlässigte Tatsachengruppe der nationalen Entwicklung in der glücklichsten 
Formulierung hervor, um zum erstenmal konkrete und auch dem modernen Ge¬ 
schäftsmann, der nichts für romantische Mystik übrig hat, einleuchtende Anwen¬ 
dung zu finden, bekanntlich auf dem Gebiet der Zollpolitik. Hier kommt vor allem 
sein Beitrag zur ökonomischen Soziologie in Betracht, die Auffassung der nationalen 
Volkswirtschaft in ihrer historischen Bedingtheit und in ihrer historisch einzigartigen 
Verumständung, die er durch seine genial-leichtsinnige und überaus wirksame Lehre 


0 Bernhardi zeigt durch gelegentliche Bemerkungen, wie daß die Höhe des Lohns von der 
Produktivität der Arbeit abhängig und daß es der theoretische Grundirrtum der Klassiker 
sei, die Arbeit allein für produktiv zu halten, immerhin Originalität und richtigen Blick. 

*) ln Amerika gab es ebenfalls eine Strömung nach diesem Gesichtspunkt hin, so z. B. 
bei Raymond. Nur daß sich hier dieser Gesichtspunkt, wie ja sachlich durchaus möglich, 
mit der Theorie ganz gut verträgt. 



III. Das klassische System. 


71 


von den vier Entwicklungsstufen weiten Kreisen zugänglich machte. Die Verdienste 
dieses glänzenden Schriftstellers und sein Erfolg waren sehr groß. Er ist nicht ohne 
Anspruch auf eine Stellung in Deutschland, die mit der Smith* in England eine 
gewisse Analogie hat. Nur dürfen wir nicht vergessen, daß die praktische Seite 
seiner Lehre ihn vor allem auf dieses Piedestal stellt. Wissenschaftlich hat er mit richti¬ 
gem Blick Zeitideen, die in Amerika schon vor ihm Gemeingut und selbst in Deutsch¬ 
land schon ausgesprochen waren (Nebenius, Schmitthenner, Föppl) aufgenommen 
und glänzend vertreten, aber er hat kaum etwas Originelles geschaffen. Es hat ihn 
ferner seine nähere Bekanntschaft mit der ökonomischen Theorie oder doch ihren 
leichteren Autoren und mit den Verhältnissen fremder Volkswirtschaften vor man¬ 
chen Fehlem, Mißverständnissen und Engherzigkeiten bewahrt, aber seine rein 
ökonomischen Leistungen sind nicht besonders tief. Es ist auch nicht richtig, ihn 
als einen Vorläufer der historischen Schule zu bezeichnen — oder doch nur in einem 
weitem Sinn als es für eine Dogmengeschichte zweckmäßig ist. Denn dazu reichen 
Berührungspunkte in den Resultaten nicht aus. Und seiner Methode 
nach war er vor allem ein Schriftsteller wirtschaftspolitischer Zeitfragen, und sodann, 
in seinem System, ebenso Theoretiker wie etwa Carey. Es ist immer peinlich, so 
glänzenden Ruhm analysieren zu müssen. Aber es muß einmal mit der Gewohnheit 
gebrochen werden, die stets wissenschaftliche und praktische Bedeutung zusammen¬ 
fallen läßt und zwischen siegreicher Verkündigung des Wortes der Zeit und wissen¬ 
schaftlicher Leistung nicht unterscheidet 1 ). 

In Frankreich gab es viele Angriffe auf die Gesamtauffassung der Klassiker. 
Nennen wir nur Si smondi und St. Simon. Der erstre bringt die Anschauungen 
jener weiten Kreise zum Ausdruck, denen der ganze Geist des klassischen Systems 
widerstrebte und die Abneigung gegen den Kapitalismus zum Anlaß einer mehr 
scheinbar als wirklich sehr weitgehenden Sozialkritik wurde. Diese Strömung gibt 
seinem Namen ein Lustre, das rein wissenschaftlich nicht zu erklären ist. Seine 
ökonomische Bildung verdankte er Smith, aber historische Arbeit führte ihn später 
aus dessen Bahnen heraus. Smith* Nachfolger bekämpfte er — und die in seinem 
Einflußkreis Stehenden taten dasselbe — hauptsächlich mit dem ethischen Moment, 
das in ihrer Hand kaum mehr als ein Mißverständnis der Absichten der Klas¬ 
siker bedeutet. In diesem Kreise besonders verbreitete sich jene naive Auffassung, 
die am schärfsten Droz (Economie politique 1829) formuliert hat, daß die Klas¬ 
siker das Wirtschaftsleben als Selbstzweck betrachteten, wie wenn nicht die Pro¬ 
dukte für die Menschen, sondern die Menschen für die Produkte da wären. Sehr 
schwach ist Sismondi vor allem als Theoretiker: Es ist verfehlt, in seinen Phrasen 
vom Mehrwert mehr zu sehen, als den Ausdruck der Popularmeinung, daß die obern 
Schichten der kapitalistischen Gesellschaft auf Kosten des Proletariats leben. Und 
nur wenig läßt sich für seine Krisentheorie anführen. Doch bieten seine Werke 
immerhin die Elemente zu einer andern Auffassung des Wirtschaftslebens dar als 
die der Klassiker. Ob er als Vorläufer der historischen Schule zu betrachten ist, 
wird von dem Kriterium abhängen, das man für sie charakteristisch hält. Sein Ver¬ 
hältnis zu ihr ist ähnlich wie sein Verhältnis zu Marx: In beiden Fällen hat sich der 
Dogmenhistoriker vor einer Uebertreibung einer vielleicht ja bestehenden Beziehung 
zu hüten, die das Bild nur entstellt. Als Historiker kommt diesem Forscher, als 


x ) Hätte ich genügend Raum, so würde ich auf einen Punkt des Gedankenkreises Rod- 
bertus* eingehen müssen. Er wirft den Klassikern vor, sie hätten in die allgemeine Theorie 
der Wirtschaft historische, nur einzelnen Organisationsformen eigene, Elemente hineinge¬ 
zogen und für allgemein gehalten. Dieser Vorwurf ist nur zum Teil begründet, denn schon 
bei A. Smith finden sich Ansätze zu jener Unterscheidung, die heute besonders von A. Wagner 
betont wird, die Unterscheidung zwischen der Ökonomischen und der historisch-rechtlichen 
Kategorie. Aber Rodbertus hat sie zuerst scharf und bewußt formuliert. Auch bei Marx 
findet sie sich der Sache nach, ebenso bei Proudhon (Qu’est-ce que la propri6t6? 1840). 



72 1. Buch All: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. III 

Menschen und Sozialpolitiker diesem integren, von sozialen Sympathien erfüllten 
Charakter natürlich eine ganz andre Stellung zu >). 

St. Simon (Hauptwerke: Du Systeme industriel 1821, Nouveau Christianisme 
1825) wird oft alles rein wissenschaftliche Verdienst abgesprochen. Und sicher 
liegt darin nicht seine Bedeutung. Aber seine Originalität und Tiefe überwindet 
doch in manchen Punkten seine Prophetenneigungen. Es ist erstaunlich, wie viele 
seiner Ideen wir später in der Wissenschaft wiederfinden. Nicht bloß auf die Sozia¬ 
listen, auch auf J. St. Mill und M. Chevalier hat er gewirkt. Für uns kommt nur seine 
Kritik des Eigentums in Betracht, die auf der Auffassung desselben als einer ver¬ 
änderlichen sozialen Institution beruht und der Scholastik Proudhons über diesen 
Punkt weit überlegen ist. Wir wollen hier einige Worte über dieses Thema ein¬ 
schalten, das ja in der ökonomischen Literatur bis heute eine große Rolle spielt, 
wenngleich die exakten Leistungen dabei nicht innerhalb der Nationalökonomie, 
sondern im Nachbargebiet der Soziologie erwachsen sind. Die Klassiker nahmen 
die Institution des Eigentums, ebenso wie etwa die Tatsachen der Arbeitsteilung 
und der freien Konkurrenz einfach hin, ohne sie viel zu diskutieren — vom Stand¬ 
punkt ihrer Zwecke durchaus mit Recht. Wie sie keine Soziologie im Sinne eines, 
tiefem Einblicks in das soziale Geschehen hatten, so hatten sie auch keine Soziologie 
im Sinn einer befriedigenden Theorie der sozialen Institutionen und Organisations¬ 
prinzipien. Dabei kommt allerdings bei den Meisten der — für ihre ökonomischen 
Resultate im übrigen irrelevante — Glaube zum Ausdruck, daß das Privateigentum, 
über dessen verschiedene Formen sie sich weiter keine Gedanken machten und das 
sie einfach in der Form betrachteten, die ihnen ihre Zeitverhältnisse darboten — 
ebenso wie sie mit dem Worte „Konkurrenz“ immer mehr oder weniger gerade jenes 
Maß von Konkurrenz meinten, daß in ihrem Gesichtskreis dem Verhalten des ge¬ 
achteten Durchschnittsgeschäftsmannes entsprach —, etwas in der Natur der Sache 
Begründetes, Unabänderliches und zum sozialen Wohle Führendes sei. Nur wenige, 
wie z. B. John St. Mill waren freier in dieser Beziehung. Ueber die Entstehung des 
Eigentums stellten sie ex officio keine Behauptungen auf. Bei manchen Klassikern 
und Epigonen wirken naturrechtliche Anschauungen herein und in deren Gefolge 
die Ansicht, daß alles Eigentum — auch das an Grund und Boden — erarbeitet oder 
erspart sei, jene Ansicht, die Marx als „Kinderfibel“ bezeichnete und die man zu¬ 
nächst auf Locke und dann weiter in bekannter Weise zurückverfolgen kann. Allein 
das trifft nicht die Majorität. Bezüglich des Grundeigentums finden wir — und 
zwar bei Smith, bei dem man sonst immerhin eher von naturrechtlichen Einflüssen 
sprechen kann als bei den andern — den Ausdruck „appropriation of land“, was wohl 
mit Okkupation zu übersetzen ist und auf historisch nicht allzu falsche Ideen in 
dieser Beziehung hindeutet. Mit der Erklärung des übrigen Eigentums durch Sparen 
steht es freilich schlimmer. Wohl ist in einem Sinn das Sparen Voraussetzung für 
das Entstehen von Kapitalbesitz — er kann nicht entstehen und sich vermehren, 
wenn aller Ertrag sofort konsumiert würde. Allein das ist selbstverständlich und 
viel wichtiger ist die Frage, woher das kam, was zuerst erspart und zur Grundlage 
weiterer Kapitalbildungen wurde. Darauf nun ist vom Standpunkt der Klassiker 
zu antworten: Dieser erste Gütervorrat kam aus dem Ertrag der Arbeit der künftigen 
Kapitalisten, Kapitalisten wurden jene Arbeiter und ihre Nachfolger, die zum Unter¬ 
schied von andern Arbeitern den Ertrag ihrer Arbeit nicht verzehrten, sondern er¬ 
sparten. Damit war zweifelsohne auch ein realer Vorgang beschrieben aber nur 
einer von mehreren wirklichen. Die St. Simonisten, Proudhon, Rodbertus, Marx u. a. 
stellten dieser Theorie eine andere gegenüber, die zunächst das Grundeigentum — 
darin liegt also kein Gegensatz zu den Klassikern, sondern nur ausdrückliche For¬ 
mulierung eines auch diesen nicht fremden Gedankens — und sodann auch das Ka- 

*) ln mancher Beziehung gehört de Villeneuve-Bargemont hierher (Eco- 
nomie politique chr^tienne 1834), an den sich eine Reihe „christlicher“ Oekonomen anschlie¬ 
ßen. Seine Bedeutung liegt vollends ausschließlich auf dem Gebiet politischer Anschauungen. 



III. Das klassische System. 


73 


pitaleigentum aus der Stellung der Eigentümer in der sozialen Herrschaftsorgani¬ 
sation erklärte und aus der dadurch gegebenen Macht zur ausschließlichen An¬ 
eignung der Kapitalgüter, bzw. der Arbeitskraft zu ihrer Erzeugung. Dieser 
Gedanke erhielt sich bis zu manchen Schriftstellern der Gegenwart. Aber alle 
Spätem standen unter dem Einfluß der Auffassung des Eigentums als Reflex der 
sozialen Organisation und sie fand ihren schärfsten Ausdruck in der „Legaltheorie“ 
A. Wagners. Wie gesagt, fand das Problem vornehmlich außerhalb der National¬ 
ökonomie seine historische und soziologische Behandlung (Arnold, Letourneau, 
Laveleye, Felix u. a.), aber diese Erörterungen haben doch auch auf die ökonomische 
Theorie und den ganzen Geist ihres Betriebs gewirkt. 

8. Die „Nationen“ der Klassiker waren nicht einfach amorph, sie gliederten 
sich in Klassen: Die Klasse der Grundherrn, die der Arbeiter und die der Kapitalisten. 
Diese Klassen waren vor allem Hypostasierungen ökonomischer Funktionen und 
Interessen, aber sie waren keine bloßen Abstraktionen, sondern sollten mit den un¬ 
mittelbar gegebenen sozialen Klassen zusammenfallen. Deshalb verstanden die 
Klassiker unter „Arbeitern“ in der Regel nicht alle jene, deren Einkommen als 
Arbeitslohn zu qualifizieren ist, sondern vor allem die „Handarbeiter“, jene Leute, 
an die man beim Worte „Arbeiterfrage“ denkt, also nicht einfach an eine ökono¬ 
mische Kategorie von Wirtschaftssubjekten, sondern meist an eine soziale Klasse. 
Der Begriff der „Grundherrn“ wurde von Senior in Besitzer von „natural agents“ 
präzisiert. Die Kapitalistenklasse ist wesentlich durch das Moment des Beschäf¬ 
tigen von Arbeitern, des Beistellens der Arbeitsmittel und des Vorschießens des Un¬ 
terhalts für die Arbeiter charakterisiert. Eine besondre Unternehmerfunktion wird 
daneben zunächst nur von Say unterschieden, dem in diesem Punkt ein großes Ver¬ 
dienst zuzuschreiben ist, später auch von andern, unter den Engländern zuerst von 
John St. Mill. Doch hat sich jenes Zusammenwerfen beider Funktionen bis auf heute 
erhalten. Eine nähere Analyse des Klassenphänomens, namentlich der Ursachen 
der Entstehung der Klassen und jener zum großen Teil außerökonomischen Momente, 
die die Klassen zu geschlossen vorgehenden Einheiten machen und in denen die 
tiefere Bedeutung der Klassenbildung liegt, haben sie nicht versucht. Nur Marx 
und seinem Kreise ist aber auch die positive Behauptung eigen, daß das wirtschaft¬ 
liche Moment das Wesen derselben ausmache — die andern haben sich in dieser 
Beziehung nicht festgelegt. Die exakte Untersuchung des Klassenphänomens ge¬ 
hört einer spätem Zeit an und wurde vor allem von Soziologen, aber auch von Na¬ 
tionalökonomen (Schmoller, Bücher) gefördert. Carey und Bastiat haben eine 
Interessenharmonie der ökonomischen Klassen nachzuweisen gesucht, bei Smith 
und Ricardo tritt mehr das entgegengesetzte Moment hervor. Allein darin liegt kein 
besonders scharfer Gegensatz, vielmehr fast nur eine verschiedene Betonung der 
einzelnen Tatsachengruppen: Die Beziehungen zwischen den Klassen sind so viel¬ 
gestaltig, daß Interessengemeinschaften und -gegensätze fast stets gleichzeitig vor¬ 
handen sind, und es hängt dann vom gewählten Standpunkt ab, ob die eine oder der 
andre mehr hervorgehoben wird. Der Gedanke des Klassenkampfes als Erklärungs¬ 
prinzip sozialen Geschehens ist mit voller Schärfe erst von Marx betont worden 
und Anklänge an ihn finden sich nur in der frühsozialistischen Literatur. 

Das allgemeine Bild des Wirtschaftsprozesses, das die Klassiker entwarfen, 
entbehrt nicht des historischen Moments. Aber entsprechend ihrem analytischen 
Vorhaben ist dasselbe nur auf eine Andeutung beschränkt (vgl. z. B. Mill, ed. Ashley, 
p. 20). Es zerfällt meist in eine Produktions-, Zirkulations- und Verteilungstheorie, 
wozu auch öfters — mitunter an Stelle der Zirkulationstheorie — eine Konsumtions¬ 
theorie kommt. Die Elemente dieser Systematik finden sich schon bei Smith, klar 
tritt sie bei Say hervor und etwa zu gleicher Zeit in Deutschland. Sie blieb be¬ 
stimmend für die Folgezeit, nur daß mit Zunahme des Interesses für die soziologischen 
Grundlagen später noch ein Kapitel über die „Bedingungen“ der Wirtschaft hin¬ 
zutrat. Eine bis ins Einzelne bestimmte Systematik hat sich nicht ausgebildet und 



74 I. Buch All: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. III 

diese Bemerkungen gelten nur sehr annäherungsweise. In Deutschland tritt bald 
die Scheidung zwischen Volkswirtschaftslehre und Volkswirtschaftspolitik oder zwi¬ 
schen allgemeiner und spezieller Volkswirtschaftslehre hervor, die in Deutschland 
auch die Regel blieb, außerhalb Deutschlands aber wenig Beifall fand. — Die Lehre 
von den drei Produktionsfaktoren kann ebenfalls Say zugeschrieben werden und ist 
nicht einfach schon in A. Smith enthalten. Sie setzte sich in Deutschland schnell, 
in England aber sehr langsam durch. Eine originelle Form gewinnt sie bei Senior, 
der labour, natural agents und abstinence als die drei Produktionsfaktoren bezeichnet, 
die meisten Klassiker zeigen aber eine Neigung, entweder nach dem Vorgang Pettys 
nur zwei ursprüngliche Produktionsfaktoren anzunehmen (so John St. Mill. Heute 
wird diese Auffassung unter dem Einfluß v. Böhm-Bawerks herrschend) oder 
nur die Arbeit als solchen gelten zu lassen — daher ihre Identifizierung von 
„Produzenten“ und „Arbeitern“. Die Tragweite dieser Auffassungen ist von Autor 
zu Autor verschieden und oft nur schwer einzuschätzen. Doch können wir darauf 
nicht weiter eingehen. — Die Schriftsteller dieser Epoche halten meist an dem phy- 
siokratischen „Vorschußgedanken“ fest — nur daß die Vorschüsse, die die Arbeiter 
erhalten und die Produktionsmittel beistellen, bloß von den Kapitalisten und nicht 
auch, wie bei den Physiokraten, von den Grundherrn ausgehen — und nur wenig 
Opposition—besonders in Deutschland—erhob sich dagegen. Dann auch an der Vor¬ 
stellung vom Sozialprodukt und seiner „Verteilung“. Bezüglich des Nähern über die 
Begriffe Sozialprodukt, Sozialeinkommen, Sozialkapital muß hier auf die vorhan¬ 
denen Dogmengeschichten verwiesen werden. Nur ein Punkt sei erwähnt. Rod- 
b e r t u s (Das Kapital, p. 78, 230) u. a., z. B. Held (Die Einkommensteuer 
1872), haben den Klassikern vorgeworfen, sie hätten die sozialen Begriffe und sozialen 
Gesamtheiten des Einkommens und des Kapitals vernachlässigt und sich zuviel 
mit individuellem Einkommen und Kapital beschäftigt. Das ist nicht ganz richtig. 
Ricardo trifft diese Bemerkung gar nicht. Erst durch Mill wurde der zuerst von 
den Franzosen durchgeführte „Unternehmerstandpunkt“ der Betrachtung in die 
englische Oekonomik eingeführt. Aber auch das geschah nicht, weil man dem Unter¬ 
nehmer eine Ehre erweisen wollte oder seinen Vorteil für besonders wichtig hielt, 
sondern einfach deshalb, weil der Unternehmer auf einer Stelle in der Volkswirt¬ 
schaft steht, von der aus man einen weiten Ausblick in ihr Getriebe haben kann, und 
weil seine Ueberlegungen in der Verkehrswirtschaft ein sehr wesentliches Triebrad 
bilden. Uebrigens besteht gar kein prinzipieller Gegensatz zwischen beiden Be¬ 
trachtungsweisen. 

Das leitende Prinzip der klassischen Oekonomik war das Prinzip des Selbst¬ 
interesses. Nur eine Minorität von Autoren hat es — und zwar in verschiedenen 
Formen — ausdrücklich formuliert, so z. B. Senior und John St. Mill. Ursprünglich, 
bei A. Smith, tritt es uns als das fundamentale Motiv des wirtschaftenden Men¬ 
schen entgegen: Nicht vom Wohlwollen, sondern vom Selbstinteresse des Bäckers 
erwarten wir unser Brot, lehrt Smith (vgl. darüber auch R e i n h o 1 d: Die be¬ 
wegenden Kräfte der Volkswirtschaft). Später wechselt das Prinzip seinen Cha¬ 
rakter und wird zur Annahme, die einen bestimmten Typus des Handelns cha¬ 
rakterisieren soll, oder seinen Inhalt, indem es zum „wirtschaftlichen Prinzip“ 
wird. Schon in seiner ursprünglichen Form wird das Prinzip nicht einfach von den 
populären Einwendungen seiner Grundbedeutung beraubt. In seinen spätem For¬ 
men enthält es auch nicht den Schatten konkreter Behauptungen mehr. 

Das wirtschaftliche Prinzip ist aber nicht geeignet ein Charakteristiken eines 
ökonomischen Systems zu bilden, denn keine Erörterung wirtschaftlicher Dinge 
kann seiner entraten. Man mag es einschränken, man kann es sehr verschieden 
formulieren und eventuell auch darstellerisch verschwinden lassen, aber bewußt oder 
unbewußt muß man sich seiner — selbst in der historischen Erzählung wirtschaft¬ 
licher Dinge — bedienen. Aber zwei andere Sätze sind für das klassische Bild der 
Wirtschaft nicht bloß von großer, sondern auch von charakteristischer Bedeutung, 



III. Das klassische System. 


75 


das Gesetz vom abnehmenden Bodenertrag und das „Bevölkerungsprinzip“. Keines 
von beiden ist rein wirtschaftlich und in diesem Sinn unentbehrlich für eine ökono¬ 
mische Theorie: Das erstere formuliert eine technische Tatsache, das letztere einen 
Punkt menschlicher Naturgeschichte. 

Obgleich wir in der wissenschaftlichen Literatur das Gesetz vom abnehmenden 
Bodenertrag schon im 18. Jahrhundert finden (Turgot, Ortes), so tritt uns in den 
englischen wirtschaftspolitischen Diskussionen des Anfangs des 19. Jahrhunderts 
(vgl. Cannan 1. c.) die entgegengesetzte Ansicht entgegen, daß vermehrte Kapital¬ 
aufwendungen in der Landwirtschaft ebenso wie in der Industrie von sinkenden 
Einheitskostensätzen begleitet seien. Erst durch Anderson, Malthus, West und 
Ricardo wird die Auffassung herrschend, daß zwischen Landwirtschaft und Industrie 
in dieser Beziehung ein wesentlicher Unterschied bestehe und für die erstere ein Ge¬ 
setz des abnehmenden, für die letztere ein Gesetz des zunehmenden Ertrages gelte. 
Wir werden dieses Thema noch bei der Grundrententheorie berühren und wollen hier 
nur feststellen, daß der Satz von dem sinkenden Ertrag oder den steigenden Ein¬ 
heitskosten in der Landwirtschaft in der französischen und deutschen Literatur eine 
wesentlich geringere Rolle spielt als in der englischen. Prinzipiell bekämpft wurde er 
nur wenig — allerdings bis auf den heutigen Tag — und ohne Erfolg. Aber mehr als 
seine tatsächliche Richtigkeit ist sein Wert für die Oekonomie in Zweifel gezogen 
worden. Bei den Klassikern nun hat der Satz zwei ganz verschiedene Bedeutungen. 
Zunächst soll er eine überall und in dem täglichen Werk einer jeden Wirtschaft zu 
beobachtende Tatsache erfassen. Jede weitere gleichgroße Kapital- oder Arbeits¬ 
aufwendung auf Grund und Boden soll einen geringeren Roh- und Reinertrag ab¬ 
werfen, wenn die Produktionsmethode die gleiche bleibt. Diese Einschränkung ist 
nötig: Eine Verbesserung der Methode setzt für den Moment des Uebergangs zu ihr 
diese Tendenz außer Kraft. Dabei besteht bei den Klassikern und besonders bei 
Ricardo ein fester Parallelismus zwischen der Kapital- und der Arbeitsaufwendung: 
Die Verdoppelung der Arbeiter macht auch eine Verdoppelung der Kapitalaufwen¬ 
dung nötig. Läßt man diesen Parallelismus fallen, so kann man mehrere Resultate 
Ricardos nicht akzeptieren. Die Klassiker machten sich ferner keine weiteren Ge¬ 
danken über die Skala der Ertragsabnahme in verschiedenen Ländern, auf ver¬ 
schiedenen Grundstücken und bei verschiedenen Kulturgattungen auf demselben 
Grundstück, sondern sie nahmen sie einfach als in allen diesen Fällen gleich an. 
Daraus erwuchsen Einwendungen, die aber das Wesen der Sache nicht treffen und 
höchstens eine Verbesserung der Form erzwingen können. — Dann aber waren die 
leitenden Klassiker auch der Ansicht, daß schließlich die Beschränktheit der Menge 
der besseren Böden und die wachsenden Schwierigkeiten der Mehrproduktion auf 
allen Böden den Sieg über die Möglichkeiten der Produktionsverbesserungen davon¬ 
tragen und die Ausdehnung der Nahrungsmittelproduktion auf unüberwindliche 
Schranken stoßen würde. Während das Gesetz vom abnehmenden Bodenertrag 
in der ersten Bedeutung ein wesentliches Werkzeug des theoretischen Gedanken¬ 
gangs war, ist es das nicht in dieser zweiten, die nur eine mehr oder weniger inter¬ 
essante Prognose der künftigen konkreten Gestaltung der Dinge ist. Aber 
umso wichtiger war diese zweite Bedeutung für den Gesamteindruck des klassischen 
Bildes. Sie gibt ihm allein den so oft — und so oft mit Unrecht — hervorgehobenen 
„pessimistischen“ Zug und erklärt die Stellungnahme der Klassiker in vielen prak¬ 
tischen Fragen und ihre Betonung gewisser Tatsachen und Entwicklungsreihen unter 
Vernachlässigung anderer. 

Bevölkerungsfragen haben die Nationalökonomen von alters her interessiert und 
von altersher kamen die beiden Gesichtspunkte der Bedeutung einer starken Be¬ 
völkerungsvermehrung für nationale Größe und Kulturentwicklung und der Gefahr 
der — sehr verschieden definierten — „Uebervölkerung“ in Betracht. Bis in die 
Mitte des 18. Jahrhunderts herrscht der erste Gesichtspunkt vor, aber der zweite 
fehlte auch damals nicht. So sagt schon B o t e r o (1589 delle cause della grandezza 



76 I. Buch All: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. III 

della citta) *), daß die virtus nutritiva fortschreitend abnehme, während die virtus 
generativa gleichbleibe. Von den Physiokraten an herrscht diese Auffassung. Ques- 
nay, der Mirabeau, der ursprünglich die Bevölkerungsvermehrung gerade als die 
treibende Kraft der Reichtumsentwicklung betrachtete, zu ihr bekehrte, meinte: 
„La population n’a de bornes que celles de la subsistance et eile tend toujours ä passer 
au delä“, ein Satz, der alles Entscheidende schon enthält. Ansätze in dieser Rich¬ 
tung finden sich bei Genovesi, Turgot, Steuart u. a., bei Ortes dagegen finden wir 
bereits jene so berühmt gewordene Formulierung, daß sich die Bevölkerung in einem 
„geometrischen Verhältnis“, die Nahrungsmittel nur in einem „arithmetischen Ver¬ 
hältnis“ zu vermehren tendieren, und J. Townsend(A Dissertation on the Poor 
Laws 1786; enthalten in Overstones „Select tracts“ 1859) argumentierte in ganz der¬ 
selben Weise, als es später geschah, gegen die Schwächung der Bremse der Bevölke¬ 
rungsvermehrung, die ihm die Armengesetzgebung zu involvieren schien, — der 
Bremse, die in der auf unbesonnener Vermehrung stehenden Strafe des Hungers be¬ 
stand. Damit wird der subjektiven Originalität Malthus’ kein Eintrag getan, denn 
er kannte alle diese Vorläufer kaum, wenn auch einen anderen: W a 11 a c e (Various 
Prospects of Mankind, Nature and Providence 1761), der aber viel weniger weit 
vorgedrungen war 2 ). Als im Jahre 1793 W. Godwin seine Enquiry concerning 
political justice and its influence on general virtue and happiness publizierte, trat 
Malthus ihm entgegen (An Essay on the principle of population 1798). Godwin hatte 
in Condorcetschem Geist von der unbeschränkten Möglichkeit der Vervollkommnung 
der menschlichen Kultur und des menschlichen, an sich ganz farblosen, bei allen 
Individuen prinzipiell gleichen und durch die Umstände unbeschränkt bildsamen 
Geistes gefabelt. Weder Godwin 3 ) noch Condorcet noch ihre Nachfolger — zu ihnen 
gehört u. a. R. Owen — interessieren uns hier. Aber ihr literarischer Erfolg war groß. 
Niemand — und auch Malthus nicht — war damals imstande die Grundfehler dieser 
Auffassung, die in ihrer ganzen Psychologie und Soziologie liegen, klar zu erfassen. 
Soweit hätte man ihr vielmehr zustimmen müssen, denn die Grundlagen dieser Auf¬ 
fassung waren eben die der Zeitrichtung. Aber auf die äußern Hindernisse, denen 
dieser prinzipiell grenzenlose Fortschritt begegnet, verfiel man bald. Und Malthus 
hob eins von ihnen scharf hervor, die Bevölkerungsvermehrung bei Beschränktheit 
des Nal.rungsmittelspielraums. Dabei schoß er zunächst über das Ziel: Er sprach von 
Laster und Elend als den einzigen Hemmungen. In der zweiten Auflage, die unter 
etwas verändertem Titel erschien, kam der „moral restraint“ hinzu (1803). Und die 
Theorie gewinnt nun die Form, daß die Bevölkerung sich über den Nahrungsmittel¬ 
spielraum zu vermehren tendiere und Laster und Elend ihr Los werden müsse, 
wenn der „moral restraint“ nicht wirksam sei. Der zahlenmäßigen — mit der 
Ortes* übereinstimmenden — Formulierung legt Malthus selbst kein Gewicht bei 
— lag darin doch nichts anderes als eine rohe Erfassung und Verallgemeinerung der 
Zeitverhältnisse. Die Leistung Malthus’ kann uns unmöglich in demselben Licht 
erscheinen wie manchen Zeitgenossen. Er präzisierte und verifizierte nur einen vor¬ 
handenen und, soweit richtig, recht banalen Gedanken. Die Erklärung Darwins, 
daß er aus Malthus’ Werk Anregungen empfangen habe, kann dem letztem kaum 

0 B o t e r o beeinflußte Adam (zu unterscheiden von dem schon genannten und noch 
zu nennenden James) Anderson, An historical and chronological deduction of the Origin 
of Commerce 1787—89 (vollendet von Courbe). 

*) Zwischen Wallace und Hume hatte sich eine Kontroverse über die Bevölkerungs¬ 
zahl in der antiken Welt entsponnen, in der vielfach die Frage der Bevölkerungsvermehrung 
berührt wurde und die auf das Problem viel Einfluß nahm. 

3 ) Auch der „Agrarsozialist“ Thomas Spence (the meridian sun of liberty . . . 
1776) wäre hier zu nennen als einer von den vielen Vertretern der egalitären Systeme der Zeit. 
Ich kann auf diese Literatur, deren wissenschaftliche Bedeutung sehr gering ist, nicht ein- 
gehen. Vgl. P. G u t z e i t, Die Bodenreform; A. M e n g e r, Recht auf den vollen Ar¬ 
beitsertrag; Held, Zwei Bücher zur sozialen Geschichte Englands (1881); G. Adler, 
Einleitungen zu den Ausgaben der „Hauptwerke des Sozialismus und der Sozialpolitik“; 
Niehuus, Geschichte der englischen Bodenreformtheorien. 



III. Das klassische System. 


77 


viel Lustre geben angesichts der Tatsache, daß keiner der entscheidenden Gedanken 
Darwins bei Malthus auch nur angedeutet ist, hingegen alle entscheidenden Gedanken 
auf andere Quellen (E. Darwin, Buffon usw.) zurückgehen. Bei der Abschätzung der 
Bedeutung des Bevölkerungsprinzips für die Nationalökonomie ist zu unterscheiden: 
Für den theoretischen Kern des klassischen Gebäudes hat es überhaupt keine Be¬ 
deutung: Das klassische System bliebe was es ist, wenn man das Bevölkerungsprinzip 
daraus streichen würde. Aber umso größer ist dessen Bedeutung für die Bestimmt¬ 
heit und den scheinbaren praktischen Erkenntniswert mancher Resultate. Wo die 
reine Oekonomik aus sich heraus nur allgemeine Bestimmungsgründe angeben, aber 
nichts über den konkreten Gang der Dinge aussagen kann, wie z. B. bezüglich der 
Lohnhöhe, da springt mitunter das Bevölkerungsprinzip ein und führt zu Behaup¬ 
tungen von der gewünschten Konkretheit und Präzision. Natürlich kann es das 
aber nur, wenn man die von Malthus selbst angebrachte Einschränkung tunlichst 
leicht nimmt, denn der moral restraint, wenn wirksam, hemmt das Andrängen der 
Bevölkerung gegen die vorhandenen Mittel und vernichtet jede Möglichkeit bestimm¬ 
ter konkreter Behauptungen wieder. Das taten dann auch manche Nationalöko¬ 
nomen, vor allem J. Mill und Mc Culloch und ihre Schuld ist es, wenn spätere Kri¬ 
tiker Einwendungen vorbrachten, die Malthus selbst schon berücksichtigt hatte. 
Solche Kritiker meldeten sich sehr bald. So replizierte Godwin (Of Population 
1820). Man stellte die Beschränktheit des Nahrungsmittelspielraums in Abrede 
oder vertagte sie in eine ferne Zukunft (H a z 1 i 11: A Reply to the Essay on Popu¬ 
lation 1807; seither viele) oder man negierte jede Tendenz der Bevölkerung, sich über 
den Nahrungsmittelspielraum hinaus zu vermehren (Gray: Happiness of States 
1815; S a d 1 e r: The Law of Population 1830, stellt den Satz auf, daß die Bevölke¬ 
rungsvermehrung in umgekehrtem Verhältnis zur vorhandenen Zahl stehe — eine 
sehr schlechte Form eines nicht ganz unglücklichen Gedankens, der in seiner Art 
nicht viel Unrichtiger ist wie der von Malthus. Aber dieses u. a. von Macaulay 
:sehr unvernünftig rezensierte Buch hatte keinen Erfolg.). Oder man wies — als E i n- 
Wendung ganz mit Unrecht — auf die kompensierenden Momente hin, die in der 
Bevölkerungsvermehrung selbst liegen, wie die erhöhte Produktionsfähigkeit, die 
Möglichkeit größerer Arbeitsteilung usw. (Everett: New Ideas on Population 
1823; seither oft) usw. Die Klassiker und ihre Nachfolger hielten an Malthus fest 
(typisch: Senior: Two lectures on population 1831), aber sie kamen nicht wesent¬ 
lich über ihn hinaus. Auch bei den Gegnern, auf die wir nicht weiter eingehen können, 
wiederholen sich später immer dieselben Gedanken. Nach einer Zeit der Feind¬ 
seligkeit setzte gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine für Malthus freundlichere 
Stimmung ein *), aber auch immer größere Gleichgültigkeit für sein Problem inner¬ 
halb der Nationalökonomie. 

9. Das innere Balkenwerk der Theorie dieser Zeit läßt sich mit der allein zu 
seinem vollen Verständnis führenden Gründlichkeit nicht in Kürze schildern und 
unser Bild muß unvollständig und halbwahr bleiben. Vor allem ist festzuhalten, daß 
sogut wie alle Theoretiker dieser Epoche von Smith* ersten beiden Büchern ausgehen, 
deren System für die Folgezeit bestimmend blieb und deren Tatsachen- und Ge¬ 
dankenvorrat man zu vereinheitlichen und tiefer zu analysieren suchte. Manche 
Dinge, so die Behandlung der Arbeitsteilung — die nur von Mill etwas verbessert 
und nur von einigen, besonders „nationalistischen“ Gegnern unter andere Gesichts¬ 
punkte gestellt, erst von historischer Seite aber wirklich neugestaltet wurde (Bücher)— 
blieben fast unverändert. Andere wichtige Punkte, wie z. B. Konzentrierung der 
Betrachtung auf das jährliche Sozialprodukt der Volkswirtschaft und die Idee der 
„Verteilung“ dieses Sozialproduktes, die Smith von den Physiokraten lernte, wurden 
bis heute festgehalten. Aber innerhalb eines sehr haltbaren Rahmens änderte sich 

l ) Vgl. noch: J. G a r n i e r, Du principe de Population, 4. ed. 1837, John, Die 
jüngste Entwicklung der Bevölkerungstheorie 1887; Messedaglia, La Teoria della 
popolazione . . . 1858; Qu6telet, Physique social 1835. 



78 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. III 

Vieles, namentlich die Verteilungstheorie. Smith hatte richtig die fundamentale 
Bedeutung erkannt, die von allen „Marktpreisen jenen einen „natürlichen“ Preis 
auszeichnet, der das Zentrum aller der Oszillationen der ersteren darstellt. Und auf 
die Frage, welchen Umständen der natürliche Preis seine relative Konstanz ver¬ 
danke, antwortete er, daß derselbe gerade ausreiche, um allen an der Produktion 
Beteiligten jene Grundrente, jenen Arbeitslohn und jenen Profit zu sichern, die sie 
veranlassen, die Produktion im gleichen Ausmaß zu wiederholen. Der natürliche 
Preis zerfällt also definitionsmäßig in jene drei Elemente, welche zusammen die 
Produktionskosten bilden und deren Höhe über die seine entscheidet. Der Gedanke 
bot sich nun von selbst dar, daß wie der einzelne Preis so auch schließlich das ganze 
Sozialprodukt in jene drei Elemente zerfalle, und daß daher die Sammlung von 
Bemerkungen über die Bestimmungsgründe der Preiselemente, die Smith* Kapitel 
über Lohn, Rente und Profit enthalten, zugleich eine Durchführung seiner Preis¬ 
theorie und eine Verteilungstheorie darstellten. Das war nicht einfach „falsch“, aber 
so oberflächlich, daß man sich damit nicht zufrieden gab, vielmehr versuchte, die 
eine oder andere Anregung Smith* herausgreifend und konsequent festhaltend, prin¬ 
zipielle Klarheit in die Sache zu bringen. Dabei stand das Verteilungsproblem be¬ 
herrschend im Vordergrund der Interesse. 

Zwei Richtungen lassen sich unterscheiden. Die eine, zu der im Gefolge von 
Say die meisten französischen und im Gefolge von Jakob, Hufeland u. a. die meisten 
deutschen Autoren, besonders Hermann, gehören, und in England besonders Lauder- 
dale, in gewissem Sinne auch Malthus, und später M a c 1 e o d (Elements of Political 
Economy 1858, dann noch andere Arbeiten namentlich über Kredit und Bankwesen) 
machte Emst mit der engen Beziehung zwischen Produktionspreis und Einkommens¬ 
höhe und arbeitete den Parallelismus zwischen Preiselementen und Einkommens¬ 
zweigen in der Weise aus, daß sich die Erklärung eines jeden der letzteren aus der 
produktiven Rolle jedes der drei Produktionsfaktoren, aus dem Service producteur 
jedes von ihnen, ergab. Einen zunächst für die Zinstheorie üblich gewordenen Aus¬ 
druck verallgemeinernd kann man diesen modus procedendi als die Produktivitäts¬ 
theorie der Verteilung bezeichnen. Zu ihr gehören trotz mancher Besonderheiten 
auch Bastiat und Carey dem Grundgedanken nach, in ihrem Gefolge dann Ferrara 
und viele Amerikaner, namentlich A. Perry. Dieser Richtung gebührt, vom gegen¬ 
wärtigen Stand der Disziplin aus gesehen und wegen der Einheitlichkeit ihrer Kon¬ 
zeption, im Grunde der Vorzug. Allein infolge der beklagenswerten Unfähigkeit 
mancher ihrer Vertreter, die zu zahllosen Fehlern und, noch schlimmer, Banalitäten 
führte, und infolge des Umstands, daß auf ihrem Boden — nicht trotz, sondern gerade 
wegen der großem Korrektheit ihres Vorgehens—sich keine kurzen, präzisen prak¬ 
tischen Resultate ergaben, trat diese Richtung, obgleich der Unvoreingenommene 
nicht verfehlen kann, die überzeugende Einfachheit ihres Grundgedankens zu fühlen, 
für lange Zeit — mindestens bis J. St. Mill, der einen Knotenpunkt darstellt — ganz 
hinter der andern zurück, deren wichtigste Namen Ricardo und Marx sind. Beson¬ 
ders für das Verständnis Ricardos — und insoweit er die Säule dieser Richtung war, 
für diese ganze Richtung überhaupt — ist es wesentlich sich darüber klar zu sein, 
daß für ihn alle Fragen an Interesse ganz hinter der einen zurücktraten, welche kon¬ 
kreten reinökonomischen Tatsachen die relative Höhe der einzelnen Einkommens¬ 
zweige bestimmen. Er hat eigentlich keine Wert- oder Preistheorie in unserm Sinn, 
nur ganz nebenbei eine Geldtheorie, und er hat im Grunde auch gar keine Zins-, 
Lohn- oder Rententheorie in dem Sinn, daß er ihr Wesen hätte erforschen wollen. 
Er wollte eine Theorie der generellen und ökonomischen Bestimmungsgründe von 
Lohn, Rente und „Profit“ geben, er wollte angeben, unter welchen Umständen und 
wie sich dieselben verändern, mit welchen objektiven Tatsachen der Volkswirtschaft 
— Bevölkerungsbewegung, Getreidepreis, Zusammensetzung und Größe des Kapitals 
usw. — sie in Zusammenhang gebracht werden können. Dabei hielt er es nicht für 
nötig, jene Einkommenszweige eigentlich zu erklären oder den Mechanismus näher 



III. Das klassische System. 


79 


zu untersuchen, durch welchen sich jener definitive Zustand, dessen objektive Charak¬ 
terisierung vor seinen Augen stand, durchsetzt. Was er dazu brauchte, gaben ihm 
gewisse empirische und unter sich zusammenhanglose Sätze, wie der von der all¬ 
gemeinen Profitrate usw., so daß sein Lehrsystem wohl auf einer Grundtendenz 
beruht, aber trotzdem keine tiefere Einheit bildet. Die Grundfragen übersprang er 
in ähnlicher Weise, wie das in andern Wissenschaften in deren Jugend geschah, 
und wo sie dennoch an seinen Weg herandrängten, half er sich gleichsam mit lokalen 
Mitteln. So begnügte er sich oft mit Annäherungen, die ihm gelegentlich selbst nicht 
genügten. Den lebendigen Zusammenhang zwischen Produkt- und Produktions¬ 
mittelwert erdrosselte er sozusagen mit seinen konkreten Bestimmungsgründen der 
einzelnen Einkommenszweige, und er glaubte das offenbar um so mehr tun zu können, 
als niemals die absolute Höhe von Produkt- und Produktionsmittelwert, sondern stets 
die relative Höhe der Einkommenszweige untereinander sein Grundproblem bildete. 
Aus diesen Sätzen erklären sich viele seiner Resultate und Auffassungen. Aber wenn 
sich daraus eine Verteidigung gegen viele Angriffe ergibt, so ergeben sich eben daraus 
andre Einwendungen. So sei gleich hier bemerkt, daß Ricardo trotzdem nicht um¬ 
hin kann, gelegentlich über die absolute Höhe der Quantitäten, um die es sich ihm 
handelt, zu sprechen. Dabei bemerkt er selbst nicht immer, daß er seinen Standpunkt 
wechselt und noch weniger haben das seine Kritiker bemerkt. Diese Richtung soll 
im folgenden vor allem dargestellt werden. 

10. A. Smith hatte die Preisbildung in das Zentrum der Theorie gestellt und 
diese Stellung blieb ihr fortan gewahrt. Auch Ricardo suchte vor allem nach einem 
Index des Tauschverhältnisses und seiner Veränderungen. Er fühlte wohl, daß, 
konsequent durchgeführt, der Gedankengang im VI. Kapitel des Wealth unfehlbar 
zu einem Zirkel führen müsse. Aber er stimmte gleichzeitig dem ersten Satz dieses 
Kapitels zu, daß in primitiven Verhältnissen, d. h. in Verhältnissen, in denen es keine 
angesammelten Kapitalien und kein Grundeigentum gibt, die in den einzelnen Gü¬ 
tern enthaltenen Arbeitsmengen das Tauschverhältnis bestimmen müßten, und 
untersuchte nun selbständig, wie sich die Sache für den Fall bestehender Kapital¬ 
ansammlung und bestehenden Grundeigentums gestalte. Zunächst schaffte er sich 
zwei Schwierigkeiten aus dem Weg, die der verschiedenen Qualität der Arbeit — 
indem er darauf hinwies, daß die verschiedenen Arten von Arbeit sich bald in ein 
festes Wertverhältnis zueinandersetzen, so daß sie sich alle gleichsam auf eine „Nor¬ 
malarbeit“ zurückführen lassen; ebenso behandelte er die Tatsache der unwirtschaft¬ 
lichen, für den Tauschwert nicht entscheidenden Arbeitsverwendung, indem er auf die 
„nötige“ oder „übliche“ Arbeitsmenge (Marx* gesellschaftlich notwendige Arbeit) das 
Gewicht legte; beides im Anschluß an Smith — und die Schwierigkeit, die sich aus 
dem Vorhandensein eines zweiten ursprünglichen Produktionsfaktors ergibt, indem er 
im Grunde einen produktiven Dienst dieses Faktors nicht anerkennt und seiner Be¬ 
trachtung im Prinzip jene Produktmengen zugrunde legt, für deren Produktion keine 
Rente gezahlt, also nur rentenloses Land verwendet wird, das nach seiner Auffassung 
stets vorhanden ist: Dadurch erreicht Ricardo, daß sein fundamentales Tauschge¬ 
setz, das das Tauschverhältnis zweier Waren gleichsetzt dem Verhältnis der in ihnen 
enthaltenen Arbeit, durch die Tatsache des Mitwirkens eines andern Produktions¬ 
faktors nicht berührt und gleichzeitig, daß das Verteilungsproblem wesentlich verein¬ 
facht wird, weil es nun eine Produktmenge gibt, für die nicht drei sondern nur zwei 
Arten von Anspruchsberechtigten in Betracht kommen. Aber die Verwendung 
stehenden Kapitals bewirkt eine Deviation der Wertbildung und zwar aus zwei Grün¬ 
den. Erstens wird eine Lohnveränderung die Preise jener Güter, bei deren Produk¬ 
tion verschieden aus konstantem und variablen x ) Kapital zusammengesetztes Ge¬ 
samtkapital verwendet wird, offenbar verschieden und nur die Preise jener Güter 

*) Das sind Marxsche Ausdrücke; Ricardos termini fixed und circulating Capital decken 
sich nicht damit, doch macht das für diejenigen Dinge, die hier überhaupt erörtert werden 
können, nicht viel aus. Ricardo würde außerdem Marx’ Unterscheidung als die auch von 



80 1. Buch All: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. III 

gleich affizieren, bei deren Produktion Kapitalien gleicher „organischer Zusammen¬ 
setzung“ (Marx) verwendet werden, endlich nur die Preise jener Güter gar nicht, 
deren Produktionskapital dieselbe organische Zusammensetzung aufweist, wie das 
Produktionskapital des als Geld dienenden Guts. Zweitens bringt die Verwendung 
stehenden Kapitals eine Verlängerung des Produktionsprozesses mit sich, mithin, 
wie die Erfahrung lehrt, die Notwendigkeit einer Zinszahlung für längere Zeit und 
— da diese Zeit in den einzelnen Produktionszweigen verschieden ist — eine weitere 
Deviation vom ursprünglichen Tauschgesetz. Was ist nun aber dessen Bedeutung 
für das Verständnis der kapitalistischen Wirtschaft, wenn Ricardo selbst mit voller 
Klarheit einsieht, daß es nicht gilt? Er selbst beantwortet die Frage: Das ursprüng¬ 
liche Tauschgesetz gilt trotzdem näherungsweise auch in der kapitalistischen Wirt¬ 
schaft: Die Lohnbewegungen wirken nach ihm nur unbedeutend auf die Tauschver¬ 
hältnisse der Waren im Vergleich mit deren großer Bestimmungsursache—der Verän¬ 
derung der zur Produktion nötigen Arbeitsmenge. Eine Ware ferner, deren Produktion 
bei gleicher nötiger Arbeitsmenge eine doppelt solange Zeit erfordert als eine andere, 
muß wohl einen hohem Tauschwert haben als diese, — aber dessen ungeachtet könne 
doch im großen und ganzen als wahrscheinlich angenommen werden, daß zwei Waren¬ 
mengen, die gleichviel kosten, auch gleichviel Arbeit enthalten. Obgleich Ricardo 
völlig anerkennt, daß der Tauschwert einer Ware sowohl von der Zeit, die die Produk¬ 
tion erfordert wie von der Arbeitsmenge abhängt 1 ) f so ist für ihn das letztere Moment 
doch das weitaus wichtigere und besonders, wenn es sich darum handelt, Veränderun¬ 
gen im Tauschwert zu erklären, das fast allein entscheidende. So verkörperte das 
ursprüngliche Tauschgesetz doch eine große Durchschnittstatsache, der gegenüber 
alle nicht darunter fallenden Tatsachen sich als Abweichungen von der Regel dar¬ 
stellen. Insofern sei die in den Gütern steckende Arbeitsmenge („real value“) immerhin 
ein Index ihres Tauschwerts—natürlich ist aber der Geldwert der Arbeitsmenge nicht 
etwa gleich diesem Tauschwert — und zugleich sein „Regulator“. Nicht aber seine 
Ursache. Das hat Ricardo nie behauptet und das Jugendessay Mills (Rezen¬ 
sion über Baileys „Critical dissertation on the nature, measure and causes of value“ 
Westminster Rev. 1826) drückt das deutlich aus. Auf diesen Grundlagen ruhen 
viele wesentliche Resultate Ricardos. Zu ihrer Beurteilung muß man sich darüber 
klar sein, welche Fülle von Voraussetzungen dazu gehört, um dieses Bild des Wirt¬ 
schaftsablaufs, das seinem eigenen Schöpfer nur einen von mehrern möglichen Fällen, 
wenn auch den wichtigsten, ganz zu erfassen schien, halten zu können. Dabei muß man 
drei Dinge unterscheiden. Erstens ob Ricardos Schema unter seinen eigenen Voraus¬ 
setzungen in sich einwandfrei ist. Zweitens, ob die Behauptung Ricardos, daß die 
Abweichungen von seinem Schema tatsächlich von verhältnismäßig geringer Bedeu¬ 
tung sind, richtig ist. Und drittens, ob nicht, auch wenn die Wirklichkeit hoffnungs¬ 
los von seinem ursprünglichen Tauschgesetz abweicht, es einen Sinn hat, dasselbe fest¬ 
zuhalten, etwa weil die Umstände, die die Andersartigkeit der Wirklichkeit begrün¬ 
den, an dem Grundprinzip der kapitalistischen Wirtschaft nichts ändern — in der 
Tat wäre es nicht von vornherein als eine Katastrophe zu betrachten, wenn die 
Resultate Ricardos nur unter der Voraussetzung gleicher organischer Kapital usam- 
mensetzung und gleichlanger Produktionsperioden in allen Produktionszweigen gelten 
würden: denn eine solche Volkswirtschaft wäre noch immer eine kapitalistische 
Volkswirtschaft mit allen charakteristischen Merkmalen einer solchen — oder weil 
sich jene Umstände und ihre Wirkungen nur vom Hintergründe des ursprünglichen 
Tauschgesetzes aus erfassen und beurteilen ließen. Wir können diesen Punkt hier 
nicht näher diskutieren. 

seinem Standpunkt richtigere anerkannt haben. Mit Recht legt Marx auf dieselbe (variables 
Kapital ist Lohnkapital) großes Gewicht. 

*) Die Existenz andrer Preisbestimmungsgründe leugnet Ricardo nicht. Nur meint er, 
daß sie ja meist auf alle Preise gleichmäßig wirken, daher die „relativen Werte“ nicht allzu¬ 
sehr beeinflussen. 



III. Das klassische System. 


81 


Dasselbe gilt nun für die prinzipiell gleiche Konstruktion Marx *). Und damit 
erledigt sich auch die Frage nach dem Verhältnis des Werts (= Geldausdruck der 
in einem Gut steckenden Arbeitsmenge) und des Preises (= Geldausdruck des Tausch¬ 
werts unter Berücksichtigung der Verschiedenheiten der Produktionsperioden und 
Kapitalzusammensetzungen), die oft behandelte Frage der „Diskrepanz“ oder des 

*) Es ist nicht möglich, im Rahmen dieser Arbeit eine gründliche Analyse von Marx’ 
Lebenswerk zu geben. Diese Note soll nur das für uns Wichtigste bringen. Wir können hier 
nicht von den Dingen sprechen, in denen seine Hauptbedeutung liegt, von der gewaltigen 
Kraft, mit der er ein Ideenarsenal für eine politische Richtung und ein Heer unmittelbar ver¬ 
wendbarer Schlagworte von großartiger Wirksamkeit schuf, von der weißglühenden Leiden¬ 
schaft, die Parteigenossen und Gegner faszinierte, von dem Prophetenton, der sein Werk zu 
etwas Einzigartigem macht. Das vor allem erklärt seinen Erfolg und hob die Diskussion 
seines Gebäudes aus dem Rahmen einfacher Wissenschaft heraus. Wir sehen in Deutschland 
eine Schar wohlgedrillter Federn mit dem Eifer religiöser Orthodoxie in seinem Dienst. Der 
Gegner erscheint den Jüngern ipso facto als Frevler, dessen Niedertracht nur noch von seiner 
kaum glaublichen Beschränktheit übertroffen wird. Nach jedem Einzelkampf verkünden 
die Getreuen ein Siegesbulletin, jedes Gegenargument wird mit Hohngelächter aufgenommen. 
Und doch wäre es ungerecht, wenn man daraus prinzipiell auf Unwissenschaftlichkeit des 
Marxschen Werks schließen oder glauben wollte, daß sich sein Gedanke einfach von seinen 
politischen Zielen leiten läßt. Freilich schreit und gestikuliert der Agitator auf jeder Seite 
seines Werks, aber unter dieser Form liegt gründliche wissenschaftliche Arbeit; wohl ist man¬ 
cher praktische Schluß etwas gewaltsam gewonnen, aber das berührt nicht den Kern seiner 
Lehren; wohl ist endlich seine Polemik gröblich unfair, aber Verdächtigungen und Schmä¬ 
hungen umhüllen meist ein bestimmtes Argument reinwissenschaftlichen Charakters. 

Nur als sorgfältige, auf umfassendem Wissen beruhende Arbeit kommt also sein Werk 
hier in Betracht. Man hat sich mit der Vorliebe des nationalökonomischen Kritikers für phi¬ 
losophische Beziehungen und Einflüsse viel mit Marx’ Verhältnis zu Hegel beschäftigt, wohl 
auch aus diesem Grund in Marx’ Methode etwas Besonderes gesehen. Wenn Marx in der Tat 
aus metaphysischen Spekulationen materielle Gedankenelemente oder auch nur die Methode 
erborgt hätte, so wäre er ein armer Schächer, nicht wert ernstgenommen zu werden. Aber 
er hat es nicht getan. Er selbst sagt uns in der Einleitung zur zweiten Auflage des ersten 
Bandes wie es sich damit verhält: Kein metaphysischer Obersatz, nur — richtige oder falsche 

— Tatsachenbeobachtung und Analyse hat ihn in seiner Werkstatt beschäftigt. Nur hatte 
er eine Vorliebe für die ja so ansteckende Ausdrucksweise Hegels akquiriert und er ließ dieser 
Neigung bei der Darstellung die Zügel schießen. Für seinen Erfolg war das nicht be¬ 
deutungslos. Ohne das philosophische Gewand, ohne das dem Andächtigen so sympathische 
Dunkel mancher Phrasen hätte er nicht so wirken, nicht jene charakteristische Weihe er¬ 
halten können. Aber für den Kern seines Gedankengangs ist dieses Kleid gleichgültig und 
leicht ließe sich dieser mit andern philosophischen Münzen behängen. Daß aber Marx sich nicht 
etwa täuschte und daß die Sache auch tatsächlich so steht, sehen wir aus der Tatsache, daß 
alle seine positiven Resultate auf andere u. zw. nationalökonomische Quellen zurückgehen. 
Der Hegelianer mag sich über die „dialektische Methode“ Marx’, die aus der Begriffsentwick¬ 
lung die tatsächliche Entwicklung erkläre, freuen, der Antihegelianer mag in ihr einen 
Mangel sehen. Das Wesen der Sache berührt sie nicht. Ebensowenig war Marx’ Methode 
„historisch“, wie Engels sagt. Denn das einzige Moment, das diese Behauptung stützen 
könnte, die Unterscheidung verschiedener Entwicklungsstufen, in denen — aber nur zum Teile 

— verschiedene „Gesetze“ gelten, teilt Marx mit allen Klassikern, wenn diese auch darauf 
weniger Gewicht legten. Auch eine besondere „objektive Methode“ hat Marx nicht. Denn 
eine solche gibt es überhaupt nicht — sie ist im Grunde nur Phrase: ln jedem ökonomischen 
Gedankengang kommen „objektive“, in jedem — und auch bei Marx — subjektive Momente 
vor. Soweit es geht, greift jeder Nationalökonom nach den erstem, das Unglück ist nur, daß 
man damit nicht immer sein Auslangen finden kann. 

Im Werke des Forschers Marx ist ein soziologischer und ein ökonomischer Teil 
zu unterscheiden — so unsympathisch eine solche Trennung auch dem Jünger sein mag. Die 
pifece de resistance der Marxschen Soziologie ist die ökonomische Geschichtsauffassung, jener 
große Gedanke, der vielen als der erfolgreichste Schritt nach einem wissenschaftlichen Erfassen 
historischen Geschehens hin erschien und noch erscheint. Marx’ Verdienst dürfte von den 
Prioritätsansprüchen anderer wenig zu fürchten haben, wenn auch mehr von dem Umstand, 
daß nur in seiner scharfen Fassung des Zusammenhangs zwischen den Produktionsverhält¬ 
nissen und der sozialen Organisation etwas Neues lag und gerade diese scharfe Fassung — 
namentlich die kausale Betonung der Produktionsverhältnisse — sich nicht auf die Dauer 
bewährte: Wenn aber die ökonomische Geschichtsauffassung ihren Platz unter andern Mo¬ 
menten einnehmen muß, so ist es wieder nichts mit einer allgemeinen Geschichtstheorie und die 
Detailforschung erhält wieder das Wort. Der Größe des Versuchs und seiner Bedeutung als 
Markstein am wissenschaftlichen Weg tut das keinen Eintrag. 

Sozialökonomik. I. 


6 



82 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. III 

„Widerspruchs“ zwischen dem I. Band des Kapitals, in dem der erstere Gesichts¬ 
punkt, und dem III. Bande, in dem der letztere herrscht. Es dürfte weder subjek¬ 
tiv noch objektiv ein eigentlicher Widerspruch bestehen, obgleich Marx an verschie¬ 
denen Stellen seines ja lebenslangen wissenschaftlichen Weges über die Größe der 
Entfernung zwischen dem ursprünglichen Tauschgesetz und der wirklichen kapita- 

Für uns handelt es sich um den Nationalökonomen Marx. Wenn wir seine Grundlagen 
festzustellen suchen, so sind wir uns bewußt, daß seine subjektive Originalität ganz so stark 
ist als die irgend jemands. Nur dem sagen seine Vorgänger soviel wie ihm, der aus gleichem 
Metall gegossen ist und die Elemente ihrer Leistungen schon in sich selbst hat. Man kann 
Marx nur in jenem Sinn Originalität absprechen, in dem man sie jedem absprechen kann. 
Und er hatte nicht nur Originalität, sondern auch sonst wissenschaftliches Talent von höch¬ 
ster Ordnung. Ein Gedanke wie der, daß das moderne Zinseinkommen wesensgleich sei mit 
der Rente des feudalen Grundherrn, stempelt — ob richtig oder falsch — den, der ihn hat, 
zum wissenschaftlichen Talent, auch wenn er nie einen zweiten Gedanken gehabt hätte. Die 
theoretische Analyse war ihm tiefes Bedürfnis und nie konnte er sich in ihrem Detail genug¬ 
tun. Auch das trägt zur Erklärung seines Erfolgs in Deutschland bei. Zur Zeit, wo sein erster 
Band erschien, gab es da niemand, der sich mit ihm hätte messen können, weder in Kraft noch 
in theoretischem Wissen. Und noch heute kann jeder Lehrer an der Ueberlegenheit jener 
Studenten, die sich an ihm gebildet haben, über jene ohne theoretische Interessen sehen, wie 
schulend die Vertrautheit mit einem theoretischen System — was immer sonst seine Vorzüge 
oder Mängel sein mögen — wirkt. So mußte Marx zum Lehrer auch vieler Nichtsozialisten 
werden. Allerdings traf er nicht überall auf tieferes Verständnis gerade des wissenschaft¬ 
lichen Kernes seines Werks. 

Dieser wissenschaftliche Kern beruht — worauf im Texte das Hauptgewicht gelegt ist — 
auf Ricardo. Die Verwandtschaft träte noch stärker hervor, wenn Marx nicht auf nebensächliche 
Abweichungen oft ein ungebührliches Gewicht gelegt und in manchen Punkten mehr scheinbar 
als wirklich abweichende Formulierungen adoptiert hätte. Das physiokratische System hat mehr 
einen starken Gesamteindruck auf ihn gemacht, als ihn im einzelnen bestimmt. Aber eine Rich¬ 
tung in der englischen Literatur, die etwas abseits steht, hat ihm sehr viel geboten, die Literatur 
des Rechts auf den vollen Arbeitsertrag, die nach Smith (über die Entwicklung von Smith an 
vgl. Marx selbst in den Theorien über den Mehrwert, Bd. I; A. M e n g e r 1. c. und G. A d- 
ler, Einleitung zum 4. Heft der „Hauptwerke des Sozialismus und der Sozialpolitik“) eine 
mehr und mehr „fachökonomische“ Form annahm. Hierher gehören C h. Hall (The effects 
of civilisation on the people in European States 1805) und dann eine Reihe von Autoren im 
zweiten und dritten Jahrzehnt des 19. Jahrh.: A n o n , The source and remedy of the natio¬ 
nal difficulties . . . 1821; P. Ravenstone, A few doubts as to the correctness of some 
opinions ... 1821; W. T h o m p s o n , An inquiry into the principles of the distribution 
of wealth most conductive to human happiness 1824 (in mancher Beziehung ein Nachfolger 
R. O w e n s , der ebenfalls hierher gehört, aber ökonomisch sehr viel gründlicher als dieser); 
R. Hodgskin, Populär political economy 1827 u. a.;Bray, Labours wrongs and labours 
remedy 1839. Bei allen diesen Autoren gewinnt die Arbeitswerttheorie eine besondre Bedeu¬ 
tung, die man weder in Smith noch in Ricardo suchen darf: die Bedeutung einer ethischen 
Norm und sodann die für uns wichtigere Bedeutung, daß die Arbeit den Wert schaffe, der ein¬ 
zige Grund des Wertphänomens sei. Die Begründung dafür ist sehr mangelhaft, oft fehlt jeder 
Versuch dazu — ist es doch ein alter Völkergedanke, nicht eine wissenschaftliche Erkennt¬ 
nis, was sich da an die Nationalökonomie herandrängt. Dieser Einfluß begründet immerhin 
einen Unterschied in der Auffassung des Wertphänomens bei Ricardo und bei Marx. Und 
alle jene Autoren erklären mit mehr oder weniger Einschränkungen, Zins und Rente als Raub 
am Lohn, wenn auch in verschiedener Weise. Diesen Gedanken übernahm Marx nicht. Bei 
ihm, wie bei Rodbertus erhält ja der Arbeiter den Wert seiner Arbeitskraft. Aber trotzdem 
liegt hier die Wurzel des Gedankens vom Mehrwert und von der Mehrarbeit, die Marx nur in 
einer andern Weise gefaßt und erklärt hat. 

Diesen Gedanken finden wir auch bei St. Simon. Aber mehr Anregungen und Problem¬ 
stellungen empfing Marx von dem von ihm so schlecht behandelten Proudhon. Gewiß 
ist dieser als nationalökonomischer Theoretiker nicht hoch zu stellen. Sein Systeme des con- 
tradictions Sconomiques ou Philosophie de la misfcre (1846), seine Organisation du crädit (1848) 
und sein Inter€t et principal (1850) wimmeln von schlechten Beobachtungen und groben Fehl¬ 
schlüssen. Aber eine Beziehung ist unverkennbar und Marx* gegen ihn gerichtete Schrift 
„Misfcre de la Philosophie“ involviert eine große Ungerechtigkeit. Sein Satz „travailler c’est 
produire de rien“ (in der Solution du problfcme social), seine Argumentation gegen die Pro¬ 
duktivität des Kapitals und des Bodens — daß sie nämlich ohne Arbeit nichts hervorbringen 
— führen ihn schlecht und recht zu dem Resultate, daß Grundherrn und Kapitalisten sich ohne 
Gegenleistung einen Teil des Arbeitsprodukts aneignen u. zw. in der Weise, daß im Lohn¬ 
kampf der Arbeiter soviel erhält, als er für sich allein produzieren könnte, während aller auf die 
Kooperation zurückzuführende Ueberschuß Grundherrn und Kapitalisten zufällt. Das ist 



III. Das klassische System. 


83 


listischen Preisbildung verschieden gedacht haben mag — übrigens ganz ähnlich 
wie Ricardo, der auch erst nach und nach und unter dem Einfluß erhobener Einwen¬ 
dungen zu einer geringeren Meinung von der Wirklichkeitstreue des ursprünglichen 
Tauschgesetzes kam, wie sich das in den kaum merklichen, aber doch sehr bezeichnen¬ 
den Veränderungen des Textes seiner ersten Auflage und in seinen Briefen zeigt. 
Auch beantwortet sich so die Frage, inwiefern Marx dem ursprünglichen Tauschgesetz 
„historische“ Bedeutung beigemessen habe — nämlich ganz so wie Ricardo — und 
inwiefern er darin eine Abstraktion sah. Im einzelnen bestehen gewiß Unterschiede 
zwischen beiden: Marx hat den Gedanken Ricardos auszuführen und zu vervoll¬ 
kommnen gesucht. Er hat versucht, die Rolle der Arbeit tiefer zu begründen und 
zu analysieren — so durch seine Unterscheidung von Arbeitskraft und Arbeits¬ 
leistung usw. — aber diese und andere Momente sind von verhältnismäßig geringer 
Bedeutung. 

Nur in einem Punkt besteht hier eine wesentliche Differenz zwischen Marx und 
Ricardo. Ricardo sagt einfach: Wenn zwei Unternehmer je 100 Arbeiter ein Jahr 
lang beschäftigen, der eine, um Endprodukte, der andere um eine Maschine zu er¬ 
zeugen, und wenn im zweiten Jahre der erste dasselbe tut, der letztere mit der — 
sich dabei völlig vemützenden — Maschine nunmehr Endprodukte erzeugt, so steckt 
in beider zweijährigem Produkt gleichviel Arbeit. Weil aber der erstere sein erst¬ 
jähriges Produkt am Ende des ersten Jahres verkaufen konnte, der zweite aber nicht, 
so müsse sich offenbar das im ersten Jahre aufgewendete Kapital des zweiten Unter¬ 
nehmers auch während des zweiten Jahres verzinsen — und folgeweise das End¬ 
produkt des zweiten Unternehmers mehr als doppelt soviel einbringen, wie das Jahres¬ 
produkt des ersten. Bei Marx verzinst sich aber die Maschine während des zwei¬ 
ten Jahres nicht automatisch weiter — der Profit des ersten Jahres ist allerdings 
in ihrem Wert bereits enthalten, — sondern es erscheint ihm erst als ein Problem, wie 
das konstante Kapital zu einem solchen hohem Wert kommt und er schlägt den¬ 
selben nicht einfach seinem „Arbeitswert“ neu hinzu, sondern er untersucht, an der 
sich aus dem ursprünglichen Wertgesetz ergebenden Wertungsregel als Ausgangs¬ 
punkt festhaltend, wie die Tendenz zur Gewinnausgleichung diese Regel abändert 
und in unserem Beispiel den Gesamtgewinn beider Unternehmer so verteilt, daß 
Gleichheit der Profitrate pro Kapital- und Zeiteinheit sich ergibt. Ricardo erscheint 
also die ungleiche Verlängerung der Produktionsperiode durch Verwendung kon- 


nicht Marx’ Gedankengang; das steht auch tief unter Marx; aber das ist doch eine eigentliche 
Mehrwerttheorie im Marxschen Sinn. Sie mag nicht als Folie gedient haben, aber sie hätte 
als solche dienen können. 

Doch bezieht sich das alles nur auf die theoretischen Grundlagen von Marx. Was er daran¬ 
gefügt hat, ist zum Teile, wie z. B. seine Theorie von der Reservearmee, aus der Kritik des 
Vorhandenen hervorgegangen, zum Teil ganz selbständig. Aber vor allem ist der große Zug 
selbständig, mit dem Marx seine Theorie in weite soziologische Zusammenhänge gestellt hat. 

— Marx’ Erfolg war nur in Deutschland groß und nachhaltig. In England hat er nur eine 
kleine Gefolgschaft gehabt, die bald zerfiel (wichtigstes Werk: Hyndman, Economics 
of Socialism 1896). In Frankreich und in Italien hat wohl sein praktisches Programm und 
manches Schlagwort, aber sehr wenig seine eigentlich wissenschaftliche Leistung gewirkt 

— und auch da wurde, und wird namentlich, mehr der Soziologe als der Nationalökonom 
Marx geschätzt (vgl. für Italien: M i c h e 1 s : II Marxismo in Italia 1909; in mancher Beziehung 
ist L o r i a als Anhänger Marx’ zu bezeichnen). Die kritische und die apologetische Literatur 
des Marxismus ist sehr reichhaltig. Aber die wenigsten Kritiker — mehr die Apologeten — 
dringen in das Innere seines Gebäudes ein: Wie sonst, so wirkt auch hier das Interesse an den 
politischen Thesen, am Grundton, auch an der Soziologie ablenkend. Von ganz oder zum 
Teil der Theorie Marx’ gewidmeten Kritiken seien genannt: v. Böhm-Bawerk, 
Zum Abschluß des Marxschen Systems (Knies-Festgabe 1896) und in: Gesch. und Kritik 
der Kapitalzinstheorien, v. Bortkiewicz, Wertrechnung und Preisrechnung im Marx¬ 
schen System (Archiv f. Sozialw. u. Sozialpol. 1906 ff.) und in Conrads Jahrb., dritte Folge, 
Bd. 34; K. D i e h 1, Sozialw. Erläuterungen . . .; v. Komorzynski in der Zeitschr. 
f. Volksw., Sozialp. u. Verw. 1897; Lexis in Conrads Jahrb., Bd. 11; Lange in Conrads 
Jahrb. dritte Folge, Bd. 14; Tugan-Baranowsky, Theoretische Grundlagen des 
Marxismus 1905. 


6* 



84 I. Buch AII:J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. III 

stanten Kapitals einfach als eine Ursache der Deviation der Preise von dem Arbeits¬ 
wertgesetz infolge der Notwendigkeit auf länger verwendetes Kapital mehr Zins zu 
zahlen. Marx hingegen faßt den hier potentiell enthaltenen Gedanken kräftig an 
und betont, daß dieses Plus an Zins nur durch das Spiel des Gesetzes der gleichen 
Profitrate andern Kapitalisten entzogen wird, während man bei Ricardo noch 
glauben kann, daß es neu zur volkswirtschaftlichen Gesamtmenge des Zinses hinzu¬ 
träte. Nicht die Werte werden also nach Marx durch die Tendenz zur Gewinnaus¬ 
gleichung verändert, sondern nur die Preise. Die letzteren sind für ihn nicht ein¬ 
fach Ausdrücke der ersteren, sondern der Prozeß der Preisbildung verschiebt die 
Resultate der Wertbildung. — 

Diese Werttheorie Ricardos fand sehr bald Widerspruch und es entspann sich 
schon damals eine Wertkontroverse, an der auf der einen Seite vor allem Ricardo und 
de Quincey, auf der arideren vor allem Bailey, Malthus und Say teilnahmen. Hier 
also stießen die erwähnten zwei „Richtungen“ zuerst zusammen. Dabei handelte es 
sich um zwei Dinge. Erstens um das Moment des Gebrauchswerts, das in Bailey 
und Say seine Kämpfer fand. Ricardo lehnte dasselbe mit der sehr alten Begrün¬ 
dung ab *), daß die Wertlosigkeit sehr nützlicher Dinge seine Irrelevanz beweise, 
was u. a. auch die heute oft in Abrede gestellte Tatsache außer Zweifel setzt, daß 
Ricardo — und selbst noch Caimes gegenüber Jevons — das Moment des Gebrauchs¬ 
wertes nicht wegen seiner „Selbstverständlichkeit“ beiseite geschoben hat, sondern 
daß er nicht sah, wie man daraus den Tauschwert ableiten könne. Say vertrat sei¬ 
nen Standpunkt nicht glücklich und hat den entscheidenden Punkt nicht erfaßt, 
aber er erkannte doch die fundamentale Bedeutung des Gebrauchswerts und die 
Unmöglichkeit, die Produktionskosten als Ursache des Preises zu betrachten. So¬ 
dann aber handelte es sich — und besonders zwischen Ricardo und Malthus — ujn 
die Bedeutung von Angebot und Nachfrage. Und auch hier ist wiederum charak¬ 
teristisch, daß für Ricardo — und ebenso dann für Marx — nicht etwa die Leere 
der Formel von Angebot und Nachfrage das Entscheidende war, sondern daß er sie 
zunächst für unvereinbar mit seiner Auffassung hielt (vgl. z. B. Briefe an Malthus 
S. 148). Trotzdem gewann die Formel immer mehr an Einfluß namentlich im Zu¬ 
sammenhang mit der Theorie der internationalen Werte, die überhaupt als ein Vor¬ 
läufer späterer Tendenzen zu betrachten ist. Diese Theorie hat sich langsam aus der 
Freihandeldiskussion entwickelt. Lange Zeit hatte man sich mit den bekannten all¬ 
gemeinen Argumenten für den Freihandel begnügt, ohne tiefer auf die Untersuchung 
seiner Wirkungen auf die Wert- und Preissysteme der beteiligten Nationen einzu¬ 
gehen. So finden wir noch bei Hume keine klare Erfassung des Satzes, daß sich 
Ein- und Ausfuhr gegenseitig bedingen und ins Gleichgewicht stellen müssen, noch 
bei Smith keinen Versuch, die unmittelbaren Vorteile des internationalen Handels 
für den Befriedigungszustand der Beteiligten exakt zu erfassen. Erst die Folgezeit 
bringt die entscheidenden Schritte: F o s t e r s (Principle of Commercial Exchanges 
1804) klare und definitive Unterscheidung zwischen Handels- und Zahlungsbilanz, 
Torrens’ (The Economists refuted 1808) Formulierung des Prinzips der inter¬ 
nationalen Arbeitsteilung und der Art, wie sich der Gesamtgewinn auf die beteiligten 
Nationen verteilt. Die Theorie der internationalen Werte ausgebildet, auf das Prin¬ 
zip der vergleichsweisen Kosten basiert, damit ein- für allemal das theoretische 
Rüstzeug zur Behandlung dieser Frage geschaffen und namentlich gezeigt zu haben, 
daß auch bei allseitiger absoluter Ueberlegenheit des einen Landes über das andre, 
das letztre nicht ohne weiteres niederkonkurriert wird, sondern ebenfalls einen be¬ 
stimmten Vorteil erzielt, ist das Verdienst Ricardos, der auch die korrespondierenden 
Geldbewegungen in für lange Zeit klassischer Weise beschrieb. Die unmittelbaren 

*) Die Diskrepanz zwischen Höhe des Tauschwerts und Wohlfahrtsbedeutung eines Guts 
bildet die wesentliche „contradiction £conomique“ Proudhons. Er meint, daß darin ein für 
die kapitalistische Wirtschaft notwendig tötlicher Widerspruch liege. Von B. Hildebrand 
wurde dieser „Widerspruch“ sehr hübsch gelöst. 



III. Das klassische System. 


85 


Nachfolger Ricardos haben nichts hinzugefügt und auch John St. Mill kam nicht 
wesentlich über Ricardo hinaus, ja sein hauptsächlichster Beitrag ist nicht sehr wert¬ 
voll und in manchen Einzelpunkten ist seine Darstellung weniger korrekt als die 
Ricardos. Auf gleichhoher Stufe steht Cherbuliez. Einen Fortschritt hat Hermann 
aufzuweisen, der gegen Nebenius zeigte, daß nur durch Kapitalwanderungen eine 
Gleichheit zwischen den Profitraten verschiedener Länder hergestellt werden kann, 
und der auch bezüglich der Geldbewegungen lange vor Goschen wesentliche Kor¬ 
rekturen an Ricardo anbrachte, und Hagen, der die immer gefühlte, aber vor ihm 
nie begriffene Tatsache erklärte, daß kleine Zölle auch unter den Voraussetzungen 
der Freihandelstheorie einem der beteiligten Länder Gewinn bringen können. Auch 
v. Mangoldts Darstellung mag erwähnt werden. Ein weiterer Fortschritt ist Cairnes 
zu verdanken, der die Betrachtungsweise der Theorie der internationalen Wert¬ 
bildung auch auf die Theorie der nationalen Werte anwandte, nämlich auf jene 
Fälle, in denen auch innerhalb eines Landes von völlig freier „Beweglichkeit“ von 
Kapital und Arbeit nicht gesprochen werden kann. Die neueste Darstellung der 
klassischen Theorie des Gegenstandes ist von B a s t a b 1 e (Theory of international 
Trade 1903) und eine Reihe neuer Resultate, die nicht aufgezählt werden können, 
verdanken wir, wie gleich hinzugefügt werden mag, A. Marshall (ein privat 
gedrucktes Memoir 1875, aus dem Resultate in Pantaleonis Teoria dell economia 
politica pura und in Cunynghames Geometrical method of Political Economy 1904 
publiziert wurden), A u s p i t z und Lieben (Untersuchungen über die Theorie 
des Preises 1888) und vor allem Edgeworth (Econ. Journal IV.). Zwei ori¬ 
ginelle, aber nicht durchaus glückliche Versuche die Theorie zu verbessern unter¬ 
nahmen C o u r n o t (Principes math6matiques de la Theorie des richesses 1836) 
und S i d g w i c k *). 

Die Bedeutung dieser Theorie für die Wert- und Preislehre lag nun darin, daß 
bei der internationalen Wertbildung ein andrer Bestimmungsgrund als die Intensität 
der beiderseitigen Nachfrage schlechthin fehlt, obgleich sich trotzdem auch hier 
„natürliche“ oder Gleichgewichtspreise heraussteilen. Diese Theorie mußte schlie߬ 
lich, wenn man sie nur durchdachte und ihren Grundgedanken wirklich erfaßte, auf das 
Unbefriedigende der Ricardianischen Auffassung aufmerksam machen. Die ent¬ 
scheidenden Schritte in einer neuen Richtung machte John St. Mill. Er erkannte 
zunächst, daß die durch die Formel von Angebot und Nachfrage bezeichnete Art 
der Preisbildung allgemeingültig sei und das ursprüngliche Tauschgesetz als einen 
speziellen Fall umfasse. Dann aber beschränkte er dieses letztere — seinen eigent¬ 
lichen Sinn ganz verändernd — auf eine Hervorhebung eines wichtigen Kosten¬ 
elements und ließ dabei das Moment der Arbeitsmenge gegen das Moment der Lohn¬ 
summe zurücktreten. Und schließlich stellte er überhaupt den Gesichtspunkt des 
Unternehmers bei der Behandlung der Produktionskosten in den Vordergrund — 
so daß in seiner Hand die Arbeitstheorie des Werts und Preises in die Produktions¬ 
kostentheorie einmündete, also im Wesen eine Auffassung, deren Unzulänglichkeit 
Ricardo zu seiner ganzen Analyse veranlaßt hatte. Natürlich war die erstere aber 
jetzt nicht haltbarer wie früher: Sie bedeutete nun lediglich ein Aufgeben des Grund¬ 
gedankens Ricardos und war im übrigen eine Mittelstellung zwischen Tür und Angel, 
die sich auf die Dauer nicht verteidigen ließ. Ein Schritt weiter mußte zur Gebrauchs¬ 
werttheorie des Preises führen und jene Autoren, die später vom Standpunkt dieser 
Produktionskostentheorie gegen die Gebrauchswerttheorie auftraten, mußten bald 
einsehen, daß sie auf einem verlorenen Posten standen. Die andere Alternative war, 

*) B a s t i a t war einer der energischsten Kämpfer für den Freihandel. Der Theorie des 
Gegenstands aber hat er nichts hinzugefügt. Aber F. List hat mit seinem Argument vom 
„Erziehungszoll“ zum mindesten ein populäres Schlagwort des Tages zur Anerkennung in der 
Wissenschaft verholten. Wir finden es dann auch bei John St. Mill und Du Mesnil- 
Marigny (F6conomie politique devenue Science exacte, 1859). Bei letzterem treten auch 
die Listschen Gedanken von der Notwendigkeit einer nationalen Volkswirtschaft, die den 
physischen und sozialen Bedingungen der nationalen Existenz entspricht, hervor. 



86 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. III 

in der empirisch gegebenen Masse der Produktionskosten nach einem vom Gebrauchs¬ 
wert unabhängigen Moment zu suchen. Auch dieser Weg wurde betreten. Er 
führte zu der einzigen nach Mill noch von Autoren von Rang vertretenen Kosten¬ 
theorie, nämlich jener, die das Kostenphänomen auf das Moment der Arbeitsunlust 
und der Genußenthaltung stützt J ). Darauf kommen wir noch zurück. 

11. Wie gesagt war die Verteilungstheorie für die Klassiker weitaus das wich¬ 
tigste Problem und zwar die verhältnismäßige Verteilung eines im übrigen als gegeben 
betrachteten Sozialprodukts, dessen absolute Größe und absolute Veränderungen 
nur nebenbei — und fast niemals als abhängig auch von der Art der Verteilung — 
ins Auge gefaßt wurden. Um die Größe des erreichten Fortschrittes zu verstehen, 
muß man die Verteilungstheorie Smith mit all ihrer populären Flüchtigkeit zur Folie 
nehmen. Wir können das nur andeutungsweise tun und wenden uns, obgleich so 
manche Grundzüge verwischt werden, den Theorien der drei, bzw. vier, Einkommens¬ 
zweige zu. 

In der Rentenlehre finden wir zunächst noch Spuren der alten Popularauffas- 
sung, daß die Grundrente einfach daher komme, daß auf dem Boden etwas wächst, 
daß die Grundrente eine „Gabe der Natur“ sei. So bei dem sonst auf ganz anderm 
Standpunkt stehenden Malthus (An Inquiry into the nature and progress of 
rent 1815) 2 ). Schon A. Smith jedoch trug einen wirklichen Erklärungsversuch vor, 
nämlich den Gedanken, daß, weil der Boden kein Produkt sei, mithin keine Pro¬ 
duktionskosten habe, sich der Umstand, daß Bodenleistungen ein Preis haben nur 
durch ein „Bodenmonopol“ erklären lassen könne. Der beste Vertreter dieses Ge¬ 
dankens, der, obgleich er lediglich auf ungenügender Erfassung des Wesens des 
Monopols beruht, sich in der klassischen Literatur noch oft, so bei Senior, bemerk¬ 
bar machte und auch heute noch eine ganze Anzahl von Vertretern hat, ist Th. P. 
Thompson (The true theory of rent 1826. D$s Verdienst der Arbeit liegt in der 
Ricardokritik). Eine dritte Rentenerklärung gibt die allgemeine Theorie der „pro¬ 
duktiven Dienste“ und ist daher wesentlich an den Namen Says zu knüpfen. Hier¬ 
her gehört auch Hermann, dessen Auffassung aller sachlicher Produktionsgüter als 
eines Fonds, dessen Nutzungen ohne Verbrauch seiner Substanz in die Produkte 
übergehen, so daß die Preise dieser Nutzungen Reineinkommen bilden, sich gerade 
bei der Grundrente bewährte und der mit seiner Zusammenfassung von Rente und 
Zins als wesensgleich und nur durch ihre Rechenform unterschieden, ein Vorläufer 
einer ganzen Reihe späterer ist, unter denen mehrere moderne Amerikaner (Clark, 
Fisher, Fetter) hervorgehoben sein mögen. Diese Theorie, die um so mehr an Ein¬ 
fluß gewann je mehr man auf eigentliche Erklärung des Wesens im Gegensatz zur 
bloßen Größe der Einkommenszweige und auf eine einheitliche Verteilungstheorie 
Wert legen lernte, erklärt also die Grundrente wie alle andern Einkommen aus der 
rein ökonomischen produktiven Rolle des Produktionsfaktors Boden. Anders eine 
vierte Theorie, die von Autoren vorgetragen wurde, die den Gedanken der produk¬ 
tiven Dienste ebenfalls zur Grundlage nahmen, aber im Falle der Grundrente dem 
„Dienste“ des Bodens eine angebliche Kapital- und Arbeitsaufwendung des Grund- 

*) Wir müßten eigentlich noch anderer Kostentheorien gedenken mit Rücksicht darauf, 
daß ein wesentlicher Teil des Bilds der ökonomischen Wirklichkeit von der Stellung seines 
Autors zum Kostenphänomen abhängt. Allein wir müssen uns beschränken. Die Repro¬ 
duktionskostentheorie (Carey, Ferrara, Dühring) wäre u. a. zu nennen. An sich bedeutet sie 
wenig mehr als die Betonung eines allen Kostentheorien eigenen Moments: Sicher sind nie¬ 
mals die aufgewendeten Kosten, sondern die im Falle weiterer Erzeugung aufzuwendenden 
für den Tauschwert bestimmend. Aber immerhin führt die Reproduktionskostentheorie zu 
manchen besonderen Resultaten. B a s t i a t ferner ersetzte d$s Moment der aufgewendeten 
Kosten durch das Moment der dem Käufer ersparten eigenen Produktionskosten. Diese 
ersparten Kosten messen bei ihm den dem Käufer erwiesenen „Dienst“. 

*) Der auch noch einen anderen Erklärungsgrund anzuführen hat: Die landwirtschaft¬ 
liche Produktion schaffe sich gleichsam selbst ihre Nachfrage, weil jede Ausdehnung eine Be¬ 
völkerungsvermehrung zur Folge habe — ein ganz verfehlter Gedanke, der denn auch zu Bo¬ 
den fiel. 



III. Das klassische System. 


87 


herm substituierten, so daß die Grundrente als Zins und Lohn erschien, wie Carey 
und in seinem Gefolge Ferrara l ). Aber viel wichtiger ist jene Theorie, die zuerst 
von Anderson (1777) und dann von West (1815) und Malthus (1815) formuliert, 
aber in ihrer ganzen Bedeutung von Ricardo erkannt, dann von Thünen übernommen 
worden ist — die Differenzialtheorie der Rente. In ihrer tiefsten Bedeutung ist sie 
die Kehrseite der Ricardianischen Werttheorie. Sie soll die Frage beantworten: 
Wie kann die Arbeitsmenge ein Index der Tauschverhältnisse sein, wenn in den Gü¬ 
tern ungleiche „Mengen von Boden“ enthalten sind? Und diese Frage wird beant¬ 
wortet, indem man zunächst die Gültigkeit des Tauschgesetzes für die auf renten¬ 
losem — also am schlechtesten, als freies Gut betrachteten — Boden erzeugten 
Produkte feststellt und nachweist, daß die zu ihrer Erzeugung nötige Arbeit allgemein 
preisbestimmend sein muß, da sie für einen geringem Preis nicht erzeugt würden, 
gleichzeitig aber gleiche Mengen derselben Ware nicht verschiedene Preise haben 
können. Deshalb müssen die Tauschwerte aller unter andern als den ungünstigsten 
Verhältnissen erzeugten Produktmengen einen Ueberschuß über die durch den Ar¬ 
beitsindex gegebene Höhe enthalten und insoweit wohl vom ursprünglichen Tausch¬ 
gesetz abweichen. Aber diese Abweichung hebt das letztere nicht auf, weil trotz¬ 
dem der Tauschwert der Bodenprodukte der in einem Teile derselben enthaltenen 
Arbeitsmenge proportional bleibt. Diese Abweichung beeinflußt ferner Lohn und 
Profit nicht, weil die Konkurrenz unter Arbeitern und Kapitalisten jenen Ueber¬ 
schuß dem Grundherrn zuschwemmt. Was daher wie eine leibhaftige Widerlegung 
des Tauschgesetzes aussah, läßt sich nicht nur unschädlich machen, sondern sogar 
noch zu einer besondern Spezialleistung verwenden, wenn auch nur mit Hilfe eines 
speziellen Moments, des Gesetzes vom abnehmenden Bodenertrag. Man unterschied 
sofort drei „Rentenfälle“: Die Rente des Bodens höherer Fruchtbarkeit, die Rente 
der intramarginalen — d. h. der letzten wirtschaftlich noch möglichen vorhergehenden 
— Arbeits- und Kapitalaufwendung („Dose“) und, worin eine erste Verallgemeine¬ 
rung des Gesetzes vom abnehmenden „Bodenertrag lag, die von Thünen besonders 
hervorgehobene, wenngleich schon Ricardo bekannte, Rente der Lage, welche später 
auch für die Behandlung der städtischen Grundrente Verwendung fand. Bei der 
Beurteilung dieser Theorie sind vier Dinge auseinanderzuhalten: Ihr absoluter Er¬ 
kenntniswert, ihre Bedeutung für das klassische System, ihre historische Bedeutung 
für die Entwicklung des ökonomischen Denkens und der Wert einzelner Erkennt¬ 
nisse, die die Klassiker aus ihr gewannen oder doch in ihrem Gewände darstellten. 
Der absolute Erkenntniswert dieser Theorie ist gering. Nicht nur, daß mehrere 
begründete — und einige unbegründete (Carey) — Einwände sich sofort geltend 
machten und eine bis auf den heutigen Tag fortgesetzte Diskussion schwere Mängel 
nachgewiesen hat — vor allem erklärt sie nichts: Sie ist eine rein formale Maschine 
zur Exstirpierung der Rente aus den Tauschvorgängen. Nichts andres sollte sie wohl 
für Ricardo sein. Allein in dieser Eigenschaft war sie für die Klassiker von funda¬ 
mentaler Bedeutung. Mit Behagen heben J. Mill, Senior, Mc. Culloch u. a. bei der 
Behandlung des Verteilungsproblems immer wieder hervor, daß die Rente dabei 
ausscheide, „extraneous“, „extrinsic“ usw. sei, so daß der springende Punkt lediglich 
in der Aufteilung zwischen Lohn und Profit liege. Für die Entwicklung der Wissen¬ 
schaft gab diese Rententheorie lange einen festen Halt und, soweit sie nachgab, ein 
Diskussionsthema ab, an dem sich sehr Vieles klarstellen ließ. Was den vierten 
Punkt betrifft, so haben die Klassiker im speziellen Fall der Rente zuerst mit prin¬ 
zipieller Klarheit erkannt, daß die Einkommen im Prinzip nie Ursache, sondern 
stets nur Folge der Produktpreise 2 ) sind, und daß ein völliges Wegfallen der erstem 

*) Bastiats Stellung zum Grundrentenproblem charakterisiert man wohl am besten 
durch den Satz, daß er das Bestehen einer reinen Grundrente überhaupt leugnet. 

*) Diese Erkenntnis wurde später verallgemeinert. Aber ehe man das konsequent tat, 
unterschieden viele Autoren zwischen „preisbestimmenden“ und „vom Preise bestimmten“ 
Einkommenselementen — eine wenig glänzende Mittelstellung. 



88 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. III 

die letztem nur in einer sekundären Weise beeinflussen würde. Auch sonst noch 
hing eine Menge praktischer Einsicht und richtiger Beobachtung an dem unvoll¬ 
kommenen Gerüst. 

Es seien nun einige der wichtigsten Weiterbildungen der Ricardianischen — 
denn so verdient sie trotz aller Bedenken genannt zu werden — Grundrententheorie 
erwähnt. Vor allem verallgemeinerte man das Schema dieser Theorie, die Dar¬ 
stellungsweise von Erträgen als Ueberschüssen über einen Grenzertrag: Wie nach 
Ricardo auf einen gegebenen Boden fortschreitend immer weitere Dosen von Ka¬ 
pital und Arbeit aufgewendet wurden, so kann man sich ohne besondere Gezwungen¬ 
heit auch vorstellen, daß auf eine gegebene Menge von Kapital fortschreitend gleich¬ 
große Dosen von Arbeit und Boden aufgewendet und daß einer gegebenen Arbeiter¬ 
zahl fortschreitend gleichgroße Dosen Kapital und Boden übergeben werden, so 
daß dann Kapitalzins wie Arbeitslohn in Rentenform erscheinen. Natürlich zeigt 
gerade die Möglichkeit dieser Verallgemeinerung den geringen Wert der ganzen Be¬ 
trachtungsweise als Spezialtheorie der Grundrente, aber das ändert nichts daran, 
daß sie sich für manche Zwecke als fruchtbar erwies. Dogmenhistorisch interessant 
ist sie besonders als einer der Wege, die vom klassischen System notwendig zu andern 
Auffassungen hinüberleiten mußten *). Dann hat man sehr bald das Gesetz vom 
abnehmenden Bodenertrag zu einem Gesetz vom abnehmenden Produktionsertrag 
überhaupt erweitert und der Grundrente ganz analoge Erscheinungen auf dem Ge¬ 
biet der Industrie entdeckt. Als Beispiel sei v. Mangoldts großzügige Auffassung 
der allgemeinen Rente als Konsequenz der Ungleichheit der Produktionsbedingungen 
erwähnt, Spuren dieser Auffassung gibt es zahllose. Weiter hat man im Renten¬ 
begriff das Moment der Naturgabe herausgehoben und dann Rentenelemente auch 
im Lohn besonders tüchtiger geistiger oder körperlicher Arbeitskraft gefunden. 
Auch an das Moment der fehlenden Kosten hat man sich gehalten und ein Analogon 
desselben überall dort konstatiert, wo auf einmal große Aufwendungen für längere 
Zeit zu machen sind, die einmal gemacht nicht wieder zurückgezogen werden können. 
Daraus entsprang der Begriff der Quasirente (Marshall) und die Erkenntnis, daß 
je nach Länge der betrachteten Zeit sich der Kreis der sich als solche „Renten“ ver¬ 
haltenden Erträge verändert, so daß unter einem Gesichtspunkt so gut wie nichts, 
auch nicht das urbare Land, unter einem andern so gut wie alles Erträge von Renten¬ 
charakter abwirft. 

Marx* und Rodbertus’ Grundrententheorien unterscheiden sich erheblich von 
der Ricardos und voneinander. Trotzdem haben alle drei einen gemeinsamen Zug 
— die Konkurrenz unter den Arbeitern und unter den Kapitalisten schwemmt den 
Bodeneigentümern, zwischen denen sie wegen der Unvermehrbarkeit des Bodens 
weniger scharf wirkt, ein Einkommen zu. Bei Marx wie bei Rodbertus aber gibt es 
nicht bloß eine „Differenzial“-, sondern auch eine „absolute“ Grundrente 2 ), die 
Teil des prinzipiell einheitlichen Mehrwerts, resp. der prinzipiell einheitlichen Besitz¬ 
rente ist. Marx’ Gedanke läuft auf Folgendes hinaus: In der Landwirtschaft wird 
verhältnismäßig wenig stehendes Kapital verwendet, daher ist da das Verhältnis 
von Mehrwert und Kapitalwert groß. Während aber in der Industrie wegen der 
da herrschenden Konkurrenz und der durch diese herbeigeführten Geltung des Ge¬ 
setzes der gleichen Profitrate kein Produzent einen Vorteil davon hat, daß er weniger 
konstantes Kapital verwendet als ein andrer, so hätte er einen solchen Vorteil in der 
Landwirtschaft, weil da die Konkurrenz durch die Bedingung des Bodenbesitzes 
beschränkt ist. Aber er muß diesen Vorteil offenbar an den Grundherrn abtreten 

*) Diese Entwicklung nahm die amerikanische Literatur unter der Führung John B. 
Clarks. 

*) Man hat versucht auch bei Ricardo eine absolute Grundrente zu finden. Aber die 
ganze Anlage seines Systems beruht auf der alleinigen Existenz einer Differenzialrente. Hat 
Ricardo auch gelegentlich Aeußerungen gemacht, die auf eine absolute Grundrente hindeuten, 
so hat er doch auf deren Existenz kein Gewicht gelegt und davon keinen theoretischen Ge¬ 
brauch gemacht. 



III. Das klassische System. 


89 


— daher die Grundrente. Rodbertus stützt sich in seinem sonst ähnlichen Gedanken¬ 
gang nicht auf die — angebliche oder wirkliche — Tatsache eines geringen stehenden 
Kapitals, sondern — ganz unglücklich — darauf, daß der landwirtschaftliche Produ¬ 
zent im Gegensatz zum industriellen kein Material (Rohstoff) zu bezahlen hat oder 
doch weniger — denn sein wichtigstes Material ist der naturgegebene Boden. Daher 
ein Uebergewinn, die Grundrente 1 ). 

Wie schon gesagt, läßt sich die vielen Oekonomen so wünschenswert scheinende 
Beschränkung des Verteilungsvorgangs auf eine Aufteilung zwischen bloß zwei Kate¬ 
gorien von Wirtschaftssubjekten auf zwei Arten erreichen, durch die Ausscheidung 
der Grundrente nach Ricardos Beispiel und durch Subsumierung derselben unter 
einen weitern Rentenbegriff, der sowohl Kapital-, wie auch Grundertrag umfaßt, 
wie das z. B., jeder in seiner Weise, Hermann, Marx und Rodbertus taten. Ist das 
geschehen, dann kann man wiederum entweder für Lohn und Profit pari passu — 
auf demselben Prinzip oder auf verschiedenen — beruhende Erklärungen auf¬ 
stellen, aus denen sich die relative Größe beider ergibt oder den Standpunkt ein¬ 
nehmen, daß ihre Summe ja gegeben und daher alles getan ist, wenn man Größe 
und Bewegungsgesetze eines von beiden feststellen kann. Dieser letztre Stand¬ 
punkt ist der Ricardos. Bei ihm tritt mit voller Klarheit der folgende Gedanken¬ 
gang aus einem Gewirre von Einschränkungen und widersprechenden Momenten 
hervor: Der Arbeiter ist der „producer“ des Gesamtprodukts, von dem eventuell 
zunächst vorweg die Grundrente abgeht. Der Tauschwert jedes Produkts ist un¬ 
gefähr und im großen und ganzen proportionell der darin enthaltenen Arbeitsmenge. 
Was davon dem „Kapitalisten“ bleibt, mithin Profit wird, hängt davon ab, wieviel 
der Kapitalist dem „Produzenten“ geben muß, welche Arbeitsmenge— der eben der 
Tauschwert auch der „Lohnwaren“ proportioneil gesetzt wird — in den Gütermengen 
enthalten ist, die dem „Produzenten“ schließlich zufallen. Daraus ergibt sich auch 
die Profitrate, mithin auch für diese der Satz: Der Profit hat seinen wesentlichen 
Bestimmungsgrund im real value des Lohns — er steigt, wenn dieser fällt und um¬ 
gekehrt. Zum Verständnis dieses berühmten Theorems sei noch hinzugefügt: Es 
bezieht sich nur auf Wertverhältnisse nach dem Arbeitswertindex; die Güterversor¬ 
gung der Kapitalisten kann zugleich mit der der Arbeiter steigen und ebenso könnten 
Profit und Lohn nach einem andern Wertindex zusammen steigen und fallen. Den 
Einfluß der Produktivität der Arbeit und der Länge der Produktionsperiode auf den 
Profit übersieht weiters Ricardo keineswegs; nur erblickt er darin keine wesentlichen 
Bestimmungsgründe der großen historischen Bewegung des Profits. Endlich beruht 
das Theorem nicht auf der Voraussetzung konstanter Produktpreise, wie viele Kri¬ 
tiker angenommen haben. 

Es folgt unmittelbar daraus, daß Lohnbewegungen nicht oder doch nur inso¬ 
weit es die Gleichheit der Profitrate bei ungleicher organischer Zusammensetzung 
das Kapital notwendig macht, auf die Preise wirken und daß, selbst wenn sie das 
täten, ihre Wirkung auf die Profitrate dadurch nicht beeinflußt würde, ferner, daß 
Veränderungen in den Produktionsverhältnissen andrer Waren als jener, die von 
den Arbeitern konsumiert werden, auf die Profitrate nicht wirken, da sich Auslage 
und Erlös durch sie nur in gleicher Weise verändern, während Veränderungen in den 
Produktionsverhältnissen der „Lohnwaren“ zum Anlaß von Lohnveränderungen 
werden und so auf die Profitrate wirken können. Ricardo meint nun, daß das letztere 
tatsächlich meist der Fall sei. Unter den Lohnwaren gibt es besonders eine, deren 
Produktion zwar gelegentlich durch Produktionsfortschritte und Einfuhr ohne Er¬ 
höhung der Einheitskosten oder selbst mit geringeren Einheitskosten, schließlich 
aber und im historischen Lauf der Dinge nur mit immer steigendem Arbeitsauf¬ 
wand pro Produkteinheit ausgedehnt werden könne: das Getreide. Und weil dieses 

x ) Wir können auf dieses Thema nicht weiter eingehen. Vgl. die vorzügliche Arbeit von 
v. Bortkiewicz im Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung 
I. Bd. und die darin zit. Arbeiten von Adler, Lexis, Schippel und Zuns. 



90 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. III 

und überhaupt alle Nahrungsmittel also im Preise fortschreitend steigen werden, 
wenn sich die Bevölkerung und das Kapital vermehrt, so werde die Profitrate fort¬ 
schreitend fallen — darin liege denn auch die Erklärung ihres historischen Sinkens. 
Gleichzeitig müsse die Grundrente fortschreitend steigen, aber während der Arbeiter 
vom Steigen seines Lohns keinen Vorteil habe, weil er eben für ihn nicht mehr 
Getreide kaufen könne als vorher, so sei der Fall des Grundherrn günstiger *), weil 
nun mehr Getreide auf ihn fällt und dieses Getreide auch noch einen höhern 
Wert habe. Das ist denn die berühmte Theorie Ricardos von den Entwicklungs¬ 
tendenzen der Verteilung 2 ), die er in demselben Jahr (Essay on the influence of a 
low price of com on the profits of stock 1815) publizierte, wie West, um sie dann 
in seinen Principles mit einer kleinen Abänderung auszuarbeiten. Man bewundere 
den genialen Wurf. Aber man beachte, daß im Laufe dieses Gedankengangs immer 
neue Voraussetzungen, immer neue Tatsachen und konkrete Zusammenhänge, die 
nur neben vielen andern in der Wirklichkeit wirken, eingeführt und zur Grundlage 
des weitern gemacht werden. Besonders die praktisch wichtigsten Endresultate, 
die das wirtschaftliche Geschehen weithin durch die Jahrhunderte zu beleuchten 
unternehmen, sind keineswegs die notwendigen Ergebnisse einer theoretischen Grund¬ 
auffassung, sondern nur einer Grundauffassung, in die ganz bestimmte konkrete 
Daten eingesetzt worden sind — und diese fortwährende Konkretisierung der Daten 
und Beschränkung der Untersuchung auf einzelne von mehrem theoretisch mög¬ 
lichen Fällen, dieses Vertrauen auf große Durchschnitte und diese Vernachlässigung 
theoretischer Detailarbeit machen zugleich die Stärke und die Schwäche des Ge- 
dankengangs aus: Sie ermöglichen präzise wuchtige Resultate, aber sie legen die 
Gefahr nahe, daß man ohne jeden eigentlichen Fehler zu einem Zerrbild der Wirk¬ 
lichkeit gelangt und noch mehr die Gefahr, daß man verkennt, daß die Resultate 
zwar auf diese Weise praktisch sehr relevant aber auch sehr unsicher und „unge¬ 
fähr“ wurden. Ricardo berührte gleichsam die volle Wirklichkeit mit dem Finger, 
aber nur einige Punkte derselben. Wäre er weiter von ihr abgeblieben, so hätte er 
mehr von ihr übersehen. Besonders die starren Kausalketten, mit denen er Dinge 
verband, zwischen denen Wechselbeziehung besteht, sind vielfach unverläßlich. 
Und während manche Behauptungen sich auf die unmittelbare Gegenwart Ricardos 
beziehen, beziehen sich andre auf eine unendlich ferne Zukunft. 

Es bedurfte daher gar nicht jener charakteristisch unfairen Kritik, die in unsrer 
Disziplin so oft zu beobachten ist, um Ricardo widerspruchsvoll und unverständlich 
zu finden. Schon seine unmittelbaren Schüler verstanden ihn auch hier nicht und 
schon James Mill und Mc. Culloch haben seine Profittheoreme verdorben und ver¬ 
flacht. Wir finden zwar noch lange Spuren seiner Auffassung in der wissenschaft¬ 
lichen und gedankenlose Wiederholungen und „Widerlegungen“ seiner scharffor¬ 
mulierten Resultate in der populären Literatur, aber selbst John St. Mills Beiträge 
(Essays on some unsettled questions of Political Economy 1844, Nr. 4 und Prin¬ 
ciples) betten gleichsam Ricardos Gedanken weich, um ihn sanft sterben zu lassen. 
Aber alle Autoren dieser Richtung hielten an der West-Ricardoschen Erklärung 
des Fallens der Profitrate fest und verwarfen die alte, von Smith formulierte, daß 
das Wachsen des Kapitals die Konkurrenz unter den Kapitalisten verschärfe und so 
den Profit herabdrücke, auf das entschiedenste, weil die Konkurrenz nur die Pro¬ 
duktpreise beeinflusse und ein allgemeines Sinken aller Preise doch keinen Einfluß 
auf die Profitrate haben könne. 

Die Auffassung hingegen, daß der Profit lediglich eine Restgröße und nur da¬ 
durch zu erklären sei, daß die das ganze Produkt einheitlich erzeugende Arbeit aus 
irgendeinem Grund nur einen Teil desselben erhalte, diese Auffassung, die zweifellos 

*) Und ungünstiger im Falle von Produktionsfortschritten. 

*) Ihr wurden von C a r e y und B a s t i a t andere Auffassungen gegenübergestellt, 
auf die wir nicht eingehen können. Auch Rodbertus’ „Gesetz der sinkenden Lohnquote“ 
kann nur erwähnt werden. 



III. Das klassische System. 


91 


der Konstruktion Ricardos naheliegt, obgleich er selbst sie nicht ausspricht, sondern 
gelegentlich nach andrer Richtung deutende Aeußerungen macht, wurde von den 
Autoren dieser Schule nicht adoptiert, sondern sie suchten an diese andern Hinweise 
Ricardos anzuknüpfen. Aber sie haben diesen Gedankengang nicht etwa übersehen. 
So sagt der jüngere Mill (Principles, Bk. II., Ch. XV, § 5): The cause of profit is 
that labour produces more than is required for its support. In diesem Satz liegt 
ein Hinweis auf die „physische Produktivität“ der Arbeit, entsprechend dem Hinweis 
auf die Tatsache der Produktivität des Bodens, der uns als erste und primitivste 
Grundrententheorie bereits begegnete, und dem Hinweis auf die Tatsache physischer 
Produktivität des Kapitals, der uns als Grundlage der primitivsten Zinstheorie noch 
begegnen wird. Aber Mill sah offenbar, daß dieses Moment nichts erklärt und so 
stützt er die Zinstheorie trotz des Wortes „cause“, das hier ganz deplaziert ist und 
statt dessen „condition“ stehen sollte — nicht darauf. 

Hingegen hat Marx diesen Gedanken verwendet, dessen Mehrwert- und Aus¬ 
beutungstheorie zweifellos auf einer — ja wahrscheinlich nicht gewollten — An¬ 
regung Ricardos beruht, und in etwas andrer Weise auch Rodbertus. Auch andre 
Anregungen in dieser Richtung gab es. Aber nur Ricardo bot für Marx eine wissen¬ 
schaftliche Grundlage dar, als deren logische Weiterbildung in einer Richtung seine 
Mehrwerttheorie erscheinen kann. Ricardo ist Marx in der Anwendung des ur¬ 
sprünglichen Tauschgesetzes auf die Arbeit — nach Marx „Ware Arbeitskraft“ — 
vorausgegangen und hat, was entscheidend ist, die Differenz zwischen der im 
Lohn enthaltenen Arbeitsmenge und der im Gesamtprodukt enthaltenen Arbeits¬ 
menge scharf hervorgehoben und in den Mittelpunkt seines Gedankengangs gerückt. 
Diese Differenz ist der Mehrwert und man könnte schon vom Ricardianischen 
Standpunkt sagen, daß er unbezahlter Arbeitskraft seine Entstehung verdanke. 
Marx hat diesen Gesichtspunkt noch reiner dargestellt und ausgearbeitet. Er hat 
Mehrwert und Profit zum mindesten deutlicher — m. E. aber überhaupt erst — 
geschieden. Er hat, wie Rodbertus, alle Erscheinungsformen der nach dieser Auf¬ 
fassung gewiß als wesensgleich aufzufassenden Ueberschüsse über den Lohn zu¬ 
sammengefaßt. Er ist endlich durch seine Kapitalanalyse zu dem Satz gelangt, daß 
sich nicht an das ganze Kapital, sondern nur an das variable die Entstehung von Mehr¬ 
wert knüpft und dem konstanten nur durch das Spiel der Konkurrenz ein Anteil 
daran zufließt*). Daraus ergab sich ihm nun eine andre Erklärung des Sinkens 
der Profitrate. Die Produktion, die konstantes Kapital verwendet, unterscheidet 
sich von der Produktion, die das nicht tut, lediglich durch ihre Dauer und ihre Pro¬ 
duktivität — denn würde die erstere keine längere Zeit in Anspruch nehmen und 
nicht mehr Produkte erzeugen als die letztere, so wäre es ganz irrelevant, ob die Pro¬ 
dukte unmittelbar oder auf dem Umweg vorheriger Erzeugung von Werkzeugen 
usw. hervorgebracht würden. Die größere Produktivität ist für die Profitrate nur 
insofern relevant, als sie den Tauschwert der Lohnwaren drückt; davon können 
wir aber hier um so mehr absehen, als das Getreide eine Hauptrolle im Komplex der 
Lohnwaren spielt und für dasselbe nach den Anschauungen dieser ganzen Richtung 
eine Produktivitätssteigerung nur temporär in Frage kommt. Die Ausdehnung 
der Zeitperiode aber bringt es mit sich, daß nun die gleiche Menge Mehrwert auf eine 
längere Zeit verteilt werden muß — daher das Sinken der Profitrate. Doch läge 
darin nur ein weiterer Grund für dasselbe, denn der Ricardianische — das Sinken 
der Mehrwertrate im Falle des Steigens der zur Produktion der Lohnwaren nötigen 
Arbeitsmenge — wird dadurch an sich nicht berührt. Diese neue Behandlung des 
Zeitmoments führt Marx auch dazu den Antagonismus zwischen Profit und Lohn 
und die Nichtbeeinflussung des Profits durch Veränderungen in den Produktions¬ 
verhältnissen andrer als der Lohnwaren in Abrede zu stellen, doch liegt auch darin 
nur die Hinzufügung eines neuen Moments, welche der Bedeutung der Ricardiani- 

*) In diesen Sätzen liegt die Marxsche Ausbeutungstheorie, auf die wir hier ebensowenig 
näher eingehen können, wie auf andere charakteristische Funkte seines Systems. 



92 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. III 

sehen Auffassung für das Verständnis der Bewegungstendenzen der Mehrwertrate 
und selbst, bei Einführung entsprechender Voraussetzungen, der Profitrate keinen 
Eintrag tun würde. 

Ueberblicken wir nun in der gebotenen Kürze die Lohn- und Zinstheorie der 
Epoche. Wie Cannan (S. 200) sehr richtig sagt, erschien es am Anfang derselben 
überhaupt nicht als ein Problem, warum der Arbeiter seinen Lohn erhalte. Er produ¬ 
zierte ja das ganze Produkt und das Problem war nur, warum es ihm nicht ganz zu¬ 
falle. So stand denn gar nicht das Wesen, sondern nur die Größe des Lohns auf der 
Tagesordnung und nur schüchtern kündigt sich der Gedanke eines unterscheidbaren 
Anteils der Leistung des Arbeiters am Gesamtprodukt und damit der Versuch an, 
daraus den Lohn zu erklären und den Zusammenhang zwischen Produktpreis und Ar¬ 
beitslohn zur Grundlage der Lohntheorie zu machen. So bei Say und seinen Nach¬ 
folgern, dann bei M. L o n g f i e 1 d (Lectures on Political Economy 1834), auch bei 
Malthus in gewissem Sinne, vor allem aber bei Hermann und Thünen, der den Begriff 
des Produkts des Grenzarbeiters mit voller Klarheit erfaßte. Für die andern erübrigte 
nur, sich nach den konkreten äußern Umständen umzusehen, die verhindern, daß 
der Lohn das Gesamtprodukt absorbiere, wie er das in primitiven Zuständen getan habe. 
Uralt ist die Beobachtung, daß der gewöhnliche Handarbeiter ungefähr seinen Le¬ 
bensunterhalt gewinne und die Ansicht, daß das einer Notwendigkeit entspreche. 
Wir finden dieselbe schon im 17. Jahrhundert, dann auch bei den Physiokraten, auch 
bei Turgot. A. Smith trägt sie ebenfalls vor, mit sorgfältigen Einschränkungen aller¬ 
dings und seiner gewohnten Fülle von Einzelbeobachtungen und -bemerkungen, 
deren gesunder Sinn auch hier die geringe Tiefe der Grundlagen verdeckt und unter 
denen die Unterscheidung zwischen hohen Löhnen und teuerer Arbeit die wichtigste 
ist. Will man dennoch eine eigentliche Lohntheorie bei ihm finden, so könnte das nur 
eine „Residualtheorie“ sein: Der Arbeiter, der Grundherrn und Kapitalisten gegen¬ 
übersteht, muß beiden von seinem Produkt abgeben — und Lohn ist, was ihm bleibt. 
Nichts liegt ihm ferner als der Gedanke, daß der Arbeiter, wenn er selbst zugleich auch 
Grundherr und Kapitalist wäre, zwar das ganze Produkt aber nicht als Lohn er¬ 
halten würde. Auch der Gedanke, der den Ausgangspunkt der Erfassung des kapita¬ 
listischen Verteilungsprozesses bildet, nämlich daß der Lohn ein Preis ist, wird von 
ihm ohne rechte Energie verfolgt und erst in den spätem Kapiteln des Wealth treten 
als lohnbestimmend die Nachfrage nach Arbeit und der Preis der Nahrungsmittel 
hervor. An diese beiden Momente knüpfte nun die Folgezeit an. Die Nachfrage nach 
Arbeit wurde auf das Kapital gestützt und ihr wurde unter dem Einfluß des Malthus- 
schen Essays ein Angebot gegenübergestellt, das sich auszudehnen tendiert, wobei 
wir schon bei Ricardo eine Neigung nach der Annahme, daß sich die Arbeiterbevöl¬ 
kerung schneller vermehre als das Kapital, und dann bei J. Mill und Mc. Culloch den 
Versuch eines Beweises finden, daß das so sein müsse, wenn eine nicht in einem neuen 
Lande lebende Nation der physischen Zeugungskraft freien Lauf ließe. Da sie aber 
nicht behaupten, daß das tatsächlich geschieht und da sie alle nach dem Vorgang 
Torrens’ an die Stelle des physischen Existenzminimums einen gewohnheitsmäßigen, 
nach Ort und Zeit variierenden Standard der Lebenshaltung setzen, so kann von dem 
so berufenen „Pessimismus“ der Ricardo und Malthus und ihrer Nachfolger ebenso¬ 
wenig die Rede sein, wie von irgendeiner — wissenschaftlich übrigens irrelevanten — 
Gefühlshärte. Wie jemand, der die Lohnkapitel Ricardos und Malthus gelesen hat, 
von beidem sprechen kann, ist unverständlich. Uebrigens ist der historische Geist 
beider Kapitel — nicht bloß desjenigen von Malthus — bemerkenswert. Keinen 
schlechtem Ausdruck, allerdings auch keinen dem Agitator dienlichem, als: „ehernes 
Lohngesetz“ hätte man für die Ansichten Ricardos finden können. Namentlich wird 
auf die Möglichkeit des Erreichens und dauernden Festhaltens eines hohen — jeder 
festen Begrenzung unzugänglichen — Standards ausdrücklich hingewiesen. Wenn 
freilich die Bevölkerung sich schneller als das Kapital vermehre, dann allerdings 
müsse der Lohn sinken. Wenn jedoch dabei die Preise der Lohnwaren steigen, so 



III. Das klassische System. 


93 


wird das dieser Tendenz dann entgegenwirken, wenn der gewohnte Standard dadurch 
herabgedrückt wird, weil dann die Bevölkerungsvermehrung aufhören würde. 

Jenen Teil des jährlichen Sozialprodukts, der zu Lohnzahlungen für die in der 
Produktion tätigen Arbeiter verwendet wird, begann man etwas später Lohnfonds zu 
nennen und — als quantitativen Ausdruck der in jedem Zeitpunkt vorhandenen ef¬ 
fektiven Nachfrage nach Arbeit — schärfer hervorzuheben. Die Bestimmungsgründe 
des Angebots von Arbeit glaubte man zu beherrschen. Wenn es noch gelang, feste 
Bestimmungsgründe für diesen Teil des Sozialprodukts zu finden, so hätte man den 
Lohn der gewöhnlichen Handarbeit gewonnen, ohne weiteres, wenn es keine verschie¬ 
denen Arten von Arbeit gäbe, und mit gewissen nicht unübersteiglichen Schwierigkei¬ 
ten, wenn Qualitätsunterschiede zu berücksichtigen wären. Die Rolle, die die physische 
Zeugungskraft für das Angebot an Arbeit spielte, wurde für die Nachfrage nach Arbeit 
dem Sparen zugedacht. Denn jener Lohnfonds besteht entweder aus Gütern, die an 
die Stelle von andern treten, die in frühem Wirtschaftsperioden zu Lohnzahlungen 
dienten, oder aus neuen Lohnwaren. Im ersten Fall ist er im Sinne der Klassiker 
früher durch Sparen entstanden, im letztem hat er sich soeben durch Sparen vermehrt. 
Nichts kann also zu Lohnzahlung verwendet werden, was nicht vorher vom Kapita¬ 
listen, durch dessen Hand es gehen mußte, erspart, d. h. statt zu seiner eignen zu einer 
„reproduktiven“ Konsumtion bestimmt worden wäre l ). Während also eine un¬ 
mittelbare Beziehung zwischen dem einmal ersparten Teil des Sozialprodukts und dem 
Lohn besteht, so besteht nur eine indirekte zwischen dem ganzen Sozialprodukt 
und dem Lohn, nämlich soweit die Gesamtgröße des Sozialprodukts das Sparen 
beeinflußt. Unmittelbar nach Ricardo und bis J. St. Mill vernachlässigte man nun 
die letztere und legte das Hauptgewicht auf die erstere. Und das ist das Charak¬ 
teristiken der so bekannten Lohnfondstheorie 2 ). Es folgt daraus wiederum die auch 
sonst für die Klassiker charakteristische Zerreißung des Zusammenhangs zwischen 
Lohn und Arbeitserfolg und der Satz, daß die Arbeiter, was immer ihre Zahl sei, und 
was immer sie durch Streiks oder Organisationen versuchen mögen, sich immer in 
dieselbe Gesamtlohnsumme teilen müssen, daß aber auch die Unternehmer, wenn 
anders sie nicht weniger sparen, den Lohn nicht unter den durch jenen Quotienten 
gegebenen Satz hinabdrücken können. Dem ganzen Gedankengang liegt die Auffas¬ 
sung zugrunde, daß in jeder Produktionsperiode den Arbeitern der Lohn aus dem 
Kapital des Unternehmers vorgeschossen wird. Die Lohnfondstheorie leidet an dem 
Gebrechen, das wir bei den Klassikern auch sonst oft wahrnehmen können: Sie hebt 
ein Glied der Kette der volkswirtschaftlichen Zusammenhänge heraus — hier das 
Kapital — und weist ihm eine kausale Rolle zu, die es in dieser Reinheit nicht besitzt, 
weil es seinerseits wieder von andern Gliedern bestimmt wird. Aber mit dieser Ein¬ 
schränkung ist die Theorie nicht einfach falsch. Auch hängt eine Fülle richtiger Er¬ 
kenntnis in ihr. Namentlich ist es zwar nicht wahr, daß sich eine größere Zahl von 
Arbeitern in denselben Lohnfonds teilen muß wie eine geringere, aber es ist richtig, 
daß, wenn sich die Zahl der Arbeiter bei gleichbleibender Produktionsmethode ver¬ 
mehrt, die Lohnsumme nicht proportional, sondern nur weniger als das steigen kann. 
Sodann ist die Lohnfondstheorie ein zwar primitives und unvollkommenes, aber ganz 
brauchbares Instrument um einige wesentliche sachliche Bedingtheiten, denen die 
Lohnhöhe unterliegt, und manche von deren Beziehungen zu andern Quantitäten in 
der Volkswirtschaft aufzuzeigen: In allem ist sie ein gutes Beispiel für die ganze 
Art, sowie für die Vorzüge und Mängel der klassischen Gedankengänge. Die äußern 
Schicksale dieser Theorie gehören zu den dramatischesten Szenen, die die Geschichte 
unserer Disziplin aufzuweisen hat. Von den einen als große Entdeckung und tiefe Weis¬ 
heit gefeiert, von den andern als bourgeoiser Trick und als völliger Unsinn verurteilt 
— von beiden Parteien mißverstanden und für politische Zwecke ausgebeutet—wurde 

*) Die Definition Mills für das Sparen als ein produktives Ausgeben hat mit Un¬ 
recht Proteste hervorgerufen, so z. B. seitens J e v o n s. 

a ) Als typische Vertreter sind J. M i 11, Mc C u 11 o c h, als mehr kritisch S e n i o r zu nennen. 



94 I. Buch All: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. III 


sie weithin berühmt und berüchtigt, wobei ihre Vorzüge immer mehr verwischt, 
alle ihre Mängel in groteske Dimensionen übertrieben wurden. Vom Standpunkt 
der zuerst erwähnten Lohntheorie, besonders von dem Says und Thünens, hätte sie 
ergänzt und korrigiert werden können. Allein daran lag niemand. Nur zwei Schrift¬ 
steller v. Hermann und Longe (A Refutation of the Wage-Fund Theory 1866) 
diskutierten sie ernstlich, aber in so feindseligem Geist, daß ihnen gar nicht der Ge¬ 
danke kam, daß sie eigentlich ganz ähnliche Sätze an Stelle der ihnen so anstößig 
scheinenden der Lohnfondstheorie setzen müßten. Dieser Angriff blieb fast un¬ 
beachtet. Und die populären Angriffe, die meist die Auffassung der Nahrungsmittel 
der Arbeiter als „Kapital“ zum Gegenstand hatten, worin eine Herabwürdigung des 
Arbeiters zur Maschine zu hegen schien, bedeuteten wenig, obgleich sie auch in der wis¬ 
senschaftlichen Literatur eine Rolle spielten. Da erschien im Jahre 1869 ein höchst 
unbedeutendes Buch, das Longes Argumente breit und unvollkommen wiederholte: 
On Labour, von Thornton. Und John St. Mill gab in seiner Rezension (Fort- 
nightly Rev. 1869) dem Autor vollkommen recht und erklärte die Lohnfondstheorie, 
nachdem er sie in der für sie denkbar ungünstigsten Weise zusammengefaßt hatte, 
für unhaltbar — ohne jeden zureichenden Grund 1 ). Das Erstaunen war groß. Und 
so herrschend auch Mills Einfluß in der englischen Oekonomik war, so hielten noch 
viele Autoren an der Lohnfondstheorie fest — wie z. B. Cairnes, der sie besser zu 
formulieren suchte. Aber die Zahl der Getreuen, die dem Führer folgten ohne zu 
fragen warum, war groß genug, um die Lohnfondslehre zu vernichten. Sidgwick, 
Walker u. a. haben ihr dann den letzten Stoß versetzt. Das weitere Publikum, in dessen 
Angesicht Mill abgeschworen hatte, aber ging natürlich von nun an über sie zur 
Tagesordnung über und sah in der ganzen Sache eine töthche Niederlage der „ortho¬ 
doxen“ Oekonomik in einem Zeitpunkt, wo dieselbe ohnehin schon den Boden unter 
den Füßen zu verlieren begann. Das alles — welcher Einblick in die bewegenden 
Kräfte unsrer Disziplin! — ohne daß auch nur ein einziges Argument das Wesen der 
Lehre wirklich vernichtend getroffen hätte. Wie nicht anders möglich tauchten 
auf der andern Seite des Wellentals wieder Elemente der Lohnfondstheorie auf und 
heute hat eine richtigere Auffassung sich Bahn zu brechen begonnen 2 ). 

In der Zinstheorie 8 ) kam man zunächst nur langsam über die in der zweiten 
Hälfte des 18. Jahrhunderts endlich herrschend gewordene Auffassung hinaus, daß 
die Erklärung des Zinses nicht am Geld, sondern an der Wertbildung von Gütern zu 
suchen sei, an der man in der Folgezeit festhielt. Im übrigen war die ganze Anlage 
des klassischen Bildes des Wirtschaftsprozesses und namentlich der physiokratische, 
von Smith in die englische Oekonomik eingeführte Gedanke vom Kapital als eines Teils 
des Sozialprodukts, das in verschiedener Weise Arbeit in Bewegung setzt und ihr Un¬ 
terhalt und Arbeitsmittel „vorschießt“, entscheidend. A. Smith hat keine eigentliche 
Zinstheorie. Seine Ausführungen haben zunächst jenen Zug nach der Ausbeutungs¬ 
theorie hin, der stets die Konsequenz der Auffassung sein muß, daß der Arbeiter das 
ganze Produkt erzeuge und als armer Teufel beim Verkauf seiner Arbeitskraft schlecht 
wegkomme, so daß dem Arbeitgeber ein Ueberschuß bleibe. Aber das hat nichts mit 
der Ausbeutungstheorie im Marxschen Sinn zu tun. Auch andre Theorien liegen 
teils ausgesprochen — wie die Auffassung, daß der Profit ein Preiszuschlag sei — 


*) Aber war jene Rezension auch keine große wissenschaftliche Leistung, so ist sie doch 
sehr bezeichnend für die Sympathien Mills: Mit einem Seufzer der Erleichterung wirft er die 
Lohnfondstheorie von sich, wie man sich einer widerwillig getragenen Last erledigt. Da sieht 
man klar, wie wenig es ein politischer Wunsch gewesen war, der ihn an ihr festgehalten hatte, 
man sieht, daß er sie nur deshalb vorgetragen hatte, weil er die Wahrheit höher achtete als 
sein politisches Wollen. Denn an keinen andern Satz der Klassiker hatte sich so sehr das po¬ 
litische Schlagwort geklammert, und hätte er mit diesem Schlagwort sympathisiert, so wäre 
das bei dieser Gelegenheit hervorgetreten. Aber es tritt das Gegenteil hervor. 

*) Vgl. Taussig, The wages question, 1892: Spiethoff in: Die Entwicklung 
der Volkswirtschaftslehre in Deutschland im XIX. Jahrhundert (Schmollers Festgabe). 

3 ) Vgl. v. Böhm-Bawerk 1. c. 



III. Das klassische System. 


95 


teils unausgesprochen — wie die Elemente einer Produktivitätstheorie — in seinen 
Ausführungen. Wie schon gesagt, steht es mit Ricardo ähnlich, nur daß er die Grund¬ 
lage für eine wirkliche — marxistische — Ausbeutungstheorie darbietet, die in ganz 
andrer Weise wie die von Smith dem Profit aus dem Arbeitsverhältnisse und der da¬ 
mit verbundenen Diskrepanz zwischen dem Arbeitswert der Arbeitskraft und dem 
Arbeitswert des Produkts des Arbeiters erklärt, und außerdem noch deutlich auf eine 
Abstinenztheorie — die Güter, deren Produktion längere Zeit in Anspruch nimmt, 
müssen mehr wert sein als solche die mit gleichviel Arbeit in kürzerer Zeit hergestellt 
werden können, weil der Kapitalist auf den Ertrag länger warten muß — und eine 
Produktivitätstheorie hinweist — die Profitrate werde bestimmt durch den Ertrag 
des letztangewandten Kapitalteils also des auf rentenlosem Land verwendeten Ka¬ 
pitals. Dieser letztre Gedanke wurde von v. Thünen aufgegriffen und ausgebildet. 
Aber so bedeutsam diese Auffassung auch war, der ihr zugrunde liegende materielle 
Gedanke liegt Ricardo ganz fern und ist schon vor Thünen entwickelt worden, näm¬ 
lich von Lauderdale, Say und Malthus. Diese erklären den Zins aus der „produktiven 
Kraft“ des Kapitals oder seinen „produktiven Diensten“. Ihnen gebührt das Verdienst 

— und besonders Lauderdale — mit vollem Bewußtsein nach der Ursache und dem 
Wesen des Zinses gefragt oder besser, diese ja schon früher aufgeworfene Frage, die 
aber ganz in den Hintergrund zu treten drohte, festgehalten und in längerm Gedanken¬ 
gang ihre Beantwortung versucht zu haben. Freilich begnügten sie sich mit dem 
Nachweis, daß man mit Maschinen mehr Güter erzeugen könne— oder gleichviel 
mit weniger Kosten — als ohne sie. Und das ist aus dem doppelten Grund unzurei¬ 
chend, weil diese „physische Produktivität“ nichts für „Wertproduktivität“ beweist 
und weil, da die Maschinen Arbeitsprodukte sind, auf diese Weise die Arbeit in einer 
Verwendung höhere Tauschwerte hervorbringen würde als die gleichzeitig anders 
verwendete, ein Zustand, der nicht dauern kann oder dessen Dauer doch einer weitern 
Erklärung bedürfte. Das ändert nichts daran, daß in dieser Auffassung, historisch 
genommen, ein großer Fortschritt lag. Aehnlich steht es mit der an Hermanns 
Namen geknüpften und später vornehmlich von Menger und Knies vertretenen 
Nutzungstheorie, deren Grundgedanke, daß, obgleich die meisten Kapitalgüter 

— alle mit Ausnahme des Grundes und Bodens — ökonomisch in die Produkte über¬ 
gehen, doch etwas am Kapital sich nicht vernützt, sondern immer wieder neue „Nut¬ 
zungen“ gewährt, gewiß allen von v. Böhm-Bawerk erhobenen Einwendungen aus¬ 
gesetzt ist und doch ein Stück Erkenntnis enthält. Abgesehen davon haben alle 
„Nutzungstheoretiker“ sehr viel zur Klärung der Frage im einzelnen beigetragen, 
besonders Hermann, dessen Ausführungen über den Gewinnsatz zu den besten Lei¬ 
stungen der Epoche gehören. Produktivitäts- wie Nutzungstheorie werden heute 
rein nicht mehr vertreten aber viele Gedanken der Gegenwart stammen von ihnen ab. 

Aber auch die unmittelbaren Nachfolger Ricardos haben—ich spreche nicht mehr 
von der Ausbeutungstheorie — das Bedürfnis nach einer eigentlichen Zinstheorie 
gefühlt, die mehr bietet als den Hinweis auf eine Restgröße. Daß wir im Rechte sind, 
wenn wir sagen, daß Ricardo keine Zinserklärung hatte, geht daraus hervor, daß sich 
J. Mill und Mc. Culloch verzweifelt bemühten, eine solche zu schaffen: Hätte Ricardo 
eine bestimmte Ansicht gehabt, so hätte er sie diesen Schülern mitgeteilt und sie 
davor bewahrt, im Zins einfach den Lohn der in den Kapitalgütern steckenden Ar¬ 
beit zu suchen — so J. Mill — oder gar den Lohn einer fiktiven Arbeit, die die Güter, 
z. B. eingekellerter Wein, von selbst über die in ihnen enthaltene Arbeit hinaus lei¬ 
sten sollen (Mc. Culloch). Dergleichen konnte sich nicht halten. Die xax ££ox$)v 
englische Zinstheorie — im Gegensatz zur vorwiegend kontinentalen Produktivitäts¬ 
und Nutzungstheorie — wurde von Senior geschaffen. Der Gedanke, daß der Zins 
das Entgelt für Sparen sei, muß jedermann naheliegen, der die Kapitalbildung 
durch Sparen erklärt. Die Andeutungen nach dieser Richtung sind zahllos. Auf eine 
besonders deutliche (Gennain Garnier, Abrege el6mentaire des principes d’6conomie 
politique 1796) hat Hasbach hingewiesen (Schmollers Jahrb. 1905). Auch P. Scrope 



96 I. Buch All: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. III 

(Principles of Political Economy 1833) kommt in Betracht. Aber Senior hat nicht 
etwa nur ein Schlagwort verbreitet, sondern er hat durch Einführung der „Absti¬ 
nenz“ — später in „Waiting“, Genußaufschub verbessert — als dritten Produk¬ 
tionsfaktor diese Theorie tiefer begründet und in sehr wertvolle Untersuchungen 
über Zins und Lohn eingeflochten. Sie ist die Theorie J. St. Mills und Sidgwicks. 
Als später die Kostentheorie sich auf eine psychische Analyse des Kostenphänomens 
zurückzog, wurde dem Moment der Arbeitsunlust das Moment der temporären 
Genußenthaltung an die Seite gestellt, am reinsten und konsequentesten von Cairnes. 
Als ferner das Argument, das in dem Witzwort vom entbehrenden Millionär liegt, sich 
bemerkbar machte, wurde die Theorie dahin präzisiert, daß die Zinsrate eben von 
der „Entbehrung“ desjenigen Sparers abhängt, der so arm ist, daß er fortfallen 
würde, wenn der Zins sänke. In dieser Form herrscht diese Theorie in England 
rein oder mit Beimengungen bis auf heute. Auf dem Kontinent hatte sie weniger 
Glück, am meisten in Italien. In Amerika hat sie in der zweiten Hälfte des 
19. Jahrhunderts ebenfalls Anhänger gewonnen. 

Aus dem schon angeführten Grund konnte sich anfangs keine eigentliche Theorie 
des Unternehmergewinns entwickeln. Profit und Darlehenzins wurden zwar schon 
im 18. Jahrhundert unterschieden, aber nur in dem Sinn, daß der Darlehnszins dem 
sein Kapital ausleihenden Kapitalisten gezahlter Profit war. Wie gewöhnlich finden 
wir bei Smith schon so ziemlich alle Momente angedeutet, die später von Bedeutung 
wurden, aber einen Versuch, den Unternehmergewinn und seine Rolle in der Volks¬ 
wirtschaft aus den Funktionen des Unternehmers zu erklären, machte erst Say. Die 
Ricardoschule leistete fast nichts in dieser Frage und erst bei J. St. Mill finden wir 
mehr, wohl unter französischem Einfluß. Das Beste leisteten aber v. Hermann und 
v. Mangoldt. Es bildeten sich um die Mitte des Jahrhunderts jene Auffassungen 
aus, die auch heute noch vorgetragen werden: Die Auffassung vom Unternehmer¬ 
gewinn als einem Lohn der Produktionsleitung (wages of management), als einer 
Risikoprämie (besonders in Frankreich kam diese Auffassung in Mode) und gewisser¬ 
maßen als einer Rente des Talents (v. Mangoldt, dann in Amerika F. Walker) und als 
Zufallsgewinn. Außer bei den beiden genannten deutschen Autoren steht dieses Pro¬ 
blem auf einem Nebengeleise und es kam nirgends zu tiefem Diskussionen. Wie schlie߬ 
lich ja auch noch heute, sah man im Kapital so sehr den Schöpfer oder doch den An¬ 
eigner alles Mehrwerts, daß nicht viel Raum für den Unternehmergewinn blieb — 
analysierte man doch die Funktion des Unternehmers so unvollkommen, daß man 
ihn vielfach nichts andres tun ließ als den Profit einzustecken. 

12. Wir können im Rahmen dieser Darstellung auf Spezialthemen nicht ein- 
gehen. So sei denn nur erwähnt, daß in dieser Epoche eine besondere Theorie des Mono¬ 
pols nicht zur Ausbildung kam (am ehesten ist da noch Senior zu nennen), was sich 
bei manchen Problemen sehr rächte und zu ganz unqualifizierbarem Mißbrauch des 
Schlagworts Monopol führte. Die Geldtheorie, wie wir sie bei Smith vorfinden und 
wie sie in dieser Epoche herrschte, besteht außer in der Diskussion der Funktionen des 
Gelds und der Eigenschaften, die manche Güter zur Geldrolle prädestinieren, in dem 
Gedanken des Stoffwerts des Geldes: Der Wert des Geldes erklärt sich aus dem Werte 
des Stoffes aus dem es besteht, uneinlösliches Papiergeld oder unterwertiges Geld 
ist wenig mehr als ein Schwindel. Dazu kam die besonders von Ricardo geförderte 
Theorie der internationalen Metallbewegungen. Innerhalb jenes Grundgedankens, 
der konsequent in eine Produktionskostentheorie des Geldwerts ausmündete, spielte 
das Moment von Angebot und Nachfrage zunächst eine geringe Rolle. Später aber ent¬ 
wickelte sich daraus die Quantitätstheorie, die einen neuen Gedanken brachte: Wenn 
sich der Wert der Geldeinheit bei konstanter zu bewegender Warenmenge und 
Umlaufgeschwindigkeit einfach nach der Menge des vorhandenen Geldes richtet, 
so muß der Stoffwertgedanke zurücktreten und wir kommen sofort modernen Auf¬ 
fassungen näher. So bedeutete die Quantitätstheorie, die mit John St. Mill in der eng¬ 
lischen Literatur herrschend wird, anderwärts aber nie große Erfolge hatte, und die 



III. Das klassische System. 


97 


schon vorher in praktischen Diskussionen eine große Rolle spielte (in der allerdings 
für sie nicht wesentlichen Form der „currency-theory“), einen wesentlichen Fort¬ 
schritt. Sie wurde stets bekämpft. Und aus dieser Bekämpfung erwuchsen auch po¬ 
sitive Leistungen (Tooke, Fullarton). Aber sie wifrde in dieser Epoche nicht über¬ 
wunden l ). Alles Nähere muß der Spezialdarstellung des Themas in diesem Werk 
überlassen bleiben. 

Die Klassiker haben zunächst dazu geneigt, in der Verbesserung der Produktions¬ 
methoden, abgesehen von dem dadurch eventuell dem Grundherrn erwachsenden 
Schaden, einen Vorteil für alle Beteiligten zu sehen. Unter dem Einfluß der Diskus¬ 
sion des Tages vollzog jedoch Ricardo — zum Entsetzen Mc. Cullochs — bald eine 
Schwenkung, indem er den Nachweis versuchte, daß die Einführung von Maschinen 
dem Arbeiterinteresse schaden könne, in manchen Fällen schaden müsse. Dieser 
Nachweis ist in einem ganz außerhalb des übrigen Zusammenhangs der Principles 
stehenden Kapitel enthalten, das den jüngsten Bestandteil derselben bildet. Die 
darin enthaltenen Argumente waren verbesserte Formulierungen einer verbreiteten 
Popularauffassung, die in den Maschinen die Feinde der Arbeiter sah — mindestens 
innerhalb der kapitalistischen Wirtschaftsform. Wir finden sie so ziemlich in allen 
wirtschaftspolitischen Schriften antikapitalistischer Richtung. Am meisten hat Marx 
daraus gemacht. Doch gehören seine schlagwortreichen Ausführungen (industrielle 
Reservearmee, Verelendung usw.) über dieses Thema zu den schwächsten Teilen seines 
Werks. Im Wesen bestehen sie in der Bekämpfung einer andern Auffassung, die sich 
auf die den Arbeitern aus der Einführung der Maschinen erwachsenden Vorteile stützt 
— der Kompensationstheorie. Auch diese (ihre wichtigsten Vertreter sind Senior, 
Mc. Culloch und mehrere Franzosen) geht nicht sehr tief und übernimmt vielfach nur 
Argumente der Populardiskussion. Ich kann nur auf die Dogmengeschichte Ergangs 
verweisen und etwa noch auf Nicholson, On Machinery, Mannstädt, Kapitali¬ 
stische Anwendung der Maschinerie (und dort angeführte Literatur). 

In dieser Epoche trat zuerst das Krisenphänomen in den wissenschaftlichen 
Gesichtskreis und mit ihm zugleich gewisse Erklärungen, die sich der Praktiker da¬ 
für zurechtgemacht hatte. Die wichtigste Leistung auf diesem Gebiet war der Nach¬ 
weis (Say, J. Mill) der Unhaltbarkeit einer einfachen Ueberproduktionstheorie, die 
Klarstellung der einfachen, aber so konsequent verkannten Tatsache, daß man nicht 
anbieten kann ohne gleichzeitig nachzufragen. Wenn auch in seiner Bedeutung 
überschätzt und nicht mit den nötigen Einschränkungen versehen, war dieser Nach¬ 
weis ein großer Fortschritt. Aus ihm folgte unmittelbar eine positive Krisentheorie, 
Says Theorie der Absatzwege (debouch6s), die weithin Annahme fand, besonders 
auch bei Ricardo: Weil es allgemeine Ueberproduktion nicht geben könne und von 
der Produktion niemals eine fundamentale Störung des ökonomischen Gleichge¬ 
wichts ausgehe, so könne eine Krisenursache nur in unrichtigen Verhältnissen der Pro¬ 
duktion, in verhältnismäßiger Ueberproduktion eines Gutes, liegen. Der wichtigste 
Fall, an dem sich eine solche zeigen kann, ist ein plötzlicher Wechsel in the channels 
of trade. Diese Theorie wurde namentlich von Malthus — auch von andern, wie Sis- 
mondi und Bernhardi, doch hat deren Gegnerschaft wenig Bedeutung — bekämpft 
vom Standpunkt einer andern Auffassung vom ökonomischen Gleichgewicht aus, 
die zu dem uns so merkwürdig anmutenden, damals aber sehr häufigen Satz, von der 

Notwendigkeit der unproduktiven — besonders Luxus-Konsumtion führte, eine 

der wichtigsten Kontroversen dieser Epoche. Sonst sei nur die Unterkonsumtions¬ 
theorie genannt, die mit besonderem Nachdruck von Marx vertreten wurde: Die 
Theorie, die die Krisen auf eine Diskrepanz zwischen der Produktions- und der 
Kauffähigkeit der Gesellschaft zurückführt, welche sich daraus ergäbe, daß die Ar¬ 
beiter infolge der „Verelendung“ immer weniger imstande wären, den mit Hinblick 

x ) Wichtig ist auch der von Say und J. Mill besonders betonte Gedanke, daß letzten 
Endes alle Produkte nur wieder mit Produkten bezahlt werden. Er ist die Grundlage der Idee 
der Ersetzung des Geldes durch Arbeitsbescheinigungen (Proudhon, Owen). 

Sozialökonomik. I. 7 



98 I. Buch All: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. IV 


auf ihre Nachfrage erzeugten Teil des Sozialprodukts zu übernehmen. Im übrigen 
sei auf die Dogmengeschichte Bergmanns und dieUebersicht Herkners (imH. d. St.), 
dann auf die Arbeiten A. Spiethoffs verwiesen. 

So wären noch viele Themen zu berühren, doch mußte es hier genügen, die allge¬ 
meinen Grundzüge der Betrachtungsweise der wichtigsten Gruppen von National¬ 
ökonomen und einige Beispiele für deren Anwendungen zu skizzieren. 

IV. Die historische Schule und die Grenznutzentheorie. 

1. Je näher wir der Gegenwart kommen, um so weniger ist es möglich, die Fülle 
der sich kreuzenden Strömungen mit kurzen Strichen zu charakterisieren und um so 
unwahrer, gezwungener und irreführender wird jede systematische Anordnung und 
Gruppierung. Die Schlagworte, mit denen einzelne hervorstechende Gruppen bezeich¬ 
net zu werden pflegen, sind viel einfacher als die tatsächlichen Verhältnisse, sie sind 
ferner zum Teil durch außerwissenschaftliche Momente gefärbt — in welchem Fall 
sich die verschiedensten wissenschaftlichen Bestrebungen zusammengeworfen finden 
— und sie treten endlich mit einem Anspruch auf allgemeine Gültigkeit auf, während 
tatsächlich auf jedem Teilgebiet der Sozialwissenschaften und oft bei verschiedenen 
Problemen desselben Teilgebiets die Dinge verschieden liegen. Es kommt hinzu, 
daß parallel mit der durch das Anwachsen des Materials und den Fortschritt der Ana¬ 
lyse gegebenen fortschreitenden Spezialisierung, die aus vielen der besten Arbeiter 
völlige Laien auf allem außerhalb ihres Spezialgebiets liegenden Grunde macht, in 
der neuesten Zeit eine Tendenz zum Aufbrechen vieler Fachschranken sich durch¬ 
ringt, die zusammen mit den Notwendigkeiten des Lehrbetriebs Individualitäten von 
ganz verschiedener Anlage, ganz verschiedenartigem Wissen und ganz verschiedener 
Schulung an die gleichen großen Probleme heranbringt, wobei es naturgemäß nicht 
sofort zu einem ruhigen und fruchtbaren Austausch, sondern zunächst zu einem hoff¬ 
nungslosen Kampf der von den einzelnen mitgebrachten „Aprioris“ um Alleinherr¬ 
schaft kam. Noch weniger als bisher wird es uns möglich sein Einzelleistungen auf¬ 
zuzählen, wenn diese Uebersicht nicht zu einem Bücherkatalog werden soll. Wir 
wollen lieber die beiden wichtigen, im Titel angedeuteten Punkte herausgreifen und 
in Kürze versuchen sie zu charakterisieren. 

2. Vorher ist noch ein mit moderner sozialwissenschaftlicher Arbeit fast stets 
verbundenes, von ihr aber sachlich trennbares Moment zu berühren — das tiefe, ja 
leidenschaftliche Interesse an der Sozialpolitik, das namentlich in Deutschland die 
Fachkreise erfüllt. Die Bedeutung dieses Moments an sich und die politischen Lei¬ 
stungen dieser Geistesrichtung gehören nicht in diese Geschichte der Wissenschaft. 
Aber diese Bewegung hat mächtig auf die wissenschaftliche Arbeit gewirkt und dieser 
Einfluß muß wenigstens angedeutet werden. Erstens hat das Interesse an sozial¬ 
politischen Fragen zu wissenschaftlichen Untersuchungen besonderer Art angeregt, 
zur Sammlung und Diskussion des Materials dieser Fragen. Wenn wir heute über die 
industrielle Organisation, die Lebensverhältnisse der Arbeiterklasse, die Wirksam¬ 
keit der sozialen Verwaltung usw. verhältnismäßig so gut orientiert sind, so danken 
wir das dieser Richtung und besonders ihrem Brennpunkt in Deutschland, dem Verein 
für Sozialpolitik. Zweitens hat diese Bewegung vielfach auf die wissenschaftliche 
Stellung weiter Kreise gewirkt, indem sie ihnen manche Resultate empfahl, andere 
unsympathisch machte, je nachdem einzelne Theorien mit sozialpolitischen Bestre¬ 
bungen, andere mit antisozialpolitischen in äußerem Zusammenhang standen. Theo¬ 
rien, die mit „sozialen“ Begriffen arbeiten und vom Individuum nicht oder weniger 
sprechen, waren im ersteren, Theorien, in denen „individuelle“ Begriffe eine Rolle 
spielen, im letzteren Fall. Und drittens drängte die Beschäftigung mit praktischen 
Fragen jene tiefschürfende Art der Analyse zurück, die niemals unmittelbar prak¬ 
tische Problemlösungen trägt, aber für den Fortschritt der Erkenntnis so wichtig ist, 
und die in der heißen Temperatur politischen Interesses gar nicht gedeiht. Wer von 



IV. Historische Schule und Grenznutzentheorie. 


99 


politischen Idealen erfüllt ist, vermag mitunter beim besten Willen keinen Geschmack 
an unpraktischen und oft wirklichkeitsfremden Untersuchungen zu finden und tritt 
ihrem inneren Wesen nicht nahe, wenn es nur durch Einsetzen der ganzen Persönlich¬ 
keit erreichbar ist. Auch der Arbeit des Historikers kann von diesem Standpunkt 
nicht immer Gerechtigkeit erwiesen werden. Ohne theoretisches oder historisches 
Rüstzeug gleicht aber die wissenschaftliche Arbeit an den unmittelbaren praktischen 
Zeitfragen der Augenblicksproduktion in der Nahrungssuche. Die Durchführung 
rein wissenschaftlicher Diskussionen wird unter solchen Umständen erschwert. 
Dagegen setzt nun in unsern Tagen in Deutschland eine Reaktion ein, die sich nament¬ 
lich in der Kontroverse über die Zulässigkeit, bzw. Möglichkeit, eines wissenschaft¬ 
lichen Werturteils über das soziale Geschehen und praktischer Ratschläge äußert, 
an der sich die meisten Nationalökonomen beteiligt haben. In anderen Ländern wird 
diese Frage weder so präzise gestellt, noch so lebhaft debattiert. Wie wir wissen, 
hat sie schon die Klassiker beschäftigt. 

3. Mit dieser Richtung tatsächlich meist vereint, aber prinzipiell von ihr trenn¬ 
bar, ist eine andere von viel größerer rein wissenschaftlicher Bedeutung, die „histo¬ 
rische Schule“. Ihr Wesen liegt nicht in der bloßen Verwertung historischen Mate¬ 
rials, die keiner Richtung ausschließlich eigen ist und an sich keinen bestimmten 
Standpunkt in wissenschaftlichen oder praktischen Fragen mit Notwendigkeit invol¬ 
viert — und ein Kriterium, das uns dazu zwingen würde, weitaus den größten Teil 
aller Nationalökonomen aller Länder und Zeiten zu einer tatsächlich engem und scharf 
umrissenen Gruppe zu zählen, ist für die Zwecke der Methoden-und Dogmengeschichte 
offenbar unbrauchbar l )—, auch nicht in jenen großen Grundgedanken, mit denen die 
historische Schule charakterisiert zu werden pflegt und die wir ausnahmslos auch 
außerhalb ihres Kreises finden, sondern in der Voranstellung historischer und über¬ 
haupt deskriptiver Detailarbeit als wichtigster oder jedenfalls erster Aufgabe der Sozial¬ 
wissenschaft. Freilich hat sich auch sonst die Nationalökonomie nicht einfach der 
hergebrachten Organisation des Wissenschaftsbetriebes gefügt und alle historischen 
Untersuchungen einfach der historischen Fachwissenschaft überlassen, aber es hat 
erst die historische Schule prinzipiell und systematisch historische Arbeit geleistet 
und den nur aus dieser zu verstehenden historischen Geist auf sozialwissenschaft¬ 
lichem Gebiet herrschend zu machen gesucht. Den Geist, der in der historischen 
Einzelforschung weht, nicht das, was Roscher „historischen Geist“ nannte, ein all¬ 
gemeines Bewußtsein vom steten Fluß der Dinge: Das heißt jene Liebe zur Beschäf¬ 
tigung mit dem Material an sich, jenes Streben nach einem intimen Verständnis der 
konkreten und individuellen Erscheinungen, das keine Formulierung duldet, dem 
jede solche Formulierung, vollends jede Generalisation im Verhältnis zur Fülle des 
Erschauten und Gefühlten bestenfalls als klägliche Halbwahrheit, meist aber als Ver¬ 
zerrung erscheinen muß — jenes Verständnis, dessen höchster und feinster Reiz 
sich dem Nichthistoriker nicht schildern läßt, sondern sich nur eigener historischer 
Arbeit erschließt. Das kann niemand verstehen, der nicht in historischer Arbeit, wie 
niemand die Theorie verstehen kann, der nicht in theoretischer Arbeit lebt und webt 2 ). 


*) Wollte ich alle jene zur historischen Schule zählen, die die Notwendigkeit historischen 
Materials einsehen und der historischen Arbeit billigendes Verständnis entgegenbringen, so 
würde ich kein halbes Dutzend größerer Namen als außerhalb der historischen Schule stehend 
aufzählen können. Selbst das Kriterium gelegentlicher historischer Arbeitsleistung würde 
noch z. B. J. Mill zur historischen Schule weisen. 

*) Ich drücke einen Gesichtspunkt scharf aus. Natürlich finden wir ihn aber nicht bei 
allen Anhängern der historischen Schule in gleicher Schärfe. Manche Oekonomen, die sich 
selbst, namentlich infolge der persönlichen Schülerbeziehung, zu ihr zählen, haben nichts von 
diesem spezifisch historischen Geist. Bei andern drängen ihn die Notwendigkeiten sozial¬ 
wissenschaftlicher Arbeit mehr oder minder zurück. — Es ist interessant zu beobachten, wie 
sich die historische Fachwissenschaft zu dieser Richtung, die doch gleichsam ein vorgeschobener 
Posten von ihr ist, verhielt. Manche Historiker begannen sich als Soziologen zu fühlen (Breysig, 
Lamprecht), aber das Gros verhielt sich nicht durchaus freundlich. Man klammerte sich an 

7* 



100 I. Buch All: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. IV 

Mentalitäten verschiedener Anlage wenden sich beiden Forschungsweisen zu und die 
tägliche Arbeit am historischen Material oder am Theorem formt weiter ihre an sich 
schon entgegengesetzten Dispositionen, bis oft wohl noch logisches Begreifen der 
„andern Richtung“ aber nicht mehr gefühlsmäßiges Teilnehmen an ihr möglich ist. 
Ueberschätzung des eigenen Gebiets ist dann unvermeidlich. Und das ist gut. Denn 
ich glaube kein zu großes Paradox zu riskieren, wenn ich sage, daß die Wissenschaft 
nie entstanden wäre, wenn nicht ein jeder seine Methode und sein Problem und das, 
was er für dieses leisten kann, überschätzen würde. Aber das führte zum „Methoden¬ 
streite“. 

Die historische Schule ist bekanntlich in Deutschland entstanden und vor allem 
hier zur Blüte gelangt. Ihr Wesen in der Pflege historischer Einzelforschung sehen, 
die alles, was eventuell noch weiter getan werden kann, zur Voraussetzung hat, 
heißt sie an den Namen G. v. Schmollers knüpfen. Dafür scheinen die folgenden 
Gründe methodenhistorischer Gerechtigkeit zu sprechen: Erstens hat sich erst 
unter seiner Führung eine „Schule“ entwickelt, die zu einer Macht in der Wissenschaft 
wurde und in andern Ländern analoge Bewegungen hervorrufen oder beeinflussen 
konnte. Man tritt Roscher, Hildebrand und Knies x ) nicht zu nahe, wenn man sagt, 
daß sie das nicht hätten bewirken können. Zweitens gehört die Grundtendenz der 
historischen Schule zu jenen Dingen, bei denen die Forderung nichts, die Ausführung 
alles ist, so daß, auch wenn die Schmollerschule nur ausgeführt hätte, was andere als 
notwendig bezeichnet hatten, noch immer sie allein die „historische“ Schule xax’ 
i&Xt ]v wäre. Drittens aber ist es gar nicht richtig, daß sie als „jüngere“ historische 
Schule nur die Gedanken der „älteren“ — in Deutschland hauptsächlich jene drei 
Autoren umfassenden — ausgeführt habe. Im Gegenteil. Der „geschichtliche Stand¬ 
punkt“, von dem Roscher und Knies sprechen, ist etwas ganz anderes als der Schmol¬ 
lers und seiner Schüler. Er involviert vor allem geschichtsphilosophische Gedanken, 
die bei den letzteren fehlen. So die Idee Vicos und Comtes von dem Parallelis¬ 
mus der Entwicklung der einzelnen Völker und die Idee des einzelnen Volks als eines 
Organismus, der altern und sterben kann. Diese und andere Gedanken weisen auf 
nichthistorische Quellen zurück und der Standpunkt der „jüngeren“ historischen 
Schule läßt sich dahin charakterisieren, daß sie dieselben im Interesse unvoreinge¬ 
nommener historischer Detailarbeit zu eliminieren wünscht in ganz demselben Sinn, 
wenn auch in milderer Form, wie die Sätze der klassischen „ökonomischen Sozio¬ 
logie“. Wenn das im Namen wissenschaftlicher Exaktheit geschieht, so ist das be¬ 
rechtigt und man wird auch dann ein Verdienst in dieser Stellungnahme erblicken 
müssen, wenn man lebensfähige Elemente in jenen Gedanken zu erblicken glaubt. 
Läßt man aber diese Dinge aus dem geistigen Mobiliar Roschers weg, dann bleibt ein 
Theoretiker übrig, der eben besonderes Gewicht auf historische Beispiele legt und eben¬ 
soviel Gewicht wie Mill auf Einschränkungen der Tragweite theoretischer Sätze 2 ). 
Bei Knies steht es ja nicht ganz so. Sein Widerstand gegen die Auflösung der Persön¬ 
lichkeit in einzelne „Triebe“ und deren isolierende Behandlung — obgleich betont 
werden muß, daß darin keineswegs, wie Knies meint, das Wesen der klassischen 
Oekonomie liegt — und seine Betonung der wesentlichen Rolle nichtwirtschaftlicher 


technische Unvollkommenheiten der Arbeit der historischen Oekonomen und betrachtete von 
ihnen ausgehende Anregungen oft mit fachlicher Engherzigkeit. 

*) Am meisten kommen von den Werken dieser Autoren für uns die folgenden in Betracht: 
Roscher, Grundriß zu Vorlesungen über die Staatswissenschaft nach geschichtlicher 
Methode 1843; Hildebrand, Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft 1848 
(Torso), und mehrere Artikel in seinen Jahrbüchern; Knies, Die politische Oekonomie 
vom Standpunkt der geschichtlichen Methode (1853; zweite sehr vermehrte Auflage unter et¬ 
was anderem Titel 1881—3). Sein großes Werk „Geld und Kredit“ steht außer aller Beziehung 
zum spezifisch historischen Gedankenkreis. 

*) Und selbst mit einer Hinneigung zum Theoretisieren, wo dieselbe bedenklicher ist als 
innerhalb der reinen Oekonomie — in dieser Beziehung ist schon der Untertitel seiner Politik: 
Naturlehre der Monarchie usw., und noch mehr ihr Inhalt bezeichnend. 



IV. Historische Schule und Grenznutzentheorie. 101 

Momente auch auf dem Gebiet der Wirtschaft („Heteronomie der Wirtschaft“), 
stellt ihn der eigentlich historischen Schule näher. Aber trotzdem kann der Autor 
von „Geld und Kredit“ nur als ein der Geschichte und ihrer Philosophie besonders 
nahestehender Theoretiker bezeichnet werden und, wenn er Schule gemacht hätte, 
was trotz der tiefen Wirkung seines Lehrbuchs nicht der Fall war, so würde das eine 
Schule vorwiegend analytischen Charakters geworden sein. Damit will ich natürlich 
nicht eine bestehende Geistesverwandtschaft leugnen. Ich wende mich nur gegen 
jene Tendenz der Wissenschaftsgeschichte, die jedem Anklang—besonders bei Gleich¬ 
heit der gebrauchten Worte, hier des Worts „geschichtlich“ — und jeder prinzipiel¬ 
len, von dem Kern der Arbeit eines Autors losgelösten, Aeußerung eine Bedeutung 
beimißt, die die Einleitungen der Werke unserer Disziplin zu wichtigem Dingen macht, 
als diese Werke selbst. Hildebrand kann am ehesten als ein Vorläufer der historischen 
Schule betrautet werden. Aber auch nur als Vorläufer. Denn dieser lebensvolle Geist, 
der — „stets verneinend“ — soviele Anregungen ausstreute und auch eigentlich 
historische Arbeit leistete, ferner eine Reihe der Argumente der historischen Schule 
vorwegnahm, blieb doch außerhalb ihres Kreises — stand er doch noch unter dem 
Einfluß des Gedankens der „historischen Entwicklungsgesetze“ — und hat die ent¬ 
scheidenden Schritte nicht getan. Auch als Vorläufer der sozialpolitischen Richtung 
und — wenn auch mit weniger Recht— der Grenznutzentheorie ist er ja zu nennen. 
Aber es wäre irreführend, ihn einem dieser Kreise einfach zuzuzählen. Dazu war 
dieser scharfe Kritiker überhaupt nicht positiv genug. 

Neben dem Kreise Schmollers stehen andere Persönlichkeiten, wie K. Bücher, 
G. Knapp, L. Brentano, Inama-Stemegg, auf deren besondere Stellung hier nicht 
eingegangen werden kann. Aber wie für den zeitlichen Umfang der historischen 
Richtung, so ist auch für die Feststellung ihres Umfangs in der Gegenwart der Ge¬ 
sichtspunkt entscheidend, auf den man sich stellt. Unberührt von ihrem Einfluß 
sind nur wenige Leute. Handelt es sich also darum ihren Einflußkreis festzustellen, 
so müssen weitaus die meisten deutschen und sehr viele nicht deutsche Oekonomen 
zur historischen Schule gezählt werden. Aber jene, die den Typus der Richtung ganz 
rein darstellen und die eigentlichen Träger ihres Geistes sind, bilden hier, wie das ja 
bei allen Richtungen der Fall ist, eine kleine Minorität. Ihnen schließen sich Gruppen 
von Oekonomen an, die gar nicht oder nur gelegentlich einmal historisch arbeiten 
— und das macht jemand sowenig zum Wirtschaftshistoriker, als allgemeine Aner¬ 
kennung der Theorie oder eine gelegentliche theoretische Arbeit jemand zum Theo¬ 
retiker machen — und nur prinzipiell ihrer Zustimmung Ausdruck geben. Rechnete 
man alle „Empiriker“ zur historischen Schule, so umfaßt dieselbe schlechthin die ganze 
Oekonomie. Ebenso fließend ist die Grenze nach der historischen Fachwissenschaft 
hin. Das stärkere oder schwächere Hervortreten ökonomischer oder soziologischer 
Gesichtspunkte und die Tendenz nach einer schließlichen Zusammenfassung der histo¬ 
rischen Detailresultate zu einem Ganzen wird da entscheidend sein, gibt aber offen¬ 
bar keine Handhabe zur Feststellung einer klaren Grenze ab. 

4. Fragen wir nach den Ursachen des Entstehens und des Aufschwungs der histo¬ 
rischen Schule, so ist vor allem wiederum daran zu erinnern, daß die Wissenschaft 
zu allen Zeiten und in allen Ländern historische und theoretische Elemente enthielt 
und daß beide in Werken, die das Gesamtgebiet schildern sollen und nicht Spezialfragen 
herausgreifen, eine Rolle spielen. Nach Neigung und Bildungsgang wendet sich der 
eine theoretischen, der andere historischen und überhaupt deskriptiven Problemen — 
richtiger Problemen, deren Behandlung eine deskriptive Vorarbeit oder Deskription 
als Hauptarbeit involviert — zu, ohne daß darin an sich ein prinzipieller Gegensatz 
läge. Niemand hätte die Probleme, die Ricardo interessierten, anders als theoretisch, 
niemand hätte das Städteproblem ohne vorhergehende Tatsachensammlung behan¬ 
deln können. Mit einer dem Kenner der Wissenschaftsgeschichte nicht fremden 
Notwendigkeit überwiegt erstens in den einzelnen Ländern und zweitens innerhalb 
der durch die relativ bleibenden Verhältnisse der einzelnen Länder gegebenen Grenzen 



102 I. Buch All: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. IV 

zu verschiedenen Zeiten in einem und demselben Land, die eine oder die andere Arbeits¬ 
weise. Was hier der Erklärung bedarf, ist das so starke Ueberwiegen der historischen 
Schule in Deutschland, begleitet von einem Ueberbordwerfen der Theorie, der Um¬ 
stand, daß viele Nationalökonomen in der Tatsachensammlung einen — wenigstens 
unmittelbaren—Selbstzweck und ihren wissenschaftlichen „Lebenszweck“ (Schmol- 
ler, Art. Volkswirtschaftslehre im H. d. St. S. 47) sehen. 

Unter den Umständen, die diese Richtung überhaupt und namentlich in Deutsch¬ 
land förderten, steht die Erweiterung des Interessen- und Problemkreises der Natio¬ 
nalökonomie obenan. Die Soziologie begann sich anzukündigen, brennende Fragen 
der Zeit und unabweisbare Einflüsse von außen, wie die Deszendenzlehre, machten 
sich geltend. Einer neuen Generation eröffneten sich weite, glanzvolle Ausblicke weit 
über eine bloße Wirtschaftslehre hinaus. Auch innerhalb der wirtschaftlichen Pro¬ 
blemgruppe sah man neue Aufgaben in ungeahnter Fülle, aber in theoretischem Sinn 
außerwirtschaftliche Fragen lockten vor allem, v. Schmoller hat das Gefühl, das in 
dieser Lage viele beherrschte, uns durch den Ausruf nahegebracht: „Oh Jahrhundert, 
es ist eine Lust in dir zu leben“. Dem konnte sich der Lehrbetrieb und die offizielle 
Fachwissenschaft nicht entziehen, ohne der großen Rolle, die sie in Deutschland 
spielen, untreu zu werden und alle Fühlung mit den lebendigsten Kräften zu verlieren. 
Der „offizielle Betrieb“ kannte aber keine andere Sozialwissenschaft als die politische 
Oekonomie — was Wunders, daß sich diese rasch zu verwandeln und ins Uferlose 
auszudehnen begann? 

Daß sich die wissenschaftliche Untersuchung dieses weiteren Gebiets in histori¬ 
schen Bahnen bewegte, lag zum Teil in der Natur der Sache. Denn außerhalb eines 
kleinen Problemkreises — Schmoller spricht treffend von ihm als einem Raum 
in einem großen Haus— ist mitunter der historische Weg der einzig mögliche, und fast 
immer ist er da einer von mehreren möglichen. Daß man ihn aber so ausschließlich 
beschritt und jeden andern fast als dilettantisch und unwissenschaftlich verachtete 
und fast ganz aus der Fachwissenschaft ausschloß, ist damit nicht erklärt. Viel¬ 
mehr erklärt sich das aus der hohen Blüte der deutschen Geschichtswissenschaft, die 
zu einer herrschenden Stellung derselben im deutschen Geistesleben führte. Die 
Göttinger kulturgeschichtliche Schule und eine Reihe großer Historiker von Nie- 
buhr an führten eine Tradition fort, die schon vor und dann mit Herder zu großem 
Einfluß gekommen war und die in der Periode der Romantik, deren Gedankenwelt 
allerdings nicht ohne weiteres als spezifisch „historisch“ bezeichnet werden kann, 
zur wissenschaftlichen Grundlage einer allgemeinen Strömung wurde *). Aber nicht 
nur absolut genommen stand die Geschichtsschreibung auf einer hohen Stufe, viel 
größer war noch ihre relative Bedeutung im Vergleich zu den andern Elementen 
deutschen sozialwissenschaftlichen Lebens. Unter diesen gab es nichts ihr Gleich¬ 
wertiges. Die besten Geister, die kräftigsten Lehrerindividualitäten hatten sich ihr 
zugewendet. Niemand sonst hatte allen jenen, die es nach der Sozialwissenschaft zog, 
soviel zu bieten und gerade jene, die nach ernster sozialwissenschaftlicher Arbeit 


x ) Hingegen ist der Anschluß an Hegel, von dem v. Schmoller spricht, mit den von den 
Vertretern der historischen Schule so oft betonten Prinzipien empirisch-exakter Tatsachen¬ 
forschung nicht recht vereinbar. Das philosophische Element im Mobiliar des deutschen 
Geistes ist freilich mächtig genug, um sogut wie alle seine Aeußerungen zu beeinflussen. Auch 
haben viele historische Oekonomen ein zweifelloses Penchant für die Philosophie überhaupt. 
Aber die konkreten Forschungen gerade v. Schmollers scheinen mir von hegelianischen Ein¬ 
flüssen, gerade im Gegensatz zur ,»älteren“ historischen Schule in Deutschland, frei zu sein. 
Und in der Methode trennt doch Hegel und die Schmollerschule eine Welt. Dessen ungeachtet 
dürfte es kaum richtig sein, in der historischen Schule eine „Reaktion des Empirismus“ gegen 
die Philosophie und die theoretischen Wissenschaften zu sehen. Denn erstens fallen theore¬ 
tische und philosophische Interessen nicht zusammen und zweitens ist das einzige reale Phä¬ 
nomen in der geistigen Geschichte des 19. Jahrhunderts, das mit jenem Ausdruck bezeichnet 
werden kann, eine philosophische Richtung positivistischer Natur, mit der die Historiker nichts 
zu tun haben. 



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IV. Historische Schule und Grenznutzentheorie. 103 

verlangten, griffen vor allem nach der Geschichte — konnten nach nichts anderem 
greifen. 

Denn — und darin liegt ein weiterer Grund für den Erfolg der historischen 
Schule — die außerhistorische deutsche Nationalökonomie bot um die Mitte des 19. 
Jahrhunderts recht wenig. Hätte auch die Theorie noch so sehr alles geboten, was 
Theorie bieten kann, so wäre sie noch immer dem geweiteten Interessenkreis unge¬ 
nügend geschienen. Eine alte gefestigte Disziplin kann das Auftreten neuer, ihr un¬ 
erreichbarer Probleme und den Ansturm neuer „Aktualitäten“, die das Interesse 
von ihr abziehen, vertragen, eine erst in den Anfängen stehende wird dabei zur Seite 
geworfen. Je ernster und exakter sie ist, um so mehr muß sie da mißverstanden 
und dem Vorwurf ausgesetzt werden, Steine statt Brot zu bieten. Aber so stand es 
nicht einmal. Die theoretische Oekonomie hatte in Deutschland nie festen Fuß gefaßt, 
war nie weiteren Kreisen in Fleisch und Blut übergegangen. Sie war ein fremdes, außer¬ 
dem von keineswegs besonders geschickten Händen verpflanztes Gewächs. Ihre Ver¬ 
treter konnten nicht anziehen, ihre Lehren unmöglich intellektuelle Befriedigung ge¬ 
währen. So wandte man sich von ihr ab und den historisch geformten neuen Männern 
zu. Man machte im historischen Kreis kaum einen Versuch, in sie einzudringen oder 
sie zu reformieren, sondern legte sie ad acta mit einem allgemein gehaltenen Todes¬ 
urteil. Für die nächste Generation gehörte gründliche theoretische Bildung gar 
nicht mehr zu den Voraussetzungen selbständiger Teilnahme an der Arbeit unserer 
Disziplin und theoretische Werke erfuhren kaum Beachtung mehr. Um so fester 
standen die einmal angenommenen Urteile über die Theorie. 

So lagen die Dinge außerhalb Deutschlands nicht. Nicht nur widerstand da 
die Theorie mit mehr Glück, es hatte vor allem die Geschichtswissenschaft niemals 
ein solches Uebergewicht und, soweit man mehr haben wollte, als eine bloße Wirt¬ 
schaftslehre, griff man zu theoretischem Rüstzeug auch außerhalb derselben. Aber 
trotzdem machte sich auch außerhalb Deutschlands eine Reaktion und, teils selb¬ 
ständig teils im Anschluß an die deutsche, eine historische Richtung geltend, nur 
daß die ganze Bewegung weniger Wellen schlug und weder zu so großen Leistungen 
noch zu solcher Ausschließlichkeit führte wie in Deutschland. In England gab es, 
wie gesagt, schon zurzeit der Blüte der Klassiker Gegenströmungen. Einen wirk¬ 
lichen Versuch, die theoretische Behandlung wirtschaftlicher Fragen durch die ge¬ 
schichtliche Detailforschung zu ersetzen, machte das nicht einflußlose Essay on 
the distribution of Wealth von R. Jones, von dem nur ein erster Teil über die 
Grundrente erschien und das die spezifisch historische Gegnerschaft gegen die Theorie 
zeigt. Im sechsten Jahrzehnt trat die Wirtschaftsgeschichte, die bisher um ihrer 
selbst willen von Nationalökonomen nur wenig gepflegt worden war — die bekann¬ 
teste Leistung war T o o k e und Newmarch: History of prices, 1838—1857 
— mehr hervor: Th. Rogers (History of Agriculture and Prices in England, 
1866—88) machte den Anfang, ihm folgten W. Cunningham (Growth of English 
Industry and Commerce 1882, 2. Aufl. 1892) und Agrar- und Rechtshistoriker (See- 
bohm, Maitland u. a.). Auf weitere Kreise wirkte A. T o y n b e e (Industrial Re¬ 
volution of the 18 th Century, Vorlesungen, 1884 publiziert), der energisch gegen die 
„wirklichkeitsfremde“ Theorie Front machte. Die eigentlichen Schüler der deutschen 
historischen Schule aber waren Cliffe Leslie, J. K. Ingram und später W. J. Ashley. 
Die beiden erstem und besonders Leslie eröffneten den prinzipiellen Angriff auf die 
Theorie (besonders wichtig ist L e s 1 i e s Essay in der Fortnightly Review 1879 *)> 
die einzige orthodoxe Darlegung des Standpunkts der deutschen historischen Schule 
in englischer Sprache). Ohne selbst historisch zu arbeiten legten sie die historischen 

J ) Ingram, The present position and prospects of political economy, 1878, ist com- 
tistisch gefärbt. Nun pflegt man allerdings in historischen Kreisen Comte als einen „Vor¬ 
läufer“ zu betrachten. Wiederum — wie bei Hegel, nur in anderer Richtung — liegt darin 
ein Versehen: Was hat Comtes Gedankenwelt — wenn anders man sie nicht aller ihrer Cha¬ 
rakteristika beraubt — mit der historischen Schule zu tun ? 



104 I. Buch All: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. IV 


Argumente weitern Kreisen dar. Allein obgleich sie nicht ohne Beifall gehört wurden, 
so blieb doch infolge der beiden Tatsachen, daß diese Argumente nicht alle die po¬ 
sitiven Leistungen der Deutschen und die deutsche Vorliebe für Geschichte hinter 
sich hatten und daß sie einer viel scharfem Kritik gegenüberstanden, die negative 
Seite ihrer Ausführungen ohne dauernden Erfolg. Was in Deutschland zum Sturme 
wurde, vermochte hier kaum die Wellen zu kräuseln. Schon Ashleys Stellung war 
eine sehr viel gemäßigtere und soweit es überhaupt in Fachkreisen zu einer prinzi¬ 
piellen Gegnerschaft gegen die Theorie kam, flaute sie sehr schnell ab. Aber die 
positive Seite der Lehre dieser englischen historischen Schule trug Früchte. Die 
Detailforschung im historischen und sonstigen deskriptiven Material gedieh (S. und 
B. Webb, Booth u. a.) und auch im Lehrgang erhielt die Wirtschaftsgeschichte ihren 
bestimmten Platz, allerdings nicht an Stelle sondern neben der Theorie, mehr in 
der Stellung einer — auch durch besondre Lehrer vertretenen — Hilfswissenschaft 1 ). 

In Frankreich hatte man, unbekümmert um Comte, bis auf die neueste Zeit an 
der im vorhergehenden Abschnitt geschilderten Richtung festgehalten. Aber diese 
Richtung ließ der historischen und sonstigen deskriptiven Detailforschung volle 
Entwicklungsmöglichkeit. Nirgends sehen wir so deutlich, wie wenig ein Gegen¬ 
satz zwischen Theorie und Wirtschaftsgeschichte im Wesen der Sache liegt und wie 
wenig unvoreingenommene Leute daran zweifeln, daß beide Arbeitsweisen gleich 
notwendig sind. Zu jener herrschenden Richtung gehörte eine Reihe von Wirt¬ 
schaftshistorikern, unter denen Levasseur und d’Avenel hervorragen 2 ). Forschungen 
im Tatsachenmaterial der Gegenwart unternahmen geradezu die meisten. Als Bei¬ 
spiel sei P. Leroy-Beaulieu genannt, bei dem auch die Theorie unter dem Gesichts¬ 
punkt der Zusammenfassung zeitgeschichtlicher Einzelbeobachtungen erscheint. 
Am besten brachte A. Liesse den Standpunkt dieser Gruppe zum Ausdruck mit 
seiner Verbindung von historischem Material und den „Gesetzen der menschlichen 
Natur“, von allgemeinen Lehrsätzen und einer den Umständen angepaßten Inter¬ 
pretation derselben. Dennoch kam es auch hier zu einer Wendung gegen diese 
Richtung im Anschluß an die deutsche historische Schule. Ihre Träger waren vor 
allem jene Professoren, mit denen im Jahre 1878 die neugegründeten Kanzeln der 
französischen Juristenfakultäten besetzt wurden und von denen manche ihrem 
neuen Fach mit einer durch keine fachliche Vorarbeit getrübten Unvoreingenommen- 
heit gegenübertraten. Aus diesem Kreis ragt vor allem Cauwes hervor, der sich 
gegenüber der Theorie ähnlich verhielt wie etwa C. Leslie. Aber diese Bewegung 
leistete wenig Positives und erstarb bald. Als Repräsentant jener französischen 
Nationalökonomen, die immerhin von ihr beeinflußt sind und in ihr ein Mittel suchen, 
die französische Wissenschaft aus ihrem allzu ruhigen Gang hinauszulenken, sei 
Ch. Gide genannt, der in gleicher Weise sozialpolitische, historische und neue theo¬ 
retische Gedanken aufgenommen hat. 

Doch ist noch zweier „autochthoneren“ Richtungen zu gedenken. Die französische 
Oekonomie hat mehr an ihren Grenzen festgehalten wie die deutsche und darauf ver¬ 
zichtet, ihr Arbeitsgebiet mit dem der Soziologie zusammenfallen zu lassen, so daß 
sich viel schneller wie in Deutschland eine selbständige Soziologie entwickelte. Ein 
Teil derselben deckt sich nun natürlich mit „ökonomischen“ Untersuchungen in 
Deutschland und so ist ihre Methode auch für uns von Bedeutung. Es würde zu 
weit führen, die einzelnen Gruppen und führenden Persönlichkeiten zu charakteri¬ 
sieren, aber es muß hervorgehoben werden, daß mehrere dieser Gruppen sich der 
Methode nach mit der historischen Schule berühren. Hierher gehört z. B. Ch. Le- 
tourneau und der Schülerkreis von Worms und Dürkheim: Archivalische Arbeit 


*) T h. Buckles Gedankenkreis kann hier nicht zu Worte kommen. Sein Buch hat 
auch nicht auf die Politische Oekonomik gewirkt. 

*) Vgl. übrigens eine methodische Arbeit Levasseurs, Dela mäthode dans la Science 
6conomique 1898. Vgl. auch des Historikers Seignobos’ Arbeit: La nrithode historique 
appliquge aux Sciences sociales, 1901. 



IV. Historische Schule und Grenznutzentheorie. 


105 


oder andre „Originaltatsachenforschung“ wird von ihnen zwar nicht oder doch nicht 
als Selbstzweck geleistet, aber alle Untersuchungen beruhen auf historischer, ethno¬ 
logischer, statistischer Materialbasis. Dabei wirkt das Material aber nicht schon 
durch sich selbst, es appelliert nicht direkt an den Leser, sondern es gibt die Bau¬ 
steine zu Generalisationen ab. Darin liegt kein prinzipieller, aber tatsächlich doch 
großer Unterschied gegenüber der historischen Schule. Die historische Facharbeit 
tritt zurück. Die zeitlichen, örtlichen und sachlichen Grenzen, an die die historische 
Originaluntersuchung gebunden ist, entfallen. Und es wird die Untersuchung ein¬ 
zelner sozialer Institutionen und Phänomene (Eigentum, Ehe, Klassen usw.) zum 
unmittelbaren und alleinigen Zweck. Auch die historische Schule arbeitete natürlich 
mitunter so, aber bisher nur gelegentlich und nebenbei. Auch methodologische Werke 
hat diese Richtung in Menge hervorgebracht. (Vor allem: Dürkheim: Regles de 
la mäthode sociologique 1895, CI 6 m ent: Essai sur la Science sociale 1867; 
Fouill6e: Le mouvement positiviste et la conception sociologique; und neuestens 
das Werk von Simiand, das den Standpunkt dieser Gruppen und die ihnen allen 
eigene Abneigung gegen die Theorie am klarsten zum Ausdruck bringt.) 

Zweitens haben wir der Le Play-Schule zu gedenken (Le Plays Haupt¬ 
werke sind: LesOuvriers Europ6ens 1. ed. 1855 2. ed. 1877—79, La r6forme social 
1. ed. 1864, L'organisation du travail 1870, L’organisation de la famille 1872, Consti¬ 
tution essentielle de l’humanitt 1880; von ihm begründet: die Monographienserie Les 
ouvriers des deux mondes und die Zeitschrift La Reforme sociale. Als Nachfolger 
seien du Maroussem und die vielfach selbständigem Cheysson und C. Jannet genannt). 
Ihre sozialpolitischen Ideen, die für Le Play die Hauptsache waren, interessieren 
uns hier nicht. Desto wichtiger ist seine Methode, die der Detailuntersuchung der 
Lebensverhältnisse der Arbeiterschaft an der einzelnen Arbeiterfamilie und unter 
besonderer Berücksichtigung ihres Budgets. Es ist klar, daß diese Methode, die 
seither auch in Deutschland, Amerika und England eingeschlagen wurde, nicht nur 
für manche Probleme schlechthin nötig ist, sondern auch einen Beitrag zu unserm 
allgemeinen Verständnis des sozialen Geschehens bieten kann. Daß sie bisher zu kei¬ 
nen in Kürze zu formulierenden Resultaten führte, liegt in ihrer Natur und bildet 
keine Einwendung. Nur sind die allgemeineren Ausführungen Le Plays wissenschaft¬ 
lich nicht sehr wertvoll, teils weil sie seinem Talent nicht „lagen“, teils wegen des 
völligen Fehlens jeder selbst elementaren ökonomischen Schulung. Das nimmt 
namentlich seinen Ausfällen gegen die Klassiker, die er kaum gelesen haben kann, 
jede Bedeutung *). 

In Amerika, Italien, Holland und Nordeuropa kam es zu keiner eigentlichen 
historischen Bewegung. Wir finden auch da einen Aufschwung der „Wirtschafts¬ 
beschreibung“, in Amerika mit einem bemerkenswerten Ansatz zu einem großzügigen 
planmäßigen Zusammenarbeiten vieler Gelehrter am Werk der Deskription (innerhalb 
des Carnegie Instituts, der Smithsonian Institution und außerdem an der Documen- 
tary History of American Industrial Society). Aber er geht nur parallel mit einem 
Aufschwung der Theorie und Hand in Hand mit diesem. Jener spezifisch historische 
Geist, der allein die für jede Richtung nötige Pflege der Tatsachensammlung zu etwas 
methodisch Eigenartigem macht, entwickelte sich nicht. Gelegentlich fanden die 
kritischen Gesichtspunkte der historischen Schule Widerhall, aber nur einen schwa¬ 
chen, vornehmlich außerhalb der führenden Kreise der Nationalökonomie, und sie 
wirkten nur wenig auf die positive Arbeit. Es ist schwer, die den historischen oder 
theoretischen Parteimann in Deutschland so sehr interessierende Frage, welche 
Richtung „überwiegt“, mit gutem Gewissen zu beantworten. Nach der Bändezahl 
natürlich wie immer und überall die „Tatsachenforschung“. Nach dem Kriterium, 

*) Die liebenswürdige, aber nicht sehr starke Persönlichkeit E. de Laveleyes (Haupt¬ 
werk: Ureigentum) verdiente ebenfalls Erwähnung: Ein Mann voll hoher sozialpolitischer 
Ideale und von vorwiegend historischen Neigungen, war er einer der besten Repräsentanten 
eines ziemlich häufigen Typus der Epoche. 



106 L Buch All: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. IV 

wo die Leistungen der Nationalökonomen von Namen liegen, die Theorie. Einen 
halbwegs verläßlichen Ueberblick verschafft man sich, wenn man etwa den Inhalt 
der Publikationen der American Economic Association, deren Stellung in Amerika 
mit der des Vereins für Sozialpolitik in Deutschland wenigstens Aehnlichkeit hat, 
mit dem Inhalt der Publikationen des letztem vergleicht, oder durch ein Studium 
der amerikanischen und italienischen Lehrbücher — aber ihres innern Gehalts und 
nicht bloß ihrer prinzipiellen Ausführungen. 

5. Diese Uebersicht zeigt, wie wenig ein prinzipieller Methodenstreit in der 
Natur der Sache lag. Wenn dem aber so ist, woher kam er dann? Worum stritt 
man ? Und war der ganze Kampf denn nötig, der soviel Kraft kostete, die positive 
Arbeit hätte leisten können, und Männer entzweite, die ihrer gegenseitigen Achtung 
so würdig waren und in ruhigem Zusammenarbeiten einander soviel geboten hätten? 
Ueber die letzere Frage zu philosophieren und mit sentimentalem Bedauern auszu¬ 
führen, wie schön es gewesen wäre, wenn sich die Dinge anders gestaltet hätten, 
hieße in eine veraltete Art von Geschichtsschreibung verfallen. Die Erklärung 
des Kampfes aber haben wir bereits angedeutet: Es war ein Kampf zweier Arbeits¬ 
weisen, ein Kampf zwischen Leuten verschiedenen geistigen Habitus, die um Luft¬ 
raum oder Herrschaft stritten. Und das erklärt auch die Art, wie dieser Kampf 
geführt wurde und seine Resultate: Wie im politischen Kampf wirkte vor allem der 
Schlachtruf, der an empfindliche Saiten rührte und bestimmte Vorstellungen und 
Gefühle wachrief, viel weniger der ausgearbeitete Gedankengang. Und jedes Argu¬ 
ment wirkte für sich, d. h. unabhängig von seinen Mit- und Gegenargumenten, ohne 
daß es in einem und demselben Bewußtsein mit seinen Mitargumenten zusammenge¬ 
halten und gegenüber dem Gegenargument abgewogen wurde. Daher die endlosen 
Wiederholungen von Argumenten, die schon mit aller wünschenswerten Gründlichkeit 
widerlegt waren. Stets klingt bei allem, was die Parteien zu sagen haben, die unüber¬ 
windliche, keinem bloß logischen Argument zugängliche Abneigung gegen das theo¬ 
retische „Nebelbild“ oder die historische „Kärrnerarbeit“ durch. Immer wieder 
finden wir die Tendenz der Parteien, einander Unwissenschaftlichkeit vorzuwerfen 
und sich selbst mit für auszeichnend gehaltenen Prädikaten zu schmücken („rea¬ 
listisch“, „exakt“, „modern“ usw.), oft dicht neben dem Zugeständnis, daß etwas 
Berechtigtes an dem gegnerischen Standpunkt sei. Die Einzelargumente selbst — 
und noch mehr ihre Betonung und Formulierung — wechselten auf beiden Seiten 
mitunter sehr unvermittelt. Das macht es fast unmöglich, einem Autor eine be¬ 
stimmte Behauptung zuzuschreiben ohne daß ihr andere, widersprechende, entgegen¬ 
gestellt werden können. Deshalb, dann weil es oft schwer ist, den präzisen Sinn 
einzelner Aeußerungen heute festzustellen und weil es endlich kaum fair ist, mit 
jeder in der Hitze des Gefechts gefallenen Aeußerung vollen Ernst zu machen, 
wollen wir uns mit wenigen Bemerkungen begnügen. 

In ihren Anfängen eröffnete die historische Schule vor allem einen Angriff auf 
die politischen und sozialphilosophischen Thesen der alten Oekonomik, auf Man¬ 
chestertum, Individualismus, Rationalismus usw. und zwar mit so gut wie voll¬ 
ständigem Erfolg. Dabei wurde wohl auch die eigentliche Theorie mit abgelehnt, 
z. B. als scholastisch, spekulativ, naturalistisch usw. bezeichnet, auch bestand eine 
Neigung, die Anwendbarkeit des Gesetzesbegriffs auf die Sozialwissenschaft für be¬ 
denklich zu halten, aber das stand nicht im Vordergrund: Wenn Schmoller z. B. 
jeden „Smithianer“ als ungeeignet bezeichnete, die Wissenschaft als Lehrer zu ver¬ 
treten, so meinte er offenbar das sozialphilosophische und politische Element im 
Smithianismus. Von dieser Phase ist nicht so sehr zeitlich als inhaltlich eine andere 
zu unterscheiden, in der die Methodenfrage näher diskutiert wird. Da werden die 
Vorzüge von Induktion und Deduktion erörtert, die Berechtigung, resp. Möglichkeit 
des Isolierens usw. Diese Phase war nicht sehr fruchtbar. Dem Streit um Induktion 
und Deduktion lag nicht etwa eine logische Frage, sondern einfach der Gegensatz 
zwischen Sammlung und Analyse von Tatsachen zugrunde. Trotzdem wurde eine 



IV. Historische Schule und Grenznutzentheorie. 


107 


Zeitlang der Kampf in jenem für ihn gar nicht passenden Gewand geführt, natürlich 
ohne besondere Resultate. Schlagworte wie „Oekonomie im luftleeren Raum“, „Ato¬ 
mismus“ usw. gehören ebenfalls hierher. Eine dritte Phase steht unter dem Einfluß 
der Fortschritte der Erkenntnistheorie und der fachhistorischen Methodendiskus¬ 
sionen und brachte zwar eine neue Komplikation, weil nun erkenntnistheoretische 
Differenzen, die an sich mit der ökonomischen Arbeitsweise nichts zu tun haben, 
hereingezogen wurden, aber dafür eine zweifellose Klärung der Anschauungen. 

Im Zentrum der Diskussion steht die große methodologische Leistung 
C. Mengers: „Untersuchungen über die Methode der Sozialwissenschaften und der 
politischen Oekonomie insbesondere.“ Sie führte aus dem Stadium der Apercus 
und Einzelargumente hinaus und machte den Versuch, durch gründliche prinzipielle 
Auseinandersetzungen Klarheit in den Methodenstreit zu bringen und dabei die 
Theorie gegen die Mißverständnisse zu verteidigen, denen sie ausgesetzt war l ). Da 
gab es in der Tat vieles zu tun. Dem spezifisch historischen Ideenkreis liegt die 
Auffassung nahe, daß die ökonomische Theorie überhaupt nicht auf Tatsachen¬ 
beobachtung, sondern auf Obersätzen zweifelhaften Charakters beruhe und im 
Grunde vorwissenschaftlich sei, bestimmt, durch ernste Tatsachenforschung ver¬ 
drängt zu werden. Die Aufgabe der Wissenschaft läge dann ihr gegenüber über¬ 
haupt nicht in Fortbildung, sondern nur in der Darstellung und historischen Er¬ 
klärung ihrer wechselnden Systeme. Höchstens die Bereitstellung und logische 
Durchbildung eines Begriffssystems für die Sozialwissenschaft könnte als eine — 
aber verhältnismäßig untergeordnete — Aufgabe theoretischen Charakters aner¬ 
kannt werden. Von „Gesetzen“ könnte auf sozialwissenschaftlichem Gebiet kaum 
mehr die Rede sein, höchstens von Regelmäßigkeiten, wie sie die historische und 
statistische Detailforschung aufdecken kann und die man eventuell „empirische 
Gesetze“ nennen könnte. Das Wort „Theorie“ wurde so verfehmt, daß man es 
heute mitunter durch „gedankliche Nachbildung“ oder „Lehre“ ersetzt, um nicht 
a limine eine ganze Menge von Vorurteilen wachzurufen. Und wenn „Theorie“ im 
Sinne allgemeingiltiger Erkenntnisse nicht für schlechthin unmöglich gehalten wurde, 
so hielt man doch die vorhandene Theorie für prinzipiell verfehlt. Aber wenn Menger 
diesen Anschauungen entgegentrat, so erkannte er doch ohne weiteres die Notwendig¬ 
keit einer historischen Grundlage für die Arbeit an einer Reihe von ökonomischen 
Problemen und sodann für die Untersuchung von individuellen Fällen an. Schmoller 
entgegnete darauf (Zur Methodologie der Staats- und Sozialwissenschaften, Jahr¬ 
buch für Gesetzgebung 1883; vgl. auch: Zur Literaturgeschichte der Staats- und 
Sozialwissenschaft 1888 und: Wechselnde Theorien und feststehende Wahrheiten 
. . . 1897. Frühere Aeußerungen Schmollers über Methodenfragen in der Sammelaus¬ 
gabe: Grundfragen der Sozialpolitik und Volkswirtschaftslehre 1898), zwar in einer 
durch den Anlaß gegebenen polemischen Form, sachlich aber durchaus nicht einfach 
ablehnend. Er erkannte schon damals — abgesehen von der Berechtigung man¬ 
cher kritischen Bemerkungen Mengers — die prinzipielle Wesensgleichheit der sozial- 


l ) Auf prinzipiell demselben Boden stehen:v. Böhm-Bawerk, Method in Political 
Economy, Ann. Amer. Ac. I; v. P h i 1 i p p o v i c h , Ueber Aufgabe und Methode der Po¬ 
litischen Oekonomie, 1886; S a x , Wesen und Aufgaben der Nationalökonomie, 1884; Diet¬ 
zel, Beiträge zur Methodik der Wirtschaftswissenschaften, Conrads Jahrb. 1884 u. a. Ar¬ 
beiten; L i f s c h i t z , Untersuchungen über die Methodologie der Wirtschaftswissenschaft, 
1909. Im ganzen auch die englischen Methodologen: Jevons, The future of Political 
Economy, Fortnightly Rev. 1876, und Principles of Science, 1874; Cairnes, The Cha- 
racter and logical method of Political Economy, 1875; Keynes, Scope and method of po- 
litical economy, 1. Aufl., 1891, und Artikel „Method“ in Palgraves Dictionary. 

Bagehots Stellung (Economic Studies, ed 1880) ist ähnlich der K. B ü c h e r s: Die Theorie 
erscheint bei ihnen als unentbehrlich zum Verständnis der Vorgänge der modernen Verkehrs¬ 
wirtschaft, darüber hinaus aber ohne Wert. 

Methodologische Erörterungen ähnlichen Grundzugs findet man ferner in den meisten 
systematischen Werken, so bei A. Wagner, v. Philippovi ch, G. Cohn, J. Conrad, 
Seligman, Marshall usw. 



108 I. Buch All: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. IV 

und der naturwissenschaftlichen Kausalnotwendigkeit an und bezeichnete kausale 
und gesetzmäßige Erklärung — für ihn fiel damals Beides zusammen — der sozialen 
Phänomene als das Ziel sozialwissenschaftlicher Arbeit. Ja wir finden sogar den 
weitgehenden Satz, daß alle vollendete Wissenschaft „deduktiv“ sei, d. h., daß der 
Zustand idealer Vollkommenheit erst erreicht wäre, wenn man auf Grund theore¬ 
tischer Sätze konkrete Phänomene restlos erklären könne. In diesem Satz liegt die 
Anerkennung der prinzipiellen Möglichkeit eines solchen Stands der Wissenschaft 
— wenn er uns auch tatsächlich unerreichbar sein sollte — und eine völlige Absage 
an jenen spezifisch historischen Glauben an die „Unberechenbarkeit“ und prinzipielle 
„Irrationalität“ des sozialen Geschehens, — Schmoller geht hier weiter, als die meisten 
Theoretiker zu gehen bereit wären. Und noch schärfer hebt er die kausal-theore¬ 
tische Aufgabe der Sozialwissenschaft in seinen Arbeiten über die Methode im H. d. 
St. hervor. Das verträgt sich durchaus mit der Ansicht, daß die Theorie der Sozial¬ 
wissenschaft zu einem großen Teil eines historischen „Unterbaus“ bedürfe. Alle 
diese Sätze weisen gar keinen prinzipiellen Gegensatz zur Theorie als solcher auf, 
wenngleich natürlich ein Gegensatz zur vorhandenen Theorie mit ihnen kompatibel 
ist. Aber dieser letztere Gegensatz könnte nur ein „innertheoretischer“ sein, denn so¬ 
wie der Historiker daran ginge auf Grund seiner historischen Detailforschungen 
generelle Erkenntnisse — wie immer man sie nun nennen mag. Es ist, wie v. Schmol¬ 
ler treffend bemerkt, ganz gleichgiltig ob man von „Gesetzen“ spricht oder einen 
andern Terminus für eine Sache verwendet, deren Wesen sich ja doch gleichbleibt, 
mag man sie auch nennen, wie man will — zu gewinnen, so müßte er isolieren und 
abstrahieren, d. h. sich in einen Theoretiker verwandeln. Allerdings wären „empi¬ 
rische Gesetze“, d. h. Konstatierung von Regelmäßigkeiten in unanalysierten Tat¬ 
sachen, auch ohne Abstraktionen möglich. Aber sie wären erstens wenig zahlreich 
und zweitens würden sie uns sehr wenig sagen, sie wären „unverständlich“. 

Es ist interessant zu beobachten, wie nahe Vertreter von Richtungen, die man als 
prinzipiell feindlich zu betrachten pflegt, einander kamen, wenn sie die Sache grund¬ 
sätzlich diskutierten. Auch manche Anhänger Schmollers, wie z. B. Hasbach 1 ), 
nahmen den Standpunkt ein, der durch die Anerkennung allgemeingiltiger Gesetze 
charakterisiert ist. Und nach und nach begann sich derselbe durchzuringen, bis 
schließlich in der neuesten Zeit jede argumentative Theoriefeindlichkeit 
erstarb und die schon von Menger betonte Unterscheidung zwischen der Erkenntnis 
des Generellen und des Individuellen, gefördert durch philosophische Unterstützung 
(Windelband: „nomothetische“ und „ideographische“ Denkweise, Rickert: „natur¬ 
wissenschaftliche“ und „historische“ Betrachtung) anerkannt wurde. Aber an dem 
Gegensatz zweier Arbeitsweisen änderte das wenig und es war mehr Müdigkeit als 
Einigung, die dem Streit nach und nach seine Heftigkeit nahm. Eine neue Gene¬ 
ration— auch von Anhängern der historischen Schule—wollte nicht mehr bei bloßer 
Tatsachensammlung verweilen und die ökonomische Theorie hatte unterdessen 
neues Leben gewonnen. Von einer Ueberwindung der letzteren konnte keine Rede 
mehr sein. Damit verlor die Methodendiskussion ihre polemische Spitze und es 
vollzog sich ein Wechsel des Themas: Man ging an die Untersuchung der Erkennt¬ 
nistheorie der Geschichte 2 ), man fing an, in den Gedanken, mit denen der Historiker 


*) Ein Beitrag zur Methodologie der Nationalökonomie, Schmollers Jahrb. 1885. Und: 
Mit welcher Methode werden die Gesetze der theoretischen Oekonomie gefunden, Conrads 
Jahrb. 1894. Aber nicht alle taten das. Außer früher genannten methodologischen Arbeiten 
historischen Standpunkts seien hervorgehoben: G r a b s k i, Zur Erkenntnislehre der volks¬ 
wirtschaftlichen Erscheinungen; Gerstner, Die Nationalökonomik als Gesellschafts¬ 
wissenschaft, Tübinger Zeitschrift 1861; Held, Ueber den gegenwärtigen Prinzipienstreit 
in der Nationalökonomie, Preuß. Jahrb. 1872; R ü m e 1 i n , Ueber den Begriff des sozialen 
Gesetzes (Reden und Aufsätze I, 1875). Die Standpunkte dieser Autoren unterscheiden sich 
jedoch wesentlich voneinander. 

*) Vgl. bes. die Arbeiten von M. Weber, Roscher und Knies und die logischen Pro¬ 
bleme der historischen Nationalökonomie, Schmollers Jahrb. 1903—05. Die Objektivität sozial- 



IV. Historische Schule und Grenznutzentheorie. 109 

arbeitet, soziologische Probleme zu sehen. Doch können wir auf diese so zukunfts¬ 
reiche Bewegung nicht eingehen. Bei all dem erhielten sich vielfach Reste der alten 
populären Auffassung über das Wesen der Theorie und namentlich die alten pole¬ 
mischen Redewendungen. Ja sie sind gerade erst in neuerer Zeit, nachdem die 
Wissenschaft schon über sie hinausgekommen war, in weitere Kreise eingedrungen, 
wie überhaupt die Anschauungen des „Publikums“ gegenüber den wissenschaftlichen 
stets um’ ein Tempo zurück sind. 

Die beginnende Uebereinstimmung in der Methodenfrage in ihrem ursprünglichen 
Sinn wird heute erschwert durch eine Reaktion gegen die historische Schule, die aus 
verschiedenen Quellen kommt. Die historische Schule hatte sich in ähnlicher Weise 
mit politischen Bestrebungen liiert, wie seinerzeit die Klassiker. Und wie diese, 
so muß auch sie nun dafür büßen. Aber die wichtigste wissenschaftliche Ursache 
jener Reaktion ist der Zug unserer Zeit nach der Theorie hin. Wie die historische 
Schule der Nationalökonomie in ihrem Aufschwung ein Element einer allgemeinen 
geisteswissenschaftlichen Richtung war und wie es sich damals um eine „einheit¬ 
liche Fundierung aller Geisteswissenschaften auf die geschichtlich-gesellschaftlichen 
Tatsächlichkeiten“ (v. Schmoller) handelte, so stehen wir heute mitten in einer ent¬ 
gegengesetzten Strömung. Und wir haben alle Aussicht, das wenig erfreuliche 
Schauspiel zu erleben, daß die historische Schule die gleichen Ungerechtigkeiten 
erfährt, die sie seinerzeit der Theorie zugefügt hat. In dieser Beziehung ist das 
Schicksal der Nationalökonomie analog dem der Rechtswissenschaft. Die scharfe 
Reaktion gegen das Naturrecht am Beginn des 19. Jahrhunderts, die sich an die Na¬ 
men Savignys und Eichhorns knüpft, führte zur Herrschaft einer historischen Rich¬ 
tung, auf die die ökonomischen Historiker stets als Vorbild hingewiesen haben. Die 
vorhandenen Vertreter des Naturrechts wurden immer mehr zurückgedrängt und 
immer geringschätziger betrachtet und man erwartete ein völliges Verschwinden 
ihres Gedankenkreises. Bezeichnenderweise wurde er mehr und mehr in eine „Ge¬ 
schichte der Rechtsphilosophie“ relegiert, ganz ähnlich, wie man mit der theoretischen 
Oekonomie zu verfahren wünschte. Aber das Naturrecht verschwand nicht. Es 
erhielt sich und gegen Ende des 19. Jahrhunderts traten Symptome einer neuen 
Bewegung innerhalb desselben auf. Und diese Bewegung gewann schnell Ober¬ 
wasser. Es handelte sich nicht etwa um eine Auffrischung der von der historischen 
Schule mit Recht wenig geschätzten „Begriffsjurisprudenz“, die praktisch zwar un¬ 
entbehrlich, aber wissenschaftlich von sehr geringem Interesse ist. Im Gegenteil, 
die neue Bewegung trat ihr ebenso energisch entgegen wie die historische Richtung. 
Es handelte sich vielmehr um ein theoretisches Erfassen des Rechtsphänomens und 
der Logik des Rechts, also um ein Herauslenken aus den speziell historischen Bahnen. 
Im einzelnen liegen ja die Dinge auf beiden Gebieten ganz verschieden. Schon 
die Verschiedenheit der Natur und der Funktion beider bringt das mit sich. Menger 
hatte ferner durchaus Recht, wenn er eine fundamentale Verschiedenheit zwischen 
der juristischen und der ökonomischen historischen Schule den Grundtendenzen nach 
konstatierte. Aber die Art des Arbeitens und der Grundzug des Geistes beider Ten¬ 
denzen ist doch wesentlich gleichartig. Und der Parallelismus ihres Schicksals ist 
nicht zu verkennen. 

6. Wir wollen hier einige Bemerkungen über ein Thema einschieben, das in Zu¬ 
sammenhang mit Methodendiskussionen erwähnt zu werden pflegt, über die sog. 
mathematische Methode. Schon früh finden wir bei manchen Autoren (Hutcheson 
z. B., mitunter auch noch früher) den Gebrauch algebraischer Symbole in sozial¬ 
wissenschaftlichen Gedankengängen. Darin liegt nichts prinzipiell Besonderes. 
Ob man allgemeine Sätze mit Worten oder, der großem Präzision halber, algebraisch 
ausdrückt, ändert nichts an ihrem Wesen. Ob man sich in komplizierteren Fällen 

wissenschaftlicher Erkenntnis, Archiv f. Sozialw. XIX. und: Kritische Studien auf dem Gebiet 
der kulturwissenschaftlichen Logik, ebenda XXII. Es ist nicht möglich, hier auf die große 
historische und erkenntnistheoretische Literatur der neuesten Zeit einzugehen. 



110 I. Buch All: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. IV 

hypothetischer Zahlenbeispiele bedient oder statt dessen algebraischer Formen, 
ist vollends prinzipiell gleichgültig, nur daß die Klarheit und Schärfe der algebraischen 
Form alle Voraussetzungen deutlicher hervortreten läßt und den Gedankengang 
von den Zufälligkeiten konkreter gewählter Zahlen befreit. So hat Whewell 
(Cambr. Phil. Trans. Bd. III) einige Theoreme Ricardos in den vollkommeneren 
Formen der Algebra ausgedrückt. Das geschah später oft. Wie sehr es für eine 
eindringende Analyse zweckmäßig ist, kann man an den schönen Arbeiten v. Bort- 
kiewicz* über die Grundlagen des Marxschen Systems sehen, die im vorhergehenden 
Abschnitt zitiert wurden. Cournot (1. c.) hat eine andere Art der „mathematischen 
Oekonomie“ begründet, die auf der Tatsache beruht, daß die Denkformen der hohem 
Analysis sich auf eine Reihe ökonomischer Sätze sehr gut anwenden lassen und die 
Untersuchung an solchen Punkten weiter fortzuführen gestatten, wo die wissen¬ 
schaftliche Sprache wegen ihrer Schwerfälligkeit versagt. Der Funktionsbegriff 
ist unmittelbar oder latent in den meisten reinökonomischen Gedankengängen vor¬ 
handen und soweit es sich dämm handelt, die allgemeinen Beziehungen zwischen 
variablen Größen zu erfassen und aus denselben soviel wie möglich für deren Ver¬ 
änderungen zu schließen, ist die mathematische Analyse schlechthin das geeignete 
Instrument, abgesehen davon, daß schon die Darstellung ökonomischer Zusammen¬ 
hänge in Systemen simultaner Gleichungen an sich einen Ueberblick über dieselben 
gewährt, wie er nicht anders so klar erlangt werden kann. Coumot fand einen Nach¬ 
folger in Walras, dem wir noch begegnen werden und dieser in P a r e t o (Manuel 
1908), der in wesentlichen Punkten alle Frühem überholte (Schule von Lausanne). 
In England hatte Jevons diesen Weg betreten, dann taten das mit mehr Erfolg 
Marshall und Edgeworth, in Amerika J. Fisher. Das weitaus wichtigste Werk 
dieser Richtung in deutscher Sprache ist das von R. A u s p i t z und R. L i e b e n: 
„Untersuchungen über die Theorie der Preise (1888). Launhardt (Mathema¬ 
tische Begründung der Volkswirtschaftslehre 1886) folgte lediglich Walras und Je¬ 
vons. In ihren Anfängen hatte diese Richtung mit manchen Vorurteilen zu kämpfen, 
die in der Abneigung gegen die Verwendung einer weitern Kreisen unverständlichen 
Sprache wurzelten und in der „mathematischen Oekonomie“ etwas prinzipiell Eigen¬ 
artiges und namentlich eine unerlaubte Anlehnung an die Naturwissenschaften 
sehen ließen. Nach und nach begann man einzusehen, daß sie sich nicht wesentlich 
von der Theorie überhaupt unterscheidet und nur von Argumenten getroffen werden 
kann, die auch für diese gelten, ferner, daß sie nichts den Naturwissenschaften ent¬ 
lehnt als eine besondere Technik, die ganz so allgemein „gilt“ wie die „Grundgesetze“ 
der Logik. Heute ist sie außerhalb Deutschlands so ziemlich überall anerkannt und 
vertreten, auch in Frankreich, wo man sich besonders heftig gegen sie gewehrt hatte. 
Ihr Anwendungsgebiet ist jedoch ein beschränktes und ihre Leistungen gehen nur in 
einzelnen Punkten über eine korrektere und schärfere Darstellung — was allerdings 
in praxi sehr viel bedeutet — hinaus, so daß man wohl die Zweckmäßigkeitsfrage 
diskutieren kann, die schließlich auch den Kem der prinzipiellen Argumentationen 
der der Methode ja völlig fernestehenden Gegner derselben bildete, ob sich gegen¬ 
wärtig für einen Nationalökonomen, dem es sich vor allem um die Kenntnisnahme der 
Resultate der Theorie handelt, die Erlernung eines besondern Apparats lohnt *). 

7. In aller Kürze seien einige von den wesentlichen Gesichtspunkten angedeutet, 
die sich aus der historischen Detailarbeit ergaben und denen die historische Schule 
zur Geltung verhalf. I. Der Gesichtspunkt der Relativität. Hier ist nicht die er¬ 
kenntnistheoretische These gemeint, daß alle Erkenntnis einem bestimmten Betrach¬ 
tungszweck angepaßt sei und außerhalb desselben keine Gültigkeit habe, sondern 
eine besondere nur unserem Gebiet eigene Art von Relativität. Zunächst lehrt die 
historische Detailforschung klarer als irgend eine andere Arbeitsweise dieUnhaltbar- 

*) Lieber die mathematische Methode informiert man sich am besten aus dem Artikel 
Paretos in der Enzyklopädie der mathematischen Wissenschaften und aus dem Artikel 
Edgeworth’ in Palgraves Dictionary. 



IV. Historische Schule und Grenznutzentheorie. 


111 


keit der Vorstellung, daß es allgemeingültige praktische Regeln der Volkswirtschafts¬ 
politik gäbe. Aber auch innerhalb der Grenzen der wissenschaftlichen Erkenntnisse 
betonte die historische Schule stets diesen Gesichtspunkt, den wir zwar auch bei 
Theoretikern — selbst bei Ricardo und Marx — finden, aber nicht in solcher syste¬ 
matischer Konsequenz. Soweit allerdings eine Neigung vorhanden war, mit dem 
Moment der „historischen Bedingtheit“ des sozialen Geschehens die Möglichkeit 
allgemeingültiger Erkenntnis — allgemeiner „Gesetze“ — bekämpfen zu wollen, 
wurde sie bald unterdrückt. II. Der Gesichtspunkt der Einheit des sozialen Lebens 
und des in einer Beziehung untrennbaren Zusammenhangs seiner Elemente. Auch 
dazu führt nicht allein, wohl aber besonders sicher, die Arbeit am historischen Ma¬ 
terial: Die konkreten Tatsachen, die dieses bietet, lassen sich nicht ohne Verlust 
zergliedern und der Historiker wehrt sich gegen das Entblättern der Blume, die er 
gepflückt hat. Daher sein Wunsch, an die Stelle der Schemen der Theorie die Er¬ 
fassung der vollen Wirklichkeit zu setzen, ein Wunsch, dessen logische Form das 
Argument von der Heteronomie der Wirtschaft ist. Dieses Ideal — es ist ja leider ein 
Phantom — ließ sich nicht festhalten und v. Schmollers Formulierung gibt es auf. 
Aber es bleibt noch immer der Zug über die Grenzen einer bloßen Wirtschaftslehre 
hinaus *) und eine Geringschätzung gegen die „Fachleute, die nie einen Hasen in das 
nächste Feld verfolgen“. Die neuere Erkenntnistheorie mit ihrer scharfen Schei¬ 
dung von Realobjekt und Erkenntnisobjekt und die Einsicht, daß ja in dieser Be¬ 
ziehung die Dinge nicht anders liegen wie in den Naturwissenschaften — auch in der 
Natur besteht unlösbarer Zusammenhang aller Erscheinungen —, haben den Raum 
zu Differenzen in diesem Punkt sehr eingeschränkt. III. Der antirationalistische 
Gesichtspunkt. Verhältnismäßig spät — und vollständig erst unter dem Einfluß 
außerhistorischer Einflüsse — zog man aus der Geschichte eine ihrer deutlichsten 
und wertvollsten Lehren: Die von der Vielheit der Motive und die von der geringen 
Bedeutung bloß logischer Einsicht für das menschliche Handeln. Der Historiker, 
der, wie immer das nun möglich oder unmöglich sein mag, sich die Motive Handelnder 
klarzumachen sucht, sieht nur selten einfache, fast niemals klare und klarbewußte. 
Er sieht die Menschen nach unräsonnierten, ihnen vielfach als undiskutierbare Ge¬ 
bote erscheinenden Regeln handeln oder unter dem Einfluß von offenbar illogischen 
Impulsen. Nicht bloß der Historiker sieht das, aber von der historischen Schule 
vor allem ist dieser Gesichtspunkt in der Nationalökonomie geltend gemacht worden. 
Und zwar zunächst in der Form des ethischen Arguments— daher der Name „ethische 
Schule“ — und sodann in der Form des Verlangens nach einer vollkommeneren Indi¬ 
vidual- vor allem aber Massenpsychologie. Darin lag ein wesentliches Verdienst 
ungeachtet des Umstandes, daß man mit Unrecht glaubte, daß dieser Gesichtspunkt 
eine Einwendung gegen die reine Theorie — dieselbe ist erstens von einer Motivations¬ 
lehre unabhängig und nichts weniger wie eine „Naturlehre des Egoismus“, zweitens 
aber spielte, wenn es nötig wäre, das klarbewußte wirtschaftliche Motiv, immer 
innerhalb des gegebenen Gesichtskreises des Wirtschaftssubjekts natürlich in wirt¬ 
schaftlichen Dingen eine so große Rolle, daß seine isolierende Behandlung wohl der 
Mühe wert wäre — involviere und daß dieselbe gewinnen würde, wenn man ihre 
psychologischen Grundlagen verbessere. Freilich ist es mit der bloßen Hervor¬ 
hebung ethischer Motive nicht getan. Aber wenn man überhaupt Sozialpsychologie 
treiben will, so kann es nur auf neuen Grundlagen geschehen, nicht auf den alten 

*) Um nicht zu sagen ins Uferlose. Je weiter die Entwicklung der einzelnen sozialwissen¬ 
schaftlichen Disziplinen fortschreitet, in um so nebelhaftere Ferne rückt der Gedanke der so¬ 
zialen Universalwissenschaft und um so unvollkommener muß jede Zusammenfassung aus- 
fallen. Ein Aufgeben der Spezialdisziplin der Wirtschaftslehre, das die Oekonomen ihrer 
Aufgabe entfremdet, bedeutet fast das Aufgeben der Möglichkeit des Fortschritts. Und doch 
ist es in Deutschland fast vollzogen. In dieser Beziehung ist die Bemerkung im Vorwort der 
Schmollerfestgabe sehr bezeichnend, daß es zweifelhaft sei, ob man von einer einheitlichen 
Volkswirtschaftslehre sprechen könne. In der Tat, kaum gibt es ein Thema, für das man 
manchen Oekonomen eine Erklärung des Desinteressements abringen kann. 



112 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. IV 

rationalistischen. Es ist begreiflich, daß um ein gutes Wort G. W a 11 a s (Human 
Nature in Politics 1906) zu wiederholen, die ausschließliche Berücksichtigung 
einiger weniger klarbewußter Motive auf manchen denselben Eindruck machte, 
den es uns machen würde, wenn ein Anatom erklärte, von der Existenz der Leber 
im menschlichen Körper „absehen“ zu wollen. Allerdings liegen die Dinge in der 
Oekonomik und der Anatomie sehr verschieden, aber darum kümmert man sich 
wenig. IV. Der Gesichtspunkt der Entwicklung. Obgleich der Theorie nicht fremd 
— vgl. z. B. Marx; aber so gut wie alle theoretischen Lehrsysteme haben die Trieb¬ 
kräfte der Entwicklung anzugeben versucht, ein Abschnitt „on progress“ war ein 
Bestandteil jedes Lehrbuchs — und obgleich auch von andern Betrachtungsweisen 
aus erreichbar, vgl. z. B. Spencer, überhaupt die Soziologie, — drängt er sich vor 
allem dem Historiker auf, da er fast nur mit Veränderungen der Dinge zu tun hat. 
Man konnte um so mehr glauben, daß im Umkreis des Entwicklungsproblems die 
Geschichte alles biete, was geboten werden kann, weil dabei Isolierung viel schwerer 
und auch weniger fruchtbar schien als bei der gedanklichen Nachbildung von Zustän¬ 
den. Und sicher müssen Entwicklungstheorien viel mehr von historischem Material 
Gebrauch machen. V. Der Gesichtspunkt des Interesses an individuellen Zusammen¬ 
hängen. Man hat wiederholt ausgesprochen und viel häufiger noch instinktiv ange¬ 
nommen, daß es uns auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften viel weniger um die 
Erforschung des generellen Wesens der Vorgänge, als um die Untersuchung 
konkreter, individueller Zusammenhänge zu tun sei: Wie konkrete Ereignisse 
und Zustände sich durchringen und wie es mit ihrer konkreten Verursachung 
steht, darauf kommt es uns an, nicht auf die sei es nun uninteressanten oder selbst¬ 
verständlichen allgemeinen Ursachen der sozialen Vorgänge überhaupt. In der Tat 
ist die individuelle Schlacht und ihre individuelle Ursachenkombination für uns viel 
wichtiger als die individuelle Ursachenkombination, die aus einem Baum ein unter¬ 
scheidbares Individuum macht. Es wird stets eine Aufgabe der Sozialwissenschaften 
sein, solche konkrete Kausationen von uns interessierenden Phänomenen anzugeben 
und diese Aufgabe wird stets der Sozialgeschichte und -deskription zufallen außer 
ihrer andern, Material für die Lösung einer großen Zahl genereller Probleme zu lie¬ 
fern. Nur vergaß man dabei, erstens, daß dieser Umstand nur einen graduellen Un¬ 
terschied gegenüber der Naturwissenschaft begründet, denn auch innerhalb dieser 
handelt es sich sehr oft um die individuelle Besonderheit einer bestimmten Ver¬ 
ursachung (so in allen „angewandten“ Disziplinen), zweitens, daß, wenn auch ge¬ 
wiß nicht ausschließlich, die Untersuchung des generellen Wesens der Dinge an sich 
interessant ist, drittens, daß ohne solche Untersuchung auch die Aufgabe der kon¬ 
kreten Kausalforschung nicht oder doch nicht in wissenschaftlich befriedigender 
Weise gelöst werden kann. Das Verdienst, das in diesem „Gesichtspunkt“ liegt, 
ist also kein Beitrag zur Erkenntnis des Wesens unserer Wissenschaft. Das Verdienst 
liegt darin, daß man danach handelte und so in vierzigjähriger Arbeit für jene Teil¬ 
aufgabe Großes leistete. Ob man in dieser Praxis zuweit ging, wie heute vielfach 
behauptet wird, das kann nur jeder für sich beurteilen. Mir ist keine Fragengruppe 
bekannt, für die soviel individuelle Tatsachen und Zusammenhänge gesammelt 
worden wären, daß man sagen könnte, wir hätten nun genug davon und brauchten 
uns weiter nicht darum zu bemühen. Daß dabei die Theorie unersetzlichen Schaden 
litt, ist eine andere Sache, zum Teil übrigens unvermeidlich. VI. Der organische 
Gesichtspunkt. Etwas, das dem Historiker immer über alle Maßen unsympathisch 
ist, ist die mechanistische Auffassung sozialer Dinge. Allerdings wurde das zum 
Schlagwort, bei dessen konkreter Anwendung man sich nie fragte, welche von den 
vielen möglichen Bedeutungen mechanistischer Redewendungen ein bestimmter be¬ 
kämpfter Satz habe. Näher stand der historischen Schule die organische Auffas¬ 
sung, die Analogie des sozialen mit einem organischen Körper. Doch hat sie nie¬ 
mals an den Uebertreibungen dieses Standpunkts, wie wir sie etwa bei v. Schäffle 
finden, teilgenommen. Wohl aber hat sie stets betont, daß sich die Volkswirtschaft 



IV. Historische Schule und Grenznutzentheorie. 


113 


nicht in ein Konglomerat selbständiger Wirtschaftssubjekte auflösen lasse und daß 
die volkswirtschaftlichen Erscheinungen keine bloßen Resultanten individueller 
Komponenten seien. Für die methodische Berechtigung, die diese Auffassung trotz¬ 
dem für die reine Theorie haben könnte, hat sie kein Verständnis gezeigt. Dieser 
Gesichtspunkt wurde nun ursprünglich in der Form vorgetragen — im Anschluß an 
A. Müller —> daß die Volkswirtschaft etwas außer und über den Einzelwirtschaften 
Existierendes sei. Aber heute ist diese Auffassung so ziemlich überwunden und es ist 
an ihre Stelle (vgl. v. Schmoller, Art. Volkswirtschaft im H. d. St.) die Betonung der 
Tatsache getreten, daß die Einzelwirtschaften, die eine Volkswirtschaf tausmachen, in 
engen Wechselbeziehungen stehen, deren Bedeutung weit über die von der ökonomi¬ 
schen Theorie beschriebenen Beziehungen hinausgeht, die das einzelne Wirtschaftssub¬ 
jekt formen und die ein anders geartetes und anders zu erklärendes Verhalten der Wirt¬ 
schaftssubjekte erzwingen als das, von dem die Theorie spricht. Eine Theorie dieses 
Verhaltens gibt aber nicht die Geschichte an sich sondern die allerdings auch mit 
historischem Material arbeitende, von historischer Seite sympathisch begrüßte Massen¬ 
psychologie. Und da die Gesamtheit jener Wechselbeziehungen auch die „reinwirt¬ 
schaftlichen“ umfaßt, so kommt jene Formulierung des Wesens der Volkswirtschaft 
nur darauf hinaus, daß die Theorie nur einen Teil der Erklärungsmomente sozialen 
Geschehens behandelt, was von ihren überzeugtesten Vertretern ja stets hervor¬ 
gehoben wird. Wenngleich das aber jener Formulierung ihre kritische Spitze nimmt, 
so ändert es doch nichts an ihrer positiven Bedeutung. — Die Natur der Methode 
der Detailforschung bringt es mit sich, daß man nicht in Kürze über ihre Resultate 
referieren kann. Wir wollen uns denn auch den Vorgängen auf dem Gebiet der 
Theorie zuwenden. 

8. Der neue Aufschwung der theoretischen Analyse, der in den 70er Jahren 
begann und in den 90er Jahren den weitesten Kreisen ersichtlich hervortrat, änderte 
nichts daran, daß die Theorie gegenüber dem Interesse an den Untersuchungen 
individueller Tatsachen und die wirtschaftliche Theorie im Besonderen, gegenüber 
der Fülle andersgearteter sozialwissenschaftlicher Problemgruppen nicht mehr jene 
Rolle einnimmt wie in der klassischen Zeit, wo die Oekonomik die einzige ausgebil¬ 
dete Sozialwissenschaft war und außerdem so schöne, kurze und peremptorische 
Antworten auf Fragen gab, deren Schwierigkeit man unterschätzte. Der National¬ 
ökonom, der etwas über Zeitfragen oder über die Fragen des sozialen Geschehens 
sagen wollte, muß nun andere sozialwissenschaftliche Gebiete betreten und er¬ 
wirbt leicht eine Art von Geringschätzung für das rein ökonomische Gebiet, dessen 
relativ geringer Umfang nun klar ist. Das verhinderte nicht, daß sich die Oekonomik 
auch weiter als eine Spezialdisziplin entwickelte, aber es erschwerte ihren Weg und 
ihr Verständnis seitens weiterer Kreise und entzog ihr Arbeitskräfte. Das tritt schon 
äußerlich hervor, aber tatsächlich ist es noch mehr der Fall: Nationalökonomen, 
die der theoretischen Oekonomik erklärtermaßen ganz ferne stehen, sind selten, 
aber jene, deren Beziehung zu ihr nur eine lose ist und nur in der Kenntnisnahme und 
Beurteilung gewisser Grundzüge besteht, sind die Mehrheit, jene, die sich mit ganzer 
Energie mit ihr beschäftigen, eine kleine Minorität. Das ist wesentlich zum Ver¬ 
ständnis des Gangs der theoretischen Oekonomik in dieser Epoche. 

Das neue Ferment, das die Theorie von heute in ihrem inneren Räderwerk zu 
-etwas anderem macht als die der Klassiker war und das die Seele jenes Auf¬ 
schwungs bildet, ist die sog. Grenznutzenlehre. Anklänge an die von ihr ausgestal¬ 
teten Gedanken finden wir sehr weit zurück, schon bei den Scholastikern (z. B. Biel) 
und dann im Naturrecht (z. B. bei Pufendorf). Das ist ganz verständlich, da wie 
fast alle wissenschaftlichen „Grundgedanken“ auch der der Grenznutzenlehre an 
sich und ohne das, was sich an ihn anschließt, überaus einfach ist. Mehr finden wir 
bei Genovesi und Galiani, aber vor allem bei C o n d i 11 a c *). Im 19. Jahrhundert 

*) Le commerce et le gouvernement consider^s* relativement l’un ä Pautre 1776, eines 
der originellsten Werke des 18. Jahrhunderts. Als Nationalökonom steht Condillac auf den 

Sozialökonomik. I. 8 



114 I. Buch A 11: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. IV 

standen viele deutsche Nationalökonomen, vor allem v. Hermann, auf halbem Weg 
zur Grenznutzentheorie und hier finden wir in dem phantastischen aber großzügigen 
Buch von H. H. Gossen (Gesetze des menschlichen Verkehrs 1836) die erste mit 
dem Bewußtsein ihrer Bedeutung vorgetragene Formulierung der Grenznutzen¬ 
theorie, die völlig unbeachtet blieb. Kaum weniger Bedeutung kommt D u p u i t zu 
(zwei Artikel in den Annales des Ponts et Chauss6£s 1844 und 1849) und A. W a 1- 
ra s. Hierher gehört auch R. Jennings (Natural Elements of Political Eco¬ 
nomy 1855), bei dem sich ebenfalls das Gesetz der Bedürfnissättigung — inmitten 
einer Masse von wenig wertvollen Phrasen und Vorschlägen, worin der Autor Gossen 
merkwürdig gleicht— ausgesprochen findet und H. D. M c 1 e o d. Im sechsten Jahr¬ 
zehnt wurden dann jene Werke ausgearbeitet, die das System der Grenznutzen¬ 
lehre begründeten: Karl Menger’s Grundsätze der Volkswirtschaftslehre 
erschienen 1871, W. St. Jevons’ Theory of Political Economy wurde 1871 (nach¬ 
dem er schon im Jahre 1862 seine Grundgedanken in einem im Journal der R. Stat. 
Soc. publizierten Vortrag dargelegt hatte), L6on Walras’ Elements d’6conomie 
politique pure 1874 (Die entscheidenden Punkte schon in einem Memoir 1873) veröffent¬ 
licht. Es folgten im achten Jahrzehnt v. Böhm-Bawerk (Grundzüge der Theorie 
des wirtschaftlichen Güterwerts, Conrads Jahrb. 1886; Kapital und Kapitalzins. 
2 Bde. in erster Auflage 1884 und 1888, I. Bd. zweite Auflage 1902, II. Bd. dritte 
Auflage 1912 und v. W i e s e r (Ursprung und Hauptgesetze des wirtschaftlichen 
Wertes 1884; Der natürliche Wert 1889). 

Diese Richtung traf in ihren Anfängen etwa folgende Verhältnisse im Kreise 
der Theoretiker an: In Frankreich herrschte eine Richtung, die geradenwegs von 
Say abstammte und daher von vornherein der Grenznutzentheorie nicht schroff 
gegenüberstand. Die meisten Autoren wie z. B. Block (Progres de la Science 6con. 
depuis A. Smith 1891), Molinari, Y. Guyot, Leroy Beaulieu usw. 
nahmen deren Grundprinzip anstandslos auf, allerdings mit einer gewissen Apathie, 
die es zunächst zu keiner Weiterentwicklung kommen ließ und mit ausdrücklichen. 
Verwahrungen gegen Walras’ mit Mißtrauen betrachtete Mathematik, welches 
Mißtrauen diesen letzteren für lange ganz einflußlos machte. In Deutschland hätte 
man ähnliches erwarten können, aber jene Richtung, deren Höhepunkt Hermann 
und Thünen waren, hatte um jene Zeit ihre Stellung eingebüßt unter dem Eindruck der 
Werke von Rodbertus und Marx, der auch eine Renaissance Ricardos zur Folge hatte: 
Es entwickelte sich schnell eine orthodoxe Marxschule unter der Führung von Engels 
und Kautsky und auch die ihr nicht angehörigen, sich für Theorie interessierenden 
Geister wandten sich wesentlich an Rodbertus und die englischen Klassiker, vor 
allem an Ricardo. Sie erblickten in der Grenznutzentheorie eine Neuerung zweifel¬ 
haften Wertes und nahmen einen prinzipiellen Kampf gegen sie auf. Dabei gehörten, 
ihnen die Sympathien der nicht primär an der theoretischen Arbeit teilnehmenden 
Fachgenossen, die einem neuen theoretischen Gebäude nicht günstig gegenüber¬ 
standen, während sie bei aller prinzipiellen Gegnerschaft das alte doch in seiner 
historischen Rolle würdigten. In England hatte der Angriff Jevons’ auf Ricardo 
und Mill die Theoretiker zunächst nur verstimmt und gerade bewirkt, daß sich die 
wenigen — und wenig angesehenen — Vertreter der klassischen Theorie nur um so 
fester um jene beiden Namen rallierten, wenn er auch in weiteren Kreisen Beifall fand, 
freilich fast nur für die Tatsache des Angriffs an sich. Nur die italienische Nationalöko¬ 
nomie, der ja von früher die Gedanken der Grenznutzentheorie nahelagen und bei der 
keine starke „eingeborene“ Richtung zu überwinden war, und die amerikanische, in der 
gerade Careys Einfluß abflaute und so ein Raum geschaffen war, akzeptierten die neue 
Lehre nach einiger Zeit im großen und ganzen ohne weiteres und begannen bald mit 
einer in vielen Beziehungen originellen Ausarbeitung. Dasselbe taten die Niederländer. 

Schultern der Physiokraten, deren Lehre er gerade in ihrem schwächsten Punkt, der Wert¬ 
theorie glücklich ergänzt. Doch hatte das Buch nur geringen äußern Erfolg, ebenso wie 
Isnard’s trait£ des richesses 1781, der auf gleicher Stufe steht. 



IV. Historische Schule und Grenznutzentheorie. 


115 


. Schon dieser Empfang und dann die weitere Entwicklung der Dinge erklären 
sich daraus, daß die Grenznutzenlehre nicht durch eine breite Bewegung auf 
wohlvorbereitetem Boden sondern durch die Tat einiger hervorragender Männer 
entstanden war, die sich nur schwer durchsetzen und nur langsam daran gehen 
konnten einen Schülerkreis heranzuziehen. Sie hatten vereinzelt und durch die 
bloße Kraft des geschriebenen Arguments die Gleichgültigkeit oder Gegnerschaft 
großer festgeschlossener und einheitlich geführter Kreise zu überwinden. Der „in- 
tellektualistische Irrtum“, der bei der Betrachtung der Geschichte einer Wissen¬ 
schaft so nahe liegt, täuscht uns leicht darüber, daß ohne äußere Mittel sich eine 
neue Richtung nur sehr schwer durchsetzen kann, weil ihre Gedanken ohne solche 
keinem hinlänglich großen Kreis potentieller Schüler in der kurzen Periode ihrer 
Bildsamkeit bekannt werden und der tägliche literarische Kleinkrieg aus Mangel 
an einer entsprechenden „zweiten Linie“ nicht geführt werden kann '). Besonders 
in Deutschland und Frankreich kam mit Rücksicht auf die Bedeutung, die die aka¬ 
demische Lehrtätigkeit im wissenschaftlichen Leben dieser Länder spielt, auch das 
Moment in Betracht, daß die Anhänger Walras* von französischen und die Mengers 
von deutschen Lehrkanzeln ziemlich ausgeschlossen waren 2 ). So wird es verständ¬ 
lich, daß einer langen Periode der Nichtbeachtung eine solche einer Bekämpfung 
der Grenznutzentheorie folgte, die auf einem nicht völlig ausreichenden Eingehen 
in dieselbe und zum Teil gerade auf Mißverständnissen beruhte. Während der letz¬ 
teren setzten sich gewisse Schlagworte fest, die nicht nur weiteren Kreisen, soweit 
sie überhaupt von der Existenz der Grenznutzenlehre erfuhren, sondern auch den der 
Theorie ferner stehenden Fachgenossen abschließend zu sein schienen und es fast 
unmöglich machten, einen unvoreingenommenen Hörer- oder Leserkreis zu finden. 
Dazu gehörte z. B. der Vortfurf des „Manchestertums“, an dessen Erfolg die Tat¬ 
sache nichts zu ändern vermochte, daß die Grenznutzenlehre inhaltlich mit jener 
wirtschaftspolitischen Richtung nichts zu tun hat und von ihren Begründern zwei 
recht weitgehende sozialpolitische Anschauungen vortrugen, während der dritte. 
Walras, ein Sozialist, wenn auch kein orthodoxer, war. Auch erschwerte der begon¬ 
nene Kampf die Annahme der Grenznutzenlehre auch dann, als nähere Bekanntschaft 
mit ihr vielen ein günstigeres Urteil nahegelegt hatte, und er führte weiter zur Auf¬ 
rechthaltung formaler Proteste, auch wenn nichts mehr die Streitenden trennte, 
und zur übertreibenden Betonung nebensächlicher Differenzpunkte. Diese Diskus¬ 
sion der prinzipiellen Richtigkeit der Grenznutzenlehre, von der hier nur die Kon¬ 
troverse zwischen v. Böhm-Bawerk und Dietzel 8 ) genannt werden kann, dauert noch 
heute fort. Doch seit längerer Zeit steht nicht mehr sie, sondern die Diskussion der 


*) Es ist lehrreich, die Art wie sich solche Umwälzungen sonst vollzogen, zum Vergleich 
heranzuziehen. Auf unserem Gebiet sind die Physiokraten das beste Beispiel. Sie hatten 
zunächst nur einen ganz kleinen Pariser Kreis zu erobern, wozu sie sehr günstig postiert waren 
und das allgemeine Prestige französischer Literatur half dann nach außen von selbst weiter. 
Ein großes Beispiel aus einem andern Gebiet ist die Art der Durchsetzung des Evolutions¬ 
gedankens: Der Stratege der Bewegung war Ly all. Er wartete nicht nur ab, bis alle ent¬ 
scheidenden Waffen wohl ausgearbeitet waren, sondern es wurde auch beschlossen, als ersten 
Sturmbock die Geologie zu wählen, wegen ihrer verhältnismäßigen Unschuld. Persön¬ 
lich wandte er sich an die leitenden englischen — ob auch an fremde, weiß ich nicht — Geo¬ 
logen des Tages und überzeugte oder „neutralisierte“ die meisten, was speziell auf englischem 
Boden besonders gut möglich ist. Und dann feuerte er los — sofort mit durchschlagendem 
Erfolg. — Den drei Begründern der Grenznutzentheorie lag solche Strategie fern. Und selbst 
wenn Lust, so hätten sie nicht die Möglichkeit dazu gehabt. Ihre Zeitgenossen hielten denn 
auch ruhig an dem Hergebrachten fest. 

*) Die Vertreter der Grenznutzentheorie pflegt man auch mit dem Namen der „öster¬ 
reichischen Schule“ zu bezeichnen. Allein zunächst bildeten sie auch in Oesterreich eine kleine 
Minorität, die energischem Widerstand begegnete. 

s ) Dietzel eröffnete den Angriff in seiner Arbeit: Die klassische Werttheorie und die 
Theorie vom Grenznutzen, Conrads Jahrb. N. F. 20, darauf entgegnete zunächst Zucker- 
k a n d 1 unter dem gleichen Titel im folgenden Band ders. Zeitschrift. Dann erschien, ebenda, 
v. Böhm-Bawerks, Ein Zwischenwort zur Werttheorie, darauf Dietzels, Zur 

8* 



116 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. IV 

Bedeutung und des Anwendungsgebiets derselben im Vordergrund. Und auch ihre 
Höhe ist überschritten und die stillschweigende Hinnahme der Grenznutzenlehre 
wird immer häufiger. Zunächst trat dieser Umschwung in England ein, und zwar 
hat vor allem A. Marshall, der, allerdings nur auf dem engeren Gebiet der Oekonomie, 
Mill in der Führerstellung folgte, die englische Theorie schonungsvoll und langsam 
aber um so wirksamer in die neue Bahn gelenkt. Er hat den Klassikern stets Sym¬ 
pathie und Achtung gezeigt und Jevons und die Oesterreicher kühl und kritisch 
betrachtet. Walras nur selten genannt. Allein tatsächlich hat er deren und besonders 
Walras’ ganze Lehre übernommen, sodaß man jene Punkte, in denen er von ihnen 
abweicht, weglassen könnte, ohne daß auch ein aufmerksamer Leser eine Veränderung 
merkte. Nur die Form, nicht das Wesen der klassischen Betrachtungsweise und 
der charakteristischen klassischen Sätze finden wir bei ihm. Und die Fühlung 
mit den Klassikern wird nur dadurch so eng erhalten, daß er ihre Lehren uminter¬ 
pretiert. Um so vollständiger und mit um so geringerem Widerstand vollzog sich 
der Wechsel des Standpunkts, wenngleich ein ausdrücklicher Anschluß an die Grenz¬ 
nutzenlehre mit ausdrücklicher Absage an die Klassiker nur von Seiten P.H.Wick- 
s t e e d s erfolgte *). Dann wandten sich der Grenznutzenlehre die Mehrheit der 
holländischen 2 ), und mehrere dänische und schwedische Theoretiker zu, und end¬ 
lich kam sie auch zu lebendiger Wirksamkeit in Frankreich s ) und führte dort zu einer 
Erneuerung der theoretischen Arbeit. Besonders in Amerika 4 ) und in Italien 6 ) 
entwickelte sich endlich eine reiche Lehrbuchliteratur der Grenznutzenlehre. 

Für die Gestaltung der Dinge in Deutschland bedeutete es sehr viel, daß v. P h i- 
lippovich die Grenznutzenlehre in seinem Grundriß vertrat, in dessen Rahmen 
sie auch der Theorie fernerstehenden Oekonomen bekannt wurde. Auch der Erfolg 
in außerdeutschen Ländern wirkte zu ihren Gunsten, wenn er auch dem Nichttheo¬ 
retiker, der auf die prinzipiellen Erklärungen der einzelnen Autoren angewiesen ist, 
geringer erscheinen mußte als er war. Dennoch beschränkt sich der Kreis ihrer unbe¬ 
dingten Vertreter in Deutschland so ziemlich auf die österreichische Schule (ich nenne 
noch R. Zuckerkandl, R. Meyer, V. Mataja, E. Sax, R. Schüller). Aber die prinzipielle 
Gegnerschaft flaute ab, wenngleich sie bis heute nicht aufhörte und es bildete sich 
im kleinen Kreis deutscher Theoretiker jener Standpunkt heraus, den man nicht 
unzutreffend als „eklektisch“ bezeichnete und der sich etwa dahin charakterisieren 
läßt, daß man das Grundmoment der Grenznutzenlehre in die Wert- und zum Teile 
auch in die Preistheorie aufnahm, im übrigen aber an älteren Auffassungen festhielt. 
Hierher gehört A. Wagner (Allgemeine oder theoretische Volkswirtschaftslehre 
1876, 79, 92 fg.), der Rodbertus und v. Schäffle als jene Autoren bezeichnet, die ihm 
am nächsten stehen und der der Grenznutzenlehre ein beschränktes Gebiet zuweist. 
Wir hatten bisher wenig Gelegenheit von Schäffle zu sprechen. In der Tat ist es 

klassischen Wert- und Preistheorie, ebenda, dritte Folge, I. Bd. und als Entgegnung darauf 
v. Böhm-Bawerks, Wert, Kosten und Grenznutzen, ebenda III. Bd., die wichtigste 
polemische Leistung der österreichischen Schule. 

x ) The Alphabet of economic Science, essay on the coordination of the laws of distribution, 
Common sense of political economy. Ganz ähnlich, wie die Marshalls, ist die Stellung Edge- 
worth’ zu charakterisieren, immerhin steht dieser den Klassikern um eine Nuance näher. Die 
meisten englischen Theoretiker wären hier zu nennen, so besonders A. C. P i g o u. 

*) Als führender Nationalökonom ist N. G. P i e r s o n zu bezeichnen (Leerboek der 
staathuishoudkunde 1884—90, engl. Uebers. u. d. T. Manual of Political Economy). Ihm 
folgten Heymans, d'Aulnis, Beaujon, Harte, Falkenburg, Verijn Stuart u. a. 

*) G i d e, L a n d r y, C h. R i s t. 

4 ) Unter den amerikanischen Nationalökonomen stehen manche, wie Fetter, Patten, 
Fisher sans phrase auf dem Boden der Grenznutzentheorie, mit unwesentlichen Einschrän¬ 
kungen auch Clark, Seligman, Commons, Davenport, Seager, tatsächlich auch Taussig. Weiter 
ab stehen Ely u. a., als Gegner sind Veblen u. a. zu nennen. 

*) Die leitenden Nationalökonomen, vor allem Pareto und Pantaleoni, sind „Grenz¬ 
nutzentheoretiker“. Zu dieser Gruppe gehören auch Graziani, Ricca-Salerno, Cossa, Mazzola, 
Conigliani, Barone; Gegner: Loria, Supino u. a. Vgl. v. Schullern-Schrattenhofen: 
Die theoretische Nationalökonomie Italiens in neuester Zeit, 1891. 



IV. Historische Schule und Grenznutzentheorie. 


117 


schwer, diese kraftvolle Gestalt in eine Dogmengeschichte einzureihen. Er hat die 
meisten Strömungen der Zeit, die sozialpolitische, die historische, die soziologische 
in sich aufgenommen und er war auch ein ökonomischer Theoretiker. Ueberall hat 
er sehr glücklich dargestellt, originell formuliert und systematisiert, aber er war kein 
eigentlicher tiefgrabender Forscher (vgl. Schmoller, Zur Literaturgeschichte 
der Staats- und Sozialwissenschaften, Fabian-Sagal, Albert Schäffle und 
seine theoretisch-ökonomischen Lehren). Seine Hauptwerke (Nationalökonomie 
1861; Gesellschaftliches System der menschlichen Wirtschaft 1867 und 1873; Kapi¬ 
talismus und Sozialismus 1870 und 1878; Bau und Leben des sozialen Körpers 1875/8, 
1896/7) haben überaus anregend gewirkt, aber es wäre schwer, auch nur ein einziges 
bleibendes Resultat, auch nur eine einzige zugleich originelle und fruchtbare Auf¬ 
fassungsweise daraus anzugeben. Eklektisch ist auch der Standpunkt Lexis’ 
(zuletzt: Allgemeine Volkswirtschaftslehre 1910), der der Theorie überhaupt die¬ 
selbe Skepsis entgegenbringt, die sich gegenüber der Wirtschaftsgeschichte in seinem 
Werke über die französischen Ausfuhrprämien bemerkbar macht, und über die theo¬ 
retischen Grundprobleme so schnell wie möglich zu praktischen Fragen hineilt. 
In seiner Volkswirtschaftslehre finden wir die Grenznutzenlehre einem wesentlich 
auf klassischem Material beruhenden Gebäude oder doch einem Gebäude angefügt, 
das aus einem durch Kritik der Klassiker gewonnenem Material besteht. Auch D i e h 1, 
dessen wichtigste Arbeiten schon genannt wurden, gehört hierher (vgl. auch seine 
Arbeit in der Schmollerfestgabe), ebenso v. Bortkiewicz. Diese Beispiele 
mögen genügen. Alles in allem entrollt sich das Bild einer unbehaglichen Ueber- 
gangsperiode mit vorwiegend kritischen Dispositionen. Was an positiv gestimmtem 
Elan vorhanden war, das verbrauchte sich meist in Versuchen, neue Grundlagen 
für die Theorie zu finden. Doch kann hier nicht näher auf die neueste Phase der 
Entwicklung eingegangen werden. 

9. Das Lehrsystem der modernen Theorie wird in diesem Werk an anderer Stelle 
dargelegt. Hier kann es sich nur um eine Vervollständigung unserer dogmenhisto¬ 
rischen Uebersicht handeln. Das allgemeine Bild des Wirtschaftsprozesses der Grenz¬ 
nutzenlehre, also namentlich die unterschiedenen Typen von Wirtschaftssubjekten 
und deren Rollen, ist nicht wesentlich vom klassischen verschieden, aber die Grenz¬ 
nutzenlehre legt das Hauptgewicht auf eine Problemgruppe, über die die Klassiker 
allzu leicht hinwegglitten, nämlich auf die Grundlagen der Wert- und Preisbil¬ 
dung. Die Klassiker, und besonders die Ricardogruppe, begnügten sich damit, auf 
die Wirkung der freien Konkurrenz hinzuweisen und als deren Resultat ein be¬ 
stimmtes Gesetz der Wert- und Preis große aufzustellen. Damit bewaffnet griffen 
sie direkt nach großen objektiven Tatsachen und Tendenzen, wie die durch das Be¬ 
völkerungsgesetz oder das Gesetz vom abnehmenden Bodenertrag gegebenen, Weizen¬ 
preis, Arbeiterzahl usw., die sie zu einem Bild von den konkreten Bewegungsgesetzen 
der Preise und Einkommen zusammenzuschweißen suchten. Die Grenznutzen¬ 
lehre suchte vor allem die aus den Grundtatsachen des Wirtschaftens sich ergebenden 
Kategorien von Vorgängen im Detail zu untersuchen, ohne zunächst weitere kon¬ 
krete Daten einzuführen. Sie stellte die Erklärung des Wesens der Preisbildung 
und der Einkommenszweige in den Vordergrund und war so von allem Anfang an 
anders orientiert als die klassische Theorie. So entstand eine andere, viel „reinere“, 
Oekonomik, die viel weniger konkretes Tatsachenmaterial enthält und daher auch 
viel weniger kurzgefaßte praktische Resultate bietet, aber ungleich fester begründet 
ist. Auch zeigte sich von dem neuen Standpunkt viel deutlicher der gegensei¬ 
tige Zusammenhang der einzelnen Größen der Oekonomie und die Unhaltbarkeit 
vieler starrer Kausalketten der Klassiker und der naiven Auffassung, daß es nur auf 
die großen objektiven Tatsachen ankomme, in dem Vorgang der Preisbildung aber 
nichts sehr Relevantes enthalten sei. Weiter verzichtete die Grenznutzenlehre ganz 
auf die Durchschnitte und Annäherungen, die der klassischen Lehre so viel Schein 
von Präzision gegeben hatten. Alles das ist nicht bloß eine Ergänzung, sondern schon 



118 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. IV 

eine Korrektur des klassischen Bildes der Wirtschaft. Allein diese Korrektur machte 
manche klassischen Resultate bedeutungslos und erwies andere als falsch, ohne daß 
ähnliche kurze Sätze an ihre Stelle treten konnten. Viel klarer als die Klassiker 
sahen die Vertreter der Grenznutzenlehre von ihrem Standpunkt, daß „praktische“ 
Resultate von den konkreten Daten abhängen, die von Fall zu Fall dem Tatsachen¬ 
material des Orts und der Zeit zu entnehmen und nicht ein für allemal in bestimmter 
Weise festzulegen sind. Und diese Erkenntnis, die ja sicher Selbstbescheidung ge¬ 
bietet, wurde im Munde der Gegner zum Vorwurf der „Unfruchtbarkeit“ der Grenz¬ 
nutzenlehre. 

Der zweite wesentliche Unterschied zwischen der neuen und der alten Theorie 
ist der Verzicht auf das Moment der Arbeitsmenge als Regulators und Mäßstabs 
des Güterwerts — von anderen „Kostentheorien“ nicht zu reden — und das 
Voranstellen und Durchführen des Gesichtspunkts des Gebrauchswerts. Diese Basie- 
rung der Oekonomik auf die „subjektive Wertlehre“ hat vier Vorteile. Sie ist rich¬ 
tiger, weil die verschiedenen Kostentheorien bestenfalls nur angenähert gelten und 
das Kostenphänomen niemals in seinem tatsächlichen Erklärungsgrund verankern. 
Sie ist einfacher, weil namentlich die Arbeitswerttheorie eine Reihe von Hilfskon¬ 
struktionen nötig macht, die nun einfach wegfallen. Sie ist allgemeiner, weil alle 
Kostentheorien sich zunächst nur auf unter der Herrschaft freier Konkurrenz er¬ 
zeugte und zum Teil auch nur auf „beliebig vermehrbare“ Güter beziehen, auch nur 
für Perioden einer gewissen Länge gelten, während die subjektive Wertlehre in 
gleicher Weise monopolisierte und nicht monopolisierte, vermehrbare und nicht 
vermehrbare Güter, lange wie kurze Perioden umfaßt. Sie macht endlich die Re¬ 
sultate der Oekonomik relevanter, denn für die meisten Fragen ist der Stand 
der Bedürfnisbefriedigung und seine Veränderungen viel wichtiger als die in den 
Gütern, deren Konsumtion diese Befriedigung auslöst, enthaltene Arbeitsmenge und 
deren Veränderungen. 

Der Gebrauchswert wird von der Grenznutzenlehre als individualpsychische 
Tatsache hingenommen und es wird über ihn an sich nichts anderes ausgesagt, als 
das von Bernoulli, Gossen, Jennings und andern „Vorläufern“ formulierte Gesetz 
der Bedürfnissättigung *). Dieses Ausgehen von einer individualpsychischen Tat¬ 
sache führte zu zwei Gruppen von Einwendungen. Erstens zur Erhebung der all¬ 
gemeinen Einwände gegen Individualismus und Atomismus speziell gegen diese 
Richtung. Dabei wurde zwischen politischem Individualismus, der Ansicht, daß 
die Individuen unabhängige Ursachen der nur eine Resultante darstellenden sozialen 
Erscheinungen seien und dem bloßen Ausgehen vom Individuum für die Zwecke der 
reinen Oekonomik nicht hinlänglich unterschieden. Die Vertreter der Grenznutzen¬ 
theorie verhielten sich dieser Einwendung gegenüber nicht in gleicher Weise. Manche 
ignorierten sie, andere suchten ihre Richtigkeit oder Bedeutung im Prinzip zu be¬ 
streiten, noch andere suchten sie durch tunlichste Betonung des sozialen Moments 
zu berücksichtigen. Unter den letzteren ist besonders jene Gruppe hervorzuheben, 
welche vom sozialen Gebrauchswert spricht und die Wertungen der sozialen Gruppe 
gegenüber denjenigen des Individuums hervorhebt (v. Wieser, ähnlich die Clark¬ 
schule). Wir können auf den Inhalt dieser Diskussionen nicht eingehen. Es sei nur 
noch erwähnt, daß eine besondere Spielart dieser Einwendung der besonders von 
marxistischer Seite erhobene Vorwurf ist, die Grenznutzeptheorie sei nichts anderes 
als eine Beschreibung der Denkweise des Unternehmers und versperre sich durch 
ihren individuellen Ausgangspunkt den Ausblick auf die großen objektiven Be¬ 
dingungen und Resultate des Wirtschaftsprozesses 2 ). Zweitens wurde der Ausgangs- 

*) Dieses Gesetz wurde — mit Recht oder Unrecht — mit dem „psychophysischen“ Grund¬ 
gesetz in Zusammenhang gebracht. Darüber M. W e b e r , Die Grenznutzlehre und das psy¬ 
chophysische Grundgesetz, Archiv f. Sozialwissenschaft 1908. 

*) Aber, so hat v. Bortkiewicz in seiner zit. Arbeit über Marx mit Recht gesagt, 
die kapitalistische Rechnungsweise mag noch so „abgeschmackt“ sein, ihre Bedeutung für die 



IV. Historische Schule und Grenznutzentheorie. 


119 


punkt der Grenznutzenlehre zum Anlaß, sie mit psychologischem und philosophischem 
Hedonismus in Zusammenhang zu bringen. Ihre Vertreter werden vielfach „Hedo- 
nisten“ genannt. Darin liegt zunächst der Vorwurf, psychologische Betrachtungs¬ 
weisen in die Oekonomik hineingezogen zu haben. Sodann der Vorwurf, eine ver¬ 
altete und verfehlte Psychologie zu treiben. Die meisten Grenznutzentheoretiker 
versuchten demgegenüber geltend zu machen, daß das bloße Ausgehen von einer 
psychischen Erfahrungstatsache noch nicht „Psychologie treiben“ heißt, andere such¬ 
ten sich von jeder Behauptung über psychisches Geschehen freizumachen und streng 
von äußerlich zu beobachtenden wirtschaftlichen Grundtatsachen auszugehen '). 
Nur wenige zeigen eine Beziehung zum Utilitarismus, darunter vor allem Jevons. 
Aber man könnte an die Stelle seines utilitarischen Glaubensbekenntnisses einen 
Protest gegen den Utilitarismus setzen ohne deshalb eines seiner ökonomischen Re¬ 
sultate aufgeben zu müssen. Der Vorwurf gegen die Art von „Psychologie“, die 
man in den Arbeiten der Grenznutzentheoretiker findet, bezieht sich ferner auf 
deren rationalistischen Charakter. Ihr geht eine Richtung in der Fachpsycho¬ 
logie neuestens parallel (Meinong, Ehrenfels u. a.). 

Innerhalb der Grenznutzentheorie macht sich eine Spaltung bemerkbar, die auf 
einen klassischen Einfluß, der bei Senior und Cairnes ankert, zurückgeht. Während 
nämlich die österreichische Schule lediglich das Moment des Gebrauchswerts der 
Produkte zur Basis der Erklärung macht, hat schon Jevons neben dasselbe das Mo¬ 
ment des „Arbeitsleids“ (disutility) als zweiten Hebel der Bildung des Güterwerts 
gestellt im Anschluß an seine Grundauffassung von der Oekonomie als „calculus 
of pleasure and p a i n“. Und manche Spätem, besonders Marshall, haben noch das 
Moment des „Warten müssens“ hinzugefügt, Seniors Abstinenz. Diese Auffassung 
herrscht in England und Amerika (vgl. außer Marshall noch Edgeworth: Prof. 
Böhm-Bawerk on the ultimate Standard of value, Econ. Journal 1897, und Clark: 
The ultimate Standard of value, Yale review 1892), aber sie steht, wenn auch zweifel¬ 
los in ihr ein Ueberrest der Kostentheorie zu sehen ist, bei diesen Autoren auf dem 
gleichen prinzipiellen Boden, wie die reine Gebrauchswerttheorie und begründet 
höchstens für das Zinsproblem eine erheblichere Differenz 2 ). 

In Zusammenhang mit den Erörterungen über die Zulässigkeit resp. Möglich¬ 
keit der Einführung psychischer Größen in die Oekonomik stand die Frage eines 
Wertmaßes, die in dem Moment wesentlich wurde, in dem die Theorie das schöne 
objektive Arbeitsmaß sich entgleiten sah. Schon vor Smith war die Frage eines 
Maßes des Tauschwerts erörtert und es war erkannt worden, daß es einen in sich 
unveränderlichen Maßstab nicht geben könne. Diese Erkenntnis trugen dann alle 
Klassiker vor, während die alten Gebrauchswerttheoretiker, wie z. B. Say, daran 
festhielten, den Tauschwert eines Guts einfach der Warenmenge gleichzusetzen, 
die man auf dem Markt dafür erhalten kann. Aber die Messung des Gebrauchs¬ 
werts wurde einfach für unmöglich gehalten, obgleich doch sicher in der Wirklichkeit 
ein Jeder Werte von Gütern miteinander vergleicht. Die psychische Werttheorie 
schien nun einen solchen Gebrauchswertmaßstab auch in der Wissenschaft notwendig 


kapitalistische Wirklichkeit ist darum nicht geringer. Es ist ferner schon wiederholt hervor¬ 
gehoben worden, daß auch Marx’ Gedankengang von bestimmten Annahmen über indivi¬ 
duelles Verhalten abhängig ist, die sich am natürlichsten in individualpsychologischer Sprache 
ausdrücken lassen. 

*) So Pareto, Barone, Auspitz und Lieben u. a. Schon Dietzel hat gegenüber v. Wieser 
die Grenznutzentheorie als „Psychologie“ für nicht in die Oekonomik gehörig erklärt. Vgl. 
über diesen Punkt v. Wieser, Das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen National¬ 
ökonomie, Schmollers Jahrb. 1911; von Böhm-Bawerk in der dritten Auflage seiner 
Positiven Theorie, 1912, S. 310 f.: „Hedonismus und Werttheorie“ und „Wertgrößen und 
Gefühlsgrößen“. Die meisten Einwendungen gegen die Psychologie der Grenznutzentheorie 
finden sich zusammengefaßt in Lifschitz’ Arbeit: Zur Kritik der Böhm-Bawerkschen 
Werttheorie, 1908; vgl. darüber meine Rezension in der Zeitschr. f. Volksw., Sozialpol. und 
Verw. 1910. 

Ä ) Vgl. v. Böhm-Bawerk, Exkurs IX in der 3. Aufl. der Positiven Theorie. 



120 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. IV 

zu machen. Dagegen erhoben sich nun Bedenken gegen die prinzipielle Meßbarkeit 
von „Intensitätsgrößen“ und besonders gegen die Vergleichung von Wertungen 
verschiedener Personen. Allein die letztere ist überhaupt nicht nötig und bei der 
Messung der Wertungen ein und derselben Person kann man auf dem Boden beob¬ 
achtbarer Tatsachen bleiben, wenn man von der Formulierung ausgeht: Der Wert 
einer Menge eines Guts für jemand ist gemessen durch jene Menge eines andern 
Guts, welche dem Wirtschaftssubjekt die Wahl zwischen beiden gleichgültig macht 
(Fisher, Mathematical investigations into the theory of prices 1892). Diese 
Basierung der Wertmessung auf Wahlakte der Individuen gewinnt immer mehr 
Anhänger (Pareto, Boninsegni u. a.). Aber man kann die Schwierigkeiten des Pro¬ 
blems auch anders überkommen 1 ). 

Das erste, worum es sich der Grenznutzentheorie handeln mußte, und das, worin 
ihre fundamentale Leistung besteht, auf der alles andere beruht, ist der Nachweis, 
daß trotz des gegenteiligen Anscheins die Tatsache des Bedürfnisses und die auf ihr 
beruhende Nutzwirkung der Güter alle einzelnen Vorgänge der Wirtschaft beherrscht. 
Da war zunächst die alte Wertantinomie, der Gegensatz zwischen Nutzen und Wert 
zu behandeln. Das war schon geschehen. Die Unterscheidungen zwischen Be¬ 
dürfniskategorie und Bedürfnisregung und zwischen dem Gesamtwert eines Vorrats 
und Werten der den Vorrat eines Wirtschaftssubjekts bildenden Teilmengen hilft dar¬ 
über hinweg. Hier liegt die Bedeutung des Begriffs des „ Grenznutzens* * 2 ). Dann waren 
alle Tatsachen der Preisbildung durch das Grundprinzip zu erklären. Zwar daß 
jene, auf denen die „Nachfrageseite“ des Preisproblems beruht, durch dasselbe zu 
erklären seien, war nie zweifelhaft gewesen und meist als selbstverständlich betrachtet 
worden. Aber erst die Grenznutzentheorie hat die „Angebotsseite“ des Problems 
auf dasselbe gestützt und die Kosten als Werterscheinungen begriffen. Dabei 
lag die entscheidende — von der Kritik meist übersehene — Leistung in dem 
Nachweis, daß die im Wirtschaftsleben so beherrschend hervortretende Schätzung 
der Güter nach ihren Kosten nur eine vom praktischen Leben vorgenommene Kürzung 
des tatsächlichen Zusammenhangs ist, daß dieser Zusammenhang sich durch das 
Moment des Gebrauchswerts erklärt, daß die Berechnungen des Unternehmers 
nur der Widerschein von Wertungen der Konsumenten sind und daß dort, wo ein 
Gut von jemand nach dem Gebrauchswert der Güter, die sich der Betreffende dafür 
auf dem Markt verschaffen kann — subjektiver Tauschwert —-, geschätzt wird, 
diese „Tauschfähigkeit“ und damit der subjektive Tauschwert auf alternativen Ge¬ 
brauchswertschätzungen beruht. Das führte zu einer einheitlichen Erklärung aller 
Vorgänge der Verkehrswirtschaft durch ein einziges Prinzip und namentlich auch zur 
Klarstellung des Verhältnisses zwischen Kosten und Preisen s ). Das klassische 
Kostengesetz — der Satz von der Tendenz nach Gleichstellung von Kosten und Erlös 


*) Vgl. Cu hei, Zur Lehre von den Bedürfnissen, 1907; darüber Exkurs X in von 
Böhm-Bawerks zit. Werk. 

*) Engl, marginal oder final utility, franz. raret6, utilit£ limite. Pareto hat den Aus¬ 
druck: ophelimitä 61ementaire geprägt, um die Nebenbedeutungen der Worte „Wert“ und 
„Nutzen“ auszuschließen. 

8 ) Es wurde wiederholt gesagt, daß die Grenznutzenlehre, weil sie von der Wertung gege¬ 
bener Gütermengen ausgehe, von dem Produktionsvorgang absehe und das Zustandekommen 
dieser Mengen nicht erklären könne. Allein die Annahme gegebener Gütermengen dient nur 
der einleitenden Demonstrierung des Grenznutzengesetzes. Auf einer weitern Stufe werden 
diese Gütermengen zu Unbekannten und die Untersuchung ihrer Bestimmungsgründe zum 
Hauptproblem, wie besonders klar in Walras* System hervortritt. Es wurde ferner gesagt, 
daß die Grenznutzenlehre die Werte der einzelnen Güter nur von deren Menge abhängig sein 
lasse und den Einfluß des Vorhandenseins anderer Güter auf sie vernachlässige. Auch das 
trifft nur für einleitende Erörterungen zu. Auf einer weiteren Stufe wird jeder Güterwert 
als Element der gesamten wirtschaftlichen Lage jedes Individuums behandelt, vgl. besonders 
Marshall und Pareto. Auch die Tatsache, daß Angebot, Nachfrage und Preis einander gegen¬ 
seitig beeinflussen, bildet keine Einwendung gegen die Grenznutzenlehre, wenngleich sie im 
Tone einer Einwendung vorgetragen zu werden pflegt. 



IV. Historische Schule und Grenznutzentheorie. 


121 


bei freier Konkurrenz — erhielt erst jetzt eine zwingende Begründung und seinen 
tiefem Sinn. — Wenn man daher das Ineinandergreifen von Angebot und Nachfrage 
mit dem Zusammenwirken der beiden Schneiden einer Schere verglich (Marshall), 
so lag darin solange kein Gegensatz zur Grenznutzenlehre, als beide auf dasselbe 
Moment begründet, d. h. die Kosten jeder Produktion dem Nutzeffekt jener Pro¬ 
duktionen gleichgesetzt wurden, die mit denselben Produktionsmitteln sonst noch 
möglich gewesen wären. (Opportunity cost, displacement cost) x ). Aber da die 
meisten englischen Autoren die „Angebotsseite“ des Problems auf das selbständige 
Moment von Arbeitsunlust und Genußaufschub stützen, so pflegt jene Formulierung 
meist im Tone einer Einwendung vorgebracht zu werden. Der durch diese Auf¬ 
fassung bewirkte materielle Unterschied gegenüber der reinen Gebrauchswerttheorie 
ist jedoch, wie gesagt, minimal. 

Auf dieser Grundlage entstand vor allem, was dem System der Klassiker fehlte, 
eine gründliche Preistheorie. Besonders von v. Böhm-Bawerk und Walras wurde 
sie geschaffen und seither ist sie sorgfältig ausgearbeitet worden. Wir können ihren 
Inhalt hier nicht darstellen und wollen nur hervorheben, daß sie abgesehen von 
zahlreichen Einzelleistungen (Monopoltheorie, Theorie der Steuerüberwälzung, der 
internationalen Werte, der Transporttarife) eine Gesamtauffassung des Wirtschafts¬ 
prozesses vermittelt, der gegenüber die klassische Theorie nur die Bedeutung einer 
einseitigen Hervorhebung spezieller Fälle hat. Das Ineinandergreifen der Indi¬ 
viduen und Funktionen im Organismus der Volkswirtschaft wurde durch sie zum 
erstenmal mit prinzipieller Klarheit und auf Grund eines einheitlichen Erklärungs¬ 
prinzips dargestellt. Freilich ist sie viel weniger „konkret“ als die Theorie der Klas¬ 
siker und nur, namentlich statistische, Tatsachensammlung kann ihr jene Bestimmt¬ 
heit der Daten geben, die nötig ist, um mehr als ein allgemeines Verständnis des 
Wesens des Wirtschaftsprozesses zu gewinnen. Dazu gibt es vorerst nur Ansätze. 
Aber das theoretische Gerüst ist ziemlich fertig. Wirklich bedeutende Gegensätze 
gibt es innerhalb dieser Preistheorie nicht mehr. 

Der Grundgedanke der Grenznutzentheorie zwingt seinen Vertretern keine 
bestimmte Stellung im Geldproblem auf und kann im Rahmen einer jeden verwertet 
werden: Die Eigenart des Geldproblems bringt es mit sich, daß auf demselben prin¬ 
zipiellen Boden verschiedene Lösungen desselben erwachsen können. Nach einer 
Richtung — charakterisieren wir sie, eine üblich gewordene Ausdrucksweise be¬ 
nützend als „metallistisch“ — wurde die Geldtheorie von C. M e n g e r (Art. Geld 
im H. d. St.) ausgearbeitet, auch Jevons und Pareto und viele -andere stehen auf 
diesem Boden. Aber außerdem (Walras, Wieser) hat sich eine andere Geldtheorie 
entwickelt, in der der „Stoffwert“ des Geldes eine ganz untergeordnete Rolle spielt 
und die die Wertbildung des Geldes aus seiner Stellung im Organismus der Volks¬ 
wirtschaft erklärt. Das hat in ihrer Art schon die Quantitätstheorie versucht, aber 
sie hat nur eine starre Näherungsformel von sehr geringem Erklärungswert aufge¬ 
stellt, während die erwähnte neue Theorie der Sache in ähnlicher Weise auf den 
Grund zu gehen sucht wie die moderne Werttheorie, die in einem ganz analogen 
Verhältnis zum klassischen Preisgesetz steht. Diese neue Theorie berührt sich mit 
einer allgemeinen Bewegung auf diesem Gebiet. Allmählich und geräuschlos — 
in England z. B. fast nur durch schrittweise Veränderungen der mündlichen Lehre 
— haben sich neue Auffassungen durchgerungen, die zu einer reichen Ernte geführt 
haben. Von ihnen sei Knapps „Staatliche Theorie des Geldes“ 1905 genannt, die 
weithin Aufmerksamkeit erregt hat. Während die systematische Literatur des 
Gegenstands noch vorwiegend auf dem alten Standpunkt steht, wie die Werke von 
Helfferich, Martello, Laughlin, Foville u. a. zeigen, hat die Diskussion von Währungs¬ 
fragen — Lexis, Lotz u. a. — nach und nach die Mehrzahl der Oekonomen dem 
neuen nähergebracht. 

x ) Vgl. Davenport, Value and Distribution, 1908. 



122 I. Buch All: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. IV 

Wie in der alten, so ist in der neuen Oekonomie die Verteilung das wichtigste 
Problem. Auch hier hat die Grenznutzentheorie ihren Grundgedanken gegenüber 
den klassischen Spezialerklärungen jedes Einkommenszweigs einheitlich zur Geltung 
gebracht. Damit trat sie das Erbe der „Theorie der produktiven Dienste“ an. Aber 
während diese an den Einwänden scheiterte, daß die „Anteile“ der einzelnen Pro¬ 
duktionsfaktoren im Produkt ununterscheidbar vermischt seien oder daß von solchen 
„Anteilen“ überhaupt nicht gesprochen werden könne, weil ja alle Produktions¬ 
mittel zur Erzeugung des Produkts in gleicher Weise nötig seien und eines ohne die 
andern eben nichts produzieren könne, und daß die produktiven Leistungen mit 
der Entlohnung der Besitzer der Produktionsfaktoren nichts zu tun haben, so gelang 
es nun mit Hilfe der Grenzanalyse nachzuweisen, daß mit dem Ausdruck „Produkt 
eines Produktionsfaktors“ ein präziser ökonomischer Sinn verbunden werden kann 
und daß die wirtschaftliche Praxis tatsächlich solche Anteile der einzelnen Pro¬ 
duktionsfaktoren unterscheidet. Das übrige, nämlich den Nachweis, daß der Wert 
der produktiven Beiträge der einzelnen Produktionsfaktoren wirklich die Grundlage 
der Einkommensbildung abgibt, leistete dann die Preistheorie. Zwar ist der Ein¬ 
wand von der Ununterscheidbarkeit von besonderen Beiträgen der Produktions¬ 
faktoren mitunter bis heute aufrecht gehalten worden. Im großen und ganzen 
aber kann man sagen, daß die Erklärung der Einkommenszweige und ihrer Größe 
durch das „Grenzprodukt“ der Produktionsfaktoren, besonders in der amerikanischen, 
englischen und italienischen, aber auch in der französischen Literatur zum der Dis¬ 
kussion entrückten Gemeinplatz geworden ist. Anders steht es mit der für die 
österreichische Gruppe der Grenznutzentheoretiker charakteristischen Zurechnungs¬ 
theorie (Menger, v. Wieser, v. Böhm-Bawerk), die die Brücke zwischen den Werten 
und Preisen der Produkte und denen der Produktionsmittel herstellen und die Regeln 
zeigen soll, nach denen der Produktwert auf den Produktionsmittelwert gleichsam 
zurückstrahlt. Aber obgleich wir darüber bei den andern Gruppen keine weitern 
Untersuchungen finden und der Ausdruck „Zurechnung“ nur nebenbei oder ablehnend 
erwähnt wird, finden wir doch überall das Wesen der Sache, so bei Marshall in dessen 
„Substitutionsprinzip“, bei Clark in dessen „Variationsgesetz“. 

In diesen Grundprinzipien gibt es kaum ernstere Differenzen, so wenig auch die 
fundamentale Einigkeit äußerlich hervortritt x ). Wohl aber gibt es solche in einem 
für unsem ganzen Einblick in den sozialen Wirtschaftsprozeß und die ökonomische 
Struktur der Gesellschaft geradezu entscheidenden Punkt, dem Problem des Ka¬ 
pitalzinses. Im Jahre 1884 erschien das kritische Werk v. Böhm-Bawerks, das nicht 
nur die Unhaltbarkeit, sondern auch die Oberflächlichkeit der vorhandenen Zinser¬ 
klärungen dartat und eine neue Aera für die Zinstheorie begründete. An ihm und der 
ihm vier Jahre später folgenden „Positiven Theorie“ haben sich zahllose Zinstheore¬ 
tiker gebildet und kaum einer ist davon unberührt geblieben. Von allen Werken 
der Grenznutzenlehre haben diese beiden Bände am tiefsten und weitesten gewirkt. 
Wir finden die Spuren ihres Einflusses in der Fragestellung und im Vorgehen fast 

*) ln der Lohn- und Rententheorie herrscht prinzipielle Ueberdinstimmung. Der Lohn 
ist gleich dem Grenzprodukt der Arbeit. Die Grundrententheorie hat sich von der Ricardia- 
nischen Form gewiß nicht vollständig emanzipiert, aber der charakteristische Satz vom Nicht¬ 
eintreten der Rente in den Preis hat seine Bedeutung verloren, so daß selbst bei Autoren, die 
an Ricardo formell festhalten wie Marshall, tatsächlich der Zusammenhang zwischen Boden¬ 
produktivität und Rente hergestellt ist. ln der neueren Theorie spielt der Rentenbegriff eine 
große Rolle. Da ja bei der Grundrente die Klassiker schon die Grenzanalyse anwandten, 
so erscheint mitunter die moderne Verteilungstheorie unter dem Gesichtspunkt einer Verall¬ 
gemeinerung der klassischen Grundrententheorie, nur daß das Gesetz des abnehmenden Grenz¬ 
nutzens an Stelle oder an die Seite des Gesetzes vom abnehmenden Ertrag tritt. Das gilt be¬ 
sonders für die amerikanische Theorie. Vgl. Johnson, Rent in modern Economic Theory 
(Am. Econ. Assoc. Publ. 1902); Fetter, The passing of the old rent concept (Quarterly 
Journal of Economics 1901); Clark, Distribution as determined by a law of rent (ebenda 
Bd. 5). Noch sei die Anwendung des Renten begriff s auf den subjektiven Nutzgewinn bei 
Tausch und Produktion erwähnt (Marshalls consumers surplus). 



IV. Historische Schule und Grenznutzentheorie. 


123 


aller modernen Zinstheoretiker, auch jener, die der konkreten Lösung des Zinspro¬ 
blems, die v. Böhm-Bawerk geboten hat, ablehnend gegenüberstehen. Diese Lösung 
beruht auf dem Grundgedanken, daß sich das Zinsphänomen aus einer Diskrepanz 
zwischen den Werten gegenwärtiger und künftiger Genußgüter erkläre, die sich auf 
drei Tatsachen stützt: Auf Differenzen zwischen dem gegenwärtigen und zukünf¬ 
tigen Versorgungszustand der Wirtschaftssubjekte, auf den Umstand, daß zukünf¬ 
tige Bedürfnisbefriedigungen dem Menschen weniger lebhaft vor Augen stehen als 
gleichartige aber gegenwärtige, weshalb das wirtschaftliche Handeln auf erstere 
weniger lebhaft reagiert und die Wirtschaftssubjekte eventuell bereit sind, gegen¬ 
wärtige Genüsse mit an sich größern künftigen zu erkaufen, und endlich auf die 
Tatsache, daß der Besitz genußbereiter Güter die Wirtschaftssubjekte der Notwen¬ 
digkeit überhebt, durch Augenblicksproduktion, etwa primitive Nahrungssuche, 
für ihren Unterhalt zu sorgen und es ihnen ermöglicht, ergiebigere aber zeitraubende 
Produktionsmethoden einzuschlagen, so daß gewissermaßen der Besitz genußbereiter 
Güter in der Gegenwart den Besitz von mehr solchen Gütern in der Zukunft 
verbürgt. In diesem „dritten Grunde“ der Zinserscheinung liegen zwei Elemente: 
Einmal die Konstatierung einer bisher der Theorie noch nicht bekannten technischen 
Tatsache, nämlich der Tatsache, daß die Verlängerung der Produktionsperiode, 
das Einschlagen von „Produktionsumwegen“, die Erzielung eines überproportional 
zur Zeit größern Ertrags ermöglicht, und die These, daß diese technische Tatsache 
auch eine selbständige Ursache einer Wertschwellung der jeweils gegenwärtigen 
Genußgüter sei. Der Zins als Einkommenszweig entsteht dann im Preiskampf 
zwischen den Kapitalisten, in denen gleichsam Händler mit genußreifen Gütern 
zu sehen sind, einer- und den Grundeigentümern und Arbeitern andererseits. In¬ 
folge der Höherschätzung der Gegenwartsgüter durch die letztem und infolge des 
Umstands, daß die Verwendbarkeit gegenwärtiger Vorräte von Genußgütern für 
ergiebigere Ausdehnungen der Produktionsperiode praktisch unbegrenzt ist, ent¬ 
scheidet der Preiskampf stets zu gunsten der Kapitalisten, so daß Grundeigentümer 
und Arbeiter ihr künftiges Produkt nur mit einem Abzug, gleichsam diskontiert 
auf die Gegenwart, erhalten. Diese Leistung hat Epoche gemacht und ihrer Dis¬ 
kussion und Kritik gilt ein großer Teil der theoretischen Arbeit der letzten zwanzig 
Jahre. An jene, die diese Theorie in vollem Umfang angenommen haben (z. B. 
Pierson, Gide, Taussig (zuletzt: Principles of Economics 1912) schließen 
sich die verschiedenen Gruppen aller der, die an ihr gelernt und Gedanken aus ihr 
entnommen haben. So haben Fisher (Capital and Interest 1906, Rate of 
Interest 1908) und Fetter (Principles of Economics 1904) das „psychische Ge¬ 
ringersehen“ künftiger Bedürfnisbefriedigungen zur Basis ihrer Zinserklärungen ge¬ 
macht und sich damit dem Standpunkt Jevons’ genähert. Sie haben aber weiter 
die Zinstheorie zu einer allgemeinen Vermögensertragstheorie ausgearbeitet, wozu 
ebenfalls die Grundlagen im Werke v. Böhm-Bawerks enthalten sind. Andere, wie 
John B. Clark (Distribution of Wealth 1899) und v. Wieser haben an der Pro¬ 
duktivitätstheorie festzuhalten aber ihr ein neues Fundament zu geben versucht 
— beide in verschiedener Weise. Noch andere haben die Grundelemente verschie¬ 
dener Zinserklärungen zu einem neuen Bild des Phänomens vereinigt (so M a r s- 
h a 11 die Abstinenz- und Produktivitätstheorie, etwas anders C a r v e r, Distri¬ 
bution of Wealth 1904). Daneben gibt es aber auch noch eine ganze Anzahl von an 
ältem Formen der Zinserklärung festhaltenden Autoren. Doch kann von einer 
einigermaßen vollständigen Uebersicht auch nur der wichtigsten Gedankenströmungen 
hier keine Rede sein. 

Auf dem Gebiet der Theorie des Unternehmergewinns geschah weniger. Die 
Diskussion bewegte sich meist innerhalb der schon im vorhergehenden Abschnitt 
angegebenen Gedanken. Die übrige theoretische Gedankenarbeit galt Spezial¬ 
fragen und stand nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Wege, den die 
theoretischen Grundprobleme nahmen. Unter ihnen ragt an Wichtigkeit die Frage 



124 I. Buch A II: J. Schumpeter, Dogmen- und Methodengeschichte. IV 

der Krisen hervor. Nachdem C. J u g 1 a r (Des crises commerciales 1889) die Wel¬ 
lenbewegung des Wirtschaftslebens als das wesentliche Phänomen erkannt und in der 
Aufschwungsperiode, die jeder ökonomischen Krise vorhergeht, die unmittelbare 
Ursache der Krisen entdeckt hatte, wurde dieser Gedanke zur Grundlage der Arbeit 
am Krisenproblem — die Erklärung jener gleichsam rhythmischen Bewegung wurde 
ihr eigentliches Ziel. Auf diesem Boden stehen die meisten modernen Leistungen, 
namentlich die Spiethoffs. Doch muß die Darstellung des auf solchen Einzel¬ 
gebieten Geschaffenen den sedes materiarum in diesem Werk überlassen bleiben. 

10 . Die Heftigkeit der Methoden- und Doktrinengegensätze auf unserem Gebiet, 
die sich teils aus seiner Natur und dem wirklich oder vermeintlich ökonomischen 
Thesen zukommenden politischen Interesse und teils aus der relativen Jugend ener¬ 
gischer wissenschaftlicher Arbeit auf demselben erklärt, scheint oft die Kontinuität 
der Entwicklung zu unterbrechen. Allein es ist erstaunlich, wie wenig verhältnis¬ 
mäßig der jeweilige Streit des Tages den Gang der ruhigen Arbeit beeinflußt. Blickt 
man durch die Hülle der Kampfargumente hindurch, so sieht man viel weniger von 
den Gegensätzen, die mit solcher prinzipieller Schärfe formuliert zu werden pflegen. 
Man sieht, daß diese Gegensätze sachlich nicht immer unversöhnlich sind und daß 
die verschiedenen Richtungen einander nicht leicht bis zur Vernichtung überwinden. 
Im letzten Grunde wollten schon die Physiokraten, was wir heute wollen und wenn 
man sich an die Sache und nicht an die ihr gegebene Form hält, so ist es oft schwer, 
für einen heftig geführten Kampf die dazu gehörige entsprechend schroffe Formu¬ 
lierung der sachlichen Parteistandpunkte zu finden. So entbehrt auch unsere 
Wissenschaft nicht der organischen Entwicklung. Aus der instinktiven Kenntnis 
der Grundtatsachen des Wirtschaftslebens erwachsen, hat sie sich im Anschluß 
an die durch die praktischen Erfahrungen geformten Ideen im 18. Jahrhundert 
konsolidiert. Und das Errungene wurde langsam und stetig ausgebaut, allen „Neu¬ 
begründungen“ der Wissenschaft zum Trotz. Dieses Ausbauen ging nicht besonders 
schnell und jedesmal noch hat sich ein gegenteiliger Anschein als trügerisch erwiesen 
— wie überall, so waren auch hier die großen Leistungen selten. Aber es ruhte auch 
niemals. Viel Kraft ging im Suchen und Versuchen verloren, auch deshalb, 
weil fast niemals ein Nationalökonom ganz gleichgestimmte andere Nationalökonomen 
zum Publikum hatte und weil daher fast jeder kämpfen und seinen Beitrag mit einer 
langen Einleitung versehen mußte. Das war in der Werdezeit aller Wissenschaften 
so und wird bei uns noch lange so bleiben. Entwicklungsphasen lassen sich nicht 
überspringen, nicht die eines organischen Körpers, nicht politische und soziale und 
auch nicht wissenschaftliche. Aber das wird sich mit der Zeit von selbst geben, 
und dann wird es leichter fallen, die Einheitlichkeit der Grundlinien der sozialwissen¬ 
schaftlichen Arbeit der letzten 150 Jahre zu überblicken.